16.Sonntag nach Trinitatis, 15.09.2024, Stadtkirche, Psalm 16, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 15.IX.2024 - 16.n.Trin.
Psalm 16
Liebe Gemeinde!
So wie heute gepredigt werden müsste, kann ein Mensch nicht predigen.
Denn der Psalm, den wir eben gesungen haben und den wir heute nicht nur be-, sondern von ganzem Herzen und von ganzer Seele und mit allen unseren Kräften ergreifen sollten, wenn wir den Weg zum Leben suchen … dieser Psalm ist tatsächlich das Herzstück der allerersten christlichen Predigt auf Erden gewesen. Und damals sprach aus Petrus, dem galiläischen Nicht-Rhetoriker Der ihn und die anderen Jünger und die vielsprachige Festversammlung von Jerusalem erfüllende Heilige Geist selbst (vgl. Apg.2,25ff).
Darum bittet, Brüder und Schwestern, dass Ihr heute nicht mich hören müsst! … Sondern die Botschaft der ersten Pfingstpredigt, die die Krönung aller Predigten ist und bleibt.
In dieser Premierenpredigt wird die Weissagung des Propheten Joel, dass Gottes Geist die Erfüllung der Sehnsucht und Hoffnung aller Menschen befeuern werde, als Gegenwart verkündet, … als die global grenzenlose Gegenwart, in deren Mitte Psalm 16 wahr geworden ist.
Um die Welt und die Menschheit zu verstehen, müssen wir also in diesen Psalm eindringen, sagt uns der erste aller unwahrscheinlichen Zeugen, aller überraschten Lehrer, aller unvermuteten Tröster und hilflosen Wegweiser der Kirche.
Doch warum ausgerechnet in diesen Psalm?
… Psalm ist das Vertrauenslied eines Einzelnen. Eines Menschen, der sein individuelles Leben und sein eigenständiges Glaubensbekenntnis, seinen persönlichen Dienst und Lohn und seine totale Zukunft konzentriert in den Fokus nimmt. Es ist also ein ziemliches Ich-Lied …, dafür, dass es mit der Antwort auf die gesamte Erwartung der Menschheit in Verbindung gebracht wird. … Die ganz breiten, kollektiven, geschichtlichen Anliegen und Bedürfnisse des Mängelwesens und Massentieres Mensch kommen darin zunächst nicht wirklich vor: Das materielle Verlangen des Einzelnen und die Interessen-Konflikte der Vielen, … des Menschen Triebe und Not und Genuss ihrer Befriedigung, … die weltlichen Angsterfahrungen und das einzigartige Potential des vernunftbegabten Geschöpfs mit dem aufrechten Gang und der ungeschützten Haut … alles das fehlt.
Stattdessen betet hier einer, der für sich das vollkommene Glück einfach bei seinem Gott findet und sich daher bewusst trennt von allen, die auf andere Glücksversprechen und Opfer setzen.
In diesem Gebet ist also trotz - oder vielleicht gerade wegen - des genügsamen, innigen Tones von vornherein auch etwas Ausschließliches zu hören.
… Etwas, das niemand gern hört. Die allermeisten Menschen sind vom „Stamme Nimm“, wie das Eichhörnchen. Es juckt sie, immer mehr zu haben: „Hier noch und da noch, dies noch und das da auch. Ob man’s nun braucht, ob es nützt und hält oder ob es sich nur ansammelt und vergammelt: Hauptsache, es gibt auch Nebensächliches! Wichtig, dass man das Überflüssige hat! Zentral, dass möglichst viel Drumherum erscheint!“
Hätten wir nur das Nötige und nicht auch die Qual der Wahl des vielen Unnötigen, würden die meisten von uns nicht ruhen können.
Der Zwang, den uns das Mehren-Müssen auferlegt, ist eine schreckliche Sklaverei.
Und darum beginnt die Freiheit mit der Beschränkung aufs Ausschließliche: Nur Einer ist, nur Ich allein - spricht der HERR - bin Dein Gott (vgl. 2.Mose20,2f). Nichts sonst und kein anderer ist nötig.
Diese geradezu bescheidene Reduktion, dieses Vorliebnehmen mit dem Einzelnen, dem der Verzicht auf beliebige Fülle entspricht, ist ein Grundgeheimnis des biblischen Glaubens. Während alle anderen elementaren Funktionen des Daseins sich in unabsehbarer Variation und Abwechslung, in ständiger Neugier und grenzenlosem Erfindungsreichtum ausprägen, ist der Glaube die eine Vitalfunktion, die nicht durch Erweiterung des Erfahrungsschatzes, sondern durch Konzentration vertieft wird.
Je genügsamer, je gebündelter die Glaubensbindung sich also auf den Einen richtet, desto weiter und größer wird das Glück, das sie auslöst und dauerhaft schenkt.
Das ist die Grundbotschaft des Zentralpsalms, den Petrus an Pfingsten den Menschen aus allen Himmels- und Denkrichtungen, aus allen Sprachen und Hintergründen in der Mitte Jerusalems gepredigt hat.
Die Heiligen, die auf Erden sind, die nicht allem Möglichen nachlaufen, sondern im Zentrum gründen, die können dort im ganz Begrenzten das alles Umfassende, ja Übertreffende finden.
Und genau davon spricht der 16.Psalm in unscheinbaren, aber wahrhaftig grundlegenden Worten. Der ursprüngliche Beter, der in Gott sein Gut und Teil, sein liebliches Landlos und schönes Erbe findet, wird wohl ein Levit, ein Mitglied des dem Gottesdienst geweihten Stammes Levi gewesen sein: Des Einzigen unter den 12 Stämmen Israels, dem kein eigenes Gebiet im gelobten Land zugelost wurde, weil seine Mitglieder ohne Besitz an Grund und Boden von ihrem Einsatz für das Heilige im Namen aller leben sollten. … Der, dem nichts gehört, besingt hier also, dass Gott ihm alles bedeutet. … Der Mensch ohne Habe ist der Mensch des vollkommensten Heimisch-Seins im Bleibenden.
Und dieses Zugehören ist ihm so umfassend, dass er es bei Tag und Nacht, bewusstlos schlafend, aber auch mit allen wachen Sinnen als unüberbietbaren Inhalt seines Lebens empfindet. In der Dunkelheit spülen seine „Nieren“ - so heißt es wörtlich (V.7) - ihm den Segen, in dem er existiert, durch alle seine Bahnen. Und in der Klarheit seiner wieder und wieder bejahten Entscheidung schwört er Gott - auch das wiederum wörtlich -, dass Der ihm das Gegenüber (V.8) ist, als das die ersten Menschen einander in Entsprechung und Liebe zugesellt wurden.
Gott ist mein Zuhause, und ganz und gar bezogen auf Ihn bin ich vollkommen im Reinen: Das ist die dankbare, durch und durch tragende Grundbotschaft des herrlichen Glaubensbekenntnisses aus dem Gebetbuch Israels, mit dem der Heilige Geist alle christliche Predigt begonnen hat. ——
Kein Wunder, dass wir stutzen.
So schlicht kann ein Mensch im 21.Jahrhundert doch nun wirklich nicht predigen. … Denn wir wissen einfach mehr: Der Baum der Erkenntnis ist unser Schicksal. Gut und Böse und alle Zwischenstufen davon, allen Eintopf daraus kennen wir genau. Das Leben ist vielseitiger, der Mensch ist differenzierter, die Realität ist verwickelter, als dass solche einfachen Einheitsmittel uns helfen könnten. Einfältig nur den einen Gott und einzig die Bindung an Ihn zu predigen, das mag in der Antike einleuchtend und einheitsstiftend gewesen sein, aber wir in unserer unverwechselbaren und unvereinbaren Vielfalt sind von solchem unterschiedslosen Monotheismus nicht mehr zu erreichen. Wir stehen vor der Unendlichkeit der Varianten, der Geschmäcker und Ansprüche. Uns in der Komplexität und Komplikation von hier und heute kann keine Urpredigt endgültige Botschaft sein. Wir wissen mehr und darum brauchen wir mehr …..
Mehr?
… Mehr als die beiden Grundpfeiler, die den Psalm erfüllen, den Psalmisten tragen und bei Petrus die pfingstlich-globale Gemeinde gründen? … Mehr bräuchten wir, als diese Zufriedenheit und jenes Vertrauen, die der 16.Psalm atmet? …
Hand aufs Herz: Kennen wir denn überhaupt diesen Frieden? Diesen Frieden, den Gott gibt und der höher ist als alle unsere Vernunft (vgl. Phil.4,7) und stärker als alle unsere Götzen, sogar das geliebte Selbst, auf das wir so krampfhaft und verzweifelt ständig zu vertrauen beteuern? … Kennen wir dieses unbesorgte geistige und geistliche Heimatgefühl, das uns eine Sicherheit verleiht, die wir tagaus, tagein suchen und doch in keinem Augenblick wirklich beruhigt behaupten können? … Ahnen wir überhaupt noch, wie das sein muss, zu spüren, dass nichts fehlt: An uns, für uns und von uns? Dass wir „ganz“ sind, die wir doch immer nur raumzeitlich entkoppelt, seelisch überfordert, mental zerstreut, leistungstechnisch aufgeladen, emotional unterernährt und als Menschen vor lauter Entwicklungen, Erkrankungen und süchtigem Suchen Fragmente sind? Würden wir sagen können: „Das da, … Der da ist alles, was ich zum Glück brauche: Ich weiß von keinem andern Gut“!?
Würden wir still-vergnügt oder öffentlich froh bekennen: „Lieblich ist mein Los“?!
Würden wir mit reinem Gewissen das tief strömende und schwingende Mantra sprechen können: „Mein Herz freut sich und meine Seele ist fröhlich und auch mein Leib ist sich sicher“?!
Leben wir in solcher Zufriedenheit, ruhen wir in solchem Vertrauen?
– Wenn nicht: Müssten wir nicht sie alleine suchen und nichts weiter?!
– Wenn Ja: Was um alles in der Welt wollen wir mehr? ——
Mehr als dieser Psalm umschließt, ist eigentlich nicht vorstellbar. In ihm herrscht die Harmonie, die uns mangelt; er baut auf einem Gleichgewicht, das wir verloren haben.
Wie durch das erste, befremdlich genügsame Lied aus der letzten großen Krisenzeit des Glaubens, mit dem wir heute begonnen haben, fließt durch Psalm 16 das stark wie Herzton und Puls alles im Schwang haltende Lob auf Gottes abgrundtiefe Liebe, … eine Lob- und Lebenskraft, die alles durchdringt und erfüllt, „bis unser Mund im Tode schweigt“ (EG 681,4). ————
Doch zum tragenden Grund, zum Grund, der tatsächlich auch jeden Abgrund umfängt, wird dieser Psalm in seinen letzten Versen.
Bis hierhin hören wir in ihm den David der Überschrift oder einen ihn ursprünglich betenden Leviten oder die Glaubensgemeinde der das Exil überlebenden Juden in ihrer bescheidenen, aber unzerstörbaren Bindung an Gott, Der Heimat, ist oder wir hören Petrus, den Erzzeugen des Messias oder die plötzlich wie Frühlingsblumen aufgeblühte Schar der Geretteten aus aller Welt, die der Heilige Geist an Pfingsten durchdrang.
Bis hierhin hören wir also, wie das menschliche Leben in der unendlich einfachen und einfach unendlich wirksamen Bindung an Gott sein kann: Gewiss. Und gehalten. ——
Doch dann hören wir – obwohl wir tatsächlich bescheiden sein wollen und uns wahrhaftig zufrieden und überzufrieden mit der Gnade des Gottes-Glücks begnügen könnten und wirklich nicht mehr zu verlangen hätten –, … doch dann hören wir am Ende dieses Gebets glückenden Lebens jenseits allen Erfolgs, allen Habens, aller Ansprüche und Verwicklungen eine Botschaft, die tatsächlich Anfang und Ziel, Urquell und Vollendung aller Predigt und aller sonstiger Gaben des Heiligen Geistes ist!
… Davon kann ein Mensch aber nun wirklich nicht predigen, ohne getrieben von Gier oder gequält von Projektionen und Träumen zu wirken. Wäre das, was jetzt folgt, nur die Sprache unserer Wünsche oder einer symbolischen Verschlüsselung dessen, was unsereins sich immer noch mehr vorstellen und beanspruchen kann, dann wäre es so unerhört wie unwert zu hören.
Doch es ist die Sprache einer so vollständigen Ausrichtung auf Gottes Frieden, auf den Frieden, Der Gott ist, dass sie alle Zufriedenheit übertrifft wie etwas Ewiges die Zeit; es ist die Sprache eines Gottvertrauens, das mehr ist als das Vertrauen auf Gott, … Ver-trauen in Gott nämlich. Und dieser Friede, Der Gott ist, dieses Vertrauen, das in Gott herrscht: Die sprechen das aus, was mehr ist als alles, was wir behaupten, beschreiben oder auch nur hoffen und wünschen könnten.
Schon um uns wirklich das Unerhörte wünschen, … um wirklich mehr als nur das Gewohnte träumen, … um wirklich also hoffen zu können – das sagt uns die Pfingstpredigt des Petrus doch –, brauchen wir Menschen - die kein Genügen und keine Zuversicht kennen - tatsächlich schon den Heiligen Geist.
Und in Psalm 16 spricht dieser Geist Gottes ein Vertrauen aus, betet dieser Geist Gottes aus einer Gewissheit heraus, die nur in Gott gründen können: Es ist die innergöttliche Gewissheit, es ist das Jesus-Vertrauen, dass der Mensch Gottes nicht dem Tod gehört.
Und darum hören wir heute, was die Vielvölker-Schar am Wochenfest, am Pfingsttag in Jerusalem hörte: Dass in Psalm 16 der Heilige Geist das unendliche Vertrauen aus-spricht, das sich im Erleiden und in der Erhöhung des gekreuzigten Jesus Christus erfüllt hat. „Du wirst meine Seele nicht dem Tode lassen und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe“
In diesem Bekenntnissatz der letzten Gottesgewissheit über das Sterben hinaus, fängt alle Predigt an, die in Jesu Namen geschieht und vollendet sich das alttestamentliche Evangelium vom unauflöslichen Bund, den Gott mit Seinen Menschen – in Israel und in Christus – geschlossen hat.
Darum ist diese Predigt die einzige, die es gibt und die nie überboten werden kann.
Weil sie die größte Einfachheit in der größten Weite ausspricht: Dass Gott denen, die auf Ihn vertrauen, Leben und Frieden über den Tod hinaus und jenseits des Todes schenkt.
Das ist in Jesus Christus wahr geworden.
So wahr, wie Gottes Geist und Sohn im Psalm und am Kreuz diese Gewissheit verwirklicht haben.
So wahr wie Petrus sie in der Kraft des Heiligen Geistes am ersten Tag der weltweiten Gemeinde des Auferweckten bezeugt hat.
So wahr wie diese Botschaft uns heute, am ersten Tag der Woche im selben Geist und mit den selben Worten begegnet ist.
So wahr wie wir alle darum sprechen sollen und dürfen:
„Herr, Du tust mir kund den Weg zum Leben,
vor Dir ist Freude die Fülle und Wonne zu Deiner Rechten ewiglich.“
So wahr uns Gott allen dazu durch Christus Jesus, Der Selber die Auferstehung und das Leben ist (vgl. Joh.11,25) , helfe!
Amen.
… Das werde wahr!
14.So. n. Trin., 01.09.2024, Stadtkirche, Römer 8, 14 - 17, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 14.n.Trin. - 1.IX.2024
Römer 8, 14-17
Liebe Gemeinde!
Weniges ist nach meinem Geschmack dämlicher als die Kanzelgewohnheit, eine Predigt mit der Frage anzufangen: „Liebe Gemeinde! – Kennen Sie das auch?“
Und darum, liebe Gemeinde!, kennen Sie das nicht so gut. Und sind vielleicht umso peinlicher berührt oder belustigt, wenn die Predigt nachher ein zweites Mal anheben und es gleich lauten wird: „Kennen Sie das auch?“ …
Bereiten Sie sich also drauf vor, dass ich Ihnen gleich wie der Kumpel am Tresen oder ein Sokrates im Westentaschenformat jovial in die Rippen stoße, anzüglich zwinkere und eine distanzlose Nähe zwischen Ihnen und mir spiele, die uns die genau gleichen Kenntnisse und Allgemeinplätze, Plattitüden und Einerleiheiten unterstellt, so dass meine Erfahrungen wohl genauso auch die Ihren sein müssten und Ihr Horizont deckungsgleich mit meinem sein wird. Das ist volkstümlich und nahbar und wir können uns dabei unterhaken und schunkeln, da wir das ja alle kennen, was die anderen beschäftigt und bewegt, … und dann sollten wir vielleicht ein rheinisches Liedchen krächzen „Mir sin’ alle kleine Sünderlein“ und dann prosten wir uns zu oder klopfen uns gegenseitig auf die Schultern, weil wir alle prima Kerle sind und dann hatten wir ein Gemeinschaftserlebnis un’ et war schön jewesen. … —
Das kennen Sie auch, oder?
… Diese Anbiederung. Dieses schmierige Ranwanzen. Dieses ein wenig hypnotische „Wir-Gefühl“-Erpressen. Diese Illusion, dass wir alle eine große, unterschiedslose Menschenkörper- und Volksmassen-Verbindung sind, in der einer für alle spricht und denkt und alle nicht anders als der eine.
Je weniger es wahr ist, was dann als das allen Bekannte behauptet wird, desto verblüffender funktioniert der „Das kennen Sie doch auch“-Trick. Weil es immer so wirkt, als hätte da einer das Zauberwort getroffen, das alle nun wirklich mitnimmt, ja mitreißt in eine Stimmung, in der sich endlich äußert, was innerlich so lange unausgesprochen blieb. Ehre, Ruhm und Sieg den „Das kennen Sie doch auch“-Fritzen! Sieg und Ruhm und Ehre den Propheten, die es endlich sagen, was wir tatsächlich stumm und unterbewusst genau so kannten! …
Heute wird ein großer Tag für die werden, die das kennen. Für die, die populistisch die Falle stellen, mit der so viele Predigten anfangen: „Ihr kennt das auch, was ich Euch sage.“
… Ausgerechnet heute - am Tag des Kriegsbeginns 1939 - wird es wohl zu einem Massenphänomen der Zustimmung zu Parolen kommen, die behaupten, was alle fühlen und niemand beweisen muss. Und wenn dann die anderen, die politisch Verantwortlichen, die Mehrheit wohl gar, sich nicht die Mühe machen, die echten Schwierigkeiten in echter Diskussion und echtem Abwägen und Lernen und mit echten Entscheidungen zu bewältigen, dann ist es arg. …
Und nun kennen Sie mich ja auch, liebe Gemeinde!
Ich stehe hier und möchte etwas sagen. Und möchte es nicht sagen nach Art derer, die unterstellen, dass alle Hörer ihnen Recht geben und damit auf den Leim gehen müssen. Und möchte es doch gleichzeitig sagen in der tiefen, ganz tiefen, ja abgrundtiefen Überzeugung, dass es um etwas geht, das zum Segen und zur Rettung würde, wenn es nur mehr, wenn es nur alle wüssten und wenn viele, … immer mehr es glauben dürften und festhalten könnten, um es dadurch mit ihrem ganzen Leben zu vermehren und also auszuteilen.
Aber wie kann man sagen, was alle kennen sollten, ohne allen vorzuschreiben oder unterzuschieben, dass sie es ganz unzweifelhaft längst doch schon kennen, meinen, wollen und teilen?
……. Versuchen wir’s. – Aber es klappt womöglich nicht. …
Liebe Gemeinde!
Kennen Sie das auch? - Die Welt?
(Da müssen Sie jetzt nicken und über eine so banale Frage lächelnd natürlich die selbstverständliche Antwort der kopfsenkenden Zustimmung geben. _ „Der Spaßvogel! Fragt, ob wir die Welt kennen?! … Wer kennt die denn nicht?“)
Liebe Gemeinde!
Kennen Sie das auch? - Das Leben?
(Das gleiche Spielchen: Wieder ist es ja klar, dass man da ja wohl nur bestätigen kann, natürlich im Bild zu sein und ganz genau Bescheid zu wissen. … Nett, wie man plötzlich merkt, dass man die wirklich wichtigen Dinge so sattelfest beherrscht!)
Liebe Gemeinde!
Kennen Sie das auch? - Den Sinn?
(Nanu?! Das ist natürlich jetzt ein bisschen happig. Kommt so philosophisch rüber. Aber wer die Welt und das Leben kennt, wird jetzt nicht passen können. Irgendwie ist der Sinn da vermutlich doch inklusive. … Also klar! … Kennen wir auch!)
Nun gut, liebe Gemeinde! Wenn wir das alles kennen - Welt, Leben und Sinn -, dann müssen wir nur noch die Rumpelstilzchen-Frage beantworten, … die Frage, die in Bibel und Märchen und Philosophie und Wissenschaft den Schlüssel zu allem bietet: Die Frage nach dem Begriff für eine Erscheinung oder ein Wesen. Wenn wir den Begriff, den Namen dafür haben, dann kennen wir’s wirklich, dann ist es uns möglich, es einzuordnen und im Einordnen es auch unterzuordnen. – Sag’ mir die Formel, sag’ mir den Nenner für das, was Du kennst und Du bist der Herr, Du bist die Meisterin.
Wie also sagen wir zur Welt, zum Leben, zum Sinn: Zu diesen allervertrautesten essenziellen und existentiellen Phänomenen und Wirklichkeiten, die uns umgeben, ausmachen und erfüllen??
… – Soll ich anfangen? Ich, der ich mich ein einziges Mal außerhalb des Abendlandes und seines Sonnenstands und seiner Jahreszeitenverteilung, seines Klimas und seiner Geschichte aufgehalten habe? Soll ich sagen, was ich von der Welt weiß? Ich, der zwei Drittel eines einzelnen, winzigen Lebens gelebt hat, … ich soll das Leben nennen, das in milliardenfacher Verästelung und unerschöpflicher Vielfalt immer wieder neu geschaffen und gesegnet wird?
Ich, der ich so beschränkt und unerfahren bin, sollte den Sinn im Allgemeinen auf einen bündigen Begriff bringen?
… – Sie kennen es auch, liebe Gemeinde, was dabei herauskommt: Plötzlich heißt das alles eben nur noch „Ich“.
Die Welt, wie ich sie so ein winziges Bisschen erlebt habe, ist ein Stück von mir.
Das Leben, das ich nur bei mir selbst vielleicht ein wenig unterhalb der Oberfläche verstehe, ist darum natürlich ebenfalls eine Funktion meines Ichs.
Und auch der Sinn, den ich suche und verfolge, ist so getränkt und so gefärbt von mir, dass auch er schließlich bloß aussieht und wirkt, wie das, was Ich bin. Der Name für die Welt und das Leben und den Sinn ist leider immer eine Variante des Wörtchens „Ego“. - Oder wenn ich ein ganz harter Hund, ein Theoretiker reiner Abstraktion, ein Wissenschaftler vom Schlag der Alleszermalmer bin, dann kann ich zu dem allen auch sachlich etwas sagen.
Aber weder meine Beschränkung als Subjekt noch die Flucht ins Objektive eröffnen wirkliches Wissen, … jenes biblische Erkennen, das eine Gestalt der Liebe des Anderen, des Annehmens des Fremden, der Verbindung mit dem ist, was ich nicht bin.
Und darum kann alles bei uns eigentlich nur anfangen und schließen mit einer ganz anderen als der populistischen, der nur scheinbar einvernehmlichen, in Wirklichkeit aber nur selbstsüchtigen Frage und Antwort zu dem, was wir vermeintlich alle kennen und teilen. ———
Bei uns kann’s nur heißen:
Liebe Gemeinde!
Kennen Sie das von selber auch nicht? – Dass man zur Welt einfach „Mutter“ sagt?! …
Kennen Sie das auch nicht, dass man das Leben und alle Lebendigen ehrlich „Schwester“ nennt oder „Bruder“?! …
Kennen Sie das auch nicht, dass man zum Sinn der Welt und des Lebens ein unerschütterliches Vertrauensverhältnis hat wie zu einem zwar fernen Nächsten, einem Kind oder sonstigem Angehörigen, mit denen die Verbindung untrennbar und jenseits jeden Zweifels ist, auch wenn die jeweilige Gegenwart nicht zusammenfällt?! …
… Kennen Sie das auch nicht?
… Kennst Du das auch nicht?
– Dann ist der Brief an die Römer eine Nachricht an Dich! Dann ist die Botschaft des Evangeliums eine Neuentdeckung, die Dein Leben vollkommen verändern und heilen kann. Dann ist das Geschenk des Heiligen Geistes das, was Dir in dieser Welt, in diesem Leben an Sinn und Glück fehlt.
Das alles ist nämlich nichts anderes, als die Gabe, die Vielen so verächtlich vorkommt: Die Gabe, ein Kind Gottes sein zu dürfen.
Von dieser allereinfachsten Gabe spricht ausgerechnet das anspruchsvolle, hochgeistige, tiefsinnige Doppelkapitel Römer 7 und 8, in dem die Verloren- und Verlassenheit des Menschen, seine ganze egoistische Selbstbezogenheit und seine atemberaubende Befreiung und Erneuerung durch den schöpferischen Geist Gottes beklagt und besungen wird.
Dass wir so an uns selber gefesselt sind, dass alles nur wie ein verzerrtes Echo und ein ewig weitergehendes, verkehrtes, immer verkleinerteres Spiegelbild unserer selbst wirkt und wir nichts finden, das sinnvoller, lebendiger und größer wäre als unser Ego: Das ist der Horror. Und dass es in Wahrheit ein Ur- und Weltvertrauen, eine dankbare Zuversicht in das Leben, eine immer wieder ins Sorglose spielende, kindliche Unbelastetheit gibt, in der wir den herrlichen Psalm dieses Sonntags (Ps.103) jubeln können: Das ist das Wunder über alle Wunder, das der Glaube bedeutet, durch den wir das einfache Wort lernen, mit dem unser Beten anfängt und das auch Du kennst, liebe Gemeinde:
„Abba“: Semitische und auch indogermanische Wurzel des klaren Gefühls des Nicht-Allein-Seins, des Dazu-Gehörens, einer dankbaren Selbständigkeit und gleichzeitigen Sich-Verlassen-Dürfens.
„Vater“ zu sagen – oder welches Wort solche Nähe und Treue und Freiheit und Sicherheit am besten ausdrückt – „Vater“ zu sagen, ist kein Rückfall, keine kindliche Unreife, keine blödsinnige Babyhaftigkeit.
Das „Abba“, mit dem alle Gebete, die Dank- und Vertrauens-, genauso wie die Klagegebete Jesu beginnen (vgl. z.B. Matth.11,25; Joh.17,1; Joh,12,27)), … das „Abba“, das er noch in Gethsemane, in der Krise seiner Anfechtung ruft (vgl. Mk.14,36!), … das „Abba“, das am Kreuz erklang und aus dem Tod schon die Heimkehr zum Vater machte (vgl. Lk.23,46), … das „Abba“, das bereits Jesaja, der Prophet der Verlorenen betete (vgl. Jes.63,16) und das in der Synagoge an den hochfeierlichen Tagen zwischen Neujahr und dem Versöhnungstag in der Litanei „Avinu, Malkeinu“: „Unser Vater und unser König“ unendlich ergreifend gesungen wird, … das „Abba“, das Jesus aus diesem Gebet der ersten und der letzten Tage zum Gebet an allen Tagen aller Menschen überall erhob, indem er es uns lehrte und gleich wieder mit uns spricht, … das „Abba“, das dem Paulus eine solche Offenbarung der Gemeinschaft mit dem eingeborenen Sohn Gottes bedeutete, dass er es unmittelbar in der Sprache des Sohnes und des Heiligen Geistes in die Muttersprachen aller Christen pfingstlich einfließen ließ (vgl. Gal.4,6), … dieses „Abba“, das wir rufen und spüren, das wir im Vaterunser beten und im stummen Schrei der Seele tröstend brennen gewahren, … dieses „Abba“, das Paul Gerhardt und unser Düsseldorfer Crasselius uns auch im Singen auf die Zunge legen (EG 328,4 & 351,7), ………… dieses „Abba, lieber Vater“ das ist die Freiheit und die Wahrheit, die Angstlosigkeit und die Kraftquelle unserer Gotteskindschaft.
Es macht uns nicht unmündig, sondern im Gegenteil.
Es eröffnet uns die ganze Wirklichkeit, die wir sonst nicht kennen: Dass die Welt nicht nur mein enger Ausschnitt davon ist, sondern ein unendliches Erbe, das allen Kindern und Ge-schöpfen Gottes gehört, … und dass mein Ich nicht das Leben bedeutet, sondern dass mir und allen anderen von meinem Vater, von unserm Vater das Leben geschenkt und erhalten wird in einer Fülle und Herrlichkeit, die einfach unermesslich sind, … und dass es deshalb an keiner Stelle nur auf meinen Sinn und Verstand, nur auf unsere schwachen Kräfte oder reichlichen Katastrophen ankommt, sondern dass der Wille unseres Vaters im Himmel und Sein Reich die Garantie und die Verheißung dafür sind, dass keins Seiner Kinder verderben, sondern an ihnen allen Sein Vater-Name geheiligt werden soll.
Wer „Abba, lieber Vater“ zu Gott sagen darf und kann, … wer diesen Namen voller Urvertrauen, dieses „Du“ der ursprünglichen Zuversicht auf Liebe vor allen Missverständnissen und Konflikten sagen, singen und beten kann, … wer auf diese Weise sich eingebunden findet in eine Welt, die so ganz anders ist als die, die wir kennen – voll Messerstechens und Fremde-Hassens und Kriegsgeheul, voller Gewaltspiralen, Selbstsucht und Todestrieb – wer auf diese Weise sich eingebunden findet in eine familiäre Hoffnung und Liebe, die allen gelten, die mit uns in der Welt leben und nach dem Anfang auch das Ziel suchen, … wer als Kind Gottes also im Glauben daran leben und sterben darf, dass der Vater nicht nur den Sohn, sondern uns alle verherrlichen und in Sein Reich des Friedens bringen wird, … wer so im Geist der Kindschaft fröhlichen rufen, singen und bekennen kann, dass unvergesslich ist, was der HERR Gutes an uns getan hat (vgl. Ps.103,2) ….. wer das alles kann und darf und wagt und will und gar nicht lassen mag: Kennen Sie den auch, liebe Gemeinde? …
… Wenn nicht, … dann ist es umso besser.
Denn dann wirst Du es kennenlernen:
Das bist nämlich Du, wie Gott Dich will und wie Er Dich erwählt hat und vollenden wird.
Lobe den HERRN, meine Seele!
Amen.
9.So.n.Tr., 28.07.2024, Mt.13,44-46, Mutterhauskirche, Pfr.i.R. Ulrike Heimann
„In Krisenzeiten auf Schatzsuche gehen“
Liebe Gemeinde,
nein, Jesus ist kein Theologe gewesen und er hat nichts Schriftliches hinterlassen. Er sprach nicht die Gelehrtensprache seiner Zeit, sondern das Aramäisch der kleinen Leute. Die literarischen und philosophischen Werke der antiken Welt kannte er wohl nicht – weder die griechischen noch die römischen. Er hatte weder die Akropolis gesehen noch das Forum Romanum. Seine Welt, das waren die Dörfer und Kleinstädte Galiläas, da kannte er sich aus. Er wusste um das harte Leben der Menschen, um ihren arbeitsreichen und mühevollen Alltag, um ihre Sorgen und Nöte. Und mit ihnen suchte er Kraft und Orientierung im Glauben der Väter und Mütter, wenn er am Sabbat mit ihnen den Gottesdienst in der Synagoge besuchte und die Worte der Thora vernahm. Alle hörten dieselben Worte, aber er verstand sie neu, der Geist Gottes sorgte dafür. Sie gaben seinem Leben eine neue Wendung, Nichts, was war, musste so bleiben. Alles konnte sich ändern, sich wandeln – die Verhältnisse, die Beziehungen zwischen den Menschen. Aber zuerst der einzelne Mensch selbst. Der Wurzelgrund für das Neue – Jesus nannte es das Reich Gottes oder das Reich der Himmel – das war das Herz jedes einzelnen. Er brach auf, um andere an dieser Erfahrung teilnehmen zu lassen. Wie sag ich, was mich erfüllt, so, dass mich meine Mitmenschen verstehen, nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen? Darum ging es ihm. Er entschied sich gegen lange Vorträge und für prägnante Bildergeschichten, Geschichten aus dem Alltag der Menschen in Galiläa, die sie neugierig machen sollten auf mehr – auf ein anderes Leben mitten im Alten, auf neue Erfahrungen mit Gott mitten in dieser Welt und Zeit. Denn das Himmelreich/Reich der Himmel ist kein Reich jenseits dieser Welt, es kommt nicht später, sondern es ist „mitten unter uns“; man kann nicht sagen „hier ist es oder dort ist es“, man kann es nicht dingfest machen, sondern es ist „inwendig in uns“; es ist nicht von dieser Welt, es gehorcht nicht ihren Regeln, aber es ist für diese Welt, es ermuntert zu einem neuen Miteinander und einem neuen Umgang mit der Welt – so wie ihn sich Gott für seine Menschenkinder gedacht hat.
Der Evangelist Matthäus hat das 13.Kapitel – also ziemlich die Mitte seines Evangeliums – den Reich Gottes- oder Himmelreichsgleichnissen gewidmet, ihnen damit den Stellenwert als Herzstück der Verkündigung Jesu eingeräumt. Zwei dieser Gleichnisse – die beiden kürzesten – begegnen uns heute als Predigttext.
„Das Reich der Himmel gleicht einem Schatz, der im Acker vergraben ist: ein Mensch entdeckte ihn und vergrub ihn wieder. Voller Freude ging er los und verkaufte alles, was er hatte. Dann kaufte er diesen Acker. Ebenso gleicht das Reich der Himmel einem Kaufmann: Der war auf der Suche nach schönen Perlen. Er entdeckte eine besonders wertvolle Perle. Da ging er los und verkaufte alles, was er hatte. Dann kaufte er diese Perle.“
Ganz wichtig, um nicht auf eine falsche Fährte zu kommen, ist der Hinweis, dass Jesus hier nicht das Reich der Himmel mit einem Schatz oder einer Perle vergleicht. Es geht nicht um eine Schatzsuche oder einen Schatzfund wie den von Ali Baba und den 40 Räubern in dem Märchen von Tausend und einer Nacht. Das Reich der Himmel oder das Reich Gottes ist kein Gegenstand, sondern es ist Ereignis. Es geschieht. Und darum braucht es Menschen, die durch ihr Handeln das Himmelreich auf die Erde ziehen, es wirklich werden lassen. Schauen wir, um welches Handeln und Verhalten es in den beiden Gleichnissen geht. Im ersten Gleichnis geht es um einen Zufallsfund. Ein Mensch (das kann ein Mann oder eine Frau sein) ist unterwegs, er kommt vielleicht gerade von zuhause, ist in Gedanken mit seinen Alltagssorgen beschäftigt, stolpert über einen holprigen Acker – und macht den Fund seines Lebens. Was tun? Der Acker gehört ihm nicht. Den Schatz einfach mitzunehmen, das wäre Diebstahl, darauf ruht kein Segen. Er muss den Acker erwerben. Also den Schatz erst wieder verbuddeln, nach Hause eilen, alles Geld zusammenkratzen und den Acker kaufen. Das Reich der Himmel – wir können es erleben mitten auf unserem Weg über den oft holprigen Acker unseres Lebens. Wir können ihm unvorhergesehen begegnen. Es ist da, wo wir uns ansprechen lassen und wo wir unser Herz sprechen lassen und klug und überlegt handeln.
Das zweite Gleichnis beginnt damit, dass ein Kaufmann gezielt schöne Perlen sucht, mit denen er handelt. Er kauft sie und verkauft sie mit Gewinn weiter. Doch auch hier ist es Zufall: sein Blick fällt auf die eine Perle, sie ist wunderschön und von großem Wert. Um sie zu erwerben, trennt er sich von allen anderen. Eine Entscheidung von nicht unerheblicher Tragweite. Vielleicht hat er sich verspekuliert. Die Schönheit und der Wert liegen im Auge des Betrachters. Aber der Kaufmann handelt, wie es ihm sein Herz – mehr noch als sein kaufmännischer Instinkt – gebietet.
Alles oder nichts – ganz oder gar nicht: darum geht es, wenn man ein Stück vom Himmelreich erleben will. Entschlossen und entschieden zu handeln, wenn es darauf ankommt, sei es, während man nichts ahnend über den Acker seines Lebens stolpert, sei es, während man auf der Suche ist nach dem ganz Großen.
Jesus ist jedenfalls überzeugt: das Reich der Himmel wartet auf Menschen, die sich entscheiden, den Weisungen Gottes für ihr Leben zu folgen und entschieden handeln – klug und besonnen und risikobereit und mutig ihrem Herzen folgend.
Lassen Sie mich diese beiden Mini-Gleichnisse in unsere Zeit und in unseren Alltag hineinholen mit zwei wahren Geschichten, in denen das Reich der Himmel sich auf unserer Erde / unter den Menschen ereignet hat.
Die eine Geschichte ereignete sich in einem Dorf im Hochland von Papua-Neuguinea. Die Protagonistin heißt Elisabeth. Sie war von einer Frauenkonferenz in ihr Dorf zurückgekommen und hörte schon von Weitem lautes Wehklagen. Ein junger Mann aus ihrem Dorf war gestorben. Nach Meinung des Dorfes konnte nur Hexerei die Todesursache sein. Einige verdächtige Frauen wurden in eine Hütte gesperrt, befragt und gefoltert, um die Schuldige zu finden und umzubringen. Das ist auch dort nicht erlaubt, aber üblich. Eine der Frauen war Elisabeths Freundin. Verzweifelt hat Elisabeth die ganze Nacht geweint und gebetet. Am Morgen ging sie dann zu den Wachen der Hütte und sagte: „Ich gehe jetzt an euch vorbei und nehme meine Freundin mit. Sie ist Gottes Kind, keine Hexe. Hier geschieht Unrecht und es ist mir egal, was ihr mir antut.“ Mutig hat sie die Türe geöffnet und ihre Freundin mitgenommen. Sie hat alles riskiert! Das Dorf hat das staunend beobachtet. Es ist nichts passiert, niemand wurde verurteilt!
Die andere Geschichte hat der Zeit-Redakteur Bastian Berbner recherchiert. Sie erzählt, wie eine Begegnung das Leben von Harald und Christa Hermes um 180 Grad ändert: Die Hermes leben vor sich hin in ihrer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, in der sie seit bald 50 Jahren wohnen. Ausländer/Migranten mögen sie nicht, die bringen nur Probleme. Sie fühlen sich in ihrer Meinung bestätigt, als immer mehr Flüchtlinge in die Reihenhaussiedlung ziehen. Dann zieht auch noch eine Roma-Familie in die Wohnung über ihnen ein. Die Kinder rennen und trampeln, die Hermes müssen ihren Fernseher lauter stellen. Am nächsten Tag tropft Wasser auf ihren Balkon herunter. Wutentbrannt rennt Christa nach oben, stürmt durch die Wohnung auf den Balkon. Auf einer Leine hängt Wäsche, tropfnass. So geht das nicht! Die neue Nachbarin führt Christa ins Badezimmer. Da versteht sie: Die Frau hat die Wäsche in der Wanne gewaschen. Christa erinnert sich an früher; als Kind musste sie auch Wäsche mit der Hand waschen. Sie schaut sich um. Kein Wäscheständer. Auf dem Herd steht eine Erdnuss-Dose, in der die Frau Babynahrung warm gemacht hat. Es scheint kein Geschirr zu geben. Außerdem ist es viel zu warm in der Wohnung für einen sonnigen Apriltag. Christa Hermes deutet fragend auf den Heizkörper, und die Frau erklärt ihr in gebrochenem Deutsch, die Kinder frören nachts in den Betten, sie hätten keine Decken, keine Kissen, nur ihre Pyjamas. „Da wurde es bei mir erst mal heller im Kopf“, erinnert sich Christa Hermes. Den Rest des Tages verbringt sie damit, ihre neuen Nachbarn mit Dingen, die sie nicht mehr braucht, auszustatten: Wäscheständer, Töpfe, Geschirr, Decken, Bettwäsche, eine alte Kaffeemaschine, die noch voll funktionstüchtig war. Bald trinkt sie mit der Frau Kaffee, von der sie jetzt weiß, dass sie Rosi heißt. Schnell sitzt der kleine Milan auf Christas Schoß. Dann kommt ihr Mann Harald dazu und erfährt, dass Robert, der neue Nachbar, in Serbien als Kfz-Mechaniker ausgebildet worden war. Dass sie denselben Beruf haben. Für alle der Beginn einer langen Freundschaft. „Wir können uns das selbst nicht erklären“, sagt Harald. Und Christa sagt: „Dass das Herz so voll Liebe sein kann für fremde Menschen.“ (Bastian Berbner, 180 Grad. Geschichten gegen den Hass, München 2019) Bastian Berbner hält fest: „Innerhalb weniger Wochen waren die „Zigeuner“ zu Menschen geworden, zu Robert, Rosi, Milan, Anastasia, Christina und Monika. Zu den engsten Freunden der Hermes. Die Hermes füllten eine Lücke im Leben „ihrer Serben“, wie sie ihre Nachbarn damals bald nannten. Sie zeigten ihnen Hamburg, erklärten ihnen Deutschland. Und ihre Serben füllten eine Lücke im Leben der Hermes, die gar nicht gewusst hatten, wie sehr sie sich danach sehnten, gebraucht zu werden.“
Das Reich der Himmel in unseren Alltag einziehen zu lassen, sich zur Liebe anstecken zu lassen, macht froh. Geschichten wie diese geben unserem Glauben Hand und Fuß und zeigen auf, dass wir auch ganz anders können. Gerade die zweite Geschichte kennt viele Parallelgeschichten, die sich in den letzten 10 Jahren auch hier in Kaiserswerth ereignet haben – in Zeiten der Flüchtlingskrise und auch nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. Krisenzeiten sind immer auch Zeiten, die Gelegenheiten bieten, dem Reich der Himmel Raum zu geben und darüber von Herzen froh zu werden. Paradox – aber wahr.
Darum: nutzen wir die Krisen unserer Zeit, und gönnen wir uns himmlische Freude. Amen.
7. Sonntag n. Trinitatis, 14.07.2024, Stadtkirche, 2.Mose 16 i.A., Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 7.n.Trin. – 14.VII.2024
2.Mose 16 i.A.
Liebe Gemeinde!
Es ist ein naheliegender Tag, um über Hunger und Brot zu sprechen.
Heute vor 235 Jahren stürmte die aufgebrachte Pariser Bevölkerung die Bastille, das Sinnbild der Zwangsherrschaft des Absolutismus.
Mit dem Aufbrechen der symbolischen Festung kam die Revolution in Gang, die sich akut zusammenbraute, seit die Missernten von 1787 und 88 die Kornpreise und mit ihnen die schwärende Unzufriedenheit in gewaltige Höhen getrieben hatten. Es waren die auch hierzulande knappen, kargen Jahre, in die die Gründung unserer Gemeinde und der Bau der beiden historischen Häuser links und rechts der Stadtkirche fällt:
Jahre, in denen das Grundnahrungsmittel knapp und kostbar wurde, waren unser Anfang.
Jahre, in denen das Marie Antoinette zugeschriebene Wort vom Hefezopf - der brioche -, den die Armen eben statt Brot essen sollten, wenn sie so arg hungerte, kein mokantes Zitat, sondern echten Schmerz bedeutete.
Jahre, in denen niemand beten konnte, was auch wir beten, ohne ganz anders als wir tatsächlich auch zu wissen, worum man bat, wenn es ums „tägliche Brot“ ging. —
Diese Hungerjahre, in denen das evangelische Kaiserswerth entstand, waren weltgeschichtlich eine Epoche, die mit brutaler Gewalt, aber auch mit Ansätzen zu demokratischer Gesellschaftsordnung, zu ökonomischen Utopien und Theorien und zu materialistischen Philosophien der menschlichen Not zu Leibe rückte.
Es war jene Zeitenwende, die zum ersten Mal eine Lösung der existentiellen Menschheitsfragen suchte, die Gott ausdrücklich ausschloss!
… Dass die Fliedners das drängende Problem der Armut und Verelendung in der Industrialisierung mit einer Mischung aus praktischen und geistlichen Mitteln angingen, dass sie ausbildeten und durchbeteten, war insofern schon eine antirevolutionäre Weichenstellung: Sie erkannten, dass Erziehung und Pflege, gesellschaftliche Fürsorge und persönliche Stärkung von Benachteiligten ungemein dringlich waren, … aber zugleich blieb ihnen die Notwendigkeit göttlichen Beistands vor und in allem Irdischen unerschütterlich gewiss.
… Indes: Dass bloßes Brot, dass bloße leibliche Versorgung den Menschen immer noch in tausend Nöten lässt, ist eine Erkenntnis, die zwar von solchen eindeutig christlich geprägten Kreisen wie den diakonischen Werken des vorletzten Jahrhunderts hochgehalten wurde, sich aber seither je länger, desto mehr verlor.
Wenn alle schließlich Brot und Kuchen hätten, dann wäre alles gut: So haben es die Weltanschauungen des Kommunismus wie des Kapitalismus – beides Kinder der nachfeudalen Welt, die mit dem 14.Juli 1789 begann –, bei allem Gegensatz übereinstimmend gelehrt. Die äußeren Bedürfnisse müssen gedeckt sein. Dafür müssen Revolution oder Produktion sorgen. Dann herrscht nicht nur Wohlfahrt, sondern Glückseligkeit!? …
Dass das nicht wahr ist, wissen wir.
Man kann im Zucker verschüttet und in Sattheit begraben sein, man kann vor Köstlichkeiten würgen und am Behagen irrewerden: Das wesentlichste aller Bedürfnisse, das tiefste Verlangen aber, wird dadurch nicht im geringsten gestillt …, allenfalls betäubt. … Es bleiben mitten im vermeintlich schönsten Leben ein Loch und eine Leere.
Diese Erfahrung – so alt wie die Menschheit, die nicht nur Sättigungssorgen, sondern auch Seelensorgen hat – … diese Erfahrung, dass der Mensch nicht von Lebensmitteln allein lebt, sondern von dem, was mehr ist als sein Leben, reicht zurück bis zur ersten Revolution, die uns angeht: Dem Exodus, als die versklavten Kinder Israels, mit denen Gott einen ewigen Bund geschlossen hat, endlich die Freiheit atmeten.
Sie trugen keine Ketten mehr, sie waren aus dem erniedrigenden Zwang und der zerbrechenden Fron gelöst und in die Weite der Möglichkeiten, in die offene Welt der Zukunft entrückt worden:
Mit dem Leben davongekommen, sollte Land in Zukunft nicht mehr nur Erdreich für die Backsteine bedeuten, die sie zu fremden Gräbern formten und ihre Muskeln und Knochen sollten nicht mehr bloß die quälenden Befehle anderer ausführen, weil ihre Arbeit und der Boden sie bald selbständig ernähren und ihnen als Werk und Ernte im Segen zugutekommen würden.
Diese reichen Menschen – zukunftsreich und aussichtsreich – waren aber dennoch leer.
Ihnen – den nachrevolutionären Menschen in einer neuen Welt voller Möglichkeiten – fehlte das Wichtigste.
… Sie meinten, es sei Essen.
Doch es handelte sich um etwas Anderes.
Nicht zufällig begegnen das Murren wegen des Durstes und das Klagen über den Hunger bei den Befreiten, ehe sie am Sinai den durch ihre götzenbilderfordernde Ungeduld beinah vereitelten Bund mit dem Höchsten schlossen. Sie waren frei … also buchstäblich ungebunden, … beziehungslos.
…Solche Beziehungslosigkeit aber reicht nicht.
Sie reichte in der ersten Freiheit damals nicht, und sie reicht in unserer letzten Freiheit heute nicht.
Der Mensch muss nicht nur verdauen, er muss auch vertrauen können. Er braucht nicht nur Zufuhr, sondern Zuwendung, … Brot und Liebe.
Und danach jammerten die Israeliten in ihrem Auf-sich-allein-gestellt-Sein.
Was Gott ihnen aber daraufhin schenkte, ist mit der von der Forschung immer wieder vor-gebrachten armseligen Erklärung, dass auf der Sinaihalbinsel bestimmte Schildläuse Tamariskensaft saugen und ein süßliches Nährsekret dabei absondern, das zu essbaren Kügelchen gerinnt, in gar keiner Hinsicht erläutert[i]. Es geht bei dem, was die Israeliten da von Gott empfangen, nicht um Proteingehalt oder Nährwerte. Ganz deutlich sieht man das am willkommenen Wachtelzug, der als Nahrungsquelle für die Wüstenwanderer zwar viel substantieller war, aber in der theologischen und kunstgeschichtlichen Nachwirkung geradezu bedeutungslos blieb.
Das Wunder des Manna ist nicht, dass es schmeckt und sättigt, sondern dass es die tiefste, unmittelbarste, leiblichste Gestalt der Fürsorge Gottes ist!
Es ist – wie Mose es ankündigt und wie wir es bis zum heutigen Tag und auch in Zukunft nie auch nur annährend dankbar genug begreifen können – tatsächlich ja „Brot vom Himmel“!
Die Wirklichkeit, die keinen Hunger mehr kennt, kommt also zur Erde, um den Sterblichen Leib und Seele zu sättigen!
Das Reich der reinen Freiheit nimmt die Gestalt an, auf die wir angewiesen sind!
Der Ewige nimmt Teil an der völlig vorübergehenden, für uns aber lebensnotwendigen Realität des Stoffwechsels, bei dem Erde Weizen und Weizen Mehl und Mehl Speise und Speise Energie und Energie zur organischen Lebenskraft im Fleisch wird!
Wer darum „Himmel“ und „Brot“ in einem Atemzug nennt, verbindet das Über- mit dem Nichts-als-Irdischen! Wer „Himmel“ und „Brot“ als Ursache und Wirkung zusammenfügt, der bekennt, dass nichts unmöglich, nichts unversöhnlich, nichts unvereinbar ist. …
Wer „Himmel“ und „Brot“ in ihrer Gemeinsamkeit wahrnimmt und annimmt, der steht vor dem Geheimnis, dass „Gott“ und „Mensch“ zuletzt also nicht als Gegenpole, sondern in ihrer Einigkeit gesehen werden sollen.
Himmel und Brot – …
Gott und Mensch – …….
… Nanu? – …………
Ja! … Nanu!
… „Man-hu“? … Was ist das?
Das Manna: Wer ist das? ———
Man muss nicht Thomas von Aquin heißen, um bei dieser Frage, die ja eine Antwort ist, andächtig bewegt zu werden.
Wobei es anrührend ist, wie der größte Theologe des Mittelalters, der philosophischste und das heißt begreifens- und begriffsfreudigste Kopf des Abendlandes seinerzeit vor dem Geheimnis des Himmelsbrotes schlicht zum staunenden Dichter wurde:
Gewöhnlich hat Thomas alle Fragen und Antworten, alle Einzelheiten und die Summe der Glaubensreflektion in strenger Systematik durchsiebt, abgewogen und geordnet. Angesichts der Tatsache aber, dass Gott niemals aufhört, dem Sinnhunger, dem Hoffnungshunger, dem Lebenshunger des sonst unerfüllten Menschen Brot vom Himmel zu schenken - in der Eucharistie, im Abendmahl -, konnte und wollte Thomas nicht als Botaniker die Trockenblumen der Theologie sortieren, sondern als Bekenner der unerreichbaren Herrlichkeit dessen, was der seligmachende Schöpfer schafft, einfach singen.
In seinem Lied auf das Sakrament,[ii] in dem er staunend nachbetet, wie die geistige Wirklichkeit Gottes - das Wort - erst Fleisch wird und wie diese irdische Wirklichkeit Gottes - der leibliche Mensch Jesus Christus - dann Brot für die Seinen wird, findet Thomas für das göttliche Wunder des Stoffwechsels ein wunderbares menschliches Organ: Mögen Sinne und Verstand es auch nicht nachvollziehen können, so wird es dem hungrigen Herzen doch gewiss „allein durch den Glauben“. … Tatsächlich: Die evangelische Ur-Losung „sola fide“ beschreibt bei Thomas von Aquin den dankbaren Empfang jenes Brotes, mit dem Gott die Seinen speist! ———
Und diese Glaubensstärkung, diese nur staunend zu erlebende Lebenserfüllung, diesen Genuss dessen, das direkt von Gott in unser Leben kommt, ersehnten und erfuhren die Israeliten im Manna, das sie auf der Wüstenwanderung erhielten … und das sie erhielt. Es ist also kein Zufall, keine Wortspielanekdote, dass das Wunder der täglichen Lebenszuwendung Gottes zu den Seinen mit dem Ausruf fragenden Staunens, mit der mystischen Formel der Unbegreiflichkeit bezeichnet wird: „Man-hu? Was ist das?“
… „Was ist das?“
Mit diesem Wundern übers Wunder hebt biblische Offenbarung an.
„Wie ist sein Name?“ (2.Mose3,13) kommt es über Moses Lippen am brennenden Dornbusch.
„Wie heißt du?“, fragt Manoah, Simsons Vater den Engel der Verkündigung (Richter 13,17).
Und dann beim „Ave, Maria“: „Welch ein Gruß ist das?“ lautet die meditierende Frage Mariens im Augenblick, da die Fleischwerdung des Wortes beginnt (Lk.1,29).
Und sie selbst, die Hochbegnadete wird von Elisabeth alsbald begrüßt mit dem Echo dieses Sinnens über dem Geheimnis zart: „Wie geschieht mir, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?“ (Lk.1,43)
Und dann sinkt Paulus unter dem herrlichen Aufstrahlen des lebendig erhöhten Herrn Jesus mitten auf der Hauptstraße des Vorderen Orients in die Knie und ruft: „Herr, wer bist du?“ (Apg.9,5).
„Was ist das?“
„Wie kann es wahr sein?“
„Wie sollen wir es fassen?“: Die Manna-Frage zieht sich durch alle Generationen und Zeiten, durch alle Schichten und Formen des Glaubens. —
Was ist das, dass Gott auch mitten unter uns wirkt?
Was ist das, dass der unsichtbare, himmlische Gott die Not der Menschheit in ihrem geschöpflich-geschichtlichen Dasein tatsächlich kennt und Selber lindern will?
Was ist das, dass Gott uns das Leben nicht nur schenkt, sondern es uns auch erhält, dass Er uns Leib und Leben mit Sich Selbst erfüllt und durch Sich Selbst errettet?
Täglich, stündlich, immer muss man sich doch wohl so fragen! … Man-hu?!!! ——
… Und deshalb kann man Manna nicht auf Vorrat sammeln.
Man kann nicht im Voraus glauben; man kann nicht für morgen schon die kommende Plage, den Hunger des nächsten Tages überwinden; man kann nicht vorwegnehmen, woran man sich halten und womit man durchhalten wird. Man kann ja auch nicht im Futur lieben oder sich jetzt schon mit der Erfahrung von später, der Weisheit des Alters, dem Trost im Sterben eindecken.
Man kann nur, wie Israel es in der Wüste begann, von Tag zu Tag das, was zum Leben notwendig, was im Glauben bestärkend, was für Leib und Seele hier und dort gesund ist, sammeln und davon zehren.
„Unser tägliches Brot gib uns heute!“
Das ist die von Jesus auf unsere Zungen und in unser Herz gelegte Manna-Bitte: Gib uns das, was wir von Dir auf unserer Wüstenwanderung, bei unserer Lebenssuche, in unseren inneren und äußeren Bedürfnissen und Nöten brauchen … für jetzt.
Wir können’s uns ja nicht selbst geben oder beschaffen. Und wir können uns daran nicht be-reichern oder dauerhaft damit versorgen. Wir bleiben immer angewiesen. ——
Es wäre die wirklich nötige, es wäre unsere christliche Revolution, wenn wir diese bleibende Angewiesenheit lernten und lebten, anstatt uns in, mit und unter so viel Überflüssigem, Unerquicklichem, letztlich nur Mangel und Leid Erzeugendem zu betäuben, zu verheben, zu vernebeln und zu verlieren.
Was wir - und alle Menschen - brauchen, ist das, was wir nicht selbst erzeugen, was wir uns nicht „backen“ und nicht bunkern können: Wir brauchen die Zuwendung Gottes, die uns speisen und buchstäblich zufrieden machen kann, wie sonst nichts.
Wir brauchen also Gottes Wort wie unser tägliches Brot; wir brauchen Jesu Liebe, die den Durst der Welt danach stillen kann; wir brauchen die Kraft des Heiligen Geistes für alles Denken und Tun als Essen und Trinken: Wir brauchen das Brot vom Himmel – das Glaubensstaunen und die wirkliche Feier das Abendmahls! – als tagtägliche Stärkung, Erleuchtung und Nahrung.
Und weil wir uns selbst damit nicht im Vorhinein oder auf lange Sicht eindecken können, genau darum sollen wir es - so frisch und heutig, wie wir davon leben – weitergeben und verteilen: „Sucht Gott! Lebt von Jesus! Sammelt, was der Himmel schenkt!“
Weil so Viele es doch erfahren, dass man Reichliches erleben und dennoch völlig leer bleiben kann, … dass man üppig genießen mag, ohne im mindesten erfüllt zu sein, … dass man alles zu haben scheint, ohne irgendetwas Wertvolles zu kennen, darum lasst uns mit denen, die sonst nirgends Brot finden, dieses rätselhafte Wunder teilen:
Es kommt vom Himmel … und wir wissen nicht: Wie?
Es ist so klein und einfach … und wir können nicht sagen, was einfacher sein könnte?!
Es schenkt und es schafft die Fülle des Lebens … und es ist nicht zu erkennen, wo es enden würde?!
… Man-hu? Was ist das?
… „Es ist das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben“ (Joh.6,33)!
Amen.
[i] Die Deutsche Bibelgesellschaft steht mit ihren leicht zugänglichen Informationen paradigmatisch für den sog. „wissenschaftlichen“ Ansatz, der (noch dazu in der willkürlichen Auswahl, die die Perikope im Lektionar belegt) am Entscheidenden vorbei geht, vgl.: https://www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex/altes-testament/manna-3.
Gewiss ist der Text von Exodus 16 literarkritisch als Produkt vieler Redaktionen, die ganz unterschiedliche narrative, liturgische und theologische Interessen verfolgen, zu erkennen. Das wirkungsgeschichtlich folgenreichste Motiv des „Brotes vom Himmel“ (V.4) allerdings, das auch für das Evangelium vom 7.Sonntag nach Trinitatis – Johannes 6, 30-35 – entscheidend ist, darf dabei nicht aus historisch-kritischen Gründen aus dem Predigttext ausgeschieden werden. Eine biblisch verantwortete Theologie will die Fülle der Traditionen im Kanon und nicht das künstliche Extrakt, das eine bestimmte Forschungsrichtung daraus gewinnt, verkündigen.
[ii] Den Fronleichnams-Hymnus „Pange, lingua, gloriosi corporis mysterium” gibt das Gotteslob (Nr.494) als Schöpfung des Thomas von Aquin wider. Alex Stock fasst die unauflösbare Frage, ob diese Zuschreibung historisch zweifelsfrei aufrechtzuerhalten ist, gut zusammen (in: Ders., Lateinische Hymnen hgg v. Alex Stock, Verlag der Weltreligionen Berlin 20132, S.215f), wobei er zu dem Ergebnis kommt, der Hymnus sei „als Werk des Doctor angelicus (d.h. des Thomas) anzusehen“ (aaO., S.216). Somit ist auch die entscheidende Wendung in der vierten Strophe als Formulierung des Thomas zu werten: „… si sensus deficit, / ad firmandum cor sincerum / sola fides sufficit“.
6.S.nach Trin.(Tauferinnerungssonntag), 07.07.2024, Stadtkirche, Apostelgeschichte 8, 26 - 39, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 6.n.Trin.[i] – 7.VII.2024
Apostelgeschichte 8, 26 - 39
Liebe Gemeinde!
Luther soll es in seinen Anfechtungen in Augenhöhe auf die Wand vor sich oder auf die Tischplatte unter seinen zitternden Händen geschrieben haben: „Baptizatus sum!“[ii] Dann ließ sein Quälgeist von ihm ab und er konnte das Evangelium weiter übersetzen und zu verstehen üben. ——
Christoph Probst, der Freund und Schicksalsgenosse der Geschwister Scholl erfuhr es als das Ziel seiner 23 Jahre. Augenblicke, ehe sein Erdenweg als Student, als junger Ehemann und Vater unter dem Fallbeil endete, ließ Probst seine Mutter schriftlich wissen: „Ich danke Dir, dass Du mir das Leben gegeben hast. Wenn ich es recht bedenke, so war es ein einziger Weg zu Gott … Eben erfahre ich, dass ich nur noch eine Stunde Zeit habe. Ich werde jetzt die heilige Taufe und die heilige Kommunion empfangen ...“[iii]. … Gewaschen, gespeist, geköpft, gerettet: Selten sind Tauf- und Todesstunde, der Eintritt ins neue und der Eintritt ins ewige Leben solch eine fröhlich bejahte Einheit und Ganzheit gewesen wie damals vor 81 Jahren im Strafgefängnis München-Stadelheim. ——
Eine junge Frau aus China schließlich hat es mir in dieser Woche als ihren lebhaftesten Wunsch geschildert, weil sie damit seit Langem die Liebe Gottes und die Gemeinschaft der Christen verbindet: „Ich möchte getauft werden“. ——
Trost und Zuversicht und Sinn, die die Taufe schenkt: Sie sind mit diesen wenigen, fast willkürlich gewählten Beispielen kaum auch nur angedeutet.
Die Taufe ist nicht nur das grundlegendste und unmittelbarste Sakrament der Christenheit, … sie ist nicht nur der allgemeinste Nenner, der uns weltweit und übergeschichtlich verbindet, vergeschwistert und vereinigt, …sie ist gleichzeitig auch nicht nur das persönlichste Motiv unseres Glaubenslebens, das für jeden von uns mit einem individuellen Datum und eigenen Gewährsleuten des christlichen Bekenntnisses - den Paten - verknüpft sein soll, sondern sie ist das wunderbare Ereignis, das immer und überall jeden einzelnen Menschen vollendet verändern kann, indem sie uns mit Christus verschmelzen lässt, uns mit Gottes Macht, zu richten und zu retten, umfängt und durchdringt und unser leibliches und seelisches Wesen mit Seinem Geist erfüllt.
Durch die Taufe werden wir gottvoll, christusförmig und geistlich. Sie erschließt uns in der eigenen Erfahrung eine neue Identität, indem sie uns beruft, nicht nur gegenwärtig Zeitgenossen Gottes zu sein, sondern solche, die Ihm ewig angehören werden. Der sichere Tod und die unsichere Zeit werden durch die Taufe unwirksam, weil sie uns in ein Leben integriert, das unabhängig von der Vergänglichkeit ist und nur Vertiefung und Erweiterung, aber kein Verfallsdatum mehr kennt.
Taufe bedeutet also Entgrenzung und Freiheit im umfassendsten Sinn: Todesfreiheit, selbst wenn wir noch sterben müssen; Sündenfreiheit, obwohl wir physisch und psychisch bedingte, fehlbare Geschöpfe bleiben; Freiheit vom sorgenvollen Ich-Sein und Mich-Behaupten, weil die Taufe uns stattdessen in ein herrliches „Du-Sein“ taucht – „Du bist mein!“ (Jes.43,1)[iv] – und gleichzeitig das große „Wir“ hervorbringt: Wir Glieder Christi, … wir, die Gemeinschaft der Heiligen, geheiligt durch den Geist, der uns wiedergeboren hat als die neue, untereinander und mit Ihm versöhnte Menschheit des Reiches Gottes!
… Taufe! Das größte Geschenk von allen! … Voraussetzungslose Voraussetzung für alles an unserer Zukunft: Wie die Geburt. Geheimnisvoller Vollzug des Untergangs und der Erlösung: Wie das Sterben!
… Taufe: Öffnender Schlusspunkt und endgültiger Anfang!
… Taufe: Geheimnis des Glaubens und jener Wirklichkeit, die uns hier schon als Bevorstehende innewohnen will!
… Taufe: A und O unseres Christentums. …….
……. Wie fremd bist Du uns geworden! Wie haben wir Dich vergessen!
Was geblieben ist: Ein Familienfest … schön und wichtig, aber wenig, wenn es doch um die der gesamten Menschheit offenstehende Möglichkeit geht, ganzheitlich den rettenden Segen des auferstandenen Gekreuzigten, des zweiten Adam[v] zu erlangen.
Was geblieben ist: Das Gefühl, eine zusätzliche Bestätigung und Versicherung für ein Kind zu empfangen … was nötig und beruhigend ist, aber doch über- und unterschätzt wird, wenn wir darin nur die Zusage von störungsfreiem Lebensglück sehen und nicht den Sieg über den Tod und also das Leben jenseits des Todes feiern wollen.
Die Taufe ist mehr, gibt mehr, gilt mehr und begründet mehr, als wir ihr heute noch zutrauen oder in ihr suchen.
Die Taufe ist das am wenigsten gewürdigte Wunder, dem wir alle schon einmal leibhaftig begegnet sind: Wasser und Wort, die an uns „normalen Menschen“ eine Neuschöpfung in Ewigkeit bewirken!
Darüber könnten und sollten wir vielleicht viel regelmäßiger, biblischer, dogmatischer, staunender und neugieriger sprechen.
Wir sollten häufiger das Gedächtnis der eigenen Taufe feiern und uns berühren lassen, … tatsächlich sollten wir durch Wasser das vergessene Geheimnis, aus dem wir leben, erfrischen lassen: Tauferinnerung im Geist durch Wort und Zeichen[vi].
Außerdem sollten wir üben, alles, was es da theologisch und symbolisch zu erfassen gäbe, in die vorgesehene grammatische Sprechweise zu übersetzen: … Keine „Taufe: Das heißt=“-Sätze, … kein über das Ritual, über den Sinn, über die Sache reden, … also kein abständiges, abstraktes „das, der, die; sie, er, es“, sondern wir sollten endlich einmal in der Person sprechen, die wir Heutigen hier so selten nur noch als Stimme des Glaubens vernehmen und nutzen: Die Erste Person Singular!
Von der Taufe kann man nicht sinnvoll aus der Distanz reden. Aus jeder noch so geringen Entfernung wirkt sie viel zu trivial: Alltagsvorgang des Waschens, … kleine Haushalts-pflicht des Spülens, … nach wenigen Minuten bereits verdunstete Geste der Besprengung. Alles das - von ferne besehen - ist Banalität.
Darum können für die Taufe nur Getaufte Zeugen sein.
Nur, wer zu bekennen vermag: Ich bin getauft, und das ist ein Grunddatum und eine Tiefen-dimension meines Lebens, das ist wie das Siegel, das Wasserzeichen meines Daseins das, was ihm seine Echtheit verleiht, … nur die können von sich aus sagen, dass an dieser unscheinbaren Handlung etwas, … vieles, … für sie alles hängt.
Dass wir das meistens so wenig und so selten wagen und vermögen, ist also nicht gesund.
Es wird über die Zukunft nicht nur unseres eigenen Glaubens, sondern der christlichen Kirche überhaupt entscheiden, dass wir wieder – wie es die sämtlichen Lieder dieses Gottesdienstes uns auf die Zunge legen[vii] – zu begreifen und zu beschreiben und zu beherzigen wagen: „Ich bin getauft. Mein Leben ist Tauffolge. Mein Ursprung ist tauflich, mein Maßstab ist taufförmig, meine Hoffnung ist tauferfüllt.
Ich bin ein Neugeborener Gottes, mein Ich ist vollkommen in Jesus eingetaucht und von Ihm durchfärbt und durchströmt und durchblutet, ich lebe unterm unerschöpflichen Einfluss des Heiligen Geistes.
Baptizatus sum!“ ——
Meine Taufe zu bedenken, zu bekräftigen und zu bekennen und dabei das neue „Ich“ des Gotteskindes, des in Christus Eingegliederten, des in die Gemeinschaft der Heiligen – das große „Wir“ der geretteten Menschheit – fröhlich Integrierten zu gebrauchen: Das ist also ein Sommerziel der nächsten Wochen.
Aber es ist wirklich ein Sommerziel und kein Training gegen den inneren Schweinehund, kein Pflichtprogramm für trübe Stunden, das man ableisten und danach auch abhaken kann.
Es sollen leichte Dehnübungen unseres Bewusstseins und Dankübungen unserer Gedanken sein, dass wir uns immer wieder anrühren und durchwehen lassen von der Erleichterung: Ich gehöre ja tatsächlich und unwiderruflich Gott!
Freiheit und Freizeit, Urlaub und Muße können uns die Heiterkeit veranschaulichen und schenken, die darin liegt, schon jetzt vom endgültigen Kaputtgehen zur endgültigen Heilung gebracht worden zu sein und nicht auf das Unweigerliche, sondern auf das Grenzenlose zu zu leben.
Wenn alte Taufsteine in den wundervollen Kirchen der Welt oder neue Gesichter, Begegnungen und Eindrücke bei den wundervollen Bewohnern der Erde uns in diesem Sommer die Verheißung der dauerhaften, allgemeinen, neuen Perspektive aller Menschenkinder durch die in der Taufe eröffnete Zukunft vor Augen stellen: Wie glücklich und wie nachhaltig könnten wir doch reisen, … mit einem Bein und ganzem Herzen auf Schritt und Tritt schon in der angekündigten Welt Gottes, in die die Taufe strömt und der sie uns entgegenträgt! ——
Diese sommerlichen Wege der Meditation des Taufglücks heben hier und heute aber deshalb an, weil bei aller persönlichen Unmittelbarkeit des Getauftseins wir doch nie alleine, nie vereinzelt daraus hervorgehen.
Meine Taufe erschöpft sich nicht in dem, was sie mir schenkt, sondern sie vertieft in meinem Leben den Segen, der durch alle Zeiten fließt und Unzählige mit mir zusammen zu jenem Strom aus Menschen macht, der in das ewige Leben mündet (vgl. Joh.4,14).
Und heute waren wir Zeugen und werden es hoffentlich nie vergessen, wie einer der allerersten Menschen von dem, was da in die Zukunft quillt, erfasst wurde.
Der Allererste, von dem wir etwas ganz Persönliches, etwas Emotionales und uns also direkt Verständliches im Blick auf das Sakrament des Christ-Werdens hören, steht heute vor uns.
Wir alle - die Getauften der beiden Jahrtausende seither - folgen in gewisser Weise seinem Beispiel nach. Und es ist eine zeitgemäße Erinnerung und Klarstellung, dass wir ihm deshalb ins Gesicht blicken ……. wir, die geschichtlich überholten Erben eines christlich gewesenen Abendlandes, … wir, mit unserer immer noch latenten Attitüde der kulturellen, technischen, am Ende womöglich gar rational definierten Überlegenheit als Europäer. Einst hatten wir in den Kirchen und Gemeindehäusern exotisch bemalte Blechbüchsen, Sammeldosen oder mechanische Figuren auf einem Kollektenkasten: Das waren die sogenannten „Nickneger“, die einen unterwürfigen Kotau machten, wann immer ein Heller oder Pfennig für die „Heidenkinder“, für die Mission und Zivilisierung unter den sog. „armen Wilden“ eingeworfen wurde.
Die Wahrheit aber ist genau umgekehrt: Wir sind nicht Geber, sondern Empfänger einer Gabe, die, ehe sie uns zugutekam, schon in Asien und Afrika Frucht und Segen trug.
Das Taufwasser fließt von Osten und Süden nach Norden und Westen.
Und wer Dämme dazwischen ziehen will, wer Unterschiede, Unter- und Überlegenheiten, Fremdheitsgefühle, Trennungsmauern propagiert, der hat keinen Teil an der historischen Wirklichkeit und den versprochenen Plänen und Möglichkeiten Gottes. Rassisten haben - im Klartext - also schlicht keinen Teil an der Kirche, deren Wesen es ist, ALLE Völker zu Jüngern und Jüngerinnen Jesu Christi zu machen, in dem sie allzumal ohne jeden Unterschied EINS sind (vgl. Matth.28,20 + Gal.3,28!).
Und deshalb soll wer lernen will, fröhlich „Ich bin getauft!“ zu sagen, in das glückstrahlende Gesicht dessen blicken, den wir als Ersten an der Spitze unserer Schar erkennen.
Er hatte nie Zukunft.
Man hatte ihm die direkteste, natürlichste, für viele Kulturen bis heute wichtigste Dimension der Zukunft genommen, als man ihn kastrierte.
Ein Eunuch – nützlich durch seine erzwungene Vereinsamung, weil er nie eine Familie fortsetzen und sich dadurch Sicherheit und Andenken schaffen würde – … ein Eunuch war für Verantwortung geeignet, weil er eine Endstation darstellte: Für wen hätte er sorgen, welche ferneren Ziele hätte er verfolgen sollen? Sein Leben war künstlich auf die gegenwärtige Verpflichtung und dann das restlose Auslöschen festgelegt.
Doch in unserm Freund, dem äthiopischen Beamten der mächtigen Königin des äthiopisch-sudanesischen Reiches muss ein starker Hoffnungshunger, eine Lebenssehnsucht nach mehr als diesem hier gewirkt haben, die ihn zu einem innerlichen Proselyten, einem Anwärter auf das Judentum machten, obwohl er nach den Bestimmungen des biblischen Gesetzes an der heiligen Gemeinde Israels als Kastrat keinen Anteil haben konnte (vgl.5.Mose23,2).
Immerhin aber hatte er sich in Jerusalem, bei der Suche nach Lebensperspektiven über sein gegenwärtiges Verhängnis hinaus die Schriftrolle des gerade Seinesgleichen tröstenden Propheten Jesaja besorgt, bei dem denen, die fortpflanzungsunfähig sind, versprochen wird, dass Gott sie dennoch an allem Kommenden, an der Fülle der Zeit, am ewigen Ziel aller Geschichte teilhaben lassen wird (Jes.56,3-5), indem er ihnen ein Gedenken und einen Namen - Jad-va-Schem - verheißt.
Und in der selben Prophetenschrift, die von der Zukunft der Zukunftslosen spricht, fand der bisher um alle Aussichten Betrogene das finstere Bild des leidenden Gottesknechtes.
Als ihm dabei der Gott Israels aber den Diakon der ersten Christengemeinde von Jerusalem an den Wegrand seiner Heimreise ausgerechnet durch die heutige Totalzerstörungskulisse von Gaza stellte, konnte der Afrikaner diesen Philippus fragen, wer denn der Zerschlagene und Ausgebeutete, der Versklavte und Erniedrigte, der Ausgegrenzte und Verlorene da mitten in der Trostbotschaft sei? …….
Wir kennen die Antwort, die auch uns nur erschüttern kann:
Das ist der Liebling Gottes, das ist die große Liebe Gottes selbst. Das ist der in Jesus für uns alle Leidende und der in Jesus für uns alle Lebende, durch und mit und in Dem wir ewige Seligkeit schon hier, am Straßengraben von Gaza, in den alten Palästen Äthiopiens, im Gefängnis von Stadelheim, hier in der Kirche, in unserem Alltag, unseren Ferien, ja, einfach überall auf Erden finden können und sie im Himmel dann in Ewigkeit erfahren werden.
Wer Jesus findet, der findet das, was Christoph Probst beschreibt: Das Leben als einzigen Weg zu Gott.
… Und da hat er sich taufen lassen.
Und sein Gesicht steht – ohne Kitsch oder Stereotypen bemühen zu dürfen und zu wollen – vor Augen: Das unglaubliche Strahlen der großen Gospelsängerin Mahalia Jackson, … die unvergleichliche Heiterkeit auf den Zügen von Louis Armstrong, … die unerschütterliche Zukunftsgewissheit Martin Luther Kings, … die schelmische Freude an der Kraft von Recht und Gerechtigkeit im Blick von Bishop Desmond Tutu.
Das Gesicht des ersten Getauften steht uns vor Augen.
Und nichts kann besser sein, als wenn auch von uns Getauften mehr nicht zu sagen bleibt als: Sie ziehen ihre Straßen fröhlich, … denn sie sind auf dem Weg zu Gott!
Amen.
[i] Der Gottesdienst an diesem, ganz dem Taufgedenken gewidmeten 6.Sonntags nach Trinitatis begann mit einer von der Gottesdienstgemeinde gemeinsam vollzogenen Lesung des 4.Hauptstücks aus Luthers Kleinem Katechismus, durch das viele Schriftstellen und überlieferte Motive des Taufverständnisses schon vor der Predigt einen gemeinsamen Verstehenshorizont der Versammelten eröffneten.
[ii] Die verdichtete Überlieferung zu Luthers visualisiertem Festhalten an der Taufgewissheit beruht u.a. auf seinen späteren Tischreden. Vgl. seine Äußerung vom 18.Februar (der 4 Jahre später sein Todestag werden würde!) 1542: "Alioquin illæ cogitationes sunt diabolicæ de prædestinatione. Ficht dich die cogitation an, so sprich: Ego sum filius Dei, sum baptizatus, credo in Iesum Christum pro me crucifixum, Iaß mich zu friden, du Teufel! Tum illa cogitation te deseret" (TR 5658a in: WA TR 5, S. 295 Z.27-30).
[iii] Zitiert nach: Thomas Mertz, Christoph Pabst, Ein Student der „Weißen Rose“, Trier 2020, S. 130 und 131.
[iv] Aus dem Wochenspruch des 6.Sonntags nach Trinitatis.
[v] Das Motiv vom ersten und zweiten Adam steht in der paulinischen Theologie auch hinter der immer wieder anklingenden Epistel des 6.Sonntags nach Trinitatis: Römer 6, 3 -11.
[vi] Eine mögliche individuelle Tauferinnerung mit dem Wochenspruch aus Jesaja 43 als Segenswort und Benetzen aus der Taufschale stand am Schluss des Gottesdienstes.
[vii] Es gibt ein furchtbares Taufschweigen in unserem Gesangbuch. Nur der Kasus – die Amtshandlung, speziell als Säuglings- oder Kindertaufe – wird dort etwas ausführlicher bedacht. Außer in Luthers großem, aber nur noch wenig bekanntem und vermittelbarem Taufchoral EG 202 (und dem ähnlich museal versteinerten Choral aus weiblicher Feder – von Christiana Cunrad – unter EG 204), leitet das Gesangbuch kaum zur Meditation über und Identifikation mit der Taufe an. Sie ist reiner Passageritus, reines Aufnahme- oder Segensritual geworden, aber nicht mehr fundamental konstitutiv für die eigene Frömmigkeit und das persönliche Leben. Eine rühmliche Ausnahme bei dieser kollektiven Taufamnesie stellt die Tradition der Herrnhuter Brüdergemeine dar: Aus deren Gesangbuch oder geschichtlichem Umfeld stammten daher alle drei Choräle, die neben EG 200 (der letzten Bastion eines entwickelten Taufbewussteins im EG!) gesungen wurden : „Ich bin als Christ getauft“ von Christian Friedrich Förster (1769-1829), „Ich bin nicht mehr mein Eigen“ von Karl August Döring (1783-1844) und „Ich bin getauft, o Herrlichkeit!“ von Ulrich Bogislaus von Bonin (1682-1752). Der landeskirchliche Anhang des bayrischen EG kennt immerhin noch „Lasset mich mit Freuden sprechen: Ich bin ein getaufter Christ“ von Erdmann Neumeister (EG Bayern 574). Dass als Reaktion auf den Rückgang der Taufnachfrage überwiegend „Eventisierung“ steht, kann die Verankerung der Taufe im (Selbst-)Bewusstsein heutiger Christinnen und Christen und in ihrer Lebenspraxis allein kaum retten. Wir müssen tatsächlich auch geistlich wieder eindeutig „ad fontes“ (zurück zu den Quellen), damit das Danklied der Erlösten kräftig weiterklingt: „Ihr werdet mit Freuden Waser schöpfen aus den Brunnen des Heils!“ (Jesaja 12,3 – vgl. Johannes 7,38!)!
5.So.n.Tr., 30.06.2024, 2.Korinth.12,2-10, Mutterhauskirche, Dr. Kathrin Stückrath
Ich kenne eine Frau, liebe Gemeinde, die fährt oft U79 und beobachtet die Menschen. Sie hat das Gefühl unsichtbar zu sein, denn sie ist nur eine von vielen älteren Menschen mit grauen Haaren. Sie aber nimmt die Menschen um sich herum mit Aufmerksamkeit wahr. Wenn es vorkommt, dass Jugendliche in der Bahn einen von ihnen beleidigen, mobben, dann bleibt sie nicht stumm, dann sagt sie etwas. Und hat dann den Überraschungseffekt auf ihrer Seite. Die anderen sind verblüfft und schweigen. Sie merkt: Ich bin zwar schwach, aber auch stark. So eine Frau kenne ich, liebe Gemeinde.
„Ich kenne einen Menschen“, schreibt Paulus, „ich kenne einen Menschen, der war für einen Moment im Himmel, im Paradies, der hörte unaussprechliche Worte, die nur von Gott kommen können.“ Eine wunderbare Erfahrung. Eine spirituelle, mystische Erfahrung. Eine Erfahrung, um sich darin zu sonnen. Paulus spricht hier bei dem „Ich kenne einen Menschen“ wohl von sich selber. Aber er spricht in der dritten Person, vielleicht, weil diese Erfahrung so außergewöhnlich war, dass er sie nur aus der Distanz beschreiben kann. „Ich kenne einen Menschen.“
Es gibt noch einen Grund, warum Paulus so distanziert redet. Er reflektiert: Für diese Erfahrung könnte ich mich brüsten, damit könnte ich angeben. Ums Angeben geht es viel im 2. Brief an die Gemeinde in Korinth. Da waren „Hyper-Apostel“ – „Super-Apostel“ aufgetaucht, wie Paulus sie nennt und die Gemeinde war begeistert. Über Paulus sagten sie: „Seine Briefe sind kraftvoll, aber seine Rede ist schwach.“
Paulus ist betroffen und reagiert mit einem Brief, in dem er auch einmal richtig angibt. Er gibt mit seinen Reisen an und wie er aus allen Gefahren mit dem Leben davon gekommen ist. Er übertreibt es so, dass die Leute in Korinth merken konnten, eigentlich ist Angeben doch kindisch, ja mehr noch, eigentlich ist Angeben falsch. Denn: womit könnte man vor Gott angeben?
Paulus erzählt von einer Erkenntnis. Er selbst ist eigentlich auch ein selbstbewusster Angeber. In einem anderen Brief schrieb er mal über sich: „Ich war untadelig im Gesetz des Mose. Ich war perfekt.“ Paulus mit seinen vielen Gemeinden, den vielen Menschen, die er zusammen mit anderen für Christus geworben hatte, er hätte allen Grund gehabt, ein zufriedener, überheblicher Guru zu werden. Wenn, ja wenn nicht das passiert wäre, dass Paulus krank geworden ist. Schmerzen, die immer wieder auftreten und ihn schwach machen. Paulus nennt die Krankheit „Ein Pfahl im Fleisch“. Er hat alles Mögliche versucht, diese Krankheit loszuwerden, hat inbrünstig gebetet zu Gott. Gottes Antwort: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Ein starker Satz, aber was soll das heißen?
Sicherlich heißt es nicht, dass Gott Freude an unserer Schwachheit hat. Oder dass Menschen künstlich schwach und klein gehalten werden soll, demütig, unterdrückt. Gott liebt schwache Menschen ja, aber nicht, um sie schwach zu belassen, sondern um ihnen Stärke zu geben. Er beruft Mose, der nicht reden kann. Er beruft Maria, die viel zu jung ist, er ruft das Volk Israel aus Ägypten in großer Schwachheit, um es zu befreien.
Gott hat auch keine Freude an Krankheit. Aber Krankheit, Altern, Schwachheit, das gehört zu unserem Leben als Geschöpfe dazu. Wir sind sehr verletzlich. Wir leiden oft schlimme Krankheiten. „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ heißt nicht, bleib krank. Sondern soll eine Hilfe darstellen, die Krankheit zu bewältigen. Wenn ich nie krank wäre und nie Hilfe bräuchte, dann hätte ich weder Helfer noch Freundinnen. Was wäre das für ein Leben? Kein gutes. Und ich bräuchte auch Gott nicht. Aber Gott ist der, der Schwachen Kraft gibt. Der schwache Menschen über sich hinauswachsen lässt. Der möglich machen kann, von dem wir nur träumen können. Vielleicht nicht so, wie wir uns das vorstellen: Krankheit, Schwäche bitte einfach wegmachen. Nein, damit leben und sich helfen, sich ergänzen lassen. Gottes Kraft in mein Leben einbauen, auf ihn vertrauen. Mit manchen Schmerzpunkten in meinem Leben gelingt mir das, mit anderen schwerer, liebe Gemeinde.
Ich lese Ihnen jetzt mal den Text aus Kor. 12 im Ganzen vor und füge anschließend noch einen Gedanken dazu. Also, wir hören Paulus:
2 Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es nicht; Gott weiß es –, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel. 3 Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es –, 4 der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann. 5 Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit. 6 Denn wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich kein Narr; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört. 7 Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. 8 Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. 9 Und er hat zu mir gesagt: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne. 10 Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.
„Wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ Dieser Satz hätte auch von Jesus sein können. Jesus, der fasten gegangen ist in der Wüste, um die Kraft der Engel zu erfahren. Jesus, der den Weg der Schwachheit bis ans Kreuz ging in Liebe, weil Gott ihm die Kraft dazu gab. Dass Schwäche eigentlich Stärke ist, weil sie Gottvertrauen bedeutet, ist ein Grundkonzept, ein absolut bedeutsamer Gedanke im Christentum. Und auch wenn das Christentum durch die Jahrhunderte die Religion der Starken, der Kaiser, Könige, des Staates und des Papstes wurde, gab es immer wieder Menschen, die dem widersprochen haben mit Blick auf Christus, mit Worten auf den Lippen wie Paulus „Wenn ich schwach bin, bin ich stark.“
Und, liebe Gemeinde, das hat eine unglaubliche Wirkung für das Menschenbild, die Menschenwürde. Dann sind nämlich nicht nur die Starken etwas wert, sondern alle, immer, ihr ganzes Leben lang. Das ist die christliche Revolution.
Es gab einen Philosophen, der hat das in aller Konsequenz erfasst und dagegen seine Bücher geschrieben. Es war Friedrich Nitzsche. Er prägte den Begriff Umwertung aller Werte. Er stellte fest, dass das Christentum geschafft habe, die traditionellen Werte der Antike umzudrehen. Mit seinem gekreuzigten Messias, mit seiner Menschenwürde für jeden, hat es den Gedanken der Aristokratie, der Herrschaft der Besten, zerstört. Nietzsche kritisierte das scharf und wollte mit seiner Umwertung der Werte wieder zurück zur Herrschaft der Starken und Kräftigen. Er dachte, nur so wäre Fortschritt für die Menschheit zu erreichen. Er propagierte den Übermenschen. Die Nationalsozialisten griffen das auf und versuchten sogar rassisch-biologisch Übermenschen zu züchten. Und sprachen von Untermenschen als Rechtfertigung für die Tötung von Millionen Menschen.
Zusammengefasst: „Wenn ich schwach bin, bin ich stark.“ ist ein Glaubenssatz, der unseren Seelen gut tun kann. Aber er ist, wie Nietzsche richtig bemerkte, noch viel mehr. Er ist ein Satz mit politischer Sprengkraft, einer, der eine Revolution der Menschenwürde auslösen kann. Das kann z.B. in der U79 geschehen, wo jemand Einspruch erhebt gegen Beleidigung und Erniedrigung.
Amen.
4.So. n. Trin., 23.06.2024, Stadtkirche, 1.Samuel 24, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 23.VI.2024 - 4.n.Trin.
1.Samuel 24, 1 – 20
Liebe Gemeinde!
Dieses kleine Sittengemälde aus der Eisenzeit, dessen Handlung und Kulisse mit der staubigen Urwüchsigkeit eines Sandalenfilms aufwarten, ist eine unvermutete theologisch Fundgrube.
Die antike Kämpfer- und Freibeuter-Welt, die kolossale Wüsten- und Wadilandschaft nahe am Toten Meer, die brütende Sonne und die glühende Rache, vor der sich eine Schar Abenteurer in den stickig-schmutzigen Schutz einer Höhle zurückziehen, in der für die Antike immer schon die Unterwelt beginnt, … das alles ist ein Metro-Goldwyn-Meyer oder Twentieth Century Fox oder meinetwegen auch ein Babelsberger Szenario für Helden und Haudegen und ihr durch Technicolor unterstütztes Mimen-Pathos. Mit der bebenden Übertreibung und den unfreiwillig grotesken Posen einer frühen Nibelungen- oder Spartacus-Verfilmung, mit der monumentalen Körpersprache eines Charlton Heston und der grandiosen Dekadenz-Parodie eines Peter Ustinov sieht man David und Saul aufeinandertreffen: Dem einen trieft die unübersehbare Erwählung - selbst ungewaschen wie er im Wüstenversteck ist - aus jeder Pore, der andere ist ein schuldlos und doch irgendwie trottelig vom Schicksal Übergangener.
Und es kommt noch plakativer.
So sehr, dass ich mich nur an die Schilderung wage, weil das letzte Mal, dass ich diesen Abschnitt der Bibel ausgelegt habe, nach meiner Erinnerung in einem Kreis war, der mir noch mehr Achtung einflößte und Feingefühl nahelegte, als die hochlöbliche Sonntagsgemeinde hier vor mir. … Wenn ich’s aber vor den wunderbaren Nonnen der Gemeinschaft von Jerusalem unterm Vierungsturm von Groß St.Martin in Köln fertiggebracht habe, das Genrebild ohne Abstriche zu skizzieren, dann geht’s auch jetzt: …
Es geht dabei um einen König.
Einen König, dessen Amt Gott zunächst für Israel – die freie Eigenossenschaft der Stämme in Seinem Bund – für überflüssig erklärte (vgl. 1.Sam.8), … ein König also, der bloß auf populäres Drängen hin dann doch einzig von Gott erwählt wurde, weil er nichts Überhebliches an sich hatte, sondern bescheiden (vgl.1.Sam.9) und wegen seines Gardemaßes wahrscheinlich extra-unbeholfen und gehemmt war, wie viele Hünen, denen das Herausragen peinlich ist (vgl.1.Sam.10,21-24!), … ein König, dem die geistliche (vgl.1.Sam.10,10ff +16,14!!) und auch die politische Überforderung (vgl. 1.Sam.15+18,7) in dieser unfreiwilligen Rolle den Stempel echter Tragik auf die gesalbte Stirn drückte, … ein König, dessen Erwählung und dessen Scheitern weit über ihn hinausverweisen: Saul, der arme Tropf, der eine Krone tragen und ein Reich gründen sollte, obwohl er gewöhnlich war – ein Mensch wie Du und ich, ein Mensch, dem nichts Menschliches fremd war.
Und in der allermenschlichsten Lage treffen wir ihn heute. Die hebräische Wendung, die die Ursache ausdrückt, weshalb König Saul auf der Suche nach dem Volksliebling und möglichen Usurpator David sich in eine Höhle zurückzog, ist sprechend genug: „Die Füße bedecken“ – wir sagen: „Die Hosen runterlassen“ –, beschreibt den schutzlosen Vorgang, bei dem wegen des natürlichen Drangs alles Hinderliche abgelegt werden muss, … die Kleidung also einfach aus dem Weg gezogen wird, um hockend die Notdurft zu verrichten. Wehr- und würdeloser kann einer nicht sein. … Aber auch - wenn wir nüchtern sind - nicht menschlicher.
Von diesem im Allzumenschlichen und in seiner eigenen, fast beispiellosen Tragik befangenen Saul erzählt nun die Anekdote seiner Verschonung: Der, dem er besinnungslos auf den Fersen ist, weil alle David lieben und niemand ahnt, wie (buchstäblich! vgl.1.Sam.15 +16,14!!!) gottverlassen es ist, Saul, der ersterwählte, erstverworfene und schon zu Lebzeiten bei Gott und den Menschen innerlich ersetzte König zu sein … der, dem Saul besinnungs- und chancenlos auf den Fersen ist, hat plötzlich das leichteste aller Spiele: Wie ein Kleinkind auf dem Töpfchen, so schutzlos und lächerlich hat das Leben Saul vor Davids Füße gelegt. Diskret alleingelassen im Zwielicht des Felsinneren, nackt und ehrlos und erbärmlich. …
… Eine Handbewegung nur! … Und David würde sein, was er längst ist: Unangefochten.
Wo dem anderen erkennbar keine Würde blieb, wer wollte da auch nur von Schuld sprechen, wenn die Verhältnisse angepasst werden: Der, der nichts war, vernichtet. Der, dem alles zufällt, nicht nur zufällig, sondern final bestätigt.
… Stich zu! Du hast das Ass! ——
Doch David sticht nicht. Er kennt die Lage Sauls.
Dass des Menschen Würde immer wieder auf dem Spiel steht in den Konflikten und Verwirrungen der Geschichte und des Lebens, hat David am eigenen Leib erfahren: Um sich vor Saul in Sicherheit zu bringen, hat auch David sich schon in den Zustand lächerlicher Hilflosigkeit geflüchtet. Er rettete sich – als er ausgerechnet bei den Philistern Asyl suchen musste – in die Rolle eines völlig unzurechnungsfähigen, spuckenden, zuckenden Kranken (vgl.1.Sam.21,14).
Aus dieser schlichten, buchstäblichen Allerweltsweisheit also, die man so oder so erlernen kann – „Ich bin genauso ein Mensch wie Du“ – rührt Davids Rücksicht einerseits her.
Die Grundtatsache, dass wir alle leben mit natürlichen Mängeln und Makeln, an die unsre gewöhnlichsten körperlichen Angewiesenheiten uns ununterbrochen erinnern, schafft alles andere als ein negatives Menschenbild. Dass ich Bedürfnisse und Nöte habe und meine Nächsten auch und alle Fremden ebenso und selbst die Feinde, ist weltweit und zu allen zeiten Anlass zur fundamentalsten Sym-Pathie: Das, was ich lebe, was ich leiden kann und auch, was ich erleiden muss, erleiden und erleben alle anderen wie ich: Wir sind zu Sympathisanten – „Miterleidern“, „Miterlebern“ – geboren, weil wir alle leiblich sind, … genussfähig, wie verletzlich … und durch beides sterblich.
Es ist also keine Geschichte von Davids Großmut, die uns hier in der Höhle begegnet, sondern eine Geschichte seiner Menschlichkeit.
Sollen wir sie noch elementarer runterbrechen?
… Dass alle müssen, … dass alle brauchen, … dass alle nicht ohne das Nötigste leben können: Das müsste das Grundgesetz menschlicher Menschlichkeit sein.
David - scheinbar der geborene Eroberer - scheute es die Heiligkeit dieser Linie zu überschreiten: In seinem Bedürfen ist der Mensch die Grenze aller Freiheit. Das, was dem Menschen unerlässlich ist, muss allgemeiner Maßstab des Tuns und Lassens aller sein. … Ein kategorischer Imperativ der reinen Leiblichkeit.
… Ein biblischer und außerbiblischer Grundwert; … ein biblisches und ein Gesetz der Natur, das man überall bricht. …….
Wie sehr man es heute Netanjahu und den Seinen in die Ohren schreien will, … wie sehr man es sich in flammender Schrift als Menetekel an allen Haus- und Synagogenwänden und allen Grenzmauern der Siedler in den besetzten Gebieten und der Westbank erscheinen wünschte, … wie laut es von allen islamistischen Minaretten jeden Muezzinruf übertönen sollte, … wie überwältigend es jede Liturgie der russischen Kirill-Kirche unterbrechen müsste, wenn sie das endlose „Kyrie“ und „Heilig! Heilig! Heilig!“ der Orthodoxen anstimmen, die doch ein Hohn werden ohne den Imperativ des Erbarmens mit der Heiligkeit des Menschen.
Heiliger König David, Du Verschoner der Notdürftigen: Bitte für uns jüdische, christliche und muslimische Barbaren, dass wir zur Menschlichkeit zurückfinden! ———
Das ist die eine Seite von Davids Zurückhaltung, seinem Anstand, seiner Menschlichkeit: Die Allerweltsweisheit vom Menschsein genau wie andere Menschen.
Die andere Seite ist höher noch und tiefer.
Sie kann nur erkennen, wer die Bibel nicht als bloße Sammlung, sondern als Schöpfung betrachtet. Wenn in der Bibel nur einige Generationen ihre Aufzeichnungen des Gewesenen abgeheftet hätten, wenn sie also nur eine Sammlung vertrockneter Blätter wäre, ein totes Buch, dann ergäbe auch die Geschichte von Sauls Stuhlgang letztlich bloß das, was ihm fehlte: Klopapier.
Doch Synagoge und Kirche sehen in der Bibel ein organisches Wachsen und Reifen, das Blüten treibt, neue Halme, Äste und Verzweigungen entfaltet und immer mehr trägt.
Dann sind aber die früheren, urwüchsig knorrigen Bestandteile der reichen Bibelpflanzung ja Grundlage und Nährstoffträger dessen, was aus ihnen hervorwächst.
Dann reift die Substanz des Alten in neuer Verdichtung von Stoff und Form zu Süßigkeit und Frische heran, die ganz von Saft und Mark des Baumes lebt und aus ihm hervorbringt, was uns als neue Frucht erscheint und doch kein anderes Gewächs ist als der Stamm.
… Wovon ich rede?
– Dass im Alten Testament nichts steht, das nicht ein Wachstumsansatz des Neuen wäre. Das Alte blüht im Neuen, und wer erntet, was in den Evangelien reift, der zehrt von dem, was durch die hebräische Bibel dort einströmt.
Nun nennen wir uns Christen und Christinnen nach dem Christus, dem Messias, dem „Gesalbten“, den wir mit den Zeugen des Neuen Testamentes in Jesus erkennen.
Die rituelle Salbung als Siegel einer besonderen Erwählung, die schon Priester und heiliges Gerät (vgl.2.Mose30,26ff), aber auch Gedenksteine und Markierungen heiliger Orte (vgl. u.a.1.Mose28,18!) in der Torah empfingen, wird im Blick auf einen einzelnen Menschen aber zum ersten Mal ausführlich meditiert in dem grotesken, tragikomischen Sittengemälde aus der Eisenzeit, das wir heute vor Augen haben.
Was es bedeutet, ein Gesalbter, ein Messias zu sein, das entfaltet sich biblisch-ursprünglich also in der Felsenhöhle am Toten Meer: Ein symbolischerer Ort zwischen Oben und Unten, Drinnen und Draußen, Leben und Tod, Diesseits und Jenseits wäre noch zu suchen.
Dort, an einem Ort, der uns karfreitäglich und österlich zugleich berührt, hält David – der Zweite, der nach Saul zum messianischen Herrscher, zum gesalbten König erwählt war – seinen Messias-Monolog: „Das lasse der HERR ferne von mir sein, dass ich meine Hand legen sollte an meinen Herrn, den Gesalbten des HERRN; denn er ist der Gesalbte des HERRN!“
Ehrfurcht vor dem „Christus“ also– wie es in der vorchristlichen Übersetzung der Hebräischen Bibel ins Griechische an dieser Stelle heißt – … Ehrfurcht vor dem seltsamen, ja paradoxen Geheimnis des „Christus“, in dem uns trotz aller Unwahrscheinlichkeit und allen Widerspruchs Gottes tiefere Absicht und Gottes höhere Weisheit begegnen, … Ehrfurcht vor der uns Menschen unerklärlichen Wahrheit, dass der „Christus“ uns unkenntlich, total befremdlich, absolut erbärmlich, ja völlig verworfen vorkommen kann: Alles das ist in dieser lächerlich-erhabenen Szene bereits angelegt!
Alles, was die späteren Jahrhunderte der kirchlichen Meditation erfüllte, die zum Verstehen des Geheimnisses Jesu führen sollte – diese Verstehensmeditation heißt „Christologie“ –, hat seine Wurzel in dem Moment zwischen David und Saul.
Im Ernst: Hier wird die christliche Theologie geboren!
Ohne den Gesamtzusammenhang der Bibel könnten wir nur eine ritterliche Überlieferung, ein Tugendbeispiel von Davids Großmut in dieser Überlieferung erkennen … und natürlich eine volkstümliche Satire auf den scheißenden Saul.
Doch wenn uns das wachsende, lebendige Gebilde der biblischen Offenbarung in seiner Ganzheit bewegt, dann gehen uns rückblickend tatsächlich schon die Knospenansätze auf, die unerwartet, aber nicht unvorbereitet aufblühen werden!
Christus – der vermeintliche Ehren- und Machttitel des von Gott erwählten, eingesetzten und ausgezeichneten Herrn und Herrschers – ist nicht gleichbedeutend mit Herrlichkeit! Der erste König, der den Messiastitel trug - Saul -, war nicht erhaben, sondern wurde gedemütigt; er ist nicht als Sieger, sondern als Geschlagener in die Geschichte eingegangen; er hat nichts Vollkommenes repräsentiert, sondern begegnet uns von Dunkelheit umgeben und von Verwundbarkeit gezeichnet.
Und zutiefst menschlich – wenn sich auch vieles in uns sträuben will – … so menschlich, dass Menschwerdung als Eingliederung in alle unbeschönigte Erniedrigung sich darin andeutet, tritt Saul, der Messias uns heute entgegen. Der Natur zwangsläufig gehorsam. Bar aller Besonderheit. Nur und nichts als stinknormal.
Wenn man aber die Umstände dabei bedenkt und den griechischen Text liest, dann führt das zu einer wirklichen Erkenntnis:
Christologie, Lehre vom Gesalbten kann nie und nimmer an der total kreatürlichen Bedingung vorbeigehen, dass der Messias durch und durch ein Wesen aus Fleisch und Blut ist; dass Messianität Nahrungsbedürftigkeit und Essen und abermaligen Hunger und Durst einschließt; dass Salbung nicht Entrückung bringt, sondern Windeln und Wasser notwendig bleiben; dass der Erwählte Gottes nicht ideal, sondern real ist; dass wir die Heilsgeschichte also nicht oberhalb oder außerhalb des Irdischen suchen sollen, sondern in der Schwäche, der ein besonderer Schutz gebührt, weil sie unser aller gemeinsame Natur bedeutet.
Der schwache Messias.
Der hilflose Messias.
Der, der Spott erregt, aber längst nicht immer das gottesfürchtige Mitleid, das David beweist. ——
Das alles liegt in der kleinen, zunächst obskur und peinlich scheinenden Höhlenszene, von der wir heute hören und aus der doch - wie wir feststellen müssen - die Christologie erwächst.
Und aus der Erkenntnis Christi – des wie wir und unseretwegen angefochtenen wahren Menschen – erwächst schließlich noch mehr: Die christliche Überzeugung, dass nichts Menschliches … nichts Berührendes, nichts Anrührendes, aber auch nichts Ehrenrühriges, ja nicht einmal das menschlich Anstößige je die Ehrfurcht vor dem von Gott gewollten, erwählten und gesiegelten Menschen infrage stellen darf.
Aus der Wurzel des Motivs vom schwachen Messias Saul in seiner Bedrängnis, … aus dem Motiv dieses durch göttliche Erwählung besonders Schutzbefohlenen wachsen also der Weihnachtsglaube an den menschgewordenen Gott und das christliche Menschenbild vom unverlierbaren und unantastbaren Ebenbildes Gottes selbst in Demütigung und Erbärmlichkeit.
Es ist krude zu sagen, dass wir hier das Mistbeet der Theologie sahen.
Aber es ist heilig festzustellen, dass alles, was wir glauben, hoffen und lieben dürfen, in der Niedrigkeit und Wirklichkeit wurzelt und dass das Kleinste und Echteste im Leben uns nicht nur an Weihnachten die sicherste Gewähr des Höchsten und Ewigen schenkt!
Amen.
3. So. n. Trinitatis, 16.06.2024, Stadtkirche, Lukas 15, 1-3.11b-32, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 16.VI.2024 - 3.n.Trin.
Lukas 15, 1-3.11b-32
Liebe Gemeinde!
Eigentlich ist die Akte dieses Erbschaftsstreites doch geschlossen: Der Hallodri und der Spießer, die beide so unterschiedliche Lebensentwürfe hatten – der eine als Playboy und einstweiliger Liebling der Klatschpresse, der andere als Junior des mittelständischen Familienbetriebs in der Provinz –, sind uns seit Kindertagen so vertraut, dass wir dieses Gleichnis nun wirklich kaum noch ernst zu nehmen neigen.
Wir kennen seine Moral: Auch der exzessive Verschwender und Tunichtgut darf nach einem heftigen Absturz auf die berühmte und beruhigende zweite Chance zählen. Es kann also nie so schlimm kommen, dass es dank der Großzügigkeit Gottes nicht alles immer wieder bügelbar und besser noch: ausbügelbar wäre. Wenn’s auch dumm gelaufen sein mag: Am Ende wird alles gut. ——
… Tatsächlich?
Ist das alles, was wir vom Verlorenen Sohn wissen?
Wer vergangenen Sonntag im Gottesdienst war, hat bei der Evangelienlesung jedenfalls nicht eine solche Beruhigungspille verabreicht bekommen. Da war im Gleichnis von denen, die Wichtigeres wussten, als irgendjemandes Gäste zu werden – weil sie gerade in Land und Besitz investiert und ihren Status durch eine gute Partie zementiert hatten – etwas völlig anderes zu vernehmen. Im Gleichnis vom Großen Abendmahl (vgl.Lk.14,15-24), das doch vom gleichen Erzähler stammt, ging es gar nicht gut aus. Wer da nicht zum Festmahl wollte, weil ihm sein Alltag mit der Fixierung auf die eigenen Erfolge wichtiger war, als irgendeine fremde Freude zu teilen, für den - so endete es theatralisch und erschreckend - gilt: „Ich sage euch, dass keiner der Männer, die eingeladen waren, mein Abendmahl schmecken wird.“
So ließ Jesus das ausklingen! … Mit diesem wörtlichen Zitat, das gar keinen Versuch unternimmt, im Abstand einer indirekt erzählten Rede zu bleiben, sondern beklemmend mit direkter Wörtlichkeit aus seinem Mund kommt, … ohne milderndes Fazit, ohne motivierende Schlussfloskel.
Die Geschichte vom Gastgeber, der reichlich Körbe kassiert, ist meine Geschichte, hält Jesus also fest, und sein Schlusspunkt ist auch mein Entschluss: Es löst sich nicht alles in Wohlgefallen auf, … sondern in Klarheit.
Und dann schickt er dem ernüchternden Ergebnis, dass die, die nicht wollen, auch nicht wer-en – nämlich dabei sein! –, einige ziemlich harte Zumutungen hinterher, die in der groben Drohung gipfeln: „Jeder unter euch, der sich nicht lossagt von allem, was er hat, der kann nicht mein Jünger sein. Das Salz ist etwas Gutes; wenn aber das Salz nicht mehr salzt, womit will man dann würzen? Es ist weder für den Acker noch für den Mist zu gebrauchen, sondern man wird’s wegwerfen. Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ …….
In der Kapiteleinteilung, die unsere Bibeln seit dem Mittelalter haben, sind ausgerechnet das die letzten Stichworte und Gedankengänge vor dem sattsam vertrauten und zutiefst beruhigenden 15.Kapitel, in dem alles Verlorene – das Schaf, der Groschen, der Sohn – so entlastend wieder hereingeholt und vor dem endgültigen Wegsein oder Draußenbleiben bewahrt wird.
… Doch wer sagt uns, dass es der Sinn dieser Reihenfolge sei, erst den schlimmsten Fall - die endgültige Zukunftslosigkeit - und dann sofort die Entwarnung, dass es überhaupt keinen solchen Fall geben werde, zu illustrieren?
Könnte es nicht auch bei den drei Verlorenen – von denen das Schaf irrational, der Groschen unbewusst, der Verlorene Sohn dagegen willentlich und selbstbestimmt in die schreckliche Lage kommt, nicht mehr aufgehoben zu sein – … könnte es also nicht auch bei den drei Verlorenen ganz bewusst so sein, dass ihre Geschichten nach den vorangehenden Warnungen vor dem Ausgeschlossen-Bleiben bei Gott sich umso eindringlicher verstehen und steigern?!
Wo keine Orientierung und Vernunft, wo nicht einmal eigene Energie vorhanden ist, da sucht und sammelt Gott selbst alle, die sonst abhandenkämen.
Wo aber Willens- und Entscheidungsfreiheit herrschen, da ist die Annahme der Einladung aus dem Festmahl-Gleichnis in Kapitel 14 nicht anders als die Umkehr zum Festmahl des Vaters in Kapitel 15 des Menschen ureigenste Möglichkeit. …Und Notwendigkeit!
Zu lange und zu bequem haben wir die Achterbahn des verlorenen Sohnes als einfache „Alles wird gut“-Geschichte verstanden. Als würde da irgendeine Schusseligkeit, ein dummes Versehen, eine allzumenschliche Unzurechnungsfähigkeit weggewischt, um fünfe gerade sein zu lassen.
Vielleicht müssten wir aber nur die abgenutzte Überschrift, die ja wir selbst dem Gleichnis Jesu geben, ändern, um es besser zu verstehen: Eigentlich ist es doch die Leidens- und die Rettungsgeschichte eines „umkehrenden Menschen“.
Und an dieser Geschichte können wir uns noch lange nicht, oder besser gesagt: schon lange nicht mehr sattgehört haben. Denn sie ist unmodern geworden. „Umkehr“ klingt nach Erweckungspredigt und Zeltmission oder nach Verbotspartei und moralischem Spielverderben. … Und so was wählt man ab, wie uns der letzte Sonntag gezeigt hat.
Und darum exakt geht es!
Dass wir abwählen können. Dass wir die Entscheidung haben: Dem Fest fernzubleiben. Das Vertraute zu verlassen. Völlig eigenwillige Wege einzuschlagen. Und schließlich Rückkehr und Zukunft zu vergessen. … Oder zu suchen. ——
Der Mensch, der sein Erbe vorzeitig wollte, bekam und verschwendete, ist mit seinen Ansprüchen und seiner ungebremsten Selbstverwirklichung nicht glücklich geworden.
Das könnte uns durchaus vertraut erscheinen: Wir könnten ganze Völker und Kulturkreise darin erkennen, wir könnten beinah ganze Generationen in dieser Erzählung wiederfinden.
Natürlich ist das die Geschichte der westlichen Welt, die Abschied vom ewigen Vaterhaus geommen hat und sich so, mit einem satten Vorschuss an Lebensqualitätsverbesserung, an äußerer Freizügigkeit und moralischer Emanzipation, kurz: an sämtlichen Möglichkeiten zur materiellen Wunscherfüllung in das Abenteuer stürzte, das sie „die Moderne“ nannte.
… Selbstbestimmung, … Saus und Braus, … Hier und Jetzt. … Kein Fragen um Erlaubnis! … Kein Warten auf das, was der Vater für später aufbewahrt hat.
Und nicht nur historisch, sondern aktuell ist das doch der Entwicklungs- oder vielleicht auch Reifeverzögerungsroman unseres weit verbreiteten Lebensstils: Der Menschentyp, der eigenmächtig und eigennützig einfordert und ausnutzt, …direkt und ohne Sparzwang, … erfüllt von der ungetrübten Gewissheit, dass ihm legitimerweise zusteht, worüber er verfügt.
Mit solchem kulturkritischen Pessimismus also, dass Neuzeit und Wohlstandgesellschaft die verlorenen Kinder Gottes sind und wir jetzt alle Zeugen werden, wie da, wo man die Sau rausließ, der Kater einkehrt, könnten wir streng und vorwurfsvoll auf die egoistischen und moralisch orientierungslosen Amerikaner oder Autofahrer oder Anhalter und Sachsen zeigen und hätten eine befriedigende politische Predigt gehalten: … Trump, die fossilen Energiegeschäftemacher und die Krah-und-Höcke-Meute sind die, deren egoistische Vernichtung des Erbes in den Absturz führt! … „Ich danke Dir, dass ich nicht bin wie diese“ (vgl. Lk.18,11). —
Doch was sollen solche Predigten über andere?
Wir sind es doch, denen Jesus in Seiner Kirche heute das Gleichnis vom Menschen erzählen lässt, der weggewollt hatte und schließlich doch einsah, dass er heimkehren müsse, wenn er statt des Todes das Leben finden wollte.
Und darum sind wir es, die die Akte zuschlagen können – „Der Verlorene Sohn ist eine Beruhigungsstory: Das wissen wir!“ – oder die sie lesen und bereit sein können, ihre eigene Not und Notwendigkeit darin zu begreifen.
Die Zeit drängt - so meine ich -, wenn wir vor Gott noch einmal anders dran sein wollen als die Menschen, die Besseres zu tun hatten, als das Leben zu erlangen.
Wir alle haben uns mit Selbstverständlichkeit und unmerklich immer weiter von Gott entfernt.
… Und wem das guttut, wer das stolze Dasein auf eigene Rechnung und Verantwortung als die einzig ihm angemessene Form des zeitgenössischen Erwachsenseins erlebt, für den ist die Predigt nun nichts mehr. … Wer die Gängelung durch Gott oder die Vergiftung mit Ihm oder die entmündigende Lehre der Geduld oder die negative Kritik an misslungener menschlicher Autonomie für das eigentliche Problem hält – und natürlich gibt’s auch Gründe, so zu denken –, der wird nicht weiter folgen mögen oder müssen.
Wer den Genuss, den wir zweifellos als Teil unseres Erbes von Gottes Seite hier und jetzt erfahren, für absolut ausreichend hält, und wer die enttäuschende Leere und den Mangel, die uns hier ja auch begegnen, als unvermeidlich sieht und Wert drauflegt, da selber klarzukommen, dem erzählt niemand die eigene Geschichte weiter: Weder Jesus noch irgendjemand in Seiner Kirche. … Haben und Verlieren, Auskosten und Entbehren darf jeder auch aus-schließlich mit sich selbst ausmachen! … ——
Doch was, wenn Lust und Ungemach – unser Prassen und unsere Reue am Schweinetrog – eine ganz andere Botschaft in sich trügen als entweder: „Schlürf mich, ich gehör’ Dir allein“ oder „Halt schön das Maul, Du bist eh’ allein!“? …….
Was, wenn die Herrlichkeit und das Scheitern in unserem Leben uns beide fragen: „Erinnere ich Dich nicht an Gott?“
Gott ist es, von Dem wir kommen. Er ist die Quelle unserer Freiheit, uns Wege in dieser Welt zu suchen und darauf Sinnvolles oder Selbstsüchtiges zu unternehmen. Er hält niemanden unter Zwang bei sich. Seit Jahrhunderten wählen wir eine immer ferner aus-greifende Auswanderung aus der ungebrochenen Vertrautheit mit Ihm, und unsere eigene Biographie ist oft eine bewusst reifende oder achtlos sich einschleichende Entfremdung von der Nähe und Direktheit, die andere Menschen oder wir, als wir noch anders waren, angesichts Seiner empfinden oder empfunden haben mögen.
Wir lassen Gott zurück.
Wie bei allem, was früher war, verzerrt es sich und verklärt sich womöglich, … was aber nicht Klärung oder Klarheit bedeutet.
Gott wird Nostalgie oder Nebel, wird von Kleinigkeiten oder unerträglichen Fragen und Krisen noch einmal heraufbeschworen, …aber anders als bei jenem großen Dichter, dem Duft und Geschmack eines Krümels Gebäck eine ganze Welt sinnlich vergegenwärtigten[i], tritt Gott nicht klarer vor oder näher an uns heran, wenn wir solche Winke oder Erschütterungen verspüren.
Vielmehr verliert Er immer mehr Sein Gesicht, Seine Stimme wird immer unvernehmlicher, Sein Wesen zerfließt immer unbestimmter, je mehr unsere Wünsche oder unsere Zweifel und Unzufriedenheiten und Leiden Ihn umspinnen und einwickeln in das graue Netz, den fahlen Flor, der alles einhüllt, das wir durch die Mühlen und Maschinen unseres klapprigen Verstandes drehen. …
… Ganz Vielen von uns ist Gott entweder nur noch ein theoretisches Fragezeichen oder eine Schädel-Jagdtrophäe, erlegt bei unserer Ausrottung des Unerklärlichen. …
… Oder wir lächeln wissend, weil Er ja ein gedanklich-sprachliches Symbol, eine unpersönliche These ist, die wir ab und zu zum Lücke-Büßen oder Tun-als-ob brauchen. …
… Oder Er ist so abwesend, so entwirklicht und so entwürdigt durch Erfahrungen und Behauptungen, die stärker auf uns wirken, dass wir vor dem leeren Bilderrahmen, dem abgeräumten Sockel stehen und nicht entscheiden können, ob wir eher in Tränen oder Wut ausbrechen. …
… Das alles kann in unserm Leben sehr wahr und sehr nah sein. …
… Oder es kommt uns gleichgültig vor, weil anderes viel näher und viel wahrer wirkt. … —
Doch hier in dieser Kirche, wo diese Predigt dieses Gleichnis dieses Jesus, des Sohnes dieses Gottes wiederholen darf, … hier ist nur die Frage zu stellen:
Willst Du das?
Oder erinnerst Du Dich nicht noch anders an Gott? Hoffst Du nicht anders auf Ihn?
… Wie wir uns nämlich an Ihn erinnern oder auf Ihn hoffen – was im Tiefsten nichts Verschiedenes bedeutet –, so dürfen wir uns und unsere Zukunft auch ausrichten!
Wenn im Unterbewussten, längst Verdrängten Gutes im Gottes-Namen klingt und schwingt, wenn da Weltwärme und Lebensatem, Herzensfrieden und die Echtheit unserer Seele zu spüren sind, … warum sollte man das nur immer weiter zurück- und verlassen? – Weshalb nicht wagen, statt des Schweigens wieder den Ruf und die Zusage, statt des Nichts wieder den Segen, statt des Verblassens wieder das Erstrahlen zu suchen? …
Und wenn im Gottes-Gedanken, im Jesus-Gefühl, im leisen Erwachen oder immer stär-keren Wehen der Begeisterung die Luft des Himmels, die Arme der Liebe, das Wunder von daheim sich ankündigen und aufgehen, weshalb sollte man dann im Tristen, in der kleinlauten Unsicherheit, in der Verstoßung bleiben, in die nur der fehlende Glaubens-mut, das Nicht-Aushalten der Vergebungsbedürftigkeit, der einsame Trotz des Höhlenmenschen[ii], der die Welt der Freiheit draußen leugnet, uns verbannen?!
Wenn wir doch etwas Herrliches hatten und auf noch viel Größeres, Grenzenloseres, Ewiges hoffen dürfen … wieso dann nicht dorthin umkehrend aufbrechen, … warum nicht losziehend darauf zurückkommen??! …….
In der Zeltmission würde es jetzt heißen: Wenn Du aus der Leere in die Fülle, … aus der Qual des langsamen Erstickens zurück an die Luft, … wenn Du aus der Ausweglosigkeit auf die Zielgerade willst, dann gib Jesus Dein Herz.
Und hier heißt es: Wenn Du nicht willst, dass alles bleibt, wie es ist und auch nicht willst, dass alles viel schlimmer kommt, … wenn Du nicht längst erwartest, dass alles vorbei ist, sondern hoffst, dass es mehr gibt, als alle Menschen sich erträumen, … wenn Du Dich selbst und die Welt also nicht am Ende siehst, sondern aus der Sackgasse des menschlichen Fortschritts bereit bist zurück in die Zukunft Gottes zu ziehen: Dann gib Jesus Dein Herz, aber gib Ihm auch Dein Hirn; gib Ihm Deine Not und Deine Kraft; gib Ihm Deine Sünde und auch Deine Gaben; gib Ihm alles, was Du an Leichtem und Schwerem mitschleppst auf dem Weg in die verschwenderischen und die elenden Tage hier auf Erden!
Gib also die Hoffnungslosigkeit auf – und der Zukunft ihren Namen: Sie heißt Umkehr!
Denn mit Jesus kommst Du, … mit Jesus kommen wir, … mit Jesus kommen alle nach Hause.
Ins Leben!
Amen.
[i] Marcel Prousts berühmtes „Madeleine“-Erlebnis - die Wirkung etwas gestippten Teegebäcks also - ließ ihn auf die „Suche nach der verlorenen Zeit“ gehen, die für seine Leserinnen und Leser (und in Wahrheit ja für alle Menschen) nicht abgeschlossen ist.
[ii] Platons Höhlengleichnis aus dem VII. Buch der Politeia, das als Schlüsselszene seiner Erkenntnistheorie gilt, wird immer sprechender auch als Illustration des heute gepflegten Vulgär-Atheismus. Die felsenfeste Behauptung, was wir hier sehen, sei alles, ist aber nach einer zweieinhalbtausendjährigen philosophischen Ermunterung, doch vielleicht einmal den Sitzort und also auch die Blickrichtung und dann auch den Standpunkt zu wechseln, noch immer nicht leicht zu erschüttern. Und doch ist die platonische Erfahrung, gar nicht an das vertraute Dunkelbild gebunden zu sein, sondern in Licht und Freiheit streben zu können, eine bleibende Motivation zur Verkündigung: Stellt Euch vor, da draußen gäbe es Gott …?!
2.So.n.Tr., 09.06.2024, Israel: Versuch einer Klärung, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
„Israel – Volk Gottes, Land und Nation: der Versuch einer notwendigen Klärung in schwieriger Zeit“
Liebe Gemeinde, (diese Predigt ist ein Wagnis, aber eines, das gewagt werden will, weil uns gerade in diesen schwierigen Zeiten Schweigen nicht weiterbringt. Dabei geht es mir nicht um Politik, sondern um unsere Haltung als Christenmenschen zu Israel.) Was meinen wir, wenn wir von Israel sprechen, was geht uns durch Herz und Geist, wenn von Israel die Rede ist?
Ich möchte Sie heute auf eine Zeitreise mitnehmen durch die Bibel bis in unsere Gegenwart und dabei dem Wort „Israel“ nachspüren. Es gibt kaum ein Wort, das so viele Facetten hat, wie „Israel“: Volk Gottes, Land und Nation – diese drei Wegmarkierungen habe ich in der Ankündigung gesetzt. Doch eigentlich fehlt die erste Markierung, der Ausgangspunkt für alles Nachdenken über Israel. Zuallererst ist Israel ein Name, der Name, den Jakob am Ende einer Nacht erhalten hat, in der er gerungen hat – mit sich und seinen Zweifeln und Ängsten, in der Sprache der Bibel mit einer numinosen Gestalt, sei es ein Dämon, sei es ein Engel, ein Kampf, aus dem er doppelt gezeichnet hervorging: verletzt und hinkend – und gesegnet und mit neuem Namen: Nicht mehr Jakob ~ „Betrüger“, sondern „Israel ~ der mit El/Gott ringt“. (Gen.32)
Der Name Israel weist uns in eine frühe Zeit zurück – in eine Zeit, in der nomadische Sippen mit ihren Viehherden durch den vorderen Orient zogen – zwischen dem Zweistromland und Ägypten. Von einer solchen Sippe erzählt die hebräische Bibel ab dem 12.Kapitel des 1.Mose: ihr Familienoberhaupt heißt Abram und er verehrt einen Gott El Schaddaj, der ihn anruft und ihm seine Begleitung zusagt und ihn auffordert, in ein Land zu wandern, das „ich dir zeigen werde“. Und dazu erhält Abram die Zusage, dass seine Sippe groß werden wird, zu einem Volk werden wird. Was entscheidend ist: Abram vertraut und bricht auf. In den nächsten Kapiteln werden verschiedenste Geschichten von Abram und seiner Sippe erzählt, die ins Land Kanaan kommt und dort umherzieht – immer den Weidemöglichkeiten für ihr Vieh nach. Und immer wieder auch Geschichten, die deutlich machen: entscheidend ist die Beziehung Abrams zu seinem Gott. Es geht um den Glauben, das Vertrauen in Gott. Gott ist ein mitgehender Gott.
Um den Glauben geht es auch in den Geschichten um Isaak und Jakob. Was wir von ihnen im 1.Mose lesen können, das sind keine verifizierbaren historischen Berichte, keine History, sondern Stories, Erzählungen über den Glauben der Vorväter von Sippen, die im Land Kanaan umherzogen. Erst viel später, in der Zeit der Könige von Juda und Israel, wurden die Erzählungen von Abram, Isaak und Jakob so miteinander verknüpft, dass sie eine einzige Familiengeschichte ergaben und so 12 Stämme zu einem Sippenverband zusammenfügten.
Das bedeutete auch, dass Erlebnisse, die eine Sippe, ein Stamm in der Vergangenheit gehabt hatte, von den anderen als eigene und geteilte übernommen wurden. Das betrifft auch die wohl wichtigste Erzählung der hebräischen Bibel: die Erzählung vom Auszug des Volkes Israel aus der ägyptischen Sklaverei. Auch wenn es nur ein kleiner Sippenverband war, der gegen alle Erwartungen dem Pharao entkommen konnte, so zählte für alle, die diese Erzählung hörten, teilten und weitergaben, doch eines: unser Gott ist ein Gott, der uns befreit. Er hört, wenn wir in Not sind und ihn anrufen. Der Glaube an einen Gott, der befreit und der will, dass seine Menschen in Gerechtigkeit und Freiheit zusammenleben, der verband die 12 Stämme in Kanaan.
Das war allerdings gar nicht immer leicht, das wissen wir heutigen ja auch. Um den richtigen Weg des Zusammenlebens muss man immer wieder ringen. Für die Menschen damals hieß das, sich immer wieder mit Gott und seinem Willen zu befassen. Und so wurde der Name, den Jakob seit seinem Ringkampf am Jabbok trug, zum Namen für den ganzen Sippenverband, bildeten sie so das Volk Israel.
Volk des Bundes wird es in der hebräischen Bibel auch genannt, das Volk Gottes. Das Buch der Richter weist darauf hin, dass dieser Zusammenschluss der 12 Stämme wohl über einen längeren Zeitraum ein Verbund war, wo jeder Stamm in seinem Bereich halbnomadisch lebte und man zu bestimmten Festen an Orten zusammenkam, die einzelnen Stämmen heilig waren und die mit Erzählungen von Gott und den Erzvätern verbunden waren: wie Bethel (wo Jakob die Himmelsleiter im Traum geschaut hat) oder Mamre (wo Abram von den drei Männern oder Engeln besucht worden war, die ihm die Geburt Isaaks ankündigten).
Kanaan hatte neben den 12 Stämmen noch andere Bewohner, die in einzelnen Städten siedelten: wie in Jericho. In diesen Stadtstaaten herrschte jeweils ein König, der als der oberste Repräsentant der dort verehrten obersten Gottheit galt. Und so wie es heute zwischen Staaten Konflikte gibt, gab es sie natürlich auch damals. Konflikte zwischen den halbnomadischen Stämmen Israels und den ansässigen Völkern im Land Kanaan. Das eher lockere Stammesbündnis wurde bald als Schwachpunkt in der Auseinandersetzung mit den straff hierarchisch organisierten anderen Stadtstaaten und Völkern gesehen. Die Existenz als föderaler Staat, das wissen wir in der Bundesrepublik ja auch, ist oft sehr mühselig. Dass Gott doch der König seines Bundesvolkes war, das reichte den Israeliten nicht mehr: ein realer König sollte her; sie wollten sich so organisieren, wie die anderen Völker. Davon erzählen die beiden Samuelbücher.
Der erste König war Saul. Doch sein Königtum war nicht von Dauer. Nach ihm wurde David König. Er kam aus dem Stamm Juda. Die Erzählungen über ihn zeigen ihn als mutigen Jüngling im Kampf gegen Goliath, als sensiblen Musiker und Poeten, als treuen Freund und Frauenheld, als Söldnerführer und Machtmenschen, als frommen Mann und brutalen Eroberer. Er begründete eine Dynastie. Bereits unter seinem Enkel Rehabeam brach das Königreich aber in das Reich Juda mit der Hauptstadt Jerusalem und in das Nordreich Israel mit der Hauptstadt Samaria auseinander. Trotzdem verbanden sich die Heilshoffnungen des Stammes Juda mit David und der Verheißung, dass sein Königtum ein ewiges sein soll.
Wohlgemerkt: das Land, auf dem die beiden Reiche und auch noch andere Herrschaftsgebiete existierten, z.B. die Edomiter, die sich von ihrem Stammvater Esau ableiteten, hieß nie „Israel“, es hieß Kanaan und der nördliche Teil wurde auch Samaria genannt und der südliche Teil Juda. Das Land lag in der Antike immer zwischen den damaligen Großmächten, den Assyrern, Babyloniern und Persern im Osten und den Ägyptern im Südwesten. Immer wieder wurden die dort wohnenden und siedelnden Völker und Stämme von diesen Großmächten in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt, ihre Städte erobert, die Ländereien verwüstet, die Menschen getötet, vertrieben, versklavt oder deportiert. Dagegen half es nichts, dass der 12-Stämme-Bund sich einen König zugelegt hatte.
Den Königsbüchern und auch den Prophetischen Büchern der hebräischen Bibel kann man einiges von den gewalt- und leidvollen Geschicken der Menschen in den beiden jüdischen Staaten entnehmen. Ebenso zeigen sie auf, wie die jüdischen Theologen nach der Katastrophe des Jahres 586 v.Chr. (Zerstörung Jerusalems und des Tempels und Deportation der Oberschicht nach Babylon) diese zu bewältigen versuchten: Schuld waren die Könige, die eben nicht die Gebote Gottes befolgt hatten; die Niederlage und die Zerstörung des Tempels war die von Gott verhängte Strafe. Als schwerste Sünde der Königszeit wurde ausgemacht, dass das Volk des Bundes sich verunreinigt hatte, indem es sich mit Menschen anderer Völker vermischt hatte – vom Königshaus angefangen bis hinunter ins gemeine Volk.
Die Rede von der Erwählung Israels als Volk Gottes bekam eine neue Ausrichtung. Es ging weniger darum, dass Gott Israel gerade als kleines und schwaches Völkchen erwählt hat, um an ihm zu zeigen, dass er für seine Menschen Rettung und Freiheit will und sie bewahrt. Nun wurde betont, dass Israel eben ganz anders sei als andere Völker, ein besonderes Volk, dass sich deshalb auch absondern muss von allen anderen – bis hinein in die Wortwahl: das hebräische Wort für Volk „ha ahm“ wird nur noch für Israel als „ha ahm elohim“ / Volk Gottes verwendet; alle anderen Völker werden mit „gojim“ bezeichnet. Genau damit geriet Israel aber in das gleiche Fahrwasser wie andere Völker: für die Griechen und später für die Römer waren alle anderen Völker „Barbaren“, für die Christen später die Menschen anderer Religion „Heiden“. Die Abwertung der anderen – eine Folge falschverstandener „Erwählung“.
Als der Perserkönig um 530 v.Chr. den Exilierten die Erlaubnis gab, in ihre Heimat zurückzukehren, setzten diese alles daran, die „Fehler“ der Königszeit auszumerzen und zu vermeiden. Eheschließungen zwischen Juden und Angehörigen der Gojim wurden verboten. Jüdische Männer, die mit Frauen verheiratet waren, die keine Jüdinnen waren, mussten diese fortschicken. So wollte man die Reinheit des Volkes bewahren. In den beiden biblischen Büchern Esra und Nehemia finden sich diese und andere Anweisungen aus dieser Zeit. Ein Verständnis von Erwählung und Volk Gottes, dem selbst in der hebräischen Bibel widersprochen wird. Der Prophet Deuterojesaja sieht die Rolle Israels ganz anders, nämlich bezogen auf die anderen Völker. Es heißt bei ihm: „Ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.“ (Jes.49,6b). Statt sich auf kultische und ethnische Reinheit zu beziehen, geht es Deuterojesaja und auch anderen Propheten um Recht, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Sich darum zu sorgen und sie allen Menschen und Völkern zu vermitteln ist Gottes Auftrag an Israel. Darin liegt der Kern der Berufung.
Gegen den kultisch-ethnischen Ansatz sprechen auch eine ganze Reihe weiterer Erzählungen in der hebräischen Bibel. Der Stammvater Joseph war mit einer Ägypterin verheiratet und seine Kinder folglich keine „reinen“ Juden. Mose war mit einer Kuschitin verheiratet, auch keine „Tochter Israels“. Und Ruth, die Urgroßmutter Davids, war eine Moabiterin.
Die Bemühung der Männer um Esra und Nehemia, das jüdische Volk Israel als besonderes Volk von allen anderen Menschen getrennt zu halten, hatte insgesamt nicht viel Erfolg. Erfolgreich dagegen war die Religion des Judentums, die sich immer stärker unter den Menschen und Völkern, die anderen Religionen anhingen, ausbreitete. Es waren gerade die ethischen Weisungen, die Hochschätzung von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit und die Verkündigung Eines Gottes im Himmel und auf Erden, eines Schöpfers und Befreiers, der diesen Glauben attraktiv machte. In den drei Jahrhunderten vor der Zeitenwende – in der Zeit herrschten im vorderen Orient zuerst die Griechen und dann die Römer - kam es zur Gründung vieler jüdischer Gemeinden in den Gebieten und Ländern rund um das Mittelmeer. Diese Gemeindegründungen können wir uns ähnlich vorstellen wie die Gemeindegründungen des Apostels Paulus. Es gab beides – eine regelrechte jüdische Mission und ein gewachsenes Interesse, das von „heidnischer“ Seite kam, das Proselytentum. Am kultisch-ethnisch-reinen Judentum hängende Juden standen dem ablehnend gegenüber. Jude war man für sie nur durch Geburt von einer jüdischen Mutter.
Für unsere Themenstellung wichtig ist an dieser Stelle der Hinweis darauf, dass seit der Zeit der Griechen das Land selbst Palästina hieß, unterteilt in Regionen und Provinzen wie Galiläa, Judäa, Samaria, Idumäa, Peräa. Von 141 v.Chr. an gibt es in Judäa ein jüdisches Königtum, die Dynastie der Makkabäer bzw. Hasmonäer, eine Zeit voller Intrigen und kriegerischer Auseinandersetzungen, die ihr Ende findet, als Pompejus 63 v.Chr. Jerusalem erobert. In der Folgezeit setzen die Römer Vasallenkönige über Palästina bzw. über einzelne Provinzen ein. 66 beginnt der jüdische Aufstand gegen Rom, 70 erfolgt die Zerstörung Jerusalems und des Tempels. Ein letztes Aufbäumen des jüdischen Widerstandes führt zum Bar-Kochba Aufstand 132-135. Nach dessen Niederschlagung wird die Provinz Judäa in Palästina umbenannt.
Die kriegerischen Auseinandersetzungen hatten einen enorm hohen Blutzoll unter der jüdischen Bevölkerung verursacht – durch Hinrichtungen, Hunger, Mord, Versklavung. Das Land lag brach. Wer konnte, emigrierte – zu den jüdischen Gemeinden in Asien, Afrika und Europa. Einzelne jüdische Gemeinden gab es aber immer auch in Palästina (Jabne), allerdings für lange Zeit nicht in Jerusalem.
So spannend es wäre, auch genauer auf die Geschichte der jüdischen Gemeinden in den folgenden fast 2000 Jahren zu sehen, so muss ich mich doch hier auf ein paar Stichworte beschränken – die Predigt würde sonst viel zu lang.
Die jüdischen Gemeinden gerieten seit der konstantinischen Wende (325 n.Chr.) unter den Druck des Christentums, das ein folgenschweres Bündnis mit der kaiserlichen, weltlichen Macht einging. Aus der verfolgten Kirche wurde die verfolgende Kirche. Die vorherrschende Theologie sah die Kirche als das neue und wahre Israel an, der neue Bund hatte den alten Bund abgelöst, das Evangelium die Befolgung der Thora obsolet gemacht. Die hebräische Bibel wurde ausschließlich als Schrift verstanden, die das Kommen Jesu im Blick hatte. Dass die Juden Jesus nicht als Messias anerkannten, wurde ihrer Verstocktheit zugeschrieben. Sehr bald galten sie auch als Gottesmörder. Im christlichen Machtbereich waren Juden eine Minderheit, die in entsprechenden Situationen als Sündenbock herhalten musste – z.B. beim Ausbruch der Pest, bei Missernten, bei Fehl- und Totgeburten und ähnlichen Gelegenheiten. Als biblische Begründung diente der Vers aus dem Matthäusevangelium, wo die Juden von Pilatus die Hinrichtung Jesu fordern mit der Bekräftigung „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.“ Ein Freibrief für unzählige Pogrome und Mordtaten von Christen durch die Jahrhunderte. Der religiös begründete Antisemitismus ist das Kainsmal des abendländischen Christentums und letztlich auch der Nährboden des rassistischen, biologistischen Antisemitismus der Neuzeit. Der Gedanke der Erwählung, der einmal der schwachen, kleinen Stammesgemeinschaft gegolten hatte, war in der Hand der herrschenden Kirche und Christenheit pervertiert in Gewaltausübung und Vernichtung.
Das Aufkommen des Nationalismus in Verbindung mit dem Kolonialismus im 19.Jahrhundert und der Säkularisierung weiter Teile der Gesellschaften Europas wirkten in doppelter Weise auf die jüdischen Gemeinden ein: die einen hofften auf den Durchbruch der Aufklärung und Vernunft und bemühten sich um Anerkennung in ihren Nationen, fühlten sich als Deutsche oder Franzosen oder Engländer jüdischen Glaubens. Andere, besonders in Osteuropa und im Zarenreich, erlebten gerade zum Ausgang des 19.Jahrhunderts eine Welle der Gewalt, Pogrome mit tausenden Toten. Ihre einzige Hoffnung verbanden sie damit, sich als jüdische Nation selbst zu regieren in einem eigenen Land. Sie fanden sich zusammen im Zionistischen Kongress, den Theodor Herzl initiiert hatte. Nach Zion, nach Israel – zurück in die alte Heimat, das verheißene, gelobte Land. Religiöse Inbrunst und weltliche Wünsche vermischten sich.
Nach den Pogromen in Russland waren von dort einige Tausend jüngere jüdische Männer und Frauen ins damals von den Osmanen beherrschte Palästina gereist, um sich dort in Kibbuzim anzusiedeln. Eine der Parolen lautete: Ein Volk ohne Land kommt in ein Land ohne Volk und sorgt dafür, dass es ein blühendes Land wird, wo Milch und Honig fließt.
Doch Palästina war kein leeres Land, sondern Heimat von muslimischen und christlichen Arabern und Palästinensern, unter denen auch orientalisch-jüdische Gemeinden lebten. Je mehr Land die aus Europa kommenden aschkenasischen Juden aufkauften und je mehr Juden aus Europa sich ansiedelten, je mehr Konflikte gab es, die von beiden Seiten mit Gewalt ausgetragen wurden. Als das osmanische Reich 1917 zerbrach und die Engländer als Kolonialmacht das Protektorat über Palästina erhielten, geriet das zum Vorteil der jüdischen Einwanderung. Das christliche Europa entwickelte ein Faible für das Heilige Land, man wollte auf den Spuren Jesu gehen. Und da Jesus ja Jude gewesen war, hatten diese doch dort eher Heimatrechte als die Araber.
Letztlich erwies sich das unfassbare Verbrechen der Nationalsozialisten an den Juden Europas, die Schoah, als Geburtshelfer für die Gründung des Staates Israel auf dem Boden Palästinas. Zehntausende Überlebende der Verfolgungen fanden dort Aufnahme, der einzige Rettungshafen, nachdem andere Länder – auch die USA – schon in den dreißiger Jahren ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge geschlossen hatten.
Allerdings gab es bei der Staatsgründung einige Geburtsfehler, die maßgeblich verantwortlich waren und sind für die nicht enden wollenden Konflikte im Nahen Osten.
- a) Schon vor der Staatsgründung gab es bewaffnete Konflikte zwischen der einheimischen arabischen Bevölkerung und den neu ins Land kommenden Siedlern um das von den Kibbuzniks von korrupten Großgrundbesitzern aufgekaufte Land, von dem dann die einheimischen Dorfbewohner vertrieben wurden.
- b) Um ihre Vorstellungen von einem Israel, wie es in der Bibel beschrieben wird, durchzusetzen, wurden systematische Vertreibungen, ethnische Säuberungen von israelischer Seite durchgeführt. In der christlichen Welt wurde dazu geschwiegen.
- c) Der neugegründete Staat wurde als demokratischer Staat gegründet, aber die Rechte und Pflichten waren nicht gleichmäßig auf alle seine Bürgerinnen und Bürger verteilt. Alle Rechte und Pflichten waren nur den jüdischen Staatsangehörigen zugedacht. Die noch im Land wohnenden Palästinenser und Araber, Muslime und Christen, Drusen und Angehörige anderer Religionsgemeinschaften unterliegen bis heute vielen repressiven Vorschriften. Israel befindet sich heute mehr denn je im Würgegriff eines völkisch-religiösen Nationalismus.
Es liegt eine große Tragik darin, dass Menschen, die doch selbst in ihrer Geschichte als religiöse Minderheit unendlich viel Leid und Verfolgung erfahren haben, nun selbst anderen Leid zufügen, die sie als weniger wert betrachten, weil sie nicht zum auserwählten Volk gehören, deren Kultur und Traditionen sie geringschätzen (etwas, was sie übrigens mit vielen Europäern teilen). Ja, aus Opfern können Täter werden. Da hilft es nur scheinbar, sich selbst immer als Opfer zu sehen, die Angst zu beschwören, ohne wehrhafte Gewalt der Vernichtung preisgegeben zu sein. Angst und Gewalt werden niemals Israel in Sicherheit und Frieden leben lassen. Nur eine Aussöhnung mit den Palästinensern bringt eine Lösung, und der Weg dorthin ist anstrengend und braucht von israelischer Seite zuallererst die Anerkennung der eigenen Schuld an der Nakba, an der Vertreibung und Enteignung der Palästinenser, an der ethnischer Säuberung des Landes – mag sie auch ihre Wurzel haben in der erlittenen Not der Schoah.
Vielleicht sollten sich unsere jüdischen älteren Geschwister einmal die Geschichte ihres Namensgebers zu Herzen nehmen, von der wir einen Teil in der Lesung gehört haben. Wo Jakob sich buchstäblich durchringt – durch seine Ängste vor der Begegnung mit seinem Bruder Esau, an dem er schuldig geworden war. Und was erlebt er am folgenden Tag? Der Bruder läuft ihm entgegen und fällt ihm um den Hals; er küsst ihn und sie beide weinen. (Gen.33,4)
Es ist wahr: die biblischen Texte können uns zu Worten des Lebens werden oder aber uns in Abgründe führen. Möge Gottes Geist uns und unsere jüdischen Geschwister auf den Weg der Gerechtigkeit, Versöhnung und des Friedens geleiten.
2.So. n. Trinitatis, 09.06.2024, Stadtkirche, Epheser 2, 11 - 22 , Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.n.Trin. - 9.VI.2024
Epheser 2, 17 - 22
(Zu diesem Gottesdienst waren anlässlich der Europawahl die sechzehn- bis achtzehnjährigen Erstwähler und Erstwählerinnen besonders eingeladen. Der vorgesehene Predigttext des 2.Sonntags nach Trinitatis wurde an den entsprechenden Stellen von drei jungen Gemeindegliedern gelesen. Ein besonderer Dank daher an Alisa-Marie Schulze, Erik Heukelbach und Mateus Cherubim!)
Liebe Gemeinde!
Wie steht’s um unser Haus? – Nicht gut, fürchte ich.
Es ist ein großzügiges Haus. Errichtet wurde es wie alle alten Bauwerke ja nur nach und nach. Deshalb hat es seinen eigenartigen Plan, und nicht alles an ihm ist noch zeitgemäß. Aber es steht, es trägt und es hat Atmosphäre. Es ist ein Zuhause und eine Herberge, in der viele Erinnerungen und Träume ihren Ort haben und viel Zukunft Platz hätte.
Natürlich finden sich in unserm Haus auch Spuren seiner Bewohner, die uns Rätsel aufgeben: Wie sinnlos manche Räume abgetrennt und wieder und wieder geteilt wurden, so dass sie bis zur Unbrauchbarkeit verschachtelt sind. Manche Wände zeugen von schlichtem Zank: Hauptsache, „die nebenan“ kommen nicht leichter an die Pumpe oder ins Freie als man selbst.
Und dann gibt es die Narben unseres Hauses und seine offenen Wunden: Es gibt Verbindungstüren, die einfach zugemauert wurden. Es gibt tragende Balken, an denen man - lustig oder meistens grimmig - gesägt hat und immer noch sägt.
Und es gibt die erschütternd selbstzerstörerische Absicht, jetzt, in unserer Gegenwart die Türen und die Fenster dieses Hauses nicht nur zu verbarrikadieren, sondern sie unbenutzbar zu machen. Kein Eingang, kein Durchzug, keine Erfrischung soll mehr möglich sein. Das Haus soll dicht gemacht werden von innen. Technisch anders, aber in der Wirkung wie ein Sarg. … In dem dann auch nur noch Zerfall möglich ist, wenn seine sechs Bretter endgültig und undurchlässig geschlossen wurden.
Dabei ist doch dies Haus - unser Europa - anders entstanden, als seine Zerteiler und Abschließer (wir könnten auch seine „Abdecker und Zerleger“ sagen) wahrhaben wollen.
Das Europa, das wir bewohnen und Heimat nennen, ist zunächst nicht auf einer Landkarte, sondern in einem Buch und dessen Geist zu suchen. Ein Geist ist das, der von Süden kommend durch wehrdienstverweigernde, ungehorsame und vaterlandsverräterische römische Soldaten eingeschleust wurde, die plötzlich nicht mehr militärische Kolonialbeamte, sondern Diakone und Fußwascher und Mantelteiler und Gnadenprediger und Völkerversöhner und Himmelreichsvorbereiter sein wollten: Sie hießen Florian und Martin, Florentius und Cassius, Mauritius und Gereon, Quirin und Viktor[i] und haben unterm römischen Reichsadler tatsächlich die Herrschaft eines unterm römischen Reichsadler Gekreuzigten angesagt und anerkannt!
Die Mission dieser getauften Ex-Soldaten, die nicht mehr Eroberer sein wollten, sondern Versöhner, ist die eine Einwanderung, die aus heidnischem Barbarenland das christliche „Abend“-Land einer Sonne machte, die eindeutig vom Orient her scheint.
Die andere Gründungs-Migration des heutigen Europa war von Nordwesten her die lange Reihe von Bettlern und Betern, die kreuz und quer durch die botanischen und menschlichen Heiden ihre bedürfnislose Armut und ein himmelreiches Buch schleppten. Diese Vaganten des jüdischen Gottes[ii] kamen aus Irland, Schottland und später England und gründeten Klöster, Schulen und Hospize für Leib und Seele. Sie hießen - unter vielen anderen - Columban und Gallus, Fridolin, Wendelin und Kilian, Willibrord, Suitbertus und Pirmin, nicht zuletzt Bonifatius, dessen Gedenktag erst letzten Mittwoch war, und Lioba und Walburga aus der gleichen Familie.
Europa ist also nicht als Nebeneinander, sondern als ein Durch- und Füreinander entstanden, das keinesfalls aus der Reinkultur irgendwelcher Stämme oder Völkerschaften, sondern aus der Mischkultur der christlichen Abenteuer-Individuen erwuchs…. Rasse oder ethnische Herkunft sind dabei das abwegigste Motiv: Mauritius soll Afrikaner gewesen sein; die irischen Mönche praktizierten eine Lebensform, die in der Wüste des Nil-Delta entstand; und die Erinnerung an und die Liebe zu den keltischen und britischen Originalen, die Frankreich, den Bodenseeraum, die Alpen und das bewaldete Mitteleuropa zum Christentum führten, haben eine tiefere Schicht der Zusammengehörigkeit gelegt, als alle Nationalstaatsbildung und aller bornierte Chauvinismus seit dem 19.Jhdt. dauerhaft auslöschen konnten.
Europa ist also ein Raum, in dem Unterschiedenes immer schon verbunden worden ist. Und nicht nur Unterschiedenes, sondern geradezu Gegensätzliches. Weil in dem Buch, das die christianisierenden Einwanderer mit sich brachten, alles so anfängt: Radikale Unversöhnlichkeit – die gegenseitige Totalfremdheit von Juden und Nicht-Juden in der Antike – wird in Christus überwindbar! … Und Ferne wird Nähe!
Epheser 2, 11 – 15
Europa, das relativ kleine Menschenhaus der römischen und britischen und gallisch-fränkischen und später auch der slawischen Christenheit und des westlichen Exils der Juden, zu dem historisch betrachtet tatsächlich auch gewaltsame wie friedliche Erfahrungen des Islam gehören, … Europa also ist dennoch leider kein Schmelztiegel einer grenzüberschreitenden Integration geblieben, sondern es wurde zu einem Konfliktherd, zu einem Schmerztiegel, in dem Argwohn, Raublust, Machthunger, Wirtschaftslüste und immer säkularer werdendes Selbstbewusstsein brodelten, brüchig verhärteten, um immer wieder umso giftiger und tödlicher zu explodieren und in alle Welt zu strömen.
Europa – das Haus, das einst von Skandinavien bis nach Sizilien, vom Atlantik bis an den Kaukasus die Gestalt des Nord und Süd und West und Ost verbindenden Gekreuzigten nachbildete und in seiner Bildung nachvollziehen wollte – … Europa hat weltweit Leid gelindert, aber auch verbreitet, … hat weltweit Recht begründet, aber auch epochales Unrecht begangen, … hat weltweit leuchtende Visionen geteilt, aber auch finsterste Schrecken erregt.
Und Europas Katastrophe – die wahrlich nicht mehr die Katastrophe des Christentums, sondern eines erst aufgeklärten und dann umnachteten Anti-Christentums war – liegt nicht in ferner Vergangenheit: „D-Day“ – als sich der freie Westen freiwillig in einen Überlebenskampf gegen die inneren Dämonen Mitteleuropas stürzte – geschah ja zu Lebzeiten jener Uralten, die vor-vorgestern noch einmal am Strand der Normandie versammelt waren, ……. und zu allem Unheil spüren wir, dass ein neuer D-Day nicht absurde Phantasie, sondern grauenvolle Zukunftsoption werden könnte. —
Aber trotz seiner Schuld und Schande – das können nur wir Christen sagen, aber wir müssen’s darum auch! –, bleibt etwas anders in Europa als in den meisten Kulturkreisen.
Denn anders als in zahlreichen absoluten Denk- und Wertesystemen, die nur nach Sieg oder Schimpf bewerten, findet sich in der Taufurkunde Europas eine andere Skala: Sünde und Vergebung.
Hier muss und kann man also auch aus furchtbaren Vergehen lernen, weil das Unvollkommene durch das Vollkommene Gnade erlangen kann.
Das christliche und das nachchristliche Europa sind darum der Ort des andauernden Umkehrens, der Veränderung, der Verbesserung, der Entwicklung geworden.
Weil weder verhängnisvolles Schicksal noch eiserne Notwendigkeit, sondern der der Welt Sünden vergebende, Verlorene stellvertretend rettende und alle in die Nachfolge rufende Jesus Christus dem Europa der flächendeckenden Kirchen, Kapellen und Kathedralen, dem Europa der Weg- und Flur- und Giebelkreuze allerorten das Antlitz und das Unterbewusste prägt: Darum ist unser Kontinent bleibend so sozialisiert und konditioniert, dass hier neue Anfänge und bessere Weg gesucht werden!
Die Hoffnung nie aufzugeben, … die Liebe nicht auszuschließen, … den Frieden unter keinen Umständen abzuschreiben: Das ist trotz aller Rückschläge, trotz allen Verrats, trotz aller Enttäuschung die unverbesserliche - eigentlich: die unverderbliche - Eigenart des Erdteils, in dem die Fernen nah und Feinde Verbündete werden mussten, weil der Herr, von dem der Epheserbrief erleuchtet ist, hier gepredigt, empfangen und gemeinsam im bewussten Vertrauen auf Ihn oder in vergessenem Wirken der Taufe nachgeahmt wird.
Europa also kennt und ist auch ein Zwiespalt, wie es die Kirche auch ist, in der Juden und Heiden, Berufene und Erwählte also gemeinsam mit Außenseitern und Unberührbaren eine neue Menschheit darstellen und im Miteinander erleben dürfen.
Epheser 2, 13 – 17
Wir haben vom Potential und Abenteuer, …. wir haben von der Verheißung geredet, die geschichtlich mit unserm Kontinent verbunden ist, auf den das Christentum zwar langsamer kam, als es sich im vorderasiatischen und afrikanischen Raum ausbreitete … auf den es aber kam, um länger zu bleiben.
Wir haben auch vom schrecklichen Europa gesprochen, das zwiespältig … zu seinem Heil aber eben auch wandelbar ist und in dem das Christentum Schritt mit der Zeit halten muss, ohne die Ewigkeit vorwegnehmen zu könne, wie es die orthodoxen Kirchen versuchen. —
In seinen ältesten Gebieten indessen, im Orient verschwindet das Christentum heute nun gewaltsam und zugleich lautlos.
Und es ist auch bei uns wahrhaftig nicht unwiderruflich durchgedrungen.
Das Europa, das ursprünglich ein Durch- und Für- und Miteinander war, wird vom Geist der glattzüngigen Gegensätze heimgesucht.
Das Europa, das aus seinen Sündenfällen gelernt hat, Freiheit und Fortschritte als Folgen der Gnade zu erfassen, die Raum zum Umkehren und Reformieren, zu Loslassen und Erneuerung schenkt, … dieses Europa wird ungnädig, weil es veraltet und es wird überholt, indem es sich so gnadenlos gibt.
Europa und das Christentum – Verheißungspotential und zwiespältige Veränderungsfähigkeit – ist also eine Verbindung, die keine Garantie hat in einer Zeit, in der wir Abschied von allen Sicherheiten, allem Selbstverständlichen bis hin zum Frieden nehmen müssen.
Und doch wünsche ich mir für diesen Erdteil und für alle seine Bewohner, einschließlich meiner eigenen Kinder und aller jungen Menschen, die heute zum ersten Mal wählen dürfen, dass es eine lebendige und überraschende, eine tiefverwurzelte und dennoch unbedingt spontane Liebesbeziehung bleiben möge … die Symbiose zwischen unserem Glauben und unserm Kulturkreis und Lebensraum.
Ich wünsche Europa, dass die überwältigende Erfahrung der grenzenlosen Liebe Gottes, der fleischgewordenen Liebe Gottes, der leidens- und kreuzigungsbereiten Liebe Gottes, der todüberwindenden Liebe Gottes und die ebenso überwältigende Erfahrung der Menschenliebe weiter zünden und dass sie Verbindungen schaffen, die abenteuerlich und weitherzig sind, die Sprachen wie Straßen nutzen, um zueinander zu kommen und aus dem Elend aller Gewalt und Trennungen die Begeisterung für das überall und immer mögliche Wunder des Friedens ableiten!
So möge es kommen!
… So muss es kommen! ———
In der katholischen Kirche hat man Europa in den letzten sechzig Jahren besonders unter der Anregung und Teilnahme besonderer Schutzpatrone gedeihen zu sehen gehofft: Benedikt (von Nursia), dessen „ora et labora“ uns allen klügste Maßstäbe setzt; Kyrill und Method, die Missionare der slawischen Welt, die als größtes Geschenk ein Alphabet schufen, um den Schatz des Denkens und Hörens und Verstehens nicht wie die Menschen sterben zu lassen, sondern zeitumspannend zu erhalten. Und dann drei christliche Frauen: Katharina von Siena, Birgitta von Schweden und Edith Stein – eine Mahnerin, eine Mystikerin, eine Märtyrerin.
Katharina von Siena, die das auf den Hund gekommene Papsttum im schauerlichen 14.Jhdt. penetranter und mutiger mahnte als alle Theologen ihrer Zeit hat einen ganz wunderbaren Gedanken festgehalten, der sie auch für mich zu einer Europa-Mutter macht. In einer Vision erlebte sie wie Gottes Wahrheit, der Geist also zu ihr sprach: „Ich hätte sehr wohl den Men-schen (mit)samt allem, was er braucht, erschaffen können, wollte aber, daß einer auf den anderen angewiesen sei… . Der Mensch mag wollen oder nicht, er kann sich … den Werken der Liebe nicht entziehen.“[iii]
Das aber ist nichts anderes als die Magna Charta Europas: Das Angewiesensein aufeinander als Zeichen der Liebe, die genau das will und die genau das ist … nämlich unvollständig ohne den anderen. ——
Darum aber glaube ich, dass es auch mit Europa, auch heute in der Bedrängnis so kommen wird, wie Gott es will.
Nicht weil ich mir einbilde, dass in unserem Haus weiterhin nur oder überwiegend Christinnen und Christen leben und Christentum herrschen werde.
Gewiss: So viel von beidem wie möglich, … unbedingt!
Aber das ganz Entscheidende – das wahrhaftig nicht allein für Europa, sondern für alle Teile der Erde, für die Menschheit insgesamt gilt – … das ganz Entscheidende, ist etwas anderes: Dass nämlich das Hausrecht in der Menschheit bei Dem liegt, Der ihr Haus-herr ist … bei Gott.
Zu wissen also und wissentlich zu wählen und zu bejahen, dass es im Angesicht des Gottes aller Menschen keine Fremdheit gibt, sondern nur ein allgemeines, ungeteiltes, allumfassen-des und ewiges Zusammengehören als Mitbewohner und Mitberechtigte und Mitberufene in dieser Lebensgemeinschaft mit dem Schöpfer und Helfer und Heiler der Menschheit: Dazu haben wir als christliche Gemeinde in jedem Augenblick Gelegenheit … und heute haben wir diese Gelegenheit wie alle Bürger Europas auch in weltlicher Hinsicht.
Wir, die Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes, erbaut auf dem Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist.
Wir, die das Anfangsabenteuer und das lebenslange Lernen Europas fortsetzen dürfen in der welt- und himmelweiten Gemeinschaft, von der der Epheserbrief uns heute eine so herrliche Vision mitgibt:
Epheser 2, 17 – 22
Wie steht es um unser Haus? – Je treuer wir dem Hausherrn sind, je freier wir Ihm folgen, desto besser.
Und letztlich steht es darum gut: Weil wir heute etwas sagen dürfen, das andernorts den Menschen im Blick auf ihre Heimat viel leichter über die Lippen kommt:
Gott hat dieses zwiespältige, ursprünglich nur durch Christus verbundene und erneuerungsbereite Europa gesegnet.
Und Gott segne es weiterhin – und alle Kontinente dieser Erde, bis alles, was lebt zusammen Seine Behausung im Geist wird!
Amen.
[i] Mit Ausnahme Florians, der im heutigen Österreich sein Martyrium fand, und des Martinus von Tours, lässt sich anhand der übrigen Soldatenheiligen die Erstreckung der römischen Garnisonen und Kulturzentren entlang des Rheins exakt verfolgen: Von Bonn über Köln und Neuss bis Xanten sind die Zentren ihrer Memoria und ihres Kultes eine Landkarte nicht nur der römischen Verwaltungsräume, sondern auch des Vordringens des Christentums in der Antike.
[ii] Die Formulierung lehnt sich an den Titel einer hervorragenden Darstellung der iro-schottischen Festlandsmission im frühen Mittelalter an: Ingeborg Meyer-Sickendiek, Gottes gelehrte Vaganten – Auf den Spuren der irischen Mission und Kultur in Europa, Stuttgart 1980.
[iii] Caterina von Siena, Gespräch von Gottes Vorsehung, eingeleitet v. Ellen Sommer-von Seckendorff und Hans Urs von Balthasar (Lectio spiritualis Bd.8), Einsiedeln 20186, S. 12.
1.So. n. Trinitatis, 02.06.2024, Stadtkirche, Lukas 16, 19 - 31, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.n.Trin. - 2.VI.2024
Lukas 16, 19 - 31
Liebe Gemeinde!
26 Sonntage sind’s von heute bis zum Ewigkeitssonntag; Genau ein halbes Jahr also, um als solche zu leben, die in der Kraft des auferstandenen Siegers über den Tod, die im Geist des Erbarmers über alle Menschen, die in der Nachfolge des Versöhners der Unversöhnten und des Unversöhnlichen hier in der Welt dasein wollen.
… Wir hätten zu tun.
… Wir werden zu tun haben.
… Wir sollten etwas getan haben, wenn wir am 24.November – so Gott will und wir leben! – dies Kirchenjahr zurückbringen zu Dem, Der für uns und durch uns und bei uns das Leben schützen und das Verderben ab- und umkehren will.
Dass Gott ein „Freund des Lebens“ ist, wie es in der apokryphen, aber für uns umso unabgenutzteren Weisheit Salomos (11,26) heißt, bedeutet nun einmal, dass Glauben nichts Theoretisches, sondern eine ganz konkrete Praxis ist.
Wäre der Allmächtige nur ein träumerischer Liebhaber großer Ideen, … wäre Er der Spinner bloßer Möglichkeitsmuster, die aus Wahrscheinlichkeit und heißer Luft zusammengebauscht und weggepustet werden, … hätte Er Seiner Kirche nur die Schlüssel zum Wolkenkuckucksheim anvertraut und nicht die vollmächtige Aufgabe, die Realität der Sünde aus dem menschlichen Leben fernzuhalten und durch Umkehr und Vergebung das Einfallstor und die Einfälle der Sünde ab- und auszuschließen[i], dann könnten wir beruhigt auch im kommenden halben Jahr so tun, als ginge uns der Schlamassel unserer Zeit nichts an. Wir könnten Däumchen oder krumme Dinger drehen, … könnten weitermachen oder halblang, … könnten unterlassen oder übertreiben auf Teufel komm raus!, was immer uns durchs träge Hirn und Herz blubbert.
Wenn Christsein bloß betrachtende Existenz in einem Weltanschauungsgebäude bedeutete, dann gäbe es keine zwei Hälften des Kirchenjahres: Dann folgte auf das, was wir anbetend feiern und bekennen, nicht jetzt das Halbjahr unserer Nachfolge und des Zeugnisses unserer Tat.
Weil wir aber nicht als Zuschauer im Kinosaal der großen Bibelfilme sitzen, sondern weil wir berufen sind, Krippe und Kreuz, Krankheit zum Tode und Auferweckung aus dem Grab, die Freiheit der Himmelfahrt und die flammenden Herzen von Pfingsten mit unserem Leben hier in der Wirklichkeit als wahr und wirksam zu erweisen, darum ist Christsein keine sitzende Tätigkeit und auch keine Yogaübung für die innere Energieflussverstopfung.
Und darum hat Gott uns die Lazarusse vor die Tür gelegt: Jeder, der aus der Tür seines abgeschotteten Privatlebens auch nur einen Schritt in die Welt wagt, trifft dort auf sie.
Wir wissen es.
Und da enden auch schon Rhetorik und Predigt und beginnt unsere Aufgabe.
————
Nur ein Wort noch hat die Theologie der Kirche, die doch bloß Dolmetscherin und Gebärdenübersetzerin der Dreieinigkeit sein soll, hier zu sagen.
… Das verbotenste aller Worte.
… Das verstaubteste aller Worte.
… Das übelste aller Worte. Aber tatsächlich das Wort, das hierhin gehört.
Es ist kein Wort, das im Zusammenhang mit Weltanschauungen oder Meinungen, das im Rahmen von Überzeugungs- oder dogmatischen Fragen seinen Platz hätte: Was wir oder andere denken, was wir glauben und fürwahrhalten mögen und müssen, das ist alles nicht gleichgültig, aber es eröffnet uns weder den Himmel, noch schickt es uns in dessen Gegenteil.
Das total verpönte und wirklich schrecklich verdorbene und weltanschaulich restlos antiquierte Wort, das im Zusammenhang mit der innerweltlichen Wirklichkeit der Gemeinde Jesu Christi nun aber eben doch gesagt werden muss, das kennen wir nur noch vom Ewigkeitssonntag her – also noch 26 Sonntage weit von uns entfernt.
Da aber ist es schnörkellos zentral, wenn der Lazarus vor unseren Türen – der Penner, die obdachlose Frau, das Flüchtlingskind, der vollgeschmierte Junkie, das abgewrackte Menschenbild des Scheiterns und Missratens – plötzlich vor uns stehen wird und fragen: „Wo gehst Du hin … von mir aus gesehen? Gehst Du den Weg nach rechts, in die Lebendigkeit, weil Du im hilflos kaputten und lästig leidenden Anderen einen Beweggrund für Dein eigenes Leben fandest, oder gehst Du zur andern Seite, in die unveränderliche Welt der menschlichen Passivität, weil kein Gebrauchtwerden und keine Verantwortung Dich berühren und bewegen konnten?“
Lazarus, genannt Jesus wird diese Frage stellen, die einfach nur die Frage nach unsren eigenen Maßstäben ist: Der Mensch oder das Nichts? Namenlose Liebe oder starre Fühllosigkeit? … Wie hast Du entschieden? – Denn wie Du entschieden hast, so wird es werden. Wer Liebe wählte, geht in die Liebe. Wer nichts wollte, geht ins Nichts (vgl. Matth.25). ———
Das Wort also, an das wir nie mehr denken, … das Wort und der Ort, die es für uns gar nicht gibt: Das ist die … Hölle.
Von ihr muss geredet werden heute, am Anfang des praktischen Halbjahrs, des tätigen Anwendens dessen, was wir von Advent bis Trinitatis wieder meditieren und feiern durften.
Die Hölle begegnet uns neutestamentlich – alttestamentlich ist sie ja fast gar kein Thema – … die Hölle also begegnet uns im Evangelium eindeutig und unmittelbar im Kraftfeld der Ethik: Was wir praktisch tun, wie wir konkret handeln, wie wir nicht mit Worten und der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit lieben (vgl,1.Joh.3,18), … das ist gemäß dem Neuen Testament die Himmels- und die Höllenfrage! … Nicht Weltanschauungen, nicht Formeln, auch nicht das Feld der körperlichen Triebe und des sexuellen Begehrens, die alle reichlich mit Angst und Schwefel aufgeladen und vermint worden sind, sondern die ganz einfache soziale Frage: Was hast Du angesichts des Hungers und Schmerzes, der Krankheit und Trübsal, der Ungerechtigkeit und Bedürftigkeit in der Welt getan? … das ist die Himmel- und die Höllenfrage! …
Von welcher Art eines jeden Werk – und nicht etwa: eines jeden Glaube! – ist, das wird am Tag des Gerichts das Feuer erweisen, sagt Paulus (vgl. 1.Kor.3,13), der doch immerhin ein Gerettetwerden durch das Feuer hindurch, eine Läuterung erhofft (vgl. 1.Kor.3,15!).
Jesus dagegen - der arme Lazarus vor den Türen der Reichen in dieser Welt - ist viel harscher: … So unvermittelt und unabwendbar und unerträglich ist Er, der Menschensohn in allen Menschen dem ausgesetzt, was wir einst getan oder gelassen haben werden!
Er spricht darum vom ewigen Feuer, das dem Teufel – dem „Diabolos“, also dem Durcheinanderwerfer, dem Zerwerfer und Verwerfer des Lebens – und dessen Boten bereitet ist (vgl. Matth.25,41).
So wie Er heute, im Gleichnis vom zynisch-ignoranten Wohlstandsbürger, den die Misere draußen vor der Tür nicht juckte, von dessen Qual in den Flammen der Hölle spricht: … Geradeso als wolle Jesus den mittelalterlichen Steinmetzen mit ihren großen Westportalen an den Kirchen und Domen und deren mächtigen Seligkeits- und Folterszenen beim Weltgericht bewusst drastisches Material liefern, oder als wolle er Stefan Lochner und Rogier van der Weyden und allen anderen rhein- und niederländischen[ii] Maler der Gotik, die doch so überwältigende Schönheit schufen, regelrecht sadistisch anstacheln beim Entwerfen ihren grellen und brutalen Feuerpfuhle der Verdammten.
Das ist ein Schock für uns.
Nach dem schönen, kindgerechten Jesusbilderbogen der großen Kirchenfeste in ihrer familienfreundlichen Entschärfung hatten wir doch einen gewaltfreien, humanen, fairen, harmlos-symbolischen Gutmenschen als den Inhalt des Evangeliums vor Augen.
… Nicht einen, der sich anhört, als habe man Seine Tutsi-Eltern in Rwanda unter den Augen der Welt geschlachtet, … nicht einen, der sich anhört, als habe man Seine jüngeren Brüder in Srebrenica unter den Augen der Welt erschossen, … nicht einen, der sich anhört als habe man Seine Mutter und Tanten und Nichten und Neffen unter den Augen der Welt in Rafah und Khan Junis verhungern und verbluten lassen.
Jesus soll sich nicht anhören, als wäre Sein Volk in Auschwitz vergast worden.
Er soll sich nicht anhören, als würden Seine Freunde beiderseits der ukrainischen Ostfront langsam auseinandergenommen
Er soll sich nicht anhören, als ginge Seinen Geliebten im Süden allmählich alle Hoffnung verloren und als hungerten immer mehr der mystischen und dabei völlig menschlichen Glieder Seines Körpers und als kümmere es die satte, reiche und noch friedliche Welt kein bisschen, wenn die Daseins- und Lebensgrundlagen aller Schöpfung in totale Auflösung und absehbar in restlose Vernichtung geraten.
… So soll Jesus sich nicht anhören!!! ………….
Aber wie um alles in der Welt denn dann???
Wie soll der Heiland aller Menschen sich denn anhören, wenn und weil Er genau weiß, wie sie leiden, darben und ausweglos verrecken: Seine Geschwister, Sein Fleisch und Blut, derentwegen Er Mensch wurde, Seine Erlösten, die Ihm Versprochenen, die Ihm Vertrauenden, die für Ihn und Seine Herrschaft Aufbewahrten in den furchtbaren Nöten, ehe Sein Reich kommt??!!!
Wie soll Er denn sprechen zu Menschen, die das nicht packt, die das nicht fühlen, die da immer noch keinen Appell vernehmen, keinen Handlungsbedarf verspüren, keine Sirene, keine Posaune, keine endgültige und letzte Frage hören?
– Soll Er pädagogisch nett, soll Er wie ein coachender Berater, ein empathischer Therapeut, wie ein weiser Guru ein bisschen moderieren und motivieren, damit sich der reiche Mann, die reiche Frau, der reiche Teil der Menschheit moralisch ein klein wenig bewegt?
Nein.
Der am Kreuz alles Leiden aller Leidenden in sich vereinte, spricht mit der Wucht des Weltleids die Welt an.
Und Er hat ihr nur das Eine zu sagen: Wer nichts gegen das Leid und Unglück, gegen die Not und die Zerstörung unternimmt, die in der Wirklichkeit vor allen euren Türen, vor allen euren Augen, in euer aller Mitte herrschen, der hat gewählt. …….
„…. Aber das haben wir doch gar nicht! Wir nicht und alle anderen auch nicht. Wir wissen doch nicht, was wir tun sollen, wenn es mit einem Mal, so plötzlich, so unvermutet darauf an-kommen soll. … Wir haben doch alle gar keinen Plan, wir haben doch keine gute und schonende und allgemeinverträgliche und ausgewogene und abgefederte Strategie … und unsere Politik hat das ja erkennbar auch nicht und die Wirtschaft nicht und nicht einmal die Wissenschaft und alle, die wir sonst immer vorschicken und manche, die uns sonst doch so viel sagen dürfen und insgesamt niemand scheint eine Idee zu haben, was wir Einzelnen oder wir in einem bestimmten Land, … was wir träge und blass und schimmelig werdenden Europäer oder wir Christen überall auf der Erde tun könnten angesichts all dessen, was verdirbt und verloren geht und sich nüchtern betrachtet unserer Kontrolle und Zuständigkeit doch gänzlich entzieht! … Was soll man denn da im Ernst noch machen!
Sag’s uns doch, lieber Herr Jesus!
Schicke uns doch eine klare Botschaft, eine himmlische Aufklärungskampagne, ein Sonder-Ethik-Kommando des Heiligen Geistes, eine aktuelle Offenbarung, die man dann wirklich nicht missverstehen und überhören kann! Los! Mach Du uns mobil! Tu was, damit wir was tun!“ …
Und da wird – wie im Gleichnis Abraham, der Vater der Glaubenden und Gerechten – Jesus, der Sohn Gottes ganz spröde, … spröde und glasklar.
Denn das sind Mätzchen. Mätzchen der Bequemlichkeit und Trägheit unter uns verlogenen Egoisten: Ein Schritt vor die Tür, eine Bewegung aus unseren Blasen und Lügen hinaus in die Wirklichkeit und wir müssen nicht mehr um einen Sendboten vom Himmel bitten, sondern können Kleines und Gewaltiges, Selbstverständliches und Noch-nie-Dagewesenes tun und schaffen.
Doch weshalb weder Abraham noch Jesus Christus, weder der Gott Israels noch Sein Heiliger Geist uns da zur Hilfe kommen, Beine machen, die Augen öffnen und ein Kommando geben werden?
– Weil das alles längst geschehen ist und klar vor Augen, klar in unserem Gewissen, klar als Befehl an unser Herz und Leben dasteht.
Wo? - … Das fragen wir im Ernst?!
– Bei Mose und den Propheten, im Evangelium und bei den Aposteln!
Man kann es mit dem großen Erweckungsprediger Spurgeon nur so sagen: „Auf manchen Eurer Bibeln hat sich so viel Staub gesammelt, dass Ihr leicht mit Eurem Finger das Wort »Verdammnis« da reinschreiben könnt.“[iii]
Denn: Ja, tatsächlich! In der Bibel findet sich unser Auftrag und unsere Mission, unser Programm und unsere Pflicht.
Gewiss, wir finden dort nicht die Schlagworte und die Parolen, die wir anscheinend gern hätten und uns notfalls zurechtlegen, wenn wir wirklich etwas praktisch, konkret, direkt anpacken müssen: „Klimaschutz“ und „Gendergerechtigkeit“, „Diversitätsförderung“ oder bestimmte ökonomische Modelle sind da nicht aufgeführt. … So bequem wird’s uns nicht gemacht, weil wir dort eben auch nicht für so dumm verkauft werden, als bräuchten wir das.
Aber was die Bibel uns sagt über das Gebot Gottes, das Leben zu schützen, die Schwachen und die Armen zu schützen, das Recht zu schützen, die Wahrheit zu schützen: Das ist das ganze Gesetz.
Und was die Bibel uns sagt über die tätige Vorbereitung und Verbreitung einer Welt, in der Feindschaft, Gier und der Zerstörungstrieb der Sünde durch Gottes Herrschaft überwunden sein werden, das sind die Verheißungen der Propheten.
Und beide sind von dem armen Lazarus, Der in unsere Welt gekommen ist und vor unseren Türen liegt, weil Er unsere Welt einst richten und die Tür Seines Reiches öffnen wird für alle, die Sein Leiden und Lieben hier und dort teilen wollen, für immer bekräftigt worden.
Wir haben also die Bibel.
Und nur wo und wenn sie gehört und gelebt wird, unterscheidet sich diese Welt von der Hölle. Nur dort!
Wo die Bibel, wo also Gottes Wille und Gebot, Sein Recht und Seine Herrschaft nicht befolgt werden, … in aller Wirklichkeit minus Gebot und Hoffnung der Bibel, da ist längst die Hölle.
Beim Blick in diese „Wirklichkeit minus“ können wir das sofort erkennen.
Doch mit dem Wort und der Verheißung Gottes, mit Mose und den Propheten vor Augen, in Händen und im Herzen können wir in der Gegenwart für eine „Wirklichkeit plus“ aktiv handeln, wirken und helfen: Damit die Hölle – die Welt, in der die verstaubte Bibel nichts gilt und nichts auslöst – nicht wächst, sondern das Reich, auf das wir hoffen dürfen.
– Und dazu ist jetzt und dazu haben wir jetzt Zeit: Die Zeit unserer Taten der Gerechtigkeit und Umkehr, die Zeit unseres Zeugen- und Liebesdienstes, die Zeit unserer missionarischen und diakonischen Weltverantwortung.
Diese Zeit haben wir jetzt und diese Aufgabe, … weil die Ewigkeit uns erwartet.
Worauf also warten wir?
Amen.
[i] Zum kirchlichen Schlüsselamt in seiner petrinischen aber eben auch allgemein-apostolischen und somit kollektiv-christlichen Gestalt vgl. Matth.16,19; Matth.18,18; Joh.20,23.
[ii] Lochner (ca.1400 – 1451) ist nicht der süßliche Rosenhag-Maler, zu dem ihn die Postkarten- und Devotionalienindustrie gemacht hat. Er starb an der in Köln tobenden Pest, der er sich nicht entzog, und von der Grausamkeit und Nüchternheit seiner Erfahrung gibt z.B. sein Weltgerichts-Altar im Wallraff-Richartz-Museum, Köln einen klaren Eindruck. Rogier van der Weyden (1399/1400 – 1464) – für mich persönlich Schöpfer des Schönsten vom Schönen – zeigt mit seinem Weltgerichts-Polyptychon, das bis heute an seinem originalen Bestimmungsort, dem Hôtel-Dieu im burgundischen Beaune zu besichtigen ist, dass die Thematisierung und Visualisierung der Hölle nicht lediglich Angst und Einschüchterung als Funktionen der Morallehre instrumentalisiert, sondern dass es einen therapeutischen Effekt hat, die Wahl unserer Lebens- und Handlungsfolgen zu meditieren. Der unumwundene Blick auf das, was ich nicht will, kann mich psychologisch ebenso stärken und widerstandsfähig machen, wie die Perspektive auf das, was ich wünsche und beabsichtige. Heute begegnet diese Erfahrung uns als „Resilienz“.
[iii] “There is dust enough on some of your Bibles to write “damnation” with your fingers.” Zitat aus Charles H. Spurgeons Predigt vom 18.März 1885 über Hosea 8,12 (https://www.spurgeon.org/resource-library/sermons/the-bible-2/#flipbook/).
Trinitatis, 26.05.2024, Stadtkirche, Epheser 1, 3 - 14, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Trinitatis - 26.V.2024
Epheser 1, 3 – 14
(Das „Ideenfest“ des Trinitatissonntags legt es nahe, in Gestalt einer Katechese zum vorgeschlagenen Predigttext des Epheserhymnus[i] hinzuführen.)
Liebe Gemeinde!
Wo kommt diese christliche Verrücktheit her? – Die ganz frühe, ganz alte, ganz unverwechselbare Verrücktheit des christlichen Gott-Vertrautseins. … Ja: Gott-Vertrautseins: Ein so selbstverständliches, so nahes und dichtes, so menschliches und echtes Gefühl des unmittelbaren Miteinanders in tatsächlicher Unzertrennlichkeit. ——
Für die Heiden sind ihre Götter quecksilbrige Wuselkräfte: Willkürlich und sprunghaft; halb Kind, halb Kobold; mal erschreckend bedrohlich, mal geradezu entlastend triebgesteuert. Wer Götter hat wie die Heiden, weiß nie genau, woran er ist: Werden von oben gleich Blitze geschleudert oder wird auf dem Olymp ein Begehren des Eros entfacht, das mindestens so verzehrend ist wie die Durchsetzung eines bestimmten göttergegebenen Ethos? Heidnische Gottheiten sind dynamisch, drastisch und dramatisch. Unterhaltsam in ihrer Unberechenbarkeit, sinnfrei in ihrer trotz Vogelflug- und Eingeweideschau unenträtselbaren Eigenart. Man kann ihnen opfern, aber nicht trauen; sich ihnen ergeben, jedoch ohne sich auf sie verlassen zu dürfen. …Wie unsere rasante, allwissende, eigengesetzliche Technik: Mit ihr leben, aber nicht erwarten, dass sie uns liebt oder uns ehrlich wohlwill. ——
Für die jüdische Frömmigkeit sieht es anders aus: Da sind Treue und Zuverlässigkeit der Rohstoff des einzigartigen und komplexen Gebildes, das wir das Bundesleben Israels mit seinem Gott nennen können. Der Herr des Bundes – erhaben in Seiner Unsichtbarkeit, ergreifend in der Unbedingtheit Seines Treueschwurs – erwählt die israelitischen Menschen zu Seinen innerweltlichen, innerweltgeschichtlichen Bezugspunkten: Sie werden stets vor Ihm und darum auch für Ihn stehen müssen, so wie Er zu ihnen und zu Sich selbst. Das macht das Israel-Sein so schwer: Dass es dabei auch menschlicherseits auf die Entschlossenheit zum Halten ankommt. Am Bund festhalten, … das bundesgemäße, gerechte Gesetz halten und bewahren, … die Gottverbundenheit durchhalten trotz Widerstand, Ablenkungs-Verlockung und Krisen. Wird Israel als Gottespartner schwach – und welcher Mensch würde das nicht? –, gefährdet es sich selbst in seiner Berufung und Wahrheit. … Wir erleben das in diesen Monaten in einer so schrecklichen Weise, dass wir es vermutlich noch gar nicht wirklich wahrnehmen und verstehen können. … ——
Die Heiden und ihr letztlich ergebnisloses Spiel mit der nicht zu zähmenden, aber auch nicht allgegenwärtigen Fremdmacht der Unsterblichen und die Juden mit ihrer alltäglichen und lebenslangen gott-menschlichen Gegenseitigkeit in sämtlichen Daseinsbereichen: Diese beiden religiösen Grundformen von Oberflächen-Konvention und Tiefen-Heiligkeit umgeben die erste Christenheit.
Aber trotz der kulturellen Dominanz des Heidentums und der spirituellen Unvergleichbarkeit des Judentums in der Antike blüht unmittelbar in den Jahrzehnten nach der Kreuzigung und Auferstehung, der Himmelfahrt und Geistsendung Jesu von Nazareth eine neue, eine für Heiden und Juden verrückte Gestalt des Glaubens auf.
Heiter heilig, frei-ernst: Ebenso von Sorglosigkeit wie Ehrfurcht, … von Lebenslust wie Gottesnähe gleichermaßen geprägt.
Eine Haltung, in der die Unsicherheit des Heidentums abgelöst und die Besonderheit des Bundes im Judentum als allgemein-verbindend aufgetan wird.
Ein unbeschränktes Urvertrauen also, dem aller Vorbehalt – … „Kann man überhaupt vertrauen? Und wer darf hier, wenn vertrauen?“ – völlig abgeht.
Ein Urvertrauen in heidnischen und jüdischen Köpfen, Herzen, Menschen blüht auf, das offensichtlich auch etwas von einer Urkraft hatte.
Wie anders wäre die verblüffende Ausbreitung dieses Glaubens zu erklären, der doch so unwahrscheinlich und zugleich für viele Menschen damals – wie auch heute, wenn wir es nur wahrnähmen! – so voraussetzungs- und anstrengungslos frei greifbar war?!
Wie konnte es kommen, dass die Botschaft von einem stinknormalen Menschenschicksal aus den niedrigsten und gewöhnlichsten Verhältnissen der römischen Provinz, … von einem eigentlich nur durch sein Judesein noch ein wenig mehr verächtlich und anrüchig gemachten Nobody und Jedermann in der ersten Generation danach eine Revolution des Selbstbewusstseins auslöste, die gleichzeitig eine Revolution dessen war, was das 19.Jhdt das „Gottesbewusstsein“ nannte?!
Wenn angesichts des enttäuschungs- und missbrauchsanfälligen Revolutionsbegriffs auch größte Vorsicht angebracht ist, wird man doch kaum anders urteilen können, als dass es eine totale, radikale, universale Umwälzung darstellt, wenn Menschen aus den vielfältigsten Kulten und Kulturen plötzlich nicht mehr das mehrdeutig Befremdliche der Göttlichkeit, sondern tiefste Nähe und innige Gemeinschaft mit dem einen unsichtbaren Gott empfinden und sich darin Seite an Seite mit Israel, dem Volk, das die Treue selbst sein sollte und doch immer nur bedingt erreichte, aufgehoben wissen?! – Eine Revolution des Menschen- und des Götter- oder Gottesbildes! ——
Buchstabieren wir es aber doch noch einmal konkret nach:
Menschen, die nicht hätten beschreiben können, was ein Individuum ist – weil sie zuerst und zuletzt Mitglieder einer Ethnie oder Kaste, eines Opferverbands oder des weniger als namenlosen Kollektivs der Sklavenwesen waren – … solche Menschen also, die weder Recht noch Freiheit, weder eine eigene Persönlichkeit noch irgendeine Perspektive besaßen oder an sich wahrnahmen, … solche Menschen durchdringt plötzlich die Urgewissheit, dass sie mit dem Schöpfer aller Wirklichkeit unlöslich verknüpft, dass sie von Ihm selbst beabsichtigt und bejaht sind und dass sie darin eine fundamentalere und bleibendere Essenz und Existenz verkörpern als alles, was sonst entweder Geist oder Materie oder beides zugleich ist!
Menschen aus allen Himmelsrichtungen und aus Israel, deren Dasein in der geschichts- und gesichtslosen Eintönigkeit von Fron und Anonymität hätte verlaufen sollen, werden sich bewusst, dass ihr eigenes Leben in der Ewigkeit wurzelt und zu ewigem werden soll, weil es ursprünglich ein Wunsch und Werk Gottes und mithin ein unersetzliches Element in Seinem Heilsplan ist!
Menschen mit ihren guten und üblen Zügen und ihren Erfahrungen des Glückens und Versagens, die sämtlich als uninteressante Zufälle und austauschbare Massenphänomene betrachtet wurden, treffen in sich und sehen in anderen plötzlich ein Bild, das vollendet und unübertrefflich ist: In dem Messiasmenschen, zu dessen Gesamterscheinung jeder Einzelne gehört, ist Vollkommenheit verwirklicht und sie bezieht alle und jeden mit ein, … auch die, die ihrerseits erst in vorübergehender und unvollständiger Weise das Menschsein erleben konnten.
Dass Gott und Mensch also keine Gegensätze sind, … dass nicht einfach eine strikte Aufteilung von Größe und Winzigkeit, von Erhabenem und Erbärmlichen, von hier: Gewicht und dort: Nichts zwischen ihnen waltet, … dass nicht der Eine rühmenswert leuchtet und alle anderen sang- und klanglos verpuffen, … dass es eine neid- und grenzenlose, eine auch von Sünde und Tod unzerstörbare Einigkeit und Innigkeit, ein Ineinanderaufgehen und -geborgensein des heilig-treuen Gottes und des zur Treue hilfsbedürftigen Menschen gibt: Das hat die Botschaft von Jesus Christus in die Welt der Heiden und der Juden, in die Welt des Stammesstolzes und der Völkerfeindschaft, in die Welt der Sieger und Besiegten, die Welt der Wichtigen und der Eintagsfliegen, die Welt der Schönen und der Schmutzigen, der Olympischen und der Verkrüppelten, der Zählenden und der Mit-Füßen-Getretenen gebracht!
Diese Botschaft von der Erfahrung, dass ein kleiner Schmerzensmensch aus dem Herzen Gottes und im Herzen Gottes die Herrschaft reiner Liebe beweist, ist das gewesen, was die Welt damals durchbrauste und so viele Menschenleben verwandelte und es ist die Botschaft, die die Welt heute – da sie Abschied von der Gottverbundenheit nimmt und sich in die Gottentfernung stürzt – so revolutionär dringend braucht, wie damals!
Und diese Botschaft ist nichts anderes als das heilige Geheimnis und die zugleich kindlich einfache Zugänglichkeit der Trinität:
- Dass Gott kein Fremder ist, Der unerreichbar und unbeweglich anderwärtige Dimensionen einnimmt, sondern dass in Ihm in Seiner ganzen Herrlichkeit ein Mensch gefunden werden kann;
- dass - umgekehrt - trotz eines schrecklichen und zugleich völlig gewöhnlichen Geschehens das Sterben und Leben eines armen, abgeschlachteten jüdischen Menschen aus Nazareth zeigt, dass dies zwar das Schicksal Gottes ist, Den es trifft und schlägt, … dass Gott aber dennoch stärker ist als alle Gewalt;
- und dass dieses Menschliche in Gott und dieses Für-den-Menschen-Sein Gottes ihre unzertrennliche Beziehung beweist, ihr lebendiges und vollständiges Verwachsen-Sein im Geist einer allmächtigen gegenseitigen Liebe.
… Das alles ist die Botschaft, die die Welt braucht, um in der Tiefe geheilt und radikal verwandelt zu werden. ——
Diese Botschaft vom Sohnsein für den Vater und vom Vatersein für den Sohn im Geist des Vater-und-Sohn-Seins, … dieses Mysterium und diese Offenbarung der Trinität also als ursprünglicher Einheit und ewiger Verbundenheit fehlt der außer-, nach- und antichristlichen Menschheit in erschreckend offensichtlicher Weise.
Die Abgrenzungs- und Konfliktwut, die Verweigerung jeglichen Mitgefühls und Leugnung direktester Zusammenhänge, die Hysterie des Hasses und die verzweifelte Verrohung im Bewusstsein der Ungeliebten sind alle eine Auswirkung des Vergessens und des Fehlens der trinitarischen Botschaft, dass Gott ein Gott der Liebe ist, in Dem alles allen gemeinsam gilt und Der darum, was immer sich abspaltet zurück in die Versöhnung führt, weil Sein Geist dem Wesen nach nicht Anti-, sondern Synthese, nicht Bruch, sondern Bund bedeutet. ——
Es ist schon eine bitter-banale Pointe, dass das widerliche Pfingstfest von Sylt ausgerechnet in den erbärmlich leeren Gesichtern der Reichen den ganzen Bankrott des gegenwärtigen Geistes aufdeckt. Wer hätte sich die unterirdische Parodie ausdenken wollen, dass die vermeintlich Sorglosen auf den Schlager „L’amour toujours“ (!) nur noch in primitivster, nackter Bosheit Hassgesänge skandieren können? … Traurig, dass neben dem Abscheu auch noch die Scham aufzuckt, dass hoffentlich nicht allzu viele Vertreter des verluderten, verwahrlosten und verlorenen Wohlstands dort beteiligt waren, der uns umgibt, den wir taufen, erziehen und trotzdem nicht trinitarisch versöhnen und humanisieren zu können scheinen. ——
Unser Weg durch die ungeheuerlichen Zersplitterungs-, Zermürbungs- und Zertrümmerungsprozesses dieser Zeit, die in den Gräueln von Gaza und Charkiw sich manifestieren, aber auch in der Brutalität, die immer alltäglicher in Öffentlichkeit und Gesellschaft mitten unter uns auftritt, … unser Weg also kann nur der Weg der christlichen Verrücktheit sein: Der Weg des ungeminderten Gottvertrauens, das im warmen, selbstverständlichen und verbindenden Gottvertrautsein wurzelt. ——
Lassen wir Sylt darum sein und ebenso die vielen verlogenen Feste und Proteste der pseudo-akademischen Fortschrittlichkeit, die in antisemitischer Intoleranz das linke Lager ebenso als Kaderschmiede des Vorurteils und Hasses entlarven.
Kehren wir lieber um nach Ephesus in die Welt der Blechschmiede des Dianakultes (vgl. Apg. 19!), die vergoldete Püppchen einer Gottheit hämmerten, die zwischen Wunscherfüllungsmaskottchen mit vielen Brüsten und Angsterregungsattrappe als rücksichtslose Jägerin allen Quatsch und Grusel des Heidentums verkörperte.
Dort hat der Pharisäer Saulus, der den guten jüdischen Kampf um die Treue und Bundesgerechtigkeit so hingebungsvoll übte, die Botschaft von dem menschlichen Messias, in dem Gott der Welt rückhaltlos begegnet, restlos ähnelt und endlos angehört, verkündet, und dorthin schickte entweder er - Paulus - oder einer seiner Schüler das aufwühlend alte, unverwechselbare, urchristliche Hohe Lied des Urvertrauens, das auch uns lehrt, dass wir Geliebte sind und Gottverbundene von Anfang an, ohne Unterschied und in alle Ewigkeit.
Dieser Hymnus, der die trinitarische Herrlichkeit und Weitherzigkeit besingt, lehrte schon die kleinen heidnischen Handwerker, was der kleine jüdische Thoraschüler auch gelernt hatte:
In Jesus Christus sind wir nicht nur Teilchen, sondern Zentrum der Heilsgeschichte: Wir Menschen, … wir alle!
Der Urknall ist unser sämtlicher Urgrund, weil Gott in Ewigkeit durch die materielle Schöpfung der Unsrige werden wollte, und der Omegapunkt, von dem Teilhard de Chardin spricht[ii] – der Übergang in das bleibende Reich Gottes – ist unsere ganz persönliche und doch wiederum auch allen gemeinsame Zielbestimmung: Wir sind durch Gott, in Ihm und unendlich bei Ihm zu sein erwählt – zum Lob Seiner Herrlichkeit!
In diesem frühen, unausgeschöpften Hymnus also ist das alles zu finden: Die Revolution des menschlichen Selbstbewusstseins und Eigenwertes als eine Revolution der allumfassenden gott-menschlichen Einheit.
Genau in diesem Hymnus stehen also auch wir alle und stehen alle und alles, die in der ersten und der letzten Einheit zusammen waren, -sind und -gehören.
In diesen Hymnus der Herrlichkeit wollen wir darum auch jetzt – staunend und doch ganz natürlich – münden:
Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus,
der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen im Himmel durch Christus.
Denn in ihm hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war,
dass wir heilig und untadelig vor ihm sein sollten in der Liebe;
er hat uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder zu sein durch Jesus Christus
nach dem Wohlgefallen seines Willens,
zum Lob seiner herrlichen Gnade,
mit der er uns begnadet hat in dem Geliebten.
In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden,
nach dem Reichtum seiner Gnade,
die er uns reichlich hat widerfahren lassen in aller Weisheit und Klugheit.
Gott hat uns wissen lassen das Geheimnis seines Willens
nach seinem Ratschluss, den er zuvor in Christus gefasst hatte,
um die Fülle der Zeiten heraufzuführen,
auf dass alles zusammengefasst würde in Christus,
was im Himmel und auf Erden ist, durch ihn.
In ihm sind wir auch zu Erben eingesetzt worden,
die wir dazu vorherbestimmt sind nach dem Vorsatz dessen, der alles wirkt,
nach dem Ratschluss seines Willens,
damit wir zum Lob seiner Herrlichkeit leben,
die wir zuvor auf Christus gehofft haben.
In ihm seid auch ihr, die ihr das Wort der Wahrheit gehört habt,
nämlich das Evangelium von eurer Rettung –
in ihm seid auch ihr, als ihr gläubig wurdet,
versiegelt worden mit dem Heiligen Geist, der verheißen ist,
welcher ist das Unterpfand unsres Erbes,
zu unsrer Erlösung,
dass wir sein Eigentum würden
zum Lob seiner Herrlichkeit.
Amen.
[i] Mein Verständnis des Epheserbriefes verdankt sich dem anregenden und umfangreichen Werk des Neutestamentlers Markus Barth – Sohn von Karl Barth –, der seine Erkenntnisse in den beiden definitiven Kommentarbänden der Anchor Bible zusammengefasst hat: Markus Barth, Ephesians 1 -3, bzw. Ephesians 4 – 6 (Anchor Yale Bible Bd. 34 und 34A), beide: Yale University Press 1974.
[ii] Vgl. zu Teilhards zwischen wissenschaftlicher Metaphorik und heilsgeschichtlicher Spekulation Rationalität und Intuition verknüpfendem Modell der evolutiv-eschatologischen Höherentwicklung des Lebens: Pierre Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos (Le phénomène humain), München 1959, bes. ab S. 261ff. Teilhard hält hier fest: „Um völlig wir selbst zu sein, müssen wir … voranschreiten, im Sinn einer Konvergenz mit allen übrigen, zum andern hin. Unser endgültiges Wesen, der Gipfel unserer Einzigartigkeit, ist nicht unsere Individualität, sondern unsere Person. Doch diese können wir, da die Evolution die Struktur der Welt bestimmt, nur in der Vereinigung finden. Kein Geist ohne Synthese, von oben bis unten durchwegs dasselbe Gesetz. Das wahre Ego wächst in umgekehrter Proportion zum »Egotismus«. Nur wenn es universell wird, gewinnt das Element Persönlichkeit, nach dem Vorbild und dank der Anziehungskraft von Omega“ (S.271). In dieser spekulativen Diktion sind die Motive der kosmischen Christologie des Epheserhymnus leicht und einleuchtend zu entdecken.
Rogate, 05.05.2024, 1.Tim.2,1-6a, Stadtkirche, Horst Gieseler
Predigt zu 1. Timotheus 2, 1 – 6a
„Ich sage dir: Sei mutig und entschlossen. Hab keine Angst und lass dich durch nichts erschrecken; denn ich, dein Gott, bin bei dir, wohin du auch gehst.“ Amen.
Rogate ist der Name dieses Sonntags, liebe Gemeinde, also: Betet! Diese Aufforderung lässt keine Wahlmöglichkeiten. Das ist eine klare Anweisung. Also gut – los dann. Dann lasst uns also beten. Ich schlage vor, jeder und jede betet für sich. Jetzt. In aller Stille. Oder auch laut. (…)
Was ist in Ihnen vorgegangen? War es Ihnen komisch laut zu beten? {Ich habe nichts gehört.} Oder fiel Ihnen gerade nichts ein? War es schwierig, so auf Aufforderung zu beten? Vielleicht haben Sie auch gedacht, jetzt ist aber Zeit für die Predigt.
Ja, was sind denn das jetzt auch für Aufforderungen! Beten, das machen wir am Anfang des Gottesdienstes und nach der Predigt, in den Fürbitten und im Vaterunser.
Ja, wir haben verschiedene Orte im Gottesdienst, an denen wir beten. Mal im Wechsel beim Psalmgebet, mal bete ich stellvertretend für uns, mal beten wir still, mal für andere, mal gemeinsam das Vaterunser und das Bekenntnis unseres Glaubens.
Und an diese Stelle im Gottesdienst gehört jetzt kein Gebet, (warum eigentlich nicht) sondern eine Auslegung des Predigttextes. Der steht heute im ersten Timotheusbrief im zweiten Kapitel und es geht – Sie haben es sicher schon vermutet – um das Beten. Aus der Nummer entlasse ich Sie heute Morgen nicht.
Das gemeinsame Beten im Gottesdienst, so wie wir es heute noch machen, geht zurück bis in die Anfänge der christlichen Gemeinden. Schon damals wurden die Leiter der Gemeinden dazu aufgefordert, in den Versammlungen mit den Menschen zu beten. Der biblische Text für den heutigen Sonntag ist eine solche Anweisung, wie man das Gebet gestalten soll:
Hören wir den Predigttext des heutigen Sonntags Rogate. Er steht im 1. Timotheus 2, die Verse 1 – 6a. (Gute Nachricht)
Lektorin:
(1) Das Erste und Wichtigste, wozu ich die Gemeinde aufrufe, ist das Gebet, und zwar für alle Menschen. Bringt Bitten und Fürbitten und Dank für sie alle vor Gott! (2) Betet für die Regierenden und für alle, die Gewalt haben, damit wir in Ruhe und Frieden leben können, in Ehrfurcht vor Gott und in Rechtschaffenheit. (3) So ist es gut und gefällt Gott, unserem Retter. (4) Er will, dass alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen und gerettet werden. (5) Denn dies ist ja unser Bekenntnis: Nur einer ist Gott, und nur einer ist auch der Vermittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Jesus Christus. (6) Er gab sein Leben, um die ganze Menschheit von ihrer Schuld loszukaufen. Amen
Beten ist Pflicht in der Gemeinde. Alle sind freundlich, aber bestimmt aufgefordert zu beten, so wie ich es eben eingangs hier von der Kanzel aus getan habe.
Im Text heißt es, liebe Gemeinde: Ich ermahne euch, und das ist kein unverbindliches Erinnern, sondern es handelt sich um etwas Wichtiges. Und zwar soll nicht nur einer für alle beten, sondern alle für alle! Es geht um Bitte, Gebet, Fürbitte und Dankgebet für alle Menschen.
Wie geht das?
Wenn ich mir dabei die Menschen vorstelle, die mir nahe sind, dann ist das einfach. Oft weiß ich ja, welches die Nöte und Sorgen meiner Liebsten sind und kann gut für sie bitten. Was mir selbst fehlt, weiß ich auch, besonders im Vergleich mit anderen. Der Dank für das, was mir an Gutem im Leben geschenkt ist, fällt mir da schon weniger schnell ein. Aber wenn ich mir vor Augen führe, wie gut es mir geht, trotz meiner Krankheiten, dann gelingt auch das. Fürbitten fallen mir immer ein, spätestens, wenn ich abends die Tagesschau schaue oder morgens die Zeitung lese. Ganz besonders in diesen Zeit der Gewalt, unserer Frevel gegen die Natur, der Not und der Schrecken von Kriegen.
Aber es geht hier noch um etwas mehr als meinen eigenen Horizont und um die, die mir nahe sind. Es geht darum, für alle Menschen zu beten.
Das ist radikal. Denn es bedeutet ja, auch für die zu beten, die ich nicht leiden kann; für die, mit denen ich Streit habe, liebe Gemeinde. Und auch für die, die mich verletzt haben.
Von meiner persönlichen Situation einmal abgesehen, heißt für alle beten, auch für Menschen zu beten, die Fehler gemacht haben, die verantwortlich sind für das Leid anderer, für die Kriegstreiber, für Putin, für die Schleuser von Flüchtlingen, für die, die andere quälen und foltern.
Das ist ganz schön viel und sehr schwierig, was da von uns verlangt wird, liebe Gemeinde. Es erfordert die Fähigkeit, beim Beten von meinen eigenen Befindlichkeiten und Bedürfnissen absehen und weitersehen zu können. Für alle Menschen – da ist die ganze Welt eingeschlossen, Arme, Reiche, Verbrecher, Schlaue, Dumme, Kinder, Erwachsene, Christen, Muslime, Juden und Atheisten – einfach alle. Ausnahmen gibt es nicht.
Eine Gruppe von Menschen wird dann in unserem Predigttext noch besonders erwähnt. Es zeigt, dass es auch für die Christen damals nicht selbstverständlich war, diese Menschen einzubeziehen in ihre Gebete, hatten sie doch auch immer wieder unter ihnen zu leiden. Man soll für alle beten und insbesondere auch für die Obrigkeit, für die da oben, für die, die an der Macht sind, für die, die das Sagen haben.
Das ist jetzt aber wirklich zu viel verlangt, könnte der ein oder andere damals gedacht haben. Da ist eine Grenze erreicht, könnte der ein oder andere heute sagen. Und viele von uns können das auch heute nicht! Ich verstehe das! Ich zweifle ja an mir, ob ich es kann.
Aber: Was auf den ersten Blick aussieht, als sollte man kriecherisch und anbiedernd sein, ist auf den zweiten zutiefst demokratisch gedacht:
Wir sollen beten für die Obrigkeit, die Politiker, denn sie sind auch nur Menschen. Sie stehen nicht über den anderen, sondern daneben, sind so Teil von uns. Wir dürfen sie nicht vergessen, denn sie sind im besonderen Maße verantwortlich. Auch sie haben es nötig, denn sie müssen Entscheidungen treffen, die unser alle Leben betreffen. Und wir hängen von diesen Entscheidungen mit ab. Ob wir ein freies und selbstbestimmtes Leben führen können, oder wie es in der Sprache des Neuen Testaments heißt: ein ruhiges und stilles Leben, kommt stark auf die Regierenden in unserem Land an. Also gibt es guten Grund, auch für die Regierenden unserer Zeit zu beten. So weit, so gut. Die Anweisungen zum Beten sind klar formuliert. Aber bringt das denn was, das Beten, liebe Gemeinde?
Bringt es etwas, dafür zu beten, dass meine Eltern sich nicht trennen, fragen sich Jugendliche?
Bringt es etwas, dafür zu beten, dass es Frieden gibt auf der Welt, wenn doch immer neue Krisenherde dazu kommen, fragen wir uns?
Bringt es etwas, dafür zu beten, dass wir endlich Maßnahmen zur Rettung des Klimas ergreifen, z.B. nicht nach Mallorca zu fliegen, fragen sich unsere Kinder?
Bringt es etwas, dafür zu beten, endlich schwanger zu werden, fragen sich manche Frauen?
Bringt es etwas, dafür zu beten, dass ich meinen Job nicht verliere, fragen sich Angestellte großer Firmen?
Bringt es etwas, dafür zu beten, dass ich wieder gesund werde, fragen sich Ältere?
Die Fragen lassen sich schwer beantworten. Manche Menschen sind fest davon überzeugt, dass ihnen das Beten etwas gebracht hat. Es gab in ihrem Leben eine Wende, es gab einen Strohhalm, nach dem sie greifen konnten, einen Menschen, der an ihrer Seite war.
Eine allgemeingültige Antwort lässt sich aber nicht finden. Aber um diese, für uns so wichtige Frage, geht es im heutigen Predigttext gar nicht. Denn es heißt schlicht und ergreifend: Das Beten ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserem Heiland.
Beten ist einfach unsere Art, uns gegenüber Gott zu verhalten, so sieht es der Verfasser des Textes. Und es ist deshalb wichtig, weil es uns an etwas Entscheidendes erinnert: Wir verdanken unser Leben nicht uns selbst, sondern Gott. Beten, vor allem das Beten für andere, für alle anderen, verhindert Egoismus, liebe Gemeinde.
Denn es macht deutlich: Ich bin nicht allein auf dieser Welt. Auch andere Menschen haben Probleme und Sorgen und Bedürfnisse. Das rückt mich in einen größeren Zusammenhang, manchmal sehe ich meine eigenen Probleme und Sorgen in einem anderen Licht, auf alle Fälle verbindet es mich mit anderen Menschen und macht mir deutlich, dass ich für andere Verantwortung übernehme, diese im Gebet aber auch gleichzeitig für mich.
Denn Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen; und zwar dadurch, dass sie füreinander beten. Betet in meinem Namen, sagt Jesus und fordert dazu auf: Sucht im Gebet Kontakt zu Gott. Fragt und fragt nach, lasst euch nicht alles vorsetzen. Singt – Schreit – Glaubt! Aber glaubt nicht alles. Zweifelt und habt Mut. Setzt euch ein und setzt etwas dagegen, ruft laut, riskiert etwas – es ist manches Mal scheinbar umsonst, aber es wird nie vergeblich sein. Beten ist unsere Aufgabe. Und das kann durchaus laut sein. Muss es sogar!
Die Theologin Dorothee Sölle hat es so ausgedrückt: Beten ist Revolte. Wer betet, sagt nicht: „So ist es und Amen!“ Wer betet, der sagt: „So ist es! Und so soll es nicht sein!“ Und das und das soll geändert werden! Beten ist so eine intensive Vorbereitung auf das Leben.
Und in der Bibel lesen wir immer wieder von Menschen, die beten. Sie beten auch um das vollkommen Unmögliche. Josef betet im ägyptischen Gefängnis um Befreiung. Mose, der einen Mann erschlagen hat, betet am Dornbusch um Vergebung. Hanna betet um ein Kind, obwohl es eigentlich schon längst zu spät ist. Der Ehebrecher David bittet Gott um Erbarmen. Hiob kämpft betend mit Gott, der zugelassen hat, dass ihm alles genommen ist. Der Prophet Jeremiah betet, weil er sein Amt nicht mehr erträgt. Jona betet im Walfisch und Daniel betet in der Löwengrube. Maria betet, als sie schwanger ist mit Jesus, und Lydia betet, als sie als erste Frau in Europa eine christliche Gemeinde gründet.
Alle diese verschiedenen Gebete sind nicht vergeblich gewesen und gingen nicht verloren. Auch unsere Gebete werden nicht vergeblich sein und nicht verloren gehen, davon bin ich zutiefst überzeugt.
Denn Jesus selbst hat uns gesagt: Bittet, so wird euch gegeben. Er ist der Weg, der uns mit Gott verbindet. Gott hat sich in Jesus selbst gegeben und so Himmel und Erde verbunden. Das haben wir an Ostern erfahren. Über ihn, über Jesus, der selbst dem Tod die Macht abgenommen hat, erreichen unsere Gebete Gott, liebe Gemeinde.
Selbst wenn wir einmal nicht mehr wissen, was wir beten sollen – selbst dann gibt es eine Möglichkeit. Für diesen Fall hat Jesus uns ein Gebet gegeben, das wir immer beten können, das Vaterunser. Wir haben vor der Predigt einen Teil des Vaterunsers im Lutherlied gesungen. Und gleich werden wir die Fürbitten mit dem Vaterunser schließen. Im Gebet des Herrn werden wir alles das zusammenfassen, was heute noch nicht gesagt oder gebetet wurde, ob laut oder stumm. Es bleibt dann nichts übrig. Und das befreit mich auch.
Ja, in das Vaterunser hinein kann ich abgeben, was ich beten will und in Gottes Hände legen, was ich allein nicht ändern kann. Beten ist unsere Art, mit Gott zu sprechen und ihn zu bitten für alle Menschen, in Lob und Dank, in Bitte und Klage.
Sie kennen vermutlich das Bild der „Betenden Hände“ von Albrecht Dürer (1471–1528), dem mittelalterlichen Maler aus Nürnberg zu Beginn der Reformationszeit. Auf seinem Bild sehen wir nur Hände, ältere Hände, die nicht gefaltet, sondern aneinander- oder aufeinandergelegt sind zum Gebet. Dieses schlichte Bild hängt in vielen Wohnzimmern oder Küchen sowie in vielen Krankenzimmern oder Pflegezimmern in Altenheimen. Warum nur ist dieses Bild von den „Betenden Händen“ so beliebt? Was machte aus diesem doch unscheinbaren Bild für viele Menschen, zum Beispiel für meine Mutter, ein Lebensbild, das ihr buchstäblich auch lebenswichtig war?
Gebet. „Betende Hände“. Ein ganz alltägliches Wunder ist das. Das Wunder des Betens ist nämlich: Es bringt mich ins Gleichgewicht. Wer zum Übermut neigt, kann durch ein Gebet wieder ein wenig auf den Boden geholt werden. Wer am Verzweifeln ist, wird durch ein Gebet ein wenig daran gehindert. Beten will mich ins Gleichgewicht bringen, darum ist es so wertvoll – und so dringend nötig für alle Menschen, die ja ein Leben lang immer wieder und zu allen Zeiten nach dem richtigen Platz im Leben und in der Welt suchen müssen.
Jedes Gebet macht uns zu Menschen, liebe Gemeinde; zugleich bedürftig und geliebt. Und jedes Gebet hilft uns, andere Menschen zu achten. Sie sind Gottes Kinder wie Sie und ich, liebe Gemeinde. Und … wer sein Leben lieb hat, macht es zum Gebet. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
Konfirmationspredigt an Kantate, 28.04.2024, Stadtkirche, Offenbarung 15, 2 - 4, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Konfirmation Kantate - 28.IV.2024
Offenbarung 15, 2-4
Liebe Gemeinde!
Gut, dass es endlich wieder so eng hier ist!
… Neunzehn Konfirmationsgottesdienste - wenn ich richtig zähle - haben wir in den letzten drei schwierigen Jahren und gestern in der Mutterhauskirche feiern dürfen, wo einfach mehr Platz ist. Und jetzt, bei der 20. Konfirmationsfeier seit all den bedrängenden Krankheits-, Krisen- und Kriegserfahrungen, … jetzt sind wir wieder hier in der kleinen Kirche mit der großen Geschichte der diakonische Ursprünge.
Und manche kriegen Zustände, und alle merken, dass dieser schlichte Saal, aus dem die ersten Kaiserswerther Schwestern in die ganze Welt entsandt wurden, ein wirklich bescheidener und viel zu miniaturhafter Rahmen ist für eine solche welt- und himmelreichsweite Sache wie die praktische Nächstenliebe im Dienst Jesu Christi, die ja überall und immer geübt werden muss und die wirklich niemanden ausschließt. Das Kirchlein hier ist zu winzig, selbst um zwei-, dreihundert Leute bequem unterzubringen. Und trotzdem ist hier eine Liebe zu allen Menschenkindern, ein Dasein für jeden, eine Hoffnung für die gesamte Welt beheimatet. Diese riesigen Botschaften und Verheißungen und Kräfte aber, die Gottes gesamte irdische und überirdische Schöpfung umspannen, sind in dieser kleinen Scheune trotzdem besser aufgehoben als in manchen protzigen Tempeln des Selbstbewusstseins und der Angeberei. Weil Gott nicht die Großen, sondern die Vielen zu Sich ruft, und weil Gott lieber mit fünftausend das Brot teilt (vgl. u.a. Johannes 6, 1 – 13), als mit fünfen den Braten.
Die Engigkeit ist also ein äußerer Hinweis darauf, dass wir hier in der Nähe Gottes sind, Dem die ganze Menschheit ohne jede Ausnahme am Herzen liegt.
Aber das heißt nicht, dass man Ihn nur unter den Massen und nicht auch bei den Einsamen fände. Sonst wären ja bloß solche Festtage wie Eure Konfirmation heute ein Rahmen, in dem Ihr Euch Ihm nahe wissen könnt. … Aber auch wenn Ihr demnächst wieder mal allein seid und Chillen ohne Chatten braucht, oder wenn Ihr in absehbarer Zeit erlebt, wie auf die Parties der letzten Schuljahre die Konzentration der Abschlussprüfungen folgt, werdet Ihr stets Menschen in Gottes Gegenwart sein und werdet außerdem Teil einer Gemeinschaft bleiben, auch wenn Ihr selbst niemanden seht, hört oder auch nur spürt.
Das liegt daran …….
Obwohl: Halt!
Erst muss ich Euch rasch etwas fragen: Hab’ ich Euch oft aufs Glatteis geführt? … Manchmal bestimmt, wenn wir zwischen Ernst und Unfug so halsbrecherisch hin- und hergeschlittert sind. Aber andererseits habt Ihr im Oktober ja gesehen, wie viel anmutiger Ihr mit Schlittschuhen auf dem Eis unterwegs seid als ich. Ganz so schlimm fühle ich mich also trotz der Rutschpartie zwischen ganz übermütigen und ganz heiligen Momenten nicht. Ihr habt ja hoffentlich alle gemerkt, dass es eine total tragende, eine unverbrüchlich solide Schicht war, auf der wir da zwei Jahre lang unterwegs waren, egal ob wir - wie das seit dem Krieg in der Ukraine so unsere Art ist - auf Knien gebetet haben oder vor Lachen schief auf dem Stuhl hingen.
Und was - Quatsch: Wer – uns getragen hat, das wisst Ihr auch! … Jesus Christus, die Menschenliebe Gottes, der von Gott geliebte Mensch: Der hat Euch getragen.
Jesus ist Euretwegen ja das geworden, was Ihr seid und was wir alle sind: Mensch.
Und Menschsein bedeutet nun einmal Frieren, wenn es kalt ist; Hungern, wenn die Nahrung fehlt: Leiden, wenn der Hass herrscht; Fallen, wenn uns nichts mehr hält, … und Sterben, wenn das Herz uns stillsteht.
Das alles hat Er auf sich genommen für Euch: Das wisst Ihr nach zwei Jahren an der Hand des Lukas, der von Weihnachten über Karfreitag und Ostern bis Pfingsten unser Wegweiser durch die Geschichte Jesu gewesen ist.
Die Geschichte Jesu geht jetzt aber weiter in Euch und Eurem Leben. Und da soll sich zeigen, dass Jesu Tod für Euch nun umgekehrt bedeutet, dass Ihr nicht tot bleiben sollt, wenn Euer Herz stillsteht, weil Jesu Sterben ja heißt, dass Er Euch Sein Leben schenkt.
Die Geschichte Jesus geht in Euch weiter auch darin, dass Ihr nicht fallen werdet, wenn niemand sonst Euch halten kann, weil Gott in Jesus es tun wird; dass Ihr nicht hilflos unter Hass leiden müsst, sondern ihn mit Jesus zu überwinden helft; dass Ihr nicht endgültig hungern sollt, weil Jesus Brot des Lebens ist, das allen Hunger stillt; und schließlich, dass Ihr an der Kälte, die es gibt, nicht erfrieren werdet, weil Jesus eine Liebe ist, die alles wärmt.
Und diese Liebe, dieser Jesus, dieser Sohn Gottes, in Dessen Wirklichkeit Ihr durch die Taufe eingebunden seid: Der ist es, Der Euch trägt und getragen hat und ewig tragen wird! –
Wenn Ihr jetzt aber aufpassen konntet, stoßt Ihr vielleicht aber auf einen Widerspruch.
Ich hatte vom Glatteis geredet, von dem, was uns im Leben manchmal zwischen Lachen und Wut, zwischen Traurigkeit und Spaß unkontrolliert hin- und herrutschen macht.
Und dann hatte ich gesagt, dass der Grund unseres Lebens trotzdem völlig verlässlich ist, weil Er die Liebe, die warme, lebensschenkende und erleuchtende Liebe Jesu Christi ist.
Wenn Ihr also eins und eins dabei zusammenzählt, dann habe ich von „wärmendem Eis“ gesprochen. …….
Und das ist entweder verrückt, … oder es ist der Himmel.
Im Himmel – also in Gottes ganz direkter Gegenwart und Nähe –, da gelten die Dinge, die wir hier nacheinander und durcheinander und gegeneinander sehen und erleben, eben nicht als Widersprüche, sondern sie verbinden sich.
Eigentlich zeigen das die Seligpreisungen[i] ja ganz besonders gut: Größte, göttliche Glückwünsche für die, die tragen und trauern, für die, die suchen und brauchen: Sonderbarer Widerspruch!
Eine Erde, auf der die Friedfertigen nicht die Verlierer, sondern die Bestätigten sind: Unerhörter Widerspruch!
Eine Zukunft, in der man die Mitleidigen und Anspruchslosen beneidens-und nachahmenswert nennen wird: Seltsamer Widerspruch zu dem, was wir kennen!
Aber so ist eben das Leben Jesu und sein Ziel – das Reich Gottes – auch: Ein Widerspruch zu dem, was wir auf den ersten Blick für logisch halten. Wie wärmendes Eis.
Und genau deshalb seid Ihr es – die Jugendlichen und nicht etwa wir vielleicht etwas nachdenklicheren, aber wahrscheinlich bloß abgebrühten und herzensfaul gewordenen Erwachsenen –, die heute hier öffentlich und feierlich Ihren Glauben bekennen und Jesu Geschichte weitertragen. Weil Ihr lebendig und beweglich genug seid, phantasiereich und neugierig genug, unbekümmert und hoffentlich auch schlicht zuversichtlich genug, um es mit den Widersprüchen zu wagen, die sich bei Gott und im Himmel nicht ausschließen, sondern verbinden: Eure restlose Freiheit im ganzen Leben und zugleich Gottes Segen, der Euer ganzes Leben restlos erfüllen und bewahren wird.
Ihr seid es, die das zusammenbringen, was anderen widersinnig vorkommt: Leben im 21. Jahrhundert zusammen mit dem, Der vor 21 Jahrhunderten zur Welt kam und Der Euch noch in 21 Jahrmillionen bei Sich haben will und wird.
Ihr seid es, die das zusammenbringen: In dieser engen Kirche in großer Gemeinschaft zusammenzurücken und dabei doch zu wissen, dass Ihr alle jetzt ganz persönlich, ganz individuell mit Gott hier einen Bund geschlossen habt!
Ihr seid jetzt und hier also individuelle Menschen in Gottes Gegenwart und in Seiner Gemeinde, und Ihr werdet Teil dieser Gemeinschaft bleiben, auch wenn Ihr selbst irgendwann niemanden sehen, hören oder auch nur spüren solltet.
Das hatte ich eben gesagt und war Euch den Grund dafür schuldig geblieben:
Der Grund aber ist natürlich das „warme Eis“, die lebendige, tragfähige, leuchtende, durchsichtige Wirklichkeit der Liebe Gottes. Sie ist das kristallene Meer, mit Feuer vermengt, das im Himmel ist.
Ein gläsernes Meer: Gleichzeitig glatt und bewegt; gleichzeitig - wie auch die Meere auf Erden - trennend und verbindend; gleichzeitig die Mitte des Himmels und doch ein Fenster zur Erde.
Dort stehen alle Menschen, die vor uns und vor Euch zu Gott gehört haben, noch viel enger gedrängt als wir gerade hier, und sie loben Gott gleichzeitig mit den ältesten und den jüngsten Worten des Glaubens – dem Lied des Mose und des Lammes –, und sie sind doch nicht nur mit Gott und auch nicht nur mit sich, sondern mit allem und also auch mit uns beschäftigt:
Denn wie sie im Himmel in Gottes Gegenwart sind – die Gemeinschaft der Heiligen (vgl, den dritten Artikel im Glaubensbekenntnis) –, so blicken sie doch durch das wärmende Eis und das gläserne Meer, das wie ein Mikroskop der Liebe Gottes alles zeigt, was Gott liebt: Diese Welt. … Und uns. … Jeden und jede von Euch.
Deshalb werdet Ihr nie verlassen sein, …. auch in der Einsamkeit:
Weil wir unter den Augen der Liebe leben.
Und so wie Ihr heute unter den Blicken derer, die Euch schon Euer ganzes Leben lang lieben, hier versammelt seid, könnt Ihr es hoffentlich auch spüren:
Eng oder weit, nah oder fern, schwach oder stark, jung oder alt, heute oder in unendlicher Zukunft: Keiner dieser Gegensätze ändert irgendetwas daran, wie wunderbar es ist, zu Gott zu gehören, wie wunderbar es ist, ein Mensch Gottes zu sein.
… Ihr seid es!
… Ihr habt es bekannt!
… Und Gottes Segen besiegelt es!
Und wir sehen es Euch heute an und werden es erkennen und besingen, wenn auch wir dort am gläsernen Meer, am hellen Grund der Liebe stehen und Gott loben!
Ich freue mich darauf, dass wir das mit Euch, … dass wir alle zusammen das erfahren werden!
In Ewigkeit!
Amen.
[i] Die Seligpreisungen sind anstelle von Psalm oder Hymnus in der Eingangsliturgie gesprochen worden.
Konfirmationspredigt, Mutterhauskirche, 27.04.2024, Offenbarung 15,2, Jonas Marquardt
Predigt Konfirmation Mutterhauskirche - 27.IV.2024
„Gottes Harfe“ - Offenbarung 15, 2[i]
Liebe Gemeinde!
Reden wir mal über das, woran alle denken und wovon niemand mit ein bisschen Anstand bis in anderthalb Stunden sprechen wird: … Geschenke.
… Berge davon.
… Oder diskrete Briefumschläge voll.
… Oder schreckliche Erinnerungsstücke, die Euch heute beim Bedanken gequälte Tränen in die Augen treiben und in dreißig Jahren vielleicht eine echte Bedeutung gewonnen haben werden, wenn Ihr längst selbst Eure Neffen und Nichten oder gar Eure eigenen Kinder mit vernünftigen und dauerhaften Gegen-ständen ausstattet.
… Oder vielleicht ist ja alles, was Ihr Euch gewünscht habt und bekommen mögt, aus der Welt der Medien und der mobilen Geräte.
Mein Geschenk jedenfalls – wobei ich nicht alleine schenke, sondern eigentlich mehr mit unterschreiben darf auf dem Anhänger – … mein Geschenk für Euch alle ist jedenfalls mobil und ein Medium. … Bitteschön!: Moderner geht’s nicht! Trotzdem wag’ ich beinah jede Wette, dass Ihr es für den größten Schrott von allem halten werdet.
Aber das war schon vor Jahrtausenden nicht anders, als das gleiche Geschenk zuerst in den Umlauf kam. Auch damals haben normale Menschen wie Ihr, die Großgrundbesitzer, Eselzüchter, Purpurhändlerinnen oder Sandalenmacher waren, sich gefragt, was um alles in der Welt sie denn einmal damit anfangen sollten, was ihnen da von den Predigern versprochen wurde? Was soll jemand, der mit der Handmühle oder dem Zählbrett, dem Pflug oder der Waffe gescheit umgehen kann, bloß anstellen mit dem Preis, den man in der Kirche gewinnen kann? – Gute Frage.
Aber trotz der guten Frage wollen Johannes und ich Euch heute dennoch eine Bastelanleitung für das Gerät schenken, das den Christen immer schon so komisch vorkam.
Johannes ist mein Kollege und Euer Kollege auch. Er ist Evangelist – nicht unser Lukas, aber mindestens genauso gut –, und natürlich ist er auch ein Apostel oder Jünger Jesu – sogar dessen liebster –, und im Hauptberuf war er früher Fischer, und jetzt ist er Gefangener und bald wird er Märtyrer werden – also einer, der seinen Glauben mit seinem Leben bezahlt –; und genau darin ist er unser Kollege: Als Märtyrer. … Märtyrer heißt nämlich einfach Zeuge. Zeuge für Jesus.
… So wie Ihr jetzt Zeuginnen und Zeugen für Jesus, den Sohn Gottes, den Retter der Menschen, den Weg zum ewigen Leben werdet. Das ist ja der Sinn Eurer Konfirmation: Nicht, wieviel oder wie wenig Ihr im Unterricht gelernt habt – man lernt eh nie aus! –; und auch nicht, ob Ihr jetzt total überzeugt seid oder Euch Eure Zweifel an Gott alle ungelöst vorkommen, denn da Ihr könnt sicher sein, dass beides – Riesenzweifel und das Geschenk der Glaubensgewissheit – Euch noch häufiger erfüllen werden! Das Eine aber, was hoffentlich klar geworden ist, ist das hier: Die Frage nach Jesus, ist die Frage nach dem Christentum!
Wenn man Jesus nur für vergangen oder nur für vergangen und spannend oder nur für vergangen und spannend und persönlich für einen selbst für wichtig hält, dann kann das eine gute menschliche Haltung sein, aber das ist nicht das, was Ihr vorhin bestätigt habt.
Ihr habt bestätigt, zur weltweiten Gemeinde des dreieinigen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes gehören zu wollen: Ihr habt also bestätigt, dass Gott und Jesus und der Heilige Geist untrennbar zusammengehören. Und Ihr habt Euer eigenes Getauftsein bestätigt, und das heißt, dass der Geist Jesu und Gottes zu Euch und Eurem eigenen Menschsein ebenso untrennbar dazu gehört. Ihr habt also bestätigt, dass Ihr und Jesus und Gott durch das geheimnisvolle Geschenk des Heiligen Geistes tatsächlich und bleibend eine ganze große Geschichte haben werdet … groß wie die Geschichte der Welt: Ein „Match“ sagt man dazu heute.
Und nun zur Bastelanleitung für das Geschenk, das dazu gehört.
Johannes, der als Gefangener in Isolationshaft war[ii], hat zum Trost einen Blick in die neue Welt Gottes tun dürfen, die wir den Himmel nennen.
… Und da sah er, wie alle, die zu Gott gehören, dieses Geschenk in den Händen halten und nutzen: Das mobile Medium der Gottesverbindung. … Es fängt mit „H“ und „A“ an: …
Genau! …. Eine Harfe.
Was die soll? Hört kurz zu.
– Seht Ihr, dass sie aussieht, wie aus zwei Hörnern gemacht[iii]? Das bedeutet, dass Ihr als Menschen mit Gottesverbindung das Leben bei den Hörnern packen sollt! Habt keine Angst! Lasst Euch nicht zu Pessimisten stempeln, wie es die jüngsten Untersuchungen Eurer Generation zeigen wollen. Behaltet den Lebensmut im Bund mit Gott, Der das Leben schafft und Der es Euch geschenkt hat und Der Euer Leben heute und immer nur segnen will!
Christen sind ja die, die sich vor der Wirklichkeit nicht fürchten müssen – auch wenn sie kompliziert ist –, weil sie den Ursprung und das Ziel der Wirklichkeit kennen, und die sind ganz einfach: Gott hat es am Anfang gut gemacht (vgl. 1.Mose 1) und Er wird es auch final gut machen (vgl. Offenb. 22)!
Packt also das Leben bei den Hörnern.
Die sind krumm. … Wie manches in der Welt und in jedem von uns. Nicht alles kann man geradebiegen. Nicht alle Fehler lassen sich ausbügeln, nicht jede Erfahrung läuft glatt ab. Aber Christen sind ja auch die, die von der unfassbaren Gnade Gottes wissen, Der Sein eigenes Leben am Kreuz dafür eingesetzt hat, dass alles, was wir falsch machen, vergeben wird und das, was bei uns verbogen ist, heilt.
… Das können wir alleine nicht von allen unseren Schwierigkeiten und von allen Sorgen der Welt sagen: Dass wir sie schon irgendwie hinbiegen werden. Aber wenn uns etwas ganz Ungerades begegnet: Dann machen wir eben eine Harfe draus: Zwischen den Enden, die wir nicht zusammenzwingen und auch nicht einfach platthobeln können, spannen wir Saiten auf und spielen uns darauf den Kummer und die Frustration vom Herzen.
Wer so aus seinen Sorgen ein Instrument macht, der lernt, wozu die Harfe wirklich gut ist. Wenn man seine Fragen nämlich festmacht an dem, was krumm bleibt und sie dann auch immer wieder berührt, dann wird aus den ausgespannten Fragen und Klagen des Lebens allmählich eine Melodie. Manche spielen ganz oft und immer wieder das Lied „Warum nur? Warum?“ auf ihrer Harfe. Aber andere merken, dass aus Fragen Gebete und aus Gebeten Trost und Vertrauen und aus Vertrauen Glauben und fröhlicher Mut wird (vgl. Römer 5, 3 – 5 ). Und genau das wünsche ich Euch so sehr!
Denn das ist ja der Sinn der Harfe: Dass wir alles in unsrem Leben – unsere inneren und unsere äußeren Anstöße und Erfahrungen und Eindrücke und Erkenntnisse vor Gott hören lassen. Dass wir Ihn in der Not anrufen und in der Freude loben, dass wir Ihm danken und also mit unsern eigenen Tönen und unsrer eigenen Harmonie bei der viel größeren Musik der Welt mitmachen.
Denn Christen sind ja die, die nicht schweigen können. Christen sind die, die nach Gerechtigkeit und Frieden verlangen: Mit Ihrer Stimme und Ihrem Tun trotz Krieg und Elend. Christen sind die, die ermutigen, wenn andere aufgeben und warnen, wenn andere sich taub stellen. Christen sind die, die sogar im Stockdunkeln singen (vgl. Apostelgeschichte 16,25 im Griechischen!) – denkt an Weihnachten und erst recht an Ostern! –, weil sie so fest glauben, dass „der Rest“ auch nach dem Tod nicht „Schweigen“ ist, sondern Auferstehung und Jubel.
Deshalb die Harfe: Weil wir etwas zu sagen haben und zu singen.
Und zwar überall.
Deshalb ist die Harfe Gottes aber gerade kein riesiges Konzertinstrument, sondern ein mobiler und ganz leichter, ganz alltagstauglicher Teil unseres Lebens: Denkt an den späteren König David, der seine Harfe im Konfirmandenalter als Hirtenjunge beim Klettern und Lümmeln unter freiem Himmel dabeihatte (vgl. 1.Samuel 16,18ff), um die gute Laune und das ganze Lebensabenteuer seiner Jugend zu besingen.
Um aber genauso beweglich zu sein, ist das Geschenk, von dem ich hier erzähle, natürlich wirklich virtuell: Es ist nicht aus Holz und zähen Saiten, sondern aus Herzblut und Geiststoff.
Die Harfe Gottes, das sind die Lebensfreude und der Glaubensmut, die Gebetslust und der Hoffnungsschwung, die Ihr von Eurer Konfirmation heute mitnehmen sollt.
Überall hin.
In Eure nächsten Jahre.
Zu den Träumen und Zielen, die vor Euch liegen, durch die Anstrengungen und das Glück, die Euch erwarten, durch Eure aufregenden und Eure ruhigen Zeiten, bis Ihr am Ziel seid.
Da werdet Ihr dann nur noch zwei der Geschenke, die heute wirklich wichtig sind, wiederfinden und für immer behalten: Euer Leben, das Gott gleich segnet, damit Ihr es in Ewigkeit nicht verliert – und die Verbindung mit Ihm, die überall hinreicht und niemals enden wird.
Und alle, die Euch lieben und heute feiern und beschenken, meinen im Grunde etwas Ähnliches: Dass es Euch gut gehen möge, dass Ihr mitten in der Wirklichkeit und ihren mancherlei Mühen fröhlich bleiben und singen sollt und dass Ihr zu einmalig seid, um zu vergehen. Ihr sollt zwar wachsen und Euch weiterentwickeln, aber vor allem sollt Ihr nicht aufhören, nicht verstummen, Euer Leben soll sich nicht verlieren!
Das aber kann nur Gott Euch geben.
Und Er schenkt es Euch.
Zusammen mit der Harfe, die da in Eurem Herzen ist.
Sie wird Euch immer wieder von selber zum Klingen, zum Loben und zum Danken bringen.
Bis wir im Himmel sind.
Voll Jubel und Frieden und unendlichem Glück!
Bis dort also: Bleibt behütet!
Amen.
[i] Diese Motiv-Predigt zur Harfe geht vom Predigttext des Sonntags Kantate – Offenbarung 15,2-4 – am Tag nach der Konfirmationsfeier vom 27.April aus.
[ii] Vgl. Offenbarung 1,9.
[iii] Auf dem Gottesdienstblatt war die stilisierte Form eines zwischen Lyra und Kithara nicht ganz eindeutig zu bestimmenden Instruments zu sehen, dessen Rahmen eindrücklich geschwungene Hörner nachempfand.
Jubilate, 21.04.2024, Stadt- und Jonakirche, 2.Korinther 4, 14 - 18, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Jubilate - 21.IV.2024
2.Korinther 4, 14-18
Liebe Gemeinde!
„Houston, wir haben ein Problem!“: Mit diesem Funkspruch wurde im April - am 13., um genau zu sein - vor 54 Jahren eine rettende Umkehr eingeleitet. Die Astronauten der Apollo 13 meldeten der NASA, dass einer von zwei Sauerstofftanks ihres Raumschiffs explodiert war. Ihnen ging also die Luft zum Atmen aus, kurz bevor die Apollo 13 in die Umlaufbahn des Mondes hätte eintreten sollte, um die 3. geplante Landung dort einzuleiten. Gebannt und fiebernd sah die damals noch sehr viel beschränktere und entferntere Weltöffentlichkeit drei Tage lange zu, ob wahrhaftig eine unvorhergesehene, unerprobte Rettung im lebensfeindlichen Weltraum gelingen könne.
Sie gelang: James Lovell, Jack Swigert und Fred Haise kehrten zurück aus der Schwärze des Universums auf die kleine, luftumflossene, lichterfüllte, lebensfreundliche Erde. …
Auf die Erde, von der wir in der Schriftlesung (Sprüche 8,22-36)[i] hörten, mit welchem Vergnügen an der Weisheit Gott sie bereitet und durchströmt hat. Der Kosmos ist mit dem Zirkel der Liebe um das Herzstück des kleinen Menschenplaneten geschlagen, und im Zentrum – da, wohin die Umkehrer vom 13. April aus dem 13. Apollo zurückfanden – … im Zentrum also ist der Ort, an dem die Weisheit - der Heilige Geist, die Heilige Begeisterung – mit ihren Lieblingen, den Menschenkindern ihr Stelldichein feiern darf.
Wenn Menschen diese Weisheit Gottes, diesen Geist der Schöpfung voller Liebe finden, dann finden sie das Leben. ———
„Houston, wir haben ein Problem!“: Die Suche nach der schöpferischen Weisheit Gottes, die das Leben will und schenkt und ist, … die Suche nach dem Geist, dem Sohn, dem Vater also ist uns Menschen fremd geworden.
… Dabei sagt es diese Weisheit doch selbst: „Wer mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod.“ …….
„Christen, wir haben ein Problem!“
…Vermutlich ist unser Problem das Problem der ganzen Welt, und vermutlich hängt das nicht vermisste Fehlen der lebensschaffenden Gottes-Weisheit unter den Menschen mit Geist- und Weisheits-Verlusten bei uns als Kirche zusammen. —
Unser Problem lässt sich leicht zusammenfassen: Das Neue Testament ist uns alt geworden. Alt und kalt. Es scheint nicht mehr zu zünden. Es ist verstaubt. … Wann hattest Du’s zuletzt in der Hand? … Oder wann hast Du zuletzt erlebt, wie es wirklich aus den Buchdeckeln sich löst und Dir unter die Haut ging, bis in die Herzkammern, in die Lungenflügel, durch die Eingeweide bis ins Mark … und von da wieder in die Hände, den Mund und alle Lebensäußerungen drang?
Wann war das Leben des Geistes zuletzt für Dich die persönliche, unmittelbare Realität?
Wann war neben den eigenen Gedanken und der eigenen Vergesslichkeit, neben den eigenen Überzeugungen und den eigenen Zweifeln der Raum Deines Erlebens ausgefüllt durch die Botschaft, mit der Gott Sich Selbst bezeugt, und durch die Liebe Christi, die nicht ruhen kann, sondern um sich greift?
Wann waren Dein Denken und Dasein eine spontane, eine natürliche Fortsetzung oder Funktion Deines Glaubens?
Wann hat sie in Dir gelebt … die Frohe Botschaft? —
Das sind Fragen, die bei uns seltsam anmuten mögen: Aufdringlich forciert wie in einer autosuggestiven Massenevangelisation. Oder lebensfern antiquiert wie aus den Chroniken längst ausgeglühter Frömmigkeits- und Erweckungsbewegungen.
Aber obwohl wir viele solcher kühlen Schutzmechanismen besitzen, die uns wappnen gegen alles zu persönliche Auf-die-Pelle-Rücken dessen, was doch längst so schön historisch und symbolisch entschärft ist, brechen manchmal die verkorkten und eigentlich verpufften Fragen nach lebendigem Glauben und Glaubensleben auf.
Heute ganz programmatisch.
…Weil es doch „JUBILATE!“ heißt.
Und wir deshalb einfach überlegen müssen: „Freut’s uns denn noch? Löst es unsre Lahmheit manchmal in Jubel auf, dass wir hören und verkündigen, dass wir lesen und betrachten, dass wir glauben und annehmen dürfen, was das Evangelium ist?“ ——
… Tja.
… Eine ganz unmittelbare Reaktion, eine direkte Begeisterung weckt eine sattsam bekannte Aussage natürlich nicht ohne Weiteres.
Die unergründlichsten Offenbarungen können zu kaltem Kaffee werden und die unerfindlichsten Wunder können wie schaler Sekt wirken, wenn ihnen der Reiz des Unerhörten abhandenkommt und man sich vor Generationen schon an ihnen sattgestaunt hat:
Dass die Welt eine Schöpfung und zugleich ein Juwel Gottes ist, haben Jahrhunderte vor uns meditiert; wir haben das „Made by God“-Siegel, das sie insgesamt und überall trägt, durch die Vergrößerung und Verkleinerung, die die Wissenschaft vornimmt, und durch die Verzweckung, die die Wirtschaft uns lehrt, dagegen aus den Augen verloren.
Dass mitten auf dieser irdisch erklärbaren und vertrauten Bühne – und zwar im allerunauffälligsten Gewand bloßer menschlicher Nacktheit – schließlich aber auch Gott selbst als gewöhnliches stoffliches Wesen und sterbliche Person Schöpfungswirklichkeit annahm, das hat die Kirche früher einmal jahrhundertelang beinah überwältigt, wenn sie im großen Glaubensbekenntnis (EG 854) die Passage aussprach „Für uns Menschen und zu unserm Heil ist Er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den heiligen Geist aus der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden.“
An dieser Stelle blieb Abend- und Morgenland der Mund offen stehen und man ging auf die Knie vor dem atemberaubenden Wagnis, dass der Anfangslose endlich und der Allgegenwärtige ein Embryo, … ein Kind, … ein Körper, … eine Leiche wurde.
Doch diese beiden unfassbaren Schöpfungswunder – dass unsere Welt durch Gott und dass Gott ein Stück von ihr geworden ist – … diese unfassbaren Schöpfungswunder am Anfang beider Testamente sind beide durch die menschliche Freiheit sehr anders weitergegangen, als es hätte kommen müssen.
Die Schöpfung war ursprünglich nicht eine Ökologie des Todes, sondern des Blühens und der Fruchtbarkeit und vielleicht der Brache, in der die Geschöpfe ihre Lebenskräfte neu aufladen dürfen.
… Aber durchs Allein-Machen- und Allein-Sein-Wollen des Menschen kam der Tod.
Denn das ist ja der Tod: Das Einzige, was der Mensch durch seine Unkooperativität, seine Verweigerung Gott gegenüber allein gemacht hat; seine letzte Einsamkeit. Der Tod ist in jedem Sinne buchstäblich das ursprüngliche „Alleinstellungsmerkmal“ des Menschen.
Doch es ist nun einmal nicht gut, dass der Mensch allein sei (1.Mose2,19): Im Leben nicht und auch nicht im Tod. … Darum war die zweite Schöpfung nötig, in der Gott den Menschen nicht allein ließ: Diese Schöpfung in der Jungfrau Maria, bei der Gott zwar allein in einer menschlichen Mutter Fleisch annahm, und die um den Preis geschah, dass Er dadurch ja auch in Kauf nahm, einmal ganz allein ein Grab im Schoß der Mutter Erde zu finden; … allein, wie wir alle, … die demnach aber eben nicht mehr allein sein werden in unserer Todeseinsamkeit!!! …….
Dass uns das beides – die Schöpfung, in der wir den Tod bedeuten und in der Gott den Tod deshalb selbst übernahm, damit sie nicht uns, sondern Ihm überlassen bliebe –…, dass uns das beides nicht wirklich von den Füßen auf die Knie vor Dankbarkeit oder in den Hochsprung losgelassenen Jubels bringt, dass es uns nicht mitreißt und stürmisch beschwingt, ist schon elend genug. …
Aber dass eine Gemeinde, die weiß, was dann noch geschah, nicht unendlich zuversichtlich und weltfroh und lebensfreudig, voller Liebe zum Sterblichen und voller Neugier aufs Unsterbliche ein Ausgangs- und Anknüpfungspunkt von Lebenswegen und Lebensbewegungen der Umkehr, des Schutzes, der Stärkung, der Hoffnung ist … das wäre nicht zu erklären.
Dass eine Gemeinde, die die dritte Schöpfungsgeschichte kennt – nicht die von Eden und auch nicht die von Bethlehem, sondern die aus dem Jerusalemer Grab im Garten – … dass eine Gemeinde, die den österlichen Neuanfang kennt, nicht ununterdrückbar lebensbejahend und lebensgewiss sein sollte, das wäre schlicht erbärmlich!
Doch heute – wenn es auch Anlauf braucht und etwas Abschütteln des Staubes und etwas Lockern der rostigen Seelen – heute ist nun Jubilate: Der Tag, an dem wir feiern, dass Gott durch die Auferweckung Jesu von den Toten die neue Kreatur begonnen hat (vgl. 2.Kor.5,17).
Und so ist Jubilate denn wahrhaftig doch ein Tag, an dem uns genug Geist und Kraft erfüllen wollen, um die Probleme Houstons, die Probleme dieser Erde, der die Luft und Zeit ausgehen, im Licht des Lebens als lösbar, … ja: als gelöst zu erkennen. Denn das Jubilate-Licht ist das Licht der rettenden Neuschöpfung, die aus der Ökologie des Todes eine Natur macht, in der den alten Erstickungs-Drohungen kein Gewicht mehr zukommt.
Dafür muss selbstverständlich umgesteuert werden in Richtung Leben.
Doch ebenso selbstverständlich kann aus österlicher Erfahrung eben auch umgesteuert werden in die Lebensrichtung: Denn wenn Gott es geschafft hat, alles was Er geschaffen hat, unter den Bedingungen des Todes dennoch zu neuem Leben zu erwecken, dann ist nach Weltschöpfung und Menschwerdung das dritte und nunmehr endgültige Wunder der Kreativität zu feiern: Dass alles in Lebendigmachung auf- und übergehen wird!!!
Es lohnt, sich das für einen Augenblick auf der Zunge zergehen zu lassen: ALLES, was jetzt sichtbar und spürbar eigentlich Züge der Zerstörung und des Untergangs aufweist, wird doch in die Auferstehung und Lebendigkeit einbezogen werden, die Quelle und zu-gleich Gipfel des Evangeliums sind. …….. Des Evangeliums, das uns aus Gewöhnung so kalt lässt und so alt vorkommt, obwohl es doch das Wort ist, aus dem unsere ermüdete, zynische und untätige Zeit einen elektrisierenden und stärkenden Strom der Hoffnung neuen und unvergänglichen Lebens empfangen könnte.
Deshalb müssen wir seine Kraft wieder selber als die beflügelnde und befreiende Neuigkeit erfassen, die es tatsächlich ist. Wenn die Menschheit wirklich so versessen und so besessen am Zu-ende-Gehenden klebt, dass sie weder Kleines noch Großes mehr ändern zu wollen scheint, dann ist die ganz große christliche Gewissheit der neuen Kreatur bis in kleinste Umstellungen hinein fruchtbar zu machen.
Wir müssen zeigen, dass die neue Wirklichkeit, die uns sicherer ist als die bisherige, uns tatsächlich auch verwandelt.
Wir werden also zeigen wollen und zu zeigen haben, dass wir die Furcht vor Verzicht, die Sorge vorm Zu-kurz-Kommen, die Trägheit beim Zurückstecken, die Freiheit zum Weniger, ja, die Notwendigkeit des Weniger und die neue Normalität des Weniger nicht fürchten.
Wir als Menschen des Evangeliums können die entsetzliche Tatenlosigkeit und die verwerfliche Gedankenlosigkeit einer Zivilisation, die nur das gerade noch Vorhandene festhalten und keine Umstellung zulassen will, nicht teilen.
Wir haben nichts zu fürchten.
Nichts zu verlieren, das nicht erneuert viel beständiger sein wird.
Wir haben nichts zu beschlagnahmen, weil alles von und für Gott ist.
Wir haben keine Teilung zu verhindern, denn Gott schenkt Vermehrung.
Uns hält keine Abhängigkeit, denn uns ist die Befreiung verkündet.
Wir müssen dem Endlichen nicht verfallen, denn es gibt Unendliches.
Wir sind also nicht einfach zum Immer-Weiter-So verdammt, sondern berufen zu einem ganz anderen, zum ungeahnten und unverlierbaren Leben.
Diese Botschaft ist ökologisch und politisch, sie ist geistlich und leiblich die neue Wahrheit, die mit Ostern angebrochen ist.
Wir können sie der Welt und der Schöpfung, wir können sie unseren Zeitgenossen und unseren eigenen Herzen in der ganzen Frische und Angstfreiheit, in dem Mut und mit dem Elan des Paulus zurufen, der das völlig uneingeschränkte und solidarische, das universale und seligmachende Lebensgefühl eines Menschen, der in österlichem Jubel zu leben lernt, den Korinthern in ansteckender und mitreißender Weise mitgeteilt hat.
„Houston – wo ist das Problem?
… Wir wissen, dass der, der den Herrn Jesus auferweckt hat, wird uns auch auferwecken mit Jesus und wird uns vor sich stellen samt euch.
Denn es geschieht alles um euretwillen, auf dass die Gnade durch viele wachse und so die Danksagung noch reicher werde zur Ehre Gottes.
Darum werden wir nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.
Denn unsre Bedrängnis, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit,uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare.
Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich;
was aber unsichtbar ist, das ist ewig.
JUBILATE!“
Amen.
[i] Diese heutige Schriftlesung macht wie die weiteren für Jubilate vorgesehenen Lesungs- und Predigttexte (u.a. 1.Mose 1 und Apostelgeschichte 17, 22-34) deutlich, wie sehr das Verhältnis von Schöpfung und Neuschöpfung in österlicher Perspektive das Motiv dieses Sonntags ist: Ein Motiv, das in die ökologischen Zentralfragen unserer Gegenwart ein überaus starkes biblisches Gewicht bringt. Kein Auferstehungsleben ohne das Gesamt des Kosmos: Diese theologische Aussage stellt ein Bindeglied in die reichen Traditionen der ostkirchlichen Spiritualität dar, in denen die Natur ganz im Kraftfeld des Heiligen Geistes betrachtet und als Miterlöste der Menschheit gefeiert wird.
Miserikordias Domini - Feier der Goldkonfirmation, 14.04.2024, Stadtkirche, Johannes 10,14, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Miserikordias Domini - Goldkonfirmation 14.IV.2024
Johannes 10,14
Liebe Gemeinde!
Jubiläen sind missverständliche Anlässe: Entweder sie versetzen uns gezielt rückwärts in eine Vergangenheit, die doch nicht heute ist, oder sie zelebrieren die sog. Jubilare, die doch nicht wegen des gegenwärtigen Moments, sondern aufgrund eines ganz anderen Augenblicks ihrer Geschichte im Mittelpunkts stehen.
Es geht also entweder um eine Zeit, die war, aber jetzt nicht ist, oder um die Erfahrung oder Leistung eines Menschen, der wir jetzt nicht sind, aber einst waren.
Die Brücke zwischen dem beiden, aber … die Zeit, die aus dem Gestern das Heute, aus den Kindern die Leute gemacht hat, … die ist doch das eigentliche Wunder und der wirkliche Grund fürs Staunen, für Rührung, für Dankbarkeit oder Trauer.
Die Zeit, die zwischen damals und heute liegt, ist so voller winziger, unmerklicher Schübe und Verschiebungen, so voller unauffälliger kleinster Zusätze und Verluste, dass man sich kopfschüttelnd fragen würde, wie das 50 Jahre, wie das sechs oder gar sieben Jahrzehnte sein sollen, die da plötzlich vergangen sind, wenn nicht auch die großen Sprünge, die unmissverständlichen Einschnitte und Etappen das Ganze gegliedert, beschleunigt und unwiderruflich verändert hätten.
Es gab ja nicht nur das leise Ticken der Zeit, sondern auch ihre Paukenschläge. Es gab den Blitz, der uns traf: Mal als Liebe, mal als Schrecken. Es gab die unvergesslichen Dammbrüche, mit denen sich der Fluß in eine ganz andere Richtung wendete: Schleusen, die sich öffneten, nachdem alles sich vor türmenden Problemen gestaut hatte, oder plötzlich sprudelnde Lebendigkeit nach endlos-ödem Austrocknen. Es gab Glocken, die haben das Schönste eingeläutet, was wir an Festen kennen – Feste der Liebe und des Lebens –, und es gab dumpfes Dröhnen in Schädel und Brust, wenn das Leid, wenn der Tod uns trafen und alle Uhren stillstanden, ja selbst der Puls und der Atem einfach wegbleiben wollten.
Diese Wechsel, diese Ereignisse, die wir Schicksal nennen, weil sie fügungsreich oder fatal für uns waren … die lassen uns eher verstehen, dass wirklich Zeit, viel Zeit, viel Neues, viel Veränderung, viel Verlust und viele Gnaden, viel ganz Gewöhnliches und viel Einmaliges eingetreten ist, so dass was früher war, nicht auch jetzt noch ist, und dass, wie wir uns einst selber vorkamen, ganz anders ist, als wir geworden sind.
Das gilt vermutlich allgemein, wo immer wir ein halbes Jahrhundert oder noch mehr bedenken; und es gilt auch dann, wenn wir ganz nah am Innersten dieser seltsamen Zeitmaschine, die der Mensch ist, … die wir selber sind, auf etwas noch Erstaunlicheres stoßen:
Ganz im Innersten stoßen wir nämlich auf das Sonderbare, dass die rasende Raumkapsel oder die leicht und leise über alle Hindernisse hinweggleitende Gondel, in der unsere Lebensreise bisher verlief, wohl einen Passagier befördert hat, der nicht so völlig ausgewechselt, nicht so radikal verändert ist, wie die Landschaft, wie die Welt, durch die die Reise ging.
Gewiss: Es ist eine vollkommen andere Realität – unsere lichtgeschwinde, raumlose, allvernetzte digitale Sofort-Welt –, als es die viel langsamere, aber auch viel körperlichere Welt war, in die man vor fünfzig Jahren hineinwuchs.
Das liegt am Lebensalter: Dass man damals in vieler Hinsicht so viel mehr ausprobieren, so viel hemmungsloser experimentieren, wütender protestieren und hier und da auch sehr viel braver schlicht parieren musste als heute, wo alles virtuell zugänglich und selbstverständlich und deshalb auch schlicht als unbestreitbarer Anspruch wahrgenommen wird.
… Ich rede hier ja als älterer „Leut“ zu älteren Leuten und deshalb ist es wohl unvermeidlich, dass wir jetzt behaupten, wie man damals länger warten, weniger fordern, härter rackern und alles besser machen musste, als heute.
… Nun, es ist eben anders geworden: Vieles - das Meiste wohl - zu unser aller Vorteil, und die technischen und gesellschaftlichen Sensationen von einst sind für uns sämtlich längst vertrautester Horizont, unsere Sicherheit und unsere Gewohnheit geworden, von denen wir nicht weniger abhängen als die, die nie etwas anderes kannten.
Vergessen wir aber auch nicht, wie heil und hell uns manches in unseren jungen Jahren vorkam, obwohl die Schatten und Drohungen ja deutlich genug das vergangene halbe Jahrhundert schon prägten. Aber dass völlige Einschränkung uns in Isolation und Stillstand zwängen könnte, wie es die heute Jungen in den Pandemie-Jahren erlebten, dass noch viel größere und unabwendbare Verzichte und Rücksichten zwingend werden und dass wirklich Krieg und Grauen aus den Geschichtsbüchern wieder in die Zukunftsszenarien wechseln würden, … das alles hätten wir uns als Heranwachsende und in die Eigenverantwortlichkeit Aufbrechende wohl kaum vorstellen können. …….
Welt und Leben haben sich wahrhaftig tief und positiv und gleichzeitig verstörend geändert, seit einmal der Segen Gottes auf vierzehnjährige Häupter herabgerufen und in die Teenager-Ohren, die vielleicht wenig davon wissen mochten und in die jungen Herzen, die das alles doch genau verstanden, versprochen wurde.
Wahrhaftig, Leben und Welt haben sich verändert seit jenem Segen. ———
Aber hieß es nicht gerade eben, dass die, die genau durch diese Veränderungen der Welt und Entwicklungen des Lebens gereist sind, doch nicht so völlig ausgewechselt, nicht so radikal verändert seien, wie man beim Blick in die Gegenwartsgeschichte meinen sollte?
Wurde nicht gerade behauptet, dass im tiefsten Inneren der seltsamen Zeitmaschine, die der Mensch ist, sich erstaunlicherweise die irrwitzigen, herrlichen, hässlichen Wandlungen gar nicht alle so auswirkten, so niederschlugen, dass sie dort gar nicht so folgenreich eintraten, wie im großen, globalen Drumherum?
Doch.
Das habe ich gesagt.
Ich habe behauptet – obwohl fünfzig, sechzig, siebzig Jahre echte Metamorphosen, Brüche und Fortschritte bringen –, dass etwas sonderbar bei sich selbst und in sich ähnlich geblieben sei.
Das ist aber tatsächlich eine Behauptung und keine Feststellung.
Es ist ein Satz aus bloßem - man kann auch sagen: reinem - Glauben und keine Demonstration eines Beweises.
Das Einzige, was auch äußerlich dafürspricht, dass trotz weltgeschichtlicher und biographischer Purzelbäume, Katastrophen und Wunder etwas von damals auch heute noch ist, wie es war und bleiben kann, wie es ist … das Einzige, was dafürspricht, das sind Sie: Die heute Jubiläum-Feiernden.
Es ist ja alles andere als selbstverständlich, dass Sie heute bereit sind – skeptisch vielleicht, oder herzlich geneigt – etwas zu bedenken, das Sie lernten, als die Zeit eine ganz andere war.
Es ist alles andere als selbstverständlich, dass Sie bereit sind, etwas zu feiern, das Ihnen als Jugendlichen vielleicht sicher schien und inzwischen rätselhaft wurde, oder das Sie damals für abwegig und absurd abständig hielten und das Sie dann doch nie völlig verlassen haben, weil es Sie nicht einfach ganz kalt gelassen hat, wie so viel anderes Überflüssige und Vergessene, sondern Sie heute wieder versammelt, zusammenführt und in diese Stille - vielleicht sogar eine andächtige? - versetzt.
Es ist alles andere als selbstverständlich, dass Sie heute nun ausgerechnet auch noch in der Kirche, der man doch das vollkommene Verblassen und Verschwinden nahelegt und nachsagt, sitzen und sich erinnern, wie Sie einst bejahten, dazuzugehören und dafür gehalten werden zu wollen – für Christinnen und Christen nämlich –, … und dass Sie nun also immer noch und irgendwie – mit allen Pausen, mit allem Abstand, mit allen Zweifeln und aller Kritik – dabei sind: So, wie Sie es einst versprachen!
Ihr Kommen, Ihr Dasein, Ihr jenseits von Gewohnheit und Entfremdung einfach ganz heutiges Sich-Rufen-Lassen und darin Ihre Treue zu dem Versprechen von damals, zu dem Segens-Tag damals, zu dem Mädchen, zu dem Jungen, die damals hörten, sagten, taten und empfingen, was sie doch nicht abschließend ermessen konnten, …. das alles zusammen also ist jenes Einzige, das dafürspricht, dass etwas geblieben ist.
Sie selber sind die Fürsprecher für das, was war und ist und bleibt. ——
Und dafür danke ich Ihnen!
Ich danke Ihnen mitten in den Turbulenzen und Ängsten und Erfolgen der Zeit und Ihres Lebens, dass Sie nicht nur mit den atemberaubenden Veränderungen Ihrer Tage und Jahre, dass Sie nicht nur mit den bis zur Unkenntlichkeit führenden Prozessen des Älterwerdens und der Erneuerung befasst, belastet und belohnt sind, sondern dass Sie zum Gleichbleibenden stehen, dass Sie dafür heute jenen Moment – diese Gottesdienststunde, diesen Vormittag, diesen jubilarischen Sonntag – einräumen, in dem Ihnen und uns allen, das Unverwandelte, das Selbige, das Stetige, das Dauerhafte …. sagen wir’s ruhig: das Ewige vor Augen steht.
Was aber ist dieses Bleibende denn, für das Sie sprechen … als Einzige?!
Es ist – im Innersten der lernfähigen und entwicklungsfreudigen und robust fortschrittlichen und irgendwann dann hinfällig werdenden, sterblichen Wesen, die wir sind – das Allereinfachste: Man kann es die Urzelle nennen, den Kern, das Gemüt, die Herzkammer, das bleibende Menschenkind. Dasjenige, das in allen spektakulären, befreienden und schmerzhaften Umkrempelungen, Lossagungen, Auflösungen und Schwerpunktverlagerungen einfach bleibt.
Ich meine es buchstäblich:
Das, das einfach bleibt.
Das nicht kompliziert werden oder tun muss. Das - je reifer es wird, desto schlichter – begreifen und bekennen kann: Ich bin noch immer, was ich war. … Ein Menschenkind, das vollkommene Freiheit hat, weil es – wann immer es möchte – einen vollkommenen Halt findet.
Ich, der Erwachsene, bin ein Menschenkind, das zu Gott „Mein Vater im Himmel“ sagen kann.
Ein Menschenkind, das in dem Gottessohn-Menschenkind Jesus einen Bruder hat; und weil ich, das Menschenkind höre und manchmal nicht fassen und dann auch wieder nicht bezweifeln kann, dass mein menschlicher Bruder Jesus extra für mich durch alle Wachstums- und alles Todesschmerzen gegangen ist und wirklich das Sterben und die letzte, schrecklichste Trennung vom Leben und vom Lebendigsein und sogar vom lebendigen Gott vorweggenommen hat, nur damit ich darin nicht allein sein werde und untergehe, … darum kann ich in diesem Bruder sogar meinen Hirten sehen und mich Ihm anvertrauen, wo sonst nichts, gar nichts Vertrautes mehr sein wird.
Ein solches Menschenkind bin ich – im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, meiner bürgerlichen Rechte, meiner verfassungsmäßigen Freiheit und Würde – … ein solches Menschenkind bin ich in alledem, das rational und intellektuell vollkommen unabhängig ist, und das doch spürt: Im Innersten bin ich noch anders … und mehr. … Ich bin eine Seele, ein Ebenbild Gottes, des Vaters und des Sohnes, Der mir durch Seinen Heiligen Geist ungeahnt, aber eben auch unmittelbar gegenwärtig ist und war und bleibt.
Und das – das Innerste des Menschen, der Gottes Kind ist, und ein durch Jesus Erlöster und darum in seiner Seele den Heiligen Geist unlöschbar tragen darf - … dieses Innerste ist das, was nicht vergeht, was sich nicht verliert und was nicht verloren werden kann.
Das allerdings – dass wir im Tiefsten, im Letzten und im Ewigen so Gott-verbunden, so Gott-gemäß, so Gott-gehörend sind und sein dürfen – … das haben nicht wir als Konfirmandinnen und Konfirmanden beschlossen, verantwortet oder gemacht.
Und insofern feiern wir jetzt auch gar nicht die Wiederkehr jenes weit in die Vergangenheit entrückten Tages oder die naive Tat, das ahnungslose Wort des Kindes, das man damals war und längst nun nicht mehr ist, sondern was wir feiern, ist tatsächlich Gegenwart.
Es ist die Gegenwart Gottes: Das, was Gott getan hat und zu tun nicht aufhört.
Was Er an unserer Seele in allen Phasen und Gestalten, allen Schichten und Geschichten unseres Lebens tut.
Das Tun Gottes, das endlos ist.
Ewig.
Es steht im Wort des guten Hirten vor uns und über uns.
Es steht auch in uns, die wir die einzigen Zeugen dafür sind, … das Einzige, was dafürspricht.
Es ist das einfache und niemals vergehende Wort Christi:
„ICH KENNE DIE MEINEN UND BIN BELKANNT DEN MEINEN.“
Das feiern wir.
Heute.
Und in Ewigkeit.
Amen.
Tag der Auferstehung des Herrn / Ostersonntag, 31.03.2024, Stadtkirche, Hesekiel 37, 1 - 14, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Tag der Auferstehung des Herrn - 30.III.2024
Hesekiel 37, 1 – 14
Liebe Gemeinde!
Heute trägt die Hundehütte hier vorn - auf der Kanzel - ein besonderes Schild …, wie überall dort, wo der Hofköter alt geworden ist: „Keine Angst: Der will nicht predigen; der will nur spazierengehen!“
Tatsächlich empfinde ich das als echtes, geradezu besorgniserregendes Anzeichen des Alters - viel schlimmer als Haarausfall, Verfettung, nächtliche Schlaflosigkeit und mittäglich Schläfrigkeit - , dass ich ernsthaft feststellen muss, mich auf Goethe zu besinnen! … Das ist der mit dem Hexen- und dem Wilhelm Meister, mit dem Heideröslein und dem Koran, mit der ganzen Dichtung und Wahrheit, wo das Wichtigste immer passiert, wenn man nachts durch den Wind reitet oder zu Ostern eben spazieren geht.
Und das will ich jetzt auch.
Einen Osterspaziergang machen, … wie der Dr. Faustus, der am Kuhtor unterhalb vom Burghof oder am Anleger mit Blick nach Wittlaer hinauf auch hier und heute beobachten könnte[i]: „Aus dem hohlen finstern Tor / Dringt ein buntes Gewimmel hervor. Jeder sonnt sich heute so gern. / Sie feiern die Auferstehung des Herrn, / Denn sie sind selber auferstanden, / Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, / Aus Handwerks- und Gewerbesbanden, / Aus dem Druck von Giebeln und Dächern, / Aus der Straßen quetschender Enge, / Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht / Sind sie alle ans Licht gebracht.“ ———
Spaziergehen: Raus aus dem Alltag, aus seinen räumlichen und regelhaften Beschränkungen, ja, auch aus seinen religiösen und - bitte schön! - ebenso seinen weltanschaulichen und wissenschaftlichen Routinen, … das ist immer schon die erste aller Voraus-setzung für das Osterfest gewesen.
Wir müssen uns diese absolut ursprüngliche Notwendigkeit des österlichen Loslatschens ganz klar machen.
Ostern fand nicht in Jerusalem statt!
Wenn die traumatisierte Jesus-Truppe irgendwo in der befestigten Stadt geblieben wäre - falls sie es gewagt hätten! -, oder wenn sie in Bethanien, wohin sie vielleicht als erstes flüchteten, verkrochen in ihren Unterschlupfen geblieben wären, dann hätten sie’s nie erfahren, … hätten nie das leere Grab und die Engel und dann, … ja – dann …, ja, dann: IHN SELBST nie wieder getroffen!
Das alles geschah ja eben nicht drinnen, sondern draußen vor dem Tor (vgl. Hebr.13,12)!
Man musste wie die mit dem Mut der Liebe und Verzweiflung ausgestatteten Frauen sich ins freie Gelände trauen, in die Steinbruchs-, Müllplatz- und Schrebergartenzone, die vor der nordwestlichen Mauer Jerusalems lag, und dort im ungeschützten, ungepflegten Niemandsland das suchen, was nie wieder zu finden war: Den gekreuzigten Toten. … Kein urbanes Ereignis, das … im Raum der Zivilisation, sondern echtes outdoor-Abenteuer: Den Tod aufzusuchen und das Leben zu finden!
Erfahren kann man Ostern also nicht im Sitzen, nicht in Sicherheit, nicht im Geschlossenen und nicht im Gewohnten.
Man muss den Schutz der Enge verlassen, aber auch die Gewissheit, die uns orientiert, birgt und tröstet.
… Man muss sich Abrahamitisches trauen: Fortgehen ohne festes Ziel.
Das haben allerdings die ersten, trostlosen, für sich selbst im Morgengrauen ohne den Schutz der Stadt rücksichtlosen, für uns alle darin aber weltentscheidend-lebenswichtigen heiligen Frauen nicht gewusst, deren Gang zum Grab uns heute noch hier versammelt und hoffentlich dann auch wieder zu Wandernden auf Osterwegen machen wird.
Sie wussten an jenem Morgen nicht, dass es kein festes Ziel mehr gibt.
Sie waren nur auf den kurzen, wenn auch nicht ungefährlichen Marsch an den felsenfestesten Punkt der Welt gefasst: Wo das Wogen und Wimmeln des Lebens ans unverrückbare Nichts stößt. … Weil nichts sich je dort regt oder tut, sondern bloß unbeweglich endgültig das schroff-steile Gebirge ragt, das wir aus dem Märchen kennen[ii], in dem ein Mädchen bis ans „Ende der Welt“ wandert, um seine toten Brüder zu finden.
Das Grab dort zeigt sich dem Mädchen als der „Glasberg“: Unüberwindlich …und wenn man davorsteht, sieht man in diesem trostlosen Spiegel nur sich selbst in seiner Einsamkeit.
…Dahin hatten sich auch die Frauen außerhalb Jerusalems aufgemacht.
… Aber sie liefen nicht gegen die spiegelglatte Wand des Nichts, sondern in die herrliche Offenheit, die der Spiegel, der bloß Erinnerungen zurückwirft, nach seiner Zertrümmerung freigab. Durch den Spiegel hindurch also (wie die berühmte Alice im Wunderland) spazierten diese ersten Läuferinnen von Ostern – „Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenbotinnen, die da Frieden verkündigen!“ (Jes.52,7) –, und seither darf alles, was aus der Taufe kriecht oder vom Heiligen Geist Wind gekriegt hat oder auf der Suche nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit ist, genauso in die weite Welt vor und hinter dem Spiegel spazieren, weil der Glasberg zerbrochen, der feste Punkt aufgelöst und alles in Bewegung ist. Und weil in der Weite, außerhalb des bekannten Zirkels, jenseits des ab-gesteckten Reviers unserer Alltagserfahrungen, nichts fest und also auch nichts ausgeschlossen ist, sondern alles möglich, alles offen, weil dort alles atmet und sich ändert und wächst und lebt, … darum haben auf diesen Osterwegen nicht nur die Marien und Salome (vgl. Mk.16,1) und Johanna (vgl. Lk.24,11) und dann auch Petrus, Johannes, die anderen Jünger und Thomas (vgl. Joh.20,24ff), aber auch Kleopas und der zweite aus Emmaus (vgl. Lk.24,18) und Jakobus, der Herrenbruder (vgl. 1.Kor.15,7) und gewiss auch seine Mutter und Stephanus der Diakon und Saulus aus Tarsus, der diesen Stephanus gern sterben gesehen hatte (vgl.Apg.7,55+9,5) und so viele, so viele, so viele andere auf den Spaziergängen und den Irrfahrten, auf den Fluchten und den Umwegen, auf den Weltreisen und den stinknormalen Botengängen ihres Daseins den lebendigen Jesus Christus getroffen, Der uns allen nicht nur Wegbegleiter und nicht nur immer wieder neue Überraschung am Wegesrand und nicht nur schließlich einst Ziel aller unserer Pfade, sondern tatsächlich auf Schritt und Tritt selber Der Weg, Die Wahrheit und Das Leben sein will (vgl. Joh.14,6)!
Ostern also geht nur in Erfüllung, wenn wir wirklich gehen, wenn wir uns bewegen, wenn wir Räume, Richtungen und Denkweisen wechseln, und unsre Horizonte und Erwartungen, unsre Weltbilder und Meinungen, unsre Standpunkte und Zielvorstellungen beweglich bleiben. ——
Man muss es Goethe also lassen: Ohne Spaziergang kein Ostern!
Da kann man als Christenmensch und Pfarrer von Kaiserswerth dem Weimarer Staatsminister und Hobby-Dichter die Hand drauf geben, und wird von vieler Seite viel Verständnis für solche Wanderschaftsverbrüderung erhalten: Unterwegs zu sein, Bewegung zu kriegen, reisend aufgeschlossen für Begegnungen zu bleiben, … das alles sind ja wahrhaftig österliche Grundlagen, österliche DNA sogar noch im ganz nachchristlichen Lebensideal unserer Fitness- und Weltreisekultur.
„Aus grauer Städte Mauern“ hinaus in die freie Wildbahn; Bahrain, Bali, Botany Bay abklappern; Buddha besuchen und den Geistern der Osterinseln winken: So gehen Bildungsreisen unseres privilegierten Weltbürgertums.
Doch auch der Geheimrath von Goethe meint es nicht ganz so vordergründig wie unsre Kavalierstouren mit ein bisschen Schnuppern am Exotischen, ein wenig auch spirituell Über-den-Tellerrand-Gucken und etwas Aufgeschlossenheit für Erfahrungen, die uns transformieren können und in denen – wenn man indische Sadhus, die taoistische Harmonielehre sozialer Ganzheit und die unmittelbar menschenfreundliche Gastlichkeit so vieler Gesellschaften kennenlernt – tatsächlich auch Jesus uns berührt und verändert.
Nicht nur die österliche Erfahrung, dass wir durch jeden Weg einen weiteren Horizont und ein tieferes Herzenswissen um das Labyrinth des Lebens, das von Gott kommt und zu Gott führt, entwickeln, ist also der Sinn unserer Osterspazierens heraus aus dem Alt-Bekannten ins freie Neuland, das sich erschloss, seit der Gekreuzigte uns aus der Welt, die hinterm Grab anfängt, in unserer Welt entgegenkommt. … Nicht nur die österliche Erfahrung also, die in unserm eigenen Leben weltweit zu machen ist, wenn wir nicht hocken bleiben, wenn wir nicht verkrochen oder festgeklammert im eigenen Beritt kleben, sondern ins Unbekannte aufbrechen, ist der Sinn der Osterspaziergänge, die es braucht.
… Sondern der Aufbruch in Erfahrungen und Wirklichkeiten weit über unser eigenes Leben, weit über alle noch so erweiterungsfähigen eigenen Horizonte, weit über die bekannte, jetzige Welt hinaus.
Bei Goethe bricht die Sehnsucht danach in Faust auf als am Osterabend, gegen Ende des Spaziergangs die Sonne sinkt: „Dort eilt sie hin und fördert neues Leben. / O daß kein Flügel mich vom Boden hebt / Ihr nach und immer nach zu streben!“[iii] … In Betrachtung der untergehenden Sonne, die ja nur weiterzieht und nicht auslöscht, zieht es darum auch Faust in ihre Bahn: „Ich eile fort, ihr ew’ges Licht zu trinken, / Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht.“[iv]
Und das ist der eigentliche Kompass der Spaziergänge, die mit dem Grabesweg der Frauen vor den Toren von Jerusalem begonnen haben: Dass die Menschheit, dass jeder von uns und wir alle zusammen auf jenen Weg gelangen, auf dem vor uns der Tag des Lebens und hinter uns die Todesnacht liegt!
Den Spaziergang in diese Richtung aber treten wir nicht auf Vergnügungsreisen oder Rucksackabenteuern oder auf irgendwelchen anderen, von uns ausgesuchten Routen zum Sinn des Lebens an. Denn oft können wir gar nicht wissen, dass wir gerade einen Schritt auf das große österliche Ziel zu gemacht haben oder dass unsere Füße just auf Boden stehen, der dem Punkt, an dem nur noch Tag vor uns liegen kann, näher ist als viele, viele andere Schauplätze und Koordinaten unserer Lebenswege. ——
Eine kleine, zähe Frau aus Nordafrika, die verwurzelt in der sonnigen Rauhheit ihrer algerischen Heimat vermutlich nie erwartet hätte, einmal auf einem anderen Kontinent, in einer völlig anderen Welt (wie so viele Migrantinnen und Verpflanzte!), in Italien nämlich ein Grab finden zu müssen, wurde im Alter am Ende ihres Lebens - sie war zwei Jahre älter als ich! - einmal gefragt, ob ihr der Gedanke nicht schwerfalle, nun wohl bald so fern der Heimat bestattet zu werden. Ihre Antwort – die Antwort einer menschenerfahrenen, weltkundiggewordenen, lebenssatten Wandrerin auf Osterwegen – ist berühmt und bleibend herrlich wahr: „Nichts ist fern von Gott, und es ist auch nicht zu fürchten, dass er beim Ende der Welt nicht wüsste, wo er mich erwecken soll“[v]. Das war Monika, die Mutter des Kirchenvaters Augustinus.
Und Monikas Wort gilt.
Es zeigt uns: Überall ist das Osterziel. … An jedem Fleck auf dieser Welt steht Ostern uns bevor, liegt es unter unseren Füßen, ist es versteckt in der Dunkelheit, die vergeht, wenn endlich wahr wird, was der Ostergänger Faust suchte: „Vor mir der Tag und hinter mir die Nacht.“
Nun gibt es gewiss aber Stellen und Stätten, an die wir nicht unbedingt freiwillig oder gar gern reisen, an denen wir aber direkt auf Ostern stoßen: Eine junge namibische Umweltarchäologin, Annina van Neel, die auf der durch Napoleons Exil berühmt gewordenen Insel St. Helena den Flughafenbau begleiten sollte, stieß mit ihrem Team bei den Bauarbeiten auf einen immensen Friedhof, auf dem die Überreste von mehr als 9000 versklavten Männern, Frauen und Kindern aus Afrika verscharrt waren, die jeweils wenige Wochen nach ihrem Geraubtwerden aus der Heimat, die viele noch geschmückt mit schönstem Schmuck verließen, die einsamen Felsengruppe im Atlantik nur noch als Leichen erreichten. Über Annina van Neels Kampf darum, den Toten heute wenigstens ein angemessenes Begräbnis und ein ehrendes Angedenken zu verschaffen, gibt es eine packende Dokumentation[vi]. Über Gottes Kampf dafür, die Toten von St. Helena weder im alten oder neuen Grab und auch nicht nur in der Erinnerung zu lassen, gibt es ein noch packenderes Buch: … Es heißt „Die Bibel“.
Und es entwirft für alle, die auf dieser Erde leben und sich regen, eine ganz und gar österliche Landkarte. Auf ihr sind solche Spaziergänge wie der Gang der myrrhetragenden Totensalberinnen[vii] am ersten Ostertag die wichtigsten Wege zu Gottes endgültigem Ziel.
Da aber trennen sich nun die Spaziergänge Goethes und Faustens und die der christlichen Gemeinde: Unsere Wege zielen, wenn sie endgültig den Tag und das Leben suchen, nicht Richtung Sonne, sondern vielleicht nach Verdun, wo meine Familie und ich nach Ostern vergangenes Jahr in der Frühlingspracht standen und den allgegenwärtigen Tod so stark empfanden, dass es schlagartig zu einem Weg wurde, der nur noch und unmittelbar in Gottes Richtung fortgesetzt werden konnte.
Solcherart also sind die Osterspaziergänge des Glaubens:
Die Wege nach St. Helena und Verdun; die Straßen nach Srebrenica und Butscha; die verschütteten und zerbombten Pisten nach Gaza; die Zufahrt zum Kibbuz Be’eri; die verstopften Ausfallstraßen hinunter zur blockierten ägyptischen Grenze bei Rafaḥ … und dann der größte Osterspaziergang, den einer jemals – und er war fern von Israel und Jerusalem, in der Verlassenheit der irakischen Wüste, im völligen Niemandsland – vor seinem geistigen Auge sich vollziehen sah[viii]:
Des HERRN Hand kam über mich, und er führte mich hinaus im Geist des HERRN und stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag voller Totengebeine. 2 Und er führte mich überall hindurch. Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt. 3 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: HERR, mein Gott, du weißt es. 4 Und er sprach zu mir: Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret des HERRN Wort! 5 So spricht Gott der HERR zu diesen Gebeinen: Siehe, ich will Odem in euch bringen, dass ihr wieder lebendig werdet. 6 Ich will euch Sehnen geben und lasse Fleisch über euch wachsen und überziehe euch mit Haut und will euch Odem geben, dass ihr wieder lebendig werdet; und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin. 7 Und ich weissagte, wie mir befohlen war. Und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich und die Gebeine rückten zusammen, Gebein zu Gebein. 8 Und ich sah, und siehe, es wuchsen Sehnen und Fleisch darauf und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen. 9 Und er sprach zu mir: Weissage zum Odem; weissage, du Menschenkind, und sprich zum Odem: So spricht Gott der HERR: Odem, komm herzu von den vier Winden und blase diese Getöteten an, dass sie wieder lebendig werden! 10 Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam der Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und stellten sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer. 11 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, jetzt sprechen sie: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns. 12 Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch ins Land Israels. 13 Und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraufhole. 14 Und ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen, und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin. Ich rede es und tue es auch, spricht der HERR.
Einen solchen Spaziergang nach Hause ins Leben gebe Gott aller Welt:
Vor uns allen Sein Tag und die Nacht für immer hinter uns!
Amen.
[i] Faust, Erster Teil – „Vor dem Tor“, Z. 918ff: Zitiert nach der handlichen Ausgabe: Goethe. Faust - Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust, hgg. u. kommentiert von Erich Trunz, München 1986, S. 35f.
[ii] „Die sieben Raben“ in der Sammlung der „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm.
[iii] AaO, Z. 1073f.
[iv] AaO, Z. 1086f.
[v] Augustinus, Bekenntnisse, 9.Buch 11,28: zitiert nach Augustinus, „Confessiones – Bekenntnisse. Lateinisch/deutsch“, eingel., übers. u. erl. von Joseph Bernhart, München 19804, S. 471.
[vi] „A Story of Bones“ (2021) von Joseph Curran und Dominic Aubrey de Vere (s. https://moviesthatmatter.nl/en/festival/annina-van-neel/) aber auch den Beitrag auf der Homepage des Guardian unter https://www.theguardian.com/world/2024/mar/27/scraping-away-generations-of-forgetting-my-fight-to-honour-the-africans-buried-on-st-helena.
[vii] Unter dem Ehrentitel der Μυροφόροι (Myrrhe-Trägerinnen) werden die Zeuginnen des leeren Grabes seit der Antike in der östlichen Tradition der Orthodoxie verehrt und ihr Gedächtnis wird mit einem eigenen Fest am 2. Sonntag nach Ostern begangen.
[viii] Dieser Text – Hesekiel 37, 1 -14: Eine der gewaltigsten und wirkmächtigsten Grundlagen des innerbiblisch sich entfaltenden Auferstehungsglaubens –, zu dessen Zeugnis die Predigt nur hinleiten kann, zählt zu den Marginaltexten für die Feier der Osternacht.
Karfreitag, 29.03.2024, Stadtkirche, Matthäus 27, 33 - 54, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag - 29.III.2024
Matthäus 27, 33 – 54
Liebe Gemeinde!
Dies also – Finsternis, Erdbeben, unterm Schutt zu Trümmern gewordene Gräber, wandelnde Tote, Apokalypse – … dies also ist beinah das Ende des Anfangs. Beinah der Schluss des ersten Evangeliums, … desjenigen nach Matthäus, das anhebt mit der Formel (Mtth.1,1) „Βιβλός γενέσεως Biblos Geneseos“ – Genesis-Buch, Schrift vom Werdenden.
Dies also ist aus ihm geworden: Ein durstiger Schatten … während im Anfang Sein Heiliger Geist fruchtbar über den Wassern schwebte (vgl.Gen.1,2).
Ein Qualkörper, der durch sauren Essig noch von Innen verätzt werden soll … während die Pflanzen des Ursprungs und alle Wesen, denen Er zu leben bestimmte, ihrer jeweiligen Natur nach doch „sehr gut, sehr schön“ erschaffen waren (vgl. Gen.1,12+31).
Ein letzter Verlassenheitsschrei ist geworden … aus dem Mund, der einst durch das Wort die Fülle herbeigerufen hatte (vgl. Gen.1,3ff).
Tod ist geworden. … Von einer Leiche bekennt ein römischer Vollstrecker posthum die Gottessohnschaft.
Dies also ist – so scheint’s – das Ende jenes Anfangs.
Das selbe Evangelium, dessen Lehre sich durch das wundervolle Portal der Bergpredigt (vgl. Mtth.5-7) auftut, endet mit der vollständigen Zerstörung der einladenden Architektur seiner Seligpreisungen (vgl. Mtth. 5,3ff):
„Selig sind die da Leid tragen“, denn sie schleppen’s, bis sie drunter zusammenbrechen auf ihrer via dolorosa.
„Selig sind die Sanftmütigen“, denn wenn man sie bespuckt, foltert und schindet, dann ertragen’s sie’s willig und stumm, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird (vgl. Jes.53,7).
„Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit“, denn man kann ihnen auf den unstillbar nüchternen Magen zur Gaudi und zum Brechreiz Wein und Galle einflößen.
„Selig sind die Barmherzigen“, denn als Opfer sind sie unersetzlich ideal.
„Selig sind die Friedfertigen“, denn sinnlose Gegenwehr verdirbt den Würfelspielern bloß die Pause.
„Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden“, denn bei den Schuldigen muss man legale Urteilsbegründungen formulieren, aber bei ihnen reicht’s, wenn man sie König der Narren nennt.
Der felsige Hügel Golgatha ist das Ende jenes Anfangs auf dem grünen galiläischen Bergrücken. ——
Die Wucht des vorletzten Kapitels in den Aufzeichnungen des Matthäus, die das Neue Testament eröffnen, ist von buchstäblich biblischem Ausmaß.
Wenn wir gelegentlich in unserer Gegenwart wieder erinnert werden, welche Totalauslöschungskraft an Weltzerstörung der Krieg noch am heutigen Tage entfalten könnte und welche Weltzerstörungskräfte auch in unserm einfach ungebremsten Weiter-so uns morgen oder übermorgen bevorstehen, dann ahnen wir die Dimension der Destruktion, die der Karfreitag darstellt:
Das, was die Welt ausmacht, das Geheimnis des Lebens, der Grund und die Verheißung aller Wirklichkeit werden hier wohl vernichtet. -------
… Natürlich nicht auf den ersten Blick.
Für einen neutralen Zeugen passierte dort nichts, das statistisch irgendeine Relevanz hat.
Dass ein Mensch brutal misshandelt und sadistisch zu Tod gebracht wurde, ergibt weder eine Fußnote der Weltgeschichte noch eine Kommastelle in der Datenmenge der Erdbevölkerung. Es ist historische Alltäglichkeit und durchschnittlichste Wahrscheinlichkeit, dass ein junger Mann aus der Armut eines kolonialistisch besetzten Landstrichs nicht alt und lebenssatt aushaucht, sondern früh, grausam und trotzdem schlicht als Einer unter Vielen gemeuchelt wird. Wenn überall, wo Willkürjustiz, Gruppenkonflikte oder gescheiterte Utopien wieder ein Opfer forderten, die Erde bebte, die Sonne sich versteckte, die Unterwelt in Aufruhr käme … man ist gotteslästerlicher Weise geneigt, mit Heinz Erhardt zu sagen: „Das würde spritzen!“
Schon an jenem Karfreitag, als der dreiunddreißigjährige Sohn Gottes in einer reinen Durchgangsprovinz des römischen Reiches hingerichtet wurde, belief sich sein Schicksal an Ort und Stelle ja bloß auf 33% der zur Einschüchterung und Lähmung effizienten Tagesquote der lokalen Kapitalgerichtsbarkeit. … Andere Mütter hatten an jenem Frühlingsfreitag auch gekreuzigte Söhne!
Was also soll die Aufregung? … Schluss mit dem albernen Tanzverbot aus Anlass eines solchen – wage ich es, Gott ein zweites Mal zu lästern? – „Fliegenschisses“!
So redet die Vernunft. Die informierte, neutrale, reflektierte, analytische Vernunft: Es mag schlimm gewesen sein, aber das ist es immer und überall. … Und also außer für die unmittelbar Betroffenen fast nie und nirgends. Besonders nicht bei uns, die mörderische Schlachten vor der Haustür, reale apokalyptische Szenen in jedem unserer vielen Guckkästen zur Welt vor Augen und eine völlig ignorierte Garantie des eigenen, unabwendbaren Sterbenmüssens als wirkungslose Verschlusssache im Bewusstsein haben und doch mit alledem hervorragend unbeschwert vor uns hin leben, als "wär’ die Welt voll Teufel und wollt’ uns gar verschlingen, doch fürchten wir uns nicht so sehr," denn uns kann das alles mal kreuzweise …….
… Und da habe jetzt nicht ich ein drittes Mal Gott gelästert, sondern wir alle jeden Tag und jede Stunde, die wir doch auch ohne Glauben und Gottesfurcht wissen, dass es eine goldene, den Heiden schon vertraute Regel gibt, nach der, wer nicht helfen und retten will, rettungslos und ohne Helfer bleiben wird.
Zurück aber zur Aufregung der Christenheit an diesem Tag, an dem geschehen ist, was immer schon Alltag war und bleiben wird, bis der Karfreitag endlich die gesamte Menschheit durchdrungen und verwandelt haben wird.
Zurück zur Erschütterung, die einen Matthäus ganz am Anfang gepackt, gerüttelt und gerettet haben muss, der doch das Werden der neuen Wirklichkeit des Reiches Gottes schilderte. Und der vom ersten Wort seines Werde-Buches an, seines Buchs voller Seligkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit und Lebendigmachen wusste, dass er den Rabbi und Richter, den Heiland, den Menschensohn und Messias bis dahin schreibend würde begleiten müssen, wo aus dem himmlischen Wohltäter und Lehrer der wahren Weisheit ein ohnmächtig zugerichtetes, wundgeprügeltes Stück Hilflosigkeit am Galgen werden würde.
Der gleiche Federkiel, der von der Pilgerschaft der morgenländischen Sterndeuter zum neugeborenen König der Juden schrieb (vgl. Mtth.2,) und damit den Anbruch des Reiches aus allen Völkern schilderte, … der gleiche Federkiel musste die antijudaistische Hohn- und Hetztafel nachzeichnen, die Pilatus, der Römer als finale Kränkung des von ihm gedemütigten Friedefürsten in Zion (vgl. Mtth.21,5-9) diktiert hatte.
Matthäus, der die väterliche Stimme Gottes im Lichtglanz des Heiligen Geistes ausgegossen über und strahlend aus dem Sohn bei dessen Taufe und Verklärung (vgl. Mtth.3,16f + 17,5) voll tiefster Ergriffenheit festhalten durfte, musste auch die schwarze Nacht des Endes auf den so hell begonnenen Seiten schildern.
Matthäus, der gewürdigt wurde, das für Menschen doch unaussprechliche, intime Geheimnis zwischen Jesus und Gott selbst in den Worten des Jubelrufes (Mtth.11,26f) zu bezeugen „Ja, Vater; so hat es dir wohlgefallen. Alles ist mir übergeben von meinem Vater; und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn“ … dieser Matthäus, der das Heilsgeheimnis der innersten Kommunikation der zwei Naturen so überliefern durfte, dass ihm die Hand gezittert haben muss, musste auch den Atemstillstandsschrei der Gottverlassenheit des mit Gott einigen Sohnes im Tod dem Papyrus anvertrauen.
Die Liebe, die der Himmel ist und die grauenvolle Furcht, die die Hölle ist: Matthäus kam es zu, sie beide im Bericht von einem einzigen wahren, ungeteilten Menschen fest-zuhalten!
Doch nur so wird aus dem, was bei der Todesstrafe an einem frommen, für Gott freien und befreienden Nazarener Handwerker in Judäa geschah, während der Kaiser Tiberius auf Capri seinen mehr als menschenverachtenden Lastern frönte, der Bericht vom Karfreitag:
Nur, wenn man weiß, dass dieses grauenvolle, unumkehrbar eingerichtete Verhängnis von Golgatha unter den von Matthäus beurkundeten Vorzeichen geschah.
… Der tatsächliche König Israels, der Sohn Davids, … nein, der über alles geliebte Sohn Gottes und Stellvertreter der Menschheit, in dem der Hunger, der Durst, das Elend und die Einsamkeit, die Verlassenheit und der Schmerz aller Geringen, aller Armen, aller Verachteten und Verstoßenen eine unauflösliche Einheit bilden (vgl. Mtth.25,31-46!), der ist dort umgebracht worden! …………
O Gott!
O Jesus!
O Geist des Lebens!
… Es ist also nicht nur die zum Gotterbarmen alltägliche Allerweltgeschichte von Unrecht, Leid und Tod, sondern es ist die direkte, bewusste, hilflose und darin vollständige Verwicklung des erbarmenden Gottes selbst in diese furchtbaren Verhältnisse, die Matthäus hier beschrieb, obwohl sich ihm Herz und Hirn und Hand und Feder und Tinte in ihr gesträubt haben müssen.
Doch eben weil er den Stern kannte, der mit Jesus über allen Menschen aufging (vgl. Mtth.2,2+9f), war es nötig, dass er auch die Sonnenfinsternis nicht verschwieg, die das Leiden Jesu kosmisch darstellt. Weil er wusste, wie Jesus die galiläischen Narzissen auf dem Feld in ihrer mehr als königlichen Schönheit betrachtete (vgl.Mtth.6,28f), bewegte ihn buchstäblich auch das seismische Beben, das eintrat, als der Freund der blühenden Erde an seiner eigenen Lungenflüssigkeit erstickt war und die Unterwelt keine Blüten, sondern nur noch Leichen ans Licht brachte.
Von allen diesen Furchtbarkeiten, von diesen Zeichen der zerstörten Natur, der zerrissenen Ordnungen, der Entblößung und Entweihung bis ins Heiligtum musste Matthäus Zeugnis geben, weil er nur so das abgründig schreckliche und zugleich rettende Geheimnis von Golgatha bis in die letzte Tiefe und Höhe nachbuchstabieren konnte:
Es ist das Ende schönster Hoffnung, strahlendster Wundertaten, unvergleichlich wärmender Liebe, überirdisch zündender Weisheit. Es ist das Ende. …
Aber es ist Gott, Der hier auch bis ins Letzte, an den Schluss, in den Untergang auf dem Weg der Weisheit, der Wunder, der Hoffnung, der Liebe treu bleibt!
O Gott!
Jesus!
Geist!
Dich hat man misshandelt, Dich zerbrochen, Dich zum Verlöschen gebracht: Das, was die Welt ausmacht, das Geheimnis des Lebens, den Grund und die Verheißung aller Wirklichkeit
Darum müssen solche wie Matthäus, solche Freunde Jesu - Christen nennt man sie - ……. darum müssen wir Christen also mitten in aller Betrübnis, allem Mitgefühl, aller Teilnahme am Leid unserer Geschwister auf der ganzen Welt das Karfreitagsleid so unvergleichlich empfinden und erfahren: Der Geist, der Sohn, der Schöpfer selber leidet da das ganze Leid und alles Leid ganz und zuende!
Es ist die Summe, die Totalität aller Schmerzen und Tränen, aller Krankheit, Gewalt und Menschenschuld, die sich da ballt. Es ist tatsächlich von Anfang an und bis zum Abend aller Tage der Tiefpunkt, der Untergang, das Ende allen Lebens da an diesem Kreuz zusammengefasst. Eine unvorstellbar, unergründlich, unerträglich bittere und finstere Querschnitts- und Kreuzeswirklichkeit des Fatalen.
Aber Matthäus hat es aufgeschrieben und sein Bericht steht am Beginn des Neuen Testaments als Eröffnung aller Evangelien, weil diese erdrückende Summe nicht das endgültige Fazit ist!
Der von seiner römischen Zolleinnahme-Stelle aus dem Dienst des Schinderkaisers Tiberius durch Jesus einfach weggerufene Evangelist Matthäus (vgl. Mtth.9,9) weiß zwar, wie atemberaubend groß die Summe des Leids ist, das er da in der apokalyptischen Karfreitagsszene zusammenzählt mit ihren Naturkatastrophen und dem Kollaps der Zeit … wenn der Tag kein Licht mehr kennt und die Toten keine Ruhe mehr.
Doch diese gesamte Unheilsbilanz ist tatsächlich nur der Zähler.
Der Nenner jenes unglaublichen Bruchs – jenes Welt- und Geschichtsbruchs Golgatha –, den der ehemalige Zöllner da festhält, ist ein anderer. Das gesamte Elend, die gesamte Misere aller jemals lebenden Sterblichen, aller je gestorbenen Lebendigen trägt ja ein anderer. Das Ganze liegt auf Einem, Der es wirklich, ungemindert und vollständig erleidet.
Matthäus aber schreibt das Evangelium ja nur, weil dieser Eine – der Nenner dieses Bruchs mit dem unzähligen Zähler – eben trotz der grausamen Wirklichkeit Seines Todes darin nicht zersplittert.
Der Bruch geht auf, weil Der, Der das alles auf sich nimmt, Der ist, von Dem Matthäus von Anfang erzählt hat.
Und wir haben nichts anderes umkreist als dieses unergründliche Wunder, dass man von Diesem auch solches erzählen muss.
Matthäus jedoch, der längst nicht mehr in römischem Sold steht, überlässt das allesentscheidende Wort – das endgültige Nennen des Nenners des unglaublichen Bruches – ausgerechnet einem Söldner der Weltmacht, die auf Golgatha scheitert. So großzügig ist der erste Evangelist in seinem erschütternden Buch des Werdens geworden, dass er den Mörderhauptmann aus der Garnison von Jerusalem die letzte Wahrheit feststellen lässt: Der, auf dem alles Grauen der Welt zusammenkommt, ist Gottes Sohn gewesen!
Weil aber Gott, Jesus, der Geist der Lebendigkeit da am Kreuz der Nenner unter der Summe allen Unheils, allen Leidens, allen Sterbens ist: Deshalb geht der Bruch auf!
Es ist nicht das Ende des Anfangs, sondern der Anfang des Endes!
Es ist nicht gescheitert, was der Schöpfer und Erlöser wollte, sondern es hat die Zerstörung und Vernichtung hinter sich gelassen!
Weil Er starb, aber nicht tot blieb, hebt das Evangelium des Matthäus also eigentlich wahrhaftig erst mit seinem Schlußsatz an, dem sprichwörtlichen „Matthäi am Letzten“, wo wir allerdings das allerletzte Wort anders übersetzen und verstehen müssen, als wir es gewohnt sind.
Der gekreuzigte Sohn Gottes, dessen Tod der Welt und Menschheit Leben ohne Bruch und Abbruch schenkt, spricht (Mtth.28,20): „Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt … ------ eben nicht »Ende«, sondern »Vollendung«, … bis alles geworden ist, wie es sein und bleiben soll!“
Amen.
Gründonnerstag, 28.03.2024, Stadtkirche, Johannes 13, 1 - 14. 34f, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Gründonnerstag - 28.III.2024
Johannes 13 i.A.
Liebe Gemeinde!
Die Fußwaschung verstanden als quasi-sakramentales Wellness-Rezept ist gefährlich.
Die Fußwaschung verstanden als quasi-dänische Hygge-Übung des Gastgebers, der gern Pantoffeln verteilt, damit alle es sich bequem machen können, ist gefährlich.
Die Fußwaschung verstanden als Zeichen der besonderen Gruppen-Zusammengehörigkeit im innersten Kreis der Abendmahlsfeier ist gefährlich.
… So gefährlich wie das ganze Johannes-Evangelium, wenn wir es als das Zeugnis einer besonderen, verschworenen, exklusiven Liebesgemeinschaft verstehen, die kuschelig-vertraut wie in einer freikirchlichen Gemeinde und dabei doch so ausschließlich wie der inquisitorischste Orden nur Vollmitglieder mit lupenreiner Anpassung umfasst.
Wenn die Fußwaschung und die intime Nähe, die sie schafft, bloß das Wohlbehagen, das Hausrecht und das Gruppengefühl der kleinen Jüngerschar symbolisieren, dann sollten wir sie in Zeiten der ausgebleichten und ausfransenden Kirchen nicht mehr meditieren: Zu sehr könnte uns das Wir-Bewusstsein, das Zückerchen der ethischen Sonderrolle, die elitäre Illusion des spezifisch christlichen Liebens und Geliebt-Werdens benebeln. … Zu sehr könnte uns das Gefühl, wie wohl wir’s haben und wie wichtig wir noch immer sind, betören: Wir – die Liebes-Profis Gottes; wir – die Spezialeinheit des christlichen Rettungskommandos. … Herrlich, so ein Erkennungszeichen unserer Erwähltheit; erhebend, so ein Ritus unseres höchstpersönlichen Dabeiseins. ———
Wer so naiv nur das Zeichen der Sondermoral im Dienst und Beispiel des gründonnerstäglichen Christus erkennt, ist selber schon ein nachchristlicher Zeitgenosse, der nur den kameratauglichen TikTok-Moment, nur die inszenierte Harmlosigkeit der tückischen Influencer wahrnimmt, die Opium fürs Volk und Cannabis für die Jugend vertreiben: „Wie süß! Nachmachen!“ …………. ———
Ich wünsche mir, dass wir ein für allemal aufhören, so unwürdig vordergründig von Jesus Christus und der Erlösung durch Ihn zu denken!
Wer Christus, den Erlöser kennt, muss abgründig zu denken bereit sein.
Die Fußwaschung ist schließlich das letzte Tun des Lammes Gottes, seine endgültige Aktion vor der Passion. Der Karfreitag ist ja schon angebrochen als der bald Entkleidete und Gefolterte, der bald Verstümmelte und Ermordete sich noch einmal eine – wo-möglich saubere - Schürze umbindet und mit dem Wasser in der Nacht das blutige Geschehen des bevorstehenden Tages vorwegnimmt. ——
Was er da aber tut, wenn es nicht um Höflichkeit, um Wohlbehagen oder modellhafte Veranschaulichung einer Haltung geht? …….
Ein Gründonnerstag-Albtraum hat mich in den vergangenen Tagen verfolgt.
Ein Albtraum, der der Stunde der Fußwaschung vor den Stunden von Golgatha womöglich näherkommt als die harmlosen Erklärungen sonst.
Ich sehe Jesus, wie man Jesus eben sieht. … Er ist es. … Aber ich will nicht, dass Er es ist. Ich will Ihm in den Arm fallen, … Ihn wegreißen, … Ihn bevormunden, … Ihn nach meiner Vorstellung lenken, nach meinen Maßstäben dirigieren.
Er soll da nicht hinknien und sich so unterschiedslos, … so unkritisch, … so beschämend den völlig Falschen widmen: Ausgerechnet vor den allerletzten Kandidaten für irgendeine andere Ehrbezeugung als echte, aggressive Abwehr hockt Er da und macht sich klein und unmöglich und lächerlich, nein angreifbar und womöglich zum Komplizen.
…. Kann es denn sein, dass Er diese widerlichen Typen nicht kennt, die Ihn verhöhnen und eine einzige Schande und Bloßstellung für Ihn bedeuten???
Er aber ist – weil’s sich ja wirklich um einen Albtraum handelt – für mein panisches Rufen und Eingreifen nicht zugänglich. Ich will es tatsächlich verhindern, …. vielleicht würde ich Ihn sogar schubsen, Ihm die Schüssel aus der Hand schlagen oder zwischen Ihn und diese miesen, abstoßenden Kanaillen treten, wenn ich mich irgendwie rühren, irgendwie bemerkbar machen könnte und nicht gelähmt und vollkommen stumm mit ansehen müsste, wie die feixenden Verbrecher das auch noch sichtlich selbstgefällig annehmen, was einer da in restloser Unterwürfigkeit für sie leistet.
… Kyrill, der Hundesohn von einem Patriarchen, … Trump, der abgebrühte Killer von Wahrheit und Gemeinsinn, … Netanjahu, der besinnungs- und gewissenlose Verräter an den Geiseln und Geiselnehmer einer sowieso verratenen Zivilbevölkerung.
Wieder und wieder sucht mich die Horror-Szene heim, dass Jesus ausgerechnet vor ihnen kniet und diesen eitlen, bösartigen und rachsüchtigen Exempeln der Menschengewalt als dienender und sühnender Messias unterwürfig begegnet.
Und immer wieder will ich es also verhindern, dass Er sich ihnen so ausliefert und sie so behandelt, als wären sie dieser Zuwendung, dieser unmittelbaren Menschenpflege, dieses Hautkontaktes mit Gott auch nur im Entferntesten würdig. …………..
Doch der wahre Albtraum dabei sind meine unterschwelligen, aber kräftig brodelnden Missverständnisse, … meine ganze natürliche Auflehnung gegen das Evangelium von Jesus Christus, dem Sklaven, den Gott in den Einsatz für die ganze Welt geschickt hat.
Wenn ich nicht ertrage, dass Jesus sich hingibt an die Verkehrten, wer sind denn dann nach meiner Vorstellung die Richtigen, … die Rechten, … die Berechtigten?
Wenn ich die unbestreitbar niederträchtigen und unmoralischen Gestalten, die ich in meinem Fußwaschungsspuk vor Augen habe, zwanghaft ausschließen muss vom Liebesdienst und von der Lebensrettung, die Jesus bringt: Welche unbewussten Vorstellungen habe ich dann wohl von denen, die es verdienten, dass Er ihnen Gutes tut und Seine Gnade zukommen läßt?
… Muss man doch besonders sein, um von Jesus die Möglichkeit der Vergebung, der Freiheit und des Lebens zu erlangen?
Ist Er nur den strebend sich Bemühenden, den Gutgesinnten, den Gerechtigkeitssuchenden, denen, die auf der politisch korrekten Seite stehen, gesandt? Ist Jesu ausgegossenes Leben in einen Kanal gelenkt, der nur bestimmten Menschen zufließt? Dürfen an Seinem Brunnen nur die trinken, deren Wohlverhalten ihnen ein Vorrecht unter den Durstigen einräumt? Werden in Seinem Blut, in Seiner Taufe nur milde Fehler und leichte Sünden ausgelöscht? Lebte und starb Er nur für geeignete Kandidaten? ——
Das sind die Fragen, die das sich festsetzende Bild von Jesus zu Füßen der Antipathie-Träger, zu Füßen der Halunken auslöst.
Es sind rhetorische Fragen.
Natürlich sind sie alle mit „Nein“ zu beantworten.
Der Sich in den Staub und Dreck, in die Hässlichkeit und Gemeinheit der Menschen erniedrigte, Der ist nicht als Belohnung für die Braven, sondern als Erneuerer der Verdorbenen und als Aufweicher alles in unveränderlicher Härte Erstarrten und Zementierten gekommen!
Was Er abwäscht, was Er reinigt, was Er verwandelt und neu macht, das sind nicht nur die Schönheitsfehler und Abnutzungsspuren des menschlichen Lebens, sondern es sind die Verkrustungen und Versteinerungen, die lebende Menschen zu Zombies, zu wandelnden Wiedergängern der Menschlichkeit und zu atmenden Trägen der lähmenden Wirklichkeit der Sünde und des Todes machen.
Jesus wäscht diese völlig beherrschende Schicht, die uns auf Schritt und Tritt einhüllt, die sich in alle Poren setzt und jede unserer Bewegung begleitet, von uns ab.
Nicht von denen, die nicht betroffen sind, sondern von den Befallenen.
Indem Er sich bei keinem von ihnen zu schade ist, bei keinem zurückhält, bei niemandem eine Ausnahme macht.
Er erniedrigt sich vor seinen sämtlichen Jüngern und allen anderen, die jetzt nicht verstehen oder missverstehen, was Er tut.
Er erniedrigt sich vor Petrus, dem Hektiker und Wackelkandidaten und wäscht dessen Füße, obwohl Er genau weiß, wie bald dem Petrus diese Beine schlottern, diese Knie zittern werden und seine Zunge - das einzig noch flott beweglich Organ - lügen wird, nur um diese wenige Stunden zuvor von Jesus gewaschenen Füße zu retten, die ihn angeblich nie zum Mitläufer des Nazareners gemacht hatten.
… Jesus wäscht auch die Füße des ihn verzweifelt beschleunigenden Judas, der seinem Meister durch Verrat Beine auf der Bahn zum Sieg machen wollte. … Auch diese Füße wäscht Jesus, die als Erste keinen Boden mehr unter sich haben werden, wenn sie zuckend und haltlos unter dem sich selber Erhängenden den grauenvollen Tanz des Todes aufführen.
… Auch Judas also starb mit gewaschenen Füßen. ———
Ihnen allen … und allen anderen Menschen wäscht Jesus die Erde, den Staub und die Asche, von der sie genommen sind und zu denen sie alle wieder werden müssen, ab. Vor ihnen allen erniedrigt Er sich selbstlos und freiwillig bis ins Letzte.
Bei keinem macht Er eine Ausnahme: Nicht beim Idioten, nicht beim Feigling, nicht beim Ideologen mit unschuldigem Blut an den Händen.
Jesus wäscht das alles bei Allen fort. Das ist Seine Ganzhingabe, Sein Opfer an völliger, rückhaltloser Gnade, für die, die sonst von Fuß bis Kopf, vom ersten Schritt bis zum letzten Atemzug irgendwann ersticken würden an dem, was wir Menschen unfreiwillig, aber ebenso unaufhaltsam an Bösem, an Schlechtem, an Unheil aufwirbeln in unserm Leben. … Das ist Seine reine und in ihrer Reinheit reinigende Liebe.
Es gibt nur eine Einschränkung dabei: Sie wird frei hingegeben. Und kann darum auch nur frei angenommen werden.
Niemand muss sich Jesu Liebe schenken lassen.
Wir können uns wieder mit Asche, Staub und Erde bedecken, beschweren, beschäftigen und ausfüllen lassen, wenn wir wollen.
Wir müssen nicht so leben und sterben und leben, wie Jesus es uns eröffnet.
Es geht auch anders. Denn auch wenn alle durch Ihn gewaschen, d.h. in die Freiheit von Sünde und Tod gesetzt sind, sind doch nicht alle rein: Jesus weiß und sagt es selbst.
Die aber, die von ihm gewaschen und rein sind, das sind diejenigen, die „Teil an ihm haben“. …
Dieser Begriff, dessen unergründliche Bedeutung uns zurecht vermutlich überfordert, findet sich ganz unauffällig in Jesu Erklärung für den begriffsstutzigen Petrus: „Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil an mir.“
Noch einmal langsam und positiv: „Wenn ich dich wasche – und du nimmst diese Gabe, diese Taufe, dieses, Mein für dich hingegebene Leben, Mein Opfer an –, … dann werden wir verbunden. Du bist dann beteiligt an Mir und Ich an dir.“
Beteiligt sein an Jesus; Beteiligung an Seinem Leben, Seiner Liebe, Seinem Geben und Seiner Hingabe … das ist der Gegenbegriff zur freien Ablehnung der Fußwaschung, zur Rückkehr zum Suhlen im Schlamm der alten Wege.
Diese Jesusbeteiligung, diese Jesus-Anteile unserer eigenen Wirklichkeit und Wirksamkeit werden nun aber in der Feier des Abendmahls besiegelt: Wenn wir das dabei nämlich freiwillig und aus Überzeugung tun – Jesus wirklich und wirksam in uns aufzunehmen! –, dann gehen wir andere Wege und leben ein anderes Leben als ohne Ihn.
Was Er uns gegeben hat in Seiner totalen Hingabe bei der Fußwaschung und in der Einladung, diese menschliche Hingabe im Brot und Wein immer wieder bewusst zu empfangen und sie zu einem organischen Teil unserer selbst werden zu lassen, das wird und das muss uns verändern!
… Auf Dauer können wir nicht harmlos oder oberflächlich als Christen, die Christus-Teile sind, leben. Auf Dauer können wir nicht nur unser Wohlbehagen oder bloß nette, typisch christliche Eigenschaften in dem erblicken wollen, was der kniende Gott, was der dienende Gott, was der demütig liebende und Leben rettende Gott da tut.
Es ist mehr: Es ist das Beispiel – und „Beispiel“ bedeutet biblisch hier nicht einfach Anregung, sondern den Bauplan und das unumstößliche Vorbild[i] – einer radikal anderen, einer völlig neuen, einer durch die göttliche Bereitschaft zum Sterben erst lebensfähig werdenden Weltordnung der Liebe! ——
Albträume wie meiner von Jesu unterschiedsloser Erniedrigung und Zuwendung zu den vermeintlich Verkehrten müssen sich da irgendwann auflösen wie die Nebel der Nacht.
Wenn wir dem Beispiel Seiner Liebe entsprechen, wenn wir Teil an Ihm haben, dann werden sich unsere Instinkte und Vorurteile, aber auch unsere Vernunft und deren Maßstäbe von Seiner völligen, von Seiner reinen Liebe aufweichen lassen.
Denn gerade in Zeiten des Hasses ist das das einzigartige Geschenk Jesu Christi an die ganze Welt: Dass in Ihm und durch Ihn in den Seinen keine Einschränkungen gelten. Ein exklusives Verständnis der Liebe als einer Gruppenhaltung, einer auf die eigene Art oder Geschwisterschaft oder Gemeinschaft bezogenen Vorzugsbehandlung muss uns vergehen.
Und am Vorabend der morgigen Sonnenfinsternis in Seiner Todesstunde müssen wir von unserem Gott im Dreck, von unserem Gott, Der Seine Liebe allen zu Füßen legt, das Sonnengleichnis lernen, das Er selber uns aufgegeben hat (Matth.5,44f): „Liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute.“
Das ist das Beispiel, zu dem uns das Abendmahl zurüstet, in dem wir Teil an Jesus er-halten. … An Ihm, Dem der Vater alles in die Hände gegeben hat.
Möge diese Mahlfeier, dieser Gründonnerstag, möge der morgige Karfreitag und das Wunder des kommenden dritten Tages uns schenken, was der Herrnhuter Brüdergemeine einst ebenfalls durch eine Abendmahlsfeier geschah: „Wir lernten lieben“, heißt es in ihren Aufzeichnungen vor 297 Jahren[ii].
Wir, die Christenheit in der gespaltenen Welt von heute, müssen das auch.
Universal.
Jetzt.
Durch Ihn.
Amen.
[i] Vgl. die hervorragende, bündige Übersicht über die innerbiblischen Rückbezüge des für Johannes einmaligen „Beispiel“-Begriffes bei: Hans Rapp, Das Sakrament der Demut, zugänglich unter https://www.bibelwerk.ch/d/m68985
[ii] Von der am 10. und dann wieder besonders am 13. August 1727 spürbaren Geistbewegung und Erweckung in Herrnhut zeugen die Losungen an jedem 13.August bis heute. Eine Beschreibung der Ereignisse findet sich z.B. bei Erich Beyreuther, Zinzendorf und die sich allhier beisammen finden, Marburg an der Lahn, 1959, S.202ff. Der Eintrag in den Annalen blickt auf die Nachwirkung der denkwürdigen Abendmahlsfeier vom 13.August mit den Worten: „Wir brachten hierauf diesen und die folgenden Tage in einer stillen und freudigen Fassung zu und lernten lieben“ (aaO, S.204).Nichts anderes kann das Programm der christlichen Kirche heute, in der Zeit des Hasses sein,
Judika, 17.03.2024, Stadtkirche, 2. Mose 34, 4-6 u. Mark.10,35-45, Dr. Uwe Vetter
Kaiserswerth Stadtkirche
2.Mose 34, 4-6 und Markus 10, 35-45
Passionszeit.
“The Big Five”
____________________________________
AT-Lesung (Predigttext) Exodus 34: 4-6
Nachdem Mose die beiden Steintafeln mit den zehn Geboten zerbrochen hatte, im Zorn über seine Landsleute, die einen Tanz uns Goldene Kalb aufgeführt hatten, besänftigte der HERR seinen Knecht (Ex34,1). Und Mose hämmerte (noch einmal) zwei steinerne Tafeln zurecht, (so) wie die ersten waren,
und stand am Morgen früh auf und stieg auf den Berg Sinai, wie ihm der HERR geboten hatte,
und nahm die zwei steinernen Tafeln in seine Hand.
(5) Da kam der HERR hernieder in einer Wolke,
und Mose trat daselbst zu Ihm und rief den Namen des HERRN an.
(6) Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber,
und Mose rief: „HERR (JHWH), HERR (JHWH), Gott (Elohím) – was bist du
barmherzig, und
gönnend, und
zögernd-im-Zorn, und
sehr großzügig, und
treu !“
(1) Judica me, beurteile mich, richte mich, Gott! Das ist der Psalmvers, der unserm Sonntag heute den Namen gibt. Gib mir ein ehrliches Feedback, mein Gott, das mich aufrichtet. Mach richtig, was schiefläuft. Darum geht es in der ganzen Passionszeit: Wir suchen jetzt mit Leidenschaft, nach dem, was Not und Leiden schafft. Und damit das nicht runterzieht, sondern bessern hilft, tun wir Christen das mit Gottes Hilfe.
Unsere Bibelszene heute ist eine große Hilfe. Uns wird erzählt, wie sich die Jünger Jesu in die Haare kriegen über die Frage, wer der Größte ist im Team, und wie unser Herr interveniert, modellhaft. Geben Sie gut Acht.
Markus 10, 35-45
Da machten sich Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, an Jesus heran und sprachen: „Meister, wir wollen, dass du uns eine Bitte erfüllst“. (36) Er sprach zu ihnen: „Was wollt ihr, dass ich euch tue?“ (37) Sie sprachen: „Gib, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken, in deiner Herrlichkeit.“ …
(41) Als die anderen aus dem Zwölferkreis das hörten, wurden sie wütend über Jakobus und Johannes. (42) Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: „Ihr wisst doch, wie die weltlichen Fürsten ihre Völker unterdrücken, wie die Mächtigen ihnen Gewalt antun. (43) So soll es unter euch nicht sein! Sondern: Wer ´groß` sein will unter euch, der sei euer Diener; (44) Und wer unter euch der Erste sein will, der sei der Knecht aller.“
(2) Was haben die Jünger sich aufgeregt! Hinter unserm Rücken bei Jesus um die besten Plätze im Himmel schachern - un-ver-schämt! haben sie geschäumt. – Man kann´s ihnen nicht verdenken: Jakobus und Johannes wirken ein wenig wie deutsche (Klischee)Urlauber, die frühmorgens die Liegen am Hotelstrand mit Handtüchern reservieren und dann erstmal gemütlich frühstücken. Zur Rechten und zur Linken Jesu, das sind die Ehrenplätze, mehr noch, da sitzen die engsten Berater, auf die der Chef hört. Die andren Jünger sind außer sich.
Die Frage ist: Warum eigentlich? Wollten sie etwa selber gerade … und sind einfach zu spät gekommen? Hielten sie die beiden Zebedäussöhne für zweite Wahl, im Unterschied zu sich selbst? - Ich las neulich, dass 80% aller Deutschen unter dem above-average-syndrom litten. Das above-average-syndrom meint das Gefühl, selbst doch etwas besser als der Durchschnitt zu sein. Jürgen Becker, Kabarettist, meint, dies sei das Kennzeichnen des Rheinländers. Sei´s wie es sei, die Frage ´Wer ist der Größte` begleitet uns ständig: Wer ist der Größte, der Erste, der Beste?
° Wer wird befördert (und wer nicht)?
° Wer legt in Umfragen zu?
° Wer hat die meisten ´likes`, die meisten followers im sozialen Netzwerk?
° Wer wird Weltmeister?
° Wer ist die Beste des Abiturjahrgangs und hat bei der Jobsuche die Nase vorn?
° Wer hat das Sagen, wer darf sich was erlauben, wer nimmt sich was heraus, wer weiß sich am besten zu verkaufen, … wer ist der/die Größte? …
(4) Unter den Jüngern Jesu gärte es, schon seit Längerem (Markus9,34). Als Jakobus und Johannes sich an Jesus ranmachen, liegen die Nerven blank. Wer ist der Größte? Entscheide das jetzt!
Interessanterweise wischt Jesus die Frage nicht beiseite. Er macht auch nicht auf egalitär: ´Meine Lieben, alle sind groß, irgendwie. Wir wollen doch niemanden ausgrenzen! Und auch nicht traumatisieren! Therapieplätze sind rar`… nein, das sagt er nicht.
Im Ernst, ich kenne kein Verbot des Herrn, das Wettbewerb verbietet. In der Bibel gibt es sie, die Bewährten (Zaddiqim) und die Vorbilder. Wer jedem und jeder in der Schulklasse eine Ehrenurkunde verleiht, auch den notorischen Turnbeutelvergessern und den wasserscheuen Nichtschwimmern, kann man sich nicht auf Jesus Christus berufen. In der Bibel heißt es: Ehre wem Ehre gebührt (Römer 13,7).
(5) Doch als Jesus interveniert, gibt er der Frage: ´Wer ist der Erste`, eine bedeutsame Wendung: Was heißt eigentlich „groß sein“, „der Größte sein“? Wenn wir uns die Großen der Welt ansehen, dann ist doch klar, was deren Maßstäbe sind: Die Fürsten der Welt halten sich mit Skrupellosigkeit an der Macht, seht doch, wie sie ihre Völker unterdrücken!` sagt Jesus. Was den Mächtigen Macht verleiht, ist die Angst, die sie verbreiten. Was entscheidet darüber, wer der Größte ist?
(6) Die Idee mit der Pistole entschied das Rennen, las ich vor Jahren in der Zeitung[1]. Der Artikel handelte vom Siegeslauf der Assessment-Center. Dreiviertel aller größeren Firmen schalten Assessment-Center ein, um für gehobene Jobs die besten Bewerber aus der Menge herauszufiltern. Wer ist der Beste, die Vielversprechendste, der Größte unter den KandidatInnen? Neben Zeugnissen, Präsentationen und Auswahlgesprächen gehören auch Rollenspiele zur Prüfung. Und dieses Rollenspiel ging so: Eine Gruppe mit sechs KandidatInnen bekommt eine Aufgabe. ´Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einer Höhle eingeschlossen, Wasser dringt ein, nur einer kann gerettet werden. Klären Sie in 30 Minuten untereinander, wer von Ihnen überleben soll`. Die Gruppe diskutiert ´weiche` Kriterien – also wer hat Familie, oder wer ist die Jüngste und hätte noch die längste Lebenserwartung? Da zieht der spätere Gewinner des Tests eine imaginäre Pistole und erzwingt sich mit vorgehaltener Waffe den Weg zur Rettungskapsel. Im Artikel heißt es: „Solche Tatkraft überzeugte den Arbeitgeber“. Der junge Mann war der Größte und bekam die Stelle.
(7) Das ist nicht fair! werden Branchenkenner sagen. Solche primitiven Tests sind die Ausnahme. Es gibt auch seriöse Verfahren. - Die gibt es wirklich. In vielen Assessments wird mit wissenschaftlicher Sorgfalt und gut durch-dachter Eignungsdiagnostig nach den Größten unter den BewerberInner gesucht. Da wird alles versucht, auch den stilleren Kandidaten die Chance geben, ihre Stärken zu zeigen.
Obwohl kein Job wie der andre ist, obwohl jede Stelle spezifische Anforderung stellt, haben sich dabei doch fünf Persönlichkeitsmerkmale herauskristallisiert, fünf Merkmale, die einer haben soll, wenn er/sie vorn dabei sein will. Die „Big Five“ werden sie genannt, die großen Fünf : Es braucht
emotionale Stabilität (kein Weichei, nicht hysterisch, kann was ab),
Offenheit (sagt was er denkt, man weiß wo man mit ihm dran ist),
Gewissenhaftigkeit (arbeitet, bis ein Job erledigt ist, ist privat flexibel),
soziale Verträglichkeit (ein Team Player, keine Primadonna; achtet auf Körperhygiene), und
„Extraversion“ (kein brummliger Eigenbrödler, geht aus sich heraus, hat etwas Gewinnendes).
Das sind die „Big Five“. Das ist das Holz, aus dem die Größten geschnitzt sind.
(8) An und für sich ist gegen die Big Five nichts einzuwenden. Nützliche Eigenschaften sind es, die helfen, eine Abteilung zu leiten, Personal zu führen, koordiniert zu arbeiten. – Die feine Grenze aber verläuft dort, wo sich Sekundärtugenden an die Stelle von Primärtugenden schieben. Wenn nützlich gleich groß bedeutet. Wenn also das, was Menschen für das Unternehmen verwendungsfähig und im Marktgeschehen profitabel macht, gleichgesetzt wird mit dem, was Größe ausmacht.
(9) Wenn das geschieht, dann setzt das große Artensterben ein. Das Sterben der Originale. Das Sterben der Einzigartigkeit. Und vor allem das Sterben der traditionellen BigFives unserer westlichen Zivilisation. Fragte man die antiken Philosophen: Was macht die Größe eines Menschen aus? dann sagten °die Griechen: >kalós k´agathós<, das Schöne und das Gute erhebt den Menschen. °Immanuel Kant lehrte: Wenn du groß sein willst, dann handle so, dass dein Tun zum Gesetz für alle Menschen werden könnte[2]. Meine Großmutter hatte immer zwei °Goethe-Sprüche parat: >Tue Recht und scheue niemanden; edel sei der Mensch, hilfreich und gut<. Das ist Maßstab für Größe, das sorgt für Persönlichkeitsentwicklung. – Und es gibt längst Assessment-Vertreter, die das selber so sehen! „Im Assessment-Center wird zuwenig auf Werte geachtet,“ meinte einer nachdenklich (Christoph Obermann, SZ). „Wofür steht jemand? Wie reagiert er in korrumpierenden Situationen?“ In unseren Verfahren „werden narzisstische Persönlichkeiten ausgesucht,“ fügt ein andrer (Heinz Schuler, SZ) hinzu, „Menschen mit hohem Selbstvertrauen, die andere für sich einnehmen …und eine hohe Risikobereitschaft haben, die weit über ihre eigenen Fähigkeiten …hinausreicht“. Wenn man das Nützliche unbesehen mit einem Wert gleich setzt, und das immer wieder hört und nachspricht, dann fängt man an, daran zu glauben[3]. „Auf die Dauer nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an“, beobachtete der römische Philosoph und Staatsmann Marc Aurel. „Auf die Dauer nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an“.
(10) Wer ist der Größte? – In den Kirchen glauben wir: Der Größte ist keiner von uns. Der Größte ist Gott, der Vater Jesu Christi. Der setzt Maßstäbe. Der definiert Werte. Und weil nur Er Gott ist, dürfen wir andren alle Menschen sein, das entlastet. Liefert Gott aber die Messlatte, dann lohnt es sich, immer mal wieder an die BIG FIVE Gottes zu erinnern. Denn dieser Gott hat Seine eigenen BIG FIVE. Erinnern Sie sich (an die Schriftlesung Ex 34)?
Der HERR ging vor Moses Angesicht vorüber, und Mose rief aus: „HERR (JHWH), HERR (JHWH), Gott (Elohím) – was bist du barmherzig und gönnend und zögernd-im-Zorn, und sehr großzügig und treu!“ Das sind die Persönlichkeitsmerkmale Gottes. Mit diesen BIG FIVE hat der HERR das größte und weiter expandierende Unternehmen gegründet, das Universum. Mit diesen BIG FIVE führt ER den Personalpool der Menschheit. Mit ihnen gibt ER bench marks vor, an denen wir uns aufrichten und messen und auf die wir uns besinnen. Die BIG FIVE Gottes sollte der Mensch im Kopf haben, als Tönung der Gedanken. Denn auf die Dauer nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an.
(11) Nur der Vollständigkeit halber noch eins: Wir sollten das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Wir sollten die BIG FIVE Gottes nicht gegen die kleinen BigFive ausspielen: unsere guten Gaben, unsern Schneid und Einfallsreichtum, unsern Humor und unsere Selbstironie, unsere Ehrlichkeit und unser tägliches heimliches Heldentum – wenn die sich nicht aufblasen, sondern Gott helfen, die Welt zu einem guten Ort zu machen, dann sind sie aller Diener.
Amen.
Fürbittengebet
Gott des Himmels und der Erde, Erfinder des Lebens, Richte uns aus und richte uns auf, an diesem Sonntag!
Wir bitten Dich für alle, die all die Sorgen der Welt, die deprimierenden Nachrichten für eine Weile vergessen möchten. Lass uns das Geschirr ablegen und den Sattel abwerfen. Lass uns so sein, wie wir auch sind: müde und unüberlegt, heiter und unvorsichtig. HERR, segne uns mit Deinem Geschenk dieses Sonntags.
Wir bitten Dich für alle, „stillen Wasser“, die sich nicht gut vermarkten können, Für alle, die nicht zu den Forschen gehören, die von andren oft einfach eingeplant werden und mit denen ungefragt gerechnet wird, die sich im Schatten wohler fühlen als im Licht – HERR, lass wenigstens Du Dein Angesicht über sie leuchten.
Und wir bitten Dich für alle, die sich präsentieren sollen, die sich bewerben und anbieten und sich abschätzen lassen – HERR, lass sie auf Menschen treffen, die sich selbst nicht für die Größten halten, die Achtung und Vorsicht walten lassen. HERR, färbe ihre Gedanken.
Und wir bitten Dich für alle, die irgendwie „unpassend“ wirken: für die Originale und die Vierschrötigen, für die heimlichen Genies und die gedankenvollen Schweiger, in die man nicht hineinschaut – HERR, schenke uns eine Prise von Deiner Lust an allem, was kreucht und fleucht.
Amén.
[1] Süddeutsche, 3.Februar 2010, „Schwätzer bevorzugt. Viele Firmen wählen Mitarbeiter im Assessment-Center aus – doch das befördert vor allem Selbstdarsteller“. Von Nicola Holzapfel
[2] Frei nach dem traditionellen rabbinischen Lehrsatz Jesu Christi : „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch. Das ist die (Summe der) Thora und der Propheten“ (Bergpredigt MatthEvg 7:12)
[3] Das Buch von Jack Welch, dem legendären C.E.O der Weltfirma General Electric, (Titel „Winning“) ist ein Musterbeispiel dafür, das Marktphilosophie zur Religion werden kann.
Laetare, 10.03.2024 - Einführung der neuen Presbyterinnen und Presbyter, Stadtkirche, Lukas 22, 54 - 62,Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Lætare –10.III.2024
Lukas 22, 54 - 62
Liebe Gemeinde!
… Das tut mir echt leid! Ausgerechnet heute, beim Dank für und beim Eintritt in den Dienst der Presbyterin und des Presbyters … ausgerechnet heute also mit diesem Archetypen, diesem Alpha-Modell aller Presbyter konfrontiert zu werden, ist - vorsichtig formuliert – tatsächlich was für den Sportsgeist. …
Nicht bloß, weil selbst wir Evangelischen Petrus beinah unwillkürlich als Premieren-Papst einsortieren, während er selbst sich in seinem Brief an alle Ältesten, alle Gemeindeleiter wendet und dabei ausdrücklich ihren „Mitpresbyter“ nennt (vgl.1.Petrus 5,1), … nicht bloß wegen dieser Petrus-Kollegialität ist die Last und Kragenweite eines mit dem Ur-Apostel geteilten Amtes ziemlich groß.
Allerdings: Mitpresbyterinnen und -presbyter des Papstes Numero Uno zu sein, heißt inzwischen ja wohl v.a. einen ziemlich heißen Stuhl innezuhaben, an dem viel Dreck klebt und auf den viel aggressiv antireligiöser Schmutz geworfen, ja gekübelt wird. Die in Verschiss geratene christliche Gemeinde in nachchristlicher Zeit zu leiten, ist eher nichts für Feiglinge oder Sonnenbank-Naturen, die es gern warm und ansehnlich mögen. Mitpresbyterinnen und Mitpresbyter in der Gemeinschaft zu sein, die seit zweitausend Jahren den Namen Jesu und das Kreuz Jesu und das Leben Jesu in Ewigkeit hochhalten, mit Herz und Mund und Tat und Leben bezeugen und von ganzer Seele und mit allen Kräften zu Ehren und Verehrung bringen will, … das ist kein Pappenstiel und Kinderspiel. Sondern großer, verantwortungsvoller, befreiender und todüberwindender Ernst.
… „Salute!“ dazu, wie man anerkennend und aufmunternd an dem Ort sagen würde, an dem der Mitpresbyter aller Gemeindeleitungen sein Leben einsetzte und verlor … und durch seinen auferweckten Herrn wiedergewann. „Salute!“ ——
Aber mit den ehrwürdigen Fußtapfen und der spürbaren Verantwortung ist es ja nicht getan, wenn wir heute mit einer Mischung aus Respekt und Besorgnis auf die gucken, die unter dem neutestamentlichen Titel „Presbyter“ der Gemeinde den Dienst ihrer Zeit, ihrer Weisheit, ihrer Fürsorge, ihrer Gaben, ihres Glaubens, ihrer Inspiration zur Verfügung stellen.
Das, was einem wirklich Muffensausen machen kann, ist nicht die hierarchische Stellung des Fischers aus Kapernaum, der alle gleich zu Verabschiedenden und Einzuführenden - kumpelhaft wie er war - „Mitpresbyter“ heißt. Gegen Vorrang und Würde irgendwelcher Autoritäten sind evangelische Christen (inzwischen) weitgehend gleichgültig, … und rheinische nun gar sind dagegen beinah immun: Ein gutes Dutzend Leute im Rat und geschäftsführende Komitees halten sie für das Organigramm des Karneval.
Aber was niemanden kalt lassen kann, ist nicht das Privileg des Petrus, sondern seine Pleite.
Petrus, der Pionier christlicher Jüngerschaft ist zugleich der Prototyp des Flops in der Nachfolge.
Er schlich hinter seinem Herrn und Freund am Anfang von dessen Ende zwar her und er hätte erleben dürfen, wie dieser sein Heiland, ja, wie Gott selber alles annahm, alles ertrug, alles bis in den Tod aushielt um der Menschheit willen, … aber ehe es so weit war, folgte bei Petrus schon nichts mehr. Sein Puls und seine Panik waren stärker als Treue und Vertrauen: Er kam ins Stottern, der lebenserhaltende Instinkt der Lüge siegte über die Wahrheit und er versagte. … Sprach und versagte!
Und das ist der Gipfel seines Elends! Nicht mal schweigend, sondern redend – in galiläischer Mundart, in Jesu Dialekt also, dem Herrn im Tonfall zum Verwechseln ähnlich! – hat Petrus die Sache Jesu torpediert.
„Si tacuisses“, sagt bei so was der Lateiner: Wenn Du immerhin die Schnauze gehalten hättest, wäre Deine Bindung an Deinen Berufer und Erlöser vielleicht ge-rade noch so gerade geblieben ……. trotz Deiner vollen Hosen! Aber weil Du selbst im Scheitern labern musstest, ging und wurde alles schief, Du Großmaul des Kleinglaubens.
Weil Du die Luft nicht ein Mal anhalten konntest, sondern Dein eigenes vermeintliches Nicht-Sein rausposaunen musstest, wirst Du als Verleugner Deiner Wahrheit und darin als der Verleugner des Weges und der Wahrheit und des Lebens für alle (vgl.Joh.14,6!) während der gesamten Geschichte der Kirche in Erinnerung bleiben.
Petrus, vorlaut, forsch und vordergründig bis zum Schwachsinn kann die Zunge nicht im Zaum halten.
Statt eine anklagende Anfrage einfach stehen zu lassen – eine Anfrage, auf die wir noch zu sprechen kommen müssen, weil sie auch uns fordert –, hat er den theologisch nihilistischsten Satz gesagt (wenn Nihilismus denn steigerungsfähig sein sollte), den es geben kann. Bedenken wir: Gott heißt „ICH BIN“ (2.Mose3, 14); und Petrus kontert, als er nach Gott und ihm gefragt wird, wie aus der Pistole geschossen: „Ich bin’s nicht!“ ——
… Nein, Du bist nichts, Petrus! … Nichts bist Du ohne Gott! ———
Das aber, was uns hier begegnet im fernen Flackerlicht des Bühnenrands der Nacht des Leidens Jesu, … das ist nun nicht nur das Drama oder die Tragik derer, die Petrus später als seine Mitpresbyter bezeichnen wird, sondern das ist die Sein-oder-Nicht-Sein-Frage der gesamten Christenheit, … aller, die nach Petrus das Bekenntnis ablegen: „Jesus, Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Matth.16,16).
Ist das ein Wort, zu dem wir stehen?
Oder stößt man auch bei uns ins Nichts, stößt man auf unser Nichts-Sein, wenn man uns danach fragt? …….
Luft-Anhalten.
… Lieber Schweigen, als jetzt Unsinn quasseln.
… Möglicherweise ja auch ganz ehrlich schweigen.
Ehe wir ein geheucheltes Bekenntnis nachsprechen, ist das Offen-Gelassene immerhin ein Raum, in den wir hineinwachsen können, … in dem andere sich und ihren fragenden Glauben entfalten könnten, … ein Raum, in dem sich mein und Dein Glauben begegnen können als jene Art von Glauben, die Unglaube ist, dem geholfen werden muss, ……. weil ihm geholfen werden kann (vgl.Mk.9.24!), wenn der glaubensunfähige Glaube sich einzeln oder besser noch gemeinsam an Jesus wendet und an Jesus hält.
Von Petrus’ bitterer Bauchlandung zu lernen, sich zu ihm, unserm Mitpresbyter, unserm Mitchristen in seiner Schande zu stellen, bedeutet, den Wert des Aushaltens und Ausharrens in den Jesus-Verlegenheiten, in der christlichen Überforderung, in den Rätseln des eigenen Glaubens zu erfahren.
Wenn wir nach Jesus gefragt werden, ist nicht unser Selbsterhaltungstrieb gefragt, der uns zur Lüge reißt.
Wo Jesus fraglich ist und folglich wir es sind, da ist nicht die spontane Antwort die beste: Die dient fast immer entweder unserer Selbstbehauptung, unserer Selbstverteidigung oder unserer Selbstdarstellung … da, wo wir als Follower Jesu auf mehr „Likes“, auf Zuspruch und auf Beifall rechnen können.
Wenn wir nach Jesus gefragt werden – und wir können in einer so ahnungslosen, Gottes-vergessenen, Religions-müden, Kirchen-skeptischen Zeit nur hoffen und beten, dass wir nach Jesus gefragt werden!!! – , … noch einmal also: Wenn wir nach Jesus gefragt werden, dann soll nicht der Reflex, sondern die Reflektion antworten!
Nicht die instinktive Witterung, was jetzt wohl passt und nützt, soll uns dann leiten, sondern die pietätvolle und empathische Erinnerung an den Ersten in unserer Reihe:
Er hatte sich schon verrannt in seinem kämpferisch-großkotzigen Eifer, mit Jesus - wenn er gleich sterben müsste - ins Gefängnis und in den Tod zu gehen (vgl.Mk.14,31 / Lk.22,33), … und genauso verrannte er sich in seiner kreatürlichen Angst, die einfach nur den eigenen galiläischen Dickschädel aus der sich zusammenziehenden Karfreitags-Schlinge retten wollte.
Wer aber nun wie wir in der Nachfolge dieses Bekenners und dieses Verleugners Petrus steht, der soll von Jesus und zu Jesus nichts sagen, das mit „Ich bin“ anfängt – z.B. „Ich bin mir völlig bombensicher“, denn auch Paulus sagt da, wo wir ihn immer mit „Ich bin gewiss“ zitieren (vgl. Rö.8,38), wörtlich: „Ich wurde überzeugt; ich wurde gewiss gemacht“. Wir sollen die Jesus-Frage also nicht mit markigen „Ich bin“-Sätzen beantworten, und umgekehrt erst Recht natürlich auf keinen Fall mit teigig-wabbeligen „Ich bin’s nicht“-Sätzen, in denen wir uns selber auflösen wie das Häufchen Elend, das ein begeistert streunender und Menschen suchender Fischer war und ein Presbyter und Papst erst noch werden sollte.
Wir Christenmenschen sollen die Frage nach Jesus nicht mit irgendwelchen großspurigen oder kleinlauten Privatsätzen, sondern mit reinen, einfachen Jesus-Sätzen oder mit Sätzen für alle Menschen beantworten!
Das sollte der Maßstab unseres Zeugnisses als Gemeinde und unseres Dienstes in ihr sein: Es geht um Jesus und die Menschen.
Er muss wachsen (Joh.3,30) – so haben’s uns schon die Fliedners mitgegeben – und alle Völker, alle Zeiten, alle Welt soll zu Ihm kommen und in Seinem Namen das Heil finden (vgl. Apg.4,12).
Das ist alles, was zählt.
… Und also sind da wir und unsere Privatmeinung, … wir und unser einzelner Dienst, … wir und unsere Gewohnheit – und das heißt auch: Wir und unsere Gemeindegewohnheit! – nicht das Wesentliche!
Hätte Petrus doch nur einen Satz mit „Du“ gewagt, als ihn die neugierigen, hämischen, bedrohlichen Stimmen nach der Verbindung zwischen Jesus und ihm fragten. Er hätte ja die reine Wahrheit dort im Hof des Hohenpriesters gesagt, wenn er der Magd und dem Gaffer und dem Spitzel, die ihn alle fragten, ob er nicht mit Jesus gewesen sei, geantwortet hätte: „Dreh’ Dich um! Du bist doch auch mit ihm hier!!! … Da steht er doch hinter Dir. Da steht er - weil er hinter Dir steht! - vor dem Richter.“
Kurzum: „Wer Du auch bist, die oder der mich hier fragt: Der, nach dem Du mich fragst, ist auch mit Dir!“
Das wäre eine Antwort auf die Jesus-Frage, die womöglich mehr als jedes eifrige individuelle Bekenntnis auslösen würde, und allemal mehr auch als ein vorsichtiges Schweigen.
Es ist aber auch alles, was wir zur Zeit sagen können und sollen: Dass Jesus bei den Menschen ist, weil Er für sie ist, … weil Sein ganzes Wesen und Sein ganzer Weg und Seine ganze Wirkung dieses Für-Andere-Dasein, dieses Mitmensch-Werden, dieses Mitleid-Haben, dieses Mit-uns-in-Tod-Gehen-damit-wir-nicht-verloren-werden sind.
Jesus ist das große, ursprüngliche, erlösende, ewige „Mit“, das Gott und Mensch verbindet
Jesus ist mit allen, die uns nach Ihm fragen, weil Er selbst die Verbindung zwischen Gott und allen schafft. Er ist in Person die nicht weichende Gnade, wo alle Berge und Hügel stürzen, … Er in Person ist der Bund des Friedens, der nicht hinfallen wird, sondern für immer besteht (vgl.Jes.54,10).
Und deshalb ist er zuletzt auch unsere Hoffnung auf eine Antwort auf die Jesus-Frage in der Ich-Form.
Es ist vermessen, sie für uns selbst heute schon zu beantworten: Ob wir ebenso bei und mit Jesus sind, wie Er mit uns, ob wir Ihm so verbunden bleiben, wie Er uns bis in Seinen Tod … das können wir alle noch nicht sagen und behaupten, sondern nur hoffen und wünschen.
Weil wir aber heute päpstlich-presbyterial begonnen haben, schließen wir vielleicht auch genauso mit Blick auf ein vermeintliches Spitzenamt, das zwar niemandem von uns heilig, aber hoffentlich doch ernst ist.
Um die zu Lebzeiten von uns selbst nicht zu gebende Ich-Antwort auf die Frage nach unserem Jesus-Verhältnis hat sich eines unserer Staatsoberhäupter – zu einer Zeit, als Bundespräsidenten noch nicht aus der Kirche ausgetreten zu sein pflegten – Gedanken gemacht.
In Wuppertal nannte man ihn den „Bruder Johannes“, weil er als fliegender Buchhändler in einem frommen Barmer Traktat- und Bibelgeschäft anfing. Gestorben ist er, nachdem er das höchste Amt in unserm Staat bekleidete er in Berlin und liegt dort auch auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof begraben.
Er wird selbst gewählt und selbst gewusst haben, was auf dem Grabstein steht:
Die Anklage, mit der der erste Presbyter der Kirche nach seinem dummen Reden zum noch dümmeren Schweigen und dann zum Heulen gebracht gebracht wurde.
Diese schwebende Frage des heutigen Tages, die nur beantwortet werden kann, weil wir glauben dürfen, dass Jesus mit uns ist und wir darum auch hoffen sollen, in der Ewigkeit – wenn alle unsere Verantwortung verantwortet, alle unsere Schuld entschuldet, all unser Nichts durch Ihn zu etwas gebracht worden sein wird – die Antwort auch über uns selbst zu hören, die Petrus schuldig blieb. … Warst Du?
… Bei Johannes Rau steht – nach dem Tod!, nicht wegen seines eigenen Verdienstes, sondern weil Jesus Sein Heiland und Retter war! – auf dem Grab der Schuldspruch, der uns selig macht: „Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth“.
Möge das von uns allen einst ebenso gesagt werden!
Amen.
Okuli, 03.03.2024, Stadtkirche, 1.Petrus 1, 13 - 21, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Okuli 3.III.2024
1.Petrus 1, 13 - 21
Liebe Gemeinde!
Sie waren jung. Sie waren lebendig. Sie waren nicht zu bremsen.
Die weißen Bärte und Glatzen, die Folterinstrumente oder Himmelsschlüssel und natürlich auch die Heiligenscheine, die sie später auszeichneten, waren den Aposteln keineswegs von Anfang an auf den Leib geschneidert. … Und wenn sie leben – wir glauben aber, dass sie leben, weil Gott ein Gott der Lebendigen ist (vgl. Lk.20,38) –, dann ist es unsinnig, sie als die Sechzigjährigen oder gar Hundertjährigen in unserem Gedächtnis festzulegen, die Nero im Fall des Petrus kreuzigen ließ oder die - wie Johannes - bis in die Zeit des Kaisers Trajan am Leben blieben.
Die Kirche ist ein Aufbruch der Jugend gewesen: Ein gerade einmal Anfang Dreißigjähriger und seine Gefährten zogen aus der alten Wirklichkeit des Todes aus und in die kommende neue Welt Gottes.
Zwar hatten sie schüchtern und hinterwäldlerisch, mit schlechtem Gewissen und lähmender Überforderung durch das größte Wunder aller Zeiten begonnen: Aber die Energie, die Kraft, die der Geist Gottes ist, hatte sie – die jungen Frauen und Männer, die Karfreitag und Ostern ganz dicht oder aus feigem Abstand miterlebten – über alle Angst, über alle Gewohnheit und Konvention hinausgetragen und machte sie feurig, fessellos und stürmisch frei. Hier war eine Generation, die etwas so völlig Anderes, Unerwartetes, Beispielloses bezeugen und ausbreiten wollte, dass niemand ihnen hätte mitgeben, vormachen oder gar vorschreiben können, wie man als Vorhut der zukünftigen Menschheit leben solle. Eine Menschheit, die nicht von der Sicherheit des Unausweichlichen, nicht von den Grenzen des Gewesenen, nicht von der Erwartung des Fatalen geformt und gewürgt wurde, sondern die durch Vergebung, Befreiung und Hoffnung völlig veränderte Perspektiven hatte:
Sie steckten nicht im Zwang der Sünde, sondern wurden getragen von der Strömung der Versöhnung, die im Blut Jesu die Welt wie einst die Sintflut ausschwemmen und reinigen sollte.
Sie klammerten sich nicht an Legitimierungen ihrer selbst, sondern ließen sich zusammen mit allen anderen überraschen von den Wundern, die an ihnen und durch sie geschahen.
Sie duckten sich nicht vor den ständigen Winken des Todes, sondern machten sich ungeachtet aller natürlichen Furcht los vom Kleinmut der Endlichkeit und lebten in einem Maßstab der Großzügigkeit, der Liebe und des Gemeinsamen, dass man in ihrer Gegenwart die grenzenlose Ewigkeit spüren musste. Sie waren jung, lebendig und nicht zu bremsen.
Sie waren aber auch radikal.
Ihre Entschlossenheit zur Nachfolge, ihre Leidenschaft für Den, Der ein zweites Mal die Sklaven – die Sklaven der Gier, des Bösen und des Todes – aus ihrer Knechtschaft durch den österlichen Exodus zu neuen Ufern und neuen Horizonten und zu einer neuen Ethik und neuen Heiligkeit als das freie Volk Gottes führte, machte sie so ernsthaft und so unbedingt, wie nur junge Leute es sein können.
Sie lebten gegürtet - also auf dem Sprung -, wie Israel die Nacht seines Passa gefeiert hatte (vgl. 2.Mose12,11). Bis unter die Haarspitzen waren sie von nüchtern-alerter Hoffnung elektrisiert; und ihre gemeinsame Haltung - ihr Gehorsam - war die geradezu jugendlich-sture Ablehnung aller alten Konventionen: Übernehmt kein „Schema“ der Bedürfnisse, der Interessen und Begierden der Alten, heißt es im Griechischen dieses Jugendmanifests das wir als 1.Petrusbrief kennen. Und in der lateinischen Übersetzung, die auch in die Antike zurückreicht, heißt es: „Konfiguriert euch nicht den alten Begierden eurer früheren Ignoranz“.
… „Konfiguriert“ euch auf keinen Fall wieder der überholten Ignoranz: So klar ist das neue Programm, das Lebens-Update dieser apostolischen Avantgarde.
Was sie dagegen statt der abgenutzten und nicht mehr funktionalen Codes und Systeme der alten Welt zu ihrem alternativen Lebensentwurf machten, das war die Heiligkeit.
Heiligkeit – wie sie auch schon der Aufbruchsgeneration des Exodus als die kollektive neue Identität Israels, als sein neues Profil und Ziel aufgetragen wurde (vgl. 3.Mose 11,44f und besonders 19,2!) – … Heiligkeit ist die Alternative Gottes zum unheilvollen Schema der Welt.
Heiligkeit ist der kompromisslose Versuch und der hartnäckige Elan, seelisch ganzheitlich, moralisch gesund, in Geist und Gerechtigkeit fruchtbar zu leben, statt halbherzig, krank und steril.
Auch Heiligkeit ist also eine junge Lebensform oder aber eine verjüngende Lebenskur. Heiligkeit setzt den Idealismus und die Entschiedenheit derer voraus, die nicht bis zum Hals in Kompromissen, Verpflichtungen oder Bequemlichkeit stecken.
Heiligkeit setzt Hunger und Mut frei, die sich weder abspeisen noch abschrecken lassen von der öden Erfahrung und der noch öderen Behauptung, dass das nur schwer geht.
Heiligkeit ist die Bereitschaft, mit dem Unmöglichen zu rechnen, das Unerprobte zu riskieren, das Ungemütliche zu unternehmen und das Unbewiesene zu veranschaulichen.
Zu ihrem eigenen Schaden hat die evangelische Kirche vor lauter Entlastung durch die Rechtfertigung – israelitisch gesprochen: vor lauter Entlastung durch den Exodus, das Befreiungsgeschenk Gottes an Seine versklavten Leute – die Folge und Fortsetzung dieses Wunders vergessen[i]: Dass die von alter Knechtschaft, Unterdrückung und Fremdsteuerung Befreiten nun ein neues Leben beginnen und vertiefen, in dem sie unkonventionell und ungezwungen Maßstäbe verfolgen, die anderen viel zu aufwendig und auffällig, viel zu freischwebend und überirdisch vorkommen mögen. …….
… Essen, Trinken, Sorgen, Schlafen sind Herausforderung genug. Kommen dann noch Genuss, Erfolg, Absicherung und deren jeweilige Demonstrationen dazu, dann sind Menschen ausgelastet. Wer braucht da noch die herausfordernde Verheißung, heilig sein zu sollen? …
Es ist mit der Heiligkeit wie mit der Freiheit in der vergangenen Woche. Egoismus und Sklaverei sind einfacher. Von beiden wird man beherrscht. Ihr Zwang macht den Willen gefügig. Freiheit und Heiligkeit dagegen stellen unsern Willen andauernd vor die Wahl. … Nicht nur in Sachen demokratischer Gesellschaft, sondern auch im ganz eigenen Leben ist aber das Wählen offenbar lästig. Bequemer ist man Knecht.
Aber als das junge Christentum die frische Botschaft unter die Völker trug, dass man nicht wahllos und schicksalsfürchtig leben müsse, sondern berufen sei, als vom Schicksal befreiter Mensch sein Leben einzig und allein in freier Anlehnung an und bewusster Nachahmung von und reinem Vertrauen auf Gott zu leben ……, da sprangen die Ketten Satans und der ausbeuterischen sozialen Hierarchie der Antike, da öffneten sich die psychischen und die kulturellen Sperren und Schranken und tastend oder überstürzt zogen Männer und Frauen hinaus in die Freiheit der Heiligen! …
Niemand konnte sie mehr vor der Geburt auf einen Status festlegen, niemand ihnen ein Leben lang ihre Rolle und Pflicht vorschreiben, niemand sie bis in den Tod verdinglichen und entwürdigen! Sie wurden in der aufregend neuen, heiligen christlichen Kirche, in dieser Gemeinschaft, der nicht mehr nach Herkunft, Geschlecht, Besitz unterschiedenen Heiligen tatsächlich zu neuen Menschen! … Menschen, deren Wert nicht mehr nach alter Währung und Berechnungsweise, nicht mehr in Silber oder Gold, Können oder Vermögen auszudrücken war, sondern einen ganz anderen Nenner hatte: Jesus Christus, der vor aller Zeit erwählte, dann unter uns erschienene, als Opfer aller barbarischen Brutalität sich freiwillig rückhaltlos einsetzende und damit schließlich dem an ihm unberechtigten Tod endgültig abgewonnene neue Mensch.
Dieser Mensch Jesus Christus, sein lebendiges und lebenspendendes Blut ist die Quelle, aus der die freie, heilige, junge Kirche der apostolischen Zeit ihre ganze Stärke, ihre Leidenschaft, ihre dynamische Daseinsfreude, ihre überschäumende Glaubensenergie und Liebestatkraft schöpfte.
Wer ihm angehört, der ist nicht mehr von der abhängighaltenden alten Welt geprägt, sondern - wie’s im Lutherdeutschen heißt - „vom nichtigen Wandel nach der Väter Weise erlöst“.
Wer mit Jesus Christus lebt, der ist befreit aus „einem Leben ohne Inhalt, wie es euch von den Vätern vorgelebt wurde“, übersetzt die Zürcher Bibel. Der kann also aufatmen und jung, lebendig, ungehindert existieren. Innovativ wie die Pioniergeneration der Apostel und Apostelinnen und die Heiligen aller Zeiten.
Schön. ——
Bloß was heißt das für uns in einer altgewordenen Kirche, … zumal für diejenigen unter uns, die selbst nicht mehr die Jungen sind? Ist die sinnlose Festlegung durch Vergangenes, … ist die Festlegung durch das, was war und was ausgerechnet in der lateinischen Übersetzung dieser Stelle als die „leere Unterhaltung der väterlichen Tradition“ erscheint, … ist alle Bevormundung und Einbindung in Überliefertes, an der wir ja doch mehr oder weniger sämtlich beteiligt sind, dann nicht unsere Verhinderung der christlichen Freiheit, unsere Blockade frischer Aufbrüche zur Heiligkeit?
Dazu gäbe es viel zu sagen.
Nicht bloß wegen der Missbrauchsstudien.
Bei jeder ehemaligen Konfirmandin, jedem ehemaligen Konfirmanden, die aus der Kirche austreten, frage ich mich, welche Schuld ich mit meiner Art des Festhaltens und Festlegens im Sinn der Tradition an ihrem Aufgeben, Loslassen und Weggehen wohl habe? …
Aber ein viel allgemeineres, säkulares wie kirchliches Schuldproblem gegenüber der jungen Generation beschäftigt mich mit dem herrlich freien 1.Petrusbrief, dem Jugendmanifest aus apostolischer Zeit im Ohr noch mehr.
Wir sperren die Generation von morgen zwar nicht mehr so folgenschwer räumlich ein, wie es in den letzten Jahren der Pandemie geschehen ist und wahrhaftig nachwirkt. Wir sperren die Generation von morgen aber noch viel schlimmer in unserm Heute, das ihr Gestern sein wird, ein, … wir verhaften sie in weltlicher Sinnlosigkeit und fesseln sie an gegenwärtige Hoffnungslosigkeit durch ein perfides, giftiges, gleichgültiges geistiges Erbe, mit dem wir sie blockieren.
Man kann das ganz praktisch unter anderem an der unfassbaren Fehlentscheidung zur Cannabislegalisierung sehen. Dabei geht es überhaupt nicht darum, dass etwas unbedingt strafbar sein sollte, sondern es geht um das, was unbedingten Schutz verdient: Das Innere des Menschen nämlich! Das muss frei sein … und es muss uns heilig sein!
Wir dürfen das Innere nicht als vernachlässigenswerte Nebensache, als unwichtiges Organ der Ablenkung und des Konsums betrachten! Wir dürfen im Inneren des Menschen nicht bloß einen neutralen Hohlraum sehen, der eben auch durch materielle Ersatzbefriedigung oder sonstige Ablenkungsmanöver das abbekommt, was sein Funktionieren und Leisten in einer rein stofflichen Auffassung vom menschlichen Dasein ermöglicht.
Genau diese immanente, rein materialistische Sicht des Menschseins ist der pervers sinnlose, nichtige Wandel nach der Väter Weise, den die Kinder des sog. aufgeklärten Zeitalters, des bloß auf das Greif- und Messbare fixierten Menschenbildes fortsetzen müssen. Doch dieser Nihilismus, den wir auf unsere Kinder ausdehnen, wenn wir sie nur im Schema des Äußerlichen und Immanent-Irdischen festhalten, … dieser Nihilismus ist verbrecherisch, und wir sehen buchstäblich links wie rechts, in der Gewaltvergötzung wie der Ichsucht der großen Mächte, was er anrichtet.
Auf seine Wurzel aber hat mich der Satz einer weltlichen Dichterin aus Nordamerika - Fanny Howe - gestoßen, die ihre sinnlos destruktiven Erfahrungen als Mädchen und Jugendliche in den betäubend-aufrüttelnden Satz kleidet: Die Offenheit des jungen Menschen für Verwandlung wird im Heranwachsen versiegelt, „bis an die Stelle der Seele das Selbst tritt, um nun die Faust des Überlebens zu sein.“[ii]
Das Selbst an Stelle der Seele: Das ist die perfide, nihilistische Festlegung auf ein trostloses Schrumpfbild unserer Berufung und Möglichkeiten, mit dem wir die Generation nach uns einschränken, verarmen lassen und aussichtslos festlegen. Das „Selbst“ des Selbstbewusstseins, der Selbstverteidigung, der Selbstversorgung, der Selbsthilfe. … Das „Selbst“ als Faust und Pfund zur eigenen Selbstdarstellung. … Das „Selbst“ als die einzig wahre Größe, die wir behaupten müssen, weil sie mit uns und wir mit ihr vergehen.
So ist das eitle, leere, sinnlose Bild vom Menschen, der nichts als er selbst sein soll: Ichbezogen und fixiert auf Maximierung seiner kleinen Erfolgserlebnisse in der kurzen Zeit. … Her mit dem Rauschgift, wenn’s so wäre! … ———
Doch ist der Mensch ja so viel mehr: Nicht mit Vergänglichem, sondern mit dem ewig Lebendigen ist der Mensch von diesen erbärmlichen Suchten und Begierden befreit worden.
Und darum schulden wir den Jungen - Euch jungen Menschen - , nicht mehr wie Seelenlose behandelt zu werden. Wir schulden Euch als Pfarrerinnen und Pfarrer, Lehrerinnen und Lehrer, als Eltern und Familien, als Gemeinde und Gesellschaft, dass wir Eure Seelen schätzen und schützen, weil Gott sie liebt. Gott will Eure Seelen - die Er liebt - , wenn sie leer sind, füllen; Er will sie heilen, wenn sie krank sind, und weil sie wichtiger sind als alles andere (vgl. Matth.16,26 / Mk. 8,36 / Lk.9,25), wird Er sie retten.
Die Seele des Menschen ist ja die unmittelbare Verbundenheit mit, die Anwesenheit von und die Offenheit für Gott im Menschen (vgl. 1.Mose 2,7). …
Weil wir Seelen sind, darum sind wir Menschen nicht auf uns selbst geworfen, sondern herausgerufen in eine Lebenserfahrung und Lebensverwirklichung, die göttliche Maße hat: In seiner Seele nämlich hat jeder Mensch ja gerade die Freiheit, über sich selbst hinauszuwachsen, hinein in die endlose, abenteuerliche Reise und Reifung, die die Heiligkeit ist. … Die Heiligkeit, die seine eigentliche und für immer bleibende Gottebenbildlichkeit werden wird.
Solange wir allerdings hier in der Fremde leben, sagt der 1.Petrusbrief, werden wir nie so weit kommen, erfolgreich fertig mit uns selbst zu sein.
Und darum müssen wir hier jung wie die Apostel bleiben, … lebendig, beweglich und weder fest- noch aufzuhalten in unserer schönsten Berufung, innerlich und äußerlich von allem gelöst nur Gott entgegenzuwachsen.
Denn es steht geschrieben: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“ (3.Mose19,2 / 1.Petrus 1,16).
Amen.
[i] Die reformierte Tradition der Ethik, die stark die Heiligung als Frucht der Gerechtigkeit im Glaubensgehorsam betonte, hat heute kaum noch Wirkung. Dass Ethik unter dem Gesichtspunkt der Heiligkeit betrachtet und betrieben würde, ist fast nirgends festzustellen. Man sollte also in die Schule der Heiligen gehen, schlicht um ethisch nicht im Jargon und in der Perspektive des Tagesbetriebs hängen zu bleiben, sondern horizonterweitert in der Lösung ethischer Probleme auch Erlösung ethisch buchstabieren zu lernen.
[ii] Fanny Howe, „My Father Was White but not Quite”. In diesem Essay heißt es: “The self is not the soul, and it is the soul (coherence) that lives for nine years on earth in a potential state of liberty and harmony. Its openness to metamorphosis is usually sealed up during those early years until the self replaces the soul as the fist of survival.” Zititert nach: https://www.poetryfoundation.org/poetrymagazine/articles/69163/my-father-was-white-but-not-quite
Reminiscere, 25.02.2024, Num.21,4-9, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
„Durch die Wüste“, so heißt eines der Bücher von Karl May. Der Held ist darin Kara Ben Nemsi, der im Lauf der Erzählung manch knifflige Situation zu bewältigen hat – und das natürlich mit Erfolg erledigt.
„Durch die Wüste“ so lautet der jüdische Titel des vierten Mosebuches: „B‘ Midbar“. In diesem Buch gibt es keine Helden wie Kara Ben Nemsi. Da begegnen wir ganz normalen, schwachen Menschen, die aus ihrem Leben in Ägypten, aus Gefangenschaft und Zwangsarbeit, herausgerissen und herausgeführt nun auf der Flucht durch die Wüste sind. Dabei sind sie in eine Sackgasse geraten. Der direkte Weg in die Freiheit und Sicherheit ist versperrt. Nun sollen sie umkehren und eine neue Route suchen. Welch eine Zumutung!
Ich lese uns die Verse 4 bis 9 aus „B’Midbar“ Kapitel 21.
„Als sie nun vom Berg Hor in Richtung Schilfmeer aufgebrochen waren, um so das Land Edom zu umgehen, wurde das Volk auf dem langen Weg kurzatmig. Die Israeliten beklagten sich bei Gott und bei Mose: „Wozu hast du uns aus Ägypten herausgeführt? Sollen wir in der Wüste sterben? Nicht einmal Brot und Wasser gibt es hier! Wir ekeln uns vor dem schlechten Essen.“ Da schickte Gott dem Volk Seraf-Schlangen. Viele Israeliten wurden gebissen und starben. Nun kam das Volk zu Mose und bat: „Wir haben Unrecht getan, als wir so mit dem Ewigen und dir geredet haben. Bete zu Gott, dass er die Schlangen von uns fortschafft!“ So betete Mose für das Volk. Und Gott sagte zu Mose: „Fertige eine Schlange aus Kupfer an und setze sie auf eine hohe Stange: Wer gebissen wird und sie ansieht, wird leben.“
Da machte Mose eine Schlange aus Kupfer und setzte sie auf eine hohe Stange. Und es geschah: Wenn eine Schlange jemanden biss und er/sie die kupferne Schlange fest in den Blick nahm, so blieb er/sie am Leben.“
Eine merkwürdige Geschichte. Der Einstieg ist dabei bekannt aus anderen Erzählungen vom Zug des Volkes Israel aus Ägypten in die Freiheit. Es beginnt mit der Wiederkehr des Gleichen: Die Israeliten nörgeln, murren, motzen mal wieder herum. Sie sind „verdrossen“ heißt es in einer Übersetzung, „Die Seele des Volkes ist erschöpft“ in einer anderen. „Der Atem des Volkes reicht nicht aus“, das Volk ist kurzatmig. Und Mose ist es wahrscheinlich auch. Irgendwo im Nirgendwo der Wüste haben die Leute einfach genug. Selbst das Manna, die Speise, die ihnen so oft das Leben gerettet hat, bekommt sein Fett ab: es ekelt sie nur noch.
Nein, dass Israel murrt und meckert, das ist wirklich nichts Neues. Neu ist vielmehr die Reaktion auf Seiten Gottes. Bislang war er immer tröstlich-nachsichtig mit Israel umgegangen, hatte ihrem Mangel an Wasser und Nahrung wiederholt abgeholfen. Aber hier sieht alles nach einer Strafaktion aus: dieses Mal schickt er ihnen Seraf-Schlangen, deren Bisse brennende Schmerzen verursachen und zum Tode führen.
Warum reagiert Gott so heftig? In ihrer Verzweiflung sind die Israeliten dieses Mal einen Schritt zu weit gegangen. Sie sind dabei, alles zu zerstören, was ihnen bisher das Leben bewahrt hat. In Ägypten wären sie in elender Sklaverei untergegangen: diese Tatsache haben sie völlig verdrängt. Der Weg durch die Wüste ist beschwerlich, keine Frage, und der Speiseplan ist auch alles andere als üppig. Aber was sie haben, das erhält ihnen das Leben, das Brot vom Himmel. Und sie können ihren Weg in (die) Freiheit gehen. Indem sie die tägliche Nahrung als ekligen Fraß abtun und die geschenkte Freiheit verfluchen, sagen sie sich von Gott los. Und Gott – er lässt sie los; er zieht seine beschirmende Hand ab. Giftschlagen gibt es überall in der Wüste; Gott schickt sie nicht extra. Bisher hat er die Schlangen daran gehindert, die Israeliten anzugreifen. Aber jetzt, ohne den Lebensschutz Gottes, sind sie den Schlangen ausgeliefert.
Die Israeliten verachten das Gute, das Gott ihnen gegeben hat und gibt. Sie schauen von Gott weg. Dieses Wegschauen bedeutet Lebensgefahr und bringt ihnen letztlich den Tod.
Wer sein Ziel, den entscheidenden Fixpunkt seines Lebens aus den Augen verliert, begibt sich in Gefahr. Ebenso wie ein Mensch, der im Straßenverkehr seine Augen nicht nach vorne richtet.
Die Israeliten erkennen in der Katastrophe, dass sie ihr Ziel, dass sie den Ankerpunkt ihres Lebens aus den Augen verloren haben. Immerhin: sie zetern nicht weiter und schlagen wild um sich, sondern sie schlagen sich an die eigene Brust.
Nicht Gott oder Mose sind schuld an ihrer Malaise, sondern sie selbst. Sie erkennen ihre Schuld und bekennen sie und bitten Mose um Fürbitte. Auf ihn, so die Hoffnung, wird Gott bestimmt eher hören. Ihre Bitte: Gott möge die Giftschlangen fortschaffen.
Doch Gott erfüllt diesen Wunsch nicht. Schlangen gehören nun einmal in die Wüste. Vielmehr fordert Gott Mose auf, ausgerechnet eine solche Schlange aus Kupfer anzufertigen und an einer hohen Stange zu befestigen. Wer gebissen wird und dann diese Kupferschlange anschaut und auf diesem Weg sein Gesicht dem Himmel zuwendet, der bleibt am Leben.
Eine merkwürdige Geschichte – halb Märchen, halb Fantasy.
Aber eine Geschichte, die auch uns heute noch Wichtiges vermitteln kann.
Es ist eine Wüstengeschichte. Sie erzählt von Menschen, die auf einem beschwerlichen Weg sind, Katastrophen liegen hinter ihnen und irgendwie sehen sie für sich noch kein Licht am Ende des Tunnels. Vielmehr tauchen immer wieder neue Probleme auf.
Bei wohl jedem Menschen gibt es im Leben solche Durststrecken, da kommt man irgendwann an den Punkt, wo es nicht mehr weitergeht, wo man einfach nicht mehr zur Ruhe kommt. Die Anzahl der Menschen in unserer Gesellschaft, die an einem „Burnout“, an Erschöpfung zusammenbrechen, steigt seit Jahren.
Doch unsere Geschichte lässt uns über das individuelle Leben hinaus auf unsere Gesellschaft als ganze blicken. Es lassen sich interessante Parallelen entdecken.
Unter den Rufen „Wir sind das Volk!“ zogen 1989 die Menschen aus der Unterdrückung durch das SED-Regime in die Freiheit, die das Grundgesetz der Bundesrepublik ihnen verhieß. Aber nach dem Durchzug durch das „Rote Meer“, für sie die Überwindung der Sperranlagen und der Mauer, da wartete – nach dem Abklingen der Begeisterung der ersten Wochen – die Wüste auf sie, der Umbau ihres ganzen Lebensgefüges. Und je länger dieser Wüstenweg wurde, desto verklärter die Blicke zurück.
Und gesamtgesellschaftlich erleben wir Vergleichbares nach 2014 – seit Flüchtlinge in großer Zahl nach Europa kamen. Da wurde klar, dass Globalisierung bedeutet, nicht nur überall hin verreisen und Waren aus aller Herren Länder kaufen zu können, sondern eben auch hineinverwickelt zu sein in die Geschehnisse weltweit, in das Leid und die Not der Menschen überall auf der Erde. Deutschland ist keine Insel. Doch viele sind nicht bereit, das einzusehen. Sie fühlen sich in ihren Lebensmöglichkeiten beschnitten und von den Fremden bedroht. Sie rufen zwar wieder „Wir sind das Volk!“, aber ihr Blick geht zurück: sie verklären die alten Verhältnisse von einem ethnisch reinen Deutschland, das es so nie gab. Es gab allerdings Folterknechte, Angst und Hass. Keine Freiheit, sondern brutalen Zwang. Aber klar: als Frau konnte man damals nachts allein auf die Straße gehen. Wer braucht denn da schon Freiheit, wenn es in der Diktatur nun ja: unangenehm war, aber wenigstens schön warm? So zu denken und zu reden ist gottvergessen, ist Sünde; aber wer will das wissen?
Freiheit ist anstrengend und unbequem. Sie konfrontiert uns mit den schwierigen, unangenehmen Seiten unseres Lebens, mit unseren Ängsten und Vorurteilen, die immer wieder unberechenbar auftauchen – wie Schlangen – und ihr Gift versprühen. Die Giftschlangen, mit denen wir es heute in unserer Gesellschaft zu tun haben, die kommen aus uns selbst, aus den Herzen der Menschen. Ihr Gift, der Hass auf die Anderen, schmerzt, es brennt und es tötet – andere Menschen und die eigene Menschlichkeit.
Wenn wir die symbolische Bedeutung der Schlangen in dieser Weise verstehen, dann bekommt auch die Anweisung Gottes zur Aufrichtung der kupfernen Schlange ihren heilsamen Sinn. Die Schlangen verschwinden nicht, können nicht verschwinden, weil sie aus unseren Herzen, aus unseren Gefühlen herausschlüpfen. Es gibt kein angstfreies Leben. „In der Welt habt ihr Angst“, hören wir Jesus im Johannesevangelium sagen. „In der Welt habt ihr Angst, aber ich bin mit dieser Angst fertig geworden, ich habe sie überwunden.“ Und das könnt ihr auch – ruft er uns zu.
Stellt euch euren Ängsten, verdrängt sie nicht, steckt auch nicht euren Kopf in den Sand, sondern schaut genau hin; hebt euren Blick auf. Seht an, was euch Angst machen will. Und schaut darüber hinaus – auf den Himmel, auf Gott, dessen Liebe und Güte euch mit all euren Ängsten und Sorgen umfängt. Nicht die kupferne Schlange hilft, sondern der Blick, den jede und jeder nach oben richtet – die Tatsache, genau anzusehen, was da Angst macht, sich der Realität zu stellen und dahinter den wahrzunehmen, der allein diese Ängste beruhigen kann. Dieser Blick, der bringt Leben, der lässt leben – mich und den anderen.
Die Überwindung eigener Ängste hilft, Mitgefühl und Barmherzigkeit in sich selbst zu empfinden, hilft, in dem anderen, dem Fremden den Mitmenschen zu erkennen, der genauso wie man selbst immer wieder von Ängsten heimgesucht wird. Wir sind alle „Gebissene“, aber Gott will, dass wir leben, dass wir an dem Gift von Hass und Verachtung, Gewalt und Menschenfeindlichkeit nicht zugrunde gehen. Er will, dass das Gift sich zum Heilmittel verwandelt, das uns befähigt, in Gerechtigkeit und Frieden miteinander unter seinem Himmel zu leben.
Dazu will uns diese Erzählung ermutigen:
Dass wir uns selbst annehmen so wie wir sind, gerade in den Wüstenzeiten unseres Lebens, als von Ängsten immer wieder Verletzte;
Dass wir lernen, barmherzig mit uns selbst zu sein, weil Gott barmherzig mit uns ist;
Und dass wir so fähig werden, den Fremden neben uns als Mitmensch zu sehen und ihm die gleiche Barmherzigkeit entgegenbringen wie uns selbst, weil er unser Bruder, unsere Schwester ist, verletzt und von Ängsten heimgesucht wie wir, dem Gottes Barmherzigkeit und Güte genauso gilt wie uns.
Amen.
Reminiszere, 25.02.2024, Stadtkirche, 4.Mose 21, 4 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reminiszere - 25.II.2024
4.Mose 21, 4 - 9
Liebe Gemeinde!
Na, Ihr Schaulustigen? – Sind wir gar nicht!
… Nein; stimmt schon: Es ist ja Affenzeit! … Wenn auch das Nichts-Sprechen bei mir noch nicht richtig klappt: Nichts hören wollen, nichts sehen wollen, geht schon ganz gut.
… Die Nachrichten? – Lieber nicht!
… Die Berichte aus der seit 2 Jahren von einem Krieg gegen die Freiheiten unsrer Gegenwart heimgesuchten Ukraine? – Lieber nicht ansehen!
… Die Wimmel- und Suchbilder aus den Höllenkreisen des Gazastreifens? – Lieber Wegschauen!
… Die vielen Gesichter des menschenverachtenden Hasses, der sich wählen lassen will und wird? – Lieber ausblenden!
… Die trostlosen Statistiken und ratlosen Mienen und kraftlosen Debatten unserer Politik? – Lieber Augen zu und weghören und irgendwelche Ausflüge ins Einflussgebiet der künstlich schönen Doofen als hier im Land der wirklich ganz schön Doofen irgendwem oder -was ins Auge sehen.
Trotz unseres pausenlosen Zuguckens, Gaffens, Bildschirmscrollens, Fotosendens, Selfieschießens: Es lebe die Blendung! Ein Hoch auf die Blindheit!
An der Welt, wie sie ist, haben wir uns sattgesehen. Die überlassen wir den Überwachungskameras und denen ohne Smartphones. Wir kommen bestens klar, ohne die Wirklichkeit zu Gesicht zu kriegen, ihrer Wut und ihren Tränen zuzuhören oder sie anders anzusprechen als mit „Verschwinde doch, du bist nicht schön!“ ——
Deshalb brauchen wir Jahr für Jahr die Passionszeit. Die Zeit, die aus uns Affen Menschen macht.
Sie tut es durch Zumutung. Diese Zeit, in der wir Christenaffen dem Menschen Christus begegnen, ist eine einzige Schule des Sehens. Des Sehens auf das Unansehnliche. Des Sehens auf das Übersehene also. Des Sehens aber ebenso auch auf das Überdeutliche. Des Sehens auf das, was ist. Luther hat in einer seiner frühen Disputationen - 1518 in Heidelberg - den ganzen Unterschied zwischen der Verkündigung, die das Schöne, das Nette, das was glänzend oder appetitlich oder sexy oder unterhaltsam wäre, in den Mittelpunkt stellt, und der anderen Verkündigung, die das Unpopuläre zu sagen wagt, in eine so kantige Formel gebracht, dass man es sich ausnahmsweise auf Latein anhören kann: „Theologus gloriæ dicit malum bonum et bonum malum, Theologus crucis dicit id quod res est.“[i] – auf Deutsch also: „Ein Herrlichkeits-Theologie nennt das Böse gut und das Gute böse. Ein Theologe des Kreuzes sagt das, was Sache ist.“
Der flapsige Ausdruck, der hier im Gelehrten-Latein vor einem halben Jahrtausend schon begegnet, hat nichts von seiner notwendigen Irritation verloren: Sagen, was Sache ist. Nicht schönreden. Nicht erzählen, was gern gehört wird … Luther hätte gesagt: Nicht das formulieren, wonach den Leuten die Ohren jücken. Sondern das, was kratzt. Das, was das Anstößige nicht glatt macht wie die Lüge, sondern anstößig lässt.
Das aber ist nun einmal nichts Anderes als das Kreuz.
Das Kreuz ist die empfindliche Störung unserer hübschen Oberflächlichkeit. Es reißt nicht bloß den Rasen auf, den wir über alles so gern wachsen lassen und den Teppich weg, unter den wir alles kehren, sondern es reißt auch alle möglichen Wunden auf. …
Wer das Kreuz sieht, kann nicht mehr so tun, als sei alles heil.
Wer dem Kreuz nicht ausweicht, kann sich nicht einbilden, Menschsein sei einfach oder die Menschheit habe das Zeug, sich innerlich so zu vervollkommnen, wie Photoshop sie scheinen lässt.
Wer das Kreuz nicht ausblendet, wird nicht getäuscht werden: Es ist eine unglaublich verstörende Sache mit dem Menschen. Er ist Gottes liebstes Kind und zugleich Gottes bitterster Schmerz. Der Mensch ist Gottes Glück und Gottes Fluch. Er kann und soll in Gott die Liebe finden und erkennen und er reagiert auf Gott mit einem solchen Hass, mit einer solchen Abwehr, dass es scheinen muss, als herrsche Feindschaft zwischen ihnen. Gott ist der Ursprung des menschlichen Lebens, und der Mensch …. – kann es sein? – … der Mensch bastelt nicht nur an der Abschaffung seines eignen Ursprungs, sondern es gelingt ihm tatsächlich, das Leben zu morden, … es gelingt ihm die Liebe, der er sich verdankt, zu kannibalisieren, … es gelingt ihm, Gott zu töten.
Das Kreuz zeigt, was Sache ist.
Es ist ein Spiegel, der nicht schmeichelt.
Es ist ein Steckbrief, der uns anklagt.
Es ist ein Röntgenbild, auf dem das Innere erscheint.
Und wir sehen an ihm etwas, für das uns der Name fehlen mag: Die Störung in uns, die sich gegen alles Leichte, alles Gute richtet … gegen die Liebe, gegen das Leben, gegen Gott. Die Zerstörung also. … Diese unsinnige Sonderbarkeit unserer Abwehr des Segens. Unsere Absonderung von allem, was uns helfen, unser Dasein sinnvoller, unser Wesen harmonischer machen könnte. … Absonderung. Abschied. Abschieben des Heiligen und der Heilung. … Absolutes, von allem stützenden und haltenden Zusammenhang abgelöstes Unheil. Mit dem alten Wort für den Graben, der vom glückenden Leben trennt: Sünde. ——
Eijeijei, Ihr lieben schauunlustigen Menschen! Das ist doch alles jetzt genau der Grund, weshalb man nicht in die Kirche kommen muss: Miesmache. Null Unterhaltungswert. Bloß Runterziehen.
… Warum sollte man sich so etwas sagen lassen? Wieso sollte man sich die ohnehin schon gereizte, aufgeheizte, unerquickliche Stimmung noch extra verderben lassen? …….
Ich versuche es einmal ganz vorsichtig. Mit riesigem Abstand. So dass jeder sofort sagen kann: Schwachsinn. Gelaber. Mythos. Nichts, das einen Bezug zu mir hätte.
Na gut! … Ohne Bezug zu Dir. Nur uralte Erfahrung. Aus einer Zeit, in der die Hoffnung auf Freiheit kollektiv mindestens so im Argen lag wie heute, wo sie im Osten bombardiert, unterminiert und exekutiert wird und im Westen einfach in den Wind geschlagen, für Peanuts und Potenzgefühle geopfert wird. Die lästige Freiheit, die eben nicht das Gleiche wie garantierte Bequemlichkeit ist, sondern in langen, großen, ausholenden Bewegungen besteht, durch die Zwang zurückgelassen, Spielraum gewonnen, Zukunft umsichtig angesteuert und das Mitkommen der Langsameren und das Ankommen der Kleinen in der Freiheit durch Rücksicht erreicht werden muss.
Freiheit und Exodus also.
Freiheit und Anstrengung.
Freiheit und Opfer.
… Wie quälend das ist. Wie nervenaufreibend, weil offen. Freiheit lässt sich ja eben nicht abschließend oder abgeschlossen haben, sondern sie bedeutet immer, dass man weitergehen muss, um Neues und um Andere in die Freiheit mithinüber- und hineinzunehmen, die sonst ja Gefangenschaft und Sklaverei bedeuten würde, so bald man sie besäße wie etwas Fertiges und dann davon besessen wäre, dass nun nichts weiter kommen und passieren darf.
Die Kinder Israel – die ersten Wanderer zur Freiheit – hatten offenbar genau die tranige Trägheit, die uns Menschen bis heute auszeichnet: Sie durften aufbrechen, … sie durften das Wunder erleben, dass sie, statt den sicheren Tod im Schilfmeer zu finden, trockenen Fußes in sein Jenseits kamen … und dann – als die Geretteten! – wurden sie bitter enttäuscht: Die Freiheit der Erlösten entpuppte sich nicht als die sorglose Verwöhnung auf einer Kreuzfahrt, sondern als das Vertrauensabenteuer eines Kreuzwegs. Sie sollten nicht bloß die Nutznießer eines Sonderangebots für Komfortable werden, sondern Begleiter und Mitstreiter eines unermüdlich beweglichen und herzbewegenden Gottes, Der Pläne und Ziele in dieser Welt hat.
Und also streikten sie.
Wollten zurück in die Affenzeit, in der sie weder hören, noch sehen, noch Rede und Antwort stehen mussten, sondern bloß gehorchen, bloß Augen zu und bis zum Feierabend irgendwie durchkommen und dann das Maul ausschließlich zum Fressen auftun.
Fraß statt Freiheit. So simpel erträumt der Mensch sich sein Glück.
Ein Glück, an dem er über kurz oder lang ersticken würde.
… Doch Gott macht ihm Beine.
Denn genau das bewirken die Schlangen: Panik! Das Gift, das mit ihrem tückischen Biss droht und vermutlich die Atmung stillstellt und den Körper zu ewiger Faulheit, ja zum Verfaulen bringt, … dieses lähmende Gift zeigt den Israeliten plötzlich unmissverständlich, dass es zu kurz gehofft war, reine Bequemlichkeit und Ruhe und Versorgung und Sattsein wie in Ägypten zu wünschen.
Plötzlich wollen sie leben und nicht mehr so starr, so gelähmt, so tot sein, wie es der Traum vom Voll-Fressen ohne Freiheit ihnen vorgaukelte.
Und darum wird der Träger der Gefahr, in die sie sich wünschten – die Erstarrungs-, die Erstickungsgefahr – für sie zum rettenden Zeichen. Wer die auf den Stab erhöhte Schlange ansieht, entgeht der ansteckenden, lähmenden Drohung des Zurückwollens in die Unfreiheit.
Die Zumutung der Giftschlange, das Hinschauen auf das Trauma, das Einsehen dessen, was Sache ist, eröffnet die Freiheit, … die Freiheit zum Heil. ———
Das können wir wohl einsehen, wir Schauscheuen … auch wenn es uns ja nichts angeht.
Wir können einsehen, dass es nötig und befreiend und heilsam sein kann, auf das zu schauen, was einem tatsächlich droht. … Nur wenn man’s sieht, kann man es meiden, überwinden und frei davon weiterleben. … Nur wenn die Gefahr oder das Verhängnis, der Fehler oder die Schuld, um die es geht, auch tatsächlich vor Augen stehen, kann es weitergehen. Andernfalls bleiben sie übermächtig und endgültig: Die Ohnmacht, die Übermacht, vor der man blinde Angst hat.
Und darum doch noch einmal der zweite Blick aus unseren eigenen Augen auf das, was in diesen Wochen vor uns steht.
Da ist ein schreckliches Stück Weltgeschichte im Leiden eines erniedrigten und misshandelten Menschen auf Golgatha. Schon alleine das wirklich wahrzunehmen, ist entscheidend, damit wir wissen, welches Unheil wir riskieren, wenn wir nicht den Schutz der Schwachen und die Sorge für Leib und Seele anderer Menschen zum Anliegen unseres Herzens machen.
Doch was das Kreuz uns zeigt, ist sogar noch schrecklicher als alles Grauen, das Menschen an Menschen verüben und das Menschen für Menschen verhindern können.
Denn da am Kreuz erhöht – … so, dass die Menschheit es seit nunmehr zweitausend Jahren sieht, wo immer sie auf das Zeichen blickt, das Christen auf ihren Kirchen, in ihrer Kunst, als Traumamahnung oder Hoffnungsbild hochhalten – … da am Kreuz erhöht, sieht die Menschheit seit nunmehr zweitausend Jahren, was ihre Sache war und ihre Sache wäre: Gott los zu werden.
Gott los zu werden, war ihr erster Trieb. Ihn nicht nötig zu haben, sondern selbst zu sein wie Gott (vgl. 1.Mose 3,5). Und das Kreuz erinnert jeden, der es sieht daran: Du könntest ganz ohne Gott sein und bleiben. … Jedes Kreuz erinnert uns daran, dass das möglich war und wäre.
Und jedes Kreuz fragt darum auch: Ist es das, was Du willst? Dass über Dir nur die absolute Leere starrt? Dass Du nur den Tod über und vor Dir hast? Dass Du einsam bist und einsam bleibst: Dein Ursprung abgeschüttelt, verleugnet, ausgeschaltet, … Deine Hoffnung verworfen, kaltgestellt und umgebracht?
Mensch, willst Du mit diesem Pseudo-Sieg leben? Willst Du diese Katastrophe, nach der Du Dich in Deiner Selbstherrlichkeit zu sehnen glaubtest, wirklich wahrmachen und dann wahrhaben und schließlich als letzte Wahrheit stehen lassen müssen?
Oder heilt nicht der Blick auf den Mann am Kreuz, in dem Dir Gott am Kreuz begegnet, Deinen kranken Wahnsinn?
Jagt Dir der Blick auf das, was Du – die Menschheit, die die Gottheit nicht ertragen konnte – da endgültig angerichtet hättest, nicht ganz ungeheure und widersprüchliche Schrecken und Erleichterungen durch alle Glieder und durch Geist und Herz?
Du hättest Gott auf diese Weise ausgeblendet: Ihn nie wieder gesehen oder gehört und Ihm auch nie wieder antworten müssen, wenn Du allein gekonnt hättest. …
… Aber das Kreuz hast Du nun eben nicht alleine auf- und anrichten können!
Es zeigt Dir gar nicht Deinen Sieg!
Sondern es zeigt, dass Der, Der Seine Gottheit nicht ohne Dich - die Menschheit - haben wollte, Dir Seinen Tod als Zeichen Seiner lebendigen und ewigen Liebe eingesetzt hat.
Was da seit zweitausend Jahren über allen Kirchen steht, was in unzähligen Bildern von Golgatha und unzähligen täglichen, stündlichen, jeden Augenblick dieser Welt erfüllenden Gesten der Bekreuzigung und des Kreuzschlagens vergegenwärtigt wird, das ist das Wunder, dass Gott der Menschheit zuvorkam: Er hat nicht ihren Hass, sondern Seine Liebe am Kreuz verewigt.
Nicht der gelungene Mord an Ihm, sondern das Geschenk, das Opfer Seines Lebens wird da sichtbar.
Gott lässt am Kreuz sehen, dass man Ihm nicht nehmen konnte, was Er freiwillig gab: Sich, Seine Gottheit und Menschheit, Seine menschgewordene und dennoch unendliche Bereitschaft zur Gnade für den Glauben.
Am Kreuz ist die Sache die: Was wir geworden wären, wenn wir es allein getan hätten – Affen, Monster, Teufel, die Gott los wurden –, das können wir nicht werden, wenn Gott sich selbst da einsetzt. Wenn Er unsere Gottlosigkeit annimmt, dann hebt Er sie zugleich auf.
Wenn Er den Tod, der Ihn abwürgen sollte, zum Beweis Seiner allem überlegenen Verbundenheit mit uns macht, dann ist diese vermeintliche Erniedrigung der höchste Ausdruck Seines Plans, dass wir Menschen werden sollen, wie Er sie will und liebt: Lebendig und voller Vertrauen auf Ihn.
Nicht umsonst setzt Johannes die Erinnerung an die eherne Schlange vor das schönste und dichteste und höchste und tiefste und größte und unvergesslichste Wort seines Evangeliums, … ja, des ganzen Neuen Testaments (Joh.3,16!).
Wie die von Mose erhöhte Schlange zeigte, dass was Israel sich gewünscht hatte, nicht eintrat, sondern Gott es zu seinem Heil doch in die Freiheit führte, so zeigt auch der Mensch am Kreuz, dass die menschliche Versuchung des Ohne-Gott-Seins zum Gegenteil geführt hat: Dass Gott Seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben!
Sehen wir zu, dass wir’s nicht aus den Augen lassen.
Denn es ist wie bei der Schlange, die man nicht sehen mag, aber doch sehen muss: Wer es ansieht, der soll leben!
Amen.
[i] W.A. 1, 354, 19ff
Invocavit, 18.02.2024, Matth.4,3-11, Stadtkirche, Jenny Müller
Versuchung: Ist das die Sucht oder sind wir auf der Suche?
I
„Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden.“ Mt 4,3
Bist du also Gottes Kind, so zeig ihn mir, deinen Gott, denn ich bin doch nicht blind.
Bist du ein Christ, so zeig mir wo Er ist,
oder versteckt Er sich, wenn die Welt geht unter in diesem Mist?
Bist du eine, die an Ihn glaubt- dann sag mir, hat deine Glaube dir den Verstand geraubt?
Oder bist du der, der abends betet, Gott dankt für diesen guten Tag, sag - was macht deinen Glauben so stark? - Dass du nicht davon ablässt und dich erfreust an dem was du hast nur selbst erzeugt?
„Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab, denn es steht geschrieben“ Er wird seinen Engeln für dich Befehl geben und sie werden dich auf den Händen tragen...“ Mt 4,6
II
Ja, Herr Teufel, gern und recht, will ich dir zeigen wir wunderbar mein Gott ist.
Doch braucht Er dafür nicht Steine verwandeln oder mit Wundertaten anbandeln, braucht nicht beweisen Seine Größe, denn ich gib Ihm und mir nicht die Blöße - mich und meinen Glauben beweisen zu müssen, vor dir und der ganzen Welt, nur weil du so kleingläubig glaubst, dass du dich selber hältst.
Ich bin es satt, die ganzen Fragen, die mich in die Irre führen wollen, die mir und dir Herr Teufel beweisen sollen, dass es meinen Gott nicht gibt.
Was für ein Humbug in diesen Tagen, die Leute glauben nicht mehr an Wundertaten, wollen mir zur Vernunft raten -
denn gerade befind ich mich für sie wohl zwischen verrückt sein und verrückt werden - sollte mich und meine Gedanken lieber erden.
Ich bin es leid die ganzen Blicke, die mich verurteilen, nur weil ich mein Herz gen Himmel strecke, muss mich und Dich, mein Gott, verteidigen in dieser Zeit, muss dabei zu sehen wie sie Dich entweihen, bei dem Anblick will ich nur schreien.
Was hat es so weltfern gemacht, Gott, an dich zu glauben? …Dass Leute haben aufgehört zu staunen? ..Dass sie ihren Verstand haben erlauben lassen, Dich aus ihrer Welt zu rauben?
..Oder dass all die schlechten Nachrichten einem selbst deine Hoffnung klauben?
III
„Und so …führt der Teufel uns mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigt uns alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und spricht: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“ Mt 4,8-9
Ja die Versuchung lauert überall,
wir können bald leben im Weltall,
mit Gentechnik aufhalten unseren Verfall,
wahrscheinlich mit Drohnen fliegen schneller als der Schall,
unsere Vorstellung vom Leben so ….prall.
Und da stellt sich mir die Frage: Kommt des Teufels Versuchung eigentlich von Sucht oder von Suche?
…und ist es wirklich so ratsam bei dieser Frage auf Gott zu fluchen,
oder … doch lieber vielleicht einen Platz in seinem Reich zu buchen?
Versuchung, dass ich die Sucht,
sie haut einen um mit ihrer Wucht.
All die Wünsche und Gedanken,
die unseren Verstand bringen ins Wanken,
all das „hätte-wäre-könnte“, welches nicht aufgibt und dir verspricht, dass es noch besser geht, dass da noch mehr ist in diesem Licht:
All das Verlangen nach der Unmöglichkeit,
nach der eignen Utopie in der Wirklichkeit.
Und so können wir manchmal nicht anderes - müssen uns hingeben,
müssen es fühlen in uns so bebend,
müssen es aufnehmen in unsere innere Leere in der Hoffnung, dass es uns erfüllt.
„… Der Geist zwar ist willig, das Fleisch aber schwach.“ Mt 26,41
Doch was ist, wenn es dann einfach wieder verdampft und gleich darauf spüren wir innerlich wieder diesen Kampf, ..kein Gefühl des Friedens in uns, so sanft.
Das Versprechen: Nur versprochenen Silben,
kein festes Wort, das unser Verlangen kann stillen.
Kommt Versuchung also von Sucht …oder doch von Suche?
Denn dann sehen wir all die anderen Götter in dieser Welt, die uns angepriesen werden, in der Hoffnung, dass ein bisschen Glück vom Himmel fällt:
all die anderen Götter, wie die Liebe, die sagt „Am Ende sieg ich“,
oder die Hoffnung die uns spuckt „Alles wird gut“ ins Gesicht,
das Schicksal das stolz darbietet: „Es kommt wie es kommen soll“
und das Karma, das vorfreudig grollt: „Jeder bekommt was er verdient“
Ja, das Feld zu Dir, unser Gott, ist wahrlich vermint.
Ach und dann nicht zu vergessen, all die Helden und Heldinnen die ihren Glauben an sich selber messen: Ihre Schönheit, ihren Reichtum und Besitz.
Ja.. man kann echt reinfallen auf diese ganzen Tricks.
Denn wer muss nicht zugeben, dass es einfach ist,
mal die Welt in der eigenen Hand sich drehen zu lassen -
ohne auf Anderes zu achten, ohne über Andere zu wachen, ohne was für die Gemeinschaft zu machen.
Unsere Welt ist manchmal klein, wir wollen manchmal einfach nur sein.
Der Alltag rauscht an uns vorbei, zieht uns mit sich und uns in ihn hinein:
Dann sind da all die Sachen in unserem Kopf, all die Zwänge und Wünsche und hirnlosen Gespinste .. und all das was uns aus dem Gleichgewicht bringt.
Wie ein Schiff, das zu einer Seite hin langsam sinkt.
Die Freiheit uns dann hinterherwinkt und das Mögliche was unsere Utopie umschlingt.
Puh - das ist ganz schön viel Versuchung.
Doch die Größte, das ist der Nicht-Glaube in diesen Tagen.
Der Zweifel, der stellt deine ganze Weltanschauung in Frage.
Die dunklen Schwaden, die ab und zu aus dem hellen Licht ragen.
Das ist der Moment, wenn du gerne sehen würdest, wie der Teufel auch, dass Gottes Engel dich tragen.
Wenn all die grauen Gedanken an dir nagen und du stolperst und verlierst dein Gleichgewicht.
Da wünschen wir uns Du Gott, tauchst auf und schaust uns ins Angesicht. Da suchen wir Dich in all den Nebelschwaden - da suchen wir Dich, kurz vorm Verzagen.
Das ist ganz schön viel Versuchung. Doch auf was sind wir auf der Suche? Ist das vielleicht nur die Suche nach einer Zukunft?
IV
Sind auf der Suche in all dem Chaos, im Jetzt und Hier, wollen doch eigentlich nur ein Gefühl des WIRS.
Wollen, dass eine Hand uns festhält,
wollen, dass unsere innere Leere uns nicht ständig vor die Füße fällt, wollen das Jemand unser Leben mit Seinem Licht erhellt.
Und so brauchen wir doch eigentlich sonst nichts in dieser Welt,
wollen doch nur dass Sein himmlischer Glanz auf uns fällt.
Das Wissen, dass Er für uns da ist, alle Zeit,
und dass so unsere Seelen nicht mehr nach Unvollkommenheit schreien.
Müssen uns eben nur besinnen.
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“ Mt 4,4
All die Versprechungen nach „Höher-Schneller-Weiter“ aus deiner Hand, mein lieber Teufel,
kannst du behalten - sie zerfallen zu Sand.
Denn wir haben‘s erkannt.
Haben erkannt, was wir brauchen, stehen manchmal etwas auf dem Schlauche.
Denn all die Verheißungen unserer Zeit, sind nichts wert gegen Seine Ewigkeit.
Sind nichts wert, denn wir wollen Gottes Herrlichkeit.
„Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“M t 4,10
Brauchen also nicht mehr suchen, nicht mehr fragen, nicht mehr versuchen ständig was Neues zu wagen - denn da ist diese Ruhe, dieses Licht, Sein Wort, das zu uns spricht -
Und es hat Gewicht: Ist wahr, ist klar, ist voll Liebe für uns.
Und an Ihn zu glauben ist keine große Kunst.
So kann es aufhören das Suchen und all die Versuchung, denn..
Er ist unsere Antwort auf die Zukunft!
Und „Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel herzu und dienten ihm.“ Mt 4,11
So bewege Gott, der Herr unsere Herzen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Sexagesimae, 04.02.2024, Stadtkirche, Markus 4, 26 - 29, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Sexagesimæ - 4.II.2024
Markus 4,26 - 29
Liebe Gemeinde!
In einem ziemlich durchwachsenen – und schon haben wir landentfremdeten, virtualitätsaffinen Städter ein Bild aus dem Ackerbau! – … in einem ziemlich durchwachsenen Zeitungsartikel also, der sich über die protestantische Neigung zur Hochschätzung eines strengen Arbeitsethos ausließ, wurde Jesus als etwas bezeichnet, das mir nie in den Sinn kam, kaum über die Lippen und nun nicht mehr aus dem Hinterkopf kommt: Jesus war „ein glücklicher Arbeitsloser“ hieß es da, in dem Donnerstagsblatt, das die sog. Intelligenzia gern liest[i].
… Jesus, ein Arbeitsloser. So denken sicher nur Protestanten, die im engen Sinn buchstabengläubig sind. Denn das Neue Testament zeigt Ihn uns tatsächlich nicht als den Zimmermann, der Er war. Es schweigt über die beinah zwanzig Jahre Maloche, in denen Er in Nazareth tagaus, tagein einfach mit Seinen Händen arbeitete und Sich abrackerte.
Wer allerdings ein wenig Lebenserfahrung oder Phantasie hat (was sich gegenseitig bedingt), der ahnt, wie eine anstrengende körperliche Tätigkeit, wie genaue Maßarbeit, wie Auftragserfüllung und Haushalten mit den Schaffenskräften, wie Fertigstellung eines Werks und dann sofort Entwurf und Entstehung eines neuen Gegenstandes den Menschen Jesus, den Arbeiter Jesus geformt haben.
Für manche Christen - unter ihnen besonders der berühmte französische Aristokrat Charles de Foucauld[ii] - war es darum gar nicht das im Neuen Testament beschriebene Wanderprediger- und Wunderheiler-Dasein Jesu, das sie in Seine Nachfolge brachte, sondern das buchstäblich verschwiegene, ordinäre Handwerkerleben. Dieses verborgene Leben in Nazareth, die Jahre der einfachen Arbeit Jesu ließen Charles de Foucauld den Luxus und die militärischen Ehren seiner Herkunft aufgeben und stattdessen ein Leben als Pförtner, Hausmeister, Laufbursche, Straßenfeger, Dachdecker, Gärtner und Kloputzer bei verschiedenen Klöstern in Nazareth und Jerusalem versuchen, um schließlich in Algerien als Einsiedler unter der berberischen Landbevölkerung wie Ihresgleichen zu existieren: In der Nachfolge Jesu, des Alltäglichen, … des Kleingewerbetreibenden, des Tagelöhners.
Wer also ein wenig Lebenserfahrung und Phantasie hat, spürt zwischen und hinter den Zeilen der Bibel nicht nur den fröhlichen Taugenichts, den unbekümmerten Landstreicher Jesus, sondern auch den schuftenden, unauffällig sich abmühenden Menschen. Jesus, das Arbeitstier.
So dass ich durchaus zu der Predigt ausholen könnte, die seit Wochen in mir gärt, weil ich - wie wir alle - an jeder Ecke und jedem Ende, in der Kita, in den Pflegeeinrichtungen, bei Behörden und auf Bauernhöfen, in den Nachrichten und in beinah jedem Gespräch höre und merke: Es gibt zu wenig Arbeitsbereitschaft in unserm Land, … zu wenig Arbeitsbereitschaft und zu wenige Arbeitskräfte. Da ließe sich nicht nur streng arbeitswütig und geschäftstüchtig und gewinnsüchtig, wie der berühmte Soziologe Max Weber das Ethos der Reformatoren zusammenfasste, ansetzen, sondern auch durchaus einfach biblisch – und das heißt immer kritisch gegenüber uns Zeitgenossen.
Biblisch wäre die Kritik folgende: Ihr könnt durchaus ja noch Leistung und Einsatz bringen. Aber im Namen des Verkehrten. Wo Arbeit als Mittel zum persönlichen Erfolg, mit dem Ziel origineller Sinnfindung, als ein Weg der Selbstverwirklichung betrachtet wird, werden Ursache und Wirkung verwechselt. In der biblischen Ethik dient Arbeit keinem dieser Zwecke des Selbst[iii]; biblisch ist Arbeit nie Ego-motiviert, sondern sie ist - in einem antiquiert scheinenden Begriff gefasst - „Dienst“[iv]. Dienst, der geleistet wird für die Gemeinschaft, für Andere, für den Frieden, gegen die Mächte der Sünde und des Todes.
Insofern ist der Vorschlag, eine Dienstpflicht für junge Menschen einzuführen, nicht nur hilfreich und notwendig, sondern auch heilsam: Weil nur so sich zeigen kann, dass etwas, das ich nicht für mich tue, sondern eindeutig für andere, mir selbst dennoch eine Erfahrung des Lohnenden - nicht des Lohns! - und eine Bestätigung der Menschlichkeit - was mehr ist als Selbstbestätigung! - und ein beglückendes Bedanktwerden - das nicht als Selbstbeglückung denkbar ist! - eröffnen kann.
… Dienst ist mehr als Arbeit, weil er den arbeitenden Menschen in einen größeren Zusammenhang als das bloße Eigeninteresse rückt.
Deshalb stellt sich bei allen, die vorhaben, durch ihre Arbeit v.a. sich selbst zu bedienen und zu beweihräuchern, so wenig tiefes Glück und so viel Unbefriedigung ein. Weil sie mit ihrem Anspruch, sich selbst durch ihren Erfolg zu finden und zu bestätigen, an etwas arbeiten, das nicht erarbeitet werden kann: Einbettung in die tiefste menschliche Lebenserfüllung einer neid- und sorglosen Harmonie.
Genau diese Erfüllung aber werden wir nicht herbeischaffen oder uns zusammensparen oder durch Sonderzulagen erwerben können, auch wenn sie in der Dankbarkeit und Sinnerfahrung des menschlichen Für- und Miteinanders, des Einander-Dienens also aufleuchtet.
Und damit sind wir nun an der Stelle, an der unterm Trampeln und Stampfen aller menschlichen Anstrengung trotz allen Einsatzes dennoch kein Gras wächst und kein Segen! … Wieland, der Waffenschmied, Hans Sachs, der singende Schuster, Dagobert, die metallbrütende Ente, … wir ganz unterschiedlich schaffenden, schaffenden Häuslebauer alle miteinander werden dieses Eigentliche tatsächlich nie fabrizieren, produzieren, kultivieren, aktivieren können.
… Unsere ganze Arbeit an dieser allesentscheidenden Stelle ist und bleibt für die Katz!
… Trotz aller Schwielen an Jesu Händen, trotz aller apostolischen Ethik des Dienstes, trotz aller Notwendigkeit, das Arbeiten als sinnvollen Beitrag nicht für den Einzelnen, sondern für die Gesellschaft wiederzugewinnen, sind wir hier auf dem eigentümlichen, dem einzigartigen Acker aus Jesu Gleichnis, auf dem das Wesentliche wächst, während niemand etwas tut.
Diese kurze Erfindung Jesu, des Reich-Gottes-Geschichtenerzählers von der selbstwachsenden Saat bleibt ja auch heute noch so irritierend, wie sie es ursprünglich war. Sie zeugt von einer buchstäblich blühenden Phantasie.
Denn ob er uns Hobbygärtnern aus der Vorstadt oder seinen galiläischen Pappenheimern damals erklärt, dass ein Bauer sät und danach schläft und Däumchen dreht: Alle, die das Regal des Supermarkts nicht für den Ursprung der Nahrungsmittel halten, wissen, dass das nicht zutreffen kann. Selbst Robinson in seinem Südseeklima, das wie ein Gewächshaus Furchtbarkeit unterstützt, musste Gerste und Reis, die er zufällig sprossen fand, mit mühevollem gezieltem Einsatz anbauen und pflegen, um einen wirklichen Ertrag davon zu haben.
Jesu lässige Landwirtschaft des dolce far niente - diese Ernteentwicklung ohne menschlichen Einsatz - ist aber nicht nur agrartechnischer Quatsch, sondern auch theologisch fragwürdig: Das unbekümmerte „Einfach-Kommen-Lassen“, von dem das Gleichnis spricht, steht ja im klaren Widerspruch zu dem Fluch auf dem Acker, den Adam einst verursachte: „Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang“, hatte Gott da verhängt. „Dornen und Disteln soll er dir tragen dein Leben lang … und im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist“ (1.Mose 3, 17ff).
So hart also stößt sich Jesu Idyll von „der Mensch schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie“ mit der biblischen Urkunde unserer nicht arbeitsfreien, nicht mühelosen Wirklichkeit.
Aber genau an dieser Naht- und Reibungsstelle enthüllt sich schließlich auch der Sinn des unrealistischen kleinen Gleichnisses vom bequemen Bauernleben. Seit den ersten Zügen der Bibel wissen wir ja bereits, dass die Schöpfung zwei Möglichkeiten bot: Das reine Naturwunder jener Lebendigkeit, die jede Gestalt des Lebens beherbergen und bewirten kann, und die aus des Menschen Entfremdung resultierende Eigenleistungswelt, in der der nunmehrige menschliche Fremdkörper nur unter Anstrengungen über die Runden kommt und alle anderen Geschöpfe in seinen Überlebenskampf verstrickt.
Letzteres ist die Welt der Arbeit: Der Mensch im Stress, der die gesamte Kreatur mitstresst.
Ersteres war das Paradies, der Garten des selbstwachsenden Segens.
Und so irritiert, so befremdet wir zunächst auch sind, wenn wir durch Jesu Worte auf eine Wirklichkeit stoßen, die nicht die unsere zu sein scheint, so wenig rätselhaft und geheimnisvoll ist dann doch, wovon er dabei spricht.
Wer – wie es in Jesu Mund immer wieder heißt (vgl. allein Mk.4,9+23; [8,18]) – „Ohren hat, zu hören“, der merkt, was Jesus ja auch ausdrücklich in der Einleitung zur Beschreibung der von uns Menschen unbeschleunigten und ungestörten und unverursachten und unaufhaltsamen Wachstumsentfaltung ausspricht: Nämlich dass der Acker, der ohne Fluch und Plagen einfach nur aus sich Frucht bringt, kein Arbeitsfeld der Menschen darstellt, sondern den Durchbruch des Reiches Gottes! ————
Und jetzt ist es an uns, in die Ruhe einzukehren, die sich da ausbreitet!
… Wie viel sind wir in Habacht-Stellung angesichts der riesengroßen Aufgaben, die auch dem einsatzwilligen, dem dienstbereiten und frei verantwortlichen Teil der Menschheit über den Kopf wachsen, … von denen ganz zu schweigen, die in ihrer materiellen Not oder Abhängigkeit, ihrer Unterdrückung, ihrer Zermürbung überhaupt nicht daran denken können, ob das Feld noch für die nächste Ernte bestellt ist!
… Wie viel Flurschaden ist in der Welt angerichtet; wie viel Boden haben wir schon verloren, verbrannt, überdüngt, ausgelaugt; wie viel Saat auf Zukunft haben wir mit unserm Tun und Lassen zerstört, wieviel veruntreut, wie viel ist uns auf dem Halm verdorben; wie viel Einsatz sind wir schuldig geblieben, obwohl Jesus uns doch zu seufzen lehrt (Matth.9,37f): „Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige! Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende!“
… Stimmt alles, stimmt alles! …
… Und dennoch das Gleichnis von der Ruhe vor der Ernte.
Dennoch dieses Gleichnis Jesu vom seelenruhigen Reich-Gottes-Abwarten!!
Dieses Gleichnis vom seligen Nichts-Tun-Können und also auch Nichts-Tun-Müssen!!!
„Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht und hernach lange sitzet und esset euer Brot mit Sorgen, denn seinen Freunden gibt’s der HERR im Schlaf“: Dieser einzigartige – wenn wir ihn ernstnehmen: tausend Jahre Yoga aufwiegende, allen Leistungsdruck der Erde aushebelnde, alles Burnout vorbeugend löschende, alle schwätzende, panikverbreitende, apokalyptikschürende, aktivismusverströmende Weltrettungsgeschäftigkeit entlarvende – Satz der Entlastung in den Psalmen ist der lange, tiefe, regelmäßige Atem, den Jesus uns zu schöpfen und auch wieder ausströmen zu lassen lehrt.
… Schlafen und Aufstehen, Leben und Sterben, Sterben und Auferstehen: Dieser Rhythmus schlichter, existentieller, vertrauender Hingabe an die Quelle und das Ziel unseres Daseins – Gott, Der uns beatmet und belebt und unsern Atem und unser Leben wieder in Sich hineinnimmt – … dieser Rhythmus voller Ruhe ist die unvergleichliche Gabe des Glaubens: Warten zu dürfen, dass alles reif wird.
Warten zu dürfen, dass in dieser Welt, die wirkt, als sei sie welk zum Tode, das Reich Gottes heranreift. Warten zu dürfen, dass in der Geschichte, die wir als unsere zerrissene Gegenwart erleben, die Zukunft – gute Zukunft, heile Zukunft, ewige Zukunft – wächst …, auch wenn wir nicht wissen wie: So heißt es ja ausdrücklich! … Wir wissen nicht wie! Wir können es nicht wissen. Und nur darum auch nicht selbst in die Hand nehmen, beschleunigen, beschlagnahmen und zerstören.
Warten zu dürfen, dass um uns und in uns das Ziel Gottes sich durchsetzt. Dass Gott zu Seinem immer schon gültigen und dann endgültig unumstößlichen Ziel kommt, dass alle Dinge, alles Menschliche, jede Seele, jedes Wesen sein werden, wie Er sie wollte (vgl. 1.Mose1,31): „Sehr gut!“
Dieses unerklärliche, unbemerkte, unaufhaltsame Wachstum Gottes in mir, in Dir, in den Verhältnissen, in den Formen, in den Kleinigkeiten und den überwältigenden Zusammenhängen der Wirklichkeit, ist unserem Zugriff, unserem Einfluss, unserer Mühe entzogen.
Einzig in der Ruhe, die der Glaube daran schenkt, … einzig im völligen Einswerden mit dem Geheimnis, dass alles trotz allem gut werden wird, liegt der Sinn des unsinnigen Gleichnisses vom Nichtstun. ———
Dass wir faule Leute, „glückliche Arbeitslose“, desinteressierte Schmarotzer dadurch werden sollten, die dank der Ausbeutung der armen 90 % oder eines sonstigen Automatismus unserer Lebensumstände einfach bequem absahnen: Das sei ferne!
Der Acker, auf dem Gott allein Sein Reich hervorbringt, ist zu heilig für solche Sünde.
Die Sichel, die Er schickt – im Neuen Testament begegnet sie nur noch einmal am Ende aller Tage, wenn es in der Offenbarung (14,14) heißt: „Und ich sah … auf der Wolke saß einer gleich einem Menschensohn; der hatte eine goldene Krone auf seinem Haupt und in seiner Hand eine scharfe Sichel …“ – die Sichel also und die Ernte sind zu ernst für solchen Schwachsinn.
Jesus hat mit Seinen eigenen Händen zu viel getan, … sie sind Ihm zu schrecklich verwundet worden, man hat sie zu brutal zugerichtet, um Ihm am Kreuz die Welt aus der Hand zu nehmen, für die Er Schweiß und Blut als Zimmermann und Schöpfer, als Arbeiter und Erlöser vergoss.
Unbeteiligt an der Welt kann uns das Evangelium vom Warten-Dürfen also wahrlich nicht machen.
Aber unverzagt: Gottes Reich wächst. Es reift. Nicht davon wird wieder leer zurückkommen (vgl. die Schriftlesung: Jesaja 55, 8 -12); es wird vollkommen aufgehen.
Und wir dürfen schlafend und wachend, lebend und sterbend uns ganz darauf verlassen.
Wie Charles de Foucauld, der dem Arbeiter von Nazareth sein Leben im tiefsten Vertrauen der Hingabe an Seine Ziele überließ. – So können auch wir beten[v]:
Mein VATER,
ich überlasse mich Dir,
mach mit mir, was Dir gefällt.
Was du auch mit mir tun magst,
ich danke Dir.
Zu allem bin ich bereit, alles nehme ich an.
Wenn nur Dein Wille sich an mir erfüllt
und an allen Deinen Geschöpfen,
so ersehne ich weiter nichts, mein Gott.
In Deine Hände lege ich meine Seele;
Ich gebe sie Dir, mein Gott,
mit der ganzen Liebe meines Herzens,
weil ich Dich liebe,
und weil diese Liebe mich treibt,
mich Dir hinzugeben,
mich in Deine Hände zu legen,
ohne Maß,
mit einem grenzenlosen Vertrauen;
denn Du bist
mein VATER.
Amen.
[i] https://www.zeit.de/karriere/2016-11/martin-luther-reformation-arbeit-kapitalismus/komplettansicht
[ii] Vgl. dazu Jean-François Six, Charles de Foucauld – Der kleine Bruder Jesu, hgg. v. J.Rintelen, Freiburg/Breisgau 2015 und Gerd A. Treffer, Charles de Foucauld begegnen (Reihe: Zeugen des Glaubens), Augsburg 2000.
[iii] Die Krone der Schöpfung ist der Sabbat, die Ruhe: Das ist ein Grunddatum des biblischen Verhältnisses zur Wirklichkeit. Und so ist Arbeit biblisch tatsächlich zunächst die (negative) Konsequenz der menschlichen Wahl, wie Gott sein zu wollen. Früher hätte man formuliert: Arbeit ist Strafe für den Sündenfall. Nicht zufällig ist daher das Ur-Wunder der großen Taten Gottes, das Sein Lob, unseren Glauben und letztlich die Theologie weckt, die Befreiung Israels aus Sklaverei und Fron. Im Neuen Testament ist die Bilanz dann immer noch ungünstig für alle Verklärung eines Arbeitsethos der Selbstzwecklichkeit. Zwar ist der Apostel Paulus aus Bescheidenheit und aus Hochschätzung seiner Autonomie bedacht auf seinen eigenen Broterwerb als Handwerker (vgl. bes. 1.Korinther 9) und kann deshalb apodiktisch die Arbeit als Zuchtmittel der Freiheitsordnung eines evangeliumsgemäßen Lebens vertreten (bes. 2.Thess. 3,6-13), aber die überwältigende Perspektive, in der die Wirklichkeiten und Terminologie des Eifers, der Arbeit, des Knechtseins und Dienstes begegnen, ist eben die Praxis, die bei uns bis heute mit dem griechischen Wort für „Dienst“ verknüpft bleibt: „Diakonie“. Menschlicher Einsatz ist gesegnet, wenn er dem Miteinander und den Bedürfnissen der Gemeinschaft dient.
[iv] Die problematische Konnotation des Dienstbegriffs im folgenden Kontext, der immer wieder auch den NS-Arbeitsdienst vergegenwärtigt, gehört zu den Ambivalenzen, denen unsere Sprache, unsere Sozialformen und Weltgestaltung historisch nicht entgehen kann.
[v] Zitiert nach: https://www.charlesdefoucauld.de/index.php/spiritualitaet/messtexte-und-gebete/36-gebet-der-hingabe
Für die vollständige (stärker mündliche) „Urfassung“ vgl. Charles de Foucauld, Allen ein Bruder – Passwörter einer Spiritualität für unsere Zeit, hgg. von einer Gruppe Kleiner Schwestern und Kleiner Brüder, München-Zürich-Wien, 2020. S. 90.
3.So. n. Epiphanias, 21.01.2024, Stadtkirche Kaiserswerth, 2.Könige 5, 1 - 19 i.A., Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.n. Epiphan. - 21.I.2024
2.Könige 5, 1-19 i.A.[i]
Liebe Gemeinde!
Dieses Jahr dürfte politisch eines der bittersten Jahre seit dem einstweiligen Ende der großen, grässlichen, genozidalen und gewaltverherrlichenden Diktaturen in Europa werden.
Nach 1945 und 1989 hat es uns gefallen, die Sünden der Väter und Mütter, den mörderischen und gewissenlosen alten Adams- und Evasmenschenschlag für historisch zu erklären. Man meinte, „historisch“ heiße vergangen[ii]; es bedeutet aber etwas anderes: Es bedeutet „geschichtlich“, … und das heißt mit anderen Worten „real“.
Bereitschaft zu jeder Form der Lüge, Versessenheit auf jeden Unsinn und jede Untat im eigenen Interesse, Gier nach sinnloser Zerstörung, weil man sonst nichts fühlt, … hoffnungslose Flucht in den Krieg, der so wie er derzeit überall geführt wird den Menschen darin entmenschlicht, dass er Tat ohne Plan, Handlung ohne Zukunftsperspektive ist, obwohl doch das Bewusstsein der Zukunft den Menschen vom Tier unterscheiden dürfte, … alle diese Perversionen sind so losgelassen, so beherrschend, so weltwirksam geworden, dass man angesichts der Vertrauenskrise in unserm Land, …angesichts der Barbarei der Kompromisslosigkeit, die die Demokratien bedroht, …angesichts des unverhohlenen Sadismus, der auch in sogenannten aufgeklärten Gesellschaften, erst recht aber in den Tyrannenreichen dominiert, fragen muss: Was wird uns helfen? …….
Und nun ist die Antwort aus der grauen Vorzeit, als der Staat Israel - nicht der Staat Juda - sich auflöste, weil auf Erden nichts sicher ist und weil der HERR - wie es im Predigttext schaudererregend schnörkellos heißt - den Feinden Israels den Sieg gab, … nun ist die Antwort auf die Frage, was uns helfen wird, überraschend schnodderig: Kinder und Krankheiten.
Und da die alte, heilige Heilungsgeschichte so unverblümt daherkommt, leisten wir’s uns jetzt auch mal. Krankheiten wären manchen der Kriegstreiber und Gewaltschürer zu gönnen: Wenn ich Pest und Cholera herbeipfeifen könnte (eigentlich unerhört, in einer Predigt so zu reden), wäre es ein Leichtes zu sagen, an wessen Hals ich sie wünschte. Dass nämlich gewisse Volksverhetzer und Anwärter auf den Massenmörder-Titel von Thüringen bis Florida, vom Kreml bis zur Knesset und gewisse Schurken mit Atomraketen und Tunneln unter Kranken-häusern mal ordentlich von Schmerz und Schwäche schachmatt gesetzt sein sollten, statt scheinbar unempfindlich robust ihre Aggression verbreiten zu können, ist vielleicht nicht mal ein ganz unfrommer Wunsch: Wer Leiden nutzt und wem es nutzt, der sollte es auch kennen.
… So war es bei Naaman, dem Feldherrn, den der HERR obwohl er gegen Israel kämpfte mit Sieg segnete. - Und durch Krankheit verwandelte.
Verweilen wir kurz bei diesem sonderbaren Gedanken, der uns zu wild und unzivilisiert, zu ungezähmt und primitiv erscheinen mag. Darf man den Feinden der Menschlichkeit, darf man den Vernichtern des Guten, den Zerstörern des Friedens Böses wünschen?
Die angefochtenen Beter der Bibel, das leidende Volk Gottes tut es andauernd.
Weil in diesem Wunsch, gegen den sich unsere Wohlerzogenheit und unsere naive Humanität sträuben, der Ernst der göttlichen Verheißung und unseres Vertrauens darauf sich Ausdruck verschaffen:
Würden wir Gott nicht zutrauen, dass Er Heil will, ließe das Unheil uns im unbequemen Zweifelsfall gleichgültig und stumm.
Wenn Gott nichts heilig wäre, dann gäbe es nicht das, was wir Sünde und Sünder nennen.
Wenn es aber das Gute gibt und die Gerechtigkeit, dann können wir dem Schlechten keinen Bestand und dem Bösen keine Ruhe gönnen! Dann dürfen, nein, dann müssen wir hoffen, dass das Verderben verdirbt, … dass die Vernichtungsenergie vernichtet, der stets Verneinende verneint, der Würger erwürgt wird.
Das ist ehrlichgesagt sogar das Zentrum unseres Glaubens.
Wohlgemerkt: Nicht, dass wir hier die Vollstrecker, dass wir die Rächer, die Entscheidenden, die Handelnden sind oder sein dürften.
Aber dennoch sollen wir unbedingt darauf hoffen, daran glauben, darum beten, dass die Grausamkeit und abgründige Bosheit in den Menschen von einem Widerstand, von einer Gegenkraft getroffen und dann geschwächt und dann besiegt und unschädlich gemacht werden.
Das zu wünschen heißt, das Kreuz, an dem Einer alle Krankheit, alle Schuld, alles Gift der Sünde an Seinem Leib ertrug, in seinem Ernst ernst zu nehmen.
Die zum Zerstören Mächtigen, die zum Lügen Eifrigen, die zum Blutvergießen Lustigen, die mit dem Bösen Verbündeten müssen getroffen werden von dem, was sie tun, es muss aus ihnen heraus, es muss ausbrechen an ihnen selbst, damit sie in der Vergiftung und Krankheit ihrer Schuld Gnade, Vergebung und Heilung finden können.
Solange sie es nur anderen antun und selbst nicht erleiden, wären sie nicht zu retten. Die bloßen Täter der Sünde werden durchs Kreuz - wo die Sünde unschädlich gemacht wird - nicht gerettet, sondern nur die Opfer der Sünde.
Mögen sie also krank werden: Auch wenn die Welt immer noch erschrickt und orakelt, wenn ein amerikanischer Verteidigungsminister ins Hospital muss und ein Monarch mit ähnlichen Beschwerden auch, oder eine Kronprinzessin[iii] oder eine andere der vielen Kunstfiguren, die wir die Starken und die Schönen nennen.
Dabei ist doch nicht die unerkannte, die bloß inkubierte, die rein latente oder bewusst ignorierte Krankheit der Weg zur Heilung, sondern nur ihr Ausbruch. …
Das ist eine der um den Preis der Rettung vergessenen Wahrheiten: Dass uns nicht das Leiden, sondern vielmehr seine Verdrängung und Verleugnung im Weg steht.
Wenn wir anfangen, das wieder zu begreifen – dass unser Kult des Gesunden, unsere Vergötzung des Wohlfühlens, unsere Selbstverdummung, man könnte ohne Schmerzen Mensch sein, uns schaden, uns schwach und unreif in Angst und Täuschung halten – … wenn wir anfangen, das wieder zu begreifen, dann kann uns geholfen werden.
Wir brauchen eine Kultur, die nicht das Strotzende, sondern das Hinfällige, nicht das Brutale, sondern das Bedrohte, nicht das Unberührte, sondern das vom Leben Gezeichnete achtet und ehrt. Ein Kultur, die nicht die Kranken, die Eingeschränkten, die Ohnmächtigen, die Hilfs- oder Pflegebedürftigen „aussetzt“, sondern deren Randfiguren und Außenseiter die gedankenlosen Egoisten, die Macht- und Erfolgsmenschen sein werden.
Diese Kultur ist fern gerückt in unserer nachchristlichen Zeit.
Aber wir müssen sie in uns tragen, müssen sie praktizieren und ausbreiten, wohin immer Gott uns geraten lässt, wohin immer er uns stellt, … so wie jenes verschleppte Kind aus Israel, das im Haus des Naaman von dem Propheten in Israel erzählt.
Dieses Mädchen mit einem Vertrauen, das man nur naiv nennen kann, ist ja diejenige, die dem großen Kriegsmann, der endlich krank geworden ist, um heil werden zu können, die einzig wahre Hilfe weist.
Sie macht aus der Geschichte von der helfenden Krankheit die Geschichte von zwei Kindern und dem Heil.
Ihr Vorschlag ist exotisch abseitig.
Das ist unser Glaube auch.
In die Welt der Siegertypen passt eine Einladung zurück zu den Besiegten wirklich nicht.
Aber eine andere haben auch wir nicht.
Israel, das von Aram geschlagen war, ist eine ebenso lächerliche Anlaufstelle für etwas Gutes, wie ein von den Römern Gekreuzigter für das römische Reich sinnvollerweise eine Erlöserfigur hätte sein können. Doch diese Unwahrscheinlichkeit hielt das Mädchen aus Israel aus, und die gleiche Unwahrscheinlichkeit hielten die Apostel, hielten die Märyterinnen und Märtyrer, die Sendboten und Sendbotinnen des Mannes von Golgatha aus, die das Imperium zu heilen begannen, als sie in Seinem Namen Kranke heilten und Sklaven und Geächtete und Namenlose und Einfältige seligpriesen und in der Gemeinde sammelten.
Das Reich der Römer fiel.
Die Kirche aus den Katakomben aber, die Kirche, die am Ende der Erde in Armenien und Äthiopien, in Georgien und in Südindien früheste christliche Völker schuf, ist trotz aller ihrer Torheiten, ihres Verrates, ihrer Anpassungen und Panikattacken bis heute geblieben. Und sie wird weiter bleiben, so lange es Kinder gibt, die von dem Propheten in Israel erzählen und sagen, dass man bei Ihm Heil und Leben, Gerechtigkeit und Brot, Liebe und das Reich des Friedens finden kann.
Nur darf die Kirche nicht aufhören, dieses Sonderbare und Unwahrscheinliche zu tun: Immer bloß auf den Mann aus Israel zu weisen, Der kann, was niemand sonst kann!
Mir ist bang um unsere Kirche heute, weil sie sich so darauf einlassen will, zu sagen, was angeblich verständlich oder heutig oder lebensnah ist. … Aber dass man bei den Besiegten in einem kleinen, sterbenden Zwergstaat Zukunft und Rettung findet, wenn man ein großmächtiger Kämpfer ist …: Das zu sagen, was allen Erwartungen und jedem einfachen Einsehen derart diametral widerspricht, das will die Kirche heute viel zu wenig.
Zu sagen, dass man dahin gehen muss – und zwar mit seiner ausgebrochenen und nicht mehr versteckten Krankheit, mit seinen peinlichen und ekelhaften Nöten – … dass man dahin gehen muss, wo einer selbst in Not und Krankheit und Schmerz und Elend steckt und wirklich keinen Zauber, keinen Reiz verströmt, sondern bloß blutet, … zu sagen, dass man dahin gehen muss, wenn man Hilfe sucht: Sagen wir, … sagt die Kirche das noch?
Sie muss es sagen!
Wir müssen es sagen!
Keep Christianity weird[iv]!
Wir müssen - und was noch viel mehr ist: Wir können - wie das im 2.Buch der Könige so genannte „kleine Mädchen“ werden, das dem kranken Großen half. Naiv, meinetwegen. „Weird“. Aber unbeirrt. Nicht geltungssüchtig, sondern einfach sicher.
Wir können wie dieses kleine Mädchen werden, … wir Männer und Frauen, wir Jungen und Alten, die am komischen, am rettenden Glauben an den Propheten hängen, Der kann, was kein König, kein Diktator und kein Präsident sonst kann und was den König in Israel zu Naamans Zeiten so schockierte, als er die Bitte um Hilfe verstand: ER kann töten und lebendig machen.
… Der König in Israel erschrak über die Bitte, den kranken Krieger zu heilen: „Bin ich denn Gott?“ … Wir aber können zu einem Propheten in Israel weisen, zu einem neugeborenen König der Juden, der vor dieser Bitte nicht erschrecken muss.
… Ist ER denn nicht Gott?
Und so können wir – wenn wir beim Eigenartigen, beim unverwechselbar Einzigartigen unseres Glaubens bleiben! – wie mein allerliebstes kleines Mädchen aus Israel werden: Maria heißt sie, und auf den ersten, ältesten Bildern von ihr, da tut sie das, was wir tun können, sollen, müssen, dürfen: Auf diesen ältesten Ikonen heißt sie einfach nur die „Hodegetria“ - die Wegweiserin - und tut das, was die namenlose Kleine in Naamans Haus tat. Sie weist auf Den, Der unsere und aller Welt Hilfe ist.
Und was dann passiert?
---- Pah! Lächerlich! Niemand muss wie im Managermotivationsbootcamp über glühende Kohlen laufen oder eine Marathon-Challenge bestehen; niemand muss über sich hinauswachsen oder eine absurde Gegenleistung, einen fiktiven Preis für schamanistisch besprochene Eigenbluttransfusionen oder genetisch-molekulare aufbereitete Immunpräparate, die ewig-jung halten zahlen; niemand muss da beweisen oder vortäuschen, wie selbstherrlich und selbstheilend man doch ist.
Wir sind es nicht. Wir sind weder herrlich, noch in der Lage, uns selbst zu heilen als die Menschen, die wir sind.
Aber wie Naaman wird uns geholfen:
Bloß eintauchen.
Das heißt: Untergehen.
In nichts Großem. … Keinem gewaltigen Krater der Läuterung, keinem brodelnden Brunnen der neuesten chemischen Wunderwaffen gegen das Wirkliche am Leben. Nur in einem kleinen Wasserlauf am Rand von Israel: Einem Wasser, das einmal die Grenze zwischen der Wüstenwanderung und dem Heimatfinden war.
In diesem ehemaligen Trennungsfluss - dem Jordan -, der Drinnen und Draußen unterschied, der eine Linie zwischen der Todesgefahr des unsicheren Umherziehens und dem friedlichen Leben im Verheißenen markierte, … in diesem Fluss untergehen und doch nicht untergehen: Das ist alles.
Naaman hätte es beinah zu albern gefunden. Zu unerklärlich und auch zu antiklimaktisch.
Unter seiner Würde als Vertreter der Aramäerwelt politischer Gewalt.
Aber: Keep Christianity weird! … Uns ist die selbe Heilung gegeben. Die Taufe. Die alle, die sich auf diese vermeintliche Kleinigkeit einlassen, von großen, … von allergrößten Schädigungen, Täuschungen und Krankheiten heilt.
Wer sich auf die Taufe einlässt, auf das kleine Bad, das den alten Menschen mit seiner Sucht nach eigener Größe verschwinden macht, der kann werden, was Naaman wurde.
Denn beim Ergebnis des Heilungswunders durch das Wasser zeigt das 2.Buch der Könige ganz glasklar, dass es nicht um eine äußerliche Wiederherstellung allein geht. Sagt es doch von der Haut des aussätzig-gewesenen Naaman nicht nur, dass sie rein wurde, sondern sie wurde wie die Haut eines „jungen Knaben“ in genauer Entsprechung zu dem jungen Mädchen, dessen Vertrauen diese Wandlung anstieß.
– „Na’ar katan“ und „na’ara k’tanah“. Im Hebräischen hört man unmittelbar, wie es um diesen Gleichlaut geht in der Geschichte zweier Kinder. Einer Geschichte, in der einer durch Krankheit, Leid und Taufe so wird wie die andere - trotz Gefangenschaft und Leid - es dank ihres Glaubens schon war.
Es ist die Geschichte dieser beiden, die Jesus vor Augen gestanden haben muss, als Er sagte: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“ (Mathh.18,3)
Und darum sind es Taufgeschichten wie diese, in denen der alte Adams- und Evasmenschenschlag verwandelt wird in Kinder Gottes, die uns Hoffnung geben können in unserer Zeit.
Weil Menschen, die das Großspurige und Gewaltsame hinter sich und das Leid an sich heran lassen, die neue Welt, die neue Kreatur näher bringen, weil der Prophet in Israel, Der alles teilt und alles heilt, auch in ihnen jene Quelle fließen macht, von der Er selbst im heutigen Evangelium spricht (Joh.4,14): Wasser, das in das ewige Leben quillt … das Leben, das niemand allein, das wir alle gemeinsam nur in Gott haben!
Amen.
[i] Bei diesem Predigttext, der uns wegen des altkirchlichen Epiphaniaszeit-Motivs „Taufe“ an diesem Sonntag traditionell vorgegeben sein dürfte, stellt sich eine Grundfrage: Kann man – was seit Langem in der evangelischen Kirche und Theologie verpönt ist – heute noch „allegorisch“ predigen, d.h. im Ersten Testament Motive erkennen und entsprechend deuten, die im Neuen Testament wiederbegegnen und weiter gestaltet, gelebt, gefüllt werden? … Wie könnte man nicht? Wo die allegorische Korrespondenz und gegenseitige Abhängigkeit der beiden Teile der christlichen Bibel und damit auch der Traditionen von Synagoge und Kirche nicht in ihrer Differenzierung lebendig und fruchtbar wird, ist dem historischen Scheiden und aktuellen Zerreißen der Corpora– bei bester Absicht – unweigerlich der Weg geebnet.
[ii] Das „Ende der Geschichte“, das Francis Fukuyama 1992 in seinem vielzitierten Buchtitel feststellte, ist der tödlichste Bumerang der politischen und anthropologischen Diskurse der jüngeren Vergangenheit gewesen: Wunschdenken einer privilegierten West-Welt, die ausblendete, dass die meisten Milliarden dieser Erde weiterhin unter den vermeintlich vergangenen Realitäten der Gewalt, der Not und des Kampfes ihr Leben fristen müssen.
[iii] Eine Woche, in der nicht nur bunte Blätter über entsprechende Meldungen zu Lloyd Austin, Charles III. und Catherine, Princess of Wales berichteten, ist immerhin bemerkenswert für eine Epoche, die Krankheit oder Schwäche so ideologisch tabuisiert wie die unsrige.
[iv] Dieses Leitwort – „Haltet das Christentum eigentümlich / sonderbar / sperrig!“ – ist für mich sicherlich ein Impuls, der in diesem Jahr immer wiederkehren wird. Er verdankt sich dem unvorstellbar aufrichtenden Buch: Justin Brierley, The Surprising Rebirth of Belief in God – Why New Atheism grew old and secular thinkers are considering Christianity again, Tyndale House Publishers (Carol Stream, Illinois) 2023 - bes. S.222ff. - Wenn möglich: LESEN!
2.So. n. Epiphanias, 14.01.2024, Stadtkirche, Hebräer 12, 12 - 25 i.A., Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.n. Epiphanias - 14.I.2024
Hebräer 12, 12 - 18. 22- 25a
Liebe Gemeinde!
Vierzehn Tage später als alle anderen haben wir heute hier ein echtes Silvester-Feuerwerk aus dem Hebräerbrief erlebt: Es kracht und zischt, schlägt donnernd ein wie der Blitz, stäubt Funken und blüht hell auf in schönsten Farben.
Was Böller und Raketen, Sternenregen und Knallfrösche bei mir nicht auslösen, das bewirkt das vorletzte Kapitel des großen geheimnisvollsten Briefes der Bibel spielend. Der Hebräerbrief kann mit seinen pyrotechnischen Effekten elektrisieren, er jagt mir Schauder durch Kopf und Körper, er klingt nach kräftiger Abwehr und jubelndem Einläuten. Er erregt Furcht und den Reflex fest geschlossener Augen … und ist gleichzeitig exotisch schön.
Erschütternd laut und schrecklich ist im Hebräerbrief das wiederholte Dringlichkeitssignal, der große Paukenschlag seiner Warnungen:
„Lasst uns achten auf das Wort, damit wir nicht am Ziel vorbeitreiben!“ (2,1) – BUMM!
„Ermahnt euch selbst alle Tage, solange es »heute« heißt, dass nicht jemand unter euch verstockt werden!“ (3,13) – KNALL!
„Laßt uns mit Furcht darauf achten, dass keiner von euch zurückbleibe, solange die Verheißung noch besteht …“ (4,1). – ZISSSCCCHHH!
„Wir wünschen, dass jeder von euch den selben Eifer beweise, die Hoffnung festzuhalten bis ans Ende, damit ihr nicht träge werdet …“ (6,11). – PENG!
„Lasst uns nicht verlassen unsere Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das um so mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht. … Sonst bleibt uns nichts als ein schreckliches Warten auf das Gericht und das gierige Feuer, das die Widersacher verzehren wird.“ (10,25-27) – KRACH!
„Denn unser Gott ist ein verzehrendes Feuer!“ (12,29) – PCHCHUH!!!
Wen diese kritisch-knisternde Pyrotechnik der geschürten Erwartung, der aufgeladenen Hochspannung nicht bis in die Haarwurzeln aufweckt, der ist geistlich nicht mehr zu erreichen:
Der christliche Glaube und die christliche Hoffnung sind ein Stoff wie Zunder, … sie sind eine Ladung glühender Energie. Es drängt in ihnen und durch sie ein Augenblick heran, der es hell auf Erden machen wird: Der Anbruch des Friedensreiches, der Durchbruch der Gerechtigkeit Gottes. Die Zündschnur dieser Zukunft aber, die die Sünde und alle Lebenszerstörungskräfte sprengen wird, ist schon angesteckt. Die Zeit läuft rasch wie das Flämmchen an der Lunte, und man muss sich einstellen auf die Entladung, in der alle Weihnachtswärme, alle Menschenfreundlichkeit Gottes, Seine urknallauslösende Weltliebe, Sein feuriger Neuschöpfungsgeist das tödlich Böse in unserer Wirklichkeit zerreißen und Heilung sprühend vom Himmel regnen oder aus der Erde emporzüngeln lassen wird (vgl. Jes45,8; 63,19-64,1!).
… Darum entlädt der Hebräerbrief dieses Trommelfeuer von Silvesterböllern, die das rasche Ende des Alten und den nahen Anfang einer lebensfähigen und lebensfreundlichen und lebenswilligen Welt bekunden: Achtet, mahnt und haltet Euch fest! Die große Stunde von Schluß und Beginn steht unmittelbar bevor.
… Feuerwerk des Glaubens am Abend des Abgesangs, in der Mitternacht der Zeit vorm Morgenglanz der Ewigkeit! ——
Wo allerdings solches Feuerwerk aufsteigt - man konnte sich vor zwei Wochen wieder davon überzeugen -, da stinkt’s auch mächtig, und wehe, eine Salve oder eine ganze Batterie solcher Freudengeschosse und Angstvertreiber geht daneben! Wenn das gute Feuer der ungeduldig machenden frohen Botschaft zu jener Brandwaffe wird, die man in byzantinischer Zeit das „griechische Feuer“ nannte - eine spätantike Vorahnung der Phosphorbombe -, da wird es scheußlich. Freudenfeuer, die zu Verbrennungen oder Flächenbrand führen, sind etwas Gotteslästerliches, weil das ungestüme Lodern der Hoffnung und des Glaubens zwar ungeduldig machen darf und soll, aber nicht unduldsam!
Leider verlassen aber auch im Hebräerbrief – wie überall, wo Menschen mit dem überirdischen Licht Gottes umgehen – manche seiner Leuchtzeichen die richtige Bahn und richten Schaden an: Im Neuen wie im Alten Testament geschieht das unseligerweise oft dort, wo von Esau die Rede ist (vgl. Maleachi 1,3 // Rö.9,13), dem älteren der Zwillinge Isaaks und Rebekkas und direkten Bruder des in Jakob erwählten Volkes Israel. Neutestamentlich könnte man sagen: Wo Esau, das eigenständig-andersartige Ebenbild der zum Glauben Berufenen genannt wird - Esau, der diese Berufung nicht hat -, da liegt oft Schwefel in der Luft. Weil wir den, der ganz wie wir und darin dann doch anders ist, oft am wenigsten ertragen und ja auch am ehesten treffen und verletzen können.
Die schönen Leuchtkugeln und hellen Wecksignale des Hebräerbrief-Feuerwerks – „Die alte, zerstört-zerstörerische Welt vergeht und die neue Zeit zum Leben ist nah: Darum tröstet die Müden …, tut sichere Schritte …, jagt dem Frieden nach …, jagt der Heiligung nach …“ – diese hell an den Himmel über uns geschriebene Fackelschrift geht leider wie ein Ascheregen nieder auf dem Haupt des Esau, der nicht an den Segen und nicht zur Buße kommen konnte.
Und so hat der starke Hebräerbrief die Schwäche aller Botschaften, die um des Kontrastes willen ihren Glanz vor einer dunklen Folie der Gegnerschaft, des Ausschließens, der Verwerfung entfalten zu müssen meinen.
Solche negativen Begleiterscheinungen des christlichen Trostes und seiner Motivationskraft müssten uns inzwischen allerdings vergangen sein. … Wir dürfen sie jedenfalls nicht mehr zünden, dürfen diese Wurzel der Verbitterung nicht mehr aufgehen lassen … lieber pyrotechnische Lichtblumen: Die Strahlkraft unseres Glaubens verbietet es doch schlicht, dass wir für möglich halten oder behaupten, andere seien dem Licht und der Erleichterung des Evangeliums dauerhaft entzogen. Die Nebelkerzen eines Glaubens, der erst angesichts von trübem Anti-Glauben hell wirken kann, sind ganz bestimmt unter unserer Würde! Uns ist Größeres, Weiteres, Umfassenderes anvertraut als dieses Schattenspiel, andere zu verdunkeln, um besser sichtbar zu werden.
Wir haben das wahre Licht, das unvergleichliche und unüberwindliche, das völlig grenzenlose Licht Gottes gespürt, … mit blinzelnden Augen an der Krippe sogar gesehen, … wir hören, ja wir essen dieses Licht der Welt, … wir nehmen es in uns auf, auch wenn wir es kein bisschen einfangen oder zähmen oder uns dienstbar machen können.
Es ist ein Licht, das man nicht speichern kann: Man muss ständig davon leben.
Es ist ein Licht, das sich nicht horten lässt, … weder aus Sparsamkeit, noch aus Egoismus: Es leuchtet nur, wenn es sich verströmen kann.
Es ist ein Licht, das weder als Teilchen noch als Welle, weder als Hitze noch als Helligkeit auftritt, sondern in allem und durch alles hindurch leuchtet.
Ein Licht, das uns die Welt zeigt, wie wir sie sonst nie sähen: Obwohl sie in Wahrheit so ist. Und ein Licht, das uns gleichzeitig alles verbirgt, weil die Materie in diesem Licht unsichtbar und bedeutungslos wird und tiefe Schatten oder Stellen, an denen für uns gar nichts zu sein scheint, plötzlich erfüllt und zur Quelle werden.
Es ist ein Licht, das man nicht fassen kann, weil es mehr ist als die uns bekannte, als die uns überhaupt zugängliche Welt, die doch seit dieser Woche auch astrophysikalisch wieder nur um ein neues Wunder des Nichtwissens und der Unerklärbarkeit reicher und schöner geworden ist: Eine junge Forscherin aus England hat eine gigantische Ringstruktur von Galaxien im Weltraum entdeckt[i], die nach gängiger wissenschaftlicher Lesart in dieser Dicht gar nicht vorkommen dürfte. Aber gerade das ist Wissenschaft: Zu erkennen, was wir nicht verstehen, sondern zuerst und zuletzt nur bestaunen können.
Wohin wir also auch blicken: Wir stoßen auf das für uns Unerkennbare, Unergründliche, aber gerade darin nicht auf einen Mangel, ein Defizit, ein Weniger, sondern auf den Überfluss, auf das Darüberhinausgehende, auf das unerschöpfliche Mehr … oder Meer.
Diese Erfahrung, dass es mehr gibt, als wir bisher fassen, einordnen, ergreifen konnten, steht im Hebräerbrief hinter seiner typischsten und am häufigsten missverstandenen Denkfigur.
Dieser Brief, der so alttestamentlich, so vollbiblisch jüdisch und christlich ist wie keine andere Schrift der Urkirche, wird oft bemüht, wenn es um Abwertung des Alten Testaments, um Überbietung des Judentums geht. Da wären wir im schlechten Sinn wieder beim Jakob-und-Esau-Spiel des Einander-in-den-Schatten-Stellens.
Doch wenn der Hebräerbrief die Gesetze und Gebräuche des ersten Bundes als Schatten und Vorbilder bezeichnet (vgl. u.a. Hebr.9,23ff;10,1 usw.), dann spricht er dabei ja gerade von seinem Vertrautesten, vom Heiligsten und Heimatlichsten, vom Sichersten und Segensvollsten, das das Volk Gottes bisher kannte.
… Und von dieser Höhe aus, von diesem Gipfel des Gottgegebenen und Gültigen aus wagt der Brief dann zu sagen: Und nun gibt es noch mehr, es kommt noch mehr, es ist noch mehr vorhanden, als wir bisher ahnen, glauben und bezeugen konnten.
Nicht, dass das Alte schlecht war, soll damit bewiesen werden, sondern dass es noch nicht alles war.
Und an dieser Stelle geht das Feuerwerk erst richtig los. … Auch für uns. … Richtig los: Wenn wir erkennen, dass alles, was wir wissen, lieben und verehren, alles, was wir behaupten, beschwören und beweisen können, noch nicht, … noch längst nicht „Alles“ ist. … Denn ihr seid nicht zu etwas gekommen, das man anrühren konnte.
Da aber, wo das bisher Begriffene und die bisherigen Begriffe aufhören, … wo man nicht mehr sagen kann „Das ist Feuer“ und „Das ist Finsternis“, wo die Macht unserer Gewohnheiten, die Gültigkeit unserer Behauptungen, die Begründung unserer Beweis- und Glaubenssätze endet, … da geht das Feuerwerk los: Da blühen die bengalischen Feuer und regnen die funkenstäubenden Himmelskörper herab aus der Höhe! Da wehen die Farben wie Sternschnuppen über den Horizont, da bündeln sich Strahlen zu Ähren und tanzen Lichter im Reigen, … da ist es so betörend exotisch und spektakulär visuell, dass man den Hals reckt und mit den hungrigen Ohren schlackern muss, dass man „Oh!“ und „Ah!“ schreien und zwischen den Zähnen pfeifen will, weil es viel irrwitziger und lebenssatter zugeht, als wenn Oberkassel und Altstadtufer am Japantag sich von der Meisterkunst der Feuerwerker zu einer Menschheit verwandeln lassen, die nur noch Augen für den Himmel hat.
… Der ist es nämlich!
Vom Himmel und seiner fremd-schillernden, bunt-lockenden Fülle sind die letzten Höhenflüge unseres heutigen Hebräerbriefabschnitts angetrieben. Von dem, was man nicht fassen oder festlegen kann, weil es in so vielen Formen und Bildern schwebt und sich vor unseren staunenden Augen eröffnet:
… Der feste Zionsberg und die pulsierende Stadt des lebendigen Gottes,
… die vergeistigten Myriaden und Chöre der Engel, … das genießerische Festfeiern der Erlösten,
… die paradoxe Schar aus lauter Erstgeborenen, die den Rangstreit von Jakob und Esau längst hinter sich ließen, weil ihre Namen alle für immer beurkundet sind und sie sich also als intime Masse der unzählig Zugehörigen erleben,
… sie alle: die von Gott Gerichteten und durch das Gericht Geretteten,
… die Geister der Heiligen, der Märtyrer, der Bekenner, der Leuchten und der Kerzen Gottes,
… der ganze Bund, in dem sie alle, in dem wir alle verquickt sind und verknüpft, die nie wieder auflösbare Zukunftsgewissheit, die alles übertrifft, was wir an Sicherem oder Vertrautem schon haben oder einst kannten.
Der Himmel – das, was über alles hinausgeht, was hier war und ist – ist das Thema des Hebräerbriefes. Der Himmel ist es, der sein Feuerwerk auslöst[ii].
Und er ist – in seiner Offenheit und seinem vielfarbenen Glanz, in seiner sprühenden Vitalität und seiner silbrigen, irisierenden, changierenden Schönheit – das, worum es geht!
– Basta!
Gewiss: Wir hätten über die Friedenshoffnung und die Heiligungsmahnung des Hebräerbriefes meditieren können, über die Rivalitäten und Geschwisterlichkeiten, die er in unserer Welt der aggressiv ansteckenden Sünde eindämmen und einüben will; wir hätten über seine Botschaft an die geisteskranken Vertreibungstreiber in unserer Politik diskutieren und die Warnungen vor Verspätung und Zerspaltung bedenken müssen, die unsere Gesellschaft ohne Mumm und unsere Kirchen im Auslaufmodus berühren.
Wir hätten das alles in seiner ganzen Trübheit und besorgniserregenden Aussichtslosigkeit mustern können. Aber dann hätten wir genau das Feuerwerk verpasst, das über dem bleiernen, grauen Horizont des sogenannten Wirklichen in der Weltlichkeit aufleuchtet.
Wir hätten sprechen und klagen können über alles, was wir in seiner Unabsehbarkeit und erst recht über alles, was wir in seiner schrecklichen Absehbarkeit sehen können.
Aber mein Neujahrsvorsatz lautet: Nicht das, sondern was mehr ist, soll uns hier bewegen.
Statt im absehbar Aussichtslosen zu verharren, wünsche ich mir, wünsche ich uns, … erwarte ich von mir, erwarte ich von uns, dass wir das Unsichtbare ansehen, das Licht, das niemand erkennen kann und das doch über alle Finsternis längst hinausleuchtet.
Weil wir mit diesem Licht getauft sind, … mit diesem Blut!
Weil der Himmel unsere Berufung ist und weil der Himmel – der übertrifft, was wir kennen und erschließt, was wir für ausgeschlossen hielten, – der Ausgangspunkt unsres Glaubens und das Ziel unseres Lebens und unserer Welt ist.
Was wir abseits vom Himmel besprechen, bedenken, betrachten, ist - mit Verlaub - Nebensache.
Mehr, nein Alles in Allem ist das, was heute das Feuerwerk hieß: Das Aufleuchten, die Epiphanie Jesu unter uns, in dieser Welt, in unserem Leben als die Seinen … ein Aufleuchten, eine Epiphanie, die auch unser Herz und unsre Seele, unsern Geist und unser Dasein zum Himmel hin führt, zu dem wir schon gekommen sind, wenn wir mit Jesus leben, wenn wir in Jesus leben und von Jesus leben,
Davon redet Sein Blut, Sein Für-uns-Leben: Vom Himmel für uns und für die ganze Welt.
Sehen wir zu, dass wir den nicht abweisen, der da redet, sondern gesund werden … gesunde Christen, … Menschen im Licht, … Menschen, die dem Himmel gehören.
Amen.
[i] Als Erstes meldete die BBC diese Entdeckung, vgl. https://www.bbc.com/news/science-environment-67950749
[ii] Die beherrschende „Feuerwerk“-Metapher greift die Sinai-Motivik der im Predigttext ausgelassenen Verse auf: Verse, die eine eingehende Entschlüsselung verdienten, weil in ihnen sich die tiefe Verankerung der besonderen Botschaft und Schriftauslegung des Hebräerbriefes in der jüdischen Tradition erweist. Außerdem nimmt die Metapher vorweg, dass die Klimax des 12.Kapitels in der aus 5.Mose 4,24/ 9,3 zitierten Beschreibung Gottes als „verzehrendes Feuer“ besteht. Das theologische Lichtmotiv, zu dem das Feuerwerk führt, ist natürlich wiederum das eigentliche Leitmotiv der Epiphaniaszeit. Und die Dominanz des Himmels am Ende der Predigt entspricht dem Schlussteil des ausgewählten Textabschnitts, der eine herrlich vielschichtige, anregende Collage biblischer Motive des eschatologischen Ziels der Seligkeit in der Gegenwart Gottes aufbietet.
Altjahrsabend 2023, 31.12.2023, Stadtkirche, Jesaja 49, 13 - 16, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2023
Jesaja 49, 13-16
Liebe Gemeinde!
Werden wir „Weißt Du noch?“ sagen?
– Wie die, die den 27. Januar oder den 8. Mai 1945 erlebten, oder den 9. November 1989?
… Wohl eher nicht.
– Wie jene, die an das Ende eines Frühlings in Prag am 21. August 1968 oder an den 9. September 2001 zurückdenken? … Vielleicht schon eher.
… Werden wir „Weißt Du noch?“ sagen? …….
Vielleicht ist den meisten von uns unbewusst jetzt erst einmal so, dass man wieder eine Zahl verlernen kann, die nach menschlichem Ermessen bei keinem von uns mehr auf dem Grabstein stehen wird: Mit unsern individuellen Lebensdaten wird dieses Jahr 2023 vermutlich nicht ganz unmittelbar verbunden werden. Es wird am Anfang, in der Mitte oder gegen Ende unserer Lebensspane unter den anderen Jahren, die in ihrer Summe dann einmal unsre Lebzeiten ausgemacht haben werden, einfach subsumiert, aufgerundet, eingereiht. … Gewiss, wer „heuer“ - wie die Süddeutschen sagen - Vater oder Mutter geworden ist, wer Witwer oder Witwe wurde, wer eine Prüfung bestanden, einen Umzug bewältigt, eine Überraschung erlebt hat, mag dann einst noch besser nachrechnen können, dass das in diesem Jahr war. Ansonsten wird’s verschwimmen. Verblassen. Verklingen. …….
Wird es das? …
Ehrlich gesagt, ist es ja viel zu früh auch nur zu mutmaßen, wie es um das Nachwirken dieses Jahres bestellt sein könnte. Denn dass es einfach ein solches Jahr gewesen wäre, wie die konturlosen anderen Jahre, die irgendwann unsere besten Jahre oder unsere Lehr-, nicht Herrenjahre oder unsere stürmischen oder unsere Tretmühlen-Jahre gewesen sein dürften, … das kann man von diesem Jahr heute schon nicht sagen, und wer von uns weiß denn, welche Folgen es in der Zukunft noch hat, die man später einmal ganz genau auf eine Entwicklung oder ein Ereignis der letzten Monate zurückführen muss?
Was 2023 war, ist also undeutlich. Zäh in vielem, … im Kriegs- und Krisen- und Lügen-Stillstand. Jäh im Grausen des Hamas-Terrors vom 7. Oktober: Jenem Datum, das zweifellos zur Signatur dieses Jahres werden wird.
Aber wie es wirklich war und wie es zu dem, was werden soll, führt, können wir nicht ausmachen, obwohl wir doch mitten darin standen und lebten und webten und jetzt an seiner Grenze verharren und zurückblicken.
Wir können die Zeit also nicht entziffern, obwohl wir zeitliche Wesen sind.
Und also werden wir nicht „Weißt Du noch?“ fragen können, weil wir so wenig wissen.
Trotzdem aber wird man uns einst fragen – die wir dabei waren, die wir dran waren –, wieso es uns so verborgen war oder weshalb wir so wenig wahrhaben wollten oder warum wir so abwegig unzeitgemäß vor den Fragen unsrer Tage versagt haben?
Und dann werden wir vermutlich tun, was Menschen immer taten: Immer schon wurde das Positive, das Gute, der Gewinn privatisiert - das ist „Meins“! -, und das Negative, der Verlust, die Schuld und die Schulden werden sozialisiert, werden andern zugeschoben - „Na, das betrifft doch nicht bloß mich!“- …….
Und wenn es ganz eng wird, wenn wir ganz ernsthaft eindringlich gefragt werden, warum uns alles das, was wir hätten sehen und wissen können und also auch hätten abwehren, abwenden, abarbeiten sollen, … wenn uns das gezeigt wird, was unsere Zeit gebraucht und verlangt hätte an Mitgefühl, an Tapferkeit, an Verzicht, an Überwindung des Eigeninteresses, an reiner Gottesfurcht und klarer Menschlichkeit, … wenn wir dieses 2023, in dem wir hier alle mit dem Leben davongekommen sind, endlich nicht mehr im Dunst, sondern im Licht sehen werden, dann werden wir den Fragenden anschauen und wohl tatsächlich sagen: „Du weißt doch: Er, sie, es war’s (vgl. 1.Mose3,12)… : Der Mann, die Frau, das Schlangenbiest, … alles das, was Du geschaffen hast; … Du also warst’s in Wirklichkeit. Nicht wir!“
Sonderbar nur, dass wir nicht merken, was wir da sagen, … acht Tage nach Weihnachten!
Letzte Woche haben wir ganz bewusst oder im geistlichen Halbschlaf, immerhin aber doch vergnügt genug gefeiert, dass Gott und Mensch eine Schicksalsgemeinschaft eingehen, mehr noch: Dass da eine natürliche Verbindung, eine Verbindung und wechselseitige Durchdringung ihrer Naturen geschehen ist, wie die klassische Theologie es formuliert[i].
Dieser Austausch der Naturen, diese Kommunikation und Vermittlung der Bedingungen und Besonderheiten von Ewigem und Zeitlichem, von Weisheit und Fehlbarkeit in der Gestalt eines Kindes, das das gewöhnliche Sichtbare mit dem vollkommen Unvorstellbaren verbindet, ist eine kollektive Freude: Fast nirgends in unserer Kultur lehnt man es ab, dieses Glück eines unwahrscheinlichen und unentbehrlichen Miteinanders zu feiern. Die echten Ebenezer Scrooges – „Grinches“, sagt man heute - dieser Welt, … die mit Bedacht bekennenden Anti-Weihnachtsmenschen sind selten.
„Jauchzet, ihr Himmel, freue dich Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der HERR hat sein Volk getröstet …“ – In Ordnung: Wird gemacht! ——
Aber wenn das Leid der Welt einsetzt, …wenn wir die Tragödien und Verbrechen sehen, die Misere, an der wir treibend oder unterlassend beteiligt sind, und auch die uns schlicht stumm machenden Grausamkeiten des Terrors im Süden Israels und an Heiligabend in Nigeria oder die uns zur Verzweiflung treibenden Grausamkeiten des Krieges in der Ukraine und in Gaza …, dann endet die Gemeinsamkeit, dann kündigen wir die weihnachtliche Partnerschaft. … Ein Fest mit fernem Gott und gemischten Glaubensresten: „Ja!“ Die Wirklichkeit aber unter der selben Perspektive: „Nein!“
Das Schlimme also, das wir erlebt haben, … das zumindest die Menschheit in kaskadenförmiger Weiterung in den letzten Jahren immer mehr erleidet: Das sehen wir nicht als eine Erfahrung, die uns immer unverbrüchlicher, immer existentieller mit dem leidenschaftlich mitleidensbereiten Gott verbindet, der unsre Geburt und unsre Schuld und unsern Tod mitträgt, sondern das betrachten wir - wenn nicht ausdrücklich, so doch gern ausschließlich - als Sein Problem.
Nicht Viele formulieren es bewusst so, aber die anschwellende Zahl derer, die innerhalb und außerhalb der Kirche das Christentum hinter sich lassen, ist zumindest von ferne auch ein Vorwurf in Gottes Richtung: Wenn Du das Leid nicht abschaffen willst, sondern bloß teilen, dann bleib’ uns gestohlen, … dann kann man Dich vergessen. … Eh man es aber so formuliert - eh man also aktiv Ihn verlässt -, heißt es dann eben häufig: „Du hast uns ja wohl vergessen!“
Und schon ist man raus: Aus Verantwortung und Haftung, … aus der Mühe von Mitleid und Hoffnung und allem voran aus der lästigen Erwartung und Möglichkeit von Umkehr!
Wir, die wir so wenig wirklich wissen und wissen wollen, fragen Gott also „Weißt Du noch?“ … aber mit dem Unterton, dass Er es ja gerade nicht wisse, wie schwer so Vieles für so Viele in diesem Jahr ist und war, wie viel Trübsal, Trostlosigkeit und verschwindende Hoffnung die Kriege, die Gier und der Wahnsinn in der Welt bedeuten. Du weißt das gar nicht mehr, Gott, … Du hast es durchgehenlassen, … hast es überhaupt nicht mitgekriegt. …
Zion sprach schon immer: „Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.“
Aber fragen wir doch einmal einen Vater, der sein krankes, entkräftetes Kind aus dem Bombenhagel von Gaza bis nach Rafah geschleppt hat, obwohl er selbst fast verdurstet. Oder eine der grimmigen Gestalten, die zu Tausenden auf dem Weg durch Mexiko nach Norden ihre Babies in Staub und Bitterkeit huckepack nur immer weiter schleppen. Oder einen der Soldaten in den ukrainischen Schützengräben, der machtlos ist, wenn über ihn hinweg die Raketen bis nach Kiew zischen, wo die Seinen - verflucht noch mal - trotz seiner endlosen Entbehrungen auch nicht sicher sein können: „Hast Du Dein Kind, das Du da auf den Armen trägst, das Du im Herzen trägst, vergessen? Müsste Dein Kindchen aus seinem Angstdelir nicht in Kalifornien oder in München erwachen, wenn Du es wirklich liebhättest, wenn Dir wirklich an ihm läge?“ …….
Oder fragen wir eine Mutter, … fragen wir jene, die vor acht Tagen entbunden hat: „Als die Hirten endlich etwas von ihrer sauren Ziegenmilch zu Euch in die Höhle brachten und Du Deinen Durst nach den Anstrengungen der Wehen löschen konntest: Hast Du da nur für Dich getrunken? Und als Ihr die sagenhaften Gaben aus dem Morgenland empfingt: Hast Du Dich da für Dich gefreut? Und als Ihr vor den herodianischen Kindermördern fliehen musstet: Ranntest Du um Dein Leben? Hast Du Nazareth wiedersehen wollen, weil Du es da leichter haben würdest? Ist Dir der Zwölfjährige und dann der Dreißigjährige nicht irgendwann in seinem Eigensinn und seiner Entschiedenheit zu fremd erschienen? Warst Du nicht drauf und dran, ihn endgültig aufzugeben, als er immer nur die Anderen heilte und nährte, tröstete, um sich scharte und als die Seinen bezeichnete und Dich vergessen zu haben schien? Wärst Du nicht lieber weit, weit weg von Jerusalem, … weit weg von der Dolorosa-Straße, mit der Du den schmerzensreichen Namen teilen musst, …wärst Du nicht lieber daheim in Galiläa, statt auf Golgatha gewesen, wo Dir bei lebendigem Leib Herz und Seele erstorben sind?“
Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes?
Und obwohl wir so wenig bewusst wissen: … Hier ist die Antwort uns unbewusst deutlich.
Gott aber – der unvergessliche Gott, für die, die Ihn einmal kennengerlernt haben – Gott korrigiert uns nicht und verteidigt sich nicht. Er zählt nicht auf, was Er an Einzelheiten wahrgenommen und erlebt hat in diesem Jahr: Einzelheiten, die uns überfordern, zerreißen und auflösen würden; Einzelheiten, die uns die Haare sträuben und oft genug auch die Schamesröte ins Gesicht treiben müssten, wenn wir sie nicht so systematisch verleugneten und verdrängten; Einzelheiten, die unser Fassungsvermögen und auch die scheinbar uferlose Kapazität aller KI restlos übersteigen würden, weil Gott nicht nur die Fakten und Zusammenhänge, die menschheitlichen Verstrickungen und sämtliche ihrer Nebenwirkungen, die Absichten und die von jeglichem Gewissen unkontrollierten Schludrigkeiten der Akteure dieser Welt kennt, … nein, Gott kennt das nicht nur alles, es ist kein Sachwissen bei Ihm, keine aufgehäufte, abgespeicherte Information, sondern es ist Seine eigene Erfahrung, Sein Erleiden, Sein ungemindertes Teilnehmen, … Sein Wahrnehmen, Anteilnehmen, Übernehmen, … schließlich Sein Annehmen, Sein Hinnehmen und Sein endgültiges Abnehmen aller Schuld, Schmerzen, Schande, Schrecken und Leiden.
Gott kennt nicht nur das alles, was wir uns vom Leib halten, um es Ihm zum Vorwurf zu machen: Gott nimmt es auch alles an … und Er wird es allen auch abnehmen!
Von allen Schultern, aus allen Herzen, aus jedem Leben, aus jedem Schicksal wird Er fortnehmen und nicht übriglassen, worunter Menschen seufzen, stöhnen und vergehen:
Dieser unvergessliche Gott, Der Selber nichts vergisst, Der niemanden vergisst, sondern alles und alle aus unmittelbarster Nähe, direkt, ungemindert annimmt, durchhält und schließlich … ja, tatsächlich: versöhnen wird!
Gott wird jeden Menschen versöhnen mit Sich und mit der Menschheit und mit dem eigenen Leben, zu dem für uns alle, die wir heute erleben, nun auch 2023 gehört.
Gott wird uns mit Sich und uns selbst, mit der Wirklichkeit, wie sie war und vergeht und mit Seinem Reich des erneuerten, des wahren Lebens versöhnen. ———
Und das habt zum Zeichen: Beim „Wißt Ihr noch?“, haben wir begonnen und festgestellt, wie wenig wir heute schon wissen können, wie wenig wir vom gerade Gewesenen wissen wollen und wie wenig von unserem Wissen uns bewusst sein kann, wenn wir Gott immer vorwerfen müssen, uns und die Welt zu vergessen, um uns selbst von echter eigener Teilnahme zu entlasten.
Ein einfaches Zeichen unseres Nicht-Wissens hat jeder von uns zur Hand: Wir - die wir selbstbewusst und nicht nur zu Unrecht stolz sind auf unsere Eigenheit und Einzigkeit - … wir alle haben ja ein unverwechselbares Siegel unseres ganz unmittelbaren, physischen Selbst. … Aber wir kennen es nicht.
Oder weiß jemand hier, wie sein Fingerabdruck aussieht? … Den man doch gerade heute, im virtuellen Zeitalter als unerfindbarsten, naturgegebenen Zug des Menschen scannt, speichert und weltweit abrufen kann.
In Wahrheit aber weiß ich nicht, wie mein Fingerabdruck wirklich ist.
Gott jedoch, Der nicht nur kollektiv, sondern darin auch individuell unsere Natur angenommen hat, … Der also auch meine Natur angenommen hat, mein Wesen, meine Art und Eigenart, … Der also auch meinen Fingerabdruck mit mir teilt: Gott kennt auch dieses Wasserzeichen des Einzelnen.
„Siehe, in die Hände habe ich Dich gezeichnet …“[ii].
Alle Furchen meiner feinsten Persönlichkeitsmarkierung, … alle Knitter-, Wachstums-, Altersfalten meines leib-seelischen Organismus und seiner Biographie … alle Spuren, Wunden, Narben meines und Deines und jedes Daseins trägt Gott also buchstäblich an Sich selbst.
Er, der unvergessliche, vergessenslose Teilnehmende an und in allem ist gezeichnet, gekennzeichnet von unserem Leben in seiner persönlichsten, intimsten, unaustauschbarsten Form.
Ein Gott, Der mich sieht, hieß Er in diesem Jahr (1.Mose 16,13 – Jahreslosung 2023).
Weißt Du noch?
Er weiß es und wird nichts davon vergessen.
Weil Er uns liebt. Weil Seine Liebe in Seine Hände als Fingerabdrücke aller, als Wundmale für die ganze Welt eingegraben ist.
Und darum legen wir in diese Hand des mitleidenden, annehmenden, versöhnenden Gottes alles, was war, … aus ihr nehmen wir alles, was kommt … und in ihr finden wir, was bleibt.
Das weiß ich noch. … Das wissen wir noch!
Gott Lob!
Amen.
[i] Ganz sauber hat die Theologie immer betont, dass sich nicht die beiden „Naturen“ in der Person Jesu Christi vermischen, aber dass sie dennoch jeweils Anteil an den Eigenschaften der anderen Natur haben. Diese wechselseitige Teilhabe von Göttlichem und Menschlichem in Christus ist als „communicatio idiomatum“ bekannt. Sie hat nicht nur die Alte Kirche und die mittelalterliche Theologie beschäftigt, sondern auch bei Luther – der den „fröhlichen Wechsel“ ergreifend feiern und weihnachtlich besingen konnte – einen großen Stellenwert besessen und dann in der religiös sehr eigenständigen Philosophie des großen Zeitgenossen und Landsmanns Immanuel Kants, Johann Georg Hamann eine frische, nach wie vor anregende Wirkung entfaltet: Alles und alle in dieser Welt Gottes kommunizieren mit und haben Teil an der göttlichen Realität und umgekehrt nimmt Gott Teil an allen und allem Irdischen.
[ii] Auch im Hebräischen ist unbestimmt, wessen Hände die Einzeichnung aufweisen. Die vorherrschende Deutung, dass in einem anthropomorphen (und in unserer Kultur der Tätowierungsfreudigkeit geradezu trendigen) Bild hier von einer Markierung an den Händen Gottes – dem wichtigsten Organ des bei Deutero-Jesaja wieder und wieder im Gegensatz zu den toten Götzen als „handelnd“ (sic!) beschriebenen Gottes Israels die Rede sein dürfte, ist aber sehr überzeugend. Sie bedeutet, dass Gott nichts tun kann, ohne an Israel, ohne an die Menschen im Bund mit Ihm erinnert zu werden. Die in der Predigt vorgenommene Deutung auf die Fingerabdrücke ist eine sekundäre Folge und Veranschaulichung der Inkarnation und der aus ihr resultierenden communicatio idiomatum.
Fest der Geburt des Herrn / 2.Christtag, 26.12.2023, Stadtkirche, 2.Korinther 8, 7 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 26.XII. 2023 - 2.Christfest
2.Korinther 8, 7f
Liebe Gemeinde!
Zwei „Stände“ gibt es … um mal ein Wort zu benutzen, das selbst in meinem Mund altmodisch klingt. Zwei Stände also, die sich nicht wie in der hierarchischen alten Zeit klar und einfach auf Adel und Bettel, auf „Wohlgeboren“ oder „Hergelaufen“ verteilen lassen, sondern mal gut zusammen und dann irritierend getrennt existieren.
Ich rede von Wohlstand und Anstand. … Die leider ganz gewiss nicht identisch sind und öfter als uns lieb sein kann reine Gegensätze beschreiben.
Der eine Stand setzt Sachen voraus, der andere Seele.
Hier hat und da ist man, was der Stand benennt.
Diese holzschnittartigen Kontraste ließen sich spielend fortsetzen, aber kein noch so pointierter Witz in Sachen Kapital und Moral käme an die schneidende Satire heran, die Jesus in dieser Frage pflegte.
Er hatte - was sage ich? Er hat! - keinen Sinn für Äußerliches, und Sein Blick auf die Reichen ist der Blick auf eine fremde Tierart, über deren kaum vorstellbar mühsames Leben mit Höckern auf dem Buckel (vgl. Mk.10,25) oder einem Rüssel überm Maul man nur abwechselnd lachen oder seufzen kann: „Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen“, sagt Jesus (Mk.10,23), und man spürt, dass es hier Mitleid ist.
Zuweilen aber kann Er durchaus schärfer urteilen, so dass man zusammenfährt und sich fragt, ob es Ihm wirklich so gleichgültig ist, was aus den mühselig mit Besitz Beladenen werden soll: „So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich für Gott“ (Lk.12,21), lautet Sein achselzuckendes Fazit des Gleichnisses vom wohlversorgten Kornbauern, der jählings in das Nichts des Todes stürzte. Denn die Hölle der Begüterten ist nach dem Gleichnis von Luxus versus Lazarus auch aus dem Himmel nicht mehr zu verändern (vgl. Lk.16,29ff).
Diese widerborstige, ja stachelige Seite des Materialismus-Bashing sollte eine Weihnachtsgemeinde vielleicht nicht allzu sehr wundern: Ein Baby, das im Mist zur Welt kommen muss, weil die mit der sauberen Wäsche an ihm nicht wie an anderen verdienen konnten, … ein solches Kind, dem nur die unterste Schicht - das Tierreich und seine Viehhirten - etwas Wärme und Willkommen bot, ist frühkindlich geprägt.
Es wird unsereinen immer nur als verwöhnten Warmduscher betrachten.
- Obwohl … . Ach, egal.
… Jesus jedenfalls und die Reichen: Das wird nichts.
Das war auch in der Kirche lange Jahrhunderte lang nichts.
Wer getauft werden wollte, tat gut daran, dem schlimmsten Götzen aller Völker – dem Mammon, …jenem Gott, den wir „Kohle“ nennen, weil er nicht einfach zu erlangen ist; der die, die den Keller voll von ihm und anderen Leichen haben, dann zwar wärmt, aber zum Schluss doch nur verbrannte Erde hinterlässt – … wer also getauft werden wollte, tat gut daran, diesem Mammon, der Kohle am besten mit öffentlich wirksamen Zeichen des Besitzverzichtes zu entsagen.
Diese rigide, wenngleich im wesentlichen freiwillige Enteignungslinie der Kirche hat uns durch die unglaublichen Stiftungen, durch den Ballast, den die Besitzenden abwarfen, durch Schenkungen und mildtätige Verfügungen innerlich und äußerlich das Schönste an der Gestalt Europas hinterlassen: Keine Kirche, kein Kloster, kein Spital, keine Fuggerei, kaum ein Bild oder sonstiges Kunstwerk aus den Jahrhunderten bis zum Frühkapitalismus, das nicht auch bezeugt wie die, die es bezahlten, sich bewusst vom Materiellen trennen wollten. Sie gaben her, was sie innerlich von der Freiheit der Kinder Gottes trennte.
An diese Seite der altkirchlichen Askese und der mittelalterlichen Blüte der Bettelorden und des seelisch entschlackenden Almosenwesens erinnert man in einer Kirche und einem Amt wie unserer und meinem nicht so gern. … Unsere, meine ganz persönliche, immer noch komfortable Behaglichkeit mit kirchlichen Hauptämtern und auskömmlicher Alimentation und Altersbezügen ist das Gegenteil alles dessen, was Jesus und die abendländischen Kirchen einst meinten, und in vielen in der Wildnis blühenden Gemeinden heute – wir hörten am Heiligen Abend davon in Dr. Vetters Predigt über die wachsenden Kirchen in Hongkong und China – gibt es keine Gefahr, dass man Glaube und Wohlstand verbinden oder wie in den geisteskranken nord- und südamerikanischen Pseudo-Kirchen eines „Wohlstands-Evangeliums“ gar verwechseln könnte.
Wohlstand und Christentum waren ursprünglich oft ein Vorher/Nachher.
Die von Max Weber geschürte Idee[i] – die vermutlich viele reformationsgeschichtliche Einzelzüge und Nebenaspekte bündelt – , dass man umgekehrt auch Christentum und Wohlstand als das Vorher-Nachher-Modell, als Ursache und Wirkung koppeln könne, ist dagegen alles, ... nur nicht im Sinne Jesu.
Das aber liegt nicht nur am Furor einer bethlehemitischen Stallgeburt, die als Kleinkind zwar Gold, Weihrauch und Myrrhe als Patengeschenke erhielt, aber in der Sturm-und-Drang-Zeit, als er zum galiläischen Underdog gegen Jerusalem und Rom heranwuchs nur sarkastisch über den Instagram-tauglichen Influencer-Plunder der orientalischen Wunderkind-Touristen lachen konnte, weil er längst wie Robin Hood Verbrüderung der Armen und Erleichterung der Überladenen betrieb, … sondern es liegt an dem, was Weihnachten tatsächlich feiert, wenn wir es im allerhöchsten und -tiefsten Sinn theologisch verstehen wollen.
Und dieses allerhöchste und -tiefste Mysterium von Christi Geburt, das die Kirche vierhundert Jahre lang durchmeditierte, bis sie es im Bekenntnis, dass da Einer, Der vor aller Zeit aus Gott geboren wurde und darum Gott von Gott, Licht vom Licht ist, Fleisch um unseretwillen annahm und Mensch wurde, formulieren konnte (vgl. Nicäno-Constantinopolitanum: EG 854) ……., dieses Mysterium von Christi eigenem Vorher/Nachher ist der tiefste Grund für seine völlige Immunität gegen das Bling-Bling der Dinge, das uns so wuschig und so sündig macht.
Der großen und herrlichen und auch heiligen Theologien, die man in Alexandrien und Antiochien ebenso wie in den römischen Provinzen und im kleinasiatisch-kappadokischen Idyll[ii] pflegte, um endlich zur gültigen Zwei-Naturen- und Drei-Personen-Lehre im Blick auf Christus zu kommen, bedurfte es aber letztlich nicht einmal, um den Punkt zu treffen, den wir an Weihnachten feiern und der das Vorher-Nachher der Menschwerdung des Sohnes, der Fleischwerdung des Wortes Gottes bezeichnet.
Diesen Punkt, in dem die ganze spätere Inkarnationstheologie und Weihnachtsfrömmigkeit schon wie in der Urzelle enthalten ist, hat Paulus in ganz praktischer Absicht – in einem seiner Spendenaufrufe an etliche schicke und durchaus kommerziell erfolgreiche Gemeindeglieder in Korinther – getroffen.
Dieser Appell daran, dass man nach dem Hören und Verstehen des Evangeliums weniger wohlhabend sein möge als vorher, diese Erinnerung an die Selbstminderung, die Selbstentäußerung des Herrn ist heute in zunächst blumiger Stimmungsauflockerung und dann beinah knauseriger, aber auch knallharter Knappheit unser Predigttext:
Wie ihr aber in allen Stücken reich seid, im Glauben und im Wort und in der Erkenntnis und in allem Eifer und in der Liebe, die wir in euch erweckt haben, so gebt auch reichlich bei dieser Wohltat. Nicht als Befehl sage ich das; sondern weil andere so eifrig sind, prüfe ich auch eure Liebe, ob sie echt sei. Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet.
Wenn wir die geradezu triefende Höflichkeit der PR-geölten Einleitungssätze getrost weglassen – unwillkürlich fragt man sich ja angesichts der sonstigen Raubolzigkeit des Paulus gegenüber allen Blendern, ob er hier nicht vielleicht besonders ironisch spricht? –, dann ist das ganze Weihnachtswunder, das Geheimnis der Inkarnation des als Gott von Gott ewigen Sohnes, das ganze Vorher-Nachher also in einem kinderleichten Merksatz erfasst:
Obwohl er reich ist, wurde Christus doch arm um unseretwillen. ———
Das war Weihnachten:
Reich gewesen, arm geworden.
Alle gehabt, nix behalten.
Eben noch Himmelreich; jetzt: Bethlehem.
Top of the world – Totalabsturz.
Ewig nicht das Geringste entbehrt; erwacht in Stall und Scheiße. ——
Man kann es auch schöner, frömmer, poetischer sagen:
Allmacht wird Ohnmacht. Geber wird Gabe. Herr wird Knecht. Alles aus Liebe.
Um den Menschen nicht verloren gehen zu lassen, scheint Licht auf in der Nacht der Sünde, neigt der Himmel sich zur Erde, begibt sich das unüberwindliche Leben freiwillig ins Reich des Todes.
Doch die beiden Stände Jesu (da sind sie wieder!) – Erhöhung und Erniedrigung – … die beiden Zustände, deren Abfolge die Geschichte ergibt, die uns das Evangelium berichtet, sind im Anfang am unmittelbarsten und verständlichsten beschrieben in dem dürren Satz:
Der Reiche wurde für uns arm.
– Bang!
Dieses Vorher-Nachher Jesu aber hat Folgen. … Nicht nur, dass wir es an Weihnachten feiern, sondern es hat Folgen auch an jedem Tag, an dem wir dazu bereit sind, bewusst nach Weihnachten, also nach dem Totalverzicht Jesu auf Alles um unseretwillen zu leben:
Wenn wir das nämlich ernstnehmen, … wenn wir das glauben, dass Jesu Geburt und Anfang ein Aufgeben war - Aufgeben von grenzenloser Seligkeit und vollkommenem Glück -, damit wir unser arg begrenztes Glück mit den völlig bedingten Habseligkeiten aufzugeben anfangen, dann muss sich etwas bei uns verändern.
Jesu Armwerden, Seine Armut will uns ja bereichern, sagt Paulus, … was aber bedeutet, dass wir unsern uns verarmenden Reichtum auf welche Weise auch immer loswerden müssen.
Wir müssen loswerden, was hier unser lästig-lächerlicher Reichtum ist, um in dem anderen Stand - dem Stand, der kommt - in ganz anderer Hinsicht frei und dann mit ganz anderen, ganz anders herrlichen Gaben begnadet sein zu dürfen: … Glaube, zum Beispiel, oder Hoffnung … und Liebe!
Nun hab’ ich im Seminar „Klassenkampf predigen“ nicht gut aufgepasst, und revolutionäre Taktiken oder moralische Traktate zu den Wegen, die wir alle aus unserm Reichtum zur befreienden Armut Jesu gehen müssen, richten in der Theorie nichts aus.
Dass der Wohlstand, wo wir ihn haben, nur in Verbindung mit dem Anstand vertretbar ist, nur also als die berühmte Verpflichtung auch auf das Wohl der Allgemeinheit, als die das Grundgesetz das Eigentum bestimmt, das ist keine politische Rede, sondern ein schlicht weihnachtlicher Grundsatz, eine unmittelbare Konsequenz der Inkarnation, so wie wir sie bei Paulus schnörkellos erklärt fanden:
Christus wurde nicht bloß Mensch wie wir, sondern darin wurde Er für uns auch das, was wir noch nicht sind und doch sollen.
Er wurde es aus Seiner Freiheit. Einer Freiheit, die Ihn auch so unabhängig und unbeeindruckt von den Größen und Werten machte, die wir sonst so wichtig nehmen und hochschätzen.
Vielleicht ist es aber ein guter erster Schritt auf dem Weg zur unerschöpflichen Armut Jesu, wenn wir Ihn heute noch einmal als Kind vor uns sehen.
Was brauchen Kinder schon?
… Materiell kaum etwas. Und wenn, dann zum Spielen.
Wenn wir nun uns und unsere Habe, uns und unser Gehabe einfach dem spielenden Kind Gottes zur Verfügung stellten, wären vielleicht die ersten Schritte auf dem Weg zur Freiheit auch für uns leichter, als wenn wir gleich das Ende unserer Wirtschaftsordnung besiegeln müssen …
Wenn wir uns und das Unsrige nur in dem heiter-amüsierten, wenn auch distanzierten Licht sähen, in dem Jesus später auf uns Reiche blickte, die wir so dumm sind, Schätze zu schätzen und zu sammeln, die von Rost und Motten zernagt und von jedem Dieb davongebracht
werden können (vgl. Matth.6,19f!).
Wenn wir dann vielleicht lachten über das, was wir nötig finden, obwohl es so ganz das Gegenteil ist.
Wenn wir auf diesem Weg dann freier würden, lockerer, lustiger.
Ich habe uns deshalb heute ein Arme-Leute-Spielzeug hier auf den Tisch gestellt, das nicht nur wegen E.T.A. Hoffmanns Erzählung und Tschaikowskis Ballett in die Weihnachtszeit gehört:
… In der Gestalt eines Nussknackers haben die kleinen, die armen Leute immer schon den belustigten Blick auf die Großkopferten gefeiert. … Die das Maul so weit aufreißen und es selten voll genug bekommen. Indem sie dem Nussknacker die schneidige Uniform des strammen Militärs oder den Kopfputz und pompösen Zwirbelbart des Monarchen andrechselten, haben die erzgebirgischen Handwerker und ihre Nürnberger Vorgänger gezeigt, wozu die Mächtigen, die Großen und Reichen auf Erden in ihren Augen und Händen gut sind: Sollen Sie - die Maulhelden - sich doch an dem, womit ihnen das Maul gestopft wird, die Zähne ausbeißen. Und für die Armen die harten Nüsse aufbrechen. So nutzen auch sie etwas.
In der Gestalt des Nussknackers haben die armen Leute also immer schon den weihnachtlichen Standes- und Herrschaftswechsel (vgl. EG 27, 3 +4!) ganz praktisch begriffen und ergriffen: Dass der Höchste für die Kleinen zur Hilfe und zum Segen wird. Dass die einfachen Menschenkinder Den bewegen und Gutes durch Den gewinnen, Der ihnen so unerreichbar fern in Seiner hohen Entrückung war.
Der Nussknacker, in dem die eine Seite ganz unwahrscheinlich für die andere sich einsetzt, so dass nachher nicht mehr ist, was vorher war.
Fangen wir doch vielleicht auch einfach damit an, …. mit dem Nussknacken.
… Den Hungrigen die Schale aufzubrechen.
Wenigstens dazu können wir gut sein: Dass wir wie das Spielzeug mit unseren Mitteln und Eigenarten helfen, dass Menschen kriegen, was ihnen sonst nicht zugänglich wäre.
Es wäre anständig von uns, wenigstens als Nussknacker zu wirken.
… Und vielleicht geht ja auch unsere harte Schale dabei auf und wir kommen hervor und sind Jesus näher und ähnlicher und menschlicher, als wir es je waren.
Beim Lied jetzt – dem herrlichen, weihnachtlichen, unser Mund auf Nussknacker-Maße weitenden „Gloria!“ (EG 54) – können wir es üben!
Amen.
[i] Max Webers religionssoziologische Studie von 1905 über „Die protestantische Ethik und de[n] Geist des Kapitalismus“ dürfte eine der fruchtbarsten Fundstellen für sinnvolle und unsinnige, kapitalismus-affine christentumskritische (und umgekehrt) Zitate, Systeme und Vorurteile sein. Lesenswert, heuristisch anregend, eye-opening und bestreitbar bis heute. Die Beweislast, die die allzu oft verkürzten und einseitigen Rezeptionen weltanschaulich diametraler Interpretation („Kapitalismus ergibt sich zwangsläufig aus dem Calvinismus“ / „Das reformatorische Christentum ist schuld an der materialistischen Wende in Produktions- und Konsumbedingungen des Westens“) ihr aufbürden, kann sie allerdings keinesfalls tragen.
[ii] Alexandrien steht (vergröbert) für die „hohe“ 2-Naturen-Christologie, Antiochien für Tendenzen einer jeweiligen Vereinseitigung der menschlichen, bzw. göttlichen Person in Jesus Christus, römische und gallische altkirchliche Theologie hat gesunde Mittelwege beschritten und bewahrt und die Väter der griechischen Welt – besonders Basilius die beiden Gregor (von Nyssa und von Nazianz) – haben eine wunderbar durchgeistigte, poetische Christologie, die eben auch den allzu oft vergessenen Heiligen Geist integriert, beigesteuert, bis endlich im 5. Jahrhundert das bis heute maßgebliche Dogma allgemeine Anerkennung fand. Wie schön und wie entscheidend dieses Dogma ist, wird bei uns allzu oft verleugnet und vergessen. Weihnachten bringt es aber zum Glänzen!
Fest der Geburt des Herrn / 1.Christtag, 25.12.2023, Stadtkirche, 2.Mose 2, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 25.XII. 2023 – Tag der Geburt des Herrn
2.Mose 2, 1- 10
Liebe Gemeinde!
Babysitten wir doch ein wenig an den beiden sonderbaren Kinderbettchen, die uns das Neue und das Alte Testament heute hier auf der Neugeborenen-Station der Bibel zusammenrücken[i]: Ein Trog, ein Korb, in denen sich Lebendiges regt. Zwei Behältnisse, die eigentlich Lebensmittel fassen wollten, müssen heute das Leben selbst aufnehmen: … Aufregend und ergreifend wie immer, wenn in einer tödlichen Welt ausgerechnet das Schwächste - die handlungsunfähige Hilflosigkeit - sich gegen Schmerzen, Gefahren und Widerstand durchsetzt.
Jede Geburt lehrt uns ja dieses Wunder gegen alle Wahrscheinlichkeit: Was sich nicht verteidigen und nicht wehren, ja, was sich nicht einmal durch Reaktionsgeschwindigkeit oder Flucht entziehen kann - Säuglingsleben -, wird dennoch gegen erdrückende Kräfte bewahrt. Kinder werden geboren, obwohl so viel dagegenspricht.
Kinder werden geboren, auch wenn die physischen und psychischen, die politischen und praktischen Umstände es überhaupt nicht denkbar erscheinen lassen.
Kinder werden geboren: Und Gott hat nichts Theoretisches damit zu tun.
… Kinder werden geboren, … und wir könnten Ihn erkennen!
Und darum babysitten wir hier, wie es die Christenheit seit sie Weihnachten feiert getan hat: Das Weihnachtsstaunen, das menschliche Verwundern über das unbeschreibliche Allerweltsgeheimnis unseres irdischen und ewigen Lebens macht auf eine Weise andächtig und empfänglich, dass es immer schon ein Bedürfnis war – und nicht nur in den kinderlosen Frauenklöstern des Mittelalters –, sich in meditativer Versenkung oder bäuerlicher Unmittelbarkeit, in sentimentaler Ergriffenheit oder sogar in abstrakter Spekulation einfach bei dem neugeborenen Kindlein an der Krippe einzufinden und zu verharren. Alles klärt sich ja schließlich, wenn man so einfach nur auf Atemzüge an einer Wiege lauscht; und alles wird unglaublich surreal, wenn man in der leisen Wache an einem Bett erfährt, dass nur diese winzigen Bewegungen der Luft in zwei kleinen Lungenflügel und das oft beinah unmerkliche Pochen im fast noch durchsichtigen Brustkorb das Leben darstellen?!
Die Kirche hat in ihren Wachen, ihren Vigilien, ihrem weihnachtlichen Babysitten also gewiss viel gelernt: Wie kostbar und seltsam es ist, Mensch zu sein … das Wesen, das anders als Flora und Fauna von Natur aus weder Wurzeln noch Waffen hat, sondern nur dank gezielter Zuwendung leben kann.
Die Kirche hat an der Krippe sicher auch gelernt, wie heilig alles Bedrohte und Abhängige an sich schon ist: Hat doch Gott nicht umsonst gewählt, Sich in dieser ganz unvermuteten Gestalt auszuliefern. … Allmacht wird auslöschbar, wenn sie Liebe ist.
Und noch eins muss die Kirche in ihren dunklen Stunden am Kinderbett, im Leuchten eines neuen Sterns über den alten Schicksalen der Erde ja ganz bestimmt gelernt haben: Dass die Anfänge aller Wege Gottes schwach sind. Dass sie dauern. Dass Geduld und Zittern, Hindernisse, Aufenthalte, Umwege nicht dagegen sprechen, sondern geradezu bestätigen, dass Gott in der Wirklichkeit und nicht im Traum Seine Ziele für uns und mit uns verfolgt.
Darum sitzen wir heute Morgen, nach einer heiligen und unter allen Kriegen und Katastrophen an dieser umgewidmeten Krippe dennoch fröhlich verbrachten Nacht immer noch hier als die Babysitter des Heils.
Vielleicht sind die vielen anderen jetzt eingeschlafen, die am Anfang der beiden Kinderleben standen, die wir hier gemeinschaftlich hüten: Die hebräischen Hebammen, von denen die Bibel bis heute zu ihrem Gedächtnis berichtet, was sie an den zum Genozid freigegebenen Säuglingen der Sklavinnen in Ägypten taten (vgl.2.Mose1,15ff), … sie werden nach den vielen Nachtschichten, in denen sie heimlich Leben retteten, müde sein; und auch die gläubige und die ungläubige israelitische Hebamme, die das legendarische Jakobusevangelium in der Höhle von Bethlehem der Jungfrau beistehen lässt[ii], müssen das Wunder, das sie erlebt haben, in tiefem Schlaf verarbeiten. Und Maria schläft hoffentlich auch ein wenig, und Josef. Und die von Sorgen zerrissenen Amram und Jochebed, vom Stamme Levi (vgl.2.Mose6,20), die Eltern des nur durch Aussetzen zu rettenden „feinen Kindes“, die der Kummer zutiefst ausgelaugt hat, sind traumlos erschöpft. Und selbst die erste Maria - oder Miriam - in Ägypten, die so furchtlos wie nur ein ganz unverdorbener, junger Mensch sein kann, … die so furchtlos wie ihre Namensschwester aus Nazareth dafür gesorgt hat, dass ein Kind, das Gott dringlich brauchen wird, auch wirklich überlebt und leben darf, … selbst sie muss die Augen geschlossen haben und ruhen.
Nur wir sind zwischen Korb und Trog jetzt wach. Und wollen die beiden hüten, … den Mosesknaben und das Jesuskind.
Man hat sie immer in enger Verbindung zueinander gesehen, diese Beiden, die den Willen Gottes und Seine Wege so vermittelt, so gewiesen haben, dass für Israel und alle Völker Licht und Recht (vgl. 2.Mose 28,30) aufstrahlen, an denen man sich orientieren und durch die man Gottes Ziel mit der Welt erkennen und erstreben kann.
Wenn wir aber mit der einen Hand das Körbchen schaukeln, in dem der drei Monate alte Mose gurgelt und juchzt, und mit der anderen im Futtertrog sanft wie die Hirten den Säugling streicheln, dessen Geburt wir gerade begehen, dann wird es uns zwischen den Schulterblättern vielleicht auch kühl.
… Sind sie wirklich gut aufgehoben bei uns: Der, der die Vorhut aller Gequälten auf dem Weg in die Freiheit war und das Bündel Hunger und Durst, in Dem wir den großen und ewigen Menschenhüter erkennen?
Sind wir gute Kinderhüter an Gottes statt, ja an der Seite Gottes?
Wenn wir auch kein Pharao, kein Herodes sein mögen: Kinder wie diese beiden - Kinder der Not, Kinder der Flucht - wollen wir in Wirklichkeit ja nicht so häufig bei uns wiegen.
Und es stimmt natürlich, dass die schrecklichen und gefährlichen und sinnlosen Fluchten aufhören müssen und dass das Entvölkern ganzer Landstriche und die trügerischen Träume der Armen von nicht versiegenden Quellen andernorts Elend bedeuten.
Aber neben und gegen diese großen, dürren Richtigkeiten treten die kleinen Kinder, die menschliche Eltern zu allen Zeiten immer schon um beinah jeden Preis vorm Verderben retten wollten. Und darum kann die Kirche, die zu Weihnachten den kleinen König Israels und Herrn der Welt babysitten darf, nur eine einseitige, praktische „Stall-von-Bethlehem“-Haltung haben. Auch wenn alle Welt dicht macht und abwinkt, so haben wir Gott doch tatsächlich in einem Viehtrog gefunden, und darum bleiben wir bei unsrer Arme-Leute-Moral angesichts der Mengen Menschenkinder: „So viele wie nun einmal kommen, so viele Mäuler wird Gott auch zu stopfen helfen.“
……. Wir haben’s beim Kindelwiegen in der allerersten weihnachtlichen Notunterkunft so gelernt: Raum in der Herberge muss sein, weil Gott zwar vielleicht nicht immer viel von uns will, … aber einen Korb, einen Trog, eine Ecke für das Leben will Er haben, … damit Er lebt und wir auch leben können!
Und noch eins sollten wir an diesem Weihnachtsfest, das zum ersten Mal in der Geschichte der Kirche eine Doppelgeburtsfeier sein will, ganz schlicht begreifen: Wie Moses und Jesus – die vollkommen rechtlosen Objekte pharaonischer und römischer Herrschaftsansprüche –, so sind unzählige namen- und perspektivlos Ohnmächtige unsere Zeitgenossen, … und die Geschichte des Reiches Gottes ist ihre Geschichte, … nicht also das, was uns die Tage und die Nächte so finster macht: Die grauenvollen Gewaltorgien und die ebenso grauenvollen Grabenkämpfe von Überfällen und Terror, von Krieg und Kampfhandlungen. Zwar scheint die Erde wieder ganz in den blutigen Bann der Bestialität geraten zu sein, die die schärferen Klauen, den erbarmungsloseren Biss und das Leitwolf-Gehabe im Rudel zum Maßstab macht.
Aber heute ist nicht Herrscherhuldigung oder Diktatorentriumph, sondern das Fest der bedrohten Kinder, die mithilfe eines Esels und eines Binsenkörbchen jeweils von einem Mädchen namens Miriam vor den Mächtigen ihrer Zeit beschützt wurden und deren Wirkung und Wirklichkeit doch viel, viel größer und wichtiger sein sollten, als es bei einem Ramses oder Nero, einem Robespierre oder Napoleon, einem Putin oder Netanjahu oder einem Hamas-Mörder je der Fall war oder sein wird:
Weil das Kind, das Miriam auf dem Wasser in Sicherheit brachte, durch Exodus und Torah die Verheißung von Freiheit und Recht in die Welt trug.
Und das Kind, das Maria in einer Höhle allen schenkte, die es als Weg des Lebens und Sieger über den Tod annehmen wollen, Gnade und Frieden in himmlischem Überfluss ausbreiten wird.
Diese Freiheit und dieser Frieden aber, so wie sie heute hier in Korb und Trog liegen, sind das, was die Welt braucht, wovon sie lebt und wodurch sie gerettet werden wird. —
Wenn wir in dieser Morgenstunde also den kleinen Herold der Freiheit und den Friedefürsten vor Augen haben und sie in unserer Vorstellung hüten dürfen, dann sehen wir die Zukunft der Welt vor uns. Und obwohl wir dazu weit zurückblicken ins römische Juda und an die Ufer des Nils in der Zeit pharaonischen Glanzes, und obwohl das unsagbare Leid der Kriege und Greuel dieser Tage wie ein schmutzig-trüber Schleier über allem liegt, woran wir uns freuen und erbauen wollten am Christfest, sind die beiden gefährdeten und doch nicht ausgelieferten Kinder wahrhaftig die gültigste Hoffnung, die wir haben können.
Denn die tiefste Einigkeit, die diese beiden Kindheitsgeschichten des einen und des anderen biblischen Retters miteinander verbindet, ist ja die, dass die Retter als Gerettete ihr Leben beginnen.
Der Mann, der den Exodus Israels aus der Unterdrückung anführte und Der, Der die menschliche Versklavung unter die Sünde und die Fesseln des Todes lösen sollte, sie sind beide bereits in den Anfängen ihres Daseins nicht in paradiesischer Sicherheit und märchenhafter Unschuld gewiegt worden, sondern wurden hineingeboren in den Malstrom der Geschichte. Ihre Geburt war jeweils so wunderbar, wie jede menschliche Geburt gegen die Lebensgefahr es ist. Sobald sie aber geboren waren, befanden sich beide schon in äußerster Todesgefahr.
… Und diese Tatsache, dass Gott Seinen Freund Moses (vgl. 2.Mose33,11) und dann auch seinen geliebten Sohn nicht in harmloser Weltfremdheit, sondern in Druck und Drangsal zur Welt kommen ließ, lässt uns instinktiv spüren, was es mit der Rettung auf sich hat: Sie ist Gottes unmittelbares, ja Sein ganz ureigenes Anliegen!
… Gott nimmt kein Privileg für sich in Anspruch, keine Schonung oder Sonderbehandlung, sondern teilt das Los aller Gefährdeten und Bedrohten, … aller, die gerettet werden müssen!
Dass Er rettet, geschieht also nicht als Zugeständnis oder mit Unwillen, als wäre es etwas Unnötiges, dass wir auf Sein Eigreifen angewiesen sind, wenn wir in unserer gegenwärtigen Erfahrung an die Grenzen des Menschenmöglichen stoßen und oft genug nicht zu erkennen oder zu sagen vermögen, wie die verhängnisvoll aussichtlosen Horrorszenarien, für die die Leiden in der Ukraine und Gaza nur stellvertretend stehen, denn zu etwas Gutem gewendet werden könnten.
Gerade die lebensnotwendige Rettung der Menschenretter Gottes, gerade die weihnachtliche Urerfahrung, dass alles nur anfangen und weitergehen kann, wenn es als Rettung geschieht, verbindet uns mit den beiden Kindern, die wir an diesem Tag „betreuen“ dürfen, … und zwar in des Wortes wirklichster Bedeutung:
Unsere Treue zu diesen beiden, zum kleinen Findelkind der Pharaonentochter und dem kleinen Flüchtlingskind, das an Marias Brust dreizehn Jahrhunderte später sich wiederum nach Ägypten retten musste, … unsere Treue zu diesen Kindern ist lebenswichtig für sie und für uns, wenn sie uns - wie heute - so unmissverständlich vor Augen stellen, was ihre neugeborene Schutzlosigkeit uns predigt: WIR BRAUCHEN RETTUNG … UND GOTT BRAUCHT SIE AUCH!
… Gott, der Herr, der Heiland, der Heilige … Gott braucht Rettung!?!
Das sagt uns der Weihnachtstag mit den beiden hilflosen Kindern, durch die im Alten wie im Neuen Testament das Heil beginnt.
Gott braucht uns: Dass wir Ihm die Treue halten, dass wir Ihn nicht vernachlässigen oder verlassen, dass wir bei Ihm bleiben, um des Wunders des Anfangs willen … und damit wir die Wunder der Zukunft mit Ihm erleben und erlangen.
Wenn wir also den kleinen Mose auf seinem gefährdeten Weg ins Wasser, das ihm das Leben rettete, jetzt vor uns sehen, dann sind wir gefordert, dass wir seinen Weg der Gerechtigkeit und sein Volk Israel - das es sich und uns heute so schwer dabei macht - in seiner Gefährdung nicht verlassen. Denn überall, wo das Volk Israel verlassen wurde und wird, da wird auch der Gott Israels verlassen. … Wer wüsste das besser als wir?! —
Hüten wir also den, der Israel und uns die Freiheit und die Gebote Gottes brachte, und halten wir damit Gott selbst die weihnachtliche Treue in Seiner eigenen Kindergestalt! … Denn auch das Kind in der Krippe, das zum Mann am Kreuz und zum Sieger über das Böse und die Vernichtung werden sollte … auch dieses Jesuskind, dieser neugeborene Versöhner der Welt wird ja geistlich und praktisch so gänzlich verlassen in unserer Zeit, dass es zum Fürchten ist!
Wir aber - Seine Babysitter, Seine Betreuer, Seine Treuen - … wir wollen Ihn hüten und halten von ganzem Herzen und mit allen unseren Kräften!
Wir wollen Acht auf Ihn geben, Den so viele heut her- und aufgeben!
Wir wollen das Wunder bewahren, das Er bedeutet:
Gott wird geboren, obwohl so viel dagegenspricht.
Gott wird geboren, auch wenn die physischen und psychischen, die politischen und praktischen Umstände es überhaupt nicht denkbar erscheinen lassen.
Gott wird geboren: Und wir haben nichts Theoretisches, sondern Praktisches damit zu tun.
… Gott wird geboren, … und wir sollen Ihn erkennen!
So wie Er sich uns schenkt, so wollen auch wir uns Ihm mit Leib und Seele geben: Weil Er uns braucht, wie wir und die Welt Ihn! ——
Weihnachten mit den zwei rettungsbedürftigen Kindern, die unsere Retter vor Unrecht und Unheil, vor Sünde und Tod werden, schenkt uns also wirklich die Gnadengabe und stellt uns zugleich mit allem Ernst die Aufgabe, dass wir sie wahrhaftig behüten und bewahren, die uns die Wahrheit und das Leben schenken.
… Dass wir Gott behüten, den rettenden Gott, Der auf uns wartet!
Kommen wir also zu Ihm in den Dienst des Hütens und der Treue und bringen Ihm und schenken Ihm, was Er Selber uns gegeben hat in Körben und Trögen, in Atomen und Galaxien, in Einzigartigkeit und Unbegrenztheit (vgl. EG 37,4): Geben wir Ihm Leib und Seele, Vergangenheit und Zukunft, Zeit und Ewigkeit.
Alles, was Er braucht.
Alles. Weil Er’s braucht.
… Wie wir.
Amen.
[i] Die Perikope 2.Mose 2, 1-10 ist bei der Reform der Perikopenordnung für den 5.Jahrgang neu unter die Predigttexte des Christfestes aufgenommen worden. Noch nie ist also an diesem Tag in der Kirche verbreitet über diesen Text gepredigt worden!
[ii] Diese apokryphen Hebammen, die ein Moment des ungläubigen Thomas auch schon in die Geburtsgeschichte eintragen, begegnen in der Kunst der Ost- und Westkirche häufig. Das Beharren der Salome genannten Hebamme darauf, dass sie die undenkbare Geburt aus der Jungfrau handgreiflich nachprüfen will, steht im Dienst des marianischen Glaubens der alten Kirche. Grundlage der Legende ist u.a. das sog. „Protevangelium des Jakobus“, das spätestens auf das 4.Jahrhundert zurückgeht. Vgl. die Übersetzung in: Neutestamentliche Apokryphen, hgg. v. Wilhelm Schneemelcher, I.Band: Evangelien, Tübingen 19875 S. 346. Der ungläubigen Hebamme verdorrt die Hand, mit der sie die Untersuchung an Maria vornahm, aber sie betet um Vergebung („Gott meiner Väter, gedenke meiner; denn ich bin Abrahams, Isaaks und Jakobs Same …“ [aaO, S.347]) und sie darf „gerechtfertigt aus der Höhle hinausgehen“ (ebd.). Dem Protevangelium des Jakobus verdankt übrigens das in unserer Gemeinde so beliebte Lied Oskar Gottlieb Blarrs von der „Höhle zu Bethlehem“ (EG 547) die historisch gewiss zutreffende Lokalisierung der bethlehemitischen Viehunterstände in den Grotten um die Siedlung.
Christmette, 24.12.2023, Weihnachtspredigt, Stadtkirche, Jenny Müller
I
Lk 2,11 „Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“
Heiland, du versprichst uns Heil und schenktest uns Land.
Doch wo ist heute dieses Land?
.. in dem Milch und Honig fließen,
oder Bäume der Erkenntnis sprießen,
oder wo Menschen nur Menschen sind und keine Riesen.
Ein Land, das du uns doch versprochen hast.
Doch ich sehe dort nur Hass- Und hier:
Hier, Angst, die sich in Hass verwandelt und mit Fremdenfeindlichkeit anbandelt,
Menschen, die auf dunklen Spuren wandeln-
und egoman handeln.
So sagen viele in diesen Tagen:
Gott, Wer bist du denn? - Ich brauch dich nicht;
wer sollst du sein? - Ich kaufe nichts.
Die Welt, brennt und lodert. Du feiner Geist, wo bist du nur?... und in mir brodelt‘s.
Wenn du da bist, wenn‘s dich gibt, so tu doch was, in diesem Augenblick.
Der Zweifel: Der steigt, wächst ab und zu über deine Herrlichkeit.
Und so wird die Welt immer kälter, obwohl sie stetig wärmer wird.
Die Welt geht vor die Hunde, Katastrophen ziehen ihre Runden, Diktatoren lecken ihre Wunden.
Und dann heißt es in der wunderbaren Weihnachtsnacht: (Lk 2,1)4
Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.
So sag wo ist dein Frieden auf Erden?
Wir sehen nur ein Kummer des Werdens- Nichts zum Ehren.
Als würde alle Welt wissen wie Krieg geht, aber nicht wie es ist, wenn der Hauch des Friedens weht.
Wo ist die Wahrheit, wo ist die Wärme und dein Licht?
Joh 9,5 „Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt“- hast du gesagt!
So mach doch dein Licht an und schau dir diese Welt doch an.
Sitzen hier und du verkündigst uns große Freud: Denn uns ist heut der Heiland geboren!
Ja, das ist ganz famos, sitzen hier wie jedes Jahr - doch fragen uns:
Ist es wirklich wahr? Wann wird der Himmel auf Erden wahr?
Wie es wohl war, in dieser Heiligen Nacht - und
was diese heute wohl noch mit uns macht?
Hat sie eigentlich noch irgendeine Macht?
Und bist du noch der, der über uns wacht?
II
Gott, wir fürchten uns in diesen Zeiten,
wollen so gerne, dass deine Hand uns leitet,
dass das Böse uns meidet,
dass deine Liebe in der Welt waltet.
Und dann, in dieser dunklen Nacht auf dem Felde, erhörst du uns:
Lk 2,9 „Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie.“
Erhörst uns - aus dem Nichts: Schaust du, Gott, uns mit deiner Klarheit ins Angesicht.
Schickst uns ein Zeichen in diese Zeit,
schickst uns ein Zeichen, da sich bei uns zu vieles aneinanderreiht- weil wir schlafen wie die Hirten in diesen Tagen, haben nichts Hoffnungsvolles mehr zu sagen,
sehend zu dir hoch klagend, anstatt dein Licht in die Welt zu tragen.
Wenn die Welt nach deiner Hoffnung schreit,
wenn du siehst dieses Leid- dann siehst du, wir sind für dein Wunder bereit.
Schickst uns heute deinen Engel, der da sagt:
Lk 2, 10,11 „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren.“
III
Fürchtet euch nicht- das ist leichter gesagt als getan,
doch Hoffnung vollzieht in uns leise ihre Bahnen
und so machen wir uns auf den Weg,
wollen‘s glauben, was da in der Krippe liegt.
Sind die Hirten in der Geschicht‘, eilen zum Kind,
legen dahin einen kräftigen Sprint.
Wollen des Engels Wort nach gehen- wollen unsere Er-Lösung wahrhaftig sehen:
Das Kindlein was uns angeblich alles gibt -was wir so dringend brauchen.
Doch um dies zu erkennen, ums zu glauben, trauen wir heute leider nur noch unseren Augen.
Wir stürmen hin in unserer Zeit,
drängen uns in der Wirklichkeit an Fakten, Wünsche und erkennen – leider nur diese Welt, die wir sehen können und benennen.
Doch ist das der Zauber dieser Nacht- können wir mit bloßem Auge sehen, was diese Nacht mit uns macht?
Ja, das Kind in der Krippe kann fesseln sprengen, uns lossagen von allen Zwängen, kann uns hören lassen seine Himmels-Klänge, kann uns befreien von dieser weltlichen Enge.
Doch muss ich dafür in die Krippe schauen,
muss in diesem Kasten nach ihm tasten und es anfassen?
Nein, ich muss mich einfach bezaubern lassen! - Inne halten und bei dir weilen, anstatt durch Raum und Zeit zu eilen.
Muss mich ergreifen lassen von deiner Kraft- ich höre sie in deiner Heiligen Nacht.
Denn ist es nicht gerade die Stille, die sie zur Heiligen macht?
„Stille Nacht! Heilige Nacht! Die der Welt Heil gebracht,..“
Doch wir in diesem stillen Raum-
können kaum halten, unserer Unruhe im Zaun- ist ja auch nicht gefordert im Jetzt und Hier.
Muss immer schneller werden, immer weiter, immer höher auf der Leiter.
Denn wer kann sich heut noch vorstellen, dass da was ist in dieser Nacht,
was auf uns wartet-
ein Wunder das hell erwacht und unsere bisherigen Grenzen zu Nichte macht.
Und so begeben wir uns alle auf unseren eigenen Pfad, schaufeln uns alle unseren eigenen Graben, der uns von dir trennt.
IV
So ist das Kindlein zu finden ist der heutige Preis,
unser Hauptgewinn,
doch der fordert von uns keinen Fleiß.
Kannst suchen, kannst fragen, kannst die Weisheit mit Löffeln gegessen haben, kannst der Beste sein und was wagen.
Doch finden wir es nicht unterm Tannenbaum, nicht in Geschenk-Verpackungen oder im Lichter-Traum.
Nein, das Kindlein bahnt sich seinen ganz eigenen Weg. Wartet schon auf dich, bevor du dich überhaupt bewegst.
Klopft an die Herzenstür- „mach auf die Tür, die Tor macht weit“- ich komme in Herrlichkeit.
Lass mich bei dir nieder, erfülle dein Herz, schenke dir Liebe und die Gewissheit, die dir sagt:
Ich ziehe mit meiner Gnade ein, sodass dir Freundlichkeit erschein. So dass mein Geist dich überall hinleitet, dass er dir und der Welt Heil bereitet.
So..
„Komm, o mein Heiland Jesu Christ,
Meins Herzens Tür dir offen ist.
Ach zieh mit deiner Gnade ein;
Dein Freundlichkeit auch uns erschein.“
V
So sprengst du uns, so erkennst du uns, so beschenkst du uns- wenn wir dich lassen, wenn wir glauben, hoffen und unsere Herzenstür dir offenlassen:
sprengst dann unserer Mauern, und unseren Verstand.
Hast uns erkannt: Unsere bittenden Hände und flehenden Knie.
Beschenkst uns und drängst alles Weltliche in uns an den Rand.
Doch! - nicht zu vergessen und nicht ganz vermessend:
Hast du uns auch ernannt,
hast uns auf deinen Namen gerufen.
Hast gesendet uns dies Zeichen, damit nicht nur ein bisschen Herrlichkeit vom Himmel fällt- nein, hast uns ernannt- denn deine Botschaft, hat Gewicht,
sie brennt in uns, führt uns zum Licht.
Dieser winzige Lichtstrahl da im Stroh- das kleine Kind bringt uns Hoffnung, Wärme und neues Leben- doch redet auch immer wieder davon sie weiterzugeben:
So seid nicht nur Hirten dieser Zeit, die davoneilen, ohne zu verweilen.
Seid keine Hirten, denn ihr seid voll Hoffnung für die Zukunft bereit, ihr seid nämlich mit dem Kindlein im Herzen vor Allem gefeit.
Seid wie die Engel unserer Zeit und verkündigt die große Freud!
So versteckt euch nicht im Hoffnungslosen, seid frohen Mutes auch wenn draußen die Welt am toben,
Lasst euch nicht von Dunkelheit ergreifen und alle diesen Zweifeln!
Denn seht ihr es nicht- heute Nacht, sein strahlendes Licht?
Seht wie schön sein Licht die Welt gemacht, seht wie Er über uns wacht,
seht was seine Liebe mit und in unseren Herzen macht!
Und so ist…(Ps 27,1) „Der HERR .. mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten?“
Und so bewege Gott der Herr unsere Herzen von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Amen.
Christvesper, 24.12.2023, Installation „Schattendasein“, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Bild/Installation „Schattendasein“ von Jens Henning -
Liebe Gemeinde,
Weihnachten ist ein Fest, das von Erinnerungen lebt, die buchstäblich über alle Sinne wachgerufen werden: das sind die Gerüche, der Duft von Tannennadeln und von Glühwein, da sind die Klänge vertrauter weihnachtlicher Lieder und Musiken, selbst das Frösteln beim Besuch auf dem Weihnachtsmarkt, beim Spazierengehen und gegen Ende des Gottesdienstes hier in der Mutterhauskirche gehört dazu. Und all die Bilder, die sich unseren Augen bieten: der Anblick von Kerzen, der geschmückte Weihnachtsbaum, die Krippe und ihre Darstellung auf unzähligen Bildern durch die Jahrhunderte. Maria und Josef mit dem Jesuskind, mit Ochs und Esel, Hirten und Weisen, Schafen und Kamelen und manch anderen Gestalten. Vertraute Bilder, die weihnachtliche Stimmung bringen, wie auch das Bild auf dem Liederheft. Wobei dieses Bild schon einen ersten Schritt zu einem neuen Blick auf Weihnachten darstellt: hat doch Josef dort das Kind auf seinem Arm und Schoß, während Maria in die Lektüre eines Buches (es soll natürlich die Bibel sein) vertieft ist.
Hier ein paar Reaktionen darauf:
Das soll ein Weihnachtsbild sein?
Also mir fehlt da etwas. Eigentlich die ganze Weihnachtsstimmung. Kerzen, Tannenzweige. Maria und Josef. Der Engel und die Hirten. Irgendwie alles.
Ich finde schon, dass das ein Weihnachtsbild ist. Das Kind in der Krippe sieht man sofort. Und das ist doch das Wesentliche an Weihnachten.
Mir gefällt der Lichtschein. Es erinnert mich an einen Sonnenaufgang. Die Sonne geht hinter der Krippe auf.
Aber irgendwie ist es auch nur wie ein Schatten. Ist es real? Machen wir uns da etwas vor mit Religion, mit Weihnachten und überhaupt?
Machen wir uns an Weihnachten nicht alle irgendwie etwas vor? Ich meine die heile Welt und so. Und anderswo ist Krieg.
Ich finde, Weihnachten ist ein sehr ambivalentes Fest.
Ich mag es einfach, wenn es an Weihnachten schön ist. Wenn der Weihnachtsbaum in der Kirche leuchtet und dann die Gemeinde singt „O du fröhliche“. Das erfüllt einen doch.
Es kann aber auch ganz anders sein: Für viele ist es der einsamste Tag im Jahr. Für den, der allein ist. Oder der jemand verloren hat.
Aber was hat das alles mit dem Bild zu tun? Ehrlich gesagt, berührt es mich nicht. All die Drähte und Spulen. Da hat einer lange gebastelt. Das Ganze ist mir zu technisch.
Wieso? Da trifft die 2000 Jahre alte Geschichte auf die Wirklichkeit heute. Gerade das finde ich spannend. Ein Weihnachtsbild ohne jeden Weihnachts-Kitsch.
Wenn jemand die Lampe vorne ausknipst, sieht man gar nichts mehr. Dann ist das Jesuskind an der Wand verschwunden.
Genau das ist es doch: Man glaubt daran, dann sieht man etwas. Den Friedensbringer, den Heiland. Wenn man nicht glaubt, dann bleibt das alles eine leere Hülse, Elektroschrott, der nichts bedeutet.
Mir gefällt dieser Gegensatz zwischen vorne und hinten. Vorne der Schrott. Aber dann wird etwas draus. Ist das nicht dieses „Gott kommt in die Welt“? Das heißt dann doch im Umkehrschluss: Schauen, wo überall Jesus steckt. Vielleicht ganz woanders als man sonst immer meint.
Aber die Botschaft von Weihnachten lautet: Jesus ist da! Auch wenn man ihn manchmal nicht so leicht sieht. Oder gar nicht. Aber hinter allem steckt er, finde ich.
Das gefällt mir jetzt: Man könnte das Bild unter zweierlei Blickwinkeln betrachten. Wenn ich es mit den Augen der Resignation anschaue, sehe ich nur Metallteile, die niemand braucht. Ist im Moment nicht vieles in der Welt so? Aber wenn ich auf die Welt mit den Augen der Hoffnung schaue, wenn ich mit Gottes Gegenwart rechne, dann kann da etwas entstehen, etwas Neues, etwas, dass klein beginnt und dann wachsen kann. Dann sehe ich das Jesuskind in der aufgehenden Sonne.
Anregung zu einem Gespräch über Weihnachten, das gibt dieses Bild auf jeden Fall. Und es lehrt uns, neu hinzuschauen – gerade weil es uns zunächst fremd entgegentritt.
Die Weihnachtskrippe mit dem Jesuskind ist zu einem Schattenriss geworden, der zu einem Zentrum der Ausstrahlung wird. Weihnachten als Überraschung: mitten aus scheinbar willkürlich angehäuften Gegenständen, aus Elektroteilen oder Elektroschrott wird die Krippe mit dem Kind sichtbar.
Auch die Farbgebung, das Himmelblau, auf dem die Konstruktion aufgebaut ist, ist bedenkenswert: sie kann dafür stehen, dass hier Himmel und Erde zusammentreffen. „Schattendasein“ hat der Künstler seine Installation benannt.
Es ist kein Bild, das für immer fertig gemalt und an die Wand gehängt werden kann.
„Schattendasein“ – diese Bezeichnung betrifft nicht nur den Schatten von Krippe und Kind, sondern das gesamte Werk.
Die Installation ist überhaupt nur dann als solche da, wenn das Licht leuchtet.
Ohne das Licht gibt es nur einen Haufen Elektroschrott auf einer blauen Platte, für den sich keiner interessieren würde.
Das Licht verändert alles.
„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. … Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben und die Herrschaft ist auf seiner Schulter.“ (Jes.9,1.5a)
So haben wir es vorhin in der Lesung aus dem Buch des Propheten Jesaja gehört.
Licht und Finsternis – das sind die großen kosmischen Stichworte der Weihnacht.
Kind und Krippe – das sind die irdischen Realitäten.
Wie lassen sich beide Ebenen so miteinander verbinden, dass Weihnachten mehr ist für uns als ein Event, das nur ein begrenztes Schattendasein in unserem Leben spielt, das aus und vorbei ist, wenn der Stecker der Tannenbaumbeleuchtung aus der Steckdose gezogen ist?
Was haben Licht und Finsternis und das Kind in der Krippe mit uns zu tun? Wo kommen wir vor?
Dass Jesus derjenige ist, der das Licht in die Welt gebracht hat, das ist allen, die mit dem christlichen Glauben groß geworden sind, fraglos klar. Und gerade an Weihnachten wird uns das alle Jahre wieder vor Augen gestellt.
Durch seine Hinwendung zu denen, die an den Rand ihrer Gesellschaft gedrückt werden oder wie es in der Sprache der Bibel heißt, in Finsternis und Todesschatten wohnen, hat Jesus Licht in ihr Leben gebracht. Er hat ihnen gezeigt, dass Gott für sie ein anderes, besseres Leben gewollt hat. Und selbst denjenigen, die sich selbst durch ihr Fehlverhalten, durch ihre Schuld ins Abseits, in die moralische Finsternis begeben haben, selbst denen hat er heimgeleuchtet, hat sie ins Licht der vergebenden Liebe Gottes, an einen neuen Anfang gestellt.
Kein Wunder, dass der Evangelist Johannes diesen Jesus zum Licht der Welt erklärte. Allerdings hat er damit auch einen Weg beschritten, der nicht unproblematisch ist …
Der dazu verführt, Jesus und den lieben Gott alles machen zu lassen. Jesus selbst hat diese Gefahr gesehen. In der Bergpredigt hat er es allen, die ihm zuhörten, gesagt, geradezu ins Stammbuch geschrieben: „Ihr seid das Licht der Welt.“…und „Lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, sie sollen eure guten Taten sehen und den Vater im Himmel preisen.“ (Mt.5,14-16)
Im Grunde genommen geht es den Weihnachtserzählungen von Lukas und Matthäus gerade auch darum: deutlich zu machen, dass das Licht, das im Leben von Jesus unauslöschlich aufgeleuchtet ist, ein Licht ist, das seitdem auf Wanderschaft ist durch die Zeiten. Es wäre erloschen, wenn es nicht weitergegeben worden wäre. Das Feuer der Liebe, das Licht des Lebens, es braucht keine Kandelaber, sondern Menschen, die sich anstecken lassen, die in die Dunkelheiten jeweils ihrer Zeit hineinleuchten, um es heller werden zu lassen in ihren Familien und Gesellschaften, um Gottes Wohlwollen und seine Freundlichkeit, seinen Lebens- und Heilswillen für alle seine Menschenkinder spürbar, erfahrbar zu machen – so wie Jesus es zu seiner Zeit getan hat.
Nun mag sich mancher hier fragen: Wie kann ich mich denn da mit Jesus vergleichen? Er ist doch unvergleichlich, der Christus, der Sohn Gottes? Wer bin ich denn schon?
Die Botschaft von Weihnachten sagt das unmissverständlich: Du, Mensch, bist sein Bruder, seine Schwester, du bist ein Kind Gottes, ein Sohn, eine Tochter Gottes wie Jesus von Nazareth. Du bist es von deinem ersten Atemzug an. So, wie er es gewesen ist. Mit dem Leben hat Gott dir die Gabe geschenkt, Licht zu sein, die Welt heller, schöner, gerechter zu machen. Alles, was nötig ist, liegt in der Krippe, im Kinderbettchen, in der Wiege schon bereit. Es muss nur zur Entfaltung kommen – im Leben eines jeden Menschenkindes. Das Licht der Weihnacht – ein Geschenk von Gott, das angenommen, ausgewickelt, gebraucht und weitergegeben werden will. Von jeder und jedem von uns.
Jesus von Nazareth ist uns darin ein leuchtendes Vorbild. Er hat uns ein Beispiel dafür gegeben, worum es im Leben geht: Sich nicht von allen Dunkelheiten lähmen zu lassen, zu resignieren angesichts von allen Schrecknissen und Schwierigkeiten, sondern einfach das Licht, das Gott jedem Menschenleben eingestiftet hat, leuchten zu lassen – mitten in alle Finsternisse. Wir werden die Finsternis nicht abschaffen, aber wir können die Wirklichkeit erhellen, das, was chaotisch daherkommt, so durchleuchten, dass Hoffnung auf einen Neuanfang aufscheinen kann. Das kann uns das Bild, die Installation von Jens Henning vermitteln. Und dazu passt ein Vers aus dem 2.Korintherbrief (4,6), wo es heißt:
„Gott hat einst gesagt:
Aus der Dunkelheit soll ein Licht aufleuchten.
Genauso hat er es in unseren Herzen hell werden lassen. Durch uns sollte das Licht der Erkenntnis aufleuchten:
die Herrlichkeit Gottes, seine Güte und Liebe,
sollte sichtbar werden, die uns im Christus Jesus begegnet.“ (Übersetzung Basis-Bibel)
In uns ist Licht. Es will in uns etwas aufleuchten, wie das Licht auf der Karte, in dem dann das Kind in der Krippe erkennbar wird. Wenn jemand die Lampe ausschaltet, ist es weg. Das könnte bedeuten: manchmal verliert man in der Geschäftigkeit des Alltags den Kontakt zur Quelle des Lichts, dann braucht es jemand oder ein Ereignis, etwas, das den Kontakt wieder herstellt. Das ist der tiefe Sinn von Weihnachten. Weihnachten erinnert uns an das Licht, das von Gott her in die Welt gekommen ist – durch Jesus hell aufgestrahlt ist und weitergegeben wurde bis in unsere Gegenwart.
Es ist gut, dass wir jedes Jahr daran erinnert werden: das Licht von Gott leuchtet in uns und will von uns weitergegeben werden, um so der Finsternis unserer Zeit entgegenzuleben, im Vertrauen auf Gott, der verheißen hat: Siehe, ich will ein Neues schaffen. Jetzt wächst es auf, jetzt kommt es in dir zur Welt. (Jes.43,19)
Amen.
Christvesper, 24.12.2023, Stadtkirche, Lukas 2, 15 - 17, Pfr. Dr. Uwe Vetter
Heiligabend 2023
17.30 Uhr Christvesper Kaiserswerth
Predigttext LukasEvg 2 : (8-20) Verse 15 und 17
Propheten-Lesung Jesaja 65, 17-25
Predigt Uwe Vetter
Bei den Hirten in Hongkong
Lukas 2 (8) Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. (9) Und des HERRN Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des HERRN leuchtete um sie, und sie fürchteten sich sehr . (10) Und der Engel sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. (11) Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. (12) Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“ (13) Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: (14) „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen Seines Wohlgefallens“. - (15) Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: „Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der HERR kundgetan hat“. (16) Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. (17) Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kind gesagt war. (18) Und alle, vor die es kam, wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. … (20) Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.
Was haben die Hirten gesehen? Wir wissen, irgendetwas haben sie gesehen, an Heiligabend, ´zu Bethlehems Stall`. Etwas hat gemacht, dass sie ihre Herde verließen und die Hürden überwanden (die uns hindern, am Gottesdienst teilzunehmen), dass sie sich auf den Weg machten, um persönlich dabei zu sein, zu Heiligabend in Bethlehems Stall. „Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der HERR kundgetan hat“ haben sie sich gesagt. Das müssen wir mit eigenen Augen sehen, was uns da in die Wiege gelegt ist, was da so große Freude macht, die allem Volk widerfahren wird. Sagten die Hirten. Und gingen los.
Folgen wir Ihnen, liebe Heiligabendgemeinde, unauffällig. - Aber bevor wir uns an ihre Fersen heften, rasch noch einen prüfenden Blick in den Spiegel: Warum haben wir uns heute Abend aufgemacht in die Kaiserswerther Stadtkirche, unserm Bethlehem-Stall? Warum lassen Sie Weihnachten nicht sausen, gehen auf Kreuzfahrt oder lassen sich unter Palmen verwöhnen im Dezembersommer irgendwo am Strand?
´An Heiligabend gehört Kirche einfach dazu`, werden Sie sagen. Nachmittags mit den Kindern zum Krippenspiel … das Christkindlhafte, und das Windelweiche… ich liebe es`. – Und ja, Sie haben Recht, auch das ist an Heiligabend eine der Sprachen Gottes, auch das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und Sie sitzen jetzt zur Vesper mit Streichquartett und Oboe in der Kirche,… die altvertrauten Weihnachtslieder singen, die Weihnachtsgeschichte hören – da erwacht, was mit uns selbst von Klein auf geschehen ist., „Lasst uns nun gehen nach Bethlehem,“ sprachen die Hirten untereinander, „und die Geschichte sehen, die da geschehen ist“.
2
Also kommen Sie, folgen wir den Hirten. Bleiben wir dran und lassen sie nicht aus den Augen, jetzt, wo sie nach Bethlehem kommen. Denn ihnen passiert etwas, womit sie nicht gerechnet hatten. Eigentlich wollten sie Heiligabend nur mal das Christkind gucken und dann wieder heim, zurück an ihre (Küchen)Herde und Hürden. Doch während Heiligabend im Familien/Freundeskreis (unserer „Herde“) meist minutiös getaktet ist – Kirche, Bescherung, Essen, Christmette… haben die biblischen Hirten plötzlich viel Zeit. Irgendwas treffen sie dort an, das sie trifft. Statt nach Hause zu gehen, überkommt die Hirten ein unstillbares Mitteilungsbedürfnis. Sie müssen mit irgendwem reden, über das, was sie gesehen haben. Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kind gesagt war. Heut würde es heißen: Die Smartphones laufen heiß, da wird ge-signalt, ge-simst und ge-whatsappt, bis das Netz nachgibt. Die Hirten haben was erlebt, was sie irgendwem erzählen müssen, unbedingt.
Können Sie sich vorstellen, dass uns heute Abend etwas aus unsrer alle-Jahre-wieder-Routine holt und wir mit einem Mal alle-Zeit-der-Welt haben? Was verwandelt Menschen, die nichts andres wollen als im Gottesdienst singen und sagen hören, in Augenzeugen, die Aufregendes zu Protokoll geben? - Man müsste die Hirten fragen: Was ist los mit euch? Ihr seid ja gar nicht wiederzuerkennen! Was ist euch begegnet, in Bethlehems Stall?
3
Liebe Heiligabendgemeinde, ich hab das einfach mal gemacht. Ich habe die Hirten gefragt. Ich hab mich diesen Herbst nach Hongkong aufgemacht. Ich wollte sehen, was los ist, was in diese Leute gefahren ist. Warum dort, im Schatten Chinas, in Hongkong, wo es gerade immer düsterer und dunkler wird, warum ausgerechnet dort so viele zu Christen werden und sich so auffällig benehmen. Ich habe an einer Theologischen Hochschule unterrichtet. Unter den studentes waren viele bereits gestandene Hirten, also Pastoren, die längst eine Gemeinde („Herde“) führten - in Hong Kong und Macao, in Myanmar in der Volksrepublik China. Was ist der Grund? fragte ich die Hirten dort, warum „kommen“ bei Euch so viele Menschen „zum Christus“ ?
Es ist wirklich kaum zu glauben: Nach Mao´s Kulturrevolution 1965-1976 gab es nur noch kleine Restbestände von Kirche. Doch seitdem hat sich die Zahl der Christen vervierzigfacht.[1] Heute gehen dort sonntags mehr Menschen zur Kirche als in sämtlichen Ländern Europas zusammen.[2]
Obwohl „Kirche“ dort nicht bequem ist. Der „Stall zu Bethlehem“ dürfte mehr Sterne gehabt haben als die meisten Adressen dort.[3] Um der Partei-Kontrolle zu entgehen, treffen sich in mainland viele in „house churches“, in Privatwohnungen, Hinterzimmern, Fabrik-Cafeterien und unter freiem Himmel. Ohne Kirchgebäude, ohne Mitgliederkartei sind Christen zwar nicht „underground“, aber schwer zu fassen. Eine Laienkirche ist es, mit wenigen Pfarrern und notdürftig ausgebildeten Evangelisten. Man erzählt die Jesusgeschichte dem, dem man vertraut. Glaube wird von Freund zu Freund, von Kollegin zu Kollegin, von Schülern und Studentinnen weitergetragen. Jeder Getaufte ist beseelt von einer Mission. - Und das ist erstaunlich, denn Kirche wirbt mit einer Botschaft, die völlig irre klingt im geschäftstüchtigen Reich der Mitte(l): Christsein kostet mich was! Christsein kostet das Risiko, keinen Job beim Staat zu bekommen[4]. Christsein kostet den freiwilligen >biblischen Zehnten< (des Einkommens), den jeder ins Gottesreich investiert. Christsein bringt einen Wettbewerbsnachteil: Christen dürfen nicht betrügen im Brutalkapitalismus. Und der Sonntag ist nicht Tag der Arbeit und Geschäfte, am Sonntag formiert sich Gemeinde im Gottesdienst. 100 Millionen Christenmenschen, manche schätzen bereits bis zu zehn Prozent der Bevölkerung in Chinas Kirchen – ohne fremde Hilfe, ohne Werbeetat, ohne Handreichungen und Enzykliken, fast aus dem Stand.
…es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten ihre Herde des Nachts – …des Nachts, - ja so ist es: es wird mit jedem Jahr düsterer und dunkler. Die Hürden für freies Denken werden in Hongkong immer höher. So viele wandern aus, weil sie fürchten, dass der verordnete Nationalkunde-Unterricht ihren Kindern das Gehirn wäscht. Sie fürchten sich vor dem neuen „Nationalen Sicherheitsgesetz“, das Willkür Tor und Tür öffnet. Die Nacht ist vorgedrungen und greift um sich – wer das nicht merkt, muss naiv sein.
Ich habe die Hirten dort gefragt: Why do Chinese turn to Christ ? – Wen immer ich fragte, die gleiche Antwort: Well, they encountered Christ, sie sind dem Christus begegnet. Dem „Heiland“.
4
° Der Heiland heilt, sagten sie, der Heiland heilt unsere alten Kernzellen des Lebens, die Familien. Die Kulturrevolution hatte die Familie zerstört. Kinder wurden gegen ihre Eltern gehetzt. Schüler verprügelten ihre Lehrer. Ehemänner zeigten ihre Frauen an. Ehefrauen ließen ihre Männer in Umerziehungslager schaffen. Niemand wagte mehr etwas zu sagen, ja nicht mal mehr zu denken. – Dann kam Kirche. Die Gemeinde ist Familie, Brüder und Schwestern, Väter und Mütter im Geiste. Hier vertrauen wir einander, sagten die Hirten.
° Und Christentum kennt Schuld und Vergebung. Im Alltag, sagten sie, gebe es wenig Raum für Schuldempfinden: horrende Umweltfrevel, Lebensmittelskandale, „Handgeld“ für Ärzte, wenn man eine OP im Krankenhaus braucht, das sei Alltag. Wer Beziehungen hat, darf alles. – Aber in der Kirche nennt Gott das Böse beim Namen, und sagt zugleich: Ich schenke dir die Kraft, anders zu sein. Sündige hinfort nicht mehr! - das ist … eine Gegenwelt, sagten die Hirten.
° Und diese andre Kultur scheint auch attraktiv für die muslimischen Hausangestellten, die zu Hundertausenden aus Indonesien nach Hongkong kommen. Die Christen sinds, die sich un sie kümmern. Die sie einladen, die ihnen Raum geben, damit sie nicht auf den Fußgängerbrücken in Pappkartons picknicken müssen. Von denen, die in den Kirchen eine Heimat auf Zeit finden, kommen immer wieder Musliminnen, die sich taufen lassen wollen. Aber das ist dann jedes Mal hart für sie. Wenn das rauskommt, werden sie aus der Familie ausgestoßen, enterbt, aus dem Dorf verbannt, müssen gehen, nur mit den Kleidern, die sie auf dem Leib tragen. – Warum um alles in der Welt tun die sich das an!? frage ich. Und die Hirtin (aus Saba, Borneo) antwortet: “Well, they encountered Christ. What can you do “. Was sollen sie machen, sie sind dem Christus begegnet.
Die Christengemeinde ist Freiraum, Raum der Freiheit, genau wie der Engel es angekündigt hat: Und der Engel sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! Siehe, … euch ist heute der Heiland/ d.i. „Befreier“/ geboren, welcher ist Christus, der Herr, …
5
Liebe Heiligabendgemeinde, verzeihen Sie, dass ich Sie in so eine fremde Welt entführe. Aber manchmal braucht es das Fremde, um etwas zu erfassen, das so nah ist, vor unseren Augen: Weihnachten ist keine Geschichte, die irgendwann mal geschehen ist. Weihnachten geschieht jetzt, heute, in unseren Tagen. Der Christus kommt in einer Welt zur Welt, die geistig umnachtet wirkt wie lange nicht mehr. Der Christus ist in eine Welt geboren, die dachte, sie hätte Gott gegen ihre eigenen Idole ausgetauscht. Und da sagt die Weihnachtsgeschichte: Ihr habt keine Ahnung. Das Heilige ist mitten unter uns. Beugt. Euch nicht dem Dunkel! Sagt die Weihnachtsgeschichte. Macht euch nicht gemein mit dem Gemeinen. Das Licht ist auf dem Weg, und die Nacht muss, die Nacht wird weichen. Das ist das große Weihnachtsversprechen Gottes, an uns alle. - Wenn ich den Hirten (dort im Osten) zuhörte, wie sie von ihrem Glauben erzählten, dass das der „game changer“ war, wie eine Freilassung von Geiseln, dann fragte ich mich: Könnte es sein, dass wir im Abendland unser Christentum total unterschätzen? Ich frage mich, ob wir noch ahnen, was für eine Power hinter diesem Heiligen Geist steckt. Wenn man hingeht, sich drauf einlässt.
Und heute Abend höre ich die Weihnachtsgeschichte predigen: Folgt den Hirten! Folgt ihrem Beispiel! Lasst uns hingehen, sagen die Hirten, und einen Blick auf die Menschlichkeit Gottes werfen. – Und fürchtet euch nicht! Was ist denn so fürchterlich daran, wenn auch wir wieder anfingen andern weiterzusagen, was wir glauben?!
Amén
Fürbitten
Heiliger Gott und Quelle allen Lebens, in einer der dunkelsten Nächte des Jahres hast Du Dein Licht aufgehen lassen. In Gestalt eines Kindes hast Du aller Welt das Zeichen des Neuanfangs gesetzt.
Lass die Nachricht dieser Nacht auch uns erreichen. Stärke uns alle und lass uns finden, wonach wir suchen, wonach wir uns sehnen: Verständnis für unsere Schwächen. Vergebung für das, was wir schuldig geblieben sind. Trost, wo wir niedergeschlagen sind. Und Mut in allem, was uns Angst macht.
An diesem Abend, wenn wir an Deine Friedensverheißung erinnern, bitten wir für Menschen, die jetzt in Gefahr sind: die auf der Flucht sind vor Willkür und Gewalt, die keine Ruhe finden aus Angst um ihre Familien, die im Kriegsgebiet festsitzen, und die als Geiseln in den Tunneln hocken, ausgeliefert und nicht wissen, wie sie diese Nacht überstehen. HERR, setze dem Bösen eine Frist.
Wir bitten Dich für die Menschen unserer Stadt, für alle, die´s gut haben, aber denen die Festtage trotzdem schwerfallen: für die, die übers Jahr einen vertrauten Menschen verloren haben, wenn alles heute Abend daran erinnert, wie sehr er fehlt. Lass sie mit ihren Erinnerungen nicht allein.
Wir bitten Dich für Deine Kirche, in die wir getauft sind. Die Du mitnimmst in Deine Mission. Schenk uns eine neue Reformation. Verwandle Online-Christen zurück in Menschen, die hingehen. Mach aus Nutzern wieder Gläubige. Lass Menschen, in ihrer Meinung einpfercht, die Hürden überwinden und neue Erfahrungen machen. Lass uns am Ende zu denen zählen, von denen man sagen wird: „Dieser war auch mit Jesus von Nazareth“ (Mt26:71).
Wir bitten Dich für all jene, die heute einfach nur froh und ausgelassen sind: Behüte die Erwachsenen vor den falschen Themen. Bewahre die Kinder vor Überdruss und mach, dass niemand etwas Gezwungenes tun muss. Und erhalte allen, die gern leben, die Lebenslust.
Amén
[1] Eine Zählung im Jahr 1980, 5 Jahre nach Ende der Verwüstung, gibt die Christenzahl Chinas bereits wieder mit 3 Millionen an.
[2] Die kommunistischen Behörden, nach der Lehre Maos auf Atheismus eingeschworen, räumen heute zähneknirschend ein, dass es in den vom Staat kontrollierten Gemeinden mittlerweile 40 Millionen Christen gebe. Was sie verschweigen ist, dass dabei nur Erwachsene über 18 Jahren gezählt werden, Minderjähre mit Religion in Berührung zu bringen ist per Gesetz verboten. Und was sie vor allem verschweigen, ist, dass auf einen staatlich überwachten Christen vermutlich drei unregistrierte, illegale Christen kommen, die sich in Hausgemeinden zusammenfinden.
[3] Es gibt noch einige alte, imposante Kirchgebäude aus den Zeiten der Kolonien und der Missionsgesellschaften, die heute wir Fossilien, wie Zwerge in den Glasbetontürmen der modernen Innenstädte stehen, aber belebt sind vom geistlichen Leben der neuen Gemeinde. Es gibt die (mehr)Etagen-Kirchen in den kommerziellen Hochhäusern der Innenstädte, mit 1000 Plätzen und modernsten Tonsystemen, wo man sich in drangvoller Enge zu Gottesdienst und Gemeindeleben versammelt. Es gibt sogar einen Fall in der Provinz Guangzhou (Kanton), wo die egierung den Kirchen ein Grundstück für einen Kirchneubau gewährt hat und drauf besteht, dass dieses Kirchgebäude imposant sein müsse, weil die Regierung sich nur mit etwas Eindrucksvollem identifizieren möchte. Doch verglichen mit unserer europäischen Kirchlandschaft ist Christentum – aufs Ganze gesehen - im Stadtbild Chinas unsichtbar.
[4] Zum Universitätsstudium wird man von der kommunistischen Partei eingeladen, und man wird mit der Einschreibung an der Universität zum Parteimitglied, der Philosophie der atheistischen Doktrin unterworfen. Während Christentum andernorts geduldet wird, stehen Parteimitglieder gewissermaßen unter Eid und strenger Aufsicht, sich von Religion fern zu halten. Zuwiderhandeln ist Vertragsbruch. Entsprechend gehört missionarische Arbeit unter Universitätsstudenten zu den riskantesten Pastorenaufträgen im Lande. Die Gefahr von „IMs“, die sich in Gemeindekreise einschleusen, ist allgegenwärtig.
Schulgottesdienst des Suitbertus Gymnasiums, 20.12.2023, Stadtkirche, Weihnachts-Ansprache, Erik Heukelbach (Jahrgangsstufe 12)
Weihnachts-Ansprache von Erik Heukelbach (Jgst.12) nach dem Krippenspiel der Jahrgangsstufe 12 im Schulgottesdienst der evangelischen Schülerinnen und Schüler des Suitbertus Gymnasiums am 20.12.2023
Ich hoffe wirklich, euch hat dieses unkonventionelle Krippenspiel gefallen und ihr konntet zumindest etwas lachen. Das sage ich nicht, weil wir da alle viel Zeit reingesteckt haben, weil sich das anhören würde, als würden wir in unserer Einbildung irgendeine Art Dank erwarten, oder auch nur, weil mich irgendeine Kritik zu diesem schauspielerischen Meisterwerk wirklich interessieren würde, sondern weil es bei dieser ganzen Sache um ein zentrales Element geht: Freude.
Pure, reine Freude. Denn was ist Weihnachten sonst, als die Freude des ganzen Christentums über die Ankunft ihres Heilands, der ihnen als Licht in dieser dunklen Zeit erscheint?!
Und für alle, die jetzt beginnen, die Augen zu verdrehen und eine Sintflut prätentiöser biblischer Phrasen in Kombination mit Verweisen in die tiefsten Tiefen der Bibel erwarten, die kann ich beruhigen, denn mir geht es nur um den „Kern“ dieses Festes.
Die Geburt eines kleinen Windelpakets, was ein Licht in die damals dunkle Zeit brachte. Und auch wenn dieses Ereignis jetzt mehrere Jahrtausende zurückliegt, könnten wir auch heute noch diese Erscheinung gebrauchen.
Im Nahen Osten sprengt das israelische Militär den Gazastreifen in die Luft, in der Hoffnung eine Terrororganisation zu besiegen, während sie dabei auch noch unzählige Zivilisten umbringt, und man selbst ist in einem Schwebezustand der Meinungen zwischen „Gut, dass sie Terrorismus bekämpfen“ und „Zivilisten als Kollateralschaden sind inakzeptabel und das alles muss stoppen“ gefangen. Ein simplerer Fall ist der Ukraine-Konflikt, was diesen aber auch nicht einfacher macht, da er jetzt schon so lange geht, dass man sich schon so langsam fragt, ob man das nicht einfach mal ignorieren kann - und dadurch die Gefahr eines solchen Krieges im Angesicht der eigenen Ignoranz völlig aus den Augen verliert. Und selbst in den Gebieten, in denen nicht Krieg herrscht, gibt es Probleme. Die Ampelregierung stolpert von einer Krise in die andere, in ganz Europa haben rechte Parteien einen besorgniserregenden Erfolg, was wir hier auch an der AfD sehen. Flüchtlinge ertrinken vor den europäischen Küsten, während Rassismus in unserem Land wieder auflebt. Die USA stehen kurz vor einem neuen Bürgerkrieg zwischen Trumpisten und Demokraten, und als wäre all das noch nicht schlimm genug, zerstören wir bei dem allen noch still und heimlich unseren schönen Planeten, weil Klimaschutz ja nur schön ist, solange er nicht eigene Entbehrungen verlangt.
Angesichts dieser erschreckenden Anzahl an Krisen gehe man doch nicht falsch in der Annahme, dass es so langsam an der Zeit wäre für einen unserer heutigen Retter aufzutauchen. Ein Hightech-Billionär, der mit einem fliegenden Kampfanzug das Unrecht bekämpft, ein Baby vom fernen Planeten Krypton, das ohne Eltern auf dieser Erde ankommt oder der fleischgewordene Gott, der wieder auf die Erde zurück kommt, um uns durch seine Worte aus dieser misslichen Lage zu retten.
Stattdessen bekommen wir Weihnachten.
Ein symbolischer Geburtstag - denn der reale ist uns nicht bekannt - eines Mannes, der seit knapp zwei Jahrtausenden tot ist und dessen größte Tat doch technisch gesehen Ostern war, das Besiegen des Todes.
Warum also Weihnachten? Etwa weil es inzwischen in der westlichen Welt zu einem reinen Konsumfest wurde und das Christkind längst von einem adipösen Best-Ager von Coca-Cola verdrängt wurde? Oder weil die Zahl 24 einfach schön ist und man im Winter sowieso nichts Besseres zu tun hat, als sich im warmen Haus den Magen bis zum Erbrechen vollzuschlagen?
Oder steckt noch mehr dahinter?
„Wenn du keine Ahnung hast, was du schreiben sollst, mach doch einfach eine Analyse der Weihnachtsgeschichte“, war die Antwort, die mir eine sehr genervte Person auf meine Frage, was ich denn schreiben solle, gab. Gefolgt von der Betitelung der Vergabe dieser Predigt an mich mit dem eloquenten Wort „doof“. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt den Tipp für denkbar nutzlos hielt, scheint er jetzt sehr hilfreich. Wie kann man besser den Grund für die heutige Relevanz des Weihnachtsfestes herausfinden als mit einer Analyse des Ereignisses?
Ein Stern taucht auf in Betlehem und verkündet aller Welt von der Geburt Jesu und alle Welt strömt hin, um dieses Kind zu sehen. Die streikenden drei Hirten und die heiligen drei Könige. Aber warum tun sie das? Das Essen kann sie nicht angelockt haben, denn das gab es nicht. Ein Stall ist nicht die exklusivste Location, die man sich als reicher Gelehrter aussuchen würde Und nur wegen der bloßen Verkündigung eines Retters bewegt auch noch niemand seinen Hintern. Was also motivierte die Hirten, sich auf den Weg zu machen und die drei weisen Männer sogar noch, Geschenke mitzubringen?
Die Antwort ist relativ simpel:
Hoffnung.
Der simple Glaube, dass so etwas Kleines und - ich bin sicher - ziemlich laut Schreiendes die Rettung aus dunklen Zeiten und sogar den Sieg über den Tod bedeuten könnte, trieb diese Leute an, sich dieses Kind anzusehen. Dieses kleine, verletzliche und hilflose Kind und nicht den erwachsenen, den Tod besiegenden Mann. Die Hoffnung auf eine Erlösung genügte den Leuten damals, um diesen Tag zu feiern.
Und auch heute sollten wir genau das aus der Weihnachtsgeschichte mitnehmen. Dass egal wie dunkel die Zeiten sind, Weihnachten uns immer daran erinnert, dass es Hoffnung gibt. Egal ob für Menschen in der Ukraine, im Gazastreifen, für Hunger leidende Flüchtlinge oder einfach Menschen, die besorgt sind über das Schicksal unseres Planeten. Und vielleicht kommt die Hoffnung nicht in Form eines großen „S“ auf dem Kostüm eines Mannes aus Stahl oder durch einen besonders hellen Stern, aber es wird sie immer geben. Und sollten wir das je vergessen, wird Weihnachten uns jedes Jahr wieder daran erinnern, wie wichtig Hoffnung zu jeder Zeit ist.
Also nehmt diese Botschaft mit in die Feiertage und verliert nie die Hoffnung, denn sie ist immer da. Egal ob ihr sie in der Kirche, am eigenen Weihnachtsbaum, in der Familie, in der bevorstehenden Ferienruhe oder einfach in der Tatsache seht, ein weiteres Jahr ohne Nervenzusammenbruch oder Burnout überlebt zu haben. Solange ihr euch dieser Hoffnung bewusst seid, kann - egal was noch kommt - gar nichts so schlimm sein.
In diesem Sinne wünsche ich euch frohe Weihnachten, ein frohes Fest und schöne Weihnachtsferien.
Und jetzt wird gesungen!
3. Advent, 17.12.2023, Matth.11,2-6, Jonakirche, Daniel Kaufmann
„Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.“ (Matthäus 11,2-6)
Liebe Gemeinde,
Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie sich nicht ärgern. Nicht an den Politikern, auch wenn das zurzeit schwerfällt. Nicht an der Aussetzung des Klima- und Transformationsfonds, auch wenn das das persönliche Portemonnaie belastet. Nicht an den Doppel- und Dreifachwumms, der zu einer rhetorischen Luftblase zu verkommen droht. Nicht an den immer gleichen Mechanismen von Gewalt und Gegengewalt, die viel Leid und wenig Freude in das menschliche Leben bringen. Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie sich nicht über ihren Nachbarn ärgern, der die Mülltonne immer falsch rausstellt, die Zweige seines Apfelbaumes über den Gartenzaun hängen lässt, die Pakete so gut wie nie für Sie annimmt, die Rechnung für den Schornsteinfeger und die reparierten Dachpfannen bei Ihren Doppelhaushälften merkwürdig unsymmetrisch abrechnet. Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie sich nicht über die Work-Life Balance der jungen Generation ärgern, nicht über Ihren Kollegen und Ihre Kollegin, die aus unerfindlichen und überhaupt nicht nachvollziehbaren Gründen mehr Anerkennung und Beachtung erfahren als Sie. Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie sich nicht über gestiegenen Strom- und Gaspreise, nicht über die Energiekonzerne und Profitinstitute, nicht über die wieder angepasste Mehrwertsteuer in der Gastronomie, nicht über die teureren Lebenshaltungskosten ärgern. Herzlichen Glückwunsch auch, wenn Sie sich nicht über die in Misskredit geratene „Fridays-For-Future“-Bewegung ärgern, nicht über Greta Thunberg, die ihre stärksten Momente offenbar schon hinter sich hat. Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie sich nicht über all die Moralisten und Besserwisser und die es schon immer gewusst haben ärgern, jene Zeitgenossen, die bei jedem Thema sichtbar machen, dass man es hätte anders sehen, kommen, machen, anpacken können, wenn man und frau auf Sie gehört hätte, aber Konjunktiv hin oder her, jetzt müsse man eben leben mit dem Schlamassel, den man sich selbst eingebrockt habe.
Herzlichen Glückwunsch auch, wenn Sie sich nicht über unsere Kirche ärgern, allen voran die Evangelische Kirche in Deutschland, die eine denkwürdige Performance und um es mit Herrn Koch aus Hessen zu sagen, eine brutalst mögliche Aufklärung aller dubiosen und komplexen Schuldzusammenhänge angekündigt hatte, um dann mit dem lapidaren Satz in die Öffentlichkeit zu gehen: „Ich bin mit mir im Reinen, aber ich trete zurück, weil der Druck und der Schaden auf Amt und Institution zu groß geworden ist.“ (Anette Kurschus bei Ihrem Rücktritt vom Posten der EKD-Ratsvorsitzenden am 20.11.2023)
Herzlichen Glückwunsch auch, wenn Sie sich nicht über unsere hiesige Düsseldorfer Kirche ärgern, die im Moment etliche Versuche macht, den Zentralismus und die komplette Steuerung von über 90.000 Menschen von einem allen anderen vorgeordneten Super-Presbyterium zu implantieren. Ein Vorhaben, das in unserer Gemeinde auf nicht allzu große Gegenliebe stößt, weil wir nach wie vor der Meinung sind, dass Kirche vor Ort und im direkten Austausch und Vernetzung im Quartier besser, weil dem Menschen näher, unterwegs ist. Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie an der im Glaubensbekenntnis bemühten „Gemeinschaft der Heiligen“ nicht irre werden, weil Sie wissen oder doch immer wieder ahnen, dass die „Heiligkeit“ im konkreten Alltag allein ein göttliches Prädikat ist und so gut wie nie auf menschliche Leistungen und Fähigkeiten beruht.
Herzlichen Glückwunsch schließlich, wenn Sie an dem Jesus von Nazareth nicht irre werden, der nun schon über gut 2000 Jahre entscheidende Impulse zu Leib und Leben gibt, allerdings und damit sind wir bei unserem heutigen Predigttext, in einer immer noch und immer wieder seltsam indirekt erscheinenden Lesart. Von Johannes, der zunächst im Knast sitzt und später von dem Despoten Herodes geköpft werden wird, stammt ja die berühmte und wichtige Frage: „Bist du der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?“ Da will einer Gewissheit haben, ob der verheißene Heils- und Glücksbringer jetzt gekommen ist oder nicht. Diese Frage dürfte ja auch schon so alt wie die Menschheitsgeschichte sein und findet sich so ziemlich in jeder Kultur und Religion in irgendeiner Weise wieder. Gibt es Hoffnung auf jemanden, der den Lauf der Geschichte in eine gute, besser in eine durchweg heilvolle Zukunft lenken wird? Oder muss man sich damit bescheiden, dass die vielgelobten und immer wieder proklamierten Stars und Sternchen bei näherem Zusehen recht schnell verblassen und verglühen. Johannes also will es wissen, vermutlich hat er dort im Knast und im Nachgang zu den zu erwartenden wenig erfreulichen Ereignissen mit Herodes und seiner blutrünstigen Familie Sehnsucht nach einer letzten guten und tröstlichen Nachricht und Wahrheit.
Und diese Nachricht kommt dann ja auch tatsächlich. Als ein merkwürdig verschlüsseltes Rätselwort: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt. Na bitte, möchte man da sagen, das ist doch mal was: Wo man hinsieht, besser genau dort, wo man das Elend mit Händen greifen kann, gibt es heilsame Veränderungen. Das wollen und sollen wir doch nicht geringschätzen. Und das klingt doch schon sehr wie das Begleitprogramm des kommenden Messias. Dessen Kommen doch genau mit diesen Wohltuenden Begleiterscheinungen erwartet wird. Wobei in dieser Aufzählung bei allem Guten und Erfreulichem irgendwie eine Bremse eingebaut zu sein scheint. Diese Aufzählung hat etwas merkwürdig Unbestimmtes. Gewiss, da findet sich Bemerkenswertes, Wunderbares, auch Sensationelles: Selbst Tote kommen zu neuem Leben, aber bei genauerem Nachdenken fällt einem auf, dass alles ein wenig unbestimmt und wie nach einem Allgemeinplatz klingt. Dazu passt, dass es sich rhetorisch fast um eine Art Anti-Klimax handelt: Nach den doch immerhin erwähnenswerten Heilungs- und Genesungsvorgängen endet diese Aufzählung mit dem lapidaren Hinweis, dass Armen das Evangelium verkündigt wird.
Am Ende steht offenbar das Hauptkriterium für die Frage, ob der erwartete kommt, nämlich: die Botschaft, die gute Nachricht, dass Gott sich den Armen, den Menschen auf der Schattenseite zuwendet. Nicht mehr nicht weniger. Schön und gut, möchte man da vielleicht nochmal sagen, dann haben wir es jetzt also schriftlich. Der, auf den wir warten, kommt und ist da, und mit ihm kommt und ist da auch das, was wir gemeinhin als Begleiterscheinung erwarten, allerdings nicht ganz so flächig und omnipräsent, sondern ehr in einer begrenzten und eingeschränkten Art und Weise: Nicht alle Blinden werden sehend, nicht alle Taube können wieder hören, nicht alle Lahme können wieder laufen, nicht allen… Und wohl wissend um diesen irgendwie zurückgenommen Modus und fast wie eine Entschuldigung dann eben folgerichtig: Herzlichen Glückwunsch, wenn du dich darüber nicht ärgerst. Wenn du da keinen Anstoß nimmst. Wenn diese Nachricht für dich nicht zu einem Fallholz wird. Wenn diese nur dann und wann aufscheinende heilvolle Wirklichkeit dich nicht irre macht.
Am Ende also der Glückwunsch an die, die sich nicht ärgern. Nicht über 2000 Jahre, in der dieses Kommen des Messias nun verkündigt wird, aber nach wie vor aussteht, jedenfalls in dieser für alle unübersehbaren eindrucksvollen Art und Weise. Herzlichen Glückwünsch an die, die sich nicht ärgern: über unsere Kirche und ihre momentane Schwäche und Pomadigkeit und ihrer Suche nach einer gewichtigen und ernstzunehmenden Haltung im Konzert der gesellschaftlichen Problemstellungen. Nicht über unsere recht zaghaften Versuche, in dieser Welt der großen Worte und Lügen den letzten Trost im Leben und Sterben ins Gespräch zu bringen. Ärgern Sie sich bitten auch nicht allzu sehr über das, was sicher auch in unserer Gemeinde unvollkommen, verbesserungswürdig erscheint. Da gibt es einiges, um nicht zu sagen vieles, was auf Ihren Beitrag, Ihre Korrektur, Ihr Mittun und Voranbringen wartet. Werden Sie also bitte nicht müde, selbst Hand anzulegen, selbst aktiv zu werden, selbst Ihren Beitrag einzubringen: Beim Fahrdienst, beim Lektorendienst, beim nachbarschaftlichen Miteinander, beim Singen, beim Fahrrad Reparieren, beim Beten, beim Gottesdienst Feiern, beim Schmücken, beim Essen Zubereiten .
Bitte bringen Sie sich ein und: Ärgern Sie sich nicht zu lange darüber, dass das Reich Gottes noch nicht in seiner vollen Strahlkraft sichtbar, spürbar, erlebbar ist. Sondern lassen Sie uns gerade deswegen neu, wieder neu jenes alte Evangelium, die gute Nachricht von der Nähe Gottes bei seinen Menschen verkündigen, weitersagen und...“leben“. Und gemeinsam suchen und finden, was dem Nächsten dient, guttut und aufhilft.
Lassen Sie uns der alten Advents-Botschaft neu Vertrauen schenken, trotz allem anderen was dagegen zu sprechen scheint.
Hanns Dieter Hüsch: Dezemberpsalm (bitte klicken)
Jesus kommt. Alles wird gut. Auch das, was noch nicht gut ist. Auch das, was noch gut werden muss. Auch das, was alles andere als gut ist. Herzlichen Glückwunsch, wer diesen Jesus, der alles gut macht, den Weg bereitet, mit vorbereitet, dass er einziehen kann, dass er Einfluss und Geltung bekommt in Stadt und Land, dort wo wir sind und wohnen und leben. Jesus kommt. Alles wird gut.
Amen
2.Advent, 10.12.2023, Stadtkirche, Offenbarung 3, 7 - 13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Advent - 10.XII.2023
Offenbarung 3,7-13
Liebe Gemeinde!
Die Offenbarung des Johannes - die „Apokalypse“ also - wird immer aktueller.
Allerdings nicht nur wegen des großen und adventlichen Endzeit-Gefühls, das in unsern Tagen über allen Dingen liegt, sondern gerade auch in ihren weniger spektakulären Zügen. Was Jesu Lieblingsjünger auf der sichelförmigen Insel seiner Gefangenschaft, Patmos zwischen Himmel, Fels und Meeresbrandung erblickte und aufzeichnete, hat neben der Weltuntergangs- auch eine Welthoffnungsbotschaft. Das letzte Buch der Bibel – das Buch von den Nöten, den Kämpfen und Katastrophen, die das Ende der Geschichte einläuten – ist ja gerahmt von lauter Trost: Die sieben Seelsorgebriefe am Anfang und das universalste, größte, unvorstellbarste happy end der Menschheit … die Verheißung der Gottesstadt, in der keine Tränen mehr fließen und das Heil, … der Heiland, … der heilige Gott nicht mehr unsichtbar, sondern anschauliche, greifbare, bleibende Gegenwart sein werden.
Die furchterregenden und die furchtvertreibenden Wahrheiten gehören nun einmal zwangsläufig zusammen. Wenn einer nur eine von beiden Wahrheiten verkündet, ist er entweder ein sadistischer oder ein naiver Lügner:
Das zeigen uns die Bücher sämtlicher Propheten in der Bibel, die immer beides enthalten, in denen die Forschung aber immer alles zergliedert und zerschnitten hat, weil sie die Gerichtsboten zwanghaft von den Tröstern zu unterscheiden müssen meinte. So hat die Wissenschaft der akademischen Theologie als vermeintlich „echte“ Propheten nur lauter depressive oder aggressive Drohpropagandisten beschert und ihnen ein paar säuselnde Seelenschmeichler gegenübergestellt, deren Weichspüler die harten Brocken der totalen Verwerfungsprediger nachträglich abmildern sollte.
Doch damit hat die sog. Wissenschaft nur bewiesen, wie wenig sie Gott und die Menschen kennt. Bei beiden gibt es das Positive und das Negative niemals in Reinkultur! … Schärfe und Milde, Strenge und Gnade, Leidenschaft der Gerechtigkeit, Leidenschaft der Versöhnung, Warnen und Helfen gehören zusammen, und wer sie im Himmel oder auf Erden trennt, schafft eine fiktive und verzerrte Welt aus abstrakten Ideen ohne Anspruch an und auf die Wirklichkeit.
Deshalb können, nein müssen wir die von so viel Beunruhigendem durchzogene prophetische Schrift des Neuen Testaments - die Apokalypse - von den Ermutigungssendschreiben an die kleinasiatischen Gemeinden an ihrem Anfang (Kap.2f) und von der strahlenden Vision des ewigen Lebens aller Völker und Stämme bei Gott an ihrem Schluß (Kap.21f) her verstehen: Der Horror der Welt wird so durchlässig für Liebe und Licht aus der Ewigkeit. Schweres wird von Trost und Hoffnung erleichtert. Vorzeichen und Wehen der Endzeit machen dann nicht nur bang, sondern sie bereiten uns vor für die Auflösung dessen, was vergehen und das Hervortreten dessen, was bleiben soll. ———
Vor Horrorhintergrund und einem Horizont, der dennoch leuchtet, liegt heute also das besonders tröstliche Schreiben vor uns, das Johannes, der Gefangene des Kaisers Domitian, der bald für seinen Glauben hingerichtet werden sollte, an die Gemeinde von Philadelphia richten sollte.
Es ist ein Brief, reich an Bestärkung, … aber doch auch nicht ohne kritische Punkte.
Er beginnt im Zeichen der Offenheit, die Jesus schenkt: Jesus – der Schlüssel- und Siegelbewahrer, den das königliche Haus Davids auch historisch hatte (vgl.Jes.22, 22!) – ist es, der aus Welt und Geschichte eine erschlossene Wirklichkeit macht, eine durchlässige und zugängliche Wirklichkeit, die seine Gemeinde nicht in dumpfer Engigkeit einsperrt, sondern sie befreit, so dass sie aus Menschen besteht, die Sinn und Sicherheit nicht selber auftun müssen und die darum auch nichts Ausschließendes mehr, nichts „Exklusives“ zu haben brauchen.
Die unwiderrufliche Öffnung der Welt zum zukünftigen Reich Gottes hin ist ja durch Jesus geschehen – das ist der tiefste Sinn von Apokalypse“, von „Offenbarung“ –, und das endgültige Versiegeln wird ebenfalls durch Ihn geschehen, wenn für immer aus der Wirklichkeit verschwindet, was in Gottes Gegenwart nicht existieren kann.
In solcher Offenheit leben zu dürfen, ist entlastend; es nötigt aber auch zum Verzicht auf unsre eigenen Ansprüche, wenn wir nicht selbst in allem stets die letzte Entscheidung, das endgültige Urteil zu fällen haben.
Die Tatsache, dass Jesus allein die Schlüsselfigur der Welt ist, bedeutet mit anderen Worten, dass wir andern uns nicht mit totalen Beschlüssen zu befassen haben, sondern mit einer bloß teilweisen Erkenntnis und Gewissheit begnügen müssen … Und so sind wir wieder bei dem, was in der Offenheit unvermeidlich ist: Dass nicht glasklar, sondern fließend ist, was wir sind, was wir sollen und können. …….
In und um Philadelphia gab es darum - wie beinah überall in der Geschichte der Kirche - einen Streit, wer denn die echte Gemeinde, … die wahre Versammlung der Gläubigen, … buchstäblich: Wer die wirkliche „Synagoge“ sei. Dieser christliche Synagogenstreit lehrt uns ein Zwiefaches. Er entstand, weil die Kirche eben keine exklusive, keine reine, … man könnte auch sagen: keine „saubere“ Sache ist. Und er besteht und wird bestehen bleiben, weil die Kirche niemals nur sie selber, niemals nur säuberlich „für sich“ ist!
Am Anfang der Kirche stehen ja Solche, die nicht allein „Synagoge“, sondern noch etwas dazu sind, etwas darüber hinaus, etwas Weiteres, ein undefiniertes Extra und Plus, ein uneingrenzbares „Alle“: Synagoge Jesu eben, … Juden und zugleich Christen, Heiden aus allen Völkern und dabei Hausgenossen des erwählten Israel.
Dieses Sowohl-als-Auch, das sofort Solche auf den Plan rief, die behaupteten, man dürfe nicht mischen und könne nicht verbinden, man habe zu unterscheiden und bedürfe der „Reinkultur“, … dieses Sowohl-als-Auch hat uns in den letzten beiden Monaten von der Wurzel her wieder eingeholt. Seit dem Ausbruch des unvorstellbar perversen Hasses der Hamas auf Israel ist uns das Sowohl-als-Auch wieder unentwirrbar vor Augen gestellt: Wir sind Kirche aus dem Schoß der Synagoge und können doch als die Gemeinde aller Nationen und Zungen niemals und nirgends ausschließlich auf einer Seite stehen. Nichts darf uns trennen von Israel; nichts darf unsere geschwisterliche Gemeinschaft mit allen Menschen ausschließen. …
Ich will das Zeichen unserer auf Leben und Tod geltenden Verbundenheit mit dem Volk Gottes weiter an unserer Kirche hochhalten … und will damit doch nicht die Tränen, das Trauma und die Toten des anderen Volks, der muslimischen und eben auch der christlichen Palästinenser missachten: Am Samstag vor einer Woche, als der Adventsgottesdienst unserer KiTa gefeiert wurde, zu dem auch viele türkische und arabische Eltern kommen, habe ich die Fahne Israels abgehängt, weil sich keine Gelegenheit geboten hätte, zu erklären, dass unser „Für-Sein“ kein „Gegen-Sein“ bedeutet.
Aber auch hier stimmt ja, dass das rein Positive und das rein Negative in Wahrheit nicht begegnen, weil unser „Pro“ immer auch eine Seite des „Contra“ hat und unser Tun immer auch ein Lassen bedeutet, so dass alles, was wir an der Seite der Einen versuchen, uns ins Gegenüber zu anderen bringt, auch wenn der konkrete Gegensatz nicht immer bedeutet, dass man logisch-kategorisch und also abstrakt die Gegenseite darstellt. ——
Vielleicht spüren wir durch den kleinen Philadelphier-Brief hindurch also in aller Bestärkung, die der ohnmächtige gefangene Apostel seinen Brüdern und Schwestern zuspricht, was es auf sich hat mit der Welt und mit uns: Dass da nichts Absolutes ist, … nichts eindeutig Vollkommenes, … nichts Unanfechtbares, sondern immer nur das, was der andere große Apostel (vgl.1.Kor.13) das „Stückwerk“ nannte … den „dunklen Spiegel“, … das bleibende Rätsel.
Und vielleicht ahnen wir dann auch, weshalb die Abfolge der Ermutigungs- und Trostschreiben, die die Offenbarung eröffnen, und der Anfechtungs- und leidvollen Prüfungs- und Untergangsvisionen, die ihnen folgen, nicht so verkehrt … schon gar nicht nur negativ ist.
… Wir sind alle so weit vom Unumstößlichen, wir sind alle so sehr ins Vorläufige und Vorübergehende verstrickt, dass die Tatsache der Vergänglichkeit und des Endes nichts bloß Bedrohliches hat, sondern auch eine Hoffnung und Aussicht freilegt:
Das Allermeiste hier wird nun einmal verpulvert, abgenutzt, verschlissen, verschossen, ausgekippt und abgebrannt sein.
Darum wäre es sinn- und hoffnungslos, wenn wir uns mit Allem beladen und belasten wollten. … Auch das ist ja so ein weltfremder und unmenschlicher Anspruch, dass wir die gesamte Herausforderung der Welt, dass wir alle Fragen des Daseins, alle Bedrängnisse der Menschheit, alle Sorgen des eigenen Lebens schultern und bewältigen müssten, … sie alle selbständig zu einem guten Ende bringen und überall schließlich im Recht zu sein hätten.
Genau das ist es doch, was die Menschen im Anfang von Gott getrennt hat: Der Impuls, für alles unabhängig von Ihm die Verantwortung - und die Ehre! - zu übernehmen.
Doch da spricht der alte Brief, der uns in der immer aktuelleren Offenbarung von Weltende und Weltrettung begegnet, eine ganz andere, … eine leichtere, lösende, gnädige Sprache.
… Er sagt eben nicht: Ihr Jünger und Jüngerinnen Jesu, … Ihr Christen in der weiten Welt, … Ihr Philadelphier, … oder Ihr Europäer, … oder Ihr Evangelischen, … oder Ihr Kaiserswerther, … Ihr seid für alle Katastrophen und Krisen, für alle Dilemmata und Verhängnisse, für allen Fluch und allen Segen allein zuständig.
… Wir sind es zwar mehr, als uns lieb sein mag. Aber gleichzeitig auch weniger, als wir uns einbilden. Denn dass wir einerseits verstörend feig und faul sind und andererseits anmaßend größenwahnsinnig, das ist überall mit Händen zu greifen
Gewiss: Wir zerstören die Erde. Gewiss:
Wir müssen sie bewahren.
Aber dass hier nicht „Ganz oder gar nicht“ hilft, sondern ein Weniger an Hybris und ein Mehr an Demut und Gottvertrauen, das vergessen wir ständig.
Und da kommt nun der leichte Trostbrief vor der schweren Untergangsprophetie. Und sagt eben nicht: „Halte alles! Bewahre das Ganze! … Meistere Leben und Tod! … Verhindere die Apokalypse! Erringe das Paradies!“, sondern er sagt ruhig und beruhigend:
„Halte, was Du hast!“
Halte, was Du hast! … Es mag viel sein oder wenig. Halte es! Es mag etwas ganz Entscheidendes und kann auch nur ein Hauch, eine Kleinigkeit, ein Tröpfchen sein. Aber weil Du nicht etwa Alles, sondern nur genau das, was Du hast, auch tatsächlich einsetzen und durchtragen und heimbringen kannst, darum ist das Deine Aufgabe und zugleich der gültige Maßstab Deines Lebens … also Deine „Krone“.
Wenn Dir innerlich und äußerlich Reichliches zu Gebote steht, dann missachte, missbrauche und vernachlässige es nicht, sondern nimm es wahr!
Und wenn Deine Möglichkeiten und Gaben anders bemessen sind, dann sind sie das, was man bei Dir suchen wird und was Du bewähren kannst.
Frag’ Dich also, was Du hast. … Nicht, was Du gerne hättest, wärest, könntest. …Sondern was Dir nah und an Dir wahr ist. Und das lass Dir nicht mindern! Lass es Dir in Widrigkeit und in Müdigkeit nicht nehmen! … Du kannst nicht alles besitzen oder beherrschen. Aber das Deinige, … das gib nicht auf, sondern halt’ es fest und mach’ Dich daran fest in Zeit und Endzeit bis zur Ewigkeit.
- Du hast Hoffnung? – Bewahre sie!
- Du spürst Neugier? – Erhalte Dir das!
- Dich treiben Fragen und Zweifel an? – Nutz’ sie als das Deine!
- Bei Dir reicht es für Andere? – Da liegt Dein Wesentliches!
- Nichts kann auf Dauer Deine Freude abwürgen? – Dann ist sie Deine Krone!
- Noch immer hast Du Glauben? – Halt fest, was Du haben darfst!
- Du liebst, … trotz allem? – Niemand soll Dir’s nehmen!
Mit dieser Ermutigung und Bestärkung in den mancherlei Gaben, die nicht allen in gleichem Maß, aber jedem zu eigener treuer Entfaltung anvertraut sind, kann man leben ohne Überheblichkeit und ohne, dass das Gewicht des Leben- und Leisten-Müssens uns erdrückt. ——
Was daran adventlich ist?
– Dass mitten vorm großen, apokalyptisch dunklen Hintergrund einer zentnerschweren Weltsorge etwas so Kleines, fast Leichtes uns zugesprochen wird! Dass trotz der Abgründe, die sich vor der Menschheit auftun und der Heimsuchungen, die bevorstehen werden, uns nichts Gigantisches, Herkuleisches, Übermenschliches aufgezwungen wird, sondern das, was wir an Gutem mitten im Schlechten können, … das, was wir an Entwicklung und Frucht mitten im Winter allgemeinen Missvergnügens erwarten können.
Das ist ja Advent: Dass die Möglichkeit eines Anfangs alle Vorzeichen des Endes überstrahlt!
Dass die Verheißung eines einzigen Kindes das Verhängnis aller Sterblichen entkräftet. Dass Licht in der Nacht strahlt, … dass Blumen im Schnee blühen, … dass erhobene Häupter auf den Schall der Gerichtsposaune antworten (vgl. Lk.21, 28).
Das ist Advent: Endzeit, in der es beginnt. ———
Und der Philadelphier-Brief des Johannes macht in einem wundervollen letzten Verheißungsbild deutlich, dass wir heute nicht schon vom Fertigen und Festen, vom völlig Eindeutigen und bereits Unverrückbaren ausgehen, sondern noch im Wanken und Wackeln, in Hinfälligkeit und Instabilität leben müssen.
… Viel zu starr und viel zu stolz haben wir uns ja immer die ersten Christen oder die großen Christen oder die echten Christen oder die wahren Christen oder die ernsten Christen oder die besseren Christen als ungerührte, ja unanfechtbare Denkmäler gedacht. … Viel zu selbstverständlich reden wir von der vermeintlichen Unerschütterlichkeit und der fundamentalen Beharrungskraft des Glaubens und malen uns die Apostel oder Luther und die Reformatoren wie lauter Bronzestandbilder vor Augen.
Doch der Philadelphier-Brief sagt uns, dass wir hier nie und nimmer ein solches Selbstbild als Säulen pflegen sollen, … mag der Islam noch so auf Säulen bestehen.
Unser Wunsch soll nicht lauten „säulig“ zu sein, sondern selig zu werden!
Letzte Festigkeit steht also erst noch aus.
Wir erwarten sie mitsamt der hin- und hergerissenen, erschütterlichen und erschütterten Welt.
Wenn das Ewige kommt, dann werden auch wir nichts Unsicheres mehr erleiden und erleben. Dann sollen auch wir zu Pfeilern im Tempel unseres Gottes werden, die den Namen Gottes, den Namen Jerusalems, den neuen Namen des Herrn stolz und sichtbar hochhalten und tragen dürfen wie der letzte Grund.
Doch bis dahin: Was immer oder wie wenig wir auch an Glauben haben, … wie wenig und was immer wir wohl an Hoffnung haben, … was wir an Liebe und am Geliebtsein haben, das sollen wir halten.
… Dass niemand es uns nimmt.
… Und Gott uns stärkt.
… Bis alle durch die offene Tür in Seine Gegenwart, ins Bleibende gelangt sind.
Amen.
1. Advent, 03.12.2023, "Macht hoch die Tür...", Jonakirche, Daniel Kaufmann
"Macht hoch die Tür, die Tor macht weit…" - Türpredigt zum 1. Advent
1. Im Advent geht es um Türen. Das ist selbst bei dem letzten, konfessions- und glaubenslosen Zeitgenossen angekommen: Jetzt geht es darum, Türen zu öffnen. 24 Stück sind das nach einhelliger Meinung. 4x mit Licht und Erleuchtungen an den 4 Sonntagen unterbrochen. Denn hinter den Türen gibt es jede Menge zu entdecken: Parfums, kleine alkoholische Muntermacher, Lieblingsaccessoire zu Pferden, Fußball, variantenreiche Schokoladen-Kreationen, Überraschungseier, Säckcheninhalte, Handyzubehör, Lieblingsspielzeuge für Kinder und Erwachsene, Plätzchen, Kunst- und Schmuckobjekte, im Grunde genommen alles, was sich unsere mehr oder weniger einfallsreiche Konsumindustrie so einfallen lässt und in immer neuen Anläufen jedes Jahr auch als letzten Schrei verkauft. Dabei werden die Dimensionen der Kalender jedes Jahr ein bisschen unförmiger, dreidimensionaler, wuchtiger, voluminöser und teurer. 24 mal sollen wir die Türen öffnen und dabei sollen uns die Augen übergehen, die Ohren, am besten alle Sinne überrascht werden, das Herz berührt und erwärmt werden. Dabei sollen wir vorbereitet und eingestimmt werden auf das größte aller Geschenke und Gaben, dass mit dem 24. Dezember verbunden ist und im deutschen Durchschnitt so zwischen 250 -300 € gekostet haben wird. (Dieses Jahr soll es ja etwas weniger „teuer“ werden, also so um die 200 € vermutlich) Dann wird sich definitiv zeigen, ob das Vorgeplänkel und die Vorbereitung auf diesen wirklich großen Coup sich gelohnt hat, ob der Volltreffer, das Glückpaket, die Erfüllung des Herzenswunsches gelungen ist oder haarscharf am Ziel vorbeigeflattert ist. Ob ein strahlendes Lächeln für einen Moment alles Glück dieser Erde widerspiegeln wird, oder wir doch auf eine unergründliche weise enttäuscht, nicht ganz zufrieden und auch ein bisschen leer und verstimmt zurückbleiben. Und wir diesem irgendwie geheimnis- und spannungsvollen Ritual des Türöffnens in Zukunft misstrauischer und mit mehr Vorbehalten begegnen werden.
2. Heute geht es darum, Türen zu öffnen, und da könnte endlich mal mit einer gewissen Berechtigung sagen: Da habt ihr Kirchen jetzt aber ein Thema, das selbst den konfessionslosen und glaubenslosen Zeitgenossen etwas sagt. Denn dieses Türenöffnen bildet in gewisser Hinsicht ja den Grundbeat, den Grundrhythmus des Lebens ab. Von Anfang bis zum Ende unseres Daseins sind wir mit Türen öffnen und Türen schließen beschäftigt. Ganz am Anfang steht die Tür zum Leben, durch die wir bei der Geburt ins Dasein eintreten. Mit diesem ersten Türöffner einher ist in unserer DNA verankert eine unbändige Neugier, alles, was nicht Niet- und Nagelfest ist, zu untersuchen, das Geheimnis der Dinge, der Schränke, der Wohnungen, des Hauses zu ergründen. Und dazu gehören jede Menge Türen, ab und zu kommt auch ein Schlüssel dazu, der einen verborgenen Kontext erschließt. Und dafür sorgt, dass es nicht langweilig wird. Später mit der Tür zum Kindergarten, zur Schule, zur Uni, zum Beruf verlagert sich dieses Türschließen auf eine mehr bildliche, metaphorische Ebene. Nach den massiven oder leichten Eisen- und Holztüren geht es vermehrt um Inhalte, um Wissen, um Erfahrung und um Zusammenhänge, die wir erschließen, die sich uns öffnen, zu denen wir Zugang bekommen sollen. Das gelingt mal mehr, mal weniger, offenbar ist und wird diese Art der Lebensgestaltung nach wie vor divers bleiben. Aber spätestens mit dem Erwachsenenalter geht es dann wieder um noch größere und wichtigere Türen, allen voran geht es um die Tür eines anderen Menschen, der mit einem verbunden ist, den man liebt, der sich einem zuwendet und für den man unendlich wichtig wird, so wichtig, dass man eine längere und größere Gemeinsamkeit vereinbart. Und in der Mitte des Lebens, heutzutage vermutlich schon viel früher, stellt sich die Erkenntnis ein, dass im Grunde alles im Leben nach dem Türprinzip angeordnet ist. Ein Computerfachmann/Fachfrau hat das mal so zusammengefasst: Alles ist auf 1 oder 0 programmiert. Entweder geht eine Tür auf oder zu. Diese Einsen und Nullen kann man recht kompliziert und variantenreich kombinieren, so oft und intensiv, dass unser ganzes Leben auf diesen Geheimcode programmiert werden kann, wenn's gut läuft eine KI (Künstliche Intelligenz) das Leben entsprechend überschaubar, leichter, verständlicher und bequemer macht. Am letzten Wochenende ist mir durch den Kopf gegangen, dass auch eine der deutschen Lieblingsbeschäftigungen, der Fußball, einiges zum Thema Tür und Tor bereithält. Schalke hat 4:0 gewonnen, Düsseldorf sogar 5:0 und die deutsche U-17 Nationalmannschaft ist sogar Weltmeister geworden. Jedenfalls ist das Fußballspiel ganz wesentlich von dem Gedanken begleitet, dass ein Tor offen oder auch mal wie verbrettert ist. Und schließlich geht es ganz am Ende unseres Daseins nochmals um eine letzte große Herausforderung, wenn wir vor der Frage stehen, ob sich nach unserem Tod noch eine weitere Tür des Lebens öffnen wird: Die Tür zur Ewigkeit, einem neuen Leben/Dasein in einer zuvor völlig unbekannten Dimension und Sphäre. Ich begleite zur Zeit einen Mann, der nur noch den Kopf und sonst nichts mehr bewegen kann, auf seiner letzten Etappe und wir haben gemeinsam nach etwas gesucht, was diese Zeit aushaltbar und ertragbar machen kann. Und da sind wir auf diesen Gedanken mit der „Tür“ gestoßen: Wenn unsere Zeit hier auf Erden abläuft, schließt sich eine Tür, dafür geht eine andere, die zur Gegenwart Gottes auf. Und seitdem begrüßt mich dieser Mann mit dem Satz: „Daniel, ich bin der Tür zu Gott ein Stück näher gekommen…“ Kurzum: Das Türthema begleitet unser Leben wie unser Atem als ein stetes und dauerhaftes Momentum und Begleiter. Selbst wenn es den Advent mit seinen 24 Türen nicht geben würde, man käme an diesen Lebenstüren in unterschiedlicher Diktion nicht vorbei.
3. Heute geht es darum, Türen zu öffnen, Der Adventskalender markiert das, die Lebenserfahrung unterstützt das, und jetzt meinen und bringen und legen auch alle Lieder, Texte und Gedanken zum ersten Advent dieses Türthema ans Herz. Macht hoch die Tür, singen wir. Macht die Türen auf, macht die Herzen weit singen die Kinder. Und der Psalm und der Predigttext des heutigen Sonntags wiederholt und erinnert das: Macht die Türen und die Tore in der Welt weit. Damit der König der Ehren einziehe. Damit der Herr dieser Welt einziehen kann in unser Herz, in unser Denken und Fühlen, in unseren Alltag und Beruf, in unsere Beziehungen und Feste, in unsere Freude und in unserem Leid. „Komm o mein Heiland Jesu Christ, mein's Herzenstür dir offen ist“, heißt es in der letzten Strophe des berühmten Adventsliedes: „Macht hoch die Tür…“ Diese Herzenstür verdient noch einmal etwas mehr Aufmerksamkeit. Es ist nämlich eine besondere Tür, eine Tür, die der Maler William Hunt ein besonderes Bild gewidmet hat. Es findet sich hier vorne bei uns auf dem Programm. Diese Tür ist ein bisschen zugewuchert, ein bisschen versteckt hinter dem einen oder anderen Gestrüpp. Es ist eine Tür, zu der es eine ganz besondere Geschichte oder Anekdote gibt. Hunt rief nach Fertigstellung des Bildes alle seine Freunde zusammen und bat sie, dieses Bild sehr kritisch zu betrachten. Ihm ging es darum, zu sehen, ob sie irgendetwas Ungewöhnliches an diesem Bild entdeckten. Alles schauten sich nun das Werk sehr intensiv an. Und entdeckten: Eine Jesusgestalt, mit Licht, die vor einer Tür stellt. So weit so gut und eindeutig. Doch niemand fand daran etwas, was ihnen besonders ungewöhnlich vorkam. Alle bewunderten es sehr. Schöne Farbe, schönes Licht, berührende Stimmung. Das wars dann aber auch. Hunt war darüber ein wenig enttäuscht. Er drängte einige Freunde dazu, sich das Bild noch etwas genauer anzuschauen, und bat sie erneut um eine Rückmeldung. Schließlich kam ein sehr junger Künstler zu ihm und sagte: Herr Hunt, ich glaube, es gibt in diesem Bild wirklich etwas Außergewöhnliches, was nach einer Erklärung verlangt. Sie haben vergessen, einen Türgriff oder ein Schloss an die Tür zu malen.“ „Mein Freund“, entgegnete daraufhin Hunt, „Sie haben das Besondere dieses Bildes erfasst: Wenn Christus an die Tür deines Hauses anklopft, dann kann sie nur von innen geöffnet werden.“ Die wichtigste Tür, von der heute Morgen am 1. Advent also die Rede ist, ist die Herzenstür. Die ist nicht nur durch Gestrüpp versteckt oder verdeckt, die geht vor allem nur von innen auf. Und das meint doch: Sie wird und kann und soll von uns selbst geöffnet werden. Damit unser Leben gut wird und bleibt, damit der Frieden Gottes, der Segen in unser Leben einziehen und seine wohltuenden Wirkungen entfalten kann.
Adventszeit ist die Zeit der Türen, die sich öffnen, geöffnet werden und die wir selber öffnen. „Komm o mein Heiland Jesus Christ, mein's Herzenstür dir offen ist.“ Der Heiland also soll einziehen in unser Denken und Fühlen, in unsere Worte und Taten. Der alles heil macht – da hat er eine Menge zu tun, möchte man da vielleicht einwenden. Das ist ja sozusagen der schwerste Job zur Zeit: Gegen alle Kaputtmacher und Zerstörungen des Lebens und der Würde, gegen die himmelschreiende Ungerechtigkeit, wo man auch hinsieht, gegen die kritischen und auf des Messers Schneide stehenden, völlig aus dem Gleichgewicht geratenen Schräglagen der Weltgeschichte soll der Heiland tätig werden. Was hat er im Gepäck, um genau das zu erreichen? Im Gepäck hat er drei heilende Mittel und Gaben, nämlich: Gnade, Freundlichkeit und den Heiligen Geist.
„Ach zieh mit deiner Gnade ein;
dein Freundlichkeit auch uns erschein.
Dein Heilger Geist uns führ und leit
den Weg zur ewgen Seligkeit.“
Es gibt keinen Frieden auf der Welt ohne Barmherzigkeit und Gnade. Mit Auge um Auge, Zahn um Zahn schafft man bestenfalls ein Patt zwischen feindlichen Parteien. Aber für Frieden braucht es mehr, da muss das Leben, jedes Leben auf dieser Erde als wertvoll und würdig und schützenswert verstanden werden. Da muss man sich von den Kategorien „die da“ und „wir hier“, die Guten und die Schlechten, die immer Recht haben und die immer falsch liegen, verabschieden. Da braucht es eine andere Werteskala als Gut und Böse, da braucht es etwas, was alle Menschen gleichermaßen betrifft und umschließt: Gnade/Charis (griechisches Wort, das man auch mit „Geschenk“ übersetzen kann). Unser aller Leben ist vor allem und immer wieder ein Geschenk, ein schützenswertes und beachtungswürdiges Geschenk, singen wir in diesem Adventslied von dem Heiland, der uns seine Gnade bringt. Und dann müssen und dürfen wir uns infizieren, anstecken lassen von der Freundlichkeit Gottes. Von dem vertrauensbildenden Lächeln, das uns im Segen zugesprochen wird, soll und kann auch Licht und Wärme auf den nächsten missliebigen, nervigen, unverständlich erscheinenden Nächsten fallen. Und dann brauchen wir den Heiligen Geist als Kompass durch alles Dickicht. Bei allen Rückschlägen und Unvollkommenheiten. Wo es aus den unterschiedlichsten Gründen nicht klappt bei dem Miteinander, bei dem Klimawandel, bei der Energiekrise, bei der Gesundheitskrise, bei der Flüchtlingskrise, bei unseren Bemühungen um Frieden.
Liebe Schwestern und Brüder, heute geht es darum, Türen zu öffnen. Türen vom Adventskalender. Türen, die mit Lebenserfahrungen zu tun haben. Und die Herzenstür für den König der Ehre, für jene Größe, die Gewicht und Einfluss auf unser Leben bekommen soll und will, auf den Heiland, der Gnade, Freundlichkeit und den Heiligen Geist als Kompass mitbringt und uns für den Alltag empfiehlt.
Gott möge uns helfen und Segnen, wenn wir die Adventtürchen, die Türen zum Nächsten und unserer Herzenstür neu öffnen. Amen.
(Quelle: wikipedia)
1.Advent, 03.12.2023, Stadtkirche, Psalm 24, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent - 3.XII.2023
Psalm 24
Liebe Gemeinde!
Zu den der Menschheit an sich heiligen Orte gehören von jeher Türen und Schwellen.
Weil jede Tür räumlich und sachlich eine echte Geistesgabe ermöglicht: Unterscheidungsvermögen. … Eben draußen, jetzt drinnen. Gerade noch im Hellen, nun im Dämmer-licht. Hier schutzlos, dort geborgen. Auf der einen Seite Öffentlichkeit und Welt, auf der anderen das Innenleben, die Seele, das Private. Türen sind materiell greifbare Differenzierungs- und Ordnungskategorien. Was profan ist und schmutzig und was vor fremden Einflüssen und Blicken bewahrt wird, das trennt die Tür.
Sie hat darum einen eigenen Charakter als Altar: Bei den heidnischen Römern der Sitz des in beide Bereiche und Richtungen, hinein und hinaus blickenden Gottes Janus. Und auf der Schwelle wurden aufgrund ihrer nicht ungefährdet zu überschreitenden magischen Abgrenzungskraft Opfer gebracht. Die Bibel weiß von einem ehrgeizigen und größenwahnsinnigen Bauunternehmer, der die vorzeiten von Josua verfluchte Stadt Jericho wiederaufbauen wollte – “Make Jericho great again” – und dafür bei der Grundsteinlegung seinen ältesten und beim Setzen der Tore seinen jüngsten Sohn verlor (vgl.1.Könige 16, 34), … und man wird die dunkle Ahnung nicht los, er könne sie nach kanaanäischer Sitte geopfert haben, weil er etwas besänftigen wollte, was die Erfahrung bestätigt: Wenn man unbelehrbar das Tor zur Vergangenheit aufstößt, weckt man furchtbare Geister, die so oder so nach unseren Kindern greifen.
Türen sind also geheimnisvoll von beiden Seiten: Was hinter ihnen liegt, ist das eine Faszinierende. Das andere ist, wie man sich vor ihnen fühlt. In der Spannung des Einlassbegehrenden. In der Unsicherheit dessen, der sich gemustert weiß. … Jeder, der hofft, dass sich ihm hinter der verschlossenen Pforte ein Wunderreich eröffnet, kennt im Nachtleben den Adrenalinschub vorm Türsteher. Im legendären Techno-, Exzess- und Orgien-Club „Berghain“ in Berlin gab es einen besonders als unbestechlich gefürchteten Aufmerksamen mit dem biederen Nachnamen Marquardt (… keine Verwandtschaft).
Aber als allsehend und allwissend und ob der untrüglichen Eingeweihtheit in alle Lebenslagen und Lebenslügen dem lieben Gott sehr ähnlich galten zu allen Zeiten schon die Pariser Concierges, und die Portiers im alten Wien und Berlin übten über ihre Herrschaften eine diskret absolutistische Tyrannis durch’s Durchschauen aus. … Die Tür zu hüten, entscheidet oft genug also die Machtfrage.
Deshalb gibt es Türrituale. Black rod, der zeremonielle Pförtner der Houses of Parliament muss zwischen Ober- und Unterhaus dreimal mit dem Heroldsstab an die ihm vor der Nase zugeschlagene Tür klopfen, ehe die Abgeordneten sich hinüber zu den Lords bitten lassen.
Zur Eröffnung eines Heiliges Jahres hat selbst der Papst an die sonst vermauerten portæ sacræ der vier römischen Papstbasiliken mit einem goldenen Hammer zu pochen, um den Durchgang für sich und alle Pilger zu erwirken.
Und in Köln, wo sie ihn offenkundig doch herbeisehnen, ziert man sich selbst vor Prinz Karneval und seinem Gefolge, und fragt rhetorisch bei jedem Neuankömmling der Tollität „Solle mer’n rinlosse?“
In der Kapuzinergruft schließlich werden auch die Habsburger in ihren Särgen erst aufgenommen, wenn sie das Türexamen der Toten bestanden haben, die sich als arme, sterbliche Sünder ausrufen lassen müssen, nachdem alle hohen Würdentitel und klingenden Namen kein Schloss und keinen Riegel bewegen konnten.
Tor und Pforte gemahnen uns also an die ehrfurchtgebietenden, schaudererregenden, allesentscheidenden Passagen des Lebens. Deshalb gibt es in der jüdischen Welt auch keine Tür, an deren Pfosten nicht eine Kapsel mit dem Wort des lebendigen Gottes angebracht ist: Wer immer von wo immer wie auch immer nach irgendwo - außer dem Lokus - geht, streift Gottes Weisung und Gebot in der Mesusa, führt die Hand zum Mund und bekennt sich allerwegen zum HERRN, dem Einen Gott Israels (vgl. 5.Mose 6,9). ————
Und nun machen wir uns nichts vor: Wir, … alle, … wir insgesamt stehen vor einer Tür.
Nicht am Kinderkalender der Adventszeit.
Nicht weil der Türhütermonat Januar uns bevorsteht.
Sondern weil die Menschheit ein Zeitalter durchschritten hat und nun an seine Grenze gestoßen ist, … weil die Menschheit an der Schwelle einer neuen Ära steht.
… Und ich weiß nicht und Du weißt nicht, was hinter der Tür liegt.
Es könnte eine jener Türen sein, die eigentlich nur im Film oder Traum des Horrors begegnen: Eine Tür mit halber Schwelle … öffnet man sie, stürzt man dahinter in einen Abgrund aus Finsternis.
Siebzigtausend Leute, von Alaska bis Feuerland, aus den hängenden Gärten der Himalayasattel bis zu den kenternden Inselparadiesen der Südsee angereist, sind in Dubai bei der 28. Klimakonferenz versammel:. Sie sind der Hammer, mit dem black rod und der Papst, mit dem die Narren und die gekrönten Häupter der Menschheit an die Tür der Zukunft schlagen.
… Sie wird sich auftun.
… Müssen.
… Und dann?
Was dann, das sagt uns der Psalm, den Gottes Geist für diesen ersten Tag eines neuen Kirchenjahres unter solchen Vorzeichen vor uns aufgeschlagen hat: Er ist eine Torliturgie, ein Türexamen, ein Passageritus aus der ältesten Zeit des heiligen Volkes in Davids und Salomos Reich am Tempel des HERRN in Jerusalem.
Diese Liturgie des Übergangs aus dem vertraut Gewöhnlichen, aus dem Bereich des gewissenlos Weltlichen, des Säkularen hinein in eine andere Gegenwart, … eine Gegenwart, in der es zählt, … hinein in die Gegenwart Gottes, das feiert heute die ganze Welt, ohne es zu wissen.
Und als hätten die Chöre der Priester und Leviten vor fast dreitausend Jahren ihren Einlasshymnus der pilgernden Gemeinde nur für die Menschheit von heute singen sollen, ist das erste Wort, das überm Tor am Heiligtum erklingt, die erschütternde und entscheidende Präambel, die jeder Mensch, der in dieser Welt handelt und hofft, zur Maxime seines Wollens und Tuns machen muss:
„Die Erde ist des HERRN und was darinnen ist; der Erdkreis und die darauf wohnen.
Denn Er hat ihn über den Meeren gegründet und über den Wassern bereitet.“
… Was ihr getan habt einem dieser Seiner geringsten Würmer oder Einzeller, … einer dieser Seiner bedrohtesten Pflanzenarten, … einem unter diesen, Seinen seltensten Elementen, Stoffen und Erden, … das habt ihr Ihm getan (vgl. Matth.25,40)!
Das ist die Überschrift über dem Zugang zu Gott: Er ist der Gott des Kosmos, der Herr nicht nur der Geister und der unsichtbaren Welt, sondern genauso der Schöpfer und darum Erhalter … und wenn es sein soll auch der Erlöser der materiellen Natur. Er ist der Gott des Fleisches und des Staubes, des Atems in den Lebewesen und aller leblosen oder uns in ihrem Schweigen und Schweben entgehenden irdischen Wunder vom Weltraum bis zur Tiefsee.
Die Priester und Leviten, die den Psalm Davids in Jerusalem feierlich den Einziehenden entgegensangen, konnten nicht ahnen, dass „Die Erde ist des HERRN“ bedeuten könnte, dass Er selber einmal irdisch werden würde.
… Sie hätten geschwiegen, wenn ihnen aufgegangen wäre, dass in diesem einfachen Bekenntnissatz die ungeheure Möglichkeit des Advent sich andeutet: Dass Gott einmal zu Seiner Erde kommen und für Seine Erde einmal leiden würde, dass Er Sein Blut für die ganze Schöpfung vergießen würde, dass Er den Tod aller Dinge abwenden und einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen müsste (vgl.Jes,65,17; 2.Petr.3,13; Offenb.21,1) durch Seine Fleischwerdung und durch Sein Sterben.
… Die Priester und Leviten hätten geschwiegen, wenn dieses Unvorstellbare, … dieses Unausdenkbare, … dieses Unerfindliche ihnen bei ihrer Liturgie am Tempeltor in den Sinn gekommen wäre. Und sie wären in den Staub gesunken vor einer solchen Herrlichkeit und Schrecklichkeit und Wirklichkeit Seiner Herrschaft und Liebe.
… Und wir? Die wir hier an einem ersten Advent im Schatten des Weltsterbens an einer so wichtigen Schwelle stehen und wissen, wie Gott liebt, leidet, ringt, kämpft und siegt für alles, was wir sehen und alles, was wir nicht mehr sehen können oder noch nie sehen
konnten.
Und wir?
Knien wir uns in den Staub?
Werfen wir uns Asche aufs Haupt?
Zittern wir, was hinter der Tür ist, die uns von der Zukunft der Erde des HERRN trennt? ——
Unser Advent ist ein buchstäblich fauler Zauber – eine Beschwörung unserer Bequemlichkeit und Trägheit und Dickfelligkeit und Begriffsstutzigkeit und Kaltschnäuzigkeit – , wenn wir nicht begreifen, dass es Buße bedeutet, sich vor Gottes Tür zu wissen oder Ihn vor unserer Tür zu wähnen!
… Natürlich. Auch an dieser Stelle haben wir’s uns jetzt ein Menschenalter lang leicht gemacht: „Wir müssen – noch dazu um Gottes willen?! - dochnichts tun“, so haben wir den Glauben buchstäblich verfaulen und vergammeln lassen. … Wenn Er zu uns kommen will, dann kommt Er schon. Wenn Er was von der Erde will und auch wenn Er etwas für die Erde wollen sollte, dann ist Gott doch schon groß und unabhängig, … so wie wir. … Lass Ihn gern kommen. … Aber was geht das uns an? … Sollen wir etwa aufstehen, wie früher, wenn der Lehrer durch die Tür kam? …………
Mehr noch sollen wir!
Bedenken wir: Der Chor aus Jerusalem singt in der Tempelliturgie ein Eintrittsexame! Der Eintritt dorthin, wo man auf Gott hoffen, wo man Seine Nähe suchen darf, er sieht vor, dass wir uns prüfen, … dass wir in uns gehen und dann dort nicht bleiben, sondern uns bekehren, d.h. ändern und so leben, dass man unserm Leben anmerkt, wie wir nicht an Gott vorbei oder vor Ihm weglaufen, sondern auf Ihn zu.
Ja, auch Hoffnung auf Gottes Nähe und Bereitschaft für Ihn sind lebensverändernd! Nicht bloß Wunder, sondern schon ihre Erwartung gibt dem Dasein eine grundlegende Wende! Nicht nur, wenn Gott uns ganz gegenwärtig ist, sondern schon die dunkle Regung des Gedankens, Gott sei nicht völlig ausgeschlossen, macht uns zu Menschen mit klareren, reineren, weiteren Zielen.
Und dass wir diese Veränderung antreten, dass wir uns von der träg-trüben Gottlosigkeit zur Gottesoffenheit wandeln, ist ebenso ein Schritt auf dem Weg zum Advent, wie alles, was Gott Seinerseits in der prophetischen Ankündigung, der himmlischen Verkündigung, der geistlichen Empfängnis, der leiblichen Geburt, der menschlichen Existenzweise und Dienstbereitschaft Jesu getan hat, bis bei Seinem Einzug in Jerusalem Seine endgültige Hingabe und darin Sein ewiges Recht an den durch Ihn Erlösten unumkehrbar in Kraft traten.
Darum ist es so wichtig, dass der Psalm, dessen adventlicher Schluss uns ja tief vertraut ist, uns heute in seinem gesamten Zusammenhang vor Augen geführt wird. Es ist – wenn wir uns im Kirchenjahr und in der Weltgeschichte an einer Epochenscheide wissen – eben nicht damit getan, dass wir uns den kommenden Herrn vor den Türen der Welt vorstellen und Ihn herbeisehnen dürfen, sondern wir können und wir sollen uns ebenfalls auf den Durchgang vor uns einstellen: Wenn Gott nicht mehr ausgeschlossen ist, dann sind wir auch nicht mehr ein-geschlossen, sondern auf dem Weg auf den Berg des HERRN und an Seine heilige Stätte.
Und dann müssen Hände, Herz, Geist und Sprache in und an uns durchlässig für die Gotteserwartung werden, … sie müssen tun, bezeugen und besiegeln, dass wir die Erde Gottes jetzt und Sein kommendes Reich als Gaben Seiner Gnade und Raum Seines Rechts ehren und hüten und heiligen wollen.
So wird der Advent wieder das, was wir lange nicht mehr in ihm sahen:
Ein wechselseitiges Geschehen, ein Aufeinanderzugehen, ein Zueinanderstreben, ein Abstandüberwinden und Trennungaufheben von beiden Seiten … Gottes und der Menschen.
Der Zug der Gemeinde hinauf nach Jerusalem und hinein in den Tempel, den Ort der Gegenwart Gottes ist ebenso adventlich, wie der Einzug Gottes an dieser Stelle – zu Salomos Zeiten in der Wolke der Herrlichkeit (vgl.1.Könige 8,10f), zu Zeiten des Kaisers Tiberius auf einem erbärmlichen Esel – und so adventlich wie Gottes Einzug auch in unsere Gegenwart mit ihren schrecklichen Bedrängnissen und der am meisten bedrängenden Gottesvergessenheit.
Wenn wir aber nun endlich anfangen, unseren Anteil am Advent wahrzumachen, indem wir lernen, demütig und solidarisch, schonend und teilend zu leben, … mit Händen, die nicht zerstören, … mit Herzen, die nicht bloß begehren, … mit Mündern, die die Wahrheit nicht verbiegen und mit einer Moral, die die Sache der Gerechtigkeit nicht vergewaltigt, … wenn wir also das Türexamen am Eingangstor zur Gotteswirklichkeit bestehen werden, dann dürfen wir aus vollem Herzen und aus voller Kraft auch den letzten Teil des Psalms beten und leben: Den Hoffnungsschrei, nein, den Jubelruf, dass umgekehrt Gott tatsächlich auch in unsere Wirklichkeit kommt. ——
Ja, wir stehen vor der Tür: Die eine Zeit vergeht. … Wir müssen uns ändern, … müssen Buße tun, damit der Durchgang zu einer neuen Zeit uns nicht in unser Verderben stößt.
… Aber wir stehen nicht alleine auf dieser Schwelle.
Auf der anderen Seite herrscht nicht das Grauen des Untergangs in das Nichts.
So bang uns auch sein mag, im Elend dieser Zeit:
Die Tore in der Welt, … das Tor der Welt als solcher, … das Tor der Zukunft wird nicht nur von uns aus bedient! Nein, … es öffnet sich von beiden Seiten!
Und Er steht schon davor und klopfet an (vgl. Offenb.3,20)!
Darum sollten wir Ihm wirklich nun entgegengehen … unsere Bußzeit des Advent führt uns ja Seinem Freudenadvent geradewegs in die Arme.
Gehen wir der Tür entgegen, indem wir wirklich unseren Lebenswandel ändern; opfern wir nicht unsere Kinder, sondern unsere Gewohnheiten und beglaubigen wir die Schöpfungs- und Erlösungstatsache, dass die Erde des HERRN ist!
So also geht auf den Berg des HERRN, fragt nach Ihm, sucht sein Antlitz, macht die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!
… Geht!
… Komm!
… „O Heiland, ……. reiß (vgl. EG 7)!“
Amen.
Ewigkeitssonntag, 26.11.2023, Stadtkirche, Kantate BWV 106 und Offenbarung 22,20, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 26.XI.2023
„Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ (BWV 106 - sog. „Actus tragicus“) - Offenbarung 22,20
Liebe Gemeinde!
Seit ausdrücklich die Ewigkeit zum letzten Mal über einem Sonntag stand, ist nun ein Jahr, ein „Kirchenjahr“ vergangen.
Ein Jahr: Eine bestimmte, messbare Größe aus unseren Begriffen und Einheiten für das, was wir „Zeit“ nennen, … Einheiten und Begriffe, die am ehesten planetarisch, an der Bahn und Drehung der Erde um die Sonne und um ihre eigene Achse zu bestimmen sind. Von dort gewinnen wir die Einheiten der Monate und Tage, so wie der Schöpfungsbericht es schon einsetzt: „Gott sprach: Es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da scheiden Tag und Nacht. Sie seien Zeichen für Zeiten, Tage und Jahre“ (1.Mose1,14). Und von Gottes Ruhe nach dem Ersten in der Zeit Vollbrachten, vom Sabbattag her gewinnt die ganze un- und anti-religiöse Welt bis heute den Rhythmus der Woche.
12 Monate Zeit also, … 52 Wochen, … genau 371 Tage sind vergangen, seit wir zuletzt Ewigkeits-Sonntag gefeiert haben. Und von dieser Zeit, der rätselhaft Selbstverständlichen gilt, was Augustinus in nüchternster Wahrhaftigkeit formuliert hat: „Was ist also Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“[i]
Wir wissen nicht, was die Zeit ist.
Aber eines wissen Viele von uns heute. … Das vergangene Jahr, … ein Monat darin, … ein einziger Tag, … ja ein Sekundenbruchteil hat es sie gelehrt: Das Vergehen oder die Ausdehnung oder das kontinuierliche Bestehen der Zeit erschließt sich uns nicht bewusst. Aber wenn sie endet, dann zerreißt es unsere Gedankenlosigkeit! Der Moment, in dem das aufhört, was wir die Lebenszeit nennen, teilt unser Denken und Fühlen, unser Wahrnehmen und Verstehen in ein kristallklares Vorher und Danach.
Von den Jahren und Jahrzehnten, die uns verbanden, können wir nicht näher sagen, wie wir sie als solche, wie wir sie als „Zeit“ erlebt haben. Die Sekunde aber, die uns trennt, schafft scharf und deutlich eine Tatsache, die alles bestimmt, weil sie alles verändert.
Die Zeit wird für uns also am direktesten spürbar, sie wird sachlich fassbar und teilbar und wirksam durch eine Abwesenheit. Nicht angehäufte Zeit, nicht Zeit im Überfluss, sondern ihr Verlust macht sie kostbar.
… Zeit ist demnach keine Größe und sie hat keinen Wert an sich … und wenn sie noch so planetarisch, noch so kosmisch, noch so wissenschaftlich exakt bestimmt wäre. Zeit ist wirklich wertvoll erst dadurch, dass wir sie mit anderen teilen dürfen. … Zutiefst also, … zuerst und zuletzt ist Zeit eine menschliche, eine zwischenmenschliche, eine soziale Kategorie.
Die Felsen und Gesteine dieser Erde - die Geologie - , … die für uns gar nicht mehr vorstellbaren Kreisläufe einer vom Menschen unberührten Natur - die Biologie -, … das Knospen, Aufleuchten und Verblühen von Sternbildern und Himmelskörpern - die Astronomie -, und die takt- und gesetzgebenden Prozesse der Chemie und der Physik in alledem entfalten sich zwar und verlaufen in Jahrmillionen-Einheiten. … Doch diese Zeiträume berühren uns nicht. … Sie sind abstrakt.
Erst das kleine, vorübergehende, hinfällige Menschlein, das am Fuß der uralten Berge und im Licht der wiederkehrenden Konstellationen am Firmament und unter all den zyklischen Figuren des „Stirb und Werde“ sein einzigartiges, unwiederholbares, ganz persönliches Dasein fristet, … erst das siebzig- oder achtzig- oder gar neunzigjährige Menschenleben macht also, dass die Zeit real wird und teuer und wundervoll.
Das hat sich an allen von uns wiederholt, für die das letzte Kirchenjahr aus lauter gewöhnlichen Tagen ein ganz herausragendes Datum gebracht hat, … ein Todesdatum. Seit diesem Tag spüren wir, dass nicht die bloße allgemeine Dauer, sondern der bestimmte einzelne Mensch, … ein Mensch, um den wir heute trauern, für uns eine wirkliche Maß- und Sinneinheit des Daseins bedeutet.
Zeit ist Miteinander.
Das ist eine ganz zentrale Wahrheit: Zeit ist Miteinander.
Um diese Wahrheit in ihrer Tragweite ermessen zu können, müssen wir uns von Gott, vom biblisch bezeugten Gott erzählen lassen und davon wie Er es mit der Zeit hält.
Obwohl heute „Ewigkeitssonntag“ ist, müssen wir dabei aber als Erstes festhalten, dass der wahre, der lebendige Gott, Der, Den wir anbeten, weil Er die Geschichte Israels zu Seiner Geschichte und in Jesus Christus die Menschheit zu Seiner Natur gemacht hat, … Den wir also anbeten, weil Er uns in der Geschichte und in unserem eigenen Wesen nahekommt … wir müssen festhalten, dass dieser unser Gott nicht etwa nur der Ewige ist, … ein Wesen oberhalb und außerhalb der Zeit, wie der Gott der Philosophen.
… Nein. Gerade, wo Er der Ewige genannt wird, zeigt sich, dass Er Gemeinschaft mit denen sucht und stiftet und schenkt, die in der Zeit leben:
Zum ersten Mal wird Er „der ewige Gott“ genannt, als sein völlig einsamer erster Anhänger Abraham ein zwischenmenschliches Bündnis schließt: Als Abraham und der König Abimelech einander Frieden und Gemeinschaft schworen, da „rief Abraham den Namen des HERRN, des ewigen Gottes an“ (1.Mose21,33). Und bei Mose – wo Er am Ende von dessen Leben wieder als ewiger Gott begegnet – heißt es „Zuflucht ist bei dem alten Gott und unter den ewigen Armen“ (5.Mose 33,27): Gerade der Ewige ist also Schutz und Ziel der Sterblichen, weshalb wir im Psalm des Mose, den wir auf dem Friedhof sprechen, bekennen, dass Er, Der von Ewigkeit zu Ewigkeit ist die Sterbenden geradezu zärtlich zu sich ruft „Kommt wieder, Menschenkinder“ (vgl. Ps.90,2f)! Bei Jesaja dann wird in diesem Geist die abstrakte Ewigkeit tatsächlich in den elementar menschlichen Zusammenhang des Familiären gezogen: „Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von Ewigkeit her dein Name“ (Jes.63,16); und gekrönt wird diese innigste Verbindung des Überzeitlichen mit den Gegebenheiten der menschlichen Lebenszeit schließlich in der Weihnachtsverheißung des Propheten Micha (5,1f): Aus „Bethlehem …… soll mir der kommen, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist, … (wenn) die geboren hat, die gebären soll“.
Die Ewigkeit Gottes verhindert also nicht, dass Er der Gott des Miteinanders – des Miteinanders unter den Menschen und des Miteinanders zwischen Sich und den Menschen – ist.
Genau wie Jahrhundertmillionen und Sekundenmyriarden wird nämlich auch Gott erst wirklich und greifbar durch das Miteinander in der Zeit, … durch Erfahrungen des Zusammenhangs und der Zusammengehörigkeit von Ewigem und Sterblichen.
Zeit an sich ist demnach eine leere Vorstellung.
Und Gott an sich ist eine leere Behauptung.
Beide sind nur wirklich und wirksam in ihrer Gestalt als lebendiges Miteinander.
Von daher aber verstehen wir vielleicht auch richtig, was Sünde und Tod sind: Sie negieren jeweils das Entscheidende, … das Miteinander.
Der Tod zerreißt das Miteinander, in dem wir leben.
Die Sünde zerreißt das Miteinander, durch das und für das wir leben. ——————
… Und da kommt nun Der, Der unser einziger Trost im Leben und im Sterben ist, ins Spiel: Jesus, Der das Miteinander in Person ist.
Jesus, Der die Zeit erfüllt, indem Er den Ewigen in sie brachte.
Jesus, der die Sünde entmachtet hat, weil Er die Menschheit zurück zu Gott zieht.
Jesus, in dessen einzigartigem Tod der ganze Tod, … aller Tod am Leben scheiterte.
Jesus, in Dem Gott vom Menschen unzertrennlich ist.
Jesus, in Dem der immer-seiende und immer-bleibende Gott Geburt und Sterben erlebte, ohne dass das eine da erst die Anwesenheit und das andere schließlich die Abwesenheit brachte, weil die unlösliche Verbindung durch beides durchhielt, die unlösliche Verbindung Dessen, was im Ursprung war – des Wortes, das im Anfang war (vgl. Joh.1,1) – mit Dem, was unendlich bleiben wird – dem Wort Gottes, das da bleibt in Ewigkeit (vgl. Jes.40,8).
Sterbliches Geborenwerden und der Tod der Sterblichen: In Jesus sind sie nicht bloß die Eckdaten der Lebenszeit, sondern Sein Anfang erfüllt alle Zeit mit dem entscheidenden Miteinander und Sein Ausgang durchbricht die Grenze, um allem Miteinander die Endlosigkeit zu eröffnen. ———
Das also ist die „beste Zeit“, die Bachs Kantate besingt[ii]: Das in Jesus uns erreichende, durch nichts je endgültig aufzulösende Miteinander von Gott und Mensch, von Gegenwart und Ewigkeit, in dem wir leben … und in dem wir auch sterben.
An das Sterben darum zu denken, … an die alte Bestimmung[iii] zu denken, dass wir hier nicht Zeit an sich und auch nicht endlos Zeit haben, sondern bloß einstweilen begrenzte Dauer, die nur geteilt auch wertvoll ist, macht klug: So sahen wir am Anfang.
Denn nur, wenn wir in der endlichen Zeit schon das Geschenk zu schätzen vermögen, das in Gestalt lebendiger Verbundenheit von Verschiedenem – allem voran von Irdischem und Himmlischen – besteht, … nur dann können wir unser Haus bestellen – also versöhnt leben – und uns am Schluss auch Gott befehlen – also erlöst sterben –.
Tragisch ist dieser Akt des Glaubens also nicht, … dieser Akt unseres Glaubens: Jenes Glaubens, der über die Zeit hinausweist, gerade wenn uns ein Todestag in diesem Jahr gezeigt hat, wie wir durch unsere Verluste zu verstehen lernen, was wirklich unvergänglich ist.
Wenn der Tod eines geliebten Menschen seine teilende Wirkung entfaltet und das Davor vom Danach so schmerzlich unterscheidet, dann erfahren wir Christen ja eben nicht bloß dass Zeit wahrhaftig nur als eine Form von Gemeinschaft zu bestimmen ist, sondern dann geht uns tatsächlich fast unmittelbar und ohne dass wir es in Worte fassen könnten Gott auf, … dann geht uns Gott plötzlich ganz unmittelbar an:
Er, Der in Seiner Dreieinigkeit unlösliche Verbindung ist, Er kann und wird ja nicht zulassen, dass wir einander mit der Zeit und aus der Zeit verlieren. Gott kann nicht zulassen, dass wir endgültig von Abwesenheit bestimmt werden, dass Trennung und Vereinsamung das sind, was uns „schlußendlich“ - wie es so trostlos heißt - erwartet.
… Gott ist doch Gemeinschaft. Gemeinschaft auch mit uns zeitlichen, mit uns vergänglichen Menschen. Und darum will Er die Vergänglichkeit, die uns täuschenderweise das Wesen aller Zeit auszumachen scheint, durch deren tatsächliches Wesen - die Gemeinschaftlichkeit - überwinden.
Die Zeit der Abschiede, die Zeit als Scheidung geht also tatsächlich ihrem Ende entgegen, um das zu erreichen, um das durchzusetzen, was Gott selber war und ist und bleibt: Endloses Zusammensein.
Aus dieser doppelten Zielrichtung nun – dass das Zerbrechen vergeht und das Verbinden kommt, … dass die Spaltung aufhören und die Heilung bleiben soll, … dass das Leiden an der Sterblichkeit sich verflüchtigen wird, um die Freude des Lebens zu verewigen – … aus dieser doppelten Zielrichtung erklärt sich auch das christliche Doppelverhältnis zur Zeit: Es ist Bejahen ihres unaufhaltsamen Verfließens und gleichzeitig Vertrauen auf unerschütterliche Dauer.
Kurz ist die Spanne, die für das Erste bleibt; grenzenlos ist die Hoffnung auf das Andere.
Die Traurigen unter uns, … die Leidtragenden, … die Hinterbliebenen, … diejenigen, die sich nach Frieden sehnen in den Tagen brutaler Gewalt, … diejenigen, die an jeder Zukunft zweifeln oder verzweifeln in unserm Zeitalter unaufhaltsam wirkender Weltvernichtung: … Sie alle sollen das biblische Zeugnis von der Kürze und vom Verfliegen der Zeit hören, … die Verheißung, dass das Jetzige nicht bleibt.
Doch noch wichtiger ist die andere Botschaft: … Dass schon jetzt das Ewige begonnen hat. … Dass es nicht mehr fern und nicht mehr weit ist, sondern dass es in dem großen Wort vom „Heute im Paradies sein“ (vgl. Lk.23, 43) schon die offene Tür, schon die Verbindung mit dem gibt, was Gottes Wesen ist und was uns darum von allen Seiten umfängt und also auch bevorsteht und erwartet: Das Miteinander, … das ewige und damit also das kommende Leben. ——
Allen denen, die in diesem Jahr einen Todestag und seither das Fehlen des Miteianders und darum die Hoffnung darauf erfahren haben, will ich - „schlußendlich“ - nur ein ganz einfaches Wort dazu sagen.
Es ist das Wort, das unserer diesseitigen, rein physikalisch von der Zeit denkenden Zeit am schwersten … und am rettendsten zu hören ist.
Und weil es so schwer zu hören ist, ist es immer auch der schwerste Augenblick für mich auf dem Friedhof.
Ich könnte das Wort mit geschlossenen Augen ohne allen Zweifel, ohne jedes Zögern sprechen, … weil ich aber doch hinsehen will, weil ich doch sehenden Auges und darum eben auch überprüfbar und ansprechbar und also fraglich bleiben will für die, die mir dabei wiederum ins Gesicht blicken können, …. darum weiß ich genau, in welche Tiefen des Nichthören- und Nichtverstehen- und Nichtfassen- und Nichternstnehmen-Könnens ich oft dabei schaue und auf welche traurige Fremdheit ich stoße. …
… Das ist der eigentliche actus tragius, der mit dem Glauben bei unsern christlichen Beerdigungen verbunden ist, … dass das einfache liturgische Wort so schwer zu sagen und zu hören fällt, das in seiner Wahrheit und Klarheit doch so unvergleichlich, so einzigartig tröstet.
„Wir befehlen unseren Verstorbenen der Gnade Gottes und legen seinen Leib in Gottes Acker – Erde zur Erde, Asche zur Asche, Staub zum Staube – in der Hoffnung der Auferstehung zum ewigen Leben durch Christus Jesus, unsern Herrn.“ …………
Das ist das allesentscheidende Wort, in dem das Vergängliche und das, was war und kommt zueinander finden.
Die Hoffnung der Auferstehung zum ewigen Leben: Sie verknüpft die Zeit als Miteinander mit Gott als Miteinander in größter Einfachheit.
… Darauf warten wir, darauf trauen wir.
… Dass ist gewisslich wahr.
Und wenn es uns noch so schwer fällt, es so einfach zu sagen, zu hören, zu glauben.
Das ist die Erfüllung der Zeit, das ist die beste Zeit: Dass alles im Miteinander bestehen soll, weil Jesus Christus das Miteinander ebenso geschichtlich wie ewig verkörpert und dieses unser Ziel darum wirklich und ganz nahe ist.
Es ist gewisslich wahr.
Und wir brauchen und können nichts tun, als in dieser Gegenwart und Zukunft des Ewigen einfach einzustimmen: Amen, ja komm Herr Jesu!
Komm mit Deiner Fülle in die Zeit! Komm mit dem Leben Gottes in unseren Tod!
Komm mit Deiner Ewigkeit jetzt zu uns!
Amen.
[i] Augustinus, Confessiones – Bekenntnisse, Elftes Buch (14,17), lat. und dt, Eingel., übers. u. erläutert von Joseph Bernhart, München 41980, S.629.
[ii] Die beiden nächsten Abschnitte fassen die Sätze der Bach-Kantate zusammen, die in Teilen im Gottesdienst erklang.
[iii] In Anlehnung an die heute sinnvollerweise gebrauchte, weil weitaus weniger antijudaistisch stereotyp missverständliche Übersetzung der Stelle in Jesus Sirach 14,17 auf die sich Bachs Text vom „alten Bund: Mensch, du musst sterben“ bezieht: „Es gilt der ewige Beschluss: Du musst sterben“. Jesus Sirach kommt hier dem Prediger Salomo nahe in seiner das ewige Leben betreffenden Skepsis, die zu einer hedonistischen Schlußfolgerung – „Carpe diem!“ – führt.
Ewigkeitssonntag, 26.11.2023, Dan. 12,1-3, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Schwestern und Brüder,
der heutige Sonntag ist der letzte Sonntag in diesem Kirchenjahr. Mit ihm schließt ein Jahr ab, das für viele persönlich schwierige und traurige Zeiten gebracht hat, Abschiede und Trennungen, Verluste, die schmerzen. Mancher Tod mag wie eine Erlösung gekommen sein. Aber mancher kam viel zu früh. Und alle führen sie Dunkelheit mit sich. Wie mit dem Tod umgehen, wohin mit der Trauer, mit der Erfahrung von Ohnmacht angesichts des Todes eines lieben Menschen? Ja, und nicht nur angesichts des Todes uns nahestehender Menschen, sondern auch – gerade in diesem Jahr - angesichts des vielfachen gewaltsamen und unzeitigen Todes in Israel, im Gazastreifen, in der Ukraine? Haben Tod und Gewalt das Heft des Handelns in der Hand? Ist das die „Zeitenwende“, die im Februar 2022 im Bundestag konstatiert wurde?
Ich bin in diesem Jahr dankbar dafür, dass der heutige Sonntag drei Namen hat, uns unter drei Vorzeichen einlädt, über das Leben und den Tod und unsere Zeit nachzudenken: Totensonntag, Ewigkeitssonntag und Sonntag vom Jüngsten Gericht. Es gibt nämlich keine einfache Antwort auf die uns bedrängenden Fragen, sei es im persönlichen Leben und Erleben oder mit Blick auf die gesellschaftliche und weltpolitische Lage.
Totensonntag – Ewigkeitssonntag – Sonntag vom Jüngsten Gericht.
Der Predigttext, der für heute vorgeschlagen ist, nimmt uns für diesen Drei-Schritt an die Hand. Ein Text aus dem Ersten Testament, aus dem Buch des Sehers Daniel, das eine große Nähe hat zu dem Buch der Offenbarung des Johannes.
Ich lese Dan.12,1-3 aus einer jüdischen Übersetzung:
„Und in dieser Zeit wird auftreten Michael, der große Engelfürst, der für dein Volk dasteht. Und es wird eine Zeit der Not sein, wie es sie nicht gab, seit es Völker gibt, bis zu jener Zeit. In jener Zeit wird dein Volk gerettet werden, alle, die ins Buch eingetragen gefunden werden.
Und viele, die im Erdboden schlafen, werden erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schande, zu ewigem Abscheu.
Aber die Verständigen werden glänzen wie der Glanz des Himmels, und die, welche viele zur Gerechtigkeit führten, wie die Sterne, immer und ewig.“
Das Buch Daniel markiert für die jüdische Religion in gewisser Hinsicht eine Zeitenwende. Bis dahin war der Glaube Israels rein diesseitsbezogen. Israels Gott war ein Gott der Lebenden; darin unterschied sich die jüdische Religion fundamental von der ägyptischen Religion, für die der Glaube an ein Leben nach dem Tod bestimmend war. Als Beispiel für diese Diesseitigkeit mag der folgende Vers aus Jes. 38,18f stehen: „Die Toten loben dich nicht, und der Tod rühmt dich nicht, die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Treue, sondern allein, die da leben, loben dich so wie ich heute.“
Man stand mit Gott in der Zeitspanne zwischen Geburt und Tod in Beziehung; wenn man starb, versammelte man sich im Totenreich, in der Scheol, ein Reich ewigen Schweigens.
Im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung änderte sich dieser Glaube, er weitete sich. Israel erkannte: Gott ist größer. Er umfasst nicht nur Himmel und Erde, nicht nur die Lebenden stehen zu ihm in Beziehung, sondern auch die Verstorbenen, sein Wille ist verbindlich für alle Zeit. Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit, Lebende und Verstorbene – alles ist vor ihm gegenwärtig.
Wenn nun das Leben nicht einfach mit dem Tod aus ist, sondern wenn Gott und sein Wille über den Tod hinaus Geltung haben, dann hat das Folgen für das Leben vor dem Tod und nach dem Tod.
Diese Glaubensweitung erfolgte im 2. Jahrhundert v.u.Z. in einer Zeit großer Not für das jüdische Volk. Damals herrschte in der Levante Antiochos IV. Epiphanes. Dieser Machthaber will dem jüdischen Volk seine griechisch geprägte Denkweise aufzwingen. Er greift die frommen Jüdinnen und Juden im Herz ihres Glaubens an. Er betritt als Nichtjude den Tempel in Jerusalem. Und er treibt es noch ärger: Er weiht den Tempel dem griechischen Gott Zeus Olympios. Und er verbietet bei Todesstrafe die Beschneidung. Für viele Jüdinnen und Juden ist das Verrat an dem einen Gott Israels. Sie wehren sich, ein Aufstand bricht aus. Die Folge ist voraussehbar: viele Tote. Das Ende vom Lied: Tote und Fragen.
Gibt es keine Hoffnung auf ein Leben und Glauben in Freiheit, ohne Angst vor Gewalt? Was ist mit denen, die treu zu ihrem Glauben an den Gott Israels gestanden und dafür mit ihrem Leben bezahlt haben: zählt ihre Treue für Gott nicht? Ist ihr Tod umsonst? Viele sind verzweifelt, andere enttäuscht. Es sieht aus, als ob Gott alles kalt lässt.
Habe ich über die Zeit damals bei Daniel oder über unsere Zeit gesprochen?
Liebe Gemeinde, mich hat die Aktualität unseres Predigttextes wirklich elektrisiert. Es ist so: mein Glaube wird durch die gegenwärtigen Ereignisse – sei es in der Ukraine, sei es in Israel – und durch die ganzen Begleiterscheinungen weltweit – auf den Straßen, in den Medien, auf den politischen Foren - durchgeschüttelt. Bis dahin für mich unbezweifelbare Richtigkeiten wie die Slogans „Nie wieder Krieg“ und „Frieden schaffen ohne Waffen“ – sie haben sich für mich in Worthülsen ohne Überzeugungskraft verwandelt. Das schiere Ausmaß an Gewalt und Hass, an Lüge und Intrige, macht mich ratlos und ohnmächtig. So viele Tote, so viel Leiden auf allen Seiten und kein Ende in Sicht. Was soll werden? Es sind so wenige, die bei Verstand sind und das Sagen haben, die ein Gewissen haben und Menschlichkeit zeigen und dann auf entsprechende Resonanz stoßen.
„Es wird eine Zeit der Not sein, wie es sie nicht gab, seit es Völker gibt, bis zu jener Zeit.“
Daniels Gegenwartsanalyse könnte treffender nicht sein.
Gewaltherrschaft, Diktaturen, Propaganda, Hass und Lüge: sie haben immer Tote zur Folge, sie gehen über Leichen, wenn ihnen die Menschen nicht willfährig sind, sondern sich widersetzen. Eine Zeit der Not.
In diese Situation hinein spricht der Seher Daniel sein Zukunftswort. Er sieht weit hinaus, sieht, dass diese Zeit an ihr Ende kommt. Er setzt ein großes „Aber“ dagegen in Gestalt von Hoffnungsbildern, die den Blick weiten helfen, aus der Angststarre herausführen, der Verzweiflung Einhalt gebieten.
Die Zeit der Not, es ist nicht eine Zeit, in der Gott abwesend ist. Es ist vielmehr die Zeit, in der er sich neu als derjenige erweist, der sein Volk in die Freiheit führt, wie es bei Jesaja heißt: „Ich will heben und tragen und erretten.“ (Jes.46,4), Gott als Streiter für sein Volk. „In dieser Zeit wird auftreten Michael, der große Engelfürst, der für dein Volk dasteht.“ Daniel nimmt hier die in seiner Zeit gewachsene Vorstellung auf, dass jedes Volk einen Engel hat, der für es eintritt vor Gott und der es gegen Angreifer verteidigt. Die Konflikte sind niemals nur rein zwischenmenschlicher Art, sondern betreffen die ganze Wirklichkeit im Himmel wie auf Erden. Es ist ein Trostbild, das Daniel zeichnet: der Engelfürst Michael steht an Israels Seite. Der Seher Johannes hat dieses Trostbild knapp dreihundert Jahre später erweitert: da ist Michael der Streiter an der Seite all derer, die in der Nachfolge Jesu Verfolgung und Unterdrückung durch den römischen Staat erleiden. Woraus sich dann die Vorstellung entwickelte, dass jeder Mensch in seiner individuellen Not von seinem Schutzengel begleitet wird – „Ich will heben und tragen und erretten.“ Mögen Engel dich geleiten, heißt es in den Liedern der Totenmesse.
Das zweite Trost- und Hoffnungsbild ist das Vertrauen darauf, im Buch eingetragen zu sein, im Buch des Lebens. Eingetragen mit allem, was das Leben ausgemacht hat, alles Lieben und alles Leiden, alles Tun und Lassen, nichts fällt bei Gott unter den Tisch. Nach dem Tod herrscht nicht das große Schweigen, sondern alles kommt im Licht Gottes zur Sprache. Die furchtbare Not seines Volkes vor Augen kann Daniel nicht anders, als dieses Zur-Sprache-bringen im klaren Schwarz-Weiß-Schema aufzuzeigen: die einen, die Opfer der Gewalt, erwachen zum ewigen Leben, die anderen, die Gewalttäter, zur ewigen Schande. Am Ende steht das Gericht. Ich kann nach den Bildern, die im letzten Jahr aus Butscha kamen und in diesem Jahr aus Israel, aus den von der Hamas heimgesuchten Kibbuzim nur zu gut verstehen, dass Menschen in ihrer Verzweiflung Trost suchen in dem Gedanken, dass die Täter, die Mörder dafür bestraft werden, wenigstens am Ende der Zeit.
Ich glaube aber, dass Gottes Gedanken da andere sind als unsere, sein Gericht beurteilt sicher alles Tun und Lassen, alle Guttaten und alles böse Tun und auch alle Versäumnisse. Alles kommt zur Sprache, was in seinem Buch steht. Alles kommt ans Licht. Und dann, das ist meine Hoffnung, wird er zurechtbringen, zurechtweisen, heilen, was wir Menschen verbockt haben, wissentlich und unwissentlich. Sein Licht wird alles Dunkle hellmachen, seine Liebe alles heilmachen, läutern, verwandeln. Kein Mensch kommt an diesem Prozess am Ende der Zeiten, im Moment des Sterbens, des Todes, vorbei. Ein heilsamer und bestimmt auch in mancher Hinsicht schmerzhafter Prozess. Das kennen wir ja schon in diesem Leben: Selbsterkenntnis kann weh tun. Natürlich sollten wir es Gott durch unser Tun und Lassen in diesem Leben damit nicht unnötig schwer machen. Er hat uns diese Zeit geschenkt, um seinem Wesen gemäß zu leben und zu wirken:
Und sein Wesen ist Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Güte und Wahrheit. Diese göttlichen Werte hochzuhalten und ihnen nachzuleben, darauf kommt es an. So kann jeder Mensch zu einem Hoffnungszeichen in dieser notvollen Zeit und Welt werden, Orientierung schenken in den Sprachgewittern voller Hass und Lüge, die die Gehirne und Herzen der Menschen fluten und immer mehr Leid und Tod bringen. Lebendige Hoffnungszeichen über unseren leiblichen Tod hinaus können wir werden, die daran erinnern, dass es sich lohnt, auf die Liebe zu setzen und nicht auf den Hass, der Gerechtigkeit zu dienen und nicht die eigenen Interessen durchzudrücken, auf Ausgleich und Freundlichkeit zu setzen und allen Gutes zu gönnen. Das ist das, was wir tun können, das meint der Seher Daniel, wenn er schreibt:
„Aber die Verständigen werden glänzen wie der Glanz des Himmels, und die, welche viele zur Gerechtigkeit führten, wie die Sterne, immer und ewig.“
Das zeigen uns auch alle diejenigen, an deren Gräber wir in diesen Tagen stehen und die wir schmerzlich vermissen. In unseren Erinnerungen leuchten sie wie helle Sterne in der Dunkelheit aller Trauer gerade da auf, wo sie uns in ihrer Lebenszeit Liebe und Güte erwiesen haben; und wo sie uns Beispiele gegeben haben, wie wir selbst Liebe und Güte leben können.
„Aber die Verständigen werden glänzen wie der Glanz des Himmels, und die, welche viele zur Gerechtigkeit führten, wie die Sterne, immer und ewig.“
Mögen uns immer wieder solche Sternenlichter am Himmel der Erinnerungen aufleuchten und uns in der Dunkelheit unserer Traurigkeit trösten.
Amen.
22.So. n. Trin., 05.11.2023, Stadtkirche, 1.Johannes 2, 12 - 14, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 22.n.Trin. – 5XI.2023
1.Johannes 2, 12-14
Ein Zettel:
Liebe Kinder, Ich habe euch Kindern geschrieben;
ich schreibe euch, denn ihr habt den Vater erkannt.
dass euch die Sünden vergeben sind
um seines Namens willen.
Ich schreibe euch Vätern; Ich habe euch Vätern geschrieben;
denn ihr habt den erkannt, denn ihr habt den erkannt,
der von Anfang an ist. der von Anfang an ist.
Ich schreibe euch Ich habe euch jungen Männern
jungen Männern; geschrieben; denn ihr seid stark,
denn ihr habt den Bösen überwunden. und das Wort Gottes bleibt in euch,
und ihr habt den Bösen überwunden.
(1.Johannes 2,12f) (1.Johannes 2,14)
Liebe Gemeinde!
Ausgerechnet in den grausamen Auflösungserscheinungen dieser Zeit, in der die Welt, die wir kennen, zerfällt und die Werte, deren Sicherheit wir zu teilen meinten, verfallen und alles Plan- und Lenkbare dem unbeherrschbaren Zucken und Wetterleuchten des Zufalls weicht, … ausgerechnet in diesem Pandämonium und Wirrwarr fliegt uns ein rätselhaftes Zettelchen zu:
Ein Zettelchen, das wie eine Stilübung wirkt, als habe ein Dichter mit Thema und Variation gespielt.
Oder als sei einer in einer Nervenheilanstalt eingesperrt und müsse sich was von der Seele schreiben und finde den genauen Ausdruck nicht.
Oder womöglich ist es nur ein roher Entwurf, eine Notiz dessen, was auf die eine oder andere Weise formuliert werden müsste.
Wie ein klassisch strenges Schema oder wie eine kranke Qual oder wie einen kreativen Versuch kann man diese kuriosen drei Verse aus dem 1. Johannesbrief ja wirklich lesen: Sie äffen einander so auffällig nach, … sie entsprechen einander so identisch/nicht-identisch wie Körper und Schatten, … sie spielen so unlogisch mit einer Wiederholung, die keinen direkt erkennbaren Gedankenfortschritt bringt, dass man das Zettelchen beiseitelegen möchte.
… Uns beschäftigt Schwereres und Schlimmeres als so ein Stückchen Schmierpapier oder eine solche unausgereifte Gedankenzelle, die ein gemütskranker Robert Schumann, ein zwischen Wahnsinn und Prophetie schwankender Hölderlin zu Papier gebracht haben könnten. …….
Hören wir lieber den kompromisslos klaren und inzwischen mutig zu nennenden Worten Robert Habecks zu[i], dessen Videoansprache aus der letzten Woche die FAZ, die einem grünen Wirtschaftsministers keine reflexhaften Jubelovationen schuldet, rhetorisch und moralisch in eine Reihe mit der „I have a dream“-Rede von Martin Luther King stellte[ii].
Oder lesen wir die reizvolle, spielerische Dankesrede von Salman Rushdie bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels … das Märchen vom „Mann, der den Frieden als Preis erhielt“[iii].
Oder versuchen wir selber, unsere widersprüchlichen und ambivalenten Gedanken zu ordnen, in einer Zeit, in der jeder Mensch, der biblische Muttermilch getrunken hat, um Israel physisch leidet wie um einen geliebten Angehörigen in Todesgefahr … und in der gleichzeitig jeder Mensch, der biblisches Schwarzbrot kaut, fast erstickt an der Härte, an der Schuld, die Israels Überlebenskampf begleiten.
Warum soll uns der beinah sinnlos erscheinende Briefabschnitt beschäftigen, der heute hereingeflattert kam: … Zeugnis einer Monomanie … oder einer beginnenden Demenz … oder eines poetischen Verdichtungsverfahrens, das uns nichts sagt? …….
… Gut möglich, dass die Frage schon die Antwort enthält:
Ja, der kleine da-capo-Abschnitt im Brief des Apostels und Evangelisten Johannes ist tatsächlich kunstvoll geformt wie Poesie, die ja auch von Motiven klanglicher Wiederkehr und vom bildlichen Umkreisen lebt. Der Apostel, der hier den 3 Lebensaltern - Kindheit, Jugend, Reife - eine Art konzentriertesten Vermächtnisses seiner lebenslangen Jüngerschaft und Verkündigung schreibt, hat sich künstlerisch gemüht. Das Motiv, das am meisten aufhorchen lässt und die beinah gleichlautenden Kurzsätze am klarsten gliedert, ist die zeitliche Form des entscheidenden Verbs: γράφω, γράφω, γράφω / ἔγραψα, ἔγραψα, ἔγραψα … „ich schreibe, schreibe, schreibe / und schrieb, schrieb, schrieb“.
Hier zieht tatsächlich einer das Fazit.
Einer, der sich immer noch im Hier und Jetzt, im Präsens weiß, dessen Heute aber mit seinem Gestern so stimmig, so übereinstimmend verknüpft ist, dass die gestrige und die gegenwärtige Botschaft zu einem reinen Zusammen-klang verschmelzen, zu völliger Harmonie.
Wenn Welt uns also chaotisch, misstönend, dissonant im Ohr liegt mit ihrem Pandämonium von Hassgebrüll und Hilfeschreien, von Blutgeheul und Opfertränen, von Waffenlärm und Friedhofsklage, … ist’s dann nicht gerade wunderbar, ein Briefchen von Jesu liebstem Freund zu empfangen, das nicht schärfsten Wahrnehmungsschmerz auslöst, sondern trotz allem, was uns verstören kann, uns hören lässt, was stimmt?!
Dass es stimmt, wie es von Anfang an, seit der Fleischwerdung des Wortes und der Offenbarung des Vaters in ihm und der Erhöhung des Gekreuzigten in die Einheit mit Gott stimmte: Es gibt in Jesus Christus Vergebung aller Schuld und Sieg über alles Böse!
Das stimmt, und Johannes hat es in seinem schönen, gefällig variierten, in sich aber bruchlos geschlossenen Lied vom Immergültigen schlicht und unvergesslich ausgedrückt: Ich schreibe und ich schrieb, dass ihr Kleinen und Jungen und Alten leben könnt, … wirklich leben könnt in der Kraft der Erkenntnis und der Wirklichkeit Gottes durch Sein Wort.
Tatsächlich also ist’s ein Kleinod, dieses kleine Gedicht des Evangelisten, dessen überirdisch großer Hymnus anfängt (Joh.1,1): „Im Anfang war das Wort.“
… Er schrieb’s und schreibt’s. Und wie wir’s hörten, dürfen wir’s hören, abermals und abermals, immer, immer wieder. Denn es stimmt. ——
Und auch das stimmt, dass hier eine Monomanie, eine völlige und ausschließliche Leidenschaft für ein einziges Kernthema vorherrscht: Johannes, der Zeuge und Dolmetscher der Selbstoffenbarung Jesu als des höchsten Botschafters und reinsten Beispiels des göttlichen Liebesgebotes (vgl. Joh.3,16 / 13,1+34f / 15,9f / 17,23 u.a.) ist von nichts anderem erfüllt, bewegt und überfließend, als dass sich die vollbrachte göttliche Liebe im Geliebt-Sein und Lieben-Können der Menschen ausbreite.
Von dieser tiefsten, höchsten Erfahrung der Übereinstimmung – der völligen Einheit das Vaters und des Sohnes, der völligen Einigkeit der Gemeinschaft Jesu und der Seinen in der Welt (vgl.Joh.17, 21!) – ist alles gefärbt und getönt, was Johannes sagt. … Nichts als diese Harmonie spricht aus seinem Ansatz, das gleiche Einfache gleich zweifach zu sagen:
Dass alle, alle als Kinder mit dem Vater versöhnt sind, … dass alle, alle als erwachsene Menschen im göttlichen Ursprung gegründet sind … und dass sie alle in den Zerrissenheiten der je eigenen Entwicklung den spaltenden Feind, den Bösen doch durch ihren Frieden mit Gott und untereinander überwunden haben.
Sein Grundthema menschlichen Gleichklangs mit Gott in sämtlichen Lagen des Lebens entfaltet Johannes aber nicht zufällig zwiefach.
Im Gegenteil: Die Form wird hier zum Träger des Inhalts. Das im Präsens Gesagte haftet in dem, was in der Vergangenheitsform gesagt wurde. Im jetzt Gegenwärtigen spiegelt sich das früher Festgehaltene. Das Eine und das Andere ergeben im sie verbindenden Zusammenlaut das Ganze.
Diese bestärkende und bestätigende Doppelungsfigur ist dabei keinesfalls eine Erfindung des Johannes, sondern eins der ehrwürdigsten und charakteristischsten Gesetze des gehobenen, des schönen Sprechens, der Dichtung, des Gesanges, des Gebetes in der hebräischen Sprache. Sie liebt, ja sie atmet solche Wiederholungen. Das Stilmittel heißt Parallelimus membrorum - Gleichführung der Glieder also - und wird überall, im Kleinen wie im Großen gebraucht, um einen Gedanken, eine Aussage, eine Erkenntnis auf zwei Beine zu stellen. Um unter Tausenden nur ein tief vertrautes Beispiel zu wählen, erinnern wir uns an Psalm 103:
„Lobe den HERRN meine Seele und was in mir ist Seinen heiligen Namen;
// lobe den HERRN meine Seele und vergiß nicht, was Er dir Gutes getan hat. …¶
Der dir alle deine Sünden vergibt
// und heilet alle deine Gebrechen. …¶
Barmherzig und gnädig ist der HERR,
// geduldig und von großer Güte. …¶
Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden
// und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat.
So hoch der Himmel ist über der Erde, läßt Er Seine Gnade walten über denen, die Ihn fürchten,
// und so ferne der Morgen ist vom Abend lässt er unsere Übertretungen von uns sein. …¶
Lobet den HERRN, alle Seine Heerscharen, Seine Diener, die ihr Seinen Willen tut!
// Lobet den HERRN alle Seine Werke an allen Orten Seiner Herrschaft! ¶“
Die überall begegnende, ganz biblische Neigung zum Sagen und Wiederholen ist ihrerseits aber doch wohl eine Gestalt der Menschenfreundlichkeit des Wortes Gottes. Nicht nur, weil doppelt besser hält, sondern weil der Mensch ein paarig angelegtes Wesen ist: Seine rechte und seine linke Hand füllt Gott mit Seinen Gnaden, … die eine wie die andere Herzkammer durchspült der Strom Seiner Mitteilung, … in beiden Hälften des Hirns flammt die Leuchtschrift der Geistesblitze, … wird der eine seiner Füße von der Weisung des Heils auf den Weg des Friedens gelenkt, so auch der andere, Schritt für Schritt.
Gott spricht uns ganzheitlich an und darum zwiefach.
Nun mag die Welt für uns zu wirr und undurchdringlich sein in ihrer Überlagerung von Bedrohlichem und Schreckensnachrichten, die wir darum nicht mehr an uns kommen lassen und zu Herzen nehmen wollen. … Doch diese Verwirrung durch das multiple, pluriforme, polyzentrische Unheil wird gerade von der einfach zweimal gesagten Heilsbotschaft in ihrer konzentrierten Kürze mehr als aufgewogen. Das eine Anliegen des Johannes – dass Mensch und Gott nicht in ihrer Feindschaft, sondern in ihrer Einheit verwirklicht sind, …. dieses eine Anliegen wird auf dem zweiteiligen Zettelchen greifbar: Zwei sind eins!
Nicht mehr, nicht weniger. ———
Kämen wir also noch zum dritten möglichen Einwand gegen die magere kleine Notiz, die uns heute hier auf der Kanzel liegt. Dieser Einwand ist wirklich „der Letzte“ im umgangssprachlichen Sinn, aber auch ihn greifen wir auf. In der boshaft als fahrig zu deutenden Art dieses repetitiven Gestammels könnte sich schließlich ja die Hilflosigkeit eines Entwurfes zeigen, der nicht vom Fleck kommt. … Womöglich hat er schlicht den roten Faden verloren, wenn er sich so unmittelbar wiederholt, der tatterige Apostel? … Womöglich fällt dem Johannes einfach nicht mehr ein, worauf er hinauswollte? Ist das also bloß senile Gedankenführung … oder vielmehr der Verlust der Gedankenbeherrschung? Ist das ein neutestamentliches Präludium des bitteren Endes, das so viele von uns heut erwartet, … ein antikes Zeugnis der Demenz?
… Warum in aller Welt denn nicht? Wenn das Wort Fleisch wurde und in Brot und Wein und Geist und Glaube auch in Fleisch und Blut der Seinen übergeht, wer sagt uns dann, dass der Logos Gottes nicht auch in’s Reich der Vergesslichen, in die Bruderschaft und Schwesternschaft der langsam nicht mehr Orientierten hineinreichen könne? Wer sagt uns, dass der Logos Gottes - Sein Licht und Seine Wahrheit – nicht gerade auch ins Dunkel und die Rätselhaftigkeit des Alters einkehren kann? Wer sagt, dass das Land Alzheimer nicht ebenso den Stall, die Krippe und die Windeln des menschgewordenen Gottes bietet, wie das Reich der wonnigen Kindheit?
Gott ist – trotz seines brutal verkürzten irdischen Lebens vor der Auferstehung – nicht exklusiv nur Säugling oder Jüngling geworden, sondern genauso in die Wirklichkeit des langzeiterkrankten, des querschnittsgelähmten, des multimorbiden Menschenkindes gekommen, in die Qual der ALS-, der locked-in- und Wachkoma-Patientin und in das Dämmerlicht der Greisin und des Greises an ihrem Lebensabend.
Den Kindern, den jungen Leuten und den patriarchalen Jahrgängen schreibt der Apostel ja ganz ausdrücklich und bewusst sein sprödes, nicht weiter mehr zu reduzierendes Extrakt des Evangeliums. Gleichzeitig also wendet er sich an die putzmunteren, die kraftstrotzenden und die verantwortungsgebeutelten Lebensphasen.
… Und selber ist er einer der Ältesten, ein vielfach geprüfter Augen- und Ohren- und Leidens- und Glaubenszeuge dessen, was am Anfang war, des Wunders, das in einem Wort, in einem Namen zusammenzufassen ist. „Fragst du, wer der ist?“ (vgl. EG 362) … „Ein Wörtlein“ …. „Das Wort sie sollen lassen stahn“ …….
Wie alt er ist, der Zeuge, der Märtyrer Johannes am Ende seines jahrzehntelangen Dienstes für „Jesus Christus, den Herrn Zebaoth“ (ebd.) … durch Predigt und Mission, durch Verurteilung und Verbannung, durch apokalyptische und evangelistische und epistolarische Schreibarbeit. … Alt ist er und müde.
… Und tatsächlich! Die kirchliche Tradition weiß von ihm, dass er wahrhaftig den Faden verlor, die herrlichen, geheimnisvollen und hymnischen Möglichkeiten seines lebenslangen Werbens für Jesus Christus einbüßte und am Ende bloß einfältig und monoton wieder und wieder und wieder das Gleiche ausrief, wie wir es bei vielen Menschen erleben, deren Geist die Bedingungen und Konventionen unserer Ratio hinter sich gelassen hat.
Zuletzt soll er altersschwach auf einer Liege unter die Gläubigen von Ephesus hineingetragen und bestaunt worden sein wie ein Relikt, .., ein Relikt aus dem Morgenrot der Erlösung, das unermüdlich – mechanisch? inspiriert? - immer nur den einen Satz wiederholte: „Meine teuren Kinder, liebt euch untereinander!“[iv]
Irgendwann bevor es so weit war, hat er den kleinen Zettel für uns verfasst, … das schlicht wirkende und dabei so unüberbietbare Lied vom Bleibenden, … das zweiteilige Bild der zu Einem versöhnten Wirklichkeit: Wenn wir Gott kennen und Ihm verbunden sind und aus Seiner Vergebung leben, dann werden wir den Bösen überwinden. Dann wird alles gut sein.
Und das stimmt.
Das ist das Ganze.
Nichts anderes und gar nichts mehr brauchen wir im Verfall und im Zerfall und im Zufall dieser Zeit.
Nur dieses, … kurz, … eindringlich, … immer und ewig gültig. ——
Darum gebe Gott, dass wir das - und nur das - halten und behalten, was immer sonst wir auch vergessen und aufgeben werden.
Gott mache in solchem einfachen Glauben unser Ende wie unsern Anfang, … Er mache in Seiner Gnade aus diesem Glauben unsere Schwäche wie unsere Kraft.
Er lasse uns hellwach und todmüde bei diesem Einen bleiben. Von Kindesbeinen bis ins Alter: Ihn zu erkennen und in Ihm den Frieden zu haben, der das Leben ist.
Amen.
[i] https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Videos/2023-some/231101-israel-und-antisemitismus/video.html
[ii] So Jürgen Kaube unter der Überschrift „Kein Mitgefühl mit den Tätern“ in der FAZ vom 02.11.2023 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/robert-habeck-warum-seine-videobotschaft-neue-massstaebe-setzt-19286643.html
[iii] https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/2020-2029/salman-rushdie
[iv] Diese im Galater-Kommentar des Hieronymus bezeugte Erinnerung an den altersschwachen Lieblingsjünger ist im katholischen Stundenbuch sogar die sechste der liturgischen Lesungen zur Matutin am Tag des Evangelisten, dem 27.Dezember … sie hat also offizielle Dignität als Gegenstand der Meditation. Der entsprechende Passus lautet im Original (zitiert nach Breviarium Romanum ex decreto SS.Conciliii Tridentini restitutum usw.– Pars Hiemalis, Regensburg 1954, S.352): „Beatus Joannes Evangelista … nec posset in plura vocem verba contexere; nihil aliud per singulas solebat proferre collectas, nisi hoc: Filioli, diligite alterutrum.“ Und als es den Hörenden schlicht zu viel wurde, beharrte er trotzdem darauf: „Tandem discipuli et fratres, qui aderant, tædio affecti quod eadem semper audirent, dixerunt: Magister, quare semper hoc loqueris? Qui respondit Joanne sententiam: Quia præceptum Domini est; et, si solum fiat, sufficit.”
Reformationstag, 31.10.2023, Stadtkirche, Matthäus 5, 1 - 12, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reformationstag[i] - 31.X.2023
Matthäus 5, 1-12
Liebe Gemeinde!
Zwei Buchstaben will ich heute abklopfen ……., nicht mehr als nur zwei Buchstaben: Aber solche, die es schwer haben und wirklich nicht in die Zeit passen.
Unsere Zeit war sich vor Kurzem noch sicher, sie sei eine Zeit „post“: „Postmodern“ nannte sie sich ja mit Vorliebe vor einem Vierteljahrhundert, denn der Postkommunismus war doch eingetreten und die westliche Welt dachte postnational und die glitzernden Möglichkeiten der Digitalisierung ließen postindustrielle Wirtschaftsmodelle ahnen und man stellte sich auf eine vielleicht sogar postmaterialistische Kultur ein, in der vieles virtuell und manches auch einfach überflüssig werden würde.
Der große Traum von all diesem befreienden Danach ist geplatzt. Übriggeblieben ist dabei eigentlich bloß eine posttraumatische Zeit, die viele Schocks und viel Vergiftung ihrer Vergangenheit erst jetzt bemerkt und von therapeutisch bis brachial auf jeden Fall loswerden will. Manches von diesem Abschütteln und Abtun der Vergangenheit(en) schmückt sich zwar noch mit der einst verheißungsvollen Vorsilbe – besonders der „Postkolonialismus“ und die post-patriarchale Welt der unzähligen Rollen-, Geschlechts- und Lebensentwürfe –, aber im Wesentlichen ist alles Alte und Gewesene so in Acht und Bann getan, dass man seiner kaum noch bewusst gedenkt, ihm nichts dankt und dieses alles – die Welt, aus der wir kommen, die Wurzeln, die uns tragen – schlicht mit Schweigen und von Jahr zu Jahr zunehmender Ignoranz dem Orkus überantwortet.
Wenn irgendetwas uns Heutige noch ausmacht, dann jedenfalls nicht das, was früher war – wir sehen uns nicht mehr als „post“! –, sondern etwas, das wir so tief abgestoßen, so vergraben haben, dass es völlig unter uns und unserer Würde ist: Wir sind weit darüber…. Wir sind also „meta“: „Willkommen im Metaversum.“ … Das ist die Welt, in der nichts wirklich Gewesenes mehr gilt und in der nichts als das Künstliche noch intelligent sein wird.
Wir spüren vielleicht, dass wir selbst dann also nur noch leer und unbefestigt sein können: Kein Woher, kein Wozu macht in der Welt über der wirklichen Geschichte und den menschlichen Grenzen dann ja noch den Menschen aus: Vielmehr wird er zur eindimensionalen Fläche, in der sich nichts ansammeln kann und nichts entsteht, weil sie bloß wie ein Bildschirm wiedergeben kann, was eine andere Instanz codiert und transmittiert. ——
Und da komme ich, … nein, da kommt dieser Tag, der auf einen kleinen Abendgottesdienst zusammengeschrumpft ist, mit den zwei Buchstaben daher, die ein ganzes provokantes Programm enthalten: Es handelt sich um die Vorsilbe, die den Ereignissen vor fünfhundert Jahren und den nach diesen Ereignissen benannten Kirchen ihre eigentliche Prägung gibt … auch wenn das kaum noch bedacht und noch seltener bejaht wird. Ich rede vom „R“ und vom „E“ – nicht als Bezeichnung der bummeligsten und reizlosesten Form der Fortbewegung, sondern als der klaren Absichtsvorgabe der wahrhaftig dynamischen Bewegung zur Wiederherstellung der Kirche vor fünfhundert Jahren.
Re-Formation sollte es sein: Eine Wieder-Formung, eine Wiederannäherung, eine Wiederherstellung, eine Wiederinstandsetzung der Kirche und ihres liturgischen und praktischen Lebens, ihres gemeinschaftlichen Ethos und v.a. ihres biblisch fundierten, christozentrischen und aus Herzens- und Gewissensfreiheit angenommenen Glaubens und Bekenntnisses.
Es sollte wieder gewollt und wieder gelebt, wieder verstanden und wieder gefeiert werden, was Gott in aller Frische und allem Ernst nicht nur einst, sondern immer zu sagen, zu verheißen, zu gebieten hat in Seinem Wort, das lebendig und scharf ist (vgl. Heb.4,12) und gnädig und menschennah (vgl.5.Mose 30,14), ja, das selber für uns Mensch geworden ist (vgl. Joh1,14). Und das Hören aufs Wort, das Hängen am Wort, das Trauen aufs teuerwerte Wort (vgl. 1.Tim1,15), das Festmachen daran, das Trotzen darauf und das Leben und Sterben in die Ewigkeit dieses Gotteswortes, dieses Jesus Christus hinein (vgl. Jes.40,8) … das sollte wieder tragender Grund und heilige Mitte, sakramentale Fülle und eschatologisches Ziel des Lebens der Kirche sein.
Die Idee, dass seit 1517 die Kirche andauernd beliebig anders gestaltet, ständig zeitgemäß, immer auf der nächsten Aufholjagd hinter Trend und Wahn her sein müsse, … dieses Zerrbild, dass mit Luther und Melanchthon, mit Bucer, Zwingli und Calvin ein unaufhaltsamer Neuerungsimperativ das Wesen des Protestantismus ausmache, ist ein fataler Irrtum.
Denn die zwei Buchstaben - „E“ und „R“ - funktionieren auch auf Deutsch: Eine ER-Neuerung ist nicht das Gleiche wie zwanghafte „Neuerungs“-Sucht. Er-Halten, Er-Holen, Er-Innern, Er-Klären und Er-Kennen bedeuten sämtlich eine Rückbeziehung, eine Re-Flektion. Sie haben alle mit der gemeinsamen Vorsilbe von Re-Formation und Re-Ligion zu tun: Rückbindung und Rückbesinnung sind es also, was wir heute feiern – nicht aus gewohnheitsseliger Nostalgie oder ewiggestrigem Traditionalismus, sondern weil niemand einen anderen Grund legen kann und darf, außer dem, der gelegt ist: Jesus Christus (1.Kor.3,11)!
Und damit sind wir nun wirklich am Grund, am Ursprung angekommen.
… Der uns heute ganz nah ist.
Es ist der heutige Predigttext, den wir bereits miteinander rezitiert haben, weil er kein bloßer Text, sondern eine Komposition ist – eine bewusst eindringliche Schöpfung fürs Gehör, fürs Gehirn und fürs Gefühl – … und das obendrein nach Art einer Deklaration, einer feierlich-öffentlichen Bekräftigung.
Dieser zu Sprache gewordene Akt, in dem sich eine Lebensgemeinschaft und deren Lebensform konstituieren, ist im doppelten Sinne Grund und Ursprung dessen, was wir heute feiern: Die Seligpreisungen sind seit mehr als einem Jahrtausend das Evangelium des Allerheiligentages, als dessen Vorabendfeier der Reformationstag historisch entstand und inhaltlich zu verstehen ist. Seit mehr als dreißig Generationen werden die Seligpreisungen also wirklich verstanden als Grund und Ursprung der „Gemeinschaft der Heiligen“, … der einen und ewigen Kirche, als deren lebendige Glieder hier und heute wir uns bekennen (vgl. Heidelberger Katechismus Fr.54 [EG S.1339]!).
Und zugleich sind die Seligpreisungen der unüberhörbar betonte und unvergesslich geformte Anfangsakkord der Botschaft Jesu im Neuen Testament, die biblische, die christologische Gründungsurkunde aller Jüngerschaft, allen evangeliumsgemäßen, allen evangelischen Lebens also.
Mit diesen drei mal drei Rufen der Ermutigung, des Zuspruchs, des Trostes, der klaren Maßstäbe, die in einem zehnten Jubelruf - dem Ruf des Himmelreiches - gipfeln, haben Jesus selbst und dann der Evangelist Matthäus und dann die Kirche, als sie das Neue Testament abschließend ordnete, eine ergreifende Parallele und bestärkende Echo-szene zum Ursprung des Volkes Israel und zu seinem Bund mit Gott geschaffen: Die Zehn Weisungen vom Sinai werden in ihrer prägnanten und universalen Gültigkeit ebenso prägnant und strahlend gespiegelt in den insgesamt zehn Lockrufen und Leitsätzen des nahegekommenen Himmelreiches, die auf dem Berg in Galiläa ergingen. ——
Wie aber ist die absichtliche und notwendige Parallele von Torah und Bergpredigt zu verstehen?
Die Zehn Worte der Heiligkeit, gegeben in Galiläa durch Christus, entsprechen den Zehn Worten der Gerechtigkeit, vermittelt durch Mose auf Sinai fundamental: Beide - Seligpreisungen und Dekalog - setzen von Gott her die Reflexe und Instinkte des Brutalismus und Egoismus außer Kraft, damit aber auch die Erfahrungen und Reaktionen der gottlosen, der widergöttlichen Menschennatur.
Das Menschentier ans sich will alles selber sehen, selber für sich sorgen, nach eigenem Gutdünken zum eigenen Nutzen handeln, es will sich selbst behaupten und verteidigen, es will seine eigenen Regeln und Ausnahmen davon bestimmen und es will nicht mehr oder weniger als das Eigene seiner Wünsche und Bedürfnisse durchsetzen.
Doch gegen die fixe Idee vom eigenen Urteil in Fragen von Gut und Böse stehen im Dekalog der heilige Name Gottes als Maßstab und in den Seligpreisungen die Reinheit des Herzens als Voraussetzung aller Erkenntnis.
Gegen die ängstliche Selbstsucht stehen der Segen der passiven Sabbatheiligung und die gepriesene Fähigkeit zum geistlichen Hunger nach der Gerechtigkeit Gottes.
Gegen die Beschränkung auf das Meinige heißt es am Sinai, dass uns der Neid seelisch mehr schadet, als materielle Güter uns je nützen können, und auf dem Berg hat der Herr die Menschen gerufen, sich selbst notfalls zu verlieren, wenn die Gerechtigkeit auf dem Spiel steht.
Gegen die Hybris der autonomen Gewalt steht auf den von Gott beschriebenen steinernen Tafeln die Einbindung jedes Menschen in eine väterliche und mütterliche Ordnung und die Lehre der Friedfertigen.
Gegen die Rache stehen das Tötungsverbot und die Seligpreisung der Opfer, die Leid tragen müssen und können.
Gegen die ungezügelte Ökonomie der Begierde und Befriedigung stehen der Schutz der Ehe und die Ethik der Barmherzigkeit.
Gegen die Schamlosigkeit der teuflischen Lügentendenz richtet sich das Verbot des falschen Zeugnisses und wirkt die Verheißung unserer Gemeinschaft mit dem Geschick der Propheten und aller anderen Wahrheitszeugen.
Gegen all unsere Verführbarkeit stärken das Bilderverbot und der Jubelruf über die unvorstellbare Erwartung des Himmelreichs, die wir uns nicht verdienen müssen, die uns aber auch niemand nehmen kann.
Gegen die menschliche Perversion, alles wie selbstverständlich bloß auf sich zu beziehen, richtet sich das Raubverbot und der Glückwunsch an die Sanftmütigen, die Demütigen, die sich nicht zwanghaft stets an erster oder zweiter Stelle wähnen, weil sie in gelassener Niedrigkeit die Nähe und Treue des wirklichen Segens erfahren.
Und allen Götzendienst – am Ich, an der Macht, an der Angst – macht das strahlende Erste Gebot überflüssig: Dass Er, der Lebendige unser Gott ist, Der Israel und allen Versklavten Freiheit eröffnet. … Wer braucht da noch die vielen, die fremden, die selbstgemachten Götzen oder die Selbstvergötzung? - „Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich“! ——
Das ist die Magna Charta, das Grundrecht, die Lebensordnung im Bund mit Gott, die am Sinai und in der Bergpredigt der Welt verkündet werden.
Dieses Gottesrecht, diese Heiligkeitsethik sind nun aber wahrhaftig weder unerfüllbar und abstrakt, noch Ausdruck einer übersteigerten, elitären Werkgerechtigkeit – wie ein höchst problematisches, geradezu verhängnisvolles Interpretationsmuster der Reformatoren es zu verstehen gab –, sondern sie sind lebensfördernd, ja lebensnotwendig!
… Das zeigt der Blick auf unsere Zeit schmerzhaft direkt:
Wenn wir die Gebote Gottes, wenn wir die in seiner Nachfolge uns aufgetragene heilige und heilende Gerechtigkeit der Königsherrschaft Jesu Christi nicht üben, dann vergeht die Kirche und mit ihr die Welt in den Kämpfen, in den sadistischen Strudeln der Sünde, die so urwüchsig und allgegenwärtig gerade einen Dammbruch nach dem andern anrichten und wie eine Sintflut aus Kriegen, Naturzerstörung, sozialer Triebtäterei und unkontrollierbaren Katastrophen unsere Gegenwart durcheinanderwirbeln.
Wir müssen und wir dürfen also wirklich wieder zurück … zurück, zurück zum Wort, zum Gebot und zur Verheißung Gottes!
Das ist die Re-Formation, die Wieder-Herstellung, die Er-Neuerung, die damals gewollt und heute geboten ist und die nie abgeschlossen, nie beendet sein wird.
Revitalisierung der Ethik aus dem Glauben, Reorientierung unseres gesamten Lebens, Rekonvaleszenz für die bedrohten Abwehrkräfte der Menschlichkeit, Rehabilitierung der Heiligung, Rekonstruktion des konturlosen Christentums, Resozialisierung im Zeitalter der individualistischen Atomisierung: Das ist das Wesen des Reformationstags, wenn wir ihn auf dem Grund der Lehre Christi und aus dem Heiligen Gründungsgeist seiner Bergpredigt für die, die ihm nachfolgen wollen, verstehen und begehen.
Und darum – weil wir diesen Bund vom Sinai, diesen Bund der Seligpreisungen erneuern und wieder bekräftigen dürfen und sollten – , schlage ich vor, dass wir an diesem Reformationstag die sinnvolle Sitte der Methodisten aufgreifen:
Deren Gründer, John Wesley sah vor, dass alle Getauften einmal im Jahr in feierlicher Gemeinschaft ihren Bund des Glaubens mit Gott neuerlich bestätigen, ihn reaffirmieren sollten.
…….
Wer von uns das als den Weg und die Sendung seines evangelischen Glaubens innerhalb der heiligen christlichen Kirche erkennt und sich dabei den überlieferten Worten der methodistischen Glaubenserneuerung[ii] anschließen kann, den bitte ich, mit mir am Fest unserer Rückbindung an Gottes Wort in Jesus Christus diese – mit Reflektion – zu sprechen:
Ich gehöre nicht mehr mir, sondern dir.
Stelle mich, wohin du willst.
Geselle mich, zu wem du willst.
Lass mich wirken, lass mich dulden.
Brauche mich für dich, oder stelle mich für dich beiseite.
Erhöhe mich für dich, erniedrige mich für dich.
Lass mich erfüllt sein, lass mich leer sein.
Lass mich alles haben, lass mich nichts haben.
In freier Entscheidung und von ganzem Herzen überlasse ich alles deinem Willen und Wohlgefallen.
Herrlicher und erhabener Gott,
Vater, Sohn und Heiliger Geist:
Du bist mein, und ich bin dein.
So soll es sein.
Bestätige im Himmel den Bund,
den ich jetzt auf Erden erneuert habe.
Amen.
[i] Die Überschrift vom „Bundeserneuerungsfest“ spielt auf eine in Deutschland seit dem 19.Jhdt. beliebte, aber nie endgültig belgebare Hypothese in der alttestamentlichen Wissenschaft an. Viele Forscher waren überzeugt, ganz unterschiedlichen alttestamentlichen Texten als sinnigsten und schlüssigsten Sitz im Leben ein „Bundeserneuerungsfest“ der altisraelitischen Kultusgemeinde zuordnen zu sollen … für das leider biblische Beweise fehlen. Dass die Hypothese einem echten menschlichen Bedürfnis und einer liturgischen Leerstelle entspricht, zeigen die unterschiedliche, aber fest etablierten und teilweise ehrwürdigen Riten, die es zumal in den Kirchen gibt, die feierliche Taufgedächtnisse, Jubiläen von Weihen, Ordinationen, Konfirmationen und andere Feste der Vergewisserung und Bekräftigung eines Bekenntnisses oder einer Beauftragung hervorgebracht hat. Eines davon wird im Laufe der Predigt noch zur Geltung kommen.
[ii] https://emk-gottesdienst.org/besondere-zeiten/2023/01/04/bundeserneuerung/
21.Sonntag n.Trinitatis, 29.10.2023, Stadtkirche, 1.Mose 13, 1 -1 2, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 21.n.Trin. - 29.X.2023
1.Mose 13, 1 - 12
Liebe Gemeinde!
Was steht uns noch bevor in diesem mörderischen 2023? In diesem Jahr, in dem Grauen auf Grauen folgt, …Grauen mit Grauen beantwortet wird. …
Was kommt noch? …
Nur zweierlei wissen wir gewiss: Der Jüngste Tag kommt bald, … und der Messias …….
Denn beides bringen uns die letzten Wochen dieses Jahres noch: Den Ewigkeitssonntag und das Weihnachtsfest.
… Und beide braucht die Welt so sehr: Das Gericht …, … das Heil.
Das Böse wütet; das Unheil ist beherrschend.
… Es ist keine Floskel mehr, kein Spiel mit staubigen alten Worten, wenn wir tatsächlich sagen müssen: Das Ende und die Erlösung sind unsre ganze Hoffnung.
Würde alles nur weiter so gehen - so sehr das Gewohnheitstier in uns sich das auch wünscht -, würde Grauen immer weiter auf Grauen folgen, wäre die Menschheit verloren.
Das ist älteste christliche Verkündigung. Es ist die täuferische Johannesstimme am Anfang des Neuen Testaments – „Tut Buße vor dem kommenden Zorn!“ (vgl. Matth.3) –, und es ist die prophetische Johannesstimme an seinem Schluss, in der Apokalypse: „Amen! Komm’, … komm’ doch endlich, Herr Jesus!“ (Offenb.22, 20)
Ohne den Richter, der da kommt, … ohne den Heiland, der da kommt, sind wir alle verloren.
Und nun sind sie uns beide so nah, … noch in diesem Jahr: Der Sonntag vom Endgericht und der Sonntag der Heiligen Nacht, in der der Erlöser kommen wird.
Aber wie lang sind diese vier, diese acht Wochen auch noch!
So lang wie die zwei, die dreieinhalb Jahrtausende seit wir warten. Seit die Kinder Abrahams warten auf den Messias; seit die Juden- und die Heidenchristen warten auf die Wiederkehr des Herrn, dessen Weltgericht in der Krippe anfing, am Kreuz vollstreckt wurde und an dem Tag bestätigt wird, wenn die einen nach links und die andern nach rechts gehen … je nachdem, ob sie einfach und ohne Einschränkung lieben konnten oder ob sie nur nach ihren eigenen, besonderen Vorstellungen vom Guten leben und lieben wollten (vgl. Matth.25). ——
Wir warten obwohl und wir warten, weil die Erde zittert … zittert vor Empörung über den Terror, zittert unter dem horrenden Beschuss der Gegenwehr….
Unter Abrahams Füßen zittert sie.
Die Erde zittert unter den Füßen Abrahams auf dem ersten seiner vielen Umwege zum Verheißenen, auf dem ersten der vielen Rückwege dieses Erzvaters und seiner unzähligen späteren Nachkommen aus dem Land Ägypten, … unter Abrahams Füßen in der Richtung des späteren Exodus zittert die Erde.
Der Weg führt ihn ja durch den Gaza-Streifen, den der Bericht in unserm Predigttext „das Südland“ nennt. Durch die unvorstellbaren Bilder der trost- und ausweglosen Not, die die Gefangenen und Eingekesselten erleiden.
Abraham – der Tag Jesu vorhersah und sich freute (vgl. Joh.8,56!) – … Abraham mag wohl auch die Tage von Gaza in 2023 vorhergesehen haben. … Und gezittert.
… Unter seinen Füßen mag er die Tunnel gespürt haben, in denen die Auslöschung seiner Kinder, der Kinder Israel geplant wurde wie einst am Wannsee in Berlin. Er mag die Beklemmung und Todesangst seiner Nachkommen aus den unterirdischen Gängen und Verstecken heraufsteigen gespürt haben: Der Geiseln der Hamas, die da seit drei Wochen im Reich des Todes Faustpfänder der Mörder sind.
Wer will es ausschließen, dass Abraham damals schon mit Segens- und mit Todesahnungen jenen Weg ging?
Wer will es ausschließen, dass er zitterte, weil er auch den Hass und die Gnadenlosigkeit spürte, die seinen anderen Nachkommen, denen von Ismael, den arabischen Opfern des Würgegriffs und der Tücke der Hamas zum Verhängnis werden würde?
Wer kann es ausschließen, dass er heute zittert, in der Herrlichkeit, … und in seinem Schoß zittert der arme Lazarus (vgl. Lk.16, 23) und alle, die dorthin gelangt sind, zittern mit …
Und Rahel weint um ihre Kinder (vgl. Jer. 31,15 / Matth.2,18) – deren Schicksal sie ja auch zu Lebzeiten nicht verfolgen konnte –, und Maria, die Tochter Zions und Trösterin im Leid aller Menschen zittert mit, wenn so viele Kinder, so viele Menschenkinder das Grauen erleben, das sie als fliehende Mutter und Zeugin von Golgatha in ihren Knochen, in ihrem Leib und ihrer Seele in Ewigkeit nicht abschütteln kann. …….
Zittern und Zagen wie in der Endzeit, … Zittern und Zagen wie heute …, Zittern und Zagen womöglich auch schon in der Frühzeit, als der Vater der Gläubigen, der Vater der unruhigen Suche nach dem verheißenen Erbteil der Ruhe, die noch vorhanden ist dem Volk Gottes (vgl. Hebr. 4,9 [+11,8ff]), aufbrach.
Auch auf dem weiteren Weg Abrahams hinauf zum Altar zwischen Bethel und Ai führt die Strecke durch Orte, die heute schrecklich sind:
… Wohl denkbar, dass auch da sein Schritt zögert und zittert, wo einst mehr als dreitausend Jahre später hunderte junge Leute nach einer heißen Nacht unbeschwerten Tanzes kalt massakriert wurden. Denkbar, dass Abraham stockte in der Gegend von Dörfern, wo man in diesem Monat des Jahres 2023 Eltern unter den irren Blicken der Kinder geschlachtet und geschändet hat und tapfere Friedensaktivisten verstümmelte und verschleppte; …. Denkbar, dass Abraham bebte in den Gebieten, in denen man Kleine, deren Urgroßeltern in Auschwitz vergast und verbrannt wurden, in ihren eigenen Kinderbettchen anzündete und ferne Familien durch einen Anruf, eine Nachricht in den sozialen Medien zu Augenzeugen in Echtzeit machte, wie die Großmutter in ihren eigenen vier Wänden gefoltert, gequält und bestialisch ermordet wurde.
… O, das Zittern Abrahams!
… O, die Angst, das Bangen Sarahs!
… O, die Schauder, die jedem kommen, der heute im Geist den Weg durch Gaza und die Wüste Negev nachvollzieht: Durch den am dichtesten besiedelten und grauenvoll ausweglosen Streifen des palästinensischen Leidens und durch die Kibbutzim, in denen die israelischen, die jüdischen, die biblisch-en Hoffnungsträume vom sicheren Überleben und von der Möglichkeit, die eigene Zukunft mit der Versöhnung mit anderen zu verbinden, blutrünstig durch die Hamas vernichtet werden sollten.
…. Zittern und Zagen vor dem Gericht. … Und vorm Heil. Die uns beide bevorstehen. ——
Aber vielleicht zittert Abraham auch gar nicht.
Vielleicht erkennt er bloß etwas auf dem Weg in die Zukunft. Erkennt etwas … nüchtern und enttäuscht vielleicht, aber auch realistisch. …
… Vielleicht erkennt er auch im Blick auf das Furchtbare, das sich leibhaftig vor unseren, nicht seinen Augen abspielt, realistisch nüchtern und gläubig enttäuscht schlicht das, was der biblische Bericht von den engzusammengehörigen Bluts- und Schicksalsverwandten Abram und Lot[i] ganz nüchtern festhält: „Das Land konnte es nicht ertragen, dass sie beieinander wohnten.“
Was für ein sonderbarer Weg in die Verheißung ist das: Ein Weg, der eben nicht glatt wie in der Legende und mühelos wie in der Phantasie verläuft, sondern an dessen Beginn schon Konflikt steht, … Konflikt, so wie Albert Schweitzer alles natürliche Dasein beschrieb und die Bibel auch die Geschichte des Glaubens, der Verheißung und des Heils: Was in dieser Welt existiert und seinen Ort sucht, seine Bestimmung, sein Ziel, das ist alles „Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“.
Wenn aber auch nur eine dieser Lebensäußerungen verneint wird, …. wenn einer der Lebenshirten der Herde des andern ihre grüne Aue, ihr frisches Wasser verwehrt, wenn nur einer aus der einen Herde Mangel für die Herde des anderen Hirten herbeiführt, dann ist die Stunde des Richtens gekommen, … die Stunde, in der die Richtungen sich ändern müssen.
Denn das ist das Gericht: Dass Wege, die unversöhnlich sind, auseinandergehen und Bahnen klar getrennt werden, die sich im parallelen Verlauf nur gegenseitig Hindernisse bereiten. …
Im Fall von Abram und Lot – der beiden ersten Siedler, die auf Gottes Geheiß hin in das durchaus bewohnte, durchaus konfliktträchtige Land der Kanaaniter und Perisiter zogen – ist dieses ernüchternde, dieses menschlich enttäuschende, aber auch lebenskluge Gericht zum ersten Mal vollzogen worden: Richtungen, die sich nicht vereinbaren lassen, müssen so gelenkt werden, dass sie einen Abstand voneinander gewinnen, der ihrem jeweiligen Verlauf Freiheit gewährt.
Trennung, Scheidung, Teilung sind also Zugeständnisse an das, was die Reformatoren den „alten Adam“, den in der unerlösten Welt vorfindlichen Menschen nannten, der von Natur aus nicht – wie wir’s im Evangelium hörten (vgl. Matth.5,38ff) – die linke Wange darbieten kann und wird, wenn er auf die rechte schon geschlagen wurde.
Nun leben wir in Tagen, in denen die schreckliche Not dieses alten, dieses realen Adam vor aller Augen steht: Zeiten, in denen das passive Erdulden und wehrlose Hinnehmen von Unrecht und Gewalt Dritten nicht gepredigt werden kann, ohne dass die Predigenden, die nicht zur Praxis ihrer eigenen Predigt gezwungen werden, sich schuldig machten. … 2023 ist wahrhaftig kein Jahr der Bergpredigt, sondern ein Jahr des Gerichtes. ———
Nun ist aber also der erste Landkonflikt der Bibel, das erste Gericht über Wege und Ziele, die unvereinbar sind, durch und durch von der großen menschlichen Nüchternheit geprägt, die Abraham nach seiner Wanderung nordwärts durch den Gazastreifen überkam: Wenn denn das Land das Zusammenwohnen nicht verträgt, weil die Menschen es nicht vertragen, dann hilft’s nur, dass sich die Wege teilen – zur Linken der eine, der andere zur Rechten.
Diese Realpolitik aber setzt voraus, dass es eine Wahl zwischen rechts und links gibt (vgl. Jona 4,11). Da Israel indes keine Wahl hat, zu verschwinden und seine Zelte jenseits des Horizontes aufzuschlagen - weil die Welt ihm mehr als zweitausend Jahre lang bewiesen hat, dass es nirgends sonst Schutz und Heimat finden kann –, müssen wir die großmütige und zugleich gelassen-resignative Geste Abrahams bei der Weideteilung mit seinem Neffen Lot ohne Zweifel heute als einen Wink verstehen, dass sich - realpolitisch gesprochen - schon in der Weisheit der stocknüchternen Erzvätergeschichte so etwas wie der Segen einer Zwei-Staaten-Lösung andeutet.
Der angesichts der Greuel von Gaza zitternde Abraham steht uns daher nun als der seufzende Vater einer verzichtbereiten, einer nachgebenden und sich begnügenden Verheißungstreue vor Augen: Er wird das Verheißene nicht durch seinen festgehaltenen Anspruch darauf, sondern durch seine heilige Haltung des Hergebens erlangen.
Möge dieser Geist des Vaters heute nicht das durch tödliche Bedrohung herausgeforderte Volk seiner Kinder verlassen! ——
Mehr als so zu beten – mit letztem Ernst, mit dem Ernst der letzten Zeit! –, können wir in diesen Tagen für Israel, das Volk der Verheißung nicht tun. ——
Uns bleibt nun aber nur noch Eines in unserm Warten auf das große heilbringende Richten und das richtige Heilen der Welt.
Als Abraham zwischen Bethel und Ai stand und Lot zur Linken oder zur Rechten wählen ließ, streifte sein Blick auch die Bergzüge südlich seines Standortes. Dort auf dem Gebirge lag vor ihm die Stadt Salem, deren geheimnisvollen Priester Melchisedek Abraham bald kennen lernen würde, als der ihn mit Brot und Wein und Segen versah (vgl. 1.Mose14,18f).
Und dorthin – in die Stadt von Brot und Wein, in der einst der Sohn Abrahams (vgl. Mtth.1,1) für mich und für Dich gekreuzigt wurde, der in der Bergpredigt den Gewalt- und Besitz- und Rechtsverzicht des Urvaters Israels uns bis zur Feindesliebe aufgetragen hat, wie er sie für die ganze Menschheit übte – … dorthin, nach Salem, nach Jerusalem müssen wir jetzt noch blicken!
Denn da entscheidet sich unser Rechts oder Links.
Die Kinder Abrahams erwarten ja alle das Gericht und die Vollendung: Juden wie Christen, … aber auch die Muslime.
Nun sind die Kinder der Verheißung, Abrahams Nachkommen durch Isaak und Jakob - das jüdische Volk - und die Kinder Abrahams durch Ismael - muslimische und christliche Araber - in einem grauenvollen Albtraum verstrickt.
Und was können wir da jetzt tun?
Wie können wir rechts oder links wählen?
- Unmöglich können wir Israel, das mit fürchterlicher Gewalt ums nackte Überleben kämpft, verurteilen oder verlassen.
- Unmöglich aber auch, dass wir die, die begeistert den Mord an so vielen Unschuldigen in Israel feierten und die nun selber zu Opfern der grausamen Reaktion auf die grausame Aktion werden, vergessen oder verleugnen.
Wir können die Liebe zu Israel und das Mitleid mit den Menschen von Gaza also nicht in einer Alternative fassen!
Wir können unter den Augen Abrahams – des Zitterenden und Enttäuschten, des Mitleidenden und Opfernden – nur nach Jerusalem schauen, wo Der liebte und litt, wo Der starb und auferweckt wurde, Der von Jerusalem aus zu Gott zurückkehrte, um einst zu dieser Welt zurückzukehren und allen Völkern der Erde endlich den Frieden zu bringen.
Wie am Anfang des Evangeliums können wir mit Simeon und Hanna nur auf den Trost Israels (vgl. Lk.2,25) und die Erlösung Jerusalems (vgl. Lk.2,38) warten, und wie am Schluß des Evangeliums (vgl. Lk.24,53) können wir Dem, Der allein Richter und Heiland sein wird, nur nach- und also Seiner Zukunft entgegenschauen und dann „mit großer Freude nach Jerusalem zurückkehren“.
Nicht rechts oder links, sondern die Verheißung wählen wir: Dass seit grauer Vorzeit dort im Gebirge Juda eine Stadt liegt - und auch im Himmel ist (vgl. Offb. 21!) - , die „Frieden“ heißt und ist, und in der man zusammenkommen soll (vgl. Ps.122,3), weil der HERR in ihr ist (vgl.Ps.46,6)!
Amen.
[i] Die im biblischen Text an dieser Stelle noch defektive Schreibweise des Namens ist im Gesamt der Predigt überwiegend zugunsten der vertrauten Langform (die dann ja „Vater der Barmherzigkeit“ und nicht mehr „erhabener Vater“ bedeutet) zurückgestellt worden: An dieser Stelle aber geht es sozusagen um den „historischen“ Ursprung der Überlieferung, weshalb hier die textgemäße Namensform Verwendung findet.
20.S.n.Tr., 22.10.2023, Predigtmeditationen "Mystikerinnen", Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
"Mystikerinnen in Vergangenheit und Gegenwart – Ermutigung und Inspiration für uns heute“
Meditation Teil 1
Liebe Schwestern und Brüder, gestern haben wir hier den Mirjamsonntag nachgefeiert – mit Begegnung, Austausch und einem Gottesdienst. Das Thema in diesem Jahr lautete „Visionärinnen gestern und heute“.
Ein spannendes, wenn auch nicht leichtes Thema, dem wir uns in unserem ökumenischen Weltgebetstagsteam gestellt haben. Visionärinnen, Frauen mit Visionen, Frauen, die Visionen haben. Allein schon das Wort „Vision“ löst bei manchen Unbehagen aus. Helmut Schmidt, der nüchtern-pragmatische Hanseat, empfahl Menschen mit Visionen den Aufenthalt in der Psychiatrie. Vielleicht lag das auch an seinen protestantischen Genen. Gerade in den Kirchen der Reformation tut man sich bis heute schwer mit Visionärinnen und Visionären und verortet sie lieber in der katholischen Kirche: wie Hildegard von Bingen, Theresa von Avila, Mechthild von Magdeburg.
Dabei gibt es in der Bibel gar nicht wenige Erzählungen, Berichte von Visionen; allerdings sind es dort Männer, die Visionen haben, die Propheten wie Jesaja, Hesekiel und Daniel in der hebräischen Bibel und die Apostel Paulus und Petrus und der Seher Johannes in der griechischen Bibel. Sie schauen Dinge, die das physische Auge gar nicht sehen kann.
Sie haben weder Cannabis konsumiert, noch sind sie auf einem LSD-Trip oder haben zu tief ins Glas geschaut. Auslöser ihrer Visionen ist vielmehr der Geist Gottes, der Ruach Elohim. Petrus zitiert den Propheten Joel, um das Geschehen am Pfingsttag den irritierten Jerusalemer Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln, und der Apostel Paulus beschreibt das Wirken des Geistes in seinem Brief an die Korinther.
Hören wir die Lesungen aus Joel und dem 1.Korintherbrief: Lesung Joel 3,1-3a und 1.Kor.12,6-11
Schola „Schaue hindurch“
1.Schaue hindurch, was immer du siehst,
schaue hindurch mit deinem Herzensauge.
2.Lausche hindurch, was immer du hörst,
lausche hindurch mit deinem Herzensohr.
Meditation Teil 2
Hindurchschauen und hindurch hören, mit dem Herzensauge und dem Herzensohr wahrnehmen, was uns begegnet. Was der Geist uns schauen lässt, lässt sich nicht digitalisiert festhalten. Es geht vielmehr um die „Festplatte“ unseres Herzens. In ihm soll gespeichert und weiterverarbeitet werden, was wahrgenommen wurde.
Menschen, die vom Geist Gottes berührt werden, sich haben berühren lassen, das sind die Mystikerinnen und Mystiker. Sie sind Menschen, die nicht einfach etwas über Gott gelernt haben, sondern sie haben Gott erfahren, haben mit ihm eine Erfahrung gemacht, haben ihn erlebt – als Kraft und Wirklichkeit, die sie auf ganz unterschiedliche Weise berührt und inspiriert hat. Prophetinnen und Propheten sind alle Mystikerinnen und Mystiker. Sie sagen nicht die Zukunft voraus, sondern sie schauen und hören hindurch, der Geist Gottes macht sie hellsichtig für die Konsequenzen, die sich aus dem gegenwärtigen Tun und Lassen ergeben.
Visionärinnen und Visionäre sind keine Spinnerinnen und Phantasten, sondern ihnen leuchten Bilder auf, die Hoffnung vermitteln wollen. Die ermutigen wollen, sich den Herausforderungen der Zeit zu stellen, Widerstand zu leisten, wo es um des Lebens willen nötig ist und keine Schwierigkeiten zu scheuen. Die ermutigen wollen, umzukehren, einen besseren Weg einzuschlagen, einen Weg, der dem Lebenswillen Gottes für seine ganze Schöpfung entspricht. Dabei sind sie selbstverständlich an die Vorstellungswelten ihrer Zeit gebunden. Die klassischen Fortbewegungsmittel der biblischen Zeiten waren Pferd und Wagen – und so sieht ein Hesekiel Gottes Thronwagen aus Jerusalem fortrollen und dem Seher Johannes erscheinen Reiter mit Schwertern und Lanzen.
Was allen Mystikerinnen und Mystikern durch die Zeiten gemeinsam ist: sie sind Menschen, die nicht nur mit beiden Beinen auf der Erde stehen, sie sind nicht nur Kinder der Erde, sondern auch Kinder Gottes. Sie haben einen Draht nach oben. Sie wissen: das Leben ist oft schwer, er verlangt einem oft viel ab. Erschöpfung droht. Wie gut, dass man da seinen seelischen Akku immer wieder aufladen kann – an der Quelle des Lebens, die Gott ist; dass man sich ausruhen kann - in Gottes Liebe.
Schola „Höre den Herzschlag des Himmels“
„Höre den Herzschlag des Himmels klingen in deinem Herzen. Spüre den Herzschlag der Erde pochen in deinem Sein.“
Meditation Teil 3
Es sind gerade Frauen gewesen, die im Mittelalter eigene lebendige Erfahrungen mit Gott gemacht haben. Ihr Glaube war nicht darauf beschränkt, die von der Kirche verkündeten Dogmen und Lehren nachzusprechen. Sie fielen in mancherlei Hinsicht aus der Rolle, die Frauen damals zugewiesen war: sie schwiegen nicht, sondern ergriffen das Wort, sie beugten sich nicht unter die Vorherrschaft des Mannes, sondern sie bewegten sich frei und aufrecht auf ihren eigenen Wegen. Dazu brauchte es damals sehr viel Mut. In vielen Ländern und Regionen braucht es das heute leider immer noch.
Ich denke, es war die Sehnsucht nach einem selbständigen, eigenverantwortlichen Leben, die diese Frauen dazu brachte, in sich hineinzuhören und sie ermutigte, sich von Gott im Innern berühren zu lassen. Mehr auf ihn zu hören als auf die Reden der Kirchenmänner ihrer Zeit. Und Mut brauchten sie dazu, denn die offizielle Kirche witterte überall den Angriff teuflischer Mächte. Die Inquisition war immer auf dem Sprung, gerade wenn Frauen es wagten, ihre Stimme in Sachen Glauben zu erheben. Wer von seinen visionären Erlebnissen erzählte oder gar deutlich machte, was in der Kirche nicht dem Willen Gottes entsprach, der stand immer schon mit einem Bein auf dem Scheiterhaufen. Männer und vor allen Dingen auch Frauen. Vor allen Dingen Frauen aus dem Kreis der Beginen, jener mittelalterlichen Lebensform, wo Frauen in Gemeinschaften zusammenlebten und -arbeiteten ohne männlichen Vormund – unverheiratet und auch nicht unter einer geistlichen männlichen Vormundschaft, wie es damals Nonnen in ihren Ordensgemeinschaften waren.
Mutig und konfliktbereit mussten Mystikerinnen immer sein, ob Begine, Ordensfrau oder Witwen aus dem Adel; genannt seien Clara von Assisi, Hildegard von Bingen, Elisabeth von Thüringen, Birgitta von Schweden, Mechthild von Magdeburg, Juliane von Norwich. Alle machten sie Erfahrungen mit Gott, erlebten seine Nähe, die ihnen Kraft und Mut gab, ihren ganz eigenen Lebensweg zu gehen, mit Konventionen zu brechen, prophetisch-kritisch die Stimme zu erheben und in neuer, bis dahin unerhörter Weise von Gott zu sprechen – auch da nicht losgelöst von den Sprachbildern ihrer Zeit.
Das Mittelalter war die Zeit der Troubadoure, der Minnesänger, die nicht nur mit ihren Liedern das höfische Leben prägten, sondern über die Bänkelsänger auch die Landbevölkerung. Die Troubadoure besangen die Liebe zu einer schönen Dame, eine Liebe, die unerfüllbar blieb.
Die Mystikerinnen, allen voran Mechthild von Magdeburg, besangen in ihren Dichtungen die Liebe zwischen Gott und der Seele, oder zwischen Jesus und der Seele. Eine Liebe, die sich für die Mystikerinnen erfüllte. In seiner Liebe, das war ihre Erkenntnis, ist Gott der nahe, seine Sehnsucht nach dem Menschen ist genauso groß wie die Sehnsucht des Menschen nach ihm.
Es ist interessant, dass in späteren Jahrhunderten Männer, Mystiker die Gedanken und Sprachbilder der Gottesminne aufnahmen und an die Überlegungen der mittelalterlichen Mystikerinnen anknüpften. Zum Beispiel Johann Scheffler, geb. 1624 in Breslau, der 1653 zur katholischen Kirche übertrat und unter dem Namen Angelus Silesius großen Einfluss auf die Lyrik und christliche Mystik im 17.Jahrhundert hatte. Dass wahre Mystik konfessionell nicht gebunden ist, das zeigt sich an einem seiner bedeutendsten Lieder, welches in unserem Gesangbuch unter der Nummer 400 zu finden ist und dessen 7.Strophe uns hier immer vor Augen ist – Gottesminne pur: „Ich will dich lieben, meine Krone, ich will dich lieben, meinen Gott, ich will dich lieben sonder Lohne auch in der allergrößten Not; ich will dich lieben, schönstes Licht, bis mir das Herze bricht.“
Neu von Gott gesprochen, das hat auch Juliane von Norwich, deren Texte Jean Janzen in dem Lied „Mothering God“ verarbeitet hat und das die Schola nun zum Klingen bringt.
Schola „Mothering God“
1.Gott, du bist wie eine Mutter.
Du hast mich geboren ins Licht der Welt.
Jedem Geschöpf gibst du den Atem.
Du bist mein Regen, mein Wind, meine Sonne.
2.Christus, du bist wie eine Mutter; du bist mir ähnlich.
Du nährst mich mit deinem Licht.
Du Brot des Lebens, du Saft und Kraft für meine Liebe.
Du gibst alles für meinen Frieden.
3.Heilige Geistkraft, du Mutter, du kümmerst dich um mich.
Du hältst mich fest in deinen Armen,
dass ich im Glauben Wurzeln schlage und wachse,
blühe und Gewissheit habe.
(Text: Jean Janzen, nach Texten der Juliane von Norwich 1343 – 1416)
Meditation Teil 4
Um Gottes Liebe und Zuwendung geht es den Mystikerinnen, um die Erfahrung seiner Nähe – und damit auch um die Erfahrung von Verbundensein und Einssein: Du in mir und ich in dir. So hat es auch Gerhard Tersteegen in seinem Lied „Gott ist gegenwärtig“ formuliert. Lukas lässt in seiner Apostelgeschichte den Apostel Paulus auf dem Areopag in Athen diesen zutiefst mystischen Satz sagen: „In ihm leben, weben und sind wir.“ Ein Satz übrigens, der auf einen nichtchristlicher Mystiker zurückgeht. Wahre Mystik ist auch nicht religionsgebunden. Der Geist Gottes weht nämlich, wo er will, nicht nur in christlichen Kontexten. Er sucht und fördert die Verbindung und das Einssein und Einswerden alles Geschaffenen mit seinem Schöpfer. Er sucht auch heute noch Menschen, die offen sind für ihn, die sich berühren lassen – in ihren Herzen, in ihrer Seele. Die bereit sind, von innen her ihr ganzes Leben neu auszurichten.
Ein Weg, berührbarer zu werden, ist, mit offenen Augen und Ohren die Schöpfung wahrzunehmen, sich für diese Begegnung Zeit und Ruhe zu nehmen (ohne Handy in der Hand, ohne Lautsprecherknöpfe in den Ohren). Einfach allein zu sein mit Gott in seiner Schöpfung, die nichts anderes als seine erste Offenbarung ist, seine erste Anrede an uns.
Ein beredtes und berührendes Zeugnis von solch mystischer Erfahrung findet sich in der Autobiographie der weltbekannten Verhaltensforscherin Jane Goodall, die eine der Visionärinnen war, mit der wir uns gestern beschäftigt haben.
Hören wir, was sie erlebt hat.
Es muss eine Stunde gedauert haben, bis das Zentrum des Gewitters nach Süden abzog und der Regen endlich nachließ. Um halb fünf kamen die Schimpansen herabgeklettert, und wir wanderten durch das triefnasse, tropfende Grün zum Berghang zurück. … Ich postierte mich an einer Stelle, von der aus ich zuschauen konnte, wie sie ihre letzte Tagesmahlzeit genossen. Der See unten in der Tiefe war noch immer dunkel und aufgewühlt, und da, wo sich die Wellen brachen, trug er weiße Schaumkronen; schwarze Regenwolken hingen im Süden. Gegen Norden war der Himmel schon klar, und nur ein paar graue Wolkenfetzen waren noch zu sehen. Der Anblick war atemberaubend schön. …In ehrfürchtiges Staunen über die Schönheit um mich herum versunken, muss ich in einen gesteigerten Bewusstseinszustand geraten sein. Es ist schwer – wenn nicht gar unmöglich - , den Augenblick der Wahrheit, den ich plötzlich erlebte, mit Worten zu beschreiben. Selbst die Mystiker finden keine Worte für die kurzen Momente spiritueller Verzückung. So kam es mir vor, als ich mir hinterher das Erlebnis noch einmal zu vergegenwärtigen versuchte: Mein Ich war nicht mehr da; die Schimpansen und ich, Erde, Bäume und Himmel schienen miteinander zu verschmelzen und eins zu werden mit der geistigen Kraft des Lebens selbst. Die Luft war erfüllt von einer Symphonie von Vogelstimmen, vom Abendgesang der gefiederten Schar. Ich nahm neue Klänge in ihrer Musik wahr. … Noch nie waren mir Form und Farbe der einzelnen Blätter so intensiv bewusst geworden. … Auch die Düfte waren deutlich zu unterscheiden: gärende, überreife Früchte; wasserdurchtränkte Erde … Der aromatische Duft junger zerdrückter Blätter war fast überwältigend stark. … Mir waren keine Engel erschienen oder andere himmlische Wesen, wie sie die Visionen großer Mystiker auszeichnen, aber dennoch glaube ich, dass es sich um eine wahre mystische Erfahrung gehandelt hat. …
Später, als ich an meinem kleinen Feuer saß und mir eine Mahlzeit zubereitete, war ich immer noch von Staunen über mein Erlebnis erfüllt. Ja, dachte ich, es gibt viele Fenster, durch die wir Menschen auf unserer Suche nach einem Sinn in der Welt hinausblicken können. Die Fenster, die die westliche Wissenschaft aufgeschlagen hat und deren Scheiben von einer Abfolge brillanter Köpfe blank geputzt worden sind. … Durch ein solches wissenschaftliches Fenster hatte ich gelernt, die Schimpansen zu beobachten. Über 25 Jahre lang habe ich mich bemüht, mir durch sorgfältige Aufzeichnungen und kritische Analysen Stück für Stück ein Bild ihres komplexen Sozialverhaltens zu machen und ihre Denkweise zu verstehen. … Aber es gibt noch andere Fenster, durch die wir Menschen unsere Umwelt betrachten können, Fenster, hinter denen die Mystiker und Heiligen des Ostens und die Begründer der großen Weltreligionen nach dem Sinn und Zweck unseres Erdenlebens suchten, in dieser Welt voll wundersamer Schönheit, voll Dunkelheit und Hässlichkeit. Diese Meister gaben sich der Kontemplation über die Wahrheit hin, die sie nicht nur mit ihrem Geist erfassten, sondern auch mit Herz und Seele. … An jenem Nachmittag war es so gewesen, als hätte eine unsichtbare Hand einen Vorhang beiseite gezogen, so dass ich für den Bruchteil eines Augenblicks durch ein solches Fenster schauen konnte. Durch einen blitzartigen „Ausblick“ hatte ich Zeitlosigkeit und stille Verzückung kennengelernt und eine Wahrheit gespürt, von der die akademische Wissenschaft nur ein winziger Splitter ist. Und ich wusste, dass mir diese Offenbarung mein Leben lang im tiefsten Innern erhalten bleiben würde, auch wenn ich sie nur unvollkommen in Erinnerung behielt, eine Kraftquelle, aus der ich schöpfen konnte, wenn das Leben mir einmal hart, grausam und ausweglos erschien.
Aus: Jane Goodall, Grund unserer Hoffnung. Autobiographie; 1999; S.222-226 i.A.
Jane Goodall ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass alle mystischen Erfahrungen und Gottesbegegnungen nicht Selbstzweck sind, sondern als Geschenk und Gabe begriffen und ergriffen werden wollen, die uns beauftragen, in die Welt hinein tätig zu werden, Nöte nicht nur zu sehen, sondern zu wenden und mit am Reich Gottes zu bauen und zu arbeiten – ohne Scheu, geduldig, gelassen und unbeirrt.
Amen.
16.So.n.Trin., 24.09.2023, Stadtkirche, Hebräer 10, 35f..39, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 16.n.Trin. - 24.IX.2023
Hebräer 10, 35 -39
Liebe Gemeinde!
Wer eine kräftige Holzkiste hat – so ’ne derbe alte Box fürs Schuhputzzeug, vielleicht auch eine schwere Kiste, in der man mit Stroh dazwischen, wie früher, ein Dutzend Flaschen Burgunder- oder Moselwein transportieren kann –, … wer also so ein richtiges Podest für den Einsatz direkt hinter Marbel Arch, in Speaker’s corner hat, der soll es nutzen: Draufsteigen, sich sammeln und räuspern oder einfach drauflos wettern. Mal ungefiltert vom Leder zieh’n! … Klartext, keine Schnörkel; Schnabel wie gewachsen, ohne Blatt vorm Mund: Das wäre dann gebetet! … Gott einmal die Meinung geigen. Alles ungeschminkt rauslassen. Sich keinen Zwang antun, weder für klug gelten wollen, noch das Missverstanden-Werden fürchten. … Das wäre Beten! Die ganze Liste der Fragen, den Frust, das Brennende und das eigentlich Unaussprechliche ausspucken, … keinen Besinnungsaufsatz verfassen, kein künstliches Gesumms und Geseier, sondern einfach ins Unreine gesprochene Unmittelbarkeit: Das hieße Gebet!
Schonungslose Direktheit.
… Bei John Henry Newman, dem anglikanischen Pfarrer, der zum verschrobensten und doch auch modernsten katholischen Kardinal wurde, den England je gehabt hat, ist diese Möglichkeit eines unmittelbaren, offenen Austauschs in seinem Wahlspruch immerhin dezent angedeutet: „cor ad cor loquitur“. „Das Herz spricht zum Herzen“: So erfuhr Newman die existentielle Kommunikation zwischen den Glaubenden und Gott. Eine ähnliche Gesprächsnähe bei Mose klingt noch deutlich handfester: „Der HERR aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet“ (2.Mose33,11). Und bei Hiob gar, da nimmt der Redewechsel zwischen Gott und Mensch schlicht die Form eines Boxkampfes an: „Siehe, ich bin zum Rechtsstreit gerüstet; … rufe, dann will ich dir antworten, oder ich will reden, dann antworte du mir!“ (Hiob13,18+22)
Rückhaltlose, hierarchiefreie Aussprache also. Was ein wenig wie der Seminarbetrieb der 60er Jahre anmutet, ist in Wirklichkeit ein Fundament, auf dem wir stehen … und mit dem wir gerade große Teile unserer Welt untergehen sehen.
In der griechischen Antike hieß diese Offenheit fürs Wort und im Wort: „Parrhesie“[i] – „Das Wort für alle; das Reden über alles“. In der athenischen Demokratie bedeutete die „Parrhesie“ das Recht jedes Vollbürgers auf Wortmeldung und Meinungsäußerung in der Ekklesia, der politischen Versammlung; in der Rhetorik bezeichnete „Parrhesie“ das Stilmittel der Offenherzigkeit und gewagten Zuspitzung; in der Komödie erlaubte sie die Schonungslosigkeit; in der Philosophie der Stoiker führte die „Parrhesie“ zur seelischen Schmerzlosigkeit durch Gewöhnung an unverblümte Kritik. Das Sprechen über alles, das allgemeine Recht aufs Wort ist also ein Grundpfeiler jener Freiheit – jener Rede- und Denk-, jener Gewissens- und politischen Freiheit, auf der das Abendland beruht.
Und dass es im Hyde Park in Speaker’s corner immer weniger kleine Trittleitern mit großen Oratoren gibt, ist kein Gewinn für eine Welt, in der die Wahrheit schwindet und mit ihr die Freiheit, weil das Lügen so wohlfeil geworden ist, seit man den Anderen beim Reden nicht mehr ins Gesicht blicken muss.
Trolle in ihren Fabriken, Hassende in ihrem Netz, Faktengaukler in ihren parallelen Universen können zwar alles Mögliche und Unmögliche behaupten, aber die „Parrhesie“ – die Rede, die es mit dem freien Fragen und Wagen und dem ehrlichen Sagen und Ertragen der Wahrheit vor dem offenen Forum aller versucht – … die „Parrhesie“ schmilzt wie die Polkappen dahin, während Fluten von trüber, fauler, verderbnisträchtiger Wortbrühe anschwellen und es immer unmöglicher werden lassen, dass das Herz zum Herzen, dass Menschen miteinander und mit Gott offen, unverstellt und ungeschützt reden können. ———
…. Hat er sich nicht im Predigttext vertan?, werden Sie sich inzwischen fragen. … Wie kommen wir auf die Redefreiheit, wenn es sich doch nach dem Gehörten aus dem Hebräerbrief um geduldige Zuversicht handeln müsste?
Das liegt daran, dass im Griechischen des Neuen Testaments der grundlegende und gewaltig produktive παρρησία-Begriff eine weitere, entscheidende Wandlung durchlaufen hat: Immer wieder hören wir, dass Jesus und nach ihm die Apostel öffentlich in „παρρησία“ sprechen, lehren, predigen (vgl. z.B. Mark.8,32; Joh.11,14 [im Evangelium dieses Sonntags!]; Apg.2,29; 4,13 u.ö.). Sie kennen keine Menschenfurcht, sondern ergreifen freimütig vor allen Hörenden das Wort; sie nehmen sich das Recht - und haben es! -, alles zu sagen, was zu sagen ist. Und in dieser angstfreien, öffentlichen, ungeschützten Vollmacht zur Botschaft und zum Gehört-Werden sind sie sie selber, wachsen sie über sich selbst hinaus und erfahren und bezeugen sie die reine Verbundenheit, die völlige Vereinigung mit Gott.
Aus diesem Grund – weil sie frei sind für das und frei werden durch das Wort – nimmt der politische Kommunikations-Begriff der παρρησία im Neuen Testament bei Jesus, dem Logos und bei seinen Aposteln die Bedeutung des vollkommensten „Vertrauens“ in sich auf: Wer in der Freiheit zum Wort der Wahrheit lebt, lebt in wahrhaftiger Freiheit, selbst da, wo Zwang und Lüge sich immer noch breitmachen.
Christen sind Reich-Gottes-Leute durch die Gabe, ja durch das Recht der „Parrhesie“: Sie können und sollen in allen Dingen und vor aller Welt mit Gott kommunizieren, Ihn beim Wort nehmen, Ihn ins Gespräch bringen, Ihn klipp und klar wissen lassen, was sie bewegt, ihr Herz vor Ihm ausschütten und darauf zählen, dass ihre Stimme Gehör findet, dass sie mitreden dürfen in Seiner heiligen Sache der Bewahrung, der Erlösung, der Heilung der Welt.
Und darum schreibt der Apostel im Hebräerbrief eben wörtlich von der „παρρησία“, dass wir sie nicht schleifen lassen und vernachlässigen, dass wir sie nicht geringschätzen oder aufgeben sollen. Kloppt eure Redefreiheit, euer Recht auf Mitsprache, euer garantiertes Ernstgenommen-Werden nicht einfach in die Tonne, sondern mischt weiter mit, … bleibt weiter an Gott, der Euch Rede und Antwort stehen wird, … verstummt und verbittert nicht, sondern haltet an am Gebet, … seid beharrlich und hofft und lasst nicht locker, … verschafft der christlichen Stimme des Gewissens und der Versöhnung hartnäckig und freimütig immer weiter Gehör in irdischen und himmlischen Ohren! ——
Das war schon am Anfang der Christenheit erkennbar mühsam und ist es heute wieder.
Wie viele mögen damals aufgegeben haben, – … wie viele tun es heute!
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, eine Sprache zu sprechen, die der Welt fremd ist.
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, eine Sache zu verteidigen, die wenig gilt.
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, Einen zum Hören zu bringen, Den man nicht sieht.
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, die Liebe, den Frieden, den Himmel zu predigen, wenn der Mensch doch die Hölle, den Krieg und den Hass viel klarer wählt und also auch will.
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, den einen Gekreuzigten, der lebt, den vielen Sterblichen vorzuordnen, die noch kreuzigen können.
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, festzuhalten in Bekenntnis und Erwartung an etwas, das erkennbar nicht da ist und das auch nicht unmittelbar verspricht zu erscheinen.
Das alles haben Menschen stets empfunden. Mal peinigend als Anfechtung. Mal achselzuckend als entleerte, bedeutungslose Überreste vergangener Wahrheiten. ………… ——
Was es aber für eine Verheißung hat, was für einen Sinn, … welche Horizonte sich öffnen und welche herrlichen Überraschungen sich zeigen werden, wo man nicht einfach aufhört, von Gott zu reden und Seinen Willen zu tun und auf Sein Reich zu warten, das alles geht verloren, es versickert einfach, wenn die Christen verstummen und ihr Vertrauen, ihr freimütiges Verlangen, ihr unverblümtes wirklich Wissen-, Sehen- und Erleben-Wollen, dass Gott Wort hält, nicht mehr hören lassen.
So wahr Gott also doch hört, sollen auch wir von uns hören lassen!
Gott wirkt ja nur taub, wenn wir vor Ihm stumm werden und Ihn verschweigen.
Wenn wir unsere Erinnerungen an Ihn nicht äußern - auch als Mahnung! - , wenn von unserer Hoffnung auf Ihn nichts mehr verlautet - und sei es als Klage! -, dann hat die Welt ihre Ruhe und die Lüge beherrscht das Feld. So wie heute an jeder Ecke. So wie heute in Politik und Kommerz, in der Banalität der Unterhaltung und der Brutalität der Auseinandersetzungen der Menschen.
Reden wir darum – vertrauensvoll, ausdauernd, hemmungslos – von Gott und mit Gott!
Steigen wir auf die Kiste oder die Trittleiter und machen wir den Mund auf!
Es lohnt sich! ——
In meiner Speaker’s corner hier will ich Ihm heute nur eines – in der „Parrhesie“, die mir (wie uns allen!) das Recht dazu gibt und in diesem Recht auch die Zuversicht, nicht ins Leere zu reden – entgegenhalten … mit leeren Händen, wie wir’s eben gesungen haben (EG 382):
Gott, ich höre das Evangelium, … das wunderbare Evangelium (Joh.11) dieses 16.Sonntags nach Trinitatis, der ein herbstliches Osterfest ist, weil man in der kommenden Woche den Erzengel Michael, den Kämpfer gegen alle Todesmächte und Todesbündnisse und Todestriebe feiert.
Ich höre das Evangelium und ich weiß, dass Du Lazarus auferweckt hast und ich glaube wie Martha, dass ein Tag kommt, an dem alle endgültig auferstehen und leben werden, die heute sterben und leiden und den Tod einatmen und sich den Tod einfangen und mit dem Tod spielen und mit dem Tod liebäugeln und dem Tod unterworfen und ausgeliefert sind.
– Evangelium: Ja!
– Michaels und aller himmlischen Heerscharen und irdischen Lebensgeister Kampf gegen den Tod: Ja!
– Auferweckung: Ja!
Aber wo bist Du dazwischen?
Wo bist Du jetzt gerade, während kein Krieg der Engel gegen Satan und die Hölle, sondern Kriege der Menschen gegen die Menschen stattfinden?
Wo bist Du in diesem Augenblick, in dem auf den Schlachtfeldern der Ukraine gerade jetzt Menschen zerrissen werden?
Wo bist Du gerade jetzt im Alltagselend der Hungernden, der Kranken, der Ausgelaugten, die schweigen, weil sie nichts von Deinem Hören wissen oder glauben?
Wo bist Du, wenn Du so gebraucht wirst?
… „Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.“
Das ist’s, was mich umtreibt, weshalb ich rüttele und Krawall schlage und meinen Glauben und meine Hoffnung in ihrer Bedrohung trotzdem nicht einfach aufgeben und wegwerfen kann, sondern hinter Dir her und vermutlich mitten in Dein weites, zerrissenes Herz hinein schreie.
Wo bist Du?
… Wo warst Du, als sie Dich nach Bethanien riefen, wo Du erst eintriffst, nachdem Dein Freund schon den vierten Tag im Grab liegt?
… Was hast Du in den drei Tagen gemacht, in denen sie auf Dich warten mussten?
… In den drei Tagen Deiner Verborgenheit, den drei Tagen Deiner Entzogenheit, den drei Tagen Deines Fehlens? … … …
Ach, … diese drei Tage! … … …
Herr, ich weiß ja, was Du gemacht hast in den drei Tagen, in denen Du nicht zu sehen, zu hören, zu greifen und halten warst!!! … … …
… Wir wissen’s ja alle! Und wenn wir zu Dir schreien, dann geht’s uns in unserm Fragen und Zweifeln, in unserm schonungslosen Nicht-locker-Lassen nur noch viel klarer auf: Du, nach dem wir laut und ohne Filter verlangen … Du bist in den drei Tagen bei den Toten gewesen, … bei Lazarus, Deinem Freund, … bei dem, der gerade in diesem Augenblick in der Ukraine getroffen worden ist, … bei denen, um die wir weinen und trauern.
Die drei Tage, in denen wir frustriert und qualvoll beunruhigt und hoffentlich wenigstens in reiner „Parrhesie“ – in Ehrlichkeit, Offenheit, dringender Anhänglichkeit – auf Dich warten: Das sind die Tage, die Dich ganz und total und für immer mit denen verbunden und vereinigt haben, die uns auf der Seele liegen. … … …
Diese drei Tage sind auch jetzt und werden sein, bis ans Ende der Zeit.
Und dann werden wir Dich alle sehen und erleben.
Und werden alle leben mit Dir! ——
Was für einen Lohn unser Mit-Dir-Reden, was für einen Lohn diese Freiheit des Denkens und Sprechens, des Zweifelns und Hoffens auf Dich nun doch wirklich hat!
Tatsächlich: Was für einen Lohn das Vertrauen hat!
Amen.
[i] Eine bündige Übersicht über die Bedeutungsgeschichte des Begriffs bietet Hans-Christoph Hahn unter: https://jochenteuffel.com/2019/11/05/hans-christoph-hahn-uber-freimut-und-zuversicht-im-neuen-testament-da-die-verwirklichung-der-redefreiheit-bisweilen-auf-widerstande-stosst-erklart-sich-unerschrockenheit-freimutigkeit-als-weiterer-bed/
15.So.n.Trin., 17.09.2023, Stadtkirche, 1.Mose 15, 1 - 6, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 17.IX.2023 - 15.n.Trin.
1.Mose 15, 1-6
Liebe Gemeinde!
Ein älterer Mann - wohnungslos -, … enttäuscht, aber noch nicht mutlos, … mit verschwiegenen Hoffnungen und müden Augen blickt zum Himmel empor. —
Nacht für Nacht wiederholt sich das weltweit.
In der zerstörten libyschen Stadt Darna - übrigens in der Nachbarschaft von Kyrene, wo der Mann herstammte, der das Kreuz Christi nach Golgatha trug -… in der libyschen Stadt Darna, die vor einer Woche einen Klimakarfreitag erleiden musste, sitzen solche verwaisten, verwitweten Männer, die überlebt haben und nicht wissen, wozu, und starren in die Dunkelheit überm Meer. Auf den Straßen von New York blicken hunderte Augenpaare aus den Gesichtern der mittelamerikanischen Migranten, die in Hoffnung wie Abraham ausgewandert sind und in Obdachlosigkeit landeten, perspektivlos in die Nacht, die vor lauter Neon keine Sterne zeigt. Und dreieinhalb Kilometer von uns entfernt, auf dem Nordfriedhof, auf den abends die Leute mit den unförmigen Plastiktüten zotteln, weil sie in den schicken Mausoleen für die Toten übernachten werden, da richten sich in den Stunden unseres bürgerlichen Schlafes auch viele Blicke durch die Äste der Baumkronen zwischen den selbstgedrehten Zigaretten nach oben und fragen: „Wie weiter? Oder war’s das?“ … Und in den schwarz-verdunkelten Stunden der Ukraine und in der erstickenden Enge der Lampedusa-Lager auch: Lauter abrahamische, … abrahämische, … abraheimliche Blicke nach Gott. ——
Ein müdegewanderter Mann - wohnungslos -, … elend enttäuscht, aber noch nicht vollends mutlos, … mit verstummenden Wünschen und alten Augen blickt ins Schwarze empor. …
… Mehr nicht.
Aber es ist die Sternstunde: Der Welt. …
… Es ist die Stunde, in der unsere Seligkeit anfängt.
Weil ein heimatloser Mann - zukunftsleer -, frierend ernüchtert und kinder-, wenn auch nicht gottlos, mit enttäuschten Erwartungen, aber noch ungeschlossenen Augen vor den Himmel tritt.
„Ich gehe dahin …“. Darna versunken. Lampedusa, New York, Europa nicht mehr aufnahmefähig. Unser schönes Düsseldorf, marmorglänzend bis in die Totentempel seiner Penner.
„Ich gehe dahin …“, stellt der Nachtmensch Abraham fest. Und mit etwas wie bitterer Ironie fügt der nichtsesshafte Jäger der verbogenen Verheißung, der Nomade ohne Immobilien hinzu: „Und mein Knecht wird mein Haus besitzen“ …?!
… Willkommen in der versunkenen Stadt.
… Richtet euch ein auf dem Times Square: Wir bieten Festbeleuchtung.
… Familien Henkel und Poensgen, Heynen und Grillo bitten - in unser aller Namen! -, in ihren Gruften noch Schlafplätze auszuwählen.
Ein bitterwahres Theaterstück von Lebenswegen ohne Ziel und Zukunft.
Das Drama unserer Erde. ———
Doch worin besteht denn nun die alle irdische Düsternis durchbrechende Sternstunde, die seit dreitausendsiebenhundert Jahren leuchtet und leuchtet und leuchtet und tröstet und hell macht und retten kann?
…. In der herzergreifend schlichten Ahnung, die Matthias Claudius seiner simplen Sternseherin Lise[i] in den Mund legt? – „Ich sehe oft um Mitternacht, / Wenn ich mein Werk getan / Und niemand mehr im Hause wacht, / Die Stern' am Himmel an. …Dann saget, unterm Himmels-zelt, / Mein Herz mir in der Brust: / "Es gibt noch Bess'res in der Welt /Als all ihr Schmerz und Lust."“?
… Oder hat Abrahams astronomische Meditation nur das Schiller’sche Gefühl „Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen“[ii] entfacht und befördert es bis heute?
Was ist da geschehen, in dieser von den Nazis so vergewaltigten „hohen Nacht der klaren Sterne“[iii]?
… Etwas, das bei Paulus (vgl.Rö.4,3ff; Gal.3,6ff) und bei Luther zur Erkenntnis und Verkündigung der Grundlage und Grundhaltung des Christentums geführt hat: In der Sternstunde Abrahams ist der Glaube gleichzeitig als des Menschen Tat aller Taten und als Gottes Gabe aller Gaben aufgeleuchtet. —
Warum ist der Glaube eine Tat?
Weil er nicht irgendein Kleinbeigeben, irgend ein Einknicken, Abnicken, Annehmen oder bloßes Zustimmen ist.
Glauben ist nicht Vermuten, sondern wirklicher Mut. - Der Mut, nicht nur das Unsichtbare, das Unbewiesene, das Verheißene, das, was jenseits aller Griffe und Begriffe des Menschen ist, ernst zu nehmen, sondern dabei auch noch genau das auszuhalten: Dass es unbegreiflich ist, worauf man da vertraut, … rein gesprochenes und versprochenes Wort, … unbelegt, … nicht vorzeigbar und nicht ersichtlich.
Und als wäre das nicht schon genug – dass man die Bequemlichkeit und Sicherheit des Zweifels und der Verzweiflung aufgibt (denn beide legen sich uns ja so nah und liegen so klar zutage, dass man sich nach ihnen wirklich nicht strecken muss!) –, … als wäre also das Wagnis des ernsten und doch weder wissenschaftlich noch juristisch erhärtbaren Glaubens nicht genug, bedeutet der Glaube Abrahams obendrein auch noch, dass man das, was man fürchtet und verabscheut, das, was einem Angst und Schrecken einjagt, plötzlich lernen muss, positiv zu sehen.
Denn gerade diese Umkehrung aller Vorzeichen, diese Umwertung dessen, was er weiß und fühlt, wird Abraham in der Stunde unter den Sternen ja zugemutet.
Abram aus Ur in Chaldäa ist doch ausgewandert aus dem astrologischen Weltbild seiner Herkunft: Der alte Orient wusste sich ja völlig abhängig von den Himmelskörpern. Man spürte im lebensregelnden Monats-Rhythmus des Weiblichen die Magie der Mondgöttin; man lebte überwältigt und ausgeliefert an die Blendung und Allmacht des zum Wachstum nötigen und doch so oft auch tödlichen Gottes des Sonnenballs; man las die Orakel, die Schiedssprüche und Zwänge, die die Sterne ans Firmament schrieben, wo Zeit und Schicksale bis ins Einzelne gelenkt und determiniert wurden!
Schrecklich ist es, unter dem Himmel der Alten zu stehen: Fremde Mächte, unentrinnbare Gesetze und überirdische Willkür herrschen da. Wer diesen Himmel über sich weiß, muss zittern und in den Staub sinken! …
Und Abraham, der dieses furchteinflößende Welt- und Himmelsbild der kosmischen Religion hinter sich gelassen hat, weil ein Gott ohne Leuchtkörper und Erscheinungsbild ihn noch unsicherer als später die Magier und sternkundigen Bethlehems-Pilger, die immerhin einem Kometen folgen konnten, einfach in die weglose Weite gerufen hat, … Abraham soll nun ausgerechnet zu jenem Überwachungsnetz am Himmel sehen und Vertrauen fassen?!
Da oben funkelt ein Heer von tausendundeinem gekränkten Dämonen, vor denen sich alle anderen Chaldäer demütig neigen; da oben spotten unzählige Geheimzeichen jeder Zählung und Entschlüsselung, weshalb man ihnen ohnmächtig Opfer schuldet; da oben herrschen sichtbar die Gewalten, denen der Flüchtling des verborgenen Gottes sich sinnlos entzogen zu haben hoffte.
Und jetzt soll er hinschauen?!
Und soll nicht die Angst, die ihn da unwillkürlich heiß und kalt überläuft, ausbrechen lassen, sondern in dem, was er mit grauenhaftem Bangen zurückließ, soll er seelenruhig die Zukunft schauen, … seine Zukunft und die Zukunft all jener zahllosen Kinder, die sein Glaube hervorbringen wird?!
Die Sterne keine Götter mehr, sondern seine Kinder?!
Was für eine Zumutung!
Und was für ein Mut, wenn einer diese Zumutung annimmt!
Stellen wir uns einmal selber unter die Mächte und Mysterien, denen wir ausgeliefert sind:
Die unheimlichen und die offensichtlichen Geister, die uns die Luft abschnüren, … oft deshalb, weil wir - die Zauberlehrlinge - sie riefen, aufweckten und beherrschen zu können meinten. Jene abgründige Zerstörungskraft, die ein Film uns im Westen und Putins Finger im Osten uns gerade wieder zu fürchten lehren! … Die unkontrollierbar entfesselten, bösen Folgen unserer guten Zeiten in der Erfindung, Erzeugung und Ausnutzung des materiellen Fortschritts. … Die zwischen Staunen und Terror schwankende Erfahrung, dass wir Maschinen gebastelt haben, die zwar nur rechnen und durchmischen können, deren Gründlichkeit dabei aber über unser Vermögen so eiskalt erhaben ist, dass wir sie als „intelligent“ empfinden und ihr künstliches Wiederkäuen und Hochwürgen als eine womöglich endgültige Absage an das göttlich und menschlich Schöpferische erleben. … Lauter uns überlegene Gebilde, unzählige zweideutige Vorzeichen und aus der Ratio ausgerissene Gefahren schweben da über unseren Tagen und Nächten.
Wenn wir aber mit zu Abrahams Samen zählen, zu den unzähligen Erben der Verheißung, die sein Vertrauensmut geboren hat, dann ruft sein ruhiger Blick zu den Sternen, der ihn nicht verzweifeln, sondern glauben ließ, auch uns zu:
„Seht klar hin auf das, wovor Euch mit endzeitlicher Wucht graut … und dann fürchtet euch nicht, nehmt nichts anderes mehr wahr als die Zukunft. Seht klar hin auf das, was Untergang, Fluch und Ende zu bedeuten scheint, … und erkennt die Verheißung des Lebens eurer Kinder. Denn nur, wenn ihr so auf die rohen Kräfte und bedrohlichen Mächte hinschaut und nicht in Illusionen ausweicht, dürft und werdet ihr die unglaubliche Glaubensgabe tatsächlicher Zukunft empfangen.“
Denn das ist Glaube ja: Die Gottesgabe, …Seine Gnadengabe, dass Menschen trotz allem, was über ihnen schwebt, erkennen dürfen, wer, wie und wo die Zukunft ist.
… Gott ist die Zukunft.
… Nur Gott!
Und das ist ja das Unbegreifliche schlechthin.
Abraham hatte verinnerlicht, die Zukunft werde beschlossen und verhängt durch die Sterne.
Wir haben verinnerlicht, dass die chaotischen und differenzierten Prozesse, die wir begonnen haben und die sich unerbittlich entfalten, die Zukunft unweigerlich und unabänderlich bestimmen werden.
Glauben aber bedeutet den Mut und die Gnade, in solchen Gewissheiten, solchen astrologischen oder kausalen Determinationen, in solchem abergläubischen oder atheistischen Fatalismus nicht gefangen zu bleiben, sondern sich ruhig auf das einzulassen, was ausgeschlossen scheint, es sei denn, wir würden unvoreingenommen zukunftsoffen wie die Kinder (vgl. Matth.18,3).
Der abrahamitische Erzväter- und Kinderglaube ist darum aber nicht Naivität, sondern das Geschenk einer Zuversicht, die frei ist von der Sklaverei des ererbten Vorurteils, frei vom Zwang des Nichts-Anderes-Erwarten-Könnens als das Verhängnis.
Der alte Mann - dreitausendsiebenhundert Jahre alt -, der in nüchternem Mut, … in der Offenheit unerfüllter Hoffnung, … mit scharfen Frage nach dem, was kommt, aber auch in der Freiheit, sich vor nichts dabei zu fürchten, emporblickt, zieht auch unsere Zuversicht, unsere Fragen, unsere Lebensaussichten mit in die Höhe:
Und siehe, da sind nicht beherrschende Sterne oder eherne Gesetze.
Sondern die lebendige Zukunft aller Menschen, … die göttliche Gerechtigkeit, die der Zuversichtsmut Abrahams für sie alle eröffnet, … das unwiderrufliche Recht auf Leben, das denen zugesagt wird, die mit Abraham, nach, durch und wie Abraham frei auf Gott blicken.
In der Sternstunde Abrahams erfüllt sich also nichts, aber alles öffnet sich.
Und solche Offenheit zur Zukunft Gottes hin ist die Gerechtigkeit des Glaubens, seine Tragfähigkeit und Belastbarkeit in Angst, in Schuld und in Geduld.
Es ist kein Zufall, dass diese furchtlose Offenheit des alten Mannes Abraham für Gott in einer zweiten Sternstunde des Zukunftsmutes, in einer zweiten Gründungsstunde unserer Berufung zum Glauben wiederkehrt.
Da hat sie weibliche Gestalt.
Ein junges Mädchen - ehelos und ohne Bevormundung -, … unschuldig und darum nicht mit Angst vertraut, … überrascht, aber mit klarem Blick wird in ihrer Niedrigkeit vom Himmel angesehen und angerufen.
Und sie erfasst, dass da die Abrahamsstunde, die Stunde, in der wir nichts fürchten, sondern Gott als die Zukunft kennenlernen sollen, schlägt.
Wir haben ihren Lobgesang am Anfang gebetet und werden ihn am Ende noch einmal singend aufgreifen. Sie, die Tochter Abrahams und Mutter des Zukünftigen jubelt mit Abrahams Samen und in Abrahams Namen: „Es geschehe, wie Du gesagt hast … wie du geredet hast zu unseren Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit!“ (vgl. Lk.1,38+55)
Das ist Glaube! „Fiat! Lass mich voll und ganz Deine Zukunft sein, Gott, und sei Du ganz und gar die unsrige … was immer auch kommt!“ ——
Dieses vollständige Eingehen auf und Aufgehen in Gottes Zukunftszusage, das wir Glauben nennen, ist aber nun tatsächlich die Sternstunde der Welt.
Sie leuchtet und leuchtet und leuchtet und tröstet und macht hell und kann retten.
Herr, ermutige und stärke auch uns den Glauben, die wir mit Abraham und Maria auf Dich trauen in Jesus Christus. Stärke diesen Glauben in uns gerade auch für die Hoffnungslosen von Darna und im Atlasgebirge, für die auf der Flucht und im Krieg, für die Unsichtbaren und Vergessenen, die doch alle Deine Abrahamskinder sind: Schenke ihnen das Lebens- und das Zukunftsrecht bei Dir, die - wie Paulus am Schluss seiner Abrahamsmeditation (Rö.4,24f) sagt - allen „zugerechnet werden sollen, wenn wir glauben an den, der unsern Herrn Jesus Christus auferweckt hat von den Toten, welcher ist um unserer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Rechtfertigung willen auferweckt“!
Amen
[i] Dieses populäre volkstümliche Gedicht von Claudius wird hier zitiert nach: Matthias Claudius’ Werke, chronolog. geordnet usw. usw. hgg. v. Georg Behrmann, Leipzig (o.J. – ca. 1880), wo es im Hauptteil vergessen wurde und sich daher eigens im Vorwort findet auf S. LXXVI.
[ii] Aus der Ode „An die Freude“, in: Friedrich v. Schiller, Sämtliche Werke (Lizenzausgabe WBG) Darmstadt 19878, Bd.I: Gedichte. Dramen I, S.133.
[iii] Ein Nachweis des Nazi-Weihnachtsliedes erübrigt sich. Möge es vergessen werden.
12.So. n. Trin., 27.08.2023, Stadtkirche, Jesaja 29, 17 - 24, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 12.n.Trin. - 27.VIII.2023
Jesaja 29, 17 - 24
Liebe Gemeinde!
Wenn die Mörder vom Himmel fallen, ist noch lange nicht Frieden.
Und wenn die Tyrannen einmal stürzen, wenn die Putschisten sich verdrücken, wenn der Blutrausch abebbt und der Konsumrausch schal wird, wenn der rücksichtslose Ur-Reflex der Selbstsucht in seiner nutzlosen Lächerlichkeit erscheint, dann ist die Welt noch immer nicht geheilt.
Und wenn die Nazis als entnazifiziert gelten und die Putinisten entstalinisiert und die Republikaner enttrumpt und die Kader Chinas entmaoisiert sein werden, dann ist noch immer nicht die Harmonie von Recht und Wahrheit zurückgekehrt und das Zerstörte steht noch nicht wieder in Blüte und das Verdorbene ist noch nicht wieder richtig gewachsen und das Böse noch nicht morsch genug geworden, um als Kompost und Humus die endgültige Ernte des Reiches Gottes geweckt, genährt und zur Reife gebracht zu haben. —
… Wann aber wird es denn so weit sein?
… Wann wird das Heil dasein?
Diese Frage ist das entscheidende Lebenszeichen des Glaubens. Das forsche Stillstellen der elementaren Erlösungssehnsucht in der geschaffenen Welt dagegen ist höchstes Erstickungsrisiko: Wer eine allzu feste Antwort hat, blockiert die Atemwege des Glaubens, die doch erst durch Schreien und das nötige Luftholen durchlässig und weit genug gemacht werden, um am Leben zu bleiben.
Wir wollen also die lebensnotwendige Frage nach dem Ziel der Hoffnung nie abwürgen durch die voreilige, verhärtete Lüge, es sei doch alles gut und schön.
Es ist nicht gut und schön auf Erden. Das Leben ist nicht hell und heil. Alle Wirklichkeit schreit nach Veränderung, Verbesserung, Verwandlung.
Was aber tun, wenn wir nicht über das Patentrezept verfügen, wenn wir den Schnuller nicht haben, durch die das „Weinen in der Welt“ von dem Else Lasker-Schüler spricht, zur Ruhe gebracht werden könnte?
„Es ist ein Weinen in der Welt, / als ob der liebe Gott gestorben wär, /und der bleierne Schatten, der niederfällt, / lastet grabesschwer“, so fängt Else Lasker-Schülers Gedicht „Weltende“[i] an. …
……. „Weltende“: Kein wirklich abwegiger Titel in unseren Tagen.
Aber auch vor hundertzwanzig Jahren, als das unterschwellige Unbehagen in der sog. „Kultur“ allmählich zu Bewusstsein drängte[ii], nicht weithergeholt. Und auch vor zweitausend Jahren durchaus der Nerv der Zeit, als am Jordan der Täufer und in Galiläa der Rabbi der Fischer und Zöllner zur Umkehr angesichts des nahegekommenen Reiches Gottes mahnten. Und in den Tagen des Jesaja, als die Erste der großen, nimmersatt erobernden und kolonialisierenden Weltmächte - Assur - die Weltordnung mit Gewalt durcheinanderwirbelte, erlebten die Zeitgenossen die Brüchigkeit und Auflösung des bekannten Daseins genauso.
Es war permanent ein Weinen in der Welt, und ist ein Weinen und bleibt ein Weinen. … Und viel, viel Schlimmeres. …….
Doch was nun?
– Jetzt Panik? – Oder Resignation? – Oder der allgemeine zynische Nihilismus? ……. ——
Erstaunlich ist, … ganz erstaunlich ist, was uns der ewigjunge alte Glaube – dessen Puls und Atem Ungeduld und Hoffnung ist und Spannung – lehrt. … Uns, die entweder gar nicht mehr hoffen und harren wollen, weil wir das entsprechende Narrentum satthaben und lieber hoffnungslos unsre Zeit aus vollen Zügen einfach zuendeleben, oder die immer bitterer hadern, dass wir eben nichts, nichts Hoffnungsvolles mehr merken können und hören dürfen.
Der alte, ewigjunge Glaube, der uns heute hier zusammenführt, stellt uns vor einen Menschen, … den selben Menschen, der mitten im Gebiet der Zehn Städte – wo Heidentum und Judentum, der hedonistische Fatalismus also und die trotzige Erlösungshoffnung sich begegnen und mischen – seinen Weg durch die Welt zog (vgl. Mk7,31)[iii].
Und dieser Mensch im Mischmasch von irdischen und himmlischen Erwartungen will auch uns berühren mit seinem innersten Wesen, wie damals in Galiläa den Taubstummen.
Er legt seinen Finger auch an unser Ohr und auf unsere Zunge.
Und er gebietet dem zynischen Ungläubigen und dem sehnsüchtigen Lösungssucher in uns: „Hephata! … Tu’ dich auf!“
… Wieso? … ’s gibt doch nix zu hören, nix zu sehen, nix zu sagen.
„Öffne dich trotzdem! Hephata!“
… Will ich aber nicht. Soll mir alles vom Leib bleiben. Nicht rankommen: Die
aussichtslose, trostlose Welt da, … mit dem Gewein und dem Gestöhn und dem Geschrei, das man lieber gar nicht hören will, selbst wenn man ja vielleicht könnte.
Doch Er sagt Sein klares, strenges, geduldiges, heilendes, wunderbar erlösendes, … Sein schöpferisches „Hephata!“.
– Und wir hören.
Was? … Was denn nun? ….
… Endlich einmal darf ich’s sagen. Sonst mache ich ja den gewohnten Bogen um zu viel Naturtheologie: Die alten Götterbäume Donars und Wotans, die Fruchtbarkeitskulte des Baal, die Anbetung der kosmischen Kräfte und der Gewalt der Elemente sind seit bald viertausend Jahren ja ein Hindernis gegen die immer unmittelbar naheliegende und doch immer auch irgendwie als Verlegenheits- und Ersatzlösung wirkende Naturfrömmigkeit.
Doch heute sagt der alte Jesaja uns das junge Wort: Lasst doch den Wald erst einmal wachsen. In eurer großen, drängenden, bangen Sorge um das Weltende und die Sinnlosigkeit, in eurer feurigen, waldbrandbeschleunigten Nervosität, ob Gottes Reich und jede Zukunft nicht längst abgeblasen sei und jede Hoffnung euch verkohlt, sollt ihr jetzt einmal innehalten, … lauschen, … euch öffnen, … und abwarten.
Ist das denn aber nicht der Wahnsinn? Brennt denn nicht überall von Kanada bis Griechenland, vom Amazonas bis zu den kanarischen Inseln der Wald lichterloh? Müssen wir das nicht als das röteste aller roten Alarmsignale erkennen, das uns zwingt, alles dran zu setzen, dass gelöscht wird und nicht weitere Verbrennung geschieht? Hat nicht die germanische Edda Recht, wenn sie in grauer Vorzeit die Klimakatastrophe von heute zu beunken scheint: „Alle Wesen müssen die Weltstatt räumen. / Schwarz wird die Sonne, die Erde sinkt ins Meer, / vom Himmel schwinden die heiteren Sterne. / Glutwirbel umwühlen den allnäh-renden Weltbaum, / Die heiße Lohe beleckt den Himmel.“[iv] …….
Und ausgerechnet jetzt, da sich die alt-heidnischen selbsterfüllenden Prophezeiungen vor unsern Augen bestätigen, … ausgerechnet jetzt, im Wagner’schen Weltenbrand kommt der Erste der großen Schriftpropheten Israels, die sonst so unerbittlich gegen den Naturglauben wettern, daher wie Joseph von Eichendorff?
Ausgerechnet jetzt sollen wir andächtig und seelenruhig den Wald wachsen lassen: „Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden“??!!!
Ist es dazu nicht zu spät? Können wir wirklich noch wie unsere Vorfahren, als die große - für sie auch herzlich lebensnotwendige - Rodung Europas beinah abgeschlossen war, unsere Zuflucht wieder zum Wald nehmen? Können wir wie die romantische Generation, wie die industrialisierungsmüden Menschen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch einmal aus gerührter, überwältigter Seele auf die „Täler weit und Höhen“ blicken[v], die „Ruh über allen Gipfeln, in allen Wipfeln“[vi] unser mattgehofftes Gemüt durchschauern lassen und dann kosmosselig wie eben der unübertroffene, herzensfromme Eichendorff die Hände falten und den Trost der Welt erfahren, der mit dem „ewigen Morgenrot / den stillen Wald durchfunkelt“[vii]?
Müssen wir nicht handeln, … aktivistische Aktion betreiben? Können wir’s auch nur in unsern kühnsten Träumen uns wirklich noch leisten, zu meditieren wie die großen Naturlyriker oder die weltflüchtigen Aussteiger aller Arten?
Wer so fragt, meint auch die Aktion nicht ernst.
Wer so fragt, hat nicht wirklich Hoffnung, sondern nur Hummeln im Hintern oder Hysterie im Hirn.
Aktion ohne Kontemplation ist Unfug.
Kurzschlusshandlungen ohne den langen Atem des gläubigen Gebets und des Gottvertrauens als Zukunftsvertrauens können mittelfristig nur wie Brandbeschleuniger wirken, weil sie die Energie der Herzen und das explosive Pulverfass der Angst so ver-schleudern, dass alles irgendwann grässlich verpuffen muss.
Wenn wir nicht den Wald wachsen ließen, … wenn wir nicht das unmerkliche Aufbrechen auch noch der verbrannten Böden leise sich vollziehen ließen, … wenn das neue, grüne Mischgehölz, wo Kyrill und der Borkenkäfer die Monokulturen unserer Heimat vernichtet haben, uns nicht einfach einmal die Hände falten und danken hieße, … wenn wir nicht heute pflanzten, was erst die Enkel an widerstandsfähigeren Arten brauchen werden als Schatten- und Entgiftungsquell, … wenn wir nicht das neue Landschaftsbild der fremden Windräder über den vertrauten Mittelgebirgszügen, überm herben Schwarzwald, überm lachenden Allgäu, … ja, wenn wir nicht sogar ein neues Landschaftsbild von Windrädern im romantischen Caspar-David- Friedrich-Gebirge als Erfüllung des paradiesischen Auftrags, die Schöpfung zu hegen und zu pflegen (vgl. 1.Mose 2,15), zu betrachten lernen, … dann gute Nacht!
Aber natürlich nicht wegen der Windräder, die scheußlich störend sind und bleiben, sondern wegen des Waldes. Wegen dieses Wunders, das mir letzten Sonntag wieder einmal vor Augen stand: Das Schulungswochenende mit unsern Teamern im Bergischen Land bedeutet reichlich Leben reichlich in Verbindung mit Gott, … aber keinen sonntäglichen Gottesdienst im mir unentbehrlichen Sinn. Da wurde ich auf meiner Weckrunde zu den einzelnen Holzhäusern voller verpennter Jugendlicher stiller Zeuge, wie in der Früh ein junger Mann aus dem Iran auf einer Bank unter den Bäumen saß und über die für ihn wohl fremden, weiten, blaugrün verschwimmenden Waldkämme unverwandt und - wer weiß? - vielleicht auf seine Weise betend in den Sonnenaufgang blickte.
Und die ganze Frömmigkeit und Dankbarkeit meiner hessischen Kindertage, in denen es Winterwälder und Brombeerpflücken im Unterholz und den schrillen Schrei des Habichts über den mittäglich schweigenden Föhren und das Erlebnis von Quellen und Bächen mitten im Tannendunkel und Pilzesuchen, Schwarzwildfährten und Hirschruf im Oktobernebel, Einsiedlerhöfe am Rand des Lichtung und Märchenvolk unter jeder Wurzel gab, … alles war wieder da, weil ein anderer Mensch schlicht auf Gottes herrlich hingebreitete Schöpfung blickte. Und die Volkslieder klangen wieder und ich hörte – doch wohl, weil einer mir „Hephata!“ geboten hatte – Jesaja im Text von heute sagen: „Was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein vor dem Heiligen Israels …“
Es war einer der Augenblicke, die hell und heil über der bedrohten, zerfallenden und doch taufrisch geweckten Welt stehen können. Und auch wenn wir’s täglich und nächtlich spüren, wie ein Weinen in der Welt ist, gilt auch das andere Dichterwort, das Wort, das der spätromantische Robert Browning dem angelsächsischen Volksmund vermacht hat: „God’s in His heaven - / All’s right with the world.“[viii]
Ja, es ist ein Weinen in der Welt, … aber Gott ist auch im Himmel!
Wäre das nicht so, dann gäbe es keine wirkliche Hoffnung.
Wäre nicht Gott im Himmel, dann würden der Mensch und seine künstliche Intelligenz und seiner eingefleischten Unbelehrbarkeit auf Erden nur rettungslos sein.
Aber Der im Himmel ist, macht immer noch, dass neues Leben entsteht und altes sich des Lebensrechtes und des Lebensrufes alles jungen Neugeschaffenen erinnert: „Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände - ihre Kinder - in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.“
Dieser rettende Blick für das nachwachsende Leben, diese Bekehrung der Vernichtungstrunkenen und Untergangsbesoffenen zum Willen des Schöpfers, Der ein Neues schaffen will – jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?! (Jes.43,19) –, das ist die tiefe Hoffnung, die in jedem Keim der Erde, in jedem Halm, in jedem Blatt, in allen Gewächsen, allen Wildnissen und allen Pflanzungen, in allen Bäumen, Hainen und Wäldern heranwächst.
Wer etwas davon auch in unseren Tagen sieht, wer es, weil sein Herz und Geist berührt und aufgetan worden sind – „Hephata!“ – spürt und andächtig wahrnimmt, dass die Natur mitten in ihrem Verderben immer noch den Segen und den Plan und das Heil und die siegreiche Durchsetzung Gottes beweist, der kann heute nur tun, was Israeliten und Juden und Christen niemals taten:
… Er kann sich nur vor den Bäumen des Waldes verneigen und ihnen sagen: Eure Predigt hören wir und euer Zeugnis sehen wir. … Und wir warten mit Euch, dass Ihr wachst und Gottes Reich sich gegen unsre Armut an Hoffnung und gegen unsre Tyrannei und Resignation behauptet!
Der Garten Gottes einst und künftig, … die Erde, in der das Weizenkorn wächst und nicht alleine bleibt, … die Berge der Welt, auf denen der Weinstock wurzelt (vgl. Ps.80,10ff), dessen Reben auch wir sind (vgl. Joh.15,5), … die Gemeinde der Gerechten, die grünen wie ein Palmbaum und wachsen sollen wie eine Zeder auf dem Libanon (vgl. Ps.92,13), … sie lassen uns das Geheimnis der Hoffnung erkennen, die in der Welt ist, weil Gott ihr Herr und ihr Vollender bleibt.
Und darum darf ich’s heute sagen, was sonst so kitschig und so falsch klingt … mit den Worten eines Trostbuches, das einmal Unzählige getröstet und zur Barmherzigkeit und Hoffnung gegen das gierige Blut-und-Boden-Heidentum gerufen hat:
„Ewig singen die Wälder.“[ix] … Von der Hoffnung, die in der Welt ist. … Sie heißt Gott.
Amen.
[i] Else Lasker-Schüler, Sämtliche Gedichte, hgg. v. Friedhelm Kemp, München 19915, S.88.
[ii] Vgl. Sigmund Freuds gleichnamige Arbeit von 1930.
[iii] Markus 7, 31 – 37 ist das Evangelium des 12.Sonntags nach Trinitatis.
[iv] Die Edda. Die ältere und jüngere Edda und die mythischen Erzählungen der Skalda. Übers. u. mit Erläuterungen begleitet von Karl Simrock, (Nachdr: Essen 1986, S.14).
[v] Joseph von Eichendorff, „Abschied“, in: Ders., Werke - Bd.I: Gedichte. Versepen. Dramen. Autobiographisches, hgg. v. Jost Perfahl u. Ansgar Hillach, München 1970, S. 67.
[vi] Johann Wolfgang von Goethe, „Wandrers Nachtlied,“, in: Goethes Gedichte in zeitlicher Folge, hgg. v. Heinz Nicolai, Frankfurt/M 19907, S.236.
[vii] J. v. Eichendorff, „Der Einsiedler“, aaO, S.279.
[viii] Aus Robert Brownings Versepos „Pippa Passes“ von 1841. Am leichtesten zugänglich unter https://romantic-circles.org/editions/poets/texts/theyears.html
[ix] Dieser Bauernroman des norwegischen Dichters Trygve Gulbransen ist eines der am meisten verkauften Bücher in der ersten Hälfte des kranken 20.Jahrhunderts gewesen … und auf seine Weise bleibt er m.E. lesenswert.
11.S.n.Tr., 20.08.2023, Thom.Ev. 2,1-4, Stadt- u. Jonakirche, Ulrike Heimann
Thema: „Suchen - Finden – Erschrecken – Staunen: der Weg des Glaubens“ (Thom.Ev. 2,1-4)
Liebe Gemeinde,
vor drei Wochen hatte ich im Antoniushaus der Suitbertusgemeinde für die kfd einen Abend zum Thema „Trinität“ gestaltet; dieses Thema hatten sich die Frauen gewünscht und erhofften sich einen Erkenntnis- und Glaubensgewinn zu dieser zentralen Lehre der Christenheit. Schließlich bekennen wir uns in jedem Gottesdienst ja zum Dreieinigen Gott – von der Eröffnung „Im Namen des Vaters …“ bis hin zum Schlusssegen. Wir saßen in einer großen Runde beieinander; und zwei der Frauen hatten sogar ihre Männer mitgebracht.
Und eigentlich von Beginn an zeigte sich: für die meisten gab es einen Widerspruch zwischen dem, was man aufgrund der kirchlichen Lehre glauben soll – und dem, was man selbst glauben konnte. Und damit stand die Unsicherheit im Raum: glaubt man dann überhaupt noch; hat man noch den richtigen Glauben?
Die gängigen Erklärungen aus dem Katechismus konnten keine und keinen überzeugen.
Es gab ein sehr lebhaftes und intensives Gespräch, in dem allen deutlich wurde: den Glauben hat man nicht, sondern der Glaube ist ein Weg, auf dem jede und jeder seine Erfahrungen macht mit Gott. Ein Weg, der mit dem ersten Schritt beginnt – für die meisten in der Kindheit – und der erst mit dem letzten Atemzug zu Ende ist.
Für alle ist es einsichtig, dass sich ein Mensch auf seinem Lebensweg entwickelt und verändert. Dass sich das genauso auch mit dem Glauben verhält, das zu hören, was für einige eine Überraschung. Ist der Glaube nicht eine feste Größe?
Nun ist der Glaube nicht um seiner selbst willen da, sondern er ist Gottes Geschenk, um das Leben besser zu meistern.
Wenn der Glaube sich auf das konkrete Leben in dieser Welt einlässt, dann verändert er sich; das tut ja schon unser Körper im Laufe der Jahre, ohne dass wir irgendetwas daran ändern können. Alles Lebendige wächst und verändert sich; und sollte es uns nicht darauf ankommen, dass unser Glaube lebendig ist und bleibt?
Der Apostel Paulus schreibt im 1.Korintherbrief: „Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.“ – Für den Glauben gilt das gleiche: der Kinderglaube muss sich im Laufe des Lebens verändern, muss erwachsen werden. Das kann er aber nur, wenn er genügend Nahrung und Anregung bekommt; sonst droht eine lebensgefährliche spirituelle Magersucht.
Mir ist das während meines Vikariats deutlich geworden: damit der Glaube mir wirklich Lebenshilfe sein kann in diesem Leben mit seinen Anforderungen, muss ich ihn verknüpfen mit allen Erkenntnissen, die ich aus der Beschäftigung mit dem, was dieses Leben ausmacht, wie es geworden ist, gewinnen kann. Denn der Glaube ist um des Lebens willen da.
Das hört sich nun recht einfach an, ist es aber gar nicht. Jedenfalls ist es für mich nicht einfach gewesen, die Vorstellung vom festen Glauben, den man hat, loszulassen und sich auf den Weg zu machen, um aufgrund eigener Erfahrungen und Erkenntnisse den Glauben neu auszusprechen. Zuviel stand erst einmal dagegen. Vor allen Dingen die Tatsache, dass die ganzen alten Bekenntnisse als unverrückbare Grundlage christlichen Glaubens gelten – quasi göttliche Würde besitzen – und dass die eigene Erfahrung – Glaubens- und Lebenserfahrung – eigentlich nichts zählt. Wer über den christlichen Glauben spricht und dabei „Ich“ sagt, seine Einsichten und Erkenntnisse ohne Deckung von hohen Autoritäten wie den Kirchenvätern, Martin Luther oder Karl Barth von der Kanzel oder in der Gemeinde mitteilt, der riskiert, einen Ketzerhut verpasst zu bekommen.
Der Weg zu einem lebendigen Glauben ist kein Spaziergang. Ich habe im Thomas-Evangelium einen kleinen Abschnitt gefunden, der die Anstrengungen, die mit diesem Weg verbunden sind, sehr schön deutlich macht. Das Thomasevangelium ist etwa zur Zeit des Matthäus-Evangeliums entstanden, zwischen 70 und 80 n.Chr. Es ist eine unverbundene Sammlung von Jesusworten, kurzen Szenen, die in einem Jesuswort gipfeln und Dialogen. Nicht wenige Jesus-Worte, die in der Bibel stehen, sind auch im Thomas-Evangelium zu finden. Andere, die sich in der Bibel nicht finden, wären es wert, dort zu erscheinen; denn die Wahrheit, die aus ihnen spricht, ist offensichtlich. Das Thomas-Evangelium wurde in vollständiger Fassung in koptischer Sprache erst 1945 bei Nag Hammadi gefunden. Zitate aus diesem Evangelium gab es in verschiedenen altkirchlichen Schriften. Das Thomas-Evangelium war also in der Frühzeit der Christenheit recht bekannt. In dem Abschnitt, auf den ich mich hier beziehen möchte, heißt es:
Jesus sagt: „Wer sucht, soll so lange weitersuchen, bis er findet. Wenn er aber findet, wird er erschrocken sein. Wenn er erschrocken ist, wird er staunen. Und er wird König sein über die unsichtbare Welt.“
Es ist der Suchweg des Glaubens, der hier kurz und knapp in drei bzw. vier Schritten nachgezeichnet wird.
„Wer sucht, soll so lange weitersuchen, bis er findet.“
Dieser erste Schritt wird auch in einem anderen Jesus-Wort aus dem Matthäusevangelium angesagt: Suchet, so werdet ihr finden. In diesem Wort aus dem Thomasevangelium kommt deutlicher zum Ausdruck, dass die Suche nach Einsichten und Erkenntnissen, die zum Leben und Glauben helfen, eine langwierige Sache ist, die Hartnäckigkeit und Beständigkeit verlangt. Der Glaubensweg ist ein Weg, an dem man „dranbleiben“ muss, auf dem man immer wieder neu nach Nahrung für Geist und Seele suchen muss – neugierig, wach und interessiert.
„Wenn er aber findet, wird er erschrocken sein.“
Genau diese Erfahrung habe ich gemacht, als ich ermutigt durch gute Begegnungen mit meinen Vikarskolleginnen und –kollegen anfing, geistig-geistliches Neuland zu betreten. Es ist für mich im Wesentlichen die Auseinandersetzung mit zwei Themenfeldern gewesen, die mich zunächst in eine fundamentale Verunsicherung geführt hat: mit der feministischen Theologie und der tiefenpsychologischen Exegese, der ich vornehmlich in den Büchern von Eugen Drewermann begegnete. Was ich da zu lesen und zu denken bekam, hatte ich vorher noch nie gehört, ja stellte das meiste von dem, was ich bis dahin meinte, an Glauben und christlicher Lehre verstanden zu haben, radikal in Frage.
Ein Beispiel: es war bis dahin für mich fraglos klar, dass Jesus für mich gestorben war, dass er sein Blut vergossen hatte, damit Gott mir meine Sünde vergeben kann. Doch nun erkannte ich: der Sündenbock, auf den alles abgeladen wird (in biblischer Diktion: das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg trägt) ist eine menschliche „Erfindung“, die seit Urzeiten dazu dient, die menschliche Unversöhnlichkeit abzureagieren. Einzelnen Personen oder Minderheiten wurde aufgelegt, was die anderen nicht mit sich abmachen wollten: sich ihrem Versagen, ihrer Schuld, ihren Ängsten und ihrer Ohnmacht zu stellen. Alles wurde auf die Anderen projiziert, ihnen wurde die Schuld gegeben an allem Negativen; alles Üble wurde ihnen aufgeladen, um mit ihnen aus der Welt geschafft zu werden, indem man sie umbrachte. Das „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg trägt“ – da hat es seinen Platz. Jesus ist so zum ultimativen Sündenbock des heillosen und religiös verwirrten Menschen geworden, der einen grausamen Tod sterben muss – vorgeblich, damit es mit seinem Tod Schluss ist mit dem Sündenbock-Unwesen (siehe Hebräerbrief). Aber dem war und ist nicht so.
Dass gerade die Christenheit die Juden als Sündenböcke in schrecklichster Weise verfolgt und missbraucht hat, das hat ohne Frage auch damit zu tun, dass das Opferdenken in der Kirche allgegenwärtig war und ist – in der Messe der römisch-katholischen Kirche und in den Liedern, besonders den Passionsliedern unseres evangelischen Gesangbuchs.
Als mir das aufging, fühlte ich mich zunächst einmal so, als wäre mir der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Ähnlich ist es mir mit vielen anderen bis dahin für mich fraglosen Glaubenswahrheiten gegangen. Und ich habe mich damals gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, sich all diesen Gedanken und Erkenntnissen lieber gar nicht erst ausgesetzt zu haben. War ich ein theologischer Zauberlehrling, der in seinen Erkenntnissen untergehen würde?
„Wenn er erschrocken ist, wird er staunen.“
Ja, es war ein existentielles Erschrecken, das ich damals erlebt habe. Und es dauerte erst einmal an, fast zwei Jahre. Ich hatte in dieser Zeit nicht Gott verloren, aber das meiste von dem, was ich meinte, über ihn zu wissen und über Jesus, all das, was meine Glaubensgrundlagen bis dahin waren, die ganzen vollmundigen Bekenntnisse der Christenheit.
Ich fing neu an, meinen Glauben zu buchstabieren – weniger göttlich, mehr menschlich. Denn in der Phase des Erschreckens, in dieser Glaubenskrise, hatte ich einen neuen Bezug zur Menschlichkeit, zum Menschen, zu mir selbst gefunden. Und ich entdeckte neu die Menschlichkeit Jesu und die Einfachheit und Klarheit seiner Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes.
Was hatte Jesus von Schuld und Vergebung gelehrt? Nichts über Opfer, sondern einfach die Hinwendung zu Gott und zu seinem Mitmenschen: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Ganz schlicht und einfach.
Was war Jesus das Wichtigste und Höchste? Die Gottes- und Menschenliebe, die sogar die Feinde einschließt.
Was war Jesu Richtschnur für alle Ethik? Die goldene Regel: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“
Das eigene Wohlergehen steht nicht im Widerspruch zur Nächstenliebe, die eben kein Opfer ist.
Ganz neu entdeckte ich, dass Jesus nicht nur von Gott als gnädigem Gott sprach, sondern als grund-gutem, als gütigem Gott, der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse, über Gerechte und Ungerechte – einfach weil er allen Leben gönnt. In ganz neuer Weise kam mir so Gott nahe, einfach und klar – und darin einzigartig. Über seine Güte und Liebe habe ich neu staunen gelernt. Seitdem steht für mich fest: der Glaube an Gott hat nichts damit zu tun, dass ich bestimmte Glaubenssätze für wahr halte, sondern dass ich ein Grundvertrauen habe, geborgen und geliebt zu sein, dass ich mit allem, was ich denken und fühlen, aufgehoben bin in Gottes Lebensfülle.
„Und er wird König sein über die unsichtbare Welt.“
Dieser vierte Satz hört sich zunächst einmal geheimnisvoll an, ist es aber nicht, wenn man ihn richtig versteht.
Die unsichtbare Welt ist die ganze Schöpfungswirklichkeit. Von dieser Wirklichkeit können wir Menschen nur begrenzt etwas wahrnehmen, einfach, weil wir Menschen sind. Und darüber hinaus zeigt sich jedem Menschen diese Wirklichkeit anders. Jeder macht seine eigenen Erfahrungen im Leben, nimmt Dinge auf unverwechselbare Weise wahr.
König zu sein über diese ganze Schöpfungswirklichkeit, das heißt, offen zu sein für alles, was es in ihr an Erkenntnissen gibt. In allem, was dem Frieden, der Gerechtigkeit und dem Leben dient, den einen Geist Gottes wirken zu sehen. Dankbar zu sein für die Buntheit und Vielfalt des Lebens. Wir brauchen keine Angst zu haben vor dem Fremden, sondern dürfen neugierig und gespannt darauf sein, etwas von den Lebenserfahrungen anderer Menschen in anderen Kulturen, mit anderer Religion zu erfahren, von ihnen zu lernen. Auch sie haben Erfahrungen mit dem einen Gott gemacht, dem Schöpfer Himmels und der Erden. Gott ist ihnen nahegekommen, wie er uns nahegekommen ist. Jedem auf seine Art, nach seinem Vermögen. Alle solche Gotteserfahrungen sind ein Schatz, in dem Gott sich uns zur Verfügung stellt, damit unser Leben und Glauben an Tiefe zunimmt und wir reifen.
Um König zu sein über die unsichtbare Welt brauchen wir keine Raumfahrtprogramme und nicht viel Geld. Wir brauchen nur den Mut, uns selbst zu riskieren, indem wir uns vom Geist Gottes in geistig-geistliches Neuland hinausrufen lassen, immer wieder neu suchen und fragen, das Erschrecken nicht fürchten und das Staunen wieder lernen. Gott möchte uns dazu dienen – in jedem Gottesdienst.
Amen.
10.S.n.Tr., 13.08.2023, "Stefan Zweig", Jonakirche, Daniel Kaufmann
„Mögen sie
die Morgenröte noch sehen
nach der langen Nacht.
Ich, allzu Ungeduldiger,
gehe ihnen voraus.“
(Stefan Zweig, 22.2. 1942 in seinem Abschiedsbrief an die Freunde)
Literarischer Abendgottesdienst in 6 Abschnitten
1.Der Dichter
Mit Stefan Zweig treffen wir auf einen der meistgelesenen, erfolgreichsten Schriftsteller und Autoren deutscher Sprache, dessen Werke zudem in über 30 anderen Sprachen übersetzt worden sind. Von Haus aus waren er und sein älterer Bruder Alfred ausgesprochen gut ausgestattet und versorgt: sein Vater erfolgreicher jüdischer Textil-Unternehmer, der es zu einem ganz erklecklichen Wohlstand gebracht hat, die Mutter italienischer Herkunft und aus einer gut betuchten Bankerfamilie, selbstbewusst und standesbewusst. Die Familie legt Wert auf Bildung, die Kinder haben also u.a. auch Sprachen zu lernen. Bei Stefan Zweig sind das: Italienisch, Französisch, Englisch, Deutsch und Latein. Diese Vielsprachigkeit öffnet und ebnet ihm zweifelsohne den Weg in eine literarische Laufbahn. Er kann praktisch ohne Probleme in Paris, Rom, London, Berlin mit den dortigen Intellektuellen und Liebhabern der Sprache parlieren, sich austauschen und auf den neuesten Stand halten.
Bis dahin allerdings ist es noch ein dorniger Weg. Die Schule mit ihrem recht schematischen Lernprogramm bietet ihm, wie er schreibt, sozusagen nichts außer mehr oder weniger abgesessene Zeit. Der Sportunterricht besteht in jenen Tagen aus erstaunlich wenigen Bewegungen und hauptsächlich disziplinarischen Ordnungsübungen. Mädchen werden separat von den Jungens unterrichtet. Im Schwimmbad gibt es da eine klare Trennwand, die akribisch von den Sittenhütern der Moral überwacht wird. Es war, wie Stefan Zweig in „Die Welt von gestern“ schreibt, das Jahrhundert der Sicherheiten. Die Frauen waren eingeschnürt in ein Anstandskorsett, in dem man wenig Luft bekam und sich ohne Riechsalz und Ohnmachtsanfälle so gut wie gar nicht bewegen konnte. Die Männer waren eingepackt mit Kragen, die hochgeschlossen rund um den Hals würgten. Erwachsen wird man in jenen Tagen erst sehr spät, Zweig schreibt, es galt schon als Sensation, wenn einer mit Anfang 40 ein leitendes Amt in Staat oder Gesellschaft einnahm. Richtig ernst genommen würde man erst mit 50 Jahren aufwärts – ideale Bedingungen für die Babyboomer heutiger Tage, möchte man da etwas ironisch vermerken.
In jenen Tagen sind diese Aussichten für junge Menschen nicht ganz so rosig. Das Einzige, was die Jungens und ihr Interesse anzieht, ist die Kultur, die Literatur und das Theater. All das findet außerhalb der Schule statt, zieht mit den Brettern, die die Welt bedeuten, aber viel Aufmerksamkeit auf sich. Die Jungens sind hier immer auf der Höhe, wissen, wann welches Stück mit welchen SchauspielerInnen besetzt ist, jagen und holen sich Autogramme und saugen den Klatsch der Wiener Presse wie ein Schwamm auf. Auch eigene Dichtung und Verse werden auf diese Weise angeregt. Ein Klassenkamerad, ein Jahrhundert-talent, Hugo von Hofmannsthal, spornt alle zu eigenen kreativen Worten an. Da sich abzeichnet, dass der ältere Bruder Alfred die Fabrik des Vaters weiterführt, ist für Stefan der Weg zu einer Laufbahn, in welchem Fachgebiet auch immer, frei. Einzige Bedingung und Forderung der Familie: ein Doktortitel, das ist sich eine Familie in jenen gehobenen Kreisen Wiens schuldig.
Also schreibt sich Stefan Zweig für das Studium der Philosophie in Wien, später in Berlin ein. „Selbstverständlich dachte ich nicht daran, in Berlin zu studieren. Ich habe dort die Universität ebenso wie in Wien nur zweimal im Verlauf eines Semesters aufgesucht, einmal, um die Vorlesung zu inskribieren und das zweite Mal, um mir ihren vorgeblichen Besuch testieren zu lassen.“ (S. Zweig: Die Welt von Gestern, Fünf Bände in Kassette, Band 5, 156, München, Anacondaverlag, 2021) Das macht er acht Semester lang und meldet sich dann zur Promotion an. Ansonsten widmet er sich der Sprache, kleinen Artikeln in renommierten Zeitungen u. a. in der neuen Freien Presse Wiens (Feuilleton), und den Versen, auch ein erster Gedichtband ist bald auf dem Markt: „Silberne Saiten“ 1901. Wie er später schreibt, kein Glanzstück, aber ein respektabler erster Versuch. Auch die Promotion gelingt ihm recht gut, zumal der Professor seine doch schon recht ansehnlichen öffentlichen Essays und Ausführungen sehr wohlwollend zur Kenntnis genommen hat und also bei der Prüfung recht gnädige Fragen stellt, kurzum: Die von der Familie gesteckten Ziele sind erreicht, er hat freie Hand für das, was er auch immer tun will. Aus diesen silbernen Saiten, einem Büchlein noch ohne große Meisterschaft, eine Kostprobe, ein bemerkenswerter Text, der das Buch eröffnet, ein Text, der schon in frühen Jahren den Tod als eine große, unbezwingbare Macht des Lebens beschreibt. (S.Zweig: Silberne Saiten, Gedichte, Fischerverlag, Frankfurt1982, S. 14f)
„Das Lebenslied.
Und jedes Lebensmal, das ich gefühlt,
hat in mir dunkle Klänge aufgewühlt.
Und doch, das eine will mir nie gelingen,
Mein Schicksal in ein Lebenslied zu zwingen,
was mir die Welt in Tag und Nacht gegeben,
in einen reinen Einklang zu verweben.
Ein irres Schiff, allein auf fremdem Meer,
schwankt meine Seele steuerlos einher
Und sucht und sucht und findet dennoch nie
den eig'nen Wiederklang der Weltenharmonie.
Und langsam wird sie ihrer Irrfahrt müd.
Sie weiß: Nur einer ist's, der löst ihr Lied,
der fügt die Trauer, Glück und jeden Drang
in einen tiefen, ewig gleichen Sang.
Nur durch den Tod, der jede Wunde stillt,
wird meiner Seele Wunschgebet erfüllt.
Denn einst, wenn müd mein Lebensstern versinkt,
mit matten Lichtern nur der Tag noch winkt,
da werd' ich sein Erlösungswort verspüren,
er wird mir segnend an die Seele rühren.
Und in mir atmet plötzlich heil'ge Ruh.
Mein Herz verstummt Er lächelt mild mir zu.
Und hebt den Bogen und die Saiten zittern
wie Erntepracht vor drohenden Gewittern,
Und beben, beugen sich – und singen schon
den ersten, sehnsuchtsweichen Silberton.
Wie eine scheue Knospe, die erblüht,
reift aus dem ersten Klang ein süßes Lied.
Da wird mein tiefstes Sehnen plötzlich Wort,
Mein Lebenslied ein einziger Accord.
Und Leid und Freude, Nacht und Sonnenglanz
umfassen sich in reiner Consonanz.
Und in die Tiefen, die noch keiner fand,
greift seine wunderstarke Meisterhand.
Und was nur dumpfer Wesenstrieb gewesen,
weiß er zu lichter Klarheit zu erlösen.
Und wilder wird sein Lied Wie heißes Blut
so rot und voll strömt seiner Töne Flut
und braust dahin, wie schaumgekrönte Wellen,
die trotzig an der eig'nen Kraft zerschellen,
Ein toller Sang lustlechzender Mänaden
ertost es laut in jauchzenden Kascaden.
Und wilder wird der Töne Bacchanal
und wächst zur ungeahnten Sinnesqual.
Und wird ein Schrei, der schrill zum Himmel gellt –
– Dann wirrt der wilde Strom und stirbt und fällt.
Ein Schluchzen noch, das müde sich entringt.
Das Lied verstummt, der matte Bogen sinkt.
Und meine Seele zittert von den Saiten
Zu sphärenklangdurchbebten Ewigkeiten.“
2.Der Pazifist
Finanziell unabhängig, gut ausgestattet, mit Doktortitel und etlichen Publikationen in der Tasche, geben ihm gute Freunde zwei wertvolle und hilfreiche Tipps: Erstens empfehlen sie ihm zu reisen. Das bildet und weitet den Horizont. Das nötige Kleingeld ist vorhanden, also reist Zweig. Es geht nach Paris, Brüssel, Rom und Berlin. Es geht nach Indien und Amerika und diese Reisen verschaffen ihm viele neue Eindrücke über Menschen und Kultur und bescheren ihm dann vor allem: viele wertvolle internationale Kontakte, die ihm in späteren Jahren noch sehr helfen werden. Unter anderem lernt er einige große Dichter und Denker kennen, so auch Emile Verhaeren, einen belgischen Dichter, der in Französisch schreibt. Und hier greift der zweite wichtige Tipp: Er geht gewissermaßen auch nochmal in die Schule, die Lebensschule könnte man sagen, genauer die Sprachschule: Er übersetzt die großen Dichtungen des schon berühmten Dichters ins Deutsche und schärft dabei vor allem seine eigene Sprache. Gerade weil man beim Übersetzen nicht einfach jedes Wort nur 1:1 transferieren kann, sondern den Sinn und Gehalt im Blick haben muss und dann gegebenenfalls auch noch das Versmaß und den Reim, sind das sehr hilfreiche Übungen zur Erweiterung des eigenen Wortschatzes und der eigenen Ausdrucksfähigkeit. In späteren Jahren spürt man dieses akribische und sensible Arbeiten an seinen eigenen Texten.
Im Grunde ist Stefan Zweig also gut auf eine angesehene und renommierte Karriere als Schriftsteller vorbereitet, da ändert der Ausbruch des 1. Weltkrieges alles. Nach den ersten Hallelujagesängen und euphorischen Kriegs-, vor allem Siegeshymnen stellt sich alsbald eine radikale Ernüchterung ein. Zweig arbeitet in einem Kriegsarchiv und im Auftrag der Propaganda, die die Kampfmoral hochhalten bzw. befeuern soll. Im Rahmen seiner Tätigkeit, einer Berichterstattung von der Front, überzeugen ihn die Begegnung mit einem Lazarettzug und die katastrophalen und verrohten Verhältnisse in den Schützengräben alsbald davon, dass dieser Krieg in einem absoluten Desaster enden wird. In ihm jedenfalls rumort die Frage, welchen konstruktiven Beitrag denn eigentlich die Dichter und Denker in Zeiten des Krieges leisten können. Die Waffen segnen? Bildzeitungsartikel schreiben? Einen wegweisenden Impuls erhält er bei einem Besuch in der Schweiz. Hier trifft er Romain Rolland, einen französischen Dichter, Schriftsteller (Literaturnobelpreis 1915) und einen der wenigen Friedensaktivisten jener Tage. Der ist im Auftrag und bei dem Roten Kreuz tätig, im Lazarett und verbindet die Verwundeten, Verstümmelten, die Opfer des Krieges. Das hinterlässt bei Zweig einen bleibenden Eindruck: Er schließt sich den pazifistischen Denkern an. Gewalt ist keine Lösung zur Befriedung eines Konfliktes. Er beginnt mit einem Bühnenwerk, das genau diesem Thema gewidmet ist:
„Jeremias“ (Text ist digital gut erreichbar unter: Zweig, Stefan (projekt-gutenberg.org) heißt es und orientiert sich an der biblischen Vorlage. Erstaunlicherweise muss er da gar nicht viel umschreiben: Im Grunde muss er den Text nur in passende Verse gießen. Denn das Jahr 589 vor Christus zeigt gewisse Parallelen zur Gegenwart (sc. den 1. Weltkrieg):
Der König von Juda, Zedekia, schmiedet ein Bündnis mit Ägypten, um sich von der Herrschaft des Nebukadnezars, des Königs von Babylon zu befreien.
Alles jauchzt und schreit begeistert angesichts der neu gewonnenen Stärke. Aber nicht allzu lang. Nebukadnezar schlägt zurück, Ägypten gibt klein bei bzw. wird militärisch besiegt und bald steht Nebukadnezar vor den Toren Jerusalems. Jeremias, der Prophet, der von Anfang an von diesem Aufstand abgeraten hat, versucht den König von einer friedlichen Lösung zu überzeugen: Besser jetzt klein beigeben als ein ganzes Volk zu verderben. Der König lehnt ab. Nach ca. 18monatiger Belagerung bricht der Widerstand zusammen, Zedekias Kinder werden umgebracht, er selbst geblendet, die Eliten abgeführt, das Volk, am Boden zerstört, erkennt, dass der Prophet Recht behalten hat. Ein Klage- und Bußgesang hebt an. Zweig schreibt dieses Werk wohl über dri Jahre, 1917 ist es fertig und auf den Markt gebracht und hat überwältigenden Erfolg. Es trifft wohl einen Nerv der Zeitgenossen, die sich nach drei Jahren Krieg nichts mehr wünschen als Frieden. In kurzer Zeit sind 20 000 Exemplare verkauft und das Stück wird auf die Bühne gebracht. Spätestens wenn die Anzahl der Leichen für die Gedenktafeln zu viele werden und wenn die traumatisierten, verstümmelten, deformierten Körper und Seelen sichtbar für alle das zivile Leben erreichen, setzen die Überlegungen für den Frieden ein. Das dürfte auch heute so sein. Zweig hat diese Beobachtung/Erkenntnis in zahlreichen anderen Erzählungen aufgenommen. Besonders eindrücklich in der Novelle „Der Zwang“. Zweig, Stefan (projekt-gutenberg.org), von der wir hier eine kurze Zusammenfassung hören:
„Der junge deutsche Maler Ferdinand R. aus M. hat sich in einem Dorf über dem Zürichsee eine kleine Wohnung gemietet und ein Atelier eingerichtet und lebt dort mit seiner Frau. Der tiefe Frieden erweist sich als trügerisch. Er erhält per Post in seinem Haus einen Stellungsbefehl aus Deutschland. Seine Ehefrau Paula redet ihm ein, er müsse dem Befehl nicht nachkommen, denn er sei ein freier Mann in einem freien Land. Kanonenfutter für den weiteren Krieg gegen Frankreich sei aus der Schweiz nicht zu haben. Ferdinand aber bekommt keine Ruhe mehr. Sein Gewissen meldet sich. Die Pflicht ruft ihn. Das Vaterland braucht ihn. Gewalt kann nur durch Gewalt beendet werden. Gehorsam macht er sich auf den Weg in sein Heimatland. An der Staatsgrenze aber hat der Maler eine erschütternde Begegnung mit schwer verwundeten französischen Soldaten. Vor dem Übertritt über die Grenze besinnt er sich und kehrt zurück zu seiner Frau Paula.“ Wenn der Preis für den Krieg in die Höhe schnellt und die Folgen genug Leben verstümmelt und vernichtet hat, steigen die Chancen der Pazifisten und Friedensbewegten – eine bittere Lehre und Wahrheit.“
3.Der Europäer
Nach dem ersten Weltkrieg beginnt das erfolgreichste Jahrzehnt im Leben Stefan Zweigs. Sein Bühnenstück „Jeremias“ hat voll eingeschlagen. Seine Botschaft vom Frieden trifft überall auf offene Ohren. Ein großes, teilweise auch demütiges Aufatmen beginnt. Die Menschen sind froh, dass sie mit dem Leben davongekommen sind. Und sie saugen begierig auf, was die Dichter und Denker ihnen an Nahrung für den Alltag zu lesen geben. Auch und vor allem Stefan Zweigs Novellen haben Erfolg. Der Inselverlag (mit dem Gründer Anton Knippenberg) wird sein Hausverlag. Auch privat tut sich etwas: Er lässt sich in Salzburg nieder. Er wohnt im Paschinger Schlössl am Kapuzinerberg. Zu Beginn des Jahres 1920 heiratet er Friderike von Winternitz, eine frühe Verehrerin seiner Dichtkunst. Sie bringt zwei Mädchen aus einer ersten Ehe mit in die Beziehung, mit denen Zweig allerdings nur bedingt gut zurechtkommt. Da Friderike recht tolerant, besser leidensfähig, ist, hält diese Beziehung einiges aus und währt immerhin auch knapp 15 Jahre.
In Salzburg besuchte ihn die geistige Elite Europas. Dichter, Maler, Musiker, Denker, alle geben sich bei Zweig ein Stelldichein (u.a. auch Hesse, Rilke). Und Zweig lässt sich von der Idee anstecken, dass Europa geistig geeint werden kann. Unter anderem durch die Kultur schaffenden Dichter und Denker, die sich international von West bis Ost vernetzen und gegenseitig Anregungen geben und eine Humanität befördern, die einen weiteren Krieg unmöglich machen soll/wird. Zweig ist so u.a. auch in Russland unterwegs, Maxim Gorki ist ein aufmerksamer Leser seiner Bücher und Essays. Das verbindet.
Zweig ist auf dem Gipfel seines Schaffens angekommen: Er hat eine geradezu geniale Beobachtungsgabe. Und vermag Konflikte und Spannungen des Lebens so in Worte zu fassen, dass diese Worte beim Lesen geradezu zu einem lebendigen Film werden. Ich bin da im Urlaub mehrmals in seine bildhafte Welt getaucht. Dazu ist Zweig ein messerscharfer Chronist der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse seiner Zeit. In seinem Spätwerk „Die Welt von gestern“ (Angaben, siehe oben) etwa beschreibt er Atmosphäre und Besonderheiten der zwanziger Jahre, die merkwürdigerweise oder zufälligerweise eine Reihe von Parallelen zu unserer Gegenwart aufweisen. Einer bis dahin nie erlebten Inflation mit verheerenden Folgen korrespondiert ein Aufbruch in zahlreichen Bereichen der gut bürgerlichen Gesellschaft. Wir hören eine Passage aus S. Zweig: Die Welt von gestern, München 2021, Seite 397-401:
„Eine ganz neue Jugend glaubte nicht mehr an ihre Eltern, den Politikern, den Lehrern; jede Verordnung, jede Proklamation des Staates wurde mit misstrauischem Blick gelesen. Mit einem Ruck emanzipierte sich die Nachkriegsgeneration brutal von allem bisher Gültigen und wandte jedweder Tradition den Rücken zu, entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, weg von alten Vergangenheiten und mit einem Schwung in die Zukunft.
Eine vollkommen neue Welt, eine ganz andere Ordnung sollte auf jedem Gebiete des Lebens mit ihr beginnen; und selbstverständlich begann alles mit wilden Übertreibungen. Wer oder was nicht gleichaltrig war, galt als erledigt. Statt wie vordem mit ihren Eltern zu reisen, zogen elfjährige, zwölfjährige Kinder in organisierten und sexuell gründlich instruierten Scharen als Wandervögel durch das Land bis nach Italien und an die Nordsee. In den Schulen wurden nach russischem Vorbild Schülerräte eingesetzt, welche die Lehrer überwachten, der Lehrplan umgestoßen, denn die Kinder sollten und wollten bloß lernen, was ihnen gefiel. Gegen jede gültige Form wurde aus bloßer Lust an der Revolte revoltiert, sogar gegen den Willen der Natur, gegen die ewige Polarität der Geschlechter. Die Mädchen ließen sich die Haare schneiden und zwar so kurz, dass man sie in ihren Bubiköpfen von Burschen nicht unterscheiden konnte, die jungen Männer wiederum rasierten sich die Bärte, um mädchenhafter zu erscheinen, Homosexualität und Lesbierinnentum wurde nicht aus innerem Trieb, sondern als Protest gegen die althergebrachten, die legalen, die normalen Liebesformen große Mode. Jede Ausdrucksform des Daseins bemühte sich, radikal und revolutionär aufzutrumpfen, selbstverständlich auch die Kunst. Die neue Malerei erklärte alles, was Rembrandt, Holbein und Velasquez geschaffen, für abgetan und begann die wildesten kubistischen und surrealistischen Experimente. Überall wurde das verständliche Element verfemt, die Melodie in der Musik, die Ähnlichkeit im Porträt, die Fasslichkeit der Sprache. Die Artikel „der die das“ wurden ausgeschaltet, der Satzbau auf den Kopf gestellt, man schrieb steil und kess im Telegrammstil, mit hitzigen Interjektionen, außerdem wurde jede Literatur, die nicht aktivistisch war, das heißt nicht politisch theoretisierte, auf den Müllhaufen geworfen. Die Musik suchte starrsinnig eine neue Tonalität und spaltete die Takte, die Architektur drehte die Häuser von innen nach außen, im Tanz verschwand der Walzer vor kubanischen und negroiden Figuren, die Mode erfand mit starker Betonung der Nacktheit immer andere Absurditäten, im Theater spielte man Hamlet im Frack und versuchte explosive Dramatik. Auf allen Gebieten begann eine Epoche wildesten Experimentierens, die alles Gewesene, Gewordene, Geleistete mit einem einzigen hitzigen Sprung überholen wollte; je jünger einer war, je weniger er gelernt hatte, desto willkommener war er durch seine Unverbundenheit mit jeder Tradition – endlich tobte sich die große Rache der Jugend gegen unsere Elternwelt triumphierend aus. Aber inmitten dieses wüsten Karnevals bot mir nichts ein tragikomischeres Schauspiel als zu sehen, wie viele Intellektuelle der älteren Generation in der panischen Angst, überholt zu werden und als unaktuell zu gelten, sich verzweifelt rasch eine künstliche Wildheit anschminkten und auch den offenkundigsten Abwegen täppisch hinkenden Schritts nachzuschleichen suchten.
Biedere, brave, graubärtige Akademieprofessoren übermalten ihre einstigen, jetzt unverkäuflich gewordenen Stillleben mit symbolischen Würfeln und Kuben, weil die jungen Direktoren alle andern Bilder als zu klassizistisch aus den Galerien räumten und ins Depot stellten. Schriftsteller, die jahrzehntelang ein rundes, klares Deutsch geschrieben, zerhackten folgsam ihre Sätze und exzedierten in Aktivismus; behäbige preußische Geheimräte dozierten auf dem Katheder Karl Marx, alte Hofballerinen tanzten dreiviertelnackt mit gestellten Verrenkungen die Appassionata Beethovens und Schönbergs Verklärte Nacht. Überall lief das Alter verstört der letzten Mode nach; es gab plötzlich nur den einen Ehrgeiz, „jung“ zu sein und hinter der gestern noch aktuellen eine noch aktuellere, noch radikalere und noch nie dagewesene Richtung prompt zu erfinden…
Welch eine wilde, anarchische, unwahrscheinliche Zeit, jene Jahre, da mit dem schwindenden Wert des Geldes alle anderen Werte in Österreich und Deutschland ins Rutschen kamen! Eine Epoche begeisterter Ekstase und wüster Schwindelei, eine einmalige Mischung von Ungeduld und Fanatismus. Alles, was extravagant und unkontrollierbar war, erlebte goldene Zeiten: Theosophie, Okkultismus, Spiritismus, Somnambulismus, Anthroposophie, Handleserei, Grafologie, indische Yogilehren und paracelsischer Mystizismus. Alles, was äußerste Spannungen über die bisher bekannten hinaus versprach, jede Form des Rauschgifts, Morphium, Kokain und Heroin, fand reißenden Absatz, in den Theaterstücken bildeten Inzest und Vatermord, in der Politik Kommunismus oder Faschismus die einzig erwünschte extreme Thematik; unbedingt verfemt hingegen war jede Form der Normalität und der Mäßigung. Aber ich möchte sie nicht missen, diese chaotische Zeit, nicht aus meinem eigenen Leben, nicht aus der Entwicklung der Kunst. Wie jede geistige Revolution im ersten Anschwung orgiastisch vorstoßend, hat sie die Luft vom Stickig-Traditionellen reingefegt, die Spannungen vieler Jahre entladen, und wertvolle Anregungen sind trotz allem von ihren verwegenen Experimenten zurückgeblieben. So sehr uns ihre Übertriebenheiten befremdeten, wir fühlten doch kein Recht, sie zu tadeln und hochmütig abzulehnen, denn im Grunde versuchte diese neue Jugend gutzumachen – wenn auch zu hitzig, zu ungeduldig – was unsere Generation durch Vorsicht und Abseitigkeit versäumt. Im Innersten war ihr Instinkt richtig, dass die Nachkriegszeit anders sein müsse als die des Vorkriegs; und eine neue Zeit, eine bessere Welt – hatten wir Älteren sie nicht ebenso gewollt…?“
4.Der „Mystiker“
Zweigs Texte, Geschichten und Erzählungen kreisen durchweg um die besonderen Momente und Konstellationen des Daseins. Eine schicksalhafte Begegnung zweier Menschen im Casino. Eine kurze Schlussnotiz aus einem Testament. Die unsterbliche Liebe eines Menschen mit Handicap.
Ein Arzt, der den entscheidenden Moment bei der Hilfe für einen geliebten Menschen verpasst, ein alternder Vater, der in einem überaus klaren Moment im Urlaub verbittert feststellen muss, dass er diese Welt mit ihren Eitelkeiten nicht mehr versteht. In und bei allen diesen Augenblicken wird etwas von dem Geheimnisvollen des Daseins sichtbar. Da blitzt fast so eine Art Mystik durch. Ein Stück Transzendenz. Ein geradezu göttlicher Impuls, der für eine überraschende Wendung, ein eindrückliches Erlebnis, eine letzte Weisheit, eine lehrreiche Erkenntnis sorgt. Zweig war nicht besonders gläubig, und soweit ich sehe, keiner dogmatischen Tradition besonders zugeneigt. Er war da vielmehr immer sehr skeptisch, weil im Grund genommen mit jedem Glauben ein gewisser Dogmatismus, mit jeder Rechthaberei fast immer Fanatismus und Unfrieden einhergeht. So steht Zweig auch einem Johannes Calvin oder einen Martin Luther eher distanziert gegenüber, weil die bei aller genialen Schaffenskraft doch menschlich einiges zu wünschen übriglassen. Bei Calvin ist das etwa die Idee, in Genf eine christlich kontrollierte Gottesstadt zu schaffen. Das ließ nicht sehr viel Spielraum für Toleranz und Andersdenkende und führt bekanntlich dazu, dass etwa ein recht unschuldiger Denker wie Servet auf dem Scheiterhaufen brennen musste. (sehr lesenswert dazu: S. Zweig: Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt, Projekt Gutenberg)
Von Luther wissen wir, dass er gerade in den letzten Jahren ziemlich cholerisch und wütend unterwegs war und seine Ausfälle gegenüber Juden, Muslimen, Hexen, Behinderten sind alles andere als ein Ruhmesblatt. Zweig waren diese Eiferer und Weltveränderer gerade in ihrer apodiktischen Form höchst suspekt. Er sympathisierte mit den feinen Geistern wie dem Humanisten Erasmus (hier sehr inspirierend: S. Zweig: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam, Projekt Gutenberg) oder dem Menschenfreund Castellio (s.o), die zur Durchsetzung ihrer Ziele auf jegliche Gewalt verzichteten und sich aus der Hitze der aufgeheizten Debatten zurückzogen. Zweig tut sich mit allzu dynamischen Vertretern der Institution Kirche also schwer. Sie sind ihm zu laut, zu einseitig, zu drängerisch, zu ungeduldig, zu intolerant. Nichtsdestotrotz hat er ein untrügliches Gespür dafür, dass es im Leben zuweilen auch um letzte Gewissheiten und letzte Überzeugungen geht. Für mich das herausragendste Zeugnis dieser Art stammt aus den „Sternstunden der Menschheit“. Es ist die Erzählung von G.F. Händels Auferstehung, genauer: der Moment, in dem der „Messias“ eines der großartigsten Oratorien der Weltgeschichte entsteht.
„Händel war“, so schreibt es Zweig, „in einer Art Schaffenskrise. Nach einem Schlaganfall hatte er sich mühsam wieder ins Leben zurückgekämpft, aber die genialen Einfälle und kreativen Ideen wollten sich nicht mehr einstellen. Schon drohte ihm das Schicksal eines erloschenen musikalischen Vulkans, von allen Seiten nur Leere und Scheitern. Da kommt das Libretto von Jennens, dem Dichter, der ihm auch den Text zu Saul und Israel in Ägypten geschrieben hat, auf den Tisch. „The Messiah“ stand auf der ersten Seite…
„Er schlug das Titelblatt um und begann zu lesen. Beim ersten Wort fuhr er auf. „Comfort ye“, so begann der geschriebene Text. Sei getrost! Wie ein Zauber war es, dieses Wort – nein, nicht Wort: Antwort war es, göttlich gegeben, Engelsruf aus verhangenen Himmeln in sein verzagendes Her. „Comfort ye“ – wie dies klang, wie es aufrüttelte innen die verschüchterte Seele, schaffendes, erschaffendes Wort. Und schon, kaum gelesen, kaum durchfühlt, hörte Händel es als Musik, in Tönen schwebend, rufen, rauschend, singend. O Glück, die Pforten waren aufgetan, er führte, er hörte wieder in Musik! Die Hände bebten ihm, wie er nun Blatt um Blatt wandte. Ja, er war aufgerufen, angerufen, jedes Wort griff in ihn ein mit unwiderstehlicher Macht. So spricht der Herr, war dies nicht ihm gesagt, und ihm allein, war dies nicht dieselbe Hand, die ihn zu Boden geschlagen, die ihn nun selig aufhob von der Erde? …. Ihm war es gesagt, nur ihm allein, dieses „Ruf aus dein Wort mit Macht, oh, ausrufen, dies, ausrufen mit der Gewalt der dröhnenden Posaunen, des brausenden Chors, mit dem Donner der Orgel, das noch einmal wie am ersten Tag das Wort, der heilige Logos, die Menschen erwecke, sie alle, die andern, die noch verzweifelt im Dunkel gingen, denn wahrlich, noch deckt Dunkel die Erde, noch wissen sie nicht um die Seligkeit der Erlösung, die ihm in dieser Stunde geschehen. Und kaum gelesen, schon brauste er ihm auf, vollgeformt, der Dankruf, wonderful, „counsellor“, „the mighty God“, der mächtige Gott, ja, so ihn preisen, den Wundervollen, der Rat wusste und Tat, ihn der den Frieden gab den verstörten Herzen! … Wie da nicht danken, wie nicht aufjauchzen und jubeln mit tausend Stimmen in der einen und eigenen, wie nicht singen und lobpreisen: „Glory to God!“ Händel beugte sein Haupt über die Blätter wie unter großem Sturm. Alle Müdigkeit war dahin. So hatte er nie seine Kraft gefühlt, noch nie sich ähnlich durchströmt empfunden von aller Lust des Schöpfertums. Und immer wieder wie Güsse von warmem, lösendem Licht strömten die Worte über ihn, jedes in sein Herz gezielt, beschwörend, befreiend! „Rejoice“, Freue dich – wie dieser Chorgesang herrlich aufriss, unwillkürlich hob er das Haupt und die Arme spannten sich weit. Er ist der wahre Helfer – ja, dies wollte er bezeugen, wie nie es ein Irdischer getan, aufheben wollte er sein Zeugnis wie eine leuchtende Tafel über die Welt. Nur der viel gelitten, weiß um die Freude, nur der Geprüfte ahnt die letzte Güte der Begnadigung, sein ist es, vor den Menschen zu zeugen von der Auferstehung um des erlebten Todes willen. ….“Lift up your heads“. Erhebt eure Häupter wie das tönend nun aus ihm drang, großer Befehl der Verkündigung! Und plötzlich erschauerte er, denn da stand, von des armen Jennens Hand geschrieben: „The Lord gave the word“. Der Atem stockte ihm. Hier war Wahrheit gesagt durch einen zufälligen Menschenmund: Der Herr hatte ihm das Wort gesandt, von oben war es an ihn ergangen. Von ihm kam das Wort, von ihm kam der Klang, von ihm die Gnade! Zu ihm zurück muss es gehen, zu ihm aufgehoben werden von der Flut des Herzens, ihm lobzusingen, war jedes Schaffenden Lust und Pflicht. ….“Halleluja! Halleluja! Halleluja!“
Ja, alle Stimmen dieser Erde darin zusammenfassen, die hellen und die dunklen, die beharrende des Mannes, die nachgiebige der Frau, sie füllen und steigern und wandeln, sie binden und lösen im rhythmischen Chore, sie aufsteigen lassen und niedersteigen die Jakobsleiter der Töne, sie beschwichtigen mit dem süßen Strick der Geigen, sie anfeuern mit dem scharfen Stoß der Fanfaren, sie brausen lassen im Donner der Orgel: Halleluja! Halleluja! Halleluja aus diesem Wort, aus diesem Dank einen Jubel schaffen, der von dieser Erde zurückdröhnte bis zum Schöpfer des Alls!“ (S. Zweig, Gesammelte Werke, München 2022, Anacondaverlag, 661-665)
5.Der Jude
Heute, an diesem Tag (13.8.2023) ist der Israelsonntag angesiedelt, jener Tag, an dem die rheinische Kirche insbesondere und gesondert einige Gedanken zu dem Verhältnis von Christen und Juden in Erinnerung bringt. Auch bei Stefan Zweig gibt es ein jüdisches Vermächtnis. Er und seine Familie sind dem liberalen Judentum zuzuordnen. Wichtiger als die nationale oder Volkszugehörigkeit war den Zweigs allerdings die Zugehörigkeit zur abendländisch-christlichen Kultur. Aus früheren Jugendjahren sind eine Reihe Gespräche und Treffen von Stefan Zweig mit Theodor Herzl, dem Haupt-Begründer des politischen Zionismus, überliefert. (S. Zweig: Die Welt von Gestern, Anacondaverlag, München 2021, 141-154) Diese Gespräche hatten sich im Zusammenhang der Arbeit bei der „Neuen Freien Presse“ dessen Feuilltonteil Herzl leitete, ergeben. Während Herzl ein glühender Vertreter und Bewerber der Idee von einem jüdischen Staat war, konnte sich Zweig für diese Variante wenig erwärmen. Die Jüdische Nation verwirklicht sich am besten als globale Kulturnation, nicht aber in Form eines eigenen Staatswesens, so Zweig. Ähnlich argumentierten die großen deutschen Dichter um 1800, als Napoleon halb Europa in Atem hielt und klar war, dass es mit deutscher nationaler Größe nichts werden wird. Auch dort der Gedankengang einer globalen Kulturnation, die sich segensreich auf alle Völker auswirkt.
Also politisch konnte und wollte Stefan Zweig lange Zeit nichts zu seinen jüdischen Wurzeln sagen, wurde dann aber Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre sehr unsanft durch den aufstrebenden NS-Staat unter Adolf Hitler geweckt. Wie empfindlich die Nazis jede erdenkliche Kritik zu ersticken trachteten, hat Zweig erlebt, als seine Novelle „Brennendes Geheimnis“ (1911 geschrieben) verfilmt und just in jenen Tagen in die Kinos kommen sollte, als der Reichstag 1933 brannte. Der Film wurde zügig abgesetzt, obwohl es darin überhaupt nicht um den Reichstag, auch nicht ansatzweise um Politik, sondern um eine mehr oder weniger problematische unerfüllte Liebesgeschichte zwischen einem etwas luftigen Baron und einer verheirateten Frau und ihrem zwölfjährigen Sohn ging. (S. Zweig: Die Welt von gestern, Anacondaverlag, München, 485) Die Nazis wollten eben auch jeden Hauch einer Anspielung auf etwaige politische Verdächtigungen oder Machenschaften zuvorkommen. Ernsthaft und bedrückender war indes ein von der Geheimpolizei unter dem Vorwand, Zweig hätte in seinem Haus Waffen versteckt, durchgeführte Durchsuchung seiner Räumlichkeiten. Natürlich fanden sie nichts, Zweig indes, sensibel für die Zeichen der Zeit, spürte in diesem übergriffigen Akt die Vorboten weiterer noch schlimmerer Zugriffe und beschloss recht schnell und adhoc, Österreich zu verlassen. Es ging Richtung England ins Exil, ohne seine Frau und deren beiden Töchter, die lieber in Österreich bleiben wollten. Allein seine Sekretärin Charlotte Altmann folgte ihm. Mag sein, dass diese neuerliche Wendung in seinem Leben auch für die endgültige Trennung von seiner Frau verantwortlich war, ab jetzt fühlte er den heißen Atem der Nazis mehr oder weniger überall in nächster Nähe.
Als der zweite Weltkrieg ausbrach, galt er auch in England, das seine Bücher gerne las und ihn als Schriftsteller achtete, als „feindlicher Gast“. So heiratete er 1939 seine Sekretärin und beschloss, Europa zu verlassen. Es ging zunächst in die USA und anschließend nach Brasilien, jenem Land, das gleichermaßen von seinen Werken begeistert Visum und Asyl bot. Hier ließ er sich in Petropolis nieder, einem nahe Rio gelegenen Luftkurort und zugleich „Künstlerkolonie“. Und hier entstanden auch seine beiden letzten großen Werke: Die „Schachnovelle“, die sicher biographisch motiviert die Traumata eines diktatorischen Systems meisterhaft in eine Erzählung bannt und das große sehr lesenswerte Werk: „Die Welt von Gestern“, in dem er sein Leben mit den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen der letzten 50 Jahre zusammenfasste und kommentierte. Darin gibt es auch einen Abschnitt zu der Frage, was es mit den Juden, mit Hiob, mit jener Warum-Frage auf sich hat, die das jüdische Volk wie kein Zweites mit sich herumträgt und in immer neuen Wendungen verarbeitet hat. (S. Zweig: Die Welt von gestern, Anacondaverlag, München, 562- 564)
„Aber das Tragischste in der jüdischen Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts war, dass die sie erlitten keinen Sinn mehr in ihr finden konnten und keine Schuld. All die Ausgetriebenen der mittelalterlichen Zeiten, ihre Urväter und Ahnen, sie hatten zumindest gewusst, wofür sie litten: für ihren Glauben, für ihr Gesetz. Sie besaßen noch als Talisman der Seele, was diese von heute längst verloren, das unverbrüchliche Vertrauen in ihren Gott. Sie lebten und litten in dem stolzen Wahn, als auserlesenes Volk vom Schöpfer der Welt und der Menschen bestimmt zu sein für besonderes Schicksal und besondere Sendung, und das verheißende Wort der Bibel war ihnen Gebot und Gesetz. Wenn man sie auf den Brandstoß warf, pressten sie die ihnen heilige Schrift an die Brust und spürten durch diese innere Feurigkeit nicht so glühend die mörderischen Flammen. Wenn man sie über die Länder jagte, blieb ihnen noch eine letzte Heimat, ihre Heimat in Gott, aus der keine irdische Macht, kein Kaiser, kein König, keine Inquisition sie vertreiben konnte.
Solange die Religion sie zusammenschloss, waren sie noch eine Gemeinschaft und darum eine Kraft; wenn man sie ausstieß und verjagte, so büßten sie für die Schuld, sich bewusst selbst abgesondert zu haben durch ihre Religion, durch ihre Gebräuche von den anderen Völkern der Erde. Die Juden des zwanzigsten Jahrhunderts aber waren längst keine Gemeinschaft mehr. Sie hatten keinen gemeinsamen Glauben, sie empfanden ihr Judesein eher als Last denn als Stolz und waren sich keiner Sendung bewusst. Abseits lebten sie von den Geboten ihrer einstmals heiligen Bücher, und sie wollten die alte, die gemeinsame Sprache nicht mehr. Sich einzuleben, sich einzugliedern in die Völker um sie, sich aufzulösen ins Allgemeine, war ihr immer ungeduldigeres Streben, um nur Frieden zu haben vor aller Verfolgung, Rast auf der ewigen Flucht. So verstanden die einen die andern nicht mehr, eingeschmolzen wie sie waren in die andern Völker. Franzosen, Deutsche, Engländer, Russen längst mehr als Juden. Jetzt erst, da man sie alle zusammenwarf und wie Schmutz auf den Straßen zusammenkehrte, die Bankdirektoren aus ihren Berliner Palais und die Synagogendiener aus den orthodoxen Gemeinden, die Pariser Philosophieprofessoren und die rumänischen Droschkenkutscher, die Leichenwäscher und Nobelpreisträger, die Konzertsängerinnen und die Klageweiber der Begräbnisse, die Schriftsteller und die Branntweinbrenner, die Besitzenden und die Besitzlosen, die Großen und die Kleinen, die Frommen und die Aufgeklärten, die Wucherer und die Weisen, die Zionisten und die Assimilierten, die Aschkenasi und die Sephardim, die Gerechten und die Ungerechten, und hinter ihnen noch die verstörte Schar derer, die längst dem Fluche entflüchtet zu sein glauben, die Getauften und die Gemischten – jetzt erst zwang man den Juden zum ersten Mal seit Hunderten Jahren wieder eine Gemeinsamkeit auf, die sie längst nicht mehr empfunden, die seit Ägypten immer wiederkehrende Gemeinsamkeit der Austreibung. Aber warum dies Schicksal ihnen und immer wieder ihnen allein? Was war der Grund, was der Sinn, was das Ziel dieser sinnlosen Verfolgung? Man trieb sie aus den Ländern und gab ihnen kein Land. Man sagte: Lebt nicht mit uns, aber man sagte ihnen nicht, wo sie leben sollten. Man gab ihnen die Schuld und verweigerte ihnen jedes Mittel, sie zu sühnen. Und so starrten sie sich an auf der Flucht mit brennenden Augen – warum ich? Warum du? Warum ich mit dir, den ich nicht kenne, dessen Sprache ich nicht verstehe, dessen Denkweise ich nicht fasse, mit dem mich nichts verbindet? Warum wir alle? Und keiner wusste Antwort. Selbst Siegmund Freud, das klarste Ingenium dieser Zeit, mit dem ich oft in jenen Tagen sprach, wusste keinen Weg, keinen Sinn in diesem Widersinn. Aber vielleicht ist es gerade des Judentums letzter Sinn, durch seine rätselhaft überdauernde Existenz Hiobs ewige Frage an Gott immer wieder zu wiederholen, damit sie nicht völlig vergessen werde auf Erden.“
6.Der Humanist
Letzte Zufluchtsort Petropolis. Der zunächst als Diktator, später als Präsident gewählte Getulio Vargas, ein begeisterter Fan von Zweigs Werken, gewährt ihm unbeschränktes Aufenthaltsrecht und Asyl in Brasilien, jenem Land, dem Zweig aus Dankbarkeit, möglicherweise auch aus echter Begeisterung, ein eigenes Buch gewidmet hat, in dem er es als Sehnsuchtsort und Zukunftsland beschrieb. Das entsprach mit etwas Abstand gesehen, nicht ganz der politischen Wirklichkeit, wohl aber einem inneren Bedürfnis von Stefan Zweig: Endlich an einem Ort, an dem ihm die Schergen der Nazis nicht mehr oder sollte man besser sagen: noch nicht erreichen konnten. Denn die Nachrichten in jenen Tagen sind bedrückender als je zuvor. Paris ist besetzt, halb Europa von den Nazis schon erobert, dazu hat Japan den USA den Krieg erklärt, Pearl Harbour macht deutlich, dass dieser Krieg noch lange nicht zu Ende gehen wird. Eine Reihe von deutschen U-Booten versenken vor den Hafenstädten Brasiliens diverse Transport- und Passagierschiffe. Für Stefan Zweig zieht sich die Schlinge immer weiter zu.
Er bringt jedenfalls nicht mehr die Kraft auf (wie noch im und nach dem ersten Weltkrieg und bis weit in die dreißiger Jahre hinein), sich noch einmal gegen den Untergang zu stemmen. Seine Hoffnung, dass die Dichter, Denker, Humanisten, Gutgläubigen dieser Welt die Barbarei aufhalten oder gar überwinden könnten, schwindet ihm. Er sieht keinen letzten Anker für sich und sein Leben mehr, der Freitod scheint ihm die logischste und sinnvollste Variante zu sein. Und so nimmt er sich am 23. Februar 1942 mit einer Überdosis Veronal das Leben. Sein letztes literarisches Vermächtnis ist ein Gedicht, das seinen Gemütszustand in diesen Tagen gut wiedergibt. (Stefan Zweig: Silberne Saiten, Fischerverlag,Frankfurt1982, 270)
„Linder schwebt der Stunden Reigen
Über schon ergrautem Haar,
Denn erst an des Bechers Neige
Wird der Grund, der gold’ne klar.
Vorgefühl des nahen Nachtens
Es verstört nicht – es entschwert!
Reine Lust des Weltbetrachtens
Kennt nur, wer nichts mehr begehrt,
Nicht mehr fragt, was er erreichte,
Nicht mehr klagt, was er gemißt,
Und dem Altern nur der leichte
Anfang seines Abschieds ist.
Niemals glänzt der Ausblick freier
Als im Glast des Scheidelichts,
Nie liebt man das Leben treuer
Als im Schatten des Verzichts.“
Der Schierlingsbecher ist ihm bereitet, er sieht sich in einem folgerichtigen Abschied von der Welt gestellt und beschließt, diesen letzten Akt der Verzweiflung zu vollziehen. Seine Lebensgefährtin Charlotte Altmann folgt ihm unmittelbar. Der an seiner Zeit, genauer: an der Brutalität seiner österreichischen und deutschen Landsleute zerbrochene Emigrant fühlte sich endlich „entschwert“. Seinen Freunden ruft er diese letzten Zeilen zu: „Ehe ich aus freiem Willen und mit klaren Sinnen aus dem Leben scheide, drängt es mich eine letzte Pflicht zu erfüllen: diesem wundervollen Lande Brasilien innig zu danken, das mir und meiner Arbeit so gute und gastliche Rast gegeben. Mit jedem Tage habe ich dies Land mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet. Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschließen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen: Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus. Stefan Zweig Petropolis 22. II 1942 (zitiert nach: Abschiedsbrief Stefan Zweigs – Wikisource)
Die Öffentlichkeit ist erschüttert, die Dichterkollegen sind bestürzt, teilweise auch mit großem Unverständnis unterwegs, später relativiert sich so mancher moralischer Schnellschuss. Das Leben ist weit mehr als ein auskömmliches Essen und Trinken, ein Dach überm Kopf, ein Bankkonto für die finanzielle Sicherheit. Das Leben ist mehr als ein paradiesische Naturumfeld/Luftkurort mit üppigem Sonnenschein und ausreichend Regen. Das Leben ist mehr als Briefkorrespondenz, Anerkennung, Erfolg, Lobpreisungen und Auszeichnungen. Das Leben ist im letzten Grunde Zugehörigkeit. Die findet man als Humanist und Agnostiker im fremden Land nur schwer oder gar nicht. Und das ist vielleicht die eigentliche Tragik dieses Todes: Dass da kein Halt, kein Anker, keine Bezugsgröße da ist, mit der man die schwierigen Zeiten überleben kann. Diese Zugehörigkeit ist und bleibt ein Geschenk, ein Geschenk, das man hoffentlich und immer wieder aber im Vertrauen auf den findet, der uns in seinen Händen hält, auch und gerade dann wenn wir sonst keinen Halt mehr finden. Deshalb und darum jetzt ein Lied, das an diesen letzten Halt erinnert:
Jonasingers: I almost let go
1.I almost let go Ich hätte fast losgelassen
I felt like I just Ich hatte den Zugriff auf das
couldn´t take life anymore. Leben irgendwie verloren.
My problems hat me bound Meine Probleme banden mich
Depression weighed me down Depressionen drückten mich
But God held me close, Aber Gott hielt mich fest
so I wouldn´t let go. So wurde ich nicht losgelassen
God´s mercy kept me Gottes Gnade hielt mich
So I wouldn´t let go. (2x) so wurde ich nicht losgelassen
Refr.So I´m here today So bin ich heute hier
because God kept me weil Gott mich hält
I´m alive today Ich bin lebendig
Only because of his grace allein auf Grund seiner Gnade
Oh, he kept me. Oh, er hält mich
God kept me. He kept me Gott hält mich. Er hält mich
so I wouldn´t let go. Deshalb lasse ich nicht mehr los.
- I almost gave up. Ich hätte fast losgelassen
I was right at the edge Ich war nah dran an einem
of a break- through Zusammenbruch,
but couldn´t see. Ich konnte nichts mehr sehen
The devil really had me Der Teufel hatte mich im Griff
But Jesus came aber Jesus kam
and grabbed me und ergriff mich
And he held me close, und hielt mich ganz fest
so I wouldn´t let go. Deshalb ließ ich nicht mehr los
God´s mercy kept me Gottes Gnade hält mich
so I wouldn´ t let go. Darum lasse ich nicht mehr los
Refr.So I´m here today… So bin ich heute hier
Refr.So I´m here today So bin ich heute hier
because God kept me weil Gott mich hält
I´m alive today Ich bin lebendig
Only because of his grace allein auf Grund seiner Gnade
Oh, he kept me. Oh, er hält mich
God kept me. He kept me (3x) Gott hält micht Er hält mich
…so I wouldn´t let go. Deshalb lasse ich nicht mehr
P.S. Wesentliche Erkenntnisse zu S. Zweig Leben und Werk insgesamt habe ich entnommen von: Oliver Matuschek: Stefan Zweig. Drei Leben. Eine Biographie, Fischerverlag, Frankfurt, 2018,4. Auflage.
10.So.n.Trin. ("Israelsonntag"), 13.08.2023, Stadtkirche, 5.Mose 4, 5 - 20, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 10.n.Trin („Israelsonntag“) - 13.VIII.2023
5.Mose 4, 5 – 20
Liebe Gemeinde!
5.Mose - „Deutero-Nomium“ - ist schon dem theologischen Namen nach das erste Rebranding, also der erste Versuch, eine ehrwürdig etablierte, aber irgendwie als abgenutzt und angestaubt geltende Marke zu verjüngen.
Wir kennen die Masche und auch die Not sehr gut.
Und auch wenn es in aller Regel trotz aller Berater-Poesie nicht annähernd so verjüngend und aufregend und verheißungsvoll ist wie behauptet, sich ein neues Logo, einen neuen Claim, ein neues Image zu basteln – wenn man immer schon einen Vogel hatte und plötzlich alles durchkreuzt, wird ja das Anliegen dadurch nicht klarer –, so schustern und schneidern wir doch alle unverdrossen mit bei den Kleiderwechseln und den Facelifts und den Anpassungsstrategien, die die Welt zu verlangen scheint. Ob bei der Kaiserswerther Diakonie oder der Recke-Stiftung in unserer Nachbarschaft: Kampagnen, neue Logos, neues „Wir-Gefühl“, neue Wahrnehmung mit einem poppigen Bild und knackigen Slogan zu lancieren, sind eben auch für uns der aus dem Aufmerksamkeitsdefizit herrührende letzte Schrei.
So dass „Kirche 2.0 oder 3.0“ wie das entsprechende Aufrüsten der Muttergottes zu „Maria 2.0“ uns kaum noch befremden.
… Und wenn doch, … wenn so ein hinterwäldlerisches Urviech wie ich immer noch meint, eine sich selber treue Kirche genüge und an der einen reinen Magd gebe es genug zu lieben, man müsse also nicht alles pimpen und peppen und durch Quadratur hoch Zwei irgendwie marktgängiger machen, … nun, dann kommt ausgerechnet die alte Bibel und macht es uns vor! Denn ihre Grundlage, ihr Urtext ist ja genau das: Ein Kern, der aus sich heraus erneuert wird. Ein Corpus, das sich in geschichtlich und geistlich gewandelter Gestalt wiederholt und darin auch erholt. Eine Wirklichkeit und Wahrheit, die bleiben, indem sie immer wieder anders gesagt, gehört, geschrieben, gelesen, gedeutet, geglaubt und gelebt werden.
Nicht nur, dass die Schriftlesung – in der wir das griechische Zeugnis des aramäisch sprechenden Jesus auf Deutsch hörten – uns heute gelehrt hat, wie das Neue Testament, der Neue Bund keinen anderen Gehalt, Sinn und Segen hat als der ewig ursprüngliche Bund, das ewig ursprüngliche Testament, das uns in der Hebräischen Schrift begegnet (vgl. Matth5, 17-20). … Nein, schon dieser erste Bund, dieses immer fälschlich so genannte „Alte“ Testament ist ein stetes Sich-Erneuern, Aktualisieren und Gegenwärtig-Erweisen des einen Wortes und Willens Gottes in allen Generationen und Situationen des Bundesvolkes und der Gemeinde.
Die Gabe der Torah am Sinai, diese noch in der überlebensfeindlichen Wüste vor der langen Wanderung gegebene Lebensordnung für ein sesshaftes Israel wird im 5.Buch Mose, am Ende der Zerreißprobe dieses vierzigjährigen „Noch nicht“, kurz vor der Erfüllung der Hoffnung auf Freiheit und Frieden also neu formuliert: Torah 2.0.
Und immer wieder vollzieht sich dann in den Taten und Entscheidungen der Richter, in den großen Verfassungen und trotz des anarchischen Verfalls der Königszeit, in den penetranten und pointierten Mahnungen und Lockungen der Propheten, in der feierlichen Bundeserneuerung unter König Josia (vgl. 2.Könige 22-23,3) und auch nach der Katastrophe des Exils noch im Buß- und Bekenntnisakt unter Esra die Erneuerung des Bundes in, mit und für Israel: Ein immer, immer wieder neues Testament: … Torah 3.0, … 4.0, … 5.0, … 6.0.
… Torah – Bund der Ordnung und Verheißung, Gesetz der Gerechtigkeit und Heilig-keit – in unveralteter, immer neuer Gültigkeit und Gegenwärtigkeit; Torah in Ewigkeit. ——
Das ist doch ein erbaulicher Grund-Satz am Israel-Sonntag.
Neuer, neuer, immer neuer ist der Bund und bleibt’s auch. …
Allerdings ist die ideal in unsere Zeit der Updates und Makeovers passende ständige Selbstaktualisierung der Botschaft Gottes in ihrer Forderung wie in ihrer Zusage nur die eine Seite dessen, worum es hier geht.
Neben der unbeirrten Hartnäckigkeit, in der Gott an Seiner Erwählung und am entsprechenden Lebensentwurf für die Seinen festhält, gibt es ja noch die andere Seite.
Zum „Neuer, neuer, immer neuer“, für das Gott garantiert, indem Er die Offenbarung Seines Willens durch Seinen Geist und Seine Zeugen stets lebendig hält, gehört, dass jede Zeit und jeder Mensch durch die jeweils gegenwärtige Botschaft zu einer je eigenen, je heutigen Reaktion gefordert ist. Wenn Gott Sein „Neuer, neuer, neuer“ im mit Israel geschlossenen und durch Jesus Christus allen offenstehenden Bund also immer durchhält, dann sind wir Menschen gefragt, ihm mit „Treuer, treuer, immer treuer“ zu entsprechen.
Der alte Bund also bleibt immer neu.
… Aber wäre der Mensch ihm jemals treu? …
Es gäbe Schreckliches darauf zu antworten. Schreckliches aus jeder Epoche der Vergangenheit, Schreckliches auch aus jeder Facette unserer Gegenwart.
Wie sehr wir untreu sind und wie wir alles veruntreuen, ist gar nicht aufzuzählen:
Unsre Seelen veruntreuen wir, lassen sie verhunzen, verhungern und verkümmern in der stofflichen Scheinwelt, die uns durch Reichtum unzufrieden macht.
Die Natur veruntreuen wir scham- und restlos mit einer Unersättlichkeit, die verrät, dass nicht Schöpfung, sondern Vernichtung die verborgene Triebfeder jenes Menschheitsegoismus ist, der sich für unabhängig von allen anderen Geschöpfen wähnt.
Die Schönheit veruntreuen wir, indem wir sie maschinell errechnen lassen; die Freiheit veruntreuen wir, indem wir den allgemeinsten Nenner unserer Gattung zu einem Individualprinzip verkrümmen; die Wahrheit veruntreuen wir in dem Augenblick, in dem wir das Maul aufmachen oder den Computer hochfahren. Usw., usw., usw.
„Neuer, neuer, neuer“? „Treuer, treuer, treuer“? – … Ach, von wegen: Bescheuer-, bescheuer-, immer bescheuerter!
Doch heute, am Israelsonntag, an dem uns der Anfang der zweiten Torah begegnet, die aktualisierte Verpflichtung, der erneuerte Bund, den Mose am Jordanufer zum Schluss seines Wüsten- und Lebensweges noch einmal für Israel auftat, … heute am Israelsonntag soll nur eine unserer zahllosen Untreuen uns bewegen.
…. Da aber muss man kurz Luft holen. Aus gutem, …. vielmehr abgründigem Grund haben wir uns nunmehr fünfzig Jahre lang gescheut, in der Kirche die tödliche alte Sprechweise zu wiederholen, … die tödliche biblische - also innerjüdische - Sprechweise zu wiederholen, in der Israel und die Untreue in einem Atemzug genannt werden.
Gewiss bei den Propheten reimt sich Israel auf Sünde besser noch als „treu“ sich auf „neu“ reimt.
Aber die mörderische Brutalität, in der die Kirche zweier Jahrtausende Gott und Israel keine Erneuerung und beiden Seiten keine Treue mehr zugestand, sondern sich zum selbsternannten Vollstrecker eines wortbrüchigen Gottes machte, dessen Bundesschwüre angeblich alle durch die Untreue Israels hinfällig gemacht worden waren, … diese abgrundtiefe Brutalität der Kirche ist und bleibt trotz alles Umkehrens und -denkens ihr unverwischbarer Schandfleck. ——
Indes: Israel bleibt eben nicht unverändert das passive, ausgestoßene, ghettoisierte, entrechtete, bis an die Enden der Erde zerstreute und im Dritten Reich dann durch Deportation gesammelte Volk der Schoah.
… Neu und neuer, … tatsächlich erneuert: Das ist ja das ungeheuerliche Weltgeschehen, das der Hybris der deutschen „Endlösung“ folgte.
… Gerade kein Ende, sondern ein neuer Anfang! ———
Das aber – dass es kein endgültiges Ende gibt! – ist der Grund, weshalb ich heute, mit leiser Stimme zum ersten Mal in meinem Dienst bewusst in einem Atemzug von Israel und Untreue sprechen werde:
Israel – ich rede vom neuen Staat, aber leider auch von den ultrareligiösen Kräften, die dort eine Pseudo-Vergangenheit, einen alten Bund erzwingen wollen, der ganz und gar scheußlich wäre – … Israel heute also wirkt wieder (wie so regelmäßig) als ein Brennspiegel menschheitlicher Geschicke und geschichtlicher Strömungen im Kampf von Geist und Ungeist.
Denn was die Menschheit insgesamt in unserer Zeit betreibt und wodurch sie sich selber zutiefst bedroht, das gibt sich besorgniserregend grell und heroisch umkämpft gerade in Israel zu erkennen: Das Veruntreuen des Rechtes.
Moses hat Israel damals, noch östlich des Jordan bei der Erneuerung der Sinai-Torah und der Wiederholung der Zehn Gebote so angesprochen: „Haltet und tut diese Gebote und Rechte. Denn darin zeigt sich den Völkern eure Weisheit und euer Verstand. Wenn sie alle diese Gebote hören werden, dann müssen sie sagen: Was für weise und verständige Leite sind das, ein herrliches Volk!“
Die Beachtung des göttlichen Gesetzes, die Verallgemeinerungsfähigkeit des Geistes der Torah und ihrer Moral und Weisheit und also die menschheitliche Allgemeinheit, die Universalität dieser Rechtsordnung, die sich allen Völkern erschließt, weil sie sich auf alle Völker erstreckt, sind Israel also aufgetragen.
Dass das Leben aller Menschen Schutz verdient, dass sie vor Eingriffen in ihre Beziehungen geschützt werden müssen, dass geistige und materielle Güter - Eigentum und Wahrheit - schutzwürdig sind, weil Gott, Der aus der Knechtschaft in Ägypten führt, der Garant von Freiheit, … weil Gott, Der den Sabbat gestiftet hat, der Garant des Friedens ist: Das ist der Katalog der Grundgesetze und Grundrechte, die in den Zehn Geboten die niemals alte, immer neue Torah ergeben, von der kein noch so kleiner Buchstabe, kein Tüttelchen abgeschafft werden, sondern bis Himmel und Erde vergehen stets besser und reicher mit Leben erfüllt werden soll (vgl. Matth.5,18).
Ohne nun in die Einzelheiten des augenblicklichen politischen und juristischen Dramas in Israel zu gehen, lässt sich mit den feierlichen Worten des Mose festhalten: Wenn in Israel Rechte beschränkt, wenn sie begrenzt und zurückgenommen werden, wenn die Achtung vor der Unantastbarkeit der weltlich, aber auch göttlich geschützten allgemeinen Grundrechtsordnung wankt und Willkür zugelassen werden soll, wenn Frauen und die arabische Bevölkerung eingeschüchtert werden und Christen gewaltsam bedroht, dann schreit das zum Himmel. Dann veruntreut Israel das Recht.
… Nur dass wir uns nicht etwa erheben! Nur dass wir nicht etwa meinen, wir seien treuer, … bei uns sei das Recht besser geschützt. Die ekelhafte Rückabwicklung des Rechtes, das allen gebührt, zu Sonder- und Gruppenrechten von Mehrheiten oder von Radikalen oder von Bestechlichen oder von Brutalen, findet auch bei uns Anhang und Anklang.
Genau darum aber gilt Jesu Wort (Matth.5,20) nur umso dringlicher: „Besser muss unsere Gerechtigkeit werden!“
Unser Vorsatz dabei muss nun aber sein, in der Rechtsordnung in dieser Welt die Nähe Gottes zu erkennen und zu bekennen, … die Nähe Des Unsichtbaren, Der gegenwärtig ist in Allem und in Allen und Dem gerade darum kein Einzelbild, kein Einzelzug, keine Einbildung und Eingrenzung, keine Bevorzugung unserer eigenen Art, keine Vergötzung unserer eigenen beschränkten Vorstellungen entspricht: Denn ihr habt keine Gestalt gesehen an dem Tag, da der HERR mit euch redete aus dem Feuer .
Ja, diesem unendlich großen Gott gibt nur die Ehrfurcht vor dem Allgemeinsten und Konkretesten, vor dem Abstraktesten und dem Lebendigsten die Ehre: Die Ehrfurcht, die bekennt, dass ER der HERR über alle ist, Der alle übertrifft, aber daher auch alle umfasst, alle verbindet, alle beruft, alle begnadet, alle berechtigt und alle erlöst!
Dieses Recht, das allen gilt, diese Gerechtigkeit Gottes, die Sein Recht allen zuspricht, immer wieder neu zu ehren und zu üben, zu heiligen und zu verteidigen, ist die Sendung Israels und der Kirche in der Welt.
Denn – so sagt es ein ganz herrliches und tagespolitisch auch ganz widerständiges Wort aus Psalm 99(4) in Luthers Übersetzung – „Im Reiche dieses Königs hat man das Recht lieb“!
Und deshalb können wir heute nicht schließen, ohne einige Liebhaber des Rechtes zu nennen und uns innerlich - und wo nötig auch äußerlich - an ihre Seite zu stellen, um die Erneuerung und Stärkung des Rechtes gegen alle Angriffe und Aushöhlungen als Gebot Gottes an unsere Zeit zu erfassen.
Denken wir an den Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz, Pinchas Goldschmidt, der diese Woche die zunehmende Aggression gegen Christen und christliche Einrichtungen in Israel verurteilt hat! Im Reiche dieses Königs hat man das Recht lieb!
Denken wir auch den Staatspräsidenten Israels, Jizchak Herzog, der am Mittwoch in Haifa ostentativ das Kloster „Stelle maris“ besucht hat, das in den vergangenen Wochen wiederholt von gewaltbereiten Ultraorthodoxen umzingelt und angegriffen wurde. Was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk!
Am allermeisten aber will ich uns heute mit Shikma Bressler geistig verbinden, einer renommierten Teilchenphysikerin und Mutter von fünf Töchtern, die am Fuß des Karmel lebt.
Shikma Bressler ist die junge und gewinnende Gallionsfigur der Bewegung von vielen hunderttausend Israelis, die sich mit der Schwächung und Brechung des Rechtes durch die geplante Justizreform nicht abfinden und so kraftvoll gegen einen Weg Israels in Nationalismus, Ideologie und Autokratie protestieren.
Eigentlich ist sie ausgelastet mit Forschungen, die den großen Geheimnissen der Physik gelten und mit den Sorgen und dem Glück aller Mütter in dieser zerbrechlichen Phase der Weltgeschichte. Aber in der Verteidigung des Rechtes hat sie nach ihren eigenen Worten bei den Massen, die mit ihr nach Jerusalem marschiert sind, „die Schönheit auf dem Gesicht Israels gesehen“[i].
Es ist jene Schönheit, die der Abglanz des unsichtbaren Gottes ist, Der ein heiliges Gesetz und strahlendes Recht für alle aufrichtet, dass die Heiden erleuchtet und zum Preis Seines Volkes Israel dient (vgl. Lk.2,32).
Dieses Recht und diese Schönheit stellt uns der Israelsonntag neu, immer wieder neu vor Augen, damit sie auch uns zu neuem, reinem Tun und Hoffen bewegen.
Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt dein ganzes Leben lang.
Amen.
[i] Vgl. das ausführliche Interview mit Shikma Bressler unter https://www.timesofisrael.com/what-matters-now-to-arrested-activist-shikma-bressler-saving-israel/
9.S.n.Tr., 06.08.2023, Predigtreihe zu Krisentexten der Bibel: "Glaubenskrise", Stadt- und Jonakirche, Daniel Kaufmann
Der Glaube ist in der Krise. Vielleicht sollte ich präziser sagen: Der Glaube, wie er in den beiden großen Volkskirchen in Deutschland vermittelt wird, ist in der Krise, auf dem Rückzug und versteht sich überhaupt nicht mehr von selbst. Wir werden immer größer, was die Ausgaben angeht. Wir werden immer kleiner, was die Mitgliederzahl angeht. Deutschlandweit sind wir evangelischerseits um 380 000 Mitglieder geschrumpft, katholischerseits um 520 000 Mitglieder. Das klingt relativ besser, ist aber nur ein schwacher Trost. Jedes Jahr eine Stadt wie Köln weniger Protestanten und Katholiken…
Pressetechnisch und in der Öffentlichkeitsarbeit sind die Katholiken übrigens nach wie vor ganz vorne dran. Selbst bei einem so problematischen Thema wie dem Missbrauch. Die Beauftragte der Bundesregierung Kerstin Claus, selbst Missbrauchsopfer eines evangelischen Pfarrers, der rechtlich nicht verfolgt, sondern lediglich versetzt wurde, hat in einer Aufsehen erregenden Pressemitteilung in dieser Woche (RP vom 1. August,D1) die zentrale und auch finanziell klar geordnete und gegliederte Aufarbeitungspraxis der katholischen Kirche als vorbildlich gelobt. Während die evangelische Kirche über die EKD und ihren 20 Landeskirchen lediglich regionale oder lokale Lösungen anvisiert und pauschale finanzielle Ersatzleistung von höchstens 5000 € hinbekommt, hat die hierarchisch und straff organisierte katholische Kirche ein auch finanziell sehr differenziertes Entschädigungsprogramm entworfen. Claus wörtlich: „Derzeit gibt es…keine andere institutionelle Struktur, die in Ansätzen das erreicht hat, was für Betroffene in der katholischen Kirche möglich wurde.“ Dazu passt sehr gut, dass der Papst beim Weltjugendtag in Lissabon sich demonstrativ auf die Seite der Opfer gestellt hat. Das ist doch mal ein Statement! Der Papst ist gegen den Missbrauch! Ähnliches gibt es in Bezug auf den Segnungsgottesdienst von Monsignore Herbert Ullmann für „sich liebende Menschen“ in Mettmann zu vermelden. Er wurde anonym von einem Gemeindeglied an höchster Stelle denunziert und institutionell abgemahnt (Düsseldorf Anzeiger KW 31, Titelseite). Der Papst hingegen hat gestern auf dem Weltjugendtag in Lissabon in einem luftigen Open-Air-Pavillon mehrfach darauf hingewiesen, dass die Katholische Kirche keine verschlossenen Türen hätte, sondern vielmehr offen für alle Menschen sei, die hier Zuflucht und Heimat suchen. Das ist doch mal ein Statement! Herzlichen Glückwunsch, möchte man da am liebsten etwas zynisch anfügen, wenn das Thema nicht so ernst und die Materie selbst große Sensibilität und Empathie bräuchte.
Aber statt großem Lamentieren über die Gewichtung von Lob und Tadel der Kirchen in der Presse an dieser Stelle ein paar konkrete Hinweise aus unserer gemeindlichen Arbeit: Wir sind durch die Initiative der Landeskirche und des Kirchenkreises zumindest bei der Prävention und Verhinderung von Missbrauch seit gut zwei Jahren gut vorangekommen. Alle Pfarrer haben eine mindestens achtstündige Fortbildung erhalten, die Presbyteriumsmitglieder folgen derzeit. Unser Jugendausschuss hat darüber hinaus auf Initiative unserer drei noch recht jugendlichen PresbyterInnen ein Verfahren bzw. ein Schutzkonzept erarbeitet, das Sie auch auf unserer Webseite (praktisch-glaube.de, Bildung, Jugendarbeit, Schutzkonzept) in allen Einzelheiten mit Vertrauensperson, Verfahrensabläufen studieren können. Seit zwei Jahren gehen wir dieses Thema auch offensiv bei Fortbildungen mit unseren jugendlichen Teamern vor jeder Freizeit durch.
Zurück zur Glaubenskrise: Wir haben immer weniger Geld und immer mehr Austritte. Die Mitgliedszahlen der ev. Kirche im Rheinland, speziell im Kirchenkreis Düsseldorf gehen dramatisch zurück, 4 Prozent letztes Jahr, macht ca. 4000 Austritte in 2022. In den letzten 40 Jahren hat sich die Mitgliedszahl der evangelischen Christen in Düsseldorf halbiert: Von ca. 180.000 auf jetzt etwas über 90.000. (Unsere Gemeindegliederzahlen in Kaiserswerth sind u.a. auch wegen der immer neu erschlossenen Baugebiete einigermaßen konstant geblieben: zurzeit ca. 5400 Gemeindeglieder.)
Dazu kommt, dass die Kirchensteuereinnahmen einbrechen werden. So hören wir es von höchster Stelle. Deshalb muss allenthalten gespart werden, am besten schon ab sofort und jetzt. Außerdem will die Landeskirche bis 2035 mit ihren Gebäuden (hier zunächst Kirchen, Gemeindezentren, Pfarrhäuser und Dienstwohnungen) klimaneutral werden. Der Gebäudestand ist nicht auf dem neuesten Stand, sondern bedarf der Renovierung, Überarbeitung. Investitionsstau nur bei den im engeren Sinn kirchlichen Gebäuden in Düsseldorf geschätzt 150 -200 Millionen Euro. Der Kirchenkreis schafft aber, bestenfalls 3-4 Millionen im Jahr für die Ertüchtigung von Immobilien auszugeben. Das heißt, ¾ der Gebäude werden mittelfristig nicht mehr zu halten sein. Eine in Auftrag gegebene Prioritätenliste wird bis Anfang 2026 festhalten, welche Immobilien aufgegeben werden müssen.
Ebenfalls bis 2035 soll Düsseldorf eine Gemeinde werden. Hier der Text dazu von der Frühjahrssynode am 12./13.Mai diesen Jahres „Wir wollen die Vielfalt des evangelischen Gemeindelebens und des Wirkens an kirchlichen wie an nicht-kirchlichen Orten unserer Stadt unterstützten und schützen. Dazu streben wir eine Körperschaft als ein starkes und handlungsfähiges organisatorische Dach an. Sie stellt sicher:
- eine geregelte Beteiligung aller, die sich im Gemeindeleben und in den Diensten engagieren,
- transparente Verfahrenswege und Entscheidungsstrukturen,
- eine gemeinsame Steuerung von Personal, Finanzen und Immobilien,
-ökologische, finanzielle und soziale Nachhaltigkeit.
Sie macht die Vielfalt und das Gemeinsame evangelischen Glaubens und Lebens in Verkündigung, Seelsorge, Diakonie und Bildung in der Stadt und ihren Quartieren präsent.“ So der KSV auf der Frühjahrssynode Mitte Mai des Jahres. Heißt im Klartext: Auflösung der klassischen parochialen Strukturen wie wir sie jetzt in den 17 Kirchengemeinden noch haben. Aufgabe von Flächenarbeit vor Ort. Stattdessen funktionale Serviceleistungen, die zentral gesteuert und vergeben werden mit mehr oder weniger lockerem Kontakt zur Ortsgemeinde. (Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter, wenn man sieht, dass die weltlichen, kommunalen Strukturen und Überlegungen praktisch genau das Gegenteil anstreben, wenn sie die Quartiersarbeit, die Kontakte und die Vernetzung vor Ort neu und verstärkt in den Blick nehmen!)
Liebe Schwestern und Brüder, Sie werden verstehen, dass wir hier in Kaiserswerth nicht nur verwundert, sondern auch verärgert und mit dieser Entwicklung überhaupt nicht einverstanden sind. Wir sind jedenfalls der Überzeugung, dass der Kontakt und die Vernetzung vor Ort für unsere spirituelle Gemeinschaft ganz herausragende Bedeutung hat. Und an dem gerade neu erschienenen Gemeindebrief können sie hoffentlich auch ablesen, dass wir nicht nachlassen, Angebote, Kreise, Veranstaltungen und Treffen „von der Wiege bis zur Bahre“ anzubieten. Das wollen und werden wir auch in Zukunft unter welchen Bedingungen auch immer anstreben!
Jetzt könnte man vielleicht nicht ganz zu Unrecht sagen, diese „Glaubenskrise“ sei doch vor allem eine Krise der Institution Volkskirche, der persönliche Glaube, mein persönlicher Glaube sei davon nur sehr mittelbar betroffen. Dass dem nicht so ist, hat sich mir ebenfalls auf der Frühjahrssynode, einer Jugendsynode, also mit Beteiligung vieler junger Menschen, gezeigt. Eine wesentliche Frage ging nämlich dahin, ob es den christlichen Glauben nicht auch ohne Bezug auf Jesus Christus geben soll, darf und muss. Schließlich würden in unseren Institutionen zahlreiche Mitarbeiter beschäftigt (auf die wir auch angewiesen sind, weil es auf dem Arbeitsmarkt keine anderen gibt), die von Tuten und Blasen, schon gar nicht von Kirche und Glauben ansatzweise berührt worden seien. Denen sei die Engführung auf die Person Jesus Christus nicht zuzumuten, die würden aber immerhin eine Werteorientierung (10 Gebote) und Humanität (Nächstenliebe) als Grundeinstellung mitbringen. Mag sein, so die Argumentation, dass der Bezug auf Jesus Christus mal von Bedeutung gewesen sei, jetzt hätten alle verstanden, worauf es im Kern ankommt, und insofern sei dieser „spezielle Kirchensprech“ (Jesus Christus) nicht mehr nötig. Gerade die anderen Religionen, z.B. auch die Muslime, stört dieser Bezug auf Jesus Christus und der Aussage: „Er war Gottes Sohn!“ ja ganz besonders. Und da könnte man also ganz viel Ärger und Verdruss vermeiden, wenn man diesen Bezug weglässt.
Der Glaube ist in der Krise, sagte ich, jetzt und in diesem Fall und speziell auch der Glaube an Jesus Christus. Das ist nicht ganz neu. Alle Evangelien der Bibel wissen davon, dass sich jederzeit und bei jeder Gelegenheit der Zweifel meldet. Bevor Jesus öffentlich auftritt, bekommt er von dem Durcheinanderbringer und Versucher in der Wüste drei markante Fragen vorgelegt: Er soll Steine zu Brot machen, von den Zinnen des Tempels springen und den Herrn des Geldes und Reichtums anbeten. Im Angebot und gefragt ist: ein Heilsbringer, ein Show- und Eventmanager für den Nervenkitzel. Gefragt ist eine imponierende Persönlichkeit, die über unbegrenzte Macht und Geld verfügt, denn Geld regiert die Welt. Jesus lehnt alle drei Angebote ab: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Munde Gottes kommt.“ „Du sollst Gott dem Herrn nicht versuchen, du sollst ihn allein anbeten und ihm allein dienen.“ Und das macht Jesus dann auch. Gott dienen. In Wort und Tat.
Obwohl die Stimmen nicht verstummen, die ihn immer wieder aufs Glatteis führen wollen. Das Thema Wunder bleibt durch die Bank ambivalent, weil die Menge hier eine PR-Maschine wittert, wenn einer 5000 Menschen satt machen kann, dann ist er doch ein „Brotkönig“ (Johannes 6). Wenn einer Menschen Heilung bringt, dann ist das doch ein Wundertäter gehobener Klasse, der für etliche gehobene Erregungszustände sorgen kann. Wenn einer wirklich Macht hat, dann hat das doch Potential für Umsturz und Befreiung von den verhassten Römern. Auch die Jünger, die engsten Freunde Jesu, sind von dem Gedanken fasziniert, dass mit Jesus jetzt mal so richtig und durchgreifend und demonstrativ jedem vor Augen geführt wird, dass Gott im Regiment sitzt und machtvoll alles lenkt. Gerne auch mit drastischen Methoden, wenn es gar nicht anders geht: also mit Feuer vom Himmel, Vernichtung der Andersdenkenden, notfalls auch mit Schwert und Gewalt. (Lukas 9,54) Wer hier kleckert und zögert, kommt zu nichts.
Jesus allerdings hat hier durchweg anderes im Sinn: Das Reich Gottes kommt unscheinbar (zum folgenden vgl. Matthäus 13), wächst wie ein Senfkorn, fängt extrem klein an und wird dann erst groß. Das Reich Gottes ist vermischt wie das Unkraut mit dem Weizen, wer hier zu früh jätet, vernichtet auch die gute Ernte. Das Reich Gottes kann gesucht und gefunden werden wie eine kostbare Perle, erweist sich als großer Schatz, kommt unverhofft und in der Regel ganz anders als erwartet: zu den Kindern, zu den Zöllnern und Sündern, zu denen an den Hecken und Zäunen.
Das Reich Gottes macht die ersten zu letzten und die letzten (Mt. 20,1-16) zu ersten und gibt allen, was zum Leben nötig ist. (Mt. 6,33-34) Und wenn ein Wunder geschieht, wenn Kranke heil und gesund werden, wenn Lahme gehen, Blinde sehen, Aussätzige rein werden, dann verdankt sich das weniger einem medizinischen Kniff oder Trick, dann hat das damit zu tun, dass ein Mensch sein Leben im Angesicht Gottes neu sortiert und verstehen lernt, dass ein Leben in Ordnung mit Gott und den Nächsten kommt. So etwa in der markanten Geschichte von dem Gelähmten und seinen vier Freunden(Markus 2,1-12), die ein Dach aufgraben, um ihren kranken Freund vor die Füße Jesu zu legen. Da erfolgt erst der Los- und Freispruch: „Dir sind deine Sünden vergeben!“ und dann die Heilung: „Steh auf, nimm dein Bett und geh!“ Wenn das Leben eines Menschen wieder in friedliche Bahnen kommt, dann bei Jesus immer ganzheitlich mit Körper, Seele und Geist!
Zu den schwierigen und schmerzlichen Lektionen gehörte vermutlich schon damals, dass das Reich Gottes nicht ohne Leid und tiefsten Krisen zu haben war und ist. Es ist nicht von dieser Welt, wie Jesus es dem Pilatus beim Verhör eindrücklich signalisiert (Johannes 18,36). Gerade darum ist es aber auch im Leiden und über den Tod hinaus wirksam und wirkmächtig. Und bewahrheitet sich, wenn alle Lichter ausgehen und niemand mehr einen Pfifferling darauf gibt. Bis auf den heutigen Tag bleibt der Ostermorgen die schlechthin skandalöse und alle menschlichen Erwartungen überholende Neuigkeit der Weltgeschichte. Der Totgesagte lebt und ist auferstanden.
Diese Neuigkeit hat es immerhin durch 2000 Jahre menschlicher Wirren und Verirrungen gerade auch in der Kirche geschafft. Allerdings nicht, ohne ganz erheblich Schaden zu leiden: Den ersten provokanten Rückfragen konnte man noch eine Reihe von glaubwürdigen Augenzeugen präsentieren, ganz zuvorderst Jesus sich selbst dem Thomas (Johannes 20,24-31), der den Fingertest machen möchte und dem sich Jesus in aller Leiblichkeit zeigt. Andere direkte Nachfragen wurden mit dem Hinweis auf das leere Grab beantwortet: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden!“ (Lukas 24,5). Auch diese Zeugen wurden schnell weniger, nach zwei Generationen spätestens war damit Schluss. An die Stelle der Augenzeugen traten die, die mit Worten bezeugten, was geschehen war. Diese Worte waren vielfältiger und angreifbarer, neben vielem Einleuchtenden trat auch mancherlei Ausgeschmücktes. Die apokryphen Schriften haben da etliche Anekdoten parat, u.a. auch das sogenannte Thomasevangelium bei den Kindheitsgeschichten Jesu. Da soll Jesus etwa aus gekneteten Tonvögeln am Sabbat lebendig fliegende Vögel gemacht haben. Sicher auch ein gut gemeinter Text, der etwas deutlich machen will, allein die Väter und Mütter des Glaubens spürten, dass es eines Kanons bedarf, einer Richtschnur, eine begrenzte Anzahl von Büchern mit seriösen Aussagen und glaubwürdigen Erzählungen und Worten.
Und so kam es über vier Jahrhunderte in einem mühsamen Klärungsprozess zu unserer heutigen Bibel, die dann auch in alle großen Metropolen des damaligen christlichen Verbreitungsgebietes Anerkennung fand. Die schriftlich fixierten Worte waren indes und für längere Zeit nur wenigen Auserwählten, die sich eine handschriftlich gefertigte Abschrift leisten konnten, vorbehalten. Die Reformation hat hier gute Arbeit geleistet und die Schriften mit dem Buchdruck Gutenbergs möglichst vielen zugänglich gemacht.
Damit setzte ein neues Studieren und Forschen an den Erzählungen und Worten der Schrift ein. Die Aufklärung sorgte für einen neuen Schub und Nachfragen, der bis in unsere Tage anhält. Kern ist nach wie vor, ob sein kann, was bisher jedenfalls im wissenschaftlich vorbereiteten Versuch nicht ein zweites Mal gelungen ist: Einen Toten zum Leben bringen. So werden bis in unsere Tage hinein die Rufe nicht leiser, dass das Grab nicht leer, sondern genauso voll gewesen sei wie bei allen anderen Gestorbenen auch (so vor knapp 15 Jahren (2008) Gerd Lüdemann, Göttinger Theologieprofessor). Andere Versuche waren und sind eher sprachlicher oder theologischer Natur: Jesus sei ins „Kerygma“, in die Verkündigung auferstanden (Rudolf Bultmann), er sei so lebendig, wie jemand lebendig ist, von dem man ständig neu oder immer wieder erzählt. Er sei im Geiste seiner Anhänger präsent, die würden dafür sorgen, dass sein Andenken weiter gepflegt würde. Wieder andere behaupten, er sei gar nicht so richtig gestorben, sondern scheintot vom Kreuz abgenommen und dann heimlich in östliche Sphären verbracht worden. Und starb dann dort auch mit Familie alt und lebenssatt. Diese These war mir zu Beginn meines Theologiestudiums 1984 begegnet (Holger Kersten: Jesus lebte in Indien), ich hielt sie allerdings inzwischen für überholt, wurde aber eines Besseren belehrt: Der Historiker Johannes Fried hat 2019 mit ähnlichen Argumenten wie damals nahtlos an diese Überlegungen angeknüpft.-
„Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendsten unter allen Menschen. Nun aber ist Christus auferweckt von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind. (1. Korinther 15,19-20) Und damit verbunden ist die unerhört exklusive Verheißung auf ein Leben jenseits unserer Zeit und Raumvorstellungen, eine Verbindung zum Ewigen, zur Ewigkeit, zur Immerzeit, zu dem Grund und Ziel allen Seins und Werdens, zu dem lebendigen Gott. Unüberholt und nach wie vor punktgenau bekennt es der Heidelberger Katechismus in Frage 1: „Was ist dein einziger Trost im Leben und Sterben…Dass ich mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre. Er hat mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst; und er bewahrt mich so, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen, ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss. Darum macht er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens gewiss und von Herzen willig und bereit, ihm forthin zu leben.“
Dieses Bekenntnis fußt auf die vielfach bezeugten Texte des neuen Testamentes, unter anderem auch auf den schon in der Schriftlesung vernommenen großartigen Gedicht aus Römer 8, 28 f. : „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ Hier findet sich in gedrängter Form alles, was die Zuversicht und Gewissheit unseres christlichen Glaubens ausmacht. Es gibt eine letzte tragende Verbindung, es gibt eine ultimative, unzerstörbare Zugehörigkeit, es gibt eine alle Katastrophen und Niederlagen überdauernde Beziehung zu der Liebe Gottes, die in Jesus Christus Gestalt geworden, sichtbar geworden, erfahrbar geworden ist. Und die in seinem Leben, Sterben und Auferstehen ihren Grund hat. Mit dieser Hoffnung, mit dieser Zuversicht und Gewissheit fängt alles an und beflügelt uns als Christen, dann auch von der Liebe Christi zu erzählen. Gerade wenn der Glaube kriselt.
Auf der Frühjahrs-Kreissynode haben wir uns zumindest in einer Kleingruppe darauf geeinigt, dass es nicht nur darum geht, mehr Demokratie, mehr Humanismus und mehr Nächstenliebe zu wagen. Sondern dass es vornehmlich darum gehen sollte, mehr Jesus zu wagen. Mehr von dem zu erzählen, der im Leben und Sterben letzten Halt gibt. Mehr von dem zu erzählen, der den Stein am Ostermorgen ins Rollen gebracht hat. In den letzten Tagen haben meine Frau und ich dazu vergleichsweise oft Gelegenheit gehabt: Beim Abschied von einem schwer von Krebs gezeichneten Endfünfziger. Bei dem Abschied von einem, der mit knapp 60 keinen anderen Ausweg als den Freitod sah. Bei einem kleinen Menschenkind, das in der 19. Woche nicht mehr lebensfähig war. Bei Menschen weit über 80 und über 90 Jahren, die friedlich eingeschlafen sind und von einer Krankheit erlöst wurden.
Es gibt sicher noch viele andere Situationen und Gelegenheiten, wo wir als Christen von dem erzählen können, der den Stein ins Rollen gebracht hat. Im Grunde genommen immer dann, wenn es um Hoffnung und Zuversicht und Trost und Hilfe bei welchen Herausforderungen des Lebens auch immer geht.
Ostern macht den Unterschied. Der Stein ist an die Seite gerollt worden und diese frohmachende Botschaft gilt es immer neu zu sagen. Mehr Jesus wagen, das heißt auch: Wieder Kontakt bekommen zu jenen Jesus-Erzählungen und Narrativen, die immer mehr verloren gehen. Wie wäre es z.B. wenn Sie das Lukasevangelium mal wieder komplett durchlesen. 24 Kapitel. Dauert gar nicht so lange. In drei Stunden ist man durch. Sagen die Statistiker. Oder die Bergpredigt lesen, Matthäus 5-7, 3 Kapitel, schafft man mit Pausen in einer Stunde. Oder die Gleichnisse vom Reich Gottes, 1 Kapitel, Matthäus 13, schafft man in 20 Minuten.
Mehr Jesus wagen, mehr von dem in die Debatte einbringen, was Jesus zum Thema Krieg und Frieden (Mt.5,43-48), was er zum Thema Gerechtigkeit (Mt. 6,33) und Verteilung der Finanzmittel („Jeder Tag hat seine Sorge“ (Mt. 6,34) und was er zu einem angemessenen Umgang mit dem, was uns anvertraut ist, u.a. auch der Schöpfung/Klima (Mt. 6, 25-32) gesagt hat.
„Der Glaube ist wie ein Vogel, der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist.“ (R. Tagore) Der Stein vom Grab ist weggerollt, es gibt nichts, was uns von Gottes Liebe trennen kann: Keine Wirtschafts- keine Finanz-, keine Flüchtlingskrise, kein Beziehungs-, Lebens- und auch keine Glaubenskrise. Und es gibt jede Menge Grund, neu von der Zuversicht, der Hoffnung und der Gewissheit zu erzählen, die Zeit und Ewigkeit umspannt.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.
8.S.n.Tr., 30.07.2023, Predigtreihe zu Krisentexten der Bibel: "Lebenskrise", Stadt- und Jonakirche, Ute Kaufmann
- Von der Schönheit des Alters -
Guten Morgen, liebe Geschwister im Herrn!
Wie geht es Ihnen heute Morgen?
Geht gut!
Geht nicht?
Geht so?....
Heute jedenfalls geht es weiter mit den „Krisen“! Unser diesjähriges Sommerthema in unserer Gemeinde.
Nach den ersten Krisentagen mit Herrn Pfarrer Marquardt zu Wirtschafts-, Finanz- und Flüchtlingskrise und der „Beziehungskrise“ meines Mannes, geht es heute um „Lebenskrisen“ – und die haben meist etwas mit dem Älterwerden zu tun, worauf in Liedern, Gebeten und Texten heute der Fokus liegt.
„Von der Schönheit des Alters“ ist dieser Gottesdienst überschrieben. Das könnte vielleicht gleich zu Missverständnissen Anlass geben: „Von der Schönheit des Alters“: Geht es darum, im Alter „schön“ zu bleiben? Oder darum, dass die letzte Lebensspanne „schön“ sein kann? Die letzte Lebensspanne: Wann beginnt sie eigentlich? Ist man schon alt, wenn man sich nicht mehr traut, Skateboard zu fahren? Dann müsste ich mich bald dazuzählen. Ist man alt, wenn man graue Haare bekommt? Oder erst, wenn man in Rente geht? 65 oder 66 oder 67 Jahre als staatlich verordnete Altersgrenze? Ist man alt, wenn man nicht mehr arbeiten kann? Ist man alt, wenn es soweit ist, dass die Pfarrerin/der Pfarrer am Geburtstag zu Besuch kommt?
Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Das Alter beginnt, wo die Freude aufhört.“
Wenn man nicht mehr in der Lage ist, etwas schön zu finden und sich zu freuen, ist man alt. Endgültig.
In diese Krise kann man allerdings schon sehr früh kommen, wie der kleine Witz von Anthony de Mallo humorvoll beschreibt:
Zwei kleine Jungen unterhielten sich. Fragte einer den anderen: „Wie alt bist du?“ „Ich bin fünf. Wie alt bist du?“ „Weiß ich nicht.“ „Du weißt nicht, wie alt du bist?“ „Nee.“ „Machen dir die Frauen zu schaffen?“ „Nee.“ „Dann biste vier.“
Also, ein bisschen Zeit haben wir noch, uns viel zu freuen. Uns allen einen gesegneten Gottesdienst!
_______________
Seligpreisungen eines alten Menschen
Selig, die Verständnis zeigen
Für meinen stolpernden Fuß
und meine lahme Hand.
Selig, die begreifen,
dass mein Ohr sich anstrengen muss,
um alles aufzunehmen,
was man zu mir spricht.
Selig, die zu wissen scheinen,
dass mein Auge trüb
und meine Gedanken träge geworden sind.
Selig, die mit freundlichem Lachen verweilen,
um mit mir zu plaudern.
Selig, die niemals sagen:
„Diese Geschichte haben Sie mir
heute schon zweimal erzählt.“
Selig, die es verstehen,
Erinnerungen an frühere Zeiten
In mir wachzurufen.
Selig, die mich erfahren lassen,
dass ich geliebt, geachtet
und nicht allein gelassen bin.
Selig, die in ihrer Güte die Tage erleichtern,
die mir noch bleiben
auf dem Weg in die ewige Heimat.
_________________
Herbsttag
Herr: Es ist Zeit.
Der Sommer war sehr groß.
Leg deine Schatten
auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren
lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
Gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin
und jagedie letzte Süße
in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus,
baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist,
wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen,
lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen
hin und her
unruhig wandern,
wenn die Blätter treiben.
Dieses Gedicht von Rainer Maria Rilke erzählt von den Schönheiten des Herbstes: Die letzten Früchte werden reif, überreif, schwer und süß. Ich besitze noch genügend Kraft, hat noch eine Menge Lebensmöglichkeiten, kann noch selbst das tun, was zu tun ist.
Ich genieße die Langsamkeit, die sich in meinem Leben ausbreitet, genieße jeden anbrechenden Morgen, die Ruhe, die ich mir erlauben darf, vielleicht erlauben muss. Mir vielleicht erlauben muss… Ich stelle mir das Alter nicht nur als sanftes Dahingleiten vor. Auch der Prediger in der Bibel sieht das Alter durchaus kritisch und verschweigt nicht die beschwerliche Seite. Wir hören aus dem Buch des Predigers Salomo, das 12. Kapitel, die Verse 1-7 (einmal Übersetzung von M. Luther, einmal Übersetzung der Guten Nachricht)
Lesung Prediger 12,1-7 (nach Martin Luther)
Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre nahen, da du wirst sagen: »Sie gefallen mir nicht«; ehe die Sonne und das Licht, der Mond und die Sterne finster werden und die Wolken wiederkommen nach dem Regen, – zur Zeit, wenn die Hüter des Hauses zittern und die Starken sich krümmen und müßig stehen die Müllerinnen, weil es so wenige geworden sind, wenn finster werden, die durch die Fenster sehen, wenn die Türen an der Gasse sich schließen, dass die Stimme der Mühle leise wird und sie sich hebt, wie wenn ein Vogel singt, und alle Töchter des Gesanges sich neigen; wenn man vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege, wenn der Mandelbaum blüht und die Heuschrecke sich belädt und die Kaper aufbricht; denn der Mensch fährt dahin, wo er ewig bleibt, und die Klageleute gehen umher auf der Gasse; – ehe der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht und der Eimer zerschellt an der Quelle und das Rad zerbrochen in den Brunnen fällt. Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.
Lesung Prediger 12, 1-7 in der Übersetzung der „Guten Nachricht“
Denk an deinen Schöpfer, solange du noch jung bist, ehe die schlechten Tage kommen und die Jahre, die dir nicht gefallen werden. Dann verdunkeln sich dir Sonne, Mond und Sterne, und nach jedem Regen kommen wieder neue Wolken. Dann werden deine Arme, die dich beschützt haben, zittern, und deine Beine, die dich getragen haben, werden schwach.
Die Zähne fallen dir aus, einer nach dem anderen; Deine Augen werden trüb und deine Ohren taub. Deine Stimme wird dünn und zittrig. Das Steigen fällt dir schwer, und bei jedem Schritt läufst du in Gefahr zu stürzen.
Draußen blüht der Mandelbaum, die Heuschrecke frisst sich voll, und die Kaperfrucht bricht auf, aber dich trägt man zu deiner letzten Wohnung. Auf der Straße stimmt man die Totenklage für dich an.
Genieße deine Leben, bevor es zu Ende geht, wie eine silberne Schnur zerreißt oder eine goldene Schale zerbricht, wie ein Krug an der Quelle in Scherben geht oder das Schöpfrad zerbrochen in den Brunnen stürzt.
Dann kehrt der Leib zur Erde zurück, aus der er entstanden ist, und der Lebensgeist geht zu Gott, der ihn gegeben hat.
___________________
Lied: „Ich lebe zwischen Herbst und Winter“ (Text: U. Tietze)
(Melodie EG 330: O dass ich tausend Zungen hätte):
1. Ich lebe zwischen Herbst und Winter,
sah oft der Jahreszeiten Lauf,
spür noch den Herbst, doch schnell verrinnt er,
und niemand hält den Winter auf.
Mein Weg war leicht und schwer und weit,
nun kommt die letzte Jahreszeit.
2. Schon viele Lebensblätter fielen,
manch lieber Mensch ist nicht mehr da.
Was ist erreicht von meinen Zielen?
Ich sag zu meinem Leben „Ja“.
Oft spürte ich des Schöpfers Hand,
er blieb mir liebend zugewandt.
3. Manch altes Lied ist längst verklungen,
doch tief in mir klingt mancher Ton.
So vieles an Erinnerungen!
Und manche scheint mir wie ein Lohn.
Mal hat das Leben mich gekränkt,
doch immer wieder reich beschenkt.
4. Gott hat mich liebevoll begleitet;
Zerstörerisch blieb Menschenwahn.
Längst ist mein Blick nun schon geweitet:
Nur Liebe führt auf guter Bahn.
Gott ist die Liebe – das ist wahr.
Sie trägt uns, wenn auch unsichtbar.
5. Ich lebe zwischen Herbst und Winter,
es endet einmal meine Zeit.
Nun naht die Kälte, doch dahinter
steht Gott mit seiner Ewigkeit.
Ich gehe langsam auf ihn zu –
in Liebe auf das große Du.
_______________
Ansprache: Von der Schönheit des Alters
„Es ist etwas Schreckliches passiert!“ – verzweifelt schaut eine unserer Ladies in die Frauenrunde. „Was denn?“ fragen alle anteilnehmend. „Ich bin 60 geworden!“
„Deutsche haben Angst vor dem Alter“ ist schon seit längerem in etlichen Zeitschriften zu lesen. Laut einer repräsentativen Studie freuten sich nur 4 % der Deutschen auf das Alter.
Das heißt, so scheint mir, wir sollten uns mit offenen Augen dem Problem stellen. Wann beginnt Altwerden eigentlich? Rein biologisch betrachtet spätestens mit 20 Jahren. Aber das meine ich natürlich nicht. Überspringen wir die frühe Lebensmitte und beginnen wir mit dem anrüchigen 50-er Jahren, in denen bei den meisten die erste Alterskrise als sogenannte Midlifecrisis einsetzt. Zwar halten sich die körperlichen Anzeichen des Älterwerdens bei den meisten von uns mit 50+ noch sehr im Rahmen: Es zwickt mal hier, mal dort, besonders natürlich in den Knien – oder wir „haben Rücken“, das Treppensteigen fällt ein wenig schwerer, ohne Lesebrille geht nichts mehr; stundenlanges Durchschlafen wird seltener; eine durchzechte Nacht rächt sich tagelang. Die Figur ist nicht mehr die, sie sie einmal gewesen war; der Blick morgens in den Spiegel fällt kritischer aus, und es passiert eher selten, dass uns Frauen die sprichwörtlichen Bauarbeiter noch hinterherpfeifen…
Aber im Großen und Ganzen können die meisten der 50+ler so tun, als sei „zum Altwerden immer noch Zeit“ (nach einem italienischen Sprichwort) und weit von uns entfernt. Da wird mit Yoga und Pilates der Körper bestenfalls stabilisiert und die Jugend aufgefrischt, mit Haut straffenden Cremen nachjustiert und die Kleidergrößen angepasst. Über die kleinen Zipperleins wird gerne hinweggewitzelt :“Wie alt sind sie eigentlich, Frau Königstein?“ fragt der Schönheitschirurg seine neue Patientin. „Ich gehe auf die vierzig zu.“ „Aus welcher Richtung?“ Oder: „Die Schmerzen in Ihrem linken Bein sind altersbedingt“, sagt der Arzt zum Patienten. Entgegnet der Patient entrüstet: „Das kann nicht sein. Mein rechtes Bein ist genauso als und tut nicht weh!“
Jedoch: Wenn wir uns der 60 nähern, wird das Verleugnen der Beschwerden und des Älterwerdens schwieriger. Wenige Wochen nach meinem 60. Geburtstag musste ich einsehen, dass sich meine Sehfähigkeit weiter eingeschränkt hat und ich gerade beim Autofahren nicht mehr den Durchblick bzw. die Weitsicht auf die Schilder hatte. Die Augenärztin zuckte mich den Schultern: Das wäre in meinem Alter normal, und verschrieb mir eine Gleitsichtbrille. Auf den Schock hin musste ich mir beim Bäcker erst mal ein großes Stück Stachelbeerbaiser genehmigen, groß genug für meine Augen! Ein halbes Jahr später bekam ich die erste Einladung zum Seniorentanztee Ü 60. Nun, im Blick auf die 70-80-jährigen kam ich mir jung vor und wirbelte über die Tanzfläche. Nach dem dritten Schlager aber geriet ich schon aus der Puste und mir wurde leicht schwindelig, was mir früher nie passiert wäre; ich gab aber nicht auf und versuchte beim Boogie-Woogie noch tiefer in die Knie zu gehen als mein 80-jähriger Tanzpartner…da schoss die „Hexe“! Und ich musste meine Tanzkapriolen beim Arzt auf der Liege beenden. Na großartig!
„Man ist so jung, wie man sich fühlt“, heißt es im Volksmund, und ich fühlte mich plötzlich alt. Paul Baltes, einer der führenden Altersforscher des 20. Jahrhunderts, teilte das menschliche Leben in vier sogenannte „Lebensalter“ ein: Das dritte von vieren ist dasjenige der 60 – bis 80- Jährigen. Das ist die Phase also, in der es mir persönlich zwar immer noch vergleichsweise gut geht, aber kein Weg daran vorbeiführt, zur Kenntnis zu nehmen, dass mein Körper nicht mehr der ist, der er einmal war. Also habe ich mir angewöhnt, mehr auf seine (des Körpers) stummen Signale zu achten: Wenn er müde wird, versuche ich ihm eine Pause zu verschaffen; den Lendenwirbeln mute ich gar nicht erst zu, länger als 20 Minuten zu stehen; dem Rücken sich richtig zu bücken. Ich versuche, Ärger zu vermeiden und gelassener über die Schuhe der Jungens zu steigen, ohne sie gleich an die Seite zu räumen. Auf ausgedehnten Schlaf verzichte ich nur in extremen Ausnahmefällen, was glücklicherweise nicht schwerfällt, weil ich natürlich längst aus dem Alter heraus bin, in dem mich die Angst umtrieb, irgendetwas zu verpassen.
Obwohl die beschriebenen Veränderungen alle Teil eines ganz und gar natürlichen Prozesses sind, dem man ja auch seine freundlichen Seiten abgewinnen kann, ist es den meisten Menschen doch irgendwie peinlich, zugeben zu müssen, dass der Lack ab ist und man nicht mehr so kann wie früher; zugeben zu müssen, dass Altersflecken keine Sommersprossen sind und nun zum neuen Outfit gehören. Es verdrießt uns, zum „alten Eisen“ gezählt zu werden, wenn wir eine Einladung zum Seniorennachmittag erhalten. Denn alt sind ja immer nur die Anderen. Wir fürchten uns davor, anderen zur Last zu fallen, pflegebedürftig oder gar dement zu werden. Unsere Selbstständigkeit und Selbstbestimmung zu verlieren, finden wir ganz schlimm.
Schon der 60. Geburtstag treibt einigen den Angstschweiß auf die Stirn – wie der Dame aus dem Frauenkreis, die ich anfangs erwähnte: Schrecklich! Das ist das Ende!! Jetzt kommt nichts mehr! No Sex, No Drugs, No Rock´n Roll!... Alt werden wollen wir alle, aber als sein ist schwer. „Alt sein ist nichts für Feiglinge“, hat Hildegard Knef schon gesagt. Lieber hören wir, wie ich mit knapp 64 Jahren: „Was?! Das hätte ich aber nicht gedacht! Also älter als Mitte 50 hätte ich Sie jetzt nicht geschätzt!“. Uihuhi! Da kann man auch schwer ins Fettnäpfchen treten! Zugegeben sind die 60-80-Jährigen nicht mehr die 60-80-Jährigen unserer Großmütter- und Vätergeneration. Und wir nennen uns „die neuen 50-Jährigen“, die „im Hühnerstall Motorrad fahren“. Aber trotz unseres dynamisch-jugendlichen Auftretens bleiben, ja sind wir so alt wie wir sind, und nicht alle kriegen mit 80 Jahren noch so einen sportlichen Auftritt auf der Bühne hin wie Mick Jagger unlängst im TV.
Dass ich nicht mehr 30 bin (auch wenn ich so aussehe!), merke ich zunehmend auch an gewissen Gedächtnislücken. Wie oft passiert es mir im Alltag, dass mir Menschen begegnen, die ich eigentlich gut kenne: „Guten Tag, Frau….?!“ Und der Name ist weg! Wie peinlich! Wir haben gelernt, solche Erinnerungsschwächen als Defizit anzusehen und alles, was mit Alter verbunden ist, irgendwie als Mangelerscheinung. Ich denke, eine Ursache dafür ist die Bewertung des Alters: Es wird eben immer noch sehr häufig gemessen an Werten wie Jugendlichkeit und Leistungsfähigkeit. Alt sein gilt als etwas, was man leider nicht vermeiden kann - auch wenn man das Rentenalter hochsetzt, Collagendrops schluckt und jeden Morgen Kopfstand macht.
Ein anderer Grund für die negative Bewertung des Alters ist: Wenn ein Mensch immer wieder einmal etwas vergisst oder wenn er langsamer zu Fuß ist, wird dies auf den ganzen Menschen übertragen. Man hält ihn für vergesslich und insgesamt für langsam. So hat man ein bestimmtes Bild von einem Menschen, das der alte Mensch dann oft selber übernimmt. Er hält sich dann auch für langsam und vergesslich. Obwohl für jedes Alter doch gilt: in der Ruhe liegt die Kraft!!! Doch allgemein und sowieso ist das Ansehen „Langlebiger Artikel“ in unserer „Wegwerfgesellschaft“ gering. Diese Einschätzung wird eben auch auf das Altern, auf alte Menschen übertragen.
Ein Bonner Arzt, der Neurophysiologe Detlef Linke, versteht die Veränderungen im Alter hingegen positiv. Sie werden von ihm nicht als Abbauprozesse verstanden. Er sieht in ihnen Bündelungs- und Zuspitzungsprozesse, die das Einmalige der Person im Alter in besonderer Weise zum Tragen kommen lassen. Alterungsvorgänge werden demnach als Zuspitzung auf den Wesenskern verstanden. Es geht nicht mehr um die Abrufbarkeit einer Fülle von Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern um eine Bündelung der der Person eigen gewordenen Möglichkeiten, um die im guten Sinn mögliche „Vereinheitlichung“ des Menschen. – Eine alte Dame konzentrierte ihr freundliches Wesen, ihre Hilfsbereitschaft nun ganz auf ihre Mitbewohner, besann sich auf das, was sie konnte – kochte für das ganze Altersheim Lieblingsgerichte….
Der Maler Kandinsky, der als Vater der abstrakten Kunst gilt, hat die Fähigkeit, abstrakt zu arbeiten, als ein Produkt seiner Alterungsprozesse erlebt, die ihn zwangen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und dieses Wesentliche darzustellen. Dass so viele Menschen so alt wie heute werden, gab es in der ganzen Menschheitsgeschichte noch nicht. Die Alterspyramide steht schon länger auf dem Kopf. Allein deshalb ist es schon notwendig, sich mit den Begleiterscheinungen des Alters zu beschäftigen, sie ernst zu nehmen und zu verstehen. Nur so kann die Aufgabe, die vor uns liegt, erfüllt werden.
Unsere und die kommenden Generationen haben dafür zu sorgen, dass das Alter gut gelebt werden kann, ohne dass jedoch die junge Generation, die inzwischen in Unterzahl ist, unter der Last, „alles allein am Laufen zu halten“, zusammenkracht. Darum gilt es, nicht aus dem Blick zu verlieren, dass die Erfahrungen und Erkenntnisse älterer Menschen für die Welt wichtig sind und bleiben.
Mir geht schon die ganze Zeit der Song von Udo Jürgens nicht aus dem Kopf. Sie kennen ihn alle: „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an. Mit 66 Jahren, da hat man Spaß daran. Mit 66 Jahren, da kommt man erst in Schuss. Mit 66 Jahren …. ist noch lange nicht Schluss!“ Das ist eine Hymne, die vor Lebensenergie strotzt, die das Alter als einen neuen Gestaltungsraum annimmt.
Davon erzählt auch Lukas (Lukas 2, 25-39) in seinem Evangelium ganz am Anfang. Da hören wir von zwei alten Menschen: Sie heißen Hanna und Simeon und spielen eine wichtige Rolle in der Kindheitsgeschichte Jeus. Sie werden uns immer wieder daran erinnern, was Gott mit alten Menschen vorhat, denn die älteren Menschen sind „Gottesebenbilder“. Gott offenbart sich in diesem Bibeltext, zugespitzt formuliert, als ein Gott der Alten. Hanna und Simeon sind tagtäglich im Tempel. Sie beten. Doch das bleibt nicht ihre einzige Aufgabe. Sie sind alt, aber sie sehen über das mit den Augen Sichtbare hinaus. „Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht“. So formulierte Marie Luise Kaschnitz ihre Alterserfahrung. Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht.
Hanna und Simeon, sie sehen anders, sie sehen das Wesentliche! Von beiden wird gesagt, dass sie sich in der Nähe des Tempels aufhalten. Simeon wird als ein gottesfürchtiger Mann beschrieben, auf dem der Geist Gottes ruht. (Lukas 2,25) Er wartet auf den Trost Israels. Durch den Heiligen Geist weiß er, dass er nicht sterben wird, bevor er den, den er erwartet, gesehen hat.
Hanna wird als hochbetagte Prophetin bezeichnet, deren Lebensinhalt der Dienst an Gott war. Sie ist eine Tochter Phanuels, aus dem Stamm Asser. Über diesen Stamm sprach Mose folgenden Segen: „Von Eisen und Erz sei der Riegel deiner Tore; dein Alter sei wie deine Jugend!“ (Dtn. 33,25b.) Der Schluss liegt nahe, dass es kein Zufall ist, dass Hanna aus dem Stamm Asser stammt. Scheinbar zeichnet dieser Stamm sich dadurch aus, dass seine Alten in besonderer Weise von Gott befähigt werden, zukunftsweisend Aufgaben zu erfüllen. Das Alter der Hanna ist unbekannt. Man kann es lediglich schätzen. Manche vermuten, dass sie 84 Jahre alt war, ein sehr hohes Alter für damalige Zeit.
Beide alten Menschen nehmen die Aufgabe wahr, den Eltern Maria und Josef und der Öffentlichkeit im Umfeld des Tempels die Sendung und die Bestimmung des neugeborenen Kindes Jesus zu bezeugen. Beide sind sie mit dem Geist Gottes gesegnet. Ihre Fähigkeiten, weiter zu sehen als Andere, sehen sie als ihre von Gott gegebene Aufgabe, diese für Andere einzusetzen – gerade auch in ihrem Alter. Aus dem Dasein der beiden Alten, die im Gebet, in der Offenheit also zur Transzendenz leben, ist ein neuer Bezug zu Gott erwachsen! Sie reden prophetisch deutend. Ihre Fähigkeit, weiter zu sehen, formt sich in Worte, die wegweisend sind für Andere. Sie sind es, die die Ereignisse der Zeit deuten und den Heiland vor der Welt bezeugen. (Lukas 2,38)
Die Gabe der Prophetie, die sich an diesen beiden Alten zeigt, speist sich unter anderem aus der Möglichkeit gerade auch alter Menschen, Visionen und Träume zu haben (Joel 3,1-3) Alte und Junge, Frauen und Männer werden bei dieser rückhaltlosen Selbstoffenbarung Gottes gleichgestellt. Visionen, prophetische Fähigkeiten und Träume werden dem Menschen als Gabe Gottes zuteil, die Träumen aber werden besonders alten Menschen zugeordnet. Von Gott gegeben beziehen sie sich, ähnlich den Visionen, auf das Entwerfen von Zukunft: „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an….“
Diejenigen, die selbst nur noch wenig irdische Zukunft vor sich haben, haben Träume und Visionen für eine Zukunft der Alten und der Jungen. So weist die in den alten Menschen angebrochene Freiheit und Unabhängigkeit über ihre eigene Zukunft hinaus auf die den Tod übergreifende Zukunft Gottes mit dem Menschen, die in unsere Gegenwart hineinscheint. Hanna lobt Gott und Simon jubelt: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben den Heiland gesehen!“ (Lukas 2,25-39)
Unabhängig von prophetisch-visionären Gaben steckt für mich in diesem Satz auch: Was kann man im Alter nicht alles noch sehen! Wenn man die Augen nicht verschließt. Wenn man in gewisser Weise offen ist, neugierig bliebt und das in den Blick nimmt, was täglich noch gelingt, wofür man dankbar sein kann, was einen erheitert und erfreut, statt darauf zu schauen, was nicht mehr geht. Statt zu beklagen, dass Vertrautes verschwindet, vieles sich schnell verändert und mir immer mehr unverständlich ist. Hanna und Simeon, zwei alte Menschen, sie sehen anders, weiter, genauer. Und doch sind sie Menschen, die der Welt noch nicht enthoben sind. Die Einschränkungen des Alters plagen auch sie. Diese Welt hat sie nicht mehr vollständig in den Krallen. Sie schauen schon ein wenig weiter, hin zu Gottes Welt.
Nun, sicher haben nicht alle Menschen von Gott den Auftrag wie Hanna und Simeon, den Heiland der Welt zu erkennen und ihn öffentlich vor der Welt zu proklamieren. Ja, und trotzdem haben alte Menschen in unserer Zeit viele Aufgaben. Allein dadurch schon, dass sie die lebendigen Wurzeln unserer Gegenwart sind. Von ihnen können wir vielleicht kein Computerwissen erfragen, aber Antworten über Leben und Tod können sie uns geben. In der Bibel wird – wie wir in der Lesung aus dem Buch des Predigers (s.o.) gehört haben – das Alter durchaus kritisch gesehen – die Sehkraft der Augen, das Hörvermögen der Ohren und die Beweglichkeit der Gliedmaßen lassen nach.
Genauso aber ist in der Bibel davon die Rede, dass Alte wie die Jungen sind, dass „wenn sie alt sind, sie dennoch erblühen“ (Psalm 92,14). Alexander von Humboldt hat das so gesagt: „Ich finde das Alter nicht arm an Freuden, aber Farben und Quellen dieser Freuden sind anders.“ Und auch, was als „schön“ definiert wird, sieht dann anders aus, orientiert sich nicht mehr an straffer Haut, vollem Haar und Leistung. Martin Luther hat das so auf den Punkt gebracht, als er sagte „Gott handelt an uns wie ein Holzschnitzer. Anfangs hat er einen glatten Block vor sich. Indem er von dem Holz wegnimmt, fördert er das Bild, das ihm vorschwebt. So muss Gott viel von uns wegnehmen und schnitzen, bis wir dem Bild entsprechen, das er haben will.“
Die Schönheit des Alters sehen, das heißt also: das Bildnis, das Gesamtkunstwerk erkennen, das Gott aus seinem Menschen macht. Da sind Falten und Runzeln keine Katastrophe mehr, sondern Linien, lebendige Jahresringe, die Gott in unsere Gesichter zeichnet. Da sind Enttäuschungen und Leid keine Schicksalslaunen, die sinnlos unsere Lebenskraft verbrauchen, sondern Begegnungen mit Gott, in denen er seine Spuren in unsere Seele eingräbt und unseren Charakter formt. Da sind Erfahrungen, von denen wir – je älter, je mehr – zu erzählen wissen, keine alten Kamellen, sondern ein Stück der Geschichte Gottes, die er durch unser Dasein erzählt. (Daran sollen auch die Ringe im Baumstamm und das Gedicht von Rilke erinnern:
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge zieh‘n.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
Das Alter, liebe Geschwister, kann also eine gute Zeit sein, eine besondere auch, weil man sich Zeit für Gott nimmt. Zum guten Schluss dazu noch eine kleine Geschichte: Eine ältere, schwer MS-kranke Frau, die ich vor Jahren begleitet habe, sagte mir kurz vor ihrem Sterben, als sie nichts mehr tun konnte, dass sie unter diesem Zustand nicht leiden würde. Denn sie hätte eine wichtige Aufgabe: Solange sie könne, würde sie für die Welt und die Menschen beten. Das war ihre Aufgabe bis zu ihrem Tod, - die sie auch erfüllt hat.
Jeder Mensch hat Lebensaufgaben bis zum Tod. Vielleicht kann man sie dann entdecken, wenn man das Alter so wie Marie Luise Kaschnitz versteht. Für sie bedeutet Alter nicht das Ende, vielmehr vergleicht sie es mit einem Balkon, von dem man aus weiter und genauer sieht. So lassen sich die vielleicht klein erscheinenden, aber wichtigen Lebensaufgaben erkennen. Erkennen aber auch, was es heißt, über das hinauszusehen, was ich als alter Mensch noch leisten sollte, müsste, könnte…
Um mit Astrid Lindgren zu sprechen: Ich darf als alter Mensch auch einfach nur dasitzen und vor mich hinschauen, meine Hände in den Schoß legen, mich ganz Gott anvertrauen, der meinen Wert, meine „Verwertbarkeit“ nicht von meiner Größe, meinen Taten, meinen Stärken abhängig macht, sondern von seiner Liebe und Barmherzigkeit. Und die machen uns schön, egal wie alt wir sind.
Amen.
______________________
Liebeslied für einen alten Menschen, Text: U. Tietze
(Melodie EG 255: O dass doch bald dein Feuer brennte)
1. Gezeichnet von so vielen Jahre,
an Falten reich ist dein Gesicht,
das, eingerahmt von weißen Haaren,
ganz ohne Worte zu mir spricht.
2. Durch das, was hinter dir liegt, haben
unzählige der Runzeln sich
in deine Haut tief eingegraben.
Wenn ich dich sehe, denke ich:
3. Nach schwerem Los noch Freundlichkeiten,
die schenkst du mir ganz unbeirrt.
Ich hoffe, dass für lange Zeiten
dein Weg mich noch begleiten wird.
4. Wie schön bist du, seid oft ihr Alten!
Erfahrung legte sich hinein
in deine Haut mit ihren Falten.
Das Leben selbst grub sich dort ein.
5. Oft höre ich von allen Seiten,
dass nur die Jugend Schönheit hat.
Und doch: nur Oberflächlichkeiten
sind ohne Furchen, bleiben glatt.
6. Dort, wo das Leben, wo Erfahrung
sich ins Gesicht, ins Äußre gräbt,
mag es geschehn, dass ihr auch Nahrung
des Wissens an die Jungen gebt.
7. Ich weiß nicht, wieviel an Gewittern,
an Stürmen mir beschieden ist.
Doch niemals möchte ich verbittern,
will freundlich bleiben, wie du´s bist.