15.So.n.Trin., 17.09.2023, Stadtkirche, 1.Mose 15, 1 - 6, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 17.IX.2023 - 15.n.Trin.
1.Mose 15, 1-6
Liebe Gemeinde!
Ein älterer Mann - wohnungslos -, … enttäuscht, aber noch nicht mutlos, … mit verschwiegenen Hoffnungen und müden Augen blickt zum Himmel empor. —
Nacht für Nacht wiederholt sich das weltweit.
In der zerstörten libyschen Stadt Darna - übrigens in der Nachbarschaft von Kyrene, wo der Mann herstammte, der das Kreuz Christi nach Golgatha trug -… in der libyschen Stadt Darna, die vor einer Woche einen Klimakarfreitag erleiden musste, sitzen solche verwaisten, verwitweten Männer, die überlebt haben und nicht wissen, wozu, und starren in die Dunkelheit überm Meer. Auf den Straßen von New York blicken hunderte Augenpaare aus den Gesichtern der mittelamerikanischen Migranten, die in Hoffnung wie Abraham ausgewandert sind und in Obdachlosigkeit landeten, perspektivlos in die Nacht, die vor lauter Neon keine Sterne zeigt. Und dreieinhalb Kilometer von uns entfernt, auf dem Nordfriedhof, auf den abends die Leute mit den unförmigen Plastiktüten zotteln, weil sie in den schicken Mausoleen für die Toten übernachten werden, da richten sich in den Stunden unseres bürgerlichen Schlafes auch viele Blicke durch die Äste der Baumkronen zwischen den selbstgedrehten Zigaretten nach oben und fragen: „Wie weiter? Oder war’s das?“ … Und in den schwarz-verdunkelten Stunden der Ukraine und in der erstickenden Enge der Lampedusa-Lager auch: Lauter abrahamische, … abrahämische, … abraheimliche Blicke nach Gott. ——
Ein müdegewanderter Mann - wohnungslos -, … elend enttäuscht, aber noch nicht vollends mutlos, … mit verstummenden Wünschen und alten Augen blickt ins Schwarze empor. …
… Mehr nicht.
Aber es ist die Sternstunde: Der Welt. …
… Es ist die Stunde, in der unsere Seligkeit anfängt.
Weil ein heimatloser Mann - zukunftsleer -, frierend ernüchtert und kinder-, wenn auch nicht gottlos, mit enttäuschten Erwartungen, aber noch ungeschlossenen Augen vor den Himmel tritt.
„Ich gehe dahin …“. Darna versunken. Lampedusa, New York, Europa nicht mehr aufnahmefähig. Unser schönes Düsseldorf, marmorglänzend bis in die Totentempel seiner Penner.
„Ich gehe dahin …“, stellt der Nachtmensch Abraham fest. Und mit etwas wie bitterer Ironie fügt der nichtsesshafte Jäger der verbogenen Verheißung, der Nomade ohne Immobilien hinzu: „Und mein Knecht wird mein Haus besitzen“ …?!
… Willkommen in der versunkenen Stadt.
… Richtet euch ein auf dem Times Square: Wir bieten Festbeleuchtung.
… Familien Henkel und Poensgen, Heynen und Grillo bitten - in unser aller Namen! -, in ihren Gruften noch Schlafplätze auszuwählen.
Ein bitterwahres Theaterstück von Lebenswegen ohne Ziel und Zukunft.
Das Drama unserer Erde. ———
Doch worin besteht denn nun die alle irdische Düsternis durchbrechende Sternstunde, die seit dreitausendsiebenhundert Jahren leuchtet und leuchtet und leuchtet und tröstet und hell macht und retten kann?
…. In der herzergreifend schlichten Ahnung, die Matthias Claudius seiner simplen Sternseherin Lise[i] in den Mund legt? – „Ich sehe oft um Mitternacht, / Wenn ich mein Werk getan / Und niemand mehr im Hause wacht, / Die Stern' am Himmel an. …Dann saget, unterm Himmels-zelt, / Mein Herz mir in der Brust: / "Es gibt noch Bess'res in der Welt /Als all ihr Schmerz und Lust."“?
… Oder hat Abrahams astronomische Meditation nur das Schiller’sche Gefühl „Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen“[ii] entfacht und befördert es bis heute?
Was ist da geschehen, in dieser von den Nazis so vergewaltigten „hohen Nacht der klaren Sterne“[iii]?
… Etwas, das bei Paulus (vgl.Rö.4,3ff; Gal.3,6ff) und bei Luther zur Erkenntnis und Verkündigung der Grundlage und Grundhaltung des Christentums geführt hat: In der Sternstunde Abrahams ist der Glaube gleichzeitig als des Menschen Tat aller Taten und als Gottes Gabe aller Gaben aufgeleuchtet. —
Warum ist der Glaube eine Tat?
Weil er nicht irgendein Kleinbeigeben, irgend ein Einknicken, Abnicken, Annehmen oder bloßes Zustimmen ist.
Glauben ist nicht Vermuten, sondern wirklicher Mut. - Der Mut, nicht nur das Unsichtbare, das Unbewiesene, das Verheißene, das, was jenseits aller Griffe und Begriffe des Menschen ist, ernst zu nehmen, sondern dabei auch noch genau das auszuhalten: Dass es unbegreiflich ist, worauf man da vertraut, … rein gesprochenes und versprochenes Wort, … unbelegt, … nicht vorzeigbar und nicht ersichtlich.
Und als wäre das nicht schon genug – dass man die Bequemlichkeit und Sicherheit des Zweifels und der Verzweiflung aufgibt (denn beide legen sich uns ja so nah und liegen so klar zutage, dass man sich nach ihnen wirklich nicht strecken muss!) –, … als wäre also das Wagnis des ernsten und doch weder wissenschaftlich noch juristisch erhärtbaren Glaubens nicht genug, bedeutet der Glaube Abrahams obendrein auch noch, dass man das, was man fürchtet und verabscheut, das, was einem Angst und Schrecken einjagt, plötzlich lernen muss, positiv zu sehen.
Denn gerade diese Umkehrung aller Vorzeichen, diese Umwertung dessen, was er weiß und fühlt, wird Abraham in der Stunde unter den Sternen ja zugemutet.
Abram aus Ur in Chaldäa ist doch ausgewandert aus dem astrologischen Weltbild seiner Herkunft: Der alte Orient wusste sich ja völlig abhängig von den Himmelskörpern. Man spürte im lebensregelnden Monats-Rhythmus des Weiblichen die Magie der Mondgöttin; man lebte überwältigt und ausgeliefert an die Blendung und Allmacht des zum Wachstum nötigen und doch so oft auch tödlichen Gottes des Sonnenballs; man las die Orakel, die Schiedssprüche und Zwänge, die die Sterne ans Firmament schrieben, wo Zeit und Schicksale bis ins Einzelne gelenkt und determiniert wurden!
Schrecklich ist es, unter dem Himmel der Alten zu stehen: Fremde Mächte, unentrinnbare Gesetze und überirdische Willkür herrschen da. Wer diesen Himmel über sich weiß, muss zittern und in den Staub sinken! …
Und Abraham, der dieses furchteinflößende Welt- und Himmelsbild der kosmischen Religion hinter sich gelassen hat, weil ein Gott ohne Leuchtkörper und Erscheinungsbild ihn noch unsicherer als später die Magier und sternkundigen Bethlehems-Pilger, die immerhin einem Kometen folgen konnten, einfach in die weglose Weite gerufen hat, … Abraham soll nun ausgerechnet zu jenem Überwachungsnetz am Himmel sehen und Vertrauen fassen?!
Da oben funkelt ein Heer von tausendundeinem gekränkten Dämonen, vor denen sich alle anderen Chaldäer demütig neigen; da oben spotten unzählige Geheimzeichen jeder Zählung und Entschlüsselung, weshalb man ihnen ohnmächtig Opfer schuldet; da oben herrschen sichtbar die Gewalten, denen der Flüchtling des verborgenen Gottes sich sinnlos entzogen zu haben hoffte.
Und jetzt soll er hinschauen?!
Und soll nicht die Angst, die ihn da unwillkürlich heiß und kalt überläuft, ausbrechen lassen, sondern in dem, was er mit grauenhaftem Bangen zurückließ, soll er seelenruhig die Zukunft schauen, … seine Zukunft und die Zukunft all jener zahllosen Kinder, die sein Glaube hervorbringen wird?!
Die Sterne keine Götter mehr, sondern seine Kinder?!
Was für eine Zumutung!
Und was für ein Mut, wenn einer diese Zumutung annimmt!
Stellen wir uns einmal selber unter die Mächte und Mysterien, denen wir ausgeliefert sind:
Die unheimlichen und die offensichtlichen Geister, die uns die Luft abschnüren, … oft deshalb, weil wir - die Zauberlehrlinge - sie riefen, aufweckten und beherrschen zu können meinten. Jene abgründige Zerstörungskraft, die ein Film uns im Westen und Putins Finger im Osten uns gerade wieder zu fürchten lehren! … Die unkontrollierbar entfesselten, bösen Folgen unserer guten Zeiten in der Erfindung, Erzeugung und Ausnutzung des materiellen Fortschritts. … Die zwischen Staunen und Terror schwankende Erfahrung, dass wir Maschinen gebastelt haben, die zwar nur rechnen und durchmischen können, deren Gründlichkeit dabei aber über unser Vermögen so eiskalt erhaben ist, dass wir sie als „intelligent“ empfinden und ihr künstliches Wiederkäuen und Hochwürgen als eine womöglich endgültige Absage an das göttlich und menschlich Schöpferische erleben. … Lauter uns überlegene Gebilde, unzählige zweideutige Vorzeichen und aus der Ratio ausgerissene Gefahren schweben da über unseren Tagen und Nächten.
Wenn wir aber mit zu Abrahams Samen zählen, zu den unzähligen Erben der Verheißung, die sein Vertrauensmut geboren hat, dann ruft sein ruhiger Blick zu den Sternen, der ihn nicht verzweifeln, sondern glauben ließ, auch uns zu:
„Seht klar hin auf das, wovor Euch mit endzeitlicher Wucht graut … und dann fürchtet euch nicht, nehmt nichts anderes mehr wahr als die Zukunft. Seht klar hin auf das, was Untergang, Fluch und Ende zu bedeuten scheint, … und erkennt die Verheißung des Lebens eurer Kinder. Denn nur, wenn ihr so auf die rohen Kräfte und bedrohlichen Mächte hinschaut und nicht in Illusionen ausweicht, dürft und werdet ihr die unglaubliche Glaubensgabe tatsächlicher Zukunft empfangen.“
Denn das ist Glaube ja: Die Gottesgabe, …Seine Gnadengabe, dass Menschen trotz allem, was über ihnen schwebt, erkennen dürfen, wer, wie und wo die Zukunft ist.
… Gott ist die Zukunft.
… Nur Gott!
Und das ist ja das Unbegreifliche schlechthin.
Abraham hatte verinnerlicht, die Zukunft werde beschlossen und verhängt durch die Sterne.
Wir haben verinnerlicht, dass die chaotischen und differenzierten Prozesse, die wir begonnen haben und die sich unerbittlich entfalten, die Zukunft unweigerlich und unabänderlich bestimmen werden.
Glauben aber bedeutet den Mut und die Gnade, in solchen Gewissheiten, solchen astrologischen oder kausalen Determinationen, in solchem abergläubischen oder atheistischen Fatalismus nicht gefangen zu bleiben, sondern sich ruhig auf das einzulassen, was ausgeschlossen scheint, es sei denn, wir würden unvoreingenommen zukunftsoffen wie die Kinder (vgl. Matth.18,3).
Der abrahamitische Erzväter- und Kinderglaube ist darum aber nicht Naivität, sondern das Geschenk einer Zuversicht, die frei ist von der Sklaverei des ererbten Vorurteils, frei vom Zwang des Nichts-Anderes-Erwarten-Könnens als das Verhängnis.
Der alte Mann - dreitausendsiebenhundert Jahre alt -, der in nüchternem Mut, … in der Offenheit unerfüllter Hoffnung, … mit scharfen Frage nach dem, was kommt, aber auch in der Freiheit, sich vor nichts dabei zu fürchten, emporblickt, zieht auch unsere Zuversicht, unsere Fragen, unsere Lebensaussichten mit in die Höhe:
Und siehe, da sind nicht beherrschende Sterne oder eherne Gesetze.
Sondern die lebendige Zukunft aller Menschen, … die göttliche Gerechtigkeit, die der Zuversichtsmut Abrahams für sie alle eröffnet, … das unwiderrufliche Recht auf Leben, das denen zugesagt wird, die mit Abraham, nach, durch und wie Abraham frei auf Gott blicken.
In der Sternstunde Abrahams erfüllt sich also nichts, aber alles öffnet sich.
Und solche Offenheit zur Zukunft Gottes hin ist die Gerechtigkeit des Glaubens, seine Tragfähigkeit und Belastbarkeit in Angst, in Schuld und in Geduld.
Es ist kein Zufall, dass diese furchtlose Offenheit des alten Mannes Abraham für Gott in einer zweiten Sternstunde des Zukunftsmutes, in einer zweiten Gründungsstunde unserer Berufung zum Glauben wiederkehrt.
Da hat sie weibliche Gestalt.
Ein junges Mädchen - ehelos und ohne Bevormundung -, … unschuldig und darum nicht mit Angst vertraut, … überrascht, aber mit klarem Blick wird in ihrer Niedrigkeit vom Himmel angesehen und angerufen.
Und sie erfasst, dass da die Abrahamsstunde, die Stunde, in der wir nichts fürchten, sondern Gott als die Zukunft kennenlernen sollen, schlägt.
Wir haben ihren Lobgesang am Anfang gebetet und werden ihn am Ende noch einmal singend aufgreifen. Sie, die Tochter Abrahams und Mutter des Zukünftigen jubelt mit Abrahams Samen und in Abrahams Namen: „Es geschehe, wie Du gesagt hast … wie du geredet hast zu unseren Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit!“ (vgl. Lk.1,38+55)
Das ist Glaube! „Fiat! Lass mich voll und ganz Deine Zukunft sein, Gott, und sei Du ganz und gar die unsrige … was immer auch kommt!“ ——
Dieses vollständige Eingehen auf und Aufgehen in Gottes Zukunftszusage, das wir Glauben nennen, ist aber nun tatsächlich die Sternstunde der Welt.
Sie leuchtet und leuchtet und leuchtet und tröstet und macht hell und kann retten.
Herr, ermutige und stärke auch uns den Glauben, die wir mit Abraham und Maria auf Dich trauen in Jesus Christus. Stärke diesen Glauben in uns gerade auch für die Hoffnungslosen von Darna und im Atlasgebirge, für die auf der Flucht und im Krieg, für die Unsichtbaren und Vergessenen, die doch alle Deine Abrahamskinder sind: Schenke ihnen das Lebens- und das Zukunftsrecht bei Dir, die - wie Paulus am Schluss seiner Abrahamsmeditation (Rö.4,24f) sagt - allen „zugerechnet werden sollen, wenn wir glauben an den, der unsern Herrn Jesus Christus auferweckt hat von den Toten, welcher ist um unserer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Rechtfertigung willen auferweckt“!
Amen
[i] Dieses populäre volkstümliche Gedicht von Claudius wird hier zitiert nach: Matthias Claudius’ Werke, chronolog. geordnet usw. usw. hgg. v. Georg Behrmann, Leipzig (o.J. – ca. 1880), wo es im Hauptteil vergessen wurde und sich daher eigens im Vorwort findet auf S. LXXVI.
[ii] Aus der Ode „An die Freude“, in: Friedrich v. Schiller, Sämtliche Werke (Lizenzausgabe WBG) Darmstadt 19878, Bd.I: Gedichte. Dramen I, S.133.
[iii] Ein Nachweis des Nazi-Weihnachtsliedes erübrigt sich. Möge es vergessen werden.
12.So. n. Trin., 27.08.2023, Stadtkirche, Jesaja 29, 17 - 24, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 12.n.Trin. - 27.VIII.2023
Jesaja 29, 17 - 24
Liebe Gemeinde!
Wenn die Mörder vom Himmel fallen, ist noch lange nicht Frieden.
Und wenn die Tyrannen einmal stürzen, wenn die Putschisten sich verdrücken, wenn der Blutrausch abebbt und der Konsumrausch schal wird, wenn der rücksichtslose Ur-Reflex der Selbstsucht in seiner nutzlosen Lächerlichkeit erscheint, dann ist die Welt noch immer nicht geheilt.
Und wenn die Nazis als entnazifiziert gelten und die Putinisten entstalinisiert und die Republikaner enttrumpt und die Kader Chinas entmaoisiert sein werden, dann ist noch immer nicht die Harmonie von Recht und Wahrheit zurückgekehrt und das Zerstörte steht noch nicht wieder in Blüte und das Verdorbene ist noch nicht wieder richtig gewachsen und das Böse noch nicht morsch genug geworden, um als Kompost und Humus die endgültige Ernte des Reiches Gottes geweckt, genährt und zur Reife gebracht zu haben. —
… Wann aber wird es denn so weit sein?
… Wann wird das Heil dasein?
Diese Frage ist das entscheidende Lebenszeichen des Glaubens. Das forsche Stillstellen der elementaren Erlösungssehnsucht in der geschaffenen Welt dagegen ist höchstes Erstickungsrisiko: Wer eine allzu feste Antwort hat, blockiert die Atemwege des Glaubens, die doch erst durch Schreien und das nötige Luftholen durchlässig und weit genug gemacht werden, um am Leben zu bleiben.
Wir wollen also die lebensnotwendige Frage nach dem Ziel der Hoffnung nie abwürgen durch die voreilige, verhärtete Lüge, es sei doch alles gut und schön.
Es ist nicht gut und schön auf Erden. Das Leben ist nicht hell und heil. Alle Wirklichkeit schreit nach Veränderung, Verbesserung, Verwandlung.
Was aber tun, wenn wir nicht über das Patentrezept verfügen, wenn wir den Schnuller nicht haben, durch die das „Weinen in der Welt“ von dem Else Lasker-Schüler spricht, zur Ruhe gebracht werden könnte?
„Es ist ein Weinen in der Welt, / als ob der liebe Gott gestorben wär, /und der bleierne Schatten, der niederfällt, / lastet grabesschwer“, so fängt Else Lasker-Schülers Gedicht „Weltende“[i] an. …
……. „Weltende“: Kein wirklich abwegiger Titel in unseren Tagen.
Aber auch vor hundertzwanzig Jahren, als das unterschwellige Unbehagen in der sog. „Kultur“ allmählich zu Bewusstsein drängte[ii], nicht weithergeholt. Und auch vor zweitausend Jahren durchaus der Nerv der Zeit, als am Jordan der Täufer und in Galiläa der Rabbi der Fischer und Zöllner zur Umkehr angesichts des nahegekommenen Reiches Gottes mahnten. Und in den Tagen des Jesaja, als die Erste der großen, nimmersatt erobernden und kolonialisierenden Weltmächte - Assur - die Weltordnung mit Gewalt durcheinanderwirbelte, erlebten die Zeitgenossen die Brüchigkeit und Auflösung des bekannten Daseins genauso.
Es war permanent ein Weinen in der Welt, und ist ein Weinen und bleibt ein Weinen. … Und viel, viel Schlimmeres. …….
Doch was nun?
– Jetzt Panik? – Oder Resignation? – Oder der allgemeine zynische Nihilismus? ……. ——
Erstaunlich ist, … ganz erstaunlich ist, was uns der ewigjunge alte Glaube – dessen Puls und Atem Ungeduld und Hoffnung ist und Spannung – lehrt. … Uns, die entweder gar nicht mehr hoffen und harren wollen, weil wir das entsprechende Narrentum satthaben und lieber hoffnungslos unsre Zeit aus vollen Zügen einfach zuendeleben, oder die immer bitterer hadern, dass wir eben nichts, nichts Hoffnungsvolles mehr merken können und hören dürfen.
Der alte, ewigjunge Glaube, der uns heute hier zusammenführt, stellt uns vor einen Menschen, … den selben Menschen, der mitten im Gebiet der Zehn Städte – wo Heidentum und Judentum, der hedonistische Fatalismus also und die trotzige Erlösungshoffnung sich begegnen und mischen – seinen Weg durch die Welt zog (vgl. Mk7,31)[iii].
Und dieser Mensch im Mischmasch von irdischen und himmlischen Erwartungen will auch uns berühren mit seinem innersten Wesen, wie damals in Galiläa den Taubstummen.
Er legt seinen Finger auch an unser Ohr und auf unsere Zunge.
Und er gebietet dem zynischen Ungläubigen und dem sehnsüchtigen Lösungssucher in uns: „Hephata! … Tu’ dich auf!“
… Wieso? … ’s gibt doch nix zu hören, nix zu sehen, nix zu sagen.
„Öffne dich trotzdem! Hephata!“
… Will ich aber nicht. Soll mir alles vom Leib bleiben. Nicht rankommen: Die
aussichtslose, trostlose Welt da, … mit dem Gewein und dem Gestöhn und dem Geschrei, das man lieber gar nicht hören will, selbst wenn man ja vielleicht könnte.
Doch Er sagt Sein klares, strenges, geduldiges, heilendes, wunderbar erlösendes, … Sein schöpferisches „Hephata!“.
– Und wir hören.
Was? … Was denn nun? ….
… Endlich einmal darf ich’s sagen. Sonst mache ich ja den gewohnten Bogen um zu viel Naturtheologie: Die alten Götterbäume Donars und Wotans, die Fruchtbarkeitskulte des Baal, die Anbetung der kosmischen Kräfte und der Gewalt der Elemente sind seit bald viertausend Jahren ja ein Hindernis gegen die immer unmittelbar naheliegende und doch immer auch irgendwie als Verlegenheits- und Ersatzlösung wirkende Naturfrömmigkeit.
Doch heute sagt der alte Jesaja uns das junge Wort: Lasst doch den Wald erst einmal wachsen. In eurer großen, drängenden, bangen Sorge um das Weltende und die Sinnlosigkeit, in eurer feurigen, waldbrandbeschleunigten Nervosität, ob Gottes Reich und jede Zukunft nicht längst abgeblasen sei und jede Hoffnung euch verkohlt, sollt ihr jetzt einmal innehalten, … lauschen, … euch öffnen, … und abwarten.
Ist das denn aber nicht der Wahnsinn? Brennt denn nicht überall von Kanada bis Griechenland, vom Amazonas bis zu den kanarischen Inseln der Wald lichterloh? Müssen wir das nicht als das röteste aller roten Alarmsignale erkennen, das uns zwingt, alles dran zu setzen, dass gelöscht wird und nicht weitere Verbrennung geschieht? Hat nicht die germanische Edda Recht, wenn sie in grauer Vorzeit die Klimakatastrophe von heute zu beunken scheint: „Alle Wesen müssen die Weltstatt räumen. / Schwarz wird die Sonne, die Erde sinkt ins Meer, / vom Himmel schwinden die heiteren Sterne. / Glutwirbel umwühlen den allnäh-renden Weltbaum, / Die heiße Lohe beleckt den Himmel.“[iv] …….
Und ausgerechnet jetzt, da sich die alt-heidnischen selbsterfüllenden Prophezeiungen vor unsern Augen bestätigen, … ausgerechnet jetzt, im Wagner’schen Weltenbrand kommt der Erste der großen Schriftpropheten Israels, die sonst so unerbittlich gegen den Naturglauben wettern, daher wie Joseph von Eichendorff?
Ausgerechnet jetzt sollen wir andächtig und seelenruhig den Wald wachsen lassen: „Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden“??!!!
Ist es dazu nicht zu spät? Können wir wirklich noch wie unsere Vorfahren, als die große - für sie auch herzlich lebensnotwendige - Rodung Europas beinah abgeschlossen war, unsere Zuflucht wieder zum Wald nehmen? Können wir wie die romantische Generation, wie die industrialisierungsmüden Menschen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch einmal aus gerührter, überwältigter Seele auf die „Täler weit und Höhen“ blicken[v], die „Ruh über allen Gipfeln, in allen Wipfeln“[vi] unser mattgehofftes Gemüt durchschauern lassen und dann kosmosselig wie eben der unübertroffene, herzensfromme Eichendorff die Hände falten und den Trost der Welt erfahren, der mit dem „ewigen Morgenrot / den stillen Wald durchfunkelt“[vii]?
Müssen wir nicht handeln, … aktivistische Aktion betreiben? Können wir’s auch nur in unsern kühnsten Träumen uns wirklich noch leisten, zu meditieren wie die großen Naturlyriker oder die weltflüchtigen Aussteiger aller Arten?
Wer so fragt, meint auch die Aktion nicht ernst.
Wer so fragt, hat nicht wirklich Hoffnung, sondern nur Hummeln im Hintern oder Hysterie im Hirn.
Aktion ohne Kontemplation ist Unfug.
Kurzschlusshandlungen ohne den langen Atem des gläubigen Gebets und des Gottvertrauens als Zukunftsvertrauens können mittelfristig nur wie Brandbeschleuniger wirken, weil sie die Energie der Herzen und das explosive Pulverfass der Angst so ver-schleudern, dass alles irgendwann grässlich verpuffen muss.
Wenn wir nicht den Wald wachsen ließen, … wenn wir nicht das unmerkliche Aufbrechen auch noch der verbrannten Böden leise sich vollziehen ließen, … wenn das neue, grüne Mischgehölz, wo Kyrill und der Borkenkäfer die Monokulturen unserer Heimat vernichtet haben, uns nicht einfach einmal die Hände falten und danken hieße, … wenn wir nicht heute pflanzten, was erst die Enkel an widerstandsfähigeren Arten brauchen werden als Schatten- und Entgiftungsquell, … wenn wir nicht das neue Landschaftsbild der fremden Windräder über den vertrauten Mittelgebirgszügen, überm herben Schwarzwald, überm lachenden Allgäu, … ja, wenn wir nicht sogar ein neues Landschaftsbild von Windrädern im romantischen Caspar-David- Friedrich-Gebirge als Erfüllung des paradiesischen Auftrags, die Schöpfung zu hegen und zu pflegen (vgl. 1.Mose 2,15), zu betrachten lernen, … dann gute Nacht!
Aber natürlich nicht wegen der Windräder, die scheußlich störend sind und bleiben, sondern wegen des Waldes. Wegen dieses Wunders, das mir letzten Sonntag wieder einmal vor Augen stand: Das Schulungswochenende mit unsern Teamern im Bergischen Land bedeutet reichlich Leben reichlich in Verbindung mit Gott, … aber keinen sonntäglichen Gottesdienst im mir unentbehrlichen Sinn. Da wurde ich auf meiner Weckrunde zu den einzelnen Holzhäusern voller verpennter Jugendlicher stiller Zeuge, wie in der Früh ein junger Mann aus dem Iran auf einer Bank unter den Bäumen saß und über die für ihn wohl fremden, weiten, blaugrün verschwimmenden Waldkämme unverwandt und - wer weiß? - vielleicht auf seine Weise betend in den Sonnenaufgang blickte.
Und die ganze Frömmigkeit und Dankbarkeit meiner hessischen Kindertage, in denen es Winterwälder und Brombeerpflücken im Unterholz und den schrillen Schrei des Habichts über den mittäglich schweigenden Föhren und das Erlebnis von Quellen und Bächen mitten im Tannendunkel und Pilzesuchen, Schwarzwildfährten und Hirschruf im Oktobernebel, Einsiedlerhöfe am Rand des Lichtung und Märchenvolk unter jeder Wurzel gab, … alles war wieder da, weil ein anderer Mensch schlicht auf Gottes herrlich hingebreitete Schöpfung blickte. Und die Volkslieder klangen wieder und ich hörte – doch wohl, weil einer mir „Hephata!“ geboten hatte – Jesaja im Text von heute sagen: „Was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein vor dem Heiligen Israels …“
Es war einer der Augenblicke, die hell und heil über der bedrohten, zerfallenden und doch taufrisch geweckten Welt stehen können. Und auch wenn wir’s täglich und nächtlich spüren, wie ein Weinen in der Welt ist, gilt auch das andere Dichterwort, das Wort, das der spätromantische Robert Browning dem angelsächsischen Volksmund vermacht hat: „God’s in His heaven - / All’s right with the world.“[viii]
Ja, es ist ein Weinen in der Welt, … aber Gott ist auch im Himmel!
Wäre das nicht so, dann gäbe es keine wirkliche Hoffnung.
Wäre nicht Gott im Himmel, dann würden der Mensch und seine künstliche Intelligenz und seiner eingefleischten Unbelehrbarkeit auf Erden nur rettungslos sein.
Aber Der im Himmel ist, macht immer noch, dass neues Leben entsteht und altes sich des Lebensrechtes und des Lebensrufes alles jungen Neugeschaffenen erinnert: „Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände - ihre Kinder - in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.“
Dieser rettende Blick für das nachwachsende Leben, diese Bekehrung der Vernichtungstrunkenen und Untergangsbesoffenen zum Willen des Schöpfers, Der ein Neues schaffen will – jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?! (Jes.43,19) –, das ist die tiefe Hoffnung, die in jedem Keim der Erde, in jedem Halm, in jedem Blatt, in allen Gewächsen, allen Wildnissen und allen Pflanzungen, in allen Bäumen, Hainen und Wäldern heranwächst.
Wer etwas davon auch in unseren Tagen sieht, wer es, weil sein Herz und Geist berührt und aufgetan worden sind – „Hephata!“ – spürt und andächtig wahrnimmt, dass die Natur mitten in ihrem Verderben immer noch den Segen und den Plan und das Heil und die siegreiche Durchsetzung Gottes beweist, der kann heute nur tun, was Israeliten und Juden und Christen niemals taten:
… Er kann sich nur vor den Bäumen des Waldes verneigen und ihnen sagen: Eure Predigt hören wir und euer Zeugnis sehen wir. … Und wir warten mit Euch, dass Ihr wachst und Gottes Reich sich gegen unsre Armut an Hoffnung und gegen unsre Tyrannei und Resignation behauptet!
Der Garten Gottes einst und künftig, … die Erde, in der das Weizenkorn wächst und nicht alleine bleibt, … die Berge der Welt, auf denen der Weinstock wurzelt (vgl. Ps.80,10ff), dessen Reben auch wir sind (vgl. Joh.15,5), … die Gemeinde der Gerechten, die grünen wie ein Palmbaum und wachsen sollen wie eine Zeder auf dem Libanon (vgl. Ps.92,13), … sie lassen uns das Geheimnis der Hoffnung erkennen, die in der Welt ist, weil Gott ihr Herr und ihr Vollender bleibt.
Und darum darf ich’s heute sagen, was sonst so kitschig und so falsch klingt … mit den Worten eines Trostbuches, das einmal Unzählige getröstet und zur Barmherzigkeit und Hoffnung gegen das gierige Blut-und-Boden-Heidentum gerufen hat:
„Ewig singen die Wälder.“[ix] … Von der Hoffnung, die in der Welt ist. … Sie heißt Gott.
Amen.
[i] Else Lasker-Schüler, Sämtliche Gedichte, hgg. v. Friedhelm Kemp, München 19915, S.88.
[ii] Vgl. Sigmund Freuds gleichnamige Arbeit von 1930.
[iii] Markus 7, 31 – 37 ist das Evangelium des 12.Sonntags nach Trinitatis.
[iv] Die Edda. Die ältere und jüngere Edda und die mythischen Erzählungen der Skalda. Übers. u. mit Erläuterungen begleitet von Karl Simrock, (Nachdr: Essen 1986, S.14).
[v] Joseph von Eichendorff, „Abschied“, in: Ders., Werke - Bd.I: Gedichte. Versepen. Dramen. Autobiographisches, hgg. v. Jost Perfahl u. Ansgar Hillach, München 1970, S. 67.
[vi] Johann Wolfgang von Goethe, „Wandrers Nachtlied,“, in: Goethes Gedichte in zeitlicher Folge, hgg. v. Heinz Nicolai, Frankfurt/M 19907, S.236.
[vii] J. v. Eichendorff, „Der Einsiedler“, aaO, S.279.
[viii] Aus Robert Brownings Versepos „Pippa Passes“ von 1841. Am leichtesten zugänglich unter https://romantic-circles.org/editions/poets/texts/theyears.html
[ix] Dieser Bauernroman des norwegischen Dichters Trygve Gulbransen ist eines der am meisten verkauften Bücher in der ersten Hälfte des kranken 20.Jahrhunderts gewesen … und auf seine Weise bleibt er m.E. lesenswert.
11.S.n.Tr., 20.08.2023, Thom.Ev. 2,1-4, Stadt- u. Jonakirche, Ulrike Heimann
Thema: „Suchen - Finden – Erschrecken – Staunen: der Weg des Glaubens“ (Thom.Ev. 2,1-4)
Liebe Gemeinde,
vor drei Wochen hatte ich im Antoniushaus der Suitbertusgemeinde für die kfd einen Abend zum Thema „Trinität“ gestaltet; dieses Thema hatten sich die Frauen gewünscht und erhofften sich einen Erkenntnis- und Glaubensgewinn zu dieser zentralen Lehre der Christenheit. Schließlich bekennen wir uns in jedem Gottesdienst ja zum Dreieinigen Gott – von der Eröffnung „Im Namen des Vaters …“ bis hin zum Schlusssegen. Wir saßen in einer großen Runde beieinander; und zwei der Frauen hatten sogar ihre Männer mitgebracht.
Und eigentlich von Beginn an zeigte sich: für die meisten gab es einen Widerspruch zwischen dem, was man aufgrund der kirchlichen Lehre glauben soll – und dem, was man selbst glauben konnte. Und damit stand die Unsicherheit im Raum: glaubt man dann überhaupt noch; hat man noch den richtigen Glauben?
Die gängigen Erklärungen aus dem Katechismus konnten keine und keinen überzeugen.
Es gab ein sehr lebhaftes und intensives Gespräch, in dem allen deutlich wurde: den Glauben hat man nicht, sondern der Glaube ist ein Weg, auf dem jede und jeder seine Erfahrungen macht mit Gott. Ein Weg, der mit dem ersten Schritt beginnt – für die meisten in der Kindheit – und der erst mit dem letzten Atemzug zu Ende ist.
Für alle ist es einsichtig, dass sich ein Mensch auf seinem Lebensweg entwickelt und verändert. Dass sich das genauso auch mit dem Glauben verhält, das zu hören, was für einige eine Überraschung. Ist der Glaube nicht eine feste Größe?
Nun ist der Glaube nicht um seiner selbst willen da, sondern er ist Gottes Geschenk, um das Leben besser zu meistern.
Wenn der Glaube sich auf das konkrete Leben in dieser Welt einlässt, dann verändert er sich; das tut ja schon unser Körper im Laufe der Jahre, ohne dass wir irgendetwas daran ändern können. Alles Lebendige wächst und verändert sich; und sollte es uns nicht darauf ankommen, dass unser Glaube lebendig ist und bleibt?
Der Apostel Paulus schreibt im 1.Korintherbrief: „Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.“ – Für den Glauben gilt das gleiche: der Kinderglaube muss sich im Laufe des Lebens verändern, muss erwachsen werden. Das kann er aber nur, wenn er genügend Nahrung und Anregung bekommt; sonst droht eine lebensgefährliche spirituelle Magersucht.
Mir ist das während meines Vikariats deutlich geworden: damit der Glaube mir wirklich Lebenshilfe sein kann in diesem Leben mit seinen Anforderungen, muss ich ihn verknüpfen mit allen Erkenntnissen, die ich aus der Beschäftigung mit dem, was dieses Leben ausmacht, wie es geworden ist, gewinnen kann. Denn der Glaube ist um des Lebens willen da.
Das hört sich nun recht einfach an, ist es aber gar nicht. Jedenfalls ist es für mich nicht einfach gewesen, die Vorstellung vom festen Glauben, den man hat, loszulassen und sich auf den Weg zu machen, um aufgrund eigener Erfahrungen und Erkenntnisse den Glauben neu auszusprechen. Zuviel stand erst einmal dagegen. Vor allen Dingen die Tatsache, dass die ganzen alten Bekenntnisse als unverrückbare Grundlage christlichen Glaubens gelten – quasi göttliche Würde besitzen – und dass die eigene Erfahrung – Glaubens- und Lebenserfahrung – eigentlich nichts zählt. Wer über den christlichen Glauben spricht und dabei „Ich“ sagt, seine Einsichten und Erkenntnisse ohne Deckung von hohen Autoritäten wie den Kirchenvätern, Martin Luther oder Karl Barth von der Kanzel oder in der Gemeinde mitteilt, der riskiert, einen Ketzerhut verpasst zu bekommen.
Der Weg zu einem lebendigen Glauben ist kein Spaziergang. Ich habe im Thomas-Evangelium einen kleinen Abschnitt gefunden, der die Anstrengungen, die mit diesem Weg verbunden sind, sehr schön deutlich macht. Das Thomasevangelium ist etwa zur Zeit des Matthäus-Evangeliums entstanden, zwischen 70 und 80 n.Chr. Es ist eine unverbundene Sammlung von Jesusworten, kurzen Szenen, die in einem Jesuswort gipfeln und Dialogen. Nicht wenige Jesus-Worte, die in der Bibel stehen, sind auch im Thomas-Evangelium zu finden. Andere, die sich in der Bibel nicht finden, wären es wert, dort zu erscheinen; denn die Wahrheit, die aus ihnen spricht, ist offensichtlich. Das Thomas-Evangelium wurde in vollständiger Fassung in koptischer Sprache erst 1945 bei Nag Hammadi gefunden. Zitate aus diesem Evangelium gab es in verschiedenen altkirchlichen Schriften. Das Thomas-Evangelium war also in der Frühzeit der Christenheit recht bekannt. In dem Abschnitt, auf den ich mich hier beziehen möchte, heißt es:
Jesus sagt: „Wer sucht, soll so lange weitersuchen, bis er findet. Wenn er aber findet, wird er erschrocken sein. Wenn er erschrocken ist, wird er staunen. Und er wird König sein über die unsichtbare Welt.“
Es ist der Suchweg des Glaubens, der hier kurz und knapp in drei bzw. vier Schritten nachgezeichnet wird.
„Wer sucht, soll so lange weitersuchen, bis er findet.“
Dieser erste Schritt wird auch in einem anderen Jesus-Wort aus dem Matthäusevangelium angesagt: Suchet, so werdet ihr finden. In diesem Wort aus dem Thomasevangelium kommt deutlicher zum Ausdruck, dass die Suche nach Einsichten und Erkenntnissen, die zum Leben und Glauben helfen, eine langwierige Sache ist, die Hartnäckigkeit und Beständigkeit verlangt. Der Glaubensweg ist ein Weg, an dem man „dranbleiben“ muss, auf dem man immer wieder neu nach Nahrung für Geist und Seele suchen muss – neugierig, wach und interessiert.
„Wenn er aber findet, wird er erschrocken sein.“
Genau diese Erfahrung habe ich gemacht, als ich ermutigt durch gute Begegnungen mit meinen Vikarskolleginnen und –kollegen anfing, geistig-geistliches Neuland zu betreten. Es ist für mich im Wesentlichen die Auseinandersetzung mit zwei Themenfeldern gewesen, die mich zunächst in eine fundamentale Verunsicherung geführt hat: mit der feministischen Theologie und der tiefenpsychologischen Exegese, der ich vornehmlich in den Büchern von Eugen Drewermann begegnete. Was ich da zu lesen und zu denken bekam, hatte ich vorher noch nie gehört, ja stellte das meiste von dem, was ich bis dahin meinte, an Glauben und christlicher Lehre verstanden zu haben, radikal in Frage.
Ein Beispiel: es war bis dahin für mich fraglos klar, dass Jesus für mich gestorben war, dass er sein Blut vergossen hatte, damit Gott mir meine Sünde vergeben kann. Doch nun erkannte ich: der Sündenbock, auf den alles abgeladen wird (in biblischer Diktion: das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg trägt) ist eine menschliche „Erfindung“, die seit Urzeiten dazu dient, die menschliche Unversöhnlichkeit abzureagieren. Einzelnen Personen oder Minderheiten wurde aufgelegt, was die anderen nicht mit sich abmachen wollten: sich ihrem Versagen, ihrer Schuld, ihren Ängsten und ihrer Ohnmacht zu stellen. Alles wurde auf die Anderen projiziert, ihnen wurde die Schuld gegeben an allem Negativen; alles Üble wurde ihnen aufgeladen, um mit ihnen aus der Welt geschafft zu werden, indem man sie umbrachte. Das „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg trägt“ – da hat es seinen Platz. Jesus ist so zum ultimativen Sündenbock des heillosen und religiös verwirrten Menschen geworden, der einen grausamen Tod sterben muss – vorgeblich, damit es mit seinem Tod Schluss ist mit dem Sündenbock-Unwesen (siehe Hebräerbrief). Aber dem war und ist nicht so.
Dass gerade die Christenheit die Juden als Sündenböcke in schrecklichster Weise verfolgt und missbraucht hat, das hat ohne Frage auch damit zu tun, dass das Opferdenken in der Kirche allgegenwärtig war und ist – in der Messe der römisch-katholischen Kirche und in den Liedern, besonders den Passionsliedern unseres evangelischen Gesangbuchs.
Als mir das aufging, fühlte ich mich zunächst einmal so, als wäre mir der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Ähnlich ist es mir mit vielen anderen bis dahin für mich fraglosen Glaubenswahrheiten gegangen. Und ich habe mich damals gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, sich all diesen Gedanken und Erkenntnissen lieber gar nicht erst ausgesetzt zu haben. War ich ein theologischer Zauberlehrling, der in seinen Erkenntnissen untergehen würde?
„Wenn er erschrocken ist, wird er staunen.“
Ja, es war ein existentielles Erschrecken, das ich damals erlebt habe. Und es dauerte erst einmal an, fast zwei Jahre. Ich hatte in dieser Zeit nicht Gott verloren, aber das meiste von dem, was ich meinte, über ihn zu wissen und über Jesus, all das, was meine Glaubensgrundlagen bis dahin waren, die ganzen vollmundigen Bekenntnisse der Christenheit.
Ich fing neu an, meinen Glauben zu buchstabieren – weniger göttlich, mehr menschlich. Denn in der Phase des Erschreckens, in dieser Glaubenskrise, hatte ich einen neuen Bezug zur Menschlichkeit, zum Menschen, zu mir selbst gefunden. Und ich entdeckte neu die Menschlichkeit Jesu und die Einfachheit und Klarheit seiner Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes.
Was hatte Jesus von Schuld und Vergebung gelehrt? Nichts über Opfer, sondern einfach die Hinwendung zu Gott und zu seinem Mitmenschen: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Ganz schlicht und einfach.
Was war Jesus das Wichtigste und Höchste? Die Gottes- und Menschenliebe, die sogar die Feinde einschließt.
Was war Jesu Richtschnur für alle Ethik? Die goldene Regel: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“
Das eigene Wohlergehen steht nicht im Widerspruch zur Nächstenliebe, die eben kein Opfer ist.
Ganz neu entdeckte ich, dass Jesus nicht nur von Gott als gnädigem Gott sprach, sondern als grund-gutem, als gütigem Gott, der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse, über Gerechte und Ungerechte – einfach weil er allen Leben gönnt. In ganz neuer Weise kam mir so Gott nahe, einfach und klar – und darin einzigartig. Über seine Güte und Liebe habe ich neu staunen gelernt. Seitdem steht für mich fest: der Glaube an Gott hat nichts damit zu tun, dass ich bestimmte Glaubenssätze für wahr halte, sondern dass ich ein Grundvertrauen habe, geborgen und geliebt zu sein, dass ich mit allem, was ich denken und fühlen, aufgehoben bin in Gottes Lebensfülle.
„Und er wird König sein über die unsichtbare Welt.“
Dieser vierte Satz hört sich zunächst einmal geheimnisvoll an, ist es aber nicht, wenn man ihn richtig versteht.
Die unsichtbare Welt ist die ganze Schöpfungswirklichkeit. Von dieser Wirklichkeit können wir Menschen nur begrenzt etwas wahrnehmen, einfach, weil wir Menschen sind. Und darüber hinaus zeigt sich jedem Menschen diese Wirklichkeit anders. Jeder macht seine eigenen Erfahrungen im Leben, nimmt Dinge auf unverwechselbare Weise wahr.
König zu sein über diese ganze Schöpfungswirklichkeit, das heißt, offen zu sein für alles, was es in ihr an Erkenntnissen gibt. In allem, was dem Frieden, der Gerechtigkeit und dem Leben dient, den einen Geist Gottes wirken zu sehen. Dankbar zu sein für die Buntheit und Vielfalt des Lebens. Wir brauchen keine Angst zu haben vor dem Fremden, sondern dürfen neugierig und gespannt darauf sein, etwas von den Lebenserfahrungen anderer Menschen in anderen Kulturen, mit anderer Religion zu erfahren, von ihnen zu lernen. Auch sie haben Erfahrungen mit dem einen Gott gemacht, dem Schöpfer Himmels und der Erden. Gott ist ihnen nahegekommen, wie er uns nahegekommen ist. Jedem auf seine Art, nach seinem Vermögen. Alle solche Gotteserfahrungen sind ein Schatz, in dem Gott sich uns zur Verfügung stellt, damit unser Leben und Glauben an Tiefe zunimmt und wir reifen.
Um König zu sein über die unsichtbare Welt brauchen wir keine Raumfahrtprogramme und nicht viel Geld. Wir brauchen nur den Mut, uns selbst zu riskieren, indem wir uns vom Geist Gottes in geistig-geistliches Neuland hinausrufen lassen, immer wieder neu suchen und fragen, das Erschrecken nicht fürchten und das Staunen wieder lernen. Gott möchte uns dazu dienen – in jedem Gottesdienst.
Amen.
10.S.n.Tr., 13.08.2023, "Stefan Zweig", Jonakirche, Daniel Kaufmann
„Mögen sie
die Morgenröte noch sehen
nach der langen Nacht.
Ich, allzu Ungeduldiger,
gehe ihnen voraus.“
(Stefan Zweig, 22.2. 1942 in seinem Abschiedsbrief an die Freunde)
Literarischer Abendgottesdienst in 6 Abschnitten
1.Der Dichter
Mit Stefan Zweig treffen wir auf einen der meistgelesenen, erfolgreichsten Schriftsteller und Autoren deutscher Sprache, dessen Werke zudem in über 30 anderen Sprachen übersetzt worden sind. Von Haus aus waren er und sein älterer Bruder Alfred ausgesprochen gut ausgestattet und versorgt: sein Vater erfolgreicher jüdischer Textil-Unternehmer, der es zu einem ganz erklecklichen Wohlstand gebracht hat, die Mutter italienischer Herkunft und aus einer gut betuchten Bankerfamilie, selbstbewusst und standesbewusst. Die Familie legt Wert auf Bildung, die Kinder haben also u.a. auch Sprachen zu lernen. Bei Stefan Zweig sind das: Italienisch, Französisch, Englisch, Deutsch und Latein. Diese Vielsprachigkeit öffnet und ebnet ihm zweifelsohne den Weg in eine literarische Laufbahn. Er kann praktisch ohne Probleme in Paris, Rom, London, Berlin mit den dortigen Intellektuellen und Liebhabern der Sprache parlieren, sich austauschen und auf den neuesten Stand halten.
Bis dahin allerdings ist es noch ein dorniger Weg. Die Schule mit ihrem recht schematischen Lernprogramm bietet ihm, wie er schreibt, sozusagen nichts außer mehr oder weniger abgesessene Zeit. Der Sportunterricht besteht in jenen Tagen aus erstaunlich wenigen Bewegungen und hauptsächlich disziplinarischen Ordnungsübungen. Mädchen werden separat von den Jungens unterrichtet. Im Schwimmbad gibt es da eine klare Trennwand, die akribisch von den Sittenhütern der Moral überwacht wird. Es war, wie Stefan Zweig in „Die Welt von gestern“ schreibt, das Jahrhundert der Sicherheiten. Die Frauen waren eingeschnürt in ein Anstandskorsett, in dem man wenig Luft bekam und sich ohne Riechsalz und Ohnmachtsanfälle so gut wie gar nicht bewegen konnte. Die Männer waren eingepackt mit Kragen, die hochgeschlossen rund um den Hals würgten. Erwachsen wird man in jenen Tagen erst sehr spät, Zweig schreibt, es galt schon als Sensation, wenn einer mit Anfang 40 ein leitendes Amt in Staat oder Gesellschaft einnahm. Richtig ernst genommen würde man erst mit 50 Jahren aufwärts – ideale Bedingungen für die Babyboomer heutiger Tage, möchte man da etwas ironisch vermerken.
In jenen Tagen sind diese Aussichten für junge Menschen nicht ganz so rosig. Das Einzige, was die Jungens und ihr Interesse anzieht, ist die Kultur, die Literatur und das Theater. All das findet außerhalb der Schule statt, zieht mit den Brettern, die die Welt bedeuten, aber viel Aufmerksamkeit auf sich. Die Jungens sind hier immer auf der Höhe, wissen, wann welches Stück mit welchen SchauspielerInnen besetzt ist, jagen und holen sich Autogramme und saugen den Klatsch der Wiener Presse wie ein Schwamm auf. Auch eigene Dichtung und Verse werden auf diese Weise angeregt. Ein Klassenkamerad, ein Jahrhundert-talent, Hugo von Hofmannsthal, spornt alle zu eigenen kreativen Worten an. Da sich abzeichnet, dass der ältere Bruder Alfred die Fabrik des Vaters weiterführt, ist für Stefan der Weg zu einer Laufbahn, in welchem Fachgebiet auch immer, frei. Einzige Bedingung und Forderung der Familie: ein Doktortitel, das ist sich eine Familie in jenen gehobenen Kreisen Wiens schuldig.
Also schreibt sich Stefan Zweig für das Studium der Philosophie in Wien, später in Berlin ein. „Selbstverständlich dachte ich nicht daran, in Berlin zu studieren. Ich habe dort die Universität ebenso wie in Wien nur zweimal im Verlauf eines Semesters aufgesucht, einmal, um die Vorlesung zu inskribieren und das zweite Mal, um mir ihren vorgeblichen Besuch testieren zu lassen.“ (S. Zweig: Die Welt von Gestern, Fünf Bände in Kassette, Band 5, 156, München, Anacondaverlag, 2021) Das macht er acht Semester lang und meldet sich dann zur Promotion an. Ansonsten widmet er sich der Sprache, kleinen Artikeln in renommierten Zeitungen u. a. in der neuen Freien Presse Wiens (Feuilleton), und den Versen, auch ein erster Gedichtband ist bald auf dem Markt: „Silberne Saiten“ 1901. Wie er später schreibt, kein Glanzstück, aber ein respektabler erster Versuch. Auch die Promotion gelingt ihm recht gut, zumal der Professor seine doch schon recht ansehnlichen öffentlichen Essays und Ausführungen sehr wohlwollend zur Kenntnis genommen hat und also bei der Prüfung recht gnädige Fragen stellt, kurzum: Die von der Familie gesteckten Ziele sind erreicht, er hat freie Hand für das, was er auch immer tun will. Aus diesen silbernen Saiten, einem Büchlein noch ohne große Meisterschaft, eine Kostprobe, ein bemerkenswerter Text, der das Buch eröffnet, ein Text, der schon in frühen Jahren den Tod als eine große, unbezwingbare Macht des Lebens beschreibt. (S.Zweig: Silberne Saiten, Gedichte, Fischerverlag, Frankfurt1982, S. 14f)
„Das Lebenslied.
Und jedes Lebensmal, das ich gefühlt,
hat in mir dunkle Klänge aufgewühlt.
Und doch, das eine will mir nie gelingen,
Mein Schicksal in ein Lebenslied zu zwingen,
was mir die Welt in Tag und Nacht gegeben,
in einen reinen Einklang zu verweben.
Ein irres Schiff, allein auf fremdem Meer,
schwankt meine Seele steuerlos einher
Und sucht und sucht und findet dennoch nie
den eig'nen Wiederklang der Weltenharmonie.
Und langsam wird sie ihrer Irrfahrt müd.
Sie weiß: Nur einer ist's, der löst ihr Lied,
der fügt die Trauer, Glück und jeden Drang
in einen tiefen, ewig gleichen Sang.
Nur durch den Tod, der jede Wunde stillt,
wird meiner Seele Wunschgebet erfüllt.
Denn einst, wenn müd mein Lebensstern versinkt,
mit matten Lichtern nur der Tag noch winkt,
da werd' ich sein Erlösungswort verspüren,
er wird mir segnend an die Seele rühren.
Und in mir atmet plötzlich heil'ge Ruh.
Mein Herz verstummt Er lächelt mild mir zu.
Und hebt den Bogen und die Saiten zittern
wie Erntepracht vor drohenden Gewittern,
Und beben, beugen sich – und singen schon
den ersten, sehnsuchtsweichen Silberton.
Wie eine scheue Knospe, die erblüht,
reift aus dem ersten Klang ein süßes Lied.
Da wird mein tiefstes Sehnen plötzlich Wort,
Mein Lebenslied ein einziger Accord.
Und Leid und Freude, Nacht und Sonnenglanz
umfassen sich in reiner Consonanz.
Und in die Tiefen, die noch keiner fand,
greift seine wunderstarke Meisterhand.
Und was nur dumpfer Wesenstrieb gewesen,
weiß er zu lichter Klarheit zu erlösen.
Und wilder wird sein Lied Wie heißes Blut
so rot und voll strömt seiner Töne Flut
und braust dahin, wie schaumgekrönte Wellen,
die trotzig an der eig'nen Kraft zerschellen,
Ein toller Sang lustlechzender Mänaden
ertost es laut in jauchzenden Kascaden.
Und wilder wird der Töne Bacchanal
und wächst zur ungeahnten Sinnesqual.
Und wird ein Schrei, der schrill zum Himmel gellt –
– Dann wirrt der wilde Strom und stirbt und fällt.
Ein Schluchzen noch, das müde sich entringt.
Das Lied verstummt, der matte Bogen sinkt.
Und meine Seele zittert von den Saiten
Zu sphärenklangdurchbebten Ewigkeiten.“
2.Der Pazifist
Finanziell unabhängig, gut ausgestattet, mit Doktortitel und etlichen Publikationen in der Tasche, geben ihm gute Freunde zwei wertvolle und hilfreiche Tipps: Erstens empfehlen sie ihm zu reisen. Das bildet und weitet den Horizont. Das nötige Kleingeld ist vorhanden, also reist Zweig. Es geht nach Paris, Brüssel, Rom und Berlin. Es geht nach Indien und Amerika und diese Reisen verschaffen ihm viele neue Eindrücke über Menschen und Kultur und bescheren ihm dann vor allem: viele wertvolle internationale Kontakte, die ihm in späteren Jahren noch sehr helfen werden. Unter anderem lernt er einige große Dichter und Denker kennen, so auch Emile Verhaeren, einen belgischen Dichter, der in Französisch schreibt. Und hier greift der zweite wichtige Tipp: Er geht gewissermaßen auch nochmal in die Schule, die Lebensschule könnte man sagen, genauer die Sprachschule: Er übersetzt die großen Dichtungen des schon berühmten Dichters ins Deutsche und schärft dabei vor allem seine eigene Sprache. Gerade weil man beim Übersetzen nicht einfach jedes Wort nur 1:1 transferieren kann, sondern den Sinn und Gehalt im Blick haben muss und dann gegebenenfalls auch noch das Versmaß und den Reim, sind das sehr hilfreiche Übungen zur Erweiterung des eigenen Wortschatzes und der eigenen Ausdrucksfähigkeit. In späteren Jahren spürt man dieses akribische und sensible Arbeiten an seinen eigenen Texten.
Im Grunde ist Stefan Zweig also gut auf eine angesehene und renommierte Karriere als Schriftsteller vorbereitet, da ändert der Ausbruch des 1. Weltkrieges alles. Nach den ersten Hallelujagesängen und euphorischen Kriegs-, vor allem Siegeshymnen stellt sich alsbald eine radikale Ernüchterung ein. Zweig arbeitet in einem Kriegsarchiv und im Auftrag der Propaganda, die die Kampfmoral hochhalten bzw. befeuern soll. Im Rahmen seiner Tätigkeit, einer Berichterstattung von der Front, überzeugen ihn die Begegnung mit einem Lazarettzug und die katastrophalen und verrohten Verhältnisse in den Schützengräben alsbald davon, dass dieser Krieg in einem absoluten Desaster enden wird. In ihm jedenfalls rumort die Frage, welchen konstruktiven Beitrag denn eigentlich die Dichter und Denker in Zeiten des Krieges leisten können. Die Waffen segnen? Bildzeitungsartikel schreiben? Einen wegweisenden Impuls erhält er bei einem Besuch in der Schweiz. Hier trifft er Romain Rolland, einen französischen Dichter, Schriftsteller (Literaturnobelpreis 1915) und einen der wenigen Friedensaktivisten jener Tage. Der ist im Auftrag und bei dem Roten Kreuz tätig, im Lazarett und verbindet die Verwundeten, Verstümmelten, die Opfer des Krieges. Das hinterlässt bei Zweig einen bleibenden Eindruck: Er schließt sich den pazifistischen Denkern an. Gewalt ist keine Lösung zur Befriedung eines Konfliktes. Er beginnt mit einem Bühnenwerk, das genau diesem Thema gewidmet ist:
„Jeremias“ (Text ist digital gut erreichbar unter: Zweig, Stefan (projekt-gutenberg.org) heißt es und orientiert sich an der biblischen Vorlage. Erstaunlicherweise muss er da gar nicht viel umschreiben: Im Grunde muss er den Text nur in passende Verse gießen. Denn das Jahr 589 vor Christus zeigt gewisse Parallelen zur Gegenwart (sc. den 1. Weltkrieg):
Der König von Juda, Zedekia, schmiedet ein Bündnis mit Ägypten, um sich von der Herrschaft des Nebukadnezars, des Königs von Babylon zu befreien.
Alles jauchzt und schreit begeistert angesichts der neu gewonnenen Stärke. Aber nicht allzu lang. Nebukadnezar schlägt zurück, Ägypten gibt klein bei bzw. wird militärisch besiegt und bald steht Nebukadnezar vor den Toren Jerusalems. Jeremias, der Prophet, der von Anfang an von diesem Aufstand abgeraten hat, versucht den König von einer friedlichen Lösung zu überzeugen: Besser jetzt klein beigeben als ein ganzes Volk zu verderben. Der König lehnt ab. Nach ca. 18monatiger Belagerung bricht der Widerstand zusammen, Zedekias Kinder werden umgebracht, er selbst geblendet, die Eliten abgeführt, das Volk, am Boden zerstört, erkennt, dass der Prophet Recht behalten hat. Ein Klage- und Bußgesang hebt an. Zweig schreibt dieses Werk wohl über dri Jahre, 1917 ist es fertig und auf den Markt gebracht und hat überwältigenden Erfolg. Es trifft wohl einen Nerv der Zeitgenossen, die sich nach drei Jahren Krieg nichts mehr wünschen als Frieden. In kurzer Zeit sind 20 000 Exemplare verkauft und das Stück wird auf die Bühne gebracht. Spätestens wenn die Anzahl der Leichen für die Gedenktafeln zu viele werden und wenn die traumatisierten, verstümmelten, deformierten Körper und Seelen sichtbar für alle das zivile Leben erreichen, setzen die Überlegungen für den Frieden ein. Das dürfte auch heute so sein. Zweig hat diese Beobachtung/Erkenntnis in zahlreichen anderen Erzählungen aufgenommen. Besonders eindrücklich in der Novelle „Der Zwang“. Zweig, Stefan (projekt-gutenberg.org), von der wir hier eine kurze Zusammenfassung hören:
„Der junge deutsche Maler Ferdinand R. aus M. hat sich in einem Dorf über dem Zürichsee eine kleine Wohnung gemietet und ein Atelier eingerichtet und lebt dort mit seiner Frau. Der tiefe Frieden erweist sich als trügerisch. Er erhält per Post in seinem Haus einen Stellungsbefehl aus Deutschland. Seine Ehefrau Paula redet ihm ein, er müsse dem Befehl nicht nachkommen, denn er sei ein freier Mann in einem freien Land. Kanonenfutter für den weiteren Krieg gegen Frankreich sei aus der Schweiz nicht zu haben. Ferdinand aber bekommt keine Ruhe mehr. Sein Gewissen meldet sich. Die Pflicht ruft ihn. Das Vaterland braucht ihn. Gewalt kann nur durch Gewalt beendet werden. Gehorsam macht er sich auf den Weg in sein Heimatland. An der Staatsgrenze aber hat der Maler eine erschütternde Begegnung mit schwer verwundeten französischen Soldaten. Vor dem Übertritt über die Grenze besinnt er sich und kehrt zurück zu seiner Frau Paula.“ Wenn der Preis für den Krieg in die Höhe schnellt und die Folgen genug Leben verstümmelt und vernichtet hat, steigen die Chancen der Pazifisten und Friedensbewegten – eine bittere Lehre und Wahrheit.“
3.Der Europäer
Nach dem ersten Weltkrieg beginnt das erfolgreichste Jahrzehnt im Leben Stefan Zweigs. Sein Bühnenstück „Jeremias“ hat voll eingeschlagen. Seine Botschaft vom Frieden trifft überall auf offene Ohren. Ein großes, teilweise auch demütiges Aufatmen beginnt. Die Menschen sind froh, dass sie mit dem Leben davongekommen sind. Und sie saugen begierig auf, was die Dichter und Denker ihnen an Nahrung für den Alltag zu lesen geben. Auch und vor allem Stefan Zweigs Novellen haben Erfolg. Der Inselverlag (mit dem Gründer Anton Knippenberg) wird sein Hausverlag. Auch privat tut sich etwas: Er lässt sich in Salzburg nieder. Er wohnt im Paschinger Schlössl am Kapuzinerberg. Zu Beginn des Jahres 1920 heiratet er Friderike von Winternitz, eine frühe Verehrerin seiner Dichtkunst. Sie bringt zwei Mädchen aus einer ersten Ehe mit in die Beziehung, mit denen Zweig allerdings nur bedingt gut zurechtkommt. Da Friderike recht tolerant, besser leidensfähig, ist, hält diese Beziehung einiges aus und währt immerhin auch knapp 15 Jahre.
In Salzburg besuchte ihn die geistige Elite Europas. Dichter, Maler, Musiker, Denker, alle geben sich bei Zweig ein Stelldichein (u.a. auch Hesse, Rilke). Und Zweig lässt sich von der Idee anstecken, dass Europa geistig geeint werden kann. Unter anderem durch die Kultur schaffenden Dichter und Denker, die sich international von West bis Ost vernetzen und gegenseitig Anregungen geben und eine Humanität befördern, die einen weiteren Krieg unmöglich machen soll/wird. Zweig ist so u.a. auch in Russland unterwegs, Maxim Gorki ist ein aufmerksamer Leser seiner Bücher und Essays. Das verbindet.
Zweig ist auf dem Gipfel seines Schaffens angekommen: Er hat eine geradezu geniale Beobachtungsgabe. Und vermag Konflikte und Spannungen des Lebens so in Worte zu fassen, dass diese Worte beim Lesen geradezu zu einem lebendigen Film werden. Ich bin da im Urlaub mehrmals in seine bildhafte Welt getaucht. Dazu ist Zweig ein messerscharfer Chronist der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse seiner Zeit. In seinem Spätwerk „Die Welt von gestern“ (Angaben, siehe oben) etwa beschreibt er Atmosphäre und Besonderheiten der zwanziger Jahre, die merkwürdigerweise oder zufälligerweise eine Reihe von Parallelen zu unserer Gegenwart aufweisen. Einer bis dahin nie erlebten Inflation mit verheerenden Folgen korrespondiert ein Aufbruch in zahlreichen Bereichen der gut bürgerlichen Gesellschaft. Wir hören eine Passage aus S. Zweig: Die Welt von gestern, München 2021, Seite 397-401:
„Eine ganz neue Jugend glaubte nicht mehr an ihre Eltern, den Politikern, den Lehrern; jede Verordnung, jede Proklamation des Staates wurde mit misstrauischem Blick gelesen. Mit einem Ruck emanzipierte sich die Nachkriegsgeneration brutal von allem bisher Gültigen und wandte jedweder Tradition den Rücken zu, entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, weg von alten Vergangenheiten und mit einem Schwung in die Zukunft.
Eine vollkommen neue Welt, eine ganz andere Ordnung sollte auf jedem Gebiete des Lebens mit ihr beginnen; und selbstverständlich begann alles mit wilden Übertreibungen. Wer oder was nicht gleichaltrig war, galt als erledigt. Statt wie vordem mit ihren Eltern zu reisen, zogen elfjährige, zwölfjährige Kinder in organisierten und sexuell gründlich instruierten Scharen als Wandervögel durch das Land bis nach Italien und an die Nordsee. In den Schulen wurden nach russischem Vorbild Schülerräte eingesetzt, welche die Lehrer überwachten, der Lehrplan umgestoßen, denn die Kinder sollten und wollten bloß lernen, was ihnen gefiel. Gegen jede gültige Form wurde aus bloßer Lust an der Revolte revoltiert, sogar gegen den Willen der Natur, gegen die ewige Polarität der Geschlechter. Die Mädchen ließen sich die Haare schneiden und zwar so kurz, dass man sie in ihren Bubiköpfen von Burschen nicht unterscheiden konnte, die jungen Männer wiederum rasierten sich die Bärte, um mädchenhafter zu erscheinen, Homosexualität und Lesbierinnentum wurde nicht aus innerem Trieb, sondern als Protest gegen die althergebrachten, die legalen, die normalen Liebesformen große Mode. Jede Ausdrucksform des Daseins bemühte sich, radikal und revolutionär aufzutrumpfen, selbstverständlich auch die Kunst. Die neue Malerei erklärte alles, was Rembrandt, Holbein und Velasquez geschaffen, für abgetan und begann die wildesten kubistischen und surrealistischen Experimente. Überall wurde das verständliche Element verfemt, die Melodie in der Musik, die Ähnlichkeit im Porträt, die Fasslichkeit der Sprache. Die Artikel „der die das“ wurden ausgeschaltet, der Satzbau auf den Kopf gestellt, man schrieb steil und kess im Telegrammstil, mit hitzigen Interjektionen, außerdem wurde jede Literatur, die nicht aktivistisch war, das heißt nicht politisch theoretisierte, auf den Müllhaufen geworfen. Die Musik suchte starrsinnig eine neue Tonalität und spaltete die Takte, die Architektur drehte die Häuser von innen nach außen, im Tanz verschwand der Walzer vor kubanischen und negroiden Figuren, die Mode erfand mit starker Betonung der Nacktheit immer andere Absurditäten, im Theater spielte man Hamlet im Frack und versuchte explosive Dramatik. Auf allen Gebieten begann eine Epoche wildesten Experimentierens, die alles Gewesene, Gewordene, Geleistete mit einem einzigen hitzigen Sprung überholen wollte; je jünger einer war, je weniger er gelernt hatte, desto willkommener war er durch seine Unverbundenheit mit jeder Tradition – endlich tobte sich die große Rache der Jugend gegen unsere Elternwelt triumphierend aus. Aber inmitten dieses wüsten Karnevals bot mir nichts ein tragikomischeres Schauspiel als zu sehen, wie viele Intellektuelle der älteren Generation in der panischen Angst, überholt zu werden und als unaktuell zu gelten, sich verzweifelt rasch eine künstliche Wildheit anschminkten und auch den offenkundigsten Abwegen täppisch hinkenden Schritts nachzuschleichen suchten.
Biedere, brave, graubärtige Akademieprofessoren übermalten ihre einstigen, jetzt unverkäuflich gewordenen Stillleben mit symbolischen Würfeln und Kuben, weil die jungen Direktoren alle andern Bilder als zu klassizistisch aus den Galerien räumten und ins Depot stellten. Schriftsteller, die jahrzehntelang ein rundes, klares Deutsch geschrieben, zerhackten folgsam ihre Sätze und exzedierten in Aktivismus; behäbige preußische Geheimräte dozierten auf dem Katheder Karl Marx, alte Hofballerinen tanzten dreiviertelnackt mit gestellten Verrenkungen die Appassionata Beethovens und Schönbergs Verklärte Nacht. Überall lief das Alter verstört der letzten Mode nach; es gab plötzlich nur den einen Ehrgeiz, „jung“ zu sein und hinter der gestern noch aktuellen eine noch aktuellere, noch radikalere und noch nie dagewesene Richtung prompt zu erfinden…
Welch eine wilde, anarchische, unwahrscheinliche Zeit, jene Jahre, da mit dem schwindenden Wert des Geldes alle anderen Werte in Österreich und Deutschland ins Rutschen kamen! Eine Epoche begeisterter Ekstase und wüster Schwindelei, eine einmalige Mischung von Ungeduld und Fanatismus. Alles, was extravagant und unkontrollierbar war, erlebte goldene Zeiten: Theosophie, Okkultismus, Spiritismus, Somnambulismus, Anthroposophie, Handleserei, Grafologie, indische Yogilehren und paracelsischer Mystizismus. Alles, was äußerste Spannungen über die bisher bekannten hinaus versprach, jede Form des Rauschgifts, Morphium, Kokain und Heroin, fand reißenden Absatz, in den Theaterstücken bildeten Inzest und Vatermord, in der Politik Kommunismus oder Faschismus die einzig erwünschte extreme Thematik; unbedingt verfemt hingegen war jede Form der Normalität und der Mäßigung. Aber ich möchte sie nicht missen, diese chaotische Zeit, nicht aus meinem eigenen Leben, nicht aus der Entwicklung der Kunst. Wie jede geistige Revolution im ersten Anschwung orgiastisch vorstoßend, hat sie die Luft vom Stickig-Traditionellen reingefegt, die Spannungen vieler Jahre entladen, und wertvolle Anregungen sind trotz allem von ihren verwegenen Experimenten zurückgeblieben. So sehr uns ihre Übertriebenheiten befremdeten, wir fühlten doch kein Recht, sie zu tadeln und hochmütig abzulehnen, denn im Grunde versuchte diese neue Jugend gutzumachen – wenn auch zu hitzig, zu ungeduldig – was unsere Generation durch Vorsicht und Abseitigkeit versäumt. Im Innersten war ihr Instinkt richtig, dass die Nachkriegszeit anders sein müsse als die des Vorkriegs; und eine neue Zeit, eine bessere Welt – hatten wir Älteren sie nicht ebenso gewollt…?“
4.Der „Mystiker“
Zweigs Texte, Geschichten und Erzählungen kreisen durchweg um die besonderen Momente und Konstellationen des Daseins. Eine schicksalhafte Begegnung zweier Menschen im Casino. Eine kurze Schlussnotiz aus einem Testament. Die unsterbliche Liebe eines Menschen mit Handicap.
Ein Arzt, der den entscheidenden Moment bei der Hilfe für einen geliebten Menschen verpasst, ein alternder Vater, der in einem überaus klaren Moment im Urlaub verbittert feststellen muss, dass er diese Welt mit ihren Eitelkeiten nicht mehr versteht. In und bei allen diesen Augenblicken wird etwas von dem Geheimnisvollen des Daseins sichtbar. Da blitzt fast so eine Art Mystik durch. Ein Stück Transzendenz. Ein geradezu göttlicher Impuls, der für eine überraschende Wendung, ein eindrückliches Erlebnis, eine letzte Weisheit, eine lehrreiche Erkenntnis sorgt. Zweig war nicht besonders gläubig, und soweit ich sehe, keiner dogmatischen Tradition besonders zugeneigt. Er war da vielmehr immer sehr skeptisch, weil im Grund genommen mit jedem Glauben ein gewisser Dogmatismus, mit jeder Rechthaberei fast immer Fanatismus und Unfrieden einhergeht. So steht Zweig auch einem Johannes Calvin oder einen Martin Luther eher distanziert gegenüber, weil die bei aller genialen Schaffenskraft doch menschlich einiges zu wünschen übriglassen. Bei Calvin ist das etwa die Idee, in Genf eine christlich kontrollierte Gottesstadt zu schaffen. Das ließ nicht sehr viel Spielraum für Toleranz und Andersdenkende und führt bekanntlich dazu, dass etwa ein recht unschuldiger Denker wie Servet auf dem Scheiterhaufen brennen musste. (sehr lesenswert dazu: S. Zweig: Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt, Projekt Gutenberg)
Von Luther wissen wir, dass er gerade in den letzten Jahren ziemlich cholerisch und wütend unterwegs war und seine Ausfälle gegenüber Juden, Muslimen, Hexen, Behinderten sind alles andere als ein Ruhmesblatt. Zweig waren diese Eiferer und Weltveränderer gerade in ihrer apodiktischen Form höchst suspekt. Er sympathisierte mit den feinen Geistern wie dem Humanisten Erasmus (hier sehr inspirierend: S. Zweig: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam, Projekt Gutenberg) oder dem Menschenfreund Castellio (s.o), die zur Durchsetzung ihrer Ziele auf jegliche Gewalt verzichteten und sich aus der Hitze der aufgeheizten Debatten zurückzogen. Zweig tut sich mit allzu dynamischen Vertretern der Institution Kirche also schwer. Sie sind ihm zu laut, zu einseitig, zu drängerisch, zu ungeduldig, zu intolerant. Nichtsdestotrotz hat er ein untrügliches Gespür dafür, dass es im Leben zuweilen auch um letzte Gewissheiten und letzte Überzeugungen geht. Für mich das herausragendste Zeugnis dieser Art stammt aus den „Sternstunden der Menschheit“. Es ist die Erzählung von G.F. Händels Auferstehung, genauer: der Moment, in dem der „Messias“ eines der großartigsten Oratorien der Weltgeschichte entsteht.
„Händel war“, so schreibt es Zweig, „in einer Art Schaffenskrise. Nach einem Schlaganfall hatte er sich mühsam wieder ins Leben zurückgekämpft, aber die genialen Einfälle und kreativen Ideen wollten sich nicht mehr einstellen. Schon drohte ihm das Schicksal eines erloschenen musikalischen Vulkans, von allen Seiten nur Leere und Scheitern. Da kommt das Libretto von Jennens, dem Dichter, der ihm auch den Text zu Saul und Israel in Ägypten geschrieben hat, auf den Tisch. „The Messiah“ stand auf der ersten Seite…
„Er schlug das Titelblatt um und begann zu lesen. Beim ersten Wort fuhr er auf. „Comfort ye“, so begann der geschriebene Text. Sei getrost! Wie ein Zauber war es, dieses Wort – nein, nicht Wort: Antwort war es, göttlich gegeben, Engelsruf aus verhangenen Himmeln in sein verzagendes Her. „Comfort ye“ – wie dies klang, wie es aufrüttelte innen die verschüchterte Seele, schaffendes, erschaffendes Wort. Und schon, kaum gelesen, kaum durchfühlt, hörte Händel es als Musik, in Tönen schwebend, rufen, rauschend, singend. O Glück, die Pforten waren aufgetan, er führte, er hörte wieder in Musik! Die Hände bebten ihm, wie er nun Blatt um Blatt wandte. Ja, er war aufgerufen, angerufen, jedes Wort griff in ihn ein mit unwiderstehlicher Macht. So spricht der Herr, war dies nicht ihm gesagt, und ihm allein, war dies nicht dieselbe Hand, die ihn zu Boden geschlagen, die ihn nun selig aufhob von der Erde? …. Ihm war es gesagt, nur ihm allein, dieses „Ruf aus dein Wort mit Macht, oh, ausrufen, dies, ausrufen mit der Gewalt der dröhnenden Posaunen, des brausenden Chors, mit dem Donner der Orgel, das noch einmal wie am ersten Tag das Wort, der heilige Logos, die Menschen erwecke, sie alle, die andern, die noch verzweifelt im Dunkel gingen, denn wahrlich, noch deckt Dunkel die Erde, noch wissen sie nicht um die Seligkeit der Erlösung, die ihm in dieser Stunde geschehen. Und kaum gelesen, schon brauste er ihm auf, vollgeformt, der Dankruf, wonderful, „counsellor“, „the mighty God“, der mächtige Gott, ja, so ihn preisen, den Wundervollen, der Rat wusste und Tat, ihn der den Frieden gab den verstörten Herzen! … Wie da nicht danken, wie nicht aufjauchzen und jubeln mit tausend Stimmen in der einen und eigenen, wie nicht singen und lobpreisen: „Glory to God!“ Händel beugte sein Haupt über die Blätter wie unter großem Sturm. Alle Müdigkeit war dahin. So hatte er nie seine Kraft gefühlt, noch nie sich ähnlich durchströmt empfunden von aller Lust des Schöpfertums. Und immer wieder wie Güsse von warmem, lösendem Licht strömten die Worte über ihn, jedes in sein Herz gezielt, beschwörend, befreiend! „Rejoice“, Freue dich – wie dieser Chorgesang herrlich aufriss, unwillkürlich hob er das Haupt und die Arme spannten sich weit. Er ist der wahre Helfer – ja, dies wollte er bezeugen, wie nie es ein Irdischer getan, aufheben wollte er sein Zeugnis wie eine leuchtende Tafel über die Welt. Nur der viel gelitten, weiß um die Freude, nur der Geprüfte ahnt die letzte Güte der Begnadigung, sein ist es, vor den Menschen zu zeugen von der Auferstehung um des erlebten Todes willen. ….“Lift up your heads“. Erhebt eure Häupter wie das tönend nun aus ihm drang, großer Befehl der Verkündigung! Und plötzlich erschauerte er, denn da stand, von des armen Jennens Hand geschrieben: „The Lord gave the word“. Der Atem stockte ihm. Hier war Wahrheit gesagt durch einen zufälligen Menschenmund: Der Herr hatte ihm das Wort gesandt, von oben war es an ihn ergangen. Von ihm kam das Wort, von ihm kam der Klang, von ihm die Gnade! Zu ihm zurück muss es gehen, zu ihm aufgehoben werden von der Flut des Herzens, ihm lobzusingen, war jedes Schaffenden Lust und Pflicht. ….“Halleluja! Halleluja! Halleluja!“
Ja, alle Stimmen dieser Erde darin zusammenfassen, die hellen und die dunklen, die beharrende des Mannes, die nachgiebige der Frau, sie füllen und steigern und wandeln, sie binden und lösen im rhythmischen Chore, sie aufsteigen lassen und niedersteigen die Jakobsleiter der Töne, sie beschwichtigen mit dem süßen Strick der Geigen, sie anfeuern mit dem scharfen Stoß der Fanfaren, sie brausen lassen im Donner der Orgel: Halleluja! Halleluja! Halleluja aus diesem Wort, aus diesem Dank einen Jubel schaffen, der von dieser Erde zurückdröhnte bis zum Schöpfer des Alls!“ (S. Zweig, Gesammelte Werke, München 2022, Anacondaverlag, 661-665)
5.Der Jude
Heute, an diesem Tag (13.8.2023) ist der Israelsonntag angesiedelt, jener Tag, an dem die rheinische Kirche insbesondere und gesondert einige Gedanken zu dem Verhältnis von Christen und Juden in Erinnerung bringt. Auch bei Stefan Zweig gibt es ein jüdisches Vermächtnis. Er und seine Familie sind dem liberalen Judentum zuzuordnen. Wichtiger als die nationale oder Volkszugehörigkeit war den Zweigs allerdings die Zugehörigkeit zur abendländisch-christlichen Kultur. Aus früheren Jugendjahren sind eine Reihe Gespräche und Treffen von Stefan Zweig mit Theodor Herzl, dem Haupt-Begründer des politischen Zionismus, überliefert. (S. Zweig: Die Welt von Gestern, Anacondaverlag, München 2021, 141-154) Diese Gespräche hatten sich im Zusammenhang der Arbeit bei der „Neuen Freien Presse“ dessen Feuilltonteil Herzl leitete, ergeben. Während Herzl ein glühender Vertreter und Bewerber der Idee von einem jüdischen Staat war, konnte sich Zweig für diese Variante wenig erwärmen. Die Jüdische Nation verwirklicht sich am besten als globale Kulturnation, nicht aber in Form eines eigenen Staatswesens, so Zweig. Ähnlich argumentierten die großen deutschen Dichter um 1800, als Napoleon halb Europa in Atem hielt und klar war, dass es mit deutscher nationaler Größe nichts werden wird. Auch dort der Gedankengang einer globalen Kulturnation, die sich segensreich auf alle Völker auswirkt.
Also politisch konnte und wollte Stefan Zweig lange Zeit nichts zu seinen jüdischen Wurzeln sagen, wurde dann aber Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre sehr unsanft durch den aufstrebenden NS-Staat unter Adolf Hitler geweckt. Wie empfindlich die Nazis jede erdenkliche Kritik zu ersticken trachteten, hat Zweig erlebt, als seine Novelle „Brennendes Geheimnis“ (1911 geschrieben) verfilmt und just in jenen Tagen in die Kinos kommen sollte, als der Reichstag 1933 brannte. Der Film wurde zügig abgesetzt, obwohl es darin überhaupt nicht um den Reichstag, auch nicht ansatzweise um Politik, sondern um eine mehr oder weniger problematische unerfüllte Liebesgeschichte zwischen einem etwas luftigen Baron und einer verheirateten Frau und ihrem zwölfjährigen Sohn ging. (S. Zweig: Die Welt von gestern, Anacondaverlag, München, 485) Die Nazis wollten eben auch jeden Hauch einer Anspielung auf etwaige politische Verdächtigungen oder Machenschaften zuvorkommen. Ernsthaft und bedrückender war indes ein von der Geheimpolizei unter dem Vorwand, Zweig hätte in seinem Haus Waffen versteckt, durchgeführte Durchsuchung seiner Räumlichkeiten. Natürlich fanden sie nichts, Zweig indes, sensibel für die Zeichen der Zeit, spürte in diesem übergriffigen Akt die Vorboten weiterer noch schlimmerer Zugriffe und beschloss recht schnell und adhoc, Österreich zu verlassen. Es ging Richtung England ins Exil, ohne seine Frau und deren beiden Töchter, die lieber in Österreich bleiben wollten. Allein seine Sekretärin Charlotte Altmann folgte ihm. Mag sein, dass diese neuerliche Wendung in seinem Leben auch für die endgültige Trennung von seiner Frau verantwortlich war, ab jetzt fühlte er den heißen Atem der Nazis mehr oder weniger überall in nächster Nähe.
Als der zweite Weltkrieg ausbrach, galt er auch in England, das seine Bücher gerne las und ihn als Schriftsteller achtete, als „feindlicher Gast“. So heiratete er 1939 seine Sekretärin und beschloss, Europa zu verlassen. Es ging zunächst in die USA und anschließend nach Brasilien, jenem Land, das gleichermaßen von seinen Werken begeistert Visum und Asyl bot. Hier ließ er sich in Petropolis nieder, einem nahe Rio gelegenen Luftkurort und zugleich „Künstlerkolonie“. Und hier entstanden auch seine beiden letzten großen Werke: Die „Schachnovelle“, die sicher biographisch motiviert die Traumata eines diktatorischen Systems meisterhaft in eine Erzählung bannt und das große sehr lesenswerte Werk: „Die Welt von Gestern“, in dem er sein Leben mit den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen der letzten 50 Jahre zusammenfasste und kommentierte. Darin gibt es auch einen Abschnitt zu der Frage, was es mit den Juden, mit Hiob, mit jener Warum-Frage auf sich hat, die das jüdische Volk wie kein Zweites mit sich herumträgt und in immer neuen Wendungen verarbeitet hat. (S. Zweig: Die Welt von gestern, Anacondaverlag, München, 562- 564)
„Aber das Tragischste in der jüdischen Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts war, dass die sie erlitten keinen Sinn mehr in ihr finden konnten und keine Schuld. All die Ausgetriebenen der mittelalterlichen Zeiten, ihre Urväter und Ahnen, sie hatten zumindest gewusst, wofür sie litten: für ihren Glauben, für ihr Gesetz. Sie besaßen noch als Talisman der Seele, was diese von heute längst verloren, das unverbrüchliche Vertrauen in ihren Gott. Sie lebten und litten in dem stolzen Wahn, als auserlesenes Volk vom Schöpfer der Welt und der Menschen bestimmt zu sein für besonderes Schicksal und besondere Sendung, und das verheißende Wort der Bibel war ihnen Gebot und Gesetz. Wenn man sie auf den Brandstoß warf, pressten sie die ihnen heilige Schrift an die Brust und spürten durch diese innere Feurigkeit nicht so glühend die mörderischen Flammen. Wenn man sie über die Länder jagte, blieb ihnen noch eine letzte Heimat, ihre Heimat in Gott, aus der keine irdische Macht, kein Kaiser, kein König, keine Inquisition sie vertreiben konnte.
Solange die Religion sie zusammenschloss, waren sie noch eine Gemeinschaft und darum eine Kraft; wenn man sie ausstieß und verjagte, so büßten sie für die Schuld, sich bewusst selbst abgesondert zu haben durch ihre Religion, durch ihre Gebräuche von den anderen Völkern der Erde. Die Juden des zwanzigsten Jahrhunderts aber waren längst keine Gemeinschaft mehr. Sie hatten keinen gemeinsamen Glauben, sie empfanden ihr Judesein eher als Last denn als Stolz und waren sich keiner Sendung bewusst. Abseits lebten sie von den Geboten ihrer einstmals heiligen Bücher, und sie wollten die alte, die gemeinsame Sprache nicht mehr. Sich einzuleben, sich einzugliedern in die Völker um sie, sich aufzulösen ins Allgemeine, war ihr immer ungeduldigeres Streben, um nur Frieden zu haben vor aller Verfolgung, Rast auf der ewigen Flucht. So verstanden die einen die andern nicht mehr, eingeschmolzen wie sie waren in die andern Völker. Franzosen, Deutsche, Engländer, Russen längst mehr als Juden. Jetzt erst, da man sie alle zusammenwarf und wie Schmutz auf den Straßen zusammenkehrte, die Bankdirektoren aus ihren Berliner Palais und die Synagogendiener aus den orthodoxen Gemeinden, die Pariser Philosophieprofessoren und die rumänischen Droschkenkutscher, die Leichenwäscher und Nobelpreisträger, die Konzertsängerinnen und die Klageweiber der Begräbnisse, die Schriftsteller und die Branntweinbrenner, die Besitzenden und die Besitzlosen, die Großen und die Kleinen, die Frommen und die Aufgeklärten, die Wucherer und die Weisen, die Zionisten und die Assimilierten, die Aschkenasi und die Sephardim, die Gerechten und die Ungerechten, und hinter ihnen noch die verstörte Schar derer, die längst dem Fluche entflüchtet zu sein glauben, die Getauften und die Gemischten – jetzt erst zwang man den Juden zum ersten Mal seit Hunderten Jahren wieder eine Gemeinsamkeit auf, die sie längst nicht mehr empfunden, die seit Ägypten immer wiederkehrende Gemeinsamkeit der Austreibung. Aber warum dies Schicksal ihnen und immer wieder ihnen allein? Was war der Grund, was der Sinn, was das Ziel dieser sinnlosen Verfolgung? Man trieb sie aus den Ländern und gab ihnen kein Land. Man sagte: Lebt nicht mit uns, aber man sagte ihnen nicht, wo sie leben sollten. Man gab ihnen die Schuld und verweigerte ihnen jedes Mittel, sie zu sühnen. Und so starrten sie sich an auf der Flucht mit brennenden Augen – warum ich? Warum du? Warum ich mit dir, den ich nicht kenne, dessen Sprache ich nicht verstehe, dessen Denkweise ich nicht fasse, mit dem mich nichts verbindet? Warum wir alle? Und keiner wusste Antwort. Selbst Siegmund Freud, das klarste Ingenium dieser Zeit, mit dem ich oft in jenen Tagen sprach, wusste keinen Weg, keinen Sinn in diesem Widersinn. Aber vielleicht ist es gerade des Judentums letzter Sinn, durch seine rätselhaft überdauernde Existenz Hiobs ewige Frage an Gott immer wieder zu wiederholen, damit sie nicht völlig vergessen werde auf Erden.“
6.Der Humanist
Letzte Zufluchtsort Petropolis. Der zunächst als Diktator, später als Präsident gewählte Getulio Vargas, ein begeisterter Fan von Zweigs Werken, gewährt ihm unbeschränktes Aufenthaltsrecht und Asyl in Brasilien, jenem Land, dem Zweig aus Dankbarkeit, möglicherweise auch aus echter Begeisterung, ein eigenes Buch gewidmet hat, in dem er es als Sehnsuchtsort und Zukunftsland beschrieb. Das entsprach mit etwas Abstand gesehen, nicht ganz der politischen Wirklichkeit, wohl aber einem inneren Bedürfnis von Stefan Zweig: Endlich an einem Ort, an dem ihm die Schergen der Nazis nicht mehr oder sollte man besser sagen: noch nicht erreichen konnten. Denn die Nachrichten in jenen Tagen sind bedrückender als je zuvor. Paris ist besetzt, halb Europa von den Nazis schon erobert, dazu hat Japan den USA den Krieg erklärt, Pearl Harbour macht deutlich, dass dieser Krieg noch lange nicht zu Ende gehen wird. Eine Reihe von deutschen U-Booten versenken vor den Hafenstädten Brasiliens diverse Transport- und Passagierschiffe. Für Stefan Zweig zieht sich die Schlinge immer weiter zu.
Er bringt jedenfalls nicht mehr die Kraft auf (wie noch im und nach dem ersten Weltkrieg und bis weit in die dreißiger Jahre hinein), sich noch einmal gegen den Untergang zu stemmen. Seine Hoffnung, dass die Dichter, Denker, Humanisten, Gutgläubigen dieser Welt die Barbarei aufhalten oder gar überwinden könnten, schwindet ihm. Er sieht keinen letzten Anker für sich und sein Leben mehr, der Freitod scheint ihm die logischste und sinnvollste Variante zu sein. Und so nimmt er sich am 23. Februar 1942 mit einer Überdosis Veronal das Leben. Sein letztes literarisches Vermächtnis ist ein Gedicht, das seinen Gemütszustand in diesen Tagen gut wiedergibt. (Stefan Zweig: Silberne Saiten, Fischerverlag,Frankfurt1982, 270)
„Linder schwebt der Stunden Reigen
Über schon ergrautem Haar,
Denn erst an des Bechers Neige
Wird der Grund, der gold’ne klar.
Vorgefühl des nahen Nachtens
Es verstört nicht – es entschwert!
Reine Lust des Weltbetrachtens
Kennt nur, wer nichts mehr begehrt,
Nicht mehr fragt, was er erreichte,
Nicht mehr klagt, was er gemißt,
Und dem Altern nur der leichte
Anfang seines Abschieds ist.
Niemals glänzt der Ausblick freier
Als im Glast des Scheidelichts,
Nie liebt man das Leben treuer
Als im Schatten des Verzichts.“
Der Schierlingsbecher ist ihm bereitet, er sieht sich in einem folgerichtigen Abschied von der Welt gestellt und beschließt, diesen letzten Akt der Verzweiflung zu vollziehen. Seine Lebensgefährtin Charlotte Altmann folgt ihm unmittelbar. Der an seiner Zeit, genauer: an der Brutalität seiner österreichischen und deutschen Landsleute zerbrochene Emigrant fühlte sich endlich „entschwert“. Seinen Freunden ruft er diese letzten Zeilen zu: „Ehe ich aus freiem Willen und mit klaren Sinnen aus dem Leben scheide, drängt es mich eine letzte Pflicht zu erfüllen: diesem wundervollen Lande Brasilien innig zu danken, das mir und meiner Arbeit so gute und gastliche Rast gegeben. Mit jedem Tage habe ich dies Land mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet. Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschließen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen: Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus. Stefan Zweig Petropolis 22. II 1942 (zitiert nach: Abschiedsbrief Stefan Zweigs – Wikisource)
Die Öffentlichkeit ist erschüttert, die Dichterkollegen sind bestürzt, teilweise auch mit großem Unverständnis unterwegs, später relativiert sich so mancher moralischer Schnellschuss. Das Leben ist weit mehr als ein auskömmliches Essen und Trinken, ein Dach überm Kopf, ein Bankkonto für die finanzielle Sicherheit. Das Leben ist mehr als ein paradiesische Naturumfeld/Luftkurort mit üppigem Sonnenschein und ausreichend Regen. Das Leben ist mehr als Briefkorrespondenz, Anerkennung, Erfolg, Lobpreisungen und Auszeichnungen. Das Leben ist im letzten Grunde Zugehörigkeit. Die findet man als Humanist und Agnostiker im fremden Land nur schwer oder gar nicht. Und das ist vielleicht die eigentliche Tragik dieses Todes: Dass da kein Halt, kein Anker, keine Bezugsgröße da ist, mit der man die schwierigen Zeiten überleben kann. Diese Zugehörigkeit ist und bleibt ein Geschenk, ein Geschenk, das man hoffentlich und immer wieder aber im Vertrauen auf den findet, der uns in seinen Händen hält, auch und gerade dann wenn wir sonst keinen Halt mehr finden. Deshalb und darum jetzt ein Lied, das an diesen letzten Halt erinnert:
Jonasingers: I almost let go
1.I almost let go Ich hätte fast losgelassen
I felt like I just Ich hatte den Zugriff auf das
couldn´t take life anymore. Leben irgendwie verloren.
My problems hat me bound Meine Probleme banden mich
Depression weighed me down Depressionen drückten mich
But God held me close, Aber Gott hielt mich fest
so I wouldn´t let go. So wurde ich nicht losgelassen
God´s mercy kept me Gottes Gnade hielt mich
So I wouldn´t let go. (2x) so wurde ich nicht losgelassen
Refr.So I´m here today So bin ich heute hier
because God kept me weil Gott mich hält
I´m alive today Ich bin lebendig
Only because of his grace allein auf Grund seiner Gnade
Oh, he kept me. Oh, er hält mich
God kept me. He kept me Gott hält mich. Er hält mich
so I wouldn´t let go. Deshalb lasse ich nicht mehr los.
- I almost gave up. Ich hätte fast losgelassen
I was right at the edge Ich war nah dran an einem
of a break- through Zusammenbruch,
but couldn´t see. Ich konnte nichts mehr sehen
The devil really had me Der Teufel hatte mich im Griff
But Jesus came aber Jesus kam
and grabbed me und ergriff mich
And he held me close, und hielt mich ganz fest
so I wouldn´t let go. Deshalb ließ ich nicht mehr los
God´s mercy kept me Gottes Gnade hält mich
so I wouldn´ t let go. Darum lasse ich nicht mehr los
Refr.So I´m here today… So bin ich heute hier
Refr.So I´m here today So bin ich heute hier
because God kept me weil Gott mich hält
I´m alive today Ich bin lebendig
Only because of his grace allein auf Grund seiner Gnade
Oh, he kept me. Oh, er hält mich
God kept me. He kept me (3x) Gott hält micht Er hält mich
…so I wouldn´t let go. Deshalb lasse ich nicht mehr
P.S. Wesentliche Erkenntnisse zu S. Zweig Leben und Werk insgesamt habe ich entnommen von: Oliver Matuschek: Stefan Zweig. Drei Leben. Eine Biographie, Fischerverlag, Frankfurt, 2018,4. Auflage.
10.So.n.Trin. ("Israelsonntag"), 13.08.2023, Stadtkirche, 5.Mose 4, 5 - 20, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 10.n.Trin („Israelsonntag“) - 13.VIII.2023
5.Mose 4, 5 – 20
Liebe Gemeinde!
5.Mose - „Deutero-Nomium“ - ist schon dem theologischen Namen nach das erste Rebranding, also der erste Versuch, eine ehrwürdig etablierte, aber irgendwie als abgenutzt und angestaubt geltende Marke zu verjüngen.
Wir kennen die Masche und auch die Not sehr gut.
Und auch wenn es in aller Regel trotz aller Berater-Poesie nicht annähernd so verjüngend und aufregend und verheißungsvoll ist wie behauptet, sich ein neues Logo, einen neuen Claim, ein neues Image zu basteln – wenn man immer schon einen Vogel hatte und plötzlich alles durchkreuzt, wird ja das Anliegen dadurch nicht klarer –, so schustern und schneidern wir doch alle unverdrossen mit bei den Kleiderwechseln und den Facelifts und den Anpassungsstrategien, die die Welt zu verlangen scheint. Ob bei der Kaiserswerther Diakonie oder der Recke-Stiftung in unserer Nachbarschaft: Kampagnen, neue Logos, neues „Wir-Gefühl“, neue Wahrnehmung mit einem poppigen Bild und knackigen Slogan zu lancieren, sind eben auch für uns der aus dem Aufmerksamkeitsdefizit herrührende letzte Schrei.
So dass „Kirche 2.0 oder 3.0“ wie das entsprechende Aufrüsten der Muttergottes zu „Maria 2.0“ uns kaum noch befremden.
… Und wenn doch, … wenn so ein hinterwäldlerisches Urviech wie ich immer noch meint, eine sich selber treue Kirche genüge und an der einen reinen Magd gebe es genug zu lieben, man müsse also nicht alles pimpen und peppen und durch Quadratur hoch Zwei irgendwie marktgängiger machen, … nun, dann kommt ausgerechnet die alte Bibel und macht es uns vor! Denn ihre Grundlage, ihr Urtext ist ja genau das: Ein Kern, der aus sich heraus erneuert wird. Ein Corpus, das sich in geschichtlich und geistlich gewandelter Gestalt wiederholt und darin auch erholt. Eine Wirklichkeit und Wahrheit, die bleiben, indem sie immer wieder anders gesagt, gehört, geschrieben, gelesen, gedeutet, geglaubt und gelebt werden.
Nicht nur, dass die Schriftlesung – in der wir das griechische Zeugnis des aramäisch sprechenden Jesus auf Deutsch hörten – uns heute gelehrt hat, wie das Neue Testament, der Neue Bund keinen anderen Gehalt, Sinn und Segen hat als der ewig ursprüngliche Bund, das ewig ursprüngliche Testament, das uns in der Hebräischen Schrift begegnet (vgl. Matth5, 17-20). … Nein, schon dieser erste Bund, dieses immer fälschlich so genannte „Alte“ Testament ist ein stetes Sich-Erneuern, Aktualisieren und Gegenwärtig-Erweisen des einen Wortes und Willens Gottes in allen Generationen und Situationen des Bundesvolkes und der Gemeinde.
Die Gabe der Torah am Sinai, diese noch in der überlebensfeindlichen Wüste vor der langen Wanderung gegebene Lebensordnung für ein sesshaftes Israel wird im 5.Buch Mose, am Ende der Zerreißprobe dieses vierzigjährigen „Noch nicht“, kurz vor der Erfüllung der Hoffnung auf Freiheit und Frieden also neu formuliert: Torah 2.0.
Und immer wieder vollzieht sich dann in den Taten und Entscheidungen der Richter, in den großen Verfassungen und trotz des anarchischen Verfalls der Königszeit, in den penetranten und pointierten Mahnungen und Lockungen der Propheten, in der feierlichen Bundeserneuerung unter König Josia (vgl. 2.Könige 22-23,3) und auch nach der Katastrophe des Exils noch im Buß- und Bekenntnisakt unter Esra die Erneuerung des Bundes in, mit und für Israel: Ein immer, immer wieder neues Testament: … Torah 3.0, … 4.0, … 5.0, … 6.0.
… Torah – Bund der Ordnung und Verheißung, Gesetz der Gerechtigkeit und Heilig-keit – in unveralteter, immer neuer Gültigkeit und Gegenwärtigkeit; Torah in Ewigkeit. ——
Das ist doch ein erbaulicher Grund-Satz am Israel-Sonntag.
Neuer, neuer, immer neuer ist der Bund und bleibt’s auch. …
Allerdings ist die ideal in unsere Zeit der Updates und Makeovers passende ständige Selbstaktualisierung der Botschaft Gottes in ihrer Forderung wie in ihrer Zusage nur die eine Seite dessen, worum es hier geht.
Neben der unbeirrten Hartnäckigkeit, in der Gott an Seiner Erwählung und am entsprechenden Lebensentwurf für die Seinen festhält, gibt es ja noch die andere Seite.
Zum „Neuer, neuer, immer neuer“, für das Gott garantiert, indem Er die Offenbarung Seines Willens durch Seinen Geist und Seine Zeugen stets lebendig hält, gehört, dass jede Zeit und jeder Mensch durch die jeweils gegenwärtige Botschaft zu einer je eigenen, je heutigen Reaktion gefordert ist. Wenn Gott Sein „Neuer, neuer, neuer“ im mit Israel geschlossenen und durch Jesus Christus allen offenstehenden Bund also immer durchhält, dann sind wir Menschen gefragt, ihm mit „Treuer, treuer, immer treuer“ zu entsprechen.
Der alte Bund also bleibt immer neu.
… Aber wäre der Mensch ihm jemals treu? …
Es gäbe Schreckliches darauf zu antworten. Schreckliches aus jeder Epoche der Vergangenheit, Schreckliches auch aus jeder Facette unserer Gegenwart.
Wie sehr wir untreu sind und wie wir alles veruntreuen, ist gar nicht aufzuzählen:
Unsre Seelen veruntreuen wir, lassen sie verhunzen, verhungern und verkümmern in der stofflichen Scheinwelt, die uns durch Reichtum unzufrieden macht.
Die Natur veruntreuen wir scham- und restlos mit einer Unersättlichkeit, die verrät, dass nicht Schöpfung, sondern Vernichtung die verborgene Triebfeder jenes Menschheitsegoismus ist, der sich für unabhängig von allen anderen Geschöpfen wähnt.
Die Schönheit veruntreuen wir, indem wir sie maschinell errechnen lassen; die Freiheit veruntreuen wir, indem wir den allgemeinsten Nenner unserer Gattung zu einem Individualprinzip verkrümmen; die Wahrheit veruntreuen wir in dem Augenblick, in dem wir das Maul aufmachen oder den Computer hochfahren. Usw., usw., usw.
„Neuer, neuer, neuer“? „Treuer, treuer, treuer“? – … Ach, von wegen: Bescheuer-, bescheuer-, immer bescheuerter!
Doch heute, am Israelsonntag, an dem uns der Anfang der zweiten Torah begegnet, die aktualisierte Verpflichtung, der erneuerte Bund, den Mose am Jordanufer zum Schluss seines Wüsten- und Lebensweges noch einmal für Israel auftat, … heute am Israelsonntag soll nur eine unserer zahllosen Untreuen uns bewegen.
…. Da aber muss man kurz Luft holen. Aus gutem, …. vielmehr abgründigem Grund haben wir uns nunmehr fünfzig Jahre lang gescheut, in der Kirche die tödliche alte Sprechweise zu wiederholen, … die tödliche biblische - also innerjüdische - Sprechweise zu wiederholen, in der Israel und die Untreue in einem Atemzug genannt werden.
Gewiss bei den Propheten reimt sich Israel auf Sünde besser noch als „treu“ sich auf „neu“ reimt.
Aber die mörderische Brutalität, in der die Kirche zweier Jahrtausende Gott und Israel keine Erneuerung und beiden Seiten keine Treue mehr zugestand, sondern sich zum selbsternannten Vollstrecker eines wortbrüchigen Gottes machte, dessen Bundesschwüre angeblich alle durch die Untreue Israels hinfällig gemacht worden waren, … diese abgrundtiefe Brutalität der Kirche ist und bleibt trotz alles Umkehrens und -denkens ihr unverwischbarer Schandfleck. ——
Indes: Israel bleibt eben nicht unverändert das passive, ausgestoßene, ghettoisierte, entrechtete, bis an die Enden der Erde zerstreute und im Dritten Reich dann durch Deportation gesammelte Volk der Schoah.
… Neu und neuer, … tatsächlich erneuert: Das ist ja das ungeheuerliche Weltgeschehen, das der Hybris der deutschen „Endlösung“ folgte.
… Gerade kein Ende, sondern ein neuer Anfang! ———
Das aber – dass es kein endgültiges Ende gibt! – ist der Grund, weshalb ich heute, mit leiser Stimme zum ersten Mal in meinem Dienst bewusst in einem Atemzug von Israel und Untreue sprechen werde:
Israel – ich rede vom neuen Staat, aber leider auch von den ultrareligiösen Kräften, die dort eine Pseudo-Vergangenheit, einen alten Bund erzwingen wollen, der ganz und gar scheußlich wäre – … Israel heute also wirkt wieder (wie so regelmäßig) als ein Brennspiegel menschheitlicher Geschicke und geschichtlicher Strömungen im Kampf von Geist und Ungeist.
Denn was die Menschheit insgesamt in unserer Zeit betreibt und wodurch sie sich selber zutiefst bedroht, das gibt sich besorgniserregend grell und heroisch umkämpft gerade in Israel zu erkennen: Das Veruntreuen des Rechtes.
Moses hat Israel damals, noch östlich des Jordan bei der Erneuerung der Sinai-Torah und der Wiederholung der Zehn Gebote so angesprochen: „Haltet und tut diese Gebote und Rechte. Denn darin zeigt sich den Völkern eure Weisheit und euer Verstand. Wenn sie alle diese Gebote hören werden, dann müssen sie sagen: Was für weise und verständige Leite sind das, ein herrliches Volk!“
Die Beachtung des göttlichen Gesetzes, die Verallgemeinerungsfähigkeit des Geistes der Torah und ihrer Moral und Weisheit und also die menschheitliche Allgemeinheit, die Universalität dieser Rechtsordnung, die sich allen Völkern erschließt, weil sie sich auf alle Völker erstreckt, sind Israel also aufgetragen.
Dass das Leben aller Menschen Schutz verdient, dass sie vor Eingriffen in ihre Beziehungen geschützt werden müssen, dass geistige und materielle Güter - Eigentum und Wahrheit - schutzwürdig sind, weil Gott, Der aus der Knechtschaft in Ägypten führt, der Garant von Freiheit, … weil Gott, Der den Sabbat gestiftet hat, der Garant des Friedens ist: Das ist der Katalog der Grundgesetze und Grundrechte, die in den Zehn Geboten die niemals alte, immer neue Torah ergeben, von der kein noch so kleiner Buchstabe, kein Tüttelchen abgeschafft werden, sondern bis Himmel und Erde vergehen stets besser und reicher mit Leben erfüllt werden soll (vgl. Matth.5,18).
Ohne nun in die Einzelheiten des augenblicklichen politischen und juristischen Dramas in Israel zu gehen, lässt sich mit den feierlichen Worten des Mose festhalten: Wenn in Israel Rechte beschränkt, wenn sie begrenzt und zurückgenommen werden, wenn die Achtung vor der Unantastbarkeit der weltlich, aber auch göttlich geschützten allgemeinen Grundrechtsordnung wankt und Willkür zugelassen werden soll, wenn Frauen und die arabische Bevölkerung eingeschüchtert werden und Christen gewaltsam bedroht, dann schreit das zum Himmel. Dann veruntreut Israel das Recht.
… Nur dass wir uns nicht etwa erheben! Nur dass wir nicht etwa meinen, wir seien treuer, … bei uns sei das Recht besser geschützt. Die ekelhafte Rückabwicklung des Rechtes, das allen gebührt, zu Sonder- und Gruppenrechten von Mehrheiten oder von Radikalen oder von Bestechlichen oder von Brutalen, findet auch bei uns Anhang und Anklang.
Genau darum aber gilt Jesu Wort (Matth.5,20) nur umso dringlicher: „Besser muss unsere Gerechtigkeit werden!“
Unser Vorsatz dabei muss nun aber sein, in der Rechtsordnung in dieser Welt die Nähe Gottes zu erkennen und zu bekennen, … die Nähe Des Unsichtbaren, Der gegenwärtig ist in Allem und in Allen und Dem gerade darum kein Einzelbild, kein Einzelzug, keine Einbildung und Eingrenzung, keine Bevorzugung unserer eigenen Art, keine Vergötzung unserer eigenen beschränkten Vorstellungen entspricht: Denn ihr habt keine Gestalt gesehen an dem Tag, da der HERR mit euch redete aus dem Feuer .
Ja, diesem unendlich großen Gott gibt nur die Ehrfurcht vor dem Allgemeinsten und Konkretesten, vor dem Abstraktesten und dem Lebendigsten die Ehre: Die Ehrfurcht, die bekennt, dass ER der HERR über alle ist, Der alle übertrifft, aber daher auch alle umfasst, alle verbindet, alle beruft, alle begnadet, alle berechtigt und alle erlöst!
Dieses Recht, das allen gilt, diese Gerechtigkeit Gottes, die Sein Recht allen zuspricht, immer wieder neu zu ehren und zu üben, zu heiligen und zu verteidigen, ist die Sendung Israels und der Kirche in der Welt.
Denn – so sagt es ein ganz herrliches und tagespolitisch auch ganz widerständiges Wort aus Psalm 99(4) in Luthers Übersetzung – „Im Reiche dieses Königs hat man das Recht lieb“!
Und deshalb können wir heute nicht schließen, ohne einige Liebhaber des Rechtes zu nennen und uns innerlich - und wo nötig auch äußerlich - an ihre Seite zu stellen, um die Erneuerung und Stärkung des Rechtes gegen alle Angriffe und Aushöhlungen als Gebot Gottes an unsere Zeit zu erfassen.
Denken wir an den Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz, Pinchas Goldschmidt, der diese Woche die zunehmende Aggression gegen Christen und christliche Einrichtungen in Israel verurteilt hat! Im Reiche dieses Königs hat man das Recht lieb!
Denken wir auch den Staatspräsidenten Israels, Jizchak Herzog, der am Mittwoch in Haifa ostentativ das Kloster „Stelle maris“ besucht hat, das in den vergangenen Wochen wiederholt von gewaltbereiten Ultraorthodoxen umzingelt und angegriffen wurde. Was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk!
Am allermeisten aber will ich uns heute mit Shikma Bressler geistig verbinden, einer renommierten Teilchenphysikerin und Mutter von fünf Töchtern, die am Fuß des Karmel lebt.
Shikma Bressler ist die junge und gewinnende Gallionsfigur der Bewegung von vielen hunderttausend Israelis, die sich mit der Schwächung und Brechung des Rechtes durch die geplante Justizreform nicht abfinden und so kraftvoll gegen einen Weg Israels in Nationalismus, Ideologie und Autokratie protestieren.
Eigentlich ist sie ausgelastet mit Forschungen, die den großen Geheimnissen der Physik gelten und mit den Sorgen und dem Glück aller Mütter in dieser zerbrechlichen Phase der Weltgeschichte. Aber in der Verteidigung des Rechtes hat sie nach ihren eigenen Worten bei den Massen, die mit ihr nach Jerusalem marschiert sind, „die Schönheit auf dem Gesicht Israels gesehen“[i].
Es ist jene Schönheit, die der Abglanz des unsichtbaren Gottes ist, Der ein heiliges Gesetz und strahlendes Recht für alle aufrichtet, dass die Heiden erleuchtet und zum Preis Seines Volkes Israel dient (vgl. Lk.2,32).
Dieses Recht und diese Schönheit stellt uns der Israelsonntag neu, immer wieder neu vor Augen, damit sie auch uns zu neuem, reinem Tun und Hoffen bewegen.
Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt dein ganzes Leben lang.
Amen.
[i] Vgl. das ausführliche Interview mit Shikma Bressler unter https://www.timesofisrael.com/what-matters-now-to-arrested-activist-shikma-bressler-saving-israel/
9.S.n.Tr., 06.08.2023, Predigtreihe zu Krisentexten der Bibel: "Glaubenskrise", Stadt- und Jonakirche, Daniel Kaufmann
Der Glaube ist in der Krise. Vielleicht sollte ich präziser sagen: Der Glaube, wie er in den beiden großen Volkskirchen in Deutschland vermittelt wird, ist in der Krise, auf dem Rückzug und versteht sich überhaupt nicht mehr von selbst. Wir werden immer größer, was die Ausgaben angeht. Wir werden immer kleiner, was die Mitgliederzahl angeht. Deutschlandweit sind wir evangelischerseits um 380 000 Mitglieder geschrumpft, katholischerseits um 520 000 Mitglieder. Das klingt relativ besser, ist aber nur ein schwacher Trost. Jedes Jahr eine Stadt wie Köln weniger Protestanten und Katholiken…
Pressetechnisch und in der Öffentlichkeitsarbeit sind die Katholiken übrigens nach wie vor ganz vorne dran. Selbst bei einem so problematischen Thema wie dem Missbrauch. Die Beauftragte der Bundesregierung Kerstin Claus, selbst Missbrauchsopfer eines evangelischen Pfarrers, der rechtlich nicht verfolgt, sondern lediglich versetzt wurde, hat in einer Aufsehen erregenden Pressemitteilung in dieser Woche (RP vom 1. August,D1) die zentrale und auch finanziell klar geordnete und gegliederte Aufarbeitungspraxis der katholischen Kirche als vorbildlich gelobt. Während die evangelische Kirche über die EKD und ihren 20 Landeskirchen lediglich regionale oder lokale Lösungen anvisiert und pauschale finanzielle Ersatzleistung von höchstens 5000 € hinbekommt, hat die hierarchisch und straff organisierte katholische Kirche ein auch finanziell sehr differenziertes Entschädigungsprogramm entworfen. Claus wörtlich: „Derzeit gibt es…keine andere institutionelle Struktur, die in Ansätzen das erreicht hat, was für Betroffene in der katholischen Kirche möglich wurde.“ Dazu passt sehr gut, dass der Papst beim Weltjugendtag in Lissabon sich demonstrativ auf die Seite der Opfer gestellt hat. Das ist doch mal ein Statement! Der Papst ist gegen den Missbrauch! Ähnliches gibt es in Bezug auf den Segnungsgottesdienst von Monsignore Herbert Ullmann für „sich liebende Menschen“ in Mettmann zu vermelden. Er wurde anonym von einem Gemeindeglied an höchster Stelle denunziert und institutionell abgemahnt (Düsseldorf Anzeiger KW 31, Titelseite). Der Papst hingegen hat gestern auf dem Weltjugendtag in Lissabon in einem luftigen Open-Air-Pavillon mehrfach darauf hingewiesen, dass die Katholische Kirche keine verschlossenen Türen hätte, sondern vielmehr offen für alle Menschen sei, die hier Zuflucht und Heimat suchen. Das ist doch mal ein Statement! Herzlichen Glückwunsch, möchte man da am liebsten etwas zynisch anfügen, wenn das Thema nicht so ernst und die Materie selbst große Sensibilität und Empathie bräuchte.
Aber statt großem Lamentieren über die Gewichtung von Lob und Tadel der Kirchen in der Presse an dieser Stelle ein paar konkrete Hinweise aus unserer gemeindlichen Arbeit: Wir sind durch die Initiative der Landeskirche und des Kirchenkreises zumindest bei der Prävention und Verhinderung von Missbrauch seit gut zwei Jahren gut vorangekommen. Alle Pfarrer haben eine mindestens achtstündige Fortbildung erhalten, die Presbyteriumsmitglieder folgen derzeit. Unser Jugendausschuss hat darüber hinaus auf Initiative unserer drei noch recht jugendlichen PresbyterInnen ein Verfahren bzw. ein Schutzkonzept erarbeitet, das Sie auch auf unserer Webseite (praktisch-glaube.de, Bildung, Jugendarbeit, Schutzkonzept) in allen Einzelheiten mit Vertrauensperson, Verfahrensabläufen studieren können. Seit zwei Jahren gehen wir dieses Thema auch offensiv bei Fortbildungen mit unseren jugendlichen Teamern vor jeder Freizeit durch.
Zurück zur Glaubenskrise: Wir haben immer weniger Geld und immer mehr Austritte. Die Mitgliedszahlen der ev. Kirche im Rheinland, speziell im Kirchenkreis Düsseldorf gehen dramatisch zurück, 4 Prozent letztes Jahr, macht ca. 4000 Austritte in 2022. In den letzten 40 Jahren hat sich die Mitgliedszahl der evangelischen Christen in Düsseldorf halbiert: Von ca. 180.000 auf jetzt etwas über 90.000. (Unsere Gemeindegliederzahlen in Kaiserswerth sind u.a. auch wegen der immer neu erschlossenen Baugebiete einigermaßen konstant geblieben: zurzeit ca. 5400 Gemeindeglieder.)
Dazu kommt, dass die Kirchensteuereinnahmen einbrechen werden. So hören wir es von höchster Stelle. Deshalb muss allenthalten gespart werden, am besten schon ab sofort und jetzt. Außerdem will die Landeskirche bis 2035 mit ihren Gebäuden (hier zunächst Kirchen, Gemeindezentren, Pfarrhäuser und Dienstwohnungen) klimaneutral werden. Der Gebäudestand ist nicht auf dem neuesten Stand, sondern bedarf der Renovierung, Überarbeitung. Investitionsstau nur bei den im engeren Sinn kirchlichen Gebäuden in Düsseldorf geschätzt 150 -200 Millionen Euro. Der Kirchenkreis schafft aber, bestenfalls 3-4 Millionen im Jahr für die Ertüchtigung von Immobilien auszugeben. Das heißt, ¾ der Gebäude werden mittelfristig nicht mehr zu halten sein. Eine in Auftrag gegebene Prioritätenliste wird bis Anfang 2026 festhalten, welche Immobilien aufgegeben werden müssen.
Ebenfalls bis 2035 soll Düsseldorf eine Gemeinde werden. Hier der Text dazu von der Frühjahrssynode am 12./13.Mai diesen Jahres „Wir wollen die Vielfalt des evangelischen Gemeindelebens und des Wirkens an kirchlichen wie an nicht-kirchlichen Orten unserer Stadt unterstützten und schützen. Dazu streben wir eine Körperschaft als ein starkes und handlungsfähiges organisatorische Dach an. Sie stellt sicher:
- eine geregelte Beteiligung aller, die sich im Gemeindeleben und in den Diensten engagieren,
- transparente Verfahrenswege und Entscheidungsstrukturen,
- eine gemeinsame Steuerung von Personal, Finanzen und Immobilien,
-ökologische, finanzielle und soziale Nachhaltigkeit.
Sie macht die Vielfalt und das Gemeinsame evangelischen Glaubens und Lebens in Verkündigung, Seelsorge, Diakonie und Bildung in der Stadt und ihren Quartieren präsent.“ So der KSV auf der Frühjahrssynode Mitte Mai des Jahres. Heißt im Klartext: Auflösung der klassischen parochialen Strukturen wie wir sie jetzt in den 17 Kirchengemeinden noch haben. Aufgabe von Flächenarbeit vor Ort. Stattdessen funktionale Serviceleistungen, die zentral gesteuert und vergeben werden mit mehr oder weniger lockerem Kontakt zur Ortsgemeinde. (Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter, wenn man sieht, dass die weltlichen, kommunalen Strukturen und Überlegungen praktisch genau das Gegenteil anstreben, wenn sie die Quartiersarbeit, die Kontakte und die Vernetzung vor Ort neu und verstärkt in den Blick nehmen!)
Liebe Schwestern und Brüder, Sie werden verstehen, dass wir hier in Kaiserswerth nicht nur verwundert, sondern auch verärgert und mit dieser Entwicklung überhaupt nicht einverstanden sind. Wir sind jedenfalls der Überzeugung, dass der Kontakt und die Vernetzung vor Ort für unsere spirituelle Gemeinschaft ganz herausragende Bedeutung hat. Und an dem gerade neu erschienenen Gemeindebrief können sie hoffentlich auch ablesen, dass wir nicht nachlassen, Angebote, Kreise, Veranstaltungen und Treffen „von der Wiege bis zur Bahre“ anzubieten. Das wollen und werden wir auch in Zukunft unter welchen Bedingungen auch immer anstreben!
Jetzt könnte man vielleicht nicht ganz zu Unrecht sagen, diese „Glaubenskrise“ sei doch vor allem eine Krise der Institution Volkskirche, der persönliche Glaube, mein persönlicher Glaube sei davon nur sehr mittelbar betroffen. Dass dem nicht so ist, hat sich mir ebenfalls auf der Frühjahrssynode, einer Jugendsynode, also mit Beteiligung vieler junger Menschen, gezeigt. Eine wesentliche Frage ging nämlich dahin, ob es den christlichen Glauben nicht auch ohne Bezug auf Jesus Christus geben soll, darf und muss. Schließlich würden in unseren Institutionen zahlreiche Mitarbeiter beschäftigt (auf die wir auch angewiesen sind, weil es auf dem Arbeitsmarkt keine anderen gibt), die von Tuten und Blasen, schon gar nicht von Kirche und Glauben ansatzweise berührt worden seien. Denen sei die Engführung auf die Person Jesus Christus nicht zuzumuten, die würden aber immerhin eine Werteorientierung (10 Gebote) und Humanität (Nächstenliebe) als Grundeinstellung mitbringen. Mag sein, so die Argumentation, dass der Bezug auf Jesus Christus mal von Bedeutung gewesen sei, jetzt hätten alle verstanden, worauf es im Kern ankommt, und insofern sei dieser „spezielle Kirchensprech“ (Jesus Christus) nicht mehr nötig. Gerade die anderen Religionen, z.B. auch die Muslime, stört dieser Bezug auf Jesus Christus und der Aussage: „Er war Gottes Sohn!“ ja ganz besonders. Und da könnte man also ganz viel Ärger und Verdruss vermeiden, wenn man diesen Bezug weglässt.
Der Glaube ist in der Krise, sagte ich, jetzt und in diesem Fall und speziell auch der Glaube an Jesus Christus. Das ist nicht ganz neu. Alle Evangelien der Bibel wissen davon, dass sich jederzeit und bei jeder Gelegenheit der Zweifel meldet. Bevor Jesus öffentlich auftritt, bekommt er von dem Durcheinanderbringer und Versucher in der Wüste drei markante Fragen vorgelegt: Er soll Steine zu Brot machen, von den Zinnen des Tempels springen und den Herrn des Geldes und Reichtums anbeten. Im Angebot und gefragt ist: ein Heilsbringer, ein Show- und Eventmanager für den Nervenkitzel. Gefragt ist eine imponierende Persönlichkeit, die über unbegrenzte Macht und Geld verfügt, denn Geld regiert die Welt. Jesus lehnt alle drei Angebote ab: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Munde Gottes kommt.“ „Du sollst Gott dem Herrn nicht versuchen, du sollst ihn allein anbeten und ihm allein dienen.“ Und das macht Jesus dann auch. Gott dienen. In Wort und Tat.
Obwohl die Stimmen nicht verstummen, die ihn immer wieder aufs Glatteis führen wollen. Das Thema Wunder bleibt durch die Bank ambivalent, weil die Menge hier eine PR-Maschine wittert, wenn einer 5000 Menschen satt machen kann, dann ist er doch ein „Brotkönig“ (Johannes 6). Wenn einer Menschen Heilung bringt, dann ist das doch ein Wundertäter gehobener Klasse, der für etliche gehobene Erregungszustände sorgen kann. Wenn einer wirklich Macht hat, dann hat das doch Potential für Umsturz und Befreiung von den verhassten Römern. Auch die Jünger, die engsten Freunde Jesu, sind von dem Gedanken fasziniert, dass mit Jesus jetzt mal so richtig und durchgreifend und demonstrativ jedem vor Augen geführt wird, dass Gott im Regiment sitzt und machtvoll alles lenkt. Gerne auch mit drastischen Methoden, wenn es gar nicht anders geht: also mit Feuer vom Himmel, Vernichtung der Andersdenkenden, notfalls auch mit Schwert und Gewalt. (Lukas 9,54) Wer hier kleckert und zögert, kommt zu nichts.
Jesus allerdings hat hier durchweg anderes im Sinn: Das Reich Gottes kommt unscheinbar (zum folgenden vgl. Matthäus 13), wächst wie ein Senfkorn, fängt extrem klein an und wird dann erst groß. Das Reich Gottes ist vermischt wie das Unkraut mit dem Weizen, wer hier zu früh jätet, vernichtet auch die gute Ernte. Das Reich Gottes kann gesucht und gefunden werden wie eine kostbare Perle, erweist sich als großer Schatz, kommt unverhofft und in der Regel ganz anders als erwartet: zu den Kindern, zu den Zöllnern und Sündern, zu denen an den Hecken und Zäunen.
Das Reich Gottes macht die ersten zu letzten und die letzten (Mt. 20,1-16) zu ersten und gibt allen, was zum Leben nötig ist. (Mt. 6,33-34) Und wenn ein Wunder geschieht, wenn Kranke heil und gesund werden, wenn Lahme gehen, Blinde sehen, Aussätzige rein werden, dann verdankt sich das weniger einem medizinischen Kniff oder Trick, dann hat das damit zu tun, dass ein Mensch sein Leben im Angesicht Gottes neu sortiert und verstehen lernt, dass ein Leben in Ordnung mit Gott und den Nächsten kommt. So etwa in der markanten Geschichte von dem Gelähmten und seinen vier Freunden(Markus 2,1-12), die ein Dach aufgraben, um ihren kranken Freund vor die Füße Jesu zu legen. Da erfolgt erst der Los- und Freispruch: „Dir sind deine Sünden vergeben!“ und dann die Heilung: „Steh auf, nimm dein Bett und geh!“ Wenn das Leben eines Menschen wieder in friedliche Bahnen kommt, dann bei Jesus immer ganzheitlich mit Körper, Seele und Geist!
Zu den schwierigen und schmerzlichen Lektionen gehörte vermutlich schon damals, dass das Reich Gottes nicht ohne Leid und tiefsten Krisen zu haben war und ist. Es ist nicht von dieser Welt, wie Jesus es dem Pilatus beim Verhör eindrücklich signalisiert (Johannes 18,36). Gerade darum ist es aber auch im Leiden und über den Tod hinaus wirksam und wirkmächtig. Und bewahrheitet sich, wenn alle Lichter ausgehen und niemand mehr einen Pfifferling darauf gibt. Bis auf den heutigen Tag bleibt der Ostermorgen die schlechthin skandalöse und alle menschlichen Erwartungen überholende Neuigkeit der Weltgeschichte. Der Totgesagte lebt und ist auferstanden.
Diese Neuigkeit hat es immerhin durch 2000 Jahre menschlicher Wirren und Verirrungen gerade auch in der Kirche geschafft. Allerdings nicht, ohne ganz erheblich Schaden zu leiden: Den ersten provokanten Rückfragen konnte man noch eine Reihe von glaubwürdigen Augenzeugen präsentieren, ganz zuvorderst Jesus sich selbst dem Thomas (Johannes 20,24-31), der den Fingertest machen möchte und dem sich Jesus in aller Leiblichkeit zeigt. Andere direkte Nachfragen wurden mit dem Hinweis auf das leere Grab beantwortet: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden!“ (Lukas 24,5). Auch diese Zeugen wurden schnell weniger, nach zwei Generationen spätestens war damit Schluss. An die Stelle der Augenzeugen traten die, die mit Worten bezeugten, was geschehen war. Diese Worte waren vielfältiger und angreifbarer, neben vielem Einleuchtenden trat auch mancherlei Ausgeschmücktes. Die apokryphen Schriften haben da etliche Anekdoten parat, u.a. auch das sogenannte Thomasevangelium bei den Kindheitsgeschichten Jesu. Da soll Jesus etwa aus gekneteten Tonvögeln am Sabbat lebendig fliegende Vögel gemacht haben. Sicher auch ein gut gemeinter Text, der etwas deutlich machen will, allein die Väter und Mütter des Glaubens spürten, dass es eines Kanons bedarf, einer Richtschnur, eine begrenzte Anzahl von Büchern mit seriösen Aussagen und glaubwürdigen Erzählungen und Worten.
Und so kam es über vier Jahrhunderte in einem mühsamen Klärungsprozess zu unserer heutigen Bibel, die dann auch in alle großen Metropolen des damaligen christlichen Verbreitungsgebietes Anerkennung fand. Die schriftlich fixierten Worte waren indes und für längere Zeit nur wenigen Auserwählten, die sich eine handschriftlich gefertigte Abschrift leisten konnten, vorbehalten. Die Reformation hat hier gute Arbeit geleistet und die Schriften mit dem Buchdruck Gutenbergs möglichst vielen zugänglich gemacht.
Damit setzte ein neues Studieren und Forschen an den Erzählungen und Worten der Schrift ein. Die Aufklärung sorgte für einen neuen Schub und Nachfragen, der bis in unsere Tage anhält. Kern ist nach wie vor, ob sein kann, was bisher jedenfalls im wissenschaftlich vorbereiteten Versuch nicht ein zweites Mal gelungen ist: Einen Toten zum Leben bringen. So werden bis in unsere Tage hinein die Rufe nicht leiser, dass das Grab nicht leer, sondern genauso voll gewesen sei wie bei allen anderen Gestorbenen auch (so vor knapp 15 Jahren (2008) Gerd Lüdemann, Göttinger Theologieprofessor). Andere Versuche waren und sind eher sprachlicher oder theologischer Natur: Jesus sei ins „Kerygma“, in die Verkündigung auferstanden (Rudolf Bultmann), er sei so lebendig, wie jemand lebendig ist, von dem man ständig neu oder immer wieder erzählt. Er sei im Geiste seiner Anhänger präsent, die würden dafür sorgen, dass sein Andenken weiter gepflegt würde. Wieder andere behaupten, er sei gar nicht so richtig gestorben, sondern scheintot vom Kreuz abgenommen und dann heimlich in östliche Sphären verbracht worden. Und starb dann dort auch mit Familie alt und lebenssatt. Diese These war mir zu Beginn meines Theologiestudiums 1984 begegnet (Holger Kersten: Jesus lebte in Indien), ich hielt sie allerdings inzwischen für überholt, wurde aber eines Besseren belehrt: Der Historiker Johannes Fried hat 2019 mit ähnlichen Argumenten wie damals nahtlos an diese Überlegungen angeknüpft.-
„Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendsten unter allen Menschen. Nun aber ist Christus auferweckt von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind. (1. Korinther 15,19-20) Und damit verbunden ist die unerhört exklusive Verheißung auf ein Leben jenseits unserer Zeit und Raumvorstellungen, eine Verbindung zum Ewigen, zur Ewigkeit, zur Immerzeit, zu dem Grund und Ziel allen Seins und Werdens, zu dem lebendigen Gott. Unüberholt und nach wie vor punktgenau bekennt es der Heidelberger Katechismus in Frage 1: „Was ist dein einziger Trost im Leben und Sterben…Dass ich mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre. Er hat mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst; und er bewahrt mich so, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen, ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss. Darum macht er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens gewiss und von Herzen willig und bereit, ihm forthin zu leben.“
Dieses Bekenntnis fußt auf die vielfach bezeugten Texte des neuen Testamentes, unter anderem auch auf den schon in der Schriftlesung vernommenen großartigen Gedicht aus Römer 8, 28 f. : „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ Hier findet sich in gedrängter Form alles, was die Zuversicht und Gewissheit unseres christlichen Glaubens ausmacht. Es gibt eine letzte tragende Verbindung, es gibt eine ultimative, unzerstörbare Zugehörigkeit, es gibt eine alle Katastrophen und Niederlagen überdauernde Beziehung zu der Liebe Gottes, die in Jesus Christus Gestalt geworden, sichtbar geworden, erfahrbar geworden ist. Und die in seinem Leben, Sterben und Auferstehen ihren Grund hat. Mit dieser Hoffnung, mit dieser Zuversicht und Gewissheit fängt alles an und beflügelt uns als Christen, dann auch von der Liebe Christi zu erzählen. Gerade wenn der Glaube kriselt.
Auf der Frühjahrs-Kreissynode haben wir uns zumindest in einer Kleingruppe darauf geeinigt, dass es nicht nur darum geht, mehr Demokratie, mehr Humanismus und mehr Nächstenliebe zu wagen. Sondern dass es vornehmlich darum gehen sollte, mehr Jesus zu wagen. Mehr von dem zu erzählen, der im Leben und Sterben letzten Halt gibt. Mehr von dem zu erzählen, der den Stein am Ostermorgen ins Rollen gebracht hat. In den letzten Tagen haben meine Frau und ich dazu vergleichsweise oft Gelegenheit gehabt: Beim Abschied von einem schwer von Krebs gezeichneten Endfünfziger. Bei dem Abschied von einem, der mit knapp 60 keinen anderen Ausweg als den Freitod sah. Bei einem kleinen Menschenkind, das in der 19. Woche nicht mehr lebensfähig war. Bei Menschen weit über 80 und über 90 Jahren, die friedlich eingeschlafen sind und von einer Krankheit erlöst wurden.
Es gibt sicher noch viele andere Situationen und Gelegenheiten, wo wir als Christen von dem erzählen können, der den Stein ins Rollen gebracht hat. Im Grunde genommen immer dann, wenn es um Hoffnung und Zuversicht und Trost und Hilfe bei welchen Herausforderungen des Lebens auch immer geht.
Ostern macht den Unterschied. Der Stein ist an die Seite gerollt worden und diese frohmachende Botschaft gilt es immer neu zu sagen. Mehr Jesus wagen, das heißt auch: Wieder Kontakt bekommen zu jenen Jesus-Erzählungen und Narrativen, die immer mehr verloren gehen. Wie wäre es z.B. wenn Sie das Lukasevangelium mal wieder komplett durchlesen. 24 Kapitel. Dauert gar nicht so lange. In drei Stunden ist man durch. Sagen die Statistiker. Oder die Bergpredigt lesen, Matthäus 5-7, 3 Kapitel, schafft man mit Pausen in einer Stunde. Oder die Gleichnisse vom Reich Gottes, 1 Kapitel, Matthäus 13, schafft man in 20 Minuten.
Mehr Jesus wagen, mehr von dem in die Debatte einbringen, was Jesus zum Thema Krieg und Frieden (Mt.5,43-48), was er zum Thema Gerechtigkeit (Mt. 6,33) und Verteilung der Finanzmittel („Jeder Tag hat seine Sorge“ (Mt. 6,34) und was er zu einem angemessenen Umgang mit dem, was uns anvertraut ist, u.a. auch der Schöpfung/Klima (Mt. 6, 25-32) gesagt hat.
„Der Glaube ist wie ein Vogel, der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist.“ (R. Tagore) Der Stein vom Grab ist weggerollt, es gibt nichts, was uns von Gottes Liebe trennen kann: Keine Wirtschafts- keine Finanz-, keine Flüchtlingskrise, kein Beziehungs-, Lebens- und auch keine Glaubenskrise. Und es gibt jede Menge Grund, neu von der Zuversicht, der Hoffnung und der Gewissheit zu erzählen, die Zeit und Ewigkeit umspannt.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.
8.S.n.Tr., 30.07.2023, Predigtreihe zu Krisentexten der Bibel: "Lebenskrise", Stadt- und Jonakirche, Ute Kaufmann
- Von der Schönheit des Alters -
Guten Morgen, liebe Geschwister im Herrn!
Wie geht es Ihnen heute Morgen?
Geht gut!
Geht nicht?
Geht so?....
Heute jedenfalls geht es weiter mit den „Krisen“! Unser diesjähriges Sommerthema in unserer Gemeinde.
Nach den ersten Krisentagen mit Herrn Pfarrer Marquardt zu Wirtschafts-, Finanz- und Flüchtlingskrise und der „Beziehungskrise“ meines Mannes, geht es heute um „Lebenskrisen“ – und die haben meist etwas mit dem Älterwerden zu tun, worauf in Liedern, Gebeten und Texten heute der Fokus liegt.
„Von der Schönheit des Alters“ ist dieser Gottesdienst überschrieben. Das könnte vielleicht gleich zu Missverständnissen Anlass geben: „Von der Schönheit des Alters“: Geht es darum, im Alter „schön“ zu bleiben? Oder darum, dass die letzte Lebensspanne „schön“ sein kann? Die letzte Lebensspanne: Wann beginnt sie eigentlich? Ist man schon alt, wenn man sich nicht mehr traut, Skateboard zu fahren? Dann müsste ich mich bald dazuzählen. Ist man alt, wenn man graue Haare bekommt? Oder erst, wenn man in Rente geht? 65 oder 66 oder 67 Jahre als staatlich verordnete Altersgrenze? Ist man alt, wenn man nicht mehr arbeiten kann? Ist man alt, wenn es soweit ist, dass die Pfarrerin/der Pfarrer am Geburtstag zu Besuch kommt?
Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Das Alter beginnt, wo die Freude aufhört.“
Wenn man nicht mehr in der Lage ist, etwas schön zu finden und sich zu freuen, ist man alt. Endgültig.
In diese Krise kann man allerdings schon sehr früh kommen, wie der kleine Witz von Anthony de Mallo humorvoll beschreibt:
Zwei kleine Jungen unterhielten sich. Fragte einer den anderen: „Wie alt bist du?“ „Ich bin fünf. Wie alt bist du?“ „Weiß ich nicht.“ „Du weißt nicht, wie alt du bist?“ „Nee.“ „Machen dir die Frauen zu schaffen?“ „Nee.“ „Dann biste vier.“
Also, ein bisschen Zeit haben wir noch, uns viel zu freuen. Uns allen einen gesegneten Gottesdienst!
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Seligpreisungen eines alten Menschen
Selig, die Verständnis zeigen
Für meinen stolpernden Fuß
und meine lahme Hand.
Selig, die begreifen,
dass mein Ohr sich anstrengen muss,
um alles aufzunehmen,
was man zu mir spricht.
Selig, die zu wissen scheinen,
dass mein Auge trüb
und meine Gedanken träge geworden sind.
Selig, die mit freundlichem Lachen verweilen,
um mit mir zu plaudern.
Selig, die niemals sagen:
„Diese Geschichte haben Sie mir
heute schon zweimal erzählt.“
Selig, die es verstehen,
Erinnerungen an frühere Zeiten
In mir wachzurufen.
Selig, die mich erfahren lassen,
dass ich geliebt, geachtet
und nicht allein gelassen bin.
Selig, die in ihrer Güte die Tage erleichtern,
die mir noch bleiben
auf dem Weg in die ewige Heimat.
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Herbsttag
Herr: Es ist Zeit.
Der Sommer war sehr groß.
Leg deine Schatten
auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren
lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
Gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin
und jagedie letzte Süße
in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus,
baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist,
wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen,
lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen
hin und her
unruhig wandern,
wenn die Blätter treiben.
Dieses Gedicht von Rainer Maria Rilke erzählt von den Schönheiten des Herbstes: Die letzten Früchte werden reif, überreif, schwer und süß. Ich besitze noch genügend Kraft, hat noch eine Menge Lebensmöglichkeiten, kann noch selbst das tun, was zu tun ist.
Ich genieße die Langsamkeit, die sich in meinem Leben ausbreitet, genieße jeden anbrechenden Morgen, die Ruhe, die ich mir erlauben darf, vielleicht erlauben muss. Mir vielleicht erlauben muss… Ich stelle mir das Alter nicht nur als sanftes Dahingleiten vor. Auch der Prediger in der Bibel sieht das Alter durchaus kritisch und verschweigt nicht die beschwerliche Seite. Wir hören aus dem Buch des Predigers Salomo, das 12. Kapitel, die Verse 1-7 (einmal Übersetzung von M. Luther, einmal Übersetzung der Guten Nachricht)
Lesung Prediger 12,1-7 (nach Martin Luther)
Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre nahen, da du wirst sagen: »Sie gefallen mir nicht«; ehe die Sonne und das Licht, der Mond und die Sterne finster werden und die Wolken wiederkommen nach dem Regen, – zur Zeit, wenn die Hüter des Hauses zittern und die Starken sich krümmen und müßig stehen die Müllerinnen, weil es so wenige geworden sind, wenn finster werden, die durch die Fenster sehen, wenn die Türen an der Gasse sich schließen, dass die Stimme der Mühle leise wird und sie sich hebt, wie wenn ein Vogel singt, und alle Töchter des Gesanges sich neigen; wenn man vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege, wenn der Mandelbaum blüht und die Heuschrecke sich belädt und die Kaper aufbricht; denn der Mensch fährt dahin, wo er ewig bleibt, und die Klageleute gehen umher auf der Gasse; – ehe der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht und der Eimer zerschellt an der Quelle und das Rad zerbrochen in den Brunnen fällt. Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.
Lesung Prediger 12, 1-7 in der Übersetzung der „Guten Nachricht“
Denk an deinen Schöpfer, solange du noch jung bist, ehe die schlechten Tage kommen und die Jahre, die dir nicht gefallen werden. Dann verdunkeln sich dir Sonne, Mond und Sterne, und nach jedem Regen kommen wieder neue Wolken. Dann werden deine Arme, die dich beschützt haben, zittern, und deine Beine, die dich getragen haben, werden schwach.
Die Zähne fallen dir aus, einer nach dem anderen; Deine Augen werden trüb und deine Ohren taub. Deine Stimme wird dünn und zittrig. Das Steigen fällt dir schwer, und bei jedem Schritt läufst du in Gefahr zu stürzen.
Draußen blüht der Mandelbaum, die Heuschrecke frisst sich voll, und die Kaperfrucht bricht auf, aber dich trägt man zu deiner letzten Wohnung. Auf der Straße stimmt man die Totenklage für dich an.
Genieße deine Leben, bevor es zu Ende geht, wie eine silberne Schnur zerreißt oder eine goldene Schale zerbricht, wie ein Krug an der Quelle in Scherben geht oder das Schöpfrad zerbrochen in den Brunnen stürzt.
Dann kehrt der Leib zur Erde zurück, aus der er entstanden ist, und der Lebensgeist geht zu Gott, der ihn gegeben hat.
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Lied: „Ich lebe zwischen Herbst und Winter“ (Text: U. Tietze)
(Melodie EG 330: O dass ich tausend Zungen hätte):
1. Ich lebe zwischen Herbst und Winter,
sah oft der Jahreszeiten Lauf,
spür noch den Herbst, doch schnell verrinnt er,
und niemand hält den Winter auf.
Mein Weg war leicht und schwer und weit,
nun kommt die letzte Jahreszeit.
2. Schon viele Lebensblätter fielen,
manch lieber Mensch ist nicht mehr da.
Was ist erreicht von meinen Zielen?
Ich sag zu meinem Leben „Ja“.
Oft spürte ich des Schöpfers Hand,
er blieb mir liebend zugewandt.
3. Manch altes Lied ist längst verklungen,
doch tief in mir klingt mancher Ton.
So vieles an Erinnerungen!
Und manche scheint mir wie ein Lohn.
Mal hat das Leben mich gekränkt,
doch immer wieder reich beschenkt.
4. Gott hat mich liebevoll begleitet;
Zerstörerisch blieb Menschenwahn.
Längst ist mein Blick nun schon geweitet:
Nur Liebe führt auf guter Bahn.
Gott ist die Liebe – das ist wahr.
Sie trägt uns, wenn auch unsichtbar.
5. Ich lebe zwischen Herbst und Winter,
es endet einmal meine Zeit.
Nun naht die Kälte, doch dahinter
steht Gott mit seiner Ewigkeit.
Ich gehe langsam auf ihn zu –
in Liebe auf das große Du.
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Ansprache: Von der Schönheit des Alters
„Es ist etwas Schreckliches passiert!“ – verzweifelt schaut eine unserer Ladies in die Frauenrunde. „Was denn?“ fragen alle anteilnehmend. „Ich bin 60 geworden!“
„Deutsche haben Angst vor dem Alter“ ist schon seit längerem in etlichen Zeitschriften zu lesen. Laut einer repräsentativen Studie freuten sich nur 4 % der Deutschen auf das Alter.
Das heißt, so scheint mir, wir sollten uns mit offenen Augen dem Problem stellen. Wann beginnt Altwerden eigentlich? Rein biologisch betrachtet spätestens mit 20 Jahren. Aber das meine ich natürlich nicht. Überspringen wir die frühe Lebensmitte und beginnen wir mit dem anrüchigen 50-er Jahren, in denen bei den meisten die erste Alterskrise als sogenannte Midlifecrisis einsetzt. Zwar halten sich die körperlichen Anzeichen des Älterwerdens bei den meisten von uns mit 50+ noch sehr im Rahmen: Es zwickt mal hier, mal dort, besonders natürlich in den Knien – oder wir „haben Rücken“, das Treppensteigen fällt ein wenig schwerer, ohne Lesebrille geht nichts mehr; stundenlanges Durchschlafen wird seltener; eine durchzechte Nacht rächt sich tagelang. Die Figur ist nicht mehr die, sie sie einmal gewesen war; der Blick morgens in den Spiegel fällt kritischer aus, und es passiert eher selten, dass uns Frauen die sprichwörtlichen Bauarbeiter noch hinterherpfeifen…
Aber im Großen und Ganzen können die meisten der 50+ler so tun, als sei „zum Altwerden immer noch Zeit“ (nach einem italienischen Sprichwort) und weit von uns entfernt. Da wird mit Yoga und Pilates der Körper bestenfalls stabilisiert und die Jugend aufgefrischt, mit Haut straffenden Cremen nachjustiert und die Kleidergrößen angepasst. Über die kleinen Zipperleins wird gerne hinweggewitzelt :“Wie alt sind sie eigentlich, Frau Königstein?“ fragt der Schönheitschirurg seine neue Patientin. „Ich gehe auf die vierzig zu.“ „Aus welcher Richtung?“ Oder: „Die Schmerzen in Ihrem linken Bein sind altersbedingt“, sagt der Arzt zum Patienten. Entgegnet der Patient entrüstet: „Das kann nicht sein. Mein rechtes Bein ist genauso als und tut nicht weh!“
Jedoch: Wenn wir uns der 60 nähern, wird das Verleugnen der Beschwerden und des Älterwerdens schwieriger. Wenige Wochen nach meinem 60. Geburtstag musste ich einsehen, dass sich meine Sehfähigkeit weiter eingeschränkt hat und ich gerade beim Autofahren nicht mehr den Durchblick bzw. die Weitsicht auf die Schilder hatte. Die Augenärztin zuckte mich den Schultern: Das wäre in meinem Alter normal, und verschrieb mir eine Gleitsichtbrille. Auf den Schock hin musste ich mir beim Bäcker erst mal ein großes Stück Stachelbeerbaiser genehmigen, groß genug für meine Augen! Ein halbes Jahr später bekam ich die erste Einladung zum Seniorentanztee Ü 60. Nun, im Blick auf die 70-80-jährigen kam ich mir jung vor und wirbelte über die Tanzfläche. Nach dem dritten Schlager aber geriet ich schon aus der Puste und mir wurde leicht schwindelig, was mir früher nie passiert wäre; ich gab aber nicht auf und versuchte beim Boogie-Woogie noch tiefer in die Knie zu gehen als mein 80-jähriger Tanzpartner…da schoss die „Hexe“! Und ich musste meine Tanzkapriolen beim Arzt auf der Liege beenden. Na großartig!
„Man ist so jung, wie man sich fühlt“, heißt es im Volksmund, und ich fühlte mich plötzlich alt. Paul Baltes, einer der führenden Altersforscher des 20. Jahrhunderts, teilte das menschliche Leben in vier sogenannte „Lebensalter“ ein: Das dritte von vieren ist dasjenige der 60 – bis 80- Jährigen. Das ist die Phase also, in der es mir persönlich zwar immer noch vergleichsweise gut geht, aber kein Weg daran vorbeiführt, zur Kenntnis zu nehmen, dass mein Körper nicht mehr der ist, der er einmal war. Also habe ich mir angewöhnt, mehr auf seine (des Körpers) stummen Signale zu achten: Wenn er müde wird, versuche ich ihm eine Pause zu verschaffen; den Lendenwirbeln mute ich gar nicht erst zu, länger als 20 Minuten zu stehen; dem Rücken sich richtig zu bücken. Ich versuche, Ärger zu vermeiden und gelassener über die Schuhe der Jungens zu steigen, ohne sie gleich an die Seite zu räumen. Auf ausgedehnten Schlaf verzichte ich nur in extremen Ausnahmefällen, was glücklicherweise nicht schwerfällt, weil ich natürlich längst aus dem Alter heraus bin, in dem mich die Angst umtrieb, irgendetwas zu verpassen.
Obwohl die beschriebenen Veränderungen alle Teil eines ganz und gar natürlichen Prozesses sind, dem man ja auch seine freundlichen Seiten abgewinnen kann, ist es den meisten Menschen doch irgendwie peinlich, zugeben zu müssen, dass der Lack ab ist und man nicht mehr so kann wie früher; zugeben zu müssen, dass Altersflecken keine Sommersprossen sind und nun zum neuen Outfit gehören. Es verdrießt uns, zum „alten Eisen“ gezählt zu werden, wenn wir eine Einladung zum Seniorennachmittag erhalten. Denn alt sind ja immer nur die Anderen. Wir fürchten uns davor, anderen zur Last zu fallen, pflegebedürftig oder gar dement zu werden. Unsere Selbstständigkeit und Selbstbestimmung zu verlieren, finden wir ganz schlimm.
Schon der 60. Geburtstag treibt einigen den Angstschweiß auf die Stirn – wie der Dame aus dem Frauenkreis, die ich anfangs erwähnte: Schrecklich! Das ist das Ende!! Jetzt kommt nichts mehr! No Sex, No Drugs, No Rock´n Roll!... Alt werden wollen wir alle, aber als sein ist schwer. „Alt sein ist nichts für Feiglinge“, hat Hildegard Knef schon gesagt. Lieber hören wir, wie ich mit knapp 64 Jahren: „Was?! Das hätte ich aber nicht gedacht! Also älter als Mitte 50 hätte ich Sie jetzt nicht geschätzt!“. Uihuhi! Da kann man auch schwer ins Fettnäpfchen treten! Zugegeben sind die 60-80-Jährigen nicht mehr die 60-80-Jährigen unserer Großmütter- und Vätergeneration. Und wir nennen uns „die neuen 50-Jährigen“, die „im Hühnerstall Motorrad fahren“. Aber trotz unseres dynamisch-jugendlichen Auftretens bleiben, ja sind wir so alt wie wir sind, und nicht alle kriegen mit 80 Jahren noch so einen sportlichen Auftritt auf der Bühne hin wie Mick Jagger unlängst im TV.
Dass ich nicht mehr 30 bin (auch wenn ich so aussehe!), merke ich zunehmend auch an gewissen Gedächtnislücken. Wie oft passiert es mir im Alltag, dass mir Menschen begegnen, die ich eigentlich gut kenne: „Guten Tag, Frau….?!“ Und der Name ist weg! Wie peinlich! Wir haben gelernt, solche Erinnerungsschwächen als Defizit anzusehen und alles, was mit Alter verbunden ist, irgendwie als Mangelerscheinung. Ich denke, eine Ursache dafür ist die Bewertung des Alters: Es wird eben immer noch sehr häufig gemessen an Werten wie Jugendlichkeit und Leistungsfähigkeit. Alt sein gilt als etwas, was man leider nicht vermeiden kann - auch wenn man das Rentenalter hochsetzt, Collagendrops schluckt und jeden Morgen Kopfstand macht.
Ein anderer Grund für die negative Bewertung des Alters ist: Wenn ein Mensch immer wieder einmal etwas vergisst oder wenn er langsamer zu Fuß ist, wird dies auf den ganzen Menschen übertragen. Man hält ihn für vergesslich und insgesamt für langsam. So hat man ein bestimmtes Bild von einem Menschen, das der alte Mensch dann oft selber übernimmt. Er hält sich dann auch für langsam und vergesslich. Obwohl für jedes Alter doch gilt: in der Ruhe liegt die Kraft!!! Doch allgemein und sowieso ist das Ansehen „Langlebiger Artikel“ in unserer „Wegwerfgesellschaft“ gering. Diese Einschätzung wird eben auch auf das Altern, auf alte Menschen übertragen.
Ein Bonner Arzt, der Neurophysiologe Detlef Linke, versteht die Veränderungen im Alter hingegen positiv. Sie werden von ihm nicht als Abbauprozesse verstanden. Er sieht in ihnen Bündelungs- und Zuspitzungsprozesse, die das Einmalige der Person im Alter in besonderer Weise zum Tragen kommen lassen. Alterungsvorgänge werden demnach als Zuspitzung auf den Wesenskern verstanden. Es geht nicht mehr um die Abrufbarkeit einer Fülle von Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern um eine Bündelung der der Person eigen gewordenen Möglichkeiten, um die im guten Sinn mögliche „Vereinheitlichung“ des Menschen. – Eine alte Dame konzentrierte ihr freundliches Wesen, ihre Hilfsbereitschaft nun ganz auf ihre Mitbewohner, besann sich auf das, was sie konnte – kochte für das ganze Altersheim Lieblingsgerichte….
Der Maler Kandinsky, der als Vater der abstrakten Kunst gilt, hat die Fähigkeit, abstrakt zu arbeiten, als ein Produkt seiner Alterungsprozesse erlebt, die ihn zwangen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und dieses Wesentliche darzustellen. Dass so viele Menschen so alt wie heute werden, gab es in der ganzen Menschheitsgeschichte noch nicht. Die Alterspyramide steht schon länger auf dem Kopf. Allein deshalb ist es schon notwendig, sich mit den Begleiterscheinungen des Alters zu beschäftigen, sie ernst zu nehmen und zu verstehen. Nur so kann die Aufgabe, die vor uns liegt, erfüllt werden.
Unsere und die kommenden Generationen haben dafür zu sorgen, dass das Alter gut gelebt werden kann, ohne dass jedoch die junge Generation, die inzwischen in Unterzahl ist, unter der Last, „alles allein am Laufen zu halten“, zusammenkracht. Darum gilt es, nicht aus dem Blick zu verlieren, dass die Erfahrungen und Erkenntnisse älterer Menschen für die Welt wichtig sind und bleiben.
Mir geht schon die ganze Zeit der Song von Udo Jürgens nicht aus dem Kopf. Sie kennen ihn alle: „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an. Mit 66 Jahren, da hat man Spaß daran. Mit 66 Jahren, da kommt man erst in Schuss. Mit 66 Jahren …. ist noch lange nicht Schluss!“ Das ist eine Hymne, die vor Lebensenergie strotzt, die das Alter als einen neuen Gestaltungsraum annimmt.
Davon erzählt auch Lukas (Lukas 2, 25-39) in seinem Evangelium ganz am Anfang. Da hören wir von zwei alten Menschen: Sie heißen Hanna und Simeon und spielen eine wichtige Rolle in der Kindheitsgeschichte Jeus. Sie werden uns immer wieder daran erinnern, was Gott mit alten Menschen vorhat, denn die älteren Menschen sind „Gottesebenbilder“. Gott offenbart sich in diesem Bibeltext, zugespitzt formuliert, als ein Gott der Alten. Hanna und Simeon sind tagtäglich im Tempel. Sie beten. Doch das bleibt nicht ihre einzige Aufgabe. Sie sind alt, aber sie sehen über das mit den Augen Sichtbare hinaus. „Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht“. So formulierte Marie Luise Kaschnitz ihre Alterserfahrung. Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht.
Hanna und Simeon, sie sehen anders, sie sehen das Wesentliche! Von beiden wird gesagt, dass sie sich in der Nähe des Tempels aufhalten. Simeon wird als ein gottesfürchtiger Mann beschrieben, auf dem der Geist Gottes ruht. (Lukas 2,25) Er wartet auf den Trost Israels. Durch den Heiligen Geist weiß er, dass er nicht sterben wird, bevor er den, den er erwartet, gesehen hat.
Hanna wird als hochbetagte Prophetin bezeichnet, deren Lebensinhalt der Dienst an Gott war. Sie ist eine Tochter Phanuels, aus dem Stamm Asser. Über diesen Stamm sprach Mose folgenden Segen: „Von Eisen und Erz sei der Riegel deiner Tore; dein Alter sei wie deine Jugend!“ (Dtn. 33,25b.) Der Schluss liegt nahe, dass es kein Zufall ist, dass Hanna aus dem Stamm Asser stammt. Scheinbar zeichnet dieser Stamm sich dadurch aus, dass seine Alten in besonderer Weise von Gott befähigt werden, zukunftsweisend Aufgaben zu erfüllen. Das Alter der Hanna ist unbekannt. Man kann es lediglich schätzen. Manche vermuten, dass sie 84 Jahre alt war, ein sehr hohes Alter für damalige Zeit.
Beide alten Menschen nehmen die Aufgabe wahr, den Eltern Maria und Josef und der Öffentlichkeit im Umfeld des Tempels die Sendung und die Bestimmung des neugeborenen Kindes Jesus zu bezeugen. Beide sind sie mit dem Geist Gottes gesegnet. Ihre Fähigkeiten, weiter zu sehen als Andere, sehen sie als ihre von Gott gegebene Aufgabe, diese für Andere einzusetzen – gerade auch in ihrem Alter. Aus dem Dasein der beiden Alten, die im Gebet, in der Offenheit also zur Transzendenz leben, ist ein neuer Bezug zu Gott erwachsen! Sie reden prophetisch deutend. Ihre Fähigkeit, weiter zu sehen, formt sich in Worte, die wegweisend sind für Andere. Sie sind es, die die Ereignisse der Zeit deuten und den Heiland vor der Welt bezeugen. (Lukas 2,38)
Die Gabe der Prophetie, die sich an diesen beiden Alten zeigt, speist sich unter anderem aus der Möglichkeit gerade auch alter Menschen, Visionen und Träume zu haben (Joel 3,1-3) Alte und Junge, Frauen und Männer werden bei dieser rückhaltlosen Selbstoffenbarung Gottes gleichgestellt. Visionen, prophetische Fähigkeiten und Träume werden dem Menschen als Gabe Gottes zuteil, die Träumen aber werden besonders alten Menschen zugeordnet. Von Gott gegeben beziehen sie sich, ähnlich den Visionen, auf das Entwerfen von Zukunft: „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an….“
Diejenigen, die selbst nur noch wenig irdische Zukunft vor sich haben, haben Träume und Visionen für eine Zukunft der Alten und der Jungen. So weist die in den alten Menschen angebrochene Freiheit und Unabhängigkeit über ihre eigene Zukunft hinaus auf die den Tod übergreifende Zukunft Gottes mit dem Menschen, die in unsere Gegenwart hineinscheint. Hanna lobt Gott und Simon jubelt: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben den Heiland gesehen!“ (Lukas 2,25-39)
Unabhängig von prophetisch-visionären Gaben steckt für mich in diesem Satz auch: Was kann man im Alter nicht alles noch sehen! Wenn man die Augen nicht verschließt. Wenn man in gewisser Weise offen ist, neugierig bliebt und das in den Blick nimmt, was täglich noch gelingt, wofür man dankbar sein kann, was einen erheitert und erfreut, statt darauf zu schauen, was nicht mehr geht. Statt zu beklagen, dass Vertrautes verschwindet, vieles sich schnell verändert und mir immer mehr unverständlich ist. Hanna und Simeon, zwei alte Menschen, sie sehen anders, weiter, genauer. Und doch sind sie Menschen, die der Welt noch nicht enthoben sind. Die Einschränkungen des Alters plagen auch sie. Diese Welt hat sie nicht mehr vollständig in den Krallen. Sie schauen schon ein wenig weiter, hin zu Gottes Welt.
Nun, sicher haben nicht alle Menschen von Gott den Auftrag wie Hanna und Simeon, den Heiland der Welt zu erkennen und ihn öffentlich vor der Welt zu proklamieren. Ja, und trotzdem haben alte Menschen in unserer Zeit viele Aufgaben. Allein dadurch schon, dass sie die lebendigen Wurzeln unserer Gegenwart sind. Von ihnen können wir vielleicht kein Computerwissen erfragen, aber Antworten über Leben und Tod können sie uns geben. In der Bibel wird – wie wir in der Lesung aus dem Buch des Predigers (s.o.) gehört haben – das Alter durchaus kritisch gesehen – die Sehkraft der Augen, das Hörvermögen der Ohren und die Beweglichkeit der Gliedmaßen lassen nach.
Genauso aber ist in der Bibel davon die Rede, dass Alte wie die Jungen sind, dass „wenn sie alt sind, sie dennoch erblühen“ (Psalm 92,14). Alexander von Humboldt hat das so gesagt: „Ich finde das Alter nicht arm an Freuden, aber Farben und Quellen dieser Freuden sind anders.“ Und auch, was als „schön“ definiert wird, sieht dann anders aus, orientiert sich nicht mehr an straffer Haut, vollem Haar und Leistung. Martin Luther hat das so auf den Punkt gebracht, als er sagte „Gott handelt an uns wie ein Holzschnitzer. Anfangs hat er einen glatten Block vor sich. Indem er von dem Holz wegnimmt, fördert er das Bild, das ihm vorschwebt. So muss Gott viel von uns wegnehmen und schnitzen, bis wir dem Bild entsprechen, das er haben will.“
Die Schönheit des Alters sehen, das heißt also: das Bildnis, das Gesamtkunstwerk erkennen, das Gott aus seinem Menschen macht. Da sind Falten und Runzeln keine Katastrophe mehr, sondern Linien, lebendige Jahresringe, die Gott in unsere Gesichter zeichnet. Da sind Enttäuschungen und Leid keine Schicksalslaunen, die sinnlos unsere Lebenskraft verbrauchen, sondern Begegnungen mit Gott, in denen er seine Spuren in unsere Seele eingräbt und unseren Charakter formt. Da sind Erfahrungen, von denen wir – je älter, je mehr – zu erzählen wissen, keine alten Kamellen, sondern ein Stück der Geschichte Gottes, die er durch unser Dasein erzählt. (Daran sollen auch die Ringe im Baumstamm und das Gedicht von Rilke erinnern:
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge zieh‘n.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
Das Alter, liebe Geschwister, kann also eine gute Zeit sein, eine besondere auch, weil man sich Zeit für Gott nimmt. Zum guten Schluss dazu noch eine kleine Geschichte: Eine ältere, schwer MS-kranke Frau, die ich vor Jahren begleitet habe, sagte mir kurz vor ihrem Sterben, als sie nichts mehr tun konnte, dass sie unter diesem Zustand nicht leiden würde. Denn sie hätte eine wichtige Aufgabe: Solange sie könne, würde sie für die Welt und die Menschen beten. Das war ihre Aufgabe bis zu ihrem Tod, - die sie auch erfüllt hat.
Jeder Mensch hat Lebensaufgaben bis zum Tod. Vielleicht kann man sie dann entdecken, wenn man das Alter so wie Marie Luise Kaschnitz versteht. Für sie bedeutet Alter nicht das Ende, vielmehr vergleicht sie es mit einem Balkon, von dem man aus weiter und genauer sieht. So lassen sich die vielleicht klein erscheinenden, aber wichtigen Lebensaufgaben erkennen. Erkennen aber auch, was es heißt, über das hinauszusehen, was ich als alter Mensch noch leisten sollte, müsste, könnte…
Um mit Astrid Lindgren zu sprechen: Ich darf als alter Mensch auch einfach nur dasitzen und vor mich hinschauen, meine Hände in den Schoß legen, mich ganz Gott anvertrauen, der meinen Wert, meine „Verwertbarkeit“ nicht von meiner Größe, meinen Taten, meinen Stärken abhängig macht, sondern von seiner Liebe und Barmherzigkeit. Und die machen uns schön, egal wie alt wir sind.
Amen.
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Liebeslied für einen alten Menschen, Text: U. Tietze
(Melodie EG 255: O dass doch bald dein Feuer brennte)
1. Gezeichnet von so vielen Jahre,
an Falten reich ist dein Gesicht,
das, eingerahmt von weißen Haaren,
ganz ohne Worte zu mir spricht.
2. Durch das, was hinter dir liegt, haben
unzählige der Runzeln sich
in deine Haut tief eingegraben.
Wenn ich dich sehe, denke ich:
3. Nach schwerem Los noch Freundlichkeiten,
die schenkst du mir ganz unbeirrt.
Ich hoffe, dass für lange Zeiten
dein Weg mich noch begleiten wird.
4. Wie schön bist du, seid oft ihr Alten!
Erfahrung legte sich hinein
in deine Haut mit ihren Falten.
Das Leben selbst grub sich dort ein.
5. Oft höre ich von allen Seiten,
dass nur die Jugend Schönheit hat.
Und doch: nur Oberflächlichkeiten
sind ohne Furchen, bleiben glatt.
6. Dort, wo das Leben, wo Erfahrung
sich ins Gesicht, ins Äußre gräbt,
mag es geschehn, dass ihr auch Nahrung
des Wissens an die Jungen gebt.
7. Ich weiß nicht, wieviel an Gewittern,
an Stürmen mir beschieden ist.
Doch niemals möchte ich verbittern,
will freundlich bleiben, wie du´s bist.
7.S.n.Tr., 23.07.2023, 1.Kö.17,1-6, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
jeder Sommer hat so seinen Hit in den Radioprogrammen. Ich erinnere mich noch gut an den von 1975, damals ein Ohrwurm. Rudi Carell war der Sänger und im Refrain hieß es: „Wann wird’s mal endlich wieder Sommer, ein Sommer, wie er früher einmal war? Ja, mit Sonnenschein von Juni bis September und nicht so nass und so sibirisch, wie im letzten Jahr.“
Ein Sommerhit, den so in den letzten 10-15 Jahren sicher kein Textschreiber mehr erdacht hätte; waren die Sommer doch im Schnitt alle viel zu warm und vor allen Dingen viel zu trocken. Wie sehr genießen wir mittlerweile Temperaturen um 20 Grad und freuen uns über jeden Regenguss, sofern er nicht als Starkregen daherkommt. Um Trockenheit und fehlenden Regen geht es auch in der Geschichte, die der Predigt am heutigen Sonntag zugrunde liegt. Genaugenommen ist es der erste Teil einer Geschichte aus dem 1.Könige; über den zweiten Teil werde ich am 27. August zu sprechen kommen. Seit der Überarbeitung der Perikopenordnung 2018 ist sie endlich für würdig erachtet worden, alle sechs Jahre als Predigttext der Gemeinde vorgestellt zu werden.
„Da sprach Elia, der Tischbiter, aus Tischbe in Gilead, zu Ahab: „So wahr der Herr, der Gott Israels, lebt, in dessen Dienst ich stehe, es wird in diesen Jahren weder Tau noch Regen fallen, ich sage es denn!“ Und es erging an ihn das Wort des Herrn: „Geh weg von hier und wende dich nach Osten! Verbirg dich am Bach Krit, der zum Jordan fließt. Und du sollst aus dem Bach trinken, und ich habe den Raben geboten, dass sie dich dort versorgen sollen.“ Und er tat nach dem Wort des Herrn; er ging hin und setzte sich nieder am Bach Krit, der zum Jordan fließt. Und die Raben brachten ihm Brot am Morgen und Fleisch am Abend, und er trank aus dem Bach.“
Ich kenne keine andere Bibelstelle, wo so bildhaft von einem Bach die Rede ist wie hier im ersten Buch der Könige. Da sitzt einer am Ufer des Bachs, nicht bloß eine Stunde lang; sondern über viele Tage, Wochen sitzt er da an seinem Bach und hält sich verborgen. Aber es ist hier keine Idylle, weder Urlaub noch Kinderspiel. Elia, der Prophet, hatte Schwieriges hinter sich. Er hatte gesehen, welche bedenkliche Entwicklung das Nordreich Israel genommen hatte. Wie das Königshaus in seinem Bemühen, sich den religiösen Gepflogenheiten der Nachbarvölker anzupassen, den Glauben Israels immer stärker verfälschte und in Frage stellte. Baal und Aschera wurden Altäre errichtet. Adonai, der Gott Israels, war nur noch einer unter vielen. All das geschah vor den Augen des ganzen Volkes. Jeder musste und konnte es sehen. Vielleicht war auch eine ganze Reihe mit dieser Entwicklung nicht einverstanden. Aber – keiner sagte etwas; nur einer tat den Mund auf: Elia. Er sagte König Ahab als Folge dessen Handelns eine schlechte Botschaft ins Gesicht: „Es wird kein Regen kommen, nicht in diesem Jahr und auch nicht in den folgenden.“
Ja, es braucht Mut und Kraft, den Mund aufzumachen, ehrlich und offen zu sagen, was Sache ist, ehrlich und offen die Folgen von Ereignissen, von politischem Handeln zu benennen. Wer eine schlechte Botschaft bringt, der muss damit rechnen, dafür abgelehnt zu werden. Das ist so bis heute. Welche/r Politiker/in in unserem Land traut sich - gerade wo Wahlen anstehen und die stehen ja immer irgendwo an in den Ländern, in den Kommunen – welche/r Politiker/in traut sich da, die Wahrheit zu sagen zum Beispiel hinsichtlich der Finanzierbarkeit unseres Gesundheitssystems oder was die Globalisierung und Digitalisierung für das Wohlstandsgefüge in unserer Gesellschaft bedeutet oder welche Schritte eigentlich zu unternehmen wären, um die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels wenigstens noch abzumildern. Eigentlich ist es für alle, die ein bisschen nachdenken können, mit Händen zu greifen, dass nicht weiter alles, was machbar ist, mehr möglich ist, und zwar nicht nur, weil wir es uns das finanziell nicht mehr leisten können, sondern weil die Erde es sich nicht mehr leisten kann.
Es ist leicht, die Universalität der Menschenrechte zu erklären. Aber aus dieser Anerkenntnis folgt doch auch, dass jeder Mensch das gleiche Anrecht auf ein gutes Leben hat, dass die begrenzten Ressourcen der Erde für alle in gleichem Maße zur Verfügung stehen. Das will lieber keine/r laut sagen. Ich habe noch von niemandem gehört, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse weltweit nicht heißen wird, dass es allen so gut gehen wird, wie uns hier in Deutschland jetzt, sondern eher, dass wir unsere Ansprüche deutlich zurückschrauben müssen. Aber wer traut sich, das zu sagen? Er muss befürchten, vom Wähler abgestraft zu werden. Dabei müsste er nur mit dem Verlust seines Abgeordnetenmandates rechnen, nicht, wie Elia, dass ihn tödlicher Hass treffen kann, weil die Menschen so seine Botschaft töten wollen – wobei die Ermordung des Politikers und Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019 zeigt, dass es in unserer Gesellschaft auch schon richtig gefährlich sein kann, einfach für Menschlichkeit einzustehen.
Elia war mutig gewesen und hatte dem König ins Angesicht gesprochen, aber dann wollte Gott selbst, dass er sich versteckte. „Verbirg dich!“, sagte der Herr. Mich berührt es, dass auch dem mutigen Menschen sein Versteck gewährt wird. Auch der Prophet braucht nicht immer mutig vor des Königs Angesicht zu stehen. Es gibt eine Zeit, da darf, da soll er sich zurückziehen, zurück in sein Versteck - am Bach Krit. Man kann sich das wie ein Bild vorstellen: dieser erschöpfte Prophet am Ufer des Baches, der Prophet in der Einsamkeit und Stille. Es ist ein Bild für jeden Menschen, der sich erschöpft bergen, sich verbergen will. Nun weiß ich nicht, ob der Bach Krit so ein lebendiger Bach ist wie zum Beispiel die Bäche in den Alpen, wenn sie über die Wiesen und Almen sprudeln. Die Maler in späteren christlichen Zeiten haben gerne eine Schlucht gezeichnet, wenn sie uns Elia in seinem Versteck zeigen wollten. Da saß er erschöpft da und es floss der Bach. Und die Raben kamen und versorgten ihn - am Morgen mit Brot, am Abend mit Fleisch. So wurde Elia zum Vater der Einsiedler.
Wer in den satten Zeiten der Kirche genug hatte von der Welt mit ihren Königen, wer nur noch geistliche Dürre über die Stätten der Welt kommen sah, der zog aus in die Wildnis, fort in die Einsamkeit; er kehrte der Welt den Rücken. Antonius von Padua war wohl nicht der erste und Nikolaus von Flüe nicht der letzte. Wo immer ein Mensch in die Einsamkeit floh, da meinte er, dem Weg des Elia zu folgen. Doch ganz richtig haben sie damit Elia und seine „Auszeit“ nicht nachgebildet. Denn sein Rückzug – das werden wir noch hören am 27.August – war nur ein Intermezzo, eine Auszeit eben und keine Endstation. Ja, manchmal ist das das Einzige, was hilft, was guttut, wenn Erschöpfung sich breit macht in allem Tun und Schaffen, allem Planen und Organisieren: sich eine Auszeit nehmen, ja, sich von Gott „in Urlaub“ schicken zu lassen. So fremd ist er uns nicht, der erschöpfte Prophet. Wer in der Welt wirkt, kennt doch die Zeiten, da er ausspannen möchte, hinaus aus der Anspannung der täglichen Anforderungen. Einmal ganz sich bergen, weg von den stechenden oder skeptischen Blicken, fort vom Lärm der Welt, hinein in die Stille, dort, wohin Gott mich führt. Ja, vielen ist der Ruf vertraut, auch wenn die Stimme nur leise klingt: „Verbirg dich!“
Ich weiß, es gibt auch Menschen, die haben einen solchen Ort nicht selbst gesucht. Und doch hat Gott sie in die Stille, in die Einsamkeit geführt. Sie denken zurück an frühere Zeiten und sind dabei froh um jeden Boten, der die Stille bricht. Nicht jeder möchte Elia sein. Ja, wir wissen nicht einmal, ob Elia selbst so glücklich war in seinem Versteck, in das Gott ihn führte. Darüber schweigt die Bibel. Elia ging den Weg, auf den Gott ihn rief. Der Mensch am Bach. Elia ist kein ausgelassenes Kind, das am Wasser spielt, vielleicht kleine Wasserräder aus Holzstöcken und Baumrindenstücken bastelt. Ein Mensch, gezeichnet und erschöpft, stillt seinen Durst mit Wasser, das der Bach ihm bringt. „Aus dem Bach kannst du trinken.“ Elia sieht Dürre kommen, doch Gott hat ihn zu einem Bach geführt, aus dem er trinken kann. Es ist kein Brunnen, keine Zisterne, kein Vorrat an Wasser, den er messen könnte. Das Wasser kommt, er weiß nicht, woher, und was er nicht trinkt, fließt fort und ist nicht zurückzuholen. So gibt der Prophet sich ganz der täglichen Güte Gottes hin. Er selbst hat keine Macht über den Ursprung des Wassers; er kann es nur kommen lassen. Und er kann es nicht für schlechtere Zeiten zurückhalten; er muss es ziehen lassen. So lebt er denn jeden Tag von dem Wasser, das Gott ihm Tag für Tag schickt. Tiefer könnte der Mensch im Versteck nicht erfahren, was es heißt, aus Gottes Hand zu leben. Und es kommen die Raben am Morgen und am Abend. Wie im Märchen bringen sie dem Menschen in seiner Einsamkeit sein Essen: Brot und Fleisch. Sie kommen vom Himmel, sind Boten des himmlischen Vaters, und sie bringen so viel, wie der geborgene Mensch braucht, mehr bringen sie nicht; Vorräte lassen sich nicht sammeln. Sein tägliches Brot wird dem Menschen in seine Stille gebracht und auch sein tägliches Fleisch. Und in der Stille vertraut der Mensch darauf, dass Gott ihm wirklich jeden Tag das Nötige schenkt - durch seine Raben, durch seinen Bach.
Es ist schon wahr: viele von uns kennen die Sehnsucht nach einem Versteck, nach einem Ort, wo die tägliche Welt zum Schweigen kommt. Aber verstehen wir uns auch auf die Zeichen solcher Orte? Nehmen wir die Raben wahr, und vermögen wir, mit dem Bach zu leben? Es ist kein Idyll, der Prophet am Bach Krit. Es ist ein Mensch, den Gott in die Einsamkeit führt, ein Mensch, der lernt, es sich mit dem genügen zu lassen, was Gott ihm jeden Tag schenkt. Nun will ich nicht verschweigen, dass die Tage des Propheten am Bache Krit gezählt waren. Auch das Versteck war der Welt nicht völlig entzogen. Nicht, dass die Menschen den Propheten dort entdeckt hätten. Aber die Dürre, der fehlende Regen ließ auch die Quelle des Bachs versiegen. Die Zeit der Stille, die Wochen der Einsamkeit gingen zu Ende. Und Elia musste wieder hinaus in die trockene Welt, er musste zu den hungernden, leidenden Menschen, um ihnen Hilfe zu bringen.
Nein, Einsamkeit und Stille sind kein Idyll, der Rückzug kein Selbstzweck, er begründet kein Leben in einer heilen Parallelwelt. Es kommt die Zeit, da trocknen die Bäche aus, dann muss ich hinaus, zurück in die Welt. Hoffentlich habe ich bis dahin gelernt, dass Gott mir schicken wird, was ich brauche. Dass ich wesentlich von seiner Güte lebe. Und dass ich mich nicht trennen kann von dem Geschick der anderen Menschen in der Welt, dass ihr Durst, ihr Hunger auch meiner ist. Dass es Leben und Zukunft nur für uns alle gemeinsam gibt. Hoffentlich habe ich bis dahin die Lektion am Bach verstanden.
Amen.
7.S.n.Tr., 23.07.2023, Predigtreihe zu Krisentexten der Bibel: "Beziehungskrise", Stadt- und Jonakirche, Daniel Kaufmann
Predigt zum Thema „Beziehungskrise“ um 9.45 Uhr in der Stadtkirche und um 11 Uhr in der Jonakirche
„Als Gott den Mann erschaffen hatte, stellte er fest, dass er das meiste gängige Material verbraucht hatte. Es gab keine leichter verfügbaren Zutaten mehr, woraus er die Frau hätte bilden konnte. So dachte Gott länger als üblich nach. Dann nahm er die Rundheit des Mondes, die Biegsamkeit einer Weinranke, das Zittern des Grases, die Zartheit des Schilfs und das Blühen der Blumen, die Leichtigkeit der Blätter und die Heiterkeit der Sonnenstrahlen, die Tränen der Wolken und die Flüchtigkeit des Windes, die Furchtsamkeit eines Hasen und die Eitelkeit eines Pfaues, die Weichheit einer Vogelbrust und die Härte eines Diamanten, die Süße des Honigs und die Grausamkeit eines Tigers, das Brennen des Feuers und die Kälte tiefen Schnees, die Geschwätzigkeit einer Elster und das Singen einer Nachtigall, die Falschheit einer Schlange und die Verlässlichkeit einer Löwin.
Gott vermischte alle diese Elemente, schuf daraus die Frau und gab sie dem Mann. Nach einer Woche kam der Mann wieder und sagte: „Herr, das Wesen, das du mir gegeben hast, macht mir keine Freude. Sie redet ununterbrochen und quält mich so sehr, dass ich gar keine Ruhe mehr habe. Sie besteht darauf, dass ich mich ihr ständig widme, und so gehen meine Stunden dahin. Sie regt sich über jede Kleinigkeit auf und führt ein müßiges Leben. Ich will sie dir zurückgeben, denn ich kann nicht mit ihr leben.“ Gott war einverstanden und nahm sie zurück.
Nach einer Woche kam der Mann wieder zu Gott und sagte: „Herr, mein Leben ist leer, seit ich dir die Frau zurückgegeben habe. Ich muss ständig an sie denken – wie sie tanzte und sang, wie sie mich aus den Augenwinkeln ansah, wie sie mit mir redete und sich an mich schmiegte. Sie sah so schön aus, und es war so gut, sie zu berühren. Ich hörte sie so gerne lachen. Bitte, gib sie mir doch zurück.“ Gott war einverstanden und gab sie ihm wieder.
Aber drei Tage später kam der Mann erneut zu Gott und sagte: „Herr, ich verstehe es einfach nicht – ich kann es nicht erklären, aber nach all meinen Erfahrungen mit der Frau bin ich doch zu dem Ergebnis gekommen, dass sie mir mehr Ungelegenheiten als Freude macht. Ich bitte dich daher, nimm sie doch wieder zurück! Ich kann nicht mit ihr leben!“
Und Gott antwortete: „Du kannst aber auch nicht ohne sie leben!“ Und er wandte dem Mann den Rücken zu und setzte seine Arbeit fort.
Der Mann aber rief verzweifelt: „Was soll ich tun? Ich kann nicht mit ihr leben, aber ohne sie geht es auch nicht! Das kann ja heiter weiter!“
Und es wurde heiter. Mal mehr, mal weniger.
Überwiegend heiter wurde es beim miteinander Reden und Lachen, beim lustige Geschichten Erzählen, beim Flirten, beim Necken, beim Tanzen, beim Umarmen, beim Küssen, beim Schmusen, beim Party feiern, beim Urlaub machen, beim Freunde besuchen, beim gemeinsame Zeit Verbringen.
Weniger heiter wurde es bei der Diskussion, wer welche Rolle übernehmen soll. Wer für Kochen, Wäsche, Ordnung im Haus zuständig ist. Weniger heiter wurde es in der Tretmühle des Alltäglichen, wenn Arbeit, Beruf, Kinder wenig Zeit für Gemeinsamkeit ließen.
Weniger heiter wurde es: Wenn es um das angeblich vorwiegend männliche Organisationstalent und die vorgeblich hauptsächlich weibliche Intuition ging. Wenn es um das erste und letzte Wort bei einer Entscheidung ging. Wenn es ums Rechthaben ging. Weniger heiter wurde es, wenn Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentfaltung neu ausgelotet werden mussten. Wenn der eine zu viel und der andere zu wenig oder umgekehrt: die eine zu viel und die andere zu wenig zum Zuge kam bei der Verteilung von Anerkennung, Lob und Wertschätzung.
Weniger heiter wurde es, wenn man sich wenig oder gar nichts zu sagen hatte, sich anschwieg oder einfach nur wortlos aneinander vorbeilebte. Wenn die Eifersucht sich meldete. Wenn der Umgang mit Geld schwierig wurde.
Und dann gab es ja auch noch die Zeiten, in denen es weder mehr noch weniger heiter zuging, sondern einfach nur gut war, dass man sich gegenseitig hatte, um den Alltag zu bestehen, um die Herausforderung des Lebens zu meistern, um gemeinsam stark zu sein. Um gemeinsam den Sinn des Lebens zu finden. Um gemeinsam glücklich zu werden. Um gemeinsam ein Stück Himmel auf Erden zu erleben.
Um das größte Geschenk Gottes zu entdecken: Die Liebe, die der Ursprung und das Ziel allen Lebens ist. Und die Gott in jedem von uns hineingelegt hat. Und die in jedem von uns einzigartig, wunderbar, unverwechselbar sichtbar werden kann und will.
Als Adam seine Eva im Paradies entdeckte, war sein Glück vollkommen: „Hasot!“ heißt es da im Hebräischen und auf Deutsch: „Die ist es und sonst keine!“ Und in diesem Ausruf kommt zusammen: Entdeckerfreude, Erstaunen, Glückseligkeit und Zufriedenheit.
Wir sind auf ein Gegenüber hin geschaffen. Auf ein Du hin angelegt. Und diese magische Polarität hat geradezu göttliche Qualitäten. Sie gehört zu dem Schönsten, Besten, Erfüllendsten, was es auf dieser Erde gibt.
Wie man im Anschluss an diese leicht modifizierte indische Legende* zum Miteinander der Geschlechter erkennen kann, ist diese Liebe von Anfang an nicht ohne Wermutstropfen, ohne Irritationen und Schräglagen der unterschiedlichsten Sorte zu haben. So wird es ja auch in der Bibel an zahlreichen Stellen berichtet. Gleich nach den paradiesischen Zuständen kommt die Geschichte mit der verbotenen Frucht und damit verbunden die Ausweisung aus dem himmlischen Urstand. Eva muss unter Schmerzen die Kinder gebären, Adam muss unter Schweiß und Frust das Feld bestellen. Damit nicht genug.
Das erste Brüderpaar sorgt für familiären Stress und Streit, für Mord und Totschlag: Kain bringt Abel um. (Gen. 4) Die Kinder erweisen sich von Anfang an nicht nur als Segen, sondern auch als Ernstfall des Lebens, insbesondere der Beziehung zwischen Mann und Frau. Sie werden lang ersehnt und erwünscht, aber wenn sie dann da sind, kann man sicher sein, dass so manche schlaflose Nacht und Sorge dazukommt. Weil das Thema Lieblingssohn und Lieblingstochter, Rangfolge der Geschwister, besondere Begabungen und Schwächen, Erbfolge und Fortsetzung der Dynastie, Schönheit und Ansehnlichkeit, Können und Geschick, Talent und Begabung die Runde machen. Besonders die Brüderpaare machen das Familienleben zu einer echten Herausforderung: nach Kain und Abel sind es Isaak und Ismael, Jakob und Esau, Josef und seine elf Brüder, bei denen es nur haarscharf an Krieg und Terror vorbeigeht. Der Familienfrieden ist jedes Mal nachhaltig gestört und die Eltern, das Liebespaar, Vater und Mutter haben alle Hände voll zu tun, um das Schlimmste abzuwenden. Neben den Kindern meldet sich der alltägliche Trott und damit die Frage, ob und wie eine Liebesbeziehung den immer gleichen Ablauf, die sich ähnelnden Rituale, das Normale des Lebens aushält bzw. bewältigen kann. Auch hier nehmen die biblischen Geschichten kein Blatt vor den Mund. Mehrmals wird von speziellen Vorlieben berichtet, die erst die Partnerwahl und dann den Familienalltag ungut beeinflussen.
In Zeiten der Vielehe leuchtet unmittelbar ein, dass spätestens bei der Prioritätensetzung von Lieblingsfrau, Haupt- und Nebenfrau es über kurz oder lang zu Problemen kommt. Bei Jakob etwa wird von einem ziemlich bizarren Wettbewerb der zwei Haupt -und Nebenfrauen um das erstgeborene Kind bzw. Sohn berichtet, ein Wettbewerb, bei dem der Stammvater keine durchweg gute Figur macht, sondern mehr oder weniger als Spielball von insgesamt 4Frauen, die zumindest ihre häusliche Position und Machtstellung mit Hilfe der Kinder festzurren wollen. (vgl. Genesis 29-30)
Schwierigkeiten gibt es auch in Zeiten der Monogamie, wie man bei dem ansonsten hoch gelobten König David erfährt. Seine Frau Michal findet es durchweg peinlich, wie ausgelassen und offensichtlich auch wenig bekleidet er vor allem Volk zu einer Parade erscheint. (2. Samuel 6,12-16) Man fühlt sich sogleich an britischen Verhältnisse erinnert: Prinz Harry und seine exzessiven Auftritte, bei denen das Königshaus „not amused“ ist. Dazu kommt ein mehr als schäbiger Seitensprung mit Folgen (2. Samuel 11), die Geschichte, bei der dem David die Augen übergehen. Die nackt badende Bathseba regt nicht nur seine Phantasie, sondern auch seine Lust auf Abwechslung an. Er geht mit der Frau des Uria fremd und, um die Folgen des Techtelmechtels, eine sich ankündigende Schwangerschaft, zu verbergen, lässt er den verdienten Frontkämpfer in einem Himmelfahrtskommando sterben und damit aus dem Weg räumen.
Diese Geschichte lässt durchblicken, dass es mit der Treue zwischen Mann und Frau und hier speziell vom Mann - „Me Too“ - lässt grüßen, schon in Alten Zeiten nicht zum Besten bestellt ist und das 6. Gebot: „Du sollst nicht ehebrechen!“ (Ex. 20,14) kein überflüssiger Hinweis ist, sondern einen Rahmen setzt, der zuweilen und zu Recht erinnert werden muss und soll.
Auch andere sexuelle Orientierungen als die von Mann und Frau machen Probleme: Die LGBTQ+ – Bewegung ist sich einigermaßen sicher, dass in der Bibel bei den alternativen Lebensgemeinschaftsformen vor allem misslungene oder problematische Gesichtspunkte zu Wort kommen. Dieser Eindruck ist, zumindest was die Homosexualität angeht, nicht ganz falsch. Sie ist, wenn sie thematisiert wird, wie etwa in der Geschichte von Sodom und Gomorra (Genesis 19), mit Gewalt, übergriffigen Sexpraktiken und hemmungsloser, verantwortungsloser Lust und Missbrauch verbunden und wird entsprechend negativ gezeichnet. Nicht zuletzt deshalb wird Sodom und Gomorra ja auch vernichtet. Ob David und Jonathan in jüngeren Jahren ein gleichgeschlechtlich liebendes Pärchen abgegeben haben, bleibt eine offene Frage. Hier wird in der Regel ja auf den berühmten Satz abgehoben: „Deine Liebe ist mir wundersamer als Frauenliebe.“(2. Samuel 1,26) Um da mehr herauszulesen oder zu bekommen, müsste man die beiden noch mal direkt befragen. Geht aber aus bekannten Gründen nicht. In späteren Zeiten seines Lebens ist David eindeutig heterosexuell orientiert gewesen.
Die Liebe zwischen zwei Menschen ist also mannigfachen Versuchungen und Fragestellungen ausgesetzt und die Beziehungskrise, das gespannte und alles andere als friedliche Miteinander zweier Menschen keine Selbstverständlichkeit. Aber trotz all dieser offensichtlichen Mängel, Schräglagen, auch Katastrophen und absoluten „No Goes“, gibt es durch die ganze Bibel hindurch einen geradezu unerschütterlichen Glauben, dass das liebende Miteinander zweier Menschen zu dem Schönsten und Besten und Erstrebenswerten gehört, was das Leben auf dieser Erde zu bieten hat. „Du bist das Gegenüber, nach dem ich mich sehne, die ideale Partnerin, der Partner, mit dem ich alles Glück dieser Erde erleben kann.“ Bei Adam und Eva klingt diese Gipfelaussage an und in vielen kleinen Nebenbemerkungen wird dieses Glück gefeiert. Auch dazu gibt die Bibel reichlich Einblicke und Beispiele.
„Isaak gewann Rebbekka lieb“ (Genesis 24,67) ist eine der ersten großartigen Liebeserklärungen der Weltgeschichte, die dann in vielen Variationen bis zu den atemberaubenden Szenen auf der Titanic wiederholt worden ist. Wenn der Jakob für seine Rahel 7 lange Jahre schuftet und diese 7 Jahre wie im Flug vergehen, wenn ihm diese 7 Jahre vor kommen wie 7 Tage, weil er sie so lieb hat, (Genesis 29,20) ahnen wir etwas von dem Zauber, der mit der Liebe in unser Leben kommt. Wenn es im erotischsten Buch der Bibel, dem Hohen Lied, heißt: „Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich…(Hohes Lied 8,6), dann bekommt man eine Ahnung von der Tiefe und der Größe und der Einmaligkeit und Besonderheit, die mit der Liebe verbunden zweier Menschen verbunden ist.
Diese Hochschätzung findet auch im Neuen Testament eine facettenreiche Fortsetzung: Josef verlässt seine Maria nicht, obwohl das Kind, das Jesuskind wohlgemerkt, definitiv nicht von ihm ist, wie die Evangelisten nicht müde zu betonen werden.(Matthäus 1,20/Lukas 1,34) Und dieses Miteinander hat auch später Bestand, egal ob man da römisch-katholisch mehrere ältere Geschwister Jesu annimmt, oder gemeinsam Kinder von Josef und Maria. Von dauerhafter Beziehung ist auch bei Petrus die Rede: Seine Schwiegermutter hat einen extra Eintrag in die Erzählungen des Evangeliums gefunden (Markus 1,31-32), Jesus kümmert sich um sie, und das wohl doch auch, weil sie mit Petrus und seiner Frau zu dem unmittelbaren nächsten Partnerinnen Jesu gehörte. Umso erstaunlicher, dass Petrus später und bis heute für das Zölibat herhalten musste. In der Apostelgeschichte hören wir von dem überaus gastfreundlichen Paar Aquila und Priscilla (Apostelgeschichte 18,1f), die dem Apostel Paulus Unterkunft und Verpflegung in Korinth gewähren und die vermutlich zu den Gründungsmitgliedern der zuweilen etwas chaotischen korinthischen Gemeinde gehörten. Und von Paulus selbst, der als Junggeselle, als Single durch die damalige Weltgeschichte unterwegs war, gibt es zum Miteinander der Menschen dieses wunderbare Gedicht, das wir bereits zum Eingang des Gottesdienstes miteinander gesprochen haben:
„Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Sie hört niemals auf. (1. Korinther 13)
Mag sein, dass man bei so vielen schwerwiegenden Attributen, die es zur Liebe gibt, leicht an Überforderung denkt, so wird hier doch unüberhörbar deutlich, welche gewaltige Kraft, Dynamik, Besonderheit in der Liebe steckt.
Und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Apostel damit an ein geradezu göttliches Phänomen erinnern will, ja dass wir bei der Liebe, bei dem intimsten und bedingungslosesten Miteinander zweier Menschen, Gott ganz nahekommen. So wie es in dem berühmten Johanneswort anklingt, das ja auch nicht selten bei Hochzeiten zitiert wird: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Johannes 4,16)
Mit der Liebe bekommen wir Zugang, genauer: einen direkten, sinnlich erlebbaren Zugang zu Gott. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Mag sein, dass wir das in der späteren Kirchen- und Theologiegeschichte etliches vernebelt, moralisch abgewertet oder sogar verteufelt haben. Besonders negativ hat hier ja der ansonsten hoch geschätzte Augustinus gewirkt. Wohl in Anbetracht seines ehemaligen Lotterlebens als Playboy und Lebemann hat er in der Theologie die Sexualität mit dem Gedanken der Erbsünde verbunden. Damit war dieses Terrain für ziemlich viele Jahre mehr als vergiftet. In der Bibel selbst ist von Leibfeindlichkeit oder einem vor allem geistlichen oder spirituellen Charakter der Ehe bzw. des menschlichen Miteinanders nicht die Rede. Das in jeder Hinsicht ganzheitliche Miteinander zweier Menschen wird vielmehr und geradezu sakramental geadelt: Bei Paulus findet sich etwa im Epheserbrief, Kapitel 5,25 die Aufforderung an die Männer: „Liebt eure Frauen, wie auch Christus die Gemeinde geliebt hat und hat sich selbst für sie dahingegeben…“
Ich denke, der Satz stimmt auch umgekehrt: „Ihr Frauen, liebt eure Männer, wie auch Christus die Gemeinde geliebt hat und hat sich selbst für sie dahingegeben…“ Die Männer sollen ihre Frauen und die Frauen ihre Männer lieben wie sich selbst. Und ihren Leib für den anderen geben… Wenn man hier genauer hinhört und die Wort nachklingen lässt, merkt man: Das ist die Sprache des Abendmahles, das sind die Worte, die wir auch von den Einsetzungsworten her kennen. Darin liegt eine große Hochschätzung dessen, was das Miteinander ausmacht bzw. ausmachen kann. In der römisch-katholischen Trau-Liturgie ist und wird festgehalten, dass dieses Sakrament sich die Partner gegenseitig spenden. Bei der sonstigen Fixierung auf den Priester ist das eine erstaunliche und bemerkenswerte Einsicht. Wir alle können bei diesem Miteinander an dem dem Mysterium, dem Sakrament, dem Geheimnis Gottes teilnehmen, das in Jesus seinen Ursprung hat. Diese Art der Hingabe ist ein alltagstaugliches Sakrament, das wir in unseren Beziehungen zu einem geliebten Menschen in vollem Bewusstsein selbst vollziehen und verantworten. (Was ich hier vorwiegend in Bezug auf Lebensgemeinschaften zweier Menschen ausgeführt und entwickelt habe, lässt sich und sollte auch für andere Liebesbeziehungen, wie sie im diakonischen Bereich anklingen und in der täglichen Nächstenliebe anzutreffen sind, Berücksichtigung und Anwendung finden)
Auf dem Miteinander zweier Menschen liegt die Verheißung von Gottes Segen und des irdischen Glücks und einer Verbindung, die selbst den Tod überwinden kann. Weil Gott sich zu diesem Miteinander bekennt, weil er selbst es will und unterstützt und es uns nicht nur gönnt, sondern auch alles dazu beitragen möchte, dass es gelingt.
Ein letztes: Das Miteinander zweier Menschen ist von einer bedingungslosen Entscheidung zu einem Du begleitet, von einer unglaublichen Leidenschaft und Tiefe beglaubigt und soll sich im Alltag und den Zerreißproben des Lebens bewähren. „Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem anderen wie auch Gott euch vergeben hat in Christus“, heißt es in Epheser 4,32. „Liebende leben von der Vergebung“, lautet der Titel eines Büchleins von Manfred Hausmann und das gilt besonders und immer wieder im Alltag: Wenn es aus den unterschiedlichsten Gründen und Motiven zu Störung, Missverständnissen, Unzufriedenheiten, Schwierigkeiten kommt, will und kann die Vergebung einen zu jenem Zauber des Anfangs zurückbringen, der aller Liebe zugrunde liegt und den Beziehungskrisen eine heilsame Lösung bescheren: „Du bist der, du bist die, auf die, auf den ich immer gewartet habe, ein Gottesgeschenk, ein Gruß aus der Ewigkeit, mit Dir zusammen kann und werde ich ein Stück Himmel auf Erden erleben.“
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre uns Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.
*: Legende in kürzer Form in: „Goldmedaille am siebten Tag“ Neue Geschichten für junge Leute, ausgewählt von Hanns Baumeister, Seite 15, Gütersloh 1993.
5.So. n. Trinitatis, 09.07.2023, Predigtreihe zu Krisentexten der Bibel III: Wirtschaftskrise (Jes.54,2 / Gal.4, 26), Stadt- und Jonakirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 5.n.Trin. - 9.VII.2023
Jesaja 54,2 / Galater 4,26
Liebe Gemeinde!
„Nicht vom Brot allein“, so lautet das Urteil im Verfahren Materialismus v. Menschheit.
… Wieso Urteil? Wieso Verfahren?
Weil wir uns heute ein drittes Mal einer Krise stellen müssen und wollen, … einer „Krise“, in der das Wort „Kritik“ ja auch immer schon steckt: Echte Infragestellung und schonungslose Beurteilung.
In der heutigen Verhandlung nun werden wir unter dem Gesichtspunkt des Wirtschaftlichen kritisch geprüft und bewertet, … kritisch aus biblischer Sicht, die uns den Blick Gottes nahebringt und ihn sogar einzuüben gestattet.
… Nun mag man da zurecht einwenden, dass wirtschaftlicher Sachverstand weder dem lieben Gott noch seinen Geschworenen besonders reichlich in die Wiege gelegt sei:
Der liebe Gott hat eine kleine Werkstatt betrieben, und Seine Tische, Bänke und Boote wird Er am liebsten unter freiem Himmel auf dem Hinterhof gehobelt, geleimt und verfugt, mit Nägeln so krumm wie denen, die schließlich Seine Hände durchstießen, verbunden und dann in Nazareth selbst auf Seinen Schultern ausgeliefert haben, … vielleicht dass Er dann noch ab und zu etwas von Seinem Handwerk in Kapernaum angeboten haben mag. Was also versteht Der von Wirtschaft?
… Oder so ein Dutzend Genezareth-Fahrer, die Netze flicken und Barsche ausnehmen konnten?
… Oder so ein Talmud-Gelehrter wie Saulus, der zwar erstaunlicherweise die Zeltmacher-Kunst ausübte, aber eigentlich doch nur Schrift und Geist, Gerechtigkeit und Gnade verknüpfen konnte und sich um Lohn in diesem Leben sowieso nicht scherte?
… Der Einzige, der was verstand, war Matthäus, der Zöllner: Der hatte bei den römischen Besatzern das Prozent-Rechnen gelernt und wie Aufrunden geht und wie hoch ein Profit sein muss, der nicht für die Mächtigen als Auftraggeber reicht, sondern daneben auch noch für die Gewitzten, die das Geschäft ausführen. …….
----- Kommt Ihr uns also ja nicht mit biblischen Impulsen zur Wirtschaft!, werden uns die Kinder dieser Welt sagen, die – einerlei ob sie in Düsseldorf oder in Doha, in Peking oder Pittsburgh leben – alle gleichlautend auf jene Kinder-Grundfrage reagieren werden, auf die man früher mit „die Natur“ oder „die Kirche“ geantwortet hätte: „Kinder, wer ist eure Mutter?“ – „Die Wirtschaft“, lautet die Antwort. – Setzen! Bestanden! —
Davon aber versteht der biblische Mensch nun tatsächlich nichts. Ihm ist vom Apostel Paulus, der selber Zelte webte, das wunderbare Jesaja-Wort ausgelegt worden (Jes. 54,2): „Mache den Raum deines Zeltes weit und breite aus die Decken deiner Wohnstatt; spare nicht! Spann deine Seile lang und stecke deine Pflöcke fest!“, denn von diesem Wort her hat der Apostel alle Heiden gelehrt, dass sie eine Mutter haben, die nicht plant und abmisst und zählt, sondern großzügig, weitherzig und einladend ist: „Das Jerusalem, das droben ist, das ist die Freie; das ist unsre Mutter!“ (Gal.4,26). So überbordend mütterlich, so ohne jede Einsparung, so groß-seelig, wie die Großzügigkeit im Englischen heißt (“magnanimity“), ist die Welt, in die die Gläubigen gehören! ———
Weshalb aber geht es so biedermeierlich familiär zu, wenn wir doch heute von der Wirtschaft reden sollen und vielleicht einen kräftigen Schuss Kapitalismus-Kritik erwartet hätten, für die die Kirche eine gewisse Zuständigkeit haben dürfte?
… Gerade das jedoch erweist sich bei näherem Zusehen als Gerücht: Anti-Kapitalismus ist keine Besonderheit des Christentums, sondern - wieder sind wir bei der DNA! - die Substanz des alten Abendlandes … des alten Morgenlandes übrigens auch. So ätzend, wie sich Aristoteles über die Geldwirtschaft geäußert hat, die er für eine Perversion hielt, bei der das Wohlleben wie eine Krankheit die Kraft zum guten Leben überwuchert und verdrängt[i], so vernichtend hat die gesamte Kirche die Kapitalwirtschaft verurteilt … ob durch Thomas von Aquin oder die Reformatoren, unter denen gerade Luther durch die kreditgebenden und zinsnehmenden Fugger auf die abscheuliche Abhängigkeit sowohl geistlicher wie weltlicher Verantwortlicher von der Droge Geld stieß und die toxische Vermischung des Finanziellen mit dem Spirituellen polemisch geißelte.
Und dass der mephistophelische Pakt des Menschen mit dem Gold, „an dem alles hängt, zu dem alles drängt“, auch in Kolonialismus und Industrialisierung seine ebenso vernichtende wie erfinderische und fortschrittlich zündende Energie entfachte und daher von Christenmenschen immer wieder durch ihre sozial-diakonische Feuerwehr gegen die Welt- und Menschenverbrennung des Mammon bekämpft werden musste, ist nicht zuletzt Kaiserswerther Lokalgeschichte.
Das ausschließlich auf Schaffung und Steigerung von Gewinn angelegte Handeln trifft also nicht nur in der Christenheit auf eingefleischten Widerspruch, sondern überall, wo der Geist sich mit der Versuchung und Herausforderung des Materialismus konfrontiert sieht.
Dennoch haben die Christen ein spezifisches Wort in dieser Sache mitzureden, … ein in der Tat ursprünglich familiäres Wort, so dass die, die gemeinsam einen himmlischen Vater anrufen und sich bei der einladenden Herbergsmutter Zion-Jerusalem-Kirche im immer geräumigeren Schutzmantel-Zelt willkommen wissen, vielleicht gerade doch berufen sind, sich zur Ökonomie zu äußern!
Denn „Oikonomia“ bedeutet buchstäblich ja das Recht des Hauses, das Gesetz der familiären Lebensgemeinschaft. Im Neuen Testament empfängt der auch als „haushalterische Verwaltung“ verstehbare Ausdruck (vgl. z.B. Lk. 16,2) dann aber immer stärker einen tief theologischen Sinn: Er verschiebt sich zur wunderreichen Planung und Umsetzung des Schöpfungs-, Versöhnungs- und Vollendungswerkes des dreieinigen Gottes (vgl. z.B. Eph.1,10; 3,2; Kol.1,25).
Oikonomia bezeichnet also immer andächtiger die Weisheit der innergöttlichen Anordnung, Ausrichtung und Austeilung des Heils, bis schließlich in der kirchlichen Dogmatik und Systematik von der „ökonomischen Trinität“ gesprochen wird … jenem Haushaltsplan, der den ganzen Gnaden- und Liebesreichtum, der in der Gottheit Gottes liegt, durch die gemeinsamen Kasse des Schöpfungs- und Erlösungssegens verteilt, die Gott väterlich angelegt hat, die Er christologisch verausgabt und die Er geistlich fruchtbar macht.
„Ökonomie“ ist in der christlichen Tradition und Denkweise also das Wort für das Heilsgeschehen; „Ökonomie“ ist das Mysterium des Guten an der Welt, des Guten für die Welt und des Guten in der Welt, das sich der göttlichen Haushaltung und Lebenserhaltung verdankt. —
Eine durch und durch helle und heilige, eine liebreiche und lebensstiftende, eine begeisternde geistliche Wahrheit ist also für den Glauben im Begriff der Ökonomie verdichtet: Es geht darum, dass der Vater im Himmel, der Adam und Eva zu Paradiesmenschen schuf, sie als sie unstet und flüchtig wurden nicht verließ, sondern die verlorengegangenen Heimatlosen in Seiner Stadt Jerusalem und in der Mutter Kirche auf ihrem geschichtlichen Weg sammelt und versorgt, damit die Lebensfülle Seines Hauses und das Recht als Seine Familie ihnen nicht für immer verwehrt bleiben muss.
Es geht also darum – wenn wir bei unserer Predigtreihe bleiben wollen –, dass die Klima- und Diesseitigkeitskrise und die Flüchtlings- und Vergänglichkeitskrise durch Gottes Ökonomie behoben und geheilt werden! ——
Wenn wir ausgerechnet vor diesem Hintergrund – dem Hintergrund des heilsökonomischen Gotteswortes „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe: …. Dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung“ (Jer.29,11) – also von Wirtschaftskrise sprechen müssen, dann ahnt man wohl, weshalb das ein Christen und Christinnen besonders herausforderndes Thema ist.
In dieser Welt soll auch menschliches Wirken, Schaffen, Arbeiten und Handeln dem theologischen Ziel dienen, die Familie Gottes so zu versorgen, dass sie leben und endlich wieder aus der Trennung, der Entfremdung, der Entwurzelung - kurz: der Sünde - zu Ihm heimkehren kann, wo sie nicht nur Zeit, sondern Zukunft haben wird.
Dieses Ziel bedeutet aber zugleich, dass alle Tätigkeit und alle Erzeugnisse des Menschen, dass alle Technik, alle Kunst und alle Wissenschaft in ihren reinen Produkten tatsächlich keinen Wert an sich darstellen:
Nicht, was man durch sie hat, sondern wozu sie dienen, … nicht, dass sie Besitz werden, sondern dass sie Nutzen stiften können, ist also der Wertmaßstab aller Aktivitäten und Einsätze, aller Hervorbringungen und Errungenschaften, die wir zusammenfassend „Wirtschaft“ nennen. … Wobei auch im Deutschen auf den durchscheinenden Wortsinn zu achten ist: Die „Wirtschaft“ ist Bewirtungsdienst, … ist Beherbergung, Versorgung, ist Pflege von Gästen, die einkehren, um weiterzuziehen. …….
Und da setzt die christliche Allergie und Antipathie gegen den Materialismus ein:
Denn seit die ersten groben Götzenbilder geformt wurden, seit aus der Zunft der Silberschmiede von Ephesus (vgl.Apg.19,24ff) all die großen und grotesken Genies und Scharlatanen der irdischen Stoffverarbeitung sich entwickelten, haben ihre Bilder und Gegenstände, ihre Erfindungen, Maschinen und Gadgets – für die wir als Nutzgegenstände so froh und dankbar sein können! – immer den Ruf gepflegt: Wir sind mehr als Mittel, … wir sind Ziele!
… Und waren es doch nie!
Die vielen Dinge und Durchbrüche, die hilfreichen Instrumente, die erstaunlichen Erleichterungserfindungen der Welt haben neben ihrem Nutzen immer auch den Irrtum geschürt, durch sie werde Dauer und Harmonie in die Flüchtigkeit gebracht:
… Sie müssten sein, man müsse sie haben, um selbst sein zu können, um selbst das Sein zu haben, sagten und sagen die Dinge.
… „In mir“, säuselt die Materie, „bestehen Ursprung und Sinn!“
… Oder mit der Selbstüberbietung und -ablösung des Materialismus in der maschinell geschaffenen Virtualität tue sich nun endlich die wahre und störungsfreie Endgültigkeit auf, wie wir heute zu schlucken gekitzelt werden. …
Nichts von alledem stimmt!
Am wenigsten natürlich die fatale Täuschung der bisherigen Wirtschaftsmuster, die, um das gewohnte Bild und Gefühl der Gegenwart zu strecken und auszupolstern, die Zukunftsfähigkeit des Irdischen immer mehr beschnitten und gekürzt haben.
Doch auch wenn alles auf der Welt nachhaltig zugehen würde – was ja schlicht bedeutet, jetzt Weniger für mehr Morgen zu nutzen – , wären wir noch immer nicht am Ziel, sondern weiterhin Durchreisende, die nicht gekommen sind, um zu bleiben und die hier auch nichts finden können, was länger hält als die siebzig, wenn’s hoch kommt achtzig Jahren, in denen wir die Zeit nach zeitlichem Nutzen auskaufen können (vgl. Kol.4,5).
Sich hier auf Erden Schätze zu sammeln (vgl. Matth.6,19), ist jene verzweifelte Diesseitsvertröstung, die das Evangelium so stocknüchtern zerstreut, wenn es dem reichen Jewgeni P. und dem reichen Donald T. - und ohne Zweifel auch dem ausreichend reichen Jonas M. - die eine Frage stellt: „Wenn diese Nacht deine Seele von dir gefordert wird, … wem wird dann gehören, was du angehäuft hast?“ (vgl. Lk.12,20) ———
Darum - im Verfahren Menschheit v. Materialismus - ist Gottes Wirtschaftsberatung seit nunmehr drei Jahrtausenden an der außergerichtlichen Einigung gelegen, die der Apostel Paulus den wahrlich weltgewandten Korinthern als ökonomischen Leitfaden ins Stammbuch schrieb … und die heute noch viel weltfremder unter uns klingt, als sie damals schon auf die hedonistischen und anspruchsvollen Griechen wirkte:
„Die Zeit ist kurz. Fortan sollen die, … die kaufen, kaufen, als behielten sie nicht, und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht“ (1.Kor.6,30f). … ——
Kann man aber im Ernst so weltflüchtig, so unabhängig von den materiellen Bedürfnissen und Bedingungen des Lebens zu existieren versuchen?
…. Niemals kann man von den Bedürfnissen und Bedingungen der anderen, der Mitmenschen, der Mitgeschöpfe absehen, die zusammen die „Ökologie“ (- die Logik, den Sinn im Haus des Lebens -) und die „Ökonomie“ (- das Recht im Haus des Lebens -) begründen: Alles, was mit uns lebt und stirbt, braucht auch das Stoffliche dieser Welt.
… Aber uns Menschen ist die Weite aufgetragen, die über das, was da zu hüten und zu teilen ist, hinausgeht: Nicht vom Brot allein lebt alles schließlich, … sondern es lebt von Gott, durch Ihn und zu Ihm!
Und diese Weite und Freiheit des Lebens, das nicht an den Dingen, an den Verhältnissen, an Zeit und Immanenz haftet, sondern die Fülle des Heils erfahren soll, das mehr als alles andere ist, … diese Weite ist die wirkliche Berufung und das wirkliche Ziel unsres Lebens, Tuns und Leidens.
Diese Weite aber wird nicht beschafft und nicht gesichert durch unsere Sorge und Arbeit, durch unsere Wirtschaft, unsern Wohlstand.
Diese freie Weite tut sich dort auf und stellt sich da ein, wo wir das Eine, das nottut (vgl. Lk.10,42)[ii], empfangen: Gott.
So dass wir wieder schließen müssen mit den Worten Hans von Lehndorffs, der sich für sein Leben wünschte (EG 428, 4):
„Mach ein leichtes Zelt daraus, / das uns deckt kaum bis zum Morgen.
Denn wer sicher wohnt, vergisst, / dass er auf dem Weg noch ist.“
Und so gilt nun in allen unseren Krisen auf dem Weg zu dieser Freiheit, … zu diesem Weniger, das Mehr ist, … zu diesem Nichts-Behalten, das die Fülle sein wird: „Mache den Raum deines Zeltes weit und breite aus die Decken deiner Wohnstatt; spare nicht!“ …
… Am allerwenigsten aber dürfen wir sparen an Vertrauen in Gott!
Er will, Er wird mit uns sein: In allen Krisen, allen Fluchten mit Seinen Heilsgedanken.
Denn das gute Werk, das Er mit der Welt und den Menschen angefangen hat, das wird Er auch vollenden (vgl. Phil.1,6) – so dass wir in Seiner und unserer Ökonomie und Seiner und unserer Ökologie mit allen Menschen gemeinsam zu Dem, Der unsere Zuflucht ist für und für (vgl. Ps.90,1), beten dürfen (Ps.90,15ff):
„Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagtest,
nachdem wir so lange Unglück leiden.
Zeige deinen Knechten deine Werke
und deine Herrlichkeit ihren Kindern.
Und der HERR, unser Gott, sei uns freundlich / und fördere das Werk unserer Hände.
Ja, das Werk unserer Hände wollest du fördern!“
Amen.
[i] Auf dem Gottesdienstblatt war ein Auszug (1257b -1258a) aus dem 9.Kapitel im 1.Buch der „Politik“ des Aristoteles abgedruckt, der an kritischer Destruktion der Kapitalwirtschaft auch im Vergleich zu ideologischen Positionen des sog. „Kommunismus“ nichts zu wünschen übrig läßt. Das hochinteressante und -brisante Kapitel 9 der aristotelischen „Politika“ lohnt eine Lektüre und ist leicht zugänglich auf der open-access-Seite: https://www.projekt-gutenberg.org/aristote/politik/chap002.html
[ii] Das Evangelium Lukas 10,38-42, das von Martha und Maria – der Aktion und der Kontemplation – spricht und zwischen ihnen unterscheidet, war die Schriftlesung des Gottesdienstes.
4.So.n.Trin., 02.07.2023, Predigtreihe zu Krisentexten der Bibel II: "Flüchtlingskrise" (1.Timotheus 6,11a), Stadt- und Jonakirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jonakirche 3.n.Trin. – 2.VII.2023
Predigtreihe Krisentexte der Bibel II: Flüchtlingskrise (1.Tim.6, 11a)
Liebe Gemeinde!
Wer meint, Flüchtlinge seien die, die von außen kommen, … wer in ihnen zuerst und zu-letzt also nur die „Ausländer“ sieht, kann kein Christ sein.
So kurz und klar.
Weil Christ-Sein bedeutet, das Flüchtling-Sein in sich zu tragen.
Weil die DNA des Christentums eine DNA der Heimatlosigkeit ist.
Man kann das zu Beginn biologisch simpel verstehen: Nicht nur bei mir fließt, wenn ich mich in den Finger schneide, Flüchtlingsblut. Alle, die baltische oder pommersche, hugenottische oder Salzburger Vorfahren haben, alle, deren Herkunft sich der Armutsmigration aus Schlesien und Masuren ins Ruhrgebiet oder den Auswanderungswellen der Pfälzer und Rheinhessen an die Wolga als Kolonisten und dann dem Martyrium der Russlanddeutschen unter Stalin verdankt, sind lebendige Zeugen eines typisch evangelischen Vertreibungs- und Zwangsverpflanzungsschicksals. Flüchtlingserbe haben wir in Mark und Bein.
Und die notgedrungenen, weltumspannenden Wanderschaften der Glaubenden sind ja noch viel breiter gefächert: Mal flohen sie vor der Gewalt der Geschichte an sich – wie die großen, in der Zeit stehengebliebenen und dennoch so beweglichen Friedenskirchen aus der Wurzel der Wiedertäufer, die Mennoniten und Amischen und Hutterer und Quaker –; mal wurden sie von den Feinden des Christentums gewaltsam verjagt, wie die orientalischen Christen unserer Tage, wie die armenischen und hellenischen Christen im völkermörderischen Staat der Jungtürken; mal haben Verfolgung, Erdrückung und Zermürbung sie einfach fortgeschoben, wie die zu Hunderttausenden laut und leise weichenden Versprengten aus den Krisen- und Bürgerkriegsgebieten und den kommunistischen oder islamistischen Diktaturen der Erde.
Christen ohne festen Ort: Das ist eine Konstante der Geschichte.
Doch auch wo die ganz und gar ortsfesten, sesshaften, kulturbildenden Phasen der Kirchengeschichte herrschten, ist die Pflege der Pilger, der Obdachlosen, der fahrenden Leute, der Opfer aller Art stets die natürliche Aufgabe der Getauften gewesen, die sich schon in der ersten apostolischen Generation gegenseitig Unterschlupf boten und die es sich zur Ehre rechneten, die Wanderprediger und die Untergetauchten, die verbannten und die entflohenen Sendboten und Gemeinden des Gekreuzigten zu beherbergen. Diese Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft für Bedrängte und Verfolgte ist nicht nur im innersten Mark des Christentums verankert, sondern auch sein Markenzeichen nach außen.
Fremdenfeindliches Christentum ist - wo, wann und wie auch immer es begegnet - krankes Christentum. Nur offene Türen und Arme und Kassen der Jünger und Jüngerinnen Jesu sind intakt. Verschlossen sind sie todgeweiht.
Dafür sollten uns Menschen vor Augen stehen wie Mathilda Wrede, „Engel der Gefangenen“ und Helferin der Flüchtlinge im finnischen Bürgerkrieg[i], … Menschen wie Werenfried von Straaten, der niederländische „Speckpater“, der so unermüdlich für die ostdeutschen Heimatvertriebenen eintrat, … Menschen wie Mussie Zerai, der Priester äthiopischer Herkunft, der in der Schweiz und Italien so heilig couragiert für die Rettung der Migranten auf dem Mittelmeer eintritt, das er bei Tausenden in den Lagern von Lampedusa und weit ins Land hinein den Ehrennamen „Father Moses“ trägt[ii], … Menschen wie die vielen Pfarrerinnen, Pfarrer und Gemeindeglieder, die in den Gebieten des widerlich wachsenden blau-braunen Sumpfes schlicht un-beirrt dafür einstehen, dass wo immer einst Kirchen des Nazareners gebaut wurden die Mühseligen und Beladenen (vgl.Matth.11,28) auf Herzen, Hände und Haltungen stoßen, die keine Alternative zu seiner jüdischen, seiner samariterlichen Nächstenliebe kennen!
Solcher urchristliche Dienst an den Flüchtlingen, dieses Amt als Anlaufstelle und Anwälte für Menschen, die ihr Leben retten müssen und Freiheit und Frieden suchen, ist in unserer Gemeinde seit den Tagen, als Waltraut v. Seidel und Wilfried Dinger für die Spätaussiedler sorgten, … seit den Tagen der enormen Kraftanstrengung von 2015 und den Folgejahren für unsre syrischen, iranischen, afghanischen, somalischen und nordafrikanischen Freundinnen und Freunde, bis zum hingebungsvollen, nun bald 500 Tage währenden Einsatz für die geflüchteten Ukrainerinnen und ihre Familien hier mitten unter uns lebendig, wesentlich und selbstverständlich.
Weil es innerstes Mark und deutlichste Markierung des Glaubens an Jenen ist, Der Selbst in Ägypten im Flüchtlingslager hauste, Der auch später nicht hatte, wohin Er Sein Haupt hätte legen können (vgl. Lk.9,58), Der das letzte Abend- und Henkersmahl Seines Lebens in einem Obdachlosen zur Verfügung gestellten Gemach feierte und für Den dann auch noch ein Grab geliehen werden musste, weil Er nicht mal dieses Fleckchen Erde besaß.
… Doch gerade dies geliehene Grab ist der Ursprung der christlichen Offenheit: Es wurde ja tatsächlich nicht für die Ewigkeit gebraucht, weil Er, Dem es nicht gehörte, es genauso zurückgab, wie Er einst alle Ansprüche auf und Bedürfnisse nach Gräbern auf dieser Welt auflösen wird. Wenn dann das letzte bisschen Boden, das jedes Menschenkind für sich nötig hat, wieder frei geworden ist, dann fängt das Himmelreich an: Das Reich ohne festen Ort, das Reich, in dem das wandernde Gottesvolk zuhause sein wird ohne Eigentum, … allein aus Gnaden im Haus des Vaters, Der für alle eine Wohnung hat (vgl. Joh.14, 2). ———
Diese an der Armut und Obdachlosigkeit Jesu gebildete Haltung, die das Exodus- und Exils-Volk Israel notgedrungen tatsächlich sehr viel konsequenter durchgehalten hat als die immer wieder niedergelassen und ethnisch-national umgeformte Kirche, ist das eine Motiv der christlichen Solidarität mit den Menschen der Landstraße, mit den Opfern der Armut, der Träume und der Schlepper.
Das andere ist ein womöglich noch Erstaunlicheres als die Tatsache, dass die Bibel allen, die ihr folgen, aufträgt, ein Schlüsselamt für die Heimatlosen an den Toren der Gesellschaft zu übernehmen. … Ich hatte es weder wirklich vor Augen noch im Ohr.
… Doch nun kann ich es nicht mehr ausblenden: Die fixe Idee, dass der Glaube so etwas Unerschütterliches, etwas Trotziges habe, das jedes Nachgeben, Ausweichen und Zurückziehen verbiete, hat sich irgendwie in meinem Vorurteil eingenistet, … vielleicht wegen des schönen Taufspruchs unseres Sohnes „Wer glaubt, der flieht nicht“ (Jes.28,16). Dieses wunderbare Prophetenwort von der Festigkeit, das bei Jesaja vor der schon vor Jahrtausenden populären Kurzschlusshandlung eines Bündnisses mit dem Tod warnt, darf aber nicht zu einer menschenverachtenden Haltung der Realitätsverdrängung führen. Der Glaube darf nicht zu den gleichen Trugschlüssen kommen wie die Gauleiter und Kommandanten, die 1944/45 in Ostpreußen und Schlesien angesichts des Unaufhaltsamen der Bevölkerung dennoch die Flucht untersagten.
Im Gegenteil:
Im Neuen Testament fällt es geradezu verunsichernd auf, dass der Fluchtinstinkt nicht gebremst, sondern bestärkt wird! Christen sollen ihre Pferdenaturen nicht verleugnen … sie sollen Fluchttiere sein!
Nicht nur, dass am Anfang des Neuen Testaments - gleich nach der Huldigung des neugeborenen Königs durch die wandernden Weisen - die Rettung dieses Bettelkindes durch den Fluchtgehorsam Josephs steht, sondern auch am Schluss wird des gleichen Wunders noch einmal in himmlischer Verklärung gedacht: „Es erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Kröne von zwölf Sternen. …Und sie gebar einen Sohn, einen Knaben, der alle Völker weiden sollte mit eisernem Stabe. Und ihr Kind wurde entrückt zu Gott und seinem Thron. Und die Frau entfloh in die Wüste, wo sie einen Ort hatte, bereitet von Gott …“ (Offb.12).
Zwischen diesen beiden Josephs- und Maria-Fluchten, die das gesamte Evangelium von Jesus umrahmen, finden sich dann aber auch erstaunliche Imperative und Ankündigungen Jesu selber: „Wenn sie euch aber in einer Stadt verfolgen, so flieht in eine andere!“, mahnt er seine Jüngerschaft (Matth.10,23), und von der grauenhaften Verwüstung, die den Treuen in der Endzeit droht, sagt der Herr (Matth24,16ff): „Wer das liest, der merke auf! Alsdann fliehe in die Berge, wer in Judäa ist, und wer auf dem Dach ist, der steige nicht hinunter, etwas aus seinem Hause zu holen, und wer auf dem Feld ist, der kehre nicht zurück, seinen Mantel zu holen. … Bittet aber, dass eure Flucht nicht geschehe im Winter oder am Sabbat!“
Und eben diese Fluchtreflexe der Gemeinde schildert Christus im schönsten aller Glaubenstrost- und Sicherheitsgleichnisse ausdrücklich als nötig und natürlich: „Wenn der gute Hirte seine Schafe mit Namen ruft und sie hinausführt, folgen sie ihm; … einem Fremden aber folgen sie nicht nach und fliehen vor ihm“, stellt er fest (Joh.10,3ff).
Wie zur Bestätigung aber, dass Christen wirklch nicht verbohrt, vernagelt und gelähmt sein sollen, sondern zwischen sich und dem Übel, zwischen sich und der Gefahr, zwischen dem Bösen und sich Abstand schaffen sollen, begegnet uns eine Fluchtaufforderung auch beim Apostel Paulus: „Du Gottesmensch, fliehe das!“ ermahnt der alte Völkermissionar den jungen Timotheus (1.Tim.6,11) … und meint dabei das Geld und die Gier, die es erzeugt.
Dass wir also nicht die Tapferen und Unanfechtbaren, die Unverwundbaren oder Unerschrockenen spielen, sondern das Weite suchen sollen – wirklich das Weite: die grenzenlose Liebe und das uneingeschränkte Heil Gottes! – , das ist eine neutestamentliche Ethik der Flucht und der Flüchtlinge, die mir so gar nicht vor Augen stand!
… Die alte Kirche, die Gottsucher und Einsiedler, die Asketen und Asketinnen in der ägyptischen Wüste und alle Menschen, deren geistliche Berufung sie immer wieder aus den Konventionen und Grenzen des gewöhnlich-weltlichen Daseins riss, haben das besser verstanden und befolgt.
… Für uns stand ihnen gegenüber allerdings immer der Verdacht der Weltflucht im Raum, der Vorwurf des Sich-aus-der-Verantwortung-Stehlens, die ein gutbürgerlicher, mündiger Mensch nun einmal auch als seine politische Berufung betrachtet.
… Dass wir als sesshafte, dem Gemeinwohl verpflichtete Menschen uns nicht einfach entziehen können, dass wir uns nicht auf und davon machen dürfen in Krisen und Konflikten, ist dabei ja gar nicht strittig. … Doch die neutestamentliche Ethik, die Flucht als denkbar und möglich betrachtet, ist eben wirklich eine Aufforderung, doch das Undenkbare auch zu denken: Dass nicht alles bleiben wird, wie und wo es war, und dass auch wahrhaftig nicht alle Menschen da bleiben, wo und so bleiben, wie sie sind!
Alles auf dieser Welt – alle Verhältnisse und Gewohnheiten, alle Gestalten und Bewohner, alle Ordnungen und alles Chaos der Erde – … alles ist tatsächlich in Bewegung, sagt uns das Flucht- und Flüchtigkeitsmotiv. Alles geht vorüber, und wer sich bloß festhält am Bestehenden, der bleibt zurück.
„Ein Tag, der sagt dem andern,
mein Leben sei ein Wandern
zur großen Ewigkeit.
O Ewigkeit, so schöne,
mein Herz an dich gewöhne,
mein Heim ist nicht in dieser Zeit!“
singen wir mit Tersteegens Worten in einem unserer schönsten … und zugleich ungeschöntesten Lieder (EG 481).
Der Pfeil, von dem der junge afghanisch-iranische Mahdi Hashemi in seinem Flucht-Gedicht spricht, kann nicht zurückkehren zum Bogen[iii]. ……. ———
Das ist eine Wahrheit, die uns erschütternd und zugleich unwidersprochen aufgehen muss:
Es ist unsere Welt eine Welt voller Aufbruch und unsere Geschichte eine Geschichte voller Abschiede und Neuanfänge; das Leben, das wir hier erfahren, ist unstet und flüchtig von Adam her (vgl.1.Mose 4,12).
Alle Flüchtlinge sind nur die unmissverständlich anschaulich gemachte Gestalt einer Wirklichkeit, die jeden Menschen betrifft.
Jeder Flüchtling, der uns begegnet, ist nur fortgeschritten, ist bloß schon weiter geführt worden auf einem Weg, den wir alle gehen müssen.
Und darum, Gottesmensch, … fliehe! Oder wie ein Christus-Wort im apokryphen Thomas-Evangelium (Logion 42) lautet: „Werdet Vorübergehende!“[iv] ——
Klingt das in unseren Gewohnheitsmenschen-Ohren ominös?
Jagt uns die Aussicht, dass auch wir nicht die Maden im Speck bleiben, sondern Ausziehende werden, Schrecken ein? …
Oder ahnen wir - bei aller latenten Bedrohung - nicht auch, worauf das Fluchtbuch Bibel[v] uns zu vertrauen lehrt (Ps.56,9): „HERR, zähle die Tage meiner Flucht, sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du zählst sie!“
Gott lässt uns nicht dahinfliehen, Er lässt niemanden einfach so ziehen und vergehen, denn Er ist seit Seine Kinder in Ägypten unterdrückt wurden ein Gott des Aus- und Einzugs geworden. … Ein Gott, Der mitwandert. … Ein Gott, Der in die Fremde geht und ins Exil.
Und in Jesus Christus ist Er selber von Bethlehem bis Golgatha obdach- und heimatlos geworden, Bettler unter Bettlern, Flüchtling unter allen Flüchtlingen und Flüchtigen.
Das aber ist der unendliche Trost unseres Glaubens gerade für die auf harten Wegen und in der ausweglosen Diaspora: Unser Gott, der Gott Israels, der Wanderer im Elend der Menschenstraßen, Jesus von Nazareth geht mit.
… Und in jedem Einzelnen der einhunderttausend Migranten, die in der vergangenen Woche allein auf den Straßen von New York obdachlos waren[vi], … in jedem Kind und jedem Erwachsenen auf den schrecklichen Todesfahrten übers Mittelmeer, … in jedem unserer allmählich hier heimisch werdenden Brüder und Schwestern aus dem Iran, aus Syrien, aus der Ukraine begegnet uns Gott selbst, Der Mit-Flüchtling aller, Dessen DNA der Heimatlosigkeit hier und des Daheim-Seins im Himmel (vgl. Phil.3,20!) wir Menschen - ob sesshaft, ob entwurzelt - sämtlich teilen.
… Wer in den Flüchtlingen also zuerst und zuletzt nur die „Ausländer“ sieht und nicht den „Gott-mit-uns“, der kann kein Christ sein!
Das ist die Flüchtlings-Krise … das Gericht, das in den Flüchtlingen über uns kommt.
… Wer Ihn aber erkennt, weiß weshalb Gertrud von le Fort ausgerechnet von der trostlos er-scheinenden Flucht sagt:
„Steine, nichts als Steine. / – Was blitzte da? / Weine Volk, o weine: / Gott ist sehr nah!“[vii]
Der Psalm aber bekennt von Ihm, Der den Flüchtlingen nahe ist (Ps.68,5f):
„Macht Bahn dem, der durch die Wüste einherfährt;
er heißt HERR! Freuet euch vor ihm!
Ein Vater der Waisen und ein Helfer der Witwen
ist Gott in seiner heiligen Wohnung,
ein Gott, der die Einsamen nach Hause bringt,
der die Gefangenen herausführt, dass es ihnen wohlgehe.“
Amen.
[i] Vgl. Ingeborg Sick, Mathilda Wrede. Ein Engel der Gefangenen, Stuttgart 193012.
[ii] Vgl. zu Pater Zerai https://www.kath.ch/newsd/luzerner-ehrendoktor-in-den-augen-der-fluechtlinge-begegnet-uns-gott/
[iii] Auf dem Gottesdienstblatt fanden sich u.a. Gedichte junger Geflüchteter von der bemerkens- und empfehlenswerten Homepage https://thepoetryproject.de/category/gedichte/. Ein Gedicht von Mahdi Hashemi (Ghazni / Afghanistan, aufgewachsen in Iran) dort lautet:
WIE EIN PFEIL
Einen Monat lang ging die Reise,
die keine Reise war,
sondern ein Schrecken,
in das Land der Hoffnung.
Jetzt warte ich auf ein Papier,
das vielleicht Bitterkeit enthält und Trauer.
Und fühle mich wie ein Pfeil.
Verschossen.
Der zurückkehren soll
zu seinem Bogen.
[iv] Siehe: Synopsis Quattuor Evangeliorum, ed. K.Aland, Stuttgart 197810, S. 522.
[v] Vgl. Johann Hinrich Claussen, Das Buch der Flucht. Die Bibel in 40 Stationen, München 2018.
[vi] Vgl. https://www.nytimes.com/2023/06/28/nyregion/nyc-homeless-shelter-population.html
[vii] Gertrud von le Fort, Abschied der Ausgetriebenen, in: Dies., Gedichte, Wiesbaden 1958, S.47. Auch dieses Gedicht war mir weiteren Auszügen aus von le Forts Zyklus „Die Vertriebenen“ auf dem Gottesdienstblatt abgedruckt.
3.S.n.Tr., 25.06.2023, Predigtreihe zu biblischen Krisentexten.I: Klimakrise, Stadt- und Jonakirche, Jeremia 14, 1 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jonakirche 3.n.Trin. – 25.VI.2023
Predigtreihe Krisentexte der Bibel I: Klimakrise - Jeremia 14, 1 - 9
Liebe Gemeinde!
Kρίσις - Krise - heißt auf Griechisch „Scheidung“ … – „Entscheidung“, … „Urteil“ … – „Gerichtsurteil“. —
Und in diesen Begriffen wäre nach biblischem Sprachgebrauch und Denkansatz dann auch schon die ganze Predigtreihe enthalten. Wenn wir heute das Gefühl, die Stimmung, die Überzeugung haben, dass wir in lauter Krisen stecken, dann heißt das im Klartext: Es ist eine Zeit, in der wirklich Entscheidungen fallen, … wir stehen im Gericht, wir empfangen unser Urteil.
… Und das wäre dann auch schon die politische Analyse: Unsre Gegenwart ist Vollstreckung der Konsequenzen unserer Taten; … trotz aller Leugnung, allen Abstreitens sitzen wir bereits im Vollzug der Folgen unsres menschlichen Handelns. Es passiert gerade das logisch Angemessene; es geschieht und vollzieht sich gerade das unerbittliche Recht. … Wir sind die Ursache, die Krisen die Wirkung. ——
Das ist grob und simpel. … Und allzu wahr.
Niemand kann sich noch zieren und in gespielter Überraschung „Huch, Agathe, die Puppe kotzt!“ rufen, wenn die an sich so robuste Welt derzeit brüchig wird.
Wer immer von uns heute noch genauso lebt wie vor zehn Jahren, lebt maßlos.
Wer immer noch so viel von den begrenzten Stoffen dieser Schöpfung und den entfesselten Kräften des Irdischen nutzt, verzehrt und verbraucht wie vor zehn Jahren, hat entschieden, dass das Einmaleins für ihn nicht gilt.
… Die Wahrheit dürfte dabei sein, dass das bei beinah allen von uns zutrifft. Denn wenn wir „Verzicht“ hören, wittern wir sofort Verlust und Bedrohung: So bemitleidenswert abhängig haben wir uns vom Materiellen gemacht. … Während in der antiken Philosophie, der christlichen Tradition, der alteuropäischen Zivilisation und der fernöstlichen Weisheit immer und überall der Verzicht als die Disziplin gilt, die dem Menschen Freiheit und Selbstbestimmung eröffnet, weil sie ihn aus der Steuerung durch die Begierden löst und zur Beherrschung seiner selbst befähigt, ist unsere primitive Konsumwelt wieder auf das Niveau jener Befriedigungslosigkeit gesunken, vor der es schon dem König Salomo grauste, der sagt (Sprüche 30,15f):
„Der Blutegel hat zwei Töchter, die heißen: »Gib her, gib her!« Drei sind nicht zu sättigen, und vier sagen nie: Es ist genug: Das Totenreich, der unfruchtbare Schoß, die Erde, die nicht des Wassers satt wird, und das Feuer, das nie spricht: Es ist genug!“
… Wir ruhe-, ziel- und haltlosen Menschen sind wie Blutsauger oder wie das Schattenreich, in dem sich nichts berührt, … wir sind wie der unlöschbare Durst des Wüstenstaubes und ein unaufhaltsamer Feuerfraß: Das also ist eine dreitausend Jahre alte Diagnose der Krisen, die wir entfachen. … Schlicht weil wir nicht einzusehen und zu begreifen vermögen: „Es ist genug“.
Und ein drittes Mal könnte man sagen: Damit ist die Predigtreihe zu den äußerlichen Krisen, in die Maßlosigkeit, Unersättlichkeit, Rücksichtslosigkeit und Ehrgeiz uns reißen, beendet, eh sie begann. Solange die Menschheit sich nicht aus der Gefangenschaft ihres kruden Materialismus löst, so lange wird sie in der Krise, im Gericht stehen, weil sie so endlos schlingt, schluckt und verfeuert. ———
Doch Predigten und christliche Programme und kirchlich-politische Einlassungen, die es genau dabei bewenden lassen in der Krise – nämlich erneuerbare Energien, verändertes Konsumverhalten, nachhaltige Wirtschaftsmodelle und ökosensible Transformationen der Gesellschaft zu fordern und zu verkündigen – … genau diese viel zu kurz gegriffenen Analysen und Folgerungen in unserer Kirche stürzen mich - und vielleicht nicht nur mich?! - in die Krise: Diese völlig richtigen und nötigen Positionen und Programme können und müssen nämlich die Öffentlichkeit und die Parteien, müssen die Wissenschaft und die Industrie vertreten und durchsetzen.
… Die Kirche aber hat eine noch wichtigere, jedoch ungleich fremdere Warnung auszurichten.
Hören wir den Klimabericht von der Wende des 7. zum 6.Jahrhunderts vor Christi Geburt:
Jeremia 14, 1 – 9
Juda verschmachtet, weil seine Lebensgrundlage erschöpft ist, weil sein Kreislauf zusammengebrochen ist: Der schlichte und existentielle Segen nämlich, der den Stämmen Israels vorgelegt wurde, ehe sie das Land der Verheißung betraten. Mose hatte ihnen damals vom HERRN auszurichten (5.Mose 28,1+12):
„Wenn du nun der Stimme des HERRN, deines Gottes gehorchen wirst, dass du hältst und tust alle seine Gebote …, (dann) wird der HERR dir seinen guten Schatz auftun, den Himmel, dass er deinem Land Regen gebe zur rechten Zeit und dass er segne alle Werke deiner Hände.“
Hätte man seinerzeit also einen Menschen in Israel oder in Jeremias Tagen einen in Juda gefragt, woher der Klimawandel komme und was das Gleichgewicht der Natur so störe, hätten die, die von der Gemeinde des HERRN waren, ohne Zögern geantwortet: „Es sind die Menschen“. Die Menschen und ihre Maßstäbe wahren die Ordnung Gottes in der Natur oder sie lösen dort Unheil und Verderben aus.
Denn auch diesen Zusammenhang hat Mose vor seinem Tod dem Volk vorgelegt (5.Mose 28, 15+23):
„Wenn du nicht gehorchen wirst der Stimme des HERRN, deines Gottes, … wird der Himmel über deinem Haupt ehern werden und die Erde unter dir eisern. Statt des Regens für dein Land wird der HERR Staub und Asche vom Himmel auf dich geben, bis du vertilgt bist.“
Und das wäre die Botschaft - die ferne, fremd-befremdliche Botschaft, die lächerlich vorwissenschaftliche, die unerträglich konsequente, eindeutige Botschaft - die die Kirche auszurichten hat. Eine Botschaft, vor der diese Kirche seit langem ausweicht, indem sie sie primitiv antijudaistisch zur vermeintlich überwundenen - dann gern „alttestamentarisch“ genannten - Theologie der Rache erklärt. … Dabei ist der erschütternde Grundsatz, der das in reinster Kausalität ausspricht, „neutestamentarisch“, … sogar untypischer- und darum offenbar schlicht unausweichlicherweise ein Satz des Paulus (Gal.6,7): „Irret euch nicht! Gott läßt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten.“
Das Entscheidende an diesem Aufweis von menschlichem Handeln und seinen Folgen ist aber dasjenige, was eben nur die Kirche verstehen, vermitteln und dann mit Mühe aushalten kann.
Es geht nicht bloß um das „Wenn-Dann“-Verhältnis, das jeder seriöse Bericht zur Lage des Planeten Erde und zu den auf ihm wirkenden Dynamiken menschlichen und nicht-menschlichen Ursprungs benennen kann, sondern es geht darum, wer uns in diesem großen und feinen Ganzen begegnet: Der Stifter aller Wirklichkeit, Dessen Weisheit das Geheimnis des Lebens eröffnet.
Gott selbst ist es, Der den Kosmos und die Materie so weise geordnet hat, dass inmitten des Universums auf einem nebensächlichen kleinen Himmelskörper das Wunder bestehen kann, das wir die Erde nennen,
… das Wunder, das wir die Erde nennen, auf der die Mischungen und Maße, die Entwicklungen und Katastrophen des Anorganischen und des Organischen ein Paradies und einen wilden Acker für Adam und Eva entstehen ließen,
… für Adam und Eva, deren zerstreute Kinder doch nie so verschieden, nie so verlassen waren, dass sie nicht alle am selben Leben teilhätten, das Gott ihnen - und nur ihnen - schenkte:
… Leben, das mehr als materiell ist … Leben des unsichtbaren heiligen Eben-bildes, … Leben stärker und freier und verheißungsvoller als der Stoff … Leben, das ewig währen soll, wenn es mit Dem geteilt wird, Der es schuf und Der’s dann selbst annahm bis in den Tod und Der es dann in der Auferstehung erneuert hat.
Das Wunder, das wir die Erde nennen, ist der Raum des Menschengeschlechtes und der Raum des Menschensohnes.
Die Erde ist also der Raum des Gott-mit-uns-Lebens, … Raum des Alten, Raum des Neuen Testaments:
Die Erde ist das Reich des Immanuel. … „IMMANU-EL“: Gott mit uns.
– Auf Hebräisch lautet das Gegenteil: „EIN-LANU-EL“. … „Wir haben keinen Gott.“
… Und so wenig das irgendjemand verstehen wird, der nicht glaubt: … In dieser Alternative begegnet uns der Klimawandel.
Die größte Krise nämlich, in der wir als Menschheit schweben, ist die Entscheidung für oder gegen Gott: Immanu- oder Ein-lanu-El? …
Seit Jahrhunderten formiert sich die Bewegung, die den gottfreien Raum auf Erden fordert, die die Gottes-Ferne als den wahren Horizont der Freiheit entwirft und selber die Gottes-Entfernung aus unseren Systemen und Maßstäben, aus unserm Denken und Leben immer vehementer fordert. Und diese anschwellende Bewegung, die das Säkulare - also das Zeitlich-Weltliche - als alleinigen Bezugsrahmen des Menschseins in der Materie abstecken will, hat Land gewonnen. … Den Himmel aber hat sie verloren: Jene Weite, die dem Menschen gerade nicht seine Einsamkeit - die ihn trostlos oder größenwahnsinnig macht -, sondern seine Einbettung zeigt, sein Einbezogen-Sein in das Leben Gottes in Zeit und Raum … und Ewigkeit.
Doch der allein-lebende Mensch, dieser bloß vom Materiellen lebende Mensch, dieser nur in der Zeit das Leben suchende Mensch, … dieser Mensch, der keinen Gott braucht, anerkennt und liebt, … dieser seit ein-, zweihundert Jahren die jüngere Zeitgeschichte dominierende Menschenentwurf, der stellt nun fest, dass die Erde vergiftet, ausgelaugt, abgebrannt und so schonungslos verwurstet ist, dass ihm - dem Menschen ohne Ewigkeit! - auch kaum noch Zeit bleibt.
…Zufall? …….
Nein!
Hier liegt der Auftrag, die Berufung der Kirche: Wir müssen die Ewigkeit wieder ernst nehmen und ernst machen als den Horizont, der die Gier und Bedürfnisse, die Ansprüche und Hoffnungen und auch die Selbstsucht und Verzweiflung der Menschen von der Fixierung auf die kurze Zeit, den begrenzten Raum, die weise bemessenen Ressourcen der Erde entlastet!
Ein solcher Satz und Ansatz gilt in der heutigen evangelischen Kirche geradezu als peinlich. Es ist aber das Wahre und Eigentliche! … Zu lange haben wir - aus Angst vor Heinrich Heines „altem Entsagungslied, dem Eiapopeia vom Himmel“[i] - das mitgemacht, was man zurecht neuerdings die „Diesseitsvertröstung“[ii] nennt:
Wir haben uns selbst und andere im Diesseits gefangen! Und wundern uns nun, wenn die, die keine fröhliche Erwartung des kommenden Himmelreichs mehr erfahren, so restlos diesseitig leben müssen, dass sie verbrannte Erde hinterlassen.
Wir wundern uns, dass eine rein säkulare Kultur scheitert, weil sie die unstillbare Sehnsucht des Menschen nach Erfüllung mit dem begrenzten Stoff der sichtbaren Welt bedient.
Wir wundern uns, dass die, die nach dem Sterben nichts als den Tod erwarten müssen, das Leben für sich ausquetschen bis nur eine leere Hülle bleibt, weil sie in ihm nicht das Samenkorn sehen können, dass hier, in der Zeit langsam trocknen und untergepflügt werden und ruhen muss, damit es erntereif treiben kann, was in ihm angelegt ist (vgl. Joh.12,24).
Die Menschheit ist nach biblisch-christlichem Glauben nicht nur materiell - somatisch -, sondern auch psychisch geschaffen - vom Geist beseelt -, um mit Gott leben zu können auf Erden wie im Himmel.
Und darum werden wir dem Leben der Erde nur gerecht, wenn wir es als den Eingang, den Vorhof zum ewigen Leben sehen und führen. Das Irdische muss nicht ausgenutzt, nicht ausgepresst, nicht bis zum letzten Krümel und Tropfen verbraucht werden: Gott hat es hier so geordnet, dass wir das Materielle in Treue bewahren und in Weisheit loslassen können, damit wir durch Verzicht auf das Vorübergehende die Freiheit für das Bleibende gewinnen.
Wenn wir diese wichtigste Lehre des Glaubens nicht wieder zu Herzen nehmen – egal, wer mit den Augen darüber rollt, dass der Glauben an mehr als das Verschwindende immer noch andauert – … wenn wir also nicht anfangen, die Welt zu schonen, weil sie nicht das Bleibende ist, dann werden wir Menschen ihre Vernichtung und ihr Vergehen nur umso eher beschleunigen. ——
Nun kann ich mir gut und lebhaft viele, sehr viele Menschen vorstellen, denen diese Antwort auf die Klimakrise - das Burn-out-Syndrom der von der Menschheit verdinglichten und ausgeschlachteten Natur - nicht konkret genug, nicht politisch oder praktisch genug ist.
Dennoch scheint mir gewiss, dass dem Versagen des Materialismus und dem Versiegen der Materie seelisch begegnet und vorgebeugt werden muss, indem das Menschliche von seinem Schmarotzen am Stofflichen entwöhnt und zurück zu seiner Berufung des Mit-Gott-Seins gebracht wird.
Doch etwas steht mir noch klarer vor Augen, seit ich bei Jeremia wieder die Katastrophe der schrecklichen Dürre in den letzten Jahrzehnten vor Jerusalems Untergang geschildert hörte[iii].
Jeremia nimmt nämlich im Verderben der Schöpfung, das der Götzendienst der Menschen verursacht, eine noch viel abgründigere Krise wahr … die Krise, die nur wir verhindern können: Die Krise Gottes, Der mit uns sein will und Den die Menschen in ihrem Materialismus und ihrem materialistischen Scheitern entsetzen …, Dem sie das Dasein bei ihnen in der Welt nehmen, … Den sie aussetzen, weil sie - die nie etwas geschaffen haben - Ihn als Schöpfer absetzen, … weil sie, die nichts erhalten wollten, mit der lebendigen Kreatur den Gott des Lebens durch ihren Verbrauch bis zum Ende ersetzen und so zersetzen.
Von dieser Krise geben die beiden vielleicht düstersten Sätze der Bibel vor dem Karfreitag uns eine Ahnung:
„HERR, Du bist der Trost Israels und sein Nothelfer. Warum stellst du dich, als wärest du ein Fremdling im Lande und ein Wanderer, der nur über Nacht bleibt? Warum stellst du dich wie einer, der verzagt ist, und wie ein Held, der nicht helfen kann?
Du bist ja doch unter uns, HERR, und wir heißen nach deinem Namen; verlass uns nicht!“
… Darum geht uns die Klimakrise an!
Weil sie eine Gotteskrise ist, die uns zurückruft zum Glauben an den IMMANUEL, an den Gott, Der das Leben alles dessen ist, was lebt, und Der uns Menschen ruft, heil durch diese Welt in Sein Leben, in Sein Heil zu kommen.
Doch das können wir nur, wenn wir die Welt nicht zerstört haben.
Und so müssen wir wieder zum Glauben an Gott finden, … nicht bloß um selber gerettet zu werden, sondern damit die Welt gerettet wird und Gott nicht verzagt, nicht vorübergeht, nicht in der Fremdheit verschwindet, sondern bei Sich und bei uns und bei allen bleibt: Als IMMANUEL!
Amen.
[i] Die politische Religionskritik der Vormärz-Welt, der vorkommunistischen und frühmarxistischen „48-er“ des 19.Jahrhunderts und der inzwischen ebenso historisch gewordenen „68-er“ des 20.Jahrhunderts ist klassisch wirkungsvoll verdichtet im ersten Caput von Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“ (in: Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, hgg. v. Klaus Briegleb, München, 1971, Bd. IV, S.577), wo das kleine Harfenmädchen mit seiner steinerweichenden Schmonzette, in der das (Liebes-)Glück erst im Jenseits zu erwarten ist, den revolutionär empfindenden Heine zum Schwur hinreißt: „Ein neues Lied, ein besseres Lied, / O Freunde, will ich euch dichten! Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten“ (aaO, S.578). Das tragische und katastrophale Scheitern dieser immanenten Welterneuerungs-, -verbesserungs- und -vollendungs-Ideen ist in der jüngsten Geschichte wohl zur Genüge demonstriert worden. Das religionskritische Aufgeben der Botschaft vom eschatologisch-ewigen Leben muss also dringlich seinerseits einer kritischen Revision in Glaube und Praxis der Kirche unterzogen werden.
[ii] Der immens hilf- und aufschlussreiche Begriff begegnet bei Johannes Röser, „Zeige deine Wunde! Buchbesprechung zu Jan-Heiner Tücks »CRUX«“ in: Christ in der Gegenwart 24/2023, S. 7.
[iii] Um einen Eindruck von der für diesen Zeitraum einschlägigen Klimaforschung zu gewinnen, ist der open-access Beitrag hilfreich: Adam W. Schneider & Selim F. Adali, Further evidence for a “Late Assyrian dry phase” in the Near East during the mid-to-late seventh century B.C.?, in: IRAQ , Volume 78 , December 2016 , pp. 159 – 174 (https://www.cambridge.org/core/journals/iraq/article/further-evidence-for-a-late-assyrian-dry-phase-in-the-near-east-during-the-midtolate-seventh-century-bc/56FF46859728FAEC51C8CC70131AD2EF)
1.n.Trin., 11.06.2023, 1.Johannes 4, 13 - 21, Stadtkirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.n.Trin. - 11.VI.2023
1.Johannes 4, 13 - 21
Liebe Gemeinde!
Vielleicht hilft’s an der Nahtstelle zweier Generationen zu stehen, um zu ahnen, was passiert, wenn das Kirchenjahr, das eigentlich die Erwartung Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und die Geburt Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und die Taufe Dessen, der zu Ostern auferweckt wurde und das Fasten und das Wirken und die Passion Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde, und die Kreuzigung Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und den Tod Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und Seine Auferweckung an Ostern und dann das neue Leben Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und die Himmelfahrt Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und die Ausgießung des Geistes des Vaters und Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde, feiert …. vielleicht also hilft’s an einer Nahtstelle des Lebens zu stehen - etwa, weil die Kinder groß und selbständig werden - , um zu ahnen, was passiert, wenn alles das gefeiert ist … und das Kirchenjahr jetzt weiter geht:
Jesus, Der bisher das Ziel und die Wirklichkeit und die Mitte und der Verlust und der Gewinn und die Hoffnung und die Fülle alles dessen war, was die Gemeinde gehört, meditiert, angebetet, gefeiert und verkündigt hat, … Jesus rückt zur Seite.
Er hat den Seinen alles gegeben, sie alles gelehrt, ihnen alles gewährt.
Und jetzt macht Er den Platz frei. Wie das uns Eltern - und solchen Kontrollfreaks wie mir, die sich da ganz besonders sträuben, ganz besonders - nötig ist, zu lernen: Hände und Füße weg von Zündschlüssel, Gas und Kupplung, … Beifahrer werden, … andern überlassen, was die nun können werden!
Das Christus-Halbjahr, das seit Trinitatis hinter uns liegt, glich ja dem Kochkurs und den Theoriestunden in der Fahrschule: Ab jetzt aber steht Jesus nicht mehr unmittelbar am Herd, ab jetzt sitzt Er nicht mehr allein am Steuer. Ab jetzt wird Sein Dienst unser Dienst und Seine Reise auf dem Weg zu Gott wird zur Ausrichtung unseres Lebens.
Es ist die Zeit der Staffelübergabe, es ist die Erfahrung des Übergangs vom Lehrer auf die Schüler, vom Meister aus Nazareth an seine Jünger und Jüngerinnen überall bis an der Welt Ende. …
Was für ein Segen, dass Er dennoch neu und unveränderlich bei uns ist alle Tage (vgl. Matth.28,20)!
Was für ein Abenteuer aber auch, dass Er zu uns sagt: „Gehet hin und machet …“ …….
Denn nun ist es ganz unverkennbar tatsächlich an uns, die Sendung des Gottessohnes – eine Sendung zum Dienst und Zeugnis für alle und in tiefstes Leid und nur wundersame Errettung für das Ich – unsrerseits zu üben, … obwohl keine Verheißung unsere Ankunft vorbereitete, unsere Geburt die Zeitrechnung nicht erneuert, unsere Weisheit nicht himmlisch und unser Tun kein Wunder ist, obwohl wir nicht erlösend leiden können und noch alle nicht auferweckt sind und das Reich Gottes noch keinen von uns völlig umgibt und unser kleiner Geist allenfalls für uns selber und die Nächsten reicht, aber nicht die ganze Welt inspirieren und erneuern kann!
… Wir alle sind beileibe ja nicht Jesus!
… Und dennoch gibt Er uns jetzt auf, wie Er zu werden! …….
Dieser seltsame Gedanke, dass unser Glaube uns jesusförmig macht und unser Dienst und Dasein nun jesusmäßig werden sollen, ist zwiespältig … genauso wie das Nachrücken und Übernehmen es bei den Heranwachsenden sind: Es schmeichelt und es lähmt zugleich. … Das soll jetzt wahr sein? … Das sollen wir können? … So ernst werden wir jetzt genommen? … Damit lässt man uns jetzt freie Hand? …
Und wie bei der Fahrstunde dürften die wackligen Knie, die überforderte Verwirrtheit zunächst wohl überwiegen. Es ist doch unvorstellbar, dass alles, was von Advent bis Trinitatis geschah, nun von Juni bis Dezember weitergehen soll, … aber nicht mit Jesus allein im Blick, sondern mit Jesus in uns am Werk!
Ja, das ist unglaublich!
Es kann einen durchschütteln und es kann einen aufrichten; es kann machen, dass man einknicken möchte oder über sich hinauswächst. Es will uns verändern und es könnte uns verstocken. Auf alle Fälle aber will es geschehen!
– Was? – Die Bewährungsprobe des Christentums. Die Probe, in der wir heute - weiß Gott! - alle stehen und in der wir uns werden bewähren müssen - und können! -, wie wohl seit einem ganzen Menschenalter nicht mehr.
Die Probe heute, in der die Christen davon werden leben und zeugen müssen, dass die Liebe Christi sie dringt (vgl.2.Kor.5,14) besteht in der schlichten, … schrecklichen, … seligen Tatsache, dass es in allen Krisen und Katastrophen dieser Zeit tatsächlich nur eine grundlegende, grenzenlose, universale und zugleich kindliche Hilfe geben kann: Dass wir eben in der Liebe bleiben! …….
… Ja, lacht und spottet nur! Höhnt und bedauert die simplifizierenden, gutmenschlichen, treuherzigen, … meinetwegen auch: treudoofen, unterkomplexen, idealistisch-naiven Christen! ... Amüsiert Euch oder verachtet sie, wenn sie singend, verkündigend, politisierend und in alledem auch noch voll Sendungsbewusstseins und mit wenig differenzierter Empörung, Leidenschaft und Utopie einen Kirchentag feiern oder in geistlichen Gemeinschaften oder in diakonischen und ökologischen und nachbarschaftlichen Netzwerken das Gute wollen und vollbringen, obwohl die großen Linien, die tiefen Nöte für den distanzierten Blick dadurch nicht verschoben oder behoben werden.
Es gibt viel zu belächeln und viel zu beklagen an den teils verbohrten und teils bloß oberflächlichen Ausprägungen des Glaubens und Lebens derer, die bekennen, dass Jesus Gottes Sohn ist. Es gilt vieles besser und ernsthafter zu versuchen, als es in den Sprechblasen oder den ausgewaschenen Riten der evangelischen und der katholischen Frömmigkeit zu Sprache und Gestalt kommt, … doch wo immer das brennende Glauben und drängende Handeln der Christen von der Liebe für andere, von der Liebe zu den Menschen zeugt, da ist Der – und sei’s verborgen, sei’s verschwiegen, sei’s in der Erniedrigung ins ganz Einfache, ganz Schwache, die Er immer gewählt hat –, Der selbst die Liebe ist.
Das ist das A und das O des ganzen Christentums: Dass wir an dieser Waffe und dieser Wehrlosigkeit festhalten, … dass wir diese Einfalt und dieses Wunder niemals aufgeben, … dass wir in dieser Mystik und dieser Selbstverständlichkeit wurzeln: Gott ist Liebe! ——
Es gibt so viele andere Kräfte und Dynamik, es gibt so viel steilere Thesen und stärkere Programme und erst recht gibt es so viel blinden Zorn und brutalen Widerspruch dagegen, dass die Liebe überhaupt etwas könne und sei. Es gibt so gebieterische Logik und so abgebrühten Zynismus in der Maske der Vernunft, es gibt so blendende Sachzwänge und so erschütternde Erfahrungswerte, die alle in Abrede stellen, ja, die längst philosophisch und politisch und praktisch bewiesen haben, dass die Liebe nichts Konkretes, nichts Schlüssiges, nichts Kompatibles ist in der Welt der herrschenden Kräfte, der sinnigen Mechanismen und der natürlichen Gesetze der sogenannten Realität.
… Und wir sehen es ja selber. In unserm Hinterkopf und jeder Schlagzeile dröhnt es: Die Liebe ist machtlos und sinnlos; die Liebe verändert nichts und lässt sich verarschen; die Liebe baut auf Sentiment und verrät, dass sie nur unsere Wünsche zum Vater hat und dass sie scheitert, wo immer sie auf Tatsachen trifft, dass sie nicht kalkulieren und nicht analysieren kann, dass sie für kleine Kinder und alte Leute, aber nicht für kluge Köpfe und starke Positionen taugt und dass sie deshalb allem unterliegt und alles verliert und alle enttäuscht.
Doch der Apostel, der bei der Liebe war, als sie die Ihren bis ans Ende liebte (vgl. Joh.13,1), … der Apostel, der nach der Fußwaschung - dem demütigsten Dienst der Liebe - bei Tisch, als die Liebe sich in Fleisch und Blut an andere verschenkte, an der Brust dieser Liebe lag (vgl. Joh13,23), … der Apostel, der es mit den zehn andern hörte, als die Liebe ihr Testament machte: „Ein neu Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebet; wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habet. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habet“ (Joh.13,34f), … der Apostel, der unter
dem Kreuz stand, als der Liebe der Todesstoß in ihr Herz versetzt wurde und Blut und Wasser aus ihrer Seite herausgingen, und der es bezeugt, damit auch wir glauben (vgl. Joh.19,34f; 1.Joh.5,6ff), … der Apostel, der uns heute unmittelbar anspricht, weil die aus dem Grab auferweckte Liebe gesagt hat: „Wenn ich will, dass er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an?“ (vgl.Joh.21,22ff), … der Apostel, der alles in der Liebe gefunden und nichts als die Liebe bezeugt und der Welt nur das Gebot, zu lieben gepredigt hat und dessen allerletzte Grüße einem gelten, der durch Sorge für die Brüder - „zumal die fremden“! - noch einmal die bedingungslose Liebe bezeugt (vgl. 3.Joh.V.5), … dieser Apostel der Liebe hat einfache Fragen an uns:
- Seht Ihr diese abgründige Verlorenheit in den grausamen Augen von Putin? …
- Seht Ihr das Kälteste, was es auf der brodelnden Erde noch gibt, in der Todesfratze Prigoschins, der banalen Bosheit Kim Jong-Uns, der mörderischen Selbsterhaltung, die von Teheran über Kabul und von Khartum bis Sanaa die Schurken und die Gegen-Schurken erfüllt? …
- Seht Ihr, wie sie aber auch in allen Demokratien plötzlich das Doppelte verspielt haben, das sie einst trug: Die Geltung von Wahrheit und Recht? …
- Seht Ihr die furchtbaren Tragödien, die aus den schönen menschlichen Geistesgaben geworden sind in der Welt, die in Rauch ersticken muss, um das Feuer ernst zu nehmen, mit dem sie spielt, … die das Wasser, von dem man lebt, als Waffe missbraucht, … die immer noch lahm ist vom Luxus, während der Mangel an schlichter Arbeitskraft sie schon in Not bringt? …
- Seht Ihr, wie der Kontinent der Menschenrechte und des schlechten Gewissens sich auch in seinen liberalen und linken und freiheitlichen Überzeugungen versteckt, verteidigt und verliert gegenüber denen, die kein Recht, keine Freiheit, kein Leben haben? …
- Seht Ihr, wie rasch Ihr selber in Eurer Rationalität und Eurer roten und grünen und bunten und blassen Moral zu einem Rattenstamm werdet, der sein Territorium, sein Labyrinth gegen die hungrigen Artgenossen meint verteidigen zu müssen und zu können? …
Wenn Ihr irgendetwas davon seht, wenn Ihr nicht zu viel Angst habt vorm Hingucken auf die Welt, … dann seht Ihr das, wovor man sich fürchtet: Dass die Bosheit und Gewalt, dass die Lüge, Gemeinheit und Gier, dass die Zerstörung aller Menschen und Dinge aus dem Inneren kommen, aus der einen Wurzel, die alles vergiftet und zersetzt: Aus der Angst!
Angst ist die Plage der Welt.
Angst ist das Ende der Bereitschaft zum Leben.
Angst ist der vorweggenommene Pakt mit der Sünde und mit dem Tod.
… Und sie ist überall.
… Überall. …
Nur nicht in der Liebe!
… Furcht ist nicht in der Liebe!
Wenn Ihr in der Liebe bleibt, dann bleibt ja Gott in Euch und dann bleibt Ihr in Gott!
Und das ist das ganze Jesus-Geheimnis. Das ist der Jesus-Weg, … das ist die Jesus-Tat, der Jesus-Frieden, die Jesus-Kraft:
Geliebt-Sein und Lieben.
Und darin müssen und können wir sein wie Er!
Denn das hat uns jeder Tag und jeder Schritt in der Jesus-Zeit des Kirchenjahres gezeigt: Eine Liebe, die überwältigend und unbezwingbar ist.
Alles, was wir da gefeiert haben, … alles, was wir da gehört und aufgenommen und angenommen haben im Wort, im Brot und Wein, im Blut am Kreuz, im Wasser und im Geist der Taufe … das alles ist ja die vollkommene Liebe, die alle Furcht austreibt.
Also hat Gott die Welt geliebt, dass Er Seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben (Joh.3,16)!
– Wenn wir das hören und glauben, dann wird es tatsächlich auch unser Leben! ——
… Natürlich weiß ich dann immer noch nicht, wie der Krieg und Horror in der Ukraine beendet werden kann und beendet werden mag. … Aber dass es durch Gottes Liebe und nicht durch Hass oder Rache der Menschen geschehen wird, ist gewiss … und das nimmt uns die letzte Furcht! Und zeigt uns, dass wir über kurz oder lang, früher oder später lieben werden, wo wir jetzt nur Verzweiflung und Wut erfahren. … Lieben wir darum schon jetzt!
Und natürlich weiß ich auch nicht, wie die entsetzlichen Fragen der immer enger werdenden Welt, der immer schlimmer werdenden Weltuntergänge durch heimtückisches Fernhalten oder fahrlässiges Einladen derer auf der Flucht und Suche sich lösen lassen könnten. … Doch dass Gottes Liebe allen diesen unseren Brüdern und Schwestern genauso gilt und sie genauso umfasst und retten wird, wie uns … das ist am Ende stärker als alle damit verbundene Furcht. … Lieben wir darum!
Lieben wir, wie wir geliebt sind!
Werden wir jesusförmig in Glaube, Hoffnung und Liebe, von Tag zu Tag mehr, von Schritt zu Schritt in aller Ratlosigkeit gewisser!
Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt! … Das ist das, was kommt in diesem halben Jahr, das vor uns liegt. —
Die katholische Tradition lehrt uns übrigens, dass wir in dieser Zeit keineswegs ohne Jesus oder fern von Ihm sein müssen: Sie feiert am kommenden Freitag das Fest des heiligen, glühenden, liebenden Herzens Jesu[i]!
Und dieses Fest hört nicht auf: Es ist das Festgeheimnis aller unserer Tage, die uns allesamt Jesus näherbringen, Ihm ähnlicher machen und uns schließlich endgültig erkennen lassen werden, dass wir in Ihm bleiben und Er in uns.
Im schönsten Herz-Jesu-Lied heißt es dazu:
Nimm mein Herz, o mein höchstes Gut,
Und leg es hin, wo dein Herz ruht,
Da ist's wohl aufgehoben;
Da geht's mit dir, gleich als zum Tanz,
Da lobt es deines Hauses Glanz
Und kann's doch nicht g'nug loben.
Hier setzt sich's, hier gefällt's ihm wohl,
Hier freut sich's, dass es bleiben soll.
Erfüll, Herr, meinen Willen!
Und weil mein Herz dein Herze liebt,
So lass auch, wie dein Recht es gibt,
Dein Herz mein Herze stillen.
Das Lied ist von Paul Gerhardt[ii].
Darum können wir alle guten Gewissens sagen:
Amen.
[i] Die treibende Kraft bei der Verbreitung der Verehrung des Herzens Jesu - wie sie seit Jahrhunderten geübt worden war - in Gestalt eines eigenen Kultes und Festes war die burgundische Nonne Marguerite-Marie Alacoque (1647-1690), in deren Berufungsvision sich der herrliche Auftrage Christi findet: „Je veux te faire lire dans le livre de vie où se trouve la science d’amour“ – „Ich will, dass du im Buch des Lebens liest, wo die Wissenschaft der Liebe zu finden ist“ (zitiert nach: E. Glotin, La Science d’amour selon sainte Marguerite-Marie, [ohne Seitenangaben: S.1], Paray-le-Monial, 1990).
[ii] Strophe 7 von „O Herz des Königs aller Welt“ aus den „Passions-Salven“ (Paul Gerhardt, „Wach auf, mein Herz und singe“: Gesamtausgabe seiner Lieder und Gedichte, hgg. v. Eberhard von Cranach-Sichart, Wuppertal und Kassel, 1982 [Nachdruck der Ausgabe München, 1957], S.62).
03.06.2023, Einführung von Jenny Müller, Stadtkirche, Jenny Müller
- Einführung ins Presbyteramt von Jenny Müller -
Liebe Gemeinde,
heute möchte ich mich Ihnen/Euch gerne vorstellen: ich heiße Jenny Müller, geboren 1997 in Düsseldorf. Nach meiner Ausbildung bei der ARD und anschließendem Studium der Wirtschaftspädagogik und evangelischer Religion arbeite ich heute als Aufnahmeleiterin für den Westdeutschen Rundfunk. Von der Taufe, über die Konfirmation und dem anschließenden, aufregenden TeamerInnen-Dasein bot mir unsere Gemeinde stets eine offene Tür, in der mich hörende Herzen und gebende Hände empfingen. Nun darf ich freudig verkünden, dass ich neben der KonfirmandInnen- und TeamerInnen-Arbeit, auch als Presbyterin für Sie/Euch tätig werden darf! Anbei einige Gedanken, die mich in meinem Leben und Glauben begleiten und wichtig sind:
Ich glaub' an eine Welt…
Ich glaube an eine Welt, die jeden Tag ein Stückchen besser werden kann-
und mit besser meine ich nicht höher schneller weiter.
Ich glaub' an eine Welt, in der wir geben können, was uns gegeben ist.
Ich glaube an eine Welt, in der wir wertschätzen-
also Werte schätzen. Werte Schätze sind.
Ich glaube an eine Welt in der „Mut“ für Mich Und eine Tat steht.
Ich glaube an eine Welt, in der jede*r von uns Liebe in sich trägt,
auch wenn die manchmal in der Dunkelheit verschwindet.
Doch ich glaub‘ noch mehr:
Ich glaub‘, dass das Leben ein Geschenk ist, welches ewiglich voll Licht von DIR ist.
Und ich glaub‘, dass DU uns bewegst- zu Taten, Worten und zu uns selbst hin.
Ich glaub‘, dass wir frei sind, frei durch DICH und zur Verantwortung berufen.
Ich glaub‘, dass wir DICH erleben werden, weil DU in uns lebst.
Ich glaub‘, dass die Erde sich nicht nur um sich selbst dreht,
weil wir uns durch DICH drehen.
Und wir glauben, wir glauben an DICH.
Und so erheben wir unsere Tassen- auf DICH und eine bessere Welt,
an die wir glauben möchten, bis der Vorhang fällt.
Und so wollen wir unser Bestes geben,
denn DU hast uns DEINEN Geist gegeben und wir,
wir haben ihn empfangen (vgl. 1.Kor 2, 12).
Wir sind also ein Team.
DU bist unsere Verteidigung, wenn wir stürmen.
DU bist das Licht, wenn wir lieben.
DU bist der Zuhörer, wenn wir nichts sagen.
DU bist unser Mut, wenn wir Angst haben.
Und wir, wir sind DEIN Einspruch in dieser manchmal doch so kalten Welt,
DEINE VerfechterInnen des Guten unterm Himmels-Zelt,
DEIN Zeichen der Liebe,
DEINE RetterInnen vor Dieben,
DEINE Kinder auf Erden,
DEINE Hoffnung des Werdens,
DEIN „Mitten im Leben“,
das Ergebnis DEINES Gebens,
weil DU in uns bebst.
Und so gib uns hin und wieder ein kluges Wort,
einen klugen Rat, den wir umsetzen können in die Tat.
Oder gib uns die Weisheit, mit dem Alter und der Zeit,
so dass wir andern Leuten Trost sein können in der Dunkelheit,
oder gib uns die Liebe zu heilen, alle Verwundeten zu gesunden
oder aber eben die Kraft, die kleine Wunder schafft.
Gott hat uns den Geist gegeben und wir haben ihn empfangen (vgl. 1.Kor 2, 12).
Und es sind verschiedene Gaben, eine jede auf ihre Art-
doch es ist ein Geist.
Und es sind verschiedene Ämter-
ob PfarrerIn, ob TeamerIn, ob PresbyterIn, ob GeberIn-
aber es ist ein Herr.
Und es sind verschiedenen Kräfte-
ob Trost, ob Mut, ob Hoffnung, ob Glaube-
aber es ist ein Gott, der da wirkt, alles in allen (vgl. 1.Kor 12, 4-6).
Und so gehen wir jetzt raus in diese große Welt,
auf, dass sie durch uns ein bisschen heller wird,
ein kleines Wunder ab und zu vom Himmel fällt,
auf, dass wir Liebe geben, Hoffnung sprühen
und uns Glaube zur Seite steht (vgl. 1.Kor 13, 13).
Und so glauben wir an diese bessere Welt-
bis der Vorhang fällt.
Mit herzlichem Gruß, Jenny Müller
Pfingstsonntag, 28.05.2023, 1.Korinther 2, 12 - 16, Stadtkirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Pfingstsonntag - 28.V.2023
1.Korinther 2, 12 - 16
Liebe Gemeinde!
Paulus reimt sich auf Pech: … Immer daneben. Nie ganz dabei.
… Er lebte wohl schon in Jerusalem als der Messias da auftrat, ausrastete, still wurde, Passa feierte und vor der Mauer am Kreuz überraschend schnell starb. In jenen Stunden damals hat Saulus aus Tarsus mit seinen Mitschülern den Sabbat vorbereitet und gefeiert und nach dem Vorabend und dem Tag der Ruhe am dritten Tag wieder die Schrift und ihre mündliche Auslegung zu studieren und zu diskutieren begonnen.
Er konnte nicht ahnen, dass gerade in diesen Stunden, einen oder anderthalb Kilometer entfernt das Reich des Todes durchbrochen worden und der vorweggenommene Sieg Gottes über den letzten Feind geschehen war, der ewige Sabbat, der kommt, sich also bestätigte.
Und in den Wochen danach. zwischen Passa und Schavout, dem Wochenfest war Saulus zwar auch nah dran, aber vom Wunder des Auferstandenen, Der in diesen Tagen bei den Seinen war, sie in Jerusalem, Emmaus, Galiläa und auf dem Ölberg überraschte, überwältigte, versammelte, berührte, beflügelte, segnete und zurückließ, war er wiederum nicht bewegt.
Und darum hat er auch das Feuerwerk verpasst, das am Wochenfest, dem Tag der Pfingsten, im Obergemach der galiläischen Jesus-Jünger zündete und sich dann in einer unerhörten Explosion von Sprachfarben und Geistsprühen und funkelnden Einsichten und brennenden Herzen und flammendem Glauben und erleuchteten Seelen auf den Plätzen der heiligen Stadt entlud.
Immer war Paulus nah dran und doch nicht persönlich beteiligt!
Passion verpasst, Ostern versäumt, Pfingsten nicht mitgekriegt: Das ist der Mensch, dem wir die Weltmission verdanken, der Gründervater der Kirchen aller Länder und Zeitzonen. … Der Mensch, der bei den Zeichen und Wundern der Christusgeschichte fehlte.
… Unsere Feste wurden uns also erschlossen durch einen, der sie nicht mitfeierte. … Die Kirche wurde begonnen von einem außerhalb der Kirche Stehenden. … Christus in aller Welt ist als Erstes bezeugt worden von einem zutiefst Christusfremden.
Man kann darüber lachen.
… Oder die Absicht und den Sinn ermessen.
Wenn die Botschaft, die wir das Evangelium nennen, nur und ausschließlich eine Angelegenheit von Augenzeugen wäre - so viele Augenzeugen uns bei den Aposteln und Evangelisten auch begegnen -, dann wäre sie schlicht und ergreifend und in jedem Sinn und mit allen Folgen eben rein historisch. … Gewiss kämpfen auch heute noch viele fromme Köpfe dafür - ich gerne auch -, die Zuverlässigkeit und Echtheit dessen, was das Neue Testament berichtet, gegen die Unterstellung derer zu verteidigen, die darin nur Lüge oder Phantasie am Werk sehen. Aber wenn alles am geschichtlichen Urteil läge, wenn der Glaube an Jesus Christus wahrer oder wackliger würde, je mehr der Wissenschaft ihr Geschäft der Mutmaßung über Wahrscheinlichkeit, der Rekonstruktion von Faktischem, der Einordnung in die Evidenz gelingt, desto unsinniger würde der Glaube: Wenn alle, denen die großen archäologischen Entdeckungen bekannt sind, einen sichereren Glauben haben dürften, als die, die ohne Kenntnis der theoretischen und praktischen Durchbrüche und Abbrüche der westlichen historischen Kritik blieben, dann hätte die Wissenschaft eine so alberne Form des Buchstaben- oder Tatsachenglaubens erzeugt, dass die Schlange sich in den Schwanz bisse. Wissenschaft würde zur Magd des Glaubens … oder der Glaube zum Mündel der Wissenschaft. Beide sind aber - zum Glück - frei.
… Nicht zuletzt dank des Paulus: Der nicht dabei war. Nicht sah und hörte, nicht fasste und griff, nicht aß und trank, nicht spürte und erlebte, was den anderen Apostel vergönnt war. Und doch und so gerade der Erste wie wir wurde:
Denn auch wir glauben ja nicht, weil wir dabei gewesen wären. Wir glauben nicht einmal wegen dessen, was Maria dem Lukas erzählt oder mit Johannes geteilt haben wird - so sehr ich Maria auch liebe, an Lukas hänge, Johannes verehre! -, und auch nicht dessentwegen, was ein Matthäus oder Petrus oder dessen Schüler Markus an unmittelbar oder mittelbar Erlebtem überlieferten, sondern das, was uns an Glauben widerfährt, ist von eigener und einziger Direktheit im Heute.
Es wurzelt nicht im „Es war einmal“ der Märchen und auch nicht im wissenschaftsgläubigen „Wie es eigentlich gewesen“ und es kann sich nicht einmal vergewissern und festhalten an dem, was wir als Kinder gelernt oder gestern noch für überzeugend gehalten haben.
Glaube ist nämlich Manna, … ist tägliches Brot. Vorräte nützen nichts. Es braucht den Regen vom Himmel und die Bereitschaft zum Sammeln heute. … Und damit auch die wiederkehrende Erfahrung des Nicht-Festhalten-Könnens, … des Hungerns, … des Leer-Seins und also der neuen, … ständigen, … jetzigen Angewiesenheit auf Gott selbst.
Glauben heißt, Gott nötig zu haben und von diesem unendlichen Bedürfnis - wohlgemerkt also nicht von einer vermeintlich endgültigen Erfüllung dieses Bedürfnisses! - zu leben.
Und genau da unterscheiden sich die Geister. Der Weltgeist ist der Geist der Bedürfnisbefriedigung. Alles, was in der Natur und in der Geschichte dieser Welt geschieht, dient letztlich diesem einen Zweck: Verlangen, Hunger, Wünsche zu stillen. Das ist der Beweggrund sämtlicher Instinkte genauso wie das Motiv der künstlichen Anstachelung, Erzeugung und Sättigung von Sehnsüchten nach Produkten und Erlebnissen. Die volle Mutterbrust und der geniale Werbungs- und Warenkreislauf der Wirtschaft sind in ihrer Mechanik von der gleichen schlichten Logik erfüllt: Wollen und Bekommen. Denn das gesäugte Kind in seiner Unschuld tappt in die gleiche Falle wie der befriedigte Mensch nach dem Kaufrausch, nach dem Erwerbszwang seiner Besitzwut: Beide bilden sich immer wieder ein, sie seien am Ziel ihrer Jagd.
Der Glaube aber – der doch mit dem Ursprung und Ziel aller Dinge, mit Gott in Berührung, in Verbindung kommt! – … ausgerechnet der Glaube wird sich niemals weismachen, dass er am Ziel sei. Denn Glaube bedeutet, dem unendlichen Gott, der ewigen, grenzen-, schranken- und maßlosen Wirklichkeit Gottes, der anfangs- und grundlosen Liebe Gottes, der alles Verstehen und alle Vernunft übersteigenden Herrlichkeit Gottes, der unerforschlichen und unüberwindlichen Weisheit Gottes, ja, der universalen, schöpferischen, jenseitigen, allseitigen, alleinzigen und alleinigen Gottheit Gottes zu begegnen … und darum zu erfahren, dass jeder Gedanke, man wisse und habe es jetzt, ein Aberglaube sein muss … und dass alle Neugier und Offenheit, alle Demut und zugleich alle vollkommene Unersättlichkeit des reinen, freudigen Staunens das gewisseste Bekenntnis und das schönste Lob Dessen sind, Der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt (vgl. Eph.3,20).
Darum gilt das Dabei- oder Nicht-dabei-gewesen-Sein gar nichts. Gott zu vertrauen, ergibt sich nicht aus Gewesenem; Gott zu vertrauen, Ihm sich zu überlassen, zu Ihm zu gehören, das ist Gegenwart, … reine, pure, pulsierende, atmende, jetzige Gegenwart!
… Gewiss: Gott ist der Ewige … vor aller Zeit, unwandelbar lebendig für immer.
Und seit der Himmelfahrt wissen wir, dass Jesus die Zukunft ist, .., unsere Zukunft und die Zukunft der ganzen Welt, die sich vorbereitet, bis er wiederkehrt und wir ihn sehen werden und alle Zungen bekennen werden, dass er der Herr ist (vgl. Phil.2,11).
… Aber der Moment gerade jetzt, diese Sekunde, in der wir dem Ewigen gehören als die Gemeinde des Kommenden, … dieser reine Augenblick der Gnade, dieses Hier und Heute unsres Heils, dieser Atemzug, in dem wir in Kehle, Lungen, Herz und Sinn und Leib und Seele spüren, dass es Pfingsten ist, dass wir nicht alleine hier sind, sondern dass Gott in uns und bei uns und um uns und über uns ist … das ist der Heilige Geist!
Sein Wesen ist Gegenwart.
Sein Geschenk ist die Gegenwart.
Seine Wirkung ist Gegenwärtig-Sein.
Sein Wunder ist das Gegenwärtig-Machen.
Und Seine Verheißung ist genau diese, Seine unvergängliche Gegenwart ins uns und unsere gegenwärtige, unzerstörbare Eingliederung in die Ewigkeit. ——
Diese Kraft der Gottesgegenwart, diese Gabe der Gegenwart Gottes ist es, die Paulus, den Zu-Spät-Gekommenen, den Nie-Dabei-Gewesenen, den an Pfingsten Fehlenden so unabhängig, so selbstbewusst weil Gott-vertraut, so frei von Minderwertigkeit, weil so erfüllt von des Geistes Unmittelbarkeit macht.
Er - kein Zeuge! - redet mit Worten, die der Geist lehrt.
Er - der persönlich, physisch, sinnlich konsequent und lückenlos abwesend war - wagt doch zu sagen: „Wir haben Christi Sinn“!
– Das aber ist entweder eine unerträgliche Hybris, ein Hochmut, wie er für alle möglichen esoterischen Medien und Hell- oder Geisterseher, für selbstbesoffene Pressesprecher und Großmäuler und Lügenpropheten und Propagandapopulisten typisch wäre – „Ich bin die Stimme des Echten! Ich habe die alternativen Fakten! Ich bin die künstliche und damit haushoch, ja himmelhoch! überlegene Intelligenz!“ –, … und dann wäre alles christliche Sprechen, Verkündigen, Zeugnisgeben, Predigen, Mitteilen, Missionieren eine überdrehte, angemaßte, total subjektive und willkürliche Form des Wahrheitsmissbrauchs ……… oder … Gibt es überhaupt ein Oder?
… Kann jemand, der nicht in unserem Sinn faktisch, stichhaltig, objektiv, nachprüfbar, empirisch, historisch Fachmensch und Kundiger ist, eine Meinung, eine Erkenntnis, eine Wahrheit kommunizieren? …
Das ist die Pfingstfrage!
Sie zeigt uns wie heiß, … wie brandgefährlich, … wie knisternd spannend - am Rande des geradezu höllischen Läuterungsfeuers! - es ist, dass wir seit dem Wochenfest-Tag von Jerusalem, als die Botschaft zum allerersten Mal übersetzt und übertragen wurde in Herzen und Sprachen und Leben und Länder, die alle völlig voneinander verschieden waren, weitergeben und weiterglauben, was das Evangelium ist.
… Wie können wir es glauben?
… Wie kannst Du mir glauben, wenn ich sage: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“?
Wie können Eltern mir glauben, wenn ich in diesem Namen ihr Kind als Gottes Kind in den Leib Christi aufnehme und mit den Paten gemeinsam seine Zukunft auf die Eingießung des Geistes Gottes im Bad der Wiedergeburt und Erneuerung (vgl. Tit.3,3) baue?
Wie kannst Du Dir selber glauben, wenn Du sagst: „Ich glaube“?
Wie kann es noch Christen geben nach zweimal tausend Jahren?
Wie kann das alles leben und glühen, wie kann es atmen und leuchten, wie kann es fruchtbar und frisch (vgl. Ps.92,15), wie kann es unerschöpft und köstlich und saftig und ein lebenserquickender Neuanfang sein, wenn dieser uralte Glaube in uns sprudelt und zündet, wenn er fließt und aufflammt, wenn er entsteht und wächst, obwohl wir alle nicht dabei gewesen sind? …….
Weil nichts Gewesenes am Glauben ist! Nichts Abgeschlossenes! Nichts, das fertig wäre und vorbei! …
Natürlich! … Der natürliche Mensch, der Mensch mit menschlicher Weisheit, der Mensch, der von A bis Z buchstabiert, der von roh bis gar kocht, der von Zeugung bis Sterben zu existieren meint, der Mensch des starren Systems, der früher von später unterscheidet, der „vergangen“ mit „noch nicht erschienen“ vergleicht und überzeugt ist, dass nur das, was er selber fertigbringt und rund macht oder in seine räumlichen und zeitlichen Dimensionen einsortiert kriegt, überhaupt Gestalt und Wesen habe, … dieser Mensch will Gott auch von Anfang bis Ende beurteilt, ausgemessen, untersucht und einsortiert haben. Das nennt er „bewiesen“.
Aber wir feiern heute ein Fest, das allen Atheisten das Herz höherschlagen lässt: Wir feiern, dass Gott nichts Gewesenes und nichts Bewiesenes und nichts Gemessenes und nichts Gemachtes und nichts Gelungenes und nichts Vorzeigbares ist.
Denn tatsächlich: Gott war nie!
Er IST einfach „nur“ Gegenwart!
– Wir sollen Ihn nachweisen oder vorweisen! Aber Er ist nicht außen, sondern in einem jeden von uns und zwar nicht angereichert wie Gift, abgesetzt wie Kalk, verdichtet wie Fett, die man ausschwemmen, abschaben, rausschneiden könnte, sondern als der Atem und der Funke, die unser Leben sind und nicht fest zu machen, nicht fest zu halten, … sondern jetzt!, momentan!, nun!, da! … der allesentscheidende Teil dessen, was wir sind und was alles ist!
– Man möchte Ihn klar erfragen und herauskristallisieren, doch nichts ließe sich so präparieren, dass Sich Gott dabei dabei herausstellte oder übrigbliebe: Er, Der doch schlicht der All-Gegenwärtige ist.
Diese unfassbare - buchstäblich unumfassbare, uneingrenzbare, unumgängliche – Wahrheit, dass Gott nirgends fehlt und nirgends aufhört, dass Er nicht ausgegrenzt werden kann oder vergeht, sondern dass Er hier ist, bei uns ist, in uns ist, weil Er überall ist und alles in Ihm: Das ist das ungeheuerliche Wunder Seines Geistes!
Dieses Wunder kann kein Mensch beurteilen, feststellen, nachvollziehen … außer denen, die dieses Wunder selber sind, nämlich – wie Paulus es mit so ungeheuerlicher Selbstverständlichkeit von den Getauften, den Glaubenden, den Staunenden sagt – „geistliche Menschen“!!!
Geistliche Menschen, … Menschen nach Pfingsten, … Menschen überall und endlos viele und immer neue und niemals Fertige, denen im Heiligen Geist gegeben wird, was schon Paulus erfuhr: Dass man nicht zu spät kommen kann und darum auch nicht zu kurz, … weil wir selbst und gegenwärtig von Dem erfüllt werden, woran wir glauben!
Gott ist in uns und wir sind in Ihm!
In Abwandlung des allzu sehr auf Weihnachten festgelegten Verses[i] aus dem „Cherubinischen Wandersmann“ des Angelus Silesius muss uns heute darum lauten:
Wär’ Christus auch an jedem andern Ort
und nicht in Dir,
- so wäre er längst fort.
Wird er vom Geist jedoch in dir gebor’n
so lebst Du jetzt
und ewig unverlor’n.
Diese Empfängnis des Geistes und durch den Geist, Den wir aus Gott empfangen haben, die ist das Pfingstgeheimnis, nein die Pfingstoffenbarung, die macht, dass wir wissen, was uns von Gott geschenkt ist:
Er selbst.
Alles.
Amen.
… Komm’ ……. (EG 126)
[i] Im „Ersten Buch der Geistreichen Sinn- und Schluß-Reimen“ heißt die Nr. 61 unter der Überschrift „Jn dir muß GOtt gebohren werden“: „Wird Christus tausendmahl zu Bethlehem gebohrn / Und nicht in dir; du bleibst noch Ewiglich verlohrn“. Das Thema der geistlichen Vergegenwärtigung wird in den Nummern 62f dann auch auf Kreuz und Auferstehung übertragen: Nr. 62 „Das aͤussre hilfft dich nicht.“: „Das Kreutz zu Golgatha kann dich nicht von dem boͤsen / Wo es nicht auch in dir wird auffgericht / erloͤsen.“ & Nr.63 „Steh selbst von Todten auff“ : „Jch sag / es hilfft dich nicht / daß Christus aufferstanden / Wo du noch ligen bleibst in Suͤnd und todesbanden.“ (vgl. Angelus Silesius [Johannes Scheffler], Cherubinischer Wandersmann, Krit. Ausgabe, hgg. v. Louise Gnädinger, Stuttgart 1985, S.36).
Exaudi, 21.05.2023, 1.Samuel 3, 1 - 10, Stadtkirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Exaudi - 21.V.2023
1.Samuel 3, 1 -10
Liebe Gemeinde!
Wir stehen gerade mitten in den zehn unheimlichsten Tagen, die unser Kirchenjahr außerhalb der Passionszeit kennt: … Die Erde ist seit Donnerstag christusverlassen; … der Himmel bleibt vor Pfingsten geistverschlossen. ….
Zehn Tage ohne unmittelbar heilsgeschichtlichen Gedächtnis-Inhalt also. Zeit der Latenz, zusammengesetzt aus der Zahl der sieben Entwicklungs-Tage der Schöpfung und der drei geheimnisvollen Tage der Erlösung von Karfreitag bis Ostern. Zehn Tage, in denen alles oder nichts geschehen kann …….
Vielleicht können wir diese sonderbare Zeit der sich stauenden Zukunft, … vielleicht müssen wir diese Zeit des Zukunftsstaus sogar ganz unmittelbar auf den gegenwärtigen Moment der Weltgeschichte übertragen: Die Entwicklung der Schöpfung oder die Verfinsterung des Schöpfertodes - das Mysterium Gottes, das in beidem, in Macht und Ohnmacht sich ahnen lässt -, halten sich gerade noch die Waage. Die nächsten Schritte können zur Rettung des Ursprünglichen ebenso wie zu seinem irdisch nurmehr unaufhaltsamen Untergang führen.
… Das klingt reichlich pathetisch.
… Aber vor nicht langer Zeit sind Menschen in gewöhnlichen kleinen Tälern unserer näheren Heimat ertrunken so wie jetzt in Italien. In der Schweiz brechen die Berge auseinander, in den Bergen schmelzen die Gletscher, in der Ebene vertrocknen trotzdem seit ein paar Jahren die Ernten und in den Wäldern von den würzigen Pinien und Korkeichen bis zu den Krüppelkiefern und Birken der Tundra wüten von Frühjahr bis Herbst Feuer und atmen die tauenden Böden des Nordens Gas aus.
Wenn wir noch zehn Jahre haben sollten, dann sind es jene Jahre, in denen entweder die Verlassenheit von allen guten Geistern oder eine geschichtswendende Geistausgießung endgültig geschehen und bestätigt werden.
Da trifft es sich gut, dass wir an diesem Sonntag dazwischen - zwischen Abschied und Anfang - tatsächlich eine Ruh- und Weckgeschichte hören, … jedoch keine Traum- oder Albtraumgeschichte.
Noch besser aber passt die Überschrift über dieser Geschichte: Es ist eine Überschrift, von der ich seit einiger Zeit denke, dass sie - von den meisten Menschen unerkannt - als Titel über unsern Lebzeiten steht. Und wenn wir es einmal wirklich wahrnehmen, wie unsere Tage überschrieben sind, dann überkommen uns vielleicht Furcht und Zittern, oder - wer weiß? - vielleicht auch Entschlussfreudigkeit und seelisch Klarheit. Von den Tagen Elis jedenfalls galt: „Zu der Zeit war der HERRN Wort selten und es gab kaum noch Offenbarung“.
Bei Martin Buber und Franz Rosenzweig lautet diese Zeitansage: „In jenen Tagen war Anrede von IHM kostbar geworden, keine Schauung brach durch“. … Und dann mit einer so alarmierenden Spitzenstellung des Temporaladverbs, dass es mir den Rücken runterläuft: „Noch nicht erloschen war die Leuchte Gottes“.
Das also ist der Name dieser Zeit: Zeit des Noch-nicht-Erloschenen.
Und in ihr ruhen sie.
… Zumindest der alte Mann. Eli. Man kann und muss ihm nicht böse sein: Elis Augen haben viel vom Überfluss der Welt gesehen, haben auch treu über der Bundeslade gewacht, in der im Heiligtum von Silo das lenkende Wort Gottes verwahrt liegt; Elis Augen sind auch angestrengt, weil er immer wieder eins von ihnen zugedrückt hat, wenn seine Söhne in der Anspruchs- und Selbstbedienungsmentalität der Generation, die nichts anfangen musste, weil sie alles übernehmen konnte, sich am priesterlichen Dienst bereicherten und obendrein noch sexuelle Ausbeutung übten: Klerikaler Machtmissbrauch der ersten Stunde (vgl. 1.Sam.2,12ff; bes.22) . Eli, der Ordentliche, … Eli, der brave Patriarch mit der Vetternwirtschaft, … Eli, der ganz gewöhnliche Egoist und Pragmatist, der die guten, die halbherzigen und die skandalösen Züge seines Wesens nach lebenslanger Gewohnheit nun nicht mehr ändern wird. …Eli macht Nickerchen.
Jedenfalls liegt er still. Vielleicht im Schlummer. Vielleicht in der Schlaflosigkeit des Alters. Oder beim Versuch, den Kummer und die Gewissensbisse, die ihn beschleichen mögen, durch gleichmäßig ruhigen Atem zu betäuben. … Eli, der das Leben mehr recht als schlecht schon fast bewältigt hat und jetzt ein bisschen Yoga, ein bisschen Selbstmitleid und ganz viel Blindheit gebrauchen kann, um sich nicht mehr allzu sehr den Kopf zu zerbrechen über den vielen Ärger. …Und im Heiligtum liegt sowieso ja der Junge.
Es ist verlockend platt und es liegt erschreckend nah, das Bild des hingestreckten alten Priesters aus der Zeit vor Israels Königtum mit Bildern von hier und heute zu überblenden.
Eli hat Züge, die ich im Spiegel sehe und in der U-Bahn und in der Kirche und im schwerfälligen Betrieb des Betriebes, den wir unsere Wirtschaft, unsere Politik und Verwaltung und Kultur nennen. Überall haben sich solche wie ich und die noch Älteren breit gemacht: Rechtschaffen zumeist und auch rechtschaffen stolz und rechtschaffen müde oder mürrisch. Was die eigenen Aufgaben und das eigene Lebenswerk betrifft, baut sich das Selbstbewusstsein als starke Mauer gegen allzu viel Nachdenklichkeit auf:
„War schon alles recht. Kann niemand was sagen. Und dass man hier und da den eigenen oder wenigstens den Vorteil seiner Kinder auf selbstverständliche Weise geschützt hat, … tun das nicht alle? Und dass man jetzt noch seine Ruhe haben will und was noch vom Leben zu haben sein mag, ist ein Recht des Alters und der Natur!
… Gut, dass die ziemlich eingestaubte Bundeslade, die ziemlich unbeachteten Worte und Forderungen Gottes, … diese wirklich weit heruntergebrannte, noch nicht völlig verloschene Leuchte nicht mehr unser Problem sind! … Niemand richtet sich nach Gott? Niemand sucht Seinen Willen und hält Sein Gebot? Die „Schauungen“ schaffen trotz ihrer visionären Deutlichkeit keinen Durchbruch mehr durch das Polster der Naivität und Ignoranz? Die Menschen leben geist- und gottlos offenkundig viel lieber als gebunden an Scheu vor dem Himmel und Ehrfurcht vor einander? – Ach, da sollen sich nun andere Gedanken machen! Soll doch der Junge, der da bei der Lade schläft, sich in Zukunft drum kümmern, dass sie Lampe brennt, das Wort vernommen und der Wille Gottes getan wird.“ ——
Das ist eine Karikatur … zweifellos. Und wie alle Karikaturen vergröbert sie die Wirklichkeit, um ihr auf einfache Weise das Überwirkliche, das schmerzhaft Wirkliche abzugewinnen. Boshaft ist das vielleicht und grob fahrlässig in der Verallgemeinerung der Generationenrollen: Hie der unsympathisch selbstsüchtige Alte, der nach seinem fast gelebten Leben auf alle bleibenden Lebensfragen pfeift, … da der junge Mensch, dem nichts bleibt, als die Versäumnisse und Schuldigkeiten der Vorgänger abzutragen.
Wir kennen diese Karikatur und kennen auch ihre Wirklichkeit und Überwirklichkeit.
Wir wissen nicht nur von den aufdringlich pathetischen Weltschmerzen der Jugend, die sich zukunftslos fühlt und von uns Gestrigen um ihr Morgen betrogen. … Sie haben übrigens Recht, … grausam Recht sogar!
Wir wissen und erleben auch, dass immer mehr begabte und berufene junge Köpfe und Herzen aufgeben: Sie fahren zur Immatrikulation an die Universität und kommen heim ohne sich eingeschrieben zu haben, einfach weil die Schar der Gleichaltrigen mit oder ohne Hoffnung und Ehrgeiz ihnen vor Augen führte: Wir haben alle nichts mehr zu hoffen; es ist in der Welt zu spät geworden für einen neuen Anfang und einen besseren Weg.
Wir wissen darum wahrhaftig auch vom massenhaften Zynismus, den wir fast alle mitmachen, weil er uns in Fleisch und Blut zu sitzen scheint und uns einfach nichts an unserm Leben ändern lässt, obwohl das für genau unser eigenes Fleisch und Blut - in der Gestalt der Kinder und Kindeskinder - nicht bloß Ohrfeige und Hohn bedeutet, sondern Hunger und Tod.
Wir wissen es wirklich gut: Es drängt, und die allermeisten machen sich’s weiter bequem wie der Greis, der schlecht hört, kaum sieht und keine Störung an sich heranlässt.
Diese Karikaturen also kennen wir … und sind wir … und haben wir satt!
Doch die Wirklichkeit des Eli – selbst wenn wir ihn noch so karikierend zeichnen als alten weißen Mann, der sich nicht kümmern mag um geistlichen und weltlichen Dreck und weltliche und geistliche Sünde, die er denen nach ihm hinterlässt … die Wirklichkeit des Eli ist an einer Stelle so weit von uns und allen unseren Wirklichkeiten entfernt, dass es genau hier unendlich ernst wird.
Er wird gerüttelt von dem Jungen aus dem Tempel und murmelt was von erster Bürgerpflicht, von Ruhe: „Geh schlafen, Samuel!“.
… Und wie in Gethsemane ein zweiter Versuch des Tiefbeunruhigten an der Lagerstatt der Teilnahmslosigkeit. – „Geh schlafen, Samuel!“ …
Und dann das dritte Mal. … Und genau da ist der Unterschied zu uns!
In der Ruhestörung und Ratlosigkeit des jungen Samuel zuckt durch das müde Herz und Hirn des alten Eli plötzlich die Möglichkeit Gottes! … Sollte Gott wohl zu dem Knaben sprechen? Sollte Gott also vielleicht hinter der Unruhe des jungen Menschen stehen? Sollte Gott sich im Schweigen der verlöschenden Zeit ohne Empfänglichkeit für die Offenbarung auf diesem Weg durch den Mund der jungen Kinder und Säuglinge (vgl. Ps.8,3) Gehör schaffen wollen? …….
Eli muss schließlich mit Gott rechnen!
… Und nun lautet die Frage an uns: Tun wir das auch noch? …….
… Wenn das auch bei uns so wäre, … wenn das auch bei uns wieder so würde, dann wäre die Zeit, in der das Wort so wenig gehört und die Wahrheit so selten befolgt wird, die Zeit, in der das Licht so schwach nur noch leuchtet, tatsächlich eine Zeit zwischen Verlassen-Sein und Erfüllt-Werden wie sie in diesen zehn Tagen für uns Christen unverkennbar herrscht und in diesen zehn Jahren in der Welt entscheidend sein wird.
… Rechnen wir mit Gott?! Geht es uns auf, dass in den Sorgen, im Klamauk, in der nervtötenden wie der besorgniserregenden Panik, im aufgescheuchten Suchen, im sendungsbewussten Forschen und Fordern der jungen Menschen Gott Seinen Anspruch auf Welt, Zeit und Zukunft geltend macht?!
Sind wir also bereit, uns als Christen, die dem Vergessen der Offenbarung, dem Verleugnen des Gebotes Gottes und dem Verdunkeln Seiner Herrlichkeit nicht länger duldsam zusehen oder dabei wegsehen können, uns wachrütteln zu lassen von denen, die Ihn vernehmen?
Das ist nicht die Frage irgendeiner politischen Protest- oder Parteibewegung; es ist nicht die Frage eines gewöhnlichen Generationenkonfliktes oder eines bestimmten weltanschaulichen Lagers. Es ist die Frage, die zu jeder Zeit zwischen der Himmelfahrt des Herrn und der Veränderungs- und Erneuerungs-Mission Seines Heiligen Geistes an alle, die im Bund mit Gott und in der Nachfolge Jesu stehen, gerichtet wird:
- Seid Ihr bereit für Seine Kraft zur Ausrichtung der Umkehrbotschaft und für den Anbruch Seines Reiches?
- Seid Ihr bereit, die Welt nicht beim Alten zu lassen, sondern sie in die Zukunft des Kommenden führen zu lassen durch Seinen Geist, Der Kinder und Greise erfüllen will?
- Seid Ihr bereit, nicht mehr zu schlafen, sondern wach zu werden dafür, dass Seine kostbare Anrede wieder gilt und die Schauungen, die Er schickt, die perspektivlose Finsternis auf Erden endlich strahlend durchbrechen?
- Seid Ihr bereit, dass - wie es der Pfingstprophet Joel verheißt - nicht in irrationaler Dunkelheit, sondern im hellen Licht des Geistes eure Söhne und Töchter weissagen, eure Alten Träume haben und eure Jünglinge Gesichte sehen werden (vgl. Joel3,1) und dass keiner dann dem andern befiehlt „Träum weiter!“ oder „Schlaf endlich ein!“, sondern sie gemeinsam der Erfüllung des Verheißenen, der Verwirklichung ihrer Visionen dienen wollen?!
- Seid Ihr bereit, dass es in dieser dunklen, abnehmenden, drängenden Zeit Pfingsten wird und dass Erweckung kommt und Umkehr geschieht und nicht die Gewohnheit des alten Menschen, sondern das Wunder des von Gott erretteten und erneuerten Menschen die Welt prägt?
- Seid Ihr bereit, dass Gott ruft, auch zu hören und Ihm dann willig zu folgen, damit Ihr mit der gesamten Schöpfung frei werdet – so, wie wir’s eben sangen (vgl. EG 392)?!
- Seid Ihr bereit, ein Samuel zu werden, eine Maria von Nazareth, die dem rufenden Gottesgeist antworten (1.Sam.3,10 / Lk.1,38): „Rede, HERR, denn Dein Knecht hört! Ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie Du gesagt hast“?! ——
…………
Wenn wir dazu bereit sind, dann wird diese leere Zeit, diese Stillstandszeit, in der sich Geistausgießung und Erweckung oder das Verschlafen des letzten Rufes und dann das Ende ankündigen können, eine Zeit voller Segen und Sinn!
Wenn wir nur wie Eli damit rechnen, dass Gott die ruft, die nach uns kommen!
Wenn wir nur wie Eli die lebendige Berufung der nächsten Generation, ihre Berufung zum Leben erkennen und uns mit ihnen zum Hören und zum Heilen, zum Helfen und zum Hoffen bereithalten, dann werden sie keinesfalls die letzte Generation sein, sondern eine samuelische und marianische Generation der Wegbereitung für wirkliche Zukunft und neues Leben.
Und dann gilt, was in der Fortsetzung der Gottesrede an den hörenden Knaben Samuel im Zusammenhang einer Drohung gesagt wird, und was zum alles entscheidenden Inhalt wird, wenn wir es jetzt - vor Pfingsten - im Verheißungszusammenhang für die bedrohte Welt hören dürfen.
Gott spricht: „Ich will es anfangen und vollenden“ (1.Sam.3,12)!
Ja, Du Belebender und Vollendender, der Du - wie Samuels Mutter betete - zu den Toten hinabführt und wieder herauf (vgl. 1.Sam.2,6):
Du sendest aus Deinen Odem, so werden sie geschaffen,
und Du machst neu die Gestalt der Erde.
Komm, Heiliger Geist, erfüll die Herzen Deiner Gläubigen
und entzünde in ihnen das Feuer Deiner göttlichen Liebe![i]
Amen.
[i] Die alte, gesamtkirchliche Pfingst-Antiphon hier in der Fassung des Bayrischen EG 693.6.
Rogate, 14.05.2023, Stadtkirche, 1.Timotheus 2, 1 - 6, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Rogate - 14.V.2023
1.Timotheus 2, 1-6
Liebe Gemeinde!
Was Jesus gemeint hat, als er uns Salz nannte (vgl. Matth.5,13), wird immer deutlicher: Es soll nicht zu viele Christen geben. Eine Welt aus lauter Christen wäre sonst zwangsläufig versalzen! Die Streuung, nicht die Häufung macht die Wirkung aus. Und wenn’s auch nur eine Handvoll wäre: Ist sie gut und stark, dann durchdringt und verändert sie alles, was durchs Salz vorm Verderben und Vergehen bewahrt wird.
Darum – obwohl ich geschworen hatte, so oft wie möglich laut auszurufen, wie furchtbar eine Welt nach dem Verschwinden des Christentums sein würde! – muss ich heute sagen: Es kommt nicht auf die Christentums-Masse oder Christentums-Dichte an, sondern auf die Klarheit des Christentums. Christen, die wissen, was sie wollen und sollen, ändern alles.
Und darum gilt: Je seltener sie waren, je seltener sie werden, desto mehr liebe ich die Christen!
… Da sitzen sie am Anfang in irgendwelchen Löchern, unterhalb der römischen Kanalisation, geduckt zwischen den Grabfächern der Katakomben, eingebuchtet in Hausarrest oder bei peinlichen Verhören oder in der Verbannung. Der Mitarbeiter des Paulus, Clemens, der im Philipperbrief direkt vor dem berühmten „Freuet euch in dem Herrn allewege“ (Phil,4,4) genannt wird und der später als Bischof von Rom dritter Nachfolger des Petrus wurde[i], hat seine letzten Jahre der Überlieferung nach in einem Bergwerk auf der Krim verbracht[ii]. Dort und überall sonst, wo diese lächerlichen kleinen Radikalinskis der Liebe eines fremden Gottes und eines Gekreuzigten auftauchten, haben solche Witzfiguren der Geschichte sich eingebildet, ihre jüdischen und doch-nicht-jüdischen Beschwörungen und Gesänge lenkten das Reich!? Sie meinten tatsächlich, ihre versöhnlichen Gedanken und ihre unverbesserliche Hoffnungsdummheit spielten eine Rolle dabei, wie die Welt läuft?!
… So ein mit Zwangsarbeit und Hungerrationen gefolterter Apostelschüler und Gemeindehirte am Ende der Welt, am rauhen Fels des Schwarzen Meeres wie dieser Clemens von Rom wird an den Völkerapostel Paulus zurückgedacht und sich eingebildet haben, wenn er jetzt den Kaiser Trajan vor seinen Gott bringe, so wie Paulus und auch Petrus seinerzeit ihren Richter und Henker, den Kaiser Nero, dann werde das etwas an der Gewalt dieser Imperatoren und am Verlauf der Ereignisse für Heiden, Juden und Christen in der Antike beeinflussen!?
… Völlig machtlos, völlig entwürdigt, völlig übersehen und ohne jede Bedeutung haben diese restlos passiven Opfer der Geschichte sich dennoch eingebildet, sie nähmen aktiv daran teil: Dabei hing in Wirklichkeit doch alles von der Verdauung der Kaiser, den Intrigen ihres Senats, vom fiskalischen Eifer der Prokuratoren, von den militärischen Erfolgen des Heeres und von der Schwäche oder Korruption aller Barbaren ab. …
… Was ein altgewordener Paulusschüler Timotheus in Ephesus oder ein Grubensklave Clemens bei Sewastopol in ihrer Freizeit und ihren eucharistischen Feiern zwischen Schmerz und Sterben taten, machte da wahrhaftig nichts aus. …….
Nur dass diese verrückten, hartnäckig an der Weltgeschichte mitstrickenden Häftlinge und Judengenossen aller Länder und Lumpenproletarier im priesterlichen Dienst und Heiligen der Schlachthöfe allen Ernstes daran festhielten, sie - ausgerechnet sie: die Nebenfiguren einer religiösen Eintagsbewegung!?- seien so etwas wie der Thronrat des Himmels, das Kollegium des lieben oder des donnernden Gottes vom Zion, dem auf Golgatha seine Seifenblase doch eindeutig zerstochen worden war.
… Sie aber glaubten’s!
Sie spürten’s!
Sie wussten’s!
Da auf Golgatha und in seinem Schatten im Gartengrab war die Weltgeschichte – die Geschichte Judas und Roms, die Geschichte ganz Asiens, Afrikas und Europas, die Geschichte auch jener weiten und weiteren Erdteile, die niemand von ihnen jenseits der bekannten Meere auch nur ahnte – entschieden worden.
Kreuz und Auferweckung lautete die Entscheidung:
Wenn und was auch immer alles untergehen und sterben muss … Gott will, dass alle Menschen gerettet werden!
Dieser atemberaubende Satz, der alles sagt, was das Christentum zu sagen hat, findet sich in dieser schnörkellosen Beiläufigkeit tatsächlich im klarsten Klartext hier, im 1.Brief des das ganze römische Imperium durchwandernden Paulus, der bald ein Märtyrer der römischen Justiz werden wird, an die Nachwelt in Gestalt des jungen Timotheus.
… Ausgerechnet die Anfänge der Märtyrerkirche werden also zur Voraussetzung der universalen Botschaft der Christen!
… Ausgerechnet das, was die Apostel und ihre Nachfolger an Leiden durch das Weltreich erfahren mussten, machte sie zum Sprachrohr der Versöhnung der Menschheit!
… Weil sie vergingen, wurde in ihnen die Hoffnung für alle geweckt!
Das ist das Salz-Geheimnis unseres Glaubens: Gerade in seiner Auflösung setzt er sein grenzenloses Potential an Rettung frei! ——
Nun gibt das uns in aller Seelenruhe allmählich vor uns hin schwindenden Christen heute keinen Anlass, uns ohne Weiteres als die Fortsetzung der weltbejahenden und welterhaltenden, blutig Verfolgten von damals zu betrachten. Aber umgekehrt – auch wenn unsre schlimmsten Feinde der eigene Kleinmut, die selbstbetriebene Unkenntlichmachung und die ölige Idee von der maßgeschneidert subjektiven Zivilreligion für alle sind – … umgekehrt also haben wir nicht das Recht, auch nur ein Fünkchen weniger für die gesamte Menschheit zu hoffen, für die Geschichte zu bangen und zu beten und uns als Fürsprecher und Anwälte für alle berufen zu fühlen als die alte Kirche einst.
Unser Glaube nämlich – ein Glaube, der von der ersten Stunde des Hirtenfelds und Engelsliedes an den Menschen allen ein Wohlgefallen zusagt – … unser Glaube ist Einbindung ins ganz Große!
Unser Glaube atmet das „Siehe, es ist sehr gut!“ aus, das überm gesamten geschaffenen Kosmos strahlt; unser Glaube atmet den Schmerz ein, den die Absonderung der Menschen von Ihm Gott in Eden und überall zufügt; unser Glaube hat den langen Atem der ewigen Geduld und Vergebungsbereitschaft des mit Israel verbündeten Gottes, Der die Väter begleitet, die Könige geleitet, die Propheten bereitet und die Strafe des Exils geteilt hat; unser Glaube stößt die Seufzer und die Lockrufe Gottes aus, Der Sich einfach mit keinem Verlorenen zufrieden geben kann, sondern wirkt und wartet und wartet und wirkt, bis schließlich und endlich alle Seine Söhne und Töchter heimkehren zu Ihm.
Diese Einbindung in die göttliche Liebe und Sorge, dieses Einbezogen-Werden in die göttlichen Hoffnungs- und Erwartungshorizonte für die Welt ist die politische, die öffentliche, gesellschaftliche und soziale Mission der Kirche.
… So weit, so einvernehmlich in weiten Kreisen des Protestantismus, der sich den Weltgestaltungs- und Einmischungsauftrag, der sich seine ethische Verpflichtung aufs Gemeinwohl und seine Partizipation an der öffentlichen Verantwortung in partisanenhaftem Eifer auf die Fahnen geschrieben hat.
Doch verblasst ist dabei, dass die ursprüngliche und ureigene Gestalt der parteiischen Mitwirkung der Kirche an der Verwandlung und Erlösung der Welt nach Gottes Gebot und Verheißung durch … das Gebet geschehen soll!
… Durch das Gebet, das gerade kein Instrument der menschlichen und darum begrenzten und ausschnitthaften Weisheit ist, sondern ein Einreihen und Einstimmen, ja, ein Unterordnen und Aufgehen in der Weisheit und im Willen Gottes!
Wo statt des Gebetes die Meinung der Christen zum Mittel und Maßstab erhoben wird - wir erleben es andauernd -, da herrscht zwangsläufig das, was man den „Partikularismus“, das Regime der Teilchen, die Politik der Gruppen, die Selbstbehauptung von einzelnen Untergliederungen des großen Ganzen nennen muss.
Unsere Einsichten und Überzeugungen weichen selbstverständlich ja nun einmal voneinander ab: Ehrlichen Herzens hoffen und betreiben die einen Dieses, die anderen Jenes für das höhere Gute. … Und bösen, trotzigen Herzens stoßen sich die Bestrebungen der Menschheit erst recht hart im Raum. …….
Wenn wir es also allein auf unsere Pläne und Ziele gründen, wird das Projekt dieser Welt immer aus Kooperation und Kompromiss, Kompromiss und Konflikt, Konflikt und Krieg, Krieg und Kompromiss, Kompromiss und Kooperation und Konflikt bestehen. …
Wenn aber nun einmal ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen ist, dann bedeutet diese erste und letzte Einheit, dass trotz aller notwendigen und wirklichen Unterschiede die Menschheit tatsächlich in einem Umfassenden wurzelt und von dem Einenden umfasst werden wird.
Diese ursprüngliche und endgültige Verbundenheit, von der die verfolgten Christen im Angesicht ihrer Quäler durchdrungen waren und die die gespaltene Kirche auch heute noch trotz ihrer Teilung bezeugen muss und die der gegenwärtigen Feier des Pluralismus nicht entgegensteht, sondern den Raum der Versöhnung eröffnet, … diese ursprüngliche und endgültige Verbundenheit ereignet sich vorweg in der Gestalt des Gebetes, … des Gebetes, wie es Christus und seine Apostel lehren und üben.
Es ist Gebet für die Feinde … das ungeheuerliche, große „VATER, VERGIB IHNEN!“ (vgl. Lk.23,34)
Es ist Gebet für die, die auf der Gegenseite stehen und vertreten, was wir selber verneinen, und behaupten, was wir unsererseits bestreiten, und hoffen, was wir fürchten, und hassen, was wir lieben und wollen, was wir verhindern müssen, und verlangen, was wir verabscheuen.
Dieses Gebet der Christen, die nicht ihre Vorstellungen und Wünsche für sich formulieren, sondern die buchstäblich „außer sich“ beten, deren Bitten und Hoffnung buchstäblich das „Jenseits“ betreffen - das, was nicht vom eigenen Horizont abgegrenzt wird -, … dieses Gebet der Christen ist tatsächlich die vollständige Teilnahme an Gottes grenzenlosem und allumfassendem, an Gottes überweltlichem und versöhnendem Handeln: Weil es sich nicht beschränken, nicht vereinnahmen oder festlegen lässt: Christen sollen nicht um ihre Sache, nicht nach ihrem Gutdünken, nicht gemäß dem eigenen Standpunkt beten.
Ihr Gebet wird darum letztlich nichts anderes sein wollen, als alle und alles, überall und immer nur vor Gott zu bringen und Seinem Willen, Seiner Gerechtigkeit, Seiner Barmherzigkeit anheimzustellen. Es wird immer zuerst und am weitesten und offensten lauten: „GEHEILIGT WERDE DEIN NAME! DEIN REICH KOMME! DEIN WILLE GESCHEHE!“
Das ist der Grund und Ursprung des uns so devot, so befremdlich staatsfromm anmutenden Gebets für die Obrigkeit, zu dem Paulus, der baldige Blutzeuge Timotheus und die nachrückende Generation auffordert: … Nicht, weil das Christentum sich als Stütze der Gewalten, als Erfüllungsgehilfe aller Mächtigen, als Speichellecker der Fürsten, der Zaren, der Juntas und der Diktatoren oder heute als Schleppenträger des Zeitgeistes anbietet. … Das alles hat es viel zu oft schon getan und tut es in seiner widerlichsten, seelenmörderischsten Form noch immer in Gestalt des perversen russischen Patriarchen und Klerus.
… Aber das ist der billige Fusel aller Religion, ja überhaupt aller Weltanschauung: Sich zu berauschen am süßen Gesöff von Macht, von Protektion, Erfolg, Sieg …
Das Salz-Geheimnis dagegen hat gerade die umgekehrte Wirkung: Scharf und ernüchternd ist es, wenn wir begreifen, dass wir nicht beten, um uns zu verbünden mit denen, die uns groß machen, sondern dass wir Bitten, Gebet, Fürbitte, …. ja, sogar Danksagung einsetzen und hingeben auch für die, die alles auflösen, was uns am Herzen liegt.
Darum wissen wir – gerade im Bund mit dem Gott, Der will, dass allen Menschen geholfen werde – wirklich nicht, was wir persönlich bitten sollen (vgl. Rö.8,26).
Das Salz-Geheimnis liegt ja im Gebet des Paulus und des Timotheus für Nero.
Es findet sich Gebet des Clemens in der Verbannung für Trajan, der ihn vernichten ließ.
Es durchzieht das Gebet der Märtyrer und der kleinen, armen, ohnmächtigen Leute, die zu Zeiten der Tyrannen oder der Gnadenlosen oder der völlig Desinteressierten oder der ungebremst Sadistischen nicht aufhören konnten, sich an Gott zu wenden und Ihm alles anzuver-trauen … nicht nach ihrem Dafürhalten und Haben-Wollen, sondern im Vertrauen darauf, dass Gott weiter weiß und sieht und reicht und schlichtet und richtet und rettet, als unsere Vorstellungen je gehen könnten, und dass darum alle Welt- ob Freund, ob Feind! - vor Ihn gebracht werden muss.
Wenn - so wie auf Golgatha oder beim Martyrium des Stephanus (vgl. Apg.7,60) - die Opfer also für die Täter beten, … und wenn wir uns vergegenwärtigen, wie unendlich viele Vergessene und Vernachlässigte gebetet haben und beten „VERGIB UNS UNSERE SCHULD, WIE AUCH WIR VERGEBEN UNSERN SCHULDIGERN“, … und wenn wir die Ratlosigkeit und auch die Wortlosigkeit empfinden, die unser Beten heute verhüllen (…sollen wir beten, dass eine gigantische Entscheidungsschlacht den Krieg gegen die Ukraine beendet? … sollen wir beten, dass diese oder jene Politik und Partei sich hier oder dort durchsetzt? … sollen wir den Sturz Erdoǧans und Netanjahus erflehen? … und welchen konkreten Ausgang wollen wir - abgesehen von Waffenstillstand - für das Metzeln im Jemen und Sudan wünschen? … und wem gilt unsere Fürbitte für die Verantwortlichen in China? … und wie sieht unser Gebet für Taiwan aus? … und welche Dreistigkeit oder Genauigkeit, welche Vorgaben oder fixe Ideen enthalten unsere Gebete für unsere Kinder, unsere Pläne, unsere Anliegen?) … wenn wir also die Beunruhigung und das Zerrissene spüren, die in der Welt aufbrechen und die uns zum Beten bringen, dann merken wir tatsächlich, dass ein ruhiges und stilles Leben nur möglich sein kann, wenn nicht wir alles vorentscheiden, festlegen, beeinflussen und mit unserem Senf garnieren, sondern es schlicht Gott anheimstellen: Alle Menschen, die Könige, alle Obrigkeit, alle Ordnung und Unordnung, alles Widrige und Erschreckende, alles Ungelöste und Unauflösbare.
Wir können es alles vor Gott bringen. Oft nur so, wie eine Pfarrerin am Ende ihres Lebens es mir vergangene Woche sagte: Ich habe keine Worte mehr und ich weiß kaum noch Namen. Aber mir begegnen die Gesichter und das ist mein Gebet.
Das ist unser Gebet: Die Welt, so wie sie da liegt oder da tobt, so wie sie sich auftürmt, wie sie zu verschwinden droht, wie sie sich ausbreitet, vor Gott bringen.
Für diese ganze Welt hat Christus sich selbst zur Erlösung gegeben.
Und an dieser Erlösung der Welt, an dieser Herrschaft Gottes über sie und für sie nehmen wir teil, indem wir ohne Anmaßung, ohne Täuschung - als die, die nicht wissen, was sie beten sollen - auf sie alle weisen und sagen:
„Sie sind die Deinen, Vater! Lass deinen Willen an ihnen, an allen geschehen. Und lass uns alle endlich diese Ruhe, diese Stille erfahren, die im Leben aus Dir, mit Dir und bei Dir besteht!“
Amen.
[i] Theodor Fliedner rühmt in seinem „Kurzen evangelischen Märtyrer-Buch für alle Tage des Jahres“ (2.Theil, Kaiserswerth am Rhein, o.J. [wohl: 1864 – vgl. Vorwort zu Theil 1], S. 1159 -1161) die „Glaubensfrische und Liebesinnigkeit“ des „gotterleuchteten“ frühchristlichen Theologen und Briefeschreibers, dessen Epistel an die Korinther aus den 90er Jahren des 1.Jahrhunderts n. Chr. zu den ältesten Quellen der Dogmatik und Ämterstruktur der Kirche gehört. In seiner typischerweise etwas hölzernen Diktion sagt Fliedner von diesem Korinther-Brief des Clemens Romanus, er „athmet Himmlischgesinntheit“ (aaO, S.1161).
[ii] Die Überlieferung von Clemens‘ Martytrium auf der Krim ist nicht zeitgenössisch, aber dennoch alt.
Konfirmation, 07.05.2023 (Kantate), Mutterhauskirche Kaiserswerth, 1.Samuel 16,7, Jonas Marquardt
Predigt Konfirmation - Mutterhauskirche 7.V.2023
1.Samuel 16,7
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Mit weniger als zwanzig Stunden Verspätung seid Ihr jetzt dran.
… Gestern hätte ich nicht darüber sprechen wollen, weil es mich zu sehr abgelenkt hätte; aber heute, wenn wir zurückblicken auf einen Tag, der schon vergangen ist, und vorausblicken in Euer Leben, das wir noch nicht kennen können, könnten wir ja Verbindungen suchen. …….
Gestern ist da einer zusammen mit seiner Frau gekrönt worden in der Westminster Abbey, und heute sitzen fünfzehn Menschen hier in der Mutterhauskirche, und es scheint äußerlich fast keine Gemeinsamkeit zwischen dem feierlichen, ein bisschen steifen, ein wenig auch lächerlichen, auf jeden Fall aber vollendet traditionsreichen Spektakel dort und unserem nüchternen, unglamourösen Jugendgottesdienst hier zu geben: Ihr seid zwar pünktlich hier eingetroffen, aber niemand von Euch fuhr eine achtspännige Kutsche und auf der Straße hat man Euch weder beklatscht noch ausgebuht. Ihr seid zwar wirklich anständig gekleidet, aber ich erkenne nirgends weißen Hermelin-Pelz und die Diademe fehlen. Wir haben lebendige und fröhlich-schmissige Musik, aber kein Wörtchen davon ist in Gälisch oder sonst einer keltischen Sprache. … Ihr sitzt auf keinem Steinbrocken unterm Stuhlboden, … Ihr habt keine Schwerter und Szepter zu jonglieren, … Ihr möchtet höchstens an den Stufen des Altars nicht stolpern, müsst Euch aber um rutschende Kronen keine allzu großen Sorgen machen, … und wenn Ihr nachher fertig seid, wird es - vermutlich - keine farbenfrohe Darbietung der Luftwaffe zu Euren Ehren über Einbrungen oder Kalkum geben. …
Das scheinen mir die auffallendsten Unterschiede.
Doch wenn wir dies Drum und Dran mal weglassen, – das, was in London kameratauglich war und hier jetzt nicht passiert, weil die BBC halt so mit der gestrigen Einsegnung beschäftigt war –, dann wird es allmählich schon weniger grundverschieden, was sich hier und da er-eignet hat, ereignen wird. Wenn einer nichts sehen könnte und die vielen sehenswerten äußeren Details ihn also schlicht nicht beschäftigten, weil er so jemand ist, der sich einfach immer nur stur auf das Wesentliche konzentriert, dann fällt es schon schwerer, trennscharf zu unterscheiden. Dort im Glanz und hier im Licht des familiären und vertrauten Gemeindelebens stehen Menschen vor Gott, weil sie in das Kommende nicht ohne Ihn und Sein Segens-Versprechen gehen wollen.
Es sind Menschen hier wie dort. Ob man Konfirmand oder König ist, das läuft auf genau das selbe hinaus. So hat der kleine Junge, der am Eingang bei der gestrigen Krönung die ersten Worte des Gottesdienstes sprach, ja wahrhaftig deutlich gemacht: „Als Kinder des Reiches Gottes heißen wir Euch willkommen im Namen des Königs der Könige“[i], war die Begrüßung für den alten Knaben aus dem Hause Windsor und es könnte auch die Begrüßung für Euch sein.
Durch sie wird klar, wie blind Gott auf Seine Weise ist. … Natürlich nimmt Er Euch und uns und alles wahr. Aber es ist eben völlig unmöglich, Ihn zu blenden. Ihm etwas vorzugaukeln, Ihn - wie es heute heißt – „influencen“ zu wollen, ist sinnlos. Auf das, was wir vorspielen und darstellen, achtet Gott genauso viel wie der Blinde auf den Bildschirm. Und das ist die eigentliche Verbindung zwischen dem jetzigen und dem gestrigen Londoner Segensgottesdienst.
Wenn die Krönung eines Königs – so wie es in Zukunft vielleicht zu befürchten ist, weshalb wir für das gestrige Ereignis wirklich als Zeitzeugen dankbar sein können! –…wenn die Krönung eines Königs einst nicht mehr in einem Gottesdienst, sondern bloß auf einer Bühne oder Leinwand oder in einer Arena stattfinden sollte, dann müsste man den ganzen Zinnober dabei ernstnehmen, weil dahinter mehr nicht wäre. So etwas gibt es als Konfirmationsersatz schon ziemlich lange. Es heißt „Jugendweihe“[ii] und spielt sich in Dorfgemeinschaftshäusern, Stadthallen, Aulen oder Kneipen ab. Da sind junge Leute wie ihr; sie sind schick (oder was sie dafür halten), nervös, gelangweilt, hungrig oder ziemlich k.o., weil es am Vorabend lang war. Dann gibt’s geschwollene Reden und Tamtam von Erwachsenwerden und Träume-Verfolgen und Verantwortung usw., und danach Cash und raus. Alles, so wie es Euch auch hier vielleicht vorkommen mag, wenn Ihr oder ich oder wir jeweils heute gerade einen doofen Tag haben. … Und das war’s. … Ach nein: Fotos noch von den Klamotten und Frisuren, die später als peinlich gelten werden. … Und das war’s!
… Was hier dagegen anders ist? … Der Blinde hier, Der die Frisuren und die Figuren und die Show und die Scham überhaupt nicht sieht. Wenn Der dabei ist – so wie gestern in Westminster und gestern auch hier in der Mutterhauskirche und gestern auch bei den Beerdigungen in der Ukraine und gestern auch bei den mit der Todesstrafe bedrohten, geheimen christlichen Bibelstunden in Nordkorea und im Iran und gestern auch bei den Sabbatgottesdiensten im wackligen Land Israel – wenn der große Blinde dabei ist, Der alles sieht, nur nicht unsere Außen- und Angeberseiten, dann ist alles anders! Dann ist nämlich alles entweder schön und feierlich oder Schnickschnack und TicToc - und man kann das eine oder das andere gernhaben -, aber wichtig ist dann in Wahrheit nur noch das Dabeisein dieses Einen, Der eine Krönung nicht von einer Konfirmation unterscheiden kann!
Das liegt an Seiner eigenen Königsgeschichte. Die erste Krönung die Er, Gott selber angestoßen hat, vollzog sich auf einem Bauerngehöft im Dörfchen Bethlehem. Dort wurde unter lauter gangstermäßig aufgepumpten Brüdern, die alle das Zeug zum Clanhäuptling gehabt hätten, ausgerechnet der Kleinste von ihnen ausgewählt. Ihn wollte Gott zum König machen, obwohl er höchstens eine halbe Portion war. …Weshalb? Auf diese von den verdatterten Anwesenden kommende Frage, die alle den tollsten Hecht im Karpfenteich bei dieser Jugendweihe und Siegerehrung von Bethlehem ausgezeichnet sehen wollten, antwortete der Prophet Samuel mit dem Hinweis auf Gottes Sehschwäche (1.Samuel 16,7) … oder Gottes Sehstärke?
„Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der HERR aber sieht das Herz an!“
Und von dieser verblüffenden Salbung Davids, der in den Augen der Menschen nicht das war, was der Schulhof einen „Ehrenmann“ nennt, dafür aber ein Mensch nach Gottes Herzen … von dieser verblüffend unspektakulären Salbung auf dem Hinterhof leitet sich das Ritual der Westminster Abbey mit dem alten Charles genauso ab, wie das, was wir hier tun.
Aus dem Stamm des kleinen David kamen nach ihm ja alle Könige in Gottes Volk. Auch der, dessen Namen Ihr seit der Taufe tragt und den Ihr eben weiter tragen zu wollen versprochen habt: Jesus, in Bethlehem genauso im Bauerndunst geboren wie sein Vorfahr David darin gesalbt wurde. In diesem Jesus aber ist Gott selber erschienen, und zwar so, dass man Ihn mit dem normalen Blick nicht erkennen würde.
… Man kann in einem Säugling im Trog und in einem Mann, der am Kreuz stirbt, schließlich ans sich nichts anderes erkennen als Armut und Leid.
Aber der Glaube sieht in dieser Armut und diesem Leid - weil er tiefer in Gott hineinsehen darf - genau das Umgekehrte: Den Reichtum der Liebe Gottes, Der Schweres und Schlimmstes mit uns teilte, um auch Sein Schönstes mit uns zu teilen, … Sein Leben!
Wenn Ihr das innerlich ahnt, wenn Ihr das anfangt zu erfassen – dass nicht die leicht erkennbaren ersten, äußeren Eindrücke zählen, sondern das, was sich verbirgt und nur dem Vertrauen zeigt – , dann seid Ihr Christen!
Und dann ist das, was Euch gleich gesagt und getan wird, tatsächlich die selbe Krönung und Salbung und Segnung wie die, bei der gestern die ganze Welt zugeguckt hat.
Auch da war nämlich nicht der Pomp und Spuk das Herz der Sache, sondern die Botschaft, dass ein ganz anderer König jetzt in den Geschichten und Verhältnissen und Aufgaben und Hoffnung der beiden Menschen, die man sah, wichtig werden will.
Jesus, der Christus - der Gesalbte, der Euch zu Christen und Christinnen macht.
Der Euch Seinen Geist und Seine Liebe mitteilt, damit Ihr sie weitergebt: Nicht nur an andere, die auffallen oder gefallen, sondern an alle, die sie innerlich nötig haben.
Lernt und übt Ihr also, was auch Euch guttut: Nicht vor die Menschen und die Welt zu gucken, wie reine Zuschauer, sondern dahinter.
Ihr werdet da nämlich die Anwesenheit Gottes in allen Dingen, in allen Menschen, in aller Wahrheit und in Eurem Leben finden! Und dann werdet Ihr merken, dass alles viel hoffnungsvoller und lohnender ist, als der oberflächliche Blick es meint.
Alles an dieser Welt ist verheißungsvoll. Alles an Eurem Leben ist sinnvoll.
… Vielleicht nicht von hier und heute aus mit bloßem Auge betrachtet.
Aber wenn Ihr dahinterkommt, dass Gott in allem auf Euch wartet, dass Er da sein wird und dass Ihr bei Ihm Euch selbst mit allem, was in Euch ist, verstanden und aufgehoben wissen sollt, dann wird Euer Weg als Christen und Christinnen voller Segen sein!
Und gerade das, was man nicht einfach sehen kann, wird dann aus dem Glauben, aus dem Vertrauen hervorgehen: Schweres, das überstanden und Böses, das machtlos wird, … Hilfe, die Euch begegnet und Wunder, die Ihr erfahrt, … Größeres, als Ihr Euch vorgenommen habt und Kleineres, das besser war als die riesigen Wünsche.
Bei der Krönung gestern fand der unsichtbare Augenblick der eigentlichen Salbung mit dem Öl aus der Grabeskirche in Jerusalem hinter einem Schirm statt, der das schützte, was Blicke ohnehin nicht erfassen können.
Aber auf diesem bestickten Schirm stand der Satz einer unglaublich fröhlichen, eigenwilligen Christin des mittelalterlichen England, … der Satz der Julian of Norwich[iii]:
„All shall be well and alle manner of thing shall be well.
Alles wird gut werden und alle Arten von Ereignissen werden gut werden!“
Und hinter diesem Satz findet sich Euer ganzes Leben als Christen.
Bei Eurer Konfirmation ist also wahrhaftig ganz viel dahinter!
Und nun seht es … nicht mit Augen, sondern mit mehr: Mit Eurem Glauben!
Amen.
[i] „Your Majesty, as children of the kingdom of God we welcome you in the name of the King of kings” lautet dieses neu in die Liturgie eingefügte Element auf S.20 in: The Coronation Service https://www.royal.uk/sites/default/files/documents/2023-05/The%20Coronation%20Order%20of%20Service.pdf
[ii] Die als lieblos und verletzend empfundene kritische Behandlung der Jugendweihe hat bei Gottesdienstbesuchern Widerspruch hervorgerufen. Solcher Widerspruch ist sinnvoll, wie umgekehrt eine klare und scharfe Kritik an der bewusst antikirchlich konzipierten Form der Jugendweihe, die zur Bestreitung und Ersetzung der etablierten Kasualie dienen sollte, m.E. nötig und legitim ist und bleibt. Dass in einer immer aggressiver werdenden öffentlichen Zurückdrängung von Christentum und Kirche die Kontroverse – früher: „Apologetik“ – eine zentrale Funktion unserer Diskurse ist, dürfte einleuchten. Wo die Entwicklungen gesellschaftlicher und privater Rituale u.ä. ihren programmatischen Transzendenzverlust betreiben, wird unser Widerspruch als Kirche nach meiner Hoffnung ebenso programmatisch sein.
[iii] Zum sog. „Anointing Screen“ vgl. die ausführliche Darstellung: https://www.royal.uk/news-and-activity/2023-04-29/the-anointing-screen. Zu Julians (ca. 1342 – 1416) entsprechender Überzeugung, dass Gott alles gute machen werde, vgl. ihre XIII. Offenbarung, in der dieses Leitmotiv begegnet, in: The Showings of Julian of Norwich: Authoritative Text. Contexts: Criticism, ed. Denise N. Baker, (A Norton Critical Edition) New York/ London, 2005, S.39 – 56; vgl. Besonders: “I may make alle thyng wele. And I can make alle thyng wele. And I shalle make alle thyng wele. And I wylle make alle thyng wele. And thou shalt se thy selfe that alle maner of thyng shall be wele” (S.43).
Konfirmationen, 06.05.2023, Mutterhauskirche Kaiserswerth, 1.Samuel 16,7, Jonas Marquardt
Predigt Konfirmation - Mutterhauskirche 6.V.2023
1.Samuel 16,7
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Manche Sätze hören schnell auf.
Der hier zum Beispiel: „Ihr seid echt.“
… Und da war schon der Punkt.
Wenn der Satz länger und wahr hätte werden sollen, dann wäre man vermutlich gar nicht mehr zu einem Punkt gekommen, sondern bei der Beschreibung, was an Euch in diesem Jahr insgesamt 62 Menschenkindern, die zu Gott gehören wollen, alles wirklich und charakteristisch und ausgeprägt und bemerkenswert ist, hätte ich Endlos-Ketten bauen müssen: Von „echt abenteuerlich“ bis zu „echt zackig“.
Und weil jeder Einzelne von Euch sehr, sehr viel mehr als bloß eine typische Eigenschaft hat und Ihr es fertig kriegt, sogar total gegensätzliche Züge in ein und dem selben Menschen zu vereinbaren – von „echt anstrengend“ bis „echt zauberhaft“ oder von „echt anarchisch“ bis zu „echt zielstrebig“ –, hätte ich wirklich das ganze Alphabet der Menschlichkeit durchbuchstabieren können, nur um aufzuzählen, was Ihr alles seid und was Ihr alles wollt und könnt und lernt und sollt und werdet.
Aber nicht bloß, um Zeit und Buchstaben zu sparen, fiel der Satz so kurz aus, … ohne Drum und Dran, … ohne Näherbestimmung und Feintuning. Sondern weil in diesem abrupt ins Ziel führenden Satz – „Ihr seid echt!“ – die drei wichtigsten Größen zusammenstehen, die es diesseits von Gott geben kann:
1. Als Erstes Ihr selbst nämlich, mit denen das kleine sprachliche Ur-Atom („Ihr seid echt“) anfängt. Ihr seid Typen und Charaktere, … individuelle Unikate und ganze Menschen. Kurzum: Jeder von Euch ist eine Person. Da trifft sich’s gut, dass Ihr echten Personen Euch gerade zu einem persönlichen Gott bekannt habt! Gott ist auch keine Wiederholung und kein Allgemeinbegriff. sondern Er ist genauso eine Person wie Ihr, Der will und macht und liebt und spricht und sich treu sein muss wie jede Person. Gott ist so persönlich, dass Er Mensch geworden ist. Jesus.
2. Und zweitens findet sich in dem Sätzchen „Ihr seid echt“ etwas, über das wir sehr wenig nachdenken, obwohl die Denker darüber sehr viel grübeln: Die Existenzweise, die wir „das Sein“ Zu sein heißt jedenfalls, dass wir da sind und nicht nicht da sind. Was ja auch ginge. Wir kommen also vor in Zeit und Raum, aber auch im eigenen und fremden Denken und Fühlen kommen wir vor und sind nicht einfach wegzudenken, wegzuwischen, wegzudiskutieren. In uns steckt und zeigt sich Wirklichkeit und nicht bloß theoretisch Mögliches. Das ist zwar ein bisschen deep, aber es heißt zumindest, dass wir teilnehmen an dem, was ist. Und auch das rückt uns in Verbindung mit Gott, von dem wir glauben, dass Er zwar alles Mögliche kann, uns aber in der Wirklichkeit begegnet: Indem Sein Heiliger Geist die Welt mit Leben erfüllt und sogar noch mehr Leben schenkt, als es Zeit geben wird. … Oh boy …..!
3. Drittens schließlich hält der kleine Satz ein Werturteil fest: „Ihr seid echt!“, d.h. Ihr seid nicht verkehrt, Ihr seid nicht falsch, nicht fake, sondern - wartet’s ab! - Ihr seid „wahr“! Und das ist nicht nur schön zu wissen – dass Ihr nicht wie Kopien oder Betrug wirkt –, sondern das ist jetzt auch tatsächlich wichtig, dass Ihr wahre Menschen und also Menschen der Wahrheit seid. Denn uns allen ist ja leider klar - obwohl es so verwirrend ist -, dass wir mehr Lügen, mehr Tricks und Täuschungen erleben, als uns lieb sein kann. Wenn aber Ihr wenigstens schon mal wirklich und wahrhaftig, wenn Ihr ehrlich und echt seid, dann hilft das Gott und der Welt tatsächlich weiter. Denn Gott selber ist die Wahrheit, und mit Ihm können nur echte Menschen wie Ihr sich verbinden. Keine Menschen, die unecht sind, … eingebildet, nachgemacht … oder künstlich.
Und das ist nun wirklich ein Stichwort dieser verrückten Zeit, in der Ihr jung und - Gott sei Dank! - alles in allem ja oft auch so fröhlich, unbeschwert und lebenshungrig seid.
In dieser Zeit also ist vieles wirklich schlimm – ohne dass wir davon heute ausgerechnet reden müssen. Und gleichzeitig ist in dieser Zeit so vieles unwirklich … und das ist auch schlimm!
Aber Ihr scheint mir genau das – die ganze Albernheit und den ganzen Albtraum der auf echt gemachten, aber eigentlich völlig unwahren Dinge, die man hören, sehen, mitteilen, weitersagen und auch erleben kann – als den großen Blödsinn erkennen zu wollen, der dahintersteckt.
Ich sage das deshalb, weil mir aufgefallen ist, dass unter den beliebtesten Bibelversen, die Ihr Euch ausgesucht habt, einer der am häufigsten Gewählte ist. …Und es ist nicht der Vers, der von dem redet, was einem Menschen durch den Glauben alles möglich wird (Mk.9,23), und auch nicht derjenige, der von den Schutzengeln spricht (Ps.91,11), unter deren Geleit Ihr in Eure Zukunft gehen sollt: Obwohl diese beiden und alle Eure anderen Konfirmationssprüche mich wirklich haben nachdenken und für Euch beten lassen.
Insgesamt am häufigsten habt Ihr Euch dieses Jahr aber den Vers ausgesucht, mit dem Samuel der Prophet begründete, weshalb Gott als zukünftigen König und Gesalbten für das Volk Israel keinen Kraftprotz und keinen Schönling und keinen nerdigen Alleswisser, sondern einen kleinen Bauernburschen auserwählt hatte, der überhaupt nichts Besonderes darstellte. Nachdem er diesen jungen Schafhirten David gesalbt und damit berufen hatte, erklärte Samuel:
„Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der HERR aber sieht das Herz an“ (1.Sam.16,7).
Mit diesem Satz ist festzuhalten: Das, was wirklich an Euch und an anderen wichtig ist, das, was einen Menschen und ein Leben vor dem Unsinn des Immer-nur-so-Tun-als-ob bewahrt, das kann und muss man weder sehen noch zeigen. Der ganze Kram, den wir vorführen und mit dem wir uns darstellen, mag nötig oder auch bloß Schwachsinn sein. Auf alle Fälle betrifft er in unserem Leben aber nicht das, worauf Verlass ist und was wir Menschen brauchen.
Das alles erkennt und weiß wirklich niemand so gut wie Gott. Seine Erkenntnis nimmt Euch nämlich so wahr, wie Ihr eben seid: Was wunderbar an Euch ist und was Schutz braucht, sieht Gott. Er stärkt Euch im Guten, und niemals lässt Er Eure Fehler Seine Liebe zu Euch überwiegen.
Und wenn es irgendwo und irgendwann nötig sein wird, dann erneuert Gott Euch auch … nicht äußerlich sichtbar, was bei Euch noch lang nicht nötig sein kann (wobei Ihr heute ja beinah wie restauriert und funkelnagelneu lackiert ausseht) und was bei fast jedem, der’s versucht, lächerlich sinnlos ist. Nein, Gott erneuert an Euch das, was nur Er sieht: Eure Gedanken, Eure Energie, Eure Neugierde, Eure Fragen, Eure Hoffnung, Euren Glauben.
Er tut das, indem Er selber - Gott selber! - in Euch wirkt und in Euch wohnt.
Ihr habt ja unser wöchentliches Gebet zum Anfang des Unterrichts noch im Ohr: „Erfülle unsere Herzen mit Deinem Heiligen Geist!“ Dieses Erfülltwerden mit Freude an der Welt, mit Zuversicht fürs eigene Leben, mit Zuneigung zu den Menschen und mit dem Bewusst-sein, - völlig egal, was andere sehen und sagen - von Gott bejaht zu sein, das ist die Grundlage des Lebens als Christen, des Christ-Bleibens und auch der Erneuerung, wenn der Glaube und das Vertrauen einmal in die Krise kommen.
… Dass es solche Krisen - verschärfte, verrückte und verflixte Krisen - gibt, das muss man Euch Jugendlichen von heute nicht sagen! Aber dass ich Euch sagen darf und kann, dass die Krisen vergehen, während Gott bleibt und dass darum nicht das, was wir erkennen können, sondern das, was von Gott kommt und zu Ihm führt, das Allesentscheidende ist, das ist ein riesiges Glück! … Und heute wird es nicht nur gesagt, sondern auch getan:
Dass Gott Euch Seinen Segen schenkt, das geschieht ja nun gleich im Anschluss nach der Predigt. Gott schenkt Euch Seinen Segen, der alles, was schädlich ist, fernhält, der alles, was künstlich ist, überflüssig macht und der Euch heute und erneut und erneut und erneut die Kraft geben wird, zu glauben und zu bekennen, dass es wahr ist:
Gott meint wirklich Euch!
Ihr gehört wirklich Ihm!
Das ist keine Einbildung, keine Täuschung, nichts Vorgemachtes.
Sondern es ist das A und das O. Vom „echten Anfang“ bis zum „echten Ziel“ des Lebens und der Welt. Und natürlich dann auch darüber hinaus.
Denn dass Ihr in der Zeit der künstlichen Intelligenzen und der künstlichen Bilder und der künstlichen Lügen und der künstlichen Wahrheiten ganz einfach die beiden kurzen Sätze zusammenhaltet und für sie einsteht – „Ihr seid echt“ und „Gott ist echt!“ – das ist das, was zählt und Euch tragen wird.
Und wenn nun Ihr echten Menschen und der echte Gott zusammenfindet und -haltet, weil Ihr Euch zu Ihm bekennt und Er Euch segnet, dann wird aus den beiden kurzen Sätzen noch ein dritter:
Wenn Ihr echten Menschen und der echte Gott zusammengehört, dann gilt das ewig.
… Echt!
Amen.
Jubilate, 30.04.2023, Stadtkirche, Johannes 16,16 - 23a, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Jubilate – 30.IV.2023
Johannes 16, 16 - 23a
Liebe Gemeinde!
Wenn das ein Text für „Jubilate!“ – den großen Sonntag des Oster-Jauchzens ist –, dann will man sich einen Text für den gar nicht bekannten Sonntag „Plorate!“ / „Heult doch!“ wohl lieber nicht vorstellen …….
Andererseits ist allein die Nüchternheit schon wieder wunderbar, mit der unsere Tradition das an sich so entlastende Jubeln nicht aus der Wirklichkeit der Welt heraushält, sondern auch den auferstehungsfröhlichen Gemeinden Fragen, Missverständnisse, Geduld und Anspannung zumutet: Jubelt, ihr Lieben, … jubelt, lasst hören, wie glücklich die Taten Gottes machen und wie sie Kräfte der Hoffnung freisetzen, aber vergesst nicht, dass es immer noch ein besonderer Tag - und kein Alltag! - ist, wenn der Glaube einmal nur nach Herzenslust tiriliert, und dass es daneben und mittendarin noch ganz viel Seufzen und Maulen, ganz viele Tränen und Lügen, ganz markerschütternde Urschreie und das ganz nervtötende Geratter der Ernte- und der Kriegsmaschinen gibt, die die Bäckereien und die Krematorien der Erde im Gebrauch halten. Jubelt, ja!, aber nicht so, als wolltet ihr die Weltgeräusche übertönen! Noch geht es auch um die Lasten und die Laster des irdischen Lebens. Noch sind auch an „Jubilate“ die Untertöne des Leidens und der Trauer nicht verstummt.
Und darum ist es seit Langem regelmäßiger Brauch, dass schon in der Osterzeit wieder die Abschiedsreden Jesu, seine leise und intime Meditation der Trennungen und Trübsal und des Trostes aufgeschlagen werden.
Ostern bringt uns nämlich nicht die Täuschung, dass es das Schwere und die Schmerzen gar nicht mehr gäbe, … sondern Ostern bringt uns den Trost, dass sie überwunden werden – so wahr Jesus lebt! ———
Doch für den Augenblick verlassen wir den Jerusalemer Saal des Letzten Abendmahles, wo Jesus sich losreißt von denen, die ihn fest in ihrem Horizont verankert glaubten und sich nicht vorstellen konnten, sein Weg werde anders, … erstaunlicher, … paradoxer, … erschütternder weitergehen als so ein menschlicher Erfolgsgedanke nun einmal aussieht. Für einen Augenblick – für jene „kleine Weile“, von der Jesus hier wiederholt redet und die uns in diesem Jahr schon einmal, am fröhlichen Passionssonntag „Lætare“ begegnete – … für einen Augenblick also verlassen wir die Abschiedsszene und gehen …. ja, wohin?
– Wir gehen in ein weites Feld, das wir nur selten erforschen. Dabei ist dieses unbekannte - in Wahrheit aber völlig vertraute Gebiet - der größte Teil und Raum des Lebens Jesu: Es sind die Zeiten und die Kleinigkeiten, von denen die Evangelien schweigen.
Bei bekannten und hörbaren englischen Liedermachern und Kirchenmusikern ist in den letzten Jahren ein vermehrtes Gespür für das, was sie „the unsung Jesus“ nennen[i], erwacht … ein Gefühl dafür, dass alles das an seinem Menschenalltag, was wir nicht erfahren und worüber wir folglich auch nicht nachdenken oder singen, uns Jesus gerade nahebringen würde, ihn in unserer Wirklichkeit, der er entschwindet, wieder gegenwärtig werden ließe.
… Und bei aller Zurückhaltung gegen allzu lebhafte Phantasie und allzu freihändige Legendenbildung ist doch nicht zu übersehen, dass unser Bekenntnis zur Menschwerdung Gottes diese übersehenen, unspektakulären, gewöhnlichen und bescheidenen Seiten des realen Jesus, des konkreten Jesus, des stinknormalen Jesus in der Provinz und im Trott des Mitmachens, Durchkommens und Überlebens der Menschheit auch als Momente der Wahrheit umschließt. Dass Jesus an den selbstverständlichen und doch so existentiellen Vollzügen eines leiblichen Geschöpfes teilhatte, … dass er wuchs, sich entwickelte, sich ernähren und erholen musste, … dass er sich ausprobieren und auskurieren musste wie wir, … dass er Humor und sein Frühstück mit Menschen teilte, … dass er fror, staunte, überreagierte, sich langweilte, sich wiederholte, sich zuweilen versteckte und dann wieder gar nicht abzulenken war, wenn etwas seine Neugier fesselte … alles das muss man sich schon denken können, wenn man nicht plappern, sondern glauben und anbeten will, was das heißt (Joh1.14): „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns!“
Doch ich will jetzt gar nicht einfach drauf los solche Sittengemälde entwerfen und über alles Mögliche spekulieren, sondern mit dem Verdruss der verständnislosen Jünger bei Jesu rätselhaften Abschiedsreden im Ohr nur ein dort überraschend anklingendes Thema erwägen: Wann und wie erlebte der, von dessen Zeugung wir Einzigartiges, von dessen Geburt wir dagegen nur Gewöhnliches erfahren, dieses Urdatum des Lebens, diesen tatsächlich eigentlich nur mit dem Tod zu vergleichenden Grenzdurchbruch?
Es wird in der beengten Armut seiner ägyptischen Flüchtlingslager-Kindheit gewesen sein, wo niemand etwas verbergen und nichts von einem Menschen allein erfahren werden kann. Was unseren klinisch entfremdeten Zeiten - und man muss in vielen Fällen sagen: zum Glück der Betroffenen! - völlig unvorstellbar wäre, war in der Vergangenheit die selbstverständlichste, allgegenwärtigste Konfrontation der Öffentlichkeit mit dem Privatesten, der Kleinen mit dem Großen, der Menschheit mit den Mächten, denen sie sich verdankt und ausgeliefert bleibt: Liebe, Geburt, Lust, Gewalt, Lebendigsein und Sterbenmüssen trugen sich meist vor aller Augen, mindestens aber vor aller Ohren zu.
Es bedarf also keiner in irgendeiner Weise aufdringlichen, anrüchigen Phantasie, um sich zu vergewissern, dass der kleine Junge, der in Bethlehem gerade eben so einem Massaker entkommen war, schon in seiner unbewussten Kindheit erfuhr, wie das Leben beginnt: Durch die Kraft und den Schmerz einer gebärenden Frau, durch die haarsträubende und zugleich heilige Leidensbereitschaft, durch die das eine Leben einem anderen den Weg eröffnet.
In Nazareth wird es nicht anders gewesen sein, als er heranwuchs und dann so lange sein einfaches Handwerk übte: Die Wehmütter, wie sie von Haus zu Haus eilten; der lebensnotwendige Zusammenhalt unter älteren und jüngeren Nachbarinnen und Verwandten; das noch in der Zimmermannswerkstatt unüberhörbar sich emporschraubende Stöhnen und Jammern einer Niederkunft irgendwo im Ort … und dann entweder das alle Welt immer aufs Neue elektrisierende Geschrei eines Neugeborenen oder die schrille Totenklage, die so häufig nach den Torturen einer Geburt anzustimmen war.
Jesus wird mit alle dem ganz natürlich vertraut gewesen sein.
Wenn wir aber das kirchliche Bekenntnis durchdenken, das in ihm nicht nur den Menschen, dem nichts Menschliches fremd sein konnte, sondern den inkarnierten Logos verehrt, … das eingemenschte Schöpfungswort, … die Weisheit Gottes, von der die Lesung sprach (Sprüche Salomos 8, 22-36), die sich freiwillig unter die Menschen eingereiht hat, um ihnen Willen und Wirklichkeit Gottes unmittelbar nahe zu bringen, … wenn wir in Jesus, der als Mann in Nazareth zumindest indirekt bezeugen konnte, was eine Geburt bedeutet, auch Den erkennen, Der die Menschen als Mann und Frau erschuf und sie segnete, dass sie fruchtbar würden und sich vermehrten, dann erkennen wir vielleicht allmählich einen tiefen Zusammenhang: Die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes macht auch an dieser Stelle Ernst!
… Die spätestens seit dem Verlust der Unschuld schwere Last des Lebenschenkens (vgl. 1.Mose 3,16) sollte kein nur den Frauen auferlegtes und auch kein rein menschliches Schicksal bleiben, sondern die unlösbare Verbindung zwischen dem Herrlichsten - dem Leben! - und dem Härtesten - dem Leiden! - hat Jesus wie alles Unsrige zu seiner Sache gemacht.
Sein Leiden, das uns das Leben eröffnet, ist also sein Eintauchen in die weltweite Erfahrung der werdenden Mütter. Die Stadien seiner Passion sind buchstäblich seine Wehen. Und in der überwältigenden Grenzerfahrung des Todes bereitet sich jene ungeheure Sprengung der Grenzen vor, die in der Auferweckung das vorläufige Wunder jeder menschlichen Geburt endgültig vollendet. —
Das ist ohne Zweifel eine ungewohnte Sicht auf beides: Das innerweltlich so landläufige Geschehen des Geborenwerdens ebenso wie das einzigartige, Zeit und Raum übersteigende Wunder der Auferweckung. Und doch ist es der Grund, weshalb es ein Jubilate-Ansatz ist, das Weinen und Klagen und die Traurigkeit nicht zu übertönen, nicht auszublenden. ——
Damit aber sind wir wieder zurück im Obergemach, wo sie das Abendmahl hielten und wo Jesu Todeswehen anfingen: Was kommt, wissen und verstehen die Jünger nicht.
Was kommt, wissen und verstehen auch wir heute nicht.
… Was auf uns zukommt. Was auf die Welt zukommt. …
Bis vor wenigen Jahren lief es wie geschmiert … außer, dass es schon lange giftig und gefährlich und lebensbedrohlich war, wie unser Dasein lief, … aber wir konnten, nein: wir wollten es übersehen.
Und nun ist es nicht mehr zu übersehen.
Nun hört man überall Abschiedsreden. Die Welt, die wir kannten, … die Sicherheit, die wir zu haben meinten, … die Schmetterlinge und Vögel, … die Jahreszeiten und alle Wahrscheinlichkeiten, auf die man setzen konnte, … die Rechte und die Zukunft, die wir beanspruchten: Sie alle sind dahin. Die Unschuld ist verloren, weil wir es wieder einmal nur für uns machen wollten: Nicht der Schöpfer, nicht der andere Teil der Menschheit, nicht die Kreatur sollte uns aufhalten. Wir selbst wollten die Gewissheit des Guten wie des Bösen besitzen. ….. Nur dass nicht alles gut war, was wir dafür hielten, und dass wir unser Bewusstsein für das Böse - unser Gewissen - völlig unterdrückt haben.
Und so fangen tatsächlich die Wehen an: Die ganze Schöpfung stöhnt in ängstlichem Harren (vgl. Rö.8,19). Eine Zeit ist gekommen, die manchen viel zu unaufhaltsam auszugehen scheint, so dass sie sich zu den letzten Menschen erklären und die morgigen Menschen damit auch nur enterben, … eine Zeit, die andern gar nicht verkürzt genug sein kann, weil sie das aufgestaute Riesen-Potential an Katastrophen so sorgenvoll betrachten. Eine Zeit, die so oder so einem kleinen Augenblick verglichen werden muss – eine letzte Chance?, eine total unmittelbare Gefahr? – … ein kleiner Augenblick jedenfalls, der seltsam surreal, seltsam gebannt, seltsam unbewegt über uns schwebt und in uns stockt.
Wir wissen nicht, was das bedeutet: … Vergeht bald alles in unwiderruflichem Abschied? … Oder kehrt nicht endlich alles wieder zurück in seine uns noch so unverrückbar anmutenden, aber inzwischen erschütterten Fugen und Formen?
In welchem Augenblick der Weltgeschichte stehen wir denn? Was bringt die Stunde, die kommt? …….
Wenn wir Jesus vertrauen, dann hören wir heute eine erste Antwort auf diese Frage: Eure Beunruhigung, eure Verunsicherung, eure Traurigkeit ist richtiger und notwendiger, als die an den Fragen und Sorgen und Schmerzen unbeteiligte Fröhlichkeit, die es auch in der Welt gibt.
Wenn ihr die Gefahr, in der alles schwebt, spürt, … wenn ihr jetzt traurig seid, weil das, was sich auflöst und was noch kritischer werden wird, euch umtreibt, … dann habt ihr es heute gewiss schwerer als die, die sich immer noch gedankenlos freuen, als läge kein Abschied in der Luft, als feiere „Jubilate“ einfach nur den Leichtsinn.
Doch wir hören auch noch eine zweite Antwort auf die unsichere und unruhige Frage unseres Herzens, was der Augenblick bedeute. Die zweite Antwort ist die Antwort, die nur Der uns geben kann, Der sich freiwillig und also auch schutzlos, dabei aber doch in der Vollmacht des Schöpfers und also nicht hoffnungslos in alle, wirklich alle Gefahren des Menschseins begab.
Diese Antwort ist es, die die beklemmenden Schmerzen von heute – die nicht unsere ganz persönlichen sein müssen, sondern die Schmerzen der gesamten Menschheit und Kreatur einschließen … – in einen völlig neuen Horizont rückt.
„In welcher Lage sind wir? Was wird von diesem Augenblick bleiben, … was würde der nächste Augenblick bringen, wenn er je käme?“
Jesus antwortet darauf: „Nach der Geburt sehen wir uns wieder.“ ——
Dieses unvorstellbare Versprechen eines Wiedersehens nach der Geburt im Angesicht der Not und Trübsal des gegenwärtigen großen Abschieds ist ein einzigartiges Geschenk Jesu, des menschgewordenen Gotteswortes in der Schöpfung wie in der Kreuzigung, … in der Natur wie in der Passion: Das Geschenk, dass Leiden sich in Leben verwandelt!
Es lag immer schon am Ziel jeder Schwangerschaft, auch wenn es nicht immer erreicht wurde.
Nun aber, durch den Tod und die Auferweckung Jesu Christi ist es zum Ziel aller Erfahrungen, zum Ziel sämtlicher Traurigkeiten und Schmerzen, zum Ziel jedes Lebens gemacht worden: „Wir sehen uns wieder nach der Geburt!“
Denn es ist seit der Menschwerdung Gottes, die in Seiner eigenen Leidensgeschichte zur Neugeburt der Menschheit führen sollte, alles, was Zeit und Leid und auf jeder andere Weise Geschichte ist, als Geburtsvorgang offenbar geworden.
Der Apostel Paulus sagt darum ganz ausdrücklich von den Leiden dieser Zeit, dass die ganze Schöpfung bis zu dem kommenden Augenblick seufzt und in den Wehen liegt (vgl.Rö.8,19+22).
Die Wirklichkeit, die wir erfahren, die Zeit, die uns bleibt, das Elend, dem wir so viele und so vieles ausgeliefert sehen, ist also - wenn wir uns an Jesu Antworten halten - kein Grund zur Verzweiflung, sondern zum Durchhalten: Die Welt, die Menschheit drängt in allen diesen Nöten einem österlichen Geburtsmoment entgegen, von dem Jesus noch vor seiner Passion so einfach und zum Jubeln schön gesagt hat:
„Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist.“
Es ist das Werden, es ist das Auferstehen, es ist das neue Leben, das die Dinge jetzt so eng und drangvoll macht.
Wie bei jeder Geburt wissen wir nicht, wie lange, wie dramatisch, wie gefährlich es noch werden mag. Aber bei dieser Geburt der neuen Kreatur ist das eine Versprechen, das Versprechen Christi gewiss: „Ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und Eure Freude soll niemand von euch nehmen.“
– Und darum: „Jubilate!“
Amen.
[i] Der bedeutende Liedermacher aus dem Worship-Bereich, Graham Kendrick, hat den Begriff programmatisch geprägt (vgl.: https://www.google.com/search?q=the+unsung+jesus&rlz=1C1GCEA_enDE866DE866&oq=the+unsung+jesus&aqs=chrome..69i57j69i60.5190j0j15&sourceid=chrome&ie=UTF-8#fpstate=ive&vld=cid:f6e350a2,vid:hksKWyQ-Jhg), aber er begegnet ebenso bei John Bell, der inspirierende zeitgenössische liturgische und Liedkompositionen schafft (vgl. dazu: https://network.crcna.org/topic/worship/general-worship/unsung-jesus).
Miserikordias Domini, 23.04.2023, 1. Petrus 5, 1 - 4, Stadtkirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Miserkordias Domini - 23.IV.2023
1.Petrus 5, 1 - 4
Liebe Gemeinde!
Eigentlich bin ich hin- und hergerissen von solchen Abschnitten der neutestamentlichen Episteln, in denen Fragen der Gemeindeordnung und Ämterstruktur, in denen Fragen der Verfassung und Leitung der Kirche in apostolischer und nachapostolischer Zeit behandelt werden. …
Sind derartige Erörterungen der eigenen Gestalt nicht bloß Beispiele für das, was uns kollektiv verdirbt: Die dauerhafte Selbstbeschäftigung? Überall - vom Einzelnen bis zu den großen staatlichen Gemeinschaften - scheint der wichtigste Gegenstand ja immer nur im Hervorheben der eigenen Bedürfnisse und eigenen Bedeutung und im Verbreiten des eigenen Bildes zu bestehen! Außer „mir“ - allenfalls „uns“ - gibt es nichts entfernt vergleichbar Wichtiges.
Ob Minderheit oder Weltmacht: Immer fixiert man sich auf … sich.
Wenn dann auch noch die Kirche Nabelschau betreibt, wenn sie meditiert und theologisiert, was sie selber darstellt, … ist dann nicht ihre ekelerregende Überflüssigkeit bewiesen: Ein System, das um sich selber kreist; ein Konstrukt, dem es um Selbsterhalt geht; eine geschlossene Gesellschaft, die sich selbst in Verliebtheit und Verteidigung mehr als genügt? …….
Dass diese perverse Gestalt der Autonomie – „Mein Daseinsgrund und mein Gesetz bin ich allein“ – auch in kirchlicher Fassung existiert, skandalöse Schlagzeilen macht und eine anti-kirchliche Reaktion hervorgerufen hat, die die katholische wie evangelische Landschaft in eine gigantische Gletscherschmelze verwandelt, lässt sich nicht leugnen.
… Doch gerade die schonungslose Infragestellung des Daseins der Kirche zwingt sie nun einmal, nach sich selber zu fragen: Wenn die Austrittswelle, … wenn die weitgehend schmerzlose Auflösung der Verbundenheit mit dem Glauben und der Verwurzelung in ihm, … wenn die vielen, zu Recht zornigen Brüche mit einer unbelehrbar missbräuchlich scheinenden katholischen Hierarchie, … wenn die beflissene Anpassung der evangelischen Kirche an den a-religiösen, zeitgeistigen Mainstream, den sie wie hypnotisiert fördert und der sie jetzt schon davonspült, … wenn sich diese Entwicklungen weiterhin fortsetzen sollten, dann wird es in allzu naher Zukunft nichts mehr geben, wonach man fragen müsste, wenn man von der „Kirche“ hört.
… Diese „Zeitenwende“ aber, dieser Wandel in Klima- und Kulturgeschichte der Menschheit, wäre ein Abbruch, den man sich nicht vorstellen mag. Und darum ist es – bei allem Vorbehalt gegen die Selbstbespiegelung, bei allem Befremden, das Fragen nach dem Amtsverständnis und der Funktion kirchlicher Autorität bei uns auslösen – nötig und heilsam, dass der heutige Hirtensonntag uns diese Gegenstände nicht erspart!
Solange es eine Kirche geben wird und soll, solange wird man in ihr nicht nur auf spontane Erleuchtungen, charismatische Verkündigung und unmittelbare innere Bewegungen zu achten haben, sondern auch auf den gegebenen und bleibenden Dienst, durch den die Gegenwart des Auferweckten und die Gaben des Geistes äußerlich gefasst und gesammelt werden, um nicht einfach zu verwehen und sich zu verlieren.
Fassung und Sammlung sind also die Funktion, die die Kirche erfüllen muss: Zusammenhalt und Verbindung.
Dass das die Aufgabe des Kelches ist und nicht sein Inhalt, … dass es die Rolle des Rahmens oder der Bühne samt Vorhang ist und nicht das Bild oder das Stück selber, … das ist deutlich.
Die Kirche ist nicht das Licht, sondern sein Docht; sie ist nicht das Feuer, sondern der Kamin; sie ist nicht die Helligkeit, sondern die Öffnung in der Wand, durch das diese dringt.
Docht und Herd und Fenster an sich sind sinnlos, wenn nicht an ihnen, in ihnen und durch sie ein Anderes seine Wirkung entfaltet. … Und doch sind sie unverzichtbar, wenn es nicht dunkel und kalt und der Mensch kein Geschöpf der Finsternis sein soll.
Nun hat Jesus uns allerdings gewarnt (Joh.9,4): „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.“
Darum sage ich wieder, was ich letzte Woche schon sagte und vielleicht vor allem anderen immer weiter sagen werde, so lange wir noch die Kirche haben: „Eine Welt und ein Leben, die nicht durch den Glauben an Jesus Christus erleuchtet wären, … eine Gesellschaft, einen Alltag, in denen Seine Liebe nicht gegenwärtig und Sein Reich nicht unsere Hoffnung wäre, … das kann und das will ich mir nicht vorstellen! Es wäre zum Fürchten. Es wäre die Hölle.“
Ich sage das nicht aus Schwarzseherei.
… Im Gegenteil. … Wegen der Hellsichtigkeit, wegen des Glanzes, die da strömen, wo Jesus Christus unter uns wahr- und ernstgenommen und angebetet wird und durch unsern Dienst auch Andere das rettende, verwandelnde und lebenspendende Licht erfahren können, das in Ihm strahlt.
Dieses Auffangen und Weiterleiten des Lichtes, dieses Fassen und Sammeln, Zusammenhalten und Verbinden ist das Wesen der Kirche. Es sind Funktionen des Hütens, des Behütens und Beschirmens: Von Strahlen, die verbunden stärker wirken als zerstreut, … von Lebewesen, die gemeinsam sicherer sind als versprengt, … von Menschen, die gesammelt mehr teilen können als in ihrer Vereinzelung.
Die Kirche sammelt und hütet das Licht und die Lebenden. Darin hat sie ihr Amt, darin gründen ihre Ämter. ——
Hatten wir zunächst also den Verdacht, dass Selbstreflektion oder Meditation der Ämter der christlichen Gemeinschaft reine Selbstbespiegelung darstellt, müssen wir hier nun das Gegenteil erkennen: Wenn der Zweck der Glaubensgemeinschaft, die Jesus gegründet hat, ist, das Licht zu anderen zu lenken, dann dient alle sachgemäße Reflektion, alles sinnvolle Spiegeln in der Kirche nur diesem Weiterleiten, dieser Lichtführung zu denen, die sich in den eigenen Schatten vergraben oder die die Dunkelheit von Schuld und Unrecht blind gemacht hat.
Wo sie nicht so leitet, verliert die Kirche ihren Auftrag.
Wo sie in sich verharrt und um sich selber kreist, ist sie ein Mond geworden, den keine Sonne mehr erleuchten wird, weil er sich aus der vorgegebenen Bahn um den großen anderen Körper - die Erde, die Menschheit - herum gelöst hat und also nicht mehr zum Abglanz des wahren Lichtes für alle dienen kann.
Leiterin und Lenkerin für das Licht von Gott und die Lichtsuchenden der Erde muss sie sein. … Darüber hinaus, rein an sich ist sie nichts. Bedeutungslos. Überflüssig. Man soll die Kirche vergessen und verlassen, wenn sie nicht mehr Menschen zu Gott versammelt und umgekehrt das, was von Gott kommt, nicht mehr zu den Menschen fließen lässt. ——
Wenn jemand also ein Amt in der Kirche hat, wenn Du in ihr Kräfte, Zeit und Gaben einsetzt, dann gibt es eine ganz schlichte Theologie der mit den Aposteln begonnenen Dienstordnung: Wer sich dabei dient, dient nicht! Was an unserm Tun aber anderen gilt, das gilt!
Das klingt natürlich doppelt ungewohnt in unseren Ohren: Man soll das finden, was einem selber guttut, heißt es all-, überall. Und deshalb darf’s nicht darum gehen, den Maßstab seiner Zufriedenheit bei anderen zu suchen, sondern ganz allein und ausschließlich bei sich.
Darum muss aber die in der Kirche gültige Verdrehung unserer geläufigen Vorstellungen von Selbstfindung, Selbstverwirklichung und Selbstbestätigung auch als ebenso klare Warnung verstanden werden, wie sie eine schlichte Theologie begründet. Die Warnung lautet: Wer bei sich selbst anfangen will, wird mit der Kirche nichts wirklich anfangen können. Wer sich selbst sucht, kann sich hier nicht finden.
… Er möge drum nicht traurig sein. Die womöglich spannende Reise in eine Welt, die sich ganz um dich als ihren Mittelpunkt herum kristallisiert, bieten viele an. Die womöglich ziellose Fahrt in das verheißene Land, das Du selber bist, wird heute fast an jeder Straßenecke beworben. Dagegen aber ist die fraglich gewordene und in Frage gestellte Kirche ein Zeichen des Widerspruchs.
Und so sind es die Aufgaben und Rollen in ihr, ihre Funktionen und Ämter auch.
Es geht in ihnen tatsächlich um eine selbstlose, uneigennützige Blickverlagerung. Man nennt solches Sehen nach anderen Menschen, solches Achten auf ihre Lage, ihre Wege und ihre Sicherheit in der Kirche schon immer ein „Hinschauen“, ein „Nachgucken“, ob die anderen genug Licht haben, ob sie Segen erfahren, ob ihr Tisch gedeckt ist und ihr Becher voll eingeschenkt, ob ihnen Gutes und Barmherzigkeit begegnen und sie das Zu-hause kennen, in dem sie bleiben dürfen[i], … ob also die Gnade Gottes sie erfüllt.
… Nachgucken, Hinschauen: Auf Griechisch heißt das „episkopein“[ii]. Tatsächlich steckt der „Episkopat“ darin … das Bischofsamt. Aber in diesem Wort für das Achtgeben, das Petrus in seiner Ämterlehre neben dem uns vertrauteren Begriff der „Presbyter“ benutzt – der Ehrenname der „Ältesten“, die Lebenserfahrung und Herzensweisheit haben –, … in diesem Titel für die, die Rücksicht und Klugheit für Viele üben, hört das griechische Ohr ein ganz besonderes Wortfeld: „Skopein“ heißt nämlich „Sorgen“ in allen seinen Facetten: Für-Sorge und Ver-Sorgen, Vor-Sorgen und Nach-Sorgen, Sorgfalt, Sorgpflicht und Sorgsamkeit - das Können, Sollen und Mögen der Sorgenden - schwingen alle darin mit.
… Und wir heute haben dafür ein Wort, in dem die ganze Sehnsucht und Misere unserer Gesellschaft, die sich vor Erfolgssucht und Selbstsucht - was austauschbare Worte sind - nicht ausreichend umeinander kümmern mag: Wir nennen das, was Kern, Sinn und Spitze aller kirchlichen Ämter ausmacht: „Pflege“, … neuerdings auch weltsprachlich: „care“.
Alle, die Menschen pflegen – kleine Menschen und junge Menschen, Menschen mit Leiden oder Gebrechen, Menschen, denen Kräfte oder Freiheit geschwunden sind, Menschen, die abhängig leben müssen und Menschen, die schließlich sämtlich einmal sterben – … alle also, die sich um Menschen sorgen und auf sie achten, die ihnen beistehen, die sie stützen, … alle, die die Körper und die Seelen anderer Menschen ernstnehmen und auch auf schweren und trüben Wegen behüten und begleiten, stehen im Hüteamt, im Hirtenamt, im Sorgeamt … im Wächter- und im Achtungsamt der Kirche, … im „Episkopat“, dem Bischofsamt!
Das ist keine evangelische Schnodderigkeit, die die Ämterlehre des Neuen Testaments antiautoritär und mit der Floskel vom allgemeinen Priestertum einfach für unverbindlich erklärt.
Im Gegenteil: Es ist ganz und gar verbindlich - biblisch und altkirchlich und weltkirchlich verbindlich -, dass die Glieder der Kirche sich niemanden so anvertrauen und unterordnen wie denen, die jenes Hirtenamt teilen, tragen und leben, das im Zeugnis der Leiden Christi seinen Grund und seine Begründung hat.
Christus ist der Nackte und Hungrige geworden, der nach uns bettelt.
Christus ist der Verlassene und Verfolgte geworden, der uns braucht.
Christus ist der Verletzte und Verwundete, dessen Qual wir lindern müssen.
Er ist der Kranke und der Sterbende, in dessen geduldiger und treuer Pflege wir Gott den Dienst aller Dienste erweisen.
Christus ist das arme Kind und Er ist der lästige Mensch, Er ist der Verlierer dieser Weltordnung und das Opfer der sogenannten Zivilisation geworden.
Darum ermahnt uns der erste Jünger als der Zeuge der Leiden Christi, dass alle, die genug echte Menschen- und Lebenserfahrung haben, um „Presbyter“ genannt zu werden, die Gemeinde als Vorbilder weiden sollen … wobei „Vorbild“ schlicht bedeutet: Wie einen Entwurf, wie eine Einübung, wie ein kleines Modell des zum Leiden bereiten Jesus Christus. Aus freiem Willen also und von Herzensgrund. … Im Bewusstsein, dass die, die hilflos sind und bei denen Hilfe vielleicht sogar sinnlos erscheinen mag, genau die sind, in deren Schar sich der leidende Christus eingereiht hat.
Wer Gott in Christus dienen will, der kann es nur in denen tun, denen sonst nicht gedient wird.
Im ganz Kleinen. Und mit ganzem Ernst. ——
Dann aber ist es schon wieder ganz richtig und in Ordnung, dass die Kirche von unserer Welt in Frage gestellt wird.
Wenn die höchsten Ämter und die höchste Autorität in der Kirche, wenn ihr Bischofs-, also ihr Sorge-Auftrag nicht nur im Dienst der Seelsorge, nicht nur im Ausrichten des Evangeliums und dem erbauenden, tröstenden, heilenden Einsatz der Sakramente bestehen, sondern genauso im buchstäblich christustypisch Wirken von Kindergärtnerinnen und Krankenpflegern, von Obdachlosenfürsorgern und Streiterinnen für Menschenrechte, von Entwicklungshilfe und Palliativmedizin, … dann ist es wirklich nur naheliegend, dass diese Kirche befremdet.
Eine Welt, in der die Selbstsorge mehr wiegt als die Fürsorge, … eine Welt, die sich mehr für das Beenden schwierigen Lebens einsetzt als dafür, es mit jenen zu teilen und auszuhalten, die es erleiden, … eine Welt, die sich nicht kümmert um die Kümmerer, … die die verachtet, die auf andere achten, … die Geduld und Hingabe an der Seite von Menschen zur billigen Nebensache verkommen lässt, ... eine Welt, die den Wert der helfenden Hände geringschätzt und viel mehr die bewundert, die gut festhalten, was sie in Händen haben, … eine solche Welt wie unsere muss anti-kirchlich sein.
Der Christus-Typus, der in allen Ämtern der Kirche Maßstab und Auftrag ist, ist ja das Gegenbild der großen Selbstbehauptung, die diese Welt formt und feiert! ——
Dass wir in der Kirche am Christus-Typus, an der Sorge für andere Menschen in schrecklicher Weise auch scheitern und schuldig werden, ist unbestritten. …
Aber es ist dennoch das hellste Licht und die herrlichste Krone, die es für das menschliche Geschlecht geben kann, dass es in seiner Mitte immer schon und immer noch und immer weiter solche gibt, die in Menschlichkeit und Christusnachfolge sammeln, verbinden und zusammenhalten, was anderen not- und guttut!
… Warum sie das tun?
Weil sie sich selbst nicht suchen müssen. Weil sie wissen, dass sie gar nicht verloren gehen können. Weil sie ja unter der Hut des großen Erzhirten stehen, der zwar hilflos wie die Hilflosesten wurde und mit allen Leidenden alles litt und leidet, … und Der doch gerade dadurch zum Gründer der Gemeinschaft wurde, die allen hilft um Seinetwillen … und die vollendet sein wird, wenn allen geholfen ist.
Dann erscheint Er in Herrlichkeit.
Der, Der Seine Kirche für Andere sorgen lässt, weil Er für sie gesorgt hat, … Er, der gute Hirte, der mit dem Vater eins ist (vgl. Joh10,11+30).
Amen.
[i] Am „Sonntag des Guten Hirten“ (Miserikordias Domini) ist Psalm 23 ein wirkliches Leitmotiv der Liturgie, wie er es rezeptionsästhetisch ja auch im innerbiblischen Gebrauch des Bildes schon ist, das immer wiederkehrt und variiert wird … nicht zuletzt in Jesu Hirtenrede in Johannes 10, dem Evangelium dieses Sonntags.
[ii] Über die Verwendung und ämtertheologische Festigung des Lexems ἐπι-σκοπεῖν wäre eine interessante Untersuchung anzustellen. Mindestens so ergiebig wären Überlegungen zum Begriff des τυπός (Typos= „Vorbild“), der eine so wichtige hermeneutische Kategorie in der biblischen Literatur darstellt. Beide Vokabeln lassen ahnen, wie viel mehr in der Ämter-Theologie zur Debatte steht als reine organisatorische oder Verwaltungsfragen der Kirche. Ihre Ämter sind – eschatologisch begrenzte – Erscheinungen ihrer Mission und Dessen, Der sie sendet und durch sie wirkt.
Ostersonntag, 09.04.2023, Stadtkirche, 1. Korinther 15, 1 - 11, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Tag der Auferstehung des Herrn - 9.IV.2023
1.Korinther 15, 1- 11
Liebe Gemeinde!
Wenn nicht das Weinen irgendwann heute Nacht sinnlos geworden wäre, würde ich jetzt statt Ostereiern - die mir sowieso noch nie jemand richtig erklären konnte! - schön schwere, leicht birnenförmige, oben frühlingshaft sprießende und vor allem saftige Osterzwiebeln verteilen.
Denn wenn es nicht solch ein Unfug wäre, uns alle an einem österlichen Morgen gleich in Tränen aufgelöst und schniefend zu erleben, dann würde es sich heut wirklich dringend nahelegen, eine solche Zwiebel einmal Schicht um Schicht zu entmanteln.
… Auch auf die Gefahr hin, dass mancher die Nase rümpft über diesen derben Geruch, der einer offenen Garküche für Tagediebe und Seeleute in der Nähe des korinthischen Hafenvorortes Kenchreä (vgl.Apg.18,18) zu entstammen scheint, wo Paulus bei der Diakonisse Phoebe ein- und ausging (vgl.Rö.16,1): Phoebe von Kenchreä, die da die Vielen bemuttert haben wird, die von den Christen hörten, dass man bei ihnen in den Gottesdiensten tägliches Brot und Brot vom Himmel und Wein der Freude kostenlos bekommt.
Zwiebelschälen wie bei Phoebe also, die die Armen speist und ihre Gaben mit Gebeten und dem Evangelium würzt. Paulus wird es vielleicht gesehen haben, wenn die Diakonisse Phoebe von der Mitternachtsmission für die Hafenhuren und die entlaufenen Sklaven und die andern vaterlandslosen Gesellen und zwielichtigen Gestalten ihre Eintöpfe machte, und vielleicht hat er selbst kräftig zugelangt in ihrer Kirchenkaschemme in Kenchreä, ehe er wieder ins eigentliche Korinth hochlief, wo die Betuchten und Duftenden unter den Christus-Neugierigen der Metropole den komischen Apostel erwarteten, der für ihren Geschmack vielleicht ein bisschen zu sehr nach orientalischem Zwiebelatem roch.
Jedenfalls hat Paulus mit den Korinthern heute eine Zwiebel zu schälen, … die ja eine ganz besondere Gemeinde sind, … so „vielschichtig“.
Aber was ist nun des Paulus Problem? - Zwei Dinge.
Das Erste wie bei uns: Wo wir doch auch so vielschichtig sind. Wir sind ja nicht einfach nur eine Schale und ein Kern, sondern jeder von uns besteht aus ganz unterschiedlichen Rinden und Sphären und Hüllen. Wir legen uns Rollen zu und Meinungen umgeben unser Inneres; um uns wachsen im Laufe des Lebens Lagen und Ringe der Erfahrung - manche hauchzart, manche wie Leder -, die uns schützen und die wir bestimmt nicht vor jedermann entblättern. Unsere eigenen Erkenntnisse und Vorurteile, unsere Zweifel ummanteln den Seelenkern immer dichter, und wir lassen uns da nur unter größtem Widerstand schälen.
… Das ist bei beinah allen Menschen so. … Und also zunächst nicht weiter schlimm.
… Wenn nicht das Zweite dazu kommt, das für Paulus bei seinen Korinthern das größere Problem war: Der Hochmut derer nämlich, die meinen, das, was sie sich da an Polstern oder Schutzhäuten oder sonstigen undurchdringlichen Schichten auf ihrem Gemüt, ihrem Geist, ihrem Verstandesorgan – sei’s Hirn, sei’s Herz - haben wachsen lassen, das versetze sie in den Stand der Sicherheit, der Gewissheit, der unanfechtbaren Erkenntnis.
… Natürlich nichts gegen die Klugen! Nichts gegen die Weisen (vgl. allerdings 1.Kor.1,18ff)! Nichts gegen die, die ihre gutsitzenden, festgewachsenen Haltungen und Überzeugungen haben!
… Aber wenn es Ostern auf dieser Erde werden konnte, … wenn die festesten Ringe des Saturn und der Hölle sich lösen ließen, wenn die undurchdringliche Schicht, die das hauchfeine Sterblichsein vom großen Totsein da drunter trennte, … wenn das Grab aufplatzen und einen ganz eingewickelten, festverschnürten Leichnam wieder loslassen konnte, dann könnte doch auch bei uns - an sich lebendigen - Menschen sich in den erstarrten und verkrusteten Umschließungen unserer Menschlichkeit etwas häuten, etwas lösen?!
Da war Paulus allerdings bei den Korinthern an die falschen Adressaten geraten.
Sie waren nicht gewillt, sich ihre schönen engen Denkmuster und Verständniskategorien, die sich den eigenen Lebensgewohnheiten ja auch so organisch anschmiegten, aufbrechen zu lassen. Von diesen zähen Vorurteilen aber hatten sie im Blick auf das Evangelium des Paulus ebenfalls zwei, die ihnen besonders im Weg standen. Das eine war die gebildete Voraussetzung des gesamten späteren Griechentums: „Hauptsache der Geist! … Der Rest ist Beiwerk.“
Und die andere Überzeugung, die bei den Korinthern - diesen temperamentvollen, polyglotten Großstädtern - saß wie eine zweite Epidermis: Es gibt nichts, was es bei uns nicht gibt.
Aus beiden Grundsätzen folgte für die Korinther aber ungefähr genau das, was auch bei uns die festeste Schicht um unser Weltbild ist: Sterben ist leiblich. Und wir haben noch nie einen gesehen, der von den Toten auferstand.
…. „Dr. Hegel, übernehmen Sie!“
„… Na schön.
- These: Tod betrifft erkennbar den Körper.
- Antithese: Es ist nicht bekannt, dass es dazu eine uns glaubwürdig scheinende Ausnahme gäbe.
- Synthese: Aber unser Geist, der kann doch was! Also ist Auferstehung eine Sache in unserm Kopf, … und dann können wir ja wohl sagen: Bei uns läuft’s!“
Das war die korinthische Sondertheologie: …Ob unten am Hafen, in der Suppenküche bei Phoebe, wo die knurrenden Mägen und der schmatzende Lebenshunger der Armen hinströmten, das ist nicht so sicher, … aber oben in der Stadt, bei denen, die besonders gern den ätherisch-ästhetischen Apostel Apollos hörten, der - huch! - so gebildet sprach, weil er ja aus Alexandrien stammte - der Sorbonne + Silicon Valley der Antike (vgl. Apg.18,24;19,1; 1.Kor.1,12;3,5;4,6) -, da steht es fest: „Auferstehung ist geistig und so vollzieht sie sich mental an uns schon jetzt!“ (©Apollon) …..
Das ist ein Stöckchen, über das so ein Apostel erst einmal springen muss.
…Nun war Paulus viel zu klug – auch wenn er nicht aus der alexandrinisch-hellenistischen Kaderschmiede stammte, sondern ganz traditionell in Jerusalem studiert hatte –, um in dieser Sache Plattitüden zu verbreiten.
Das ganze, völlig unerschöpfliche 15.Kapitel des 1.Korintherbriefes – und einen längeren Diskurs hat Paulus nur der Frage nach der Hoffnung des christuskritischen Teils von Israel gewidmet (vgl. Rö.9-11)! – entfaltet seine feinsinnige und unzweifelhafte und gerade deshalb viele unserer Fragen offenlassende Gewissheit, dass die Auferweckung aus dem Tod die Mitte und die Substanz und die Dynamik und das unbegrenzbare Potential des Evangeliums ist!
Einen Nachweis der Folgerichtigkeit und Schlüssigkeit des Auferweckungsglaubens führt er darin aber genauso wenig wie er sich etwa in Erklärungen versucht, wie das Unbegreifliche begriffen werden könne.
Auferweckung ist DIE Wundertat Gottes schlechthin, und weder der, der sie verstanden haben will, noch jener, der sie sich als innere Erfahrung zuschreibt, wird Gott jemals dadurch gerecht, dass er beansprucht, dieses unvergleichliche Tun Gottes überprüft, für physikalisch und /oder intellektuell solide befunden zu haben und es darum auch persönlich bei sich zulassen zu können.
Wie Paulus stattdessen ansetzt, hat mit den Schalen und den Schälungen zu tun.
Man könnte es auch die Methode nennen: „Wie wäre es, wenn wir einmal nicht dem Geheimnis der Gnade Gottes auf den Grund gehen wollten, sondern fragen, was wohl in uns der Punkt ist, der nicht weiter entfaltet werden kann, … der Punkt, an dem es gut ist?!“ —
Den Weg zu diesem Punkt, an dem alles bei uns ansetzt und mit dem dann alles einst eben auch seine Bewandtnis haben wird, geht Paulus zwiefach am Beginn des großen Auferstehungskapitels. … Schicht für Schicht.
Und wir gehen beide Durchgänge jetzt auch kurz nach, … in umgekehrter Reihenfolge.
…Paulus scheut sich nämlich nicht, auch die eigene Entblätterung vorzuführen (vgl.1.Kor.15, 8-10).
Das dürfte die Korinther besonders interessiert haben, denn von diesem Apostel gab es ja zahlreiche, pikante, provozierende Gerüchte. Ihn „vielschichtig“ zu nennen, wäre geradezu untertrieben: So viel wussten die Korinther, die das allerdings faszinierend gefunden haben dürften, weil es ihrem eigenen Selbstbild des Extraordinären immerhin schmeichelte.
Und so deckt Paulus also auf:
- Ja, ich, der weltreisende Pionier des Evangeliums bin ein Nachzügler.
- Ja, ich, der globale Apostel verdiene diesen Titel - den Titel eines Amtes, in das Jesus die Zwölfe berief, zu denen ich nicht zählte - streng genommen gar nicht.
- Ja, ich, der unermüdliche Gemeindegründer habe als ein Gemeindezerstörer angefangen, … es ist alles wahr!
- Ja, ich, der erfinderische, zähe, volldampf-fahrende Einzelgänger, der gegen unermessliche Widerstände die Mission unter den Heiden ganz allein betrieben hat, bin innerlich eigentlich so hilflos und unfähig wie ein lebensunfähiger Embryo.
… Aber egal, welche Seite aller dieser Widersprüche, egal welche Schicht meiner Leistung und meiner Selbstkorrekturen ihr da abzieht, egal, was auch immer man an meinen vielen unregelmäßigen Entscheidungen und meinen eingefleischten Eigenarten noch runterpellt, bis ich ganz blank bin: Glaubt mir, wenn ihr bis auf die innerste Zelle gestoßen seid … ihr findet dort keinen stringenten Leitfaden, kein selbstverständlich nachzuvollziehendes Muster, … ihr findet da schlicht … Gnade! … Nicht mich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist, kann man da in der Mitte aufdecken. … Durch diese Gnade Gottes bin ich, was ich bin! ——
Und wenn ihr nun neben dem Boten auch die Botschaft einmal bis in ihr Inneres freizulegen versucht (vgl. 1.Kor.15, 5-7), dann werdet ihr Schale um Schale, Lage um Lage ebenfalls wieder durchdringen, tiefer, tiefer durch die akkumulierten Zeugen, die Überzeugten und ihre lebendigen Überzeugungen:
- Die Erfahrung aller Apostel umschließt das Evangelium wie eine durchsichtige Membran - auch die lebendige Ostererfahrung des dem Paulus so reichlich unsympathischen Jakobus –
- dann die kräftige Schicht der Begegnung von fünfhundert Gläubigen auf einmal in der Urgemeinde von Jerusalem mit dem Auferweckten;
- darunter die einzelnen Gewebelagen, durch die die galiläische Jüngerschar nach dem Riss des Todes aller wieder mit ihrem lebendigen Meister zusammenwachsen durften;
- und schließlich die empfindliche, wie aus reinster Seide gewobene Haut, die auf der rohen Wunde des Kephas - des Petrus, der ihn verleugnet hatte - mit der Auferweckung der Herrn auch seine Heilung wurde;
- … zuletzt aber treffen wir im Allerinnersten - wie wir wissen und eben hörten (vgl. Lk.24, 1-12), auch wenn Paulus es offenbar nicht zu berühren wagt - auf die allerfeinste Schicht: Die Keimzelle des unaussprechlichen Osterglücks der Frauen, die als Erste erfuhren, dass der Lebendige nicht bei den Toten gesucht werden kann, weil er auferstanden ist (vgl.Lk.24,5f). ———
Das ist die Zwiebel, die wir heute alle schälen können, Lage um Lage, Schicht um Schicht.
Obwohl das Weinen irgendwann in dieser Nacht überflüssig geworden ist, können einem dabei die Augen wahrhaftig tränen! … Und übergehen, wenn wir so bis in das Herz des Ganzen vorgedrungen sind.
Was aber finden wir dann dort? … Nun, nicht die Erklärung, die den Korinthern den für sie - wie für uns ja auch so oft! - unvorstellbaren Vorgang der Auferweckung Jesu von den Toten nach ihren Voraussetzungen plausibel machte.
… Das Wie eines Wunders - wenn es denn mehr als ein geistiger Vorgang sein sollte -, ist ja aber auch tatsächlich niemals des Pudels Kern. Die bloße Näherbestimmung - „Wie?“ - würde den Glauben ihrerseits auch überhaupt nicht tragen. Sie würde nur das Wissen bedienen, das dann doch sagt: „Aber für uns Korinther ist es ein intellektueller Vorgang, ein Symbol, eine philosophische Kategorie, die unser Weltbild erweitert … mögen die Hafenchristen, die Plebs der Phoebe in Kenchreä es auch noch so primitiv-naiv materialistisch auffassen.“
Nicht das erklärte „Wie“ liegt also im Herzen der Osterbotschaft.
Sondern das, was auch im Zentrum der ganz persönlichen Betrachtung des Paulus über den Paulus sich fand – und sich bei jedem andern Menschen ebenfalls finden würde, wenn er sich ehrlich, nüchtern und unvoreingenommen auf Herz und Nieren prüft. Trotz aller meiner Bemühungen und Leistungen und auch trotz meiner Riesenirrtümer und Verkehrtheit, muss ich doch bekennen: Nicht ich habe mich aufgeweckt. Nicht ich habe geschafft, dass ich lebe und wieder leben und immer noch leben darf. Gottes Gnade ist es, die das für mich getan hat!
Und das ist auch der innerste Lebenskern und das trostreiche Herz der Osterbotschaft: Gott hat das getan … für mich und für Dich! Dass wir leben und weiterleben dürfen und dass wir leben werden!
CHRISTUS IST FÜR UNSRE SÜNDEN GESTORBEN, BEGRABEN UND AUFERWECKT WORDEN NACH DER SCHRIFT.
In diesem einen Satz ist die Gnade aller Zeiten:
Es war - nach der Schrift - VON ANFANG AN G N A D E .
Es ist es IN DER GEGENWÄRTIGEN, GESCHICHTLICHEN ZEIT der Welt geschehen aus reiner G N A D E .
Und es ist für unsere Sünden geschehen – damit wir also IN ZUKUNFT UND AUCH IN EWIGKEIT durch diese G N A D E leben dürfen.
Das ist die Mitte.
So predigen wir. So habt ihr geglaubt.
Das ist das Zentrum.
Dadurch werden wir selig, wenn wir’s so festhalten wie es uns verkündigt ist, … es sei denn, dass wir’s umsonst geglaubt hätten.
Wenn wir nach der Erklärung des Wunders aller Wunder fragen, wenn wir der Gnade also partout auf den Grund kommen wollen, dann stoßen wir an diesem Grund auf … das Wunder Gnade!
Wo alle Schichten weg sind, … alle engeren und weiteren Begleitumstände abgeschält, da ist sie das reine Innenleben unseres Glaubens.
Und ganz genauso … nein, wohl noch viel mehr auch seine Kraft im Sterben und über den Tod hinaus.
Heute vor 78 Jahren wurde Dietrich Bonhoeffer für diesen Glauben hingerichtet.
Für ihn war das der Anfang des Lebens[i].
Er hat noch viel knapper und verdichteter als wir bisher in einem Predigtentwurf zu 1.Korinther 15 das alles, was das Tiefste und Entscheidende ist, im beinah atemlosen Telegrammstil so festgehalten:
„Christus der Auferstandene allein der Beweis, weil in ihm Gott an uns handelt, weil alles an Christus für uns ist und für uns geschieht. Seine Liebe, Vergebung, Gerechtigkeit, Auferstehung – für uns! Ist Christus mit Leib und Seele auferstanden, so hat Gott das für uns getan, Tod für uns zerbrochen, unser Leib und Seele der Auferstehung teilhaftig. Lebt Christus, so leben die Toten. Denn Christus für uns lebendig und tot. Auferstehung Christi kein Problem.“[ii]
Amen.
[i] Vgl. zu Bonhoeffers letzten überlieferten Worten „Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens“: Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer – Theologe. Christ. Zeitgenosse, München 1967, S. 1037.
[ii] Dietrich Bonhoeffer, Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935-1937, hgg.v. O.Dudzus, J.Henkys u.a., (DBW Bd. XIV, Gütersloh, 1996 – S.356): stenographische Mitschrift eines Predigtentwurfs nach vorangehender Besprechung zu 1.Korinther 15,12-19 im 1.Kurs in Zingst und Finkenwalde von April bis Oktober 1935.
Karfreitag, 07.04.2023, 2.Kor.5,17-20, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
Karfreitag – Ostern: diese Feiertage sind auf unserem Kalender deutlich hintereinander gesetzt. Und wir haben uns daran gewöhnt, dass jeder Tag für sich betrachtet und bedacht wird. Karfreitag – da geht es eben traurig zu, keine Blumen auf dem Altar, sogar die Glocken schweigen. Wie könnte es auch anders sein, erinnern wir uns doch an den Kreuzestod Jesu. Ostern – da feiern wir das Leben, singen fröhliche Lieder; denn der Tod hatte Jesus nicht halten können.
Aber eigentlich ist diese Aufreihung der Feiertag nur eine Notlösung. Geboren aus dem Drang, die Schrift erfüllt zu sehen. Im Tiefsten geht es immer um ein Fest. Karfreitag, das leuchtet sofort ein, gibt ohne Ostern überhaupt keinen Anlass, etwas zu feiern. Aber Ostern ohne die Erinnerung an Leid und Tod wäre nur ein beliebiges Frühlingsfest. Karfreitag und Ostern – sie gehören zusammen wie die zwei Seiten einer Medaille. In den Erzählungen der Evangelien können wir davon einiges finden, wenn es bei Matthäus heißt, dass sich im Augenblick des Todes Jesu die Gräber vieler Heiliger öffneten und der Vorhang im Tempel mitten entzweiriss. Osterzeichen am Karfreitag. Und umgekehrt auch: bei Johannes spielen die Wundmale eine ganz wichtige Rolle bei der Begegnung des Auferstandenen mit seinen Jüngern. Karfreitagszeichen am Ostertag.
Karfreitag und Ostern, der Aufstand des Lebens gegen den Tod, neues Leben im Angesicht des Todes. Weil beides untrennbar zusammengehört, hat es Sinn, den Karfreitag, nein, nicht zu feiern, aber ihn auszuhalten und sich mit dem, was da in der Bibel erzählt wird, auseinanderzusetzen. Was also ist an jenem Freitag vor fast 2000 Jahren geschehen?
Da fanden vor den Toren Jerusalems auf einem dafür schon berüchtigten Platz – der Schädelstätte / Golgatha – drei Hinrichtungen statt. Zwei der Verurteilten waren wohl bewaffnete Widerstandskämpfer, die die römische Besatzungsmacht mit Terroranschlägen herausgefordert hatten. Konnte man bei diesen beiden noch die Hinrichtung als berechtigte Strafe betrachten, so sah das bei dem dritten Delinquenten ganz anders aus. Jesus von Nazareth hatte sich wirklich nichts zuschulden kommen lassen, was diesen grausamen Foltertod am Kreuz hätte nach sich ziehen können. Er war Opfer eines Justizmordes.
Verstört und entsetzt waren seine Anhänger. Wie passte das schreckliche Ende zu seinem Leben, zu seiner Botschaft von der Liebe und Güte Gottes, auf die er sich doch auch verlassen hatte? War das Kreuz nicht nur sein persönliches Ende, sondern auch die Verneinung alles dessen, wofür er mit einem Leben gestanden hatte? Doch Gottes Geist, Erfahrungen und Begegnungen unterschiedlichster Art in der folgenden Zeit ließen die Gewissheit in ihnen wachsen: die Botschaft Jesu war nicht tot zu kriegen, sie war Botschaft des Lebens; und auch er selbst war nicht von Gott verflucht, sondern er blieb Gottes Kind, Gottes Sohn auch über den leiblichen Tod hinaus, von Gott aufgehoben in neues Leben. Die Botschaft von Ostern öffnete ihnen die Zukunft.
Gleichzeitig ließ sie die „Warum-Frage“ nicht los, die ja auch heute die Menschen angesichts von Leid und Tod umtreibt: warum musste Jesus leiden und am Kreuz sterben? Im Neuen Testament finden sich die unterschiedlichsten Antworten, die die Jünger und Jüngerinnen Jesu auf diese für sie so bedrängende Frage gefunden haben. Antworten, die dem schrecklichen Tod einen Sinn geben sollen. Eine Antwort lautet: am Kreuz ist der Sohn Gottes für unsere Sünden gestorben.
Eine andere: mit seinem Blut hat Jesus das Lösegeld bezahlt und uns von der Herrschaft des Todes freigekauft. Wieder eine andere: Jesus ist freiwillig in den Tod gegangen, um die Wahrheit seiner Botschaft mit seinem Blut zu bezeugen und zu besiegeln. Und eine weitere: Gott wollte, dass Jesus stirbt, um uns so zu erlösen. Antworten, die wir Menschen heute kaum noch nachvollziehen können, die uns verstören.
Die für mich wichtigste Entdeckung der Jüngerinnen und Jünger Jesu im Zusammenhang mit seinem Tod am Kreuz ist diese: Gott ist dagewesen; er hat sein Schreien gehört, er ist seinen Tod mitgestorben, hat ihn durchgetragen in neues Leben. Während für den Apostel Paulus Jesus durch die Auferstehung zum Sohn Gottes, zum Christus, wurde und als solcher erkannt werden konnte, lässt der Evangelist Markus den römischen Hauptmann beim Anblick des gekreuzigten toten Jesus bekennen: „Dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.“ Gott – präsent im leidenden und sterbenden Jesus. Diesen Gedanken haben die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu dann weitergedacht, angetrieben vom Geist Jesu, vom Geist Gottes. Gott ist präsent, wo immer Menschen leiden. Gott hat nicht nur Mitleid, ihm tun Leidende nicht einfach leid, sondern da besteht eine tiefe Verbundenheit, eine Sympathie, ein Mitleiden Gottes in den Leidenden, der nicht das Leiden, den Tod will, sondern das Leben. Nicht der gewaltsame Tod am Kreuz begründet das Heil, sondern Gottes Leben schaffendes Handeln.
Darauf verweist uns der Predigttext. Er steht im 2.Korintherbrief im 5.Kapitel. Ich lese die Verse 17 bis 20.
„Wenn jemand zu Christus gehört, gehört er schon zur neuen Schöpfung. Das Alte ist vergangen, etwas Neues ist im Entstehen. Das alles kommt von Gott. Durch Christus hat er uns mit sich versöhnt. Er hat uns sogar den Dienst übertragen, die Versöhnung zu verkünden. Ja, in Christus war Gott selbst am Werk, um die Welt mit sich zu versöhnen. Er hat den Menschen ihre Verfehlungen nicht angerechnet. Und uns hat er sein Wort anvertraut, das Versöhnung schenkt. So bitten wir im Auftrag von Christus: Lasst euch mit Gott versöhnen!“
Versöhnung – das ist die Antwort Gottes, seine Reaktion auf die Gewaltverfallenheit der Menschen. Gott möchte eine neue Welt, neue Menschen, einen neuen Anfang mit uns. „In Christus war Gott selbst am Werk, um die Welt mit sich zu versöhnen.“
Und diesen neuen Anfang kann auch der Tod nicht auslöschen. Das ist am Christus Jesus offenbar geworden. Zwischen Gott und Mensch ist alles in Ordnung, weil Gott den Menschen in seine Arme geschlossen hat. Weil er nicht anders kann, weil das sein Wesen ist. Doch damit ist das Werk der Versöhnung nicht erledigt. Der Mensch muss diese Tat Gottes auch annehmen: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Versöhnt sein mit Gott, das heißt gerade auch versöhnt sein mit sich selbst. Sich selbst ansehen können, wie Gott einen sieht – mit allen Schattenseiten, mit all dem, was uns selbst mit uns über Kreuz sein lässt, auch mit allem Versagen, aller Schuld. Versöhnung heißt, hinsehen, annehmen und sich von Gott annehmen lassen, damit er uns neues Leben, neue Möglichkeiten eröffnet, in Zukunft anders mit uns selbst und dann auch mit unseren Mitmenschen umgehen zu können. Was die Christen in den letzten Jahrhunderten allerdings sträflich übersehen haben, ist, dass Versöhnung nicht eine Sache zwischen Gott und Mensch allein ist. Die Hinwendung Gottes, seine Liebe und Güte gilt der ganzen Schöpfung, dem ganzen Kosmos. Und er will Leben für alle und alles.
Um mit Gott und der ganzen Schöpfung in den Osterjubel einstimmen zu können, ist es nötig, dass wir all das Leid, das wir Menschen durch unser Tun und Lassen, durch unsere Bosheit oder unser Wegsehen, durch unsere Gier oder unsere Angst zu verlieren, in den Blick nehmen, all das Leiden, das wir anderen zufügen, unseren Mitmenschen, unseren Mitgeschöpfen, unserer Mutter Erde. Es werden täglich neue Kreuze errichtet – wir Menschen verursachen Leid und Tod, vergreifen uns an Gottes Schöpfung.
Der Maler Roland Peter Litzenburger hat dieses Leiden in seinen Bildern ausgedrückt. Es sind Bilder von der Kreuzigung des Lebens, der Fauna und der Flora – gemalt vor einem halben Jahrhundert.
Und Michael Jackson hat über das Leiden der Erde einen Song geschrieben – einen echten Klagepsalm, nicht nur nach dem Text, den sie im Original und mit einer Übersetzung am Eingang erhalten haben, sondern auch in der musikalischen Ausgestaltung – ein aufrüttelnder Klageschrei im Bewusstsein, in all das Leid verstrickt zu sein. „What about us!“ Was ist mit uns, was ist mit uns Menschen, mit jedem einzelnen, jeder einzelnen los?“ Der „Earth Song“ – für mich passt er einfach zu diesem Karfreitag.
„What about us?“ Was ist mit uns los? Ja, wir sind falsch abgebogen. Erklärungen gibt es viele, aber sie bringen uns alle nicht weiter. Es läuft auf Tod hinaus, wenn wir so weitermachen wie bisher. Was lässt uns innehalten und einen anderen, einen heilvollen Weg finden – für uns und die ganze Schöpfung?
Es ist das Bewusstwerden, dass diese Erde nicht einfach ein Ding ist, eine Sache, ein Planet in der Unendlichkeit des Universums, ja das nichts, was ist, für sich alleine ist, sondern dass in allem Gott gegenwärtig ist – im Guten wie im Bösen, in der Schönheit des Regenbogens wie im mit Müll bedeckten Strand am Ufer des Meeres.
Und wie im Christus Jesus damals auf Golgatha, so leidet Gott heute mit und in allen seinen Geschöpfen. Er leidet nicht nur an dem, was wir der Erde und ihren Geschöpfen Böses antun, er leidet auch an unserem Nichtstun, unserer Gleichgültigkeit. Und er bittet die Menschen: „Lasst euch versöhnen mit euren Mitgeschöpfen, mit der Erde. Behandelt sie wie Geschwister, denn meine Liebe und Güte gilt ihnen wie euch. Kommt ihnen, kommt mir zu Hilfe. Steht auf, ein neues Leben wartet auf euch, auf die ganze Erde. Alles und alle haben Anteil daran. Alles Geschaffene hat Anteil an meiner Herrlichkeit.“
Das Kreuz kann so ein Zeichen der Versöhnung sein: Gott ist zu uns herabgekommen, auf uns zugegangen; und wir suchen als mit Gott und uns selbst Versöhnte den Weg zu unseren Mitmenschen, zu unseren Mitgeschöpfen. Versöhnung braucht Mut und Wahrheit und - mit Blick auf die Schöpfung und ihre Leiden - die Bereitschaft vor allen Dingen der im Wohlstand lebenden Menschen, viele Selbstverständlichkeiten und liebgewordene Gewohnheiten daraufhin zu befragen, ob sich die Erde all das leisten kann, wenn alle Geschöpfe auf ihr noch eine lebenswerte Zukunft haben sollen. Versöhnung braucht die Bereitschaft, es sich genügen zu lassen, nicht Herr über, sondern Teil der Schöpfung zu sein.
Versöhnte Menschen – das braucht die Welt im Kleinen wie im Großen. Denn sie schaffen Bahn für Gemeinschaft, Gerechtigkeit und Frieden – in ihrer Nachbarschaft, in ihren Gesellschaften, in ihren Lebensräumen. Mit Gott versöhnte Menschen geben Gottes Frieden weiter mitten in einer von Leid und Ungerechtigkeit, von Gewalt und Tod gezeichneten Welt. Der Blick auf all die Kreuze menschlicher Grausamkeit, Gier und Gleichgültigkeit lässt sie nicht verzweifeln, denn: „Das Alte ist vergangen, etwas Neues ist im Entstehen. Das alles kommt von Gott. Durch Christus hat er uns mit sich versöhnt.“ Und so sind wir schon heute eingeladen, als diejenigen, die in Christus Teil haben an der neuen Schöpfung, das Leben, Auferstehung zu feiern und zu leben.
Amen
Karfreitag, 07.04.2023, Stadtkirche, Kolosser 1, 13 - 20, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag - 7.IV.2023
Kolosser 1, 13 -20
Liebe Gemeinde!
Stiller Tag: Tanz- und Festlos. … Nach dem Gesetz.
… Was wirklich nicht mehr angemessen ist, wenn weniger als die Hälfte der Menschen einen Glauben teilen, der heute die Stille sucht. … Eine Stille, die sicherlich nicht durch ein Gesetz kommen kann und nicht durch Freudenverbote entsteht.
… Eine Stille ist das vielmehr, die ungeachtet allen Lärms eintritt. Mitten im Artilleriebeschuss, mitten im Pandämonium von Gefecht und Bombardierung kann diese Stille entstehen: Sirenen, Alarm, Schreien, Befehle, Hilferufe, Kreischen von Maschinen- und Brüllen von Körperteilen … doch diese Stille zerschneidet es
… Die Geräusche brechen gar nicht einmal ab und doch herrscht unumkehrbare Stille.
… Das passiert immer, wenn eins der Kinder Gottes seinen Geist aufgibt.
Der Herzton, das leise, regelmäßige oder abgehackte, stoßweise Atmen der Gotteskinder ist für Ihn die wirkliche Musik der geschaffenen Welt. Wenn in dieser unendlichen Symphonie, die schwillt und rauscht und lobt und trägt, seit Er „Es werde!“ rief, … wenn in dieser uns verschwimmenden, Ihm aber herrlich durchwobenen und harmonischen Melodie eine Stimme verstummt: Für Gott steht dann im Schweigen des Nichts alles still.
Das Chaos an sich ist nämlich lautlos. „Tohu und Bohu“ ist die Totenstille, die im Nichts herrscht, weil das Nichts nichts zu sagen hat. Weil im Nichts kein Wort und keine Antwort waren, ehe Der, Der das Wort ist, es sprach … Sich sprach und jener Laut das Leben weckte. Wenn also ein von Gott ins Leben Gerufener nicht mehr atmet – ist doch der Atem der Geist, der Hauch –, … dann dröhnt wieder das Schweigen, gegen das der Lebendige anschuf. Dann durchdringt diese leblose, tonlose, loblose blasphemische Stille alles andere. … Jedes Mal, wenn das Leben in einem Kind Gottes zum Verstummen gebracht wird: jedes Mal, wenn das Licht, das in allem Beatmeten und Beseelten leuchtet, verfinstert wird. ——
Mehr als vierhundert Tage aber sind nun allein schon in unserer östlichen Nähe solche heulenden, donnernden Tage der furchtbaren Stille für Gottes Gehör, Tage der Vernachtung, der Vernichtung für Gottes Gesicht und Gefühl gewesen.
… Es kann also nicht sein, dass uns heute besonders still zumute ist!
Wir haben im Lärm – nicht etwa im Lärm des Krieges oder der Katastrophen, sondern wie-der einmal im dumpfen Blubbern unseres Alltagsschmatzens und -schwätzens – schlicht allzu gern die Stille überhört: Das Verlöschen von Leben, den Abbruch von Puls- und Herzton bei so vielen Menschen, das abrupte Schweigen ihrer eben noch lustigen, bekümmerten, beruhigenden oder verzweifelten Stimmen …….
Es kann aber schlicht keines Gesetzes bedürfen und es vermag kein Zwang zu gewährleisten, dass wir dessen nun heute, in der Ruhe des Karfreitags gewahr würden. ….. ———
Wo immer uns heute aber dennoch die Fürsorge für Mutter und Kind, … der Durst … und dann die jäh aufbäumende Vollendung des Mannes von Golgatha (vgl. Joh.19, 26+28+30) an das verdrängte Schweigen in dieser Welt heranführen, … schon da geschieht tatsächlich Sein Werk! Sein Sterben und Verstummen machen uns hellhörig für das Verstummen und Sterben der Seinen! Sein Karfreitag zieht uns in die Stille der leidenden Schöpfung. ——
KOLOSSER 1, 13 – 20
……. Wie irritiert müssen wir indes sein, wenn wir ausgerechnet in diesem geistlich und auch ethisch notwendigen Verstummen eben plötzlich einen fernen Klang, … ein Lied, einen Hymnus wahrnahmen!?
… Kann das wahr sein?
… An dem Tag, an dem die bürgerliche Gesellschaft immer noch die Vergnügungsstätten und Diskotheken und Fußballstadien schließt, wird ausgerechnet bei den Christen ein erhebendes Lied des Jubels angestimmt?
– Kann das denn sein? …….
In allen Jahren und Jahrzehnten, an die ich mich zurückerinnere, war das noch nie so! Noch nie klang es in unseren Kirchen hymnisch oder hochgestimmt an diesem Tag. … Allenfalls die durchdringende Klage der ergreifendsten Gattung unserer Kirchenmusik - der Vertonungen der Leidensgeschichte, der Passionsoratorien - konnte die Stille des Karfreitags düster oder andächtig noch eindringlicher vertiefen. Die große Generalpause nach dem „Es ist vollbracht“ in Bachs Johannes-Passion hallte unwiderrufen durch unsern höchsten, ernstesten Feiertag … selbst wenn die Musik sich wieder sammelte und ihren Schmerz fortsetzte. —
Doch heute, der Neuordnung der Predigtexte folgend, dringt aus der Frühzeit ein festlicher Rhythmus, ein inbrünstiger Sprechgesang, die starke, wiegende Melodie eines kultischen Schreittanzes durch die beinahe zwei Jahrtausende stiller Karfreitage, … Tage, an denen in Morgen- und Abendland die heilige Liturgie der Danksagung - der Eucharistie - , die sonst das Maß aller Zeit ist, schweigt.
Die allererste Kirche nämlich singt!
… Das Urchristentum Kleinasiens, in dem die jüdische und heidnische philosophische Hochkultur einander durchdringen, hat uns einen klangvollen Schatz des Lobpreises auf den ewigen Sohn Gottes aufbewahrt, der strahlt und schwingt und uns mit seinen Schallwellen in eine wachsende Kreisbewegung, in eine ausströmende Umlaufbahn trägt, die sich konzentrisch um das Kreuz und die Kirche und den Erdkreis und die Himmelsphären legen und schließlich die kristallene, verblauende, infinite Tiefe von Raum und Zeit in weiteren und weiteren Echos auskosten lässt.
Die allererste Kirche, die so winzig war wie die Flaumfeder, die ein Sperling am Tempel der Diana von Ephesus verloren hat, … die allererste Kirche, die so verloren war, wie ein jüdisches Waisenkind auf einem der Sklavenmärkte der vielgötterigen Siegerwelt, … die allererste Kirche, die so besiegt war, dass nach dem Mann aus Nazareth auch schon der Zebedäussohn Jakobus hingerichtet worden war[i] und nun der einsame Heidenapostel Paulus als Gefangener in einer Zelle saß und sein Todesurteil erwartete[ii], … diese hilflos bedrängte, hoffnungslos unbedeutende kleine Gemeinschaft des Gekreuzigten: Sie sang so sicher und so große Bögen, … sie sang so geistreich und ihre Stimme war so hell und so voll der Poesie der Erde, … sie sang mit solcher Natürlichkeit und Weisheit, … sie sang so erleuchtet und zugleich so selbstverständlich, dass in ihren herrlichen Hymnen ihr vielleicht größter Brautschatz bis auf uns gekommen ist.
Denn die Liebe der allerersten Kirche zu ihrem Herrn ist es ja, die wir heute hier, an diesem stillen Tag plötzlich aufbrechen hörten. ….
Eine unvorstellbare Gewissheit schwingt da in der Poesie der Verfolgten, in der geistlichen Improvisation einer jüdischen Sekte, die heidnische Sklaven die Freiheit der Kinder Gottes lehrte: Diese vernachlässigenswerte Minderheit ohne jeden Beweis ihrer Herkunft oder Zukunft vertraut schlicht unerschütterlich darauf, dass ihr Herr der Ursprung des Universums und das Wunder des Kosmos ist!
In Ihm findet sie die Garantie nicht nur für ihre Bewahrung, sondern für die Harmonie aller Dinge!
Ihn betrachtet und bejubelt sie als den Meister und das Meisterwerk, von denen allen Dingen, Wesen und Wirklichkeiten Form und Gehalt zukommen.
Ihn verehrt und verherrlicht sie als unverrückbaren Fix- und unübertrefflichen Zielpunkt der Zeit, als Urquelle aller Materie und zugleich deren belebende Metamorphose:
Durch Ihn ist das Weltall entworfen und zu Ihm entwickelt es sich hin.
Dieser Jesus von Nazareth, genannt: der Christus, den Einige in der ersten Generation noch selber auf Du und Du gekannt hatten - bis sie Ihn verleugneten! -, ist auf eine packende und doch auch wie selbstverständlich für sich sprechende Weise Gottes Mittel und Gottes Zweck im großen Ganzen.
In Ihm wirkt sich die ursprüngliche Freude Gottes an allem Geschaffenen aus, durch Ihn bleibt Gottes Treue zu allen Wesen und zu allem geistig Gegebenen für immer wirksam.
In Jesus, dem Geliebten erscheint das Urbild, das sich in unzähligen Gestalten der Schöpfung ausbildet: Um ihrer selbst willen von ihrem Schöpfer Geliebte, Berufene und Verteidigte.
Und was so an Jesus zu sehen ist, das gilt universal: Gott ist mit seiner Schöpfung unlöslich verbunden. Gott kann dem Gegenstand, dem Gegenüber Seiner unendlichen Liebe darum auch kein Ende bereiten. Was von Anfang an Sein Wille war, hat in Ihm auch Ewigkeit.
Und darum ist neben dem Lebens-Durchbruch in der Schöpfung auch der Durchbruch durch den Tod vom Ursprung her mit Christus, dem Erstgeborenen verbunden: Ur-Beginn und Auferweckungs-Beginn; alles, was vor dem Tod und alles, was nach dem Tod lebendig ist, fängt mit Ihm an.
Diese fundamentale und universale Erfahrung, die aus der Bindung an Jesus fließt – die Erfahrung der alles begründenden und alles bezwingenden Gottesbeziehung, die uns in Ihm zugänglich wird – hat die kleine, schwache, ungesicherte Kirche des Anfangs zu einer kreativ inspirierten Dichtung und Deutung der Welt als christusförmig, der Geschichte als christusführend und allen Lebens bis zum Tod und über den Tod hinaus als eines einzigen Zu Christus-Findens gebracht.
Und es war ihr ernst damit, weil es Jesus Christus so ernst war und bleibt … für alle, für alles!
Das aber macht den kosmischen Christushymnus der Kolosser zum tiefsten Grund der heutigen Stille. Weil er besingt, was alles im Karfreitagsschweigen verstummt:
Alles Leben – von der Anemone bis zur Zeder, vom stummen Reich der Tiefsee bis zu sprühenden Galaxien in größter Ferne, vom Menschen neben mir bis zur unsichtbarsten Mikrobe –… alles Leben ist in Christus, ist Teil von Ihm, … und wie Er Anteil nimmt an allem Daseins, so auch an allem Vergehen.
Was auf Erden verunziert, verunstaltet, verunmöglicht wird, … was man quält, was man ausrottet, was wir Stunde für Stunde verdrängen, verlieren, vernichten in der Schöpfung, … was an Menschen versucht und verbrochen und versäumt wird - das ist alles Karfreitag.
Der Krieg ist Karfreitag.
Genozid ist Karfreitag.
Der Hunger ist Karfreitag.
Vergewaltigung ist Karfreitag.
Abtreibung ist Karfreitag.
Vertreibung ist Karfreitag.
Landraub ist Karfreitag.
Waldbrand ist Karfreitag.
Giftwolken sind Karfreitag.
Dürre und Flut sind Karfreitag.
Das winter- und das bienenlose Jahr ist Karfreitag.
Der Wahnsinn von Saporischschja, das russische, nord-koreanische, iranische Spiel mit der Bombe und die gesamte Weltzerstörungskunst der Menschen sind Karfreitag.
Jeder Tag unserer noch verbleibenden Zeit ist also ein stiller Tag vor Gott.
An jedem Tag wird Gottes Werk misshandelt, Gottes Recht gebrochen, Gottes Reich und Königsherrschaft mit einem Spottvers am Kreuz über der Welt verhöhnt.
An jedem Tag schneidet es Gott ins Fleisch, raubt es Ihm die Kräfte, treibt es Ihm die Tränen, füllt es Ihn mit Galle, wenn Er Sein schönes Gewand - die Schöpfung - von den Quälern verspielen und verscherbeln sieht (vgl. Joh.19,24), … wenn Er Seine Mutter den Waisenkindern der Welt überläßt und Seine Liebsten und Freunde mit brechendem Herzen erlebt (vgl. Joh.19,26f), … wenn Er Seine brüllende, brennende Sehnsucht mit dem Sadismus derjenigen verschärft erfährt (vgl. Joh.19,28f), für die Er doch leidet, blutet und stirbt. ——
Jeder unserer Tage und viele unserer Taten sind also eigentlich von der Stille des Karfreitag umgeben, durchdrungen und begraben, … auch wenn wir noch so geflissentlich Radau dabei machen, … auch wenn wir noch so geschäftig klappern im Weltgetriebe, … auch wenn wir noch so gemütlich vor uns hin pfeifen oder genüsslich über die Schädelstätte tanzen: … Das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung, das Haupt des Leibes wird doch geschunden, ausgeweidet, abgestochen, umgebracht um uns herum und von uns mit. …….
Stiller Tag.
Schockstarr voll aller Schrecken.
Stillstand im Schlimmen.
Stilleben unserer Eitelkeit, unserer Gier und Grausamkeit.
Und dennoch … … … …
… Was uns heute - endlich wieder! - geschieht, ist mehr als alle Stille, alles Verstummen die eigentliche Wahrheit dieses Tages, an dem jeder Krach, der geschlagen wird, und alles Geschrei und Weinen zuletzt doch nichts zu sagen haben.
Was uns heute geschieht – dass wir in die Schockstarre der Schuld und das Schweigen des Todes hinein die Kirche singen hören! –, das ist das Wesentliche des Karfreitag.
Denn gerade der Karfreitag setzt dem Schweigen ein Ende!
Wäre nur die Schöpfung dem Verderben ausgeliefert und nicht auch der Schöpfer: … Es wäre vorüber! …
Nähme allein das Werk Schaden und träfe es nicht auch den Meister: … Es wäre vorbei! …
Stürzte sich bloß der Mensch in das Unglück und den Abgrund und träfe er dort nicht auf die Gemeinschaft mit dem Menschgewordenen: … Es wäre die unendliche Nacht, die unzerreißbare Stille, die unumkehrbare Verlorenheit der Hölle! …
Doch nun hat Der, in Dem alle Fülle … - ALLE FÜLLE! - wohnt, das Unglaubliche getan: Er hat Seine Erfülltheit in die Leere getragen!
Er hat das Nichts mit Sich - dem All! - durchdrungen!
Er hat den Tod durch Sein dahingegebenes Leben unterwandert, übertroffen, verdrängt und gesprengt!
Er hat tatsächlich durch Sein Blut am Kreuz Frieden gemacht.
Und davon singt die Kirche ihren Hymnus – … diesen kosmischen Hymnus, der kein Frühlingslied und kein orphischer Gesang von den Elementen ist, sondern der Jubel der vollkommenen Erlösung, das Preislied auf die weltweite und vollständige Versöhnung dadurch, dass der Lebendige dem Tod das Recht bestritten hat, die letzte Entscheidung zu fällen.
Weil Jesus Christus sich entschieden hat, den Tod anzunehmen, kann der Tod keine absolute Macht mehr beanspruchen. Die Freiheit des Lebendigen und Seine Freiwilligkeit im Sterben haben die Gewalt der Endlichkeit gesprengt.
Jetzt herrschen Zukunft und Hoffnung (vgl.Jer.29,11)!
Und darum – diese Worte sollten wir im Katstrophenstrudel und Konfliktsturm der Gegenwart sehr bewusst hören! – … und darum sind das Ende des Krieges und die Bewahrung der untergehenden Schöpfung und die Aussichten aller Lebenden, aller Wesen entschieden!
Denn „es ist vollbracht“ (vgl.Joh.19,30)!
Christus ist unser Frieden (vgl. Eph.2,14)!
Die Welt ist mit Gott versöhnt (vgl. 2.Kor.5,19)!
… Das ist kein stiller Tag!
… Es ist der Tag, die Fülle der Gnade zu besingen, mit der Gott uns aus der Finsternis in das Reich Seines geliebten Sohnes versetzt hat, in dem wir - und alle Welt! - die Erlösung haben, nämlich die Vergebung der Sünden und den Frieden durch Sein Blut am Kreuz!
Amen.
[i] Vgl. Apostelgeschichte 12, 2.
[ii] In einer herrlichen Auslegung des Kolosserbriefes, mit der Friedrich von Bodelschwingh 1936 einen impliziten Kommentar zur Barmer Theologischen Erklärung vorlegte, thematisiert er die schon vor hundert Jahren umstrittene Urheberschaft des Paulus unter feinfühligen Hinweisen auf die Veränderungen, die gerade in einem Alters- und Gefangenschaftsbrief erwartbar sind: „Aber dann erlebt Paulus immer wieder, wie das Geheimnis Gottes, das ganz dunkel scheint, doch ganz hell wird. Er kann nicht arbeiten, aber er kann denken. Er kann nicht predigen, aber er kann beten. Er kann seine Fesseln nicht lösen, aber als ein Mensch Gottes, der auch für das Schwerste danken darf, ist er fei. Darum ist der alte Paulus von unerhörter Jugendlichkeit. Darum atmet der Gefangene Christi in der Luft herrlicher Freiheit. Von hier aus wundere ich mich nicht, daß die Fragestellungen und Gedanken in diesem Brief etwas anders sind, als sie in den aus der Freiheit und aus voller Arbeit geschriebenen Briefen an die Galater, die Römer und Korinther klingen. Ich wundere mich nicht darüber, daß der alte gefangene Mann, über dem das Geheimnis Gottes ist, mehr als früher seine Blicke richtet auf das Geheimnis und die Fülle des Christus. In der Haft ist diese große Seele still geworden. Sie hat gelernt, daß das Handeln Gottes nicht in den kurzen Wellen verläuft, die an der Oberfläche unserer kleinen Lebens- und Arbeitsgeschichte sichtbar werden. Von der kurzatmigen Betrachtung der Kirchengeschichte, in die wir immer so leicht verfallen, ist er gründlich frei geworden. In der heiligen ὑπομονἡ (Geduld), in dem Drunterbleiben unter der Last, und in der lebendigen Hoffnung, die ihn, allen Hemmungen der Gegenwart zum Trotz, erfüllt, atmet er in dem langen, ruhigen Rhythmus göttlicher Geschichte. So redet er zu seiner Gemeinde und zu uns von dem Geheimnis und der Fülle Christi in der Heilsgeschichte“ (Friedrich von Bodelschwingh, Das Geheimnis und die Fülle Christi in der Heilsgeschichte nach dem Kolosserbrief, Bethel 1936, S. 5f).
Gründonnerstag, 06.04.2023, Stadtkirche, Lukas 22, 39 - 46, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Gründonnerstag- 6.IV.2023
Lukas 22, 39-46
Liebe Gemeinde!
Was ist los? – Immer wieder behaupte ich doch, man solle die Bibel am liebsten das Buch „Fürchte-dich-nicht“ nennen ….. – und dann bricht sie derart in sich zusammen?!
….. Statt des fundamentalen Trostes, statt der grundlegenden Ermutigung, die wir in ihr suchen, lässt sie uns an diesem kritischen Abend völlig im Stich! Wenige Stunden vorm schwärzesten Tag im Kirchenjahr, zu einem Zeitpunkt, an dem wir Christen - wenn überhaupt - zur Feier des Heiligen Abendmahles kommen, um dadurch gestärkt und angesichts der morgigen Erschütterung vergewissert zu werden, stürzt die mühsam aufrechterhaltene Fassade ein: Jesu letzter Weg ist kein Vorgang - kein Vorangehen -, bei dem man vertrauensvoll nachfolgen könnte, …gewiss, dass sein Geleit unser Schutz sein werde.
….. Das Gegenteil zeigt sich heute in bestürzender Nacktheit.
Es ist wie immer, wenn Vorbilder oder Autoritätsfiguren entmythologisiert werden: Der vermeintliche Saubermann erweist sich als heimlicher Schmutzfink; der gefeierte Held ist in Wahrheit ein notorischer Versager; die tadellosen Mustermenschen verstecken ihre Webfehler offenbar nur geschickter als die, denen man die Risse, Narben und Nähte sofort ansieht. Doch wenn irgendwann die Defizite nicht mehr zu vertuschen sind und die Skandale ruchbar werden, dann ist die Enttäuschung umso größer! … Auch hier war also kein Verlass!
… Auch Du, mein Herr Jesus – … Du „Menschensohn in seiner Herrlichkeit“ (Matth.25,31), … Du uranfängliches, ewiges „Wort, das bei Gott war“ (Joh.1,1) –, bist also schlicht ein Schisser?! …
Um diese Frage geht es tatsächlich, wenn man die auf das Abendmahl folgende Szene am Ölberg beim Evangelisten Lukas verfolgt.
Was Lukas vom Leidensdruck und Gebetskampf Christi im nächtlichen Hain erzählt, in dem noch heute knorrige Bäume stehen, die uns - wenn wir die Sprache der Pflanzen nur besser verstünden - berichten könnten, wie es eigentlich gewesen, … das ist einer der umstrittensten Züge der Passion.
Lukas berichtet nämlich von einer so schwachen Stunde des Herrn, dass es mehr als erstaunlich erscheint, ausgerechnet beim einzigen Heiden unter allen Zeugen des Neuen Testaments so schonungslos die Hinfälligkeit des Erlösers aufgedeckt zu sehen. Griechische Götter leiden nicht - jedenfalls nicht physisch -, und wenn griechische Halbgötter Prüfungen und Qualen ausstehen müssen, dann erweisen sie sich als Heroen.
Der griechisch-sprechende Arzt Lukas aber weiß, dass der Mann aus Nazareth, dessen armselige Geburt im Viehtrog ebenfalls nur er überliefert hat, kein mythischer Held ist. Was immer Rudolf Bultmann sich unter der Entmythologisierung vorstellte, haben die biblischen Autoren jedenfalls längst vor ihm schon ähnlich begonnen und besorgt: … Projektionen des Idealen, symbolische Überdehnungen und Überschreitungen des Realen schienen ihnen im Blick auf denjenigen, in dessen Fleisch und Blut sie auf Gott stießen, nicht hilfreich. … Ein Kind mit Zauberkräften, ein körperloser Himmelsbewohner, ein die Materie nur transparent durchströmender Geist[i] - wie apokryphe Lehren und Legenden sie aus Jesus formten -, sind den vier biblischen Evangelisten durchweg fremd. … Jesus isst und weint und zürnt und schläft nach ihrem Zeugnis wie alle Sterblichen, er dürstet, spuckt und streichelt, er nimmt in Tempel und Synagoge am Kultus teil wie jeder andre vom Weibe geborene Mensch auch.
Jesus ist echt. … Er bedeutet nicht … er ist!
– Diesen Grundsatz sollten wir uns merken.
Lukas, der Arzt allerdings hat diese Realität, diese Menschenwirklichkeit, diese physische Greif- und darum auch Angreifbarkeit Jesu im Heulen und Zähneklappern an der Schwelle zwischen Gründonnerstag und Karfreitag - zwischen letztem Festmahl und letztem Atemzug Jesu - in zwei Versen so ungeschönt benannt, dass es schon den frühesten Kopisten des Neuen Testaments anstößig schien, seine Worte und die von ihnen beschriebene Wirklichkeit zu überliefern.
In einem besonders bedeutenden und berühmten Codex – dem Sinaiticus, der auf romanhafte Weise im Katharinenkloster entdeckt wurde und die älteste vollständige Abschrift des Neuen Testaments darstellt – sind die fragliche Vers enthalten, wurde aber von einer späteren Hand vorsichtshalber gestrichen und dann erst von dritter Seite wieder eingetragen[ii].
Worum es geht? – Zwei Begriffe, die im Neuen Testament einzig hier stehen: „Schweiß“ und „Agonie“.
Beide dieser schonungslos körperlichen Phänomene hat Lukas als Wesen und Wirkung der grauenhaften Angst Jesu vor den Schmerzen des Todes benutzt. … Und gerade den griechischen Gläubigen und Theologen schienen das dann doch zu drastische Vorstellungen im Blick auf den geistgesalbten und verklärten Herrn. Es sind eher die westlichen und afrikanischen Kirchenväter, deren Predigten und Auslegungen auf die Verse vom fieberhaften Angstanfall, vom klatschnassen Schüttelfrost der Panik Jesu zu sprechen kommen[iii].
Unverkennbar unerfunden jedenfalls, viel zu echt, um fiktiv zu sein sind diese Details aus Gethsemane. Sie schildern einen wahren Menschen. … So echt, dass der einzige bewusst christlich erzogene römische Kaiser, der später geradezu missionarisch diesen christlichen Kinderglauben ablehnen und im 4. Jahrhundert ein Wiederaufleben des Heidentums herbeizwingen sollte - Julian Apostata - genüsslich den peinlichen Nervenzusammenbruch Christi vor seiner Verhaftung zitierte[iv]. Kaiser Julian protegierte die Verehrung der glühenden Sonne selbst … nicht aber die eines Schwächling, der triefend in der Nacht des eigenen Untergangs auf dem Boden lag und erst von Engeln halbwegs wiederaufgerichtet werden musste.
… Und in der Tat: Auch der Zug, dass Jesus nicht völlig autonom und siegesgewiss zur Passion schritt, sondern Beistand brauchte, erwies sich für die Christen als peinlich: Ein Retter, der auf Engel angewiesen ist, deren Macht er doch so himmelhoch überragt (vgl. Heb.1,4ff) … ist das in seiner Menschenwirklichkeit nicht allzu absurd? …….
Die beiden Verse, in denen der psychosomatische Kollaps des Herrn nach seinem letzten Abendmahl begegnet, sind also wirklich unerfindlich. Noch in unserm neuen Lektionar stehen sie in doppelten Klammern: Man muss nicht über sie predigen – zu unsicher und zu verunsichernd sind diese Sätze … und für heutiges Empfinden natürlich auch zu fromm und legendenhaft mit ihrem Schutzengel-Mythos.
Dabei sind sie aber doch gerade das Gegenteil: Reine Entmythologisierung, reines Zeugnis der radikalen Menschwerdung Jesu. Reine Botschaft seiner Wirklichkeit.
Sie wollen nicht davon überzeugen, was Jesus bedeuten könnte, sondern sie zeigen, dass er wahr ist! ——
Und mit dieser Botschaft sind diese beiden Verse tatsächlich so etwas, wie die Untermauerung und Verdeutlichung des Sakramentes selber, dessen Einsetzung ihnen am Gründonnerstag unmittelbar voranging.
Jesus, der echte Mensch ist kein bloßes Zeichen, kein an sich bedeutungsloser Verweis. Sondern er selber ist die Wirklichkeit und Gegenwart, um die es geht: Wer ihn sieht, der sieht Den, Der ihn gesandt hat (vgl.Joh.12,45).
In Jesus ist Der präsent - real präsent -, Der ohne Übertragungen und ohne Übertreibungen das Leben ist, … Der die Fülle ist, … Der das Ganze, das Original, die Schöpfung, das Universale ist, … das Alpha, das Omega, … der Grund und sämtliche Entfaltung, … der Ruf und jede Antwort, … das Atom und die Unendlichkeit, … die Mitte und die Fläche, … der Ausgangspunkt und die wiederholungslose Weite, … das Korn und das Brot, die Traube, der Wein, … … … das Wort und das Leben!
Wenn alle diese umfassenden, kosmisch-immanenten und geistig transzendenten Inklusions-Versuche aber auch nur einen fernen Begriff von dem eröffnen, was die Inkarnation, was die Menschwerdung des einzigen Gottes im eingeborenen Sohn bedeutet, dann versteht sich, dass zu dem, was sie umfasst und umfängt, auch das unglaubliche Potential unserer eigenen Erfahrungen des Menschseins gehört.
… Dann ist in Jesus also ebenso präsent - real präsent! - die überschwengliche Seligkeit und der totale Horror, die Menschen erleben können:
In Jesus ist dann alles Lachen und Weinen, … alles Glück und alles Leid, … das Schweben und Stürzen, … die Leichtigkeit und das Verschüttetsein, … die himmelweite Liebe und die abgrundtiefe Angst, die in uns glühen und hausen, … das aberwitzige, widersprüchliche, farbensprühende und totgefrorene Mosaik der Emotionen, Regungen und Passivitäten der Menschenseele, ……. in Jesus ist dann alles das auch lebendig und wahr!
Wenn er tatsächlich Mensch geworden ist, dann gab es keinen Filter, der bestimmte Anteile des Menschseins bei ihm aussiebte: Was nicht heißt, dass er die Sünde - also die menschliche Ablehnung Gottes - in sich trägt, aber doch ohne jeden Zweifel erleidet er sämtliche ihrer Symptome, … alles, was sie in uns auslösen und erschweren, … alles, was sie bitter, sauer und giftig in uns machen kann.
Wichtig ist ja, dass nicht unsere Menschheit, unser Menschenleben an sich böse ist - wie die christliche Überlieferung so oft missverstanden wird –, sondern dass in uns auf der ganzen Linie eine permanente Reaktion auf das Böse herrscht, eine Reaktion gegen die Sünde, ein Abstoßungsversuch gegen das tödliche Virus der Gottfeindlichkeit, das sich in uns allen immer weiter auszubreiten versucht.
Genau aber diese Folgen unseres ständigen Dem-Gegengöttlichen-Ausgesetzseins hat Jesus getragen, erlitten und an Seinem eigenen Leibe bekämpft bis zum Durchbruch der Heilung.
… Wenn von Ihm also nur harmlose, harmonische oder symptomlose Zustände überliefert wären, wenn Er wie ein gleichbleibendes Plastinat, ein bewegungsloses Standbild lediglich das Ideal eines Menschen verkörperte, genau dann wäre Jesus für uns und unser Heil bedeutungslos.
… Was Er dagegen durchgemacht hat, das wird Er auch übertragen.
Was Er überstanden hat, das wird auch uns widerstandsfähiger machen.
Was immer Er an Mangel, an Schmerzen, Ärger und Angst erfuhr, das macht Ihn und durch Ihn auch uns kräftiger, sie zu überwinden.
Dass wir die Bibel das Buch „Fürchte-dich-nicht!“ nennen dürfen und dass wir aus ihr - aus dem Wort also - und aus dem Sakrament, das wir heute feiern, tatsächlich auch Arznei gegen die Furcht, Immunität gegen die Einschüchterung, Abwehrkräfte gegen die Todesangst gewinnen können, das liegt gerade daran, dass Jesus diese alle so leibhaftig und wirklich ausgestanden hat.
Seine Agonie und Sein wie Blut strömender Schweiß sind die realen Reaktionen in Ihm auf das, was uns von innen heraus zerstören würde: Die Gefahr, dass wir ohne Gott leben und folglich auch sterben würden, wenn es Jesu Leben und Sterben mit Gott nicht gäbe.
Der diagnostische Blick des Arztes Lukas hat genau diese Vorgänge festgehalten:
Die nächtliche Krise, in die Jesus mit Leib und Seele am Ölberg gerät, ist ein Fieber, das den Kampf um Seinen Körper und Sein Leben einläutet.
Wenn er von den weiteren Episoden dieser schrecklichen Krankheit, die die Sünde auslöst - dieser Krankheit zum Tode - verschont bliebe und darum den Kelch voll bitterer Medizin nicht bis zum letzten Zuge trinken müsste, dann könnte Er zwar davonkommen, aber Seinem Leib bliebe auch der schwerwiegende Prozess der Genesung fremd. … … … Seinem Leib, … das sind wir!
Wir, denen Er genau das heute schenkt: Sich. Sein Leben in Seiner psychosomatischen Wirklichkeit. Sein Leben, das durch die Angst und alle Schmerzen hindurchmusste. Sein Leben, das auf allen Stufen seiner organischen und seelischen Anfechtungen für jeden Menschen und jede Menschenerfahrung die Mittel zum Überleben, zur Heilung, zum vollen Heil ausgebildet hat.
Nur Er, Der unsre Angst bewältigt hat, kann unser Friede werden.
Nur Er, Der unsere Krankheit trug, kann uns gesund machen.
Nur Er, Der unsern Tod gestorben ist, kann uns das Leben schenken.
Nur Jesus, Der das nicht bedeutet, sondern Der das IST:
Opfer der grausam echten, aber auch real überwundenen Menschenangst vorm Sterben.
Dulder der schrecklich einsetzenden, aber auch endgültig besiegten Qualen der leiblichen Zersetzung.
Einziger Fall und nunmehr ewig Überlebender der unvorstellbaren, … aber auch nie mehr wiederkehrenden tatsächlichen Gottverlassenheit im Reich des Todes.
Jesus IST das.
Und das Abendmahl schenkt uns diese Wirklichkeit: Seinen Leib, Sein Leben, die wirklich heil, gesund und dadurch lebenspendend sind. ——
Darum wollen wir nun aber aufstehen und beten – wie Er es nach der Furcht- und Fieberkrise von Gethsemane den Seinen befohlen hat. Wir wollen aufstehen, beten, danksagen, Seinen Leib und Blut, Seine Wirklichkeit, Sein Leben selber empfangen und dann durch alles, was kommt, mit Ihm gehen … in den Tod, … und in die Auferstehung!
Amen.
[i] Legenden von Jesu kindlich-mirakulöser Anwendung der Schöpfervollmacht beim Spiel finden sich in den sog. Kindheitsevangelien (auch dem sog. Protevangelium des Jakobus), während andere heterodoxe Evangelien (die man früher allzu undifferenziert schlicht „gnostisch“ nannte) Jesus durchaus in mythischer, dualistischer und spiritualistischer Weise deuten.
[ii] Vgl. dazu: Hans Klein, Das Lukasevangelium (KEK I/3. 10.Aufl. - Göttingen 2006), S. 681, Anm. 10.
[iii] Vgl. dazu Joseph A. Fitzmyer, The Gospel according to Luke X – XXIV, (Anchor Bible Vol.28A) New York 1985, S. 1443, wo zu den lateinischen Belegstellen dieser Verse die Schriften von Justin Martyr, Irenäus, Hippolyt, Eusebius, Didymus dem Blinden und Hieronymus aufgezählt werden, während die großen griechischen Väter (aber auch Ambrosius), mit ihrer stärker spirituell ausgerichteten Anthropologie diese krass körperlichen Umstände im Rahmen der lukanischen Gethsemane-Perikope nicht zitieren.
[iv] T. Baarda, Luke 22:42-47a, The Emperor Julian as a Witness to the Text of Luke, in: Novum Testamentum 30, S. 289-296.
Palmarum, 02.04.2023, Stadtkirche, Johannes 12, 12 - 19, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Palmarum - 2.IV.2023
Johannes 12, 12-19
Liebe Gemeinde!
Mir ist, als müssten wir heute eine Münze über ihn werfen … über Jesus, den Nebensächlichen, … oder Jesus, den Lächerlichen, … oder Jesus, den Eigenbrötler. …….
Mir ist, als müssten wir eine Münze über ihn werfen, weil es so unentschieden offen ist, was er an diesem Palmsonntag will: Fällt die Münze mit dem Bild nach oben, nehmen wir ihn meinetwegen trotz der albernen Begleitumstände ernst; landet das Geldstück aber mit aufgedeckter Ziffer, dann können wir grinsen, es einstecken und weitergehen und lassen den gestörten Obdachlosen, der vielleicht auch noch ein bisschen beduselt ist, weiter spielen, er sei ein großer Macher, ein Boss, ein König. …….
… Machen wir uns jedenfalls … bei jedem Fall der Zufallsmünze nichts vor: Der Mensch auf dem Esel, den wir als die Attraktion dieses Tages zu sehen gewöhnt sind, fällt nicht wirklich auf im Getriebe des frühlingshaften Jerusalem, kurz vorm Passafest. Da sind viele heilige und viele unheilige Leute unterwegs, Fromme und Spinner, Menschen mit grellen Wahnvorstellungen und solche mit einer inbrünstigen Mission, rechte Israeliten, in denen kein Falsch ist (vgl. Joh.1,47) und durchgeknallte Neurotiker der Endzeitsehnsucht. Bettler wuseln zuhauf durch die Straßen, selbst die Stillen im Lande wimmeln verklärt zu den schönen Gottesdiensten in Zion (vgl. Ps.27,4c), und Parolen, Gerüchte und Wünsche erwachen mit dem Sonnenaufgang und erfüllen die Atmosphäre so durcheinander wie die vielen Leiber, bis es dunkel wird und die zahllosen Träume der schlafenden Massen kommen. … Da ist einer im schmutzigen galiläischen Handwerkerkittel auf einem alltäglichen Satteltier eigentlich gar kein Aufhebens wert.
Und tatsächlich: Ausgerechnet der Evangelist Johannes, der so viel Unvergleichliches von Jesus erfahren hat, als er an seiner Brust lag und in sein Herz hören durfte (vgl. Joh.13,13/ 21,24)) …ausgerechnet Johannes, der noch tiefer und klarer als die drei anderen Evangelisten die überirdische Erhöhung und Ewigkeit und Größe Jesu erkennen durfte, gibt uns eine Palmsonntagsschilderung, in der Jesus unverkennbar nicht die Hauptfigur ist. Er mag zwar die Mitte sein, aber an diesem Tag geht es in Wirklichkeit nicht um ihn, sondern um die Menge. Mit der fängt alles an; mit ihr hört alles auf[i]. Nur irgendwo dazwischen ist Jesus gerade noch zu entdecken: … Wie er entweder tut, was ihm von den Vielen treuherzig zugetraut wird … oder wie er unbekümmert und völlig isoliert gegen ein ins beliebig Allgemeine wuchernde Missverständnis protestiert.
Welche von beiden Rollen er aber mitten in der Dynamik der Masse einnimmt: Darüber - ist mir - müssen wir wohl die Münze werfen.
Zunächst scheint es ja sonderbar und wunderbar, wie selbstverständlich hier die Initiative von den Menschen ausgeht: Auf die Kunde von Jesu Kommen hin geraten sie in Bewegung. Weil er ihnen angekündigt, weil er ihnen verkündigt worden ist, machen sie seinen Weg und sich für ihn bereit! Das ist „Glaube, der aus dem Hören kommt“ (vgl. Rö.10,17), und diese Bereitschaft auf das bloße Wort von Christus hin, ihn selbständig einzuholen, ihm ausdrücklich Raum zu geben und ihn bewusst zu empfangen, unterstreicht welche Beteiligung, welch eine Aktivität im Verhältnis zu Gott auf Seiten der Menschen liegen kann: Johannes’ Schilderung lässt ja durchaus den Eindruck zu, dass Jesus den prophetisch vorgesehenen Esel nur deshalb auch ritt, weil die lebhafte Erwartung und das aufgeschlossene Drängen der Menge ihn dazu bewegte.
Ein Heiland zeigt sich da, der dem Heilswunsch bei den Menschen folgt, … ein Gott, Der die Gottesfrage der Welt freiwillig mit Sich Selbst beantwortet.
Das auslösende Motiv jedenfalls für den heutigen Palmsonntag ist nach diesem Verständnis bei uns zu suchen: Wenn wir Ihn wollen, kommt Gott! Wenn wir dazu bereit sind, wird die alte Heilsverheißung heute Wirklichkeit! Wenn wir – endlich! - das Reich Gottes suchen, erscheint sein König mitten unter uns!
… Paul Gerhardts schöner Vers „Ihr dürft euch nicht bemühen, / noch sorgen Tag und Nacht, / wie ihr ihn wollet ziehen / mit eures Armes Macht“ (EG 11,7) hat vielleicht doch allzu lange allzu tatenlose, willenlose, wunschlose, leblose Haltungen in der Gemeinde befördert. Es dürfte an der Zeit sein, wieder zu lernen und zu üben, dass Gott - wie Bonhoeffer es sagt (vgl. EG 813) - in der Tat „wartet und antwortet“ auf unser Beten und Tun.
Es dürfte an der Zeit sein - und ist es gerade heute! - zu erkennen, dass wir nicht in passiver Teilnahmslosigkeit verharren dürfen, als gingen uns Heil und Unheil, Leben und Tod, Zukunft oder Vernichtung schlicht nichts an. Im Gegenteil: Die Menge in Jerusalem, deren Sehnen und Harren den Messias auf die richtige Bahn brachte, deren Erwartung ihn zur Erfüllung trieb, deren Einsatz also durch seinen Einsatz beantwortet wurde, … diese ungestümen Sucher und Sänger und Palmsonntagsaktivisten dienen uns als Vorbild: Wenn uns das große und wahre Leben gleichgültig ist, weil Gott uns nicht interessiert und der Heilsplan des Schöpfers und Erlösers uns nicht juckt, dann wird nichts geschehen. Und wo nichts geschieht, sondern es bleibt, wie es ist, da geht es zuende. Unsere Rettung und die Rettung der Welt ereignen sich nur dann, wenn wir uns nach dem strecken, was da vorne ist (Phil.3,13) und zu Menschen werden, die der Kommende bewegt.
Palmsonntag ist demnach die Zeitansage für uns jetzt: Nur wenn wir es wollen, wird Der Sich auf den Weg machen, Der die Zukunft ist. Wenn wir aber bloß für uns, wenn wir also unzukünftig leben, dann bleibt tatsächlich auch aus, was wir erbitten, erhoffen, erkämpfen und erglauben sollen!
Darum aber lasst uns aufsehen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens (Heb.12,2)! … Wo man nicht aufs Vergehen setzt, da kommt Er, und wo man Ihn nicht aufgibt, da bricht Er auf! …….
Wenn also die Münze so herum fällt - die Hoffnungsseite nach oben -, … ja, dann will ich diesem König gerne dienen! Denn die Welt braucht Ihn so sehr: Den, auf Den die Hoffnung setzen kann! Den, Der Sich von den Hoffenden rufen lässt! Den, Der Selber die Antwort ist auf die Frage, ob noch Hoffnung sei?!
… Diesem König der Hoffenden will ich gehören, Ihn will ich herbeisehnen und -zwingen voll Zuversicht und Fröhlichkeit mit allen, die in Jerusalem und in Kiew, in Teheran und in Minsk, in Paris und in Odessa, in Washington und in Moskau, in Brüssel und in Luhansk, in Fatima und in Charkiw, in Sanaa und in Bakhmut den Frieden und die Versöhnung und das Leben und das Reich Gottes suchen!
Amen, … ja, komm Herr Jesus (Offenb.22,20)! ———
Doch was, wenn es ganz anders wäre, wenn die Münze durch Zufall das Gegenteil aufdecken sollte?
… Es könnte ja sein, dass die Menge, die da so frenetisch, ja fanatisch tobt und einen großen Auftritt, einen kraftvollen Auftritt herausfordert, eine ganz fürchterliche Macht beschwören will. Massen und Mengen sind ja Brutstätten und Resonanzräume ganz aberwitziger Phantasien: In der Meute fühlen sie sich stark, und als ihr eigenes Spiegelbild, als groteske Projektion der unzufriedenen Ohnmacht der vielen kleinen Leute putschen sie sich auf im Herbeigrölen eines Volkstribuns, eines starken Mannes. Palmsonntag könnte auch das Fest des losgelassenen Populismus sein. Sie skandieren: Her mit dem Helden! Heil! Heil! Heil! …
Das scheinen in den Groß- und Hauptstädten der Welt, in den aufgeklärten Gesellschaften nicht weniger als in den Diktaturen ja auch heute noch - oder heute wieder - sich sehr viele zu wünschen: Großmanns-Träume … Riesen-Rhetorik … Weltherrscher-Triumphe …
Wenn es nach den Massen ginge, dann würde der König womöglich so schlicht und dumpf, so selbst- und rachsüchtig, so brutal und skrupellos auftreten, wie Hinz und Kunz, wie Tom, Dick and Harry in ihren kühnsten Träumen es nur allzu gerne wären. … Und ob in Rom oder Peking, Brasília oder Pjöngjang, im Kreml oder der Knesset, ob durch freie Wahl oder durch erzwungene Knechtschaft: Die Stimme der Straße und das Gesetz der Einschüchterung bringen überall und immer wieder den schrecklichsten Anti-Gott und das verzerrteste Bild vom freien Menschen hervor: Den Tyrannen.
Dann aber wäre das, was die Leute herbeisehnen, … dann wäre die Gunst des Volkes unter Umständen etwas Gemeingefährliches. Und wir täten gewiss gut daran, jene, die Nerv und Nervenkitzel der Horden treffen, zu meiden.
Sollte es also eine Massenbewegung sein, die uns der Evangelist Johannes da zeigt, wo er die lautstarke Umtriebigkeit der zusammengewürfelten Festpilgerschar beschreibt, die sich in Jerusalem in Königslaune steigerte, dann vergessen wir das Spektakel am besten so schnell wie es aufflammte.
… Wenn da nicht, … ja, wenn da nicht der stumme Protest Jesu gegen die Großmannssucht und die Gewalteuphorie wäre, die die Menschheit so oft ergreifen, wenn sie nach Lösungen und Perspektiven für das Leben sucht.
„Hipp-Hipp-Hurra! … Take back control! … Lasst die KI das machen! … Rettet das Vater-land! … Hisst die Regenbogenfahne des Fortschritts! … Alle Macht für uns! … Nieder mit den Waffen der anderen! … Wir wollen alles - und zwar alleine!“, das ist so schnell, so scharf, so laut geschrien, wenn viele sich gegenseitig anfeuern. …
… Und vor tosendem Tumult sieht und hört man kaum jene kleine, graue Gegendemonstration, die da gegen die Strömung weist.
… Denn durch das große Gegröle, … durch die von ihrem eignen Chor berauschte Parade der Parolen hindurch zottelt ein lächerliches Bild:
Ein blasser Typ. … kein plakativ strotzender Publikumsmagnet.
Auf einem Esel.
Unscheinbar wie die Prosa dieser Erde.
Einsam.
Kein Spruch. Kein Versprechen.
Null Aura. … Es sei denn – wenn man ihn ganz aus der Nähe vielleicht doch wahrnähme –, dass man unterm irdisch-tierischen Dunst, den der Esel verbreitet, da noch einen Hauch von etwas anderem ahnte: Er war zwar erst kürzlich verschwenderisch kostbar gesalbt worden in Bethanien (vgl. Joh.12,3) - völlig unpassend bei einem solchen bescheidenen Allerwelts-Mann! - , aber es waren doch immer noch die gleichen Kleider, in denen er ebenfalls in Bethanien zuvor in der Tür eines Grabes gestanden hatte, aus dem bereits der unverwechselbare und unvergessliche Gestank des Todes hervorquoll (vgl. Joh.11,39).
Dieser nach Parfüm und Verwesung riechende Einzelne trottet auf seinem Esel nun aber geradewegs gegen die schaulustige und machtlüsterne Menschheit an. … Gezielt, bewusst und unverstanden zieht er – den sie an diesem Tag auf ihre Schultern gehoben hätten, um ihn hochleben zu lassen (so hoch, wie sie alle gerne immer wieder pokern und einander imponieren und dann auf jeden anderen herunterblicken würden) – … unverstanden, bewusst, gezielt also zieht er nicht zum Fest, sondern zur Fest-Nahme ein.
Er, der gegen sämtliche vitale Interessen der Machtmenschheit verstößt, hat für sich die via dolorosa gewählt: Die Schmerzensstraße, den Dornenpfad, die Sackgasse ins Grab.
Was für ein komisch-kauziger König er also sein will!
… König nicht des reißenden Lebenshungers, der die Welt in ihre Selbstzerfleischung stößt, sondern Häuptling und Vorhut der Sterbenden, … Kreuz-König, … erster und letzter Vertreter, Stellvertreter aller Verrotteten, Verlorenen, … aller, die „Lazarus“ und „Hiob“ und „Rahel“ und „Tochter Jephtas“ und „Opfer“ und „Anonyma“ und „Erde“ und „Staub“ und „Asche“[ii] heißen. …….
… O, was für ein König er auch dann sein will, wenn die Zahl, das Zeichen der Zahllosen oben liegt!
Ein König der wirklichen Mehrheit! … Ein König der stimmlosen und stummen Masse, eine König all derer, die den Palmsonntag nicht erleben - oder den morgigen Tag.
… Ein König tatsächlich für alle.
… Was für ein König!
… Wie sollten wir Ihn nicht auch so herum ernst nehmen, wenn es gar nicht an unserem Wollen und Laufen liegt (vgl.Rö.9,16), weil Er da auf seinem Esel reitet und dann zu Fuß, strauchelnd und entkräftet weitergehen wird und leiden und sterben für die, die nichts können, … nichts sind und nie mehr etwas werden werden?!
Soll Er nicht auch so mein König sein, … unser König, unser Herr?!
… So, wie wir es niemals wollen und wählen könnten.
… So wie nur Er es Sich vornehmen konnte, weil Er über alle Hoffnung hinaus einen Weg geht und ein Ziel hat: Sein Weg, den Er nicht für Sich geht, Sein Ziel, das Er nicht um Seiner Selbst willen sucht. Weil es Ihm gar nicht um Sich geht, … sondern um die Menge!
Weil Er für sie, … für alle Welt da ist und dahingeht. Und das Tiefste teilen wird.
… Und das Leben.
Weil Er der König Aller ist.
– Fürwahr: „Alle Welt läuft ihm nach!“
Ja, „wie köstlich riechen deine Salben – du König! Zieh doch auch uns dir nach … so wollen auch wir laufen!“ (vgl. Hohes Lied 1,3f)
Amen.
[i] Das gilt buchstäblich für die Perikope unseres Predigttextes, die sehr deutlich hervorhebt, dass hier nicht die Menge auf Jesus, sondern dieser umgekehrt auf die Menge reagiert, und die dann in der Feststellung seiner universalen Akklamation mündet.
[ii] Lazarus begegnet innerneutestamentlich kaum zufällig auch als der, der erst durch den Tod Linderung seines ungerechten Loses erfahren konnte (vgl. Lukas 16,19ff); der -nach menschlichem Ermessen völlig grundlos geprüfte - Hiob wiederum erscheint im Jakobsubrief (5,11) als Identifikationsgestalt der (Jerusalemer) Urgemeinde; das Geschick der unglücklichen Rahel, die prototypisch für die erschütternde Sterblichkeit der Mütter steht, beschäftigt die Bibel vielfach (vgl. 1.Mose35; Jeremia 31, 15f; Matth.2,18); Jephthahs Tochter als Opfer buchstäblich patriarchaler Gewalt (vgl. Richter 11,30ff) weist auf die „Anonymas“ voraus, die in allen Konflikten und Kriegen der Geschichte bis in unserer Gegenwart so Unerträgliches erleiden müssen.
Laetare, 19.03.2023, Stadtkirche, Jesaja 54, 7 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Lætare - 19.III.2023
Jesaja 54, 7-10
Liebe Gemeinde!
Wer durch Israel reist oder mit Hebräisch-sprechenden Menschen zu tun hat, wird an der Klagemauer oder in den Bars von Tel-Aviv eine Wendung sofort aufschnappen, weil sie allgegenwärtig hin- und herschallt, von allen uralten Mauern der Stadt Jerusalem als Echo verstärkt und mit charakteristischer Geste unterstrichen.
… Seit 3 Jahren gibt es für die, deren Textnachrichten mehr aus knalligen Bildern als komplizierten Worten bestehen, auch ein Emoji, das sofort als das jüdischste aller Handzeichen identifiziert wurde, obwohl es eigentlich ein italienisch-temperamentvolles „Ma che vuoi?“ … „Was willst du denn?“ wiedergeben sollte. … Alle mit Herz und Zunge hebräisch tickenden Zeit-genossen erkannten aber in den spitz zusammengepressten drei ersten Fingern die unmissverständliche und gleichwohl vieldeutige Veranschaulichung des Rufes „Rega!“.
… »Rega!« ist der ewige Refrain im Leben der heilsgeschichtlich und auch sonst ungeduldig wartenden Juden. Es heißt: „Mach mal halblang!“, „Augenblickchen!“, „‘n Sekunde wirst Du wohl noch haben!?“ »Rega!«: „Bleib ma’ locker! … Halt ma’ still! … Hör’ ma’ her! … Sachte mit die jungen Pferde!“ Aber genauso auch: „ …Na, komm schon! …Wird’s bald?! …Sofort! …Jetze“, wie der Berliner bollert.
»Rega!«, das ist also das Zeitwort schlechthin im jüdischen Leben. Der »Rega!« -Rhythmus ergibt die Achtelnoten, die unter allen längeren Atemzügen klopfen, das Motiv der pausenlosen Spannung und des steten Achtgebens, der Puls der quicklebendigen Geduld und der ewig unruhigen Dauerbereitschaft für das Kommende.
»Rega!«: „Ruhig Blut!“. — »Rega!«: „Ganz bald!“ …………
Diesen lebendigen Doppelsinn kann das Wörterbuch kaum hergeben. Dort finden wir רגע als „Augenblick; verschwindender Zeitmoment“ wiedergegeben[i]. Der Begriff bezeichnet also das flüchtige „Nun“, in dem alles Leben für unser Wahrnehmen besteht: Die Spanne, die da ist, bloß um zu vergehen; das Jetzige, das unaufhaltsam endet und doch allezeit fortwährt, weil wir nur diesen Atemzug, … dieses Blinken unserer Augenlider, … diesen, just während ich Luft hole sich ereignenden Schlag des Herzens haben. … Ein »Rega« und wieder ein »Rega«. … Nie mehr zugleich. … Die Sekunde des Atmens, die sich ankündigte und verflog, während ich sie noch begreifen und nennen wollte. …….
Wenn sie im Volk Gottes also immer und überall, existentiell hastig und doch auch zu-tiefst beschwichtigend »Rega!«, »Rega!«, »Rega!« skandieren, dann hören wir darin das Lebendigsein selbst. Es ist voller ausgreifender Bewegung und doch nur momentan; es wiederholt sich nie, sondern bringt immer nur winzige Punkte hervor, in denen ich lache oder leide, in denen ich Druck oder Jubel spüre, in denen es furchtbar oder selig um meinen Leib und meine Seele steht. …
Momentaufnahmen; Augenblickserscheinungen; Sekundensplitter: Der Stoff des Ganzen, die Fülle der Geschichte und doch nie mehr als ein Bruchteil, ein Körnchen, ein Brosame.
Diese seltsamen Atome, aus denen Denken und Hoffen, Erfahrung, Erinnerung und Entwürfe bestehen, begegnen uns heut, am fröhlichsten Sonntag der Leidenszeit indes nicht von ohngefähr: Steht diese Mitte des Wegs Jesu in seine Passion doch unter dem Motiv der kleinen Zelle und des spröden Keims, die sich auflösen müssen - Korn, tief im Ackerboden -, um im Vergehen aufzuhören und zugleich aufzubrechen in bleibende Frucht (vgl. Joh.12,24[ii]).
Dass es aber dieses Geheimnis gibt, … dass die berstend vollen, unruhigen Momente der Zeit nun gerade nicht für sich stehen und ihren abgeschlossenen Sinn haben, sondern noch in ganz anderer Weise bleiben und wiegen und gelten werden, … dieses Geheimnis, das in jedem Augenblick schlummert und asugerechnet im Vorübergehen, im Vergehen und Vergangen-Sein aufgeht: Davon spricht das unglaublich tröstliche Gotteswort bei Jesaja, das uns heute zufällt als Same im Acker unserer Zeit- und Lebensgeschichte.
»Rega!«, sagt Gott darin. „Momentchen!“ … „Sekunde!“ … „Ruhig Blut!“ … „Alsbald!“
»Rega!«. ……. ———
In seiner schwersten Stunde, in der die Jünger ein Verdauungsnickerchen nach dem Fest hätten machen wollen und Jesus doch das Geheimnis aller Zeiten lüftete, da hat auch er es gesagt: „Ein »Rega« noch (griechisch: μικρὸν – Mikron) und ihr werdet mich nicht mehr sehen; und abermals ein »Rega«, dann werdet ihr mich sehen. Da sprachen einige seiner Jünger: Was bedeutet das, was er zu uns sagt: »Rega« … »Rega« …?“ (Joh.16, 16f)
… Was bedeutet das, wenn Gott, Der Ewige den Augenblick beschwört?
… Was bedeutet das, wenn Jesus, der geboren wurde, als die Zeit erfüllt war (vgl. Gal.4,4), von winzigen Momenten redet, in denen so Unfassbares wie Sonnenfinsternis und Tod und Abstieg in die Hölle bevorstehen?
… Was um Himmels und der Hölle willen bedeutet das Zeitwort »Rega!«, wenn es Gott ist, Der es nutzt?
„Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen … habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, … spricht der HERR, dein Erlöser“: Da steht es zweimal bei Jesaja, im schönsten Trostbuch der Bibel.
Martin Buber und Franz Rosenzweig, der durch seine ALS-Erkrankung völlig reg- und sprachlos in der Passivität Gefesselte, haben diesen Satz unter wunderbarer Verschmelzung der hebräischen Vokabel »Rega« mit unserer Muttersprache so verdeutscht: „Eine kleine Regung lang / habe ich dich verlassen … Als der Groll überschwoll / verbarg ich mein Antlitz / eine Regung lang vor dir …“
Eine »Regung« lang: Ein Aufwallen und Abebben lang. Einmal tiefes Ein- und wieder Ausatmen. …….
So fühlt also Gott: So ungeheuer lebendig ist Sein Miterleben, … so echt, … so beteiligt und eingebunden in alles, was Seine Menschen machen und durchmachen, … so direkt bewegt, angestachelt und durchdrungen von allem Leid, das sie verursachen und durchleiden.
Jeden Moment also teilt Gott, … die scharfen Schmerzstiche, die endlos wirkenden Krisenerfahrungen, in denen etwas Zugespitztes oder ein akuter Ausbruch sich für die Betroffenen anfühlen wie eine reine, unabsehbare Ewigkeit des Erstickens, der Lähmung, der Aussichtslosigkeit. Es sind REGungen, die Gott aufwühlen und in Wallung bringen, in denen Er scharf Luft holt, in denen es in Ihm bohrt und zittert und wie übermächtig wird: … Er zuckt zurück, … es ergreift Ihn, … Er wird verletzt, … es stößt Ihn ab, wirft Ihn um, … es bringt Gott raus!
So erlebt Gott unser Leben mit, so geschieht es Gott in unserer Geschichte, so geschieht sie Ihm und so geschieht sie durch Ihn.
Doch weil Er eben kein unbewegter Gott, wie der der Philosophen ist, …weil Er ein Gott der REGungen und Rührungen ist, … ein Gott, Der nicht in Seiner Ewigkeit wie in Beton erstarrt, sondern überfließt, wenn sich die augenblicklichen, die vorübergehenden Schrecken, Enttäuschungen und Schmerzen Seiner Menschen auch in Ihm aufstauen, darum kann der lebendige und mitleidende, der zürnende und schmerzempfindliche Gott Israels diesen einzigartigen, seltsamen Widerspruch formulieren:
Ich, der Gott des ewigen Erbarmens - ICH, Der Ewige also - BIN in Deinen Augenblicken! Ich bin der Moment-Gott!
Ich bin jetzt Gott … nicht obwohl, sondern weil es sich gerade in dieser Sekunde, an diesem Tag, in dieser Zeit so gar nicht danach anfühlt! …
Er sagt damit ein Zweifaches: Ich bin nicht außerhalb Deiner Welt - Israel - Gott, … bin nicht außerhalb Deiner Erfahrungen, Leiden und Verlassenheit Gott, sondern darin, verborgen in Deinem Verlassen-Sein, berührt durch Dein Abstoßendes, auf Dich bezogen durch das, was uns trennt.
Nicht im Jenseits also bin ich Gott, sondern im Vergehenden!
Und gleichzeitig sagt dieses unerhörte Wort, in dem Gott selbst sich ins Vergängliche und Vergehende eingliedert, natürlich auch dieses: Die Katastrophen der Geschichte, die zementiert erscheinenden Leiden und Unglückserfahrungen unter uns Menschen … vergehen!
Dafür greift Gott in der Botschaft durch Jesaja, in der Zeit des als unumkehrbar empfundenen Endes Israels nicht zufällig zurück auf die enormste kosmische Katastrophe, von der die Bibel berichtet: Ausgerechnet die Sintflut, diese beinah totale Auslöschung des naturgeschichtlichen Lebensraumes der von Erde genommenen und auf die Erde gehörenden Menschen, dient als Veranschaulichung des »Rega«-Charakters, des Augenblickshaften sogar noch des im universalen Maßstab Allerschlimmsten.
Noahs Zeit war buchstäblich die Endzeit! … Und dennoch hören wir durch Jesaja: Auch die Endzeit ist bloß ein »Rega«! ———
Wie dieser Trost zu buchstabieren und zu hören ist, wenn man in Babylon im Exil schlicht-weg keine Zukunft mehr sehen kann, sondern nur dauerhaftes Nichts? … Schwer!
Und doch ist genau dieses irritierende Evangelium, dass die aussichtsloseste Tragödie und der finale Untergang bloß kurze Wimpernschläge sein sollen, in Babylon schon aufgeschrieben und mit den tatsächlich wider alle Erwartung nach Ablauf einer Generation heimkehrenden Juden in das heilige Land zurückgekommen und in die Heilige Schrift aufgenommen worden!
… Nichts an der Katastrophe, wie Jesajas restlos entmutigte und hoffnungslose Gemeinde sie erlebte, wird dadurch in Abrede gestellt.
… Aber die ungeheure Botschaft, dass Gottes „kleine Augenblicke“ das wirkliche Maß und auch der einzige Fortschritt der Zeit sind, bleibt.
Die Zeit steht nicht still!
Die Geschichte steht nicht fest!
Was immer uns endgültig scheint, ist doch bloß »Rega«!
Und wo immer etwas für uns unerreichbar oder ausgeschlossen ist, da heißt es »Rega«!
Der Druck vergeht. Die Lösung kommt.
Nichts dauert so lange, wie’s uns vorkommt, wenn wir drinstecken.
Nichts liegt so fern, dass es sich nicht überraschend und unverhofft einstellen könnte.
Und in allen diesen, währenddessen unverrückbar erscheinenden und dann doch so kurzfristig verwehenden Erfahrungen ist der Gott des Augenblicks, der Gott, Der in Schrecken, Zorn und Lebendigkeit den Moment mit Seinen Menschen teilt, dabei.
Tiefer kann und muss das Evangelium des Jesaja gar nicht bohren. Gerade dass hier ausgehalten wird, jede noch so tote Zeit, jede noch so leere und darum lähmende Sekunde des Stillstands, der Bedrohung und des Verhängnisses trotzdem noch mit Gott zu verbinden, ist ja die Kraft dieser Botschaft!
… Die Kraft, die heute bedeutet, die allgegenwärtige Endgültigkeit der aufziehenden Unheilswolken nicht als den Schatten des Todes anzustarren, sondern den Spalt des womöglich rasanten Durchbruchs neuen Lebens nicht zu übersehen.
Dass wir das in Gemeinschaft mit den Menschen, die Jesaja und Jesus durch die frohe Botschaft vom kurzen Augenblick trösteten, auch heute wagen dürfen, ist fast unheimlich!
Wer sind wir denn in unserer Sicherheit hier, dass wir vollmundig behaupten dürften, der zähe, festgefahrene Vernichtungskrieg in der Ukraine sei bloß so etwas wie ein Lidschlag? … Das siebzigjährige Dilemma des jüdischen und arabischen Zusammenlebens werde sich einst im Nu auflösen? … Unsere weltweit immer noch beinah vollständige Blockade zur Umkehr in Richtung ökologisch verantwortlichen Lebens werde sich bald als eine winzige Weile der Unvernunft erweisen? …
Wer sind wir, dass wir zu allen Schuld- und Schicksalsfragen, die die Welt bedrängen, sagen dürften: „Über ein kleines und abermals über ein kleines… “ - »Rega und Rega!«? …….
Nun, wenn wir aufrichtig sind und nicht oberflächlich ausblenden, was ist, dann sind auch wir Leute, die an der Abbruchkante stehen; ein Geschlecht, über dem die Sonne sinkt und eine Zeitgenossenschaft, in deren Stundenglas die letzten Körner Sand gerade zur Neige gehen.
Wir sind Leute, die ins Nichts schauen.
Wir sind - wenn wir uns nicht belügen - eine Welt, die tief versinkt in eigener Schuld und letzter Not. …….
Und darum verbietet sich’s nicht nur, dass wir Andern volltönend die prophetische Minutenpredigt, das heutige Evangelium vom wendenden Augenblick predigen, sondern wir können uns das kleine, allesentscheidende Trostwort nicht einmal selber sagen.
Auch wir sind ja nur Korn, das in den Acker, in den Tod gesät wird.
… Aber genau als solche Menschen, die an den Leiden teilhaben, ist uns auch der Anteil am Trost (vgl.2.Kor.1,7!) von Gott selber zugesagt[iii]. ——
Die ganze tiefe Sorge, die sich über unseren Tagen auftürmt, sie wird sich von Gott her - und nur von Gott her! - in einem Augenblick lösen, so wie das ungeheure Wolkendunkel, das einer der großen englischen Kirchenlieddichter, ein Zeitgenosse der Romantiker besang. William Cowper[iv] war selbst ein Mensch, den Schübe von Depression und furchtbare Verlorenheits- und Verdamnisängste mehrmals zu Suizidversuchen trieben. Doch in der lastenden Verfinsterung, die auch den Heiligen solche Todesangst einjagen kann, erkannte er in seinen hellen Stunden die zum Bersten vollen Speicher des göttlichen Segens, der nicht sintflutartige Auslöschung, sondern einen plötzlichen Durchbruch der Rettung über unseren Häuptern bringt.
In seinem letzten Lied: “God moves in a mysterious way / His wonders to perform”[v] heißt es in Anlehnung an die Noah-Erinnerung in der Trostpredigt des Jesaja:
“Ye fearful saints, fresh courage take;
the clouds ye so much dread
are big with mercy, and shall break
in blessings on your head.”
Verzagt doch nicht, ihr Heiligen:
Was euch da dunkel droht,
bricht bald; und wie aus Wolken strömt
euch Heil herab von Gott.
——
Und deshalb lassen wir nun alle Erregung, die uns in diesen Tagen umtreiben mag, … die ganze zornige Aufregung, die wir Menschen Gott zu allen Zeiten zumuten, … ja, schlicht sämtliche Regungen und Wirren und Panik der ganzen Erde – »Rega! Rega!« - in’s Leere laufen und hören nur noch Ihn selber.
Ein Wort hat Gott für uns, und mit diesem Wort wird alles gesagt und geheilt und gehalten.
Der nämlich, Der in jeder Augenblicksregung, in jedem vergehenden Moment unser Gott ist, ist Der, Der uns das Bleibende zusagt:
„Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen und doch soll meine Gnade nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.“
… Und das ist das andere Wort, das jeder, der in Israel reist oder lebt oder mit Israel glaubt, immer und überall hört und als ewig vernimmt: Shalom!
… Der Bund Seines Friedens!
Amen.
[i] Wilhelm Gesenius, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Nachdr. der 17.Aufl., Berlin u.a. 1962, S.745.
[ii] Wochenspruch des Sonntags Lætare.
[iii] 2.Korinther 1, 3 – 7 ist die Epistel an Lætare.
[iv] Ein glänzender Abschnitt zu Cowper aus John Julians‘ Dictionary of Hymnology (1907) ist zugänglich unter: https://hymnary.org/person/Cowper_W
[v] Text nach “Ancient & Modern: Hymns and Songs for Refreshing Worship”, London 2013, No. 647 (Übersetzung der 3.Strophe: J.M.).
Als Kostprobe dieses unerschöpflichen Liedes , das früher „Light out of Darkness“ überschrieben war, hier nur die letzte (6.) Strophe:
Blind unbelief is sure to err,
and scan his work in vain;
God is his own interpreter,
and he will make it plain.
Reminiszere, 05.03.2023, Stadtkirche, Markus 12, 1 - 12, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reminiscere - 5.III.2023
Markus 12, 1 -12
Liebe Gemeinde!
Das Blöde an der Bibel (so habe ich noch nie angefangen!) ist ja, dass sie so ernst ist und so oft mit ihrem Ernst Recht hat. … So oft, dass man an vielen Stellen schon gar nicht mehr nachprüfen muss, weil es sich doch von allein aufdrängt, dass kam, was kommen musste: Die halt-, maß- und rücksichtslose Menschheitsstufe vor der Sintflut (Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind geradezu fruchtbar aufschlussreich!) musste den von ihr heraufbeschworenen Untergang erleiden! … Die freiheitsuntauglichen Sklaverei-Nostalgiker, die Moses anführte, mussten vor Selbstmitleid in der Wüste sterben, weil sie die Geduld für den eigenverantwortlichen Neuanfang in Kanaan nicht mitbrachten. … Die konsumsüchtigen Götzendiener, die im Nordreich von Israel den gleichen Gierkult wie die gesamte Kultur Vorderasiens trieben, mussten unter den Assyrern schlicht dran glauben, denn dass Kraftmeierei siegt, war ja gerade die Botschaft ihres Baal. … Und die kritiklosen Immer-weiter-so-Priester und -Würdenträger in Jerusalem, an denen alle Propheten bis Jeremia sich mahnend und warnend abarbeiteten, mussten die Lehre des Exils durchlaufen, in der Glaube an Den Unsichtbaren und primitiver Erfolgszauber sich dauerhaft schieden. … Das angedrohte Ende musste einfach in jedem Fall eintreten. ——
Mit dieser bestürzend fatalistischen Erwartung gehen wir also allzu oft an die Bibel heran, als sei sie das Buch des göttlichen Pessimismus, … ein Dokument des ewigen nicht Besser-, sondern Schlechter-Wissens.
Ob in solcher Negativerwartung aber nicht viel mehr von unserer Denkfaulheit steckt, als von einem tatsächlichen Gesetz des Immer-so-kommen-Müssens? Ist es nicht gerade unsere menschliche Trägheit, die sich einredet, es sei sowieso nichts mehr zu ändern, es sei zu spät und zu aussichtlos, noch Umkehr und Hoffnung, noch Zukunft und Leben zu behaupten?
Ist aber nicht genau das auch die saublöde und selbstmörderische Bequemlichkeit, mit der wir heute den vielen drohenden Untergängen begegnen? … „Dumm, wie’s ist, und schlimm, wie’s kommen wird, … aber was sollen wir tun?“
Wenn das die Botschaft der Bibel wäre, dann sollten wir sie getrost auf ein oberes, hinteres Bücherbrett stecken, wo sie neben Arthur Schopenhauer und Oswald Spengler und allen anderen, die der Zuversicht nur mit Verneinung begegnen können, verstauben darf. Ihre Garantien der Totalzerstörung mögen die Zeugen Jehovas und Netflix unter sich aufteilen! Wir haben keine solche sichere Apokalypse im Programm. Im Gegenteil. Wir haben einen Gott, der spricht: „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung“ (Jer.29,11).
Und darum ist es gerade in der Horizontverfinsterung von heute, an einem Passionssonntag wie diesem umso wichtiger, dass wir die bittere und lahme Wette der Hoffnungslosen ablehnen: Lieber wollen wir enttäuschbar leben, als ohne jede Erwartung! „Lieber – wie man in der Neanderkirche unter dem Bildnis des großen Dichters lesen kann – … lieber sich zu Tode hoffen, als durch Unglauben verloren gehen!“[i] ——
Wenn aber das unsere christliche Grundvoraussetzung ist – dass es immer noch viel besser, viel gnädiger, viel überraschender kommen kann als geunkt! –, dann haben wir mit dem Gleichnis von den bösen Weingärtnern heute ein verrostetes, vergilbtes und vermoostes Stück der biblischen Überlieferung wirklich zu reinigen, wenn es wieder im Licht der Zuversicht soll glänzen können!
Denn was wie hässliche Rostflecken an der Erzählung Jesu aussieht, was sie so abgrundtief negativ wirken lässt, ist in Wirklichkeit Blut. …
Mit der Geschichte des Weinbergs spinnt Jesus ja ein uraltes Motiv der Propheten fort, die vielleicht schon in Erinnerung an den ersten Gruß, den die Kundschafter aus dem gelobten Land hinaus zu den Wandernden in der Wüste brachten (vgl. 4.Mose 13,23), Israel gerne mit einem herrlichen Weingarten verglichen:
„Ich hatte dich gepflanzt als einen edlen Weinstock, ein ganz echtes Gewächs“, hören wir Gott bei Jeremia (2,21) zu Seinem Volk sagen, und der Sänger Asaph im Psalm schwelgt in der Üppigkeit dieses auserwählten Weinstockes, den Gott hat einwurzeln lassen, bis das ganze Land davon erfüllt war (Vgl.Ps.80, 9ff). Und wie der Prophet Jesaja (5,1ff) von Gott, dem hingebungsvollen Winzer singt, der sich so viel Edles und Süßes von seinen liebevoll gehegten Reben erhoffte, das hörten wir gerade eben ja als Schriftlesung.
Dass nun in Garten und Weinberg allerdings nicht alles so gedeiht, wie es der Gärtner hofft, ist jedem vertraut, der die Radieschen von oben betrachtet.
… Aber gerade der Kreislauf der Natur und die Zyklen, in denen Misswuchs und verschwenderische Ernten einander ablösen, machen ein endgültiges Fazit, einen Schlussstrich unter die Geschichten des Wachsenden und Fruchtbringenden doch so unvernünftig und so unwahrscheinlich.
Und im Unterschied zu den prophetischen Bildreden, in denen Gott impulsiv die verhagelten oder mickrigen Ernten beklagt, auf die Er sich vergeblich freute, scheint in Jesu Gleichnis der Weinberg nun gerade nicht frustrierende Erträge zu bringen. Im Gegenteil: Das traditionelle biblische Bild für Gottes Eigentumsvolk Israel ist ja ausdrücklich der Gegenstand der Begierde seiner Pächter. Alle wollen ihn. Gerade um Israel nicht wieder hergeben zu müssen, fügen die Weingärtner den Abgesandten seines Herrn Schimpf und Schaden zu und sind sogar zu einem ultimativen Verbrechen bereit. …….
Das ist schlimm: Dieser ungerechte Kampf um das geliebte Israel, der zu immer verderblicheren Mitteln greift.
Es ist ein Kampf, wie er just in diesen Monaten tatsächlich im Staat Israel ausgetragen wird, wo die Kräfte, die Selbstbehauptung auf Kosten der biblischen Rechts- und Gerechtigkeitstradition vertreten, brutal um die Seele des jüdischen Volkes buhlen und Zehntausende dagegenhalten, die den Weinberg und mit ihm den Freudenwein, den Gott wollte, verloren sähen, wenn er nur mit den Tränen der Palästinenser gewässert würde.
Um Israel muss also gekämpft werden! Das sagt Jesu Gleichnis vom Ringen der verschiedenen Möchtegern-Weinbauern auch.
Und mit allen Kräften hat Jesus sich darum in diesen Streit geworfen.
… Doch die unselige Kirche hat in eben dem Gleichnis, in dem Jesu leidenschaftliche, seine passionierte Anteilnahme an seinem Volk deutlich wird, nur einen Satz zur Kenntnis genommen, … einen Satz, der mit einer Frage eingeleitet wird: „Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben.“ ……..
… Und da war die ausweglose Negativität bestätigt, die alles immer vom bösen Ende her versteht und keinerlei offenen Schluss duldet, keinen Spalt einer Öffnung zu einer anderen Entwicklung, zu einem neuen Weg oder einem neuen Leben sich vorstellt. … Es kam, wie’s kommen musste, … denn für gute Überraschungen gibt es keine Richtung im engstirnig und hartherzig festgelegten Einbahn- und Rutschbahn-Denken der Kirche, das immer nur zum Untergang führt: Der Herr des Weinbergs wird die bösen Weingärtner umbringen und andere an ihre Stelle setzen! …
Seither klebt das von Christen in Ost und West in der Fastenzeit und in der Karwoche wieder und wieder vergossene jüdische Blut am Weinberg-Gleichnis und hat es getrübt, entstellt, verdorben. Denn mit ihm wurde die Enterbungstheorie begründet, die beinah zwei Jahrtausende lang das Christentum beherrscht und verdorben hat: Am Schluss musste nach dieser Theorie das Schlechte stehen … für Israel.
… Am Ende musste es vorbei sein. …
Und war es doch nie!
… Die Sintflut etwa hat ja gezielt das Verderben, nicht aber das Leben insgesamt beseitigt.
… Und dann der Exodus: Dieser Aus- und Aufbruch unter Mose bleibt bis heute die stärkste Ermutigung aller, die an die Möglichkeit der Freiheit glauben und die Mühen der Befreiung wagen.
… Oder Baal: Baal hat trotz des zuletzt einsamen Widerstands des Elia gegen ihn seinen Platz heute nur noch in den vorderorientalisch-archäologischen Museen, während in den Synagogen und Kirchen in aller Welt der unsichtbare, leise, lebendige Gott Israels so wie einst mächtig und gnädig spricht und segnet.
… Und auch das große Finale des babylonischen Exils wurde in Wahrheit ja zur schöpferischen Sturm- und Drang-Zeit, in der die Torah Israels ihre bleibende Gestalt gewann und Prophetie und Messiashoffnung ihre Schwingen ausbreiteten, in deren Schatten wir Heutigen immer noch beim HERRN, dem Gott Israels Zuflucht suchen (vgl. Ruth3,12).
Ein Ende gibt es nämlich nicht.
Und das ist das unvergleichlich Wunderbare an der Bibel: Dass sie so offen ist und so oft mit ihrer Offenheit Recht hat. … So oft, dass man an vielen Stellen - besonders aber an der heutigen! - wirklich nicht auf seinem Vorurteil beharren darf, da es sich doch ganz anders fügt, wenn kommt, was nicht vorgezeichnet war, sondern sich der Langmut und Beweglichkeit, der Geduld und Überraschungsfülle Gottes verdankt!
Jesu Gleichnis von den Weingärtnern ist wahrhaftig ja nicht bloß eine Illustration des starren Verhängnisses, das Israel sich zugezogen hätte bis zu seiner endgültigen Verwerfung und Ersetzung. Im glatten Gegenteil. Wie der umstrittene und trotz allen Jubels unverstandene Christus da in seinen letzten, angespannten Tagen in Jerusalem ein Drama ums Recht an Israel entfaltet, … ein Drama mit einem reißenden Gefälle, das jeder Zeuge nach Kräften wird aufhalten wollen: Das ist geradezu existentiell packend!
… Wer Ohren hat, zu hören, der muss in heftigste innere Anteilnahme geraten: „Sie werden doch nicht…, sie dürfen doch nicht…, sie können doch nicht den Sohn misshandeln!“, so wühlt die Erzählung das Mitgefühl auf.
… Niemand, der Anspruch auf Gottes Israel erhebt – keine Priesterclique und keine andere prophetische, pharisäische, zelotische, asketische Bewegung – … niemand, dem Israel anvertraut und lieb und heilig ist, wird doch wohl zum Mörder werden am letzten Boten, am geliebten Sohn?! … Nicht einmal der römische Präfekt, die römische Besatzerjustiz, die römische Armee, die sich als zeitweilige Hüter und Nutznießer des Weinbergs Gottes dünken mögen, werden es ja wagen und vermögen, den gesandten Erben zu eliminieren!? …
… Jesu Stimme wird heiser und stockt, als seine Zuhörer im Tempel, unter den Schriftgelehrten, den Priestern, den Passapilgern und den Wachen diese rhetorische Frage, die mit so viel unmittelbarer Beschwörung in ihren Ohren zittert, unbeantwortet in der Luft hängen hören:
… Wird irgendjemand allen Ernstes den Sohn töten?
Es ist Todesangst, die da spricht. Rhetorisch und gleichwohl markerschütternd echt.
Es kann nicht geschehen, was so undenkbar ist!?
Das will, das muss Jesus bestätigt haben. …….
Doch es geschieht.
Die Römer wagen’s, weil sie den Vater nicht kennen; die ihnen als Tempel-Elite hörigen Sadduzäer wagen’s, weil sie den Sohn nicht anerkennen wollen.
Es geschieht, was nicht geschehen würde, … was nicht geschehen konnte, … was nicht geschehen durfte.
…………
Aber auch das, … auch das ist nicht das Ende.
Wenngleich alles wankt, woran Jesus sich festklammern wollte, …. wenngleich alle Stützen und Sicherheiten („Den Sohn werden sie doch schonen!?“) nicht standhalten, ist es doch nicht das Ende.
Weil eben das, was unmöglich ist - bei uns! -, geschieht.
Der aussortierte und verworfene, der pulverisierte und wieder zu Staub gewordene Stein wird zum Eckstein!
Es ist unmöglich.
Aber es trägt!
Das Ja erscheint im Nein (vgl. EG 94, 4)!
Der ermordete Sohn bleibt nicht im Tod.
Und Israel wird nicht und bleibt nicht verworfen.
… Das schreckliche Ende, … ausgerechnet dieses Ende ist nicht das Ende, sondern wird zum Anfang des niemals zuendegehenden Guten.
Das unvorstellbar Böse trägt ein noch viel unvorstellbareres Heil.
Und dieser Jesus, der solche Todesangst hatte und so hoffte, man werde mit ihm und nicht gegen ihn den Bund und das Eigentum Gottes erneuern, … der hat mit dem davonrollenden Felsen vor der Höhle, mit dem weggesprengten Grabstein, der seine Leiche verschließen sollte, ein so lebendiges und unumstößliches und herrliches, ein so freies, offenes und starkes Fundament gelegt, dass wir gar nicht begreifen können, was alles auf ihm ruht und durch ihn gehalten wird und von ihm erfasst und verbunden:
Sein Israel und seine Kirche,
seine Juden und seine Heiden,
seine Getauften, seine Gläubigen und seine Gottlosen,
seine armen, armen Pessimisten und seine sich fröhlich zu Tode hoffenden Optimisten, seine Ukrainer und seine Russen,
seine Palästinenser und seine Israelis,
seine Farsi- und seine Deutschsprechenden Kaiserswerther,
seine Lebendigen hier in der Passionszeit und seine durch sein Kreuz erretteten Gestorbenen in der Ewigkeit.
„Vom HERRN ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen!“
Es gibt kein Ende!
Amen.
[i] Vgl. zu diesem Wort des pestkranken dreißigjährigen Joachim Neander auf seinem Sterbelager: Helmut Ackermann, Joachim Neander - Sein Leben. Seine Lieder. Sein Tal, Düsseldorf 1997, S. 40.
Invokavit, 26.02.2023, Was ist uns heilig? - Misereor-Hungertuch, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
„Was ist uns heilig?“ – das Misereor Hungertuch 2023/2024 von Emeka Udemba
Liebe Gemeinde,
es ist wieder Passionszeit. Die Farbe der Paramente ist nicht mehr grün, sondern violett. Irgendwie läuft alles Kirchliche auf den Karfreitag zu. Das merkt man an den Texten, die an den kommenden Sonntagen offiziell vorgesehen sind – vom Wochenspruch bis zur Predigt; und auch die Lieder, die in den meisten Kirchen aus der Rubrik „Passionszeit“ angestimmt werden, kommen in Moll daher und nicht in Dur.
Passionszeit – Zeit, an das Leiden, die Passion Jesu zu denken, an seinen Weg nach Golgatha, ans Kreuz. Davon handeln alle Passionslieder in unserem Gesangbuch. „Herr, lehre uns, dein Leiden zu bedenken“. Ich möchte Sie in diesem Gottesdienst auf einen etwas anderen Passionsweg mitnehmen, unser Nachdenken und Bedenken neu justieren, und zwar so, dass es uns befähigt, in unserem Handeln umzukehren, im biblischen Sprachgebrauch: um Buße zu tun, wozu Jesus von Nazareth zu Beginn seines Wirkens alle aufrief: „Kehrt um und vertraut der Guten Nachricht (vom Heil und der Liebe Gottes).“
Jesus ging es ums Leben; er wollte Leben für alle, gerade auch für die am Rande; er wollte heiles, erfülltes, wahrhaftiges Leben für alle Menschen, denn das war Gottes Wille, davon war er überzeugt. Dafür hat er sich leidenschaftlich eingesetzt und alles Leiden in Kauf genommen. Das Leben der Gebeutelten, Ausgestoßenen, der Kleinen und Schwachen, das wir ihm heilig. In ihnen begegnete ihm Gott selbst, der Heilige, der ihm so nahe war und dem er so sehr vertraute, dass er ihn Vater nannte, unseren Vater im Himmel.
Was ist uns heilig? Wo kommt uns Gott heute nahe, wo sehen wir uns von ihm angerührt, angesprochen und herausgefordert, ihm zu antworten – durch unser Tun? Das Misereor Hungertuch von Emeka Udemba gibt unserem Nachdenken da vielfältige Anstöße. Es ist geradezu unheimlich aktuell – angefangen von seiner Farbgebung über die handwerkliche Herstellung, die verwendeten Materialien bis hin zu der figürlichen Darstellung. Die rote Farbe dominiert das Bild. Achtung! Gefahr! Wird dem Betrachter signalisiert. Schau genau hin! Es geht ums Leben! Es geht um dein Überleben! Es geht um das Überleben und Leben der ganzen Welt! Der Schöpfung mit all ihren Geschöpfen. „Die Erde brennt“ – so konnten wir es in einem der Schaufenster der Diakoniebuchhandlung ein paar Wochen lang lesen. Die Erde brennt, sie schwitzt, sie stöhnt. Diese und ähnliche Formulierungen sind mir in verschiedenen Büchern und Zeitschriften in den vergangenen Jahren begegnet. Und Emeka Udemba hat sie so auch dargestellt: mit vielen roten Wunden, verletzt und zerbrechlich. Viel zu warm hat auch dieses Jahr wieder begonnen. Und auch wenn es in den letzten Wochen immer wieder einmal geregnet hat: die tieferen Bereiche der Böden in Feld, Wald und Flur sind immer noch knochentrocken. Die Wasserspeicher, aus denen die Bäume trinken, sind noch lange nicht gefüllt; da müsste es zwei Monate lang ununterbrochen regnen – ein sanfter Landregen, damit der Boden die Feuchtigkeit aufnehmen kann, denn sonst drohen Überschwemmungen. Die Erde, unsere Erde – keine Sache, kein Gegenstand. Ein lebendiger Organismus, ein Gesamtkunstwerk des Lebens, des lebendigen Gottes. Die Erde stöhnt und schwitzt und brennt – und ihre Kinder stöhnen mit ihr.
(Das Misereor-Hungertuch 2023 „Was ist uns heilig?“ von Emeka Udemba © Misereor)
Lesung Rö.8,18-23
Helge Burggrabe „Höre den Herzschlag des Himmels“ CD
Helge Burggrabe wurde von einer Gedichtzeile von Rose Ausländer zu seinem Lied inspiriert, die lautet „Ich höre das Herz des Himmels pochen in meinem Herzen.“ Darin klingt das große Thema der Resonanz an, der Herzensbeziehung des Menschen mit der Schöpfung, deren Teil wir sind. In den Himmel zu lauschen, das hat uns unsere Religion, unsere Theologie gelehrt. Nicht so, auf den Herzschlag der Erde zu achten. Schöpfung und Schöpfer wurden sorgfältig auseinandergehalten; dem Schöpfer sollten wir dienen, die Schöpfung hatte uns Menschen zu dienen. Der Sündenfall der christlichen Lehre: ihre unheilige Anthropozentrik. Inkarnation wurde nur auf den Menschen bezogen: Gott wurde Mensch; richtig übersetzt muss es heißen: Gott wurde Fleisch. Gemeint ist letztlich: Gott ist in der Schöpfung präsent. In der ganzen Schöpfung. In allen ihren Teilen. Im Wasser, im Fels, in der Ähre, in der Feldmaus, im Menschen, in der Ameise …. Der Herzschlag des Himmels ist der Herzschlag der Erde ist der Herzschlag des Lebens. Hören wir ihn in uns? Dann müsste uns das hellhörig machen für das Seufzen und Stöhnen der Kreatur, der Mutter Erde.
Emeka Udemba hat sein Bild als Collage gestaltet aus vielen ausgerissenen Zeitungsschnipseln. Nachrichten, Infos, Fakten und Fakes – Schicht um Schicht aufeinander geklebt und großenteils übermalt. Nur einzelne Wortfetzen sind lesbar geblieben. Auch an ihnen wird deutlich, wie zerrissen die Erde ist, wie zerbrechlich das Leben. Und uns wird vor Augen gehalten, was die Ursachen solcher Zerrissenheit sind: Was kostet die Welt? … Mach was mit deinem Geld … Darf’s noch etwas mehr sein? … Wachstum … mehr Geld zum Beispiel … „Mich interessiert der Mensch“ können wir unten links lesen. Solange wir uns nur oder zu allererst um unsere Spezies sorgen, sägen wir weiter an dem Ast, auf dem wir sitzen. Rechts neben der Erdkugel steht „Mensch und Tier“ – ein Hoffnungszeichen. Überhaupt: auf der Erdkugel sind Wortfetzen zu entdecken, die Hoffnung wecken: Wandel … wo der Mensch sich wohlfühlt …. Bedürfnis Sinnhaftigkeit …. Neubeginn … vom Anfang. Das wäre schön: wir könnten den Uhrzeiger unserer Weltgeschichte zurückdrehen auf Anfang. Ein Reset – und alles ist wieder gut; die Fehler und Macken gelöscht. Alles auf Anfang. Doch das ist Illusion. Auf Anfang geht nicht, aber ein Neubeginn ist möglich: das will uns Gott schenken wie wir es zu Beginn zusammen gelesen haben: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist.“ Rein nicht im Sinne von unschuldig, sondern von geläutert – wir haben begriffen, wie falsch wir bisher über uns und von uns und von der Erde, der Schöpfung gedacht und so Zerstörung und Tod verbreitet haben. Umkehr und Neuanfang sind möglich und nötig – damit alle und alles leben kann. Umkehr, Veränderung, Wandel, Verwandlung – eine Bewegung von innen nach außen. Wandel – nicht Wachstum.
Was ist uns heilig? Als die christlichen Europäer seit dem 17. Jahrhundert Nordamerika entdeckten und eroberten und der Überzeugung waren, den Wilden die Segnungen der Zivilisation zu bringen, konnten die indigenen Völker es gar nicht glauben, dass diese Eindringlinge Menschen wie sie sein sollten. Konnten das Menschen, Geschöpfe des Großen Geistes sein, die so viel Tod und Zerstörung verbreiteten, die Erde schändeten und ihre Geschöpfe vernichteten – und das um des Geldes willen? Wo stehen wir heute? Was ist uns heilig? Der Häuptling der Duwamisch hat es in einem Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten im 19.Jahrhundert für sein Volk so formuliert: Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig! Die Erde ist unsere Mutter und jedes Geschöpf ist uns Bruder und Schwester. Könnten wir das auch so sagen und was heißt das dann für unser Handeln?
Lied „Die Erde ist des Herrn“ 1+2+4
„Verlier nicht die Geduld, inmitten aller Schuld ist Gott am Werke.“ Die Krisen, liebe Schwestern und Brüder, mit ihren Problemen und Nöten, sie zerren fürwahr an unseren Nerven und die Geduldsfäden sind bis zum Zerreißen gespannt. Die jungen Menschen der „Letzten Generation“ mit ihren aus einer ehrlichen und tiefen Verzweiflung geborenen Aktionen, die die meisten Zeitgenossen nur nervig finden. Ein grüner Bundeswirtschafts und Energiewende-Minister, der, statt sich um die Entbürokratisierung und Vereinfachung von Genehmigungen von Solar- und Wind-Parks zu kümmern, muss, um den Wirtschaftsstandort Deutschland irgendwie zu retten, ausgerechnet in Katar einen Diener machen für die Lieferung von Erdgas. Ich möchte nicht wissen, was das mit ihm gemacht hat.
Und unsere Gesellschaft? In der Samstagsausgabe der Rheinischen Post gibt es wie eh und je eine dicke Einlage „Reise und Welt“. Als gäbe es die Klimakrise nicht, werden Flugreisen und Kreuzfahrten angepriesen, mit Versuchen, diese Vergnügungen grün zu waschen oder schon makaber manchmal mit dem Hinweis, es könnte die letzte Chance sein, einen Eisbären in seinem natürlichen Lebensraum zu sehen. Ich muss gestehen, es fällt mir schwer, angesichts von so viel Ignoranz nicht die Geduld zu verlieren. Oft schon musste ich schwer an mich halten, wenn mir Mitmenschen von ihren Reiseplänen erzählten. „Verlier nicht die Geduld, inmitten aller Schuld ist Gott am Werke.“ Allerdings anders als sich mancher das erhofft.
Sehen wir noch einmal auf das Hungertuch. Da sehen wir die Unterarmpaare von zwei Personen. Beide sind mit der Erde befasst. Die Hände von oben scheinen sich von der zerbrechlich aussehenden Erde zu lösen. Die unteren Hände sehen so aus, als würden sie die Erde in Empfang nehmen. Behutsam, vorsichtig gehen beide Seiten mit der Erde um. Ein kreativer Wechsel von Geben und Nehmen, von Halten, ohne Festzuhalten, von Freigeben ohne Preiszugeben. „Die Erde ist des Herrn, geliehen ist der Stern, auf dem wir leben.“ So hieß es in der ersten Strophe. Geliehen und uns anvertraut, damit wir im Sinne des Schöpfers selbst ans Werk gehen. Da, wo wir uns zurücknehmen und dem Leben aller, der Schöpfung, deren Teil wir sind, dienen – da ist Gott selber in und durch uns am Werke. Keiner von uns kann allein durch sein noch so gutes Tun die Erde retten, die Klimakatastrophe abwenden, aber jeder kann, indem er sich ehrlich bemüht, nicht zu schaden, nicht zu verletzen – seinen Mitmenschen nicht, aber auch seine Mitgeschöpfe nicht, nicht die Mutter Erde – jede kann so Gott durch sich wirken lassen. „Denn der durch Jesus Christ ein Mensch geworden ist, bleibt unsre Stärke.“ Er bleibt es in uns und durch uns, so wie Jesus es uns vorgelebt hat. Es liegt tatsächlich an jedem einzelnen, Gott in der Welt und gegen alle Krisen stark zu machen.
In den Interviews, die in der letzten Woche anlässlich des Jahrestages des russischen Angriffs auf die Ukraine zu sehen und zu hören waren, fiel mir immer wieder auf, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer, gefragt, ob sie nicht langsam sehr erschöpft seien vom Krieg und seinen Kollateralschäden, zwar nicht leugneten, wie schwer für sie das Leben geworden ist, aber größer als die Erschöpfung, das war bei allen die Hoffnung, die Hoffnung auf eine neue Zeit in einer neuen Ukraine, die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit und Frieden. Dafür würde sich jede Anstrengung, jede Entbehrung jetzt lohnen, dafür würden sie kämpfen, jede und jeder an seinem Platz mit seinen Möglichkeiten. Leidenschaftlich für das Leben eintreten, an der Hoffnung festhalten – so ist auch Jesus seinen Weg gegangen. Und wir als seine Nachfolgerinnen und Nachfolger sollen uns in dieser Passionszeit darüber klar werden: „Was ist uns heilig? Was ist uns wichtig? Wofür treten wir leidenschaftlich ein? Worauf hoffen wir – für uns und für unsere Erde?“
Lied „Es kommt die Zeit“
Invokavit, 26.02.2023, Stadtkirche, Hiob 2,10 & Telemanns Kantate: "Seele, lerne dich erkennen", Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Invokavit - 26.II.2023
(Hiob 2, 1-13 [2,10!]) / Telemann: „Seele, lerne dich erkennen“ (TWV 1:1258)
Liebe Gemeinde!
„So will ich dich mit Freuden küssen, / du Herold der Vollkommenheit“, haben wir gerade in der Arie gehört, … erst wiegend und dann mit einer erstaunlich lebhaften, kunstfertigen Deklamation, friedlich also und sehr freudig. …
Matthäus Arnold Wilckens, der dichtende Jurist, Bücherliebhaber und aufgeklärte Menschenfreund, der die Texte von Telemanns „Harmonischen Gottesdienst“-Kantaten verfasste, muss sich genau wie der Komponist selber sicher zunächst überwunden haben, ehe sie dieses graziöse Willkommenslied schufen, mit dem die kleine erkenntniskritische Kantate beinah überraschend endet. Dass ein gebildeter Literaturförderer aus dem rationalistischen Hamburger Bürgertum die Grenzen des menschlichen Verstandes und Verstehens besingt, ist an sich erst einmal ja nur nüchtern: Trotz der Freude des 18.Jahrhunderts an Aufbruch und Aufstieg der Vernunft, musste ein denkender Mensch ja durchaus erfassen, dass dem Witz und der Weisheit unseres Geistes Grenzen gesetzt bleiben.
Das schwache Vögelein des Rezitativs, das sich schlicht nicht in jede Höhe schwingen kann, ist ein eindringliches Bild für die endliche Reichweite aller Gedankenflüge.
… Egal, wie flügge der mündige Mensch sich auch fühlen mag: Die weiseste Selbsterkenntnis besteht schon immer und immer noch in der Einsicht, dass wir weniger erfassen können, als wir wollen und uns mit mehr Nicht-Wissen bescheiden müssen, als wir je begreifen werden.
Wenn wir uns wirklich zu erkennen lernen, wie es der Titel unserer Kantate und die Losung der Aufklärung im Geist des antiken Delphi von jeder Menschenseele fordern, dann führen alle Wege uns in Wirklichkeit immer wieder zu Sokrates:
Wahre Weisheit ist Nicht-Wissen.
……. Dass aber der ganze Philosophenchor – das Hamburgische Bildungsbürgertum, die delphische Apollo-Gemeinde und die platonische Sokrates-Jüngerschaft in Athen – … dass sie alle, weil der menschliche Geist endlich ist, so derart fröhlich und gelöst singen sollten, was wir eben hörten, das bleibt trotzdem befremdlich! „So will ich dich mit Freuden küssen, / du Herold der Vollkommenheit“ ……. diese heitere Begrüßung gilt ja tatsächlich niemand anderem als ausgerechnet dem Tod, … dem befreienden Beender unserer Endlichkeit.
… Und ich kann es nicht mitsingen. …
Christen als Christen sollten es sich überhaupt schwer überlegen, ob sie tatsächlich solch eine Versöhnung mit dem Tod eingehen können: Wie reimt sich das nämlich mit den sechs Wochen, die heute beginnen? Es sind ja nicht Tage der Feier, sondern es ist Passionszeit, die jetzt anfängt, … Zeit, in der die äußerste Bitterkeit von Leid und Sterben uns begegnen wird, und zwar nicht um harmlos auf uns zu wirken, sondern um die Härte zu unterstreichen, die der unsterbliche Gott für unsere Befreiung vom Tod durchstehen musste.
Ich will den Tod also nicht küssen. Ihm nicht danken. Ihn am liebsten gar nicht zur Kenntnis nehmen müssen, … weder als Grenze, noch als Entlastung für die Begrenztheit meiner Seele und meines Verstandes …….
Es ist ein solches Elend mit dem Tod!
Für mich allerdings nicht wegen der Endlichkeit, die er - je nach Sichtweise - so dramatisch vollendet oder so glücklich überwindet, sondern weil der Tod seit dem Garten Eden nie alleine war: Tod an sich gibt es nicht. Er ist ja aufgetaucht im Schlepptau oder als der Parasit von anderen Plagen: Der Schuld nämlich und dem unschuldig wirkenden Bösen[i]. Und er kam in ihrem Gefolge auch nicht allein über Adam und Eva, sondern mit seinen Spießgesellen und Handlangern, seinen Kindern und Untergebenen, die die Drecksarbeit machen, die der Tod in seiner Leichenstarre alleine gar nicht hinbekäme: Das Sterben und das Töten haben den Tod von Anfang an begleitet, … bei Kain und Abel schon.
Wer aber so wie der Tod im Dunst- und Dienstkreis der Sünde und des Teufels entsteht und eine ausbeuterische Symbiose mit dem Schmerz und dem Mord eingehen muss, um sich durchzusetzen, den kann und will ich wirklich nicht grüßen, nicht küssen, und nicht kennen.
… Das ist doch klar, oder?
Das können Sie doch auch verstehen, Herr Wilckens und Herr Telemann? Das ist doch ganz menschlich und zivil, Frau Wagenknecht, Frau Käßmann[ii]?
……. Doch da bricht meine ganze nette, müde, realitätsfremde Naivität in sich zusammen.
Wer so privilegiert ist wie ich, dass er den Zeitgenossen der barocken Kirchenmusik einen Vorwurf draus drehen kann, dass sie auf Schritt und Tritt reine Vernunft und nacktes Verrecken miteinander unter den gleichen Hutrand und in’s selbe Herz kriegen mussten, … wer so unbeleckt vom Grauen wie ich die frommen (und freidenkenden) Generationen vor uns tadeln kann, weil sie das Lebensgefühl wachsender Aufklärung mit der ständigen Verfinsterung unaufhaltsam früher Sterblichkeit vereinbaren mussten, … wer so selbstgenügsam wie ein gefütterter Goldfisch durchs dicke Panzerglas seiner kleinen Weltkugel glotzt und denen, die draußen sind, wo das Schönste und das Schrecklichste freilaufen, erklären will, man solle an das Schlimme doch bitteschön! keinen gewöhnungsbereiten Gedanken verschwenden, der ist nicht echt und darum auch nicht ernst zu nehmen.
… Echt ist nämlich eine Welt, in der niemand seine Seele dauerhaft von der schuldverstrickten und schuldbesetzten Grausamkeit fernhalten kann, die im Tod aufbricht.
Dass es eine unvermeidliche Berührung durch die Endlichkeit und dann ein unaufhaltsames Ergriffenwerden vom Sterben für uns alle geben wird, können wir nun wirklich nicht mehr verdrängen: Lebenserfahrung und Menschenkenntnis, Realitätssinn und natürlicher Instinkt haben uns das immer sagen wollen. Jetzt aber hat es ein anderer besorgt, ein Bastard, der aus der perversen Ménage-à-trois von Teufel, Sünde und Tod hervorgegangen ist: Der Krieg.
Wenn jemand heute noch sagt - so wie ich es eben vom Tod erklärt habe -: „Damit möge man mich bitteschön nicht konfrontieren! Davon will ich nichts wissen! Schon daran zu denken, heißt die Schutzhülle zu durchbrechen und kontaminiert zu werden… Also: Nie wieder Krieg und keine Kompromisse, und Basta! und Ruhe im Karton!“, … wenn also jemand sagt: „Ich gebe keine Hand dem Krieg! Ich halte mich raus! Das ist so ernst, das geht mich nichts an!“, dann ist das nicht echt. Sondern auf die brutalste, zynischste Weise unehrlich - sprich: voller Lügen und ohne Ehre - und finster dumm. ———
„Seele, lerne dich erkennen!“, so forderte uns die heutige Kantate auf.
Das ist aber eben wirklich kein heiteres Mantra aus dem Griechenlandurlaub. Schon der Apollo-Tempel von Delphi, an dessen Tor diese Mahnung, das berühmte »Γνῶθι σεαυτόν« stand, war kein Heiligtum der makellosen Schönheit oder des harmonischen Musenspiels: Der heidnische Gott Apollon trägt den Namen des Zerstörens, und genauso wie die Künste der Poesie und Heilung beherrschte er auch das Vernichten durch Pest und Gemetzel[iii]. Da ist es nur naheliegend, dass er in der Schrift, in der Offenbarung des Johannes (9,11) nicht als der Schönste auf dem Olymp begegnet, sondern unter seinem verfremdeten Namen - „Apollyon“ - für griechische Ohren noch klarer als der „Verderber“: Apollyon nennt der Seher-Apostel dort ganz bewusst den Engel des Abgrunds! …
Das also ist in heidnischer wie in biblischer Perspektive, in ehrlich menschlicher Sicht also die Wahrheit: Schönheit und Schrecken, der göttergleiche Jüngling und der Gebieter der Finsternis, Inspiration und Perversion, Heldenmut und Mörderschuld sind nicht himmelweit entfernt voneinander, sondern zwei Möglichkeiten, ja zwei Wahrheiten der gleichen Gestalt, einer einzigen Kreatur. … Der Mensch ist dieses von Bösem und Gutem gezeichnete, von Liebe wie Hass getriebene, zur Heiligkeit wie zum Verbrechen fähige Wesen. Der Mensch ist das von der Sünde bis zur Seligkeit greifende Geschöpf, das zwischen Opfer und Frevel, Ebenmaß und Exzess alle Widersprüche in seiner Natur vorfindet, wenn … ja, wenn es sich selbst erkennt. ———
Der echte Mensch, der, der einmal im strahlenden Glanz vor uns steht und uns ohne alle schwarze Magie, nur seinem eigenen Wesen gemäß auch wieder als abstoßendes Raubtier begegnen kann, … der echte Mensch, der Täter und unschuldiger Leidtragender im Krieg ist, … der als gejagtes Tier den Tod panisch fürchtet und als demütig geläuterter Geist den Tod fröhlich willkommen heißt, … der Mensch, der Gottes Zorn und Gottes Liebe so bis zum Äußersten erregt und sie beide sich so ungeheuerlich in einem, zugleich herrlichen wie fürchterlichen Geschehen auswirken lässt: dem Christusgeschehen!, … dieser echte Mensch, der nicht eindeutig so und nicht eindeutig so ist, steht heute in seiner Zweipoligkeit vor uns. … am Sonntag Invokavit, an dem Karnevalsfreude und Kreuzesschmerz, Sünde und Erlösung also sich treffen.
In Jesus sehen wir des Menschen äußerstes Todesleiden; bei Telemann hören wir seinen innersten Frieden mit dem Tod.
Wir sehen die Passion schrecklich tief und in zahllosen Männern, Frauen und Kindern sich wiederholen im Krieg unserer Tage, und wir erblicken im gleichen Krieg bei Menschen wie Dir und mir die teuflischste Gewalt.
Wir sehen Unvereinbares in einer Welt. Wir wollen’s nicht an uns heranlassen und können uns wahrhaftig doch auch nicht rauswinden. Wir müssen wahrnehmen, was man nicht wahrhaben will, und müssen uns zu erkennen versuchen, uns Menschen, die doch nur immer rätselhafter werden, je ehrlicher man sie, … je ehrlicher man sich betrachtet.
Das Bild lässt sich also nicht vereinheitlichen: Widersprüchliches bleibt. Zerrissenes und Verkantetes. Weil das Einfache, das Vereinfachte, das, was für uns einfach zu fassen und zu ertragen wäre, nicht das Echte ist.
Dort, wo kein Gegensatz, keine Spannung mehr wäre, dort finge das Märchen an oder der Mythos, in denen die Dinge sauber geschieden werden können und alle Algebra aufgeht, alles Um-die-Ecke-Denken letztlich Klarheit eröffnet.
Doch gerade eine solche mythische, ideale Welt, die sich im Innersten erschließt und uns emotional beruhigt oder rational befriedigt, eröffnet unsere Bibel nicht … und unser Glaube daher ebenso wenig.
Wie zur Probe auf dieses Exempel soll heute eigentlich das mythischstes und zugleich völlig klärungslose Buch der Bibel aufgeschlagen werden: Wir sollten eigentlich hören und predigen aus jenem Buch, in dem nichts real, aber alles echt ist, … jenes Buch, das sich als Märchen aus Tausendundeiner Nacht zu erkennen gibt – es spielt nicht in der wahren Welt von Israel, sondern im Wunder- und Horrorland Uz (Hiob 1,1) – und das doch mehr von unserer wirklichen Menschen-Tragik beschreibt, als viele Reportagen oder Dokumentationen.
Es ist das Buch ohne Auflösung, trotz seines vermeintlichen „Happy Ends“: Das Buch Hiob.
In der Dichtung vom Schmerzensmann Hiob, der schlimmere und verwirrrendere Gottes- und Leidenserfahrungen machen musste, als alle anderen Sterblichen – schlimmer noch als Jakob, der doch so grimmig mit Gott kämpfte (vgl. 1.Mose32,25ff), … schlimmer noch als Mose, den der HERR, Der Sich ihm am Dornbusch gerade erst offenbart hatte, beinah tückisch überfiel (vgl. 2.Mose 4,24), … schlimmer noch als König Saul, den ein unerklärlich böser Geist vom HERRN plagte (vgl.1.Sam.16,14) und schlimmer auch als Paulus, den der Engel Satans trotz des Apostels Flehen immer wieder mit Fäusten zurichten durfte (vgl.2.Kor.12,7ff) – … in der Dichtung von Hiob, der schlimmer als diese alle die Nachtseiten, die ungeklärten Widersprüche und Ambivalenzen auf Erden und im Himmel erfahren sollte, ohne dass das Märchen ihm ein Simsalabim! der Erkenntnis, eine Epiphanie des Begreifens einräumt, … in der Dichtung von Hiob steht ein Satz, der nicht einfach löst, aber am Echten festhält.
Der für uns alle sinnlos leidende Hiob, dessen Passion nur die unheimliche Seite menschlicher Erfahrungen spiegelt und zu keiner persönlichen Versöhnung führt, der sagt also einen Satz, der Satan, der den Menschen am fernsten steht, und zugleich Hiobs Nächste besiegt und der auch unser sämtliches Bescheid- und Besserwissen über Leben und Tod, Sinn und Unsinn zunichtemacht.
Hiob sagt … oder schreit … oder stöhnt flüsternd (Hiob2,10):
„Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“
Und das ist Glaube, wenn er am echtesten ist.
… Nicht die Erklärung für alles. … Nicht die Systematik, die es uns leicht macht, allem, was wir erleben, erfahren und erleiden, seinen stimmigen Ort im Koordinatensystem unseres Verstandes zuzuweisen.
Sondern umfassender: Es ist Gutes, … unendlich Gutes, das uns begegnet; und es gibt Böses, unerklärlich Böses auch.
Das sehen wir nicht zuletzt in diesem Krieg, in dem man das echte Grauen des Menschen nun nicht mehr ausblenden kann, aber in dem auch die echte Hoffnung auf des Menschen Freiheit sich mit Händen greifen lässt. …
… Gutes ist das und unheimlich Böses.
Beides aber verbindet uns auf eine Weise, die sich nicht beweisen lässt, und in einer Tiefe, die sich nicht ausschöpfen lässt, mit dem Gott, von Dem das Gute kommt und Der auch das Böse, das Leiden, die Passion nicht scheut, sondern wo Er sie uns Menschen zuteilwerden lässt, gerade sie auch mit uns teilt … bis zum Letzten!
An Ihm festzuhalten … in den Grenzen, die unserem Verstehen dabei gesetzt sind, ist Weisheit und Erkenntnis: Jene Erkenntnis und Weisheit, die zuletzt nichts weiß, weil sie nichts wissen kann und auch nicht muss, … weil sie nicht hier und heute, sondern erst dereinst im Kommenden vollendet werden soll.
… Man nennt sie Glauben.
Echten Glauben.
Amen.
[i] Am Sonntag Invokavit steht die alttestamentliche Schriftlesung vom Sündenfalls (1.Mose 3, 1-19) spürbar immer im Raum.
[ii] Mit-Urheberin und eine der Erstunterzeichnerinnen eines - aus meiner Sicht - problematischen Manifests, das dazu aufruft, der Ukraine aktive Hilfe zur Selbstverteidigung im von Russland begonnenen Krieg zu verweigern, das ich an dieser Stelle nicht verlinken mag, weil es überall frei zugänglich ist.
[iii] Zur zwiespältigen und geheimnisvollen Göttergestalt Apollos vgl. immer noch: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Der Glaube der Hellenen, 1.Band, (Darmstadt 19552), bes. S. 318ff. Die Ableitung seines Namens vom Verb απόλλυμι (apollumi =„zerstören“) ist dabei nur eine von zahlreichen möglichen Etymologien.
12.02.2023, Karnevalsgottesdienst, Mutterhauskirche, Peter Krogull
Büttenreden-Predigt am 12.2.2023, Mutterhauskirche Kaiserswert, Pfarrer Peter Krogull
„Die 10 Karnevalsgebote“
Liebes Narrenvolk im Mutterhaus,
diese jecken Töne sind ein Ohrenschmaus!
Sie künden davon, dass nun wieder richtig Karneval ist!
Die Pandemie, sie hat sich endlich ver…treiben lassen.
Drei lange Jahre ohne normalen Karneval,
diese Zeit war für uns Narren eine Qual.
Wir sind ein wenig aus der Feier-Übung gekommen.
Doch dieser Herausforderung wird sich nun angenommen.
Denn ihr bekommt nun eine Fortbildung für die 5. Jahreszeit.
Damit sind wir am Rosenmontag wieder bereit!
Ich halte sie hier in meiner Pfote:
Die zehn Düsseldorfer Karnevalsgebote!
Wo ich sie herhab, wollt ihr wissen?
Gott legte sie mir nachts unter mein Ruhekissen.
Er erschien mir im Traum auf dem Grafenberg
und sagte zu mir: „Hör mal zu, du Zwerg!
Ich mache mir etwas Sorgen um eure Stadt.
Die Stimmung ist trübe, die Leute sind platt.
Und anstatt die himmlische Freude zu loben,
wird in der Kirche der moralische Zeigefinger erhoben!
Gönnt euch davon mal eine Pause
und macht diesen Karneval zu einer richtigen Sause!
Hier sind 10 Tipps. Mit denen wird das klappen.
Ich bin jetzt raus, mach`s gut, du Lappen!“
Vermutlich seid ihr nun gespannt wie die Flitzebögen.
Ihr fragt euch: Werden wir sie mögen?
Diese 10 Gebote für die jecke Zeit?
Genug gewartet, es ist soweit:
Gebot Nummer eins ist das Gebot der Stunde.
Ich rufe es laut in unsere lustige Runde:
Humor ist, wenn man trotzdem lacht!
Dem Krisengeheul wird der Garaus gemacht.
Denn besonders in den schlimmen Tagen
brauchen wir die Karnevalswagen,
den Umzug und die Lebenslust.
Die helfen uns doch durch den Frust!
Darum sollt ihr Karneval nicht mehr verschieben.
Es wird doch immer Krieg getrieben.
Setzt mit dem Rosenmontag lieber ein Zeichen für Frieden!
So wie im letzten Jahr die Stadt mit Dom im Düsseldorfer Süden.
So lautet das Gebot Nummero Zwei,
von da geht es schnell zu Gebot Nummer Drei:
Karneval heißt: über sich selber lachen können.
Den anderen eine Pointe auf eigene Kosten gönnen!
Wichtig ist dieser Hinweis in unserer Zeit heute.
Da gibt es viel zu viele beleidigte Leute.
Mit heiligem Ernst streitet man in jeder Diskussion.
Du hast Dreadlocks! Hilfe! Approbiation!
Böse Boomer hier, Klima-Chaoten dort!
Der Karneval schiebt diese dummen Schubladen fort.
Den heiligen Ernst sperrt er für ein paar Tage ein.
Ich glaube, das findet selbst Jesus fein.
An doofen Zuschreibungen hat er sich nicht groß gestört.
Vielleicht fühlte sich Jesus sogar als „Fresser und Weinsäufer“ geehrt!
Coolness und Gelassenheit kann man vom Nazarener lernen
und sich vom Glauben an die eigene Wichtigkeit etwas entfernen.
Denn als man Jesus in Nazareth einmal herausfordern wollte,
dieser nur gelangweilt mit seinen Augen rollte
und sagte den Hatern ganz entspannt:
„Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterland.“
Sich auch mal abfinden mit den eigenen Grenzen.
Das Leistungsdruck-Rattenrennen einfach mal schwänzen!
Ihr findet, dass ich Jesus hier etwas überinterpretier?
Dann lest doch selber Lukas 4!
Wo wir schon bei der Bibel sind,
komme ich mal zu Mose geschwind.
Seit Wochen steht der als Pappfigur auf dem Rathausplatz.
In seiner Hand eine Tafel mit folgendem Satz:
„Das 11. Gebot: Du sollst deinen Kirchentag selber bezahlen!“
Aus den Augen des Papp-Mose kommen wütende Strahlen.
Der Düsseldorfer Aufklärungsdienst hat sich das ausgedacht.
Damit wird jetzt gegen den Evangelischen Kirchentag Politik gemacht.
Fair enough, man darf gerne den Kirchentag kritisieren
und seine Finanzierung sollte man auch inspizieren.
Aber bitte nicht so populistisch wie der DA das tut,
mit einem Mose als Gottesmann der Wut!
Das entspricht doch einem ganz alten Klischee:
„Die hebräische Bibel mit dem zornigen Gott.“ Ojemine!
Man darf gerne den Glauben durch den Satire-Kakao ziehen.
Aber alte, gefährliche Vorurteile sollte man dabei besser fliehen!
Gerade von Humanisten und Aufklärern sollte man erwarten dürfen, dass sie geistig nicht aus solch trüben Quellen schlürfen.
Der arme Voltaire fragt sich rotierend in seinem Grab,
wer dem Aufklärungsdienst zu seinem Namen die Erlaubnis gab.
Zusammengefasst, das vierte Gebot:
„Ad fontes“ tut auch im Karneval Not.
Vergiss nicht die christlichen Wurzeln der närrischen Zeit!
So bleibst du ein wenig vor Sinnlosigkeit gefeit.
„Erst vier Gebote, diese Predigt dauert aber lange!“
Wer so denkt, dem sei nun nicht bange!
Sie gehen ganz schnell, Gebot fünf bis neun,
die Kurzangebundenen wird das erfreun.
Das 5. Gebot stand in der Rheinischen Post.
Für Freunde des Küssens keine leichte Kost.
„Bitte nicht bützen in geschlossenen Räumen!“
So ein Gebot ließe ich mir nicht erträumen.
Gebot Nummer 6 handelt auch vom Bützen.
Es soll vor Übergriffigkeiten schützen.
Vor dem Bützen um Erlaubnis fragen!
Einverständnis ist wichtig in allen Lebenslagen.
Passend dazu beantwortet Gebot Nummer Sieben
die Frage „Wie soll man an Karneval körperlich lieben?“
Das weiß sogar die Stadt am Dom:
An Karneval Sex nur mit Kondom!
Und weil schon manch einer an Aschermittwoch mit schlechtem Gewissen und Kater aufgewacht,
heißt es nun klipp und klar in Gebot Nummer Acht:
Trinke an Karneval mit Genuss und mit Verstand!
Auch ohne Alkohol geht die Stimmung außer Rand und Band.
Gebot Nummer neun, das heißt nun ganz schnelle:
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Kamelle!
Es sind doch genug für alle da.
(Außerdem schmecken manche wie vom letzten Jahr…)
So kommen wir schlussendlich zu Gebot Nummer 10:
Lasst bitte den Büttenredner nicht im Regen stehen!
Bedenkt ihn am Ende mit Applaus und Geschmeide,
gerne auch mit Gold und mit kostbarer Seide!
Nein, Spaß! Das brauch ich alles nicht.
Mir reicht ein Lächeln in eurem Gesicht.
Und dass ihr am Ende laut ruft in diesem Bau
ein kräftiges, dreifaches Düsseldorf Helau!....
Sexagesimae, 12.02.2023, Stadtkirche, Jesaja 55, 8- 12a, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 12.II.2023 - Sexagesimæ
Jesaja 55, 8 -12a
Liebe Gemeinde!
Heut steht der Weihnachtsstern nicht mehr am Himmel und auch das Kreuz ragt noch nicht auf.
… Heut steht der rote Halbmond über Dir, Herr Jesus.
Und viele gehen weg, … wie damals, als in Lissabon die Erde bebte und die Glaubensfundamente eines ganzen Kontinents erschütterte.
Das ist ein Vierteljahrtausend her.
Seitdem ist so vieles morsch geworden: Verfallen und zusammengebrochen, hat man es eingerissen und zerstört; Menschheit und Geschichte, Mächte und Gewalten haben unabsehbar umgepflügt und abgeschafft und fortgeschleudert.
… Viel steht nicht mehr am alten Platz.
Und über den Trümmern sehen wir zum roten Halbmond auf und hoffen, dass auch die, die unterm Kreuz und andern Schildern kamen, um zu helfen, etwas getan haben, das ein klein wenig von der namenlosen Last erleichterte, das ein winziges bisschen Trost und Beistand geben, ein paar Wunden verbinden, einen Hauch von Zukunft aufleben lassen konnte. …….
Doch viele gehen weg. Aus den zerbrochenen Landschaften. Aus den Ruinen der Menschheit, der Menschlichkeit, des Glaubens. Verlassener Leerstand; ungenutzte Räume; unbewohnbare Heimaten: Da, wo es bebte. Da, wo sie schießen. Da, wo der Hunger und Durst … oder das Feuer … oder die Flut den Rückzug erzwingen.
Viele lassen es sein.
Aber, Herr, … noch lasse ich meine, … noch lassen wir unsere in Deiner Hand:
… Vor wenigen Wochen war sie noch eine weiche Kinderhand, die die Hirten andächtig und sachkundig in ihre Pranken nahmen, weil sie wissen, was so ein Lämmchen bei aller Wackeligkeit schon an Willen und Zappelkraft hat. Und in ein paar Wochen wird die gleiche kleine Babyfaust eine starrgekrampfte Spreizhand sein, von einem Nagel zerrissen, der die Knochen auseinanderdrückt.
… Ich weiß nicht, ob es heut schwerer ist, die Kinderhand oder die Hand des Gekreuzigten zu fassen. Bei beiden fragt es sich, ob das sein muss: Ob nicht das kleine Händchen in der Wärme der Windeln in seiner Krippe bleiben sollte; ob man die kalte Hand nicht einfach in Totenruhe lassen muss.
…. Aber weil wir Dich nicht loslassen, weil wir nicht einfach weggehen mögen, wie ja auch Petrus nicht wegging, als Du es ihm angeboten hast, sondern Dich und sich für uns alle fragte: „Herr, wohin sollen wir gehen …?“ (Joh.6,68), darum lassen wir Deine Hand und Dich und das, was aus dieser Hand kommt und in ihr liegt und durch sie bewirkt wird, nicht einfach los und liegen.
… Wie Jakob, der Dich auch nicht ziehen ließ, als Du in der Finsternis am Ufer gewartet hast und er nur hätte rüberwinken müssen und Dir sagen, Du gehörtest da drüben hin, in’s Jenseits, … doch stattdessen schlug er sich mit Dir hier herum, in der lausigen, angsteinflößenden Kälte der ersten Morgenstunden, der leeren Anfangsstunden am Fluss Jabbok (vgl.1.Mose32,25ff).
……. Wir wollen also nicht nur Händchen halten, Herr!
…. Denn eigentlich wurden diese Woche ja gerade alle Hände gebraucht, … auch die ohne Werkzeug, ohne Erfahrung, auch die nackten und die zitternden. Aber wir haben wieder mal nur zusehen können. Andere sind aufgebrochen, die Leute von den Hilfswerken, den technischen und diakonischen und militärischen Rettungsdiensten, während unsere Hände halt hier und da eine Spende losschicken oder eine Träne wegwischen konnten, wenn wieder ein totes Kind oder ein geretteter Mensch irgendwo aus dem grauenerregenden Elend auftauchte.
Unsere Hand in Deiner Hand, Jesus, - in der Kinderhand, der Totenhand, der Heilandshand -, sie liegt da, weil Du durch den Propheten Jesaja (49,15f) einmal der Stadt Jerusalem, auf die wir ja auch bauen, gesagt hast: „Kann auch eine Frau Ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. Siehe, in die Hände habe ich Dich gezeichnet.“
Mit unserer Hand klammern wir uns an Deine, weil es früher in der Lutherbibel - auch bei Jesaja (45,11) - hieß (und unsre Kinderschwestern und Kinderlehrerinnen bei den Kaiserswerther Diakonissen liebten diesen Vers): „So spricht der HERR, der Heilige in Israel und ihr Meister: Fraget mich um das Zukünftige; weiset meine Kinder und das Werk meiner Hände zu mir!“
Darum liegen wir Dir jetzt in den Händen und in den Ohren, Jesus, Du Herr und Meister, HERR Zebaoth, Du heiliger, starker, unsterblicher Gott mit der Babyhand und den Wundmalen, die Deinen Griff zertrümmert und Dein Fleisch zerfetzt haben.
… Komm mit, wir nehmen Dich ja an der Hand und wir sagen Dir im Gehen, was wir auf dem Herzen haben, so wie Du es in Galiläa auf den Straßen und Feldern und an den Ufern so gern getan hast: Wir sagen Dir, lieber Herr Jesus, wir sagen Dir, Allmächtiger, wir sagen Dir, Du Geist des Trostes, ……. dass unsere Gedanken nicht Deine Gedanken sind!
So viel tiefer die Erde ist als der Himmel - und Du kennst sie von beiden Seiten, kennst sie beide von Innen! - …. so viel niedriger und unheimlicher und bedrohter und erschütterter die Erde ist als der Himmel, so sind’s auch unsere Gedanken!
Wir denken, dass es schwer, ja immer schwerer, allmählich wohl gar zu schwer wird, Gedanken wie die Deinen uns auch nur vorzustellen.
Gewiss, wir spüren es ja an Deiner Hand - menschlich, verletzt, geöffnet -, dass Du die Liebe bist. Du wärest sonst ohne Hände geblieben, ganz unpraktisch, theoretisch, abstrakt.
… Andere Götter können das: Allah wird ohne Hand und Fuß gedacht. Zeus hat Hörner, Huf und Krallen, je nach Bedarf. Der Gott der Philosophen ist einer, den’s nicht juckt und der sowieso neben den Denkern nicht handelnd eingreifen darf.
… Wir merken also schon, HERR, wie Deine Hand die Welt tragen und nicht zerquetschen will, wie sie bergen und nicht zerbrechen will, wie sie trösten und nicht töten will, ……. aber wir denken, dass es gut wäre, sie wäre nicht so eine schwache Hand, die die Hirten getätschelt und die Römer zertrümmert haben.
Denn unsere Gedanken, die sind so:
Die Grausamkeit und der Horror der bebenden Erde, der Schuttberge, der Verzweifelten, die sowieso schon arm, schon Flüchtlinge, schon Vergessene und Verlassene waren …
– Warum?
Der Terror des Kämpfens und Mordens, der Folter und der Verschleppungen in Luhansk, in Kramatorsk, in Charkiw und Donezk …
– Warum?
Das Hungerleid im Jemen …
– Warum?
Die gefesselte Freiheit im Iran …
– Warum?
Die haltlose Vernichtung dessen, was das Leben aller Lebendigen ermöglicht …
– Warum?
… Was hast Du für Gedanken, Du Gott mit der verletzten Hand?
… Wenn Du das Heft in die Hand nehmen würdest, … wenn Du zu den Grausamkeiten der Menschen eine Faust machtest und mit ihr gern auch mal dreinschlügest, … wenn Du den Verdacht zerstreuen wolltest, Du habest Deine Hände bei jedem Unglück und allem Unerklärlichen im Spiel, … wenn Du - zur Not - die Hände einfach erheben würdest und denen, die Angst vor Dir haben oder Dir Böses zutrauen und nachsagen, zeigen könntest, dass Du an solchem allen unschuldig bist, … wenn Du also irgendwie handgreiflich oder handfest reagieren würdest, dann wären wir auf eine vielleicht unreife Weise ruhiger.
Dann hätten wir Dich zu dem gemacht, der durch seine Allmacht oder seine Sturheit so oder so der Schuldige für uns sein sollte.
Und wie die Vielen könnten wir weg gehen. Und Dir im Versuch zu verschwinden über die Schulter noch sagen, dass das grundlose Leid und der quälende Tod der Zehntausende durch das Erdbeben in dieser Woche und dass die erdrückende Heimsuchung durch den Krieg gegen die Ukraine und dass die ermüdende Pandemie hinter uns und die lähmend wirkende Unausweichlichkeit der Katastrophe vor uns, die wir alle selber befeuern und anheizen, zusammen wirklich zeigen, wie sehr unsere Gedanken nicht Deine Gedanken sind … und darum möchten wir jetzt gar nicht mehr denken.
Und Du sagst kein einziges Wort. …
Aber Du lässt unsere Hand nun auch nicht einfach fahren.
Denn Du willst ja gar nicht fort. Wir haben Dich zu den Stätten des Erdbebens gezerrt und sind mit Dir durch die zerbombten Orte mit den Massengräbern und den Folterkellern gezogen und haben die vom gelegten Feuer brennenden und die brandgerodeten Landstriche gesehen, die auf der Südhabkugel liegen, aber uns allen die Luft abpressen, und haben unsern Luxuslebensstandard gestreift, der auf der Nordhalbkugel gepflegt wird, aber die gesamte Erde gnadenlos auslaugt, …. und Du bist an unserer Hand mitgegangen zu den jammervollsten, bittersten, bösesten irdischen Orten, die gegen Dich sprechen.
Und was sprichst Du? …
– Kein einziges Wort, das wir hören.
Denn Dein Wort ist nicht luftig-leicht, hoch-fern, abstrakt erhaben irgendwo über der ganzen flackernden, schwelenden, rauchenden Asche dieser Erde und ihrer Trümmer, … sondern hineingefallen. Du hast es runterkommen lassen wie Regen und Schnee, die auf den Glutnestern und an den Brennpunkten der Wirklichkeit zu verdunsten scheinen.
Aber dadurch sind sie alle Deiner Hand vertraut: Du weißt, wie sich die Flucht nach Ägypten anfühlt, wenn man als Kleinkind auf den Müllbergen von Kairo essbaren Abfall kratzt; Du legst Deine erfahrene Hand auf die Wunden aller Menschen, die uns von ferne Kummer machen; bei jedem Vater, der die aus den Trümmern ragende Hand seiner toten Tochter trotz Frost und Schnee nicht loslassen kann, bist Du wieder bei Jaïrus und Dein Wort „Talitha kumi!“ (vgl. Mk.5,41) ist auch da; bei jeder der Heulenden und Klagenden, der sie eine Leiche vor die Füße legen, bist Du wieder am Tor des Städtchens Naïn, und ganz nah am Boden, wo sie sich die Haare raufen und Staub auf ihr Kopftuch werfen, da liegt schon längst Dein Wort „Weine nicht“ und rieselt mit dem Dreck aller Schmerzen verborgen auf die gequälten Seelen (vgl. Lk.7,13); und wo das Unrecht Menschen knebelt, wo die iranische Jugend hingerichtet oder Alexej Nawalny langsam mund- und mausetot gemacht wird, da ist Dein Wort aus Gethsemane bei ihnen, wo Du gegriffen und abgeführt worden bist, aber Dich nicht dem Willen der Schergen unterworfen, sondern dem Vater, unserem Vater in die Arme geworfen hast „……. wie Du willst!“ (vgl. Matth.26,39).
Und noch am Ende, wenn die Erde bebt und die Felsen zerreißen (vgl. Matth.27,51), bist Du da, bist wieder auf Golgatha und teilst Deine letzten Worte mit uns: „Vater!“ (Lk23,46) … „Warum?“ (Mk.15,34) … „Vollbracht!“ (Joh.19,30)
Dein Wort ist wirklich überall: Im Schmutz und im Schlamm, im Schutt und im Giftmüll, in der verwesenden Fäulnis und dem unheimlichen Reich der Erde, die die Toten aufnimmt und zu zersetzen scheint, … Dein Wort: „Ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe“ (Jes.43, 6).
Darum lässt Du unsere Hand nicht los, wenn wir Dich vor die Wirklichkeit zerren und Dich da anklagen lassen wollen. Deine Hand ist längst ja Teil dieser Wirklichkeit: Nicht leichthin zaubernd, sondern verwickelt in Windeln und in eine Krippe gelegt; nicht überirdisch drüber weggehend, sondern durchdrungen von der Passion für die Welt.
Wo immer wir Dich angesichts von Leid und Grausen nach Deinen Gedanken fragen wollen, hast Du sie Dir schon gemacht. … Und in das Wort gefasst, das sich in allem, was uns niederdrückt, noch tiefer niedergeschlagen hat und noch weiter eingedrungen ist, wie Regen und Schnee wenn sie unsichtbar werden, weil ihr Wirken beginnt.
… Es ist das eine Wort, das im Himmel genauso wahr ist und hilft wie auf Erden; … und auf Erden und unter der Erde in der Hölle, die wir an beiden Stellen machen und fürchten, ebenso hilft und wahr bleibt – … das Wort, das Dein Name ist: „ICH bin da – und ICH werde da sein“ (vgl. 2.Mose 3,14).
Das ist Dein Name und unser Trost.
Das ist Deine Wirkungsweise und dadurch alle Hoffnung.
Das ist’s, wo wir herkommen; das ist’s, was jetzt hält; das ist’s, was die Zukunft sein wird: Dein Wort des Daseins in der Welt, Deine Welt des Daseins im Wort, … Dein Dasein allein, das uns überall begegnet und dem wir alle entgegenwachsen und -leben und -sterben.
Dadurch, dass Du so tief in ihr bist, ist diese Welt nicht leer: Dadurch, dass Du da bist und bleibst.
Und darum bleibt unsere Hand in Deiner, Du Gott der Welt am Anfang wie am Ende.
… Wir geben sie Dir wieder, unsere Hände.
Es gibt eine Legende, die uns das lehrt[i]. ----- An sich sind wir Evangelischen ja nicht gut mit Legenden: Immer ist da ein Hammer, der in unseren frommen Ausschmückungen geschwungen wird, oder ein fliegendes Tintenfass oder Hacke, Spaten und Apfelbaum.
Aber eine Legende gibt es, in der das Herz und die Hoffnung und der Glaube ganz leer, ganz hinfällig werden … und die Hände doch nicht.
Die junge, nicht sehr liebliche Julie von Hausmann aus Kurland hatte die Liebe gefunden: Einen Missionar, der sie in Übersee, in seinem Einsatz heiraten wollte. Getragen von Freude schlug sich die Braut aus dem Baltikum bis nach Afrika durch. Als sie voll Bangen, weil niemand sie am Dampfer abgeholt hatte, schließlich an der Missionsstation, wo Hochzeit gefeiert werden sollte, eintraf, führte man sie an’s frische Grab ihres Bräutigams.
… Da waren mit der Liebe doch wohl auch ihre Zuversicht und ihr Vertrauen gestorben.
… Viele gehen ja weg, wenn so vieles vergeht.
Julie Hausmann aber - so wird erzählt - setzte sich am selben Abend, als alles vorbei und nichts mehr zu retten war, als der Glaube am Ende, im Tiefsten erschüttert, blind und gebrochen war, hin und schrieb, was wir jetzt singen (EG 376):
„So nimm denn meine Hände …….“
[i] Als Quelle zur (wandernden) Brautfahrt-Legende hinter EG 376 findet sich in der Literatur: „Seminartradition Heinrich Vogels an der Kirchl. Hochschule Berlin“, in: Waltraut Ingeborg Sauer-Geppert, „So nimm denn meine Hände …“ - Kleine Beiträge und Miszellen zur Hymnologie, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 27 (1983), S.213 Anm.18.
Septuagesimae, 05.02.2023, Stadtkirche, Matthäus 9, 9 -13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Septuagesimæ – 5.II.2023
Matthäus 9, 9 -13
Liebe Gemeinde!
Pandemie Ade! – … Reden wir also von Gottes Krankheiten. …
… Demnächst, in den sieben Wochen des Gottesleids werden wir sowieso vermehrt von Seiner Herzinsuffizienz hören, … von Gottes ungewöhnlich weichem Herzen, von dem es beim Propheten Jeremia (31,20) in Verbindung mit Gottes angegriffenen Nerven heißt, dass das Reich Israel, das Er zärtlich Seinen Sohn Ephraim nennt, Ihn zwar fast zum Ausrasten bringt, … aber dann „bricht mir mein Herz, dass ich mich seiner erbarmen muss, spricht der HERR“.
… Und wie so viele Mütter und Väter, die in den Konflikten mit ihren halbstarken und ganz sturen Kindern manchmal mürbe werden und deshalb völlig überreagieren und nicht weiter wissen und ihre eigenen Argumente und Drohungen nicht mehr sortieren und anwenden können, … wie so viele Väter und Mütter, die wirklich Vernünftiges sehen und wollen und sich plötzlich im Ringen mit den jugendlichen Weigerungen und Eigenheiten bei der eigenen Irrationalität ertappen, … wie so viele kluge, liebevolle, erfahrene Menschen, die feststellen müssen, dass Erfahrung und Liebe und Weisheit nicht von Hand zu Hand weitergereicht werden können, sondern in jedem Herzen eigens erst wurzeln und wachsen müssen, … na ja, wie so viele von uns eben merkt Gott dass am Ende die ganze Klarheit und Wahrheit nix sind, und man manchmal einfach nur heulen könnte, weil einem das Herz im Zorn davongaloppiert ist und nun stolpern und auch mal stoppen muss.
Diese Arhythmie, dieses Aussetzen des göttlichen Herzens, wenn Er brennendes Seitenstechen hat vor Mitgefühl und Zärtlichkeit gegenüber den Menschen, das kann man bei Gott wahrhaftig im Endstadium feststellen: Auf Golgatha, wo das heilige Herz Jesu den ganz großen Durchbruch erleidet und stillsteht vor Liebe.
… Aber das Krankheitsbild des Herzens, das statt zu schlagen - zuzuschlagen - lieber bricht, das ist eine Diagnose, die man bei Gott von Anfang an stellen kann.
Der Fachbegriff für diese kardiologische Schwäche lautet bei Gott und Mensch: „Barmherzigkeit“.
… Und Gottes Umgang mit Seiner Grunderkrankung, mit der Pathologie in Seinem innersten Grund ist ganz anders, als alles was wir in den letzten Jahren geübt haben: Gott will anstecken, Er will uns möglichst alle infizieren mit der Barmherzigkeit, die Ihn plagt und doch gleichzeitig so stark macht, dass Sein Herz im Stillstand nicht dauerhaft erlöschen konnte, sondern am dritten Tag wieder begann, Leben und Liebe in Seinem ganzen Leib -in uns also! - zu verströmen. ——
Heute nun, 44 Tage nach Weihnachten, siebzig Tage vor Ostern und zwanzig Tage ehe ein ganzes Kriegsjahr hinter der Ukraine liegt, sind wir Zeugen einer der typischen Übertragungen, durch die Gott mitten unter den Geburts- und Sterbe- und Hoffnungs- und Leiderfahrungen der Menschen Seinen eigenen inneren Zustand verbreitet. In der Sprache der Gläubigen nennt man diese Infektionen - mit einem immer blasser werdenden Begriff - „Berufungen“.
Die Berufung, die wir heute hörten, der Barmherzigkeitsausbruch, mit dem Jesus in das Leben des Matthäus eingriff, ist völlig spröde. Gar nichts erfahren wir dabei von einer inneren Ergriffenheit oder einer plötzlichen Erleuchtung oder einer unvermuteten Erkenntnis.
… Wenn ich noch altmodischer reden soll und darf als üblich, würde ich es als die keuscheste, die am wenigsten exhibitionistische oder voyeuristische, die am wenigsten sensationslüsterne oder gefühlige Schilderung des größten denkbaren Glückfalls in einem Menschenleben bezeichnen: Kein einziges Sterbens- oder Lebenswörtchen dessen, der da gefunden und gerufen wurde, und auch keine noch so geheimnisvolle Verheißung des Berufenden, der den Fischern am Genezareth immerhin noch in Aussicht gestellt hatte, sie zu Menschen-, statt zu Barsch- und Karpfenfischern zu machen (vgl. Matth.4,19).
… Kein Gedankenspiel, keine Antwort, keine emotionale Reaktion, sondern einfach nur einer, der kleinkariert war wie Du und ich und plötzlich Teil des Größten wird … des Evangeliums von Gottes Barmherzigkeit, die diese Welt rettet.
Man möchte es ja so gern durchleuchten und erklären und runterbrechen - wie es heute immer heißt - und dann in mundgerechten oder kundenfreundlichen oder zeitgenössischen Einzelteilen begreifen.
… Doch da lauern lauter dumme Fallen: Weil es zu einfach wäre, zu sagen, dass der Zöllner da eben so furchtbar verachtet war wie die Ordnungsamtsmitarbeiterinnen heute beim Knöllchenverteilen oder die immer übersehenen Putzmänner, denen man 50 Cent auf‘s Schüsselchen legen soll, und dass es dann fast weltverbessernd-lebensverändernd ist, wenn jemand die Ungern-Gesehenen, die Parias wahr- und ernstnimmt. … Das stimmt natürlich voll und ganz, … aber dazu braucht die Welt nun wirklich nicht das Evangelium, sondern bloß eine halb-sportliche, halb-aggressive Erinnerung daran, dass die fette und hässliche Selbstgerechtigkeit, die bei den Reichen und Schönen, bei den Jungen und Erfolgsabhängigen so enorm wuchert, eine Eiterbeule am Charakter ist, die man nur eine Zeitlang mit einem schönen Muskel verwechseln kann: Irgendwann platzt die feiste Arroganz auf und dann stinkt ihr Träger so, dass er sich schnell und gründlich verlassen sehen wird.
Aber neben der sozialen Erklärung als Einbindung eines Außenseiters führt auch eine psychologische Einfühlung nicht zum Kern dessen, was Matthäus geschah. … Sicher, da hat jemand vom Nehmen gelebt, von einer Selbstbedienung, die haarscharf vielleicht noch legal, aber vermutlich weit entfernt von jeder Moral war. Dieses uns sehr vertraute Lebensmodell - heute überwiegend eher schon Lebensideal -, dass man sich getrost bereichern darf, wenn man Verantwortung oder Risiko übernimmt (man denke an die obszönen Gewinne, die gerade in unserer Zeit der Knappheit, der Teuerung und Not verzeichnet werden!) … dieses Lebensmodell des materialistischen Egoismus ist natürlich eigentlich ein Sterbensmodell. – Wir wissen’s doch: „Besitzen“ ist kein wirklich aktives Verb, sondern eine Form des Passivs. Wer besitzt, wird immer auch besessen. Und umgangssprachlich lässt es sich ganz flapsig auf den Punkt bringen: Etwas bloß zu haben, das gibt mir nichts. – Glück gehört mir ja nie: Es muss mir zufallen. Glück kann ich nicht machen: Weil es eine Gabe ist. … Und darum ist es zwar völlig richtig, dass Matthäus buchstäblich erlöst wurde, als er sein Amt, seine Steuerlisten, seine schwarzen Listen mit den Überschüssen für die eigene Tasche, sein Gehortetes und seine doppelte Sklaverei im Dienste Roms und Mammons gegen das ungesicherte Leben eintauschte. …Aber davon können uns der Buddha oder Bruce Chatwin genauso gut erzählen, auf ihre Weise auch Florence Nightingale oder Marlene Engelhorn, die österreichische Millionenerbin, die eine massive Erbschaftssteuer fordert, was Matthäus seinerzeit sicher hellhörig gemacht hätte …….
Was aber dem Matthäus geschah, ist nicht einfach mit dem Glückserlebnis der Integration und Akzeptanz oder der Befreiungserfahrung echten Konsumverzichts zu erklären. Seine Berufung durch Jesus eignet sich nicht als lehrreich-erbauliche Beispielgeschichte für das, was wir an anderen oder zu unserer eigenen Besserung tun sollten.
… Sondern es geht um das, was Jesus tut und welche Konsequenzen das hat!
… Und weil es eben nicht die Emanzipations- oder die Rehabilitationsgeschichte des Steuereintreibers ist, darum ist sie so spröde und so keusch: Denn dieser Mangel an allem, was uns interessieren und berühren und erregen könnte, … genau diese absolut unterkühlte Sachlichkeit, ohne den Tratsch- und Gossipfaktor einer Vorher-Nachher-Story aus den Medien wiegt uns ja in unbeteiligter Sicherheit.
Weil uns keine Andeutung erreicht, was da geschah, und weil wir nicht einmal eine kleine Moral daraus ziehen sollen – so à la „Denkt dran: Im Finanzamt sitzen auch nur Menschen!“, … „Stellt euch vor, ihr würdet wirklich mal aus eurer satten Bequemlichkeit aufbrechen und den Lebensstil wechseln!“ … –, darum bohrt diese rätselhafte Pointe von einer Berufung ohne Grund und öffentliche Beichte sich nur umso tiefer in unsern dicken Schädel:
… Kommt Jesus einfach so daher …….
Kommt daher, so kurz und knapp an Worten …….
Und trotz dieser Kargheit geschieht etwas Unwiderstehliches …….
Dieses Unwiderstehliche, das der ordentliche Matthäus - der beste Rechner, beste Schreiber, der von Amts wegen Angepassteste und Systematischste unter den späteren Zwölfen - weder wollte noch aufhalten konnte: Ist das nicht eine irrationale Gefahr, eine unkalkulierbare, elementare, erst analytisch und dann taktisch nicht zu beherrschende Dynamik? …
Doch. Genau das.
Trotz aller Bändigungs- und Entschärfungsversuche: Es gibt zu allen Zeiten die Erfahrung, dass Jesus nicht abgewehrt werden kann.
… Natürlich hat jede Epoche, jede Gesellschaft, jeder Einzelne bestimmte Gegenmittel, … manchmal heftige Abstoßungsreaktionen, … manchmal schier undurchdringlich wirkende Schutzmechanismen. Die Glaubensverdunstung, die Kirchenallergie, die Religionsmüdigkeit, … die gesunde Skepsis, die unnatürlich nährstoffarme Diät des Virtuellen, die schadstoffgefilterte Vermeidung von Wirklichkeitskontakt in unsern Tagen scheinen ja eine Herdenimmunität herbeizuführen gegen die Ausbrüche dessen, was den Matthäus gepackt hat.
Und doch ist die Botschaft seiner Berufung zu jeder Zeit buchstäblich „virulent“: Es kann geschehen - ausnahmslos jedem Menschen! -, dass es ihn oder sie erwischt, dass Jesu Leben, Jesu Lebensleidenschaft und Jesu Leidensleben unwiderstehlich überspringen und in einem anderen Menschen, in Matthäus, in dir oder mir sich auswirken!!!
… Und dann ...?
Dann finden Menschen sich da, wo die Anderen, die Nichtbetroffene, die Unbeteiligten einen Sicherheitsabstand wahren. … Ob diese Anderen die von Jesus Angesteckten dabei nun „Sünder“ oder „Schwachköpfe“ oder „Kranke“ nennen, das macht keinen Unterschied: Auch Matthäus, den man lange Jahre als Zöllner gemieden hatte, wurde ja noch am Abend seiner Berufung erneut gemieden … bloß nicht mehr so isoliert, sondern als Teil einer Gemeinschaft von Unberührbaren, einer Patientenkolonie abseits vom Alltag der zum Überleben Fitten, wo Zöllner, Sünder und andere Unerwünschte in der Gesellschaft Jesu leben und Sein Leben teilen.
Die Berufung war also für Matthäus keine Spontanheilung, kein therapeutischer Durchbruch - wie wir es kurschlüssig zu deuten neigen -, sondern im Gegenteil ein soziales Stigma, eine Behinderung für die konventionell respektierte Existenz, ein Ausschluss.
Aber – und das ist der Unterschied, … der Unterschied, den ich mir und jedem anderen nur von Herzen wünschen kann!!! – aber Matthäus erlebte seither, dass er nicht mehr durch Opfer und unter Opfern würde leben müssen. Nicht mehr durch Opfer würde er leben – sprich: Nicht mehr durch sein eigenes Vermögen, wie auch immer das erworben und geartet war –, sondern durch seine Schwäche, … seine Herzschwäche: Durch seine Bereitschaft, von Gott eben geliebt zu werden und diese Menschenliebe Gottes menschlich zu teilen!
Die Barmherzigkeit Gottes ist es, die die Menschenopfer – also alles, was Menschen opfern können: Selbstopfer, fremde Opfer, materielle Opfer, intellektuelle Opfer, kriminelle Opfer – nicht will! Gott, der Barmherzige, Der auf alles ein Recht hat, will doch nichts annehmen, sondern Selber geben, Sich Selber geben!
Und gerade so – als der Barmherzige, als Der selbst keine Überlegenheit Durchsetzende, sondern Verlustbereite – ist Gott der wahre und der einzige Arzt der todkranken Menschheit, die einander immerfort aus dem eigenen Leben ausschließt[i], entweder indem sie Zölle erhebt, wo sie Macht dazu hat, oder umgekehrt den Zöllner sofort ausstößt, sobald er ohnmächtig geworden ist.
In diesem Elend, das wir an der kleinen Gestalt des Matthäus ebenso wie an den großen Mächten der Geschichte erkennen müssen, … in diesem Elend, dass im Miteinander von gewöhnlichen Menschen keine Seligkeit außer der „Feindseligkeit“ herrschen zu können scheint, da ist die eine Hoffnung Derjenige, Dem das das Herz bricht.
Gott ist als Mitleidender, als das Mitleid schlechthin der Heilende, der Heiland.
Dieser eine Satz – der Satz, dass Gottes Krankheit, Seine Geduld (also Sein Patient-Sein) aus Liebe unsere Genesung, unsere ewige Zukunft ist! – … dieser eine Satz ist der Tod der alten Mächte und der Beginn des wirklichen Lebens.
„Gott ist als Mitleidender unser Heiland, Seine schmerzhafte, offene innere Wunde - Seine Barmherzigkeit - ist unsere Rettung!“
… Ja, dieser Satz, diese Wahrheit ist bedrohlich für die Logik und die Gesetze, für die Funktion und Ordnung unserer in Krankheit und Gesundheit, in Stärke und Schwäche, in Vermögende und Opfer, in Hilflose und Selbstherrliche eingeteilten Welt.
… Ja, man ahnt, dass wer immer von diesem Satz erwischt wird, wer immer diesen Satz in sein Herz und Wesen, Sein Denken und Handeln dringen und sich dort viral ausbreiten spürt, sich verzweifelt wehren mag … oder aber für immer angesteckt wird. … Berufen.
… Berufen, ganz ohne große Worte, ohne große Wunder, mit dem Arzt, Der den Schmerz kennt, mit dem Retter, Der das Leid teilt, selber zu teilen, … mit Ihm zu helfen, … mit Ihm zu tragen, … mit Ihm zu dulden, … mit Ihm zu sterben … und mit Ihm zu leben!
… Es kann uns alle erwischen …….
Gott sei Dank!
Amen.
[i] Der Anklang von „Sund“ (= Abgrund, Trennung) in „Sünde“ ist und bleibt ein unglaublich beredter Wink unserer Sprache: Das permanente Scheiden – „Meins, nicht Deins!“ – macht zwischen Menschen und Gott und Menschen untereinander das Wesen der Trennung, der Abkehr, des Abbruchs aus, die nur Gottes Barmherzigkeit - Seine Bereitschaft, Selbst Abgründiges zu teilen und zu dulden - überwindet.
Letzter So.n.Epiphanias., 29.01.2023, Mt 17,1-9, Mutterhauskirche, Dr. Katrin Stückrath
Sonntag, liebe Gemeinde, ist ein besonderer Tag.
Es ist ruhiger auf der Straße, man kann nicht einkaufen, man hat keine Termine, man muss ihn selber gestalten. Oft ist der Sonntag ein Familientag. Die Zeit scheint an ihm anders zu verlaufen als sonst. Die Erwachsenen lieben ihn: Endlich Zeit und Ruhe! Die Jugendlichen mögen ihn meist nicht so: Zu viel Zeit, zu wenig los, komischer Tag.
Ja, das ist so: Mit dem Sonntag muss man etwas anfangen, um ihn zu genießen. Der österreichische Schriftsteller Peter Rosegger schrieb: „Gib der Seele einen Sonntag und dem Sonntag eine Seele.“ Er meint also, dieser Tag könne unserer Seele gut tun. So steht es übrigens auch in unserem Grundgesetz: „Der Sonntag ist ein Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“. Steht da so drin in Artikel 139! Unser deutsches Grundgesetz, der höchste Rechtstext, spricht von Seele und weiß auch, man muss etwas für sie tun, sie „erheben“. Ja, Erhebung haben wir oft nötig, vor allem im Winter, wenn alles so grau erscheint und die Kälte weh tut. Und mehr weh tut noch Inneres: Kummer, Sorgen, Angst, Trauer. Darüber muss sich die Seele ab und zu erheben.
Was tut Jesus an einem Sonntag? Es ist eigentlich ein Sabbat, natürlich, denn Jesus ist ja Jude. Kurze Erklärung: Als Jesus am Sonntag auferstand, legten die Christen den Sabbat, den Tag der Arbeitsruhe, auf den Sonntag. So wurde der jüdische Sabbat unser Sonntag, einen Tag versetzt aber inhaltlich ähnlich. Was tat Jesus an einem Sabbat? Davon erzählt ein Bibeltext, den ich frei widergebe, denn er ist so voller Details, die ich nicht alle erklären kann. Sie können ihn später nachlesen in Matthäus 17, Anfang des Kapitels.
Also: Jesus nimmt drei Jünger mit sich auf einen hohen Berg. Er geht nicht in die Synagoge zum Gottesdienst an diesem Sabbat, sondern auf einen Berg, das ist schon mal bemerkenswert. Warum an diesen besonderen Ort?
Die Tage zuvor, so erzählt es Matthäus, war Jesus mit seinen Jüngern in der Gegend der römischen Küstenstadt Caesarea Philippi gewesen. Das war DIE Hafenstadt, wo alle römischen Schiffe ankamen, wo es große Garnisonen gab. Caesarea Philippi – die „Kaiserstadt“ war der Ort, von dem aus die Römer das Land beherrschten. Kein Wunder, dass bei der Gruppe um Jesus die Machtfrage im Raum stand: Wer ist dieser Jesus im Vergleich zum Kaiser in Rom?
Die Jüngerinnen und Jünger waren jetzt schon einige Zeit mit Jesus unterwegs. Sie hatten Tolles erlebt: Heilungen von kranken Menschen, mitreißende Worte von Jesus, sie waren willkommen geheißen worden in vielen Häusern. Aber – da gab es eben noch die Fremdherrschaft der Römer und die Frage, ob das, was sie mit Jesus erlebten, nur eine schöne Auszeit war? Oder könnte mit Jesus eine völlig neue Zeit der Gerechtigkeit und des Friedens einziehen? – dann müsste er stärker sein als die Römer.
Jesus hatte das gespürt und sie gefragt: „Für wen halten die Leute den Menschensohn?“ Jesus sprach von sich selbst nämlich als Menschensohn. Das ist einerseits sehr bescheiden, man könnte auch „Mensch“ oder „Menschenkind“ sagen. Das ist andererseits überhaupt nicht bescheiden, denn die alten Propheten sprachen vom Menschensohn und meinten damit das ganze Volk Gottes, ganz Israel oder auch die Menschlichkeit schlechthin. Auf jeden Fall: Petrus antwortet und sagt: „Ich halte dich für den Messias, den gesalbten König von Gott!“ Und Matthäus erzählt, dass Jesus das gut fand.
Aber dann fängt Jesus an, den Jüngerinnen und Jüngern zu erklären, was für ein Messias er ist: Nämlich ein besonderer, einer der vieles erleiden muss, getötet wird und auferstehen wird. Das findet Petrus gar nicht gut. Es gibt richtig Ärger zwischen Petrus und Jesus deswegen. Und wohl deshalb nimmt Jesus ihn und Jakobus und Johannes, (die das mit dem Leiden und dem Dienen auch nicht verstehen können, so erzählt es eine andere Geschichte) er nimmt die drei am Sabbat mit auf den hohen Berg. Sie müssen etwas kapieren.
Und das ist, was die drei Jünger sehen: Auf dem Berg erscheint Jesus ganz anders, von Licht durchschienen. Und er bekommt zwei Gesprächspartner: Mose und Elia erscheinen und reden mit Jesus. Petrus findet es erst super und meint: Hier bleiben wir für immer! In dem Augenblickwirft eine Wolke ihren Schatten auf sie und sie hören eine Stimme aus der Wolke: Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe, auf den sollt ihr hören. Das ist dann endgültig zu viel für die Jünger. Sie bekommen große Angst und fallen auf den Boden. Wie tot liegen sie da. Mit dem Gesicht auf der Erde, wird erzählt.
Aber dann macht Jesus etwas: Er geht zu ihnen, fasst sie an und sagt: „Aufersteht und fürchtet euch nicht.“ Ja, die Wörter, die hier benutzt werden, sind die gleichen, mit der die Auferstehung von Jesus erzählt wird. Der Engel sagt zu den Frauen am Grab: Fürchtet euch nicht, er ist auferstanden. Die drei, Petrus, Jakobus und Johannes erleben hier die Auferstehung vorweg. Auf dem Berg an dem Sabbat, dürfen sie einen Blick in die Ewigkeit werfen, in Gottes Reich. Sie sollen verstehen, welche Kraft da am Werk ist. Jesus wird nicht einfach leiden und sterben. Gottes Macht ist größer als der Tod. Er wird wieder aufstehen. Er ist wirklich der Sohn Gottes. Aber das ist nichts Exklusives. Sohn Gottes ist das ganze Volk Israel. Was heißt das dann?
Ich stelle mir vor, dass Petrus still war, als sie vom Berg hinunter steigen. Wie es in dem Kopf von Petrus arbeitet. Er versucht das Erfahrene zu verarbeiten: „Jesus ist der Sohn Gottes. Er wird am Ende auferstehen, hat er gesagt. Aber wir alle sind eigentlich Söhne und Töchter Gottes. Logisch, deshalb bin ich auch eben von den Toten auferstanden. Es passt alles zusammen. Jesus ist der Sohn Gottes und wie er uns hier auf den Berg mitgenommen hat, so wird er uns immer weiter mitnehmen, auch nach Jerusalem, aber auch nach seinem Tod darüber hinaus.“
Als sie so vom Berg heruntergehen, wird Petrus klar, dass Jesus das alles ist: Menschensohn und Messias und Sohn Gottes. Es sind verschiedene Wörter, aber allen gemeinsam ist: Gott ist am Werk für sein Volk. Er ist in diesem Jesus, um den Menschen Hoffnung zu geben. Jesus gibt Sicherheit gegen Angst, Mut gegen Gewalt, Gerechtigkeit gegen Unrecht.
Ich stelle mir vor, dass Petrus Jesus noch etwas gefragt hat: „Woher hast du das alles, was du geben kannst? Wieso bist du so stark?“ Und ich stelle mir vor, dass Jesus geantwortet hat: „Mose und Elia haben doch mit mir geredet.“ Bei Mose und Elia gibt es Parallelen zu Jesus: Mose hatte auch Angst, aber Gott hat ihn am Dornbusch beauftragt, sein Volk, die Kinder Israels aus Ägypten zu befreien. Mose hat es geschafft, das war das Ende der Sklaverei. Und Elia war der Prophet, der für Gott gekämpft hat und am Ende nicht gestorben ist. Er ist in einem Wagen zum Himmel gefahren. Mose und Elia haben Jesus Mut gemacht.
Liebe Gemeinde, ich komme noch einmal auf den Anfang zurück, auf den Sonntag. „Gib der Seele einen Sonntag und dem Sonntag eine Seele.“ Lassen Sie uns den Sonntag als eine besondere Chance wahrnehmen. Ihn als besondere Zeit wahrnehmen. Man kann an einen besonderen Ort gehen. Es kann ein Berg sein oder auch eine Kirche. Wichtig ist: Mose und Elia reden mit einem. Hier in der Kirche ist das ganz einfach: Denn Mose haben wir in den 5 Büchern Mose und Elia steht ebenfalls in der Bibel und alle Prophetenbücher ebenfalls. Wir können Mose und die Propheten mit uns reden lassen durch die Lesung im Gottesdienst. Oder wir lesen selber in der Bibel. Oder wir lesen einen anderen guten Text oder schauen ein gutes Video.
Wir gucken aber nicht so ein Tictoc-Video, wo man denkt: Mist, ich bin nicht richtig, ich müsste anders sein. Nein, wir suchen Ratgeber und Freunde wie Mose und Elia, Menschen, oder Texte oder etwas, das Mut gibt. Mut gegen die Hoffnungslosigkeit und die Resignation und die Traurigkeit. Mut gegen die Gewalt, die in der Welt im Spiel ist. Mut gegen die Ausbeutung, die Sklaverei.
Lassen wir Mose und die Propheten mit uns reden, damit wir merken: Gott hat ganz andere Ziele mit der Welt. Er wirkt in ihr durch Menschen wie Jesus. Er lässt sein Volk, er lässt die Menschheit nicht allein. Er taucht alles in anderes Licht.
Ja, liebe Gemeinde, das zu erfahren ist möglich an einem Sonntag. Was an einem Sonntag alles passieren kann! Wir blicken auf einmal in Gottes Zeit, in seine Welt. Nicht alles, was uns bedrückt, ist damit vorbei. Aber es kann in einem neuen Licht erscheinen. Gottes Liebe kann spürbar werden. Und wir kriegen neuen Mut. Das kann an einem Sonntag alles passieren!
Letzter Sonntag nach Epiphanias, 29.01.2023, Stadtkirche, Kantatengottesdienst mit Telemanns "Ihr Völker, hört!" (TWV 1:921) / Matthäus 17, 1 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Letzer S.n.Epiphan. - 29.I.2023
Matthäus 17, 1-9 & Kantate G.Ph. Telemann, „Ihr Völker, hört“ (TWV 1:921)
Liebe Gemeinde!
Wenn Ludwig Wittgenstein - der große Denker der klaren Logik und der eher unklaren Menschensprache - Recht hat, dann ist unser Gottesdienst heute, mit all seinem Drum und Dran heller Unfug. Nicht das oder vielmehr „Der“, Der uns hier versammelt, fällt unter das harte Urteil des Philosophen, aber sehr wohl alles, was wir hier bisher getan haben. Denn Wittgenstein hat einen Satz geprägt, der paradoxerweise zum geflügelten Wort wurde, obwohl er die Reichweite aller Worte drastisch stutzt: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.[i]“
… Dieses völlig zu Tode wiederholte und doch unerschöpflich treffende Zitat aus Wittgensteins Werk sagt uns heute unverblümt zweierlei: Die Theologie ist verrückt und Telemann ist verrückt. … Weil beide nicht schweigen können, weil sie auf je ihre Weise formulieren und hörbarmachen wollen, was logisch - also mit dem Logos, mit der verstehbaren Mitteilung - gar nicht auszudrücken ist:
Theologie, Liturgie und Kirchenmusik kreisen schließlich alle um das Unaussprechliche, … sie kreisen alle um ein Geheimnis, ein Schweigen, das völlig undurchdringlich wäre, wenn nicht aus dem Abgrund des Mysteriums und vom Gipfel jenseitiger Ferne ausgerechnet der göttliche Logos selber gekommen wäre, um sich in Menschenmündern mitzuteilen und sich schließlich in einem Menschenkind - rätselhaft und greifbar zugleich - zu offenbaren.
Seither, seit Abrahams Berufung, seit Moses Begegnung auf dem Sinai, seit Elias und Jesajas und Hesekiels beinah leibhaftigen Berührungen durch Den, Der sie sandte, reden Menschen in Menschenwendungen nicht nur über, sondern aus Gottes Fülle. Und an Weihnachten kam der, von dem sein Apostel sagt: Wir alle - wir Verkündiger Jesu Christi - haben Gnade um Gnade aus der fleischgewordenen Fülle dieses Wortes genommen (vgl. Joh.1,16). ——
Wenn nun aber der Apostel und Evangelist Johannes, der in der Ostkirche immer nur mit dem Finger auf den Lippen und dem Engel am Ohr als der größte Schweigende und Lauschende abgebildet wird, sich an Wittgensteins Prinzip gehalten hätte, gäbe es keine christliche Theologie, Liturgie und Musik: … Das kann man so verkürzt und ohne Matthäus, Markus und Lukas zu nahe zu treten, sagen. Es gäbe also weniger Verrückte, die das unendlich Unbegreifliche und unnahbar Gegenwärtige begrüßen, beschreiben und besingen wollen, das uns in Jesus aus Gott entgegenströmt.
Vielleicht wäre es ja auch ganz gut, wenn sich die Sprüche und die Widersprüche des Glaubens langsam wieder in’s Verschwiegene und dann ins Schweigen zurückzögen. … Die Mehrheit unserer Zeitgenossen fände es erkennbar sinnvoll oder zumindest gleichgültig, wenn das Christentum einfach gar nicht mehr dazwischenfunkte: Angefangen beim blöden Glockenläuten über den unverständlichen, aus der Zeit gefallenen Klangteppich altmodischer Floskeln, barocker Musikmotive und sonstiger feierlicher Versatzstücke, bis hin zu den Polit-Parolen und moralischen Einlassungen der Kirchen-Gremien … wie Wenigen würde das wohl fehlen?! … Es gäbe eben noch mehr TikTok, noch mehr Twitter, noch mehr Spotify, wenn die Lautsprecher, die Chöre und der Lobpreis der Christen endlich Ruhe gäben!
Doch noch etwas anderes würde ausfallen, wenn die Christen ihre Kommunikationskanäle, ihre Lieder und Predigten, ihre Bete- und Bekenntnisversuche, ihre Sprache und ihre Stimme stummschalteten. Was man am wenigsten vermuten würde - so verrückt ist es! -, und gleichzeitig das Allerbeste würde ausfallen, wenn das Schweigen der Christen einträte: … Das Licht!
… Sehr weit muss man ja in der Bibel nicht vordringen, sehr tief muss man nicht forschen, um auf die fundamentale Behauptung zu stoßen, dass schon die Initialzündung, die kreative Energie, von der alles Organische im Universum unmittelbar abhängig ist, keinen bloß physikalisch-materiellen, sondern einen logischen Funken brauchte. Das Licht kommt aus dem Wort!
Die auch in atheistischen Modellen grundlegende Kraft bei der Entstehung der Welt ist nach dem biblischen Zeugnis tatsächlich das ursprünglichste WORT GOTTES: „ES WERDE LICHT“ (1.Mose1,3).
… Wenn Gott Sich also äußert, wenn Er Sich mitteilt, entsteht Helligkeit!
Das ist ein Grund-Satz, aus dem viele, viele, … vielleicht alle weiteren Sprechversuche und Aussagen des Glaubens entspringen:
Die Sprache Gottes ist erleuchtend. Und darum ist das Sprechen, das Ihm antwortet, ist das Echo, das Seinen Ruf aufgreift, notwendigerweise auch Rede vom Licht.
Dass das natürlich verrückt ist, dass es unmöglich und unleistbar, aber mehr noch nötig und unverzichtbar ist, kann man schnell erkennen: Wenn unsere Worte verdunkeln würden, wenn unsere Sprache nicht dem Einsehbaren, sondern dem Schatten dienen wollte, dann wäre alles Reden ein Instrument der Lüge.
… Dass es das sein kann, erleben wir immer häufiger: Wir stehen ja mitten in einem Wandel der Kommunikation, die statt zu erhellen und aufzuklären immer öfter vernebelt. Diese Dunkelkunst der Unwahrheit, diese schwarze Magie des Behauptens, des Verzeichnens und Verschwörens hat eine Epoche der Unklarheit, des Verschwommenen und Verzerrten hervorgebracht. Was man von der Welt wissen und wahrnehmen kann, seit so viel Zwielichtiges und Nebulöses von menschlichen Lippen und vom menschlichen Tippen verbreitet wird, ist getrübt. Klare Perspektiven verlaufen wie Tinte auf Löschpapier. Undurchschaubar verschmutzen Interessen und Absichten die Ansichten, die man gewinnen will. … Welt-Anschauung wird ein dreckiges Geschäft.
Doch Gott lob! gibt es noch die Unverdrossenen, die das Verrückte tun, mit dem Georg Philipp Telemann uns heute erfreut hat. Es kommt in seiner Epiphanias-Kantate – obwohl ihre Bezeichnung spontan so sehr an die verdammt martialische „Internationale“ erinnert („Völker, hört die Signale!“) – gar nicht mit Pauken und Trompeten daher, sondern luftig und flötenleicht, … das hellauf Verrückte unseres Glaubens mit seinem unmöglichen Imperativ: „Ihr Völker, hört … das Licht!“[ii]
Angesichts der dunklen Zeiten heute und der Schwarzmalerei, die auch einen objektiven Blick auf unsre Gegenwart prägen kann, muss man eigentlich laut lachen und sie lieben … diese Christen, diese heiter fühlenden Barockmenschen im Zeitalter der Aufklärung: Obwohl jeder weiß, dass das nicht möglich ist, versuchen sie, tatsächlich das Licht zu beschreiben und hoffen, optische Phänomene akustisch zu spiegeln und zu nutzen!
Es haben sich schon ganz andere Dichter die Zähne dran ausgebissen, mit Worten Farben zu schildern, die man doch sehen muss; schon ganz andere Musiker haben’s versucht, mit Klängen die Sonne zu vergegenwärtigen[iii], die ganz unbeschreiblich ist, weil auch das sonnenhafte Auge[iv] sie selber doch nicht fassen kann.
Aber ein Mensch wie Telemann - der Leuchtende und zugleich Unaufdringliche - lässt es sich trotzdem nicht nehmen, eine ganze Kantate, die die verschiedenen Schimmer und Strahlen und Herrlichkeiten, den Glanz und die Glut und die Klarheit Gottes in den Augen des Glaubens zum Thema hat, aus Tönen zu weben. … Obwohl es niemals gelingen kann, die Transparenz und Allgegenwart, den spektrale Farbenreichtum und die physikalische Notwendigkeit des Lichtes nachzuahmen, das schier alles erfasst und aus der allgemeinen Unsichtbarkeit zur Kenntlichkeit bringt, versuchen der Glaube Telemanns und der Glaube der Theologie genau das immer und immer und immer wieder. … Obwohl wir nicht davon reden können, können wir nämlich wirklich noch weniger davon schweigen: Wir müssen das Licht besingen und beschreiben!
Jeder Klang und Gedanke im Christentum wollen ja erhellen!
Seele und Zunge, Geist und Mund sind von Gottes Klarheit nun einmal entzündet und also vollziehen sie in den Wellen ihres Schalls das Strahlenmuster der Erleuchtung nach, so gut sie nur irgend können.
Wenn es demnach so etwas wie ein gültiges Merkmal der christlichen Rede, der Botschaft des Christentums gibt, dann ist es die einfache Unterscheidung: Wo sie verdüstert, ist sie nicht recht! … Wo man an den unzulänglichen oder den ungewohnten, wo man an den allzu gewohnten und darum vielleicht langweilig wirkenden Äußerungen des Glaubens und der Gläubigen keinen Funken, keinen Glanz wahrnimmt, … wo sie gar nichts ausstrahlen, da sind sie verkehrt!
Wo es bloß um Angst oder Schuld geht, … wo du, der Mensch, dich in den Schatten gestellt siehst oder nur deine dunklen Seiten und Sorgen begegnen, da geht’s nicht um das Wunder, dass Worte es tatsächlich Licht werden lassen und in den Herzen die Hoffnung hell machen können!
Zeugen der Finsternis, Nebelwerfer, Schattenflüsterer, dunkle Propheten und Sänger, die ihre Hymnen nur an die Nacht[v] richten können, gibt es so viele.
Wenn es aber auch weiterhin Menschen geben soll, die von Jesus Christus durchdrungen und durchströmt sind, dann muss man es an ihrer Helligkeit trotz allen Dunkels spüren.
Das ist nämlich die Botschaft, die wir auch an diesem letzten Sonntag nach Epiphanias, ja gerade an ihm hören: Die Finsternis vergeht und das wahre Licht scheint jetzt (1.Joh.2,8)!
Mit dem adventlichen Warten auf den Aufgang der kommenden Sonne, mit dem weihnachtlichen Geheimnis, dass das Licht der Welt in die Welt gekommen ist, in einer winzigen Flamme der Liebe, die aber gerade deshalb von der Finsternis weder begriffen, noch ergriffen werden konnte (vgl. Joh.1,5!), und mit dem Epiphanias-Ereignis, dass die Lichtsuchenden aus Morgenland es zeigen, wie alle Menschen überall angestrahlt und angezogen und erleuchtet werden können ……. mit diesen lichtreichen liturgischen und seelischen Erfahrungen der vergangenen zwei Monate stehen wir jetzt an einem Scheideweg:
Kranz und Kerzen und Baum und Lichter und Stern haben ihre Zeit gehabt. Sie entschwinden den Blicken: Viel von unserm Weihnachtswachs und unsern Kerzenstümpfen bringt man in diesen Wochen tatsächlich an einen der finstersten nicht „Brenn“punkte, sondern Verbrannt-Punkte dieser Erde, damit die Menschen im Kriegselend der Ukraine wenigstens ein erbärmliches Anflackern gegen die schwarze Kälte spüren.
… Und so scheint es, als solle mit dem Ausklang der Epiphaniaszeit nun überall das Graue und Triste, die bleiche Furcht vor dunkler Zukunft anbrechen.
Doch jedes Wort und jeder Klang bei uns, lauten und leuchten anders!
Gewiss: Es ist saudüster auf Erden und das Schrecklichste, was uns drohen könnte, wäre ein letzter, finaler Blitz, den Menschen zünden können, um dadurch eine unvorstellbare Nacht auszulösen. Und noch dazu wird es nach dem Karnevalsflimmern in wenigen Wochen in unsern Lebensgewohnheiten, in unserer Liturgie und Predigt rasch wieder gedämpft und ernst, leise und nach Innen gekehrt zugehen.
Aber wir sollen uns nicht täuschen lassen und wir sollen auch nicht enttäuschen!
… Auch, nein gerade die Wirklichkeit, … auch, nein gerade der Alltag, … auch, nein gerade das Leid und die Trübsal sind nicht mehr lichtlos, sind nie mehr lichtlos. Über ihnen allen und in ihnen und durch sie hindurch strahlt tatsächlich ein Glanz, der nicht verlöschen wird, … der ewig ist und war und bleibt.
… Wir nehmen ihn nicht immer wahr. Und können das auch nicht.
… Nicht immer können die Völker „das Licht hören“.
Aber alle unsere Gottesdienste und Gebete, alle unsere Gedanken und Gewohnheiten müssen und werden auf die eine oder andere Weise erhellt, illuminiert und durchglänzt sein von Dem, bei Dem auch die Nacht leuchtet wie der Tag und Finsternis wie das Licht ist (vgl. Ps.139,12).
An diesem Glanz, an dieser Verklärung – die kein Weichzeichnen, sondern ein Scharfstellen ein Fokussieren auf die Quelle des Lichtes und des Leben ist – … an diesem Glanze, an dieser Verklärung sollen wir heute unsere Augen und unsere Worte, unsern Geist und unsern Glauben aufladen:
Damit wir – wie wir’s gleich nüchtern und ernüchternd hören werden – nicht den Fehler machen, zu denken, wir dürften schon ganz abgeklärt in reinem Glanz aufgehen und müssten nicht mehr weiter durch Trübsal und Alltag und Wirklichkeit ziehen.
… Wir werden weiter ziehen.
… Aber wir werden dabei nicht schweigen, von Dem, Der eigentlich alles Reden und Begreifen, alle Erkenntnis und Einsicht übersteigt … und uns dennoch vor Augen stehen wird und heller bleibt als alles andere, bis wir selbst ganz und gar zu Seinem Licht kommen dürfen in der Auferstehung der Toten: Jesus allein!
Denn das ist das Evangelium (Matth.17, 1-9):
Jesus nahm mit sich Petrus und Jakobus und Johannes, dessen Bruder, und führte sie allein auf einen hohen Berg.
Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.
Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia; die redeten mit ihm.
Petrus aber antwortete und sprach zu Jesus: Herr, hier ist gut sein! Willst du, so will ich hier drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine.
Als er noch so redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!
Als das die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und fürchteten sich sehr.
Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht!
Als sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein.
Und als sie vom Berge hinabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: Ihr sollt von dieser Erscheinung niemandem sagen, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist.
Amen.
[i] Dies der finale Satz (No.7) in Wittgensteins bahnbrechendem „Tractatus logico-philosophicus“ (Ludwig Wittgenstein Werkausgabe Band I: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916 u.a., [neu durchgesehen v. Joachim Schulte], Frankfurt/M 19907, S. 85). – Das aporetische Motiv des Schweigens ist in der exakten Mitte der Telemann-Kantate Nr.921 in einem reichentfalteten Rezitativ inhaltlich wie musikalisch überraschend motivgebend: Nach einer ungewöhnlichen Pause konstatiert die Solostimme dort „Doch welche Stille! Ist schon das Lobgeschrei, ist schon der Jubelton vorbei?“
[ii] Mit diesem programmatisch rezitierten Imperativ – der das performative Paradox der biblischen Materialisierung durch’s Wort nachvollzieht – beginnt die Kantate TWV 1:921 leuchtend unmittelbar: „Ihr Völker, hört wie Gott aufs Neue spricht: Es werde Licht!“
[iii] Neben vielen anderen musikgeschichtlichen Beispielen der photonen (griechisch Phōs = Licht) Phonetik (griechisch Phonē = Stimme) ist an das Gustav Mahler intensiv poetisch wie musikalisch beschäftigende „Urlicht“ zu denken, das er immer wieder und weiter aus „Des Knaben Wunderhorn“ auch symphonisch-vokal bearbeitet hat.
[iv] „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt es nie erblicken; / Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt uns Göttliches entzücken?“: Der berühmte aphoristische Vers Goethes begründet nicht nur seine Farbenlehre, sondern seine poeto-mythologische Kosmos-Hermeneutik insgesamt (zitiert nach: Goethes Gedichte in zeitlicher Folge, hgg. v. Heinz Nicolai, Frankfurt/M 19907, S. 556).
[v] Bei aller Liebe zur Romantik: Novalis‘ epochale „Hymnen an die Nacht“ sind ohne das aufgeklärte, das heiter-helle Gegengewicht des christlichen Zeugnisses in seiner biblischen, barocken und (meinetwegen) auch rationalistischen Gestalt nicht heilsam denk- und deutbar.
3.Sonntag n. Epiphanias, 22.01.2023, Stadtkirche, Römer 1, 13-17, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.So.n.Epiphan. – 22.I.2023
Römer 1, 13-17
Liebe Gemeinde!
… Mir hier auf der Kanzel fehle der Zweifel, höre ich häufig. Und wo man keinen Zweifel spürt, da sei das Gegenteil - das, was wir „Glauben“ nennen - eben grade nicht glaubhaft: Um glaubhaft etwas vom Glauben zu erzählen, müsse man die Frage, die Ferne, den Widerstand spüren. … Nicht Leichtigkeit. … Nicht eine Selbstverständlichkeit, die niemand teilen kann. … Nicht das Einfache, das in Wahrheit doch so kompliziert sei. … Kompliziert wie die Predigten, hier auf der Kanzel. ……. ——
Das alles ist so.
Wo wir uns selbst oder einander vormachen, es sei einfach in dieser Welt an die Liebe zu glauben, die Gott und Mensch ist, … es sei einfach, in dieser Welt, 2023 ein Gefühl für die Ewigkeit zu haben, die Mensch und Gott gemeinsam haben können, … es sei einfach, in dieser Welt, 2023 angesichts der menschlichen und materiellen Sackgassen aus einer an sich unglaublichen Liebe und einer für alle unfassbaren Ewigkeit hier und jetzt Freude und Hoffnung zu schöpfen, … wo wir uns selber oder einander vormachen, das sei einfach, da ist es ganz kompliziert. Glaube nicht weniger als Zweifel. Sie sind ganz kompliziert, in ihrer jeweiligen Einfachheit: Wenn wir nichts vom Guten wahrnehmen, ist es schreck-lich. Und wenn wir nichts vom Schrecklichen wahrnehmen, ist es nicht gut. …….
… Was also?
Einfach kompliziert bleiben … und kompliziert einfach sein, werden wir müssen. Um des Zweifels genau wie um des Glaubens willen. Damit sie den nötigen Raum in dieser Welt behalten: In einer Welt nämlich, in der es keinen Glauben, nur Zweifel gäbe, möchte wahrscheinlich nicht nur ich nicht wirklich leben: Es wäre die Welt der Verzweifelten. Aber in dieser Welt zu leben, ohne dass Zweifel den Glauben bewegten, aufwühlten und provozierten, kann ich mir auch nicht vorstellen: Es wäre eine Welt der Blinden, Tauben und Stummen, … es wäre das Grab.
Zweifeln wir also! Glauben wir! Und leben wir weiter, gewiegt und geweckt von diesen beiden Kräften, die uns vor geistigem Terror und seelischer Lähmung bewahren.
… Nur eines wünsche ich ganz bewusst ganz fern von mir … und niemand anderem an den Hals: Die Scham, die beides manchmal begleitet.
Es gibt ein Gefühl – und die Kirche hat verderblich lang daran gearbeitet, es zu streuen –, als sei es Menschen vorzuwerfen oder als seien Menschen in der Bringschuld, wenn sie nicht glauben können, wenn ihnen Ohren für die fremde Botschaft, wenn ihnen Vertrauen in die fern-nahe Liebe und der Kinder-Mut zu bestätigungsloser Gewissheit fehlen.
Dass das Schwachsinn ist, … brutaler Schwachsinn, wird heute vermutlich allen klar sein: Sich auf Gott einzulassen, ist keine menschliche Verpflichtung, sondern reine Menschenfreiheit. … Wir Christen würden sagen: Sich auf Gott einlassen zu dürfen, ist eine einzige unverdiente, abenteuerliche und unverschämte Gnade.
Wer’s nicht kann, wer’s nicht erlebt, wem’s nicht passiert, steht wahrlich nicht in der Kritik!
Doch wem’s widerfährt, wer’s darf oder muss, wen es allmählich oder schlagartig überkommt – das grund- und ziellose Sichersein der Gottverbundenen –, der darf sich auch nicht schämen oder rechtfertigen müssen. Denn so wie es immer banal wird, wenn sich Zweifel oder Glaube selbst erklären sollen, genauso ist es immer bitter, wenn sie sich selber unterdrücken und an die Leine legen müssen. Weder Christentum noch Atheismus verdienen es, geheuchelt zu werden. … Sie brauchen frische Luft und freien Lauf. —
… Und deshalb ging er nach Rom!
Man muss sich das einmal vorstellen: Ein ursprünglich vermutlich ziemlich blasser Torah-Student aus einer der Jerusalemer Akademien für pharisäische Schriftgelehrte. Er hatte fern von Israel, im heimatlichen Tarsus die Sehnsucht der Diaspora nach dem Mittelpunkt der Bibel und ihrer Heilsgeschichte von Kindesbeinen an geteilt. … Und war dann dort, wo der Himmel die Erde berührt. Wo man sein muss, wenn die Auferstehung der Toten anfängt. Wo man bleiben kann, wenn in den Tagen des Messias das Reich der Gerechtigkeit beginnt und alle Völker dorthin, zum Zion strömen werden.
Damit das so werden möge, wollte er die Verwirrten zurück auf den schmalen Weg bringen. Er wusste, dass es nicht mit einem Handwerker aus Galiläa und ein paar prophetischen Zeichen, ein paar prophetischen Predigten getan sein würde, … schon gar nicht wenn das Ende so schmählich war, … eine skandalös-satirische Hinrichtung des „Königs aller Juden“ durch römische Henker. Deshalb zog er nach Damaskus hinauf, um die Verwirrten, die Verlaufenen und Verirrten, die sich selber dort ausgerechnet als die Gemeinde „des Weges“ bezeichneten (vgl. Apg.9,2) vorm Straucheln und Scheitern zu bewahren – … so wie wir es eben gerade mit gut pharisäischen Worten, ganz im Geist des Saulus gesungen haben: „Erleuchte, die da sind verblend’t, / bring her, die sich von uns getrennt; versammle, die zerstreuet gehen, / mach feste, die im Zweifel stehn.“ (EG 72,5)
… Was aber dann geschah - vor den Toren von Damaskus -, das feiert die Kirche am kommenden Mittwoch, am 25.Januar, genau einen Monat nach Weihnachten: Denn die Berufung des Saulus zum Apostel war in der Tat auch eine Geburtsstunde - er selbst sagt einmal ja tatsächlich im Rückblick auf das Damaskus-Ereignis, dass der auferweckte Christus da mit seinem überirdischen Glanz wie in einem Brutkasten aus einem abgetriebenen Foetus, aus einer ungewollten oder lebensunfähigen Totgeburt einen Anfang gemacht hat (vgl. 1.Kor.15,8) … wenn auch eine kleinen und geringen, … einen, der zurecht „Paulus“, „Knirps“ heißt .
So jedenfalls kann der Glaube auch über einen Menschen kommen: Unter schauderhaft widrigen, völlig destruktiven, urknall-chaotisch-kreativen Verhältnissen.
Für Paulus, der das Undenkbare einsehen musste, … dessen Sicht vor lauter Licht erlosch, … der sich in den Armen derer fand, gegen die er die Hand erhoben hatte, … und der nun Dem nachfolgte, Den er nicht weiter verfolgen konnte, … für Paulus ist seine Berufung, seine Bekehrung, dieser absurde Kopfstand seiner sämtlichen Ansichten ein Schock: Falsches wird Wahrheit. Bekämpftes wird Segen, … das Abgelehnte mutiert zum Liebsten, … das Ausgeschlossene zeigt sich als Tür und das unzweifelhaft Feststehende tanzt aus der Reihe und durchkreuzt und durchquert sein Leben und dreht ihn auf und um, und sein Anti-Christ wird sein Christus und Jerusalem wird so groß, ja so heidenweltweit, so global, dass der Vogel, der mit Leib und Seele sein Nest doch in der Stadt Davids hatte, plötzlich ausschwärmt und überall landen kann – auf der arabischen Halbinsel war er (vgl. Gal.1,17), in Galatien in Sichtweite des Kaukasus, auf dem Peloponnes und auf Malta, in türkischen, griechischen und italienischen Gefilden, … wer weiß: vielleicht sogar in Katalonien[i] … überall für Christus, mit Christus, durch Christus.
Und überall als einer, der sich so total korrigiert hatte, der sich so relativiert und demontiert hatte, der sich so radikal überholt und widerlegt und re-orientiert hatte, dass der Gedanke an die Schärfe und lawinenartige Wucht seiner Zweifel und die unlösbare Nabelschnur, die seinen neuen Glauben mit dem Alten verband, das ihm zugleich sicher und fraglich, zugleich vertraut und verkehrt, zugleich als klar und als dunkel erschien, uns eigentlich völlig überfordert!
… Wie kann ein Mensch solche Zweifel zulassen an allem, was für ihn fest- und wofür er selber einstand? … Wie kann ein Mensch solche Gelassenheit und Zustimmung verkörpern, wenn eben solche Erdstöße und Orkanwirbel den Rahmen und das Bild seiner Welt weggefegt haben?
Paulus, den wir als den Apostel des Glaubens mit ganz großem „G“, als Garanten des reformatorischen „sola fide“ kennen, ist also in seiner eigenen Geschichte der Kronzeuge eines schlechthin umstürzenden Zweifels. Ihm war es nötig - und möglich! -, auf einmal alles aus der entgegengesetzten Richtung und in einem neuen Licht zu sehen. … Über wie viel von seinem Schatten der Erblindete dabei springen musste! … Wie viel Unheimliches ihm dabei offenbart wurde und wie viel Klares ihm verschwamm, das können wir Gewohnheitschristen uns genauso wenig vorstellen wie die Gewohnheits-Atheisten und überhaupt sämtliche Gewohnheitstiere!
Paulus ist damit also bestimmt ebenso als der Schutzpatron der Zweifelnden und Umdenkenden - der aus der Umkehr Denkenden - zu betrachten, wie als der Inbegriff des standhaft Überzeugten! ———
Wenn wir uns da an die Verbissenheit der Lügner und der Leugner erinnern, die uns umgeben und die wir selber sind, wird Paulus umso bemerkenswerter: Jeder von uns weiß, was nicht mehr moralisch vertretbar ist. Jeder von uns weiß, was wir - bei Androhung der Todesstrafe für Dritte - aufgeben und ändern müssten an unserm makabren Wohlstand und verzehrenden Verhalten. Jeder von uns sieht ernste und wichtige Ideale - den Pazifismus etwa - von einer Wende der Zeiten infrage gestellt werden… Stürzen wir darum indes zu Boden und kehren wir um? … Bekehren wir uns je?
Und wenn es uns graust, zu erkennen wie kaltblütig die Industrie seit Jahrzehnten gewusst hat, wie viele ihrer Erzeugnisse und Verfahren einen Fortschritt vor allen andern betrieben - den Fortschritt der Zerstörung! - und wie ihre verlockendsten Produkte in Wahrheit eine unbeliebte Nachfrage steigerten - die Nachfrage nach Särgen! -, da kann man vor dem Mann, der alle seine hehren und heiligen Prinzipien loslassen und sich mit dem Gegenteil seiner bisherigen Rolle identifizieren konnte, nur in die Knie gehen! Auch er hatte etwas zu verlieren: Nämlich sich selber und seine Würde!
… Denn seien wir ehrlich: Wie nennen wir einen, der es schafft, fundamental und konsequent neu anzusetzen im Sinn einer umstrittenen Vorhut, einer exzentrischen Minderheit? … Na, wie? – Spinner! … Und als was gilt uns einer, der das Anerkannte verlässt und in eine unerprobte, unüberprüfbare Vision vertraut? … Na eben! – Als Bekloppter!
… Paulus anders zu sehen und zu nennen, würde ihm nicht gerecht. Was er tat und was er aufgab, wie er es wagte und was er verlor, das war so unvorhergesehen, so jenseits und außerhalb aller Gewohnheit und Wahrscheinlichkeit und so konträr zu allen seinen eigenen Mustern und Maßstäben, dass Drumrum-Reden nicht hilft: Niemand konnte von dem eifrigen Aufklärer der christlichen Lüge, der ein ebenso eifriger Verkünder der christlichen Wahrheit wurde, hören, lesen oder reden ohne ihn für lächerlich bloßgestellt und jeder Seriosität, ja jeder Selbstachtung beraubt zu halten. …
… Und das ist nun der, der bei allen seinen weltbekannten Zweifeln nichts unternimmt, um seinen Rollenwechsel, seine neue Position, seine scheinbar völlig labile Persönlichkeit zu rechtfertigen oder zu begründen!
Stattdessen schreibt er, der kleine Jerusalemer Wendehals nach Rom – also in’s Hauptquartier der strammen Selbstgewissheit einer traditionsvernarrten Soldatenkultur – jenen Satz, der jeden Dünkel und jede Selbstdarstellung wie eine schmierig schillernde Seifenblase platzen lässt: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht!“
Mag es mich noch so verunsichert und umgekrempelt haben - das Evangelium -, … mag es mich noch so unbekümmert idiotisch, mag es mich noch so sehr als lächerlichen Von-vorn-Anfänger und Bei-Null-Beginner dastehen lassen: … Geht’s denn um mich?
… Geht’s denn etwas nicht um Gott? Um das, was Er zu sagen hat und was Er tut?!
Und macht das, was Gott tut, nicht aus allem, was wir uns zu tun einbildeten oder getan zu haben unterstanden, etwas zu guter Letzt Nicht-Entscheidendes?
Nicht das, was wir festgestellt und festgelegt haben, muss und wird ja bleiben!
Nicht das, was uns gelegen kommt oder gelungen ist, wird und muss zuletzt entscheiden!
Bleibend Wichtiges und echte Zukunft findet sich eben doch nicht in dem, was wir können und machen, in dem, was wir meinen und behaupten, in dem, was wir haben und verteidigen, weil das alles - wie wir - vergeht: Entweder in siebzig, achtzig Jahren, wenn es jenes Ganze ist, das wir waren, oder in Jahrmillionen, wenn es die Kerne sind, die wir spalten.
Gottes Kraft, wahres Leben mit Dauer und Zukunft zu schaffen, ist wirklich weder auf unsern Vorschuss und unsere Vorleistung noch auf unsere Bestätigung oder unsere Beglaubigung angewiesen.
Gottes Kraft allein schafft, rettet und heilt die Welt und uns alle für immer! … Anders, besser, tiefer, höher, weiser, großzügiger, überraschender, herrlicher … und menschlicher, als wir es uns jemals einfallen ließen.
Das ist Sein Recht und Seine Gerechtigkeit.
… Und nur die entscheiden und bleiben! Und nur wer denen vertraut, bleibt und wird leben!
… Wer sich deshalb aber von seinen eigenen Grundsätzen und Zweifeln lösen lässt und an ihrer Stelle sich ohne alle Peinlichkeit schlicht - und ganz! - auf Gott verlässt, den preist Paulus selig!
Gib’s auf, dich um dich und was du weißt und denkst und bist und hast und fühlst und willst und bringst zu drehen!
Gib Gott, Dessen Wahrheit, Wirklichkeit und Zukunft nicht von dir entschieden werden, weil Er Sich umgekehrt längst schon wirklich für deine Zukunft in der Wahrheit entschieden hat, die Ehre, indem du Ihm glaubst!
Und schäme dich nicht, dass du zu leben weder besser weißt noch anders beweisen kannst, als einfach durch dieses Vertrauen auf das Evangelium von Jesus Christus, der dich und alles retten kann! ——
…. Und da fehlt mir nun wirklich der Zweifel, da fehlt mir der Abstand, es hier beim „Vielleicht“, beim „Wer weiß?“, beim „Womöglich“ zu belassen, um das Gesicht zu wahren, wenn das alles nichts wäre.
Dann wäre nämlich wirklich alles nichts.
Und dann ist sowieso nichts zu verlieren.
Wie also sollte man sich schämen, statt des Nichts das Alles anzunehmen, das Alles zu akzeptieren, das das Evangelium verspricht?
Und das hat Paulus der römischen Soldatenkultur und der Unkultur aller Welt ja tatsächlich gebracht und gezeigt, was ein römischer Hauptmann für uns alle bekannte (vgl. Matth.8,8)[ii]: Wir sind nicht wert, dass Gott zu uns kommt, … aber wenn wir Ihn lassen, … wenn wir Ihn sprechen lassen, dann wird die Welt heil!
Wir sind also frei, zu glauben. Und dadurch zu leben!
Und darum - wie Paulus - : „Schämt euch nicht!“
Amen.
[i] Die geplante Missionsreise des Apostels nach Spanien (vgl. Rö.15, 24) ist ein bleibendes Ratespiel der Forschung: Hat er? Hat er nicht? Warten wir ab, wie es gewesen ist, wenn wir dort sind, wo wir’s wissen werden.
[ii] Evangelium des 3.Sonntags nach Epiphanias.
2.Sonntag nach Epiphanias, 15.01.2023, Stadtkirche, Johannes 2, 1 - 11, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.S.n.Epiphan. - 15.I.2023
Johannes 2, 1-11
Liebe Gemeinde!
Manche werden wissen - was nicht wichtig ist -, dass die hiesigen Predigten, wenn ich sie ins Internet einstelle, eine Überschrift abkriegen. In aller Regel kurzfristig, beim Speichern, und spontan als eine Art rückblickender Kurzfassung der Kernaussage.
Bei der heutigen Predigt ging es anders. Sie wird die rätselhafte Überschrift tragen „Tegel in Kana“.
… Damit kann man nichts anfangen, denn die Ineinssetzung zweier geographischer Angaben ist einfach nur unsinnig. Tegel ist ein ehemals dörflicher Vorort nordwestlich von Berlin, wo das Anwesen und der Friedhof der Familie von Humboldt etwas Weltoffenes und wissenschaftlich Freigeistiges mit märkisch-bescheidener Verträumtheit verbanden; und über das Dorf Kana in Galiläa streiten die Gelehrten und die Pilger und die Bevölkerung seit Jahrhunderten, denn mindestens zwei Siedlungen im Umkreis von Nazareth beanspruchen, Schauplatz des ersten Wunders Jesu zu sein.
Was soll also die Verbindung eines Fleckens in der brandenburgischen Streusandbüchse mit einem Weiler in Israels nördlichem Hügelland?
… Zunächst einmal vielleicht nicht mehr als dies: Uns zu zeigen, dass Jesus die Welt verändert hat.
Seit Er auf dieser Erde wandelte, sind Seine Spuren, ist der Eindruck Seiner Wirklichkeit bis in die Erdkunde eingewandert. Ob historisch zu Recht oder „nur“ aus einer inneren Überzeugung von Menschen heraus: Es gibt unzählige Stellen und Punkte auf dem Globus, an denen sich eine damalige, eine später gelebte, eine heute geglaubte Verbindung mit Jesus Christus niederschlägt. … Er hat nicht nur Geschichte, sondern auch Geographie geschrieben.
Wir hier, in Kaiserswerth leben auch an einem Jesus-Ort, einem Ort, der seine Entwicklung und Rolle schlicht der Tatsache verdankt, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde und keine Generation seither ohne vielfältige Bezüge zu Ihm existierte, handelte und Ihm diente, indem sie in Fleisch und Stein, in Ethik und Architektur die Welt zu Seinem Gedächtnis veränderte.
… Doch warum „Kana und Tegel“?
Welches lebendige, weltverändernde Jesus-Bild symbolisieren diese beiden Dörfer?
Dazu muss man einen dritten geographischen Raum betreten, einen Raum, den wir alle viel lieber längst wieder am Rand unseres Gesichtskreises verschwimmen ließen. Doch wir müssen weiter hinschauen. Dort tobt die Geschichte auch des neuen Jahrs 2023: Die Geschichte nicht nur der schleichenden Gewalt gegen das Leben auf Erden, mit der wir uns abgefunden haben, sondern auch die Geschichte der mörderischen Heimtücke von Menschen gegen Menschen, die Geschichte eines irrwitzigen Hasses gegen völlig Unschuldige, die Geschichte der finstersten Brutalität im hellsten Tageslicht, … eine Geschichte des Wahnsinns und der Sünde, mit der wir uns aber ebenfalls abzufinden drohen, wenn man merkt, wie die Ukraine in unseren Nachrichten und Gedanken allmählich in den Hintergrund rückt.
Doch immerhin ist das niederträchtige Verachten und Verwüsten menschlichen Lebens so schmerzhaft gegenwärtig, dass ich in dieser Woche an Kana nicht wie sonst denken konnte:
Jedes Mal wenn ich versucht habe, mir das harmlos-schöne Hochzeitsfest vorzustellen, mit dem das hohe Evangelium des Johannes beginnt, war es anders als sonst. Nicht die ausgelassenen jüdischen Hochzeiten mit Schmaus und Tanz, die ich als Kind erleben konnte, … nicht die lebensfrohen Bilder, die Brueghel von Bauernhochzeiten mit Jesus als Gast gemalt hat, … nicht die schönen feierlichen Kirchenbilder, auf denen Maria als Fürsprecherin und der Kellermeister als vorweggenommener Liturg des Abendmahls erscheint.
Nein, dieses Jahr stehen mir plötzlich wieder Hochzeitsbilder in schwarz-weiß vor Augen: Die Bilder der jungen Großeltern und ihrer Geschwister und Gleichaltrigen. … Liebespaare, gewiss, … auch schöne Paare, schöne Brautkleider, … hier und da sogar schöne Brautsträuße. Aber die Bräutigame auf diesen Bildern tragen etwas, das den Ernst auch auf den Zügen ihrer Bräute erklärt. Sie stehen in Uniform da.
… Und zwei schreckliche Kreuze stechen auf diesen Hochzeitsbildern ins Auge: Die Hakenkreuze der Sünde auf allen Abzeichen … und die unsichtbaren Kreuze, die in der Rückschau über den bald Gefallenen und den blutjungen Witwen aufzutauchen scheinen.
Hochzeitsfest der Todeskandidaten. Brautwalzer der bald wieder durch letzte Gewalt Getrennten: Wenn man dieses Bild vor Augen hat, versteht man noch viel besser, wieso Maria, die Mutter der Freude für den Wein sorgt. „Sollen sie doch tanzen dürfen und sich freuen, die armen Menschenkinder, deren Lebens- und Liebesfeste so im Schatten des nahen Todes stehen. Jede Stunde, jeder Tropfen Glück sei ihnen gegönnt.“ …….
Natürlich ist auf der Hochzeit, bei der diese mütterlichen Gefühle den Menschen schlicht etwas von der Leichtigkeit des Seins gönnen, noch nicht die große, entscheidende Stunde des Menschensohnes gekommen, … die Stunde von Golgatha, die Stunde, in der der Tod besiegt wird, die Stunde des Ostermorgen, in der das wirkliche Leben gefeiert werden soll.
Es ist noch nicht Jesu wirkliches Wunder, wenn er - durch seine Mutter bewegt - eine schwerelose Nacht der Fröhlichkeit ermöglicht.
Aber eine jüdische Hochzeit ist immer eine trotzige Feier der Zukunft gewesen, selbst wenn die Pogromreiter am Rand des Dorfes standen, selbst wenn die Hakenkreuzfahnen und die „Judenfrei“-Schilder überall wie giftige Pilze sprossen.
… Heiliger Marc Chagall!, Du weißt es, dass dennoch immer irgendwo eine Braut und ein Bräutigam über der brennenden Welt schweben. … Und Jesus taucht seinen Pinsel in Chagalls Tuschkasten und malt mit Wasserfarbe den buntesten, fröhlichsten Reigen, den ein Bordeaux oder Montepulciano oder ein süßer Karmelwein überhaupt anstoßen können: … Wie sie tanzen, … wie die Kapelle spielt, … wie das ewig tröstliche Wort des Propheten Jeremia (33,11), das bei jeder jüdischen Hochzeit endlos gesungen wird, sich wieder einmal erfüllt: „Trotz der Verwüstung Jerusalems soll man dennoch wieder hören den Jubel der Freude und Wonne, die Stimme des Bräutigams und der Braut …“ … Das ganze Stetl, das ganze Ghetto singt und schluchzt und wirbelt – „L’chaim: Zum Leben!“ – im Takt der Messias-Hoffnung auf die Erlösung zu, die ein weiteres Paar, ein neues Haus in Israel um einen Schritt näher-bringt. …….
Doch nun sind wir in Witebsk, in Weißrussland gelandet und suchen eigentlich ja nach Kana und Tegel: ´
Kana, das Dorf der Unbeschwerten, in dem Maria die gut jüdische Aufgabe der Hochzeitsvermittlung übernimmt, indem sie für Jesu vorösterlichen Wunderanfang[i] sorgt, … ein Wunderanfang, der einer kleinen Festgemeinde einen Vorgeschmack der ewigen Seligkeit schenkt durch die schlichte Erfahrung: Alle sind da … und nichts fehlt … und siehe, alles ist sehr gut! ——
Auf dieses selige Hochzeitsfest gehen wir ja alle zu: Besonders wieder seit am 27.November 2022 das Kirchenjahr neu anfing und wir es währen des ganzen Advent singen konnten „Macht euch bereit / zu der Hochzeit! / Ihr müsset ihm entgegengehn!“ (EG 147,1)
Christ-Sein bedeutet, diese Hochzeitseinladung zu haben. Unsere Tage sind die Vorbereitung dafür, … die Zeit, sich zu freuen, sich auf das einzustellen, was in der Gegenwart der Liebe die richtige Gabe und der schönste Schmuck sein wird, und in die gelöste innere Bereitschaft zum Mitfeiern des Festes zu finden, das nicht enden soll.
Das ist die Zukunftsdimension des biblischen Hochzeitsbildes: Wir alle erkennen uns darin als Gäste in spe … und das wortwörtlich: Wir sind die zur Hoffnung Gebetenen, wir sind die nach und nach eintreffende Tischgesellschaft der Zuversicht.
Das ist Kana. ———
Was aber ist dann nur mit Tegel?
… Tegel ist die Todeszelle. Es erinnert uns – die Eingeladenen des Lammes, das im himmlischen Jerusalem goldene und silberne und diamantene und edelsteinfarbene Hochzeit mit der Menschheit feiern wird, … Jaspis-Hochzeit, Saphir-Hochzeit, Chalzedon-Hochzeit, Smaragd-Hochzeit, Sardonyx-Hochzeit bis zur Amethyst-Hochzeit in der spektakulären Farbenpracht und Licht- und Liebesfülle, von der in der Bibel ganz am Schluss die Offenbarung (21,19ff) spricht – … Tegel erinnert uns, die Eingeladenen des Lammes, an die Kreuze, die über den Häuptern von Braut und Bräutigam hier in unserer Gegenwart erscheinen.
Die Zukunft, die hier entsteht, die Hoffnungen, die hier genährt werden, die Träume und Pläne des Lebens, die wir hier feiern und - um im Kana-Bild zu bleiben - erwartungsfroh begießen: Sie stehen alle unter dem Vorbehalt, unter dem unsere Großeltern heirateten, unter dem sämtliche Liebesgeschichten und Lebensentwürfe der heutigen Ukraine sich entfalten und der auch über den menschlichen Schicksalen der russischen Soldaten und überhaupt aller unserer Mitmenschen waltet. Es ist der Vorbehalt, dass Jesu erstes Wunder nicht sein letztes ist:
In Kana schenkte er Freude für einen Augenblick und eine überschaubare Schar.
Für deren Augen in diesem Moment, für diese Augenzeugen offenbarte Jesus in Kana seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn.
Doch ein größeres, ein noch nicht erschienenes, ein unvollendetes Wunder steht noch aus. Am Schluss des Johannesevangeliums (20,30f) deutet der Verfasser es ja an, wenn er - nach etlichen Osterberichten - schreibt: „Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.“
Dass wir das Leben haben: Das ist das Ziel der Taten, Wunder und Zeichen, das ist das Ziel der Menschwerdung, Kreuzigung und Auferstehung Jesu.
Das Leben zu haben: Genau das aber ist auch die Hoffnung und Verheißung, die Kana, den Ort der hochzeitlichen Lebensfreude, mit Tegel, der Todeszelle verbindet.
Dass Tegel diese Todeszelle ist, dass es eindringlich vor Augen steht, wenn wir Liebe im Schatten des Verlustes und menschliche Bindungen, über denen die gewaltsame Trennung schwebt, betrachten, das liegt für uns natürlich an der Gestalt und Geschichte Dietrich Bonhoeffers, der im Tegeler Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis anderthalb Jahre lang eingesperrt war, bis man ihn ins Reichssicherheitshauptamt, das Gestapogefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße verlegte, von wo er schließlich zur Hinrichtung in Flossenbürg abtransportiert wurde.
Die junge Maria von Wedemeyer und ihr Verlobter, Dietrich Bonhoeffer stehen vielen Menschen vermutlich vor Augen als ein solches Paar, deren Miteinander gar nicht betrachtet werden kann, ohne dass über ihnen oder in ihrem Rücken sich schon das Dunkel zusammenbraut – zusammen-„braut“! -, das ihre Leben überschatten und zerstören würde.
Wenn wir auf sie blicken, auf zwei Menschen, die zusammen sein wollten und denen es nicht vergönnt war, … denn erkennen wir in ihnen die jungen und nicht mehr so jungen ukrainischen Männer und Frauen, ja, die sämtlichen Menschen, deren Beziehungs- und Vertrauensgeflecht zerrissen worden ist und die das einfach Alltagsleben, das gewöhnliche Glück und das Glück der Gewohnheit überhaupt nicht mehr finden können, von dem das Paar in Kana vielleicht geträumt hat.
Wir erkennen in den Hochzeitern von damals die Bedrohten und Todgeweihten von heute, … die Menschheit, die nicht weiß, was morgen sein wird, … unsere Kinder und Kindeskinder, die befürchten, dass nach ihnen nichts und niemand mehr gesegnet und gewöhnlich wird leben können auf diesem von einer einzigen Spezies so entwerteten und dem Schöpfer entwendeten Planeten. …
Aber weil wir Tegel in Kana finden, Kiew in Kana, Soledar in Kana, Bakhmut in Kana, … darum soll uns auch das andere Wasserzeichen immer wieder durchscheinen durch alle Bilder, die wir vor Augen haben. Es stehen ja nicht nur die unsichtbaren Kreuze über den Häuptern der Sterblichen, die morgen oder in diesem Jahr oder doch erst in vielen, vielen Jahrzehnten sterben werden.
Sondern überall, wo Kana ist – wo mitten im Tanz das Malheur, mitten im Glück die Tragik, mitten im Leben das Ende gegenwärtig bleibt –, da ist auch jener Gast von Kana zugegen!
… Und Seine Mutter bittet Ihn um Hilfe und sie weist uns auf Ihn hin.
Und dann erkennen wir, dass Jesus das Wasserzeichen der gesamten Welt ist: Wo immer uns das Glück ausgeht, wo uns der Wein ausgeht, die Luft ausgeht, die Zeit ausgeht, da müssen wir das Bild der Welt, da müssen wir die Lage und die Frage unseres Lebens vor das Licht Seiner Herrlichkeit halten.
… Denn dann wird es wie das geheimnisvolle Wasserzeichen sichtbar werden, dass Er da ist. Um Wunder zu tun. … Die kleinen, die wir kaum bemerken: Freude des Alltags. Zeit wie immer.
Aber auch die großen, die wir kaum für möglich halten. Die Wunder, die zum letzten und endgültigen Wunder führen, wenn aus dem Wasserzeichen die klare Offenbarung wird, die Gegenwart Jesu in Seinem Reich, an Seinem Tisch, bei Seinem Mahl, … der Kelch des Heils (vgl. Ps.116,13), in den Er voll einschenkt und mit dem Er Gutes und Barmherzigkeit uns alle erquicken lässt in Seinem Hause, in dem wir bleiben werden immerdar (vgl. Ps.23), weil jede Frau und jeder Mann und jedes Kind dort das Leben haben werden in Seinem Namen (vgl. Joh.21,31)!
Das ist das Ziel des ersten Wunders in Kana.
Und davon hat der in Tegel gefangene Bonhoeffer gezehrt und gelebt, und aus der Prinz-Albrecht-Straße hat er davon geschrieben und gesungen, so wie wir jetzt davon singen wollen (EG 65):
„Von guten Mächten treu und still umgeben, / behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben / und mit euch gehen in ein neues Jahr.
…….“
Amen.
[i] Der barocke Choral von Heinrich Arnold Stockfleth „Wunderanfang, herrlich’s Ende, / wo die wunderweisen Hände / Gottes führen ein und aus …“ steht heute nicht mehr im Stammteil des EG.
Altjahrsabend, 31.12.2022, Stadtkirche, Römer 8,31b-39, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2022
Römer 8, 31b-39
Liebe Gemeinde!
Unverkennbar sind wir hier bei einer Beerdigung: Psalm 121 und Römer 8 machen es unüberhörbar, dass wir hier als endliche Menschen, als Kinder von Sterblichen, die die Sterblichkeit weitergeben, etwas Letztes feiern, … das Letzte, das trägt, … das zuletzt Tragende.
Vielleicht hätte man vorm Beerdigungscharakter des Altjahresabends ausdrücklich warnen sollen.
Womöglich müsste an den Stufen zu unserer Kirche – nein: zu jeder Kirche! – inzwischen eigentlich eine sog. „Trigger-Warnung“ angebracht werden: Ein Warnhinweis, dass man nicht näherkommen und sich auf die Inhalte hier nicht einlassen kann, ohne aus Schuld und Tragik zusammengesetzten, verstörenden, belastenden, schmerzhaften, ja furchterregenden Botschaften, Erfahrungen und Tatsachen gegenüberzustehen. Was an vielen Universitätsseminaren den Lernenden nicht mehr zugemutet werden kann, was viele Bildungs- und Informationsträger nur noch schonend durch Filter und Schleier durchsickern lassen - man nennt es: „die Wirklichkeit“ -, das hat in der Kirche nun einmal Platz zu haben! Wenn nicht, dann müssen wir die Kirchen schließen. Wenn es hier nicht um das Leben geht, das niemals ohne Salz und Eisen besteht, in dem wir also immer auch Hartes und Brennendes finden, das genauso von der Nacht wie vom Tag gegliedert wird, … wenn wir hier also nicht ein einigermaßen ungeschöntes Bild von den Verhältnissen kommunizieren, wenn wir hier nicht von der Klarheit über uns ausgehen - die nicht gleichbedeutend mit Glanz ist! - und nicht zu dieser Klarheit zurückfinden, dann täte man wirklich besser dran, die Kirchen zu vergessen und sich mit aller Kraft darauf zu konzentrieren, seine Illusionen zu pflegen.
Diese Illusionen, die anfangen, eine ganze Epoche zu lähmen: Die Illusion, unser Leben könne, nein müsse planbar sein, ungefährlich und ungefährdet und alles, was überraschend bleibt, solle von dritter Seite ab- oder aufgefangen, entschärft und sanft verträglich gemacht werden. Und die Illusion, wenn man Veränderungen und Zwänge, wenn man Dynamik und Druck, wenn man Schäden und Sterben ignoriere, dann habe man eine positive Tat getan, habe Sicherheit erlangt und seine Ruhe verdient. …….
Zugegeben: Diese zutiefst entfremdete, abgründig abgehobene Weltsicht einer in Watte gepackten und dennoch über Erbsen unter den Matratzen klagenden Verwöhntheit wirkt im Kaiserswerther Komfortstandard besonders abstoßend, wo die Heiz- und Lebenshaltungskosten bestimmt nicht die grimmige Herausforderung bieten, die sie andernorts darstellen – gehen wir nur einmal zu den Tafeln und fragen unsere hungrigen, ratlosen Mitmenschen! –, aber eine Tendenz, uns für das zu schade zu sein, was für die meisten Menschen weltweit noch paradiesisch wäre, lässt sich vielerorts schwer leugnen und ist überall zynisch.
Wer also findet, es gäbe ein Recht auf das Bequeme, der sollte jedenfalls in keine Kirche kommen, die ihre Ursprünge um eine Krippe herum, einen behauenen Steintrog hat, der die ganze Härte der Natur und das Drama verweigerter Solidarität veranschaulicht.
Wer denkt, die Misere der Menschheit liege außerhalb seines Radius, weil seine Aufgaben, seine private Vorsorge, seine unbestreitbaren Privilegien ihn da nicht zum Beteiligten werden ließen, der soll die Kirchen meiden, in denen der Leib eines Menschen sich darstellt, der gar nicht erst geboren worden wäre, wenn er nicht als Gabe und Brot für die anderen - als Opfer - hätte greifbar und angreifbar werden wollen.
Wer bei seinem Glück zu bleiben hofft, Schlimmes und Schmerzen bisher geschickt vermieden zu haben, der sollte tatsächlich niemals dort einkehren, wo das Kreuz steht und daran erinnert, dass Gott Selbst keine Spazierfahrt auf die Erde unternahm, sondern einen Leidensweg und eine Höllenfahrt antrat, um nirgends abseits zu bleiben, wo seine Kinder sein könnten …
… Wer also das Silvester des Kriegs- und Kummerjahres 2022 mit Sausen und Brausen feiern, wer’s krachen und schäumen lassen will, der hat sich auf dieser Beerdigung hier vertan.
… Hier werden Tote beweint.
Hier steht das Jahr, dessen letzte Atemzüge wir gerade verspüren, in seiner nackten Wahrheit vor uns: … Dieses Jahr, in dem tatsächlich nicht nur unter den Menschen und im Reich der Natur - als seien sie zweierlei?! - sich große Unglücke ereignet haben, sondern auch im Reich der Geister, das uns biblisch vertraut sein könnte unterm Sprachgewand der „Engel, Mächte und Gewalten“ … also der beherrschenden und um Einfluss ringenden Kräfte, die geistig bewusst wie unterbewusst, allemal aber kollektiv auf die Menschheit wirken und sie bewegen.
In dem, was stofflich ist, ist vieles verbrannt und vieles davongespült worden in diesem Jahr, und es sind schwelende und schwellende Katastrophen gewesen, die weder gedämpft noch gedämmt auch weiter Not, Leid und Grauen auslösen werden. Wir klagen also um das zerstörte Land und Leben auf diesem kleinen Globus, um die vernichteten Ernten, die ausgerotteten Schönheiten, den verdorrten Schöpfungssegen eines bitteren Jahres. ——
Unter den Menschen sind neben den Todesfügungen, die uns als Einzelne und als Familien trafen, auch Gestalten der geschichtlichen Gemeinschaft unwiderruflich in die Vergangenheit versetzt worden: Mit besonderer Verpflichtung gilt es, an Michail Gorbatschow zu erinnern; mit besonderer Zuneigung werden manche von uns das Sterben und das Grabgeleit der britischen Königin in ihrem Gedächtnis als ein Datum verbuchen, das unserer Gegenwart etwas Unwiederbringliches nahm; mit besonderer Verbundenheit im Gemeinsamen wie im Unterscheidenden werden wir auch des vor wenigen Stunden - wie er selber glaubte - vor seinen Richter und Erlöser, in das Haus des Vaters gerufenen emeritierten Papstes aus Deutschland gedenken. Ehe wir aber weiter aufzählen, welche Stimmen in der Musik künftig schweigen, welche Farben man in der Mode so nie wieder mischen wird, welche Kunst auf dem Rasen nunmehr endgültig Legende wurde, bleiben wir in unserer kleinen Stadt, bei unserer Gemeinde, deren Altpfarrer, Achim Engels nun auch am Ende dieses Jahres glaubend das Ziel seiner Tage erreichen durfte. Sein Zeugnis und sein Gebet sind im Leben vieler unter uns bleibend wirksam geworden. Zu Recht trauern wir also um unsere Toten, denn gerade Dankbarkeit ermisst ja jeweils den Verlust. ——
Doch das Dritte, das uns heute bewegt, … das Schrecklichste ist nicht der Schmerz um alles, was uns in der Kreatur und unter den Menschen mit der Vergangenheit verband und mit der Zukunft verbinden wollte, sondern der Schmerz um das, was im Geistigen, mit verheerenden Folgen für alle Lebensbereiche vernichtet worden ist: Es ist eine Illusion gewesen, … eine Täuschung oder auch ein Traum. … Jeder Blick nach Äthiopien oder in den Jemen hätte uns schon vor Jahr und Tag erschüttern und verändern müssen! Doch nun ist es den meisten von uns erst in diesem beinah erloschenen Jahr widerfahren: Wir haben den Frieden sterben sehen!
Und der tote Frieden – der schon faul war, solange wir ihn mit Blindheit erkauften und auf Kosten anderer Menschen als unerprobte heroisch-rhetorische Figur zu unserm Wahlspruch erklärten - … der tote Frieden des Jahres 2022 ist eine der tiefsten Zäsuren unserer Zeit.
Nicht, weil er uns naiv aussehen lässt, … nicht, weil er unsere harmlose oder vielleicht auch verlogene Wirklichkeitsverdrehung auffliegen lässt, nach der der Fortschritt oder der Markt oder die Demokratie idiotensichere Garanten des Guten seien, … nicht, weil er uns unsere ernstgemeinten Ideale und unsere mühsam gelernten Lektionen zerstört, … nicht, weil er uns aus unserem Spiegelbild eine schreckliche Frage entgegenzischt: „Erkennst Du eigentlich den Menschen wieder?“ …….
Nicht aus allen diesen tatsächlich schwerwiegenden Gründen ist der Tod des Friedens der schlimmste Zug unsrer Zeit, sondern schlicht, weil er so viel himmelschreiendes, Gott und die Menschheit anklagendes Blutvergießen, so viel Brutalität und so viele Wunden am Fleisch und in den Seelen von Millionen bedeutet … und weil er bei uns zu einer Herzensverhärtung zu führen droht, die unvorstellbar ist! … Wie ruhig wir sind, … wie unbeteiligt, weil ratlos, … wie gewöhnungsbereit wir uns zeigen, … wie wenig Zorn, wie wenig Stärke, wie wenig Beten und Hoffen sich in uns regen, … wie klein und gleichgültig unser Geist sich in einer Prüfung wie dieser enthüllt.
Der Frieden ist ermordet worden … und wir machen dumpf weiter.
Und dann die Freiheit: Die nächste Geist-konkrete Wirklichkeit unter den „Engeln, Mächten und Gewalten“, die uns - die Völker der Erde, die Stämme des Menschengeschlechtes – beatmen, beleben und begleiten. Die Freiheit hat die Schwindsucht: Hier und da treibt sie grell-geschminkte Blüten, die wie gespenstische Frühlingsboten am leblosen Holz wirken, aber an wie vielen Orten der Welt wird sie geknüppelt, gefangen und geschändet. Und der Kampf des iranischen Volkes, der Schrei der afghanischen Frauen, das Flackern in China, die lautstarke Sorge in Israel, das erzwungene Schweigen in Nord-Korea, Myanmar, Russland … es ist zum Haareraufen und zum Heulen. ——
… Ich sagte ja, wir sind hier auf einer Totenwache, bei einer Beerdigung.
Und so soll nun das Jahr enden?!
… Das ist keine Frage.
Es scheint eine Tatsache zu sein.
… Die Frage jedoch, die bleibt, ist die Frage des Paulus. Jene Frage, die im Römerbrief seinen schönsten Hymnus - schöner noch als das Hohe Lied der Liebe - auslöst. Denn sein Hymnus auf’s Vertrauen, sein Hohes Lied des Glaubens trägt nicht nur als Überschrift, sondern als durchgängiges Grundmotiv die Frage vor: „Kann uns das scheiden von der Liebe Gottes?“
Mit dieser Frage gehen wir Christen an jedes Sterbebett und auf jede Beerdigung, … und auf jeden Geburtstag, zu allen Hochzeiten, an unsre Arbeit, in unsre Mühen, an unser Scheitern und zu unseren hässlichen oder heiligen Erfolgen auch. Es ist tatsächlich eine ganz echte Frage, wenn wir uns der Wirklichkeit stellen, … wenn wir das Hohe und Tiefe, das Feine und Schwere, die Fülle und die Leere unseres Lebens und des Lebens in der Welt betrachten: „Kann uns das - das alles, oder irgendetwas davon - scheiden von der Liebe Gottes?“ …
Wir fragen aber nicht nur für uns, sondern so wie der Apostel, der nach Rom schrieb, an eine Gemeinde, die gerade eine katastrophale Vertreibung und zaghafte Rückkehr in die Mauern des Zentralortes der Welt erlebt hatte[i]: Wir fragen uns global, weltwirklich.
Kann uns das Kritische und Katastrophale der Geschichte in der Zeit scheiden von der Liebe, die in Christus Jesus ist und bleibt?
Sind die Toten von Butscha aus Seiner Liebe, die für sie starb, herausgefallen?
Sind die Hungernden in Syrien, im Süd-Sudan und auf Madagaskar von Dem getrennt, Der in Ägypten von Almosen oder Tagelöhner-Verdienst lebte und in Samaria um Wasser bettelte?
Sind die Geplagten und Entwurzelten, die Traumatisierten und Bibbernden in der Ukraine nun etwa in eine Wirklichkeit geraten, die Den, Der Licht in die Dunkelheit, Heilung ins Elend, Hoffnung zu den Verlorenen brachte, ausschließt?
Sind die Welt voller Unheil und die Zeit voll Verhängnis also Gründe dafür, zu glauben, dass es kein Heil und keine Erlösung geben könne und werde? Sind sie Gründe dafür, zu glauben, Christus sei nicht gekreuzigt worden und nicht auferstanden?
… Oder: … Im Gegenteil?!
Ist nicht gerade der Blick auf die Wirklichkeit, der Blick auf die Bitterkeit, der Blick auf die Opfer, der Blick auf uns und auf alle der Ort, an dem unser Glaube das ist, was zuletzt einzig und alleine tragen kann?
Unser Glaube ist buchstäblich dieses Letzte, weil er das Einzige ist, das ganz in die Wirklichkeit – die furchtbar schlimme, die erdrückend traurige Wirklichkeit – gehört, ohne in ihr aufzugehen!
Unser Glaube, der in genau dieser Wirklichkeit fußt, geht über sie hinaus!
Das ist der Grund, weshalb wir eine Beerdigung am Ende des Jahres feiern, die um Mitternacht zu etwas ganz anderem führt: Noch nichts ist von 2023 festzustellen, … außer, dass im kommenden Jahr der Lebendigen alles möglich ist.
Das Alte - Leben und Tod - werden wir verlassen und mit der gesamten Welt in ein Neues gehen: Tod und Leben, so wie sie noch nie waren.
Weil nichts uns von der Liebe Gottes scheiden kann.
Und darin ist unser Glaube vielleicht am besten mit etwas ganz Gegenständlichem zu vergleichen, das eine junge Frau aus Butscha, Daryna Gladun, in einem Brief aus dem Herbst dieses Jahres beschreibt[ii].
Bei ihrer Flucht aus der sich abzeichnenden Hölle konnte sie wenig mitnehmen. Als Flüchtling quer durch Europa und darüber hinaus hat sie dagegen manches empfangen und erworben und es ohne innere Beteiligung wieder losgelassen und abgegeben.
Nur die Schuhe! Die unscheinbaren, nunmehr abgetretenen Schuhe aus Butscha, nach denen niemand sie mehr fragt: „Meine ganze Odyssee hat sich in diesen Schuhen zugetragen. In ihnen habe ich mein Zuhause verlassen, in ihnen werde ich nach Hause zurückkehren.“ ——
Gebe Gott uns die Gnade, dass wir das heute und zu aller Zeit genauso auch von unserem Glauben sagen können:
„In diesem Glauben haben wir angefangen.
Dieser Glaube trägt uns durch die Welt.
In ihm gehen wir zu Beerdigungen und zu Neuanfängen, in ihm durchqueren wir Hohes und Tiefes, von ihm getragen erleben wir die Engel, die Mächte und Gewalten … suchen nach dem Frieden, zittern um die Freiheit, hoffen für die ganze Kreatur.
Allein dank dieses Glaubens kommen wir aus der Vergangenheit, ziehen durch die Gegenwart und streben in die Zukunft.
Und in diesem Glauben werden wir auch nach Hause zurückkehren.
Weil nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn! Dessen bin ich gewiss.“
Amen.
[i] Das Datum des sog. „Claudius-Ediktes“, das eine Vertreibung der Juden – und folglich auch der judenchristlichen römischen Urgemeinde – anordnete, ist in der Forschung nicht vollends gesichert. Wahrscheinlich bleibt die Ansetzung und Durchführung des Ediktes im Jahr 49 n.Chr. Betroffen waren mithin mehr oder weniger alle Adressaten des Römerbriefes, der eine Gemeinschaft anspricht, die sich erst wenige Jahre lang wieder zaghaft zusammenfand, nachdem das Vertreibungs-Edikt nicht mehr durchgesetzt wurde.
[ii] Der Brief der jungen Ukrainerin, der in der FAZ veröffentlicht wurde, findet sich unter: https://weiterschreiben.jetzt/weiter-schreiben-ukraine-briefe/ukraine-test/aber-nach-den-schuhen-fragt-keiner-brief-1/
Christvesper, 24.12.2022, Matth.2,1-12, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Als Jesus geboren war in Bethlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem und sprachen: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland und sind gekommen, ihn anzubeten. Als das der König Herodes hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem, und er ließ zusammenkommen alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes und erforschte von ihnen, wo der Christus geboren werden sollte. Und sie sagten ihm: In Bethlehem in Judäa; denn so steht geschrieben durch den Propheten (Micha 5,1): »Und du, Bethlehem im jüdischen Lande, bist keineswegs die kleinste unter den Städten in Juda; denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volk Israel weiden soll.« Da rief Herodes die Weisen heimlich zu sich und erkundete genau von ihnen, wann der Stern erschienen wäre, und schickte sie nach Bethlehem und sprach: Zieht hin und forscht fleißig nach dem Kindlein; und wenn ihr's findet, so sagt mir's wieder, dass auch ich komme und es anbete. Als sie nun den König gehört hatten, zogen sie hin. Und siehe, der Stern, den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war. Als sie den Stern sahen, wurden sie hocherfreut und gingen in das Haus und fanden das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe. Und Gott befahl ihnen im Traum, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren; und sie zogen auf einem andern Weg wieder in ihr Land. (Matth.2, 1-12)
Liebe Schwestern und Brüder,
die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland kennen Sie bestimmt alle. In den meisten Krippenspielen tauchen sie auf als Besucher an der Krippe und knien dann oft in trauter Eintracht neben den Hirten. An der Krippe ist es so, wie an Heiligabend in unseren Wohnzimmern: die ganze Sippschaft kommt zusammen, das große Familientreffen unter dem Weihnachtsbaum. So erzählt es die Tradition.
Bemerkenswert ist nun, dass es sie in der Bibel so gar nicht gibt. Die Bibel überliefert uns vielmehr zwei sehr unterschiedliche Weihnachtserzählungen: mit der einen – von dem Evangelisten Lukas – fängt bei uns immer Weihnachten/Heilig Abend an; mit der anderen – von dem Evangelisten Matthäus – endet die Weihnachtszeit, enden die 10 Heiligen Nächte am 6.Januar, an Epiphanias. Als Evangeliumslesung wird am 6.Januar der eben vorgelesene Abschnitt aus dem Matthäusevangelium vorgetragen. Doch er ist es wert, einmal am Heiligabend einer deutlich größeren HörerInnenschaft zu Ohren zu kommen.
Vielleicht ist Ihnen gerade bei der Verlesung aufgefallen, dass die Heiligen Drei Könige weder heilig noch drei noch Könige sind. Matthäus erzählt einfach von einer unbestimmten Zahl von Magiern oder Weisen, deren Herkunft vage mit „Morgenland“ angegeben wird. Namen werden nicht genannt und auch keine Angaben zu ihren Fortbewegungsmitteln (Kamel, Pferd, Elefant) gemacht. Das Handlungsgerüst der Geschichte in der Bibel ist sehr dürftig und lässt bei genauem Hinsehen viele Fragen offen. Nun begegnen uns in der Bibel immer wieder Texte, Geschichten, in denen nicht alles genau erklärt wird, die vieles offen lassen für die Hörer und Hörerinnen. Und vielleicht sind manchmal ja gerade die Stellen, die etwas nicht erzählen, besonders interessant. In einer jüdischen Auslegungstradition heißt es: Die Buchstaben der Bibel sind das schwarze Feuer, und die Zwischenräume zwischen den Buchstaben sind das weiße Feuer – das, was nicht ausdrücklich im Text steht, aber woran sich unsere Phantasie, unser eigenes Nachdenken und unsere eigenen Erfahrungen entzünden. Wenn ich sie nun zu meinem Gang durch die Weihnachtsgeschichte des Matthäus mitnehme, werden es unterschiedliche Gedanken zu unterschiedlichen Stellen sein, die Ihre Erfahrungen und Phantasie entzünden, und die sie vielleicht in die Weihnachtstage dieses Jahres aus diesem Gottesdienst mitnehmen.
Die Geschichte des Matthäus beginnt ziemlich abrupt damit, dass Magier aus dem Morgenland nach Jerusalem kommen und nach dem neugeborenen König der Juden fragen, weil sie angeblich seinen Stern gesehen haben. Wie die Magier dazu kommen, in Judäa zu erscheinen, erzählt Matthäus nicht. Möglicherweise waren sie Astronomen, die sich beruflich mit dem Sternenhimmel befassten, sodass ihnen ein neuer Stern, eine neue Sternenkonstellation am Himmel aufgefallen sein könnte. Aber warum sie das auf die Idee bringt, dass dieses Himmelsereignis die Geburt eines neuen jüdischen Königs anzeigt, dazu gibt es keinen Hinweis. Und warum sollten sie sich für ihn interessieren? Und dann wollen sie ihn auch noch anbeten – wo sie doch gar nicht jüdischen Glaubens sind. Die Geschichte sagt uns auch nicht, was sie sich von diesem neuen König erwarten. Dass die Hirten in der Weihnachtsgeschichte des Lukas zur Krippe eilen, das ist deutlich einleuchtender: Sie erwarteten den Messias, den Retter ihres Volkes, der endlich das jüdische Volk befreien sollte, was ihnen der Engel ja auch eindeutig so verkündigte. Die Geschichte von Matthäus erzählt uns dagegen, dass es offenbar auch andere Gründe gibt, sich zur Krippe aufzumachen und nach dem Kind zu suchen – und dass es nicht einmal nötig ist, zu begründen, warum. Aus allem kann sich die Suche nach dem Kind entwickeln. Bei den Magiern/Weisen ist es die naturwissenschaftliche Beobachtung des nächtlichen Himmels – ihr Beruf -, der am Anfang steht. Die Sterne waren für sie etwas Selbstverständliches, Alltägliches, sich mit ihnen zu beschäftigen, verschaffte ihnen ihren Lebensunterhalt. Und diese Sterne werden plötzlich durchsichtig für etwas Größeres, was dahintersteht. Die Weisen haben erkannt, dass die bekannten Dinge nicht nur das sein müssen, was sie sind, sondern auch auf eine andere Wirklichkeit, auf eine göttliche Wirklichkeit hindeuten können. Sie haben sich getraut, das ernst zu nehmen und dem zu folgen – auch wenn sie vermutlich nicht wussten, was sie denn eigentlich genau suchten. Ihre Informationen waren ja wirklich äußerst dürftig. Unter den damaligen Umständen muss es ein ziemliches Wagnis gewesen sein, einfach mal loszuziehen auf eine weite und beschwerliche Reise, ohne das Ziel genau zu kennen.
Matthäus erzählt die Suche nach dem Kind als einen Aufbruch ins Ungewisse. Um loszugehen, muss man nicht wissen, wo der Weg genau verläuft und wo man fündig werden wird. Es reicht das Gefühl zu haben: da gibt es etwas, das ich finden möchte, etwas, was ich noch gar nicht genau benennen und beschreiben kann, aber was da ist, eine Sehnsucht im Herzen. Bei einer solchen Suche sind Umwege und Irrwege sehr wahrscheinlich. Die Magier landen ja auch prompt am falschen Ort. Sie haben sich anscheinend das nach menschlicher Logik und Vernunft Nächstliegende überlegt: Königskinder werden in Palästen geboren, Paläste stehen in Hauptstädten – also auf nach Jerusalem. Vor diesem Irrtum bewahrt sie auch der Stern nicht; anders als wir das von Krippenspielen kennen, zog er ihnen nämlich nicht auf ihrem Weg voran. Sie hatten den Stern nur zu Hause, in ihrer Heimat am Himmel gesehen. Doch dieser Umweg ist für die Magier in zweierlei Hinsicht wichtig. Als praktische Hilfe, denn in Jerusalem bekommen sie genauere Informationen über das Kind und man nennt ihnen auch den Zielort: Bethlehem. Und außerdem erkennen sie, dass man mit menschlicher Logik zwar weiterkommt, dass aber die göttliche Logik eine andere sein kann: nicht in der Hauptstadt, im Palast, wird der König geboren, sondern in dem kleinen Ort Bethlehem, abseits der großen Gebäude und wichtigen Geschäfte. Die Geschichte des Matthäus erzählt wiederum nicht, was die Magier sich bei dieser Auskunft „Bethlehem“ gedacht haben. Entscheidend jedoch ist, dass sie dieser Auskunft geglaubt haben und ihr gefolgt sind – auch wenn es ihrer ursprünglichen Logik zuwiderlief.
Als sie in Jerusalem nach dem neugeborenen König fragen, kommt dieses auch dem König Herodes persönlich zu Ohren. Seine Reaktion wird beschrieben: Er erschrickt. Soweit noch verständlich: Herodes sieht seine Machtposition bedroht durch einen neugeborenen König, der zudem in den heiligen Schriften seines Volkes schon lange angesagt ist. Aber warum erschrickt „ganz Jerusalem mit ihm“? Das Volk, gerade die armen und kleinen Leute, leiden doch unter Herodes und der römischen Besatzung. Das Volk wartet doch auf den Messias, auf einen König, der Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden bringt. Ich denke, die Menschen spüren, dass der neue König nicht einfach dort weitermacht, wo der alte König aufgehört hat. Sie spüren, dass mit ihm etwas Neues anbricht und aufbricht, das die alte Ordnung in Frage stellt. Auch wenn man sich das Neue wünscht, löst es zunächst ganz oft Erschrecken aus. Das Alte mag gar nicht gut sein, schon gar nicht für die da unten, aber viele in den oberen und mittleren Etagen, die sich in Jerusalem eine Wohnung leisten konnten, die haben doch auch nicht so schlecht darunter gelebt, konnten sich arrangieren mit der Herrschaft des Alten. Und selbst für viele in den kleinen Orten wie Bethlehem galt: das Alte, selbst wenn es schlecht ist, das kennt man wenigstens, man weiß, wo man dran ist. Weihnachten, die Geburt des Königs abseits der Hauptstadt, bedeutet den Anbruch einer neuen Zeit, einer neuen Ordnung. Die alten Herrschaftsverhältnisse stehen zur Disposition. Das lässt erschrecken.
Auch die Hirten sind vor dem Engel und seiner guten Nachricht erschrocken – und gingen dennoch los. Vor etwas Neuem zu erschrecken, muss nicht lähmen – muss nicht heißen, dass man das Neue nicht will. Über den Schreck hinweg kann man dem Neuen entgegengehen – aber man kann sich dem auch entziehen, wie die Jerusalemer es in der Geschichte tun. Herodes versucht dabei, mit List die alte Ordnung zu behaupten. Er lässt zunächst die Theologen und Gelehrten seines Volkes erkunden, wo nach den Schriften der König geboren werden soll. Sie finden heraus: in Bethlehem; so steht es beim Propheten Micha, wie wir vorhin in der Lesung gehört haben. Im Gegensatz zu den Magiern ist für sie die Frage offenbar nur eine theoretische, die mit einer schlichten Antwort beendet ist. Sie fragen nicht, warum Herodes dies wissen will, und sie brechen nicht selbst auf, um das Kind, den neugeborenen König in Bethlehem zu suchen. Sie haben recht mit ihrer Antwort – und verpassen doch das, was den Magiern vergönnt ist: sich selbst aufzumachen und zu suchen, zu fragen – statt sich mit klaren und richtigen Antworten zufrieden zu geben. Die Geschichte stellt uns hier ganz nüchtern die zwei Möglichkeiten vor Augen, wie man mit Fragen nach Glauben und Leben umgehen kann. Herodes macht die Magier ohne ihr Wissen zu seinen Verbündeten, indem er sie heimlich zu sich kommen lässt und dann nach Bethlehem schickt. Die Magier scheinen naiv, gehen ihm ins Netz – und machen sich auf Richtung Bethlehem. Aber als sie der Weisung des Herodes folgen, übernimmt plötzlich ein anderer die Führung – der Stern. Jetzt zieht er vor ihnen her. Der Stern, der Himmel gibt Orientierung in dem Moment, wo es kritisch wird. Wo es nicht nur um den richtigen Ort geht, sondern um ein Macht- und Intrigenspiel, das auf Leben und Tod geht.
Die Suche der Magier aufgrund von edlen Motiven ist nicht davor gefeit, von dem Bösen für seine Zwecke missbraucht zu werden. Die Geschichte erzählt nicht von einer heilen Welt, in der die Suche nach dem Kind, nach dem neuen Leben glatt und selbstverständlich verläuft. Das Böse, verkörpert in Herodes, stellt sich nicht nur gegen die „Guten“, sondern missbraucht sie auch noch. Aber die Geschichte erzählt auch, dass gerade in dieser Situation der Stern, der erst nur am Horizont erschien, vorausgeht und zur Begleitung und Orientierung wird und sie ihr Ziel erreichen lässt: sie finden das Kind und sind „hoch erfreut“. Gerade weil der Text so sparsam ist mit Emotionen, fällt diese Reaktion der Magier besonders auf: die Reise hat sich gelohnt, trotz der nur vagen Vorstellungen und der Umwege, trotz aller Schwierigkeiten und Belastungen unterwegs sind wir am Ziel! Ich denke, es ist kein Zufall, dass der Text dies als zweite Gefühlsregung nach dem „Erschrecken“ des Herodes und der Jerusalemer Gesellschaft beschreibt. Offenbar gehört beides zusammen: das Erschrecken, solange man dem Alten verhaftet ist, und die jubelnde Freude, wenn man – das Alte loslassend und sich auf den Weg machend - das Kind, den neuen Anfang, das neue Leben vor Augen hat.
Der letzte Satz erzählt wiederum eher nüchtern, dass Gott die Magier im Traum anweist, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren. Am Ende läuft die List des Bösen ins Leere. Es ist tröstlich, dass Gott letztlich stärker ist als das Böse. Und wieder glauben die Magier auf Verdacht hin – Träume sind für sie nicht Schäume. Sie folgen dieser eher vagen und leisen Stimme mehr als dem ausdrücklichen Befehl des weltlichen Herrschers. So kehren sie auf einem anderen Weg in ihre Heimatländer zurück. Sie selbst sind dabei auch andere geworden als die, die einstmals losgezogen sind. Die Geschichte von der Suche nach dem neugeborenen Kind, nach dem Neuen Anfang, dem Neuen Leben, ist nicht damit zu Ende, dass man es findet und anbetet.
Das Leben geht weiter, aber wir gehen als Verwandelte weiter. Neue Wege sind nötig – auch heute, auch für uns, äußerlich und innerlich. Und das nicht nur einmal im Leben, sondern immer wieder. Gut, dass es jedes Jahr Weihnachten gibt, um uns daran zu erinnern.
Amen.
2.Christfest, 26.12.2022, Stadtkirche, Matthäus 1, 1 - 17, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Weihnachtstag - 26.XII.2022
Matthäus 1, 1-17
Liebe Gemeinde!
Jesus und Miss Sophie: Beide haben Gäste an ihrem Fest, die nicht da sind … und doch anwesend.
Sir Toby, Admiral von Schneider, Mr.Pommeroy und Mr.Winterbottom mögen noch vor wenigen Jahren in persona die Menü- und die Getränkefolge mit ihrer Gastgeberin geteilt haben. Ihre Abwesenheit weckt jenen Schmerz, den gerade an Weihnachten jede Lücke in unsern Familien, jeder Stuhl, der am Tisch künftig unbesetzt bleiben wird, mit sich bringt.
Der englische König sprach gestern für alle Trauernden, wenn er auch diese Seite unseres hellen und heiteren Festes berührte: Obwohl wir es wissen, dass irgendwann der Erste und irgendwann auch der Letzte aus der Vertrautheit unserer geteilten Gewohnheiten und Rituale sich verabschieden muss, ist es schwer, bitter schwer, die Lieder zu singen, die nicht mehr so vielstimmig wie früher gelingen, … die Post zu sortieren, ohne wieder - wie in jedem Jahr - auf die liebgewonnene Handschrift zu stoßen, … die Rezepte zu kochen, den Schmuck zu benutzen, den Rhythmus zu befolgen, die alle unlöslich mit einem verbunden waren, der nun nicht mehr die Speisen, die Freuden und das Licht der Sterblichen teilt.
Ein Zug der Wehmut, manchmal auch der wachsenden Verlassenheit ist gerade auch in die nur scheinbar ungetrübtesten Feiertage des kirchlichen und des bürgerlichen Kalenders unlösbar hineinverwebt.
Denn jedes Fest, das wir begehen, lebt und vertieft ja ein Miteinander, das im Augenblick seiner Ereignung schon zu jenem „Weißt du noch?“ von morgen wird, das uns daran gemahnt, wer wir sind, wo wir herkommen und was uns verbindet.
Alle Freude schafft Erinnerung, bis der Tod uns scheidet … und wird dann zu Schmerz, … bis schließlich aus der schmerzlichen Erinnerung sich wieder eine Freude herauskristallisiert, die nun auch der Tod nicht mehr zerstören kann.
Ein Fest, von dem wir unsere Trauer ausschließen, ein Fest, zu dem die toten Gäste nicht willkommen wären, wäre ein unkluges und ein unmenschliches Beginnen. Wo wir sind, sollen auch die sein, die nicht mehr hier sind. … Bis wir dahinkommen, wo sie sind.
Mit Ahnenkult oder Schauerromantik hat es also gar nichts zu tun, wenn die alten Weihnachtsbräuche oft noch Spuren des größeren Kreises an sich tragen, bei dem die Gestrigen nicht totgeschwiegen werden, sondern ihren Platz in unserer Mitte behalten und in unsern Jubel, unser Gespräch, unser Gebet auch Stimmen einbezogen bleiben, die zwar unser leibliches Ohr nicht mehr vernimmt, ohne die wir aber doch nur wie eine Orgel ohne Pedal, wie eine Antwort ohne Frage klingen würden.
Damit nie jemand auf die Idee käme - auf die natürlich inzwischen alle Welt gekommen ist! -, dass das Fest der Geburt des Erlösers der Menschen bloß ein harmloses, sprich: hirnloses Gelage sei, hat die Kirche von Anfang an dem 1.Tag des Christfestes einen zweiten beigesellt, der seit jeher den Blick der Weihnachtschristen um die entscheidende Dimension erweiterte: Was auf dieser Erde in der Zeit gefeiert wird, das ist nicht zu denken, nicht zu verstehen und … eben auch nicht zu feiern ohne die, die nicht mehr auf Erden, sondern im Himmel, in der Gottes-Gegenwart also sind.
Darum ist der Zweite Weihnachtstag in seinem Proprium, in seinem eigentlichen Gepräge der Festtag des ersten Zeugen Jesu Christi, durch den die heilige christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen zu einer menschlichen Verbindung auf zwei Ebenen wurde: Der irdischen ist mit dem ersten Märtyrer Stephanus für immer auch die himmlische Gemeinde an die Seite gestellt. Und so erinnert uns dieser zweite Feiertag, der Stephanus-Tag stets daran: Es gibt uns nicht nur „hier“ ohne: „Da“; … es gibt uns nicht nur in der Zeit, sondern ebenso auch in der Ewigkeit, … es gibt uns nicht nur zeitlich lebend, sondern wir sind immer auch schon dem Leben voraus, im bleibenden „Jetzt“. ———
Mit diesen Vorüberlegungen zur Vergangenheit vor dem Heute und zur Ewigkeit jenseits des Heute sind wir nun vielleicht in der angemessenen Verfassung, um bewusst die große Schar an der Pforte des Neuen Testaments zu empfangen, … die nicht leiblich, aber geistlich gegenwärtigen Ehrengäste, mit deren Reigen Matthäus das Evangelium von Jesus Christus anhebt.
Diese Aufzählung sonorer, durch ihre Aura der Sakralität und des Aristokratischen ehrfurcht-gebietender Namen wird meistens als ein vernachlässigenswertes Kuriosum übergangen, mit dem der doch etwas zu schriftgelehrte Matthäus im Hopplahopp den engmaschigen Anschluss des Neuen an das Alte Testament belegen wollte. Man sieht eine Art hochkonzentrierter Summe der Heilsgeschichte in seinem genealogischen Abriss – was ja wahrlich aller Ehren wert bleibt! –, oder eine historisierende Fleißarbeit, die Jesus seinen Kontext in der realen Chronologie verschaffen soll. ——
Andere – so gewiss auch die, die den Stammbaum Jesu neu zu Ehren als Predigttext gebracht haben – freuen sich an den delikaten Webfehlern im gleichmäßigen Geflecht der Generationenfolge, wo nicht immer nur das monotone Leiern zu berichten ist: Einer wurde geboren, freite ein Weib, zeugte einen Sohn und dann „legt er sich“ - nach Matthias Claudius - „zu den Vätern nieder und kömmt so nimmer wieder“. Auffallend häufig sind ja die Unregelmäßigkeiten, die durch die starken Vorfahrinnen Jesu in das rechtschaffen-biedere Muster seiner Herkunft eingetragen werden: Fremde, verfemte, freie Frauen – Tamar (vgl. 1.Mose38), Rahab (vgl. Josua 2 und 6,22ff) und Ruth - , die nicht als namenloses Anhängsel irgendwelcher Patriarchen, sondern als die Schmiedinnen ihres eigenen Schicksals leben und handeln, haben ihrem Nachfahren gewiss ein Erbe der Autonomie in die Krippe gelegt: Wer solche Stammmütter hat wie Jesus, der kommt schon als gewagtes Vertrauen und vergebene Sünde zur Welt. ——
Wieder ein anderer Blick auf die scheinbar so monotone und insgesamt doch extrem männerlastige Liste der zeugenden Vorväter hat hinter dem allgemein sexuellen Vorgang ein tiefes Prinzip freigelegt[i], das die reine Fortpflanzungs-Biologie völlig verblassen lässt: Mit dem Doppelausdruck, der das ganze Neue Testament an der Spitze dieser Aufzählung doch wohl programmatisch eröffnet – „Βίβλος γενέσεως“ (Biblos geneseos) = „Buch der Zeugungen / Buch der Entstehungen“ – klingt ja schon in unseren Ohren das Buch „Genesis“ an, das exakt diesen Ausdruck zweimal als Zusammenfassung der Schöpfungs- und Urgeschichte verwendet (vgl. 1.Mose 2,4; 5,1): Die „Zeugungen des Himmels und der Erde“ und die „Zeugungen Adams“ - so werden die Erschaffung des Kosmos und die Anfänge des Menschengeschlechtes da genannt.
… Wer aber nur einen Augenblick über diese biblischen Ursprungsüberlieferungen nachdenkt, dem fällt auf, dass da überall – im Bericht über die Schöpfung, in der Urgeschichte der Menschheit und im Stammbaum Jesu – nun gerade nicht rein naturhafte, rein biologische Vorgänge geschildert werden, die gerne Charles Darwin zu überlassen sind, sondern dass es da um Gottes unentbehrliches, um Gottes völlig entscheidendes Wirken in und unter allen diesen Prozessen geht. Genauso wenig wie die Bibel in der Genesis nämlich die fruchtbare Produktivität und Variationsfreude von Mutter Natur feiert, genauso wenig feiert sie im Matthäusevangelium die Manneskraft und den Geschlechtsverkehr an sich. Vielmehr geht es am Anfang des Alten wie des Neuen Testaments unter der Überschrift des „Βίβλος γενέσεως“ jeweils darum, wie in den scheinbar selbstverständlichen Grundlagen und Entwicklungen des Lebens immer und überall Gott am Werk ist: Nichts – und sei es noch so gewöhnlich, noch so „natürlich“, triebhaft, elementar – … nichts geschieht ohne das weckende und lenkende, ohne das schöpferische und segnende Tun Gottes.
Auf diese Weise – nicht durch sexuelle Begattung, sondern durch segnende Begleitung – ist die Gotteskindschaft demnach tatsächlich der gesamten Wirklichkeit als Ur-Prinzip eingeschrieben.
Und die Geburt Jesu aus der langen Folge der Segnungen Gottes in der Geschichte Seines Volkes Israel ordnet sich in den großen Zusammenhang einer Welt ein, die ganz von Gott erfüllt ist, sich Ihm verdankt und in allen ihren Entwicklungen Ihm folgt und zustrebt. ———
Diese Linie des israelitischen Schöpfungsglaubens als Glaubens an den Segen Gottes, … diese Linie der Segensgeschichte Israels erklärt dann aber auch, wieso das Neue Testament mit einer biologischen Abstammungstafel anfängt, die Jesu Geburt gar nicht biologisch vorbereitet, da sie ja auf Joseph hinausläuft, der auch im Stammbaum selbst nicht als der in unserem Sinne „genetische“ Vater des Christus bezeichnet wird: Jesus gehört in die generationen- und Genetik-übergreifende Kette des Segens, Er ist eingebettet in die gottgewirkte Geschichte, die den Kosmos und Israel durchzieht und verbindet, … Segen hat Ihn vorbereitet, Segen gab Ihm Dasein, Segen ist Sein Leben.
Die ehrwürdige Schar der Erzväter, der frühesten Generationen Israels in Kanaan, schließlich die anfänglich stolze, dann gedemütigte, erneut aber auf Hoffnung gerettete und sehnsüchtig harrende Dynastie des Hauses Davids verkörpert also am Eingang des Neuen Testaments das, was der Hebräerbrief (11; vgl.12,1) „die Wolke der Zeugen“ nennt: Von Anfang an, durch alle Vergangenheit, die Ihm voranging, ist Jesus umfangen von denen, die Segen erben, teilen, weitergeben. Sie umgeben Ihn wie unsere unsichtbaren, aber uns tief vertraut zugehörigen Weihnachtsgäste uns umgeben: Mit einer wartenden Zuversicht und einer bleibenden Liebe, die vor unserm Leben begann und die der Tod nicht zu zerschneiden vermag.
Und damit sind sie letztlich allesamt - wie Stephanus - Zeugen der Gotteskraft, die am Anfang der Genesis (1,2) und am Ende des Evangeliums (vgl. Lk24,49 /Joh.20,22) als der Heilige Geist in Erscheinung tritt.
Der lebenspendende Geist Gottes, Der durch alle Räume der Schöpfung und die Zeiten aller Geschichte weht, ist in jeder Generation, in jeder Geburt, in jedem Geschehen gegenwärtig, um Jesus den Weg zu bereiten, um Ihn zu empfangen und auch um zu sichern, dass es nach Jesu Weg in’s Fleisch, in’s Grab, in’s Leben in Gottes Gegenwart weiter geht … weiter geht in weiteren Zeugen, … weiter geht auch in uns!
Und so ist der Geist Gottes, Der in den Vorfahren wirkt, Der Sich in ihnen bezeugt und sie zu Jesu Zeugen macht, nach Pfingsten Der, Der in uns Anwesenden allen genauso wie in den nicht gegenwärtigen Gästen die Verbindung mit Jesus und untereinander herstellt, stärkt und segnet.
Damit aber ist das Leben Jesu, Der aus dem Geist Gottes gezeugt ist, nicht nur in die Schöpfungs-, Israels- und Weihnachtsgeschichte als Seiner Herkunft eingebunden, sondern ebenso auch in die Pfingst- und Kirchen- und Weltgeschichte, als deren Fortsetzung, und es erstreckt sich ein einziger, unverbrüchlicher Lebens- und Segenszusammenhang nicht nur durch die dreimal zweimal-sieben Geschlechter des Stammbaums, sondern vom Uranfang bis zum Fernziel: Alles ist Jesu Leben und alle, die nicht mehr oder noch nicht da sind, sind doch in und bei Ihm – mit-gesegnet - anwesend! ——
… Diese ununterbrochen und ununterbrechbar durchgängige Linie des Heils ist wunderbar tröstlich, … ist in ihrer natürlichen wie symbolischen Einfachheit vollkommen schön, und sie scheint die Geschichte der Welt so glatt zu machen, …. so glatt, dass wir in unserer verzerrten, aufgelösten, zerreißenden Gegenwart eine derart sichere Fortentwicklung kaum mehr für denkbar und glaubhaft halten können. …….
Doch auch Matthäus kannte kein bruchlos geschmeidiges, widerstandsloses Abspulen der Geschichte. Sein wunderbar gegliedertes Triptychon aus vierzehn Geschlechtern der Vorbereitung und Erwartung bis zum Messias David, dann vierzehn Geschlechtern auf dem Thron und im Reiche Davids und zuletzt vierzehn Geschlechtern unterm Gericht und in der existentiellen Erwartung dessen, in dem alles verheißene Heil sich doch noch erfüllen werde, ist schief.
… Es besteht nicht symmetrisch aus zweiundvierzig Gliedern, sondern einem weniger.
Das liegt an der tiefen Krise des babylonischen Exils, als Davids Stern erlosch, als alle Zusagen Gottes zusammengebrochen schienen, als das Land verloren und das Volk gescheitert war, … als - kurzum - die Zukunft beendet sein musste, weil die Verbannung in Babel den Schlussstrich und Todesstreich herbeigeführt hatte.
Diese Krise im Weltuntergangsmaßstab begegnet als einziges historisches Ereignis in der Aufzählung der Namen, die wir als Segensträger und Jesus-Zeugen verstanden haben … und sie begegnet gleich zweimal, … so tief teilend, so einschneidend war sie.
Die Wirklichkeit also durchbricht das allzu schöne, allzu glatte Schema der Heilsgeschichte auch im Buch der Zeugungen - der Zeugen - Jesu, so wie unsere Erfahrungen der weltgeschichtlichen Gegenwart es auch tun.
Doch der Einbruch des Unheils zerstört nur das Schema, nicht aber die innere Wahrheit des unwiderruflichen und unumkehrbaren Wirkens Gottes auf das Leben hin, … das Leben Jesu und das Leben aller!
In der Reihe derer, die Jesus vorbereiten und empfangen, fehlt also – was Matthäus unmöglich entgangen sein kann – unterbrochen durch das Exil, ein Name, … aber kein Glied: Jesus - so zeigt es der Evangelist - hat Zeugen, Er hat Angehörige, die zwar nicht aufgezählt sind, aber darum doch nicht in Nichts aufgelöst, doch nicht spurlos verschwunden.
Die, die nicht da sind, sind Ihm doch gegenwärtig.
Die, die wir nicht finden, sind doch für Ihn nicht verloren.
Für Jesus, Der aus dem Segen, aus dem Geist des Vaters gezeugt wurde, gilt nämlich weihnachtlich der eine, trotz aller Anfechtungen einfache Satz:
Er, Der unmittelbar aus Gottes Leben kommt, ist Der, Dem alle leben, … hier und da, … die Anwesenden und die in Seiner Gegenwart! —
Und so ist Weihnachten das Lebens-Fest der gesamten Menschheit; Hier, in der Zeit und dort in der Gegenwart!
Amen.
[i] Das Verdienst, spröde-scheinende biblische Texte – wie etwa alles Genealogische – sensibel, aufmerksam und theologisch fruchtbar eng zu lesen („close reading“) kommt unbestreitbar der Tradition der holländischen Exegese zu, die sich auf den großen reformierten Theologen Kornelis Heiko Miskotte (1894 – 1976) zurückführen läßt. Aus seiner Schule hat besonders Frans H. Breukelman den biblischen Wirklichkeits- und Geschichtsbegriff aus dem Denken und den sprachlichen Formen der Hebräischen Bibel erhoben. Breukelmans mehrbändige „Bijbelse Theologie“ beginnt nicht zuletzt mit grundlegenden Untersuchungen des hebräischen Wortstammes und der Denkfigur, die im Griechischen als „Βίβλος γενέσεως“ übersetzt wird. Breukelman plädiert bei diesem hermeneutisch entscheidenden Terminus, der geschichtsphilosophisch als ein hebräisches Äquivalent zum Konzept von „history“ betrachtet werden kann, asl angemessene Wiedergabe schließlich für das schöne niederländische Wort „verwekkingen“ (also: Weckungen, Auf-Erweckungen?!), das in unserem Horizont die natur- und stammesgeschichtlichen Entwicklungsschübe aus der Dynamik des Segens von vorherein österlich färbt; vgl. F.H.Breukelman, Bijbelse Theologie, Deel I,2 תולדות - De Theologie van het Boek Genesis. Het eerstelingschap van Israël temidden van de voelkeren op de aarde als thema van „het boek van de verwekkingen van Adam, de mens“, Kampen 1992, S. 24.
1.Christfest, 25.12.2022, Stadtkirche, Kolosser 2,3.6-10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Tag der Geburt des Herrn - 25.XII.2022
Kolosser 2,3.6-10
Liebe Gemeinde!
Sonntag und Weihnachten – in dieser Reihenfolge: Das Leben, das den Tod besiegt, ist heute geboren worden! … Mehr Wirklichkeit und mehr Verheißung kann in einem Satz nicht zusammenkommen. Ein größeres Fest lässt sich nicht feiern als an diesem Tag, an dem Beginn und Vollendung gemeinsam begangen werden wollen.
Die Geburtsgrotte in Bethlehem ist ja schlicht der Eingang zum 11 Kilometer, 33 Jahre und eine Lebens-, Leidens- und Todesgeschichte entfernten Felsengrab von Jerusalem, in dem eine neue, … eine Geburt für die Ewigkeit geschah. Ohne den seit Pfingsten allwöchentlich begangenen Tag der Auferstehungsfeier wäre unser heutiges irdisch-historisches Geburtsfest Christi gewiss niemals in die christliche Liturgie aufgenommen worden. Und daher dürfen wir Weihnachten heute endlich einmal wieder so feiern, wie es ursprünglich gemeint war: Als österlich durchglühtes Fest der Inkarnation, … als den Tag, von dem an es dem Fleisch – also der physischen, organischen, konkreten Menschennatur, die Jesus von Maria annahm – bestimmt war, zu jenem unverweslichen Leib zu werden, der die persönliche Wirklichkeit des Auferstandenen ist. ———
Allerdings ist gerade diese Verbindung zwischen dem obdachlosen Säugling in Bethlehem -also einem Allerwelts-Migrantenkind, das heute ebenso aus der Nähe von Aleppo stammen könnte oder aus Bachmut, aus dem Jemen oder der mittelamerikanischen Tristesse, aus der sie nach Norden strömen - … die Verbindung also zwischen dem bedrohten kleinen Wurm, das zwischen Hypothermie und Hunger in Bethlehem zur Welt kam und dem, den die Forschung gern den „Christus des Glaubens“ nennt, ist eine geradezu peinliche.
… Denn dass ein menschlicher Organismus – also ein reines Beispiel stammesgeschichtlich-biologischer Evolution und Adaption des homo sapiens an das heterogene Ökosystem der Erde – in irgendeiner Beziehung zu einer transzendentalen Existenzform stehen könne, das scheint nicht erst heute unbegreiflich.
Zwar werden die inzwischen die Mehrheit darstellenden Nicht-Christen weiter so tun, als sei-en die Fragen, die die moderne Naturwissenschaft hier stellt und die Zweifel, die ein geschlossen materialistisches System hier anmeldet, nun mit sofortiger Wirkung das endgültige Ende des lächerlich voraufgeklärten, des „mythischen“ christlichen Bekenntnisses.
… Doch wie wenig wissen die, die ihren heutigen Horizont für universal halten, tatsächlich vom hohen Alter und der langen Tradition ihrer eigenen Zweifel!
Es brauchte nicht die verengte Wahrnehmung einer auf reine Sinneseindrücke beschränkten Weltsicht, um zwischen dem Geborenen und Gekreuzigten und Dem, Den wir heute als den Lebendigen bekennen, einen tiefen, unüberbrückbaren Graben zu ziehen: Seit dem Sonntag, den wir Ostern nennen, ist es eine ständige, schon in Athen zu Paulus’ Zeiten (vgl. Apg17). von reinem Hohn gekennzeichnete Ablehnung des Zusammenhangs zwischen der körperlichen und der spirituellen Gestalt Christi, die das Evangelium weckt.
Heute, weil alles auf’s Physische reduziert ist; damals, weil nur das Metaphysische zählte.
Wo die Moderne nur Greif- und Messbares anerkennt, verneinte die Antike gerade dieses, denn philosophisch gültig schien den körperskeptischen Alten einzig das geistige Reich der Ideen, wohingegen uns geistfernen Naturalisten nur das wissenschaftlich Eingegrenzte dingfest vorkommt.
Doch beide Ansichten sind wirklichkeitsferne Reduktionen.
Der Marxist, der lehrt, dass Leben einzig im angemessenen Stillen der physischen Bedürfnisse bestehe, ist genauso ein halber Mensch wie der Buddhist, der hofft, dem Kreislauf des Brauchens, Begehrens und Befriedigens zu entkommen, um endlich zur Freiheit zu gelangen. Im Menschen ist vielmehr beides angelegt: Das stoffliche und das geistige Angewiesensein, … der nackte Hunger und die seelische Aufnahmebereitschaft.
Die Menschenwürde ist es, dass er vom Brot lebt und vom Wort!
Und damit treten wir zur Krippe, in der beides liegt: Das Wort Gottes und das Brot des Lebens … und zwar ungetrennt und unvermischt im Körper eines kleinen Kindes.
Denn das ist das Dritte, was die Weisheit und die Kritik der philosophischen wie der wissenschaftlichen Schulen der Menschen übertrifft: Nicht Weizenmehl findet sich da und nicht die Zeichenfolge der Buchstaben und Laute und doch Der, Der uns an Leib und Seele mit Sich Selbst erfüllen kann.
Was für ein seltsames Wunder, das zugleich die uralte und die allerjüngste Weltanschauung der Menschen herausfordert. „Zu primitiv!“, ärgern sich die Alten: „Der sublime Gottesgeist als reales Menschenkind?“ – „Zu spekulativ!“, ärgern sich die Modernen: „In einem realen Menschen den abstrakten Gott zu sehen?“
Doch die Gemeinde, die da so paradox von zwei Seiten die Größe ihres einen, versöhnenden Mittelpunkts bestätigt sieht, kann sich daran nur freuen: Zerreißt es auch der Rest der Menschen lieber, um in der je eigenen, ihnen geheuren Hälfte der Wirklichkeit ungestört zu verharren, so ist das Geheimnis des Christus-Ganzen, der Ganzheit in Christus doch zu herrlich, um es bestreiten und zerstören zu lassen.
Die Zeit der Pandemie hat es uns ebenso gezeigt, wie jetzt die Kriegszeit, wieviel Unheil in der säuberlichen Zergliederung und Zerstückelung unserer Wirklichkeit liegt: Wo man nur die Gesundheit des Leibes schützte, kam der Mensch seelisch zu kurz; wo man nur die Reinheit seines Gewissens retten will, opfert man dem pazifistischen Seelenheil das Leben anderer Menschen.
Es müssen um des fleischgewordenen Wortes willen immer beide Seiten in der christlichen Gemeinde zusammenkommen, um das weihnachtliche und österliche Wunder zusammen zu halten: Dass das Kind, das die schmutzstarrenden Hirten mit ihren reinen Herzen und ihrer Ziegenmilch beschenkten, zugleich der König ist, den die durch ihn erleuchteten Weisen für seinen Leidensweg und Siegeszug mit Gold, Weihrauch und Myrrhe ausrüsteten.
Leib und Seele, das Unmittelbare und das Reflektierte, Gefühl und Gedanke sind durch die Inkarnation, die zur Auferstehung führt – die Geburt, die Ostern bringt – schlicht und ungeschieden und unverbrüchlich verbunden. ———
An der Sollbruchstelle, die das eine vom anderen separieren will, hat indes schon Paulus sich abgemüht.
Er konnte nicht zulassen, dass bereits die ersten Taufanwärter für sich eine fundamentale Unterscheidung trafen: Den vergeistigten Christus – das jenseitige Ideal eines Übermenschen, den sie mal mehr jüdisch als den perfekten Frommen und Gerechten, mal mehr griechisch als den leidenschaftslosen Philosophen in der Sphäre der reinen Theorie, der vollkommenen Wahrheitsschau deuteten … –, den wollten sie gerne als ihr Über-Ich, als ihr Maskottchen, als ihren Avatar, ihren virtuellen Stellvertreter akzeptieren. In die Nachfolge dieses rein spirituellen Idols gliederten sie sich je nach Schule oder Sekte schon in den allerersten Gemeinden gerne ein.
… Dass aber diesem früh entwickelten Christusbild in der Wirklichkeit der vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Heilsereignisse eben gerade kein Bild, keine Projektionsfläche, sondern ein echter Mensch entspricht, das blendeten viele von Anfang an lieber aus.
„Lasset uns Christus machen nach unserem Bild“, lautete ihr instinktiver Vorsatz.
Doch gerade dieser Versuch läuft dem Weihnachtswunder und dem Osterziel genau zuwider: Gott, Der den Menschen nach Seinem Bilde schuf, hat damit die Gottähnlichkeit jenem Geschöpf eingestiftet, zu dem Er selbst zu werden bereit war. Dass das Geschöpf aber auch das wieder besser zu können glaubt, … dass es Gott nicht gar so menschlich, sondern viel lieber den Menschen in Christus nach eigenem Gusto noch göttlicher machen würde, das ist die alte Sünde im neuen Gewand des neuen Glaubens.
Der rein himmlische, transzendente Christus, den sich die Menschen gerne denken und ausmalen, … der Gott, der als Mensch nach den Vorstellungen der Menschen etwas weniger Mensch und dafür etwas stärker Gott sein sollte: Ist das nicht schon wieder das goldene Kalb?
Alle die vom Menschenwahn geschaffenen Christusse – der entrückte byzantinische Herrscher-Christus, … der auf russischen Ikonen abgebildete „Zar aller Zaren“, dessen götzendienerischer Patriarch heute wieder im Kriegsrat des Kreml thront, … der arisch antibiblische Christus unserer Großeltern, … das allgemein moralische und korrekte, von jedem freiwillig erlittenen Schmerz, aber auch jeder richtenden Autorität unüberbrückbar weit entfernte, woke Weichei der heutigen a-theologischen Kirche … sie alle sind törichte Abgötter, geformt nach den Trends und Theorien, den Moden und Marotten ihrer jeweiligen Zeit.
Doch das Kind in der Krippe von Bethlehem, der kleine jüdische Knabe, der am achten Tag als Sohn von obdachlosen Reisenden beschnitten wurde, der dann als Fremdling in Ägypten zusah, wie die Eltern sich durchschlugen, der in der galiläischen Heimat die stillen Jahrzehnte seiner Alltäglichkeit verbrachte, der drei Jahre des harten Wanderprediger und Wunderheilerlebens bestand und dann in weniger als fünf Tagen vom Liebling zum Sündenbock der Stadt Gottes wurde, der Märtyrer, den man auspeitschte, folterte und langsam zu Tode quälte, der Gleiche, lebenslichtleuchtend als Auferweckter mit berührbaren Wundmalen an Händen und Füßen, der segnende Kyrios, der in die universale Gegenwart Gottes aufgenommen worden ist, der weihnachtlich-österlich - als Fleisch aus Maria und ewiges Wort Gottes - im Heiligen Geist jetzt hier unter uns Gegenwärtige, Der ist in alledem nicht das, was jedermann aus Ihm machen mag, … Er ist und bleibt stattdessen einfach und ganz Er selber.
Und auch wenn die Philosophen und die Materialisten das nicht zugeben können, dass Jesus der wahre Mensch bleibt und dass es sich in Bethlehem und auf Golgatha und im Gartengrab genauso wahrhaftig ganz um Gott handelt, so gilt doch das Beharren des Paulus, dass gerade und nur so alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis – der Sophia und der Gnosis im Griechischen, der sapientia und scientia auf Latein – in Ihm verbunden sind:
… Dass es bei diesen Reichtümern, bei dieser psychosomatischen Erfahrungsfülle um nichts Theoretisches, Abstraktes, Ideales gehen kann, das wird jedem klar sein, der je wirklich einen neugeborenen, einen leidenden und sterbenden Menschen oder im Vorgriff einen erlösten, einen losgelassenen, einen seligen Menschen wahrnehmen konnte.
Die wirklich nötige Erkenntnis, was das Elend und was das Glück der Menschen ist, … die wirklich notwendige Wissenschaft, die das Eine zu mindern und das Andere zu fördern hilft, … die wahrhaft menschenwürdige und menschenfreundliche Anschauung und Praxis, die am weihnachtlichen Anfang Jesu und an Seinem österlichen Ziel ihre Maßstäbe und Motive des Ernstnehmens der Liebe zu allem Leben und der Hoffnung für jeden Sterblichen gewinnen, die sind eben tatsächlich nie und nimmer so klar, so echt und so tief zu begreifen wie dort, wo Jesus Christus uns Glaubende prägt.
Jesu Leben ist die Schule allen Lebens.
Jesu Leben ist die Therapie für alles Leid.
Jesu Leben ist die Verarbeitung und Bewältigung aller menschlichen Schuld.
Jesu Leben ist das Verheißungspotential des gesamten Menschengeschlechtes, in dem die Seinen wurzeln, gründen und leben.
Andere Faktoren können neben dieser Fülle nicht wirklich ins Gewicht fallen: Die jeweils zu verschiedenen Zeiten verschiedenen Brennpunkte und Hauptschauplätze der wunderbaren und erschreckenden Macht des menschlichen Forschens und der menschengemachten Technik kommen an die Dichte und an die Universalität, an das Existentielle und an das Konkrete des lebendigen Leibes Jesu nicht heran. Er umfasst alle. Verbindet sie. Erhält und heilt sie, durchströmt und löst sie von allen Lasten, Fesseln und Gewalten.
In Seiner Menschheit und Gottheit ist allen alles gegeben, was Leib und Seele in Zeit und Ewigkeit brauchen.
Das verbindet uns an diesem sonntäglichen Weihnachtsfest in einer Zeit der weltweiten Passion restlos untereinander.
In unser Vertrauen auf den Menschengewordenen und Auferweckten schließen wir darum unverbrüchlich gerade die ein, die in diesem Augenblick unterm Krieg, unter der Kälte, unter den Verheerungen, die wir an der Natur verüben, so bitter leiden müssen, ebenso wie die, deren Dasein von starrem Unrecht, ständigem Mangel, steigender Aussichtlosigkeit seit Jahr und Tag ausgepresst wird.
Die Fülle Gottes, die leiblich in Jesus verkörpert und greifbar bleibt, ist grenzenlos: Ihre immanente Wirklichkeit in der uns verwandten und zugänglichen Menschengestalt ist unerschöpflich und allumfassend. Wo sie noch nicht spürbar verwirklicht ist, wird sie es werden. Wo sie noch nicht ungehindert wirken kann, wird es nicht dabei bleiben. Wo sie nur teilweise begegnen kann, werden ihre Ansätze und Bruchstücke sich zum großen Ganzen fügen.
Am heutigen Weihnachtssonntag nehmen wir darum für Ost und West und Nord und Süd, im Namen der Feiernden wie im Namen der Klagenden, … nehmen wir Wenigen hier für alle in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stellvertretend Teil an einer Vollkommenheit, die ohne Abbrüche, ohne Leerstellen sein wird.
Und darum wollen wir hier im Westen mit Worten des Ostens das besingen, was alle Erkenntnis noch übersteigt, was der mängellose Reichtum und die vollständige Wirklichkeit des zur Erlösung geborenen Lebens ist, … mit Worten des unvergleichlichen ostkirchlichen Hymnendichters Romanos, genannt „der Melode“[i]:
„Bethlehem öffnete Eden, / kommt hierher, lasst uns schauen!
Wir haben den Überfluss im Verborgenen gefunden; / kommt hierher, lasst uns empfangen
die Gaben des Paradieses im Inneren der Höhle!
Dort zeigte sich die nicht bewässerte Wurzel, die die Vergebung hervorsprießen ließ.
Dort fand sich der nichtgegrabene Brunnen,
aus dem einst David zu trinken begehrte.
Dort stillte die Jungfrau, da sie ein Kind gebar,
sogleich den Durst von Adam und David.
Deshalb lasst uns dorthin eilen, wo geboren ward
ein kleines Kind, der urewige Gott!“
Amen.
[i] Zitiert nach: Maria H. Duffner, Romanos der Melode: „…denn für uns wurde geboren ein kleines Kind, der urewige Gott“. Gedanken zu einem alten griechischen Weihnachtshymnus, Gersau 2001, S.17.
1.Advent, 27.11.2022, Stadtkirche, Offenbarung 3,14 - 22, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent - 27.XI.2022
Offenbarung 3, 14-22
Liebe Gemeinde!
„Beglänzt von seinem Lichte, / hält euch kein Dunkel mehr …“ (EG 16,4)
… Kein Dunkel hält dich mehr, Kiew! Keine Dunkelheit mehr über dir, Cherson! Keine Verdunkelung in den Dörfern und Städten ohne Strom und ohne Wärme zwischen Lwiw, Odessa und Charkiw!
„Beglänzt von seinem Lichte, / hält euch kein Dunkel mehr …“ ——
Jerusalem hat die Tore weit gemacht, als der König der Ehre einzog!
… „Kein Dunkel mehr“.
Rom allerdings hat das andere Tor geöffnet, das sog. „Schaftor“ (Neh.3,1), durch das Gottes Lamm zur Kreuzigung gezerrt und draußen vor der Stadt begraben wurde. Doch auch diese letzte Tür, die Tür ohne Griffe oder Innenriegel – die Grabestür, die außen von Soldaten unter Verschluss gehalten wurde – hat nicht geschlossen! Sie wurde aufgesprengt.
… „Hält euch kein Dunkel mehr …“! ——
Warum ist es dann aber so dunkel in der Welt?
Woher das Dunkel in diesem November eines europäischen Kriegsjahres, in diesem ersten Adventsgottesdienst einer Notzeit auf Erden, die sich lang zusammengebraut hat in den Schatten, die man gerne übersah und die nun wirklich vor aller Augen als große Finsternis steht?
Wie kann es solche Dunkelheit geben, … da wir gerade doch vom Licht des kommenden Friedens für die Ukraine berührt wurde, … da wir gerade doch vom Leuchten des sanftmütigen Helfers auf dem Esel vor Jerusalem erfasst waren, … ja, da wir gerade doch vom Osterlicht des offenen, leeren Grabes her die Todesnacht im Morgenrot vergehen sahen?!
Wie kann es noch so dunkel sein, wenn es doch über Kiew und Jerusalem und über dem Totenacker leuchtet?
Nun, das steht in dem Brief: In dem Brief, den der treue Zeuge geschrieben hat, dessen Name „Amen“ heißt und der also mit seinem ganzen Dasein das beglaubigt, was man wirklich nicht glauben will. Der Zeuge schreibt einen Brief, dessen Annahme die Adressaten wohl verweigern würden. Deshalb bringt der Bote diesen Brief auch nicht zu Händen der Angeschriebenen und der Beschriebenen, sondern er lässt sich den Empfang der Botschaft bestätigen durch den guten Geist, der auch die stumpfesten Botschaftsverweigerer und Anti-Zeugen doch nicht verlässt. Der Engel der Gemeinde nimmt entgegen, was der treue und wahrhaftige Zeuge geschrieben hat, mit dem die Schöpfung Gottes anfing und dessen Wort daher die Wirklichkeit von Anfang bis Ende aufklärt. Der Engel, der die Gemeinde – die entgeistert wäre, wenn sie sich sähe – nicht verlässt, akzeptiert die Sendung des Gesandten an die Gesammelten.
Der Brief, der aufklärt, wodurch das Dunkel trotz des Lichtes blieb, ist also angenommen.
Die Offenbarung des Johannes ist das Verzeichnis aller dieser unverlorenen Einschreiben der Wahrheit. Und so umfasst die Bibel die Liste der Adressaten der Adventsschreiben Gottes, die zu Händen der Seele Seiner Gemeinden gehen, auch wenn der Verstand und Stolz und Eigensinn der Gemeinden steif und fest behauptet, die Angesprochenen seien unter dieser Adresse unbekannt. Aber die Seele der Gemeinde, ihr Engel hat’s quittiert. Es ist eingetroffen, was Gott durch den wahren Zeugen ausrichtet. Es steht da schwarz auf weiß: Der Engel der Gemeinde von Laodizea, dem das letzte der sieben Sendschreiben der geheimen Offenbarung gilt, hat es nicht abgelehnt, nicht unterdrückt, nicht in den Reißwolf gegeben. Der Brief an die Laodizeer ist erhalten[i].
… Ihre Postleitzahl ist 40489. Und die angrenzenden Bezirke.
Denn Laodizea – ob wir’s wollen oder nicht, und ohne irgendeine vermeintlich unparteiische Anklagehaltung – … Laodizea ist hier; Laodizea sind wir: Gleichgültig, sorglos und vollkommen in Illusionen verstrickt.
Man kann es natürlich auch netter sagen, weshalb wir diesen apokalyptischen Liebesbrief zusammen mit den wohlhabenden, zufriedenen und doch so radikal sich selber täuschenden Laodizeern empfangen, … diesen Brief, in dem das zu Recht verpönte Erziehungsprinzip des weisen Salomo – „Wer seinen Sohn lieb hat, der züchtigt ihn“ (Sprüche 13,24b) – zu unserer Empörung auch auf uns reife und mündige Christenmenschen angewendet wird: „Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich“, heißt es in dem pädagogisch fragwürdigen, aber fraglos ernsthaft emotionalen Brief Gottes an uns, … die bürgerliche Mitte?!
Man kann es netter sagen, weshalb wir in der Krise nun auch noch eine blaue Epistel vom Himmel, einen Mahnbrief also erhalten, obwohl wir doch das ganze Malheur der Zeit weder allein verursacht haben noch bewältigen können.
Warum?
Weil Gott, der Treue und Wahrhaftige sich Sorgen macht über unsere emotionale Störung! Gott rüttelt an uns, die wir so ungerührte, so bornierte Leute sind, die mit ihrem vermeintlichen Überfluss die völlige Leere verdecken, die in ihnen herrscht.
…. Das Leben der Welt, die Zukunft der Kinder, die Hoffnung des Heils, die Wahrheit des Wortes … alles wankt und bröckelt, alles schmilzt und verweht uns ja. Aber das historisch tatsächlich erdbebenerprobte Laodizea[ii] schüttelt die Katastrophen immer wieder ab und vertraut darauf, dass es über einen derartigen Wohlstand verfügt, dass das Leben vor Ort schon weitergehen wird.
Und tatsächlich: Es geht weiter. Der Ort, der zu den illustren Städten Kleinasiens zählt, berühmt durch die dort gewalkte und gewebte schwarze Wolle, schafft es durch Kommerz und Technik und Eitelkeit sich lange gegen eine unruhige Erde und eine stürmische Zeit zu behaupten.
…. Und das christliche Laodizea einst dort und heute hier ist gar nicht mal verstohlen froh, dass man so sicher da- oder zumindest wieder aufsteht: Die Infrastruktur und das Geschäft sind auch für die Getauften die ersten und die wichtigsten Garantien. Obwohl der Vordere Orient tektonisch wackelt, obwohl die Pax romana, die Friedensordnung des Welt-reichs merklich brüchig wird, obwohl das Leben der meisten in der Menschenmasse physisch wie psychisch fragwürdiger und fragwürdiger wird, sagen wir Laodizeer doch: „Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts!“, weil unser Lebensstandard ja nur angegriffen, aber noch nicht verloren ist und alle unsere Gewohnheiten zwar auslaufen müssen, aber noch vorwärtstaumeln, wie der Läufer, der nach der Ziellinie nicht abrupt stillstehen kann, sondern torkelt bis er kollabiert. … Wir haben alles noch und geben es auch nicht auf: Das Öl, das Gas, das Wasser, das Geld, den Luxus und das Brot, um die uns viele beneiden. … Uns geht’s doch noch „Gold“, sagen wir Laodizeer. „Wie hoch ist schließlich - glücklicherweise - auch wenn’s an’s Klagen geht unser Niveau noch immer!“
Und genau diese Betäubungs- und Verdrängungskunst von Laodizea, diese irgendwo zwischen Blindheit und Bosheit, Wahnsinn und Primitivität schaukelnde Unfähigkeit, die Wahrheit und den Weg, den sie erfordert, einzusehen, bereitet Gott Kummer und Zorn im Blick auf uns, … einen Zorn und einen Kummer, die im furchtbarsten, drastischsten Bild gipfeln, das überhaupt in den Gemeindebriefen, den Seelensendschreiben der Offenbarung begegnet: Es ist das Bild vom Ausspucken. … Buchstäblich sogar noch ein grässlicherer Vorgang.
Die emotionale Störung, die seelische Selbstverstümmelung, die weder wirkliche Angstschauder noch glühende Zuversicht zulässt, sondern bloß geschmacklosen Gleichmut, … dieser morbus laodicensis, … dieses unter uns chronische Wohlstandssyndrom: „Was geht’s uns schon an, wie’s andern geht, wenn’s uns noch so geht?!“ … die sind für Gott zum Kotzen!
Für Gott, Der Sich der ganzen Welt zum Lebensmittel Brot, … Der Sich der ganzen Welt zum Lebensbrot gegeben hat, ist es ganz einfach ungenießbar, wie gleichgültig und realitätsfremd und selbstgenügsam solche wie wir sind: Solche Lauigkeit, so dumpfe Egalität zwischen Hassen oder Lieben, zwischen Jubeln oder Zittern, kann Gott nicht aushalten, … für Ihn ist sie völlig unbekömmlich, … sie schadet Ihm im Innersten.
Das ist die schreckliche, die wermutbittere Wahrheit über die teilnahmslose und also leidenschaftslose und in beidem doppelt glaubenslose Weltanschauung, die in Laodizea-Düsseldorf auch Christen hegen: Sie dreht Gott den Magen um, … Er bricht, … zerbricht an ihr beinah.
Und darum fleht Er in Seinem Brief an uns, dass wir von der wertlosen Materie, die unser Wertmaßstab ist, zum wirklich Wertvollen kommen!
Dass wir uns lösen vom nackten Egoismus, den wir unter all unserm Stoff doch nicht bedecken können, und reinen Neuanfang in den weißen Kleidern der Ungezählten wagen, die miteinander das Mahl des Lammes, der Gemeinschaft aus allen Nationen, Stämmen, Völkern und Sprachen feiern (vgl. Offenb.7,13).
Gott bittet uns - der Heiland bittet die Verblendungskranken! -, sich behandeln zu lassen, sich die Augen auftun zu lassen, sich das Herz im Sehen, Hören und Fühlen aufgehen zu lassen und nicht mehr zu so tun, … nicht mehr so zu handeln, … nicht mehr so zu sündigen, als reichten für uns die Mittel und die Medizinen noch.
Das ist die Drohung und die Züchtigung, die Gottes Liebe zu uns aus Sorge um uns und um die Dunkelheit, in der wir verharren und die wir verbreiten, verhängt: Er will, dass wir sehen!
… Genau das heißt nämlich Umkehr: Einsehen! Die Augen nicht mehr willkürlich verschließen. Nicht mehr ausblenden, was wir sind: „Elend, jämmerlich, arm, blind und bloß!“ …….
Dass diese Botschaft noch immer nach Laodizea gesandt werden muss - nun unter der Postleitzahl 40489 -, das liegt daran, dass sie wirklich ja eine Botschaft für den zweiten, den nachdenklichen, den einsichtigen, den bußfertigen Blick ist: Vordergründig - wir sagten es uns gerade noch selbst - sind wir ja sicher und abgesichert, sind wir reich und umsichtig und eingedeckt.
… Aber mit der Tiefe und der Weite, aus der das Sendschreiben dieser Himmelsbotschaft uns sieht, erscheint unsere Sicherheit als die Illusion, die sie ist: Sind wir es nämlich nur für uns, so sind wir es gar nicht! … Sind wir gut dran, während andere es böse haben, dann ist auf der ganzen Erde in Wahrheit nichts Gutes! Fällt uns alles zu, was anderen fehlt, dann gibt es nur Verlierer! Hoffen und planen wir, nur uns selber zu retten, dann sind wir verdammt! … ———
Und darum muss die sorglose Stadt Laodizea, die sorg-, lieb- und gottlose Stadt, in die wir gehören, nun tatsächlich Ohren empfangen, um das alles Entscheidende zu hören und Augen für das Wesentliche, die ihr hoffentlich noch aufgehen. … Damit sie sieht und hört, damit sie fasst und glaubt und sucht und findet, was der zornige und an unserer Verstockung, unserer Einbildung leidende Gott tut.
Suche Gott, Laodizea!
Suche Gott, Düsseldorf!
Kaiserswerth, suche Gott!
Zion, empfange Ihn!
… Wie? … Wie???
– Erschütternd einfach: Werde inne, dass Er dir fehlt! Dass nichts zählt und nichts hält ohne Ihn! Dass es kein Licht und keine Wärme gibt ohne Ihn! Dass man nirgends innerlich satt werden und niemals echten Frieden haben kann ohne Ihn! … Dass Jerusalem Ihn braucht, auch wenn Er, … nein, gerade weil Er nur auf einem Esel kommt. … Dass Rom Ihn braucht und Moskau, dass Kiew Ihn braucht und Teheran, dass jedes Land, jede Stadt, jedes Dorf, jedes Haus Ihn braucht in Seinem Dasein für alle, in Seinem Hunger nach uns, … Seinem Hunger danach, uns Liebe und Leben zu gewähren, die unbegrenzt sind!
Wir sind doch in Wirklichkeit so elend, jämmerlich, so arm und blind und bloß, wenn wir meinen, wir könnten und würden leben ohne Gott!
Wir müssen doch endlich wirklich spüren und bekennen, dass wir Ihn nötiger haben als alles, was oberflächlich glänzt und vorübergehend schützt und uns trügerisch befriedigt.
… Wenn wir das aber jetzt merken … in dieser grimmigen, törichten, düsteren Zeit, die „Advent“ heißt und „Advent“ ist – Wartezeit, Hoffnungszeit, Sehnsuchtszeit, Zeit, deren Spannung vorm kostbaren Ziel unermesslich wird – … wenn wir das also jetzt merken, wie Gott unserer Menschheit und Welt, wie Gott unserm Ort und unserem Leben fehlt, dann wird es uns unwillkürlich doch heiß und kalt zugleich, wenn wir nun hören, was der zornige und an unserer Verstockung, unserer Einbildung leidende Gott tut.
… Er steht vor der Tür!
Er pocht und Er pocht … wie unser eigenes Herz!
Er will zu uns kommen, will mit uns leben, will uns alle bei sich haben … trotz unserer laodizeischen Lauigkeit!
Hört Ihr’s?
Er selber, der treue Zeuge, der Amen heißt, der Anfang der Schöpfung Gottes klopft bei uns an!
…………
EG 1: „Macht hoch, die Tür …“
[i] Ein gewisses Spiel mit dem schweren Sendschreiben ergibt sich, wenn man an dieser Stelle die altkirchlich beginnende Jagd nach einem Laodizeer-Brief berücksichtigt, der in Kolosser 4,16 erwähnt wird, aber nicht im Neuen Testament enthalten ist. Der verlorene Paulusbrief wird durch das schwierige Sendschreiben nach Laodizea in der Offenbarung (als einziges enthält es gar kein Lob für die Gemeinde!) zwar nicht wettgemacht, aber immerhin gibt uns das Schreiben in Offenbarung 3,14-22 wahrlich mehr als genug zu denken!
[ii] Erste grundlegende Informationen zur Stadt am Lykos finden sich in: Neues Testament und Antike Kultur, hgg. v. K. Erlemann, K. L. Noethlichs u.a., Bd.2: Familie – Gesellschaft – Wirtschaft, Neukirchen/Vluyn 2005, S. 175f.
Ewigkeitssonntag, 20.11.2022, Stadtkirche, Psalm 16,11, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 20.XI.2022
Psalm 16, 11
Liebe Gemeinde!
Das Kirchenjahr endet stets mit einer Fuge, die zwei Themen in unterschiedlicher Weise verschmilzt: Da ist das gewaltige Thema der Ewigkeit, die in einem alten Choral als „Donnerwort“ besungen wird[i]; und da ist das leise, wehmütig klagende Thema unserer Trauer um die Toten, die uns die letzte Zeit genommen hat.
Das künftige Ende der ganzen Welt und der einzelne Schmerz im Schicksal aller Sterblichen werden also im letzten Akt unserer alljährlichen Liturgie verbunden. Mal tönt die apokalyptische Posaune, mal entrückt uns der Chor der Seligen beinah ins Jenseits, und dann wieder vernimmt man nur das traurig gedämpfte Läuten der Friedhofsglocken und die Monotonie der Erde, die die Hinterbliebenen durch den schweren Nebel ihrer Verlassenheit kaum erreicht.
Eine Fülle des Überwältigenden und eine erstickende Leere, … etwas ganz Universales und etwas völlig Individuelles fließen da also ineinander in den Motiven der allgemeinen und ausnahmslosen Vergänglichkeit und des rein persönlichen, des privaten Verlustes.
Und so ist es kein Zufall, wenn die Gemeinde eines jeden letzten Sonntags immer wieder etwas Zwiespältiges erlebt: Der eine Blick weist voraus in die Öffnung der Zukunft nach der Zeit; der andere Blick geht zurück zu dem, was nun in den Gräbern, für uns also in der Vergangenheit ruht.
Was aber verbindet diese beiden gegensätzlichen Blick- und Denkrichtungen? Was verknüpft die leidtragende Erinnerung mit der Hoffnung, die ihr Haupt erhebt? ……..
In der Liturgie ist es etwas ganz Bescheidenes. Sowohl in der Gottesdienstordnung des Ewigkeitssonntags als auch in den Texten, die für die Feier des Totensonntags vorgesehen sind, begegnet ein gemeinsamer Bestandteil: Das einzige Identische, das die beiden so unter-schiedlichen Feiern verbindet, ist bloß der Hallelujavers, der nach den jeweiligen Schriftle-sungen seinen Ort hat[ii].
… Diesen Vers aber, der die Todtraurigen genauso wie die Zukunftshungrigen im Lob Gottes vereinen will, … den sollten wir uns anschauen: Es ist der letzte Satz von Psalm 16, des ersten Psalms, in dem uns in der biblischen Gebetssammlung überhaupt eine Hoffnung über den Tod hinaus begegnet, … heißt es da doch:
„Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich;
auch mein Leib wird sicher liegen.
Denn du wirst meine Seele nicht der Unterwelt überlassen
und nicht gestatten, dass dein Treuer die Verwesung schaut.“
Und dann folgt der Hallelujavers für die Bedrückten wie für die Gespannten unter uns:
„Halleluja!
Du, HERR, tust mir kund den Weg zum Leben:
Vor Dir ist Freude die Fülle
und Wonne zu Deiner Rechten ewiglich.
Halleluja!“
Ein Wegweiserwort also, ein Spruch auf der Wanderschaft, ein Versprechen des Ankommens. Solche Ermutigungen auf der Landstraße, solche Lieder der Wallfahrt, solche Verse, die sich die Pilger oder die Flüchtlinge oder die Nomaden oder die Treibenden oder die Verirrten oder die Atemlosen oder die Gipfelstürmer oder die Dauerläufer oder die im Kreis umher Tappenden auf ihrem Gewaltmarsch, ihrer Durststrecke vorsagen, schlicht um nicht aufzugeben, … die dürfen nicht schwer sein. … Und sie sind es auch nicht!
Sie sind Wegzehrung und Kraftration, Labsal und Lockruf; sie sind hochkonzentrierte, aufbauende Stärkung für Leib und Seele, für den Mut und den Glauben.
… Vielleicht erscheinen sie uns deshalb aber auch zu einfach.
Wir meinen womöglich, in einer so furchtbaren Zeit wie heute oder in einem so tiefen Tal der Tränen wie dem unseren, müsste es weltanschaulich anspruchsvoller oder therapeutisch sensibler zugehen: Nicht ein so schlichtes Wort für den Weg hätten wir vielleicht gern, sondern eine pointierte Botschaft an die Generationen, die fürchten, die letzten zu sein, oder einen motivierenden Gedanken, der für mich ganz subjektiv zur Bewältigung meiner Traurigkeit führt. …….
… Was aber, wenn der Untergang der Welt in Krieg, Gewalt und schreiender Ungerechtigkeit und die verstörende Trübung aller unserer Grundgefühle in Kopf und Herz nicht dagegen, sondern dafür sprechen, dass uns nur noch die direkteste Einfachheit helfen kann?
… Keine zeitgemäßen Losungen, keine maßgeschneiderten Ansätze; nicht „Der Trost für 2022“ oder „Das positive Mantra nur für Dich“, sondern der herbe Klang einer Wahrheit, deren schlackenlos reduzierter, nicht weiter formbarer Kern unverändert durch die Jahrtausende überliefert wurde und uns jetzt unmittelbar angeht: Es ist die Wahrheit für Hinterbliebene genauso wie für Vorreiter. … Es ist die Wahrheit, die alle schon immer in ihrer lakonischen Nüchternheit einzigartig berührt hat. Es ist die Wahrheit: Wir sind noch nicht im Leben. …….
– „Aber das Leben, … das Überleben ist doch so schrecklich bedroht“, entgegnen uns die, die als Zeitgenossen ernstnehmen, was für eine Endzeit uns heute schlägt.
– „Aber das Leben, das Leben wie’s war ist doch längst vorbei“, entgegnen die andern, denen ein Abschied das Weiterleben schier unvorstellbar macht.
Doch der kleine Hallelujavers, der nichts bestreitet und nichts erklärt, der weder nach rechts noch nach links weicht, sondern in seiner verdichteten Form uns alle einfach weiterweist, … der kleine Hallelujavers lehrt uns sagen und dann denken und vielleicht auch verstehen und schließlich sogar glauben, dass wir tatsächlich noch nicht im Leben sind, sondern dass jeder Mensch noch unterwegs ist: Die einen holen Luft und essen und trinken und schlafen und probieren und schaffen und sündigen und machen irgendwie weiter; die andern sind ganz still, haben vielleicht die Hände gefaltet, liegen in der Erde und werden wieder zu Staub oder sind durch das Feuer wieder zu Asche geworden.
So ist das, sagt der Hallelujavers. Es ist schrecklich und manchmal verstörend; oft ist es aber auch gewöhnlich und man spürt es kaum. Doch ob so oder so: Ihr sollt wissen, ihr sollt darauf vertrauen, sagt der Hallelujavers, dass die einen wie die andern nicht zurückbleiben und auch nicht zuvorkommen. Sondern hier wie da, auf der Erde in der Zeit und auch da, wo das Zeitzählen aufgehört hat, geht der Weg weiter. Der Weg, den der HERR uns allen gemeinsam kundtut, … der wirkliche Weg, … der Weg zum wahren Leben. ——
– Pfui, hört man da einwenden. Wollt ihr wirklich immer noch den Leuten erklären, dass es eine andere Realität gebe als die messbare und von uns beherrschte Immanenz?! Wollt ihr immer noch den Leuten weismachen, es käme etwas danach, etwas Besseres, Schöneres, Echteres?
… Nein. Das will ich gar nicht.
… Mich würde es letztlich schon überfordern und endgültig aus der Fassung bringen, wenn ich auch nur meinen eigenen Kindern erklären sollte, dass das, was viele Menschen hier erleiden, tatsächlich das Leben sei. Wenn ich erklären sollte, dass das, was man zur Zeit erlebt und das, was sich abzeichnet, die endgültige und unveränderliche Wirklichkeit darstellt, wäre ich mit meinem Latein und meiner Logik sehr schnell nämlich am Ende. Wenn ich ernsthaft vermitteln müsste, dass die Schrecken dieses Daseins endgültig sind und alle Schuld der Menschheit unverzeihlich ist und unverziehen bleibt und dass alles Sterben das letzte Wort bedeutet, dann würde ich mein Lebtag lieber schweigen wie ein Grab, als irgendetwas von alledem als gesicherte, gültige und bleibende Erkenntnis zu vertreten, die man nicht für die Schule, sondern für’s sogenannte „Leben“ gewinnen soll.
… Weil es aber ja so ist, … weil wir in einem Zustand existieren, der für viele ein Albtraum ist und für andere eine Illusion, darum bin ich von ganzem Herzen dankbar, nicht berufen zu sein, diese trostlosen Verhältnisse eins-zu-eins festzuhalten und weiterzugeben, sondern zwischen Erinnerung und Hoffnung einen Hallelujavers weiterzutragen, der sagt: „Der HERR tut mir kund den Weg zum Leben.“
Diese fortdauernde, diese weitergehende Offenbarung Gottes ist es, die das, was noch nicht erschienen, aber verheißen ist, unter uns wachhält. Die Botschaft vom kommenden Leben verdankt sich also keiner alten, längst überwundenen Vertröstung- oder Verdummungsstrategie der Christen, sondern sie ist Gottes akut unabgeschlossenes Schöpfungs- und Erlösungswerk.
Gott sucht noch immer nach und Er führt noch immer auf Wegen, die allen Seinen Kindern und Geschöpfen wirklich und bleibend das Leben eröffnen werden.
Es ist noch nicht abgeschlossen oder vorüber, was mit Seinem „Es werde Licht“-Ruf begann und durch das „Siehe, es ist sehr gut!“-Urteil bekräftigt wurde.
Es ist immer noch der große Exodus aus dem Nichts in das Sein, aus der Gefangenschaft in die Freiheit; es zieht immer noch das Volk, das im Finstern wandelt, durch die Nacht dem Licht entgegen. Und Er ist immer noch unterwegs, der überall die Verstockten und Verstoßenen, die Kranken und die Hoffnungslosen, die Tauben, die Lahmen, die Blinden, die Verlorenen und die Sterbenden ruft: „Folge mir nach!“
Noch immer geht Er voran, auf dem Weg zum Leben, auf dem Er selber das ganz große, das ganz schwere, das ganz erdrückende Kreuz getragen hat.
Er geht durch die Feindschaft aller Zeiten und durch die Leiden jeder Generation. Er geht auf dem Kreuzweg der irdischen Geschichte an keinem einzigen Menschen vorbei, sondern sammelt uns sämtlich in Seiner Nachfolge. Er will, dass Du Dich ihm anschließt, und Er ruft unsere Liebsten genauso wie unsere Feinde und alle uns Unbekannten. „Kommt, ich erkunde den Weg zum Leben vor Euch her“, ruft Er den Menschen unserer hasskranken, pessimismusvergifteten, in tatenlos apathischem Weltschmerz versackten Gegenwart zu.
„Kommt: Auch Euren Weg zum Leben finde ich, und darum schließt Euch mir an unter Schmerzen, in der Erschöpfung, im Sterben“, hat Er unsere Toten gerufen.
Und so zieht Er als unser aller Kundschafter voran, bahnbrechend und unaufhaltsam selbst durch den Tod. Er zieht voran, weil Er der Weg ist und die Wahrheit des Weges und das Ziel des Weges: Das Leben (vgl. Joh.14,6)! ———
Doch weil Er voranzieht, weil Er selbst erprobt und aushält, erleidet und zurücklegt, was der Weg durch die Zeit und die Welt bedeutet, darum ist uns nicht alles an Ihm klar. Er geht ja vor und wir können Ihm noch nicht ins Gesicht blicken. Wir können noch nicht alles aus Seinen Zügen lesen, was wir an Antworten suchen; wir können Sein Bild, nach dem wir geschaffen sind, noch nicht entschlüsseln und so unsere eigenen Rätsel aufklären.
Wir müssen vertrauen, dass Sein Weg tatsächlich jeden Menschen, die Geborenen und die Gestorbenen schließlich zum Leben führt und dass wir – wenn es erreicht ist und wir Ihm von Angesicht zu Angesicht begegnen – tatsächlich Freude die Fülle und Wonne vor Ihm finden und unter Seinen Augen teilen werden. ——
Wir können und wir dürfen also nur vertrauen auf den Inhalt des Hallelujaverses, der am Sonntag der ewigen Zukunft und beim Gedenken an die Verstorbenen so unendlich Großes in so eindrücklicher Kürze verspricht.
… Wir müssen vertrauen; wir können nicht wissen, dass das wahre Leben uns erst noch bevorsteht.
… Und doch ist dieses Nicht-Wissen, diese Nicht-Kenntnis, dieses schlichte Sich-Einlassen und Festhalten am uralten Bekenntnis ungleich lebenströstlicher schon hier und heute als aller Vorzug für den Zweifel und alles Zögern vor dem Glauben:
Wie sollten wir unsere Kinder in diese Welt, die vor ihnen liegt, schicken und wie sollten wir unsere Toten verabschieden, wenn sie diese Welt wieder verlassen, ohne das Vertrauen auf den Lebensweg und das Lebensziel des kleinen Hallelujaverses?!
Welche Zuversicht, welche Bereitschaft zu gutem Tun und guter Hoffnung, welche Stärkung in schwerer Not und letzter Notwendigkeit gäbe es, wenn wir nicht auf den Weg Gottes setzten, der unserer Tränen in Freude und alles Unheil der Welt in himmlischen Jubel verwandeln wird?! ——
… Und selbst wer keine Nachkommen mehr in die Zukunft entlassen und keine beklagten Toten mehr in dieser Zeit zurücklassen muss, hat doch die Verantwortung und die Wahl für ein Geschöpf, das ohne das Zutrauen zu Gottes Ziel die Orientierung schwer halten und also eine menschlich-fröhliche Haltung schwer bewahren wird: Das ist die Seele – Deine Seele! –, die die Alten früher bei der Empfängnis wie beim Scheiden aus der Welt im Bild eines kleinen Kindes darstellten.
Lassen wir also doch auch die eigene Seele nicht ohne den Trost und ohne die Wegweisung des heutigen Hallelujaverses durch die Zeit ziehen!
Geben wir der eigenen Seele doch Teil an der Kraft und Ermutigung, die in der Nachfolge Jesu aus dem Glauben an Gottes Weg zum Leben fließen.
Stimmen wir in unserer Trauer wie in unserer Hoffnung also ein in das Lob Gottes, das sie beide verbindet, weil es über beide hinaus auf das herrlich Kommende und ewig Bleibende weist!
„Halleluja!
Du, HERR, tust mir kund den Weg zum Leben:
Vor Dir ist Freude die Fülle
und Wonne zu Deiner Rechten ewiglich.
Halleluja!“
Amen.
[i] Der berühmte Choral „O Ewigkeit, du Donnerwort“ von Johann Rist stand im alten EG unter Nr. 324 bezeichnenderweise in unmittelbarer Nachbarschaft (Nr. 325) zu einer bewussten Kontrafaktur, die ein halbes Jahrhundert jünger und ganz anders gestimmt war: „O Ewigkeit, du Freudenwort“ von Kaspar Heunisch. Schon hier zeigt sich die gegensätzliche Dynamik dessen, was am letzten Sonntag des Kirchenjahres unter dem gemeinsamen Nenner des „Eschatologischen“, also der „letzten Dinge“ betrachtet und verkündigt werden muss.
[ii] Im neuen Perikopenbuch (Lektionar) von 2018 findet sich der gemeinsame Hallelujavers beider Gottesdienstformulare auf den Seiten 533 für den Ewigkeitssonntag und 539 für den (dort auch so bezeichneten) „Totensonntag“.
Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 06.11.2022, Stadtkirche, Lukas 17, 20 - 24, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Drittletzter So. - 6.XI.2022
Lukas 17,20-24
Liebe Gemeinde!
Eine der hübscheren Eigenarten unseres Kirchen-Jargons ist seine ausgeprägte Vorliebe für das Rund. Alles ist bei uns ein Kreis: Der Bibelkreis, der Jugendkreis, der Flötenkreis, der Gesprächskreis, der Bastelkreis und der Besuchsdienstkreis, der 3.Welt-, der Männer- und der Frauen-Kreis; ja, unsere Kirche selbst sieht sich ein wenig wie Platon den Urmenschen … als ursprüngliche Kugelgestalt[i], die in der Kreissynode am nächsten Wochenende wieder vollständig - rund und schön - zusammenkommt.
Doch weshalb ist die christliche Sprechweise so hartnäckig einfallslos auf den Zirkel abonniert, wenn sie etwas benennen will, dass in anderen Organisationsformen eher eine „Grupe“, ein „Komitee“, ein „Team“ oder meinetwegen ein „Rat“, ein „Treff“, ein „Trupp“ genannt würde?
… Reine Gedankenlosigkeit wird es vielleicht ja nicht gewesen sein, dass nach den von frühen Verboten und späteren Zwängen geformten christlichen Vergesellschaftungsmustern nicht etwa der lose Geheimbund und auch nicht die streng hierarchische Gliederung einer von oben nach unten verfassten Struktur übriggeblieben sind, sondern alles in die archimedische Konstante drängte, in der Umfang und Durchmesser ein unveränderliches Verhältnis haben: Die berühmte Zahl „Pi“. Ein Kreis jedoch wird gar nicht grundlegend durch die Zahl „Pi“ bestimmt, sondern noch einfacher: Durch seinen Mittelpunkt. Nur wo ein solcher ist, entsteht auch ein Kreis. Wenn der Zirkel an verschiedenen Stellen haftet und der Bogen von mehrfachen Punkten aus geschlagen wird, ergeben sich blasenartige, wolkige oder pockige Formen. Es sieht aus wie Froschlaich oder Erbsensuppe. Es ist alles Mögliche drin. Aber es ist kein Kreis.
Nur der Mittelpunkt also bestimmt den Kreis! ————
Das wollen wir uns merken, wenn wir jetzt ins Durcheinander, in das Chaos hören, das da entflammt, wo Menschen über das Ende der Zeit nachdenken.
Bei der Zeit scheint es sich ja umgekehrt zur Geometrie des Kreises zu verhalten: In der Zeit, die zwar aus lauter „Zeitpunkten“ besteht, sind doch alle diese Tupfer gleich wichtig oder unwichtig, weil sie alle bloß die Linie fortsetzen, den Zeitstrahl schlicht verlängern. Von allesentscheidender Bedeutung auf dieser Achse sind lediglich zwei Punkte, die gerade nicht von einer Mitte ausgehen: Der Anfang und das Ende eines Einzellebens oder auch der Universalgeschichte. Erst wenn man diese beiden hat, kann man nachträglich eine Mitte dazwischen ausrechnen.
… Und darum – weil man bei der Zeit nie genau weiß, wo man ist – ist die Frage nach ihr eine so aufreibende. Wenn wir noch ganz lange vor uns sähen, hätten wir vielleicht in Vielem die Ruhe weg. Wenn wir aber befürchten müssen, dass das Finale, das Zeichen des Endes ganz direkt bevorsteht, dann kommt Hektik auf, … Panik vor dem Schlusspunkt. Und dann fragen die Leute sich oder die Sterne oder die Wissenschaft oder das Bauchgefühl oder ein Medium oder die Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie viel noch bleibt und woran man erkennen kann, dass es alsbald aus sein wird. „Herr Doktor, wie lange noch?“ … „Greta Thunberg, schlägt es schon Zwölf?“ … „António Guterres, ist’s nicht zu spät?“ … „Väterchen Vladimir, wir drücken auf den großen, letzten Knopf, не так?!“ ——
Ach, wenn man doch nur die Zeit und ihre Punkte besser bestimmen könnte und dann zur Mitte und zur Klarheit fände!!! – Doch das konnten wir noch nie!
Und darum ist das Rätseln über die Zeichen der Zeit, über ihren Restbestand und ihr irgendwann unumgänglich plötzliches Abbrechen seit Jahrtausenden lebendig.
Zu Jesu Erdenzeit zuckte und schwirrte es also auch durch die Gemüter: „Endet nicht bald die Römerherrschaft? Steht nicht das Zeitalter des Messias bevor? Wird die Macht des uns täglich bedrohenden Todes endlich vergehen? Sind wir vielleicht die Zeugen des Durchbruchs der neuen Welt der Erlösten?“ … so trieb es das Volk in Galiläa, Samarien und Judäa, in Kapernaum, in Bethanien und Jerusalem um. „Wann wird’s geschehen? Ist jetzt nicht der Augenblick? Hat sich nicht alles zusammengezogen, um gewaltig, verheerend … und herrlich aufzuplatzen und das zu offenbaren, was Gott endgültig schafft?“
Diese Naherwartung, diese atemlose und bis in die Haarwurzeln elektrisierende Spannung, die Menschen wirklich hin- und herreißt, sie aus letzter Apathie zu höchster Antizipationsfreude katapultiert, sie Verzweiflung und Triumph fast gleichzeitig kosten lässt, je nachdem, ob man gerade die Schaden- oder Gnadenzeichen der Zeit verspürt, ist eine wellenförmige Begleiterscheinung des christlichen Glaubens durch die Jahrhunderte geblieben: Da sich die Ansage des Endes der erbarmungslosen Welt der Sünde und die Verheißung des kommenden Reiches Gottes im Herzen des Neuen Testaments finden, gab es immer wieder Zeiten, Generationen und Gemeinschaften in der Kirche, die geprägt waren von dieser Zukunft. Manche spekulierten auf das Ende, andere fürchteten es unmittelbar; etliche suchten es zu beschleunigen, einige wollten es durch Buße aufhalten; viele dachten wenig darüber nach und schauderten, wenn eine Katastrophe, ein Bruch in der Zeit ihnen plötzlich wieder nahebrachte, dass wir in garantiert instabilen Wirklichkeiten leben, die darin alle gleich und sicher sind, dass sie vergehen werden, und weil niemand unser Morgen kennt, muss jeder damit rechnen, dass alles bleibt, wie’s war, bis es einst unversehens völlig anders … oder bis gar nichts mehr kommt.
Wir heute stehen auch in einer - zuletzt gar politisch festgestellten - Wende der Zeiten. Die Welt mit ihrem immer noch gewaltigen Potential an Lust (vgl. 1.Joh.2,17) und ihrem noch größeren Arsenal an Schmerz welkt und verwandelt sich vor unseren Augen:
Mag sein, dass sie im Inferno, mag sein, dass sie in großem Metzeln, mag sein, dass sie in zermürbendem Verfall und Auszehren auf’s Ende zusteuert, … mag aber ebenso auch sein, dass sie sich fängt, dass Besinnung, Vernunft und Innovationsgeist, dass Menschlichkeit und der berechtigte Lebenshunger der Jungen und der Armen gerade in den qualvollen Wehen von heute eine Epoche gebären, die eine anders geordnete, anders funktionierende, anders geteilte Welt mit Zukunft sein wird.
Wir könnten wohl zu finsterer Untergangsstimmung genauso neigen wie zu radikalem, ja (zumindest technisch-)revolutionärem Hoffnungskampf.
… Und tatsächlich: Die einen resignieren schon: Was zynisch ist! … Die anderen blockieren: Was ebenso zynisch ist! … Viele ignorieren: Was unheilvoll und sinnlos im Quadrat ist! … Und viele schwanken: Hierhin oder dorthin? … Sollen wir Vorräte für den Atomkrieg bunkern? … Oder sollen wir in Haus und Garage, in aller Gewohnheit und aller Bewegtheit auf grüne Zukunft setzen? … Letze Kräfte vorm Verhängnis mobilisieren oder in der Dynamik der gekommenen Stunde „Auf zum Wagnis“? ————
„Sie werden zu euch sagen: Siehe, da! oder: Siehe, hier!
Geht nicht hin und lauft nicht hinterher!“
Wenn wir nur für uns wären, wenn wir einfach nur rätseln und uns den Kopf blutig kratzen müssten, wo wir in der Zeit stehen – vor einem Umschwung und Neubeginn? oder vor dem letzten ungerührten Wimpernschlag, der Armageddon bringt? –, dann müssten wir jetzt wirklich fliehen, … hierhin oder dorthin: In die flatternde Aktion – und natürlich müssen wir (verdammt noch mal!) handeln! – … oder in die totenstarre Passivität – und natürlich müssen wir (so wahr uns Gott helfe!) auch bereit dazu werden, Verluste und Leiden anzunehmen.
Wenn das aber - so oder so - unsere einzige Wahl wäre, um der Orientierungslosigkeit dieser Zeit und der Spannungsentladung dieser Welt zu entkommen, wenn wir also im rüttelnden und schüttelnden Wirrwarr des Heute herrenlose Teilchen, zentrifugale Partikel wären, die es entweder in’s eine oder in’s gegenteilige Extrem schleudert und drückt …, nun, dann wäre Jesus Christus eine Illusion: Es gäbe ihn nicht. … Wenn wir heute haltlos wären, hätte es ihn nie gegeben.
……. Denken wir aber an das sonderbare, so fraglos als selbstverständlich abgenutzte Bild vom Kreis und seinem Mittelpunkt!
Egal, wodurch es aufkam, egal, wer es zu einer festen Vokabel in der Sprache Kanaans, dem Jargon der Kirche machte: Das Bild vom Kreis sagt uns unüberhörbar: „Ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten und Apostel geredet haben (vgl. Lk.24,25)!
Christus ist der Mittelpunkt, und darum kann es keine Fliehkräfte geben, die euch in die Extreme jagen, die euch aus dem Kraftfeld und der Umlaufbahn des lebendigen Erlösers reißen oder euch anders chaotisch zerstreuen!
Jesus Christus ist die Mitte des Kreises aus Menschen und Zeiten, zu dem auch ihr gehört.
Jesus Christus ist die unverrückbare Mitte, die jeden und alles zusammenhält.
Jesus Christus ist der eine, unentbehrliche, unersetzliche, aber auch wirklich unverrückbare Punkt, der der Gesamtheit aller Ereignisse und Veränderungen, aller Aufschwünge und Abschiede ihre sinnvolle Ausdehnung und ihre vollendete Gestalt gibt.
Jesus Christus ist das Zentrum, aus dem Raum und Zeit ihren Verlauf herleiten und durch das sie unlösliche, gleichbleibende, ewig konstante Verbindung behalten. ———
……. Doch Jesus geht noch einen Schritt weiter!!! Einen unglaublichen Schritt!!!
Und das nicht etwa seinen Jüngern gegenüber, denen er versichert, dass der große und endgültige Tag der Vollendung nicht versäumt werden kann: Ohne jeden Zweifel sollen sie ihn sehen und erleben – den Tag, an dem der Menschensohn das Ziel der Menschengeschichte bringt durch sein endgültiges Erscheinen vom Himmel her. Dieser Tag, an dem die Mitte den ganzen Kreis erleuchten und durchdringen wird, … dieser Tag, den die Jünger und alle Menschen gleichzeitig erfahren werden, ist der Tag, auf den auch wir noch warten. … Amen: Möge es bald sein!
Jesus aber geht noch einen Schritt weiter … und zwar gegenüber den Pharisäern, den treuen, messianisch erwartungsvollen, vor ihm jedoch zurückhaltenden Trägern des echten Glaubens Israels. Ihnen sagt Jesus zu, dass ihre verzehrende Hoffnung auf die Verheißung, ihre Sehnsucht nach der Gegenwart Gottes, ihre Bitte, alle Not zu überwinden und ihre Vorfreude drauf, alle Herrlichkeit zu erlangen tatsächlich in der Mitte schon fest, schon sicher gegeben und realisiert sind, … dass das Reich und der Messias und der Frieden und das Leben schon „da“ sind. In der Mitte des Kreises, … die ja für alle, die in den Kreis der Welt und ihrer Wirklichkeit gehören, auch die eigene Mitte ist!
„In Eurer Mitte ist es da!“, sagt Jesus den zwischen ungeduldiger Heils-Eile und banger Furcht-Flucht hin- und hergerissenen Pharisäern.
… Manche übersetzen: „In Eurem Innern ist es.“
Den Pharisäern sagt Jesus das. Und also uns!
Das Reich Gottes – alles, was wir hoffen, erwarten und erbitten können, die Freiheit und Seligkeit, der Frieden und das wahre Ziel, die höher sind als alle Vernunft: Sie liegen in uns!!! ———
Wenn wir das hören und bedenken, wenn es uns im Wort Jesu begegnet und durch Seinen Geist in uns aufgeht, wenn der Geist uns diese Wahrheit in unserem Innersten tatsächlich enthüllt, … dann steht die Zeit still. Die Konflikte zwischen Eifer und Panik, zwischen Zweifel am Ganzen und Bereitschaft zu Allem verlieren ihre tödlichen Zug- und Schubkräfte.
… Nicht weil uns die Welt nicht mehr anginge. Nicht weil die Probleme, Schrecken und drängenden Forderungen unserer Tage – die amerikanischen Zwischenwahlen heute, die Klimakonferenz in Ägypten, die bevorstehende Schlacht um Cherson – gegenstandslos würden. Sondern weil sich die Mitte, die alles hält und deren Halt und Harmonie nichts jemals endgültig entgleiten wird, dann auch in unserer kreisenden Bewegung, in unserem und in allem noch so zerrissenen Leben bemerkbar macht.
… Tief unter dem wogenden Hin und Her ist das Reich da.
… Reich ist der Frieden in dieser Tiefe.
Und doch ist diese Tiefe nicht fern.
Wir müssen sie nur nicht in weiter Entfernung, an den Rändern der Zeit, in den Verwerfungsfalten der Materie oder in den Zufällen der zurückliegenden und sich immer noch ver- und entwickelnden Ereignisse suchen.
Wir brauchen gerade nur gerade zu sein.
… Ruhend.
… Mit gefalteten Flügeln … nicht mehr treibend im Sturm und rudernd auf der Oberfläche. Einfach nur zentriert, … kon-zentriert aus der Mitte, die dem gesamten Weltkreis und dem Zeit-Raum aller Geschichte jenen Zusammenhalt einstiftet, der nicht vergehen soll.
Unser Leben im Kreis aller anderen ist gegründet.
Wir sind in uns selbst gehalten vom Erhalter.
Nicht außerhalb, nicht jenseits, sondern hier in Dir und mir ist der Vollender vollkommen da.
Sein Reich, das kommt, ist da.
Wohl denen, die dieser Frieden innen erfüllt und von allen äußeren Seiten umfasst, … dieser Frieden, der in uns und allem anderen der Grund ist und die Ewigkeit.
Amen.
[i] Das „dritte“ oder mannweibliche Ursprungsgeschlecht des Menschen bedingt seine Kugelgestalt im Mythos des platonischen Dialogs „Symposion“ (189c – Platon, Sämtliche Werke - Griechisch und Deutsch nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, hgg. v. K.Hülser, Bd. IV, Frankfurt/M – Leipzig, 1991, S.99).
20.Sonntag n. Trinitatis, 30.10.2022, Stadtkirche, Hohelied 8,6b+7, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 20.n.Trin. - 30.X.2022
Hohes Lied 8, 6b+7
Liebe Gemeinde!
Was ich niemals gutheiße, niemals ertrage, niemals teile, … hier und heute muss ich’s ausnahmsweise tun: … Hallowe’en betrachten. Die furchteinflößende Dunkelheit, die dem Endzeitmonat November vorausgeht, … Totentanz, … Geisterstunde, … Fest der ruhelosen Seelen, die dem Gericht unterliegen. ——
…… Nicht, dass ich Lust am Karneval des Grauens oder am Rausch der Verdammnis hätte. Es ist niemals ein Spaß, das Reich des Zwielichts zu betreten und freiwillig die Qual der Unerlöstheit nachzuempfinden. Und es ist niemals ungefährlich, die uns - Gott sei Dank! - meist verborgene Welt des Bösen, die Abgründe aller Verbündeten des Todes, die dämonische Sphäre der beabsichtigten Totalvernichtung des Guten aufzustören. … Es ist und bleibt höllisch ungut, mit der Hölle Allotria zu treiben.
Doch wenn es morgen überall von Polter- und Foltergeistern wimmeln wird, wenn Verwesung als Schminke und Seelenpein als Kostüm erscheinen, wenn die ungreifbaren Boten eines letzten Schreckens, eines letzten Feindes als Gäste und Tanzpartner durch Straßen und Häuser ziehen, dann wird diese gespenstische Party des Todes und der Verdammnis so erschüt-ernd und ernüchternd nah an der Wahrheit sein, dass einen tatsächlich nur das Grauen packen könnte. Oder das verzweifelte Mitleid eines Menschen, der weiß, dass der Abwehrzauber, den das Angstfest darstellt, nicht wirkt und auch nicht verbirgt, dass auf dem Maskenball, der „Hallowe’en 2022“ heißt, tatsächlich Sünde, Tod und Teufel mit-mischen, den Reigen anführen und unerkannt um uns herum immer rasender wirbeln.
… Alle die lächerlichen Unterwelt- und Spukgestalten sind ja in die Wirklichkeit hinein aus den Friedhöfen der Vergangenheit aufgestanden: Der mörderische Hass, der die Menschheit kannibalisch bis zur Selbstzerfleischung macht, … die giftmischende Lüge, die lieber auf den Sensenmann ihren Toast ausbringt als auf die spielverderbende Vernunft, … die apokalyptischen Vampire, die durch den besessenen homo sapiens der Natur das Blut aussaugen, bis sie röchelnd sterben muss und die letzte Sonne den letzten Menschen zeigt, dass sie nicht nur fremdes, sondern das eigene Leben bis zum letzten Tropfen ausgezehrt haben.
»Das Ende aller Dinge«, »die endgültige Schuld und Verlorenheit« steht also als Motto über dem Hallowe’en-Geschehen am Ende der Pandemie, in den Anfängen irrer Kriegseskalation und auf dem Scheitelpunkt der Umweltvernichtung. ———
Doch auf der Kanzel ist nicht der zynische Prediger Salomo aufgeschlagen, der dürr und trocken wie ein Totenkopf nur „Alles ist eitel und Haschen nach Wind“ zischt, sondern der junge, verliebte, an die Schönheit und Lust sich verlierende Salomo, … der Sänger des Hohen Liedes.
Wir sollen also wohl zu Hallowe’en doch nicht den danse macabre der Generation „Weltuntergang“ oder der vorigen Generationen – meiner Generation und der sattgesogenen Nachkriegsgeneration, die alles im Überfluss hatten und verschleudern – tanzen, sondern den heute so befremdlichen Tanz der Lebensfreude und der unschuldig hingerissenen Daseinsbejahung.
Wir sollen statt des Jammerns und Heulens der armen Seelen die Liebeslyrik der jungen Körper, die einander gehören und genießen und so neues Leben zeugen, als die Melodie des Glaubens in der Katastrophe dieses Jahres anstimmen.
Obwohl es also so viele Vorzeichen des Untergangs gibt, sollen wir Hirn und Herz dem paradiesischen Anfang und dem Paradies als dem endgültigen Ziel zuwenden.
Nicht Hallowe’en also, sondern die wirklich christlichen Feste, die das schöpferische Geschenk des Lebens, das rettende Gericht der Liebe über die Menschheit und das herrliche Zukunftsversprechen Gottes begehen, … die sollen wir heute feiern.
– Welche das sind? – Weihnachten. Karfreitag. Ostern. Und sie alle zusammen ergeben als das Fest der fleischgewordenen Liebe, die Sünde und Tod besiegt, das große bevorstehende Fest: … Den Jüngsten Tag – den Tag der Erlösung, der alles zurechtbringt und die Welt zum Reich Gottes hin vollendet. ——
Weshalb wir das feiern sollen, obwohl es doch so düster und drückend über uns liegt und sich in aller Welt so tödlich zusammenbraut wie beim koreanischen Hallowe’en gestern?
– Weil die ganze Bibel - und das heißt alle alten und neuen, alle erfüllten und offenen, alle geschehenen und alle verheißenen Worte und Taten Gottes – in dieser einen Wirklichkeit zusammengefasst werden können, die wir eben noch besungen haben (EG 401): Sie alle zusammen – das Vergangene, das Gegenwärtige und das ewig Bleibende – bezeugen die „Liebe“, ……. die Liebe, die uns erkoren und geboren hat, die für uns gestritten und gelitten hat, die für uns starb und uns erwarb, die uns an sich bindet und überwindet, die uns das Beten und Stellvertreten schenkt und die uns auferwecken und ewig zu sich ziehen wird.
Dieses Rühmen und Feiern, dieses sich Festmachen und Festhalten an der Liebe Gottes ist das Herz unseres Glaubens. … Nicht sein Gefühl, sondern seine Philosophie, weil das Herz für die Bibel nicht der Sitz des Sentimentalen, sondern die Schaltstelle von Gehorsam und Denken, von Wille und Verstehen ist.
Das Herz unseres Glaubens besteht also im Wahrnehmen, … im strengen Sinne des „Für-wahr-Nehmens“ der Liebe Gottes. ———
… O Pardon! – Das ist aber doch kitschig. Kitschig und naiv. Genauso stellen sich die Millionen, die am Glauben nichts finden können, seine ewig gleiche Leier und Harmlosigkeit vor. Glaube ist kuhäugige und wiederkäuende Dämlichkeit, die nicht mitkriegt, was ist, sondern unablässig an etwas mümmelt, das längst welk wurde und das die meisten schon wer weiß wie gründlich ausgeschieden haben. … Liebe … das ist doch Schnee und Stroh von gestern. Längst geschmolzen und verbrannt. Es gibt sie doch gar nicht in einer Welt, die überwiegend von Gewalt und Gewinn, von Kalkulation und Kampf geprägt wird und günstigstenfalls von unserer Technik und Logik verbessert. Die daneben noch immer nicht erledigten Reste der Liebe haben wir familiär gezähmt oder sexuell freigegeben, … haben sie als eine Begleiterscheinung der Kindheit eingestuft, vergleichbar den Milchzähnen, oder als eine senile Wunschvorstellung, wenn die sechzig, siebzig Jahre der stolzen, erfolgshungrigen Eigenverantwortung und Hochleistung nachlassen und der erfolgloser werdende Machermensch einen Pflegeroboter braucht. Liebe hat keinen Platz in unseren Vorstellungen. Und in dem, was um uns herum geschieht, wird sie ständig, … ständig sogar noch immer stärker widerlegt.
… Aber wiederum: Pardon! Ist denn die Bibel wirklich naiv?
… Die Bibel, die beginnt mit dem Misslingen der paradiesischen Grundlagen, die Gott legte? Ist die Bibel harmlos, die das Unhaltbare an den gewaltigen Errungenschaften und Zerstörungen des Menschengeschlechtes - so peinlich für den Herrn der Welt! - schonungslos thematisiert?
Ist nicht die Bibel die Urkunde, in der von der Bosheit und Härte des Menschenherzens so unschmeichelhafte Kostproben gegeben werden und so zermürbende Zeugnisse sich häufen? Enthält nicht die Bibel die beißende Klage von der schauerlichen Liebesunfähigkeit und Liebesverachtung unserer Spezies? …. Die Bibel ist doch gerade nicht der Groschenroman, der alles erstickt unter der klebrigen Vanillesoße falscher Gefühligkeit. Denn die Botschaft der Bibel feiert die Liebe ja gerade nicht als die simple Antwort auf alle Fragen und die automatische Lösung aller Probleme. … Sondern sie schildert die Liebe als den Widerstand, den unsere menschliche Wirksamkeit und Wirklichkeit hervorruft: Den Widerstand Gottes.
Weit entfernt davon, dass die Bibel eine kleine Heile-Welt-Musik wäre oder ein Trostpflaster für alte Tanten, deren klappriges Nervenkostüm diesen wärmenden Wickel braucht, … weit entfernt auch von dem, was man ihr am längsten schon anhängt: Legalisiertes Cannabis zu sein, das beim Konsum so schöne Dinge simuliert und dabei doch nur schleichend und lähmend verblödet … weit entfernt also von allem menschlichen Liebesschmu, ist die Bibel zuallererst das Dokument des Kampfes, den Gott gegen das Böse und gegen die Gleichgültigkeit gegenüber dem Guten führt. Sie ist das Dokument eines Kampfes, in dem Gottes Waffe die Liebe ist.
Weil schon die Sintflut bewiesen hat, dass Zorn nur vernichtet, nicht aber rettet, ist die Geschichte dieser Erde - die Geschichte, die seither unter dem Bundeszeichen der verschonenden und langmütigen Liebe Gottes steht, von dem die Schriftlesung heute berichtete (vgl.1.Mose 8) - tatsächlich die ständige Abfolge der Gegenreaktionen Gottes auf die Unbelehrbarkeit und Unbekehrbarkeit der harten Menschenherzen. Gott setzt gegen das, was wir tun, was wir lassen, was wir verbrechen und verweigern, was wir durchsetzen und was wir zerstören, bei aller strengen und ernsten Warnung vor den Folgen unserer Rücksichts- und Ehrfurchtlosigkeit doch immer weiter, immer tiefer Seine Liebe ein. Er hat geschworen, dass der Bund Seines Friedens nicht hinfallen soll, … der Bund, den Er zuerst Noah zusagte und den Jesaja dann ausgerechnet im Strafgericht in Babel doch nur als eine einzige Liebeserklärung (vgl.54,10) schildern konnte, … den Bund, den Gott endgültig besiegelt und universal bekräftigt hat gerade da, wo die Gewissen- und Sinnlosigkeit restlos herrschte, als Pontius Pilatus Einen kreuzigen ließ, den er angeblich nicht einmal für schuldig befand.
Gott hat geliebt, wo niemand liebte.
Gott liebte, als reiner Hass sich auf Ihn richtete.
Gottes Liebe ließ sich töten, aber sie ließ sich nicht besiegen.
Gottes Liebe starb, um stärker als zuvor und umfassender noch aufzuerstehen! –
Das ist die Weltbejahung und die Lebensfreude, die wir gerade auch in unserer verfinsterten Zeit, in der dämonische und satanische Gefahren die Zukunft radikal in Frage stellen, feiern sollen. Wir sind ja eben die Zeugen einer Liebe, die nicht harmlos, sondern wehrlos … und gerade darin der Gewaltwelt überlegen ist.
In ihrer Verweigerung des Hasses ist sie dem Hass unendlich, ja uneinholbar weit voraus.
Sie hat das Ende, das er bringen will, an dem er zündelt, mit dem er droht und das er tatsächlich riskiert, schon hinter sich.
Der Hass will die Liebe Gottes zu Seinen Geschöpfen groß und klein, zu Erde und Menschheit auslöschen. Doch die göttliche Liebe, die Seine Feinde wie Seine Kinder umfängt, ja, die Seine Feinde als Seine Kinder betrifft, ist genau das nicht: Sie ist nicht endlich! … Sie kann nicht unter- oder ausgehen, sie kann nicht weggerissen oder aufgelöst werden.
… Sie ist so völlig, sie gilt so gänzlich, sie bleibt so unverbrüchlich, weil sie nicht altern kann, da sie ewig ist, … durch alle Jahrtausende und ihre Wechselfälle, durch alle Katastrophen und Rebellionen, durch alles Unheil und durch alle Abnutzungskriege hindurch bleibt die Liebe, die ohne Verfall ist, weil sie Gott ist, vital.
Und darum endet das Buch von der ganz natürlichen jungen Liebe – die schöne Sammlung der unverkrampften, erotischen Liebeslieder Salomos und Sulamiths – mit den Versen, die zwar wie der Schwur und die Beschwörung zweier Menschenherzen klingen, aber doch zeigen, dass es hier noch höher und noch tiefer, noch weiter und noch wundervoller geht, als unter uns:
Was bei uns vom Herzenklopfen zum Hochzeithalten und zum Honigmond führt, … was Vertrauen und Vertragen und Vergeben stärkt, … was in geteilten Lebensjahren und gemeinsamem Lebensabend und individuellem Lebensende bei uns dann schließlich nach der Zunahme und Reifung auch die Vergänglichkeit der Liebe bringt – nämlich, dass sie die Liebe sterblicher Menschen ist, die darum auch sterben muss – das wird hier nicht beschrieben.
Nicht die Leidenschaft von Menschen, die flackert und nicht die Treue von Menschen, die halten kann und soll, bis der Tod sie scheidet, wird am Ende des Hohen Liedes besungen.
Sondern die Liebe, deren Stärke es mit der Finalität von Tod und Totenreich aufnehmen kann.
Die Liebe, die durch keine Wasser und keine Flut - durch keine Sünde und keine Gewalt der Vernichtung - vernichtet werden kann.
Die Liebe Gottes wird in diesen wenigen Worten des Hohen Liedes besungen.
Sie beendet die Geisterfahrt dieser Welt in den Tod. Denn sie ist der Welt zuvorgekommen, indem sie aus dem Tod das Leben hervorbrachte.
Im Ernst müssen wir also auch in noch so schwerer und sorgenvoller Zeit nie ein Fest der Angst vorm Tod, vor der Qual der Unerlösten oder der Wiederkehr des Vergangen-Geglaubten im Geist bewegen.
Was uns allein bewegen soll, ist die Liebe, … stark wie der Tod. Siegreich für alle!
… Jesus also, von dem es heißt: „Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, würde man ihn verachten?“
… Würde man ihn verachten?
… Ihn, der nicht nur in Nazareth, sondern bei seinem Vater alles aufgab, … der nicht daran festhielt, Gott gleich zu sein, sondern sich erniedrigte in Knechtsgestalt bis zum Tod am Kreuz, … ihn, den der Vater darum auch erhöht hat und ihm den Namen gab, der über alle Namen ist, damit im Namen Jesu sich beugen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind und alle Zungen bekennen, dass Jesus der Herr ist zur Ehre Gottes, des Vaters (vgl. Phil 2, 6-11)?!
Ihn, der alles aufgab, verachten? … Stark wie der Tod. Sieger für alle.
… Niemals!
Sondern lieben!
Amen.
15. Sonntag nach Trinitatis, 25.09.2022, Stadtkirche, Galater 5, 25 - 6, 10 , Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 15.n.Trin. - 25.IX.2022
Galater 5,25 - 6,10
Liebe Gemeinde!
Was passiert, wenn Menschen aus einem Modus – einer Art zu denken, zu leben und sich zu verhalten – in einen anderen Modus fallen, das ist in Galatien geradezu lehrbuchmäßig zu besichtigen. Doch bei diesem abrupten, überraschenden Wechsel der Galatergemeinde von einer Rahmenordnung ihres praktischen und geistigen Daseins in eine andere, geht es nicht um eine historische oder soziologische Studie. Es geht darum, was unserer Welt, was uns als Zeitgenossen gerade insgesamt geschieht: Das Umschalten vom Geist aufs Fleisch, die Ausrichtung aller Maßstäbe nicht mehr in Annäherung an gottgemäße, sondern an gegengöttliche Ideale. Dieses Umschalten findet heute statt. Es ist das Zeichen unserer Zeit: Wie einst die Galater verfallen wir Menschen der Gegenwart aus einer erstaunlichen Freiheitserfahrung in erstaunliche Zwangsumstände, … aus einer geringgeschätzten Friedfertigkeit in eine hochgefährliche Roheit der Gewalt.
Der Moduswechsel, der dieser Welt gerade widerfährt, ist also wahrhaftig schlaf- und atemberaubend, … aber gewiss nicht beispiellos: Schauen wir also nach Galatien.
Galatien war der Wilde Westen des alten Ostens. Es war zivilisationsjunges Pionier- und Migrationsgelände. Auf der anatolischen Hochebene, die offen wie die Prärie liegt, hatten wandernde, kriegslüstern-abenteuerliche Keltenstämme auf ihren Beutezügen und Fluchtwegen sich seit zwei-, dreihundert Jahren zusammengefunden: Diese „Gallier“ Vorderasiens, die „Galater“ standen also nicht in der altgriechischen oder in der neu weltmächtig-römischen Ökumene der Kulturen, sondern sie waren und blieben Barbaren. Ihre einstweilige Integration in den hellenisierten Vorderen Orient war eine strategische Option und keine Zähmung. Mehr als die geistige Weltausstrahlung Athens imponierte ihnen jedenfalls die militärische Dominanz Roms.
……. Ausgerechnet unter diesen grobschlächtigen Stämmen der Galatern Missionserfolge erzielt zu haben, war für Paulus also eine bemerkenswerte Erfahrung.
… Doch seine Erfolgserfahrung sollte nicht von Dauer sein.
Die verlockende Mission des Heidenapostels, der den keltisch-kämpferischen Galatern das Ende aller Gehorsams-, aller Unterordnungskultur brachte und ihnen die Liebe Dessen eröffnete, Der für uns alle den letzten, bittersten Zwang - den Tod - getragen und durch Seine Freiwilligkeit dabei diesen Zwang schließlich aufgelöst hat … – diese Mission des Paulus elektrisierte die Galater nur eine Zeitlang.
Bald spürten sie, dass die Großzügigkeit der göttlichen Liebe und die Weite des göttlich-globalen Gnadengeistes eine überraschende Unsicherheit bedeutete:
In der Eigenverantwortung eines geliebten Menschen zu stehen, ist anstrengender, als fremde Befehle auszuführen.
Wen Gott frei auf die Botschaft Seiner Liebe antworten lässt, der wird stärker herausgefordert als jene, die aus irgendeiner Nötigung etwas müssen.
Der Geist Gottes will in einer persönlich-lebendigen Wechselwirkung mit den Glaubenden stehen, während bloß Unterworfene sich ja gedankenlos wie Gegenstände durch den Willen eines Anderen von außen bewegen lassen können.
Die eigene geistliche Beteiligung, diese Freiheit und Selbständigkeit des Lebens in Beziehung auf den Geist, wurde den Galatern daher rasch mühsam.
Sie fielen zurück … nicht in eine angeblich blinde jüdische Gesetzlichkeit, die aller tiefentschlossenen Frömmigkeit des eigenwilligen Volkes Israel wirklich fremd ist, sondern in die Bequemlichkeit ausführender Organe: „Gib uns eine Moral; gib uns Normen; gib uns einen Kodex, einen Drill, eine Marschordnung“ … so mag es in den einzeln zügellosen und deshalb als Gemeinschaft besonders dressurwilligen Galatern geklungen haben. „Häuptling befiehl, wir folgen!“ …
Die ersten keltischen Clanangehörigen, die in Galatien Christen geworden waren und im Christentum das Regelwerk und die Erkennungszeichen vermissten, die z.B. die Beschneidung in der jüdischen Gemeinde darstellte (vgl. Gal.5, 3ff), wollten also lieber Kommandoklarheit als die Last der getauften Mündigkeit.
„Zur Freiheit hat Christus uns doch befreit“, rief ein entsetzter Paulus ihnen da in seinem Brief (5,1) zu: Warum drängt ihr euch denn nach Abhängigkeit? Warum wollt ihr wieder nur stupide nach Vorschrift leben und nicht inspiriert, nicht unbefangen, als Menschen, die sich im Glauben als Gottes Kinder erfahren, die Er nicht bevormundet, sondern zu Einsicht und eigenem, geistgelenktem Urteil bevollmächtigt?!
Warum?
… Weil der Modus der Unterwerfung, der Modus der Unselbständigkeit, der Modus des Mitmachens so viel einfacher ist. Als Massenmensch, … als Mensch im Sog des Vorgegebenen, … als Mensch, der nicht viel denken muss, da bist Du einfach Fleisch. Fleisch ist ein anderes Wort für „Ich“. … Und gerade die Unselbständigen, die reibungslos Konformen sind trotz ihrer Ununterscheidbarkeit lauter „Iche“: „Ich will nur durchkommen. Ich will nicht abschmieren. Ich will für mich wenigstens auch mein bissl Platz an der Sonne und Ruhe in Frieden und Preis für Fleiß genießen. Ich störe sonst keinen und also soll mich auch keiner stören. Ich und mein Fleisch: Wir bleiben im Rahmen, wir nehmen, was wir kriegen und uns zusteht … und gut ist’s.“
… Der Geist dagegen: Der Geist stört das Ich. Der Geist ist ja die Liebe.
Der Geist verbindet und versöhnt … und schon hat die liebe Seele keine Ruhe mehr.
Der Geist macht - weil er Gnade ist - gnädig … und schon ist im Denken und Fühlen alles kompliziert aufgeweicht, das gerade noch so quadratisch, eckig, ordentlich war.
Der Geist bricht aus der Gewohnheit, … der Geist spricht für die Unerwünschten, … der Geist traut der Hoffnung, … der Geist hält die Tür auf, … der Geist schließt das Herz auf, … der Geist öffnet uns die Augen, … der Geist bewegt die Erde, … der Geist wirbelt den Staub und stößt die Gewissheiten um, … der Geist braust im Neuen …
… Der Geist redet anders, … der Geist weiß es anders, … der Geist macht es anders …
… Der Geist heilt die Herzgelähmten, … der Geist leert die Gefängnisse der Gewohnheit, … der Geist verteidigt die längst Abgeurteilten, … der Geist befreit die Unterdrückten, … der Geist weckt die Kinder, … der Geist spürt das Abenteuer, … der Geist kennt die Braut (vgl. Offenb.22,17!) und lädt die ganze Welt unangekündigt und unsortiert zur Hochzeit …
… Der Geist ist das Leben im Sturm, … der Geist ist das Menschliche, das entflammt, … der Geist ist die Sehnsucht nach Allen in Allem. ———
Und darum wollen die Galater den Geist nicht mehr spüren müssen. Sie wollen ja nur selber gerettet und gesichert sein, aber doch nicht noch das ganze Leid der Erde mitbewegen, bis es nachlässt und überall alles gut wird.
Es selber gut haben, … gut sein.
Nicht mehr. Nicht weniger.
Das pure Fleisch.
Dagegen der irrwitzige Geist heißt: Sich kümmern. Wenn ein anderer Mensch kämpfen muss, … dann sich nicht feine raushalten, sondern darauf einlassen: Auf Schmerzen, die man selber gar nicht hat oder haben könnte. Auf Trauer, die einen nicht im Leisesten betrifft. Auf Schuld und Tragik, die man sonst im weitesten Abstand umgeht.
Solche Geduld mit den Problemen anderer, solche Sanftmut bei den Verfehlungen, bei den Fehlschlägen im Leben fremder Leute: Das ist nichts für uns Galater! Da kümmern wir uns doch besser um die eigene Bilanz, die eigenen, ja auch nicht immer einfachen Belange. Her mit den knallharten Spielregeln und weg mit dem ganzen weicheierigen Mitleids-Kram! ——
Dieses wiederholte Hin und Her, dieses Pendel, das immer wieder vor und zurückschwingt zwischen der empathischen Nächstenliebe, der offenen Gemeinschaftsfähigkeit, die der Heilige Geist bewirkt, und dem natürlichen Instinkt, sich auf den unbarmherzigsten Egoismus zurückzuziehen, … diese Verschiebungen dessen, was wir den Modus nannten, die sind wahrlich nicht bloß eine Anfangsverunsicherung aus den Tagen der ersten christlichen Mission.
Die Bereitschaft zum Ergreifen und Ertragen der Last der anderen – und nichts sonst verbirgt sich ja im Geheimnis des in uns gegenwärtigen Geistes Gottes – war nie selbstverständlich … auch im sogenannten „christlichen“ Abendland nicht, das man vom keltischen Westen bis zur galatischen Hochebene sich erstrecken sehen mag.
Die Natur des Menschen - sein Fleisch - hat stets gegen die unnatürliche, die übernatürliche Herzlichkeit und Menschlichkeit des Heiligen Geistes rebelliert: Die „Anderen“ waren immer die geborenen Feinde, unwillkommene Eindringlinge, unliebsame Rivalen. Das Eigene schien uns immer größer, weil ja schließlich der Fingerhut, den man sich dicht vor Augen hält, die höchsten Gipfel des Kaukasus, des Taurusgebirges oder der Alpen verdecken kann.
Aber jene mehr als natürliche, jene übernatürliche Gemeinschaft, die der Geist begründet hat, seit Maria durch Ihn den wahren Menschen zu empfangen bereit war und seit der Sohn der Maria in der Taufe dann selber durch den Geist Seinen göttlichen Vater erfuhr … diese Gemeinschaft, die der Geist zwischen Gott und der Menschheit immer schon schenkt und in Jesus besiegelt hat, … diese Gemeinschaft, die wir die Kirche nennen und in der nicht das fleischliche Einzel-„Ich“, sondern das geistliche Band, das uns alle zu einem in lebendiger Liebe verbundenen Leib macht, …diese Christusgemeinschaft, diese Gemeinschaft der Christen hat im ganz Großen und im ganz Kleinen auf ganz andere Weise den Samen der menschlichen Zukunft gesät, als die Einzelkämpfer, die nur Zwietracht auf’s Feld bringen.
Denn bei allem, was man Schlechtes über die Folgen des Christentums, seiner Willfährigkeit, Blindheit und Taubheit sagen kann, stimmt dennoch, dass in der ganzen Welt kein vergleichbares Ideal gepredigt, geglaubt und geübt wird, wie das Gesetz Christi, das Liebe fordert, weil es Liebe voraussetzt (vgl.Gal.5,14).
Diese Liebe aber – praktiziert im Weltmaßstab und im Privatleben von Abertausenden, die vor uns und um uns herum getauft sind und den Geist der Menschenfreundlichkeit, der Sanftmut und der Wohltätigkeit empfangen haben und durch sich wirken lassen –: Sie ist in Gefahr! … Der Modus geht verloren:
Der christliche und der aus dem Christentum gespeiste, säkularisierte Modus der Geduld, der Güte und Gnade, der geistliche Modus auch im politischen Gewand der Grundrechte eines jeden, der Gleichstellung aller, der Großzügigkeit gegen die „Anderen“ … er ist in akuter Gefahr: Wie die Wälder im Feuer, wie das Eis in der Schmelze, wie die Hoffnung im Unwetter des Hasses, so verschwindet das, was die Gemeinde Jesu Christi in die Welt zu säen und zu pflanzen hatte.
Doch mehr denn je gilt, dass wir uns nicht irren dürfen, weil Gott sich nicht spotten lässt:
Was der Mensch sät, das wird auch seine Ernte werden.
Wenn die geistlose Ideologie, dass man sich um fremde Lasten drücken könne, sich um fremdes Leid nicht scheren müsse und nur die eigenen Belange kultivieren dürfe, weiter um sich greift, dann droht noch Schrecklicheres, als das jetzt schon erkennbare Unheil der rein weltlichen, rein fleischlichen Epoche, in der wir uns finden.
Schon jetzt dreht sich der materialistische Mensch - der Mensch ohne Geist - nur um sich selbst: Die eigene Wirkung, das eigene Wohlergehen sind die alleinigen Motive des großen Geistlosen, des kleinen Herzlosen unserer Tage.
Und was der Einzelne in der einsamen Eitelkeit seines Daseins als Ersatz für die Liebe und als Mittel gegen das Mitgefühl einsetzt, das wird im grausamen Klimawandel der nationalen und der internationalen Verhältnisse in weit furchtbarerem Maße angeheizt:
„Alles für uns, nichts für die anderen!“
„Groß sind nur wir! Möge jede Erscheinung daneben verschwinden … buchstäblich!“
Diese krankhaften Haltungen, die als Spitze des Eisbergs in einem Krieg gipfeln, der uns das Entsetzen und das Fasten und Beten lehren muss, … diese krankhaften Haltungen des „Ich ohne die Anderen“ würden das Ende der Menschheit bedeuten, wenn sie weiter ungebremst um sich griffen.
Der Wechsel vom Versöhnungs- und Verständigungsmodus, der seit 70 Jahren in den Vereinten Nationen trotz aller Konflikte ein Maßstab war, zum Modus der Verneinung und Vernichtung würde weltweit bedeuten, was schon in Galatien drohte, als sie den Heiligen Geist zugunsten des Eigensinns verschmähten:
„Wer auf sein Fleisch sät, der wird vom Fleisch das Verderben ernten.“
…….
Doch so endet die letzte Predigt vor dem Erntedanksonntag nächste Woche nicht!
Trotz aller Bedrohung, trotz aller Warnung von Galatien damals bis nach Italien, wo man heute die Wahl hat, … von Moskau bis Peking: Wir leben in jener Welt, in der Jesus Christus durch den Heiligen Geist empfangen wurde – das ist das wichtigste politische, soziale und physische Geschehen aller Zeiten! –; und damit leben wir in jener Welt, in der allen Menschen die Gnade eröffnet ist, durch den Glauben an Jesus und durch die Gabe des Geistes statt der Zukunftslosigkeit des Fleisches das bleibende Leben zu erfassen.
Noch haben wir Zeit.
Noch können wir Gutes tun, … Gutes hoffen, … Gutes bewegen, … Gutes erbitten, … Gutes gönnen und Gutes ernten.
Säen wir darum auf den Geist … und warten getrost auf das Erntdedankfest, das kommt!
Amen.
13.Son. n. Trin., 11.09.2022, Stadtkirche, 500 Jahre "September-Testament", Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 11.IX.2022 – 13.n.Trin.
500 Jahre „September-Testament“[i]
Liebe Gemeinde!
Was wollen wir hier wirklich feiern?
… Dass Gott durch ein Buch zu uns spricht?
… Dass Er die jahrtausendlang für den Menschen überlebensnotwendige Übung des genauen Hinhörens und dann den menschheitsgeschichtlichen Meilenstein der entlastenden Erfindung von Schriftzeichen nutze? Dass Er die erstaunliche Aleph-Betisierung der jüdischen Gelehr-ten, die in der Bronzezeit bei aller Bescheidenheit doch herrliche Techniken der Aufzeichnung und der Lektüre beherrschten, einsetzte, um weiter auf den erstaunlichen Wegen des Transports und der Speicherung der Heiligen Schriften Israels, ihrer Übersetzung in’s Griechische der edelschönen Wahrheit und dann ihrer verpflichtenden Anerkennung durch die Kirche, die sie für Europa verwestlicht, also lateinisch gemacht hat, schließlich mittelbar auch uns, die kaum noch lesekundigen Emoji-Stenographen am Ende des Abendlandes zu erreichen?
… Wollen wir feiern, dass Gott diese Heils- und Mediengeschichte so feinmechanisch abgestimmt hat, dass der Durchbruch zur Wortvervielfältigung durch bewegliche Bleibuchstaben und die historische Tiefenbohrung hinunter bis zu den Quellen just dann zusammentrafen, als ein alerter, dickschädeliger, seelenempfindlicher, verdammnisfürchtender und gnadendurstiger Eigenbrötler sich so aus der Schar der beruhigt Halbwissenden herauskatapultiert hatte, dass man ihn zur Deeskalation ein bisschen wegsperren musste, um in der Luftkur mitten im Thüringer Wald den ganzen öffentlichen, päpstlichen, kaiserlichen, humanistischen, reformatorischen Blut- und Wutdruck in den Griff zu kriegen?!
… Wollen wir also feiern, dass Buchdruck, Renaissance und Reichstagsärger dazu führten, dass die gesamte Offenbarungs-, Überlieferungs- und Übersetzungsgeschichte der Bibel in dem knappen Jahr von Luthers unfreiwilliger Sicherheitsverwahrung und Reha auf der Wartburg einen so idealen Kulminationspunkt erreichte?
… Und dass in diesem unwahrscheinlichen „Zufall“ so viel in der hebräisch-griechisch-lateinischen Bibel angestaute Energie auf den Überdruck, unter dem Luther stand, reagierte, dass alles sich in einem deutschen Urknall entlud, als das Jahrtausendwerk heiliger Altsprachlichkeit in nur 11 Wochen zu einem deutschen Neu-Bestseller wurde … zumindest in seinem damals, über den Jahreswechsel 1521/22 wie in Trance übersetzten und seit dem Frühjahr im Akkord auf zwei oder drei Wittenbeger Druckerpressen entstandenen neutestamentlichen Teil?! …….
Wollen wir wirklich diese Seite der medialen Geschichte feiern … und dann natürlich das Genie, das vor einem halben Jahrtausend in 80 Tagen die Welt endgültig bewegte, weil da-mals - „Boom!“ - die schönste, dynamischste, poetischste, emotionalste Übersetzung entstand, auf die wir stolz, stolzer, am stolzesten sind, weil sie mit Bachischer Musik und Klopstock’schen Rhythmen und Goethe’scher Lebendigkeit und Nietzscheanischem Pathos und Dibelius’scher Bürgerlichkeit bis heute in unserm Denken, Reden und Sein fortwirkt???!!!
……. Ich dachte, ich wollte.
Aber das ist eine dumme und betriebsblinde Sicht dessen, was die „Luther-Bibel“ - gerade zu 2017 noch einmal schön restauriert - bedeutet und bedeuten kann.
Die erhabene oder - schlimmer noch - die selbstverständliche Feier des O-Tons unserer „Luther-Bibel“, die so fruchtbar in sämtlichen Schichten unserer Glaubens- und Kulturvergangenheit gewirkt hat, wird durch solche Verklärung nur musealer.
Wir machen uns viel vor, wenn wir tatsächlich nicht zugeben, dass diese wundervolle, packende, berührende und inspirierende Sprachleistung Luthers heute nichts anderes ist als die sogenannten tausendjährigen Eier der chinesischen Küche: Wer dran gewöhnt ist, schwört drauf und liebt diesen einzigartigen Geschmack, den die Zeit hervorbringt, … wer’s aber nicht kennt, ist befremdet.
Nun spricht gar nichts dagegen – im Gegenteil: Alles spricht dafür! –, dass man neugierig gemacht und auch auf ungewohnten Geschmack gebracht werden kann.
Aber das Ziel dabei sollte nicht sein, dass wir die Grundlagen für den Deutschunterricht oder den Oratorienführer oder ein verständiges Geschichtsbewusstsein gewinnen und diese verwechseln mit einem theologischen Sinn.
… Einen besonderen theologischen Sinn als Text hat die sog. Luther-Bibel – an der neben Martin Luther zahlreiche und noch vertrauenswürdigere Köpfe als nur der seinige mitgewirkt haben – nicht!
Im Gegenteil: Luther hat mit seinem starken, für ihn und seine Zeit unvermeidlichen Eigensinn auch wirklichen Unsinn in die Bibel, besonders auch ins Neue Testament hineingetragen: Dass er alles, was ihm Evangelium zu sein schien, eigentlich nur an den Briefen des Paulus maß, … dass er sich - wie es in der Darstellung „welches die edelsten und rechten Bücher des Neuen Testaments seien“ heißt - lieber einen taten-, als einen wortlosen Jesus vorstellen wollte, … dass er schließlich ganze Bestandteile des neutestamentlichen Kanons in seiner Anordnung nach hinten verdrängte und nicht mehr richtig mitzählte, weil ihm diese Schriften zu praktisch oder zu prophetisch (und damit in beiden Fällen letztlich wohl: „zu jüdisch“!) vorkamen, … das ist ein so dreister und größenwahnsinniger Entschluss, dass es mir eigentlich vor solcher Hybris graut.
… Wie dankbar müssen wir nicht sein, dass es die praktische Botschaft der Bibel – die heutige Epistel, dass Gott die Liebe ist (1.Joh4,7ff) – gibt und dass diese universale und rettende Tatsache gerade in den Taten, den Speisungen, Heilungen und Tröstungen Jesu und in seinem Opfer für alle ohne Theorie greifbar, wahr und nachahmungsfordernd geworden ist! ——
Wenn wir also heute das „Septembertestament“ feiern, dann nicht um seiner geschichtlichen, literarischen oder auch ästhetischen Qualität willen und erst recht nicht, um Luther damit indirekt neben Homer und Shakespeare, neben Ernst Jandl und Friederike Mayröcker als gigantischen Sprachschöpfer auf einen Denkmalsockel zu stellen.
Er war Erzeuger und Hebamme, er war streuender Sporenpilz und gärende Hefe unserer Sprache und damit auch vieler unserer schönsten Lieder und zutiefst-vertrauten Seelenschätze, … daran besteht kein Zweifel.
Aber damit war er doch nur Schnitzer oder Schneider: Er hat eine Form, einen Schnitt, ein Gewand für die Bibel sauer erarbeitet oder begnadet spontan hingeworfen.
Der Inhalt aber ist etwas Anderes!
Doch der – der Inhalt! – ist es, den wir auch heute, bei der Erinnerung an eine große Übersetzungsleistung feiern wollen.
Um diesen Inhalt geht es ja auch jedes Mal, wenn uns eine Motette, ein Choral, eine Predigt eine Anspielung, eine rhetorische Figur, eine Erinnerung mit der urwüchsigen Kraft, der schwebenden Aura, dem spürbaren Puls oder auch nur dem leisen Nachklang der luther’schen Sprache berühren. Immer geht es eigentlich um das, was Luther nun tatsächlich selber nicht geschaffen und nicht geleistet, sondern in der Ergriffenheit der Übersetzungsfreu-de bezeugt hat: Es geht um DAS WUNDER, DASS GOTT SPRICHT.
Dass Gott nicht schweigt, ist ein – nein, wenn wir dem Schöpfungsbericht trauen, ist es das ursprüngliche und grundlegende – Wunder Gottes.
Gott könnte ja im Geheimnis, das Er ist und bleibt, verhüllt existieren.
Er könnte stumm über oder jenseits aller menschlichen Wahrnehmung verborgen bleiben.
Das Werk Seiner Hände könnte ahnungslos und taub für Ihn, ungerufen, ohne jede Kontaktaufnahme, ohne jedes Angesprochen-Werden in völligem Abgeschnitten-Sein seine Bahnen ziehen.
Dass Gott – die ewige Weisheit, die aus jeder Idee, jedem Gedanken sofort Wirklichkeit machen kann – schon für die Entstehung des Kosmos nicht tonlose Gesten oder geräuschlose innere Prozesse, sondern vernehmbare Äußerungen verwendet, ist ein Schlüssel zu Seinem Herzen:
Gott will Sich mitteilen, statt Sich für Sich Selbst zu behalten.
Gott legt der Welt nicht Seinen nackten Willen, sondern das Mittel zur Verständigung zugrunde und darum auch Verstehbarkeit.
Gott hüllt Sich nicht in Rätsel, die hingenommen werden müssen; Er erzwingt nicht die schaudernde Anbetung, die das versiegelte Mysterium verlangt, sondern Er setzt bereits den Anfang aller Dinge auf dem Weg der Kommunikation.
Gott öffnet Sich, statt Sich verschlossen zu geben.
Er atmet aus, so dass andere aus Seiner Lebendigkeit schöpfen können.
Er spricht und also weckt Er Hören und Denken, weckt Worte, weckt Gehorsam, Gegenrede und Gewissen, … weckt uns als Seine Antwort! ——
Diese unglaubliche Tatsache, dass wir es in der Bibel und durch die Bibel mit einem redenden, mit einem Sich äußernden, mit einem Sich auf den Menschen beziehenden Gott zu tun haben, ist das, was wirklich jeden Tag und jeden Augenblick vor Gott zu einem Fest macht:
Gott spricht uns an! Wir sind die Adressaten dessen, was Gott bewegt!
Wie uns das auszeichnet! Wie uns das aus der trüben, brütenden Verlassenheit, aus dem Vakuum eines nicht wörtlich gemeinten, eines bloß sachlich gegebenen Daseins herauslockt in eine Aufmerksamkeit und eine Erfahrung, die in und unter, über und hinter allem nicht die bleierne Sinnlosigkeit, sondern eine Nachricht, eine Botschaft, einen Sinn suchen … und finden darf: … Durch Anstrengung, durch Zweifel, durch Missverständnisse hindurch, gewiss … aber doch einen ausdrücklichen, weil ausgesprochenen und also auch verständlichen Sinn!
… Den guten Sinn, der in allem liegt und einst wieder auch aus allem sprechen wird: »Eu-Angelion« …Gottes sinn- und heilvolle Selbstmitteilung! ——
Dass Gott im Wort und im Verb Sich Selbst also zu uns hin auf den Weg macht, das ist nun tatsächlich noch viel mehr als die Geschichte einer einmal diktierten Offenbarung, eines einmal geschriebenen Textes, eines einmal gedruckten Buches, einer einmal geglückten Übersetzung.
Dass Gott redet, statt zu schweigen, … dass Er offenes Buch, weil offenes Wort ist, … dass Er eben buchstäblich Offen-Barung und nicht Abschließung wählt, … dass Er Sich also durch Überraschung und nicht durch Gewohnheit oder stummes Geheimnis kundtut, … das ist es, was tatsächlich alle, die Ohren haben zu hören und einen Mund, der fragen kann oder weitersagen, der Echo und Fortsetzung sein darf und soll, inspirieren muss!
Spricht Gott, wie sollten Menschen dann das Maul halten?
Hat Gott Seinem Wesen nach stets neue Nachricht für uns, wie sollten wir dann Sprach- und Teilnahmslose oder bloße Wiederholer sein oder bleiben wollen?
Das Wort Gottes macht Menschenworte locker, … lässt Menschenrede sprießen, blühen, Ernte werden und neue Saat, … macht Menschen also Lust zu sagen und zu singen, zu üben und zu versuchen, was sie noch nie vernommen, nie gesehen, nie festgehalten, nie ausgesprochen haben. ———
Die elf Wochen, in denen das Evangelium in Luther auf der kalten Wartburg so perlend und so dampfend sprudelte und wie erwärmtes Edelmetall sich zu schönster Zier und Kleinod formen ließ, diese fruchtbare, experimentelle, enthusiastische Phase der sprachlichen Freiheiten, der Neuprägungen und Eingebungen ist also kein Endpunkt, und das Septembertestament darf kein Aggregatzustand des Neuen Testamentes oder der Bibel sein, der noch ein halbes Jahrtausend später, ausgekühlt und mit allem Grünspan, allem Staub der Geschichtlichkeit nun hinter Panzerglas, im Schummerlicht einer Vitrine konserviert werden müsste.
Solche Schätze, die bloß eine Beute für die Altertumsdiebe und ein Fraß für den Rost wären, hat Jesus Christus eben nicht bringen wollen.
Vielmehr spricht Christus jede Zeit und jeden Menschen lebendig an, weil Er das Wort und Leben selber ist.
Darum ist aber das eigentliche Fest, zu dem Luther uns einlädt und sein eigentlicher Geniestreich – also das Zeichen seiner wirklichen Freiheit in der Geistesgegenwart des von Ewigkeit her und also auch heute und also auch in Ewigkeit redenden Gottes – nicht das Ergebnis jener Übersetzung, die Luther gelungen ist, sondern ihre Absicht.
Gottes Sprechen so zu fassen, ihm so zu dienen und ihm so auf die Sprünge zu helfen, dass es die berühmten Alltagsmenschen, die zeitgebundenen, konkreten Gestalten, die einfachen Leute mit dem echt existentiellen Horizont genau ihres Lebens erreicht, an die Luther im berühmten „Sendbrief vom Dolmetschen“ dachte – „die Mutter im Hause, die Kinder auf den Gassen, der gemeine Mann auf dem Markt“: Das ist der wirkliche Freibrief und das dringliche Erneuerungsmotiv aller Bibelarbeit, aller Verkündigung, aller sprachlichen Übersetzung und aller praktischen Übertragung des hier und jetzt wahren Wortes in das Leben jetzt und hier.
… Dass die sorgenden und die spielenden und die handelnden Menschen heute, … die, deren Alltag von Hektik beherrscht wird, … und die, deren Bestimmung das Lernen ist, … und schließlich auch die, deren Augenmerk geradezu areligiös auf dem rein Materiellen liegt, … dass diese alle spüren müssen, dass Gott sie anspricht: Das ist die Verheißung, die durch Luthers Übersetzung weht!
Es ist eine Verheißung, die keine sprachliche Form bevorzugt. Sie setzt weder ausschließlich einen vermeintlich „modernen“ Klang, noch irgendeine klassische geronnene Sprachgestalt ins Recht. Sie nutzt und sie verflüssigt, sie belebt und sie entfaltet alle sprachlichen Mittel und Zustände durch ihre eigene, aktuelle Erschließungskraft eben als Verheißung, … als Verheißung nämlich, dass alle Menschen spüren sollen und dürfen, wie Gott unmittelbar an ihr Ohr und ihr Herz drängt, dass Er in ihnen wahrgenommen und dann angenommen, also geglaubt werden will: Das ist das Eine, um das allein es geht!
Es kann durch hohe, hehre Feierlichkeit oder mit ganz unaufdringlicher Beiläufigkeit geschehen, dass Gottes Sprechen Gehör findet. Es wird sich in tausend tradierten und in ebenso vielen spontanen Formen ereignen, dass Gott Menschen erreicht.
Er spricht ja alle Sprachen; Er wählt für jede Frau, für jedes Kind und jeden Mann die Worte, die sie zu wecken und zu rufen vermögen und die ihre Antwort in Sprache, Tat oder einfacher Liebe auslösen werden.
Dass Luthers unbekümmert schnelle, lebensnahe, unverbildete, phantasievoll und zugleich organisch kreative Übersetzung das meinte und dass ihr das gelang – ja, immer noch gelingt! -, genauso wie es anderen Übersetzungen, Vertonungen, Auslegungen, Aneignungen, Fortschreibungen und direkten Erleuchtungen gelingt, Gott hörbar und verständlich und Menschen ansprechbar und verständig zu machen: Das feiern wir heute und jeden Tag, den wir mit dem redenden Gott, mit Seinem Wort in unserer Welt und Zeit verbringen dürfen.
Denn Seine Worte sind die Wahrheit und sie haben in sich das ewige Leben (vgl. Joh. 6,68 und 17,17)!
Amen.
[i] Auf einem Gottesdienstblatt war ein entscheidender Passus aus der Darlegung „wilchs die rechten vnd Edlisten bucher des newen testaments sind“, die Luther der NT-Ausgabe vom September 1522 nebst der Vorrede angefügt hatte, abgedruckt. Den Zitaten aus dem „Sendbrief vom Dolmetschen“ und der Bezugnahme auf die Vorreden zu einzelnen biblischen Büchern in dieser Predigt liegt Bd.6 der sog. „Münchner“ Luther-Ausgabe zugrunde: „Bibelübersetzung. Schriftauslegung. Predigt“ (Martin Luther - Ausgewählte Werke, hgg. v. H.H.Borchert und G.Merz, München, 19583).
12. So. n. Trin., 04.09.2022, Stadtkirche, Apostelgeschichte 9, 1 - 19, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 12.n.Trin. - 4.IX.2022
Apostelgeschichte 9
Liebe Gemeinde!
Ein schönes Lied haben wir da eben gesungen (EG 256) … aus Tagen, als es noch möglich schien, eine globale Hoffnung ausdrücklich im Namen des Christentums zu hegen: Damals – als es schon schrecklich viel koloniale Gewalt und Unterdrückung gab, Versklavung und Ausbeutung, die von der europäischen und amerikanischen Christenheit ausgingen – … damals haben sie in Württemberg bei Albert Knapp genauso wie im Wuppertal oder im Ravensberger Land und überall, wo es Erweckungen und Missionsgeist gab, immer noch geglüht in der Vorfreude darauf, dass alle Völker den Herrn Jesus in der Einfalt als ihren göttlichen Freund, in der Not als ihren sicheren Befreier und im Tod als ihren gnädigen Erlöser erkennen und dadurch unendlich glücklich, ja selig werden sollten.
Da war echte Jesusliebe genauso lebendig wie echte Menschenliebe. Die Welt schien den Frommen damals wirklich wie ein Heer von ziellos Irrenden, das zusammen den langen Weg durch die Wüste antreten werde, wenn nur ein Paar Kundschafter, die das Zeichen von Golgatha kannten, es ermutigten, sich in die dort weit ausgebreiteten Arme der Barmherzigkeit zu flüchten und dann an der Hand des auferweckten Gekreuzigten zur ewigen Heimat zu ziehen.
Das war der Traum von der allüberall lockenden, tröstenden, liebenden, hoffenden, leidenden und dann im Himmel schließlich triumphierenden Kirche aus allen Stämmen, Sprachen und Völkern. …
Das war der Traum.
……. Zerrissen und kaputtgegangen wie alle Träume, wenn die Realität sie entfärbt und entweiht. Die Kirchen haben sich vor viele Karren spannen lassen; … zu manchen Völkern haben unsere christlichen Missionare nicht nur Heil, sondern Hölle getragen, … andere haben sie kulturell und psychologisch gespalten in vermeintlich unterlegene und vermeintlich überlegene Bestandteile, … wieder andere haben sie vor Ausbeutung und inneren Orientierungskrisen nicht ausreichend schützen können.
Die begeisterte Reich-Gottes-Arbeit, das Versöhnungswerk der Menschheitssammlung, um den Thron des Lammes ist für viele Heutige von finsterer Unterwerfung und brutaler Zwangsvereinheitlichung nicht mehr zu unterscheiden.
Von Anfang an sind Christen zwar in alle Himmelsrichtungen ausgezogen, um die unterschiedslose Liebe Gottes zur Fülle der Völker zu tragen, aber neben unglaublichem Segen ist dabei tatsächlich auch viel Zwietracht und Missbrauch entstanden. So dass der Traum von der allen geltenden, jeden umfassenden Gemeinschaft heute zwar noch in vielerlei säkularisierter Gestalt begegnet – Globalisierung, Weltmarkt, schrankenlose Virtualität, klassenlose Gesellschaft, Demokratisierung aller Nationen, Schutz der fächerartigsten Vielfalt – und doch unendliche Verlegenheit herrscht, wie das gehen könne: Eigene Ideale zu verbreiten, gilt als Imperialismus; fremde Inhalte zu übernehmen, wird geschmäht als enterbende Aneignung. Die Menschheit sieht sich ratlos an und kommt auch da, wo sie nicht von der Spaltung lebt, über das Trennende nicht hinweg, vertieft die Gräben sogar wieder immer mehr und wundert sich, dass Angst, Hass und Grausamkeit so unverändert aus dem Abgrund steigen.
…. Dass bald das einzig wirklich alle Verbindende der entfesselte Sturm der Vernichtung dieser Erde sein könnte, ist eine bittere Bilanz der misslungenen christlichen und antichristlichen, der religiösen, kommunistischen, kapitalistischen und technologischen Träume von der Menschheitseinung. ———
Warum also noch die alten Lieder von der Ausbreitung der Frohen Botschaft in Nord und Süd und Ost und West singen?
Warum den alten Traum noch feiern mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen, durch den gerade so viele verschiedene Vertreter der Menschheit bei der Vollversammlung in Karlsruhe zusammenkommen, die alle aus der einen Taufe in den Tod und in die Auferstehung leben und die das eine Ziel des irdischen Friedens hier und des himmlischen Friedens einst in der kommenden Welt teilen? Warum - um alles in der Welt - also immer noch ein missionarisches Herz und eine missionarische, welteinladende, welt-liebende Haltung bewahren, die Jesus bei allen und alle in Jesus zu erfahren wünscht? …….
Aus Nostalgie und Naivität?
Aus pietistischer Pietät oder schlichter dogmatischer Phantasielosigkeit?
Nein!
Denn das Neue Testament ist auf keinen Fall ein simpler Leitfaden für harmlose Verbrüderungsschwärmer oder leichtgläubige Allversöhnungsspinner. Die Bewegung des Neuen Testaments ist kein Weltbeglückungszwang europäischer Eroberer und seine missionarische Parole lautet auch nicht: Geht hin und verbreitet Woodstock-Stimmung, haltet Händchen, tanzt, kifft und erklärt in Stuhlkreisen, bei Sit-ins oder im Sandalenschweiß einer Kirchentagsmasse, warum man sich basisdemokratisch emanzipativ und inklusiv benehmen soll.
Die Mission im Neuen Testament fängt nämlich gar nicht als das Schneeballsystem einer sich siegreich ausbreitenden apostolischen Sendung an. Das Neue Testament kennt keinen solchen schönen Traum.
… Vielmehr beginnt’s mit dem Albtraum!
Die Weltbewegung, die wir Kirche nennen, geht los mit einer schrecklich düsteren film-noir-Szene: Ein zynischer Agent mit Plänen für einen großen Schauprozess - Saulus aus Tarsus - bewegt sich auf Damaskus zu. Viele aus dem verfeindeten Lager sollen ausgehoben werden. Es kann schmutzig enden, … kann auch auf Massenmord hinauslaufen.
So ist es auf der Straße nach Damaskus. Heute auch noch. … Oder auf den Pisten, die in die verbliebene Wildnis des Amazonas führen: Da müssen auch nicht nur Bäume und Tiere dran glauben. … Oder auf den Panzerspuren, die aus Russland Richtung Westen pflügen. Oder auf den Gefangenentransporten in China, den Schlepperrouten aus Afrika, den Drogen-Highways, von Süd- über Mittelamerika bis zum Klemensplatz. … So ist es, wo immer Menschen sich sicher genug fühlen, um anderen schadlos zu schaden. Jeder Menschengruppe, erst recht jeder Opposition drohen heimliches Unheil oder offene Inszenierungen der Verfolgung an unzähligen Orten der Erde: Man treibt die mit den abweichenden Anschauungen, Sitten oder Maßstäben zusammen, man pfercht sie ein, erzieht sie um, hungert sie aus und macht sie kalt … überall … rundherum, wo immer die Macht dafür reicht und das Recht dagegen zu schwach ist. … Menschen sind Bestien, deren Opfer Menschen sind. … So ist das, mit der Menschheit!
… Sage also niemand, die blauäugigen Christen machten es sich leicht mit dem Traum von der netten Wandlung zum Guten. Sage niemand, die christliche Mission, die Menschen im größtmöglichen Maßstab vor einander - und das heißt: vor sich selber! - retten und sie in den Heilsbereich Gottes, in das universale Asyl Seiner Liebe rufen will, verkenne die Wirklichkeit!
Das Gegenteil ist der Fall: Die christliche Umkehrbewegung fängt mit einem zum Äußersten entschlossenen Gesinnungsmörder an … „Saulus schnaubte mit Drohen und Morden“! So hart, so ungeschönt.
Was aber mit einem derart ausgeprägten Anti-Helden und dessen brandgefährlicher Aggression losgeht, das taugt nie und nimmer für ein schlichtes Drehbuch ansteckender Wohlfühlübungen durch große Gurus.
In seiner Apostelgeschichte will Lukas indes auch gar nicht die großartigen Pioniere der ersten Stunde verklären. Solche Propaganda führt nur zu dem, was man in Düsseldorf von der Naziverehrung für deren Pseudomärtyrer Schlageter kannte oder in den Lügenkult des Lenin-Mausoleum, während die echten - also niemals tadellosen - Bewährungshelfer der Menschheit – man denke denkbar an den gestern zu Grabe getragene Michail Gorbatschow! – kaum jemals reine Bewunderung erfahren, weil alles, was an ihnen glänzt, eben auch Schatten wirft.
Lukas will also nicht erzählen, wie der rabiate Ideologe Saulus zum leuchtenden Genie der Christentums-Werbung wurde.
Seine unwahrscheinliche und unheimliche Ouvertüre der Kirchengeschichte mit einem Finsterling, wie sie die Weltgeschichte serienmäßig und verhängnisvoll bevölkern, hat einen anderen Brennpunkt. Und auf Den sollen wir unsere Augen richten … auch wenn sie uns - ähnlich wie bei Saulus - den Dienst versagen und nicht aushalten können, was sich mitten über den leidvollen und schuldreichen Ereignissen unserer Tage zeigt.
Lukas will - und er kann! - erzählen von einem Licht, das nicht nur Alltagsgrau und Trübung unserer so gar nicht traumhaften Welt wirklich heller, wirklich schöner machen kann.
Lukas kann und will darüber hinaus vor allem aber erzählen von einem Licht, das die tiefste Finsternis zerreißt, … gerade jene Finsternis, die heute über der Welt lastet wie im Vorschöpfungschaos (vgl. 1.Mose1,2).
Es gibt ein Licht, das über den Mördern und ihren Opfern strahlt.
Es gibt Glanz und Wärme, die alle Verantwortung und alle Verantwortungslosigkeit, alle Schuld und alle Destruktion, deren der Mensch fähig ist, durchdringen, bis der tiefschwarze Kern, bis die abgründigste Nachtseite unseres Da- und Soseins nicht mehr lichtlos bleiben.
Es gibt eine Helligkeit, die alle Schatten des Todes aufklärt.
Es gibt eine Sonne, die den ganzen Kosmos und noch die Antimaterie darin nicht im Bann jener Kraft lässt, die alles kollabieren macht, sondern die Leben weckt und Funken schlägt in der kältesten, fühllosesten, erloschensten Peripherie, weit, weit, weit, … unendlich weit von der Mitte, in der die Dinge stabil und harmonisch erscheinen.
Es gibt jenes Urlicht, jenes ewige Licht, dessen Klarheit und Milde, dessen strömender Segen und stoffwechselnde Heilkraft alles erleuchten und umschmelzen und unumkehrbar ansehnlich und glanzvoll machen können.
Es gibt dieses Licht der Welt, die doch so dunkel scheint.
Von diesem Licht erzählt uns Lukas. Die Augen des sterbenden Simeon sahen es - und gingen über -, als er ein kleines Kind im Tempel auf die Arme nahm (vgl.Lk2,30ff). Da drückte Simeon Den ans Herz, Der sprach: „Es werde Licht!“.
Und dieses Licht reinster, unverlöschlicher Liebe zu allen, die verloren gehen oder schon verloren sind, … dieser ansteckende Glanz leuchtender Herrlichkeit für die Armen, die Hoffnungslosen, die Ausgeblendeten, … dieses Morgenrot tatsächlicher Gerechtigkeit, unanfechtbarer Freiheit und bleibenden Lebens war Tag und Nacht, dreißig Jahre lang auf dieser Erde.
Dann kreuzigte man das Licht.
Aber so wenig wie wir je einen Sonnenstrahl fangen können, so wenig konnte das wahre Licht von der finsteren Gewalt der Sünde und der Sünder festgehalten oder gar ausgeschaltet werden. Das Licht brach durch die Nacht, die es erstickte. Und dann erleuchtete das endgültig aufgegangene Licht ununterdrückbar die sichtbare und die unsichtbare Welt, bis die Finsternis des Weltalls zum hellen Himmel wurde, erfüllt von dieser lebendigen und lebensweckenden Kraft, von der Lukas uns zu Weihnachten ebenso erzählt wie zu Ostern und zu Pfingsten, dem Tag, als das Licht in so vielen Menschen gleichzeitig aufflammte.
Lichtergeschichte ist die Apostelgeschichte des Lukas darum genauso wie sein Evangelium: Aber eben eine Lichtergeschichte, die nicht von strahlenden Helden oder glanzvollen Meistern unter den Schriftgelehrten, den Jüngerinnen und Jüngern oder den Aposteln erzählt, sondern von Menschen - teils aufgeklärten, teils wirklich undurchsichtigen -, denen der Glanz des einen, endgültigen, ewigen Lichtes erschienen ist und die es wegen seiner überwältigenden Herrlichkeit schlicht reflektieren mussten.
Lichtergeschichte ist also die Apostelgeschichte, …. oder wir könnten auch sagen: Der einleuchtendere Name für dieses Werk wäre eben doch Jesus-Spiegel oder Christus-Reflektion. Die Geschichte, wie der Glanz von Jesu Liebe und Lebendigkeit sich auf den Zügen von Menschen zeigte, ja, wie er in Menschen zündete und sie transparent für ihn machte! ——
Darum kommt nun auch jener Saulus, von dessen tödlichen Absichten und rettendem Sturz, von dessen Tücke, Hilflosigkeit und Rehabilitation im Kreis seiner Opfer wir doch heute im Predigttext hörten, in der Predigt kaum vor.
Wir kennen ihn als evangelische Christen ja gut genug: Unser einsam leuchtender Fixstern, dessen ganz individuell gefasste Rechtfertigungslehre es in den reformatorischen Köpfen zu einer jahrhundertelangen Verzögerung bracht, bis aus der von Paulus vermeintlich beantworteten Frage „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ die Unruhe wurde: „Und wie kriegen Andere einen gnädigen Gott? Wie erfahren Alle von der Gnade Gottes?“
Ausgerechnet die evangelischen Paulusschüler waren wirkliche Nachzügler im Begreifen, dass Christentum Mission bedeutet.
Das aber ändert sich heute vielleicht deshalb wieder, weil wir das Unaufgebbare, das Unverzichtbare an der Hoffnung für alle empfinden, die nicht vom Frieden des Einzelnen mit seinem Gott in den Hintergrund verdrängt werden darf!
Die Lichtergeschichte, die den verfinsterten Saulus tatsächlich leiblich sehunfähig machte, bis ihm mit der Taufe aus verachteten Händen die Erleuchtung geschenkt wurde, dass man Jesus nicht verfolgen, nicht überwinden, nicht ausschalten kann, weil man überall Ihn finden wird, wo man auch hinschaut, … weil man, sobald man einen Menschen erkennt, gerade auch die Liebe Jesu zu diesem Menschen erkennt … und weil man von dieser Liebe, diesem Licht, diesem Jesus eben selbst auch durchdrungen wird, wenn man die Welt auch nur irgendwie oder sogar insgesamt wahrnimmt ……. diese Lichtergeschichte ist die entscheidende Botschaft für uns hier und jetzt.
… Sie ist die Mission, die uns Hoffnungsverlierer, uns Glaubensverabschieder, uns Schwarzseher und Weltaufgeber, uns Zeugen radikaler und restloser Zukunftsdunkelheit treffen und entzünden muss und wird … wie das für die Lichtdurchflutung und Weltaufhellung auserwählte Werkzeug Paulus.
Auch uns – das ist die Hoffnung und die Wahrheit dieser Tage – auch uns nämlich wird es nicht möglich sein, Jesus zu dämpfen, … wie trüb wir auch tun mögen.
Auch uns, in diesen Tagen wird durch Ihn das widerfahren, was der Prophet in der Schriftlesung (Jes.29,18ff) uns verheißen hat:
„Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches
und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen,
und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN
und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.
Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen
und mit den Spöttern aus sein,
und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten.“
Das ist die globale Hoffnung.
Das ist Jesu Lichtgeschichte für Alle!
Amen.
11.So. n. Trin., 28.08.2022, Stadtkirche, 2.Samuel 12, 1 - 15, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 11.S.n.Trin. - 28.VIII.2022
2.Sam.12 i.A.
Liebe Gemeinde!
Gleichniserzähler sind vorsichtige Kämpfer. Ihre Waffe kann ganz harmlos wirken, wie irgendein alltägliches Werkzeug. Aber wer eine Gleichnisgeschichte richtig auffasst, merkt – wenn er selbst nämlich nicht stumpf ist –, dass es sich dabei um eine geschliffene Pointe handelt, um eine Spitze, die trifft. Aus einer gewöhnlichen Begebenheit wird durch eine rechte Gleichniserzählung der geschärfte Blick für die Wahrheit.
Nun bin ich kein begnadeter Gleichniserzähler wie es viele Rabbiner von der Antike bis heute waren, die Banales zu schildern und darin Heiliges zu veranschaulichen wussten; ich bin auch kein Weiser wie der Dichter Lessing, der mit seiner Fassung des Drei-Ringe-Gleichnisses die Menschheit vor eine unlösbare Schiedsaufgabe in Sachen Religionsstreit gestellt hat; auch bin ich kein Parabeldichter, dessen politischer Widerstand sich wie bei Bertold Brecht in Kurzgeschichten reiner Unauffälligkeit kleidet, um unbemerkt an aller Zensur vorbeizukommen und dann in’s Schwarze zu treffen; am allerwenigsten bin ich natürlich ein Prophet Nathan oder Jesaja oder Jeremia … oder ein Rabbi und Zimmermann aus Nazareth, der das Reich Gottes auf dem Acker, bei der Bauernhochzeit und in galiläischen Kleinstadtgeschichten für alle Welt fassbar gemacht hat.
Wenn ich ein Gleichnis erzählen wollte, würde es hinken und sich in einem unnatürlich auf-gesetzten Kostüm sofort verraten.
… Meine Geschichte von den bequemen Leuten, die es gern warm haben wollten und sich deshalb von einem entfernten Ort das Feuer an den Ofen tragen ließen ohne zu fragen, aus welchem Inferno die Flamme wohl stammte und ob der Wärmebote nicht vielleicht unterwegs versehentlich oder voll tückischer Absicht alle Nachbarhäuser lichterlohn in Brand stecke, … mein Gleichnis von den Toren, die an frostigen Tagen dennoch 22 Grad haben wollten und dadurch unwillkürlich an einem höllischen Feuer mitschürten, das ihnen selbst das Feld und den Wald verwüstete, … das würde jeder sofort gelangweilt durchschaut und vergessen haben: So töricht wie in dieser Geschichte sind die Menschen doch nicht …….
Und darum – weil kein Gleichnis, das ich spinnen könnte, uns wohl helfen würde – … darum stehen wir in Jerusalem. Dem Ort, der vor Gott alle Orte vertritt und alle Menschen verbindet. Wir stehen in Jerusalem.
Wo man tuschelt. Weil alle wissen, dass Macht - sogar die Macht der Guten! - Menschen zerstört: Die reine Möglichkeit von etwas wird in den Händen der Mächtigen, denen nichts und niemand sich in den Weg stellt, zu seiner Wahrscheinlichkeit, nein: zu seiner Verwirklichung. Wenn ein Machtmensch etwas Begehrenswertes sieht, dann muss er sich nicht verzehren danach, … nicht davon träumen, … sich in den Träumen nicht ausmalen, wie es wohl wäre … Nein: Er reißt es an sich. Ein Stück Land. Einen Schatz. Eine Schönheit. Wie der König David jene betörende Bathseba, die er im Bade beobachtet hatte (vgl.2.Sam.11). Der Bauernbub aus Bethlehem, der auf den einsamen Triften mit seinen Schafen vermutlich noch manchmal hungerte, … der Bandenführer in der Wüste, der für seine Schar betteln oder stehlen musste (vgl.1.Sam.21; 25; 27,9), er konnte auf dem Söller seines Königshauses in Jerusalem jeden Appetit stillen: Also musste Uria, der Soldat, der Mann der Bathseba meuchlings sterben, weil David sie wollte.
… Das ist das heillose Unrecht, ja, der Fluch der Macht: Zu können, was man will! – Und das ist ja auch der Fluch unseres kranken Denkens geworden, dass wir sagen: Was man nur will, das kann man auch!
In Jerusalem brodelt die Stadt, weil es sich so gerade nicht leben lässt: Unbeschränktes Wollen, unbegrenztes Können sind nicht Freiheit, sondern Verdammnis. Ein Mensch, der kriegt, was immer er verlangt, wird zum Unmenschen. Ein Volk, das einem Wahn von Allmacht unterliegt, ist von Innen dem Unaufhaltsamen ausgeliefert. ——
Was aber begrenzt den Menschen?
Welches Gleichnis findet sich für die Schranke, die es braucht, um uns vor dem totalen, dem absoluten, dem losgelösten Menschenspleen, dem Übermenschen, dem Menschengötzen zu bewahren?
… Ist es die Bindekraft des Gesetzes, für die Franz Kafka so einprägsame surreale Gedankenbilder gefunden hat?
Oder kann der Mensch nur durch Angst im Zaum gehalten werden …, womit wir bei Luthers altem Vergleich wären, der im Menschen ein störrisches Lasttier sah, dass entweder von Gott oder vom Teufel geritten werden muss. —
… Was nimmt dem Menschen die schreckliche Allmöglichkeit, die ihn verdirbt?
… Wir stehen in Jerusalem, in Davids Kreml.
Wir hören Nathan vor der Tür zum Thronsaal schwer atmen: Er, der Prophet, dem der König gerne sein Ohr lieh, hatte vor Kurzem noch die unbeschränkte Heilszusage Gottes für das Haus Davids auszurichten. Gott versprach dem Nachkommen Davids: „Ich will sein Vater sein und er soll mein Sohn sein“, so dass das Königtum des Knaben aus Bethlehem in Ewigkeit bestehen wird (vgl. 2.Sam.7, 14-16). … Solche Verheißung im Superlativ – ein Versprechen, das dreihundert Jahre später bei Jesaja so zentral werden sollte, dass wir noch heute keine Adventszeit, kein Weihnachtsfest erleben, in denen nicht die unerschütterliche Hoffnung auf den Davidssohn als Garantie des Heils begegnet – … solche Verheißung im Superlativ, die Nathan überbracht hatte, muss ja wahrhaftig wie eine toxisch-tyrannische Überdosis auf den großen König gewirkt haben. … Grenzenloses Heil hat Gott an ihn geknüpft, grenzenlose Hoffnung. Kein Wunder, wenn seine Hybris in’s Gewissenlose schoss.
… Zu große Gaben Gottes an einen bloßen kleinen Menschen aus dem kleinen Bethlehem Ephrata! … Zu viel göttlicher Vertrauensvorschuss in’s Menschliche. … Gott zu sehr auf Menschenwegen!
… Nun also muss Er donnern wie Kollege Zeus, damit der Zwergenkönig sich gebührend fürchtet und demütigt! Nathan muss jetzt den Menschen also stutzen, den Gott wohl doch zu sehr erhöht hat, dem Gott wohl doch zu weit entgegenkam! Der Mensch muss seine Grenze am Übermenschlichen finden; er muss scheitern an der überragenden Größe Gottes! …
Wir stehen mit Nathan auf der Schwelle, Aug’ in Aug’ mit der Hybris der Menschenmacht.
Welches Gleichnis wird er finden? – „Gedenk’, dass Du nichts bist als eine Blume des Feldes, die heute blüht und sprosst, morgen aber welkt und verdorrt! Gott ist Dein Töpfer, du irdenes Gefäß, der Dich auch wieder zerschlagen kann! Er kann Dich löschen wie die Schrift an der Wand, … Er kann Dich wechseln wie ein Gewand, … kann Dich und alle Bewohner der Erde dahinsterben lassen wie die Mücken. Mensch!, - König! - Geschöpf! - Dich begrenzt der Tod!“ …….
Wir stehen hinter Nathan, der jetzt Blut, Blitz und Feuer aufbieten muss, Grimm und Panik.
Er muss dem ohnmächtigen Beherrscher von Saporischschja, dem Möchtegern-Gott, der so schrecklich über das Gedeihen und Verderben anderer gebietet, die unüberschreitbare rote Linie aufzeigen und ihn vernichtend in die Schranken weisen. Es muss eine Strafrede werden, von der man über Jahrtausende noch sprechen wird, weil sie so gebieterisch überwältigend war. …
… Doch Gott hat die Zukunft keinem Demosthenes und keinem Cato, keinem großen Rhetoriker oder Rabulisten auf der Rednertribüne, keinem geifernden Robespierre, auch keinem Garibaldi oder Spurgeon oder Lenin oder Roosevelt - oder wie die gewandtesten Überredungs-, Verführungs- und Begeisterungskünstler der Welt sonst noch heißen - überlassen!
… Stattdessen spricht Gott durch Gleichniserzähler, … vorsichtige Kämpfer, die im Einfachsten das Entscheidende berühren.
… Als Nathan nämlich endlich anhebt – jene Rede, die den Hochmut, die Anarchie, die Sünde des von Gott erwählten Menschen endgültig begrenzen soll! –, … da erzählt er von einer ganz gewöhnlichen kleinen Familie, … von sentimentaler Tier- und Kinderliebe, … und von der Störung dieses trivialen Idylls, in dem ein Armer neben seinen Kindern auch sein Schäfchen hätschelt, durch die dreiste Anspruchshaltung eines geizigen Wohlstandsbürgers. … Es hätte die Moralpredigt, … das reformatorische Fanal, … der weltwendende Basta!-Appell schlechthin werden müssen ……. und was wurde es?
– Ein seifenoperettenhaftes Nachbarschaftstheater!
Das soll den Titan, der glaubt, er dürfe alles, weil er alles kann, die Mores lehren? – Die Hinterhofgeschichte vom zärtlichen Zusammenleben von Mensch und Tier, das scheitert weil ein gefühlloser Grobian verächtlich darin eingreift? Eine solche Schmonzette, ein solches Herz-Schmerz-Rührstück soll es richten?
… O Gott! … Wie gutgläubig Du bist! … Wie sehr Du - „lieber“ Gott - im Ernst an die Liebe zu glauben scheinst?! Kannst Du denn keine gewaltigeren Argumente aufhäufen, um den Menschen zu bekehren, der sich an allem vergreift, der alles verdirbt, der alles vernichtet? Kannst Du nicht, … musst Du nicht - Gott - Deinen Zorn aufbieten, Dein Gericht und alle Verdammnis, statt an’s Gefühl, an’s Mitgefühl, an’s Mitmensch-Sein zu appellieren? …….
Doch auch wenn unsere, in diesen Tagen der Weltuntergangsdrohung beinah unerträgliche Spannung hier, an Nathans Seite so lächerlich entweicht wie die heiße Luft aus einem aufgeblasenen Ballon: Die biblische Überlieferung von der Strafe und Bekehrung des heiligen Königs David, der so ein erbärmlicher Sünder vor dem HERRN war, gewährt uns nicht die Flucht in den Gotteszorn, zu dem wir uns so gern als letzter Projektion versteigen, oder die Hoffnung darauf, dass eine jupiterhafte Gegenreaktion die unbotmäßigen Geschöpfe schon zerschmettern werde.
Gott, der im Gleichnis von dem verletzten weichen Menschenherzen an’s Gemüt greift, nicht aber zur Gewalt, … dieser Gott Abrahams und Davids und Jesu ist eben von altersher, seit Erschaffung der Erde ein Gott auf Menschenwegen.
Er verlässt sich nicht auf den Schrecken, den Er erregen kann – und doch wissen wir, dass Er schrecklich ist (vgl. Hebr.10,31!) –, sondern Er geht den Weg der Verlorenen seit dem Sündenfall so mit, dass Er sich an das Vertrauen wendet – Abraham! –, … dass Er Seine Leidenschaft für die Menschenkinder in ihrem Mitgefühl sucht – David, dank Nathans! –, … und dass Er schließlich die gesamte Menschennot, den Menschheitsschmerz, das Welt- und Höllengrauen nicht atomisiert, sondern annimmt, mitträgt, austrinkt, ausbadet, durchleidet und durchstirbt.
Gott ist so auf den Weg an’s Herz geeicht, … Er ist so hingebungsvoll entschlossen, nicht über Leichen zu gehen, sondern zu den Sterblichen, den Sterbenden, ja schließlich auch den Toten, dass die ganze biblische Heilsgeschichte ein einziges Gleichnis des göttlichen Machtverzichtes ist.
Immer ärmer wird unser Gott, immer schwächer, Der doch anfänglich eine Sintflut und einen Schwefelregen einsetzte, Der Unwetter, Verheerung und Plagen über die Sklaventreiber Ägyptens kommen ließ und noch in Sauls Tagen, kurz vor Davids Herrschaft einen Schrecken auf Israels Feinde, die Philister fallen machte (vgl.1.Sam.14,15!).
In der Nathansstrafpredigt aber ist das Ende der Rachezüge Gottes greifbar geworden: Er verändert Seinen erwählten und verirrten Knecht und König David nicht mehr durch Einwirkung auf dessen Furchtinstinkte, sondern dadurch, dass Davids Herz in Mitleid schmilzt: Er spürt das Leid des Armen, dem das Lämmchen genommen wurde. … Er fühlt!
… Und als dieses Gefühl nun David zu einem Racheschwur hinreißt – „Der Mann ist ein Kind des Todes, der solches Unrecht tat!“ –, da bricht der heiße Vergeltungsdrang unter dem einfachen Wort zusammen, das alle Verbundenheit der Welt enthält:
„Der Mann ist ein Kind des Todes!“, empörte sich der König, dem die Macht vergehen sollte.
„Du bist der Mann“, entgegnet der Prophet.
… Und da ist die Macht, die Allmachtsphantasie, das Übermachtgehabe gebrochen.
David hat untrüglich gespürt, was ein Anderer – und sei’s auch nur im Gleichnis! – erlitten hat. Und er hat erfahren, dass er in nichts von diesem Anderen und seinem Schmerz verschieden ist. Er nahm am Verlust des armen Lämmchenvaters teil. Und so erfuhr er, dass die bittere Sterblichkeit, die dem Unschuldigen so viel Schmerz bereitete, als man seinen Liebling nahm, nicht nur eine Strafe sein kann, die allein dem Schuldigen droht.
Der Schmerz des Verlustes, den er so tief mitfühlte, hat David verändert.
Und die Schuld, die aus ihm - der der Richter sein wollte - einfach einen „Mann“, einen Mitmenschen machte - „Du bist der Mann!“ -, hat David verändert.
… Die Lehre also vom allseits geteilten Leid der vielen Kinder des Todes, zu denen alsbald sein eigenes Kind von Bathesba gehören sollte und in späterer Zeit einmal auch der Davidssohn, der das einziggeliebte Kind Gottes sein würde … diese Lehre vom allseits geteilten Leid der Kinder des Todes, die doch Gottes Kinder sind: Sie ist es, die den David veränderte; sie ist es, die den Menschen begrenzt!
Unser Mitmensch begrenzt uns!
Die Liebe zu ihm begrenzt uns!
Das Leiden mit ihm, … das Leiden um ihn, … das Leiden für ihn, begrenzt uns! ——
Das ist die Hilfe, die das schlichte, anrührende Gleichnis Nathans auch unserer Zeit bietet, in der die Hybris, die Großmachtsucht, der Allmachtswahn ein solch abgründiges Verderben bereiten: Kampf, Gewalt und Kräftemessen bis auf den Tod sind - Gott sei’s geklagt! - zwar vorerst wieder unumgänglich geworden, als seien wir in den Tagen der Sintflut oder der primitiven Eroberungszüge bei der Landnahme und Wanderung der Völker des Altertums.
Doch der Weg zu Gottes Zielen geht nicht über diese längst absurd gewordenen Verirrungen.
Den Weg Gottes geht nur, wer fühlt, was die Menschen fühlen, was ihnen fehlt, woran sie kranken, wodurch sie leiden, womit ihnen geholfen werden kann.
Wenn unsere Herzen das spüren und wir so leben, dann werden wir selber zu Gleichnissen: Zu Gleichnissen Gottes, in Dessen Ebenbild wir erschaffen sind und von Dem es in der Stunde Seiner höchsten Liebe nicht hieß – „Da, der Allmächtige!“, sondern „Sehet, welch ein Mensch!“ (vgl. Joh19,5).
Amen.
Israelsonntag, 21.08.2022, Matth.5,17-20, Mutterhauskirche, Dr. Katrin Stückrath
Amen, liebe Gemeinde!
Jetzt wundern Sie sich vielleicht und denken: Wieso fängt die Pfarrerin eine Predigt mit Amen an? Das kommt doch normalerweise am Schluss! Ist die Predigt jetzt schon zu Ende?
Nein, liebe Gemeinde. Ich beginne nur meine Predigt heute mit dem Amen. Genau wie Jesus es tut in dem Abschnitt, über den ich heute erzählen will. Er beginnt mit Amen und leitet über zu einem Teil der Bergpredigt, wo Jesus einige der 10 Gebote und andere Gebote auslegt.
Er gibt dieser Auslegung eine Überschrift, die lautet:
17Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.
Hier erklärt Jesus seine Mission. Ich bin nicht der, der die Heiligen Schriften auflöst. Man kann hier auch „zerstören“ übersetzen. Zum Wegwerfen seiner Tradition ist Jesus nicht angetreten. Stattdessen: Er ist gekommen, um zu erfüllen. Das soll wohl bedeuten, dass er sich daran hält, was im Gesetz und in den Propheten geschrieben steht. Er zeigt sich als ein normaler Jude, der als Jugendlicher lernt, in den Heiligen Schriften zu lesen, sie auch vorzulesen im Synagogengottesdienst. Der Bar Mizwa feiert ähnlich wie die Konfirmation und damit ein „Sohn des Gesetzes“ – das heißt Bar Mizwa, wird.
Jesus ist nicht gekommen, um das Gesetz zu zerstören, sondern um es zu erfüllen. Darin steckt mindestens noch ein zweiter Sinn: In der hebräischen Bibel – wir kennen sie als Altes Testament - stecken viele Verheißungen Gottes. Vielleicht will Jesus auch andeuten, dass er diese Verheißungen der Liebe Gottes, der guten Zukunft, des Friedens, verkörpert. „Erfüllen“ heißt hier mehr als „befolgen“, es heißt auch „zur Fülle bringen“.
Soweit also zu unserer Überschrift des zweiten Teils der Bergpredigt (zu lesen bei Matthäus im 5, Kapitel ab Vers 17). Dann legt Jesus los:
18 Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.
Auch wenn Jesus es sagt, ist es uns etwas fremd, dass das Amen das erste Wort ist und nicht das letzte Wort. Im Judentum zur Zeit Jesu wurde das „Amen“ meistens als Antwort benutzt. Wenn jemand einen anderen Gott loben hörte, antwortete er mit Amen und stimmte so in den Lobpreis Gottes ein. Genauso machen wir es eigentlich bis heute im Gottesdienst. Ich spreche ein Gebet - und die Gemeinde antwortet mit Amen. So sollte es sein. Wenn die Pfarrerin im Gottesdienst die einzige ist, die immer das Amen spricht, ist das eigentlich nicht richtig. Ich habe in der Ausbildung noch gelernt: „Das Amen gehört der Gemeinde.“ Denn wörtlich ist „Amen“ eine Bestätigung. Es bedeutet: „Ja, wahr ist es.“ Da merken Sie, dass das Amen der Gemeinde gehört, sonst würde sich die Pfarrerin nur selbst bestätigen. Nach dem Motto: „Recht habe ich.“ Ob ich recht habe, ob Sie das bestätigen möchten, das liegt bei Ihnen.
Andere Bedeutungen, die beim „Amen“ auch noch mitschwingen sind: „Verlässlich ist es und treu.“
Und das will Jesus hier auch sagen: Die Verheißungen Gottes, die niedergeschrieben sind im Gesetz und in den Propheten, sie sind treu und ich bin ihnen auch treu. Ich löse sie nicht auf. Ich erfülle sie. 18 Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.
Liebe Gemeinde, jetzt halte ich mich einmal mit dem Kleinsten auf: Für „kleinster Buchstabe“ steht im griechischen Text: Jota – das kann einem auch im Deutschen begegnen, es bedeutet „Etwas sehr Kleines bzw. Geringes, in Anlehnung daran, dass der Buchstabe Jod das kleinste Schriftzeichen des hebräischen Alphabets ist.“ Das Jota, der Buchstabe joder i ist im Hebräischen nur ein Häkchen. Und weil die Hebräer lieben, alles in Parallelismen zu sagen, fügt Jesus zu dem Jota noch hinzu: „und kein Häkchen“.
Hier wurde ich neugierig, wie der alte Luther selbst diese Stelle übersetzt hat und schaute in die Lutherbibel von 1536. Da steht: „Denn ich sage euch wahrlich (so hat Luther das Amen übersetzt mit wahrlich) bis das himel und erden zurgehe, wird nicht zurgehen der kleinest buchstab noch ein tüttel vom gesetz, bis das es alles geschehe.“ Das Wort Tüttel für Häkchen kannte ich noch nicht, fand ich süß.
So jetzt wende ich mich aber wieder dem Großen zu. Also, das ganze jüdische Gesetz soll gehalten werden, solange die Erde besteht. Jetzt kommt der zweite unseres Predigttextes. Da spricht Jesus vom Himmelreich. Das ist etwas schwer zu fassen. Einerseits sagt Jesus, es kommt. Andererseits ist es auch schon da. Und zwar mit seiner Person. Wo Jesus ist, da ist schon Himmelreich könnte man sagen. Und wo 2 oder 3 Menschen in seinem Namen versammelt sind, da kann auch Himmelreich sein. Jesus sagt:
19Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.
Das heißt: Wer ein Gebot des Alten Testaments auflöst, soll keinen Ruhm bekommen. Sondern wer sie tut und lehrt.
Wenn ich mal so überlege, was wir lehren von den Geboten des Alten Testaments, so fallen mir und Ihnen wahrscheinlich auch, zuerst die 10 Gebote ein. Die muss jeder Konfirmand / jede Konfirmandin bis heute lernen. Und sie sind so etwas wie eine Zusammenfassung der allerwichtigsten Gebote. Ja, die 10 Gebote lehrt unsere evangelische Kirche bis heute.
Aber was ist mit den anderen Geboten? 613 Gebote zählt das Alte Testament insgesamt. Da sind auch viele, die gelten für uns nicht mehr: Speisegebote, Festtagsgebote, Opfergebote, Sklavengebote, Ehegebote. Dürfen wir die einfach auflösen oder laufen wir Gefahr, am Ende die Kleinsten im Himmelreich genannt zu werden?
Wir geraten hier mitten in die wichtigste Diskussion der ersten Christen darüber, was für sie gelten sollte. Die einen sagten: „Jesus hat sich immer an alle Gebote gehalten, wir sollten das auch tun.“ Die anderen sagten: „Jesus selber hat aber auch gesagt: ‚Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst. Das ist das ganze Gesetz und die Propheten.‘ Das heißt doch wohl, wenn die Liebe unser Maßstab ist, können wir nichts falsch machen, auch wenn wir nicht die Speisegebote halten und anderes.“
Sie dürfen raten, welche Gruppe sich irgendwann durchgesetzt hat. Richtig, die zweite. Wir Evangelischen sagen: „Wir halten uns nicht wörtlich an alle Gebote der Bibel, aber wir legen sie im Geist von Jesus, im Geist der Liebe aus. In diesem Sinne gelten sie immer noch für uns, dass wir sie lesen, bedenken und so versuchen in unser Leben zu übertragen.“
Jetzt kommt der letzte Satz in unserem Predigttext, der zugleich der steilste Satz ist:
20Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.
Ui ui ui - eben liefen wir noch Gefahr, die Kleinsten im Himmelreich zu werden und jetzt kommen wir gar nicht hinein? Was oder wen kritisiert Jesus da? Er hat ganz viel mit Schriftgelehrten und Pharisäern diskutiert. Das war kein Streit, das war ganz normale Auseinandersetzung damals. Es ist deshalb schwierig, dass Luther oft übersetzt hat: Die Schriftgelehrten wollten Jesus versuchen. Als ob sie ihn in Versuchung führen wollten. Nein, sie wollten ihm einfach eine interessante Frage stellen, ihn auch ein bisschen herausfordern, wie das unter den Schulen der Rabbiner üblich war. Also die Schriftgelehrten und Pharisäer sind die Gesprächspartner von Jesus. Sie standen voll auf der Seite des jüdischen Gesetzes. Gerade die Pharisäer versuchten, die Gebote Gottes voll und ganz in ihrem Alltag unter zu bringen, sie wirklich zu befolgen.
Jesus aber legt den Maßstab noch höher, wenn Sie die Bergpredigt ganz lesen, dann merken sie das. Er nimmt die Gebote und radikalisiert sie noch. Ich glaube, dass soll heißen, dass wir uns nie mit einem Gesetz zufrieden geben sollen. Wir sollten immer fragen: Können wir noch mehr tun? Reicht es, keinen Menschen zu töten? Oder müssen wir nicht auch dafür sorgen, dass er leben kann, und zwar so gut leben wie wir? Reicht es, keine Ehe zu brechen oder sollen wir nicht auch mit allen anderen Beziehungen sorgsam und vorsichtig umgehen? Reicht es nicht zu stehlen, oder sollten wir nicht auch in unserer globalen Wirtschaft darauf achten, dass niemand ausgebeutet wird? Sie merken, mit dem Gebot alleine ist es nicht getan. Ich glaube, das will Jesus uns hier sagen.
Dieser letzte Satz von Jesus: 20Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. - wurde natürlich gerne missverstanden. Nach dem Motto: Natürlich sind wir besser als die Juden, schon weil wir ja an Jesus glauben.
Der liebe alte Luther, der die Bibel so schön übersetzt hat, war gar nicht lieb zu den Juden seiner Zeit. Er hetzte gegen sie. In seiner Bibel von 1536 schrieb er zu diesem Bibelvers, von dem ich gerade spreche, eine Bemerkung an den Rand: „Der Phariseer fromigkeit stehet allein in eusserliche wercken un schein, Christus aber fodert des hertzen fromigkeit.“
Hier wirft Luther den Pharisäern vor, dass sie sich nur formal an das Gesetz halten und auch nur zum Schein. Sie seien also Heuchler. Christus aber fordere des Herzens Frömmigkeit. Hier arbeitet sich Luther eigentlich an der Kirche seiner Zeit ab. Er predigte ja immer wieder: Es geht nicht um Werke wie Fasten um sich Gottes Gnade zu verdienen, es geht eigentlich nicht darum, die Gebote zu befolgen, sondern auf den Glauben kommt es an. „Innerlichkeit“ sagt Luther hier.
Im Prinzip wirft Luther in seiner Randbemerkung die Pharisäer mit den Anhängern des Papstes in einen Topf. Und das machten viele in seiner Zeit und die Juden wurden sehr bedrängt, beschimpft als solche, die nur Werke tun, aber keinen Glauben haben. Das geschah viele Jahrhunderte lang. Und als die Nazis 1938 Synagogen anzündeten und Tora-Rollen verbrannten, sagten sich viele Evangelische: Das ist ja nur das jüdische Gesetz, was da brennt, das gilt ja für uns nicht mehr.
Ein schrecklicher Fehler. Denn das jüdische Gesetz ist eben die Tora, es sind die 5 Bücher Mose. Wenn wir das zerstörten, hätten wir keine Schöpfungsgeschichte mehr, keine Arche Noah, keine Abraham und Sarah, keinen Jakob und keinen Josef, kein Volk, das mit Mose entdeckt, dass Gott die große Befreiungskraft ist. Ja, ich kann sagen, ich liebe das jüdische Gesetz, die Tora, und in großen Teilen halte ich mich daran. Ich liebe auch unser Neues Testament. Aber genau wie Jesus kann ich mir einen Glauben ohne das Alte Testament nicht vorstellen. Sonst wüsste ich gar nicht genau, wie dieser Gott ist, den Jesus Vater nennt. Sonst würde mir so vieles fehlen. Nein, lasst uns kein Jota, kein Häkchen, kein Tüpfelchen und keinen Tüttel von der Tora wegnehmen. Sie sollen alle bestehen, gelesen werden, ausgelegt, diskutiert, aktualisiert und dann im Geist der Liebe befolgt werden.
Was darf die Gemeinde jetzt sagen?
Genau: Amen.
9. S. n. Trin., 14.08.2022, Stadtkirche, Matthäus 13, 44-46, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 9.n.Trin. - 14.VIII.2022
Matthäus 13, 44-46
Liebe Gemeinde!
Jesus hat mich predigen hören, letzte Woche: Das steht ja sowieso fest. … Er hat also gehört, wie hier einer das wichtig und richtig scheinende Evangelium des Anti-Materialismus zu formulieren versuchte. … Und weil Er Jesus ist und weil Er die Überraschung über alle Überraschungen ist, weil Er die Freiheit des Geistes besitzt und die völlige Wahrheit offenbart, die all mein Versuchen und Begreifen übersteigt, darum setzt Er heute die Predigt von vor einer Woche außer Kraft.
„Der Materialismus wird Euch retten“, ruft Er heute. „Predige Du also mal gefälligst das!“, sagt Er!!? …
… Und ich sehe es.
Ich sehe, wie das, was die Welt unter unseren Händen und vor unseren Augen im Zeitraffer zerstört, gleichzeitig der Hebel unserer Hoffnung ist: Wenn diese nach den jüngsten Einschränkungen wieder so hemmungslos verzehrende Lust auf’s Genießen und Auskosten nicht wäre, wenn die Menschheit also die Lektion gelernt hätte, was sie sich alles abschminken muss – sie hat sie aber erkennbar nicht gelernt! –, dann würde vermutlich jedes Band zwischen der brennenden Erde und dem brandstiftenden Menschen zerreißen.
Wenn wir nicht alle wieder das Gefühl hätten, wie es uns hinauszieht zu den Flecken, die für uns etwas jeweils Paradiesisches haben, wenn wir also das notwendige Ende unserer vernichtenden Reisewut beherzigen könnten, dann würden allzu viele von uns wohl auch das letzte Interesse am Erhalten und Bewahren dieser Erde verlieren.
Wenn wir wirklich aufhörten, selber Abwechslung und Freude, Befriedigung und Wertvolles in diesem Dasein zu verlangen und zu suchen, dann liefe die sich ergebende Schonung der ausgelaugten Welt vermutlich auf ihre ungerührte Preisgabe hinaus. …….
Die abstoßende Logik des „Wenn ich’s nicht haben kann, soll’s auch niemand sonst haben!“ beschreibt also nicht bloß den Zynismus des egoistischen Menschen, sondern sie weist uns zugleich auf das Versteck seiner Moral hin: Gepackt bei seinen eigenen Wünschen kann der Mensch Gutes bewirken, das über den eigenen Appetit weit hinausgeht. —
Wenn die Menschheit etwas will, dann wird sie auch etwas dafür tun: Diese ernüchternde, aber auch erhebende Erkenntnis ist weder neu, noch originell. Wir verdanken sie Jesus genauso wenig wie Buddha; sie ist in allen Schichten unserer Erfahrung und unseres Verhaltens aufzuspüren.
Wenn wir heute aber eine solche Lethargie, eine solche Lähmung feststellen müssen, zu retten, was sich in der vergifteten, in der ausgeweideten und überstrapazierten Natur noch retten lässt, dann stoßen wir tatsächlich auf ein noch tieferes Problem als die ohnehin schon abgrundtiefen Probleme des ökologischen Kollapses. Die Menschen scheinen den ganz egoistischen, man könnte auch sagen den „ganz natürlichen“ Willen verloren zu haben, weiterhin Glück und Gutes zu erfahren. Denn so töricht, so verblendet, zu meinen, für ihr Glück und ihr Vergnügen werde der verschwindende Rest an Lebensraum und Lebenswert noch ausreichen, … so verblendet, so töricht können Millionen Menschen der westlichen Welt ja nicht im Ernst sein. Jeder muss inzwischen doch erkennen, dass sich die Dinge so rasend und grausam zum Schrecklichen verändern, dass wir selbst uns jetzt wirklich noch schneller ändern müssen … um des Guten willen, um unseres eigenen Wohles und Wohlstands willen!
Wo dieser ganz eigensüchtige, lebenserhaltende Reflex aber ausbleibt, da ist etwas im Argen. Da ist der Arge am Werk, um es in der gegenwärtig nicht unangemessen apokalyptischen Sprache der Bibel zu sagen: Das Ende des menschlichen Lebens- und Überlebenswillens, das uns in der hoffnungs- und taten- und also auch widerstandslosen Apathie der jüngsten Zeit aus leeren Augen wie aus einem Totenschädel entgegenstiert, ist satanisch!
Wir müssten mit so vielem aufhören, einfach nur, um mit allem weitermachen zu können!
… Warum bewegt uns das nicht? … Wieso bewegen wir uns nicht?? ——
Psychologen, Zeithistoriker und andere Fachleute - vielleicht sogar Politiker?! - werden ihre eigenen Antworten auf das Rätsel der abgestumpften Katastrophengenossen haben.
Ich bin bloß ein Pfarrer, dem Jesus nachsichtig, aber auch voller Kritik beim Predigen zuhört und der seinerseits nichts anderes als Jesus hören will. Und so ist meine Antwort klar zu finden: Warum wir so teilnahmslos bleiben, wenn das Leben in höchster Gefahr ist, … das muss damit zusammenhängen, dass wir den Lebenssinn, dass wir das Gespür für’s wirkliche Leben verloren haben. Dieses wirkliche Leben aber, das wir nicht mehr ahnen und darum auch nicht erreichen, nicht erhalten wollen, … das ist buchstäblich der verborgene Schatz, die in der Tiefe schlummernde Perle, nach denen Jesus uns voller materialistischer Jagd- und Sammelleidenschaft zu suchen auffordert.
Das versteckte wirkliche Leben, das unvorstellbar reiche und beglückende Leben, dessen Glanz und Schönheit uns überhaupt nicht mehr losließe, wenn wir’s nur entdeckten, … es ist von uns zwar ungehoben und unbemerkt, aber dennoch ist es kein Geheimnis.
Wozu sind wir denn geschaffen? Was ist denn unser Ziel?
… Wir sind dazu geschaffen, in Gottes Gegenwart zu existieren; wir sind ursprünglich und endgültig dazu bestimmt gewesen, die Fülle zu empfangen, die Gott mit allen Seinen guten und schönen Werken in sorgenlosem, sabbatlichem Segen teilen will (vgl.1.Mose 1,27-2,4!). Die dem ganzen Kosmos und in ihm darum auch dem Menschen angemessene Existenzform ist die paradiesische Harmonie, von der die Bibel auf ihren ersten (vgl.1.Mose1f) … und auf ihren letzten Seiten (vgl. Offenb.22, 1-5) blühend, leuchtend und heilend-heilig erfüllt ist. In dieser universalen und vollkommenen Fülle Gottes zu existieren und also nicht in Zwängen und Mängeln nach einem möglichst fetten Knochen, einer hoffentlich noch länger nicht ausgetrockneten Pfütze zu suchen, während andere schlicht darben und lechzend sterben müssen, das war und das bleibt die wahre Berufung der Nachkommen Adams und Evas.
Wenn wir es weniger von der ökologischen Seite des Paradieses her betrachten – wobei die Bibel wohlgemerkt mit solcher ökologischen Schöpfungslehre anhebt! –, wenn wir also die nicht-nur-sichtbare Seite der Vollkommenheit und des Heils bedenken, dann führt schon der natürliche Anfang der biblischen Offenbarung zum Himmelreich, also über die greifbare Natur hinaus, in die geistliche Herrlichkeit der Gottesgemeinschaft.
… Ob also materiell oder spirituell gesehen: Der Satz, der an anderen Orten und zu anderen Zeiten der elementarste Inhalt der christlichen Botschaft war und ist, ist bei uns so verschüttet, aber immer noch auch so kostbar wie ein unvorstellbarer Schatz. Der Satz: Wir Menschen sollen in der Vollendung des Lebens wieder zu Gott kommen und für immer bei Ihm sein. Wir Menschen sind bestimmt für’s Himmelreich.
Generationen vor uns war dieser eine - erste und letzte - Grundsatz des Glaubens ein unersetzlicher, aber gottlob auch in langen Jahrhunderten unverlierbarer Schatz. Dieser Satz machte reich in der Not und füllte in der Welt ungesättigte Herzen mit überirdischem Glanz. Aus diesem Schatz – dass uns das Himmelreich als unverlierbares Eigentum und Erbe erwartet – ließ sich das nehmen, womit die Mittellosen nicht mehr mittellos und die Unvermögenden nicht mehr kraftlos waren. Mit dem Himmelreich als ihrem Schatz haben sich Sklaven als Königskinder gewusst und Tagelöhner spürten, dass alle Herrlichkeit der Welt nichts wiegt im Vergleich zu dem Wert, den Gott ihnen - den armen Schluckern - zumisst. Den reichen Überfluss des Himmel-Reiches haben zahllose Geschlechter in ihren Gedanken und Anschauungen, in ihren Schöpfungen und Visionen, in ihren Seelenbilder und ihrem Herzenstrost gesehen, gekostet und geteilt. Sie konnten leben „als die Traurigen, aber allezeit fröhlich, als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben“ (2.Kor.6,10)! … Sie konnten leben, weil sie den Himmel hatten! … Und sterben auch!
Das „vorgesteckte Ziel, der Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus“, von dem die heutige Epistel (Eph.3,14) spricht, war tatsächlich der Grundstock ganzer goldener Epochen und ihrer Blüte, und war auch der Notgroschen, der Millionen im Elend vor dem gänzlichen Verkümmern bewahrte.
Das Himmelreich blieb Inbegriff des eigenen Lebenszieles und erzeugte zugleich die überwältigende Spannung im Herzen des vertrauten Hoffnungs- und Glaubenssystems.
Das Himmelreich! Die reinste Fülle, der flutendste Schimmer, der satteste Frieden, die lockendste Weite, das Schnurren und Jubeln der Seele, das tiefste Behagen ermüdeter Glieder, die trauteste Nähe, der bunteste Reigen, das tränenloseste Lieben, das mitfühlendste Haben, die heiligste Intimität, das unergründlichste Bedürfnisloswerden, das berauschendste Geistesleben, die nüchternste Übereinstimmung mit dem Ganzen.
Das Himmelreich! Wenn wir es in seiner Glorie betrachten, wie lieb und kostbar macht es uns dann nicht alles, was wir hier kennen, haben, gefährden und verlieren.
Das Himmelreich ist die Summe und Essenz aller nur denkbaren irdischen Vorgeschmäcker, es wird die Realisierung aller unserer biographischen Präludien sein, in ihm wird alles bewahrt und erneuert, wird alles geklärt und gewährt sein, was hier angedeutet, abgebrochen, unerfüllbar oder verdorben war.
Wie lässt also das Himmelreich nicht jenes sonderbare Wunderwort erstrahlen, das wir heute am liebsten auf alle Gegen- und Zustände, auf alle Erzeugnisse und Ziele der materiellen Prozesse unserer Welt anwenden: „Nachhaltig“. … So wie alles sein soll, gerade jetzt, auf dem Gipfel der Verbrauchs- und Vernichtungsorgien der Menschheit. Nachhaltig, unerschöpflich, ewig-neu, bleibend klar, zerstörungsfrei, wieder- und wieder- und wiederholbar ohne physische Abnutzung, ohne psychische Enttäuschung.
… „Nachhaltig“, … bleibendes Gut, … von unentwertbarer Herrlichkeit, … frisch noch nach aller Zeit: Genau das ist ja das Himmelreich, der Schatz, die Perle, die uns versprochen sind … und wir projizieren es auf Mandelmilch und Biosprit, auf Stromerzeugung und Verpackungskünste!
… Eigentlich aber müssten wir da doch merken, dass niemand wirklich so klar und sachlich von den Schönheiten der Erde, von Genuss und Köstlichkeit des Natürlichen, vom Reichtum der Welt schwärmen kann, wie solche, die nicht das Hiesige mit dem Himmel verwechseln, sondern denen die Erde schon die Lust auf’s Ewige und die Freude daran weckt! ——
Dass in unserer Kirche dieser Schatz - die Botschaft vom ewigen Leben - so gründlich veruntreut, so vergessen worden ist, dass wir uns dieses höchste Gut, dieses Pfand der zeitlichen und der überzeitlichen Seligkeit so haben aus der Hand nehmen lassen, bis schließlich ganz verschüttet war, was Gottes höchste Gabe ist, … das ist ein blöder und ein böser Jammer!
Aber es ist nicht zu spät, den Acker der biblischen Verkündigung und der kirchlichen Lehre – das eine der Mutterboden, das andere zum Teil die Steine darin – uns wieder zu anzueignen, wenn uns der Schatz darin deutlich wird. Es ist nicht zu spät, sich anstelle von wertlosen Imitationen und billigem Kram die unvergleichliche echte Perle des Glaubens zu leisten.
Wir müssen und wir können tatsächlich Jesu wunderbar materialistischen Appel an unser Wollen und Begehren hören: Wenn Ihr das Leben und seine Schönheiten, wenn Ihr die Werke Gottes und die Freude, die sie schenken, liebt, … dann lasst Euch das Himmelreich nicht nehmen!
Und wenn Ihr das Himmelreich, wenn Ihr die ewige Aussicht, Gottes Gaben zu teilen, … die Aussicht, ohne Schuld und ohne Schranken für immer vollstes Leben in und um Euch zu spüren, … wenn Ihr diesen einzigartigen Schatz, der Euch gehören kann, entdeckt habt, dann werdet Ihr das Richtige tun!
Dann gebt Ihr alles andere leicht her, weil Euch ja doch nichts fehlen wird.
Dann könnt Ihr sparen, weil Ihr wisst, dass Ihr auf Dauer verlustfrei bleibt.
Und so muss Euer Drang nach viel zu vielem Euch nicht mehr quälen, wenn gar nichts Euch entgeht, und Eure zerstörerische Gier kann verlöschen, weil der Genuss der Güte Gottes unendlich währen wird!
Die Verheißung, ja der Vorgeschmack des ewigen Lebens – so lang verpönt als Trostplacebo der Hungerkünstler, als aggressive Weltverachtung der Glücksunfähigen und als asketisch-unzufriedene Lebensverneinung für chronisch Zukurzgekommene – … die Verheißung und der Vorgeschmack des ewigen Lebens offenbaren sich also als die praktische Gestalt ganz materieller Vernunft und Notwendigkeit für heute!
Verzicht um der Zukunft willen, … Entsagung, die rettet, … ein Fasten, eine Keuschheit, ein Warten auf Erfüllung, das bloß dem Leben dient: Alles das, was sich heute konkret und nachhaltig als Lebenshaltung und Existenzform für die Menschheit aufdrängt, ist längst vorgebildet in der Nachfolge Dessen, Der uns aufruft, mit unserer Lust am Leben ernst zu machen und darum alles auf Sein Reich zu setzen.
Weil das also unser Antrieb sein darf, ja sein muss – dass wir gar nicht genug von der Herrlichkeit und Freude der Geschöpfe Gottes kriegen können, … dass wir immer mehr, ja grenzenlos viel vom Paradies, das Er uns geschenkt hat, entdecken wollen, … dass wir Zeit in Fülle von Ihm begehren und ein Miteinander-Teilen ohne Einschränkung und ohne Abschied erleben wollen – … weil alles das nicht nur unser Wunsch ist, sondern mehr noch Seine Zusage, darum müssen die Himmelreichs-Leute, darum müssen die Christenmenschen in dieser Gegenwart den Lebensmut und die Hoffnung für das Leben aufrecht halten.
Wenn viel zu viele andere offensichtlich nicht mehr sehen können, worauf noch zu hoffen wäre, wenn sie nicht mehr wissen, wie sich die Freude des Lebendigseins anfühlt und wie urgewaltig der Drang nach echtem, tiefem, weitem, langem, reichem Leben-Dürfen wirkt, dann müssen und können wir als die Gemeinde Jesu nur aus Seinem Vollen vorleben:
Dass es sich wahrhaftig lohnt, die Zukunft sehen zu wollen.
Und dass wir dabei nicht nur überleben, sondern sogar ewig leben sollen.
Weil dieser Schatz im Acker verborgen ist, der allen gehören wird, die nach ihm verlangen.
Diese Perle, die wertvoller ist als alles andere.
Leben aus dem Gnadenreichtum Jesu Christi … das Leben im Himmelreich.
Amen.
8.n.Trinitatis, 07.08.2022, Stadt- und Jonakirche, Markus 12, 41 - 44, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth und Jonakirche 7.VIII.2022 - 8.n.Trin.
Markus 12, 41 – 44
Liebe Gemeinde!
Auf der Central Line der Londoner U-Bahn, gerade wenn man die Haltestelle St.Paul’s in östlicher Fahrtrichtung verlassen hat, kommt eine bemerkenswerte Kurve. Die Bahn liegt ziemlich schräg auf den Gleisen und sie quietscht dabei ungeheuerlich. Der Grund dieser seit hundertzwanzig Jahren störend auffälligen Streckenführung ist tatsächlich bemerkenswert: Als man 1899 die Tunnel grub, war an dieser Stelle keine gerade Linie zu ziehen, weil dort die tiefen Tresore der Bank of England liegen, die zur vorletzten Jahrhundertwende noch bis unter die Decke mit Goldbarren gefüllt waren. Das Pfund Sterling war ja damals - wie auch die Reichsmark - gedeckte Währung: Hinter jedem Stück Papier lag greifbar der verbriefte Wert.
Heute sind die unterirdischen Gewölbe auch der Bank of England keine Schatzkammern mehr; wie so vieles in unseren Tagen einer hohlen Welt und Währung ist auch vom soliden Wohlstand nur noch virtuell auszugehen. … Bloß das beinah ohrenbetäubende Quietschen hat sich erhalten. Wer in die finanziell aufgepumpte City fährt, dem dröhnt immer noch der Schädel an der Stelle, wo einst konkret war, was heute spekulativ ist. ———
Dieses Quietschen, dieses Getöse, das das Gold hervorruft, hat Jesu letzte Tage in Jerusalem durchzogen. Am „Gottes-Kasten“ – ein sonderbar leer gewordenes Wort, oder? – … am „Gotteskasten“ klingelte nicht nur der Münzwurf, sondern reiche Gaben wurden buchstäblich ausposaunt – bei satten Spenden stießen die Leviten tatsächlich lautstark in’s Horn –; …ganz zu schweigen vom aufgedonnerten Spektakel, das die „großen Hansen“ - wie Luther die Eliten gerne nannte - auch selber zu machen pflegten, wenn sie ihre nicht wirklich schmerzhaften Opfer in den Almosenbehälter legten, der Liturgie und Diakonie, soziale und kulturelle Dienste des Tempels speisen sollte.
Geld und Gackern also; Geben … nicht so sehr für den Tisch des HERRN, sondern für den Tusch der Leute; Tun … für’s Tamtam. Das sind uralte, offenbar eingefleischte Bedürfnisse des Menschen: Wenn er etwas hat, das ihn auszeichnet, dann hält der Mensch es trotz aller Vorsicht und Vernunft selten ganz verborgen und wenn er sich von etwas trennt, das ihm viel bedeutet, dann muss man’s wenigstens bemerken.
Das Wesen und der Weg des Menschlichen quietschen halt vernehmlich, wenn es um den Besitz geht.
Diese Aufmerksamkeitswirtschaft, diese Ökonomie der Beachtung - von der Antike bis heute unverändert am Markt - muss für Jesus verstörend fremd gewesen sein: In Ihm, Der so gar kein Gewese und Gehabe machte, ist ja der Eigentümer der Erde zur Welt gekommen; der Inhaber der Wirklichkeit wurde in Ihm ein Kind der Landstraße, der Herr der Herrlichkeit ein Bettler, der auf dem Müllplatz enden würde. Wie muss es in Seinen Ohren geklungen haben, wenn Menschen sich großtaten, weil ihnen dieser oder jener Teil des geschaffenen Kosmos vermeintlich „gehörte“. Wie muss es Ihn gequält haben, wenn sie quietschten - die Erdensöhne -, weil sie vom Irdischen, aus dem sie stammten, etwas abgaben, das sie sich angeeignet hatten. Dieses schrille Geräusch, das entsteht, wenn Fleisch und Blut in ehrfürchtigem Bogen das Gold umrundet: Es muss Den, Der beides gleichermaßen aus Nichts hervorgebracht hat, noch stärker irritiert haben, als die Fahrgäste jener scharfe Ton in der Schleife rings um das gesicherte Depot der alten Kapitalkapitole. —
Menschen - also atmender Staub - machen viel Lärm um den nicht einmal belebten Staub des Edelmetalls. Das schnitt dem Herrn des Lebens gewiss in’s Herz, als Er damals in den Tod für die Welt ging, um sie aus der Versklavung unter alles Irdische zu befreien.
… Und es wird Ihn heute nicht minder quälen, nein, mehr wird es Ihn foltern und peinigen, dass der Kult des Stoffes, der Dienst und die Verehrung der Materie so gnadenlos fortgesetzt worden sind, seit Er für die Freiheit davon sterben ging, … bis jetzt die Neige aller Schätze erreicht ist, das Ende der Rohstoffe, das Versiegen der wirklich für den Menschen geschaffenen und der von ihm vergeudeten Güter der Natur. ——
Jesu Meditation am Gotteskasten - wo der Gottes- und der Götzendienst so unvermeidlich und doch auch so zwielichtig miteinander verschmelzen - ist ein Teil seiner Passionsgeschichte, der unverändert weitergeht[i]: Wie Er jetzt leiden muss, wie es Ihn um Frieden und Verständnis bringen muss, zu sehen, dass immer noch die sich durchsetzen, die laut und stark Anspruch auf Vieles erheben und dass immer noch in Ansehen steht, wer Dinge hortet, über Stoff gebietet, sich die Erde und das Irdische zunutze macht.
Was ist nur mit Dem, in Dessen Kraft der Erlöser empfangen wurde (vgl. Lk1,35) und gesalbt ist (vgl. Lk.4,18)? Was ist mit dem geistlichen Wesen Gottes (vgl. Joh.4,24), Der seine Menschen nicht zu Dienern und Instrumenten von Stein, Holz oder Erz machen, sondern sie in Freiheit vollenden will? … Die entsetzte Frage des Paulus erhebt sich heute als die fassungslose Frage Jesu nach zweitausend Jahren über der Christenheit, die den Materialismus inbrünstiger als die Heiden jemals pflegt: „Im Geiste habt ihr angefangen; wollt ihr’s denn nun im Fleisch vollenden?“ (Gal.3,3)
… Seid Ihr immer noch nicht in der Lage, die tödlichen Mechanismen und Muster Eures Materialverschleißes, Eurer Stoffvergötzung, Eurer Verbrauchsgier zu überwinden? …
Den Kopf in die Hand gestützt sitzt Jesus am Gotteskasten und sieht uns an: Der Todgeweihte, der für uns alle den Tod besiegt hat, voller Traurigkeit darüber, dass wir vom Tod und allem Tödlichen nicht lassen wollen. ———
Als wir vor zwei Wochen mit der Central Line nach St.Paul’s fuhren, ging es allerdings weniger um die Bank of England, als um eine fiktive, arme alte Frau, die sich schon in meiner Kindheit und dann auch in derjenigen meiner Kinder in unser Herz geschlichen hat: Im kitschigen Musikfilm zu Mary Poppins - der strengen Nanny mit dem Herzen voll urmenschlicher Anarchie - sitzt auf den Stufen von St. Paul’s diese verarmte Alte, die wie so viele Rentner auch heute ohne Nebenverdienst nicht überleben könnte: Sie verkauft dort Brotkrümel für zwei Pennies die Tüte, mit denen man die Tauben füttern kann. Und für die Krumen dieser Alten würden die Zöglinge Mary Poppins’ ihr Taschengeld viel lieber ausgeben, als es auf die Bank hinter der Kathedrale zu bringen und festverzinst anzulegen, wie ihr tumber Vater es sich wünscht.
Das unglaublich schmalzige Lied zu dieser Szene hat uns als Kinder allerdings gelehrt, dass die barocken Heiligen und Apostel auf dem Sims rund um die Kuppel von St. Paul’s lächeln müssen, jedes Mal, wenn ein Mensch zwei Pennies für die Alte hat, zwei Pennies für Krümchen für die Vögel unter dem Himmel … und damit schlicht Herz zeigt.
… Und das kommt nun direkt aus dem Evangelium! Zwei Pennies, … zwei Scherflein, zusammen ein Heller, die sind es, die Jesus, den zu Tode Betrübten in den Tagen seiner Passion wieder lächeln ließen.
Warum? ……. ———
Reden wir von dem, was man „Es“ nennt. Sigmund Freud hat davon geredet[ii].
Er sah etwas im „Es“, das ganz stark, ganz machtvoll in uns ist. Dem „Es“ gehorchen wir unbewusst. Es hält uns am Leben, … aber auch an der Leine. Es treibt uns als Trieb und es steuert uns mehr noch als der zu Erkenntnis und Absicht geformte Wille. Das „Es“ ist nahezu beherrschend. Kein Wunder, dass es in der Populärkultur zum Horror schlechthin geworden ist: Stephen King und die Verfilmungen seines Thrillers haben Generationen das Fürchten vor dem „Es“ gelehrt, ohne dass es beschreibbar, greifbar, bewältigt wurde. Das uns im tiefen Inneren beherrschende „Es“ verfolgt uns also auch von außen und bedroht uns je schrecklicher, desto grotesker es komisch wirkt.
… Was aber ist „Es“ denn? ——
Wenn man wieder einmal im englischen Sprachraum war, dann ist die Rückkehr in unsere Muttersprache eine etwas unheimliche Begegnung. Die herzlich höflichen und doch so unnahbaren, die unverbindlich, indirekten Engländer mit ihrer charmant gewinnenden und trotzdem nie zu überbrückenden Distanz sprechen einen ja sonderbarer Weise viel unmittelbarer an, als wir hierzulande.
Sie fragen: „Wie bist du?“ „Wie sind Sie?“, wo wir zu formulieren pflegen: „Wie geht es Dir?“, „Wie geht es Ihnen?“ …
Und auch bei Unangenehmem fragen ausgerechnet die Engländer überraschend unverblümt: „Was ist die Sache?“, “What’s the matter“, während wir auch da den Umweg nehmen: „Was hast Du denn?“, im Klartext also: „Was ist es, das Du da gegen mich oder gegen etwas anderes hast?“ …….
Bei uns, die wir fragen, wie’s geht oder wie’s ist oder was man hat, da geht „Es“ also … oder „Es“ ist … oder wir haben „etwas“, haben ein „Es“ auf dem Herzen. Überraschend konsequent schiebt unsere Sprache tatsächlich immer ein „Es“ ein, wo es eigentlich ganz unumwunden um die 2. Person gehen könnte.
Das ist vielleicht sehr deutsch. Nicht pragmatisch - „Sprich von Dir!“ -, sondern philosophisch feiner, differenzierter: Wir sind ja kaum nur wir selbst, ganz mit uns eins, sondern von Vielem zugleich bestimmt, beherrscht, getrieben. Glücklich, wer da direkt beim „Du“ zu landen glaubt (wie die englische Sprache mit dem vermeintlich fehlenden „Siezen“ es zu vermögen scheint). … Wir hingegen ahnen immer noch, dass auch ganz andere Mächte und Gewalten, andere Einflüsse, Kräfte, Zwänge, Zügel und einschüchternde Ansprüche an uns zerren, uns binden, festlegen und gängeln. Wir sprechen einander darum lieber mit „Sie“ an, im Plural (!) der vielen Geister und Dämonen, … in der komplexen und bedrohlichen Symbiose zumindest des Ich und des „Es“.
Nun wäre es albern und kurzsichtig, das „Es“, das uns da innerlich mitbestimmt und von allen Seiten so haarsträubend wie im Thriller bestürmt, nur im Reichtum, in den Lockungen und Drohungen der Materie und des irdisch Stofflichen zu suchen.
Aber heute, mit Jesus am Gotteskasten sollten wir den enormen Anteil bedenken, den Güter und Besitz, Wohlstand und das Sicherheitsversprechen der Dinge am uns beherrschenden Elend haben.
Die unersättliche Gier nach Materiellem, das Getöne, das wir darum machen und die schreckliche, unmoralische Angst vor jeder Gestalt materiellen Verlustes sind schon sehr große Teile jenes „Es“, um das es uns zu gehen scheint, wenn wir fragen, wie „es“ uns heute geht und wie „es“ weitergehen soll. …….
Wir sehen’s doch, wie „es“ weitergehen wird, jetzt, wo alles brennt und schmilzt und sich verflüchtigt, bis es unter unseren Füßen so leer ist und so schaurig hallt wie die modrigen Katakomben unter der ehrwürdigsten Bank, die man immer noch aus alter götzendienerischer Ehrfurcht schonend umkreist.
… Wir werden vieles verlieren.
… Und wir werden wohl dran tun, viel mehr noch aufzugeben. Ohne Gequietsche, ohne Fanfaren oder Geheul.
Wir werden ärmer werden, bis wir äußerlich so arm sind wie unser Inneres. Die Sicherheit des Goldes, die Ruhe des betäubenden Besitzes, die ganze psychosoziale Unerreichbarkeit, hinter der wir uns verschanzen, obwohl sie aus Vergänglichem gebaut ist, das gerade verdampft … alles das wird nicht bleiben, wie es war. Mag sein, dass es nicht verschwindet, aber sein Wert und was es vermag, nimmt ab. ——
……. Vielleicht aber ahnen wir, wenn wir den sonderbaren Bogen um das verschwundene Gold, das es längst nicht mehr gibt, ein letztes Mal schnaufend und schnarrend und ächzend und zähneklappernd gemacht haben, dass es gar nicht so schlimm ist, hinauf auf die Stufen vor dem Haus Gottes zu klettern … und wie die Alte mit den Krumen geworden zu sein, über die die Apostel und Heiligen lächeln.
… Vielleicht - wer weiß? - werden wir sogar ohne Weltuntergangsängste wie die wunderbare, glaubensstarke und Gott selber stärkende Witwe, die auch noch ihre beiden finalen Scherflein, … das letzte Stück vom „Es“, die letzten alten Garantien und Gewohnheiten abgeworfen hat.
Sie hatte gar nichts mehr, kein „Etwas“, kein „Es“, das sie noch aufhielt.
Sie wurde ein einfaches Ich, nein, … noch viel schöner: Sie wurde für Jesus das „Du“, das Ihn wieder aufrichtete und also auch uns arme, noch nicht freie Menschen lieben ließ, … lieben bis in den Tod. —
Die Frau ohne alles, ohne jedes Dies und Das, ohne unser ganzes „Es“ hat einfach nur ihr Leben in den Gotteskasten gelegt. … Der dadurch so viel voller, so viel reicher, so viel lebendig-kostbarer für Jesus wurde als durch alle Münzen und Wertgegenstände jemals insgesamt. ——
Ein anderes Ziel als dieses allmählich nun fällige, irgendwann dann auch mögliche Ablegen von Allem wäre in diesen Zeiten nun aber auch für uns zu wenig, zu billig, … Zeiten, in denen so viel Angst und so viel Sorgen sich erheben.
Nicht aus Realitätsverleugnung, nicht aus Leichtsinn können auch wir jetzt nur noch darauf zielen, unsere Sicherheit und unsere Sorge, unsere Angst und unsere Habe endlich abzuwerfen.
… Nicht aus Leichtsinn, nicht aus Realitätsverleugnung, sondern weil das allein bleibt: Dass wir einfach unser Leben - ohne Sorge, ohne Sicherheit - Gott ganz überlassen und uns in Seinen Kasten, uns in Seine Hände legen.
Nicht also: „Wie geht es uns? Wie geht’s der Welt?“, sondern bloß noch: „Wie gehen wir nun? Wie geht jetzt die Welt?“
– Zugrunde?
… Nein! Zu Gott! ——
Wenn wir so glauben und so antworten werden, dann ist alles gewonnen!
„Wie gehst Du, Welt?“ – „Zu Gott!“
„Wie geht das Leben?“ – „Zu Gott!“
„Wie gehen wir?“ – „Zu Gott!“
Amen.
[i] Vielleicht ist so die Verlegung des bisher an Okuli zu predigenden Evangeliums auf den 8.Sonntag nach Trinitatis zu erklären.
[ii] Gebündelt natürlich in „Das Ich und das Es“ (1923), in: Sigmund Freud Studienausgabe (hgg. v. A. Mitscherlich u.a., Frankfurt/M 2000) Bd. III: „Psychologie des Unbewußten“, S. 273-330.
6.S.n.Tr., 24.07.2022, Jes.43,1-5 u. Röm.6,3-4, Stadt- u. Jonakirche, Daniel Kaufmann
Wer oder was gehört eigentlich zu wem oder was?
Adam gehört zu Eva,
Kain gehört zu Abel,
Asterix gehört zu Obelix,
Romeo gehört zu Julia.
Der gute Hirte gehört zu den Schafen,
zu den schwarzen und weißen und auch zu denen,
die ab und an Reißaus nehmen.
Es heißt sogar, dass der gute Hirte
für diese widerspenstigen Exemplare
eine ganz besondere Vorliebe hat.
Die Sonne gehört zum Sommer,
der Schnee gehört zum Winter.
Das Klima gehört zu den Themen,
die uns viel mehr beschäftigen sollten.
Die Waldbrände und die Hitzewelle gehören zum Klimawandel.
Die Erde gehört uns allen -
das war wenigstens mal die Grundidee,
die dann bis in unsere Tage hinein
zunehmend auf den Hund gekommen ist.
Das Kind in der Krippe gehört zu Weihnachten,
der Auferstandene Christus gehört zu Ostern,
der Heilige Geist gehört zu Pfingsten,
die 95 Thesen gehören zu Martin Luther.
Das Nachdenken über eine lebendige,
den Menschen zugewandte Kirche gehört uns allen,
und wie wir zurzeit bei Bürgerbefragung,
öffentlichen Verlautbarungen
und Dystopien über die Kirche von morgen sehen,
sind wir da keinesfalls am Ende,
sondern bestenfalls am Anfang eines Nachdenkprozesses.
Freude gehört zum Fest des Lebens,
Trauer gehört zum Abschied des Lebens,
Urlaub gehört zu den schönsten Zeiten des Jahres
Arbeit gehört zu den anstrengendsten Tätigkeiten,
Homeschooling gehört zu den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie,
auch wenn der Ertrag dürftig
und die Auswirkungen schädlich fürs Lernen sind.
Analoger Unterricht ist durch nichts zu ersetzen.
Fußballfans gehören in die Stadien,
die Toten Hosen gehören zu Düsseldorf,
Musik gehört in den Gottesdienst,
die Orgel gehört zum Singen in der Kirche.
Ab und an geht es auch mit Flügel, E-Piano und Schlagzeug,
warum eigentlich nicht öfter?
Brot gehört zum Wein,
das Kreuz in der Kirche gehört auf den Altar,
an die Wand oder kann auch schon mal fehlen.
Aber dafür muss man dann schon ziemlich reformiert sein.
Mann gehört zur Frau,
und Frau gehört zum Mann,
überwiegend jedenfalls,
das heißt, rein quantitativ, also statistisch,
qualitativ ist da inzwischen ja höchste Vorsicht geboten,
gestern war Christopfer Street Day in Berlin,
da wurde einmal mehr klar,
dass Statistik als Argument immer etwas wackelig ist.
Liebe gehört zu einer intensiven Beziehung,
Hass gehört zum Streit,
Krieg gehört zu den Autokraten und Diktatoren dieser Welt.
Tendenz steigend und vorhersehbarer
als noch vor einem halben Jahr
Wahrheit gehört zum Wein, in vino veritas, heißt es,
die Weisheit gehört zum Alter,
kann auch schon mit 20 Jahren anfangen oder aufhören,
je nachdem, wie´s läuft.
Oder die Weisheit bleibt ganz aus,
dann ist etwas schiefgegangen
bei dem langen Abnutzungskampf des Lebens.
Kinder gehören zu den Eltern,
Eltern gehören zu den Kindern,
Opa und Oma gehören zur Familie,
vor allem aber auch zu den Enkeln und Enkelinnen.
Wir alle gehören zu der großen Menschheitsfamilie,
dachten wir wenigsten bis vor kurzem noch,
und vielleicht ist das ja auch der eigentliche Schmerz,
wenn wir jeden Tag neu
die Nachrichten von Mord und Totschlag weltweit hören.
Unsere Daten gehören uns vor allem selbst,
es sei denn, wir verkaufen sie an einen großen Konzern.
Oder der CIA, FSB oder ein anderer Geheimdienst
braucht die, um die Welt zu retten
oder die Menschheit zu beglücken.
Oder um einfach mehr Profit zu machen.
Der Krieg gehört vor allem abgeschafft und beendet,
der Frieden sollte uns allen gehören,
schafft es aber oft nur bis vor unsere Haustür.
Und selbst da nicht durchgehend und dauernd.
Die Gemeinschaft gehört zu dem Wichtigstem,
was wir als Menschen sind und haben,
auch wenn so manche Selbstoptimierung
echte Teilhabe verhindert oder doch einschränkt.
Mein Bauch gehört mir,
heißt es neuerdings wieder etwas lauter,
zu Recht oder zu Unrecht,
darüber gibt es zumindest in den USA
wieder heftigere Auseinandersetzungen.
Wir gehören uns selbst,
sind selbstbestimmt, überwiegend,
sind, wenn irgend möglich, autonom,
handeln und leben nach eigenen Gesetzen,
bemühen uns jedenfalls darum
oder peilen das als hohes Ideal an.
Zu wem oder was gehören wir?
Die heutige Lesung aus dem Jesajabuch hält fest:
Wir gehören zu Gott.
„Fürchte dich nicht,
denn ich habe dich erlöst,
ich habe dich bei deinem Namen gerufen,
du gehörst zu mir."*
Ruft der Prophet Jesaja ziemlich vollmundig seinen Zuhörern zu.
Die hatten sich schon fast damit abgefunden,
dass sie vor allem denen gehören,
die mächtig sind, die was zu sagen haben,
die das Geld und das Land besitzen,
die Geschichte schreiben,
die verantwortlich Politik machen,
die die stärkeren Waffen haben, kurzum:
die gewählt oder selbst ernannt
oder aus eigenem Gutdünken
autokratisch oder diktatorisch
besonderen Einfluss und Geltung für sich reklamierten.
Und die damit weitestgehend Zustimmung
oder zumindest keine nennenswerte Gegenwehr erhielten.
Die Babylonier galten jedenfalls nicht
als allzu zimperlich bei ihren Raub und Eroberungszügen
durch die damalige Welt.
Neben der kriegerischen blutigen Auseinandersetzung
gehörten auch Deportationen und die Entwurzelung der Oberschicht
zu den Standardmaßnahmen, wenn dann auch schon mal die eine oder andere tolerante gnädige Großmacht-Geste durchschimmerte.
Und sie für damalige Verhältnisse als geradezu tolerant, fast schon human und friedlich galten, weil sie nicht alles komplett niederbrannten und ausmerzten,
was ansatzweise nach Widerstand aussah.
Angst und Schrecken gehörte schon immer zum Arsenal derer,
die unterdrückten und knechteten.
Deshalb und genau darum also die sehr steile
und auch mutige Einlassung des Propheten:
„Fürchte dich nicht! Du gehörst zu Gott!"
Egal, wer da sonst noch Besitzanspruch auf dein Leben anmeldet oder durchzusetzen versucht. Und mehr noch:
„Ich habe dich erlöst, sagt dieser Mitgehgott,
ich bin dein Goel (hebräisches Wort an dieser Stelle),
ich bin der Loskäufer,
ich halte dich frei und kaufe dich los",*
egal in welcher Abhängigkeit und Zwangslage
du auch gekommen sein magst.
Ich zahle jeden Preis für dich.
„Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld,
Kusch und Seba an deiner statt."*
Geradezu absurd übersteigert wird hier festgezurrt, welchen Wert das Volk Gottes und alle, die dazugehören bei Gott hat.
Wir gehören uns nicht selbst,
wir sind, weil Gott uns gewollt hat,
dich und mich,
jeden einzigartig und einmalig.
Und weil dieser Mitgehgott uns hält und erhält.
Und diese Zugehörigkeit ist unverbrüchlich und dauerhaft
und währt im Leben und im Sterben.
So jedenfalls hören wir es
in dem zu diesem Text korrespondierenden Wort
aus dem neuen Testament, aus dem Römerbrief, Kapitel 6**:
„Wisst ihr nicht, dass alle,
die wir auf Christus Jesus getauft sind,
die sind in seinen Tod getauft?
So sind wir ja mit ihm begraben
durch die Taufe in den Tod,
auf dass, wie Christus auferweckt ist
von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters,
so auch wir in einem neuen Leben wandeln."
Mit der Taufe sind wir untrennbar verbunden
mit der Geschichte des Jesus von Nazareth.
Durch die Taufe sind wir mit Christus begraben und auferweckt
und haben Anteil an dem Leben, das nie mehr vergeht.
Martin Luther hat diese Zugehörigkeit
einmal bildhaft und sehr drastisch beschrieben:
„Durch die Taufe wird der alte Adam ersäuft
und der neue Adam ins Leben gezogen."
Das Untertauchen des Täuflings zeigt,
dass wir durchaus von der Abwärts- und Todesspirale des Lebens
etwas wissen und immer wieder auch spüren.
Das Auftauchen des Täuflings macht sichtbar,
dass wir uns aufwärts dem Leben zuwenden,
einem Leben, das bei und in Gott verwurzelt ist
und das nie mehr vergeht.
Die Taufe markiert und hält fest:
Wir gehören zu dem Gott,
der uns vom Tod zum Leben bringen kann und will und wird.
Wir gehören zu dem Gott,
der Himmel und Erde gemacht hat,
der Bund und Treue hält für immer
und der nie fallen lässt das Werk seiner Hände,
sondern dieses Werk seiner Hände
im Leben und im Sterben und also auch dann,
wenn sonst nichts mehr hält,
Halt gibt.
Im Holländischen heißt Taufen „Dopen".
Ich mag diesen Ausdruck sehr.
Es ist das einzige Dopen,
dass keine schädlichen Nebenwirkungen
und Suchtfolgen hat.
Wir sind durch die Taufe mit „dem Leben gedopt",
das Gott schenkt.
Und das ist in einer Zeit,
in der reichlich, um nicht zu sagen:
alles und vieles ins Rutschen gekommen ist,
die Ungewissheiten und Fraglichkeiten überproportional steigen
und die lang erarbeiteten Sicherheiten abhandenkommen,
eine wirklich gute Nachricht.
„Keiner von uns lebt für sich allein,
und keiner von uns stirbt für sich allein.
Leben wir, so leben wir dem Herrn,
sterben wir so sterben wir dem Herrn.
Darum, egal ob wir leben oder sterben,
wir gehören zu dem Herrn,
dem Ursprung und Ziel allen Lebens,
dem Herrn über Zeit und Ewigkeit,
dem lebendigen Gott." (Römer 14, 7+8)
Diese Zugehörigkeit bekennen wir zu Beginn des Lebens,
wenn ein Kind getauft wird,
diese Zugehörigkeit bekennen wir beim Abschied eines Menschen,
wenn wir - wie Michelangelo es sagt - die Räume wechseln
und unser irdisches Zuhause mit der himmlischen Heimat tauschen.
Und diese Zugehörigkeit werden wir nicht müde,
für die Zeit zwischen Geburt und Tod zu erinnern,
wenn uns alle Nase lang
andere Zugehörigkeits- und Besitzansprüche begegnen.
Wenn es heißt:
„Ich habe Euer Leib und Leben in der Hand.
Euren Wohlstand, Eure Energieversorgung,
Eure Gaslieferungen, Eure Gesundheit,
Eure Nahrungsmittelzufuhr, Euer Sicherheitsbedürfnis, Eure Zukunft."
Gegen diese angemaßten Besitzansprüche
werden wir heute Morgen erinnert:
Wir sind Gottes. Wir gehören zu Gott.
Und wir gehören zu der Geschichte,
die Gott mit uns Menschen schreibt.
Die in der Ewigkeit verwurzelt ist
und zu dieser Ewigkeit zurückführt.
Die von dem großen Ja Gottes begleitet wird.
Trotz und mit allem, was dagegen spricht.
Und deshalb und darum, so der Apostel,
lasst uns von diesem großen Ja zum Leben etwas weitergeben.
Lasst andere etwas davon spüren und teilhaben,
zu wem wir im Leben und Sterben gehören.
Macht es wie Martin und Luther:
Pflanzt einen Apfelbaum.
Da gibt es zurzeit inzwischen auch eine ziemlich populäre,
recht erfolgreiche Variante zu: Ecosia, die Suchmaschine, bei der man nach etwa 40 Suchanfragen jeweils einen Baum auf den Weg bringt. Zur Zeit sind das weltweit ca. 154 Millionen. Ziel dieser Suchmaschine sind mindestens 1 Milliarde Bäume.
Oder, wem das mit der Suchmaschine zu technisch ist:
Lasst Euch neu von Jesu Wort aus der Bergpredigt inspirieren:
„Stellt euer Licht nicht unter den Scheffel."
So etwas auch Marianne Williamson***,
vorübergehend, (demokratische) Präsidentschaftsanwärterin in den USA 2020, bekennende Christin.
Duckt euch nicht von morgens bis abends weg.
Überwindet die Angst,
dass ihr nicht perfekt oder ungenügend seid.
Dass andere brillanter, großartiger, talentierter sind
oder alles besser können.
Zieht euch nicht in die Nischen zurück,
die man euch überlässt,
aber aus denen so gut wie nie
etwas Entscheidendes und Bedeutendes hervorkommt.
Kirche ist mehr als Aufarbeitungsinstitut für Missbrauchsfälle.
Kirche ist mehr als Statistikamt für Ausgetretene.
Kirche ist mehr als Bürgerbefragung,
wer was noch gerne als Sahnehäubchen und Zuckerstückchen
zum allgemeinen Unterhaltungs- und Eventkalender dazu haben möchte.
Wir sind dazu bestimmt, zu leuchten, sagt Jesus.
Wir sind geboren worden,
um den Glanz Gott, der in uns ist, sichtbar zu machen.
Also mischt euch ein in die zentralen Fragen
der Weltgeschichte und des Lebens.
Sagt, wie die Liebe, das Vertrauen und die christliche Hoffnung einer Gesellschaft Halt geben, voranbringen,
wie sie das Zusammenleben fördern und befördern,
wie sie dem gelingenden Miteinander dienen und gut tun.
Ihr gehört zu Gott.
Durch die Taufe ist eure Geschichte
untrennbar mit der Geschichte Jesu verbunden.
Und in seinem Geist seid ihr dazu aufgerufen,
Salz der Erde und Licht der Welt zu sein.
Und wo das noch nicht voll umfänglich und ausreichend gelingt,
faltet die Hände und bittet Gott um Beistand, Kraft und neue Ideen.
Bittet, so wird euch gegeben,
suchet so werdet ihr finden,
klopfet an so wird euch aufgetan.
Und der Friede Gottes, der höher ist
als alle menschliche Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Pfarrer Daniel Kaufmann
*Jesaja 43,1-5:
1 Und nun spricht der HERR,
der dich geschaffen hat, Jakob,
und dich gemacht hat, Israel:
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst;
ich habe dich bei deinem Namen gerufen;
du bist mein!
2 Wenn du durch Wasser gehst,
will ich bei dir sein,
und wenn du durch Ströme gehst,
sollen sie dich nicht ersäufen.
Wenn du ins Feuer gehst,
wirst du nicht brennen,
und die Flamme wird dich nicht versengen.
3 Denn ich bin der HERR, dein Gott,
der Heilige Israels, dein Heiland.
Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld,
Kusch und Seba an deiner statt.
4 Weil du teuer bist in meinen Augen
und herrlich und weil ich dich lieb habe,
gebe ich Menschen an deiner statt
und Völker für dein Leben.
5 So fürchte dich nun nicht,
denn ich bin bei dir.
**Römer 6,3-4:
3 Wisst ihr nicht, dass alle,
die wir auf Christus Jesus getauft sind,
die sind in seinen Tod getauft?
4 So sind wir ja mit ihm begraben
durch die Taufe in den Tod,
auf dass, wie Christus auferweckt ist von den Toten
durch die Herrlichkeit des Vaters,
so auch wir in einem neuen Leben wandeln."
*** Bestimmt, um zu leuchten
„Unsere tiefgreifendste Angst ist nicht,
dass wir ungenügend sind,
unsere tiefgreifendste Angst ist,
über das Messbare hinaus kraftvoll zu sein.
Es ist unser Licht,
nicht unsere Dunkelheit,
die uns am meisten Angst macht.
Wir fragen uns, wer ich bin,
mich brillant, großartig,
talentiert, phantastisch zu nennen?
Aber wer bist Du,
Dich nicht so zu nennen?
Du bist ein Kind Gottes.
Dich selbst klein zu halten,
dient nicht der Welt.
Es ist nichts Erleuchtetes daran,
sich so klein zu machen,
dass andere um Dich herum
sich nicht unsicher fühlen.
Wir sind alle bestimmt, zu leuchten,
wie es die Kinder tun.
Wir sind geboren worden,
um den Glanz Gottes,
der in uns ist, zu manifestieren.
Er ist nicht nur in einigen von uns,
er ist in jedem einzelnen.
Und wenn wir unser Licht erscheinen lassen,
geben wir anderen Menschen die Erlaubnis,
dasselbe zu tun.
Wenn wir von unserer eigenen Angst befreit sind,
befreit unsere Gegenwart automatisch andere."
Marianne Williamson
2.So.n.Trin., 26.06.2022, Stadtkirche, Jona 3, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.n.Trin. - 26.VI.2022
Jona 3, 1-10
Liebe Gemeinde!
Jona, der nicht wollte, aber musste: Er könnte sowieso der Patron unserer Zeit sein.
Wir hätten ja alle miteinander sehr gern noch weiter so getan, als gäbe es niemals eine Begrenzung unserer Freiheiten, sondern nur deren weltweites Ausufern. Wir hätten durchaus weiter träumen mögen, dass das Gute immer nur zum noch Besseren und nie zum Bösen führen könne. Wir hätten wirklich nichts dagegen gehabt, wenn unser naives Märchen, dass die Menschheit durch ihre eigene Kunst und Weisheit Hass und Leid und Endlichkeit überwinden kann, in die Worte mündet „Und wenn sie nicht gestorben sind …“
Wir wollten lange nichts ändern am Denken, Dichten und Trachten unserer menschlichen Herzen. … Genau wie Jona und genau wie dessen brave Eltern, … genau wie das Geschlecht in den Tagen des Kaisers Tiberius, unter dem - eigentlich absichtslos, wie aus Versehen - Gott ermordet wurde, … und genau wie unsere stolzen Ururgroßeltern in den glänzenden Tagen der beiden Vettern Wilhelm II. und Nikolaus II., die leider in einen Weltkrieg gerieten, dem dann noch ein Weltkrieg folgte und heute - immer noch oder schon wieder oder doch die ganze Zeit - eine Welt voll Krieg und Seuche und Hunger wie in den Tagen des hochverehrten evangelischen Kriegshelden Gustav Adolf oder in den Tagen des lebenslustigen Boccaccio oder in den Tagen des frommen Kaisers Justinian oder in den Tagen des nimmersatten Nebukadnezar oder in den Tagen der Sintflut. …….
Ach, wir wollten es immer anders. Wir meinten es immer gut. Es kam nur immer so gegenteilig aus. Es ging halt immer so gegen unsere Natur, die wir hätten ändern müssen, dass wir es lieber laufen liefen, und so ging es schief. … Weil wir eigentlich doch nicht wollten, sondern nachher immer nur mussten.
Für dieses Geschlecht, das wir sind – die Unwilligen, denen der Wille fehlt, … die Vermeintlichen, die sich nie gemeint meinen, … die Lieber-zu-Späten, weil man nur die Vorschnellen bei ihren Fehlern sieht, während das Scheitern der Zögernden ja im Untergang untergeht –, … für dieses tatenlose, keine Verantwortung übernehmende und allenfalls bloß Bedenken tragende Geschlecht, das wir sind, ist die kleine Geschichte des Jona die größte.
Nicht wegen seines salto mortale ins Meer, bei dem er kopfüber - die anständigste Tat seiner Flucht in die Sonne! - dem Tod in den Rachen sprang, um die restliche Mannschaft zu retten, sondern wegen seiner Demütigung in Ninive.
Denn was dem Mahner wider Willen, dem lustlosen Rufer und entschlossenen Nicht-Propheten da widerfuhr, das war das, was auch wir so gar nicht gern hätten: Es war der Erfolg, den wir fürchten. Es war das Gelingen, vor dem wir kneifen. Es war der Neuanfang, den wir alle zu den Akten gelegt haben.
Schlimmer als das Verschlungenwerden vom Ungeheuer war ja das Ausgespucktwerden in einer anderen Welt und neuen Zeit für den Jona. … Weil die Niniviten tatsächlich taten, was ihm so unheimlich war: Sie folgten dem Wort, das er floh. Sie glaubten die Botschaft, von der er schweigen wollte. Sie beschlossen zu leben, wie es ihm undenkbar schien. Sie kehrten um, wo er sich abgekehrt hatte.
Viele Propheten in der Bibel kennen das Leid, Recht zu behalten: Jeremia etwa hat wie kein Zweiter erleiden müssen, dass sich seine leidenschaftlich warnende Drohpredigt als wahr erwies. Und auch Johannes der Täufer, dessen Feiertag vorgestern war, hat die Botschaft vom kommenden Zorn und das Wort von der Axt, die den Bäumen schon an die Wurzel gelegt ist (vgl. Matth.3,10), am eigenen Leib erfahren. So wie Jesus das Gericht über die Sünde, von dem seine Verkündigung - wie in der heutigen Lesung (Lk.14,15-24) - wahrhaftig auch durchzogen ist, ganz und gar in eigener Person erlitten und gebüßt hat.
Kein anderer Prophet außer Jona aber hat es als ein solches Unglück erlebt, dass sein Rettungsruf beherzigt und seine Wegweisung befolgt wurde. Kein anderer Prophet wurde von seinen Hörern dadurch bloßgestellt, dass sie ihm vertrauten, während er selbst nicht teilen mochte, was er ausrichtete.
Ninive kehrte um und Jona kehrte sich wiederum ab von dem Gott, Der zur Gnade ruft.
Er hatte Gott aus Zweifel nicht folgen wollen. … Und als andere es taten, verzweifelte er wirklich an Ihm. Setzte sich schmollend unter den Strauch über der Welt, sah verächtlich herab auf die Zivilisation, der er einen Ausweg aus dem Verderben gewiesen hatte, und wollte dass es vorbeigeht, dass es endet, dass es aufhört.
Jona, der Gottes-, der Gerichts- und erst recht der Gnadenflüchtling … Jona will nicht zum Zeugen des Lebens werden. Wenn, dann Tod. … Und doch muss er. ———
Doch jetzt: Butter bei den Walfisch! --- Worum geht es hier konkret? … Wie übersetzen wir das Wunder von Ninive in die Weltkrisenzeit von heute?
Ein naheliegender Versuch müsste es sein, auf unsere verstockte Weigerung zur praktischen Umkehr zu blicken. Seit genau fünfzig Jahren – seit dem legendären Club-of-Rome-Bericht, der unter volkswirtschaftlichen, techniktheoretischen, naturwissenschaftlichen und kulturphilosophischen Gesichtspunkten der freien industrialisierten Welt die „Grenzen des Wachstums“ vor Augen stellte – ist der Ruf zu ökonomischer und ökologischer Umkehr und Erneuerung im Generalbass der Weltmelodie nie verstummt, … aber auch nie gehört worden.
Seit den achtziger Jahren haben dann die Kirchen, teilweise in schier monomanischer Konzentration den konziliaren Prozess für „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ in den Rang eines zentralen Glaubensartikels erhoben, der das Nord-Süd-Gefälle der Weltwirtschaft und die Kapitalismuskritik, das Bemühen um Nachhaltigkeit und teilweise utopische, immer identitärer funktionierende Gerechtigkeitsideologien in den Mittelpunkt rückte.
Befreiungs- und Friedens- und Frauen- und Freitagsbewegungen haben nachdrückliche, provokante, berechtigte Forderungen in jeden Winkel der Privatwelt wie der Gesellschaft getragen, so dass wer Ohren hat zu hören, hätte hören können, bis ihm die Ohren gellten.
Wie wenig aber sich bewegt hat, wie träge nicht nur die anderen, sondern Du und ich selbst sind, obwohl es immer unbestreitbarer wurde, dass die Forderung aller Propheten - jene Forderung, die elegische Dichter genauso wie philosophische Harlekine theoretisch populär machten[i] - praktisch überlebensnotwendig geworden ist: „Du musst dein Leben ändern!“ …, wie wenig sich bewegt hat, wie träge wir sind, das könnte der Anreiz sein, heute nach Ninive zu blicken und alle die wichtigen, lästigen, endgültigen Reiz- und Rettungsthemen unserer Zeit noch einmal mit Wucht und Pathos zu beschwören:
Jetzt endlich, nach fünfzig Jahren müssen wir den manischen Konsum bremsen und das Nichtverbrauchen von Materie als heiliges Gebot der Ehrfurcht und Dankbarkeit achten; jetzt endlich muss der räuberische Mensch seine Schuld an allen Mitgeschöpfen durch ein Hüte-Amt als Pfleger und Heiler der zerstörten Natur sühnen; jetzt endlich müssen die Lügen und Rechtsbrüche der Gattung, die sich auf Wort und Vernunft gründet, benannt und beendet werden, indem ein langsames und langes Zeitalter des Genügens und der Rücksicht den Rausch der brutalen Zukunftsverbrennung durch’s Verheizen der organischen Vergangenheitsspeicher entgiftet. Jetzt muss endlich die überdehnte und überdrehte und überforderte Herrschaft der Anspruchsdenkenden aufhören und eine Bewegung radikal solidarischer Gemeinschaftsleute eintreten.
… So könnte man ohne jeden Zweifel und mit jedem Recht die erschütternde Volksbewegung aktualisiert predigen, die in Ninive kurz vor der Stadtmitte begann: Eine Tagereise weit war Jona in’s Gewimmel der dreimal so weit sich erstreckenden Stadt vorgedrungen, als die Menschen dort mit der Metamorphose, mit der Transformation, mit der Erneuerung an Haupt und Gliedern, mit der fastenden Revitalisierung degenerierter Menschen und Tiere begannen.
… Im Dreitage-Schema, das die Ausmaße Ninives beschreibt, hören wir natürlich den Abstieg in das Reich des Todes anklingen, der die drei Tage zwischen Karfreitag und Ostern ausmachte. Am ersten Tag also, der der letzte war, am Todestag des Karfreitag ging in Ninive die Umkehr los, die dann über den König und alle Kreaturen in ihr die Stadt zur Auferstehung, die Stadt zur Gnade neuen Lebens führte.
… Das könnten wir mit Fug und Recht in dieser Karfreitagsepoche der Weltgeschichte also aktualisieren: Der Klimawandel ist da, die tödlichen Dürren und tödlichen Fluten, der tödliche Hunger und der tödliche Meeresanstieg sind allesamt schon Realität. Das Mikroreich der Krankheitserreger gärt, die Bäume brennen, die Erde bebt und im Osten blitzt die Makromöglichkeit totaler Weltauslöschung im Atomkrieg fahl auf. …Willkommen im Reich des Todes!
In dieser globalen Topographie der Sünde und des Sicherheitsverlustes ist es gewiss eine Glaubenstat, wenn trotz alles frustrierenden Nihilismus nun zu politischen, ökologischen und sozialen Paradigmenwechseln aufgerufen, … ja, aufgeschrien wird! Die Menschheit im Inferno, die Menschheit nahe am Nabel der Stadt Ninive muss hören, dass es trotz der Zeiger, die nach Mitternacht stehen, die Botschaft vom dritten Tag gibt (vgl. Hosea6,2), die Botschaft dessen, der drei Tage und drei Nächte im Leib des Seeungeheuers verschlungen war (vgl. Jona2,1), die Botschaft von ihm, der am dritten Tage nach der Schrift auferstanden ist (vgl. 1.Kor.15,4), … und dass diese Botschaft auch heute gilt und Widerstandskraft, Hoffnung und Perspektive schenkt. – Und so wird ja bestimmt viel gepredigt heute, … politisch, ökologisch, sozial.
… Aber im Namen der Niniviten geschieht das nicht mit letztem Recht! Denn so unzweifelhaft viel biblische Prophetie harsche Sozialkritik enthält und sich