Osternacht, 19./20.04.2025, 1.Thess. 4,13-18, Stadtkirche, Jenny Müller
1.Thessalonicher 4, Vers 13-18 - Von der Auferstehung der Toten
Wir wollen euch aber, Brüder und Schwestern, nicht im Ungewissen lassen über die, die da schlafen, damit ihr nicht traurig seid wie die andern, die keine Hoffnung haben.
Denn wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird Gott auch die, die da entschlafen sind, durch Jesus mit ihm führen.
Denn das sagen wir euch mit einem Wort des Herrn, dass wir, die wir leben und übrig bleiben bis zum Kommen des Herrn, denen nicht zuvorkommen werden, die entschlafen sind.
Denn er selbst, der Herr, wird, wenn der Ruf ertönt, wenn die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen, herabkommen vom Himmel, und die Toten werden in Christus auferstehen zuerst.
Danach werden wir, die wir leben und übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden auf den Wolken, dem Herrn entgegen in die Luft. Und so werden wir beim Herrn sein allezeit.
So tröstet euch mit diesen Worten untereinander.
„Wir die wir lebendig sind“
Wir stehen hier in deinem Raum und deiner Zeit,
Sind bei dir geweiht,
Du bist der, der bei uns bleibt.
Das nennt man Ewigkeit.
Ewigkeit in Raum und Zeit.
Und da ist einer, der uns alle vereint:
„Jesus Christus- gestern, heute, und derselbe auch in Ewigkeit“ (Hebräer 13,8)
Durch alle Momente, die wir fast vergaßen,
durch alle Geschichten, die wir uns anlasen
durch alle Himmel, die wir gesehen,
durch alle Sprachen, die wir verstehen,
durch alle Liebe, die wir gegeben,
durch all die Hoffnung, die wir hegen,
durch allen Glauben, der uns bewege.
Da bist und bleibst Du.
In jedem Hause, in dem du lebst, du am Kreuze in der Mitte stehst.
Das Kreuze an der Kirchenwand,
was man im Dunkeln kaum erkannt,
oder dass Kreuze an der Straßenecke,
wo du mich und mein Herz im Vorbeifahren auferweckest.
Das Kreuze in alten Büchern, die wir wälzten,
oder auf dem Gipfel, wo der Himmel ist am hellsten.
Du am Kreuz, das zieht sich durch alle Zeit- ich denke das nennt man wohl Ewigkeit.
Und doch bist du mir, mein lieber Jesu,
nach unendlichen Studien und verstohlenen Blicken,
nach meiner Herzens-Sehnsucht, die auf dich projiziert,
nach meiner Lösung, die durch dich portraitiert-
und doch bist du mir da am Kreuze, mein lieber Jesu, nicht geheuer.
Nicht geheuer, wie du quälend da hängst- an jedem erdenklichen Kirchengemäuer.
Ja, na klar- da ist Demut, Trauer und Dankbarkeit in meinem Blick, immer dann, wenn ich dich da am Balken erblick.
Da ist Verbundenheit mit der Vergangenheit,
mit allen Seelen, die bei dir in allen Gezeiten am Kreuze stehen.
Doch geht es mir nicht in meinen Kopf, dass da hängt ein Kreuz,
was mir soll -Liebe- einbläuen.
Dass da mich anstarrt der Schmerz, und keine voll Glaube bebendes Herz.
Dass der bitterste Moment in deinem Leben, muss in aller Welt breitgetreten,
muss uns verfolgen durch Raum und Zeit, als hätt es kein besseres Portrait von dir gegeben für die Ewigkeit.
Du ziehst dich mit allem Schmerz von Sekunde zu Sekunde, von Epoche zu Epoche, von Kirchenwand zu Kirchenwand- und ich frage mich- hat das Kreuz-Symbol nicht deine Wahrheit verkannt?
Wenn dein Anblick einen Kloß in meinem Hals schnürt,
wenn ich mich fühl traurig von dir berührt,
wenn du verkörperst den Tod und nicht die Lebendigkeit,
sag wie kann ich dann mit dir lebendig sein, hier in meiner Zeit?
Es ist das Gefühl, dass dieses ewige Symbol nicht mehr passt in unsere Zeit,
dass wir eigentlich warten auf einen Superheld, der gegen alles ist gefeit,
der für uns streiten würde in jedem Fight,
einer bei dem sich eine Macht-Pose an die nächste reiht.
Doch stattdessen, hängst du da demütig, verletzlich und klein. Erträgst du den Schmerz still, dein Herz so rein- sag wie soll, kann, darf ich bei dir sein?
Du am Kreuze gefangen in einem inneren Streit- so darf ich denn nur zu dir kommen, wenn in mir bebt das Leid?
Wie kannst du mich trösten, wenn die Trauer ist bei dir selbst am größten?
Wie kann ich glauben, dass du mich befreist, wenn du am Kreuze selbst bist weit entfernt vom Höchsten?
Wie willst du mir Hoffnung geben, wenn das Kreuze mir alle Hoffnung nehme?
Wie will ich glauben du bist auferstanden und lebendig, wenn du bist starr und nicht wendig?
Doch wenn wir heute mal unsere weltlichen Augen verschließen und dich nur mit unserem Herzen ansehen,
wenn wir einen Schritt weiter gehen und mit dir heute Nacht auferstehen,
wenn wir uns von deinem Holz leiten lassen, dann erzählt es uns, was wir bis jetzt verpassten.
Dann nimmst du uns am Kreuze mit dir mit- in dein gestern, heute und morgen. Dann lässt du uns nicht länger bei den Verstorbenen, dann bleibt uns das Ungewisse nicht länger verborgen.
Wir beide im gestern:
Gestern warst du Tod.
Und ich mit dir.
Gestern warst du Tod. Alles verloren, der Teufel neugeboren, Dunkelheit in meiner Seele, in deinen Händen eiserne Nägel.
Ans Kreuze genagelt, blutig geschlagen, mitten am Verzagen,
da hingst du.
Mein Herz in der Brust haut, ich krieg Gänsehaut,
dein Schrei zum Himmel – ich hörte ihn-so laut,
Da hingst du.
Ich spür deinen Schmerz, ich bin mir sicher ich kenn dein Herz.
Alle Uhren laufen rückwärts. Ich seh mich an deiner Seite stehen, mit dir in die Dunkelheit gehen.
Da hingst du.
Wenn die Hoffnung selbst stirbt,
wenn da etwas in einem zerspringt und klirrt,
wenn da keine Zukunft mehr, die um einen wirbt,
wenn alle Lichter hat man ausgeknipst,
wenn die Endlichkeit dir auf die Schulter tippt-
dann hängt mein Herz mit dir am Kreuze mit.
Du und ich im jetzt und hier:
Auch wenn mein Herz voll Trauer, es wird nicht sein von Dauer.
Denn wenn ich an dich glaube, dann wirst du mich bringen zum Staunen.
Wenn ich nicht, wie Besagte, entschlafe im Hoffnungslosen,
dann wirst du mich aus den Tiefen hohlen,
Ich kann sie sehen deine Wolken, ich werde ihnen folgen.
Und ja, dann höre ich sie, von der Empore kommen, in dieser Nacht:
Die lauten, glücklichen Himmelspauken,
die Trompeten, die allen Geliebten wieder Lebendigkeit einhauchen,
Gottes Stimme in meinem Ohr, die mir sagt: „Ich heb euch alle wieder und wieder empor“. Die Engels Schaar, die kommt in Herrlichkeit- die ist für alles bereit: Für jeden Fight.
Denn seien wir ehrlich: Wir brauchen keinen irdischen Superhelden mit Muskelkraft-
deine Kraft ist es, die uns verbindet hier an deinem Kreuze in dieser Nacht.
Und so ist es gefüllt mit aller Liebe, dieses Kirchen-Gehäuse.
So leuchtet es mir endlich ein, wie du am Kreuze kannst Liebe sein.
Ja, auf einmal kann ich sehen- dass du bist, voller Leben. Dass du gestorben bist, um uns was zu geben, dass du gekommen bist, um uns in die Ewigkeit zu heben.
So ist dieses Kreuze kein weltlicher Schmerz- zumindest nicht nur- dieses Kreuze ist ein Schwur:
Dass du mit uns gehst, durch die dunkelsten Stunden, dass du heilen wirst all unsrer Wunden. Dass wir mit dir das Licht werden erkunden, dass wir im Herzen sind verbunden.
Wir beide in Ewigkeit:
So wird unser beider morgen ein für immer sein:
„Denn Wir werden beim Herrn sein allezeit.“
Im morgen wirst du auferstehen und neben mir lebendig meine Wege mit mir gehen.
So wird dein Kreuz mich zukünftig an was anders erinnern: Ich bin eines deiner Kinder.
Und diese eisernen Nägel in deiner Hand, sie hielten auch dich nicht im irdischen Bann. Diese Nägel, so eisern, werden sein für mich wie ein Versprechen, wie ein Schwur zwischen dir und mir, einen den kann man nicht brechen:
Wie der Ring am Finger einer Hand, einer der für immer verband.
Wie zwei verschmolzene Blicke, voller gemeinsamer Momente,
wie das Gefühl verbundener Hände.
Wie dein Wasserschwall über meinem Kopf,
wie mein Herz voll Heimat in deiner Kirche pocht.
Wie das Kreuz, dass du mir für ewig auf die Stirn gemalt,
wie unser Glaube der alles überstrahlt.
Das ist Ewigkeit in gestern, heute und morgen
Du sagst: „Mein Kind, mache dir keine Sorgen, ich bleibe dir nicht verborgen, ich bin mit dir an allen Orten, ich werde dich halten gestern, heut und morgen- geborgen.“
Und so ist das Kreuze für mich nun mehr keine Last,
sondern ein Ort, an dem mache ich gerne Rast:
Wir hängen nicht am Kreuze machtlos,
denn unser Glaube macht uns königlich groß.
Durch ihn kann mein Herz dich sehen, stehend da am Himmeltor- wie du kommst zu mir, und ich zu dir empor.
Wir alle werden mit dir leben, denn du wirst uns auf Wolken heben.
„Du mein Jesus am Kreuze da, du bist und bleibst für immer wahr.
Gestern, heute und derselbe auch in Ewigkeit“ Halleluja.
Karfreitag, 18.04.2025, Joh.19, 16-30, Tersteegenkirche, Dr. Petra Brunner
Liebe Gemeinde,
1. An Karfreitag geht kein Blick vorbei am Leid und am Tod
2. An Karfreitag führt Jesu Weg mitten in das Leid, die Angst und den Tod
3. Am Kreuz Jesu eröffnet sich ein neuer Weg für uns- ein neuer Anfang mitten im Leid.
- Kein Blick am Leid, an der Ungerechtigkeit, an der Angst und am Tod vorbei
Die Hand der Mächtigen ist stark. Das System setzt seinen Willen durch. Sie zwingen ihn, sein Kreuz zu tragen. Es schneidet in seine Schulter, der Balken quetscht, die Haut reißt langsam ein. Dann hängt der geschundene Körper da am Kreuz. Schaulustige, seine letzte Kleidung wird noch verwertet, die wird noch gebraucht. Jesus wird nicht mehr gebraucht, er wird hingerichtet, getötet.
Der Blick auf Jesus, der da am Kreuz stirbt, ist schwer zu ertragen.
Die Mächtigen sind stark. Es gibt politische Systeme, Konflikte, Zwänge handeln zu müssen, sich zu verteidigen – da kann schon mal eine Person unter die Räder kommen.
Die Sirenen des Al-Ahli-Krankenhauses läuten schrill in den Ohren von Dr. Mirijam Munter, noch schnell das Medikament für das kleine Mädchen holen, dann will sie sich in Sicherheit bringen. Der dauernde Alarm hat sie abgestumpft, irgendeiner muss doch noch arbeiten, den Menschen helfen. Dr. Mirijam wird umgeworfen und der Schmerz breitet sich in ihrem ganzen Körper aus, um sie herum sinken die Staubteile aus der Luft wie in Zeitlupe nach unten. Ihr Körper voller Schmerz und irgendwie im ganzen Raum. Dr. Mirijam schließt ihre Augen.
Der Blick auf das Leid und die Ungerechtigkeit in der Welt ist kaum zu ertragen.
So oft schließen wir unser Herz ab.
Wir können es nicht hören, dass ein geliebter Mensch die Nachricht erhalten hat, dass der Krebs zurück ist. Wir können der Person kaum unter die Augen treten. Wir halten es nicht aus, machen die Nachrichten aus oder schlagen die Zeitung zu. Wir werden verrückt, unser Herz ist nicht gemacht, den Schmerz der Welt zu ertragen.
Wir können oft nicht hinsehen, es nicht aushalten das Leid der Welt. Die Ohnmacht und das Sterben.
Heute an Karfreitag geht kein Blick vorbei am Leid. Wir schauen auf den leidenden und sterbenden Jesus und auf die Schmerzen von uns, von unserer Familie und der ganzen Welt.
2. Kein Weg vorbei für Jesus
Über diesem Gottesdienst steht der Vers aus Johannes 1 „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, …, voller Gnade und Wahrheit.“
Dieser Vers ist eine Leseanleitung für das ganze Evangelium: eine Geschichte Gottes mit seiner Welt.
Das ist die Geschichte von Jesus, von Gott selber unter uns.
Das Markus-Evangelium berichtet vom geschwächten und leidenden Menschen. Auch das Johannes-Ev. zeigt uns Jesus als Menschen, der z.B. Durst hat.
Doch unserer Predigtext macht noch eine andere Perspektive stark:
nämlich Jesus, Gott, der freiwillig auf seine Folterung auf das Leid zugeht.
Jesus schleppt seinen Kreuzesbalken allein vors Stadttor, Gott selber geht raus aus der zivilisierten Stadt, lässt die Grenzen hinter sich; geht nach Golgatha um sich dort töten zu lassen, verspotten zu lassen, zwischen zwei Verbrechern.
Jesus geht genau an diesen Ort. Jesus in Joh. 1 als das Wort Gottes, der Logos, die Weltenkraft vorgestellt wird – er geht genau dort nach Golgatha. Die Weltenkraft könnte anders, aber Jesus ist da und er geht dort an den dunklen Ort, dort ins Leid.
Die Mächtigen wollen Jesus töten und er lässt es mit sich machen – das ist Teil seiner Aufgabe, seiner Sendung. In der Geschichte wie Johannes sie uns erzählt ist Jesus gesandt den Menschen die Liebe Gottes zu zeigen und uns zu Gotteskindern zu machen. In dieser Sendung kann ihn niemand aufhalten, nicht mal die bösen Pläne seiner Peiniger. Gottes Plan kommt an sein Ziel, das zeigt der Text, denn seine Kleider werden verlost, weil es schon der Psalm 22 so angekündigt hatte. Jesu Sendung ist es unter den Menschen zu sein und Gottes Liebe zu zeigen und das tut er – bis hinein in alle Tiefe, bis ins Leid, bis ans Kreuz, bis in den Tod, damit wir Menschen in diesem Leid nicht alleine sind.
Mitten im Sterbeprozess hören wir, wie Jesus uns wieder diese andere, die göttliche Perspektive zeigt:
„Es ist vollbracht“ – bestimmt und klar sagt Jesus: dieser Tiefpunkt hier voller Schmerz, Leid und Tod- hier das Kreuz – das ist auch der Höhepunkt. Jesus geht mit den Menschen den ganzen Weg.
Es ist vollbracht, Jesus hat seine Sendung vollbracht und Jesus ist mitten in unser Leid gegangen, hat die Schmerzen gespürt und ist unseren Tod, den Tod den wir sterben, gestorben.
Das Kreuz ist nicht das Ende, es ist der neue Anfang, hier wird das neue Leben anfangen. Es ist vollbracht, weil Jesus sich ganz hingibt, weil er spürt, vertraut, dass es diese Schöpferkraft Gottes gibt. Die Kraft, die bereits die Galaxien ins Leben rief, wird den Tod nicht das Ende sein lassen.
Das Kreuz ist ein absoluter Tiefpunkt und der Schmerz und das Bittere sind echt - doch es ist auch der Höhepunkt an dem Jesus an dem Gott hier angelangt. Am Kreuz ist der Wendepunkt. - Hier im Ende, hier ganz am Ende, wartet ein neuer Anfang. Dort wartet nicht der Tod, Gott kommt ins Leid, in unser Leid und in unseren Tod und dort schafft er einen neuen Anfang.
3. Das Kreuz: ein neuer Weg und ein neuer Anfang für uns
Direkt da unter dem Kreuz von Jesus, da passiert noch was. Direkt unter dem Kreuz eröffnet sich ein neuer Weg für uns, ein neuer Weg in unserem Leid, in unserer Schuld und auch in dem Leid, was Menschen tragen, die uns nah sind.
Direkt unter dem Kreuz, da steht er der Lieblingsjünger, einer ohne Namen, aber einer der ihm nahe ist, vielleicht sind wir das ja? Und da am Kreuz passiert was, was Martin Luther den fröhlichen Wechsel nannte. Jesus der selbst, der Gott so nah war, keine Schuld und nicht mit dieser Sündenmacht verstrickt war. Dieser Jesus tauscht mit uns den Platz. Mit uns Menschen, die wir in Leid und in Macht und Systemen verstrickt sind. Im Sterben nimmt Jesus die Stelle des sündigen Menschen ein und der Mensch bekommt einen neuen Platz. Wir bekommen den Platz als Gotteskinder. Jesus ist bereit, uns alles zu geben und mit uns zu tauschen.
An welcher Stelle in deinem Leben würdest du gerne ausgetauscht werden? In welchen Schuhen möchtest du nie stecken? Welches Leid und welche Schwere, die du trägst, kann niemand verstehen?
Wo soll Jesus an deinen Platz kommen? Wo drückt mich ein Kreuz so schwer, dass ich Jesus an deiner Seite gehen soll?
Jesus ist da, er wartet darauf, mit uns den ganzen Weg zu gehen.
Karfreitag, 18.04.205, Stadtkirche, Johannes 19, 16-18.25-30, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag - 18.IV.2025
Johannes 19, 16 -18; 25 -30
Liebe Gemeinde!
Wie muss es in der Welt aussehen, wenn das Karfreitagsevangelium nicht düster genug ist?!
… Denn tatsächlich: So war meine Meditation in diesem Jahr. Ein beunruhigtes Hin- und Herwälzen des Berichtes vom Leiden und Sterben Jesu im 4. Evangelium, … auf der Suche nach dem wirklichen Schmerz des Opfers, nach der nackten Grausamkeit der Täter, nach dem zynischen Stelldichein, das sich die Verzweiflung auf Golgatha so geschickt vorbehält.
Der Spott der Menge, die letzte Gehässigkeit des Mitverurteilten, die auch nach fast zweitausend Jahren unerträglich gebliebene Verlassenheit des innerlich wie äußerlich gescheiterten Jesus: Das alles wären direkte Echos und Spiegelbilder unserer Wirklichkeit.
Wenn wir heute das Gebrüll des Sadismus und der Aggression, das Gezischel der Heuchelei und des Nihilismus, die verlogenen Seufzer des Atheismus und des triumphalen Pessimismus hören würden, die uns alle auch im biblischen Zeugnis von der Ermordung Jesu begegnen, dann wäre uns das also vertraut:
So beklagen wir ja ganz aktuell, dass leider, leider alles zerstört wird.
So feiern viele in unseren Tagen, dass die Dummheit vielleicht doch stärker ist als die Vernunft.
So machen sich Zuschauer und Beteiligte im Theater des ungebremsten Wahnsinns gegenseitig eine Unschuld weis, die schlicht niemand behaupten kann, der hier mitgehangen, mitgefangen ist.
Destruktiv, depressiv, negativ: Das wäre der Ton unserer Wahrheit.
… Den Ton des Johannes dagegen können wir nicht einordnen …….
… Ist das Ironie?
… Oder Illusion?
… Ist das Weltflucht?
… Oder eine doktrinäre Sonderlogik, die absolut gar nichts mit der Realität zu tun hat?
… Dass da einer unschuldig umgebracht wird und dabei zuletzt - - - - - - - alles gut wird?
Kann aber denn nicht auch das Karfreitag sein? … Muss Karfreitag nicht auch das bedeuten?
– Dass unsere Erwartungen sterben? … Dass unsere Erklärungen sterben? … Dass unsere Enttäuschungen und unsere Erfahrungen sterben? … Dass unsere Erkenntnis, die Stückwerk ist, und unser Wissen, das Stückwerk ist und unser prophetisches und politisches Reden, das Stückwerk ist, aufhören muss, wenn das Vollkommene kommt (vgl. 1.Kor.13,9f)?!
Wie sollten wir, die alle nicht einmal selbst den Tod schon geschmeckt, ihn nicht erlitten, ihn weder an- noch ausgefochten haben, ihm in gar keiner Hinsicht jemals auch nur beigekommen wären, … wie sollten wir also irgendeine Kategorie dafür haben, dass sich am Kreuz das fleischgewordene Wort dem Tod gestellt hat?!
Ist es nicht geradezu unvermeidlich, dass da, wo das Primäre und das Finale – das in einem Menschen inkarnierte Schöpfungswort und die Supermacht der organischen Auslöschung allen Lebens – aufeinandertreffen, etwas geschieht, das uns sprachlos macht und unfähig zur Orientierung?
Wenn wir alles wiedererkennen würden auf Golgatha, wenn wir die Handlung und das Leid, die Tatsachen und ihren Sinn oder ihre Sinnlosigkeit einfach entschlüsseln, einfach ausschöpfen könnten, … wenn wir einwandfrei oder voller Einwände sofort nicken könnten – „Kennen wir!“ – oder sofort unser weises Haupt schütteln dürften – „Kann überhaupt nicht sein!“ –, dann wäre Karfreitag besser ein Dienstag, dann wäre der Tod Jesu etwas für die Statistik und die Erlösung der Welt gehörte weiterhin auf die Musical-Bühne oder in den Koalitionsvertrag.
Wenn wir das, was da geschah, einfach in allem anderen, einfach in aller Allgemeinheit, einfach in unserm Alltag genauso vorfänden, … dann wäre es tatsächlich nicht das Geschehen, von dem doch die Zeugen alle – auch die, die das Desolate und Brutale daran am meisten bewegte – berichten: Weder Markus, noch Matthäus, noch Lukas und kein Christenmensch seither bis weit ins 18.Jahrhundert hinein hat je gedacht, dass da auf Golgatha sich etwas Ordinäres, etwas Gewöhnliches, mit anderen Worten ein „normaler“ Tod ereignete.
Ein menschlicher Tod: Gewiss!
Ein echtes, physisches, unbetäubtes Leiden: Eindeutig!
Der psycho-somatische Kampf der sterblichen Natur gegen ihr definierendes Wesensmerkmal - das Sterben - : Ohne jeden Zweifel!
… Aber dieses alles in der ungewöhnlichsten, extraordinärsten, singulärsten Weise überhaupt!
Weil es der Lebendige, der Schöpfer des Lebens, der Geber und Erhalter, der Schützer und Verteidiger aller Lebensformen, aller Lebensfreude, Lebensfunken und Lebensglut, aller Lebenskeime, Lebenshoffnung und Lebensverheißung war, Der da Sein Leben hingab.
Diesem einzigartigen Umstand entspricht der vierte Evangelist von Beginn an, indem sein Augenzeugenbericht vom Leben Jesu mit einem Hymnus (Joh.1,1-18) anhebt, der im Gegensatz zu allem Selbst-Erlebten vor die Zeit selbst zurückreicht, bis ins ungeschaffene Innengeheimnis des Schöpfers durch das Wort: … Etwas, das in seiner nüchternen, ehrfürchtigen und doch ganz unspekulativen Kühnheit eigentlich unvorstellbar ist von einem, der dieses tiefste Mysterium, dessen Anhänger und treuer Freund er persönlich werden durfte, hat sterben sehen.
Johannes auf Golgatha erlebte den Tod des Lebens. … Des „Urhebers des Lebens“ (vgl. Apg.3,15).
Und das heißt: Johannes erlebte hautnah, als Zeit- und Augenzeuge das Scheitern der Schöpfung. … Beinah so wie wir: … Deren Bilanz und Perspektive völlig vom Schatten der scheinbar unabwendbaren, von uns nur noch achselzuckend erkannten und dann verdrängten Zerstörung bestimmt wird.
Und doch hat Johannes persönlich auf Golgatha, beim Sterben des schöpferischen Logos, des Wortes, aus dem alles lebt, etwas grundlegend Anderes erlebt.
Wir übergehen das oft. … Weil es uns Protestanten erblich fremd ist. …Weil wir es als infantil oder regressiv verstehen oder höchstens als etwas rührend Volkstümliches einordnen: Johannes hat beim Sterben Jesu, des Lebensursprungs, den er liebte, eine Mutter empfangen.
… Da hüsteln wir: Kitsch oder Kindlichkeitskult. … Für uns gestandene Leute, die Mündigkeit und Autonomie als lebensnotwendige Voraussetzungen unserer selbst erfahren, ist Jesu Vermächtnis der familiären Zueinanderordnung seiner Mutter und seines Lieblingsjüngers – „Siehe, das ist dein Sohn!“, „Siehe, das ist deine Mutter!“ – eine altorientalische Anekdote.
Wir fühlen uns erwachsener (wer weiß: vielleicht auch männlicher?!), wenn wir dem Schicksal - und sei’s dem Scheitern der Schöpfung! - in tragischer Vereinzelung, mutterseelenallein entgegensehen.
… Doch was ist, wenn die Seele eine Mutter braucht?
Was ist, wenn es von Adam - über dessen Grab die spätere Legende ja Golgatha verortet – nicht zufällig heißt, dass es schon bei ihm nicht gut war, dass der Mensch allein sei (1.Mose2,18)?!
Was ist, wenn Johannes ausgerechnet in jenem Augenblick, in dem das geliebte Leben, der geliebte Jesus starb, erlebte, dass sich gerade da etwas aus dem Paradies wiederholte?
… Gerade als auf der Schädelstätte der Kosmos wieder in der trostlosesten Verödung seit im Anfang alles wüst und leer war (1.Mose1,2) ins Nichts gähnte, … gerade als die Verlassenheit der Verwaisten und Verwitweten mit ihrer überwältigenden Negativität einsetzte, die alles Weiterleben für Hinterbliebene bis heute unter der Einsamkeit ersticken kann, … gerade da wurde das Wort des Anfangs ganz konkret: Nicht allein sein! … Sondern die Gnade eines anderen Menschen als Gegenüber und Gehilfe empfangen.
Johannes und Maria. Maria und Johannes: Der Jünger unter dem Kreuz wird das Wort aus der Schrift im Ohr gehabt haben, das direkt auf den Fluch folgt „Staub bist und zum Staub kehrst du zurück“: Damals ganz am Anfang, als das von Gott schmerz- und schuldlos geschaffene Leben schon scheiterte und der Tod aufkam, hieß es tatsächlich im nächsten Satz (1.Mose3,20), dass Adam, der ab jetzt sterbliche Erdenmensch die Frau dennoch Eva - „Leben“ - nannte, „denn sie wurde die Mutter aller, die da leben“.
Es ist also ein biblisches Ur-Muster, das bis in den Schöpfungsbericht zurückreicht, dass Gott niemals die Einsamkeit und trotz aller Katastrophen der Sünde auch nicht das Sterben herrschen lassen wird: Er Selber ist ja Der, bei Dem im Anfang nicht isolierte Einzelheit, sondern Mit-Sein war – „Das Wort war bei Gott“ (Joh.1,1) –, und Er setzt dem Tod, diesem Vereinsamer und Zertrenner Seiner auf Gemeinschaft zielenden Schöpfung das große Verbindungswunder des Lebens entgegen.
„Siehe, das ist dein Kind, … das deine Mutter! Du: Der Mensch des Miteinander. Du: Die Verkörperung der Lebendigkeit“: Ein buchstäblich lebensbejahenderer Satz im Angesicht des Todes ist selten laut worden, und noch ehe Jesus, der ihn sprach, starb, begann für die Menschen, die er zusammenfügte, tatsächlich die Zukunft: Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
Das aber ist nicht nur eine Randbemerkung irgendwo zwischen patriarchaler Pietät und schicksalhafter Notgemeinschaft. Vielmehr ist es das letzte Mal, dass im Johannesevangelium von einer „Stunde“ die Rede ist. …Und das ganze Evangelium deutet oft hin auf die Stunde, in der es kulminieren wird: Vom unwirschen Verweis Jesu gerade an seine Mutter bei der Hochzeit in Kana, dass seine Stunde noch nicht gekommen sei (vgl. Joh.2,4), bis zum letzten Hinweis Jesu in den Abschiedsreden (Joh.16,21), der bestimmt nicht zufällig ebenfalls von einer Mutter spricht: „Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst, um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist“, dem nur noch der Jubel Jesu vor seiner Gefangennahme folgt: „Vater, die Stunde ist da, verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche, denn Du hast ihm die Macht gegeben über alle Menschen, damit er das ewige Leben gebe allen, die du ihm gegeben hast!“ (Joh.17,1)
Die Stunde Jesu, das ist also die Stunde des Lebens, … die Stunde, in der das Leben trotz aller Schmerzen seines Entstehens und Vergehens keine Angst mehr kennen wird, … die Stunde des auch in Kana bei der Hochzeit dann doch schon fließenden Weines der unbegrenzten Freude am Miteinander.
Damals, in Kana war sie noch nicht endgültig gekommen und dennoch floss schon der Wein, der das Leben als das paradiesische „Nicht-Mehr-Allein-Sein“ feiert.
Auf Golgatha aber, wo die vergehende Welt natürlich nur sauren Essigwein zu bieten hatte, da war die Stunde nicht mehr aufzuhalten: Die Stunde, in der es keine Verwaisten, keine Verlassenen, keine Vereinzelten, keine Verlorenen, keine Vergangenen, keine Vergessenen, keine Verdorbenen, keine Verwesten, keine Verdammten mehr geben wird, sondern nur noch Kinder der Mutter aller, die leben, Kinder des Vaters, der sich im Sohn verherrlicht durch das Verbreiten des ewigen Lebens. ——
Auf diese Stunde zu ist die Welt geschaffen worden.
Am Sabbattag der Schöpfung schien sie erreicht.
Doch sie trat nicht ein. … Der Mensch wollte es anders.
… Statt diesen Anfang zu wählen, hat der Mensch sich für das Trennen und Beenden entschieden, hat das Leben ohne Den Anderen - ohne Gott also - und damit dann auch das Leben gegen die anderen … und das Leben gegen die Zeit und die Muße, … gegen die Uhr und den Sabbat, … das Leben gegen den Tod gewählt.
Gottes Stunde aber ging dennoch alles entgegen.
Gott kann sich nämlich nicht in das Trennen fügen, das der Mensch wollte.
Stattdessen fügt Gott sich ungeheuerlicherweise sogar noch in das Getrennte, ins Leben des vereinzelten Menschen, … ja, tatsächlich in das Leben eines Einzelnen … und damit also restlos in das Leben der Sterblichen … und damit zuletzt auch in das Ihm zutiefst widersprechende Sterben ein.
Alles, damit die Stunde ohne Trennung kommen möge, … jene Stunde, in der es das Trennende und das Getrenntsein - und das heißt: den Tod - nicht mehr geben würde!
Jene Stunde, in der für Gott und alle Menschen wieder gelten würde: Nicht mehr allein! … Nicht im Leben und nicht im Tod!
… Verbunden!
… Gemeinsam!
… Untrennbar!
Und auch wenn wir völlig zu Recht und aus allen unseren Erfahrungen und allem unserm Erleiden unvermeidlich das Entsetzliche, den horrenden, blasphemischen Skandal auf Golgatha suchen werden, … und auch wenn wir uns heute deshalb fragen, weshalb dieses unzweifelhafte Grauen im Erleben des Johannes zweifellos gar nicht grauenvoll begegnet, … auch wenn wir also nun am Ende unseres Denkens und Lauschens immer noch überhaupt nicht deuten und verstehen können, wieso der scheußliche Tod hier in solchem Licht, in dieser Nähe zur Liebe, in Tönen und einer Seelenlage geschildert wird, wie die Menschenfreude aneinander im Paradies, … auch wenn das alles zuletzt nicht in unsere Weltbilder und Wirklichkeit passt, ist doch spürbar, warum.
… Weil es nicht unsere letzte Weisheit ist, sondern Gottes erstes Wort, das da auf Golgatha endgültig in Erfüllung geht: Schöpfung und Leben und den Menschen und das Miteinander hat Gott am Anfang „Sehr gut!“ genannt.
… Und auf Golgatha, wo selbst die Sünde des Menschen und der Tod des Menschen das alles nicht mehr auseinanderreißen und zerpflücken können, weil Gott das Miteinander mit dem von Ihm geschaffenen Geschöpf dort nicht nur im Leben, sondern sogar im Tod eingeht und damit noch unter dem Kreuz Gemeinschaft, Liebe, Leben eröffnet … auf Golgatha da wird das Schöpfungswort „Siehe, es ist sehr gut!“ final, für immer, unanfechtbar bestätigt!
Der Wahnsinn von Golgatha, an dem alles Wissen und Erkennen und Erklären zerbricht, vollendet die Schöpfung, weil die Liebe - die Liebe Gottes - alles erträgt, glaubt, hofft und duldet, … weil die Liebe - die Liebe Gottes - niemals aufhört (vgl. 1.Kor.13,7f).
In Golgatha kulminiert also tatsächlich die Bibel; ihr lebendiger, lebenschaffender Anfang kommt dort durch das Sterben gegen den Tod zum Ziel, wie es die unkürzbar klaren Worte Werner Bergengruens verdichten:
„Selig, selig, die da glauben,
selig, denn sie werden sehn:
Einst wird sich das Kreuz belauben
und die Schöpfung auferstehn.“[i]
Darum können wir an der Seite des Johannes auf Golgatha nicht mehr die uns vertraute, verschandelte, von Gewalt und Verfall gezeichnete Welt, in der wir noch sind, erkennen.
Denn auf Golgatha ist das letzte Wort der Genesis gesprochen worden, das den Schrecken, der um uns herum vergeht, final vernichtet und die wiederhergestellte Schöpfung vollenden wird.
Noch sehen wir es durch einen Spiegel in einem dunklen Bild. … Wenn aber kommen wird das Vollkommene ……. ….. …… ……. (vgl. 1.Kor.13,12.10)
„Gut (vgl. 1Mose 1,18.20.25), sehr gut (vgl. 1.Mose 1,31)“ war es am Anfang.
Auf Golgatha aber ist es τετέλεσται.
Es ist vollbracht!
(Ad hoc …. Nur, damit wir uns richtig verstehen: Wenn tatsächlich jüngst auf einem Himmelskörper in der Tiefe des Weltalls Hinweise auf „Leben“ entdeckt worden sind, dann bedeutet das nur, dass der Raum, in dem die lebendige Schöpfung Gottes sich entfalten soll, nun weitere Dimensionen erlangt und dass es auch in anderen Regionen des Universums geteilt und gefeiert werden muss, dass das Leben – die Gemeinschaft allen Lebens mit Gott, dem Schöpfer! - durch Jesus Christus vollendet wird!)
Amen.
[i] Aus: „Christus in der Schöpfung“, in: Werner Bergengruen, Die heile Welt – Gedichte, Zürich 1950, S.116.
Gründonnerstag, 17.04.2025, Stadtkirche, 1.Korinther 11, 23 - 26, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Gründonnerstag - 17.IV.2025
1.Korinther 11, 23-26
Liebe Gemeinde!
Heute wird sie geboren, … nicht Pfingsten!
… Pfingsten ist ihre zweite Gründung nach der Katastrophe; Pfingsten ist ihre bitter nötige Heilung, … die Stärkung und Festigung, die tatsächlich die Möglichkeit der Sendung zu allen schafft. Pfingsten ist - wenn man so will - der erneuerte Bund des Neuen Testaments, genauso wie es nach der frühen, schnellen, völligen Katastrophe der Schöpfung in der Sintflut der Bund mit Noah war.
… Denn darin ist die Rede vom „Alten“ und vom „Neuen“ Bund immer schon eine Naivität gewesen, dass sie den Eindruck erweckt, Gott habe ein einziges Mal erneuern müssen, was ein einziges Mal brüchig geworden wäre: Die Geschichte der Menschheit, die Geschichte Israels, die Geschichte der Kirche ist voll und übervoll von Verstößen und Missachtungen und Übertretungen und Ausblendungen und mutwilligen Verletzungen und abgründig bewussten Leugnungen des Bundes, den Gott Seinen Menschen, Seinem Volk, Seiner Kirche aus allen Völkern als Raum des Schutzes und des Segens, als Raum des Schalom - des physischen und spirituellen Blühens - angeboten hat.
… Nichts aber ist gebrochener als dieser Gottesbund.
Und nichts ist langmütiger als die Vergebungsgeduld des Bundeserneuerungs[i]-Gottes.
Und so wäre nichts in dieser gesamten Geschichte der Zerbrechlichkeit des Bundes auf Menschenseite und der aus dieser Zerbrechlichkeit entstehenden Abbrüche und Verbrechen trauriger, als die Geschichte der Kirche, deren Geburtstag heute ist, … nichts also - sage ich - wäre trauriger, als die Geschichte der wort- und bundesbrüchigen Kirche, wenn sie nicht eben ausgerechnet heute, unter den ungeheuerlichen Umständen, die uns jetzt vor Augen stehen, geboren worden wäre:
Die Kirche entstand in der Feier des Passamahles.
In einem Obergemach in Jerusalem, unter vielen Tausenden Tischgemeinschaften, die überall als Familien der Einheimischen und als Festversammlungen der Pilger in dieser Nacht das lange, feierlich-fröhliche, symbolisch die Exodus-Erfahrung der Väter real vergegenwärtigende Mahl der ungesäuerten Brote, der Bitterkräuer, der salzigen Tränen und des tröstenden Weins, v.a. aber des lebensrettenden Lammes feierten. Sie sangen und erzählten von ägyptischer Fron und eiligem Aufbruch, vom Beinah-Ertrinken und nervenaufreibenden Wundern, sie priesen Moses, ihren Lehrer und das Gottesgeschenk ihrer Freiheit.
Und unter den unüberschaubaren Hausgemeinden, die da in der ganzen Stadt alle gleichzeitig die erzählende, deutende, anschauliche Liturgie der Erlösung begingen, war nicht nur in der eifrig konzentrierten Seminaratmosphäre seiner Talmudschule bei Rabbi Gamaliel der junge Saulus aus Tarsus (vgl. Apg.22,3), sondern in der südwestlichen Ecke Jerusalems, auf dem Zion hatte sich zur selben Stunde ein malerisches galiläisches Fußvolk aus Kapernaum und Bethsaida versammelt um seinen Rabbi, den Zimmermann aus Nazareth. … Auch sie feierten das Passah. … Doch dann wurde aus ihrer, im Vergleich zu den meisten damaligen Feiern in Jerusalem bescheidenen Tischgemeinschaft mit dem Leihgeschirr und den einfachen Matten und dem wenig anheimelnden Saal etwas, das entweder sofort … oder nie wieder zu Ende ging: Es wurde die Kirche! Sie entstand an jenem Abend … und sie scheiterte in jener Nacht!
Sie entstand, als der Zimmermann-Rabbi, Jesus von Nazareth ein völlig neues Gebilde und Gebäude fügte: „Das ist mein Leib.“ …
Paulus hat es später wie kein Zweiter verstanden, dass dieser Leib Christi aus den Vielen besteht, die in Ihm doch eins sind (vgl.Rö.12,5; 1.Kor.12,27) und dass Jesus Christus der Grundstein ist, Der diesen Tempel des Heiligen Geistes trägt (vgl.1.Kor.3,11.16f1; 6,15ff).
Dass aber genau dieser Leib – der lebendige und alle, die Leben wollen, durch Sein Leben mitbelebende Leib Jesu, der die Kirche ist –, … dass also dieser Leib bei jenem Passamahl entstand, das hat Paulus, der damals als Saulus noch kategorisch getrennt von den anderen Aposteln feierte, auch erfasst.
Er hat erfasst, dass Jesus, indem Er Sich Selbst für alle dahingab, zugleich alle die Vielen in Sich, dem Einen verband: Der Leib, Der gegeben wird, macht alle, die Ihn empfangen, wahrhaftig und leiblich zu solchen, die Teil an Ihm haben, zu Seinen Teilen also.
Dieser Leib – der wahre Leib Jesu, der Sich verwirklicht in allen, die Ihn in direktester Weise annehmen – … dieser Leib also ist die Kirche: Die Gemeinschaft in dem Einen; die Vielen, deren leibliches und seelisches Leben sich aus dem Einen speist.
Und von diesem, durch Seine Teilung als Brot entstandenen, durch Seine Brechung in Stücke erst zusammengefügten, durch Seine sakramentale Distribution erst real konstituierten Leib sagt Paulus das beiläufige und doch ungeheuerliche Wort: „Ich nun hab’s vom Herrn empfangen“!?! …
… Doch der harmlos schwerhörig gewordene Mensch nach der Entmythologisierung[ii], also nach dem erfolgreichen Vorgang, den biblischen Zeugnissen alle Wirklichkeit zu verbieten, die nicht auf den flachen Bierdeckel unseres derzeitigen, reduzierten Verständnisses passt, dass es in aller Welt nichts geben darf, das wir nicht verbuchen könnten, … der harmlos mit der Entmythologisierung zufriedene, auf lediglich seine ganz eigenen Voraussetzungen also begrenzte Mensch von gerade heute weiß, was davon zu halten ist: Paulus meint, dass er die Gewohnheit des Abendmahlfeierns und ein paar Formeln dafür im Zusammenhang mit Jesus Christus aufgeschnappt hat; er hat also die Kunde und Überlieferung davon irgendwo mitgekriegt.
… So kann man das Wörtchen „empfangen“ erklären: Etwas ist als Tradition an mich weitergeleitet worden.
Wenn nicht die beiden anderen, ganz unauffälligen Worte so dagegensprächen: „Ich nun…“.
Sie sind zwar wirklich unspektakulär. Doch bei Paulus haben sie’s in sich. Er nutzt sie in dieser betonten Voranstellung immer, wenn er etwas vollkommen Fundamentales hervorheben will, etwas, das ihn mit Haut und Haar, im Leben und im Sterben, mit totaler und radikaler Konsequenz also betrifft: „Ich nun bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben“ (Gal.2,19) / „Ich nun habe gelernt, mir in allem genügen zu lassen“ (Phil.4,11) / „Ich nun bin der Geringste unter allen Aposteln“ (1.Kor.15,9). … Und dann noch eine ganz leibliche, ganz somatische Selbstaussage des Paulus, die die allermeisten von uns gar nicht kennen: „Ich nun trage die Wundmale (wörtlich: Stigmata) Jesu an meinem Leib“ (Gal.6,17).
Wenn es also absolut unverwechselbare, existentielle, konkrete Ich-Botschaften des Apostels Paulus gibt, dann sind es diese mit „Ich nun - Ἐγὼ γὰρ“ beginnenden Sätze: Wie jener, mit dem er die Hingabe des Leibes Christi, durch die die Kirche entsteht, genauso einleitet wie seine anderen höchstpersönlichen Selbstreflexionen. ———
Wenn Paulus darum sagt: „Ich nun hab’s vom Herrn empfangen, … das Mahl, das Seinen Leib und den darin erneuerten Bund vermittelt“, dann hilft es nicht, ihm in die Parade zu fahren und zu kontern: „Stimmt nachweislich nicht! An jenem Abend warst Du mit dem gelehrten Nachwuchs der rabbinischen Elite im festlich glänzenden Lehrhaus des Gamaliel und nicht etwa bei den galiläischen Landstreichern auf dem Söller am Stadtrand!“
Denn das – so weiß jeder Schüler des Gamaliel es ebenso wie jeder Jünger des Galiläers – … das ist ja gerade das, was diese Passahnacht von allen anderen Nächten[iii] und was ein Passahmahl von allen anderen Gastmählern unterscheidet: In dieser Nacht ist man nicht dort, wo man sich befindet, und man isst nicht nur, was man sieht.
In dieser Nacht ist man nur deshalb zufällig, wo man ist, weil man an etwas viel Entscheidenderem, viele Wirklicherem Anteil hat: Und was man isst, gerade das bezieht auch den Körper und nicht nur den Geist in dieses reale Gedächtnis, in diesen „realisierenden“ - begreifenden!, verwirklichenden! - Denkgenuss ein.
Man ist beim Passamahl versammelt, weil es die eigene Befreiung aus der Sklaverei ist, die sich dort realisiert. Man bricht das Brot des Aufbruchs aus Fluch und Qual der Knechtschaft, weil dieser Aufbruch kein vergangener, sondern der eigene IST!
Man trinkt mit Danksagung aus dem Kelch des Heils, weil es die eigene Loslösung aus dem Zwang und der eigene Bund mit dem Befreier IST, die durch das mit Herz und Seele und Geist und Lippen und Kehle und Körper gedenkende, bekennende Aufnehmen geschehen.
Das Passamahl, das Abendmahl sind also wirklich Feiern der Wirklichkeit!
Niemals sind sie nur Übungen oder Darstellungen eines „Als ob“!
Und darum meint Paulus es wirklich und real, dass auch Er selbst, persönlich („Ich nun“) es vom Herrn empfangen hat: Das Brot, das der Leib ist, und den Kelch, der das Blut des auf Seiten Gottes niemals alten, immer neuen Bundes ist!
So wie Saulus bei Gamaliel unter den Schülern erlebte, dass er selber dabei war, als die Sklaven hastig aßen und dann in die Nacht aufbrachen, durch Ägypten flohen und am Schilfmeer wunderbar gerettet wurden, genauso hat Paulus es – vielleicht zum ersten Mal in Damaskus, wo er Häscher und Mörder der Christen werden wollte – erlebt, dass er ebenfalls selber dabei war, als jener Leib hingegeben wurde, in Den er als Christ für immer gehörte.
Ich hab’s empfangen.
Ich gehöre mit dazu.
Ich lebe von diesem Leib.
Ich selbst bin Teil dieses Leibes. ———
… Kein „Als ob“.
… Kein „Damals“.
… Keine Gedächtnisstütze.
… Keine Symbolhandlung.
Heute wird sie geboren: Die Kirche, die von dem Leib lebt, der ihr jetzt geschenkt wird; die Kirche, die von dem Bund lebt, der jetzt und hier neu ist.
… Die Kirche, die abends ungefähr zu der Stunde, die unsere Uhren jetzt zeigen, beim Mahl und durch das Mahl entstand und die in jener Nacht noch durch ihre Schwäche, ihr Einschlafen und dann im hektischen Tumult durch ihre Übersprungshandlungen, v.a. aber durch Feigheit und Flucht – weil nur noch die eigene Haut und nicht im Geringsten der Leib des Herrn und die Gemeinschaft der Glaubenden zählten! – sich völlig aufgelöst hätte, wenn nicht einer, höchstens zwei der Jünger trotz allem etwas mehr Liebe als Furcht empfunden hätten und wenn nicht die Frauen - natürlich die Frauen - irgendwie auch noch das Allerschlimmste durchgehalten hätten und dageblieben wären, als alles aus war.
… Die Kirche, die den Leib und Bund Jesu Christi empfing und in sich verkörpert – und die doch so völlig scheitert in der Nacht, da Er verraten ward … durch sie!
„Ich nun hab’s vom Herrn empfangen“, sagt Paulus, „dass ich dazugehöre … und Ihr, in Korinth auch. … Und in Kaiserswerth. … Ich auch. … Du auch. … Zu der Kirche, die in dieser Nacht des Verrates begann.“
Auch diese Klarstellung also, die kein Zucken, kein Ausweichen, kein Verdrücken - „Ich war ja gar nicht selbst dabei“ - kennt, … auch diese Klarstellung hat Paulus unmissverständlich wie kein Zweiter begriffen und festgehalten:
Dabei zu sein bei Jesus, dabei zu sein bei der Kirche, heißt ganz dabei zu sein! Nicht in beliebig-bequemer Auswahl, nicht im Fragment, nicht nach eigenem Gusto. Sondern mit allem und allen: Paulus, der ihn nie kennenlernte, gehört mit Judas Ischariot, dem Verräter, an den Tisch. Auch mit Petrus, ausgerechnet mit Petrus, mit dem er einen entscheidenden Zusammenstoß hatte (vgl. Gal.2,11), … mit Petrus, dem armen Großmaul und noch erbärmlicheren Verleugner, weiß Paulus sich in dieser Nacht eins. … Mit allen. … Die dabei waren, … sind, … sein werden.
… Weil im Abendmahl - wie im Exodus - nicht nur eine Generation, sondern alle Generationen, bis zum Ende der Zeiten versammelt sind und Gemeinschaft haben.
Weil die Kirche nicht aus den Guten besteht, sondern aus denen, die in ihrer Schwäche, Bedürftigkeit und wort- und treubrüchigen Fehlbarkeit alle nur von Gott leben.
Weil sie nicht aus den Starken besteht (vgl. 1.Kor.8 + 10,23ff!), sondern aus denen, die stets gestärkt werden müssen.
Weil sie nicht aus den Vollkommenen besteht, sondern aus denen, die wieder und wieder, in steter, unermüdlicher Wiederholung durch Gottes Langmut und Geduld den Bund neu annehmen, ihn neu empfangen und bekennen müssen.
Darum ist dieser Abend, diese Stunde, dieses Mahl so wichtig.
Weil wir jetzt, neben den Zwölfen und zusammen mit Paulus, in Gemeinschaft mit allen, die vor uns waren, mit uns leben und nach uns kommen, am Leib Christi teilhaben und den neuen Bund selber bestätigen dürfen.
Jetzt geschieht es, dass wir eins werden: Untereinander, weil wir es in IHM sind.
Und alles, was uns bevorsteht, wird immer und immer wieder von diesem in Ewigkeit neuen Bund mit Gott selbst im Leib Jesu Christi, in der durch das Abendmahl entstandenen Kirche die ursprüngliche und unverbrüchliche Verheißung haben:
Dass nämlich in allem Scheitern und allen Siegen der Seinen die Hingabe unseres Herrn wirkt – Seinen Tod verkündigen wir – und dass Seine endgültige Zukunft sich durch alles das hindurch unaufhaltsam vollzieht – …, denn Er kommt in Herrlichkeit!
Heute geschieht’s!
Amen.
[i] Die alttestamentliche Wissenschaft hat vom 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die These eines regelmäßigen „Bundeserneuerungsfestes“ im Kult Israels (erfolglos) zu beweisen versucht, … vielleicht weil es ihr schlicht nicht eingängig sein konnte, dass die Erneuerung des Bundes so zentral zu dessen Wesen - besser: zum Wesen Gottes - gehört, dass nicht ein einzelnes Fest, sondern die gesamte Heils- und Unheilsgeschichte Israels davon geprägt ist.
[ii] Der Streit um die Entmythologisierung ist seit Jahrzehnten verklungen und ein alter Hut. Die Problemanzeige, die die „Frommen“ damals anmeldeten, ist ausgewandert auf ganz andere Gebiete: Es geht um die Hybris, mit der sich eine bestimmte – eurozentrische, aufklärungsphilosophische, szientistische (ergänze heut: „weiße, männliche, koloniale“) – Perspektive absolut setzt, indem sie sich bestimmte Sichtweisen und Elemente fremder Überlieferungen aneignet (appropriiert) und andere eliminiert, weil sie die alternativlose Hegemonie für ihren Ansatz beansprucht. Solche Dominanz einer einzigen, partikularen, sich indes als „wissenschaftlich-objektiv“ inszenierenden Verständnisbemühung muss auch ein halbes Jahrhundert nach den Kulturkämpfen um die existenziale, bzw. wörtliche Auslegung der Schrift angefochten werden.
[iii] Hier wird die in der Passah-Liturgie bis heute berühmte „Frage des jüngsten Kindes“ aufgegriffen, das die Feiernden beim gemeinschaftlichen Mahl fragen muss: „Was unterscheidet diese Nacht von allen Nächten?“ Diese hermeneutische Unbefangenheit eines Kindes ist es, die (vgl. vorige Anmerkung) die Vorurteile der Wissenden und Wissenschaft spielerisch und befreiend entlarvt. Auch die Kirche muss sich wieder „wie die Kinder“ nach dem Einzigartigen ihrer Überlieferung fragen und die Engführung aller ihrer fixierten, heute: historisch-kritischen Vorverständnisse überwinden.
Palmarum, 13.04.2025, Stadtkirche, Jesaja 50, 4 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Palmarum - 13.IV.2025
Jesaja 50, 4 – 9
Liebe Gemeinde!
Alles ist Flaschenpost.
Wir heben etwas auf und wissen nicht, wer’s brauchen wird.
Wir stellen etwas her und ahnen nicht, wer dies als seine Schüssel, … als ihr Kleid, … als das ureigenste Zuhause empfinden wird.
Wir bauen eine Brücke und werden nie erfahren, wer sie nutzte, … eine Tür, von der wir nicht erleben werden, wem sie zur Rettung wurde.
Wir tun eine Tat und werden nie bezeugen, wem sie half. Oder zum Verhängnis wurde.
Uns unterläuft nur eine kleine Dummheit, und verborgen bleibt uns, wer ihre schweren Folgen leidet: Wir haben etwas nicht gewollt, und einen anderen hat das vernichtet.
Da hat einer einen Gedanken und er trägt Frucht, die viele nährt.
Vor langer Zeit ist was entstanden, das morgen Segen bringt.
Ein Wort hat einer hingesagt und langsam wurde es zur Mitte einer ganzen Wissenschaft.
Eine Scherbe, die wir zerbrachen, zeigt später eine ganze Welt.
Ein Brief zwischen Zweien tröstet Millionen.
Eine Unscheinbarkeit berührt die Zukunft aller Menschen.
Ein Satz, den jemand auf der Straße hörte, bewahrt ihn vor dem Wahnsinn.
Ein klitzekleiner Punkt wird unvermutet zum Schlussstein einer ganzen Lebensweisheit.
… Weil vor und nach uns Menschen waren, Menschen kommen werden, ist alles Flaschenpost.
Das sollten wir nie aus den Augen verlieren: Dass wir an einem Ufer leben, an dem die Strömung der Vergangenheit uns vor die Füße wirft, was wir heut nötig haben. Und dass wir selbst darum solche sein müssen, die dem Strom der Zeit bewusst das übergeben und anvertrauen, was die brauchen können, die in der Zukunft auf die wohltuenden und wegweisenden Zeichen aus unserer Gegenwart warten mögen!
Alles könnte also Flaschenpost werden …. Nur dass sich nie bestimmen lässt, wer wann von wem welche dieser Botschaften empfängt …. ——
Darum könnte es tatsächlich immer wieder zum Nägelkauen sein, wenn an Palmsonntag das dritte Lied vom Gottesknecht aufgeschlagen und zu hören ist: Der dritte jener vier geheimnisvollen Abschnitte (Jes. 42,1-4; 49,1-6; 50,4-9; 52,13-53,12), die in den reichen Trostworten des Seelsorgepropheten Jesaja in der babylonischen Gefangenschaft ihre seltsamen Zwischentöne entfalten. In diesen vier Liedern wird ein anderes Dunkel sichtbar als das Leiden des Exils. … Eine Gestalt wird da beschrieben und beklagt, … eine Gestalt bezeugt da ihre Berufung und beseufzt ihre Aussonderung, die kaum aus dem Schatten der Verborgenheit in Gottes tiefstem Innerem tritt, … ja, die im letzten, größten, erschütterndsten der Lieder sogar im Rätsel der totalen Verwerfung, der stellvertretenden Vernichtung untergeht. Im vorletzten Lied vor dieser Liturgie vom verachteten, vom verwundeten, vom geschlachteten und verschwundenen Schmerzensmann (vgl. Jes.53,2ff) aber, … in dem Lied, das wir an Palmsonntag hören, da spricht der später Verstummte selber, … da spricht und singt Seine Stimme, und bevor Er hingerichtet wird, richtet Er sich darin kerzengerade und herausfordernd in Seiner Herzensruhe auf.
Und es wäre zum Nägelkauen, ja, zum Zittern und zum Zagen, wenn wir annehmen müssten, dass diese Flaschenpost aus dem 6.Jahrhundert vor Christus Christus selber nicht erreicht hätte!
– Er, Der in jeder Hinsicht das erleben, das ertragen, das erfüllen würde, was Jesajas unergründliche Lieder der Ahnung vom völlig unschuldigen Mitleid mit den Schuldigen durchdringt, … Er, Der wie der singende und schweigende Gottesknecht der Vision das alles in aller Realität zu erdulden bestimmt war, … Er muss von dieser Botschaft erreicht worden, Er muss von ihr erfüllt, Er muss von ihr gestärkt worden sein! – … Oder? …….
Zum Glück sind sich schon die Apostel (vgl. Apg.8,32ff) und in allen Jahrhunderten seitdem die Kirche sicher gewesen, dass zwischen Jesajas Gottesknechtsliedern und Jesus Christus ein unlöslicher und unzweifelhafter Zusammenhang besteht.
Es wäre darum gar nicht nötig gewesen, dass wir im Lukasevangelium nun tatsächlich hören dürfen, wie die Flaschenpost des Trostkünders an ihr messianisches Ziel kam: Dort aber (Lk.4,17) erleben wir ausdrücklich den Augenblick in der Synagoge von Nazareth, wo es heißt, dass Jesus am Sabbat „das Buch des Propheten Jesaja gereicht wurde“. „… (U)nd er fand die Stelle“ - heißt es als Nächstes -, wo im letzten, verheißungssatten Teil der Prophetenrolle, weit hinter den Liedern vom leidenden Gottesknecht noch einmal der Gesalbte Gottes in der Ich-Form von Seiner Mission zur Heilung und zur Lösung und zur Rettung spricht.
… „Er fand die Stelle…“: Das heißt Er wickelte die Rolle von vorn bis beinah an ihr Ende auf und kannte ihren Inhalt, Er wusste, wo Er suchen sollte und wie Er finden würde, was das reine Evangelium beschreibt, zu dem die vier tiefen, schweren, sonst kaum erträglichen Leidenslieder führen! ——
… Nur so kann man Ihn heute reiten lassen!
Nur so kann man es aushalten, Ihn einziehen zu sehen in das, wo Er nun wie in einen Strudel hineingerät, der Ihn rascher und unbarmherziger verschlingen wird, als alle anderen Zeugen dieses Freudensonntags in der Todeswoche es auch nur ahnen.
Doch weil Er die Buchrolle des Jesaja am Anfang Seines öffentlichen Wegs empfing, wird sie ihre Botschaft auch bis zum Ziel in Ihm entfaltet haben. … Diese für Ihn bestimmte, diese auf Ihn gerichtete Botschaft vom Leidensweg, der sinnlos unverständlich ohnegleichen und doch gerade darin einzigartig überraschend in seiner alles verwandelnden Wirkung sein würde, … diese Botschaft war Ihm gegenwärtig, Er vergegenwärtigte sie.
Und so hören wir mitten im ungeheuren Lärm der Menge heute dank dessen, dass der prophetische Grundton einer beschönigungslosen Nüchternheit und Gewissheit dabei in Ihm nachklingt, tatsächlich nur auf die innere Stimme Dessen auf dem Esel.
Um Ihn herum skandieren sie - ohrenbetäubend wie jede Menschenmasse - „Juhu! Der Da! Du da! Dieser!“ …, währenddessen in Ihm ganz still und trotzdem klar das Wort schwingt, das Massen durch ihre Zuneigung immer am meisten gefährden, korrumpieren und fast unausweichlich begraben. „Du bist Der!“, schreit die Menge. … Und in ihm schweigt es hell: „Ich … Ich bin Mund und Ohr für Gott und die Müden: Nicht Erfüllungsgehilfe der Tobenden, nicht Brennstoff für die Begeisterten, sondern Ich bin das leise Wort, Ich bin der angehaltene Atem, das wie am jungen Morgen offene Gehör für die unbemerkten, die erstickten Weisen und Laute aller Liebe und aller Not.“ …
„Juhu! Der König!“ jubeln sie in einem Taumel, der aus frommer Gerechtigkeit und spontaner Hoffnung und wilder Sehnsucht nach Größe gemischt ist, wie Politisches so oft.
… „Ich bin ein Jünger“, setzt sich die Ihn tragende Ruhe auf dem ruckelnden Esel inmitten des Tumults in Ihm fort. „Ich führe nicht, ich folge; … befehle nicht, sondern höre; … verlange nicht, sondern habe gelernt zu vertrauen.“ …
……. Nicht einmal die frohlockenden und stolzen Jünger, die das ganze wärmende Schneetreiben der Palmblätterrispen und der Zustimmung und der Fröhlichkeit und der Gebetsfetzen und der Applaussalven aus vollem Herzen genossen, … nicht einmal die Jünger ahnten, dass sie tatsächlich hinter dem Größten alle Jünger, dass sie tatsächlich hinter der Demut selbst, hinter dem bereitwilligsten Schüler der geheimen Ratschlüsse Gottes her tanzten bei diesem herrlichen Volksfest! … Obwohl der Esel es ihnen hätte sagen können, dass sie nicht einem Sieger in eigener Sache auf der Spur waren, sondern Einem, Der Sich senden ließ, weil die Welt Brot braucht und etwas, wovon sie leben kann. Doch wer hört schon auf die Einfaltsesel, wenn die Stunde des Löwen zu schlagen scheint? …….
„Ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück“, so hat die geheime Botschaft aus der Vergangenheit in Jesu Innerem einen ganz einfachen, ganz geraden Takt vorgegeben: Ruhig-regelmäßig, ohne Schleppen, Stocken, Zittern. Und wenn Er im Sausen der wedelnden Palmen auch schon das Zischen des Flagrums, der mehrschwänzigen Folterpeitsche ahnte, die die Römer über alle ihre Provinzen schwangen, … so blieb sein Puls doch durch die prophetische Stärkung im Gleichgewicht:
„Ich bot meinen Rücken dar,
… ich bot meine Wangen dar,
… ich verbarg nicht mein Angesicht“
So hat von Pflasterstein zu Pflasterstein, über die der Esel Ihn näher an das Kommende trug, auch Jesu Seele Schritt für Schritt eingestimmt in das, was damals vor langer Zeit Gott Selber angestimmt hatte in den Silben des Liedes, das Ihm jetzt zum tiefen, gleichmäßigen Halt im Wirbelsturm des Schicksals wurde. …
Die Schrift erfüllt sich also wahrlich nicht nur in Christus, sondern noch viel mehr erfüllt und erhält sie Ihn! Sie hilft!
„Gott der HERR hilft mir!“ Das ist im schrillen Singsang, den die orientalischen Triller der Jerusalemerinnen und ihrer Kinder sowohl bei Klagen als auch bei Lustbarkeiten verzieren, der tragende Grundton, der basso continuo, über dem sich die „Hosianna!“- und die „Stabat-mater“-Melodien dieser Woche entfalten werden. …
Auf dem Esel reitet also Einer, Den die Schrift da durchträgt.
In den Wirbel der auflösenden Vernichtung wagt sich Einer, Der zusammengehalten wird von einem alten Wort, ohne das Er zerfließen müsste in lauter Panik.
… Nun aber bleibt Er aufrecht durch Jesajas Zusicherung; sie hat Ihm die nötige Fassung gegeben, Ihn glatt und hart wie einen Kiesel geschliffen, in den nichts tiefer bohren kann. –
… … … Gewiss, mit letzter Macht kann man sogar alle Steine und jeden Felsen pulverisieren: Das weiß der ruhende Pol in der Hosianna-Hektik, … der stille Mensch im Auge dieser in Zerstörungsrausch kippenden Herzlichkeit. … … … Aber noch sicherer weiß Er, dass nicht irgendein Erfolg zu Jerusalem Ihm Recht geben kann, weil nur das Recht und die Gerechtigkeit Gottes Ihm einst zu Seiner und unserer Rechtfertigung und so zum Sieg verhelfen werden. … … … ———
Und so reitet Er in einer vollkommenen Ruhe in die vollkommene Katastrophe.
Er wird dort – in Gethsemane, dem Garten Seiner Verzweiflung und auf Gabbata, der Richtstätte (vgl.Joh.19,13) und auf Golgatha, der Hinrichtungsstätte – noch weinen. Betteln, ob Er nicht doch verschont werden könnte. Er wird wilde Schmerzen, Todesangst und eine seelische Nacht erleben, der die Sonnenfinsternis (vgl. Mk.15,33) um Ihn herum entspricht. Er wird leiden und sterben wie ein Mensch unter der Folter und in den Fieberkrallen der körperlichen Qual nun einmal leidet und stirbt. ……. ——
Und deshalb bleibt zu fragen, ob man nicht diese Flasche und die Post in ihr, … ob man also diesen Jesus von Nazareth und das prophetische Wort, das Er in Sich trägt und das Ihn durchträgt, heute nicht wegwerfen sollte?!
Ob man sie nicht als völlig sinnlos entsorgen sollte, diese Zusicherung Jesajas an Jesus, dass alles Leiden, das Ihn trifft, Ihn nicht von Gott scheiden kann, sondern im Gegenteil für viele, viele, unzählig viele Menschen den einzig wahren Zugang zu Gott und Seiner rettenden Gerechtigkeit eröffnen wird?! …….
Weg mit dieser Botschaft, die niemanden mehr erreicht!
Her mit der Botschaft, dass alle Leiden sinnlos sind, … dass alles Schwere - für uns zumindest - leer ist, … dass wir nix Schöneres tun können, als nur das Schöne zu pflegen und dass es nichts Dümmeres gibt, als sich auf das Schmerzhafte einzulassen: Das ist in verkürzter Verdichtung doch die Stimmung unserer Gegenwart … gewesen.
Aber diese Unkultur der Verdrängung, die nicht nur das Unerfreuliche, sondern damit auch die Unerfreuten, die Bedürftigen, die Schwachen, die Leidenden verdrängt und mit dem Verdrängen aller Probleme und aller Problematischen, mit dem Verdrängen von Menschen also und Welt natürlich auch die Wahrheit und darin Gott verdrängt, … diese Unkultur, diese Anti-Kultur des Rein-Schönen und darum Glatt-Gelogenen wird gerade vor unseren Augen zerschlagen:
Das Schlimme ist immer noch da.
Der Schrecken ist immer noch da.
Der Schmerz ist da.
Die Schande ist da.
Die Sünde.
Satan … Satan ist da, … irgendwo.
Und wir stehen am Strom, der zur Flut anschwillt. Der verdrängte Dreck des Bösen, die entfesselten Wogen des Zerstörerischen, die aufgestaute Sintflut des Chaotischen steigen von Tag zu Tag an. …….
Und da spült uns der Anfang der Karwoche diese Flaschenpost vor die Füße, … diese Botschaft: Dass Christus und Seine Christen und Christinnen wie Jesaja und alle Knechte und Mägde Seines Gottes in die Katastrophen ihrer Tage gingen in der Gewissheit, dass sie darin trotz all ihrer Verluste nicht verloren sein würden, … dass sie trotz aller Leiden nicht vergeblich litten, … dass sie in allem Sterben - auch ihrem eigenen! - doch nicht den Tod finden sollten!
… Natürlich: Sie alle - einschließlich Jesu - wären lieber nicht gegangen. … … … Als sie jedoch mussten, konnten sie!
Wir sollten darum die Flaschenpost, die uns ihren Trost, die uns den Trost Christi zuträgt, bestimmt nicht wieder wegwerfen!
Sondern unser Ohr wecken lassen für ihren Zuspruch.
Unser Gewissen wecken lassen für die Wahrheit über uns und über diese Welt.
Unser Herz und unsere Haltung sollen wir wecken lassen für die Stärkung, die der gestärkte Jesus uns schenkt.
Unseren Glauben sollten wir wecken lassen für das große Leiden, zu dem Er bereit wurde und für das noch größere Ziel, zu dem es führt.
Unsere Welt schließlich sollten wir selber schlicht und im Ernst aufwecken und erwecken lassen für die Freude, dass dieser Jesus Christus gekommen ist, für die Hoffnung, die in Seinem Hingang liegt und für das Wunder, das Seine Auferstehung und Seine Zukunft vollenden werden.
Das alles will die alte Botschaft tun, wenn wir sie hören, wie Jünger hören.
Dazu verhelfe uns der erste Morgen dieser Woche – der heiligen Woche für die gesamte Kirche auf dem ganzen Erdkreis im Osten wie im Westen! –, … dazu verhelfe uns diese weltweite Woche des Leidens und der unendlichen Hoffnung, die wie keine andere unseren Halt, unseren Trost und unsere sichere Zuversicht wecken und kräftigen will!
Amen.
EG 452, 1 - 3
Judika, 06.04.2025, Stadtkirche, Johannes 18,28 - 19, 5, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Judika - 6.IV.2025
Johannes 18, 28 – 19,5
Liebe Gemeinde!
Lange hatten wir sie verdrängt, aber jetzt beherrscht sie alles und wir müssen sie uns und uns ihr - wohl oder übel - stellen. … Stellen wir also die alles beherrschende Machtfrage nach der alles beherrschenden Macht. Die Frage, die den Fischer aus dem Pisspott so antrieb, dass er durch „Mantje! Mantje! Timpe Te!“-Beschwörungen auf- und auf- und aufstieg … angeblich, weil „syne Frau, die Ilsebill“ das so dringend wollte.
Wer ist der Mächtigste?
– Ist der der Mächtigste, der in der großen Stunde der Befreiung, die ein goldenes Zeitalter des Wohlstands und der Macht einläuten sollte, die unbewohnte norwegische Insel Jan Mayen im Polarmeer, die fiskalisch vermutlich dem König von Thule untersteht, und die McDonalds Islands in der antarktischen Einsamkeit, zwei Wochen Schiffsreise von Australien entfernt, von Menschen zuletzt vor 15 Jahren betreten, bloß von Pinguinen besiedelt mit saftigen Zöllen belegt[i]? – Ja, das ist schon Macht!
– Ist der verbrecherische israelische Kriegstreiber, der einen internationalen Haftbefehl vermeidet, indem er an der Donau einen antisemitischen Halbdespoten öffentlich besucht, mächtig, weil er sich auf die Solidarität der Antidemokraten verlassen kann? – Ja, das ist auch Macht.
– Sind die mächtig, die in Istanbul durch Freiheitsberaubung, in Peking durch Überwachung, in Moskau durch die generationenlange Einschüchterungskraft hundertjähriger Diktatur herrschen? – Ja, das alles sind Männer mit Macht.
Aber bei jedem von ihnen gibt es eine Paranoia, eine Deformation, einen Wahn, der noch viel mächtiger ist, weil er die Schreckensherrscher beherrscht: Die nackte Angst, der blanke Hass, der unheimliche Hirnnebel des kleinen und des großen Misstrauens. Diese Quäl- und Störgeister, diese unentwirrbaren Gespinste und alles vergiftenden Trübungen machen die Mächtigen zugleich zu Ohnmächtigen. Je mehr sie ihrer Macht vergewissert werden durch eine bestimmte fixe Idee, eine zum Weltbild erstarrte Verfolgungspanik, eine luftdichte Käfigkammer um den Kopf, in der nur die eigene und die genehmigte Lüge die Atmung und den Stoffwechsel ersetzen, desto todesstarrer macht die Macht die Machthaber.
…. Bis sie schließlich nur noch bei jedem Neugeborenen zucken wie Herodes (vgl. Matth. 2,3 +16), vor jedem Liebling des Volkes zittern wie Saul (vgl. 1.Sam.18,8) und noch bei kleinen Handwerkern mit helfenden Händen und einem heiligen Herzen von Verunsicherung ergriffen werden wie Pilatus.
Pilatus spürte in Dem, Der bloß auf einem Esel herangeklappert war und doch von einem Ausbruch jubelnder Hoffnung empfangen wurde, den Systemsprenger. … Gewaltige Besatzungsarmeen, eine zugriffsfähige Infrastruktur, ein großzügig vereinnahmender Multi-Kult von Brot und Spielen für alle möglichen Bevölkerungsteile hatten ein Weltreich hervorgebracht, das er, Pilatus, oberhalb des irritierenden Tempels des Unsichtbaren wohl oder übel repräsentieren musste. … Und nun steht ein lumpiger Gefangener mit einem unergründlichen Judengesicht, das von kaum getrockneten Tränen und einem Faustschlag (vgl. Joh.18,22) gezeichnet ist, vor ihm und er, Pilatus, der Statthalter einer sichtbar als Kaiser herrschenden Gottesmacht, bebt im Innersten, und fragt den Geprügelten, ob Er ein König sei?!
Wer ist der Mächtigste? …….
Der König von der traurigen Gestalt, Den Menschen noch Jahrtausende später lieben werden und um Den auch wir heute - hoffentlich jedoch anders als Pilatus - zittern, … der König in Seiner Schwäche aber antwortet nicht, indem Er abwiegelt und auf Seine Wehrlosigkeit, auf den lächerlichen Mangel an Unterstützung und Truppen, auf die groteske Erbärmlichkeit des ganzen Missverständnisses zwischen Weltmacht und Himmelreich verweist, sondern Er tritt noch haarsträubender aus der Deckung: Er zeigt Seine einzige Waffe, … die entweder ein Witz oder die einzige Antwort auf Pilatus’ und unsere Frage nach der Macht ist.
Als Menschen- und als Weltkind sieht der hilflose König aus dem erloschenen Hause Davids, das selbst in Israel längst von Makkabäern, Hasmonäern und Herodianern ersetzt wurde, sich dazu gekommen, dass Er die Wahrheit bezeuge.
Ist Wahrheit demnach die Macht der Mächte? …
Wenn’s doch bloß so wäre! – Seit langer Zeit inzwischen quält mich die unverzeihliche Vernachlässigung des Wahrheitsbegriffs in unserer Theologie und Praxis als Christen und als denkende, handelnde, als ethische und politische Zeitgenossen: Wir haben die Zumutung einer Wahrheit eingemottet, um die Offenheit für viele Wahrscheinlichkeiten und Wünsche zu gewinnen. Das schien sympathisch und zeitgemäß, … und hat dem ungehinderten Wuchern wildester Lügen weltweit Vorschub geleistet.
… Und nun hören wir mit den verzagten Ohren des Pilatus, der angesichts des Systemsprengers aus Nazareth in Galiläa die Machtfrage stellt, dass die Wahrheit - die uns so fern gerückt ist - die Lösung der Macht-und-Schuld-und-Paranoia-und-Ohnmachts-Frage sein könnte. …
… Was aber ist die Wahrheit? – Wer’s weiß: Bitte aufzeigen! …
Mein ältestes Beispiel für die Vexierfrage, was wann, wie und warum wahr ist, bleibt der erste Satz, den ich aus dem Mund meiner neuen Klassenkameraden in England als kleiner Junge verstand: „Your granddad’s Adolf!“ … Es stimmte ja! Mein Großvater hieß Adolf Marquardt. … Woher wussten sie das aber? … Und wenn sie es nicht wussten, hatten sie dann trotzdem recht? Ein Recht, das ich als Achtjähriger nicht verstand …….?!
Was ist Wahrheit? Ist das biblisch ganz und gar verbürgte, von Gott zugesprochene Recht des Volkes Israel am Lande Kanaan als Inhalt der Verheißung wahr im Sinne von territorialpolitisch gültig und genozidal zu vollstrecken? Ist Kiew, weil die Rus dort ihren Ursprung hatte, in Wahrheit russisch? Ist der nach ehrlicher Überzeugung vieler unserer westlichen Mitmenschen logische gegenseitige Ausschluss von Glaube und Wissen, den die Philosophen von Descartes bis Kant andeuteten und den seither die wissenschaftlich-materialistischen Weltanschauungen des Kommunismus und des Konsumismus menschenverachtend durchexerzieren, in irgendeinem nicht-ideologischen Sinn als „wahr“ zu bezeichnen?
Genauso können wir fragen: Wann ist etwas nicht wahr?
Wenn die Willensfreiheit, auf der die alte christliche wie die neuzeitliche Selbstwahrnehmung beruhen, tatsächlich von der Hirnforschung widerlegt wäre, … wäre dann das Freiheitspostulat in allen nicht-tyrannischen Weltanschauungen nicht mehr wahr? Ist es nicht in einem vollen, wenn auch nicht physikalischen Sinne wahr, dass das Blau des Himmels uns beglückt? Ist es richtig, dass Protestanten die Marienbotschaft von Fatima[ii] als unwahr betrachten müssen, obwohl die Aussage des zweiten Geheimnisses so unwiderleglich zutrifft: Dass nämlich erst wenn Russland sich bekehrt – von seinem ursprünglich zaristischen, dann gottlosen und heute pervers nationalreligiös legitimierten Imperialismus – Friede sein wird?!
Was ist Wahrheit, wenn sie keinesfalls eine mathematische Gleichung mit entweder korrekten oder verkehrten Elementen und Ergebnissen ist? …….
Wir sehen nur, dass fast nichts von dem, was derzeit groß und mächtig ist an Strömungen und Stimmungen, an Entwicklungen und Entscheidungen in der Welt auch nur annährend an eine allgemein akzeptierte, verbindende Wahrheit anknüpft. Fast alle Bewegungen unserer Zeit werden durch Sonder- oder Antiwahrheiten befeuert, … also Lügen.
… Und die nicht lügen wollen, sind ratlos. …
… Obwohl doch einer der schönsten Grundlagentexte der Moderne wie wir sie kannten mit dem unglaublich wehmütig stimmenden, kaum noch vorstellbaren Satz beginnt: “We hold these truths to be self-evident”[iii] … „Wir halten diese Wahrheiten für solche, die sich selbst erschließen …“
… Gibt es das noch? … Wahrheiten, die sich als solche zeigen? … Auf die man sich einigen, durch die man vereint werden kann?
… Wenn wir neben dem grübelnden, sich windenden Pilatus stehen, der in seiner Machtposition durch den machtlosen sog. König der Juden verunsichert ist und wenn wir gemeinsam mit Pilatus nun auch noch dieses land- und glanzlosen Königs verteidigungslose, aber überirdisch unerschüttert wirkende Selbstauskunft und Kampfansage hören: „Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme!“, … dann vergehen auch uns neben den Machtmätzchen genauso unsere übergescheiten oder unterbelichteten Wahrheitsfragen. Zwar hören wir – hoffentlich! - Seine Stimme, … aber verstehen wir Ihn? Wissen wir, was Er meint?
… Und so bleibt der stumme Blick auch bei uns wie jenes verwirrte Blinzeln des Praefekten Pontius Pilatus an der Jammergestalt des so ungeschützt angreifenden Angeklagten hängen: Geschlagen, …nicht besiegt. Gequält und dennoch unverstummt, … Er bleibt im Wort, Der selbst das Wort ist, das im Anfang war (vgl.Joh.1,1). … Verunstaltet Sein Fleisch. Aber vor Kurzem noch, an Weihnachten haben wir wieder und wieder gehört und bekannt, dass wir Seine Herrlichkeit sahen (vgl. Joh.1,14): Die Herrlichkeit, die jetzt mit angstschweiß-getränkter Gethsemaneerde an Seinen wundgebeteten Knien und Ellbogen und unter Seinen Fingernägeln verschmiert ist. Die Herrlichkeit, der eben einer auf die Fresse geschlagen hat. Die Herrlichkeit, die unter einer Krone aus Stacheln und an einem ausgepeitschten Leib geschändet, aber nicht gelöscht werden kann, weil Sie das älteste und unvergänglichste Siegel aller Welt trägt: Das Siegel der Gott-Ebenbildlichkeit (vgl. 1.Mose1,27!). Das vollendete und darum unwiderruflich unzerstörbare Menschenbild Gottes, des Gottesbild in nackter Menschlichkeit steht da!
Und es wird das gleiche Bild sein – heilig und unbestreitbar – auch wenn sie es an einem Kreuz aufspießen, … auch wenn sie es in Jahrtausenden der Willkür und der Geistlosigkeit versklaven und verschleudern und verschandeln, … auch wenn sie es in Auschwitz und in Hiroschima oder in Gaza und in Kryvyj Rih und an noch viel näheren Tat- und Unterlassungsorten aufs Brutalste schikanieren und negieren …….
Ein Mensch wird ein Mensch bleiben.
… Und auch wenn nichts mehr an ihm die Merkmale des uns Vertrauten oder uns Erträglichen aufwiese: Das Häufchen Elend vor Pilatus, das Häufchen Asche, das vielleicht zuletzt von allen bleiben mag, wird niemals jenen einzigartigen Glanz, jene Würde, Hoheit, Schönheit, Herrlichkeit verlieren, die vor Seinem Schöpfer dieses Geschöpf auszeichnen, um dessentwillen Er Seinem Bild - dem Menschen - gleich wurde, um ihn auch in der grausamsten Infragestellung zu erhalten, … um ihn in der grimmigsten Gefährdung nicht zu verlassen, … um ihn nicht preiszugeben an den Tod, sondern sein Lebensrecht auf seine wahre, seine ursprüngliche und endlich bleibende Herrlichkeit zu erkämpfen.
Das also ist die Wahrheit dieses Königs! – Sie ist keine Idee, kein abstrakter Wert, keine intellektuelle Funktion. Sondern einfach und mit erstem, letztem Ernst der Mensch.
Und niemals wird die wirkliche, die wirksame und heilige, die gültige und bleibende Wahrheit etwas anderes sein! – Keine Formel, kein System, keine Intelligenz des Künstlichen. Sondern der hinfällige und bedrohte, sich selber bedrohende und verleugnende Mensch, der vor Gier und Geilheit zwar blind und böse, ja monströs und unmenschlich werden kann - „Mantje, Mantje! Timpe Te!” -, aber doch in seinen hellen Stunden erkennen und bekennen muss, dass auch sein Widerspruch gegen sich selbst und seinesgleichen nicht ungeschehen machen und nicht aufheben kann, wie Gott ihn wollte, sieht und retten wird.
Denn auch der seltsam verblasst und verklungen wirkende Satz von der sich selbst durchsetzenden Wahrheit in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist ja nichts anderes als ein Kommentar zur Schöpfungsüberlieferung der Genesis: “We hold these truths to be self-evident that all men are created equal …”
Lebendige Wahrheit kommt eben übers jeweils Menschliche niemals hinaus und am Recht alles Menschlichen niemals vorbei!
Und das Verhör vor Pilatus, der Prozess, der gegen Kafkas „Process“ der hoffnungslosen Absurdität in der Welt des tollen Menschen und des Sisyphos[iv] der Anti-Prozess einer das Absurde noch durchglühenden Hoffnung auf die herrliche Freiheit der Kinder Gottes ist (vgl. Rö.8, 21), … dieser Prozess, dessen Zeugen wir heute an der Seite des ihn führenden Pilatus waren, führt auch uns mit ihm zum Spruch der Wahrheit.
… Der Wahrheit, wie sie da steht. Und wie sie von dannen gehen wird, um zu sterben, damit sie nicht immer wieder vergehen muss, sondern neu und ewig zum Leben rufen kann. ——
Das Urteil, das in der Frage der Macht und Wahrheit fallen muss und das wir selber uns nicht sprechen können, steht also wahrhaftig da … in der Gestalt unseres Stellvertreters.
Es steht sogar buchstäblich da.
Denn es ist eine so alte Entdeckung, dass ihr Urheber im Dunkel der Vergangenheit verborgen ist, damit das einleuchtende Spiel in diesem schrecklichen Ernst umso heller strahle: Irgendeinem von uns ist also aufgefallen, dass die von Pilatus sicherlich auf Lateinisch gestellte oder zumindest gedachte Menschheitsfrage „Was ist Wahrheit? Quid est veritas?“ schon die Lösung enthält. „QUID EST VERITAS“ ist das Anagramm, der Mosaikkasten der einzig wahren Antwort: „EST VIR QUI ADEST“[v] … „Sie ist der Mensch, der hier steht!“
Und so lauten Urteil, Lösung und Verheißung aller unserer Fragen auch:
Die Kraft und das Maß, an denen sich messen lässt, was gilt und bleibt, ist der Mensch.
Sehet darum, den Menschen!
… Es ist Jesus!
Amen.
[i] Zu den absurden geographischen Geltungsräumen der jüngsten Trump‘schen Zollentscheidungen vgl. https://www.politico.com/news/2025/04/02/us-tariffs-around-the-world-030348; https://www.theguardian.com/us-news/2025/apr/03/donald-trump-tariffs-antarctica-uninhabited-heard-mcdonald-islands
[ii] Die Texte der drei Geheimnisse von Fatima finden sich auf der Seite des geschichtswissenschaftlichen Quellensammlungsportals Clio-online: https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28435
[iii] https://www.archives.gov/founding-docs/declaration-transcript
[iv] Das Dreigestirn der Visionäre der Hoffnungslosigkeit – Nietzsche, Kafka und Camus – gehört gerade für Menschen aus der Hoffnung zu den wichtigsten und am meisten ernstzunehmenden Stimmen der Moderne: Niemals dürfen wir naiv in unserer Hoffnung sein, … als hätten diese Drei keine Wahrheit geäußert.
[v] Um eine Belegstelle für dieses alte und verbreitete Buchstabenspiel voller Wahrheit zu nennen, sei verwiesen auf eine Ansprache Papst Pauls VI., die er bei einer Audienz am 20.Mai 1970 hielt: https://www.vatican.va/content/paul-vi/it/audiences/1970/documents/hf_p-vi_aud_19700520.html
Laetare, 29.03.2025, Stadt- und Tersteegenkirche, Joh. 6, 47-51, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Tersteegen Lætare - 30.III.2025
Johannes 6, 47 - 51
Liebe Gemeinde!
Ein gutes Dutzend junger Landstreicher: … In ihren Adern und Gebeten das Erbe derer, die völlig vogelfrei vierzig Jahre durch die Wüste zogen. Einige hatten Boote und Netze besessen; manchen hatten Hütten gehört oder ein Stall und Ackergerät. Der Meister war groß geworden und tätig gewesen in der Zimmermannswerkstatt. … Doch seit sie einander hatten - der Meister und seine Zwölf -, hatten sie sonst nichts mehr. Denn sie hatten das Leben. … Wussten das gar nicht; hätten es nicht sagen oder erklären können. Aber sie hatten das Leben selbst. In ihrer ganzen Bettelarmut, in ihrer wandernden, irgendwo campierenden Leichtigkeit hatten sie die Fülle des Lebens. Seine Quelle und seine verheißene Endlosigkeit. … Ein gutes Dutzend Obdachloser und das Leben.
Als sie mit Ihm zogen und bei Ihm blieben und sich von Ihm aussenden ließen und Ihn dann wieder umgaben und sich wunderten und manchmal zu fragen trauten und oft auch nur Auge und Ohr für Ihn waren, … als sie Worte vernahmen und Taten sahen, die tiefer und größer waren als die Wurzeln der Berge und der helle Mittag, als sie zugleich Unerklärliches und Unscheinbares an Seiner Seite, in Seiner Spur erlebten, … als sie Feuer fingen, weil in ihnen ein Hoffen anging, das über alle Hoffnung war und weil sie etwas zu glauben begannen, das alles Wissen übertrifft, … als sie spürten, dass Erde und Himmel und Anfang und Ende sich verbanden, weil da auf den weichen Hügeln von Galiläa und in den staubigen Städtchen von Samarien bis hinauf nach Jerusalem das Ur-Wort und das bleibende Reich sich ankündigten und aufleuchteten und dann vorübergehend erschienen und dann tatsächlich greifbar gegenwärtig wurden, … als das alles passierte, da wurde es Tag und Nacht, … Sommer und Winter, Frost und Hitze kamen und zogen vorbei, … Aussaat geschah und Ernte (vgl. 1.Mose,822) … und sie wussten nicht wie (vgl.Mk.4,27). Sie hatten kein Land, … aber Brot und Leben. Sie hatten keine Sichel und keine Scheune, keine Tenne und keinen Dreschschlitten, … aber Brot und Leben. Sie hatten keine Mühlsteine und keinen gemauerten Ofen. … Aber Brot und Leben. Sie hatten nirgends, da sie ihr Haupt hätten hinlegen können (vgl. Lk.9,58). … Aber Brot hatten sie Tag für Tag und Leben - ohne es zu wissen - für immer. ——
Wer ist das, Der nirgends zuhause ist und bei Dem doch das Leben ist?
Wer ist das, Dem nichts gehört und bei Dem man dennoch Brot hat und Sättigung und Frieden höher als alle Vernunft?
Wer bist Du, Jesus?
Heute, am mittleren Sonntag der Wochen, in denen das Essen und aller Komfort und alles Vergnügen endlich einmal bewusst nicht im Mittelpunkt unserer Existenz stehen sollen, … heute, an diesem Sonntag, an dem das Verzichten allmählich leichter fällt und das Weniger mehr zu werden beginnt, … an diesem Sonntag, an dem es darum fröhlicher zugehen soll als an Invokavit und Reminiszere und Okuli, wenn man das Weglassen noch übt, und an Judika und Palmarum, auf die schon die Karfreitagsschatten des völligen Nichts fallen , … heute also ist ein wunderbarer Tag für diese einfache Frage, wer Jesus ist.
Drei Wochen des Weniger, … drei Wochen, in denen alle Arten des Überflusses uns in ihrer moralischen und medizinischen Problematik nachvollziehbarer geworden sein könnten, stellen uns also die Frage der Freiheit: Wer ist Jesus und reicht Er Dir?
Jesus ist nämlich genau wie die Frage: Arm und einfach. …
Reicht Dir Jesus? Das ist ja nun wirklich eine armselige Frage, … und zwar buchstäblich. Sie ist von den Erweckungsbewegungen und den Zeltmissionen, von den evangelikalen Fernseh-Predigern und ihrer stereotyp-suggestiven Choreographie und Rhetorik so abgenutzt, dass man sie kaum noch aus dem Müll der Floskeln und Gemeinplätze heraussortieren und recyclen mag.
„Reicht Dir Jesus?“ – Dieser Ansatz ist doch entsorgt worden, … oder? …
Aber wenn wir Rohstoffe und Gegenstände um der Zukunft willen wiederzuverwerten gelernt haben, … wer sagt uns dann eigentlich, dass das bei Missionsbotschaften und Glaubensgedanken und Grundwahrheiten nicht ebenso sinnvoll ist??
Versuchen wir’s doch einmal mit dem Satz, der schon wie ein vom Fasten schmal gewordener Überrest unserer sonst viel breiteren und schwergewichtigeren Skepsis wirkt: Reicht uns Jesus, obwohl er so arm ist? … ——
Ein Hauptunterschied zwischen Armut und Reichtum dürfte sein: Die Armut weiß, was reicht, während dem Reichtum nichts reicht. Armut braucht Sättigung. Reichtum wird unersättlich.
Überhaupt nur arme Menschen können also die Erfahrung machen, ob und wie man mit Jesus vielleicht sein volles Genügen und tiefste Zufriedenheit und echte Ruhe der Seele und die eigentliche Fülle des Lebens findet!
Das ist eine schwer bestreitbare Tatsache: In unserm überquellenden Leben, in der vollgestopften Angebots- und Warenwelt, die wir navigieren, in der Flut unserer Reizlenkung, in der Lawine dessen, was uns von außen aufgedrängt wird und was uns innen als ferngesteuerte Bedürfnisse der Appetit- und Angsthormone durchspült, … in dieser tragikomisch übertriebenen Kultur des Habens, das nur Wollen weckt und des Bekommens, das nur neue Begierden zeugt, da fällt ein einzelner, kleiner Jesus unter den Maschinen und Methoden und Mätzchen und Monstren, die wir angeblich nötig haben, nicht ins Gewicht.
… Der mit Teurem und Wichtigem, mit Neuem und Beneidenswertem zugemüllte Raum um uns, der immer weiter wuchernde Wunschzettel in uns und das seltsame Gefühl totaler Leere trotz dieses Überflusses verhindern alles: … Wir können den Wert eines Einzelnen im Massenhaften unmöglich wahrnehmen. … Wir können nichts schmecken, wenn wir alles zugleich in uns stopfen.
Und darum bedeutet Fasten an Leib und Seele tatsächlich nicht Entbehrung, sondern Eröffnung.
Verzicht auf das Viel zu viel wird Empfänglichkeit für das Wenige.
Und wer es nicht mit jedem Wahn und allen Moden und sämtlichen Möglichkeiten und den vielen Vielleichts und beliebigen Phantasien und billigem Betrug versucht, sondern einfach nur Jesus wählt, … ja, einfach nur Jesus probiert, … einfach nur konzentriert kostet, wie es ist, Jesus an- und aufzunehmen: Der kann beginnen, zu schmecken, wie freundlich der HERR ist (vgl. Ps.34,9).
Jesus ist arm und einfach. … Einfach nur ein Mensch. Er ist kein Fabelwesen und kein Übermensch, kein Halbgott und kein Held. Er ist einfach nur ein wahrer Mensch, in Dem uns alles Menschliche direkt, ohne Nebenwirkungen, ohne Künstliches, ohne Verstärker und ohne Süßlichkeit begegnet. … Aber gerade so eben auch vollkommen unverdorben. … Rein. Ein Mensch, Der mit uns geht. Ein Freund, Der uns in aller Natürlichkeit des menschlichen Miteinanders, ohne hintersinnige Instrumentalisierung zur Seite stehen wird, wo wir nicht allein sein können. Ein Begleiter, Der die Gabe besitzt und die Bereitschaft bewahrheitet, da zu sein … wann und wo auch immer. Einer, Der Sich Selbst darin treu ist, für uns zu sein und an uns zu denken. So treu, dass Er nicht aufgibt, wo wir Ihn längst und also auch uns selbst aufgegeben haben. …….
… Das ist nicht viel, mag man meinen. Dass da Einer offenbar ganz hartnäckig ist, wenn alles andre versagt und sogar unser eigener, sonst so bis zur Ausschließlichkeit fokussierter Durchsetzungs- und Durchhaltewille einknickt. Was soll das schon ändern - wenn alle sonstigen wissenschaftlichen und Zauber-Mittel versagen - dass da ein Einzelner nicht weicht, uns nicht verlässt?!
… Was bringt’s? … Dieser Eine? ……. ——
Noch lebt in unserer Gemeinde ein alter Herr, der als viel zu junges Bürschchen mutterseelen-allein in den Krieg musste. In die Hölle des Mitmachens und der eigenen Wertlosigkeit. Natürlich kam er in Gefangenschaft. Und war in der Hölle seiner Wertlosigkeit das schwächste Glied unter all den armen Teufeln, die in gleicher Verdammnis waren wie er (vgl. Lk.22,40). … Er wusste, dass er da sterben würde: Nur ein Kanten Brot am Tag! Für so ein ausgemergeltes, zuende gequältes Halbstarken-Gerippe! Einmal hob er sich den staubtrockenen, steinharten Kanten auf. Vielleicht weil der einfach zu mühsam zu brechen und zu kauen gewesen wäre, da er doch nicht gereicht hätte, um vorm Hungertod zu retten: … Nur sein Kanten. … Aber nachts auf der Pritsche merkte er, dass der Kamerad neben ihm reglos war. Kalt. Tot. Und merkte, dass der Tote auch noch einen solchen Brotkanten in der leichenstarren Faust hielt, den er nicht mehr hatte verzehren können. Da waren es zwei Kanten. Und der Mutterseeleneinsame, an dessen Seite einer für ihn gestorben war, kaute die ganze Nacht die beiden Kannten: Sein Brot und das Brot des anderen. … Und so lebt er bis heute.
Doch da höre ich wieder die Stimmen – meine und die Stimmen der Vielen – … die Stimmen der Ablehnung und des Widerspruchs: „Das Brot eines Toten als Brot des Lebens? … Wie grausam, wie pervers, wie zynisch ist das denn?!“ …….
… Ach, Menschenskinder! Guckt Euch doch mal um im Kramlager und in der Traumfabrik unseres Konsums: Wie Vieles vom Edelsten und Blanksten, vom Begehrenswerten und Verführerischen trägt nicht unsichtbar gemachte Blutspuren und Leidensnarben und hier und da die Zeichen des Todes, den andere starben, um uns die seltensten der Erden aus der Tiefe und das Metall aus Giftdampf und Feuer zu holen und die luftigen Sommerfähnchen und Polohemden für den Strand von Nizza und Sylt in der Erstickungsenge der Sweatshops zu nähen?
…. Wenn wir unsere Sachen unter das alles durchdringende Licht der Wahrheit halten, sehen wir überall, wie wir von Opfern leben.
Und da wollen wir uns weismachen, wir könnten eine Menschlichkeit, eine Treue und Liebe, die uns in Wahrheit und im Ernst viel, viel nötiger sind, nicht annehmen, weil sie kosteten? – Dinge nutzen wir also, ohne unser Gewissen zu fragen, wie sie wohl zustande kamen; … und den angebotenen Beistand, die echte Gemeinschaft, das reine Füreinander, das Der uns bietet, Der uns liebt, … das schlagen wir aus, weil es uns Zartbesaitete zu sehr belastet? … Wer soll uns das glauben?
Dass Jesus uns so einfach anbietet, durch Ihn zu leben, … dass Er die Grundlage unsres Daseins, … dass Er die alles an und in uns nährende Kraftquelle und die Stillung unseres durch nichts sonst zu sättigenden Hungers nach wirklichem Lebenssinn sein will, … dass Jesus also das Brot sein will, von dem echtes Menschenleben allein leben kann, das liegt an einer einzigen Zutat, die zu Seiner menschlichen Einfachheit und Echtheit hinzukommt: Er ist vom Himmel gekommen.
Er ist die Menschlichkeit für alle Menschen, ihre Substanz und ihre Garantie, weil Gott in Ihm, in Seinem Fleisch das Menschsein trägt.
Und diese einfache Verbindung – das rein Menschliche und das wahrhafte Gottsein –, … diese Einheit aus beiden, die uns das Leben schenkt, sie ist - wie man im Barock gesagt hätte - in der Mühle des Leidens zerstoßen, in der Knetschüssel der Schmerzen durchmischt und in der Glut des Kreuzes gebacken worden: Auferstanden aus diesem allen ist Er so für immer nahrhaft das Brot des Lebens.
Wer nun diesen Jesus mit dem einfachen Rezept – Mensch und Gott in ihrer unzertrennbaren Einheit – an- und aufnimmt, hat alles, was es braucht!
Alles, was jeder braucht!
Alles, was ich brauche!
Wir sollten uns also noch einmal fragen, ob Er uns reicht?
Oder wir fragen umgekehrt: Kann uns denn jemals mehr nötig sein, als dass wir täglich mit dieser Grundeinfachheit gestärkt werden: Da ist Einer, Der uns wirklich meint, … Einer, Der uns immer beisteht, … Einer, Der uns ewig bleibt, … und in diesem Einen, da ist Gott! ——
Die zwölf jungen Landstreicher hatten Ihn und wo sie hinkamen, teilten sie Ihn.
Und wir hier: Wenn wir an Ihn glauben, … dann haben wir das ewige Leben!
So dass uns nur ein einziger Wunsch noch bleibt: Dass in dieser Zeit der äußersten Not, Gewalt und Trübsal noch viele, viele, viele andere, die es so dringend nötig haben, das Eine finden:
Ihn – das Brot vom Himmel … für das Leben der Welt!
Amen.
Okuli, 23.03.2025, Segensgottesdienst, Tersteegenkirche, F.Schulz-Hoffmann
Dieser Gottesdienst war ein ganz besonderer: Neben gleich zwei Taufen konnten sich Jubilare, deren Taufe, Konfirmation oder Hochzeit (eventuell sogar rund) jährte, segnen lassen. Und damit niemand außen vor blieb, bekamen auch Einzelpersonen ohne Jubiläum am Ende ihren Segen. "Gottesdienst mit Segenstationen" war dann auch das heutige Motto. Statt einer längeren Predigt gab Pfarrerin Felicitas Schulz-Hoffmann den Anwesenden zwei Fragen zum Thema "Segen" zum Nachdenken mit auf den Weg.
HIER gibt es diese Gedanken zum Thema "Segen" zum Nachhören.
Okuli, 23.03.2025, Stadtkirche, Jeremia 20, 7 - 11a, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Okuli - 23.III.2025
Jeremia 20, 7 - 11a
Liebe Gemeinde!
In der neuen Fach- und Fremdsprache, die ich jetzt lernen muss, heißt es „Beschwerdemanagement“: Das Ohr und die Anlaufstelle für die Klagen.
Es ist vermutlich nicht beneidenswert, wenn man dafür als Mensch unter Menschen zuständig ist.
… Aber wie mag es erst sein, wenn man Gottes Beschwerdemanagement verantworten soll?!
Selbst die, die nicht Seine Klienten sind - um kurz in dem Jargon zu bleiben, der mir blüht -, … selbst die, die Ihn für nichts sonst zuständig sehen, … selbst die, für die Er gar nicht existiert, … selbst die klagen Ihn an, fordern Ihn zur Rechenschaft, weisen Ihm Versagen und verletzte Aufsichtspflicht nach und drohen, Ihn (Der für Sie niemand ist!) zu diskreditieren und in ihrem Weltbild wegen ihres gestörten Gerechtigkeitsempfindens und Sinnhaftigkeitsgefühls rechtskräftig durch eine andere Instanz ersetzen zu lassen. Berufung ausgeschlossen.
Gottes Beschwerdemanagement also: … Sein vollstes Brieffach, während die Dankespost, die Lieder des Lobes und der Anbetung, aber auch die Bittgesuche und der schlichte Alltagsaustausch im Gebet immer weiter zurückgehen.
Es ist im Himmel so wie in der großen Gastronomie: Das Gute, ja das Beste wird nicht mehr mit Anerkennung genossen, dafür nimmt die Unzufriedenheit im gleichen Maße wie die Unverschämtheit der Gäste überhand. Ein berühmter Koch in Kensington - so las man jüngst in der englischen Presse[i] - dem es schwerfiel, den jahrzehntelang verinnerlichten Grundsatz, dass der Kunde immer Recht habe, zu verabschieden, wurde schließlich erst durch einen Gast ernüchtert, die für eine prachtvolle Delikatesse kostenlosen Ersatz verlangte, weil sie im frisch zubereiteten Gericht eine Folie entdeckt haben wollte. Die Überwachungskamera zeigte, wie die Kundin selbst die Folie in die Speise steckte, um ihren Anspruch zu erschleichen.
… Wer müsste da nicht am Morgen nach der “Earth hour” an die wundervolle Schöpfung Gottes denken, die wir wie jener Gast von Nord- bis Südpol mit unserm Plastik überzogen und unserer Zerstörungskraft verdorben haben, und doch wird der Schöpfer angeklagt, dass die Welt voller unlösbarer Probleme und die Menschheit in der Sackgasse sei: „Her mit der kostenlosen Ersatzwelt zur Entschädigung! Die Menschheit will den Manager sprechen! Wir verlangen unser Recht!“ …
Das ist die eine Seite der endlosen Klagen, der grundlosen Beschwerden, die von jeher in Gottes Richtung abgeladen werden: Klagen, die Ablenkungsmanöver waren und sind. Klagen, die Selbsttäuschung und Hinterlist verraten. Klagen der Schuldigen.
Aber der HERR ist ein Gott des Rechts (Jes.30,18)!
Das sollen alle wissen, die heute und in Zukunft meinen, sie könnten das Recht beugen und brechen, sie könnten es sich nehmen und niemand anderem geben, sie dürften es verdrehen und brauchten es nicht zu fürchten. Der HERR ist ein Gott des Rechts! Und darum dringen vor Ihn die Klagen aller, die Unrecht leiden (vgl.Ps.146,7); Er hört das Gebet der Unterdrückten (Sirach35,16) und die Stimme derer, die rechtlich und körperlich ohne Stimme sind, … und sollten diese - die Kinder nämlich - einst schweigen, so werden doch nach Jesu Prophezeiung die Steine schreien (vgl.Lk.19,40!).
Die Klage der Unschuldigen also dringt durch zu Gott, und sie ist eine viel, viel stärkere Macht als die perfide und verlogene Anklagerei derer, die Ihn haftbar machen wollen für die Sünden, die sie selbst begehen. ———
Eben nun haben wir den Klagepropheten schlechthin gehört.
Seine Qualen und seine Traurigkeit, sein Jammer und Schmerz tönen seit Jahrhunderten in den Wochen der Passionszeit durch die Liturgien und Gottesdienste der Christenheit: Jeremia, der seelische Märtyrer bei lebendigem Leib, der untröstlich Verunsicherte in Zeiten verdächtiger Sicherheitsillusionen, … Jeremia, der verhasste Unglücksrabe, als Jerusalem kurz vor seiner Katastrophe vom Tempel und vom Königspalast aus noch mit Wohlstands- und Friedenspropaganda berieselt und eingelullt wurde, … Jeremia, der pessimistische Realist in Gottes Auftrag, als man überall religiöse und politische Positivitäts-Halluzinationen verströmte wie den Cannabis-Dunst heute, … Jeremia, der Bote der Wahrheit, die weniger schmeichelt und schont als die Lüge …, Jeremia hat seine Unschuld satt, die ihm viel, viel mehr Verfolgung, Hass und Lebensgefahr einträgt als die übelste Korruption und Unmoral es jemals könnten.
Er kann und mag nicht mehr die Warnungen und die Maßstäbe Gottes überbringen an eine Welt und eine Gemeinde, die sich viel lieber bequem im Selbstbetrug einrichten, der 605 v. Chr. genauso klang und verfing wie 2025 danach.: „So schlimm kommt’s schon nicht. Es muss sich nichts ändern. Wenn alle dabeibleiben, können wir logischerweise nicht aufhören.“
So änderte Jerusalem seine Gewohnheiten, seine Blindheiten nicht. Es blieb seiner Untreue treu. Bis Nebukadnezar kam und mit ihm die alte Wahrheit, dass man in seinem Tun nicht erntet, was man gerne hätte, sondern was man sät und nicht das erhält, was man sich einbildet, sondern das, was man anrichtet. …
Doch einstweilen brach nur Jeremia zusammen. In einer Klage, die heute direkt vor die Disziplinarkammer jeder Kirche führen würde und die darum seit Hieronymus niemand mehr wörtlich zu übersetzen wagte[ii]: „Du hast mich verführt … verführt zum erbärmlichen, entwürdigenden Los des Propheten; Du hast mich entmündigt, als ich zu Deinem Mund gemacht wurde“, schluchzt und schleudert er Gott ins Gesicht. … Im Klartext: Du hast mir Gewalt angetan. … Du hast mich missbraucht. …… ….. …. … .. .
Das ist die abgründigste Klage der Unschuld, die es gibt.
Es ist - wie wir wissen müssen - das abgründigste Verbrechen, als dessen Opfer Jeremia sich erfährt. Seine unzweifelhafte Unschuld, seine ganz und gar nicht selbstverschuldete Isolation und Stigmatisierung, seine bis zum Selbsthass und zur Daseinsverzweiflung reichenden Selbstzweifel und sein ganz und gar zerbrochenes Vertrauen in alles und jeden sind die furchtbaren Schmerzen eines Menschen, der psychische und persönliche Gewalt erlitten hat.
… Gerade seine Unschuld ist sein vernichtender Schmerz.
Hätte er sich in Szene setzen wollen, hätte er für sich Wahrnehmung und Echo gesucht, hätte es ihm geschmeichelt, mit der leidenschaftlichsten Wirklichkeit der Welt - Gott nämlich - in Verbindung gebracht zu werden: Sein Leid wäre immerhin durch diese Anhaltspunkte in ihm selber erklärbarer gewesen.
… Doch nichts von alledem traf bei Jeremia zu. Schüchtern, wie kein zweiter Prophet (vgl. Jer.1,6), hilflos und verlassen vergleicht er sich selbst mit einem arglosen Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird (vgl.Jer.11,19). …..
Kein Zweifel: Die Psyche Jeremias ist die Psyche eines Gewaltopfers. Die Psyche des unschuldigen Menschen, der unter Menschenschuld erstickt.
Nur dass eben die Gewalttat, die Jeremia zum Märtyrer macht, nicht die Tat Gottes an ihm, sondern das Echo auf Gott ist, das die Unschuldigen trifft.
Jeremia erleidet die Passion Gottes mit.
Er trägt Gott in sich, auf den die Welt allergisch und das heißt mit reflexhafter, fiebriger, glühender Abstoßung reagiert.
Die Gotteskrankheit, die in Jeremias Leben ausgebrochen ist und wütet, die Gottes-schmerzen, die er trägt, der Gottesspott, der auch den Propheten trifft, die Gottverdammung, die dem Gottesboten und Gottesfreund gilt, sie alle führen zu den bitteren Schmerzen der Unschuld, die Jeremias Klage so grauenvoll machen.
Grauenvoll, weil alle Logik an ihr zerbricht.
Denn es stimmt nur halb - und also gar nicht-, wenn wir uns logisch aus der Befassung mit der furchtbaren Klage und Anklage Jeremias retten wollen, die er eindeutig gegen Gott richtet, obwohl sie doch den Menschen, die ihn stellvertretend für Gott leiden lassen, gelten müssten. Zu dozieren, Jeremia verwechsele Ursache und Wirkung, wenn er seine schmerzhaften Leidenserfahrungen, die Menschen ihm zufügen, auf Gott zurückführt, stimmt nur halb … und also gar nicht.
Ja, tatsächlich sind es die Menschen, die Jeremia so ohnmächtig das Schicksal des Lammes auf dem Weg zur Schlachtbank empfinden lassen.
Es sind Menschen, die Jeremia die feurigen Schmerzen seines Scheiterns im Namen Gottes … und seines Scheiterns am Verschweigen Gottes zufügen. ——
Aber dass dieses Lamm Jeremia gerade so für das andere Lamm, … das Gotteslamm, … das Lamm, das Gott ist, leidet, lässt sich nicht verkennen. …….
Es fällt darum – allerdings in der Gemeinsamkeit der unschuldigen Opfer, nicht im Sinne der Täteranklage – tatsächlich auch auf Gott das schwere Gewicht der Jeremia-Klage. Sein Leid unter den Menschen ist ein Um-Gottes-willen-Leiden. ——
Und da werden wir stumm.
… Diese Vorwürfe, diese Beschwerden soll dann eben Gott irgendwie aufklären und ausräumen. Mit den Anklagen, dass Menschen mit Ihm, für Ihn und um Seinetwillen leiden, muss Er nun fertigwerden: So denken wir.
… Dass wir also wahrhaftig nicht die Beschwerdemanager Gottes sind, denken wir. …
Aber wenn das der letzte Gedanke dazu ist, dann müssten wir nicht nur wiederholt den dritten Sonntag der Passionszeit, sondern eigentlich das ganze Evangelium überspringen.
Denn auch wenn uns das immer furchtbar - furchtbar fremd und furchtbar lästig und furchtbar bedrängend und beschwerlich – ist, ist heute dennoch dieser Sonntag: Der Sonntag der Nachfolge.
Weil das Evangelium von Jesus Christus vom Ruf in die Nachfolge durchwoben ist. Ohne diesen wiederholten Ruf, der Menschen beim Fischen (vgl. Matth.4,19) und am Zoll (Matth.9,9) - also im plattesten Alltag - ergreift, … ohne diese Gelegenheit zur Nachfolge, die Reichen (Matth.19,21) wie Bettlern (Matth.9,27) gleichermaßen offensteht, … ohne diese Freiheit zur Nachfolge, in der Frauen (Matth.27,55) und Unfreie aus der Dunkelheit treten und das Licht ihres eigenen Lebens am Licht der Welt hellglänzend und sichtbar entzünden dürfen (vgl. Joh.8,12), … ohne diese befreiende, aber auch verbindliche Nachfolge, die Menschen im Kreuztragen (Matth.10,38) wie im endzeitlichen Sitzen auf dem Thron der Herrlichkeit (Matth.19,28) ganz und gar und unlöslich mit Jesus verbindet, … ohne die Aufforderung also zur Nachfolge und ohne die antwortende Freiwilligkeit in solcher Nachfolge, wäre das Evangelium vorbei: Beendete Geschichte. Abgeschnittener Faden. Fertig gewebter Stoff.
Nur die Möglichkeit unserer Nachfolge macht das Evangelium zu dem, was es ist: Wahrheit!
Das aber steht heute und in diesen Wochen des Kirchenjahres, … vielleicht indes auch allgemein und ganz politisch und ganz existentiell in unseren Tagen und in der Zukunft, die uns bevorsteht, in so vollem, lebendigem Ernst vor uns, wie wir das alle nicht mehr gewohnt sind: Jesus Christus ist gekommen als Erlöser der Welt und gerade deshalb als das Lamm, das zur Schlachtbank dieser Welt gezerrt wird. Und diese, Seine Beschwerden, … dieses, Sein Kreuz, … diese, Seine Passionsnöte, … dieser, Sein Dienst der Liebe und der Hingabe in aller Unschuld an die Schuldigen … dies alles ist verbunden mit dem Ruf, dass auch wir uns davon beschweren und betreffen lassen.
Werden wir diesen Ruf hören und ertragen?
Werden wir die Beschwernis des Kreuzes und der Kreuzgemeinschaft aushalten oder werden wir uns auf’s Beschweren, auf’s Motzen und Jammern und Fordern zurückziehen?
Werden wir gemeinsam mit dem unschuldigen Jesus wie Jeremia den Argwohn und den Ärger der Menschen aushalten, die in Ruhe gelassen werden und nicht erkennen wollen, was sie tun und lassen müssten, um das Recht zu wahren und weitere, bittere, absichtliche Schuld zu vermeiden?
Werden wir unsere Gewohnheiten lieber haben, als die Gemeinschaft mit Gott, zu der wir gerufen sind?
Werden wir nachfolgen oder das Evangelium Lügen strafen? —
Werden wir also die Hand überhaupt an den Pflug legen[iii]?
Und wenn wir das tun, werden wir dann die Spur mit Jesus halten, obwohl es wahrhaftig beschwerlich ist?
Oder werden wir zurückblicken und lieber in unserm alten Trott bleiben, obwohl da, wo heute nicht umgebrochen und gepflügt wird, morgen nichts mehr gedeihen kann?
Werden wir trotz der Nachteile, der Einschränkungen, der Schwierigkeiten, der möglichen Stigmatisierung und schließlich der ungeahnten letzten Folgen einer Nachfolge Christinnen und Christen bleiben?
Werden wir als die Gemeinde Jesu Christi Seinen Weg zum Reich Gottes mitgehen?
Auch wenn wir dabei klagen müssten wie einst Jeremia? …
… Doch haben wir auch gehört, was er mitten in seiner Klage bekennt?
– „Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held ...“
Und ahnen wir, was das aus dem Mund des leidenden Propheten mitten in der Brutalität seiner Zeit und Welt und unserer Welt und Zeit bedeutet?
Ahnen wir, wohin uns die Nachfolge - wenn wir sie denn wählen - führen wird?
… „Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob!“ (Offenb.5,12)
Sollten alle Beschwerlichkeiten, alle Beschwerden und Kümmernisse der jetzigen Passionszeiten nicht dieses österliche Lied wert sein, … das Lied des Lammes, das die Überwinder singen werden am gläsernen Meer, mit Feuer vermengt (vgl. Offenb.15,2), wo klare Erkenntnis also und Leidenschaft verschmelzen, … das Lied des Lammes, das alle Überwinder zusammen singen werden mit Jeremia, dem es im Herzen brannte – wie den Emmaus-Jüngern (vgl. Lk.24,32)! –, als er Gottes nicht mehr gendenken und in Seinem Namen nicht mehr predigen wollte?!
Dahin kann man nachfolgen: Durch die Passion. … Durch die Zeit
Folgen auch wir!
Amen.
[i] https://www.theguardian.com/food/2025/mar/15/north-wales-chef-loses-appetite-for-difficult-diners
[ii] In der Vulgata heißt es schonungslos: „Seduxisti me Domine et seductus sum …“
[iii] Der Wochenspruch – „Wer die Hand an den Pflug legt und schaut zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“ – aus dem Evangelium dieses Sonntags (Lk.9,57 – 62) gibt dem gesamten Sonntag sein Gepräge.
Invokavit, 09.03.2025, Stadtkirche, Hebräer 4, 14 - 16, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Invokavit - 9.III.2025
Hebräer 4, 14-16
Liebe Gemeinde!
Seit der Kreml in Washington steht und daher die Nachrichten dieser Welt kaum auszuhalten sind, … seit also das irdische Tagesgeschehen so rat- und trostlos macht, wie derzeit …, seit es - mit anderen Worten – nun wieder Passionszeit ist auf Erden, sind die Nachrichten von oben, die Taten im Himmel, die Zeitansagen aus der Ewigkeit umso wichtiger.
Weil das, was nicht die Präsidenten und die Diktatoren und alle ihre schmutzigen Mischformen anrichten, sondern der Sohn Gottes, … weil das die einzig gute Nachricht ist: Das „Eu“-Angelion! Und dieses „Evangelium“ ist nicht nur eine gute - sogar die beste! -, sondern auch eine große Nachricht … tatsächlich die Größte.
Es besagt in den unnachahmlich einfachen Worten des Hebräerbriefes, dass Jesus alle Weiten und Tiefen, alle Sphären und schwindelnden Distanzen der Himmel durchquert hat. … Und zwar nicht als ein Raumfahrer des Universums, der die Unendlichkeit durchmes-sen wollte, sondern als der Hohepriester für alle.
Der judenchristlichen Sicht und Seele des Hebräerbriefs steht bei diesen Worten der Hohepriester in Israel vor Augen, der alleine und stellvertretend für das ganze Volk den ernstesten aller Wege zurücklegen musste: Am Versöhnungstag, Jom Kippur – diesem alljährlich für jeden Israeliten konkret im Blut des Sühnopfers vorweggenommenen Tag des Todes und des Jüngsten Gerichtes (vgl. 3.Mose16, bes.V.17) – durchquerte der Hohepriester den geheiligten Bezirk des Tempels, wo die schönen Gottes-dienste des HERRN (vgl.Ps.27,4) Recht und Ordnung in der Welt bewirkten und bezeugten, … und ging noch weiter. … Schweigen senkte sich auf die Menge der Büßenden und Fastenden. Das Feuer auf dem Opferaltar wird der einzige Laut gewesen sein, wenn der Hohepriester da seine Schritte durch den angehaltenen Atem der Versammlung lenkte und sie alle – die Gemeinde, die Leviten, die den hochheiligen Dienst tuende Priesterordnung und die Ältesten – stumm zurückließ. Dann nämlich schlug er einmal im Jahr den dichten, sonst unangetasteten Vorhang zum Allerheiligsten zurück und er trat ein in die mystische Gegenwart Gottes in der unerblickten und undurchdringlichen Finsternis über der Bundeslade, um die Sühne dort in der gewaltigen Stille der unendlichen Nähe, der Präsenz des Ewigen zu kommunizieren am Thron der Gnade.
So schritt der Hohepriester durch die Welt der Profanität und alle Stufen der Liturgie, quer durch den Bezirk der kultischen Reinheit am Altar zuletzt hinein zu Gott.
… Auf einem geheimnisvollen Weg von hier nach da.
… Und Jesus genauso.
Von da nach hier: Aus der vollkommenen Schönheit und Klarheit der Gotteswirklichkeit durch alle Stufen des Himmels in die bitteren, schmerzhaften Konflikte und die brutalen menschlichen und menschheitlichen Katastrophen der irdischen Welt.
Jesus, der Hohepriester – das persönliche Bindeglied zwischen den Sündigen und ihrem Versöhner – schreitet durch die Himmel, … und läuft und wandert, stolpert und hinkt, wird schließlich gestoßen und dann entkräftet nur noch geschleift durch den Staub unseres Daseins.
Damit diese ganze Misere, diese Tragik und Bedrohung, die so viele Menschenleben prägen, nicht auch noch gottfreies Vakuum, eine Landschaft der Lieblosigkeit, mitleidsleere Wildnis seien!
Dafür ist der, Der aus Gott Selber kommt, in Dem Gott Selber kommt, nicht bloß vierzig Tage lang in alle Entbehrung und Anfechtung, in sämtliche grobe und feine Zermürbung, unter der Sterbliche leiden, getaucht, sondern in die radikalste und ungeschützteste und völlig unbegründete, aber buchstäblich auch grund- und bodenlose Verlorenheit, die Unrecht gegenüber der Unschuld, Verletzlichkeit, Verlassenheit und körperliche Qual dem Menschen zufügen können.
Doch gerade damit wird Trauma zum theologischen Thema.
Schmerzen isolieren nicht mehr nur, sondern in all ihrer fürchterlich unentrinnbaren Selbstbezogenheit führen sie trotzdem zu einer Inklusion in die weltweite Verheißung ihrer Heilbarkeit und eines endgültigen Trostes.
Und selbst Angst, Agonie und Endlichkeit bedeuten bei allem gnadenlosen Ausgeliefertsein an sie plötzlich und paradox die Erfahrung einer Gemeinsamkeit, … einer Gemeinsamkeit mit Gott! ——
An der Leidensfähigkeit und Leidensbereitschaft und zuletzt natürlich an der konkreten Leidenserfahrung Jesu entscheidet sich daher tatsächlich alles: Ob wir an einen Gott in der Wirklichkeit unserer illusionslos unbeschönigten Beschaffenheit als Erde, Staub und Asche glauben dürfen … oder ob’s um einen geht, der jenseits unsrer Welt, außerhalb des irdischen Lebens verharrt.
Dass Christus, der Hohepriester die Himmel durchschreitet und sich in das Reich des Berührbaren begibt, sich also ausliefert an die Antastbarkeit, die anfällig macht für Verwundung und schließlich die Gefahr der Zerstörbarkeit bedeutet, … dass Christus diesen umgekehrten priesterlichen Weg aus dem reinen Heil dort in die große Störung der Realität hier geht, ist das, was der Hebräerbrief uns als Grundlage aller Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch und damit aller menschlichen Hoffnung und endlich gottgewirkten Erlösung vor Augen hält.
Doch der Blick des Hebräerbriefes geht nicht nur diesem unfassbar weiten Weg aus der Höhe der Heiligkeit im Himmel nach, sondern er bohrt auch ganz tief. … Bis unter die Haut. … Bis in ein Herz, in das wir selten so unverhüllt blicken dürfen.
Er sagt uns nämlich, dass Jesus, der Sohn Gottes bei diesem schwindelerregenden Höhenverlust, bei diesem steilen Niedergang durch jenseitige Sphären, Zonen und Ebenen, die sich menschlicher Erfahrung entziehen, schließlich in unserm instabilen, störungsanfälligen Lebensraum Einflüssen ausgesetzt worden ist, die Ihn uns erschütternd ähnlich machten.
Was wir in der Erzählung des Evangelisten (Matth.4, 1-11) heute als die vergebliche Initiative des Störers und Zerstörers hörten, der von außen auf Jesus einstürmt und -flüstert und -schleimt, benennt der Hebräerbrief aus der Innenperspektive: Die aus der Balance geratene Menschenwirklichkeit, das gefährliche Durcheinander, in dem Gutes und Böses sich in einem wirbelnden Sog von Kraft und Anti-Kraft verquirlen, hat auch Jesus durcheinandergebracht. Er wurde in allem versucht wie wir!
Was aber dieser unterkühlt wirkende Satz tatsächlich an Explosivstoff enthält, ist kaum zu überschätzen: Das Böse hat nicht nur an Jesus herumgezüngelt und ihn aufgepeitscht umleckt wie die verderbenbringende Sturmflut den Leuchtturm. Die Gefahr blieb nicht bloß äußerlich. … Auch Jesus hat sie im Inneren erleben müssen! Genau wie wir.
… Der Zwiespalt wollte auch Ihn spalten. Dieser verfluchte, giftige, tödliche Zwiespalt, der in uns die Gestalt der fatal betrügerischen Einheit mit uns selber annimmt: Weil er uns immer und immer wieder nur spüren machen und glauben und beweisen lassen will, dass wir alles und noch viel mehr alleine können!!!
Das ist es ja, was wir an jedem Invokavit-Sonntag im Evangelium zu Beginn der Passionszeit hören: Dass Jesus verführt und verlockt werden sollte, zum endgültigen „Wie-Gott-Werden“ … Er, Der doch als Der aus dem Himmel in die Schwäche Gekommene Gott ist!
Er sollte in seiner menschlichen Wirklichkeit die einfachen Sätze, die wir sämtlich unsern Kindern beibringen, als wären sie nicht die Ur-Kunde des Teuflischen, bestätigen:
„Du kannst vollkommen selbständig für Dich sorgen! – Konsumier’ doch, was immer Du willst.
Du allein bist der Gipfel des Wertvollen! – Wenn Du willst, kannst Du sogar Gott zwingen, Sich zu Dir zu bekennen.
Dein Recht geht über alles! – Na, nimm schon endlich die Welt in Besitz.“
– Du bist autonom. – Du bist sakrosankt. – Du bist super im Superlativ.
Das ist die unveränderte, menschheitsalte Sirenenmelodie, die Adam und Eva und Adolf und Eva und uns alle in unserem Elend betören will, um das Menschengeschlecht zu verderben. … Zu verderben, indem dieses Selbstbewusstsein und dieses Selbstwertgefühl und diese Selbstherrlichkeit uns von unserer Herkunft und Bestimmung total abspalten.
Denn genau diese Versuchung – allein zu leben, alleine zu zählen, alleine zu herrschen! – … genau diese Versuchung ist der ewige Spalt, die Sünde, die uns in den Tod führt, weil sie uns diametral und abgründig tief von Gott fortreißt, Der Seinerseits von Anfang an mit uns leben, bei uns zählen und durch uns heilend, heilig, herrlich und Herrscher sein will.
Doch eben diese Kernspaltung, die das vollkommene Verderben auslöst, … diese innerste Spaltung zwischen Mensch und Gott ist in Jesus trotz aller seiner Auslieferung und Anfechtung und Verlassenheit und Verzweiflung niemals möglich gewesen – nicht in der Wüste, nicht in Gethsemane, nicht auf Golgatha, nicht im Reich des Todes.
In Ihm war diese Trennung, dieses Gegeneinander und Auseinander des Schöpfers und des Geschöpfes keinen Spaltbreit möglich.
In Ihm blieb trotz aller Versuchung eins, was für uns erst versöhnt werden muss.
Die Passionszeit beginnt wahrhaftig nicht umsonst immer mit dem Versuch des Versuchers, den Menschen Jesus und Gott zu trennen, und sie endet nicht umsonst mit der schweren, aber eindeutigen Stunde, in der dieser Mensch in Seiner völligen Anfechtung sich trotz allem sogar durch sich selbst nicht abbringen lässt von Gott: „Abba, mein Vater … nicht was ich will, sondern was Du willst!“ (Mk.14,36) ———
Das ist mehr Verbindung, mehr Übereinstimmung, mehr Ein-Verständnis und Einigung als wir uns vorstellen können, obwohl es das bei uns Christinnen und Christen in der Bindung an Christus durchaus immer wieder gibt:
Der vorgestrige Freitag erinnerte uns im kirchlichen Kalender an zwei der eindrucksvollsten und durch ein eigenhändiges Tagebuch aus ihrer Haft[i] bis heute persönlich zu uns sprechenden Märtyrerinnen der frühesten Christenheit - Perpetua und Felicitas -, die am 7.März 203 in Karthago ihren Glauben frohgemut mit dem Tod besiegelten.
Und in der Woche vor dem diesjährigen Palmsonntag, am 9.April werden wir an den ebenso unerschütterten Tod Dietrich Bonhoeffers vor 80 Jahren erinnert, der in seinen Aufzeichnungen aus der Todeszelle alle, die es aufgreifen, singen lässt: „Und reichst Du uns den schweren Kelch, den bittern des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar, ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand“ (EG 65,3 // 652, 3).
Doch auch wenn wir nicht den Heldenmut der freien Nordafrikanerin Perpetua und ihrer Freundin, der kurz vor der Hinrichtung noch frühzeitig von einer kleinen, überlebenden Tochter entbundenen Sklavin Felicitas haben oder wenn uns in unserer noch so unverbindlich bequemen Kultur des „Christ-Seins-oder-auch-nicht“ die Haltung und Zivilcourage Dietrich Bonhoeffers fehlen, so ist doch für unseren Freimut, unsere innere Gewissheit und sichere Zuversicht gesorgt, wenn wir einst Hilfe nötig haben werden.
Weil das, was der Weg des großen Hohenpriesters Jesus durch die Himmel bis in die abgrundtief menschliche Erfahrung der Versuchung für uns bedeutet, im Hebräerbrief in einem uns allen verständlichen Wort zusammengefasst ist: Dieser Weg Jesu aus Seinem Heil-sein in die Zerreißprobe unserer Sünde ist der Weg Seiner „Sym-Pathie“ … Seines aktiven, unendlichen, wirksamen, gültigen, rettenden Mit-Leids.
Jesus ist sym-pathisch! … Wer das für eine Nettigkeitserklärung hält, für eine weiche Floskel der Harmlosigkeit hält, muss nur ein einziges Mal im Ernst bedenken, was wir heute hörten:
Als der Vermittler, als der Versöhner, als der Hohepriester, der die Zwiegespaltenen, die von Gott Abgespaltenen in Gnade und Barmherzigkeit wieder in die Übereinstimmung, in die Einigung mit Gott einbinden will, ist Jesus vom Himmel in den Reißwolf nicht Seiner, aber unserer Sünde gegangen. Er hat das Leiden unserer Trennung von Gott – das Leiden unseres gescheiterten Allein-Lebens, das Leiden unseres hoffnungslosen Alleingeltungsdrangs, das Leiden unseres tödlichen Totalitätsanspruchs als Menschen – in Seiner Einheit mit Gott mit uns getragen, … Er hat es mit uns gelitten … und Er hat es für uns bestanden!
Seine Sympathie, Sein Sich-ganz-und-gar-Mittreffen-Lassen von unserer Sünde ist unsere Erlösung von ihr!
Wenn einer der einflussreichsten und illegitimsten Machtmenschen im neuen Kreml von Washington - Musk - daher tatsächlich kürzlich gesagt hat, die fundamentale Schwäche der westlichen Zivilisation sei die Empathie[ii], dann wissen wir, wer letztlich und zu Recht gemeint ist: Jesus, der große Hohepriester, Der nicht nur „Empathie“ - das „Einfühlen“ in fremdes Leid -, sondern menschheitsweite Sym-Pathie verkörpert: Das Teilhaben an allem Leid, um alle aus dem Zwang von Sünde und Leid zu befreien.
Treten wir also ebenso freimütig vor die Welt wie vor den Thron der Gnade mit dieser Nachricht aller Nachrichten: Unser Hohepriester hat Sich den Schwachen, die sich nicht helfen und verteidigen können, … denen, die nichts aufbieten und nichts anbieten können, … denen, die in ihrer ohnmächtigen Not alles nur brauchen, ohne irgendetwas zurückgeben zu können, an die Seite gestellt, weil Er ihnen und gerade damit genauso auch uns ganz gleich geworden ist.
Wer zu Ihm, … wer zu Jesus gehört, muss an diesem Bekenntnis festhalten!
Heute.
Und morgen.
Denn dadurch, nur dadurch werden wir Menschen alle Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden. In der Sym-Pathie Jesu! ——
Zu einem solchen, uns und die Welt rettenden Bekenntnis führe uns nun die diesjährige Passionszeit!
Amen.
[i] Gut greifbar sind die Aufzeichnungen der Perpetua und der Bericht des Herausgebers dieses einzigartigen Dokumentes in der Sammlung: „Ich bin Christ“ – Frühchristliche Martyrerakten, übertragen und erläutert v. Oda Hagemeyer, Düsseldorf 1961, S.90-110.
[ii] https://edition.cnn.com/2025/03/05/politics/elon-musk-rogan-interview-empathy-doge/index.html
Estomihi, 02.03.2025, Lukas 10,38-42, Tersteegenkirche, Horst Gieseler
Der heutige Predigttext "Maria und Martha" (Lukas 10, 38 - 42) ist wohl eine der am meisten missverstandenen Erzählungen des neuen Testaments. Und womöglich wurde sie auch für lange Zeit mit Absicht missverstanden. Prädikant Horst Gieseler zeigt in seiner heutigen Predigt auf, was wirklich dahinter steckt. Und was wir daraus für die Gegenwart mitnehmen können. Hören Sie doch mal rein in den Podcast aus der Tersteegenkirche!
Sexagesimae, 23.02.2025, Karnevalsgottesdienst, Mutterhauskirche, Krogull u. Heimann
In Abrahams Team spielen alle mit: Glaubensvielfalt ist der Hit! - Büttenpredigt von Pfarrer Krogull
Liebes Jeckenvolk hier in Kaiserswerth,
erzählen will ich euch von einem besonderen Gefährt:
Am Rosenmontag, da fährt es durch die Düsseldorfer Gassen:
Wer engstirnig ist, der kann das gar nicht fassen:
Dass mit einem gemeinsamen Karnevalswagen
auch die Religionen etwas zum Fest beitragen.
„Toleranzwagen“ hat Jaques Tilly sein Werk genannt.
Mittlerweile ist es in der ganzen Stadt bekannt.
Mit diesem Wagen werden Juden, Muslime und wir Christen
gemeinsam zu jecken Karnevalsspezialisten.
Gläubige aus der Kirche, der Synagoge und der Moschee
werfen Kamelle für den Frieden. Ist das nicht schee?
Ich find das super, denn das zeigt:
Wir sind einander zugeneigt.
Wir beten zu verschiedenen Zeiten,
und das tut unsere Herzen weiten.
Die Zuneigung bringt aber nicht nur unsere Herzen in Schwung.
Auch die Beine hält sie jung!
Ich denke an ein anderes Gemeinschafts-Projekt,
das die großen Religionen haben ausgeheckt.
Ein interreligiöses Fußballspiel!
Das klingt vielleicht nach nicht so viel…
Doch kommt mal vorbei und schaut es euch an,
wie man zur Ehre Gottes kicken kann.
Priester, Imame und Pfarrpersonen
pfeifen auf das Knochenschonen,
Ein jüdischer Trainer stellt uns auf:
An Himmelfahrt nimmt dieses Spektakel in Hassels seinen Lauf.
"Team Abraham“ heißt unsere bunte Truppe.
Gewinnen ist uns meistens schnuppe.
Der Gegner hat besseres Spielermaterial.
Gegen die Fortuna ist das Ergebnis oft eine Qual.
Doch auch ein 1-10 kann unseren Team-Spirit nicht trüben.
Wichtiger ist uns, gute Gemeinschaft einzuüben.
Denn die hat auch abseits des Fußball-Platzes Bestand.
Und Zusammenhalt ist wichtig in unserem Land.
Das Team Abraham ist dafür ein schönes Symbol.
Den Namenspatron, ihr kennt ihn wohl?
Den Abraham aus dem Alten Testament.
Wer ihn nicht kennt, hat in Reli gepennt!
Abraham, in seinem Namen sollen alle gesegnet sein:
Juden, Christen, Muslime: Ist das nicht fein?
Abraham, der Urvater der drei großen Religionen.
Er ist der Grund für unsere Gemeinschaftsaktionen.
Nachfolgen sollen wir seinen Spuren
und nicht verharren in den alten Strukturen.
Denn Abraham ließ sich von Gott in ein fremdes Land senden.
Neue Verheißungen sollte er suchen, alte Bindungen beenden.
Wie wäre es, wenn wir Gläubigen das auch heute probieren?
Es gibt viel zu gewinnen und wenig zu verlieren!
Die Ökumene kommt mir da als erstes in den Sinn.
So wie ich Jesus verstehe, ist sie die Königsdisziplin.
Denn bei Johannes 17 steht geschrieben:
Die Christen sollen die Einheit lieben.
Die Ökumene klappt ja auch an vielen Stellen.
Und doch gibt es noch ein paar Schwellen.
Da denke ich an die Eucharistie.
Kommt das gemeinsame Abendmahl denn nie?
Die Zeit ist reif für die ökumenische Feier.
Das lange Warten geht mir auf…den Geist!
Vielleicht geht es ja schneller mit den Gebäuden.
Lasst uns da keine Chance vergeuden!
Gemeinsame Kirchen, Gemeindehäuser in stereo.
Ich glaub, da wäre Jesus froh.
Und wir müssten da selber mal Toleranz wagen.
Die einen den Geruch von Weihrauch ertragen,
die anderen mal auf das Knien verzichten.
Ich bin mir sicher: das lässt sich einrichten.
Vielleicht kriegen wir ja sogar noch mehr Einheit hin.
Ein Beispiel aus Berlin geht mir nicht aus dem Sinn.
Das „House of one“ hat man dort gebaut.
Ein Gotteshaus für Christen, Juden und Muslime man sich dort traut.
Solche Projekte sind wichtig in diesen Zeiten,
wo manche möchten, dass wir uns streiten.
Wo viele Hass und Zwietracht stiften,
damit wir in den Faschismus driften.
Der Elon macht den Hitler-Gruß,
der Donald redet großen Stuss.
Die Alice will ein braunes Wunderland.
Ich wünschte, sie alle hielten ihren Rand!
Denn keine ihrer Stammtischparolen
wird uns aus den großen Problemen holen.
Der Frieden, die Wirtschaft und das Klima
werden nicht durch Extremismus prima.
Und auch die Frage der Sicherheit
löst man nicht im plumpen Streit.
Um Terroristen die rote Karte zu zeigen,
muss man kluge Politik betreiben.
So lasset uns beten an diesem Tag:
Für eine Wahl mit gutem Ertrag!
Für viele Menschen in den Wahllokalen.
Für Verständnis zwischen Erzrivalen.
Für Frieden und für Demokratie,
gegen Hass und Apathie.
Für Hoffnung in unseren dunklen Tagen,
damit wir Nächstenliebe wagen.
Karneval ist dafür ein guter Start!
Denn Lachen macht das Herz nicht hart.
Schunkeln – eine Übung in Verbundenheit.
Für ein paar Tage endet jeder Streit!
Wenn jetzt auch noch der Kölner versteht,
wie man Karneval richtig begeht,
Nicht mit Alaaf, das ist nicht schlau.
Hier endet die Toleranz, denn es heißt: Helau!
Lesungstexte aus der hebräischen und griechischen Bibel und dem Koran
Der HERR sagte zu Abram:
„Verlass dein Land, deine Verwandtschaft
und das Haus deines Vaters!
Geh in das Land, das ich dir zeigen werde.
Ich will dich zum Stammvater
eines großen Volkes machen.
Ich will dich segnen und deinen Namen groß machen,
sodass du ein Segen sein wirst.
Ich werde segnen, die dich segnen.
Alle Völker der Erde sollen durch dich gesegnet werden.“ (Gen.12,1-3)
Petrus begann zu sprechen: Jetzt begreife ich wirklich, dass Gott nicht auf die Person sieht!
Wer ihn ehrt und das tut, was vor ihm recht ist,
den nimmt Gott an –
ganz gleich, aus welchem Volk er stammt.“ (Apg.10,34-35)
Paulus sagte auf dem Areopag in Athen:
„Gott hat aus einem einzigen Menschen die ganze Menschheit hervorgehen lassen,
damit sie die Erde bewohnt.
Für jedes Volk hat er festgesetzt, wie lange es bestehen und in welchen Grenzen es leben soll.
Er wollte, dass die Menschen nach ihm suchen –
ob sie ihn vielleicht spüren oder entdecken können.
Denn keinem von uns ist er fern.
Durch ihn leben wir doch, bewegen wir uns
und haben wir unser Dasein. (Apg.17,26-28a)
Diejenigen, die glauben, und diejenigen, die Juden sind, und die Christen und die Sabier, alle die,
die an Gott und den jüngsten Tag glauben und Gutes tun, erhalten ihren Lohn bei ihrem Herrn,
sie haben nichts zu befürchten.
(Sure 2,62)
Jeder hat eine Richtung, zu der er sich wendet.
So eilt zu den guten Dingen um die Wette.
Wo immer ihr euch befindet,
Gott wird euch alle zusammenbringen.
Gott hat Macht zu allen Dingen.
(Sure 2,148)
Streitet mit den Leuten des Buches nur auf die beste Art, mit Ausnahme derer von ihnen, die Unrecht tun.
Und sagt: „Wir glauben an das,
was zu uns herabgesandt
und zu euch herabgesandt wurde.
Unser Gott und euer Gott ist einer.
Und ihm sind wir ergeben.“
(Sure 29,46)
Ein Blick durchs Kaleidoskop des Glaubens – Ein paar Gedanken zur Lesung von Pfarrerin Heimann
Drei Heilige Schriften – eine in Hebräisch, eine in Griechisch, eine in Arabisch geschrieben.
Drei Weltreligionen – Judentum, Christentum, Islam. Jede verwoben mit der Zeit ihrer Entstehung.
Jede mit einer sehr eigenen Geschichte, die von Schwierigkeiten erzählt, von Streitereien um den richtigen Glaubensweg, die richtige Auslegung der Traditionen, von Abspaltungen.
In jeder gibt es fundamentalistische Strömungen, die alle Andersdenkenden und Andersgläubigen ausgrenzen und immer wieder auch bis aufs Blut bekämpfen. Leider bis heute.
Was wiederum denjenigen in die Hände spielt, die die Religion missbrauchen, um unsere Gesellschaft zu spalten.
Dabei geht es doch in jeder echten Religion darum, den einzelnen Menschen in seinem Menschsein zu stärken, ihm Wert und Würde eines von Gott geschaffenen und gewollten Wesens zuzusprechen, das im Leben und über den Tod hinaus von Gott gehalten wird. Religion ruft zum Vertrauen auf, zum Glauben. Jeden Menschen in seiner Zeit, an seinem Ort, unter oft sehr schwierigen Umständen.
Jeder ist dabei unterwegs.
Mit Gott – und auch mit seinen Mitmenschen.
Unterwegs, um mit seinem Reden und Handeln dafür zu sorgen, dass diese Erde ein gutes Zuhause für alle Geschöpfe bleibt.
Das Urbild für die drei monotheistischen Religionen ist dabei Abram. Er ist nicht nur der Erz-Vater, sondern auch der Erz-Migrant: buchstäblich und im übertragenen Sinn.
Er verlässt seine Heimat und damit begibt er sich auch im Glauben, im Vertrauen auf Gott auf einen Weg, dessen Ziel und Ende er nicht kennt.
Jeder Lebensweg ist bei genauer Betrachtung ein Weg ins Unbekannte.
Aber jeder Weg ist ein Weg unter dem einen Himmel Gottes, der will, dass jedes Leben glückt und sich erfüllt.
Jedes Leben zu seiner Zeit, unter sehr unterschiedlichen Bedingungen, geprägt von anderen Erfahrungen.
Verschiedenheit ist von Anfang an von Gott gewollt.
Veränderung, Wandel, Vielfalt – sie sind geradezu zwingend nötig, wenn wir Schritt halten wollen mit Gott, der selbst unterwegs ist: „Ich werde sein, der ich sein werde.“ „Keinem von uns ist Gott fern.“ Heißt es in der Rede des Paulus. „Gott wollte, dass die Menschen nach ihm suchen – ob sie ihn vielleicht spüren und entdecken können.“
Wir sind alle miteinander unterwegs und Suchende.
Und da, wo wir jeweils meinen, etwas Gutes und Hilfreiches entdeckt zu haben – von Gott und seinem Heilswillen, - da sollten wir es ins Gespräch bringen mit Menschen anderer Religion, die ebenfalls unterwegs und Suchende sind. Religionsübergreifende Weggefährten – das sollten alle echten Gläubigen sein, gerade in diesen konfliktreichen Zeiten. Verbunden in dem Geist, der sich in Sure 2,148 zu Wort gemeldet hat: „Jeder hat eine Richtung, zu der er sich wendet. (und das ist gut so!). So eilt zu den guten Dingen um die Wette (spornt euch gegenseitig an, das Beste eurer Tradition, eurer Religion weiterzuentwickeln, zum Besten aller Geschöpfe auf dieser Erde!). Wo immer ihr euch befindet, Gott wird euch alle zusammenbringen.“
Sexagesimae, 23.02.2025, Stadtkirche, Apostelgeschichte 16, 9 - 15, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Sexagesimæ - 23.II.2025
Apostelgeschichte 16, 9 - 15
Liebe Gemeinde!
… Ein hilfsbedürftiger Kontinent.
… Ein jammernder Erdteil, der von auswärts erfleht, was ihn retten kann.
… Ein Erdteil, der nicht irgendwie beständig aus sich selbst und seinen stofflichen oder geistlichen Wurzeln lebt, sondern voller Umwälzung und Instabilität, voller Expansion und Migration ist: Das verraten die wenigen Details, mit denen dieser Kontinent in unserm heutigen Predigttext in der neutestamentlichen Heilsgeschichte auftaucht.
„Makedonien“ wird sein Rand genannt. – Nicht das große Rom, für das das Neue Testament keine pietätvollen Bezeichnungen hat, … nicht das glanzvolle und uns heiter vorschwebende Griechenland gibt diesem fremden Teil der Erde hier seinen Namen, sondern eine kargere Landschaft und ein rauerer Menschenschlag, die in der Antike nach Barbaren und in unseren Ohren nach Balkan klingen. „Makedonien“: Weltmachthungriges Zwergvolk, aus dem Alexander bis nach Indien ausgriff und doch keine bleibende Weltordnung etablierte. „Makedonien“, wilde Grenze Europas, in dem die uralten Kulturen des Zweistromlandes und Ägyptens, wo Staatlichkeit und Schrift und Wissenschaft - kurzum die Zivilisation - ihre unvordenklichen Wurzeln haben, nur möchtegerne Neu-Reiche sehen konnten. … Da heißen die Städte nicht „Ur“, wie die Heimat Abrahams an der Wiege der Kultur, sondern Neapolis - „Neustadt“, oder eben nach dem makedonischen Philipp, wobei auch dieses Philippi von Lukas lapidar als „κολωνία“, römischer Außenposten also charakterisiert wird: Nicht ganz ernst zu nehmen. … „Kολωνία“ … „Köln“ eben. …
In diesen Westen, der weit von der morgenländischen Welt Abrahams, Israels, Davids, Jesajas, Marias und Jesu entfernt ist, … in dieses Europa, dessen Hilfsbedürftigkeit und Angewiesensein auf rat- und tatkräftige Unterstützung von jenseits seiner Ufer wir allzu scharf auch heute erkennen müssen, … in dieses Abendland ruft ein Nachtgesicht den vierzehnten Apostel - Paulus -, der anders als die galiläischen Zwölf keine Scheu vor Heiden und Barbaren kennt.
Und der Gerufene kommt. Segelt durch die Ägäis auf uns zu. … Wie viele, viele andere es auch in diesen Tagen tun, in denen Europa seine hoffnungslose Überfüllung durch zu viele beklagt und seine noch hoffnungslosere Verlassenheit von vielen anderen erleidet.
Wir sollten darum gut darauf achten, was die Bibel uns zu sagen hat von der ersten europäischen Enklave, in der ein Häuflein weniger Randfiguren die Keimzelle dessen wird, was nun vergeht: Getauftes Abendland, … Erdteil, der nach Jesus Christus rief.
Das Erste, was uns von unseren Anfängen erzählt wird, ist dass ein Mann bettelte und eine Frau dort zur Stelle war, wo der rufende Kontinent seine erste Entscheidung treffen musste.
Nicht weil Frauen die besseren Menschen oder Christenmenschen oder Abendlandvertreterinnen wären. Aber doch ganz bewusst biblisch als Ausdruck der gegenseitigen Gemeinschaft, der wurzelhaften Zusammengehörigkeit der Geschlechter. Das soll Europa sein!
Und dann ist diese Frau, die erste Christin Europas, die Schutzpatronin aller späteren abendländischen Gemeinden, … dann ist diese Lydia also eine Frau, der nicht der enge, sondern der weite Horizont entspricht. Sie ist nicht häuslich, sondern treibt ein Gewerbe. Sie lebt nicht vom Vertrauten, sondern vom Unbekannten. Der Purpur, mit dem Lydia handelt, wird auf abenteuerliche Weise durch Taucher gewonnen, die Meeresschnecken sammeln, die die weitbegehrte Luxusfarbe absondern. Doch nicht nur geschäftlich, sondern mehr noch geistlich hat Lydia – deren Name ihre Herkunft aus Kleinasien verrät – keine Berührungsängste mit dem Fremden und Rätselhaften. Sie muss am Gestade Europas eine eigenwillige Neugier, aus der vielleicht schon Bindung geworden ist, erfahren haben: Neugier auf den seltsam unsichtbaren, seltsam zurückhaltenden Gott des Volkes Israel, Der nicht von allen überall, sondern bisher nur von einem verachteten winzigen Volk zwischen dem Mittelmeer und dem Jordanfluß – “from the river to the sea” - Dienst, Ehre, Treue und Vertrauen verlangte. … Zu diesem Gott beten die Frauen vor dem Stadttor von Philippi am Fluss: Die typische, improvisierte Versammlung derer, die ohne eine Synagogengemeinde zu sein, doch dem Gott Israels und folglich auch Seinem Volk in Lesung und Anrufung, seelisch also und womöglich auch praktisch verbunden waren.
Das ist das Zweite, was sich über Europa im Evangelium findet: Das Heil beginnt dort mit der inneren Nähe, ja freiwilligen Bindung an den Bund zwischen Gott und der jüdischen Wirklichkeit (vgl. Joh.4,22!). Das christliche Abendland lebt also immer schon von Voraussetzungen, die es selbst nicht schaffen konnte und die es nicht einmal selber verkörpert!
Und dann das Dritte, was ursprünglich und auch endgültig von der Rettung Europas gilt: Die Frau mit dem weiten Horizont und der starken Persönlichkeit, die sich und ihre judenfreundlichen, kleinasiatischen und makedonischen Glaubensschwestern, deren Vorsteherin sie irgendwie gewesen zu sein scheint, von fremder Gnade und ferner Wahrheit angesprochen sein ließ, indem sie sich zur Torah hielten in einer Welt, der die Bibel Israels noch ferner lag als unserer religiös vollkommen dumpfen Gegenwart, … diese Frau hat sich trotz all ihres Weitblicks und aller Weite ihres Herzens nicht selbst christianisiert. Diese Erste in der Reihe der christlichen Europäerinnen und Europäer wurde nicht durch eigenes Verdienst und Würdigkeit gerettet … und wir werden es auch nicht! … Der HERR war es, Der Lydia das Herz auftat!
Das ist die wichtigste Botschaft, die am Beginn steht, damals als das Evangelium anfing, Grenzen zu überschreiten, Menschen, Sprachen, Völker und Kulturen zu verbinden nicht nur in Jerusalem, dem Mittelpunkt der Bibel, an dem sich alle treffen sollen (vgl. Ps.122,3 / Apg.2), sondern an allen Orten auf der Weltkarte, wo sie jeweils zuhause sein mögen. Es ist die Botschaft, dass Gott Selber da den Kreis weitet, dass Er die Wege zieht und die Wunder tut … und die Wahl trifft, weil Sein Wort nicht wieder leer zu Ihm zurückkommen, sondern ausrichten wird, was Er will (vgl. Jes.55,11).
Das sollten wir uns alle seit diesem Anfang in Philippi, am Rande unseres Kontinentes sagen lassen: Die Geschichte, aus der wir kommen, die Tradition, in der wir stehen, die Hoffnung, die in uns geweckt ist und die Freude unseres Glaubens sind nicht unser Werk und verdanken sich in keiner Weise uns. Wo immer man hört, sagt oder denkt, dass wir uns etwas auf unser Christentum zugutehalten könnten, … wo immer das Christliche zu einem Recht oder einem Anspruch wird, … wo immer wir uns einbilden, es wäre überhaupt angemessen, von „unserem“ Christsein zu sprechen, als wäre das ein Besitz oder als sei das unsere persönliche und private Identität: Da hat es schon aufgehört. Da ist das Wunder schon wieder erloschen und Gott schon weitergegangen.
Dass wir Christen sind, … dass wir zur Kirche gehören, … dass uns das Evangelium gesagt ist, … dass wir durch die Taufe neu geboren und von Schuld, von Tod und Hoffnungslosigkeit befreit werden, … dass wir uns in unseren Erfahrungen, Erleuchtungen und Erlebnissen Gottes Heiligem Geist anvertrauen können, … dass wir beten dürfen zu „unserm Vater im Himmel“, … dass wir das Leben und die Liebe Jesu Christi in unserem eigenen Dasein im Abendmahl als Kraft und Wirklichkeit empfangen dürfen, … dass wir von unseren Begrenzungen im Fühlen und Denken und Erwarten also seelisch und leiblich gelöst und in das Große, Ganze, Bleibende eingebunden sind … alles das ist nicht unsere natürliche Ausstattung oder Möglichkeit!
So oft in diesem Katalog der Gaben und der Gnaden auch das Wörtchen „uns“ und die Näherbestimmung „unser eigenes“ vorkam, so ganz und gar ist doch nichts davon in irgendeiner Weise Ausdruck oder Wirkung dessen, was wir sind:
Wir kommen nicht als Christen zur Welt, … wir verfassen nicht das Wort, das Gott zu sagen hat, … wir sind nicht unsere eignen Täufer und Erneuerer, … wir können uns nicht selbst mit Geist erfüllen, … können uns auf Erden und im Himmel unsern Ursprung und unsere Bestimmung nicht alleine aussuchen, … werden niemals etwas essen, trinken und uns als Nahrung anverwandeln, das neben unseren stofflichen Gefäßen auch unsere Seele füllt und heilt, … wie werden nie auf biologischem oder auch nur logischem Weg über uns selbst hinaus und in die Wirklichkeit hineinwachsen, die weder von Endlichkeit noch Einzelheit mehr beherrscht ist.
… Wir „sind“ keine Christen und das Christentum ist nicht „unseres“.
… Wir werden es vielmehr, … wenn, weil und wo Gott es will. ———
Für eine Welt, in der alles sich um die Selbstverwirklichung und das Selbstbewusstsein, um Selbstwert und Selbständigkeit, um Selbstbestimmung und - mit Verlaub - um alle Formen der Selbstbefriedigung und Selbstvergötzung und Selbsterlösung dreht, ist das eine ziemlich befremdliche Grundbotschaft.
… So befremdlich, dass wir vielleicht doch – jetzt, da das Christentum längst nicht mehr dominiert und auch keine Selbstverständlichkeit mehr ist und seinen Sinn und Nutzen eigentlich also von vorne beweisen sollte – … so dass wir uns vielleicht also doch fragen müssten und auch fragen dürfen, ob dieses Christentum nicht auch ebenso gut an der makedonischen Küste hätte hängen bleiben oder nach einem kurzen Aufflackern in Philippi ruhig wieder hätte verwehen und zurück in den asiatischen Raum fließen können, in dem die alten Weisheiten und Wahrheiten und Wirklichkeiten manchmal zäh und meistens unbeklagt versickern, ohne uns Menschen des Westens, der Neuzeit, der kurzen, eigenmächtigen Spanne des Hier-und-Jetzt-Lebens zu beeinträchtigen.
Was hat das Christentum denn eigentlich hier nach Europa gebracht, wenn es nicht uns verherrlicht, stärkt und bestätigt? …….
Kehren wir zu dem winzigen, zentralen Verslein zurück, das heute im Hintergrund und Zentrum aller Predigtbemühungen steht:
Der HERR tat der Lydia das Herz auf.
In diesem Vers steckt ein Geheimnis, das ärgerlich und zugleich unendlich befreiend ist und uns überdies als Freiheit wie als Ärgernis verpflichtet: In Gottes Wirken durch Sein Wort, findet auch Gottes Wahl statt!
Dass Lydia achthatte auf die Botschaft des Paulus, das geschah nach dem ausdrücklichen Zeugnis der Apostelgeschichte, der Gründungsurkunde aller christlichen Mission, weil Gott es ermöglichte. Weil Er es wollte!
„Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt“: So beschreibt Jesus (Joh.15,16) diese Grundtatsache, dass wir uns nichts einbilden und nichts anmaßen und nichts beanspruchen und nichts beherrschen können in Sachen unseres christlichen Glaubens.
Ein offenes Herz und einen hörenden Geist, eine empfängliche Seele und ein treffendes Wort verdankt niemand seiner eigenen Eignung, Neigung oder Leistung. … Wenn und wo es Gott gefällt, geschieht es: Da hören und verstehen, da erwachen und da glühen, da glauben, hoffen und lieben Menschen. Da lässt Lydia sich taufen und entsteht eine Gemeinde in Philippi, da breitet das Evangelium sich aus durch ganz Europa, da entsteht und da besteht die Kirche. … Wenn, wann, wo und wie Gott es wählt!
Das Ärgernis ist uns sofort wieder deutlich: Gottes Wahl erscheint uns unerklärlich und ungerecht. Der Gedanke einer solchen Gnaden-Wahl triggert immer wieder unser Misstrauen, unseren gekränkten Stolz und unser kindlich trotzig-neugieriges Beharren darauf, dass nichts sein darf, was wir nicht unmittelbar nachvollziehen und nur dann gutheißen können.
Im gleichen Aufwallen aller unserer Widerstände gegen solche Entmündigung und Unfreiheit bricht aber auch das Bewusstsein durch, wie es den Druck und die Verbissenheit aus aller Mission und auch aus allem eigenen Christsein und Christsein-Mögen, Christsein-Müssen nimmt, dass es nicht an unserem Wollen und Laufen liegt (vgl. Rö.9, 16), sondern an Gottes erbarmendem Ratschluss, wenn eine Lydia oder Du oder die da oder sogar ich an Ihn glauben darf und kann. ——
Natürlich werden wir den Widerspruch zwischen dem echten Anstoß und der echten Erleichterung, dass weder Paulus noch Lydia, sondern allein Gott den Anfang des Glaubens in Europa und sein Ziel bestimmt, heute nicht auflösen.
Die doppelte Wahrheit, dass die Wahl und Gnade Gottes uns zugleich empört - weil wir alles nicht alleine machen sollen - und erlöst - weil wir alles nicht alleine machen müssen -, bedeutet für uns heute, an einem Tag, an dem auch wir wählen dürfen, allerdings schlicht dreierlei:
Die einfache und doch auch politisch so fatal ins Giftige verkehrte und verdrängte Erinnerung daran, dass eine Wahl als Entscheidung „für“ Jemanden oder Etwas und nicht als „Nein“-Stimme fällt.
Zweitens bedeutet die Begegnung mit der Wahrheit, dass Gott uns wählt und nicht wir selbst, dass alle, die auch irdisch am Wählen teilnehmen dürfen – zur Wahl sich stellend und berufen zum Wählen – … dass alle also erinnert werden: Gewählt zu sein, bedeutet nicht für sich selbst zu sprechen, zu handeln und zu entscheiden, bedeutet nicht Selbstherrlichkeit oder Selbstverwirklichung, sondern die Verpflichtung dem Willen und Wohl anderer zu dienen.
Drittens aber und zuletzt: Wenn wir hier in der Kirche zusammen sind, in der Gemeinschaft der Heiligen, die der Heilige Geist berufen hat, und wenn uns in Herz und Verstand die von uns nicht zu erzwingende Möglichkeit gegeben ist, an Jesus Christus als den Herrn zu glauben, dann erleben wir eine Wahl … eine Wahl, bei der wir die Erwählten sind. Eine Wahl, die uns vom Druck unbedingten Zweifelns wie unbedingten Glaubenszwangs befreit und die uns nur daran bindet, dass wir weder als Zweifelnde, noch als Gläubige uns selber verherrlichen, sondern Den, Der in Nord und Süd und Ost und West Seinen barmherzigen Ratschluss für die Menschen verfolgt.
Möge Er uns helfen, dass unser Land und Erdteil, vom makedonischen Osten bis zur irischen Atlantikküste eine Welt der Wahl bleibt … der Wahl als Ausdruck echter Freiheit, als Verpflichtung zum Für-Sein, nicht zum Gegen-Sein und als Entlastung vom Alles-Alleine-Sein!
Und möge Gott uns geben, dass wir Menschen Ihm, Der uns erwählt hat, und Seinem Wort und Willen auf allen Kontinenten und in jedem Herzen, das Er berührt und auftut, die Ehre geben wie Lydia und alle, die von Anbeginn der Welt zu Seiner Herrlichkeit berufen und erwählt sind!
Amen.
Tag der Darstellung des Herrn, 02.02.2025, Stadtkirche, Johannes 8,12, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Tag der Darstellung des Herrn – 2.II.2025
Lukas 2,22 -35 / Johannes 8,12
Liebe Gemeinde!
Vierzig Tage: Später wird Er so lange fasten. In der Wüste. Vom Teufel aufgespürt und angesprochen.
Vierzig Tage: Später wird Er so lange noch einmal bei ihnen sein, nachdem der Tod durch Menschenhand Ihn zerstört und Gott Ihn und die Menschen nicht dem Tod überlassen hat.
Vierzig Tage: Seine ersten vierzig waren es jetzt. Was die bedeuten, kann man gar nicht sagen … außer dass Er noch lebt, was bei einem Säugling, der unterwegs in einer Höhle zu Bethlehem auf die Welt kam, alles andere als selbstverständlich ist … zumal der Tod durch Menschenhand Ihm sehr bald nachstellen wird: … Herodes hat den Tod schon beschlossen. Die ausländischen Hellseher sind wieder in Richtung des Sonnenaufgangs heimgezogen. Die Truppen der Kindermörder ziehen sich zusammen. Nacht wird’s wieder über Bethlehem. Aber nicht die heilige, sondern die bittere des Mordes und des Klagens. … Ach, Rahel (vgl. Matth.2,17 / Jer.31,15)!
Vierzig Tage seit Weihnachten … und schon wieder das alte Lied des Heulens um die Unschuldigen.
Und das Kind, durch das allem Volk Freude widerfahren und Friede auf Erden werden soll und den Menschen ein Wohlgefallen verheißen ist (vgl. Lk.2,14), … dieses Kind ist erst vierzig Tage alt und wird durch die Strapazen seiner jungen Mutter und das Elend seines ersten Erdenmonats unterernährt und schwächlich sein und hilflos und im Vergleich zum mickrigen Geburtsgewicht kaum zugenommen haben.
– Was für eine glanzlose Mündung der kerzenhellen, hoffnungsschimmernden Weihnachtszeit ins schlammige Delta der weltgeschichtlichen Brutalität und Banalität! ——
… Und doch hat die Kirche ein Lichterfest ans Ende der Weihnachtsvierzig gesetzt, wenn in anderen Jahren schon die Fastenvierzig anfangen: Genau auf den Tag, an dem Jesus nach biblischem Recht als Erstgeborener im Tempel ausgelöst wurde (vgl. 2.Mose13,13) und Maria vom physisch kritischen Ausnahmezustand der Wöchnerin wieder in die als Reinheit erfahrene Normalität außerhalb der akuten Lebensgefahr für Mutter und Kind eintrat (vgl. 3.Mose12).
… Ein Lichterfest also, weil ein Säugling die Kindersterblichkeit des Anfangs und eine blutjunge Mutter das Drama des Gebärens und der ersten Stillzeit überstanden haben?
… Nein. Noch schlichter. Und tiefer.
Es ist ein Lichterfest geworden, in dem der Weihnachtsglanz mit dem Grau allen Alltags verschmilzt, weil zwei hochbetagte Menschen – Menschen, die keine eigene Zukunft mehr hier, in der Zeit haben – die Mutter und das Kind erwarteten und weil der greise Simeon dabei den Lobgesang der Sterblichen, aller Sterblichen im Grau und Dunkel dieser Welt anstimmte: „Dieses Kind ist das Licht, das alle Völker erleuchtet und Israel in ihrer Mitte“.
Ein Lichterfest ist diese Darstellung des kleinen Jesus im großen Haus Gottes, das noch knapp eine Generation lang stehen wird, ehe die Römer es in Schutt und Asche legen, … ein Lichterfest ist diese Begegnung zwischen der verlöschenden Generation der Uralten und dem aufflackernden Leben des Frischgeborenen, weil das eben das ganze Geheimnis und die ganze Offenbarung Christi ist: Er, der Sohn Gottes ist in die Wirklichkeit gekommen!
Und umgekehrt auch: Hier, in diese Wirklichkeit aus Grau und Grauen, hier in diese Wirklichkeit aus Hoffnung und Tod ist wahrhaftig der Sohn Gottes gekommen!
Das mag uns erst einmal bescheiden vorkommen.
Weihnachten - zumal wie wir es feiern - hatte uns vielleicht größere, glitzerndere Entwicklungen annehmen lassen. Und nun, nach vierzig Tagen, wenn wir den Schmuck nicht mehr sehen können und der Baum nur noch kahl erscheint und selbst der Stern verblasst wirkt, ist kein schöner Szenenwechsel wie auf den barocken Bühnen eingetreten. Da schiebt man einfach die öde Kulisse der Wildnis, in der der Held oder die Heldin der Oper gefangen oder verirrt waren, beiseite, kurbelt an den Winden, lässt eine bunt bemalte Hintergrundleinwand herab und voilà!, die heitere Schäferlandschaft, in der alles sich verwandelt, alles wieder gut wird und das Drama sich auflöst, ist mühelos und täuschend echt erschienen: Finale mit Schlusschor.
Während bei uns im Drama des Kirchenjahres, im Drama des Glaubens das Schäferspiel von Christi Geburt ohne furiosen Erlösungszauber endet: Simeon wird immer noch sterben. Jesus wird immer noch von Herodes gejagt und von Pilatus gefangen werden. Durch die Seele Marias wird immer noch jenes Schwert dringen, von dem der lobpreisende und widerstandslose Todeskandidat mit ihrem Jungen auf dem Arm ihr geweissagt hat (vgl. Lk.2,35).
Warum ist das so?
– Noch einmal. … Weil das Geheimnis und die Offenbarung Jesu Christi dies ist: ER ist in die Wirklichkeit gekommen! Die Welt mit allen ihren Schicksalen und ihren sämtlichen Schatten ist Sein Ort!
Wir müssen das so betonen, weil wir nur so das bleibende, die Weihnachtszeit, die Passionszeit, die österliche und die pfingstliche, … ja überhaupt alle Zeit übertreffende Mysterium erfassen können, das uns heute begegnet: Dass die Herrlichkeit Jesu nichts Einzelnes und noch viel weniger nur etwas Besonderes ist. Dass die Bedeutung dieses Jesus Christus nicht an individuellen Zügen oder Taten oder Ereignissen seines Wesens und Lebens festgemacht werden will und dass wir Ihn nicht erkannt haben, wenn wir etwa die Höhe- oder Tiefpunkte im Bericht Seines biographischen Gangs von der Geburt bis zur Kreuzigung oder von der Verkündigung Seiner Empfängnis bis zu Seiner Auferstehung und Himmelfahrt meditiert haben, um den Rahmen, den die Evangelien spannen, voll auszumessen.
Jesus ist - ob man es glaubt oder nicht - tatsächlich weniger und Jesus ist - ob man es glaubt oder nicht - wahrhaftig mehr als alles, was wir gesondert aufzählen und alles, was wir mit Bestimmtheit erzählen können von Ihm und Seiner Geschichte. Weil Er das ist, was der wohl beinah fast erblindete Simeon, den wir eben dennoch einen „Seher“ nennen sollten, in Ihm erfasste: „Licht!“ ——
Versuchen wir auch hier - so wie nach Möglichkeit immer -, das Gehörte wörtlich aufzufassen:
Was ist denn das Licht?
Das Licht ist nichts Einzelnes. Das Licht ist nichts Abgegrenztes. Das Licht ist nichts von allen Erscheinungen Ablösbares, … nichts, das man aus hellen oder dunklen Szenen sauber herausfiltern und peinlich genau unterscheiden könnte, … nichts, das wir abstrakt an sich, aber auch nichts, das wir konkret veranschaulicht vom Hintergrund, vom Horizont, vom Hohen, vom Tiefen, von Farbe oder Schatten zu isolieren vermöchten.
Licht ist allgegenwärtig. Und wird darum vollständig übersehen.
Licht ist in seiner überwältigenden Unersetzlichkeit und seiner abgestuften Unscheinbarkeit der Träger aller unserer Eindrücke und zugleich das missachteteste aller Wunder.
Licht ist das, was alles offenbart und gerade darin vollkommen verschwindet.
Licht bringt uns die ganze Welt nahe und bleibt in diesem selbstlosen Dienst gänzlich unfassbar.
Wenn wir das Licht allein hätten, verginge uns das Sehen und Erkennen ebenso, wie es ohne das Licht nicht die allergeringste Sicht und Einsicht gäbe. Ein unlösbares Band verknüpft für uns den äußeren und inneren Kosmos mit dem Licht, obwohl sie beileibe nicht identisch sind.
Und wenn wir das Licht im Geist der Wissenschaft dingfest machen, sein Wesen analysieren, seine Essenz bestimmen wollen, dann stehen wir seit dem 20.Jahrhundert vor einem der größten Paradoxe der vermeintlich auf Widerspruchsfreiheit gegründeten physikalischen Weltanschauung: Es hat zwei Naturen. Licht ist Teilchen und Welle. ……. ———
Was ist das Licht? …
„Meine Augen haben Deinen Heiland gesehen“, betet Simeon, der darum nun seine Augen im Frieden wird schließen können. „Meine Augen haben Deinen Heiland gesehen, welchen Du bereitet hast vor allen Völkern. Ein Licht zu erleuchten die Heiden und zum Preis Deines Volkes Israel“ (Lk.2, 29-32).
Wer aber ist denn der Heiland? Seit Er aus der Höhle von Bethlehem in den Tempel Jerusalems getragen wurde, ist Er aus der Verborgenheit an den Ort der Gegenwart schlechthin - der Gottesgegenwart! - gekommen und bleibt doch der vollständig Übersehene.
Wie Simeon es empfand, ist Er überwältigend – nimmt Er doch sogar dem Alleszermalmer, dem Tod die Macht und den Schrecken! –, und trotzdem geht’s mit Ihm unscheinbar und schließlich so missachtet weiter (vgl. Jes53,2f), dass man vor Dem, an und in Dem man den unsichtbaren Vater in Seiner Herrlichkeit mit eigenen Augen sehen könnte (vgl. Joh14,9 / Kol.1,15 / 2.Kor.4,6) das Antlitz verbarg und wegschaute (vgl. Jes.53,3)!
Der Heiland, Der einerseits in Seinem Fleisch den Abglanz Gottes offenbart (vgl.1.Tim.3,16 / Hebr.1,3), entäußert sich darin doch gerade selbst und verschwindet in der Knechtsgestalt des Menschlichen (vgl. Phil.2,7).
Alles deckt Er auf - sogar die in den Herzen verborgenen Gedanken, wie ebenfalls Simeon sagt (vgl. Lk.2,35!) - und ist doch in dieser Allklarheit Der, Der vollkommen unerkannt dienen will und sein Leben zur Erlösung für Viele gibt (vgl.Mk.10,45).
Und nach Seinem höchsten, verklärten Aufstrahlen, das doch die Jünger vollkommen überforderte, sahen sie nur das für sie ganz Gewöhnliche, … das allein Nötige: Sie sahen niemand als Jesus allein (vgl. Matth.17,8).
Wenn wir aber fragen, was Er denn nun ist – himmlisch oder irdisch?, geiststofflich oder sterbliches Fleisch? –, dann erfahren wir bei allen, die uns Antwort geben, ebenfalls das allergrößte Paradox: Beides nämlich; …. Gott ist Er und Mensch! ———
Und auch wenn wir uns nur auf einem oder gar auf keinem dieser Gebiete bloß ein wenig Verstand zutrauen sollten, erkennen wir doch - wie unbeholfen die wechselseitige Beleuchtung auch immer war –, dass Quantenphysik und Christologie sich hier gegenseitig erhellen und ihre sonderbare Übereinstimmung die gemeinsame Relevanz und Logik des Forscher-, wie des Glaubensblickes aufdeckt: Das Licht und der Heiland sind sich ähnlich und einig in einer Weise, die weder die Apostel des Neuen Testaments noch die Physiker des großen nach-klassischen Paradigmenwechsels der Naturwissenschaft alleine für sich hätten fassen können und sollen. Das Wesentliche entzieht sich unserm Fassungsvermögen, weil es zwar in allem begegnet, was wir erkennen, aber doch anders ist, als wir entscheiden können.
Und darum ist der Satz, der heute, am volkstümlich „Lichtmess“ genannten Tag eigentlich der Predigttext ist, einerseits so tiefvertraut, dass er fast unspektakulär wirkt – was ja nichts anderes als „unansehnlich“ oder „uneinsehbar“ heißt –, und andererseits stellt dieser eine Vers den völligen Gipfelsatz allen Zeugnisses von Christus dar.
Bei unzähligen Taufen haben wir diesen Satz hier schon gehört, gesprochen und in einer unbekümmert personalisierten Taufkerze veranschaulicht gesehen:
„Christus spricht: Ich bin das Licht der Welt.
Wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“
Dieser Satz ist vor lauter Verwendung und Gebrauch beinah unsichtbar, … geruch-, farb- und geschmacklos wie das Licht selbst. Und er fällt im Johannesevangelium ja auch an keiner hervorgehoben feierlichen Stelle, sondern in den nickeligen Diskussionen, zu denen Jesu Heilung eines Blindgeborenen führt.
Da hat Jesus noch nicht die Welt erschüttert, noch nicht den Tod oder den Teufel besiegt. Da ist alles noch durchwachsene Alltagswirklichkeit, in der neben den faden Grundtönen hier und da Heilungsblitze aufleuchten. Aber es ist eben unsere nüchterne Erfahrung, in der Unschuldige grundlos leiden, weil sie mit körperlichen Gebrechen oder ungerechten Gewalten ringen müssen. Und in diese ordinäre Realität, in diese Momentaufnahme des meistens glanzlosen, oft schatten- und schadenreichen Daseins hinein geschieht ein Einzelwunder und klingt ein Ewigkeitswort.
Denn dieses „Ich bin“: Das allein ist ja schon, wie wir seit der Offenbarung wissen, die der HERR im brennenden Dornbusch Moses zuteilwerden ließ (vgl. 2.Mose 3,14), nichts anderes als der Name Gottes.
Und dieses „das Licht“: Das ist doch die Grundtat aller Schöpfung Gottes, die damit anhebt, dass Er eben dieses ruft und Es hervortritt: „Es werde Licht“ (1.Mose1,2).
Und so sagt Jesus in die Wirklichkeit hinein, dass Gott und Gottes Schöpfung in Ihm da sind.
Gott bin Ich und Schöpfung, sagt dieses „Ich bin das Licht der Welt“.
So dass uns dämmert - wirklich aber höchstens dämmert, aber doch eben wahrlich dämmert und also immer heller wird! -, dass Weihnachten nicht vor vierzig Tagen war, sondern dass es im Urknall geschah, als Gott im Licht den Sohn gezeugt hat.
Und dass Weihnachten nie aufhört, weil die Allgegenwart des Sohnes in der Welt – auch in der Welt der grauen Tage und der trüben Nächte, auch in der Welt, in der wir leben und wie Simeon wohl auch noch sterben werden – … weil doch die Allgegenwart des im ersten Moment gerufenen Wortes, des gezeugten Lichtes, des Sohnes also so derart wirklich ist, dass es nichts gibt und niemanden gibt und nirgends etwas gibt, das nicht von diesem Licht belebt und gezeigt und umfasst und durchdrungen wäre (vgl. Joh.1,4f+9!).
Christus, das Licht ist überall.
Weihnachten – die Gegenwart des Lichtes noch in der stumpfen Schattenhaftigkeit, in der wir existieren und die Welt erleben – … Weihnachten, die Gegenwart des Lichtes also ist grenzenlos.
Und was immer sich auch verdunkelt, … was immer wir als düster erleben, … was immer sich unserm Blick und aller Klärung auch entziehen mag: Es ist doch nur durch das wahre Licht möglich und gegeben, dass wir es überhaupt erfahren und erleben.
Durch das wahre Licht, das macht, dass Finsternis leuchtet wie der Tag (vgl. Ps.139,12).
Durch das wahre Licht, das alle Völker erleuchtet und Israel in ihrer Mitte.
Durch das wahre Licht, das auch unsere Augen sehen dürfen, so dass wir leben mögen oder im Frieden sterben wie Simeon: Denn wir können nicht in der Finsternis wandeln.
Gott in Jesus, Jesus in Gott ist das Licht des Lebens. Das ewig ist.
… Wie Weihnachten.
… Und wie das Heil.
Amen.
3.So. n. Epiphanias, 26.01.2025, Stadtkirche, Matthäus 8, 5 - 13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.So.n.Epiphan. - 26.I.2025
Matthäus 8, 5 - 13
Liebe Gemeinde!
Ob er ein kommandierender Haudegen war – aus langen Generationen Offiziersmaterial geformt, wie in der römischen und vielen Armeen üblich –, … ob’s sich bei ihm also um so einen zackigen Typen handelte, dessen ganzer Horizont Kasernenhof und dessen ganzer Stolz soldatischer Gehorsam im Erteilen und Befolgen von Befehlen war? …
Oder ob er selber ein der Not gehorchender Söldner, ein Fremder war, der irgendwie leben musste und der da am Rand der römischen Provinz Heimweh nach irgendwo hatte und sich hundeelend einsam fühlte und in seinem Unglück nach Trost sogar im Glauben der sonderbaren jüdischen Eingeborenen suchte? …
… Wir werden es nie wissen.
Aber so oder so war er einer von uns: In seinem Gesicht und in seiner Geschichte hat Jesus - der Stellvertreter aller Menschen - stellvertretend die Menschheit jenseits von Israel wahrgenommen. Aus den Augen des Hauptmanns von Kapernaum blickte Jesus das Heidentum an. Aus dem Mund des aufgewühlten Besatzungssoldaten sprach ihn die Welt der Völker an. In der Angst und in der Traurigkeit des sonst so disziplinierten Uniformträgers, dessen ganze Haltung an Krankheit und Sterben einfach scheiterte und ihn hilflos machte wie ein kleines Kind, da begegnete Jesus dem Menschenlos schlechthin.
Und es war eine Segensstunde und ist eine Segensstunde bis heute.
Dass der Messias Israels, der wahrhaftig vom Vorzug Israels wusste – er hat dem sog. „kanaanäischen Weib“, einer Phönizierin von der Küste ja einmal entgegengehalten, dass sie nicht zu den Kindern des Hauses, sondern zu den Kötern und Kanaillen gehöre (vgl. Matth.15,26) – … dass der Messias Israels sowohl bei dem Centurio von Kapernaum als auch bei der phönizischen Frau dann trotz aller Unterschiede zwischen dem ursprünglichen Bund Gottes mit Seinem Volk und der Erweiterung zum Umfang aller Menschen sich anrufen und bewegen ließ, das ist der Anfang aller Rettung!
Jesus ist ansprechbar. Jesus ist beweglich … an Herz und Geist und allen Gliedern!
Wer das weiß, kann hoffen.
Und wer auf den erreichbaren Jesus hoffen kann, dessen Vertrauen hat Grund.
Und wer in solchem begründetem Vertrauen lebt - wir nennen das „im Glauben leben“ -, der kann tun, was der römische Hauptmann tat.
… Wobei die Frage nach dem, was er tat, ja noch einmal entscheidend ist!
Bei uns hat sich eingebürgert, im Glauben v.a. eine „Haltung“ zu sehen. Glauben ist nach diesem Verständnis ein innerer Zustand, ein Beruhigt-Sein, eine stabile Fassung des Gemüts. Das haben wir aus dem herrlichen Merkvers des Hebräerbriefs (11,1), dass „Glauben eine feste Zuversicht ist auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht“. Doch als Beispiele dafür zählt der Hebräerbrief alsbald nicht etwa irgendwelche unbeirrbaren Helden der Standhaftigkeit in ihren Überzeugungen auf, sondern Abel, den Start-up-Erfinder des Ackerbaus, … Noah, den Handwerker und Organisator in der Katastrophe, … Abraham, den unverdrossenen Migranten, Nomaden und Pfadfinder Gottes, … Moses, den Strategen von Exodus und Völkerwanderung, … schließlich auch die Hure Rahab, die in Jericho als Partisanin und fremde Pionierin die Landnahme Israels ermöglichte …….: Lauter ungeheuer findige, umtriebige, dynamische Menschen, denen der Glaube an Gott in Hände und Füße fuhr, … denen der Glaube an Gott Mut und Beine machte, … denen der Glaube an Gott Taten der Tapferkeit und menschliche Mühen ermöglichte.
Glaube und Tat sind also – gegen das gewohnheitsmäßige und bequeme protestantische Trennen zwischen ihnen – keine unterschiedenen, gar gegensätzlichen menschlichen Erwiderungen auf das Wunder und die Wirklichkeit Gottes, sondern sie sind das Feuer und die Wärme, die Quelle und der frisch aus ihr sprudelnde Trunk, … Glaube und Tat sind wie die Speise, die zur Kraft wird, wie das Ein- und Ausatmen, das das Leben bedeutet.
Und darum ist der Glaube des römischen Strammstehers und Parademarschierers eben nicht durch seine unbeholfene militärische Vorstellungswelt so eindrucksvoll für Jesus – … diese Idee, dass da jemand nur kräftig das Richtige brüllen muss und alles dann in Reih und Glied „zu Befehl“ ist – sondern durch das, was sein rudimentärer, unklarer Glaube den Mann aus der Besatzungsmacht machen lässt: Er macht ihn zu seines Bruder Hüter, zum Helfer seines Knechtes, zum Hoffenden und Flehenden in fremder Sache. Da kommt ein Befehlshaber und bettelt. Ein Mensch der Macht kommt an seine Grenzen und wird bescheiden. Ein harter Hund wird windelweich, weil er nur noch winseln kann. … Und das alles nicht für sich. Nicht zu seinen eigenen Gunsten. … Sondern um das Leben eines Untergebenen, …. die Zukunft eines anderen. …
Es ist in der Begegnung zwischen Jesus und dem Römerhauptmann also vorgezeichnet, was wir letzte Woche als das Muster aller christliche Ethik nachzeichneten: Glauben heißt Absteigen und einen Pfad zu wählen, der uns von irgendwelchen Rängen und Höhen herniederführt, weil er menschwärts weist.
Der Militär, der Jesus durch seine vertrauensvolle Hilfsbedürftigkeit so ergriffen hat, ist also in einer Mission der Verantwortung für seinen Mitmenschen zu Jesu Füßen gelandet.
Wenn wir diese Grundtat und Grundbewegung des Glaubens in einem heidnischen Geist und Herzen begreifen, dann dämmert uns auch, wieso Jesus so getroffen und so erfüllt war durch seine Konfrontation von Angesicht zu Angesicht mit diesem Vertreter der herrschenden Weltmacht: Ein Besatzer, der einem Besetzten nicht nach Art des Herrenmenschen, sondern in radikaler Demut und radikaler Solidarität mit einem Leidenden gegenübertritt! Was für ein Zeichen, dass es unter den nichtjüdischen Kulturen eben nicht zwangsläufig so zugehen muss, wie Jesus es später als eine Grunderfahrung schildern würde, als er zu den ehrgeizigen Donnersöhnen Jakobus und Johannes und den andern Jüngern sprach (Matth.20,25): „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch, …“
Vielleicht hat er damals an den alten Kameraden aus Kapernaum gedacht, der vor ihm in die Knie ging und in seiner Angst um den sterbenden Stiefelknecht oder Sklaven in seinem Haus zu dem heiligen Zimmermann aus Nazareth tatsächlich sagte: „Ich bin nicht wert, dass du eingehst unter mein Dach …….“
Und angesichts dieser Demut, angesichts dieses Verzichts auf jedes Recht – das Befehlsrecht, das Hausrecht, das schöne Recht des Gastgebers – … angesichts dieser vollkommenen Selbstentäußerung eines „Hekatonarchos“, wie Matthäus griechisch korrekt festhält, eines Centurio - Hundertschaftführers - also geht Jesus das Herz im Reich-Gottes-Maßstab auf: So müssen die Kinder des Reiches sein! Selbstvergessen. Schmerzlos ihren Ansprüchen und Ehren entsagend. Ihr einziger Titel ihre Nächstenliebe. Ihr einziger Wunsch die Notlinderung für ihre Geschwister und Nächsten und Fernsten. Ihr einziges Ziel die Rettung des anderen.
So müssen die Kinder des Reiches sein: Menschen, die sich nicht selbst in der Rolle als Gast oder Gastgeber gefallen, sondern die sich bloß als Boten sehen, als Weg und Tür für das Heil, das Dritten bereitet sein soll.
Solche Menschen der Fürsorge und des Für-Seins: Die sind es, die dabei sein sollen, wo das ewige Hochzeitsmahl der Fürsorge und der Liebe für einander gefeiert wird … dort, wo Abraham und Isaak und Jakob – die reine Kundschafter und Wegbereiter und Türsteher für das jeweils kommende Geschlecht und also für die Fortsetzung und schließlich für die Zukunft der ganzen Menschheit im Sand-am-Meer-und-Sterne-am-Himmel-Maßstab waren – … dort, wo Abraham und Isaak und Jakob also zusammen mit dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist das Fest der alle verknüpfenden Einheit in Liebe begehen und wo vom Aufgang im Osten bis zum Untergang der Sonne im Westen alle Menschen von Anbeginn der Zeit bis zu ihrem Ziel, die sich nicht alleine, sondern als Gemeinschaft erkannten und bejahten und bewährten, die Vollendung finden sollen!
… So!
… Dort! ——
Wir merken also unversehens, wie wohl die Kirche getan hat, als sie die bescheidene, völlig ernste Selbstrelativierung des Hauptmanns von Kapernaum – „Herr ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort … “ – als die richtige Selbstbesinnung aller, die das Freudenmahl schon hier auf Erden feiern dürfen, vor die Kommunion setzte: So in jeder katholischen Messe bis heute zu erleben.
Diese Demut, die von der ganzen plumpen und brutalen Großkotzigkeit des menschlich-weltlichen Selbstbewusstseins abweicht, hat die Verheißung eucharistischer, also: dankender Ewigkeit in sich.
Und der römische Gardist hat Jesus damit hingerissen zum Einreißen und Einschmelzen aller Zäune und Barrieren, aller Mauern und Trennungen zwischen Israel und den Völkern.
… So sehr hingerissen, dass er alle Erwählungssicherheit der Seinen kurzerhand sprengte und zerfetzte: „Die Kinder des Reichs werden – im Vergleich zu solchen anspruchslos liebenden Heiden – ausgestoßen in die Finsternis hinaus …“
… Doch denken wir daran: Jesus verabscheute nicht nur sadduzäische Arroganz und pharisäischen Übereifer – den Pharisäern war er selber in allem Wichtigen ja zuzurechnen –, sondern er kämpfte schon bei den Zwölfen gegen die verblendete Verbissenheit, besser, treuer, frömmer als die anderen sein zu wollen. Der exklusive Anspruch, dass man selbst, aber niemand sonst Jesus nahestehe und dass man darum allein man selber Seine Nähe verdiene und alle andern deren Gegenteil, der ist also verdammt am Anfang dagewesen.
Wie die Menschheit es ja verdammt oft schafft, einen Sündenfall als Ausgangspunkt und nicht etwa als das Ergebnis ihrer großen Vorhaben zu begehen.
… Verdammt bald hat daher die Gemeinschaft Jesu - die Kirche und das Christentum - dem heidnischen Hauptmann von Kapernaum die Gefolgschaft aufgekündigt: „Nur ich bin würdig, dass Er unter mein Dach geht ….!“ – Nur ich! – Nicht Du! – Nicht Ihr! – Nicht die! …….
Und so stehen wir vorm Spiegel. Aus dem nicht der brave Hauptmann von Kapernaum mit seiner biederen und bedingungslosen, soldatentreuen Anhänglichkeit an den krepierenden Mitmenschen schaut, sondern die Fratze des christlichen Abendlandes und des aufgeklärten, eiskalt egoistischen Westens.
Im Oktober vor 80 Jahren hat unsere Evangelische Kirche bei der ersten armen, Hunger- und Schandensynode von Stuttgart auf das geblickt, was ausgerechnet die Sowjetarmee morgen vor 80 Jahren beenden musste und hat angesichts des Grauens von Auschwitz und der radikalen und beinah totalen Schuld der getauften Mehrheit in Deutschland Worte gefunden, die schwach, aber wahr sind: „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“[i]
… Wohl wahr! … Wie wahr! … Wie wahr auch jetzt! … ———
Und der alte Hauptmann mit seiner großen Liebe guckt uns tief in die Augen; … und man meint den Walross-Bart und den triefigen Blick so eines Veteranen zu sehen …und da schämt man sich.
Und dann steht der wieder gesund gewordene Knecht, für den der Legionär gebettelt hatte, da und sieht, wie wir in der christlichen Welt wegen all’ des Furchtbaren, das an Kindergartenkindern und Unschuldigen jeder Beschreibung geschieht, selbst Furchtbares, Herzloses, Hoffnungsloses tun wollen: „Weg mit ihnen allen nach Osten und Westen! Weg mit all’ den anderen, … weg nach Norden und nach Süden. Weg, damit wir das Reich und die Ruhe alleine haben!! … Und man schämt sich. …
Und dann steht neben dem ollen Haudegen aus Kapernaum und dem armen Deibel, um dessentwillen er den Herrn Jesus zum Überspringen aller Grenzen und zum heilenden Erbarmen mit allen Völkern gebracht hat, auch noch eine ziemlich blasse, eher unauffällige Bischöfin aus Washington, von der ein Late-night-Komiker (Jimmy Kimmel) diese Woche fragte: „Was ist der auch bloß eingefallen, dass sie einfach die Lehre Jesu in einer Kathedrale glaubte anbringen zu dürfen …?“
Und diese Bischöfin – the Rt. Rev. Mariann Edgar Budde – sagt nicht nur einem Macht-menschen vom allermächtigsten und allerunmenschlichsten Schlag, sondern uns Menschen-kinder mit unserer Macht und deren Möchtegern-Maßstab das ganz Einfache:
„Unser Gott lehrt uns, dass wir barmherzig gegenüber dem Fremden sein sollen, denn wir alle waren einst Fremde (in diesem Land).
Möge Gott uns die Kraft und den Mut geben, die Würde jedes Menschen zu ehren, die Wahrheit zueinander in Liebe zu sprechen und demütig miteinander und mit unserem Gott zu gehen – zum Wohl aller Menschen in dieser Nation und in der Welt.“[ii]
Und so stehen wir da: Ein Gast auf Erden wie der Hauptmann von Kapernaum und wie sein Knecht und wie Abraham und Isaak und Jakob und alle Heiligen und alle Sünder und alle Christen und alle Juden und alle Heiden überall und immer.
Da stehen wir vor Dem, Der die Barmherzigkeit gegenüber allen, allen, allen ist und werden ganz still. …….
Und können nur das eucharistische Wort sprechen, in dessen Schuldbekenntnis und Demut uns doch die Ewigkeit aufleuchtet, die nur aus Jesu unverdienter Gnade stammt:
„Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach …
Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund!“
Amen.
[i] Zitiert aus Im Zeichen der Schuld: 40 Jahre Stuttgarter Schuldbekenntnis – Eine Dokumentation, hgg. v. Martin Greschat m.e. Geleitwort von Wolfgang Huber, Neukirchen-Vluyn, 1985, S.45.
[ii] Deutsche Fassung abrufbar unter: https://chrismon.de/artikel/56499/eine-bischoefin-redet-us-praesident-donald-trump-ins-gewissen?er=www.evangelisch.de
Der Wortlaut im Original mit anschließender Erläuterung:
Transcript Of Rev. Budde’s Plea To Trump
“Let me make one final plea, Mr. President. Millions have put their trust in you and, as you told the nation yesterday, you have felt the providential hand of a loving God. In the name of our God, I ask you to have mercy upon the people in our country who are scared now. There are gay, lesbian and transgender children in Democratic, Republican, and Independent families, some who fear for their lives. The people who pick our crops and clean our office buildings; who labor in poultry farms and meat packing plants; who wash the dishes after we eat in restaurants and work the night shifts in hospitals. They…may not be citizens or have the proper documentation. But the vast majority of immigrants are not criminals. They pay taxes and are good neighbors. They are faithful members of our churches and mosques, synagogues, gurudwaras and temples. I ask you to have mercy, Mr. President, on those in our communities whose children fear that their parents will be taken away. And that you help those who are fleeing war zones and persecution in their own lands to find compassion and welcome here. Our God teaches us that we are to be merciful to the stranger, for we were all once strangers in this land. May God grant us the strength and courage to honor the dignity of every human being, to speak the truth to one another in love and walk humbly with each other and our God for the good of all people. Good of all people in this nation and the world. Amen”
Crucial Quote
After the sermon, Budde told the New York Times that she “wasn’t necessarily calling the president out,” but rather making a plea “because of the fear” she has seen among immigrants and LGBTQ+ communities. Budde said she wants Trump to be “mindful of the people who are scared,” and added “I was trying to say: The country has been entrusted to you…And one of the qualities of a leader is mercy.”
Abgerufen unter https://www.forbes.com/sites/siladityaray/2025/01/22/what-did-the-bishop-say-to-trump-during-prayer-service-heres-the-full-transcript/
2.So. n. Epiphanias, 19.01.2025, Stadtkirche, Römer 12, 9 - 16, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.So.n.Epiphan. - 19.I.2025
Römer 12, 9 - 16
Liebe Gemeinde!
Am nächsten Samstag steht ein Fest in unserm kirchlichen Kalender, das man vielleicht gern mit einer Exkursion verbinden sollte, weil das zum ersten Mal seit vielen Jahren möglich wäre. Wir könnten einen Flieger nehmen – in der Hoffnung, dass nicht zu viele syrische Ärzte und Ingenieurinnen den Abschiebungsunfug der deutschen Diskussion aufgeschnappt haben und uns die Plätze wegnehmen –, um in jenes Land zu fliegen, an dessen Himmel der auferstandene und zu Gottes rechter Hand erhöhte Jesus Christus die Weltgeschichte für immer veränderte. Doch selbst wenn wir im Luftraum über Damaskus an genau dem Punkt des Koordinatensystems wären, an dem damals das himmlische Licht Saulus umleuchtete und die Stimme erging: „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ (Apg.9,3f), … selbst dann wären wir nicht da, wo die Bekehrung des Paulus - das Fest des 25.Januar - hinführte.
Denn die Weltwende, die mit der Berufung des Apostels für uns Heiden einsetzte, hat eine sämtlichen Flügen und Ausflügen, sämtlichen Aufschwüngen und erhabenen Höhen komplett entgegengesetzte Richtung.
… Und ob Menschen dieser Tangente folgen mögen und folgen können, das ist tatsächlich die Frage. …
Denn in einer nicht sehr glücklichen, vielmehr bewusst verunglückten Metapher angesichts der spekulativen Flugreise nach Damaskus gilt: Christ-Sein bedeutet für alle, die gern obenauf sind, eine Bruchlandung. Wen das Evangelium nicht runterzieht, wer mit Jesus nicht den Niedergang teilt, sitzt nicht im gleichen Luft- und Himmelsschiff wie der Rest der Kirche aus Juden und Heiden.
Christentum ist wirklich nichts für Wolkensegler, sondern Fußvolk-Sache: Das hat die Kunstgeschichte auf ganz schlichte Weise gespürt, die den Saulus des 25.Januar, den vor Damaskus hingehauenen und umgekrempelten Christenverfolger mit Vorliebe blind und strampelnd nach einem Fall vom Pferd zeigt, aber den Christusprediger und Wandermissionar Paulus danach nie wieder beritten darstellt, obwohl er doch in weniger als 15 Jahren mindestens 15 000 Kilometer bei seiner Ausbreitung des Evangeliums und seinen Gemeindegründungs- und Kollektenreisen zurücklegte. Der ehemals Berittene wird also in den Bildern, die sich von ihm einprägten, auf den Gebrauch von Schusters Rappen zurückgestutzt … und immer wieder unsicheren Schiffsplanken ausgeliefert: Kavallerie wird Infanterie. … Glauben heißt buchstäblich Absteigen! Runter von allen hohen Rössern …
Das liegt an der Lage der Welt und der Menschheit in ihr: Wir sind nicht die Überirdischen, für die wir uns halten, und der Planet Erde ist - einerlei ob nach Mose oder Ptolemäus oder Kopernikus - nirgends der Gipfel des Universums, sondern ein Zipfelchen unterhalb der Sonne, auf dem Wasser, Staub und Luft und Feuer ihre Wirbel zeichnen, die vor der Klarheit alles Unvergänglichen nur Schattenspiel und Dämpfe sind.
Tatsächlich gilt, was das „Urlicht“ in des Knaben Wunderhorn und bei Gustav Mahler[i] an den Tag bringt: „Der Mensch liegt in größter Not, der Mensch liegt in größter Pein …….“
Und darum schreit die Erlösungssehnsucht mit den Worten Jesajas (63,19c) so eindringlich aus der Tiefe: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab…“, und tagein, tagaus flehen und röcheln es tausende Menschen genauso in der unvorstellbaren Höllenwirklichkeit unserer Gegenwart in Gaza und Cherson und Sanaa.
Und darum ist das Evangelium nichts anderes als der Bericht des erbarmend-erbärmlich Runtergekommenen, der sich vollkommen aus dem Himmel, aus Helligkeit und Heil verabschiedet, in die Niederungen der absoluten Armut und totalen Schwäche taucht und dann sogar - wie das apostolische Glaubensbekenntnis es zu sagen wagt - noch tiefer abstürzt: „hinab … ins Reich des Todes …“!
Der sprichwörtliche unterste Weg, den die Friedfertigen gehen sollten, … das poetische „Tal der Demut“, in dem die anspruchslose Frömmigkeit des Herzens sich heimisch fühlt, … die „Option für die Armen“, von der die politische Theologie bewegt ist, … das „anonyme Christentum“, das Bonhoeffer als die einzige Möglichkeit nach den Sündenfällen der kirchlichen Machtgeilheit betrachtete, ……. alle diese Umschreibungen des für Christus und die Christen typischen Zuges in den Straßengraben der Geschichte, in die Gosse und die Katakomben sind erste Orientierungen für das, was unsere Mission … und darum unser Problem ist:
Wir folgen zum Sieg der Liebe in der Spur eines Opfers.
… Und also nicht eines Gewinners.
Nicht auf der Erfolgsspur.
Nicht auf dem Highway to happiness.
Dieses Jahr wird es zwar noch lange - länger als sonst dauern -, bis hier wieder die violetten Paramente des tiefen Ernstes hängen, aber selbst wenn uns heute noch der etwas struppig und stachelig gewordene Weihnachtsbaum leuchtet, merken wir, dass die Weltreligion, die an einem Viehtrog begann und deren Lebensweise von einem unschuldig Ermordeten bestimmt wird, keine Landpartie, sondern einen Kreuzweg bietet.
Unser Wegweiser auf diesen Pfad der Nachfolge, in diese Richtung abwärts, erdwärts, menschwärts ist nun aber nichts anderes als die Ethik, die Paulus und alle Apostel in der Nachfolge Jesu lehren.
Christliche Ethik hat also eine unzweifelhafte, eine eindeutige Orientierung: Nach unten!
Wenn sie die Aufmerksamkeit nicht auf die Tiefen – auf die Tiefen des Lebens, der Gesellschaft, der Verhältnisse, der Wahrheit – lenkt, sondern über das alles hinweggleitet, weil sie nur die Oberfläche wahrhaben will oder auf eine vermeintlich übergeordnete, höhere, wichtigere Ebene zielt, dann ist sie nicht mehr christliche Ethik, sondern eins der vielen Systeme, die immer nur lehren, irgendwo herauf zu krabbeln, während Gott in Christus doch den Weg der selbstgewählten Erniedrigung geht und uns weist.
Diesen Weg ging auch Paulus, der glänzend schriftgelehrte Pharisäer, der zu den Heiden zog, die von Mose und allen Propheten keine Ahnung hatten. Sein Weg der Nähe zu den durch nichts geheiligten Einfältigen, die man „Barbaren“ nannte oder „Plebs“, war spirituell und sozial ein Absturz für den vielversprechenden Rabbiner mit römischem Bürgerrecht aus Tarsus.
Aber noch dramatischer wird seine freiwillige Verbannung zu einer Art Exil im Morast der Blindheit, der Sünde und des dreckigen Eigenlobs der Hoffnungslosen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Paulus begnadet war mit mystischen Höhenflügen: Er bezeugt ein einziges Mal in bescheidener Verschlüsselung, dass er wahrhaftig in den Himmel entrückt worden ist und im Paradies überwältigende Offenbarungen empfing (vgl. 2.Kor.12,2ff), … doch der herrliche Frieden der Kontemplation, die selige Erfahrung der reinen Gegenwart des Heils zu Lebzeiten war ihm nicht als bleibendes Los beschieden. In entwürdigender Schwachheit sollte er stattdessen weiter Gottes Kraft (vgl. 2.Kor.12,9) verkörpern und verbreiten. Statt Verklärung zu kosten, galt es unermüdlich zu marschieren, frustrierend zu missionieren und verarscht zu werden, es galt Briefe zu schreiben und Gelder zu sammeln und Verhaftungen zu riskieren und durch seine theologischen und kulturellen und politischen Provokationen dem unvermeidlichen Todesurteil immer näher zu kommen. Es galt also, in der Liebe zu bleiben ohne Rücksicht auf die eigenen Verluste.
… Und das nennt sich Ethik?
Ja, genau das ist Ethik im Geiste Christi!
– Warum sich da bei uns so vieles sträubt? … Weil wir Ethik vermengen und verwechseln mit dem Idealen. Doch genau das ist sie gerade nicht. Sie zielt nicht auf die sterile Unerreichbarkeit des olympisch Vollkommenen, sondern auf die Echtheit und Wirklichkeit des armseligen Menschlichen, dem Gott, der Vater Jesu Christi sich aus überwältigender Gnade vollkommen zuwendet.
Wenn wir den Hang zum Bescheidenen und Bedürftigen, … wenn wir die erstaunliche Konsequenz der Treue im Kleinen, … wenn wir die Unbeirrbarkeit, mit der sie den Spott der Ehre vorziehen, … wenn wir die Dankbarkeit für Geringes und die verschwenderische Hoffnungssaat gegen alle Widerstände und Wahrscheinlichkeit bei den Vollblut-Nachfolgerinnen und -Nachfolgern Jesu betrachten, dann merken wir, dass die Ethik, die nicht herrschen, sondern dienen will, … die Ethik, die nicht in den Wolken, sondern an der Basis ansetzt, … die Ethik also, die nicht das Beste, sondern das Gute aufbauen will, überhaupt nicht vergrämt oder säuerlich ist.
Wie ja auch Paulus, der Polterer und Starrkopf und unbändige Kraftwerker des Evangeliums und der globalen Rettung, alles war, … aber nicht bitter.
Wie sonst wäre der schönste und tiefste Hymnus auf die Liebe (vgl. 1Kor.13) wohl mit seinem Namen verbunden? Wie sonst spräche die strahlende Fröhlichkeit des Philipperbriefes, das kosmische Erlösungsvertrauen des Kolosserbriefes, die Wärme der Versöhnungserfahrung des Epheserbriefes – um nur die späten Briefe aus der Kerkerzelle des Apostels zu nennen – uns so unmittelbar zu Herzen?
– Nein. Die Ethik der Nachfolge des Menschenliebhabers, der sich an die Hungerleider und Hilflosen, an die Tunichtgute und Habenichste vor dem Himmel verschenkt, ist kein schmallippiger Zwang der Selbstverleugnung, sondern die herzerwärmendste und leidenschaftlichste Annäherung an das echte, miese, kränkelnde, oft lächerliche, manch-mal schäbige, immer ungeschönte, aber so und so und so und so und so und so von Gott geliebte Dasein aller Menschenkinder!
Und darum ist uns allen nur zu wünschen und zu raten, dass wir die Flausen und das Getue lassen, wenn wir erleben wollen, was der Weg des lebendigen Glaubens an den lebendigen Jesus Christus tatsächlich ist:
Nichts Besonderes. Nichts Exklusives. Nichts, das glänzt oder Punkte und Prestige bringt. Wenn wir uns an solchen Maßstäben orientieren, haben wir uns schon verirrt!
Christsein hat nichts mit Überlegenheit, dafür aber viel mit Verlegenheit zu tun: Dass es uns schändlich sein sollte, wenn wir das Problem nicht sehen, das andere so eindeutig und schmerzlich haben. Dass wir uns zu bändigen lernen bei Instinkten, die das Raubtier haben mag, aber nicht das Herdentier. Dass wir folglich lernen müssten - und hier wird es in der einfachsten Weise übernatürlich! - von den Reflexen, uns selbst auf Kosten anderer zu retten, Abstand zu nehmen und lieber auf den guten Hirten zu vertrauen, als auf den guten Vorteil.
Und ganz besonders das ist christliche Christusähnlichkeit: Peinlichkeit als persönliche Erfahrung nicht nur zu unterdrücken, sondern zu verlieren. Wenn wir nämlich - Juden und Heiden! - allzumal Sünder sind (Rö.3,23), wovon die ersten drei Kapitel des Römerbriefes sprechen, dann hören das Vergleichen und Unterscheiden, das Abheben und Hervorragen, das Übertrumpfen und das Ausschließen aus.
Dann fängt durch Gnade und Vergebung die Freiheit der Liebe an in uns zu wirken und unsere affigen Trennungen - dieses giftige Rottenwesen, diese Urwald-Hierarchien von Silberrücken und Leitkühen - zur großen menschlichen Gemeinsamkeit vor Gott und durch Gott und für Gott umzuschmelzen.
Willst Du also Christin sein oder Christ, willst Du Christus, den Herrn der Erniedrigung – Der äußerlich hervorragend erst wurde, als sie Ihn an ein Kreuz hochhievten – als Deinen herrlichen Retter und einzigen Ruhm erfahren, dann komm runter von den Bäumen, in denen Du Dir hochgestellt vorkamst, und tritt wie der Mensch, als er sich in der Savanne zum ersten Mal exponiert aufrichtete, einfach ungeschützt auf den Boden der Tatsachen.
Da steht und geht Christus durch die Welt und Zeit und tritt in jedes Fettnapf, weicht keinem Müll aus, schüttelt alle Hände, streichelt alle Eiterbeulen, sieht die in den Verstecken, schützt die, die niemand vermissen würde, kennt die Sprachlosen, liebt die Verhaltensauffälligen, nennt die Blödmänner „Brüder“ und die, die Du verstohlen als „Schlampe“ bezeichnen würdest (wenn Du dazu nicht viel zu „gut“ wärest) „Schwester“, … da geht und heilt Christus sie einfach alle, … da hängt und stirbt Christus am Kreuz einfach für jeden Kriminellen, der nach ihm schreit, … da lebt und herrscht Christus tatsächlich inmitten des himmlischen Gesindels, inmitten des Menschenpacks, als das die Erlösten sich freuen werden, wenn sie endlich erfahren, wer Er ist und was Er aus ihnen gemacht hat.
Wenn Du Christus also hören kannst und Ihm zu folgen bereit bist, weil Du – statt Dir selbst und Deinem Zynismus und der Inhaltslosigkeit des bloß Äußerlichen überlassen zu bleiben – Ihm gehören willst, dann gibt es drei einfache Richtungsangaben.
Du folgst Christus und wirst Ihn finden, wenn Du unter Deiner Würde und im Sprung über Deinen Schatten und sorglos außerhalb Deiner gewohnten Bequemlichkeit suchst.
So mit Rotz und Gestank.
Bei Nervensägen und „Hau rein in den Frust“.
In der wabbeligen und prekären, chancenlosen, entwaffnend platten Masse der kleingeistigen Menschen mit ihren schlichten, aber entscheidenden Bedürftigkeiten nach Glück und Erlösung:
Da leuchtet der Morgenstern (vgl. EG 70).
Da flickt Gott mit Geduld und Spucke und dem Blut des Sohnes die Menschheit für das Himmelreich zusammen.
Da passiert unser Glaube.
Da strahlt die Weltwende von Damaskus in den popeligen Alltag hinein, der die Heilsgeschichte unserer Ethik ist.
Wie das zugehen soll? – Mein liebster Dichter (inzwischen ist auch das mir nicht mehr peinlich!), Ernst Wiechert sagt es so:
„Herr, führe heut und für und für
durchs hohe Gras vor meiner Tür
die Füße aller Armen.
Und gib, daß es mir niemals fehlt
an dem, wonach ihr Herz sich quält:
ein bißchen Brot und viel Erbarmen.“[ii]
Und der Apostel sagt es ebenso einfach in den Worten, die wir Christen teilen und zu leben versuchen werden, bis keine Ethik mehr sein wird, weil sein Reich gekommen ist:
(Lesung der einzelnen Sätze des Predigttextes durch Gemeindeglieder)
Die Liebe sei ohne Falsch.
Hasst das Böse, hängt dem Guten an.
Die geschwisterliche Liebe untereinander sei herzlich.
Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor.
Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt.
Seid brennend im Geist.
Dient dem Herrn.
Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.
Nehmt euch der Nöte der Heiligen an.
Übt Gastfreundschaft.
Segnet, die euch verfolgen; segnet, und verflucht sie nicht.
Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden.
Seid eines Sinnes untereinander.
Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch zu den niedrigen.
Haltet euch nicht selbst für klug.
Amen.
[i] In Mahlers Auferstehungssymphonie (Symphonie No.2) nimmt der mit „Urlicht“ bezeichnete Text aus Achim von Arnims und Clemens Brentanos Volks- und Kunstliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“, den Mahler auch als Lied vertonte, eine entscheidende Stellung ein. In seiner rätselhaften Verdichtung ist das Klage-, Trotz-, Vertrauens- und Hoffnungspotential des religiösen Glaubens eindringlich-einfältig verknüpft:
„O Röschen roth,
Der Mensch liegt in gröster Noth,
Der Mensch liegt in gröster Pein,
Je lieber mögt ich im Himmel seyn.
Da kam ich auf einen breiten Weg,
Da kam ein Engellein und wollt mich abweisen,
Ach nein ich ließ mich nicht abweisen.
Ich bin von Gott, ich will wieder zu Gott,
Der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben,
Wird leuchten mir bis in das ewig selig Leben.“
[ii] Ernst Wiecherts aus dem ostpreußischen Flüchtlingsschicksal schöpfendes Gedicht „Es geht ein Pflüger übers Land“ ist ein Manifest dessen, was wir gegen die machtpolitischen und revanchistischen und menschenfeindlichen Tendenzen der heutigen politisch-gesellschaftlichen Großwetterlage an Einsicht und Ethik bräuchten.
1.So. nach Epiphanias, 12.01.2025, Tersteegenkirche, Josua 3, 5 - 11.17, Jonas Marquardt
Predigt Tersteegen 1.So.n.Trin - 12.I.2025 Predigt als Podcast
Fusionsgottesdienst der Ev. Kirchengemeinde Kaiserswerth-Tersteegen
Josua 3, 5-11.17
Liebe Gemeinde!
So also beginnt das Schlamassel: Die neue Epoche der verbundenen Gemeinde und des vereinigten Presbyteriums beginnt mit der Erinnerung an einen sprichwörtlichen Übergang, der im Volksmund völlig verdreht rüberkommt. „Über’n Jordan“ – ein wenig weiter östlich und noch frömmer als bei uns sagt man „über die Wupper“ – … das heißt für die meisten schlicht: Futsch. Erledigt. Tot. ―
Und tatsächlich wirkt’s wie ein Schlamassel, was die in der Wüste Geborenen, die Mose nicht mehr kennenlernten, sondern nur Josua an der Spitze des verlorenen Haufens der Land-streicher Gottes kannten, über’m Jordan erwartet. Ein Schlamassel bis heute … im Westjordanland, … auf den grünen Hügeln Galiläas, die sich nach Syrien dehnen, … im finstersten Küsten- und Wüstenstreifen der Erde, dem Gaza des Todes.
Wenn die Kinder Israel sich geweigerten hätten, über’n Jordan zu gehen und vielleicht einfach nach Osten geschwenkt und in die viel weniger besiedelten Weiten gezogen wären und dort ohne Gott, aber mit viel Kühnheit und Elon-Musk’schem Größenwahn eine Staatsgründung versucht hätten, dann säße das jüdische Volk heute auf saudischem Öl und wer weiß, wie es Mohammed in Mekka ergangen wäre und was aus dem bodenschatzlosen Palästina geworden wäre, wenn dort keine Religion der Welt die Winke und Wege und Worte des Himmelreichs erlebt hätte …
Wir merken: Echtes Schlamassel entsteht, wenn man das „Was wäre wenn?“-Spiel spielt.
Nicht, als führten Gottes Wege nicht auch in ein Durcheinander, ein Drunter-und-Drüber, ein Dick-und-Dünn der großen und schweren und bitteren Probleme. Das tun sie! … Sie führen uns alle irgendwann auch an und über den Jordan. Weil Gottes Wege eben nicht die „Was wäre wenn?“-Wege, sondern Wege durch die Wirklichkeit sind.
… Und auf den wirklichen Wegen dieser Welt ist nichts so, wie wir es uns zurechtträumen, … sondern halt viel echter!
Da ist das Gelobte Land, an dessen Schwelle die schon x-mal zerfallene und bockige und kalbverrückte, diese demotivierte und widerspenstige und noch gar kein bisschen gefestigte und gefasste und geformte Gemeinde Israels steht, … da ist das Gelobte Land, das vor diesen unfertigen und ratlosen und - wenn der schreckliche Gauland es nicht gesagt hätte, müsste man fast sagen - „gärigen“, brodelnden, von Illusionen und Zynismus zugedröhnten Leuten liegt, … das ist das Gelobte Land (dritter Anlauf!) nicht urlaubsruhig und seelenfriedlich, weder bezugsfertig bequem, noch harmlos heimatlich, sondern dort dampft die ka…naanäische Frage: „Kanaaniter, Hetiter, Hiwiter, Perisiter, Girgaschiter, Amoriter, Jebusiter“ … diese lästigen Menschen alle.
… So lästig wie die Welt der Menschen und die Menschheit der Welt nun einmal ist.
… So lästig, dass Israel sich im Land jenseits des Jordan nicht mit dem eigenen, sondern mit dem Zusammenleben endlos plagen wird, obwohl der lebendige Gott sie doch vor Israel vertreiben wollte. …
Wenn wir aber auf das Vertreiben Gottes achten, dann wird den meisten von uns diese Aufzählung von kleinen Stämmen, diese Völkertafel vermutlich in den Ohren klingen und uns daran erinnern, dass sie offenbar in leicht verwandelter, geschichtlich gut durchgerüttelter Gestalt an einem berühmten Tag alle wieder im Gelobten Land auftauchten: Die Parther und Meder und Elamiter, die Phrygier und Pamphylier (vgl. Apg.2,9f) und Kalkumer und Golzheimer und Lohauser und Stockumer und Wittlaerer und wie sie alle, … wie wir alle heißen.
Gottes Wege schaffen nämlich niemanden aus dem Weg, sondern sie führen hin und her, ein und aus und sammeln die lustigen und lästigen, die verwirrten und verfeindeten, die unlösbaren und doch erlösten Menschenkinder immer neu zusammen.
Keins geht verloren. Wie der Hirt im alten schlesischen Weihnachtlied (i.e. „Was soll das bedeuten?“), so schiebt und lockt und scheucht und trägt Gott Seine Menschen: „Treibt zusammen, treibt zusammen, die Schäflein fürbaß.“
Darum also sind wir heute hier, bei diesem Übergang, an dieser Furt, an der wir hinüber in ein Neues ziehen: Als solche, die Gott zusammenbringt und deren Aufgabe und Zukunftsziel das Zusammenleben sein wird. …Anders hoffentlich, als es jene erwartete, die damals durch den Jordan zogen. … Von vornherein dessen bewusst, dass wir als Gemeinde hier leben und sein dürfen, um die, die um uns herum siedeln, in das große, pfingstliche Ziel einzubeziehen, dass wir alle miteinander merken, dass ein lebendiger Gott unter uns ist.
So verstehen wir gemeinsam ja den Ruf der Gemeinde: Dass sie das Volk ist, in dem das Wunder des Versöhnens, die herrlich-fruchtbare, lästige und zähe, aber doch über alle Verhältnismäßigkeit und Logik hinaus gesegnete Verbindung alles Menschlichen und aller Menschen mit Gott bezeugt, gefeiert und geteilt wird!
Der Tersteegen’sche Urjubel: „Gott ist gegenwärtig“ (vgl. EG 165,1).
Das Fliedner’sche Grundmotiv: „Darum freuet euch in Ihm allewege, und abermals sage ich: Freuet euch“ (vgl.Phil.4,4).
Das von oberhalb des Froschenteichs bis unterhalb der Theodor-Heuss-Brücke entlang des Stroms und aller Straßen, die uns verbinden, zu leben … und zwar so, dass es zur eigentlichen Strömung im Kreislauf unseres Lebensgefühls und zur Ausstrahlung unseres Miteinanders und zur praktischen Erfahrung und seelischen Erbauung und tröstlichen Gewissheit im Dasein ganz vieler in unseren Stadtteilen beiträgt, … das ist der Grund, weshalb wir den Übergang über Schwellen und Grenzen gewählt und gewagt haben, der uns nun nicht das Gelobte Land, sehr wohl aber das geteilte Leben der ehemals getrennten Gemeinden Kaiserswerth und Tersteegen eröffnet. ——
Und damit kehren wir zum Schlamassel zurück, das echte Übergänge immer auch bedeuten: Es sind Mutproben und Häutungen; Aufbrüche ins Risiko und Versuche des Unvertrauten.
Die gepfefferteste und damit unvergesslichste Abreibung meiner Kindheit habe ich mir eingehandelt, als ich das buchstäbliche Stromern hinterm Dorf einmal zu mutwillig trieb. Uns war das Spielen außerhalb des Dorfs in der Gemarkung und im Feld tatsächlich noch frei erlaubt, aber es gab drastische Beschwörungen, was die Gefahren der notdürftig abgedeckten Brunnen in den Wiesen … und den Bach betraf. … Mit nagelneuen Gummistiefeln hielt ich das allerdings für einen überwundenen Aberglauben. Und watete mitten in’s Wasser. Woraufhin ich durch’s ganze Dorf bis zum Pfarrhaus in dessen Mitte begossen und beschämt nachhause humpeln musste, weil der wunderwirkende neue Stiefel einfach im Bachbett eingesunken war und ich das angekündigte und verdiente Ersaufen geschmeckt hatte, als ich mich nur durch irres Strampeln und Ins-Wasser-Fallen und also schließlich unter Aufgabe des tückisch sicherheitversprechenden Schuhwerks an die Böschung retten konnte.
Seitdem weiß ich, dass unsre Übergänge keine Selbstläufer sind … Stiefel hin oder her. Durch den Jordan geht’s sich nicht so einfach.
Doch genau darum ist der für den heutigen Sonntag vorgesehene Abschnitt aus der Bibel, die ja eine einzige große Pilgerreise beschreibt, ein solcher Segen für uns.
Weil dieser Abschnitt aus dem großen Anfangsabenteuer des Buches Josua – denken wir daran, dass Josua der Name Jesus ist! – uns zeigt, was bei allen Übergängen – dem jetzigen, den kommenden, dem letzten! – wirklich trägt und hält:
Mitten im Strom und gegen den Strom und so, dass der Strom stillsteht und uns nicht fortreißt - wie das Osterlied singt (vgl. EG 117,3) - … dort, in der „Flut, wo sonst des Todes Wellen branden“, da wird der Übergang gesichert durch die Lade des Bundes des Herrn der ganzen Erde wie der Bericht in einer hochfeierlichen Formulierung sagt.
Der Herr der ganzen Erde erwartet uns also auch im Jordangraben, dem geologisch tiefsten Gefälle dieser Welt.
Der Herr der ganzen Erde erwartet die Seinen, wo es aufregend und unsicher, wo es uneben und gänzlich unwegsam ist, wo unsere Füße noch nie standen und ein Pfad sich noch nicht zeigte.
Der Herr der ganzen Erde erwartet uns dort, wo die Kinder Israel unter Josua hindurchmussten und wir alle ebenfalls noch die letzte Überquerung unserer gesamten Reise vor uns haben. … Und dennoch liegt sie schon hinter uns.
Das hat die Kirche weltweit ja gerade am letzten Montag, dem Epiphaniastag gefeiert und wir hörten es eben im Evangelium (Matth.3,13-17): Die Herrlichkeit des Herrn zeigt sich dort, wo Jesus in die Tiefe des Jordan hinabsteigt und die Taufe mit uns teilt, … die Taufe, die den Tod durchbricht und dank der Stimme des Vaters, in der Nachfolge des Sohnes im Licht des Heiligen Geistes hinauf ins Leben führt!
Weil wir also aus dieser Jordantiefe als die Gemeinde Jesu tatsächlich schon aufgebrochen sind und tatsächlich das Gelobte Land des Lebens in Gottes Gegenwart vor uns sehen: Deshalb muss uns nun nicht bang sein vor irgendeinem Schlamassel oder den weiteren Stadien des Weges.
… Wir sind über’n Jordan.
Wir ziehen in die Ewigkeit und wollen so viele wir können dorthin mitbringen!
Das ist unser gemeinsamer Weg und aller Welt Ziel!
Und so geht es nun also weiter für unsere Gemeinde: Mit Jesus - dem Josua aller Menschen – und durch Jesus dürfen wir die Gewissheit verbreiten, dass ein lebendiger Gott in unserer Mitte ist und dass Er, der Herr der ganzen Erde uns Seinen Auftrag und Sein Geleit, Seine Verheißung und die Bestimmung in Seinem Reich schenkt.
Das gilt hier und für uns alle, das gilt überall und an jedem Ort bis - wie der Predigttext schließt - alles Volk über den Jordan gekommen sein wird.
Und dann gilt es für immer.
Darum dürfen und wollen wir mit Tersteegen sagen (EG 393,1): „Kommt, Kinder, lasst uns gehen.“
Und mit Fliedners Lieblingsvers bekräftigen (Phil.4,5): „Lasst’s allen Menschen kundsein: Der Herr ist nahe!“
Amen.
05.01.2025, 2.S.n.Weihnachten, 1.Joh 5,11-13, Tersteegenkirche, Horst Gieseler
Gute Vorsätze zum neuen Jahr, das ewige Leben nicht im Jenseits, sondern in der Gegenwart und den ersten Johannesbrief - all das bringt Prädikant Horst Gieseler in seiner heutigen Predigt über 1. Joh. 5, 11-13 zusammen.
Altjahrsabend, 31.12.2024, Stadtkirche, Jesaja 51, 4 - 6, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2024
Jesaja 51, 4 - 6
Liebe Gemeinde!
Was auf uns zukommt, können wir aus dem verstehen, wo wir herkommen.
Anders gesagt: Wenn wir nicht vergessen, wo wir waren, müssen wir nicht fürchten, wo wir sein werden.
Beide Sätze sagen – so inhaltlich unbestimmt sie zunächst scheinen –, dass es heute nicht um Angst gehen kann.
Es wird auch nicht um unsere Sorgen gehen. Sie waren 366 Tage lang ernst und groß und werden es bleiben. … Aber die Kriege und Erschütterungen, die Grausamkeit und der Wahn unserer Zeit, die uns nicht nur äußerlich vor Augen stehen, sondern auch innerlich längst zeichnen, sind keineswegs die Nachrichten, für die wir sie halten. Sie sind vielmehr ein furchtbar durchgängiger Puls der Geschichte. Weil die Menschheit schlicht und ergreifend immer wieder und allüberall durch derartige Leiden und Schmerzen hindurchmusste. Punkt.
„Durch viel Trübsal müssen wir in das Reich Gottes eingehen“, ist einer der ältesten Grund-sätze der paulinischen Missionspredigt (Apg.14,22), den er zuerst den neu gewonnenen Gläubigen auf der türkischen Seenplatte im Taurusgebirge auf die Seele band. … Dort gibt es seit Jahrhunderten keine Christen mehr. Aber wenn sie nicht vergaßen, wo sie herkamen, dann müssen wir gewiss nicht fragen, wo die Schwestern und Brüder aus Pisidien und Pamphylien nun wohl seien.
Wir aber tun darum nun auch nichts Sinnvolles, wenn wir uns beim Rückblick und beim Ausblick auf die Bedrängnisse und Gefahren unserer Gegenwart fixieren. – Wohlgemerkt: Sie sind ernst und ernst zu nehmen. Achselzuckende Gleichgültigkeit, tatenloser Fatalismus sind uns verwehrt, wann immer irgendein anderer Mensch durch unsere Selbstsucht leidet oder durch unsere Hilfe gestützt und bewahrt werden könnte: Wir sollen lieben mit allen unseren Kräften und sämtlichen Mitteln. … Aber eben nicht in Furcht leben!
…Denn die alte persische Inschrift اين نيز بگذرد (īn nīz bogzarad) - „Auch dieses geht vorüber“ gilt für allen Kummer, alle Dunkelheit, allen Terror und Horror ebenso wie für alle Freuden!
Doch gerade wenn wir den Sog der Auflösung, die Kräfte des Verfalls und die zerstörerische Wirklichkeit der Zeit erleben, stellt sich die Frage nach dem, was dem Strudel der Vernichtung trotzt?
Jesaja hat für die aufgeschreckten Seelen seiner Zeitgenossen, die den Untergang alles dessen erfahren hatten, was für sie heimatlich und heilig war, die denkbar knappsten, stärksten Antworten: Was trotzdem und trotz allem unvergänglich ist, was zukunftssicher, was unmittelbar und bleibend ist, das sind die Worte und Maßstäbe Gottes, das sind Sein Heil und Seine Arme … also die geistig-geistliche und die praktische Herrschaft und Hilfe des Höchsten, selbst wenn die irdische Welt in apokalyptisch-plötzlicher Entledigung ihrer selbst vergeht!
Das Verrauchen[i] und die blanke Durchlöcherung der Welt und das massenhafte Sterben der Lebendigen sind schon bei Jesaja keine Bilder oder Metaphern gewesen: Seine Gemeinde in Babylon hatte den Qualm des lichterloh brennenden Tempels und die Staubwolke überm Schutt Jerusalems zeitlebens vor den tränenden Augen, sie hatten am eigenen Leib erfahren, wie nackt man dasteht, wenn die äußerliche Sicherheit unterm Mottenfraß des Unerwarteten verschwindet, und das plötzliche Auslöschen einer ganzen Zivilisation und Kultur im Tod brachte ihnen, den Übriggebliebenen im Exil ein längeres Überlebensleid als den durch Nebukadnezzars Schlächter Dahingerafften.
Wir reden also von Realität und nicht von trüben Stimmungen oder dumpfen Befürchtungen, wenn wir uns das Ziel der Trostbotschaft Jesajas vergegenwärtigen.
Jesaja hübscht und hellt keine schlechte Laune auf. Er spricht die völlig Vernichteten an! Und er versorgt sie nicht mit Parolen, sondern er weckt sie auf zur Wahrnehmung einer ganz anderen, einer ihrem Heute radikal entgegengesetzten Wirklichkeit.
Diese Wirklichkeit hat auch bei Jesaja einen Namen ……. obwohl er das nicht weiß. Er verwendet, um die Lähmung, die Hoffnungslosigkeit und Todesangst seiner Gemeinde zu durchstoßen, das Wort für Freiheit, Lösung und Heil, das am wirkungsvollsten die Rettung der völlig Ausgelieferten bezeichnet: Es ist der Begriff „Jesus“.
„Mein Jesus tritt heraus, mein Jesus kommt hervor“, ist also die Botschaft des HERRN durch den Mund Jesajas. Und sie gipfelt in unserm Predigtabschnitt in der Verheißung: „Mein Jesus bleibt ewiglich und das, was Meine Gerechtigkeit tut und ist, geht nicht unter!“
Dass Jesus hervorkommt und dass Er bleibt: Das und nichts anderes ist demnach die mitten in der Apokalyptik der Welt unerschütterlich gepredigte, beglaubigte, beherzende und behaltene Botschaft, von der wir herkommen.
… Wir kommen ja buchstäblich her von diesem „Mein Jesus kommt heraus“-Fest, das wir Weihnachten nennen. Es war genau vor einer Woche, dass wir es - wie ernsthaft und bewusst auch immer - gefeiert haben. … Doch mit hoher Wahrscheinlichkeit haben wir alle den Fehler gemacht, zu dem alle unsere Feste uns in unserer gegenwärtigen Denkweise verleiten. Wir begehen sie als Jubiläen, als Wiederkehr eines historischen Tages.
Wenn wir zunächst nicht diese am Rückblick haftende Perspektive hätten, würde ja auch die Zählung sinnlos, nach der heute um Mitternacht das 2025. Jahr nach dem Weltgeschichte-machenden Ereignis der Geburt Christi beginnt.
Und trotzdem fragt sich, ob wir der Heilsgeschichte in der geschichtlichen Wirklichkeit der Welt gerecht werden, wenn wir sie historisch auffassen.
Dass es 2024 Jahre seit Christi Geburt sind, ist eine letztlich irrtümliche Verflachung, … eine Verfälschung. Es sind in Wahrheit ja nicht 2024 Jahre seither vergangen, in denen Christus eben nicht zur Welt kam, sondern es waren bisher über zweitausend Jahre, die erfüllt wurden durch seine Geburt!
Was wir mit den Worten von Arno Pötzsch gesungen haben[ii], ist gerade keine irgendwie sentimentale Dauerweihnachtsstimmung, sondern das Bekenntnis, dass wir in einer von Christi Geburt hervorgebrachten, in einer durch Christi Geburt unwiderruflich, weil für immer veränderten Wirklichkeit leben.
In den nüchternen und darin umso sensationelleren Worten des 1.Johannesbriefes (1,2), die die „Mein Jesus tritt hervor“-Botschaft des Jesaja aufgreifen, heißt es da ganz mystisch-unmystisch, ganz real-transzendent einfach: „Das Leben ist erschienen und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist.“
Wenn Christen die Zeit zählen, die Jahre nummerieren und die Übergänge zwischen den entsprechenden Ziffern zelebrieren, ist das also der Bezugspunkt: Wir werden um Mitternacht m.a.W. ein Salut, ein weithin vernehmliches Echo, in Wahrheit wohl aber eine überwiegend ahnungslose Bestätigung von zweitausendundvierundzwanzig Jahren ewigen Lebens an jedem Ort und auf dem ganzen Erdkreis erleben.
… „Das ewige Leben ist erschienen“: Dieses Signal als Schlusspunkt des verstörenden Jahres, das wir verabschieden?! … „Das ewige Leben ist erschienen“: Diese Fanfare als Eröffnung des kritischen Jahres, das uns bevorsteht?! – Das ist eine Zeitrechnung und Wahrnehmung, ein Lebensgefühl und eine Weltanschauung, die nur christlich denkbar und verständlich sein können … wenn sie auch viel weiter wirksam sind.
……. Wirksam wie?
Im Reich Gottes gibt es keinen Datenschutz. – Darum erzähle ich von einer Erfahrung, die zu machen ich im Herbst das Privileg hatte und die mir heute besonders vor Augen steht.
Morgen hätte ich nämlich - trotz grotesken Unvermögens - auf einem hundertsten Geburtstag mit der Jubilarin getanzt, weil ich es versprochen hatte.
Nun tanzt sie mit besseren Tänzern: … Hoffentlich den selben Engeln, die Heinrich Seuse beim seligen Reigen sah, als ihm das wunderbare Weihnachtslied „in dulci iubilo“ eingegeben wurde[iii], das uns dieses Jahr in der Gemeinde auch so traurig-trostreich zum frohen Singen bei einer Beerdigung gebracht hat.
Als die beinah Hundertjährige im Sterben lag, hat sie ihre gespannte Hand immer wieder einmal in meine offengehaltene gelegt. Vielleicht lag es daran, dass ich so deutlich wie noch nie - was ja keinesfalls neu oder überraschend ist - bezeugen kann, was da geschieht: Es war die gleiche, im Herannahen hochkonzentriert erwartete und dann immer wieder naturhaft schmerzliche Macht, die die längst nicht mehr Sprechende oder zur Kommunikation Geneigte da ergriff, die ich als dummer Zuschauer und schwacher Beistand aus dem Kreißsaal kenne. Diese Macht ergriff sie, hielt sie ganz auf das Geschehende gewandt in Atem, zitterte abklingend nach. Es ist das eben ohne jeden Zweifel eine zweite, eine endgültige Geburt, deren Wehen und deren Ziel wie bei derjenigen am Anfang sind: Stark und unheimlich und ungeheuerlich … das Leben bereitend. … Nur dass wir, wenn wir eins dem andern dort die Hand stützen, nicht die Gebärende, sondern das Menschenkind an der Schwelle des beginnenden Lebens berühren. ——
Das ist die tiefe, unauslöschliche, wahrhaftig noch nicht zu Ende gedachte, gebrachte und geglaubte Botschaft, die uns eigentlich prägen müsste: Wir kommen als Christen her von der Geburt des ewigen Lebens, und wir gehen auch unter den Wehen des Sterbens, unter den Schmerzen des Todes immer nur weihnachtlich hinein in dieses ewige Leben!
Wenn wir das ahnen, … wenn wir das nach diesen acht Tagen nicht vergessen, sondern auch morgen und im kommenden Jahr die Zeit erfahren als bestimmt vom Zusammenziehen und Pressen, von den vorbereitenden und begleitenden Nöten eines Durchgangs in das, was Jesaja verkündet – „Mein Jesus, Meine lebenermöglichende Gerechtigkeit bleibt für immer“ –, … wenn wir das nicht vergessen, sondern so erfahren, dann müssen wir uns vor dem, was kommt, vor der Zukunft und ihrem Ziel gewiss nicht fürchten!
Der in seinem Anstand und seiner tiefen Frömmigkeit rührende hundertjährige ehemalige Präsident der USA, Jimmy Carter[iv], der am vorgestrigen Sonntag verstarb, hat das in jeder seiner Friedensmissionen, in seinem weltweiten Hausbau-Projekt für die Bedürftigen - “Habitat for Humanity” - und schon in seiner Amtszeit, in der er den Materialismus zugunsten der Sehnsucht nach wirklichem Sinn infrage stellte, veranschaulicht: Christen, die wissen, wo sie herkommen, haben keine Sorge, was das Ziel ihres Daseins betrifft.
In seinen bis zur Erschöpfung aller Kräfte durchgehaltenen Sonntagsschulstunden aber hat Carter das so schlicht, wie man es nur sagen kann, immer wieder ausgesprochen:
“… (M)y Christian faith includes complete confidence in life after death. So I’m going to live again after I die – don’t know what form I’ll take or anything like that, but I have confidence that there is a God and he’s all powerful. That he keeps his promises and that his promise is life after death.”[v]
Eine andere christliche Altjahrs- oder Neujahrsbotschaft, eine andere Alltags- oder Weihnachtsbotschaft, einen anderen Grund des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe gibt es nicht: Das Leben ist erschienen! Dort kommen wir her, wenn wir von der Krippe kommen, und dort gehen wir hin, wenn wir das Irdische verlassen und durch alle Wehen und Trübsale dieser Zeit den Himmel erreichen.
Nicht umsonst singen wir das Jahr für Jahr mit den Worten eines Mannes aus der Todeszelle. Dietrich Bonhoeffer, dessen robuste Zuversicht auch das Wunder des zeitlichen Überlebens nicht ausschloss, wusste doch genau, was er vor 80 Jahren seiner Mutter zu ihrem gestrigen Geburtstag und seiner Braut für die in ratloser Offenheit liegende Zukunft schrieb.
Eine Zuversicht beschreibt der zum Tode verurteilte Bonhoeffer in seinem vermächtnishaften Gedicht, die voller Geburtsmotive ist:
Mit den Mächten, die treu und still umgeben, behüten und trösten zitiert er ja geradezu Paul Gerhardts Gesang zum Jahreswechsel (EG 58,4): „Denn wie von treuen Müttern / … die Kindlein hier auf Erden / mit Fleiß bewahret werden“
Geborgenheit wie bei und in der Mutter ist also das Grundmotiv des ersten und des letzten Verses, und doch verharrt der Christenmensch in seiner Anfechtung und seiner Hoffnung nicht darin – wie wir uns gern in der Sicherheit und Sorgenfreiheit eingerichtet hätten –, sondern er glaubt und wagt sich zuversichtlich durch alle Qual zu seiner Bestimmung, durch alle Bitterkeit zum Licht der Sonne, durch alles Einander-auch-Verlieren-Müssen zur Gewissheit der Gegenwart Gottes auch in der Nacht durch.
Und dann mündet das Lied in jenem „kinderhohen“ Lobgesang, den das neue Leben wie ein Säugling von sich gibt, weil Gott in aller Erwartung und erst recht nach aller Erwartung bei uns ist … gut biblisch: „am Abend und am Morgen“ … und dann an jenem Lebenstag, mit dem das Lied …, nun: „endet“ kann man ja nicht sagen, sondern vielmehr ewig wird.
Das waren ja Bonhoeffers Worte im Augenblick der Hinrichtung: „Dies ist das Ende, für mich der Beginn des Lebens“[vi]. ——
Und das ist es – jetzt, nach Weihnachten, … jetzt an der Schwelle eines neuen Jahres voll der Wirklichkeit der ewigen Geburt –, … das ist es, wo wir alle herkommen und was auf uns alle zukommt: Das in Jesus erschienene Leben!
Denn wie Jesaja es im Namen des HERRN als Verheißung über alle Generationen ausspricht (vgl. Jes.51, 8): „Mein Jesus bleibt ewiglich!“
Amen.
[i] Wunderbar übersetzen Buber und Rosenzweig: „Rauchgleich verfledern die Himmel, / gewandgleich muß die Erde zerfasern, / einem Mückenschwarm gleich müssen ihre Insassen sterben …“.
[ii] Im Gottesdienst wurden als Rahmung der Epistel des Sonntags nach Weihnachten – 1.Johannes 1, 1 – 4 – zwei herbe Weihnachtslieder von Arno Pötzsch gesungen, Besonders dem zweiten – „Wir hielten an der Krippe Rast“ – verdankt die Predigt ihr Grundmotiv. Darin heißt es: „So beugt sich’s schon jahrtausendlang / beschwert zur Krippe nieder, / und immer ward zum Heil der Gang, / gesegnet immer wieder. // Hier gibt Gott Ende und Beginn / von einem Jahr zum andern: / Von Weihnacht her auf Weihnacht hin / ist gottgetrostes Wandern.“ Zitiert aus: Arno Pötzsch, Mensch in Gottes Fährte, Geistliche Gedichte und Lieder, Hamburg-Bergstedt 19614, S.66.
[iii] In Heinrich Seuses (ca.1297 - 1366) Lebensbeschreibung wird eine Vision geschildert, in der Seuse in den Tanz der Engel einbezogen wird, die ihm sagen: „… er sollte seine Leiden aus den Sinnen schlagen und ihnen Gesellschaft leisten, und er müßte auch himmlisch tanzen mit ihnen. Sie zogen den Diener (i.e. Heinrich Seuse) bei der Hand zum Tanz, und der Jüngling (i.e. der Deuteengel der Vision) fing ein fröhliches Gesänglein an von dem Kinde Jesus, das lautet also: in dulci iubilo usw.“ (Heinrich Seuses Deutsche Schriften [hgg. v. Walter Lehmann], Erster Band, Jena 1922, S.19)
[iv] Vgl. dazu https://www.nytimes.com/interactive/2024/12/30/us/carter-on-death.html?smid=nytcore-android-share
[v] https://www.eternitynews.com.au/good-news/fragile-in-body-jimmy-carter-confident-about-living-after-death/
[vi] Vgl. die Schilderung von Payne Best, zitiert nach: Ferdinand Schlingensiepen, Dietrich Bonhoeffer 1906 – 1945: Eine Biographie, München 2005, S.390.
2. Christtag, 26.12.2024, Tersteegenkirche, Weihnachtsjeschicht op Rheinisch / Weihnachtssymbolik
Eine schöne Tradition am zweiten Weihnachtsfeiertag ist es in der Tersteegenkirche, dass Christa Busch die Weihnachtsgeschichte im besten Düsseldorfer Platt vorträgt. Diesmal gibt sie sogar noch eine Zugabe: "Dä rösige Christbaum". Beide Geschichten stammen aus der Feder der Düsseldorfer Mundart-Botschafterin Monika Voss. Die beiden Geschichten darf man aber auch gerne nach immer wieder Weihnachten hören :-)
(Weihnachtsgeschichten: Monika Voss (Autorin), Christa Busch (Erzählerin).
Diese Geschichte gibt es für die Ohren, auf dem Podcastkanal der Tersteegenkirche:
Weihnachtssymbolik: Woher stammt der Adventskranz? Was hat es mit dem Christstollen und den Spekulatius auf sich? Wer waren die Heiligen Drei Könige, und warum brachten sie ausgerechnet Gold, Weihrauch und Myrrhe als Geschenke mit? Hätten Sie das alles gewusst? Nicht? In der (heute etwas ungewöhnlichen) Predigt von Pfarrer Jürgen Hoffmann werden Sie es erfahren. Hören Sie doch mal rein:
1.Christtag, 25.12.2024, Stadtkirche, Johannes 1, 1-5.9-14, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Christtag 2024
Johannes 1,1-5.9-14
Liebe Gemeinde!
Dass der Prolog, also das ouvertürenartige Vor-Wort des Johannesevangeliums einer der größten Texte der Menschheit ist, bleibt bei aller Vertrautheit und allem Abstand spürbar auch noch heute. Und dass sich im ersten Satz dieser weihnachtlichen Meditation über sein Mysterium gleich drei hochkomplexe Stichwort aus der literarischen, der musikalischen und der medialen Theorie finden – nämlich Prolog, Ouvertüre und Text –…, das zeigt an, dass wir es dabei mit einer Mitteilung zu tun haben, die höchste Aufmerksamkeit, tiefste Konzentration und weiteste Verständnisbewegungen erfordert.
Um dem Johannesprolog nicht oberflächlich zu begegnen, müssten wir alle vielleicht wirklich beim Hören knien, wie es in der Messe traditionell war, oder wir müssten uns lange ins Schweigen versenken, wie es die Überlieferung als die typische Haltung des Evangelisten Johannes auf Ikonen zeigt, die ihn darstellen.
… Ungestörte Innerlichkeit. … Gesammelte Reflektion. … Jenes stille Geschehen des Betens, der Erleuchtung und der Erkenntnis: So könnte sich das Wunder des göttlichen Wortes in Seiner auf diese Welt zielenden Selbstkundgabe und Seiner innermenschlichen Verwirklichung nachvollziehen lassen.
Doch der uralte Brauch, diesen unergründlichsten Abschnitt der Bibel ausgerechnet am Weihnachtsmorgen lesen und deuten zu lassen, hat eine völlig andere Bewegung und Begegnung im Blick. Die tonlose Ruhe und spirituelle Schwingung einer Beschäftigung mit dem Schöpfungswort in Seiner Einkehr in die Schöpfung selbst kann anderswo und anderweitig geschehen: Wenn wir den kosmischen Beginn des Johannes-Evangeliums hier und jetzt vernehmen, dann sind ganz andere Nebengeräusche und Lautmalerei die eigentliche Partitur dessen, was da mit Worten vom Wort, mit Zeichen vom Leben und in jahrhundertelang geübter Wiederholung vom nun Gegenwärtigen gesagt wird.
Denn wenn Weihnachten ist, dann klingt die Luft und pulsiert der Geist vor irdischer Direktheit:
Da summt im Hintergrund eine zum Bersten volle kleine Stadt, in der sich dank eines römischen Steuerzensus viele wiedersehen, die sich voneinander entfernt hatten. Es schwirren Begrüßungen und Befürchtungen in der Bevölkerung, die nicht ahnt, was die Menschen-Mathematik des Augustus für eine Absicht verrät. Es wird gerufen, geküsst und geschwätzt. Gestritten wird auch. Und gelacht. Hufgetrappel, knarrende Türangeln, die Geräuschkulisse der Tierwelt, die das Leben der Menschheit fast immer und überall ständig untermalt.
Es geht ein Wind, es prasseln die Feuer zum Backen des täglichen Brotes. Sie beten. Die Römer bellen Befehle. Die Steine von Bethlehem geben das unmerkliche Schmirgelgeräusch ab, das man mit menschlichen Sinnen gar nicht wahrnimmt: Der Zahn der Zeit nagt an ihnen, damals wie heute. Uralter Fels wird leise seufzend in jeder Mauer, auf allen Straßen und Flächen wieder zu Staub.
Das kakophone Lied des Lebens, das nie verstummt, ist in seiner ganzen Nebensächlichkeit und Zufälligkeit in schönstem Konzert begriffen. Alles blökt, scheppert und pocht: Was immer es an menschlichem, tierischem, organischem Leben nur gibt, das setzt seine Melodie fort, die begann, als das Wort, das im Anfang war, das Wort, das Gott ist, zum allerersten Mal sprach.
Denn auch wenn wir geneigt sein mögen, uns in hochfeierlicher Andacht und Stille zu vergegenwärtigen, was der Evangelist von der geheimnisvollen Durchdringung der Realität durch den Logos, durch das sinnstiftende und wahrheitweckende Wort sagt, so ist die Wirklichkeit, um die es dabei von der ersten Seite der Bibel und dem ersten Buchstaben des Evangeliums an geht, nichts Hochgeistiges – nichts Abgehobenes, wie wir so anschaulich sagen –, sondern eben völlig irdisch.
Vogelsang und Donnerwetter, Meeresbrandung und Atemgeschnauf: Sie sind der Klangteppich, den das Wort Gottes in der Schöpfung webt.
Die zart-geflüsterten und die störenden Knirschlaute des Mit- und Gegeneinanders aller Wesen entstammen dem gleichen, großen, unendlichen, mystischen Aufruf zum Dasein, mit dem Johannes seine Schau der Wahrheit beginnt.
Und doch – obwohl wir uns die Echovielfalt, den Variantenreichtum, die unbegrenzten Ober- und Untertöne nicht im entferntesten ausmalen können, die das Wort hervorruft – … und doch war eine in aller dieser Vielstimmigkeit kaum auffallende Leerstelle in den Lebensäußerungen der sämtlichen Geschöpfe Gottes.
… Eine Stimmzeile in der Symphonie des Weltalls ist bis Weihnachten mit anhaltendem Pausenzeichen durchzogen gewesen.
Die Dinge und die Kreaturen, ja selbst die Engel und die Menschen sind erfüllt und belebt von wundervollem und weiterwellendem Echo auf das unnachahmliche, unwiederholbare und deshalb auch unendliche Wort, das Gott spricht. Dieses Wort, das der Welt Gestalt gibt, findet Gehör und Gehorsam, und um es herum bauen sich die Harmonien und auch die Dissonanzen auf, die der Ur- und Grundklang, aus Dem alles andere folgt, in Sich trägt und miterzeugt:
- „Heilig! Heilig! Heilig!“ tönt es durch alle Äonen in sämtlichen Sphären des Himmels und der Tiefe.
- „Danket dem HERRN, denn Er ist freundlich und Seine Güte währet ewiglich“, beten die Auserwählten in Einem fort, seit das Wort Sich besondere Zeugen berufen und in Abraham und Israel Seine Bekenner mit dem Auftrag zu tätigem Lob und praktischer Treue betraut hat.
Aber in alledem ist das Wort das Wort geblieben: Auch im Vertrauen, das Abraham Ihm entgegenbringt, auch in der Lehre und Weisung, mit der Mose das Leben Israels und die Moral der Welt am Wort und dem Wort gemäß ausrichtet.
Das Wort ist das Wort geblieben. …….
… Wie sollte es auch nicht?
… Wer sollte dieses Wort denn noch einmal anders sprechen, als Es Sich Selbst aussagt und auslegt?!!!
… Wer dürfte es wagen, sich selber das Wort anzueignen, Dem sich doch alles ganz und gar verdankt?!!!
… Wer sollte dem Gotteswort, Das wirksame Tat ist, gleichlautend in solcher Wirksamkeit begegnen dürfen?!!!
Man wird also sagen müssen: Das Wort hat wohl getan, wozu es ausgegangen ist.
Und doch lässt sich noch immer fragen, ob sich wirklich erfüllt hat, was der Prophet Jesaja (55,12) als Gottes Verheißung über das eigene Wort kündet: „Der HERR spricht: Das Wort, das aus meinem Munde geht, soll nicht wieder leer zu mir zurückkomme, sondern wird tun, was mir gefällt und ihm wird gelingen, wozu ich es sende“?!!!
Das Wort hat wahrhaftig gewirkt. … Aber es ist das Wort geblieben.
… Es hat noch nicht gefunden, was jedes wirkliche Wort sucht und wodurch auch ein noch so ursprüngliches Wort verwandelt wird, weil es ja noch mehr zu sich kommt, wenn etwas ihm entspricht, das anders als es selbst ist: Eine Ant-Wort nämlich! ———
Das einzigartige und unverwechselbare Wort, das Wort, das nur Es Selber ist, von Dem der Prolog des Johannesevangeliums so eindringlich spricht, Es wird ja im selben Prolog tatsächlich noch zu mehr als Es Selber!
– Wodurch?
– Dadurch, dass jemand Ihm antwortet!
Und durch diese Antwort eines anderen wird das Wort zwar nicht anders, aber eben ein beantwortetes und dadurch ein zur Erfüllung verwandeltes Wort, … ein Wort, das nicht mehr leer zurückkehrt, sondern in Gestalt der fruchtbaren Verbindung von Wort und Antwort.
Das mag nun zwar nach Wortspielerei klingen.
Doch es ist weitaus mehr.
Es ist die im Johannesprolog bloß vorausgesetzte, aber nicht aufgedeckte Szene, wie aus dem reinen, alleinigen Wort Fleisch werden konnte.
Dazu ist es biblisch hilfreich, sich zu überlegen, was mit „DAS Wort / ὅ λόγος“ eigentlich gemeint sein muss, wenn wir es nicht nur abstrakt philosophisch als ein Instrument verstehen sollen, das zugleich Bedeutungsträger und Deutungswerkzeug ist.
DAS biblische Wort schlechthin – so drängt es sich ja auf – ist nicht ein intellektueller Allgemeinplatz, sondern das vollkommen individuelle Offenbarungsgeheimnis, dass Gott so heißt, wie Er handelt, dass Sein Tun und Sein Name eins sind und dass Wesen, Wort und Wille Gottes eine geistig-praktisch-emotionale Gesamtheit darstellen, die sich nicht in verbale oder nominale Anteile, nicht in äußerlich aktive gegenüber innerlich unveränderlichen Merkmalen aufgliedern lässt.
Das eine Wort, Das ganz Gott, Das Gott ganz ist, ist ein Name und ein allumfassender Verbalsatz. Es ist die berühmte Offenbarung aus dem brennenden Dornbusch (vgl. 2.Mose3,14):
„ICH BIN, DER ICH BIN. ICH WERDE SEIN, DER ICH SEIN WERDE.“
Und dieses schöpferische Wort, in dem Gott ganz ist, … dieses schöpferische Wort, Das ganz Gott ist und Das im Anfang als das große und nie-endende „Es werde“ die Welt ins Dasein rief, … dieses Wort, Das als der unaussprechliche, aber überall wahre und wirkende Name die Gegenwart Gottes als Trost und Verheißung für jeden Augenblick schafft und besiegelt und Das in der Lautflaute der Wüste im Prasseln des brennenden Dornbuschs zuerst dem Mose offenbart wurde, … dieses Namenwort, Schöpfungswort, Gotteswort hat an einer ganz anderen Stelle Seine Antwort gefunden:
In den dörflichen Alltagsgeräuschen einer Siedlung, wo alles gluckert und klopft, wo die Werkzeuge dumpf und das Brunnenseil quietschend den Tag rhythmisieren, unterm Blöken der Herden und dem Patschen nackter Kinderfüße, unter dem Klappern des Webstuhls, dem Sausen des Abendwindes um die Ecken, unter den Liedern, die von hier oder dort vielleicht durch die Dämmerung wehten oder unter den viel derberen Geräuschen, wenn das Dorf im Schein der kleinen Öllampen bei der Vesper schmatzt und die Läden vor die Fenster setzt und seinen Trieben nachgeht … mitten in dieser kakophonen, aber von Gott gewollten und gesegneten Melodie des Geschöpflichen hat eine junge Stimme „DAS Wort“ beantwortet.
Sie war überraschend begrüßt worden. Und eine Schöpfung – viel kleiner als die Genesis, aber doch der Beginn einer neuen, einer unendlichen Welt, in der alles und alle das Leben ewig erfahren sollten –, … eine Schöpfung also war ihr angesagt worden. … Eine winzige Schöpfung, die endgültige Rettung, … ein Anfang, der Ewigkeit sein könnte.
Und da nahm sie - nach kurzem Zögern - Den Namen, Der alles hervorruft, selbst in den Mund, … als sei sie der Dornbusch, den Feuer nicht verzehren, als sei sie der Hohepriester, den Heiligkeit nicht erschlagen kann[i].
Sie nahm das Wort in den Mund und nahm mit ihrer gleichlautenden Antwort Das Wort in sich auf, um es lebensschöpferisch in sich zu erden, einzufleischen, einzumenschen.
Der Grüßende hatte ihr gesagt: Es soll ein Neues von Dir geboren werden.
Und sie antwortete: „Es werde!“
Und so wurde aus Gottes Wort und Marias Antwort Weihnachten.
Das geschah an einem Frühlingstag, der noch im 18.Jahrhundert in manchen europäischen Kalendern als der Neujahrstag gefeiert wurde, weil der Beginn, der sich diesem Geschehen von schöpferischer Anrede und Menschenantwort verdankt, universal, ja kosmisch ist.
Heute nun feiern wir, was die fruchtbare Verbindung von Gottes „Es werde!“-Wort und Marias „Es geschehe!“-Antwort ermöglicht hat:
Dass nämlich Menschen – alle Menschen, ohne Festlegung, ohne biologische oder moralische oder kulturelle Bedingtheiten und Beschränkungen – ihrerseits zu Kindern Gottes, zu Brüdern und Schwestern Jesu und damit ja auch zu Angehörigen derer werden können, die an seinen Namen so glaubte, dass sie ihr eigenes Leben ganz mit Ihm verband.
Wo wir Gott also weihnachtlich aufnehmen in dieser gott- und menschenfeindlich werdenden Welt, da geschieht das, wovon der Johannesprolog spricht: Das Ende der Anti-Schöpfungs-Feindschaft und das Aufgehen des viel zu lange verdunkelten Lichtes, das in jedem Leben den göttlichen Ursprung, die Wirkung des Wortes und die Verbindung aller Wesen in Gott erkennen lässt.
Das ist die Macht, die uns und allen gegeben ist, Gottes Kinder zu werden, die an Seinen Namen glauben und mit ihm einswerden wollen wie Maria.
Wenn Weihnachten uns mit dem Kind selbst in den evangelischen Liedern und Bildern und Bräuchen und Betrachtungen auch die Mutter dieses Kindes nahebringt, dann ist das kein Relikt aus der vorreformatorischen Kindheit der Kirche und auch nicht nur ein begrüßenswertes ökumenisches Zeichen, weil ja doch sämtliche Christen außerhalb der reformatorisch-en Konfessionsfamilie ein ungebrochenes Verhältnis zu Jesu Mutter pflegen, sondern es ist die Bestätigung dessen, was der Johannesprolog sagt: Dass das Wort Fleisch werden und wir Gottes Kinder werden können, geschah zwar nicht nach einem fremden Willen, doch eben auch nicht ohne einen Menschen … und es geschieht auch heute nicht ohne uns Menschen.
Wir dürfen Antwort geben!
Und wo wir antworten, … wo wir „Ja“ sagen, … wo wir bekennen, dass es geworden ist, wie es wurde, dass es sein soll, wie es ist, und dass es werden wird, wie es zu werden hat, da geschieht hier und jetzt das Wunder des fleischgewordenen Wortes, das in Jesus unter uns wohnt: Da erkennen wir seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eigeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit!
So sei es!
Es geschehe!
Amen.
[i] Die theologisch längst fällige Grunderkenntnis hinter dieser Predigt verdankt sich einem Zufallsfund in einem vergessenen Roman eines leider ebenso vergessenen Dichters; Charles Williams, ein Freund und Geistesgenossen der großen, phantastischen, christlichen Literaten J.R.R. Tolkien und C.S. Lewis. Williams’ letzter, 1945 erschienener Roman „All Hallows‘ Eve“ thematisiert als erstes Werk der englischen Sprache die Erfahrung von Hitlers 3.Reich und der Schoah: Ambivalent und problematisch aus unserer heutigen Sicht, aber immerhin hellsichtig für einen unmittelbaren und durch die Zugehörigkeit zur Gegenseite „unbelasteten“ Zeitgenossen. Williams schreibt dort: „It had been a Jewish girl, who at the command of the Voice which sounded in her ears, in her heart, along her blood, and through the central cells of her body, had uttered everywhere in herself the perfect Tetragrammaton. What the high priest vicariously spoke among the secluded mysteries of the Temple, she substantially pronounced to God. Redeemed from all division in herself, whole and identical in body and soul and spirit, she uttered the Word and the Word became flesh in her” (Charles Williams, All Hallows’ Eve, London 19473, S.59).
Christvesper, 24.12.2024, Stadtkirche, Jesaja 9, 1 - 6, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christvesper 2024
Jesaja 9, 1 - 6
Liebe Gemeinde!
Die alte gutbürgerliche Regel vornehmer Diskretion greift am Heiligen Abend nicht.
Früher galt’s allgemein noch als selbstverständlich, dass Erwachsene etwas Geheimes oder Fragwürdiges, … dass sie das Anzügliche und Aggressive, … ja, alles, was hässlich oder kaputt ist oder böse und belastend nicht den Unerfahrenen, nicht den Unmündigen zumuteten. „Pas devant les enfants“ war dafür das dezente Signalwort oder auch „Pas devant les domestiques“: „Psst! Nicht vor den Kindern! Nicht vor den Dienstboten!“
Das hat die Kinder aus der Welt der Buddenbrooks sträflich naiv gelassen, es hat sie zur Weißglut gereizt oder zu hellhörigen Deutern des Schweigens und verborgener Nuancen gebildet.
Aber ehrlichgesagt ist solche verklemmte, verdruckste Umschreibung oder Verhüllung der Wirklichkeit im Begriff zurückzukehren an die Tische und in die Gesellschaft unserer Zeit. …
Zu viel Dunkles und Verstörendes liegt in der Luft, zu viel Zündstoff und zu viel Furcht, um nicht ab und zu zum alten Mittel des Verschweigens zu greifen: „Komm, an diesem Fest erwähnen wir keine Sorgen von morgen. Psst, heut tun wir so, als wär’ der Himmel heiter. Wir wollen den Kindern doch nicht einreden, sie seien das finale Geschlecht. Lasst uns lieber die Flucht in die Sonne buchen. Und andere Fliehkräfte, eine andere Flüchtigkeit, einen anderen Fluch gibt’s für uns nicht. … Es ist doch Weihnachten! … Wohlsein!“ ——
So mag es nachher an der Tafel und am Baum vielleicht klingen. … In Gottes Namen: Der Kinder wegen! ——
Aber hier muss es nun anders zugehen. … Des Kindes wegen, das uns in Gottes Namen jetzt begegnet!
Dieses Kind – „holder Knabe“, „herzes Jesulein“ – … dieses Kind ist Das Eine Kind, Das es nicht zu schonen gilt, … wenn wir’s denn begreifen, Wer Es ist! Diesem Kind gegenüber altklug zu tun und auszuwählen, was es mitkriegen soll und was nicht, ist das Kindischste, was wir uns selbst vormachen könnten! Diesem Kind die Welt nur durch den Filter unsres eigenen Gutdünkens nahezubringen, hieße wahrhaftig die Sonne vorm Licht, das Feuer vor der Hitze und das Meer vorm Wasser schützen zu wollen!
Dieses Kind, Das uns geboren ist, dieser Mensch der Zukunft, Der uns da gegeben ist: Wie könnten wir Den wohl für dumm verkaufen? Wie könnten wir Ihn in Watte packen, Der in die Welt und ihre lumpigen Windeln kam, weil Er den weich gewölbten Himmel willentlich und wissentlich gegen das harte, hölzerne, kreuzförmige Gerüst der Erde eintauschte?
Diesem Kind ist wirklich ganz und gar nicht geholfen, wenn wir meinen sollten, Ihm durch Hinters-Licht-Führen zu helfen: Es Selbst ist ja das Licht, das alles Verborgene sehen lässt; Es ist die Wahrheit, die wir über die Welt und in der Welt nicht gut ertragen können; und die Freiheit ist es auch, denn dieses Kind hat – anders als wir alle und erst recht als die, die von der neuerlichen Abtreibungsdebatte überhaupt nicht mehr als Menschenkinder gesehen werden – bewusst das Geborenwerden und das Abenteuer und die Gefährdung, die damit einhergehen, erwählt.
Ein Kind, das ganz ausdrücklich leben will, ist da mithin zur todgeweihten, selbstzerstörungsbesoffenen Welt gekommen, um durch Sein Leben und Sein Sterben das sinnlose Sterben und das dito Leben der gesamten Menschheit radikal zu verändern!
Wenn wir Dem also nicht erzählen, was unsere Sorge ist, … wenn wir Ihm eine heile Welt vorspielen, während die Schöpfung wie Kerzenwachs in der Flamme zerrinnt, … wenn wir Ihm verschweigen, was uns jeweils und was uns alle miteinander fertig macht, dann machen alle unsere Lügen, Behauptungen und Beschönigungen die von Ihm längst bejahte Krippe nur härter und Sein Kreuz nur schwerer!
Darum: Keine Geheimnistuerei vor diesem Kind!
Wir können Ihm ruhig mit unsrer Überforderung kommen. Denn es heißt „Wunder-Rat“!
Wir müssen nicht den Schein der Souveränität wahren, wenn uns gelegentlich geradezu Panik anfällt: Man nennt nicht umsonst Dieses Kind und nicht etwa uns den „Gott-Helden“!
Unser natürlichster Zustand und unsere albernste Angst - die Blöße - ist vor Ihm genauso wenig peinlich wie vor unsern Eltern, als wir klein waren: Der Name „Ewig-Vater“ drückt es ja aus, dass Sein Bewusstsein weiter zurückreicht als unser ganzes Selbst- wie Schambewusstsein.
Und schließlich müssen wir nicht nur unser eigenes Suchen, unser Erschrecken und unsere Schuld vor diesem Kind nicht verhüllen, sondern auch die abgründigen Konflikte, Krisen und Kriege, die uns in den Erwachsenen-Gesprächen, in den politischen Debatten und den Experten-Urteilen gegenwärtig so umtreiben, können und müssen wir von dem neuen Menschenleben, das heute gefeiert wird, nicht fernhalten: „Friede-Fürst“ steht über seiner Krippe.
Dies Kind ist hier, weil die Welt in Gewalt versinkt!
… Machen wir uns, machen wir Ihm also nichts vor.
Heute abend heißt es von allen unseren Schwierigkeiten, Bedrohungen und Schwächen eben nicht „Pas devant les enfants“, sondern im Gegenteil: „Tout devant cet enfant!“
So haben die Christen immer Weihnachten gefeiert.
So feiern wir es heute auch: Das unerträglich Schwere, das trostlos Trübe, das aussichtslos Verwirrende, die übermächtige Gefahr, … das alles sagen wir einem Kinde! In vollem Ernst. In strahlender Erleichterung. In einer Freude, die Erde und Himmel ergreift und Menschen- und Engelzungen jubeln und schnalzen lässt. „Halleluja! Das Kind, der Retter ist da!“ ——
Und die Welt muss lachen.
… Aber nicht weihnachtlich.
Sondern wie die Welt eben lacht. Welterfahren. Müde. Hohl und klug und falsch. Denn ein Baby als Berater, ein Säugling, der das Sagen hat, ein Kind als König ist schlicht Unfug. Das lehrt der Blick in die Geschichte. Minderjährige und Unmündige, denen Verantwortung zufällt, sind immer wieder Spielbälle und Opfer, Marionetten oder spätere Rächer ihres verkorksten Urtraumas geworden … wie unser Kaiser Heinrich IV., der hier in Kaiserswerth um seine Kindheit betrogen wurde.
Die Welt weiß, dass ein Kind kein Helfer ist.
Der Verstand weiß es auch. Selbst unser Instinkt – und wenn er noch so weihnachtlich geprägt, durchkitscht und überzuckert ist –, … selbst unser Instinkt weiß, dass da etwas nicht stimmt, wo alle Hoffnung und Erwartung und unter ihrer Maske und in ihren Falten alle Enttäuschung und Verzweiflung sich auf ein Kind fixieren.
Das aber ist das weihnachtliche, … genauer gesagt: das christliche Dilemma.
Christentum und Weihnachten sind trotz aller unsere Gewöhnung daran und trotz aller unserer winterspeckträgen Gedankenlosigkeit direkte Angriffe auf grundlegende Instinkte, auf fundamentale Selbstverständlichkeiten und ehrwürdige Gedankengebäude dieser Welt.
Was Weihnachten und Christentum aber am allermeisten in Frage stellen, ist die herkömmliche Theologie, … die unreflektierte genauso wie die durchgeistigte.
Denn die Grundlage alles Gottesdenkens beruht letztlich auf zwei Pfeilern: Unendlichkeit und Allmacht. Gott – so denkt man ihn sich – ist von Ewigkeit her und auf Ewigkeit hin und seinen Möglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt.
Und da stehen wir jetzt mitten unter den großen Göttern des Olymp und der Akropolis, … mitten unter den großen, auf ihre Weise frommen Denkmälern des Göttlichen, die von Aristoteles bis Leibniz errichtet wurden und mitten unter den Gottesüberwindern Marx und Nietzsche und Freud, deren geistiger Triumph über die Religion doch davon zehrte, die behaupteten Übermaße, die Hypertrophie aller Gottes-Mythen als Projektion und Trug entlarvt zu haben. … Da stehen wir mitten unter den Bilderbüchern vom flauschbärtigen Alleskönner auf einer Wolke und mitten unter den eigenen Illusionen von einem Wunscherfüllungsversprechen namens „Übervater-unser“, … da stehen wir mit dem Evangelisten Jesaja und dem Propheten Lukas, hier in der Heiligen Nacht von Bethlehem und Magdeburg und Gaza und Kiew und uns ist ein Kind anvertraut, ein Sohn ist uns gegeben, in dessen winziger durstiger, zitternder Nacktheit in den Windeln wir den Vater, ja Gott selbst begrüßen und bekennen und beruhigen und beschützen sollen!? …
Und unmittelbar kann man verstehen, wieso die Griechen und die Römer in den Christen tatsächlich Gottesleugner, Atheisten sahen und das Judentum eine Blasphemie, eine Gotteslästerung in uns wittert.
Unser Gott ist klein und kraftlos. Er friert. Braucht Milch und Luft und eine Wärmequelle, um nicht morgen früh schon Geschichte zu sein.
… Tatsächlich eine schöne Bescherung!
Vielleicht sagt man das daheim den Kindern und den kindlichen Gemütern tatsächlich besser nicht, dass Weihnachten fast nur schöne Verpackung und magerster Ertrag ist. … Es ist ja wirklich fast gar nichts dran an diesem Gott. Leicht zu übersehen. Letztlich fast ohne Gewicht. „Mon Dieu: Une quantité négligeable?“ …… „Oh là là! Pas devant les enfants!“ ———
Damit aber kommt’s Weihnachten alle Jahre wieder zum Schwur:
Entweder wir bleiben bei den immer großartiger gewordenen Windeln, dem Tüll und stofflichen Drumherum, der Verhüllung also und setzen das, was darin liegt, der Kälte aus wie ein römischer Pater familias einen unwillkommenen Säugling. … Oder wir tun das, womit ich begonnen habe und nicht nur gleich die Predigt, sondern zuletzt auch mein Leben zu beschließen hoffe: … Oder wir wagen uns an das Vertrauen!
Denn bei keinem Kind der Erde geht es um weniger als das. Jedes einzige Kind unter dem Himmel bedarf dessen, dass es Solchen in die Arme und ans Herz gelegt ist, die es wagen, für dieses Kind die Zukunft offenzuhalten!
Kein Kind der Sterblichen sollte nach unserer vermutlich geteilten Überzeugung am Beginn seines Weges in reinen Zweifel gestoßen werden, sondern von einer Liebe empfangen und begleitet sein, die dem Kind und dem Kommenden Gutes zutraut!
Das aber ist die Geschichte von Weihnachten und die Geschichte des Christentums in ihrer reinsten Form und ihrem segensvollsten Futur: Ein Abschied von den Wahnvorstellungen der Omnipotenz und ein liebendes, glühend liebendes Vertrauen darauf, dass Gott im Kind, dass Gott in Jesus Zukunft hat, ja Selbst die Zukunft ist!
Nicht einer von den Gernegroßen, die derzeit weltweit wieder das Steinzeit-Ziel der Gewaltherrschaft verfestigen, sondern der freiwillig lebende - und leidende! - Säugling in der Schutzlosigkeit verdient unser Vertrauen in Tat und Wahrheit!
Nicht das Stereotype des reichsten und des einflussreichsten Mannes, der von seiner totalen Kontrolle träumt und sie treibt, sondern die unglaublich gefährliche, beispiellos leichtsinnige Wahl Gottes, Sich auszuliefern an die Brutalität oder Berührbarkeit des menschlichen Wesens, ist tatsächlich die Verheißung einer neuen Welt!
Nicht der eiserne Besen oder der eiserne Vorhang oder die eiserne Kuppel, von denen das Unreife in allen politischen und militärischen Projekten unserer Tage in pubertärer Gier erregt wird, rettet letztlich dauerhaft Leben und Welt. Sondern nur das offenkundig noch nicht fertige, noch nicht gefestigte, noch nicht abgeschlossene Geschehen des Reiches Gottes, in dem ein bloßer Hoffnungsträger - kein Alpha und kein Sigma-Typ - die drückend schwere Herrschaft auf Seine schmalen Schultern nimmt und nur bestehen wird, wenn Seine Brüder und Schwestern (und das sind wir!) das Kreuz mit Ihm tragen und die Liebe mit Ihm wagen und das unerhört Mutige und Gnädige sagen, das in der Welt sonst keinen Anklang und Anhang findet! ——
Um also in der preziösen Sprache der gediegenen Salons und Zirkel zu bleiben, die an den Feiertagen hier und da eine seltsame, aber auch rührende Nachblüte erleben, kann man wohl sagen: Was Gott durch Seinen Thronverzicht, in Seiner Verkleinerung zum Kind, mit Seinem garantiert zum Tod führenden Geburtstag hier auf Erden unternommen hat, das ist im wahrsten Sinne des Wortes gewagt, „risqué“!
… Aber nicht „passée“! … Weder überholt noch vergangen.
Das Wagnis Gottes geht weiter! Wie das Wachstum eines geliebten Kindes, dessen Zukunft vom Vertrauen und der Treue der Seinen getragen wird.
… Eine gewaltige Allmachtslösung aller jener Sorgen, ein kurzer Prozess über all jene Schuld und Schatten, die man vor den Kindern nicht ausspricht, ist damit nicht erreicht.
Sondern die lange Lösung, die im Wachstum der Liebe liegt!
Aber genau deshalb sind wir hier ja vor dem Kind.
Und das Kind vor uns.
Weil Ihm nicht nur diese Stunde, dieser Heilige Abend, dieses Fest oder diese Ferien gehören, sondern die Vergangenheit, in der Er Sich gegen den Weg aller Götter und für den Weg aller Menschen entschied, und nun die Gegenwart, in der wir es sind, die Ihn als Seine Freunde, als Seine dankbare und fröhliche Familie in Seiner ganzen Kleinheit aufnehmen, lieben und begleiten werden und dann gehört Ihm auch die Zukunft, in der das Kind ewig ist und wer zu Ihm hält ebenso.
Sie liegt durch das Kind also auch vor uns.
Und deshalb meine Bitte zum Schluß:
Sagen Sie es weiter! Unbedingt! … Den Kindern. … Den Unmündigen. … Und noch mehr den Mündigen und Übermütigen und Gewissenlosen, die wir alle kennen und manchmal sind.
Sagen Sie, sagen wir es allen weiter:
Die Zukunft liegt darin, dass uns dies Kind geboren wurde, dass dieser Sohn uns gegeben ist, auf dessen Schultern die Herrschaft liegt!
Ça c’est tout.
Das ist alles.
Amen.
Christmette, 24.12.2024, Stadtkirche, Jenny Müller
Geboren
Geborgen
Gegeben
Kann uns keiner nehmen
Geboren
Du hast uns auserkoren
Gelenkt,
geschenkt
Vom himmlischen Kind
Geboren in dieser heiligen Nacht,
Gott hat für uns geschafft,
hat gebohrt mit aller Himmelskraft
Geboren in dieser dunklen Nacht, mal kurz eben ein kleines Wunder vollbracht.
Haben dich kindlich in unsere Herzen gelassen, die kleine Hoffnung gegen alle Schmerzen.
Geboren, da im Herzen, da bei mir - haben stetig eine Tür zu dir. So wurde es uns beigebracht - dass du einfach immer über uns wachst.
Haben dich Jahr für Jahr mit den Hirten gesucht,
haben dich im Stall besucht,
mit den Königen verzweifelt geflucht,
mit den Engeln gesungen,
waren mit dir im Krippenspiel stolz glücksbetrunken-
ja, Du warst im Kindsein einer unserer Eckpunkte.
Du warst das Glitzer im Gesicht,
das stolz vorgetragene Weihnachtsgedicht,
als Engel verkleidet mein Sternenlicht,
du warst es, der mir Zauber verspricht.
Haben dir fest geschworen, wir glauben nur an dich allein -
geschworen, du wirst immer bei uns sein.
Dass der Zauber nie vergeht, dass du stets an unserer Seite gehst.
Mit jedem Schritt, mit jedem Tritt - haben versprochen: Ich nehm' dich überall hin mit.
Und das war gelogen.
Das war die erste Lüge, die wir dir gegenüber gemacht.
Haben dich wie einen alten Tannenbaum, vor die Türe gestellt nach der heiligen Nacht, mit der Ausrede, dass du ja über uns wachst:
Dass du da draußen, doch auch hast bessere Sicht - auf alles, was da eben grad' nicht so rund läuft in unserer Geschicht'.
Haben dich angelogen. Haben dich abgeschoben.
Hab dich in die Kälte gestellt,
dachte, dass du etwas bist, was nie verfällt,
habe dich dann einfach nicht mehr weiter beachtet -
habe dich vor die Tür meines Lebens verfrachtet.
Denn Jesus, ich muss grad selbst klar kommen im jetzt und hier.
Kann mich ja auch nicht immer um dich kümmern - bin ja nicht einer deiner Jünger.
Verpufft war's: deine Geburt in mir - dein Glitzer, dein Zauber - mein Schwur zu dir.
Und vom geboren, geschworen, belogen ist es nur ein kleiner Schritt:
ich hab mich über dich erhoben.
Über dich und unsere Geschicht', übers letzte Gericht, über dein ewiges Licht -
hab einfach kurz vergessen dein Angesicht - zwischen Tannennadeln, Plätzchengeruch und Glühwein mit Schuss -
habe den weltlichen Genuss erhoben über unseren eigentlichen Glaubens-Beschluss.
Und dann hat dich irgendwann, irgendwer da draußen gestohlen.
Da fragt wer: „Braucht wer das noch?“ Und keiner schrie: „Doch!“
Und so hab ich dich kurzerhand einfach ziehen gelassen,
mit all dem anderen Kram auf dem Sperrmüll-Laster.
Habe mich ablenken lassen
von all den geschmückten Weihnachtsgassen
von all den aufgeregten Menschenmassen,
von all den Geschäften mit den klingelnden Kassen.
Du bist mir einfach gestohlen gegangen.
Hab zu spät verstanden: Ich bin ohne dein Licht in der Dunkelheit gefangen.
Geboren, geschworen, belogen, erhoben, gestohlen,…. erfroren?
Meine Hände werden kalt,
fühle mich als ständ' ich im Tannenwald, doch seh' vor lauter Bäumen nichts.
Die Nadeln piksen mich und ich suche deine Spuren vergeblich.
Meine Gedanken sind so voller weltlicher Laster, ich fall' ohne dich durch alle Raster.
Unter mir gefriert das Wasser. Schlitter' ohne dich auf der Weihnachtseisbahn herum, doch habe keine richtigen Schwung - denn du gabst mir jede Umdrehung.
Höre überall tönen „driving home for christmas“- und frage mich, wo ich eigentlich ohne dich bin? Wann wurde aus Weihnachten ein Business?
Wann war der Punkt, wo ich dich vor die Tür verfrachtet und abholen gelassen hab?
Und wie kann es sein, dass ich dabei noch nicht einmal erschrak?
Ich hab dich einfach ziehen gelassen, aus Angst du könntest nicht in meinen Alltag passen. Habe dir dann den Vorwurf gemacht:
„Warum hast du mich verlassen?“
Doch, dass du hast das gleiche geschrien zu mir, kam durch die Tür von draußen nicht herein zu mir.
Ich vermisse dich im jetzt und hier- doch du hast schon lange vermisst ein gemeinsames wir.
Und wenn ich so kritisch unsere Erinnerungen betrachte - stell'ich fest, da war eigentlich immer Platz da: Für dich und für eine gemeinsame Zeit. Für unzählige Momente, die sich aneinanderreihen.
Doch habe dich nicht eingeladen, habe aufgehört nach dir zu fragen, weil ich eine Zusammenkunft zwischen dir und meinem weltlichen Leben nicht wagte.
Und so warst du darüber am Verzagen,
während ich kläglich versagte.
Und so frage ich Sie, in der Hoffnung, Sie haben es besser gemacht:
Wo haben Sie letzten Jesus hin mitgenommen?
Haben Sie zusammen geschaut in die Abendsonne?
Oder sind Sie zusammen heimgekommen, von einem langen Tag?
Haben Sie sich abends am Küchentisch zugehört und die Wahrheit gesagt?
Haben Sie Jesus auch mal gefragt, wie es ihm so geht, was gerade so bei ihm auf der Agenda steht?
Haben Sie herzlich zusammen gelacht.. und geben Sie Tag für Tag aufeinander acht?
Oder haben Sie sich als selbstverständlich genommen - so dass er Ihnen durch die Finger entronnen…?
Wir haben dich vor die Tür ausquartiert, dich degradiert, dich isoliert und dass wir dich vermissen, erst in der Weihnachtszeit kapiert.
Und dass ist was im Herzen so sticht,
das ist der der Grund für diese Predigt:
Ich will mit dir Schlittschuhlaufen, ohne davon zu laufen,
ich will keinen Schrott kaufen, der mir nur eine leere Verheißung verspricht - denn mir reicht der Gedanke an dein wunderschönes Weihnachtslicht.
Ich will, dass sich dein heiliger Schein in diesen roten Kugeln bricht und mir auch einen gemeinsamen Sommer verspricht.
Ich will mit dir leben - doch dafür muss ich dir auch was geben und nicht immer nur erwarten zu nehmen.
Denn am Ende bleibt doch eins:
Wir haben dich zwar belogen,
haben uns über dich erhoben,
du wurdest uns gestohlen
Wir sind fast erfroren
du gingst uns verloren
doch letztendlich sind wir ….auserkoren!
Du hast uns und wir haben dich ausgewählt. Seit dem Tag unserer, und heute deiner Geburt - das war der Startschuss, dass aus uns ein Team wurd'.
Jesus, du und ich - dass kann mehr als nur Weihnachtsglanz und Schlittschuhtanz, das kann dauern ein ganzes Leben lang.
Jedes Weihnachten wollten wir eine Antwort von dir, doch ohne die Verantwortung hier.
Da wollten wir einfach an deiner Krippe verschnaufen und selig sein, dann man hat uns lassen taufen.
Doch so funktioniert das hier nicht! Denn wir haben auch einen Part in dieser Geschicht'.
Wir gehören zu deiner Crew,
aus dem Himmel ertönt es laut: Jesus is calling for you
Auserkoren - und heute Nacht: Neugeboren!
Und so feiern wir heute Nacht nicht nur deine Stall-Geburt
- sondern auch wie aus uns Christen wurd.
Das hier heut, ist unser Neuanfang,
denn wir erinnern uns: wir sind ein unzertrennbares Gespann.
Und dass wir dich nie mehr aus unserem Leben verbannen!
Dass wir auf dich und unseren Glauben achtgeben müssen - besonders in diesen Zeiten,
dass wir uns von dir nicht nur innerhalb von heiligen Mauern lassen leiten,
und dass wir außerhalb von Ostern, Pfingsten und Weihnachten echt was mit dir verpassen:
Wir können mit dir im Auto singen,
Wir können mit dir vom 5er springen,
Wir können mit dir einen coffee-to go trinken, und von der Weißen Flotte winken.
Was ich sagen möchte:
du bist lebensfähig, sodass wir dich nicht sperren muss in einen goldenen Käfig. So dass wir dich nicht lassen müssen in diesem heiligen Stall, bis wir nächstes Weihnachten kommen und wieder bei dir verweilen.
Tausend Möglichkeiten, mit dir lebendig zu leben,
ich muss dir nur jeden Tag aufs Neue meine Hand geben.
Und so ist deine Geburt in dieser Nacht,
ein riesiges Wunder, was von dir allein erbracht,
aber auch eine Chance und ein Angebot, was du für uns gemacht:
Dass wir dich nicht nur Feiertagen in unser Leben lassen,
dass wir dich nicht mehr stehen lassen.
Und dass wir auf unseren Glauben aufpassen:
Denn unser Glaube ist es, der uns zusammenbindet.
Unser Glaube ist unser Kompass, der dich stetig findet,
Unser Glaube, der unseren Alltagstrott überwindet.
Unser Glaube ist es, der lässt dich nicht entschwinden,
Unser Glaube ist es, auf den können wir uns immer besinnen.
Heute Nacht sind wir die wieder-glaubens-finder,
denn seien wir ehrlich: Du bist ein all-time-match auf Tinder.
Und nun, nehmen Sie sich einen Moment der Ruh' - und machen Sie die Augen zu:
Fühlen Sie Ihren Glauben?
Den kann ihnen keiner rauben!
Und der Herr bewege unsere Herzen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Christvesper, 24.12.2024, Jes.9,1-6, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Predigttext Jesaja 9,1-6 (Basisbibel):
Das Volk, das in der Finsternis lebt, hat ein großes Licht gesehen.
Es scheint hell über denen, die im düsteren Land wohnen.
Gott, du lässt sie laut jubeln,
du schenkst ihnen große Freude.
Sie freuen sich vor dir, wie man sich bei der Ernte freut.
Sie jubeln wie beim Verteilen der Beute.
Zerbrochen hast du das drückende Joch,
die Stange auf ihrer Schulter und den Schlagstock der Peiniger.
Es ist wie damals, als die Midianiter besiegt wurden.
Verbrannt wird jeder Stiefel,
mit dem die Soldaten dröhnend marschierten.
Ins Feuer geworfen wird jeder Mantel,
der im Krieg mit Blut getränkt wurde.
Denn uns wurde ein Kind geboren,
ein Sohn ist uns geschenkt worden.
Ihm wurde die Herrschaft übertragen.
Er trägt die Namen „wunderbarer Ratgeber“, „starker Gott“,
„ewiger Vater“, „Friedefürst“.
Seine Herrschaft ist groß und bringt Frieden ohne Ende.
Er regiert als König auf dem Thron Davids
und schafft Recht und Gerechtigkeit.
So festigt und stärkt er sein Königreich jetzt und für immer.
Der HERR Zebaot bewirkt das in seiner leidenschaftlichen Liebe.
Liebe Gemeinde,
die Weihnachtszeit ist für sehr viele Menschen in unserem Land eine besondere Zeit. Vor allen Dingen ein Fest für die Familie, man kommt zusammen. Viele nehmen weite Anfahrtswege in Kauf, um mit Eltern, Geschwistern und deren Familien mindestens einen dieser „Drei Heiligen Tage“ zusammen zu sein. Das Wohn- und Esszimmer der Eltern und Großeltern wird so etwas wie der Stall von Bethlehem, zu dem alle kommen, um sich wiederzusehen. Und für diejenigen, die noch eine Ahnung haben, worum es Weihnachten doch eigentlich geht, die verbinden das mit der Geschichte, die der Apostel Lukas in seinem Evangelium erzählt – ein Text der Weltliteratur, den vor 500 Jahren Martin Luther meisterhaft ins Deutsche übersetzt hat. Undenkbar, ihn einer Gemeinde am Heiligen Abend in einer anderen Übersetzung vorzutragen. „Es begab sich aber zu der Zeit …“ Ein vertrauter Text, eine vertraute Stimmung – Weihnachten zum Wohlfühlen. Der Heiland ist geboren, der Retter, der alles in Ordnung bringt, der Erlöser. Dass Lukas hier keine Erzählung à la Rosamunde Pilcher verfasst hat, sondern eher einen Mythos mit durchaus kritischem Blick auf politische und gesellschaftliche Zustände zur Zeit, als Quirinius Statthalter in Syrien war, das nimmt heute kaum noch ein Hörer oder eine Leserin wahr.
Weihnachten ist aber mehr als eine schöne Geschichte und Gelegenheit zum Feiern. Es schärft in besonderer Weise unseren Blick auf die Welt, wie sie ist – damals und heute. Darum ist der Text, der für die heutige Christvesper als Predigttext vorgeschlagen ist, eine gute Gelegenheit, neu und tiefer hinzusehen und hineinzuhören. Und damit das besser gelingt, habe ich ihn in der Übersetzung der Basisbibel mitgebracht: Jesaja 9,1-6 – als alttestamentliche Lesung haben wir ihn schon gehört; auf S.2 des Gottesdienstblattes haben Sie ihn vor Augen.
In drei Schritten will ich mich ihm nähern, ihn zu uns sprechen lassen – durch die Zeiten hindurch. Um Finsternis und Licht geht es und um eine Geburt, um ein Kind, mit dem eine neue Zeit anbricht.
„Das Volk, das in der Finsternis lebt, hat ein großes Licht gesehen. Es scheint hell über denen, die im düsteren Land wohnen.“
Jesaja hat diese Zeilen nicht einfach so aufgeschrieben. Vielmehr bezieht er sich auf militärische Aktionen des assyrischen Herrschers Tiglat-Pileser III. um 730 v.Chr., die eine existentielle, angstvolle Dunkelheit für die Menschen im Nordreich Israel mit sich brachten. Und auch die Bewohner des Südreiches Juda konnten sich nicht in Sicherheit wiegen.
Angst und Schrecken verbreiteten die Assyrer damals in den an ihr Großreich angrenzenden Ländern. Nach den militärischen Niederlagen drohte den Menschen, Männern, Frauen und Kindern, Versklavung, Vertreibung und Tod. Die Auslöschung, das Ende ihrer staatlichen und kulturellen Existenz.
In diese dunkle Gegenwart hinein und gegen die sich ausbreitende Angst und Hoffnungslosigkeit schreibt Jesaja an, lässt er mit seinen Worten ein Licht aufgehen – ein großes Licht gegen die tiefe Finsternis. Er singt ein Lob- und Danklied und fordert damit das Volk, das in der Finsternis lebt, auf, sich nicht der Finsternis zu ergeben, in ihr zu versinken, sondern das Gesicht dorthin zu wenden, woher allein Hilfe kommen kann: zu Gott. Zu dem Gott, der das Leben ist, dessen Liebe niemals aufhört und der keinen aus seinen Händen fallen lässt. Zu dem Gott, der befreit und Zukunft schenkt.
„Gott, du lässt sie laut jubeln, du schenkst ihnen große Freude.“ Der dankbare Jubel wird durch Bilder unterstrichen:
Erntefeste stehen vor Augen und statt selbst zur Kriegsbeute zu werden, verteilt man Kriegsbeute, freut man sich am Sieg, den Gott schenkt. Die Bedrohung, die Finsternis ist überwunden: die Sklaventreiber wie damals in Ägypten, die namenlosen Unterdrücker. Erinnert euch doch: damals, als Gideon – obwohl zahlenmäßig und auch hinsichtlich der Bewaffnung hoffnungslos unterlegen – die Midianiter besiegt hat. Im Vertrauen auf Gott. Warum sollte es nicht der Großmacht Assyrien ebenso ergehen? Verbrannt wird jeder Stiefel, ins Feuer geworfen jeder ihrer blutgetränkten Militärmäntel. Es wird ein neuer Gideon geboren, ja, er ist schon geboren: „Ein Sohn ist uns geschenkt worden.“ Und ihm wurde die Herrschaft von Gott übertragen. Für Jesaja ist entscheidend, dass Rettung aus der Bedrohung durch die Assyrer nicht von einem der bekannten Männer aus der Dynastie der Davididen, noch von einem selbsternannten starken Mann kommen kann, sondern dass es ein Mensch sein muss, der auf die Weisungen Gottes hört und nach ihnen sein Tun ausrichtet.
Darauf verweisen die Namen: „wunderbarer Ratgeber“, „starker Gott“ (nicht: gewaltiger Gott), „ewiger Vater“, „Friedefürst“. Der, der Rettung bringt, der schafft Recht und Gerechtigkeit, die unabdingbare Voraussetzung für einen Frieden, der diesen Namen verdient. Er schafft sie, indem er Gottes Willen umsetzt. Ich bin der Basisbibel mehr als dankbar, dass sie diese wunderbare Formulierung für den letzten Satz bringt: „Der HERR Zebaot bewirkt das in seiner leidenschaftlichen Liebe.“ Das trifft es hundertmal besser als die Formulierung in der Lutherübersetzung: „Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaot.“ Eifer klingt nach Eifersucht und öffnet die Tür zu Rache und Vergeltung. Leidenschaftliche Liebe ist etwas anderes, wirkt sich anders aus.
Die Hoffnung, die Jesaja damals für seine Zeitgenossen angezündet hat, die hat sich historisch nicht erfüllt. Die Assyrer haben das Nordreich Israel ausgelöscht. Und die Gefahr für das Südreich Juda, den regionalen Großmächten zum Opfer zu fallen, blieb bestehen, bis es 120 Jahre später von den Babyloniern erobert und unterworfen wurde. Und doch leuchtet in diesen Worten Jesajas eine Erkenntnis durch die Finsternisse aller Zeiten auf: der Friede ist Frucht von Recht und Gerechtigkeit, weil Gott ein Gott ist, der Recht und Gerechtigkeit voller leidenschaftlicher Liebe zu den Menschen will. Und er selbst sorgt dafür, dass die Sehnsucht nach Recht und Gerechtigkeit nicht totzukriegen ist.
Gut 700 Jahre später lesen Menschen, die sich auf den Weg der Nachfolge Jesu gemacht haben, diese Verse aus dem Buch des Propheten Jesaja. Sie hatten die Botschaft Jesu gehört und als unbedingt relevant für ihr Leben angenommen. Sie haben ihm geglaubt, was er von Gott als dem Vater aller Menschen gesagt hatte und waren überzeugt, dass Liebe und Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit, Wahrheit und Güte Gottes Willen entsprechen und zum Leben führen – trotz aller Widerstände, trotz der Erfahrung zu scheitern, trotz allem Leid. Die Kraft dazu gab ihnen ihr Rabbi Jesus. Sein Geist wohnte in ihnen.
Für sie war Jesus das Kind, der Sohn, von dem Jesaja gesprochen hatte. Menschensohn hatte er sich genannt, Gottes Sohn, so nannten sie ihn, weil er überzeugend Gottes Willen gelebt hatte. In seinem Königreich würden andere Regeln gelten als im römischen Reich. Er würde Frieden bringen nicht durch militärische Stärke, sondern durch Recht und Gerechtigkeit.
Sehnsüchtig erwarteten sie deshalb seine Wiederkunft, hielten am Weg ihres Rabbis Jesus fest – trotz aller Widerstände, trotz Verfolgung, Leiden und Tod.
Doch die Erfüllung ihrer Sehnsucht ließ auf sich warten.
Und dann fanden sie auf einmal sich selbst auf der Seite derer wieder, die Macht hatten auf dieser Welt. Und sie arrangierten sich mit der Gewalt, mit Unterdrückung und Ausbeutung, die es zu ihrem Erhalt brauchte.
Die Sehnsucht nach dem Reich des Gottessohnes, in dem alle Menschen miteinander im Frieden leben, gegründet auf Recht und Gerechtigkeit, verschwand bzw. wurde aus der Zeit in die Ewigkeit verschoben, von der Erde in den Himmel. Für Recht und Gerechtigkeit, für Frieden würden dann Gott und sein Sohn schon sorgen.
Liebe Gemeinde, die Worte des Jesaja von dem Reich des Friedens, in dem Recht und Gerechtigkeit herrschen, haben sich bis heute auf dieser Welt nicht erfüllt. Sie sind nach wie vor Worte der Verheißung, nähren und stärken unsere Sehnsucht nach einem alle Menschen umgreifenden Frieden, der auf Recht und Gerechtigkeit gegründet ist. Eine Sehnsucht für diese Erde, für unsere Zeit. Hatte nicht Jesus seine Nachfolger zu beten gelehrt: „Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden“? Gottes Reich, kein Reich, das nach den Spielregeln dieser Erde regiert wird, kein Reich von dieser Welt, aber doch ein Reich für diese Welt, das auf dieser Erde wachsen und sich entfalten soll – getragen, gestaltet und befördert von den Menschen, die Gottes Willen ernst nehmen. Denen Recht, Gerechtigkeit und Wahrheit am Herzen liegen, die die leidenschaftliche Liebe Gottes teilen. Menschen aus allen Völkern und Nationen, aus allen Religionen und Kulturen. Menschen voller Sehnsucht nach Frieden und Freiheit.
„Das Volk, das in der Finsternis lebt, hat ein großes Licht gesehen. Es scheint hell über denen, die im düsteren Land wohnen. Gott, du lässt sie laut jubeln, du schenkst ihnen große Freude.“
Wie aktuell ist dieser Text. Die Bilder, die uns am 2.Adventssonntag aus Syrien über das Fernsehen erreichten, zeigten jubelnde Menschen, die sich nach über 50 Jahren Unterdrückung durch den Assad-Clan, auf den Straßen und Plätzen in die Arme fielen, ihre unbändige Freude hinausriefen. „Zerbrochen hast du das drückende Joch, die Stange auf ihrer Schulter und den Schlagstock der Peiniger, der Folterknechte.“ In den Moscheen und Kirchen sind sie zusammengekommen, um Gott, um Allah zu danken. Und auch in unserem Land sind Syrerinnen und Syrer, die vor dem Regime und dem von ihm angezettelten Bürgerkrieg zu uns geflohen sind, auf die Straßen gegangen und haben sich einfach gefreut. Sie sind voller Hoffnung, dass es nun zu einem Neuanfang für ihr Volk kommt, dass Recht und Gerechtigkeit für alle Menschen aufgerichtet werden, für alle Glaubensgemeinschaften, für alle Ethnien. Der Neuanfang – wie ein neugeborenes Kind.
Alles ist möglich. Es möge gut werden für alle.
Wir sollten diese Hoffnung teilen und unterstützen, mit unseren Gebeten, mit unseren guten Wünschen und, wo es politisch möglich ist, mit unseren Taten.
Recht, Gerechtigkeit und Wahrheit brauchen unsere Aufmerksamkeit und Unterstützung, wie ein neugeborenes Kind die Fürsorge seiner Eltern braucht, um zu überleben, um zu werden, was es ist, um zu entwickeln, was in ihm angelegt ist. Kinder Gottes sind wir alle, Gottes Söhne und Töchter durch unseren Bruder Jesus von Nazareth. Er selbst nannte sich „Menschensohn“, ein Bruder aller Menschen, egal welcher Religion.
Wenn wir als Christen heute Jesu Geburt feiern, dann feiern wir auch unseren Geburtstag. Denn nirgendwo anders als in uns und durch uns kann er heute und in dieser Zeit wirken.
In uns will er geboren werden, um heute Rettung zu bringen, die Finsternis hell zu machen,
an der Heilung der Welt zu arbeiten,
um sie von Gewalt und Unrecht zu befreien.
Und ich glaube, er will auch unter anderem Namen und in anderer Gestalt in Menschen anderer Religion geboren werden, in allen Menschen guten Willens. So wie es die Engel auf den Feldern Bethlehems gesungen haben: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei allen Menschen guten Willens, bei allen Menschen seines Wohlgefallens.“
Weihnachten feiern wir einen Anfang, alle Jahre wieder.
Am Ziel sind wir genauso wenig wie vor 2700 Jahren der Prophet Jesaja. Aber wir teilen dieselbe Hoffnung, die gleiche Sehnsucht nach Frieden in Freiheit, nach Recht und Gerechtigkeit. Und: wir sind nicht allein unterwegs auf dieses Ziel hin: unser Bruder Jesus ist als Christus in uns und mit uns und durch uns auf dem Weg und am Werk.
Amen.
Christvesper, 24.12.2024, Jonakirche, Daniel Kaufmann
Jesus zu Heiligabend in Düsseldorf…
Vor ein paar Jahren soll Jesus ja in Frankfurt gesehen worden sein. Der Comiczeichner Michael Wolf hat da ja 7 wundersame Begegnungen ins Bild gesetzt. Hans Dieter Hüsch, der niederrheinische Kabarettist, hatte bereits vorher notiert, dass der liebe Gott in Dinslaken vom Fahrrad gefallen sei und es bei dieser Gelegenheit zu einer direkten Einladung in den Himmel zu einem Gegenbesuch gekommen sei. Der Heilige Geist hatte sich unabhängig von Herrn Wolf und Herrn Hüsch mal dort und mal hier bei seinen Gläubigen gezeigt.
Und dieses Jahr, ich weiß nicht, ob Sie das auch schon mitgekriegt haben, also da soll Jesus nach Düsseldorf gekommen sein, exclusiv in die Landeshauptstadt. Heißt es. Und da wäre er also anders als in Frankfurt recht unspektakulär unterwegs gewesen. Die Kö mit ihren exquisiten Geschäften, Eisbahn und stylisch gekleideten Passanten hätten ihm ein durchweg wohlwollendes Schmunzeln entlockt, aber zu keiner besonderen Aktion animiert. Am Weihnachtsmarkt hätte er es sehr eilig gehabt. Das schien ihm nach den jüngsten Ereignissen in Magdeburg kein guter oder sicherer Ort zu sein. Ähnlich erging es ihm wohl in den Schadowarkaden. Da habe er nur kurz angehalten, um mit einem Straßenmusiker zu plaudern und ein paar Münzen in den Hut zu werfen. Auf dem Carlsplatz sei er gesehen worden, wie er mit einem Obstverkäufer ins Gespräch kam. Am Graf-Adolf-Platz heißt es, dass er einem Obdachlosen seine Jacke gegeben habe. „Du bist wohl der neuen Sankt Martin“ hätten da einige nicht ohne Ironie von sich gegeben. Aber da sei er schon wieder weitergegangen, heißt es.
Von Oberbilk, so wird berichtet habe er mit ein paar Kindern Fußball gespielt. Er hatte sich offenbar seine Vorliebe für die kleinsten Erdenbürger erhalten. Einfach kicken, Lachen und Freude am Miteinander haben und dann ein kräftiger Segen. Beim Weihnachtsliedersingen im Rather Dom schien er dann noch mehr aufzutauen. Nicht auf der Bühne, sondern in der Menschenmenge. Besonders bei dem Klassiker „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Da seien bei der Zeile „Christ der Retter ist da“ viele Augen wie von einem Magneten gesteuert erwartungsvoll auf ihn gerichtet gewesen. Aber nur für einen kurzen Moment. Denn später konnten sich viele nicht mehr erinnern, ob er es wirklich gewesen war.
Danach sei er also auch noch mal zurück in die Stadtmitte zum Rheinufer, am Schlossturm, da sei eine Gruppe junger Leute gewesen, die über die Zukunft debattierten. Und da habe er zum ersten Mal auch ganze Sätze gesagt, besser eine Frage und einen Satz, nämlich: „Warum wartet ihr darauf, dass andere die Welt ändern? Fangt dort an, wo ihr gerade seid, lebt denk und fühlt, dann wird sich der Rest finden.“
Diese Begegnung habe ihm, heißt es, einen gewissen Schwung verliehen, den er gleich am Rathausplatz im Austausch mit den politisch Verantwortlichen der Stadt fortsetzte. „Hört auf zu streiten und haltet mehr zusammen“, habe er da kurz und knapp erklärt. „Und dann tut um Gottes Willen endlich das, was ihr den Menschen vorher versprochen habt. Und spart euch eure 1000 Erklärungen, warum dies und das nicht geklappt hat.“
Die Politiker sollen überwiegend an den richtigen Stellen genickt habe, ansonsten aber eher verdrießlich vor sich hingestarrt zu haben. Im Dreiständehaus habe er dann gar kein Blatt mehr vor den Mund genommen: „Eure Talkshows und Gesellschaftsanalysen in Ehren“, soll er gesagt haben, „aber es wird Zeit, höchste Zeit, dass sich was dreht, und zwar nicht nur der Fußball, sondern eure Überlegungen, wie und wo in dieser Welt es jetzt gilt, anzupacken, zu helfen, zu unterstützen, Hoffnung zu verbreiten und Vertrauen zu wecken ins Leben, in die Liebe und in Gottes Möglichkeiten für diese Welt.“ Auch da hätten etliche fromm den Kopf gesenkt, ansonsten aber abgewartet, bis dieser weltfremde Zaungast sich wieder auf den Weg machte.
Tja und schließlich, und deshalb erzähl ich ihnen das heute so ausführlich, soll er auch in die Kirchen gekommen sein. Merkwürdigerweise zuerst zu den Katholiken, womöglich weil die das nötiger haben. Aber vielleicht auch, weil die historisch eher dran sind, also rein zeitlich gesehen gibt es da ja eine durchweg längere Tradition weihnachtlichen Feierns. Ja, und da hat er also in der Maxkirche ein paar Vorschläge unterbreitet. „Die Menschen haben ein feines Gespür für das was richtig und das was falsch ist“, soll er gesagt haben. „Sie merken, wann etwas authentisch und wann etwas nur vorgetäuscht ist. Beherzigt das bei euren Verlautbarungen und Predigten. Und übt die Demut ein. Gebt Fehler zu, gebt Macht ab. Beharrt nicht darauf, dass ihr immer Recht habt und alles besser wisst. Hört vor allem auf, die ganze Menschheit mit Eurer Moral zu beglücken. Gebt der Liebe Raum und lebt Gerechtigkeit, alles andere wird sich dann finden.“ Diese kleine Gardinenpredigt sorgte für Bewegung aber auch für zahlreiche skeptische Blicke. Und etliche Zuhörer schienen unschlüssig, was sie von dem Gesagten wo und wie und wann in konkretes kirchliches Handeln einbringen sollten. Bevor es jedoch zu längeren Aussprachen und Nachfragen hätte kommen können, soll sich Jesus mit den Worten verabschiedet haben, dass er auch bei den evangelischen Christen noch etwas loswerden wolle. Da sei gerade in Düsseldorf doch einiges, was bei ihm höchste Verwunderung hervorgerufen habe.
So habe er also die Johanneskirche direkt im Zentrum der Stadt aufgesucht. Und sich auch hier recht schnell und ohne Schnörkel zu Wort gemeldet: „Bei euch gibt es sehr viel, um nicht zu sagen zu viel Lamentieren über Organisation, Finanzen, Immobilien und Strukturen, aber wenig über den Inhalt, die frohe Botschaft, das Evangelium zu hören. Das muss sich ändern!“, habe er mit fest vernehmlicher Stimme verlauten lassen. „Der Mensch lebt nicht von Konzepten und Organigrammen, sondern von der Zusage der Vergebung, von einer Umarmung und von der Verheißung, dass das Leben wieder gut werden kann und wird. Ihr seid viel zu viel mit Verwaltung und Management unterwegs. Dabei geht es darum, Menschen zu trösten, Mut zu machen und die Gewissheit zu verbreiten, dass Gott sie liebt. Kommt also zurück zum Wesentlichen, zum Eigentlichen, zum Kern des Glaubens und die Kirche wird lebendig sein und bleiben.“
Auch hier, heißt es, soll er nicht allzu lange geblieben zu sein. Er müsse da auch vor Ort noch einige wichtige Besuche machen, soll er gesagt haben und so steht zu hoffen, dass er über kurz oder lang auch in die Jonakirche nach Düsseldorf Lohausen kommt. Sicher, die U 79 fährt oder fährt auch nicht, aber wir alle wissen, irgendwann kommt sie dann doch an. Und wenn Jesus also dann an der Alten Flughafenstraße aussteigen und die letzten Meter die Niederrheinstraße entlanggehen würde, dann würde er also spätestens nach einer Viertelstunde hier vor der Tür stehen. Vermutlich würde er sich freuen, die Kirche so gut gefüllt zu sehen, mit einem schönen Tannenbaum mit vielen Lichtern an der Wand, dazu gut 22°C Raumtemperatur und einer Gemeinde, die nicht ohne Andacht die Weihnachtsgeschichte hört und erwartungsfroh auf eine mutmachende Botschaft wartet.
Und ich kann mir gut vorstellen, dass er da also auch ohne große Schnörkel anknüpfen würde. Er würde die spürbare Herzlichkeit bei etlichen Veranstaltungen, die gute Atmosphäre, auch die Hingabe beim Singen und Musizieren anerkennend loben. Aber wie ich ihn kenne, würde er dann auf weitere Allgemeinplätze verzichten und sich stattdessen ganz dicht neben dich und mich setzen, lächelnd den Arm um dich und mich legen und dann sagen: „Geliebtes Menschenkind, das ist heute und hier eine wirklich gute Gelegenheit, mit dir mal ganz offen über das reden, was dich umtreibt und bewegt. Du kannst mir alles anvertrauen: deine Gesundheit und deine Krankheit, deine Sorgen und deine Unbekümmertheit, deinen Kummer und deinen Optimismus, deinen Stress, deine Fragen ohne Antwort, deine Familie, deine Arbeit und deine Freizeit, deinen Erfolg und dein Scheitern, deine Triumphe und dein Versagen, dein Elend, deinen Schmerz und dein Glück. Denn darum geht es heute an diesem Heiligabend: Um dein Leben, so wie es ist und so wie es heil bleiben oder Heil werden kann und darf und soll.“
Ich bin nicht ganz sicher, ob er dieses alte Wort „heil“ benutzen würde. Vielleicht würde er sagen: „Es geht darum wie dein Leben gut werden, wie es gelingen kann, wie es so rund und zufrieden läuft, dass du dazu Ja sagen kannst.“ Sicher bin ich mir allerdings, dass er für jeden von uns, für dich und für mich, eine Ermutigung, einen Trost, eine Zusage mit dabei hätte. Und einen Segen, der unsere, deine und meine Lebenslage in ein neues Licht stellt. Und dieser Segen würde vielleicht folgenden Wortlaut haben:
„Möge die Tür zu deinem Herzen geöffnet werden
und heilende Kräfte dich durchströmen
wie der Glanz aus der Höhe.
Möge die weihnachtliche Freude in dir aufsteigen
und dich beflügeln zu einem leichteren Leben.
Möge ein Licht in deine verdunkelte Seele fallen
und aus deinen Augen widerstrahlen,
so dass andere sich mit dir freuen.
Möge ein Freund oder eine Freundin dir begegnen,
deren Weg sich mit deinem verbindet,
so dass ihr im Haus der Freundschaft geborgen seid.
Möge eine Hand dich finden
und dir die Zärtlichkeit geben,
nach der du dich sehnst.
Möge dein Fuß die Spuren finden,
die zum Leben führen, wie du es dir ersehnst.
Möge alle Tage der Segen Gottes dich erfüllen,
so dass du weißt:
Ich bin ein gesegneter Mensch.*
Tja, und wenn das also hier und heute und jetzt passieren würde, dann würde es richtig Weihnachten werden, denn das ist der Kern von Weihnachten: Der Moment, in dem wir spüren oder doch zumindest ahnen, dass wir gesehen und geliebt werden, so wie wir sind. Der Augenblick, in dem uns ein persönliches Wort aus der Ewigkeit erreicht und findet. Die Sekunde, in der uns die tiefe Zuversicht erfasst, dass alles gut werden kann. Wie dichtete es Paul Gerhardt noch: „Eins aber, hoff, ich, wirst du mir, mein Heiland nicht versagen, dass ich dich möge für und für, in, bei und an mir tragen. So lass mich doch dein Kripplein sein; Komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden.“ **
Amen.
*Segen von Helge Adolphsen, erschienen in: „Der Apfel am Weihnachtsbaum
Advents- und Weihnachtsbräuche“, erschienen in der Agentur des Rauhen Hauses
47 Seiten, 2010, ISBN 9783760019024
**Paul Gerhard, Ich steh an deiner Krippen hier (EG 37,9)
4. Advent, 22.12.2024, Lk.1,26-38, Tersteegenkirche, Jürgen Hoffmann
Der vierte Advent steht (eigentlich) unter dem Vorzeichen der Freude. Und so lautet der Wochenspruch denn auch "Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch!" (Paulus, Philipper 4). Es ist aber auch eine Freude, die durch die schrecklichen Geschehnissen in Magdeburg getrübt wird. Was bedeutet das für uns? Was können wir tun? Darum geht es - unter anderem - in der heutigen Predigt von Pfarrer Jürgen Hoffmann.
Diese Predigt gibt es für die Ohren, auf dem Podcastkanal der Tersteegen-Kirchengemeinde:
3.Advent, 15.12.2024, Stadtkirche, Römer 15, 4 - 13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.Advent - 15.XII.2024
Römer 15, 4 - 13
Liebe Gemeinde!
Wenn ich „Qumran“ sage oder „Masada“, dann steht einigen die gleißende Landschaft im Südosten Israels vor Augen, wo am Rand der Wüste Juda, in den Felsen überm Toten Meer die Reinigungs- und Erneuerungsbewegung, die das Volk Gottes in römischer Zeit ergriffen hatte, ihre buchstäblichen Hochburgen besaß:
In der asketischen Gemeinschaft des endzeitlich-gläubigen Judentums von Qumran bereitete man sich rigoros geheiligt auf das nahe herbeigekommene Reich Gottes vor. Und in der thronenden Festung, in der einst Herodes sich luxuriös abgeschirmt hatte, behaupteten sich die letzten stolzen, freien Kämpfer des alten Israel mit Kind und Kegel gegen die Armee Roms, bis sie schließlich frei nur noch in ihrem gemeinschaftlichen Tod sein konnten.
Östlich unterhalb von beiden aber - von Qumran und Masada - floß in die salzige Lake des Toten Meeres das Wasser des Jordan, in dem Johannes einst gestanden und wiedergeborene Menschen, die sich durch Umkehr dem Untergang hatten entgegenstemmen wollen, in die Flut getaucht und aus ihr herausgerissen hatte. Das Kind, vom dem wir eben im „Benedictus“ gebetet haben, dass es die Füße der Leute auf den Weg des Friedens richten sollte (vgl. Lk.1,79), hatte als wilder Mann die Bußbewegung ausgerufen, die im Judentum der Zeitenwende eben in der Luft lag. Der Zorn, den Johannes predigte, hatte in vielen berührbaren, pharisäischen Herzen Staub aufgewirbelt, … den Staub der Gewohnheit und der Sünde, der im Jordan abgewaschen wurde. Die Herzen der romhörigen Herodianer und Sadduzäer dagegen waren noch härter gebrannt worden in der Glut der täuferischen Erregung.
Und dann kam Gottes Lamm selber, das die Sünde der Welt trägt (vgl. Joh.1,29) hinab an den Strom, an dem sich die Geister scheiden sollten, und die Stimme vom Himmel (vgl. Mk.1,11) und der Geist aus der Höhe (vgl. Lk.3,22) troffen in den Jordan und seine geheiligten, seine messianisch angereicherten Wasser strömten weiter nach Süden, …. vorbei an den stillen Höhlenklöstern der Heiligen von Qumran, vorbei an der späteren Bastion des jüdischen Kampfgeistes, an Masada, wo Märtyrerblut floss, ohne dass jemand in Feindeshand fiel.
Es ist also trotz der hellen Wüstensonne ein finsterer Verlauf, den der Jordan nimmt: Das selbe Wasser, in das Jesus eintauchte, um sein Sterben und Auferstehen vorwegzunehmen, … das H2O, in dem die Offenbarung des fleischgewordenen Sohnes Gottes vor der Welt sich vollzog, strömte an Stätten vorbei, die erlöschender Erwartung und vergeblicher, furchtbar fehlgeleiteter Gewalt den Rahmen bieten würden. ——
Paulus wird das bedacht haben auf seiner einsamen, rätselhaften Reise in die Wüste, nachdem er in Damaskus vom Lichtglanz und von der überwältigenden Liebe des selben Jesus umflossen worden war, der im Jordan wie alle anderen Menschen unterging, um den ewigen Untergang aller Menschen aufzuhalten (vgl. Gal.1,17)[i].
Als er nach seiner Bekehrung, Taufe und Berufung auf die arabische Halbinsel zog, wo er - für uns in tiefstes Geheimnis gehüllt - Dinge erlebte und Wahrheiten erfuhr, die ihn zum Apostel aller Völker machten, … damals ist auch Paulus in größerer Nähe oder Entfernung zu den Fluren des Jordanlandes ins Schweigen der menschenleeren Gefilde gewandert. Und je tiefer er in die den Einsiedlern und Mystikern, den Visionären und den Asketen vorbehaltene Endlosigkeit des arabischen Sandes zog, desto stärker muss der Jordan, den er im Rücken hatte, ihm in den Ohren geklungen haben.
Vielleicht wanderte der Schriftgelehrte Saulus, der als Hassender plötzlich ganz unverdient die Liebe des gekreuzigten Messias hatte erblicken dürfen, durch Transjordanien ja mit den ihm wohl vertrauten Worten des 42. Psalms:
„Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, /
so schreit meine Seele, Gott zu dir. /
Meine Seele dürstet nach Gott, / nach dem lebendigen Gott. /
Wann werde ich dahin kommen, / dass ich Gottes Angesicht schaue? /
…
Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir, /
darum gedenke ich an dich /
aus dem Land am Jordan und Hermon, /
vom Berge Misar. /
Deine Fluten rauschen daher /
und eine Tiefe ruft die andere /
alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich …….“
… Natürlich sind wir hier im Reich von Spekulation und Phantasie, weil niemand je erfahren hat, was dem neu getauften, eben noch geblendeten Saulus in der Arabia widerfuhr, wo er zum Missionar der Heiden, zum mutigen Erstlingsverkünder weltweiter Erlösung und Versöhnung durch den Messias heranreifte.
… Natürlich ist alles, was wir über seine Inkubation und seine Exerzitien mutmaßen können, legendenhaft: Doch wann wäre das angemessener als jetzt im Advent, der Zeit des erwartungsvollen, herzklopfenden Grübelns und Wünschens und des hellhörigen Wachens durch die Nacht hindurch dem Licht entgegen?!
… Natürlich hören wir jetzt, im Advent also die Flöhe husten, die Engel singen und das Menschenherz seine Geschichten erzählen; und in der totalen Verschwiegenheit, die Paulus über seine ersten Lehr- und Wanderjahre in abgeschiedenster Gottesnähe wahrte, flüstert sich mir wie von selbst die Legende ein, dass er im grandiosen Verstummen der Wüste das Rauschen des Jordan im Ohr behielt, wo Jesus den Dienst der Erlösung durch die buchstäbliche Erniedrigung in den Graben antrat, der zum tiefsten Punkt der Erdoberfläche führt. … Und ich kann mir nicht helfen, sondern muss mir vorstellen, dass er dabei auch dieses bei den Mystikern seit jeher beliebteste Wort des Psalms mitschwingen hörte: „Eine Tiefe ruft die andere“ …. „abyssus abyssum vocat“, wie Hieronymus übersetzt.
Paulus in Arabien, in der Phase seiner intensiven Meditation nach der Berufung durch Jesus hat also erlebt, was er am Ende des Römerbriefes festhält: „Was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben.“
Was aber ist denn der Trost der Bibel des Paulus, … der Trost des fälschlich sog. „Alten“ Testaments? Was ist der Trost, den Paulus die Schrift durchgrübelnd und durchforschend in der menschenleeren Einöde fand, wenn er auf den weit entfernten und tiefen Jordan lauschte, in dem das Taufwasser des Erlösers durch die ganz unerlöste Welt floss, in der damals wie heute sonderbare Heilige und brutale Unheilige alle Ufer besetzen? …
Was hat Paulus bewegt, der gewusst haben wird von den zahlreichen Spannungen zwischen den zurückgezogenen Qumran-Frommen am Toten Meer und seinen schriftgelehrten pharisäischen Mitbrüdern, die in Jerusalem den Messias erwarteten, und den rebellionsschmiedenden Zeloten in Galiläa und den Aposteln Jesu in der Heiligen Stadt, am See Genezareth und sogar in Damaskus, die den gekommenen, in den Himmel erhöhten Messias liebten und ehrten und inbrünstig schnellstens zurückwünschten und dann den überall misstrauischen, Weltfrieden-herbeifolternden Römern? …
Und was bewegt nun uns, wenn wir uns nur den Verlauf jenes Jordan vergegenwärtigen, dessen drei Quellen im erschütterten, vielleicht verheißungs-, vielleicht verhängnisvollen Raum des syrisch-libanesischen Hermongebirges - der Golanhöhen - entspringen und dessen kostbares Wasser die Siedler im Westjordanland den palästinensischen Landwirten und Olivenbauern so zynisch vorenthalten, und dessen Fließrichtung zur Mündung im Toten Meer die Blicke über den Trug unserer Urlaubserinnerungen an Eilat hinweg noch weiter südlich unerbittlich in Richtung des Grauens im Sudan, des Horrors im Jemen, des Unheils im Iran lenkt? …
Was bewegt uns, wenn wir in diese Welt blicken, in der ein Abgrund dem anderen zuruft?
Rufen die Abgründe der Welt, die Abgründe der gegenwärtigen Zeitgeschichte einander nicht permanent „Wehe! Wehe!“ zu?
Rufen nicht alle Ströme der Erde: „Wir vertrocknen und mit uns die Wälder und mit ihnen die Menschheit?“
Rufen nicht alle Ufer und alle Gräben und alle Meere: „Nichts fließt so viel wie Blut? Nichts bedeckt uns bald so wie die Flüchtlingsströme? Nichts tragen wir so in alle vier Winde wie Gewalt und Zerstörungswut?“
Rufen die Abgründe nicht schier Abgründiges in den Weltraum hinaus, obwohl unten im Jordangraben einst der Christus seinen lebensrettenden Dienst für alle Kreatur antrat, indem er sich beugte unter die Wasserwogen und Wellen, die über das Leben gehen? ……. ——
Doch dem Paulus ist ein anderer, noch tieferer Ton als das Brausen der Sintflut in der Schrift begegnet: Die Tiefe aller Tiefen, der Abgrund aller Abgründe ist das, den Paulus im Römerbrief schon einmal wortwörtlich hat hören lassen, als er das Rätsel der Spannung zwischen Juden und Christen und der Auflösung dieser Spannung durch die gemeinsame Erlösung meditiert hat. … Da singt er (Rö.11,33):
„O welch eine Tiefe des Reichtums, /
beides der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! /
Wie unbegreiflich sind seine Gerichte /
und unerforschlich seine Wege!“
Und das ist nun tatsächlich der Ur- und Grundton des Weltalls. Es ist der grundlose Ursprung, der im Wasser des Jordan fließt, wo Christus sein Erlösungswerk begann, und der in jedem einzigen von uns weiterfließt bis ins ewige Leben (vgl. Joh.4,14 + 7,38).
Dieser Urgrund, dieser Abgrund ist erfüllt von der Wahrhaftigkeit Gottes in Seinen Verheißungen für Israel; dieser Abgrund, dieser Urgrund ist erfüllt von der Barmherzigkeit Gottes gegenüber allen Völkern.
Tiefer als alle Not, tiefer als alles Leid, tiefer als alle Angst, tiefer als aller Schmerz, tiefer als aller Hass, tiefer als alle Zerstörung, tiefer als der Tod, tiefer als die Hölle, tiefer als das Ende, tiefer als das Nichts, tiefer als Alles ist dieses unauslotbare, unbegrenzte, anfangs- und endlose Mysterium der tiefen, tiefen, übertiefen Liebe Gottes.
Das ruft der Abgrund den Abgründen zu. ——
Es gibt dazu eine Melodie, die wir jetzt nicht singen werden, weil ich dann heulen müsste: Von ihr erzählt man sich - in noch einer Legende -, sie sei am rauen Strand von Wales nach einem Sturm in einer schmutzigen Flasche an Land gespült worden. Zu dieser Melodie aus der Tiefe gehören in England Worte, die einem depressiven jungen Mann eingegeben wurden, als er sich in einer winterlichen Nacht auf der verlassenen Hungerford Bridge verzweifelt in die dunkle Thames stürzen wollte[ii].
Sein Rettungslied geht so:
O the deep, deep love of Jesus, vast, unmeasured, boundless, free!
Rolling as a mighty ocean in its fullness over me!
Underneath me, all around me, is the current of Thy love
Leading onward, leading homeward to Thy glorious rest above!
O the deep, deep love of Jesus, spread His praise from shore to shore!
How He loveth, ever loveth, changeth never, nevermore!
How He watches o'er His loved ones, died to call them all His own;
How for them He intercedeth, watcheth o'er them from the throne!
O the deep, deep love of Jesus, love of every love the best!
'Tis an ocean vast of blessing, 'tis a haven sweet of rest!
O the deep, deep love of Jesus, 'tis a heaven of heavens to me;
And it lifts me up to glory, for it lifts me up to Thee!
(Samuel Trevor Francis, 1834 – 1925)
************
O, die tiefe Liebe Jesu, / riesig, maßlos, endlos, frei,
wie ein Ozean so strömt sie / völlig über mich herbei.
Unter mir und um mich strömt die / Liebe mächtig wie die See
und sie führt mich vorwärts, / heimwärts zu der Ruhe in der Höh.
Preiset Jesu tiefe Liebe / alle Ufer, hin und her,
weil er liebt, nur liebt - und niemals / wandelt sich die Liebe mehr.
Er bewahrt die Seinen, die Er / durch den Tod fest an sich band;
Er vertritt sie und Er birgt sie / treu in der erhöhten Hand.
O die tiefe Liebe Jesu! Keine Liebe ist wie Du:
Wie ein Meer aus reinem Segen, / wie der Hafen reiner Ruh!
Jesu tiefe, tiefe Liebe! / Himmelreich: Das bist Du mir!
Denn Du trägst mich zur Vollendung. / Ja, Du trägst mich heim zu Dir!
(Übersetzung: J.M.)
Und dieses Lied aus der Tiefe von der schier abgrundtiefen Liebe zu allen, allen, allen – zu Juden und Heiden, zu Freunden und Feinden, zu Fernen und Nahen – … das ist es, was dem Paulus in der Einsamkeit, fern aller Zivilisation und also aller Schrecken aufging.
Diese abgrundtiefe Liebe ist es, zu der er alle rufen wird, nachdem er an Masada und Qumran vorbei erst nach Jerusalem zurückkehrte und dann von dort zu allen Menschen - auch zu uns! - aufbrach.
In der Schrift - in der Torah und den Psalmen und Propheten[iii] - , die er in der ohrenbetäubenden Stille studierte, in der Schrift, von der die tiefsten Geheimnisse der Schöpfung und der Offenbarung überfließen, fand er, dass alle einträchtig und einmütig und in einem gegenseitigen Einvernehmen, das einzigartig ist, zu Lob und Freude und Hoffnung zusammengerufen werden, weil es diese Harmonie ist, die Jesus Christus entspricht.
Und so ist das eine Wort, das aus dem Abgrund steigt und überm Abgrund steht und in die Unergründlichkeit der Ewigkeit weist, das Wort HOFFNUNG, das Paulus aus seiner Entfernung von allem hinein in die ganze Welt trug.
Wir haben einen gemeinsamen Gott – wir zersplitterten und zerstrittenen, wir zerstreuten und zerfallenden Menschen und Völker und Glaubensweisen – … wir haben einen gemeinsamen Gott, Der über alles Trennende und Unversöhnliche und Unerlöste hi-weg mit Seiner Liebe das Volk Israel und alle anderen Völker – Palästinenser und Syrer, Ukrainer und Russen, Uiguren und Chinesen – zum Frieden führt!
Das ist das die Untiefen erfüllende, die Geschichte vollendende, die Ewigkeit aus- und ausdehnende Geschenk, das wir im Advent erfahren und feiern: Dass über allem die Hoffnung herrscht!
Denn so ruft’s ein Abgrund dem andern zu und so dürfen auch wir weiter und weiter bitten, dass der Gott der Hoffnung uns erfülle mit aller Freude und allem Frieden im Glauben und wir immer reicher werden an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes!
Amen.
[i] Die kryptische Notiz über seinen Aufenthalt in Arabien lässt wenig über die innere Entwicklung, bzw. Prüfung und Vergewisserung ahnen, die sich dort vollzogen haben müssen. Deutlich ist aber, dass der Apostel diese Zeit des vollkommenen Rückzugs als die Grundlage der Freiheit seiner Heidenmission empfand. Er muss also zu einer Klärung und Klarheit gekommen sein, die den Weg des Evangeliums zu allen nicht-jüdischen Menschen fundamental geprägt haben. Dass die Predigt das geographisch-spekulativ mit dem transjordanischen Terrain, durch das er reiste, verknüpft, verdankt sich dem Proprium des 3.Adventssonntags, an dem der Täufer und dessen Vorboten-Mission in beinah allen Schriftlesungen mittelbar im Zentrum steht.
[ii] Vgl. dazu https://gospelreformation.net/o-the-deep-deep-love-of-jesus/.
[iii] Der Predigttext ist ein besonders vollendetes Beispiel für die (rabbinische) Hermeneutik des schriftgelehrten Paulus, der durch Sammlung und Verknüpfung von Belegstellen aus dem gesamten Tenach (hebräische Bezeichnung für das Corpus aus Torah, Propheten und Psalmen) die Verkündigung des Evangeliums als „gemäß der Schrift“ begründete. In der Perikope aus Römer 15 sind deshalb bewusst Zitate aus dem 5.Buch Mose, den Psalmen und dem Propheten Jesaja verbunden, um zu zeigen, dass alle 3 Teile des alttestamentlichen Kanon dem Ziel der paulinischen Heidenmission – die Akzeptanz einer Juden und Nicht-Juden verbindenden Christus-Gemeinschaft zu schaffen – eine unumstößlich Basis bieten.
2.Advent, 08.12.2024, Stadtkirche, Jesaja 35, 3 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Advent - 8.XII.2024
Jesaja 35, 3 - 10
Liebe Gemeinde!
Der berühmte rheinische Katholik Joseph Beuys hat den Satz geprägt: „Ich denke sowieso mit dem Knie“.
Vielleicht meinte er damit die rheinische Wendigkeit, die ein solches Gelenk ermöglicht, weil die Steifbeinerten nur geradeaus zu marschieren vermögen und Spurwechsel, Um-die-Ecke-Biegen oder Umkehren lächerlich wirken, wenn man nicht federn, schwingen und seitwärts ausweichen kann. Vielleicht meinte er aber auch gut katholisch, dass man sich nur durch das Knien in seiner Demut, in seiner Bedürftigkeit nach Gnade, in seiner Selbstrelativierung vor Wichtigerem ausdrücken kann.
Auf alle Fälle ist ein Leben ohne Lockerheit und ohne Kniebeugen menschlich und geistlich arm: So scheint es mir jedenfalls, der ich derzeit auch mit dem Knie denke. Weil es mich da zwickt, spiele ich das alte Gesellschaftsspiel der Frommen, die in der Vergangenheit immer schon ihre eigenen körperlichen Schmerzen als Verbindung mit andern, wichtigeren Schmerzerfahrungen betrachteten. Sie haben ihren Hunger und Durst, ihr Fiebern oder Frieren, ihre Krankheiten und Gebrechen immer als ein Stück Gemeinsamkeit mit dem großen Schmerzensmann der Bibel oder seinen Vorgängern und Nachfolgern im Leid empfunden.
Es gibt schließlich auch im Weh genau wie im Wohlergehen ein Miteinander, das sich vertieft, wenn man spürt, was andere spürten oder was sie erwartet.
Wenn also mein Knie mich derzeit ärgert, zuckt mir die bis auf die Knochen gehende Erniedrigung und Ermattung der Versklavten in Ägypten, der Verschleppten in Babylon durch Mark und Bein. Und wenn es richtig arg ist, wird eine noch andere Passion lebendig, die Einen traf, der im Garten Gethsemane auf seine Knie fiel und auf der Straße nach Golgatha unter meinem Kreuz, das Er zu tragen hatte und an dem sie Ihm die Beine brachen, in die Knie ging. …….
Mit dem Körper zu denken, kann also den Geist durchaus verständiger und empfänglicher machen.
Und wenn wir in der Solidarität des gemeinsamen Glaubens, in der Mystik des einen Leibes Christi mit dem Körper Anderer zu denken übten, dann würde unser Hoffen und Lieben zweifellos um entscheidende Dimensionen echter, menschlicher und drängender!
Doch wer von uns, den nicht gerade irgendeine eigene Irritation piesackt, denkt sich in die praktische Erfahrung der Angeschlagenen und Gemütskranken, der Blinden und Tauben und Lahmen und Stummen hinein, die der Prophet heute als die tatsächlichen Adressaten und Empfänger des Evangeliums vom kommenden Erlöser anspricht?!
Gewiss: Wir reden von Inklusion und haben ein entferntes Bewusstsein von den Einschränkungen und Kränkungen, die leidet, wer vor seelischer Ausgebranntheit nicht aus dem Bett oder wegen seiner Armut nicht aus der Wohnung kommt oder mit seinem Rollstuhl nicht die Treppe runter oder mit seinen Panikattacken nicht unter die Leute kann; wir ahnen etwas von der Einsamkeit derer, die nicht kommunizieren oder mühelos auffassen können, was geschrieben oder gesagt wird; wir können ein wenig vielleicht nachfühlen, wie rücksichtslos das wirkt, was uns an Fähigkeiten oder Berechtigungen selbstverständlich ist, und wie zermürbt die sind, denen man ansieht, was wir verstecken oder anhört, was wir verschweigen können: Unsicherheit, Mängel, Selbstzweifel, organische Hindernisse und unbewusste Hemmungen.
Aber in der Haut der wirklich Ausgegrenzten, der wirklich tief Beeinträchtigten, der wirklich Anders-Geschaffenen, -Begabten und -Gewordenen stecken die meisten von uns nicht.
Doch diese Haut – mit allen offenen Wunden, Verletzungen und Narben, mit allen Nadelstichen und selbst zugefügten Ritzungen – … diese Haut ist es, in die Der kommt, Den Jesaja den Kaputtgemachten und Verlorengegangenen als ihren Gott ankündigt!
Das weiß Jesaja damals natürlich noch nicht so klar, und auch wir nach zweitausend Jahren Weihnachten haben es bis heute noch nicht klar und nüchtern begreifen und bekennen wollen!
Jesaja – wenn er die große, endgültige Heilsbotschaft ankündigt: „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!“ – … Jesaja kann bei diesen überwältigend trostreichen Worten nicht an ein verdrecktes Kind in löcherigen Windeln in einem Trog denken und noch weniger an einen Gefolterten, den sie nackt durch die Straßen von Jerusalem treiben, um ihn auf der Müllkippe abzumurksen. … Aber wir stehen ihm in unserer hartnäckigen Begriffsstutzigkeit unter Garantie in Nichts nach: Oder erwarten wir tatsächlich einen Streetworker des Himmels, einen göttlichen Rettungssanitäter, einen messianischen Blauhelm-Friedenseinsatz, einen Menschenrechtsheiland, einen Christus der Suppenküche und einen stellvertretenden Bringer von Gerechtigkeit und Freiheit auf dem Straßenstrich und bei den Drogendealern?
Warum erwecken wir denn mit unserer Art, die Erwartung - den Advent - zu begehen, eigentlich doch eher den Eindruck, Er komme, um Gemütlichkeitsnoten und Preise fürs Plätzchenbacken zu verteilen? Warum wirkt es bei mir und bei vielen anderen eher so, als erwarteten wir den Erlöser zum Kaffeekränzchen bei Kerzenschein und Hausmusik und müssten unsre Privaträume deshalb trendfarbig oder traditionell herausputzen?
Warum ist der Advent – biblisch recht eigentlich die Zeit der himmelschreienden Erlösungssehnsucht! – die Hochkonjunktur der Idylle unter uns?
… Nichts gegen den Duft von Bienenwachs und den Geschmack von Christstollen! Nichts gegen strahlende Schwibbögen und andere geschmackvolle Illumination in Tannengrün und Kunstschneeglitzern.
… Aber die sind ja nun allenfalls für uns und unseresgleichen eine indirekte Erinnerung an das wohlig rieselnde Leben und das gefahrlose Dasein, das der Prophet der Erlösung für die in der Wüste und der Wüstenei einer allseits lebensfeindlichen, lebensbedrohlichen Wirklichkeit ankündigt!
Wenn wir ein wenig verstehen und begreifen wollen, was die Botschaft dieser Tage – der Tage der realen irdischen Not und der ebenso realen Hoffnung für die Notleidenden – ist, … wenn wir ein wenig spüren und in uns aufnehmen wollen, was die Botschaft dieses zukünftigen Heiles ist – eines Heiles, das den wirklich Gezeichneten, den physisch und psychisch wirklich Gequälten wirkliche Linderung und Lösung bringt –, … wenn wir einen Hauch, einen Herzschlag, eine Handvoll dessen erfahren wollen, was der weltweite Horizont ist, vor dem wir in den Adventswochen stehen, weil alles auf den Umschwung, auf die Befreiung, auf den Durchbruch der totalen Verwandlung von Horror zu Heilung wartet, ……. wenn, wenn, wenn es uns - wie Gott! - um mehr als Trallala geht, dann müssen wir die Zone des Sentimentalen und des Gemütes verlassen und müssen völlig körperlich wahrnehmen!
… Mit fremden Körpern denken …
Gott und das Trauma der Folter in Russland, das im kaltem Schweiß und in Hypertonie und Herzrasen ihrer Opfer weiterlebt: In diese Spannung und was der Eine für das andere bedeuten könnte, müssen wir uns einzufühlen versuchen.
Die beinah betäubungslos Amputierten von Gaza – ihre dauerhafte Schädigung, ihre brutal abgerissenen Lebenschancen – und Gott: Das ist der Widerspruch und Zusammenhang, den wir ahnungs-, aber darum auch gänzlich schonungslos auf uns wirken lassen müssten.
Die Frustration eines Lebens, dem sich überall Barrieren entgegenstellen, und die Wirklichkeit der grenzenlose Liebe Gottes, … die Verletzung eines stigmatisierten oder auch nur übersehenen Andersseins und den Zuspruch der vollkommenen Gnade, … die Müdigkeit derer, die an sich oder anderen immer wieder scheitern, und die ohne Verdienst ausgegossene Hilfe Gottes, … die vollständige Ohnmacht des ungeborenen Lebens, dessen Tötung man in diesen Wochen vor Weihnachten von Unrecht zu Recht erklären will, und die ewige Treue Gottes zu jedem einzelnen Seiner Geschöpfe, … alle diese wunden Punkte und himmelschreienden Schmerzen und Brüche in der Menschheit sind die psychosomatische Landschaft und Körperlichkeit, in der Gottes Ankunft erwartet wird.
Diese krass organisch gedeutete, diese medizinisch gelesene Landkarte der Welt, in die der Advent Gottes steuert, findet eine eindrückliche Bestätigung, eine Authentifizierung in jener unvergleichlichen Bibelübersetzung, die unter grausamsten Krankheitsbedingungen geschaffen wurde: Franz Rosenzweig war durch ALS vollständig gelähmt und eingemauert bis auf wenige noch möglich Mundbewegungen; schließlich aber blieb ihm nur noch das Diktieren durch die Zuckung seiner Augenlider, deren Wimpernschläge einen Buchstaben-Code ergaben. In seiner unter solchen Märtyrer-Qualen gemeinsam mit Martin Buber verfassten Übersetzung des Propheten Jesaja lautet die große Adventsfanfare des herannahenden Heilers aller Gebrechen:
„Erschlaffte Hände stärket,
festiget wankende Knie,
sprecht zu den Herzverscheuchten:
Seid stark,
fürchtet euch nimmer,
da: euer Gott,
Ahndung kommt,
das von Gott Gereifte,
er selber kommt
und befreit euch!“
Gottes kardiologische Kur durch Angstüberwindung, … Seine befähigende Physiotherapie an den Händen, die nichts mehr ausrichten, den Gelenken, die nichts mehr standhalten können, … Seine stärkende Behandlung der entmutigten und entmündigten und entkräfteten Menschheit gipfelt in dem wunderwirkenden Schockmoment eines lauten und unerwarteten: „Da: Euer Gott!“
Wer diesen Impuls der tatsächlichen Gegenwart Gottes durch alle Glieder fahren spürt, … wer erlebt, wie diese Stimulation der gelähmten Hoffnung, des abgestorbenen Glaubens, der erkalteten Liebe durch Mark und Bein strahlt, weil Gott wirklich da ist, weil Er tatsächlich nicht jenseits, sondern hier erscheint und nicht körperlos, sondern mit einem Körper, ja in einem Körper anwesend ist und handelt und hilft: Den packen die Kräfte der Wiederherstellung, die bei Luther „Rache“ und bei Rosenzweig „Ahndung“ genannt werden und die in beiden Fällen keine juristische Kategorie bezeichnen, sondern den Vorgang, von dem das allerschlichteste Abendlied singt: „Deine Gnad und Jesu Blut / macht ja allen Schaden gut“ (EG 484,2)!
Gottes Advent ist also wie in allen Wunderheilungen Jesu auch eine durch Ihn ausgelöste körperliche Reaktion gegen die Minderung und Zerstörung der menschlichen Lebenskraft. Gottes Advent wird einst den Triumph der Abwehrkräfte bedeuten, die die gesamte Menschheit gegen den Tod braucht. Gottes Advent wird – wenn er sich vollständig und unendlich erfüllt hat – das ausbreiten und übertragen und zu umfassender Entwicklung bringen, was bei Rosenzweig und Buber als „das von Gott Gereifte“ begegnet.
Von dieser - treffenden - Übersetzung her ergibt sich nun aber ein faszinierender Ausblick darauf, weshalb wir immer wieder Advent feiern, obwohl sich die körperliche Ankunft Gottes, seine leibliche Gegenwart damals und seine leibliche Präsenz auch heute noch bei uns im Sakrament doch längst vollzogen haben und vollziehen. …
… Der Heiland ist ja schon gekommen.
Der Himmel und Erde in Ehrfurcht versetzende Ruf „Seht, da ist euer Gott!“ ist in staunenden, rätselhaften, geheimnisreichen Variationen über den Fluren Bethlehems (vgl. Lk.2,11), aus der Höhe überm Jordan (vgl. Joh.1,34), aus der Wolke am Berg der Verklärung (vgl. Mk.9,7), ja sogar am Fuß des Kreuzes von Golgatha (vgl. Mtth.27,54) lautgeworden.
Weshalb also begeben wir uns immer wieder neu in die Erwartung, weshalb erfahren wir uns immer wieder dennoch als Harrende und Hoffende, weshalb singen und beten wir, wie Jahrtausende und Jahrhunderte vor uns schon Jesaja und Friedrich von Spee (vgl. EG 7) auch heute noch „O Heiland, reiß die Himmel auf! – Wo bleibst Du, Trost der ganzen Welt?“
Der Blick auf unsere eigenen, aber mehr noch der Blick auf die Körper der anderen beantwortet es uns: Weil wir Menschen immer noch die Müdigkeit und Hinfälligkeit, die Hilfsbedürftigkeit, zuletzt auch immer noch die Sterblichkeit mit uns herumschleppen, die schließlich am Ziel aller Advente behoben und vergangen sein werden.
Die umfassende, allen zuteilwerdende Heilung und Wiedergutmachung, von der der Prophet spricht, sind noch nicht universal.
Die Verwandlung der dürren und immer mickriger kümmernden Natur in grünende Fruchtbarkeit und unverbrüchlichen Frieden ist noch nicht erreicht.
Die Sicherheit in unserer zutiefst verunsichernden Welt ist noch nicht eingetreten.
Krankheit, Verschmachten und Mord sind noch immer real. ――
… Doch wir Christen können und müssen das andere ebenfalls bezeugen: Gottes Gegenwart in einem anfälligen, durstigen und tödlich verletzbaren menschlichen Leib ist tatsächlich noch viel realer … weil um so vieles wunderbarer!
Die Verheißung des Advent, der den Menschen Genesung und Gedeihen bringen wird, hat sich in der Menschwerdung Gottes erfüllt.
Und seit Jesus gekommen ist, seit das Heil, das in Ihm ist, sich auf die, die Er berührte oder die nach Ihm fassten, heilend übertrug, wächst die Verheißung des Advent weiter.
Jeder Menschenkörper ist letztlich ja ein Gefäß, eine Form, die endlich dazu bestimmt ist, aufzunehmen, was da von Gott her, durch Seine Menschwerdung an unzerstörbar Gutem reift.
Gewiss: Wir wissen nur allzu schmerzhaft – auch wenn wir so selten wirklich mit den Körpern der Anderen denken, fühlen, fiebern und mitleiden –, dass nicht jeder Mensch hier durch Wunder- und durch Glaubenskraft wiederhergestellt wird.
… Aber noch viel gewisser ist kein Leben und auch kein Sterben mehr heillos, seit Gott in die Realität gekommen ist! Auch wenn „noch manche Nächte fallen auf Menschenleid und -schuld“ (vgl. EG 16,4), ist der heilige Weg doch unumkehrbar eröffnet, auf dem sämtliche Lebenden und sämtliche Gestorbenen als die Erlösten des HERRN wiederkommen und in Zion jauchzend ewige Freude erfahren werden.
Dann werden Schmerz und Seufzen entfliehen und vom Scheitel bis zur Sohle, innerlich und äußerlich werden wir sein, was der Prophet als die Verheißung, die von Gott her reift, uns allen zusagt: Stark und fest, gesund und getrost, sehend, hörend, leichtfüßig und lobend.
Die Menschwerdung Gottes wird sich in der Heilung jedes einzigen Menschen vollenden.
Und dann wird es am Ziel nur noch heißen: „Da!“
Und wird nur noch sein: Gott!
… Und wir ganz heil und vollständig in Ihm!
Amen.
1. Advent, 01.12.2024, Matth. 21, Tersteegenkirche, Jonas Marquardt
Am ersten Advent hielt Pfarrer Jonas Marquardt aus Kaiserswerth den Gottesdienst in der Tersteegenkirche, während Pfarrer Jürgen Hoffmann in Kaiserswerth predigte - ein "Pfarrertausch" also. In seiner Predigt, der das Evangelium nach Matthäus, Kapitel 21 (Jesu Einzug nach Jerusalem) zugrunde liegt, spricht Pfarrer Jonas Marquardt über die Notwendigkeit und Schwierigkeiten von (Neu)Anfängen - denn jeder Anfang ist auch ein Abschied. Der aber nur dann schmerzt, wenn darin nicht unser Herr ist, denn "unser Herr ist anders!"
Die Predigt gibt es diesmal für die Ohren, auf dem Podcastkanal der Tersteegen-Kirchengemeinde:
Ewigkeitssonntag, 24.11.2024, Stadtkirche, Psalm 126, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 24.XI.2024
Psalm 126
Liebe Gemeinde!
Es gibt drei Wirklichkeiten, die uns erlauben – vielleicht sollten wir sogar sagen: die uns zwingen – tiefste Bewegungen unsres Seelenlebens vorherzusagen.
Drei seelische Fakten (wenn man so will) sind derart stark, dass sie auch das Unterbewusste berechenbar machen: Liebe und Trauer sind zwei dieser ursächlichen Kräfte, deren vorhersehbare Folgen die Psychologie bis in das Reich des Irrationalen ankündigen kann, um sie im Nachvollzug dann auch zu verarbeiten. Beide – das glückliche Lieben und das schmerzerregende, angsterfüllte Trauern – treffen sich im Begehren, im Verlangen, in der Sehnsucht, die stärker wirken können, als der nüchterne Verstand es aushält. Dann überlässt die Seele sie der unbeschränkten, unbezähmbaren Macht des Inneren, die ohne Verstehen und ohne Erklären auskommen muss. … Und aus dem Tageslicht des Begriffenen wandern die Liebe und die Traurigkeit, die mehr sind als wir begreifen können, in das dämmerhafte Land der Träume.
… Dort nämlich sieht man sie: … Die Geliebten, … die Beweinten. Dort ist man ihnen nahe: … Den Angehimmelten, … den Abgeschiedenen. Was das Wünschen und das Vermissen endlos anheizt, das ist im Traum gewährt, ist Gegenwart.
… So kennen’s alle, die verliebt sind. … Und alle Hinterbliebenen auch: Wer das Schönste erlebt, das Schwerste erleidet, dem begegnet es über kurz oder lang in seinen Träumen, … den wunderschönen der Erfüllung, … den namenlos bitteren des spätestes beim Erwachen immer wiederkehrenden Abschieds. ——
Und nun gibt es noch eine dritte Urkonstellation der Seele, die auch träumen macht: Ein drittes Grundmotiv des Menschseins, das genau wie Eros und Thanatos – der Anfangs- und der Endschub des irdischen Lebens – ganz sicher in die Welt führt, in der das mit aller Kraft Gewünschte Gegenwart ist.
Die dritte Kraft ist unser Glaube.
Auch vom Glauben gilt, dass er über das, was wir begreifen und bewältigen können, hinausgeht. Und dass die große Verheißung, auf der er ruht, und die noch größere Hoffnung, die er weckt, zum Träumen sind, … ja, dass sie uns wie das höchste und das endgültigste der Gefühle unwiderstehlich in jenes Reich versetzen, in dem wir finden, was wir suchen.
Diese Tatsache hat Menschen immer wieder dazu verleitet, sich lustig über den Glauben zu machen und sich über ihn erhaben zu dünken: So lustig wie nur ganz traurige und so erhaben wie nur ganz niederträchtige Menschen sein können.
… Denn nur solche würden doch von der Liebe und vom Schmerz sagen, sie seien unter ihrer Würde, weil sie etwas vorgaukeln, das nicht wirklich ist.
Dass innere Nähe und äußere Trennung – Liebe und Tod also – uns beide zutiefst mit etwas verbinden, das nicht greifbar sein muss, um doch wahr zu bleiben, das spricht gewiss nicht gegen ihren Ernst, sondern vielmehr dafür! – Stärker als alles andere sind doch ohne Zweifel die, die nicht vom Vorhandenen begrenzt werden.
Und so ist auch der Glaube: Eine verbindende, Schranken von Raum und Zeit, von Angst und Not überwindende Wirklichkeit, die nicht nur im Rationalen, sondern auch im weitaus größeren Feld dessen, was über Wahrscheinlichkeit und Logik hinausgeht, wirkt und Wahrheit schafft. Auch der auf die Liebe hoffende Glaube öffnet die Tür zu den Visionen und Erfahrungen, die uns zeigen, woran wir hängen, … die uns geben, was wir brauchen, … die uns genießen lassen, was uns überall sonst verwehrt bleibt.
Auch wer glaubt, wird also über kurz oder lang wie alle, die lieben oder weinen, träumen. ———
„Opium“ sagen die einen dazu: „… Halluzination. … Vorspiegelung. … Wahn.“
Doch die Beter unseres heutigen Psalms – die, die in Israel lebten, … die, die in der Verbannung von Babylon schmachteten, … die, die jahrtausendelang in der Diaspora verblühten, … die, die um des Messias willen in den Katakomben Zuflucht suchten, … die, die Glanz und Grauen Europas erlebten, … die, die in KZ und Gulag, in Sklavenhütten und Strafkolonien ihr Elend bauten und bauen, weil man Juden verfolgt und Christen, … die, die von der Hamas geraubt wurden und die, die von den Israelis ausgehungert werden … – alle Beter unseres heutigen Psalmes sagen den Verächtern, den Lästerern, den stolzen, klugen, sicheren Gottlosen ein noch stolzeres, klügeres und sichereres Wort: „Wir w e r d e n s e i n wie die Träumenden!“
Ich wüsste kein herrlicheres Wort, keine ruhigere, stillere, stolzere Entkräftung der gesamten, trostlosen Religionskritik, mit der sich die sogenannten „Realisten“ im Trüben absichern gegen das Helle. Ich kenne kein bescheideneres, versöhnlicheres, reineres Geständnis, das man den sogenannten „Kritischen“ machen könnte, die das Schlechte, das sie kennen, verteidigen gegen das Bessere, das ihnen fremd ist.
„Ihr lebt im Reich der Wünsche! Nichts als Eure Projektionen habt Ihr! Man macht Euch allen etwas vor!“, sagen sie uns und gehen heim vom Friedhof, und das war das. ——
Und wir, mit dem Psalm auf dem Herzen, … wir, die der Psalm durch die Dunkelheit und die Trauer und den Schmerz der Jahrtausende und jedes Tages begleitet, … wir, die weinend gehen und unsren Samen streuen, … wir, in der Welt, in der die Gefangenen Zions nicht heimkehren nach dem 7.Oktober und in der es so viele gibt, die von anderer Gewalt beherrscht werden oder von der Sinnlosigkeit der Zukunft an die Kette gelegt sind oder deshalb an ihre Sucht nach Rausch und Vergessen gefesselt oder von schädlichen und trügerischen Ersatzstoffen für ein lohendes Leben abhängig sind, … wir, die uns sagen lassen sollen, dass da spinnt, wer diese Welt und ihren Kummer nicht für das letzte Wort und einzig Wahre hält:
Wir sagen mit dem Psalm ganz einfach dazu „Ja!“.
„Ja, unsre Wünsche und unsre Ziele und das, was vor uns liegt, sind nicht wie sonst die Dinge dieser Welt. Ja, denn tatsächlich sind sie nicht von dieser Welt, da ja auch wir - wie der Dichter sagt - »von solchem Stoff sind, aus dem Träume sind«[i]. Aus solchem Stoff ist darum auch die Hoffnung, … ein Stoff, aus dem man keine Bilanz und keine Waffen macht. Und darum liegen die Hoffnung und alles, was sie uns verspricht, wie die Saat verborgen im Dreck – und das unter dem täuschenden Eindruck einer verschrumpelten, vertrockneten, ganz und gar vergangenen Leblosigkeit.
Und Ja!, tatsächlich keimt deshalb in uns etwas, das sich noch nicht sehen lassen kann und dass man noch lange nicht wird zählen können, bis es zu viel zum Zählen sein wird, weil es unendlich ist.
Ja, Ihr habt Recht! In uns lebt verborgen etwas, was niemand zeigen kann. In unserm Glauben, in dem Wort und Brot, die uns speisen, in unseren Gebeten, Liedern, Feiertagen und Gottesdiensten, da wächst heran, was allem widerspricht, was man für abgeschlossen und gesichert hält. Ein Neues, eine Entwicklung, eine Kraft reift unterhalb des Alltags und des Tageslichtes, … unterhalb des grellen Blinkens und der Neonröhren in den Krankenhäusern, … unterhalb der kalten Kerzen in den stillen Leichenhallen, … unterhalb der beklommen wortlosen oder - schlimmer noch! - der geschwätzigen Friedhofskapellen, in denen man kaum mehr singt und betet, … ein Ungeahntes, Unbekanntes, ganz Vertrautes und doch nie zu Begreifendes wächst unter allem aus den erst mit toten Blütenblättern und dann mit schwerer Erde zugeschütteten Gräbern!
Und wenn wir’s auch nicht nennen können und selber kaum ahnen, kaum fassen, kaum glauben können: Ja!, Ihr habt Recht. Wir müssen Euch unheimlich in unserer Unbelehrbarkeit sein. Wir müssen Euch töricht in unserer Zuversicht, albern in unserer ergebnislosen Ausdauer, bemitleidenswert in unserer Naivität erscheinen.
Und Ja!, auch darin habt Ihr schließlich Recht, dass wir Gedanken und Bilder, Versprechen und kühne Vorwegnahmen teilen, die überall als Wunschdenken, als simpel verarbeiteter Kummer, als umgewandelte Ohnmacht, als nicht-ertragene Verzweiflung gelten.
Ja!, Ja!, und nochmals Ja! Wie allen, die lieben und allen, die trauern, geht es uns Christen tatsächlich. Wir träumen. Wir träumen von dem, was das Leben schuldig bleibt, …träumen von dem, was der Tod uns unwiederbringlich zu entreißen schien, … wir träumen von dem, was noch nie war und alle sich wünschten, wenn sie an das Wünschen noch zu glauben wagten.
Und Nein! Nein!, es ist uns nicht peinlich. Wir kommen uns darum nicht unreif oder unmodern vor. Solange Liebe und Sterben nicht aus der Mode kommen oder verboten sind, so lange werden sie und wird auch der Glaube unweigerlich zum Träumen führen!“
Freilich mit einem Unterschied:
Die Träume der Verliebten sind kein Ziel an sich und keine Erfüllung, sondern Schäume. Aus ihnen kann und soll Fleisch und Irdisches werden. Dann vergeht das Bild und beginnt das Sakrament der Tat und des täglichen Brotes.
Und die Träume, die uns als Hinterbliebenen geschenkt oder zugemutet werden – so entlastend sie in der unerträglichen Einsamkeit auch sein mögen –, … die Träume der Trauer platzen alle doch im erschütternden Eurydike-Moment, wenn der Orpheus in uns, der das geliebte Wesen aus dem Tod herausführen wollte, sich umdreht und wiederum im Abgrund sich verliert, was beinah zu uns hinüber gerettet schien.
Liebe lässt also - wenn sie glückt - die Träume um der Wirklichkeit willen irgendwann hinter sich. Und irgendwann lassen die Träume die Trauer - wenn sie gelingt - in Ruhe zu anders geordneter und getragener Erinnerung gelangen.
Bloß der Glaube träumt nicht aus.
Und schämt sich dessen nicht nur nicht. … Im Gegenteil!
Der Glaube bekennt gegen alle traum- und trostlose Nüchternheit, dass das kein vorübergehender Ersatz ist, wovon er träumt, wenn ihn ein Leben ohne Schmerz und Tod erfüllt.
Der Glaube bekennt ohne rot zu werden, dass das keine kindische Phantasie, sondern wirklich gültige und bleibende Lebenserwartung ist, was ihn im Blick auf alle Zukunft bewegt.
Der Glaube bekennt im klaren Wissen um den Spott, den er erregt, dass er nicht geschäftsmäßig auf den denkbar schlimmsten Fall eingestellt ist, sondern einer immer größeren Leichtigkeit, einer immer ungehinderteren Lebenslust, ja einem vollen, schallenden, tiefen und alles umfassenden Lachen entgegensieht.
Voll Lachens und Rühmens sieht der Glaube seiner Reifung und schließlich seinem Erblühen und Aufgehen im endlosen, seligen, lustigen Schauen entgegen. Nicht abgeklärt, nicht von enttäuschter Erwartung verbittert, nicht entsagungsvoll ohne alle weiteren Ansprüche zufrieden mit dem Wenigen, das bleibt, sondern völlig und gänzlich und heilsam und heilig in die Wirklichkeit des Guten gestellt, in der das Verlorene gefunden, das Zerbrochene heil, das Gequälte entschädigt, das Erschöpfte verjüngt ist, … in die kommende Wirklichkeit eingegliedert, in der das Entstellte wieder schön, das Missachtete geliebt, das von der Schuld Verhunzte durch die Gnade wieder zum Strahlen gebracht wird: Das ist die Aussicht, wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird.
… Nicht nur die in Ägypten oder Babylon Gefangenen oder die nach Gaza verschleppten Geiseln oder die heutigen Kriegsgefangenen oder die Foltergefangenen in den chinesischen, den iranischen und nordkoreanischen Lagern für Dissidenten und Christen, auch nicht nur die noch lebenden Mitgefangenen von Alexej Nawalny im sibirischen Straflager Nr.3 „Polarwolf“ oder die in den italienischen Abschreckungslagern in Albanien Eingepferchten, auch nicht nur die Verschwundenen in allen Diktaturen oder die absichtlich Vergessenen von Guantanamo oder die Unvorstellbares duldenden und ausbrütenden Tausende in den Drogenknasts Südamerikas, … sondern uns alle, die wir in der apokalyptischen Angst und der atheistischen Hoffnungslosigkeit und der albtraumhaften Klimafalle unserer eigenen Gegenwart festsitzen!!!
Der HERR wird die Gefangenen alle erlösen!!!
Jeden einzigen Menschen, der nicht entkommen kann aus der großen Müdigkeit und der stummen Einsamkeit, die der Tod unserer Angehörigen und der Tod, der uns selbst bevorsteht, auslösen können.
Und dann – so sagt es der Glaube mit den einzigartigen Worten unseres herrlichen Psalms – dann werden wir sein wie die Träumenden!
Diese klare, unbeirrte, in ihrer Eigenartigkeit wirklich schon hier zu lautem und jubelndem Lachen reizende Auskunft gibt wahrhaftig nur der Glaube: So sicher, dass wir nicht nur vermutlich nächtlich träumen werden, sondern dass wir bei vollem Bewusstsein wie die Träumenden werden sein und bleiben dürfen, macht keine Gemütsverfassung sonst uns Menschen.
Bei allen anderen seelischen Erlebnissen und Erschütterungen könnte ja auch der tiefe, völlig im Unbewussten verlaufende Schlaf uns überkommen.
Aber dem Glauben steht bevor, dass er hellwach und mit jeder Faser erlebnisfähig sein wird für eine Welt, wie nur die Träumenden sie kennen: Nur dass dort nichts mehr endet! Kein Abschied von Eurydike mehr! Kein grauer Morgen nach einer Nacht der Illusionen! Kein Zerfließen dessen, was schön gewesen wäre, aber doch nicht war … !
Nein! Wir w e r d e n s e i n wie die Träumenden!
Nicht weniger real, sondern wirklicher als alles, was wir bisher kennen.
Nicht unsicher im Ohngefähren, sondern für immer versehen und umgeben mit allem, was sonst als Wunschgebilde galt.
Wir werden das, was man für Utopien hielt, als reine Wahrheit erfahren (vgl. Offenb.21,4): Dass Leid und Geschrei und Schmerz nicht mehr sind. Dass alle Tränen abgewischt wurden. Dass der Bräutigam - Gott selber also - endlich gekommen und nun in unserer Mitte da ist[ii] (vgl. Matth.25,6). Dass das Fest darum unendlich währt. Und jeder, der uns fehlte, jeder, den man vermisste, dabei gegenwärtig sein darf und niemand jemals mehr verschwindet.
Und nur der Tod dann nicht mehr ist.
Sondern das, was der spanische Barock-Dichter bloß als tragikomische Parabel[iii] zu schreiben wagte, tatsächlich stimmt: „La vida es sueño“ – das Leben ist ein Traum. Unendlich. Voller Lachen. Volle Saat der Freude, die zum Leben gereift ist.
Denn das sollten wir nie vergessen: Das letzte Wort des Glaubens, das letzte Wort des Glaubensbekenntnisses ist und bleibt … „Leben“!
„Ewiges Leben“!
Amen.
[i] „We are such stuff as dreams are made on” heißt es in Shakespeares “Tempest” Akt IV, 1.Aufzug.
[ii] Evangelium des Ewigkeitssonntags
[iii] Pedro Calderón de la Barcas (1600-1681) gleichnamiges Schauspiel von 1635 wurde später von ihm selbst zu einem geistlichen Schauspiel umgearbeitet und erfuhr auch in Deutschland eine reiche Wirkungsgeschichte, die sich nicht zuletzt in zahlreichen Übersetzungen und Bearbeitungen deutschsprachiger Dichter zeigt.
In Aufnahme des Calderon’schen Motivs verknüpft Johann Gottfried Herder das barocke Vanitas-Empfinden mit der barocken Mystik eines Angelus Silesius auf theologisch souveräne Weise in einem kurzen, vollendeten Gedicht (in: Der ewige Brunnen - Ein Volksbuch deutscher Dichtung, gesammelt und hgg. von Ludwig Reiners, München 1955, S.872):
Ein Traum, ein Traum ist unser Leben
Auf Erden hier.
Wie Schatten auf den Wogen schweben
Und schwinden wir,
Und messen unsre trägen Tritte
Nach Raum und Zeit;
Und sind (und wissens nicht) in Mitte
Der Ewigkeit.
23.So. n. Trinitatis, 03.11.2024, Stadtkirche, Römer 13, 1 - 7, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 23.n.Trin. - 3.XI.2024
Römer 13, 1 – 7
Liebe Gemeinde!
Ein letztes Wort zuerst: „Es wird regiert!“
Wer das Zitat kennt, wird sich freuen; wem’s dagegen fremd ist, darf genauso froh sein. —
Über das Chaos und die Ordnung in der Welt, über die Gewalt - ihr Recht und ihre Begrenzung -, über das menschliche Miteinander in seiner Freiheit und Bindung, über das Tägliche, Vorläufige, Vorletzte in seiner jetzt nötigen und verpflichtenden Gestalt sollen wir heute also apostolisch gelenkt, biblisch begründet nachdenken: Über die Politik.
… „Das passiert in unsern Kirchen ja beinah immer“, mag man sagen. … „Und ist meistens ein erbärmlicher Schmarrn“, mag man sagen. Weil der blödsinnige Ausverkauf so total ist: Andauernd werden die Gabe und Aufgabe des Glaubens ins Politische gemünzt, aber umgekehrt wird der politische Auftrag fast nie zu treuer Pflege und großzügiger Ausbreitung des Schatzes unsres Glaubens wahrgenommen.
– „Wegen der Trennung von Staat und Religion“, erklärt man Letzteres.
– Schon Recht. … Aber wer Religion hat und politische Gestaltungsmöglichkeiten, kann doch nicht den religiösen Imperativ zwar politisch, den politischen dagegen aber nur nicht-religiös verwirklichen.
Wie also hältst Du’s mit der Politik, mit dem Staat, mit den Errungenschaften und der Verantwortung, die Dir die Gesellschaft und ihre Verfassung anbieten, lieber Christenmensch?
Das ist eine Frage voller Belang in einer Zeit, in der alle Strukturen des Gemeinwesens weltweit unfreiwillig auf dem Prüfstand, oft gar auf der Kippe stehen:
Demokratien erlöschen vor unseren Augen, weil zu wenige dafür brennen, nüchtern Verständigung und Ausgleich zu suchen, während leidenschaftlicher Eigennutz so triebhaft einfach wirkt. Gewaltlust und Gewaltherrschaft wälzen sich wie Lavaströme über vor Kurzem noch Alltäglichkeit vortäuschende Landschaften, und der Traum einer einigen Menschheit ist von vielen Seiten gesprengt worden gerade in dem Zeitalter, das allen miteinander ein riesige, gemeinschaftliche Rettungsaufgabe vorgibt.
Wir lassen die Ebene der Zivilisation hinter uns und vor uns türmt sich das Gebirge des wilden Hasses aller gegen alle, in dessen Schluchten der Abgrund der totalen Destruktion gähnt.
Und auch da, wo politische Spielräume und Geisteskräfte noch offene Bedingungen ergeben, lähmen die Nebeldämpfe und Gifte des Kleinmuts und Misstrauens die Wählenden und Handelnden. Die Agonie unserer eigenen Regierung ist eine Tragödie im Gewand einer Farce. —
Doch nun zur biblisch inspirierten Sicht auf die weltlichen Kräfte und Machtverhältnisse: Niemanden wird es wundern – weil die Bibel das Buch der Bücher, das eine Wort für alle an sich verschiedenen und zu unterscheidenden Weltwirklichkeiten ist –… niemanden also wird es wundern, dass es das denkbar breiteste Spektrum in den prophetischen und apostolischen Sichtweisen auf die verfassten Rechts- und Ordnungsformen der Völker, Nationen und Imperien gibt.
Es gibt die markanten Bedingungen und Ideale einer auf Ehrfurcht vor Gott, dem Anwalt, Beschützer und Rächer aller Angewiesenen beruhenden Lebensform, die in Israel zwischen einer charismatischen Basisdemokratie der Volkstribune bei den Richtern und der theokratischen Monarchie der guten Könige David, Hiskia (vgl. 1.Könige 18ff und bes. 2.Chronik 29ff) und Josia (vgl. 2.Könige 22f) pendelt. Und es gibt die nach dem Verlust der eigenen Staatlichkeit immer leidgeprüfter ausgeweitete Erfahrung der Bereitschaft sowohl zu Kooperation wie zu religiöser Selbstbehauptung gegenüber einer Fremdherrschaft. Ertragen von Verbannung oder Besatzung und Treue im Reservat des inneren Exils hat das Volk Gottes beide geübt.
Und der Messias Israels und seine Apostel haben sie uns - der Kirche - beide vorgelebt. Noch dazu dem gleichen Staatsgebilde gegenüber!
Jesus, der dem Kaiser bei der Frage nach der Steuer seinen Tribut ließ (vgl. im Sonntagsevangelium Matth.22,21), wusste dass er damit die Maschine ölte, in deren Machtmechanik ihm sein Todesurteil bestimmt war.
Die säkulare Weltreichs-Parodie auf das Reich Gottes hat er also nicht delegitimiert, … doch er starb - obwohl nach Roms Gesetzen - dennoch nicht wegen Roms Recht.
Dieses selbe Rom aber, in dessen Namen das eine zeitlose Unrecht geschah, das allen Zeiten jene Gerechtigkeit eröffnete, die vor Gott gilt - die Gerechtigkeit, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus (vgl. Rö.3,22) - dieses selbe Rom wird von den Aposteln auf zwei völlig verschiedene Weisen beurteilt:
Der einzige Apostel mit römischem Bürgerrecht, Paulus, der unter Nero als Angeklagter strikt nach römischer Rechtsordnung hingerichtet wurde, und Johannes, der Lieblingsjünger des Herrn, der unter dem tyrannischen Kaiser Domitian das Martyrium um Christi willen fand, könnten im Blick auf die Weltmacht gegensätzlicher nicht sein.
Für Johannes ist Rom die apokalyptische Anti-Zivilisation des himmlischen Jerusalem, … das bestialische Prinzip (vgl. Offenb.13), die Hure Babylon (vgl. Offenb.17). Die immanente Macht des alten Äon bedeutet für den Zeugen der Offenbarung der neuen Welt Gottes also reinen Schreck und Drohung.
Für Paulus dagegen, den Weltmissionar, der auf römischen Straßen wanderte und sich öffentlichkeitswirksam vor römischen Zivilbeamten (vgl. Apg.24f) verteidigte, ist das Verwaltungs- und Justizwesen des Imperium der Rahmen, in dem sich Sammlung und Sendung der christlichen Vielvölkergemeinde vollziehen können.
Zwei vollkommen verschiedene Bilder des global Politischen sind das: Als feindliches Prinzip der Kinder Gottes und ihrer Heimat oder als gestaltbar Gegebenes für ihren Auftrag unter den Menschen.
Weshalb es wichtig ist, dass wir dieses biblische Sowohl-als-auch vor Augen haben – das keinen Widerspruch, sondern eine Ausstattung für Sommer und Winter, eine Ausrüstung für die Wechselfälle der Weltgeschichte bedeutet – … weshalb es also wichtig ist, uns zu erinnern, dass nicht nur die johanneische Kraft der Gegenwelt und auch nicht allein die pauli-nische Dynamik der Weltgestaltung schriftgemäß sind? – Um dem notwendigerweise immer bloß ideologischen Standpunkt vorzubeugen, dass es dogmatisch nur einen, „wahren“ christlichen Ansatz in politischen Streitfragen und Lösungsversuchen geben könne.
Neben der berühmten, im Protestantismus viel zu lange exklusiv herrschenden Obrigkeitslehre von Römer 13 gibt es eben auch die Widerstands- und Verweigerungstraditionen der Märtyrer und der Nonkonformisten im Geist, im Gewissen und im Glauben. ——
Jetzt endlich aber zu der Stelle, die so tief bei uns gewirkt hat, dass sich die reformatorische Kirche im lutherischen Bereich überall unter das sog. „weltliche Schwert“ Gottes beugte, das sie in den Feudal- und Landesherren am Werk sah. Sie machte sich darum konsequent und unterwürfig abhängig von den Kurfürsten, den Landgrafen und später den Königen, denen das „Summepiskopat“, das landesherrliche Kirchenregiment zukam.
Der Wahnsinn dieser Verwechslung von Macht und Recht hat zu absurden Irrungen geführt: Mein eigener Urgroßvater etwa, bolleriger und gewiss auch bornierter pommer’scher Pfarrer, ließ seine nach 1918 volljährigen Söhne gegen die familiäre Tradition nicht mehr Theologie studieren, weil in der Republik ja eine führungslose Kirche entstanden war, die ohne kaiserliches Haupt keine gültige Verfassung mehr haben konnte!??? …
Dass nun allerdings Paulus gesagt haben sollte, nur die weltliche Obrigkeit, als Gottes Dienerin könne bis in die Kirche hinein für Ordnung sorgen, das steht wahrhaftig nicht im 13. Kapitel des Römerbriefes. Von zwei einander bedingenden Regimenten oder Regierungsweisen Gottes, von den später so genannten beiden Reichen einer strafenden äußerlichen Gewalt - dem Staat - und einer gnädigen innerlichen Seelenführung - durch die Kirche - ist hier nicht die Rede[i].
Sondern vom herrlich mutigen, ja übermütigen Vertrauen dessen, der alleine in der Kraft des Heiligen Geistes die weltweite Anerkennung eines von der römischen Justiz zum Tode Verurteilten als Richters und Retters der gesamten Menschheit anstieß.
Dass ausgerechnet Paulus, der sich mit seiner Predigt gegen das Urteil der Weltmacht stellte, in dieser Macht nichtsdestotrotz die schützende, ordnende, friedenstiftende Funktion erkannte und guthieß, … dass er in den weltlichen Strukturen des Staates eine Kraft sah, die der Freiheit seines Gewissens und der Aktivität seiner Begeisterung einen Rahmen eröffnete und der Verkündigung von Jesus Christus über Grenzen der Sprachen und Sitten hinweg geradezu einen Weg bahnte, … dass Paulus also im Raum und in den Regeln des Politischen die Gelegenheit erkannte, die nur so für das Werk, das alle Menschen betrifft, gegeben sind: Das ist ein bleibender Maßstab.
Paulus hat damit nicht den Grundsatz vertreten, dass alles, was die weltliche Instanz anordnet, wie göttlicher Befehl befolgt werden müsse, sondern dass die Tatsache solcher weltlichen Instanzen der planenden Zulassung, dem Ordnungswillen Gottes entspricht:
Dass es in der Welt nicht nur wild entfesselte, sondern zweckgebundene Gewalt, … dass es im Miteinander nicht nur anarchische Willkür, sondern verfasste Mandate[ii] gibt, … dass Menschen nicht zügellos, sondern in prüfungs- und dann auch bewertungs- und schließlich auch sanktionsfähiger Rechenschaftspflicht existieren, das ist ein im Willen Gottes begründeter und begünstigter Zustand, zu dessen Erhaltung und Einhaltung Paulus seine Gemeinde ermahnt.
Im gegenwärtigen katastrophalen Schwinden dieser Erkenntnis wird sein Aufruf zur Mitwirkung an dem, was die säkulare Regierungsgewalt gewährleisten kann, geradezu dringlich. Wenn wir uns die Verachtung für das Gemeinwesen, die schamlose Vermeidung von Steuer- und Solidaritätspflichten, die immer brutalere Respektlosigkeit gegenüber Ordnungs-, Hilfs- und Rettungskräften, die immer unverhohlenere Infragestellung aller Autoritäten und allen Rechtes vor Augen führen, dann wird aus dem Grundsatz, jedermann solle sich in die Bedingungen unter gegebener Obrigkeit einordnen, kein staatsfrommer Befehl zum Kuschen, sondern ein zeitgemäßes Ethos, ein Rückruf zur Ordnung und zu konstruktiver Kooperation.
Umgekehrt lehrt uns die verantwortungsscheue und entscheidungsschwache Regierungsführung, die wir angesichts der beklemmend großen und gigantisch komplexen Kriegs- und Klimanotstände in der Politik der liberalen Demokratien erleben, tatsächlich noch eine ganz andere Seite des paulinischen Obrigkeitsethos: Es gilt nicht nur, zur christlichen Kooperation mit denen aufzurufen, die das menschliche Miteinander vor Zerfall und Anarchie schützen sollen, sondern wo der Auftrag dazu besteht, da muss er tatsächlich auch ausgeübt werden! … Schmerzhaft und unpopulär bis zur Erfahrung, ja sogar bis zur Notwendigkeit, dass das Walten der Macht als Schranke und als Strafe wirkt, muss regiert werden. Sonst schwemmt der furchtbare Strom der losgelassenen Zerstörungskräfte, wo ihm nicht hart gewehrt und klar gegengesteuert wird, die Ordnung und mit ihr das Recht davon: Wir brauchen regierende Regierungen und an deren Verantwortung mitwirkende, in deren Gestaltungsrahmen sich einordnende Bürger. … Nicht weil Staat und Politik eigengesetzliche Selbstzwecke wären. Sondern weil der gesamte Sinnzusammenhang des Obrigkeitskapitels Römer 13 gerade nicht in ihm selbst zu finden ist, da die Kapitelabgrenzung ja spätere, nicht immer sinnvolle Einteilungen abbildet.
Der Leitsatz des so positiven, mutigen und ermutigenden Blickes, mit dem Paulus diejenige Ordnung würdigt, die ihn zwar das Leben kosten, aber gleichzeitig unfreiwillig dennoch dem Evangelium und der Kirche die Zukunft eröffnen wird, … der Leitsatz der politischen Theologie des Apostels ist der letzte Vers von Kapitel 12, in Wahrheit der Obersatz alles dessen, was folgt: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“
Dem Guten zur Durchsetzung zu verhelfen, dem Evangelium und mit ihm der Liebe Gottes und Seiner Gerechtigkeit Wege in die Welt zu bahnen: Das ist der Zweck, zu dem – wie wir mit dem Barmer Bekenntnis heute bekräftigt haben (vgl. Barmen 5 [EG 858, S.1379]) – Gott „in der noch nicht erlösten Welt“ den Staat und die Politik ihr Amt ausüben lässt.
Und es ist Grund und Anlass, dass wir in konstruktiver, wenngleich unabhängiger Weise den Anordnungen der Verantwortlichen, die dem Wohl der Menschengemeinschaft dienen, als christliche Gemeinde unsere Unterstützung, unsere tätige und geistige und nicht zuletzt unsere geistliche Kooperation schulden.
Im kleinen, aber unerschütterlich treuen Gebetskreis, den wir hier an der Stadtkirche haben, ist ein großer Beter, der - weil er selbst im öffentlichen Dienst bei der Polizei gestanden hat - so vollmächtig und kraftvoll bei Gott eintritt für alle Ämter und Einrichtungen, für alle berufenen und alle ehrenamtlichen Einsatzkräfte, die unserer Gesellschaft dienen, dass ich fest davon überzeugt bin, hier geschieht mehr politisch Sinnvolles als an vielen quasselnden, rhetorisch lautstarken, praktisch aber unverbindlichen und unnützen Stellen des säkularen Betriebs.
Aber auch wenn wir nur still beten für die Anliegen unserer Mitmenschen, … für die natürliche und die soziale Ordnung auf dieser Erde, … für die schicksalhaften Wahlen in Amerika, … für die Leidtragenden in Gaza, Israel und Libanon, … für den Frieden in der Ukraine, … für die verfolgten Christen in aller Herren Länder und für die freie Ausbreitung des Evangeliums, so ist das unser stärkster und nachhaltigster, unser entscheidendster und weltbewegender Beitrag zur Politik dieses Zeitalters!
Denn das letzte Wort lautet ja: „Es wird regiert!“[iii]
Mit diesem kindlichen Bekenntnis eines hochpolitischen Glaubens hat der greise Karl Barth am Vorabend seines Todes sich von seinem Freund Eduard Thurneysen verabschiedet.
Er hatte politisch eigensinnig, zwischen Widerstand und Versöhnung konstruktiv ein Leben lang der Herrschaft Gottes in der Christengemeinde und im ganz weltlichen Rahmen des Menschengeschlechts zu dienen versucht[iv].
Aber er wusste dennoch und zuletzt, dass die zählenden Taten, … die Wendungen, die notwendig sind, … die Pläne, die nicht aufzuhalten sein werden und die Entscheidungen, die bleiben, weil sie Heilsgedanken des Friedens, der Hoffnung und der Zukunft verwirk-lichen (vgl. Jer.29,11), von Gott stammen.
Er ist es, Der regiert!
Darum sei auch Ihm - dem König aller Könige und Herrn aller Herren, der allein gewaltig ist und unsterblich – allein Ehre und ewige Macht (vgl. 1.Tim.6,15f)[v]!
Amen.
[i] Nach wie vor erhellend und kritisch zugleich im Blick auf dieses Zentralmotiv der lutherischen Lehre in politicis ist: Ulrich Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung - Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre, Stuttgart 19832.
[ii] Dieser Begriff hat eine – vielfach problematisierte, aber dennoch weiterhin erschließende – Funktion in der Ethik Dietrich Bonhoeffers; „Unter »Mandat« verstehen wir den konkreten, in der Christusoffenbarung begründeten und durch die Schrift bezeugten göttlichen Auftrag, die Ermächtigung und Legitimierung zur Ausrichtung eines bestimmten göttlichen Gebotes, die Verleihung göttlicher Autorität an eine irdische Instanz. Unter Mandat ist zugleich die Inanspruchnahme, die Beschlagnahmung und Gestaltung eines bestimmten irdischen Bereiches durch das göttliche Gebot zu verstehen. Der Träger des Mandats handelt in Stellvertretung, als Platzhalter des Auftraggebers. Recht verstanden wäre auch der Begriff der »Ordnung« hier verwendbar, nur daß ihm die Gefahr innewohnt, den Blick stärker auf das Zuständliche der Ordnung als auf die die Ordnung allein begründende göttliche Ermächtigung, Legitimierung Autorisierung zu richten, woraus dann allzu leicht die göttliche Sanktionierung aller überhaupt existierenden Ordnungen und damit ein romantischer Konservatismus folgt, der mit der christlichen Lehre von der 4 göttlichen Mandaten nichts mehr zu tun hat“ (D.Bonhoeffer, Abschnitt: Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate, in: ders., Ethik, hgg. v. I. und H.E. Tödt u.a. [DBW Bd. 6], München 1992,S.392f.) Die vier von Bonhoeffer erkannten und ausgelegten Mandate Gottes in der Welt sind Arbeit/Kultur, Ehe, Obrigkeit und Kirche.
[iii] Eberhard Busch weist zurecht daraufhin, dass dieser Satz, der gemeinhin als Barths letzter Ausspruch gewürdigt wird, ein Zitat von Christophe Blumhardt darstellt, vgl. Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 1986, S. 515.
[iv] Ohne Barths maßgeblichen und sein Lebenswerk charakterisierenden Gegenentwurf zur lutherischen Zweireichelehre auch nur im Umriss skizzieren zu können, sei doch verwiesen auf die leicht zugängliche Sammlung zweier seiner Grundtexte dazu: Karl Barth, Rechtfertigung und Recht (ursprüngl. 1938) + Christengemeinde und Bürgergemeinde (ursprüngl. 1946) , erschienen als: Theologische Studien, Bd.104, Zürich 19894. Dort heißt es: „Wo Bürgergemeinde, wo Staat ist, da haben wir es (…) nicht etwa mit einem Produkt der Sünde, sondern mit einer der Konstanten der göttlichen Vorsehung und Weltregierung in ihrer zugunsten der Menschen stattfindenden Gegenwirkung gegen die menschliche Sünde und also mit einem Instrument der göttlichen Gnade zu tun. Die Bürgergemeinde hat mit der Christengemeinde sowohl den Ursprung als auch das Zentrum gemeinsam. Sie ist Ordnung der göttlichen Gnade, sofern diese (…) immer auch Geduld ist. Sie ist das Zeichen dafür, daß auch die noch (oder schon wieder) der Sünde und also dem Zorn verfallene Menschheit in ihrer ganzen Unwissenheit und Lichtlosigkeit von Gott nicht verlassen, sondern bewahrt und gehalten ist. Sie dient ja dazu, den Menschen vor dem Einbruch des Chaos zu schützen und also ihm Zeit zu geben: Zeit für die Verkündigung des Evangeliums, Zeit zur Buße, Zeit zum Glauben. …… Sie (scil. die Bürgergemeinde / der Staat) hat also keine vom Reich Jesu Christi abstrahierte, eigengesetzlich begründete und sich auswirkende Existenz, sondern sie ist – außerhalb der Kirche, aber nicht außerhalb des Herrschaftskreises Jesu Christi – ein Exponent dieses seines Reiches. Sie gehört eben nach neutestamentlicher Erkenntnis zu den »Gewalten«, die in ihm geschaffen und durch ihn zusammengehalten sind (Kol.1,16f) (…). Gottesdienst ist also nach dem ausdrücklichen Apostelwort (Röm.13,4.6) auch das Handeln des Staates“ (aaO, S.54f). Diese christozentrische Sicht auf das Weltliche in seiner Christus untergeordneten Struktur und gerade als weltlicher darum auch autonomen Wirklichkeit ist und bleibt fundamental verschieden von der Sakralisierung des Staatlichen, wie sie etwa im byzantinischen Cäsaropapismus eine so unselige Geschichte und nun eine himmelschreiend perverse Gegenwart in der kyrill’schen After-Kirche in Putins Russland hat.
[v] Dies der Wochenspruch und das erkenntnisleitende Prinzip des gesamten Gottesdienstes am 23.Sonntag nach Trinitatis.
Reformationstag, 31.10.2024, Stadtkirche, Psalm 81,11, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 31.X.2024 – Reformationstag
500 Jahre evangelisches Gesangbuch (sog. Acht-Liederbuch von 1525) unter besonderer Berücksichtigung des Liedes „Inn Jhesus Namen wir heben an“[i] und Psalm 81,11
Liebe Gemeinde!
Heute sind es nicht die legendären Hammerschläge von vor 507 Jahren, die bis zu uns herüber hallen.
Es sind auch nicht die markigen oder giftigen Trutz- und Streitworte Luthers; es ist nicht einmal die für viele von uns unterbewusst stilbildende Sprachmelodie und Metrik der Lutherbibel.
Die Thesen und die Kämpfe von damals, die ursprünglich frisch aufblühende Wortschöpfung und Wortschönheit jener Zeit, die inzwischen oft so steif und staubig wirkt, die Schlachtrufe und Kernsprüche, die wir anachronistisch oder museal weiter pflegen: Das alles geht uns heute nicht unmittelbar an.
Sondern nur das eine Leitmotiv der Reformation: Ihr Gesang.
Denn auch wenn das brütende, betende Schweigen von Klosterzelle und Studierstube, … auch wenn der weitschweifig hohe Ton der Hoftage und Kanzleischreiben, … auch wenn das Rasseln und Krächzen der päpstlichen Erlasse, Bullen, Dekrete und Bannflüche, der polemischen Pamphlete, Flugschriften und Hetzblätter mit dem immer lauteren Klappern der Druckerpressen beider Seiten die Geräuschkulisse des 16.Jahrhunderts ausmachte, so ist das alles doch längst verstummt, verblasst und verweht.
Es ist still um die Sache des 16.Jahrhunderts geworden, die doch auch die Sache des 1. und des 4.Jahrhunderts, des 13. und sogar noch des 20.Jahrhunderts war. … Diese Sache, die da lautet: „Mensch und Gott“, „Gott und Mensch“.
Vielen heute scheinen sie nichts mehr sagen zu können: „Gott und Mensch“.
Der Mensch allein, der Mensch in seiner von Gott geschiedenen Einsamkeit ist sich zwar noch ein Thema. Aber alles Weitere – die Natur oder der Himmel oder das Herz oder die Anderen – ist nicht mehr wichtig.
Und Gott schon gleich gar nicht.
Nur mit und von sich selbst spricht der Mensch noch, … und damit es nicht allzu schaurig, allzu kafkaesk wird, wie da ein irres Selbstgespräch sich windet und verheddert, darum hat die Menschheit eine große Echokammer angelegt, in der alles, was sie jemals von sich gab, gespeichert, wiederholt und variiert wird und im Abgerufen-Werden dann die Illusion erweckt, ein Gegenüber rede zu den Menschen und es bringe Sinn und Ordnung und Einfälle und System in den ganzen Unsinn und Wortsalat, den sie um sich herum immer schon und immer gleich erzeug haben.
Die Maschine und ihre Intelligenz sind dem Menschen also geblieben.
Und darum erzieht die Maschine jetzt seine Kinder, pflegt bald seine Kranken, versieht die Alten demnächst mit dem, was da technisch noch sein muss und macht den Menschen zwischen dieser maschinell betriebenen Bildung und diesem programmiert begleiteten Sterben zufrieden und gefügig, indem sie ihn hübsch kriegen lässt, was er bestellt, sehen lässt, was ihm träumt, zu verstehen gibt, was er verstehen will und hören macht, was aus ihm selber hervor- und in Endlos-Schleife wieder zurück in sein geschlossenes System ohne anderen Ein- und Ausgang geht. —
Spricht aus dieser Schilderung des in sich verkrümmten Monologmenschen aber nur die zurückgebliebene oder überforderte oder furchtsame oder verächtliche Haltung dessen, der die Vorteile und Möglichkeiten der Menschenmaschine nicht kapiert oder nutzt? …
Nein. … Nicht nur.
Sondern aus solchem Schauder vor dem nur mit sich selbst brabbelnden Menschlein in dieser armen, tür- und fensterlosen Welt des materiellen Diesseits spricht eine andere Erfahrung: Das große, weite, befreite, wachsende, herrliche Staunen, das in der Reformation wie in jeder echt christlichen Erfahrung aufbricht und wächst.
Das Staunen und Jubeln darüber, dass wir nicht alleine sind. Dass wir nicht verschlossen und verbannt, nicht verlassen und verloren leben müssen, sondern dass wir im Gegenteil aufsehen und unsre Häupter erheben und dann sehen dürfen, wie die Erlösung, wie der Erlöser nahe (vgl. Lk.21,28), … wie Er ganz dicht bei uns in, „in unserm Mund und in unserm Herzen ist“ (5.Mose 30,14).
Diese aufsteigende, überwältigende Freude daran, dass Gott uns nahe sein will, dass wir nicht ohne Ihn und auch nicht von Ihm tief getrennt und weit entfernt, sondern wirklich mit Ihm leben dürfen, ist der Durchbruch, den wir heute feiern.
Und in der Reformation hat diese Begegnung des Menschen mit seinem treuen, gnädigen, erbarmenden, rechtfertigend-rettenden Gott eine ganz unmittelbare Gestalt angenommen, die auf der ersten, grundlegenden christlichen Glückserfahrungen der Gottesnähe aufsetzt.
Beide haben ein gemeinsames Motiv, … das bewegend unmittelbare Psalmwort (81,11), das über unserer Gesangsfeier heute steht: „Tu deinen Mund weit auf, lass mich ihn füllen.“
Christentum schenkt uns nichts anderes, als was wir im 5.Buch Mose von der Tora hören, … die Urerfahrung nämlich, Gott in den Mund nehmen zu dürfen, … und darin die erste und lebensnotwendige Erfahrung aller, die in die Welt kommen: Mit dem Mund ergreift schließlich das Neugeborene das Leben. Es öffnet seinen Mund und wird genährt.
Darum ist das Sakrament des Genährtwerdens, die Gnadengabe Gottes als unseres Lebensmittels das erste grundlegende und das bleibend größte Fest der Christenheit.
Sie feiert und sie lebt die Eucharistie: Das Wunder, Gott in den Mund und in ihr ganzes Dasein aufnehmen zu dürfen. Und in diesem Wunder die ganz unmittelbare, psycho-somatische Dankbarkeit dafür, durch nichts Geringeres als Gott leiblich und wirklich leben zu dürfen!
„Tu deinen Mund weit auf, lass mich ihn füllen!“ - Das ist pures Evangelium, wie es zu reiner Eucharistie wird. Gott schenkt sich uns konkret und speist unser Leben physisch und psychisch mit dem Glück, aus Ihm genährt, gestärkt und aufgebaut zu werden.
Das aber ist etwas, das die Maschine nicht kann: Sie kann nicht leiblich, sie kann nicht real genährt werden. Zwar stopfen wir sie virtuell voll und füttern sie abstrakt, aber nichts davon kann sie sich organisch aneignen. Die Maschine bleibt ein bloßer Speicher des ihr fremden Menschlichen.
Die Christen dagegen dürfen Gott direkt im Menschlichen aufnehmen: Er wird tatsächlich ihr Fleisch, Er wird ihr Brot und ihres Lebens Kraft. Gott wird ein Teil von ihnen und sie ein Teil von Ihm.
„Gott und Mensch“: Das ist das Thema!
Und auf diese eucharistische und aller Kirchentrennung vorangehende Tiefenerfahrung der leib-seelischen Gemeinsamkeit, der elementaren Kommunion zwischen Gott und Mensch antwortet die Reformation, indem sie auf die zweite, ganz charakteristische Weise Gott in den Mund nimmt!
Reformation ist zunächst tatsächlich ein großes, volkstümliches, menschenfreundliches Auffüllungsmanöver. Leere Speicher – um im durchgehenden Bild der Informationstechnik zu bleiben – werden überreich bestückt: Mann und Frau und Kind und Kegel sollen mit der Wortgestalt des Evangeliums, mit der Milch-und-Honig-und-Schwarzbrot-Kost der Schrift großzügig und großmütig ausgestattet werden. Beinah wie in den Kammern des weltweiten Gesamtgedächtnisses dürfen sich die Menschen des 16.Jahrhunderts die Herzkammern und die Echoräume ihres Unterbewussten vollladen mit Bibelschätzen und Trostsprüchen und Klarheitsbotschaften und Glaubenskernpunkten und Beweisstücken und Gewissheitsgründen.
Sie dürfen und sie sollen es alles in sich aufnehmen: Übersetzt, katechetisch geordnet, in Versform leicht zugänglich, in Bearbeitungen und in Auslegungen, in Sendschreiben und in Predigtpostillen für den Gebrauch und die Erbauung und die Rechenschaft und die mündige Vergewisserung aller Welt und aller Leute wird das Evangelium zum Allgemeingut, zum Volksgut, zum Menschheitserbe und zum ganz unmittelbaren, persönlichen, intim-individuellen Geist- und Seelenstoff der Menschen.
Davon legt das wunderbar umfangreiche, kraus-systematische, dogmatisch-praktische Lied, mit dessen Anfangsstrophen unser Gottesdienst heute anhob, Zeugnis ab. Enzyklopädisch und sehr genau sammelt es Belegstellen und fundamentale biblische Merk- und Lehrsätze zur paulinischen Botschaft von der Gerechtigkeit aus dem Glauben und erweitert diesen theoretischen Fundus des reformatorischen Verstehenshorizonts um ethische Grundsätze.
Rechtfertigung und Heiligung, das Vertrauen und das Verhalten, die aus dem Evangelium entstehen, verknüpft es und fasst beide - die Überzeugung und die Praxis der Reformation - zugleich anspruchsvoll wie bündig zusammen.
Solche Extrakte, solche Verdichtungen theologischer Erkenntnis, solche gemeinverständlichen Summen biblischer Theologie, solche gut zu memorierenden Zusammenfassungen dessen, was Luther und die Seinen entdeckten, was Kirche und Gesellschaft kontrovers aufrüttelte und schließlich umgreifend veränderte, sind die Lieder, die in den ersten Gesangbüchern der protestantischen Konfessionen ihren Siegeszug antreten sollten. Nachvollziehbar, volkssprachlich, mündig und seriös erschlossen sie der gesamten Öffentlichkeit den Zugang und die Teilnahme an den bewegenden Fragen und Antworten der erneuerungsbedürftigen und -bereiten Christenheit.
Darin haben die Lieder der beiden ersten Generationen der evangelischen Erneuerung beinah einen uns ganz informationstechnisch-zeitgenössisch anmutenden Charakter. Sie bündeln biblische Fakten und Texte, sie speichern geistliches Wissen, sie formulieren und komponieren kollektiv-kreative Gesamtlösungen seelischer Gegenwartsprobleme. …….
Das alles aber ist nur die pädagogisch-mediale Seite dessen, was wir im Gesangbuch als unser bestes, lebendigstes Erbe heute nach einem halben Jahrtausend bedenken und feiern.
Letztlich wäre es aber alles museal und konservatorisch, wenn es dabei bloß um den gespeicherten Gehalt dessen ginge, was wir „Choral“ nennen. Worum es bei den Chorälen aber tatsächlich viel, viel intensiver geht als um ihre theoretische Fracht, ist ihre praktische Gestalt. Auch sie gehorchen der Verheißung: „Tu deinen Mund weit auf, lass mich ihn füllen!“
Choräle sind das unverwechselbare zweite Ereignis, bei dem wir Gott in den Mund nehmen dürfen. In ihrem Gesang geschieht das lebendige und lebensnotwendige Echo auf die Eucharistie: Wer von Gottes Wirklichkeit zehren darf, soll Seine Wirklichkeit auch mehren! Die singende Gemeinde, … der Mund, der voll Rühmens ist, … die Männer-, Frauen und Kinderlippen, auf denen Bekenntnis und Lob liegen: Sie sind die organische und reale, die konkrete und leibliche Bestätigung und Bestärkung des Evangeliums.
Darum ist der Gesang der Reformation kein historisches Prunkstück unserer Vergangenheit, sondern die nötigste, überlebensnotwendigste Gestalt christlicher Gegenwart und Garantie christlicher Zukunft.
Wenn niemand mehr Gott in den Mund nimmt, … wenn von Ihm und Seiner Liebe, wenn von Seiner rettende Größe und Seiner wunderbaren Gnade nirgends mehr gesungen würde, dann wäre es darum geschehen, dann wäre es erledigt: Das Thema Gott und Mensch.
Denn so wahrhaftig Gott im Evangelium Wort und Fleisch wird und im Sakrament unser leibliches Leben, so wahrhaftig wird Er in unserem Gesang physisch unverwechselbare Gegenwart in einer abstrakt und virtuell entkörperten Welt.
Genauso wenig wie sie nämlich essen kann, kann die Maschine singen.
Sie kann nichts Fremdes wirklich in sich selber aufnehmen und sie kann ihm darum auch keine wirklich eigene Ausstrahlung, keine noch nie dagewesene Schwingung schenken. Sie kann nur mischen und wiedergeben.
… Dagegen der Mensch aus Leib und Seele nimmt Gott tatsächlich in sich auf und er gibt Ihm in seiner je eigenen Stimme einen je eigenen, einen einmaligen Klang. Wenn wir von Gott singen, dann hat es sich in allen Jahrmillionen und in allen Legionen der unsterblichen Engel noch nie so angehört, noch nie so zu hören gegeben wie gerade jetzt:
Mit dem, was in Deiner und in meiner Stimme – und das heißt ja auch in meiner und in Deiner Stimmung und Erfahrung und Lebenswirklichkeit – heute mitschwingt, ist noch niemals die Nähe Gottes oder die Dankbarkeit für Ihn oder das Glück oder das Leid, in die wir Ihn in unserem Dasein unlöslich einbezogen wissen dürfen, ausgedrückt worden.
Die Müdigkeit oder Brüchigkeit, der Glanz und die Kraft einer Stimme sind nie zweimal gleich. Der tiefe oder der gepresste Atem, die von Leid getönten oder von Freude glühenden Stimmfarben wechseln unerschöpflich, unnachahmlich, unwiederholbar.
Und so ist jedes Lied, jeder Choral aus jenen Büchern von vor einem halben Jahrtausend oder aus allen späteren, allen neuen, alle noch unerhörten Gesängen der Glaubenden ein einzigartiger Moment, in dem wir Gott in den Mund nehmen dürfen und in dem Er – der allein wahre, ewige, einzige Gott – neu und ursprünglich und unverwechselbar durch uns zur Welt kommt in einer Gestalt, die lebendig ist und weder aufbewahrt, noch vorweggenommen werden kann.
Darum heißt es nicht erst in reformatorischer Zeit, sondern seit dem Jubel der Engel als die Schöpfung begann, dass wir Gott ein neues Lied singen sollen und wollen (vgl. Psalm 33,3/ 40,4 / 96,1 / 98,1 / 144,9)!
Weil Er uns immer wieder und in end- und wiederholungsloser Neuigkeit und Treue den Mund mit sich selber füllen wird: Damit wir leben und die Welt durch uns mit Ihm lebendig durchdrungen wird!
Es ist also keine Feier des Alten und Geschichtlichen, sondern des Atems jetzt in diesem Augenblick und der unerschöpflichen Zukunft, wenn die Kirche Gottes Lob singt und dadurch das Ewige neu gegenwärtig wird.
Nehmen wir es also als rechtfertigende Gnade und als heiligen Auftrag wahr:
Wir sollen Gott in den Mund nehmen!
Durch Ihn leben, um Ihn zu loben!
Amen.
[i] Vgl. die 19 Strophen dieses anonym überlieferten Liedes unter https://de.wikisource.org/wiki/Inn_Jhesus_namen_heben_wir_an.
Michaelis, 29.09.2024, Stadtkirche, 4.Mose 22,31 - 35, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Michaelis - 29.IX.2024
4.Mose 22, 31 - 35
Liebe Gemeinde!
Gut und gern wäre heute über den sechsten Sinn in der Schöpfung, über das Gefühl der Kreatur, über die Wahrheit, wie nur die Natur sie wahrnimmt, zu sprechen. Gern und gut wäre heute also das Evangelium nach der Eselin zu predigen: Eine rauhe Stimme dieser Welt, die den Boten und die Botschaft der größeren und feineren Welt Gottes bekennt.
Aber bevor wir die hellhörige Aufmerksamkeit und nüchterne Demut der stockenden, bockenden Eselin preisen, die Bileam rettete (vgl.2.Petrus2,15f), den käuflichen Verflucher Israels, der im Auftrag der Moabiter das Volk des Exodus durch Bann und Zauber an seiner weiteren Wanderung hindern sollte, … bevor wir also das Lob des Langohrs singen, stimmen wir besser einen Klagegesang an auf uns Bileamiten.
… Uns, die weder sehen noch hören, weder bremsen noch umkehren, wo Cherubim und Seraphim, wo Throne und Herrschaften, Mächte, Gewalten und Fürstentümer, wo Erzengel und Engel unsern Weg säumen und unser Leben begleiten.
Reden wir also nicht von der gesegneten Eselin, sondern über uns.
Ganz praktisch:
Wer kennt den Namen des Briefträgers? Wer dankt dem Busfahrer? Wer bemerkt, dass geputzt wurde und dass sie in der Notrufzentrale die ganze Nacht über gewacht haben? Wer weiß Näheres über die Lebensgeschichte und die Lebensträume der 24-Stunden-Pflegekraft, die im Elternhaus mehr ersetzt, als man selbst hätte leisten können? Wer sieht noch das Gesicht der Hebamme, die damals die eigenen Kinder zu entbinden half? Wer ahnt heute schon, wer’s sein mag, der uns einmal waschen und einsargen wird, wenn wir gestorben sind?
Wir leben so blick- und wortlos inmitten der Hilfe, die uns umgibt.
Tausende Hände und Augen, tausende Dienste und Taten gelten uns – von der kleinen Teepflückerin im Himalaya bis zu den bald fast 5000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr Brigade in Litauen –, und wir scheren uns nicht drum.
Dank- und grußlos lassen wir uns schützen und erhalten.
Und haben dabei eine Kultur der Unzufriedenheit, des schamlosen Anspruchs und der ausbeuterischen Selbstverständlichkeit entwickelt, dass es zum Fürchten ist.
Wir sind eine Gesellschaft der Angewiesenen geworden, die sich selbst nicht Rechenschaft darüber gibt, wie sie an keiner Stelle aus eigenen Kräften, sondern allein dank fremder Hilfe lebt: Erziehung und Pflege, Hüten und Heilen erwarten wir anonym und billig, obwohl sie das Kostbarste und Heiligste betreffen.
… Kein Wunder also, dass wir Niedergang erleben.
… Die Bibel weiß darum, dass das ein Gericht ist.
Und kein Wunder, sondern das klarste Symptom, dass auch unsere Kirche und d.h. ja wir selbst so ganz und gar vergessen haben, ja bestreiten wollen, wie sehr auch wir als Glaubende und im Glauben auf andere Dienste und die Unterstützung Dritter angewiesen sind! … Glaube als Privatangelegenheit?! … Gott als individuelle Meinungssache?! …
Die selbstherrliche Arroganz, dass wir in solchem allen unabhängig und Alleinversorger seien, ist ein lächerlicher Ausdruck unserer kollektiv bloß vorgetäuschten Selbständigkeit.
Wir allen säßen nicht hier, wir würden nicht essen oder trinken, nicht atmen und singen, nicht beten noch fühlen, wenn wir nicht bei Tag und Nacht, als Säugling ebenso wie auf dem Sterbebett, in aller Not und aller Gewöhnlichkeit treu und still umgeben wären, … behütet und getröstet wunderbar (vgl. EG 65,1).
Wir leben davon, dass wir Schutzengel haben (vgl. Matth.18,10) und dass Gottes Dienstengel (vgl.Ps.103,20f) zwischen Seinem und unserm Dasein, zwischen Gebeten und Geboten, zwischen uns Fraglichen und Fragwürdigen und Dem, Der auf alle Wahrheit und Lüge und jeden Zweifel und Zorn und auch auf unser Schweigen die einzige Antwort ist, unablässig hin- und her vermitteln.
Wir sind frei, aber nicht uns selbst überlassen.
Unsere Existenz ist nicht haltlos - selbst im Fall -, sondern in tieferer Tiefe umfangen und an höhere Höhen geknüpft, als wir ahnen.
Boten und Wächter, Zeugen für Gottes Herrlichkeit und Beistände in unserer Niedrigkeit sind unsichtbar, unzählbar, unerschöpflich um uns herum.
Sie erfüllen nicht etwa alle unsere Wünsche, aber unfehlbar den zuletzt heilsamen Willen Dessen, Der uns liebt.
Denn sie bringen uns Seinen Segen: Die Abrahamserfahrung (vgl.1.Mose18).
Sie führen uns zu unserm Glück und Ziel: Die Isaakserfahrung (vgl.1.Mose24,7+40).
Sie erfüllen auch die Trostlosigkeit unserer Durststrecken und Sorgennächte: Die Jakobserfahrung (vgl. 1.Mose28).
Sie geleiten uns noch auf unseren überstürztesten, improvisierten, irrenden Lebenswegen: Die Moseserfahrung (vgl.2.Mose14,19).
Sie strafen unsern Übermut und lenken uns zur Umkehr: Die Davidserfahrung (vgl. 2.Samuel24,16ff).
Sie schenken den Erschöpften Kräfte: Die Eliaerfahrung (vgl.1.Könige19,5ff).
Sie rüsten unsre Schwachheit mit ihrer flammenden Klarheit aus: Die Jesajaerfahrung (vgl.Jes.6).
Sie stehen uns bei in letzter Bedrängnis: Die Danielerfahrung (vgl.Dan.6,23).
Sie überwinden Zwang und Hindernisse vor uns und versetzen uns in Freiheit: Die Petruserfahrung (vgl.Apg.12,7ff).
Sie trösten Jesus in Seiner blutigen Not (vgl.Lk.22,43), und ohne sie wären Sein Leben, Seine Auferstehung und Erhöhung niemals verkündet und geglaubt worden: Die Mariaerfahrung (vgl.Lk.1,26ff), die Magdalenaerfahrung (vgl.Matth.28), die Apostelerfahrung (vgl.Apg.1,10f).
Und so geleiten und hüten sie uns nicht nur immer schon und jetzt, sondern sie stehen uns allen auch bevor, wenn sie uns einst entweder in Abrahams Schoß tragen (vgl.Lk.16,22) oder die letzte Posaune, das Ende des Vergehenden, den Anbruch des Reiches und damit das große, endgültige Zurechtbringen der ganzen Welt einläuten werden (vgl.1.Thess.4,16; Matth.25,31; Dan.12,1ff; Offenb.12,7ff; 16; 18,21ff; 19,17ff; Heb.12,22).
Diese kurze Skizze der biblischen Engelfülle vom verwirkten Paradies am Anfang, über das sie wachen (vgl.1.Mose3,24), bis zum neuen Paradies am Ziel, das sie offen halten werden (vgl.Offenb.21,12), soll uns zeigen, dass die Himmelsboten und -kräfte weder in den kindlichen Volks- und Aberglauben, noch in die pantschende Esoterik gehören, sondern in unser Leben und Bekenntnis, … und es wäre gewagt, aber wichtig deshalb auch zu sagen: Die Engel gehören in unser Weltbild als persönliche, konstante Präsenz, als konkrete, treue Gegenwart der Macht und Liebe Gottes. ——
Wichtig und gut wäre das, und gut und gern könnte man dann über die Engel und uns nachdenken.
… Aber leider sind wir Bileamiten. Keine Esel.
Hätten wir die lauschenden Langohren, … witterten wir, statt immer zu wissen, … läge uns störrische Demut und nicht der eigentlich so unsichere demonstrative Stolz im Wesen: Dann wäre es gut mit den Engeln und mit uns.
In Wahrheit aber ist es oft ganz furchtbar. Denn wir reiten durch alle Engel, die sich zu unserm Schutz um uns lagern (vgl.Ps.34,8), hindurch wie Attilas Hunnen. Wir trampeln die Heerscharen des Himmels nieder; wir walzen die Mächte und Gewalten platt, die durch ihr Hüten und Wirken das Weltgebäude doch im Lot und Gleichgewicht halten sollen.
Denn davon spricht ja die natürlich hochpolitische Geschichte Bileams, seiner Eselin und des Engels. Wie alles, was die Bibel enthält, die das Manifest der Gottesherrschaft in der Freiheit Seiner Kinder und der Friedensplan des Höchsten ist, … wie alles also, was die Bibel enthält, ist die Geschichte Bileams, den die Feinde Israels als Stimmungsmacher gegen das Volk Gottes, als Blender und Herabwürdiger Seines in die Zukunft aufgebrochenen Sklavenhaufens gedungen hatten, hochpolitisch. So hochpolitisch wie es natürlich auch die himmlischen Heerscharen, die „Zebaoth“ - also die Sanitäts- und Solidaritäts- und Rettungs- und Eingreiftruppen - des HERRN sind und so hochpolitisch allen voran Michael ist, der stärkste und entscheidende Anti-Satans-Aufklärer und -Kämpfer, den wir heute besonders feiern.
Michael und sämtliche Kräfte Gottes – die Engelscharen, in denen alle Macht im Himmel und Erden für das, was Gott geschaffen hat und gegen den Feind des Lebens, der Gerechtigkeit und der Liebe sich verbünden – sind unsre größte, unsre letzte und unsre allesentscheidende Hoffnung in diesen Zeiten der Verwerfung, der Verzweiflung und der entfesselten Vernichtung.
Wäre der Kampf – der gute Kampf, den es zu kämpfen gilt (vgl.1.Tim.6,12), der Kampf für das Evangelium des Friedens, der mit dem Schild des Glaubens, dem Helm des Heils und dem Schwert des Geistes zu führen bleibt (vgl.Eph.6,13ff) – nur Menschenwerk, … stellte er uns bloß vor die Alternative der neuen Putin’schen Atomkriegsstrategie und der notwendig militärischen Verteidigung gegen das wilde Wolfsrecht, … ließe er uns nur zerrissen zwischen dem teuflischen Terror der Hamas und Irans gegen Israel und Israels unerträglichem Anti-Terror-Terror, … wäre also das, was wir auf der Weltbühne mit Entsetzen sehen und entsetzlicherweise nicht hindern können, einfach alles, dann wäre alles verloren.
Nun aber ist Gottes Kampf, der Michaelskampf gegen den Drachen (vgl.Offenb.12,7f/Judas V.9!) und in ihm gegen die Gottesfeindschaft des brüllenden Teufels (vgl.1.Petrus5,8), gegen die eiskalte Teilnahmslosigkeit der Menschheit (vgl.Matth.24,38) und gegen den erbarmungslos ausnahmslosen Gottes- und Menschenfeind Tod (vgl.1.Kor15,26) wahrhaftig die zentrale Hoffnung unserer Tage!
Weil es aber tatsächlich ein Kampf der Hoffnung ist, ein Kampf für das Leben, ein Kampf, der auf Gottes Seite geführt wird und der uns fordert, uns zu stellen und einzureihen, darum müssen wir wählen: Entweder wir sprechen wie in den Tagen des Jesaja die Bürger Jerusalems „Wir haben mit dem Tod einen Bund geschlossen und mit dem Totenreich einen Vertrag gemacht. Wenn die brausende Flut daherfährt, wird sie uns nicht treffen; denn wir haben Lüge zu unsrer Zuflucht und Trug zu unserm Schutz gemacht“ (Jes.28,15) – Sätze, die als der Kommentar des Heiligen Geistes zu unserm Heute zu verstehen sind – oder wir lösen uns aus unseren erklärten und verschwiegenen Todesbündnissen und folgen den Boten Gottes.
Das aber ist schwer.
Doch zum dritten und letzten Mal kommen wir nun an den Engpass des Bileam. Bileam, der seine Eselin zwingen wollte, genauso wie wir gegen alle Warnzeichen einfach unbeirrbar weiterzustreben, musste schließlich absteigen und umkehren.
Weil ein Engel ihm den Weg verstellte.
So wie sich die Engel Gottes auch gegen unsere selbstmörderische Denk- und Lebensrichtung stemmen. So wie sie sich gegen uns lagern, … als Wegelagerer an unseren Wegrand lagern, … als Gegenlager gegen unsere Geschwindigkeit der Selbstzerstörung sperren, … als heilige „Hinderer“ wie Martin Buber hier übersetzt, … als allzu oft unsichtbarer, aber doch ernster und eindeutiger Widerstand gegen so vieles, das wir verfolgen und nicht lassen können.
Und jeder merkt, wie hier das Hochpolitische höchstpersönlich wird.
Weil jeder von uns weiß, wie oft wir gegen den Engel, den der HERR uns als Hinderer schickt, brutal und stumpf zugleich vorgehen: Wir machen weiter, obwohl unser Weg ins Verderben führt. Wir halten nicht ein, obwohl wir sündigen und schuldig werden. Wir bremsen nicht, wir werden nicht langsamer, wir kehren nicht um.
Da muss gar nicht das Bild von den mittlerweile wieder entmutigten oder radikalisierten jungen Leuten beschworen werden, die sich auf die Straße und die Rollbahn klebten.
Da muss sich jeder von uns nur auf jedem Weg, bei allem Tun und wenig Lassen vor Augen halten, dass wir die Engel niedertrampeln, die uns vor der Gier und vor der Selbstsucht, vor der Hartherzigkeit und vor der Kurzsicht, vor der Lüge und vor der Selbsttäuschung bewahren wollen.
Jedes Mal, wenn wir gegen die Moral und unser Gewissen verstoßen, … jedes Mal, wenn wir gegen klare Einsicht bloß aus dem Geist der Trägheit handeln, … jedes Mal, wenn wir die Gelegenheit zu Vernunft und Verzicht aus Gedankenlosigkeit ausschlagen, … jedes Mal, wenn wir einfach weitermachen und die schwierigere Änderung im Kleinen oder Großen meiden, … jedes Mal kränken, missachten, verstoßen und verletzen wir den Engel, der unser Begleiter ist.
Und darum können wir nur hoffen – und weil es um den Kampf der Hoffnung geht, auch dafür kämpfen –, dass wir den feinfühligen Esel in uns spüren, der bockt, wenn wir den eignen groben Willen durchsetzen wollen und der die heilige Scheu und kreatürliche Ehrfurcht vor den Engeln, den Zeugen und Boten und Dienern Gottes auf unserm Weg und in unserem Herzen hat.
Die, die wir heute feiern, … die, die uns täglich treu und still umgeben und heilsam hartnäckig hindern und wunderbar bergen, die wollen wir ehren, indem wir uns mit Luthers Morgensegen jetzt und immer wieder wappnen gegen den Eigensinn und Hochmut des autonomen Egoisten und stattdessen an der Seite der Eselin und des beschämten Bileam, der so blind war wie wir, beten (vgl. EG 863):
„Himmlischer Vater, durch Deinen lieben Sohn bitte ich Dich, Du wollest mich behüten vor Sünden und allem Übel, dass dir all mein Tun und Leben gefalle.
Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in Deine Hände.
Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde!“
Amen.
16.Sonntag nach Trinitatis, 15.09.2024, Stadtkirche, Psalm 16, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 15.IX.2024 - 16.n.Trin.
Psalm 16
Liebe Gemeinde!
So wie heute gepredigt werden müsste, kann ein Mensch nicht predigen.
Denn der Psalm, den wir eben gesungen haben und den wir heute nicht nur be-, sondern von ganzem Herzen und von ganzer Seele und mit allen unseren Kräften ergreifen sollten, wenn wir den Weg zum Leben suchen … dieser Psalm ist tatsächlich das Herzstück der allerersten christlichen Predigt auf Erden gewesen. Und damals sprach aus Petrus, dem galiläischen Nicht-Rhetoriker Der ihn und die anderen Jünger und die vielsprachige Festversammlung von Jerusalem erfüllende Heilige Geist selbst (vgl. Apg.2,25ff).
Darum bittet, Brüder und Schwestern, dass Ihr heute nicht mich hören müsst! … Sondern die Botschaft der ersten Pfingstpredigt, die die Krönung aller Predigten ist und bleibt.
In dieser Premierenpredigt wird die Weissagung des Propheten Joel, dass Gottes Geist die Erfüllung der Sehnsucht und Hoffnung aller Menschen befeuern werde, als Gegenwart verkündet, … als die global grenzenlose Gegenwart, in deren Mitte Psalm 16 wahr geworden ist.
Um die Welt und die Menschheit zu verstehen, müssen wir also in diesen Psalm eindringen, sagt uns der erste aller unwahrscheinlichen Zeugen, aller überraschten Lehrer, aller unvermuteten Tröster und hilflosen Wegweiser der Kirche.
Doch warum ausgerechnet in diesen Psalm?
… Psalm ist das Vertrauenslied eines Einzelnen. Eines Menschen, der sein individuelles Leben und sein eigenständiges Glaubensbekenntnis, seinen persönlichen Dienst und Lohn und seine totale Zukunft konzentriert in den Fokus nimmt. Es ist also ein ziemliches Ich-Lied …, dafür, dass es mit der Antwort auf die gesamte Erwartung der Menschheit in Verbindung gebracht wird. … Die ganz breiten, kollektiven, geschichtlichen Anliegen und Bedürfnisse des Mängelwesens und Massentieres Mensch kommen darin zunächst nicht wirklich vor: Das materielle Verlangen des Einzelnen und die Interessen-Konflikte der Vielen, … des Menschen Triebe und Not und Genuss ihrer Befriedigung, … die weltlichen Angsterfahrungen und das einzigartige Potential des vernunftbegabten Geschöpfs mit dem aufrechten Gang und der ungeschützten Haut … alles das fehlt.
Stattdessen betet hier einer, der für sich das vollkommene Glück einfach bei seinem Gott findet und sich daher bewusst trennt von allen, die auf andere Glücksversprechen und Opfer setzen.
In diesem Gebet ist also trotz - oder vielleicht gerade wegen - des genügsamen, innigen Tones von vornherein auch etwas Ausschließliches zu hören.
… Etwas, das niemand gern hört. Die allermeisten Menschen sind vom „Stamme Nimm“, wie das Eichhörnchen. Es juckt sie, immer mehr zu haben: „Hier noch und da noch, dies noch und das da auch. Ob man’s nun braucht, ob es nützt und hält oder ob es sich nur ansammelt und vergammelt: Hauptsache, es gibt auch Nebensächliches! Wichtig, dass man das Überflüssige hat! Zentral, dass möglichst viel Drumherum erscheint!“
Hätten wir nur das Nötige und nicht auch die Qual der Wahl des vielen Unnötigen, würden die meisten von uns nicht ruhen können.
Der Zwang, den uns das Mehren-Müssen auferlegt, ist eine schreckliche Sklaverei.
Und darum beginnt die Freiheit mit der Beschränkung aufs Ausschließliche: Nur Einer ist, nur Ich allein - spricht der HERR - bin Dein Gott (vgl. 2.Mose20,2f). Nichts sonst und kein anderer ist nötig.
Diese geradezu bescheidene Reduktion, dieses Vorliebnehmen mit dem Einzelnen, dem der Verzicht auf beliebige Fülle entspricht, ist ein Grundgeheimnis des biblischen Glaubens. Während alle anderen elementaren Funktionen des Daseins sich in unabsehbarer Variation und Abwechslung, in ständiger Neugier und grenzenlosem Erfindungsreichtum ausprägen, ist der Glaube die eine Vitalfunktion, die nicht durch Erweiterung des Erfahrungsschatzes, sondern durch Konzentration vertieft wird.
Je genügsamer, je gebündelter die Glaubensbindung sich also auf den Einen richtet, desto weiter und größer wird das Glück, das sie auslöst und dauerhaft schenkt.
Das ist die Grundbotschaft des Zentralpsalms, den Petrus an Pfingsten den Menschen aus allen Himmels- und Denkrichtungen, aus allen Sprachen und Hintergründen in der Mitte Jerusalems gepredigt hat.
Die Heiligen, die auf Erden sind, die nicht allem Möglichen nachlaufen, sondern im Zentrum gründen, die können dort im ganz Begrenzten das alles Umfassende, ja Übertreffende finden.
Und genau davon spricht der 16.Psalm in unscheinbaren, aber wahrhaftig grundlegenden Worten. Der ursprüngliche Beter, der in Gott sein Gut und Teil, sein liebliches Landlos und schönes Erbe findet, wird wohl ein Levit, ein Mitglied des dem Gottesdienst geweihten Stammes Levi gewesen sein: Des Einzigen unter den 12 Stämmen Israels, dem kein eigenes Gebiet im gelobten Land zugelost wurde, weil seine Mitglieder ohne Besitz an Grund und Boden von ihrem Einsatz für das Heilige im Namen aller leben sollten. … Der, dem nichts gehört, besingt hier also, dass Gott ihm alles bedeutet. … Der Mensch ohne Habe ist der Mensch des vollkommensten Heimisch-Seins im Bleibenden.
Und dieses Zugehören ist ihm so umfassend, dass er es bei Tag und Nacht, bewusstlos schlafend, aber auch mit allen wachen Sinnen als unüberbietbaren Inhalt seines Lebens empfindet. In der Dunkelheit spülen seine „Nieren“ - so heißt es wörtlich (V.7) - ihm den Segen, in dem er existiert, durch alle seine Bahnen. Und in der Klarheit seiner wieder und wieder bejahten Entscheidung schwört er Gott - auch das wiederum wörtlich -, dass Der ihm das Gegenüber (V.8) ist, als das die ersten Menschen einander in Entsprechung und Liebe zugesellt wurden.
Gott ist mein Zuhause, und ganz und gar bezogen auf Ihn bin ich vollkommen im Reinen: Das ist die dankbare, durch und durch tragende Grundbotschaft des herrlichen Glaubensbekenntnisses aus dem Gebetbuch Israels, mit dem der Heilige Geist alle christliche Predigt begonnen hat. ——
Kein Wunder, dass wir stutzen.
So schlicht kann ein Mensch im 21.Jahrhundert doch nun wirklich nicht predigen. … Denn wir wissen einfach mehr: Der Baum der Erkenntnis ist unser Schicksal. Gut und Böse und alle Zwischenstufen davon, allen Eintopf daraus kennen wir genau. Das Leben ist vielseitiger, der Mensch ist differenzierter, die Realität ist verwickelter, als dass solche einfachen Einheitsmittel uns helfen könnten. Einfältig nur den einen Gott und einzig die Bindung an Ihn zu predigen, das mag in der Antike einleuchtend und einheitsstiftend gewesen sein, aber wir in unserer unverwechselbaren und unvereinbaren Vielfalt sind von solchem unterschiedslosen Monotheismus nicht mehr zu erreichen. Wir stehen vor der Unendlichkeit der Varianten, der Geschmäcker und Ansprüche. Uns in der Komplexität und Komplikation von hier und heute kann keine Urpredigt endgültige Botschaft sein. Wir wissen mehr und darum brauchen wir mehr …..
Mehr?
… Mehr als die beiden Grundpfeiler, die den Psalm erfüllen, den Psalmisten tragen und bei Petrus die pfingstlich-globale Gemeinde gründen? … Mehr bräuchten wir, als diese Zufriedenheit und jenes Vertrauen, die der 16.Psalm atmet? …
Hand aufs Herz: Kennen wir denn überhaupt diesen Frieden? Diesen Frieden, den Gott gibt und der höher ist als alle unsere Vernunft (vgl. Phil.4,7) und stärker als alle unsere Götzen, sogar das geliebte Selbst, auf das wir so krampfhaft und verzweifelt ständig zu vertrauen beteuern? … Kennen wir dieses unbesorgte geistige und geistliche Heimatgefühl, das uns eine Sicherheit verleiht, die wir tagaus, tagein suchen und doch in keinem Augenblick wirklich beruhigt behaupten können? … Ahnen wir überhaupt noch, wie das sein muss, zu spüren, dass nichts fehlt: An uns, für uns und von uns? Dass wir „ganz“ sind, die wir doch immer nur raumzeitlich entkoppelt, seelisch überfordert, mental zerstreut, leistungstechnisch aufgeladen, emotional unterernährt und als Menschen vor lauter Entwicklungen, Erkrankungen und süchtigem Suchen Fragmente sind? Würden wir sagen können: „Das da, … Der da ist alles, was ich zum Glück brauche: Ich weiß von keinem andern Gut“!?
Würden wir still-vergnügt oder öffentlich froh bekennen: „Lieblich ist mein Los“?!
Würden wir mit reinem Gewissen das tief strömende und schwingende Mantra sprechen können: „Mein Herz freut sich und meine Seele ist fröhlich und auch mein Leib ist sich sicher“?!
Leben wir in solcher Zufriedenheit, ruhen wir in solchem Vertrauen?
– Wenn nicht: Müssten wir nicht sie alleine suchen und nichts weiter?!
– Wenn Ja: Was um alles in der Welt wollen wir mehr? ——
Mehr als dieser Psalm umschließt, ist eigentlich nicht vorstellbar. In ihm herrscht die Harmonie, die uns mangelt; er baut auf einem Gleichgewicht, das wir verloren haben.
Wie durch das erste, befremdlich genügsame Lied aus der letzten großen Krisenzeit des Glaubens, mit dem wir heute begonnen haben, fließt durch Psalm 16 das stark wie Herzton und Puls alles im Schwang haltende Lob auf Gottes abgrundtiefe Liebe, … eine Lob- und Lebenskraft, die alles durchdringt und erfüllt, „bis unser Mund im Tode schweigt“ (EG 681,4). ————
Doch zum tragenden Grund, zum Grund, der tatsächlich auch jeden Abgrund umfängt, wird dieser Psalm in seinen letzten Versen.
Bis hierhin hören wir in ihm den David der Überschrift oder einen ihn ursprünglich betenden Leviten oder die Glaubensgemeinde der das Exil überlebenden Juden in ihrer bescheidenen, aber unzerstörbaren Bindung an Gott, Der Heimat, ist oder wir hören Petrus, den Erzzeugen des Messias oder die plötzlich wie Frühlingsblumen aufgeblühte Schar der Geretteten aus aller Welt, die der Heilige Geist an Pfingsten durchdrang.
Bis hierhin hören wir also, wie das menschliche Leben in der unendlich einfachen und einfach unendlich wirksamen Bindung an Gott sein kann: Gewiss. Und gehalten. ——
Doch dann hören wir – obwohl wir tatsächlich bescheiden sein wollen und uns wahrhaftig zufrieden und überzufrieden mit der Gnade des Gottes-Glücks begnügen könnten und wirklich nicht mehr zu verlangen hätten –, … doch dann hören wir am Ende dieses Gebets glückenden Lebens jenseits allen Erfolgs, allen Habens, aller Ansprüche und Verwicklungen eine Botschaft, die tatsächlich Anfang und Ziel, Urquell und Vollendung aller Predigt und aller sonstiger Gaben des Heiligen Geistes ist!
… Davon kann ein Mensch aber nun wirklich nicht predigen, ohne getrieben von Gier oder gequält von Projektionen und Träumen zu wirken. Wäre das, was jetzt folgt, nur die Sprache unserer Wünsche oder einer symbolischen Verschlüsselung dessen, was unsereins sich immer noch mehr vorstellen und beanspruchen kann, dann wäre es so unerhört wie unwert zu hören.
Doch es ist die Sprache einer so vollständigen Ausrichtung auf Gottes Frieden, auf den Frieden, Der Gott ist, dass sie alle Zufriedenheit übertrifft wie etwas Ewiges die Zeit; es ist die Sprache eines Gottvertrauens, das mehr ist als das Vertrauen auf Gott, … Ver-trauen in Gott nämlich. Und dieser Friede, Der Gott ist, dieses Vertrauen, das in Gott herrscht: Die sprechen das aus, was mehr ist als alles, was wir behaupten, beschreiben oder auch nur hoffen und wünschen könnten.
Schon um uns wirklich das Unerhörte wünschen, … um wirklich mehr als nur das Gewohnte träumen, … um wirklich also hoffen zu können – das sagt uns die Pfingstpredigt des Petrus doch –, brauchen wir Menschen - die kein Genügen und keine Zuversicht kennen - tatsächlich schon den Heiligen Geist.
Und in Psalm 16 spricht dieser Geist Gottes ein Vertrauen aus, betet dieser Geist Gottes aus einer Gewissheit heraus, die nur in Gott gründen können: Es ist die innergöttliche Gewissheit, es ist das Jesus-Vertrauen, dass der Mensch Gottes nicht dem Tod gehört.
Und darum hören wir heute, was die Vielvölker-Schar am Wochenfest, am Pfingsttag in Jerusalem hörte: Dass in Psalm 16 der Heilige Geist das unendliche Vertrauen aus-spricht, das sich im Erleiden und in der Erhöhung des gekreuzigten Jesus Christus erfüllt hat. „Du wirst meine Seele nicht dem Tode lassen und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe“
In diesem Bekenntnissatz der letzten Gottesgewissheit über das Sterben hinaus, fängt alle Predigt an, die in Jesu Namen geschieht und vollendet sich das alttestamentliche Evangelium vom unauflöslichen Bund, den Gott mit Seinen Menschen – in Israel und in Christus – geschlossen hat.
Darum ist diese Predigt die einzige, die es gibt und die nie überboten werden kann.
Weil sie die größte Einfachheit in der größten Weite ausspricht: Dass Gott denen, die auf Ihn vertrauen, Leben und Frieden über den Tod hinaus und jenseits des Todes schenkt.
Das ist in Jesus Christus wahr geworden.
So wahr, wie Gottes Geist und Sohn im Psalm und am Kreuz diese Gewissheit verwirklicht haben.
So wahr wie Petrus sie in der Kraft des Heiligen Geistes am ersten Tag der weltweiten Gemeinde des Auferweckten bezeugt hat.
So wahr wie diese Botschaft uns heute, am ersten Tag der Woche im selben Geist und mit den selben Worten begegnet ist.
So wahr wie wir alle darum sprechen sollen und dürfen:
„Herr, Du tust mir kund den Weg zum Leben,
vor Dir ist Freude die Fülle und Wonne zu Deiner Rechten ewiglich.“
So wahr uns Gott allen dazu durch Christus Jesus, Der Selber die Auferstehung und das Leben ist (vgl. Joh.11,25) , helfe!
Amen.
… Das werde wahr!
14.So. n. Trin., 01.09.2024, Stadtkirche, Römer 8, 14 - 17, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 14.n.Trin. - 1.IX.2024
Römer 8, 14-17
Liebe Gemeinde!
Weniges ist nach meinem Geschmack dämlicher als die Kanzelgewohnheit, eine Predigt mit der Frage anzufangen: „Liebe Gemeinde! – Kennen Sie das auch?“
Und darum, liebe Gemeinde!, kennen Sie das nicht so gut. Und sind vielleicht umso peinlicher berührt oder belustigt, wenn die Predigt nachher ein zweites Mal anheben und es gleich lauten wird: „Kennen Sie das auch?“ …
Bereiten Sie sich also drauf vor, dass ich Ihnen gleich wie der Kumpel am Tresen oder ein Sokrates im Westentaschenformat jovial in die Rippen stoße, anzüglich zwinkere und eine distanzlose Nähe zwischen Ihnen und mir spiele, die uns die genau gleichen Kenntnisse und Allgemeinplätze, Plattitüden und Einerleiheiten unterstellt, so dass meine Erfahrungen wohl genauso auch die Ihren sein müssten und Ihr Horizont deckungsgleich mit meinem sein wird. Das ist volkstümlich und nahbar und wir können uns dabei unterhaken und schunkeln, da wir das ja alle kennen, was die anderen beschäftigt und bewegt, … und dann sollten wir vielleicht ein rheinisches Liedchen krächzen „Mir sin’ alle kleine Sünderlein“ und dann prosten wir uns zu oder klopfen uns gegenseitig auf die Schultern, weil wir alle prima Kerle sind und dann hatten wir ein Gemeinschaftserlebnis un’ et war schön jewesen. … —
Das kennen Sie auch, oder?
… Diese Anbiederung. Dieses schmierige Ranwanzen. Dieses ein wenig hypnotische „Wir-Gefühl“-Erpressen. Diese Illusion, dass wir alle eine große, unterschiedslose Menschenkörper- und Volksmassen-Verbindung sind, in der einer für alle spricht und denkt und alle nicht anders als der eine.
Je weniger es wahr ist, was dann als das allen Bekannte behauptet wird, desto verblüffender funktioniert der „Das kennen Sie doch auch“-Trick. Weil es immer so wirkt, als hätte da einer das Zauberwort getroffen, das alle nun wirklich mitnimmt, ja mitreißt in eine Stimmung, in der sich endlich äußert, was innerlich so lange unausgesprochen blieb. Ehre, Ruhm und Sieg den „Das kennen Sie doch auch“-Fritzen! Sieg und Ruhm und Ehre den Propheten, die es endlich sagen, was wir tatsächlich stumm und unterbewusst genau so kannten! …
Heute wird ein großer Tag für die werden, die das kennen. Für die, die populistisch die Falle stellen, mit der so viele Predigten anfangen: „Ihr kennt das auch, was ich Euch sage.“
… Ausgerechnet heute - am Tag des Kriegsbeginns 1939 - wird es wohl zu einem Massenphänomen der Zustimmung zu Parolen kommen, die behaupten, was alle fühlen und niemand beweisen muss. Und wenn dann die anderen, die politisch Verantwortlichen, die Mehrheit wohl gar, sich nicht die Mühe machen, die echten Schwierigkeiten in echter Diskussion und echtem Abwägen und Lernen und mit echten Entscheidungen zu bewältigen, dann ist es arg. …
Und nun kennen Sie mich ja auch, liebe Gemeinde!
Ich stehe hier und möchte etwas sagen. Und möchte es nicht sagen nach Art derer, die unterstellen, dass alle Hörer ihnen Recht geben und damit auf den Leim gehen müssen. Und möchte es doch gleichzeitig sagen in der tiefen, ganz tiefen, ja abgrundtiefen Überzeugung, dass es um etwas geht, das zum Segen und zur Rettung würde, wenn es nur mehr, wenn es nur alle wüssten und wenn viele, … immer mehr es glauben dürften und festhalten könnten, um es dadurch mit ihrem ganzen Leben zu vermehren und also auszuteilen.
Aber wie kann man sagen, was alle kennen sollten, ohne allen vorzuschreiben oder unterzuschieben, dass sie es ganz unzweifelhaft längst doch schon kennen, meinen, wollen und teilen?
……. Versuchen wir’s. – Aber es klappt womöglich nicht. …
Liebe Gemeinde!
Kennen Sie das auch? - Die Welt?
(Da müssen Sie jetzt nicken und über eine so banale Frage lächelnd natürlich die selbstverständliche Antwort der kopfsenkenden Zustimmung geben. _ „Der Spaßvogel! Fragt, ob wir die Welt kennen?! … Wer kennt die denn nicht?“)
Liebe Gemeinde!
Kennen Sie das auch? - Das Leben?
(Das gleiche Spielchen: Wieder ist es ja klar, dass man da ja wohl nur bestätigen kann, natürlich im Bild zu sein und ganz genau Bescheid zu wissen. … Nett, wie man plötzlich merkt, dass man die wirklich wichtigen Dinge so sattelfest beherrscht!)
Liebe Gemeinde!
Kennen Sie das auch? - Den Sinn?
(Nanu?! Das ist natürlich jetzt ein bisschen happig. Kommt so philosophisch rüber. Aber wer die Welt und das Leben kennt, wird jetzt nicht passen können. Irgendwie ist der Sinn da vermutlich doch inklusive. … Also klar! … Kennen wir auch!)
Nun gut, liebe Gemeinde! Wenn wir das alles kennen - Welt, Leben und Sinn -, dann müssen wir nur noch die Rumpelstilzchen-Frage beantworten, … die Frage, die in Bibel und Märchen und Philosophie und Wissenschaft den Schlüssel zu allem bietet: Die Frage nach dem Begriff für eine Erscheinung oder ein Wesen. Wenn wir den Begriff, den Namen dafür haben, dann kennen wir’s wirklich, dann ist es uns möglich, es einzuordnen und im Einordnen es auch unterzuordnen. – Sag’ mir die Formel, sag’ mir den Nenner für das, was Du kennst und Du bist der Herr, Du bist die Meisterin.
Wie also sagen wir zur Welt, zum Leben, zum Sinn: Zu diesen allervertrautesten essenziellen und existentiellen Phänomenen und Wirklichkeiten, die uns umgeben, ausmachen und erfüllen??
… – Soll ich anfangen? Ich, der ich mich ein einziges Mal außerhalb des Abendlandes und seines Sonnenstands und seiner Jahreszeitenverteilung, seines Klimas und seiner Geschichte aufgehalten habe? Soll ich sagen, was ich von der Welt weiß? Ich, der zwei Drittel eines einzelnen, winzigen Lebens gelebt hat, … ich soll das Leben nennen, das in milliardenfacher Verästelung und unerschöpflicher Vielfalt immer wieder neu geschaffen und gesegnet wird?
Ich, der ich so beschränkt und unerfahren bin, sollte den Sinn im Allgemeinen auf einen bündigen Begriff bringen?
… – Sie kennen es auch, liebe Gemeinde, was dabei herauskommt: Plötzlich heißt das alles eben nur noch „Ich“.
Die Welt, wie ich sie so ein winziges Bisschen erlebt habe, ist ein Stück von mir.
Das Leben, das ich nur bei mir selbst vielleicht ein wenig unterhalb der Oberfläche verstehe, ist darum natürlich ebenfalls eine Funktion meines Ichs.
Und auch der Sinn, den ich suche und verfolge, ist so getränkt und so gefärbt von mir, dass auch er schließlich bloß aussieht und wirkt, wie das, was Ich bin. Der Name für die Welt und das Leben und den Sinn ist leider immer eine Variante des Wörtchens „Ego“. - Oder wenn ich ein ganz harter Hund, ein Theoretiker reiner Abstraktion, ein Wissenschaftler vom Schlag der Alleszermalmer bin, dann kann ich zu dem allen auch sachlich etwas sagen.
Aber weder meine Beschränkung als Subjekt noch die Flucht ins Objektive eröffnen wirkliches Wissen, … jenes biblische Erkennen, das eine Gestalt der Liebe des Anderen, des Annehmens des Fremden, der Verbindung mit dem ist, was ich nicht bin.
Und darum kann alles bei uns eigentlich nur anfangen und schließen mit einer ganz anderen als der populistischen, der nur scheinbar einvernehmlichen, in Wirklichkeit aber nur selbstsüchtigen Frage und Antwort zu dem, was wir vermeintlich alle kennen und teilen. ———
Bei uns kann’s nur heißen:
Liebe Gemeinde!
Kennen Sie das von selber auch nicht? – Dass man zur Welt einfach „Mutter“ sagt?! …
Kennen Sie das auch nicht, dass man das Leben und alle Lebendigen ehrlich „Schwester“ nennt oder „Bruder“?! …
Kennen Sie das auch nicht, dass man zum Sinn der Welt und des Lebens ein unerschütterliches Vertrauensverhältnis hat wie zu einem zwar fernen Nächsten, einem Kind oder sonstigem Angehörigen, mit denen die Verbindung untrennbar und jenseits jeden Zweifels ist, auch wenn die jeweilige Gegenwart nicht zusammenfällt?! …
… Kennen Sie das auch nicht?
… Kennst Du das auch nicht?
– Dann ist der Brief an die Römer eine Nachricht an Dich! Dann ist die Botschaft des Evangeliums eine Neuentdeckung, die Dein Leben vollkommen verändern und heilen kann. Dann ist das Geschenk des Heiligen Geistes das, was Dir in dieser Welt, in diesem Leben an Sinn und Glück fehlt.
Das alles ist nämlich nichts anderes, als die Gabe, die Vielen so verächtlich vorkommt: Die Gabe, ein Kind Gottes sein zu dürfen.
Von dieser allereinfachsten Gabe spricht ausgerechnet das anspruchsvolle, hochgeistige, tiefsinnige Doppelkapitel Römer 7 und 8, in dem die Verloren- und Verlassenheit des Menschen, seine ganze egoistische Selbstbezogenheit und seine atemberaubende Befreiung und Erneuerung durch den schöpferischen Geist Gottes beklagt und besungen wird.
Dass wir so an uns selber gefesselt sind, dass alles nur wie ein verzerrtes Echo und ein ewig weitergehendes, verkehrtes, immer verkleinerteres Spiegelbild unserer selbst wirkt und wir nichts finden, das sinnvoller, lebendiger und größer wäre als unser Ego: Das ist der Horror. Und dass es in Wahrheit ein Ur- und Weltvertrauen, eine dankbare Zuversicht in das Leben, eine immer wieder ins Sorglose spielende, kindliche Unbelastetheit gibt, in der wir den herrlichen Psalm dieses Sonntags (Ps.103) jubeln können: Das ist das Wunder über alle Wunder, das der Glaube bedeutet, durch den wir das einfache Wort lernen, mit dem unser Beten anfängt und das auch Du kennst, liebe Gemeinde:
„Abba“: Semitische und auch indogermanische Wurzel des klaren Gefühls des Nicht-Allein-Seins, des Dazu-Gehörens, einer dankbaren Selbständigkeit und gleichzeitigen Sich-Verlassen-Dürfens.
„Vater“ zu sagen – oder welches Wort solche Nähe und Treue und Freiheit und Sicherheit am besten ausdrückt – „Vater“ zu sagen, ist kein Rückfall, keine kindliche Unreife, keine blödsinnige Babyhaftigkeit.
Das „Abba“, mit dem alle Gebete, die Dank- und Vertrauens-, genauso wie die Klagegebete Jesu beginnen (vgl. z.B. Matth.11,25; Joh.17,1; Joh,12,27)), … das „Abba“, das er noch in Gethsemane, in der Krise seiner Anfechtung ruft (vgl. Mk.14,36!), … das „Abba“, das am Kreuz erklang und aus dem Tod schon die Heimkehr zum Vater machte (vgl. Lk.23,46), … das „Abba“, das bereits Jesaja, der Prophet der Verlorenen betete (vgl. Jes.63,16) und das in der Synagoge an den hochfeierlichen Tagen zwischen Neujahr und dem Versöhnungstag in der Litanei „Avinu, Malkeinu“: „Unser Vater und unser König“ unendlich ergreifend gesungen wird, … das „Abba“, das Jesus aus diesem Gebet der ersten und der letzten Tage zum Gebet an allen Tagen aller Menschen überall erhob, indem er es uns lehrte und gleich wieder mit uns spricht, … das „Abba“, das dem Paulus eine solche Offenbarung der Gemeinschaft mit dem eingeborenen Sohn Gottes bedeutete, dass er es unmittelbar in der Sprache des Sohnes und des Heiligen Geistes in die Muttersprachen aller Christen pfingstlich einfließen ließ (vgl. Gal.4,6), … dieses „Abba“, das wir rufen und spüren, das wir im Vaterunser beten und im stummen Schrei der Seele tröstend brennen gewahren, … dieses „Abba“, das Paul Gerhardt und unser Düsseldorfer Crasselius uns auch im Singen auf die Zunge legen (EG 328,4 & 351,7), ………… dieses „Abba, lieber Vater“ das ist die Freiheit und die Wahrheit, die Angstlosigkeit und die Kraftquelle unserer Gotteskindschaft.
Es macht uns nicht unmündig, sondern im Gegenteil.
Es eröffnet uns die ganze Wirklichkeit, die wir sonst nicht kennen: Dass die Welt nicht nur mein enger Ausschnitt davon ist, sondern ein unendliches Erbe, das allen Kindern und Ge-schöpfen Gottes gehört, … und dass mein Ich nicht das Leben bedeutet, sondern dass mir und allen anderen von meinem Vater, von unserm Vater das Leben geschenkt und erhalten wird in einer Fülle und Herrlichkeit, die einfach unermesslich sind, … und dass es deshalb an keiner Stelle nur auf meinen Sinn und Verstand, nur auf unsere schwachen Kräfte oder reichlichen Katastrophen ankommt, sondern dass der Wille unseres Vaters im Himmel und Sein Reich die Garantie und die Verheißung dafür sind, dass keins Seiner Kinder verderben, sondern an ihnen allen Sein Vater-Name geheiligt werden soll.
Wer „Abba, lieber Vater“ zu Gott sagen darf und kann, … wer diesen Namen voller Urvertrauen, dieses „Du“ der ursprünglichen Zuversicht auf Liebe vor allen Missverständnissen und Konflikten sagen, singen und beten kann, … wer auf diese Weise sich eingebunden findet in eine Welt, die so ganz anders ist als die, die wir kennen – voll Messerstechens und Fremde-Hassens und Kriegsgeheul, voller Gewaltspiralen, Selbstsucht und Todestrieb – wer auf diese Weise sich eingebunden findet in eine familiäre Hoffnung und Liebe, die allen gelten, die mit uns in der Welt leben und nach dem Anfang auch das Ziel suchen, … wer als Kind Gottes also im Glauben daran leben und sterben darf, dass der Vater nicht nur den Sohn, sondern uns alle verherrlichen und in Sein Reich des Friedens bringen wird, … wer so im Geist der Kindschaft fröhlichen rufen, singen und bekennen kann, dass unvergesslich ist, was der HERR Gutes an uns getan hat (vgl. Ps.103,2) ….. wer das alles kann und darf und wagt und will und gar nicht lassen mag: Kennen Sie den auch, liebe Gemeinde? …
… Wenn nicht, … dann ist es umso besser.
Denn dann wirst Du es kennenlernen:
Das bist nämlich Du, wie Gott Dich will und wie Er Dich erwählt hat und vollenden wird.
Lobe den HERRN, meine Seele!
Amen.
9.So.n.Tr., 28.07.2024, Mt.13,44-46, Mutterhauskirche, Pfr.i.R. Ulrike Heimann
„In Krisenzeiten auf Schatzsuche gehen“
Liebe Gemeinde,
nein, Jesus ist kein Theologe gewesen und er hat nichts Schriftliches hinterlassen. Er sprach nicht die Gelehrtensprache seiner Zeit, sondern das Aramäisch der kleinen Leute. Die literarischen und philosophischen Werke der antiken Welt kannte er wohl nicht – weder die griechischen noch die römischen. Er hatte weder die Akropolis gesehen noch das Forum Romanum. Seine Welt, das waren die Dörfer und Kleinstädte Galiläas, da kannte er sich aus. Er wusste um das harte Leben der Menschen, um ihren arbeitsreichen und mühevollen Alltag, um ihre Sorgen und Nöte. Und mit ihnen suchte er Kraft und Orientierung im Glauben der Väter und Mütter, wenn er am Sabbat mit ihnen den Gottesdienst in der Synagoge besuchte und die Worte der Thora vernahm. Alle hörten dieselben Worte, aber er verstand sie neu, der Geist Gottes sorgte dafür. Sie gaben seinem Leben eine neue Wendung, Nichts, was war, musste so bleiben. Alles konnte sich ändern, sich wandeln – die Verhältnisse, die Beziehungen zwischen den Menschen. Aber zuerst der einzelne Mensch selbst. Der Wurzelgrund für das Neue – Jesus nannte es das Reich Gottes oder das Reich der Himmel – das war das Herz jedes einzelnen. Er brach auf, um andere an dieser Erfahrung teilnehmen zu lassen. Wie sag ich, was mich erfüllt, so, dass mich meine Mitmenschen verstehen, nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen? Darum ging es ihm. Er entschied sich gegen lange Vorträge und für prägnante Bildergeschichten, Geschichten aus dem Alltag der Menschen in Galiläa, die sie neugierig machen sollten auf mehr – auf ein anderes Leben mitten im Alten, auf neue Erfahrungen mit Gott mitten in dieser Welt und Zeit. Denn das Himmelreich/Reich der Himmel ist kein Reich jenseits dieser Welt, es kommt nicht später, sondern es ist „mitten unter uns“; man kann nicht sagen „hier ist es oder dort ist es“, man kann es nicht dingfest machen, sondern es ist „inwendig in uns“; es ist nicht von dieser Welt, es gehorcht nicht ihren Regeln, aber es ist für diese Welt, es ermuntert zu einem neuen Miteinander und einem neuen Umgang mit der Welt – so wie ihn sich Gott für seine Menschenkinder gedacht hat.
Der Evangelist Matthäus hat das 13.Kapitel – also ziemlich die Mitte seines Evangeliums – den Reich Gottes- oder Himmelreichsgleichnissen gewidmet, ihnen damit den Stellenwert als Herzstück der Verkündigung Jesu eingeräumt. Zwei dieser Gleichnisse – die beiden kürzesten – begegnen uns heute als Predigttext.
„Das Reich der Himmel gleicht einem Schatz, der im Acker vergraben ist: ein Mensch entdeckte ihn und vergrub ihn wieder. Voller Freude ging er los und verkaufte alles, was er hatte. Dann kaufte er diesen Acker. Ebenso gleicht das Reich der Himmel einem Kaufmann: Der war auf der Suche nach schönen Perlen. Er entdeckte eine besonders wertvolle Perle. Da ging er los und verkaufte alles, was er hatte. Dann kaufte er diese Perle.“
Ganz wichtig, um nicht auf eine falsche Fährte zu kommen, ist der Hinweis, dass Jesus hier nicht das Reich der Himmel mit einem Schatz oder einer Perle vergleicht. Es geht nicht um eine Schatzsuche oder einen Schatzfund wie den von Ali Baba und den 40 Räubern in dem Märchen von Tausend und einer Nacht. Das Reich der Himmel oder das Reich Gottes ist kein Gegenstand, sondern es ist Ereignis. Es geschieht. Und darum braucht es Menschen, die durch ihr Handeln das Himmelreich auf die Erde ziehen, es wirklich werden lassen. Schauen wir, um welches Handeln und Verhalten es in den beiden Gleichnissen geht. Im ersten Gleichnis geht es um einen Zufallsfund. Ein Mensch (das kann ein Mann oder eine Frau sein) ist unterwegs, er kommt vielleicht gerade von zuhause, ist in Gedanken mit seinen Alltagssorgen beschäftigt, stolpert über einen holprigen Acker – und macht den Fund seines Lebens. Was tun? Der Acker gehört ihm nicht. Den Schatz einfach mitzunehmen, das wäre Diebstahl, darauf ruht kein Segen. Er muss den Acker erwerben. Also den Schatz erst wieder verbuddeln, nach Hause eilen, alles Geld zusammenkratzen und den Acker kaufen. Das Reich der Himmel – wir können es erleben mitten auf unserem Weg über den oft holprigen Acker unseres Lebens. Wir können ihm unvorhergesehen begegnen. Es ist da, wo wir uns ansprechen lassen und wo wir unser Herz sprechen lassen und klug und überlegt handeln.
Das zweite Gleichnis beginnt damit, dass ein Kaufmann gezielt schöne Perlen sucht, mit denen er handelt. Er kauft sie und verkauft sie mit Gewinn weiter. Doch auch hier ist es Zufall: sein Blick fällt auf die eine Perle, sie ist wunderschön und von großem Wert. Um sie zu erwerben, trennt er sich von allen anderen. Eine Entscheidung von nicht unerheblicher Tragweite. Vielleicht hat er sich verspekuliert. Die Schönheit und der Wert liegen im Auge des Betrachters. Aber der Kaufmann handelt, wie es ihm sein Herz – mehr noch als sein kaufmännischer Instinkt – gebietet.
Alles oder nichts – ganz oder gar nicht: darum geht es, wenn man ein Stück vom Himmelreich erleben will. Entschlossen und entschieden zu handeln, wenn es darauf ankommt, sei es, während man nichts ahnend über den Acker seines Lebens stolpert, sei es, während man auf der Suche ist nach dem ganz Großen.
Jesus ist jedenfalls überzeugt: das Reich der Himmel wartet auf Menschen, die sich entscheiden, den Weisungen Gottes für ihr Leben zu folgen und entschieden handeln – klug und besonnen und risikobereit und mutig ihrem Herzen folgend.
Lassen Sie mich diese beiden Mini-Gleichnisse in unsere Zeit und in unseren Alltag hineinholen mit zwei wahren Geschichten, in denen das Reich der Himmel sich auf unserer Erde / unter den Menschen ereignet hat.
Die eine Geschichte ereignete sich in einem Dorf im Hochland von Papua-Neuguinea. Die Protagonistin heißt Elisabeth. Sie war von einer Frauenkonferenz in ihr Dorf zurückgekommen und hörte schon von Weitem lautes Wehklagen. Ein junger Mann aus ihrem Dorf war gestorben. Nach Meinung des Dorfes konnte nur Hexerei die Todesursache sein. Einige verdächtige Frauen wurden in eine Hütte gesperrt, befragt und gefoltert, um die Schuldige zu finden und umzubringen. Das ist auch dort nicht erlaubt, aber üblich. Eine der Frauen war Elisabeths Freundin. Verzweifelt hat Elisabeth die ganze Nacht geweint und gebetet. Am Morgen ging sie dann zu den Wachen der Hütte und sagte: „Ich gehe jetzt an euch vorbei und nehme meine Freundin mit. Sie ist Gottes Kind, keine Hexe. Hier geschieht Unrecht und es ist mir egal, was ihr mir antut.“ Mutig hat sie die Türe geöffnet und ihre Freundin mitgenommen. Sie hat alles riskiert! Das Dorf hat das staunend beobachtet. Es ist nichts passiert, niemand wurde verurteilt!
Die andere Geschichte hat der Zeit-Redakteur Bastian Berbner recherchiert. Sie erzählt, wie eine Begegnung das Leben von Harald und Christa Hermes um 180 Grad ändert: Die Hermes leben vor sich hin in ihrer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, in der sie seit bald 50 Jahren wohnen. Ausländer/Migranten mögen sie nicht, die bringen nur Probleme. Sie fühlen sich in ihrer Meinung bestätigt, als immer mehr Flüchtlinge in die Reihenhaussiedlung ziehen. Dann zieht auch noch eine Roma-Familie in die Wohnung über ihnen ein. Die Kinder rennen und trampeln, die Hermes müssen ihren Fernseher lauter stellen. Am nächsten Tag tropft Wasser auf ihren Balkon herunter. Wutentbrannt rennt Christa nach oben, stürmt durch die Wohnung auf den Balkon. Auf einer Leine hängt Wäsche, tropfnass. So geht das nicht! Die neue Nachbarin führt Christa ins Badezimmer. Da versteht sie: Die Frau hat die Wäsche in der Wanne gewaschen. Christa erinnert sich an früher; als Kind musste sie auch Wäsche mit der Hand waschen. Sie schaut sich um. Kein Wäscheständer. Auf dem Herd steht eine Erdnuss-Dose, in der die Frau Babynahrung warm gemacht hat. Es scheint kein Geschirr zu geben. Außerdem ist es viel zu warm in der Wohnung für einen sonnigen Apriltag. Christa Hermes deutet fragend auf den Heizkörper, und die Frau erklärt ihr in gebrochenem Deutsch, die Kinder frören nachts in den Betten, sie hätten keine Decken, keine Kissen, nur ihre Pyjamas. „Da wurde es bei mir erst mal heller im Kopf“, erinnert sich Christa Hermes. Den Rest des Tages verbringt sie damit, ihre neuen Nachbarn mit Dingen, die sie nicht mehr braucht, auszustatten: Wäscheständer, Töpfe, Geschirr, Decken, Bettwäsche, eine alte Kaffeemaschine, die noch voll funktionstüchtig war. Bald trinkt sie mit der Frau Kaffee, von der sie jetzt weiß, dass sie Rosi heißt. Schnell sitzt der kleine Milan auf Christas Schoß. Dann kommt ihr Mann Harald dazu und erfährt, dass Robert, der neue Nachbar, in Serbien als Kfz-Mechaniker ausgebildet worden war. Dass sie denselben Beruf haben. Für alle der Beginn einer langen Freundschaft. „Wir können uns das selbst nicht erklären“, sagt Harald. Und Christa sagt: „Dass das Herz so voll Liebe sein kann für fremde Menschen.“ (Bastian Berbner, 180 Grad. Geschichten gegen den Hass, München 2019) Bastian Berbner hält fest: „Innerhalb weniger Wochen waren die „Zigeuner“ zu Menschen geworden, zu Robert, Rosi, Milan, Anastasia, Christina und Monika. Zu den engsten Freunden der Hermes. Die Hermes füllten eine Lücke im Leben „ihrer Serben“, wie sie ihre Nachbarn damals bald nannten. Sie zeigten ihnen Hamburg, erklärten ihnen Deutschland. Und ihre Serben füllten eine Lücke im Leben der Hermes, die gar nicht gewusst hatten, wie sehr sie sich danach sehnten, gebraucht zu werden.“
Das Reich der Himmel in unseren Alltag einziehen zu lassen, sich zur Liebe anstecken zu lassen, macht froh. Geschichten wie diese geben unserem Glauben Hand und Fuß und zeigen auf, dass wir auch ganz anders können. Gerade die zweite Geschichte kennt viele Parallelgeschichten, die sich in den letzten 10 Jahren auch hier in Kaiserswerth ereignet haben – in Zeiten der Flüchtlingskrise und auch nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. Krisenzeiten sind immer auch Zeiten, die Gelegenheiten bieten, dem Reich der Himmel Raum zu geben und darüber von Herzen froh zu werden. Paradox – aber wahr.
Darum: nutzen wir die Krisen unserer Zeit, und gönnen wir uns himmlische Freude. Amen.
7. Sonntag n. Trinitatis, 14.07.2024, Stadtkirche, 2.Mose 16 i.A., Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 7.n.Trin. – 14.VII.2024
2.Mose 16 i.A.
Liebe Gemeinde!
Es ist ein naheliegender Tag, um über Hunger und Brot zu sprechen.
Heute vor 235 Jahren stürmte die aufgebrachte Pariser Bevölkerung die Bastille, das Sinnbild der Zwangsherrschaft des Absolutismus.
Mit dem Aufbrechen der symbolischen Festung kam die Revolution in Gang, die sich akut zusammenbraute, seit die Missernten von 1787 und 88 die Kornpreise und mit ihnen die schwärende Unzufriedenheit in gewaltige Höhen getrieben hatten. Es waren die auch hierzulande knappen, kargen Jahre, in die die Gründung unserer Gemeinde und der Bau der beiden historischen Häuser links und rechts der Stadtkirche fällt:
Jahre, in denen das Grundnahrungsmittel knapp und kostbar wurde, waren unser Anfang.
Jahre, in denen das Marie Antoinette zugeschriebene Wort vom Hefezopf - der brioche -, den die Armen eben statt Brot essen sollten, wenn sie so arg hungerte, kein mokantes Zitat, sondern echten Schmerz bedeutete.
Jahre, in denen niemand beten konnte, was auch wir beten, ohne ganz anders als wir tatsächlich auch zu wissen, worum man bat, wenn es ums „tägliche Brot“ ging. —
Diese Hungerjahre, in denen das evangelische Kaiserswerth entstand, waren weltgeschichtlich eine Epoche, die mit brutaler Gewalt, aber auch mit Ansätzen zu demokratischer Gesellschaftsordnung, zu ökonomischen Utopien und Theorien und zu materialistischen Philosophien der menschlichen Not zu Leibe rückte.
Es war jene Zeitenwende, die zum ersten Mal eine Lösung der existentiellen Menschheitsfragen suchte, die Gott ausdrücklich ausschloss!
… Dass die Fliedners das drängende Problem der Armut und Verelendung in der Industrialisierung mit einer Mischung aus praktischen und geistlichen Mitteln angingen, dass sie ausbildeten und durchbeteten, war insofern schon eine antirevolutionäre Weichenstellung: Sie erkannten, dass Erziehung und Pflege, gesellschaftliche Fürsorge und persönliche Stärkung von Benachteiligten ungemein dringlich waren, … aber zugleich blieb ihnen die Notwendigkeit göttlichen Beistands vor und in allem Irdischen unerschütterlich gewiss.
… Indes: Dass bloßes Brot, dass bloße leibliche Versorgung den Menschen immer noch in tausend Nöten lässt, ist eine Erkenntnis, die zwar von solchen eindeutig christlich geprägten Kreisen wie den diakonischen Werken des vorletzten Jahrhunderts hochgehalten wurde, sich aber seither je länger, desto mehr verlor.
Wenn alle schließlich Brot und Kuchen hätten, dann wäre alles gut: So haben es die Weltanschauungen des Kommunismus wie des Kapitalismus – beides Kinder der nachfeudalen Welt, die mit dem 14.Juli 1789 begann –, bei allem Gegensatz übereinstimmend gelehrt. Die äußeren Bedürfnisse müssen gedeckt sein. Dafür müssen Revolution oder Produktion sorgen. Dann herrscht nicht nur Wohlfahrt, sondern Glückseligkeit!? …
Dass das nicht wahr ist, wissen wir.
Man kann im Zucker verschüttet und in Sattheit begraben sein, man kann vor Köstlichkeiten würgen und am Behagen irrewerden: Das wesentlichste aller Bedürfnisse, das tiefste Verlangen aber, wird dadurch nicht im geringsten gestillt …, allenfalls betäubt. … Es bleiben mitten im vermeintlich schönsten Leben ein Loch und eine Leere.
Diese Erfahrung – so alt wie die Menschheit, die nicht nur Sättigungssorgen, sondern auch Seelensorgen hat – … diese Erfahrung, dass der Mensch nicht von Lebensmitteln allein lebt, sondern von dem, was mehr ist als sein Leben, reicht zurück bis zur ersten Revolution, die uns angeht: Dem Exodus, als die versklavten Kinder Israels, mit denen Gott einen ewigen Bund geschlossen hat, endlich die Freiheit atmeten.
Sie trugen keine Ketten mehr, sie waren aus dem erniedrigenden Zwang und der zerbrechenden Fron gelöst und in die Weite der Möglichkeiten, in die offene Welt der Zukunft entrückt worden:
Mit dem Leben davongekommen, sollte Land in Zukunft nicht mehr nur Erdreich für die Backsteine bedeuten, die sie zu fremden Gräbern formten und ihre Muskeln und Knochen sollten nicht mehr bloß die quälenden Befehle anderer ausführen, weil ihre Arbeit und der Boden sie bald selbständig ernähren und ihnen als Werk und Ernte im Segen zugutekommen würden.
Diese reichen Menschen – zukunftsreich und aussichtsreich – waren aber dennoch leer.
Ihnen – den nachrevolutionären Menschen in einer neuen Welt voller Möglichkeiten – fehlte das Wichtigste.
… Sie meinten, es sei Essen.
Doch es handelte sich um etwas Anderes.
Nicht zufällig begegnen das Murren wegen des Durstes und das Klagen über den Hunger bei den Befreiten, ehe sie am Sinai den durch ihre götzenbilderfordernde Ungeduld beinah vereitelten Bund mit dem Höchsten schlossen. Sie waren frei … also buchstäblich ungebunden, … beziehungslos.
…Solche Beziehungslosigkeit aber reicht nicht.
Sie reichte in der ersten Freiheit damals nicht, und sie reicht in unserer letzten Freiheit heute nicht.
Der Mensch muss nicht nur verdauen, er muss auch vertrauen können. Er braucht nicht nur Zufuhr, sondern Zuwendung, … Brot und Liebe.
Und danach jammerten die Israeliten in ihrem Auf-sich-allein-gestellt-Sein.
Was Gott ihnen aber daraufhin schenkte, ist mit der von der Forschung immer wieder vor-gebrachten armseligen Erklärung, dass auf der Sinaihalbinsel bestimmte Schildläuse Tamariskensaft saugen und ein süßliches Nährsekret dabei absondern, das zu essbaren Kügelchen gerinnt, in gar keiner Hinsicht erläutert[i]. Es geht bei dem, was die Israeliten da von Gott empfangen, nicht um Proteingehalt oder Nährwerte. Ganz deutlich sieht man das am willkommenen Wachtelzug, der als Nahrungsquelle für die Wüstenwanderer zwar viel substantieller war, aber in der theologischen und kunstgeschichtlichen Nachwirkung geradezu bedeutungslos blieb.
Das Wunder des Manna ist nicht, dass es schmeckt und sättigt, sondern dass es die tiefste, unmittelbarste, leiblichste Gestalt der Fürsorge Gottes ist!
Es ist – wie Mose es ankündigt und wie wir es bis zum heutigen Tag und auch in Zukunft nie auch nur annährend dankbar genug begreifen können – tatsächlich ja „Brot vom Himmel“!
Die Wirklichkeit, die keinen Hunger mehr kennt, kommt also zur Erde, um den Sterblichen Leib und Seele zu sättigen!
Das Reich der reinen Freiheit nimmt die Gestalt an, auf die wir angewiesen sind!
Der Ewige nimmt Teil an der völlig vorübergehenden, für uns aber lebensnotwendigen Realität des Stoffwechsels, bei dem Erde Weizen und Weizen Mehl und Mehl Speise und Speise Energie und Energie zur organischen Lebenskraft im Fleisch wird!
Wer darum „Himmel“ und „Brot“ in einem Atemzug nennt, verbindet das Über- mit dem Nichts-als-Irdischen! Wer „Himmel“ und „Brot“ als Ursache und Wirkung zusammenfügt, der bekennt, dass nichts unmöglich, nichts unversöhnlich, nichts unvereinbar ist. …
Wer „Himmel“ und „Brot“ in ihrer Gemeinsamkeit wahrnimmt und annimmt, der steht vor dem Geheimnis, dass „Gott“ und „Mensch“ zuletzt also nicht als Gegenpole, sondern in ihrer Einigkeit gesehen werden sollen.
Himmel und Brot – …
Gott und Mensch – …….
… Nanu? – …………
Ja! … Nanu!
… „Man-hu“? … Was ist das?
Das Manna: Wer ist das? ———
Man muss nicht Thomas von Aquin heißen, um bei dieser Frage, die ja eine Antwort ist, andächtig bewegt zu werden.
Wobei es anrührend ist, wie der größte Theologe des Mittelalters, der philosophischste und das heißt begreifens- und begriffsfreudigste Kopf des Abendlandes seinerzeit vor dem Geheimnis des Himmelsbrotes schlicht zum staunenden Dichter wurde:
Gewöhnlich hat Thomas alle Fragen und Antworten, alle Einzelheiten und die Summe der Glaubensreflektion in strenger Systematik durchsiebt, abgewogen und geordnet. Angesichts der Tatsache aber, dass Gott niemals aufhört, dem Sinnhunger, dem Hoffnungshunger, dem Lebenshunger des sonst unerfüllten Menschen Brot vom Himmel zu schenken - in der Eucharistie, im Abendmahl -, konnte und wollte Thomas nicht als Botaniker die Trockenblumen der Theologie sortieren, sondern als Bekenner der unerreichbaren Herrlichkeit dessen, was der seligmachende Schöpfer schafft, einfach singen.
In seinem Lied auf das Sakrament,[ii] in dem er staunend nachbetet, wie die geistige Wirklichkeit Gottes - das Wort - erst Fleisch wird und wie diese irdische Wirklichkeit Gottes - der leibliche Mensch Jesus Christus - dann Brot für die Seinen wird, findet Thomas für das göttliche Wunder des Stoffwechsels ein wunderbares menschliches Organ: Mögen Sinne und Verstand es auch nicht nachvollziehen können, so wird es dem hungrigen Herzen doch gewiss „allein durch den Glauben“. … Tatsächlich: Die evangelische Ur-Losung „sola fide“ beschreibt bei Thomas von Aquin den dankbaren Empfang jenes Brotes, mit dem Gott die Seinen speist! ———
Und diese Glaubensstärkung, diese nur staunend zu erlebende Lebenserfüllung, diesen Genuss dessen, das direkt von Gott in unser Leben kommt, ersehnten und erfuhren die Israeliten im Manna, das sie auf der Wüstenwanderung erhielten … und das sie erhielt. Es ist also kein Zufall, keine Wortspielanekdote, dass das Wunder der täglichen Lebenszuwendung Gottes zu den Seinen mit dem Ausruf fragenden Staunens, mit der mystischen Formel der Unbegreiflichkeit bezeichnet wird: „Man-hu? Was ist das?“
… „Was ist das?“
Mit diesem Wundern übers Wunder hebt biblische Offenbarung an.
„Wie ist sein Name?“ (2.Mose3,13) kommt es über Moses Lippen am brennenden Dornbusch.
„Wie heißt du?“, fragt Manoah, Simsons Vater den Engel der Verkündigung (Richter 13,17).
Und dann beim „Ave, Maria“: „Welch ein Gruß ist das?“ lautet die meditierende Frage Mariens im Augenblick, da die Fleischwerdung des Wortes beginnt (Lk.1,29).
Und sie selbst, die Hochbegnadete wird von Elisabeth alsbald begrüßt mit dem Echo dieses Sinnens über dem Geheimnis zart: „Wie geschieht mir, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?“ (Lk.1,43)
Und dann sinkt Paulus unter dem herrlichen Aufstrahlen des lebendig erhöhten Herrn Jesus mitten auf der Hauptstraße des Vorderen Orients in die Knie und ruft: „Herr, wer bist du?“ (Apg.9,5).
„Was ist das?“
„Wie kann es wahr sein?“
„Wie sollen wir es fassen?“: Die Manna-Frage zieht sich durch alle Generationen und Zeiten, durch alle Schichten und Formen des Glaubens. —
Was ist das, dass Gott auch mitten unter uns wirkt?
Was ist das, dass der unsichtbare, himmlische Gott die Not der Menschheit in ihrem geschöpflich-geschichtlichen Dasein tatsächlich kennt und Selber lindern will?
Was ist das, dass Gott uns das Leben nicht nur schenkt, sondern es uns auch erhält, dass Er uns Leib und Leben mit Sich Selbst erfüllt und durch Sich Selbst errettet?
Täglich, stündlich, immer muss man sich doch wohl so fragen! … Man-hu?!!! ——
… Und deshalb kann man Manna nicht auf Vorrat sammeln.
Man kann nicht im Voraus glauben; man kann nicht für morgen schon die kommende Plage, den Hunger des nächsten Tages überwinden; man kann nicht vorwegnehmen, woran man sich halten und womit man durchhalten wird. Man kann ja auch nicht im Futur lieben oder sich jetzt schon mit der Erfahrung von später, der Weisheit des Alters, dem Trost im Sterben eindecken.
Man kann nur, wie Israel es in der Wüste begann, von Tag zu Tag das, was zum Leben notwendig, was im Glauben bestärkend, was für Leib und Seele hier und dort gesund ist, sammeln und davon zehren.
„Unser tägliches Brot gib uns heute!“
Das ist die von Jesus auf unsere Zungen und in unser Herz gelegte Manna-Bitte: Gib uns das, was wir von Dir auf unserer Wüstenwanderung, bei unserer Lebenssuche, in unseren inneren und äußeren Bedürfnissen und Nöten brauchen … für jetzt.
Wir können’s uns ja nicht selbst geben oder beschaffen. Und wir können uns daran nicht be-reichern oder dauerhaft damit versorgen. Wir bleiben immer angewiesen. ——
Es wäre die wirklich nötige, es wäre unsere christliche Revolution, wenn wir diese bleibende Angewiesenheit lernten und lebten, anstatt uns in, mit und unter so viel Überflüssigem, Unerquicklichem, letztlich nur Mangel und Leid Erzeugendem zu betäuben, zu verheben, zu vernebeln und zu verlieren.
Was wir - und alle Menschen - brauchen, ist das, was wir nicht selbst erzeugen, was wir uns nicht „backen“ und nicht bunkern können: Wir brauchen die Zuwendung Gottes, die uns speisen und buchstäblich zufrieden machen kann, wie sonst nichts.
Wir brauchen also Gottes Wort wie unser tägliches Brot; wir brauchen Jesu Liebe, die den Durst der Welt danach stillen kann; wir brauchen die Kraft des Heiligen Geistes für alles Denken und Tun als Essen und Trinken: Wir brauchen das Brot vom Himmel – das Glaubensstaunen und die wirkliche Feier das Abendmahls! – als tagtägliche Stärkung, Erleuchtung und Nahrung.
Und weil wir uns selbst damit nicht im Vorhinein oder auf lange Sicht eindecken können, genau darum sollen wir es - so frisch und heutig, wie wir davon leben – weitergeben und verteilen: „Sucht Gott! Lebt von Jesus! Sammelt, was der Himmel schenkt!“
Weil so Viele es doch erfahren, dass man Reichliches erleben und dennoch völlig leer bleiben kann, … dass man üppig genießen mag, ohne im mindesten erfüllt zu sein, … dass man alles zu haben scheint, ohne irgendetwas Wertvolles zu kennen, darum lasst uns mit denen, die sonst nirgends Brot finden, dieses rätselhafte Wunder teilen:
Es kommt vom Himmel … und wir wissen nicht: Wie?
Es ist so klein und einfach … und wir können nicht sagen, was einfacher sein könnte?!
Es schenkt und es schafft die Fülle des Lebens … und es ist nicht zu erkennen, wo es enden würde?!
… Man-hu? Was ist das?
… „Es ist das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben“ (Joh.6,33)!
Amen.
[i] Die Deutsche Bibelgesellschaft steht mit ihren leicht zugänglichen Informationen paradigmatisch für den sog. „wissenschaftlichen“ Ansatz, der (noch dazu in der willkürlichen Auswahl, die die Perikope im Lektionar belegt) am Entscheidenden vorbei geht, vgl.: https://www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex/altes-testament/manna-3.
Gewiss ist der Text von Exodus 16 literarkritisch als Produkt vieler Redaktionen, die ganz unterschiedliche narrative, liturgische und theologische Interessen verfolgen, zu erkennen. Das wirkungsgeschichtlich folgenreichste Motiv des „Brotes vom Himmel“ (V.4) allerdings, das auch für das Evangelium vom 7.Sonntag nach Trinitatis – Johannes 6, 30-35 – entscheidend ist, darf dabei nicht aus historisch-kritischen Gründen aus dem Predigttext ausgeschieden werden. Eine biblisch verantwortete Theologie will die Fülle der Traditionen im Kanon und nicht das künstliche Extrakt, das eine bestimmte Forschungsrichtung daraus gewinnt, verkündigen.
[ii] Den Fronleichnams-Hymnus „Pange, lingua, gloriosi corporis mysterium” gibt das Gotteslob (Nr.494) als Schöpfung des Thomas von Aquin wider. Alex Stock fasst die unauflösbare Frage, ob diese Zuschreibung historisch zweifelsfrei aufrechtzuerhalten ist, gut zusammen (in: Ders., Lateinische Hymnen hgg v. Alex Stock, Verlag der Weltreligionen Berlin 20132, S.215f), wobei er zu dem Ergebnis kommt, der Hymnus sei „als Werk des Doctor angelicus (d.h. des Thomas) anzusehen“ (aaO., S.216). Somit ist auch die entscheidende Wendung in der vierten Strophe als Formulierung des Thomas zu werten: „… si sensus deficit, / ad firmandum cor sincerum / sola fides sufficit“.
6.S.nach Trin.(Tauferinnerungssonntag), 07.07.2024, Stadtkirche, Apostelgeschichte 8, 26 - 39, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 6.n.Trin.[i] – 7.VII.2024
Apostelgeschichte 8, 26 - 39
Liebe Gemeinde!
Luther soll es in seinen Anfechtungen in Augenhöhe auf die Wand vor sich oder auf die Tischplatte unter seinen zitternden Händen geschrieben haben: „Baptizatus sum!“[ii] Dann ließ sein Quälgeist von ihm ab und er konnte das Evangelium weiter übersetzen und zu verstehen üben. ——
Christoph Probst, der Freund und Schicksalsgenosse der Geschwister Scholl erfuhr es als das Ziel seiner 23 Jahre. Augenblicke, ehe sein Erdenweg als Student, als junger Ehemann und Vater unter dem Fallbeil endete, ließ Probst seine Mutter schriftlich wissen: „Ich danke Dir, dass Du mir das Leben gegeben hast. Wenn ich es recht bedenke, so war es ein einziger Weg zu Gott … Eben erfahre ich, dass ich nur noch eine Stunde Zeit habe. Ich werde jetzt die heilige Taufe und die heilige Kommunion empfangen ...“[iii]. … Gewaschen, gespeist, geköpft, gerettet: Selten sind Tauf- und Todesstunde, der Eintritt ins neue und der Eintritt ins ewige Leben solch eine fröhlich bejahte Einheit und Ganzheit gewesen wie damals vor 81 Jahren im Strafgefängnis München-Stadelheim. ——
Eine junge Frau aus China schließlich hat es mir in dieser Woche als ihren lebhaftesten Wunsch geschildert, weil sie damit seit Langem die Liebe Gottes und die Gemeinschaft der Christen verbindet: „Ich möchte getauft werden“. ——
Trost und Zuversicht und Sinn, die die Taufe schenkt: Sie sind mit diesen wenigen, fast willkürlich gewählten Beispielen kaum auch nur angedeutet.
Die Taufe ist nicht nur das grundlegendste und unmittelbarste Sakrament der Christenheit, … sie ist nicht nur der allgemeinste Nenner, der uns weltweit und übergeschichtlich verbindet, vergeschwistert und vereinigt, …sie ist gleichzeitig auch nicht nur das persönlichste Motiv unseres Glaubenslebens, das für jeden von uns mit einem individuellen Datum und eigenen Gewährsleuten des christlichen Bekenntnisses - den Paten - verknüpft sein soll, sondern sie ist das wunderbare Ereignis, das immer und überall jeden einzelnen Menschen vollendet verändern kann, indem sie uns mit Christus verschmelzen lässt, uns mit Gottes Macht, zu richten und zu retten, umfängt und durchdringt und unser leibliches und seelisches Wesen mit Seinem Geist erfüllt.
Durch die Taufe werden wir gottvoll, christusförmig und geistlich. Sie erschließt uns in der eigenen Erfahrung eine neue Identität, indem sie uns beruft, nicht nur gegenwärtig Zeitgenossen Gottes zu sein, sondern solche, die Ihm ewig angehören werden. Der sichere Tod und die unsichere Zeit werden durch die Taufe unwirksam, weil sie uns in ein Leben integriert, das unabhängig von der Vergänglichkeit ist und nur Vertiefung und Erweiterung, aber kein Verfallsdatum mehr kennt.
Taufe bedeutet also Entgrenzung und Freiheit im umfassendsten Sinn: Todesfreiheit, selbst wenn wir noch sterben müssen; Sündenfreiheit, obwohl wir physisch und psychisch bedingte, fehlbare Geschöpfe bleiben; Freiheit vom sorgenvollen Ich-Sein und Mich-Behaupten, weil die Taufe uns stattdessen in ein herrliches „Du-Sein“ taucht – „Du bist mein!“ (Jes.43,1)[iv] – und gleichzeitig das große „Wir“ hervorbringt: Wir Glieder Christi, … wir, die Gemeinschaft der Heiligen, geheiligt durch den Geist, der uns wiedergeboren hat als die neue, untereinander und mit Ihm versöhnte Menschheit des Reiches Gottes!
… Taufe! Das größte Geschenk von allen! … Voraussetzungslose Voraussetzung für alles an unserer Zukunft: Wie die Geburt. Geheimnisvoller Vollzug des Untergangs und der Erlösung: Wie das Sterben!
… Taufe: Öffnender Schlusspunkt und endgültiger Anfang!
… Taufe: Geheimnis des Glaubens und jener Wirklichkeit, die uns hier schon als Bevorstehende innewohnen will!
… Taufe: A und O unseres Christentums. …….
……. Wie fremd bist Du uns geworden! Wie haben wir Dich vergessen!
Was geblieben ist: Ein Familienfest … schön und wichtig, aber wenig, wenn es doch um die der gesamten Menschheit offenstehende Möglichkeit geht, ganzheitlich den rettenden Segen des auferstandenen Gekreuzigten, des zweiten Adam[v] zu erlangen.
Was geblieben ist: Das Gefühl, eine zusätzliche Bestätigung und Versicherung für ein Kind zu empfangen … was nötig und beruhigend ist, aber doch über- und unterschätzt wird, wenn wir darin nur die Zusage von störungsfreiem Lebensglück sehen und nicht den Sieg über den Tod und also das Leben jenseits des Todes feiern wollen.
Die Taufe ist mehr, gibt mehr, gilt mehr und begründet mehr, als wir ihr heute noch zutrauen oder in ihr suchen.
Die Taufe ist das am wenigsten gewürdigte Wunder, dem wir alle schon einmal leibhaftig begegnet sind: Wasser und Wort, die an uns „normalen Menschen“ eine Neuschöpfung in Ewigkeit bewirken!
Darüber könnten und sollten wir vielleicht viel regelmäßiger, biblischer, dogmatischer, staunender und neugieriger sprechen.
Wir sollten häufiger das Gedächtnis der eigenen Taufe feiern und uns berühren lassen, … tatsächlich sollten wir durch Wasser das vergessene Geheimnis, aus dem wir leben, erfrischen lassen: Tauferinnerung im Geist durch Wort und Zeichen[vi].
Außerdem sollten wir üben, alles, was es da theologisch und symbolisch zu erfassen gäbe, in die vorgesehene grammatische Sprechweise zu übersetzen: … Keine „Taufe: Das heißt=“-Sätze, … kein über das Ritual, über den Sinn, über die Sache reden, … also kein abständiges, abstraktes „das, der, die; sie, er, es“, sondern wir sollten endlich einmal in der Person sprechen, die wir Heutigen hier so selten nur noch als Stimme des Glaubens vernehmen und nutzen: Die Erste Person Singular!
Von der Taufe kann man nicht sinnvoll aus der Distanz reden. Aus jeder noch so geringen Entfernung wirkt sie viel zu trivial: Alltagsvorgang des Waschens, … kleine Haushalts-pflicht des Spülens, … nach wenigen Minuten bereits verdunstete Geste der Besprengung. Alles das - von ferne besehen - ist Banalität.
Darum können für die Taufe nur Getaufte Zeugen sein.
Nur, wer zu bekennen vermag: Ich bin getauft, und das ist ein Grunddatum und eine Tiefen-dimension meines Lebens, das ist wie das Siegel, das Wasserzeichen meines Daseins das, was ihm seine Echtheit verleiht, … nur die können von sich aus sagen, dass an dieser unscheinbaren Handlung etwas, … vieles, … für sie alles hängt.
Dass wir das meistens so wenig und so selten wagen und vermögen, ist also nicht gesund.
Es wird über die Zukunft nicht nur unseres eigenen Glaubens, sondern der christlichen Kirche überhaupt entscheiden, dass wir wieder – wie es die sämtlichen Lieder dieses Gottesdienstes uns auf die Zunge legen[vii] – zu begreifen und zu beschreiben und zu beherzigen wagen: „Ich bin getauft. Mein Leben ist Tauffolge. Mein Ursprung ist tauflich, mein Maßstab ist taufförmig, meine Hoffnung ist tauferfüllt.
Ich bin ein Neugeborener Gottes, mein Ich ist vollkommen in Jesus eingetaucht und von Ihm durchfärbt und durchströmt und durchblutet, ich lebe unterm unerschöpflichen Einfluss des Heiligen Geistes.
Baptizatus sum!“ ——
Meine Taufe zu bedenken, zu bekräftigen und zu bekennen und dabei das neue „Ich“ des Gotteskindes, des in Christus Eingegliederten, des in die Gemeinschaft der Heiligen – das große „Wir“ der geretteten Menschheit – fröhlich Integrierten zu gebrauchen: Das ist also ein Sommerziel der nächsten Wochen.
Aber es ist wirklich ein Sommerziel und kein Training gegen den inneren Schweinehund, kein Pflichtprogramm für trübe Stunden, das man ableisten und danach auch abhaken kann.
Es sollen leichte Dehnübungen unseres Bewusstseins und Dankübungen unserer Gedanken sein, dass wir uns immer wieder anrühren und durchwehen lassen von der Erleichterung: Ich gehöre ja tatsächlich und unwiderruflich Gott!
Freiheit und Freizeit, Urlaub und Muße können uns die Heiterkeit veranschaulichen und schenken, die darin liegt, schon jetzt vom endgültigen Kaputtgehen zur endgültigen Heilung gebracht worden zu sein und nicht auf das Unweigerliche, sondern auf das Grenzenlose zu zu leben.
Wenn alte Taufsteine in den wundervollen Kirchen der Welt oder neue Gesichter, Begegnungen und Eindrücke bei den wundervollen Bewohnern der Erde uns in diesem Sommer die Verheißung der dauerhaften, allgemeinen, neuen Perspektive aller Menschenkinder durch die in der Taufe eröffnete Zukunft vor Augen stellen: Wie glücklich und wie nachhaltig könnten wir doch reisen, … mit einem Bein und ganzem Herzen auf Schritt und Tritt schon in der angekündigten Welt Gottes, in die die Taufe strömt und der sie uns entgegenträgt! ——
Diese sommerlichen Wege der Meditation des Taufglücks heben hier und heute aber deshalb an, weil bei aller persönlichen Unmittelbarkeit des Getauftseins wir doch nie alleine, nie vereinzelt daraus hervorgehen.
Meine Taufe erschöpft sich nicht in dem, was sie mir schenkt, sondern sie vertieft in meinem Leben den Segen, der durch alle Zeiten fließt und Unzählige mit mir zusammen zu jenem Strom aus Menschen macht, der in das ewige Leben mündet (vgl. Joh.4,14).
Und heute waren wir Zeugen und werden es hoffentlich nie vergessen, wie einer der allerersten Menschen von dem, was da in die Zukunft quillt, erfasst wurde.
Der Allererste, von dem wir etwas ganz Persönliches, etwas Emotionales und uns also direkt Verständliches im Blick auf das Sakrament des Christ-Werdens hören, steht heute vor uns.
Wir alle - die Getauften der beiden Jahrtausende seither - folgen in gewisser Weise seinem Beispiel nach. Und es ist eine zeitgemäße Erinnerung und Klarstellung, dass wir ihm deshalb ins Gesicht blicken ……. wir, die geschichtlich überholten Erben eines christlich gewesenen Abendlandes, … wir, mit unserer immer noch latenten Attitüde der kulturellen, technischen, am Ende womöglich gar rational definierten Überlegenheit als Europäer. Einst hatten wir in den Kirchen und Gemeindehäusern exotisch bemalte Blechbüchsen, Sammeldosen oder mechanische Figuren auf einem Kollektenkasten: Das waren die sogenannten „Nickneger“, die einen unterwürfigen Kotau machten, wann immer ein Heller oder Pfennig für die „Heidenkinder“, für die Mission und Zivilisierung unter den sog. „armen Wilden“ eingeworfen wurde.
Die Wahrheit aber ist genau umgekehrt: Wir sind nicht Geber, sondern Empfänger einer Gabe, die, ehe sie uns zugutekam, schon in Asien und Afrika Frucht und Segen trug.
Das Taufwasser fließt von Osten und Süden nach Norden und Westen.
Und wer Dämme dazwischen ziehen will, wer Unterschiede, Unter- und Überlegenheiten, Fremdheitsgefühle, Trennungsmauern propagiert, der hat keinen Teil an der historischen Wirklichkeit und den versprochenen Plänen und Möglichkeiten Gottes. Rassisten haben - im Klartext - also schlicht keinen Teil an der Kirche, deren Wesen es ist, ALLE Völker zu Jüngern und Jüngerinnen Jesu Christi zu machen, in dem sie allzumal ohne jeden Unterschied EINS sind (vgl. Matth.28,20 + Gal.3,28!).
Und deshalb soll wer lernen will, fröhlich „Ich bin getauft!“ zu sagen, in das glückstrahlende Gesicht dessen blicken, den wir als Ersten an der Spitze unserer Schar erkennen.
Er hatte nie Zukunft.
Man hatte ihm die direkteste, natürlichste, für viele Kulturen bis heute wichtigste Dimension der Zukunft genommen, als man ihn kastrierte.
Ein Eunuch – nützlich durch seine erzwungene Vereinsamung, weil er nie eine Familie fortsetzen und sich dadurch Sicherheit und Andenken schaffen würde – … ein Eunuch war für Verantwortung geeignet, weil er eine Endstation darstellte: Für wen hätte er sorgen, welche ferneren Ziele hätte er verfolgen sollen? Sein Leben war künstlich auf die gegenwärtige Verpflichtung und dann das restlose Auslöschen festgelegt.
Doch in unserm Freund, dem äthiopischen Beamten der mächtigen Königin des äthiopisch-sudanesischen Reiches muss ein starker Hoffnungshunger, eine Lebenssehnsucht nach mehr als diesem hier gewirkt haben, die ihn zu einem innerlichen Proselyten, einem Anwärter auf das Judentum machten, obwohl er nach den Bestimmungen des biblischen Gesetzes an der heiligen Gemeinde Israels als Kastrat keinen Anteil haben konnte (vgl.5.Mose23,2).
Immerhin aber hatte er sich in Jerusalem, bei der Suche nach Lebensperspektiven über sein gegenwärtiges Verhängnis hinaus die Schriftrolle des gerade Seinesgleichen tröstenden Propheten Jesaja besorgt, bei dem denen, die fortpflanzungsunfähig sind, versprochen wird, dass Gott sie dennoch an allem Kommenden, an der Fülle der Zeit, am ewigen Ziel aller Geschichte teilhaben lassen wird (Jes.56,3-5), indem er ihnen ein Gedenken und einen Namen - Jad-va-Schem - verheißt.
Und in der selben Prophetenschrift, die von der Zukunft der Zukunftslosen spricht, fand der bisher um alle Aussichten Betrogene das finstere Bild des leidenden Gottesknechtes.
Als ihm dabei der Gott Israels aber den Diakon der ersten Christengemeinde von Jerusalem an den Wegrand seiner Heimreise ausgerechnet durch die heutige Totalzerstörungskulisse von Gaza stellte, konnte der Afrikaner diesen Philippus fragen, wer denn der Zerschlagene und Ausgebeutete, der Versklavte und Erniedrigte, der Ausgegrenzte und Verlorene da mitten in der Trostbotschaft sei? …….
Wir kennen die Antwort, die auch uns nur erschüttern kann:
Das ist der Liebling Gottes, das ist die große Liebe Gottes selbst. Das ist der in Jesus für uns alle Leidende und der in Jesus für uns alle Lebende, durch und mit und in Dem wir ewige Seligkeit schon hier, am Straßengraben von Gaza, in den alten Palästen Äthiopiens, im Gefängnis von Stadelheim, hier in der Kirche, in unserem Alltag, unseren Ferien, ja, einfach überall auf Erden finden können und sie im Himmel dann in Ewigkeit erfahren werden.
Wer Jesus findet, der findet das, was Christoph Probst beschreibt: Das Leben als einzigen Weg zu Gott.
… Und da hat er sich taufen lassen.
Und sein Gesicht steht – ohne Kitsch oder Stereotypen bemühen zu dürfen und zu wollen – vor Augen: Das unglaubliche Strahlen der großen Gospelsängerin Mahalia Jackson, … die unvergleichliche Heiterkeit auf den Zügen von Louis Armstrong, … die unerschütterliche Zukunftsgewissheit Martin Luther Kings, … die schelmische Freude an der Kraft von Recht und Gerechtigkeit im Blick von Bishop Desmond Tutu.
Das Gesicht des ersten Getauften steht uns vor Augen.
Und nichts kann besser sein, als wenn auch von uns Getauften mehr nicht zu sagen bleibt als: Sie ziehen ihre Straßen fröhlich, … denn sie sind auf dem Weg zu Gott!
Amen.
[i] Der Gottesdienst an diesem, ganz dem Taufgedenken gewidmeten 6.Sonntags nach Trinitatis begann mit einer von der Gottesdienstgemeinde gemeinsam vollzogenen Lesung des 4.Hauptstücks aus Luthers Kleinem Katechismus, durch das viele Schriftstellen und überlieferte Motive des Taufverständnisses schon vor der Predigt einen gemeinsamen Verstehenshorizont der Versammelten eröffneten.
[ii] Die verdichtete Überlieferung zu Luthers visualisiertem Festhalten an der Taufgewissheit beruht u.a. auf seinen späteren Tischreden. Vgl. seine Äußerung vom 18.Februar (der 4 Jahre später sein Todestag werden würde!) 1542: "Alioquin illæ cogitationes sunt diabolicæ de prædestinatione. Ficht dich die cogitation an, so sprich: Ego sum filius Dei, sum baptizatus, credo in Iesum Christum pro me crucifixum, Iaß mich zu friden, du Teufel! Tum illa cogitation te deseret" (TR 5658a in: WA TR 5, S. 295 Z.27-30).
[iii] Zitiert nach: Thomas Mertz, Christoph Pabst, Ein Student der „Weißen Rose“, Trier 2020, S. 130 und 131.
[iv] Aus dem Wochenspruch des 6.Sonntags nach Trinitatis.
[v] Das Motiv vom ersten und zweiten Adam steht in der paulinischen Theologie auch hinter der immer wieder anklingenden Epistel des 6.Sonntags nach Trinitatis: Römer 6, 3 -11.
[vi] Eine mögliche individuelle Tauferinnerung mit dem Wochenspruch aus Jesaja 43 als Segenswort und Benetzen aus der Taufschale stand am Schluss des Gottesdienstes.
[vii] Es gibt ein furchtbares Taufschweigen in unserem Gesangbuch. Nur der Kasus – die Amtshandlung, speziell als Säuglings- oder Kindertaufe – wird dort etwas ausführlicher bedacht. Außer in Luthers großem, aber nur noch wenig bekanntem und vermittelbarem Taufchoral EG 202 (und dem ähnlich museal versteinerten Choral aus weiblicher Feder – von Christiana Cunrad – unter EG 204), leitet das Gesangbuch kaum zur Meditation über und Identifikation mit der Taufe an. Sie ist reiner Passageritus, reines Aufnahme- oder Segensritual geworden, aber nicht mehr fundamental konstitutiv für die eigene Frömmigkeit und das persönliche Leben. Eine rühmliche Ausnahme bei dieser kollektiven Taufamnesie stellt die Tradition der Herrnhuter Brüdergemeine dar: Aus deren Gesangbuch oder geschichtlichem Umfeld stammten daher alle drei Choräle, die neben EG 200 (der letzten Bastion eines entwickelten Taufbewussteins im EG!) gesungen wurden : „Ich bin als Christ getauft“ von Christian Friedrich Förster (1769-1829), „Ich bin nicht mehr mein Eigen“ von Karl August Döring (1783-1844) und „Ich bin getauft, o Herrlichkeit!“ von Ulrich Bogislaus von Bonin (1682-1752). Der landeskirchliche Anhang des bayrischen EG kennt immerhin noch „Lasset mich mit Freuden sprechen: Ich bin ein getaufter Christ“ von Erdmann Neumeister (EG Bayern 574). Dass als Reaktion auf den Rückgang der Taufnachfrage überwiegend „Eventisierung“ steht, kann die Verankerung der Taufe im (Selbst-)Bewusstsein heutiger Christinnen und Christen und in ihrer Lebenspraxis allein kaum retten. Wir müssen tatsächlich auch geistlich wieder eindeutig „ad fontes“ (zurück zu den Quellen), damit das Danklied der Erlösten kräftig weiterklingt: „Ihr werdet mit Freuden Waser schöpfen aus den Brunnen des Heils!“ (Jesaja 12,3 – vgl. Johannes 7,38!)!
5.So.n.Tr., 30.06.2024, 2.Korinth.12,2-10, Mutterhauskirche, Dr. Kathrin Stückrath
Ich kenne eine Frau, liebe Gemeinde, die fährt oft U79 und beobachtet die Menschen. Sie hat das Gefühl unsichtbar zu sein, denn sie ist nur eine von vielen älteren Menschen mit grauen Haaren. Sie aber nimmt die Menschen um sich herum mit Aufmerksamkeit wahr. Wenn es vorkommt, dass Jugendliche in der Bahn einen von ihnen beleidigen, mobben, dann bleibt sie nicht stumm, dann sagt sie etwas. Und hat dann den Überraschungseffekt auf ihrer Seite. Die anderen sind verblüfft und schweigen. Sie merkt: Ich bin zwar schwach, aber auch stark. So eine Frau kenne ich, liebe Gemeinde.
„Ich kenne einen Menschen“, schreibt Paulus, „ich kenne einen Menschen, der war für einen Moment im Himmel, im Paradies, der hörte unaussprechliche Worte, die nur von Gott kommen können.“ Eine wunderbare Erfahrung. Eine spirituelle, mystische Erfahrung. Eine Erfahrung, um sich darin zu sonnen. Paulus spricht hier bei dem „Ich kenne einen Menschen“ wohl von sich selber. Aber er spricht in der dritten Person, vielleicht, weil diese Erfahrung so außergewöhnlich war, dass er sie nur aus der Distanz beschreiben kann. „Ich kenne einen Menschen.“
Es gibt noch einen Grund, warum Paulus so distanziert redet. Er reflektiert: Für diese Erfahrung könnte ich mich brüsten, damit könnte ich angeben. Ums Angeben geht es viel im 2. Brief an die Gemeinde in Korinth. Da waren „Hyper-Apostel“ – „Super-Apostel“ aufgetaucht, wie Paulus sie nennt und die Gemeinde war begeistert. Über Paulus sagten sie: „Seine Briefe sind kraftvoll, aber seine Rede ist schwach.“
Paulus ist betroffen und reagiert mit einem Brief, in dem er auch einmal richtig angibt. Er gibt mit seinen Reisen an und wie er aus allen Gefahren mit dem Leben davon gekommen ist. Er übertreibt es so, dass die Leute in Korinth merken konnten, eigentlich ist Angeben doch kindisch, ja mehr noch, eigentlich ist Angeben falsch. Denn: womit könnte man vor Gott angeben?
Paulus erzählt von einer Erkenntnis. Er selbst ist eigentlich auch ein selbstbewusster Angeber. In einem anderen Brief schrieb er mal über sich: „Ich war untadelig im Gesetz des Mose. Ich war perfekt.“ Paulus mit seinen vielen Gemeinden, den vielen Menschen, die er zusammen mit anderen für Christus geworben hatte, er hätte allen Grund gehabt, ein zufriedener, überheblicher Guru zu werden. Wenn, ja wenn nicht das passiert wäre, dass Paulus krank geworden ist. Schmerzen, die immer wieder auftreten und ihn schwach machen. Paulus nennt die Krankheit „Ein Pfahl im Fleisch“. Er hat alles Mögliche versucht, diese Krankheit loszuwerden, hat inbrünstig gebetet zu Gott. Gottes Antwort: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Ein starker Satz, aber was soll das heißen?
Sicherlich heißt es nicht, dass Gott Freude an unserer Schwachheit hat. Oder dass Menschen künstlich schwach und klein gehalten werden soll, demütig, unterdrückt. Gott liebt schwache Menschen ja, aber nicht, um sie schwach zu belassen, sondern um ihnen Stärke zu geben. Er beruft Mose, der nicht reden kann. Er beruft Maria, die viel zu jung ist, er ruft das Volk Israel aus Ägypten in großer Schwachheit, um es zu befreien.
Gott hat auch keine Freude an Krankheit. Aber Krankheit, Altern, Schwachheit, das gehört zu unserem Leben als Geschöpfe dazu. Wir sind sehr verletzlich. Wir leiden oft schlimme Krankheiten. „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ heißt nicht, bleib krank. Sondern soll eine Hilfe darstellen, die Krankheit zu bewältigen. Wenn ich nie krank wäre und nie Hilfe bräuchte, dann hätte ich weder Helfer noch Freundinnen. Was wäre das für ein Leben? Kein gutes. Und ich bräuchte auch Gott nicht. Aber Gott ist der, der Schwachen Kraft gibt. Der schwache Menschen über sich hinauswachsen lässt. Der möglich machen kann, von dem wir nur träumen können. Vielleicht nicht so, wie wir uns das vorstellen: Krankheit, Schwäche bitte einfach wegmachen. Nein, damit leben und sich helfen, sich ergänzen lassen. Gottes Kraft in mein Leben einbauen, auf ihn vertrauen. Mit manchen Schmerzpunkten in meinem Leben gelingt mir das, mit anderen schwerer, liebe Gemeinde.
Ich lese Ihnen jetzt mal den Text aus Kor. 12 im Ganzen vor und füge anschließend noch einen Gedanken dazu. Also, wir hören Paulus:
2 Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es nicht; Gott weiß es –, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel. 3 Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es –, 4 der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann. 5 Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit. 6 Denn wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich kein Narr; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört. 7 Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. 8 Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. 9 Und er hat zu mir gesagt: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne. 10 Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.
„Wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ Dieser Satz hätte auch von Jesus sein können. Jesus, der fasten gegangen ist in der Wüste, um die Kraft der Engel zu erfahren. Jesus, der den Weg der Schwachheit bis ans Kreuz ging in Liebe, weil Gott ihm die Kraft dazu gab. Dass Schwäche eigentlich Stärke ist, weil sie Gottvertrauen bedeutet, ist ein Grundkonzept, ein absolut bedeutsamer Gedanke im Christentum. Und auch wenn das Christentum durch die Jahrhunderte die Religion der Starken, der Kaiser, Könige, des Staates und des Papstes wurde, gab es immer wieder Menschen, die dem widersprochen haben mit Blick auf Christus, mit Worten auf den Lippen wie Paulus „Wenn ich schwach bin, bin ich stark.“
Und, liebe Gemeinde, das hat eine unglaubliche Wirkung für das Menschenbild, die Menschenwürde. Dann sind nämlich nicht nur die Starken etwas wert, sondern alle, immer, ihr ganzes Leben lang. Das ist die christliche Revolution.
Es gab einen Philosophen, der hat das in aller Konsequenz erfasst und dagegen seine Bücher geschrieben. Es war Friedrich Nitzsche. Er prägte den Begriff Umwertung aller Werte. Er stellte fest, dass das Christentum geschafft habe, die traditionellen Werte der Antike umzudrehen. Mit seinem gekreuzigten Messias, mit seiner Menschenwürde für jeden, hat es den Gedanken der Aristokratie, der Herrschaft der Besten, zerstört. Nietzsche kritisierte das scharf und wollte mit seiner Umwertung der Werte wieder zurück zur Herrschaft der Starken und Kräftigen. Er dachte, nur so wäre Fortschritt für die Menschheit zu erreichen. Er propagierte den Übermenschen. Die Nationalsozialisten griffen das auf und versuchten sogar rassisch-biologisch Übermenschen zu züchten. Und sprachen von Untermenschen als Rechtfertigung für die Tötung von Millionen Menschen.
Zusammengefasst: „Wenn ich schwach bin, bin ich stark.“ ist ein Glaubenssatz, der unseren Seelen gut tun kann. Aber er ist, wie Nietzsche richtig bemerkte, noch viel mehr. Er ist ein Satz mit politischer Sprengkraft, einer, der eine Revolution der Menschenwürde auslösen kann. Das kann z.B. in der U79 geschehen, wo jemand Einspruch erhebt gegen Beleidigung und Erniedrigung.
Amen.
4.So. n. Trin., 23.06.2024, Stadtkirche, 1.Samuel 24, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 23.VI.2024 - 4.n.Trin.
1.Samuel 24, 1 – 20
Liebe Gemeinde!
Dieses kleine Sittengemälde aus der Eisenzeit, dessen Handlung und Kulisse mit der staubigen Urwüchsigkeit eines Sandalenfilms aufwarten, ist eine unvermutete theologisch Fundgrube.
Die antike Kämpfer- und Freibeuter-Welt, die kolossale Wüsten- und Wadilandschaft nahe am Toten Meer, die brütende Sonne und die glühende Rache, vor der sich eine Schar Abenteurer in den stickig-schmutzigen Schutz einer Höhle zurückziehen, in der für die Antike immer schon die Unterwelt beginnt, … das alles ist ein Metro-Goldwyn-Meyer oder Twentieth Century Fox oder meinetwegen auch ein Babelsberger Szenario für Helden und Haudegen und ihr durch Technicolor unterstütztes Mimen-Pathos. Mit der bebenden Übertreibung und den unfreiwillig grotesken Posen einer frühen Nibelungen- oder Spartacus-Verfilmung, mit der monumentalen Körpersprache eines Charlton Heston und der grandiosen Dekadenz-Parodie eines Peter Ustinov sieht man David und Saul aufeinandertreffen: Dem einen trieft die unübersehbare Erwählung - selbst ungewaschen wie er im Wüstenversteck ist - aus jeder Pore, der andere ist ein schuldlos und doch irgendwie trottelig vom Schicksal Übergangener.
Und es kommt noch plakativer.
So sehr, dass ich mich nur an die Schilderung wage, weil das letzte Mal, dass ich diesen Abschnitt der Bibel ausgelegt habe, nach meiner Erinnerung in einem Kreis war, der mir noch mehr Achtung einflößte und Feingefühl nahelegte, als die hochlöbliche Sonntagsgemeinde hier vor mir. … Wenn ich’s aber vor den wunderbaren Nonnen der Gemeinschaft von Jerusalem unterm Vierungsturm von Groß St.Martin in Köln fertiggebracht habe, das Genrebild ohne Abstriche zu skizzieren, dann geht’s auch jetzt: …
Es geht dabei um einen König.
Einen König, dessen Amt Gott zunächst für Israel – die freie Eigenossenschaft der Stämme in Seinem Bund – für überflüssig erklärte (vgl. 1.Sam.8), … ein König also, der bloß auf populäres Drängen hin dann doch einzig von Gott erwählt wurde, weil er nichts Überhebliches an sich hatte, sondern bescheiden (vgl.1.Sam.9) und wegen seines Gardemaßes wahrscheinlich extra-unbeholfen und gehemmt war, wie viele Hünen, denen das Herausragen peinlich ist (vgl.1.Sam.10,21-24!), … ein König, dem die geistliche (vgl.1.Sam.10,10ff +16,14!!) und auch die politische Überforderung (vgl. 1.Sam.15+18,7) in dieser unfreiwilligen Rolle den Stempel echter Tragik auf die gesalbte Stirn drückte, … ein König, dessen Erwählung und dessen Scheitern weit über ihn hinausverweisen: Saul, der arme Tropf, der eine Krone tragen und ein Reich gründen sollte, obwohl er gewöhnlich war – ein Mensch wie Du und ich, ein Mensch, dem nichts Menschliches fremd war.
Und in der allermenschlichsten Lage treffen wir ihn heute. Die hebräische Wendung, die die Ursache ausdrückt, weshalb König Saul auf der Suche nach dem Volksliebling und möglichen Usurpator David sich in eine Höhle zurückzog, ist sprechend genug: „Die Füße bedecken“ – wir sagen: „Die Hosen runterlassen“ –, beschreibt den schutzlosen Vorgang, bei dem wegen des natürlichen Drangs alles Hinderliche abgelegt werden muss, … die Kleidung also einfach aus dem Weg gezogen wird, um hockend die Notdurft zu verrichten. Wehr- und würdeloser kann einer nicht sein. … Aber auch - wenn wir nüchtern sind - nicht menschlicher.
Von diesem im Allzumenschlichen und in seiner eigenen, fast beispiellosen Tragik befangenen Saul erzählt nun die Anekdote seiner Verschonung: Der, dem er besinnungslos auf den Fersen ist, weil alle David lieben und niemand ahnt, wie (buchstäblich! vgl.1.Sam.15 +16,14!!!) gottverlassen es ist, Saul, der ersterwählte, erstverworfene und schon zu Lebzeiten bei Gott und den Menschen innerlich ersetzte König zu sein … der, dem Saul besinnungs- und chancenlos auf den Fersen ist, hat plötzlich das leichteste aller Spiele: Wie ein Kleinkind auf dem Töpfchen, so schutzlos und lächerlich hat das Leben Saul vor Davids Füße gelegt. Diskret alleingelassen im Zwielicht des Felsinneren, nackt und ehrlos und erbärmlich. …
… Eine Handbewegung nur! … Und David würde sein, was er längst ist: Unangefochten.
Wo dem anderen erkennbar keine Würde blieb, wer wollte da auch nur von Schuld sprechen, wenn die Verhältnisse angepasst werden: Der, der nichts war, vernichtet. Der, dem alles zufällt, nicht nur zufällig, sondern final bestätigt.
… Stich zu! Du hast das Ass! ——
Doch David sticht nicht. Er kennt die Lage Sauls.
Dass des Menschen Würde immer wieder auf dem Spiel steht in den Konflikten und Verwirrungen der Geschichte und des Lebens, hat David am eigenen Leib erfahren: Um sich vor Saul in Sicherheit zu bringen, hat auch David sich schon in den Zustand lächerlicher Hilflosigkeit geflüchtet. Er rettete sich – als er ausgerechnet bei den Philistern Asyl suchen musste – in die Rolle eines völlig unzurechnungsfähigen, spuckenden, zuckenden Kranken (vgl.1.Sam.21,14).
Aus dieser schlichten, buchstäblichen Allerweltsweisheit also, die man so oder so erlernen kann – „Ich bin genauso ein Mensch wie Du“ – rührt Davids Rücksicht einerseits her.
Die Grundtatsache, dass wir alle leben mit natürlichen Mängeln und Makeln, an die unsre gewöhnlichsten körperlichen Angewiesenheiten uns ununterbrochen erinnern, schafft alles andere als ein negatives Menschenbild. Dass ich Bedürfnisse und Nöte habe und meine Nächsten auch und alle Fremden ebenso und selbst die Feinde, ist weltweit und zu allen zeiten Anlass zur fundamentalsten Sym-Pathie: Das, was ich lebe, was ich leiden kann und auch, was ich erleiden muss, erleiden und erleben alle anderen wie ich: Wir sind zu Sympathisanten – „Miterleidern“, „Miterlebern“ – geboren, weil wir alle leiblich sind, … genussfähig, wie verletzlich … und durch beides sterblich.
Es ist also keine Geschichte von Davids Großmut, die uns hier in der Höhle begegnet, sondern eine Geschichte seiner Menschlichkeit.
Sollen wir sie noch elementarer runterbrechen?
… Dass alle müssen, … dass alle brauchen, … dass alle nicht ohne das Nötigste leben können: Das müsste das Grundgesetz menschlicher Menschlichkeit sein.
David - scheinbar der geborene Eroberer - scheute es die Heiligkeit dieser Linie zu überschreiten: In seinem Bedürfen ist der Mensch die Grenze aller Freiheit. Das, was dem Menschen unerlässlich ist, muss allgemeiner Maßstab des Tuns und Lassens aller sein. … Ein kategorischer Imperativ der reinen Leiblichkeit.
… Ein biblischer und außerbiblischer Grundwert; … ein biblisches und ein Gesetz der Natur, das man überall bricht. …….
Wie sehr man es heute Netanjahu und den Seinen in die Ohren schreien will, … wie sehr man es sich in flammender Schrift als Menetekel an allen Haus- und Synagogenwänden und allen Grenzmauern der Siedler in den besetzten Gebieten und der Westbank erscheinen wünschte, … wie laut es von allen islamistischen Minaretten jeden Muezzinruf übertönen sollte, … wie überwältigend es jede Liturgie der russischen Kirill-Kirche unterbrechen müsste, wenn sie das endlose „Kyrie“ und „Heilig! Heilig! Heilig!“ der Orthodoxen anstimmen, die doch ein Hohn werden ohne den Imperativ des Erbarmens mit der Heiligkeit des Menschen.
Heiliger König David, Du Verschoner der Notdürftigen: Bitte für uns jüdische, christliche und muslimische Barbaren, dass wir zur Menschlichkeit zurückfinden! ———
Das ist die eine Seite von Davids Zurückhaltung, seinem Anstand, seiner Menschlichkeit: Die Allerweltsweisheit vom Menschsein genau wie andere Menschen.
Die andere Seite ist höher noch und tiefer.
Sie kann nur erkennen, wer die Bibel nicht als bloße Sammlung, sondern als Schöpfung betrachtet. Wenn in der Bibel nur einige Generationen ihre Aufzeichnungen des Gewesenen abgeheftet hätten, wenn sie also nur eine Sammlung vertrockneter Blätter wäre, ein totes Buch, dann ergäbe auch die Geschichte von Sauls Stuhlgang letztlich bloß das, was ihm fehlte: Klopapier.
Doch Synagoge und Kirche sehen in der Bibel ein organisches Wachsen und Reifen, das Blüten treibt, neue Halme, Äste und Verzweigungen entfaltet und immer mehr trägt.
Dann sind aber die früheren, urwüchsig knorrigen Bestandteile der reichen Bibelpflanzung ja Grundlage und Nährstoffträger dessen, was aus ihnen hervorwächst.
Dann reift die Substanz des Alten in neuer Verdichtung von Stoff und Form zu Süßigkeit und Frische heran, die ganz von Saft und Mark des Baumes lebt und aus ihm hervorbringt, was uns als neue Frucht erscheint und doch kein anderes Gewächs ist als der Stamm.
… Wovon ich rede?
– Dass im Alten Testament nichts steht, das nicht ein Wachstumsansatz des Neuen wäre. Das Alte blüht im Neuen, und wer erntet, was in den Evangelien reift, der zehrt von dem, was durch die hebräische Bibel dort einströmt.
Nun nennen wir uns Christen und Christinnen nach dem Christus, dem Messias, dem „Gesalbten“, den wir mit den Zeugen des Neuen Testamentes in Jesus erkennen.
Die rituelle Salbung als Siegel einer besonderen Erwählung, die schon Priester und heiliges Gerät (vgl.2.Mose30,26ff), aber auch Gedenksteine und Markierungen heiliger Orte (vgl. u.a.1.Mose28,18!) in der Torah empfingen, wird im Blick auf einen einzelnen Menschen aber zum ersten Mal ausführlich meditiert in dem grotesken, tragikomischen Sittengemälde aus der Eisenzeit, das wir heute vor Augen haben.
Was es bedeutet, ein Gesalbter, ein Messias zu sein, das entfaltet sich biblisch-ursprünglich also in der Felsenhöhle am Toten Meer: Ein symbolischerer Ort zwischen Oben und Unten, Drinnen und Draußen, Leben und Tod, Diesseits und Jenseits wäre noch zu suchen.
Dort, an einem Ort, der uns karfreitäglich und österlich zugleich berührt, hält David – der Zweite, der nach Saul zum messianischen Herrscher, zum gesalbten König erwählt war – seinen Messias-Monolog: „Das lasse der HERR ferne von mir sein, dass ich meine Hand legen sollte an meinen Herrn, den Gesalbten des HERRN; denn er ist der Gesalbte des HERRN!“
Ehrfurcht vor dem „Christus“ also– wie es in der vorchristlichen Übersetzung der Hebräischen Bibel ins Griechische an dieser Stelle heißt – … Ehrfurcht vor dem seltsamen, ja paradoxen Geheimnis des „Christus“, in dem uns trotz aller Unwahrscheinlichkeit und allen Widerspruchs Gottes tiefere Absicht und Gottes höhere Weisheit begegnen, … Ehrfurcht vor der uns Menschen unerklärlichen Wahrheit, dass der „Christus“ uns unkenntlich, total befremdlich, absolut erbärmlich, ja völlig verworfen vorkommen kann: Alles das ist in dieser lächerlich-erhabenen Szene bereits angelegt!
Alles, was die späteren Jahrhunderte der kirchlichen Meditation erfüllte, die zum Verstehen des Geheimnisses Jesu führen sollte – diese Verstehensmeditation heißt „Christologie“ –, hat seine Wurzel in dem Moment zwischen David und Saul.
Im Ernst: Hier wird die christliche Theologie geboren!
Ohne den Gesamtzusammenhang der Bibel könnten wir nur eine ritterliche Überlieferung, ein Tugendbeispiel von Davids Großmut in dieser Überlieferung erkennen … und natürlich eine volkstümliche Satire auf den scheißenden Saul.
Doch wenn uns das wachsende, lebendige Gebilde der biblischen Offenbarung in seiner Ganzheit bewegt, dann gehen uns rückblickend tatsächlich schon die Knospenansätze auf, die unerwartet, aber nicht unvorbereitet aufblühen werden!
Christus – der vermeintliche Ehren- und Machttitel des von Gott erwählten, eingesetzten und ausgezeichneten Herrn und Herrschers – ist nicht gleichbedeutend mit Herrlichkeit! Der erste König, der den Messiastitel trug - Saul -, war nicht erhaben, sondern wurde gedemütigt; er ist nicht als Sieger, sondern als Geschlagener in die Geschichte eingegangen; er hat nichts Vollkommenes repräsentiert, sondern begegnet uns von Dunkelheit umgeben und von Verwundbarkeit gezeichnet.
Und zutiefst menschlich – wenn sich auch vieles in uns sträuben will – … so menschlich, dass Menschwerdung als Eingliederung in alle unbeschönigte Erniedrigung sich darin andeutet, tritt Saul, der Messias uns heute entgegen. Der Natur zwangsläufig gehorsam. Bar aller Besonderheit. Nur und nichts als stinknormal.
Wenn man aber die Umstände dabei bedenkt und den griechischen Text liest, dann führt das zu einer wirklichen Erkenntnis:
Christologie, Lehre vom Gesalbten kann nie und nimmer an der total kreatürlichen Bedingung vorbeigehen, dass der Messias durch und durch ein Wesen aus Fleisch und Blut ist; dass Messianität Nahrungsbedürftigkeit und Essen und abermaligen Hunger und Durst einschließt; dass Salbung nicht Entrückung bringt, sondern Windeln und Wasser notwendig bleiben; dass der Erwählte Gottes nicht ideal, sondern real ist; dass wir die Heilsgeschichte also nicht oberhalb oder außerhalb des Irdischen suchen sollen, sondern in der Schwäche, der ein besonderer Schutz gebührt, weil sie unser aller gemeinsame Natur bedeutet.
Der schwache Messias.
Der hilflose Messias.
Der, der Spott erregt, aber längst nicht immer das gottesfürchtige Mitleid, das David beweist. ——
Das alles liegt in der kleinen, zunächst obskur und peinlich scheinenden Höhlenszene, von der wir heute hören und aus der doch - wie wir feststellen müssen - die Christologie erwächst.
Und aus der Erkenntnis Christi – des wie wir und unseretwegen angefochtenen wahren Menschen – erwächst schließlich noch mehr: Die christliche Überzeugung, dass nichts Menschliches … nichts Berührendes, nichts Anrührendes, aber auch nichts Ehrenrühriges, ja nicht einmal das menschlich Anstößige je die Ehrfurcht vor dem von Gott gewollten, erwählten und gesiegelten Menschen infrage stellen darf.
Aus der Wurzel des Motivs vom schwachen Messias Saul in seiner Bedrängnis, … aus dem Motiv dieses durch göttliche Erwählung besonders Schutzbefohlenen wachsen also der Weihnachtsglaube an den menschgewordenen Gott und das christliche Menschenbild vom unverlierbaren und unantastbaren Ebenbildes Gottes selbst in Demütigung und Erbärmlichkeit.
Es ist krude zu sagen, dass wir hier das Mistbeet der Theologie sahen.
Aber es ist heilig festzustellen, dass alles, was wir glauben, hoffen und lieben dürfen, in der Niedrigkeit und Wirklichkeit wurzelt und dass das Kleinste und Echteste im Leben uns nicht nur an Weihnachten die sicherste Gewähr des Höchsten und Ewigen schenkt!
Amen.
3. So. n. Trinitatis, 16.06.2024, Stadtkirche, Lukas 15, 1-3.11b-32, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 16.VI.2024 - 3.n.Trin.
Lukas 15, 1-3.11b-32
Liebe Gemeinde!
Eigentlich ist die Akte dieses Erbschaftsstreites doch geschlossen: Der Hallodri und der Spießer, die beide so unterschiedliche Lebensentwürfe hatten – der eine als Playboy und einstweiliger Liebling der Klatschpresse, der andere als Junior des mittelständischen Familienbetriebs in der Provinz –, sind uns seit Kindertagen so vertraut, dass wir dieses Gleichnis nun wirklich kaum noch ernst zu nehmen neigen.
Wir kennen seine Moral: Auch der exzessive Verschwender und Tunichtgut darf nach einem heftigen Absturz auf die berühmte und beruhigende zweite Chance zählen. Es kann also nie so schlimm kommen, dass es dank der Großzügigkeit Gottes nicht alles immer wieder bügelbar und besser noch: ausbügelbar wäre. Wenn’s auch dumm gelaufen sein mag: Am Ende wird alles gut. ——
… Tatsächlich?
Ist das alles, was wir vom Verlorenen Sohn wissen?
Wer vergangenen Sonntag im Gottesdienst war, hat bei der Evangelienlesung jedenfalls nicht eine solche Beruhigungspille verabreicht bekommen. Da war im Gleichnis von denen, die Wichtigeres wussten, als irgendjemandes Gäste zu werden – weil sie gerade in Land und Besitz investiert und ihren Status durch eine gute Partie zementiert hatten – etwas völlig anderes zu vernehmen. Im Gleichnis vom Großen Abendmahl (vgl.Lk.14,15-24), das doch vom gleichen Erzähler stammt, ging es gar nicht gut aus. Wer da nicht zum Festmahl wollte, weil ihm sein Alltag mit der Fixierung auf die eigenen Erfolge wichtiger war, als irgendeine fremde Freude zu teilen, für den - so endete es theatralisch und erschreckend - gilt: „Ich sage euch, dass keiner der Männer, die eingeladen waren, mein Abendmahl schmecken wird.“
So ließ Jesus das ausklingen! … Mit diesem wörtlichen Zitat, das gar keinen Versuch unternimmt, im Abstand einer indirekt erzählten Rede zu bleiben, sondern beklemmend mit direkter Wörtlichkeit aus seinem Mund kommt, … ohne milderndes Fazit, ohne motivierende Schlussfloskel.
Die Geschichte vom Gastgeber, der reichlich Körbe kassiert, ist meine Geschichte, hält Jesus also fest, und sein Schlusspunkt ist auch mein Entschluss: Es löst sich nicht alles in Wohlgefallen auf, … sondern in Klarheit.
Und dann schickt er dem ernüchternden Ergebnis, dass die, die nicht wollen, auch nicht wer-en – nämlich dabei sein! –, einige ziemlich harte Zumutungen hinterher, die in der groben Drohung gipfeln: „Jeder unter euch, der sich nicht lossagt von allem, was er hat, der kann nicht mein Jünger sein. Das Salz ist etwas Gutes; wenn aber das Salz nicht mehr salzt, womit will man dann würzen? Es ist weder für den Acker noch für den Mist zu gebrauchen, sondern man wird’s wegwerfen. Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ …….
In der Kapiteleinteilung, die unsere Bibeln seit dem Mittelalter haben, sind ausgerechnet das die letzten Stichworte und Gedankengänge vor dem sattsam vertrauten und zutiefst beruhigenden 15.Kapitel, in dem alles Verlorene – das Schaf, der Groschen, der Sohn – so entlastend wieder hereingeholt und vor dem endgültigen Wegsein oder Draußenbleiben bewahrt wird.
… Doch wer sagt uns, dass es der Sinn dieser Reihenfolge sei, erst den schlimmsten Fall - die endgültige Zukunftslosigkeit - und dann sofort die Entwarnung, dass es überhaupt keinen solchen Fall geben werde, zu illustrieren?
Könnte es nicht auch bei den drei Verlorenen – von denen das Schaf irrational, der Groschen unbewusst, der Verlorene Sohn dagegen willentlich und selbstbestimmt in die schreckliche Lage kommt, nicht mehr aufgehoben zu sein – … könnte es also nicht auch bei den drei Verlorenen ganz bewusst so sein, dass ihre Geschichten nach den vorangehenden Warnungen vor dem Ausgeschlossen-Bleiben bei Gott sich umso eindringlicher verstehen und steigern?!
Wo keine Orientierung und Vernunft, wo nicht einmal eigene Energie vorhanden ist, da sucht und sammelt Gott selbst alle, die sonst abhandenkämen.
Wo aber Willens- und Entscheidungsfreiheit herrschen, da ist die Annahme der Einladung aus dem Festmahl-Gleichnis in Kapitel 14 nicht anders als die Umkehr zum Festmahl des Vaters in Kapitel 15 des Menschen ureigenste Möglichkeit. …Und Notwendigkeit!
Zu lange und zu bequem haben wir die Achterbahn des verlorenen Sohnes als einfache „Alles wird gut“-Geschichte verstanden. Als würde da irgendeine Schusseligkeit, ein dummes Versehen, eine allzumenschliche Unzurechnungsfähigkeit weggewischt, um fünfe gerade sein zu lassen.
Vielleicht müssten wir aber nur die abgenutzte Überschrift, die ja wir selbst dem Gleichnis Jesu geben, ändern, um es besser zu verstehen: Eigentlich ist es doch die Leidens- und die Rettungsgeschichte eines „umkehrenden Menschen“.
Und an dieser Geschichte können wir uns noch lange nicht, oder besser gesagt: schon lange nicht mehr sattgehört haben. Denn sie ist unmodern geworden. „Umkehr“ klingt nach Erweckungspredigt und Zeltmission oder nach Verbotspartei und moralischem Spielverderben. … Und so was wählt man ab, wie uns der letzte Sonntag gezeigt hat.
Und darum exakt geht es!
Dass wir abwählen können. Dass wir die Entscheidung haben: Dem Fest fernzubleiben. Das Vertraute zu verlassen. Völlig eigenwillige Wege einzuschlagen. Und schließlich Rückkehr und Zukunft zu vergessen. … Oder zu suchen. ——
Der Mensch, der sein Erbe vorzeitig wollte, bekam und verschwendete, ist mit seinen Ansprüchen und seiner ungebremsten Selbstverwirklichung nicht glücklich geworden.
Das könnte uns durchaus vertraut erscheinen: Wir könnten ganze Völker und Kulturkreise darin erkennen, wir könnten beinah ganze Generationen in dieser Erzählung wiederfinden.
Natürlich ist das die Geschichte der westlichen Welt, die Abschied vom ewigen Vaterhaus geommen hat und sich so, mit einem satten Vorschuss an Lebensqualitätsverbesserung, an äußerer Freizügigkeit und moralischer Emanzipation, kurz: an sämtlichen Möglichkeiten zur materiellen Wunscherfüllung in das Abenteuer stürzte, das sie „die Moderne“ nannte.
… Selbstbestimmung, … Saus und Braus, … Hier und Jetzt. … Kein Fragen um Erlaubnis! … Kein Warten auf das, was der Vater für später aufbewahrt hat.
Und nicht nur historisch, sondern aktuell ist das doch der Entwicklungs- oder vielleicht auch Reifeverzögerungsroman unseres weit verbreiteten Lebensstils: Der Menschentyp, der eigenmächtig und eigennützig einfordert und ausnutzt, …direkt und ohne Sparzwang, … erfüllt von der ungetrübten Gewissheit, dass ihm legitimerweise zusteht, worüber er verfügt.
Mit solchem kulturkritischen Pessimismus also, dass Neuzeit und Wohlstandgesellschaft die verlorenen Kinder Gottes sind und wir jetzt alle Zeugen werden, wie da, wo man die Sau rausließ, der Kater einkehrt, könnten wir streng und vorwurfsvoll auf die egoistischen und moralisch orientierungslosen Amerikaner oder Autofahrer oder Anhalter und Sachsen zeigen und hätten eine befriedigende politische Predigt gehalten: … Trump, die fossilen Energiegeschäftemacher und die Krah-und-Höcke-Meute sind die, deren egoistische Vernichtung des Erbes in den Absturz führt! … „Ich danke Dir, dass ich nicht bin wie diese“ (vgl. Lk.18,11). —
Doch was sollen solche Predigten über andere?
Wir sind es doch, denen Jesus in Seiner Kirche heute das Gleichnis vom Menschen erzählen lässt, der weggewollt hatte und schließlich doch einsah, dass er heimkehren müsse, wenn er statt des Todes das Leben finden wollte.
Und darum sind wir es, die die Akte zuschlagen können – „Der Verlorene Sohn ist eine Beruhigungsstory: Das wissen wir!“ – oder die sie lesen und bereit sein können, ihre eigene Not und Notwendigkeit darin zu begreifen.
Die Zeit drängt - so meine ich -, wenn wir vor Gott noch einmal anders dran sein wollen als die Menschen, die Besseres zu tun hatten, als das Leben zu erlangen.
Wir alle haben uns mit Selbstverständlichkeit und unmerklich immer weiter von Gott entfernt.
… Und wem das guttut, wer das stolze Dasein auf eigene Rechnung und Verantwortung als die einzig ihm angemessene Form des zeitgenössischen Erwachsenseins erlebt, für den ist die Predigt nun nichts mehr. … Wer die Gängelung durch Gott oder die Vergiftung mit Ihm oder die entmündigende Lehre der Geduld oder die negative Kritik an misslungener menschlicher Autonomie für das eigentliche Problem hält – und natürlich gibt’s auch Gründe, so zu denken –, der wird nicht weiter folgen mögen oder müssen.
Wer den Genuss, den wir zweifellos als Teil unseres Erbes von Gottes Seite hier und jetzt erfahren, für absolut ausreichend hält, und wer die enttäuschende Leere und den Mangel, die uns hier ja auch begegnen, als unvermeidlich sieht und Wert drauflegt, da selber klarzukommen, dem erzählt niemand die eigene Geschichte weiter: Weder Jesus noch irgendjemand in Seiner Kirche. … Haben und Verlieren, Auskosten und Entbehren darf jeder auch aus-schließlich mit sich selbst ausmachen! … ——
Doch was, wenn Lust und Ungemach – unser Prassen und unsere Reue am Schweinetrog – eine ganz andere Botschaft in sich trügen als entweder: „Schlürf mich, ich gehör’ Dir allein“ oder „Halt schön das Maul, Du bist eh’ allein!“? …….
Was, wenn die Herrlichkeit und das Scheitern in unserem Leben uns beide fragen: „Erinnere ich Dich nicht an Gott?“
Gott ist es, von Dem wir kommen. Er ist die Quelle unserer Freiheit, uns Wege in dieser Welt zu suchen und darauf Sinnvolles oder Selbstsüchtiges zu unternehmen. Er hält niemanden unter Zwang bei sich. Seit Jahrhunderten wählen wir eine immer ferner aus-greifende Auswanderung aus der ungebrochenen Vertrautheit mit Ihm, und unsere eigene Biographie ist oft eine bewusst reifende oder achtlos sich einschleichende Entfremdung von der Nähe und Direktheit, die andere Menschen oder wir, als wir noch anders waren, angesichts Seiner empfinden oder empfunden haben mögen.
Wir lassen Gott zurück.
Wie bei allem, was früher war, verzerrt es sich und verklärt sich womöglich, … was aber nicht Klärung oder Klarheit bedeutet.
Gott wird Nostalgie oder Nebel, wird von Kleinigkeiten oder unerträglichen Fragen und Krisen noch einmal heraufbeschworen, …aber anders als bei jenem großen Dichter, dem Duft und Geschmack eines Krümels Gebäck eine ganze Welt sinnlich vergegenwärtigten[i], tritt Gott nicht klarer vor oder näher an uns heran, wenn wir solche Winke oder Erschütterungen verspüren.
Vielmehr verliert Er immer mehr Sein Gesicht, Seine Stimme wird immer unvernehmlicher, Sein Wesen zerfließt immer unbestimmter, je mehr unsere Wünsche oder unsere Zweifel und Unzufriedenheiten und Leiden Ihn umspinnen und einwickeln in das graue Netz, den fahlen Flor, der alles einhüllt, das wir durch die Mühlen und Maschinen unseres klapprigen Verstandes drehen. …
… Ganz Vielen von uns ist Gott entweder nur noch ein theoretisches Fragezeichen oder eine Schädel-Jagdtrophäe, erlegt bei unserer Ausrottung des Unerklärlichen. …
… Oder wir lächeln wissend, weil Er ja ein gedanklich-sprachliches Symbol, eine unpersönliche These ist, die wir ab und zu zum Lücke-Büßen oder Tun-als-ob brauchen. …
… Oder Er ist so abwesend, so entwirklicht und so entwürdigt durch Erfahrungen und Behauptungen, die stärker auf uns wirken, dass wir vor dem leeren Bilderrahmen, dem abgeräumten Sockel stehen und nicht entscheiden können, ob wir eher in Tränen oder Wut ausbrechen. …
… Das alles kann in unserm Leben sehr wahr und sehr nah sein. …
… Oder es kommt uns gleichgültig vor, weil anderes viel näher und viel wahrer wirkt. … —
Doch hier in dieser Kirche, wo diese Predigt dieses Gleichnis dieses Jesus, des Sohnes dieses Gottes wiederholen darf, … hier ist nur die Frage zu stellen:
Willst Du das?
Oder erinnerst Du Dich nicht noch anders an Gott? Hoffst Du nicht anders auf Ihn?
… Wie wir uns nämlich an Ihn erinnern oder auf Ihn hoffen – was im Tiefsten nichts Verschiedenes bedeutet –, so dürfen wir uns und unsere Zukunft auch ausrichten!
Wenn im Unterbewussten, längst Verdrängten Gutes im Gottes-Namen klingt und schwingt, wenn da Weltwärme und Lebensatem, Herzensfrieden und die Echtheit unserer Seele zu spüren sind, … warum sollte man das nur immer weiter zurück- und verlassen? – Weshalb nicht wagen, statt des Schweigens wieder den Ruf und die Zusage, statt des Nichts wieder den Segen, statt des Verblassens wieder das Erstrahlen zu suchen? …
Und wenn im Gottes-Gedanken, im Jesus-Gefühl, im leisen Erwachen oder immer stär-keren Wehen der Begeisterung die Luft des Himmels, die Arme der Liebe, das Wunder von daheim sich ankündigen und aufgehen, weshalb sollte man dann im Tristen, in der kleinlauten Unsicherheit, in der Verstoßung bleiben, in die nur der fehlende Glaubens-mut, das Nicht-Aushalten der Vergebungsbedürftigkeit, der einsame Trotz des Höhlenmenschen[ii], der die Welt der Freiheit draußen leugnet, uns verbannen?!
Wenn wir doch etwas Herrliches hatten und auf noch viel Größeres, Grenzenloseres, Ewiges hoffen dürfen … wieso dann nicht dorthin umkehrend aufbrechen, … warum nicht losziehend darauf zurückkommen??! …….
In der Zeltmission würde es jetzt heißen: Wenn Du aus der Leere in die Fülle, … aus der Qual des langsamen Erstickens zurück an die Luft, … wenn Du aus der Ausweglosigkeit auf die Zielgerade willst, dann gib Jesus Dein Herz.
Und hier heißt es: Wenn Du nicht willst, dass alles bleibt, wie es ist und auch nicht willst, dass alles viel schlimmer kommt, … wenn Du nicht längst erwartest, dass alles vorbei ist, sondern hoffst, dass es mehr gibt, als alle Menschen sich erträumen, … wenn Du Dich selbst und die Welt also nicht am Ende siehst, sondern aus der Sackgasse des menschlichen Fortschritts bereit bist zurück in die Zukunft Gottes zu ziehen: Dann gib Jesus Dein Herz, aber gib Ihm auch Dein Hirn; gib Ihm Deine Not und Deine Kraft; gib Ihm Deine Sünde und auch Deine Gaben; gib Ihm alles, was Du an Leichtem und Schwerem mitschleppst auf dem Weg in die verschwenderischen und die elenden Tage hier auf Erden!
Gib also die Hoffnungslosigkeit auf – und der Zukunft ihren Namen: Sie heißt Umkehr!
Denn mit Jesus kommst Du, … mit Jesus kommen wir, … mit Jesus kommen alle nach Hause.
Ins Leben!
Amen.
[i] Marcel Prousts berühmtes „Madeleine“-Erlebnis - die Wirkung etwas gestippten Teegebäcks also - ließ ihn auf die „Suche nach der verlorenen Zeit“ gehen, die für seine Leserinnen und Leser (und in Wahrheit ja für alle Menschen) nicht abgeschlossen ist.
[ii] Platons Höhlengleichnis aus dem VII. Buch der Politeia, das als Schlüsselszene seiner Erkenntnistheorie gilt, wird immer sprechender auch als Illustration des heute gepflegten Vulgär-Atheismus. Die felsenfeste Behauptung, was wir hier sehen, sei alles, ist aber nach einer zweieinhalbtausendjährigen philosophischen Ermunterung, doch vielleicht einmal den Sitzort und also auch die Blickrichtung und dann auch den Standpunkt zu wechseln, noch immer nicht leicht zu erschüttern. Und doch ist die platonische Erfahrung, gar nicht an das vertraute Dunkelbild gebunden zu sein, sondern in Licht und Freiheit streben zu können, eine bleibende Motivation zur Verkündigung: Stellt Euch vor, da draußen gäbe es Gott …?!
2.So.n.Tr., 09.06.2024, Israel: Versuch einer Klärung, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
„Israel – Volk Gottes, Land und Nation: der Versuch einer notwendigen Klärung in schwieriger Zeit“
Liebe Gemeinde, (diese Predigt ist ein Wagnis, aber eines, das gewagt werden will, weil uns gerade in diesen schwierigen Zeiten Schweigen nicht weiterbringt. Dabei geht es mir nicht um Politik, sondern um unsere Haltung als Christenmenschen zu Israel.) Was meinen wir, wenn wir von Israel sprechen, was geht uns durch Herz und Geist, wenn von Israel die Rede ist?
Ich möchte Sie heute auf eine Zeitreise mitnehmen durch die Bibel bis in unsere Gegenwart und dabei dem Wort „Israel“ nachspüren. Es gibt kaum ein Wort, das so viele Facetten hat, wie „Israel“: Volk Gottes, Land und Nation – diese drei Wegmarkierungen habe ich in der Ankündigung gesetzt. Doch eigentlich fehlt die erste Markierung, der Ausgangspunkt für alles Nachdenken über Israel. Zuallererst ist Israel ein Name, der Name, den Jakob am Ende einer Nacht erhalten hat, in der er gerungen hat – mit sich und seinen Zweifeln und Ängsten, in der Sprache der Bibel mit einer numinosen Gestalt, sei es ein Dämon, sei es ein Engel, ein Kampf, aus dem er doppelt gezeichnet hervorging: verletzt und hinkend – und gesegnet und mit neuem Namen: Nicht mehr Jakob ~ „Betrüger“, sondern „Israel ~ der mit El/Gott ringt“. (Gen.32)
Der Name Israel weist uns in eine frühe Zeit zurück – in eine Zeit, in der nomadische Sippen mit ihren Viehherden durch den vorderen Orient zogen – zwischen dem Zweistromland und Ägypten. Von einer solchen Sippe erzählt die hebräische Bibel ab dem 12.Kapitel des 1.Mose: ihr Familienoberhaupt heißt Abram und er verehrt einen Gott El Schaddaj, der ihn anruft und ihm seine Begleitung zusagt und ihn auffordert, in ein Land zu wandern, das „ich dir zeigen werde“. Und dazu erhält Abram die Zusage, dass seine Sippe groß werden wird, zu einem Volk werden wird. Was entscheidend ist: Abram vertraut und bricht auf. In den nächsten Kapiteln werden verschiedenste Geschichten von Abram und seiner Sippe erzählt, die ins Land Kanaan kommt und dort umherzieht – immer den Weidemöglichkeiten für ihr Vieh nach. Und immer wieder auch Geschichten, die deutlich machen: entscheidend ist die Beziehung Abrams zu seinem Gott. Es geht um den Glauben, das Vertrauen in Gott. Gott ist ein mitgehender Gott.
Um den Glauben geht es auch in den Geschichten um Isaak und Jakob. Was wir von ihnen im 1.Mose lesen können, das sind keine verifizierbaren historischen Berichte, keine History, sondern Stories, Erzählungen über den Glauben der Vorväter von Sippen, die im Land Kanaan umherzogen. Erst viel später, in der Zeit der Könige von Juda und Israel, wurden die Erzählungen von Abram, Isaak und Jakob so miteinander verknüpft, dass sie eine einzige Familiengeschichte ergaben und so 12 Stämme zu einem Sippenverband zusammenfügten.
Das bedeutete auch, dass Erlebnisse, die eine Sippe, ein Stamm in der Vergangenheit gehabt hatte, von den anderen als eigene und geteilte übernommen wurden. Das betrifft auch die wohl wichtigste Erzählung der hebräischen Bibel: die Erzählung vom Auszug des Volkes Israel aus der ägyptischen Sklaverei. Auch wenn es nur ein kleiner Sippenverband war, der gegen alle Erwartungen dem Pharao entkommen konnte, so zählte für alle, die diese Erzählung hörten, teilten und weitergaben, doch eines: unser Gott ist ein Gott, der uns befreit. Er hört, wenn wir in Not sind und ihn anrufen. Der Glaube an einen Gott, der befreit und der will, dass seine Menschen in Gerechtigkeit und Freiheit zusammenleben, der verband die 12 Stämme in Kanaan.
Das war allerdings gar nicht immer leicht, das wissen wir heutigen ja auch. Um den richtigen Weg des Zusammenlebens muss man immer wieder ringen. Für die Menschen damals hieß das, sich immer wieder mit Gott und seinem Willen zu befassen. Und so wurde der Name, den Jakob seit seinem Ringkampf am Jabbok trug, zum Namen für den ganzen Sippenverband, bildeten sie so das Volk Israel.
Volk des Bundes wird es in der hebräischen Bibel auch genannt, das Volk Gottes. Das Buch der Richter weist darauf hin, dass dieser Zusammenschluss der 12 Stämme wohl über einen längeren Zeitraum ein Verbund war, wo jeder Stamm in seinem Bereich halbnomadisch lebte und man zu bestimmten Festen an Orten zusammenkam, die einzelnen Stämmen heilig waren und die mit Erzählungen von Gott und den Erzvätern verbunden waren: wie Bethel (wo Jakob die Himmelsleiter im Traum geschaut hat) oder Mamre (wo Abram von den drei Männern oder Engeln besucht worden war, die ihm die Geburt Isaaks ankündigten).
Kanaan hatte neben den 12 Stämmen noch andere Bewohner, die in einzelnen Städten siedelten: wie in Jericho. In diesen Stadtstaaten herrschte jeweils ein König, der als der oberste Repräsentant der dort verehrten obersten Gottheit galt. Und so wie es heute zwischen Staaten Konflikte gibt, gab es sie natürlich auch damals. Konflikte zwischen den halbnomadischen Stämmen Israels und den ansässigen Völkern im Land Kanaan. Das eher lockere Stammesbündnis wurde bald als Schwachpunkt in der Auseinandersetzung mit den straff hierarchisch organisierten anderen Stadtstaaten und Völkern gesehen. Die Existenz als föderaler Staat, das wissen wir in der Bundesrepublik ja auch, ist oft sehr mühselig. Dass Gott doch der König seines Bundesvolkes war, das reichte den Israeliten nicht mehr: ein realer König sollte her; sie wollten sich so organisieren, wie die anderen Völker. Davon erzählen die beiden Samuelbücher.
Der erste König war Saul. Doch sein Königtum war nicht von Dauer. Nach ihm wurde David König. Er kam aus dem Stamm Juda. Die Erzählungen über ihn zeigen ihn als mutigen Jüngling im Kampf gegen Goliath, als sensiblen Musiker und Poeten, als treuen Freund und Frauenheld, als Söldnerführer und Machtmenschen, als frommen Mann und brutalen Eroberer. Er begründete eine Dynastie. Bereits unter seinem Enkel Rehabeam brach das Königreich aber in das Reich Juda mit der Hauptstadt Jerusalem und in das Nordreich Israel mit der Hauptstadt Samaria auseinander. Trotzdem verbanden sich die Heilshoffnungen des Stammes Juda mit David und der Verheißung, dass sein Königtum ein ewiges sein soll.
Wohlgemerkt: das Land, auf dem die beiden Reiche und auch noch andere Herrschaftsgebiete existierten, z.B. die Edomiter, die sich von ihrem Stammvater Esau ableiteten, hieß nie „Israel“, es hieß Kanaan und der nördliche Teil wurde auch Samaria genannt und der südliche Teil Juda. Das Land lag in der Antike immer zwischen den damaligen Großmächten, den Assyrern, Babyloniern und Persern im Osten und den Ägyptern im Südwesten. Immer wieder wurden die dort wohnenden und siedelnden Völker und Stämme von diesen Großmächten in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt, ihre Städte erobert, die Ländereien verwüstet, die Menschen getötet, vertrieben, versklavt oder deportiert. Dagegen half es nichts, dass der 12-Stämme-Bund sich einen König zugelegt hatte.
Den Königsbüchern und auch den Prophetischen Büchern der hebräischen Bibel kann man einiges von den gewalt- und leidvollen Geschicken der Menschen in den beiden jüdischen Staaten entnehmen. Ebenso zeigen sie auf, wie die jüdischen Theologen nach der Katastrophe des Jahres 586 v.Chr. (Zerstörung Jerusalems und des Tempels und Deportation der Oberschicht nach Babylon) diese zu bewältigen versuchten: Schuld waren die Könige, die eben nicht die Gebote Gottes befolgt hatten; die Niederlage und die Zerstörung des Tempels war die von Gott verhängte Strafe. Als schwerste Sünde der Königszeit wurde ausgemacht, dass das Volk des Bundes sich verunreinigt hatte, indem es sich mit Menschen anderer Völker vermischt hatte – vom Königshaus angefangen bis hinunter ins gemeine Volk.
Die Rede von der Erwählung Israels als Volk Gottes bekam eine neue Ausrichtung. Es ging weniger darum, dass Gott Israel gerade als kleines und schwaches Völkchen erwählt hat, um an ihm zu zeigen, dass er für seine Menschen Rettung und Freiheit will und sie bewahrt. Nun wurde betont, dass Israel eben ganz anders sei als andere Völker, ein besonderes Volk, dass sich deshalb auch absondern muss von allen anderen – bis hinein in die Wortwahl: das hebräische Wort für Volk „ha ahm“ wird nur noch für Israel als „ha ahm elohim“ / Volk Gottes verwendet; alle anderen Völker werden mit „gojim“ bezeichnet. Genau damit geriet Israel aber in das gleiche Fahrwasser wie andere Völker: für die Griechen und später für die Römer waren alle anderen Völker „Barbaren“, für die Christen später die Menschen anderer Religion „Heiden“. Die Abwertung der anderen – eine Folge falschverstandener „Erwählung“.
Als der Perserkönig um 530 v.Chr. den Exilierten die Erlaubnis gab, in ihre Heimat zurückzukehren, setzten diese alles daran, die „Fehler“ der Königszeit auszumerzen und zu vermeiden. Eheschließungen zwischen Juden und Angehörigen der Gojim wurden verboten. Jüdische Männer, die mit Frauen verheiratet waren, die keine Jüdinnen waren, mussten diese fortschicken. So wollte man die Reinheit des Volkes bewahren. In den beiden biblischen Büchern Esra und Nehemia finden sich diese und andere Anweisungen aus dieser Zeit. Ein Verständnis von Erwählung und Volk Gottes, dem selbst in der hebräischen Bibel widersprochen wird. Der Prophet Deuterojesaja sieht die Rolle Israels ganz anders, nämlich bezogen auf die anderen Völker. Es heißt bei ihm: „Ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.“ (Jes.49,6b). Statt sich auf kultische und ethnische Reinheit zu beziehen, geht es Deuterojesaja und auch anderen Propheten um Recht, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Sich darum zu sorgen und sie allen Menschen und Völkern zu vermitteln ist Gottes Auftrag an Israel. Darin liegt der Kern der Berufung.
Gegen den kultisch-ethnischen Ansatz sprechen auch eine ganze Reihe weiterer Erzählungen in der hebräischen Bibel. Der Stammvater Joseph war mit einer Ägypterin verheiratet und seine Kinder folglich keine „reinen“ Juden. Mose war mit einer Kuschitin verheiratet, auch keine „Tochter Israels“. Und Ruth, die Urgroßmutter Davids, war eine Moabiterin.
Die Bemühung der Männer um Esra und Nehemia, das jüdische Volk Israel als besonderes Volk von allen anderen Menschen getrennt zu halten, hatte insgesamt nicht viel Erfolg. Erfolgreich dagegen war die Religion des Judentums, die sich immer stärker unter den Menschen und Völkern, die anderen Religionen anhingen, ausbreitete. Es waren gerade die ethischen Weisungen, die Hochschätzung von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit und die Verkündigung Eines Gottes im Himmel und auf Erden, eines Schöpfers und Befreiers, der diesen Glauben attraktiv machte. In den drei Jahrhunderten vor der Zeitenwende – in der Zeit herrschten im vorderen Orient zuerst die Griechen und dann die Römer - kam es zur Gründung vieler jüdischer Gemeinden in den Gebieten und Ländern rund um das Mittelmeer. Diese Gemeindegründungen können wir uns ähnlich vorstellen wie die Gemeindegründungen des Apostels Paulus. Es gab beides – eine regelrechte jüdische Mission und ein gewachsenes Interesse, das von „heidnischer“ Seite kam, das Proselytentum. Am kultisch-ethnisch-reinen Judentum hängende Juden standen dem ablehnend gegenüber. Jude war man für sie nur durch Geburt von einer jüdischen Mutter.
Für unsere Themenstellung wichtig ist an dieser Stelle der Hinweis darauf, dass seit der Zeit der Griechen das Land selbst Palästina hieß, unterteilt in Regionen und Provinzen wie Galiläa, Judäa, Samaria, Idumäa, Peräa. Von 141 v.Chr. an gibt es in Judäa ein jüdisches Königtum, die Dynastie der Makkabäer bzw. Hasmonäer, eine Zeit voller Intrigen und kriegerischer Auseinandersetzungen, die ihr Ende findet, als Pompejus 63 v.Chr. Jerusalem erobert. In der Folgezeit setzen die Römer Vasallenkönige über Palästina bzw. über einzelne Provinzen ein. 66 beginnt der jüdische Aufstand gegen Rom, 70 erfolgt die Zerstörung Jerusalems und des Tempels. Ein letztes Aufbäumen des jüdischen Widerstandes führt zum Bar-Kochba Aufstand 132-135. Nach dessen Niederschlagung wird die Provinz Judäa in Palästina umbenannt.
Die kriegerischen Auseinandersetzungen hatten einen enorm hohen Blutzoll unter der jüdischen Bevölkerung verursacht – durch Hinrichtungen, Hunger, Mord, Versklavung. Das Land lag brach. Wer konnte, emigrierte – zu den jüdischen Gemeinden in Asien, Afrika und Europa. Einzelne jüdische Gemeinden gab es aber immer auch in Palästina (Jabne), allerdings für lange Zeit nicht in Jerusalem.
So spannend es wäre, auch genauer auf die Geschichte der jüdischen Gemeinden in den folgenden fast 2000 Jahren zu sehen, so muss ich mich doch hier auf ein paar Stichworte beschränken – die Predigt würde sonst viel zu lang.
Die jüdischen Gemeinden gerieten seit der konstantinischen Wende (325 n.Chr.) unter den Druck des Christentums, das ein folgenschweres Bündnis mit der kaiserlichen, weltlichen Macht einging. Aus der verfolgten Kirche wurde die verfolgende Kirche. Die vorherrschende Theologie sah die Kirche als das neue und wahre Israel an, der neue Bund hatte den alten Bund abgelöst, das Evangelium die Befolgung der Thora obsolet gemacht. Die hebräische Bibel wurde ausschließlich als Schrift verstanden, die das Kommen Jesu im Blick hatte. Dass die Juden Jesus nicht als Messias anerkannten, wurde ihrer Verstocktheit zugeschrieben. Sehr bald galten sie auch als Gottesmörder. Im christlichen Machtbereich waren Juden eine Minderheit, die in entsprechenden Situationen als Sündenbock herhalten musste – z.B. beim Ausbruch der Pest, bei Missernten, bei Fehl- und Totgeburten und ähnlichen Gelegenheiten. Als biblische Begründung diente der Vers aus dem Matthäusevangelium, wo die Juden von Pilatus die Hinrichtung Jesu fordern mit der Bekräftigung „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.“ Ein Freibrief für unzählige Pogrome und Mordtaten von Christen durch die Jahrhunderte. Der religiös begründete Antisemitismus ist das Kainsmal des abendländischen Christentums und letztlich auch der Nährboden des rassistischen, biologistischen Antisemitismus der Neuzeit. Der Gedanke der Erwählung, der einmal der schwachen, kleinen Stammesgemeinschaft gegolten hatte, war in der Hand der herrschenden Kirche und Christenheit pervertiert in Gewaltausübung und Vernichtung.
Das Aufkommen des Nationalismus in Verbindung mit dem Kolonialismus im 19.Jahrhundert und der Säkularisierung weiter Teile der Gesellschaften Europas wirkten in doppelter Weise auf die jüdischen Gemeinden ein: die einen hofften auf den Durchbruch der Aufklärung und Vernunft und bemühten sich um Anerkennung in ihren Nationen, fühlten sich als Deutsche oder Franzosen oder Engländer jüdischen Glaubens. Andere, besonders in Osteuropa und im Zarenreich, erlebten gerade zum Ausgang des 19.Jahrhunderts eine Welle der Gewalt, Pogrome mit tausenden Toten. Ihre einzige Hoffnung verbanden sie damit, sich als jüdische Nation selbst zu regieren in einem eigenen Land. Sie fanden sich zusammen im Zionistischen Kongress, den Theodor Herzl initiiert hatte. Nach Zion, nach Israel – zurück in die alte Heimat, das verheißene, gelobte Land. Religiöse Inbrunst und weltliche Wünsche vermischten sich.
Nach den Pogromen in Russland waren von dort einige Tausend jüngere jüdische Männer und Frauen ins damals von den Osmanen beherrschte Palästina gereist, um sich dort in Kibbuzim anzusiedeln. Eine der Parolen lautete: Ein Volk ohne Land kommt in ein Land ohne Volk und sorgt dafür, dass es ein blühendes Land wird, wo Milch und Honig fließt.
Doch Palästina war kein leeres Land, sondern Heimat von muslimischen und christlichen Arabern und Palästinensern, unter denen auch orientalisch-jüdische Gemeinden lebten. Je mehr Land die aus Europa kommenden aschkenasischen Juden aufkauften und je mehr Juden aus Europa sich ansiedelten, je mehr Konflikte gab es, die von beiden Seiten mit Gewalt ausgetragen wurden. Als das osmanische Reich 1917 zerbrach und die Engländer als Kolonialmacht das Protektorat über Palästina erhielten, geriet das zum Vorteil der jüdischen Einwanderung. Das christliche Europa entwickelte ein Faible für das Heilige Land, man wollte auf den Spuren Jesu gehen. Und da Jesus ja Jude gewesen war, hatten diese doch dort eher Heimatrechte als die Araber.
Letztlich erwies sich das unfassbare Verbrechen der Nationalsozialisten an den Juden Europas, die Schoah, als Geburtshelfer für die Gründung des Staates Israel auf dem Boden Palästinas. Zehntausende Überlebende der Verfolgungen fanden dort Aufnahme, der einzige Rettungshafen, nachdem andere Länder – auch die USA – schon in den dreißiger Jahren ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge geschlossen hatten.
Allerdings gab es bei der Staatsgründung einige Geburtsfehler, die maßgeblich verantwortlich waren und sind für die nicht enden wollenden Konflikte im Nahen Osten.
- a) Schon vor der Staatsgründung gab es bewaffnete Konflikte zwischen der einheimischen arabischen Bevölkerung und den neu ins Land kommenden Siedlern um das von den Kibbuzniks von korrupten Großgrundbesitzern aufgekaufte Land, von dem dann die einheimischen Dorfbewohner vertrieben wurden.
- b) Um ihre Vorstellungen von einem Israel, wie es in der Bibel beschrieben wird, durchzusetzen, wurden systematische Vertreibungen, ethnische Säuberungen von israelischer Seite durchgeführt. In der christlichen Welt wurde dazu geschwiegen.
- c) Der neugegründete Staat wurde als demokratischer Staat gegründet, aber die Rechte und Pflichten waren nicht gleichmäßig auf alle seine Bürgerinnen und Bürger verteilt. Alle Rechte und Pflichten waren nur den jüdischen Staatsangehörigen zugedacht. Die noch im Land wohnenden Palästinenser und Araber, Muslime und Christen, Drusen und Angehörige anderer Religionsgemeinschaften unterliegen bis heute vielen repressiven Vorschriften. Israel befindet sich heute mehr denn je im Würgegriff eines völkisch-religiösen Nationalismus.
Es liegt eine große Tragik darin, dass Menschen, die doch selbst in ihrer Geschichte als religiöse Minderheit unendlich viel Leid und Verfolgung erfahren haben, nun selbst anderen Leid zufügen, die sie als weniger wert betrachten, weil sie nicht zum auserwählten Volk gehören, deren Kultur und Traditionen sie geringschätzen (etwas, was sie übrigens mit vielen Europäern teilen). Ja, aus Opfern können Täter werden. Da hilft es nur scheinbar, sich selbst immer als Opfer zu sehen, die Angst zu beschwören, ohne wehrhafte Gewalt der Vernichtung preisgegeben zu sein. Angst und Gewalt werden niemals Israel in Sicherheit und Frieden leben lassen. Nur eine Aussöhnung mit den Palästinensern bringt eine Lösung, und der Weg dorthin ist anstrengend und braucht von israelischer Seite zuallererst die Anerkennung der eigenen Schuld an der Nakba, an der Vertreibung und Enteignung der Palästinenser, an der ethnischer Säuberung des Landes – mag sie auch ihre Wurzel haben in der erlittenen Not der Schoah.
Vielleicht sollten sich unsere jüdischen älteren Geschwister einmal die Geschichte ihres Namensgebers zu Herzen nehmen, von der wir einen Teil in der Lesung gehört haben. Wo Jakob sich buchstäblich durchringt – durch seine Ängste vor der Begegnung mit seinem Bruder Esau, an dem er schuldig geworden war. Und was erlebt er am folgenden Tag? Der Bruder läuft ihm entgegen und fällt ihm um den Hals; er küsst ihn und sie beide weinen. (Gen.33,4)
Es ist wahr: die biblischen Texte können uns zu Worten des Lebens werden oder aber uns in Abgründe führen. Möge Gottes Geist uns und unsere jüdischen Geschwister auf den Weg der Gerechtigkeit, Versöhnung und des Friedens geleiten.
2.So. n. Trinitatis, 09.06.2024, Stadtkirche, Epheser 2, 11 - 22 , Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.n.Trin. - 9.VI.2024
Epheser 2, 17 - 22
(Zu diesem Gottesdienst waren anlässlich der Europawahl die sechzehn- bis achtzehnjährigen Erstwähler und Erstwählerinnen besonders eingeladen. Der vorgesehene Predigttext des 2.Sonntags nach Trinitatis wurde an den entsprechenden Stellen von drei jungen Gemeindegliedern gelesen. Ein besonderer Dank daher an Alisa-Marie Schulze, Erik Heukelbach und Mateus Cherubim!)
Liebe Gemeinde!
Wie steht’s um unser Haus? – Nicht gut, fürchte ich.
Es ist ein großzügiges Haus. Errichtet wurde es wie alle alten Bauwerke ja nur nach und nach. Deshalb hat es seinen eigenartigen Plan, und nicht alles an ihm ist noch zeitgemäß. Aber es steht, es trägt und es hat Atmosphäre. Es ist ein Zuhause und eine Herberge, in der viele Erinnerungen und Träume ihren Ort haben und viel Zukunft Platz hätte.
Natürlich finden sich in unserm Haus auch Spuren seiner Bewohner, die uns Rätsel aufgeben: Wie sinnlos manche Räume abgetrennt und wieder und wieder geteilt wurden, so dass sie bis zur Unbrauchbarkeit verschachtelt sind. Manche Wände zeugen von schlichtem Zank: Hauptsache, „die nebenan“ kommen nicht leichter an die Pumpe oder ins Freie als man selbst.
Und dann gibt es die Narben unseres Hauses und seine offenen Wunden: Es gibt Verbindungstüren, die einfach zugemauert wurden. Es gibt tragende Balken, an denen man - lustig oder meistens grimmig - gesägt hat und immer noch sägt.
Und es gibt die erschütternd selbstzerstörerische Absicht, jetzt, in unserer Gegenwart die Türen und die Fenster dieses Hauses nicht nur zu verbarrikadieren, sondern sie unbenutzbar zu machen. Kein Eingang, kein Durchzug, keine Erfrischung soll mehr möglich sein. Das Haus soll dicht gemacht werden von innen. Technisch anders, aber in der Wirkung wie ein Sarg. … In dem dann auch nur noch Zerfall möglich ist, wenn seine sechs Bretter endgültig und undurchlässig geschlossen wurden.
Dabei ist doch dies Haus - unser Europa - anders entstanden, als seine Zerteiler und Abschließer (wir könnten auch seine „Abdecker und Zerleger“ sagen) wahrhaben wollen.
Das Europa, das wir bewohnen und Heimat nennen, ist zunächst nicht auf einer Landkarte, sondern in einem Buch und dessen Geist zu suchen. Ein Geist ist das, der von Süden kommend durch wehrdienstverweigernde, ungehorsame und vaterlandsverräterische römische Soldaten eingeschleust wurde, die plötzlich nicht mehr militärische Kolonialbeamte, sondern Diakone und Fußwascher und Mantelteiler und Gnadenprediger und Völkerversöhner und Himmelreichsvorbereiter sein wollten: Sie hießen Florian und Martin, Florentius und Cassius, Mauritius und Gereon, Quirin und Viktor[i] und haben unterm römischen Reichsadler tatsächlich die Herrschaft eines unterm römischen Reichsadler Gekreuzigten angesagt und anerkannt!
Die Mission dieser getauften Ex-Soldaten, die nicht mehr Eroberer sein wollten, sondern Versöhner, ist die eine Einwanderung, die aus heidnischem Barbarenland das christliche „Abend“-Land einer Sonne machte, die eindeutig vom Orient her scheint.
Die andere Gründungs-Migration des heutigen Europa war von Nordwesten her die lange Reihe von Bettlern und Betern, die kreuz und quer durch die botanischen und menschlichen Heiden ihre bedürfnislose Armut und ein himmelreiches Buch schleppten. Diese Vaganten des jüdischen Gottes[ii] kamen aus Irland, Schottland und später England und gründeten Klöster, Schulen und Hospize für Leib und Seele. Sie hießen - unter vielen anderen - Columban und Gallus, Fridolin, Wendelin und Kilian, Willibrord, Suitbertus und Pirmin, nicht zuletzt Bonifatius, dessen Gedenktag erst letzten Mittwoch war, und Lioba und Walburga aus der gleichen Familie.
Europa ist also nicht als Nebeneinander, sondern als ein Durch- und Füreinander entstanden, das keinesfalls aus der Reinkultur irgendwelcher Stämme oder Völkerschaften, sondern aus der Mischkultur der christlichen Abenteuer-Individuen erwuchs…. Rasse oder ethnische Herkunft sind dabei das abwegigste Motiv: Mauritius soll Afrikaner gewesen sein; die irischen Mönche praktizierten eine Lebensform, die in der Wüste des Nil-Delta entstand; und die Erinnerung an und die Liebe zu den keltischen und britischen Originalen, die Frankreich, den Bodenseeraum, die Alpen und das bewaldete Mitteleuropa zum Christentum führten, haben eine tiefere Schicht der Zusammengehörigkeit gelegt, als alle Nationalstaatsbildung und aller bornierte Chauvinismus seit dem 19.Jhdt. dauerhaft auslöschen konnten.
Europa ist also ein Raum, in dem Unterschiedenes immer schon verbunden worden ist. Und nicht nur Unterschiedenes, sondern geradezu Gegensätzliches. Weil in dem Buch, das die christianisierenden Einwanderer mit sich brachten, alles so anfängt: Radikale Unversöhnlichkeit – die gegenseitige Totalfremdheit von Juden und Nicht-Juden in der Antike – wird in Christus überwindbar! … Und Ferne wird Nähe!
Epheser 2, 11 – 15
Europa, das relativ kleine Menschenhaus der römischen und britischen und gallisch-fränkischen und später auch der slawischen Christenheit und des westlichen Exils der Juden, zu dem historisch betrachtet tatsächlich auch gewaltsame wie friedliche Erfahrungen des Islam gehören, … Europa also ist dennoch leider kein Schmelztiegel einer grenzüberschreitenden Integration geblieben, sondern es wurde zu einem Konfliktherd, zu einem Schmerztiegel, in dem Argwohn, Raublust, Machthunger, Wirtschaftslüste und immer säkularer werdendes Selbstbewusstsein brodelten, brüchig verhärteten, um immer wieder umso giftiger und tödlicher zu explodieren und in alle Welt zu strömen.
Europa – das Haus, das einst von Skandinavien bis nach Sizilien, vom Atlantik bis an den Kaukasus die Gestalt des Nord und Süd und West und Ost verbindenden Gekreuzigten nachbildete und in seiner Bildung nachvollziehen wollte – … Europa hat weltweit Leid gelindert, aber auch verbreitet, … hat weltweit Recht begründet, aber auch epochales Unrecht begangen, … hat weltweit leuchtende Visionen geteilt, aber auch finsterste Schrecken erregt.
Und Europas Katastrophe – die wahrlich nicht mehr die Katastrophe des Christentums, sondern eines erst aufgeklärten und dann umnachteten Anti-Christentums war – liegt nicht in ferner Vergangenheit: „D-Day“ – als sich der freie Westen freiwillig in einen Überlebenskampf gegen die inneren Dämonen Mitteleuropas stürzte – geschah ja zu Lebzeiten jener Uralten, die vor-vorgestern noch einmal am Strand der Normandie versammelt waren, ……. und zu allem Unheil spüren wir, dass ein neuer D-Day nicht absurde Phantasie, sondern grauenvolle Zukunftsoption werden könnte. —
Aber trotz seiner Schuld und Schande – das können nur wir Christen sagen, aber wir müssen’s darum auch! –, bleibt etwas anders in Europa als in den meisten Kulturkreisen.
Denn anders als in zahlreichen absoluten Denk- und Wertesystemen, die nur nach Sieg oder Schimpf bewerten, findet sich in der Taufurkunde Europas eine andere Skala: Sünde und Vergebung.
Hier muss und kann man also auch aus furchtbaren Vergehen lernen, weil das Unvollkommene durch das Vollkommene Gnade erlangen kann.
Das christliche und das nachchristliche Europa sind darum der Ort des andauernden Umkehrens, der Veränderung, der Verbesserung, der Entwicklung geworden.
Weil weder verhängnisvolles Schicksal noch eiserne Notwendigkeit, sondern der der Welt Sünden vergebende, Verlorene stellvertretend rettende und alle in die Nachfolge rufende Jesus Christus dem Europa der flächendeckenden Kirchen, Kapellen und Kathedralen, dem Europa der Weg- und Flur- und Giebelkreuze allerorten das Antlitz und das Unterbewusste prägt: Darum ist unser Kontinent bleibend so sozialisiert und konditioniert, dass hier neue Anfänge und bessere Weg gesucht werden!
Die Hoffnung nie aufzugeben, … die Liebe nicht auszuschließen, … den Frieden unter keinen Umständen abzuschreiben: Das ist trotz aller Rückschläge, trotz allen Verrats, trotz aller Enttäuschung die unverbesserliche - eigentlich: die unverderbliche - Eigenart des Erdteils, in dem die Fernen nah und Feinde Verbündete werden mussten, weil der Herr, von dem der Epheserbrief erleuchtet ist, hier gepredigt, empfangen und gemeinsam im bewussten Vertrauen auf Ihn oder in vergessenem Wirken der Taufe nachgeahmt wird.
Europa also kennt und ist auch ein Zwiespalt, wie es die Kirche auch ist, in der Juden und Heiden, Berufene und Erwählte also gemeinsam mit Außenseitern und Unberührbaren eine neue Menschheit darstellen und im Miteinander erleben dürfen.
Epheser 2, 13 – 17
Wir haben vom Potential und Abenteuer, …. wir haben von der Verheißung geredet, die geschichtlich mit unserm Kontinent verbunden ist, auf den das Christentum zwar langsamer kam, als es sich im vorderasiatischen und afrikanischen Raum ausbreitete … auf den es aber kam, um länger zu bleiben.
Wir haben auch vom schrecklichen Europa gesprochen, das zwiespältig … zu seinem Heil aber eben auch wandelbar ist und in dem das Christentum Schritt mit der Zeit halten muss, ohne die Ewigkeit vorwegnehmen zu könne, wie es die orthodoxen Kirchen versuchen. —
In seinen ältesten Gebieten indessen, im Orient verschwindet das Christentum heute nun gewaltsam und zugleich lautlos.
Und es ist auch bei uns wahrhaftig nicht unwiderruflich durchgedrungen.
Das Europa, das ursprünglich ein Durch- und Für- und Miteinander war, wird vom Geist der glattzüngigen Gegensätze heimgesucht.
Das Europa, das aus seinen Sündenfällen gelernt hat, Freiheit und Fortschritte als Folgen der Gnade zu erfassen, die Raum zum Umkehren und Reformieren, zu Loslassen und Erneuerung schenkt, … dieses Europa wird ungnädig, weil es veraltet und es wird überholt, indem es sich so gnadenlos gibt.
Europa und das Christentum – Verheißungspotential und zwiespältige Veränderungsfähigkeit – ist also eine Verbindung, die keine Garantie hat in einer Zeit, in der wir Abschied von allen Sicherheiten, allem Selbstverständlichen bis hin zum Frieden nehmen müssen.
Und doch wünsche ich mir für diesen Erdteil und für alle seine Bewohner, einschließlich meiner eigenen Kinder und aller jungen Menschen, die heute zum ersten Mal wählen dürfen, dass es eine lebendige und überraschende, eine tiefverwurzelte und dennoch unbedingt spontane Liebesbeziehung bleiben möge … die Symbiose zwischen unserem Glauben und unserm Kulturkreis und Lebensraum.
Ich wünsche Europa, dass die überwältigende Erfahrung der grenzenlosen Liebe Gottes, der fleischgewordenen Liebe Gottes, der leidens- und kreuzigungsbereiten Liebe Gottes, der todüberwindenden Liebe Gottes und die ebenso überwältigende Erfahrung der Menschenliebe weiter zünden und dass sie Verbindungen schaffen, die abenteuerlich und weitherzig sind, die Sprachen wie Straßen nutzen, um zueinander zu kommen und aus dem Elend aller Gewalt und Trennungen die Begeisterung für das überall und immer mögliche Wunder des Friedens ableiten!
So möge es kommen!
… So muss es kommen! ———
In der katholischen Kirche hat man Europa in den letzten sechzig Jahren besonders unter der Anregung und Teilnahme besonderer Schutzpatrone gedeihen zu sehen gehofft: Benedikt (von Nursia), dessen „ora et labora“ uns allen klügste Maßstäbe setzt; Kyrill und Method, die Missionare der slawischen Welt, die als größtes Geschenk ein Alphabet schufen, um den Schatz des Denkens und Hörens und Verstehens nicht wie die Menschen sterben zu lassen, sondern zeitumspannend zu erhalten. Und dann drei christliche Frauen: Katharina von Siena, Birgitta von Schweden und Edith Stein – eine Mahnerin, eine Mystikerin, eine Märtyrerin.
Katharina von Siena, die das auf den Hund gekommene Papsttum im schauerlichen 14.Jhdt. penetranter und mutiger mahnte als alle Theologen ihrer Zeit hat einen ganz wunderbaren Gedanken festgehalten, der sie auch für mich zu einer Europa-Mutter macht. In einer Vision erlebte sie wie Gottes Wahrheit, der Geist also zu ihr sprach: „Ich hätte sehr wohl den Men-schen (mit)samt allem, was er braucht, erschaffen können, wollte aber, daß einer auf den anderen angewiesen sei… . Der Mensch mag wollen oder nicht, er kann sich … den Werken der Liebe nicht entziehen.“[iii]
Das aber ist nichts anderes als die Magna Charta Europas: Das Angewiesensein aufeinander als Zeichen der Liebe, die genau das will und die genau das ist … nämlich unvollständig ohne den anderen. ——
Darum aber glaube ich, dass es auch mit Europa, auch heute in der Bedrängnis so kommen wird, wie Gott es will.
Nicht weil ich mir einbilde, dass in unserem Haus weiterhin nur oder überwiegend Christinnen und Christen leben und Christentum herrschen werde.
Gewiss: So viel von beidem wie möglich, … unbedingt!
Aber das ganz Entscheidende – das wahrhaftig nicht allein für Europa, sondern für alle Teile der Erde, für die Menschheit insgesamt gilt – … das ganz Entscheidende, ist etwas anderes: Dass nämlich das Hausrecht in der Menschheit bei Dem liegt, Der ihr Haus-herr ist … bei Gott.
Zu wissen also und wissentlich zu wählen und zu bejahen, dass es im Angesicht des Gottes aller Menschen keine Fremdheit gibt, sondern nur ein allgemeines, ungeteiltes, allumfassen-des und ewiges Zusammengehören als Mitbewohner und Mitberechtigte und Mitberufene in dieser Lebensgemeinschaft mit dem Schöpfer und Helfer und Heiler der Menschheit: Dazu haben wir als christliche Gemeinde in jedem Augenblick Gelegenheit … und heute haben wir diese Gelegenheit wie alle Bürger Europas auch in weltlicher Hinsicht.
Wir, die Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes, erbaut auf dem Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist.
Wir, die das Anfangsabenteuer und das lebenslange Lernen Europas fortsetzen dürfen in der welt- und himmelweiten Gemeinschaft, von der der Epheserbrief uns heute eine so herrliche Vision mitgibt:
Epheser 2, 17 – 22
Wie steht es um unser Haus? – Je treuer wir dem Hausherrn sind, je freier wir Ihm folgen, desto besser.
Und letztlich steht es darum gut: Weil wir heute etwas sagen dürfen, das andernorts den Menschen im Blick auf ihre Heimat viel leichter über die Lippen kommt:
Gott hat dieses zwiespältige, ursprünglich nur durch Christus verbundene und erneuerungsbereite Europa gesegnet.
Und Gott segne es weiterhin – und alle Kontinente dieser Erde, bis alles, was lebt zusammen Seine Behausung im Geist wird!
Amen.
[i] Mit Ausnahme Florians, der im heutigen Österreich sein Martyrium fand, und des Martinus von Tours, lässt sich anhand der übrigen Soldatenheiligen die Erstreckung der römischen Garnisonen und Kulturzentren entlang des Rheins exakt verfolgen: Von Bonn über Köln und Neuss bis Xanten sind die Zentren ihrer Memoria und ihres Kultes eine Landkarte nicht nur der römischen Verwaltungsräume, sondern auch des Vordringens des Christentums in der Antike.
[ii] Die Formulierung lehnt sich an den Titel einer hervorragenden Darstellung der iro-schottischen Festlandsmission im frühen Mittelalter an: Ingeborg Meyer-Sickendiek, Gottes gelehrte Vaganten – Auf den Spuren der irischen Mission und Kultur in Europa, Stuttgart 1980.
[iii] Caterina von Siena, Gespräch von Gottes Vorsehung, eingeleitet v. Ellen Sommer-von Seckendorff und Hans Urs von Balthasar (Lectio spiritualis Bd.8), Einsiedeln 20186, S. 12.
1.So. n. Trinitatis, 02.06.2024, Stadtkirche, Lukas 16, 19 - 31, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.n.Trin. - 2.VI.2024
Lukas 16, 19 - 31
Liebe Gemeinde!
26 Sonntage sind’s von heute bis zum Ewigkeitssonntag; Genau ein halbes Jahr also, um als solche zu leben, die in der Kraft des auferstandenen Siegers über den Tod, die im Geist des Erbarmers über alle Menschen, die in der Nachfolge des Versöhners der Unversöhnten und des Unversöhnlichen hier in der Welt dasein wollen.
… Wir hätten zu tun.
… Wir werden zu tun haben.
… Wir sollten etwas getan haben, wenn wir am 24.November – so Gott will und wir leben! – dies Kirchenjahr zurückbringen zu Dem, Der für uns und durch uns und bei uns das Leben schützen und das Verderben ab- und umkehren will.
Dass Gott ein „Freund des Lebens“ ist, wie es in der apokryphen, aber für uns umso unabgenutzteren Weisheit Salomos (11,26) heißt, bedeutet nun einmal, dass Glauben nichts Theoretisches, sondern eine ganz konkrete Praxis ist.
Wäre der Allmächtige nur ein träumerischer Liebhaber großer Ideen, … wäre Er der Spinner bloßer Möglichkeitsmuster, die aus Wahrscheinlichkeit und heißer Luft zusammengebauscht und weggepustet werden, … hätte Er Seiner Kirche nur die Schlüssel zum Wolkenkuckucksheim anvertraut und nicht die vollmächtige Aufgabe, die Realität der Sünde aus dem menschlichen Leben fernzuhalten und durch Umkehr und Vergebung das Einfallstor und die Einfälle der Sünde ab- und auszuschließen[i], dann könnten wir beruhigt auch im kommenden halben Jahr so tun, als ginge uns der Schlamassel unserer Zeit nichts an. Wir könnten Däumchen oder krumme Dinger drehen, … könnten weitermachen oder halblang, … könnten unterlassen oder übertreiben auf Teufel komm raus!, was immer uns durchs träge Hirn und Herz blubbert.
Wenn Christsein bloß betrachtende Existenz in einem Weltanschauungsgebäude bedeutete, dann gäbe es keine zwei Hälften des Kirchenjahres: Dann folgte auf das, was wir anbetend feiern und bekennen, nicht jetzt das Halbjahr unserer Nachfolge und des Zeugnisses unserer Tat.
Weil wir aber nicht als Zuschauer im Kinosaal der großen Bibelfilme sitzen, sondern weil wir berufen sind, Krippe und Kreuz, Krankheit zum Tode und Auferweckung aus dem Grab, die Freiheit der Himmelfahrt und die flammenden Herzen von Pfingsten mit unserem Leben hier in der Wirklichkeit als wahr und wirksam zu erweisen, darum ist Christsein keine sitzende Tätigkeit und auch keine Yogaübung für die innere Energieflussverstopfung.
Und darum hat Gott uns die Lazarusse vor die Tür gelegt: Jeder, der aus der Tür seines abgeschotteten Privatlebens auch nur einen Schritt in die Welt wagt, trifft dort auf sie.
Wir wissen es.
Und da enden auch schon Rhetorik und Predigt und beginnt unsere Aufgabe.
————
Nur ein Wort noch hat die Theologie der Kirche, die doch bloß Dolmetscherin und Gebärdenübersetzerin der Dreieinigkeit sein soll, hier zu sagen.
… Das verbotenste aller Worte.
… Das verstaubteste aller Worte.
… Das übelste aller Worte. Aber tatsächlich das Wort, das hierhin gehört.
Es ist kein Wort, das im Zusammenhang mit Weltanschauungen oder Meinungen, das im Rahmen von Überzeugungs- oder dogmatischen Fragen seinen Platz hätte: Was wir oder andere denken, was wir glauben und fürwahrhalten mögen und müssen, das ist alles nicht gleichgültig, aber es eröffnet uns weder den Himmel, noch schickt es uns in dessen Gegenteil.
Das total verpönte und wirklich schrecklich verdorbene und weltanschaulich restlos antiquierte Wort, das im Zusammenhang mit der innerweltlichen Wirklichkeit der Gemeinde Jesu Christi nun aber eben doch gesagt werden muss, das kennen wir nur noch vom Ewigkeitssonntag her – also noch 26 Sonntage weit von uns entfernt.
Da aber ist es schnörkellos zentral, wenn der Lazarus vor unseren Türen – der Penner, die obdachlose Frau, das Flüchtlingskind, der vollgeschmierte Junkie, das abgewrackte Menschenbild des Scheiterns und Missratens – plötzlich vor uns stehen wird und fragen: „Wo gehst Du hin … von mir aus gesehen? Gehst Du den Weg nach rechts, in die Lebendigkeit, weil Du im hilflos kaputten und lästig leidenden Anderen einen Beweggrund für Dein eigenes Leben fandest, oder gehst Du zur andern Seite, in die unveränderliche Welt der menschlichen Passivität, weil kein Gebrauchtwerden und keine Verantwortung Dich berühren und bewegen konnten?“
Lazarus, genannt Jesus wird diese Frage stellen, die einfach nur die Frage nach unsren eigenen Maßstäben ist: Der Mensch oder das Nichts? Namenlose Liebe oder starre Fühllosigkeit? … Wie hast Du entschieden? – Denn wie Du entschieden hast, so wird es werden. Wer Liebe wählte, geht in die Liebe. Wer nichts wollte, geht ins Nichts (vgl. Matth.25). ———
Das Wort also, an das wir nie mehr denken, … das Wort und der Ort, die es für uns gar nicht gibt: Das ist die … Hölle.
Von ihr muss geredet werden heute, am Anfang des praktischen Halbjahrs, des tätigen Anwendens dessen, was wir von Advent bis Trinitatis wieder meditieren und feiern durften.
Die Hölle begegnet uns neutestamentlich – alttestamentlich ist sie ja fast gar kein Thema – … die Hölle also begegnet uns im Evangelium eindeutig und unmittelbar im Kraftfeld der Ethik: Was wir praktisch tun, wie wir konkret handeln, wie wir nicht mit Worten und der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit lieben (vgl,1.Joh.3,18), … das ist gemäß dem Neuen Testament die Himmels- und die Höllenfrage! … Nicht Weltanschauungen, nicht Formeln, auch nicht das Feld der körperlichen Triebe und des sexuellen Begehrens, die alle reichlich mit Angst und Schwefel aufgeladen und vermint worden sind, sondern die ganz einfache soziale Frage: Was hast Du angesichts des Hungers und Schmerzes, der Krankheit und Trübsal, der Ungerechtigkeit und Bedürftigkeit in der Welt getan? … das ist die Himmel- und die Höllenfrage! …
Von welcher Art eines jeden Werk – und nicht etwa: eines jeden Glaube! – ist, das wird am Tag des Gerichts das Feuer erweisen, sagt Paulus (vgl. 1.Kor.3,13), der doch immerhin ein Gerettetwerden durch das Feuer hindurch, eine Läuterung erhofft (vgl. 1.Kor.3,15!).
Jesus dagegen - der arme Lazarus vor den Türen der Reichen in dieser Welt - ist viel harscher: … So unvermittelt und unabwendbar und unerträglich ist Er, der Menschensohn in allen Menschen dem ausgesetzt, was wir einst getan oder gelassen haben werden!
Er spricht darum vom ewigen Feuer, das dem Teufel – dem „Diabolos“, also dem Durcheinanderwerfer, dem Zerwerfer und Verwerfer des Lebens – und dessen Boten bereitet ist (vgl. Matth.25,41).
So wie Er heute, im Gleichnis vom zynisch-ignoranten Wohlstandsbürger, den die Misere draußen vor der Tür nicht juckte, von dessen Qual in den Flammen der Hölle spricht: … Geradeso als wolle Jesus den mittelalterlichen Steinmetzen mit ihren großen Westportalen an den Kirchen und Domen und deren mächtigen Seligkeits- und Folterszenen beim Weltgericht bewusst drastisches Material liefern, oder als wolle er Stefan Lochner und Rogier van der Weyden und allen anderen rhein- und niederländischen[ii] Maler der Gotik, die doch so überwältigende Schönheit schufen, regelrecht sadistisch anstacheln beim Entwerfen ihren grellen und brutalen Feuerpfuhle der Verdammten.
Das ist ein Schock für uns.
Nach dem schönen, kindgerechten Jesusbilderbogen der großen Kirchenfeste in ihrer familienfreundlichen Entschärfung hatten wir doch einen gewaltfreien, humanen, fairen, harmlos-symbolischen Gutmenschen als den Inhalt des Evangeliums vor Augen.
… Nicht einen, der sich anhört, als habe man Seine Tutsi-Eltern in Rwanda unter den Augen der Welt geschlachtet, … nicht einen, der sich anhört, als habe man Seine jüngeren Brüder in Srebrenica unter den Augen der Welt erschossen, … nicht einen, der sich anhört als habe man Seine Mutter und Tanten und Nichten und Neffen unter den Augen der Welt in Rafah und Khan Junis verhungern und verbluten lassen.
Jesus soll sich nicht anhören, als wäre Sein Volk in Auschwitz vergast worden.
Er soll sich nicht anhören, als würden Seine Freunde beiderseits der ukrainischen Ostfront langsam auseinandergenommen
Er soll sich nicht anhören, als ginge Seinen Geliebten im Süden allmählich alle Hoffnung verloren und als hungerten immer mehr der mystischen und dabei völlig menschlichen Glieder Seines Körpers und als kümmere es die satte, reiche und noch friedliche Welt kein bisschen, wenn die Daseins- und Lebensgrundlagen aller Schöpfung in totale Auflösung und absehbar in restlose Vernichtung geraten.
… So soll Jesus sich nicht anhören!!! ………….
Aber wie um alles in der Welt denn dann???
Wie soll der Heiland aller Menschen sich denn anhören, wenn und weil Er genau weiß, wie sie leiden, darben und ausweglos verrecken: Seine Geschwister, Sein Fleisch und Blut, derentwegen Er Mensch wurde, Seine Erlösten, die Ihm Versprochenen, die Ihm Vertrauenden, die für Ihn und Seine Herrschaft Aufbewahrten in den furchtbaren Nöten, ehe Sein Reich kommt??!!!
Wie soll Er denn sprechen zu Menschen, die das nicht packt, die das nicht fühlen, die da immer noch keinen Appell vernehmen, keinen Handlungsbedarf verspüren, keine Sirene, keine Posaune, keine endgültige und letzte Frage hören?
– Soll Er pädagogisch nett, soll Er wie ein coachender Berater, ein empathischer Therapeut, wie ein weiser Guru ein bisschen moderieren und motivieren, damit sich der reiche Mann, die reiche Frau, der reiche Teil der Menschheit moralisch ein klein wenig bewegt?
Nein.
Der am Kreuz alles Leiden aller Leidenden in sich vereinte, spricht mit der Wucht des Weltleids die Welt an.
Und Er hat ihr nur das Eine zu sagen: Wer nichts gegen das Leid und Unglück, gegen die Not und die Zerstörung unternimmt, die in der Wirklichkeit vor allen euren Türen, vor allen euren Augen, in euer aller Mitte herrschen, der hat gewählt. …….
„…. Aber das haben wir doch gar nicht! Wir nicht und alle anderen auch nicht. Wir wissen doch nicht, was wir tun sollen, wenn es mit einem Mal, so plötzlich, so unvermutet darauf an-kommen soll. … Wir haben doch alle gar keinen Plan, wir haben doch keine gute und schonende und allgemeinverträgliche und ausgewogene und abgefederte Strategie … und unsere Politik hat das ja erkennbar auch nicht und die Wirtschaft nicht und nicht einmal die Wissenschaft und alle, die wir sonst immer vorschicken und manche, die uns sonst doch so viel sagen dürfen und insgesamt niemand scheint eine Idee zu haben, was wir Einzelnen oder wir in einem bestimmten Land, … was wir träge und blass und schimmelig werdenden Europäer oder wir Christen überall auf der Erde tun könnten angesichts all dessen, was verdirbt und verloren geht und sich nüchtern betrachtet unserer Kontrolle und Zuständigkeit doch gänzlich entzieht! … Was soll man denn da im Ernst noch machen!
Sag’s uns doch, lieber Herr Jesus!
Schicke uns doch eine klare Botschaft, eine himmlische Aufklärungskampagne, ein Sonder-Ethik-Kommando des Heiligen Geistes, eine aktuelle Offenbarung, die man dann wirklich nicht missverstehen und überhören kann! Los! Mach Du uns mobil! Tu was, damit wir was tun!“ …
Und da wird – wie im Gleichnis Abraham, der Vater der Glaubenden und Gerechten – Jesus, der Sohn Gottes ganz spröde, … spröde und glasklar.
Denn das sind Mätzchen. Mätzchen der Bequemlichkeit und Trägheit unter uns verlogenen Egoisten: Ein Schritt vor die Tür, eine Bewegung aus unseren Blasen und Lügen hinaus in die Wirklichkeit und wir müssen nicht mehr um einen Sendboten vom Himmel bitten, sondern können Kleines und Gewaltiges, Selbstverständliches und Noch-nie-Dagewesenes tun und schaffen.
Doch weshalb weder Abraham noch Jesus Christus, weder der Gott Israels noch Sein Heiliger Geist uns da zur Hilfe kommen, Beine machen, die Augen öffnen und ein Kommando geben werden?
– Weil das alles längst geschehen ist und klar vor Augen, klar in unserem Gewissen, klar als Befehl an unser Herz und Leben dasteht.
Wo? - … Das fragen wir im Ernst?!
– Bei Mose und den Propheten, im Evangelium und bei den Aposteln!
Man kann es mit dem großen Erweckungsprediger Spurgeon nur so sagen: „Auf manchen Eurer Bibeln hat sich so viel Staub gesammelt, dass Ihr leicht mit Eurem Finger das Wort »Verdammnis« da reinschreiben könnt.“[iii]
Denn: Ja, tatsächlich! In der Bibel findet sich unser Auftrag und unsere Mission, unser Programm und unsere Pflicht.
Gewiss, wir finden dort nicht die Schlagworte und die Parolen, die wir anscheinend gern hätten und uns notfalls zurechtlegen, wenn wir wirklich etwas praktisch, konkret, direkt anpacken müssen: „Klimaschutz“ und „Gendergerechtigkeit“, „Diversitätsförderung“ oder bestimmte ökonomische Modelle sind da nicht aufgeführt. … So bequem wird’s uns nicht gemacht, weil wir dort eben auch nicht für so dumm verkauft werden, als bräuchten wir das.
Aber was die Bibel uns sagt über das Gebot Gottes, das Leben zu schützen, die Schwachen und die Armen zu schützen, das Recht zu schützen, die Wahrheit zu schützen: Das ist das ganze Gesetz.
Und was die Bibel uns sagt über die tätige Vorbereitung und Verbreitung einer Welt, in der Feindschaft, Gier und der Zerstörungstrieb der Sünde durch Gottes Herrschaft überwunden sein werden, das sind die Verheißungen der Propheten.
Und beide sind von dem armen Lazarus, Der in unsere Welt gekommen ist und vor unseren Türen liegt, weil Er unsere Welt einst richten und die Tür Seines Reiches öffnen wird für alle, die Sein Leiden und Lieben hier und dort teilen wollen, für immer bekräftigt worden.
Wir haben also die Bibel.
Und nur wo und wenn sie gehört und gelebt wird, unterscheidet sich diese Welt von der Hölle. Nur dort!
Wo die Bibel, wo also Gottes Wille und Gebot, Sein Recht und Seine Herrschaft nicht befolgt werden, … in aller Wirklichkeit minus Gebot und Hoffnung der Bibel, da ist längst die Hölle.
Beim Blick in diese „Wirklichkeit minus“ können wir das sofort erkennen.
Doch mit dem Wort und der Verheißung Gottes, mit Mose und den Propheten vor Augen, in Händen und im Herzen können wir in der Gegenwart für eine „Wirklichkeit plus“ aktiv handeln, wirken und helfen: Damit die Hölle – die Welt, in der die verstaubte Bibel nichts gilt und nichts auslöst – nicht wächst, sondern das Reich, auf das wir hoffen dürfen.
– Und dazu ist jetzt und dazu haben wir jetzt Zeit: Die Zeit unserer Taten der Gerechtigkeit und Umkehr, die Zeit unseres Zeugen- und Liebesdienstes, die Zeit unserer missionarischen und diakonischen Weltverantwortung.
Diese Zeit haben wir jetzt und diese Aufgabe, … weil die Ewigkeit uns erwartet.
Worauf also warten wir?
Amen.
[i] Zum kirchlichen Schlüsselamt in seiner petrinischen aber eben auch allgemein-apostolischen und somit kollektiv-christlichen Gestalt vgl. Matth.16,19; Matth.18,18; Joh.20,23.
[ii] Lochner (ca.1400 – 1451) ist nicht der süßliche Rosenhag-Maler, zu dem ihn die Postkarten- und Devotionalienindustrie gemacht hat. Er starb an der in Köln tobenden Pest, der er sich nicht entzog, und von der Grausamkeit und Nüchternheit seiner Erfahrung gibt z.B. sein Weltgerichts-Altar im Wallraff-Richartz-Museum, Köln einen klaren Eindruck. Rogier van der Weyden (1399/1400 – 1464) – für mich persönlich Schöpfer des Schönsten vom Schönen – zeigt mit seinem Weltgerichts-Polyptychon, das bis heute an seinem originalen Bestimmungsort, dem Hôtel-Dieu im burgundischen Beaune zu besichtigen ist, dass die Thematisierung und Visualisierung der Hölle nicht lediglich Angst und Einschüchterung als Funktionen der Morallehre instrumentalisiert, sondern dass es einen therapeutischen Effekt hat, die Wahl unserer Lebens- und Handlungsfolgen zu meditieren. Der unumwundene Blick auf das, was ich nicht will, kann mich psychologisch ebenso stärken und widerstandsfähig machen, wie die Perspektive auf das, was ich wünsche und beabsichtige. Heute begegnet diese Erfahrung uns als „Resilienz“.
[iii] “There is dust enough on some of your Bibles to write “damnation” with your fingers.” Zitat aus Charles H. Spurgeons Predigt vom 18.März 1885 über Hosea 8,12 (https://www.spurgeon.org/resource-library/sermons/the-bible-2/#flipbook/).
Trinitatis, 26.05.2024, Stadtkirche, Epheser 1, 3 - 14, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Trinitatis - 26.V.2024
Epheser 1, 3 – 14
(Das „Ideenfest“ des Trinitatissonntags legt es nahe, in Gestalt einer Katechese zum vorgeschlagenen Predigttext des Epheserhymnus[i] hinzuführen.)
Liebe Gemeinde!
Wo kommt diese christliche Verrücktheit her? – Die ganz frühe, ganz alte, ganz unverwechselbare Verrücktheit des christlichen Gott-Vertrautseins. … Ja: Gott-Vertrautseins: Ein so selbstverständliches, so nahes und dichtes, so menschliches und echtes Gefühl des unmittelbaren Miteinanders in tatsächlicher Unzertrennlichkeit. ——
Für die Heiden sind ihre Götter quecksilbrige Wuselkräfte: Willkürlich und sprunghaft; halb Kind, halb Kobold; mal erschreckend bedrohlich, mal geradezu entlastend triebgesteuert. Wer Götter hat wie die Heiden, weiß nie genau, woran er ist: Werden von oben gleich Blitze geschleudert oder wird auf dem Olymp ein Begehren des Eros entfacht, das mindestens so verzehrend ist wie die Durchsetzung eines bestimmten göttergegebenen Ethos? Heidnische Gottheiten sind dynamisch, drastisch und dramatisch. Unterhaltsam in ihrer Unberechenbarkeit, sinnfrei in ihrer trotz Vogelflug- und Eingeweideschau unenträtselbaren Eigenart. Man kann ihnen opfern, aber nicht trauen; sich ihnen ergeben, jedoch ohne sich auf sie verlassen zu dürfen. …Wie unsere rasante, allwissende, eigengesetzliche Technik: Mit ihr leben, aber nicht erwarten, dass sie uns liebt oder uns ehrlich wohlwill. ——
Für die jüdische Frömmigkeit sieht es anders aus: Da sind Treue und Zuverlässigkeit der Rohstoff des einzigartigen und komplexen Gebildes, das wir das Bundesleben Israels mit seinem Gott nennen können. Der Herr des Bundes – erhaben in Seiner Unsichtbarkeit, ergreifend in der Unbedingtheit Seines Treueschwurs – erwählt die israelitischen Menschen zu Seinen innerweltlichen, innerweltgeschichtlichen Bezugspunkten: Sie werden stets vor Ihm und darum auch für Ihn stehen müssen, so wie Er zu ihnen und zu Sich selbst. Das macht das Israel-Sein so schwer: Dass es dabei auch menschlicherseits auf die Entschlossenheit zum Halten ankommt. Am Bund festhalten, … das bundesgemäße, gerechte Gesetz halten und bewahren, … die Gottverbundenheit durchhalten trotz Widerstand, Ablenkungs-Verlockung und Krisen. Wird Israel als Gottespartner schwach – und welcher Mensch würde das nicht? –, gefährdet es sich selbst in seiner Berufung und Wahrheit. … Wir erleben das in diesen Monaten in einer so schrecklichen Weise, dass wir es vermutlich noch gar nicht wirklich wahrnehmen und verstehen können. … ——
Die Heiden und ihr letztlich ergebnisloses Spiel mit der nicht zu zähmenden, aber auch nicht allgegenwärtigen Fremdmacht der Unsterblichen und die Juden mit ihrer alltäglichen und lebenslangen gott-menschlichen Gegenseitigkeit in sämtlichen Daseinsbereichen: Diese beiden religiösen Grundformen von Oberflächen-Konvention und Tiefen-Heiligkeit umgeben die erste Christenheit.
Aber trotz der kulturellen Dominanz des Heidentums und der spirituellen Unvergleichbarkeit des Judentums in der Antike blüht unmittelbar in den Jahrzehnten nach der Kreuzigung und Auferstehung, der Himmelfahrt und Geistsendung Jesu von Nazareth eine neue, eine für Heiden und Juden verrückte Gestalt des Glaubens auf.
Heiter heilig, frei-ernst: Ebenso von Sorglosigkeit wie Ehrfurcht, … von Lebenslust wie Gottesnähe gleichermaßen geprägt.
Eine Haltung, in der die Unsicherheit des Heidentums abgelöst und die Besonderheit des Bundes im Judentum als allgemein-verbindend aufgetan wird.
Ein unbeschränktes Urvertrauen also, dem aller Vorbehalt – … „Kann man überhaupt vertrauen? Und wer darf hier, wenn vertrauen?“ – völlig abgeht.
Ein Urvertrauen in heidnischen und jüdischen Köpfen, Herzen, Menschen blüht auf, das offensichtlich auch etwas von einer Urkraft hatte.
Wie anders wäre die verblüffende Ausbreitung dieses Glaubens zu erklären, der doch so unwahrscheinlich und zugleich für viele Menschen damals – wie auch heute, wenn wir es nur wahrnähmen! – so voraussetzungs- und anstrengungslos frei greifbar war?!
Wie konnte es kommen, dass die Botschaft von einem stinknormalen Menschenschicksal aus den niedrigsten und gewöhnlichsten Verhältnissen der römischen Provinz, … von einem eigentlich nur durch sein Judesein noch ein wenig mehr verächtlich und anrüchig gemachten Nobody und Jedermann in der ersten Generation danach eine Revolution des Selbstbewusstseins auslöste, die gleichzeitig eine Revolution dessen war, was das 19.Jhdt das „Gottesbewusstsein“ nannte?!
Wenn angesichts des enttäuschungs- und missbrauchsanfälligen Revolutionsbegriffs auch größte Vorsicht angebracht ist, wird man doch kaum anders urteilen können, als dass es eine totale, radikale, universale Umwälzung darstellt, wenn Menschen aus den vielfältigsten Kulten und Kulturen plötzlich nicht mehr das mehrdeutig Befremdliche der Göttlichkeit, sondern tiefste Nähe und innige Gemeinschaft mit dem einen unsichtbaren Gott empfinden und sich darin Seite an Seite mit Israel, dem Volk, das die Treue selbst sein sollte und doch immer nur bedingt erreichte, aufgehoben wissen?! – Eine Revolution des Menschen- und des Götter- oder Gottesbildes! ——
Buchstabieren wir es aber doch noch einmal konkret nach:
Menschen, die nicht hätten beschreiben können, was ein Individuum ist – weil sie zuerst und zuletzt Mitglieder einer Ethnie oder Kaste, eines Opferverbands oder des weniger als namenlosen Kollektivs der Sklavenwesen waren – … solche Menschen also, die weder Recht noch Freiheit, weder eine eigene Persönlichkeit noch irgendeine Perspektive besaßen oder an sich wahrnahmen, … solche Menschen durchdringt plötzlich die Urgewissheit, dass sie mit dem Schöpfer aller Wirklichkeit unlöslich verknüpft, dass sie von Ihm selbst beabsichtigt und bejaht sind und dass sie darin eine fundamentalere und bleibendere Essenz und Existenz verkörpern als alles, was sonst entweder Geist oder Materie oder beides zugleich ist!
Menschen aus allen Himmelsrichtungen und aus Israel, deren Dasein in der geschichts- und gesichtslosen Eintönigkeit von Fron und Anonymität hätte verlaufen sollen, werden sich bewusst, dass ihr eigenes Leben in der Ewigkeit wurzelt und zu ewigem werden soll, weil es ursprünglich ein Wunsch und Werk Gottes und mithin ein unersetzliches Element in Seinem Heilsplan ist!
Menschen mit ihren guten und üblen Zügen und ihren Erfahrungen des Glückens und Versagens, die sämtlich als uninteressante Zufälle und austauschbare Massenphänomene betrachtet wurden, treffen in sich und sehen in anderen plötzlich ein Bild, das vollendet und unübertrefflich ist: In dem Messiasmenschen, zu dessen Gesamterscheinung jeder Einzelne gehört, ist Vollkommenheit verwirklicht und sie bezieht alle und jeden mit ein, … auch die, die ihrerseits erst in vorübergehender und unvollständiger Weise das Menschsein erleben konnten.
Dass Gott und Mensch also keine Gegensätze sind, … dass nicht einfach eine strikte Aufteilung von Größe und Winzigkeit, von Erhabenem und Erbärmlichen, von hier: Gewicht und dort: Nichts zwischen ihnen waltet, … dass nicht der Eine rühmenswert leuchtet und alle anderen sang- und klanglos verpuffen, … dass es eine neid- und grenzenlose, eine auch von Sünde und Tod unzerstörbare Einigkeit und Innigkeit, ein Ineinanderaufgehen und -geborgensein des heilig-treuen Gottes und des zur Treue hilfsbedürftigen Menschen gibt: Das hat die Botschaft von Jesus Christus in die Welt der Heiden und der Juden, in die Welt des Stammesstolzes und der Völkerfeindschaft, in die Welt der Sieger und Besiegten, die Welt der Wichtigen und der Eintagsfliegen, die Welt der Schönen und der Schmutzigen, der Olympischen und der Verkrüppelten, der Zählenden und der Mit-Füßen-Getretenen gebracht!
Diese Botschaft von der Erfahrung, dass ein kleiner Schmerzensmensch aus dem Herzen Gottes und im Herzen Gottes die Herrschaft reiner Liebe beweist, ist das gewesen, was die Welt damals durchbrauste und so viele Menschenleben verwandelte und es ist die Botschaft, die die Welt heute – da sie Abschied von der Gottverbundenheit nimmt und sich in die Gottentfernung stürzt – so revolutionär dringend braucht, wie damals!
Und diese Botschaft ist nichts anderes als das heilige Geheimnis und die zugleich kindlich einfache Zugänglichkeit der Trinität:
- Dass Gott kein Fremder ist, Der unerreichbar und unbeweglich anderwärtige Dimensionen einnimmt, sondern dass in Ihm in Seiner ganzen Herrlichkeit ein Mensch gefunden werden kann;
- dass - umgekehrt - trotz eines schrecklichen und zugleich völlig gewöhnlichen Geschehens das Sterben und Leben eines armen, abgeschlachteten jüdischen Menschen aus Nazareth zeigt, dass dies zwar das Schicksal Gottes ist, Den es trifft und schlägt, … dass Gott aber dennoch stärker ist als alle Gewalt;
- und dass dieses Menschliche in Gott und dieses Für-den-Menschen-Sein Gottes ihre unzertrennliche Beziehung beweist, ihr lebendiges und vollständiges Verwachsen-Sein im Geist einer allmächtigen gegenseitigen Liebe.
… Das alles ist die Botschaft, die die Welt braucht, um in der Tiefe geheilt und radikal verwandelt zu werden. ——
Diese Botschaft vom Sohnsein für den Vater und vom Vatersein für den Sohn im Geist des Vater-und-Sohn-Seins, … dieses Mysterium und diese Offenbarung der Trinität also als ursprünglicher Einheit und ewiger Verbundenheit fehlt der außer-, nach- und antichristlichen Menschheit in erschreckend offensichtlicher Weise.
Die Abgrenzungs- und Konfliktwut, die Verweigerung jeglichen Mitgefühls und Leugnung direktester Zusammenhänge, die Hysterie des Hasses und die verzweifelte Verrohung im Bewusstsein der Ungeliebten sind alle eine Auswirkung des Vergessens und des Fehlens der trinitarischen Botschaft, dass Gott ein Gott der Liebe ist, in Dem alles allen gemeinsam gilt und Der darum, was immer sich abspaltet zurück in die Versöhnung führt, weil Sein Geist dem Wesen nach nicht Anti-, sondern Synthese, nicht Bruch, sondern Bund bedeutet. ——
Es ist schon eine bitter-banale Pointe, dass das widerliche Pfingstfest von Sylt ausgerechnet in den erbärmlich leeren Gesichtern der Reichen den ganzen Bankrott des gegenwärtigen Geistes aufdeckt. Wer hätte sich die unterirdische Parodie ausdenken wollen, dass die vermeintlich Sorglosen auf den Schlager „L’amour toujours“ (!) nur noch in primitivster, nackter Bosheit Hassgesänge skandieren können? … Traurig, dass neben dem Abscheu auch noch die Scham aufzuckt, dass hoffentlich nicht allzu viele Vertreter des verluderten, verwahrlosten und verlorenen Wohlstands dort beteiligt waren, der uns umgibt, den wir taufen, erziehen und trotzdem nicht trinitarisch versöhnen und humanisieren zu können scheinen. ——
Unser Weg durch die ungeheuerlichen Zersplitterungs-, Zermürbungs- und Zertrümmerungsprozesses dieser Zeit, die in den Gräueln von Gaza und Charkiw sich manifestieren, aber auch in der Brutalität, die immer alltäglicher in Öffentlichkeit und Gesellschaft mitten unter uns auftritt, … unser Weg also kann nur der Weg der christlichen Verrücktheit sein: Der Weg des ungeminderten Gottvertrauens, das im warmen, selbstverständlichen und verbindenden Gottvertrautsein wurzelt. ——
Lassen wir Sylt darum sein und ebenso die vielen verlogenen Feste und Proteste der pseudo-akademischen Fortschrittlichkeit, die in antisemitischer Intoleranz das linke Lager ebenso als Kaderschmiede des Vorurteils und Hasses entlarven.
Kehren wir lieber um nach Ephesus in die Welt der Blechschmiede des Dianakultes (vgl. Apg. 19!), die vergoldete Püppchen einer Gottheit hämmerten, die zwischen Wunscherfüllungsmaskottchen mit vielen Brüsten und Angsterregungsattrappe als rücksichtslose Jägerin allen Quatsch und Grusel des Heidentums verkörperte.
Dort hat der Pharisäer Saulus, der den guten jüdischen Kampf um die Treue und Bundesgerechtigkeit so hingebungsvoll übte, die Botschaft von dem menschlichen Messias, in dem Gott der Welt rückhaltlos begegnet, restlos ähnelt und endlos angehört, verkündet, und dorthin schickte entweder er - Paulus - oder einer seiner Schüler das aufwühlend alte, unverwechselbare, urchristliche Hohe Lied des Urvertrauens, das auch uns lehrt, dass wir Geliebte sind und Gottverbundene von Anfang an, ohne Unterschied und in alle Ewigkeit.
Dieser Hymnus, der die trinitarische Herrlichkeit und Weitherzigkeit besingt, lehrte schon die kleinen heidnischen Handwerker, was der kleine jüdische Thoraschüler auch gelernt hatte:
In Jesus Christus sind wir nicht nur Teilchen, sondern Zentrum der Heilsgeschichte: Wir Menschen, … wir alle!
Der Urknall ist unser sämtlicher Urgrund, weil Gott in Ewigkeit durch die materielle Schöpfung der Unsrige werden wollte, und der Omegapunkt, von dem Teilhard de Chardin spricht[ii] – der Übergang in das bleibende Reich Gottes – ist unsere ganz persönliche und doch wiederum auch allen gemeinsame Zielbestimmung: Wir sind durch Gott, in Ihm und unendlich bei Ihm zu sein erwählt – zum Lob Seiner Herrlichkeit!
In diesem frühen, unausgeschöpften Hymnus also ist das alles zu finden: Die Revolution des menschlichen Selbstbewusstseins und Eigenwertes als eine Revolution der allumfassenden gott-menschlichen Einheit.
Genau in diesem Hymnus stehen also auch wir alle und stehen alle und alles, die in der ersten und der letzten Einheit zusammen waren, -sind und -gehören.
In diesen Hymnus der Herrlichkeit wollen wir darum auch jetzt – staunend und doch ganz natürlich – münden:
Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus,
der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen im Himmel durch Christus.
Denn in ihm hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war,
dass wir heilig und untadelig vor ihm sein sollten in der Liebe;
er hat uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder zu sein durch Jesus Christus
nach dem Wohlgefallen seines Willens,
zum Lob seiner herrlichen Gnade,
mit der er uns begnadet hat in dem Geliebten.
In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden,
nach dem Reichtum seiner Gnade,
die er uns reichlich hat widerfahren lassen in aller Weisheit und Klugheit.
Gott hat uns wissen lassen das Geheimnis seines Willens
nach seinem Ratschluss, den er zuvor in Christus gefasst hatte,
um die Fülle der Zeiten heraufzuführen,
auf dass alles zusammengefasst würde in Christus,
was im Himmel und auf Erden ist, durch ihn.
In ihm sind wir auch zu Erben eingesetzt worden,
die wir dazu vorherbestimmt sind nach dem Vorsatz dessen, der alles wirkt,
nach dem Ratschluss seines Willens,
damit wir zum Lob seiner Herrlichkeit leben,
die wir zuvor auf Christus gehofft haben.
In ihm seid auch ihr, die ihr das Wort der Wahrheit gehört habt,
nämlich das Evangelium von eurer Rettung –
in ihm seid auch ihr, als ihr gläubig wurdet,
versiegelt worden mit dem Heiligen Geist, der verheißen ist,
welcher ist das Unterpfand unsres Erbes,
zu unsrer Erlösung,
dass wir sein Eigentum würden
zum Lob seiner Herrlichkeit.
Amen.
[i] Mein Verständnis des Epheserbriefes verdankt sich dem anregenden und umfangreichen Werk des Neutestamentlers Markus Barth – Sohn von Karl Barth –, der seine Erkenntnisse in den beiden definitiven Kommentarbänden der Anchor Bible zusammengefasst hat: Markus Barth, Ephesians 1 -3, bzw. Ephesians 4 – 6 (Anchor Yale Bible Bd. 34 und 34A), beide: Yale University Press 1974.
[ii] Vgl. zu Teilhards zwischen wissenschaftlicher Metaphorik und heilsgeschichtlicher Spekulation Rationalität und Intuition verknüpfendem Modell der evolutiv-eschatologischen Höherentwicklung des Lebens: Pierre Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos (Le phénomène humain), München 1959, bes. ab S. 261ff. Teilhard hält hier fest: „Um völlig wir selbst zu sein, müssen wir … voranschreiten, im Sinn einer Konvergenz mit allen übrigen, zum andern hin. Unser endgültiges Wesen, der Gipfel unserer Einzigartigkeit, ist nicht unsere Individualität, sondern unsere Person. Doch diese können wir, da die Evolution die Struktur der Welt bestimmt, nur in der Vereinigung finden. Kein Geist ohne Synthese, von oben bis unten durchwegs dasselbe Gesetz. Das wahre Ego wächst in umgekehrter Proportion zum »Egotismus«. Nur wenn es universell wird, gewinnt das Element Persönlichkeit, nach dem Vorbild und dank der Anziehungskraft von Omega“ (S.271). In dieser spekulativen Diktion sind die Motive der kosmischen Christologie des Epheserhymnus leicht und einleuchtend zu entdecken.
Rogate, 05.05.2024, 1.Tim.2,1-6a, Stadtkirche, Horst Gieseler
Predigt zu 1. Timotheus 2, 1 – 6a
„Ich sage dir: Sei mutig und entschlossen. Hab keine Angst und lass dich durch nichts erschrecken; denn ich, dein Gott, bin bei dir, wohin du auch gehst.“ Amen.
Rogate ist der Name dieses Sonntags, liebe Gemeinde, also: Betet! Diese Aufforderung lässt keine Wahlmöglichkeiten. Das ist eine klare Anweisung. Also gut – los dann. Dann lasst uns also beten. Ich schlage vor, jeder und jede betet für sich. Jetzt. In aller Stille. Oder auch laut. (…)
Was ist in Ihnen vorgegangen? War es Ihnen komisch laut zu beten? {Ich habe nichts gehört.} Oder fiel Ihnen gerade nichts ein? War es schwierig, so auf Aufforderung zu beten? Vielleicht haben Sie auch gedacht, jetzt ist aber Zeit für die Predigt.
Ja, was sind denn das jetzt auch für Aufforderungen! Beten, das machen wir am Anfang des Gottesdienstes und nach der Predigt, in den Fürbitten und im Vaterunser.
Ja, wir haben verschiedene Orte im Gottesdienst, an denen wir beten. Mal im Wechsel beim Psalmgebet, mal bete ich stellvertretend für uns, mal beten wir still, mal für andere, mal gemeinsam das Vaterunser und das Bekenntnis unseres Glaubens.
Und an diese Stelle im Gottesdienst gehört jetzt kein Gebet, (warum eigentlich nicht) sondern eine Auslegung des Predigttextes. Der steht heute im ersten Timotheusbrief im zweiten Kapitel und es geht – Sie haben es sicher schon vermutet – um das Beten. Aus der Nummer entlasse ich Sie heute Morgen nicht.
Das gemeinsame Beten im Gottesdienst, so wie wir es heute noch machen, geht zurück bis in die Anfänge der christlichen Gemeinden. Schon damals wurden die Leiter der Gemeinden dazu aufgefordert, in den Versammlungen mit den Menschen zu beten. Der biblische Text für den heutigen Sonntag ist eine solche Anweisung, wie man das Gebet gestalten soll:
Hören wir den Predigttext des heutigen Sonntags Rogate. Er steht im 1. Timotheus 2, die Verse 1 – 6a. (Gute Nachricht)
Lektorin:
(1) Das Erste und Wichtigste, wozu ich die Gemeinde aufrufe, ist das Gebet, und zwar für alle Menschen. Bringt Bitten und Fürbitten und Dank für sie alle vor Gott! (2) Betet für die Regierenden und für alle, die Gewalt haben, damit wir in Ruhe und Frieden leben können, in Ehrfurcht vor Gott und in Rechtschaffenheit. (3) So ist es gut und gefällt Gott, unserem Retter. (4) Er will, dass alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen und gerettet werden. (5) Denn dies ist ja unser Bekenntnis: Nur einer ist Gott, und nur einer ist auch der Vermittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Jesus Christus. (6) Er gab sein Leben, um die ganze Menschheit von ihrer Schuld loszukaufen. Amen
Beten ist Pflicht in der Gemeinde. Alle sind freundlich, aber bestimmt aufgefordert zu beten, so wie ich es eben eingangs hier von der Kanzel aus getan habe.
Im Text heißt es, liebe Gemeinde: Ich ermahne euch, und das ist kein unverbindliches Erinnern, sondern es handelt sich um etwas Wichtiges. Und zwar soll nicht nur einer für alle beten, sondern alle für alle! Es geht um Bitte, Gebet, Fürbitte und Dankgebet für alle Menschen.
Wie geht das?
Wenn ich mir dabei die Menschen vorstelle, die mir nahe sind, dann ist das einfach. Oft weiß ich ja, welches die Nöte und Sorgen meiner Liebsten sind und kann gut für sie bitten. Was mir selbst fehlt, weiß ich auch, besonders im Vergleich mit anderen. Der Dank für das, was mir an Gutem im Leben geschenkt ist, fällt mir da schon weniger schnell ein. Aber wenn ich mir vor Augen führe, wie gut es mir geht, trotz meiner Krankheiten, dann gelingt auch das. Fürbitten fallen mir immer ein, spätestens, wenn ich abends die Tagesschau schaue oder morgens die Zeitung lese. Ganz besonders in diesen Zeit der Gewalt, unserer Frevel gegen die Natur, der Not und der Schrecken von Kriegen.
Aber es geht hier noch um etwas mehr als meinen eigenen Horizont und um die, die mir nahe sind. Es geht darum, für alle Menschen zu beten.
Das ist radikal. Denn es bedeutet ja, auch für die zu beten, die ich nicht leiden kann; für die, mit denen ich Streit habe, liebe Gemeinde. Und auch für die, die mich verletzt haben.
Von meiner persönlichen Situation einmal abgesehen, heißt für alle beten, auch für Menschen zu beten, die Fehler gemacht haben, die verantwortlich sind für das Leid anderer, für die Kriegstreiber, für Putin, für die Schleuser von Flüchtlingen, für die, die andere quälen und foltern.
Das ist ganz schön viel und sehr schwierig, was da von uns verlangt wird, liebe Gemeinde. Es erfordert die Fähigkeit, beim Beten von meinen eigenen Befindlichkeiten und Bedürfnissen absehen und weitersehen zu können. Für alle Menschen – da ist die ganze Welt eingeschlossen, Arme, Reiche, Verbrecher, Schlaue, Dumme, Kinder, Erwachsene, Christen, Muslime, Juden und Atheisten – einfach alle. Ausnahmen gibt es nicht.
Eine Gruppe von Menschen wird dann in unserem Predigttext noch besonders erwähnt. Es zeigt, dass es auch für die Christen damals nicht selbstverständlich war, diese Menschen einzubeziehen in ihre Gebete, hatten sie doch auch immer wieder unter ihnen zu leiden. Man soll für alle beten und insbesondere auch für die Obrigkeit, für die da oben, für die, die an der Macht sind, für die, die das Sagen haben.
Das ist jetzt aber wirklich zu viel verlangt, könnte der ein oder andere damals gedacht haben. Da ist eine Grenze erreicht, könnte der ein oder andere heute sagen. Und viele von uns können das auch heute nicht! Ich verstehe das! Ich zweifle ja an mir, ob ich es kann.
Aber: Was auf den ersten Blick aussieht, als sollte man kriecherisch und anbiedernd sein, ist auf den zweiten zutiefst demokratisch gedacht:
Wir sollen beten für die Obrigkeit, die Politiker, denn sie sind auch nur Menschen. Sie stehen nicht über den anderen, sondern daneben, sind so Teil von uns. Wir dürfen sie nicht vergessen, denn sie sind im besonderen Maße verantwortlich. Auch sie haben es nötig, denn sie müssen Entscheidungen treffen, die unser alle Leben betreffen. Und wir hängen von diesen Entscheidungen mit ab. Ob wir ein freies und selbstbestimmtes Leben führen können, oder wie es in der Sprache des Neuen Testaments heißt: ein ruhiges und stilles Leben, kommt stark auf die Regierenden in unserem Land an. Also gibt es guten Grund, auch für die Regierenden unserer Zeit zu beten. So weit, so gut. Die Anweisungen zum Beten sind klar formuliert. Aber bringt das denn was, das Beten, liebe Gemeinde?
Bringt es etwas, dafür zu beten, dass meine Eltern sich nicht trennen, fragen sich Jugendliche?
Bringt es etwas, dafür zu beten, dass es Frieden gibt auf der Welt, wenn doch immer neue Krisenherde dazu kommen, fragen wir uns?
Bringt es etwas, dafür zu beten, dass wir endlich Maßnahmen zur Rettung des Klimas ergreifen, z.B. nicht nach Mallorca zu fliegen, fragen sich unsere Kinder?
Bringt es etwas, dafür zu beten, endlich schwanger zu werden, fragen sich manche Frauen?
Bringt es etwas, dafür zu beten, dass ich meinen Job nicht verliere, fragen sich Angestellte großer Firmen?
Bringt es etwas, dafür zu beten, dass ich wieder gesund werde, fragen sich Ältere?
Die Fragen lassen sich schwer beantworten. Manche Menschen sind fest davon überzeugt, dass ihnen das Beten etwas gebracht hat. Es gab in ihrem Leben eine Wende, es gab einen Strohhalm, nach dem sie greifen konnten, einen Menschen, der an ihrer Seite war.
Eine allgemeingültige Antwort lässt sich aber nicht finden. Aber um diese, für uns so wichtige Frage, geht es im heutigen Predigttext gar nicht. Denn es heißt schlicht und ergreifend: Das Beten ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserem Heiland.
Beten ist einfach unsere Art, uns gegenüber Gott zu verhalten, so sieht es der Verfasser des Textes. Und es ist deshalb wichtig, weil es uns an etwas Entscheidendes erinnert: Wir verdanken unser Leben nicht uns selbst, sondern Gott. Beten, vor allem das Beten für andere, für alle anderen, verhindert Egoismus, liebe Gemeinde.
Denn es macht deutlich: Ich bin nicht allein auf dieser Welt. Auch andere Menschen haben Probleme und Sorgen und Bedürfnisse. Das rückt mich in einen größeren Zusammenhang, manchmal sehe ich meine eigenen Probleme und Sorgen in einem anderen Licht, auf alle Fälle verbindet es mich mit anderen Menschen und macht mir deutlich, dass ich für andere Verantwortung übernehme, diese im Gebet aber auch gleichzeitig für mich.
Denn Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen; und zwar dadurch, dass sie füreinander beten. Betet in meinem Namen, sagt Jesus und fordert dazu auf: Sucht im Gebet Kontakt zu Gott. Fragt und fragt nach, lasst euch nicht alles vorsetzen. Singt – Schreit – Glaubt! Aber glaubt nicht alles. Zweifelt und habt Mut. Setzt euch ein und setzt etwas dagegen, ruft laut, riskiert etwas – es ist manches Mal scheinbar umsonst, aber es wird nie vergeblich sein. Beten ist unsere Aufgabe. Und das kann durchaus laut sein. Muss es sogar!
Die Theologin Dorothee Sölle hat es so ausgedrückt: Beten ist Revolte. Wer betet, sagt nicht: „So ist es und Amen!“ Wer betet, der sagt: „So ist es! Und so soll es nicht sein!“ Und das und das soll geändert werden! Beten ist so eine intensive Vorbereitung auf das Leben.
Und in der Bibel lesen wir immer wieder von Menschen, die beten. Sie beten auch um das vollkommen Unmögliche. Josef betet im ägyptischen Gefängnis um Befreiung. Mose, der einen Mann erschlagen hat, betet am Dornbusch um Vergebung. Hanna betet um ein Kind, obwohl es eigentlich schon längst zu spät ist. Der Ehebrecher David bittet Gott um Erbarmen. Hiob kämpft betend mit Gott, der zugelassen hat, dass ihm alles genommen ist. Der Prophet Jeremiah betet, weil er sein Amt nicht mehr erträgt. Jona betet im Walfisch und Daniel betet in der Löwengrube. Maria betet, als sie schwanger ist mit Jesus, und Lydia betet, als sie als erste Frau in Europa eine christliche Gemeinde gründet.
Alle diese verschiedenen Gebete sind nicht vergeblich gewesen und gingen nicht verloren. Auch unsere Gebete werden nicht vergeblich sein und nicht verloren gehen, davon bin ich zutiefst überzeugt.
Denn Jesus selbst hat uns gesagt: Bittet, so wird euch gegeben. Er ist der Weg, der uns mit Gott verbindet. Gott hat sich in Jesus selbst gegeben und so Himmel und Erde verbunden. Das haben wir an Ostern erfahren. Über ihn, über Jesus, der selbst dem Tod die Macht abgenommen hat, erreichen unsere Gebete Gott, liebe Gemeinde.
Selbst wenn wir einmal nicht mehr wissen, was wir beten sollen – selbst dann gibt es eine Möglichkeit. Für diesen Fall hat Jesus uns ein Gebet gegeben, das wir immer beten können, das Vaterunser. Wir haben vor der Predigt einen Teil des Vaterunsers im Lutherlied gesungen. Und gleich werden wir die Fürbitten mit dem Vaterunser schließen. Im Gebet des Herrn werden wir alles das zusammenfassen, was heute noch nicht gesagt oder gebetet wurde, ob laut oder stumm. Es bleibt dann nichts übrig. Und das befreit mich auch.
Ja, in das Vaterunser hinein kann ich abgeben, was ich beten will und in Gottes Hände legen, was ich allein nicht ändern kann. Beten ist unsere Art, mit Gott zu sprechen und ihn zu bitten für alle Menschen, in Lob und Dank, in Bitte und Klage.
Sie kennen vermutlich das Bild der „Betenden Hände“ von Albrecht Dürer (1471–1528), dem mittelalterlichen Maler aus Nürnberg zu Beginn der Reformationszeit. Auf seinem Bild sehen wir nur Hände, ältere Hände, die nicht gefaltet, sondern aneinander- oder aufeinandergelegt sind zum Gebet. Dieses schlichte Bild hängt in vielen Wohnzimmern oder Küchen sowie in vielen Krankenzimmern oder Pflegezimmern in Altenheimen. Warum nur ist dieses Bild von den „Betenden Händen“ so beliebt? Was machte aus diesem doch unscheinbaren Bild für viele Menschen, zum Beispiel für meine Mutter, ein Lebensbild, das ihr buchstäblich auch lebenswichtig war?
Gebet. „Betende Hände“. Ein ganz alltägliches Wunder ist das. Das Wunder des Betens ist nämlich: Es bringt mich ins Gleichgewicht. Wer zum Übermut neigt, kann durch ein Gebet wieder ein wenig auf den Boden geholt werden. Wer am Verzweifeln ist, wird durch ein Gebet ein wenig daran gehindert. Beten will mich ins Gleichgewicht bringen, darum ist es so wertvoll – und so dringend nötig für alle Menschen, die ja ein Leben lang immer wieder und zu allen Zeiten nach dem richtigen Platz im Leben und in der Welt suchen müssen.
Jedes Gebet macht uns zu Menschen, liebe Gemeinde; zugleich bedürftig und geliebt. Und jedes Gebet hilft uns, andere Menschen zu achten. Sie sind Gottes Kinder wie Sie und ich, liebe Gemeinde. Und … wer sein Leben lieb hat, macht es zum Gebet. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
Jubilate, 21.04.2024, Stadt- und Jonakirche, 2.Korinther 4, 14 - 18, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Jubilate - 21.IV.2024
2.Korinther 4, 14-18
Liebe Gemeinde!
„Houston, wir haben ein Problem!“: Mit diesem Funkspruch wurde im April - am 13., um genau zu sein - vor 54 Jahren eine rettende Umkehr eingeleitet. Die Astronauten der Apollo 13 meldeten der NASA, dass einer von zwei Sauerstofftanks ihres Raumschiffs explodiert war. Ihnen ging also die Luft zum Atmen aus, kurz bevor die Apollo 13 in die Umlaufbahn des Mondes hätte eintreten sollte, um die 3. geplante Landung dort einzuleiten. Gebannt und fiebernd sah die damals noch sehr viel beschränktere und entferntere Weltöffentlichkeit drei Tage lange zu, ob wahrhaftig eine unvorhergesehene, unerprobte Rettung im lebensfeindlichen Weltraum gelingen könne.
Sie gelang: James Lovell, Jack Swigert und Fred Haise kehrten zurück aus der Schwärze des Universums auf die kleine, luftumflossene, lichterfüllte, lebensfreundliche Erde. …
Auf die Erde, von der wir in der Schriftlesung (Sprüche 8,22-36)[i] hörten, mit welchem Vergnügen an der Weisheit Gott sie bereitet und durchströmt hat. Der Kosmos ist mit dem Zirkel der Liebe um das Herzstück des kleinen Menschenplaneten geschlagen, und im Zentrum – da, wohin die Umkehrer vom 13. April aus dem 13. Apollo zurückfanden – … im Zentrum also ist der Ort, an dem die Weisheit - der Heilige Geist, die Heilige Begeisterung – mit ihren Lieblingen, den Menschenkindern ihr Stelldichein feiern darf.
Wenn Menschen diese Weisheit Gottes, diesen Geist der Schöpfung voller Liebe finden, dann finden sie das Leben. ———
„Houston, wir haben ein Problem!“: Die Suche nach der schöpferischen Weisheit Gottes, die das Leben will und schenkt und ist, … die Suche nach dem Geist, dem Sohn, dem Vater also ist uns Menschen fremd geworden.
… Dabei sagt es diese Weisheit doch selbst: „Wer mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod.“ …….
„Christen, wir haben ein Problem!“
…Vermutlich ist unser Problem das Problem der ganzen Welt, und vermutlich hängt das nicht vermisste Fehlen der lebensschaffenden Gottes-Weisheit unter den Menschen mit Geist- und Weisheits-Verlusten bei uns als Kirche zusammen. —
Unser Problem lässt sich leicht zusammenfassen: Das Neue Testament ist uns alt geworden. Alt und kalt. Es scheint nicht mehr zu zünden. Es ist verstaubt. … Wann hattest Du’s zuletzt in der Hand? … Oder wann hast Du zuletzt erlebt, wie es wirklich aus den Buchdeckeln sich löst und Dir unter die Haut ging, bis in die Herzkammern, in die Lungenflügel, durch die Eingeweide bis ins Mark … und von da wieder in die Hände, den Mund und alle Lebensäußerungen drang?
Wann war das Leben des Geistes zuletzt für Dich die persönliche, unmittelbare Realität?
Wann war neben den eigenen Gedanken und der eigenen Vergesslichkeit, neben den eigenen Überzeugungen und den eigenen Zweifeln der Raum Deines Erlebens ausgefüllt durch die Botschaft, mit der Gott Sich Selbst bezeugt, und durch die Liebe Christi, die nicht ruhen kann, sondern um sich greift?
Wann waren Dein Denken und Dasein eine spontane, eine natürliche Fortsetzung oder Funktion Deines Glaubens?
Wann hat sie in Dir gelebt … die Frohe Botschaft? —
Das sind Fragen, die bei uns seltsam anmuten mögen: Aufdringlich forciert wie in einer autosuggestiven Massenevangelisation. Oder lebensfern antiquiert wie aus den Chroniken längst ausgeglühter Frömmigkeits- und Erweckungsbewegungen.
Aber obwohl wir viele solcher kühlen Schutzmechanismen besitzen, die uns wappnen gegen alles zu persönliche Auf-die-Pelle-Rücken dessen, was doch längst so schön historisch und symbolisch entschärft ist, brechen manchmal die verkorkten und eigentlich verpufften Fragen nach lebendigem Glauben und Glaubensleben auf.
Heute ganz programmatisch.
…Weil es doch „JUBILATE!“ heißt.
Und wir deshalb einfach überlegen müssen: „Freut’s uns denn noch? Löst es unsre Lahmheit manchmal in Jubel auf, dass wir hören und verkündigen, dass wir lesen und betrachten, dass wir glauben und annehmen dürfen, was das Evangelium ist?“ ——
… Tja.
… Eine ganz unmittelbare Reaktion, eine direkte Begeisterung weckt eine sattsam bekannte Aussage natürlich nicht ohne Weiteres.
Die unergründlichsten Offenbarungen können zu kaltem Kaffee werden und die unerfindlichsten Wunder können wie schaler Sekt wirken, wenn ihnen der Reiz des Unerhörten abhandenkommt und man sich vor Generationen schon an ihnen sattgestaunt hat:
Dass die Welt eine Schöpfung und zugleich ein Juwel Gottes ist, haben Jahrhunderte vor uns meditiert; wir haben das „Made by God“-Siegel, das sie insgesamt und überall trägt, durch die Vergrößerung und Verkleinerung, die die Wissenschaft vornimmt, und durch die Verzweckung, die die Wirtschaft uns lehrt, dagegen aus den Augen verloren.
Dass mitten auf dieser irdisch erklärbaren und vertrauten Bühne – und zwar im allerunauffälligsten Gewand bloßer menschlicher Nacktheit – schließlich aber auch Gott selbst als gewöhnliches stoffliches Wesen und sterbliche Person Schöpfungswirklichkeit annahm, das hat die Kirche früher einmal jahrhundertelang beinah überwältigt, wenn sie im großen Glaubensbekenntnis (EG 854) die Passage aussprach „Für uns Menschen und zu unserm Heil ist Er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den heiligen Geist aus der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden.“
An dieser Stelle blieb Abend- und Morgenland der Mund offen stehen und man ging auf die Knie vor dem atemberaubenden Wagnis, dass der Anfangslose endlich und der Allgegenwärtige ein Embryo, … ein Kind, … ein Körper, … eine Leiche wurde.
Doch diese beiden unfassbaren Schöpfungswunder – dass unsere Welt durch Gott und dass Gott ein Stück von ihr geworden ist – … diese unfassbaren Schöpfungswunder am Anfang beider Testamente sind beide durch die menschliche Freiheit sehr anders weitergegangen, als es hätte kommen müssen.
Die Schöpfung war ursprünglich nicht eine Ökologie des Todes, sondern des Blühens und der Fruchtbarkeit und vielleicht der Brache, in der die Geschöpfe ihre Lebenskräfte neu aufladen dürfen.
… Aber durchs Allein-Machen- und Allein-Sein-Wollen des Menschen kam der Tod.
Denn das ist ja der Tod: Das Einzige, was der Mensch durch seine Unkooperativität, seine Verweigerung Gott gegenüber allein gemacht hat; seine letzte Einsamkeit. Der Tod ist in jedem Sinne buchstäblich das ursprüngliche „Alleinstellungsmerkmal“ des Menschen.
Doch es ist nun einmal nicht gut, dass der Mensch allein sei (1.Mose2,19): Im Leben nicht und auch nicht im Tod. … Darum war die zweite Schöpfung nötig, in der Gott den Menschen nicht allein ließ: Diese Schöpfung in der Jungfrau Maria, bei der Gott zwar allein in einer menschlichen Mutter Fleisch annahm, und die um den Preis geschah, dass Er dadurch ja auch in Kauf nahm, einmal ganz allein ein Grab im Schoß der Mutter Erde zu finden; … allein, wie wir alle, … die demnach aber eben nicht mehr allein sein werden in unserer Todeseinsamkeit!!! …….
Dass uns das beides – die Schöpfung, in der wir den Tod bedeuten und in der Gott den Tod deshalb selbst übernahm, damit sie nicht uns, sondern Ihm überlassen bliebe –…, dass uns das beides nicht wirklich von den Füßen auf die Knie vor Dankbarkeit oder in den Hochsprung losgelassenen Jubels bringt, dass es uns nicht mitreißt und stürmisch beschwingt, ist schon elend genug. …
Aber dass eine Gemeinde, die weiß, was dann noch geschah, nicht unendlich zuversichtlich und weltfroh und lebensfreudig, voller Liebe zum Sterblichen und voller Neugier aufs Unsterbliche ein Ausgangs- und Anknüpfungspunkt von Lebenswegen und Lebensbewegungen der Umkehr, des Schutzes, der Stärkung, der Hoffnung ist … das wäre nicht zu erklären.
Dass eine Gemeinde, die die dritte Schöpfungsgeschichte kennt – nicht die von Eden und auch nicht die von Bethlehem, sondern die aus dem Jerusalemer Grab im Garten – … dass eine Gemeinde, die den österlichen Neuanfang kennt, nicht ununterdrückbar lebensbejahend und lebensgewiss sein sollte, das wäre schlicht erbärmlich!
Doch heute – wenn es auch Anlauf braucht und etwas Abschütteln des Staubes und etwas Lockern der rostigen Seelen – heute ist nun Jubilate: Der Tag, an dem wir feiern, dass Gott durch die Auferweckung Jesu von den Toten die neue Kreatur begonnen hat (vgl. 2.Kor.5,17).
Und so ist Jubilate denn wahrhaftig doch ein Tag, an dem uns genug Geist und Kraft erfüllen wollen, um die Probleme Houstons, die Probleme dieser Erde, der die Luft und Zeit ausgehen, im Licht des Lebens als lösbar, … ja: als gelöst zu erkennen. Denn das Jubilate-Licht ist das Licht der rettenden Neuschöpfung, die aus der Ökologie des Todes eine Natur macht, in der den alten Erstickungs-Drohungen kein Gewicht mehr zukommt.
Dafür muss selbstverständlich umgesteuert werden in Richtung Leben.
Doch ebenso selbstverständlich kann aus österlicher Erfahrung eben auch umgesteuert werden in die Lebensrichtung: Denn wenn Gott es geschafft hat, alles was Er geschaffen hat, unter den Bedingungen des Todes dennoch zu neuem Leben zu erwecken, dann ist nach Weltschöpfung und Menschwerdung das dritte und nunmehr endgültige Wunder der Kreativität zu feiern: Dass alles in Lebendigmachung auf- und übergehen wird!!!
Es lohnt, sich das für einen Augenblick auf der Zunge zergehen zu lassen: ALLES, was jetzt sichtbar und spürbar eigentlich Züge der Zerstörung und des Untergangs aufweist, wird doch in die Auferstehung und Lebendigkeit einbezogen werden, die Quelle und zu-gleich Gipfel des Evangeliums sind. …….. Des Evangeliums, das uns aus Gewöhnung so kalt lässt und so alt vorkommt, obwohl es doch das Wort ist, aus dem unsere ermüdete, zynische und untätige Zeit einen elektrisierenden und stärkenden Strom der Hoffnung neuen und unvergänglichen Lebens empfangen könnte.
Deshalb müssen wir seine Kraft wieder selber als die beflügelnde und befreiende Neuigkeit erfassen, die es tatsächlich ist. Wenn die Menschheit wirklich so versessen und so besessen am Zu-ende-Gehenden klebt, dass sie weder Kleines noch Großes mehr ändern zu wollen scheint, dann ist die ganz große christliche Gewissheit der neuen Kreatur bis in kleinste Umstellungen hinein fruchtbar zu machen.
Wir müssen zeigen, dass die neue Wirklichkeit, die uns sicherer ist als die bisherige, uns tatsächlich auch verwandelt.
Wir werden also zeigen wollen und zu zeigen haben, dass wir die Furcht vor Verzicht, die Sorge vorm Zu-kurz-Kommen, die Trägheit beim Zurückstecken, die Freiheit zum Weniger, ja, die Notwendigkeit des Weniger und die neue Normalität des Weniger nicht fürchten.
Wir als Menschen des Evangeliums können die entsetzliche Tatenlosigkeit und die verwerfliche Gedankenlosigkeit einer Zivilisation, die nur das gerade noch Vorhandene festhalten und keine Umstellung zulassen will, nicht teilen.
Wir haben nichts zu fürchten.
Nichts zu verlieren, das nicht erneuert viel beständiger sein wird.
Wir haben nichts zu beschlagnahmen, weil alles von und für Gott ist.
Wir haben keine Teilung zu verhindern, denn Gott schenkt Vermehrung.
Uns hält keine Abhängigkeit, denn uns ist die Befreiung verkündet.
Wir müssen dem Endlichen nicht verfallen, denn es gibt Unendliches.
Wir sind also nicht einfach zum Immer-Weiter-So verdammt, sondern berufen zu einem ganz anderen, zum ungeahnten und unverlierbaren Leben.
Diese Botschaft ist ökologisch und politisch, sie ist geistlich und leiblich die neue Wahrheit, die mit Ostern angebrochen ist.
Wir können sie der Welt und der Schöpfung, wir können sie unseren Zeitgenossen und unseren eigenen Herzen in der ganzen Frische und Angstfreiheit, in dem Mut und mit dem Elan des Paulus zurufen, der das völlig uneingeschränkte und solidarische, das universale und seligmachende Lebensgefühl eines Menschen, der in österlichem Jubel zu leben lernt, den Korinthern in ansteckender und mitreißender Weise mitgeteilt hat.
„Houston – wo ist das Problem?
… Wir wissen, dass der, der den Herrn Jesus auferweckt hat, wird uns auch auferwecken mit Jesus und wird uns vor sich stellen samt euch.
Denn es geschieht alles um euretwillen, auf dass die Gnade durch viele wachse und so die Danksagung noch reicher werde zur Ehre Gottes.
Darum werden wir nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.
Denn unsre Bedrängnis, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit,uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare.
Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich;
was aber unsichtbar ist, das ist ewig.
JUBILATE!“
Amen.
[i] Diese heutige Schriftlesung macht wie die weiteren für Jubilate vorgesehenen Lesungs- und Predigttexte (u.a. 1.Mose 1 und Apostelgeschichte 17, 22-34) deutlich, wie sehr das Verhältnis von Schöpfung und Neuschöpfung in österlicher Perspektive das Motiv dieses Sonntags ist: Ein Motiv, das in die ökologischen Zentralfragen unserer Gegenwart ein überaus starkes biblisches Gewicht bringt. Kein Auferstehungsleben ohne das Gesamt des Kosmos: Diese theologische Aussage stellt ein Bindeglied in die reichen Traditionen der ostkirchlichen Spiritualität dar, in denen die Natur ganz im Kraftfeld des Heiligen Geistes betrachtet und als Miterlöste der Menschheit gefeiert wird.
Miserikordias Domini - Feier der Goldkonfirmation, 14.04.2024, Stadtkirche, Johannes 10,14, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Miserikordias Domini - Goldkonfirmation 14.IV.2024
Johannes 10,14
Liebe Gemeinde!
Jubiläen sind missverständliche Anlässe: Entweder sie versetzen uns gezielt rückwärts in eine Vergangenheit, die doch nicht heute ist, oder sie zelebrieren die sog. Jubilare, die doch nicht wegen des gegenwärtigen Moments, sondern aufgrund eines ganz anderen Augenblicks ihrer Geschichte im Mittelpunkts stehen.
Es geht also entweder um eine Zeit, die war, aber jetzt nicht ist, oder um die Erfahrung oder Leistung eines Menschen, der wir jetzt nicht sind, aber einst waren.
Die Brücke zwischen dem beiden, aber … die Zeit, die aus dem Gestern das Heute, aus den Kindern die Leute gemacht hat, … die ist doch das eigentliche Wunder und der wirkliche Grund fürs Staunen, für Rührung, für Dankbarkeit oder Trauer.
Die Zeit, die zwischen damals und heute liegt, ist so voller winziger, unmerklicher Schübe und Verschiebungen, so voller unauffälliger kleinster Zusätze und Verluste, dass man sich kopfschüttelnd fragen würde, wie das 50 Jahre, wie das sechs oder gar sieben Jahrzehnte sein sollen, die da plötzlich vergangen sind, wenn nicht auch die großen Sprünge, die unmissverständlichen Einschnitte und Etappen das Ganze gegliedert, beschleunigt und unwiderruflich verändert hätten.
Es gab ja nicht nur das leise Ticken der Zeit, sondern auch ihre Paukenschläge. Es gab den Blitz, der uns traf: Mal als Liebe, mal als Schrecken. Es gab die unvergesslichen Dammbrüche, mit denen sich der Fluß in eine ganz andere Richtung wendete: Schleusen, die sich öffneten, nachdem alles sich vor türmenden Problemen gestaut hatte, oder plötzlich sprudelnde Lebendigkeit nach endlos-ödem Austrocknen. Es gab Glocken, die haben das Schönste eingeläutet, was wir an Festen kennen – Feste der Liebe und des Lebens –, und es gab dumpfes Dröhnen in Schädel und Brust, wenn das Leid, wenn der Tod uns trafen und alle Uhren stillstanden, ja selbst der Puls und der Atem einfach wegbleiben wollten.
Diese Wechsel, diese Ereignisse, die wir Schicksal nennen, weil sie fügungsreich oder fatal für uns waren … die lassen uns eher verstehen, dass wirklich Zeit, viel Zeit, viel Neues, viel Veränderung, viel Verlust und viele Gnaden, viel ganz Gewöhnliches und viel Einmaliges eingetreten ist, so dass was früher war, nicht auch jetzt noch ist, und dass, wie wir uns einst selber vorkamen, ganz anders ist, als wir geworden sind.
Das gilt vermutlich allgemein, wo immer wir ein halbes Jahrhundert oder noch mehr bedenken; und es gilt auch dann, wenn wir ganz nah am Innersten dieser seltsamen Zeitmaschine, die der Mensch ist, … die wir selber sind, auf etwas noch Erstaunlicheres stoßen:
Ganz im Innersten stoßen wir nämlich auf das Sonderbare, dass die rasende Raumkapsel oder die leicht und leise über alle Hindernisse hinweggleitende Gondel, in der unsere Lebensreise bisher verlief, wohl einen Passagier befördert hat, der nicht so völlig ausgewechselt, nicht so radikal verändert ist, wie die Landschaft, wie die Welt, durch die die Reise ging.
Gewiss: Es ist eine vollkommen andere Realität – unsere lichtgeschwinde, raumlose, allvernetzte digitale Sofort-Welt –, als es die viel langsamere, aber auch viel körperlichere Welt war, in die man vor fünfzig Jahren hineinwuchs.
Das liegt am Lebensalter: Dass man damals in vieler Hinsicht so viel mehr ausprobieren, so viel hemmungsloser experimentieren, wütender protestieren und hier und da auch sehr viel braver schlicht parieren musste als heute, wo alles virtuell zugänglich und selbstverständlich und deshalb auch schlicht als unbestreitbarer Anspruch wahrgenommen wird.
… Ich rede hier ja als älterer „Leut“ zu älteren Leuten und deshalb ist es wohl unvermeidlich, dass wir jetzt behaupten, wie man damals länger warten, weniger fordern, härter rackern und alles besser machen musste, als heute.
… Nun, es ist eben anders geworden: Vieles - das Meiste wohl - zu unser aller Vorteil, und die technischen und gesellschaftlichen Sensationen von einst sind für uns sämtlich längst vertrautester Horizont, unsere Sicherheit und unsere Gewohnheit geworden, von denen wir nicht weniger abhängen als die, die nie etwas anderes kannten.
Vergessen wir aber auch nicht, wie heil und hell uns manches in unseren jungen Jahren vorkam, obwohl die Schatten und Drohungen ja deutlich genug das vergangene halbe Jahrhundert schon prägten. Aber dass völlige Einschränkung uns in Isolation und Stillstand zwängen könnte, wie es die heute Jungen in den Pandemie-Jahren erlebten, dass noch viel größere und unabwendbare Verzichte und Rücksichten zwingend werden und dass wirklich Krieg und Grauen aus den Geschichtsbüchern wieder in die Zukunftsszenarien wechseln würden, … das alles hätten wir uns als Heranwachsende und in die Eigenverantwortlichkeit Aufbrechende wohl kaum vorstellen können. …….
Welt und Leben haben sich wahrhaftig tief und positiv und gleichzeitig verstörend geändert, seit einmal der Segen Gottes auf vierzehnjährige Häupter herabgerufen und in die Teenager-Ohren, die vielleicht wenig davon wissen mochten und in die jungen Herzen, die das alles doch genau verstanden, versprochen wurde.
Wahrhaftig, Leben und Welt haben sich verändert seit jenem Segen. ———
Aber hieß es nicht gerade eben, dass die, die genau durch diese Veränderungen der Welt und Entwicklungen des Lebens gereist sind, doch nicht so völlig ausgewechselt, nicht so radikal verändert seien, wie man beim Blick in die Gegenwartsgeschichte meinen sollte?
Wurde nicht gerade behauptet, dass im tiefsten Inneren der seltsamen Zeitmaschine, die der Mensch ist, sich erstaunlicherweise die irrwitzigen, herrlichen, hässlichen Wandlungen gar nicht alle so auswirkten, so niederschlugen, dass sie dort gar nicht so folgenreich eintraten, wie im großen, globalen Drumherum?
Doch.
Das habe ich gesagt.
Ich habe behauptet – obwohl fünfzig, sechzig, siebzig Jahre echte Metamorphosen, Brüche und Fortschritte bringen –, dass etwas sonderbar bei sich selbst und in sich ähnlich geblieben sei.
Das ist aber tatsächlich eine Behauptung und keine Feststellung.
Es ist ein Satz aus bloßem - man kann auch sagen: reinem - Glauben und keine Demonstration eines Beweises.
Das Einzige, was auch äußerlich dafürspricht, dass trotz weltgeschichtlicher und biographischer Purzelbäume, Katastrophen und Wunder etwas von damals auch heute noch ist, wie es war und bleiben kann, wie es ist … das Einzige, was dafürspricht, das sind Sie: Die heute Jubiläum-Feiernden.
Es ist ja alles andere als selbstverständlich, dass Sie heute bereit sind – skeptisch vielleicht, oder herzlich geneigt – etwas zu bedenken, das Sie lernten, als die Zeit eine ganz andere war.
Es ist alles andere als selbstverständlich, dass Sie bereit sind, etwas zu feiern, das Ihnen als Jugendlichen vielleicht sicher schien und inzwischen rätselhaft wurde, oder das Sie damals für abwegig und absurd abständig hielten und das Sie dann doch nie völlig verlassen haben, weil es Sie nicht einfach ganz kalt gelassen hat, wie so viel anderes Überflüssige und Vergessene, sondern Sie heute wieder versammelt, zusammenführt und in diese Stille - vielleicht sogar eine andächtige? - versetzt.
Es ist alles andere als selbstverständlich, dass Sie heute nun ausgerechnet auch noch in der Kirche, der man doch das vollkommene Verblassen und Verschwinden nahelegt und nachsagt, sitzen und sich erinnern, wie Sie einst bejahten, dazuzugehören und dafür gehalten werden zu wollen – für Christinnen und Christen nämlich –, … und dass Sie nun also immer noch und irgendwie – mit allen Pausen, mit allem Abstand, mit allen Zweifeln und aller Kritik – dabei sind: So, wie Sie es einst versprachen!
Ihr Kommen, Ihr Dasein, Ihr jenseits von Gewohnheit und Entfremdung einfach ganz heutiges Sich-Rufen-Lassen und darin Ihre Treue zu dem Versprechen von damals, zu dem Segens-Tag damals, zu dem Mädchen, zu dem Jungen, die damals hörten, sagten, taten und empfingen, was sie doch nicht abschließend ermessen konnten, …. das alles zusammen also ist jenes Einzige, das dafürspricht, dass etwas geblieben ist.
Sie selber sind die Fürsprecher für das, was war und ist und bleibt. ——
Und dafür danke ich Ihnen!
Ich danke Ihnen mitten in den Turbulenzen und Ängsten und Erfolgen der Zeit und Ihres Lebens, dass Sie nicht nur mit den atemberaubenden Veränderungen Ihrer Tage und Jahre, dass Sie nicht nur mit den bis zur Unkenntlichkeit führenden Prozessen des Älterwerdens und der Erneuerung befasst, belastet und belohnt sind, sondern dass Sie zum Gleichbleibenden stehen, dass Sie dafür heute jenen Moment – diese Gottesdienststunde, diesen Vormittag, diesen jubilarischen Sonntag – einräumen, in dem Ihnen und uns allen, das Unverwandelte, das Selbige, das Stetige, das Dauerhafte …. sagen wir’s ruhig: das Ewige vor Augen steht.
Was aber ist dieses Bleibende denn, für das Sie sprechen … als Einzige?!
Es ist – im Innersten der lernfähigen und entwicklungsfreudigen und robust fortschrittlichen und irgendwann dann hinfällig werdenden, sterblichen Wesen, die wir sind – das Allereinfachste: Man kann es die Urzelle nennen, den Kern, das Gemüt, die Herzkammer, das bleibende Menschenkind. Dasjenige, das in allen spektakulären, befreienden und schmerzhaften Umkrempelungen, Lossagungen, Auflösungen und Schwerpunktverlagerungen einfach bleibt.
Ich meine es buchstäblich:
Das, das einfach bleibt.
Das nicht kompliziert werden oder tun muss. Das - je reifer es wird, desto schlichter – begreifen und bekennen kann: Ich bin noch immer, was ich war. … Ein Menschenkind, das vollkommene Freiheit hat, weil es – wann immer es möchte – einen vollkommenen Halt findet.
Ich, der Erwachsene, bin ein Menschenkind, das zu Gott „Mein Vater im Himmel“ sagen kann.
Ein Menschenkind, das in dem Gottessohn-Menschenkind Jesus einen Bruder hat; und weil ich, das Menschenkind höre und manchmal nicht fassen und dann auch wieder nicht bezweifeln kann, dass mein menschlicher Bruder Jesus extra für mich durch alle Wachstums- und alles Todesschmerzen gegangen ist und wirklich das Sterben und die letzte, schrecklichste Trennung vom Leben und vom Lebendigsein und sogar vom lebendigen Gott vorweggenommen hat, nur damit ich darin nicht allein sein werde und untergehe, … darum kann ich in diesem Bruder sogar meinen Hirten sehen und mich Ihm anvertrauen, wo sonst nichts, gar nichts Vertrautes mehr sein wird.
Ein solches Menschenkind bin ich – im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, meiner bürgerlichen Rechte, meiner verfassungsmäßigen Freiheit und Würde – … ein solches Menschenkind bin ich in alledem, das rational und intellektuell vollkommen unabhängig ist, und das doch spürt: Im Innersten bin ich noch anders … und mehr. … Ich bin eine Seele, ein Ebenbild Gottes, des Vaters und des Sohnes, Der mir durch Seinen Heiligen Geist ungeahnt, aber eben auch unmittelbar gegenwärtig ist und war und bleibt.
Und das – das Innerste des Menschen, der Gottes Kind ist, und ein durch Jesus Erlöster und darum in seiner Seele den Heiligen Geist unlöschbar tragen darf - … dieses Innerste ist das, was nicht vergeht, was sich nicht verliert und was nicht verloren werden kann.
Das allerdings – dass wir im Tiefsten, im Letzten und im Ewigen so Gott-verbunden, so Gott-gemäß, so Gott-gehörend sind und sein dürfen – … das haben nicht wir als Konfirmandinnen und Konfirmanden beschlossen, verantwortet oder gemacht.
Und insofern feiern wir jetzt auch gar nicht die Wiederkehr jenes weit in die Vergangenheit entrückten Tages oder die naive Tat, das ahnungslose Wort des Kindes, das man damals war und längst nun nicht mehr ist, sondern was wir feiern, ist tatsächlich Gegenwart.
Es ist die Gegenwart Gottes: Das, was Gott getan hat und zu tun nicht aufhört.
Was Er an unserer Seele in allen Phasen und Gestalten, allen Schichten und Geschichten unseres Lebens tut.
Das Tun Gottes, das endlos ist.
Ewig.
Es steht im Wort des guten Hirten vor uns und über uns.
Es steht auch in uns, die wir die einzigen Zeugen dafür sind, … das Einzige, was dafürspricht.
Es ist das einfache und niemals vergehende Wort Christi:
„ICH KENNE DIE MEINEN UND BIN BELKANNT DEN MEINEN.“
Das feiern wir.
Heute.
Und in Ewigkeit.
Amen.
Tag der Auferstehung des Herrn / Ostersonntag, 31.03.2024, Stadtkirche, Hesekiel 37, 1 - 14, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Tag der Auferstehung des Herrn - 30.III.2024
Hesekiel 37, 1 – 14
Liebe Gemeinde!
Heute trägt die Hundehütte hier vorn - auf der Kanzel - ein besonderes Schild …, wie überall dort, wo der Hofköter alt geworden ist: „Keine Angst: Der will nicht predigen; der will nur spazierengehen!“
Tatsächlich empfinde ich das als echtes, geradezu besorgniserregendes Anzeichen des Alters - viel schlimmer als Haarausfall, Verfettung, nächtliche Schlaflosigkeit und mittäglich Schläfrigkeit - , dass ich ernsthaft feststellen muss, mich auf Goethe zu besinnen! … Das ist der mit dem Hexen- und dem Wilhelm Meister, mit dem Heideröslein und dem Koran, mit der ganzen Dichtung und Wahrheit, wo das Wichtigste immer passiert, wenn man nachts durch den Wind reitet oder zu Ostern eben spazieren geht.
Und das will ich jetzt auch.
Einen Osterspaziergang machen, … wie der Dr. Faustus, der am Kuhtor unterhalb vom Burghof oder am Anleger mit Blick nach Wittlaer hinauf auch hier und heute beobachten könnte[i]: „Aus dem hohlen finstern Tor / Dringt ein buntes Gewimmel hervor. Jeder sonnt sich heute so gern. / Sie feiern die Auferstehung des Herrn, / Denn sie sind selber auferstanden, / Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, / Aus Handwerks- und Gewerbesbanden, / Aus dem Druck von Giebeln und Dächern, / Aus der Straßen quetschender Enge, / Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht / Sind sie alle ans Licht gebracht.“ ———
Spaziergehen: Raus aus dem Alltag, aus seinen räumlichen und regelhaften Beschränkungen, ja, auch aus seinen religiösen und - bitte schön! - ebenso seinen weltanschaulichen und wissenschaftlichen Routinen, … das ist immer schon die erste aller Voraus-setzung für das Osterfest gewesen.
Wir müssen uns diese absolut ursprüngliche Notwendigkeit des österlichen Loslatschens ganz klar machen.
Ostern fand nicht in Jerusalem statt!
Wenn die traumatisierte Jesus-Truppe irgendwo in der befestigten Stadt geblieben wäre - falls sie es gewagt hätten! -, oder wenn sie in Bethanien, wohin sie vielleicht als erstes flüchteten, verkrochen in ihren Unterschlupfen geblieben wären, dann hätten sie’s nie erfahren, … hätten nie das leere Grab und die Engel und dann, … ja – dann …, ja, dann: IHN SELBST nie wieder getroffen!
Das alles geschah ja eben nicht drinnen, sondern draußen vor dem Tor (vgl. Hebr.13,12)!
Man musste wie die mit dem Mut der Liebe und Verzweiflung ausgestatteten Frauen sich ins freie Gelände trauen, in die Steinbruchs-, Müllplatz- und Schrebergartenzone, die vor der nordwestlichen Mauer Jerusalems lag, und dort im ungeschützten, ungepflegten Niemandsland das suchen, was nie wieder zu finden war: Den gekreuzigten Toten. … Kein urbanes Ereignis, das … im Raum der Zivilisation, sondern echtes outdoor-Abenteuer: Den Tod aufzusuchen und das Leben zu finden!
Erfahren kann man Ostern also nicht im Sitzen, nicht in Sicherheit, nicht im Geschlossenen und nicht im Gewohnten.
Man muss den Schutz der Enge verlassen, aber auch die Gewissheit, die uns orientiert, birgt und tröstet.
… Man muss sich Abrahamitisches trauen: Fortgehen ohne festes Ziel.
Das haben allerdings die ersten, trostlosen, für sich selbst im Morgengrauen ohne den Schutz der Stadt rücksichtlosen, für uns alle darin aber weltentscheidend-lebenswichtigen heiligen Frauen nicht gewusst, deren Gang zum Grab uns heute noch hier versammelt und hoffentlich dann auch wieder zu Wandernden auf Osterwegen machen wird.
Sie wussten an jenem Morgen nicht, dass es kein festes Ziel mehr gibt.
Sie waren nur auf den kurzen, wenn auch nicht ungefährlichen Marsch an den felsenfestesten Punkt der Welt gefasst: Wo das Wogen und Wimmeln des Lebens ans unverrückbare Nichts stößt. … Weil nichts sich je dort regt oder tut, sondern bloß unbeweglich endgültig das schroff-steile Gebirge ragt, das wir aus dem Märchen kennen[ii], in dem ein Mädchen bis ans „Ende der Welt“ wandert, um seine toten Brüder zu finden.
Das Grab dort zeigt sich dem Mädchen als der „Glasberg“: Unüberwindlich …und wenn man davorsteht, sieht man in diesem trostlosen Spiegel nur sich selbst in seiner Einsamkeit.
…Dahin hatten sich auch die Frauen außerhalb Jerusalems aufgemacht.
… Aber sie liefen nicht gegen die spiegelglatte Wand des Nichts, sondern in die herrliche Offenheit, die der Spiegel, der bloß Erinnerungen zurückwirft, nach seiner Zertrümmerung freigab. Durch den Spiegel hindurch also (wie die berühmte Alice im Wunderland) spazierten diese ersten Läuferinnen von Ostern – „Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenbotinnen, die da Frieden verkündigen!“ (Jes.52,7) –, und seither darf alles, was aus der Taufe kriecht oder vom Heiligen Geist Wind gekriegt hat oder auf der Suche nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit ist, genauso in die weite Welt vor und hinter dem Spiegel spazieren, weil der Glasberg zerbrochen, der feste Punkt aufgelöst und alles in Bewegung ist. Und weil in der Weite, außerhalb des bekannten Zirkels, jenseits des ab-gesteckten Reviers unserer Alltagserfahrungen, nichts fest und also auch nichts ausgeschlossen ist, sondern alles möglich, alles offen, weil dort alles atmet und sich ändert und wächst und lebt, … darum haben auf diesen Osterwegen nicht nur die Marien und Salome (vgl. Mk.16,1) und Johanna (vgl. Lk.24,11) und dann auch Petrus, Johannes, die anderen Jünger und Thomas (vgl. Joh.20,24ff), aber auch Kleopas und der zweite aus Emmaus (vgl. Lk.24,18) und Jakobus, der Herrenbruder (vgl. 1.Kor.15,7) und gewiss auch seine Mutter und Stephanus der Diakon und Saulus aus Tarsus, der diesen Stephanus gern sterben gesehen hatte (vgl.Apg.7,55+9,5) und so viele, so viele, so viele andere auf den Spaziergängen und den Irrfahrten, auf den Fluchten und den Umwegen, auf den Weltreisen und den stinknormalen Botengängen ihres Daseins den lebendigen Jesus Christus getroffen, Der uns allen nicht nur Wegbegleiter und nicht nur immer wieder neue Überraschung am Wegesrand und nicht nur schließlich einst Ziel aller unserer Pfade, sondern tatsächlich auf Schritt und Tritt selber Der Weg, Die Wahrheit und Das Leben sein will (vgl. Joh.14,6)!
Ostern also geht nur in Erfüllung, wenn wir wirklich gehen, wenn wir uns bewegen, wenn wir Räume, Richtungen und Denkweisen wechseln, und unsre Horizonte und Erwartungen, unsre Weltbilder und Meinungen, unsre Standpunkte und Zielvorstellungen beweglich bleiben. ——
Man muss es Goethe also lassen: Ohne Spaziergang kein Ostern!
Da kann man als Christenmensch und Pfarrer von Kaiserswerth dem Weimarer Staatsminister und Hobby-Dichter die Hand drauf geben, und wird von vieler Seite viel Verständnis für solche Wanderschaftsverbrüderung erhalten: Unterwegs zu sein, Bewegung zu kriegen, reisend aufgeschlossen für Begegnungen zu bleiben, … das alles sind ja wahrhaftig österliche Grundlagen, österliche DNA sogar noch im ganz nachchristlichen Lebensideal unserer Fitness- und Weltreisekultur.
„Aus grauer Städte Mauern“ hinaus in die freie Wildbahn; Bahrain, Bali, Botany Bay abklappern; Buddha besuchen und den Geistern der Osterinseln winken: So gehen Bildungsreisen unseres privilegierten Weltbürgertums.
Doch auch der Geheimrath von Goethe meint es nicht ganz so vordergründig wie unsre Kavalierstouren mit ein bisschen Schnuppern am Exotischen, ein wenig auch spirituell Über-den-Tellerrand-Gucken und etwas Aufgeschlossenheit für Erfahrungen, die uns transformieren können und in denen – wenn man indische Sadhus, die taoistische Harmonielehre sozialer Ganzheit und die unmittelbar menschenfreundliche Gastlichkeit so vieler Gesellschaften kennenlernt – tatsächlich auch Jesus uns berührt und verändert.
Nicht nur die österliche Erfahrung, dass wir durch jeden Weg einen weiteren Horizont und ein tieferes Herzenswissen um das Labyrinth des Lebens, das von Gott kommt und zu Gott führt, entwickeln, ist also der Sinn unserer Osterspazierens heraus aus dem Alt-Bekannten ins freie Neuland, das sich erschloss, seit der Gekreuzigte uns aus der Welt, die hinterm Grab anfängt, in unserer Welt entgegenkommt. … Nicht nur die österliche Erfahrung also, die in unserm eigenen Leben weltweit zu machen ist, wenn wir nicht hocken bleiben, wenn wir nicht verkrochen oder festgeklammert im eigenen Beritt kleben, sondern ins Unbekannte aufbrechen, ist der Sinn der Osterspaziergänge, die es braucht.
… Sondern der Aufbruch in Erfahrungen und Wirklichkeiten weit über unser eigenes Leben, weit über alle noch so erweiterungsfähigen eigenen Horizonte, weit über die bekannte, jetzige Welt hinaus.
Bei Goethe bricht die Sehnsucht danach in Faust auf als am Osterabend, gegen Ende des Spaziergangs die Sonne sinkt: „Dort eilt sie hin und fördert neues Leben. / O daß kein Flügel mich vom Boden hebt / Ihr nach und immer nach zu streben!“[iii] … In Betrachtung der untergehenden Sonne, die ja nur weiterzieht und nicht auslöscht, zieht es darum auch Faust in ihre Bahn: „Ich eile fort, ihr ew’ges Licht zu trinken, / Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht.“[iv]
Und das ist der eigentliche Kompass der Spaziergänge, die mit dem Grabesweg der Frauen vor den Toren von Jerusalem begonnen haben: Dass die Menschheit, dass jeder von uns und wir alle zusammen auf jenen Weg gelangen, auf dem vor uns der Tag des Lebens und hinter uns die Todesnacht liegt!
Den Spaziergang in diese Richtung aber treten wir nicht auf Vergnügungsreisen oder Rucksackabenteuern oder auf irgendwelchen anderen, von uns ausgesuchten Routen zum Sinn des Lebens an. Denn oft können wir gar nicht wissen, dass wir gerade einen Schritt auf das große österliche Ziel zu gemacht haben oder dass unsere Füße just auf Boden stehen, der dem Punkt, an dem nur noch Tag vor uns liegen kann, näher ist als viele, viele andere Schauplätze und Koordinaten unserer Lebenswege. ——
Eine kleine, zähe Frau aus Nordafrika, die verwurzelt in der sonnigen Rauhheit ihrer algerischen Heimat vermutlich nie erwartet hätte, einmal auf einem anderen Kontinent, in einer völlig anderen Welt (wie so viele Migrantinnen und Verpflanzte!), in Italien nämlich ein Grab finden zu müssen, wurde im Alter am Ende ihres Lebens - sie war zwei Jahre älter als ich! - einmal gefragt, ob ihr der Gedanke nicht schwerfalle, nun wohl bald so fern der Heimat bestattet zu werden. Ihre Antwort – die Antwort einer menschenerfahrenen, weltkundiggewordenen, lebenssatten Wandrerin auf Osterwegen – ist berühmt und bleibend herrlich wahr: „Nichts ist fern von Gott, und es ist auch nicht zu fürchten, dass er beim Ende der Welt nicht wüsste, wo er mich erwecken soll“[v]. Das war Monika, die Mutter des Kirchenvaters Augustinus.
Und Monikas Wort gilt.
Es zeigt uns: Überall ist das Osterziel. … An jedem Fleck auf dieser Welt steht Ostern uns bevor, liegt es unter unseren Füßen, ist es versteckt in der Dunkelheit, die vergeht, wenn endlich wahr wird, was der Ostergänger Faust suchte: „Vor mir der Tag und hinter mir die Nacht.“
Nun gibt es gewiss aber Stellen und Stätten, an die wir nicht unbedingt freiwillig oder gar gern reisen, an denen wir aber direkt auf Ostern stoßen: Eine junge namibische Umweltarchäologin, Annina van Neel, die auf der durch Napoleons Exil berühmt gewordenen Insel St. Helena den Flughafenbau begleiten sollte, stieß mit ihrem Team bei den Bauarbeiten auf einen immensen Friedhof, auf dem die Überreste von mehr als 9000 versklavten Männern, Frauen und Kindern aus Afrika verscharrt waren, die jeweils wenige Wochen nach ihrem Geraubtwerden aus der Heimat, die viele noch geschmückt mit schönstem Schmuck verließen, die einsamen Felsengruppe im Atlantik nur noch als Leichen erreichten. Über Annina van Neels Kampf darum, den Toten heute wenigstens ein angemessenes Begräbnis und ein ehrendes Angedenken zu verschaffen, gibt es eine packende Dokumentation[vi]. Über Gottes Kampf dafür, die Toten von St. Helena weder im alten oder neuen Grab und auch nicht nur in der Erinnerung zu lassen, gibt es ein noch packenderes Buch: … Es heißt „Die Bibel“.
Und es entwirft für alle, die auf dieser Erde leben und sich regen, eine ganz und gar österliche Landkarte. Auf ihr sind solche Spaziergänge wie der Gang der myrrhetragenden Totensalberinnen[vii] am ersten Ostertag die wichtigsten Wege zu Gottes endgültigem Ziel.
Da aber trennen sich nun die Spaziergänge Goethes und Faustens und die der christlichen Gemeinde: Unsere Wege zielen, wenn sie endgültig den Tag und das Leben suchen, nicht Richtung Sonne, sondern vielleicht nach Verdun, wo meine Familie und ich nach Ostern vergangenes Jahr in der Frühlingspracht standen und den allgegenwärtigen Tod so stark empfanden, dass es schlagartig zu einem Weg wurde, der nur noch und unmittelbar in Gottes Richtung fortgesetzt werden konnte.
Solcherart also sind die Osterspaziergänge des Glaubens:
Die Wege nach St. Helena und Verdun; die Straßen nach Srebrenica und Butscha; die verschütteten und zerbombten Pisten nach Gaza; die Zufahrt zum Kibbuz Be’eri; die verstopften Ausfallstraßen hinunter zur blockierten ägyptischen Grenze bei Rafaḥ … und dann der größte Osterspaziergang, den einer jemals – und er war fern von Israel und Jerusalem, in der Verlassenheit der irakischen Wüste, im völligen Niemandsland – vor seinem geistigen Auge sich vollziehen sah[viii]:
Des HERRN Hand kam über mich, und er führte mich hinaus im Geist des HERRN und stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag voller Totengebeine. 2 Und er führte mich überall hindurch. Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt. 3 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: HERR, mein Gott, du weißt es. 4 Und er sprach zu mir: Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret des HERRN Wort! 5 So spricht Gott der HERR zu diesen Gebeinen: Siehe, ich will Odem in euch bringen, dass ihr wieder lebendig werdet. 6 Ich will euch Sehnen geben und lasse Fleisch über euch wachsen und überziehe euch mit Haut und will euch Odem geben, dass ihr wieder lebendig werdet; und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin. 7 Und ich weissagte, wie mir befohlen war. Und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich und die Gebeine rückten zusammen, Gebein zu Gebein. 8 Und ich sah, und siehe, es wuchsen Sehnen und Fleisch darauf und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen. 9 Und er sprach zu mir: Weissage zum Odem; weissage, du Menschenkind, und sprich zum Odem: So spricht Gott der HERR: Odem, komm herzu von den vier Winden und blase diese Getöteten an, dass sie wieder lebendig werden! 10 Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam der Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und stellten sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer. 11 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, jetzt sprechen sie: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns. 12 Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch ins Land Israels. 13 Und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraufhole. 14 Und ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen, und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin. Ich rede es und tue es auch, spricht der HERR.
Einen solchen Spaziergang nach Hause ins Leben gebe Gott aller Welt:
Vor uns allen Sein Tag und die Nacht für immer hinter uns!
Amen.
[i] Faust, Erster Teil – „Vor dem Tor“, Z. 918ff: Zitiert nach der handlichen Ausgabe: Goethe. Faust - Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust, hgg. u. kommentiert von Erich Trunz, München 1986, S. 35f.
[ii] „Die sieben Raben“ in der Sammlung der „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm.
[iii] AaO, Z. 1073f.
[iv] AaO, Z. 1086f.
[v] Augustinus, Bekenntnisse, 9.Buch 11,28: zitiert nach Augustinus, „Confessiones – Bekenntnisse. Lateinisch/deutsch“, eingel., übers. u. erl. von Joseph Bernhart, München 19804, S. 471.
[vi] „A Story of Bones“ (2021) von Joseph Curran und Dominic Aubrey de Vere (s. https://moviesthatmatter.nl/en/festival/annina-van-neel/) aber auch den Beitrag auf der Homepage des Guardian unter https://www.theguardian.com/world/2024/mar/27/scraping-away-generations-of-forgetting-my-fight-to-honour-the-africans-buried-on-st-helena.
[vii] Unter dem Ehrentitel der Μυροφόροι (Myrrhe-Trägerinnen) werden die Zeuginnen des leeren Grabes seit der Antike in der östlichen Tradition der Orthodoxie verehrt und ihr Gedächtnis wird mit einem eigenen Fest am 2. Sonntag nach Ostern begangen.
[viii] Dieser Text – Hesekiel 37, 1 -14: Eine der gewaltigsten und wirkmächtigsten Grundlagen des innerbiblisch sich entfaltenden Auferstehungsglaubens –, zu dessen Zeugnis die Predigt nur hinleiten kann, zählt zu den Marginaltexten für die Feier der Osternacht.
Karfreitag, 29.03.2024, Stadtkirche, Matthäus 27, 33 - 54, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag - 29.III.2024
Matthäus 27, 33 – 54
Liebe Gemeinde!
Dies also – Finsternis, Erdbeben, unterm Schutt zu Trümmern gewordene Gräber, wandelnde Tote, Apokalypse – … dies also ist beinah das Ende des Anfangs. Beinah der Schluss des ersten Evangeliums, … desjenigen nach Matthäus, das anhebt mit der Formel (Mtth.1,1) „Βιβλός γενέσεως Biblos Geneseos“ – Genesis-Buch, Schrift vom Werdenden.
Dies also ist aus ihm geworden: Ein durstiger Schatten … während im Anfang Sein Heiliger Geist fruchtbar über den Wassern schwebte (vgl.Gen.1,2).
Ein Qualkörper, der durch sauren Essig noch von Innen verätzt werden soll … während die Pflanzen des Ursprungs und alle Wesen, denen Er zu leben bestimmte, ihrer jeweiligen Natur nach doch „sehr gut, sehr schön“ erschaffen waren (vgl. Gen.1,12+31).
Ein letzter Verlassenheitsschrei ist geworden … aus dem Mund, der einst durch das Wort die Fülle herbeigerufen hatte (vgl. Gen.1,3ff).
Tod ist geworden. … Von einer Leiche bekennt ein römischer Vollstrecker posthum die Gottessohnschaft.
Dies also ist – so scheint’s – das Ende jenes Anfangs.
Das selbe Evangelium, dessen Lehre sich durch das wundervolle Portal der Bergpredigt (vgl. Mtth.5-7) auftut, endet mit der vollständigen Zerstörung der einladenden Architektur seiner Seligpreisungen (vgl. Mtth. 5,3ff):
„Selig sind die da Leid tragen“, denn sie schleppen’s, bis sie drunter zusammenbrechen auf ihrer via dolorosa.
„Selig sind die Sanftmütigen“, denn wenn man sie bespuckt, foltert und schindet, dann ertragen’s sie’s willig und stumm, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird (vgl. Jes.53,7).
„Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit“, denn man kann ihnen auf den unstillbar nüchternen Magen zur Gaudi und zum Brechreiz Wein und Galle einflößen.
„Selig sind die Barmherzigen“, denn als Opfer sind sie unersetzlich ideal.
„Selig sind die Friedfertigen“, denn sinnlose Gegenwehr verdirbt den Würfelspielern bloß die Pause.
„Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden“, denn bei den Schuldigen muss man legale Urteilsbegründungen formulieren, aber bei ihnen reicht’s, wenn man sie König der Narren nennt.
Der felsige Hügel Golgatha ist das Ende jenes Anfangs auf dem grünen galiläischen Bergrücken. ——
Die Wucht des vorletzten Kapitels in den Aufzeichnungen des Matthäus, die das Neue Testament eröffnen, ist von buchstäblich biblischem Ausmaß.
Wenn wir gelegentlich in unserer Gegenwart wieder erinnert werden, welche Totalauslöschungskraft an Weltzerstörung der Krieg noch am heutigen Tage entfalten könnte und welche Weltzerstörungskräfte auch in unserm einfach ungebremsten Weiter-so uns morgen oder übermorgen bevorstehen, dann ahnen wir die Dimension der Destruktion, die der Karfreitag darstellt:
Das, was die Welt ausmacht, das Geheimnis des Lebens, der Grund und die Verheißung aller Wirklichkeit werden hier wohl vernichtet. -------
… Natürlich nicht auf den ersten Blick.
Für einen neutralen Zeugen passierte dort nichts, das statistisch irgendeine Relevanz hat.
Dass ein Mensch brutal misshandelt und sadistisch zu Tod gebracht wurde, ergibt weder eine Fußnote der Weltgeschichte noch eine Kommastelle in der Datenmenge der Erdbevölkerung. Es ist historische Alltäglichkeit und durchschnittlichste Wahrscheinlichkeit, dass ein junger Mann aus der Armut eines kolonialistisch besetzten Landstrichs nicht alt und lebenssatt aushaucht, sondern früh, grausam und trotzdem schlicht als Einer unter Vielen gemeuchelt wird. Wenn überall, wo Willkürjustiz, Gruppenkonflikte oder gescheiterte Utopien wieder ein Opfer forderten, die Erde bebte, die Sonne sich versteckte, die Unterwelt in Aufruhr käme … man ist gotteslästerlicher Weise geneigt, mit Heinz Erhardt zu sagen: „Das würde spritzen!“
Schon an jenem Karfreitag, als der dreiunddreißigjährige Sohn Gottes in einer reinen Durchgangsprovinz des römischen Reiches hingerichtet wurde, belief sich sein Schicksal an Ort und Stelle ja bloß auf 33% der zur Einschüchterung und Lähmung effizienten Tagesquote der lokalen Kapitalgerichtsbarkeit. … Andere Mütter hatten an jenem Frühlingsfreitag auch gekreuzigte Söhne!
Was also soll die Aufregung? … Schluss mit dem albernen Tanzverbot aus Anlass eines solchen – wage ich es, Gott ein zweites Mal zu lästern? – „Fliegenschisses“!
So redet die Vernunft. Die informierte, neutrale, reflektierte, analytische Vernunft: Es mag schlimm gewesen sein, aber das ist es immer und überall. … Und also außer für die unmittelbar Betroffenen fast nie und nirgends. Besonders nicht bei uns, die mörderische Schlachten vor der Haustür, reale apokalyptische Szenen in jedem unserer vielen Guckkästen zur Welt vor Augen und eine völlig ignorierte Garantie des eigenen, unabwendbaren Sterbenmüssens als wirkungslose Verschlusssache im Bewusstsein haben und doch mit alledem hervorragend unbeschwert vor uns hin leben, als "wär’ die Welt voll Teufel und wollt’ uns gar verschlingen, doch fürchten wir uns nicht so sehr," denn uns kann das alles mal kreuzweise …….
… Und da habe jetzt nicht ich ein drittes Mal Gott gelästert, sondern wir alle jeden Tag und jede Stunde, die wir doch auch ohne Glauben und Gottesfurcht wissen, dass es eine goldene, den Heiden schon vertraute Regel gibt, nach der, wer nicht helfen und retten will, rettungslos und ohne Helfer bleiben wird.
Zurück aber zur Aufregung der Christenheit an diesem Tag, an dem geschehen ist, was immer schon Alltag war und bleiben wird, bis der Karfreitag endlich die gesamte Menschheit durchdrungen und verwandelt haben wird.
Zurück zur Erschütterung, die einen Matthäus ganz am Anfang gepackt, gerüttelt und gerettet haben muss, der doch das Werden der neuen Wirklichkeit des Reiches Gottes schilderte. Und der vom ersten Wort seines Werde-Buches an, seines Buchs voller Seligkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit und Lebendigmachen wusste, dass er den Rabbi und Richter, den Heiland, den Menschensohn und Messias bis dahin schreibend würde begleiten müssen, wo aus dem himmlischen Wohltäter und Lehrer der wahren Weisheit ein ohnmächtig zugerichtetes, wundgeprügeltes Stück Hilflosigkeit am Galgen werden würde.
Der gleiche Federkiel, der von der Pilgerschaft der morgenländischen Sterndeuter zum neugeborenen König der Juden schrieb (vgl. Mtth.2,) und damit den Anbruch des Reiches aus allen Völkern schilderte, … der gleiche Federkiel musste die antijudaistische Hohn- und Hetztafel nachzeichnen, die Pilatus, der Römer als finale Kränkung des von ihm gedemütigten Friedefürsten in Zion (vgl. Mtth.21,5-9) diktiert hatte.
Matthäus, der die väterliche Stimme Gottes im Lichtglanz des Heiligen Geistes ausgegossen über und strahlend aus dem Sohn bei dessen Taufe und Verklärung (vgl. Mtth.3,16f + 17,5) voll tiefster Ergriffenheit festhalten durfte, musste auch die schwarze Nacht des Endes auf den so hell begonnenen Seiten schildern.
Matthäus, der gewürdigt wurde, das für Menschen doch unaussprechliche, intime Geheimnis zwischen Jesus und Gott selbst in den Worten des Jubelrufes (Mtth.11,26f) zu bezeugen „Ja, Vater; so hat es dir wohlgefallen. Alles ist mir übergeben von meinem Vater; und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn“ … dieser Matthäus, der das Heilsgeheimnis der innersten Kommunikation der zwei Naturen so überliefern durfte, dass ihm die Hand gezittert haben muss, musste auch den Atemstillstandsschrei der Gottverlassenheit des mit Gott einigen Sohnes im Tod dem Papyrus anvertrauen.
Die Liebe, die der Himmel ist und die grauenvolle Furcht, die die Hölle ist: Matthäus kam es zu, sie beide im Bericht von einem einzigen wahren, ungeteilten Menschen fest-zuhalten!
Doch nur so wird aus dem, was bei der Todesstrafe an einem frommen, für Gott freien und befreienden Nazarener Handwerker in Judäa geschah, während der Kaiser Tiberius auf Capri seinen mehr als menschenverachtenden Lastern frönte, der Bericht vom Karfreitag:
Nur, wenn man weiß, dass dieses grauenvolle, unumkehrbar eingerichtete Verhängnis von Golgatha unter den von Matthäus beurkundeten Vorzeichen geschah.
… Der tatsächliche König Israels, der Sohn Davids, … nein, der über alles geliebte Sohn Gottes und Stellvertreter der Menschheit, in dem der Hunger, der Durst, das Elend und die Einsamkeit, die Verlassenheit und der Schmerz aller Geringen, aller Armen, aller Verachteten und Verstoßenen eine unauflösliche Einheit bilden (vgl. Mtth.25,31-46!), der ist dort umgebracht worden! …………
O Gott!
O Jesus!
O Geist des Lebens!
… Es ist also nicht nur die zum Gotterbarmen alltägliche Allerweltgeschichte von Unrecht, Leid und Tod, sondern es ist die direkte, bewusste, hilflose und darin vollständige Verwicklung des erbarmenden Gottes selbst in diese furchtbaren Verhältnisse, die Matthäus hier beschrieb, obwohl sich ihm Herz und Hirn und Hand und Feder und Tinte in ihr gesträubt haben müssen.
Doch eben weil er den Stern kannte, der mit Jesus über allen Menschen aufging (vgl. Mtth.2,2+9f), war es nötig, dass er auch die Sonnenfinsternis nicht verschwieg, die das Leiden Jesu kosmisch darstellt. Weil er wusste, wie Jesus die galiläischen Narzissen auf dem Feld in ihrer mehr als königlichen Schönheit betrachtete (vgl.Mtth.6,28f), bewegte ihn buchstäblich auch das seismische Beben, das eintrat, als der Freund der blühenden Erde an seiner eigenen Lungenflüssigkeit erstickt war und die Unterwelt keine Blüten, sondern nur noch Leichen ans Licht brachte.
Von allen diesen Furchtbarkeiten, von diesen Zeichen der zerstörten Natur, der zerrissenen Ordnungen, der Entblößung und Entweihung bis ins Heiligtum musste Matthäus Zeugnis geben, weil er nur so das abgründig schreckliche und zugleich rettende Geheimnis von Golgatha bis in die letzte Tiefe und Höhe nachbuchstabieren konnte:
Es ist das Ende schönster Hoffnung, strahlendster Wundertaten, unvergleichlich wärmender Liebe, überirdisch zündender Weisheit. Es ist das Ende. …
Aber es ist Gott, Der hier auch bis ins Letzte, an den Schluss, in den Untergang auf dem Weg der Weisheit, der Wunder, der Hoffnung, der Liebe treu bleibt!
O Gott!
Jesus!
Geist!
Dich hat man misshandelt, Dich zerbrochen, Dich zum Verlöschen gebracht: Das, was die Welt ausmacht, das Geheimnis des Lebens, den Grund und die Verheißung aller Wirklichkeit
Darum müssen solche wie Matthäus, solche Freunde Jesu - Christen nennt man sie - ……. darum müssen wir Christen also mitten in aller Betrübnis, allem Mitgefühl, aller Teilnahme am Leid unserer Geschwister auf der ganzen Welt das Karfreitagsleid so unvergleichlich empfinden und erfahren: Der Geist, der Sohn, der Schöpfer selber leidet da das ganze Leid und alles Leid ganz und zuende!
Es ist die Summe, die Totalität aller Schmerzen und Tränen, aller Krankheit, Gewalt und Menschenschuld, die sich da ballt. Es ist tatsächlich von Anfang an und bis zum Abend aller Tage der Tiefpunkt, der Untergang, das Ende allen Lebens da an diesem Kreuz zusammengefasst. Eine unvorstellbar, unergründlich, unerträglich bittere und finstere Querschnitts- und Kreuzeswirklichkeit des Fatalen.
Aber Matthäus hat es aufgeschrieben und sein Bericht steht am Beginn des Neuen Testaments als Eröffnung aller Evangelien, weil diese erdrückende Summe nicht das endgültige Fazit ist!
Der von seiner römischen Zolleinnahme-Stelle aus dem Dienst des Schinderkaisers Tiberius durch Jesus einfach weggerufene Evangelist Matthäus (vgl. Mtth.9,9) weiß zwar, wie atemberaubend groß die Summe des Leids ist, das er da in der apokalyptischen Karfreitagsszene zusammenzählt mit ihren Naturkatastrophen und dem Kollaps der Zeit … wenn der Tag kein Licht mehr kennt und die Toten keine Ruhe mehr.
Doch diese gesamte Unheilsbilanz ist tatsächlich nur der Zähler.
Der Nenner jenes unglaublichen Bruchs – jenes Welt- und Geschichtsbruchs Golgatha –, den der ehemalige Zöllner da festhält, ist ein anderer. Das gesamte Elend, die gesamte Misere aller jemals lebenden Sterblichen, aller je gestorbenen Lebendigen trägt ja ein anderer. Das Ganze liegt auf Einem, Der es wirklich, ungemindert und vollständig erleidet.
Matthäus aber schreibt das Evangelium ja nur, weil dieser Eine – der Nenner dieses Bruchs mit dem unzähligen Zähler – eben trotz der grausamen Wirklichkeit Seines Todes darin nicht zersplittert.
Der Bruch geht auf, weil Der, Der das alles auf sich nimmt, Der ist, von Dem Matthäus von Anfang erzählt hat.
Und wir haben nichts anderes umkreist als dieses unergründliche Wunder, dass man von Diesem auch solches erzählen muss.
Matthäus jedoch, der längst nicht mehr in römischem Sold steht, überlässt das allesentscheidende Wort – das endgültige Nennen des Nenners des unglaublichen Bruches – ausgerechnet einem Söldner der Weltmacht, die auf Golgatha scheitert. So großzügig ist der erste Evangelist in seinem erschütternden Buch des Werdens geworden, dass er den Mörderhauptmann aus der Garnison von Jerusalem die letzte Wahrheit feststellen lässt: Der, auf dem alles Grauen der Welt zusammenkommt, ist Gottes Sohn gewesen!
Weil aber Gott, Jesus, der Geist der Lebendigkeit da am Kreuz der Nenner unter der Summe allen Unheils, allen Leidens, allen Sterbens ist: Deshalb geht der Bruch auf!
Es ist nicht das Ende des Anfangs, sondern der Anfang des Endes!
Es ist nicht gescheitert, was der Schöpfer und Erlöser wollte, sondern es hat die Zerstörung und Vernichtung hinter sich gelassen!
Weil Er starb, aber nicht tot blieb, hebt das Evangelium des Matthäus also eigentlich wahrhaftig erst mit seinem Schlußsatz an, dem sprichwörtlichen „Matthäi am Letzten“, wo wir allerdings das allerletzte Wort anders übersetzen und verstehen müssen, als wir es gewohnt sind.
Der gekreuzigte Sohn Gottes, dessen Tod der Welt und Menschheit Leben ohne Bruch und Abbruch schenkt, spricht (Mtth.28,20): „Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt … ------ eben nicht »Ende«, sondern »Vollendung«, … bis alles geworden ist, wie es sein und bleiben soll!“
Amen.
Gründonnerstag, 28.03.2024, Stadtkirche, Johannes 13, 1 - 14. 34f, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Gründonnerstag - 28.III.2024
Johannes 13 i.A.
Liebe Gemeinde!
Die Fußwaschung verstanden als quasi-sakramentales Wellness-Rezept ist gefährlich.
Die Fußwaschung verstanden als quasi-dänische Hygge-Übung des Gastgebers, der gern Pantoffeln verteilt, damit alle es sich bequem machen können, ist gefährlich.
Die Fußwaschung verstanden als Zeichen der besonderen Gruppen-Zusammengehörigkeit im innersten Kreis der Abendmahlsfeier ist gefährlich.
… So gefährlich wie das ganze Johannes-Evangelium, wenn wir es als das Zeugnis einer besonderen, verschworenen, exklusiven Liebesgemeinschaft verstehen, die kuschelig-vertraut wie in einer freikirchlichen Gemeinde und dabei doch so ausschließlich wie der inquisitorischste Orden nur Vollmitglieder mit lupenreiner Anpassung umfasst.
Wenn die Fußwaschung und die intime Nähe, die sie schafft, bloß das Wohlbehagen, das Hausrecht und das Gruppengefühl der kleinen Jüngerschar symbolisieren, dann sollten wir sie in Zeiten der ausgebleichten und ausfransenden Kirchen nicht mehr meditieren: Zu sehr könnte uns das Wir-Bewusstsein, das Zückerchen der ethischen Sonderrolle, die elitäre Illusion des spezifisch christlichen Liebens und Geliebt-Werdens benebeln. … Zu sehr könnte uns das Gefühl, wie wohl wir’s haben und wie wichtig wir noch immer sind, betören: Wir – die Liebes-Profis Gottes; wir – die Spezialeinheit des christlichen Rettungskommandos. … Herrlich, so ein Erkennungszeichen unserer Erwähltheit; erhebend, so ein Ritus unseres höchstpersönlichen Dabeiseins. ———
Wer so naiv nur das Zeichen der Sondermoral im Dienst und Beispiel des gründonnerstäglichen Christus erkennt, ist selber schon ein nachchristlicher Zeitgenosse, der nur den kameratauglichen TikTok-Moment, nur die inszenierte Harmlosigkeit der tückischen Influencer wahrnimmt, die Opium fürs Volk und Cannabis für die Jugend vertreiben: „Wie süß! Nachmachen!“ …………. ———
Ich wünsche mir, dass wir ein für allemal aufhören, so unwürdig vordergründig von Jesus Christus und der Erlösung durch Ihn zu denken!
Wer Christus, den Erlöser kennt, muss abgründig zu denken bereit sein.
Die Fußwaschung ist schließlich das letzte Tun des Lammes Gottes, seine endgültige Aktion vor der Passion. Der Karfreitag ist ja schon angebrochen als der bald Entkleidete und Gefolterte, der bald Verstümmelte und Ermordete sich noch einmal eine – wo-möglich saubere - Schürze umbindet und mit dem Wasser in der Nacht das blutige Geschehen des bevorstehenden Tages vorwegnimmt. ——
Was er da aber tut, wenn es nicht um Höflichkeit, um Wohlbehagen oder modellhafte Veranschaulichung einer Haltung geht? …….
Ein Gründonnerstag-Albtraum hat mich in den vergangenen Tagen verfolgt.
Ein Albtraum, der der Stunde der Fußwaschung vor den Stunden von Golgatha womöglich näherkommt als die harmlosen Erklärungen sonst.
Ich sehe Jesus, wie man Jesus eben sieht. … Er ist es. … Aber ich will nicht, dass Er es ist. Ich will Ihm in den Arm fallen, … Ihn wegreißen, … Ihn bevormunden, … Ihn nach meiner Vorstellung lenken, nach meinen Maßstäben dirigieren.
Er soll da nicht hinknien und sich so unterschiedslos, … so unkritisch, … so beschämend den völlig Falschen widmen: Ausgerechnet vor den allerletzten Kandidaten für irgendeine andere Ehrbezeugung als echte, aggressive Abwehr hockt Er da und macht sich klein und unmöglich und lächerlich, nein angreifbar und womöglich zum Komplizen.
…. Kann es denn sein, dass Er diese widerlichen Typen nicht kennt, die Ihn verhöhnen und eine einzige Schande und Bloßstellung für Ihn bedeuten???
Er aber ist – weil’s sich ja wirklich um einen Albtraum handelt – für mein panisches Rufen und Eingreifen nicht zugänglich. Ich will es tatsächlich verhindern, …. vielleicht würde ich Ihn sogar schubsen, Ihm die Schüssel aus der Hand schlagen oder zwischen Ihn und diese miesen, abstoßenden Kanaillen treten, wenn ich mich irgendwie rühren, irgendwie bemerkbar machen könnte und nicht gelähmt und vollkommen stumm mit ansehen müsste, wie die feixenden Verbrecher das auch noch sichtlich selbstgefällig annehmen, was einer da in restloser Unterwürfigkeit für sie leistet.
… Kyrill, der Hundesohn von einem Patriarchen, … Trump, der abgebrühte Killer von Wahrheit und Gemeinsinn, … Netanjahu, der besinnungs- und gewissenlose Verräter an den Geiseln und Geiselnehmer einer sowieso verratenen Zivilbevölkerung.
Wieder und wieder sucht mich die Horror-Szene heim, dass Jesus ausgerechnet vor ihnen kniet und diesen eitlen, bösartigen und rachsüchtigen Exempeln der Menschengewalt als dienender und sühnender Messias unterwürfig begegnet.
Und immer wieder will ich es also verhindern, dass Er sich ihnen so ausliefert und sie so behandelt, als wären sie dieser Zuwendung, dieser unmittelbaren Menschenpflege, dieses Hautkontaktes mit Gott auch nur im Entferntesten würdig. …………..
Doch der wahre Albtraum dabei sind meine unterschwelligen, aber kräftig brodelnden Missverständnisse, … meine ganze natürliche Auflehnung gegen das Evangelium von Jesus Christus, dem Sklaven, den Gott in den Einsatz für die ganze Welt geschickt hat.
Wenn ich nicht ertrage, dass Jesus sich hingibt an die Verkehrten, wer sind denn dann nach meiner Vorstellung die Richtigen, … die Rechten, … die Berechtigten?
Wenn ich die unbestreitbar niederträchtigen und unmoralischen Gestalten, die ich in meinem Fußwaschungsspuk vor Augen habe, zwanghaft ausschließen muss vom Liebesdienst und von der Lebensrettung, die Jesus bringt: Welche unbewussten Vorstellungen habe ich dann wohl von denen, die es verdienten, dass Er ihnen Gutes tut und Seine Gnade zukommen läßt?
… Muss man doch besonders sein, um von Jesus die Möglichkeit der Vergebung, der Freiheit und des Lebens zu erlangen?
Ist Er nur den strebend sich Bemühenden, den Gutgesinnten, den Gerechtigkeitssuchenden, denen, die auf der politisch korrekten Seite stehen, gesandt? Ist Jesu ausgegossenes Leben in einen Kanal gelenkt, der nur bestimmten Menschen zufließt? Dürfen an Seinem Brunnen nur die trinken, deren Wohlverhalten ihnen ein Vorrecht unter den Durstigen einräumt? Werden in Seinem Blut, in Seiner Taufe nur milde Fehler und leichte Sünden ausgelöscht? Lebte und starb Er nur für geeignete Kandidaten? ——
Das sind die Fragen, die das sich festsetzende Bild von Jesus zu Füßen der Antipathie-Träger, zu Füßen der Halunken auslöst.
Es sind rhetorische Fragen.
Natürlich sind sie alle mit „Nein“ zu beantworten.
Der Sich in den Staub und Dreck, in die Hässlichkeit und Gemeinheit der Menschen erniedrigte, Der ist nicht als Belohnung für die Braven, sondern als Erneuerer der Verdorbenen und als Aufweicher alles in unveränderlicher Härte Erstarrten und Zementierten gekommen!
Was Er abwäscht, was Er reinigt, was Er verwandelt und neu macht, das sind nicht nur die Schönheitsfehler und Abnutzungsspuren des menschlichen Lebens, sondern es sind die Verkrustungen und Versteinerungen, die lebende Menschen zu Zombies, zu wandelnden Wiedergängern der Menschlichkeit und zu atmenden Trägen der lähmenden Wirklichkeit der Sünde und des Todes machen.
Jesus wäscht diese völlig beherrschende Schicht, die uns auf Schritt und Tritt einhüllt, die sich in alle Poren setzt und jede unserer Bewegung begleitet, von uns ab.
Nicht von denen, die nicht betroffen sind, sondern von den Befallenen.
Indem Er sich bei keinem von ihnen zu schade ist, bei keinem zurückhält, bei niemandem eine Ausnahme macht.
Er erniedrigt sich vor seinen sämtlichen Jüngern und allen anderen, die jetzt nicht verstehen oder missverstehen, was Er tut.
Er erniedrigt sich vor Petrus, dem Hektiker und Wackelkandidaten und wäscht dessen Füße, obwohl Er genau weiß, wie bald dem Petrus diese Beine schlottern, diese Knie zittern werden und seine Zunge - das einzig noch flott beweglich Organ - lügen wird, nur um diese wenige Stunden zuvor von Jesus gewaschenen Füße zu retten, die ihn angeblich nie zum Mitläufer des Nazareners gemacht hatten.
… Jesus wäscht auch die Füße des ihn verzweifelt beschleunigenden Judas, der seinem Meister durch Verrat Beine auf der Bahn zum Sieg machen wollte. … Auch diese Füße wäscht Jesus, die als Erste keinen Boden mehr unter sich haben werden, wenn sie zuckend und haltlos unter dem sich selber Erhängenden den grauenvollen Tanz des Todes aufführen.
… Auch Judas also starb mit gewaschenen Füßen. ———
Ihnen allen … und allen anderen Menschen wäscht Jesus die Erde, den Staub und die Asche, von der sie genommen sind und zu denen sie alle wieder werden müssen, ab. Vor ihnen allen erniedrigt Er sich selbstlos und freiwillig bis ins Letzte.
Bei keinem macht Er eine Ausnahme: Nicht beim Idioten, nicht beim Feigling, nicht beim Ideologen mit unschuldigem Blut an den Händen.
Jesus wäscht das alles bei Allen fort. Das ist Seine Ganzhingabe, Sein Opfer an völliger, rückhaltloser Gnade, für die, die sonst von Fuß bis Kopf, vom ersten Schritt bis zum letzten Atemzug irgendwann ersticken würden an dem, was wir Menschen unfreiwillig, aber ebenso unaufhaltsam an Bösem, an Schlechtem, an Unheil aufwirbeln in unserm Leben. … Das ist Seine reine und in ihrer Reinheit reinigende Liebe.
Es gibt nur eine Einschränkung dabei: Sie wird frei hingegeben. Und kann darum auch nur frei angenommen werden.
Niemand muss sich Jesu Liebe schenken lassen.
Wir können uns wieder mit Asche, Staub und Erde bedecken, beschweren, beschäftigen und ausfüllen lassen, wenn wir wollen.
Wir müssen nicht so leben und sterben und leben, wie Jesus es uns eröffnet.
Es geht auch anders. Denn auch wenn alle durch Ihn gewaschen, d.h. in die Freiheit von Sünde und Tod gesetzt sind, sind doch nicht alle rein: Jesus weiß und sagt es selbst.
Die aber, die von ihm gewaschen und rein sind, das sind diejenigen, die „Teil an ihm haben“. …
Dieser Begriff, dessen unergründliche Bedeutung uns zurecht vermutlich überfordert, findet sich ganz unauffällig in Jesu Erklärung für den begriffsstutzigen Petrus: „Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil an mir.“
Noch einmal langsam und positiv: „Wenn ich dich wasche – und du nimmst diese Gabe, diese Taufe, dieses, Mein für dich hingegebene Leben, Mein Opfer an –, … dann werden wir verbunden. Du bist dann beteiligt an Mir und Ich an dir.“
Beteiligt sein an Jesus; Beteiligung an Seinem Leben, Seiner Liebe, Seinem Geben und Seiner Hingabe … das ist der Gegenbegriff zur freien Ablehnung der Fußwaschung, zur Rückkehr zum Suhlen im Schlamm der alten Wege.
Diese Jesusbeteiligung, diese Jesus-Anteile unserer eigenen Wirklichkeit und Wirksamkeit werden nun aber in der Feier des Abendmahls besiegelt: Wenn wir das dabei nämlich freiwillig und aus Überzeugung tun – Jesus wirklich und wirksam in uns aufzunehmen! –, dann gehen wir andere Wege und leben ein anderes Leben als ohne Ihn.
Was Er uns gegeben hat in Seiner totalen Hingabe bei der Fußwaschung und in der Einladung, diese menschliche Hingabe im Brot und Wein immer wieder bewusst zu empfangen und sie zu einem organischen Teil unserer selbst werden zu lassen, das wird und das muss uns verändern!
… Auf Dauer können wir nicht harmlos oder oberflächlich als Christen, die Christus-Teile sind, leben. Auf Dauer können wir nicht nur unser Wohlbehagen oder bloß nette, typisch christliche Eigenschaften in dem erblicken wollen, was der kniende Gott, was der dienende Gott, was der demütig liebende und Leben rettende Gott da tut.
Es ist mehr: Es ist das Beispiel – und „Beispiel“ bedeutet biblisch hier nicht einfach Anregung, sondern den Bauplan und das unumstößliche Vorbild[i] – einer radikal anderen, einer völlig neuen, einer durch die göttliche Bereitschaft zum Sterben erst lebensfähig werdenden Weltordnung der Liebe! ——
Albträume wie meiner von Jesu unterschiedsloser Erniedrigung und Zuwendung zu den vermeintlich Verkehrten müssen sich da irgendwann auflösen wie die Nebel der Nacht.
Wenn wir dem Beispiel Seiner Liebe entsprechen, wenn wir Teil an Ihm haben, dann werden sich unsere Instinkte und Vorurteile, aber auch unsere Vernunft und deren Maßstäbe von Seiner völligen, von Seiner reinen Liebe aufweichen lassen.
Denn gerade in Zeiten des Hasses ist das das einzigartige Geschenk Jesu Christi an die ganze Welt: Dass in Ihm und durch Ihn in den Seinen keine Einschränkungen gelten. Ein exklusives Verständnis der Liebe als einer Gruppenhaltung, einer auf die eigene Art oder Geschwisterschaft oder Gemeinschaft bezogenen Vorzugsbehandlung muss uns vergehen.
Und am Vorabend der morgigen Sonnenfinsternis in Seiner Todesstunde müssen wir von unserem Gott im Dreck, von unserem Gott, Der Seine Liebe allen zu Füßen legt, das Sonnengleichnis lernen, das Er selber uns aufgegeben hat (Matth.5,44f): „Liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute.“
Das ist das Beispiel, zu dem uns das Abendmahl zurüstet, in dem wir Teil an Jesus er-halten. … An Ihm, Dem der Vater alles in die Hände gegeben hat.
Möge diese Mahlfeier, dieser Gründonnerstag, möge der morgige Karfreitag und das Wunder des kommenden dritten Tages uns schenken, was der Herrnhuter Brüdergemeine einst ebenfalls durch eine Abendmahlsfeier geschah: „Wir lernten lieben“, heißt es in ihren Aufzeichnungen vor 297 Jahren[ii].
Wir, die Christenheit in der gespaltenen Welt von heute, müssen das auch.
Universal.
Jetzt.
Durch Ihn.
Amen.
[i] Vgl. die hervorragende, bündige Übersicht über die innerbiblischen Rückbezüge des für Johannes einmaligen „Beispiel“-Begriffes bei: Hans Rapp, Das Sakrament der Demut, zugänglich unter https://www.bibelwerk.ch/d/m68985
[ii] Von der am 10. und dann wieder besonders am 13. August 1727 spürbaren Geistbewegung und Erweckung in Herrnhut zeugen die Losungen an jedem 13.August bis heute. Eine Beschreibung der Ereignisse findet sich z.B. bei Erich Beyreuther, Zinzendorf und die sich allhier beisammen finden, Marburg an der Lahn, 1959, S.202ff. Der Eintrag in den Annalen blickt auf die Nachwirkung der denkwürdigen Abendmahlsfeier vom 13.August mit den Worten: „Wir brachten hierauf diesen und die folgenden Tage in einer stillen und freudigen Fassung zu und lernten lieben“ (aaO, S.204).Nichts anderes kann das Programm der christlichen Kirche heute, in der Zeit des Hasses sein,
Judika, 17.03.2024, Stadtkirche, 2. Mose 34, 4-6 u. Mark.10,35-45, Dr. Uwe Vetter
Kaiserswerth Stadtkirche
2.Mose 34, 4-6 und Markus 10, 35-45
Passionszeit.
“The Big Five”
____________________________________
AT-Lesung (Predigttext) Exodus 34: 4-6
Nachdem Mose die beiden Steintafeln mit den zehn Geboten zerbrochen hatte, im Zorn über seine Landsleute, die einen Tanz uns Goldene Kalb aufgeführt hatten, besänftigte der HERR seinen Knecht (Ex34,1). Und Mose hämmerte (noch einmal) zwei steinerne Tafeln zurecht, (so) wie die ersten waren,
und stand am Morgen früh auf und stieg auf den Berg Sinai, wie ihm der HERR geboten hatte,
und nahm die zwei steinernen Tafeln in seine Hand.
(5) Da kam der HERR hernieder in einer Wolke,
und Mose trat daselbst zu Ihm und rief den Namen des HERRN an.
(6) Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber,
und Mose rief: „HERR (JHWH), HERR (JHWH), Gott (Elohím) – was bist du
barmherzig, und
gönnend, und
zögernd-im-Zorn, und
sehr großzügig, und
treu !“
(1) Judica me, beurteile mich, richte mich, Gott! Das ist der Psalmvers, der unserm Sonntag heute den Namen gibt. Gib mir ein ehrliches Feedback, mein Gott, das mich aufrichtet. Mach richtig, was schiefläuft. Darum geht es in der ganzen Passionszeit: Wir suchen jetzt mit Leidenschaft, nach dem, was Not und Leiden schafft. Und damit das nicht runterzieht, sondern bessern hilft, tun wir Christen das mit Gottes Hilfe.
Unsere Bibelszene heute ist eine große Hilfe. Uns wird erzählt, wie sich die Jünger Jesu in die Haare kriegen über die Frage, wer der Größte ist im Team, und wie unser Herr interveniert, modellhaft. Geben Sie gut Acht.
Markus 10, 35-45
Da machten sich Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, an Jesus heran und sprachen: „Meister, wir wollen, dass du uns eine Bitte erfüllst“. (36) Er sprach zu ihnen: „Was wollt ihr, dass ich euch tue?“ (37) Sie sprachen: „Gib, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken, in deiner Herrlichkeit.“ …
(41) Als die anderen aus dem Zwölferkreis das hörten, wurden sie wütend über Jakobus und Johannes. (42) Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: „Ihr wisst doch, wie die weltlichen Fürsten ihre Völker unterdrücken, wie die Mächtigen ihnen Gewalt antun. (43) So soll es unter euch nicht sein! Sondern: Wer ´groß` sein will unter euch, der sei euer Diener; (44) Und wer unter euch der Erste sein will, der sei der Knecht aller.“
(2) Was haben die Jünger sich aufgeregt! Hinter unserm Rücken bei Jesus um die besten Plätze im Himmel schachern - un-ver-schämt! haben sie geschäumt. – Man kann´s ihnen nicht verdenken: Jakobus und Johannes wirken ein wenig wie deutsche (Klischee)Urlauber, die frühmorgens die Liegen am Hotelstrand mit Handtüchern reservieren und dann erstmal gemütlich frühstücken. Zur Rechten und zur Linken Jesu, das sind die Ehrenplätze, mehr noch, da sitzen die engsten Berater, auf die der Chef hört. Die andren Jünger sind außer sich.
Die Frage ist: Warum eigentlich? Wollten sie etwa selber gerade … und sind einfach zu spät gekommen? Hielten sie die beiden Zebedäussöhne für zweite Wahl, im Unterschied zu sich selbst? - Ich las neulich, dass 80% aller Deutschen unter dem above-average-syndrom litten. Das above-average-syndrom meint das Gefühl, selbst doch etwas besser als der Durchschnitt zu sein. Jürgen Becker, Kabarettist, meint, dies sei das Kennzeichnen des Rheinländers. Sei´s wie es sei, die Frage ´Wer ist der Größte` begleitet uns ständig: Wer ist der Größte, der Erste, der Beste?
° Wer wird befördert (und wer nicht)?
° Wer legt in Umfragen zu?
° Wer hat die meisten ´likes`, die meisten followers im sozialen Netzwerk?
° Wer wird Weltmeister?
° Wer ist die Beste des Abiturjahrgangs und hat bei der Jobsuche die Nase vorn?
° Wer hat das Sagen, wer darf sich was erlauben, wer nimmt sich was heraus, wer weiß sich am besten zu verkaufen, … wer ist der/die Größte? …
(4) Unter den Jüngern Jesu gärte es, schon seit Längerem (Markus9,34). Als Jakobus und Johannes sich an Jesus ranmachen, liegen die Nerven blank. Wer ist der Größte? Entscheide das jetzt!
Interessanterweise wischt Jesus die Frage nicht beiseite. Er macht auch nicht auf egalitär: ´Meine Lieben, alle sind groß, irgendwie. Wir wollen doch niemanden ausgrenzen! Und auch nicht traumatisieren! Therapieplätze sind rar`… nein, das sagt er nicht.
Im Ernst, ich kenne kein Verbot des Herrn, das Wettbewerb verbietet. In der Bibel gibt es sie, die Bewährten (Zaddiqim) und die Vorbilder. Wer jedem und jeder in der Schulklasse eine Ehrenurkunde verleiht, auch den notorischen Turnbeutelvergessern und den wasserscheuen Nichtschwimmern, kann man sich nicht auf Jesus Christus berufen. In der Bibel heißt es: Ehre wem Ehre gebührt (Römer 13,7).
(5) Doch als Jesus interveniert, gibt er der Frage: ´Wer ist der Erste`, eine bedeutsame Wendung: Was heißt eigentlich „groß sein“, „der Größte sein“? Wenn wir uns die Großen der Welt ansehen, dann ist doch klar, was deren Maßstäbe sind: Die Fürsten der Welt halten sich mit Skrupellosigkeit an der Macht, seht doch, wie sie ihre Völker unterdrücken!` sagt Jesus. Was den Mächtigen Macht verleiht, ist die Angst, die sie verbreiten. Was entscheidet darüber, wer der Größte ist?
(6) Die Idee mit der Pistole entschied das Rennen, las ich vor Jahren in der Zeitung[1]. Der Artikel handelte vom Siegeslauf der Assessment-Center. Dreiviertel aller größeren Firmen schalten Assessment-Center ein, um für gehobene Jobs die besten Bewerber aus der Menge herauszufiltern. Wer ist der Beste, die Vielversprechendste, der Größte unter den KandidatInnen? Neben Zeugnissen, Präsentationen und Auswahlgesprächen gehören auch Rollenspiele zur Prüfung. Und dieses Rollenspiel ging so: Eine Gruppe mit sechs KandidatInnen bekommt eine Aufgabe. ´Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einer Höhle eingeschlossen, Wasser dringt ein, nur einer kann gerettet werden. Klären Sie in 30 Minuten untereinander, wer von Ihnen überleben soll`. Die Gruppe diskutiert ´weiche` Kriterien – also wer hat Familie, oder wer ist die Jüngste und hätte noch die längste Lebenserwartung? Da zieht der spätere Gewinner des Tests eine imaginäre Pistole und erzwingt sich mit vorgehaltener Waffe den Weg zur Rettungskapsel. Im Artikel heißt es: „Solche Tatkraft überzeugte den Arbeitgeber“. Der junge Mann war der Größte und bekam die Stelle.
(7) Das ist nicht fair! werden Branchenkenner sagen. Solche primitiven Tests sind die Ausnahme. Es gibt auch seriöse Verfahren. - Die gibt es wirklich. In vielen Assessments wird mit wissenschaftlicher Sorgfalt und gut durch-dachter Eignungsdiagnostig nach den Größten unter den BewerberInner gesucht. Da wird alles versucht, auch den stilleren Kandidaten die Chance geben, ihre Stärken zu zeigen.
Obwohl kein Job wie der andre ist, obwohl jede Stelle spezifische Anforderung stellt, haben sich dabei doch fünf Persönlichkeitsmerkmale herauskristallisiert, fünf Merkmale, die einer haben soll, wenn er/sie vorn dabei sein will. Die „Big Five“ werden sie genannt, die großen Fünf : Es braucht
emotionale Stabilität (kein Weichei, nicht hysterisch, kann was ab),
Offenheit (sagt was er denkt, man weiß wo man mit ihm dran ist),
Gewissenhaftigkeit (arbeitet, bis ein Job erledigt ist, ist privat flexibel),
soziale Verträglichkeit (ein Team Player, keine Primadonna; achtet auf Körperhygiene), und
„Extraversion“ (kein brummliger Eigenbrödler, geht aus sich heraus, hat etwas Gewinnendes).
Das sind die „Big Five“. Das ist das Holz, aus dem die Größten geschnitzt sind.
(8) An und für sich ist gegen die Big Five nichts einzuwenden. Nützliche Eigenschaften sind es, die helfen, eine Abteilung zu leiten, Personal zu führen, koordiniert zu arbeiten. – Die feine Grenze aber verläuft dort, wo sich Sekundärtugenden an die Stelle von Primärtugenden schieben. Wenn nützlich gleich groß bedeutet. Wenn also das, was Menschen für das Unternehmen verwendungsfähig und im Marktgeschehen profitabel macht, gleichgesetzt wird mit dem, was Größe ausmacht.
(9) Wenn das geschieht, dann setzt das große Artensterben ein. Das Sterben der Originale. Das Sterben der Einzigartigkeit. Und vor allem das Sterben der traditionellen BigFives unserer westlichen Zivilisation. Fragte man die antiken Philosophen: Was macht die Größe eines Menschen aus? dann sagten °die Griechen: >kalós k´agathós<, das Schöne und das Gute erhebt den Menschen. °Immanuel Kant lehrte: Wenn du groß sein willst, dann handle so, dass dein Tun zum Gesetz für alle Menschen werden könnte[2]. Meine Großmutter hatte immer zwei °Goethe-Sprüche parat: >Tue Recht und scheue niemanden; edel sei der Mensch, hilfreich und gut<. Das ist Maßstab für Größe, das sorgt für Persönlichkeitsentwicklung. – Und es gibt längst Assessment-Vertreter, die das selber so sehen! „Im Assessment-Center wird zuwenig auf Werte geachtet,“ meinte einer nachdenklich (Christoph Obermann, SZ). „Wofür steht jemand? Wie reagiert er in korrumpierenden Situationen?“ In unseren Verfahren „werden narzisstische Persönlichkeiten ausgesucht,“ fügt ein andrer (Heinz Schuler, SZ) hinzu, „Menschen mit hohem Selbstvertrauen, die andere für sich einnehmen …und eine hohe Risikobereitschaft haben, die weit über ihre eigenen Fähigkeiten …hinausreicht“. Wenn man das Nützliche unbesehen mit einem Wert gleich setzt, und das immer wieder hört und nachspricht, dann fängt man an, daran zu glauben[3]. „Auf die Dauer nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an“, beobachtete der römische Philosoph und Staatsmann Marc Aurel. „Auf die Dauer nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an“.
(10) Wer ist der Größte? – In den Kirchen glauben wir: Der Größte ist keiner von uns. Der Größte ist Gott, der Vater Jesu Christi. Der setzt Maßstäbe. Der definiert Werte. Und weil nur Er Gott ist, dürfen wir andren alle Menschen sein, das entlastet. Liefert Gott aber die Messlatte, dann lohnt es sich, immer mal wieder an die BIG FIVE Gottes zu erinnern. Denn dieser Gott hat Seine eigenen BIG FIVE. Erinnern Sie sich (an die Schriftlesung Ex 34)?
Der HERR ging vor Moses Angesicht vorüber, und Mose rief aus: „HERR (JHWH), HERR (JHWH), Gott (Elohím) – was bist du barmherzig und gönnend und zögernd-im-Zorn, und sehr großzügig und treu!“ Das sind die Persönlichkeitsmerkmale Gottes. Mit diesen BIG FIVE hat der HERR das größte und weiter expandierende Unternehmen gegründet, das Universum. Mit diesen BIG FIVE führt ER den Personalpool der Menschheit. Mit ihnen gibt ER bench marks vor, an denen wir uns aufrichten und messen und auf die wir uns besinnen. Die BIG FIVE Gottes sollte der Mensch im Kopf haben, als Tönung der Gedanken. Denn auf die Dauer nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an.
(11) Nur der Vollständigkeit halber noch eins: Wir sollten das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Wir sollten die BIG FIVE Gottes nicht gegen die kleinen BigFive ausspielen: unsere guten Gaben, unsern Schneid und Einfallsreichtum, unsern Humor und unsere Selbstironie, unsere Ehrlichkeit und unser tägliches heimliches Heldentum – wenn die sich nicht aufblasen, sondern Gott helfen, die Welt zu einem guten Ort zu machen, dann sind sie aller Diener.
Amen.
Fürbittengebet
Gott des Himmels und der Erde, Erfinder des Lebens, Richte uns aus und richte uns auf, an diesem Sonntag!
Wir bitten Dich für alle, die all die Sorgen der Welt, die deprimierenden Nachrichten für eine Weile vergessen möchten. Lass uns das Geschirr ablegen und den Sattel abwerfen. Lass uns so sein, wie wir auch sind: müde und unüberlegt, heiter und unvorsichtig. HERR, segne uns mit Deinem Geschenk dieses Sonntags.
Wir bitten Dich für alle, „stillen Wasser“, die sich nicht gut vermarkten können, Für alle, die nicht zu den Forschen gehören, die von andren oft einfach eingeplant werden und mit denen ungefragt gerechnet wird, die sich im Schatten wohler fühlen als im Licht – HERR, lass wenigstens Du Dein Angesicht über sie leuchten.
Und wir bitten Dich für alle, die sich präsentieren sollen, die sich bewerben und anbieten und sich abschätzen lassen – HERR, lass sie auf Menschen treffen, die sich selbst nicht für die Größten halten, die Achtung und Vorsicht walten lassen. HERR, färbe ihre Gedanken.
Und wir bitten Dich für alle, die irgendwie „unpassend“ wirken: für die Originale und die Vierschrötigen, für die heimlichen Genies und die gedankenvollen Schweiger, in die man nicht hineinschaut – HERR, schenke uns eine Prise von Deiner Lust an allem, was kreucht und fleucht.
Amén.
[1] Süddeutsche, 3.Februar 2010, „Schwätzer bevorzugt. Viele Firmen wählen Mitarbeiter im Assessment-Center aus – doch das befördert vor allem Selbstdarsteller“. Von Nicola Holzapfel
[2] Frei nach dem traditionellen rabbinischen Lehrsatz Jesu Christi : „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch. Das ist die (Summe der) Thora und der Propheten“ (Bergpredigt MatthEvg 7:12)
[3] Das Buch von Jack Welch, dem legendären C.E.O der Weltfirma General Electric, (Titel „Winning“) ist ein Musterbeispiel dafür, das Marktphilosophie zur Religion werden kann.
Laetare, 10.03.2024 - Einführung der neuen Presbyterinnen und Presbyter, Stadtkirche, Lukas 22, 54 - 62,Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Lætare –10.III.2024
Lukas 22, 54 - 62
Liebe Gemeinde!
… Das tut mir echt leid! Ausgerechnet heute, beim Dank für und beim Eintritt in den Dienst der Presbyterin und des Presbyters … ausgerechnet heute also mit diesem Archetypen, diesem Alpha-Modell aller Presbyter konfrontiert zu werden, ist - vorsichtig formuliert – tatsächlich was für den Sportsgeist. …
Nicht bloß, weil selbst wir Evangelischen Petrus beinah unwillkürlich als Premieren-Papst einsortieren, während er selbst sich in seinem Brief an alle Ältesten, alle Gemeindeleiter wendet und dabei ausdrücklich ihren „Mitpresbyter“ nennt (vgl.1.Petrus 5,1), … nicht bloß wegen dieser Petrus-Kollegialität ist die Last und Kragenweite eines mit dem Ur-Apostel geteilten Amtes ziemlich groß.
Allerdings: Mitpresbyterinnen und -presbyter des Papstes Numero Uno zu sein, heißt inzwischen ja wohl v.a. einen ziemlich heißen Stuhl innezuhaben, an dem viel Dreck klebt und auf den viel aggressiv antireligiöser Schmutz geworfen, ja gekübelt wird. Die in Verschiss geratene christliche Gemeinde in nachchristlicher Zeit zu leiten, ist eher nichts für Feiglinge oder Sonnenbank-Naturen, die es gern warm und ansehnlich mögen. Mitpresbyterinnen und Mitpresbyter in der Gemeinschaft zu sein, die seit zweitausend Jahren den Namen Jesu und das Kreuz Jesu und das Leben Jesu in Ewigkeit hochhalten, mit Herz und Mund und Tat und Leben bezeugen und von ganzer Seele und mit allen Kräften zu Ehren und Verehrung bringen will, … das ist kein Pappenstiel und Kinderspiel. Sondern großer, verantwortungsvoller, befreiender und todüberwindender Ernst.
… „Salute!“ dazu, wie man anerkennend und aufmunternd an dem Ort sagen würde, an dem der Mitpresbyter aller Gemeindeleitungen sein Leben einsetzte und verlor … und durch seinen auferweckten Herrn wiedergewann. „Salute!“ ——
Aber mit den ehrwürdigen Fußtapfen und der spürbaren Verantwortung ist es ja nicht getan, wenn wir heute mit einer Mischung aus Respekt und Besorgnis auf die gucken, die unter dem neutestamentlichen Titel „Presbyter“ der Gemeinde den Dienst ihrer Zeit, ihrer Weisheit, ihrer Fürsorge, ihrer Gaben, ihres Glaubens, ihrer Inspiration zur Verfügung stellen.
Das, was einem wirklich Muffensausen machen kann, ist nicht die hierarchische Stellung des Fischers aus Kapernaum, der alle gleich zu Verabschiedenden und Einzuführenden - kumpelhaft wie er war - „Mitpresbyter“ heißt. Gegen Vorrang und Würde irgendwelcher Autoritäten sind evangelische Christen (inzwischen) weitgehend gleichgültig, … und rheinische nun gar sind dagegen beinah immun: Ein gutes Dutzend Leute im Rat und geschäftsführende Komitees halten sie für das Organigramm des Karneval.
Aber was niemanden kalt lassen kann, ist nicht das Privileg des Petrus, sondern seine Pleite.
Petrus, der Pionier christlicher Jüngerschaft ist zugleich der Prototyp des Flops in der Nachfolge.
Er schlich hinter seinem Herrn und Freund am Anfang von dessen Ende zwar her und er hätte erleben dürfen, wie dieser sein Heiland, ja, wie Gott selber alles annahm, alles ertrug, alles bis in den Tod aushielt um der Menschheit willen, … aber ehe es so weit war, folgte bei Petrus schon nichts mehr. Sein Puls und seine Panik waren stärker als Treue und Vertrauen: Er kam ins Stottern, der lebenserhaltende Instinkt der Lüge siegte über die Wahrheit und er versagte. … Sprach und versagte!
Und das ist der Gipfel seines Elends! Nicht mal schweigend, sondern redend – in galiläischer Mundart, in Jesu Dialekt also, dem Herrn im Tonfall zum Verwechseln ähnlich! – hat Petrus die Sache Jesu torpediert.
„Si tacuisses“, sagt bei so was der Lateiner: Wenn Du immerhin die Schnauze gehalten hättest, wäre Deine Bindung an Deinen Berufer und Erlöser vielleicht ge-rade noch so gerade geblieben ……. trotz Deiner vollen Hosen! Aber weil Du selbst im Scheitern labern musstest, ging und wurde alles schief, Du Großmaul des Kleinglaubens.
Weil Du die Luft nicht ein Mal anhalten konntest, sondern Dein eigenes vermeintliches Nicht-Sein rausposaunen musstest, wirst Du als Verleugner Deiner Wahrheit und darin als der Verleugner des Weges und der Wahrheit und des Lebens für alle (vgl.Joh.14,6!) während der gesamten Geschichte der Kirche in Erinnerung bleiben.
Petrus, vorlaut, forsch und vordergründig bis zum Schwachsinn kann die Zunge nicht im Zaum halten.
Statt eine anklagende Anfrage einfach stehen zu lassen – eine Anfrage, auf die wir noch zu sprechen kommen müssen, weil sie auch uns fordert –, hat er den theologisch nihilistischsten Satz gesagt (wenn Nihilismus denn steigerungsfähig sein sollte), den es geben kann. Bedenken wir: Gott heißt „ICH BIN“ (2.Mose3, 14); und Petrus kontert, als er nach Gott und ihm gefragt wird, wie aus der Pistole geschossen: „Ich bin’s nicht!“ ——
… Nein, Du bist nichts, Petrus! … Nichts bist Du ohne Gott! ———
Das aber, was uns hier begegnet im fernen Flackerlicht des Bühnenrands der Nacht des Leidens Jesu, … das ist nun nicht nur das Drama oder die Tragik derer, die Petrus später als seine Mitpresbyter bezeichnen wird, sondern das ist die Sein-oder-Nicht-Sein-Frage der gesamten Christenheit, … aller, die nach Petrus das Bekenntnis ablegen: „Jesus, Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Matth.16,16).
Ist das ein Wort, zu dem wir stehen?
Oder stößt man auch bei uns ins Nichts, stößt man auf unser Nichts-Sein, wenn man uns danach fragt? …….
Luft-Anhalten.
… Lieber Schweigen, als jetzt Unsinn quasseln.
… Möglicherweise ja auch ganz ehrlich schweigen.
Ehe wir ein geheucheltes Bekenntnis nachsprechen, ist das Offen-Gelassene immerhin ein Raum, in den wir hineinwachsen können, … in dem andere sich und ihren fragenden Glauben entfalten könnten, … ein Raum, in dem sich mein und Dein Glauben begegnen können als jene Art von Glauben, die Unglaube ist, dem geholfen werden muss, ……. weil ihm geholfen werden kann (vgl.Mk.9.24!), wenn der glaubensunfähige Glaube sich einzeln oder besser noch gemeinsam an Jesus wendet und an Jesus hält.
Von Petrus’ bitterer Bauchlandung zu lernen, sich zu ihm, unserm Mitpresbyter, unserm Mitchristen in seiner Schande zu stellen, bedeutet, den Wert des Aushaltens und Ausharrens in den Jesus-Verlegenheiten, in der christlichen Überforderung, in den Rätseln des eigenen Glaubens zu erfahren.
Wenn wir nach Jesus gefragt werden, ist nicht unser Selbsterhaltungstrieb gefragt, der uns zur Lüge reißt.
Wo Jesus fraglich ist und folglich wir es sind, da ist nicht die spontane Antwort die beste: Die dient fast immer entweder unserer Selbstbehauptung, unserer Selbstverteidigung oder unserer Selbstdarstellung … da, wo wir als Follower Jesu auf mehr „Likes“, auf Zuspruch und auf Beifall rechnen können.
Wenn wir nach Jesus gefragt werden – und wir können in einer so ahnungslosen, Gottes-vergessenen, Religions-müden, Kirchen-skeptischen Zeit nur hoffen und beten, dass wir nach Jesus gefragt werden!!! – , … noch einmal also: Wenn wir nach Jesus gefragt werden, dann soll nicht der Reflex, sondern die Reflektion antworten!
Nicht die instinktive Witterung, was jetzt wohl passt und nützt, soll uns dann leiten, sondern die pietätvolle und empathische Erinnerung an den Ersten in unserer Reihe:
Er hatte sich schon verrannt in seinem kämpferisch-großkotzigen Eifer, mit Jesus - wenn er gleich sterben müsste - ins Gefängnis und in den Tod zu gehen (vgl.Mk.14,31 / Lk.22,33), … und genauso verrannte er sich in seiner kreatürlichen Angst, die einfach nur den eigenen galiläischen Dickschädel aus der sich zusammenziehenden Karfreitags-Schlinge retten wollte.
Wer aber nun wie wir in der Nachfolge dieses Bekenners und dieses Verleugners Petrus steht, der soll von Jesus und zu Jesus nichts sagen, das mit „Ich bin“ anfängt – z.B. „Ich bin mir völlig bombensicher“, denn auch Paulus sagt da, wo wir ihn immer mit „Ich bin gewiss“ zitieren (vgl. Rö.8,38), wörtlich: „Ich wurde überzeugt; ich wurde gewiss gemacht“. Wir sollen die Jesus-Frage also nicht mit markigen „Ich bin“-Sätzen beantworten, und umgekehrt erst Recht natürlich auf keinen Fall mit teigig-wabbeligen „Ich bin’s nicht“-Sätzen, in denen wir uns selber auflösen wie das Häufchen Elend, das ein begeistert streunender und Menschen suchender Fischer war und ein Presbyter und Papst erst noch werden sollte.
Wir Christenmenschen sollen die Frage nach Jesus nicht mit irgendwelchen großspurigen oder kleinlauten Privatsätzen, sondern mit reinen, einfachen Jesus-Sätzen oder mit Sätzen für alle Menschen beantworten!
Das sollte der Maßstab unseres Zeugnisses als Gemeinde und unseres Dienstes in ihr sein: Es geht um Jesus und die Menschen.
Er muss wachsen (Joh.3,30) – so haben’s uns schon die Fliedners mitgegeben – und alle Völker, alle Zeiten, alle Welt soll zu Ihm kommen und in Seinem Namen das Heil finden (vgl. Apg.4,12).
Das ist alles, was zählt.
… Und also sind da wir und unsere Privatmeinung, … wir und unser einzelner Dienst, … wir und unsere Gewohnheit – und das heißt auch: Wir und unsere Gemeindegewohnheit! – nicht das Wesentliche!
Hätte Petrus doch nur einen Satz mit „Du“ gewagt, als ihn die neugierigen, hämischen, bedrohlichen Stimmen nach der Verbindung zwischen Jesus und ihm fragten. Er hätte ja die reine Wahrheit dort im Hof des Hohenpriesters gesagt, wenn er der Magd und dem Gaffer und dem Spitzel, die ihn alle fragten, ob er nicht mit Jesus gewesen sei, geantwortet hätte: „Dreh’ Dich um! Du bist doch auch mit ihm hier!!! … Da steht er doch hinter Dir. Da steht er - weil er hinter Dir steht! - vor dem Richter.“
Kurzum: „Wer Du auch bist, die oder der mich hier fragt: Der, nach dem Du mich fragst, ist auch mit Dir!“
Das wäre eine Antwort auf die Jesus-Frage, die womöglich mehr als jedes eifrige individuelle Bekenntnis auslösen würde, und allemal mehr auch als ein vorsichtiges Schweigen.
Es ist aber auch alles, was wir zur Zeit sagen können und sollen: Dass Jesus bei den Menschen ist, weil Er für sie ist, … weil Sein ganzes Wesen und Sein ganzer Weg und Seine ganze Wirkung dieses Für-Andere-Dasein, dieses Mitmensch-Werden, dieses Mitleid-Haben, dieses Mit-uns-in-Tod-Gehen-damit-wir-nicht-verloren-werden sind.
Jesus ist das große, ursprüngliche, erlösende, ewige „Mit“, das Gott und Mensch verbindet
Jesus ist mit allen, die uns nach Ihm fragen, weil Er selbst die Verbindung zwischen Gott und allen schafft. Er ist in Person die nicht weichende Gnade, wo alle Berge und Hügel stürzen, … Er in Person ist der Bund des Friedens, der nicht hinfallen wird, sondern für immer besteht (vgl.Jes.54,10).
Und deshalb ist er zuletzt auch unsere Hoffnung auf eine Antwort auf die Jesus-Frage in der Ich-Form.
Es ist vermessen, sie für uns selbst heute schon zu beantworten: Ob wir ebenso bei und mit Jesus sind, wie Er mit uns, ob wir Ihm so verbunden bleiben, wie Er uns bis in Seinen Tod … das können wir alle noch nicht sagen und behaupten, sondern nur hoffen und wünschen.
Weil wir aber heute päpstlich-presbyterial begonnen haben, schließen wir vielleicht auch genauso mit Blick auf ein vermeintliches Spitzenamt, das zwar niemandem von uns heilig, aber hoffentlich doch ernst ist.
Um die zu Lebzeiten von uns selbst nicht zu gebende Ich-Antwort auf die Frage nach unserem Jesus-Verhältnis hat sich eines unserer Staatsoberhäupter – zu einer Zeit, als Bundespräsidenten noch nicht aus der Kirche ausgetreten zu sein pflegten – Gedanken gemacht.
In Wuppertal nannte man ihn den „Bruder Johannes“, weil er als fliegender Buchhändler in einem frommen Barmer Traktat- und Bibelgeschäft anfing. Gestorben ist er, nachdem er das höchste Amt in unserm Staat bekleidete er in Berlin und liegt dort auch auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof begraben.
Er wird selbst gewählt und selbst gewusst haben, was auf dem Grabstein steht:
Die Anklage, mit der der erste Presbyter der Kirche nach seinem dummen Reden zum noch dümmeren Schweigen und dann zum Heulen gebracht gebracht wurde.
Diese schwebende Frage des heutigen Tages, die nur beantwortet werden kann, weil wir glauben dürfen, dass Jesus mit uns ist und wir darum auch hoffen sollen, in der Ewigkeit – wenn alle unsere Verantwortung verantwortet, alle unsere Schuld entschuldet, all unser Nichts durch Ihn zu etwas gebracht worden sein wird – die Antwort auch über uns selbst zu hören, die Petrus schuldig blieb. … Warst Du?
… Bei Johannes Rau steht – nach dem Tod!, nicht wegen seines eigenen Verdienstes, sondern weil Jesus Sein Heiland und Retter war! – auf dem Grab der Schuldspruch, der uns selig macht: „Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth“.
Möge das von uns allen einst ebenso gesagt werden!
Amen.
Okuli, 03.03.2024, Stadtkirche, 1.Petrus 1, 13 - 21, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Okuli 3.III.2024
1.Petrus 1, 13 - 21
Liebe Gemeinde!
Sie waren jung. Sie waren lebendig. Sie waren nicht zu bremsen.
Die weißen Bärte und Glatzen, die Folterinstrumente oder Himmelsschlüssel und natürlich auch die Heiligenscheine, die sie später auszeichneten, waren den Aposteln keineswegs von Anfang an auf den Leib geschneidert. … Und wenn sie leben – wir glauben aber, dass sie leben, weil Gott ein Gott der Lebendigen ist (vgl. Lk.20,38) –, dann ist es unsinnig, sie als die Sechzigjährigen oder gar Hundertjährigen in unserem Gedächtnis festzulegen, die Nero im Fall des Petrus kreuzigen ließ oder die - wie Johannes - bis in die Zeit des Kaisers Trajan am Leben blieben.
Die Kirche ist ein Aufbruch der Jugend gewesen: Ein gerade einmal Anfang Dreißigjähriger und seine Gefährten zogen aus der alten Wirklichkeit des Todes aus und in die kommende neue Welt Gottes.
Zwar hatten sie schüchtern und hinterwäldlerisch, mit schlechtem Gewissen und lähmender Überforderung durch das größte Wunder aller Zeiten begonnen: Aber die Energie, die Kraft, die der Geist Gottes ist, hatte sie – die jungen Frauen und Männer, die Karfreitag und Ostern ganz dicht oder aus feigem Abstand miterlebten – über alle Angst, über alle Gewohnheit und Konvention hinausgetragen und machte sie feurig, fessellos und stürmisch frei. Hier war eine Generation, die etwas so völlig Anderes, Unerwartetes, Beispielloses bezeugen und ausbreiten wollte, dass niemand ihnen hätte mitgeben, vormachen oder gar vorschreiben können, wie man als Vorhut der zukünftigen Menschheit leben solle. Eine Menschheit, die nicht von der Sicherheit des Unausweichlichen, nicht von den Grenzen des Gewesenen, nicht von der Erwartung des Fatalen geformt und gewürgt wurde, sondern die durch Vergebung, Befreiung und Hoffnung völlig veränderte Perspektiven hatte:
Sie steckten nicht im Zwang der Sünde, sondern wurden getragen von der Strömung der Versöhnung, die im Blut Jesu die Welt wie einst die Sintflut ausschwemmen und reinigen sollte.
Sie klammerten sich nicht an Legitimierungen ihrer selbst, sondern ließen sich zusammen mit allen anderen überraschen von den Wundern, die an ihnen und durch sie geschahen.
Sie duckten sich nicht vor den ständigen Winken des Todes, sondern machten sich ungeachtet aller natürlichen Furcht los vom Kleinmut der Endlichkeit und lebten in einem Maßstab der Großzügigkeit, der Liebe und des Gemeinsamen, dass man in ihrer Gegenwart die grenzenlose Ewigkeit spüren musste. Sie waren jung, lebendig und nicht zu bremsen.
Sie waren aber auch radikal.
Ihre Entschlossenheit zur Nachfolge, ihre Leidenschaft für Den, Der ein zweites Mal die Sklaven – die Sklaven der Gier, des Bösen und des Todes – aus ihrer Knechtschaft durch den österlichen Exodus zu neuen Ufern und neuen Horizonten und zu einer neuen Ethik und neuen Heiligkeit als das freie Volk Gottes führte, machte sie so ernsthaft und so unbedingt, wie nur junge Leute es sein können.
Sie lebten gegürtet - also auf dem Sprung -, wie Israel die Nacht seines Passa gefeiert hatte (vgl. 2.Mose12,11). Bis unter die Haarspitzen waren sie von nüchtern-alerter Hoffnung elektrisiert; und ihre gemeinsame Haltung - ihr Gehorsam - war die geradezu jugendlich-sture Ablehnung aller alten Konventionen: Übernehmt kein „Schema“ der Bedürfnisse, der Interessen und Begierden der Alten, heißt es im Griechischen dieses Jugendmanifests das wir als 1.Petrusbrief kennen. Und in der lateinischen Übersetzung, die auch in die Antike zurückreicht, heißt es: „Konfiguriert euch nicht den alten Begierden eurer früheren Ignoranz“.
… „Konfiguriert“ euch auf keinen Fall wieder der überholten Ignoranz: So klar ist das neue Programm, das Lebens-Update dieser apostolischen Avantgarde.
Was sie dagegen statt der abgenutzten und nicht mehr funktionalen Codes und Systeme der alten Welt zu ihrem alternativen Lebensentwurf machten, das war die Heiligkeit.
Heiligkeit – wie sie auch schon der Aufbruchsgeneration des Exodus als die kollektive neue Identität Israels, als sein neues Profil und Ziel aufgetragen wurde (vgl. 3.Mose 11,44f und besonders 19,2!) – … Heiligkeit ist die Alternative Gottes zum unheilvollen Schema der Welt.
Heiligkeit ist der kompromisslose Versuch und der hartnäckige Elan, seelisch ganzheitlich, moralisch gesund, in Geist und Gerechtigkeit fruchtbar zu leben, statt halbherzig, krank und steril.
Auch Heiligkeit ist also eine junge Lebensform oder aber eine verjüngende Lebenskur. Heiligkeit setzt den Idealismus und die Entschiedenheit derer voraus, die nicht bis zum Hals in Kompromissen, Verpflichtungen oder Bequemlichkeit stecken.
Heiligkeit setzt Hunger und Mut frei, die sich weder abspeisen noch abschrecken lassen von der öden Erfahrung und der noch öderen Behauptung, dass das nur schwer geht.
Heiligkeit ist die Bereitschaft, mit dem Unmöglichen zu rechnen, das Unerprobte zu riskieren, das Ungemütliche zu unternehmen und das Unbewiesene zu veranschaulichen.
Zu ihrem eigenen Schaden hat die evangelische Kirche vor lauter Entlastung durch die Rechtfertigung – israelitisch gesprochen: vor lauter Entlastung durch den Exodus, das Befreiungsgeschenk Gottes an Seine versklavten Leute – die Folge und Fortsetzung dieses Wunders vergessen[i]: Dass die von alter Knechtschaft, Unterdrückung und Fremdsteuerung Befreiten nun ein neues Leben beginnen und vertiefen, in dem sie unkonventionell und ungezwungen Maßstäbe verfolgen, die anderen viel zu aufwendig und auffällig, viel zu freischwebend und überirdisch vorkommen mögen. …….
… Essen, Trinken, Sorgen, Schlafen sind Herausforderung genug. Kommen dann noch Genuss, Erfolg, Absicherung und deren jeweilige Demonstrationen dazu, dann sind Menschen ausgelastet. Wer braucht da noch die herausfordernde Verheißung, heilig sein zu sollen? …
Es ist mit der Heiligkeit wie mit der Freiheit in der vergangenen Woche. Egoismus und Sklaverei sind einfacher. Von beiden wird man beherrscht. Ihr Zwang macht den Willen gefügig. Freiheit und Heiligkeit dagegen stellen unsern Willen andauernd vor die Wahl. … Nicht nur in Sachen demokratischer Gesellschaft, sondern auch im ganz eigenen Leben ist aber das Wählen offenbar lästig. Bequemer ist man Knecht.
Aber als das junge Christentum die frische Botschaft unter die Völker trug, dass man nicht wahllos und schicksalsfürchtig leben müsse, sondern berufen sei, als vom Schicksal befreiter Mensch sein Leben einzig und allein in freier Anlehnung an und bewusster Nachahmung von und reinem Vertrauen auf Gott zu leben ……, da sprangen die Ketten Satans und der ausbeuterischen sozialen Hierarchie der Antike, da öffneten sich die psychischen und die kulturellen Sperren und Schranken und tastend oder überstürzt zogen Männer und Frauen hinaus in die Freiheit der Heiligen! …
Niemand konnte sie mehr vor der Geburt auf einen Status festlegen, niemand ihnen ein Leben lang ihre Rolle und Pflicht vorschreiben, niemand sie bis in den Tod verdinglichen und entwürdigen! Sie wurden in der aufregend neuen, heiligen christlichen Kirche, in dieser Gemeinschaft, der nicht mehr nach Herkunft, Geschlecht, Besitz unterschiedenen Heiligen tatsächlich zu neuen Menschen! … Menschen, deren Wert nicht mehr nach alter Währung und Berechnungsweise, nicht mehr in Silber oder Gold, Können oder Vermögen auszudrücken war, sondern einen ganz anderen Nenner hatte: Jesus Christus, der vor aller Zeit erwählte, dann unter uns erschienene, als Opfer aller barbarischen Brutalität sich freiwillig rückhaltlos einsetzende und damit schließlich dem an ihm unberechtigten Tod endgültig abgewonnene neue Mensch.
Dieser Mensch Jesus Christus, sein lebendiges und lebenspendendes Blut ist die Quelle, aus der die freie, heilige, junge Kirche der apostolischen Zeit ihre ganze Stärke, ihre Leidenschaft, ihre dynamische Daseinsfreude, ihre überschäumende Glaubensenergie und Liebestatkraft schöpfte.
Wer ihm angehört, der ist nicht mehr von der abhängighaltenden alten Welt geprägt, sondern - wie’s im Lutherdeutschen heißt - „vom nichtigen Wandel nach der Väter Weise erlöst“.
Wer mit Jesus Christus lebt, der ist befreit aus „einem Leben ohne Inhalt, wie es euch von den Vätern vorgelebt wurde“, übersetzt die Zürcher Bibel. Der kann also aufatmen und jung, lebendig, ungehindert existieren. Innovativ wie die Pioniergeneration der Apostel und Apostelinnen und die Heiligen aller Zeiten.
Schön. ——
Bloß was heißt das für uns in einer altgewordenen Kirche, … zumal für diejenigen unter uns, die selbst nicht mehr die Jungen sind? Ist die sinnlose Festlegung durch Vergangenes, … ist die Festlegung durch das, was war und was ausgerechnet in der lateinischen Übersetzung dieser Stelle als die „leere Unterhaltung der väterlichen Tradition“ erscheint, … ist alle Bevormundung und Einbindung in Überliefertes, an der wir ja doch mehr oder weniger sämtlich beteiligt sind, dann nicht unsere Verhinderung der christlichen Freiheit, unsere Blockade frischer Aufbrüche zur Heiligkeit?
Dazu gäbe es viel zu sagen.
Nicht bloß wegen der Missbrauchsstudien.
Bei jeder ehemaligen Konfirmandin, jedem ehemaligen Konfirmanden, die aus der Kirche austreten, frage ich mich, welche Schuld ich mit meiner Art des Festhaltens und Festlegens im Sinn der Tradition an ihrem Aufgeben, Loslassen und Weggehen wohl habe? …
Aber ein viel allgemeineres, säkulares wie kirchliches Schuldproblem gegenüber der jungen Generation beschäftigt mich mit dem herrlich freien 1.Petrusbrief, dem Jugendmanifest aus apostolischer Zeit im Ohr noch mehr.
Wir sperren die Generation von morgen zwar nicht mehr so folgenschwer räumlich ein, wie es in den letzten Jahren der Pandemie geschehen ist und wahrhaftig nachwirkt. Wir sperren die Generation von morgen aber noch viel schlimmer in unserm Heute, das ihr Gestern sein wird, ein, … wir verhaften sie in weltlicher Sinnlosigkeit und fesseln sie an gegenwärtige Hoffnungslosigkeit durch ein perfides, giftiges, gleichgültiges geistiges Erbe, mit dem wir sie blockieren.
Man kann das ganz praktisch unter anderem an der unfassbaren Fehlentscheidung zur Cannabislegalisierung sehen. Dabei geht es überhaupt nicht darum, dass etwas unbedingt strafbar sein sollte, sondern es geht um das, was unbedingten Schutz verdient: Das Innere des Menschen nämlich! Das muss frei sein … und es muss uns heilig sein!
Wir dürfen das Innere nicht als vernachlässigenswerte Nebensache, als unwichtiges Organ der Ablenkung und des Konsums betrachten! Wir dürfen im Inneren des Menschen nicht bloß einen neutralen Hohlraum sehen, der eben auch durch materielle Ersatzbefriedigung oder sonstige Ablenkungsmanöver das abbekommt, was sein Funktionieren und Leisten in einer rein stofflichen Auffassung vom menschlichen Dasein ermöglicht.
Genau diese immanente, rein materialistische Sicht des Menschseins ist der pervers sinnlose, nichtige Wandel nach der Väter Weise, den die Kinder des sog. aufgeklärten Zeitalters, des bloß auf das Greif- und Messbare fixierten Menschenbildes fortsetzen müssen. Doch dieser Nihilismus, den wir auf unsere Kinder ausdehnen, wenn wir sie nur im Schema des Äußerlichen und Immanent-Irdischen festhalten, … dieser Nihilismus ist verbrecherisch, und wir sehen buchstäblich links wie rechts, in der Gewaltvergötzung wie der Ichsucht der großen Mächte, was er anrichtet.
Auf seine Wurzel aber hat mich der Satz einer weltlichen Dichterin aus Nordamerika - Fanny Howe - gestoßen, die ihre sinnlos destruktiven Erfahrungen als Mädchen und Jugendliche in den betäubend-aufrüttelnden Satz kleidet: Die Offenheit des jungen Menschen für Verwandlung wird im Heranwachsen versiegelt, „bis an die Stelle der Seele das Selbst tritt, um nun die Faust des Überlebens zu sein.“[ii]
Das Selbst an Stelle der Seele: Das ist die perfide, nihilistische Festlegung auf ein trostloses Schrumpfbild unserer Berufung und Möglichkeiten, mit dem wir die Generation nach uns einschränken, verarmen lassen und aussichtslos festlegen. Das „Selbst“ des Selbstbewusstseins, der Selbstverteidigung, der Selbstversorgung, der Selbsthilfe. … Das „Selbst“ als Faust und Pfund zur eigenen Selbstdarstellung. … Das „Selbst“ als die einzig wahre Größe, die wir behaupten müssen, weil sie mit uns und wir mit ihr vergehen.
So ist das eitle, leere, sinnlose Bild vom Menschen, der nichts als er selbst sein soll: Ichbezogen und fixiert auf Maximierung seiner kleinen Erfolgserlebnisse in der kurzen Zeit. … Her mit dem Rauschgift, wenn’s so wäre! … ———
Doch ist der Mensch ja so viel mehr: Nicht mit Vergänglichem, sondern mit dem ewig Lebendigen ist der Mensch von diesen erbärmlichen Suchten und Begierden befreit worden.
Und darum schulden wir den Jungen - Euch jungen Menschen - , nicht mehr wie Seelenlose behandelt zu werden. Wir schulden Euch als Pfarrerinnen und Pfarrer, Lehrerinnen und Lehrer, als Eltern und Familien, als Gemeinde und Gesellschaft, dass wir Eure Seelen schätzen und schützen, weil Gott sie liebt. Gott will Eure Seelen - die Er liebt - , wenn sie leer sind, füllen; Er will sie heilen, wenn sie krank sind, und weil sie wichtiger sind als alles andere (vgl. Matth.16,26 / Mk. 8,36 / Lk.9,25), wird Er sie retten.
Die Seele des Menschen ist ja die unmittelbare Verbundenheit mit, die Anwesenheit von und die Offenheit für Gott im Menschen (vgl. 1.Mose 2,7). …
Weil wir Seelen sind, darum sind wir Menschen nicht auf uns selbst geworfen, sondern herausgerufen in eine Lebenserfahrung und Lebensverwirklichung, die göttliche Maße hat: In seiner Seele nämlich hat jeder Mensch ja gerade die Freiheit, über sich selbst hinauszuwachsen, hinein in die endlose, abenteuerliche Reise und Reifung, die die Heiligkeit ist. … Die Heiligkeit, die seine eigentliche und für immer bleibende Gottebenbildlichkeit werden wird.
Solange wir allerdings hier in der Fremde leben, sagt der 1.Petrusbrief, werden wir nie so weit kommen, erfolgreich fertig mit uns selbst zu sein.
Und darum müssen wir hier jung wie die Apostel bleiben, … lebendig, beweglich und weder fest- noch aufzuhalten in unserer schönsten Berufung, innerlich und äußerlich von allem gelöst nur Gott entgegenzuwachsen.
Denn es steht geschrieben: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“ (3.Mose19,2 / 1.Petrus 1,16).
Amen.
[i] Die reformierte Tradition der Ethik, die stark die Heiligung als Frucht der Gerechtigkeit im Glaubensgehorsam betonte, hat heute kaum noch Wirkung. Dass Ethik unter dem Gesichtspunkt der Heiligkeit betrachtet und betrieben würde, ist fast nirgends festzustellen. Man sollte also in die Schule der Heiligen gehen, schlicht um ethisch nicht im Jargon und in der Perspektive des Tagesbetriebs hängen zu bleiben, sondern horizonterweitert in der Lösung ethischer Probleme auch Erlösung ethisch buchstabieren zu lernen.
[ii] Fanny Howe, „My Father Was White but not Quite”. In diesem Essay heißt es: “The self is not the soul, and it is the soul (coherence) that lives for nine years on earth in a potential state of liberty and harmony. Its openness to metamorphosis is usually sealed up during those early years until the self replaces the soul as the fist of survival.” Zititert nach: https://www.poetryfoundation.org/poetrymagazine/articles/69163/my-father-was-white-but-not-quite
Reminiscere, 25.02.2024, Num.21,4-9, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
„Durch die Wüste“, so heißt eines der Bücher von Karl May. Der Held ist darin Kara Ben Nemsi, der im Lauf der Erzählung manch knifflige Situation zu bewältigen hat – und das natürlich mit Erfolg erledigt.
„Durch die Wüste“ so lautet der jüdische Titel des vierten Mosebuches: „B‘ Midbar“. In diesem Buch gibt es keine Helden wie Kara Ben Nemsi. Da begegnen wir ganz normalen, schwachen Menschen, die aus ihrem Leben in Ägypten, aus Gefangenschaft und Zwangsarbeit, herausgerissen und herausgeführt nun auf der Flucht durch die Wüste sind. Dabei sind sie in eine Sackgasse geraten. Der direkte Weg in die Freiheit und Sicherheit ist versperrt. Nun sollen sie umkehren und eine neue Route suchen. Welch eine Zumutung!
Ich lese uns die Verse 4 bis 9 aus „B’Midbar“ Kapitel 21.
„Als sie nun vom Berg Hor in Richtung Schilfmeer aufgebrochen waren, um so das Land Edom zu umgehen, wurde das Volk auf dem langen Weg kurzatmig. Die Israeliten beklagten sich bei Gott und bei Mose: „Wozu hast du uns aus Ägypten herausgeführt? Sollen wir in der Wüste sterben? Nicht einmal Brot und Wasser gibt es hier! Wir ekeln uns vor dem schlechten Essen.“ Da schickte Gott dem Volk Seraf-Schlangen. Viele Israeliten wurden gebissen und starben. Nun kam das Volk zu Mose und bat: „Wir haben Unrecht getan, als wir so mit dem Ewigen und dir geredet haben. Bete zu Gott, dass er die Schlangen von uns fortschafft!“ So betete Mose für das Volk. Und Gott sagte zu Mose: „Fertige eine Schlange aus Kupfer an und setze sie auf eine hohe Stange: Wer gebissen wird und sie ansieht, wird leben.“
Da machte Mose eine Schlange aus Kupfer und setzte sie auf eine hohe Stange. Und es geschah: Wenn eine Schlange jemanden biss und er/sie die kupferne Schlange fest in den Blick nahm, so blieb er/sie am Leben.“
Eine merkwürdige Geschichte. Der Einstieg ist dabei bekannt aus anderen Erzählungen vom Zug des Volkes Israel aus Ägypten in die Freiheit. Es beginnt mit der Wiederkehr des Gleichen: Die Israeliten nörgeln, murren, motzen mal wieder herum. Sie sind „verdrossen“ heißt es in einer Übersetzung, „Die Seele des Volkes ist erschöpft“ in einer anderen. „Der Atem des Volkes reicht nicht aus“, das Volk ist kurzatmig. Und Mose ist es wahrscheinlich auch. Irgendwo im Nirgendwo der Wüste haben die Leute einfach genug. Selbst das Manna, die Speise, die ihnen so oft das Leben gerettet hat, bekommt sein Fett ab: es ekelt sie nur noch.
Nein, dass Israel murrt und meckert, das ist wirklich nichts Neues. Neu ist vielmehr die Reaktion auf Seiten Gottes. Bislang war er immer tröstlich-nachsichtig mit Israel umgegangen, hatte ihrem Mangel an Wasser und Nahrung wiederholt abgeholfen. Aber hier sieht alles nach einer Strafaktion aus: dieses Mal schickt er ihnen Seraf-Schlangen, deren Bisse brennende Schmerzen verursachen und zum Tode führen.
Warum reagiert Gott so heftig? In ihrer Verzweiflung sind die Israeliten dieses Mal einen Schritt zu weit gegangen. Sie sind dabei, alles zu zerstören, was ihnen bisher das Leben bewahrt hat. In Ägypten wären sie in elender Sklaverei untergegangen: diese Tatsache haben sie völlig verdrängt. Der Weg durch die Wüste ist beschwerlich, keine Frage, und der Speiseplan ist auch alles andere als üppig. Aber was sie haben, das erhält ihnen das Leben, das Brot vom Himmel. Und sie können ihren Weg in (die) Freiheit gehen. Indem sie die tägliche Nahrung als ekligen Fraß abtun und die geschenkte Freiheit verfluchen, sagen sie sich von Gott los. Und Gott – er lässt sie los; er zieht seine beschirmende Hand ab. Giftschlagen gibt es überall in der Wüste; Gott schickt sie nicht extra. Bisher hat er die Schlangen daran gehindert, die Israeliten anzugreifen. Aber jetzt, ohne den Lebensschutz Gottes, sind sie den Schlangen ausgeliefert.
Die Israeliten verachten das Gute, das Gott ihnen gegeben hat und gibt. Sie schauen von Gott weg. Dieses Wegschauen bedeutet Lebensgefahr und bringt ihnen letztlich den Tod.
Wer sein Ziel, den entscheidenden Fixpunkt seines Lebens aus den Augen verliert, begibt sich in Gefahr. Ebenso wie ein Mensch, der im Straßenverkehr seine Augen nicht nach vorne richtet.
Die Israeliten erkennen in der Katastrophe, dass sie ihr Ziel, dass sie den Ankerpunkt ihres Lebens aus den Augen verloren haben. Immerhin: sie zetern nicht weiter und schlagen wild um sich, sondern sie schlagen sich an die eigene Brust.
Nicht Gott oder Mose sind schuld an ihrer Malaise, sondern sie selbst. Sie erkennen ihre Schuld und bekennen sie und bitten Mose um Fürbitte. Auf ihn, so die Hoffnung, wird Gott bestimmt eher hören. Ihre Bitte: Gott möge die Giftschlangen fortschaffen.
Doch Gott erfüllt diesen Wunsch nicht. Schlangen gehören nun einmal in die Wüste. Vielmehr fordert Gott Mose auf, ausgerechnet eine solche Schlange aus Kupfer anzufertigen und an einer hohen Stange zu befestigen. Wer gebissen wird und dann diese Kupferschlange anschaut und auf diesem Weg sein Gesicht dem Himmel zuwendet, der bleibt am Leben.
Eine merkwürdige Geschichte – halb Märchen, halb Fantasy.
Aber eine Geschichte, die auch uns heute noch Wichtiges vermitteln kann.
Es ist eine Wüstengeschichte. Sie erzählt von Menschen, die auf einem beschwerlichen Weg sind, Katastrophen liegen hinter ihnen und irgendwie sehen sie für sich noch kein Licht am Ende des Tunnels. Vielmehr tauchen immer wieder neue Probleme auf.
Bei wohl jedem Menschen gibt es im Leben solche Durststrecken, da kommt man irgendwann an den Punkt, wo es nicht mehr weitergeht, wo man einfach nicht mehr zur Ruhe kommt. Die Anzahl der Menschen in unserer Gesellschaft, die an einem „Burnout“, an Erschöpfung zusammenbrechen, steigt seit Jahren.
Doch unsere Geschichte lässt uns über das individuelle Leben hinaus auf unsere Gesellschaft als ganze blicken. Es lassen sich interessante Parallelen entdecken.
Unter den Rufen „Wir sind das Volk!“ zogen 1989 die Menschen aus der Unterdrückung durch das SED-Regime in die Freiheit, die das Grundgesetz der Bundesrepublik ihnen verhieß. Aber nach dem Durchzug durch das „Rote Meer“, für sie die Überwindung der Sperranlagen und der Mauer, da wartete – nach dem Abklingen der Begeisterung der ersten Wochen – die Wüste auf sie, der Umbau ihres ganzen Lebensgefüges. Und je länger dieser Wüstenweg wurde, desto verklärter die Blicke zurück.
Und gesamtgesellschaftlich erleben wir Vergleichbares nach 2014 – seit Flüchtlinge in großer Zahl nach Europa kamen. Da wurde klar, dass Globalisierung bedeutet, nicht nur überall hin verreisen und Waren aus aller Herren Länder kaufen zu können, sondern eben auch hineinverwickelt zu sein in die Geschehnisse weltweit, in das Leid und die Not der Menschen überall auf der Erde. Deutschland ist keine Insel. Doch viele sind nicht bereit, das einzusehen. Sie fühlen sich in ihren Lebensmöglichkeiten beschnitten und von den Fremden bedroht. Sie rufen zwar wieder „Wir sind das Volk!“, aber ihr Blick geht zurück: sie verklären die alten Verhältnisse von einem ethnisch reinen Deutschland, das es so nie gab. Es gab allerdings Folterknechte, Angst und Hass. Keine Freiheit, sondern brutalen Zwang. Aber klar: als Frau konnte man damals nachts allein auf die Straße gehen. Wer braucht denn da schon Freiheit, wenn es in der Diktatur nun ja: unangenehm war, aber wenigstens schön warm? So zu denken und zu reden ist gottvergessen, ist Sünde; aber wer will das wissen?
Freiheit ist anstrengend und unbequem. Sie konfrontiert uns mit den schwierigen, unangenehmen Seiten unseres Lebens, mit unseren Ängsten und Vorurteilen, die immer wieder unberechenbar auftauchen – wie Schlangen – und ihr Gift versprühen. Die Giftschlangen, mit denen wir es heute in unserer Gesellschaft zu tun haben, die kommen aus uns selbst, aus den Herzen der Menschen. Ihr Gift, der Hass auf die Anderen, schmerzt, es brennt und es tötet – andere Menschen und die eigene Menschlichkeit.
Wenn wir die symbolische Bedeutung der Schlangen in dieser Weise verstehen, dann bekommt auch die Anweisung Gottes zur Aufrichtung der kupfernen Schlange ihren heilsamen Sinn. Die Schlangen verschwinden nicht, können nicht verschwinden, weil sie aus unseren Herzen, aus unseren Gefühlen herausschlüpfen. Es gibt kein angstfreies Leben. „In der Welt habt ihr Angst“, hören wir Jesus im Johannesevangelium sagen. „In der Welt habt ihr Angst, aber ich bin mit dieser Angst fertig geworden, ich habe sie überwunden.“ Und das könnt ihr auch – ruft er uns zu.
Stellt euch euren Ängsten, verdrängt sie nicht, steckt auch nicht euren Kopf in den Sand, sondern schaut genau hin; hebt euren Blick auf. Seht an, was euch Angst machen will. Und schaut darüber hinaus – auf den Himmel, auf Gott, dessen Liebe und Güte euch mit all euren Ängsten und Sorgen umfängt. Nicht die kupferne Schlange hilft, sondern der Blick, den jede und jeder nach oben richtet – die Tatsache, genau anzusehen, was da Angst macht, sich der Realität zu stellen und dahinter den wahrzunehmen, der allein diese Ängste beruhigen kann. Dieser Blick, der bringt Leben, der lässt leben – mich und den anderen.
Die Überwindung eigener Ängste hilft, Mitgefühl und Barmherzigkeit in sich selbst zu empfinden, hilft, in dem anderen, dem Fremden den Mitmenschen zu erkennen, der genauso wie man selbst immer wieder von Ängsten heimgesucht wird. Wir sind alle „Gebissene“, aber Gott will, dass wir leben, dass wir an dem Gift von Hass und Verachtung, Gewalt und Menschenfeindlichkeit nicht zugrunde gehen. Er will, dass das Gift sich zum Heilmittel verwandelt, das uns befähigt, in Gerechtigkeit und Frieden miteinander unter seinem Himmel zu leben.
Dazu will uns diese Erzählung ermutigen:
Dass wir uns selbst annehmen so wie wir sind, gerade in den Wüstenzeiten unseres Lebens, als von Ängsten immer wieder Verletzte;
Dass wir lernen, barmherzig mit uns selbst zu sein, weil Gott barmherzig mit uns ist;
Und dass wir so fähig werden, den Fremden neben uns als Mitmensch zu sehen und ihm die gleiche Barmherzigkeit entgegenbringen wie uns selbst, weil er unser Bruder, unsere Schwester ist, verletzt und von Ängsten heimgesucht wie wir, dem Gottes Barmherzigkeit und Güte genauso gilt wie uns.
Amen.
Reminiszere, 25.02.2024, Stadtkirche, 4.Mose 21, 4 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reminiszere - 25.II.2024
4.Mose 21, 4 - 9
Liebe Gemeinde!
Na, Ihr Schaulustigen? – Sind wir gar nicht!
… Nein; stimmt schon: Es ist ja Affenzeit! … Wenn auch das Nichts-Sprechen bei mir noch nicht richtig klappt: Nichts hören wollen, nichts sehen wollen, geht schon ganz gut.
… Die Nachrichten? – Lieber nicht!
… Die Berichte aus der seit 2 Jahren von einem Krieg gegen die Freiheiten unsrer Gegenwart heimgesuchten Ukraine? – Lieber nicht ansehen!
… Die Wimmel- und Suchbilder aus den Höllenkreisen des Gazastreifens? – Lieber Wegschauen!
… Die vielen Gesichter des menschenverachtenden Hasses, der sich wählen lassen will und wird? – Lieber ausblenden!
… Die trostlosen Statistiken und ratlosen Mienen und kraftlosen Debatten unserer Politik? – Lieber Augen zu und weghören und irgendwelche Ausflüge ins Einflussgebiet der künstlich schönen Doofen als hier im Land der wirklich ganz schön Doofen irgendwem oder -was ins Auge sehen.
Trotz unseres pausenlosen Zuguckens, Gaffens, Bildschirmscrollens, Fotosendens, Selfieschießens: Es lebe die Blendung! Ein Hoch auf die Blindheit!
An der Welt, wie sie ist, haben wir uns sattgesehen. Die überlassen wir den Überwachungskameras und denen ohne Smartphones. Wir kommen bestens klar, ohne die Wirklichkeit zu Gesicht zu kriegen, ihrer Wut und ihren Tränen zuzuhören oder sie anders anzusprechen als mit „Verschwinde doch, du bist nicht schön!“ ——
Deshalb brauchen wir Jahr für Jahr die Passionszeit. Die Zeit, die aus uns Affen Menschen macht.
Sie tut es durch Zumutung. Diese Zeit, in der wir Christenaffen dem Menschen Christus begegnen, ist eine einzige Schule des Sehens. Des Sehens auf das Unansehnliche. Des Sehens auf das Übersehene also. Des Sehens aber ebenso auch auf das Überdeutliche. Des Sehens auf das, was ist. Luther hat in einer seiner frühen Disputationen - 1518 in Heidelberg - den ganzen Unterschied zwischen der Verkündigung, die das Schöne, das Nette, das was glänzend oder appetitlich oder sexy oder unterhaltsam wäre, in den Mittelpunkt stellt, und der anderen Verkündigung, die das Unpopuläre zu sagen wagt, in eine so kantige Formel gebracht, dass man es sich ausnahmsweise auf Latein anhören kann: „Theologus gloriæ dicit malum bonum et bonum malum, Theologus crucis dicit id quod res est.“[i] – auf Deutsch also: „Ein Herrlichkeits-Theologie nennt das Böse gut und das Gute böse. Ein Theologe des Kreuzes sagt das, was Sache ist.“
Der flapsige Ausdruck, der hier im Gelehrten-Latein vor einem halben Jahrtausend schon begegnet, hat nichts von seiner notwendigen Irritation verloren: Sagen, was Sache ist. Nicht schönreden. Nicht erzählen, was gern gehört wird … Luther hätte gesagt: Nicht das formulieren, wonach den Leuten die Ohren jücken. Sondern das, was kratzt. Das, was das Anstößige nicht glatt macht wie die Lüge, sondern anstößig lässt.
Das aber ist nun einmal nichts Anderes als das Kreuz.
Das Kreuz ist die empfindliche Störung unserer hübschen Oberflächlichkeit. Es reißt nicht bloß den Rasen auf, den wir über alles so gern wachsen lassen und den Teppich weg, unter den wir alles kehren, sondern es reißt auch alle möglichen Wunden auf. …
Wer das Kreuz sieht, kann nicht mehr so tun, als sei alles heil.
Wer dem Kreuz nicht ausweicht, kann sich nicht einbilden, Menschsein sei einfach oder die Menschheit habe das Zeug, sich innerlich so zu vervollkommnen, wie Photoshop sie scheinen lässt.
Wer das Kreuz nicht ausblendet, wird nicht getäuscht werden: Es ist eine unglaublich verstörende Sache mit dem Menschen. Er ist Gottes liebstes Kind und zugleich Gottes bitterster Schmerz. Der Mensch ist Gottes Glück und Gottes Fluch. Er kann und soll in Gott die Liebe finden und erkennen und er reagiert auf Gott mit einem solchen Hass, mit einer solchen Abwehr, dass es scheinen muss, als herrsche Feindschaft zwischen ihnen. Gott ist der Ursprung des menschlichen Lebens, und der Mensch …. – kann es sein? – … der Mensch bastelt nicht nur an der Abschaffung seines eignen Ursprungs, sondern es gelingt ihm tatsächlich, das Leben zu morden, … es gelingt ihm die Liebe, der er sich verdankt, zu kannibalisieren, … es gelingt ihm, Gott zu töten.
Das Kreuz zeigt, was Sache ist.
Es ist ein Spiegel, der nicht schmeichelt.
Es ist ein Steckbrief, der uns anklagt.
Es ist ein Röntgenbild, auf dem das Innere erscheint.
Und wir sehen an ihm etwas, für das uns der Name fehlen mag: Die Störung in uns, die sich gegen alles Leichte, alles Gute richtet … gegen die Liebe, gegen das Leben, gegen Gott. Die Zerstörung also. … Diese unsinnige Sonderbarkeit unserer Abwehr des Segens. Unsere Absonderung von allem, was uns helfen, unser Dasein sinnvoller, unser Wesen harmonischer machen könnte. … Absonderung. Abschied. Abschieben des Heiligen und der Heilung. … Absolutes, von allem stützenden und haltenden Zusammenhang abgelöstes Unheil. Mit dem alten Wort für den Graben, der vom glückenden Leben trennt: Sünde. ——
Eijeijei, Ihr lieben schauunlustigen Menschen! Das ist doch alles jetzt genau der Grund, weshalb man nicht in die Kirche kommen muss: Miesmache. Null Unterhaltungswert. Bloß Runterziehen.
… Warum sollte man sich so etwas sagen lassen? Wieso sollte man sich die ohnehin schon gereizte, aufgeheizte, unerquickliche Stimmung noch extra verderben lassen? …….
Ich versuche es einmal ganz vorsichtig. Mit riesigem Abstand. So dass jeder sofort sagen kann: Schwachsinn. Gelaber. Mythos. Nichts, das einen Bezug zu mir hätte.
Na gut! … Ohne Bezug zu Dir. Nur uralte Erfahrung. Aus einer Zeit, in der die Hoffnung auf Freiheit kollektiv mindestens so im Argen lag wie heute, wo sie im Osten bombardiert, unterminiert und exekutiert wird und im Westen einfach in den Wind geschlagen, für Peanuts und Potenzgefühle geopfert wird. Die lästige Freiheit, die eben nicht das Gleiche wie garantierte Bequemlichkeit ist, sondern in langen, großen, ausholenden Bewegungen besteht, durch die Zwang zurückgelassen, Spielraum gewonnen, Zukunft umsichtig angesteuert und das Mitkommen der Langsameren und das Ankommen der Kleinen in der Freiheit durch Rücksicht erreicht werden muss.
Freiheit und Exodus also.
Freiheit und Anstrengung.
Freiheit und Opfer.
… Wie quälend das ist. Wie nervenaufreibend, weil offen. Freiheit lässt sich ja eben nicht abschließend oder abgeschlossen haben, sondern sie bedeutet immer, dass man weitergehen muss, um Neues und um Andere in die Freiheit mithinüber- und hineinzunehmen, die sonst ja Gefangenschaft und Sklaverei bedeuten würde, so bald man sie besäße wie etwas Fertiges und dann davon besessen wäre, dass nun nichts weiter kommen und passieren darf.
Die Kinder Israel – die ersten Wanderer zur Freiheit – hatten offenbar genau die tranige Trägheit, die uns Menschen bis heute auszeichnet: Sie durften aufbrechen, … sie durften das Wunder erleben, dass sie, statt den sicheren Tod im Schilfmeer zu finden, trockenen Fußes in sein Jenseits kamen … und dann – als die Geretteten! – wurden sie bitter enttäuscht: Die Freiheit der Erlösten entpuppte sich nicht als die sorglose Verwöhnung auf einer Kreuzfahrt, sondern als das Vertrauensabenteuer eines Kreuzwegs. Sie sollten nicht bloß die Nutznießer eines Sonderangebots für Komfortable werden, sondern Begleiter und Mitstreiter eines unermüdlich beweglichen und herzbewegenden Gottes, Der Pläne und Ziele in dieser Welt hat.
Und also streikten sie.
Wollten zurück in die Affenzeit, in der sie weder hören, noch sehen, noch Rede und Antwort stehen mussten, sondern bloß gehorchen, bloß Augen zu und bis zum Feierabend irgendwie durchkommen und dann das Maul ausschließlich zum Fressen auftun.
Fraß statt Freiheit. So simpel erträumt der Mensch sich sein Glück.
Ein Glück, an dem er über kurz oder lang ersticken würde.
… Doch Gott macht ihm Beine.
Denn genau das bewirken die Schlangen: Panik! Das Gift, das mit ihrem tückischen Biss droht und vermutlich die Atmung stillstellt und den Körper zu ewiger Faulheit, ja zum Verfaulen bringt, … dieses lähmende Gift zeigt den Israeliten plötzlich unmissverständlich, dass es zu kurz gehofft war, reine Bequemlichkeit und Ruhe und Versorgung und Sattsein wie in Ägypten zu wünschen.
Plötzlich wollen sie leben und nicht mehr so starr, so gelähmt, so tot sein, wie es der Traum vom Voll-Fressen ohne Freiheit ihnen vorgaukelte.
Und darum wird der Träger der Gefahr, in die sie sich wünschten – die Erstarrungs-, die Erstickungsgefahr – für sie zum rettenden Zeichen. Wer die auf den Stab erhöhte Schlange ansieht, entgeht der ansteckenden, lähmenden Drohung des Zurückwollens in die Unfreiheit.
Die Zumutung der Giftschlange, das Hinschauen auf das Trauma, das Einsehen dessen, was Sache ist, eröffnet die Freiheit, … die Freiheit zum Heil. ———
Das können wir wohl einsehen, wir Schauscheuen … auch wenn es uns ja nichts angeht.
Wir können einsehen, dass es nötig und befreiend und heilsam sein kann, auf das zu schauen, was einem tatsächlich droht. … Nur wenn man’s sieht, kann man es meiden, überwinden und frei davon weiterleben. … Nur wenn die Gefahr oder das Verhängnis, der Fehler oder die Schuld, um die es geht, auch tatsächlich vor Augen stehen, kann es weitergehen. Andernfalls bleiben sie übermächtig und endgültig: Die Ohnmacht, die Übermacht, vor der man blinde Angst hat.
Und darum doch noch einmal der zweite Blick aus unseren eigenen Augen auf das, was in diesen Wochen vor uns steht.
Da ist ein schreckliches Stück Weltgeschichte im Leiden eines erniedrigten und misshandelten Menschen auf Golgatha. Schon alleine das wirklich wahrzunehmen, ist entscheidend, damit wir wissen, welches Unheil wir riskieren, wenn wir nicht den Schutz der Schwachen und die Sorge für Leib und Seele anderer Menschen zum Anliegen unseres Herzens machen.
Doch was das Kreuz uns zeigt, ist sogar noch schrecklicher als alles Grauen, das Menschen an Menschen verüben und das Menschen für Menschen verhindern können.
Denn da am Kreuz erhöht – … so, dass die Menschheit es seit nunmehr zweitausend Jahren sieht, wo immer sie auf das Zeichen blickt, das Christen auf ihren Kirchen, in ihrer Kunst, als Traumamahnung oder Hoffnungsbild hochhalten – … da am Kreuz erhöht, sieht die Menschheit seit nunmehr zweitausend Jahren, was ihre Sache war und ihre Sache wäre: Gott los zu werden.
Gott los zu werden, war ihr erster Trieb. Ihn nicht nötig zu haben, sondern selbst zu sein wie Gott (vgl. 1.Mose 3,5). Und das Kreuz erinnert jeden, der es sieht daran: Du könntest ganz ohne Gott sein und bleiben. … Jedes Kreuz erinnert uns daran, dass das möglich war und wäre.
Und jedes Kreuz fragt darum auch: Ist es das, was Du willst? Dass über Dir nur die absolute Leere starrt? Dass Du nur den Tod über und vor Dir hast? Dass Du einsam bist und einsam bleibst: Dein Ursprung abgeschüttelt, verleugnet, ausgeschaltet, … Deine Hoffnung verworfen, kaltgestellt und umgebracht?
Mensch, willst Du mit diesem Pseudo-Sieg leben? Willst Du diese Katastrophe, nach der Du Dich in Deiner Selbstherrlichkeit zu sehnen glaubtest, wirklich wahrmachen und dann wahrhaben und schließlich als letzte Wahrheit stehen lassen müssen?
Oder heilt nicht der Blick auf den Mann am Kreuz, in dem Dir Gott am Kreuz begegnet, Deinen kranken Wahnsinn?
Jagt Dir der Blick auf das, was Du – die Menschheit, die die Gottheit nicht ertragen konnte – da endgültig angerichtet hättest, nicht ganz ungeheure und widersprüchliche Schrecken und Erleichterungen durch alle Glieder und durch Geist und Herz?
Du hättest Gott auf diese Weise ausgeblendet: Ihn nie wieder gesehen oder gehört und Ihm auch nie wieder antworten müssen, wenn Du allein gekonnt hättest. …
… Aber das Kreuz hast Du nun eben nicht alleine auf- und anrichten können!
Es zeigt Dir gar nicht Deinen Sieg!
Sondern es zeigt, dass Der, Der Seine Gottheit nicht ohne Dich - die Menschheit - haben wollte, Dir Seinen Tod als Zeichen Seiner lebendigen und ewigen Liebe eingesetzt hat.
Was da seit zweitausend Jahren über allen Kirchen steht, was in unzähligen Bildern von Golgatha und unzähligen täglichen, stündlichen, jeden Augenblick dieser Welt erfüllenden Gesten der Bekreuzigung und des Kreuzschlagens vergegenwärtigt wird, das ist das Wunder, dass Gott der Menschheit zuvorkam: Er hat nicht ihren Hass, sondern Seine Liebe am Kreuz verewigt.
Nicht der gelungene Mord an Ihm, sondern das Geschenk, das Opfer Seines Lebens wird da sichtbar.
Gott lässt am Kreuz sehen, dass man Ihm nicht nehmen konnte, was Er freiwillig gab: Sich, Seine Gottheit und Menschheit, Seine menschgewordene und dennoch unendliche Bereitschaft zur Gnade für den Glauben.
Am Kreuz ist die Sache die: Was wir geworden wären, wenn wir es allein getan hätten – Affen, Monster, Teufel, die Gott los wurden –, das können wir nicht werden, wenn Gott sich selbst da einsetzt. Wenn Er unsere Gottlosigkeit annimmt, dann hebt Er sie zugleich auf.
Wenn Er den Tod, der Ihn abwürgen sollte, zum Beweis Seiner allem überlegenen Verbundenheit mit uns macht, dann ist diese vermeintliche Erniedrigung der höchste Ausdruck Seines Plans, dass wir Menschen werden sollen, wie Er sie will und liebt: Lebendig und voller Vertrauen auf Ihn.
Nicht umsonst setzt Johannes die Erinnerung an die eherne Schlange vor das schönste und dichteste und höchste und tiefste und größte und unvergesslichste Wort seines Evangeliums, … ja, des ganzen Neuen Testaments (Joh.3,16!).
Wie die von Mose erhöhte Schlange zeigte, dass was Israel sich gewünscht hatte, nicht eintrat, sondern Gott es zu seinem Heil doch in die Freiheit führte, so zeigt auch der Mensch am Kreuz, dass die menschliche Versuchung des Ohne-Gott-Seins zum Gegenteil geführt hat: Dass Gott Seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben!
Sehen wir zu, dass wir’s nicht aus den Augen lassen.
Denn es ist wie bei der Schlange, die man nicht sehen mag, aber doch sehen muss: Wer es ansieht, der soll leben!
Amen.
[i] W.A. 1, 354, 19ff
Invocavit, 18.02.2024, Matth.4,3-11, Stadtkirche, Jenny Müller
Versuchung: Ist das die Sucht oder sind wir auf der Suche?
I
„Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden.“ Mt 4,3
Bist du also Gottes Kind, so zeig ihn mir, deinen Gott, denn ich bin doch nicht blind.
Bist du ein Christ, so zeig mir wo Er ist,
oder versteckt Er sich, wenn die Welt geht unter in diesem Mist?
Bist du eine, die an Ihn glaubt- dann sag mir, hat deine Glaube dir den Verstand geraubt?
Oder bist du der, der abends betet, Gott dankt für diesen guten Tag, sag - was macht deinen Glauben so stark? - Dass du nicht davon ablässt und dich erfreust an dem was du hast nur selbst erzeugt?
„Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab, denn es steht geschrieben“ Er wird seinen Engeln für dich Befehl geben und sie werden dich auf den Händen tragen...“ Mt 4,6
II
Ja, Herr Teufel, gern und recht, will ich dir zeigen wir wunderbar mein Gott ist.
Doch braucht Er dafür nicht Steine verwandeln oder mit Wundertaten anbandeln, braucht nicht beweisen Seine Größe, denn ich gib Ihm und mir nicht die Blöße - mich und meinen Glauben beweisen zu müssen, vor dir und der ganzen Welt, nur weil du so kleingläubig glaubst, dass du dich selber hältst.
Ich bin es satt, die ganzen Fragen, die mich in die Irre führen wollen, die mir und dir Herr Teufel beweisen sollen, dass es meinen Gott nicht gibt.
Was für ein Humbug in diesen Tagen, die Leute glauben nicht mehr an Wundertaten, wollen mir zur Vernunft raten -
denn gerade befind ich mich für sie wohl zwischen verrückt sein und verrückt werden - sollte mich und meine Gedanken lieber erden.
Ich bin es leid die ganzen Blicke, die mich verurteilen, nur weil ich mein Herz gen Himmel strecke, muss mich und Dich, mein Gott, verteidigen in dieser Zeit, muss dabei zu sehen wie sie Dich entweihen, bei dem Anblick will ich nur schreien.
Was hat es so weltfern gemacht, Gott, an dich zu glauben? …Dass Leute haben aufgehört zu staunen? ..Dass sie ihren Verstand haben erlauben lassen, Dich aus ihrer Welt zu rauben?
..Oder dass all die schlechten Nachrichten einem selbst deine Hoffnung klauben?
III
„Und so …führt der Teufel uns mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigt uns alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und spricht: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“ Mt 4,8-9
Ja die Versuchung lauert überall,
wir können bald leben im Weltall,
mit Gentechnik aufhalten unseren Verfall,
wahrscheinlich mit Drohnen fliegen schneller als der Schall,
unsere Vorstellung vom Leben so ….prall.
Und da stellt sich mir die Frage: Kommt des Teufels Versuchung eigentlich von Sucht oder von Suche?
…und ist es wirklich so ratsam bei dieser Frage auf Gott zu fluchen,
oder … doch lieber vielleicht einen Platz in seinem Reich zu buchen?
Versuchung, dass ich die Sucht,
sie haut einen um mit ihrer Wucht.
All die Wünsche und Gedanken,
die unseren Verstand bringen ins Wanken,
all das „hätte-wäre-könnte“, welches nicht aufgibt und dir verspricht, dass es noch besser geht, dass da noch mehr ist in diesem Licht:
All das Verlangen nach der Unmöglichkeit,
nach der eignen Utopie in der Wirklichkeit.
Und so können wir manchmal nicht anderes - müssen uns hingeben,
müssen es fühlen in uns so bebend,
müssen es aufnehmen in unsere innere Leere in der Hoffnung, dass es uns erfüllt.
„… Der Geist zwar ist willig, das Fleisch aber schwach.“ Mt 26,41
Doch was ist, wenn es dann einfach wieder verdampft und gleich darauf spüren wir innerlich wieder diesen Kampf, ..kein Gefühl des Friedens in uns, so sanft.
Das Versprechen: Nur versprochenen Silben,
kein festes Wort, das unser Verlangen kann stillen.
Kommt Versuchung also von Sucht …oder doch von Suche?
Denn dann sehen wir all die anderen Götter in dieser Welt, die uns angepriesen werden, in der Hoffnung, dass ein bisschen Glück vom Himmel fällt:
all die anderen Götter, wie die Liebe, die sagt „Am Ende sieg ich“,
oder die Hoffnung die uns spuckt „Alles wird gut“ ins Gesicht,
das Schicksal das stolz darbietet: „Es kommt wie es kommen soll“
und das Karma, das vorfreudig grollt: „Jeder bekommt was er verdient“
Ja, das Feld zu Dir, unser Gott, ist wahrlich vermint.
Ach und dann nicht zu vergessen, all die Helden und Heldinnen die ihren Glauben an sich selber messen: Ihre Schönheit, ihren Reichtum und Besitz.
Ja.. man kann echt reinfallen auf diese ganzen Tricks.
Denn wer muss nicht zugeben, dass es einfach ist,
mal die Welt in der eigenen Hand sich drehen zu lassen -
ohne auf Anderes zu achten, ohne über Andere zu wachen, ohne was für die Gemeinschaft zu machen.
Unsere Welt ist manchmal klein, wir wollen manchmal einfach nur sein.
Der Alltag rauscht an uns vorbei, zieht uns mit sich und uns in ihn hinein:
Dann sind da all die Sachen in unserem Kopf, all die Zwänge und Wünsche und hirnlosen Gespinste .. und all das was uns aus dem Gleichgewicht bringt.
Wie ein Schiff, das zu einer Seite hin langsam sinkt.
Die Freiheit uns dann hinterherwinkt und das Mögliche was unsere Utopie umschlingt.
Puh - das ist ganz schön viel Versuchung.
Doch die Größte, das ist der Nicht-Glaube in diesen Tagen.
Der Zweifel, der stellt deine ganze Weltanschauung in Frage.
Die dunklen Schwaden, die ab und zu aus dem hellen Licht ragen.
Das ist der Moment, wenn du gerne sehen würdest, wie der Teufel auch, dass Gottes Engel dich tragen.
Wenn all die grauen Gedanken an dir nagen und du stolperst und verlierst dein Gleichgewicht.
Da wünschen wir uns Du Gott, tauchst auf und schaust uns ins Angesicht. Da suchen wir Dich in all den Nebelschwaden - da suchen wir Dich, kurz vorm Verzagen.
Das ist ganz schön viel Versuchung. Doch auf was sind wir auf der Suche? Ist das vielleicht nur die Suche nach einer Zukunft?
IV
Sind auf der Suche in all dem Chaos, im Jetzt und Hier, wollen doch eigentlich nur ein Gefühl des WIRS.
Wollen, dass eine Hand uns festhält,
wollen, dass unsere innere Leere uns nicht ständig vor die Füße fällt, wollen das Jemand unser Leben mit Seinem Licht erhellt.
Und so brauchen wir doch eigentlich sonst nichts in dieser Welt,
wollen doch nur dass Sein himmlischer Glanz auf uns fällt.
Das Wissen, dass Er für uns da ist, alle Zeit,
und dass so unsere Seelen nicht mehr nach Unvollkommenheit schreien.
Müssen uns eben nur besinnen.
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“ Mt 4,4
All die Versprechungen nach „Höher-Schneller-Weiter“ aus deiner Hand, mein lieber Teufel,
kannst du behalten - sie zerfallen zu Sand.
Denn wir haben‘s erkannt.
Haben erkannt, was wir brauchen, stehen manchmal etwas auf dem Schlauche.
Denn all die Verheißungen unserer Zeit, sind nichts wert gegen Seine Ewigkeit.
Sind nichts wert, denn wir wollen Gottes Herrlichkeit.
„Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“M t 4,10
Brauchen also nicht mehr suchen, nicht mehr fragen, nicht mehr versuchen ständig was Neues zu wagen - denn da ist diese Ruhe, dieses Licht, Sein Wort, das zu uns spricht -
Und es hat Gewicht: Ist wahr, ist klar, ist voll Liebe für uns.
Und an Ihn zu glauben ist keine große Kunst.
So kann es aufhören das Suchen und all die Versuchung, denn..
Er ist unsere Antwort auf die Zukunft!
Und „Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel herzu und dienten ihm.“ Mt 4,11
So bewege Gott, der Herr unsere Herzen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Sexagesimae, 04.02.2024, Stadtkirche, Markus 4, 26 - 29, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Sexagesimæ - 4.II.2024
Markus 4,26 - 29
Liebe Gemeinde!
In einem ziemlich durchwachsenen – und schon haben wir landentfremdeten, virtualitätsaffinen Städter ein Bild aus dem Ackerbau! – … in einem ziemlich durchwachsenen Zeitungsartikel also, der sich über die protestantische Neigung zur Hochschätzung eines strengen Arbeitsethos ausließ, wurde Jesus als etwas bezeichnet, das mir nie in den Sinn kam, kaum über die Lippen und nun nicht mehr aus dem Hinterkopf kommt: Jesus war „ein glücklicher Arbeitsloser“ hieß es da, in dem Donnerstagsblatt, das die sog. Intelligenzia gern liest[i].
… Jesus, ein Arbeitsloser. So denken sicher nur Protestanten, die im engen Sinn buchstabengläubig sind. Denn das Neue Testament zeigt Ihn uns tatsächlich nicht als den Zimmermann, der Er war. Es schweigt über die beinah zwanzig Jahre Maloche, in denen Er in Nazareth tagaus, tagein einfach mit Seinen Händen arbeitete und Sich abrackerte.
Wer allerdings ein wenig Lebenserfahrung oder Phantasie hat (was sich gegenseitig bedingt), der ahnt, wie eine anstrengende körperliche Tätigkeit, wie genaue Maßarbeit, wie Auftragserfüllung und Haushalten mit den Schaffenskräften, wie Fertigstellung eines Werks und dann sofort Entwurf und Entstehung eines neuen Gegenstandes den Menschen Jesus, den Arbeiter Jesus geformt haben.
Für manche Christen - unter ihnen besonders der berühmte französische Aristokrat Charles de Foucauld[ii] - war es darum gar nicht das im Neuen Testament beschriebene Wanderprediger- und Wunderheiler-Dasein Jesu, das sie in Seine Nachfolge brachte, sondern das buchstäblich verschwiegene, ordinäre Handwerkerleben. Dieses verborgene Leben in Nazareth, die Jahre der einfachen Arbeit Jesu ließen Charles de Foucauld den Luxus und die militärischen Ehren seiner Herkunft aufgeben und stattdessen ein Leben als Pförtner, Hausmeister, Laufbursche, Straßenfeger, Dachdecker, Gärtner und Kloputzer bei verschiedenen Klöstern in Nazareth und Jerusalem versuchen, um schließlich in Algerien als Einsiedler unter der berberischen Landbevölkerung wie Ihresgleichen zu existieren: In der Nachfolge Jesu, des Alltäglichen, … des Kleingewerbetreibenden, des Tagelöhners.
Wer also ein wenig Lebenserfahrung und Phantasie hat, spürt zwischen und hinter den Zeilen der Bibel nicht nur den fröhlichen Taugenichts, den unbekümmerten Landstreicher Jesus, sondern auch den schuftenden, unauffällig sich abmühenden Menschen. Jesus, das Arbeitstier.
So dass ich durchaus zu der Predigt ausholen könnte, die seit Wochen in mir gärt, weil ich - wie wir alle - an jeder Ecke und jedem Ende, in der Kita, in den Pflegeeinrichtungen, bei Behörden und auf Bauernhöfen, in den Nachrichten und in beinah jedem Gespräch höre und merke: Es gibt zu wenig Arbeitsbereitschaft in unserm Land, … zu wenig Arbeitsbereitschaft und zu wenige Arbeitskräfte. Da ließe sich nicht nur streng arbeitswütig und geschäftstüchtig und gewinnsüchtig, wie der berühmte Soziologe Max Weber das Ethos der Reformatoren zusammenfasste, ansetzen, sondern auch durchaus einfach biblisch – und das heißt immer kritisch gegenüber uns Zeitgenossen.
Biblisch wäre die Kritik folgende: Ihr könnt durchaus ja noch Leistung und Einsatz bringen. Aber im Namen des Verkehrten. Wo Arbeit als Mittel zum persönlichen Erfolg, mit dem Ziel origineller Sinnfindung, als ein Weg der Selbstverwirklichung betrachtet wird, werden Ursache und Wirkung verwechselt. In der biblischen Ethik dient Arbeit keinem dieser Zwecke des Selbst[iii]; biblisch ist Arbeit nie Ego-motiviert, sondern sie ist - in einem antiquiert scheinenden Begriff gefasst - „Dienst“[iv]. Dienst, der geleistet wird für die Gemeinschaft, für Andere, für den Frieden, gegen die Mächte der Sünde und des Todes.
Insofern ist der Vorschlag, eine Dienstpflicht für junge Menschen einzuführen, nicht nur hilfreich und notwendig, sondern auch heilsam: Weil nur so sich zeigen kann, dass etwas, das ich nicht für mich tue, sondern eindeutig für andere, mir selbst dennoch eine Erfahrung des Lohnenden - nicht des Lohns! - und eine Bestätigung der Menschlichkeit - was mehr ist als Selbstbestätigung! - und ein beglückendes Bedanktwerden - das nicht als Selbstbeglückung denkbar ist! - eröffnen kann.
… Dienst ist mehr als Arbeit, weil er den arbeitenden Menschen in einen größeren Zusammenhang als das bloße Eigeninteresse rückt.
Deshalb stellt sich bei allen, die vorhaben, durch ihre Arbeit v.a. sich selbst zu bedienen und zu beweihräuchern, so wenig tiefes Glück und so viel Unbefriedigung ein. Weil sie mit ihrem Anspruch, sich selbst durch ihren Erfolg zu finden und zu bestätigen, an etwas arbeiten, das nicht erarbeitet werden kann: Einbettung in die tiefste menschliche Lebenserfüllung einer neid- und sorglosen Harmonie.
Genau diese Erfüllung aber werden wir nicht herbeischaffen oder uns zusammensparen oder durch Sonderzulagen erwerben können, auch wenn sie in der Dankbarkeit und Sinnerfahrung des menschlichen Für- und Miteinanders, des Einander-Dienens also aufleuchtet.
Und damit sind wir nun an der Stelle, an der unterm Trampeln und Stampfen aller menschlichen Anstrengung trotz allen Einsatzes dennoch kein Gras wächst und kein Segen! … Wieland, der Waffenschmied, Hans Sachs, der singende Schuster, Dagobert, die metallbrütende Ente, … wir ganz unterschiedlich schaffenden, schaffenden Häuslebauer alle miteinander werden dieses Eigentliche tatsächlich nie fabrizieren, produzieren, kultivieren, aktivieren können.
… Unsere ganze Arbeit an dieser allesentscheidenden Stelle ist und bleibt für die Katz!
… Trotz aller Schwielen an Jesu Händen, trotz aller apostolischen Ethik des Dienstes, trotz aller Notwendigkeit, das Arbeiten als sinnvollen Beitrag nicht für den Einzelnen, sondern für die Gesellschaft wiederzugewinnen, sind wir hier auf dem eigentümlichen, dem einzigartigen Acker aus Jesu Gleichnis, auf dem das Wesentliche wächst, während niemand etwas tut.
Diese kurze Erfindung Jesu, des Reich-Gottes-Geschichtenerzählers von der selbstwachsenden Saat bleibt ja auch heute noch so irritierend, wie sie es ursprünglich war. Sie zeugt von einer buchstäblich blühenden Phantasie.
Denn ob er uns Hobbygärtnern aus der Vorstadt oder seinen galiläischen Pappenheimern damals erklärt, dass ein Bauer sät und danach schläft und Däumchen dreht: Alle, die das Regal des Supermarkts nicht für den Ursprung der Nahrungsmittel halten, wissen, dass das nicht zutreffen kann. Selbst Robinson in seinem Südseeklima, das wie ein Gewächshaus Furchtbarkeit unterstützt, musste Gerste und Reis, die er zufällig sprossen fand, mit mühevollem gezieltem Einsatz anbauen und pflegen, um einen wirklichen Ertrag davon zu haben.
Jesu lässige Landwirtschaft des dolce far niente - diese Ernteentwicklung ohne menschlichen Einsatz - ist aber nicht nur agrartechnischer Quatsch, sondern auch theologisch fragwürdig: Das unbekümmerte „Einfach-Kommen-Lassen“, von dem das Gleichnis spricht, steht ja im klaren Widerspruch zu dem Fluch auf dem Acker, den Adam einst verursachte: „Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang“, hatte Gott da verhängt. „Dornen und Disteln soll er dir tragen dein Leben lang … und im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist“ (1.Mose 3, 17ff).
So hart also stößt sich Jesu Idyll von „der Mensch schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie“ mit der biblischen Urkunde unserer nicht arbeitsfreien, nicht mühelosen Wirklichkeit.
Aber genau an dieser Naht- und Reibungsstelle enthüllt sich schließlich auch der Sinn des unrealistischen kleinen Gleichnisses vom bequemen Bauernleben. Seit den ersten Zügen der Bibel wissen wir ja bereits, dass die Schöpfung zwei Möglichkeiten bot: Das reine Naturwunder jener Lebendigkeit, die jede Gestalt des Lebens beherbergen und bewirten kann, und die aus des Menschen Entfremdung resultierende Eigenleistungswelt, in der der nunmehrige menschliche Fremdkörper nur unter Anstrengungen über die Runden kommt und alle anderen Geschöpfe in seinen Überlebenskampf verstrickt.
Letzteres ist die Welt der Arbeit: Der Mensch im Stress, der die gesamte Kreatur mitstresst.
Ersteres war das Paradies, der Garten des selbstwachsenden Segens.
Und so irritiert, so befremdet wir zunächst auch sind, wenn wir durch Jesu Worte auf eine Wirklichkeit stoßen, die nicht die unsere zu sein scheint, so wenig rätselhaft und geheimnisvoll ist dann doch, wovon er dabei spricht.
Wer – wie es in Jesu Mund immer wieder heißt (vgl. allein Mk.4,9+23; [8,18]) – „Ohren hat, zu hören“, der merkt, was Jesus ja auch ausdrücklich in der Einleitung zur Beschreibung der von uns Menschen unbeschleunigten und ungestörten und unverursachten und unaufhaltsamen Wachstumsentfaltung ausspricht: Nämlich dass der Acker, der ohne Fluch und Plagen einfach nur aus sich Frucht bringt, kein Arbeitsfeld der Menschen darstellt, sondern den Durchbruch des Reiches Gottes! ————
Und jetzt ist es an uns, in die Ruhe einzukehren, die sich da ausbreitet!
… Wie viel sind wir in Habacht-Stellung angesichts der riesengroßen Aufgaben, die auch dem einsatzwilligen, dem dienstbereiten und frei verantwortlichen Teil der Menschheit über den Kopf wachsen, … von denen ganz zu schweigen, die in ihrer materiellen Not oder Abhängigkeit, ihrer Unterdrückung, ihrer Zermürbung überhaupt nicht daran denken können, ob das Feld noch für die nächste Ernte bestellt ist!
… Wie viel Flurschaden ist in der Welt angerichtet; wie viel Boden haben wir schon verloren, verbrannt, überdüngt, ausgelaugt; wie viel Saat auf Zukunft haben wir mit unserm Tun und Lassen zerstört, wieviel veruntreut, wie viel ist uns auf dem Halm verdorben; wie viel Einsatz sind wir schuldig geblieben, obwohl Jesus uns doch zu seufzen lehrt (Matth.9,37f): „Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige! Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende!“
… Stimmt alles, stimmt alles! …
… Und dennoch das Gleichnis von der Ruhe vor der Ernte.
Dennoch dieses Gleichnis Jesu vom seelenruhigen Reich-Gottes-Abwarten!!
Dieses Gleichnis vom seligen Nichts-Tun-Können und also auch Nichts-Tun-Müssen!!!
„Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht und hernach lange sitzet und esset euer Brot mit Sorgen, denn seinen Freunden gibt’s der HERR im Schlaf“: Dieser einzigartige – wenn wir ihn ernstnehmen: tausend Jahre Yoga aufwiegende, allen Leistungsdruck der Erde aushebelnde, alles Burnout vorbeugend löschende, alle schwätzende, panikverbreitende, apokalyptikschürende, aktivismusverströmende Weltrettungsgeschäftigkeit entlarvende – Satz der Entlastung in den Psalmen ist der lange, tiefe, regelmäßige Atem, den Jesus uns zu schöpfen und auch wieder ausströmen zu lassen lehrt.
… Schlafen und Aufstehen, Leben und Sterben, Sterben und Auferstehen: Dieser Rhythmus schlichter, existentieller, vertrauender Hingabe an die Quelle und das Ziel unseres Daseins – Gott, Der uns beatmet und belebt und unsern Atem und unser Leben wieder in Sich hineinnimmt – … dieser Rhythmus voller Ruhe ist die unvergleichliche Gabe des Glaubens: Warten zu dürfen, dass alles reif wird.
Warten zu dürfen, dass in dieser Welt, die wirkt, als sei sie welk zum Tode, das Reich Gottes heranreift. Warten zu dürfen, dass in der Geschichte, die wir als unsere zerrissene Gegenwart erleben, die Zukunft – gute Zukunft, heile Zukunft, ewige Zukunft – wächst …, auch wenn wir nicht wissen wie: So heißt es ja ausdrücklich! … Wir wissen nicht wie! Wir können es nicht wissen. Und nur darum auch nicht selbst in die Hand nehmen, beschleunigen, beschlagnahmen und zerstören.
Warten zu dürfen, dass um uns und in uns das Ziel Gottes sich durchsetzt. Dass Gott zu Seinem immer schon gültigen und dann endgültig unumstößlichen Ziel kommt, dass alle Dinge, alles Menschliche, jede Seele, jedes Wesen sein werden, wie Er sie wollte (vgl. 1.Mose1,31): „Sehr gut!“
Dieses unerklärliche, unbemerkte, unaufhaltsame Wachstum Gottes in mir, in Dir, in den Verhältnissen, in den Formen, in den Kleinigkeiten und den überwältigenden Zusammenhängen der Wirklichkeit, ist unserem Zugriff, unserem Einfluss, unserer Mühe entzogen.
Einzig in der Ruhe, die der Glaube daran schenkt, … einzig im völligen Einswerden mit dem Geheimnis, dass alles trotz allem gut werden wird, liegt der Sinn des unsinnigen Gleichnisses vom Nichtstun. ———
Dass wir faule Leute, „glückliche Arbeitslose“, desinteressierte Schmarotzer dadurch werden sollten, die dank der Ausbeutung der armen 90 % oder eines sonstigen Automatismus unserer Lebensumstände einfach bequem absahnen: Das sei ferne!
Der Acker, auf dem Gott allein Sein Reich hervorbringt, ist zu heilig für solche Sünde.
Die Sichel, die Er schickt – im Neuen Testament begegnet sie nur noch einmal am Ende aller Tage, wenn es in der Offenbarung (14,14) heißt: „Und ich sah … auf der Wolke saß einer gleich einem Menschensohn; der hatte eine goldene Krone auf seinem Haupt und in seiner Hand eine scharfe Sichel …“ – die Sichel also und die Ernte sind zu ernst für solchen Schwachsinn.
Jesus hat mit Seinen eigenen Händen zu viel getan, … sie sind Ihm zu schrecklich verwundet worden, man hat sie zu brutal zugerichtet, um Ihm am Kreuz die Welt aus der Hand zu nehmen, für die Er Schweiß und Blut als Zimmermann und Schöpfer, als Arbeiter und Erlöser vergoss.
Unbeteiligt an der Welt kann uns das Evangelium vom Warten-Dürfen also wahrlich nicht machen.
Aber unverzagt: Gottes Reich wächst. Es reift. Nicht davon wird wieder leer zurückkommen (vgl. die Schriftlesung: Jesaja 55, 8 -12); es wird vollkommen aufgehen.
Und wir dürfen schlafend und wachend, lebend und sterbend uns ganz darauf verlassen.
Wie Charles de Foucauld, der dem Arbeiter von Nazareth sein Leben im tiefsten Vertrauen der Hingabe an Seine Ziele überließ. – So können auch wir beten[v]:
Mein VATER,
ich überlasse mich Dir,
mach mit mir, was Dir gefällt.
Was du auch mit mir tun magst,
ich danke Dir.
Zu allem bin ich bereit, alles nehme ich an.
Wenn nur Dein Wille sich an mir erfüllt
und an allen Deinen Geschöpfen,
so ersehne ich weiter nichts, mein Gott.
In Deine Hände lege ich meine Seele;
Ich gebe sie Dir, mein Gott,
mit der ganzen Liebe meines Herzens,
weil ich Dich liebe,
und weil diese Liebe mich treibt,
mich Dir hinzugeben,
mich in Deine Hände zu legen,
ohne Maß,
mit einem grenzenlosen Vertrauen;
denn Du bist
mein VATER.
Amen.
[i] https://www.zeit.de/karriere/2016-11/martin-luther-reformation-arbeit-kapitalismus/komplettansicht
[ii] Vgl. dazu Jean-François Six, Charles de Foucauld – Der kleine Bruder Jesu, hgg. v. J.Rintelen, Freiburg/Breisgau 2015 und Gerd A. Treffer, Charles de Foucauld begegnen (Reihe: Zeugen des Glaubens), Augsburg 2000.
[iii] Die Krone der Schöpfung ist der Sabbat, die Ruhe: Das ist ein Grunddatum des biblischen Verhältnisses zur Wirklichkeit. Und so ist Arbeit biblisch tatsächlich zunächst die (negative) Konsequenz der menschlichen Wahl, wie Gott sein zu wollen. Früher hätte man formuliert: Arbeit ist Strafe für den Sündenfall. Nicht zufällig ist daher das Ur-Wunder der großen Taten Gottes, das Sein Lob, unseren Glauben und letztlich die Theologie weckt, die Befreiung Israels aus Sklaverei und Fron. Im Neuen Testament ist die Bilanz dann immer noch ungünstig für alle Verklärung eines Arbeitsethos der Selbstzwecklichkeit. Zwar ist der Apostel Paulus aus Bescheidenheit und aus Hochschätzung seiner Autonomie bedacht auf seinen eigenen Broterwerb als Handwerker (vgl. bes. 1.Korinther 9) und kann deshalb apodiktisch die Arbeit als Zuchtmittel der Freiheitsordnung eines evangeliumsgemäßen Lebens vertreten (bes. 2.Thess. 3,6-13), aber die überwältigende Perspektive, in der die Wirklichkeiten und Terminologie des Eifers, der Arbeit, des Knechtseins und Dienstes begegnen, ist eben die Praxis, die bei uns bis heute mit dem griechischen Wort für „Dienst“ verknüpft bleibt: „Diakonie“. Menschlicher Einsatz ist gesegnet, wenn er dem Miteinander und den Bedürfnissen der Gemeinschaft dient.
[iv] Die problematische Konnotation des Dienstbegriffs im folgenden Kontext, der immer wieder auch den NS-Arbeitsdienst vergegenwärtigt, gehört zu den Ambivalenzen, denen unsere Sprache, unsere Sozialformen und Weltgestaltung historisch nicht entgehen kann.
[v] Zitiert nach: https://www.charlesdefoucauld.de/index.php/spiritualitaet/messtexte-und-gebete/36-gebet-der-hingabe
Für die vollständige (stärker mündliche) „Urfassung“ vgl. Charles de Foucauld, Allen ein Bruder – Passwörter einer Spiritualität für unsere Zeit, hgg. von einer Gruppe Kleiner Schwestern und Kleiner Brüder, München-Zürich-Wien, 2020. S. 90.
3.So. n. Epiphanias, 21.01.2024, Stadtkirche Kaiserswerth, 2.Könige 5, 1 - 19 i.A., Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.n. Epiphan. - 21.I.2024
2.Könige 5, 1-19 i.A.[i]
Liebe Gemeinde!
Dieses Jahr dürfte politisch eines der bittersten Jahre seit dem einstweiligen Ende der großen, grässlichen, genozidalen und gewaltverherrlichenden Diktaturen in Europa werden.
Nach 1945 und 1989 hat es uns gefallen, die Sünden der Väter und Mütter, den mörderischen und gewissenlosen alten Adams- und Evasmenschenschlag für historisch zu erklären. Man meinte, „historisch“ heiße vergangen[ii]; es bedeutet aber etwas anderes: Es bedeutet „geschichtlich“, … und das heißt mit anderen Worten „real“.
Bereitschaft zu jeder Form der Lüge, Versessenheit auf jeden Unsinn und jede Untat im eigenen Interesse, Gier nach sinnloser Zerstörung, weil man sonst nichts fühlt, … hoffnungslose Flucht in den Krieg, der so wie er derzeit überall geführt wird den Menschen darin entmenschlicht, dass er Tat ohne Plan, Handlung ohne Zukunftsperspektive ist, obwohl doch das Bewusstsein der Zukunft den Menschen vom Tier unterscheiden dürfte, … alle diese Perversionen sind so losgelassen, so beherrschend, so weltwirksam geworden, dass man angesichts der Vertrauenskrise in unserm Land, …angesichts der Barbarei der Kompromisslosigkeit, die die Demokratien bedroht, …angesichts des unverhohlenen Sadismus, der auch in sogenannten aufgeklärten Gesellschaften, erst recht aber in den Tyrannenreichen dominiert, fragen muss: Was wird uns helfen? …….
Und nun ist die Antwort aus der grauen Vorzeit, als der Staat Israel - nicht der Staat Juda - sich auflöste, weil auf Erden nichts sicher ist und weil der HERR - wie es im Predigttext schaudererregend schnörkellos heißt - den Feinden Israels den Sieg gab, … nun ist die Antwort auf die Frage, was uns helfen wird, überraschend schnodderig: Kinder und Krankheiten.
Und da die alte, heilige Heilungsgeschichte so unverblümt daherkommt, leisten wir’s uns jetzt auch mal. Krankheiten wären manchen der Kriegstreiber und Gewaltschürer zu gönnen: Wenn ich Pest und Cholera herbeipfeifen könnte (eigentlich unerhört, in einer Predigt so zu reden), wäre es ein Leichtes zu sagen, an wessen Hals ich sie wünschte. Dass nämlich gewisse Volksverhetzer und Anwärter auf den Massenmörder-Titel von Thüringen bis Florida, vom Kreml bis zur Knesset und gewisse Schurken mit Atomraketen und Tunneln unter Kranken-häusern mal ordentlich von Schmerz und Schwäche schachmatt gesetzt sein sollten, statt scheinbar unempfindlich robust ihre Aggression verbreiten zu können, ist vielleicht nicht mal ein ganz unfrommer Wunsch: Wer Leiden nutzt und wem es nutzt, der sollte es auch kennen.
… So war es bei Naaman, dem Feldherrn, den der HERR obwohl er gegen Israel kämpfte mit Sieg segnete. - Und durch Krankheit verwandelte.
Verweilen wir kurz bei diesem sonderbaren Gedanken, der uns zu wild und unzivilisiert, zu ungezähmt und primitiv erscheinen mag. Darf man den Feinden der Menschlichkeit, darf man den Vernichtern des Guten, den Zerstörern des Friedens Böses wünschen?
Die angefochtenen Beter der Bibel, das leidende Volk Gottes tut es andauernd.
Weil in diesem Wunsch, gegen den sich unsere Wohlerzogenheit und unsere naive Humanität sträuben, der Ernst der göttlichen Verheißung und unseres Vertrauens darauf sich Ausdruck verschaffen:
Würden wir Gott nicht zutrauen, dass Er Heil will, ließe das Unheil uns im unbequemen Zweifelsfall gleichgültig und stumm.
Wenn Gott nichts heilig wäre, dann gäbe es nicht das, was wir Sünde und Sünder nennen.
Wenn es aber das Gute gibt und die Gerechtigkeit, dann können wir dem Schlechten keinen Bestand und dem Bösen keine Ruhe gönnen! Dann dürfen, nein, dann müssen wir hoffen, dass das Verderben verdirbt, … dass die Vernichtungsenergie vernichtet, der stets Verneinende verneint, der Würger erwürgt wird.
Das ist ehrlichgesagt sogar das Zentrum unseres Glaubens.
Wohlgemerkt: Nicht, dass wir hier die Vollstrecker, dass wir die Rächer, die Entscheidenden, die Handelnden sind oder sein dürften.
Aber dennoch sollen wir unbedingt darauf hoffen, daran glauben, darum beten, dass die Grausamkeit und abgründige Bosheit in den Menschen von einem Widerstand, von einer Gegenkraft getroffen und dann geschwächt und dann besiegt und unschädlich gemacht werden.
Das zu wünschen heißt, das Kreuz, an dem Einer alle Krankheit, alle Schuld, alles Gift der Sünde an Seinem Leib ertrug, in seinem Ernst ernst zu nehmen.
Die zum Zerstören Mächtigen, die zum Lügen Eifrigen, die zum Blutvergießen Lustigen, die mit dem Bösen Verbündeten müssen getroffen werden von dem, was sie tun, es muss aus ihnen heraus, es muss ausbrechen an ihnen selbst, damit sie in der Vergiftung und Krankheit ihrer Schuld Gnade, Vergebung und Heilung finden können.
Solange sie es nur anderen antun und selbst nicht erleiden, wären sie nicht zu retten. Die bloßen Täter der Sünde werden durchs Kreuz - wo die Sünde unschädlich gemacht wird - nicht gerettet, sondern nur die Opfer der Sünde.
Mögen sie also krank werden: Auch wenn die Welt immer noch erschrickt und orakelt, wenn ein amerikanischer Verteidigungsminister ins Hospital muss und ein Monarch mit ähnlichen Beschwerden auch, oder eine Kronprinzessin[iii] oder eine andere der vielen Kunstfiguren, die wir die Starken und die Schönen nennen.
Dabei ist doch nicht die unerkannte, die bloß inkubierte, die rein latente oder bewusst ignorierte Krankheit der Weg zur Heilung, sondern nur ihr Ausbruch. …
Das ist eine der um den Preis der Rettung vergessenen Wahrheiten: Dass uns nicht das Leiden, sondern vielmehr seine Verdrängung und Verleugnung im Weg steht.
Wenn wir anfangen, das wieder zu begreifen – dass unser Kult des Gesunden, unsere Vergötzung des Wohlfühlens, unsere Selbstverdummung, man könnte ohne Schmerzen Mensch sein, uns schaden, uns schwach und unreif in Angst und Täuschung halten – … wenn wir anfangen, das wieder zu begreifen, dann kann uns geholfen werden.
Wir brauchen eine Kultur, die nicht das Strotzende, sondern das Hinfällige, nicht das Brutale, sondern das Bedrohte, nicht das Unberührte, sondern das vom Leben Gezeichnete achtet und ehrt. Ein Kultur, die nicht die Kranken, die Eingeschränkten, die Ohnmächtigen, die Hilfs- oder Pflegebedürftigen „aussetzt“, sondern deren Randfiguren und Außenseiter die gedankenlosen Egoisten, die Macht- und Erfolgsmenschen sein werden.
Diese Kultur ist fern gerückt in unserer nachchristlichen Zeit.
Aber wir müssen sie in uns tragen, müssen sie praktizieren und ausbreiten, wohin immer Gott uns geraten lässt, wohin immer er uns stellt, … so wie jenes verschleppte Kind aus Israel, das im Haus des Naaman von dem Propheten in Israel erzählt.
Dieses Mädchen mit einem Vertrauen, das man nur naiv nennen kann, ist ja diejenige, die dem großen Kriegsmann, der endlich krank geworden ist, um heil werden zu können, die einzig wahre Hilfe weist.
Sie macht aus der Geschichte von der helfenden Krankheit die Geschichte von zwei Kindern und dem Heil.
Ihr Vorschlag ist exotisch abseitig.
Das ist unser Glaube auch.
In die Welt der Siegertypen passt eine Einladung zurück zu den Besiegten wirklich nicht.
Aber eine andere haben auch wir nicht.
Israel, das von Aram geschlagen war, ist eine ebenso lächerliche Anlaufstelle für etwas Gutes, wie ein von den Römern Gekreuzigter für das römische Reich sinnvollerweise eine Erlöserfigur hätte sein können. Doch diese Unwahrscheinlichkeit hielt das Mädchen aus Israel aus, und die gleiche Unwahrscheinlichkeit hielten die Apostel, hielten die Märyterinnen und Märtyrer, die Sendboten und Sendbotinnen des Mannes von Golgatha aus, die das Imperium zu heilen begannen, als sie in Seinem Namen Kranke heilten und Sklaven und Geächtete und Namenlose und Einfältige seligpriesen und in der Gemeinde sammelten.
Das Reich der Römer fiel.
Die Kirche aus den Katakomben aber, die Kirche, die am Ende der Erde in Armenien und Äthiopien, in Georgien und in Südindien früheste christliche Völker schuf, ist trotz aller ihrer Torheiten, ihres Verrates, ihrer Anpassungen und Panikattacken bis heute geblieben. Und sie wird weiter bleiben, so lange es Kinder gibt, die von dem Propheten in Israel erzählen und sagen, dass man bei Ihm Heil und Leben, Gerechtigkeit und Brot, Liebe und das Reich des Friedens finden kann.
Nur darf die Kirche nicht aufhören, dieses Sonderbare und Unwahrscheinliche zu tun: Immer bloß auf den Mann aus Israel zu weisen, Der kann, was niemand sonst kann!
Mir ist bang um unsere Kirche heute, weil sie sich so darauf einlassen will, zu sagen, was angeblich verständlich oder heutig oder lebensnah ist. … Aber dass man bei den Besiegten in einem kleinen, sterbenden Zwergstaat Zukunft und Rettung findet, wenn man ein großmächtiger Kämpfer ist …: Das zu sagen, was allen Erwartungen und jedem einfachen Einsehen derart diametral widerspricht, das will die Kirche heute viel zu wenig.
Zu sagen, dass man dahin gehen muss – und zwar mit seiner ausgebrochenen und nicht mehr versteckten Krankheit, mit seinen peinlichen und ekelhaften Nöten – … dass man dahin gehen muss, wo einer selbst in Not und Krankheit und Schmerz und Elend steckt und wirklich keinen Zauber, keinen Reiz verströmt, sondern bloß blutet, … zu sagen, dass man dahin gehen muss, wenn man Hilfe sucht: Sagen wir, … sagt die Kirche das noch?
Sie muss es sagen!
Wir müssen es sagen!
Keep Christianity weird[iv]!
Wir müssen - und was noch viel mehr ist: Wir können - wie das im 2.Buch der Könige so genannte „kleine Mädchen“ werden, das dem kranken Großen half. Naiv, meinetwegen. „Weird“. Aber unbeirrt. Nicht geltungssüchtig, sondern einfach sicher.
Wir können wie dieses kleine Mädchen werden, … wir Männer und Frauen, wir Jungen und Alten, die am komischen, am rettenden Glauben an den Propheten hängen, Der kann, was kein König, kein Diktator und kein Präsident sonst kann und was den König in Israel zu Naamans Zeiten so schockierte, als er die Bitte um Hilfe verstand: ER kann töten und lebendig machen.
… Der König in Israel erschrak über die Bitte, den kranken Krieger zu heilen: „Bin ich denn Gott?“ … Wir aber können zu einem Propheten in Israel weisen, zu einem neugeborenen König der Juden, der vor dieser Bitte nicht erschrecken muss.
… Ist ER denn nicht Gott?
Und so können wir – wenn wir beim Eigenartigen, beim unverwechselbar Einzigartigen unseres Glaubens bleiben! – wie mein allerliebstes kleines Mädchen aus Israel werden: Maria heißt sie, und auf den ersten, ältesten Bildern von ihr, da tut sie das, was wir tun können, sollen, müssen, dürfen: Auf diesen ältesten Ikonen heißt sie einfach nur die „Hodegetria“ - die Wegweiserin - und tut das, was die namenlose Kleine in Naamans Haus tat. Sie weist auf Den, Der unsere und aller Welt Hilfe ist.
Und was dann passiert?
---- Pah! Lächerlich! Niemand muss wie im Managermotivationsbootcamp über glühende Kohlen laufen oder eine Marathon-Challenge bestehen; niemand muss über sich hinauswachsen oder eine absurde Gegenleistung, einen fiktiven Preis für schamanistisch besprochene Eigenbluttransfusionen oder genetisch-molekulare aufbereitete Immunpräparate, die ewig-jung halten zahlen; niemand muss da beweisen oder vortäuschen, wie selbstherrlich und selbstheilend man doch ist.
Wir sind es nicht. Wir sind weder herrlich, noch in der Lage, uns selbst zu heilen als die Menschen, die wir sind.
Aber wie Naaman wird uns geholfen:
Bloß eintauchen.
Das heißt: Untergehen.
In nichts Großem. … Keinem gewaltigen Krater der Läuterung, keinem brodelnden Brunnen der neuesten chemischen Wunderwaffen gegen das Wirkliche am Leben. Nur in einem kleinen Wasserlauf am Rand von Israel: Einem Wasser, das einmal die Grenze zwischen der Wüstenwanderung und dem Heimatfinden war.
In diesem ehemaligen Trennungsfluss - dem Jordan -, der Drinnen und Draußen unterschied, der eine Linie zwischen der Todesgefahr des unsicheren Umherziehens und dem friedlichen Leben im Verheißenen markierte, … in diesem Fluss untergehen und doch nicht untergehen: Das ist alles.
Naaman hätte es beinah zu albern gefunden. Zu unerklärlich und auch zu antiklimaktisch.
Unter seiner Würde als Vertreter der Aramäerwelt politischer Gewalt.
Aber: Keep Christianity weird! … Uns ist die selbe Heilung gegeben. Die Taufe. Die alle, die sich auf diese vermeintliche Kleinigkeit einlassen, von großen, … von allergrößten Schädigungen, Täuschungen und Krankheiten heilt.
Wer sich auf die Taufe einlässt, auf das kleine Bad, das den alten Menschen mit seiner Sucht nach eigener Größe verschwinden macht, der kann werden, was Naaman wurde.
Denn beim Ergebnis des Heilungswunders durch das Wasser zeigt das 2.Buch der Könige ganz glasklar, dass es nicht um eine äußerliche Wiederherstellung allein geht. Sagt es doch von der Haut des aussätzig-gewesenen Naaman nicht nur, dass sie rein wurde, sondern sie wurde wie die Haut eines „jungen Knaben“ in genauer Entsprechung zu dem jungen Mädchen, dessen Vertrauen diese Wandlung anstieß.
– „Na’ar katan“ und „na’ara k’tanah“. Im Hebräischen hört man unmittelbar, wie es um diesen Gleichlaut geht in der Geschichte zweier Kinder. Einer Geschichte, in der einer durch Krankheit, Leid und Taufe so wird wie die andere - trotz Gefangenschaft und Leid - es dank ihres Glaubens schon war.
Es ist die Geschichte dieser beiden, die Jesus vor Augen gestanden haben muss, als Er sagte: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“ (Mathh.18,3)
Und darum sind es Taufgeschichten wie diese, in denen der alte Adams- und Evasmenschenschlag verwandelt wird in Kinder Gottes, die uns Hoffnung geben können in unserer Zeit.
Weil Menschen, die das Großspurige und Gewaltsame hinter sich und das Leid an sich heran lassen, die neue Welt, die neue Kreatur näher bringen, weil der Prophet in Israel, Der alles teilt und alles heilt, auch in ihnen jene Quelle fließen macht, von der Er selbst im heutigen Evangelium spricht (Joh.4,14): Wasser, das in das ewige Leben quillt … das Leben, das niemand allein, das wir alle gemeinsam nur in Gott haben!
Amen.
[i] Bei diesem Predigttext, der uns wegen des altkirchlichen Epiphaniaszeit-Motivs „Taufe“ an diesem Sonntag traditionell vorgegeben sein dürfte, stellt sich eine Grundfrage: Kann man – was seit Langem in der evangelischen Kirche und Theologie verpönt ist – heute noch „allegorisch“ predigen, d.h. im Ersten Testament Motive erkennen und entsprechend deuten, die im Neuen Testament wiederbegegnen und weiter gestaltet, gelebt, gefüllt werden? … Wie könnte man nicht? Wo die allegorische Korrespondenz und gegenseitige Abhängigkeit der beiden Teile der christlichen Bibel und damit auch der Traditionen von Synagoge und Kirche nicht in ihrer Differenzierung lebendig und fruchtbar wird, ist dem historischen Scheiden und aktuellen Zerreißen der Corpora– bei bester Absicht – unweigerlich der Weg geebnet.
[ii] Das „Ende der Geschichte“, das Francis Fukuyama 1992 in seinem vielzitierten Buchtitel feststellte, ist der tödlichste Bumerang der politischen und anthropologischen Diskurse der jüngeren Vergangenheit gewesen: Wunschdenken einer privilegierten West-Welt, die ausblendete, dass die meisten Milliarden dieser Erde weiterhin unter den vermeintlich vergangenen Realitäten der Gewalt, der Not und des Kampfes ihr Leben fristen müssen.
[iii] Eine Woche, in der nicht nur bunte Blätter über entsprechende Meldungen zu Lloyd Austin, Charles III. und Catherine, Princess of Wales berichteten, ist immerhin bemerkenswert für eine Epoche, die Krankheit oder Schwäche so ideologisch tabuisiert wie die unsrige.
[iv] Dieses Leitwort – „Haltet das Christentum eigentümlich / sonderbar / sperrig!“ – ist für mich sicherlich ein Impuls, der in diesem Jahr immer wiederkehren wird. Er verdankt sich dem unvorstellbar aufrichtenden Buch: Justin Brierley, The Surprising Rebirth of Belief in God – Why New Atheism grew old and secular thinkers are considering Christianity again, Tyndale House Publishers (Carol Stream, Illinois) 2023 - bes. S.222ff. - Wenn möglich: LESEN!
2.So. n. Epiphanias, 14.01.2024, Stadtkirche, Hebräer 12, 12 - 25 i.A., Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.n. Epiphanias - 14.I.2024
Hebräer 12, 12 - 18. 22- 25a
Liebe Gemeinde!
Vierzehn Tage später als alle anderen haben wir heute hier ein echtes Silvester-Feuerwerk aus dem Hebräerbrief erlebt: Es kracht und zischt, schlägt donnernd ein wie der Blitz, stäubt Funken und blüht hell auf in schönsten Farben.
Was Böller und Raketen, Sternenregen und Knallfrösche bei mir nicht auslösen, das bewirkt das vorletzte Kapitel des großen geheimnisvollsten Briefes der Bibel spielend. Der Hebräerbrief kann mit seinen pyrotechnischen Effekten elektrisieren, er jagt mir Schauder durch Kopf und Körper, er klingt nach kräftiger Abwehr und jubelndem Einläuten. Er erregt Furcht und den Reflex fest geschlossener Augen … und ist gleichzeitig exotisch schön.
Erschütternd laut und schrecklich ist im Hebräerbrief das wiederholte Dringlichkeitssignal, der große Paukenschlag seiner Warnungen:
„Lasst uns achten auf das Wort, damit wir nicht am Ziel vorbeitreiben!“ (2,1) – BUMM!
„Ermahnt euch selbst alle Tage, solange es »heute« heißt, dass nicht jemand unter euch verstockt werden!“ (3,13) – KNALL!
„Laßt uns mit Furcht darauf achten, dass keiner von euch zurückbleibe, solange die Verheißung noch besteht …“ (4,1). – ZISSSCCCHHH!
„Wir wünschen, dass jeder von euch den selben Eifer beweise, die Hoffnung festzuhalten bis ans Ende, damit ihr nicht träge werdet …“ (6,11). – PENG!
„Lasst uns nicht verlassen unsere Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das um so mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht. … Sonst bleibt uns nichts als ein schreckliches Warten auf das Gericht und das gierige Feuer, das die Widersacher verzehren wird.“ (10,25-27) – KRACH!
„Denn unser Gott ist ein verzehrendes Feuer!“ (12,29) – PCHCHUH!!!
Wen diese kritisch-knisternde Pyrotechnik der geschürten Erwartung, der aufgeladenen Hochspannung nicht bis in die Haarwurzeln aufweckt, der ist geistlich nicht mehr zu erreichen:
Der christliche Glaube und die christliche Hoffnung sind ein Stoff wie Zunder, … sie sind eine Ladung glühender Energie. Es drängt in ihnen und durch sie ein Augenblick heran, der es hell auf Erden machen wird: Der Anbruch des Friedensreiches, der Durchbruch der Gerechtigkeit Gottes. Die Zündschnur dieser Zukunft aber, die die Sünde und alle Lebenszerstörungskräfte sprengen wird, ist schon angesteckt. Die Zeit läuft rasch wie das Flämmchen an der Lunte, und man muss sich einstellen auf die Entladung, in der alle Weihnachtswärme, alle Menschenfreundlichkeit Gottes, Seine urknallauslösende Weltliebe, Sein feuriger Neuschöpfungsgeist das tödlich Böse in unserer Wirklichkeit zerreißen und Heilung sprühend vom Himmel regnen oder aus der Erde emporzüngeln lassen wird (vgl. Jes45,8; 63,19-64,1!).
… Darum entlädt der Hebräerbrief dieses Trommelfeuer von Silvesterböllern, die das rasche Ende des Alten und den nahen Anfang einer lebensfähigen und lebensfreundlichen und lebenswilligen Welt bekunden: Achtet, mahnt und haltet Euch fest! Die große Stunde von Schluß und Beginn steht unmittelbar bevor.
… Feuerwerk des Glaubens am Abend des Abgesangs, in der Mitternacht der Zeit vorm Morgenglanz der Ewigkeit! ——
Wo allerdings solches Feuerwerk aufsteigt - man konnte sich vor zwei Wochen wieder davon überzeugen -, da stinkt’s auch mächtig, und wehe, eine Salve oder eine ganze Batterie solcher Freudengeschosse und Angstvertreiber geht daneben! Wenn das gute Feuer der ungeduldig machenden frohen Botschaft zu jener Brandwaffe wird, die man in byzantinischer Zeit das „griechische Feuer“ nannte - eine spätantike Vorahnung der Phosphorbombe -, da wird es scheußlich. Freudenfeuer, die zu Verbrennungen oder Flächenbrand führen, sind etwas Gotteslästerliches, weil das ungestüme Lodern der Hoffnung und des Glaubens zwar ungeduldig machen darf und soll, aber nicht unduldsam!
Leider verlassen aber auch im Hebräerbrief – wie überall, wo Menschen mit dem überirdischen Licht Gottes umgehen – manche seiner Leuchtzeichen die richtige Bahn und richten Schaden an: Im Neuen wie im Alten Testament geschieht das unseligerweise oft dort, wo von Esau die Rede ist (vgl. Maleachi 1,3 // Rö.9,13), dem älteren der Zwillinge Isaaks und Rebekkas und direkten Bruder des in Jakob erwählten Volkes Israel. Neutestamentlich könnte man sagen: Wo Esau, das eigenständig-andersartige Ebenbild der zum Glauben Berufenen genannt wird - Esau, der diese Berufung nicht hat -, da liegt oft Schwefel in der Luft. Weil wir den, der ganz wie wir und darin dann doch anders ist, oft am wenigsten ertragen und ja auch am ehesten treffen und verletzen können.
Die schönen Leuchtkugeln und hellen Wecksignale des Hebräerbrief-Feuerwerks – „Die alte, zerstört-zerstörerische Welt vergeht und die neue Zeit zum Leben ist nah: Darum tröstet die Müden …, tut sichere Schritte …, jagt dem Frieden nach …, jagt der Heiligung nach …“ – diese hell an den Himmel über uns geschriebene Fackelschrift geht leider wie ein Ascheregen nieder auf dem Haupt des Esau, der nicht an den Segen und nicht zur Buße kommen konnte.
Und so hat der starke Hebräerbrief die Schwäche aller Botschaften, die um des Kontrastes willen ihren Glanz vor einer dunklen Folie der Gegnerschaft, des Ausschließens, der Verwerfung entfalten zu müssen meinen.
Solche negativen Begleiterscheinungen des christlichen Trostes und seiner Motivationskraft müssten uns inzwischen allerdings vergangen sein. … Wir dürfen sie jedenfalls nicht mehr zünden, dürfen diese Wurzel der Verbitterung nicht mehr aufgehen lassen … lieber pyrotechnische Lichtblumen: Die Strahlkraft unseres Glaubens verbietet es doch schlicht, dass wir für möglich halten oder behaupten, andere seien dem Licht und der Erleichterung des Evangeliums dauerhaft entzogen. Die Nebelkerzen eines Glaubens, der erst angesichts von trübem Anti-Glauben hell wirken kann, sind ganz bestimmt unter unserer Würde! Uns ist Größeres, Weiteres, Umfassenderes anvertraut als dieses Schattenspiel, andere zu verdunkeln, um besser sichtbar zu werden.
Wir haben das wahre Licht, das unvergleichliche und unüberwindliche, das völlig grenzenlose Licht Gottes gespürt, … mit blinzelnden Augen an der Krippe sogar gesehen, … wir hören, ja wir essen dieses Licht der Welt, … wir nehmen es in uns auf, auch wenn wir es kein bisschen einfangen oder zähmen oder uns dienstbar machen können.
Es ist ein Licht, das man nicht speichern kann: Man muss ständig davon leben.
Es ist ein Licht, das sich nicht horten lässt, … weder aus Sparsamkeit, noch aus Egoismus: Es leuchtet nur, wenn es sich verströmen kann.
Es ist ein Licht, das weder als Teilchen noch als Welle, weder als Hitze noch als Helligkeit auftritt, sondern in allem und durch alles hindurch leuchtet.
Ein Licht, das uns die Welt zeigt, wie wir sie sonst nie sähen: Obwohl sie in Wahrheit so ist. Und ein Licht, das uns gleichzeitig alles verbirgt, weil die Materie in diesem Licht unsichtbar und bedeutungslos wird und tiefe Schatten oder Stellen, an denen für uns gar nichts zu sein scheint, plötzlich erfüllt und zur Quelle werden.
Es ist ein Licht, das man nicht fassen kann, weil es mehr ist als die uns bekannte, als die uns überhaupt zugängliche Welt, die doch seit dieser Woche auch astrophysikalisch wieder nur um ein neues Wunder des Nichtwissens und der Unerklärbarkeit reicher und schöner geworden ist: Eine junge Forscherin aus England hat eine gigantische Ringstruktur von Galaxien im Weltraum entdeckt[i], die nach gängiger wissenschaftlicher Lesart in dieser Dicht gar nicht vorkommen dürfte. Aber gerade das ist Wissenschaft: Zu erkennen, was wir nicht verstehen, sondern zuerst und zuletzt nur bestaunen können.
Wohin wir also auch blicken: Wir stoßen auf das für uns Unerkennbare, Unergründliche, aber gerade darin nicht auf einen Mangel, ein Defizit, ein Weniger, sondern auf den Überfluss, auf das Darüberhinausgehende, auf das unerschöpfliche Mehr … oder Meer.
Diese Erfahrung, dass es mehr gibt, als wir bisher fassen, einordnen, ergreifen konnten, steht im Hebräerbrief hinter seiner typischsten und am häufigsten missverstandenen Denkfigur.
Dieser Brief, der so alttestamentlich, so vollbiblisch jüdisch und christlich ist wie keine andere Schrift der Urkirche, wird oft bemüht, wenn es um Abwertung des Alten Testaments, um Überbietung des Judentums geht. Da wären wir im schlechten Sinn wieder beim Jakob-und-Esau-Spiel des Einander-in-den-Schatten-Stellens.
Doch wenn der Hebräerbrief die Gesetze und Gebräuche des ersten Bundes als Schatten und Vorbilder bezeichnet (vgl. u.a. Hebr.9,23ff;10,1 usw.), dann spricht er dabei ja gerade von seinem Vertrautesten, vom Heiligsten und Heimatlichsten, vom Sichersten und Segensvollsten, das das Volk Gottes bisher kannte.
… Und von dieser Höhe aus, von diesem Gipfel des Gottgegebenen und Gültigen aus wagt der Brief dann zu sagen: Und nun gibt es noch mehr, es kommt noch mehr, es ist noch mehr vorhanden, als wir bisher ahnen, glauben und bezeugen konnten.
Nicht, dass das Alte schlecht war, soll damit bewiesen werden, sondern dass es noch nicht alles war.
Und an dieser Stelle geht das Feuerwerk erst richtig los. … Auch für uns. … Richtig los: Wenn wir erkennen, dass alles, was wir wissen, lieben und verehren, alles, was wir behaupten, beschwören und beweisen können, noch nicht, … noch längst nicht „Alles“ ist. … Denn ihr seid nicht zu etwas gekommen, das man anrühren konnte.
Da aber, wo das bisher Begriffene und die bisherigen Begriffe aufhören, … wo man nicht mehr sagen kann „Das ist Feuer“ und „Das ist Finsternis“, wo die Macht unserer Gewohnheiten, die Gültigkeit unserer Behauptungen, die Begründung unserer Beweis- und Glaubenssätze endet, … da geht das Feuerwerk los: Da blühen die bengalischen Feuer und regnen die funkenstäubenden Himmelskörper herab aus der Höhe! Da wehen die Farben wie Sternschnuppen über den Horizont, da bündeln sich Strahlen zu Ähren und tanzen Lichter im Reigen, … da ist es so betörend exotisch und spektakulär visuell, dass man den Hals reckt und mit den hungrigen Ohren schlackern muss, dass man „Oh!“ und „Ah!“ schreien und zwischen den Zähnen pfeifen will, weil es viel irrwitziger und lebenssatter zugeht, als wenn Oberkassel und Altstadtufer am Japantag sich von der Meisterkunst der Feuerwerker zu einer Menschheit verwandeln lassen, die nur noch Augen für den Himmel hat.
… Der ist es nämlich!
Vom Himmel und seiner fremd-schillernden, bunt-lockenden Fülle sind die letzten Höhenflüge unseres heutigen Hebräerbriefabschnitts angetrieben. Von dem, was man nicht fassen oder festlegen kann, weil es in so vielen Formen und Bildern schwebt und sich vor unseren staunenden Augen eröffnet:
… Der feste Zionsberg und die pulsierende Stadt des lebendigen Gottes,
… die vergeistigten Myriaden und Chöre der Engel, … das genießerische Festfeiern der Erlösten,
… die paradoxe Schar aus lauter Erstgeborenen, die den Rangstreit von Jakob und Esau längst hinter sich ließen, weil ihre Namen alle für immer beurkundet sind und sie sich also als intime Masse der unzählig Zugehörigen erleben,
… sie alle: die von Gott Gerichteten und durch das Gericht Geretteten,
… die Geister der Heiligen, der Märtyrer, der Bekenner, der Leuchten und der Kerzen Gottes,
… der ganze Bund, in dem sie alle, in dem wir alle verquickt sind und verknüpft, die nie wieder auflösbare Zukunftsgewissheit, die alles übertrifft, was wir an Sicherem oder Vertrautem schon haben oder einst kannten.
Der Himmel – das, was über alles hinausgeht, was hier war und ist – ist das Thema des Hebräerbriefes. Der Himmel ist es, der sein Feuerwerk auslöst[ii].
Und er ist – in seiner Offenheit und seinem vielfarbenen Glanz, in seiner sprühenden Vitalität und seiner silbrigen, irisierenden, changierenden Schönheit – das, worum es geht!
– Basta!
Gewiss: Wir hätten über die Friedenshoffnung und die Heiligungsmahnung des Hebräerbriefes meditieren können, über die Rivalitäten und Geschwisterlichkeiten, die er in unserer Welt der aggressiv ansteckenden Sünde eindämmen und einüben will; wir hätten über seine Botschaft an die geisteskranken Vertreibungstreiber in unserer Politik diskutieren und die Warnungen vor Verspätung und Zerspaltung bedenken müssen, die unsere Gesellschaft ohne Mumm und unsere Kirchen im Auslaufmodus berühren.
Wir hätten das alles in seiner ganzen Trübheit und besorgniserregenden Aussichtslosigkeit mustern können. Aber dann hätten wir genau das Feuerwerk verpasst, das über dem bleiernen, grauen Horizont des sogenannten Wirklichen in der Weltlichkeit aufleuchtet.
Wir hätten sprechen und klagen können über alles, was wir in seiner Unabsehbarkeit und erst recht über alles, was wir in seiner schrecklichen Absehbarkeit sehen können.
Aber mein Neujahrsvorsatz lautet: Nicht das, sondern was mehr ist, soll uns hier bewegen.
Statt im absehbar Aussichtslosen zu verharren, wünsche ich mir, wünsche ich uns, … erwarte ich von mir, erwarte ich von uns, dass wir das Unsichtbare ansehen, das Licht, das niemand erkennen kann und das doch über alle Finsternis längst hinausleuchtet.
Weil wir mit diesem Licht getauft sind, … mit diesem Blut!
Weil der Himmel unsere Berufung ist und weil der Himmel – der übertrifft, was wir kennen und erschließt, was wir für ausgeschlossen hielten, – der Ausgangspunkt unsres Glaubens und das Ziel unseres Lebens und unserer Welt ist.
Was wir abseits vom Himmel besprechen, bedenken, betrachten, ist - mit Verlaub - Nebensache.
Mehr, nein Alles in Allem ist das, was heute das Feuerwerk hieß: Das Aufleuchten, die Epiphanie Jesu unter uns, in dieser Welt, in unserem Leben als die Seinen … ein Aufleuchten, eine Epiphanie, die auch unser Herz und unsre Seele, unsern Geist und unser Dasein zum Himmel hin führt, zu dem wir schon gekommen sind, wenn wir mit Jesus leben, wenn wir in Jesus leben und von Jesus leben,
Davon redet Sein Blut, Sein Für-uns-Leben: Vom Himmel für uns und für die ganze Welt.
Sehen wir zu, dass wir den nicht abweisen, der da redet, sondern gesund werden … gesunde Christen, … Menschen im Licht, … Menschen, die dem Himmel gehören.
Amen.
[i] Als Erstes meldete die BBC diese Entdeckung, vgl. https://www.bbc.com/news/science-environment-67950749
[ii] Die beherrschende „Feuerwerk“-Metapher greift die Sinai-Motivik der im Predigttext ausgelassenen Verse auf: Verse, die eine eingehende Entschlüsselung verdienten, weil in ihnen sich die tiefe Verankerung der besonderen Botschaft und Schriftauslegung des Hebräerbriefes in der jüdischen Tradition erweist. Außerdem nimmt die Metapher vorweg, dass die Klimax des 12.Kapitels in der aus 5.Mose 4,24/ 9,3 zitierten Beschreibung Gottes als „verzehrendes Feuer“ besteht. Das theologische Lichtmotiv, zu dem das Feuerwerk führt, ist natürlich wiederum das eigentliche Leitmotiv der Epiphaniaszeit. Und die Dominanz des Himmels am Ende der Predigt entspricht dem Schlussteil des ausgewählten Textabschnitts, der eine herrlich vielschichtige, anregende Collage biblischer Motive des eschatologischen Ziels der Seligkeit in der Gegenwart Gottes aufbietet.
Altjahrsabend 2023, 31.12.2023, Stadtkirche, Jesaja 49, 13 - 16, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2023
Jesaja 49, 13-16
Liebe Gemeinde!
Werden wir „Weißt Du noch?“ sagen?
– Wie die, die den 27. Januar oder den 8. Mai 1945 erlebten, oder den 9. November 1989?
… Wohl eher nicht.
– Wie jene, die an das Ende eines Frühlings in Prag am 21. August 1968 oder an den 9. September 2001 zurückdenken? … Vielleicht schon eher.
… Werden wir „Weißt Du noch?“ sagen? …….
Vielleicht ist den meisten von uns unbewusst jetzt erst einmal so, dass man wieder eine Zahl verlernen kann, die nach menschlichem Ermessen bei keinem von uns mehr auf dem Grabstein stehen wird: Mit unsern individuellen Lebensdaten wird dieses Jahr 2023 vermutlich nicht ganz unmittelbar verbunden werden. Es wird am Anfang, in der Mitte oder gegen Ende unserer Lebensspane unter den anderen Jahren, die in ihrer Summe dann einmal unsre Lebzeiten ausgemacht haben werden, einfach subsumiert, aufgerundet, eingereiht. … Gewiss, wer „heuer“ - wie die Süddeutschen sagen - Vater oder Mutter geworden ist, wer Witwer oder Witwe wurde, wer eine Prüfung bestanden, einen Umzug bewältigt, eine Überraschung erlebt hat, mag dann einst noch besser nachrechnen können, dass das in diesem Jahr war. Ansonsten wird’s verschwimmen. Verblassen. Verklingen. …….
Wird es das? …
Ehrlich gesagt, ist es ja viel zu früh auch nur zu mutmaßen, wie es um das Nachwirken dieses Jahres bestellt sein könnte. Denn dass es einfach ein solches Jahr gewesen wäre, wie die konturlosen anderen Jahre, die irgendwann unsere besten Jahre oder unsere Lehr-, nicht Herrenjahre oder unsere stürmischen oder unsere Tretmühlen-Jahre gewesen sein dürften, … das kann man von diesem Jahr heute schon nicht sagen, und wer von uns weiß denn, welche Folgen es in der Zukunft noch hat, die man später einmal ganz genau auf eine Entwicklung oder ein Ereignis der letzten Monate zurückführen muss?
Was 2023 war, ist also undeutlich. Zäh in vielem, … im Kriegs- und Krisen- und Lügen-Stillstand. Jäh im Grausen des Hamas-Terrors vom 7. Oktober: Jenem Datum, das zweifellos zur Signatur dieses Jahres werden wird.
Aber wie es wirklich war und wie es zu dem, was werden soll, führt, können wir nicht ausmachen, obwohl wir doch mitten darin standen und lebten und webten und jetzt an seiner Grenze verharren und zurückblicken.
Wir können die Zeit also nicht entziffern, obwohl wir zeitliche Wesen sind.
Und also werden wir nicht „Weißt Du noch?“ fragen können, weil wir so wenig wissen.
Trotzdem aber wird man uns einst fragen – die wir dabei waren, die wir dran waren –, wieso es uns so verborgen war oder weshalb wir so wenig wahrhaben wollten oder warum wir so abwegig unzeitgemäß vor den Fragen unsrer Tage versagt haben?
Und dann werden wir vermutlich tun, was Menschen immer taten: Immer schon wurde das Positive, das Gute, der Gewinn privatisiert - das ist „Meins“! -, und das Negative, der Verlust, die Schuld und die Schulden werden sozialisiert, werden andern zugeschoben - „Na, das betrifft doch nicht bloß mich!“- …….
Und wenn es ganz eng wird, wenn wir ganz ernsthaft eindringlich gefragt werden, warum uns alles das, was wir hätten sehen und wissen können und also auch hätten abwehren, abwenden, abarbeiten sollen, … wenn uns das gezeigt wird, was unsere Zeit gebraucht und verlangt hätte an Mitgefühl, an Tapferkeit, an Verzicht, an Überwindung des Eigeninteresses, an reiner Gottesfurcht und klarer Menschlichkeit, … wenn wir dieses 2023, in dem wir hier alle mit dem Leben davongekommen sind, endlich nicht mehr im Dunst, sondern im Licht sehen werden, dann werden wir den Fragenden anschauen und wohl tatsächlich sagen: „Du weißt doch: Er, sie, es war’s (vgl. 1.Mose3,12)… : Der Mann, die Frau, das Schlangenbiest, … alles das, was Du geschaffen hast; … Du also warst’s in Wirklichkeit. Nicht wir!“
Sonderbar nur, dass wir nicht merken, was wir da sagen, … acht Tage nach Weihnachten!
Letzte Woche haben wir ganz bewusst oder im geistlichen Halbschlaf, immerhin aber doch vergnügt genug gefeiert, dass Gott und Mensch eine Schicksalsgemeinschaft eingehen, mehr noch: Dass da eine natürliche Verbindung, eine Verbindung und wechselseitige Durchdringung ihrer Naturen geschehen ist, wie die klassische Theologie es formuliert[i].
Dieser Austausch der Naturen, diese Kommunikation und Vermittlung der Bedingungen und Besonderheiten von Ewigem und Zeitlichem, von Weisheit und Fehlbarkeit in der Gestalt eines Kindes, das das gewöhnliche Sichtbare mit dem vollkommen Unvorstellbaren verbindet, ist eine kollektive Freude: Fast nirgends in unserer Kultur lehnt man es ab, dieses Glück eines unwahrscheinlichen und unentbehrlichen Miteinanders zu feiern. Die echten Ebenezer Scrooges – „Grinches“, sagt man heute - dieser Welt, … die mit Bedacht bekennenden Anti-Weihnachtsmenschen sind selten.
„Jauchzet, ihr Himmel, freue dich Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der HERR hat sein Volk getröstet …“ – In Ordnung: Wird gemacht! ——
Aber wenn das Leid der Welt einsetzt, …wenn wir die Tragödien und Verbrechen sehen, die Misere, an der wir treibend oder unterlassend beteiligt sind, und auch die uns schlicht stumm machenden Grausamkeiten des Terrors im Süden Israels und an Heiligabend in Nigeria oder die uns zur Verzweiflung treibenden Grausamkeiten des Krieges in der Ukraine und in Gaza …, dann endet die Gemeinsamkeit, dann kündigen wir die weihnachtliche Partnerschaft. … Ein Fest mit fernem Gott und gemischten Glaubensresten: „Ja!“ Die Wirklichkeit aber unter der selben Perspektive: „Nein!“
Das Schlimme also, das wir erlebt haben, … das zumindest die Menschheit in kaskadenförmiger Weiterung in den letzten Jahren immer mehr erleidet: Das sehen wir nicht als eine Erfahrung, die uns immer unverbrüchlicher, immer existentieller mit dem leidenschaftlich mitleidensbereiten Gott verbindet, der unsre Geburt und unsre Schuld und unsern Tod mitträgt, sondern das betrachten wir - wenn nicht ausdrücklich, so doch gern ausschließlich - als Sein Problem.
Nicht Viele formulieren es bewusst so, aber die anschwellende Zahl derer, die innerhalb und außerhalb der Kirche das Christentum hinter sich lassen, ist zumindest von ferne auch ein Vorwurf in Gottes Richtung: Wenn Du das Leid nicht abschaffen willst, sondern bloß teilen, dann bleib’ uns gestohlen, … dann kann man Dich vergessen. … Eh man es aber so formuliert - eh man also aktiv Ihn verlässt -, heißt es dann eben häufig: „Du hast uns ja wohl vergessen!“
Und schon ist man raus: Aus Verantwortung und Haftung, … aus der Mühe von Mitleid und Hoffnung und allem voran aus der lästigen Erwartung und Möglichkeit von Umkehr!
Wir, die wir so wenig wirklich wissen und wissen wollen, fragen Gott also „Weißt Du noch?“ … aber mit dem Unterton, dass Er es ja gerade nicht wisse, wie schwer so Vieles für so Viele in diesem Jahr ist und war, wie viel Trübsal, Trostlosigkeit und verschwindende Hoffnung die Kriege, die Gier und der Wahnsinn in der Welt bedeuten. Du weißt das gar nicht mehr, Gott, … Du hast es durchgehenlassen, … hast es überhaupt nicht mitgekriegt. …
Zion sprach schon immer: „Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.“
Aber fragen wir doch einmal einen Vater, der sein krankes, entkräftetes Kind aus dem Bombenhagel von Gaza bis nach Rafah geschleppt hat, obwohl er selbst fast verdurstet. Oder eine der grimmigen Gestalten, die zu Tausenden auf dem Weg durch Mexiko nach Norden ihre Babies in Staub und Bitterkeit huckepack nur immer weiter schleppen. Oder einen der Soldaten in den ukrainischen Schützengräben, der machtlos ist, wenn über ihn hinweg die Raketen bis nach Kiew zischen, wo die Seinen - verflucht noch mal - trotz seiner endlosen Entbehrungen auch nicht sicher sein können: „Hast Du Dein Kind, das Du da auf den Armen trägst, das Du im Herzen trägst, vergessen? Müsste Dein Kindchen aus seinem Angstdelir nicht in Kalifornien oder in München erwachen, wenn Du es wirklich liebhättest, wenn Dir wirklich an ihm läge?“ …….
Oder fragen wir eine Mutter, … fragen wir jene, die vor acht Tagen entbunden hat: „Als die Hirten endlich etwas von ihrer sauren Ziegenmilch zu Euch in die Höhle brachten und Du Deinen Durst nach den Anstrengungen der Wehen löschen konntest: Hast Du da nur für Dich getrunken? Und als Ihr die sagenhaften Gaben aus dem Morgenland empfingt: Hast Du Dich da für Dich gefreut? Und als Ihr vor den herodianischen Kindermördern fliehen musstet: Ranntest Du um Dein Leben? Hast Du Nazareth wiedersehen wollen, weil Du es da leichter haben würdest? Ist Dir der Zwölfjährige und dann der Dreißigjährige nicht irgendwann in seinem Eigensinn und seiner Entschiedenheit zu fremd erschienen? Warst Du nicht drauf und dran, ihn endgültig aufzugeben, als er immer nur die Anderen heilte und nährte, tröstete, um sich scharte und als die Seinen bezeichnete und Dich vergessen zu haben schien? Wärst Du nicht lieber weit, weit weg von Jerusalem, … weit weg von der Dolorosa-Straße, mit der Du den schmerzensreichen Namen teilen musst, …wärst Du nicht lieber daheim in Galiläa, statt auf Golgatha gewesen, wo Dir bei lebendigem Leib Herz und Seele erstorben sind?“
Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes?
Und obwohl wir so wenig bewusst wissen: … Hier ist die Antwort uns unbewusst deutlich.
Gott aber – der unvergessliche Gott, für die, die Ihn einmal kennengerlernt haben – Gott korrigiert uns nicht und verteidigt sich nicht. Er zählt nicht auf, was Er an Einzelheiten wahrgenommen und erlebt hat in diesem Jahr: Einzelheiten, die uns überfordern, zerreißen und auflösen würden; Einzelheiten, die uns die Haare sträuben und oft genug auch die Schamesröte ins Gesicht treiben müssten, wenn wir sie nicht so systematisch verleugneten und verdrängten; Einzelheiten, die unser Fassungsvermögen und auch die scheinbar uferlose Kapazität aller KI restlos übersteigen würden, weil Gott nicht nur die Fakten und Zusammenhänge, die menschheitlichen Verstrickungen und sämtliche ihrer Nebenwirkungen, die Absichten und die von jeglichem Gewissen unkontrollierten Schludrigkeiten der Akteure dieser Welt kennt, … nein, Gott kennt das nicht nur alles, es ist kein Sachwissen bei Ihm, keine aufgehäufte, abgespeicherte Information, sondern es ist Seine eigene Erfahrung, Sein Erleiden, Sein ungemindertes Teilnehmen, … Sein Wahrnehmen, Anteilnehmen, Übernehmen, … schließlich Sein Annehmen, Sein Hinnehmen und Sein endgültiges Abnehmen aller Schuld, Schmerzen, Schande, Schrecken und Leiden.
Gott kennt nicht nur das alles, was wir uns vom Leib halten, um es Ihm zum Vorwurf zu machen: Gott nimmt es auch alles an … und Er wird es allen auch abnehmen!
Von allen Schultern, aus allen Herzen, aus jedem Leben, aus jedem Schicksal wird Er fortnehmen und nicht übriglassen, worunter Menschen seufzen, stöhnen und vergehen:
Dieser unvergessliche Gott, Der Selber nichts vergisst, Der niemanden vergisst, sondern alles und alle aus unmittelbarster Nähe, direkt, ungemindert annimmt, durchhält und schließlich … ja, tatsächlich: versöhnen wird!
Gott wird jeden Menschen versöhnen mit Sich und mit der Menschheit und mit dem eigenen Leben, zu dem für uns alle, die wir heute erleben, nun auch 2023 gehört.
Gott wird uns mit Sich und uns selbst, mit der Wirklichkeit, wie sie war und vergeht und mit Seinem Reich des erneuerten, des wahren Lebens versöhnen. ———
Und das habt zum Zeichen: Beim „Wißt Ihr noch?“, haben wir begonnen und festgestellt, wie wenig wir heute schon wissen können, wie wenig wir vom gerade Gewesenen wissen wollen und wie wenig von unserem Wissen uns bewusst sein kann, wenn wir Gott immer vorwerfen müssen, uns und die Welt zu vergessen, um uns selbst von echter eigener Teilnahme zu entlasten.
Ein einfaches Zeichen unseres Nicht-Wissens hat jeder von uns zur Hand: Wir - die wir selbstbewusst und nicht nur zu Unrecht stolz sind auf unsere Eigenheit und Einzigkeit - … wir alle haben ja ein unverwechselbares Siegel unseres ganz unmittelbaren, physischen Selbst. … Aber wir kennen es nicht.
Oder weiß jemand hier, wie sein Fingerabdruck aussieht? … Den man doch gerade heute, im virtuellen Zeitalter als unerfindbarsten, naturgegebenen Zug des Menschen scannt, speichert und weltweit abrufen kann.
In Wahrheit aber weiß ich nicht, wie mein Fingerabdruck wirklich ist.
Gott jedoch, Der nicht nur kollektiv, sondern darin auch individuell unsere Natur angenommen hat, … Der also auch meine Natur angenommen hat, mein Wesen, meine Art und Eigenart, … Der also auch meinen Fingerabdruck mit mir teilt: Gott kennt auch dieses Wasserzeichen des Einzelnen.
„Siehe, in die Hände habe ich Dich gezeichnet …“[ii].
Alle Furchen meiner feinsten Persönlichkeitsmarkierung, … alle Knitter-, Wachstums-, Altersfalten meines leib-seelischen Organismus und seiner Biographie … alle Spuren, Wunden, Narben meines und Deines und jedes Daseins trägt Gott also buchstäblich an Sich selbst.
Er, der unvergessliche, vergessenslose Teilnehmende an und in allem ist gezeichnet, gekennzeichnet von unserem Leben in seiner persönlichsten, intimsten, unaustauschbarsten Form.
Ein Gott, Der mich sieht, hieß Er in diesem Jahr (1.Mose 16,13 – Jahreslosung 2023).
Weißt Du noch?
Er weiß es und wird nichts davon vergessen.
Weil Er uns liebt. Weil Seine Liebe in Seine Hände als Fingerabdrücke aller, als Wundmale für die ganze Welt eingegraben ist.
Und darum legen wir in diese Hand des mitleidenden, annehmenden, versöhnenden Gottes alles, was war, … aus ihr nehmen wir alles, was kommt … und in ihr finden wir, was bleibt.
Das weiß ich noch. … Das wissen wir noch!
Gott Lob!
Amen.
[i] Ganz sauber hat die Theologie immer betont, dass sich nicht die beiden „Naturen“ in der Person Jesu Christi vermischen, aber dass sie dennoch jeweils Anteil an den Eigenschaften der anderen Natur haben. Diese wechselseitige Teilhabe von Göttlichem und Menschlichem in Christus ist als „communicatio idiomatum“ bekannt. Sie hat nicht nur die Alte Kirche und die mittelalterliche Theologie beschäftigt, sondern auch bei Luther – der den „fröhlichen Wechsel“ ergreifend feiern und weihnachtlich besingen konnte – einen großen Stellenwert besessen und dann in der religiös sehr eigenständigen Philosophie des großen Zeitgenossen und Landsmanns Immanuel Kants, Johann Georg Hamann eine frische, nach wie vor anregende Wirkung entfaltet: Alles und alle in dieser Welt Gottes kommunizieren mit und haben Teil an der göttlichen Realität und umgekehrt nimmt Gott Teil an allen und allem Irdischen.
[ii] Auch im Hebräischen ist unbestimmt, wessen Hände die Einzeichnung aufweisen. Die vorherrschende Deutung, dass in einem anthropomorphen (und in unserer Kultur der Tätowierungsfreudigkeit geradezu trendigen) Bild hier von einer Markierung an den Händen Gottes – dem wichtigsten Organ des bei Deutero-Jesaja wieder und wieder im Gegensatz zu den toten Götzen als „handelnd“ (sic!) beschriebenen Gottes Israels die Rede sein dürfte, ist aber sehr überzeugend. Sie bedeutet, dass Gott nichts tun kann, ohne an Israel, ohne an die Menschen im Bund mit Ihm erinnert zu werden. Die in der Predigt vorgenommene Deutung auf die Fingerabdrücke ist eine sekundäre Folge und Veranschaulichung der Inkarnation und der aus ihr resultierenden communicatio idiomatum.
Fest der Geburt des Herrn / 2.Christtag, 26.12.2023, Stadtkirche, 2.Korinther 8, 7 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 26.XII. 2023 - 2.Christfest
2.Korinther 8, 7f
Liebe Gemeinde!
Zwei „Stände“ gibt es … um mal ein Wort zu benutzen, das selbst in meinem Mund altmodisch klingt. Zwei Stände also, die sich nicht wie in der hierarchischen alten Zeit klar und einfach auf Adel und Bettel, auf „Wohlgeboren“ oder „Hergelaufen“ verteilen lassen, sondern mal gut zusammen und dann irritierend getrennt existieren.
Ich rede von Wohlstand und Anstand. … Die leider ganz gewiss nicht identisch sind und öfter als uns lieb sein kann reine Gegensätze beschreiben.
Der eine Stand setzt Sachen voraus, der andere Seele.
Hier hat und da ist man, was der Stand benennt.
Diese holzschnittartigen Kontraste ließen sich spielend fortsetzen, aber kein noch so pointierter Witz in Sachen Kapital und Moral käme an die schneidende Satire heran, die Jesus in dieser Frage pflegte.
Er hatte - was sage ich? Er hat! - keinen Sinn für Äußerliches, und Sein Blick auf die Reichen ist der Blick auf eine fremde Tierart, über deren kaum vorstellbar mühsames Leben mit Höckern auf dem Buckel (vgl. Mk.10,25) oder einem Rüssel überm Maul man nur abwechselnd lachen oder seufzen kann: „Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen“, sagt Jesus (Mk.10,23), und man spürt, dass es hier Mitleid ist.
Zuweilen aber kann Er durchaus schärfer urteilen, so dass man zusammenfährt und sich fragt, ob es Ihm wirklich so gleichgültig ist, was aus den mühselig mit Besitz Beladenen werden soll: „So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich für Gott“ (Lk.12,21), lautet Sein achselzuckendes Fazit des Gleichnisses vom wohlversorgten Kornbauern, der jählings in das Nichts des Todes stürzte. Denn die Hölle der Begüterten ist nach dem Gleichnis von Luxus versus Lazarus auch aus dem Himmel nicht mehr zu verändern (vgl. Lk.16,29ff).
Diese widerborstige, ja stachelige Seite des Materialismus-Bashing sollte eine Weihnachtsgemeinde vielleicht nicht allzu sehr wundern: Ein Baby, das im Mist zur Welt kommen muss, weil die mit der sauberen Wäsche an ihm nicht wie an anderen verdienen konnten, … ein solches Kind, dem nur die unterste Schicht - das Tierreich und seine Viehhirten - etwas Wärme und Willkommen bot, ist frühkindlich geprägt.
Es wird unsereinen immer nur als verwöhnten Warmduscher betrachten.
- Obwohl … . Ach, egal.
… Jesus jedenfalls und die Reichen: Das wird nichts.
Das war auch in der Kirche lange Jahrhunderte lang nichts.
Wer getauft werden wollte, tat gut daran, dem schlimmsten Götzen aller Völker – dem Mammon, …jenem Gott, den wir „Kohle“ nennen, weil er nicht einfach zu erlangen ist; der die, die den Keller voll von ihm und anderen Leichen haben, dann zwar wärmt, aber zum Schluss doch nur verbrannte Erde hinterlässt – … wer also getauft werden wollte, tat gut daran, diesem Mammon, der Kohle am besten mit öffentlich wirksamen Zeichen des Besitzverzichtes zu entsagen.
Diese rigide, wenngleich im wesentlichen freiwillige Enteignungslinie der Kirche hat uns durch die unglaublichen Stiftungen, durch den Ballast, den die Besitzenden abwarfen, durch Schenkungen und mildtätige Verfügungen innerlich und äußerlich das Schönste an der Gestalt Europas hinterlassen: Keine Kirche, kein Kloster, kein Spital, keine Fuggerei, kaum ein Bild oder sonstiges Kunstwerk aus den Jahrhunderten bis zum Frühkapitalismus, das nicht auch bezeugt wie die, die es bezahlten, sich bewusst vom Materiellen trennen wollten. Sie gaben her, was sie innerlich von der Freiheit der Kinder Gottes trennte.
An diese Seite der altkirchlichen Askese und der mittelalterlichen Blüte der Bettelorden und des seelisch entschlackenden Almosenwesens erinnert man in einer Kirche und einem Amt wie unserer und meinem nicht so gern. … Unsere, meine ganz persönliche, immer noch komfortable Behaglichkeit mit kirchlichen Hauptämtern und auskömmlicher Alimentation und Altersbezügen ist das Gegenteil alles dessen, was Jesus und die abendländischen Kirchen einst meinten, und in vielen in der Wildnis blühenden Gemeinden heute – wir hörten am Heiligen Abend davon in Dr. Vetters Predigt über die wachsenden Kirchen in Hongkong und China – gibt es keine Gefahr, dass man Glaube und Wohlstand verbinden oder wie in den geisteskranken nord- und südamerikanischen Pseudo-Kirchen eines „Wohlstands-Evangeliums“ gar verwechseln könnte.
Wohlstand und Christentum waren ursprünglich oft ein Vorher/Nachher.
Die von Max Weber geschürte Idee[i] – die vermutlich viele reformationsgeschichtliche Einzelzüge und Nebenaspekte bündelt – , dass man umgekehrt auch Christentum und Wohlstand als das Vorher-Nachher-Modell, als Ursache und Wirkung koppeln könne, ist dagegen alles, ... nur nicht im Sinne Jesu.
Das aber liegt nicht nur am Furor einer bethlehemitischen Stallgeburt, die als Kleinkind zwar Gold, Weihrauch und Myrrhe als Patengeschenke erhielt, aber in der Sturm-und-Drang-Zeit, als er zum galiläischen Underdog gegen Jerusalem und Rom heranwuchs nur sarkastisch über den Instagram-tauglichen Influencer-Plunder der orientalischen Wunderkind-Touristen lachen konnte, weil er längst wie Robin Hood Verbrüderung der Armen und Erleichterung der Überladenen betrieb, … sondern es liegt an dem, was Weihnachten tatsächlich feiert, wenn wir es im allerhöchsten und -tiefsten Sinn theologisch verstehen wollen.
Und dieses allerhöchste und -tiefste Mysterium von Christi Geburt, das die Kirche vierhundert Jahre lang durchmeditierte, bis sie es im Bekenntnis, dass da Einer, Der vor aller Zeit aus Gott geboren wurde und darum Gott von Gott, Licht vom Licht ist, Fleisch um unseretwillen annahm und Mensch wurde, formulieren konnte (vgl. Nicäno-Constantinopolitanum: EG 854) ……., dieses Mysterium von Christi eigenem Vorher/Nachher ist der tiefste Grund für seine völlige Immunität gegen das Bling-Bling der Dinge, das uns so wuschig und so sündig macht.
Der großen und herrlichen und auch heiligen Theologien, die man in Alexandrien und Antiochien ebenso wie in den römischen Provinzen und im kleinasiatisch-kappadokischen Idyll[ii] pflegte, um endlich zur gültigen Zwei-Naturen- und Drei-Personen-Lehre im Blick auf Christus zu kommen, bedurfte es aber letztlich nicht einmal, um den Punkt zu treffen, den wir an Weihnachten feiern und der das Vorher-Nachher der Menschwerdung des Sohnes, der Fleischwerdung des Wortes Gottes bezeichnet.
Diesen Punkt, in dem die ganze spätere Inkarnationstheologie und Weihnachtsfrömmigkeit schon wie in der Urzelle enthalten ist, hat Paulus in ganz praktischer Absicht – in einem seiner Spendenaufrufe an etliche schicke und durchaus kommerziell erfolgreiche Gemeindeglieder in Korinther – getroffen.
Dieser Appell daran, dass man nach dem Hören und Verstehen des Evangeliums weniger wohlhabend sein möge als vorher, diese Erinnerung an die Selbstminderung, die Selbstentäußerung des Herrn ist heute in zunächst blumiger Stimmungsauflockerung und dann beinah knauseriger, aber auch knallharter Knappheit unser Predigttext:
Wie ihr aber in allen Stücken reich seid, im Glauben und im Wort und in der Erkenntnis und in allem Eifer und in der Liebe, die wir in euch erweckt haben, so gebt auch reichlich bei dieser Wohltat. Nicht als Befehl sage ich das; sondern weil andere so eifrig sind, prüfe ich auch eure Liebe, ob sie echt sei. Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet.
Wenn wir die geradezu triefende Höflichkeit der PR-geölten Einleitungssätze getrost weglassen – unwillkürlich fragt man sich ja angesichts der sonstigen Raubolzigkeit des Paulus gegenüber allen Blendern, ob er hier nicht vielleicht besonders ironisch spricht? –, dann ist das ganze Weihnachtswunder, das Geheimnis der Inkarnation des als Gott von Gott ewigen Sohnes, das ganze Vorher-Nachher also in einem kinderleichten Merksatz erfasst:
Obwohl er reich ist, wurde Christus doch arm um unseretwillen. ———
Das war Weihnachten:
Reich gewesen, arm geworden.
Alle gehabt, nix behalten.
Eben noch Himmelreich; jetzt: Bethlehem.
Top of the world – Totalabsturz.
Ewig nicht das Geringste entbehrt; erwacht in Stall und Scheiße. ——
Man kann es auch schöner, frömmer, poetischer sagen:
Allmacht wird Ohnmacht. Geber wird Gabe. Herr wird Knecht. Alles aus Liebe.
Um den Menschen nicht verloren gehen zu lassen, scheint Licht auf in der Nacht der Sünde, neigt der Himmel sich zur Erde, begibt sich das unüberwindliche Leben freiwillig ins Reich des Todes.
Doch die beiden Stände Jesu (da sind sie wieder!) – Erhöhung und Erniedrigung – … die beiden Zustände, deren Abfolge die Geschichte ergibt, die uns das Evangelium berichtet, sind im Anfang am unmittelbarsten und verständlichsten beschrieben in dem dürren Satz:
Der Reiche wurde für uns arm.
– Bang!
Dieses Vorher-Nachher Jesu aber hat Folgen. … Nicht nur, dass wir es an Weihnachten feiern, sondern es hat Folgen auch an jedem Tag, an dem wir dazu bereit sind, bewusst nach Weihnachten, also nach dem Totalverzicht Jesu auf Alles um unseretwillen zu leben:
Wenn wir das nämlich ernstnehmen, … wenn wir das glauben, dass Jesu Geburt und Anfang ein Aufgeben war - Aufgeben von grenzenloser Seligkeit und vollkommenem Glück -, damit wir unser arg begrenztes Glück mit den völlig bedingten Habseligkeiten aufzugeben anfangen, dann muss sich etwas bei uns verändern.
Jesu Armwerden, Seine Armut will uns ja bereichern, sagt Paulus, … was aber bedeutet, dass wir unsern uns verarmenden Reichtum auf welche Weise auch immer loswerden müssen.
Wir müssen loswerden, was hier unser lästig-lächerlicher Reichtum ist, um in dem anderen Stand - dem Stand, der kommt - in ganz anderer Hinsicht frei und dann mit ganz anderen, ganz anders herrlichen Gaben begnadet sein zu dürfen: … Glaube, zum Beispiel, oder Hoffnung … und Liebe!
Nun hab’ ich im Seminar „Klassenkampf predigen“ nicht gut aufgepasst, und revolutionäre Taktiken oder moralische Traktate zu den Wegen, die wir alle aus unserm Reichtum zur befreienden Armut Jesu gehen müssen, richten in der Theorie nichts aus.
Dass der Wohlstand, wo wir ihn haben, nur in Verbindung mit dem Anstand vertretbar ist, nur also als die berühmte Verpflichtung auch auf das Wohl der Allgemeinheit, als die das Grundgesetz das Eigentum bestimmt, das ist keine politische Rede, sondern ein schlicht weihnachtlicher Grundsatz, eine unmittelbare Konsequenz der Inkarnation, so wie wir sie bei Paulus schnörkellos erklärt fanden:
Christus wurde nicht bloß Mensch wie wir, sondern darin wurde Er für uns auch das, was wir noch nicht sind und doch sollen.
Er wurde es aus Seiner Freiheit. Einer Freiheit, die Ihn auch so unabhängig und unbeeindruckt von den Größen und Werten machte, die wir sonst so wichtig nehmen und hochschätzen.
Vielleicht ist es aber ein guter erster Schritt auf dem Weg zur unerschöpflichen Armut Jesu, wenn wir Ihn heute noch einmal als Kind vor uns sehen.
Was brauchen Kinder schon?
… Materiell kaum etwas. Und wenn, dann zum Spielen.
Wenn wir nun uns und unsere Habe, uns und unser Gehabe einfach dem spielenden Kind Gottes zur Verfügung stellten, wären vielleicht die ersten Schritte auf dem Weg zur Freiheit auch für uns leichter, als wenn wir gleich das Ende unserer Wirtschaftsordnung besiegeln müssen …
Wenn wir uns und das Unsrige nur in dem heiter-amüsierten, wenn auch distanzierten Licht sähen, in dem Jesus später auf uns Reiche blickte, die wir so dumm sind, Schätze zu schätzen und zu sammeln, die von Rost und Motten zernagt und von jedem Dieb davongebracht
werden können (vgl. Matth.6,19f!).
Wenn wir dann vielleicht lachten über das, was wir nötig finden, obwohl es so ganz das Gegenteil ist.
Wenn wir auf diesem Weg dann freier würden, lockerer, lustiger.
Ich habe uns deshalb heute ein Arme-Leute-Spielzeug hier auf den Tisch gestellt, das nicht nur wegen E.T.A. Hoffmanns Erzählung und Tschaikowskis Ballett in die Weihnachtszeit gehört:
… In der Gestalt eines Nussknackers haben die kleinen, die armen Leute immer schon den belustigten Blick auf die Großkopferten gefeiert. … Die das Maul so weit aufreißen und es selten voll genug bekommen. Indem sie dem Nussknacker die schneidige Uniform des strammen Militärs oder den Kopfputz und pompösen Zwirbelbart des Monarchen andrechselten, haben die erzgebirgischen Handwerker und ihre Nürnberger Vorgänger gezeigt, wozu die Mächtigen, die Großen und Reichen auf Erden in ihren Augen und Händen gut sind: Sollen Sie - die Maulhelden - sich doch an dem, womit ihnen das Maul gestopft wird, die Zähne ausbeißen. Und für die Armen die harten Nüsse aufbrechen. So nutzen auch sie etwas.
In der Gestalt des Nussknackers haben die armen Leute also immer schon den weihnachtlichen Standes- und Herrschaftswechsel (vgl. EG 27, 3 +4!) ganz praktisch begriffen und ergriffen: Dass der Höchste für die Kleinen zur Hilfe und zum Segen wird. Dass die einfachen Menschenkinder Den bewegen und Gutes durch Den gewinnen, Der ihnen so unerreichbar fern in Seiner hohen Entrückung war.
Der Nussknacker, in dem die eine Seite ganz unwahrscheinlich für die andere sich einsetzt, so dass nachher nicht mehr ist, was vorher war.
Fangen wir doch vielleicht auch einfach damit an, …. mit dem Nussknacken.
… Den Hungrigen die Schale aufzubrechen.
Wenigstens dazu können wir gut sein: Dass wir wie das Spielzeug mit unseren Mitteln und Eigenarten helfen, dass Menschen kriegen, was ihnen sonst nicht zugänglich wäre.
Es wäre anständig von uns, wenigstens als Nussknacker zu wirken.
… Und vielleicht geht ja auch unsere harte Schale dabei auf und wir kommen hervor und sind Jesus näher und ähnlicher und menschlicher, als wir es je waren.
Beim Lied jetzt – dem herrlichen, weihnachtlichen, unser Mund auf Nussknacker-Maße weitenden „Gloria!“ (EG 54) – können wir es üben!
Amen.
[i] Max Webers religionssoziologische Studie von 1905 über „Die protestantische Ethik und de[n] Geist des Kapitalismus“ dürfte eine der fruchtbarsten Fundstellen für sinnvolle und unsinnige, kapitalismus-affine christentumskritische (und umgekehrt) Zitate, Systeme und Vorurteile sein. Lesenswert, heuristisch anregend, eye-opening und bestreitbar bis heute. Die Beweislast, die die allzu oft verkürzten und einseitigen Rezeptionen weltanschaulich diametraler Interpretation („Kapitalismus ergibt sich zwangsläufig aus dem Calvinismus“ / „Das reformatorische Christentum ist schuld an der materialistischen Wende in Produktions- und Konsumbedingungen des Westens“) ihr aufbürden, kann sie allerdings keinesfalls tragen.
[ii] Alexandrien steht (vergröbert) für die „hohe“ 2-Naturen-Christologie, Antiochien für Tendenzen einer jeweiligen Vereinseitigung der menschlichen, bzw. göttlichen Person in Jesus Christus, römische und gallische altkirchliche Theologie hat gesunde Mittelwege beschritten und bewahrt und die Väter der griechischen Welt – besonders Basilius die beiden Gregor (von Nyssa und von Nazianz) – haben eine wunderbar durchgeistigte, poetische Christologie, die eben auch den allzu oft vergessenen Heiligen Geist integriert, beigesteuert, bis endlich im 5. Jahrhundert das bis heute maßgebliche Dogma allgemeine Anerkennung fand. Wie schön und wie entscheidend dieses Dogma ist, wird bei uns allzu oft verleugnet und vergessen. Weihnachten bringt es aber zum Glänzen!
Fest der Geburt des Herrn / 1.Christtag, 25.12.2023, Stadtkirche, 2.Mose 2, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 25.XII. 2023 – Tag der Geburt des Herrn
2.Mose 2, 1- 10
Liebe Gemeinde!
Babysitten wir doch ein wenig an den beiden sonderbaren Kinderbettchen, die uns das Neue und das Alte Testament heute hier auf der Neugeborenen-Station der Bibel zusammenrücken[i]: Ein Trog, ein Korb, in denen sich Lebendiges regt. Zwei Behältnisse, die eigentlich Lebensmittel fassen wollten, müssen heute das Leben selbst aufnehmen: … Aufregend und ergreifend wie immer, wenn in einer tödlichen Welt ausgerechnet das Schwächste - die handlungsunfähige Hilflosigkeit - sich gegen Schmerzen, Gefahren und Widerstand durchsetzt.
Jede Geburt lehrt uns ja dieses Wunder gegen alle Wahrscheinlichkeit: Was sich nicht verteidigen und nicht wehren, ja, was sich nicht einmal durch Reaktionsgeschwindigkeit oder Flucht entziehen kann - Säuglingsleben -, wird dennoch gegen erdrückende Kräfte bewahrt. Kinder werden geboren, obwohl so viel dagegenspricht.
Kinder werden geboren, auch wenn die physischen und psychischen, die politischen und praktischen Umstände es überhaupt nicht denkbar erscheinen lassen.
Kinder werden geboren: Und Gott hat nichts Theoretisches damit zu tun.
… Kinder werden geboren, … und wir könnten Ihn erkennen!
Und darum babysitten wir hier, wie es die Christenheit seit sie Weihnachten feiert getan hat: Das Weihnachtsstaunen, das menschliche Verwundern über das unbeschreibliche Allerweltsgeheimnis unseres irdischen und ewigen Lebens macht auf eine Weise andächtig und empfänglich, dass es immer schon ein Bedürfnis war – und nicht nur in den kinderlosen Frauenklöstern des Mittelalters –, sich in meditativer Versenkung oder bäuerlicher Unmittelbarkeit, in sentimentaler Ergriffenheit oder sogar in abstrakter Spekulation einfach bei dem neugeborenen Kindlein an der Krippe einzufinden und zu verharren. Alles klärt sich ja schließlich, wenn man so einfach nur auf Atemzüge an einer Wiege lauscht; und alles wird unglaublich surreal, wenn man in der leisen Wache an einem Bett erfährt, dass nur diese winzigen Bewegungen der Luft in zwei kleinen Lungenflügel und das oft beinah unmerkliche Pochen im fast noch durchsichtigen Brustkorb das Leben darstellen?!
Die Kirche hat in ihren Wachen, ihren Vigilien, ihrem weihnachtlichen Babysitten also gewiss viel gelernt: Wie kostbar und seltsam es ist, Mensch zu sein … das Wesen, das anders als Flora und Fauna von Natur aus weder Wurzeln noch Waffen hat, sondern nur dank gezielter Zuwendung leben kann.
Die Kirche hat an der Krippe sicher auch gelernt, wie heilig alles Bedrohte und Abhängige an sich schon ist: Hat doch Gott nicht umsonst gewählt, Sich in dieser ganz unvermuteten Gestalt auszuliefern. … Allmacht wird auslöschbar, wenn sie Liebe ist.
Und noch eins muss die Kirche in ihren dunklen Stunden am Kinderbett, im Leuchten eines neuen Sterns über den alten Schicksalen der Erde ja ganz bestimmt gelernt haben: Dass die Anfänge aller Wege Gottes schwach sind. Dass sie dauern. Dass Geduld und Zittern, Hindernisse, Aufenthalte, Umwege nicht dagegen sprechen, sondern geradezu bestätigen, dass Gott in der Wirklichkeit und nicht im Traum Seine Ziele für uns und mit uns verfolgt.
Darum sitzen wir heute Morgen, nach einer heiligen und unter allen Kriegen und Katastrophen an dieser umgewidmeten Krippe dennoch fröhlich verbrachten Nacht immer noch hier als die Babysitter des Heils.
Vielleicht sind die vielen anderen jetzt eingeschlafen, die am Anfang der beiden Kinderleben standen, die wir hier gemeinschaftlich hüten: Die hebräischen Hebammen, von denen die Bibel bis heute zu ihrem Gedächtnis berichtet, was sie an den zum Genozid freigegebenen Säuglingen der Sklavinnen in Ägypten taten (vgl.2.Mose1,15ff), … sie werden nach den vielen Nachtschichten, in denen sie heimlich Leben retteten, müde sein; und auch die gläubige und die ungläubige israelitische Hebamme, die das legendarische Jakobusevangelium in der Höhle von Bethlehem der Jungfrau beistehen lässt[ii], müssen das Wunder, das sie erlebt haben, in tiefem Schlaf verarbeiten. Und Maria schläft hoffentlich auch ein wenig, und Josef. Und die von Sorgen zerrissenen Amram und Jochebed, vom Stamme Levi (vgl.2.Mose6,20), die Eltern des nur durch Aussetzen zu rettenden „feinen Kindes“, die der Kummer zutiefst ausgelaugt hat, sind traumlos erschöpft. Und selbst die erste Maria - oder Miriam - in Ägypten, die so furchtlos wie nur ein ganz unverdorbener, junger Mensch sein kann, … die so furchtlos wie ihre Namensschwester aus Nazareth dafür gesorgt hat, dass ein Kind, das Gott dringlich brauchen wird, auch wirklich überlebt und leben darf, … selbst sie muss die Augen geschlossen haben und ruhen.
Nur wir sind zwischen Korb und Trog jetzt wach. Und wollen die beiden hüten, … den Mosesknaben und das Jesuskind.
Man hat sie immer in enger Verbindung zueinander gesehen, diese Beiden, die den Willen Gottes und Seine Wege so vermittelt, so gewiesen haben, dass für Israel und alle Völker Licht und Recht (vgl. 2.Mose 28,30) aufstrahlen, an denen man sich orientieren und durch die man Gottes Ziel mit der Welt erkennen und erstreben kann.
Wenn wir aber mit der einen Hand das Körbchen schaukeln, in dem der drei Monate alte Mose gurgelt und juchzt, und mit der anderen im Futtertrog sanft wie die Hirten den Säugling streicheln, dessen Geburt wir gerade begehen, dann wird es uns zwischen den Schulterblättern vielleicht auch kühl.
… Sind sie wirklich gut aufgehoben bei uns: Der, der die Vorhut aller Gequälten auf dem Weg in die Freiheit war und das Bündel Hunger und Durst, in Dem wir den großen und ewigen Menschenhüter erkennen?
Sind wir gute Kinderhüter an Gottes statt, ja an der Seite Gottes?
Wenn wir auch kein Pharao, kein Herodes sein mögen: Kinder wie diese beiden - Kinder der Not, Kinder der Flucht - wollen wir in Wirklichkeit ja nicht so häufig bei uns wiegen.
Und es stimmt natürlich, dass die schrecklichen und gefährlichen und sinnlosen Fluchten aufhören müssen und dass das Entvölkern ganzer Landstriche und die trügerischen Träume der Armen von nicht versiegenden Quellen andernorts Elend bedeuten.
Aber neben und gegen diese großen, dürren Richtigkeiten treten die kleinen Kinder, die menschliche Eltern zu allen Zeiten immer schon um beinah jeden Preis vorm Verderben retten wollten. Und darum kann die Kirche, die zu Weihnachten den kleinen König Israels und Herrn der Welt babysitten darf, nur eine einseitige, praktische „Stall-von-Bethlehem“-Haltung haben. Auch wenn alle Welt dicht macht und abwinkt, so haben wir Gott doch tatsächlich in einem Viehtrog gefunden, und darum bleiben wir bei unsrer Arme-Leute-Moral angesichts der Mengen Menschenkinder: „So viele wie nun einmal kommen, so viele Mäuler wird Gott auch zu stopfen helfen.“
……. Wir haben’s beim Kindelwiegen in der allerersten weihnachtlichen Notunterkunft so gelernt: Raum in der Herberge muss sein, weil Gott zwar vielleicht nicht immer viel von uns will, … aber einen Korb, einen Trog, eine Ecke für das Leben will Er haben, … damit Er lebt und wir auch leben können!
Und noch eins sollten wir an diesem Weihnachtsfest, das zum ersten Mal in der Geschichte der Kirche eine Doppelgeburtsfeier sein will, ganz schlicht begreifen: Wie Moses und Jesus – die vollkommen rechtlosen Objekte pharaonischer und römischer Herrschaftsansprüche –, so sind unzählige namen- und perspektivlos Ohnmächtige unsere Zeitgenossen, … und die Geschichte des Reiches Gottes ist ihre Geschichte, … nicht also das, was uns die Tage und die Nächte so finster macht: Die grauenvollen Gewaltorgien und die ebenso grauenvollen Grabenkämpfe von Überfällen und Terror, von Krieg und Kampfhandlungen. Zwar scheint die Erde wieder ganz in den blutigen Bann der Bestialität geraten zu sein, die die schärferen Klauen, den erbarmungsloseren Biss und das Leitwolf-Gehabe im Rudel zum Maßstab macht.
Aber heute ist nicht Herrscherhuldigung oder Diktatorentriumph, sondern das Fest der bedrohten Kinder, die mithilfe eines Esels und eines Binsenkörbchen jeweils von einem Mädchen namens Miriam vor den Mächtigen ihrer Zeit beschützt wurden und deren Wirkung und Wirklichkeit doch viel, viel größer und wichtiger sein sollten, als es bei einem Ramses oder Nero, einem Robespierre oder Napoleon, einem Putin oder Netanjahu oder einem Hamas-Mörder je der Fall war oder sein wird:
Weil das Kind, das Miriam auf dem Wasser in Sicherheit brachte, durch Exodus und Torah die Verheißung von Freiheit und Recht in die Welt trug.
Und das Kind, das Maria in einer Höhle allen schenkte, die es als Weg des Lebens und Sieger über den Tod annehmen wollen, Gnade und Frieden in himmlischem Überfluss ausbreiten wird.
Diese Freiheit und dieser Frieden aber, so wie sie heute hier in Korb und Trog liegen, sind das, was die Welt braucht, wovon sie lebt und wodurch sie gerettet werden wird. —
Wenn wir in dieser Morgenstunde also den kleinen Herold der Freiheit und den Friedefürsten vor Augen haben und sie in unserer Vorstellung hüten dürfen, dann sehen wir die Zukunft der Welt vor uns. Und obwohl wir dazu weit zurückblicken ins römische Juda und an die Ufer des Nils in der Zeit pharaonischen Glanzes, und obwohl das unsagbare Leid der Kriege und Greuel dieser Tage wie ein schmutzig-trüber Schleier über allem liegt, woran wir uns freuen und erbauen wollten am Christfest, sind die beiden gefährdeten und doch nicht ausgelieferten Kinder wahrhaftig die gültigste Hoffnung, die wir haben können.
Denn die tiefste Einigkeit, die diese beiden Kindheitsgeschichten des einen und des anderen biblischen Retters miteinander verbindet, ist ja die, dass die Retter als Gerettete ihr Leben beginnen.
Der Mann, der den Exodus Israels aus der Unterdrückung anführte und Der, Der die menschliche Versklavung unter die Sünde und die Fesseln des Todes lösen sollte, sie sind beide bereits in den Anfängen ihres Daseins nicht in paradiesischer Sicherheit und märchenhafter Unschuld gewiegt worden, sondern wurden hineingeboren in den Malstrom der Geschichte. Ihre Geburt war jeweils so wunderbar, wie jede menschliche Geburt gegen die Lebensgefahr es ist. Sobald sie aber geboren waren, befanden sich beide schon in äußerster Todesgefahr.
… Und diese Tatsache, dass Gott Seinen Freund Moses (vgl. 2.Mose33,11) und dann auch seinen geliebten Sohn nicht in harmloser Weltfremdheit, sondern in Druck und Drangsal zur Welt kommen ließ, lässt uns instinktiv spüren, was es mit der Rettung auf sich hat: Sie ist Gottes unmittelbares, ja Sein ganz ureigenes Anliegen!
… Gott nimmt kein Privileg für sich in Anspruch, keine Schonung oder Sonderbehandlung, sondern teilt das Los aller Gefährdeten und Bedrohten, … aller, die gerettet werden müssen!
Dass Er rettet, geschieht also nicht als Zugeständnis oder mit Unwillen, als wäre es etwas Unnötiges, dass wir auf Sein Eigreifen angewiesen sind, wenn wir in unserer gegenwärtigen Erfahrung an die Grenzen des Menschenmöglichen stoßen und oft genug nicht zu erkennen oder zu sagen vermögen, wie die verhängnisvoll aussichtlosen Horrorszenarien, für die die Leiden in der Ukraine und Gaza nur stellvertretend stehen, denn zu etwas Gutem gewendet werden könnten.
Gerade die lebensnotwendige Rettung der Menschenretter Gottes, gerade die weihnachtliche Urerfahrung, dass alles nur anfangen und weitergehen kann, wenn es als Rettung geschieht, verbindet uns mit den beiden Kindern, die wir an diesem Tag „betreuen“ dürfen, … und zwar in des Wortes wirklichster Bedeutung:
Unsere Treue zu diesen beiden, zum kleinen Findelkind der Pharaonentochter und dem kleinen Flüchtlingskind, das an Marias Brust dreizehn Jahrhunderte später sich wiederum nach Ägypten retten musste, … unsere Treue zu diesen Kindern ist lebenswichtig für sie und für uns, wenn sie uns - wie heute - so unmissverständlich vor Augen stellen, was ihre neugeborene Schutzlosigkeit uns predigt: WIR BRAUCHEN RETTUNG … UND GOTT BRAUCHT SIE AUCH!
… Gott, der Herr, der Heiland, der Heilige … Gott braucht Rettung!?!
Das sagt uns der Weihnachtstag mit den beiden hilflosen Kindern, durch die im Alten wie im Neuen Testament das Heil beginnt.
Gott braucht uns: Dass wir Ihm die Treue halten, dass wir Ihn nicht vernachlässigen oder verlassen, dass wir bei Ihm bleiben, um des Wunders des Anfangs willen … und damit wir die Wunder der Zukunft mit Ihm erleben und erlangen.
Wenn wir also den kleinen Mose auf seinem gefährdeten Weg ins Wasser, das ihm das Leben rettete, jetzt vor uns sehen, dann sind wir gefordert, dass wir seinen Weg der Gerechtigkeit und sein Volk Israel - das es sich und uns heute so schwer dabei macht - in seiner Gefährdung nicht verlassen. Denn überall, wo das Volk Israel verlassen wurde und wird, da wird auch der Gott Israels verlassen. … Wer wüsste das besser als wir?! —
Hüten wir also den, der Israel und uns die Freiheit und die Gebote Gottes brachte, und halten wir damit Gott selbst die weihnachtliche Treue in Seiner eigenen Kindergestalt! … Denn auch das Kind in der Krippe, das zum Mann am Kreuz und zum Sieger über das Böse und die Vernichtung werden sollte … auch dieses Jesuskind, dieser neugeborene Versöhner der Welt wird ja geistlich und praktisch so gänzlich verlassen in unserer Zeit, dass es zum Fürchten ist!
Wir aber - Seine Babysitter, Seine Betreuer, Seine Treuen - … wir wollen Ihn hüten und halten von ganzem Herzen und mit allen unseren Kräften!
Wir wollen Acht auf Ihn geben, Den so viele heut her- und aufgeben!
Wir wollen das Wunder bewahren, das Er bedeutet:
Gott wird geboren, obwohl so viel dagegenspricht.
Gott wird geboren, auch wenn die physischen und psychischen, die politischen und praktischen Umstände es überhaupt nicht denkbar erscheinen lassen.
Gott wird geboren: Und wir haben nichts Theoretisches, sondern Praktisches damit zu tun.
… Gott wird geboren, … und wir sollen Ihn erkennen!
So wie Er sich uns schenkt, so wollen auch wir uns Ihm mit Leib und Seele geben: Weil Er uns braucht, wie wir und die Welt Ihn! ——
Weihnachten mit den zwei rettungsbedürftigen Kindern, die unsere Retter vor Unrecht und Unheil, vor Sünde und Tod werden, schenkt uns also wirklich die Gnadengabe und stellt uns zugleich mit allem Ernst die Aufgabe, dass wir sie wahrhaftig behüten und bewahren, die uns die Wahrheit und das Leben schenken.
… Dass wir Gott behüten, den rettenden Gott, Der auf uns wartet!
Kommen wir also zu Ihm in den Dienst des Hütens und der Treue und bringen Ihm und schenken Ihm, was Er Selber uns gegeben hat in Körben und Trögen, in Atomen und Galaxien, in Einzigartigkeit und Unbegrenztheit (vgl. EG 37,4): Geben wir Ihm Leib und Seele, Vergangenheit und Zukunft, Zeit und Ewigkeit.
Alles, was Er braucht.
Alles. Weil Er’s braucht.
… Wie wir.
Amen.
[i] Die Perikope 2.Mose 2, 1-10 ist bei der Reform der Perikopenordnung für den 5.Jahrgang neu unter die Predigttexte des Christfestes aufgenommen worden. Noch nie ist also an diesem Tag in der Kirche verbreitet über diesen Text gepredigt worden!
[ii] Diese apokryphen Hebammen, die ein Moment des ungläubigen Thomas auch schon in die Geburtsgeschichte eintragen, begegnen in der Kunst der Ost- und Westkirche häufig. Das Beharren der Salome genannten Hebamme darauf, dass sie die undenkbare Geburt aus der Jungfrau handgreiflich nachprüfen will, steht im Dienst des marianischen Glaubens der alten Kirche. Grundlage der Legende ist u.a. das sog. „Protevangelium des Jakobus“, das spätestens auf das 4.Jahrhundert zurückgeht. Vgl. die Übersetzung in: Neutestamentliche Apokryphen, hgg. v. Wilhelm Schneemelcher, I.Band: Evangelien, Tübingen 19875 S. 346. Der ungläubigen Hebamme verdorrt die Hand, mit der sie die Untersuchung an Maria vornahm, aber sie betet um Vergebung („Gott meiner Väter, gedenke meiner; denn ich bin Abrahams, Isaaks und Jakobs Same …“ [aaO, S.347]) und sie darf „gerechtfertigt aus der Höhle hinausgehen“ (ebd.). Dem Protevangelium des Jakobus verdankt übrigens das in unserer Gemeinde so beliebte Lied Oskar Gottlieb Blarrs von der „Höhle zu Bethlehem“ (EG 547) die historisch gewiss zutreffende Lokalisierung der bethlehemitischen Viehunterstände in den Grotten um die Siedlung.
Christmette, 24.12.2023, Weihnachtspredigt, Stadtkirche, Jenny Müller
I
Lk 2,11 „Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“
Heiland, du versprichst uns Heil und schenktest uns Land.
Doch wo ist heute dieses Land?
.. in dem Milch und Honig fließen,
oder Bäume der Erkenntnis sprießen,
oder wo Menschen nur Menschen sind und keine Riesen.
Ein Land, das du uns doch versprochen hast.
Doch ich sehe dort nur Hass- Und hier:
Hier, Angst, die sich in Hass verwandelt und mit Fremdenfeindlichkeit anbandelt,
Menschen, die auf dunklen Spuren wandeln-
und egoman handeln.
So sagen viele in diesen Tagen:
Gott, Wer bist du denn? - Ich brauch dich nicht;
wer sollst du sein? - Ich kaufe nichts.
Die Welt, brennt und lodert. Du feiner Geist, wo bist du nur?... und in mir brodelt‘s.
Wenn du da bist, wenn‘s dich gibt, so tu doch was, in diesem Augenblick.
Der Zweifel: Der steigt, wächst ab und zu über deine Herrlichkeit.
Und so wird die Welt immer kälter, obwohl sie stetig wärmer wird.
Die Welt geht vor die Hunde, Katastrophen ziehen ihre Runden, Diktatoren lecken ihre Wunden.
Und dann heißt es in der wunderbaren Weihnachtsnacht: (Lk 2,1)4
Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.
So sag wo ist dein Frieden auf Erden?
Wir sehen nur ein Kummer des Werdens- Nichts zum Ehren.
Als würde alle Welt wissen wie Krieg geht, aber nicht wie es ist, wenn der Hauch des Friedens weht.
Wo ist die Wahrheit, wo ist die Wärme und dein Licht?
Joh 9,5 „Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt“- hast du gesagt!
So mach doch dein Licht an und schau dir diese Welt doch an.
Sitzen hier und du verkündigst uns große Freud: Denn uns ist heut der Heiland geboren!
Ja, das ist ganz famos, sitzen hier wie jedes Jahr - doch fragen uns:
Ist es wirklich wahr? Wann wird der Himmel auf Erden wahr?
Wie es wohl war, in dieser Heiligen Nacht - und
was diese heute wohl noch mit uns macht?
Hat sie eigentlich noch irgendeine Macht?
Und bist du noch der, der über uns wacht?
II
Gott, wir fürchten uns in diesen Zeiten,
wollen so gerne, dass deine Hand uns leitet,
dass das Böse uns meidet,
dass deine Liebe in der Welt waltet.
Und dann, in dieser dunklen Nacht auf dem Felde, erhörst du uns:
Lk 2,9 „Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie.“
Erhörst uns - aus dem Nichts: Schaust du, Gott, uns mit deiner Klarheit ins Angesicht.
Schickst uns ein Zeichen in diese Zeit,
schickst uns ein Zeichen, da sich bei uns zu vieles aneinanderreiht- weil wir schlafen wie die Hirten in diesen Tagen, haben nichts Hoffnungsvolles mehr zu sagen,
sehend zu dir hoch klagend, anstatt dein Licht in die Welt zu tragen.
Wenn die Welt nach deiner Hoffnung schreit,
wenn du siehst dieses Leid- dann siehst du, wir sind für dein Wunder bereit.
Schickst uns heute deinen Engel, der da sagt:
Lk 2, 10,11 „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren.“
III
Fürchtet euch nicht- das ist leichter gesagt als getan,
doch Hoffnung vollzieht in uns leise ihre Bahnen
und so machen wir uns auf den Weg,
wollen‘s glauben, was da in der Krippe liegt.
Sind die Hirten in der Geschicht‘, eilen zum Kind,
legen dahin einen kräftigen Sprint.
Wollen des Engels Wort nach gehen- wollen unsere Er-Lösung wahrhaftig sehen:
Das Kindlein was uns angeblich alles gibt -was wir so dringend brauchen.
Doch um dies zu erkennen, ums zu glauben, trauen wir heute leider nur noch unseren Augen.
Wir stürmen hin in unserer Zeit,
drängen uns in der Wirklichkeit an Fakten, Wünsche und erkennen – leider nur diese Welt, die wir sehen können und benennen.
Doch ist das der Zauber dieser Nacht- können wir mit bloßem Auge sehen, was diese Nacht mit uns macht?
Ja, das Kind in der Krippe kann fesseln sprengen, uns lossagen von allen Zwängen, kann uns hören lassen seine Himmels-Klänge, kann uns befreien von dieser weltlichen Enge.
Doch muss ich dafür in die Krippe schauen,
muss in diesem Kasten nach ihm tasten und es anfassen?
Nein, ich muss mich einfach bezaubern lassen! - Inne halten und bei dir weilen, anstatt durch Raum und Zeit zu eilen.
Muss mich ergreifen lassen von deiner Kraft- ich höre sie in deiner Heiligen Nacht.
Denn ist es nicht gerade die Stille, die sie zur Heiligen macht?
„Stille Nacht! Heilige Nacht! Die der Welt Heil gebracht,..“
Doch wir in diesem stillen Raum-
können kaum halten, unserer Unruhe im Zaun- ist ja auch nicht gefordert im Jetzt und Hier.
Muss immer schneller werden, immer weiter, immer höher auf der Leiter.
Denn wer kann sich heut noch vorstellen, dass da was ist in dieser Nacht,
was auf uns wartet-
ein Wunder das hell erwacht und unsere bisherigen Grenzen zu Nichte macht.
Und so begeben wir uns alle auf unseren eigenen Pfad, schaufeln uns alle unseren eigenen Graben, der uns von dir trennt.
IV
So ist das Kindlein zu finden ist der heutige Preis,
unser Hauptgewinn,
doch der fordert von uns keinen Fleiß.
Kannst suchen, kannst fragen, kannst die Weisheit mit Löffeln gegessen haben, kannst der Beste sein und was wagen.
Doch finden wir es nicht unterm Tannenbaum, nicht in Geschenk-Verpackungen oder im Lichter-Traum.
Nein, das Kindlein bahnt sich seinen ganz eigenen Weg. Wartet schon auf dich, bevor du dich überhaupt bewegst.
Klopft an die Herzenstür- „mach auf die Tür, die Tor macht weit“- ich komme in Herrlichkeit.
Lass mich bei dir nieder, erfülle dein Herz, schenke dir Liebe und die Gewissheit, die dir sagt:
Ich ziehe mit meiner Gnade ein, sodass dir Freundlichkeit erschein. So dass mein Geist dich überall hinleitet, dass er dir und der Welt Heil bereitet.
So..
„Komm, o mein Heiland Jesu Christ,
Meins Herzens Tür dir offen ist.
Ach zieh mit deiner Gnade ein;
Dein Freundlichkeit auch uns erschein.“
V
So sprengst du uns, so erkennst du uns, so beschenkst du uns- wenn wir dich lassen, wenn wir glauben, hoffen und unsere Herzenstür dir offenlassen:
sprengst dann unserer Mauern, und unseren Verstand.
Hast uns erkannt: Unsere bittenden Hände und flehenden Knie.
Beschenkst uns und drängst alles Weltliche in uns an den Rand.
Doch! - nicht zu vergessen und nicht ganz vermessend:
Hast du uns auch ernannt,
hast uns auf deinen Namen gerufen.
Hast gesendet uns dies Zeichen, damit nicht nur ein bisschen Herrlichkeit vom Himmel fällt- nein, hast uns ernannt- denn deine Botschaft, hat Gewicht,
sie brennt in uns, führt uns zum Licht.
Dieser winzige Lichtstrahl da im Stroh- das kleine Kind bringt uns Hoffnung, Wärme und neues Leben- doch redet auch immer wieder davon sie weiterzugeben:
So seid nicht nur Hirten dieser Zeit, die davoneilen, ohne zu verweilen.
Seid keine Hirten, denn ihr seid voll Hoffnung für die Zukunft bereit, ihr seid nämlich mit dem Kindlein im Herzen vor Allem gefeit.
Seid wie die Engel unserer Zeit und verkündigt die große Freud!
So versteckt euch nicht im Hoffnungslosen, seid frohen Mutes auch wenn draußen die Welt am toben,
Lasst euch nicht von Dunkelheit ergreifen und alle diesen Zweifeln!
Denn seht ihr es nicht- heute Nacht, sein strahlendes Licht?
Seht wie schön sein Licht die Welt gemacht, seht wie Er über uns wacht,
seht was seine Liebe mit und in unseren Herzen macht!
Und so ist…(Ps 27,1) „Der HERR .. mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten?“
Und so bewege Gott der Herr unsere Herzen von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Amen.
Christvesper, 24.12.2023, Installation „Schattendasein“, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Bild/Installation „Schattendasein“ von Jens Henning -
Liebe Gemeinde,
Weihnachten ist ein Fest, das von Erinnerungen lebt, die buchstäblich über alle Sinne wachgerufen werden: das sind die Gerüche, der Duft von Tannennadeln und von Glühwein, da sind die Klänge vertrauter weihnachtlicher Lieder und Musiken, selbst das Frösteln beim Besuch auf dem Weihnachtsmarkt, beim Spazierengehen und gegen Ende des Gottesdienstes hier in der Mutterhauskirche gehört dazu. Und all die Bilder, die sich unseren Augen bieten: der Anblick von Kerzen, der geschmückte Weihnachtsbaum, die Krippe und ihre Darstellung auf unzähligen Bildern durch die Jahrhunderte. Maria und Josef mit dem Jesuskind, mit Ochs und Esel, Hirten und Weisen, Schafen und Kamelen und manch anderen Gestalten. Vertraute Bilder, die weihnachtliche Stimmung bringen, wie auch das Bild auf dem Liederheft. Wobei dieses Bild schon einen ersten Schritt zu einem neuen Blick auf Weihnachten darstellt: hat doch Josef dort das Kind auf seinem Arm und Schoß, während Maria in die Lektüre eines Buches (es soll natürlich die Bibel sein) vertieft ist.
Hier ein paar Reaktionen darauf:
Das soll ein Weihnachtsbild sein?
Also mir fehlt da etwas. Eigentlich die ganze Weihnachtsstimmung. Kerzen, Tannenzweige. Maria und Josef. Der Engel und die Hirten. Irgendwie alles.
Ich finde schon, dass das ein Weihnachtsbild ist. Das Kind in der Krippe sieht man sofort. Und das ist doch das Wesentliche an Weihnachten.
Mir gefällt der Lichtschein. Es erinnert mich an einen Sonnenaufgang. Die Sonne geht hinter der Krippe auf.
Aber irgendwie ist es auch nur wie ein Schatten. Ist es real? Machen wir uns da etwas vor mit Religion, mit Weihnachten und überhaupt?
Machen wir uns an Weihnachten nicht alle irgendwie etwas vor? Ich meine die heile Welt und so. Und anderswo ist Krieg.
Ich finde, Weihnachten ist ein sehr ambivalentes Fest.
Ich mag es einfach, wenn es an Weihnachten schön ist. Wenn der Weihnachtsbaum in der Kirche leuchtet und dann die Gemeinde singt „O du fröhliche“. Das erfüllt einen doch.
Es kann aber auch ganz anders sein: Für viele ist es der einsamste Tag im Jahr. Für den, der allein ist. Oder der jemand verloren hat.
Aber was hat das alles mit dem Bild zu tun? Ehrlich gesagt, berührt es mich nicht. All die Drähte und Spulen. Da hat einer lange gebastelt. Das Ganze ist mir zu technisch.
Wieso? Da trifft die 2000 Jahre alte Geschichte auf die Wirklichkeit heute. Gerade das finde ich spannend. Ein Weihnachtsbild ohne jeden Weihnachts-Kitsch.
Wenn jemand die Lampe vorne ausknipst, sieht man gar nichts mehr. Dann ist das Jesuskind an der Wand verschwunden.
Genau das ist es doch: Man glaubt daran, dann sieht man etwas. Den Friedensbringer, den Heiland. Wenn man nicht glaubt, dann bleibt das alles eine leere Hülse, Elektroschrott, der nichts bedeutet.
Mir gefällt dieser Gegensatz zwischen vorne und hinten. Vorne der Schrott. Aber dann wird etwas draus. Ist das nicht dieses „Gott kommt in die Welt“? Das heißt dann doch im Umkehrschluss: Schauen, wo überall Jesus steckt. Vielleicht ganz woanders als man sonst immer meint.
Aber die Botschaft von Weihnachten lautet: Jesus ist da! Auch wenn man ihn manchmal nicht so leicht sieht. Oder gar nicht. Aber hinter allem steckt er, finde ich.
Das gefällt mir jetzt: Man könnte das Bild unter zweierlei Blickwinkeln betrachten. Wenn ich es mit den Augen der Resignation anschaue, sehe ich nur Metallteile, die niemand braucht. Ist im Moment nicht vieles in der Welt so? Aber wenn ich auf die Welt mit den Augen der Hoffnung schaue, wenn ich mit Gottes Gegenwart rechne, dann kann da etwas entstehen, etwas Neues, etwas, dass klein beginnt und dann wachsen kann. Dann sehe ich das Jesuskind in der aufgehenden Sonne.
Anregung zu einem Gespräch über Weihnachten, das gibt dieses Bild auf jeden Fall. Und es lehrt uns, neu hinzuschauen – gerade weil es uns zunächst fremd entgegentritt.
Die Weihnachtskrippe mit dem Jesuskind ist zu einem Schattenriss geworden, der zu einem Zentrum der Ausstrahlung wird. Weihnachten als Überraschung: mitten aus scheinbar willkürlich angehäuften Gegenständen, aus Elektroteilen oder Elektroschrott wird die Krippe mit dem Kind sichtbar.
Auch die Farbgebung, das Himmelblau, auf dem die Konstruktion aufgebaut ist, ist bedenkenswert: sie kann dafür stehen, dass hier Himmel und Erde zusammentreffen. „Schattendasein“ hat der Künstler seine Installation benannt.
Es ist kein Bild, das für immer fertig gemalt und an die Wand gehängt werden kann.
„Schattendasein“ – diese Bezeichnung betrifft nicht nur den Schatten von Krippe und Kind, sondern das gesamte Werk.
Die Installation ist überhaupt nur dann als solche da, wenn das Licht leuchtet.
Ohne das Licht gibt es nur einen Haufen Elektroschrott auf einer blauen Platte, für den sich keiner interessieren würde.
Das Licht verändert alles.
„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. … Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben und die Herrschaft ist auf seiner Schulter.“ (Jes.9,1.5a)
So haben wir es vorhin in der Lesung aus dem Buch des Propheten Jesaja gehört.
Licht und Finsternis – das sind die großen kosmischen Stichworte der Weihnacht.
Kind und Krippe – das sind die irdischen Realitäten.
Wie lassen sich beide Ebenen so miteinander verbinden, dass Weihnachten mehr ist für uns als ein Event, das nur ein begrenztes Schattendasein in unserem Leben spielt, das aus und vorbei ist, wenn der Stecker der Tannenbaumbeleuchtung aus der Steckdose gezogen ist?
Was haben Licht und Finsternis und das Kind in der Krippe mit uns zu tun? Wo kommen wir vor?
Dass Jesus derjenige ist, der das Licht in die Welt gebracht hat, das ist allen, die mit dem christlichen Glauben groß geworden sind, fraglos klar. Und gerade an Weihnachten wird uns das alle Jahre wieder vor Augen gestellt.
Durch seine Hinwendung zu denen, die an den Rand ihrer Gesellschaft gedrückt werden oder wie es in der Sprache der Bibel heißt, in Finsternis und Todesschatten wohnen, hat Jesus Licht in ihr Leben gebracht. Er hat ihnen gezeigt, dass Gott für sie ein anderes, besseres Leben gewollt hat. Und selbst denjenigen, die sich selbst durch ihr Fehlverhalten, durch ihre Schuld ins Abseits, in die moralische Finsternis begeben haben, selbst denen hat er heimgeleuchtet, hat sie ins Licht der vergebenden Liebe Gottes, an einen neuen Anfang gestellt.
Kein Wunder, dass der Evangelist Johannes diesen Jesus zum Licht der Welt erklärte. Allerdings hat er damit auch einen Weg beschritten, der nicht unproblematisch ist …
Der dazu verführt, Jesus und den lieben Gott alles machen zu lassen. Jesus selbst hat diese Gefahr gesehen. In der Bergpredigt hat er es allen, die ihm zuhörten, gesagt, geradezu ins Stammbuch geschrieben: „Ihr seid das Licht der Welt.“…und „Lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, sie sollen eure guten Taten sehen und den Vater im Himmel preisen.“ (Mt.5,14-16)
Im Grunde genommen geht es den Weihnachtserzählungen von Lukas und Matthäus gerade auch darum: deutlich zu machen, dass das Licht, das im Leben von Jesus unauslöschlich aufgeleuchtet ist, ein Licht ist, das seitdem auf Wanderschaft ist durch die Zeiten. Es wäre erloschen, wenn es nicht weitergegeben worden wäre. Das Feuer der Liebe, das Licht des Lebens, es braucht keine Kandelaber, sondern Menschen, die sich anstecken lassen, die in die Dunkelheiten jeweils ihrer Zeit hineinleuchten, um es heller werden zu lassen in ihren Familien und Gesellschaften, um Gottes Wohlwollen und seine Freundlichkeit, seinen Lebens- und Heilswillen für alle seine Menschenkinder spürbar, erfahrbar zu machen – so wie Jesus es zu seiner Zeit getan hat.
Nun mag sich mancher hier fragen: Wie kann ich mich denn da mit Jesus vergleichen? Er ist doch unvergleichlich, der Christus, der Sohn Gottes? Wer bin ich denn schon?
Die Botschaft von Weihnachten sagt das unmissverständlich: Du, Mensch, bist sein Bruder, seine Schwester, du bist ein Kind Gottes, ein Sohn, eine Tochter Gottes wie Jesus von Nazareth. Du bist es von deinem ersten Atemzug an. So, wie er es gewesen ist. Mit dem Leben hat Gott dir die Gabe geschenkt, Licht zu sein, die Welt heller, schöner, gerechter zu machen. Alles, was nötig ist, liegt in der Krippe, im Kinderbettchen, in der Wiege schon bereit. Es muss nur zur Entfaltung kommen – im Leben eines jeden Menschenkindes. Das Licht der Weihnacht – ein Geschenk von Gott, das angenommen, ausgewickelt, gebraucht und weitergegeben werden will. Von jeder und jedem von uns.
Jesus von Nazareth ist uns darin ein leuchtendes Vorbild. Er hat uns ein Beispiel dafür gegeben, worum es im Leben geht: Sich nicht von allen Dunkelheiten lähmen zu lassen, zu resignieren angesichts von allen Schrecknissen und Schwierigkeiten, sondern einfach das Licht, das Gott jedem Menschenleben eingestiftet hat, leuchten zu lassen – mitten in alle Finsternisse. Wir werden die Finsternis nicht abschaffen, aber wir können die Wirklichkeit erhellen, das, was chaotisch daherkommt, so durchleuchten, dass Hoffnung auf einen Neuanfang aufscheinen kann. Das kann uns das Bild, die Installation von Jens Henning vermitteln. Und dazu passt ein Vers aus dem 2.Korintherbrief (4,6), wo es heißt:
„Gott hat einst gesagt:
Aus der Dunkelheit soll ein Licht aufleuchten.
Genauso hat er es in unseren Herzen hell werden lassen. Durch uns sollte das Licht der Erkenntnis aufleuchten:
die Herrlichkeit Gottes, seine Güte und Liebe,
sollte sichtbar werden, die uns im Christus Jesus begegnet.“ (Übersetzung Basis-Bibel)
In uns ist Licht. Es will in uns etwas aufleuchten, wie das Licht auf der Karte, in dem dann das Kind in der Krippe erkennbar wird. Wenn jemand die Lampe ausschaltet, ist es weg. Das könnte bedeuten: manchmal verliert man in der Geschäftigkeit des Alltags den Kontakt zur Quelle des Lichts, dann braucht es jemand oder ein Ereignis, etwas, das den Kontakt wieder herstellt. Das ist der tiefe Sinn von Weihnachten. Weihnachten erinnert uns an das Licht, das von Gott her in die Welt gekommen ist – durch Jesus hell aufgestrahlt ist und weitergegeben wurde bis in unsere Gegenwart.
Es ist gut, dass wir jedes Jahr daran erinnert werden: das Licht von Gott leuchtet in uns und will von uns weitergegeben werden, um so der Finsternis unserer Zeit entgegenzuleben, im Vertrauen auf Gott, der verheißen hat: Siehe, ich will ein Neues schaffen. Jetzt wächst es auf, jetzt kommt es in dir zur Welt. (Jes.43,19)
Amen.
Christvesper, 24.12.2023, Stadtkirche, Lukas 2, 15 - 17, Pfr. Dr. Uwe Vetter
Heiligabend 2023
17.30 Uhr Christvesper Kaiserswerth
Predigttext LukasEvg 2 : (8-20) Verse 15 und 17
Propheten-Lesung Jesaja 65, 17-25
Predigt Uwe Vetter
Bei den Hirten in Hongkong
Lukas 2 (8) Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. (9) Und des HERRN Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des HERRN leuchtete um sie, und sie fürchteten sich sehr . (10) Und der Engel sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. (11) Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. (12) Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“ (13) Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: (14) „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen Seines Wohlgefallens“. - (15) Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: „Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der HERR kundgetan hat“. (16) Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. (17) Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kind gesagt war. (18) Und alle, vor die es kam, wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. … (20) Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.
Was haben die Hirten gesehen? Wir wissen, irgendetwas haben sie gesehen, an Heiligabend, ´zu Bethlehems Stall`. Etwas hat gemacht, dass sie ihre Herde verließen und die Hürden überwanden (die uns hindern, am Gottesdienst teilzunehmen), dass sie sich auf den Weg machten, um persönlich dabei zu sein, zu Heiligabend in Bethlehems Stall. „Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der HERR kundgetan hat“ haben sie sich gesagt. Das müssen wir mit eigenen Augen sehen, was uns da in die Wiege gelegt ist, was da so große Freude macht, die allem Volk widerfahren wird. Sagten die Hirten. Und gingen los.
Folgen wir Ihnen, liebe Heiligabendgemeinde, unauffällig. - Aber bevor wir uns an ihre Fersen heften, rasch noch einen prüfenden Blick in den Spiegel: Warum haben wir uns heute Abend aufgemacht in die Kaiserswerther Stadtkirche, unserm Bethlehem-Stall? Warum lassen Sie Weihnachten nicht sausen, gehen auf Kreuzfahrt oder lassen sich unter Palmen verwöhnen im Dezembersommer irgendwo am Strand?
´An Heiligabend gehört Kirche einfach dazu`, werden Sie sagen. Nachmittags mit den Kindern zum Krippenspiel … das Christkindlhafte, und das Windelweiche… ich liebe es`. – Und ja, Sie haben Recht, auch das ist an Heiligabend eine der Sprachen Gottes, auch das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und Sie sitzen jetzt zur Vesper mit Streichquartett und Oboe in der Kirche,… die altvertrauten Weihnachtslieder singen, die Weihnachtsgeschichte hören – da erwacht, was mit uns selbst von Klein auf geschehen ist., „Lasst uns nun gehen nach Bethlehem,“ sprachen die Hirten untereinander, „und die Geschichte sehen, die da geschehen ist“.
2
Also kommen Sie, folgen wir den Hirten. Bleiben wir dran und lassen sie nicht aus den Augen, jetzt, wo sie nach Bethlehem kommen. Denn ihnen passiert etwas, womit sie nicht gerechnet hatten. Eigentlich wollten sie Heiligabend nur mal das Christkind gucken und dann wieder heim, zurück an ihre (Küchen)Herde und Hürden. Doch während Heiligabend im Familien/Freundeskreis (unserer „Herde“) meist minutiös getaktet ist – Kirche, Bescherung, Essen, Christmette… haben die biblischen Hirten plötzlich viel Zeit. Irgendwas treffen sie dort an, das sie trifft. Statt nach Hause zu gehen, überkommt die Hirten ein unstillbares Mitteilungsbedürfnis. Sie müssen mit irgendwem reden, über das, was sie gesehen haben. Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kind gesagt war. Heut würde es heißen: Die Smartphones laufen heiß, da wird ge-signalt, ge-simst und ge-whatsappt, bis das Netz nachgibt. Die Hirten haben was erlebt, was sie irgendwem erzählen müssen, unbedingt.
Können Sie sich vorstellen, dass uns heute Abend etwas aus unsrer alle-Jahre-wieder-Routine holt und wir mit einem Mal alle-Zeit-der-Welt haben? Was verwandelt Menschen, die nichts andres wollen als im Gottesdienst singen und sagen hören, in Augenzeugen, die Aufregendes zu Protokoll geben? - Man müsste die Hirten fragen: Was ist los mit euch? Ihr seid ja gar nicht wiederzuerkennen! Was ist euch begegnet, in Bethlehems Stall?
3
Liebe Heiligabendgemeinde, ich hab das einfach mal gemacht. Ich habe die Hirten gefragt. Ich hab mich diesen Herbst nach Hongkong aufgemacht. Ich wollte sehen, was los ist, was in diese Leute gefahren ist. Warum dort, im Schatten Chinas, in Hongkong, wo es gerade immer düsterer und dunkler wird, warum ausgerechnet dort so viele zu Christen werden und sich so auffällig benehmen. Ich habe an einer Theologischen Hochschule unterrichtet. Unter den studentes waren viele bereits gestandene Hirten, also Pastoren, die längst eine Gemeinde („Herde“) führten - in Hong Kong und Macao, in Myanmar in der Volksrepublik China. Was ist der Grund? fragte ich die Hirten dort, warum „kommen“ bei Euch so viele Menschen „zum Christus“ ?
Es ist wirklich kaum zu glauben: Nach Mao´s Kulturrevolution 1965-1976 gab es nur noch kleine Restbestände von Kirche. Doch seitdem hat sich die Zahl der Christen vervierzigfacht.[1] Heute gehen dort sonntags mehr Menschen zur Kirche als in sämtlichen Ländern Europas zusammen.[2]
Obwohl „Kirche“ dort nicht bequem ist. Der „Stall zu Bethlehem“ dürfte mehr Sterne gehabt haben als die meisten Adressen dort.[3] Um der Partei-Kontrolle zu entgehen, treffen sich in mainland viele in „house churches“, in Privatwohnungen, Hinterzimmern, Fabrik-Cafeterien und unter freiem Himmel. Ohne Kirchgebäude, ohne Mitgliederkartei sind Christen zwar nicht „underground“, aber schwer zu fassen. Eine Laienkirche ist es, mit wenigen Pfarrern und notdürftig ausgebildeten Evangelisten. Man erzählt die Jesusgeschichte dem, dem man vertraut. Glaube wird von Freund zu Freund, von Kollegin zu Kollegin, von Schülern und Studentinnen weitergetragen. Jeder Getaufte ist beseelt von einer Mission. - Und das ist erstaunlich, denn Kirche wirbt mit einer Botschaft, die völlig irre klingt im geschäftstüchtigen Reich der Mitte(l): Christsein kostet mich was! Christsein kostet das Risiko, keinen Job beim Staat zu bekommen[4]. Christsein kostet den freiwilligen >biblischen Zehnten< (des Einkommens), den jeder ins Gottesreich investiert. Christsein bringt einen Wettbewerbsnachteil: Christen dürfen nicht betrügen im Brutalkapitalismus. Und der Sonntag ist nicht Tag der Arbeit und Geschäfte, am Sonntag formiert sich Gemeinde im Gottesdienst. 100 Millionen Christenmenschen, manche schätzen bereits bis zu zehn Prozent der Bevölkerung in Chinas Kirchen – ohne fremde Hilfe, ohne Werbeetat, ohne Handreichungen und Enzykliken, fast aus dem Stand.
…es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten ihre Herde des Nachts – …des Nachts, - ja so ist es: es wird mit jedem Jahr düsterer und dunkler. Die Hürden für freies Denken werden in Hongkong immer höher. So viele wandern aus, weil sie fürchten, dass der verordnete Nationalkunde-Unterricht ihren Kindern das Gehirn wäscht. Sie fürchten sich vor dem neuen „Nationalen Sicherheitsgesetz“, das Willkür Tor und Tür öffnet. Die Nacht ist vorgedrungen und greift um sich – wer das nicht merkt, muss naiv sein.
Ich habe die Hirten dort gefragt: Why do Chinese turn to Christ ? – Wen immer ich fragte, die gleiche Antwort: Well, they encountered Christ, sie sind dem Christus begegnet. Dem „Heiland“.
4
° Der Heiland heilt, sagten sie, der Heiland heilt unsere alten Kernzellen des Lebens, die Familien. Die Kulturrevolution hatte die Familie zerstört. Kinder wurden gegen ihre Eltern gehetzt. Schüler verprügelten ihre Lehrer. Ehemänner zeigten ihre Frauen an. Ehefrauen ließen ihre Männer in Umerziehungslager schaffen. Niemand wagte mehr etwas zu sagen, ja nicht mal mehr zu denken. – Dann kam Kirche. Die Gemeinde ist Familie, Brüder und Schwestern, Väter und Mütter im Geiste. Hier vertrauen wir einander, sagten die Hirten.
° Und Christentum kennt Schuld und Vergebung. Im Alltag, sagten sie, gebe es wenig Raum für Schuldempfinden: horrende Umweltfrevel, Lebensmittelskandale, „Handgeld“ für Ärzte, wenn man eine OP im Krankenhaus braucht, das sei Alltag. Wer Beziehungen hat, darf alles. – Aber in der Kirche nennt Gott das Böse beim Namen, und sagt zugleich: Ich schenke dir die Kraft, anders zu sein. Sündige hinfort nicht mehr! - das ist … eine Gegenwelt, sagten die Hirten.
° Und diese andre Kultur scheint auch attraktiv für die muslimischen Hausangestellten, die zu Hundertausenden aus Indonesien nach Hongkong kommen. Die Christen sinds, die sich un sie kümmern. Die sie einladen, die ihnen Raum geben, damit sie nicht auf den Fußgängerbrücken in Pappkartons picknicken müssen. Von denen, die in den Kirchen eine Heimat auf Zeit finden, kommen immer wieder Musliminnen, die sich taufen lassen wollen. Aber das ist dann jedes Mal hart für sie. Wenn das rauskommt, werden sie aus der Familie ausgestoßen, enterbt, aus dem Dorf verbannt, müssen gehen, nur mit den Kleidern, die sie auf dem Leib tragen. – Warum um alles in der Welt tun die sich das an!? frage ich. Und die Hirtin (aus Saba, Borneo) antwortet: “Well, they encountered Christ. What can you do “. Was sollen sie machen, sie sind dem Christus begegnet.
Die Christengemeinde ist Freiraum, Raum der Freiheit, genau wie der Engel es angekündigt hat: Und der Engel sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! Siehe, … euch ist heute der Heiland/ d.i. „Befreier“/ geboren, welcher ist Christus, der Herr, …
5
Liebe Heiligabendgemeinde, verzeihen Sie, dass ich Sie in so eine fremde Welt entführe. Aber manchmal braucht es das Fremde, um etwas zu erfassen, das so nah ist, vor unseren Augen: Weihnachten ist keine Geschichte, die irgendwann mal geschehen ist. Weihnachten geschieht jetzt, heute, in unseren Tagen. Der Christus kommt in einer Welt zur Welt, die geistig umnachtet wirkt wie lange nicht mehr. Der Christus ist in eine Welt geboren, die dachte, sie hätte Gott gegen ihre eigenen Idole ausgetauscht. Und da sagt die Weihnachtsgeschichte: Ihr habt keine Ahnung. Das Heilige ist mitten unter uns. Beugt. Euch nicht dem Dunkel! Sagt die Weihnachtsgeschichte. Macht euch nicht gemein mit dem Gemeinen. Das Licht ist auf dem Weg, und die Nacht muss, die Nacht wird weichen. Das ist das große Weihnachtsversprechen Gottes, an uns alle. - Wenn ich den Hirten (dort im Osten) zuhörte, wie sie von ihrem Glauben erzählten, dass das der „game changer“ war, wie eine Freilassung von Geiseln, dann fragte ich mich: Könnte es sein, dass wir im Abendland unser Christentum total unterschätzen? Ich frage mich, ob wir noch ahnen, was für eine Power hinter diesem Heiligen Geist steckt. Wenn man hingeht, sich drauf einlässt.
Und heute Abend höre ich die Weihnachtsgeschichte predigen: Folgt den Hirten! Folgt ihrem Beispiel! Lasst uns hingehen, sagen die Hirten, und einen Blick auf die Menschlichkeit Gottes werfen. – Und fürchtet euch nicht! Was ist denn so fürchterlich daran, wenn auch wir wieder anfingen andern weiterzusagen, was wir glauben?!
Amén
Fürbitten
Heiliger Gott und Quelle allen Lebens, in einer der dunkelsten Nächte des Jahres hast Du Dein Licht aufgehen lassen. In Gestalt eines Kindes hast Du aller Welt das Zeichen des Neuanfangs gesetzt.
Lass die Nachricht dieser Nacht auch uns erreichen. Stärke uns alle und lass uns finden, wonach wir suchen, wonach wir uns sehnen: Verständnis für unsere Schwächen. Vergebung für das, was wir schuldig geblieben sind. Trost, wo wir niedergeschlagen sind. Und Mut in allem, was uns Angst macht.
An diesem Abend, wenn wir an Deine Friedensverheißung erinnern, bitten wir für Menschen, die jetzt in Gefahr sind: die auf der Flucht sind vor Willkür und Gewalt, die keine Ruhe finden aus Angst um ihre Familien, die im Kriegsgebiet festsitzen, und die als Geiseln in den Tunneln hocken, ausgeliefert und nicht wissen, wie sie diese Nacht überstehen. HERR, setze dem Bösen eine Frist.
Wir bitten Dich für die Menschen unserer Stadt, für alle, die´s gut haben, aber denen die Festtage trotzdem schwerfallen: für die, die übers Jahr einen vertrauten Menschen verloren haben, wenn alles heute Abend daran erinnert, wie sehr er fehlt. Lass sie mit ihren Erinnerungen nicht allein.
Wir bitten Dich für Deine Kirche, in die wir getauft sind. Die Du mitnimmst in Deine Mission. Schenk uns eine neue Reformation. Verwandle Online-Christen zurück in Menschen, die hingehen. Mach aus Nutzern wieder Gläubige. Lass Menschen, in ihrer Meinung einpfercht, die Hürden überwinden und neue Erfahrungen machen. Lass uns am Ende zu denen zählen, von denen man sagen wird: „Dieser war auch mit Jesus von Nazareth“ (Mt26:71).
Wir bitten Dich für all jene, die heute einfach nur froh und ausgelassen sind: Behüte die Erwachsenen vor den falschen Themen. Bewahre die Kinder vor Überdruss und mach, dass niemand etwas Gezwungenes tun muss. Und erhalte allen, die gern leben, die Lebenslust.
Amén
[1] Eine Zählung im Jahr 1980, 5 Jahre nach Ende der Verwüstung, gibt die Christenzahl Chinas bereits wieder mit 3 Millionen an.
[2] Die kommunistischen Behörden, nach der Lehre Maos auf Atheismus eingeschworen, räumen heute zähneknirschend ein, dass es in den vom Staat kontrollierten Gemeinden mittlerweile 40 Millionen Christen gebe. Was sie verschweigen ist, dass dabei nur Erwachsene über 18 Jahren gezählt werden, Minderjähre mit Religion in Berührung zu bringen ist per Gesetz verboten. Und was sie vor allem verschweigen, ist, dass auf einen staatlich überwachten Christen vermutlich drei unregistrierte, illegale Christen kommen, die sich in Hausgemeinden zusammenfinden.
[3] Es gibt noch einige alte, imposante Kirchgebäude aus den Zeiten der Kolonien und der Missionsgesellschaften, die heute wir Fossilien, wie Zwerge in den Glasbetontürmen der modernen Innenstädte stehen, aber belebt sind vom geistlichen Leben der neuen Gemeinde. Es gibt die (mehr)Etagen-Kirchen in den kommerziellen Hochhäusern der Innenstädte, mit 1000 Plätzen und modernsten Tonsystemen, wo man sich in drangvoller Enge zu Gottesdienst und Gemeindeleben versammelt. Es gibt sogar einen Fall in der Provinz Guangzhou (Kanton), wo die egierung den Kirchen ein Grundstück für einen Kirchneubau gewährt hat und drauf besteht, dass dieses Kirchgebäude imposant sein müsse, weil die Regierung sich nur mit etwas Eindrucksvollem identifizieren möchte. Doch verglichen mit unserer europäischen Kirchlandschaft ist Christentum – aufs Ganze gesehen - im Stadtbild Chinas unsichtbar.
[4] Zum Universitätsstudium wird man von der kommunistischen Partei eingeladen, und man wird mit der Einschreibung an der Universität zum Parteimitglied, der Philosophie der atheistischen Doktrin unterworfen. Während Christentum andernorts geduldet wird, stehen Parteimitglieder gewissermaßen unter Eid und strenger Aufsicht, sich von Religion fern zu halten. Zuwiderhandeln ist Vertragsbruch. Entsprechend gehört missionarische Arbeit unter Universitätsstudenten zu den riskantesten Pastorenaufträgen im Lande. Die Gefahr von „IMs“, die sich in Gemeindekreise einschleusen, ist allgegenwärtig.
Schulgottesdienst des Suitbertus Gymnasiums, 20.12.2023, Stadtkirche, Weihnachts-Ansprache, Erik Heukelbach (Jahrgangsstufe 12)
Weihnachts-Ansprache von Erik Heukelbach (Jgst.12) nach dem Krippenspiel der Jahrgangsstufe 12 im Schulgottesdienst der evangelischen Schülerinnen und Schüler des Suitbertus Gymnasiums am 20.12.2023
Ich hoffe wirklich, euch hat dieses unkonventionelle Krippenspiel gefallen und ihr konntet zumindest etwas lachen. Das sage ich nicht, weil wir da alle viel Zeit reingesteckt haben, weil sich das anhören würde, als würden wir in unserer Einbildung irgendeine Art Dank erwarten, oder auch nur, weil mich irgendeine Kritik zu diesem schauspielerischen Meisterwerk wirklich interessieren würde, sondern weil es bei dieser ganzen Sache um ein zentrales Element geht: Freude.
Pure, reine Freude. Denn was ist Weihnachten sonst, als die Freude des ganzen Christentums über die Ankunft ihres Heilands, der ihnen als Licht in dieser dunklen Zeit erscheint?!
Und für alle, die jetzt beginnen, die Augen zu verdrehen und eine Sintflut prätentiöser biblischer Phrasen in Kombination mit Verweisen in die tiefsten Tiefen der Bibel erwarten, die kann ich beruhigen, denn mir geht es nur um den „Kern“ dieses Festes.
Die Geburt eines kleinen Windelpakets, was ein Licht in die damals dunkle Zeit brachte. Und auch wenn dieses Ereignis jetzt mehrere Jahrtausende zurückliegt, könnten wir auch heute noch diese Erscheinung gebrauchen.
Im Nahen Osten sprengt das israelische Militär den Gazastreifen in die Luft, in der Hoffnung eine Terrororganisation zu besiegen, während sie dabei auch noch unzählige Zivilisten umbringt, und man selbst ist in einem Schwebezustand der Meinungen zwischen „Gut, dass sie Terrorismus bekämpfen“ und „Zivilisten als Kollateralschaden sind inakzeptabel und das alles muss stoppen“ gefangen. Ein simplerer Fall ist der Ukraine-Konflikt, was diesen aber auch nicht einfacher macht, da er jetzt schon so lange geht, dass man sich schon so langsam fragt, ob man das nicht einfach mal ignorieren kann - und dadurch die Gefahr eines solchen Krieges im Angesicht der eigenen Ignoranz völlig aus den Augen verliert. Und selbst in den Gebieten, in denen nicht Krieg herrscht, gibt es Probleme. Die Ampelregierung stolpert von einer Krise in die andere, in ganz Europa haben rechte Parteien einen besorgniserregenden Erfolg, was wir hier auch an der AfD sehen. Flüchtlinge ertrinken vor den europäischen Küsten, während Rassismus in unserem Land wieder auflebt. Die USA stehen kurz vor einem neuen Bürgerkrieg zwischen Trumpisten und Demokraten, und als wäre all das noch nicht schlimm genug, zerstören wir bei dem allen noch still und heimlich unseren schönen Planeten, weil Klimaschutz ja nur schön ist, solange er nicht eigene Entbehrungen verlangt.
Angesichts dieser erschreckenden Anzahl an Krisen gehe man doch nicht falsch in der Annahme, dass es so langsam an der Zeit wäre für einen unserer heutigen Retter aufzutauchen. Ein Hightech-Billionär, der mit einem fliegenden Kampfanzug das Unrecht bekämpft, ein Baby vom fernen Planeten Krypton, das ohne Eltern auf dieser Erde ankommt oder der fleischgewordene Gott, der wieder auf die Erde zurück kommt, um uns durch seine Worte aus dieser misslichen Lage zu retten.
Stattdessen bekommen wir Weihnachten.
Ein symbolischer Geburtstag - denn der reale ist uns nicht bekannt - eines Mannes, der seit knapp zwei Jahrtausenden tot ist und dessen größte Tat doch technisch gesehen Ostern war, das Besiegen des Todes.
Warum also Weihnachten? Etwa weil es inzwischen in der westlichen Welt zu einem reinen Konsumfest wurde und das Christkind längst von einem adipösen Best-Ager von Coca-Cola verdrängt wurde? Oder weil die Zahl 24 einfach schön ist und man im Winter sowieso nichts Besseres zu tun hat, als sich im warmen Haus den Magen bis zum Erbrechen vollzuschlagen?
Oder steckt noch mehr dahinter?
„Wenn du keine Ahnung hast, was du schreiben sollst, mach doch einfach eine Analyse der Weihnachtsgeschichte“, war die Antwort, die mir eine sehr genervte Person auf meine Frage, was ich denn schreiben solle, gab. Gefolgt von der Betitelung der Vergabe dieser Predigt an mich mit dem eloquenten Wort „doof“. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt den Tipp für denkbar nutzlos hielt, scheint er jetzt sehr hilfreich. Wie kann man besser den Grund für die heutige Relevanz des Weihnachtsfestes herausfinden als mit einer Analyse des Ereignisses?
Ein Stern taucht auf in Betlehem und verkündet aller Welt von der Geburt Jesu und alle Welt strömt hin, um dieses Kind zu sehen. Die streikenden drei Hirten und die heiligen drei Könige. Aber warum tun sie das? Das Essen kann sie nicht angelockt haben, denn das gab es nicht. Ein Stall ist nicht die exklusivste Location, die man sich als reicher Gelehrter aussuchen würde Und nur wegen der bloßen Verkündigung eines Retters bewegt auch noch niemand seinen Hintern. Was also motivierte die Hirten, sich auf den Weg zu machen und die drei weisen Männer sogar noch, Geschenke mitzubringen?
Die Antwort ist relativ simpel:
Hoffnung.
Der simple Glaube, dass so etwas Kleines und - ich bin sicher - ziemlich laut Schreiendes die Rettung aus dunklen Zeiten und sogar den Sieg über den Tod bedeuten könnte, trieb diese Leute an, sich dieses Kind anzusehen. Dieses kleine, verletzliche und hilflose Kind und nicht den erwachsenen, den Tod besiegenden Mann. Die Hoffnung auf eine Erlösung genügte den Leuten damals, um diesen Tag zu feiern.
Und auch heute sollten wir genau das aus der Weihnachtsgeschichte mitnehmen. Dass egal wie dunkel die Zeiten sind, Weihnachten uns immer daran erinnert, dass es Hoffnung gibt. Egal ob für Menschen in der Ukraine, im Gazastreifen, für Hunger leidende Flüchtlinge oder einfach Menschen, die besorgt sind über das Schicksal unseres Planeten. Und vielleicht kommt die Hoffnung nicht in Form eines großen „S“ auf dem Kostüm eines Mannes aus Stahl oder durch einen besonders hellen Stern, aber es wird sie immer geben. Und sollten wir das je vergessen, wird Weihnachten uns jedes Jahr wieder daran erinnern, wie wichtig Hoffnung zu jeder Zeit ist.
Also nehmt diese Botschaft mit in die Feiertage und verliert nie die Hoffnung, denn sie ist immer da. Egal ob ihr sie in der Kirche, am eigenen Weihnachtsbaum, in der Familie, in der bevorstehenden Ferienruhe oder einfach in der Tatsache seht, ein weiteres Jahr ohne Nervenzusammenbruch oder Burnout überlebt zu haben. Solange ihr euch dieser Hoffnung bewusst seid, kann - egal was noch kommt - gar nichts so schlimm sein.
In diesem Sinne wünsche ich euch frohe Weihnachten, ein frohes Fest und schöne Weihnachtsferien.
Und jetzt wird gesungen!
3. Advent, 17.12.2023, Matth.11,2-6, Jonakirche, Daniel Kaufmann
„Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.“ (Matthäus 11,2-6)
Liebe Gemeinde,
Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie sich nicht ärgern. Nicht an den Politikern, auch wenn das zurzeit schwerfällt. Nicht an der Aussetzung des Klima- und Transformationsfonds, auch wenn das das persönliche Portemonnaie belastet. Nicht an den Doppel- und Dreifachwumms, der zu einer rhetorischen Luftblase zu verkommen droht. Nicht an den immer gleichen Mechanismen von Gewalt und Gegengewalt, die viel Leid und wenig Freude in das menschliche Leben bringen. Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie sich nicht über ihren Nachbarn ärgern, der die Mülltonne immer falsch rausstellt, die Zweige seines Apfelbaumes über den Gartenzaun hängen lässt, die Pakete so gut wie nie für Sie annimmt, die Rechnung für den Schornsteinfeger und die reparierten Dachpfannen bei Ihren Doppelhaushälften merkwürdig unsymmetrisch abrechnet. Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie sich nicht über die Work-Life Balance der jungen Generation ärgern, nicht über Ihren Kollegen und Ihre Kollegin, die aus unerfindlichen und überhaupt nicht nachvollziehbaren Gründen mehr Anerkennung und Beachtung erfahren als Sie. Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie sich nicht über gestiegenen Strom- und Gaspreise, nicht über die Energiekonzerne und Profitinstitute, nicht über die wieder angepasste Mehrwertsteuer in der Gastronomie, nicht über die teureren Lebenshaltungskosten ärgern. Herzlichen Glückwunsch auch, wenn Sie sich nicht über die in Misskredit geratene „Fridays-For-Future“-Bewegung ärgern, nicht über Greta Thunberg, die ihre stärksten Momente offenbar schon hinter sich hat. Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie sich nicht über all die Moralisten und Besserwisser und die es schon immer gewusst haben ärgern, jene Zeitgenossen, die bei jedem Thema sichtbar machen, dass man es hätte anders sehen, kommen, machen, anpacken können, wenn man und frau auf Sie gehört hätte, aber Konjunktiv hin oder her, jetzt müsse man eben leben mit dem Schlamassel, den man sich selbst eingebrockt habe.
Herzlichen Glückwunsch auch, wenn Sie sich nicht über unsere Kirche ärgern, allen voran die Evangelische Kirche in Deutschland, die eine denkwürdige Performance und um es mit Herrn Koch aus Hessen zu sagen, eine brutalst mögliche Aufklärung aller dubiosen und komplexen Schuldzusammenhänge angekündigt hatte, um dann mit dem lapidaren Satz in die Öffentlichkeit zu gehen: „Ich bin mit mir im Reinen, aber ich trete zurück, weil der Druck und der Schaden auf Amt und Institution zu groß geworden ist.“ (Anette Kurschus bei Ihrem Rücktritt vom Posten der EKD-Ratsvorsitzenden am 20.11.2023)
Herzlichen Glückwunsch auch, wenn Sie sich nicht über unsere hiesige Düsseldorfer Kirche ärgern, die im Moment etliche Versuche macht, den Zentralismus und die komplette Steuerung von über 90.000 Menschen von einem allen anderen vorgeordneten Super-Presbyterium zu implantieren. Ein Vorhaben, das in unserer Gemeinde auf nicht allzu große Gegenliebe stößt, weil wir nach wie vor der Meinung sind, dass Kirche vor Ort und im direkten Austausch und Vernetzung im Quartier besser, weil dem Menschen näher, unterwegs ist. Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie an der im Glaubensbekenntnis bemühten „Gemeinschaft der Heiligen“ nicht irre werden, weil Sie wissen oder doch immer wieder ahnen, dass die „Heiligkeit“ im konkreten Alltag allein ein göttliches Prädikat ist und so gut wie nie auf menschliche Leistungen und Fähigkeiten beruht.
Herzlichen Glückwunsch schließlich, wenn Sie an dem Jesus von Nazareth nicht irre werden, der nun schon über gut 2000 Jahre entscheidende Impulse zu Leib und Leben gibt, allerdings und damit sind wir bei unserem heutigen Predigttext, in einer immer noch und immer wieder seltsam indirekt erscheinenden Lesart. Von Johannes, der zunächst im Knast sitzt und später von dem Despoten Herodes geköpft werden wird, stammt ja die berühmte und wichtige Frage: „Bist du der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?“ Da will einer Gewissheit haben, ob der verheißene Heils- und Glücksbringer jetzt gekommen ist oder nicht. Diese Frage dürfte ja auch schon so alt wie die Menschheitsgeschichte sein und findet sich so ziemlich in jeder Kultur und Religion in irgendeiner Weise wieder. Gibt es Hoffnung auf jemanden, der den Lauf der Geschichte in eine gute, besser in eine durchweg heilvolle Zukunft lenken wird? Oder muss man sich damit bescheiden, dass die vielgelobten und immer wieder proklamierten Stars und Sternchen bei näherem Zusehen recht schnell verblassen und verglühen. Johannes also will es wissen, vermutlich hat er dort im Knast und im Nachgang zu den zu erwartenden wenig erfreulichen Ereignissen mit Herodes und seiner blutrünstigen Familie Sehnsucht nach einer letzten guten und tröstlichen Nachricht und Wahrheit.
Und diese Nachricht kommt dann ja auch tatsächlich. Als ein merkwürdig verschlüsseltes Rätselwort: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt. Na bitte, möchte man da sagen, das ist doch mal was: Wo man hinsieht, besser genau dort, wo man das Elend mit Händen greifen kann, gibt es heilsame Veränderungen. Das wollen und sollen wir doch nicht geringschätzen. Und das klingt doch schon sehr wie das Begleitprogramm des kommenden Messias. Dessen Kommen doch genau mit diesen Wohltuenden Begleiterscheinungen erwartet wird. Wobei in dieser Aufzählung bei allem Guten und Erfreulichem irgendwie eine Bremse eingebaut zu sein scheint. Diese Aufzählung hat etwas merkwürdig Unbestimmtes. Gewiss, da findet sich Bemerkenswertes, Wunderbares, auch Sensationelles: Selbst Tote kommen zu neuem Leben, aber bei genauerem Nachdenken fällt einem auf, dass alles ein wenig unbestimmt und wie nach einem Allgemeinplatz klingt. Dazu passt, dass es sich rhetorisch fast um eine Art Anti-Klimax handelt: Nach den doch immerhin erwähnenswerten Heilungs- und Genesungsvorgängen endet diese Aufzählung mit dem lapidaren Hinweis, dass Armen das Evangelium verkündigt wird.
Am Ende steht offenbar das Hauptkriterium für die Frage, ob der erwartete kommt, nämlich: die Botschaft, die gute Nachricht, dass Gott sich den Armen, den Menschen auf der Schattenseite zuwendet. Nicht mehr nicht weniger. Schön und gut, möchte man da vielleicht nochmal sagen, dann haben wir es jetzt also schriftlich. Der, auf den wir warten, kommt und ist da, und mit ihm kommt und ist da auch das, was wir gemeinhin als Begleiterscheinung erwarten, allerdings nicht ganz so flächig und omnipräsent, sondern ehr in einer begrenzten und eingeschränkten Art und Weise: Nicht alle Blinden werden sehend, nicht alle Taube können wieder hören, nicht alle Lahme können wieder laufen, nicht allen… Und wohl wissend um diesen irgendwie zurückgenommen Modus und fast wie eine Entschuldigung dann eben folgerichtig: Herzlichen Glückwunsch, wenn du dich darüber nicht ärgerst. Wenn du da keinen Anstoß nimmst. Wenn diese Nachricht für dich nicht zu einem Fallholz wird. Wenn diese nur dann und wann aufscheinende heilvolle Wirklichkeit dich nicht irre macht.
Am Ende also der Glückwunsch an die, die sich nicht ärgern. Nicht über 2000 Jahre, in der dieses Kommen des Messias nun verkündigt wird, aber nach wie vor aussteht, jedenfalls in dieser für alle unübersehbaren eindrucksvollen Art und Weise. Herzlichen Glückwünsch an die, die sich nicht ärgern: über unsere Kirche und ihre momentane Schwäche und Pomadigkeit und ihrer Suche nach einer gewichtigen und ernstzunehmenden Haltung im Konzert der gesellschaftlichen Problemstellungen. Nicht über unsere recht zaghaften Versuche, in dieser Welt der großen Worte und Lügen den letzten Trost im Leben und Sterben ins Gespräch zu bringen. Ärgern Sie sich bitten auch nicht allzu sehr über das, was sicher auch in unserer Gemeinde unvollkommen, verbesserungswürdig erscheint. Da gibt es einiges, um nicht zu sagen vieles, was auf Ihren Beitrag, Ihre Korrektur, Ihr Mittun und Voranbringen wartet. Werden Sie also bitte nicht müde, selbst Hand anzulegen, selbst aktiv zu werden, selbst Ihren Beitrag einzubringen: Beim Fahrdienst, beim Lektorendienst, beim nachbarschaftlichen Miteinander, beim Singen, beim Fahrrad Reparieren, beim Beten, beim Gottesdienst Feiern, beim Schmücken, beim Essen Zubereiten .
Bitte bringen Sie sich ein und: Ärgern Sie sich nicht zu lange darüber, dass das Reich Gottes noch nicht in seiner vollen Strahlkraft sichtbar, spürbar, erlebbar ist. Sondern lassen Sie uns gerade deswegen neu, wieder neu jenes alte Evangelium, die gute Nachricht von der Nähe Gottes bei seinen Menschen verkündigen, weitersagen und...“leben“. Und gemeinsam suchen und finden, was dem Nächsten dient, guttut und aufhilft.
Lassen Sie uns der alten Advents-Botschaft neu Vertrauen schenken, trotz allem anderen was dagegen zu sprechen scheint.
Hanns Dieter Hüsch: Dezemberpsalm (bitte klicken)
Jesus kommt. Alles wird gut. Auch das, was noch nicht gut ist. Auch das, was noch gut werden muss. Auch das, was alles andere als gut ist. Herzlichen Glückwunsch, wer diesen Jesus, der alles gut macht, den Weg bereitet, mit vorbereitet, dass er einziehen kann, dass er Einfluss und Geltung bekommt in Stadt und Land, dort wo wir sind und wohnen und leben. Jesus kommt. Alles wird gut.
Amen
2.Advent, 10.12.2023, Stadtkirche, Offenbarung 3, 7 - 13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Advent - 10.XII.2023
Offenbarung 3,7-13
Liebe Gemeinde!
Die Offenbarung des Johannes - die „Apokalypse“ also - wird immer aktueller.
Allerdings nicht nur wegen des großen und adventlichen Endzeit-Gefühls, das in unsern Tagen über allen Dingen liegt, sondern gerade auch in ihren weniger spektakulären Zügen. Was Jesu Lieblingsjünger auf der sichelförmigen Insel seiner Gefangenschaft, Patmos zwischen Himmel, Fels und Meeresbrandung erblickte und aufzeichnete, hat neben der Weltuntergangs- auch eine Welthoffnungsbotschaft. Das letzte Buch der Bibel – das Buch von den Nöten, den Kämpfen und Katastrophen, die das Ende der Geschichte einläuten – ist ja gerahmt von lauter Trost: Die sieben Seelsorgebriefe am Anfang und das universalste, größte, unvorstellbarste happy end der Menschheit … die Verheißung der Gottesstadt, in der keine Tränen mehr fließen und das Heil, … der Heiland, … der heilige Gott nicht mehr unsichtbar, sondern anschauliche, greifbare, bleibende Gegenwart sein werden.
Die furchterregenden und die furchtvertreibenden Wahrheiten gehören nun einmal zwangsläufig zusammen. Wenn einer nur eine von beiden Wahrheiten verkündet, ist er entweder ein sadistischer oder ein naiver Lügner:
Das zeigen uns die Bücher sämtlicher Propheten in der Bibel, die immer beides enthalten, in denen die Forschung aber immer alles zergliedert und zerschnitten hat, weil sie die Gerichtsboten zwanghaft von den Tröstern zu unterscheiden müssen meinte. So hat die Wissenschaft der akademischen Theologie als vermeintlich „echte“ Propheten nur lauter depressive oder aggressive Drohpropagandisten beschert und ihnen ein paar säuselnde Seelenschmeichler gegenübergestellt, deren Weichspüler die harten Brocken der totalen Verwerfungsprediger nachträglich abmildern sollte.
Doch damit hat die sog. Wissenschaft nur bewiesen, wie wenig sie Gott und die Menschen kennt. Bei beiden gibt es das Positive und das Negative niemals in Reinkultur! … Schärfe und Milde, Strenge und Gnade, Leidenschaft der Gerechtigkeit, Leidenschaft der Versöhnung, Warnen und Helfen gehören zusammen, und wer sie im Himmel oder auf Erden trennt, schafft eine fiktive und verzerrte Welt aus abstrakten Ideen ohne Anspruch an und auf die Wirklichkeit.
Deshalb können, nein müssen wir die von so viel Beunruhigendem durchzogene prophetische Schrift des Neuen Testaments - die Apokalypse - von den Ermutigungssendschreiben an die kleinasiatischen Gemeinden an ihrem Anfang (Kap.2f) und von der strahlenden Vision des ewigen Lebens aller Völker und Stämme bei Gott an ihrem Schluß (Kap.21f) her verstehen: Der Horror der Welt wird so durchlässig für Liebe und Licht aus der Ewigkeit. Schweres wird von Trost und Hoffnung erleichtert. Vorzeichen und Wehen der Endzeit machen dann nicht nur bang, sondern sie bereiten uns vor für die Auflösung dessen, was vergehen und das Hervortreten dessen, was bleiben soll. ———
Vor Horrorhintergrund und einem Horizont, der dennoch leuchtet, liegt heute also das besonders tröstliche Schreiben vor uns, das Johannes, der Gefangene des Kaisers Domitian, der bald für seinen Glauben hingerichtet werden sollte, an die Gemeinde von Philadelphia richten sollte.
Es ist ein Brief, reich an Bestärkung, … aber doch auch nicht ohne kritische Punkte.
Er beginnt im Zeichen der Offenheit, die Jesus schenkt: Jesus – der Schlüssel- und Siegelbewahrer, den das königliche Haus Davids auch historisch hatte (vgl.Jes.22, 22!) – ist es, der aus Welt und Geschichte eine erschlossene Wirklichkeit macht, eine durchlässige und zugängliche Wirklichkeit, die seine Gemeinde nicht in dumpfer Engigkeit einsperrt, sondern sie befreit, so dass sie aus Menschen besteht, die Sinn und Sicherheit nicht selber auftun müssen und die darum auch nichts Ausschließendes mehr, nichts „Exklusives“ zu haben brauchen.
Die unwiderrufliche Öffnung der Welt zum zukünftigen Reich Gottes hin ist ja durch Jesus geschehen – das ist der tiefste Sinn von Apokalypse“, von „Offenbarung“ –, und das endgültige Versiegeln wird ebenfalls durch Ihn geschehen, wenn für immer aus der Wirklichkeit verschwindet, was in Gottes Gegenwart nicht existieren kann.
In solcher Offenheit leben zu dürfen, ist entlastend; es nötigt aber auch zum Verzicht auf unsre eigenen Ansprüche, wenn wir nicht selbst in allem stets die letzte Entscheidung, das endgültige Urteil zu fällen haben.
Die Tatsache, dass Jesus allein die Schlüsselfigur der Welt ist, bedeutet mit anderen Worten, dass wir andern uns nicht mit totalen Beschlüssen zu befassen haben, sondern mit einer bloß teilweisen Erkenntnis und Gewissheit begnügen müssen … Und so sind wir wieder bei dem, was in der Offenheit unvermeidlich ist: Dass nicht glasklar, sondern fließend ist, was wir sind, was wir sollen und können. …….
In und um Philadelphia gab es darum - wie beinah überall in der Geschichte der Kirche - einen Streit, wer denn die echte Gemeinde, … die wahre Versammlung der Gläubigen, … buchstäblich: Wer die wirkliche „Synagoge“ sei. Dieser christliche Synagogenstreit lehrt uns ein Zwiefaches. Er entstand, weil die Kirche eben keine exklusive, keine reine, … man könnte auch sagen: keine „saubere“ Sache ist. Und er besteht und wird bestehen bleiben, weil die Kirche niemals nur sie selber, niemals nur säuberlich „für sich“ ist!
Am Anfang der Kirche stehen ja Solche, die nicht allein „Synagoge“, sondern noch etwas dazu sind, etwas darüber hinaus, etwas Weiteres, ein undefiniertes Extra und Plus, ein uneingrenzbares „Alle“: Synagoge Jesu eben, … Juden und zugleich Christen, Heiden aus allen Völkern und dabei Hausgenossen des erwählten Israel.
Dieses Sowohl-als-Auch, das sofort Solche auf den Plan rief, die behaupteten, man dürfe nicht mischen und könne nicht verbinden, man habe zu unterscheiden und bedürfe der „Reinkultur“, … dieses Sowohl-als-Auch hat uns in den letzten beiden Monaten von der Wurzel her wieder eingeholt. Seit dem Ausbruch des unvorstellbar perversen Hasses der Hamas auf Israel ist uns das Sowohl-als-Auch wieder unentwirrbar vor Augen gestellt: Wir sind Kirche aus dem Schoß der Synagoge und können doch als die Gemeinde aller Nationen und Zungen niemals und nirgends ausschließlich auf einer Seite stehen. Nichts darf uns trennen von Israel; nichts darf unsere geschwisterliche Gemeinschaft mit allen Menschen ausschließen. …
Ich will das Zeichen unserer auf Leben und Tod geltenden Verbundenheit mit dem Volk Gottes weiter an unserer Kirche hochhalten … und will damit doch nicht die Tränen, das Trauma und die Toten des anderen Volks, der muslimischen und eben auch der christlichen Palästinenser missachten: Am Samstag vor einer Woche, als der Adventsgottesdienst unserer KiTa gefeiert wurde, zu dem auch viele türkische und arabische Eltern kommen, habe ich die Fahne Israels abgehängt, weil sich keine Gelegenheit geboten hätte, zu erklären, dass unser „Für-Sein“ kein „Gegen-Sein“ bedeutet.
Aber auch hier stimmt ja, dass das rein Positive und das rein Negative in Wahrheit nicht begegnen, weil unser „Pro“ immer auch eine Seite des „Contra“ hat und unser Tun immer auch ein Lassen bedeutet, so dass alles, was wir an der Seite der Einen versuchen, uns ins Gegenüber zu anderen bringt, auch wenn der konkrete Gegensatz nicht immer bedeutet, dass man logisch-kategorisch und also abstrakt die Gegenseite darstellt. ——
Vielleicht spüren wir durch den kleinen Philadelphier-Brief hindurch also in aller Bestärkung, die der ohnmächtige gefangene Apostel seinen Brüdern und Schwestern zuspricht, was es auf sich hat mit der Welt und mit uns: Dass da nichts Absolutes ist, … nichts eindeutig Vollkommenes, … nichts Unanfechtbares, sondern immer nur das, was der andere große Apostel (vgl.1.Kor.13) das „Stückwerk“ nannte … den „dunklen Spiegel“, … das bleibende Rätsel.
Und vielleicht ahnen wir dann auch, weshalb die Abfolge der Ermutigungs- und Trostschreiben, die die Offenbarung eröffnen, und der Anfechtungs- und leidvollen Prüfungs- und Untergangsvisionen, die ihnen folgen, nicht so verkehrt … schon gar nicht nur negativ ist.
… Wir sind alle so weit vom Unumstößlichen, wir sind alle so sehr ins Vorläufige und Vorübergehende verstrickt, dass die Tatsache der Vergänglichkeit und des Endes nichts bloß Bedrohliches hat, sondern auch eine Hoffnung und Aussicht freilegt:
Das Allermeiste hier wird nun einmal verpulvert, abgenutzt, verschlissen, verschossen, ausgekippt und abgebrannt sein.
Darum wäre es sinn- und hoffnungslos, wenn wir uns mit Allem beladen und belasten wollten. … Auch das ist ja so ein weltfremder und unmenschlicher Anspruch, dass wir die gesamte Herausforderung der Welt, dass wir alle Fragen des Daseins, alle Bedrängnisse der Menschheit, alle Sorgen des eigenen Lebens schultern und bewältigen müssten, … sie alle selbständig zu einem guten Ende bringen und überall schließlich im Recht zu sein hätten.
Genau das ist es doch, was die Menschen im Anfang von Gott getrennt hat: Der Impuls, für alles unabhängig von Ihm die Verantwortung - und die Ehre! - zu übernehmen.
Doch da spricht der alte Brief, der uns in der immer aktuelleren Offenbarung von Weltende und Weltrettung begegnet, eine ganz andere, … eine leichtere, lösende, gnädige Sprache.
… Er sagt eben nicht: Ihr Jünger und Jüngerinnen Jesu, … Ihr Christen in der weiten Welt, … Ihr Philadelphier, … oder Ihr Europäer, … oder Ihr Evangelischen, … oder Ihr Kaiserswerther, … Ihr seid für alle Katastrophen und Krisen, für alle Dilemmata und Verhängnisse, für allen Fluch und allen Segen allein zuständig.
… Wir sind es zwar mehr, als uns lieb sein mag. Aber gleichzeitig auch weniger, als wir uns einbilden. Denn dass wir einerseits verstörend feig und faul sind und andererseits anmaßend größenwahnsinnig, das ist überall mit Händen zu greifen
Gewiss: Wir zerstören die Erde. Gewiss:
Wir müssen sie bewahren.
Aber dass hier nicht „Ganz oder gar nicht“ hilft, sondern ein Weniger an Hybris und ein Mehr an Demut und Gottvertrauen, das vergessen wir ständig.
Und da kommt nun der leichte Trostbrief vor der schweren Untergangsprophetie. Und sagt eben nicht: „Halte alles! Bewahre das Ganze! … Meistere Leben und Tod! … Verhindere die Apokalypse! Erringe das Paradies!“, sondern er sagt ruhig und beruhigend:
„Halte, was Du hast!“
Halte, was Du hast! … Es mag viel sein oder wenig. Halte es! Es mag etwas ganz Entscheidendes und kann auch nur ein Hauch, eine Kleinigkeit, ein Tröpfchen sein. Aber weil Du nicht etwa Alles, sondern nur genau das, was Du hast, auch tatsächlich einsetzen und durchtragen und heimbringen kannst, darum ist das Deine Aufgabe und zugleich der gültige Maßstab Deines Lebens … also Deine „Krone“.
Wenn Dir innerlich und äußerlich Reichliches zu Gebote steht, dann missachte, missbrauche und vernachlässige es nicht, sondern nimm es wahr!
Und wenn Deine Möglichkeiten und Gaben anders bemessen sind, dann sind sie das, was man bei Dir suchen wird und was Du bewähren kannst.
Frag’ Dich also, was Du hast. … Nicht, was Du gerne hättest, wärest, könntest. …Sondern was Dir nah und an Dir wahr ist. Und das lass Dir nicht mindern! Lass es Dir in Widrigkeit und in Müdigkeit nicht nehmen! … Du kannst nicht alles besitzen oder beherrschen. Aber das Deinige, … das gib nicht auf, sondern halt’ es fest und mach’ Dich daran fest in Zeit und Endzeit bis zur Ewigkeit.
- Du hast Hoffnung? – Bewahre sie!
- Du spürst Neugier? – Erhalte Dir das!
- Dich treiben Fragen und Zweifel an? – Nutz’ sie als das Deine!
- Bei Dir reicht es für Andere? – Da liegt Dein Wesentliches!
- Nichts kann auf Dauer Deine Freude abwürgen? – Dann ist sie Deine Krone!
- Noch immer hast Du Glauben? – Halt fest, was Du haben darfst!
- Du liebst, … trotz allem? – Niemand soll Dir’s nehmen!
Mit dieser Ermutigung und Bestärkung in den mancherlei Gaben, die nicht allen in gleichem Maß, aber jedem zu eigener treuer Entfaltung anvertraut sind, kann man leben ohne Überheblichkeit und ohne, dass das Gewicht des Leben- und Leisten-Müssens uns erdrückt. ——
Was daran adventlich ist?
– Dass mitten vorm großen, apokalyptisch dunklen Hintergrund einer zentnerschweren Weltsorge etwas so Kleines, fast Leichtes uns zugesprochen wird! Dass trotz der Abgründe, die sich vor der Menschheit auftun und der Heimsuchungen, die bevorstehen werden, uns nichts Gigantisches, Herkuleisches, Übermenschliches aufgezwungen wird, sondern das, was wir an Gutem mitten im Schlechten können, … das, was wir an Entwicklung und Frucht mitten im Winter allgemeinen Missvergnügens erwarten können.
Das ist ja Advent: Dass die Möglichkeit eines Anfangs alle Vorzeichen des Endes überstrahlt!
Dass die Verheißung eines einzigen Kindes das Verhängnis aller Sterblichen entkräftet. Dass Licht in der Nacht strahlt, … dass Blumen im Schnee blühen, … dass erhobene Häupter auf den Schall der Gerichtsposaune antworten (vgl. Lk.21, 28).
Das ist Advent: Endzeit, in der es beginnt. ———
Und der Philadelphier-Brief des Johannes macht in einem wundervollen letzten Verheißungsbild deutlich, dass wir heute nicht schon vom Fertigen und Festen, vom völlig Eindeutigen und bereits Unverrückbaren ausgehen, sondern noch im Wanken und Wackeln, in Hinfälligkeit und Instabilität leben müssen.
… Viel zu starr und viel zu stolz haben wir uns ja immer die ersten Christen oder die großen Christen oder die echten Christen oder die wahren Christen oder die ernsten Christen oder die besseren Christen als ungerührte, ja unanfechtbare Denkmäler gedacht. … Viel zu selbstverständlich reden wir von der vermeintlichen Unerschütterlichkeit und der fundamentalen Beharrungskraft des Glaubens und malen uns die Apostel oder Luther und die Reformatoren wie lauter Bronzestandbilder vor Augen.
Doch der Philadelphier-Brief sagt uns, dass wir hier nie und nimmer ein solches Selbstbild als Säulen pflegen sollen, … mag der Islam noch so auf Säulen bestehen.
Unser Wunsch soll nicht lauten „säulig“ zu sein, sondern selig zu werden!
Letzte Festigkeit steht also erst noch aus.
Wir erwarten sie mitsamt der hin- und hergerissenen, erschütterlichen und erschütterten Welt.
Wenn das Ewige kommt, dann werden auch wir nichts Unsicheres mehr erleiden und erleben. Dann sollen auch wir zu Pfeilern im Tempel unseres Gottes werden, die den Namen Gottes, den Namen Jerusalems, den neuen Namen des Herrn stolz und sichtbar hochhalten und tragen dürfen wie der letzte Grund.
Doch bis dahin: Was immer oder wie wenig wir auch an Glauben haben, … wie wenig und was immer wir wohl an Hoffnung haben, … was wir an Liebe und am Geliebtsein haben, das sollen wir halten.
… Dass niemand es uns nimmt.
… Und Gott uns stärkt.
… Bis alle durch die offene Tür in Seine Gegenwart, ins Bleibende gelangt sind.
Amen.
1. Advent, 03.12.2023, "Macht hoch die Tür...", Jonakirche, Daniel Kaufmann
"Macht hoch die Tür, die Tor macht weit…" - Türpredigt zum 1. Advent
1. Im Advent geht es um Türen. Das ist selbst bei dem letzten, konfessions- und glaubenslosen Zeitgenossen angekommen: Jetzt geht es darum, Türen zu öffnen. 24 Stück sind das nach einhelliger Meinung. 4x mit Licht und Erleuchtungen an den 4 Sonntagen unterbrochen. Denn hinter den Türen gibt es jede Menge zu entdecken: Parfums, kleine alkoholische Muntermacher, Lieblingsaccessoire zu Pferden, Fußball, variantenreiche Schokoladen-Kreationen, Überraschungseier, Säckcheninhalte, Handyzubehör, Lieblingsspielzeuge für Kinder und Erwachsene, Plätzchen, Kunst- und Schmuckobjekte, im Grunde genommen alles, was sich unsere mehr oder weniger einfallsreiche Konsumindustrie so einfallen lässt und in immer neuen Anläufen jedes Jahr auch als letzten Schrei verkauft. Dabei werden die Dimensionen der Kalender jedes Jahr ein bisschen unförmiger, dreidimensionaler, wuchtiger, voluminöser und teurer. 24 mal sollen wir die Türen öffnen und dabei sollen uns die Augen übergehen, die Ohren, am besten alle Sinne überrascht werden, das Herz berührt und erwärmt werden. Dabei sollen wir vorbereitet und eingestimmt werden auf das größte aller Geschenke und Gaben, dass mit dem 24. Dezember verbunden ist und im deutschen Durchschnitt so zwischen 250 -300 € gekostet haben wird. (Dieses Jahr soll es ja etwas weniger „teuer“ werden, also so um die 200 € vermutlich) Dann wird sich definitiv zeigen, ob das Vorgeplänkel und die Vorbereitung auf diesen wirklich großen Coup sich gelohnt hat, ob der Volltreffer, das Glückpaket, die Erfüllung des Herzenswunsches gelungen ist oder haarscharf am Ziel vorbeigeflattert ist. Ob ein strahlendes Lächeln für einen Moment alles Glück dieser Erde widerspiegeln wird, oder wir doch auf eine unergründliche weise enttäuscht, nicht ganz zufrieden und auch ein bisschen leer und verstimmt zurückbleiben. Und wir diesem irgendwie geheimnis- und spannungsvollen Ritual des Türöffnens in Zukunft misstrauischer und mit mehr Vorbehalten begegnen werden.
2. Heute geht es darum, Türen zu öffnen, und da könnte endlich mal mit einer gewissen Berechtigung sagen: Da habt ihr Kirchen jetzt aber ein Thema, das selbst den konfessionslosen und glaubenslosen Zeitgenossen etwas sagt. Denn dieses Türenöffnen bildet in gewisser Hinsicht ja den Grundbeat, den Grundrhythmus des Lebens ab. Von Anfang bis zum Ende unseres Daseins sind wir mit Türen öffnen und Türen schließen beschäftigt. Ganz am Anfang steht die Tür zum Leben, durch die wir bei der Geburt ins Dasein eintreten. Mit diesem ersten Türöffner einher ist in unserer DNA verankert eine unbändige Neugier, alles, was nicht Niet- und Nagelfest ist, zu untersuchen, das Geheimnis der Dinge, der Schränke, der Wohnungen, des Hauses zu ergründen. Und dazu gehören jede Menge Türen, ab und zu kommt auch ein Schlüssel dazu, der einen verborgenen Kontext erschließt. Und dafür sorgt, dass es nicht langweilig wird. Später mit der Tür zum Kindergarten, zur Schule, zur Uni, zum Beruf verlagert sich dieses Türschließen auf eine mehr bildliche, metaphorische Ebene. Nach den massiven oder leichten Eisen- und Holztüren geht es vermehrt um Inhalte, um Wissen, um Erfahrung und um Zusammenhänge, die wir erschließen, die sich uns öffnen, zu denen wir Zugang bekommen sollen. Das gelingt mal mehr, mal weniger, offenbar ist und wird diese Art der Lebensgestaltung nach wie vor divers bleiben. Aber spätestens mit dem Erwachsenenalter geht es dann wieder um noch größere und wichtigere Türen, allen voran geht es um die Tür eines anderen Menschen, der mit einem verbunden ist, den man liebt, der sich einem zuwendet und für den man unendlich wichtig wird, so wichtig, dass man eine längere und größere Gemeinsamkeit vereinbart. Und in der Mitte des Lebens, heutzutage vermutlich schon viel früher, stellt sich die Erkenntnis ein, dass im Grunde alles im Leben nach dem Türprinzip angeordnet ist. Ein Computerfachmann/Fachfrau hat das mal so zusammengefasst: Alles ist auf 1 oder 0 programmiert. Entweder geht eine Tür auf oder zu. Diese Einsen und Nullen kann man recht kompliziert und variantenreich kombinieren, so oft und intensiv, dass unser ganzes Leben auf diesen Geheimcode programmiert werden kann, wenn's gut läuft eine KI (Künstliche Intelligenz) das Leben entsprechend überschaubar, leichter, verständlicher und bequemer macht. Am letzten Wochenende ist mir durch den Kopf gegangen, dass auch eine der deutschen Lieblingsbeschäftigungen, der Fußball, einiges zum Thema Tür und Tor bereithält. Schalke hat 4:0 gewonnen, Düsseldorf sogar 5:0 und die deutsche U-17 Nationalmannschaft ist sogar Weltmeister geworden. Jedenfalls ist das Fußballspiel ganz wesentlich von dem Gedanken begleitet, dass ein Tor offen oder auch mal wie verbrettert ist. Und schließlich geht es ganz am Ende unseres Daseins nochmals um eine letzte große Herausforderung, wenn wir vor der Frage stehen, ob sich nach unserem Tod noch eine weitere Tür des Lebens öffnen wird: Die Tür zur Ewigkeit, einem neuen Leben/Dasein in einer zuvor völlig unbekannten Dimension und Sphäre. Ich begleite zur Zeit einen Mann, der nur noch den Kopf und sonst nichts mehr bewegen kann, auf seiner letzten Etappe und wir haben gemeinsam nach etwas gesucht, was diese Zeit aushaltbar und ertragbar machen kann. Und da sind wir auf diesen Gedanken mit der „Tür“ gestoßen: Wenn unsere Zeit hier auf Erden abläuft, schließt sich eine Tür, dafür geht eine andere, die zur Gegenwart Gottes auf. Und seitdem begrüßt mich dieser Mann mit dem Satz: „Daniel, ich bin der Tür zu Gott ein Stück näher gekommen…“ Kurzum: Das Türthema begleitet unser Leben wie unser Atem als ein stetes und dauerhaftes Momentum und Begleiter. Selbst wenn es den Advent mit seinen 24 Türen nicht geben würde, man käme an diesen Lebenstüren in unterschiedlicher Diktion nicht vorbei.
3. Heute geht es darum, Türen zu öffnen, Der Adventskalender markiert das, die Lebenserfahrung unterstützt das, und jetzt meinen und bringen und legen auch alle Lieder, Texte und Gedanken zum ersten Advent dieses Türthema ans Herz. Macht hoch die Tür, singen wir. Macht die Türen auf, macht die Herzen weit singen die Kinder. Und der Psalm und der Predigttext des heutigen Sonntags wiederholt und erinnert das: Macht die Türen und die Tore in der Welt weit. Damit der König der Ehren einziehe. Damit der Herr dieser Welt einziehen kann in unser Herz, in unser Denken und Fühlen, in unseren Alltag und Beruf, in unsere Beziehungen und Feste, in unsere Freude und in unserem Leid. „Komm o mein Heiland Jesu Christ, mein's Herzenstür dir offen ist“, heißt es in der letzten Strophe des berühmten Adventsliedes: „Macht hoch die Tür…“ Diese Herzenstür verdient noch einmal etwas mehr Aufmerksamkeit. Es ist nämlich eine besondere Tür, eine Tür, die der Maler William Hunt ein besonderes Bild gewidmet hat. Es findet sich hier vorne bei uns auf dem Programm. Diese Tür ist ein bisschen zugewuchert, ein bisschen versteckt hinter dem einen oder anderen Gestrüpp. Es ist eine Tür, zu der es eine ganz besondere Geschichte oder Anekdote gibt. Hunt rief nach Fertigstellung des Bildes alle seine Freunde zusammen und bat sie, dieses Bild sehr kritisch zu betrachten. Ihm ging es darum, zu sehen, ob sie irgendetwas Ungewöhnliches an diesem Bild entdeckten. Alles schauten sich nun das Werk sehr intensiv an. Und entdeckten: Eine Jesusgestalt, mit Licht, die vor einer Tür stellt. So weit so gut und eindeutig. Doch niemand fand daran etwas, was ihnen besonders ungewöhnlich vorkam. Alle bewunderten es sehr. Schöne Farbe, schönes Licht, berührende Stimmung. Das wars dann aber auch. Hunt war darüber ein wenig enttäuscht. Er drängte einige Freunde dazu, sich das Bild noch etwas genauer anzuschauen, und bat sie erneut um eine Rückmeldung. Schließlich kam ein sehr junger Künstler zu ihm und sagte: Herr Hunt, ich glaube, es gibt in diesem Bild wirklich etwas Außergewöhnliches, was nach einer Erklärung verlangt. Sie haben vergessen, einen Türgriff oder ein Schloss an die Tür zu malen.“ „Mein Freund“, entgegnete daraufhin Hunt, „Sie haben das Besondere dieses Bildes erfasst: Wenn Christus an die Tür deines Hauses anklopft, dann kann sie nur von innen geöffnet werden.“ Die wichtigste Tür, von der heute Morgen am 1. Advent also die Rede ist, ist die Herzenstür. Die ist nicht nur durch Gestrüpp versteckt oder verdeckt, die geht vor allem nur von innen auf. Und das meint doch: Sie wird und kann und soll von uns selbst geöffnet werden. Damit unser Leben gut wird und bleibt, damit der Frieden Gottes, der Segen in unser Leben einziehen und seine wohltuenden Wirkungen entfalten kann.
Adventszeit ist die Zeit der Türen, die sich öffnen, geöffnet werden und die wir selber öffnen. „Komm o mein Heiland Jesus Christ, mein's Herzenstür dir offen ist.“ Der Heiland also soll einziehen in unser Denken und Fühlen, in unsere Worte und Taten. Der alles heil macht – da hat er eine Menge zu tun, möchte man da vielleicht einwenden. Das ist ja sozusagen der schwerste Job zur Zeit: Gegen alle Kaputtmacher und Zerstörungen des Lebens und der Würde, gegen die himmelschreiende Ungerechtigkeit, wo man auch hinsieht, gegen die kritischen und auf des Messers Schneide stehenden, völlig aus dem Gleichgewicht geratenen Schräglagen der Weltgeschichte soll der Heiland tätig werden. Was hat er im Gepäck, um genau das zu erreichen? Im Gepäck hat er drei heilende Mittel und Gaben, nämlich: Gnade, Freundlichkeit und den Heiligen Geist.
„Ach zieh mit deiner Gnade ein;
dein Freundlichkeit auch uns erschein.
Dein Heilger Geist uns führ und leit
den Weg zur ewgen Seligkeit.“
Es gibt keinen Frieden auf der Welt ohne Barmherzigkeit und Gnade. Mit Auge um Auge, Zahn um Zahn schafft man bestenfalls ein Patt zwischen feindlichen Parteien. Aber für Frieden braucht es mehr, da muss das Leben, jedes Leben auf dieser Erde als wertvoll und würdig und schützenswert verstanden werden. Da muss man sich von den Kategorien „die da“ und „wir hier“, die Guten und die Schlechten, die immer Recht haben und die immer falsch liegen, verabschieden. Da braucht es eine andere Werteskala als Gut und Böse, da braucht es etwas, was alle Menschen gleichermaßen betrifft und umschließt: Gnade/Charis (griechisches Wort, das man auch mit „Geschenk“ übersetzen kann). Unser aller Leben ist vor allem und immer wieder ein Geschenk, ein schützenswertes und beachtungswürdiges Geschenk, singen wir in diesem Adventslied von dem Heiland, der uns seine Gnade bringt. Und dann müssen und dürfen wir uns infizieren, anstecken lassen von der Freundlichkeit Gottes. Von dem vertrauensbildenden Lächeln, das uns im Segen zugesprochen wird, soll und kann auch Licht und Wärme auf den nächsten missliebigen, nervigen, unverständlich erscheinenden Nächsten fallen. Und dann brauchen wir den Heiligen Geist als Kompass durch alles Dickicht. Bei allen Rückschlägen und Unvollkommenheiten. Wo es aus den unterschiedlichsten Gründen nicht klappt bei dem Miteinander, bei dem Klimawandel, bei der Energiekrise, bei der Gesundheitskrise, bei der Flüchtlingskrise, bei unseren Bemühungen um Frieden.
Liebe Schwestern und Brüder, heute geht es darum, Türen zu öffnen. Türen vom Adventskalender. Türen, die mit Lebenserfahrungen zu tun haben. Und die Herzenstür für den König der Ehre, für jene Größe, die Gewicht und Einfluss auf unser Leben bekommen soll und will, auf den Heiland, der Gnade, Freundlichkeit und den Heiligen Geist als Kompass mitbringt und uns für den Alltag empfiehlt.
Gott möge uns helfen und Segnen, wenn wir die Adventtürchen, die Türen zum Nächsten und unserer Herzenstür neu öffnen. Amen.
|
(Quelle: wikipedia)
1.Advent, 03.12.2023, Stadtkirche, Psalm 24, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent - 3.XII.2023
Psalm 24
Liebe Gemeinde!
Zu den der Menschheit an sich heiligen Orte gehören von jeher Türen und Schwellen.
Weil jede Tür räumlich und sachlich eine echte Geistesgabe ermöglicht: Unterscheidungsvermögen. … Eben draußen, jetzt drinnen. Gerade noch im Hellen, nun im Dämmer-licht. Hier schutzlos, dort geborgen. Auf der einen Seite Öffentlichkeit und Welt, auf der anderen das Innenleben, die Seele, das Private. Türen sind materiell greifbare Differenzierungs- und Ordnungskategorien. Was profan ist und schmutzig und was vor fremden Einflüssen und Blicken bewahrt wird, das trennt die Tür.
Sie hat darum einen eigenen Charakter als Altar: Bei den heidnischen Römern der Sitz des in beide Bereiche und Richtungen, hinein und hinaus blickenden Gottes Janus. Und auf der Schwelle wurden aufgrund ihrer nicht ungefährdet zu überschreitenden magischen Abgrenzungskraft Opfer gebracht. Die Bibel weiß von einem ehrgeizigen und größenwahnsinnigen Bauunternehmer, der die vorzeiten von Josua verfluchte Stadt Jericho wiederaufbauen wollte – “Make Jericho great again” – und dafür bei der Grundsteinlegung seinen ältesten und beim Setzen der Tore seinen jüngsten Sohn verlor (vgl.1.Könige 16, 34), … und man wird die dunkle Ahnung nicht los, er könne sie nach kanaanäischer Sitte geopfert haben, weil er etwas besänftigen wollte, was die Erfahrung bestätigt: Wenn man unbelehrbar das Tor zur Vergangenheit aufstößt, weckt man furchtbare Geister, die so oder so nach unseren Kindern greifen.
Türen sind also geheimnisvoll von beiden Seiten: Was hinter ihnen liegt, ist das eine Faszinierende. Das andere ist, wie man sich vor ihnen fühlt. In der Spannung des Einlassbegehrenden. In der Unsicherheit dessen, der sich gemustert weiß. … Jeder, der hofft, dass sich ihm hinter der verschlossenen Pforte ein Wunderreich eröffnet, kennt im Nachtleben den Adrenalinschub vorm Türsteher. Im legendären Techno-, Exzess- und Orgien-Club „Berghain“ in Berlin gab es einen besonders als unbestechlich gefürchteten Aufmerksamen mit dem biederen Nachnamen Marquardt (… keine Verwandtschaft).
Aber als allsehend und allwissend und ob der untrüglichen Eingeweihtheit in alle Lebenslagen und Lebenslügen dem lieben Gott sehr ähnlich galten zu allen Zeiten schon die Pariser Concierges, und die Portiers im alten Wien und Berlin übten über ihre Herrschaften eine diskret absolutistische Tyrannis durch’s Durchschauen aus. … Die Tür zu hüten, entscheidet oft genug also die Machtfrage.
Deshalb gibt es Türrituale. Black rod, der zeremonielle Pförtner der Houses of Parliament muss zwischen Ober- und Unterhaus dreimal mit dem Heroldsstab an die ihm vor der Nase zugeschlagene Tür klopfen, ehe die Abgeordneten sich hinüber zu den Lords bitten lassen.
Zur Eröffnung eines Heiliges Jahres hat selbst der Papst an die sonst vermauerten portæ sacræ der vier römischen Papstbasiliken mit einem goldenen Hammer zu pochen, um den Durchgang für sich und alle Pilger zu erwirken.
Und in Köln, wo sie ihn offenkundig doch herbeisehnen, ziert man sich selbst vor Prinz Karneval und seinem Gefolge, und fragt rhetorisch bei jedem Neuankömmling der Tollität „Solle mer’n rinlosse?“
In der Kapuzinergruft schließlich werden auch die Habsburger in ihren Särgen erst aufgenommen, wenn sie das Türexamen der Toten bestanden haben, die sich als arme, sterbliche Sünder ausrufen lassen müssen, nachdem alle hohen Würdentitel und klingenden Namen kein Schloss und keinen Riegel bewegen konnten.
Tor und Pforte gemahnen uns also an die ehrfurchtgebietenden, schaudererregenden, allesentscheidenden Passagen des Lebens. Deshalb gibt es in der jüdischen Welt auch keine Tür, an deren Pfosten nicht eine Kapsel mit dem Wort des lebendigen Gottes angebracht ist: Wer immer von wo immer wie auch immer nach irgendwo - außer dem Lokus - geht, streift Gottes Weisung und Gebot in der Mesusa, führt die Hand zum Mund und bekennt sich allerwegen zum HERRN, dem Einen Gott Israels (vgl. 5.Mose 6,9). ————
Und nun machen wir uns nichts vor: Wir, … alle, … wir insgesamt stehen vor einer Tür.
Nicht am Kinderkalender der Adventszeit.
Nicht weil der Türhütermonat Januar uns bevorsteht.
Sondern weil die Menschheit ein Zeitalter durchschritten hat und nun an seine Grenze gestoßen ist, … weil die Menschheit an der Schwelle einer neuen Ära steht.
… Und ich weiß nicht und Du weißt nicht, was hinter der Tür liegt.
Es könnte eine jener Türen sein, die eigentlich nur im Film oder Traum des Horrors begegnen: Eine Tür mit halber Schwelle … öffnet man sie, stürzt man dahinter in einen Abgrund aus Finsternis.
Siebzigtausend Leute, von Alaska bis Feuerland, aus den hängenden Gärten der Himalayasattel bis zu den kenternden Inselparadiesen der Südsee angereist, sind in Dubai bei der 28. Klimakonferenz versammel:. Sie sind der Hammer, mit dem black rod und der Papst, mit dem die Narren und die gekrönten Häupter der Menschheit an die Tür der Zukunft schlagen.
… Sie wird sich auftun.
… Müssen.
… Und dann?
Was dann, das sagt uns der Psalm, den Gottes Geist für diesen ersten Tag eines neuen Kirchenjahres unter solchen Vorzeichen vor uns aufgeschlagen hat: Er ist eine Torliturgie, ein Türexamen, ein Passageritus aus der ältesten Zeit des heiligen Volkes in Davids und Salomos Reich am Tempel des HERRN in Jerusalem.
Diese Liturgie des Übergangs aus dem vertraut Gewöhnlichen, aus dem Bereich des gewissenlos Weltlichen, des Säkularen hinein in eine andere Gegenwart, … eine Gegenwart, in der es zählt, … hinein in die Gegenwart Gottes, das feiert heute die ganze Welt, ohne es zu wissen.
Und als hätten die Chöre der Priester und Leviten vor fast dreitausend Jahren ihren Einlasshymnus der pilgernden Gemeinde nur für die Menschheit von heute singen sollen, ist das erste Wort, das überm Tor am Heiligtum erklingt, die erschütternde und entscheidende Präambel, die jeder Mensch, der in dieser Welt handelt und hofft, zur Maxime seines Wollens und Tuns machen muss:
„Die Erde ist des HERRN und was darinnen ist; der Erdkreis und die darauf wohnen.
Denn Er hat ihn über den Meeren gegründet und über den Wassern bereitet.“
… Was ihr getan habt einem dieser Seiner geringsten Würmer oder Einzeller, … einer dieser Seiner bedrohtesten Pflanzenarten, … einem unter diesen, Seinen seltensten Elementen, Stoffen und Erden, … das habt ihr Ihm getan (vgl. Matth.25,40)!
Das ist die Überschrift über dem Zugang zu Gott: Er ist der Gott des Kosmos, der Herr nicht nur der Geister und der unsichtbaren Welt, sondern genauso der Schöpfer und darum Erhalter … und wenn es sein soll auch der Erlöser der materiellen Natur. Er ist der Gott des Fleisches und des Staubes, des Atems in den Lebewesen und aller leblosen oder uns in ihrem Schweigen und Schweben entgehenden irdischen Wunder vom Weltraum bis zur Tiefsee.
Die Priester und Leviten, die den Psalm Davids in Jerusalem feierlich den Einziehenden entgegensangen, konnten nicht ahnen, dass „Die Erde ist des HERRN“ bedeuten könnte, dass Er selber einmal irdisch werden würde.
… Sie hätten geschwiegen, wenn ihnen aufgegangen wäre, dass in diesem einfachen Bekenntnissatz die ungeheure Möglichkeit des Advent sich andeutet: Dass Gott einmal zu Seiner Erde kommen und für Seine Erde einmal leiden würde, dass Er Sein Blut für die ganze Schöpfung vergießen würde, dass Er den Tod aller Dinge abwenden und einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen müsste (vgl.Jes,65,17; 2.Petr.3,13; Offenb.21,1) durch Seine Fleischwerdung und durch Sein Sterben.
… Die Priester und Leviten hätten geschwiegen, wenn dieses Unvorstellbare, … dieses Unausdenkbare, … dieses Unerfindliche ihnen bei ihrer Liturgie am Tempeltor in den Sinn gekommen wäre. Und sie wären in den Staub gesunken vor einer solchen Herrlichkeit und Schrecklichkeit und Wirklichkeit Seiner Herrschaft und Liebe.
… Und wir? Die wir hier an einem ersten Advent im Schatten des Weltsterbens an einer so wichtigen Schwelle stehen und wissen, wie Gott liebt, leidet, ringt, kämpft und siegt für alles, was wir sehen und alles, was wir nicht mehr sehen können oder noch nie sehen
konnten.
Und wir?
Knien wir uns in den Staub?
Werfen wir uns Asche aufs Haupt?
Zittern wir, was hinter der Tür ist, die uns von der Zukunft der Erde des HERRN trennt? ——
Unser Advent ist ein buchstäblich fauler Zauber – eine Beschwörung unserer Bequemlichkeit und Trägheit und Dickfelligkeit und Begriffsstutzigkeit und Kaltschnäuzigkeit – , wenn wir nicht begreifen, dass es Buße bedeutet, sich vor Gottes Tür zu wissen oder Ihn vor unserer Tür zu wähnen!
… Natürlich. Auch an dieser Stelle haben wir’s uns jetzt ein Menschenalter lang leicht gemacht: „Wir müssen – noch dazu um Gottes willen?! - dochnichts tun“, so haben wir den Glauben buchstäblich verfaulen und vergammeln lassen. … Wenn Er zu uns kommen will, dann kommt Er schon. Wenn Er was von der Erde will und auch wenn Er etwas für die Erde wollen sollte, dann ist Gott doch schon groß und unabhängig, … so wie wir. … Lass Ihn gern kommen. … Aber was geht das uns an? … Sollen wir etwa aufstehen, wie früher, wenn der Lehrer durch die Tür kam? …………
Mehr noch sollen wir!
Bedenken wir: Der Chor aus Jerusalem singt in der Tempelliturgie ein Eintrittsexame! Der Eintritt dorthin, wo man auf Gott hoffen, wo man Seine Nähe suchen darf, er sieht vor, dass wir uns prüfen, … dass wir in uns gehen und dann dort nicht bleiben, sondern uns bekehren, d.h. ändern und so leben, dass man unserm Leben anmerkt, wie wir nicht an Gott vorbei oder vor Ihm weglaufen, sondern auf Ihn zu.
Ja, auch Hoffnung auf Gottes Nähe und Bereitschaft für Ihn sind lebensverändernd! Nicht bloß Wunder, sondern schon ihre Erwartung gibt dem Dasein eine grundlegende Wende! Nicht nur, wenn Gott uns ganz gegenwärtig ist, sondern schon die dunkle Regung des Gedankens, Gott sei nicht völlig ausgeschlossen, macht uns zu Menschen mit klareren, reineren, weiteren Zielen.
Und dass wir diese Veränderung antreten, dass wir uns von der träg-trüben Gottlosigkeit zur Gottesoffenheit wandeln, ist ebenso ein Schritt auf dem Weg zum Advent, wie alles, was Gott Seinerseits in der prophetischen Ankündigung, der himmlischen Verkündigung, der geistlichen Empfängnis, der leiblichen Geburt, der menschlichen Existenzweise und Dienstbereitschaft Jesu getan hat, bis bei Seinem Einzug in Jerusalem Seine endgültige Hingabe und darin Sein ewiges Recht an den durch Ihn Erlösten unumkehrbar in Kraft traten.
Darum ist es so wichtig, dass der Psalm, dessen adventlicher Schluss uns ja tief vertraut ist, uns heute in seinem gesamten Zusammenhang vor Augen geführt wird. Es ist – wenn wir uns im Kirchenjahr und in der Weltgeschichte an einer Epochenscheide wissen – eben nicht damit getan, dass wir uns den kommenden Herrn vor den Türen der Welt vorstellen und Ihn herbeisehnen dürfen, sondern wir können und wir sollen uns ebenfalls auf den Durchgang vor uns einstellen: Wenn Gott nicht mehr ausgeschlossen ist, dann sind wir auch nicht mehr ein-geschlossen, sondern auf dem Weg auf den Berg des HERRN und an Seine heilige Stätte.
Und dann müssen Hände, Herz, Geist und Sprache in und an uns durchlässig für die Gotteserwartung werden, … sie müssen tun, bezeugen und besiegeln, dass wir die Erde Gottes jetzt und Sein kommendes Reich als Gaben Seiner Gnade und Raum Seines Rechts ehren und hüten und heiligen wollen.
So wird der Advent wieder das, was wir lange nicht mehr in ihm sahen:
Ein wechselseitiges Geschehen, ein Aufeinanderzugehen, ein Zueinanderstreben, ein Abstandüberwinden und Trennungaufheben von beiden Seiten … Gottes und der Menschen.
Der Zug der Gemeinde hinauf nach Jerusalem und hinein in den Tempel, den Ort der Gegenwart Gottes ist ebenso adventlich, wie der Einzug Gottes an dieser Stelle – zu Salomos Zeiten in der Wolke der Herrlichkeit (vgl.1.Könige 8,10f), zu Zeiten des Kaisers Tiberius auf einem erbärmlichen Esel – und so adventlich wie Gottes Einzug auch in unsere Gegenwart mit ihren schrecklichen Bedrängnissen und der am meisten bedrängenden Gottesvergessenheit.
Wenn wir aber nun endlich anfangen, unseren Anteil am Advent wahrzumachen, indem wir lernen, demütig und solidarisch, schonend und teilend zu leben, … mit Händen, die nicht zerstören, … mit Herzen, die nicht bloß begehren, … mit Mündern, die die Wahrheit nicht verbiegen und mit einer Moral, die die Sache der Gerechtigkeit nicht vergewaltigt, … wenn wir also das Türexamen am Eingangstor zur Gotteswirklichkeit bestehen werden, dann dürfen wir aus vollem Herzen und aus voller Kraft auch den letzten Teil des Psalms beten und leben: Den Hoffnungsschrei, nein, den Jubelruf, dass umgekehrt Gott tatsächlich auch in unsere Wirklichkeit kommt. ——
Ja, wir stehen vor der Tür: Die eine Zeit vergeht. … Wir müssen uns ändern, … müssen Buße tun, damit der Durchgang zu einer neuen Zeit uns nicht in unser Verderben stößt.
… Aber wir stehen nicht alleine auf dieser Schwelle.
Auf der anderen Seite herrscht nicht das Grauen des Untergangs in das Nichts.
So bang uns auch sein mag, im Elend dieser Zeit:
Die Tore in der Welt, … das Tor der Welt als solcher, … das Tor der Zukunft wird nicht nur von uns aus bedient! Nein, … es öffnet sich von beiden Seiten!
Und Er steht schon davor und klopfet an (vgl. Offenb.3,20)!
Darum sollten wir Ihm wirklich nun entgegengehen … unsere Bußzeit des Advent führt uns ja Seinem Freudenadvent geradewegs in die Arme.
Gehen wir der Tür entgegen, indem wir wirklich unseren Lebenswandel ändern; opfern wir nicht unsere Kinder, sondern unsere Gewohnheiten und beglaubigen wir die Schöpfungs- und Erlösungstatsache, dass die Erde des HERRN ist!
So also geht auf den Berg des HERRN, fragt nach Ihm, sucht sein Antlitz, macht die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!
… Geht!
… Komm!
… „O Heiland, ……. reiß (vgl. EG 7)!“
Amen.
Ewigkeitssonntag, 26.11.2023, Stadtkirche, Kantate BWV 106 und Offenbarung 22,20, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 26.XI.2023
„Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ (BWV 106 - sog. „Actus tragicus“) - Offenbarung 22,20
Liebe Gemeinde!
Seit ausdrücklich die Ewigkeit zum letzten Mal über einem Sonntag stand, ist nun ein Jahr, ein „Kirchenjahr“ vergangen.
Ein Jahr: Eine bestimmte, messbare Größe aus unseren Begriffen und Einheiten für das, was wir „Zeit“ nennen, … Einheiten und Begriffe, die am ehesten planetarisch, an der Bahn und Drehung der Erde um die Sonne und um ihre eigene Achse zu bestimmen sind. Von dort gewinnen wir die Einheiten der Monate und Tage, so wie der Schöpfungsbericht es schon einsetzt: „Gott sprach: Es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da scheiden Tag und Nacht. Sie seien Zeichen für Zeiten, Tage und Jahre“ (1.Mose1,14). Und von Gottes Ruhe nach dem Ersten in der Zeit Vollbrachten, vom Sabbattag her gewinnt die ganze un- und anti-religiöse Welt bis heute den Rhythmus der Woche.
12 Monate Zeit also, … 52 Wochen, … genau 371 Tage sind vergangen, seit wir zuletzt Ewigkeits-Sonntag gefeiert haben. Und von dieser Zeit, der rätselhaft Selbstverständlichen gilt, was Augustinus in nüchternster Wahrhaftigkeit formuliert hat: „Was ist also Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“[i]
Wir wissen nicht, was die Zeit ist.
Aber eines wissen Viele von uns heute. … Das vergangene Jahr, … ein Monat darin, … ein einziger Tag, … ja ein Sekundenbruchteil hat es sie gelehrt: Das Vergehen oder die Ausdehnung oder das kontinuierliche Bestehen der Zeit erschließt sich uns nicht bewusst. Aber wenn sie endet, dann zerreißt es unsere Gedankenlosigkeit! Der Moment, in dem das aufhört, was wir die Lebenszeit nennen, teilt unser Denken und Fühlen, unser Wahrnehmen und Verstehen in ein kristallklares Vorher und Danach.
Von den Jahren und Jahrzehnten, die uns verbanden, können wir nicht näher sagen, wie wir sie als solche, wie wir sie als „Zeit“ erlebt haben. Die Sekunde aber, die uns trennt, schafft scharf und deutlich eine Tatsache, die alles bestimmt, weil sie alles verändert.
Die Zeit wird für uns also am direktesten spürbar, sie wird sachlich fassbar und teilbar und wirksam durch eine Abwesenheit. Nicht angehäufte Zeit, nicht Zeit im Überfluss, sondern ihr Verlust macht sie kostbar.
… Zeit ist demnach keine Größe und sie hat keinen Wert an sich … und wenn sie noch so planetarisch, noch so kosmisch, noch so wissenschaftlich exakt bestimmt wäre. Zeit ist wirklich wertvoll erst dadurch, dass wir sie mit anderen teilen dürfen. … Zutiefst also, … zuerst und zuletzt ist Zeit eine menschliche, eine zwischenmenschliche, eine soziale Kategorie.
Die Felsen und Gesteine dieser Erde - die Geologie - , … die für uns gar nicht mehr vorstellbaren Kreisläufe einer vom Menschen unberührten Natur - die Biologie -, … das Knospen, Aufleuchten und Verblühen von Sternbildern und Himmelskörpern - die Astronomie -, und die takt- und gesetzgebenden Prozesse der Chemie und der Physik in alledem entfalten sich zwar und verlaufen in Jahrmillionen-Einheiten. … Doch diese Zeiträume berühren uns nicht. … Sie sind abstrakt.
Erst das kleine, vorübergehende, hinfällige Menschlein, das am Fuß der uralten Berge und im Licht der wiederkehrenden Konstellationen am Firmament und unter all den zyklischen Figuren des „Stirb und Werde“ sein einzigartiges, unwiederholbares, ganz persönliches Dasein fristet, … erst das siebzig- oder achtzig- oder gar neunzigjährige Menschenleben macht also, dass die Zeit real wird und teuer und wundervoll.
Das hat sich an allen von uns wiederholt, für die das letzte Kirchenjahr aus lauter gewöhnlichen Tagen ein ganz herausragendes Datum gebracht hat, … ein Todesdatum. Seit diesem Tag spüren wir, dass nicht die bloße allgemeine Dauer, sondern der bestimmte einzelne Mensch, … ein Mensch, um den wir heute trauern, für uns eine wirkliche Maß- und Sinneinheit des Daseins bedeutet.
Zeit ist Miteinander.
Das ist eine ganz zentrale Wahrheit: Zeit ist Miteinander.
Um diese Wahrheit in ihrer Tragweite ermessen zu können, müssen wir uns von Gott, vom biblisch bezeugten Gott erzählen lassen und davon wie Er es mit der Zeit hält.
Obwohl heute „Ewigkeitssonntag“ ist, müssen wir dabei aber als Erstes festhalten, dass der wahre, der lebendige Gott, Der, Den wir anbeten, weil Er die Geschichte Israels zu Seiner Geschichte und in Jesus Christus die Menschheit zu Seiner Natur gemacht hat, … Den wir also anbeten, weil Er uns in der Geschichte und in unserem eigenen Wesen nahekommt … wir müssen festhalten, dass dieser unser Gott nicht etwa nur der Ewige ist, … ein Wesen oberhalb und außerhalb der Zeit, wie der Gott der Philosophen.
… Nein. Gerade, wo Er der Ewige genannt wird, zeigt sich, dass Er Gemeinschaft mit denen sucht und stiftet und schenkt, die in der Zeit leben:
Zum ersten Mal wird Er „der ewige Gott“ genannt, als sein völlig einsamer erster Anhänger Abraham ein zwischenmenschliches Bündnis schließt: Als Abraham und der König Abimelech einander Frieden und Gemeinschaft schworen, da „rief Abraham den Namen des HERRN, des ewigen Gottes an“ (1.Mose21,33). Und bei Mose – wo Er am Ende von dessen Leben wieder als ewiger Gott begegnet – heißt es „Zuflucht ist bei dem alten Gott und unter den ewigen Armen“ (5.Mose 33,27): Gerade der Ewige ist also Schutz und Ziel der Sterblichen, weshalb wir im Psalm des Mose, den wir auf dem Friedhof sprechen, bekennen, dass Er, Der von Ewigkeit zu Ewigkeit ist die Sterbenden geradezu zärtlich zu sich ruft „Kommt wieder, Menschenkinder“ (vgl. Ps.90,2f)! Bei Jesaja dann wird in diesem Geist die abstrakte Ewigkeit tatsächlich in den elementar menschlichen Zusammenhang des Familiären gezogen: „Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von Ewigkeit her dein Name“ (Jes.63,16); und gekrönt wird diese innigste Verbindung des Überzeitlichen mit den Gegebenheiten der menschlichen Lebenszeit schließlich in der Weihnachtsverheißung des Propheten Micha (5,1f): Aus „Bethlehem …… soll mir der kommen, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist, … (wenn) die geboren hat, die gebären soll“.
Die Ewigkeit Gottes verhindert also nicht, dass Er der Gott des Miteinanders – des Miteinanders unter den Menschen und des Miteinanders zwischen Sich und den Menschen – ist.
Genau wie Jahrhundertmillionen und Sekundenmyriarden wird nämlich auch Gott erst wirklich und greifbar durch das Miteinander in der Zeit, … durch Erfahrungen des Zusammenhangs und der Zusammengehörigkeit von Ewigem und Sterblichen.
Zeit an sich ist demnach eine leere Vorstellung.
Und Gott an sich ist eine leere Behauptung.
Beide sind nur wirklich und wirksam in ihrer Gestalt als lebendiges Miteinander.
Von daher aber verstehen wir vielleicht auch richtig, was Sünde und Tod sind: Sie negieren jeweils das Entscheidende, … das Miteinander.
Der Tod zerreißt das Miteinander, in dem wir leben.
Die Sünde zerreißt das Miteinander, durch das und für das wir leben. ——————
… Und da kommt nun Der, Der unser einziger Trost im Leben und im Sterben ist, ins Spiel: Jesus, Der das Miteinander in Person ist.
Jesus, Der die Zeit erfüllt, indem Er den Ewigen in sie brachte.
Jesus, der die Sünde entmachtet hat, weil Er die Menschheit zurück zu Gott zieht.
Jesus, in dessen einzigartigem Tod der ganze Tod, … aller Tod am Leben scheiterte.
Jesus, in Dem Gott vom Menschen unzertrennlich ist.
Jesus, in Dem der immer-seiende und immer-bleibende Gott Geburt und Sterben erlebte, ohne dass das eine da erst die Anwesenheit und das andere schließlich die Abwesenheit brachte, weil die unlösliche Verbindung durch beides durchhielt, die unlösliche Verbindung Dessen, was im Ursprung war – des Wortes, das im Anfang war (vgl. Joh.1,1) – mit Dem, was unendlich bleiben wird – dem Wort Gottes, das da bleibt in Ewigkeit (vgl. Jes.40,8).
Sterbliches Geborenwerden und der Tod der Sterblichen: In Jesus sind sie nicht bloß die Eckdaten der Lebenszeit, sondern Sein Anfang erfüllt alle Zeit mit dem entscheidenden Miteinander und Sein Ausgang durchbricht die Grenze, um allem Miteinander die Endlosigkeit zu eröffnen. ———
Das also ist die „beste Zeit“, die Bachs Kantate besingt[ii]: Das in Jesus uns erreichende, durch nichts je endgültig aufzulösende Miteinander von Gott und Mensch, von Gegenwart und Ewigkeit, in dem wir leben … und in dem wir auch sterben.
An das Sterben darum zu denken, … an die alte Bestimmung[iii] zu denken, dass wir hier nicht Zeit an sich und auch nicht endlos Zeit haben, sondern bloß einstweilen begrenzte Dauer, die nur geteilt auch wertvoll ist, macht klug: So sahen wir am Anfang.
Denn nur, wenn wir in der endlichen Zeit schon das Geschenk zu schätzen vermögen, das in Gestalt lebendiger Verbundenheit von Verschiedenem – allem voran von Irdischem und Himmlischen – besteht, … nur dann können wir unser Haus bestellen – also versöhnt leben – und uns am Schluss auch Gott befehlen – also erlöst sterben –.
Tragisch ist dieser Akt des Glaubens also nicht, … dieser Akt unseres Glaubens: Jenes Glaubens, der über die Zeit hinausweist, gerade wenn uns ein Todestag in diesem Jahr gezeigt hat, wie wir durch unsere Verluste zu verstehen lernen, was wirklich unvergänglich ist.
Wenn der Tod eines geliebten Menschen seine teilende Wirkung entfaltet und das Davor vom Danach so schmerzlich unterscheidet, dann erfahren wir Christen ja eben nicht bloß dass Zeit wahrhaftig nur als eine Form von Gemeinschaft zu bestimmen ist, sondern dann geht uns tatsächlich fast unmittelbar und ohne dass wir es in Worte fassen könnten Gott auf, … dann geht uns Gott plötzlich ganz unmittelbar an:
Er, Der in Seiner Dreieinigkeit unlösliche Verbindung ist, Er kann und wird ja nicht zulassen, dass wir einander mit der Zeit und aus der Zeit verlieren. Gott kann nicht zulassen, dass wir endgültig von Abwesenheit bestimmt werden, dass Trennung und Vereinsamung das sind, was uns „schlußendlich“ - wie es so trostlos heißt - erwartet.
… Gott ist doch Gemeinschaft. Gemeinschaft auch mit uns zeitlichen, mit uns vergänglichen Menschen. Und darum will Er die Vergänglichkeit, die uns täuschenderweise das Wesen aller Zeit auszumachen scheint, durch deren tatsächliches Wesen - die Gemeinschaftlichkeit - überwinden.
Die Zeit der Abschiede, die Zeit als Scheidung geht also tatsächlich ihrem Ende entgegen, um das zu erreichen, um das durchzusetzen, was Gott selber war und ist und bleibt: Endloses Zusammensein.
Aus dieser doppelten Zielrichtung nun – dass das Zerbrechen vergeht und das Verbinden kommt, … dass die Spaltung aufhören und die Heilung bleiben soll, … dass das Leiden an der Sterblichkeit sich verflüchtigen wird, um die Freude des Lebens zu verewigen – … aus dieser doppelten Zielrichtung erklärt sich auch das christliche Doppelverhältnis zur Zeit: Es ist Bejahen ihres unaufhaltsamen Verfließens und gleichzeitig Vertrauen auf unerschütterliche Dauer.
Kurz ist die Spanne, die für das Erste bleibt; grenzenlos ist die Hoffnung auf das Andere.
Die Traurigen unter uns, … die Leidtragenden, … die Hinterbliebenen, … diejenigen, die sich nach Frieden sehnen in den Tagen brutaler Gewalt, … diejenigen, die an jeder Zukunft zweifeln oder verzweifeln in unserm Zeitalter unaufhaltsam wirkender Weltvernichtung: … Sie alle sollen das biblische Zeugnis von der Kürze und vom Verfliegen der Zeit hören, … die Verheißung, dass das Jetzige nicht bleibt.
Doch noch wichtiger ist die andere Botschaft: … Dass schon jetzt das Ewige begonnen hat. … Dass es nicht mehr fern und nicht mehr weit ist, sondern dass es in dem großen Wort vom „Heute im Paradies sein“ (vgl. Lk.23, 43) schon die offene Tür, schon die Verbindung mit dem gibt, was Gottes Wesen ist und was uns darum von allen Seiten umfängt und also auch bevorsteht und erwartet: Das Miteinander, … das ewige und damit also das kommende Leben. ——
Allen denen, die in diesem Jahr einen Todestag und seither das Fehlen des Miteianders und darum die Hoffnung darauf erfahren haben, will ich - „schlußendlich“ - nur ein ganz einfaches Wort dazu sagen.
Es ist das Wort, das unserer diesseitigen, rein physikalisch von der Zeit denkenden Zeit am schwersten … und am rettendsten zu hören ist.
Und weil es so schwer zu hören ist, ist es immer auch der schwerste Augenblick für mich auf dem Friedhof.
Ich könnte das Wort mit geschlossenen Augen ohne allen Zweifel, ohne jedes Zögern sprechen, … weil ich aber doch hinsehen will, weil ich doch sehenden Auges und darum eben auch überprüfbar und ansprechbar und also fraglich bleiben will für die, die mir dabei wiederum ins Gesicht blicken können, …. darum weiß ich genau, in welche Tiefen des Nichthören- und Nichtverstehen- und Nichtfassen- und Nichternstnehmen-Könnens ich oft dabei schaue und auf welche traurige Fremdheit ich stoße. …
… Das ist der eigentliche actus tragius, der mit dem Glauben bei unsern christlichen Beerdigungen verbunden ist, … dass das einfache liturgische Wort so schwer zu sagen und zu hören fällt, das in seiner Wahrheit und Klarheit doch so unvergleichlich, so einzigartig tröstet.
„Wir befehlen unseren Verstorbenen der Gnade Gottes und legen seinen Leib in Gottes Acker – Erde zur Erde, Asche zur Asche, Staub zum Staube – in der Hoffnung der Auferstehung zum ewigen Leben durch Christus Jesus, unsern Herrn.“ …………
Das ist das allesentscheidende Wort, in dem das Vergängliche und das, was war und kommt zueinander finden.
Die Hoffnung der Auferstehung zum ewigen Leben: Sie verknüpft die Zeit als Miteinander mit Gott als Miteinander in größter Einfachheit.
… Darauf warten wir, darauf trauen wir.
… Dass ist gewisslich wahr.
Und wenn es uns noch so schwer fällt, es so einfach zu sagen, zu hören, zu glauben.
Das ist die Erfüllung der Zeit, das ist die beste Zeit: Dass alles im Miteinander bestehen soll, weil Jesus Christus das Miteinander ebenso geschichtlich wie ewig verkörpert und dieses unser Ziel darum wirklich und ganz nahe ist.
Es ist gewisslich wahr.
Und wir brauchen und können nichts tun, als in dieser Gegenwart und Zukunft des Ewigen einfach einzustimmen: Amen, ja komm Herr Jesu!
Komm mit Deiner Fülle in die Zeit! Komm mit dem Leben Gottes in unseren Tod!
Komm mit Deiner Ewigkeit jetzt zu uns!
Amen.
[i] Augustinus, Confessiones – Bekenntnisse, Elftes Buch (14,17), lat. und dt, Eingel., übers. u. erläutert von Joseph Bernhart, München 41980, S.629.
[ii] Die beiden nächsten Abschnitte fassen die Sätze der Bach-Kantate zusammen, die in Teilen im Gottesdienst erklang.
[iii] In Anlehnung an die heute sinnvollerweise gebrauchte, weil weitaus weniger antijudaistisch stereotyp missverständliche Übersetzung der Stelle in Jesus Sirach 14,17 auf die sich Bachs Text vom „alten Bund: Mensch, du musst sterben“ bezieht: „Es gilt der ewige Beschluss: Du musst sterben“. Jesus Sirach kommt hier dem Prediger Salomo nahe in seiner das ewige Leben betreffenden Skepsis, die zu einer hedonistischen Schlußfolgerung – „Carpe diem!“ – führt.
Ewigkeitssonntag, 26.11.2023, Dan. 12,1-3, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Schwestern und Brüder,
der heutige Sonntag ist der letzte Sonntag in diesem Kirchenjahr. Mit ihm schließt ein Jahr ab, das für viele persönlich schwierige und traurige Zeiten gebracht hat, Abschiede und Trennungen, Verluste, die schmerzen. Mancher Tod mag wie eine Erlösung gekommen sein. Aber mancher kam viel zu früh. Und alle führen sie Dunkelheit mit sich. Wie mit dem Tod umgehen, wohin mit der Trauer, mit der Erfahrung von Ohnmacht angesichts des Todes eines lieben Menschen? Ja, und nicht nur angesichts des Todes uns nahestehender Menschen, sondern auch – gerade in diesem Jahr - angesichts des vielfachen gewaltsamen und unzeitigen Todes in Israel, im Gazastreifen, in der Ukraine? Haben Tod und Gewalt das Heft des Handelns in der Hand? Ist das die „Zeitenwende“, die im Februar 2022 im Bundestag konstatiert wurde?
Ich bin in diesem Jahr dankbar dafür, dass der heutige Sonntag drei Namen hat, uns unter drei Vorzeichen einlädt, über das Leben und den Tod und unsere Zeit nachzudenken: Totensonntag, Ewigkeitssonntag und Sonntag vom Jüngsten Gericht. Es gibt nämlich keine einfache Antwort auf die uns bedrängenden Fragen, sei es im persönlichen Leben und Erleben oder mit Blick auf die gesellschaftliche und weltpolitische Lage.
Totensonntag – Ewigkeitssonntag – Sonntag vom Jüngsten Gericht.
Der Predigttext, der für heute vorgeschlagen ist, nimmt uns für diesen Drei-Schritt an die Hand. Ein Text aus dem Ersten Testament, aus dem Buch des Sehers Daniel, das eine große Nähe hat zu dem Buch der Offenbarung des Johannes.
Ich lese Dan.12,1-3 aus einer jüdischen Übersetzung:
„Und in dieser Zeit wird auftreten Michael, der große Engelfürst, der für dein Volk dasteht. Und es wird eine Zeit der Not sein, wie es sie nicht gab, seit es Völker gibt, bis zu jener Zeit. In jener Zeit wird dein Volk gerettet werden, alle, die ins Buch eingetragen gefunden werden.
Und viele, die im Erdboden schlafen, werden erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schande, zu ewigem Abscheu.
Aber die Verständigen werden glänzen wie der Glanz des Himmels, und die, welche viele zur Gerechtigkeit führten, wie die Sterne, immer und ewig.“
Das Buch Daniel markiert für die jüdische Religion in gewisser Hinsicht eine Zeitenwende. Bis dahin war der Glaube Israels rein diesseitsbezogen. Israels Gott war ein Gott der Lebenden; darin unterschied sich die jüdische Religion fundamental von der ägyptischen Religion, für die der Glaube an ein Leben nach dem Tod bestimmend war. Als Beispiel für diese Diesseitigkeit mag der folgende Vers aus Jes. 38,18f stehen: „Die Toten loben dich nicht, und der Tod rühmt dich nicht, die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Treue, sondern allein, die da leben, loben dich so wie ich heute.“
Man stand mit Gott in der Zeitspanne zwischen Geburt und Tod in Beziehung; wenn man starb, versammelte man sich im Totenreich, in der Scheol, ein Reich ewigen Schweigens.
Im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung änderte sich dieser Glaube, er weitete sich. Israel erkannte: Gott ist größer. Er umfasst nicht nur Himmel und Erde, nicht nur die Lebenden stehen zu ihm in Beziehung, sondern auch die Verstorbenen, sein Wille ist verbindlich für alle Zeit. Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit, Lebende und Verstorbene – alles ist vor ihm gegenwärtig.
Wenn nun das Leben nicht einfach mit dem Tod aus ist, sondern wenn Gott und sein Wille über den Tod hinaus Geltung haben, dann hat das Folgen für das Leben vor dem Tod und nach dem Tod.
Diese Glaubensweitung erfolgte im 2. Jahrhundert v.u.Z. in einer Zeit großer Not für das jüdische Volk. Damals herrschte in der Levante Antiochos IV. Epiphanes. Dieser Machthaber will dem jüdischen Volk seine griechisch geprägte Denkweise aufzwingen. Er greift die frommen Jüdinnen und Juden im Herz ihres Glaubens an. Er betritt als Nichtjude den Tempel in Jerusalem. Und er treibt es noch ärger: Er weiht den Tempel dem griechischen Gott Zeus Olympios. Und er verbietet bei Todesstrafe die Beschneidung. Für viele Jüdinnen und Juden ist das Verrat an dem einen Gott Israels. Sie wehren sich, ein Aufstand bricht aus. Die Folge ist voraussehbar: viele Tote. Das Ende vom Lied: Tote und Fragen.
Gibt es keine Hoffnung auf ein Leben und Glauben in Freiheit, ohne Angst vor Gewalt? Was ist mit denen, die treu zu ihrem Glauben an den Gott Israels gestanden und dafür mit ihrem Leben bezahlt haben: zählt ihre Treue für Gott nicht? Ist ihr Tod umsonst? Viele sind verzweifelt, andere enttäuscht. Es sieht aus, als ob Gott alles kalt lässt.
Habe ich über die Zeit damals bei Daniel oder über unsere Zeit gesprochen?
Liebe Gemeinde, mich hat die Aktualität unseres Predigttextes wirklich elektrisiert. Es ist so: mein Glaube wird durch die gegenwärtigen Ereignisse – sei es in der Ukraine, sei es in Israel – und durch die ganzen Begleiterscheinungen weltweit – auf den Straßen, in den Medien, auf den politischen Foren - durchgeschüttelt. Bis dahin für mich unbezweifelbare Richtigkeiten wie die Slogans „Nie wieder Krieg“ und „Frieden schaffen ohne Waffen“ – sie haben sich für mich in Worthülsen ohne Überzeugungskraft verwandelt. Das schiere Ausmaß an Gewalt und Hass, an Lüge und Intrige, macht mich ratlos und ohnmächtig. So viele Tote, so viel Leiden auf allen Seiten und kein Ende in Sicht. Was soll werden? Es sind so wenige, die bei Verstand sind und das Sagen haben, die ein Gewissen haben und Menschlichkeit zeigen und dann auf entsprechende Resonanz stoßen.
„Es wird eine Zeit der Not sein, wie es sie nicht gab, seit es Völker gibt, bis zu jener Zeit.“
Daniels Gegenwartsanalyse könnte treffender nicht sein.
Gewaltherrschaft, Diktaturen, Propaganda, Hass und Lüge: sie haben immer Tote zur Folge, sie gehen über Leichen, wenn ihnen die Menschen nicht willfährig sind, sondern sich widersetzen. Eine Zeit der Not.
In diese Situation hinein spricht der Seher Daniel sein Zukunftswort. Er sieht weit hinaus, sieht, dass diese Zeit an ihr Ende kommt. Er setzt ein großes „Aber“ dagegen in Gestalt von Hoffnungsbildern, die den Blick weiten helfen, aus der Angststarre herausführen, der Verzweiflung Einhalt gebieten.
Die Zeit der Not, es ist nicht eine Zeit, in der Gott abwesend ist. Es ist vielmehr die Zeit, in der er sich neu als derjenige erweist, der sein Volk in die Freiheit führt, wie es bei Jesaja heißt: „Ich will heben und tragen und erretten.“ (Jes.46,4), Gott als Streiter für sein Volk. „In dieser Zeit wird auftreten Michael, der große Engelfürst, der für dein Volk dasteht.“ Daniel nimmt hier die in seiner Zeit gewachsene Vorstellung auf, dass jedes Volk einen Engel hat, der für es eintritt vor Gott und der es gegen Angreifer verteidigt. Die Konflikte sind niemals nur rein zwischenmenschlicher Art, sondern betreffen die ganze Wirklichkeit im Himmel wie auf Erden. Es ist ein Trostbild, das Daniel zeichnet: der Engelfürst Michael steht an Israels Seite. Der Seher Johannes hat dieses Trostbild knapp dreihundert Jahre später erweitert: da ist Michael der Streiter an der Seite all derer, die in der Nachfolge Jesu Verfolgung und Unterdrückung durch den römischen Staat erleiden. Woraus sich dann die Vorstellung entwickelte, dass jeder Mensch in seiner individuellen Not von seinem Schutzengel begleitet wird – „Ich will heben und tragen und erretten.“ Mögen Engel dich geleiten, heißt es in den Liedern der Totenmesse.
Das zweite Trost- und Hoffnungsbild ist das Vertrauen darauf, im Buch eingetragen zu sein, im Buch des Lebens. Eingetragen mit allem, was das Leben ausgemacht hat, alles Lieben und alles Leiden, alles Tun und Lassen, nichts fällt bei Gott unter den Tisch. Nach dem Tod herrscht nicht das große Schweigen, sondern alles kommt im Licht Gottes zur Sprache. Die furchtbare Not seines Volkes vor Augen kann Daniel nicht anders, als dieses Zur-Sprache-bringen im klaren Schwarz-Weiß-Schema aufzuzeigen: die einen, die Opfer der Gewalt, erwachen zum ewigen Leben, die anderen, die Gewalttäter, zur ewigen Schande. Am Ende steht das Gericht. Ich kann nach den Bildern, die im letzten Jahr aus Butscha kamen und in diesem Jahr aus Israel, aus den von der Hamas heimgesuchten Kibbuzim nur zu gut verstehen, dass Menschen in ihrer Verzweiflung Trost suchen in dem Gedanken, dass die Täter, die Mörder dafür bestraft werden, wenigstens am Ende der Zeit.
Ich glaube aber, dass Gottes Gedanken da andere sind als unsere, sein Gericht beurteilt sicher alles Tun und Lassen, alle Guttaten und alles böse Tun und auch alle Versäumnisse. Alles kommt zur Sprache, was in seinem Buch steht. Alles kommt ans Licht. Und dann, das ist meine Hoffnung, wird er zurechtbringen, zurechtweisen, heilen, was wir Menschen verbockt haben, wissentlich und unwissentlich. Sein Licht wird alles Dunkle hellmachen, seine Liebe alles heilmachen, läutern, verwandeln. Kein Mensch kommt an diesem Prozess am Ende der Zeiten, im Moment des Sterbens, des Todes, vorbei. Ein heilsamer und bestimmt auch in mancher Hinsicht schmerzhafter Prozess. Das kennen wir ja schon in diesem Leben: Selbsterkenntnis kann weh tun. Natürlich sollten wir es Gott durch unser Tun und Lassen in diesem Leben damit nicht unnötig schwer machen. Er hat uns diese Zeit geschenkt, um seinem Wesen gemäß zu leben und zu wirken:
Und sein Wesen ist Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Güte und Wahrheit. Diese göttlichen Werte hochzuhalten und ihnen nachzuleben, darauf kommt es an. So kann jeder Mensch zu einem Hoffnungszeichen in dieser notvollen Zeit und Welt werden, Orientierung schenken in den Sprachgewittern voller Hass und Lüge, die die Gehirne und Herzen der Menschen fluten und immer mehr Leid und Tod bringen. Lebendige Hoffnungszeichen über unseren leiblichen Tod hinaus können wir werden, die daran erinnern, dass es sich lohnt, auf die Liebe zu setzen und nicht auf den Hass, der Gerechtigkeit zu dienen und nicht die eigenen Interessen durchzudrücken, auf Ausgleich und Freundlichkeit zu setzen und allen Gutes zu gönnen. Das ist das, was wir tun können, das meint der Seher Daniel, wenn er schreibt:
„Aber die Verständigen werden glänzen wie der Glanz des Himmels, und die, welche viele zur Gerechtigkeit führten, wie die Sterne, immer und ewig.“
Das zeigen uns auch alle diejenigen, an deren Gräber wir in diesen Tagen stehen und die wir schmerzlich vermissen. In unseren Erinnerungen leuchten sie wie helle Sterne in der Dunkelheit aller Trauer gerade da auf, wo sie uns in ihrer Lebenszeit Liebe und Güte erwiesen haben; und wo sie uns Beispiele gegeben haben, wie wir selbst Liebe und Güte leben können.
„Aber die Verständigen werden glänzen wie der Glanz des Himmels, und die, welche viele zur Gerechtigkeit führten, wie die Sterne, immer und ewig.“
Mögen uns immer wieder solche Sternenlichter am Himmel der Erinnerungen aufleuchten und uns in der Dunkelheit unserer Traurigkeit trösten.
Amen.
22.So. n. Trin., 05.11.2023, Stadtkirche, 1.Johannes 2, 12 - 14, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 22.n.Trin. – 5XI.2023
1.Johannes 2, 12-14
Ein Zettel:
Liebe Kinder, Ich habe euch Kindern geschrieben;
ich schreibe euch, denn ihr habt den Vater erkannt.
dass euch die Sünden vergeben sind
um seines Namens willen.
Ich schreibe euch Vätern; Ich habe euch Vätern geschrieben;
denn ihr habt den erkannt, denn ihr habt den erkannt,
der von Anfang an ist. der von Anfang an ist.
Ich schreibe euch Ich habe euch jungen Männern
jungen Männern; geschrieben; denn ihr seid stark,
denn ihr habt den Bösen überwunden. und das Wort Gottes bleibt in euch,
und ihr habt den Bösen überwunden.
(1.Johannes 2,12f) (1.Johannes 2,14)
Liebe Gemeinde!
Ausgerechnet in den grausamen Auflösungserscheinungen dieser Zeit, in der die Welt, die wir kennen, zerfällt und die Werte, deren Sicherheit wir zu teilen meinten, verfallen und alles Plan- und Lenkbare dem unbeherrschbaren Zucken und Wetterleuchten des Zufalls weicht, … ausgerechnet in diesem Pandämonium und Wirrwarr fliegt uns ein rätselhaftes Zettelchen zu:
Ein Zettelchen, das wie eine Stilübung wirkt, als habe ein Dichter mit Thema und Variation gespielt.
Oder als sei einer in einer Nervenheilanstalt eingesperrt und müsse sich was von der Seele schreiben und finde den genauen Ausdruck nicht.
Oder womöglich ist es nur ein roher Entwurf, eine Notiz dessen, was auf die eine oder andere Weise formuliert werden müsste.
Wie ein klassisch strenges Schema oder wie eine kranke Qual oder wie einen kreativen Versuch kann man diese kuriosen drei Verse aus dem 1. Johannesbrief ja wirklich lesen: Sie äffen einander so auffällig nach, … sie entsprechen einander so identisch/nicht-identisch wie Körper und Schatten, … sie spielen so unlogisch mit einer Wiederholung, die keinen direkt erkennbaren Gedankenfortschritt bringt, dass man das Zettelchen beiseitelegen möchte.
… Uns beschäftigt Schwereres und Schlimmeres als so ein Stückchen Schmierpapier oder eine solche unausgereifte Gedankenzelle, die ein gemütskranker Robert Schumann, ein zwischen Wahnsinn und Prophetie schwankender Hölderlin zu Papier gebracht haben könnten. …….
Hören wir lieber den kompromisslos klaren und inzwischen mutig zu nennenden Worten Robert Habecks zu[i], dessen Videoansprache aus der letzten Woche die FAZ, die einem grünen Wirtschaftsministers keine reflexhaften Jubelovationen schuldet, rhetorisch und moralisch in eine Reihe mit der „I have a dream“-Rede von Martin Luther King stellte[ii].
Oder lesen wir die reizvolle, spielerische Dankesrede von Salman Rushdie bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels … das Märchen vom „Mann, der den Frieden als Preis erhielt“[iii].
Oder versuchen wir selber, unsere widersprüchlichen und ambivalenten Gedanken zu ordnen, in einer Zeit, in der jeder Mensch, der biblische Muttermilch getrunken hat, um Israel physisch leidet wie um einen geliebten Angehörigen in Todesgefahr … und in der gleichzeitig jeder Mensch, der biblisches Schwarzbrot kaut, fast erstickt an der Härte, an der Schuld, die Israels Überlebenskampf begleiten.
Warum soll uns der beinah sinnlos erscheinende Briefabschnitt beschäftigen, der heute hereingeflattert kam: … Zeugnis einer Monomanie … oder einer beginnenden Demenz … oder eines poetischen Verdichtungsverfahrens, das uns nichts sagt? …….
… Gut möglich, dass die Frage schon die Antwort enthält:
Ja, der kleine da-capo-Abschnitt im Brief des Apostels und Evangelisten Johannes ist tatsächlich kunstvoll geformt wie Poesie, die ja auch von Motiven klanglicher Wiederkehr und vom bildlichen Umkreisen lebt. Der Apostel, der hier den 3 Lebensaltern - Kindheit, Jugend, Reife - eine Art konzentriertesten Vermächtnisses seiner lebenslangen Jüngerschaft und Verkündigung schreibt, hat sich künstlerisch gemüht. Das Motiv, das am meisten aufhorchen lässt und die beinah gleichlautenden Kurzsätze am klarsten gliedert, ist die zeitliche Form des entscheidenden Verbs: γράφω, γράφω, γράφω / ἔγραψα, ἔγραψα, ἔγραψα … „ich schreibe, schreibe, schreibe / und schrieb, schrieb, schrieb“.
Hier zieht tatsächlich einer das Fazit.
Einer, der sich immer noch im Hier und Jetzt, im Präsens weiß, dessen Heute aber mit seinem Gestern so stimmig, so übereinstimmend verknüpft ist, dass die gestrige und die gegenwärtige Botschaft zu einem reinen Zusammen-klang verschmelzen, zu völliger Harmonie.
Wenn Welt uns also chaotisch, misstönend, dissonant im Ohr liegt mit ihrem Pandämonium von Hassgebrüll und Hilfeschreien, von Blutgeheul und Opfertränen, von Waffenlärm und Friedhofsklage, … ist’s dann nicht gerade wunderbar, ein Briefchen von Jesu liebstem Freund zu empfangen, das nicht schärfsten Wahrnehmungsschmerz auslöst, sondern trotz allem, was uns verstören kann, uns hören lässt, was stimmt?!
Dass es stimmt, wie es von Anfang an, seit der Fleischwerdung des Wortes und der Offenbarung des Vaters in ihm und der Erhöhung des Gekreuzigten in die Einheit mit Gott stimmte: Es gibt in Jesus Christus Vergebung aller Schuld und Sieg über alles Böse!
Das stimmt, und Johannes hat es in seinem schönen, gefällig variierten, in sich aber bruchlos geschlossenen Lied vom Immergültigen schlicht und unvergesslich ausgedrückt: Ich schreibe und ich schrieb, dass ihr Kleinen und Jungen und Alten leben könnt, … wirklich leben könnt in der Kraft der Erkenntnis und der Wirklichkeit Gottes durch Sein Wort.
Tatsächlich also ist’s ein Kleinod, dieses kleine Gedicht des Evangelisten, dessen überirdisch großer Hymnus anfängt (Joh.1,1): „Im Anfang war das Wort.“
… Er schrieb’s und schreibt’s. Und wie wir’s hörten, dürfen wir’s hören, abermals und abermals, immer, immer wieder. Denn es stimmt. ——
Und auch das stimmt, dass hier eine Monomanie, eine völlige und ausschließliche Leidenschaft für ein einziges Kernthema vorherrscht: Johannes, der Zeuge und Dolmetscher der Selbstoffenbarung Jesu als des höchsten Botschafters und reinsten Beispiels des göttlichen Liebesgebotes (vgl. Joh.3,16 / 13,1+34f / 15,9f / 17,23 u.a.) ist von nichts anderem erfüllt, bewegt und überfließend, als dass sich die vollbrachte göttliche Liebe im Geliebt-Sein und Lieben-Können der Menschen ausbreite.
Von dieser tiefsten, höchsten Erfahrung der Übereinstimmung – der völligen Einheit das Vaters und des Sohnes, der völligen Einigkeit der Gemeinschaft Jesu und der Seinen in der Welt (vgl.Joh.17, 21!) – ist alles gefärbt und getönt, was Johannes sagt. … Nichts als diese Harmonie spricht aus seinem Ansatz, das gleiche Einfache gleich zweifach zu sagen:
Dass alle, alle als Kinder mit dem Vater versöhnt sind, … dass alle, alle als erwachsene Menschen im göttlichen Ursprung gegründet sind … und dass sie alle in den Zerrissenheiten der je eigenen Entwicklung den spaltenden Feind, den Bösen doch durch ihren Frieden mit Gott und untereinander überwunden haben.
Sein Grundthema menschlichen Gleichklangs mit Gott in sämtlichen Lagen des Lebens entfaltet Johannes aber nicht zufällig zwiefach.
Im Gegenteil: Die Form wird hier zum Träger des Inhalts. Das im Präsens Gesagte haftet in dem, was in der Vergangenheitsform gesagt wurde. Im jetzt Gegenwärtigen spiegelt sich das früher Festgehaltene. Das Eine und das Andere ergeben im sie verbindenden Zusammenlaut das Ganze.
Diese bestärkende und bestätigende Doppelungsfigur ist dabei keinesfalls eine Erfindung des Johannes, sondern eins der ehrwürdigsten und charakteristischsten Gesetze des gehobenen, des schönen Sprechens, der Dichtung, des Gesanges, des Gebetes in der hebräischen Sprache. Sie liebt, ja sie atmet solche Wiederholungen. Das Stilmittel heißt Parallelimus membrorum - Gleichführung der Glieder also - und wird überall, im Kleinen wie im Großen gebraucht, um einen Gedanken, eine Aussage, eine Erkenntnis auf zwei Beine zu stellen. Um unter Tausenden nur ein tief vertrautes Beispiel zu wählen, erinnern wir uns an Psalm 103:
„Lobe den HERRN meine Seele und was in mir ist Seinen heiligen Namen;
// lobe den HERRN meine Seele und vergiß nicht, was Er dir Gutes getan hat. …¶
Der dir alle deine Sünden vergibt
// und heilet alle deine Gebrechen. …¶
Barmherzig und gnädig ist der HERR,
// geduldig und von großer Güte. …¶
Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden
// und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat.
So hoch der Himmel ist über der Erde, läßt Er Seine Gnade walten über denen, die Ihn fürchten,
// und so ferne der Morgen ist vom Abend lässt er unsere Übertretungen von uns sein. …¶
Lobet den HERRN, alle Seine Heerscharen, Seine Diener, die ihr Seinen Willen tut!
// Lobet den HERRN alle Seine Werke an allen Orten Seiner Herrschaft! ¶“
Die überall begegnende, ganz biblische Neigung zum Sagen und Wiederholen ist ihrerseits aber doch wohl eine Gestalt der Menschenfreundlichkeit des Wortes Gottes. Nicht nur, weil doppelt besser hält, sondern weil der Mensch ein paarig angelegtes Wesen ist: Seine rechte und seine linke Hand füllt Gott mit Seinen Gnaden, … die eine wie die andere Herzkammer durchspült der Strom Seiner Mitteilung, … in beiden Hälften des Hirns flammt die Leuchtschrift der Geistesblitze, … wird der eine seiner Füße von der Weisung des Heils auf den Weg des Friedens gelenkt, so auch der andere, Schritt für Schritt.
Gott spricht uns ganzheitlich an und darum zwiefach.
Nun mag die Welt für uns zu wirr und undurchdringlich sein in ihrer Überlagerung von Bedrohlichem und Schreckensnachrichten, die wir darum nicht mehr an uns kommen lassen und zu Herzen nehmen wollen. … Doch diese Verwirrung durch das multiple, pluriforme, polyzentrische Unheil wird gerade von der einfach zweimal gesagten Heilsbotschaft in ihrer konzentrierten Kürze mehr als aufgewogen. Das eine Anliegen des Johannes – dass Mensch und Gott nicht in ihrer Feindschaft, sondern in ihrer Einheit verwirklicht sind, …. dieses eine Anliegen wird auf dem zweiteiligen Zettelchen greifbar: Zwei sind eins!
Nicht mehr, nicht weniger. ———
Kämen wir also noch zum dritten möglichen Einwand gegen die magere kleine Notiz, die uns heute hier auf der Kanzel liegt. Dieser Einwand ist wirklich „der Letzte“ im umgangssprachlichen Sinn, aber auch ihn greifen wir auf. In der boshaft als fahrig zu deutenden Art dieses repetitiven Gestammels könnte sich schließlich ja die Hilflosigkeit eines Entwurfes zeigen, der nicht vom Fleck kommt. … Womöglich hat er schlicht den roten Faden verloren, wenn er sich so unmittelbar wiederholt, der tatterige Apostel? … Womöglich fällt dem Johannes einfach nicht mehr ein, worauf er hinauswollte? Ist das also bloß senile Gedankenführung … oder vielmehr der Verlust der Gedankenbeherrschung? Ist das ein neutestamentliches Präludium des bitteren Endes, das so viele von uns heut erwartet, … ein antikes Zeugnis der Demenz?
… Warum in aller Welt denn nicht? Wenn das Wort Fleisch wurde und in Brot und Wein und Geist und Glaube auch in Fleisch und Blut der Seinen übergeht, wer sagt uns dann, dass der Logos Gottes nicht auch in’s Reich der Vergesslichen, in die Bruderschaft und Schwesternschaft der langsam nicht mehr Orientierten hineinreichen könne? Wer sagt uns, dass der Logos Gottes - Sein Licht und Seine Wahrheit – nicht gerade auch ins Dunkel und die Rätselhaftigkeit des Alters einkehren kann? Wer sagt, dass das Land Alzheimer nicht ebenso den Stall, die Krippe und die Windeln des menschgewordenen Gottes bietet, wie das Reich der wonnigen Kindheit?
Gott ist – trotz seines brutal verkürzten irdischen Lebens vor der Auferstehung – nicht exklusiv nur Säugling oder Jüngling geworden, sondern genauso in die Wirklichkeit des langzeiterkrankten, des querschnittsgelähmten, des multimorbiden Menschenkindes gekommen, in die Qual der ALS-, der locked-in- und Wachkoma-Patientin und in das Dämmerlicht der Greisin und des Greises an ihrem Lebensabend.
Den Kindern, den jungen Leuten und den patriarchalen Jahrgängen schreibt der Apostel ja ganz ausdrücklich und bewusst sein sprödes, nicht weiter mehr zu reduzierendes Extrakt des Evangeliums. Gleichzeitig also wendet er sich an die putzmunteren, die kraftstrotzenden und die verantwortungsgebeutelten Lebensphasen.
… Und selber ist er einer der Ältesten, ein vielfach geprüfter Augen- und Ohren- und Leidens- und Glaubenszeuge dessen, was am Anfang war, des Wunders, das in einem Wort, in einem Namen zusammenzufassen ist. „Fragst du, wer der ist?“ (vgl. EG 362) … „Ein Wörtlein“ …. „Das Wort sie sollen lassen stahn“ …….
Wie alt er ist, der Zeuge, der Märtyrer Johannes am Ende seines jahrzehntelangen Dienstes für „Jesus Christus, den Herrn Zebaoth“ (ebd.) … durch Predigt und Mission, durch Verurteilung und Verbannung, durch apokalyptische und evangelistische und epistolarische Schreibarbeit. … Alt ist er und müde.
… Und tatsächlich! Die kirchliche Tradition weiß von ihm, dass er wahrhaftig den Faden verlor, die herrlichen, geheimnisvollen und hymnischen Möglichkeiten seines lebenslangen Werbens für Jesus Christus einbüßte und am Ende bloß einfältig und monoton wieder und wieder und wieder das Gleiche ausrief, wie wir es bei vielen Menschen erleben, deren Geist die Bedingungen und Konventionen unserer Ratio hinter sich gelassen hat.
Zuletzt soll er altersschwach auf einer Liege unter die Gläubigen von Ephesus hineingetragen und bestaunt worden sein wie ein Relikt, .., ein Relikt aus dem Morgenrot der Erlösung, das unermüdlich – mechanisch? inspiriert? - immer nur den einen Satz wiederholte: „Meine teuren Kinder, liebt euch untereinander!“[iv]
Irgendwann bevor es so weit war, hat er den kleinen Zettel für uns verfasst, … das schlicht wirkende und dabei so unüberbietbare Lied vom Bleibenden, … das zweiteilige Bild der zu Einem versöhnten Wirklichkeit: Wenn wir Gott kennen und Ihm verbunden sind und aus Seiner Vergebung leben, dann werden wir den Bösen überwinden. Dann wird alles gut sein.
Und das stimmt.
Das ist das Ganze.
Nichts anderes und gar nichts mehr brauchen wir im Verfall und im Zerfall und im Zufall dieser Zeit.
Nur dieses, … kurz, … eindringlich, … immer und ewig gültig. ——
Darum gebe Gott, dass wir das - und nur das - halten und behalten, was immer sonst wir auch vergessen und aufgeben werden.
Gott mache in solchem einfachen Glauben unser Ende wie unsern Anfang, … Er mache in Seiner Gnade aus diesem Glauben unsere Schwäche wie unsere Kraft.
Er lasse uns hellwach und todmüde bei diesem Einen bleiben. Von Kindesbeinen bis ins Alter: Ihn zu erkennen und in Ihm den Frieden zu haben, der das Leben ist.
Amen.
[i] https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Videos/2023-some/231101-israel-und-antisemitismus/video.html
[ii] So Jürgen Kaube unter der Überschrift „Kein Mitgefühl mit den Tätern“ in der FAZ vom 02.11.2023 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/robert-habeck-warum-seine-videobotschaft-neue-massstaebe-setzt-19286643.html
[iii] https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/2020-2029/salman-rushdie
[iv] Diese im Galater-Kommentar des Hieronymus bezeugte Erinnerung an den altersschwachen Lieblingsjünger ist im katholischen Stundenbuch sogar die sechste der liturgischen Lesungen zur Matutin am Tag des Evangelisten, dem 27.Dezember … sie hat also offizielle Dignität als Gegenstand der Meditation. Der entsprechende Passus lautet im Original (zitiert nach Breviarium Romanum ex decreto SS.Conciliii Tridentini restitutum usw.– Pars Hiemalis, Regensburg 1954, S.352): „Beatus Joannes Evangelista … nec posset in plura vocem verba contexere; nihil aliud per singulas solebat proferre collectas, nisi hoc: Filioli, diligite alterutrum.“ Und als es den Hörenden schlicht zu viel wurde, beharrte er trotzdem darauf: „Tandem discipuli et fratres, qui aderant, tædio affecti quod eadem semper audirent, dixerunt: Magister, quare semper hoc loqueris? Qui respondit Joanne sententiam: Quia præceptum Domini est; et, si solum fiat, sufficit.”
Reformationstag, 31.10.2023, Stadtkirche, Matthäus 5, 1 - 12, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reformationstag[i] - 31.X.2023
Matthäus 5, 1-12
Liebe Gemeinde!
Zwei Buchstaben will ich heute abklopfen ……., nicht mehr als nur zwei Buchstaben: Aber solche, die es schwer haben und wirklich nicht in die Zeit passen.
Unsere Zeit war sich vor Kurzem noch sicher, sie sei eine Zeit „post“: „Postmodern“ nannte sie sich ja mit Vorliebe vor einem Vierteljahrhundert, denn der Postkommunismus war doch eingetreten und die westliche Welt dachte postnational und die glitzernden Möglichkeiten der Digitalisierung ließen postindustrielle Wirtschaftsmodelle ahnen und man stellte sich auf eine vielleicht sogar postmaterialistische Kultur ein, in der vieles virtuell und manches auch einfach überflüssig werden würde.
Der große Traum von all diesem befreienden Danach ist geplatzt. Übriggeblieben ist dabei eigentlich bloß eine posttraumatische Zeit, die viele Schocks und viel Vergiftung ihrer Vergangenheit erst jetzt bemerkt und von therapeutisch bis brachial auf jeden Fall loswerden will. Manches von diesem Abschütteln und Abtun der Vergangenheit(en) schmückt sich zwar noch mit der einst verheißungsvollen Vorsilbe – besonders der „Postkolonialismus“ und die post-patriarchale Welt der unzähligen Rollen-, Geschlechts- und Lebensentwürfe –, aber im Wesentlichen ist alles Alte und Gewesene so in Acht und Bann getan, dass man seiner kaum noch bewusst gedenkt, ihm nichts dankt und dieses alles – die Welt, aus der wir kommen, die Wurzeln, die uns tragen – schlicht mit Schweigen und von Jahr zu Jahr zunehmender Ignoranz dem Orkus überantwortet.
Wenn irgendetwas uns Heutige noch ausmacht, dann jedenfalls nicht das, was früher war – wir sehen uns nicht mehr als „post“! –, sondern etwas, das wir so tief abgestoßen, so vergraben haben, dass es völlig unter uns und unserer Würde ist: Wir sind weit darüber…. Wir sind also „meta“: „Willkommen im Metaversum.“ … Das ist die Welt, in der nichts wirklich Gewesenes mehr gilt und in der nichts als das Künstliche noch intelligent sein wird.
Wir spüren vielleicht, dass wir selbst dann also nur noch leer und unbefestigt sein können: Kein Woher, kein Wozu macht in der Welt über der wirklichen Geschichte und den menschlichen Grenzen dann ja noch den Menschen aus: Vielmehr wird er zur eindimensionalen Fläche, in der sich nichts ansammeln kann und nichts entsteht, weil sie bloß wie ein Bildschirm wiedergeben kann, was eine andere Instanz codiert und transmittiert. ——
Und da komme ich, … nein, da kommt dieser Tag, der auf einen kleinen Abendgottesdienst zusammengeschrumpft ist, mit den zwei Buchstaben daher, die ein ganzes provokantes Programm enthalten: Es handelt sich um die Vorsilbe, die den Ereignissen vor fünfhundert Jahren und den nach diesen Ereignissen benannten Kirchen ihre eigentliche Prägung gibt … auch wenn das kaum noch bedacht und noch seltener bejaht wird. Ich rede vom „R“ und vom „E“ – nicht als Bezeichnung der bummeligsten und reizlosesten Form der Fortbewegung, sondern als der klaren Absichtsvorgabe der wahrhaftig dynamischen Bewegung zur Wiederherstellung der Kirche vor fünfhundert Jahren.
Re-Formation sollte es sein: Eine Wieder-Formung, eine Wiederannäherung, eine Wiederherstellung, eine Wiederinstandsetzung der Kirche und ihres liturgischen und praktischen Lebens, ihres gemeinschaftlichen Ethos und v.a. ihres biblisch fundierten, christozentrischen und aus Herzens- und Gewissensfreiheit angenommenen Glaubens und Bekenntnisses.
Es sollte wieder gewollt und wieder gelebt, wieder verstanden und wieder gefeiert werden, was Gott in aller Frische und allem Ernst nicht nur einst, sondern immer zu sagen, zu verheißen, zu gebieten hat in Seinem Wort, das lebendig und scharf ist (vgl. Heb.4,12) und gnädig und menschennah (vgl.5.Mose 30,14), ja, das selber für uns Mensch geworden ist (vgl. Joh1,14). Und das Hören aufs Wort, das Hängen am Wort, das Trauen aufs teuerwerte Wort (vgl. 1.Tim1,15), das Festmachen daran, das Trotzen darauf und das Leben und Sterben in die Ewigkeit dieses Gotteswortes, dieses Jesus Christus hinein (vgl. Jes.40,8) … das sollte wieder tragender Grund und heilige Mitte, sakramentale Fülle und eschatologisches Ziel des Lebens der Kirche sein.
Die Idee, dass seit 1517 die Kirche andauernd beliebig anders gestaltet, ständig zeitgemäß, immer auf der nächsten Aufholjagd hinter Trend und Wahn her sein müsse, … dieses Zerrbild, dass mit Luther und Melanchthon, mit Bucer, Zwingli und Calvin ein unaufhaltsamer Neuerungsimperativ das Wesen des Protestantismus ausmache, ist ein fataler Irrtum.
Denn die zwei Buchstaben - „E“ und „R“ - funktionieren auch auf Deutsch: Eine ER-Neuerung ist nicht das Gleiche wie zwanghafte „Neuerungs“-Sucht. Er-Halten, Er-Holen, Er-Innern, Er-Klären und Er-Kennen bedeuten sämtlich eine Rückbeziehung, eine Re-Flektion. Sie haben alle mit der gemeinsamen Vorsilbe von Re-Formation und Re-Ligion zu tun: Rückbindung und Rückbesinnung sind es also, was wir heute feiern – nicht aus gewohnheitsseliger Nostalgie oder ewiggestrigem Traditionalismus, sondern weil niemand einen anderen Grund legen kann und darf, außer dem, der gelegt ist: Jesus Christus (1.Kor.3,11)!
Und damit sind wir nun wirklich am Grund, am Ursprung angekommen.
… Der uns heute ganz nah ist.
Es ist der heutige Predigttext, den wir bereits miteinander rezitiert haben, weil er kein bloßer Text, sondern eine Komposition ist – eine bewusst eindringliche Schöpfung fürs Gehör, fürs Gehirn und fürs Gefühl – … und das obendrein nach Art einer Deklaration, einer feierlich-öffentlichen Bekräftigung.
Dieser zu Sprache gewordene Akt, in dem sich eine Lebensgemeinschaft und deren Lebensform konstituieren, ist im doppelten Sinne Grund und Ursprung dessen, was wir heute feiern: Die Seligpreisungen sind seit mehr als einem Jahrtausend das Evangelium des Allerheiligentages, als dessen Vorabendfeier der Reformationstag historisch entstand und inhaltlich zu verstehen ist. Seit mehr als dreißig Generationen werden die Seligpreisungen also wirklich verstanden als Grund und Ursprung der „Gemeinschaft der Heiligen“, … der einen und ewigen Kirche, als deren lebendige Glieder hier und heute wir uns bekennen (vgl. Heidelberger Katechismus Fr.54 [EG S.1339]!).
Und zugleich sind die Seligpreisungen der unüberhörbar betonte und unvergesslich geformte Anfangsakkord der Botschaft Jesu im Neuen Testament, die biblische, die christologische Gründungsurkunde aller Jüngerschaft, allen evangeliumsgemäßen, allen evangelischen Lebens also.
Mit diesen drei mal drei Rufen der Ermutigung, des Zuspruchs, des Trostes, der klaren Maßstäbe, die in einem zehnten Jubelruf - dem Ruf des Himmelreiches - gipfeln, haben Jesus selbst und dann der Evangelist Matthäus und dann die Kirche, als sie das Neue Testament abschließend ordnete, eine ergreifende Parallele und bestärkende Echo-szene zum Ursprung des Volkes Israel und zu seinem Bund mit Gott geschaffen: Die Zehn Weisungen vom Sinai werden in ihrer prägnanten und universalen Gültigkeit ebenso prägnant und strahlend gespiegelt in den insgesamt zehn Lockrufen und Leitsätzen des nahegekommenen Himmelreiches, die auf dem Berg in Galiläa ergingen. ——
Wie aber ist die absichtliche und notwendige Parallele von Torah und Bergpredigt zu verstehen?
Die Zehn Worte der Heiligkeit, gegeben in Galiläa durch Christus, entsprechen den Zehn Worten der Gerechtigkeit, vermittelt durch Mose auf Sinai fundamental: Beide - Seligpreisungen und Dekalog - setzen von Gott her die Reflexe und Instinkte des Brutalismus und Egoismus außer Kraft, damit aber auch die Erfahrungen und Reaktionen der gottlosen, der widergöttlichen Menschennatur.
Das Menschentier ans sich will alles selber sehen, selber für sich sorgen, nach eigenem Gutdünken zum eigenen Nutzen handeln, es will sich selbst behaupten und verteidigen, es will seine eigenen Regeln und Ausnahmen davon bestimmen und es will nicht mehr oder weniger als das Eigene seiner Wünsche und Bedürfnisse durchsetzen.
Doch gegen die fixe Idee vom eigenen Urteil in Fragen von Gut und Böse stehen im Dekalog der heilige Name Gottes als Maßstab und in den Seligpreisungen die Reinheit des Herzens als Voraussetzung aller Erkenntnis.
Gegen die ängstliche Selbstsucht stehen der Segen der passiven Sabbatheiligung und die gepriesene Fähigkeit zum geistlichen Hunger nach der Gerechtigkeit Gottes.
Gegen die Beschränkung auf das Meinige heißt es am Sinai, dass uns der Neid seelisch mehr schadet, als materielle Güter uns je nützen können, und auf dem Berg hat der Herr die Menschen gerufen, sich selbst notfalls zu verlieren, wenn die Gerechtigkeit auf dem Spiel steht.
Gegen die Hybris der autonomen Gewalt steht auf den von Gott beschriebenen steinernen Tafeln die Einbindung jedes Menschen in eine väterliche und mütterliche Ordnung und die Lehre der Friedfertigen.
Gegen die Rache stehen das Tötungsverbot und die Seligpreisung der Opfer, die Leid tragen müssen und können.
Gegen die ungezügelte Ökonomie der Begierde und Befriedigung stehen der Schutz der Ehe und die Ethik der Barmherzigkeit.
Gegen die Schamlosigkeit der teuflischen Lügentendenz richtet sich das Verbot des falschen Zeugnisses und wirkt die Verheißung unserer Gemeinschaft mit dem Geschick der Propheten und aller anderen Wahrheitszeugen.
Gegen all unsere Verführbarkeit stärken das Bilderverbot und der Jubelruf über die unvorstellbare Erwartung des Himmelreichs, die wir uns nicht verdienen müssen, die uns aber auch niemand nehmen kann.
Gegen die menschliche Perversion, alles wie selbstverständlich bloß auf sich zu beziehen, richtet sich das Raubverbot und der Glückwunsch an die Sanftmütigen, die Demütigen, die sich nicht zwanghaft stets an erster oder zweiter Stelle wähnen, weil sie in gelassener Niedrigkeit die Nähe und Treue des wirklichen Segens erfahren.
Und allen Götzendienst – am Ich, an der Macht, an der Angst – macht das strahlende Erste Gebot überflüssig: Dass Er, der Lebendige unser Gott ist, Der Israel und allen Versklavten Freiheit eröffnet. … Wer braucht da noch die vielen, die fremden, die selbstgemachten Götzen oder die Selbstvergötzung? - „Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich“! ——
Das ist die Magna Charta, das Grundrecht, die Lebensordnung im Bund mit Gott, die am Sinai und in der Bergpredigt der Welt verkündet werden.
Dieses Gottesrecht, diese Heiligkeitsethik sind nun aber wahrhaftig weder unerfüllbar und abstrakt, noch Ausdruck einer übersteigerten, elitären Werkgerechtigkeit – wie ein höchst problematisches, geradezu verhängnisvolles Interpretationsmuster der Reformatoren es zu verstehen gab –, sondern sie sind lebensfördernd, ja lebensnotwendig!
… Das zeigt der Blick auf unsere Zeit schmerzhaft direkt:
Wenn wir die Gebote Gottes, wenn wir die in seiner Nachfolge uns aufgetragene heilige und heilende Gerechtigkeit der Königsherrschaft Jesu Christi nicht üben, dann vergeht die Kirche und mit ihr die Welt in den Kämpfen, in den sadistischen Strudeln der Sünde, die so urwüchsig und allgegenwärtig gerade einen Dammbruch nach dem andern anrichten und wie eine Sintflut aus Kriegen, Naturzerstörung, sozialer Triebtäterei und unkontrollierbaren Katastrophen unsere Gegenwart durcheinanderwirbeln.
Wir müssen und wir dürfen also wirklich wieder zurück … zurück, zurück zum Wort, zum Gebot und zur Verheißung Gottes!
Das ist die Re-Formation, die Wieder-Herstellung, die Er-Neuerung, die damals gewollt und heute geboten ist und die nie abgeschlossen, nie beendet sein wird.
Revitalisierung der Ethik aus dem Glauben, Reorientierung unseres gesamten Lebens, Rekonvaleszenz für die bedrohten Abwehrkräfte der Menschlichkeit, Rehabilitierung der Heiligung, Rekonstruktion des konturlosen Christentums, Resozialisierung im Zeitalter der individualistischen Atomisierung: Das ist das Wesen des Reformationstags, wenn wir ihn auf dem Grund der Lehre Christi und aus dem Heiligen Gründungsgeist seiner Bergpredigt für die, die ihm nachfolgen wollen, verstehen und begehen.
Und darum – weil wir diesen Bund vom Sinai, diesen Bund der Seligpreisungen erneuern und wieder bekräftigen dürfen und sollten – , schlage ich vor, dass wir an diesem Reformationstag die sinnvolle Sitte der Methodisten aufgreifen:
Deren Gründer, John Wesley sah vor, dass alle Getauften einmal im Jahr in feierlicher Gemeinschaft ihren Bund des Glaubens mit Gott neuerlich bestätigen, ihn reaffirmieren sollten.
…….
Wer von uns das als den Weg und die Sendung seines evangelischen Glaubens innerhalb der heiligen christlichen Kirche erkennt und sich dabei den überlieferten Worten der methodistischen Glaubenserneuerung[ii] anschließen kann, den bitte ich, mit mir am Fest unserer Rückbindung an Gottes Wort in Jesus Christus diese – mit Reflektion – zu sprechen:
Ich gehöre nicht mehr mir, sondern dir.
Stelle mich, wohin du willst.
Geselle mich, zu wem du willst.
Lass mich wirken, lass mich dulden.
Brauche mich für dich, oder stelle mich für dich beiseite.
Erhöhe mich für dich, erniedrige mich für dich.
Lass mich erfüllt sein, lass mich leer sein.
Lass mich alles haben, lass mich nichts haben.
In freier Entscheidung und von ganzem Herzen überlasse ich alles deinem Willen und Wohlgefallen.
Herrlicher und erhabener Gott,
Vater, Sohn und Heiliger Geist:
Du bist mein, und ich bin dein.
So soll es sein.
Bestätige im Himmel den Bund,
den ich jetzt auf Erden erneuert habe.
Amen.
[i] Die Überschrift vom „Bundeserneuerungsfest“ spielt auf eine in Deutschland seit dem 19.Jhdt. beliebte, aber nie endgültig belgebare Hypothese in der alttestamentlichen Wissenschaft an. Viele Forscher waren überzeugt, ganz unterschiedlichen alttestamentlichen Texten als sinnigsten und schlüssigsten Sitz im Leben ein „Bundeserneuerungsfest“ der altisraelitischen Kultusgemeinde zuordnen zu sollen … für das leider biblische Beweise fehlen. Dass die Hypothese einem echten menschlichen Bedürfnis und einer liturgischen Leerstelle entspricht, zeigen die unterschiedliche, aber fest etablierten und teilweise ehrwürdigen Riten, die es zumal in den Kirchen gibt, die feierliche Taufgedächtnisse, Jubiläen von Weihen, Ordinationen, Konfirmationen und andere Feste der Vergewisserung und Bekräftigung eines Bekenntnisses oder einer Beauftragung hervorgebracht hat. Eines davon wird im Laufe der Predigt noch zur Geltung kommen.
[ii] https://emk-gottesdienst.org/besondere-zeiten/2023/01/04/bundeserneuerung/
21.Sonntag n.Trinitatis, 29.10.2023, Stadtkirche, 1.Mose 13, 1 -1 2, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 21.n.Trin. - 29.X.2023
1.Mose 13, 1 - 12
Liebe Gemeinde!
Was steht uns noch bevor in diesem mörderischen 2023? In diesem Jahr, in dem Grauen auf Grauen folgt, …Grauen mit Grauen beantwortet wird. …
Was kommt noch? …
Nur zweierlei wissen wir gewiss: Der Jüngste Tag kommt bald, … und der Messias …….
Denn beides bringen uns die letzten Wochen dieses Jahres noch: Den Ewigkeitssonntag und das Weihnachtsfest.
… Und beide braucht die Welt so sehr: Das Gericht …, … das Heil.
Das Böse wütet; das Unheil ist beherrschend.
… Es ist keine Floskel mehr, kein Spiel mit staubigen alten Worten, wenn wir tatsächlich sagen müssen: Das Ende und die Erlösung sind unsre ganze Hoffnung.
Würde alles nur weiter so gehen - so sehr das Gewohnheitstier in uns sich das auch wünscht -, würde Grauen immer weiter auf Grauen folgen, wäre die Menschheit verloren.
Das ist älteste christliche Verkündigung. Es ist die täuferische Johannesstimme am Anfang des Neuen Testaments – „Tut Buße vor dem kommenden Zorn!“ (vgl. Matth.3) –, und es ist die prophetische Johannesstimme an seinem Schluss, in der Apokalypse: „Amen! Komm’, … komm’ doch endlich, Herr Jesus!“ (Offenb.22, 20)
Ohne den Richter, der da kommt, … ohne den Heiland, der da kommt, sind wir alle verloren.
Und nun sind sie uns beide so nah, … noch in diesem Jahr: Der Sonntag vom Endgericht und der Sonntag der Heiligen Nacht, in der der Erlöser kommen wird.
Aber wie lang sind diese vier, diese acht Wochen auch noch!
So lang wie die zwei, die dreieinhalb Jahrtausende seit wir warten. Seit die Kinder Abrahams warten auf den Messias; seit die Juden- und die Heidenchristen warten auf die Wiederkehr des Herrn, dessen Weltgericht in der Krippe anfing, am Kreuz vollstreckt wurde und an dem Tag bestätigt wird, wenn die einen nach links und die andern nach rechts gehen … je nachdem, ob sie einfach und ohne Einschränkung lieben konnten oder ob sie nur nach ihren eigenen, besonderen Vorstellungen vom Guten leben und lieben wollten (vgl. Matth.25). ——
Wir warten obwohl und wir warten, weil die Erde zittert … zittert vor Empörung über den Terror, zittert unter dem horrenden Beschuss der Gegenwehr….
Unter Abrahams Füßen zittert sie.
Die Erde zittert unter den Füßen Abrahams auf dem ersten seiner vielen Umwege zum Verheißenen, auf dem ersten der vielen Rückwege dieses Erzvaters und seiner unzähligen späteren Nachkommen aus dem Land Ägypten, … unter Abrahams Füßen in der Richtung des späteren Exodus zittert die Erde.
Der Weg führt ihn ja durch den Gaza-Streifen, den der Bericht in unserm Predigttext „das Südland“ nennt. Durch die unvorstellbaren Bilder der trost- und ausweglosen Not, die die Gefangenen und Eingekesselten erleiden.
Abraham – der Tag Jesu vorhersah und sich freute (vgl. Joh.8,56!) – … Abraham mag wohl auch die Tage von Gaza in 2023 vorhergesehen haben. … Und gezittert.
… Unter seinen Füßen mag er die Tunnel gespürt haben, in denen die Auslöschung seiner Kinder, der Kinder Israel geplant wurde wie einst am Wannsee in Berlin. Er mag die Beklemmung und Todesangst seiner Nachkommen aus den unterirdischen Gängen und Verstecken heraufsteigen gespürt haben: Der Geiseln der Hamas, die da seit drei Wochen im Reich des Todes Faustpfänder der Mörder sind.
Wer will es ausschließen, dass Abraham damals schon mit Segens- und mit Todesahnungen jenen Weg ging?
Wer will es ausschließen, dass er zitterte, weil er auch den Hass und die Gnadenlosigkeit spürte, die seinen anderen Nachkommen, denen von Ismael, den arabischen Opfern des Würgegriffs und der Tücke der Hamas zum Verhängnis werden würde?
Wer kann es ausschließen, dass er heute zittert, in der Herrlichkeit, … und in seinem Schoß zittert der arme Lazarus (vgl. Lk.16, 23) und alle, die dorthin gelangt sind, zittern mit …
Und Rahel weint um ihre Kinder (vgl. Jer. 31,15 / Matth.2,18) – deren Schicksal sie ja auch zu Lebzeiten nicht verfolgen konnte –, und Maria, die Tochter Zions und Trösterin im Leid aller Menschen zittert mit, wenn so viele Kinder, so viele Menschenkinder das Grauen erleben, das sie als fliehende Mutter und Zeugin von Golgatha in ihren Knochen, in ihrem Leib und ihrer Seele in Ewigkeit nicht abschütteln kann. …….
Zittern und Zagen wie in der Endzeit, … Zittern und Zagen wie heute …, Zittern und Zagen womöglich auch schon in der Frühzeit, als der Vater der Gläubigen, der Vater der unruhigen Suche nach dem verheißenen Erbteil der Ruhe, die noch vorhanden ist dem Volk Gottes (vgl. Hebr. 4,9 [+11,8ff]), aufbrach.
Auch auf dem weiteren Weg Abrahams hinauf zum Altar zwischen Bethel und Ai führt die Strecke durch Orte, die heute schrecklich sind:
… Wohl denkbar, dass auch da sein Schritt zögert und zittert, wo einst mehr als dreitausend Jahre später hunderte junge Leute nach einer heißen Nacht unbeschwerten Tanzes kalt massakriert wurden. Denkbar, dass Abraham stockte in der Gegend von Dörfern, wo man in diesem Monat des Jahres 2023 Eltern unter den irren Blicken der Kinder geschlachtet und geschändet hat und tapfere Friedensaktivisten verstümmelte und verschleppte; …. Denkbar, dass Abraham bebte in den Gebieten, in denen man Kleine, deren Urgroßeltern in Auschwitz vergast und verbrannt wurden, in ihren eigenen Kinderbettchen anzündete und ferne Familien durch einen Anruf, eine Nachricht in den sozialen Medien zu Augenzeugen in Echtzeit machte, wie die Großmutter in ihren eigenen vier Wänden gefoltert, gequält und bestialisch ermordet wurde.
… O, das Zittern Abrahams!
… O, die Angst, das Bangen Sarahs!
… O, die Schauder, die jedem kommen, der heute im Geist den Weg durch Gaza und die Wüste Negev nachvollzieht: Durch den am dichtesten besiedelten und grauenvoll ausweglosen Streifen des palästinensischen Leidens und durch die Kibbutzim, in denen die israelischen, die jüdischen, die biblisch-en Hoffnungsträume vom sicheren Überleben und von der Möglichkeit, die eigene Zukunft mit der Versöhnung mit anderen zu verbinden, blutrünstig durch die Hamas vernichtet werden sollten.
…. Zittern und Zagen vor dem Gericht. … Und vorm Heil. Die uns beide bevorstehen. ——
Aber vielleicht zittert Abraham auch gar nicht.
Vielleicht erkennt er bloß etwas auf dem Weg in die Zukunft. Erkennt etwas … nüchtern und enttäuscht vielleicht, aber auch realistisch. …
… Vielleicht erkennt er auch im Blick auf das Furchtbare, das sich leibhaftig vor unseren, nicht seinen Augen abspielt, realistisch nüchtern und gläubig enttäuscht schlicht das, was der biblische Bericht von den engzusammengehörigen Bluts- und Schicksalsverwandten Abram und Lot[i] ganz nüchtern festhält: „Das Land konnte es nicht ertragen, dass sie beieinander wohnten.“
Was für ein sonderbarer Weg in die Verheißung ist das: Ein Weg, der eben nicht glatt wie in der Legende und mühelos wie in der Phantasie verläuft, sondern an dessen Beginn schon Konflikt steht, … Konflikt, so wie Albert Schweitzer alles natürliche Dasein beschrieb und die Bibel auch die Geschichte des Glaubens, der Verheißung und des Heils: Was in dieser Welt existiert und seinen Ort sucht, seine Bestimmung, sein Ziel, das ist alles „Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“.
Wenn aber auch nur eine dieser Lebensäußerungen verneint wird, …. wenn einer der Lebenshirten der Herde des andern ihre grüne Aue, ihr frisches Wasser verwehrt, wenn nur einer aus der einen Herde Mangel für die Herde des anderen Hirten herbeiführt, dann ist die Stunde des Richtens gekommen, … die Stunde, in der die Richtungen sich ändern müssen.
Denn das ist das Gericht: Dass Wege, die unversöhnlich sind, auseinandergehen und Bahnen klar getrennt werden, die sich im parallelen Verlauf nur gegenseitig Hindernisse bereiten. …
Im Fall von Abram und Lot – der beiden ersten Siedler, die auf Gottes Geheiß hin in das durchaus bewohnte, durchaus konfliktträchtige Land der Kanaaniter und Perisiter zogen – ist dieses ernüchternde, dieses menschlich enttäuschende, aber auch lebenskluge Gericht zum ersten Mal vollzogen worden: Richtungen, die sich nicht vereinbaren lassen, müssen so gelenkt werden, dass sie einen Abstand voneinander gewinnen, der ihrem jeweiligen Verlauf Freiheit gewährt.
Trennung, Scheidung, Teilung sind also Zugeständnisse an das, was die Reformatoren den „alten Adam“, den in der unerlösten Welt vorfindlichen Menschen nannten, der von Natur aus nicht – wie wir’s im Evangelium hörten (vgl. Matth.5,38ff) – die linke Wange darbieten kann und wird, wenn er auf die rechte schon geschlagen wurde.
Nun leben wir in Tagen, in denen die schreckliche Not dieses alten, dieses realen Adam vor aller Augen steht: Zeiten, in denen das passive Erdulden und wehrlose Hinnehmen von Unrecht und Gewalt Dritten nicht gepredigt werden kann, ohne dass die Predigenden, die nicht zur Praxis ihrer eigenen Predigt gezwungen werden, sich schuldig machten. … 2023 ist wahrhaftig kein Jahr der Bergpredigt, sondern ein Jahr des Gerichtes. ———
Nun ist aber also der erste Landkonflikt der Bibel, das erste Gericht über Wege und Ziele, die unvereinbar sind, durch und durch von der großen menschlichen Nüchternheit geprägt, die Abraham nach seiner Wanderung nordwärts durch den Gazastreifen überkam: Wenn denn das Land das Zusammenwohnen nicht verträgt, weil die Menschen es nicht vertragen, dann hilft’s nur, dass sich die Wege teilen – zur Linken der eine, der andere zur Rechten.
Diese Realpolitik aber setzt voraus, dass es eine Wahl zwischen rechts und links gibt (vgl. Jona 4,11). Da Israel indes keine Wahl hat, zu verschwinden und seine Zelte jenseits des Horizontes aufzuschlagen - weil die Welt ihm mehr als zweitausend Jahre lang bewiesen hat, dass es nirgends sonst Schutz und Heimat finden kann –, müssen wir die großmütige und zugleich gelassen-resignative Geste Abrahams bei der Weideteilung mit seinem Neffen Lot ohne Zweifel heute als einen Wink verstehen, dass sich - realpolitisch gesprochen - schon in der Weisheit der stocknüchternen Erzvätergeschichte so etwas wie der Segen einer Zwei-Staaten-Lösung andeutet.
Der angesichts der Greuel von Gaza zitternde Abraham steht uns daher nun als der seufzende Vater einer verzichtbereiten, einer nachgebenden und sich begnügenden Verheißungstreue vor Augen: Er wird das Verheißene nicht durch seinen festgehaltenen Anspruch darauf, sondern durch seine heilige Haltung des Hergebens erlangen.
Möge dieser Geist des Vaters heute nicht das durch tödliche Bedrohung herausgeforderte Volk seiner Kinder verlassen! ——
Mehr als so zu beten – mit letztem Ernst, mit dem Ernst der letzten Zeit! –, können wir in diesen Tagen für Israel, das Volk der Verheißung nicht tun. ——
Uns bleibt nun aber nur noch Eines in unserm Warten auf das große heilbringende Richten und das richtige Heilen der Welt.
Als Abraham zwischen Bethel und Ai stand und Lot zur Linken oder zur Rechten wählen ließ, streifte sein Blick auch die Bergzüge südlich seines Standortes. Dort auf dem Gebirge lag vor ihm die Stadt Salem, deren geheimnisvollen Priester Melchisedek Abraham bald kennen lernen würde, als der ihn mit Brot und Wein und Segen versah (vgl. 1.Mose14,18f).
Und dorthin – in die Stadt von Brot und Wein, in der einst der Sohn Abrahams (vgl. Mtth.1,1) für mich und für Dich gekreuzigt wurde, der in der Bergpredigt den Gewalt- und Besitz- und Rechtsverzicht des Urvaters Israels uns bis zur Feindesliebe aufgetragen hat, wie er sie für die ganze Menschheit übte – … dorthin, nach Salem, nach Jerusalem müssen wir jetzt noch blicken!
Denn da entscheidet sich unser Rechts oder Links.
Die Kinder Abrahams erwarten ja alle das Gericht und die Vollendung: Juden wie Christen, … aber auch die Muslime.
Nun sind die Kinder der Verheißung, Abrahams Nachkommen durch Isaak und Jakob - das jüdische Volk - und die Kinder Abrahams durch Ismael - muslimische und christliche Araber - in einem grauenvollen Albtraum verstrickt.
Und was können wir da jetzt tun?
Wie können wir rechts oder links wählen?
- Unmöglich können wir Israel, das mit fürchterlicher Gewalt ums nackte Überleben kämpft, verurteilen oder verlassen.
- Unmöglich aber auch, dass wir die, die begeistert den Mord an so vielen Unschuldigen in Israel feierten und die nun selber zu Opfern der grausamen Reaktion auf die grausame Aktion werden, vergessen oder verleugnen.
Wir können die Liebe zu Israel und das Mitleid mit den Menschen von Gaza also nicht in einer Alternative fassen!
Wir können unter den Augen Abrahams – des Zitterenden und Enttäuschten, des Mitleidenden und Opfernden – nur nach Jerusalem schauen, wo Der liebte und litt, wo Der starb und auferweckt wurde, Der von Jerusalem aus zu Gott zurückkehrte, um einst zu dieser Welt zurückzukehren und allen Völkern der Erde endlich den Frieden zu bringen.
Wie am Anfang des Evangeliums können wir mit Simeon und Hanna nur auf den Trost Israels (vgl. Lk.2,25) und die Erlösung Jerusalems (vgl. Lk.2,38) warten, und wie am Schluß des Evangeliums (vgl. Lk.24,53) können wir Dem, Der allein Richter und Heiland sein wird, nur nach- und also Seiner Zukunft entgegenschauen und dann „mit großer Freude nach Jerusalem zurückkehren“.
Nicht rechts oder links, sondern die Verheißung wählen wir: Dass seit grauer Vorzeit dort im Gebirge Juda eine Stadt liegt - und auch im Himmel ist (vgl. Offb. 21!) - , die „Frieden“ heißt und ist, und in der man zusammenkommen soll (vgl. Ps.122,3), weil der HERR in ihr ist (vgl.Ps.46,6)!
Amen.
[i] Die im biblischen Text an dieser Stelle noch defektive Schreibweise des Namens ist im Gesamt der Predigt überwiegend zugunsten der vertrauten Langform (die dann ja „Vater der Barmherzigkeit“ und nicht mehr „erhabener Vater“ bedeutet) zurückgestellt worden: An dieser Stelle aber geht es sozusagen um den „historischen“ Ursprung der Überlieferung, weshalb hier die textgemäße Namensform Verwendung findet.
20.S.n.Tr., 22.10.2023, Predigtmeditationen "Mystikerinnen", Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
"Mystikerinnen in Vergangenheit und Gegenwart – Ermutigung und Inspiration für uns heute“
Meditation Teil 1
Liebe Schwestern und Brüder, gestern haben wir hier den Mirjamsonntag nachgefeiert – mit Begegnung, Austausch und einem Gottesdienst. Das Thema in diesem Jahr lautete „Visionärinnen gestern und heute“.
Ein spannendes, wenn auch nicht leichtes Thema, dem wir uns in unserem ökumenischen Weltgebetstagsteam gestellt haben. Visionärinnen, Frauen mit Visionen, Frauen, die Visionen haben. Allein schon das Wort „Vision“ löst bei manchen Unbehagen aus. Helmut Schmidt, der nüchtern-pragmatische Hanseat, empfahl Menschen mit Visionen den Aufenthalt in der Psychiatrie. Vielleicht lag das auch an seinen protestantischen Genen. Gerade in den Kirchen der Reformation tut man sich bis heute schwer mit Visionärinnen und Visionären und verortet sie lieber in der katholischen Kirche: wie Hildegard von Bingen, Theresa von Avila, Mechthild von Magdeburg.
Dabei gibt es in der Bibel gar nicht wenige Erzählungen, Berichte von Visionen; allerdings sind es dort Männer, die Visionen haben, die Propheten wie Jesaja, Hesekiel und Daniel in der hebräischen Bibel und die Apostel Paulus und Petrus und der Seher Johannes in der griechischen Bibel. Sie schauen Dinge, die das physische Auge gar nicht sehen kann.
Sie haben weder Cannabis konsumiert, noch sind sie auf einem LSD-Trip oder haben zu tief ins Glas geschaut. Auslöser ihrer Visionen ist vielmehr der Geist Gottes, der Ruach Elohim. Petrus zitiert den Propheten Joel, um das Geschehen am Pfingsttag den irritierten Jerusalemer Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln, und der Apostel Paulus beschreibt das Wirken des Geistes in seinem Brief an die Korinther.
Hören wir die Lesungen aus Joel und dem 1.Korintherbrief: Lesung Joel 3,1-3a und 1.Kor.12,6-11
Schola „Schaue hindurch“
1.Schaue hindurch, was immer du siehst,
schaue hindurch mit deinem Herzensauge.
2.Lausche hindurch, was immer du hörst,
lausche hindurch mit deinem Herzensohr.
Meditation Teil 2
Hindurchschauen und hindurch hören, mit dem Herzensauge und dem Herzensohr wahrnehmen, was uns begegnet. Was der Geist uns schauen lässt, lässt sich nicht digitalisiert festhalten. Es geht vielmehr um die „Festplatte“ unseres Herzens. In ihm soll gespeichert und weiterverarbeitet werden, was wahrgenommen wurde.
Menschen, die vom Geist Gottes berührt werden, sich haben berühren lassen, das sind die Mystikerinnen und Mystiker. Sie sind Menschen, die nicht einfach etwas über Gott gelernt haben, sondern sie haben Gott erfahren, haben mit ihm eine Erfahrung gemacht, haben ihn erlebt – als Kraft und Wirklichkeit, die sie auf ganz unterschiedliche Weise berührt und inspiriert hat. Prophetinnen und Propheten sind alle Mystikerinnen und Mystiker. Sie sagen nicht die Zukunft voraus, sondern sie schauen und hören hindurch, der Geist Gottes macht sie hellsichtig für die Konsequenzen, die sich aus dem gegenwärtigen Tun und Lassen ergeben.
Visionärinnen und Visionäre sind keine Spinnerinnen und Phantasten, sondern ihnen leuchten Bilder auf, die Hoffnung vermitteln wollen. Die ermutigen wollen, sich den Herausforderungen der Zeit zu stellen, Widerstand zu leisten, wo es um des Lebens willen nötig ist und keine Schwierigkeiten zu scheuen. Die ermutigen wollen, umzukehren, einen besseren Weg einzuschlagen, einen Weg, der dem Lebenswillen Gottes für seine ganze Schöpfung entspricht. Dabei sind sie selbstverständlich an die Vorstellungswelten ihrer Zeit gebunden. Die klassischen Fortbewegungsmittel der biblischen Zeiten waren Pferd und Wagen – und so sieht ein Hesekiel Gottes Thronwagen aus Jerusalem fortrollen und dem Seher Johannes erscheinen Reiter mit Schwertern und Lanzen.
Was allen Mystikerinnen und Mystikern durch die Zeiten gemeinsam ist: sie sind Menschen, die nicht nur mit beiden Beinen auf der Erde stehen, sie sind nicht nur Kinder der Erde, sondern auch Kinder Gottes. Sie haben einen Draht nach oben. Sie wissen: das Leben ist oft schwer, er verlangt einem oft viel ab. Erschöpfung droht. Wie gut, dass man da seinen seelischen Akku immer wieder aufladen kann – an der Quelle des Lebens, die Gott ist; dass man sich ausruhen kann - in Gottes Liebe.
Schola „Höre den Herzschlag des Himmels“
„Höre den Herzschlag des Himmels klingen in deinem Herzen. Spüre den Herzschlag der Erde pochen in deinem Sein.“
Meditation Teil 3
Es sind gerade Frauen gewesen, die im Mittelalter eigene lebendige Erfahrungen mit Gott gemacht haben. Ihr Glaube war nicht darauf beschränkt, die von der Kirche verkündeten Dogmen und Lehren nachzusprechen. Sie fielen in mancherlei Hinsicht aus der Rolle, die Frauen damals zugewiesen war: sie schwiegen nicht, sondern ergriffen das Wort, sie beugten sich nicht unter die Vorherrschaft des Mannes, sondern sie bewegten sich frei und aufrecht auf ihren eigenen Wegen. Dazu brauchte es damals sehr viel Mut. In vielen Ländern und Regionen braucht es das heute leider immer noch.
Ich denke, es war die Sehnsucht nach einem selbständigen, eigenverantwortlichen Leben, die diese Frauen dazu brachte, in sich hineinzuhören und sie ermutigte, sich von Gott im Innern berühren zu lassen. Mehr auf ihn zu hören als auf die Reden der Kirchenmänner ihrer Zeit. Und Mut brauchten sie dazu, denn die offizielle Kirche witterte überall den Angriff teuflischer Mächte. Die Inquisition war immer auf dem Sprung, gerade wenn Frauen es wagten, ihre Stimme in Sachen Glauben zu erheben. Wer von seinen visionären Erlebnissen erzählte oder gar deutlich machte, was in der Kirche nicht dem Willen Gottes entsprach, der stand immer schon mit einem Bein auf dem Scheiterhaufen. Männer und vor allen Dingen auch Frauen. Vor allen Dingen Frauen aus dem Kreis der Beginen, jener mittelalterlichen Lebensform, wo Frauen in Gemeinschaften zusammenlebten und -arbeiteten ohne männlichen Vormund – unverheiratet und auch nicht unter einer geistlichen männlichen Vormundschaft, wie es damals Nonnen in ihren Ordensgemeinschaften waren.
Mutig und konfliktbereit mussten Mystikerinnen immer sein, ob Begine, Ordensfrau oder Witwen aus dem Adel; genannt seien Clara von Assisi, Hildegard von Bingen, Elisabeth von Thüringen, Birgitta von Schweden, Mechthild von Magdeburg, Juliane von Norwich. Alle machten sie Erfahrungen mit Gott, erlebten seine Nähe, die ihnen Kraft und Mut gab, ihren ganz eigenen Lebensweg zu gehen, mit Konventionen zu brechen, prophetisch-kritisch die Stimme zu erheben und in neuer, bis dahin unerhörter Weise von Gott zu sprechen – auch da nicht losgelöst von den Sprachbildern ihrer Zeit.
Das Mittelalter war die Zeit der Troubadoure, der Minnesänger, die nicht nur mit ihren Liedern das höfische Leben prägten, sondern über die Bänkelsänger auch die Landbevölkerung. Die Troubadoure besangen die Liebe zu einer schönen Dame, eine Liebe, die unerfüllbar blieb.
Die Mystikerinnen, allen voran Mechthild von Magdeburg, besangen in ihren Dichtungen die Liebe zwischen Gott und der Seele, oder zwischen Jesus und der Seele. Eine Liebe, die sich für die Mystikerinnen erfüllte. In seiner Liebe, das war ihre Erkenntnis, ist Gott der nahe, seine Sehnsucht nach dem Menschen ist genauso groß wie die Sehnsucht des Menschen nach ihm.
Es ist interessant, dass in späteren Jahrhunderten Männer, Mystiker die Gedanken und Sprachbilder der Gottesminne aufnahmen und an die Überlegungen der mittelalterlichen Mystikerinnen anknüpften. Zum Beispiel Johann Scheffler, geb. 1624 in Breslau, der 1653 zur katholischen Kirche übertrat und unter dem Namen Angelus Silesius großen Einfluss auf die Lyrik und christliche Mystik im 17.Jahrhundert hatte. Dass wahre Mystik konfessionell nicht gebunden ist, das zeigt sich an einem seiner bedeutendsten Lieder, welches in unserem Gesangbuch unter der Nummer 400 zu finden ist und dessen 7.Strophe uns hier immer vor Augen ist – Gottesminne pur: „Ich will dich lieben, meine Krone, ich will dich lieben, meinen Gott, ich will dich lieben sonder Lohne auch in der allergrößten Not; ich will dich lieben, schönstes Licht, bis mir das Herze bricht.“
Neu von Gott gesprochen, das hat auch Juliane von Norwich, deren Texte Jean Janzen in dem Lied „Mothering God“ verarbeitet hat und das die Schola nun zum Klingen bringt.
Schola „Mothering God“
1.Gott, du bist wie eine Mutter.
Du hast mich geboren ins Licht der Welt.
Jedem Geschöpf gibst du den Atem.
Du bist mein Regen, mein Wind, meine Sonne.
2.Christus, du bist wie eine Mutter; du bist mir ähnlich.
Du nährst mich mit deinem Licht.
Du Brot des Lebens, du Saft und Kraft für meine Liebe.
Du gibst alles für meinen Frieden.
3.Heilige Geistkraft, du Mutter, du kümmerst dich um mich.
Du hältst mich fest in deinen Armen,
dass ich im Glauben Wurzeln schlage und wachse,
blühe und Gewissheit habe.
(Text: Jean Janzen, nach Texten der Juliane von Norwich 1343 – 1416)
Meditation Teil 4
Um Gottes Liebe und Zuwendung geht es den Mystikerinnen, um die Erfahrung seiner Nähe – und damit auch um die Erfahrung von Verbundensein und Einssein: Du in mir und ich in dir. So hat es auch Gerhard Tersteegen in seinem Lied „Gott ist gegenwärtig“ formuliert. Lukas lässt in seiner Apostelgeschichte den Apostel Paulus auf dem Areopag in Athen diesen zutiefst mystischen Satz sagen: „In ihm leben, weben und sind wir.“ Ein Satz übrigens, der auf einen nichtchristlicher Mystiker zurückgeht. Wahre Mystik ist auch nicht religionsgebunden. Der Geist Gottes weht nämlich, wo er will, nicht nur in christlichen Kontexten. Er sucht und fördert die Verbindung und das Einssein und Einswerden alles Geschaffenen mit seinem Schöpfer. Er sucht auch heute noch Menschen, die offen sind für ihn, die sich berühren lassen – in ihren Herzen, in ihrer Seele. Die bereit sind, von innen her ihr ganzes Leben neu auszurichten.
Ein Weg, berührbarer zu werden, ist, mit offenen Augen und Ohren die Schöpfung wahrzunehmen, sich für diese Begegnung Zeit und Ruhe zu nehmen (ohne Handy in der Hand, ohne Lautsprecherknöpfe in den Ohren). Einfach allein zu sein mit Gott in seiner Schöpfung, die nichts anderes als seine erste Offenbarung ist, seine erste Anrede an uns.
Ein beredtes und berührendes Zeugnis von solch mystischer Erfahrung findet sich in der Autobiographie der weltbekannten Verhaltensforscherin Jane Goodall, die eine der Visionärinnen war, mit der wir uns gestern beschäftigt haben.
Hören wir, was sie erlebt hat.
Es muss eine Stunde gedauert haben, bis das Zentrum des Gewitters nach Süden abzog und der Regen endlich nachließ. Um halb fünf kamen die Schimpansen herabgeklettert, und wir wanderten durch das triefnasse, tropfende Grün zum Berghang zurück. … Ich postierte mich an einer Stelle, von der aus ich zuschauen konnte, wie sie ihre letzte Tagesmahlzeit genossen. Der See unten in der Tiefe war noch immer dunkel und aufgewühlt, und da, wo sich die Wellen brachen, trug er weiße Schaumkronen; schwarze Regenwolken hingen im Süden. Gegen Norden war der Himmel schon klar, und nur ein paar graue Wolkenfetzen waren noch zu sehen. Der Anblick war atemberaubend schön. …In ehrfürchtiges Staunen über die Schönheit um mich herum versunken, muss ich in einen gesteigerten Bewusstseinszustand geraten sein. Es ist schwer – wenn nicht gar unmöglich - , den Augenblick der Wahrheit, den ich plötzlich erlebte, mit Worten zu beschreiben. Selbst die Mystiker finden keine Worte für die kurzen Momente spiritueller Verzückung. So kam es mir vor, als ich mir hinterher das Erlebnis noch einmal zu vergegenwärtigen versuchte: Mein Ich war nicht mehr da; die Schimpansen und ich, Erde, Bäume und Himmel schienen miteinander zu verschmelzen und eins zu werden mit der geistigen Kraft des Lebens selbst. Die Luft war erfüllt von einer Symphonie von Vogelstimmen, vom Abendgesang der gefiederten Schar. Ich nahm neue Klänge in ihrer Musik wahr. … Noch nie waren mir Form und Farbe der einzelnen Blätter so intensiv bewusst geworden. … Auch die Düfte waren deutlich zu unterscheiden: gärende, überreife Früchte; wasserdurchtränkte Erde … Der aromatische Duft junger zerdrückter Blätter war fast überwältigend stark. … Mir waren keine Engel erschienen oder andere himmlische Wesen, wie sie die Visionen großer Mystiker auszeichnen, aber dennoch glaube ich, dass es sich um eine wahre mystische Erfahrung gehandelt hat. …
Später, als ich an meinem kleinen Feuer saß und mir eine Mahlzeit zubereitete, war ich immer noch von Staunen über mein Erlebnis erfüllt. Ja, dachte ich, es gibt viele Fenster, durch die wir Menschen auf unserer Suche nach einem Sinn in der Welt hinausblicken können. Die Fenster, die die westliche Wissenschaft aufgeschlagen hat und deren Scheiben von einer Abfolge brillanter Köpfe blank geputzt worden sind. … Durch ein solches wissenschaftliches Fenster hatte ich gelernt, die Schimpansen zu beobachten. Über 25 Jahre lang habe ich mich bemüht, mir durch sorgfältige Aufzeichnungen und kritische Analysen Stück für Stück ein Bild ihres komplexen Sozialverhaltens zu machen und ihre Denkweise zu verstehen. … Aber es gibt noch andere Fenster, durch die wir Menschen unsere Umwelt betrachten können, Fenster, hinter denen die Mystiker und Heiligen des Ostens und die Begründer der großen Weltreligionen nach dem Sinn und Zweck unseres Erdenlebens suchten, in dieser Welt voll wundersamer Schönheit, voll Dunkelheit und Hässlichkeit. Diese Meister gaben sich der Kontemplation über die Wahrheit hin, die sie nicht nur mit ihrem Geist erfassten, sondern auch mit Herz und Seele. … An jenem Nachmittag war es so gewesen, als hätte eine unsichtbare Hand einen Vorhang beiseite gezogen, so dass ich für den Bruchteil eines Augenblicks durch ein solches Fenster schauen konnte. Durch einen blitzartigen „Ausblick“ hatte ich Zeitlosigkeit und stille Verzückung kennengelernt und eine Wahrheit gespürt, von der die akademische Wissenschaft nur ein winziger Splitter ist. Und ich wusste, dass mir diese Offenbarung mein Leben lang im tiefsten Innern erhalten bleiben würde, auch wenn ich sie nur unvollkommen in Erinnerung behielt, eine Kraftquelle, aus der ich schöpfen konnte, wenn das Leben mir einmal hart, grausam und ausweglos erschien.
Aus: Jane Goodall, Grund unserer Hoffnung. Autobiographie; 1999; S.222-226 i.A.
Jane Goodall ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass alle mystischen Erfahrungen und Gottesbegegnungen nicht Selbstzweck sind, sondern als Geschenk und Gabe begriffen und ergriffen werden wollen, die uns beauftragen, in die Welt hinein tätig zu werden, Nöte nicht nur zu sehen, sondern zu wenden und mit am Reich Gottes zu bauen und zu arbeiten – ohne Scheu, geduldig, gelassen und unbeirrt.
Amen.
16.So.n.Trin., 24.09.2023, Stadtkirche, Hebräer 10, 35f..39, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 16.n.Trin. - 24.IX.2023
Hebräer 10, 35 -39
Liebe Gemeinde!
Wer eine kräftige Holzkiste hat – so ’ne derbe alte Box fürs Schuhputzzeug, vielleicht auch eine schwere Kiste, in der man mit Stroh dazwischen, wie früher, ein Dutzend Flaschen Burgunder- oder Moselwein transportieren kann –, … wer also so ein richtiges Podest für den Einsatz direkt hinter Marbel Arch, in Speaker’s corner hat, der soll es nutzen: Draufsteigen, sich sammeln und räuspern oder einfach drauflos wettern. Mal ungefiltert vom Leder zieh’n! … Klartext, keine Schnörkel; Schnabel wie gewachsen, ohne Blatt vorm Mund: Das wäre dann gebetet! … Gott einmal die Meinung geigen. Alles ungeschminkt rauslassen. Sich keinen Zwang antun, weder für klug gelten wollen, noch das Missverstanden-Werden fürchten. … Das wäre Beten! Die ganze Liste der Fragen, den Frust, das Brennende und das eigentlich Unaussprechliche ausspucken, … keinen Besinnungsaufsatz verfassen, kein künstliches Gesumms und Geseier, sondern einfach ins Unreine gesprochene Unmittelbarkeit: Das hieße Gebet!
Schonungslose Direktheit.
… Bei John Henry Newman, dem anglikanischen Pfarrer, der zum verschrobensten und doch auch modernsten katholischen Kardinal wurde, den England je gehabt hat, ist diese Möglichkeit eines unmittelbaren, offenen Austauschs in seinem Wahlspruch immerhin dezent angedeutet: „cor ad cor loquitur“. „Das Herz spricht zum Herzen“: So erfuhr Newman die existentielle Kommunikation zwischen den Glaubenden und Gott. Eine ähnliche Gesprächsnähe bei Mose klingt noch deutlich handfester: „Der HERR aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet“ (2.Mose33,11). Und bei Hiob gar, da nimmt der Redewechsel zwischen Gott und Mensch schlicht die Form eines Boxkampfes an: „Siehe, ich bin zum Rechtsstreit gerüstet; … rufe, dann will ich dir antworten, oder ich will reden, dann antworte du mir!“ (Hiob13,18+22)
Rückhaltlose, hierarchiefreie Aussprache also. Was ein wenig wie der Seminarbetrieb der 60er Jahre anmutet, ist in Wirklichkeit ein Fundament, auf dem wir stehen … und mit dem wir gerade große Teile unserer Welt untergehen sehen.
In der griechischen Antike hieß diese Offenheit fürs Wort und im Wort: „Parrhesie“[i] – „Das Wort für alle; das Reden über alles“. In der athenischen Demokratie bedeutete die „Parrhesie“ das Recht jedes Vollbürgers auf Wortmeldung und Meinungsäußerung in der Ekklesia, der politischen Versammlung; in der Rhetorik bezeichnete „Parrhesie“ das Stilmittel der Offenherzigkeit und gewagten Zuspitzung; in der Komödie erlaubte sie die Schonungslosigkeit; in der Philosophie der Stoiker führte die „Parrhesie“ zur seelischen Schmerzlosigkeit durch Gewöhnung an unverblümte Kritik. Das Sprechen über alles, das allgemeine Recht aufs Wort ist also ein Grundpfeiler jener Freiheit – jener Rede- und Denk-, jener Gewissens- und politischen Freiheit, auf der das Abendland beruht.
Und dass es im Hyde Park in Speaker’s corner immer weniger kleine Trittleitern mit großen Oratoren gibt, ist kein Gewinn für eine Welt, in der die Wahrheit schwindet und mit ihr die Freiheit, weil das Lügen so wohlfeil geworden ist, seit man den Anderen beim Reden nicht mehr ins Gesicht blicken muss.
Trolle in ihren Fabriken, Hassende in ihrem Netz, Faktengaukler in ihren parallelen Universen können zwar alles Mögliche und Unmögliche behaupten, aber die „Parrhesie“ – die Rede, die es mit dem freien Fragen und Wagen und dem ehrlichen Sagen und Ertragen der Wahrheit vor dem offenen Forum aller versucht – … die „Parrhesie“ schmilzt wie die Polkappen dahin, während Fluten von trüber, fauler, verderbnisträchtiger Wortbrühe anschwellen und es immer unmöglicher werden lassen, dass das Herz zum Herzen, dass Menschen miteinander und mit Gott offen, unverstellt und ungeschützt reden können. ———
…. Hat er sich nicht im Predigttext vertan?, werden Sie sich inzwischen fragen. … Wie kommen wir auf die Redefreiheit, wenn es sich doch nach dem Gehörten aus dem Hebräerbrief um geduldige Zuversicht handeln müsste?
Das liegt daran, dass im Griechischen des Neuen Testaments der grundlegende und gewaltig produktive παρρησία-Begriff eine weitere, entscheidende Wandlung durchlaufen hat: Immer wieder hören wir, dass Jesus und nach ihm die Apostel öffentlich in „παρρησία“ sprechen, lehren, predigen (vgl. z.B. Mark.8,32; Joh.11,14 [im Evangelium dieses Sonntags!]; Apg.2,29; 4,13 u.ö.). Sie kennen keine Menschenfurcht, sondern ergreifen freimütig vor allen Hörenden das Wort; sie nehmen sich das Recht - und haben es! -, alles zu sagen, was zu sagen ist. Und in dieser angstfreien, öffentlichen, ungeschützten Vollmacht zur Botschaft und zum Gehört-Werden sind sie sie selber, wachsen sie über sich selbst hinaus und erfahren und bezeugen sie die reine Verbundenheit, die völlige Vereinigung mit Gott.
Aus diesem Grund – weil sie frei sind für das und frei werden durch das Wort – nimmt der politische Kommunikations-Begriff der παρρησία im Neuen Testament bei Jesus, dem Logos und bei seinen Aposteln die Bedeutung des vollkommensten „Vertrauens“ in sich auf: Wer in der Freiheit zum Wort der Wahrheit lebt, lebt in wahrhaftiger Freiheit, selbst da, wo Zwang und Lüge sich immer noch breitmachen.
Christen sind Reich-Gottes-Leute durch die Gabe, ja durch das Recht der „Parrhesie“: Sie können und sollen in allen Dingen und vor aller Welt mit Gott kommunizieren, Ihn beim Wort nehmen, Ihn ins Gespräch bringen, Ihn klipp und klar wissen lassen, was sie bewegt, ihr Herz vor Ihm ausschütten und darauf zählen, dass ihre Stimme Gehör findet, dass sie mitreden dürfen in Seiner heiligen Sache der Bewahrung, der Erlösung, der Heilung der Welt.
Und darum schreibt der Apostel im Hebräerbrief eben wörtlich von der „παρρησία“, dass wir sie nicht schleifen lassen und vernachlässigen, dass wir sie nicht geringschätzen oder aufgeben sollen. Kloppt eure Redefreiheit, euer Recht auf Mitsprache, euer garantiertes Ernstgenommen-Werden nicht einfach in die Tonne, sondern mischt weiter mit, … bleibt weiter an Gott, der Euch Rede und Antwort stehen wird, … verstummt und verbittert nicht, sondern haltet an am Gebet, … seid beharrlich und hofft und lasst nicht locker, … verschafft der christlichen Stimme des Gewissens und der Versöhnung hartnäckig und freimütig immer weiter Gehör in irdischen und himmlischen Ohren! ——
Das war schon am Anfang der Christenheit erkennbar mühsam und ist es heute wieder.
Wie viele mögen damals aufgegeben haben, – … wie viele tun es heute!
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, eine Sprache zu sprechen, die der Welt fremd ist.
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, eine Sache zu verteidigen, die wenig gilt.
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, Einen zum Hören zu bringen, Den man nicht sieht.
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, die Liebe, den Frieden, den Himmel zu predigen, wenn der Mensch doch die Hölle, den Krieg und den Hass viel klarer wählt und also auch will.
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, den einen Gekreuzigten, der lebt, den vielen Sterblichen vorzuordnen, die noch kreuzigen können.
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, festzuhalten in Bekenntnis und Erwartung an etwas, das erkennbar nicht da ist und das auch nicht unmittelbar verspricht zu erscheinen.
Das alles haben Menschen stets empfunden. Mal peinigend als Anfechtung. Mal achselzuckend als entleerte, bedeutungslose Überreste vergangener Wahrheiten. ………… ——
Was es aber für eine Verheißung hat, was für einen Sinn, … welche Horizonte sich öffnen und welche herrlichen Überraschungen sich zeigen werden, wo man nicht einfach aufhört, von Gott zu reden und Seinen Willen zu tun und auf Sein Reich zu warten, das alles geht verloren, es versickert einfach, wenn die Christen verstummen und ihr Vertrauen, ihr freimütiges Verlangen, ihr unverblümtes wirklich Wissen-, Sehen- und Erleben-Wollen, dass Gott Wort hält, nicht mehr hören lassen.
So wahr Gott also doch hört, sollen auch wir von uns hören lassen!
Gott wirkt ja nur taub, wenn wir vor Ihm stumm werden und Ihn verschweigen.
Wenn wir unsere Erinnerungen an Ihn nicht äußern - auch als Mahnung! - , wenn von unserer Hoffnung auf Ihn nichts mehr verlautet - und sei es als Klage! -, dann hat die Welt ihre Ruhe und die Lüge beherrscht das Feld. So wie heute an jeder Ecke. So wie heute in Politik und Kommerz, in der Banalität der Unterhaltung und der Brutalität der Auseinandersetzungen der Menschen.
Reden wir darum – vertrauensvoll, ausdauernd, hemmungslos – von Gott und mit Gott!
Steigen wir auf die Kiste oder die Trittleiter und machen wir den Mund auf!
Es lohnt sich! ——
In meiner Speaker’s corner hier will ich Ihm heute nur eines – in der „Parrhesie“, die mir (wie uns allen!) das Recht dazu gibt und in diesem Recht auch die Zuversicht, nicht ins Leere zu reden – entgegenhalten … mit leeren Händen, wie wir’s eben gesungen haben (EG 382):
Gott, ich höre das Evangelium, … das wunderbare Evangelium (Joh.11) dieses 16.Sonntags nach Trinitatis, der ein herbstliches Osterfest ist, weil man in der kommenden Woche den Erzengel Michael, den Kämpfer gegen alle Todesmächte und Todesbündnisse und Todestriebe feiert.
Ich höre das Evangelium und ich weiß, dass Du Lazarus auferweckt hast und ich glaube wie Martha, dass ein Tag kommt, an dem alle endgültig auferstehen und leben werden, die heute sterben und leiden und den Tod einatmen und sich den Tod einfangen und mit dem Tod spielen und mit dem Tod liebäugeln und dem Tod unterworfen und ausgeliefert sind.
– Evangelium: Ja!
– Michaels und aller himmlischen Heerscharen und irdischen Lebensgeister Kampf gegen den Tod: Ja!
– Auferweckung: Ja!
Aber wo bist Du dazwischen?
Wo bist Du jetzt gerade, während kein Krieg der Engel gegen Satan und die Hölle, sondern Kriege der Menschen gegen die Menschen stattfinden?
Wo bist Du in diesem Augenblick, in dem auf den Schlachtfeldern der Ukraine gerade jetzt Menschen zerrissen werden?
Wo bist Du gerade jetzt im Alltagselend der Hungernden, der Kranken, der Ausgelaugten, die schweigen, weil sie nichts von Deinem Hören wissen oder glauben?
Wo bist Du, wenn Du so gebraucht wirst?
… „Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.“
Das ist’s, was mich umtreibt, weshalb ich rüttele und Krawall schlage und meinen Glauben und meine Hoffnung in ihrer Bedrohung trotzdem nicht einfach aufgeben und wegwerfen kann, sondern hinter Dir her und vermutlich mitten in Dein weites, zerrissenes Herz hinein schreie.
Wo bist Du?
… Wo warst Du, als sie Dich nach Bethanien riefen, wo Du erst eintriffst, nachdem Dein Freund schon den vierten Tag im Grab liegt?
… Was hast Du in den drei Tagen gemacht, in denen sie auf Dich warten mussten?
… In den drei Tagen Deiner Verborgenheit, den drei Tagen Deiner Entzogenheit, den drei Tagen Deines Fehlens? … … …
Ach, … diese drei Tage! … … …
Herr, ich weiß ja, was Du gemacht hast in den drei Tagen, in denen Du nicht zu sehen, zu hören, zu greifen und halten warst!!! … … …
… Wir wissen’s ja alle! Und wenn wir zu Dir schreien, dann geht’s uns in unserm Fragen und Zweifeln, in unserm schonungslosen Nicht-locker-Lassen nur noch viel klarer auf: Du, nach dem wir laut und ohne Filter verlangen … Du bist in den drei Tagen bei den Toten gewesen, … bei Lazarus, Deinem Freund, … bei dem, der gerade in diesem Augenblick in der Ukraine getroffen worden ist, … bei denen, um die wir weinen und trauern.
Die drei Tage, in denen wir frustriert und qualvoll beunruhigt und hoffentlich wenigstens in reiner „Parrhesie“ – in Ehrlichkeit, Offenheit, dringender Anhänglichkeit – auf Dich warten: Das sind die Tage, die Dich ganz und total und für immer mit denen verbunden und vereinigt haben, die uns auf der Seele liegen. … … …
Diese drei Tage sind auch jetzt und werden sein, bis ans Ende der Zeit.
Und dann werden wir Dich alle sehen und erleben.
Und werden alle leben mit Dir! ——
Was für einen Lohn unser Mit-Dir-Reden, was für einen Lohn diese Freiheit des Denkens und Sprechens, des Zweifelns und Hoffens auf Dich nun doch wirklich hat!
Tatsächlich: Was für einen Lohn das Vertrauen hat!
Amen.
[i] Eine bündige Übersicht über die Bedeutungsgeschichte des Begriffs bietet Hans-Christoph Hahn unter: https://jochenteuffel.com/2019/11/05/hans-christoph-hahn-uber-freimut-und-zuversicht-im-neuen-testament-da-die-verwirklichung-der-redefreiheit-bisweilen-auf-widerstande-stosst-erklart-sich-unerschrockenheit-freimutigkeit-als-weiterer-bed/
15.So.n.Trin., 17.09.2023, Stadtkirche, 1.Mose 15, 1 - 6, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 17.IX.2023 - 15.n.Trin.
1.Mose 15, 1-6
Liebe Gemeinde!
Ein älterer Mann - wohnungslos -, … enttäuscht, aber noch nicht mutlos, … mit verschwiegenen Hoffnungen und müden Augen blickt zum Himmel empor. —
Nacht für Nacht wiederholt sich das weltweit.
In der zerstörten libyschen Stadt Darna - übrigens in der Nachbarschaft von Kyrene, wo der Mann herstammte, der das Kreuz Christi nach Golgatha trug -… in der libyschen Stadt Darna, die vor einer Woche einen Klimakarfreitag erleiden musste, sitzen solche verwaisten, verwitweten Männer, die überlebt haben und nicht wissen, wozu, und starren in die Dunkelheit überm Meer. Auf den Straßen von New York blicken hunderte Augenpaare aus den Gesichtern der mittelamerikanischen Migranten, die in Hoffnung wie Abraham ausgewandert sind und in Obdachlosigkeit landeten, perspektivlos in die Nacht, die vor lauter Neon keine Sterne zeigt. Und dreieinhalb Kilometer von uns entfernt, auf dem Nordfriedhof, auf den abends die Leute mit den unförmigen Plastiktüten zotteln, weil sie in den schicken Mausoleen für die Toten übernachten werden, da richten sich in den Stunden unseres bürgerlichen Schlafes auch viele Blicke durch die Äste der Baumkronen zwischen den selbstgedrehten Zigaretten nach oben und fragen: „Wie weiter? Oder war’s das?“ … Und in den schwarz-verdunkelten Stunden der Ukraine und in der erstickenden Enge der Lampedusa-Lager auch: Lauter abrahamische, … abrahämische, … abraheimliche Blicke nach Gott. ——
Ein müdegewanderter Mann - wohnungslos -, … elend enttäuscht, aber noch nicht vollends mutlos, … mit verstummenden Wünschen und alten Augen blickt ins Schwarze empor. …
… Mehr nicht.
Aber es ist die Sternstunde: Der Welt. …
… Es ist die Stunde, in der unsere Seligkeit anfängt.
Weil ein heimatloser Mann - zukunftsleer -, frierend ernüchtert und kinder-, wenn auch nicht gottlos, mit enttäuschten Erwartungen, aber noch ungeschlossenen Augen vor den Himmel tritt.
„Ich gehe dahin …“. Darna versunken. Lampedusa, New York, Europa nicht mehr aufnahmefähig. Unser schönes Düsseldorf, marmorglänzend bis in die Totentempel seiner Penner.
„Ich gehe dahin …“, stellt der Nachtmensch Abraham fest. Und mit etwas wie bitterer Ironie fügt der nichtsesshafte Jäger der verbogenen Verheißung, der Nomade ohne Immobilien hinzu: „Und mein Knecht wird mein Haus besitzen“ …?!
… Willkommen in der versunkenen Stadt.
… Richtet euch ein auf dem Times Square: Wir bieten Festbeleuchtung.
… Familien Henkel und Poensgen, Heynen und Grillo bitten - in unser aller Namen! -, in ihren Gruften noch Schlafplätze auszuwählen.
Ein bitterwahres Theaterstück von Lebenswegen ohne Ziel und Zukunft.
Das Drama unserer Erde. ———
Doch worin besteht denn nun die alle irdische Düsternis durchbrechende Sternstunde, die seit dreitausendsiebenhundert Jahren leuchtet und leuchtet und leuchtet und tröstet und hell macht und retten kann?
…. In der herzergreifend schlichten Ahnung, die Matthias Claudius seiner simplen Sternseherin Lise[i] in den Mund legt? – „Ich sehe oft um Mitternacht, / Wenn ich mein Werk getan / Und niemand mehr im Hause wacht, / Die Stern' am Himmel an. …Dann saget, unterm Himmels-zelt, / Mein Herz mir in der Brust: / "Es gibt noch Bess'res in der Welt /Als all ihr Schmerz und Lust."“?
… Oder hat Abrahams astronomische Meditation nur das Schiller’sche Gefühl „Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen“[ii] entfacht und befördert es bis heute?
Was ist da geschehen, in dieser von den Nazis so vergewaltigten „hohen Nacht der klaren Sterne“[iii]?
… Etwas, das bei Paulus (vgl.Rö.4,3ff; Gal.3,6ff) und bei Luther zur Erkenntnis und Verkündigung der Grundlage und Grundhaltung des Christentums geführt hat: In der Sternstunde Abrahams ist der Glaube gleichzeitig als des Menschen Tat aller Taten und als Gottes Gabe aller Gaben aufgeleuchtet. —
Warum ist der Glaube eine Tat?
Weil er nicht irgendein Kleinbeigeben, irgend ein Einknicken, Abnicken, Annehmen oder bloßes Zustimmen ist.
Glauben ist nicht Vermuten, sondern wirklicher Mut. - Der Mut, nicht nur das Unsichtbare, das Unbewiesene, das Verheißene, das, was jenseits aller Griffe und Begriffe des Menschen ist, ernst zu nehmen, sondern dabei auch noch genau das auszuhalten: Dass es unbegreiflich ist, worauf man da vertraut, … rein gesprochenes und versprochenes Wort, … unbelegt, … nicht vorzeigbar und nicht ersichtlich.
Und als wäre das nicht schon genug – dass man die Bequemlichkeit und Sicherheit des Zweifels und der Verzweiflung aufgibt (denn beide legen sich uns ja so nah und liegen so klar zutage, dass man sich nach ihnen wirklich nicht strecken muss!) –, … als wäre also das Wagnis des ernsten und doch weder wissenschaftlich noch juristisch erhärtbaren Glaubens nicht genug, bedeutet der Glaube Abrahams obendrein auch noch, dass man das, was man fürchtet und verabscheut, das, was einem Angst und Schrecken einjagt, plötzlich lernen muss, positiv zu sehen.
Denn gerade diese Umkehrung aller Vorzeichen, diese Umwertung dessen, was er weiß und fühlt, wird Abraham in der Stunde unter den Sternen ja zugemutet.
Abram aus Ur in Chaldäa ist doch ausgewandert aus dem astrologischen Weltbild seiner Herkunft: Der alte Orient wusste sich ja völlig abhängig von den Himmelskörpern. Man spürte im lebensregelnden Monats-Rhythmus des Weiblichen die Magie der Mondgöttin; man lebte überwältigt und ausgeliefert an die Blendung und Allmacht des zum Wachstum nötigen und doch so oft auch tödlichen Gottes des Sonnenballs; man las die Orakel, die Schiedssprüche und Zwänge, die die Sterne ans Firmament schrieben, wo Zeit und Schicksale bis ins Einzelne gelenkt und determiniert wurden!
Schrecklich ist es, unter dem Himmel der Alten zu stehen: Fremde Mächte, unentrinnbare Gesetze und überirdische Willkür herrschen da. Wer diesen Himmel über sich weiß, muss zittern und in den Staub sinken! …
Und Abraham, der dieses furchteinflößende Welt- und Himmelsbild der kosmischen Religion hinter sich gelassen hat, weil ein Gott ohne Leuchtkörper und Erscheinungsbild ihn noch unsicherer als später die Magier und sternkundigen Bethlehems-Pilger, die immerhin einem Kometen folgen konnten, einfach in die weglose Weite gerufen hat, … Abraham soll nun ausgerechnet zu jenem Überwachungsnetz am Himmel sehen und Vertrauen fassen?!
Da oben funkelt ein Heer von tausendundeinem gekränkten Dämonen, vor denen sich alle anderen Chaldäer demütig neigen; da oben spotten unzählige Geheimzeichen jeder Zählung und Entschlüsselung, weshalb man ihnen ohnmächtig Opfer schuldet; da oben herrschen sichtbar die Gewalten, denen der Flüchtling des verborgenen Gottes sich sinnlos entzogen zu haben hoffte.
Und jetzt soll er hinschauen?!
Und soll nicht die Angst, die ihn da unwillkürlich heiß und kalt überläuft, ausbrechen lassen, sondern in dem, was er mit grauenhaftem Bangen zurückließ, soll er seelenruhig die Zukunft schauen, … seine Zukunft und die Zukunft all jener zahllosen Kinder, die sein Glaube hervorbringen wird?!
Die Sterne keine Götter mehr, sondern seine Kinder?!
Was für eine Zumutung!
Und was für ein Mut, wenn einer diese Zumutung annimmt!
Stellen wir uns einmal selber unter die Mächte und Mysterien, denen wir ausgeliefert sind:
Die unheimlichen und die offensichtlichen Geister, die uns die Luft abschnüren, … oft deshalb, weil wir - die Zauberlehrlinge - sie riefen, aufweckten und beherrschen zu können meinten. Jene abgründige Zerstörungskraft, die ein Film uns im Westen und Putins Finger im Osten uns gerade wieder zu fürchten lehren! … Die unkontrollierbar entfesselten, bösen Folgen unserer guten Zeiten in der Erfindung, Erzeugung und Ausnutzung des materiellen Fortschritts. … Die zwischen Staunen und Terror schwankende Erfahrung, dass wir Maschinen gebastelt haben, die zwar nur rechnen und durchmischen können, deren Gründlichkeit dabei aber über unser Vermögen so eiskalt erhaben ist, dass wir sie als „intelligent“ empfinden und ihr künstliches Wiederkäuen und Hochwürgen als eine womöglich endgültige Absage an das göttlich und menschlich Schöpferische erleben. … Lauter uns überlegene Gebilde, unzählige zweideutige Vorzeichen und aus der Ratio ausgerissene Gefahren schweben da über unseren Tagen und Nächten.
Wenn wir aber mit zu Abrahams Samen zählen, zu den unzähligen Erben der Verheißung, die sein Vertrauensmut geboren hat, dann ruft sein ruhiger Blick zu den Sternen, der ihn nicht verzweifeln, sondern glauben ließ, auch uns zu:
„Seht klar hin auf das, wovor Euch mit endzeitlicher Wucht graut … und dann fürchtet euch nicht, nehmt nichts anderes mehr wahr als die Zukunft. Seht klar hin auf das, was Untergang, Fluch und Ende zu bedeuten scheint, … und erkennt die Verheißung des Lebens eurer Kinder. Denn nur, wenn ihr so auf die rohen Kräfte und bedrohlichen Mächte hinschaut und nicht in Illusionen ausweicht, dürft und werdet ihr die unglaubliche Glaubensgabe tatsächlicher Zukunft empfangen.“
Denn das ist Glaube ja: Die Gottesgabe, …Seine Gnadengabe, dass Menschen trotz allem, was über ihnen schwebt, erkennen dürfen, wer, wie und wo die Zukunft ist.
… Gott ist die Zukunft.
… Nur Gott!
Und das ist ja das Unbegreifliche schlechthin.
Abraham hatte verinnerlicht, die Zukunft werde beschlossen und verhängt durch die Sterne.
Wir haben verinnerlicht, dass die chaotischen und differenzierten Prozesse, die wir begonnen haben und die sich unerbittlich entfalten, die Zukunft unweigerlich und unabänderlich bestimmen werden.
Glauben aber bedeutet den Mut und die Gnade, in solchen Gewissheiten, solchen astrologischen oder kausalen Determinationen, in solchem abergläubischen oder atheistischen Fatalismus nicht gefangen zu bleiben, sondern sich ruhig auf das einzulassen, was ausgeschlossen scheint, es sei denn, wir würden unvoreingenommen zukunftsoffen wie die Kinder (vgl. Matth.18,3).
Der abrahamitische Erzväter- und Kinderglaube ist darum aber nicht Naivität, sondern das Geschenk einer Zuversicht, die frei ist von der Sklaverei des ererbten Vorurteils, frei vom Zwang des Nichts-Anderes-Erwarten-Könnens als das Verhängnis.
Der alte Mann - dreitausendsiebenhundert Jahre alt -, der in nüchternem Mut, … in der Offenheit unerfüllter Hoffnung, … mit scharfen Frage nach dem, was kommt, aber auch in der Freiheit, sich vor nichts dabei zu fürchten, emporblickt, zieht auch unsere Zuversicht, unsere Fragen, unsere Lebensaussichten mit in die Höhe:
Und siehe, da sind nicht beherrschende Sterne oder eherne Gesetze.
Sondern die lebendige Zukunft aller Menschen, … die göttliche Gerechtigkeit, die der Zuversichtsmut Abrahams für sie alle eröffnet, … das unwiderrufliche Recht auf Leben, das denen zugesagt wird, die mit Abraham, nach, durch und wie Abraham frei auf Gott blicken.
In der Sternstunde Abrahams erfüllt sich also nichts, aber alles öffnet sich.
Und solche Offenheit zur Zukunft Gottes hin ist die Gerechtigkeit des Glaubens, seine Tragfähigkeit und Belastbarkeit in Angst, in Schuld und in Geduld.
Es ist kein Zufall, dass diese furchtlose Offenheit des alten Mannes Abraham für Gott in einer zweiten Sternstunde des Zukunftsmutes, in einer zweiten Gründungsstunde unserer Berufung zum Glauben wiederkehrt.
Da hat sie weibliche Gestalt.
Ein junges Mädchen - ehelos und ohne Bevormundung -, … unschuldig und darum nicht mit Angst vertraut, … überrascht, aber mit klarem Blick wird in ihrer Niedrigkeit vom Himmel angesehen und angerufen.
Und sie erfasst, dass da die Abrahamsstunde, die Stunde, in der wir nichts fürchten, sondern Gott als die Zukunft kennenlernen sollen, schlägt.
Wir haben ihren Lobgesang am Anfang gebetet und werden ihn am Ende noch einmal singend aufgreifen. Sie, die Tochter Abrahams und Mutter des Zukünftigen jubelt mit Abrahams Samen und in Abrahams Namen: „Es geschehe, wie Du gesagt hast … wie du geredet hast zu unseren Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit!“ (vgl. Lk.1,38+55)
Das ist Glaube! „Fiat! Lass mich voll und ganz Deine Zukunft sein, Gott, und sei Du ganz und gar die unsrige … was immer auch kommt!“ ——
Dieses vollständige Eingehen auf und Aufgehen in Gottes Zukunftszusage, das wir Glauben nennen, ist aber nun tatsächlich die Sternstunde der Welt.
Sie leuchtet und leuchtet und leuchtet und tröstet und macht hell und kann retten.
Herr, ermutige und stärke auch uns den Glauben, die wir mit Abraham und Maria auf Dich trauen in Jesus Christus. Stärke diesen Glauben in uns gerade auch für die Hoffnungslosen von Darna und im Atlasgebirge, für die auf der Flucht und im Krieg, für die Unsichtbaren und Vergessenen, die doch alle Deine Abrahamskinder sind: Schenke ihnen das Lebens- und das Zukunftsrecht bei Dir, die - wie Paulus am Schluss seiner Abrahamsmeditation (Rö.4,24f) sagt - allen „zugerechnet werden sollen, wenn wir glauben an den, der unsern Herrn Jesus Christus auferweckt hat von den Toten, welcher ist um unserer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Rechtfertigung willen auferweckt“!
Amen
[i] Dieses populäre volkstümliche Gedicht von Claudius wird hier zitiert nach: Matthias Claudius’ Werke, chronolog. geordnet usw. usw. hgg. v. Georg Behrmann, Leipzig (o.J. – ca. 1880), wo es im Hauptteil vergessen wurde und sich daher eigens im Vorwort findet auf S. LXXVI.
[ii] Aus der Ode „An die Freude“, in: Friedrich v. Schiller, Sämtliche Werke (Lizenzausgabe WBG) Darmstadt 19878, Bd.I: Gedichte. Dramen I, S.133.
[iii] Ein Nachweis des Nazi-Weihnachtsliedes erübrigt sich. Möge es vergessen werden.
12.So. n. Trin., 27.08.2023, Stadtkirche, Jesaja 29, 17 - 24, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 12.n.Trin. - 27.VIII.2023
Jesaja 29, 17 - 24
Liebe Gemeinde!
Wenn die Mörder vom Himmel fallen, ist noch lange nicht Frieden.
Und wenn die Tyrannen einmal stürzen, wenn die Putschisten sich verdrücken, wenn der Blutrausch abebbt und der Konsumrausch schal wird, wenn der rücksichtslose Ur-Reflex der Selbstsucht in seiner nutzlosen Lächerlichkeit erscheint, dann ist die Welt noch immer nicht geheilt.
Und wenn die Nazis als entnazifiziert gelten und die Putinisten entstalinisiert und die Republikaner enttrumpt und die Kader Chinas entmaoisiert sein werden, dann ist noch immer nicht die Harmonie von Recht und Wahrheit zurückgekehrt und das Zerstörte steht noch nicht wieder in Blüte und das Verdorbene ist noch nicht wieder richtig gewachsen und das Böse noch nicht morsch genug geworden, um als Kompost und Humus die endgültige Ernte des Reiches Gottes geweckt, genährt und zur Reife gebracht zu haben. —
… Wann aber wird es denn so weit sein?
… Wann wird das Heil dasein?
Diese Frage ist das entscheidende Lebenszeichen des Glaubens. Das forsche Stillstellen der elementaren Erlösungssehnsucht in der geschaffenen Welt dagegen ist höchstes Erstickungsrisiko: Wer eine allzu feste Antwort hat, blockiert die Atemwege des Glaubens, die doch erst durch Schreien und das nötige Luftholen durchlässig und weit genug gemacht werden, um am Leben zu bleiben.
Wir wollen also die lebensnotwendige Frage nach dem Ziel der Hoffnung nie abwürgen durch die voreilige, verhärtete Lüge, es sei doch alles gut und schön.
Es ist nicht gut und schön auf Erden. Das Leben ist nicht hell und heil. Alle Wirklichkeit schreit nach Veränderung, Verbesserung, Verwandlung.
Was aber tun, wenn wir nicht über das Patentrezept verfügen, wenn wir den Schnuller nicht haben, durch die das „Weinen in der Welt“ von dem Else Lasker-Schüler spricht, zur Ruhe gebracht werden könnte?
„Es ist ein Weinen in der Welt, / als ob der liebe Gott gestorben wär, /und der bleierne Schatten, der niederfällt, / lastet grabesschwer“, so fängt Else Lasker-Schülers Gedicht „Weltende“[i] an. …
……. „Weltende“: Kein wirklich abwegiger Titel in unseren Tagen.
Aber auch vor hundertzwanzig Jahren, als das unterschwellige Unbehagen in der sog. „Kultur“ allmählich zu Bewusstsein drängte[ii], nicht weithergeholt. Und auch vor zweitausend Jahren durchaus der Nerv der Zeit, als am Jordan der Täufer und in Galiläa der Rabbi der Fischer und Zöllner zur Umkehr angesichts des nahegekommenen Reiches Gottes mahnten. Und in den Tagen des Jesaja, als die Erste der großen, nimmersatt erobernden und kolonialisierenden Weltmächte - Assur - die Weltordnung mit Gewalt durcheinanderwirbelte, erlebten die Zeitgenossen die Brüchigkeit und Auflösung des bekannten Daseins genauso.
Es war permanent ein Weinen in der Welt, und ist ein Weinen und bleibt ein Weinen. … Und viel, viel Schlimmeres. …….
Doch was nun?
– Jetzt Panik? – Oder Resignation? – Oder der allgemeine zynische Nihilismus? ……. ——
Erstaunlich ist, … ganz erstaunlich ist, was uns der ewigjunge alte Glaube – dessen Puls und Atem Ungeduld und Hoffnung ist und Spannung – lehrt. … Uns, die entweder gar nicht mehr hoffen und harren wollen, weil wir das entsprechende Narrentum satthaben und lieber hoffnungslos unsre Zeit aus vollen Zügen einfach zuendeleben, oder die immer bitterer hadern, dass wir eben nichts, nichts Hoffnungsvolles mehr merken können und hören dürfen.
Der alte, ewigjunge Glaube, der uns heute hier zusammenführt, stellt uns vor einen Menschen, … den selben Menschen, der mitten im Gebiet der Zehn Städte – wo Heidentum und Judentum, der hedonistische Fatalismus also und die trotzige Erlösungshoffnung sich begegnen und mischen – seinen Weg durch die Welt zog (vgl. Mk7,31)[iii].
Und dieser Mensch im Mischmasch von irdischen und himmlischen Erwartungen will auch uns berühren mit seinem innersten Wesen, wie damals in Galiläa den Taubstummen.
Er legt seinen Finger auch an unser Ohr und auf unsere Zunge.
Und er gebietet dem zynischen Ungläubigen und dem sehnsüchtigen Lösungssucher in uns: „Hephata! … Tu’ dich auf!“
… Wieso? … ’s gibt doch nix zu hören, nix zu sehen, nix zu sagen.
„Öffne dich trotzdem! Hephata!“
… Will ich aber nicht. Soll mir alles vom Leib bleiben. Nicht rankommen: Die
aussichtslose, trostlose Welt da, … mit dem Gewein und dem Gestöhn und dem Geschrei, das man lieber gar nicht hören will, selbst wenn man ja vielleicht könnte.
Doch Er sagt Sein klares, strenges, geduldiges, heilendes, wunderbar erlösendes, … Sein schöpferisches „Hephata!“.
– Und wir hören.
Was? … Was denn nun? ….
… Endlich einmal darf ich’s sagen. Sonst mache ich ja den gewohnten Bogen um zu viel Naturtheologie: Die alten Götterbäume Donars und Wotans, die Fruchtbarkeitskulte des Baal, die Anbetung der kosmischen Kräfte und der Gewalt der Elemente sind seit bald viertausend Jahren ja ein Hindernis gegen die immer unmittelbar naheliegende und doch immer auch irgendwie als Verlegenheits- und Ersatzlösung wirkende Naturfrömmigkeit.
Doch heute sagt der alte Jesaja uns das junge Wort: Lasst doch den Wald erst einmal wachsen. In eurer großen, drängenden, bangen Sorge um das Weltende und die Sinnlosigkeit, in eurer feurigen, waldbrandbeschleunigten Nervosität, ob Gottes Reich und jede Zukunft nicht längst abgeblasen sei und jede Hoffnung euch verkohlt, sollt ihr jetzt einmal innehalten, … lauschen, … euch öffnen, … und abwarten.
Ist das denn aber nicht der Wahnsinn? Brennt denn nicht überall von Kanada bis Griechenland, vom Amazonas bis zu den kanarischen Inseln der Wald lichterloh? Müssen wir das nicht als das röteste aller roten Alarmsignale erkennen, das uns zwingt, alles dran zu setzen, dass gelöscht wird und nicht weitere Verbrennung geschieht? Hat nicht die germanische Edda Recht, wenn sie in grauer Vorzeit die Klimakatastrophe von heute zu beunken scheint: „Alle Wesen müssen die Weltstatt räumen. / Schwarz wird die Sonne, die Erde sinkt ins Meer, / vom Himmel schwinden die heiteren Sterne. / Glutwirbel umwühlen den allnäh-renden Weltbaum, / Die heiße Lohe beleckt den Himmel.“[iv] …….
Und ausgerechnet jetzt, da sich die alt-heidnischen selbsterfüllenden Prophezeiungen vor unsern Augen bestätigen, … ausgerechnet jetzt, im Wagner’schen Weltenbrand kommt der Erste der großen Schriftpropheten Israels, die sonst so unerbittlich gegen den Naturglauben wettern, daher wie Joseph von Eichendorff?
Ausgerechnet jetzt sollen wir andächtig und seelenruhig den Wald wachsen lassen: „Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden“??!!!
Ist es dazu nicht zu spät? Können wir wirklich noch wie unsere Vorfahren, als die große - für sie auch herzlich lebensnotwendige - Rodung Europas beinah abgeschlossen war, unsere Zuflucht wieder zum Wald nehmen? Können wir wie die romantische Generation, wie die industrialisierungsmüden Menschen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch einmal aus gerührter, überwältigter Seele auf die „Täler weit und Höhen“ blicken[v], die „Ruh über allen Gipfeln, in allen Wipfeln“[vi] unser mattgehofftes Gemüt durchschauern lassen und dann kosmosselig wie eben der unübertroffene, herzensfromme Eichendorff die Hände falten und den Trost der Welt erfahren, der mit dem „ewigen Morgenrot / den stillen Wald durchfunkelt“[vii]?
Müssen wir nicht handeln, … aktivistische Aktion betreiben? Können wir’s auch nur in unsern kühnsten Träumen uns wirklich noch leisten, zu meditieren wie die großen Naturlyriker oder die weltflüchtigen Aussteiger aller Arten?
Wer so fragt, meint auch die Aktion nicht ernst.
Wer so fragt, hat nicht wirklich Hoffnung, sondern nur Hummeln im Hintern oder Hysterie im Hirn.
Aktion ohne Kontemplation ist Unfug.
Kurzschlusshandlungen ohne den langen Atem des gläubigen Gebets und des Gottvertrauens als Zukunftsvertrauens können mittelfristig nur wie Brandbeschleuniger wirken, weil sie die Energie der Herzen und das explosive Pulverfass der Angst so ver-schleudern, dass alles irgendwann grässlich verpuffen muss.
Wenn wir nicht den Wald wachsen ließen, … wenn wir nicht das unmerkliche Aufbrechen auch noch der verbrannten Böden leise sich vollziehen ließen, … wenn das neue, grüne Mischgehölz, wo Kyrill und der Borkenkäfer die Monokulturen unserer Heimat vernichtet haben, uns nicht einfach einmal die Hände falten und danken hieße, … wenn wir nicht heute pflanzten, was erst die Enkel an widerstandsfähigeren Arten brauchen werden als Schatten- und Entgiftungsquell, … wenn wir nicht das neue Landschaftsbild der fremden Windräder über den vertrauten Mittelgebirgszügen, überm herben Schwarzwald, überm lachenden Allgäu, … ja, wenn wir nicht sogar ein neues Landschaftsbild von Windrädern im romantischen Caspar-David- Friedrich-Gebirge als Erfüllung des paradiesischen Auftrags, die Schöpfung zu hegen und zu pflegen (vgl. 1.Mose 2,15), zu betrachten lernen, … dann gute Nacht!
Aber natürlich nicht wegen der Windräder, die scheußlich störend sind und bleiben, sondern wegen des Waldes. Wegen dieses Wunders, das mir letzten Sonntag wieder einmal vor Augen stand: Das Schulungswochenende mit unsern Teamern im Bergischen Land bedeutet reichlich Leben reichlich in Verbindung mit Gott, … aber keinen sonntäglichen Gottesdienst im mir unentbehrlichen Sinn. Da wurde ich auf meiner Weckrunde zu den einzelnen Holzhäusern voller verpennter Jugendlicher stiller Zeuge, wie in der Früh ein junger Mann aus dem Iran auf einer Bank unter den Bäumen saß und über die für ihn wohl fremden, weiten, blaugrün verschwimmenden Waldkämme unverwandt und - wer weiß? - vielleicht auf seine Weise betend in den Sonnenaufgang blickte.
Und die ganze Frömmigkeit und Dankbarkeit meiner hessischen Kindertage, in denen es Winterwälder und Brombeerpflücken im Unterholz und den schrillen Schrei des Habichts über den mittäglich schweigenden Föhren und das Erlebnis von Quellen und Bächen mitten im Tannendunkel und Pilzesuchen, Schwarzwildfährten und Hirschruf im Oktobernebel, Einsiedlerhöfe am Rand des Lichtung und Märchenvolk unter jeder Wurzel gab, … alles war wieder da, weil ein anderer Mensch schlicht auf Gottes herrlich hingebreitete Schöpfung blickte. Und die Volkslieder klangen wieder und ich hörte – doch wohl, weil einer mir „Hephata!“ geboten hatte – Jesaja im Text von heute sagen: „Was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein vor dem Heiligen Israels …“
Es war einer der Augenblicke, die hell und heil über der bedrohten, zerfallenden und doch taufrisch geweckten Welt stehen können. Und auch wenn wir’s täglich und nächtlich spüren, wie ein Weinen in der Welt ist, gilt auch das andere Dichterwort, das Wort, das der spätromantische Robert Browning dem angelsächsischen Volksmund vermacht hat: „God’s in His heaven - / All’s right with the world.“[viii]
Ja, es ist ein Weinen in der Welt, … aber Gott ist auch im Himmel!
Wäre das nicht so, dann gäbe es keine wirkliche Hoffnung.
Wäre nicht Gott im Himmel, dann würden der Mensch und seine künstliche Intelligenz und seiner eingefleischten Unbelehrbarkeit auf Erden nur rettungslos sein.
Aber Der im Himmel ist, macht immer noch, dass neues Leben entsteht und altes sich des Lebensrechtes und des Lebensrufes alles jungen Neugeschaffenen erinnert: „Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände - ihre Kinder - in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.“
Dieser rettende Blick für das nachwachsende Leben, diese Bekehrung der Vernichtungstrunkenen und Untergangsbesoffenen zum Willen des Schöpfers, Der ein Neues schaffen will – jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?! (Jes.43,19) –, das ist die tiefe Hoffnung, die in jedem Keim der Erde, in jedem Halm, in jedem Blatt, in allen Gewächsen, allen Wildnissen und allen Pflanzungen, in allen Bäumen, Hainen und Wäldern heranwächst.
Wer etwas davon auch in unseren Tagen sieht, wer es, weil sein Herz und Geist berührt und aufgetan worden sind – „Hephata!“ – spürt und andächtig wahrnimmt, dass die Natur mitten in ihrem Verderben immer noch den Segen und den Plan und das Heil und die siegreiche Durchsetzung Gottes beweist, der kann heute nur tun, was Israeliten und Juden und Christen niemals taten:
… Er kann sich nur vor den Bäumen des Waldes verneigen und ihnen sagen: Eure Predigt hören wir und euer Zeugnis sehen wir. … Und wir warten mit Euch, dass Ihr wachst und Gottes Reich sich gegen unsre Armut an Hoffnung und gegen unsre Tyrannei und Resignation behauptet!
Der Garten Gottes einst und künftig, … die Erde, in der das Weizenkorn wächst und nicht alleine bleibt, … die Berge der Welt, auf denen der Weinstock wurzelt (vgl. Ps.80,10ff), dessen Reben auch wir sind (vgl. Joh.15,5), … die Gemeinde der Gerechten, die grünen wie ein Palmbaum und wachsen sollen wie eine Zeder auf dem Libanon (vgl. Ps.92,13), … sie lassen uns das Geheimnis der Hoffnung erkennen, die in der Welt ist, weil Gott ihr Herr und ihr Vollender bleibt.
Und darum darf ich’s heute sagen, was sonst so kitschig und so falsch klingt … mit den Worten eines Trostbuches, das einmal Unzählige getröstet und zur Barmherzigkeit und Hoffnung gegen das gierige Blut-und-Boden-Heidentum gerufen hat:
„Ewig singen die Wälder.“[ix] … Von der Hoffnung, die in der Welt ist. … Sie heißt Gott.
Amen.
[i] Else Lasker-Schüler, Sämtliche Gedichte, hgg. v. Friedhelm Kemp, München 19915, S.88.
[ii] Vgl. Sigmund Freuds gleichnamige Arbeit von 1930.
[iii] Markus 7, 31 – 37 ist das Evangelium des 12.Sonntags nach Trinitatis.
[iv] Die Edda. Die ältere und jüngere Edda und die mythischen Erzählungen der Skalda. Übers. u. mit Erläuterungen begleitet von Karl Simrock, (Nachdr: Essen 1986, S.14).
[v] Joseph von Eichendorff, „Abschied“, in: Ders., Werke - Bd.I: Gedichte. Versepen. Dramen. Autobiographisches, hgg. v. Jost Perfahl u. Ansgar Hillach, München 1970, S. 67.
[vi] Johann Wolfgang von Goethe, „Wandrers Nachtlied,“, in: Goethes Gedichte in zeitlicher Folge, hgg. v. Heinz Nicolai, Frankfurt/M 19907, S.236.
[vii] J. v. Eichendorff, „Der Einsiedler“, aaO, S.279.
[viii] Aus Robert Brownings Versepos „Pippa Passes“ von 1841. Am leichtesten zugänglich unter https://romantic-circles.org/editions/poets/texts/theyears.html
[ix] Dieser Bauernroman des norwegischen Dichters Trygve Gulbransen ist eines der am meisten verkauften Bücher in der ersten Hälfte des kranken 20.Jahrhunderts gewesen … und auf seine Weise bleibt er m.E. lesenswert.
11.S.n.Tr., 20.08.2023, Thom.Ev. 2,1-4, Stadt- u. Jonakirche, Ulrike Heimann
Thema: „Suchen - Finden – Erschrecken – Staunen: der Weg des Glaubens“ (Thom.Ev. 2,1-4)
Liebe Gemeinde,
vor drei Wochen hatte ich im Antoniushaus der Suitbertusgemeinde für die kfd einen Abend zum Thema „Trinität“ gestaltet; dieses Thema hatten sich die Frauen gewünscht und erhofften sich einen Erkenntnis- und Glaubensgewinn zu dieser zentralen Lehre der Christenheit. Schließlich bekennen wir uns in jedem Gottesdienst ja zum Dreieinigen Gott – von der Eröffnung „Im Namen des Vaters …“ bis hin zum Schlusssegen. Wir saßen in einer großen Runde beieinander; und zwei der Frauen hatten sogar ihre Männer mitgebracht.
Und eigentlich von Beginn an zeigte sich: für die meisten gab es einen Widerspruch zwischen dem, was man aufgrund der kirchlichen Lehre glauben soll – und dem, was man selbst glauben konnte. Und damit stand die Unsicherheit im Raum: glaubt man dann überhaupt noch; hat man noch den richtigen Glauben?
Die gängigen Erklärungen aus dem Katechismus konnten keine und keinen überzeugen.
Es gab ein sehr lebhaftes und intensives Gespräch, in dem allen deutlich wurde: den Glauben hat man nicht, sondern der Glaube ist ein Weg, auf dem jede und jeder seine Erfahrungen macht mit Gott. Ein Weg, der mit dem ersten Schritt beginnt – für die meisten in der Kindheit – und der erst mit dem letzten Atemzug zu Ende ist.
Für alle ist es einsichtig, dass sich ein Mensch auf seinem Lebensweg entwickelt und verändert. Dass sich das genauso auch mit dem Glauben verhält, das zu hören, was für einige eine Überraschung. Ist der Glaube nicht eine feste Größe?
Nun ist der Glaube nicht um seiner selbst willen da, sondern er ist Gottes Geschenk, um das Leben besser zu meistern.
Wenn der Glaube sich auf das konkrete Leben in dieser Welt einlässt, dann verändert er sich; das tut ja schon unser Körper im Laufe der Jahre, ohne dass wir irgendetwas daran ändern können. Alles Lebendige wächst und verändert sich; und sollte es uns nicht darauf ankommen, dass unser Glaube lebendig ist und bleibt?
Der Apostel Paulus schreibt im 1.Korintherbrief: „Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.“ – Für den Glauben gilt das gleiche: der Kinderglaube muss sich im Laufe des Lebens verändern, muss erwachsen werden. Das kann er aber nur, wenn er genügend Nahrung und Anregung bekommt; sonst droht eine lebensgefährliche spirituelle Magersucht.
Mir ist das während meines Vikariats deutlich geworden: damit der Glaube mir wirklich Lebenshilfe sein kann in diesem Leben mit seinen Anforderungen, muss ich ihn verknüpfen mit allen Erkenntnissen, die ich aus der Beschäftigung mit dem, was dieses Leben ausmacht, wie es geworden ist, gewinnen kann. Denn der Glaube ist um des Lebens willen da.
Das hört sich nun recht einfach an, ist es aber gar nicht. Jedenfalls ist es für mich nicht einfach gewesen, die Vorstellung vom festen Glauben, den man hat, loszulassen und sich auf den Weg zu machen, um aufgrund eigener Erfahrungen und Erkenntnisse den Glauben neu auszusprechen. Zuviel stand erst einmal dagegen. Vor allen Dingen die Tatsache, dass die ganzen alten Bekenntnisse als unverrückbare Grundlage christlichen Glaubens gelten – quasi göttliche Würde besitzen – und dass die eigene Erfahrung – Glaubens- und Lebenserfahrung – eigentlich nichts zählt. Wer über den christlichen Glauben spricht und dabei „Ich“ sagt, seine Einsichten und Erkenntnisse ohne Deckung von hohen Autoritäten wie den Kirchenvätern, Martin Luther oder Karl Barth von der Kanzel oder in der Gemeinde mitteilt, der riskiert, einen Ketzerhut verpasst zu bekommen.
Der Weg zu einem lebendigen Glauben ist kein Spaziergang. Ich habe im Thomas-Evangelium einen kleinen Abschnitt gefunden, der die Anstrengungen, die mit diesem Weg verbunden sind, sehr schön deutlich macht. Das Thomasevangelium ist etwa zur Zeit des Matthäus-Evangeliums entstanden, zwischen 70 und 80 n.Chr. Es ist eine unverbundene Sammlung von Jesusworten, kurzen Szenen, die in einem Jesuswort gipfeln und Dialogen. Nicht wenige Jesus-Worte, die in der Bibel stehen, sind auch im Thomas-Evangelium zu finden. Andere, die sich in der Bibel nicht finden, wären es wert, dort zu erscheinen; denn die Wahrheit, die aus ihnen spricht, ist offensichtlich. Das Thomas-Evangelium wurde in vollständiger Fassung in koptischer Sprache erst 1945 bei Nag Hammadi gefunden. Zitate aus diesem Evangelium gab es in verschiedenen altkirchlichen Schriften. Das Thomas-Evangelium war also in der Frühzeit der Christenheit recht bekannt. In dem Abschnitt, auf den ich mich hier beziehen möchte, heißt es:
Jesus sagt: „Wer sucht, soll so lange weitersuchen, bis er findet. Wenn er aber findet, wird er erschrocken sein. Wenn er erschrocken ist, wird er staunen. Und er wird König sein über die unsichtbare Welt.“
Es ist der Suchweg des Glaubens, der hier kurz und knapp in drei bzw. vier Schritten nachgezeichnet wird.
„Wer sucht, soll so lange weitersuchen, bis er findet.“
Dieser erste Schritt wird auch in einem anderen Jesus-Wort aus dem Matthäusevangelium angesagt: Suchet, so werdet ihr finden. In diesem Wort aus dem Thomasevangelium kommt deutlicher zum Ausdruck, dass die Suche nach Einsichten und Erkenntnissen, die zum Leben und Glauben helfen, eine langwierige Sache ist, die Hartnäckigkeit und Beständigkeit verlangt. Der Glaubensweg ist ein Weg, an dem man „dranbleiben“ muss, auf dem man immer wieder neu nach Nahrung für Geist und Seele suchen muss – neugierig, wach und interessiert.
„Wenn er aber findet, wird er erschrocken sein.“
Genau diese Erfahrung habe ich gemacht, als ich ermutigt durch gute Begegnungen mit meinen Vikarskolleginnen und –kollegen anfing, geistig-geistliches Neuland zu betreten. Es ist für mich im Wesentlichen die Auseinandersetzung mit zwei Themenfeldern gewesen, die mich zunächst in eine fundamentale Verunsicherung geführt hat: mit der feministischen Theologie und der tiefenpsychologischen Exegese, der ich vornehmlich in den Büchern von Eugen Drewermann begegnete. Was ich da zu lesen und zu denken bekam, hatte ich vorher noch nie gehört, ja stellte das meiste von dem, was ich bis dahin meinte, an Glauben und christlicher Lehre verstanden zu haben, radikal in Frage.
Ein Beispiel: es war bis dahin für mich fraglos klar, dass Jesus für mich gestorben war, dass er sein Blut vergossen hatte, damit Gott mir meine Sünde vergeben kann. Doch nun erkannte ich: der Sündenbock, auf den alles abgeladen wird (in biblischer Diktion: das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg trägt) ist eine menschliche „Erfindung“, die seit Urzeiten dazu dient, die menschliche Unversöhnlichkeit abzureagieren. Einzelnen Personen oder Minderheiten wurde aufgelegt, was die anderen nicht mit sich abmachen wollten: sich ihrem Versagen, ihrer Schuld, ihren Ängsten und ihrer Ohnmacht zu stellen. Alles wurde auf die Anderen projiziert, ihnen wurde die Schuld gegeben an allem Negativen; alles Üble wurde ihnen aufgeladen, um mit ihnen aus der Welt geschafft zu werden, indem man sie umbrachte. Das „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg trägt“ – da hat es seinen Platz. Jesus ist so zum ultimativen Sündenbock des heillosen und religiös verwirrten Menschen geworden, der einen grausamen Tod sterben muss – vorgeblich, damit es mit seinem Tod Schluss ist mit dem Sündenbock-Unwesen (siehe Hebräerbrief). Aber dem war und ist nicht so.
Dass gerade die Christenheit die Juden als Sündenböcke in schrecklichster Weise verfolgt und missbraucht hat, das hat ohne Frage auch damit zu tun, dass das Opferdenken in der Kirche allgegenwärtig war und ist – in der Messe der römisch-katholischen Kirche und in den Liedern, besonders den Passionsliedern unseres evangelischen Gesangbuchs.
Als mir das aufging, fühlte ich mich zunächst einmal so, als wäre mir der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Ähnlich ist es mir mit vielen anderen bis dahin für mich fraglosen Glaubenswahrheiten gegangen. Und ich habe mich damals gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, sich all diesen Gedanken und Erkenntnissen lieber gar nicht erst ausgesetzt zu haben. War ich ein theologischer Zauberlehrling, der in seinen Erkenntnissen untergehen würde?
„Wenn er erschrocken ist, wird er staunen.“
Ja, es war ein existentielles Erschrecken, das ich damals erlebt habe. Und es dauerte erst einmal an, fast zwei Jahre. Ich hatte in dieser Zeit nicht Gott verloren, aber das meiste von dem, was ich meinte, über ihn zu wissen und über Jesus, all das, was meine Glaubensgrundlagen bis dahin waren, die ganzen vollmundigen Bekenntnisse der Christenheit.
Ich fing neu an, meinen Glauben zu buchstabieren – weniger göttlich, mehr menschlich. Denn in der Phase des Erschreckens, in dieser Glaubenskrise, hatte ich einen neuen Bezug zur Menschlichkeit, zum Menschen, zu mir selbst gefunden. Und ich entdeckte neu die Menschlichkeit Jesu und die Einfachheit und Klarheit seiner Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes.
Was hatte Jesus von Schuld und Vergebung gelehrt? Nichts über Opfer, sondern einfach die Hinwendung zu Gott und zu seinem Mitmenschen: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Ganz schlicht und einfach.
Was war Jesus das Wichtigste und Höchste? Die Gottes- und Menschenliebe, die sogar die Feinde einschließt.
Was war Jesu Richtschnur für alle Ethik? Die goldene Regel: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“
Das eigene Wohlergehen steht nicht im Widerspruch zur Nächstenliebe, die eben kein Opfer ist.
Ganz neu entdeckte ich, dass Jesus nicht nur von Gott als gnädigem Gott sprach, sondern als grund-gutem, als gütigem Gott, der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse, über Gerechte und Ungerechte – einfach weil er allen Leben gönnt. In ganz neuer Weise kam mir so Gott nahe, einfach und klar – und darin einzigartig. Über seine Güte und Liebe habe ich neu staunen gelernt. Seitdem steht für mich fest: der Glaube an Gott hat nichts damit zu tun, dass ich bestimmte Glaubenssätze für wahr halte, sondern dass ich ein Grundvertrauen habe, geborgen und geliebt zu sein, dass ich mit allem, was ich denken und fühlen, aufgehoben bin in Gottes Lebensfülle.
„Und er wird König sein über die unsichtbare Welt.“
Dieser vierte Satz hört sich zunächst einmal geheimnisvoll an, ist es aber nicht, wenn man ihn richtig versteht.
Die unsichtbare Welt ist die ganze Schöpfungswirklichkeit. Von dieser Wirklichkeit können wir Menschen nur begrenzt etwas wahrnehmen, einfach, weil wir Menschen sind. Und darüber hinaus zeigt sich jedem Menschen diese Wirklichkeit anders. Jeder macht seine eigenen Erfahrungen im Leben, nimmt Dinge auf unverwechselbare Weise wahr.
König zu sein über diese ganze Schöpfungswirklichkeit, das heißt, offen zu sein für alles, was es in ihr an Erkenntnissen gibt. In allem, was dem Frieden, der Gerechtigkeit und dem Leben dient, den einen Geist Gottes wirken zu sehen. Dankbar zu sein für die Buntheit und Vielfalt des Lebens. Wir brauchen keine Angst zu haben vor dem Fremden, sondern dürfen neugierig und gespannt darauf sein, etwas von den Lebenserfahrungen anderer Menschen in anderen Kulturen, mit anderer Religion zu erfahren, von ihnen zu lernen. Auch sie haben Erfahrungen mit dem einen Gott gemacht, dem Schöpfer Himmels und der Erden. Gott ist ihnen nahegekommen, wie er uns nahegekommen ist. Jedem auf seine Art, nach seinem Vermögen. Alle solche Gotteserfahrungen sind ein Schatz, in dem Gott sich uns zur Verfügung stellt, damit unser Leben und Glauben an Tiefe zunimmt und wir reifen.
Um König zu sein über die unsichtbare Welt brauchen wir keine Raumfahrtprogramme und nicht viel Geld. Wir brauchen nur den Mut, uns selbst zu riskieren, indem wir uns vom Geist Gottes in geistig-geistliches Neuland hinausrufen lassen, immer wieder neu suchen und fragen, das Erschrecken nicht fürchten und das Staunen wieder lernen. Gott möchte uns dazu dienen – in jedem Gottesdienst.
Amen.
10.S.n.Tr., 13.08.2023, "Stefan Zweig", Jonakirche, Daniel Kaufmann
„Mögen sie
die Morgenröte noch sehen
nach der langen Nacht.
Ich, allzu Ungeduldiger,
gehe ihnen voraus.“
(Stefan Zweig, 22.2. 1942 in seinem Abschiedsbrief an die Freunde)
Literarischer Abendgottesdienst in 6 Abschnitten
1.Der Dichter
Mit Stefan Zweig treffen wir auf einen der meistgelesenen, erfolgreichsten Schriftsteller und Autoren deutscher Sprache, dessen Werke zudem in über 30 anderen Sprachen übersetzt worden sind. Von Haus aus waren er und sein älterer Bruder Alfred ausgesprochen gut ausgestattet und versorgt: sein Vater erfolgreicher jüdischer Textil-Unternehmer, der es zu einem ganz erklecklichen Wohlstand gebracht hat, die Mutter italienischer Herkunft und aus einer gut betuchten Bankerfamilie, selbstbewusst und standesbewusst. Die Familie legt Wert auf Bildung, die Kinder haben also u.a. auch Sprachen zu lernen. Bei Stefan Zweig sind das: Italienisch, Französisch, Englisch, Deutsch und Latein. Diese Vielsprachigkeit öffnet und ebnet ihm zweifelsohne den Weg in eine literarische Laufbahn. Er kann praktisch ohne Probleme in Paris, Rom, London, Berlin mit den dortigen Intellektuellen und Liebhabern der Sprache parlieren, sich austauschen und auf den neuesten Stand halten.
Bis dahin allerdings ist es noch ein dorniger Weg. Die Schule mit ihrem recht schematischen Lernprogramm bietet ihm, wie er schreibt, sozusagen nichts außer mehr oder weniger abgesessene Zeit. Der Sportunterricht besteht in jenen Tagen aus erstaunlich wenigen Bewegungen und hauptsächlich disziplinarischen Ordnungsübungen. Mädchen werden separat von den Jungens unterrichtet. Im Schwimmbad gibt es da eine klare Trennwand, die akribisch von den Sittenhütern der Moral überwacht wird. Es war, wie Stefan Zweig in „Die Welt von gestern“ schreibt, das Jahrhundert der Sicherheiten. Die Frauen waren eingeschnürt in ein Anstandskorsett, in dem man wenig Luft bekam und sich ohne Riechsalz und Ohnmachtsanfälle so gut wie gar nicht bewegen konnte. Die Männer waren eingepackt mit Kragen, die hochgeschlossen rund um den Hals würgten. Erwachsen wird man in jenen Tagen erst sehr spät, Zweig schreibt, es galt schon als Sensation, wenn einer mit Anfang 40 ein leitendes Amt in Staat oder Gesellschaft einnahm. Richtig ernst genommen würde man erst mit 50 Jahren aufwärts – ideale Bedingungen für die Babyboomer heutiger Tage, möchte man da etwas ironisch vermerken.
In jenen Tagen sind diese Aussichten für junge Menschen nicht ganz so rosig. Das Einzige, was die Jungens und ihr Interesse anzieht, ist die Kultur, die Literatur und das Theater. All das findet außerhalb der Schule statt, zieht mit den Brettern, die die Welt bedeuten, aber viel Aufmerksamkeit auf sich. Die Jungens sind hier immer auf der Höhe, wissen, wann welches Stück mit welchen SchauspielerInnen besetzt ist, jagen und holen sich Autogramme und saugen den Klatsch der Wiener Presse wie ein Schwamm auf. Auch eigene Dichtung und Verse werden auf diese Weise angeregt. Ein Klassenkamerad, ein Jahrhundert-talent, Hugo von Hofmannsthal, spornt alle zu eigenen kreativen Worten an. Da sich abzeichnet, dass der ältere Bruder Alfred die Fabrik des Vaters weiterführt, ist für Stefan der Weg zu einer Laufbahn, in welchem Fachgebiet auch immer, frei. Einzige Bedingung und Forderung der Familie: ein Doktortitel, das ist sich eine Familie in jenen gehobenen Kreisen Wiens schuldig.
Also schreibt sich Stefan Zweig für das Studium der Philosophie in Wien, später in Berlin ein. „Selbstverständlich dachte ich nicht daran, in Berlin zu studieren. Ich habe dort die Universität ebenso wie in Wien nur zweimal im Verlauf eines Semesters aufgesucht, einmal, um die Vorlesung zu inskribieren und das zweite Mal, um mir ihren vorgeblichen Besuch testieren zu lassen.“ (S. Zweig: Die Welt von Gestern, Fünf Bände in Kassette, Band 5, 156, München, Anacondaverlag, 2021) Das macht er acht Semester lang und meldet sich dann zur Promotion an. Ansonsten widmet er sich der Sprache, kleinen Artikeln in renommierten Zeitungen u. a. in der neuen Freien Presse Wiens (Feuilleton), und den Versen, auch ein erster Gedichtband ist bald auf dem Markt: „Silberne Saiten“ 1901. Wie er später schreibt, kein Glanzstück, aber ein respektabler erster Versuch. Auch die Promotion gelingt ihm recht gut, zumal der Professor seine doch schon recht ansehnlichen öffentlichen Essays und Ausführungen sehr wohlwollend zur Kenntnis genommen hat und also bei der Prüfung recht gnädige Fragen stellt, kurzum: Die von der Familie gesteckten Ziele sind erreicht, er hat freie Hand für das, was er auch immer tun will. Aus diesen silbernen Saiten, einem Büchlein noch ohne große Meisterschaft, eine Kostprobe, ein bemerkenswerter Text, der das Buch eröffnet, ein Text, der schon in frühen Jahren den Tod als eine große, unbezwingbare Macht des Lebens beschreibt. (S.Zweig: Silberne Saiten, Gedichte, Fischerverlag, Frankfurt1982, S. 14f)
„Das Lebenslied.
Und jedes Lebensmal, das ich gefühlt,
hat in mir dunkle Klänge aufgewühlt.
Und doch, das eine will mir nie gelingen,
Mein Schicksal in ein Lebenslied zu zwingen,
was mir die Welt in Tag und Nacht gegeben,
in einen reinen Einklang zu verweben.
Ein irres Schiff, allein auf fremdem Meer,
schwankt meine Seele steuerlos einher
Und sucht und sucht und findet dennoch nie
den eig'nen Wiederklang der Weltenharmonie.
Und langsam wird sie ihrer Irrfahrt müd.
Sie weiß: Nur einer ist's, der löst ihr Lied,
der fügt die Trauer, Glück und jeden Drang
in einen tiefen, ewig gleichen Sang.
Nur durch den Tod, der jede Wunde stillt,
wird meiner Seele Wunschgebet erfüllt.
Denn einst, wenn müd mein Lebensstern versinkt,
mit matten Lichtern nur der Tag noch winkt,
da werd' ich sein Erlösungswort verspüren,
er wird mir segnend an die Seele rühren.
Und in mir atmet plötzlich heil'ge Ruh.
Mein Herz verstummt Er lächelt mild mir zu.
Und hebt den Bogen und die Saiten zittern
wie Erntepracht vor drohenden Gewittern,
Und beben, beugen sich – und singen schon
den ersten, sehnsuchtsweichen Silberton.
Wie eine scheue Knospe, die erblüht,
reift aus dem ersten Klang ein süßes Lied.
Da wird mein tiefstes Sehnen plötzlich Wort,
Mein Lebenslied ein einziger Accord.
Und Leid und Freude, Nacht und Sonnenglanz
umfassen sich in reiner Consonanz.
Und in die Tiefen, die noch keiner fand,
greift seine wunderstarke Meisterhand.
Und was nur dumpfer Wesenstrieb gewesen,
weiß er zu lichter Klarheit zu erlösen.
Und wilder wird sein Lied Wie heißes Blut
so rot und voll strömt seiner Töne Flut
und braust dahin, wie schaumgekrönte Wellen,
die trotzig an der eig'nen Kraft zerschellen,
Ein toller Sang lustlechzender Mänaden
ertost es laut in jauchzenden Kascaden.
Und wilder wird der Töne Bacchanal
und wächst zur ungeahnten Sinnesqual.
Und wird ein Schrei, der schrill zum Himmel gellt –
– Dann wirrt der wilde Strom und stirbt und fällt.
Ein Schluchzen noch, das müde sich entringt.
Das Lied verstummt, der matte Bogen sinkt.
Und meine Seele zittert von den Saiten
Zu sphärenklangdurchbebten Ewigkeiten.“
2.Der Pazifist
Finanziell unabhängig, gut ausgestattet, mit Doktortitel und etlichen Publikationen in der Tasche, geben ihm gute Freunde zwei wertvolle und hilfreiche Tipps: Erstens empfehlen sie ihm zu reisen. Das bildet und weitet den Horizont. Das nötige Kleingeld ist vorhanden, also reist Zweig. Es geht nach Paris, Brüssel, Rom und Berlin. Es geht nach Indien und Amerika und diese Reisen verschaffen ihm viele neue Eindrücke über Menschen und Kultur und bescheren ihm dann vor allem: viele wertvolle internationale Kontakte, die ihm in späteren Jahren noch sehr helfen werden. Unter anderem lernt er einige große Dichter und Denker kennen, so auch Emile Verhaeren, einen belgischen Dichter, der in Französisch schreibt. Und hier greift der zweite wichtige Tipp: Er geht gewissermaßen auch nochmal in die Schule, die Lebensschule könnte man sagen, genauer die Sprachschule: Er übersetzt die großen Dichtungen des schon berühmten Dichters ins Deutsche und schärft dabei vor allem seine eigene Sprache. Gerade weil man beim Übersetzen nicht einfach jedes Wort nur 1:1 transferieren kann, sondern den Sinn und Gehalt im Blick haben muss und dann gegebenenfalls auch noch das Versmaß und den Reim, sind das sehr hilfreiche Übungen zur Erweiterung des eigenen Wortschatzes und der eigenen Ausdrucksfähigkeit. In späteren Jahren spürt man dieses akribische und sensible Arbeiten an seinen eigenen Texten.
Im Grunde ist Stefan Zweig also gut auf eine angesehene und renommierte Karriere als Schriftsteller vorbereitet, da ändert der Ausbruch des 1. Weltkrieges alles. Nach den ersten Hallelujagesängen und euphorischen Kriegs-, vor allem Siegeshymnen stellt sich alsbald eine radikale Ernüchterung ein. Zweig arbeitet in einem Kriegsarchiv und im Auftrag der Propaganda, die die Kampfmoral hochhalten bzw. befeuern soll. Im Rahmen seiner Tätigkeit, einer Berichterstattung von der Front, überzeugen ihn die Begegnung mit einem Lazarettzug und die katastrophalen und verrohten Verhältnisse in den Schützengräben alsbald davon, dass dieser Krieg in einem absoluten Desaster enden wird. In ihm jedenfalls rumort die Frage, welchen konstruktiven Beitrag denn eigentlich die Dichter und Denker in Zeiten des Krieges leisten können. Die Waffen segnen? Bildzeitungsartikel schreiben? Einen wegweisenden Impuls erhält er bei einem Besuch in der Schweiz. Hier trifft er Romain Rolland, einen französischen Dichter, Schriftsteller (Literaturnobelpreis 1915) und einen der wenigen Friedensaktivisten jener Tage. Der ist im Auftrag und bei dem Roten Kreuz tätig, im Lazarett und verbindet die Verwundeten, Verstümmelten, die Opfer des Krieges. Das hinterlässt bei Zweig einen bleibenden Eindruck: Er schließt sich den pazifistischen Denkern an. Gewalt ist keine Lösung zur Befriedung eines Konfliktes. Er beginnt mit einem Bühnenwerk, das genau diesem Thema gewidmet ist:
„Jeremias“ (Text ist digital gut erreichbar unter: Zweig, Stefan (projekt-gutenberg.org) heißt es und orientiert sich an der biblischen Vorlage. Erstaunlicherweise muss er da gar nicht viel umschreiben: Im Grunde muss er den Text nur in passende Verse gießen. Denn das Jahr 589 vor Christus zeigt gewisse Parallelen zur Gegenwart (sc. den 1. Weltkrieg):
Der König von Juda, Zedekia, schmiedet ein Bündnis mit Ägypten, um sich von der Herrschaft des Nebukadnezars, des Königs von Babylon zu befreien.
Alles jauchzt und schreit begeistert angesichts der neu gewonnenen Stärke. Aber nicht allzu lang. Nebukadnezar schlägt zurück, Ägypten gibt klein bei bzw. wird militärisch besiegt und bald steht Nebukadnezar vor den Toren Jerusalems. Jeremias, der Prophet, der von Anfang an von diesem Aufstand abgeraten hat, versucht den König von einer friedlichen Lösung zu überzeugen: Besser jetzt klein beigeben als ein ganzes Volk zu verderben. Der König lehnt ab. Nach ca. 18monatiger Belagerung bricht der Widerstand zusammen, Zedekias Kinder werden umgebracht, er selbst geblendet, die Eliten abgeführt, das Volk, am Boden zerstört, erkennt, dass der Prophet Recht behalten hat. Ein Klage- und Bußgesang hebt an. Zweig schreibt dieses Werk wohl über dri Jahre, 1917 ist es fertig und auf den Markt gebracht und hat überwältigenden Erfolg. Es trifft wohl einen Nerv der Zeitgenossen, die sich nach drei Jahren Krieg nichts mehr wünschen als Frieden. In kurzer Zeit sind 20 000 Exemplare verkauft und das Stück wird auf die Bühne gebracht. Spätestens wenn die Anzahl der Leichen für die Gedenktafeln zu viele werden und wenn die traumatisierten, verstümmelten, deformierten Körper und Seelen sichtbar für alle das zivile Leben erreichen, setzen die Überlegungen für den Frieden ein. Das dürfte auch heute so sein. Zweig hat diese Beobachtung/Erkenntnis in zahlreichen anderen Erzählungen aufgenommen. Besonders eindrücklich in der Novelle „Der Zwang“. Zweig, Stefan (projekt-gutenberg.org), von der wir hier eine kurze Zusammenfassung hören:
„Der junge deutsche Maler Ferdinand R. aus M. hat sich in einem Dorf über dem Zürichsee eine kleine Wohnung gemietet und ein Atelier eingerichtet und lebt dort mit seiner Frau. Der tiefe Frieden erweist sich als trügerisch. Er erhält per Post in seinem Haus einen Stellungsbefehl aus Deutschland. Seine Ehefrau Paula redet ihm ein, er müsse dem Befehl nicht nachkommen, denn er sei ein freier Mann in einem freien Land. Kanonenfutter für den weiteren Krieg gegen Frankreich sei aus der Schweiz nicht zu haben. Ferdinand aber bekommt keine Ruhe mehr. Sein Gewissen meldet sich. Die Pflicht ruft ihn. Das Vaterland braucht ihn. Gewalt kann nur durch Gewalt beendet werden. Gehorsam macht er sich auf den Weg in sein Heimatland. An der Staatsgrenze aber hat der Maler eine erschütternde Begegnung mit schwer verwundeten französischen Soldaten. Vor dem Übertritt über die Grenze besinnt er sich und kehrt zurück zu seiner Frau Paula.“ Wenn der Preis für den Krieg in die Höhe schnellt und die Folgen genug Leben verstümmelt und vernichtet hat, steigen die Chancen der Pazifisten und Friedensbewegten – eine bittere Lehre und Wahrheit.“
3.Der Europäer
Nach dem ersten Weltkrieg beginnt das erfolgreichste Jahrzehnt im Leben Stefan Zweigs. Sein Bühnenstück „Jeremias“ hat voll eingeschlagen. Seine Botschaft vom Frieden trifft überall auf offene Ohren. Ein großes, teilweise auch demütiges Aufatmen beginnt. Die Menschen sind froh, dass sie mit dem Leben davongekommen sind. Und sie saugen begierig auf, was die Dichter und Denker ihnen an Nahrung für den Alltag zu lesen geben. Auch und vor allem Stefan Zweigs Novellen haben Erfolg. Der Inselverlag (mit dem Gründer Anton Knippenberg) wird sein Hausverlag. Auch privat tut sich etwas: Er lässt sich in Salzburg nieder. Er wohnt im Paschinger Schlössl am Kapuzinerberg. Zu Beginn des Jahres 1920 heiratet er Friderike von Winternitz, eine frühe Verehrerin seiner Dichtkunst. Sie bringt zwei Mädchen aus einer ersten Ehe mit in die Beziehung, mit denen Zweig allerdings nur bedingt gut zurechtkommt. Da Friderike recht tolerant, besser leidensfähig, ist, hält diese Beziehung einiges aus und währt immerhin auch knapp 15 Jahre.
In Salzburg besuchte ihn die geistige Elite Europas. Dichter, Maler, Musiker, Denker, alle geben sich bei Zweig ein Stelldichein (u.a. auch Hesse, Rilke). Und Zweig lässt sich von der Idee anstecken, dass Europa geistig geeint werden kann. Unter anderem durch die Kultur schaffenden Dichter und Denker, die sich international von West bis Ost vernetzen und gegenseitig Anregungen geben und eine Humanität befördern, die einen weiteren Krieg unmöglich machen soll/wird. Zweig ist so u.a. auch in Russland unterwegs, Maxim Gorki ist ein aufmerksamer Leser seiner Bücher und Essays. Das verbindet.
Zweig ist auf dem Gipfel seines Schaffens angekommen: Er hat eine geradezu geniale Beobachtungsgabe. Und vermag Konflikte und Spannungen des Lebens so in Worte zu fassen, dass diese Worte beim Lesen geradezu zu einem lebendigen Film werden. Ich bin da im Urlaub mehrmals in seine bildhafte Welt getaucht. Dazu ist Zweig ein messerscharfer Chronist der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse seiner Zeit. In seinem Spätwerk „Die Welt von gestern“ (Angaben, siehe oben) etwa beschreibt er Atmosphäre und Besonderheiten der zwanziger Jahre, die merkwürdigerweise oder zufälligerweise eine Reihe von Parallelen zu unserer Gegenwart aufweisen. Einer bis dahin nie erlebten Inflation mit verheerenden Folgen korrespondiert ein Aufbruch in zahlreichen Bereichen der gut bürgerlichen Gesellschaft. Wir hören eine Passage aus S. Zweig: Die Welt von gestern, München 2021, Seite 397-401:
„Eine ganz neue Jugend glaubte nicht mehr an ihre Eltern, den Politikern, den Lehrern; jede Verordnung, jede Proklamation des Staates wurde mit misstrauischem Blick gelesen. Mit einem Ruck emanzipierte sich die Nachkriegsgeneration brutal von allem bisher Gültigen und wandte jedweder Tradition den Rücken zu, entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, weg von alten Vergangenheiten und mit einem Schwung in die Zukunft.
Eine vollkommen neue Welt, eine ganz andere Ordnung sollte auf jedem Gebiete des Lebens mit ihr beginnen; und selbstverständlich begann alles mit wilden Übertreibungen. Wer oder was nicht gleichaltrig war, galt als erledigt. Statt wie vordem mit ihren Eltern zu reisen, zogen elfjährige, zwölfjährige Kinder in organisierten und sexuell gründlich instruierten Scharen als Wandervögel durch das Land bis nach Italien und an die Nordsee. In den Schulen wurden nach russischem Vorbild Schülerräte eingesetzt, welche die Lehrer überwachten, der Lehrplan umgestoßen, denn die Kinder sollten und wollten bloß lernen, was ihnen gefiel. Gegen jede gültige Form wurde aus bloßer Lust an der Revolte revoltiert, sogar gegen den Willen der Natur, gegen die ewige Polarität der Geschlechter. Die Mädchen ließen sich die Haare schneiden und zwar so kurz, dass man sie in ihren Bubiköpfen von Burschen nicht unterscheiden konnte, die jungen Männer wiederum rasierten sich die Bärte, um mädchenhafter zu erscheinen, Homosexualität und Lesbierinnentum wurde nicht aus innerem Trieb, sondern als Protest gegen die althergebrachten, die legalen, die normalen Liebesformen große Mode. Jede Ausdrucksform des Daseins bemühte sich, radikal und revolutionär aufzutrumpfen, selbstverständlich auch die Kunst. Die neue Malerei erklärte alles, was Rembrandt, Holbein und Velasquez geschaffen, für abgetan und begann die wildesten kubistischen und surrealistischen Experimente. Überall wurde das verständliche Element verfemt, die Melodie in der Musik, die Ähnlichkeit im Porträt, die Fasslichkeit der Sprache. Die Artikel „der die das“ wurden ausgeschaltet, der Satzbau auf den Kopf gestellt, man schrieb steil und kess im Telegrammstil, mit hitzigen Interjektionen, außerdem wurde jede Literatur, die nicht aktivistisch war, das heißt nicht politisch theoretisierte, auf den Müllhaufen geworfen. Die Musik suchte starrsinnig eine neue Tonalität und spaltete die Takte, die Architektur drehte die Häuser von innen nach außen, im Tanz verschwand der Walzer vor kubanischen und negroiden Figuren, die Mode erfand mit starker Betonung der Nacktheit immer andere Absurditäten, im Theater spielte man Hamlet im Frack und versuchte explosive Dramatik. Auf allen Gebieten begann eine Epoche wildesten Experimentierens, die alles Gewesene, Gewordene, Geleistete mit einem einzigen hitzigen Sprung überholen wollte; je jünger einer war, je weniger er gelernt hatte, desto willkommener war er durch seine Unverbundenheit mit jeder Tradition – endlich tobte sich die große Rache der Jugend gegen unsere Elternwelt triumphierend aus. Aber inmitten dieses wüsten Karnevals bot mir nichts ein tragikomischeres Schauspiel als zu sehen, wie viele Intellektuelle der älteren Generation in der panischen Angst, überholt zu werden und als unaktuell zu gelten, sich verzweifelt rasch eine künstliche Wildheit anschminkten und auch den offenkundigsten Abwegen täppisch hinkenden Schritts nachzuschleichen suchten.
Biedere, brave, graubärtige Akademieprofessoren übermalten ihre einstigen, jetzt unverkäuflich gewordenen Stillleben mit symbolischen Würfeln und Kuben, weil die jungen Direktoren alle andern Bilder als zu klassizistisch aus den Galerien räumten und ins Depot stellten. Schriftsteller, die jahrzehntelang ein rundes, klares Deutsch geschrieben, zerhackten folgsam ihre Sätze und exzedierten in Aktivismus; behäbige preußische Geheimräte dozierten auf dem Katheder Karl Marx, alte Hofballerinen tanzten dreiviertelnackt mit gestellten Verrenkungen die Appassionata Beethovens und Schönbergs Verklärte Nacht. Überall lief das Alter verstört der letzten Mode nach; es gab plötzlich nur den einen Ehrgeiz, „jung“ zu sein und hinter der gestern noch aktuellen eine noch aktuellere, noch radikalere und noch nie dagewesene Richtung prompt zu erfinden…
Welch eine wilde, anarchische, unwahrscheinliche Zeit, jene Jahre, da mit dem schwindenden Wert des Geldes alle anderen Werte in Österreich und Deutschland ins Rutschen kamen! Eine Epoche begeisterter Ekstase und wüster Schwindelei, eine einmalige Mischung von Ungeduld und Fanatismus. Alles, was extravagant und unkontrollierbar war, erlebte goldene Zeiten: Theosophie, Okkultismus, Spiritismus, Somnambulismus, Anthroposophie, Handleserei, Grafologie, indische Yogilehren und paracelsischer Mystizismus. Alles, was äußerste Spannungen über die bisher bekannten hinaus versprach, jede Form des Rauschgifts, Morphium, Kokain und Heroin, fand reißenden Absatz, in den Theaterstücken bildeten Inzest und Vatermord, in der Politik Kommunismus oder Faschismus die einzig erwünschte extreme Thematik; unbedingt verfemt hingegen war jede Form der Normalität und der Mäßigung. Aber ich möchte sie nicht missen, diese chaotische Zeit, nicht aus meinem eigenen Leben, nicht aus der Entwicklung der Kunst. Wie jede geistige Revolution im ersten Anschwung orgiastisch vorstoßend, hat sie die Luft vom Stickig-Traditionellen reingefegt, die Spannungen vieler Jahre entladen, und wertvolle Anregungen sind trotz allem von ihren verwegenen Experimenten zurückgeblieben. So sehr uns ihre Übertriebenheiten befremdeten, wir fühlten doch kein Recht, sie zu tadeln und hochmütig abzulehnen, denn im Grunde versuchte diese neue Jugend gutzumachen – wenn auch zu hitzig, zu ungeduldig – was unsere Generation durch Vorsicht und Abseitigkeit versäumt. Im Innersten war ihr Instinkt richtig, dass die Nachkriegszeit anders sein müsse als die des Vorkriegs; und eine neue Zeit, eine bessere Welt – hatten wir Älteren sie nicht ebenso gewollt…?“
4.Der „Mystiker“
Zweigs Texte, Geschichten und Erzählungen kreisen durchweg um die besonderen Momente und Konstellationen des Daseins. Eine schicksalhafte Begegnung zweier Menschen im Casino. Eine kurze Schlussnotiz aus einem Testament. Die unsterbliche Liebe eines Menschen mit Handicap.
Ein Arzt, der den entscheidenden Moment bei der Hilfe für einen geliebten Menschen verpasst, ein alternder Vater, der in einem überaus klaren Moment im Urlaub verbittert feststellen muss, dass er diese Welt mit ihren Eitelkeiten nicht mehr versteht. In und bei allen diesen Augenblicken wird etwas von dem Geheimnisvollen des Daseins sichtbar. Da blitzt fast so eine Art Mystik durch. Ein Stück Transzendenz. Ein geradezu göttlicher Impuls, der für eine überraschende Wendung, ein eindrückliches Erlebnis, eine letzte Weisheit, eine lehrreiche Erkenntnis sorgt. Zweig war nicht besonders gläubig, und soweit ich sehe, keiner dogmatischen Tradition besonders zugeneigt. Er war da vielmehr immer sehr skeptisch, weil im Grund genommen mit jedem Glauben ein gewisser Dogmatismus, mit jeder Rechthaberei fast immer Fanatismus und Unfrieden einhergeht. So steht Zweig auch einem Johannes Calvin oder einen Martin Luther eher distanziert gegenüber, weil die bei aller genialen Schaffenskraft doch menschlich einiges zu wünschen übriglassen. Bei Calvin ist das etwa die Idee, in Genf eine christlich kontrollierte Gottesstadt zu schaffen. Das ließ nicht sehr viel Spielraum für Toleranz und Andersdenkende und führt bekanntlich dazu, dass etwa ein recht unschuldiger Denker wie Servet auf dem Scheiterhaufen brennen musste. (sehr lesenswert dazu: S. Zweig: Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt, Projekt Gutenberg)
Von Luther wissen wir, dass er gerade in den letzten Jahren ziemlich cholerisch und wütend unterwegs war und seine Ausfälle gegenüber Juden, Muslimen, Hexen, Behinderten sind alles andere als ein Ruhmesblatt. Zweig waren diese Eiferer und Weltveränderer gerade in ihrer apodiktischen Form höchst suspekt. Er sympathisierte mit den feinen Geistern wie dem Humanisten Erasmus (hier sehr inspirierend: S. Zweig: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam, Projekt Gutenberg) oder dem Menschenfreund Castellio (s.o), die zur Durchsetzung ihrer Ziele auf jegliche Gewalt verzichteten und sich aus der Hitze der aufgeheizten Debatten zurückzogen. Zweig tut sich mit allzu dynamischen Vertretern der Institution Kirche also schwer. Sie sind ihm zu laut, zu einseitig, zu drängerisch, zu ungeduldig, zu intolerant. Nichtsdestotrotz hat er ein untrügliches Gespür dafür, dass es im Leben zuweilen auch um letzte Gewissheiten und letzte Überzeugungen geht. Für mich das herausragendste Zeugnis dieser Art stammt aus den „Sternstunden der Menschheit“. Es ist die Erzählung von G.F. Händels Auferstehung, genauer: der Moment, in dem der „Messias“ eines der großartigsten Oratorien der Weltgeschichte entsteht.
„Händel war“, so schreibt es Zweig, „in einer Art Schaffenskrise. Nach einem Schlaganfall hatte er sich mühsam wieder ins Leben zurückgekämpft, aber die genialen Einfälle und kreativen Ideen wollten sich nicht mehr einstellen. Schon drohte ihm das Schicksal eines erloschenen musikalischen Vulkans, von allen Seiten nur Leere und Scheitern. Da kommt das Libretto von Jennens, dem Dichter, der ihm auch den Text zu Saul und Israel in Ägypten geschrieben hat, auf den Tisch. „The Messiah“ stand auf der ersten Seite…
„Er schlug das Titelblatt um und begann zu lesen. Beim ersten Wort fuhr er auf. „Comfort ye“, so begann der geschriebene Text. Sei getrost! Wie ein Zauber war es, dieses Wort – nein, nicht Wort: Antwort war es, göttlich gegeben, Engelsruf aus verhangenen Himmeln in sein verzagendes Her. „Comfort ye“ – wie dies klang, wie es aufrüttelte innen die verschüchterte Seele, schaffendes, erschaffendes Wort. Und schon, kaum gelesen, kaum durchfühlt, hörte Händel es als Musik, in Tönen schwebend, rufen, rauschend, singend. O Glück, die Pforten waren aufgetan, er führte, er hörte wieder in Musik! Die Hände bebten ihm, wie er nun Blatt um Blatt wandte. Ja, er war aufgerufen, angerufen, jedes Wort griff in ihn ein mit unwiderstehlicher Macht. So spricht der Herr, war dies nicht ihm gesagt, und ihm allein, war dies nicht dieselbe Hand, die ihn zu Boden geschlagen, die ihn nun selig aufhob von der Erde? …. Ihm war es gesagt, nur ihm allein, dieses „Ruf aus dein Wort mit Macht, oh, ausrufen, dies, ausrufen mit der Gewalt der dröhnenden Posaunen, des brausenden Chors, mit dem Donner der Orgel, das noch einmal wie am ersten Tag das Wort, der heilige Logos, die Menschen erwecke, sie alle, die andern, die noch verzweifelt im Dunkel gingen, denn wahrlich, noch deckt Dunkel die Erde, noch wissen sie nicht um die Seligkeit der Erlösung, die ihm in dieser Stunde geschehen. Und kaum gelesen, schon brauste er ihm auf, vollgeformt, der Dankruf, wonderful, „counsellor“, „the mighty God“, der mächtige Gott, ja, so ihn preisen, den Wundervollen, der Rat wusste und Tat, ihn der den Frieden gab den verstörten Herzen! … Wie da nicht danken, wie nicht aufjauchzen und jubeln mit tausend Stimmen in der einen und eigenen, wie nicht singen und lobpreisen: „Glory to God!“ Händel beugte sein Haupt über die Blätter wie unter großem Sturm. Alle Müdigkeit war dahin. So hatte er nie seine Kraft gefühlt, noch nie sich ähnlich durchströmt empfunden von aller Lust des Schöpfertums. Und immer wieder wie Güsse von warmem, lösendem Licht strömten die Worte über ihn, jedes in sein Herz gezielt, beschwörend, befreiend! „Rejoice“, Freue dich – wie dieser Chorgesang herrlich aufriss, unwillkürlich hob er das Haupt und die Arme spannten sich weit. Er ist der wahre Helfer – ja, dies wollte er bezeugen, wie nie es ein Irdischer getan, aufheben wollte er sein Zeugnis wie eine leuchtende Tafel über die Welt. Nur der viel gelitten, weiß um die Freude, nur der Geprüfte ahnt die letzte Güte der Begnadigung, sein ist es, vor den Menschen zu zeugen von der Auferstehung um des erlebten Todes willen. ….“Lift up your heads“. Erhebt eure Häupter wie das tönend nun aus ihm drang, großer Befehl der Verkündigung! Und plötzlich erschauerte er, denn da stand, von des armen Jennens Hand geschrieben: „The Lord gave the word“. Der Atem stockte ihm. Hier war Wahrheit gesagt durch einen zufälligen Menschenmund: Der Herr hatte ihm das Wort gesandt, von oben war es an ihn ergangen. Von ihm kam das Wort, von ihm kam der Klang, von ihm die Gnade! Zu ihm zurück muss es gehen, zu ihm aufgehoben werden von der Flut des Herzens, ihm lobzusingen, war jedes Schaffenden Lust und Pflicht. ….“Halleluja! Halleluja! Halleluja!“
Ja, alle Stimmen dieser Erde darin zusammenfassen, die hellen und die dunklen, die beharrende des Mannes, die nachgiebige der Frau, sie füllen und steigern und wandeln, sie binden und lösen im rhythmischen Chore, sie aufsteigen lassen und niedersteigen die Jakobsleiter der Töne, sie beschwichtigen mit dem süßen Strick der Geigen, sie anfeuern mit dem scharfen Stoß der Fanfaren, sie brausen lassen im Donner der Orgel: Halleluja! Halleluja! Halleluja aus diesem Wort, aus diesem Dank einen Jubel schaffen, der von dieser Erde zurückdröhnte bis zum Schöpfer des Alls!“ (S. Zweig, Gesammelte Werke, München 2022, Anacondaverlag, 661-665)
5.Der Jude
Heute, an diesem Tag (13.8.2023) ist der Israelsonntag angesiedelt, jener Tag, an dem die rheinische Kirche insbesondere und gesondert einige Gedanken zu dem Verhältnis von Christen und Juden in Erinnerung bringt. Auch bei Stefan Zweig gibt es ein jüdisches Vermächtnis. Er und seine Familie sind dem liberalen Judentum zuzuordnen. Wichtiger als die nationale oder Volkszugehörigkeit war den Zweigs allerdings die Zugehörigkeit zur abendländisch-christlichen Kultur. Aus früheren Jugendjahren sind eine Reihe Gespräche und Treffen von Stefan Zweig mit Theodor Herzl, dem Haupt-Begründer des politischen Zionismus, überliefert. (S. Zweig: Die Welt von Gestern, Anacondaverlag, München 2021, 141-154) Diese Gespräche hatten sich im Zusammenhang der Arbeit bei der „Neuen Freien Presse“ dessen Feuilltonteil Herzl leitete, ergeben. Während Herzl ein glühender Vertreter und Bewerber der Idee von einem jüdischen Staat war, konnte sich Zweig für diese Variante wenig erwärmen. Die Jüdische Nation verwirklicht sich am besten als globale Kulturnation, nicht aber in Form eines eigenen Staatswesens, so Zweig. Ähnlich argumentierten die großen deutschen Dichter um 1800, als Napoleon halb Europa in Atem hielt und klar war, dass es mit deutscher nationaler Größe nichts werden wird. Auch dort der Gedankengang einer globalen Kulturnation, die sich segensreich auf alle Völker auswirkt.
Also politisch konnte und wollte Stefan Zweig lange Zeit nichts zu seinen jüdischen Wurzeln sagen, wurde dann aber Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre sehr unsanft durch den aufstrebenden NS-Staat unter Adolf Hitler geweckt. Wie empfindlich die Nazis jede erdenkliche Kritik zu ersticken trachteten, hat Zweig erlebt, als seine Novelle „Brennendes Geheimnis“ (1911 geschrieben) verfilmt und just in jenen Tagen in die Kinos kommen sollte, als der Reichstag 1933 brannte. Der Film wurde zügig abgesetzt, obwohl es darin überhaupt nicht um den Reichstag, auch nicht ansatzweise um Politik, sondern um eine mehr oder weniger problematische unerfüllte Liebesgeschichte zwischen einem etwas luftigen Baron und einer verheirateten Frau und ihrem zwölfjährigen Sohn ging. (S. Zweig: Die Welt von gestern, Anacondaverlag, München, 485) Die Nazis wollten eben auch jeden Hauch einer Anspielung auf etwaige politische Verdächtigungen oder Machenschaften zuvorkommen. Ernsthaft und bedrückender war indes ein von der Geheimpolizei unter dem Vorwand, Zweig hätte in seinem Haus Waffen versteckt, durchgeführte Durchsuchung seiner Räumlichkeiten. Natürlich fanden sie nichts, Zweig indes, sensibel für die Zeichen der Zeit, spürte in diesem übergriffigen Akt die Vorboten weiterer noch schlimmerer Zugriffe und beschloss recht schnell und adhoc, Österreich zu verlassen. Es ging Richtung England ins Exil, ohne seine Frau und deren beiden Töchter, die lieber in Österreich bleiben wollten. Allein seine Sekretärin Charlotte Altmann folgte ihm. Mag sein, dass diese neuerliche Wendung in seinem Leben auch für die endgültige Trennung von seiner Frau verantwortlich war, ab jetzt fühlte er den heißen Atem der Nazis mehr oder weniger überall in nächster Nähe.
Als der zweite Weltkrieg ausbrach, galt er auch in England, das seine Bücher gerne las und ihn als Schriftsteller achtete, als „feindlicher Gast“. So heiratete er 1939 seine Sekretärin und beschloss, Europa zu verlassen. Es ging zunächst in die USA und anschließend nach Brasilien, jenem Land, das gleichermaßen von seinen Werken begeistert Visum und Asyl bot. Hier ließ er sich in Petropolis nieder, einem nahe Rio gelegenen Luftkurort und zugleich „Künstlerkolonie“. Und hier entstanden auch seine beiden letzten großen Werke: Die „Schachnovelle“, die sicher biographisch motiviert die Traumata eines diktatorischen Systems meisterhaft in eine Erzählung bannt und das große sehr lesenswerte Werk: „Die Welt von Gestern“, in dem er sein Leben mit den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen der letzten 50 Jahre zusammenfasste und kommentierte. Darin gibt es auch einen Abschnitt zu der Frage, was es mit den Juden, mit Hiob, mit jener Warum-Frage auf sich hat, die das jüdische Volk wie kein Zweites mit sich herumträgt und in immer neuen Wendungen verarbeitet hat. (S. Zweig: Die Welt von gestern, Anacondaverlag, München, 562- 564)
„Aber das Tragischste in der jüdischen Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts war, dass die sie erlitten keinen Sinn mehr in ihr finden konnten und keine Schuld. All die Ausgetriebenen der mittelalterlichen Zeiten, ihre Urväter und Ahnen, sie hatten zumindest gewusst, wofür sie litten: für ihren Glauben, für ihr Gesetz. Sie besaßen noch als Talisman der Seele, was diese von heute längst verloren, das unverbrüchliche Vertrauen in ihren Gott. Sie lebten und litten in dem stolzen Wahn, als auserlesenes Volk vom Schöpfer der Welt und der Menschen bestimmt zu sein für besonderes Schicksal und besondere Sendung, und das verheißende Wort der Bibel war ihnen Gebot und Gesetz. Wenn man sie auf den Brandstoß warf, pressten sie die ihnen heilige Schrift an die Brust und spürten durch diese innere Feurigkeit nicht so glühend die mörderischen Flammen. Wenn man sie über die Länder jagte, blieb ihnen noch eine letzte Heimat, ihre Heimat in Gott, aus der keine irdische Macht, kein Kaiser, kein König, keine Inquisition sie vertreiben konnte.
Solange die Religion sie zusammenschloss, waren sie noch eine Gemeinschaft und darum eine Kraft; wenn man sie ausstieß und verjagte, so büßten sie für die Schuld, sich bewusst selbst abgesondert zu haben durch ihre Religion, durch ihre Gebräuche von den anderen Völkern der Erde. Die Juden des zwanzigsten Jahrhunderts aber waren längst keine Gemeinschaft mehr. Sie hatten keinen gemeinsamen Glauben, sie empfanden ihr Judesein eher als Last denn als Stolz und waren sich keiner Sendung bewusst. Abseits lebten sie von den Geboten ihrer einstmals heiligen Bücher, und sie wollten die alte, die gemeinsame Sprache nicht mehr. Sich einzuleben, sich einzugliedern in die Völker um sie, sich aufzulösen ins Allgemeine, war ihr immer ungeduldigeres Streben, um nur Frieden zu haben vor aller Verfolgung, Rast auf der ewigen Flucht. So verstanden die einen die andern nicht mehr, eingeschmolzen wie sie waren in die andern Völker. Franzosen, Deutsche, Engländer, Russen längst mehr als Juden. Jetzt erst, da man sie alle zusammenwarf und wie Schmutz auf den Straßen zusammenkehrte, die Bankdirektoren aus ihren Berliner Palais und die Synagogendiener aus den orthodoxen Gemeinden, die Pariser Philosophieprofessoren und die rumänischen Droschkenkutscher, die Leichenwäscher und Nobelpreisträger, die Konzertsängerinnen und die Klageweiber der Begräbnisse, die Schriftsteller und die Branntweinbrenner, die Besitzenden und die Besitzlosen, die Großen und die Kleinen, die Frommen und die Aufgeklärten, die Wucherer und die Weisen, die Zionisten und die Assimilierten, die Aschkenasi und die Sephardim, die Gerechten und die Ungerechten, und hinter ihnen noch die verstörte Schar derer, die längst dem Fluche entflüchtet zu sein glauben, die Getauften und die Gemischten – jetzt erst zwang man den Juden zum ersten Mal seit Hunderten Jahren wieder eine Gemeinsamkeit auf, die sie längst nicht mehr empfunden, die seit Ägypten immer wiederkehrende Gemeinsamkeit der Austreibung. Aber warum dies Schicksal ihnen und immer wieder ihnen allein? Was war der Grund, was der Sinn, was das Ziel dieser sinnlosen Verfolgung? Man trieb sie aus den Ländern und gab ihnen kein Land. Man sagte: Lebt nicht mit uns, aber man sagte ihnen nicht, wo sie leben sollten. Man gab ihnen die Schuld und verweigerte ihnen jedes Mittel, sie zu sühnen. Und so starrten sie sich an auf der Flucht mit brennenden Augen – warum ich? Warum du? Warum ich mit dir, den ich nicht kenne, dessen Sprache ich nicht verstehe, dessen Denkweise ich nicht fasse, mit dem mich nichts verbindet? Warum wir alle? Und keiner wusste Antwort. Selbst Siegmund Freud, das klarste Ingenium dieser Zeit, mit dem ich oft in jenen Tagen sprach, wusste keinen Weg, keinen Sinn in diesem Widersinn. Aber vielleicht ist es gerade des Judentums letzter Sinn, durch seine rätselhaft überdauernde Existenz Hiobs ewige Frage an Gott immer wieder zu wiederholen, damit sie nicht völlig vergessen werde auf Erden.“
6.Der Humanist
Letzte Zufluchtsort Petropolis. Der zunächst als Diktator, später als Präsident gewählte Getulio Vargas, ein begeisterter Fan von Zweigs Werken, gewährt ihm unbeschränktes Aufenthaltsrecht und Asyl in Brasilien, jenem Land, dem Zweig aus Dankbarkeit, möglicherweise auch aus echter Begeisterung, ein eigenes Buch gewidmet hat, in dem er es als Sehnsuchtsort und Zukunftsland beschrieb. Das entsprach mit etwas Abstand gesehen, nicht ganz der politischen Wirklichkeit, wohl aber einem inneren Bedürfnis von Stefan Zweig: Endlich an einem Ort, an dem ihm die Schergen der Nazis nicht mehr oder sollte man besser sagen: noch nicht erreichen konnten. Denn die Nachrichten in jenen Tagen sind bedrückender als je zuvor. Paris ist besetzt, halb Europa von den Nazis schon erobert, dazu hat Japan den USA den Krieg erklärt, Pearl Harbour macht deutlich, dass dieser Krieg noch lange nicht zu Ende gehen wird. Eine Reihe von deutschen U-Booten versenken vor den Hafenstädten Brasiliens diverse Transport- und Passagierschiffe. Für Stefan Zweig zieht sich die Schlinge immer weiter zu.
Er bringt jedenfalls nicht mehr die Kraft auf (wie noch im und nach dem ersten Weltkrieg und bis weit in die dreißiger Jahre hinein), sich noch einmal gegen den Untergang zu stemmen. Seine Hoffnung, dass die Dichter, Denker, Humanisten, Gutgläubigen dieser Welt die Barbarei aufhalten oder gar überwinden könnten, schwindet ihm. Er sieht keinen letzten Anker für sich und sein Leben mehr, der Freitod scheint ihm die logischste und sinnvollste Variante zu sein. Und so nimmt er sich am 23. Februar 1942 mit einer Überdosis Veronal das Leben. Sein letztes literarisches Vermächtnis ist ein Gedicht, das seinen Gemütszustand in diesen Tagen gut wiedergibt. (Stefan Zweig: Silberne Saiten, Fischerverlag,Frankfurt1982, 270)
„Linder schwebt der Stunden Reigen
Über schon ergrautem Haar,
Denn erst an des Bechers Neige
Wird der Grund, der gold’ne klar.
Vorgefühl des nahen Nachtens
Es verstört nicht – es entschwert!
Reine Lust des Weltbetrachtens
Kennt nur, wer nichts mehr begehrt,
Nicht mehr fragt, was er erreichte,
Nicht mehr klagt, was er gemißt,
Und dem Altern nur der leichte
Anfang seines Abschieds ist.
Niemals glänzt der Ausblick freier
Als im Glast des Scheidelichts,
Nie liebt man das Leben treuer
Als im Schatten des Verzichts.“
Der Schierlingsbecher ist ihm bereitet, er sieht sich in einem folgerichtigen Abschied von der Welt gestellt und beschließt, diesen letzten Akt der Verzweiflung zu vollziehen. Seine Lebensgefährtin Charlotte Altmann folgt ihm unmittelbar. Der an seiner Zeit, genauer: an der Brutalität seiner österreichischen und deutschen Landsleute zerbrochene Emigrant fühlte sich endlich „entschwert“. Seinen Freunden ruft er diese letzten Zeilen zu: „Ehe ich aus freiem Willen und mit klaren Sinnen aus dem Leben scheide, drängt es mich eine letzte Pflicht zu erfüllen: diesem wundervollen Lande Brasilien innig zu danken, das mir und meiner Arbeit so gute und gastliche Rast gegeben. Mit jedem Tage habe ich dies Land mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet. Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschließen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen: Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus. Stefan Zweig Petropolis 22. II 1942 (zitiert nach: Abschiedsbrief Stefan Zweigs – Wikisource)
Die Öffentlichkeit ist erschüttert, die Dichterkollegen sind bestürzt, teilweise auch mit großem Unverständnis unterwegs, später relativiert sich so mancher moralischer Schnellschuss. Das Leben ist weit mehr als ein auskömmliches Essen und Trinken, ein Dach überm Kopf, ein Bankkonto für die finanzielle Sicherheit. Das Leben ist mehr als ein paradiesische Naturumfeld/Luftkurort mit üppigem Sonnenschein und ausreichend Regen. Das Leben ist mehr als Briefkorrespondenz, Anerkennung, Erfolg, Lobpreisungen und Auszeichnungen. Das Leben ist im letzten Grunde Zugehörigkeit. Die findet man als Humanist und Agnostiker im fremden Land nur schwer oder gar nicht. Und das ist vielleicht die eigentliche Tragik dieses Todes: Dass da kein Halt, kein Anker, keine Bezugsgröße da ist, mit der man die schwierigen Zeiten überleben kann. Diese Zugehörigkeit ist und bleibt ein Geschenk, ein Geschenk, das man hoffentlich und immer wieder aber im Vertrauen auf den findet, der uns in seinen Händen hält, auch und gerade dann wenn wir sonst keinen Halt mehr finden. Deshalb und darum jetzt ein Lied, das an diesen letzten Halt erinnert:
Jonasingers: I almost let go
1.I almost let go Ich hätte fast losgelassen
I felt like I just Ich hatte den Zugriff auf das
couldn´t take life anymore. Leben irgendwie verloren.
My problems hat me bound Meine Probleme banden mich
Depression weighed me down Depressionen drückten mich
But God held me close, Aber Gott hielt mich fest
so I wouldn´t let go. So wurde ich nicht losgelassen
God´s mercy kept me Gottes Gnade hielt mich
So I wouldn´t let go. (2x) so wurde ich nicht losgelassen
Refr.So I´m here today So bin ich heute hier
because God kept me weil Gott mich hält
I´m alive today Ich bin lebendig
Only because of his grace allein auf Grund seiner Gnade
Oh, he kept me. Oh, er hält mich
God kept me. He kept me Gott hält mich. Er hält mich
so I wouldn´t let go. Deshalb lasse ich nicht mehr los.
- I almost gave up. Ich hätte fast losgelassen
I was right at the edge Ich war nah dran an einem
of a break- through Zusammenbruch,
but couldn´t see. Ich konnte nichts mehr sehen
The devil really had me Der Teufel hatte mich im Griff
But Jesus came aber Jesus kam
and grabbed me und ergriff mich
And he held me close, und hielt mich ganz fest
so I wouldn´t let go. Deshalb ließ ich nicht mehr los
God´s mercy kept me Gottes Gnade hält mich
so I wouldn´ t let go. Darum lasse ich nicht mehr los
Refr.So I´m here today… So bin ich heute hier
Refr.So I´m here today So bin ich heute hier
because God kept me weil Gott mich hält
I´m alive today Ich bin lebendig
Only because of his grace allein auf Grund seiner Gnade
Oh, he kept me. Oh, er hält mich
God kept me. He kept me (3x) Gott hält micht Er hält mich
…so I wouldn´t let go. Deshalb lasse ich nicht mehr
P.S. Wesentliche Erkenntnisse zu S. Zweig Leben und Werk insgesamt habe ich entnommen von: Oliver Matuschek: Stefan Zweig. Drei Leben. Eine Biographie, Fischerverlag, Frankfurt, 2018,4. Auflage.
10.So.n.Trin. ("Israelsonntag"), 13.08.2023, Stadtkirche, 5.Mose 4, 5 - 20, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 10.n.Trin („Israelsonntag“) - 13.VIII.2023
5.Mose 4, 5 – 20
Liebe Gemeinde!
5.Mose - „Deutero-Nomium“ - ist schon dem theologischen Namen nach das erste Rebranding, also der erste Versuch, eine ehrwürdig etablierte, aber irgendwie als abgenutzt und angestaubt geltende Marke zu verjüngen.
Wir kennen die Masche und auch die Not sehr gut.
Und auch wenn es in aller Regel trotz aller Berater-Poesie nicht annähernd so verjüngend und aufregend und verheißungsvoll ist wie behauptet, sich ein neues Logo, einen neuen Claim, ein neues Image zu basteln – wenn man immer schon einen Vogel hatte und plötzlich alles durchkreuzt, wird ja das Anliegen dadurch nicht klarer –, so schustern und schneidern wir doch alle unverdrossen mit bei den Kleiderwechseln und den Facelifts und den Anpassungsstrategien, die die Welt zu verlangen scheint. Ob bei der Kaiserswerther Diakonie oder der Recke-Stiftung in unserer Nachbarschaft: Kampagnen, neue Logos, neues „Wir-Gefühl“, neue Wahrnehmung mit einem poppigen Bild und knackigen Slogan zu lancieren, sind eben auch für uns der aus dem Aufmerksamkeitsdefizit herrührende letzte Schrei.
So dass „Kirche 2.0 oder 3.0“ wie das entsprechende Aufrüsten der Muttergottes zu „Maria 2.0“ uns kaum noch befremden.
… Und wenn doch, … wenn so ein hinterwäldlerisches Urviech wie ich immer noch meint, eine sich selber treue Kirche genüge und an der einen reinen Magd gebe es genug zu lieben, man müsse also nicht alles pimpen und peppen und durch Quadratur hoch Zwei irgendwie marktgängiger machen, … nun, dann kommt ausgerechnet die alte Bibel und macht es uns vor! Denn ihre Grundlage, ihr Urtext ist ja genau das: Ein Kern, der aus sich heraus erneuert wird. Ein Corpus, das sich in geschichtlich und geistlich gewandelter Gestalt wiederholt und darin auch erholt. Eine Wirklichkeit und Wahrheit, die bleiben, indem sie immer wieder anders gesagt, gehört, geschrieben, gelesen, gedeutet, geglaubt und gelebt werden.
Nicht nur, dass die Schriftlesung – in der wir das griechische Zeugnis des aramäisch sprechenden Jesus auf Deutsch hörten – uns heute gelehrt hat, wie das Neue Testament, der Neue Bund keinen anderen Gehalt, Sinn und Segen hat als der ewig ursprüngliche Bund, das ewig ursprüngliche Testament, das uns in der Hebräischen Schrift begegnet (vgl. Matth5, 17-20). … Nein, schon dieser erste Bund, dieses immer fälschlich so genannte „Alte“ Testament ist ein stetes Sich-Erneuern, Aktualisieren und Gegenwärtig-Erweisen des einen Wortes und Willens Gottes in allen Generationen und Situationen des Bundesvolkes und der Gemeinde.
Die Gabe der Torah am Sinai, diese noch in der überlebensfeindlichen Wüste vor der langen Wanderung gegebene Lebensordnung für ein sesshaftes Israel wird im 5.Buch Mose, am Ende der Zerreißprobe dieses vierzigjährigen „Noch nicht“, kurz vor der Erfüllung der Hoffnung auf Freiheit und Frieden also neu formuliert: Torah 2.0.
Und immer wieder vollzieht sich dann in den Taten und Entscheidungen der Richter, in den großen Verfassungen und trotz des anarchischen Verfalls der Königszeit, in den penetranten und pointierten Mahnungen und Lockungen der Propheten, in der feierlichen Bundeserneuerung unter König Josia (vgl. 2.Könige 22-23,3) und auch nach der Katastrophe des Exils noch im Buß- und Bekenntnisakt unter Esra die Erneuerung des Bundes in, mit und für Israel: Ein immer, immer wieder neues Testament: … Torah 3.0, … 4.0, … 5.0, … 6.0.
… Torah – Bund der Ordnung und Verheißung, Gesetz der Gerechtigkeit und Heilig-keit – in unveralteter, immer neuer Gültigkeit und Gegenwärtigkeit; Torah in Ewigkeit. ——
Das ist doch ein erbaulicher Grund-Satz am Israel-Sonntag.
Neuer, neuer, immer neuer ist der Bund und bleibt’s auch. …
Allerdings ist die ideal in unsere Zeit der Updates und Makeovers passende ständige Selbstaktualisierung der Botschaft Gottes in ihrer Forderung wie in ihrer Zusage nur die eine Seite dessen, worum es hier geht.
Neben der unbeirrten Hartnäckigkeit, in der Gott an Seiner Erwählung und am entsprechenden Lebensentwurf für die Seinen festhält, gibt es ja noch die andere Seite.
Zum „Neuer, neuer, immer neuer“, für das Gott garantiert, indem Er die Offenbarung Seines Willens durch Seinen Geist und Seine Zeugen stets lebendig hält, gehört, dass jede Zeit und jeder Mensch durch die jeweils gegenwärtige Botschaft zu einer je eigenen, je heutigen Reaktion gefordert ist. Wenn Gott Sein „Neuer, neuer, neuer“ im mit Israel geschlossenen und durch Jesus Christus allen offenstehenden Bund also immer durchhält, dann sind wir Menschen gefragt, ihm mit „Treuer, treuer, immer treuer“ zu entsprechen.
Der alte Bund also bleibt immer neu.
… Aber wäre der Mensch ihm jemals treu? …
Es gäbe Schreckliches darauf zu antworten. Schreckliches aus jeder Epoche der Vergangenheit, Schreckliches auch aus jeder Facette unserer Gegenwart.
Wie sehr wir untreu sind und wie wir alles veruntreuen, ist gar nicht aufzuzählen:
Unsre Seelen veruntreuen wir, lassen sie verhunzen, verhungern und verkümmern in der stofflichen Scheinwelt, die uns durch Reichtum unzufrieden macht.
Die Natur veruntreuen wir scham- und restlos mit einer Unersättlichkeit, die verrät, dass nicht Schöpfung, sondern Vernichtung die verborgene Triebfeder jenes Menschheitsegoismus ist, der sich für unabhängig von allen anderen Geschöpfen wähnt.
Die Schönheit veruntreuen wir, indem wir sie maschinell errechnen lassen; die Freiheit veruntreuen wir, indem wir den allgemeinsten Nenner unserer Gattung zu einem Individualprinzip verkrümmen; die Wahrheit veruntreuen wir in dem Augenblick, in dem wir das Maul aufmachen oder den Computer hochfahren. Usw., usw., usw.
„Neuer, neuer, neuer“? „Treuer, treuer, treuer“? – … Ach, von wegen: Bescheuer-, bescheuer-, immer bescheuerter!
Doch heute, am Israelsonntag, an dem uns der Anfang der zweiten Torah begegnet, die aktualisierte Verpflichtung, der erneuerte Bund, den Mose am Jordanufer zum Schluss seines Wüsten- und Lebensweges noch einmal für Israel auftat, … heute am Israelsonntag soll nur eine unserer zahllosen Untreuen uns bewegen.
…. Da aber muss man kurz Luft holen. Aus gutem, …. vielmehr abgründigem Grund haben wir uns nunmehr fünfzig Jahre lang gescheut, in der Kirche die tödliche alte Sprechweise zu wiederholen, … die tödliche biblische - also innerjüdische - Sprechweise zu wiederholen, in der Israel und die Untreue in einem Atemzug genannt werden.
Gewiss bei den Propheten reimt sich Israel auf Sünde besser noch als „treu“ sich auf „neu“ reimt.
Aber die mörderische Brutalität, in der die Kirche zweier Jahrtausende Gott und Israel keine Erneuerung und beiden Seiten keine Treue mehr zugestand, sondern sich zum selbsternannten Vollstrecker eines wortbrüchigen Gottes machte, dessen Bundesschwüre angeblich alle durch die Untreue Israels hinfällig gemacht worden waren, … diese abgrundtiefe Brutalität der Kirche ist und bleibt trotz alles Umkehrens und -denkens ihr unverwischbarer Schandfleck. ——
Indes: Israel bleibt eben nicht unverändert das passive, ausgestoßene, ghettoisierte, entrechtete, bis an die Enden der Erde zerstreute und im Dritten Reich dann durch Deportation gesammelte Volk der Schoah.
… Neu und neuer, … tatsächlich erneuert: Das ist ja das ungeheuerliche Weltgeschehen, das der Hybris der deutschen „Endlösung“ folgte.
… Gerade kein Ende, sondern ein neuer Anfang! ———
Das aber – dass es kein endgültiges Ende gibt! – ist der Grund, weshalb ich heute, mit leiser Stimme zum ersten Mal in meinem Dienst bewusst in einem Atemzug von Israel und Untreue sprechen werde:
Israel – ich rede vom neuen Staat, aber leider auch von den ultrareligiösen Kräften, die dort eine Pseudo-Vergangenheit, einen alten Bund erzwingen wollen, der ganz und gar scheußlich wäre – … Israel heute also wirkt wieder (wie so regelmäßig) als ein Brennspiegel menschheitlicher Geschicke und geschichtlicher Strömungen im Kampf von Geist und Ungeist.
Denn was die Menschheit insgesamt in unserer Zeit betreibt und wodurch sie sich selber zutiefst bedroht, das gibt sich besorgniserregend grell und heroisch umkämpft gerade in Israel zu erkennen: Das Veruntreuen des Rechtes.
Moses hat Israel damals, noch östlich des Jordan bei der Erneuerung der Sinai-Torah und der Wiederholung der Zehn Gebote so angesprochen: „Haltet und tut diese Gebote und Rechte. Denn darin zeigt sich den Völkern eure Weisheit und euer Verstand. Wenn sie alle diese Gebote hören werden, dann müssen sie sagen: Was für weise und verständige Leite sind das, ein herrliches Volk!“
Die Beachtung des göttlichen Gesetzes, die Verallgemeinerungsfähigkeit des Geistes der Torah und ihrer Moral und Weisheit und also die menschheitliche Allgemeinheit, die Universalität dieser Rechtsordnung, die sich allen Völkern erschließt, weil sie sich auf alle Völker erstreckt, sind Israel also aufgetragen.
Dass das Leben aller Menschen Schutz verdient, dass sie vor Eingriffen in ihre Beziehungen geschützt werden müssen, dass geistige und materielle Güter - Eigentum und Wahrheit - schutzwürdig sind, weil Gott, Der aus der Knechtschaft in Ägypten führt, der Garant von Freiheit, … weil Gott, Der den Sabbat gestiftet hat, der Garant des Friedens ist: Das ist der Katalog der Grundgesetze und Grundrechte, die in den Zehn Geboten die niemals alte, immer neue Torah ergeben, von der kein noch so kleiner Buchstabe, kein Tüttelchen abgeschafft werden, sondern bis Himmel und Erde vergehen stets besser und reicher mit Leben erfüllt werden soll (vgl. Matth.5,18).
Ohne nun in die Einzelheiten des augenblicklichen politischen und juristischen Dramas in Israel zu gehen, lässt sich mit den feierlichen Worten des Mose festhalten: Wenn in Israel Rechte beschränkt, wenn sie begrenzt und zurückgenommen werden, wenn die Achtung vor der Unantastbarkeit der weltlich, aber auch göttlich geschützten allgemeinen Grundrechtsordnung wankt und Willkür zugelassen werden soll, wenn Frauen und die arabische Bevölkerung eingeschüchtert werden und Christen gewaltsam bedroht, dann schreit das zum Himmel. Dann veruntreut Israel das Recht.
… Nur dass wir uns nicht etwa erheben! Nur dass wir nicht etwa meinen, wir seien treuer, … bei uns sei das Recht besser geschützt. Die ekelhafte Rückabwicklung des Rechtes, das allen gebührt, zu Sonder- und Gruppenrechten von Mehrheiten oder von Radikalen oder von Bestechlichen oder von Brutalen, findet auch bei uns Anhang und Anklang.
Genau darum aber gilt Jesu Wort (Matth.5,20) nur umso dringlicher: „Besser muss unsere Gerechtigkeit werden!“
Unser Vorsatz dabei muss nun aber sein, in der Rechtsordnung in dieser Welt die Nähe Gottes zu erkennen und zu bekennen, … die Nähe Des Unsichtbaren, Der gegenwärtig ist in Allem und in Allen und Dem gerade darum kein Einzelbild, kein Einzelzug, keine Einbildung und Eingrenzung, keine Bevorzugung unserer eigenen Art, keine Vergötzung unserer eigenen beschränkten Vorstellungen entspricht: Denn ihr habt keine Gestalt gesehen an dem Tag, da der HERR mit euch redete aus dem Feuer .
Ja, diesem unendlich großen Gott gibt nur die Ehrfurcht vor dem Allgemeinsten und Konkretesten, vor dem Abstraktesten und dem Lebendigsten die Ehre: Die Ehrfurcht, die bekennt, dass ER der HERR über alle ist, Der alle übertrifft, aber daher auch alle umfasst, alle verbindet, alle beruft, alle begnadet, alle berechtigt und alle erlöst!
Dieses Recht, das allen gilt, diese Gerechtigkeit Gottes, die Sein Recht allen zuspricht, immer wieder neu zu ehren und zu üben, zu heiligen und zu verteidigen, ist die Sendung Israels und der Kirche in der Welt.
Denn – so sagt es ein ganz herrliches und tagespolitisch auch ganz widerständiges Wort aus Psalm 99(4) in Luthers Übersetzung – „Im Reiche dieses Königs hat man das Recht lieb“!
Und deshalb können wir heute nicht schließen, ohne einige Liebhaber des Rechtes zu nennen und uns innerlich - und wo nötig auch äußerlich - an ihre Seite zu stellen, um die Erneuerung und Stärkung des Rechtes gegen alle Angriffe und Aushöhlungen als Gebot Gottes an unsere Zeit zu erfassen.
Denken wir an den Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz, Pinchas Goldschmidt, der diese Woche die zunehmende Aggression gegen Christen und christliche Einrichtungen in Israel verurteilt hat! Im Reiche dieses Königs hat man das Recht lieb!
Denken wir auch den Staatspräsidenten Israels, Jizchak Herzog, der am Mittwoch in Haifa ostentativ das Kloster „Stelle maris“ besucht hat, das in den vergangenen Wochen wiederholt von gewaltbereiten Ultraorthodoxen umzingelt und angegriffen wurde. Was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk!
Am allermeisten aber will ich uns heute mit Shikma Bressler geistig verbinden, einer renommierten Teilchenphysikerin und Mutter von fünf Töchtern, die am Fuß des Karmel lebt.
Shikma Bressler ist die junge und gewinnende Gallionsfigur der Bewegung von vielen hunderttausend Israelis, die sich mit der Schwächung und Brechung des Rechtes durch die geplante Justizreform nicht abfinden und so kraftvoll gegen einen Weg Israels in Nationalismus, Ideologie und Autokratie protestieren.
Eigentlich ist sie ausgelastet mit Forschungen, die den großen Geheimnissen der Physik gelten und mit den Sorgen und dem Glück aller Mütter in dieser zerbrechlichen Phase der Weltgeschichte. Aber in der Verteidigung des Rechtes hat sie nach ihren eigenen Worten bei den Massen, die mit ihr nach Jerusalem marschiert sind, „die Schönheit auf dem Gesicht Israels gesehen“[i].
Es ist jene Schönheit, die der Abglanz des unsichtbaren Gottes ist, Der ein heiliges Gesetz und strahlendes Recht für alle aufrichtet, dass die Heiden erleuchtet und zum Preis Seines Volkes Israel dient (vgl. Lk.2,32).
Dieses Recht und diese Schönheit stellt uns der Israelsonntag neu, immer wieder neu vor Augen, damit sie auch uns zu neuem, reinem Tun und Hoffen bewegen.
Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt dein ganzes Leben lang.
Amen.
[i] Vgl. das ausführliche Interview mit Shikma Bressler unter https://www.timesofisrael.com/what-matters-now-to-arrested-activist-shikma-bressler-saving-israel/
9.S.n.Tr., 06.08.2023, Predigtreihe zu Krisentexten der Bibel: "Glaubenskrise", Stadt- und Jonakirche, Daniel Kaufmann
Der Glaube ist in der Krise. Vielleicht sollte ich präziser sagen: Der Glaube, wie er in den beiden großen Volkskirchen in Deutschland vermittelt wird, ist in der Krise, auf dem Rückzug und versteht sich überhaupt nicht mehr von selbst. Wir werden immer größer, was die Ausgaben angeht. Wir werden immer kleiner, was die Mitgliederzahl angeht. Deutschlandweit sind wir evangelischerseits um 380 000 Mitglieder geschrumpft, katholischerseits um 520 000 Mitglieder. Das klingt relativ besser, ist aber nur ein schwacher Trost. Jedes Jahr eine Stadt wie Köln weniger Protestanten und Katholiken…
Pressetechnisch und in der Öffentlichkeitsarbeit sind die Katholiken übrigens nach wie vor ganz vorne dran. Selbst bei einem so problematischen Thema wie dem Missbrauch. Die Beauftragte der Bundesregierung Kerstin Claus, selbst Missbrauchsopfer eines evangelischen Pfarrers, der rechtlich nicht verfolgt, sondern lediglich versetzt wurde, hat in einer Aufsehen erregenden Pressemitteilung in dieser Woche (RP vom 1. August,D1) die zentrale und auch finanziell klar geordnete und gegliederte Aufarbeitungspraxis der katholischen Kirche als vorbildlich gelobt. Während die evangelische Kirche über die EKD und ihren 20 Landeskirchen lediglich regionale oder lokale Lösungen anvisiert und pauschale finanzielle Ersatzleistung von höchstens 5000 € hinbekommt, hat die hierarchisch und straff organisierte katholische Kirche ein auch finanziell sehr differenziertes Entschädigungsprogramm entworfen. Claus wörtlich: „Derzeit gibt es…keine andere institutionelle Struktur, die in Ansätzen das erreicht hat, was für Betroffene in der katholischen Kirche möglich wurde.“ Dazu passt sehr gut, dass der Papst beim Weltjugendtag in Lissabon sich demonstrativ auf die Seite der Opfer gestellt hat. Das ist doch mal ein Statement! Der Papst ist gegen den Missbrauch! Ähnliches gibt es in Bezug auf den Segnungsgottesdienst von Monsignore Herbert Ullmann für „sich liebende Menschen“ in Mettmann zu vermelden. Er wurde anonym von einem Gemeindeglied an höchster Stelle denunziert und institutionell abgemahnt (Düsseldorf Anzeiger KW 31, Titelseite). Der Papst hingegen hat gestern auf dem Weltjugendtag in Lissabon in einem luftigen Open-Air-Pavillon mehrfach darauf hingewiesen, dass die Katholische Kirche keine verschlossenen Türen hätte, sondern vielmehr offen für alle Menschen sei, die hier Zuflucht und Heimat suchen. Das ist doch mal ein Statement! Herzlichen Glückwunsch, möchte man da am liebsten etwas zynisch anfügen, wenn das Thema nicht so ernst und die Materie selbst große Sensibilität und Empathie bräuchte.
Aber statt großem Lamentieren über die Gewichtung von Lob und Tadel der Kirchen in der Presse an dieser Stelle ein paar konkrete Hinweise aus unserer gemeindlichen Arbeit: Wir sind durch die Initiative der Landeskirche und des Kirchenkreises zumindest bei der Prävention und Verhinderung von Missbrauch seit gut zwei Jahren gut vorangekommen. Alle Pfarrer haben eine mindestens achtstündige Fortbildung erhalten, die Presbyteriumsmitglieder folgen derzeit. Unser Jugendausschuss hat darüber hinaus auf Initiative unserer drei noch recht jugendlichen PresbyterInnen ein Verfahren bzw. ein Schutzkonzept erarbeitet, das Sie auch auf unserer Webseite (praktisch-glaube.de, Bildung, Jugendarbeit, Schutzkonzept) in allen Einzelheiten mit Vertrauensperson, Verfahrensabläufen studieren können. Seit zwei Jahren gehen wir dieses Thema auch offensiv bei Fortbildungen mit unseren jugendlichen Teamern vor jeder Freizeit durch.
Zurück zur Glaubenskrise: Wir haben immer weniger Geld und immer mehr Austritte. Die Mitgliedszahlen der ev. Kirche im Rheinland, speziell im Kirchenkreis Düsseldorf gehen dramatisch zurück, 4 Prozent letztes Jahr, macht ca. 4000 Austritte in 2022. In den letzten 40 Jahren hat sich die Mitgliedszahl der evangelischen Christen in Düsseldorf halbiert: Von ca. 180.000 auf jetzt etwas über 90.000. (Unsere Gemeindegliederzahlen in Kaiserswerth sind u.a. auch wegen der immer neu erschlossenen Baugebiete einigermaßen konstant geblieben: zurzeit ca. 5400 Gemeindeglieder.)
Dazu kommt, dass die Kirchensteuereinnahmen einbrechen werden. So hören wir es von höchster Stelle. Deshalb muss allenthalten gespart werden, am besten schon ab sofort und jetzt. Außerdem will die Landeskirche bis 2035 mit ihren Gebäuden (hier zunächst Kirchen, Gemeindezentren, Pfarrhäuser und Dienstwohnungen) klimaneutral werden. Der Gebäudestand ist nicht auf dem neuesten Stand, sondern bedarf der Renovierung, Überarbeitung. Investitionsstau nur bei den im engeren Sinn kirchlichen Gebäuden in Düsseldorf geschätzt 150 -200 Millionen Euro. Der Kirchenkreis schafft aber, bestenfalls 3-4 Millionen im Jahr für die Ertüchtigung von Immobilien auszugeben. Das heißt, ¾ der Gebäude werden mittelfristig nicht mehr zu halten sein. Eine in Auftrag gegebene Prioritätenliste wird bis Anfang 2026 festhalten, welche Immobilien aufgegeben werden müssen.
Ebenfalls bis 2035 soll Düsseldorf eine Gemeinde werden. Hier der Text dazu von der Frühjahrssynode am 12./13.Mai diesen Jahres „Wir wollen die Vielfalt des evangelischen Gemeindelebens und des Wirkens an kirchlichen wie an nicht-kirchlichen Orten unserer Stadt unterstützten und schützen. Dazu streben wir eine Körperschaft als ein starkes und handlungsfähiges organisatorische Dach an. Sie stellt sicher:
- eine geregelte Beteiligung aller, die sich im Gemeindeleben und in den Diensten engagieren,
- transparente Verfahrenswege und Entscheidungsstrukturen,
- eine gemeinsame Steuerung von Personal, Finanzen und Immobilien,
-ökologische, finanzielle und soziale Nachhaltigkeit.
Sie macht die Vielfalt und das Gemeinsame evangelischen Glaubens und Lebens in Verkündigung, Seelsorge, Diakonie und Bildung in der Stadt und ihren Quartieren präsent.“ So der KSV auf der Frühjahrssynode Mitte Mai des Jahres. Heißt im Klartext: Auflösung der klassischen parochialen Strukturen wie wir sie jetzt in den 17 Kirchengemeinden noch haben. Aufgabe von Flächenarbeit vor Ort. Stattdessen funktionale Serviceleistungen, die zentral gesteuert und vergeben werden mit mehr oder weniger lockerem Kontakt zur Ortsgemeinde. (Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter, wenn man sieht, dass die weltlichen, kommunalen Strukturen und Überlegungen praktisch genau das Gegenteil anstreben, wenn sie die Quartiersarbeit, die Kontakte und die Vernetzung vor Ort neu und verstärkt in den Blick nehmen!)
Liebe Schwestern und Brüder, Sie werden verstehen, dass wir hier in Kaiserswerth nicht nur verwundert, sondern auch verärgert und mit dieser Entwicklung überhaupt nicht einverstanden sind. Wir sind jedenfalls der Überzeugung, dass der Kontakt und die Vernetzung vor Ort für unsere spirituelle Gemeinschaft ganz herausragende Bedeutung hat. Und an dem gerade neu erschienenen Gemeindebrief können sie hoffentlich auch ablesen, dass wir nicht nachlassen, Angebote, Kreise, Veranstaltungen und Treffen „von der Wiege bis zur Bahre“ anzubieten. Das wollen und werden wir auch in Zukunft unter welchen Bedingungen auch immer anstreben!
Jetzt könnte man vielleicht nicht ganz zu Unrecht sagen, diese „Glaubenskrise“ sei doch vor allem eine Krise der Institution Volkskirche, der persönliche Glaube, mein persönlicher Glaube sei davon nur sehr mittelbar betroffen. Dass dem nicht so ist, hat sich mir ebenfalls auf der Frühjahrssynode, einer Jugendsynode, also mit Beteiligung vieler junger Menschen, gezeigt. Eine wesentliche Frage ging nämlich dahin, ob es den christlichen Glauben nicht auch ohne Bezug auf Jesus Christus geben soll, darf und muss. Schließlich würden in unseren Institutionen zahlreiche Mitarbeiter beschäftigt (auf die wir auch angewiesen sind, weil es auf dem Arbeitsmarkt keine anderen gibt), die von Tuten und Blasen, schon gar nicht von Kirche und Glauben ansatzweise berührt worden seien. Denen sei die Engführung auf die Person Jesus Christus nicht zuzumuten, die würden aber immerhin eine Werteorientierung (10 Gebote) und Humanität (Nächstenliebe) als Grundeinstellung mitbringen. Mag sein, so die Argumentation, dass der Bezug auf Jesus Christus mal von Bedeutung gewesen sei, jetzt hätten alle verstanden, worauf es im Kern ankommt, und insofern sei dieser „spezielle Kirchensprech“ (Jesus Christus) nicht mehr nötig. Gerade die anderen Religionen, z.B. auch die Muslime, stört dieser Bezug auf Jesus Christus und der Aussage: „Er war Gottes Sohn!“ ja ganz besonders. Und da könnte man also ganz viel Ärger und Verdruss vermeiden, wenn man diesen Bezug weglässt.
Der Glaube ist in der Krise, sagte ich, jetzt und in diesem Fall und speziell auch der Glaube an Jesus Christus. Das ist nicht ganz neu. Alle Evangelien der Bibel wissen davon, dass sich jederzeit und bei jeder Gelegenheit der Zweifel meldet. Bevor Jesus öffentlich auftritt, bekommt er von dem Durcheinanderbringer und Versucher in der Wüste drei markante Fragen vorgelegt: Er soll Steine zu Brot machen, von den Zinnen des Tempels springen und den Herrn des Geldes und Reichtums anbeten. Im Angebot und gefragt ist: ein Heilsbringer, ein Show- und Eventmanager für den Nervenkitzel. Gefragt ist eine imponierende Persönlichkeit, die über unbegrenzte Macht und Geld verfügt, denn Geld regiert die Welt. Jesus lehnt alle drei Angebote ab: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Munde Gottes kommt.“ „Du sollst Gott dem Herrn nicht versuchen, du sollst ihn allein anbeten und ihm allein dienen.“ Und das macht Jesus dann auch. Gott dienen. In Wort und Tat.
Obwohl die Stimmen nicht verstummen, die ihn immer wieder aufs Glatteis führen wollen. Das Thema Wunder bleibt durch die Bank ambivalent, weil die Menge hier eine PR-Maschine wittert, wenn einer 5000 Menschen satt machen kann, dann ist er doch ein „Brotkönig“ (Johannes 6). Wenn einer Menschen Heilung bringt, dann ist das doch ein Wundertäter gehobener Klasse, der für etliche gehobene Erregungszustände sorgen kann. Wenn einer wirklich Macht hat, dann hat das doch Potential für Umsturz und Befreiung von den verhassten Römern. Auch die Jünger, die engsten Freunde Jesu, sind von dem Gedanken fasziniert, dass mit Jesus jetzt mal so richtig und durchgreifend und demonstrativ jedem vor Augen geführt wird, dass Gott im Regiment sitzt und machtvoll alles lenkt. Gerne auch mit drastischen Methoden, wenn es gar nicht anders geht: also mit Feuer vom Himmel, Vernichtung der Andersdenkenden, notfalls auch mit Schwert und Gewalt. (Lukas 9,54) Wer hier kleckert und zögert, kommt zu nichts.
Jesus allerdings hat hier durchweg anderes im Sinn: Das Reich Gottes kommt unscheinbar (zum folgenden vgl. Matthäus 13), wächst wie ein Senfkorn, fängt extrem klein an und wird dann erst groß. Das Reich Gottes ist vermischt wie das Unkraut mit dem Weizen, wer hier zu früh jätet, vernichtet auch die gute Ernte. Das Reich Gottes kann gesucht und gefunden werden wie eine kostbare Perle, erweist sich als großer Schatz, kommt unverhofft und in der Regel ganz anders als erwartet: zu den Kindern, zu den Zöllnern und Sündern, zu denen an den Hecken und Zäunen.
Das Reich Gottes macht die ersten zu letzten und die letzten (Mt. 20,1-16) zu ersten und gibt allen, was zum Leben nötig ist. (Mt. 6,33-34) Und wenn ein Wunder geschieht, wenn Kranke heil und gesund werden, wenn Lahme gehen, Blinde sehen, Aussätzige rein werden, dann verdankt sich das weniger einem medizinischen Kniff oder Trick, dann hat das damit zu tun, dass ein Mensch sein Leben im Angesicht Gottes neu sortiert und verstehen lernt, dass ein Leben in Ordnung mit Gott und den Nächsten kommt. So etwa in der markanten Geschichte von dem Gelähmten und seinen vier Freunden(Markus 2,1-12), die ein Dach aufgraben, um ihren kranken Freund vor die Füße Jesu zu legen. Da erfolgt erst der Los- und Freispruch: „Dir sind deine Sünden vergeben!“ und dann die Heilung: „Steh auf, nimm dein Bett und geh!“ Wenn das Leben eines Menschen wieder in friedliche Bahnen kommt, dann bei Jesus immer ganzheitlich mit Körper, Seele und Geist!
Zu den schwierigen und schmerzlichen Lektionen gehörte vermutlich schon damals, dass das Reich Gottes nicht ohne Leid und tiefsten Krisen zu haben war und ist. Es ist nicht von dieser Welt, wie Jesus es dem Pilatus beim Verhör eindrücklich signalisiert (Johannes 18,36). Gerade darum ist es aber auch im Leiden und über den Tod hinaus wirksam und wirkmächtig. Und bewahrheitet sich, wenn alle Lichter ausgehen und niemand mehr einen Pfifferling darauf gibt. Bis auf den heutigen Tag bleibt der Ostermorgen die schlechthin skandalöse und alle menschlichen Erwartungen überholende Neuigkeit der Weltgeschichte. Der Totgesagte lebt und ist auferstanden.
Diese Neuigkeit hat es immerhin durch 2000 Jahre menschlicher Wirren und Verirrungen gerade auch in der Kirche geschafft. Allerdings nicht, ohne ganz erheblich Schaden zu leiden: Den ersten provokanten Rückfragen konnte man noch eine Reihe von glaubwürdigen Augenzeugen präsentieren, ganz zuvorderst Jesus sich selbst dem Thomas (Johannes 20,24-31), der den Fingertest machen möchte und dem sich Jesus in aller Leiblichkeit zeigt. Andere direkte Nachfragen wurden mit dem Hinweis auf das leere Grab beantwortet: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden!“ (Lukas 24,5). Auch diese Zeugen wurden schnell weniger, nach zwei Generationen spätestens war damit Schluss. An die Stelle der Augenzeugen traten die, die mit Worten bezeugten, was geschehen war. Diese Worte waren vielfältiger und angreifbarer, neben vielem Einleuchtenden trat auch mancherlei Ausgeschmücktes. Die apokryphen Schriften haben da etliche Anekdoten parat, u.a. auch das sogenannte Thomasevangelium bei den Kindheitsgeschichten Jesu. Da soll Jesus etwa aus gekneteten Tonvögeln am Sabbat lebendig fliegende Vögel gemacht haben. Sicher auch ein gut gemeinter Text, der etwas deutlich machen will, allein die Väter und Mütter des Glaubens spürten, dass es eines Kanons bedarf, einer Richtschnur, eine begrenzte Anzahl von Büchern mit seriösen Aussagen und glaubwürdigen Erzählungen und Worten.
Und so kam es über vier Jahrhunderte in einem mühsamen Klärungsprozess zu unserer heutigen Bibel, die dann auch in alle großen Metropolen des damaligen christlichen Verbreitungsgebietes Anerkennung fand. Die schriftlich fixierten Worte waren indes und für längere Zeit nur wenigen Auserwählten, die sich eine handschriftlich gefertigte Abschrift leisten konnten, vorbehalten. Die Reformation hat hier gute Arbeit geleistet und die Schriften mit dem Buchdruck Gutenbergs möglichst vielen zugänglich gemacht.
Damit setzte ein neues Studieren und Forschen an den Erzählungen und Worten der Schrift ein. Die Aufklärung sorgte für einen neuen Schub und Nachfragen, der bis in unsere Tage anhält. Kern ist nach wie vor, ob sein kann, was bisher jedenfalls im wissenschaftlich vorbereiteten Versuch nicht ein zweites Mal gelungen ist: Einen Toten zum Leben bringen. So werden bis in unsere Tage hinein die Rufe nicht leiser, dass das Grab nicht leer, sondern genauso voll gewesen sei wie bei allen anderen Gestorbenen auch (so vor knapp 15 Jahren (2008) Gerd Lüdemann, Göttinger Theologieprofessor). Andere Versuche waren und sind eher sprachlicher oder theologischer Natur: Jesus sei ins „Kerygma“, in die Verkündigung auferstanden (Rudolf Bultmann), er sei so lebendig, wie jemand lebendig ist, von dem man ständig neu oder immer wieder erzählt. Er sei im Geiste seiner Anhänger präsent, die würden dafür sorgen, dass sein Andenken weiter gepflegt würde. Wieder andere behaupten, er sei gar nicht so richtig gestorben, sondern scheintot vom Kreuz abgenommen und dann heimlich in östliche Sphären verbracht worden. Und starb dann dort auch mit Familie alt und lebenssatt. Diese These war mir zu Beginn meines Theologiestudiums 1984 begegnet (Holger Kersten: Jesus lebte in Indien), ich hielt sie allerdings inzwischen für überholt, wurde aber eines Besseren belehrt: Der Historiker Johannes Fried hat 2019 mit ähnlichen Argumenten wie damals nahtlos an diese Überlegungen angeknüpft.-
„Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendsten unter allen Menschen. Nun aber ist Christus auferweckt von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind. (1. Korinther 15,19-20) Und damit verbunden ist die unerhört exklusive Verheißung auf ein Leben jenseits unserer Zeit und Raumvorstellungen, eine Verbindung zum Ewigen, zur Ewigkeit, zur Immerzeit, zu dem Grund und Ziel allen Seins und Werdens, zu dem lebendigen Gott. Unüberholt und nach wie vor punktgenau bekennt es der Heidelberger Katechismus in Frage 1: „Was ist dein einziger Trost im Leben und Sterben…Dass ich mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre. Er hat mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst; und er bewahrt mich so, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen, ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss. Darum macht er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens gewiss und von Herzen willig und bereit, ihm forthin zu leben.“
Dieses Bekenntnis fußt auf die vielfach bezeugten Texte des neuen Testamentes, unter anderem auch auf den schon in der Schriftlesung vernommenen großartigen Gedicht aus Römer 8, 28 f. : „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ Hier findet sich in gedrängter Form alles, was die Zuversicht und Gewissheit unseres christlichen Glaubens ausmacht. Es gibt eine letzte tragende Verbindung, es gibt eine ultimative, unzerstörbare Zugehörigkeit, es gibt eine alle Katastrophen und Niederlagen überdauernde Beziehung zu der Liebe Gottes, die in Jesus Christus Gestalt geworden, sichtbar geworden, erfahrbar geworden ist. Und die in seinem Leben, Sterben und Auferstehen ihren Grund hat. Mit dieser Hoffnung, mit dieser Zuversicht und Gewissheit fängt alles an und beflügelt uns als Christen, dann auch von der Liebe Christi zu erzählen. Gerade wenn der Glaube kriselt.
Auf der Frühjahrs-Kreissynode haben wir uns zumindest in einer Kleingruppe darauf geeinigt, dass es nicht nur darum geht, mehr Demokratie, mehr Humanismus und mehr Nächstenliebe zu wagen. Sondern dass es vornehmlich darum gehen sollte, mehr Jesus zu wagen. Mehr von dem zu erzählen, der im Leben und Sterben letzten Halt gibt. Mehr von dem zu erzählen, der den Stein am Ostermorgen ins Rollen gebracht hat. In den letzten Tagen haben meine Frau und ich dazu vergleichsweise oft Gelegenheit gehabt: Beim Abschied von einem schwer von Krebs gezeichneten Endfünfziger. Bei dem Abschied von einem, der mit knapp 60 keinen anderen Ausweg als den Freitod sah. Bei einem kleinen Menschenkind, das in der 19. Woche nicht mehr lebensfähig war. Bei Menschen weit über 80 und über 90 Jahren, die friedlich eingeschlafen sind und von einer Krankheit erlöst wurden.
Es gibt sicher noch viele andere Situationen und Gelegenheiten, wo wir als Christen von dem erzählen können, der den Stein ins Rollen gebracht hat. Im Grunde genommen immer dann, wenn es um Hoffnung und Zuversicht und Trost und Hilfe bei welchen Herausforderungen des Lebens auch immer geht.
Ostern macht den Unterschied. Der Stein ist an die Seite gerollt worden und diese frohmachende Botschaft gilt es immer neu zu sagen. Mehr Jesus wagen, das heißt auch: Wieder Kontakt bekommen zu jenen Jesus-Erzählungen und Narrativen, die immer mehr verloren gehen. Wie wäre es z.B. wenn Sie das Lukasevangelium mal wieder komplett durchlesen. 24 Kapitel. Dauert gar nicht so lange. In drei Stunden ist man durch. Sagen die Statistiker. Oder die Bergpredigt lesen, Matthäus 5-7, 3 Kapitel, schafft man mit Pausen in einer Stunde. Oder die Gleichnisse vom Reich Gottes, 1 Kapitel, Matthäus 13, schafft man in 20 Minuten.
Mehr Jesus wagen, mehr von dem in die Debatte einbringen, was Jesus zum Thema Krieg und Frieden (Mt.5,43-48), was er zum Thema Gerechtigkeit (Mt. 6,33) und Verteilung der Finanzmittel („Jeder Tag hat seine Sorge“ (Mt. 6,34) und was er zu einem angemessenen Umgang mit dem, was uns anvertraut ist, u.a. auch der Schöpfung/Klima (Mt. 6, 25-32) gesagt hat.
„Der Glaube ist wie ein Vogel, der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist.“ (R. Tagore) Der Stein vom Grab ist weggerollt, es gibt nichts, was uns von Gottes Liebe trennen kann: Keine Wirtschafts- keine Finanz-, keine Flüchtlingskrise, kein Beziehungs-, Lebens- und auch keine Glaubenskrise. Und es gibt jede Menge Grund, neu von der Zuversicht, der Hoffnung und der Gewissheit zu erzählen, die Zeit und Ewigkeit umspannt.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.
8.S.n.Tr., 30.07.2023, Predigtreihe zu Krisentexten der Bibel: "Lebenskrise", Stadt- und Jonakirche, Ute Kaufmann
- Von der Schönheit des Alters -
Guten Morgen, liebe Geschwister im Herrn!
Wie geht es Ihnen heute Morgen?
Geht gut!
Geht nicht?
Geht so?....
Heute jedenfalls geht es weiter mit den „Krisen“! Unser diesjähriges Sommerthema in unserer Gemeinde.
Nach den ersten Krisentagen mit Herrn Pfarrer Marquardt zu Wirtschafts-, Finanz- und Flüchtlingskrise und der „Beziehungskrise“ meines Mannes, geht es heute um „Lebenskrisen“ – und die haben meist etwas mit dem Älterwerden zu tun, worauf in Liedern, Gebeten und Texten heute der Fokus liegt.
„Von der Schönheit des Alters“ ist dieser Gottesdienst überschrieben. Das könnte vielleicht gleich zu Missverständnissen Anlass geben: „Von der Schönheit des Alters“: Geht es darum, im Alter „schön“ zu bleiben? Oder darum, dass die letzte Lebensspanne „schön“ sein kann? Die letzte Lebensspanne: Wann beginnt sie eigentlich? Ist man schon alt, wenn man sich nicht mehr traut, Skateboard zu fahren? Dann müsste ich mich bald dazuzählen. Ist man alt, wenn man graue Haare bekommt? Oder erst, wenn man in Rente geht? 65 oder 66 oder 67 Jahre als staatlich verordnete Altersgrenze? Ist man alt, wenn man nicht mehr arbeiten kann? Ist man alt, wenn es soweit ist, dass die Pfarrerin/der Pfarrer am Geburtstag zu Besuch kommt?
Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Das Alter beginnt, wo die Freude aufhört.“
Wenn man nicht mehr in der Lage ist, etwas schön zu finden und sich zu freuen, ist man alt. Endgültig.
In diese Krise kann man allerdings schon sehr früh kommen, wie der kleine Witz von Anthony de Mallo humorvoll beschreibt:
Zwei kleine Jungen unterhielten sich. Fragte einer den anderen: „Wie alt bist du?“ „Ich bin fünf. Wie alt bist du?“ „Weiß ich nicht.“ „Du weißt nicht, wie alt du bist?“ „Nee.“ „Machen dir die Frauen zu schaffen?“ „Nee.“ „Dann biste vier.“
Also, ein bisschen Zeit haben wir noch, uns viel zu freuen. Uns allen einen gesegneten Gottesdienst!
_______________
Seligpreisungen eines alten Menschen
Selig, die Verständnis zeigen
Für meinen stolpernden Fuß
und meine lahme Hand.
Selig, die begreifen,
dass mein Ohr sich anstrengen muss,
um alles aufzunehmen,
was man zu mir spricht.
Selig, die zu wissen scheinen,
dass mein Auge trüb
und meine Gedanken träge geworden sind.
Selig, die mit freundlichem Lachen verweilen,
um mit mir zu plaudern.
Selig, die niemals sagen:
„Diese Geschichte haben Sie mir
heute schon zweimal erzählt.“
Selig, die es verstehen,
Erinnerungen an frühere Zeiten
In mir wachzurufen.
Selig, die mich erfahren lassen,
dass ich geliebt, geachtet
und nicht allein gelassen bin.
Selig, die in ihrer Güte die Tage erleichtern,
die mir noch bleiben
auf dem Weg in die ewige Heimat.
_________________
Herbsttag
Herr: Es ist Zeit.
Der Sommer war sehr groß.
Leg deine Schatten
auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren
lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
Gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin
und jagedie letzte Süße
in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus,
baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist,
wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen,
lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen
hin und her
unruhig wandern,
wenn die Blätter treiben.
Dieses Gedicht von Rainer Maria Rilke erzählt von den Schönheiten des Herbstes: Die letzten Früchte werden reif, überreif, schwer und süß. Ich besitze noch genügend Kraft, hat noch eine Menge Lebensmöglichkeiten, kann noch selbst das tun, was zu tun ist.
Ich genieße die Langsamkeit, die sich in meinem Leben ausbreitet, genieße jeden anbrechenden Morgen, die Ruhe, die ich mir erlauben darf, vielleicht erlauben muss. Mir vielleicht erlauben muss… Ich stelle mir das Alter nicht nur als sanftes Dahingleiten vor. Auch der Prediger in der Bibel sieht das Alter durchaus kritisch und verschweigt nicht die beschwerliche Seite. Wir hören aus dem Buch des Predigers Salomo, das 12. Kapitel, die Verse 1-7 (einmal Übersetzung von M. Luther, einmal Übersetzung der Guten Nachricht)
Lesung Prediger 12,1-7 (nach Martin Luther)
Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre nahen, da du wirst sagen: »Sie gefallen mir nicht«; ehe die Sonne und das Licht, der Mond und die Sterne finster werden und die Wolken wiederkommen nach dem Regen, – zur Zeit, wenn die Hüter des Hauses zittern und die Starken sich krümmen und müßig stehen die Müllerinnen, weil es so wenige geworden sind, wenn finster werden, die durch die Fenster sehen, wenn die Türen an der Gasse sich schließen, dass die Stimme der Mühle leise wird und sie sich hebt, wie wenn ein Vogel singt, und alle Töchter des Gesanges sich neigen; wenn man vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege, wenn der Mandelbaum blüht und die Heuschrecke sich belädt und die Kaper aufbricht; denn der Mensch fährt dahin, wo er ewig bleibt, und die Klageleute gehen umher auf der Gasse; – ehe der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht und der Eimer zerschellt an der Quelle und das Rad zerbrochen in den Brunnen fällt. Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.
Lesung Prediger 12, 1-7 in der Übersetzung der „Guten Nachricht“
Denk an deinen Schöpfer, solange du noch jung bist, ehe die schlechten Tage kommen und die Jahre, die dir nicht gefallen werden. Dann verdunkeln sich dir Sonne, Mond und Sterne, und nach jedem Regen kommen wieder neue Wolken. Dann werden deine Arme, die dich beschützt haben, zittern, und deine Beine, die dich getragen haben, werden schwach.
Die Zähne fallen dir aus, einer nach dem anderen; Deine Augen werden trüb und deine Ohren taub. Deine Stimme wird dünn und zittrig. Das Steigen fällt dir schwer, und bei jedem Schritt läufst du in Gefahr zu stürzen.
Draußen blüht der Mandelbaum, die Heuschrecke frisst sich voll, und die Kaperfrucht bricht auf, aber dich trägt man zu deiner letzten Wohnung. Auf der Straße stimmt man die Totenklage für dich an.
Genieße deine Leben, bevor es zu Ende geht, wie eine silberne Schnur zerreißt oder eine goldene Schale zerbricht, wie ein Krug an der Quelle in Scherben geht oder das Schöpfrad zerbrochen in den Brunnen stürzt.
Dann kehrt der Leib zur Erde zurück, aus der er entstanden ist, und der Lebensgeist geht zu Gott, der ihn gegeben hat.
___________________
Lied: „Ich lebe zwischen Herbst und Winter“ (Text: U. Tietze)
(Melodie EG 330: O dass ich tausend Zungen hätte):
1. Ich lebe zwischen Herbst und Winter,
sah oft der Jahreszeiten Lauf,
spür noch den Herbst, doch schnell verrinnt er,
und niemand hält den Winter auf.
Mein Weg war leicht und schwer und weit,
nun kommt die letzte Jahreszeit.
2. Schon viele Lebensblätter fielen,
manch lieber Mensch ist nicht mehr da.
Was ist erreicht von meinen Zielen?
Ich sag zu meinem Leben „Ja“.
Oft spürte ich des Schöpfers Hand,
er blieb mir liebend zugewandt.
3. Manch altes Lied ist längst verklungen,
doch tief in mir klingt mancher Ton.
So vieles an Erinnerungen!
Und manche scheint mir wie ein Lohn.
Mal hat das Leben mich gekränkt,
doch immer wieder reich beschenkt.
4. Gott hat mich liebevoll begleitet;
Zerstörerisch blieb Menschenwahn.
Längst ist mein Blick nun schon geweitet:
Nur Liebe führt auf guter Bahn.
Gott ist die Liebe – das ist wahr.
Sie trägt uns, wenn auch unsichtbar.
5. Ich lebe zwischen Herbst und Winter,
es endet einmal meine Zeit.
Nun naht die Kälte, doch dahinter
steht Gott mit seiner Ewigkeit.
Ich gehe langsam auf ihn zu –
in Liebe auf das große Du.
_______________
Ansprache: Von der Schönheit des Alters
„Es ist etwas Schreckliches passiert!“ – verzweifelt schaut eine unserer Ladies in die Frauenrunde. „Was denn?“ fragen alle anteilnehmend. „Ich bin 60 geworden!“
„Deutsche haben Angst vor dem Alter“ ist schon seit längerem in etlichen Zeitschriften zu lesen. Laut einer repräsentativen Studie freuten sich nur 4 % der Deutschen auf das Alter.
Das heißt, so scheint mir, wir sollten uns mit offenen Augen dem Problem stellen. Wann beginnt Altwerden eigentlich? Rein biologisch betrachtet spätestens mit 20 Jahren. Aber das meine ich natürlich nicht. Überspringen wir die frühe Lebensmitte und beginnen wir mit dem anrüchigen 50-er Jahren, in denen bei den meisten die erste Alterskrise als sogenannte Midlifecrisis einsetzt. Zwar halten sich die körperlichen Anzeichen des Älterwerdens bei den meisten von uns mit 50+ noch sehr im Rahmen: Es zwickt mal hier, mal dort, besonders natürlich in den Knien – oder wir „haben Rücken“, das Treppensteigen fällt ein wenig schwerer, ohne Lesebrille geht nichts mehr; stundenlanges Durchschlafen wird seltener; eine durchzechte Nacht rächt sich tagelang. Die Figur ist nicht mehr die, sie sie einmal gewesen war; der Blick morgens in den Spiegel fällt kritischer aus, und es passiert eher selten, dass uns Frauen die sprichwörtlichen Bauarbeiter noch hinterherpfeifen…
Aber im Großen und Ganzen können die meisten der 50+ler so tun, als sei „zum Altwerden immer noch Zeit“ (nach einem italienischen Sprichwort) und weit von uns entfernt. Da wird mit Yoga und Pilates der Körper bestenfalls stabilisiert und die Jugend aufgefrischt, mit Haut straffenden Cremen nachjustiert und die Kleidergrößen angepasst. Über die kleinen Zipperleins wird gerne hinweggewitzelt :“Wie alt sind sie eigentlich, Frau Königstein?“ fragt der Schönheitschirurg seine neue Patientin. „Ich gehe auf die vierzig zu.“ „Aus welcher Richtung?“ Oder: „Die Schmerzen in Ihrem linken Bein sind altersbedingt“, sagt der Arzt zum Patienten. Entgegnet der Patient entrüstet: „Das kann nicht sein. Mein rechtes Bein ist genauso als und tut nicht weh!“
Jedoch: Wenn wir uns der 60 nähern, wird das Verleugnen der Beschwerden und des Älterwerdens schwieriger. Wenige Wochen nach meinem 60. Geburtstag musste ich einsehen, dass sich meine Sehfähigkeit weiter eingeschränkt hat und ich gerade beim Autofahren nicht mehr den Durchblick bzw. die Weitsicht auf die Schilder hatte. Die Augenärztin zuckte mich den Schultern: Das wäre in meinem Alter normal, und verschrieb mir eine Gleitsichtbrille. Auf den Schock hin musste ich mir beim Bäcker erst mal ein großes Stück Stachelbeerbaiser genehmigen, groß genug für meine Augen! Ein halbes Jahr später bekam ich die erste Einladung zum Seniorentanztee Ü 60. Nun, im Blick auf die 70-80-jährigen kam ich mir jung vor und wirbelte über die Tanzfläche. Nach dem dritten Schlager aber geriet ich schon aus der Puste und mir wurde leicht schwindelig, was mir früher nie passiert wäre; ich gab aber nicht auf und versuchte beim Boogie-Woogie noch tiefer in die Knie zu gehen als mein 80-jähriger Tanzpartner…da schoss die „Hexe“! Und ich musste meine Tanzkapriolen beim Arzt auf der Liege beenden. Na großartig!
„Man ist so jung, wie man sich fühlt“, heißt es im Volksmund, und ich fühlte mich plötzlich alt. Paul Baltes, einer der führenden Altersforscher des 20. Jahrhunderts, teilte das menschliche Leben in vier sogenannte „Lebensalter“ ein: Das dritte von vieren ist dasjenige der 60 – bis 80- Jährigen. Das ist die Phase also, in der es mir persönlich zwar immer noch vergleichsweise gut geht, aber kein Weg daran vorbeiführt, zur Kenntnis zu nehmen, dass mein Körper nicht mehr der ist, der er einmal war. Also habe ich mir angewöhnt, mehr auf seine (des Körpers) stummen Signale zu achten: Wenn er müde wird, versuche ich ihm eine Pause zu verschaffen; den Lendenwirbeln mute ich gar nicht erst zu, länger als 20 Minuten zu stehen; dem Rücken sich richtig zu bücken. Ich versuche, Ärger zu vermeiden und gelassener über die Schuhe der Jungens zu steigen, ohne sie gleich an die Seite zu räumen. Auf ausgedehnten Schlaf verzichte ich nur in extremen Ausnahmefällen, was glücklicherweise nicht schwerfällt, weil ich natürlich längst aus dem Alter heraus bin, in dem mich die Angst umtrieb, irgendetwas zu verpassen.
Obwohl die beschriebenen Veränderungen alle Teil eines ganz und gar natürlichen Prozesses sind, dem man ja auch seine freundlichen Seiten abgewinnen kann, ist es den meisten Menschen doch irgendwie peinlich, zugeben zu müssen, dass der Lack ab ist und man nicht mehr so kann wie früher; zugeben zu müssen, dass Altersflecken keine Sommersprossen sind und nun zum neuen Outfit gehören. Es verdrießt uns, zum „alten Eisen“ gezählt zu werden, wenn wir eine Einladung zum Seniorennachmittag erhalten. Denn alt sind ja immer nur die Anderen. Wir fürchten uns davor, anderen zur Last zu fallen, pflegebedürftig oder gar dement zu werden. Unsere Selbstständigkeit und Selbstbestimmung zu verlieren, finden wir ganz schlimm.
Schon der 60. Geburtstag treibt einigen den Angstschweiß auf die Stirn – wie der Dame aus dem Frauenkreis, die ich anfangs erwähnte: Schrecklich! Das ist das Ende!! Jetzt kommt nichts mehr! No Sex, No Drugs, No Rock´n Roll!... Alt werden wollen wir alle, aber als sein ist schwer. „Alt sein ist nichts für Feiglinge“, hat Hildegard Knef schon gesagt. Lieber hören wir, wie ich mit knapp 64 Jahren: „Was?! Das hätte ich aber nicht gedacht! Also älter als Mitte 50 hätte ich Sie jetzt nicht geschätzt!“. Uihuhi! Da kann man auch schwer ins Fettnäpfchen treten! Zugegeben sind die 60-80-Jährigen nicht mehr die 60-80-Jährigen unserer Großmütter- und Vätergeneration. Und wir nennen uns „die neuen 50-Jährigen“, die „im Hühnerstall Motorrad fahren“. Aber trotz unseres dynamisch-jugendlichen Auftretens bleiben, ja sind wir so alt wie wir sind, und nicht alle kriegen mit 80 Jahren noch so einen sportlichen Auftritt auf der Bühne hin wie Mick Jagger unlängst im TV.
Dass ich nicht mehr 30 bin (auch wenn ich so aussehe!), merke ich zunehmend auch an gewissen Gedächtnislücken. Wie oft passiert es mir im Alltag, dass mir Menschen begegnen, die ich eigentlich gut kenne: „Guten Tag, Frau….?!“ Und der Name ist weg! Wie peinlich! Wir haben gelernt, solche Erinnerungsschwächen als Defizit anzusehen und alles, was mit Alter verbunden ist, irgendwie als Mangelerscheinung. Ich denke, eine Ursache dafür ist die Bewertung des Alters: Es wird eben immer noch sehr häufig gemessen an Werten wie Jugendlichkeit und Leistungsfähigkeit. Alt sein gilt als etwas, was man leider nicht vermeiden kann - auch wenn man das Rentenalter hochsetzt, Collagendrops schluckt und jeden Morgen Kopfstand macht.
Ein anderer Grund für die negative Bewertung des Alters ist: Wenn ein Mensch immer wieder einmal etwas vergisst oder wenn er langsamer zu Fuß ist, wird dies auf den ganzen Menschen übertragen. Man hält ihn für vergesslich und insgesamt für langsam. So hat man ein bestimmtes Bild von einem Menschen, das der alte Mensch dann oft selber übernimmt. Er hält sich dann auch für langsam und vergesslich. Obwohl für jedes Alter doch gilt: in der Ruhe liegt die Kraft!!! Doch allgemein und sowieso ist das Ansehen „Langlebiger Artikel“ in unserer „Wegwerfgesellschaft“ gering. Diese Einschätzung wird eben auch auf das Altern, auf alte Menschen übertragen.
Ein Bonner Arzt, der Neurophysiologe Detlef Linke, versteht die Veränderungen im Alter hingegen positiv. Sie werden von ihm nicht als Abbauprozesse verstanden. Er sieht in ihnen Bündelungs- und Zuspitzungsprozesse, die das Einmalige der Person im Alter in besonderer Weise zum Tragen kommen lassen. Alterungsvorgänge werden demnach als Zuspitzung auf den Wesenskern verstanden. Es geht nicht mehr um die Abrufbarkeit einer Fülle von Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern um eine Bündelung der der Person eigen gewordenen Möglichkeiten, um die im guten Sinn mögliche „Vereinheitlichung“ des Menschen. – Eine alte Dame konzentrierte ihr freundliches Wesen, ihre Hilfsbereitschaft nun ganz auf ihre Mitbewohner, besann sich auf das, was sie konnte – kochte für das ganze Altersheim Lieblingsgerichte….
Der Maler Kandinsky, der als Vater der abstrakten Kunst gilt, hat die Fähigkeit, abstrakt zu arbeiten, als ein Produkt seiner Alterungsprozesse erlebt, die ihn zwangen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und dieses Wesentliche darzustellen. Dass so viele Menschen so alt wie heute werden, gab es in der ganzen Menschheitsgeschichte noch nicht. Die Alterspyramide steht schon länger auf dem Kopf. Allein deshalb ist es schon notwendig, sich mit den Begleiterscheinungen des Alters zu beschäftigen, sie ernst zu nehmen und zu verstehen. Nur so kann die Aufgabe, die vor uns liegt, erfüllt werden.
Unsere und die kommenden Generationen haben dafür zu sorgen, dass das Alter gut gelebt werden kann, ohne dass jedoch die junge Generation, die inzwischen in Unterzahl ist, unter der Last, „alles allein am Laufen zu halten“, zusammenkracht. Darum gilt es, nicht aus dem Blick zu verlieren, dass die Erfahrungen und Erkenntnisse älterer Menschen für die Welt wichtig sind und bleiben.
Mir geht schon die ganze Zeit der Song von Udo Jürgens nicht aus dem Kopf. Sie kennen ihn alle: „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an. Mit 66 Jahren, da hat man Spaß daran. Mit 66 Jahren, da kommt man erst in Schuss. Mit 66 Jahren …. ist noch lange nicht Schluss!“ Das ist eine Hymne, die vor Lebensenergie strotzt, die das Alter als einen neuen Gestaltungsraum annimmt.
Davon erzählt auch Lukas (Lukas 2, 25-39) in seinem Evangelium ganz am Anfang. Da hören wir von zwei alten Menschen: Sie heißen Hanna und Simeon und spielen eine wichtige Rolle in der Kindheitsgeschichte Jeus. Sie werden uns immer wieder daran erinnern, was Gott mit alten Menschen vorhat, denn die älteren Menschen sind „Gottesebenbilder“. Gott offenbart sich in diesem Bibeltext, zugespitzt formuliert, als ein Gott der Alten. Hanna und Simeon sind tagtäglich im Tempel. Sie beten. Doch das bleibt nicht ihre einzige Aufgabe. Sie sind alt, aber sie sehen über das mit den Augen Sichtbare hinaus. „Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht“. So formulierte Marie Luise Kaschnitz ihre Alterserfahrung. Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht.
Hanna und Simeon, sie sehen anders, sie sehen das Wesentliche! Von beiden wird gesagt, dass sie sich in der Nähe des Tempels aufhalten. Simeon wird als ein gottesfürchtiger Mann beschrieben, auf dem der Geist Gottes ruht. (Lukas 2,25) Er wartet auf den Trost Israels. Durch den Heiligen Geist weiß er, dass er nicht sterben wird, bevor er den, den er erwartet, gesehen hat.
Hanna wird als hochbetagte Prophetin bezeichnet, deren Lebensinhalt der Dienst an Gott war. Sie ist eine Tochter Phanuels, aus dem Stamm Asser. Über diesen Stamm sprach Mose folgenden Segen: „Von Eisen und Erz sei der Riegel deiner Tore; dein Alter sei wie deine Jugend!“ (Dtn. 33,25b.) Der Schluss liegt nahe, dass es kein Zufall ist, dass Hanna aus dem Stamm Asser stammt. Scheinbar zeichnet dieser Stamm sich dadurch aus, dass seine Alten in besonderer Weise von Gott befähigt werden, zukunftsweisend Aufgaben zu erfüllen. Das Alter der Hanna ist unbekannt. Man kann es lediglich schätzen. Manche vermuten, dass sie 84 Jahre alt war, ein sehr hohes Alter für damalige Zeit.
Beide alten Menschen nehmen die Aufgabe wahr, den Eltern Maria und Josef und der Öffentlichkeit im Umfeld des Tempels die Sendung und die Bestimmung des neugeborenen Kindes Jesus zu bezeugen. Beide sind sie mit dem Geist Gottes gesegnet. Ihre Fähigkeiten, weiter zu sehen als Andere, sehen sie als ihre von Gott gegebene Aufgabe, diese für Andere einzusetzen – gerade auch in ihrem Alter. Aus dem Dasein der beiden Alten, die im Gebet, in der Offenheit also zur Transzendenz leben, ist ein neuer Bezug zu Gott erwachsen! Sie reden prophetisch deutend. Ihre Fähigkeit, weiter zu sehen, formt sich in Worte, die wegweisend sind für Andere. Sie sind es, die die Ereignisse der Zeit deuten und den Heiland vor der Welt bezeugen. (Lukas 2,38)
Die Gabe der Prophetie, die sich an diesen beiden Alten zeigt, speist sich unter anderem aus der Möglichkeit gerade auch alter Menschen, Visionen und Träume zu haben (Joel 3,1-3) Alte und Junge, Frauen und Männer werden bei dieser rückhaltlosen Selbstoffenbarung Gottes gleichgestellt. Visionen, prophetische Fähigkeiten und Träume werden dem Menschen als Gabe Gottes zuteil, die Träumen aber werden besonders alten Menschen zugeordnet. Von Gott gegeben beziehen sie sich, ähnlich den Visionen, auf das Entwerfen von Zukunft: „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an….“
Diejenigen, die selbst nur noch wenig irdische Zukunft vor sich haben, haben Träume und Visionen für eine Zukunft der Alten und der Jungen. So weist die in den alten Menschen angebrochene Freiheit und Unabhängigkeit über ihre eigene Zukunft hinaus auf die den Tod übergreifende Zukunft Gottes mit dem Menschen, die in unsere Gegenwart hineinscheint. Hanna lobt Gott und Simon jubelt: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben den Heiland gesehen!“ (Lukas 2,25-39)
Unabhängig von prophetisch-visionären Gaben steckt für mich in diesem Satz auch: Was kann man im Alter nicht alles noch sehen! Wenn man die Augen nicht verschließt. Wenn man in gewisser Weise offen ist, neugierig bliebt und das in den Blick nimmt, was täglich noch gelingt, wofür man dankbar sein kann, was einen erheitert und erfreut, statt darauf zu schauen, was nicht mehr geht. Statt zu beklagen, dass Vertrautes verschwindet, vieles sich schnell verändert und mir immer mehr unverständlich ist. Hanna und Simeon, zwei alte Menschen, sie sehen anders, weiter, genauer. Und doch sind sie Menschen, die der Welt noch nicht enthoben sind. Die Einschränkungen des Alters plagen auch sie. Diese Welt hat sie nicht mehr vollständig in den Krallen. Sie schauen schon ein wenig weiter, hin zu Gottes Welt.
Nun, sicher haben nicht alle Menschen von Gott den Auftrag wie Hanna und Simeon, den Heiland der Welt zu erkennen und ihn öffentlich vor der Welt zu proklamieren. Ja, und trotzdem haben alte Menschen in unserer Zeit viele Aufgaben. Allein dadurch schon, dass sie die lebendigen Wurzeln unserer Gegenwart sind. Von ihnen können wir vielleicht kein Computerwissen erfragen, aber Antworten über Leben und Tod können sie uns geben. In der Bibel wird – wie wir in der Lesung aus dem Buch des Predigers (s.o.) gehört haben – das Alter durchaus kritisch gesehen – die Sehkraft der Augen, das Hörvermögen der Ohren und die Beweglichkeit der Gliedmaßen lassen nach.
Genauso aber ist in der Bibel davon die Rede, dass Alte wie die Jungen sind, dass „wenn sie alt sind, sie dennoch erblühen“ (Psalm 92,14). Alexander von Humboldt hat das so gesagt: „Ich finde das Alter nicht arm an Freuden, aber Farben und Quellen dieser Freuden sind anders.“ Und auch, was als „schön“ definiert wird, sieht dann anders aus, orientiert sich nicht mehr an straffer Haut, vollem Haar und Leistung. Martin Luther hat das so auf den Punkt gebracht, als er sagte „Gott handelt an uns wie ein Holzschnitzer. Anfangs hat er einen glatten Block vor sich. Indem er von dem Holz wegnimmt, fördert er das Bild, das ihm vorschwebt. So muss Gott viel von uns wegnehmen und schnitzen, bis wir dem Bild entsprechen, das er haben will.“
Die Schönheit des Alters sehen, das heißt also: das Bildnis, das Gesamtkunstwerk erkennen, das Gott aus seinem Menschen macht. Da sind Falten und Runzeln keine Katastrophe mehr, sondern Linien, lebendige Jahresringe, die Gott in unsere Gesichter zeichnet. Da sind Enttäuschungen und Leid keine Schicksalslaunen, die sinnlos unsere Lebenskraft verbrauchen, sondern Begegnungen mit Gott, in denen er seine Spuren in unsere Seele eingräbt und unseren Charakter formt. Da sind Erfahrungen, von denen wir – je älter, je mehr – zu erzählen wissen, keine alten Kamellen, sondern ein Stück der Geschichte Gottes, die er durch unser Dasein erzählt. (Daran sollen auch die Ringe im Baumstamm und das Gedicht von Rilke erinnern:
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge zieh‘n.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
Das Alter, liebe Geschwister, kann also eine gute Zeit sein, eine besondere auch, weil man sich Zeit für Gott nimmt. Zum guten Schluss dazu noch eine kleine Geschichte: Eine ältere, schwer MS-kranke Frau, die ich vor Jahren begleitet habe, sagte mir kurz vor ihrem Sterben, als sie nichts mehr tun konnte, dass sie unter diesem Zustand nicht leiden würde. Denn sie hätte eine wichtige Aufgabe: Solange sie könne, würde sie für die Welt und die Menschen beten. Das war ihre Aufgabe bis zu ihrem Tod, - die sie auch erfüllt hat.
Jeder Mensch hat Lebensaufgaben bis zum Tod. Vielleicht kann man sie dann entdecken, wenn man das Alter so wie Marie Luise Kaschnitz versteht. Für sie bedeutet Alter nicht das Ende, vielmehr vergleicht sie es mit einem Balkon, von dem man aus weiter und genauer sieht. So lassen sich die vielleicht klein erscheinenden, aber wichtigen Lebensaufgaben erkennen. Erkennen aber auch, was es heißt, über das hinauszusehen, was ich als alter Mensch noch leisten sollte, müsste, könnte…
Um mit Astrid Lindgren zu sprechen: Ich darf als alter Mensch auch einfach nur dasitzen und vor mich hinschauen, meine Hände in den Schoß legen, mich ganz Gott anvertrauen, der meinen Wert, meine „Verwertbarkeit“ nicht von meiner Größe, meinen Taten, meinen Stärken abhängig macht, sondern von seiner Liebe und Barmherzigkeit. Und die machen uns schön, egal wie alt wir sind.
Amen.
______________________
Liebeslied für einen alten Menschen, Text: U. Tietze
(Melodie EG 255: O dass doch bald dein Feuer brennte)
1. Gezeichnet von so vielen Jahre,
an Falten reich ist dein Gesicht,
das, eingerahmt von weißen Haaren,
ganz ohne Worte zu mir spricht.
2. Durch das, was hinter dir liegt, haben
unzählige der Runzeln sich
in deine Haut tief eingegraben.
Wenn ich dich sehe, denke ich:
3. Nach schwerem Los noch Freundlichkeiten,
die schenkst du mir ganz unbeirrt.
Ich hoffe, dass für lange Zeiten
dein Weg mich noch begleiten wird.
4. Wie schön bist du, seid oft ihr Alten!
Erfahrung legte sich hinein
in deine Haut mit ihren Falten.
Das Leben selbst grub sich dort ein.
5. Oft höre ich von allen Seiten,
dass nur die Jugend Schönheit hat.
Und doch: nur Oberflächlichkeiten
sind ohne Furchen, bleiben glatt.
6. Dort, wo das Leben, wo Erfahrung
sich ins Gesicht, ins Äußre gräbt,
mag es geschehn, dass ihr auch Nahrung
des Wissens an die Jungen gebt.
7. Ich weiß nicht, wieviel an Gewittern,
an Stürmen mir beschieden ist.
Doch niemals möchte ich verbittern,
will freundlich bleiben, wie du´s bist.
7.S.n.Tr., 23.07.2023, 1.Kö.17,1-6, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
jeder Sommer hat so seinen Hit in den Radioprogrammen. Ich erinnere mich noch gut an den von 1975, damals ein Ohrwurm. Rudi Carell war der Sänger und im Refrain hieß es: „Wann wird’s mal endlich wieder Sommer, ein Sommer, wie er früher einmal war? Ja, mit Sonnenschein von Juni bis September und nicht so nass und so sibirisch, wie im letzten Jahr.“
Ein Sommerhit, den so in den letzten 10-15 Jahren sicher kein Textschreiber mehr erdacht hätte; waren die Sommer doch im Schnitt alle viel zu warm und vor allen Dingen viel zu trocken. Wie sehr genießen wir mittlerweile Temperaturen um 20 Grad und freuen uns über jeden Regenguss, sofern er nicht als Starkregen daherkommt. Um Trockenheit und fehlenden Regen geht es auch in der Geschichte, die der Predigt am heutigen Sonntag zugrunde liegt. Genaugenommen ist es der erste Teil einer Geschichte aus dem 1.Könige; über den zweiten Teil werde ich am 27. August zu sprechen kommen. Seit der Überarbeitung der Perikopenordnung 2018 ist sie endlich für würdig erachtet worden, alle sechs Jahre als Predigttext der Gemeinde vorgestellt zu werden.
„Da sprach Elia, der Tischbiter, aus Tischbe in Gilead, zu Ahab: „So wahr der Herr, der Gott Israels, lebt, in dessen Dienst ich stehe, es wird in diesen Jahren weder Tau noch Regen fallen, ich sage es denn!“ Und es erging an ihn das Wort des Herrn: „Geh weg von hier und wende dich nach Osten! Verbirg dich am Bach Krit, der zum Jordan fließt. Und du sollst aus dem Bach trinken, und ich habe den Raben geboten, dass sie dich dort versorgen sollen.“ Und er tat nach dem Wort des Herrn; er ging hin und setzte sich nieder am Bach Krit, der zum Jordan fließt. Und die Raben brachten ihm Brot am Morgen und Fleisch am Abend, und er trank aus dem Bach.“
Ich kenne keine andere Bibelstelle, wo so bildhaft von einem Bach die Rede ist wie hier im ersten Buch der Könige. Da sitzt einer am Ufer des Bachs, nicht bloß eine Stunde lang; sondern über viele Tage, Wochen sitzt er da an seinem Bach und hält sich verborgen. Aber es ist hier keine Idylle, weder Urlaub noch Kinderspiel. Elia, der Prophet, hatte Schwieriges hinter sich. Er hatte gesehen, welche bedenkliche Entwicklung das Nordreich Israel genommen hatte. Wie das Königshaus in seinem Bemühen, sich den religiösen Gepflogenheiten der Nachbarvölker anzupassen, den Glauben Israels immer stärker verfälschte und in Frage stellte. Baal und Aschera wurden Altäre errichtet. Adonai, der Gott Israels, war nur noch einer unter vielen. All das geschah vor den Augen des ganzen Volkes. Jeder musste und konnte es sehen. Vielleicht war auch eine ganze Reihe mit dieser Entwicklung nicht einverstanden. Aber – keiner sagte etwas; nur einer tat den Mund auf: Elia. Er sagte König Ahab als Folge dessen Handelns eine schlechte Botschaft ins Gesicht: „Es wird kein Regen kommen, nicht in diesem Jahr und auch nicht in den folgenden.“
Ja, es braucht Mut und Kraft, den Mund aufzumachen, ehrlich und offen zu sagen, was Sache ist, ehrlich und offen die Folgen von Ereignissen, von politischem Handeln zu benennen. Wer eine schlechte Botschaft bringt, der muss damit rechnen, dafür abgelehnt zu werden. Das ist so bis heute. Welche/r Politiker/in in unserem Land traut sich - gerade wo Wahlen anstehen und die stehen ja immer irgendwo an in den Ländern, in den Kommunen – welche/r Politiker/in traut sich da, die Wahrheit zu sagen zum Beispiel hinsichtlich der Finanzierbarkeit unseres Gesundheitssystems oder was die Globalisierung und Digitalisierung für das Wohlstandsgefüge in unserer Gesellschaft bedeutet oder welche Schritte eigentlich zu unternehmen wären, um die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels wenigstens noch abzumildern. Eigentlich ist es für alle, die ein bisschen nachdenken können, mit Händen zu greifen, dass nicht weiter alles, was machbar ist, mehr möglich ist, und zwar nicht nur, weil wir es uns das finanziell nicht mehr leisten können, sondern weil die Erde es sich nicht mehr leisten kann.
Es ist leicht, die Universalität der Menschenrechte zu erklären. Aber aus dieser Anerkenntnis folgt doch auch, dass jeder Mensch das gleiche Anrecht auf ein gutes Leben hat, dass die begrenzten Ressourcen der Erde für alle in gleichem Maße zur Verfügung stehen. Das will lieber keine/r laut sagen. Ich habe noch von niemandem gehört, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse weltweit nicht heißen wird, dass es allen so gut gehen wird, wie uns hier in Deutschland jetzt, sondern eher, dass wir unsere Ansprüche deutlich zurückschrauben müssen. Aber wer traut sich, das zu sagen? Er muss befürchten, vom Wähler abgestraft zu werden. Dabei müsste er nur mit dem Verlust seines Abgeordnetenmandates rechnen, nicht, wie Elia, dass ihn tödlicher Hass treffen kann, weil die Menschen so seine Botschaft töten wollen – wobei die Ermordung des Politikers und Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019 zeigt, dass es in unserer Gesellschaft auch schon richtig gefährlich sein kann, einfach für Menschlichkeit einzustehen.
Elia war mutig gewesen und hatte dem König ins Angesicht gesprochen, aber dann wollte Gott selbst, dass er sich versteckte. „Verbirg dich!“, sagte der Herr. Mich berührt es, dass auch dem mutigen Menschen sein Versteck gewährt wird. Auch der Prophet braucht nicht immer mutig vor des Königs Angesicht zu stehen. Es gibt eine Zeit, da darf, da soll er sich zurückziehen, zurück in sein Versteck - am Bach Krit. Man kann sich das wie ein Bild vorstellen: dieser erschöpfte Prophet am Ufer des Baches, der Prophet in der Einsamkeit und Stille. Es ist ein Bild für jeden Menschen, der sich erschöpft bergen, sich verbergen will. Nun weiß ich nicht, ob der Bach Krit so ein lebendiger Bach ist wie zum Beispiel die Bäche in den Alpen, wenn sie über die Wiesen und Almen sprudeln. Die Maler in späteren christlichen Zeiten haben gerne eine Schlucht gezeichnet, wenn sie uns Elia in seinem Versteck zeigen wollten. Da saß er erschöpft da und es floss der Bach. Und die Raben kamen und versorgten ihn - am Morgen mit Brot, am Abend mit Fleisch. So wurde Elia zum Vater der Einsiedler.
Wer in den satten Zeiten der Kirche genug hatte von der Welt mit ihren Königen, wer nur noch geistliche Dürre über die Stätten der Welt kommen sah, der zog aus in die Wildnis, fort in die Einsamkeit; er kehrte der Welt den Rücken. Antonius von Padua war wohl nicht der erste und Nikolaus von Flüe nicht der letzte. Wo immer ein Mensch in die Einsamkeit floh, da meinte er, dem Weg des Elia zu folgen. Doch ganz richtig haben sie damit Elia und seine „Auszeit“ nicht nachgebildet. Denn sein Rückzug – das werden wir noch hören am 27.August – war nur ein Intermezzo, eine Auszeit eben und keine Endstation. Ja, manchmal ist das das Einzige, was hilft, was guttut, wenn Erschöpfung sich breit macht in allem Tun und Schaffen, allem Planen und Organisieren: sich eine Auszeit nehmen, ja, sich von Gott „in Urlaub“ schicken zu lassen. So fremd ist er uns nicht, der erschöpfte Prophet. Wer in der Welt wirkt, kennt doch die Zeiten, da er ausspannen möchte, hinaus aus der Anspannung der täglichen Anforderungen. Einmal ganz sich bergen, weg von den stechenden oder skeptischen Blicken, fort vom Lärm der Welt, hinein in die Stille, dort, wohin Gott mich führt. Ja, vielen ist der Ruf vertraut, auch wenn die Stimme nur leise klingt: „Verbirg dich!“
Ich weiß, es gibt auch Menschen, die haben einen solchen Ort nicht selbst gesucht. Und doch hat Gott sie in die Stille, in die Einsamkeit geführt. Sie denken zurück an frühere Zeiten und sind dabei froh um jeden Boten, der die Stille bricht. Nicht jeder möchte Elia sein. Ja, wir wissen nicht einmal, ob Elia selbst so glücklich war in seinem Versteck, in das Gott ihn führte. Darüber schweigt die Bibel. Elia ging den Weg, auf den Gott ihn rief. Der Mensch am Bach. Elia ist kein ausgelassenes Kind, das am Wasser spielt, vielleicht kleine Wasserräder aus Holzstöcken und Baumrindenstücken bastelt. Ein Mensch, gezeichnet und erschöpft, stillt seinen Durst mit Wasser, das der Bach ihm bringt. „Aus dem Bach kannst du trinken.“ Elia sieht Dürre kommen, doch Gott hat ihn zu einem Bach geführt, aus dem er trinken kann. Es ist kein Brunnen, keine Zisterne, kein Vorrat an Wasser, den er messen könnte. Das Wasser kommt, er weiß nicht, woher, und was er nicht trinkt, fließt fort und ist nicht zurückzuholen. So gibt der Prophet sich ganz der täglichen Güte Gottes hin. Er selbst hat keine Macht über den Ursprung des Wassers; er kann es nur kommen lassen. Und er kann es nicht für schlechtere Zeiten zurückhalten; er muss es ziehen lassen. So lebt er denn jeden Tag von dem Wasser, das Gott ihm Tag für Tag schickt. Tiefer könnte der Mensch im Versteck nicht erfahren, was es heißt, aus Gottes Hand zu leben. Und es kommen die Raben am Morgen und am Abend. Wie im Märchen bringen sie dem Menschen in seiner Einsamkeit sein Essen: Brot und Fleisch. Sie kommen vom Himmel, sind Boten des himmlischen Vaters, und sie bringen so viel, wie der geborgene Mensch braucht, mehr bringen sie nicht; Vorräte lassen sich nicht sammeln. Sein tägliches Brot wird dem Menschen in seine Stille gebracht und auch sein tägliches Fleisch. Und in der Stille vertraut der Mensch darauf, dass Gott ihm wirklich jeden Tag das Nötige schenkt - durch seine Raben, durch seinen Bach.
Es ist schon wahr: viele von uns kennen die Sehnsucht nach einem Versteck, nach einem Ort, wo die tägliche Welt zum Schweigen kommt. Aber verstehen wir uns auch auf die Zeichen solcher Orte? Nehmen wir die Raben wahr, und vermögen wir, mit dem Bach zu leben? Es ist kein Idyll, der Prophet am Bach Krit. Es ist ein Mensch, den Gott in die Einsamkeit führt, ein Mensch, der lernt, es sich mit dem genügen zu lassen, was Gott ihm jeden Tag schenkt. Nun will ich nicht verschweigen, dass die Tage des Propheten am Bache Krit gezählt waren. Auch das Versteck war der Welt nicht völlig entzogen. Nicht, dass die Menschen den Propheten dort entdeckt hätten. Aber die Dürre, der fehlende Regen ließ auch die Quelle des Bachs versiegen. Die Zeit der Stille, die Wochen der Einsamkeit gingen zu Ende. Und Elia musste wieder hinaus in die trockene Welt, er musste zu den hungernden, leidenden Menschen, um ihnen Hilfe zu bringen.
Nein, Einsamkeit und Stille sind kein Idyll, der Rückzug kein Selbstzweck, er begründet kein Leben in einer heilen Parallelwelt. Es kommt die Zeit, da trocknen die Bäche aus, dann muss ich hinaus, zurück in die Welt. Hoffentlich habe ich bis dahin gelernt, dass Gott mir schicken wird, was ich brauche. Dass ich wesentlich von seiner Güte lebe. Und dass ich mich nicht trennen kann von dem Geschick der anderen Menschen in der Welt, dass ihr Durst, ihr Hunger auch meiner ist. Dass es Leben und Zukunft nur für uns alle gemeinsam gibt. Hoffentlich habe ich bis dahin die Lektion am Bach verstanden.
Amen.
7.S.n.Tr., 23.07.2023, Predigtreihe zu Krisentexten der Bibel: "Beziehungskrise", Stadt- und Jonakirche, Daniel Kaufmann
Predigt zum Thema „Beziehungskrise“ um 9.45 Uhr in der Stadtkirche und um 11 Uhr in der Jonakirche
„Als Gott den Mann erschaffen hatte, stellte er fest, dass er das meiste gängige Material verbraucht hatte. Es gab keine leichter verfügbaren Zutaten mehr, woraus er die Frau hätte bilden konnte. So dachte Gott länger als üblich nach. Dann nahm er die Rundheit des Mondes, die Biegsamkeit einer Weinranke, das Zittern des Grases, die Zartheit des Schilfs und das Blühen der Blumen, die Leichtigkeit der Blätter und die Heiterkeit der Sonnenstrahlen, die Tränen der Wolken und die Flüchtigkeit des Windes, die Furchtsamkeit eines Hasen und die Eitelkeit eines Pfaues, die Weichheit einer Vogelbrust und die Härte eines Diamanten, die Süße des Honigs und die Grausamkeit eines Tigers, das Brennen des Feuers und die Kälte tiefen Schnees, die Geschwätzigkeit einer Elster und das Singen einer Nachtigall, die Falschheit einer Schlange und die Verlässlichkeit einer Löwin.
Gott vermischte alle diese Elemente, schuf daraus die Frau und gab sie dem Mann. Nach einer Woche kam der Mann wieder und sagte: „Herr, das Wesen, das du mir gegeben hast, macht mir keine Freude. Sie redet ununterbrochen und quält mich so sehr, dass ich gar keine Ruhe mehr habe. Sie besteht darauf, dass ich mich ihr ständig widme, und so gehen meine Stunden dahin. Sie regt sich über jede Kleinigkeit auf und führt ein müßiges Leben. Ich will sie dir zurückgeben, denn ich kann nicht mit ihr leben.“ Gott war einverstanden und nahm sie zurück.
Nach einer Woche kam der Mann wieder zu Gott und sagte: „Herr, mein Leben ist leer, seit ich dir die Frau zurückgegeben habe. Ich muss ständig an sie denken – wie sie tanzte und sang, wie sie mich aus den Augenwinkeln ansah, wie sie mit mir redete und sich an mich schmiegte. Sie sah so schön aus, und es war so gut, sie zu berühren. Ich hörte sie so gerne lachen. Bitte, gib sie mir doch zurück.“ Gott war einverstanden und gab sie ihm wieder.
Aber drei Tage später kam der Mann erneut zu Gott und sagte: „Herr, ich verstehe es einfach nicht – ich kann es nicht erklären, aber nach all meinen Erfahrungen mit der Frau bin ich doch zu dem Ergebnis gekommen, dass sie mir mehr Ungelegenheiten als Freude macht. Ich bitte dich daher, nimm sie doch wieder zurück! Ich kann nicht mit ihr leben!“
Und Gott antwortete: „Du kannst aber auch nicht ohne sie leben!“ Und er wandte dem Mann den Rücken zu und setzte seine Arbeit fort.
Der Mann aber rief verzweifelt: „Was soll ich tun? Ich kann nicht mit ihr leben, aber ohne sie geht es auch nicht! Das kann ja heiter weiter!“
Und es wurde heiter. Mal mehr, mal weniger.
Überwiegend heiter wurde es beim miteinander Reden und Lachen, beim lustige Geschichten Erzählen, beim Flirten, beim Necken, beim Tanzen, beim Umarmen, beim Küssen, beim Schmusen, beim Party feiern, beim Urlaub machen, beim Freunde besuchen, beim gemeinsame Zeit Verbringen.
Weniger heiter wurde es bei der Diskussion, wer welche Rolle übernehmen soll. Wer für Kochen, Wäsche, Ordnung im Haus zuständig ist. Weniger heiter wurde es in der Tretmühle des Alltäglichen, wenn Arbeit, Beruf, Kinder wenig Zeit für Gemeinsamkeit ließen.
Weniger heiter wurde es: Wenn es um das angeblich vorwiegend männliche Organisationstalent und die vorgeblich hauptsächlich weibliche Intuition ging. Wenn es um das erste und letzte Wort bei einer Entscheidung ging. Wenn es ums Rechthaben ging. Weniger heiter wurde es, wenn Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentfaltung neu ausgelotet werden mussten. Wenn der eine zu viel und der andere zu wenig oder umgekehrt: die eine zu viel und die andere zu wenig zum Zuge kam bei der Verteilung von Anerkennung, Lob und Wertschätzung.
Weniger heiter wurde es, wenn man sich wenig oder gar nichts zu sagen hatte, sich anschwieg oder einfach nur wortlos aneinander vorbeilebte. Wenn die Eifersucht sich meldete. Wenn der Umgang mit Geld schwierig wurde.
Und dann gab es ja auch noch die Zeiten, in denen es weder mehr noch weniger heiter zuging, sondern einfach nur gut war, dass man sich gegenseitig hatte, um den Alltag zu bestehen, um die Herausforderung des Lebens zu meistern, um gemeinsam stark zu sein. Um gemeinsam den Sinn des Lebens zu finden. Um gemeinsam glücklich zu werden. Um gemeinsam ein Stück Himmel auf Erden zu erleben.
Um das größte Geschenk Gottes zu entdecken: Die Liebe, die der Ursprung und das Ziel allen Lebens ist. Und die Gott in jedem von uns hineingelegt hat. Und die in jedem von uns einzigartig, wunderbar, unverwechselbar sichtbar werden kann und will.
Als Adam seine Eva im Paradies entdeckte, war sein Glück vollkommen: „Hasot!“ heißt es da im Hebräischen und auf Deutsch: „Die ist es und sonst keine!“ Und in diesem Ausruf kommt zusammen: Entdeckerfreude, Erstaunen, Glückseligkeit und Zufriedenheit.
Wir sind auf ein Gegenüber hin geschaffen. Auf ein Du hin angelegt. Und diese magische Polarität hat geradezu göttliche Qualitäten. Sie gehört zu dem Schönsten, Besten, Erfüllendsten, was es auf dieser Erde gibt.
Wie man im Anschluss an diese leicht modifizierte indische Legende* zum Miteinander der Geschlechter erkennen kann, ist diese Liebe von Anfang an nicht ohne Wermutstropfen, ohne Irritationen und Schräglagen der unterschiedlichsten Sorte zu haben. So wird es ja auch in der Bibel an zahlreichen Stellen berichtet. Gleich nach den paradiesischen Zuständen kommt die Geschichte mit der verbotenen Frucht und damit verbunden die Ausweisung aus dem himmlischen Urstand. Eva muss unter Schmerzen die Kinder gebären, Adam muss unter Schweiß und Frust das Feld bestellen. Damit nicht genug.
Das erste Brüderpaar sorgt für familiären Stress und Streit, für Mord und Totschlag: Kain bringt Abel um. (Gen. 4) Die Kinder erweisen sich von Anfang an nicht nur als Segen, sondern auch als Ernstfall des Lebens, insbesondere der Beziehung zwischen Mann und Frau. Sie werden lang ersehnt und erwünscht, aber wenn sie dann da sind, kann man sicher sein, dass so manche schlaflose Nacht und Sorge dazukommt. Weil das Thema Lieblingssohn und Lieblingstochter, Rangfolge der Geschwister, besondere Begabungen und Schwächen, Erbfolge und Fortsetzung der Dynastie, Schönheit und Ansehnlichkeit, Können und Geschick, Talent und Begabung die Runde machen. Besonders die Brüderpaare machen das Familienleben zu einer echten Herausforderung: nach Kain und Abel sind es Isaak und Ismael, Jakob und Esau, Josef und seine elf Brüder, bei denen es nur haarscharf an Krieg und Terror vorbeigeht. Der Familienfrieden ist jedes Mal nachhaltig gestört und die Eltern, das Liebespaar, Vater und Mutter haben alle Hände voll zu tun, um das Schlimmste abzuwenden. Neben den Kindern meldet sich der alltägliche Trott und damit die Frage, ob und wie eine Liebesbeziehung den immer gleichen Ablauf, die sich ähnelnden Rituale, das Normale des Lebens aushält bzw. bewältigen kann. Auch hier nehmen die biblischen Geschichten kein Blatt vor den Mund. Mehrmals wird von speziellen Vorlieben berichtet, die erst die Partnerwahl und dann den Familienalltag ungut beeinflussen.
In Zeiten der Vielehe leuchtet unmittelbar ein, dass spätestens bei der Prioritätensetzung von Lieblingsfrau, Haupt- und Nebenfrau es über kurz oder lang zu Problemen kommt. Bei Jakob etwa wird von einem ziemlich bizarren Wettbewerb der zwei Haupt -und Nebenfrauen um das erstgeborene Kind bzw. Sohn berichtet, ein Wettbewerb, bei dem der Stammvater keine durchweg gute Figur macht, sondern mehr oder weniger als Spielball von insgesamt 4Frauen, die zumindest ihre häusliche Position und Machtstellung mit Hilfe der Kinder festzurren wollen. (vgl. Genesis 29-30)
Schwierigkeiten gibt es auch in Zeiten der Monogamie, wie man bei dem ansonsten hoch gelobten König David erfährt. Seine Frau Michal findet es durchweg peinlich, wie ausgelassen und offensichtlich auch wenig bekleidet er vor allem Volk zu einer Parade erscheint. (2. Samuel 6,12-16) Man fühlt sich sogleich an britischen Verhältnisse erinnert: Prinz Harry und seine exzessiven Auftritte, bei denen das Königshaus „not amused“ ist. Dazu kommt ein mehr als schäbiger Seitensprung mit Folgen (2. Samuel 11), die Geschichte, bei der dem David die Augen übergehen. Die nackt badende Bathseba regt nicht nur seine Phantasie, sondern auch seine Lust auf Abwechslung an. Er geht mit der Frau des Uria fremd und, um die Folgen des Techtelmechtels, eine sich ankündigende Schwangerschaft, zu verbergen, lässt er den verdienten Frontkämpfer in einem Himmelfahrtskommando sterben und damit aus dem Weg räumen.
Diese Geschichte lässt durchblicken, dass es mit der Treue zwischen Mann und Frau und hier speziell vom Mann - „Me Too“ - lässt grüßen, schon in Alten Zeiten nicht zum Besten bestellt ist und das 6. Gebot: „Du sollst nicht ehebrechen!“ (Ex. 20,14) kein überflüssiger Hinweis ist, sondern einen Rahmen setzt, der zuweilen und zu Recht erinnert werden muss und soll.
Auch andere sexuelle Orientierungen als die von Mann und Frau machen Probleme: Die LGBTQ+ – Bewegung ist sich einigermaßen sicher, dass in der Bibel bei den alternativen Lebensgemeinschaftsformen vor allem misslungene oder problematische Gesichtspunkte zu Wort kommen. Dieser Eindruck ist, zumindest was die Homosexualität angeht, nicht ganz falsch. Sie ist, wenn sie thematisiert wird, wie etwa in der Geschichte von Sodom und Gomorra (Genesis 19), mit Gewalt, übergriffigen Sexpraktiken und hemmungsloser, verantwortungsloser Lust und Missbrauch verbunden und wird entsprechend negativ gezeichnet. Nicht zuletzt deshalb wird Sodom und Gomorra ja auch vernichtet. Ob David und Jonathan in jüngeren Jahren ein gleichgeschlechtlich liebendes Pärchen abgegeben haben, bleibt eine offene Frage. Hier wird in der Regel ja auf den berühmten Satz abgehoben: „Deine Liebe ist mir wundersamer als Frauenliebe.“(2. Samuel 1,26) Um da mehr herauszulesen oder zu bekommen, müsste man die beiden noch mal direkt befragen. Geht aber aus bekannten Gründen nicht. In späteren Zeiten seines Lebens ist David eindeutig heterosexuell orientiert gewesen.
Die Liebe zwischen zwei Menschen ist also mannigfachen Versuchungen und Fragestellungen ausgesetzt und die Beziehungskrise, das gespannte und alles andere als friedliche Miteinander zweier Menschen keine Selbstverständlichkeit. Aber trotz all dieser offensichtlichen Mängel, Schräglagen, auch Katastrophen und absoluten „No Goes“, gibt es durch die ganze Bibel hindurch einen geradezu unerschütterlichen Glauben, dass das liebende Miteinander zweier Menschen zu dem Schönsten und Besten und Erstrebenswerten gehört, was das Leben auf dieser Erde zu bieten hat. „Du bist das Gegenüber, nach dem ich mich sehne, die ideale Partnerin, der Partner, mit dem ich alles Glück dieser Erde erleben kann.“ Bei Adam und Eva klingt diese Gipfelaussage an und in vielen kleinen Nebenbemerkungen wird dieses Glück gefeiert. Auch dazu gibt die Bibel reichlich Einblicke und Beispiele.
„Isaak gewann Rebbekka lieb“ (Genesis 24,67) ist eine der ersten großartigen Liebeserklärungen der Weltgeschichte, die dann in vielen Variationen bis zu den atemberaubenden Szenen auf der Titanic wiederholt worden ist. Wenn der Jakob für seine Rahel 7 lange Jahre schuftet und diese 7 Jahre wie im Flug vergehen, wenn ihm diese 7 Jahre vor kommen wie 7 Tage, weil er sie so lieb hat, (Genesis 29,20) ahnen wir etwas von dem Zauber, der mit der Liebe in unser Leben kommt. Wenn es im erotischsten Buch der Bibel, dem Hohen Lied, heißt: „Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich…(Hohes Lied 8,6), dann bekommt man eine Ahnung von der Tiefe und der Größe und der Einmaligkeit und Besonderheit, die mit der Liebe verbunden zweier Menschen verbunden ist.
Diese Hochschätzung findet auch im Neuen Testament eine facettenreiche Fortsetzung: Josef verlässt seine Maria nicht, obwohl das Kind, das Jesuskind wohlgemerkt, definitiv nicht von ihm ist, wie die Evangelisten nicht müde zu betonen werden.(Matthäus 1,20/Lukas 1,34) Und dieses Miteinander hat auch später Bestand, egal ob man da römisch-katholisch mehrere ältere Geschwister Jesu annimmt, oder gemeinsam Kinder von Josef und Maria. Von dauerhafter Beziehung ist auch bei Petrus die Rede: Seine Schwiegermutter hat einen extra Eintrag in die Erzählungen des Evangeliums gefunden (Markus 1,31-32), Jesus kümmert sich um sie, und das wohl doch auch, weil sie mit Petrus und seiner Frau zu dem unmittelbaren nächsten Partnerinnen Jesu gehörte. Umso erstaunlicher, dass Petrus später und bis heute für das Zölibat herhalten musste. In der Apostelgeschichte hören wir von dem überaus gastfreundlichen Paar Aquila und Priscilla (Apostelgeschichte 18,1f), die dem Apostel Paulus Unterkunft und Verpflegung in Korinth gewähren und die vermutlich zu den Gründungsmitgliedern der zuweilen etwas chaotischen korinthischen Gemeinde gehörten. Und von Paulus selbst, der als Junggeselle, als Single durch die damalige Weltgeschichte unterwegs war, gibt es zum Miteinander der Menschen dieses wunderbare Gedicht, das wir bereits zum Eingang des Gottesdienstes miteinander gesprochen haben:
„Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Sie hört niemals auf. (1. Korinther 13)
Mag sein, dass man bei so vielen schwerwiegenden Attributen, die es zur Liebe gibt, leicht an Überforderung denkt, so wird hier doch unüberhörbar deutlich, welche gewaltige Kraft, Dynamik, Besonderheit in der Liebe steckt.
Und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Apostel damit an ein geradezu göttliches Phänomen erinnern will, ja dass wir bei der Liebe, bei dem intimsten und bedingungslosesten Miteinander zweier Menschen, Gott ganz nahekommen. So wie es in dem berühmten Johanneswort anklingt, das ja auch nicht selten bei Hochzeiten zitiert wird: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Johannes 4,16)
Mit der Liebe bekommen wir Zugang, genauer: einen direkten, sinnlich erlebbaren Zugang zu Gott. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Mag sein, dass wir das in der späteren Kirchen- und Theologiegeschichte etliches vernebelt, moralisch abgewertet oder sogar verteufelt haben. Besonders negativ hat hier ja der ansonsten hoch geschätzte Augustinus gewirkt. Wohl in Anbetracht seines ehemaligen Lotterlebens als Playboy und Lebemann hat er in der Theologie die Sexualität mit dem Gedanken der Erbsünde verbunden. Damit war dieses Terrain für ziemlich viele Jahre mehr als vergiftet. In der Bibel selbst ist von Leibfeindlichkeit oder einem vor allem geistlichen oder spirituellen Charakter der Ehe bzw. des menschlichen Miteinanders nicht die Rede. Das in jeder Hinsicht ganzheitliche Miteinander zweier Menschen wird vielmehr und geradezu sakramental geadelt: Bei Paulus findet sich etwa im Epheserbrief, Kapitel 5,25 die Aufforderung an die Männer: „Liebt eure Frauen, wie auch Christus die Gemeinde geliebt hat und hat sich selbst für sie dahingegeben…“
Ich denke, der Satz stimmt auch umgekehrt: „Ihr Frauen, liebt eure Männer, wie auch Christus die Gemeinde geliebt hat und hat sich selbst für sie dahingegeben…“ Die Männer sollen ihre Frauen und die Frauen ihre Männer lieben wie sich selbst. Und ihren Leib für den anderen geben… Wenn man hier genauer hinhört und die Wort nachklingen lässt, merkt man: Das ist die Sprache des Abendmahles, das sind die Worte, die wir auch von den Einsetzungsworten her kennen. Darin liegt eine große Hochschätzung dessen, was das Miteinander ausmacht bzw. ausmachen kann. In der römisch-katholischen Trau-Liturgie ist und wird festgehalten, dass dieses Sakrament sich die Partner gegenseitig spenden. Bei der sonstigen Fixierung auf den Priester ist das eine erstaunliche und bemerkenswerte Einsicht. Wir alle können bei diesem Miteinander an dem dem Mysterium, dem Sakrament, dem Geheimnis Gottes teilnehmen, das in Jesus seinen Ursprung hat. Diese Art der Hingabe ist ein alltagstaugliches Sakrament, das wir in unseren Beziehungen zu einem geliebten Menschen in vollem Bewusstsein selbst vollziehen und verantworten. (Was ich hier vorwiegend in Bezug auf Lebensgemeinschaften zweier Menschen ausgeführt und entwickelt habe, lässt sich und sollte auch für andere Liebesbeziehungen, wie sie im diakonischen Bereich anklingen und in der täglichen Nächstenliebe anzutreffen sind, Berücksichtigung und Anwendung finden)
Auf dem Miteinander zweier Menschen liegt die Verheißung von Gottes Segen und des irdischen Glücks und einer Verbindung, die selbst den Tod überwinden kann. Weil Gott sich zu diesem Miteinander bekennt, weil er selbst es will und unterstützt und es uns nicht nur gönnt, sondern auch alles dazu beitragen möchte, dass es gelingt.
Ein letztes: Das Miteinander zweier Menschen ist von einer bedingungslosen Entscheidung zu einem Du begleitet, von einer unglaublichen Leidenschaft und Tiefe beglaubigt und soll sich im Alltag und den Zerreißproben des Lebens bewähren. „Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem anderen wie auch Gott euch vergeben hat in Christus“, heißt es in Epheser 4,32. „Liebende leben von der Vergebung“, lautet der Titel eines Büchleins von Manfred Hausmann und das gilt besonders und immer wieder im Alltag: Wenn es aus den unterschiedlichsten Gründen und Motiven zu Störung, Missverständnissen, Unzufriedenheiten, Schwierigkeiten kommt, will und kann die Vergebung einen zu jenem Zauber des Anfangs zurückbringen, der aller Liebe zugrunde liegt und den Beziehungskrisen eine heilsame Lösung bescheren: „Du bist der, du bist die, auf die, auf den ich immer gewartet habe, ein Gottesgeschenk, ein Gruß aus der Ewigkeit, mit Dir zusammen kann und werde ich ein Stück Himmel auf Erden erleben.“
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre uns Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.
*: Legende in kürzer Form in: „Goldmedaille am siebten Tag“ Neue Geschichten für junge Leute, ausgewählt von Hanns Baumeister, Seite 15, Gütersloh 1993.
5.So. n. Trinitatis, 09.07.2023, Predigtreihe zu Krisentexten der Bibel III: Wirtschaftskrise (Jes.54,2 / Gal.4, 26), Stadt- und Jonakirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 5.n.Trin. - 9.VII.2023
Jesaja 54,2 / Galater 4,26
Liebe Gemeinde!
„Nicht vom Brot allein“, so lautet das Urteil im Verfahren Materialismus v. Menschheit.
… Wieso Urteil? Wieso Verfahren?
Weil wir uns heute ein drittes Mal einer Krise stellen müssen und wollen, … einer „Krise“, in der das Wort „Kritik“ ja auch immer schon steckt: Echte Infragestellung und schonungslose Beurteilung.
In der heutigen Verhandlung nun werden wir unter dem Gesichtspunkt des Wirtschaftlichen kritisch geprüft und bewertet, … kritisch aus biblischer Sicht, die uns den Blick Gottes nahebringt und ihn sogar einzuüben gestattet.
… Nun mag man da zurecht einwenden, dass wirtschaftlicher Sachverstand weder dem lieben Gott noch seinen Geschworenen besonders reichlich in die Wiege gelegt sei:
Der liebe Gott hat eine kleine Werkstatt betrieben, und Seine Tische, Bänke und Boote wird Er am liebsten unter freiem Himmel auf dem Hinterhof gehobelt, geleimt und verfugt, mit Nägeln so krumm wie denen, die schließlich Seine Hände durchstießen, verbunden und dann in Nazareth selbst auf Seinen Schultern ausgeliefert haben, … vielleicht dass Er dann noch ab und zu etwas von Seinem Handwerk in Kapernaum angeboten haben mag. Was also versteht Der von Wirtschaft?
… Oder so ein Dutzend Genezareth-Fahrer, die Netze flicken und Barsche ausnehmen konnten?
… Oder so ein Talmud-Gelehrter wie Saulus, der zwar erstaunlicherweise die Zeltmacher-Kunst ausübte, aber eigentlich doch nur Schrift und Geist, Gerechtigkeit und Gnade verknüpfen konnte und sich um Lohn in diesem Leben sowieso nicht scherte?
… Der Einzige, der was verstand, war Matthäus, der Zöllner: Der hatte bei den römischen Besatzern das Prozent-Rechnen gelernt und wie Aufrunden geht und wie hoch ein Profit sein muss, der nicht für die Mächtigen als Auftraggeber reicht, sondern daneben auch noch für die Gewitzten, die das Geschäft ausführen. …….
----- Kommt Ihr uns also ja nicht mit biblischen Impulsen zur Wirtschaft!, werden uns die Kinder dieser Welt sagen, die – einerlei ob sie in Düsseldorf oder in Doha, in Peking oder Pittsburgh leben – alle gleichlautend auf jene Kinder-Grundfrage reagieren werden, auf die man früher mit „die Natur“ oder „die Kirche“ geantwortet hätte: „Kinder, wer ist eure Mutter?“ – „Die Wirtschaft“, lautet die Antwort. – Setzen! Bestanden! —
Davon aber versteht der biblische Mensch nun tatsächlich nichts. Ihm ist vom Apostel Paulus, der selber Zelte webte, das wunderbare Jesaja-Wort ausgelegt worden (Jes. 54,2): „Mache den Raum deines Zeltes weit und breite aus die Decken deiner Wohnstatt; spare nicht! Spann deine Seile lang und stecke deine Pflöcke fest!“, denn von diesem Wort her hat der Apostel alle Heiden gelehrt, dass sie eine Mutter haben, die nicht plant und abmisst und zählt, sondern großzügig, weitherzig und einladend ist: „Das Jerusalem, das droben ist, das ist die Freie; das ist unsre Mutter!“ (Gal.4,26). So überbordend mütterlich, so ohne jede Einsparung, so groß-seelig, wie die Großzügigkeit im Englischen heißt (“magnanimity“), ist die Welt, in die die Gläubigen gehören! ———
Weshalb aber geht es so biedermeierlich familiär zu, wenn wir doch heute von der Wirtschaft reden sollen und vielleicht einen kräftigen Schuss Kapitalismus-Kritik erwartet hätten, für die die Kirche eine gewisse Zuständigkeit haben dürfte?
… Gerade das jedoch erweist sich bei näherem Zusehen als Gerücht: Anti-Kapitalismus ist keine Besonderheit des Christentums, sondern - wieder sind wir bei der DNA! - die Substanz des alten Abendlandes … des alten Morgenlandes übrigens auch. So ätzend, wie sich Aristoteles über die Geldwirtschaft geäußert hat, die er für eine Perversion hielt, bei der das Wohlleben wie eine Krankheit die Kraft zum guten Leben überwuchert und verdrängt[i], so vernichtend hat die gesamte Kirche die Kapitalwirtschaft verurteilt … ob durch Thomas von Aquin oder die Reformatoren, unter denen gerade Luther durch die kreditgebenden und zinsnehmenden Fugger auf die abscheuliche Abhängigkeit sowohl geistlicher wie weltlicher Verantwortlicher von der Droge Geld stieß und die toxische Vermischung des Finanziellen mit dem Spirituellen polemisch geißelte.
Und dass der mephistophelische Pakt des Menschen mit dem Gold, „an dem alles hängt, zu dem alles drängt“, auch in Kolonialismus und Industrialisierung seine ebenso vernichtende wie erfinderische und fortschrittlich zündende Energie entfachte und daher von Christenmenschen immer wieder durch ihre sozial-diakonische Feuerwehr gegen die Welt- und Menschenverbrennung des Mammon bekämpft werden musste, ist nicht zuletzt Kaiserswerther Lokalgeschichte.
Das ausschließlich auf Schaffung und Steigerung von Gewinn angelegte Handeln trifft also nicht nur in der Christenheit auf eingefleischten Widerspruch, sondern überall, wo der Geist sich mit der Versuchung und Herausforderung des Materialismus konfrontiert sieht.
Dennoch haben die Christen ein spezifisches Wort in dieser Sache mitzureden, … ein in der Tat ursprünglich familiäres Wort, so dass die, die gemeinsam einen himmlischen Vater anrufen und sich bei der einladenden Herbergsmutter Zion-Jerusalem-Kirche im immer geräumigeren Schutzmantel-Zelt willkommen wissen, vielleicht gerade doch berufen sind, sich zur Ökonomie zu äußern!
Denn „Oikonomia“ bedeutet buchstäblich ja das Recht des Hauses, das Gesetz der familiären Lebensgemeinschaft. Im Neuen Testament empfängt der auch als „haushalterische Verwaltung“ verstehbare Ausdruck (vgl. z.B. Lk. 16,2) dann aber immer stärker einen tief theologischen Sinn: Er verschiebt sich zur wunderreichen Planung und Umsetzung des Schöpfungs-, Versöhnungs- und Vollendungswerkes des dreieinigen Gottes (vgl. z.B. Eph.1,10; 3,2; Kol.1,25).
Oikonomia bezeichnet also immer andächtiger die Weisheit der innergöttlichen Anordnung, Ausrichtung und Austeilung des Heils, bis schließlich in der kirchlichen Dogmatik und Systematik von der „ökonomischen Trinität“ gesprochen wird … jenem Haushaltsplan, der den ganzen Gnaden- und Liebesreichtum, der in der Gottheit Gottes liegt, durch die gemeinsamen Kasse des Schöpfungs- und Erlösungssegens verteilt, die Gott väterlich angelegt hat, die Er christologisch verausgabt und die Er geistlich fruchtbar macht.
„Ökonomie“ ist in der christlichen Tradition und Denkweise also das Wort für das Heilsgeschehen; „Ökonomie“ ist das Mysterium des Guten an der Welt, des Guten für die Welt und des Guten in der Welt, das sich der göttlichen Haushaltung und Lebenserhaltung verdankt. —
Eine durch und durch helle und heilige, eine liebreiche und lebensstiftende, eine begeisternde geistliche Wahrheit ist also für den Glauben im Begriff der Ökonomie verdichtet: Es geht darum, dass der Vater im Himmel, der Adam und Eva zu Paradiesmenschen schuf, sie als sie unstet und flüchtig wurden nicht verließ, sondern die verlorengegangenen Heimatlosen in Seiner Stadt Jerusalem und in der Mutter Kirche auf ihrem geschichtlichen Weg sammelt und versorgt, damit die Lebensfülle Seines Hauses und das Recht als Seine Familie ihnen nicht für immer verwehrt bleiben muss.
Es geht also darum – wenn wir bei unserer Predigtreihe bleiben wollen –, dass die Klima- und Diesseitigkeitskrise und die Flüchtlings- und Vergänglichkeitskrise durch Gottes Ökonomie behoben und geheilt werden! ——
Wenn wir ausgerechnet vor diesem Hintergrund – dem Hintergrund des heilsökonomischen Gotteswortes „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe: …. Dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung“ (Jer.29,11) – also von Wirtschaftskrise sprechen müssen, dann ahnt man wohl, weshalb das ein Christen und Christinnen besonders herausforderndes Thema ist.
In dieser Welt soll auch menschliches Wirken, Schaffen, Arbeiten und Handeln dem theologischen Ziel dienen, die Familie Gottes so zu versorgen, dass sie leben und endlich wieder aus der Trennung, der Entfremdung, der Entwurzelung - kurz: der Sünde - zu Ihm heimkehren kann, wo sie nicht nur Zeit, sondern Zukunft haben wird.
Dieses Ziel bedeutet aber zugleich, dass alle Tätigkeit und alle Erzeugnisse des Menschen, dass alle Technik, alle Kunst und alle Wissenschaft in ihren reinen Produkten tatsächlich keinen Wert an sich darstellen:
Nicht, was man durch sie hat, sondern wozu sie dienen, … nicht, dass sie Besitz werden, sondern dass sie Nutzen stiften können, ist also der Wertmaßstab aller Aktivitäten und Einsätze, aller Hervorbringungen und Errungenschaften, die wir zusammenfassend „Wirtschaft“ nennen. … Wobei auch im Deutschen auf den durchscheinenden Wortsinn zu achten ist: Die „Wirtschaft“ ist Bewirtungsdienst, … ist Beherbergung, Versorgung, ist Pflege von Gästen, die einkehren, um weiterzuziehen. …….
Und da setzt die christliche Allergie und Antipathie gegen den Materialismus ein:
Denn seit die ersten groben Götzenbilder geformt wurden, seit aus der Zunft der Silberschmiede von Ephesus (vgl.Apg.19,24ff) all die großen und grotesken Genies und Scharlatanen der irdischen Stoffverarbeitung sich entwickelten, haben ihre Bilder und Gegenstände, ihre Erfindungen, Maschinen und Gadgets – für die wir als Nutzgegenstände so froh und dankbar sein können! – immer den Ruf gepflegt: Wir sind mehr als Mittel, … wir sind Ziele!
… Und waren es doch nie!
Die vielen Dinge und Durchbrüche, die hilfreichen Instrumente, die erstaunlichen Erleichterungserfindungen der Welt haben neben ihrem Nutzen immer auch den Irrtum geschürt, durch sie werde Dauer und Harmonie in die Flüchtigkeit gebracht:
… Sie müssten sein, man müsse sie haben, um selbst sein zu können, um selbst das Sein zu haben, sagten und sagen die Dinge.
… „In mir“, säuselt die Materie, „bestehen Ursprung und Sinn!“
… Oder mit der Selbstüberbietung und -ablösung des Materialismus in der maschinell geschaffenen Virtualität tue sich nun endlich die wahre und störungsfreie Endgültigkeit auf, wie wir heute zu schlucken gekitzelt werden. …
Nichts von alledem stimmt!
Am wenigsten natürlich die fatale Täuschung der bisherigen Wirtschaftsmuster, die, um das gewohnte Bild und Gefühl der Gegenwart zu strecken und auszupolstern, die Zukunftsfähigkeit des Irdischen immer mehr beschnitten und gekürzt haben.
Doch auch wenn alles auf der Welt nachhaltig zugehen würde – was ja schlicht bedeutet, jetzt Weniger für mehr Morgen zu nutzen – , wären wir noch immer nicht am Ziel, sondern weiterhin Durchreisende, die nicht gekommen sind, um zu bleiben und die hier auch nichts finden können, was länger hält als die siebzig, wenn’s hoch kommt achtzig Jahren, in denen wir die Zeit nach zeitlichem Nutzen auskaufen können (vgl. Kol.4,5).
Sich hier auf Erden Schätze zu sammeln (vgl. Matth.6,19), ist jene verzweifelte Diesseitsvertröstung, die das Evangelium so stocknüchtern zerstreut, wenn es dem reichen Jewgeni P. und dem reichen Donald T. - und ohne Zweifel auch dem ausreichend reichen Jonas M. - die eine Frage stellt: „Wenn diese Nacht deine Seele von dir gefordert wird, … wem wird dann gehören, was du angehäuft hast?“ (vgl. Lk.12,20) ———
Darum - im Verfahren Menschheit v. Materialismus - ist Gottes Wirtschaftsberatung seit nunmehr drei Jahrtausenden an der außergerichtlichen Einigung gelegen, die der Apostel Paulus den wahrlich weltgewandten Korinthern als ökonomischen Leitfaden ins Stammbuch schrieb … und die heute noch viel weltfremder unter uns klingt, als sie damals schon auf die hedonistischen und anspruchsvollen Griechen wirkte:
„Die Zeit ist kurz. Fortan sollen die, … die kaufen, kaufen, als behielten sie nicht, und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht“ (1.Kor.6,30f). … ——
Kann man aber im Ernst so weltflüchtig, so unabhängig von den materiellen Bedürfnissen und Bedingungen des Lebens zu existieren versuchen?
…. Niemals kann man von den Bedürfnissen und Bedingungen der anderen, der Mitmenschen, der Mitgeschöpfe absehen, die zusammen die „Ökologie“ (- die Logik, den Sinn im Haus des Lebens -) und die „Ökonomie“ (- das Recht im Haus des Lebens -) begründen: Alles, was mit uns lebt und stirbt, braucht auch das Stoffliche dieser Welt.
… Aber uns Menschen ist die Weite aufgetragen, die über das, was da zu hüten und zu teilen ist, hinausgeht: Nicht vom Brot allein lebt alles schließlich, … sondern es lebt von Gott, durch Ihn und zu Ihm!
Und diese Weite und Freiheit des Lebens, das nicht an den Dingen, an den Verhältnissen, an Zeit und Immanenz haftet, sondern die Fülle des Heils erfahren soll, das mehr als alles andere ist, … diese Weite ist die wirkliche Berufung und das wirkliche Ziel unsres Lebens, Tuns und Leidens.
Diese Weite aber wird nicht beschafft und nicht gesichert durch unsere Sorge und Arbeit, durch unsere Wirtschaft, unsern Wohlstand.
Diese freie Weite tut sich dort auf und stellt sich da ein, wo wir das Eine, das nottut (vgl. Lk.10,42)[ii], empfangen: Gott.
So dass wir wieder schließen müssen mit den Worten Hans von Lehndorffs, der sich für sein Leben wünschte (EG 428, 4):
„Mach ein leichtes Zelt daraus, / das uns deckt kaum bis zum Morgen.
Denn wer sicher wohnt, vergisst, / dass er auf dem Weg noch ist.“
Und so gilt nun in allen unseren Krisen auf dem Weg zu dieser Freiheit, … zu diesem Weniger, das Mehr ist, … zu diesem Nichts-Behalten, das die Fülle sein wird: „Mache den Raum deines Zeltes weit und breite aus die Decken deiner Wohnstatt; spare nicht!“ …
… Am allerwenigsten aber dürfen wir sparen an Vertrauen in Gott!
Er will, Er wird mit uns sein: In allen Krisen, allen Fluchten mit Seinen Heilsgedanken.
Denn das gute Werk, das Er mit der Welt und den Menschen angefangen hat, das wird Er auch vollenden (vgl. Phil.1,6) – so dass wir in Seiner und unserer Ökonomie und Seiner und unserer Ökologie mit allen Menschen gemeinsam zu Dem, Der unsere Zuflucht ist für und für (vgl. Ps.90,1), beten dürfen (Ps.90,15ff):
„Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagtest,
nachdem wir so lange Unglück leiden.
Zeige deinen Knechten deine Werke
und deine Herrlichkeit ihren Kindern.
Und der HERR, unser Gott, sei uns freundlich / und fördere das Werk unserer Hände.
Ja, das Werk unserer Hände wollest du fördern!“
Amen.
[i] Auf dem Gottesdienstblatt war ein Auszug (1257b -1258a) aus dem 9.Kapitel im 1.Buch der „Politik“ des Aristoteles abgedruckt, der an kritischer Destruktion der Kapitalwirtschaft auch im Vergleich zu ideologischen Positionen des sog. „Kommunismus“ nichts zu wünschen übrig läßt. Das hochinteressante und -brisante Kapitel 9 der aristotelischen „Politika“ lohnt eine Lektüre und ist leicht zugänglich auf der open-access-Seite: https://www.projekt-gutenberg.org/aristote/politik/chap002.html
[ii] Das Evangelium Lukas 10,38-42, das von Martha und Maria – der Aktion und der Kontemplation – spricht und zwischen ihnen unterscheidet, war die Schriftlesung des Gottesdienstes.
4.So.n.Trin., 02.07.2023, Predigtreihe zu Krisentexten der Bibel II: "Flüchtlingskrise" (1.Timotheus 6,11a), Stadt- und Jonakirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jonakirche 3.n.Trin. – 2.VII.2023
Predigtreihe Krisentexte der Bibel II: Flüchtlingskrise (1.Tim.6, 11a)
Liebe Gemeinde!
Wer meint, Flüchtlinge seien die, die von außen kommen, … wer in ihnen zuerst und zu-letzt also nur die „Ausländer“ sieht, kann kein Christ sein.
So kurz und klar.
Weil Christ-Sein bedeutet, das Flüchtling-Sein in sich zu tragen.
Weil die DNA des Christentums eine DNA der Heimatlosigkeit ist.
Man kann das zu Beginn biologisch simpel verstehen: Nicht nur bei mir fließt, wenn ich mich in den Finger schneide, Flüchtlingsblut. Alle, die baltische oder pommersche, hugenottische oder Salzburger Vorfahren haben, alle, deren Herkunft sich der Armutsmigration aus Schlesien und Masuren ins Ruhrgebiet oder den Auswanderungswellen der Pfälzer und Rheinhessen an die Wolga als Kolonisten und dann dem Martyrium der Russlanddeutschen unter Stalin verdankt, sind lebendige Zeugen eines typisch evangelischen Vertreibungs- und Zwangsverpflanzungsschicksals. Flüchtlingserbe haben wir in Mark und Bein.
Und die notgedrungenen, weltumspannenden Wanderschaften der Glaubenden sind ja noch viel breiter gefächert: Mal flohen sie vor der Gewalt der Geschichte an sich – wie die großen, in der Zeit stehengebliebenen und dennoch so beweglichen Friedenskirchen aus der Wurzel der Wiedertäufer, die Mennoniten und Amischen und Hutterer und Quaker –; mal wurden sie von den Feinden des Christentums gewaltsam verjagt, wie die orientalischen Christen unserer Tage, wie die armenischen und hellenischen Christen im völkermörderischen Staat der Jungtürken; mal haben Verfolgung, Erdrückung und Zermürbung sie einfach fortgeschoben, wie die zu Hunderttausenden laut und leise weichenden Versprengten aus den Krisen- und Bürgerkriegsgebieten und den kommunistischen oder islamistischen Diktaturen der Erde.
Christen ohne festen Ort: Das ist eine Konstante der Geschichte.
Doch auch wo die ganz und gar ortsfesten, sesshaften, kulturbildenden Phasen der Kirchengeschichte herrschten, ist die Pflege der Pilger, der Obdachlosen, der fahrenden Leute, der Opfer aller Art stets die natürliche Aufgabe der Getauften gewesen, die sich schon in der ersten apostolischen Generation gegenseitig Unterschlupf boten und die es sich zur Ehre rechneten, die Wanderprediger und die Untergetauchten, die verbannten und die entflohenen Sendboten und Gemeinden des Gekreuzigten zu beherbergen. Diese Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft für Bedrängte und Verfolgte ist nicht nur im innersten Mark des Christentums verankert, sondern auch sein Markenzeichen nach außen.
Fremdenfeindliches Christentum ist - wo, wann und wie auch immer es begegnet - krankes Christentum. Nur offene Türen und Arme und Kassen der Jünger und Jüngerinnen Jesu sind intakt. Verschlossen sind sie todgeweiht.
Dafür sollten uns Menschen vor Augen stehen wie Mathilda Wrede, „Engel der Gefangenen“ und Helferin der Flüchtlinge im finnischen Bürgerkrieg[i], … Menschen wie Werenfried von Straaten, der niederländische „Speckpater“, der so unermüdlich für die ostdeutschen Heimatvertriebenen eintrat, … Menschen wie Mussie Zerai, der Priester äthiopischer Herkunft, der in der Schweiz und Italien so heilig couragiert für die Rettung der Migranten auf dem Mittelmeer eintritt, das er bei Tausenden in den Lagern von Lampedusa und weit ins Land hinein den Ehrennamen „Father Moses“ trägt[ii], … Menschen wie die vielen Pfarrerinnen, Pfarrer und Gemeindeglieder, die in den Gebieten des widerlich wachsenden blau-braunen Sumpfes schlicht un-beirrt dafür einstehen, dass wo immer einst Kirchen des Nazareners gebaut wurden die Mühseligen und Beladenen (vgl.Matth.11,28) auf Herzen, Hände und Haltungen stoßen, die keine Alternative zu seiner jüdischen, seiner samariterlichen Nächstenliebe kennen!
Solcher urchristliche Dienst an den Flüchtlingen, dieses Amt als Anlaufstelle und Anwälte für Menschen, die ihr Leben retten müssen und Freiheit und Frieden suchen, ist in unserer Gemeinde seit den Tagen, als Waltraut v. Seidel und Wilfried Dinger für die Spätaussiedler sorgten, … seit den Tagen der enormen Kraftanstrengung von 2015 und den Folgejahren für unsre syrischen, iranischen, afghanischen, somalischen und nordafrikanischen Freundinnen und Freunde, bis zum hingebungsvollen, nun bald 500 Tage währenden Einsatz für die geflüchteten Ukrainerinnen und ihre Familien hier mitten unter uns lebendig, wesentlich und selbstverständlich.
Weil es innerstes Mark und deutlichste Markierung des Glaubens an Jenen ist, Der Selbst in Ägypten im Flüchtlingslager hauste, Der auch später nicht hatte, wohin Er Sein Haupt hätte legen können (vgl. Lk.9,58), Der das letzte Abend- und Henkersmahl Seines Lebens in einem Obdachlosen zur Verfügung gestellten Gemach feierte und für Den dann auch noch ein Grab geliehen werden musste, weil Er nicht mal dieses Fleckchen Erde besaß.
… Doch gerade dies geliehene Grab ist der Ursprung der christlichen Offenheit: Es wurde ja tatsächlich nicht für die Ewigkeit gebraucht, weil Er, Dem es nicht gehörte, es genauso zurückgab, wie Er einst alle Ansprüche auf und Bedürfnisse nach Gräbern auf dieser Welt auflösen wird. Wenn dann das letzte bisschen Boden, das jedes Menschenkind für sich nötig hat, wieder frei geworden ist, dann fängt das Himmelreich an: Das Reich ohne festen Ort, das Reich, in dem das wandernde Gottesvolk zuhause sein wird ohne Eigentum, … allein aus Gnaden im Haus des Vaters, Der für alle eine Wohnung hat (vgl. Joh.14, 2). ———
Diese an der Armut und Obdachlosigkeit Jesu gebildete Haltung, die das Exodus- und Exils-Volk Israel notgedrungen tatsächlich sehr viel konsequenter durchgehalten hat als die immer wieder niedergelassen und ethnisch-national umgeformte Kirche, ist das eine Motiv der christlichen Solidarität mit den Menschen der Landstraße, mit den Opfern der Armut, der Träume und der Schlepper.
Das andere ist ein womöglich noch Erstaunlicheres als die Tatsache, dass die Bibel allen, die ihr folgen, aufträgt, ein Schlüsselamt für die Heimatlosen an den Toren der Gesellschaft zu übernehmen. … Ich hatte es weder wirklich vor Augen noch im Ohr.
… Doch nun kann ich es nicht mehr ausblenden: Die fixe Idee, dass der Glaube so etwas Unerschütterliches, etwas Trotziges habe, das jedes Nachgeben, Ausweichen und Zurückziehen verbiete, hat sich irgendwie in meinem Vorurteil eingenistet, … vielleicht wegen des schönen Taufspruchs unseres Sohnes „Wer glaubt, der flieht nicht“ (Jes.28,16). Dieses wunderbare Prophetenwort von der Festigkeit, das bei Jesaja vor der schon vor Jahrtausenden populären Kurzschlusshandlung eines Bündnisses mit dem Tod warnt, darf aber nicht zu einer menschenverachtenden Haltung der Realitätsverdrängung führen. Der Glaube darf nicht zu den gleichen Trugschlüssen kommen wie die Gauleiter und Kommandanten, die 1944/45 in Ostpreußen und Schlesien angesichts des Unaufhaltsamen der Bevölkerung dennoch die Flucht untersagten.
Im Gegenteil:
Im Neuen Testament fällt es geradezu verunsichernd auf, dass der Fluchtinstinkt nicht gebremst, sondern bestärkt wird! Christen sollen ihre Pferdenaturen nicht verleugnen … sie sollen Fluchttiere sein!
Nicht nur, dass am Anfang des Neuen Testaments - gleich nach der Huldigung des neugeborenen Königs durch die wandernden Weisen - die Rettung dieses Bettelkindes durch den Fluchtgehorsam Josephs steht, sondern auch am Schluss wird des gleichen Wunders noch einmal in himmlischer Verklärung gedacht: „Es erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Kröne von zwölf Sternen. …Und sie gebar einen Sohn, einen Knaben, der alle Völker weiden sollte mit eisernem Stabe. Und ihr Kind wurde entrückt zu Gott und seinem Thron. Und die Frau entfloh in die Wüste, wo sie einen Ort hatte, bereitet von Gott …“ (Offb.12).
Zwischen diesen beiden Josephs- und Maria-Fluchten, die das gesamte Evangelium von Jesus umrahmen, finden sich dann aber auch erstaunliche Imperative und Ankündigungen Jesu selber: „Wenn sie euch aber in einer Stadt verfolgen, so flieht in eine andere!“, mahnt er seine Jüngerschaft (Matth.10,23), und von der grauenhaften Verwüstung, die den Treuen in der Endzeit droht, sagt der Herr (Matth24,16ff): „Wer das liest, der merke auf! Alsdann fliehe in die Berge, wer in Judäa ist, und wer auf dem Dach ist, der steige nicht hinunter, etwas aus seinem Hause zu holen, und wer auf dem Feld ist, der kehre nicht zurück, seinen Mantel zu holen. … Bittet aber, dass eure Flucht nicht geschehe im Winter oder am Sabbat!“
Und eben diese Fluchtreflexe der Gemeinde schildert Christus im schönsten aller Glaubenstrost- und Sicherheitsgleichnisse ausdrücklich als nötig und natürlich: „Wenn der gute Hirte seine Schafe mit Namen ruft und sie hinausführt, folgen sie ihm; … einem Fremden aber folgen sie nicht nach und fliehen vor ihm“, stellt er fest (Joh.10,3ff).
Wie zur Bestätigung aber, dass Christen wirklch nicht verbohrt, vernagelt und gelähmt sein sollen, sondern zwischen sich und dem Übel, zwischen sich und der Gefahr, zwischen dem Bösen und sich Abstand schaffen sollen, begegnet uns eine Fluchtaufforderung auch beim Apostel Paulus: „Du Gottesmensch, fliehe das!“ ermahnt der alte Völkermissionar den jungen Timotheus (1.Tim.6,11) … und meint dabei das Geld und die Gier, die es erzeugt.
Dass wir also nicht die Tapferen und Unanfechtbaren, die Unverwundbaren oder Unerschrockenen spielen, sondern das Weite suchen sollen – wirklich das Weite: die grenzenlose Liebe und das uneingeschränkte Heil Gottes! – , das ist eine neutestamentliche Ethik der Flucht und der Flüchtlinge, die mir so gar nicht vor Augen stand!
… Die alte Kirche, die Gottsucher und Einsiedler, die Asketen und Asketinnen in der ägyptischen Wüste und alle Menschen, deren geistliche Berufung sie immer wieder aus den Konventionen und Grenzen des gewöhnlich-weltlichen Daseins riss, haben das besser verstanden und befolgt.
… Für uns stand ihnen gegenüber allerdings immer der Verdacht der Weltflucht im Raum, der Vorwurf des Sich-aus-der-Verantwortung-Stehlens, die ein gutbürgerlicher, mündiger Mensch nun einmal auch als seine politische Berufung betrachtet.
… Dass wir als sesshafte, dem Gemeinwohl verpflichtete Menschen uns nicht einfach entziehen können, dass wir uns nicht auf und davon machen dürfen in Krisen und Konflikten, ist dabei ja gar nicht strittig. … Doch die neutestamentliche Ethik, die Flucht als denkbar und möglich betrachtet, ist eben wirklich eine Aufforderung, doch das Undenkbare auch zu denken: Dass nicht alles bleiben wird, wie und wo es war, und dass auch wahrhaftig nicht alle Menschen da bleiben, wo und so bleiben, wie sie sind!
Alles auf dieser Welt – alle Verhältnisse und Gewohnheiten, alle Gestalten und Bewohner, alle Ordnungen und alles Chaos der Erde – … alles ist tatsächlich in Bewegung, sagt uns das Flucht- und Flüchtigkeitsmotiv. Alles geht vorüber, und wer sich bloß festhält am Bestehenden, der bleibt zurück.
„Ein Tag, der sagt dem andern,
mein Leben sei ein Wandern
zur großen Ewigkeit.
O Ewigkeit, so schöne,
mein Herz an dich gewöhne,
mein Heim ist nicht in dieser Zeit!“
singen wir mit Tersteegens Worten in einem unserer schönsten … und zugleich ungeschöntesten Lieder (EG 481).
Der Pfeil, von dem der junge afghanisch-iranische Mahdi Hashemi in seinem Flucht-Gedicht spricht, kann nicht zurückkehren zum Bogen[iii]. ……. ———
Das ist eine Wahrheit, die uns erschütternd und zugleich unwidersprochen aufgehen muss:
Es ist unsere Welt eine Welt voller Aufbruch und unsere Geschichte eine Geschichte voller Abschiede und Neuanfänge; das Leben, das wir hier erfahren, ist unstet und flüchtig von Adam her (vgl.1.Mose 4,12).
Alle Flüchtlinge sind nur die unmissverständlich anschaulich gemachte Gestalt einer Wirklichkeit, die jeden Menschen betrifft.
Jeder Flüchtling, der uns begegnet, ist nur fortgeschritten, ist bloß schon weiter geführt worden auf einem Weg, den wir alle gehen müssen.
Und darum, Gottesmensch, … fliehe! Oder wie ein Christus-Wort im apokryphen Thomas-Evangelium (Logion 42) lautet: „Werdet Vorübergehende!“[iv] ——
Klingt das in unseren Gewohnheitsmenschen-Ohren ominös?
Jagt uns die Aussicht, dass auch wir nicht die Maden im Speck bleiben, sondern Ausziehende werden, Schrecken ein? …
Oder ahnen wir - bei aller latenten Bedrohung - nicht auch, worauf das Fluchtbuch Bibel[v] uns zu vertrauen lehrt (Ps.56,9): „HERR, zähle die Tage meiner Flucht, sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du zählst sie!“
Gott lässt uns nicht dahinfliehen, Er lässt niemanden einfach so ziehen und vergehen, denn Er ist seit Seine Kinder in Ägypten unterdrückt wurden ein Gott des Aus- und Einzugs geworden. … Ein Gott, Der mitwandert. … Ein Gott, Der in die Fremde geht und ins Exil.
Und in Jesus Christus ist Er selber von Bethlehem bis Golgatha obdach- und heimatlos geworden, Bettler unter Bettlern, Flüchtling unter allen Flüchtlingen und Flüchtigen.
Das aber ist der unendliche Trost unseres Glaubens gerade für die auf harten Wegen und in der ausweglosen Diaspora: Unser Gott, der Gott Israels, der Wanderer im Elend der Menschenstraßen, Jesus von Nazareth geht mit.
… Und in jedem Einzelnen der einhunderttausend Migranten, die in der vergangenen Woche allein auf den Straßen von New York obdachlos waren[vi], … in jedem Kind und jedem Erwachsenen auf den schrecklichen Todesfahrten übers Mittelmeer, … in jedem unserer allmählich hier heimisch werdenden Brüder und Schwestern aus dem Iran, aus Syrien, aus der Ukraine begegnet uns Gott selbst, Der Mit-Flüchtling aller, Dessen DNA der Heimatlosigkeit hier und des Daheim-Seins im Himmel (vgl. Phil.3,20!) wir Menschen - ob sesshaft, ob entwurzelt - sämtlich teilen.
… Wer in den Flüchtlingen also zuerst und zuletzt nur die „Ausländer“ sieht und nicht den „Gott-mit-uns“, der kann kein Christ sein!
Das ist die Flüchtlings-Krise … das Gericht, das in den Flüchtlingen über uns kommt.
… Wer Ihn aber erkennt, weiß weshalb Gertrud von le Fort ausgerechnet von der trostlos er-scheinenden Flucht sagt:
„Steine, nichts als Steine. / – Was blitzte da? / Weine Volk, o weine: / Gott ist sehr nah!“[vii]
Der Psalm aber bekennt von Ihm, Der den Flüchtlingen nahe ist (Ps.68,5f):
„Macht Bahn dem, der durch die Wüste einherfährt;
er heißt HERR! Freuet euch vor ihm!
Ein Vater der Waisen und ein Helfer der Witwen
ist Gott in seiner heiligen Wohnung,
ein Gott, der die Einsamen nach Hause bringt,
der die Gefangenen herausführt, dass es ihnen wohlgehe.“
Amen.
[i] Vgl. Ingeborg Sick, Mathilda Wrede. Ein Engel der Gefangenen, Stuttgart 193012.
[ii] Vgl. zu Pater Zerai https://www.kath.ch/newsd/luzerner-ehrendoktor-in-den-augen-der-fluechtlinge-begegnet-uns-gott/
[iii] Auf dem Gottesdienstblatt fanden sich u.a. Gedichte junger Geflüchteter von der bemerkens- und empfehlenswerten Homepage https://thepoetryproject.de/category/gedichte/. Ein Gedicht von Mahdi Hashemi (Ghazni / Afghanistan, aufgewachsen in Iran) dort lautet:
WIE EIN PFEIL
Einen Monat lang ging die Reise,
die keine Reise war,
sondern ein Schrecken,
in das Land der Hoffnung.
Jetzt warte ich auf ein Papier,
das vielleicht Bitterkeit enthält und Trauer.
Und fühle mich wie ein Pfeil.
Verschossen.
Der zurückkehren soll
zu seinem Bogen.
[iv] Siehe: Synopsis Quattuor Evangeliorum, ed. K.Aland, Stuttgart 197810, S. 522.
[v] Vgl. Johann Hinrich Claussen, Das Buch der Flucht. Die Bibel in 40 Stationen, München 2018.
[vi] Vgl. https://www.nytimes.com/2023/06/28/nyregion/nyc-homeless-shelter-population.html
[vii] Gertrud von le Fort, Abschied der Ausgetriebenen, in: Dies., Gedichte, Wiesbaden 1958, S.47. Auch dieses Gedicht war mir weiteren Auszügen aus von le Forts Zyklus „Die Vertriebenen“ auf dem Gottesdienstblatt abgedruckt.
3.S.n.Tr., 25.06.2023, Predigtreihe zu biblischen Krisentexten.I: Klimakrise, Stadt- und Jonakirche, Jeremia 14, 1 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jonakirche 3.n.Trin. – 25.VI.2023
Predigtreihe Krisentexte der Bibel I: Klimakrise - Jeremia 14, 1 - 9
Liebe Gemeinde!
Kρίσις - Krise - heißt auf Griechisch „Scheidung“ … – „Entscheidung“, … „Urteil“ … – „Gerichtsurteil“. —
Und in diesen Begriffen wäre nach biblischem Sprachgebrauch und Denkansatz dann auch schon die ganze Predigtreihe enthalten. Wenn wir heute das Gefühl, die Stimmung, die Überzeugung haben, dass wir in lauter Krisen stecken, dann heißt das im Klartext: Es ist eine Zeit, in der wirklich Entscheidungen fallen, … wir stehen im Gericht, wir empfangen unser Urteil.
… Und das wäre dann auch schon die politische Analyse: Unsre Gegenwart ist Vollstreckung der Konsequenzen unserer Taten; … trotz aller Leugnung, allen Abstreitens sitzen wir bereits im Vollzug der Folgen unsres menschlichen Handelns. Es passiert gerade das logisch Angemessene; es geschieht und vollzieht sich gerade das unerbittliche Recht. … Wir sind die Ursache, die Krisen die Wirkung. ——
Das ist grob und simpel. … Und allzu wahr.
Niemand kann sich noch zieren und in gespielter Überraschung „Huch, Agathe, die Puppe kotzt!“ rufen, wenn die an sich so robuste Welt derzeit brüchig wird.
Wer immer von uns heute noch genauso lebt wie vor zehn Jahren, lebt maßlos.
Wer immer noch so viel von den begrenzten Stoffen dieser Schöpfung und den entfesselten Kräften des Irdischen nutzt, verzehrt und verbraucht wie vor zehn Jahren, hat entschieden, dass das Einmaleins für ihn nicht gilt.
… Die Wahrheit dürfte dabei sein, dass das bei beinah allen von uns zutrifft. Denn wenn wir „Verzicht“ hören, wittern wir sofort Verlust und Bedrohung: So bemitleidenswert abhängig haben wir uns vom Materiellen gemacht. … Während in der antiken Philosophie, der christlichen Tradition, der alteuropäischen Zivilisation und der fernöstlichen Weisheit immer und überall der Verzicht als die Disziplin gilt, die dem Menschen Freiheit und Selbstbestimmung eröffnet, weil sie ihn aus der Steuerung durch die Begierden löst und zur Beherrschung seiner selbst befähigt, ist unsere primitive Konsumwelt wieder auf das Niveau jener Befriedigungslosigkeit gesunken, vor der es schon dem König Salomo grauste, der sagt (Sprüche 30,15f):
„Der Blutegel hat zwei Töchter, die heißen: »Gib her, gib her!« Drei sind nicht zu sättigen, und vier sagen nie: Es ist genug: Das Totenreich, der unfruchtbare Schoß, die Erde, die nicht des Wassers satt wird, und das Feuer, das nie spricht: Es ist genug!“
… Wir ruhe-, ziel- und haltlosen Menschen sind wie Blutsauger oder wie das Schattenreich, in dem sich nichts berührt, … wir sind wie der unlöschbare Durst des Wüstenstaubes und ein unaufhaltsamer Feuerfraß: Das also ist eine dreitausend Jahre alte Diagnose der Krisen, die wir entfachen. … Schlicht weil wir nicht einzusehen und zu begreifen vermögen: „Es ist genug“.
Und ein drittes Mal könnte man sagen: Damit ist die Predigtreihe zu den äußerlichen Krisen, in die Maßlosigkeit, Unersättlichkeit, Rücksichtslosigkeit und Ehrgeiz uns reißen, beendet, eh sie begann. Solange die Menschheit sich nicht aus der Gefangenschaft ihres kruden Materialismus löst, so lange wird sie in der Krise, im Gericht stehen, weil sie so endlos schlingt, schluckt und verfeuert. ———
Doch Predigten und christliche Programme und kirchlich-politische Einlassungen, die es genau dabei bewenden lassen in der Krise – nämlich erneuerbare Energien, verändertes Konsumverhalten, nachhaltige Wirtschaftsmodelle und ökosensible Transformationen der Gesellschaft zu fordern und zu verkündigen – … genau diese viel zu kurz gegriffenen Analysen und Folgerungen in unserer Kirche stürzen mich - und vielleicht nicht nur mich?! - in die Krise: Diese völlig richtigen und nötigen Positionen und Programme können und müssen nämlich die Öffentlichkeit und die Parteien, müssen die Wissenschaft und die Industrie vertreten und durchsetzen.
… Die Kirche aber hat eine noch wichtigere, jedoch ungleich fremdere Warnung auszurichten.
Hören wir den Klimabericht von der Wende des 7. zum 6.Jahrhunderts vor Christi Geburt:
Jeremia 14, 1 – 9
Juda verschmachtet, weil seine Lebensgrundlage erschöpft ist, weil sein Kreislauf zusammengebrochen ist: Der schlichte und existentielle Segen nämlich, der den Stämmen Israels vorgelegt wurde, ehe sie das Land der Verheißung betraten. Mose hatte ihnen damals vom HERRN auszurichten (5.Mose 28,1+12):
„Wenn du nun der Stimme des HERRN, deines Gottes gehorchen wirst, dass du hältst und tust alle seine Gebote …, (dann) wird der HERR dir seinen guten Schatz auftun, den Himmel, dass er deinem Land Regen gebe zur rechten Zeit und dass er segne alle Werke deiner Hände.“
Hätte man seinerzeit also einen Menschen in Israel oder in Jeremias Tagen einen in Juda gefragt, woher der Klimawandel komme und was das Gleichgewicht der Natur so störe, hätten die, die von der Gemeinde des HERRN waren, ohne Zögern geantwortet: „Es sind die Menschen“. Die Menschen und ihre Maßstäbe wahren die Ordnung Gottes in der Natur oder sie lösen dort Unheil und Verderben aus.
Denn auch diesen Zusammenhang hat Mose vor seinem Tod dem Volk vorgelegt (5.Mose 28, 15+23):
„Wenn du nicht gehorchen wirst der Stimme des HERRN, deines Gottes, … wird der Himmel über deinem Haupt ehern werden und die Erde unter dir eisern. Statt des Regens für dein Land wird der HERR Staub und Asche vom Himmel auf dich geben, bis du vertilgt bist.“
Und das wäre die Botschaft - die ferne, fremd-befremdliche Botschaft, die lächerlich vorwissenschaftliche, die unerträglich konsequente, eindeutige Botschaft - die die Kirche auszurichten hat. Eine Botschaft, vor der diese Kirche seit langem ausweicht, indem sie sie primitiv antijudaistisch zur vermeintlich überwundenen - dann gern „alttestamentarisch“ genannten - Theologie der Rache erklärt. … Dabei ist der erschütternde Grundsatz, der das in reinster Kausalität ausspricht, „neutestamentarisch“, … sogar untypischer- und darum offenbar schlicht unausweichlicherweise ein Satz des Paulus (Gal.6,7): „Irret euch nicht! Gott läßt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten.“
Das Entscheidende an diesem Aufweis von menschlichem Handeln und seinen Folgen ist aber dasjenige, was eben nur die Kirche verstehen, vermitteln und dann mit Mühe aushalten kann.
Es geht nicht bloß um das „Wenn-Dann“-Verhältnis, das jeder seriöse Bericht zur Lage des Planeten Erde und zu den auf ihm wirkenden Dynamiken menschlichen und nicht-menschlichen Ursprungs benennen kann, sondern es geht darum, wer uns in diesem großen und feinen Ganzen begegnet: Der Stifter aller Wirklichkeit, Dessen Weisheit das Geheimnis des Lebens eröffnet.
Gott selbst ist es, Der den Kosmos und die Materie so weise geordnet hat, dass inmitten des Universums auf einem nebensächlichen kleinen Himmelskörper das Wunder bestehen kann, das wir die Erde nennen,
… das Wunder, das wir die Erde nennen, auf der die Mischungen und Maße, die Entwicklungen und Katastrophen des Anorganischen und des Organischen ein Paradies und einen wilden Acker für Adam und Eva entstehen ließen,
… für Adam und Eva, deren zerstreute Kinder doch nie so verschieden, nie so verlassen waren, dass sie nicht alle am selben Leben teilhätten, das Gott ihnen - und nur ihnen - schenkte:
… Leben, das mehr als materiell ist … Leben des unsichtbaren heiligen Eben-bildes, … Leben stärker und freier und verheißungsvoller als der Stoff … Leben, das ewig währen soll, wenn es mit Dem geteilt wird, Der es schuf und Der’s dann selbst annahm bis in den Tod und Der es dann in der Auferstehung erneuert hat.
Das Wunder, das wir die Erde nennen, ist der Raum des Menschengeschlechtes und der Raum des Menschensohnes.
Die Erde ist also der Raum des Gott-mit-uns-Lebens, … Raum des Alten, Raum des Neuen Testaments:
Die Erde ist das Reich des Immanuel. … „IMMANU-EL“: Gott mit uns.
– Auf Hebräisch lautet das Gegenteil: „EIN-LANU-EL“. … „Wir haben keinen Gott.“
… Und so wenig das irgendjemand verstehen wird, der nicht glaubt: … In dieser Alternative begegnet uns der Klimawandel.
Die größte Krise nämlich, in der wir als Menschheit schweben, ist die Entscheidung für oder gegen Gott: Immanu- oder Ein-lanu-El? …
Seit Jahrhunderten formiert sich die Bewegung, die den gottfreien Raum auf Erden fordert, die die Gottes-Ferne als den wahren Horizont der Freiheit entwirft und selber die Gottes-Entfernung aus unseren Systemen und Maßstäben, aus unserm Denken und Leben immer vehementer fordert. Und diese anschwellende Bewegung, die das Säkulare - also das Zeitlich-Weltliche - als alleinigen Bezugsrahmen des Menschseins in der Materie abstecken will, hat Land gewonnen. … Den Himmel aber hat sie verloren: Jene Weite, die dem Menschen gerade nicht seine Einsamkeit - die ihn trostlos oder größenwahnsinnig macht -, sondern seine Einbettung zeigt, sein Einbezogen-Sein in das Leben Gottes in Zeit und Raum … und Ewigkeit.
Doch der allein-lebende Mensch, dieser bloß vom Materiellen lebende Mensch, dieser nur in der Zeit das Leben suchende Mensch, … dieser Mensch, der keinen Gott braucht, anerkennt und liebt, … dieser seit ein-, zweihundert Jahren die jüngere Zeitgeschichte dominierende Menschenentwurf, der stellt nun fest, dass die Erde vergiftet, ausgelaugt, abgebrannt und so schonungslos verwurstet ist, dass ihm - dem Menschen ohne Ewigkeit! - auch kaum noch Zeit bleibt.
…Zufall? …….
Nein!
Hier liegt der Auftrag, die Berufung der Kirche: Wir müssen die Ewigkeit wieder ernst nehmen und ernst machen als den Horizont, der die Gier und Bedürfnisse, die Ansprüche und Hoffnungen und auch die Selbstsucht und Verzweiflung der Menschen von der Fixierung auf die kurze Zeit, den begrenzten Raum, die weise bemessenen Ressourcen der Erde entlastet!
Ein solcher Satz und Ansatz gilt in der heutigen evangelischen Kirche geradezu als peinlich. Es ist aber das Wahre und Eigentliche! … Zu lange haben wir - aus Angst vor Heinrich Heines „altem Entsagungslied, dem Eiapopeia vom Himmel“[i] - das mitgemacht, was man zurecht neuerdings die „Diesseitsvertröstung“[ii] nennt:
Wir haben uns selbst und andere im Diesseits gefangen! Und wundern uns nun, wenn die, die keine fröhliche Erwartung des kommenden Himmelreichs mehr erfahren, so restlos diesseitig leben müssen, dass sie verbrannte Erde hinterlassen.
Wir wundern uns, dass eine rein säkulare Kultur scheitert, weil sie die unstillbare Sehnsucht des Menschen nach Erfüllung mit dem begrenzten Stoff der sichtbaren Welt bedient.
Wir wundern uns, dass die, die nach dem Sterben nichts als den Tod erwarten müssen, das Leben für sich ausquetschen bis nur eine leere Hülle bleibt, weil sie in ihm nicht das Samenkorn sehen können, dass hier, in der Zeit langsam trocknen und untergepflügt werden und ruhen muss, damit es erntereif treiben kann, was in ihm angelegt ist (vgl. Joh.12,24).
Die Menschheit ist nach biblisch-christlichem Glauben nicht nur materiell - somatisch -, sondern auch psychisch geschaffen - vom Geist beseelt -, um mit Gott leben zu können auf Erden wie im Himmel.
Und darum werden wir dem Leben der Erde nur gerecht, wenn wir es als den Eingang, den Vorhof zum ewigen Leben sehen und führen. Das Irdische muss nicht ausgenutzt, nicht ausgepresst, nicht bis zum letzten Krümel und Tropfen verbraucht werden: Gott hat es hier so geordnet, dass wir das Materielle in Treue bewahren und in Weisheit loslassen können, damit wir durch Verzicht auf das Vorübergehende die Freiheit für das Bleibende gewinnen.
Wenn wir diese wichtigste Lehre des Glaubens nicht wieder zu Herzen nehmen – egal, wer mit den Augen darüber rollt, dass der Glauben an mehr als das Verschwindende immer noch andauert – … wenn wir also nicht anfangen, die Welt zu schonen, weil sie nicht das Bleibende ist, dann werden wir Menschen ihre Vernichtung und ihr Vergehen nur umso eher beschleunigen. ——
Nun kann ich mir gut und lebhaft viele, sehr viele Menschen vorstellen, denen diese Antwort auf die Klimakrise - das Burn-out-Syndrom der von der Menschheit verdinglichten und ausgeschlachteten Natur - nicht konkret genug, nicht politisch oder praktisch genug ist.
Dennoch scheint mir gewiss, dass dem Versagen des Materialismus und dem Versiegen der Materie seelisch begegnet und vorgebeugt werden muss, indem das Menschliche von seinem Schmarotzen am Stofflichen entwöhnt und zurück zu seiner Berufung des Mit-Gott-Seins gebracht wird.
Doch etwas steht mir noch klarer vor Augen, seit ich bei Jeremia wieder die Katastrophe der schrecklichen Dürre in den letzten Jahrzehnten vor Jerusalems Untergang geschildert hörte[iii].
Jeremia nimmt nämlich im Verderben der Schöpfung, das der Götzendienst der Menschen verursacht, eine noch viel abgründigere Krise wahr … die Krise, die nur wir verhindern können: Die Krise Gottes, Der mit uns sein will und Den die Menschen in ihrem Materialismus und ihrem materialistischen Scheitern entsetzen …, Dem sie das Dasein bei ihnen in der Welt nehmen, … Den sie aussetzen, weil sie - die nie etwas geschaffen haben - Ihn als Schöpfer absetzen, … weil sie, die nichts erhalten wollten, mit der lebendigen Kreatur den Gott des Lebens durch ihren Verbrauch bis zum Ende ersetzen und so zersetzen.
Von dieser Krise geben die beiden vielleicht düstersten Sätze der Bibel vor dem Karfreitag uns eine Ahnung:
„HERR, Du bist der Trost Israels und sein Nothelfer. Warum stellst du dich, als wärest du ein Fremdling im Lande und ein Wanderer, der nur über Nacht bleibt? Warum stellst du dich wie einer, der verzagt ist, und wie ein Held, der nicht helfen kann?
Du bist ja doch unter uns, HERR, und wir heißen nach deinem Namen; verlass uns nicht!“
… Darum geht uns die Klimakrise an!
Weil sie eine Gotteskrise ist, die uns zurückruft zum Glauben an den IMMANUEL, an den Gott, Der das Leben alles dessen ist, was lebt, und Der uns Menschen ruft, heil durch diese Welt in Sein Leben, in Sein Heil zu kommen.
Doch das können wir nur, wenn wir die Welt nicht zerstört haben.
Und so müssen wir wieder zum Glauben an Gott finden, … nicht bloß um selber gerettet zu werden, sondern damit die Welt gerettet wird und Gott nicht verzagt, nicht vorübergeht, nicht in der Fremdheit verschwindet, sondern bei Sich und bei uns und bei allen bleibt: Als IMMANUEL!
Amen.
[i] Die politische Religionskritik der Vormärz-Welt, der vorkommunistischen und frühmarxistischen „48-er“ des 19.Jahrhunderts und der inzwischen ebenso historisch gewordenen „68-er“ des 20.Jahrhunderts ist klassisch wirkungsvoll verdichtet im ersten Caput von Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“ (in: Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, hgg. v. Klaus Briegleb, München, 1971, Bd. IV, S.577), wo das kleine Harfenmädchen mit seiner steinerweichenden Schmonzette, in der das (Liebes-)Glück erst im Jenseits zu erwarten ist, den revolutionär empfindenden Heine zum Schwur hinreißt: „Ein neues Lied, ein besseres Lied, / O Freunde, will ich euch dichten! Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten“ (aaO, S.578). Das tragische und katastrophale Scheitern dieser immanenten Welterneuerungs-, -verbesserungs- und -vollendungs-Ideen ist in der jüngsten Geschichte wohl zur Genüge demonstriert worden. Das religionskritische Aufgeben der Botschaft vom eschatologisch-ewigen Leben muss also dringlich seinerseits einer kritischen Revision in Glaube und Praxis der Kirche unterzogen werden.
[ii] Der immens hilf- und aufschlussreiche Begriff begegnet bei Johannes Röser, „Zeige deine Wunde! Buchbesprechung zu Jan-Heiner Tücks »CRUX«“ in: Christ in der Gegenwart 24/2023, S. 7.
[iii] Um einen Eindruck von der für diesen Zeitraum einschlägigen Klimaforschung zu gewinnen, ist der open-access Beitrag hilfreich: Adam W. Schneider & Selim F. Adali, Further evidence for a “Late Assyrian dry phase” in the Near East during the mid-to-late seventh century B.C.?, in: IRAQ , Volume 78 , December 2016 , pp. 159 – 174 (https://www.cambridge.org/core/journals/iraq/article/further-evidence-for-a-late-assyrian-dry-phase-in-the-near-east-during-the-midtolate-seventh-century-bc/56FF46859728FAEC51C8CC70131AD2EF)
1.n.Trin., 11.06.2023, 1.Johannes 4, 13 - 21, Stadtkirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.n.Trin. - 11.VI.2023
1.Johannes 4, 13 - 21
Liebe Gemeinde!
Vielleicht hilft’s an der Nahtstelle zweier Generationen zu stehen, um zu ahnen, was passiert, wenn das Kirchenjahr, das eigentlich die Erwartung Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und die Geburt Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und die Taufe Dessen, der zu Ostern auferweckt wurde und das Fasten und das Wirken und die Passion Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde, und die Kreuzigung Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und den Tod Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und Seine Auferweckung an Ostern und dann das neue Leben Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und die Himmelfahrt Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und die Ausgießung des Geistes des Vaters und Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde, feiert …. vielleicht also hilft’s an einer Nahtstelle des Lebens zu stehen - etwa, weil die Kinder groß und selbständig werden - , um zu ahnen, was passiert, wenn alles das gefeiert ist … und das Kirchenjahr jetzt weiter geht:
Jesus, Der bisher das Ziel und die Wirklichkeit und die Mitte und der Verlust und der Gewinn und die Hoffnung und die Fülle alles dessen war, was die Gemeinde gehört, meditiert, angebetet, gefeiert und verkündigt hat, … Jesus rückt zur Seite.
Er hat den Seinen alles gegeben, sie alles gelehrt, ihnen alles gewährt.
Und jetzt macht Er den Platz frei. Wie das uns Eltern - und solchen Kontrollfreaks wie mir, die sich da ganz besonders sträuben, ganz besonders - nötig ist, zu lernen: Hände und Füße weg von Zündschlüssel, Gas und Kupplung, … Beifahrer werden, … andern überlassen, was die nun können werden!
Das Christus-Halbjahr, das seit Trinitatis hinter uns liegt, glich ja dem Kochkurs und den Theoriestunden in der Fahrschule: Ab jetzt aber steht Jesus nicht mehr unmittelbar am Herd, ab jetzt sitzt Er nicht mehr allein am Steuer. Ab jetzt wird Sein Dienst unser Dienst und Seine Reise auf dem Weg zu Gott wird zur Ausrichtung unseres Lebens.
Es ist die Zeit der Staffelübergabe, es ist die Erfahrung des Übergangs vom Lehrer auf die Schüler, vom Meister aus Nazareth an seine Jünger und Jüngerinnen überall bis an der Welt Ende. …
Was für ein Segen, dass Er dennoch neu und unveränderlich bei uns ist alle Tage (vgl. Matth.28,20)!
Was für ein Abenteuer aber auch, dass Er zu uns sagt: „Gehet hin und machet …“ …….
Denn nun ist es ganz unverkennbar tatsächlich an uns, die Sendung des Gottessohnes – eine Sendung zum Dienst und Zeugnis für alle und in tiefstes Leid und nur wundersame Errettung für das Ich – unsrerseits zu üben, … obwohl keine Verheißung unsere Ankunft vorbereitete, unsere Geburt die Zeitrechnung nicht erneuert, unsere Weisheit nicht himmlisch und unser Tun kein Wunder ist, obwohl wir nicht erlösend leiden können und noch alle nicht auferweckt sind und das Reich Gottes noch keinen von uns völlig umgibt und unser kleiner Geist allenfalls für uns selber und die Nächsten reicht, aber nicht die ganze Welt inspirieren und erneuern kann!
… Wir alle sind beileibe ja nicht Jesus!
… Und dennoch gibt Er uns jetzt auf, wie Er zu werden! …….
Dieser seltsame Gedanke, dass unser Glaube uns jesusförmig macht und unser Dienst und Dasein nun jesusmäßig werden sollen, ist zwiespältig … genauso wie das Nachrücken und Übernehmen es bei den Heranwachsenden sind: Es schmeichelt und es lähmt zugleich. … Das soll jetzt wahr sein? … Das sollen wir können? … So ernst werden wir jetzt genommen? … Damit lässt man uns jetzt freie Hand? …
Und wie bei der Fahrstunde dürften die wackligen Knie, die überforderte Verwirrtheit zunächst wohl überwiegen. Es ist doch unvorstellbar, dass alles, was von Advent bis Trinitatis geschah, nun von Juni bis Dezember weitergehen soll, … aber nicht mit Jesus allein im Blick, sondern mit Jesus in uns am Werk!
Ja, das ist unglaublich!
Es kann einen durchschütteln und es kann einen aufrichten; es kann machen, dass man einknicken möchte oder über sich hinauswächst. Es will uns verändern und es könnte uns verstocken. Auf alle Fälle aber will es geschehen!
– Was? – Die Bewährungsprobe des Christentums. Die Probe, in der wir heute - weiß Gott! - alle stehen und in der wir uns werden bewähren müssen - und können! -, wie wohl seit einem ganzen Menschenalter nicht mehr.
Die Probe heute, in der die Christen davon werden leben und zeugen müssen, dass die Liebe Christi sie dringt (vgl.2.Kor.5,14) besteht in der schlichten, … schrecklichen, … seligen Tatsache, dass es in allen Krisen und Katastrophen dieser Zeit tatsächlich nur eine grundlegende, grenzenlose, universale und zugleich kindliche Hilfe geben kann: Dass wir eben in der Liebe bleiben! …….
… Ja, lacht und spottet nur! Höhnt und bedauert die simplifizierenden, gutmenschlichen, treuherzigen, … meinetwegen auch: treudoofen, unterkomplexen, idealistisch-naiven Christen! ... Amüsiert Euch oder verachtet sie, wenn sie singend, verkündigend, politisierend und in alledem auch noch voll Sendungsbewusstseins und mit wenig differenzierter Empörung, Leidenschaft und Utopie einen Kirchentag feiern oder in geistlichen Gemeinschaften oder in diakonischen und ökologischen und nachbarschaftlichen Netzwerken das Gute wollen und vollbringen, obwohl die großen Linien, die tiefen Nöte für den distanzierten Blick dadurch nicht verschoben oder behoben werden.
Es gibt viel zu belächeln und viel zu beklagen an den teils verbohrten und teils bloß oberflächlichen Ausprägungen des Glaubens und Lebens derer, die bekennen, dass Jesus Gottes Sohn ist. Es gilt vieles besser und ernsthafter zu versuchen, als es in den Sprechblasen oder den ausgewaschenen Riten der evangelischen und der katholischen Frömmigkeit zu Sprache und Gestalt kommt, … doch wo immer das brennende Glauben und drängende Handeln der Christen von der Liebe für andere, von der Liebe zu den Menschen zeugt, da ist Der – und sei’s verborgen, sei’s verschwiegen, sei’s in der Erniedrigung ins ganz Einfache, ganz Schwache, die Er immer gewählt hat –, Der selbst die Liebe ist.
Das ist das A und das O des ganzen Christentums: Dass wir an dieser Waffe und dieser Wehrlosigkeit festhalten, … dass wir diese Einfalt und dieses Wunder niemals aufgeben, … dass wir in dieser Mystik und dieser Selbstverständlichkeit wurzeln: Gott ist Liebe! ——
Es gibt so viele andere Kräfte und Dynamik, es gibt so viel steilere Thesen und stärkere Programme und erst recht gibt es so viel blinden Zorn und brutalen Widerspruch dagegen, dass die Liebe überhaupt etwas könne und sei. Es gibt so gebieterische Logik und so abgebrühten Zynismus in der Maske der Vernunft, es gibt so blendende Sachzwänge und so erschütternde Erfahrungswerte, die alle in Abrede stellen, ja, die längst philosophisch und politisch und praktisch bewiesen haben, dass die Liebe nichts Konkretes, nichts Schlüssiges, nichts Kompatibles ist in der Welt der herrschenden Kräfte, der sinnigen Mechanismen und der natürlichen Gesetze der sogenannten Realität.
… Und wir sehen es ja selber. In unserm Hinterkopf und jeder Schlagzeile dröhnt es: Die Liebe ist machtlos und sinnlos; die Liebe verändert nichts und lässt sich verarschen; die Liebe baut auf Sentiment und verrät, dass sie nur unsere Wünsche zum Vater hat und dass sie scheitert, wo immer sie auf Tatsachen trifft, dass sie nicht kalkulieren und nicht analysieren kann, dass sie für kleine Kinder und alte Leute, aber nicht für kluge Köpfe und starke Positionen taugt und dass sie deshalb allem unterliegt und alles verliert und alle enttäuscht.
Doch der Apostel, der bei der Liebe war, als sie die Ihren bis ans Ende liebte (vgl. Joh.13,1), … der Apostel, der nach der Fußwaschung - dem demütigsten Dienst der Liebe - bei Tisch, als die Liebe sich in Fleisch und Blut an andere verschenkte, an der Brust dieser Liebe lag (vgl. Joh13,23), … der Apostel, der es mit den zehn andern hörte, als die Liebe ihr Testament machte: „Ein neu Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebet; wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habet. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habet“ (Joh.13,34f), … der Apostel, der unter
dem Kreuz stand, als der Liebe der Todesstoß in ihr Herz versetzt wurde und Blut und Wasser aus ihrer Seite herausgingen, und der es bezeugt, damit auch wir glauben (vgl. Joh.19,34f; 1.Joh.5,6ff), … der Apostel, der uns heute unmittelbar anspricht, weil die aus dem Grab auferweckte Liebe gesagt hat: „Wenn ich will, dass er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an?“ (vgl.Joh.21,22ff), … der Apostel, der alles in der Liebe gefunden und nichts als die Liebe bezeugt und der Welt nur das Gebot, zu lieben gepredigt hat und dessen allerletzte Grüße einem gelten, der durch Sorge für die Brüder - „zumal die fremden“! - noch einmal die bedingungslose Liebe bezeugt (vgl. 3.Joh.V.5), … dieser Apostel der Liebe hat einfache Fragen an uns:
- Seht Ihr diese abgründige Verlorenheit in den grausamen Augen von Putin? …
- Seht Ihr das Kälteste, was es auf der brodelnden Erde noch gibt, in der Todesfratze Prigoschins, der banalen Bosheit Kim Jong-Uns, der mörderischen Selbsterhaltung, die von Teheran über Kabul und von Khartum bis Sanaa die Schurken und die Gegen-Schurken erfüllt? …
- Seht Ihr, wie sie aber auch in allen Demokratien plötzlich das Doppelte verspielt haben, das sie einst trug: Die Geltung von Wahrheit und Recht? …
- Seht Ihr die furchtbaren Tragödien, die aus den schönen menschlichen Geistesgaben geworden sind in der Welt, die in Rauch ersticken muss, um das Feuer ernst zu nehmen, mit dem sie spielt, … die das Wasser, von dem man lebt, als Waffe missbraucht, … die immer noch lahm ist vom Luxus, während der Mangel an schlichter Arbeitskraft sie schon in Not bringt? …
- Seht Ihr, wie der Kontinent der Menschenrechte und des schlechten Gewissens sich auch in seinen liberalen und linken und freiheitlichen Überzeugungen versteckt, verteidigt und verliert gegenüber denen, die kein Recht, keine Freiheit, kein Leben haben? …
- Seht Ihr, wie rasch Ihr selber in Eurer Rationalität und Eurer roten und grünen und bunten und blassen Moral zu einem Rattenstamm werdet, der sein Territorium, sein Labyrinth gegen die hungrigen Artgenossen meint verteidigen zu müssen und zu können? …
Wenn Ihr irgendetwas davon seht, wenn Ihr nicht zu viel Angst habt vorm Hingucken auf die Welt, … dann seht Ihr das, wovor man sich fürchtet: Dass die Bosheit und Gewalt, dass die Lüge, Gemeinheit und Gier, dass die Zerstörung aller Menschen und Dinge aus dem Inneren kommen, aus der einen Wurzel, die alles vergiftet und zersetzt: Aus der Angst!
Angst ist die Plage der Welt.
Angst ist das Ende der Bereitschaft zum Leben.
Angst ist der vorweggenommene Pakt mit der Sünde und mit dem Tod.
… Und sie ist überall.
… Überall. …
Nur nicht in der Liebe!
… Furcht ist nicht in der Liebe!
Wenn Ihr in der Liebe bleibt, dann bleibt ja Gott in Euch und dann bleibt Ihr in Gott!
Und das ist das ganze Jesus-Geheimnis. Das ist der Jesus-Weg, … das ist die Jesus-Tat, der Jesus-Frieden, die Jesus-Kraft:
Geliebt-Sein und Lieben.
Und darin müssen und können wir sein wie Er!
Denn das hat uns jeder Tag und jeder Schritt in der Jesus-Zeit des Kirchenjahres gezeigt: Eine Liebe, die überwältigend und unbezwingbar ist.
Alles, was wir da gefeiert haben, … alles, was wir da gehört und aufgenommen und angenommen haben im Wort, im Brot und Wein, im Blut am Kreuz, im Wasser und im Geist der Taufe … das alles ist ja die vollkommene Liebe, die alle Furcht austreibt.
Also hat Gott die Welt geliebt, dass Er Seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben (Joh.3,16)!
– Wenn wir das hören und glauben, dann wird es tatsächlich auch unser Leben! ——
… Natürlich weiß ich dann immer noch nicht, wie der Krieg und Horror in der Ukraine beendet werden kann und beendet werden mag. … Aber dass es durch Gottes Liebe und nicht durch Hass oder Rache der Menschen geschehen wird, ist gewiss … und das nimmt uns die letzte Furcht! Und zeigt uns, dass wir über kurz oder lang, früher oder später lieben werden, wo wir jetzt nur Verzweiflung und Wut erfahren. … Lieben wir darum schon jetzt!
Und natürlich weiß ich auch nicht, wie die entsetzlichen Fragen der immer enger werdenden Welt, der immer schlimmer werdenden Weltuntergänge durch heimtückisches Fernhalten oder fahrlässiges Einladen derer auf der Flucht und Suche sich lösen lassen könnten. … Doch dass Gottes Liebe allen diesen unseren Brüdern und Schwestern genauso gilt und sie genauso umfasst und retten wird, wie uns … das ist am Ende stärker als alle damit verbundene Furcht. … Lieben wir darum!
Lieben wir, wie wir geliebt sind!
Werden wir jesusförmig in Glaube, Hoffnung und Liebe, von Tag zu Tag mehr, von Schritt zu Schritt in aller Ratlosigkeit gewisser!
Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt! … Das ist das, was kommt in diesem halben Jahr, das vor uns liegt. —
Die katholische Tradition lehrt uns übrigens, dass wir in dieser Zeit keineswegs ohne Jesus oder fern von Ihm sein müssen: Sie feiert am kommenden Freitag das Fest des heiligen, glühenden, liebenden Herzens Jesu[i]!
Und dieses Fest hört nicht auf: Es ist das Festgeheimnis aller unserer Tage, die uns allesamt Jesus näherbringen, Ihm ähnlicher machen und uns schließlich endgültig erkennen lassen werden, dass wir in Ihm bleiben und Er in uns.
Im schönsten Herz-Jesu-Lied heißt es dazu:
Nimm mein Herz, o mein höchstes Gut,
Und leg es hin, wo dein Herz ruht,
Da ist's wohl aufgehoben;
Da geht's mit dir, gleich als zum Tanz,
Da lobt es deines Hauses Glanz
Und kann's doch nicht g'nug loben.
Hier setzt sich's, hier gefällt's ihm wohl,
Hier freut sich's, dass es bleiben soll.
Erfüll, Herr, meinen Willen!
Und weil mein Herz dein Herze liebt,
So lass auch, wie dein Recht es gibt,
Dein Herz mein Herze stillen.
Das Lied ist von Paul Gerhardt[ii].
Darum können wir alle guten Gewissens sagen:
Amen.
[i] Die treibende Kraft bei der Verbreitung der Verehrung des Herzens Jesu - wie sie seit Jahrhunderten geübt worden war - in Gestalt eines eigenen Kultes und Festes war die burgundische Nonne Marguerite-Marie Alacoque (1647-1690), in deren Berufungsvision sich der herrliche Auftrage Christi findet: „Je veux te faire lire dans le livre de vie où se trouve la science d’amour“ – „Ich will, dass du im Buch des Lebens liest, wo die Wissenschaft der Liebe zu finden ist“ (zitiert nach: E. Glotin, La Science d’amour selon sainte Marguerite-Marie, [ohne Seitenangaben: S.1], Paray-le-Monial, 1990).
[ii] Strophe 7 von „O Herz des Königs aller Welt“ aus den „Passions-Salven“ (Paul Gerhardt, „Wach auf, mein Herz und singe“: Gesamtausgabe seiner Lieder und Gedichte, hgg. v. Eberhard von Cranach-Sichart, Wuppertal und Kassel, 1982 [Nachdruck der Ausgabe München, 1957], S.62).
03.06.2023, Einführung von Jenny Müller, Stadtkirche, Jenny Müller
- Einführung ins Presbyteramt von Jenny Müller -
Liebe Gemeinde,
heute möchte ich mich Ihnen/Euch gerne vorstellen: ich heiße Jenny Müller, geboren 1997 in Düsseldorf. Nach meiner Ausbildung bei der ARD und anschließendem Studium der Wirtschaftspädagogik und evangelischer Religion arbeite ich heute als Aufnahmeleiterin für den Westdeutschen Rundfunk. Von der Taufe, über die Konfirmation und dem anschließenden, aufregenden TeamerInnen-Dasein bot mir unsere Gemeinde stets eine offene Tür, in der mich hörende Herzen und gebende Hände empfingen. Nun darf ich freudig verkünden, dass ich neben der KonfirmandInnen- und TeamerInnen-Arbeit, auch als Presbyterin für Sie/Euch tätig werden darf! Anbei einige Gedanken, die mich in meinem Leben und Glauben begleiten und wichtig sind:
Ich glaub' an eine Welt…
Ich glaube an eine Welt, die jeden Tag ein Stückchen besser werden kann-
und mit besser meine ich nicht höher schneller weiter.
Ich glaub' an eine Welt, in der wir geben können, was uns gegeben ist.
Ich glaube an eine Welt, in der wir wertschätzen-
also Werte schätzen. Werte Schätze sind.
Ich glaube an eine Welt in der „Mut“ für Mich Und eine Tat steht.
Ich glaube an eine Welt, in der jede*r von uns Liebe in sich trägt,
auch wenn die manchmal in der Dunkelheit verschwindet.
Doch ich glaub‘ noch mehr:
Ich glaub‘, dass das Leben ein Geschenk ist, welches ewiglich voll Licht von DIR ist.
Und ich glaub‘, dass DU uns bewegst- zu Taten, Worten und zu uns selbst hin.
Ich glaub‘, dass wir frei sind, frei durch DICH und zur Verantwortung berufen.
Ich glaub‘, dass wir DICH erleben werden, weil DU in uns lebst.
Ich glaub‘, dass die Erde sich nicht nur um sich selbst dreht,
weil wir uns durch DICH drehen.
Und wir glauben, wir glauben an DICH.
Und so erheben wir unsere Tassen- auf DICH und eine bessere Welt,
an die wir glauben möchten, bis der Vorhang fällt.
Und so wollen wir unser Bestes geben,
denn DU hast uns DEINEN Geist gegeben und wir,
wir haben ihn empfangen (vgl. 1.Kor 2, 12).
Wir sind also ein Team.
DU bist unsere Verteidigung, wenn wir stürmen.
DU bist das Licht, wenn wir lieben.
DU bist der Zuhörer, wenn wir nichts sagen.
DU bist unser Mut, wenn wir Angst haben.
Und wir, wir sind DEIN Einspruch in dieser manchmal doch so kalten Welt,
DEINE VerfechterInnen des Guten unterm Himmels-Zelt,
DEIN Zeichen der Liebe,
DEINE RetterInnen vor Dieben,
DEINE Kinder auf Erden,
DEINE Hoffnung des Werdens,
DEIN „Mitten im Leben“,
das Ergebnis DEINES Gebens,
weil DU in uns bebst.
Und so gib uns hin und wieder ein kluges Wort,
einen klugen Rat, den wir umsetzen können in die Tat.
Oder gib uns die Weisheit, mit dem Alter und der Zeit,
so dass wir andern Leuten Trost sein können in der Dunkelheit,
oder gib uns die Liebe zu heilen, alle Verwundeten zu gesunden
oder aber eben die Kraft, die kleine Wunder schafft.
Gott hat uns den Geist gegeben und wir haben ihn empfangen (vgl. 1.Kor 2, 12).
Und es sind verschiedene Gaben, eine jede auf ihre Art-
doch es ist ein Geist.
Und es sind verschiedene Ämter-
ob PfarrerIn, ob TeamerIn, ob PresbyterIn, ob GeberIn-
aber es ist ein Herr.
Und es sind verschiedenen Kräfte-
ob Trost, ob Mut, ob Hoffnung, ob Glaube-
aber es ist ein Gott, der da wirkt, alles in allen (vgl. 1.Kor 12, 4-6).
Und so gehen wir jetzt raus in diese große Welt,
auf, dass sie durch uns ein bisschen heller wird,
ein kleines Wunder ab und zu vom Himmel fällt,
auf, dass wir Liebe geben, Hoffnung sprühen
und uns Glaube zur Seite steht (vgl. 1.Kor 13, 13).
Und so glauben wir an diese bessere Welt-
bis der Vorhang fällt.
Mit herzlichem Gruß, Jenny Müller
Pfingstsonntag, 28.05.2023, 1.Korinther 2, 12 - 16, Stadtkirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Pfingstsonntag - 28.V.2023
1.Korinther 2, 12 - 16
Liebe Gemeinde!
Paulus reimt sich auf Pech: … Immer daneben. Nie ganz dabei.
… Er lebte wohl schon in Jerusalem als der Messias da auftrat, ausrastete, still wurde, Passa feierte und vor der Mauer am Kreuz überraschend schnell starb. In jenen Stunden damals hat Saulus aus Tarsus mit seinen Mitschülern den Sabbat vorbereitet und gefeiert und nach dem Vorabend und dem Tag der Ruhe am dritten Tag wieder die Schrift und ihre mündliche Auslegung zu studieren und zu diskutieren begonnen.
Er konnte nicht ahnen, dass gerade in diesen Stunden, einen oder anderthalb Kilometer entfernt das Reich des Todes durchbrochen worden und der vorweggenommene Sieg Gottes über den letzten Feind geschehen war, der ewige Sabbat, der kommt, sich also bestätigte.
Und in den Wochen danach. zwischen Passa und Schavout, dem Wochenfest war Saulus zwar auch nah dran, aber vom Wunder des Auferstandenen, Der in diesen Tagen bei den Seinen war, sie in Jerusalem, Emmaus, Galiläa und auf dem Ölberg überraschte, überwältigte, versammelte, berührte, beflügelte, segnete und zurückließ, war er wiederum nicht bewegt.
Und darum hat er auch das Feuerwerk verpasst, das am Wochenfest, dem Tag der Pfingsten, im Obergemach der galiläischen Jesus-Jünger zündete und sich dann in einer unerhörten Explosion von Sprachfarben und Geistsprühen und funkelnden Einsichten und brennenden Herzen und flammendem Glauben und erleuchteten Seelen auf den Plätzen der heiligen Stadt entlud.
Immer war Paulus nah dran und doch nicht persönlich beteiligt!
Passion verpasst, Ostern versäumt, Pfingsten nicht mitgekriegt: Das ist der Mensch, dem wir die Weltmission verdanken, der Gründervater der Kirchen aller Länder und Zeitzonen. … Der Mensch, der bei den Zeichen und Wundern der Christusgeschichte fehlte.
… Unsere Feste wurden uns also erschlossen durch einen, der sie nicht mitfeierte. … Die Kirche wurde begonnen von einem außerhalb der Kirche Stehenden. … Christus in aller Welt ist als Erstes bezeugt worden von einem zutiefst Christusfremden.
Man kann darüber lachen.
… Oder die Absicht und den Sinn ermessen.
Wenn die Botschaft, die wir das Evangelium nennen, nur und ausschließlich eine Angelegenheit von Augenzeugen wäre - so viele Augenzeugen uns bei den Aposteln und Evangelisten auch begegnen -, dann wäre sie schlicht und ergreifend und in jedem Sinn und mit allen Folgen eben rein historisch. … Gewiss kämpfen auch heute noch viele fromme Köpfe dafür - ich gerne auch -, die Zuverlässigkeit und Echtheit dessen, was das Neue Testament berichtet, gegen die Unterstellung derer zu verteidigen, die darin nur Lüge oder Phantasie am Werk sehen. Aber wenn alles am geschichtlichen Urteil läge, wenn der Glaube an Jesus Christus wahrer oder wackliger würde, je mehr der Wissenschaft ihr Geschäft der Mutmaßung über Wahrscheinlichkeit, der Rekonstruktion von Faktischem, der Einordnung in die Evidenz gelingt, desto unsinniger würde der Glaube: Wenn alle, denen die großen archäologischen Entdeckungen bekannt sind, einen sichereren Glauben haben dürften, als die, die ohne Kenntnis der theoretischen und praktischen Durchbrüche und Abbrüche der westlichen historischen Kritik blieben, dann hätte die Wissenschaft eine so alberne Form des Buchstaben- oder Tatsachenglaubens erzeugt, dass die Schlange sich in den Schwanz bisse. Wissenschaft würde zur Magd des Glaubens … oder der Glaube zum Mündel der Wissenschaft. Beide sind aber - zum Glück - frei.
… Nicht zuletzt dank des Paulus: Der nicht dabei war. Nicht sah und hörte, nicht fasste und griff, nicht aß und trank, nicht spürte und erlebte, was den anderen Apostel vergönnt war. Und doch und so gerade der Erste wie wir wurde:
Denn auch wir glauben ja nicht, weil wir dabei gewesen wären. Wir glauben nicht einmal wegen dessen, was Maria dem Lukas erzählt oder mit Johannes geteilt haben wird - so sehr ich Maria auch liebe, an Lukas hänge, Johannes verehre! -, und auch nicht dessentwegen, was ein Matthäus oder Petrus oder dessen Schüler Markus an unmittelbar oder mittelbar Erlebtem überlieferten, sondern das, was uns an Glauben widerfährt, ist von eigener und einziger Direktheit im Heute.
Es wurzelt nicht im „Es war einmal“ der Märchen und auch nicht im wissenschaftsgläubigen „Wie es eigentlich gewesen“ und es kann sich nicht einmal vergewissern und festhalten an dem, was wir als Kinder gelernt oder gestern noch für überzeugend gehalten haben.
Glaube ist nämlich Manna, … ist tägliches Brot. Vorräte nützen nichts. Es braucht den Regen vom Himmel und die Bereitschaft zum Sammeln heute. … Und damit auch die wiederkehrende Erfahrung des Nicht-Festhalten-Könnens, … des Hungerns, … des Leer-Seins und also der neuen, … ständigen, … jetzigen Angewiesenheit auf Gott selbst.
Glauben heißt, Gott nötig zu haben und von diesem unendlichen Bedürfnis - wohlgemerkt also nicht von einer vermeintlich endgültigen Erfüllung dieses Bedürfnisses! - zu leben.
Und genau da unterscheiden sich die Geister. Der Weltgeist ist der Geist der Bedürfnisbefriedigung. Alles, was in der Natur und in der Geschichte dieser Welt geschieht, dient letztlich diesem einen Zweck: Verlangen, Hunger, Wünsche zu stillen. Das ist der Beweggrund sämtlicher Instinkte genauso wie das Motiv der künstlichen Anstachelung, Erzeugung und Sättigung von Sehnsüchten nach Produkten und Erlebnissen. Die volle Mutterbrust und der geniale Werbungs- und Warenkreislauf der Wirtschaft sind in ihrer Mechanik von der gleichen schlichten Logik erfüllt: Wollen und Bekommen. Denn das gesäugte Kind in seiner Unschuld tappt in die gleiche Falle wie der befriedigte Mensch nach dem Kaufrausch, nach dem Erwerbszwang seiner Besitzwut: Beide bilden sich immer wieder ein, sie seien am Ziel ihrer Jagd.
Der Glaube aber – der doch mit dem Ursprung und Ziel aller Dinge, mit Gott in Berührung, in Verbindung kommt! – … ausgerechnet der Glaube wird sich niemals weismachen, dass er am Ziel sei. Denn Glaube bedeutet, dem unendlichen Gott, der ewigen, grenzen-, schranken- und maßlosen Wirklichkeit Gottes, der anfangs- und grundlosen Liebe Gottes, der alles Verstehen und alle Vernunft übersteigenden Herrlichkeit Gottes, der unerforschlichen und unüberwindlichen Weisheit Gottes, ja, der universalen, schöpferischen, jenseitigen, allseitigen, alleinzigen und alleinigen Gottheit Gottes zu begegnen … und darum zu erfahren, dass jeder Gedanke, man wisse und habe es jetzt, ein Aberglaube sein muss … und dass alle Neugier und Offenheit, alle Demut und zugleich alle vollkommene Unersättlichkeit des reinen, freudigen Staunens das gewisseste Bekenntnis und das schönste Lob Dessen sind, Der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt (vgl. Eph.3,20).
Darum gilt das Dabei- oder Nicht-dabei-gewesen-Sein gar nichts. Gott zu vertrauen, ergibt sich nicht aus Gewesenem; Gott zu vertrauen, Ihm sich zu überlassen, zu Ihm zu gehören, das ist Gegenwart, … reine, pure, pulsierende, atmende, jetzige Gegenwart!
… Gewiss: Gott ist der Ewige … vor aller Zeit, unwandelbar lebendig für immer.
Und seit der Himmelfahrt wissen wir, dass Jesus die Zukunft ist, .., unsere Zukunft und die Zukunft der ganzen Welt, die sich vorbereitet, bis er wiederkehrt und wir ihn sehen werden und alle Zungen bekennen werden, dass er der Herr ist (vgl. Phil.2,11).
… Aber der Moment gerade jetzt, diese Sekunde, in der wir dem Ewigen gehören als die Gemeinde des Kommenden, … dieser reine Augenblick der Gnade, dieses Hier und Heute unsres Heils, dieser Atemzug, in dem wir in Kehle, Lungen, Herz und Sinn und Leib und Seele spüren, dass es Pfingsten ist, dass wir nicht alleine hier sind, sondern dass Gott in uns und bei uns und um uns und über uns ist … das ist der Heilige Geist!
Sein Wesen ist Gegenwart.
Sein Geschenk ist die Gegenwart.
Seine Wirkung ist Gegenwärtig-Sein.
Sein Wunder ist das Gegenwärtig-Machen.
Und Seine Verheißung ist genau diese, Seine unvergängliche Gegenwart ins uns und unsere gegenwärtige, unzerstörbare Eingliederung in die Ewigkeit. ——
Diese Kraft der Gottesgegenwart, diese Gabe der Gegenwart Gottes ist es, die Paulus, den Zu-Spät-Gekommenen, den Nie-Dabei-Gewesenen, den an Pfingsten Fehlenden so unabhängig, so selbstbewusst weil Gott-vertraut, so frei von Minderwertigkeit, weil so erfüllt von des Geistes Unmittelbarkeit macht.
Er - kein Zeuge! - redet mit Worten, die der Geist lehrt.
Er - der persönlich, physisch, sinnlich konsequent und lückenlos abwesend war - wagt doch zu sagen: „Wir haben Christi Sinn“!
– Das aber ist entweder eine unerträgliche Hybris, ein Hochmut, wie er für alle möglichen esoterischen Medien und Hell- oder Geisterseher, für selbstbesoffene Pressesprecher und Großmäuler und Lügenpropheten und Propagandapopulisten typisch wäre – „Ich bin die Stimme des Echten! Ich habe die alternativen Fakten! Ich bin die künstliche und damit haushoch, ja himmelhoch! überlegene Intelligenz!“ –, … und dann wäre alles christliche Sprechen, Verkündigen, Zeugnisgeben, Predigen, Mitteilen, Missionieren eine überdrehte, angemaßte, total subjektive und willkürliche Form des Wahrheitsmissbrauchs ……… oder … Gibt es überhaupt ein Oder?
… Kann jemand, der nicht in unserem Sinn faktisch, stichhaltig, objektiv, nachprüfbar, empirisch, historisch Fachmensch und Kundiger ist, eine Meinung, eine Erkenntnis, eine Wahrheit kommunizieren? …
Das ist die Pfingstfrage!
Sie zeigt uns wie heiß, … wie brandgefährlich, … wie knisternd spannend - am Rande des geradezu höllischen Läuterungsfeuers! - es ist, dass wir seit dem Wochenfest-Tag von Jerusalem, als die Botschaft zum allerersten Mal übersetzt und übertragen wurde in Herzen und Sprachen und Leben und Länder, die alle völlig voneinander verschieden waren, weitergeben und weiterglauben, was das Evangelium ist.
… Wie können wir es glauben?
… Wie kannst Du mir glauben, wenn ich sage: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“?
Wie können Eltern mir glauben, wenn ich in diesem Namen ihr Kind als Gottes Kind in den Leib Christi aufnehme und mit den Paten gemeinsam seine Zukunft auf die Eingießung des Geistes Gottes im Bad der Wiedergeburt und Erneuerung (vgl. Tit.3,3) baue?
Wie kannst Du Dir selber glauben, wenn Du sagst: „Ich glaube“?
Wie kann es noch Christen geben nach zweimal tausend Jahren?
Wie kann das alles leben und glühen, wie kann es atmen und leuchten, wie kann es fruchtbar und frisch (vgl. Ps.92,15), wie kann es unerschöpft und köstlich und saftig und ein lebenserquickender Neuanfang sein, wenn dieser uralte Glaube in uns sprudelt und zündet, wenn er fließt und aufflammt, wenn er entsteht und wächst, obwohl wir alle nicht dabei gewesen sind? …….
Weil nichts Gewesenes am Glauben ist! Nichts Abgeschlossenes! Nichts, das fertig wäre und vorbei! …
Natürlich! … Der natürliche Mensch, der Mensch mit menschlicher Weisheit, der Mensch, der von A bis Z buchstabiert, der von roh bis gar kocht, der von Zeugung bis Sterben zu existieren meint, der Mensch des starren Systems, der früher von später unterscheidet, der „vergangen“ mit „noch nicht erschienen“ vergleicht und überzeugt ist, dass nur das, was er selber fertigbringt und rund macht oder in seine räumlichen und zeitlichen Dimensionen einsortiert kriegt, überhaupt Gestalt und Wesen habe, … dieser Mensch will Gott auch von Anfang bis Ende beurteilt, ausgemessen, untersucht und einsortiert haben. Das nennt er „bewiesen“.
Aber wir feiern heute ein Fest, das allen Atheisten das Herz höherschlagen lässt: Wir feiern, dass Gott nichts Gewesenes und nichts Bewiesenes und nichts Gemessenes und nichts Gemachtes und nichts Gelungenes und nichts Vorzeigbares ist.
Denn tatsächlich: Gott war nie!
Er IST einfach „nur“ Gegenwart!
– Wir sollen Ihn nachweisen oder vorweisen! Aber Er ist nicht außen, sondern in einem jeden von uns und zwar nicht angereichert wie Gift, abgesetzt wie Kalk, verdichtet wie Fett, die man ausschwemmen, abschaben, rausschneiden könnte, sondern als der Atem und der Funke, die unser Leben sind und nicht fest zu machen, nicht fest zu halten, … sondern jetzt!, momentan!, nun!, da! … der allesentscheidende Teil dessen, was wir sind und was alles ist!
– Man möchte Ihn klar erfragen und herauskristallisieren, doch nichts ließe sich so präparieren, dass Sich Gott dabei dabei herausstellte oder übrigbliebe: Er, Der doch schlicht der All-Gegenwärtige ist.
Diese unfassbare - buchstäblich unumfassbare, uneingrenzbare, unumgängliche – Wahrheit, dass Gott nirgends fehlt und nirgends aufhört, dass Er nicht ausgegrenzt werden kann oder vergeht, sondern dass Er hier ist, bei uns ist, in uns ist, weil Er überall ist und alles in Ihm: Das ist das ungeheuerliche Wunder Seines Geistes!
Dieses Wunder kann kein Mensch beurteilen, feststellen, nachvollziehen … außer denen, die dieses Wunder selber sind, nämlich – wie Paulus es mit so ungeheuerlicher Selbstverständlichkeit von den Getauften, den Glaubenden, den Staunenden sagt – „geistliche Menschen“!!!
Geistliche Menschen, … Menschen nach Pfingsten, … Menschen überall und endlos viele und immer neue und niemals Fertige, denen im Heiligen Geist gegeben wird, was schon Paulus erfuhr: Dass man nicht zu spät kommen kann und darum auch nicht zu kurz, … weil wir selbst und gegenwärtig von Dem erfüllt werden, woran wir glauben!
Gott ist in uns und wir sind in Ihm!
In Abwandlung des allzu sehr auf Weihnachten festgelegten Verses[i] aus dem „Cherubinischen Wandersmann“ des Angelus Silesius muss uns heute darum lauten:
Wär’ Christus auch an jedem andern Ort
und nicht in Dir,
- so wäre er längst fort.
Wird er vom Geist jedoch in dir gebor’n
so lebst Du jetzt
und ewig unverlor’n.
Diese Empfängnis des Geistes und durch den Geist, Den wir aus Gott empfangen haben, die ist das Pfingstgeheimnis, nein die Pfingstoffenbarung, die macht, dass wir wissen, was uns von Gott geschenkt ist:
Er selbst.
Alles.
Amen.
… Komm’ ……. (EG 126)
[i] Im „Ersten Buch der Geistreichen Sinn- und Schluß-Reimen“ heißt die Nr. 61 unter der Überschrift „Jn dir muß GOtt gebohren werden“: „Wird Christus tausendmahl zu Bethlehem gebohrn / Und nicht in dir; du bleibst noch Ewiglich verlohrn“. Das Thema der geistlichen Vergegenwärtigung wird in den Nummern 62f dann auch auf Kreuz und Auferstehung übertragen: Nr. 62 „Das aͤussre hilfft dich nicht.“: „Das Kreutz zu Golgatha kann dich nicht von dem boͤsen / Wo es nicht auch in dir wird auffgericht / erloͤsen.“ & Nr.63 „Steh selbst von Todten auff“ : „Jch sag / es hilfft dich nicht / daß Christus aufferstanden / Wo du noch ligen bleibst in Suͤnd und todesbanden.“ (vgl. Angelus Silesius [Johannes Scheffler], Cherubinischer Wandersmann, Krit. Ausgabe, hgg. v. Louise Gnädinger, Stuttgart 1985, S.36).
Exaudi, 21.05.2023, 1.Samuel 3, 1 - 10, Stadtkirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Exaudi - 21.V.2023
1.Samuel 3, 1 -10
Liebe Gemeinde!
Wir stehen gerade mitten in den zehn unheimlichsten Tagen, die unser Kirchenjahr außerhalb der Passionszeit kennt: … Die Erde ist seit Donnerstag christusverlassen; … der Himmel bleibt vor Pfingsten geistverschlossen. ….
Zehn Tage ohne unmittelbar heilsgeschichtlichen Gedächtnis-Inhalt also. Zeit der Latenz, zusammengesetzt aus der Zahl der sieben Entwicklungs-Tage der Schöpfung und der drei geheimnisvollen Tage der Erlösung von Karfreitag bis Ostern. Zehn Tage, in denen alles oder nichts geschehen kann …….
Vielleicht können wir diese sonderbare Zeit der sich stauenden Zukunft, … vielleicht müssen wir diese Zeit des Zukunftsstaus sogar ganz unmittelbar auf den gegenwärtigen Moment der Weltgeschichte übertragen: Die Entwicklung der Schöpfung oder die Verfinsterung des Schöpfertodes - das Mysterium Gottes, das in beidem, in Macht und Ohnmacht sich ahnen lässt -, halten sich gerade noch die Waage. Die nächsten Schritte können zur Rettung des Ursprünglichen ebenso wie zu seinem irdisch nurmehr unaufhaltsamen Untergang führen.
… Das klingt reichlich pathetisch.
… Aber vor nicht langer Zeit sind Menschen in gewöhnlichen kleinen Tälern unserer näheren Heimat ertrunken so wie jetzt in Italien. In der Schweiz brechen die Berge auseinander, in den Bergen schmelzen die Gletscher, in der Ebene vertrocknen trotzdem seit ein paar Jahren die Ernten und in den Wäldern von den würzigen Pinien und Korkeichen bis zu den Krüppelkiefern und Birken der Tundra wüten von Frühjahr bis Herbst Feuer und atmen die tauenden Böden des Nordens Gas aus.
Wenn wir noch zehn Jahre haben sollten, dann sind es jene Jahre, in denen entweder die Verlassenheit von allen guten Geistern oder eine geschichtswendende Geistausgießung endgültig geschehen und bestätigt werden.
Da trifft es sich gut, dass wir an diesem Sonntag dazwischen - zwischen Abschied und Anfang - tatsächlich eine Ruh- und Weckgeschichte hören, … jedoch keine Traum- oder Albtraumgeschichte.
Noch besser aber passt die Überschrift über dieser Geschichte: Es ist eine Überschrift, von der ich seit einiger Zeit denke, dass sie - von den meisten Menschen unerkannt - als Titel über unsern Lebzeiten steht. Und wenn wir es einmal wirklich wahrnehmen, wie unsere Tage überschrieben sind, dann überkommen uns vielleicht Furcht und Zittern, oder - wer weiß? - vielleicht auch Entschlussfreudigkeit und seelisch Klarheit. Von den Tagen Elis jedenfalls galt: „Zu der Zeit war der HERRN Wort selten und es gab kaum noch Offenbarung“.
Bei Martin Buber und Franz Rosenzweig lautet diese Zeitansage: „In jenen Tagen war Anrede von IHM kostbar geworden, keine Schauung brach durch“. … Und dann mit einer so alarmierenden Spitzenstellung des Temporaladverbs, dass es mir den Rücken runterläuft: „Noch nicht erloschen war die Leuchte Gottes“.
Das also ist der Name dieser Zeit: Zeit des Noch-nicht-Erloschenen.
Und in ihr ruhen sie.
… Zumindest der alte Mann. Eli. Man kann und muss ihm nicht böse sein: Elis Augen haben viel vom Überfluss der Welt gesehen, haben auch treu über der Bundeslade gewacht, in der im Heiligtum von Silo das lenkende Wort Gottes verwahrt liegt; Elis Augen sind auch angestrengt, weil er immer wieder eins von ihnen zugedrückt hat, wenn seine Söhne in der Anspruchs- und Selbstbedienungsmentalität der Generation, die nichts anfangen musste, weil sie alles übernehmen konnte, sich am priesterlichen Dienst bereicherten und obendrein noch sexuelle Ausbeutung übten: Klerikaler Machtmissbrauch der ersten Stunde (vgl. 1.Sam.2,12ff; bes.22) . Eli, der Ordentliche, … Eli, der brave Patriarch mit der Vetternwirtschaft, … Eli, der ganz gewöhnliche Egoist und Pragmatist, der die guten, die halbherzigen und die skandalösen Züge seines Wesens nach lebenslanger Gewohnheit nun nicht mehr ändern wird. …Eli macht Nickerchen.
Jedenfalls liegt er still. Vielleicht im Schlummer. Vielleicht in der Schlaflosigkeit des Alters. Oder beim Versuch, den Kummer und die Gewissensbisse, die ihn beschleichen mögen, durch gleichmäßig ruhigen Atem zu betäuben. … Eli, der das Leben mehr recht als schlecht schon fast bewältigt hat und jetzt ein bisschen Yoga, ein bisschen Selbstmitleid und ganz viel Blindheit gebrauchen kann, um sich nicht mehr allzu sehr den Kopf zu zerbrechen über den vielen Ärger. …Und im Heiligtum liegt sowieso ja der Junge.
Es ist verlockend platt und es liegt erschreckend nah, das Bild des hingestreckten alten Priesters aus der Zeit vor Israels Königtum mit Bildern von hier und heute zu überblenden.
Eli hat Züge, die ich im Spiegel sehe und in der U-Bahn und in der Kirche und im schwerfälligen Betrieb des Betriebes, den wir unsere Wirtschaft, unsere Politik und Verwaltung und Kultur nennen. Überall haben sich solche wie ich und die noch Älteren breit gemacht: Rechtschaffen zumeist und auch rechtschaffen stolz und rechtschaffen müde oder mürrisch. Was die eigenen Aufgaben und das eigene Lebenswerk betrifft, baut sich das Selbstbewusstsein als starke Mauer gegen allzu viel Nachdenklichkeit auf:
„War schon alles recht. Kann niemand was sagen. Und dass man hier und da den eigenen oder wenigstens den Vorteil seiner Kinder auf selbstverständliche Weise geschützt hat, … tun das nicht alle? Und dass man jetzt noch seine Ruhe haben will und was noch vom Leben zu haben sein mag, ist ein Recht des Alters und der Natur!
… Gut, dass die ziemlich eingestaubte Bundeslade, die ziemlich unbeachteten Worte und Forderungen Gottes, … diese wirklich weit heruntergebrannte, noch nicht völlig verloschene Leuchte nicht mehr unser Problem sind! … Niemand richtet sich nach Gott? Niemand sucht Seinen Willen und hält Sein Gebot? Die „Schauungen“ schaffen trotz ihrer visionären Deutlichkeit keinen Durchbruch mehr durch das Polster der Naivität und Ignoranz? Die Menschen leben geist- und gottlos offenkundig viel lieber als gebunden an Scheu vor dem Himmel und Ehrfurcht vor einander? – Ach, da sollen sich nun andere Gedanken machen! Soll doch der Junge, der da bei der Lade schläft, sich in Zukunft drum kümmern, dass sie Lampe brennt, das Wort vernommen und der Wille Gottes getan wird.“ ——
Das ist eine Karikatur … zweifellos. Und wie alle Karikaturen vergröbert sie die Wirklichkeit, um ihr auf einfache Weise das Überwirkliche, das schmerzhaft Wirkliche abzugewinnen. Boshaft ist das vielleicht und grob fahrlässig in der Verallgemeinerung der Generationenrollen: Hie der unsympathisch selbstsüchtige Alte, der nach seinem fast gelebten Leben auf alle bleibenden Lebensfragen pfeift, … da der junge Mensch, dem nichts bleibt, als die Versäumnisse und Schuldigkeiten der Vorgänger abzutragen.
Wir kennen diese Karikatur und kennen auch ihre Wirklichkeit und Überwirklichkeit.
Wir wissen nicht nur von den aufdringlich pathetischen Weltschmerzen der Jugend, die sich zukunftslos fühlt und von uns Gestrigen um ihr Morgen betrogen. … Sie haben übrigens Recht, … grausam Recht sogar!
Wir wissen und erleben auch, dass immer mehr begabte und berufene junge Köpfe und Herzen aufgeben: Sie fahren zur Immatrikulation an die Universität und kommen heim ohne sich eingeschrieben zu haben, einfach weil die Schar der Gleichaltrigen mit oder ohne Hoffnung und Ehrgeiz ihnen vor Augen führte: Wir haben alle nichts mehr zu hoffen; es ist in der Welt zu spät geworden für einen neuen Anfang und einen besseren Weg.
Wir wissen darum wahrhaftig auch vom massenhaften Zynismus, den wir fast alle mitmachen, weil er uns in Fleisch und Blut zu sitzen scheint und uns einfach nichts an unserm Leben ändern lässt, obwohl das für genau unser eigenes Fleisch und Blut - in der Gestalt der Kinder und Kindeskinder - nicht bloß Ohrfeige und Hohn bedeutet, sondern Hunger und Tod.
Wir wissen es wirklich gut: Es drängt, und die allermeisten machen sich’s weiter bequem wie der Greis, der schlecht hört, kaum sieht und keine Störung an sich heranlässt.
Diese Karikaturen also kennen wir … und sind wir … und haben wir satt!
Doch die Wirklichkeit des Eli – selbst wenn wir ihn noch so karikierend zeichnen als alten weißen Mann, der sich nicht kümmern mag um geistlichen und weltlichen Dreck und weltliche und geistliche Sünde, die er denen nach ihm hinterlässt … die Wirklichkeit des Eli ist an einer Stelle so weit von uns und allen unseren Wirklichkeiten entfernt, dass es genau hier unendlich ernst wird.
Er wird gerüttelt von dem Jungen aus dem Tempel und murmelt was von erster Bürgerpflicht, von Ruhe: „Geh schlafen, Samuel!“.
… Und wie in Gethsemane ein zweiter Versuch des Tiefbeunruhigten an der Lagerstatt der Teilnahmslosigkeit. – „Geh schlafen, Samuel!“ …
Und dann das dritte Mal. … Und genau da ist der Unterschied zu uns!
In der Ruhestörung und Ratlosigkeit des jungen Samuel zuckt durch das müde Herz und Hirn des alten Eli plötzlich die Möglichkeit Gottes! … Sollte Gott wohl zu dem Knaben sprechen? Sollte Gott also vielleicht hinter der Unruhe des jungen Menschen stehen? Sollte Gott sich im Schweigen der verlöschenden Zeit ohne Empfänglichkeit für die Offenbarung auf diesem Weg durch den Mund der jungen Kinder und Säuglinge (vgl. Ps.8,3) Gehör schaffen wollen? …….
Eli muss schließlich mit Gott rechnen!
… Und nun lautet die Frage an uns: Tun wir das auch noch? …….
… Wenn das auch bei uns so wäre, … wenn das auch bei uns wieder so würde, dann wäre die Zeit, in der das Wort so wenig gehört und die Wahrheit so selten befolgt wird, die Zeit, in der das Licht so schwach nur noch leuchtet, tatsächlich eine Zeit zwischen Verlassen-Sein und Erfüllt-Werden wie sie in diesen zehn Tagen für uns Christen unverkennbar herrscht und in diesen zehn Jahren in der Welt entscheidend sein wird.
… Rechnen wir mit Gott?! Geht es uns auf, dass in den Sorgen, im Klamauk, in der nervtötenden wie der besorgniserregenden Panik, im aufgescheuchten Suchen, im sendungsbewussten Forschen und Fordern der jungen Menschen Gott Seinen Anspruch auf Welt, Zeit und Zukunft geltend macht?!
Sind wir also bereit, uns als Christen, die dem Vergessen der Offenbarung, dem Verleugnen des Gebotes Gottes und dem Verdunkeln Seiner Herrlichkeit nicht länger duldsam zusehen oder dabei wegsehen können, uns wachrütteln zu lassen von denen, die Ihn vernehmen?
Das ist nicht die Frage irgendeiner politischen Protest- oder Parteibewegung; es ist nicht die Frage eines gewöhnlichen Generationenkonfliktes oder eines bestimmten weltanschaulichen Lagers. Es ist die Frage, die zu jeder Zeit zwischen der Himmelfahrt des Herrn und der Veränderungs- und Erneuerungs-Mission Seines Heiligen Geistes an alle, die im Bund mit Gott und in der Nachfolge Jesu stehen, gerichtet wird:
- Seid Ihr bereit für Seine Kraft zur Ausrichtung der Umkehrbotschaft und für den Anbruch Seines Reiches?
- Seid Ihr bereit, die Welt nicht beim Alten zu lassen, sondern sie in die Zukunft des Kommenden führen zu lassen durch Seinen Geist, Der Kinder und Greise erfüllen will?
- Seid Ihr bereit, nicht mehr zu schlafen, sondern wach zu werden dafür, dass Seine kostbare Anrede wieder gilt und die Schauungen, die Er schickt, die perspektivlose Finsternis auf Erden endlich strahlend durchbrechen?
- Seid Ihr bereit, dass - wie es der Pfingstprophet Joel verheißt - nicht in irrationaler Dunkelheit, sondern im hellen Licht des Geistes eure Söhne und Töchter weissagen, eure Alten Träume haben und eure Jünglinge Gesichte sehen werden (vgl. Joel3,1) und dass keiner dann dem andern befiehlt „Träum weiter!“ oder „Schlaf endlich ein!“, sondern sie gemeinsam der Erfüllung des Verheißenen, der Verwirklichung ihrer Visionen dienen wollen?!
- Seid Ihr bereit, dass es in dieser dunklen, abnehmenden, drängenden Zeit Pfingsten wird und dass Erweckung kommt und Umkehr geschieht und nicht die Gewohnheit des alten Menschen, sondern das Wunder des von Gott erretteten und erneuerten Menschen die Welt prägt?
- Seid Ihr bereit, dass Gott ruft, auch zu hören und Ihm dann willig zu folgen, damit Ihr mit der gesamten Schöpfung frei werdet – so, wie wir’s eben sangen (vgl. EG 392)?!
- Seid Ihr bereit, ein Samuel zu werden, eine Maria von Nazareth, die dem rufenden Gottesgeist antworten (1.Sam.3,10 / Lk.1,38): „Rede, HERR, denn Dein Knecht hört! Ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie Du gesagt hast“?! ——
…………
Wenn wir dazu bereit sind, dann wird diese leere Zeit, diese Stillstandszeit, in der sich Geistausgießung und Erweckung oder das Verschlafen des letzten Rufes und dann das Ende ankündigen können, eine Zeit voller Segen und Sinn!
Wenn wir nur wie Eli damit rechnen, dass Gott die ruft, die nach uns kommen!
Wenn wir nur wie Eli die lebendige Berufung der nächsten Generation, ihre Berufung zum Leben erkennen und uns mit ihnen zum Hören und zum Heilen, zum Helfen und zum Hoffen bereithalten, dann werden sie keinesfalls die letzte Generation sein, sondern eine samuelische und marianische Generation der Wegbereitung für wirkliche Zukunft und neues Leben.
Und dann gilt, was in der Fortsetzung der Gottesrede an den hörenden Knaben Samuel im Zusammenhang einer Drohung gesagt wird, und was zum alles entscheidenden Inhalt wird, wenn wir es jetzt - vor Pfingsten - im Verheißungszusammenhang für die bedrohte Welt hören dürfen.
Gott spricht: „Ich will es anfangen und vollenden“ (1.Sam.3,12)!
Ja, Du Belebender und Vollendender, der Du - wie Samuels Mutter betete - zu den Toten hinabführt und wieder herauf (vgl. 1.Sam.2,6):
Du sendest aus Deinen Odem, so werden sie geschaffen,
und Du machst neu die Gestalt der Erde.
Komm, Heiliger Geist, erfüll die Herzen Deiner Gläubigen
und entzünde in ihnen das Feuer Deiner göttlichen Liebe![i]
Amen.
[i] Die alte, gesamtkirchliche Pfingst-Antiphon hier in der Fassung des Bayrischen EG 693.6.
Rogate, 14.05.2023, Stadtkirche, 1.Timotheus 2, 1 - 6, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Rogate - 14.V.2023
1.Timotheus 2, 1-6
Liebe Gemeinde!
Was Jesus gemeint hat, als er uns Salz nannte (vgl. Matth.5,13), wird immer deutlicher: Es soll nicht zu viele Christen geben. Eine Welt aus lauter Christen wäre sonst zwangsläufig versalzen! Die Streuung, nicht die Häufung macht die Wirkung aus. Und wenn’s auch nur eine Handvoll wäre: Ist sie gut und stark, dann durchdringt und verändert sie alles, was durchs Salz vorm Verderben und Vergehen bewahrt wird.
Darum – obwohl ich geschworen hatte, so oft wie möglich laut auszurufen, wie furchtbar eine Welt nach dem Verschwinden des Christentums sein würde! – muss ich heute sagen: Es kommt nicht auf die Christentums-Masse oder Christentums-Dichte an, sondern auf die Klarheit des Christentums. Christen, die wissen, was sie wollen und sollen, ändern alles.
Und darum gilt: Je seltener sie waren, je seltener sie werden, desto mehr liebe ich die Christen!
… Da sitzen sie am Anfang in irgendwelchen Löchern, unterhalb der römischen Kanalisation, geduckt zwischen den Grabfächern der Katakomben, eingebuchtet in Hausarrest oder bei peinlichen Verhören oder in der Verbannung. Der Mitarbeiter des Paulus, Clemens, der im Philipperbrief direkt vor dem berühmten „Freuet euch in dem Herrn allewege“ (Phil,4,4) genannt wird und der später als Bischof von Rom dritter Nachfolger des Petrus wurde[i], hat seine letzten Jahre der Überlieferung nach in einem Bergwerk auf der Krim verbracht[ii]. Dort und überall sonst, wo diese lächerlichen kleinen Radikalinskis der Liebe eines fremden Gottes und eines Gekreuzigten auftauchten, haben solche Witzfiguren der Geschichte sich eingebildet, ihre jüdischen und doch-nicht-jüdischen Beschwörungen und Gesänge lenkten das Reich!? Sie meinten tatsächlich, ihre versöhnlichen Gedanken und ihre unverbesserliche Hoffnungsdummheit spielten eine Rolle dabei, wie die Welt läuft?!
… So ein mit Zwangsarbeit und Hungerrationen gefolterter Apostelschüler und Gemeindehirte am Ende der Welt, am rauhen Fels des Schwarzen Meeres wie dieser Clemens von Rom wird an den Völkerapostel Paulus zurückgedacht und sich eingebildet haben, wenn er jetzt den Kaiser Trajan vor seinen Gott bringe, so wie Paulus und auch Petrus seinerzeit ihren Richter und Henker, den Kaiser Nero, dann werde das etwas an der Gewalt dieser Imperatoren und am Verlauf der Ereignisse für Heiden, Juden und Christen in der Antike beeinflussen!?
… Völlig machtlos, völlig entwürdigt, völlig übersehen und ohne jede Bedeutung haben diese restlos passiven Opfer der Geschichte sich dennoch eingebildet, sie nähmen aktiv daran teil: Dabei hing in Wirklichkeit doch alles von der Verdauung der Kaiser, den Intrigen ihres Senats, vom fiskalischen Eifer der Prokuratoren, von den militärischen Erfolgen des Heeres und von der Schwäche oder Korruption aller Barbaren ab. …
… Was ein altgewordener Paulusschüler Timotheus in Ephesus oder ein Grubensklave Clemens bei Sewastopol in ihrer Freizeit und ihren eucharistischen Feiern zwischen Schmerz und Sterben taten, machte da wahrhaftig nichts aus. …….
Nur dass diese verrückten, hartnäckig an der Weltgeschichte mitstrickenden Häftlinge und Judengenossen aller Länder und Lumpenproletarier im priesterlichen Dienst und Heiligen der Schlachthöfe allen Ernstes daran festhielten, sie - ausgerechnet sie: die Nebenfiguren einer religiösen Eintagsbewegung!?- seien so etwas wie der Thronrat des Himmels, das Kollegium des lieben oder des donnernden Gottes vom Zion, dem auf Golgatha seine Seifenblase doch eindeutig zerstochen worden war.
… Sie aber glaubten’s!
Sie spürten’s!
Sie wussten’s!
Da auf Golgatha und in seinem Schatten im Gartengrab war die Weltgeschichte – die Geschichte Judas und Roms, die Geschichte ganz Asiens, Afrikas und Europas, die Geschichte auch jener weiten und weiteren Erdteile, die niemand von ihnen jenseits der bekannten Meere auch nur ahnte – entschieden worden.
Kreuz und Auferweckung lautete die Entscheidung:
Wenn und was auch immer alles untergehen und sterben muss … Gott will, dass alle Menschen gerettet werden!
Dieser atemberaubende Satz, der alles sagt, was das Christentum zu sagen hat, findet sich in dieser schnörkellosen Beiläufigkeit tatsächlich im klarsten Klartext hier, im 1.Brief des das ganze römische Imperium durchwandernden Paulus, der bald ein Märtyrer der römischen Justiz werden wird, an die Nachwelt in Gestalt des jungen Timotheus.
… Ausgerechnet die Anfänge der Märtyrerkirche werden also zur Voraussetzung der universalen Botschaft der Christen!
… Ausgerechnet das, was die Apostel und ihre Nachfolger an Leiden durch das Weltreich erfahren mussten, machte sie zum Sprachrohr der Versöhnung der Menschheit!
… Weil sie vergingen, wurde in ihnen die Hoffnung für alle geweckt!
Das ist das Salz-Geheimnis unseres Glaubens: Gerade in seiner Auflösung setzt er sein grenzenloses Potential an Rettung frei! ——
Nun gibt das uns in aller Seelenruhe allmählich vor uns hin schwindenden Christen heute keinen Anlass, uns ohne Weiteres als die Fortsetzung der weltbejahenden und welterhaltenden, blutig Verfolgten von damals zu betrachten. Aber umgekehrt – auch wenn unsre schlimmsten Feinde der eigene Kleinmut, die selbstbetriebene Unkenntlichmachung und die ölige Idee von der maßgeschneidert subjektiven Zivilreligion für alle sind – … umgekehrt also haben wir nicht das Recht, auch nur ein Fünkchen weniger für die gesamte Menschheit zu hoffen, für die Geschichte zu bangen und zu beten und uns als Fürsprecher und Anwälte für alle berufen zu fühlen als die alte Kirche einst.
Unser Glaube nämlich – ein Glaube, der von der ersten Stunde des Hirtenfelds und Engelsliedes an den Menschen allen ein Wohlgefallen zusagt – … unser Glaube ist Einbindung ins ganz Große!
Unser Glaube atmet das „Siehe, es ist sehr gut!“ aus, das überm gesamten geschaffenen Kosmos strahlt; unser Glaube atmet den Schmerz ein, den die Absonderung der Menschen von Ihm Gott in Eden und überall zufügt; unser Glaube hat den langen Atem der ewigen Geduld und Vergebungsbereitschaft des mit Israel verbündeten Gottes, Der die Väter begleitet, die Könige geleitet, die Propheten bereitet und die Strafe des Exils geteilt hat; unser Glaube stößt die Seufzer und die Lockrufe Gottes aus, Der Sich einfach mit keinem Verlorenen zufrieden geben kann, sondern wirkt und wartet und wartet und wirkt, bis schließlich und endlich alle Seine Söhne und Töchter heimkehren zu Ihm.
Diese Einbindung in die göttliche Liebe und Sorge, dieses Einbezogen-Werden in die göttlichen Hoffnungs- und Erwartungshorizonte für die Welt ist die politische, die öffentliche, gesellschaftliche und soziale Mission der Kirche.
… So weit, so einvernehmlich in weiten Kreisen des Protestantismus, der sich den Weltgestaltungs- und Einmischungsauftrag, der sich seine ethische Verpflichtung aufs Gemeinwohl und seine Partizipation an der öffentlichen Verantwortung in partisanenhaftem Eifer auf die Fahnen geschrieben hat.
Doch verblasst ist dabei, dass die ursprüngliche und ureigene Gestalt der parteiischen Mitwirkung der Kirche an der Verwandlung und Erlösung der Welt nach Gottes Gebot und Verheißung durch … das Gebet geschehen soll!
… Durch das Gebet, das gerade kein Instrument der menschlichen und darum begrenzten und ausschnitthaften Weisheit ist, sondern ein Einreihen und Einstimmen, ja, ein Unterordnen und Aufgehen in der Weisheit und im Willen Gottes!
Wo statt des Gebetes die Meinung der Christen zum Mittel und Maßstab erhoben wird - wir erleben es andauernd -, da herrscht zwangsläufig das, was man den „Partikularismus“, das Regime der Teilchen, die Politik der Gruppen, die Selbstbehauptung von einzelnen Untergliederungen des großen Ganzen nennen muss.
Unsere Einsichten und Überzeugungen weichen selbstverständlich ja nun einmal voneinander ab: Ehrlichen Herzens hoffen und betreiben die einen Dieses, die anderen Jenes für das höhere Gute. … Und bösen, trotzigen Herzens stoßen sich die Bestrebungen der Menschheit erst recht hart im Raum. …….
Wenn wir es also allein auf unsere Pläne und Ziele gründen, wird das Projekt dieser Welt immer aus Kooperation und Kompromiss, Kompromiss und Konflikt, Konflikt und Krieg, Krieg und Kompromiss, Kompromiss und Kooperation und Konflikt bestehen. …
Wenn aber nun einmal ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen ist, dann bedeutet diese erste und letzte Einheit, dass trotz aller notwendigen und wirklichen Unterschiede die Menschheit tatsächlich in einem Umfassenden wurzelt und von dem Einenden umfasst werden wird.
Diese ursprüngliche und endgültige Verbundenheit, von der die verfolgten Christen im Angesicht ihrer Quäler durchdrungen waren und die die gespaltene Kirche auch heute noch trotz ihrer Teilung bezeugen muss und die der gegenwärtigen Feier des Pluralismus nicht entgegensteht, sondern den Raum der Versöhnung eröffnet, … diese ursprüngliche und endgültige Verbundenheit ereignet sich vorweg in der Gestalt des Gebetes, … des Gebetes, wie es Christus und seine Apostel lehren und üben.
Es ist Gebet für die Feinde … das ungeheuerliche, große „VATER, VERGIB IHNEN!“ (vgl. Lk.23,34)
Es ist Gebet für die, die auf der Gegenseite stehen und vertreten, was wir selber verneinen, und behaupten, was wir unsererseits bestreiten, und hoffen, was wir fürchten, und hassen, was wir lieben und wollen, was wir verhindern müssen, und verlangen, was wir verabscheuen.
Dieses Gebet der Christen, die nicht ihre Vorstellungen und Wünsche für sich formulieren, sondern die buchstäblich „außer sich“ beten, deren Bitten und Hoffnung buchstäblich das „Jenseits“ betreffen - das, was nicht vom eigenen Horizont abgegrenzt wird -, … dieses Gebet der Christen ist tatsächlich die vollständige Teilnahme an Gottes grenzenlosem und allumfassendem, an Gottes überweltlichem und versöhnendem Handeln: Weil es sich nicht beschränken, nicht vereinnahmen oder festlegen lässt: Christen sollen nicht um ihre Sache, nicht nach ihrem Gutdünken, nicht gemäß dem eigenen Standpunkt beten.
Ihr Gebet wird darum letztlich nichts anderes sein wollen, als alle und alles, überall und immer nur vor Gott zu bringen und Seinem Willen, Seiner Gerechtigkeit, Seiner Barmherzigkeit anheimzustellen. Es wird immer zuerst und am weitesten und offensten lauten: „GEHEILIGT WERDE DEIN NAME! DEIN REICH KOMME! DEIN WILLE GESCHEHE!“
Das ist der Grund und Ursprung des uns so devot, so befremdlich staatsfromm anmutenden Gebets für die Obrigkeit, zu dem Paulus, der baldige Blutzeuge Timotheus und die nachrückende Generation auffordert: … Nicht, weil das Christentum sich als Stütze der Gewalten, als Erfüllungsgehilfe aller Mächtigen, als Speichellecker der Fürsten, der Zaren, der Juntas und der Diktatoren oder heute als Schleppenträger des Zeitgeistes anbietet. … Das alles hat es viel zu oft schon getan und tut es in seiner widerlichsten, seelenmörderischsten Form noch immer in Gestalt des perversen russischen Patriarchen und Klerus.
… Aber das ist der billige Fusel aller Religion, ja überhaupt aller Weltanschauung: Sich zu berauschen am süßen Gesöff von Macht, von Protektion, Erfolg, Sieg …
Das Salz-Geheimnis dagegen hat gerade die umgekehrte Wirkung: Scharf und ernüchternd ist es, wenn wir begreifen, dass wir nicht beten, um uns zu verbünden mit denen, die uns groß machen, sondern dass wir Bitten, Gebet, Fürbitte, …. ja, sogar Danksagung einsetzen und hingeben auch für die, die alles auflösen, was uns am Herzen liegt.
Darum wissen wir – gerade im Bund mit dem Gott, Der will, dass allen Menschen geholfen werde – wirklich nicht, was wir persönlich bitten sollen (vgl. Rö.8,26).
Das Salz-Geheimnis liegt ja im Gebet des Paulus und des Timotheus für Nero.
Es findet sich Gebet des Clemens in der Verbannung für Trajan, der ihn vernichten ließ.
Es durchzieht das Gebet der Märtyrer und der kleinen, armen, ohnmächtigen Leute, die zu Zeiten der Tyrannen oder der Gnadenlosen oder der völlig Desinteressierten oder der ungebremst Sadistischen nicht aufhören konnten, sich an Gott zu wenden und Ihm alles anzuver-trauen … nicht nach ihrem Dafürhalten und Haben-Wollen, sondern im Vertrauen darauf, dass Gott weiter weiß und sieht und reicht und schlichtet und richtet und rettet, als unsere Vorstellungen je gehen könnten, und dass darum alle Welt- ob Freund, ob Feind! - vor Ihn gebracht werden muss.
Wenn - so wie auf Golgatha oder beim Martyrium des Stephanus (vgl. Apg.7,60) - die Opfer also für die Täter beten, … und wenn wir uns vergegenwärtigen, wie unendlich viele Vergessene und Vernachlässigte gebetet haben und beten „VERGIB UNS UNSERE SCHULD, WIE AUCH WIR VERGEBEN UNSERN SCHULDIGERN“, … und wenn wir die Ratlosigkeit und auch die Wortlosigkeit empfinden, die unser Beten heute verhüllen (…sollen wir beten, dass eine gigantische Entscheidungsschlacht den Krieg gegen die Ukraine beendet? … sollen wir beten, dass diese oder jene Politik und Partei sich hier oder dort durchsetzt? … sollen wir den Sturz Erdoǧans und Netanjahus erflehen? … und welchen konkreten Ausgang wollen wir - abgesehen von Waffenstillstand - für das Metzeln im Jemen und Sudan wünschen? … und wem gilt unsere Fürbitte für die Verantwortlichen in China? … und wie sieht unser Gebet für Taiwan aus? … und welche Dreistigkeit oder Genauigkeit, welche Vorgaben oder fixe Ideen enthalten unsere Gebete für unsere Kinder, unsere Pläne, unsere Anliegen?) … wenn wir also die Beunruhigung und das Zerrissene spüren, die in der Welt aufbrechen und die uns zum Beten bringen, dann merken wir tatsächlich, dass ein ruhiges und stilles Leben nur möglich sein kann, wenn nicht wir alles vorentscheiden, festlegen, beeinflussen und mit unserem Senf garnieren, sondern es schlicht Gott anheimstellen: Alle Menschen, die Könige, alle Obrigkeit, alle Ordnung und Unordnung, alles Widrige und Erschreckende, alles Ungelöste und Unauflösbare.
Wir können es alles vor Gott bringen. Oft nur so, wie eine Pfarrerin am Ende ihres Lebens es mir vergangene Woche sagte: Ich habe keine Worte mehr und ich weiß kaum noch Namen. Aber mir begegnen die Gesichter und das ist mein Gebet.
Das ist unser Gebet: Die Welt, so wie sie da liegt oder da tobt, so wie sie sich auftürmt, wie sie zu verschwinden droht, wie sie sich ausbreitet, vor Gott bringen.
Für diese ganze Welt hat Christus sich selbst zur Erlösung gegeben.
Und an dieser Erlösung der Welt, an dieser Herrschaft Gottes über sie und für sie nehmen wir teil, indem wir ohne Anmaßung, ohne Täuschung - als die, die nicht wissen, was sie beten sollen - auf sie alle weisen und sagen:
„Sie sind die Deinen, Vater! Lass deinen Willen an ihnen, an allen geschehen. Und lass uns alle endlich diese Ruhe, diese Stille erfahren, die im Leben aus Dir, mit Dir und bei Dir besteht!“
Amen.
[i] Theodor Fliedner rühmt in seinem „Kurzen evangelischen Märtyrer-Buch für alle Tage des Jahres“ (2.Theil, Kaiserswerth am Rhein, o.J. [wohl: 1864 – vgl. Vorwort zu Theil 1], S. 1159 -1161) die „Glaubensfrische und Liebesinnigkeit“ des „gotterleuchteten“ frühchristlichen Theologen und Briefeschreibers, dessen Epistel an die Korinther aus den 90er Jahren des 1.Jahrhunderts n. Chr. zu den ältesten Quellen der Dogmatik und Ämterstruktur der Kirche gehört. In seiner typischerweise etwas hölzernen Diktion sagt Fliedner von diesem Korinther-Brief des Clemens Romanus, er „athmet Himmlischgesinntheit“ (aaO, S.1161).
[ii] Die Überlieferung von Clemens‘ Martytrium auf der Krim ist nicht zeitgenössisch, aber dennoch alt.
Jubilate, 30.04.2023, Stadtkirche, Johannes 16,16 - 23a, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Jubilate – 30.IV.2023
Johannes 16, 16 - 23a
Liebe Gemeinde!
Wenn das ein Text für „Jubilate!“ – den großen Sonntag des Oster-Jauchzens ist –, dann will man sich einen Text für den gar nicht bekannten Sonntag „Plorate!“ / „Heult doch!“ wohl lieber nicht vorstellen …….
Andererseits ist allein die Nüchternheit schon wieder wunderbar, mit der unsere Tradition das an sich so entlastende Jubeln nicht aus der Wirklichkeit der Welt heraushält, sondern auch den auferstehungsfröhlichen Gemeinden Fragen, Missverständnisse, Geduld und Anspannung zumutet: Jubelt, ihr Lieben, … jubelt, lasst hören, wie glücklich die Taten Gottes machen und wie sie Kräfte der Hoffnung freisetzen, aber vergesst nicht, dass es immer noch ein besonderer Tag - und kein Alltag! - ist, wenn der Glaube einmal nur nach Herzenslust tiriliert, und dass es daneben und mittendarin noch ganz viel Seufzen und Maulen, ganz viele Tränen und Lügen, ganz markerschütternde Urschreie und das ganz nervtötende Geratter der Ernte- und der Kriegsmaschinen gibt, die die Bäckereien und die Krematorien der Erde im Gebrauch halten. Jubelt, ja!, aber nicht so, als wolltet ihr die Weltgeräusche übertönen! Noch geht es auch um die Lasten und die Laster des irdischen Lebens. Noch sind auch an „Jubilate“ die Untertöne des Leidens und der Trauer nicht verstummt.
Und darum ist es seit Langem regelmäßiger Brauch, dass schon in der Osterzeit wieder die Abschiedsreden Jesu, seine leise und intime Meditation der Trennungen und Trübsal und des Trostes aufgeschlagen werden.
Ostern bringt uns nämlich nicht die Täuschung, dass es das Schwere und die Schmerzen gar nicht mehr gäbe, … sondern Ostern bringt uns den Trost, dass sie überwunden werden – so wahr Jesus lebt! ———
Doch für den Augenblick verlassen wir den Jerusalemer Saal des Letzten Abendmahles, wo Jesus sich losreißt von denen, die ihn fest in ihrem Horizont verankert glaubten und sich nicht vorstellen konnten, sein Weg werde anders, … erstaunlicher, … paradoxer, … erschütternder weitergehen als so ein menschlicher Erfolgsgedanke nun einmal aussieht. Für einen Augenblick – für jene „kleine Weile“, von der Jesus hier wiederholt redet und die uns in diesem Jahr schon einmal, am fröhlichen Passionssonntag „Lætare“ begegnete – … für einen Augenblick also verlassen wir die Abschiedsszene und gehen …. ja, wohin?
– Wir gehen in ein weites Feld, das wir nur selten erforschen. Dabei ist dieses unbekannte - in Wahrheit aber völlig vertraute Gebiet - der größte Teil und Raum des Lebens Jesu: Es sind die Zeiten und die Kleinigkeiten, von denen die Evangelien schweigen.
Bei bekannten und hörbaren englischen Liedermachern und Kirchenmusikern ist in den letzten Jahren ein vermehrtes Gespür für das, was sie „the unsung Jesus“ nennen[i], erwacht … ein Gefühl dafür, dass alles das an seinem Menschenalltag, was wir nicht erfahren und worüber wir folglich auch nicht nachdenken oder singen, uns Jesus gerade nahebringen würde, ihn in unserer Wirklichkeit, der er entschwindet, wieder gegenwärtig werden ließe.
… Und bei aller Zurückhaltung gegen allzu lebhafte Phantasie und allzu freihändige Legendenbildung ist doch nicht zu übersehen, dass unser Bekenntnis zur Menschwerdung Gottes diese übersehenen, unspektakulären, gewöhnlichen und bescheidenen Seiten des realen Jesus, des konkreten Jesus, des stinknormalen Jesus in der Provinz und im Trott des Mitmachens, Durchkommens und Überlebens der Menschheit auch als Momente der Wahrheit umschließt. Dass Jesus an den selbstverständlichen und doch so existentiellen Vollzügen eines leiblichen Geschöpfes teilhatte, … dass er wuchs, sich entwickelte, sich ernähren und erholen musste, … dass er sich ausprobieren und auskurieren musste wie wir, … dass er Humor und sein Frühstück mit Menschen teilte, … dass er fror, staunte, überreagierte, sich langweilte, sich wiederholte, sich zuweilen versteckte und dann wieder gar nicht abzulenken war, wenn etwas seine Neugier fesselte … alles das muss man sich schon denken können, wenn man nicht plappern, sondern glauben und anbeten will, was das heißt (Joh1.14): „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns!“
Doch ich will jetzt gar nicht einfach drauf los solche Sittengemälde entwerfen und über alles Mögliche spekulieren, sondern mit dem Verdruss der verständnislosen Jünger bei Jesu rätselhaften Abschiedsreden im Ohr nur ein dort überraschend anklingendes Thema erwägen: Wann und wie erlebte der, von dessen Zeugung wir Einzigartiges, von dessen Geburt wir dagegen nur Gewöhnliches erfahren, dieses Urdatum des Lebens, diesen tatsächlich eigentlich nur mit dem Tod zu vergleichenden Grenzdurchbruch?
Es wird in der beengten Armut seiner ägyptischen Flüchtlingslager-Kindheit gewesen sein, wo niemand etwas verbergen und nichts von einem Menschen allein erfahren werden kann. Was unseren klinisch entfremdeten Zeiten - und man muss in vielen Fällen sagen: zum Glück der Betroffenen! - völlig unvorstellbar wäre, war in der Vergangenheit die selbstverständlichste, allgegenwärtigste Konfrontation der Öffentlichkeit mit dem Privatesten, der Kleinen mit dem Großen, der Menschheit mit den Mächten, denen sie sich verdankt und ausgeliefert bleibt: Liebe, Geburt, Lust, Gewalt, Lebendigsein und Sterbenmüssen trugen sich meist vor aller Augen, mindestens aber vor aller Ohren zu.
Es bedarf also keiner in irgendeiner Weise aufdringlichen, anrüchigen Phantasie, um sich zu vergewissern, dass der kleine Junge, der in Bethlehem gerade eben so einem Massaker entkommen war, schon in seiner unbewussten Kindheit erfuhr, wie das Leben beginnt: Durch die Kraft und den Schmerz einer gebärenden Frau, durch die haarsträubende und zugleich heilige Leidensbereitschaft, durch die das eine Leben einem anderen den Weg eröffnet.
In Nazareth wird es nicht anders gewesen sein, als er heranwuchs und dann so lange sein einfaches Handwerk übte: Die Wehmütter, wie sie von Haus zu Haus eilten; der lebensnotwendige Zusammenhalt unter älteren und jüngeren Nachbarinnen und Verwandten; das noch in der Zimmermannswerkstatt unüberhörbar sich emporschraubende Stöhnen und Jammern einer Niederkunft irgendwo im Ort … und dann entweder das alle Welt immer aufs Neue elektrisierende Geschrei eines Neugeborenen oder die schrille Totenklage, die so häufig nach den Torturen einer Geburt anzustimmen war.
Jesus wird mit alle dem ganz natürlich vertraut gewesen sein.
Wenn wir aber das kirchliche Bekenntnis durchdenken, das in ihm nicht nur den Menschen, dem nichts Menschliches fremd sein konnte, sondern den inkarnierten Logos verehrt, … das eingemenschte Schöpfungswort, … die Weisheit Gottes, von der die Lesung sprach (Sprüche Salomos 8, 22-36), die sich freiwillig unter die Menschen eingereiht hat, um ihnen Willen und Wirklichkeit Gottes unmittelbar nahe zu bringen, … wenn wir in Jesus, der als Mann in Nazareth zumindest indirekt bezeugen konnte, was eine Geburt bedeutet, auch Den erkennen, Der die Menschen als Mann und Frau erschuf und sie segnete, dass sie fruchtbar würden und sich vermehrten, dann erkennen wir vielleicht allmählich einen tiefen Zusammenhang: Die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes macht auch an dieser Stelle Ernst!
… Die spätestens seit dem Verlust der Unschuld schwere Last des Lebenschenkens (vgl. 1.Mose 3,16) sollte kein nur den Frauen auferlegtes und auch kein rein menschliches Schicksal bleiben, sondern die unlösbare Verbindung zwischen dem Herrlichsten - dem Leben! - und dem Härtesten - dem Leiden! - hat Jesus wie alles Unsrige zu seiner Sache gemacht.
Sein Leiden, das uns das Leben eröffnet, ist also sein Eintauchen in die weltweite Erfahrung der werdenden Mütter. Die Stadien seiner Passion sind buchstäblich seine Wehen. Und in der überwältigenden Grenzerfahrung des Todes bereitet sich jene ungeheure Sprengung der Grenzen vor, die in der Auferweckung das vorläufige Wunder jeder menschlichen Geburt endgültig vollendet. —
Das ist ohne Zweifel eine ungewohnte Sicht auf beides: Das innerweltlich so landläufige Geschehen des Geborenwerdens ebenso wie das einzigartige, Zeit und Raum übersteigende Wunder der Auferweckung. Und doch ist es der Grund, weshalb es ein Jubilate-Ansatz ist, das Weinen und Klagen und die Traurigkeit nicht zu übertönen, nicht auszublenden. ——
Damit aber sind wir wieder zurück im Obergemach, wo sie das Abendmahl hielten und wo Jesu Todeswehen anfingen: Was kommt, wissen und verstehen die Jünger nicht.
Was kommt, wissen und verstehen auch wir heute nicht.
… Was auf uns zukommt. Was auf die Welt zukommt. …
Bis vor wenigen Jahren lief es wie geschmiert … außer, dass es schon lange giftig und gefährlich und lebensbedrohlich war, wie unser Dasein lief, … aber wir konnten, nein: wir wollten es übersehen.
Und nun ist es nicht mehr zu übersehen.
Nun hört man überall Abschiedsreden. Die Welt, die wir kannten, … die Sicherheit, die wir zu haben meinten, … die Schmetterlinge und Vögel, … die Jahreszeiten und alle Wahrscheinlichkeiten, auf die man setzen konnte, … die Rechte und die Zukunft, die wir beanspruchten: Sie alle sind dahin. Die Unschuld ist verloren, weil wir es wieder einmal nur für uns machen wollten: Nicht der Schöpfer, nicht der andere Teil der Menschheit, nicht die Kreatur sollte uns aufhalten. Wir selbst wollten die Gewissheit des Guten wie des Bösen besitzen. ….. Nur dass nicht alles gut war, was wir dafür hielten, und dass wir unser Bewusstsein für das Böse - unser Gewissen - völlig unterdrückt haben.
Und so fangen tatsächlich die Wehen an: Die ganze Schöpfung stöhnt in ängstlichem Harren (vgl. Rö.8,19). Eine Zeit ist gekommen, die manchen viel zu unaufhaltsam auszugehen scheint, so dass sie sich zu den letzten Menschen erklären und die morgigen Menschen damit auch nur enterben, … eine Zeit, die andern gar nicht verkürzt genug sein kann, weil sie das aufgestaute Riesen-Potential an Katastrophen so sorgenvoll betrachten. Eine Zeit, die so oder so einem kleinen Augenblick verglichen werden muss – eine letzte Chance?, eine total unmittelbare Gefahr? – … ein kleiner Augenblick jedenfalls, der seltsam surreal, seltsam gebannt, seltsam unbewegt über uns schwebt und in uns stockt.
Wir wissen nicht, was das bedeutet: … Vergeht bald alles in unwiderruflichem Abschied? … Oder kehrt nicht endlich alles wieder zurück in seine uns noch so unverrückbar anmutenden, aber inzwischen erschütterten Fugen und Formen?
In welchem Augenblick der Weltgeschichte stehen wir denn? Was bringt die Stunde, die kommt? …….
Wenn wir Jesus vertrauen, dann hören wir heute eine erste Antwort auf diese Frage: Eure Beunruhigung, eure Verunsicherung, eure Traurigkeit ist richtiger und notwendiger, als die an den Fragen und Sorgen und Schmerzen unbeteiligte Fröhlichkeit, die es auch in der Welt gibt.
Wenn ihr die Gefahr, in der alles schwebt, spürt, … wenn ihr jetzt traurig seid, weil das, was sich auflöst und was noch kritischer werden wird, euch umtreibt, … dann habt ihr es heute gewiss schwerer als die, die sich immer noch gedankenlos freuen, als läge kein Abschied in der Luft, als feiere „Jubilate“ einfach nur den Leichtsinn.
Doch wir hören auch noch eine zweite Antwort auf die unsichere und unruhige Frage unseres Herzens, was der Augenblick bedeute. Die zweite Antwort ist die Antwort, die nur Der uns geben kann, Der sich freiwillig und also auch schutzlos, dabei aber doch in der Vollmacht des Schöpfers und also nicht hoffnungslos in alle, wirklich alle Gefahren des Menschseins begab.
Diese Antwort ist es, die die beklemmenden Schmerzen von heute – die nicht unsere ganz persönlichen sein müssen, sondern die Schmerzen der gesamten Menschheit und Kreatur einschließen … – in einen völlig neuen Horizont rückt.
„In welcher Lage sind wir? Was wird von diesem Augenblick bleiben, … was würde der nächste Augenblick bringen, wenn er je käme?“
Jesus antwortet darauf: „Nach der Geburt sehen wir uns wieder.“ ——
Dieses unvorstellbare Versprechen eines Wiedersehens nach der Geburt im Angesicht der Not und Trübsal des gegenwärtigen großen Abschieds ist ein einzigartiges Geschenk Jesu, des menschgewordenen Gotteswortes in der Schöpfung wie in der Kreuzigung, … in der Natur wie in der Passion: Das Geschenk, dass Leiden sich in Leben verwandelt!
Es lag immer schon am Ziel jeder Schwangerschaft, auch wenn es nicht immer erreicht wurde.
Nun aber, durch den Tod und die Auferweckung Jesu Christi ist es zum Ziel aller Erfahrungen, zum Ziel sämtlicher Traurigkeiten und Schmerzen, zum Ziel jedes Lebens gemacht worden: „Wir sehen uns wieder nach der Geburt!“
Denn es ist seit der Menschwerdung Gottes, die in Seiner eigenen Leidensgeschichte zur Neugeburt der Menschheit führen sollte, alles, was Zeit und Leid und auf jeder andere Weise Geschichte ist, als Geburtsvorgang offenbar geworden.
Der Apostel Paulus sagt darum ganz ausdrücklich von den Leiden dieser Zeit, dass die ganze Schöpfung bis zu dem kommenden Augenblick seufzt und in den Wehen liegt (vgl.Rö.8,19+22).
Die Wirklichkeit, die wir erfahren, die Zeit, die uns bleibt, das Elend, dem wir so viele und so vieles ausgeliefert sehen, ist also - wenn wir uns an Jesu Antworten halten - kein Grund zur Verzweiflung, sondern zum Durchhalten: Die Welt, die Menschheit drängt in allen diesen Nöten einem österlichen Geburtsmoment entgegen, von dem Jesus noch vor seiner Passion so einfach und zum Jubeln schön gesagt hat:
„Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist.“
Es ist das Werden, es ist das Auferstehen, es ist das neue Leben, das die Dinge jetzt so eng und drangvoll macht.
Wie bei jeder Geburt wissen wir nicht, wie lange, wie dramatisch, wie gefährlich es noch werden mag. Aber bei dieser Geburt der neuen Kreatur ist das eine Versprechen, das Versprechen Christi gewiss: „Ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und Eure Freude soll niemand von euch nehmen.“
– Und darum: „Jubilate!“
Amen.
[i] Der bedeutende Liedermacher aus dem Worship-Bereich, Graham Kendrick, hat den Begriff programmatisch geprägt (vgl.: https://www.google.com/search?q=the+unsung+jesus&rlz=1C1GCEA_enDE866DE866&oq=the+unsung+jesus&aqs=chrome..69i57j69i60.5190j0j15&sourceid=chrome&ie=UTF-8#fpstate=ive&vld=cid:f6e350a2,vid:hksKWyQ-Jhg), aber er begegnet ebenso bei John Bell, der inspirierende zeitgenössische liturgische und Liedkompositionen schafft (vgl. dazu: https://network.crcna.org/topic/worship/general-worship/unsung-jesus).
Miserikordias Domini, 23.04.2023, 1. Petrus 5, 1 - 4, Stadtkirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Miserkordias Domini - 23.IV.2023
1.Petrus 5, 1 - 4
Liebe Gemeinde!
Eigentlich bin ich hin- und hergerissen von solchen Abschnitten der neutestamentlichen Episteln, in denen Fragen der Gemeindeordnung und Ämterstruktur, in denen Fragen der Verfassung und Leitung der Kirche in apostolischer und nachapostolischer Zeit behandelt werden. …
Sind derartige Erörterungen der eigenen Gestalt nicht bloß Beispiele für das, was uns kollektiv verdirbt: Die dauerhafte Selbstbeschäftigung? Überall - vom Einzelnen bis zu den großen staatlichen Gemeinschaften - scheint der wichtigste Gegenstand ja immer nur im Hervorheben der eigenen Bedürfnisse und eigenen Bedeutung und im Verbreiten des eigenen Bildes zu bestehen! Außer „mir“ - allenfalls „uns“ - gibt es nichts entfernt vergleichbar Wichtiges.
Ob Minderheit oder Weltmacht: Immer fixiert man sich auf … sich.
Wenn dann auch noch die Kirche Nabelschau betreibt, wenn sie meditiert und theologisiert, was sie selber darstellt, … ist dann nicht ihre ekelerregende Überflüssigkeit bewiesen: Ein System, das um sich selber kreist; ein Konstrukt, dem es um Selbsterhalt geht; eine geschlossene Gesellschaft, die sich selbst in Verliebtheit und Verteidigung mehr als genügt? …….
Dass diese perverse Gestalt der Autonomie – „Mein Daseinsgrund und mein Gesetz bin ich allein“ – auch in kirchlicher Fassung existiert, skandalöse Schlagzeilen macht und eine anti-kirchliche Reaktion hervorgerufen hat, die die katholische wie evangelische Landschaft in eine gigantische Gletscherschmelze verwandelt, lässt sich nicht leugnen.
… Doch gerade die schonungslose Infragestellung des Daseins der Kirche zwingt sie nun einmal, nach sich selber zu fragen: Wenn die Austrittswelle, … wenn die weitgehend schmerzlose Auflösung der Verbundenheit mit dem Glauben und der Verwurzelung in ihm, … wenn die vielen, zu Recht zornigen Brüche mit einer unbelehrbar missbräuchlich scheinenden katholischen Hierarchie, … wenn die beflissene Anpassung der evangelischen Kirche an den a-religiösen, zeitgeistigen Mainstream, den sie wie hypnotisiert fördert und der sie jetzt schon davonspült, … wenn sich diese Entwicklungen weiterhin fortsetzen sollten, dann wird es in allzu naher Zukunft nichts mehr geben, wonach man fragen müsste, wenn man von der „Kirche“ hört.
… Diese „Zeitenwende“ aber, dieser Wandel in Klima- und Kulturgeschichte der Menschheit, wäre ein Abbruch, den man sich nicht vorstellen mag. Und darum ist es – bei allem Vorbehalt gegen die Selbstbespiegelung, bei allem Befremden, das Fragen nach dem Amtsverständnis und der Funktion kirchlicher Autorität bei uns auslösen – nötig und heilsam, dass der heutige Hirtensonntag uns diese Gegenstände nicht erspart!
Solange es eine Kirche geben wird und soll, solange wird man in ihr nicht nur auf spontane Erleuchtungen, charismatische Verkündigung und unmittelbare innere Bewegungen zu achten haben, sondern auch auf den gegebenen und bleibenden Dienst, durch den die Gegenwart des Auferweckten und die Gaben des Geistes äußerlich gefasst und gesammelt werden, um nicht einfach zu verwehen und sich zu verlieren.
Fassung und Sammlung sind also die Funktion, die die Kirche erfüllen muss: Zusammenhalt und Verbindung.
Dass das die Aufgabe des Kelches ist und nicht sein Inhalt, … dass es die Rolle des Rahmens oder der Bühne samt Vorhang ist und nicht das Bild oder das Stück selber, … das ist deutlich.
Die Kirche ist nicht das Licht, sondern sein Docht; sie ist nicht das Feuer, sondern der Kamin; sie ist nicht die Helligkeit, sondern die Öffnung in der Wand, durch das diese dringt.
Docht und Herd und Fenster an sich sind sinnlos, wenn nicht an ihnen, in ihnen und durch sie ein Anderes seine Wirkung entfaltet. … Und doch sind sie unverzichtbar, wenn es nicht dunkel und kalt und der Mensch kein Geschöpf der Finsternis sein soll.
Nun hat Jesus uns allerdings gewarnt (Joh.9,4): „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.“
Darum sage ich wieder, was ich letzte Woche schon sagte und vielleicht vor allem anderen immer weiter sagen werde, so lange wir noch die Kirche haben: „Eine Welt und ein Leben, die nicht durch den Glauben an Jesus Christus erleuchtet wären, … eine Gesellschaft, einen Alltag, in denen Seine Liebe nicht gegenwärtig und Sein Reich nicht unsere Hoffnung wäre, … das kann und das will ich mir nicht vorstellen! Es wäre zum Fürchten. Es wäre die Hölle.“
Ich sage das nicht aus Schwarzseherei.
… Im Gegenteil. … Wegen der Hellsichtigkeit, wegen des Glanzes, die da strömen, wo Jesus Christus unter uns wahr- und ernstgenommen und angebetet wird und durch unsern Dienst auch Andere das rettende, verwandelnde und lebenspendende Licht erfahren können, das in Ihm strahlt.
Dieses Auffangen und Weiterleiten des Lichtes, dieses Fassen und Sammeln, Zusammenhalten und Verbinden ist das Wesen der Kirche. Es sind Funktionen des Hütens, des Behütens und Beschirmens: Von Strahlen, die verbunden stärker wirken als zerstreut, … von Lebewesen, die gemeinsam sicherer sind als versprengt, … von Menschen, die gesammelt mehr teilen können als in ihrer Vereinzelung.
Die Kirche sammelt und hütet das Licht und die Lebenden. Darin hat sie ihr Amt, darin gründen ihre Ämter. ——
Hatten wir zunächst also den Verdacht, dass Selbstreflektion oder Meditation der Ämter der christlichen Gemeinschaft reine Selbstbespiegelung darstellt, müssen wir hier nun das Gegenteil erkennen: Wenn der Zweck der Glaubensgemeinschaft, die Jesus gegründet hat, ist, das Licht zu anderen zu lenken, dann dient alle sachgemäße Reflektion, alles sinnvolle Spiegeln in der Kirche nur diesem Weiterleiten, dieser Lichtführung zu denen, die sich in den eigenen Schatten vergraben oder die die Dunkelheit von Schuld und Unrecht blind gemacht hat.
Wo sie nicht so leitet, verliert die Kirche ihren Auftrag.
Wo sie in sich verharrt und um sich selber kreist, ist sie ein Mond geworden, den keine Sonne mehr erleuchten wird, weil er sich aus der vorgegebenen Bahn um den großen anderen Körper - die Erde, die Menschheit - herum gelöst hat und also nicht mehr zum Abglanz des wahren Lichtes für alle dienen kann.
Leiterin und Lenkerin für das Licht von Gott und die Lichtsuchenden der Erde muss sie sein. … Darüber hinaus, rein an sich ist sie nichts. Bedeutungslos. Überflüssig. Man soll die Kirche vergessen und verlassen, wenn sie nicht mehr Menschen zu Gott versammelt und umgekehrt das, was von Gott kommt, nicht mehr zu den Menschen fließen lässt. ——
Wenn jemand also ein Amt in der Kirche hat, wenn Du in ihr Kräfte, Zeit und Gaben einsetzt, dann gibt es eine ganz schlichte Theologie der mit den Aposteln begonnenen Dienstordnung: Wer sich dabei dient, dient nicht! Was an unserm Tun aber anderen gilt, das gilt!
Das klingt natürlich doppelt ungewohnt in unseren Ohren: Man soll das finden, was einem selber guttut, heißt es all-, überall. Und deshalb darf’s nicht darum gehen, den Maßstab seiner Zufriedenheit bei anderen zu suchen, sondern ganz allein und ausschließlich bei sich.
Darum muss aber die in der Kirche gültige Verdrehung unserer geläufigen Vorstellungen von Selbstfindung, Selbstverwirklichung und Selbstbestätigung auch als ebenso klare Warnung verstanden werden, wie sie eine schlichte Theologie begründet. Die Warnung lautet: Wer bei sich selbst anfangen will, wird mit der Kirche nichts wirklich anfangen können. Wer sich selbst sucht, kann sich hier nicht finden.
… Er möge drum nicht traurig sein. Die womöglich spannende Reise in eine Welt, die sich ganz um dich als ihren Mittelpunkt herum kristallisiert, bieten viele an. Die womöglich ziellose Fahrt in das verheißene Land, das Du selber bist, wird heute fast an jeder Straßenecke beworben. Dagegen aber ist die fraglich gewordene und in Frage gestellte Kirche ein Zeichen des Widerspruchs.
Und so sind es die Aufgaben und Rollen in ihr, ihre Funktionen und Ämter auch.
Es geht in ihnen tatsächlich um eine selbstlose, uneigennützige Blickverlagerung. Man nennt solches Sehen nach anderen Menschen, solches Achten auf ihre Lage, ihre Wege und ihre Sicherheit in der Kirche schon immer ein „Hinschauen“, ein „Nachgucken“, ob die anderen genug Licht haben, ob sie Segen erfahren, ob ihr Tisch gedeckt ist und ihr Becher voll eingeschenkt, ob ihnen Gutes und Barmherzigkeit begegnen und sie das Zu-hause kennen, in dem sie bleiben dürfen[i], … ob also die Gnade Gottes sie erfüllt.
… Nachgucken, Hinschauen: Auf Griechisch heißt das „episkopein“[ii]. Tatsächlich steckt der „Episkopat“ darin … das Bischofsamt. Aber in diesem Wort für das Achtgeben, das Petrus in seiner Ämterlehre neben dem uns vertrauteren Begriff der „Presbyter“ benutzt – der Ehrenname der „Ältesten“, die Lebenserfahrung und Herzensweisheit haben –, … in diesem Titel für die, die Rücksicht und Klugheit für Viele üben, hört das griechische Ohr ein ganz besonderes Wortfeld: „Skopein“ heißt nämlich „Sorgen“ in allen seinen Facetten: Für-Sorge und Ver-Sorgen, Vor-Sorgen und Nach-Sorgen, Sorgfalt, Sorgpflicht und Sorgsamkeit - das Können, Sollen und Mögen der Sorgenden - schwingen alle darin mit.
… Und wir heute haben dafür ein Wort, in dem die ganze Sehnsucht und Misere unserer Gesellschaft, die sich vor Erfolgssucht und Selbstsucht - was austauschbare Worte sind - nicht ausreichend umeinander kümmern mag: Wir nennen das, was Kern, Sinn und Spitze aller kirchlichen Ämter ausmacht: „Pflege“, … neuerdings auch weltsprachlich: „care“.
Alle, die Menschen pflegen – kleine Menschen und junge Menschen, Menschen mit Leiden oder Gebrechen, Menschen, denen Kräfte oder Freiheit geschwunden sind, Menschen, die abhängig leben müssen und Menschen, die schließlich sämtlich einmal sterben – … alle also, die sich um Menschen sorgen und auf sie achten, die ihnen beistehen, die sie stützen, … alle, die die Körper und die Seelen anderer Menschen ernstnehmen und auch auf schweren und trüben Wegen behüten und begleiten, stehen im Hüteamt, im Hirtenamt, im Sorgeamt … im Wächter- und im Achtungsamt der Kirche, … im „Episkopat“, dem Bischofsamt!
Das ist keine evangelische Schnodderigkeit, die die Ämterlehre des Neuen Testaments antiautoritär und mit der Floskel vom allgemeinen Priestertum einfach für unverbindlich erklärt.
Im Gegenteil: Es ist ganz und gar verbindlich - biblisch und altkirchlich und weltkirchlich verbindlich -, dass die Glieder der Kirche sich niemanden so anvertrauen und unterordnen wie denen, die jenes Hirtenamt teilen, tragen und leben, das im Zeugnis der Leiden Christi seinen Grund und seine Begründung hat.
Christus ist der Nackte und Hungrige geworden, der nach uns bettelt.
Christus ist der Verlassene und Verfolgte geworden, der uns braucht.
Christus ist der Verletzte und Verwundete, dessen Qual wir lindern müssen.
Er ist der Kranke und der Sterbende, in dessen geduldiger und treuer Pflege wir Gott den Dienst aller Dienste erweisen.
Christus ist das arme Kind und Er ist der lästige Mensch, Er ist der Verlierer dieser Weltordnung und das Opfer der sogenannten Zivilisation geworden.
Darum ermahnt uns der erste Jünger als der Zeuge der Leiden Christi, dass alle, die genug echte Menschen- und Lebenserfahrung haben, um „Presbyter“ genannt zu werden, die Gemeinde als Vorbilder weiden sollen … wobei „Vorbild“ schlicht bedeutet: Wie einen Entwurf, wie eine Einübung, wie ein kleines Modell des zum Leiden bereiten Jesus Christus. Aus freiem Willen also und von Herzensgrund. … Im Bewusstsein, dass die, die hilflos sind und bei denen Hilfe vielleicht sogar sinnlos erscheinen mag, genau die sind, in deren Schar sich der leidende Christus eingereiht hat.
Wer Gott in Christus dienen will, der kann es nur in denen tun, denen sonst nicht gedient wird.
Im ganz Kleinen. Und mit ganzem Ernst. ——
Dann aber ist es schon wieder ganz richtig und in Ordnung, dass die Kirche von unserer Welt in Frage gestellt wird.
Wenn die höchsten Ämter und die höchste Autorität in der Kirche, wenn ihr Bischofs-, also ihr Sorge-Auftrag nicht nur im Dienst der Seelsorge, nicht nur im Ausrichten des Evangeliums und dem erbauenden, tröstenden, heilenden Einsatz der Sakramente bestehen, sondern genauso im buchstäblich christustypisch Wirken von Kindergärtnerinnen und Krankenpflegern, von Obdachlosenfürsorgern und Streiterinnen für Menschenrechte, von Entwicklungshilfe und Palliativmedizin, … dann ist es wirklich nur naheliegend, dass diese Kirche befremdet.
Eine Welt, in der die Selbstsorge mehr wiegt als die Fürsorge, … eine Welt, die sich mehr für das Beenden schwierigen Lebens einsetzt als dafür, es mit jenen zu teilen und auszuhalten, die es erleiden, … eine Welt, die sich nicht kümmert um die Kümmerer, … die die verachtet, die auf andere achten, … die Geduld und Hingabe an der Seite von Menschen zur billigen Nebensache verkommen lässt, ... eine Welt, die den Wert der helfenden Hände geringschätzt und viel mehr die bewundert, die gut festhalten, was sie in Händen haben, … eine solche Welt wie unsere muss anti-kirchlich sein.
Der Christus-Typus, der in allen Ämtern der Kirche Maßstab und Auftrag ist, ist ja das Gegenbild der großen Selbstbehauptung, die diese Welt formt und feiert! ——
Dass wir in der Kirche am Christus-Typus, an der Sorge für andere Menschen in schrecklicher Weise auch scheitern und schuldig werden, ist unbestritten. …
Aber es ist dennoch das hellste Licht und die herrlichste Krone, die es für das menschliche Geschlecht geben kann, dass es in seiner Mitte immer schon und immer noch und immer weiter solche gibt, die in Menschlichkeit und Christusnachfolge sammeln, verbinden und zusammenhalten, was anderen not- und guttut!
… Warum sie das tun?
Weil sie sich selbst nicht suchen müssen. Weil sie wissen, dass sie gar nicht verloren gehen können. Weil sie ja unter der Hut des großen Erzhirten stehen, der zwar hilflos wie die Hilflosesten wurde und mit allen Leidenden alles litt und leidet, … und Der doch gerade dadurch zum Gründer der Gemeinschaft wurde, die allen hilft um Seinetwillen … und die vollendet sein wird, wenn allen geholfen ist.
Dann erscheint Er in Herrlichkeit.
Der, Der Seine Kirche für Andere sorgen lässt, weil Er für sie gesorgt hat, … Er, der gute Hirte, der mit dem Vater eins ist (vgl. Joh10,11+30).
Amen.
[i] Am „Sonntag des Guten Hirten“ (Miserikordias Domini) ist Psalm 23 ein wirkliches Leitmotiv der Liturgie, wie er es rezeptionsästhetisch ja auch im innerbiblischen Gebrauch des Bildes schon ist, das immer wiederkehrt und variiert wird … nicht zuletzt in Jesu Hirtenrede in Johannes 10, dem Evangelium dieses Sonntags.
[ii] Über die Verwendung und ämtertheologische Festigung des Lexems ἐπι-σκοπεῖν wäre eine interessante Untersuchung anzustellen. Mindestens so ergiebig wären Überlegungen zum Begriff des τυπός (Typos= „Vorbild“), der eine so wichtige hermeneutische Kategorie in der biblischen Literatur darstellt. Beide Vokabeln lassen ahnen, wie viel mehr in der Ämter-Theologie zur Debatte steht als reine organisatorische oder Verwaltungsfragen der Kirche. Ihre Ämter sind – eschatologisch begrenzte – Erscheinungen ihrer Mission und Dessen, Der sie sendet und durch sie wirkt.
Ostersonntag, 09.04.2023, Stadtkirche, 1. Korinther 15, 1 - 11, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Tag der Auferstehung des Herrn - 9.IV.2023
1.Korinther 15, 1- 11
Liebe Gemeinde!
Wenn nicht das Weinen irgendwann heute Nacht sinnlos geworden wäre, würde ich jetzt statt Ostereiern - die mir sowieso noch nie jemand richtig erklären konnte! - schön schwere, leicht birnenförmige, oben frühlingshaft sprießende und vor allem saftige Osterzwiebeln verteilen.
Denn wenn es nicht solch ein Unfug wäre, uns alle an einem österlichen Morgen gleich in Tränen aufgelöst und schniefend zu erleben, dann würde es sich heut wirklich dringend nahelegen, eine solche Zwiebel einmal Schicht um Schicht zu entmanteln.
… Auch auf die Gefahr hin, dass mancher die Nase rümpft über diesen derben Geruch, der einer offenen Garküche für Tagediebe und Seeleute in der Nähe des korinthischen Hafenvorortes Kenchreä (vgl.Apg.18,18) zu entstammen scheint, wo Paulus bei der Diakonisse Phoebe ein- und ausging (vgl.Rö.16,1): Phoebe von Kenchreä, die da die Vielen bemuttert haben wird, die von den Christen hörten, dass man bei ihnen in den Gottesdiensten tägliches Brot und Brot vom Himmel und Wein der Freude kostenlos bekommt.
Zwiebelschälen wie bei Phoebe also, die die Armen speist und ihre Gaben mit Gebeten und dem Evangelium würzt. Paulus wird es vielleicht gesehen haben, wenn die Diakonisse Phoebe von der Mitternachtsmission für die Hafenhuren und die entlaufenen Sklaven und die andern vaterlandslosen Gesellen und zwielichtigen Gestalten ihre Eintöpfe machte, und vielleicht hat er selbst kräftig zugelangt in ihrer Kirchenkaschemme in Kenchreä, ehe er wieder ins eigentliche Korinth hochlief, wo die Betuchten und Duftenden unter den Christus-Neugierigen der Metropole den komischen Apostel erwarteten, der für ihren Geschmack vielleicht ein bisschen zu sehr nach orientalischem Zwiebelatem roch.
Jedenfalls hat Paulus mit den Korinthern heute eine Zwiebel zu schälen, … die ja eine ganz besondere Gemeinde sind, … so „vielschichtig“.
Aber was ist nun des Paulus Problem? - Zwei Dinge.
Das Erste wie bei uns: Wo wir doch auch so vielschichtig sind. Wir sind ja nicht einfach nur eine Schale und ein Kern, sondern jeder von uns besteht aus ganz unterschiedlichen Rinden und Sphären und Hüllen. Wir legen uns Rollen zu und Meinungen umgeben unser Inneres; um uns wachsen im Laufe des Lebens Lagen und Ringe der Erfahrung - manche hauchzart, manche wie Leder -, die uns schützen und die wir bestimmt nicht vor jedermann entblättern. Unsere eigenen Erkenntnisse und Vorurteile, unsere Zweifel ummanteln den Seelenkern immer dichter, und wir lassen uns da nur unter größtem Widerstand schälen.
… Das ist bei beinah allen Menschen so. … Und also zunächst nicht weiter schlimm.
… Wenn nicht das Zweite dazu kommt, das für Paulus bei seinen Korinthern das größere Problem war: Der Hochmut derer nämlich, die meinen, das, was sie sich da an Polstern oder Schutzhäuten oder sonstigen undurchdringlichen Schichten auf ihrem Gemüt, ihrem Geist, ihrem Verstandesorgan – sei’s Hirn, sei’s Herz - haben wachsen lassen, das versetze sie in den Stand der Sicherheit, der Gewissheit, der unanfechtbaren Erkenntnis.
… Natürlich nichts gegen die Klugen! Nichts gegen die Weisen (vgl. allerdings 1.Kor.1,18ff)! Nichts gegen die, die ihre gutsitzenden, festgewachsenen Haltungen und Überzeugungen haben!
… Aber wenn es Ostern auf dieser Erde werden konnte, … wenn die festesten Ringe des Saturn und der Hölle sich lösen ließen, wenn die undurchdringliche Schicht, die das hauchfeine Sterblichsein vom großen Totsein da drunter trennte, … wenn das Grab aufplatzen und einen ganz eingewickelten, festverschnürten Leichnam wieder loslassen konnte, dann könnte doch auch bei uns - an sich lebendigen - Menschen sich in den erstarrten und verkrusteten Umschließungen unserer Menschlichkeit etwas häuten, etwas lösen?!
Da war Paulus allerdings bei den Korinthern an die falschen Adressaten geraten.
Sie waren nicht gewillt, sich ihre schönen engen Denkmuster und Verständniskategorien, die sich den eigenen Lebensgewohnheiten ja auch so organisch anschmiegten, aufbrechen zu lassen. Von diesen zähen Vorurteilen aber hatten sie im Blick auf das Evangelium des Paulus ebenfalls zwei, die ihnen besonders im Weg standen. Das eine war die gebildete Voraussetzung des gesamten späteren Griechentums: „Hauptsache der Geist! … Der Rest ist Beiwerk.“
Und die andere Überzeugung, die bei den Korinthern - diesen temperamentvollen, polyglotten Großstädtern - saß wie eine zweite Epidermis: Es gibt nichts, was es bei uns nicht gibt.
Aus beiden Grundsätzen folgte für die Korinther aber ungefähr genau das, was auch bei uns die festeste Schicht um unser Weltbild ist: Sterben ist leiblich. Und wir haben noch nie einen gesehen, der von den Toten auferstand.
…. „Dr. Hegel, übernehmen Sie!“
„… Na schön.
- These: Tod betrifft erkennbar den Körper.
- Antithese: Es ist nicht bekannt, dass es dazu eine uns glaubwürdig scheinende Ausnahme gäbe.
- Synthese: Aber unser Geist, der kann doch was! Also ist Auferstehung eine Sache in unserm Kopf, … und dann können wir ja wohl sagen: Bei uns läuft’s!“
Das war die korinthische Sondertheologie: …Ob unten am Hafen, in der Suppenküche bei Phoebe, wo die knurrenden Mägen und der schmatzende Lebenshunger der Armen hinströmten, das ist nicht so sicher, … aber oben in der Stadt, bei denen, die besonders gern den ätherisch-ästhetischen Apostel Apollos hörten, der - huch! - so gebildet sprach, weil er ja aus Alexandrien stammte - der Sorbonne + Silicon Valley der Antike (vgl. Apg.18,24;19,1; 1.Kor.1,12;3,5;4,6) -, da steht es fest: „Auferstehung ist geistig und so vollzieht sie sich mental an uns schon jetzt!“ (©Apollon) …..
Das ist ein Stöckchen, über das so ein Apostel erst einmal springen muss.
…Nun war Paulus viel zu klug – auch wenn er nicht aus der alexandrinisch-hellenistischen Kaderschmiede stammte, sondern ganz traditionell in Jerusalem studiert hatte –, um in dieser Sache Plattitüden zu verbreiten.
Das ganze, völlig unerschöpfliche 15.Kapitel des 1.Korintherbriefes – und einen längeren Diskurs hat Paulus nur der Frage nach der Hoffnung des christuskritischen Teils von Israel gewidmet (vgl. Rö.9-11)! – entfaltet seine feinsinnige und unzweifelhafte und gerade deshalb viele unserer Fragen offenlassende Gewissheit, dass die Auferweckung aus dem Tod die Mitte und die Substanz und die Dynamik und das unbegrenzbare Potential des Evangeliums ist!
Einen Nachweis der Folgerichtigkeit und Schlüssigkeit des Auferweckungsglaubens führt er darin aber genauso wenig wie er sich etwa in Erklärungen versucht, wie das Unbegreifliche begriffen werden könne.
Auferweckung ist DIE Wundertat Gottes schlechthin, und weder der, der sie verstanden haben will, noch jener, der sie sich als innere Erfahrung zuschreibt, wird Gott jemals dadurch gerecht, dass er beansprucht, dieses unvergleichliche Tun Gottes überprüft, für physikalisch und /oder intellektuell solide befunden zu haben und es darum auch persönlich bei sich zulassen zu können.
Wie Paulus stattdessen ansetzt, hat mit den Schalen und den Schälungen zu tun.
Man könnte es auch die Methode nennen: „Wie wäre es, wenn wir einmal nicht dem Geheimnis der Gnade Gottes auf den Grund gehen wollten, sondern fragen, was wohl in uns der Punkt ist, der nicht weiter entfaltet werden kann, … der Punkt, an dem es gut ist?!“ —
Den Weg zu diesem Punkt, an dem alles bei uns ansetzt und mit dem dann alles einst eben auch seine Bewandtnis haben wird, geht Paulus zwiefach am Beginn des großen Auferstehungskapitels. … Schicht für Schicht.
Und wir gehen beide Durchgänge jetzt auch kurz nach, … in umgekehrter Reihenfolge.
…Paulus scheut sich nämlich nicht, auch die eigene Entblätterung vorzuführen (vgl.1.Kor.15, 8-10).
Das dürfte die Korinther besonders interessiert haben, denn von diesem Apostel gab es ja zahlreiche, pikante, provozierende Gerüchte. Ihn „vielschichtig“ zu nennen, wäre geradezu untertrieben: So viel wussten die Korinther, die das allerdings faszinierend gefunden haben dürften, weil es ihrem eigenen Selbstbild des Extraordinären immerhin schmeichelte.
Und so deckt Paulus also auf:
- Ja, ich, der weltreisende Pionier des Evangeliums bin ein Nachzügler.
- Ja, ich, der globale Apostel verdiene diesen Titel - den Titel eines Amtes, in das Jesus die Zwölfe berief, zu denen ich nicht zählte - streng genommen gar nicht.
- Ja, ich, der unermüdliche Gemeindegründer habe als ein Gemeindezerstörer angefangen, … es ist alles wahr!
- Ja, ich, der erfinderische, zähe, volldampf-fahrende Einzelgänger, der gegen unermessliche Widerstände die Mission unter den Heiden ganz allein betrieben hat, bin innerlich eigentlich so hilflos und unfähig wie ein lebensunfähiger Embryo.
… Aber egal, welche Seite aller dieser Widersprüche, egal welche Schicht meiner Leistung und meiner Selbstkorrekturen ihr da abzieht, egal, was auch immer man an meinen vielen unregelmäßigen Entscheidungen und meinen eingefleischten Eigenarten noch runterpellt, bis ich ganz blank bin: Glaubt mir, wenn ihr bis auf die innerste Zelle gestoßen seid … ihr findet dort keinen stringenten Leitfaden, kein selbstverständlich nachzuvollziehendes Muster, … ihr findet da schlicht … Gnade! … Nicht mich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist, kann man da in der Mitte aufdecken. … Durch diese Gnade Gottes bin ich, was ich bin! ——
Und wenn ihr nun neben dem Boten auch die Botschaft einmal bis in ihr Inneres freizulegen versucht (vgl. 1.Kor.15, 5-7), dann werdet ihr Schale um Schale, Lage um Lage ebenfalls wieder durchdringen, tiefer, tiefer durch die akkumulierten Zeugen, die Überzeugten und ihre lebendigen Überzeugungen:
- Die Erfahrung aller Apostel umschließt das Evangelium wie eine durchsichtige Membran - auch die lebendige Ostererfahrung des dem Paulus so reichlich unsympathischen Jakobus –
- dann die kräftige Schicht der Begegnung von fünfhundert Gläubigen auf einmal in der Urgemeinde von Jerusalem mit dem Auferweckten;
- darunter die einzelnen Gewebelagen, durch die die galiläische Jüngerschar nach dem Riss des Todes aller wieder mit ihrem lebendigen Meister zusammenwachsen durften;
- und schließlich die empfindliche, wie aus reinster Seide gewobene Haut, die auf der rohen Wunde des Kephas - des Petrus, der ihn verleugnet hatte - mit der Auferweckung der Herrn auch seine Heilung wurde;
- … zuletzt aber treffen wir im Allerinnersten - wie wir wissen und eben hörten (vgl. Lk.24, 1-12), auch wenn Paulus es offenbar nicht zu berühren wagt - auf die allerfeinste Schicht: Die Keimzelle des unaussprechlichen Osterglücks der Frauen, die als Erste erfuhren, dass der Lebendige nicht bei den Toten gesucht werden kann, weil er auferstanden ist (vgl.Lk.24,5f). ———
Das ist die Zwiebel, die wir heute alle schälen können, Lage um Lage, Schicht um Schicht.
Obwohl das Weinen irgendwann in dieser Nacht überflüssig geworden ist, können einem dabei die Augen wahrhaftig tränen! … Und übergehen, wenn wir so bis in das Herz des Ganzen vorgedrungen sind.
Was aber finden wir dann dort? … Nun, nicht die Erklärung, die den Korinthern den für sie - wie für uns ja auch so oft! - unvorstellbaren Vorgang der Auferweckung Jesu von den Toten nach ihren Voraussetzungen plausibel machte.
… Das Wie eines Wunders - wenn es denn mehr als ein geistiger Vorgang sein sollte -, ist ja aber auch tatsächlich niemals des Pudels Kern. Die bloße Näherbestimmung - „Wie?“ - würde den Glauben ihrerseits auch überhaupt nicht tragen. Sie würde nur das Wissen bedienen, das dann doch sagt: „Aber für uns Korinther ist es ein intellektueller Vorgang, ein Symbol, eine philosophische Kategorie, die unser Weltbild erweitert … mögen die Hafenchristen, die Plebs der Phoebe in Kenchreä es auch noch so primitiv-naiv materialistisch auffassen.“
Nicht das erklärte „Wie“ liegt also im Herzen der Osterbotschaft.
Sondern das, was auch im Zentrum der ganz persönlichen Betrachtung des Paulus über den Paulus sich fand – und sich bei jedem andern Menschen ebenfalls finden würde, wenn er sich ehrlich, nüchtern und unvoreingenommen auf Herz und Nieren prüft. Trotz aller meiner Bemühungen und Leistungen und auch trotz meiner Riesenirrtümer und Verkehrtheit, muss ich doch bekennen: Nicht ich habe mich aufgeweckt. Nicht ich habe geschafft, dass ich lebe und wieder leben und immer noch leben darf. Gottes Gnade ist es, die das für mich getan hat!
Und das ist auch der innerste Lebenskern und das trostreiche Herz der Osterbotschaft: Gott hat das getan … für mich und für Dich! Dass wir leben und weiterleben dürfen und dass wir leben werden!
CHRISTUS IST FÜR UNSRE SÜNDEN GESTORBEN, BEGRABEN UND AUFERWECKT WORDEN NACH DER SCHRIFT.
In diesem einen Satz ist die Gnade aller Zeiten:
Es war - nach der Schrift - VON ANFANG AN G N A D E .
Es ist es IN DER GEGENWÄRTIGEN, GESCHICHTLICHEN ZEIT der Welt geschehen aus reiner G N A D E .
Und es ist für unsere Sünden geschehen – damit wir also IN ZUKUNFT UND AUCH IN EWIGKEIT durch diese G N A D E leben dürfen.
Das ist die Mitte.
So predigen wir. So habt ihr geglaubt.
Das ist das Zentrum.
Dadurch werden wir selig, wenn wir’s so festhalten wie es uns verkündigt ist, … es sei denn, dass wir’s umsonst geglaubt hätten.
Wenn wir nach der Erklärung des Wunders aller Wunder fragen, wenn wir der Gnade also partout auf den Grund kommen wollen, dann stoßen wir an diesem Grund auf … das Wunder Gnade!
Wo alle Schichten weg sind, … alle engeren und weiteren Begleitumstände abgeschält, da ist sie das reine Innenleben unseres Glaubens.
Und ganz genauso … nein, wohl noch viel mehr auch seine Kraft im Sterben und über den Tod hinaus.
Heute vor 78 Jahren wurde Dietrich Bonhoeffer für diesen Glauben hingerichtet.
Für ihn war das der Anfang des Lebens[i].
Er hat noch viel knapper und verdichteter als wir bisher in einem Predigtentwurf zu 1.Korinther 15 das alles, was das Tiefste und Entscheidende ist, im beinah atemlosen Telegrammstil so festgehalten:
„Christus der Auferstandene allein der Beweis, weil in ihm Gott an uns handelt, weil alles an Christus für uns ist und für uns geschieht. Seine Liebe, Vergebung, Gerechtigkeit, Auferstehung – für uns! Ist Christus mit Leib und Seele auferstanden, so hat Gott das für uns getan, Tod für uns zerbrochen, unser Leib und Seele der Auferstehung teilhaftig. Lebt Christus, so leben die Toten. Denn Christus für uns lebendig und tot. Auferstehung Christi kein Problem.“[ii]
Amen.
[i] Vgl. zu Bonhoeffers letzten überlieferten Worten „Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens“: Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer – Theologe. Christ. Zeitgenosse, München 1967, S. 1037.
[ii] Dietrich Bonhoeffer, Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935-1937, hgg.v. O.Dudzus, J.Henkys u.a., (DBW Bd. XIV, Gütersloh, 1996 – S.356): stenographische Mitschrift eines Predigtentwurfs nach vorangehender Besprechung zu 1.Korinther 15,12-19 im 1.Kurs in Zingst und Finkenwalde von April bis Oktober 1935.
Karfreitag, 07.04.2023, 2.Kor.5,17-20, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
Karfreitag – Ostern: diese Feiertage sind auf unserem Kalender deutlich hintereinander gesetzt. Und wir haben uns daran gewöhnt, dass jeder Tag für sich betrachtet und bedacht wird. Karfreitag – da geht es eben traurig zu, keine Blumen auf dem Altar, sogar die Glocken schweigen. Wie könnte es auch anders sein, erinnern wir uns doch an den Kreuzestod Jesu. Ostern – da feiern wir das Leben, singen fröhliche Lieder; denn der Tod hatte Jesus nicht halten können.
Aber eigentlich ist diese Aufreihung der Feiertag nur eine Notlösung. Geboren aus dem Drang, die Schrift erfüllt zu sehen. Im Tiefsten geht es immer um ein Fest. Karfreitag, das leuchtet sofort ein, gibt ohne Ostern überhaupt keinen Anlass, etwas zu feiern. Aber Ostern ohne die Erinnerung an Leid und Tod wäre nur ein beliebiges Frühlingsfest. Karfreitag und Ostern – sie gehören zusammen wie die zwei Seiten einer Medaille. In den Erzählungen der Evangelien können wir davon einiges finden, wenn es bei Matthäus heißt, dass sich im Augenblick des Todes Jesu die Gräber vieler Heiliger öffneten und der Vorhang im Tempel mitten entzweiriss. Osterzeichen am Karfreitag. Und umgekehrt auch: bei Johannes spielen die Wundmale eine ganz wichtige Rolle bei der Begegnung des Auferstandenen mit seinen Jüngern. Karfreitagszeichen am Ostertag.
Karfreitag und Ostern, der Aufstand des Lebens gegen den Tod, neues Leben im Angesicht des Todes. Weil beides untrennbar zusammengehört, hat es Sinn, den Karfreitag, nein, nicht zu feiern, aber ihn auszuhalten und sich mit dem, was da in der Bibel erzählt wird, auseinanderzusetzen. Was also ist an jenem Freitag vor fast 2000 Jahren geschehen?
Da fanden vor den Toren Jerusalems auf einem dafür schon berüchtigten Platz – der Schädelstätte / Golgatha – drei Hinrichtungen statt. Zwei der Verurteilten waren wohl bewaffnete Widerstandskämpfer, die die römische Besatzungsmacht mit Terroranschlägen herausgefordert hatten. Konnte man bei diesen beiden noch die Hinrichtung als berechtigte Strafe betrachten, so sah das bei dem dritten Delinquenten ganz anders aus. Jesus von Nazareth hatte sich wirklich nichts zuschulden kommen lassen, was diesen grausamen Foltertod am Kreuz hätte nach sich ziehen können. Er war Opfer eines Justizmordes.
Verstört und entsetzt waren seine Anhänger. Wie passte das schreckliche Ende zu seinem Leben, zu seiner Botschaft von der Liebe und Güte Gottes, auf die er sich doch auch verlassen hatte? War das Kreuz nicht nur sein persönliches Ende, sondern auch die Verneinung alles dessen, wofür er mit einem Leben gestanden hatte? Doch Gottes Geist, Erfahrungen und Begegnungen unterschiedlichster Art in der folgenden Zeit ließen die Gewissheit in ihnen wachsen: die Botschaft Jesu war nicht tot zu kriegen, sie war Botschaft des Lebens; und auch er selbst war nicht von Gott verflucht, sondern er blieb Gottes Kind, Gottes Sohn auch über den leiblichen Tod hinaus, von Gott aufgehoben in neues Leben. Die Botschaft von Ostern öffnete ihnen die Zukunft.
Gleichzeitig ließ sie die „Warum-Frage“ nicht los, die ja auch heute die Menschen angesichts von Leid und Tod umtreibt: warum musste Jesus leiden und am Kreuz sterben? Im Neuen Testament finden sich die unterschiedlichsten Antworten, die die Jünger und Jüngerinnen Jesu auf diese für sie so bedrängende Frage gefunden haben. Antworten, die dem schrecklichen Tod einen Sinn geben sollen. Eine Antwort lautet: am Kreuz ist der Sohn Gottes für unsere Sünden gestorben.
Eine andere: mit seinem Blut hat Jesus das Lösegeld bezahlt und uns von der Herrschaft des Todes freigekauft. Wieder eine andere: Jesus ist freiwillig in den Tod gegangen, um die Wahrheit seiner Botschaft mit seinem Blut zu bezeugen und zu besiegeln. Und eine weitere: Gott wollte, dass Jesus stirbt, um uns so zu erlösen. Antworten, die wir Menschen heute kaum noch nachvollziehen können, die uns verstören.
Die für mich wichtigste Entdeckung der Jüngerinnen und Jünger Jesu im Zusammenhang mit seinem Tod am Kreuz ist diese: Gott ist dagewesen; er hat sein Schreien gehört, er ist seinen Tod mitgestorben, hat ihn durchgetragen in neues Leben. Während für den Apostel Paulus Jesus durch die Auferstehung zum Sohn Gottes, zum Christus, wurde und als solcher erkannt werden konnte, lässt der Evangelist Markus den römischen Hauptmann beim Anblick des gekreuzigten toten Jesus bekennen: „Dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.“ Gott – präsent im leidenden und sterbenden Jesus. Diesen Gedanken haben die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu dann weitergedacht, angetrieben vom Geist Jesu, vom Geist Gottes. Gott ist präsent, wo immer Menschen leiden. Gott hat nicht nur Mitleid, ihm tun Leidende nicht einfach leid, sondern da besteht eine tiefe Verbundenheit, eine Sympathie, ein Mitleiden Gottes in den Leidenden, der nicht das Leiden, den Tod will, sondern das Leben. Nicht der gewaltsame Tod am Kreuz begründet das Heil, sondern Gottes Leben schaffendes Handeln.
Darauf verweist uns der Predigttext. Er steht im 2.Korintherbrief im 5.Kapitel. Ich lese die Verse 17 bis 20.
„Wenn jemand zu Christus gehört, gehört er schon zur neuen Schöpfung. Das Alte ist vergangen, etwas Neues ist im Entstehen. Das alles kommt von Gott. Durch Christus hat er uns mit sich versöhnt. Er hat uns sogar den Dienst übertragen, die Versöhnung zu verkünden. Ja, in Christus war Gott selbst am Werk, um die Welt mit sich zu versöhnen. Er hat den Menschen ihre Verfehlungen nicht angerechnet. Und uns hat er sein Wort anvertraut, das Versöhnung schenkt. So bitten wir im Auftrag von Christus: Lasst euch mit Gott versöhnen!“
Versöhnung – das ist die Antwort Gottes, seine Reaktion auf die Gewaltverfallenheit der Menschen. Gott möchte eine neue Welt, neue Menschen, einen neuen Anfang mit uns. „In Christus war Gott selbst am Werk, um die Welt mit sich zu versöhnen.“
Und diesen neuen Anfang kann auch der Tod nicht auslöschen. Das ist am Christus Jesus offenbar geworden. Zwischen Gott und Mensch ist alles in Ordnung, weil Gott den Menschen in seine Arme geschlossen hat. Weil er nicht anders kann, weil das sein Wesen ist. Doch damit ist das Werk der Versöhnung nicht erledigt. Der Mensch muss diese Tat Gottes auch annehmen: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Versöhnt sein mit Gott, das heißt gerade auch versöhnt sein mit sich selbst. Sich selbst ansehen können, wie Gott einen sieht – mit allen Schattenseiten, mit all dem, was uns selbst mit uns über Kreuz sein lässt, auch mit allem Versagen, aller Schuld. Versöhnung heißt, hinsehen, annehmen und sich von Gott annehmen lassen, damit er uns neues Leben, neue Möglichkeiten eröffnet, in Zukunft anders mit uns selbst und dann auch mit unseren Mitmenschen umgehen zu können. Was die Christen in den letzten Jahrhunderten allerdings sträflich übersehen haben, ist, dass Versöhnung nicht eine Sache zwischen Gott und Mensch allein ist. Die Hinwendung Gottes, seine Liebe und Güte gilt der ganzen Schöpfung, dem ganzen Kosmos. Und er will Leben für alle und alles.
Um mit Gott und der ganzen Schöpfung in den Osterjubel einstimmen zu können, ist es nötig, dass wir all das Leid, das wir Menschen durch unser Tun und Lassen, durch unsere Bosheit oder unser Wegsehen, durch unsere Gier oder unsere Angst zu verlieren, in den Blick nehmen, all das Leiden, das wir anderen zufügen, unseren Mitmenschen, unseren Mitgeschöpfen, unserer Mutter Erde. Es werden täglich neue Kreuze errichtet – wir Menschen verursachen Leid und Tod, vergreifen uns an Gottes Schöpfung.
Der Maler Roland Peter Litzenburger hat dieses Leiden in seinen Bildern ausgedrückt. Es sind Bilder von der Kreuzigung des Lebens, der Fauna und der Flora – gemalt vor einem halben Jahrhundert.
Und Michael Jackson hat über das Leiden der Erde einen Song geschrieben – einen echten Klagepsalm, nicht nur nach dem Text, den sie im Original und mit einer Übersetzung am Eingang erhalten haben, sondern auch in der musikalischen Ausgestaltung – ein aufrüttelnder Klageschrei im Bewusstsein, in all das Leid verstrickt zu sein. „What about us!“ Was ist mit uns, was ist mit uns Menschen, mit jedem einzelnen, jeder einzelnen los?“ Der „Earth Song“ – für mich passt er einfach zu diesem Karfreitag.
„What about us?“ Was ist mit uns los? Ja, wir sind falsch abgebogen. Erklärungen gibt es viele, aber sie bringen uns alle nicht weiter. Es läuft auf Tod hinaus, wenn wir so weitermachen wie bisher. Was lässt uns innehalten und einen anderen, einen heilvollen Weg finden – für uns und die ganze Schöpfung?
Es ist das Bewusstwerden, dass diese Erde nicht einfach ein Ding ist, eine Sache, ein Planet in der Unendlichkeit des Universums, ja das nichts, was ist, für sich alleine ist, sondern dass in allem Gott gegenwärtig ist – im Guten wie im Bösen, in der Schönheit des Regenbogens wie im mit Müll bedeckten Strand am Ufer des Meeres.
Und wie im Christus Jesus damals auf Golgatha, so leidet Gott heute mit und in allen seinen Geschöpfen. Er leidet nicht nur an dem, was wir der Erde und ihren Geschöpfen Böses antun, er leidet auch an unserem Nichtstun, unserer Gleichgültigkeit. Und er bittet die Menschen: „Lasst euch versöhnen mit euren Mitgeschöpfen, mit der Erde. Behandelt sie wie Geschwister, denn meine Liebe und Güte gilt ihnen wie euch. Kommt ihnen, kommt mir zu Hilfe. Steht auf, ein neues Leben wartet auf euch, auf die ganze Erde. Alles und alle haben Anteil daran. Alles Geschaffene hat Anteil an meiner Herrlichkeit.“
Das Kreuz kann so ein Zeichen der Versöhnung sein: Gott ist zu uns herabgekommen, auf uns zugegangen; und wir suchen als mit Gott und uns selbst Versöhnte den Weg zu unseren Mitmenschen, zu unseren Mitgeschöpfen. Versöhnung braucht Mut und Wahrheit und - mit Blick auf die Schöpfung und ihre Leiden - die Bereitschaft vor allen Dingen der im Wohlstand lebenden Menschen, viele Selbstverständlichkeiten und liebgewordene Gewohnheiten daraufhin zu befragen, ob sich die Erde all das leisten kann, wenn alle Geschöpfe auf ihr noch eine lebenswerte Zukunft haben sollen. Versöhnung braucht die Bereitschaft, es sich genügen zu lassen, nicht Herr über, sondern Teil der Schöpfung zu sein.
Versöhnte Menschen – das braucht die Welt im Kleinen wie im Großen. Denn sie schaffen Bahn für Gemeinschaft, Gerechtigkeit und Frieden – in ihrer Nachbarschaft, in ihren Gesellschaften, in ihren Lebensräumen. Mit Gott versöhnte Menschen geben Gottes Frieden weiter mitten in einer von Leid und Ungerechtigkeit, von Gewalt und Tod gezeichneten Welt. Der Blick auf all die Kreuze menschlicher Grausamkeit, Gier und Gleichgültigkeit lässt sie nicht verzweifeln, denn: „Das Alte ist vergangen, etwas Neues ist im Entstehen. Das alles kommt von Gott. Durch Christus hat er uns mit sich versöhnt.“ Und so sind wir schon heute eingeladen, als diejenigen, die in Christus Teil haben an der neuen Schöpfung, das Leben, Auferstehung zu feiern und zu leben.
Amen
Karfreitag, 07.04.2023, Stadtkirche, Kolosser 1, 13 - 20, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag - 7.IV.2023
Kolosser 1, 13 -20
Liebe Gemeinde!
Stiller Tag: Tanz- und Festlos. … Nach dem Gesetz.
… Was wirklich nicht mehr angemessen ist, wenn weniger als die Hälfte der Menschen einen Glauben teilen, der heute die Stille sucht. … Eine Stille, die sicherlich nicht durch ein Gesetz kommen kann und nicht durch Freudenverbote entsteht.
… Eine Stille ist das vielmehr, die ungeachtet allen Lärms eintritt. Mitten im Artilleriebeschuss, mitten im Pandämonium von Gefecht und Bombardierung kann diese Stille entstehen: Sirenen, Alarm, Schreien, Befehle, Hilferufe, Kreischen von Maschinen- und Brüllen von Körperteilen … doch diese Stille zerschneidet es
… Die Geräusche brechen gar nicht einmal ab und doch herrscht unumkehrbare Stille.
… Das passiert immer, wenn eins der Kinder Gottes seinen Geist aufgibt.
Der Herzton, das leise, regelmäßige oder abgehackte, stoßweise Atmen der Gotteskinder ist für Ihn die wirkliche Musik der geschaffenen Welt. Wenn in dieser unendlichen Symphonie, die schwillt und rauscht und lobt und trägt, seit Er „Es werde!“ rief, … wenn in dieser uns verschwimmenden, Ihm aber herrlich durchwobenen und harmonischen Melodie eine Stimme verstummt: Für Gott steht dann im Schweigen des Nichts alles still.
Das Chaos an sich ist nämlich lautlos. „Tohu und Bohu“ ist die Totenstille, die im Nichts herrscht, weil das Nichts nichts zu sagen hat. Weil im Nichts kein Wort und keine Antwort waren, ehe Der, Der das Wort ist, es sprach … Sich sprach und jener Laut das Leben weckte. Wenn also ein von Gott ins Leben Gerufener nicht mehr atmet – ist doch der Atem der Geist, der Hauch –, … dann dröhnt wieder das Schweigen, gegen das der Lebendige anschuf. Dann durchdringt diese leblose, tonlose, loblose blasphemische Stille alles andere. … Jedes Mal, wenn das Leben in einem Kind Gottes zum Verstummen gebracht wird: jedes Mal, wenn das Licht, das in allem Beatmeten und Beseelten leuchtet, verfinstert wird. ——
Mehr als vierhundert Tage aber sind nun allein schon in unserer östlichen Nähe solche heulenden, donnernden Tage der furchtbaren Stille für Gottes Gehör, Tage der Vernachtung, der Vernichtung für Gottes Gesicht und Gefühl gewesen.
… Es kann also nicht sein, dass uns heute besonders still zumute ist!
Wir haben im Lärm – nicht etwa im Lärm des Krieges oder der Katastrophen, sondern wie-der einmal im dumpfen Blubbern unseres Alltagsschmatzens und -schwätzens – schlicht allzu gern die Stille überhört: Das Verlöschen von Leben, den Abbruch von Puls- und Herzton bei so vielen Menschen, das abrupte Schweigen ihrer eben noch lustigen, bekümmerten, beruhigenden oder verzweifelten Stimmen …….
Es kann aber schlicht keines Gesetzes bedürfen und es vermag kein Zwang zu gewährleisten, dass wir dessen nun heute, in der Ruhe des Karfreitags gewahr würden. ….. ———
Wo immer uns heute aber dennoch die Fürsorge für Mutter und Kind, … der Durst … und dann die jäh aufbäumende Vollendung des Mannes von Golgatha (vgl. Joh.19, 26+28+30) an das verdrängte Schweigen in dieser Welt heranführen, … schon da geschieht tatsächlich Sein Werk! Sein Sterben und Verstummen machen uns hellhörig für das Verstummen und Sterben der Seinen! Sein Karfreitag zieht uns in die Stille der leidenden Schöpfung. ——
KOLOSSER 1, 13 – 20
……. Wie irritiert müssen wir indes sein, wenn wir ausgerechnet in diesem geistlich und auch ethisch notwendigen Verstummen eben plötzlich einen fernen Klang, … ein Lied, einen Hymnus wahrnahmen!?
… Kann das wahr sein?
… An dem Tag, an dem die bürgerliche Gesellschaft immer noch die Vergnügungsstätten und Diskotheken und Fußballstadien schließt, wird ausgerechnet bei den Christen ein erhebendes Lied des Jubels angestimmt?
– Kann das denn sein? …….
In allen Jahren und Jahrzehnten, an die ich mich zurückerinnere, war das noch nie so! Noch nie klang es in unseren Kirchen hymnisch oder hochgestimmt an diesem Tag. … Allenfalls die durchdringende Klage der ergreifendsten Gattung unserer Kirchenmusik - der Vertonungen der Leidensgeschichte, der Passionsoratorien - konnte die Stille des Karfreitags düster oder andächtig noch eindringlicher vertiefen. Die große Generalpause nach dem „Es ist vollbracht“ in Bachs Johannes-Passion hallte unwiderrufen durch unsern höchsten, ernstesten Feiertag … selbst wenn die Musik sich wieder sammelte und ihren Schmerz fortsetzte. —
Doch heute, der Neuordnung der Predigtexte folgend, dringt aus der Frühzeit ein festlicher Rhythmus, ein inbrünstiger Sprechgesang, die starke, wiegende Melodie eines kultischen Schreittanzes durch die beinahe zwei Jahrtausende stiller Karfreitage, … Tage, an denen in Morgen- und Abendland die heilige Liturgie der Danksagung - der Eucharistie - , die sonst das Maß aller Zeit ist, schweigt.
Die allererste Kirche nämlich singt!
… Das Urchristentum Kleinasiens, in dem die jüdische und heidnische philosophische Hochkultur einander durchdringen, hat uns einen klangvollen Schatz des Lobpreises auf den ewigen Sohn Gottes aufbewahrt, der strahlt und schwingt und uns mit seinen Schallwellen in eine wachsende Kreisbewegung, in eine ausströmende Umlaufbahn trägt, die sich konzentrisch um das Kreuz und die Kirche und den Erdkreis und die Himmelsphären legen und schließlich die kristallene, verblauende, infinite Tiefe von Raum und Zeit in weiteren und weiteren Echos auskosten lässt.
Die allererste Kirche, die so winzig war wie die Flaumfeder, die ein Sperling am Tempel der Diana von Ephesus verloren hat, … die allererste Kirche, die so verloren war, wie ein jüdisches Waisenkind auf einem der Sklavenmärkte der vielgötterigen Siegerwelt, … die allererste Kirche, die so besiegt war, dass nach dem Mann aus Nazareth auch schon der Zebedäussohn Jakobus hingerichtet worden war[i] und nun der einsame Heidenapostel Paulus als Gefangener in einer Zelle saß und sein Todesurteil erwartete[ii], … diese hilflos bedrängte, hoffnungslos unbedeutende kleine Gemeinschaft des Gekreuzigten: Sie sang so sicher und so große Bögen, … sie sang so geistreich und ihre Stimme war so hell und so voll der Poesie der Erde, … sie sang mit solcher Natürlichkeit und Weisheit, … sie sang so erleuchtet und zugleich so selbstverständlich, dass in ihren herrlichen Hymnen ihr vielleicht größter Brautschatz bis auf uns gekommen ist.
Denn die Liebe der allerersten Kirche zu ihrem Herrn ist es ja, die wir heute hier, an diesem stillen Tag plötzlich aufbrechen hörten. ….
Eine unvorstellbare Gewissheit schwingt da in der Poesie der Verfolgten, in der geistlichen Improvisation einer jüdischen Sekte, die heidnische Sklaven die Freiheit der Kinder Gottes lehrte: Diese vernachlässigenswerte Minderheit ohne jeden Beweis ihrer Herkunft oder Zukunft vertraut schlicht unerschütterlich darauf, dass ihr Herr der Ursprung des Universums und das Wunder des Kosmos ist!
In Ihm findet sie die Garantie nicht nur für ihre Bewahrung, sondern für die Harmonie aller Dinge!
Ihn betrachtet und bejubelt sie als den Meister und das Meisterwerk, von denen allen Dingen, Wesen und Wirklichkeiten Form und Gehalt zukommen.
Ihn verehrt und verherrlicht sie als unverrückbaren Fix- und unübertrefflichen Zielpunkt der Zeit, als Urquelle aller Materie und zugleich deren belebende Metamorphose:
Durch Ihn ist das Weltall entworfen und zu Ihm entwickelt es sich hin.
Dieser Jesus von Nazareth, genannt: der Christus, den Einige in der ersten Generation noch selber auf Du und Du gekannt hatten - bis sie Ihn verleugneten! -, ist auf eine packende und doch auch wie selbstverständlich für sich sprechende Weise Gottes Mittel und Gottes Zweck im großen Ganzen.
In Ihm wirkt sich die ursprüngliche Freude Gottes an allem Geschaffenen aus, durch Ihn bleibt Gottes Treue zu allen Wesen und zu allem geistig Gegebenen für immer wirksam.
In Jesus, dem Geliebten erscheint das Urbild, das sich in unzähligen Gestalten der Schöpfung ausbildet: Um ihrer selbst willen von ihrem Schöpfer Geliebte, Berufene und Verteidigte.
Und was so an Jesus zu sehen ist, das gilt universal: Gott ist mit seiner Schöpfung unlöslich verbunden. Gott kann dem Gegenstand, dem Gegenüber Seiner unendlichen Liebe darum auch kein Ende bereiten. Was von Anfang an Sein Wille war, hat in Ihm auch Ewigkeit.
Und darum ist neben dem Lebens-Durchbruch in der Schöpfung auch der Durchbruch durch den Tod vom Ursprung her mit Christus, dem Erstgeborenen verbunden: Ur-Beginn und Auferweckungs-Beginn; alles, was vor dem Tod und alles, was nach dem Tod lebendig ist, fängt mit Ihm an.
Diese fundamentale und universale Erfahrung, die aus der Bindung an Jesus fließt – die Erfahrung der alles begründenden und alles bezwingenden Gottesbeziehung, die uns in Ihm zugänglich wird – hat die kleine, schwache, ungesicherte Kirche des Anfangs zu einer kreativ inspirierten Dichtung und Deutung der Welt als christusförmig, der Geschichte als christusführend und allen Lebens bis zum Tod und über den Tod hinaus als eines einzigen Zu Christus-Findens gebracht.
Und es war ihr ernst damit, weil es Jesus Christus so ernst war und bleibt … für alle, für alles!
Das aber macht den kosmischen Christushymnus der Kolosser zum tiefsten Grund der heutigen Stille. Weil er besingt, was alles im Karfreitagsschweigen verstummt:
Alles Leben – von der Anemone bis zur Zeder, vom stummen Reich der Tiefsee bis zu sprühenden Galaxien in größter Ferne, vom Menschen neben mir bis zur unsichtbarsten Mikrobe –… alles Leben ist in Christus, ist Teil von Ihm, … und wie Er Anteil nimmt an allem Daseins, so auch an allem Vergehen.
Was auf Erden verunziert, verunstaltet, verunmöglicht wird, … was man quält, was man ausrottet, was wir Stunde für Stunde verdrängen, verlieren, vernichten in der Schöpfung, … was an Menschen versucht und verbrochen und versäumt wird - das ist alles Karfreitag.
Der Krieg ist Karfreitag.
Genozid ist Karfreitag.
Der Hunger ist Karfreitag.
Vergewaltigung ist Karfreitag.
Abtreibung ist Karfreitag.
Vertreibung ist Karfreitag.
Landraub ist Karfreitag.
Waldbrand ist Karfreitag.
Giftwolken sind Karfreitag.
Dürre und Flut sind Karfreitag.
Das winter- und das bienenlose Jahr ist Karfreitag.
Der Wahnsinn von Saporischschja, das russische, nord-koreanische, iranische Spiel mit der Bombe und die gesamte Weltzerstörungskunst der Menschen sind Karfreitag.
Jeder Tag unserer noch verbleibenden Zeit ist also ein stiller Tag vor Gott.
An jedem Tag wird Gottes Werk misshandelt, Gottes Recht gebrochen, Gottes Reich und Königsherrschaft mit einem Spottvers am Kreuz über der Welt verhöhnt.
An jedem Tag schneidet es Gott ins Fleisch, raubt es Ihm die Kräfte, treibt es Ihm die Tränen, füllt es Ihn mit Galle, wenn Er Sein schönes Gewand - die Schöpfung - von den Quälern verspielen und verscherbeln sieht (vgl. Joh.19,24), … wenn Er Seine Mutter den Waisenkindern der Welt überläßt und Seine Liebsten und Freunde mit brechendem Herzen erlebt (vgl. Joh.19,26f), … wenn Er Seine brüllende, brennende Sehnsucht mit dem Sadismus derjenigen verschärft erfährt (vgl. Joh.19,28f), für die Er doch leidet, blutet und stirbt. ——
Jeder unserer Tage und viele unserer Taten sind also eigentlich von der Stille des Karfreitag umgeben, durchdrungen und begraben, … auch wenn wir noch so geflissentlich Radau dabei machen, … auch wenn wir noch so geschäftig klappern im Weltgetriebe, … auch wenn wir noch so gemütlich vor uns hin pfeifen oder genüsslich über die Schädelstätte tanzen: … Das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung, das Haupt des Leibes wird doch geschunden, ausgeweidet, abgestochen, umgebracht um uns herum und von uns mit. …….
Stiller Tag.
Schockstarr voll aller Schrecken.
Stillstand im Schlimmen.
Stilleben unserer Eitelkeit, unserer Gier und Grausamkeit.
Und dennoch … … … …
… Was uns heute - endlich wieder! - geschieht, ist mehr als alle Stille, alles Verstummen die eigentliche Wahrheit dieses Tages, an dem jeder Krach, der geschlagen wird, und alles Geschrei und Weinen zuletzt doch nichts zu sagen haben.
Was uns heute geschieht – dass wir in die Schockstarre der Schuld und das Schweigen des Todes hinein die Kirche singen hören! –, das ist das Wesentliche des Karfreitag.
Denn gerade der Karfreitag setzt dem Schweigen ein Ende!
Wäre nur die Schöpfung dem Verderben ausgeliefert und nicht auch der Schöpfer: … Es wäre vorüber! …
Nähme allein das Werk Schaden und träfe es nicht auch den Meister: … Es wäre vorbei! …
Stürzte sich bloß der Mensch in das Unglück und den Abgrund und träfe er dort nicht auf die Gemeinschaft mit dem Menschgewordenen: … Es wäre die unendliche Nacht, die unzerreißbare Stille, die unumkehrbare Verlorenheit der Hölle! …
Doch nun hat Der, in Dem alle Fülle … - ALLE FÜLLE! - wohnt, das Unglaubliche getan: Er hat Seine Erfülltheit in die Leere getragen!
Er hat das Nichts mit Sich - dem All! - durchdrungen!
Er hat den Tod durch Sein dahingegebenes Leben unterwandert, übertroffen, verdrängt und gesprengt!
Er hat tatsächlich durch Sein Blut am Kreuz Frieden gemacht.
Und davon singt die Kirche ihren Hymnus – … diesen kosmischen Hymnus, der kein Frühlingslied und kein orphischer Gesang von den Elementen ist, sondern der Jubel der vollkommenen Erlösung, das Preislied auf die weltweite und vollständige Versöhnung dadurch, dass der Lebendige dem Tod das Recht bestritten hat, die letzte Entscheidung zu fällen.
Weil Jesus Christus sich entschieden hat, den Tod anzunehmen, kann der Tod keine absolute Macht mehr beanspruchen. Die Freiheit des Lebendigen und Seine Freiwilligkeit im Sterben haben die Gewalt der Endlichkeit gesprengt.
Jetzt herrschen Zukunft und Hoffnung (vgl.Jer.29,11)!
Und darum – diese Worte sollten wir im Katstrophenstrudel und Konfliktsturm der Gegenwart sehr bewusst hören! – … und darum sind das Ende des Krieges und die Bewahrung der untergehenden Schöpfung und die Aussichten aller Lebenden, aller Wesen entschieden!
Denn „es ist vollbracht“ (vgl.Joh.19,30)!
Christus ist unser Frieden (vgl. Eph.2,14)!
Die Welt ist mit Gott versöhnt (vgl. 2.Kor.5,19)!
… Das ist kein stiller Tag!
… Es ist der Tag, die Fülle der Gnade zu besingen, mit der Gott uns aus der Finsternis in das Reich Seines geliebten Sohnes versetzt hat, in dem wir - und alle Welt! - die Erlösung haben, nämlich die Vergebung der Sünden und den Frieden durch Sein Blut am Kreuz!
Amen.
[i] Vgl. Apostelgeschichte 12, 2.
[ii] In einer herrlichen Auslegung des Kolosserbriefes, mit der Friedrich von Bodelschwingh 1936 einen impliziten Kommentar zur Barmer Theologischen Erklärung vorlegte, thematisiert er die schon vor hundert Jahren umstrittene Urheberschaft des Paulus unter feinfühligen Hinweisen auf die Veränderungen, die gerade in einem Alters- und Gefangenschaftsbrief erwartbar sind: „Aber dann erlebt Paulus immer wieder, wie das Geheimnis Gottes, das ganz dunkel scheint, doch ganz hell wird. Er kann nicht arbeiten, aber er kann denken. Er kann nicht predigen, aber er kann beten. Er kann seine Fesseln nicht lösen, aber als ein Mensch Gottes, der auch für das Schwerste danken darf, ist er fei. Darum ist der alte Paulus von unerhörter Jugendlichkeit. Darum atmet der Gefangene Christi in der Luft herrlicher Freiheit. Von hier aus wundere ich mich nicht, daß die Fragestellungen und Gedanken in diesem Brief etwas anders sind, als sie in den aus der Freiheit und aus voller Arbeit geschriebenen Briefen an die Galater, die Römer und Korinther klingen. Ich wundere mich nicht darüber, daß der alte gefangene Mann, über dem das Geheimnis Gottes ist, mehr als früher seine Blicke richtet auf das Geheimnis und die Fülle des Christus. In der Haft ist diese große Seele still geworden. Sie hat gelernt, daß das Handeln Gottes nicht in den kurzen Wellen verläuft, die an der Oberfläche unserer kleinen Lebens- und Arbeitsgeschichte sichtbar werden. Von der kurzatmigen Betrachtung der Kirchengeschichte, in die wir immer so leicht verfallen, ist er gründlich frei geworden. In der heiligen ὑπομονἡ (Geduld), in dem Drunterbleiben unter der Last, und in der lebendigen Hoffnung, die ihn, allen Hemmungen der Gegenwart zum Trotz, erfüllt, atmet er in dem langen, ruhigen Rhythmus göttlicher Geschichte. So redet er zu seiner Gemeinde und zu uns von dem Geheimnis und der Fülle Christi in der Heilsgeschichte“ (Friedrich von Bodelschwingh, Das Geheimnis und die Fülle Christi in der Heilsgeschichte nach dem Kolosserbrief, Bethel 1936, S. 5f).
Gründonnerstag, 06.04.2023, Stadtkirche, Lukas 22, 39 - 46, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Gründonnerstag- 6.IV.2023
Lukas 22, 39-46
Liebe Gemeinde!
Was ist los? – Immer wieder behaupte ich doch, man solle die Bibel am liebsten das Buch „Fürchte-dich-nicht“ nennen ….. – und dann bricht sie derart in sich zusammen?!
….. Statt des fundamentalen Trostes, statt der grundlegenden Ermutigung, die wir in ihr suchen, lässt sie uns an diesem kritischen Abend völlig im Stich! Wenige Stunden vorm schwärzesten Tag im Kirchenjahr, zu einem Zeitpunkt, an dem wir Christen - wenn überhaupt - zur Feier des Heiligen Abendmahles kommen, um dadurch gestärkt und angesichts der morgigen Erschütterung vergewissert zu werden, stürzt die mühsam aufrechterhaltene Fassade ein: Jesu letzter Weg ist kein Vorgang - kein Vorangehen -, bei dem man vertrauensvoll nachfolgen könnte, …gewiss, dass sein Geleit unser Schutz sein werde.
….. Das Gegenteil zeigt sich heute in bestürzender Nacktheit.
Es ist wie immer, wenn Vorbilder oder Autoritätsfiguren entmythologisiert werden: Der vermeintliche Saubermann erweist sich als heimlicher Schmutzfink; der gefeierte Held ist in Wahrheit ein notorischer Versager; die tadellosen Mustermenschen verstecken ihre Webfehler offenbar nur geschickter als die, denen man die Risse, Narben und Nähte sofort ansieht. Doch wenn irgendwann die Defizite nicht mehr zu vertuschen sind und die Skandale ruchbar werden, dann ist die Enttäuschung umso größer! … Auch hier war also kein Verlass!
… Auch Du, mein Herr Jesus – … Du „Menschensohn in seiner Herrlichkeit“ (Matth.25,31), … Du uranfängliches, ewiges „Wort, das bei Gott war“ (Joh.1,1) –, bist also schlicht ein Schisser?! …
Um diese Frage geht es tatsächlich, wenn man die auf das Abendmahl folgende Szene am Ölberg beim Evangelisten Lukas verfolgt.
Was Lukas vom Leidensdruck und Gebetskampf Christi im nächtlichen Hain erzählt, in dem noch heute knorrige Bäume stehen, die uns - wenn wir die Sprache der Pflanzen nur besser verstünden - berichten könnten, wie es eigentlich gewesen, … das ist einer der umstrittensten Züge der Passion.
Lukas berichtet nämlich von einer so schwachen Stunde des Herrn, dass es mehr als erstaunlich erscheint, ausgerechnet beim einzigen Heiden unter allen Zeugen des Neuen Testaments so schonungslos die Hinfälligkeit des Erlösers aufgedeckt zu sehen. Griechische Götter leiden nicht - jedenfalls nicht physisch -, und wenn griechische Halbgötter Prüfungen und Qualen ausstehen müssen, dann erweisen sie sich als Heroen.
Der griechisch-sprechende Arzt Lukas aber weiß, dass der Mann aus Nazareth, dessen armselige Geburt im Viehtrog ebenfalls nur er überliefert hat, kein mythischer Held ist. Was immer Rudolf Bultmann sich unter der Entmythologisierung vorstellte, haben die biblischen Autoren jedenfalls längst vor ihm schon ähnlich begonnen und besorgt: … Projektionen des Idealen, symbolische Überdehnungen und Überschreitungen des Realen schienen ihnen im Blick auf denjenigen, in dessen Fleisch und Blut sie auf Gott stießen, nicht hilfreich. … Ein Kind mit Zauberkräften, ein körperloser Himmelsbewohner, ein die Materie nur transparent durchströmender Geist[i] - wie apokryphe Lehren und Legenden sie aus Jesus formten -, sind den vier biblischen Evangelisten durchweg fremd. … Jesus isst und weint und zürnt und schläft nach ihrem Zeugnis wie alle Sterblichen, er dürstet, spuckt und streichelt, er nimmt in Tempel und Synagoge am Kultus teil wie jeder andre vom Weibe geborene Mensch auch.
Jesus ist echt. … Er bedeutet nicht … er ist!
– Diesen Grundsatz sollten wir uns merken.
Lukas, der Arzt allerdings hat diese Realität, diese Menschenwirklichkeit, diese physische Greif- und darum auch Angreifbarkeit Jesu im Heulen und Zähneklappern an der Schwelle zwischen Gründonnerstag und Karfreitag - zwischen letztem Festmahl und letztem Atemzug Jesu - in zwei Versen so ungeschönt benannt, dass es schon den frühesten Kopisten des Neuen Testaments anstößig schien, seine Worte und die von ihnen beschriebene Wirklichkeit zu überliefern.
In einem besonders bedeutenden und berühmten Codex – dem Sinaiticus, der auf romanhafte Weise im Katharinenkloster entdeckt wurde und die älteste vollständige Abschrift des Neuen Testaments darstellt – sind die fragliche Vers enthalten, wurde aber von einer späteren Hand vorsichtshalber gestrichen und dann erst von dritter Seite wieder eingetragen[ii].
Worum es geht? – Zwei Begriffe, die im Neuen Testament einzig hier stehen: „Schweiß“ und „Agonie“.
Beide dieser schonungslos körperlichen Phänomene hat Lukas als Wesen und Wirkung der grauenhaften Angst Jesu vor den Schmerzen des Todes benutzt. … Und gerade den griechischen Gläubigen und Theologen schienen das dann doch zu drastische Vorstellungen im Blick auf den geistgesalbten und verklärten Herrn. Es sind eher die westlichen und afrikanischen Kirchenväter, deren Predigten und Auslegungen auf die Verse vom fieberhaften Angstanfall, vom klatschnassen Schüttelfrost der Panik Jesu zu sprechen kommen[iii].
Unverkennbar unerfunden jedenfalls, viel zu echt, um fiktiv zu sein sind diese Details aus Gethsemane. Sie schildern einen wahren Menschen. … So echt, dass der einzige bewusst christlich erzogene römische Kaiser, der später geradezu missionarisch diesen christlichen Kinderglauben ablehnen und im 4. Jahrhundert ein Wiederaufleben des Heidentums herbeizwingen sollte - Julian Apostata - genüsslich den peinlichen Nervenzusammenbruch Christi vor seiner Verhaftung zitierte[iv]. Kaiser Julian protegierte die Verehrung der glühenden Sonne selbst … nicht aber die eines Schwächling, der triefend in der Nacht des eigenen Untergangs auf dem Boden lag und erst von Engeln halbwegs wiederaufgerichtet werden musste.
… Und in der Tat: Auch der Zug, dass Jesus nicht völlig autonom und siegesgewiss zur Passion schritt, sondern Beistand brauchte, erwies sich für die Christen als peinlich: Ein Retter, der auf Engel angewiesen ist, deren Macht er doch so himmelhoch überragt (vgl. Heb.1,4ff) … ist das in seiner Menschenwirklichkeit nicht allzu absurd? …….
Die beiden Verse, in denen der psychosomatische Kollaps des Herrn nach seinem letzten Abendmahl begegnet, sind also wirklich unerfindlich. Noch in unserm neuen Lektionar stehen sie in doppelten Klammern: Man muss nicht über sie predigen – zu unsicher und zu verunsichernd sind diese Sätze … und für heutiges Empfinden natürlich auch zu fromm und legendenhaft mit ihrem Schutzengel-Mythos.
Dabei sind sie aber doch gerade das Gegenteil: Reine Entmythologisierung, reines Zeugnis der radikalen Menschwerdung Jesu. Reine Botschaft seiner Wirklichkeit.
Sie wollen nicht davon überzeugen, was Jesus bedeuten könnte, sondern sie zeigen, dass er wahr ist! ——
Und mit dieser Botschaft sind diese beiden Verse tatsächlich so etwas, wie die Untermauerung und Verdeutlichung des Sakramentes selber, dessen Einsetzung ihnen am Gründonnerstag unmittelbar voranging.
Jesus, der echte Mensch ist kein bloßes Zeichen, kein an sich bedeutungsloser Verweis. Sondern er selber ist die Wirklichkeit und Gegenwart, um die es geht: Wer ihn sieht, der sieht Den, Der ihn gesandt hat (vgl.Joh.12,45).
In Jesus ist Der präsent - real präsent -, Der ohne Übertragungen und ohne Übertreibungen das Leben ist, … Der die Fülle ist, … Der das Ganze, das Original, die Schöpfung, das Universale ist, … das Alpha, das Omega, … der Grund und sämtliche Entfaltung, … der Ruf und jede Antwort, … das Atom und die Unendlichkeit, … die Mitte und die Fläche, … der Ausgangspunkt und die wiederholungslose Weite, … das Korn und das Brot, die Traube, der Wein, … … … das Wort und das Leben!
Wenn alle diese umfassenden, kosmisch-immanenten und geistig transzendenten Inklusions-Versuche aber auch nur einen fernen Begriff von dem eröffnen, was die Inkarnation, was die Menschwerdung des einzigen Gottes im eingeborenen Sohn bedeutet, dann versteht sich, dass zu dem, was sie umfasst und umfängt, auch das unglaubliche Potential unserer eigenen Erfahrungen des Menschseins gehört.
… Dann ist in Jesus also ebenso präsent - real präsent! - die überschwengliche Seligkeit und der totale Horror, die Menschen erleben können:
In Jesus ist dann alles Lachen und Weinen, … alles Glück und alles Leid, … das Schweben und Stürzen, … die Leichtigkeit und das Verschüttetsein, … die himmelweite Liebe und die abgrundtiefe Angst, die in uns glühen und hausen, … das aberwitzige, widersprüchliche, farbensprühende und totgefrorene Mosaik der Emotionen, Regungen und Passivitäten der Menschenseele, ……. in Jesus ist dann alles das auch lebendig und wahr!
Wenn er tatsächlich Mensch geworden ist, dann gab es keinen Filter, der bestimmte Anteile des Menschseins bei ihm aussiebte: Was nicht heißt, dass er die Sünde - also die menschliche Ablehnung Gottes - in sich trägt, aber doch ohne jeden Zweifel erleidet er sämtliche ihrer Symptome, … alles, was sie in uns auslösen und erschweren, … alles, was sie bitter, sauer und giftig in uns machen kann.
Wichtig ist ja, dass nicht unsere Menschheit, unser Menschenleben an sich böse ist - wie die christliche Überlieferung so oft missverstanden wird –, sondern dass in uns auf der ganzen Linie eine permanente Reaktion auf das Böse herrscht, eine Reaktion gegen die Sünde, ein Abstoßungsversuch gegen das tödliche Virus der Gottfeindlichkeit, das sich in uns allen immer weiter auszubreiten versucht.
Genau aber diese Folgen unseres ständigen Dem-Gegengöttlichen-Ausgesetzseins hat Jesus getragen, erlitten und an Seinem eigenen Leibe bekämpft bis zum Durchbruch der Heilung.
… Wenn von Ihm also nur harmlose, harmonische oder symptomlose Zustände überliefert wären, wenn Er wie ein gleichbleibendes Plastinat, ein bewegungsloses Standbild lediglich das Ideal eines Menschen verkörperte, genau dann wäre Jesus für uns und unser Heil bedeutungslos.
… Was Er dagegen durchgemacht hat, das wird Er auch übertragen.
Was Er überstanden hat, das wird auch uns widerstandsfähiger machen.
Was immer Er an Mangel, an Schmerzen, Ärger und Angst erfuhr, das macht Ihn und durch Ihn auch uns kräftiger, sie zu überwinden.
Dass wir die Bibel das Buch „Fürchte-dich-nicht!“ nennen dürfen und dass wir aus ihr - aus dem Wort also - und aus dem Sakrament, das wir heute feiern, tatsächlich auch Arznei gegen die Furcht, Immunität gegen die Einschüchterung, Abwehrkräfte gegen die Todesangst gewinnen können, das liegt gerade daran, dass Jesus diese alle so leibhaftig und wirklich ausgestanden hat.
Seine Agonie und Sein wie Blut strömender Schweiß sind die realen Reaktionen in Ihm auf das, was uns von innen heraus zerstören würde: Die Gefahr, dass wir ohne Gott leben und folglich auch sterben würden, wenn es Jesu Leben und Sterben mit Gott nicht gäbe.
Der diagnostische Blick des Arztes Lukas hat genau diese Vorgänge festgehalten:
Die nächtliche Krise, in die Jesus mit Leib und Seele am Ölberg gerät, ist ein Fieber, das den Kampf um Seinen Körper und Sein Leben einläutet.
Wenn er von den weiteren Episoden dieser schrecklichen Krankheit, die die Sünde auslöst - dieser Krankheit zum Tode - verschont bliebe und darum den Kelch voll bitterer Medizin nicht bis zum letzten Zuge trinken müsste, dann könnte Er zwar davonkommen, aber Seinem Leib bliebe auch der schwerwiegende Prozess der Genesung fremd. … … … Seinem Leib, … das sind wir!
Wir, denen Er genau das heute schenkt: Sich. Sein Leben in Seiner psychosomatischen Wirklichkeit. Sein Leben, das durch die Angst und alle Schmerzen hindurchmusste. Sein Leben, das auf allen Stufen seiner organischen und seelischen Anfechtungen für jeden Menschen und jede Menschenerfahrung die Mittel zum Überleben, zur Heilung, zum vollen Heil ausgebildet hat.
Nur Er, Der unsre Angst bewältigt hat, kann unser Friede werden.
Nur Er, Der unsere Krankheit trug, kann uns gesund machen.
Nur Er, Der unsern Tod gestorben ist, kann uns das Leben schenken.
Nur Jesus, Der das nicht bedeutet, sondern Der das IST:
Opfer der grausam echten, aber auch real überwundenen Menschenangst vorm Sterben.
Dulder der schrecklich einsetzenden, aber auch endgültig besiegten Qualen der leiblichen Zersetzung.
Einziger Fall und nunmehr ewig Überlebender der unvorstellbaren, … aber auch nie mehr wiederkehrenden tatsächlichen Gottverlassenheit im Reich des Todes.
Jesus IST das.
Und das Abendmahl schenkt uns diese Wirklichkeit: Seinen Leib, Sein Leben, die wirklich heil, gesund und dadurch lebenspendend sind. ——
Darum wollen wir nun aber aufstehen und beten – wie Er es nach der Furcht- und Fieberkrise von Gethsemane den Seinen befohlen hat. Wir wollen aufstehen, beten, danksagen, Seinen Leib und Blut, Seine Wirklichkeit, Sein Leben selber empfangen und dann durch alles, was kommt, mit Ihm gehen … in den Tod, … und in die Auferstehung!
Amen.
[i] Legenden von Jesu kindlich-mirakulöser Anwendung der Schöpfervollmacht beim Spiel finden sich in den sog. Kindheitsevangelien (auch dem sog. Protevangelium des Jakobus), während andere heterodoxe Evangelien (die man früher allzu undifferenziert schlicht „gnostisch“ nannte) Jesus durchaus in mythischer, dualistischer und spiritualistischer Weise deuten.
[ii] Vgl. dazu: Hans Klein, Das Lukasevangelium (KEK I/3. 10.Aufl. - Göttingen 2006), S. 681, Anm. 10.
[iii] Vgl. dazu Joseph A. Fitzmyer, The Gospel according to Luke X – XXIV, (Anchor Bible Vol.28A) New York 1985, S. 1443, wo zu den lateinischen Belegstellen dieser Verse die Schriften von Justin Martyr, Irenäus, Hippolyt, Eusebius, Didymus dem Blinden und Hieronymus aufgezählt werden, während die großen griechischen Väter (aber auch Ambrosius), mit ihrer stärker spirituell ausgerichteten Anthropologie diese krass körperlichen Umstände im Rahmen der lukanischen Gethsemane-Perikope nicht zitieren.
[iv] T. Baarda, Luke 22:42-47a, The Emperor Julian as a Witness to the Text of Luke, in: Novum Testamentum 30, S. 289-296.
Palmarum, 02.04.2023, Stadtkirche, Johannes 12, 12 - 19, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Palmarum - 2.IV.2023
Johannes 12, 12-19
Liebe Gemeinde!
Mir ist, als müssten wir heute eine Münze über ihn werfen … über Jesus, den Nebensächlichen, … oder Jesus, den Lächerlichen, … oder Jesus, den Eigenbrötler. …….
Mir ist, als müssten wir eine Münze über ihn werfen, weil es so unentschieden offen ist, was er an diesem Palmsonntag will: Fällt die Münze mit dem Bild nach oben, nehmen wir ihn meinetwegen trotz der albernen Begleitumstände ernst; landet das Geldstück aber mit aufgedeckter Ziffer, dann können wir grinsen, es einstecken und weitergehen und lassen den gestörten Obdachlosen, der vielleicht auch noch ein bisschen beduselt ist, weiter spielen, er sei ein großer Macher, ein Boss, ein König. …….
… Machen wir uns jedenfalls … bei jedem Fall der Zufallsmünze nichts vor: Der Mensch auf dem Esel, den wir als die Attraktion dieses Tages zu sehen gewöhnt sind, fällt nicht wirklich auf im Getriebe des frühlingshaften Jerusalem, kurz vorm Passafest. Da sind viele heilige und viele unheilige Leute unterwegs, Fromme und Spinner, Menschen mit grellen Wahnvorstellungen und solche mit einer inbrünstigen Mission, rechte Israeliten, in denen kein Falsch ist (vgl. Joh.1,47) und durchgeknallte Neurotiker der Endzeitsehnsucht. Bettler wuseln zuhauf durch die Straßen, selbst die Stillen im Lande wimmeln verklärt zu den schönen Gottesdiensten in Zion (vgl. Ps.27,4c), und Parolen, Gerüchte und Wünsche erwachen mit dem Sonnenaufgang und erfüllen die Atmosphäre so durcheinander wie die vielen Leiber, bis es dunkel wird und die zahllosen Träume der schlafenden Massen kommen. … Da ist einer im schmutzigen galiläischen Handwerkerkittel auf einem alltäglichen Satteltier eigentlich gar kein Aufhebens wert.
Und tatsächlich: Ausgerechnet der Evangelist Johannes, der so viel Unvergleichliches von Jesus erfahren hat, als er an seiner Brust lag und in sein Herz hören durfte (vgl. Joh.13,13/ 21,24)) …ausgerechnet Johannes, der noch tiefer und klarer als die drei anderen Evangelisten die überirdische Erhöhung und Ewigkeit und Größe Jesu erkennen durfte, gibt uns eine Palmsonntagsschilderung, in der Jesus unverkennbar nicht die Hauptfigur ist. Er mag zwar die Mitte sein, aber an diesem Tag geht es in Wirklichkeit nicht um ihn, sondern um die Menge. Mit der fängt alles an; mit ihr hört alles auf[i]. Nur irgendwo dazwischen ist Jesus gerade noch zu entdecken: … Wie er entweder tut, was ihm von den Vielen treuherzig zugetraut wird … oder wie er unbekümmert und völlig isoliert gegen ein ins beliebig Allgemeine wuchernde Missverständnis protestiert.
Welche von beiden Rollen er aber mitten in der Dynamik der Masse einnimmt: Darüber - ist mir - müssen wir wohl die Münze werfen.
Zunächst scheint es ja sonderbar und wunderbar, wie selbstverständlich hier die Initiative von den Menschen ausgeht: Auf die Kunde von Jesu Kommen hin geraten sie in Bewegung. Weil er ihnen angekündigt, weil er ihnen verkündigt worden ist, machen sie seinen Weg und sich für ihn bereit! Das ist „Glaube, der aus dem Hören kommt“ (vgl. Rö.10,17), und diese Bereitschaft auf das bloße Wort von Christus hin, ihn selbständig einzuholen, ihm ausdrücklich Raum zu geben und ihn bewusst zu empfangen, unterstreicht welche Beteiligung, welch eine Aktivität im Verhältnis zu Gott auf Seiten der Menschen liegen kann: Johannes’ Schilderung lässt ja durchaus den Eindruck zu, dass Jesus den prophetisch vorgesehenen Esel nur deshalb auch ritt, weil die lebhafte Erwartung und das aufgeschlossene Drängen der Menge ihn dazu bewegte.
Ein Heiland zeigt sich da, der dem Heilswunsch bei den Menschen folgt, … ein Gott, Der die Gottesfrage der Welt freiwillig mit Sich Selbst beantwortet.
Das auslösende Motiv jedenfalls für den heutigen Palmsonntag ist nach diesem Verständnis bei uns zu suchen: Wenn wir Ihn wollen, kommt Gott! Wenn wir dazu bereit sind, wird die alte Heilsverheißung heute Wirklichkeit! Wenn wir – endlich! - das Reich Gottes suchen, erscheint sein König mitten unter uns!
… Paul Gerhardts schöner Vers „Ihr dürft euch nicht bemühen, / noch sorgen Tag und Nacht, / wie ihr ihn wollet ziehen / mit eures Armes Macht“ (EG 11,7) hat vielleicht doch allzu lange allzu tatenlose, willenlose, wunschlose, leblose Haltungen in der Gemeinde befördert. Es dürfte an der Zeit sein, wieder zu lernen und zu üben, dass Gott - wie Bonhoeffer es sagt (vgl. EG 813) - in der Tat „wartet und antwortet“ auf unser Beten und Tun.
Es dürfte an der Zeit sein - und ist es gerade heute! - zu erkennen, dass wir nicht in passiver Teilnahmslosigkeit verharren dürfen, als gingen uns Heil und Unheil, Leben und Tod, Zukunft oder Vernichtung schlicht nichts an. Im Gegenteil: Die Menge in Jerusalem, deren Sehnen und Harren den Messias auf die richtige Bahn brachte, deren Erwartung ihn zur Erfüllung trieb, deren Einsatz also durch seinen Einsatz beantwortet wurde, … diese ungestümen Sucher und Sänger und Palmsonntagsaktivisten dienen uns als Vorbild: Wenn uns das große und wahre Leben gleichgültig ist, weil Gott uns nicht interessiert und der Heilsplan des Schöpfers und Erlösers uns nicht juckt, dann wird nichts geschehen. Und wo nichts geschieht, sondern es bleibt, wie es ist, da geht es zuende. Unsere Rettung und die Rettung der Welt ereignen sich nur dann, wenn wir uns nach dem strecken, was da vorne ist (Phil.3,13) und zu Menschen werden, die der Kommende bewegt.
Palmsonntag ist demnach die Zeitansage für uns jetzt: Nur wenn wir es wollen, wird Der Sich auf den Weg machen, Der die Zukunft ist. Wenn wir aber bloß für uns, wenn wir also unzukünftig leben, dann bleibt tatsächlich auch aus, was wir erbitten, erhoffen, erkämpfen und erglauben sollen!
Darum aber lasst uns aufsehen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens (Heb.12,2)! … Wo man nicht aufs Vergehen setzt, da kommt Er, und wo man Ihn nicht aufgibt, da bricht Er auf! …….
Wenn also die Münze so herum fällt - die Hoffnungsseite nach oben -, … ja, dann will ich diesem König gerne dienen! Denn die Welt braucht Ihn so sehr: Den, auf Den die Hoffnung setzen kann! Den, Der Sich von den Hoffenden rufen lässt! Den, Der Selber die Antwort ist auf die Frage, ob noch Hoffnung sei?!
… Diesem König der Hoffenden will ich gehören, Ihn will ich herbeisehnen und -zwingen voll Zuversicht und Fröhlichkeit mit allen, die in Jerusalem und in Kiew, in Teheran und in Minsk, in Paris und in Odessa, in Washington und in Moskau, in Brüssel und in Luhansk, in Fatima und in Charkiw, in Sanaa und in Bakhmut den Frieden und die Versöhnung und das Leben und das Reich Gottes suchen!
Amen, … ja, komm Herr Jesus (Offenb.22,20)! ———
Doch was, wenn es ganz anders wäre, wenn die Münze durch Zufall das Gegenteil aufdecken sollte?
… Es könnte ja sein, dass die Menge, die da so frenetisch, ja fanatisch tobt und einen großen Auftritt, einen kraftvollen Auftritt herausfordert, eine ganz fürchterliche Macht beschwören will. Massen und Mengen sind ja Brutstätten und Resonanzräume ganz aberwitziger Phantasien: In der Meute fühlen sie sich stark, und als ihr eigenes Spiegelbild, als groteske Projektion der unzufriedenen Ohnmacht der vielen kleinen Leute putschen sie sich auf im Herbeigrölen eines Volkstribuns, eines starken Mannes. Palmsonntag könnte auch das Fest des losgelassenen Populismus sein. Sie skandieren: Her mit dem Helden! Heil! Heil! Heil! …
Das scheinen in den Groß- und Hauptstädten der Welt, in den aufgeklärten Gesellschaften nicht weniger als in den Diktaturen ja auch heute noch - oder heute wieder - sich sehr viele zu wünschen: Großmanns-Träume … Riesen-Rhetorik … Weltherrscher-Triumphe …
Wenn es nach den Massen ginge, dann würde der König womöglich so schlicht und dumpf, so selbst- und rachsüchtig, so brutal und skrupellos auftreten, wie Hinz und Kunz, wie Tom, Dick and Harry in ihren kühnsten Träumen es nur allzu gerne wären. … Und ob in Rom oder Peking, Brasília oder Pjöngjang, im Kreml oder der Knesset, ob durch freie Wahl oder durch erzwungene Knechtschaft: Die Stimme der Straße und das Gesetz der Einschüchterung bringen überall und immer wieder den schrecklichsten Anti-Gott und das verzerrteste Bild vom freien Menschen hervor: Den Tyrannen.
Dann aber wäre das, was die Leute herbeisehnen, … dann wäre die Gunst des Volkes unter Umständen etwas Gemeingefährliches. Und wir täten gewiss gut daran, jene, die Nerv und Nervenkitzel der Horden treffen, zu meiden.
Sollte es also eine Massenbewegung sein, die uns der Evangelist Johannes da zeigt, wo er die lautstarke Umtriebigkeit der zusammengewürfelten Festpilgerschar beschreibt, die sich in Jerusalem in Königslaune steigerte, dann vergessen wir das Spektakel am besten so schnell wie es aufflammte.
… Wenn da nicht, … ja, wenn da nicht der stumme Protest Jesu gegen die Großmannssucht und die Gewalteuphorie wäre, die die Menschheit so oft ergreifen, wenn sie nach Lösungen und Perspektiven für das Leben sucht.
„Hipp-Hipp-Hurra! … Take back control! … Lasst die KI das machen! … Rettet das Vater-land! … Hisst die Regenbogenfahne des Fortschritts! … Alle Macht für uns! … Nieder mit den Waffen der anderen! … Wir wollen alles - und zwar alleine!“, das ist so schnell, so scharf, so laut geschrien, wenn viele sich gegenseitig anfeuern. …
… Und vor tosendem Tumult sieht und hört man kaum jene kleine, graue Gegendemonstration, die da gegen die Strömung weist.
… Denn durch das große Gegröle, … durch die von ihrem eignen Chor berauschte Parade der Parolen hindurch zottelt ein lächerliches Bild:
Ein blasser Typ. … kein plakativ strotzender Publikumsmagnet.
Auf einem Esel.
Unscheinbar wie die Prosa dieser Erde.
Einsam.
Kein Spruch. Kein Versprechen.
Null Aura. … Es sei denn – wenn man ihn ganz aus der Nähe vielleicht doch wahrnähme –, dass man unterm irdisch-tierischen Dunst, den der Esel verbreitet, da noch einen Hauch von etwas anderem ahnte: Er war zwar erst kürzlich verschwenderisch kostbar gesalbt worden in Bethanien (vgl. Joh.12,3) - völlig unpassend bei einem solchen bescheidenen Allerwelts-Mann! - , aber es waren doch immer noch die gleichen Kleider, in denen er ebenfalls in Bethanien zuvor in der Tür eines Grabes gestanden hatte, aus dem bereits der unverwechselbare und unvergessliche Gestank des Todes hervorquoll (vgl. Joh.11,39).
Dieser nach Parfüm und Verwesung riechende Einzelne trottet auf seinem Esel nun aber geradewegs gegen die schaulustige und machtlüsterne Menschheit an. … Gezielt, bewusst und unverstanden zieht er – den sie an diesem Tag auf ihre Schultern gehoben hätten, um ihn hochleben zu lassen (so hoch, wie sie alle gerne immer wieder pokern und einander imponieren und dann auf jeden anderen herunterblicken würden) – … unverstanden, bewusst, gezielt also zieht er nicht zum Fest, sondern zur Fest-Nahme ein.
Er, der gegen sämtliche vitale Interessen der Machtmenschheit verstößt, hat für sich die via dolorosa gewählt: Die Schmerzensstraße, den Dornenpfad, die Sackgasse ins Grab.
Was für ein komisch-kauziger König er also sein will!
… König nicht des reißenden Lebenshungers, der die Welt in ihre Selbstzerfleischung stößt, sondern Häuptling und Vorhut der Sterbenden, … Kreuz-König, … erster und letzter Vertreter, Stellvertreter aller Verrotteten, Verlorenen, … aller, die „Lazarus“ und „Hiob“ und „Rahel“ und „Tochter Jephtas“ und „Opfer“ und „Anonyma“ und „Erde“ und „Staub“ und „Asche“[ii] heißen. …….
… O, was für ein König er auch dann sein will, wenn die Zahl, das Zeichen der Zahllosen oben liegt!
Ein König der wirklichen Mehrheit! … Ein König der stimmlosen und stummen Masse, eine König all derer, die den Palmsonntag nicht erleben - oder den morgigen Tag.
… Ein König tatsächlich für alle.
… Was für ein König!
… Wie sollten wir Ihn nicht auch so herum ernst nehmen, wenn es gar nicht an unserem Wollen und Laufen liegt (vgl.Rö.9,16), weil Er da auf seinem Esel reitet und dann zu Fuß, strauchelnd und entkräftet weitergehen wird und leiden und sterben für die, die nichts können, … nichts sind und nie mehr etwas werden werden?!
Soll Er nicht auch so mein König sein, … unser König, unser Herr?!
… So, wie wir es niemals wollen und wählen könnten.
… So wie nur Er es Sich vornehmen konnte, weil Er über alle Hoffnung hinaus einen Weg geht und ein Ziel hat: Sein Weg, den Er nicht für Sich geht, Sein Ziel, das Er nicht um Seiner Selbst willen sucht. Weil es Ihm gar nicht um Sich geht, … sondern um die Menge!
Weil Er für sie, … für alle Welt da ist und dahingeht. Und das Tiefste teilen wird.
… Und das Leben.
Weil Er der König Aller ist.
– Fürwahr: „Alle Welt läuft ihm nach!“
Ja, „wie köstlich riechen deine Salben – du König! Zieh doch auch uns dir nach … so wollen auch wir laufen!“ (vgl. Hohes Lied 1,3f)
Amen.
[i] Das gilt buchstäblich für die Perikope unseres Predigttextes, die sehr deutlich hervorhebt, dass hier nicht die Menge auf Jesus, sondern dieser umgekehrt auf die Menge reagiert, und die dann in der Feststellung seiner universalen Akklamation mündet.
[ii] Lazarus begegnet innerneutestamentlich kaum zufällig auch als der, der erst durch den Tod Linderung seines ungerechten Loses erfahren konnte (vgl. Lukas 16,19ff); der -nach menschlichem Ermessen völlig grundlos geprüfte - Hiob wiederum erscheint im Jakobsubrief (5,11) als Identifikationsgestalt der (Jerusalemer) Urgemeinde; das Geschick der unglücklichen Rahel, die prototypisch für die erschütternde Sterblichkeit der Mütter steht, beschäftigt die Bibel vielfach (vgl. 1.Mose35; Jeremia 31, 15f; Matth.2,18); Jephthahs Tochter als Opfer buchstäblich patriarchaler Gewalt (vgl. Richter 11,30ff) weist auf die „Anonymas“ voraus, die in allen Konflikten und Kriegen der Geschichte bis in unserer Gegenwart so Unerträgliches erleiden müssen.
Laetare, 19.03.2023, Stadtkirche, Jesaja 54, 7 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Lætare - 19.III.2023
Jesaja 54, 7-10
Liebe Gemeinde!
Wer durch Israel reist oder mit Hebräisch-sprechenden Menschen zu tun hat, wird an der Klagemauer oder in den Bars von Tel-Aviv eine Wendung sofort aufschnappen, weil sie allgegenwärtig hin- und herschallt, von allen uralten Mauern der Stadt Jerusalem als Echo verstärkt und mit charakteristischer Geste unterstrichen.
… Seit 3 Jahren gibt es für die, deren Textnachrichten mehr aus knalligen Bildern als komplizierten Worten bestehen, auch ein Emoji, das sofort als das jüdischste aller Handzeichen identifiziert wurde, obwohl es eigentlich ein italienisch-temperamentvolles „Ma che vuoi?“ … „Was willst du denn?“ wiedergeben sollte. … Alle mit Herz und Zunge hebräisch tickenden Zeit-genossen erkannten aber in den spitz zusammengepressten drei ersten Fingern die unmissverständliche und gleichwohl vieldeutige Veranschaulichung des Rufes „Rega!“.
… »Rega!« ist der ewige Refrain im Leben der heilsgeschichtlich und auch sonst ungeduldig wartenden Juden. Es heißt: „Mach mal halblang!“, „Augenblickchen!“, „‘n Sekunde wirst Du wohl noch haben!?“ »Rega!«: „Bleib ma’ locker! … Halt ma’ still! … Hör’ ma’ her! … Sachte mit die jungen Pferde!“ Aber genauso auch: „ …Na, komm schon! …Wird’s bald?! …Sofort! …Jetze“, wie der Berliner bollert.
»Rega!«, das ist also das Zeitwort schlechthin im jüdischen Leben. Der »Rega!« -Rhythmus ergibt die Achtelnoten, die unter allen längeren Atemzügen klopfen, das Motiv der pausenlosen Spannung und des steten Achtgebens, der Puls der quicklebendigen Geduld und der ewig unruhigen Dauerbereitschaft für das Kommende.
»Rega!«: „Ruhig Blut!“. — »Rega!«: „Ganz bald!“ …………
Diesen lebendigen Doppelsinn kann das Wörterbuch kaum hergeben. Dort finden wir רגע als „Augenblick; verschwindender Zeitmoment“ wiedergegeben[i]. Der Begriff bezeichnet also das flüchtige „Nun“, in dem alles Leben für unser Wahrnehmen besteht: Die Spanne, die da ist, bloß um zu vergehen; das Jetzige, das unaufhaltsam endet und doch allezeit fortwährt, weil wir nur diesen Atemzug, … dieses Blinken unserer Augenlider, … diesen, just während ich Luft hole sich ereignenden Schlag des Herzens haben. … Ein »Rega« und wieder ein »Rega«. … Nie mehr zugleich. … Die Sekunde des Atmens, die sich ankündigte und verflog, während ich sie noch begreifen und nennen wollte. …….
Wenn sie im Volk Gottes also immer und überall, existentiell hastig und doch auch zu-tiefst beschwichtigend »Rega!«, »Rega!«, »Rega!« skandieren, dann hören wir darin das Lebendigsein selbst. Es ist voller ausgreifender Bewegung und doch nur momentan; es wiederholt sich nie, sondern bringt immer nur winzige Punkte hervor, in denen ich lache oder leide, in denen ich Druck oder Jubel spüre, in denen es furchtbar oder selig um meinen Leib und meine Seele steht. …
Momentaufnahmen; Augenblickserscheinungen; Sekundensplitter: Der Stoff des Ganzen, die Fülle der Geschichte und doch nie mehr als ein Bruchteil, ein Körnchen, ein Brosame.
Diese seltsamen Atome, aus denen Denken und Hoffen, Erfahrung, Erinnerung und Entwürfe bestehen, begegnen uns heut, am fröhlichsten Sonntag der Leidenszeit indes nicht von ohngefähr: Steht diese Mitte des Wegs Jesu in seine Passion doch unter dem Motiv der kleinen Zelle und des spröden Keims, die sich auflösen müssen - Korn, tief im Ackerboden -, um im Vergehen aufzuhören und zugleich aufzubrechen in bleibende Frucht (vgl. Joh.12,24[ii]).
Dass es aber dieses Geheimnis gibt, … dass die berstend vollen, unruhigen Momente der Zeit nun gerade nicht für sich stehen und ihren abgeschlossenen Sinn haben, sondern noch in ganz anderer Weise bleiben und wiegen und gelten werden, … dieses Geheimnis, das in jedem Augenblick schlummert und asugerechnet im Vorübergehen, im Vergehen und Vergangen-Sein aufgeht: Davon spricht das unglaublich tröstliche Gotteswort bei Jesaja, das uns heute zufällt als Same im Acker unserer Zeit- und Lebensgeschichte.
»Rega!«, sagt Gott darin. „Momentchen!“ … „Sekunde!“ … „Ruhig Blut!“ … „Alsbald!“
»Rega!«. ……. ———
In seiner schwersten Stunde, in der die Jünger ein Verdauungsnickerchen nach dem Fest hätten machen wollen und Jesus doch das Geheimnis aller Zeiten lüftete, da hat auch er es gesagt: „Ein »Rega« noch (griechisch: μικρὸν – Mikron) und ihr werdet mich nicht mehr sehen; und abermals ein »Rega«, dann werdet ihr mich sehen. Da sprachen einige seiner Jünger: Was bedeutet das, was er zu uns sagt: »Rega« … »Rega« …?“ (Joh.16, 16f)
… Was bedeutet das, wenn Gott, Der Ewige den Augenblick beschwört?
… Was bedeutet das, wenn Jesus, der geboren wurde, als die Zeit erfüllt war (vgl. Gal.4,4), von winzigen Momenten redet, in denen so Unfassbares wie Sonnenfinsternis und Tod und Abstieg in die Hölle bevorstehen?
… Was um Himmels und der Hölle willen bedeutet das Zeitwort »Rega!«, wenn es Gott ist, Der es nutzt?
„Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen … habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, … spricht der HERR, dein Erlöser“: Da steht es zweimal bei Jesaja, im schönsten Trostbuch der Bibel.
Martin Buber und Franz Rosenzweig, der durch seine ALS-Erkrankung völlig reg- und sprachlos in der Passivität Gefesselte, haben diesen Satz unter wunderbarer Verschmelzung der hebräischen Vokabel »Rega« mit unserer Muttersprache so verdeutscht: „Eine kleine Regung lang / habe ich dich verlassen … Als der Groll überschwoll / verbarg ich mein Antlitz / eine Regung lang vor dir …“
Eine »Regung« lang: Ein Aufwallen und Abebben lang. Einmal tiefes Ein- und wieder Ausatmen. …….
So fühlt also Gott: So ungeheuer lebendig ist Sein Miterleben, … so echt, … so beteiligt und eingebunden in alles, was Seine Menschen machen und durchmachen, … so direkt bewegt, angestachelt und durchdrungen von allem Leid, das sie verursachen und durchleiden.
Jeden Moment also teilt Gott, … die scharfen Schmerzstiche, die endlos wirkenden Krisenerfahrungen, in denen etwas Zugespitztes oder ein akuter Ausbruch sich für die Betroffenen anfühlen wie eine reine, unabsehbare Ewigkeit des Erstickens, der Lähmung, der Aussichtslosigkeit. Es sind REGungen, die Gott aufwühlen und in Wallung bringen, in denen Er scharf Luft holt, in denen es in Ihm bohrt und zittert und wie übermächtig wird: … Er zuckt zurück, … es ergreift Ihn, … Er wird verletzt, … es stößt Ihn ab, wirft Ihn um, … es bringt Gott raus!
So erlebt Gott unser Leben mit, so geschieht es Gott in unserer Geschichte, so geschieht sie Ihm und so geschieht sie durch Ihn.
Doch weil Er eben kein unbewegter Gott, wie der der Philosophen ist, …weil Er ein Gott der REGungen und Rührungen ist, … ein Gott, Der nicht in Seiner Ewigkeit wie in Beton erstarrt, sondern überfließt, wenn sich die augenblicklichen, die vorübergehenden Schrecken, Enttäuschungen und Schmerzen Seiner Menschen auch in Ihm aufstauen, darum kann der lebendige und mitleidende, der zürnende und schmerzempfindliche Gott Israels diesen einzigartigen, seltsamen Widerspruch formulieren:
Ich, der Gott des ewigen Erbarmens - ICH, Der Ewige also - BIN in Deinen Augenblicken! Ich bin der Moment-Gott!
Ich bin jetzt Gott … nicht obwohl, sondern weil es sich gerade in dieser Sekunde, an diesem Tag, in dieser Zeit so gar nicht danach anfühlt! …
Er sagt damit ein Zweifaches: Ich bin nicht außerhalb Deiner Welt - Israel - Gott, … bin nicht außerhalb Deiner Erfahrungen, Leiden und Verlassenheit Gott, sondern darin, verborgen in Deinem Verlassen-Sein, berührt durch Dein Abstoßendes, auf Dich bezogen durch das, was uns trennt.
Nicht im Jenseits also bin ich Gott, sondern im Vergehenden!
Und gleichzeitig sagt dieses unerhörte Wort, in dem Gott selbst sich ins Vergängliche und Vergehende eingliedert, natürlich auch dieses: Die Katastrophen der Geschichte, die zementiert erscheinenden Leiden und Unglückserfahrungen unter uns Menschen … vergehen!
Dafür greift Gott in der Botschaft durch Jesaja, in der Zeit des als unumkehrbar empfundenen Endes Israels nicht zufällig zurück auf die enormste kosmische Katastrophe, von der die Bibel berichtet: Ausgerechnet die Sintflut, diese beinah totale Auslöschung des naturgeschichtlichen Lebensraumes der von Erde genommenen und auf die Erde gehörenden Menschen, dient als Veranschaulichung des »Rega«-Charakters, des Augenblickshaften sogar noch des im universalen Maßstab Allerschlimmsten.
Noahs Zeit war buchstäblich die Endzeit! … Und dennoch hören wir durch Jesaja: Auch die Endzeit ist bloß ein »Rega«! ———
Wie dieser Trost zu buchstabieren und zu hören ist, wenn man in Babylon im Exil schlicht-weg keine Zukunft mehr sehen kann, sondern nur dauerhaftes Nichts? … Schwer!
Und doch ist genau dieses irritierende Evangelium, dass die aussichtsloseste Tragödie und der finale Untergang bloß kurze Wimpernschläge sein sollen, in Babylon schon aufgeschrieben und mit den tatsächlich wider alle Erwartung nach Ablauf einer Generation heimkehrenden Juden in das heilige Land zurückgekommen und in die Heilige Schrift aufgenommen worden!
… Nichts an der Katastrophe, wie Jesajas restlos entmutigte und hoffnungslose Gemeinde sie erlebte, wird dadurch in Abrede gestellt.
… Aber die ungeheure Botschaft, dass Gottes „kleine Augenblicke“ das wirkliche Maß und auch der einzige Fortschritt der Zeit sind, bleibt.
Die Zeit steht nicht still!
Die Geschichte steht nicht fest!
Was immer uns endgültig scheint, ist doch bloß »Rega«!
Und wo immer etwas für uns unerreichbar oder ausgeschlossen ist, da heißt es »Rega«!
Der Druck vergeht. Die Lösung kommt.
Nichts dauert so lange, wie’s uns vorkommt, wenn wir drinstecken.
Nichts liegt so fern, dass es sich nicht überraschend und unverhofft einstellen könnte.
Und in allen diesen, währenddessen unverrückbar erscheinenden und dann doch so kurzfristig verwehenden Erfahrungen ist der Gott des Augenblicks, der Gott, Der in Schrecken, Zorn und Lebendigkeit den Moment mit Seinen Menschen teilt, dabei.
Tiefer kann und muss das Evangelium des Jesaja gar nicht bohren. Gerade dass hier ausgehalten wird, jede noch so tote Zeit, jede noch so leere und darum lähmende Sekunde des Stillstands, der Bedrohung und des Verhängnisses trotzdem noch mit Gott zu verbinden, ist ja die Kraft dieser Botschaft!
… Die Kraft, die heute bedeutet, die allgegenwärtige Endgültigkeit der aufziehenden Unheilswolken nicht als den Schatten des Todes anzustarren, sondern den Spalt des womöglich rasanten Durchbruchs neuen Lebens nicht zu übersehen.
Dass wir das in Gemeinschaft mit den Menschen, die Jesaja und Jesus durch die frohe Botschaft vom kurzen Augenblick trösteten, auch heute wagen dürfen, ist fast unheimlich!
Wer sind wir denn in unserer Sicherheit hier, dass wir vollmundig behaupten dürften, der zähe, festgefahrene Vernichtungskrieg in der Ukraine sei bloß so etwas wie ein Lidschlag? … Das siebzigjährige Dilemma des jüdischen und arabischen Zusammenlebens werde sich einst im Nu auflösen? … Unsere weltweit immer noch beinah vollständige Blockade zur Umkehr in Richtung ökologisch verantwortlichen Lebens werde sich bald als eine winzige Weile der Unvernunft erweisen? …
Wer sind wir, dass wir zu allen Schuld- und Schicksalsfragen, die die Welt bedrängen, sagen dürften: „Über ein kleines und abermals über ein kleines… “ - »Rega und Rega!«? …….
Nun, wenn wir aufrichtig sind und nicht oberflächlich ausblenden, was ist, dann sind auch wir Leute, die an der Abbruchkante stehen; ein Geschlecht, über dem die Sonne sinkt und eine Zeitgenossenschaft, in deren Stundenglas die letzten Körner Sand gerade zur Neige gehen.
Wir sind Leute, die ins Nichts schauen.
Wir sind - wenn wir uns nicht belügen - eine Welt, die tief versinkt in eigener Schuld und letzter Not. …….
Und darum verbietet sich’s nicht nur, dass wir Andern volltönend die prophetische Minutenpredigt, das heutige Evangelium vom wendenden Augenblick predigen, sondern wir können uns das kleine, allesentscheidende Trostwort nicht einmal selber sagen.
Auch wir sind ja nur Korn, das in den Acker, in den Tod gesät wird.
… Aber genau als solche Menschen, die an den Leiden teilhaben, ist uns auch der Anteil am Trost (vgl.2.Kor.1,7!) von Gott selber zugesagt[iii]. ——
Die ganze tiefe Sorge, die sich über unseren Tagen auftürmt, sie wird sich von Gott her - und nur von Gott her! - in einem Augenblick lösen, so wie das ungeheure Wolkendunkel, das einer der großen englischen Kirchenlieddichter, ein Zeitgenosse der Romantiker besang. William Cowper[iv] war selbst ein Mensch, den Schübe von Depression und furchtbare Verlorenheits- und Verdamnisängste mehrmals zu Suizidversuchen trieben. Doch in der lastenden Verfinsterung, die auch den Heiligen solche Todesangst einjagen kann, erkannte er in seinen hellen Stunden die zum Bersten vollen Speicher des göttlichen Segens, der nicht sintflutartige Auslöschung, sondern einen plötzlichen Durchbruch der Rettung über unseren Häuptern bringt.
In seinem letzten Lied: “God moves in a mysterious way / His wonders to perform”[v] heißt es in Anlehnung an die Noah-Erinnerung in der Trostpredigt des Jesaja:
“Ye fearful saints, fresh courage take;
the clouds ye so much dread
are big with mercy, and shall break
in blessings on your head.”
Verzagt doch nicht, ihr Heiligen:
Was euch da dunkel droht,
bricht bald; und wie aus Wolken strömt
euch Heil herab von Gott.
——
Und deshalb lassen wir nun alle Erregung, die uns in diesen Tagen umtreiben mag, … die ganze zornige Aufregung, die wir Menschen Gott zu allen Zeiten zumuten, … ja, schlicht sämtliche Regungen und Wirren und Panik der ganzen Erde – »Rega! Rega!« - in’s Leere laufen und hören nur noch Ihn selber.
Ein Wort hat Gott für uns, und mit diesem Wort wird alles gesagt und geheilt und gehalten.
Der nämlich, Der in jeder Augenblicksregung, in jedem vergehenden Moment unser Gott ist, ist Der, Der uns das Bleibende zusagt:
„Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen und doch soll meine Gnade nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.“
… Und das ist das andere Wort, das jeder, der in Israel reist oder lebt oder mit Israel glaubt, immer und überall hört und als ewig vernimmt: Shalom!
… Der Bund Seines Friedens!
Amen.
[i] Wilhelm Gesenius, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Nachdr. der 17.Aufl., Berlin u.a. 1962, S.745.
[ii] Wochenspruch des Sonntags Lætare.
[iii] 2.Korinther 1, 3 – 7 ist die Epistel an Lætare.
[iv] Ein glänzender Abschnitt zu Cowper aus John Julians‘ Dictionary of Hymnology (1907) ist zugänglich unter: https://hymnary.org/person/Cowper_W
[v] Text nach “Ancient & Modern: Hymns and Songs for Refreshing Worship”, London 2013, No. 647 (Übersetzung der 3.Strophe: J.M.).
Als Kostprobe dieses unerschöpflichen Liedes , das früher „Light out of Darkness“ überschrieben war, hier nur die letzte (6.) Strophe:
Blind unbelief is sure to err,
and scan his work in vain;
God is his own interpreter,
and he will make it plain.
Reminiszere, 05.03.2023, Stadtkirche, Markus 12, 1 - 12, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reminiscere - 5.III.2023
Markus 12, 1 -12
Liebe Gemeinde!
Das Blöde an der Bibel (so habe ich noch nie angefangen!) ist ja, dass sie so ernst ist und so oft mit ihrem Ernst Recht hat. … So oft, dass man an vielen Stellen schon gar nicht mehr nachprüfen muss, weil es sich doch von allein aufdrängt, dass kam, was kommen musste: Die halt-, maß- und rücksichtslose Menschheitsstufe vor der Sintflut (Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind geradezu fruchtbar aufschlussreich!) musste den von ihr heraufbeschworenen Untergang erleiden! … Die freiheitsuntauglichen Sklaverei-Nostalgiker, die Moses anführte, mussten vor Selbstmitleid in der Wüste sterben, weil sie die Geduld für den eigenverantwortlichen Neuanfang in Kanaan nicht mitbrachten. … Die konsumsüchtigen Götzendiener, die im Nordreich von Israel den gleichen Gierkult wie die gesamte Kultur Vorderasiens trieben, mussten unter den Assyrern schlicht dran glauben, denn dass Kraftmeierei siegt, war ja gerade die Botschaft ihres Baal. … Und die kritiklosen Immer-weiter-so-Priester und -Würdenträger in Jerusalem, an denen alle Propheten bis Jeremia sich mahnend und warnend abarbeiteten, mussten die Lehre des Exils durchlaufen, in der Glaube an Den Unsichtbaren und primitiver Erfolgszauber sich dauerhaft schieden. … Das angedrohte Ende musste einfach in jedem Fall eintreten. ——
Mit dieser bestürzend fatalistischen Erwartung gehen wir also allzu oft an die Bibel heran, als sei sie das Buch des göttlichen Pessimismus, … ein Dokument des ewigen nicht Besser-, sondern Schlechter-Wissens.
Ob in solcher Negativerwartung aber nicht viel mehr von unserer Denkfaulheit steckt, als von einem tatsächlichen Gesetz des Immer-so-kommen-Müssens? Ist es nicht gerade unsere menschliche Trägheit, die sich einredet, es sei sowieso nichts mehr zu ändern, es sei zu spät und zu aussichtlos, noch Umkehr und Hoffnung, noch Zukunft und Leben zu behaupten?
Ist aber nicht genau das auch die saublöde und selbstmörderische Bequemlichkeit, mit der wir heute den vielen drohenden Untergängen begegnen? … „Dumm, wie’s ist, und schlimm, wie’s kommen wird, … aber was sollen wir tun?“
Wenn das die Botschaft der Bibel wäre, dann sollten wir sie getrost auf ein oberes, hinteres Bücherbrett stecken, wo sie neben Arthur Schopenhauer und Oswald Spengler und allen anderen, die der Zuversicht nur mit Verneinung begegnen können, verstauben darf. Ihre Garantien der Totalzerstörung mögen die Zeugen Jehovas und Netflix unter sich aufteilen! Wir haben keine solche sichere Apokalypse im Programm. Im Gegenteil. Wir haben einen Gott, der spricht: „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung“ (Jer.29,11).
Und darum ist es gerade in der Horizontverfinsterung von heute, an einem Passionssonntag wie diesem umso wichtiger, dass wir die bittere und lahme Wette der Hoffnungslosen ablehnen: Lieber wollen wir enttäuschbar leben, als ohne jede Erwartung! „Lieber – wie man in der Neanderkirche unter dem Bildnis des großen Dichters lesen kann – … lieber sich zu Tode hoffen, als durch Unglauben verloren gehen!“[i] ——
Wenn aber das unsere christliche Grundvoraussetzung ist – dass es immer noch viel besser, viel gnädiger, viel überraschender kommen kann als geunkt! –, dann haben wir mit dem Gleichnis von den bösen Weingärtnern heute ein verrostetes, vergilbtes und vermoostes Stück der biblischen Überlieferung wirklich zu reinigen, wenn es wieder im Licht der Zuversicht soll glänzen können!
Denn was wie hässliche Rostflecken an der Erzählung Jesu aussieht, was sie so abgrundtief negativ wirken lässt, ist in Wirklichkeit Blut. …
Mit der Geschichte des Weinbergs spinnt Jesus ja ein uraltes Motiv der Propheten fort, die vielleicht schon in Erinnerung an den ersten Gruß, den die Kundschafter aus dem gelobten Land hinaus zu den Wandernden in der Wüste brachten (vgl. 4.Mose 13,23), Israel gerne mit einem herrlichen Weingarten verglichen:
„Ich hatte dich gepflanzt als einen edlen Weinstock, ein ganz echtes Gewächs“, hören wir Gott bei Jeremia (2,21) zu Seinem Volk sagen, und der Sänger Asaph im Psalm schwelgt in der Üppigkeit dieses auserwählten Weinstockes, den Gott hat einwurzeln lassen, bis das ganze Land davon erfüllt war (Vgl.Ps.80, 9ff). Und wie der Prophet Jesaja (5,1ff) von Gott, dem hingebungsvollen Winzer singt, der sich so viel Edles und Süßes von seinen liebevoll gehegten Reben erhoffte, das hörten wir gerade eben ja als Schriftlesung.
Dass nun in Garten und Weinberg allerdings nicht alles so gedeiht, wie es der Gärtner hofft, ist jedem vertraut, der die Radieschen von oben betrachtet.
… Aber gerade der Kreislauf der Natur und die Zyklen, in denen Misswuchs und verschwenderische Ernten einander ablösen, machen ein endgültiges Fazit, einen Schlussstrich unter die Geschichten des Wachsenden und Fruchtbringenden doch so unvernünftig und so unwahrscheinlich.
Und im Unterschied zu den prophetischen Bildreden, in denen Gott impulsiv die verhagelten oder mickrigen Ernten beklagt, auf die Er sich vergeblich freute, scheint in Jesu Gleichnis der Weinberg nun gerade nicht frustrierende Erträge zu bringen. Im Gegenteil: Das traditionelle biblische Bild für Gottes Eigentumsvolk Israel ist ja ausdrücklich der Gegenstand der Begierde seiner Pächter. Alle wollen ihn. Gerade um Israel nicht wieder hergeben zu müssen, fügen die Weingärtner den Abgesandten seines Herrn Schimpf und Schaden zu und sind sogar zu einem ultimativen Verbrechen bereit. …….
Das ist schlimm: Dieser ungerechte Kampf um das geliebte Israel, der zu immer verderblicheren Mitteln greift.
Es ist ein Kampf, wie er just in diesen Monaten tatsächlich im Staat Israel ausgetragen wird, wo die Kräfte, die Selbstbehauptung auf Kosten der biblischen Rechts- und Gerechtigkeitstradition vertreten, brutal um die Seele des jüdischen Volkes buhlen und Zehntausende dagegenhalten, die den Weinberg und mit ihm den Freudenwein, den Gott wollte, verloren sähen, wenn er nur mit den Tränen der Palästinenser gewässert würde.
Um Israel muss also gekämpft werden! Das sagt Jesu Gleichnis vom Ringen der verschiedenen Möchtegern-Weinbauern auch.
Und mit allen Kräften hat Jesus sich darum in diesen Streit geworfen.
… Doch die unselige Kirche hat in eben dem Gleichnis, in dem Jesu leidenschaftliche, seine passionierte Anteilnahme an seinem Volk deutlich wird, nur einen Satz zur Kenntnis genommen, … einen Satz, der mit einer Frage eingeleitet wird: „Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben.“ ……..
… Und da war die ausweglose Negativität bestätigt, die alles immer vom bösen Ende her versteht und keinerlei offenen Schluss duldet, keinen Spalt einer Öffnung zu einer anderen Entwicklung, zu einem neuen Weg oder einem neuen Leben sich vorstellt. … Es kam, wie’s kommen musste, … denn für gute Überraschungen gibt es keine Richtung im engstirnig und hartherzig festgelegten Einbahn- und Rutschbahn-Denken der Kirche, das immer nur zum Untergang führt: Der Herr des Weinbergs wird die bösen Weingärtner umbringen und andere an ihre Stelle setzen! …
Seither klebt das von Christen in Ost und West in der Fastenzeit und in der Karwoche wieder und wieder vergossene jüdische Blut am Weinberg-Gleichnis und hat es getrübt, entstellt, verdorben. Denn mit ihm wurde die Enterbungstheorie begründet, die beinah zwei Jahrtausende lang das Christentum beherrscht und verdorben hat: Am Schluss musste nach dieser Theorie das Schlechte stehen … für Israel.
… Am Ende musste es vorbei sein. …
Und war es doch nie!
… Die Sintflut etwa hat ja gezielt das Verderben, nicht aber das Leben insgesamt beseitigt.
… Und dann der Exodus: Dieser Aus- und Aufbruch unter Mose bleibt bis heute die stärkste Ermutigung aller, die an die Möglichkeit der Freiheit glauben und die Mühen der Befreiung wagen.
… Oder Baal: Baal hat trotz des zuletzt einsamen Widerstands des Elia gegen ihn seinen Platz heute nur noch in den vorderorientalisch-archäologischen Museen, während in den Synagogen und Kirchen in aller Welt der unsichtbare, leise, lebendige Gott Israels so wie einst mächtig und gnädig spricht und segnet.
… Und auch das große Finale des babylonischen Exils wurde in Wahrheit ja zur schöpferischen Sturm- und Drang-Zeit, in der die Torah Israels ihre bleibende Gestalt gewann und Prophetie und Messiashoffnung ihre Schwingen ausbreiteten, in deren Schatten wir Heutigen immer noch beim HERRN, dem Gott Israels Zuflucht suchen (vgl. Ruth3,12).
Ein Ende gibt es nämlich nicht.
Und das ist das unvergleichlich Wunderbare an der Bibel: Dass sie so offen ist und so oft mit ihrer Offenheit Recht hat. … So oft, dass man an vielen Stellen - besonders aber an der heutigen! - wirklich nicht auf seinem Vorurteil beharren darf, da es sich doch ganz anders fügt, wenn kommt, was nicht vorgezeichnet war, sondern sich der Langmut und Beweglichkeit, der Geduld und Überraschungsfülle Gottes verdankt!
Jesu Gleichnis von den Weingärtnern ist wahrhaftig ja nicht bloß eine Illustration des starren Verhängnisses, das Israel sich zugezogen hätte bis zu seiner endgültigen Verwerfung und Ersetzung. Im glatten Gegenteil. Wie der umstrittene und trotz allen Jubels unverstandene Christus da in seinen letzten, angespannten Tagen in Jerusalem ein Drama ums Recht an Israel entfaltet, … ein Drama mit einem reißenden Gefälle, das jeder Zeuge nach Kräften wird aufhalten wollen: Das ist geradezu existentiell packend!
… Wer Ohren hat, zu hören, der muss in heftigste innere Anteilnahme geraten: „Sie werden doch nicht…, sie dürfen doch nicht…, sie können doch nicht den Sohn misshandeln!“, so wühlt die Erzählung das Mitgefühl auf.
… Niemand, der Anspruch auf Gottes Israel erhebt – keine Priesterclique und keine andere prophetische, pharisäische, zelotische, asketische Bewegung – … niemand, dem Israel anvertraut und lieb und heilig ist, wird doch wohl zum Mörder werden am letzten Boten, am geliebten Sohn?! … Nicht einmal der römische Präfekt, die römische Besatzerjustiz, die römische Armee, die sich als zeitweilige Hüter und Nutznießer des Weinbergs Gottes dünken mögen, werden es ja wagen und vermögen, den gesandten Erben zu eliminieren!? …
… Jesu Stimme wird heiser und stockt, als seine Zuhörer im Tempel, unter den Schriftgelehrten, den Priestern, den Passapilgern und den Wachen diese rhetorische Frage, die mit so viel unmittelbarer Beschwörung in ihren Ohren zittert, unbeantwortet in der Luft hängen hören:
… Wird irgendjemand allen Ernstes den Sohn töten?
Es ist Todesangst, die da spricht. Rhetorisch und gleichwohl markerschütternd echt.
Es kann nicht geschehen, was so undenkbar ist!?
Das will, das muss Jesus bestätigt haben. …….
Doch es geschieht.
Die Römer wagen’s, weil sie den Vater nicht kennen; die ihnen als Tempel-Elite hörigen Sadduzäer wagen’s, weil sie den Sohn nicht anerkennen wollen.
Es geschieht, was nicht geschehen würde, … was nicht geschehen konnte, … was nicht geschehen durfte.
…………
Aber auch das, … auch das ist nicht das Ende.
Wenngleich alles wankt, woran Jesus sich festklammern wollte, …. wenngleich alle Stützen und Sicherheiten („Den Sohn werden sie doch schonen!?“) nicht standhalten, ist es doch nicht das Ende.
Weil eben das, was unmöglich ist - bei uns! -, geschieht.
Der aussortierte und verworfene, der pulverisierte und wieder zu Staub gewordene Stein wird zum Eckstein!
Es ist unmöglich.
Aber es trägt!
Das Ja erscheint im Nein (vgl. EG 94, 4)!
Der ermordete Sohn bleibt nicht im Tod.
Und Israel wird nicht und bleibt nicht verworfen.
… Das schreckliche Ende, … ausgerechnet dieses Ende ist nicht das Ende, sondern wird zum Anfang des niemals zuendegehenden Guten.
Das unvorstellbar Böse trägt ein noch viel unvorstellbareres Heil.
Und dieser Jesus, der solche Todesangst hatte und so hoffte, man werde mit ihm und nicht gegen ihn den Bund und das Eigentum Gottes erneuern, … der hat mit dem davonrollenden Felsen vor der Höhle, mit dem weggesprengten Grabstein, der seine Leiche verschließen sollte, ein so lebendiges und unumstößliches und herrliches, ein so freies, offenes und starkes Fundament gelegt, dass wir gar nicht begreifen können, was alles auf ihm ruht und durch ihn gehalten wird und von ihm erfasst und verbunden:
Sein Israel und seine Kirche,
seine Juden und seine Heiden,
seine Getauften, seine Gläubigen und seine Gottlosen,
seine armen, armen Pessimisten und seine sich fröhlich zu Tode hoffenden Optimisten, seine Ukrainer und seine Russen,
seine Palästinenser und seine Israelis,
seine Farsi- und seine Deutschsprechenden Kaiserswerther,
seine Lebendigen hier in der Passionszeit und seine durch sein Kreuz erretteten Gestorbenen in der Ewigkeit.
„Vom HERRN ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen!“
Es gibt kein Ende!
Amen.
[i] Vgl. zu diesem Wort des pestkranken dreißigjährigen Joachim Neander auf seinem Sterbelager: Helmut Ackermann, Joachim Neander - Sein Leben. Seine Lieder. Sein Tal, Düsseldorf 1997, S. 40.
Invokavit, 26.02.2023, Was ist uns heilig? - Misereor-Hungertuch, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
„Was ist uns heilig?“ – das Misereor Hungertuch 2023/2024 von Emeka Udemba
Liebe Gemeinde,
es ist wieder Passionszeit. Die Farbe der Paramente ist nicht mehr grün, sondern violett. Irgendwie läuft alles Kirchliche auf den Karfreitag zu. Das merkt man an den Texten, die an den kommenden Sonntagen offiziell vorgesehen sind – vom Wochenspruch bis zur Predigt; und auch die Lieder, die in den meisten Kirchen aus der Rubrik „Passionszeit“ angestimmt werden, kommen in Moll daher und nicht in Dur.
Passionszeit – Zeit, an das Leiden, die Passion Jesu zu denken, an seinen Weg nach Golgatha, ans Kreuz. Davon handeln alle Passionslieder in unserem Gesangbuch. „Herr, lehre uns, dein Leiden zu bedenken“. Ich möchte Sie in diesem Gottesdienst auf einen etwas anderen Passionsweg mitnehmen, unser Nachdenken und Bedenken neu justieren, und zwar so, dass es uns befähigt, in unserem Handeln umzukehren, im biblischen Sprachgebrauch: um Buße zu tun, wozu Jesus von Nazareth zu Beginn seines Wirkens alle aufrief: „Kehrt um und vertraut der Guten Nachricht (vom Heil und der Liebe Gottes).“
Jesus ging es ums Leben; er wollte Leben für alle, gerade auch für die am Rande; er wollte heiles, erfülltes, wahrhaftiges Leben für alle Menschen, denn das war Gottes Wille, davon war er überzeugt. Dafür hat er sich leidenschaftlich eingesetzt und alles Leiden in Kauf genommen. Das Leben der Gebeutelten, Ausgestoßenen, der Kleinen und Schwachen, das wir ihm heilig. In ihnen begegnete ihm Gott selbst, der Heilige, der ihm so nahe war und dem er so sehr vertraute, dass er ihn Vater nannte, unseren Vater im Himmel.
Was ist uns heilig? Wo kommt uns Gott heute nahe, wo sehen wir uns von ihm angerührt, angesprochen und herausgefordert, ihm zu antworten – durch unser Tun? Das Misereor Hungertuch von Emeka Udemba gibt unserem Nachdenken da vielfältige Anstöße. Es ist geradezu unheimlich aktuell – angefangen von seiner Farbgebung über die handwerkliche Herstellung, die verwendeten Materialien bis hin zu der figürlichen Darstellung. Die rote Farbe dominiert das Bild. Achtung! Gefahr! Wird dem Betrachter signalisiert. Schau genau hin! Es geht ums Leben! Es geht um dein Überleben! Es geht um das Überleben und Leben der ganzen Welt! Der Schöpfung mit all ihren Geschöpfen. „Die Erde brennt“ – so konnten wir es in einem der Schaufenster der Diakoniebuchhandlung ein paar Wochen lang lesen. Die Erde brennt, sie schwitzt, sie stöhnt. Diese und ähnliche Formulierungen sind mir in verschiedenen Büchern und Zeitschriften in den vergangenen Jahren begegnet. Und Emeka Udemba hat sie so auch dargestellt: mit vielen roten Wunden, verletzt und zerbrechlich. Viel zu warm hat auch dieses Jahr wieder begonnen. Und auch wenn es in den letzten Wochen immer wieder einmal geregnet hat: die tieferen Bereiche der Böden in Feld, Wald und Flur sind immer noch knochentrocken. Die Wasserspeicher, aus denen die Bäume trinken, sind noch lange nicht gefüllt; da müsste es zwei Monate lang ununterbrochen regnen – ein sanfter Landregen, damit der Boden die Feuchtigkeit aufnehmen kann, denn sonst drohen Überschwemmungen. Die Erde, unsere Erde – keine Sache, kein Gegenstand. Ein lebendiger Organismus, ein Gesamtkunstwerk des Lebens, des lebendigen Gottes. Die Erde stöhnt und schwitzt und brennt – und ihre Kinder stöhnen mit ihr.
(Das Misereor-Hungertuch 2023 „Was ist uns heilig?“ von Emeka Udemba © Misereor)
Lesung Rö.8,18-23
Helge Burggrabe „Höre den Herzschlag des Himmels“ CD
Helge Burggrabe wurde von einer Gedichtzeile von Rose Ausländer zu seinem Lied inspiriert, die lautet „Ich höre das Herz des Himmels pochen in meinem Herzen.“ Darin klingt das große Thema der Resonanz an, der Herzensbeziehung des Menschen mit der Schöpfung, deren Teil wir sind. In den Himmel zu lauschen, das hat uns unsere Religion, unsere Theologie gelehrt. Nicht so, auf den Herzschlag der Erde zu achten. Schöpfung und Schöpfer wurden sorgfältig auseinandergehalten; dem Schöpfer sollten wir dienen, die Schöpfung hatte uns Menschen zu dienen. Der Sündenfall der christlichen Lehre: ihre unheilige Anthropozentrik. Inkarnation wurde nur auf den Menschen bezogen: Gott wurde Mensch; richtig übersetzt muss es heißen: Gott wurde Fleisch. Gemeint ist letztlich: Gott ist in der Schöpfung präsent. In der ganzen Schöpfung. In allen ihren Teilen. Im Wasser, im Fels, in der Ähre, in der Feldmaus, im Menschen, in der Ameise …. Der Herzschlag des Himmels ist der Herzschlag der Erde ist der Herzschlag des Lebens. Hören wir ihn in uns? Dann müsste uns das hellhörig machen für das Seufzen und Stöhnen der Kreatur, der Mutter Erde.
Emeka Udemba hat sein Bild als Collage gestaltet aus vielen ausgerissenen Zeitungsschnipseln. Nachrichten, Infos, Fakten und Fakes – Schicht um Schicht aufeinander geklebt und großenteils übermalt. Nur einzelne Wortfetzen sind lesbar geblieben. Auch an ihnen wird deutlich, wie zerrissen die Erde ist, wie zerbrechlich das Leben. Und uns wird vor Augen gehalten, was die Ursachen solcher Zerrissenheit sind: Was kostet die Welt? … Mach was mit deinem Geld … Darf’s noch etwas mehr sein? … Wachstum … mehr Geld zum Beispiel … „Mich interessiert der Mensch“ können wir unten links lesen. Solange wir uns nur oder zu allererst um unsere Spezies sorgen, sägen wir weiter an dem Ast, auf dem wir sitzen. Rechts neben der Erdkugel steht „Mensch und Tier“ – ein Hoffnungszeichen. Überhaupt: auf der Erdkugel sind Wortfetzen zu entdecken, die Hoffnung wecken: Wandel … wo der Mensch sich wohlfühlt …. Bedürfnis Sinnhaftigkeit …. Neubeginn … vom Anfang. Das wäre schön: wir könnten den Uhrzeiger unserer Weltgeschichte zurückdrehen auf Anfang. Ein Reset – und alles ist wieder gut; die Fehler und Macken gelöscht. Alles auf Anfang. Doch das ist Illusion. Auf Anfang geht nicht, aber ein Neubeginn ist möglich: das will uns Gott schenken wie wir es zu Beginn zusammen gelesen haben: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist.“ Rein nicht im Sinne von unschuldig, sondern von geläutert – wir haben begriffen, wie falsch wir bisher über uns und von uns und von der Erde, der Schöpfung gedacht und so Zerstörung und Tod verbreitet haben. Umkehr und Neuanfang sind möglich und nötig – damit alle und alles leben kann. Umkehr, Veränderung, Wandel, Verwandlung – eine Bewegung von innen nach außen. Wandel – nicht Wachstum.
Was ist uns heilig? Als die christlichen Europäer seit dem 17. Jahrhundert Nordamerika entdeckten und eroberten und der Überzeugung waren, den Wilden die Segnungen der Zivilisation zu bringen, konnten die indigenen Völker es gar nicht glauben, dass diese Eindringlinge Menschen wie sie sein sollten. Konnten das Menschen, Geschöpfe des Großen Geistes sein, die so viel Tod und Zerstörung verbreiteten, die Erde schändeten und ihre Geschöpfe vernichteten – und das um des Geldes willen? Wo stehen wir heute? Was ist uns heilig? Der Häuptling der Duwamisch hat es in einem Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten im 19.Jahrhundert für sein Volk so formuliert: Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig! Die Erde ist unsere Mutter und jedes Geschöpf ist uns Bruder und Schwester. Könnten wir das auch so sagen und was heißt das dann für unser Handeln?
Lied „Die Erde ist des Herrn“ 1+2+4
„Verlier nicht die Geduld, inmitten aller Schuld ist Gott am Werke.“ Die Krisen, liebe Schwestern und Brüder, mit ihren Problemen und Nöten, sie zerren fürwahr an unseren Nerven und die Geduldsfäden sind bis zum Zerreißen gespannt. Die jungen Menschen der „Letzten Generation“ mit ihren aus einer ehrlichen und tiefen Verzweiflung geborenen Aktionen, die die meisten Zeitgenossen nur nervig finden. Ein grüner Bundeswirtschafts und Energiewende-Minister, der, statt sich um die Entbürokratisierung und Vereinfachung von Genehmigungen von Solar- und Wind-Parks zu kümmern, muss, um den Wirtschaftsstandort Deutschland irgendwie zu retten, ausgerechnet in Katar einen Diener machen für die Lieferung von Erdgas. Ich möchte nicht wissen, was das mit ihm gemacht hat.
Und unsere Gesellschaft? In der Samstagsausgabe der Rheinischen Post gibt es wie eh und je eine dicke Einlage „Reise und Welt“. Als gäbe es die Klimakrise nicht, werden Flugreisen und Kreuzfahrten angepriesen, mit Versuchen, diese Vergnügungen grün zu waschen oder schon makaber manchmal mit dem Hinweis, es könnte die letzte Chance sein, einen Eisbären in seinem natürlichen Lebensraum zu sehen. Ich muss gestehen, es fällt mir schwer, angesichts von so viel Ignoranz nicht die Geduld zu verlieren. Oft schon musste ich schwer an mich halten, wenn mir Mitmenschen von ihren Reiseplänen erzählten. „Verlier nicht die Geduld, inmitten aller Schuld ist Gott am Werke.“ Allerdings anders als sich mancher das erhofft.
Sehen wir noch einmal auf das Hungertuch. Da sehen wir die Unterarmpaare von zwei Personen. Beide sind mit der Erde befasst. Die Hände von oben scheinen sich von der zerbrechlich aussehenden Erde zu lösen. Die unteren Hände sehen so aus, als würden sie die Erde in Empfang nehmen. Behutsam, vorsichtig gehen beide Seiten mit der Erde um. Ein kreativer Wechsel von Geben und Nehmen, von Halten, ohne Festzuhalten, von Freigeben ohne Preiszugeben. „Die Erde ist des Herrn, geliehen ist der Stern, auf dem wir leben.“ So hieß es in der ersten Strophe. Geliehen und uns anvertraut, damit wir im Sinne des Schöpfers selbst ans Werk gehen. Da, wo wir uns zurücknehmen und dem Leben aller, der Schöpfung, deren Teil wir sind, dienen – da ist Gott selber in und durch uns am Werke. Keiner von uns kann allein durch sein noch so gutes Tun die Erde retten, die Klimakatastrophe abwenden, aber jeder kann, indem er sich ehrlich bemüht, nicht zu schaden, nicht zu verletzen – seinen Mitmenschen nicht, aber auch seine Mitgeschöpfe nicht, nicht die Mutter Erde – jede kann so Gott durch sich wirken lassen. „Denn der durch Jesus Christ ein Mensch geworden ist, bleibt unsre Stärke.“ Er bleibt es in uns und durch uns, so wie Jesus es uns vorgelebt hat. Es liegt tatsächlich an jedem einzelnen, Gott in der Welt und gegen alle Krisen stark zu machen.
In den Interviews, die in der letzten Woche anlässlich des Jahrestages des russischen Angriffs auf die Ukraine zu sehen und zu hören waren, fiel mir immer wieder auf, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer, gefragt, ob sie nicht langsam sehr erschöpft seien vom Krieg und seinen Kollateralschäden, zwar nicht leugneten, wie schwer für sie das Leben geworden ist, aber größer als die Erschöpfung, das war bei allen die Hoffnung, die Hoffnung auf eine neue Zeit in einer neuen Ukraine, die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit und Frieden. Dafür würde sich jede Anstrengung, jede Entbehrung jetzt lohnen, dafür würden sie kämpfen, jede und jeder an seinem Platz mit seinen Möglichkeiten. Leidenschaftlich für das Leben eintreten, an der Hoffnung festhalten – so ist auch Jesus seinen Weg gegangen. Und wir als seine Nachfolgerinnen und Nachfolger sollen uns in dieser Passionszeit darüber klar werden: „Was ist uns heilig? Was ist uns wichtig? Wofür treten wir leidenschaftlich ein? Worauf hoffen wir – für uns und für unsere Erde?“
Lied „Es kommt die Zeit“
Invokavit, 26.02.2023, Stadtkirche, Hiob 2,10 & Telemanns Kantate: "Seele, lerne dich erkennen", Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Invokavit - 26.II.2023
(Hiob 2, 1-13 [2,10!]) / Telemann: „Seele, lerne dich erkennen“ (TWV 1:1258)
Liebe Gemeinde!
„So will ich dich mit Freuden küssen, / du Herold der Vollkommenheit“, haben wir gerade in der Arie gehört, … erst wiegend und dann mit einer erstaunlich lebhaften, kunstfertigen Deklamation, friedlich also und sehr freudig. …
Matthäus Arnold Wilckens, der dichtende Jurist, Bücherliebhaber und aufgeklärte Menschenfreund, der die Texte von Telemanns „Harmonischen Gottesdienst“-Kantaten verfasste, muss sich genau wie der Komponist selber sicher zunächst überwunden haben, ehe sie dieses graziöse Willkommenslied schufen, mit dem die kleine erkenntniskritische Kantate beinah überraschend endet. Dass ein gebildeter Literaturförderer aus dem rationalistischen Hamburger Bürgertum die Grenzen des menschlichen Verstandes und Verstehens besingt, ist an sich erst einmal ja nur nüchtern: Trotz der Freude des 18.Jahrhunderts an Aufbruch und Aufstieg der Vernunft, musste ein denkender Mensch ja durchaus erfassen, dass dem Witz und der Weisheit unseres Geistes Grenzen gesetzt bleiben.
Das schwache Vögelein des Rezitativs, das sich schlicht nicht in jede Höhe schwingen kann, ist ein eindringliches Bild für die endliche Reichweite aller Gedankenflüge.
… Egal, wie flügge der mündige Mensch sich auch fühlen mag: Die weiseste Selbsterkenntnis besteht schon immer und immer noch in der Einsicht, dass wir weniger erfassen können, als wir wollen und uns mit mehr Nicht-Wissen bescheiden müssen, als wir je begreifen werden.
Wenn wir uns wirklich zu erkennen lernen, wie es der Titel unserer Kantate und die Losung der Aufklärung im Geist des antiken Delphi von jeder Menschenseele fordern, dann führen alle Wege uns in Wirklichkeit immer wieder zu Sokrates:
Wahre Weisheit ist Nicht-Wissen.
……. Dass aber der ganze Philosophenchor – das Hamburgische Bildungsbürgertum, die delphische Apollo-Gemeinde und die platonische Sokrates-Jüngerschaft in Athen – … dass sie alle, weil der menschliche Geist endlich ist, so derart fröhlich und gelöst singen sollten, was wir eben hörten, das bleibt trotzdem befremdlich! „So will ich dich mit Freuden küssen, / du Herold der Vollkommenheit“ ……. diese heitere Begrüßung gilt ja tatsächlich niemand anderem als ausgerechnet dem Tod, … dem befreienden Beender unserer Endlichkeit.
… Und ich kann es nicht mitsingen. …
Christen als Christen sollten es sich überhaupt schwer überlegen, ob sie tatsächlich solch eine Versöhnung mit dem Tod eingehen können: Wie reimt sich das nämlich mit den sechs Wochen, die heute beginnen? Es sind ja nicht Tage der Feier, sondern es ist Passionszeit, die jetzt anfängt, … Zeit, in der die äußerste Bitterkeit von Leid und Sterben uns begegnen wird, und zwar nicht um harmlos auf uns zu wirken, sondern um die Härte zu unterstreichen, die der unsterbliche Gott für unsere Befreiung vom Tod durchstehen musste.
Ich will den Tod also nicht küssen. Ihm nicht danken. Ihn am liebsten gar nicht zur Kenntnis nehmen müssen, … weder als Grenze, noch als Entlastung für die Begrenztheit meiner Seele und meines Verstandes …….
Es ist ein solches Elend mit dem Tod!
Für mich allerdings nicht wegen der Endlichkeit, die er - je nach Sichtweise - so dramatisch vollendet oder so glücklich überwindet, sondern weil der Tod seit dem Garten Eden nie alleine war: Tod an sich gibt es nicht. Er ist ja aufgetaucht im Schlepptau oder als der Parasit von anderen Plagen: Der Schuld nämlich und dem unschuldig wirkenden Bösen[i]. Und er kam in ihrem Gefolge auch nicht allein über Adam und Eva, sondern mit seinen Spießgesellen und Handlangern, seinen Kindern und Untergebenen, die die Drecksarbeit machen, die der Tod in seiner Leichenstarre alleine gar nicht hinbekäme: Das Sterben und das Töten haben den Tod von Anfang an begleitet, … bei Kain und Abel schon.
Wer aber so wie der Tod im Dunst- und Dienstkreis der Sünde und des Teufels entsteht und eine ausbeuterische Symbiose mit dem Schmerz und dem Mord eingehen muss, um sich durchzusetzen, den kann und will ich wirklich nicht grüßen, nicht küssen, und nicht kennen.
… Das ist doch klar, oder?
Das können Sie doch auch verstehen, Herr Wilckens und Herr Telemann? Das ist doch ganz menschlich und zivil, Frau Wagenknecht, Frau Käßmann[ii]?
……. Doch da bricht meine ganze nette, müde, realitätsfremde Naivität in sich zusammen.
Wer so privilegiert ist wie ich, dass er den Zeitgenossen der barocken Kirchenmusik einen Vorwurf draus drehen kann, dass sie auf Schritt und Tritt reine Vernunft und nacktes Verrecken miteinander unter den gleichen Hutrand und in’s selbe Herz kriegen mussten, … wer so unbeleckt vom Grauen wie ich die frommen (und freidenkenden) Generationen vor uns tadeln kann, weil sie das Lebensgefühl wachsender Aufklärung mit der ständigen Verfinsterung unaufhaltsam früher Sterblichkeit vereinbaren mussten, … wer so selbstgenügsam wie ein gefütterter Goldfisch durchs dicke Panzerglas seiner kleinen Weltkugel glotzt und denen, die draußen sind, wo das Schönste und das Schrecklichste freilaufen, erklären will, man solle an das Schlimme doch bitteschön! keinen gewöhnungsbereiten Gedanken verschwenden, der ist nicht echt und darum auch nicht ernst zu nehmen.
… Echt ist nämlich eine Welt, in der niemand seine Seele dauerhaft von der schuldverstrickten und schuldbesetzten Grausamkeit fernhalten kann, die im Tod aufbricht.
Dass es eine unvermeidliche Berührung durch die Endlichkeit und dann ein unaufhaltsames Ergriffenwerden vom Sterben für uns alle geben wird, können wir nun wirklich nicht mehr verdrängen: Lebenserfahrung und Menschenkenntnis, Realitätssinn und natürlicher Instinkt haben uns das immer sagen wollen. Jetzt aber hat es ein anderer besorgt, ein Bastard, der aus der perversen Ménage-à-trois von Teufel, Sünde und Tod hervorgegangen ist: Der Krieg.
Wenn jemand heute noch sagt - so wie ich es eben vom Tod erklärt habe -: „Damit möge man mich bitteschön nicht konfrontieren! Davon will ich nichts wissen! Schon daran zu denken, heißt die Schutzhülle zu durchbrechen und kontaminiert zu werden… Also: Nie wieder Krieg und keine Kompromisse, und Basta! und Ruhe im Karton!“, … wenn also jemand sagt: „Ich gebe keine Hand dem Krieg! Ich halte mich raus! Das ist so ernst, das geht mich nichts an!“, dann ist das nicht echt. Sondern auf die brutalste, zynischste Weise unehrlich - sprich: voller Lügen und ohne Ehre - und finster dumm. ———
„Seele, lerne dich erkennen!“, so forderte uns die heutige Kantate auf.
Das ist aber eben wirklich kein heiteres Mantra aus dem Griechenlandurlaub. Schon der Apollo-Tempel von Delphi, an dessen Tor diese Mahnung, das berühmte »Γνῶθι σεαυτόν« stand, war kein Heiligtum der makellosen Schönheit oder des harmonischen Musenspiels: Der heidnische Gott Apollon trägt den Namen des Zerstörens, und genauso wie die Künste der Poesie und Heilung beherrschte er auch das Vernichten durch Pest und Gemetzel[iii]. Da ist es nur naheliegend, dass er in der Schrift, in der Offenbarung des Johannes (9,11) nicht als der Schönste auf dem Olymp begegnet, sondern unter seinem verfremdeten Namen - „Apollyon“ - für griechische Ohren noch klarer als der „Verderber“: Apollyon nennt der Seher-Apostel dort ganz bewusst den Engel des Abgrunds! …
Das also ist in heidnischer wie in biblischer Perspektive, in ehrlich menschlicher Sicht also die Wahrheit: Schönheit und Schrecken, der göttergleiche Jüngling und der Gebieter der Finsternis, Inspiration und Perversion, Heldenmut und Mörderschuld sind nicht himmelweit entfernt voneinander, sondern zwei Möglichkeiten, ja zwei Wahrheiten der gleichen Gestalt, einer einzigen Kreatur. … Der Mensch ist dieses von Bösem und Gutem gezeichnete, von Liebe wie Hass getriebene, zur Heiligkeit wie zum Verbrechen fähige Wesen. Der Mensch ist das von der Sünde bis zur Seligkeit greifende Geschöpf, das zwischen Opfer und Frevel, Ebenmaß und Exzess alle Widersprüche in seiner Natur vorfindet, wenn … ja, wenn es sich selbst erkennt. ———
Der echte Mensch, der, der einmal im strahlenden Glanz vor uns steht und uns ohne alle schwarze Magie, nur seinem eigenen Wesen gemäß auch wieder als abstoßendes Raubtier begegnen kann, … der echte Mensch, der Täter und unschuldiger Leidtragender im Krieg ist, … der als gejagtes Tier den Tod panisch fürchtet und als demütig geläuterter Geist den Tod fröhlich willkommen heißt, … der Mensch, der Gottes Zorn und Gottes Liebe so bis zum Äußersten erregt und sie beide sich so ungeheuerlich in einem, zugleich herrlichen wie fürchterlichen Geschehen auswirken lässt: dem Christusgeschehen!, … dieser echte Mensch, der nicht eindeutig so und nicht eindeutig so ist, steht heute in seiner Zweipoligkeit vor uns. … am Sonntag Invokavit, an dem Karnevalsfreude und Kreuzesschmerz, Sünde und Erlösung also sich treffen.
In Jesus sehen wir des Menschen äußerstes Todesleiden; bei Telemann hören wir seinen innersten Frieden mit dem Tod.
Wir sehen die Passion schrecklich tief und in zahllosen Männern, Frauen und Kindern sich wiederholen im Krieg unserer Tage, und wir erblicken im gleichen Krieg bei Menschen wie Dir und mir die teuflischste Gewalt.
Wir sehen Unvereinbares in einer Welt. Wir wollen’s nicht an uns heranlassen und können uns wahrhaftig doch auch nicht rauswinden. Wir müssen wahrnehmen, was man nicht wahrhaben will, und müssen uns zu erkennen versuchen, uns Menschen, die doch nur immer rätselhafter werden, je ehrlicher man sie, … je ehrlicher man sich betrachtet.
Das Bild lässt sich also nicht vereinheitlichen: Widersprüchliches bleibt. Zerrissenes und Verkantetes. Weil das Einfache, das Vereinfachte, das, was für uns einfach zu fassen und zu ertragen wäre, nicht das Echte ist.
Dort, wo kein Gegensatz, keine Spannung mehr wäre, dort finge das Märchen an oder der Mythos, in denen die Dinge sauber geschieden werden können und alle Algebra aufgeht, alles Um-die-Ecke-Denken letztlich Klarheit eröffnet.
Doch gerade eine solche mythische, ideale Welt, die sich im Innersten erschließt und uns emotional beruhigt oder rational befriedigt, eröffnet unsere Bibel nicht … und unser Glaube daher ebenso wenig.
Wie zur Probe auf dieses Exempel soll heute eigentlich das mythischstes und zugleich völlig klärungslose Buch der Bibel aufgeschlagen werden: Wir sollten eigentlich hören und predigen aus jenem Buch, in dem nichts real, aber alles echt ist, … jenes Buch, das sich als Märchen aus Tausendundeiner Nacht zu erkennen gibt – es spielt nicht in der wahren Welt von Israel, sondern im Wunder- und Horrorland Uz (Hiob 1,1) – und das doch mehr von unserer wirklichen Menschen-Tragik beschreibt, als viele Reportagen oder Dokumentationen.
Es ist das Buch ohne Auflösung, trotz seines vermeintlichen „Happy Ends“: Das Buch Hiob.
In der Dichtung vom Schmerzensmann Hiob, der schlimmere und verwirrrendere Gottes- und Leidenserfahrungen machen musste, als alle anderen Sterblichen – schlimmer noch als Jakob, der doch so grimmig mit Gott kämpfte (vgl. 1.Mose32,25ff), … schlimmer noch als Mose, den der HERR, Der Sich ihm am Dornbusch gerade erst offenbart hatte, beinah tückisch überfiel (vgl. 2.Mose 4,24), … schlimmer noch als König Saul, den ein unerklärlich böser Geist vom HERRN plagte (vgl.1.Sam.16,14) und schlimmer auch als Paulus, den der Engel Satans trotz des Apostels Flehen immer wieder mit Fäusten zurichten durfte (vgl.2.Kor.12,7ff) – … in der Dichtung von Hiob, der schlimmer als diese alle die Nachtseiten, die ungeklärten Widersprüche und Ambivalenzen auf Erden und im Himmel erfahren sollte, ohne dass das Märchen ihm ein Simsalabim! der Erkenntnis, eine Epiphanie des Begreifens einräumt, … in der Dichtung von Hiob steht ein Satz, der nicht einfach löst, aber am Echten festhält.
Der für uns alle sinnlos leidende Hiob, dessen Passion nur die unheimliche Seite menschlicher Erfahrungen spiegelt und zu keiner persönlichen Versöhnung führt, der sagt also einen Satz, der Satan, der den Menschen am fernsten steht, und zugleich Hiobs Nächste besiegt und der auch unser sämtliches Bescheid- und Besserwissen über Leben und Tod, Sinn und Unsinn zunichtemacht.
Hiob sagt … oder schreit … oder stöhnt flüsternd (Hiob2,10):
„Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“
Und das ist Glaube, wenn er am echtesten ist.
… Nicht die Erklärung für alles. … Nicht die Systematik, die es uns leicht macht, allem, was wir erleben, erfahren und erleiden, seinen stimmigen Ort im Koordinatensystem unseres Verstandes zuzuweisen.
Sondern umfassender: Es ist Gutes, … unendlich Gutes, das uns begegnet; und es gibt Böses, unerklärlich Böses auch.
Das sehen wir nicht zuletzt in diesem Krieg, in dem man das echte Grauen des Menschen nun nicht mehr ausblenden kann, aber in dem auch die echte Hoffnung auf des Menschen Freiheit sich mit Händen greifen lässt. …
… Gutes ist das und unheimlich Böses.
Beides aber verbindet uns auf eine Weise, die sich nicht beweisen lässt, und in einer Tiefe, die sich nicht ausschöpfen lässt, mit dem Gott, von Dem das Gute kommt und Der auch das Böse, das Leiden, die Passion nicht scheut, sondern wo Er sie uns Menschen zuteilwerden lässt, gerade sie auch mit uns teilt … bis zum Letzten!
An Ihm festzuhalten … in den Grenzen, die unserem Verstehen dabei gesetzt sind, ist Weisheit und Erkenntnis: Jene Erkenntnis und Weisheit, die zuletzt nichts weiß, weil sie nichts wissen kann und auch nicht muss, … weil sie nicht hier und heute, sondern erst dereinst im Kommenden vollendet werden soll.
… Man nennt sie Glauben.
Echten Glauben.
Amen.
[i] Am Sonntag Invokavit steht die alttestamentliche Schriftlesung vom Sündenfalls (1.Mose 3, 1-19) spürbar immer im Raum.
[ii] Mit-Urheberin und eine der Erstunterzeichnerinnen eines - aus meiner Sicht - problematischen Manifests, das dazu aufruft, der Ukraine aktive Hilfe zur Selbstverteidigung im von Russland begonnenen Krieg zu verweigern, das ich an dieser Stelle nicht verlinken mag, weil es überall frei zugänglich ist.
[iii] Zur zwiespältigen und geheimnisvollen Göttergestalt Apollos vgl. immer noch: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Der Glaube der Hellenen, 1.Band, (Darmstadt 19552), bes. S. 318ff. Die Ableitung seines Namens vom Verb απόλλυμι (apollumi =„zerstören“) ist dabei nur eine von zahlreichen möglichen Etymologien.
12.02.2023, Karnevalsgottesdienst, Mutterhauskirche, Peter Krogull
Büttenreden-Predigt am 12.2.2023, Mutterhauskirche Kaiserswert, Pfarrer Peter Krogull
„Die 10 Karnevalsgebote“
Liebes Narrenvolk im Mutterhaus,
diese jecken Töne sind ein Ohrenschmaus!
Sie künden davon, dass nun wieder richtig Karneval ist!
Die Pandemie, sie hat sich endlich ver…treiben lassen.
Drei lange Jahre ohne normalen Karneval,
diese Zeit war für uns Narren eine Qual.
Wir sind ein wenig aus der Feier-Übung gekommen.
Doch dieser Herausforderung wird sich nun angenommen.
Denn ihr bekommt nun eine Fortbildung für die 5. Jahreszeit.
Damit sind wir am Rosenmontag wieder bereit!
Ich halte sie hier in meiner Pfote:
Die zehn Düsseldorfer Karnevalsgebote!
Wo ich sie herhab, wollt ihr wissen?
Gott legte sie mir nachts unter mein Ruhekissen.
Er erschien mir im Traum auf dem Grafenberg
und sagte zu mir: „Hör mal zu, du Zwerg!
Ich mache mir etwas Sorgen um eure Stadt.
Die Stimmung ist trübe, die Leute sind platt.
Und anstatt die himmlische Freude zu loben,
wird in der Kirche der moralische Zeigefinger erhoben!
Gönnt euch davon mal eine Pause
und macht diesen Karneval zu einer richtigen Sause!
Hier sind 10 Tipps. Mit denen wird das klappen.
Ich bin jetzt raus, mach`s gut, du Lappen!“
Vermutlich seid ihr nun gespannt wie die Flitzebögen.
Ihr fragt euch: Werden wir sie mögen?
Diese 10 Gebote für die jecke Zeit?
Genug gewartet, es ist soweit:
Gebot Nummer eins ist das Gebot der Stunde.
Ich rufe es laut in unsere lustige Runde:
Humor ist, wenn man trotzdem lacht!
Dem Krisengeheul wird der Garaus gemacht.
Denn besonders in den schlimmen Tagen
brauchen wir die Karnevalswagen,
den Umzug und die Lebenslust.
Die helfen uns doch durch den Frust!
Darum sollt ihr Karneval nicht mehr verschieben.
Es wird doch immer Krieg getrieben.
Setzt mit dem Rosenmontag lieber ein Zeichen für Frieden!
So wie im letzten Jahr die Stadt mit Dom im Düsseldorfer Süden.
So lautet das Gebot Nummero Zwei,
von da geht es schnell zu Gebot Nummer Drei:
Karneval heißt: über sich selber lachen können.
Den anderen eine Pointe auf eigene Kosten gönnen!
Wichtig ist dieser Hinweis in unserer Zeit heute.
Da gibt es viel zu viele beleidigte Leute.
Mit heiligem Ernst streitet man in jeder Diskussion.
Du hast Dreadlocks! Hilfe! Approbiation!
Böse Boomer hier, Klima-Chaoten dort!
Der Karneval schiebt diese dummen Schubladen fort.
Den heiligen Ernst sperrt er für ein paar Tage ein.
Ich glaube, das findet selbst Jesus fein.
An doofen Zuschreibungen hat er sich nicht groß gestört.
Vielleicht fühlte sich Jesus sogar als „Fresser und Weinsäufer“ geehrt!
Coolness und Gelassenheit kann man vom Nazarener lernen
und sich vom Glauben an die eigene Wichtigkeit etwas entfernen.
Denn als man Jesus in Nazareth einmal herausfordern wollte,
dieser nur gelangweilt mit seinen Augen rollte
und sagte den Hatern ganz entspannt:
„Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterland.“
Sich auch mal abfinden mit den eigenen Grenzen.
Das Leistungsdruck-Rattenrennen einfach mal schwänzen!
Ihr findet, dass ich Jesus hier etwas überinterpretier?
Dann lest doch selber Lukas 4!
Wo wir schon bei der Bibel sind,
komme ich mal zu Mose geschwind.
Seit Wochen steht der als Pappfigur auf dem Rathausplatz.
In seiner Hand eine Tafel mit folgendem Satz:
„Das 11. Gebot: Du sollst deinen Kirchentag selber bezahlen!“
Aus den Augen des Papp-Mose kommen wütende Strahlen.
Der Düsseldorfer Aufklärungsdienst hat sich das ausgedacht.
Damit wird jetzt gegen den Evangelischen Kirchentag Politik gemacht.
Fair enough, man darf gerne den Kirchentag kritisieren
und seine Finanzierung sollte man auch inspizieren.
Aber bitte nicht so populistisch wie der DA das tut,
mit einem Mose als Gottesmann der Wut!
Das entspricht doch einem ganz alten Klischee:
„Die hebräische Bibel mit dem zornigen Gott.“ Ojemine!
Man darf gerne den Glauben durch den Satire-Kakao ziehen.
Aber alte, gefährliche Vorurteile sollte man dabei besser fliehen!
Gerade von Humanisten und Aufklärern sollte man erwarten dürfen, dass sie geistig nicht aus solch trüben Quellen schlürfen.
Der arme Voltaire fragt sich rotierend in seinem Grab,
wer dem Aufklärungsdienst zu seinem Namen die Erlaubnis gab.
Zusammengefasst, das vierte Gebot:
„Ad fontes“ tut auch im Karneval Not.
Vergiss nicht die christlichen Wurzeln der närrischen Zeit!
So bleibst du ein wenig vor Sinnlosigkeit gefeit.
„Erst vier Gebote, diese Predigt dauert aber lange!“
Wer so denkt, dem sei nun nicht bange!
Sie gehen ganz schnell, Gebot fünf bis neun,
die Kurzangebundenen wird das erfreun.
Das 5. Gebot stand in der Rheinischen Post.
Für Freunde des Küssens keine leichte Kost.
„Bitte nicht bützen in geschlossenen Räumen!“
So ein Gebot ließe ich mir nicht erträumen.
Gebot Nummer 6 handelt auch vom Bützen.
Es soll vor Übergriffigkeiten schützen.
Vor dem Bützen um Erlaubnis fragen!
Einverständnis ist wichtig in allen Lebenslagen.
Passend dazu beantwortet Gebot Nummer Sieben
die Frage „Wie soll man an Karneval körperlich lieben?“
Das weiß sogar die Stadt am Dom:
An Karneval Sex nur mit Kondom!
Und weil schon manch einer an Aschermittwoch mit schlechtem Gewissen und Kater aufgewacht,
heißt es nun klipp und klar in Gebot Nummer Acht:
Trinke an Karneval mit Genuss und mit Verstand!
Auch ohne Alkohol geht die Stimmung außer Rand und Band.
Gebot Nummer neun, das heißt nun ganz schnelle:
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Kamelle!
Es sind doch genug für alle da.
(Außerdem schmecken manche wie vom letzten Jahr…)
So kommen wir schlussendlich zu Gebot Nummer 10:
Lasst bitte den Büttenredner nicht im Regen stehen!
Bedenkt ihn am Ende mit Applaus und Geschmeide,
gerne auch mit Gold und mit kostbarer Seide!
Nein, Spaß! Das brauch ich alles nicht.
Mir reicht ein Lächeln in eurem Gesicht.
Und dass ihr am Ende laut ruft in diesem Bau
ein kräftiges, dreifaches Düsseldorf Helau!....
Sexagesimae, 12.02.2023, Stadtkirche, Jesaja 55, 8- 12a, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 12.II.2023 - Sexagesimæ
Jesaja 55, 8 -12a
Liebe Gemeinde!
Heut steht der Weihnachtsstern nicht mehr am Himmel und auch das Kreuz ragt noch nicht auf.
… Heut steht der rote Halbmond über Dir, Herr Jesus.
Und viele gehen weg, … wie damals, als in Lissabon die Erde bebte und die Glaubensfundamente eines ganzen Kontinents erschütterte.
Das ist ein Vierteljahrtausend her.
Seitdem ist so vieles morsch geworden: Verfallen und zusammengebrochen, hat man es eingerissen und zerstört; Menschheit und Geschichte, Mächte und Gewalten haben unabsehbar umgepflügt und abgeschafft und fortgeschleudert.
… Viel steht nicht mehr am alten Platz.
Und über den Trümmern sehen wir zum roten Halbmond auf und hoffen, dass auch die, die unterm Kreuz und andern Schildern kamen, um zu helfen, etwas getan haben, das ein klein wenig von der namenlosen Last erleichterte, das ein winziges bisschen Trost und Beistand geben, ein paar Wunden verbinden, einen Hauch von Zukunft aufleben lassen konnte. …….
Doch viele gehen weg. Aus den zerbrochenen Landschaften. Aus den Ruinen der Menschheit, der Menschlichkeit, des Glaubens. Verlassener Leerstand; ungenutzte Räume; unbewohnbare Heimaten: Da, wo es bebte. Da, wo sie schießen. Da, wo der Hunger und Durst … oder das Feuer … oder die Flut den Rückzug erzwingen.
Viele lassen es sein.
Aber, Herr, … noch lasse ich meine, … noch lassen wir unsere in Deiner Hand:
… Vor wenigen Wochen war sie noch eine weiche Kinderhand, die die Hirten andächtig und sachkundig in ihre Pranken nahmen, weil sie wissen, was so ein Lämmchen bei aller Wackeligkeit schon an Willen und Zappelkraft hat. Und in ein paar Wochen wird die gleiche kleine Babyfaust eine starrgekrampfte Spreizhand sein, von einem Nagel zerrissen, der die Knochen auseinanderdrückt.
… Ich weiß nicht, ob es heut schwerer ist, die Kinderhand oder die Hand des Gekreuzigten zu fassen. Bei beiden fragt es sich, ob das sein muss: Ob nicht das kleine Händchen in der Wärme der Windeln in seiner Krippe bleiben sollte; ob man die kalte Hand nicht einfach in Totenruhe lassen muss.
…. Aber weil wir Dich nicht loslassen, weil wir nicht einfach weggehen mögen, wie ja auch Petrus nicht wegging, als Du es ihm angeboten hast, sondern Dich und sich für uns alle fragte: „Herr, wohin sollen wir gehen …?“ (Joh.6,68), darum lassen wir Deine Hand und Dich und das, was aus dieser Hand kommt und in ihr liegt und durch sie bewirkt wird, nicht einfach los und liegen.
… Wie Jakob, der Dich auch nicht ziehen ließ, als Du in der Finsternis am Ufer gewartet hast und er nur hätte rüberwinken müssen und Dir sagen, Du gehörtest da drüben hin, in’s Jenseits, … doch stattdessen schlug er sich mit Dir hier herum, in der lausigen, angsteinflößenden Kälte der ersten Morgenstunden, der leeren Anfangsstunden am Fluss Jabbok (vgl.1.Mose32,25ff).
……. Wir wollen also nicht nur Händchen halten, Herr!
…. Denn eigentlich wurden diese Woche ja gerade alle Hände gebraucht, … auch die ohne Werkzeug, ohne Erfahrung, auch die nackten und die zitternden. Aber wir haben wieder mal nur zusehen können. Andere sind aufgebrochen, die Leute von den Hilfswerken, den technischen und diakonischen und militärischen Rettungsdiensten, während unsere Hände halt hier und da eine Spende losschicken oder eine Träne wegwischen konnten, wenn wieder ein totes Kind oder ein geretteter Mensch irgendwo aus dem grauenerregenden Elend auftauchte.
Unsere Hand in Deiner Hand, Jesus, - in der Kinderhand, der Totenhand, der Heilandshand -, sie liegt da, weil Du durch den Propheten Jesaja (49,15f) einmal der Stadt Jerusalem, auf die wir ja auch bauen, gesagt hast: „Kann auch eine Frau Ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. Siehe, in die Hände habe ich Dich gezeichnet.“
Mit unserer Hand klammern wir uns an Deine, weil es früher in der Lutherbibel - auch bei Jesaja (45,11) - hieß (und unsre Kinderschwestern und Kinderlehrerinnen bei den Kaiserswerther Diakonissen liebten diesen Vers): „So spricht der HERR, der Heilige in Israel und ihr Meister: Fraget mich um das Zukünftige; weiset meine Kinder und das Werk meiner Hände zu mir!“
Darum liegen wir Dir jetzt in den Händen und in den Ohren, Jesus, Du Herr und Meister, HERR Zebaoth, Du heiliger, starker, unsterblicher Gott mit der Babyhand und den Wundmalen, die Deinen Griff zertrümmert und Dein Fleisch zerfetzt haben.
… Komm mit, wir nehmen Dich ja an der Hand und wir sagen Dir im Gehen, was wir auf dem Herzen haben, so wie Du es in Galiläa auf den Straßen und Feldern und an den Ufern so gern getan hast: Wir sagen Dir, lieber Herr Jesus, wir sagen Dir, Allmächtiger, wir sagen Dir, Du Geist des Trostes, ……. dass unsere Gedanken nicht Deine Gedanken sind!
So viel tiefer die Erde ist als der Himmel - und Du kennst sie von beiden Seiten, kennst sie beide von Innen! - …. so viel niedriger und unheimlicher und bedrohter und erschütterter die Erde ist als der Himmel, so sind’s auch unsere Gedanken!
Wir denken, dass es schwer, ja immer schwerer, allmählich wohl gar zu schwer wird, Gedanken wie die Deinen uns auch nur vorzustellen.
Gewiss, wir spüren es ja an Deiner Hand - menschlich, verletzt, geöffnet -, dass Du die Liebe bist. Du wärest sonst ohne Hände geblieben, ganz unpraktisch, theoretisch, abstrakt.
… Andere Götter können das: Allah wird ohne Hand und Fuß gedacht. Zeus hat Hörner, Huf und Krallen, je nach Bedarf. Der Gott der Philosophen ist einer, den’s nicht juckt und der sowieso neben den Denkern nicht handelnd eingreifen darf.
… Wir merken also schon, HERR, wie Deine Hand die Welt tragen und nicht zerquetschen will, wie sie bergen und nicht zerbrechen will, wie sie trösten und nicht töten will, ……. aber wir denken, dass es gut wäre, sie wäre nicht so eine schwache Hand, die die Hirten getätschelt und die Römer zertrümmert haben.
Denn unsere Gedanken, die sind so:
Die Grausamkeit und der Horror der bebenden Erde, der Schuttberge, der Verzweifelten, die sowieso schon arm, schon Flüchtlinge, schon Vergessene und Verlassene waren …
– Warum?
Der Terror des Kämpfens und Mordens, der Folter und der Verschleppungen in Luhansk, in Kramatorsk, in Charkiw und Donezk …
– Warum?
Das Hungerleid im Jemen …
– Warum?
Die gefesselte Freiheit im Iran …
– Warum?
Die haltlose Vernichtung dessen, was das Leben aller Lebendigen ermöglicht …
– Warum?
… Was hast Du für Gedanken, Du Gott mit der verletzten Hand?
… Wenn Du das Heft in die Hand nehmen würdest, … wenn Du zu den Grausamkeiten der Menschen eine Faust machtest und mit ihr gern auch mal dreinschlügest, … wenn Du den Verdacht zerstreuen wolltest, Du habest Deine Hände bei jedem Unglück und allem Unerklärlichen im Spiel, … wenn Du - zur Not - die Hände einfach erheben würdest und denen, die Angst vor Dir haben oder Dir Böses zutrauen und nachsagen, zeigen könntest, dass Du an solchem allen unschuldig bist, … wenn Du also irgendwie handgreiflich oder handfest reagieren würdest, dann wären wir auf eine vielleicht unreife Weise ruhiger.
Dann hätten wir Dich zu dem gemacht, der durch seine Allmacht oder seine Sturheit so oder so der Schuldige für uns sein sollte.
Und wie die Vielen könnten wir weg gehen. Und Dir im Versuch zu verschwinden über die Schulter noch sagen, dass das grundlose Leid und der quälende Tod der Zehntausende durch das Erdbeben in dieser Woche und dass die erdrückende Heimsuchung durch den Krieg gegen die Ukraine und dass die ermüdende Pandemie hinter uns und die lähmend wirkende Unausweichlichkeit der Katastrophe vor uns, die wir alle selber befeuern und anheizen, zusammen wirklich zeigen, wie sehr unsere Gedanken nicht Deine Gedanken sind … und darum möchten wir jetzt gar nicht mehr denken.
Und Du sagst kein einziges Wort. …
Aber Du lässt unsere Hand nun auch nicht einfach fahren.
Denn Du willst ja gar nicht fort. Wir haben Dich zu den Stätten des Erdbebens gezerrt und sind mit Dir durch die zerbombten Orte mit den Massengräbern und den Folterkellern gezogen und haben die vom gelegten Feuer brennenden und die brandgerodeten Landstriche gesehen, die auf der Südhabkugel liegen, aber uns allen die Luft abpressen, und haben unsern Luxuslebensstandard gestreift, der auf der Nordhalbkugel gepflegt wird, aber die gesamte Erde gnadenlos auslaugt, …. und Du bist an unserer Hand mitgegangen zu den jammervollsten, bittersten, bösesten irdischen Orten, die gegen Dich sprechen.
Und was sprichst Du? …
– Kein einziges Wort, das wir hören.
Denn Dein Wort ist nicht luftig-leicht, hoch-fern, abstrakt erhaben irgendwo über der ganzen flackernden, schwelenden, rauchenden Asche dieser Erde und ihrer Trümmer, … sondern hineingefallen. Du hast es runterkommen lassen wie Regen und Schnee, die auf den Glutnestern und an den Brennpunkten der Wirklichkeit zu verdunsten scheinen.
Aber dadurch sind sie alle Deiner Hand vertraut: Du weißt, wie sich die Flucht nach Ägypten anfühlt, wenn man als Kleinkind auf den Müllbergen von Kairo essbaren Abfall kratzt; Du legst Deine erfahrene Hand auf die Wunden aller Menschen, die uns von ferne Kummer machen; bei jedem Vater, der die aus den Trümmern ragende Hand seiner toten Tochter trotz Frost und Schnee nicht loslassen kann, bist Du wieder bei Jaïrus und Dein Wort „Talitha kumi!“ (vgl. Mk.5,41) ist auch da; bei jeder der Heulenden und Klagenden, der sie eine Leiche vor die Füße legen, bist Du wieder am Tor des Städtchens Naïn, und ganz nah am Boden, wo sie sich die Haare raufen und Staub auf ihr Kopftuch werfen, da liegt schon längst Dein Wort „Weine nicht“ und rieselt mit dem Dreck aller Schmerzen verborgen auf die gequälten Seelen (vgl. Lk.7,13); und wo das Unrecht Menschen knebelt, wo die iranische Jugend hingerichtet oder Alexej Nawalny langsam mund- und mausetot gemacht wird, da ist Dein Wort aus Gethsemane bei ihnen, wo Du gegriffen und abgeführt worden bist, aber Dich nicht dem Willen der Schergen unterworfen, sondern dem Vater, unserem Vater in die Arme geworfen hast „……. wie Du willst!“ (vgl. Matth.26,39).
Und noch am Ende, wenn die Erde bebt und die Felsen zerreißen (vgl. Matth.27,51), bist Du da, bist wieder auf Golgatha und teilst Deine letzten Worte mit uns: „Vater!“ (Lk23,46) … „Warum?“ (Mk.15,34) … „Vollbracht!“ (Joh.19,30)
Dein Wort ist wirklich überall: Im Schmutz und im Schlamm, im Schutt und im Giftmüll, in der verwesenden Fäulnis und dem unheimlichen Reich der Erde, die die Toten aufnimmt und zu zersetzen scheint, … Dein Wort: „Ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe“ (Jes.43, 6).
Darum lässt Du unsere Hand nicht los, wenn wir Dich vor die Wirklichkeit zerren und Dich da anklagen lassen wollen. Deine Hand ist längst ja Teil dieser Wirklichkeit: Nicht leichthin zaubernd, sondern verwickelt in Windeln und in eine Krippe gelegt; nicht überirdisch drüber weggehend, sondern durchdrungen von der Passion für die Welt.
Wo immer wir Dich angesichts von Leid und Grausen nach Deinen Gedanken fragen wollen, hast Du sie Dir schon gemacht. … Und in das Wort gefasst, das sich in allem, was uns niederdrückt, noch tiefer niedergeschlagen hat und noch weiter eingedrungen ist, wie Regen und Schnee wenn sie unsichtbar werden, weil ihr Wirken beginnt.
… Es ist das eine Wort, das im Himmel genauso wahr ist und hilft wie auf Erden; … und auf Erden und unter der Erde in der Hölle, die wir an beiden Stellen machen und fürchten, ebenso hilft und wahr bleibt – … das Wort, das Dein Name ist: „ICH bin da – und ICH werde da sein“ (vgl. 2.Mose 3,14).
Das ist Dein Name und unser Trost.
Das ist Deine Wirkungsweise und dadurch alle Hoffnung.
Das ist’s, wo wir herkommen; das ist’s, was jetzt hält; das ist’s, was die Zukunft sein wird: Dein Wort des Daseins in der Welt, Deine Welt des Daseins im Wort, … Dein Dasein allein, das uns überall begegnet und dem wir alle entgegenwachsen und -leben und -sterben.
Dadurch, dass Du so tief in ihr bist, ist diese Welt nicht leer: Dadurch, dass Du da bist und bleibst.
Und darum bleibt unsere Hand in Deiner, Du Gott der Welt am Anfang wie am Ende.
… Wir geben sie Dir wieder, unsere Hände.
Es gibt eine Legende, die uns das lehrt[i]. ----- An sich sind wir Evangelischen ja nicht gut mit Legenden: Immer ist da ein Hammer, der in unseren frommen Ausschmückungen geschwungen wird, oder ein fliegendes Tintenfass oder Hacke, Spaten und Apfelbaum.
Aber eine Legende gibt es, in der das Herz und die Hoffnung und der Glaube ganz leer, ganz hinfällig werden … und die Hände doch nicht.
Die junge, nicht sehr liebliche Julie von Hausmann aus Kurland hatte die Liebe gefunden: Einen Missionar, der sie in Übersee, in seinem Einsatz heiraten wollte. Getragen von Freude schlug sich die Braut aus dem Baltikum bis nach Afrika durch. Als sie voll Bangen, weil niemand sie am Dampfer abgeholt hatte, schließlich an der Missionsstation, wo Hochzeit gefeiert werden sollte, eintraf, führte man sie an’s frische Grab ihres Bräutigams.
… Da waren mit der Liebe doch wohl auch ihre Zuversicht und ihr Vertrauen gestorben.
… Viele gehen ja weg, wenn so vieles vergeht.
Julie Hausmann aber - so wird erzählt - setzte sich am selben Abend, als alles vorbei und nichts mehr zu retten war, als der Glaube am Ende, im Tiefsten erschüttert, blind und gebrochen war, hin und schrieb, was wir jetzt singen (EG 376):
„So nimm denn meine Hände …….“
[i] Als Quelle zur (wandernden) Brautfahrt-Legende hinter EG 376 findet sich in der Literatur: „Seminartradition Heinrich Vogels an der Kirchl. Hochschule Berlin“, in: Waltraut Ingeborg Sauer-Geppert, „So nimm denn meine Hände …“ - Kleine Beiträge und Miszellen zur Hymnologie, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 27 (1983), S.213 Anm.18.
Septuagesimae, 05.02.2023, Stadtkirche, Matthäus 9, 9 -13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Septuagesimæ – 5.II.2023
Matthäus 9, 9 -13
Liebe Gemeinde!
Pandemie Ade! – … Reden wir also von Gottes Krankheiten. …
… Demnächst, in den sieben Wochen des Gottesleids werden wir sowieso vermehrt von Seiner Herzinsuffizienz hören, … von Gottes ungewöhnlich weichem Herzen, von dem es beim Propheten Jeremia (31,20) in Verbindung mit Gottes angegriffenen Nerven heißt, dass das Reich Israel, das Er zärtlich Seinen Sohn Ephraim nennt, Ihn zwar fast zum Ausrasten bringt, … aber dann „bricht mir mein Herz, dass ich mich seiner erbarmen muss, spricht der HERR“.
… Und wie so viele Mütter und Väter, die in den Konflikten mit ihren halbstarken und ganz sturen Kindern manchmal mürbe werden und deshalb völlig überreagieren und nicht weiter wissen und ihre eigenen Argumente und Drohungen nicht mehr sortieren und anwenden können, … wie so viele Väter und Mütter, die wirklich Vernünftiges sehen und wollen und sich plötzlich im Ringen mit den jugendlichen Weigerungen und Eigenheiten bei der eigenen Irrationalität ertappen, … wie so viele kluge, liebevolle, erfahrene Menschen, die feststellen müssen, dass Erfahrung und Liebe und Weisheit nicht von Hand zu Hand weitergereicht werden können, sondern in jedem Herzen eigens erst wurzeln und wachsen müssen, … na ja, wie so viele von uns eben merkt Gott dass am Ende die ganze Klarheit und Wahrheit nix sind, und man manchmal einfach nur heulen könnte, weil einem das Herz im Zorn davongaloppiert ist und nun stolpern und auch mal stoppen muss.
Diese Arhythmie, dieses Aussetzen des göttlichen Herzens, wenn Er brennendes Seitenstechen hat vor Mitgefühl und Zärtlichkeit gegenüber den Menschen, das kann man bei Gott wahrhaftig im Endstadium feststellen: Auf Golgatha, wo das heilige Herz Jesu den ganz großen Durchbruch erleidet und stillsteht vor Liebe.
… Aber das Krankheitsbild des Herzens, das statt zu schlagen - zuzuschlagen - lieber bricht, das ist eine Diagnose, die man bei Gott von Anfang an stellen kann.
Der Fachbegriff für diese kardiologische Schwäche lautet bei Gott und Mensch: „Barmherzigkeit“.
… Und Gottes Umgang mit Seiner Grunderkrankung, mit der Pathologie in Seinem innersten Grund ist ganz anders, als alles was wir in den letzten Jahren geübt haben: Gott will anstecken, Er will uns möglichst alle infizieren mit der Barmherzigkeit, die Ihn plagt und doch gleichzeitig so stark macht, dass Sein Herz im Stillstand nicht dauerhaft erlöschen konnte, sondern am dritten Tag wieder begann, Leben und Liebe in Seinem ganzen Leib -in uns also! - zu verströmen. ——
Heute nun, 44 Tage nach Weihnachten, siebzig Tage vor Ostern und zwanzig Tage ehe ein ganzes Kriegsjahr hinter der Ukraine liegt, sind wir Zeugen einer der typischen Übertragungen, durch die Gott mitten unter den Geburts- und Sterbe- und Hoffnungs- und Leiderfahrungen der Menschen Seinen eigenen inneren Zustand verbreitet. In der Sprache der Gläubigen nennt man diese Infektionen - mit einem immer blasser werdenden Begriff - „Berufungen“.
Die Berufung, die wir heute hörten, der Barmherzigkeitsausbruch, mit dem Jesus in das Leben des Matthäus eingriff, ist völlig spröde. Gar nichts erfahren wir dabei von einer inneren Ergriffenheit oder einer plötzlichen Erleuchtung oder einer unvermuteten Erkenntnis.
… Wenn ich noch altmodischer reden soll und darf als üblich, würde ich es als die keuscheste, die am wenigsten exhibitionistische oder voyeuristische, die am wenigsten sensationslüsterne oder gefühlige Schilderung des größten denkbaren Glückfalls in einem Menschenleben bezeichnen: Kein einziges Sterbens- oder Lebenswörtchen dessen, der da gefunden und gerufen wurde, und auch keine noch so geheimnisvolle Verheißung des Berufenden, der den Fischern am Genezareth immerhin noch in Aussicht gestellt hatte, sie zu Menschen-, statt zu Barsch- und Karpfenfischern zu machen (vgl. Matth.4,19).
… Kein Gedankenspiel, keine Antwort, keine emotionale Reaktion, sondern einfach nur einer, der kleinkariert war wie Du und ich und plötzlich Teil des Größten wird … des Evangeliums von Gottes Barmherzigkeit, die diese Welt rettet.
Man möchte es ja so gern durchleuchten und erklären und runterbrechen - wie es heute immer heißt - und dann in mundgerechten oder kundenfreundlichen oder zeitgenössischen Einzelteilen begreifen.
… Doch da lauern lauter dumme Fallen: Weil es zu einfach wäre, zu sagen, dass der Zöllner da eben so furchtbar verachtet war wie die Ordnungsamtsmitarbeiterinnen heute beim Knöllchenverteilen oder die immer übersehenen Putzmänner, denen man 50 Cent auf‘s Schüsselchen legen soll, und dass es dann fast weltverbessernd-lebensverändernd ist, wenn jemand die Ungern-Gesehenen, die Parias wahr- und ernstnimmt. … Das stimmt natürlich voll und ganz, … aber dazu braucht die Welt nun wirklich nicht das Evangelium, sondern bloß eine halb-sportliche, halb-aggressive Erinnerung daran, dass die fette und hässliche Selbstgerechtigkeit, die bei den Reichen und Schönen, bei den Jungen und Erfolgsabhängigen so enorm wuchert, eine Eiterbeule am Charakter ist, die man nur eine Zeitlang mit einem schönen Muskel verwechseln kann: Irgendwann platzt die feiste Arroganz auf und dann stinkt ihr Träger so, dass er sich schnell und gründlich verlassen sehen wird.
Aber neben der sozialen Erklärung als Einbindung eines Außenseiters führt auch eine psychologische Einfühlung nicht zum Kern dessen, was Matthäus geschah. … Sicher, da hat jemand vom Nehmen gelebt, von einer Selbstbedienung, die haarscharf vielleicht noch legal, aber vermutlich weit entfernt von jeder Moral war. Dieses uns sehr vertraute Lebensmodell - heute überwiegend eher schon Lebensideal -, dass man sich getrost bereichern darf, wenn man Verantwortung oder Risiko übernimmt (man denke an die obszönen Gewinne, die gerade in unserer Zeit der Knappheit, der Teuerung und Not verzeichnet werden!) … dieses Lebensmodell des materialistischen Egoismus ist natürlich eigentlich ein Sterbensmodell. – Wir wissen’s doch: „Besitzen“ ist kein wirklich aktives Verb, sondern eine Form des Passivs. Wer besitzt, wird immer auch besessen. Und umgangssprachlich lässt es sich ganz flapsig auf den Punkt bringen: Etwas bloß zu haben, das gibt mir nichts. – Glück gehört mir ja nie: Es muss mir zufallen. Glück kann ich nicht machen: Weil es eine Gabe ist. … Und darum ist es zwar völlig richtig, dass Matthäus buchstäblich erlöst wurde, als er sein Amt, seine Steuerlisten, seine schwarzen Listen mit den Überschüssen für die eigene Tasche, sein Gehortetes und seine doppelte Sklaverei im Dienste Roms und Mammons gegen das ungesicherte Leben eintauschte. …Aber davon können uns der Buddha oder Bruce Chatwin genauso gut erzählen, auf ihre Weise auch Florence Nightingale oder Marlene Engelhorn, die österreichische Millionenerbin, die eine massive Erbschaftssteuer fordert, was Matthäus seinerzeit sicher hellhörig gemacht hätte …….
Was aber dem Matthäus geschah, ist nicht einfach mit dem Glückserlebnis der Integration und Akzeptanz oder der Befreiungserfahrung echten Konsumverzichts zu erklären. Seine Berufung durch Jesus eignet sich nicht als lehrreich-erbauliche Beispielgeschichte für das, was wir an anderen oder zu unserer eigenen Besserung tun sollten.
… Sondern es geht um das, was Jesus tut und welche Konsequenzen das hat!
… Und weil es eben nicht die Emanzipations- oder die Rehabilitationsgeschichte des Steuereintreibers ist, darum ist sie so spröde und so keusch: Denn dieser Mangel an allem, was uns interessieren und berühren und erregen könnte, … genau diese absolut unterkühlte Sachlichkeit, ohne den Tratsch- und Gossipfaktor einer Vorher-Nachher-Story aus den Medien wiegt uns ja in unbeteiligter Sicherheit.
Weil uns keine Andeutung erreicht, was da geschah, und weil wir nicht einmal eine kleine Moral daraus ziehen sollen – so à la „Denkt dran: Im Finanzamt sitzen auch nur Menschen!“, … „Stellt euch vor, ihr würdet wirklich mal aus eurer satten Bequemlichkeit aufbrechen und den Lebensstil wechseln!“ … –, darum bohrt diese rätselhafte Pointe von einer Berufung ohne Grund und öffentliche Beichte sich nur umso tiefer in unsern dicken Schädel:
… Kommt Jesus einfach so daher …….
Kommt daher, so kurz und knapp an Worten …….
Und trotz dieser Kargheit geschieht etwas Unwiderstehliches …….
Dieses Unwiderstehliche, das der ordentliche Matthäus - der beste Rechner, beste Schreiber, der von Amts wegen Angepassteste und Systematischste unter den späteren Zwölfen - weder wollte noch aufhalten konnte: Ist das nicht eine irrationale Gefahr, eine unkalkulierbare, elementare, erst analytisch und dann taktisch nicht zu beherrschende Dynamik? …
Doch. Genau das.
Trotz aller Bändigungs- und Entschärfungsversuche: Es gibt zu allen Zeiten die Erfahrung, dass Jesus nicht abgewehrt werden kann.
… Natürlich hat jede Epoche, jede Gesellschaft, jeder Einzelne bestimmte Gegenmittel, … manchmal heftige Abstoßungsreaktionen, … manchmal schier undurchdringlich wirkende Schutzmechanismen. Die Glaubensverdunstung, die Kirchenallergie, die Religionsmüdigkeit, … die gesunde Skepsis, die unnatürlich nährstoffarme Diät des Virtuellen, die schadstoffgefilterte Vermeidung von Wirklichkeitskontakt in unsern Tagen scheinen ja eine Herdenimmunität herbeizuführen gegen die Ausbrüche dessen, was den Matthäus gepackt hat.
Und doch ist die Botschaft seiner Berufung zu jeder Zeit buchstäblich „virulent“: Es kann geschehen - ausnahmslos jedem Menschen! -, dass es ihn oder sie erwischt, dass Jesu Leben, Jesu Lebensleidenschaft und Jesu Leidensleben unwiderstehlich überspringen und in einem anderen Menschen, in Matthäus, in dir oder mir sich auswirken!!!
… Und dann ...?
Dann finden Menschen sich da, wo die Anderen, die Nichtbetroffene, die Unbeteiligten einen Sicherheitsabstand wahren. … Ob diese Anderen die von Jesus Angesteckten dabei nun „Sünder“ oder „Schwachköpfe“ oder „Kranke“ nennen, das macht keinen Unterschied: Auch Matthäus, den man lange Jahre als Zöllner gemieden hatte, wurde ja noch am Abend seiner Berufung erneut gemieden … bloß nicht mehr so isoliert, sondern als Teil einer Gemeinschaft von Unberührbaren, einer Patientenkolonie abseits vom Alltag der zum Überleben Fitten, wo Zöllner, Sünder und andere Unerwünschte in der Gesellschaft Jesu leben und Sein Leben teilen.
Die Berufung war also für Matthäus keine Spontanheilung, kein therapeutischer Durchbruch - wie wir es kurschlüssig zu deuten neigen -, sondern im Gegenteil ein soziales Stigma, eine Behinderung für die konventionell respektierte Existenz, ein Ausschluss.
Aber – und das ist der Unterschied, … der Unterschied, den ich mir und jedem anderen nur von Herzen wünschen kann!!! – aber Matthäus erlebte seither, dass er nicht mehr durch Opfer und unter Opfern würde leben müssen. Nicht mehr durch Opfer würde er leben – sprich: Nicht mehr durch sein eigenes Vermögen, wie auch immer das erworben und geartet war –, sondern durch seine Schwäche, … seine Herzschwäche: Durch seine Bereitschaft, von Gott eben geliebt zu werden und diese Menschenliebe Gottes menschlich zu teilen!
Die Barmherzigkeit Gottes ist es, die die Menschenopfer – also alles, was Menschen opfern können: Selbstopfer, fremde Opfer, materielle Opfer, intellektuelle Opfer, kriminelle Opfer – nicht will! Gott, der Barmherzige, Der auf alles ein Recht hat, will doch nichts annehmen, sondern Selber geben, Sich Selber geben!
Und gerade so – als der Barmherzige, als Der selbst keine Überlegenheit Durchsetzende, sondern Verlustbereite – ist Gott der wahre und der einzige Arzt der todkranken Menschheit, die einander immerfort aus dem eigenen Leben ausschließt[i], entweder indem sie Zölle erhebt, wo sie Macht dazu hat, oder umgekehrt den Zöllner sofort ausstößt, sobald er ohnmächtig geworden ist.
In diesem Elend, das wir an der kleinen Gestalt des Matthäus ebenso wie an den großen Mächten der Geschichte erkennen müssen, … in diesem Elend, dass im Miteinander von gewöhnlichen Menschen keine Seligkeit außer der „Feindseligkeit“ herrschen zu können scheint, da ist die eine Hoffnung Derjenige, Dem das das Herz bricht.
Gott ist als Mitleidender, als das Mitleid schlechthin der Heilende, der Heiland.
Dieser eine Satz – der Satz, dass Gottes Krankheit, Seine Geduld (also Sein Patient-Sein) aus Liebe unsere Genesung, unsere ewige Zukunft ist! – … dieser eine Satz ist der Tod der alten Mächte und der Beginn des wirklichen Lebens.
„Gott ist als Mitleidender unser Heiland, Seine schmerzhafte, offene innere Wunde - Seine Barmherzigkeit - ist unsere Rettung!“
… Ja, dieser Satz, diese Wahrheit ist bedrohlich für die Logik und die Gesetze, für die Funktion und Ordnung unserer in Krankheit und Gesundheit, in Stärke und Schwäche, in Vermögende und Opfer, in Hilflose und Selbstherrliche eingeteilten Welt.
… Ja, man ahnt, dass wer immer von diesem Satz erwischt wird, wer immer diesen Satz in sein Herz und Wesen, Sein Denken und Handeln dringen und sich dort viral ausbreiten spürt, sich verzweifelt wehren mag … oder aber für immer angesteckt wird. … Berufen.
… Berufen, ganz ohne große Worte, ohne große Wunder, mit dem Arzt, Der den Schmerz kennt, mit dem Retter, Der das Leid teilt, selber zu teilen, … mit Ihm zu helfen, … mit Ihm zu tragen, … mit Ihm zu dulden, … mit Ihm zu sterben … und mit Ihm zu leben!
… Es kann uns alle erwischen …….
Gott sei Dank!
Amen.
[i] Der Anklang von „Sund“ (= Abgrund, Trennung) in „Sünde“ ist und bleibt ein unglaublich beredter Wink unserer Sprache: Das permanente Scheiden – „Meins, nicht Deins!“ – macht zwischen Menschen und Gott und Menschen untereinander das Wesen der Trennung, der Abkehr, des Abbruchs aus, die nur Gottes Barmherzigkeit - Seine Bereitschaft, Selbst Abgründiges zu teilen und zu dulden - überwindet.
Letzter So.n.Epiphanias., 29.01.2023, Mt 17,1-9, Mutterhauskirche, Dr. Katrin Stückrath
Sonntag, liebe Gemeinde, ist ein besonderer Tag.
Es ist ruhiger auf der Straße, man kann nicht einkaufen, man hat keine Termine, man muss ihn selber gestalten. Oft ist der Sonntag ein Familientag. Die Zeit scheint an ihm anders zu verlaufen als sonst. Die Erwachsenen lieben ihn: Endlich Zeit und Ruhe! Die Jugendlichen mögen ihn meist nicht so: Zu viel Zeit, zu wenig los, komischer Tag.
Ja, das ist so: Mit dem Sonntag muss man etwas anfangen, um ihn zu genießen. Der österreichische Schriftsteller Peter Rosegger schrieb: „Gib der Seele einen Sonntag und dem Sonntag eine Seele.“ Er meint also, dieser Tag könne unserer Seele gut tun. So steht es übrigens auch in unserem Grundgesetz: „Der Sonntag ist ein Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“. Steht da so drin in Artikel 139! Unser deutsches Grundgesetz, der höchste Rechtstext, spricht von Seele und weiß auch, man muss etwas für sie tun, sie „erheben“. Ja, Erhebung haben wir oft nötig, vor allem im Winter, wenn alles so grau erscheint und die Kälte weh tut. Und mehr weh tut noch Inneres: Kummer, Sorgen, Angst, Trauer. Darüber muss sich die Seele ab und zu erheben.
Was tut Jesus an einem Sonntag? Es ist eigentlich ein Sabbat, natürlich, denn Jesus ist ja Jude. Kurze Erklärung: Als Jesus am Sonntag auferstand, legten die Christen den Sabbat, den Tag der Arbeitsruhe, auf den Sonntag. So wurde der jüdische Sabbat unser Sonntag, einen Tag versetzt aber inhaltlich ähnlich. Was tat Jesus an einem Sabbat? Davon erzählt ein Bibeltext, den ich frei widergebe, denn er ist so voller Details, die ich nicht alle erklären kann. Sie können ihn später nachlesen in Matthäus 17, Anfang des Kapitels.
Also: Jesus nimmt drei Jünger mit sich auf einen hohen Berg. Er geht nicht in die Synagoge zum Gottesdienst an diesem Sabbat, sondern auf einen Berg, das ist schon mal bemerkenswert. Warum an diesen besonderen Ort?
Die Tage zuvor, so erzählt es Matthäus, war Jesus mit seinen Jüngern in der Gegend der römischen Küstenstadt Caesarea Philippi gewesen. Das war DIE Hafenstadt, wo alle römischen Schiffe ankamen, wo es große Garnisonen gab. Caesarea Philippi – die „Kaiserstadt“ war der Ort, von dem aus die Römer das Land beherrschten. Kein Wunder, dass bei der Gruppe um Jesus die Machtfrage im Raum stand: Wer ist dieser Jesus im Vergleich zum Kaiser in Rom?
Die Jüngerinnen und Jünger waren jetzt schon einige Zeit mit Jesus unterwegs. Sie hatten Tolles erlebt: Heilungen von kranken Menschen, mitreißende Worte von Jesus, sie waren willkommen geheißen worden in vielen Häusern. Aber – da gab es eben noch die Fremdherrschaft der Römer und die Frage, ob das, was sie mit Jesus erlebten, nur eine schöne Auszeit war? Oder könnte mit Jesus eine völlig neue Zeit der Gerechtigkeit und des Friedens einziehen? – dann müsste er stärker sein als die Römer.
Jesus hatte das gespürt und sie gefragt: „Für wen halten die Leute den Menschensohn?“ Jesus sprach von sich selbst nämlich als Menschensohn. Das ist einerseits sehr bescheiden, man könnte auch „Mensch“ oder „Menschenkind“ sagen. Das ist andererseits überhaupt nicht bescheiden, denn die alten Propheten sprachen vom Menschensohn und meinten damit das ganze Volk Gottes, ganz Israel oder auch die Menschlichkeit schlechthin. Auf jeden Fall: Petrus antwortet und sagt: „Ich halte dich für den Messias, den gesalbten König von Gott!“ Und Matthäus erzählt, dass Jesus das gut fand.
Aber dann fängt Jesus an, den Jüngerinnen und Jüngern zu erklären, was für ein Messias er ist: Nämlich ein besonderer, einer der vieles erleiden muss, getötet wird und auferstehen wird. Das findet Petrus gar nicht gut. Es gibt richtig Ärger zwischen Petrus und Jesus deswegen. Und wohl deshalb nimmt Jesus ihn und Jakobus und Johannes, (die das mit dem Leiden und dem Dienen auch nicht verstehen können, so erzählt es eine andere Geschichte) er nimmt die drei am Sabbat mit auf den hohen Berg. Sie müssen etwas kapieren.
Und das ist, was die drei Jünger sehen: Auf dem Berg erscheint Jesus ganz anders, von Licht durchschienen. Und er bekommt zwei Gesprächspartner: Mose und Elia erscheinen und reden mit Jesus. Petrus findet es erst super und meint: Hier bleiben wir für immer! In dem Augenblickwirft eine Wolke ihren Schatten auf sie und sie hören eine Stimme aus der Wolke: Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe, auf den sollt ihr hören. Das ist dann endgültig zu viel für die Jünger. Sie bekommen große Angst und fallen auf den Boden. Wie tot liegen sie da. Mit dem Gesicht auf der Erde, wird erzählt.
Aber dann macht Jesus etwas: Er geht zu ihnen, fasst sie an und sagt: „Aufersteht und fürchtet euch nicht.“ Ja, die Wörter, die hier benutzt werden, sind die gleichen, mit der die Auferstehung von Jesus erzählt wird. Der Engel sagt zu den Frauen am Grab: Fürchtet euch nicht, er ist auferstanden. Die drei, Petrus, Jakobus und Johannes erleben hier die Auferstehung vorweg. Auf dem Berg an dem Sabbat, dürfen sie einen Blick in die Ewigkeit werfen, in Gottes Reich. Sie sollen verstehen, welche Kraft da am Werk ist. Jesus wird nicht einfach leiden und sterben. Gottes Macht ist größer als der Tod. Er wird wieder aufstehen. Er ist wirklich der Sohn Gottes. Aber das ist nichts Exklusives. Sohn Gottes ist das ganze Volk Israel. Was heißt das dann?
Ich stelle mir vor, dass Petrus still war, als sie vom Berg hinunter steigen. Wie es in dem Kopf von Petrus arbeitet. Er versucht das Erfahrene zu verarbeiten: „Jesus ist der Sohn Gottes. Er wird am Ende auferstehen, hat er gesagt. Aber wir alle sind eigentlich Söhne und Töchter Gottes. Logisch, deshalb bin ich auch eben von den Toten auferstanden. Es passt alles zusammen. Jesus ist der Sohn Gottes und wie er uns hier auf den Berg mitgenommen hat, so wird er uns immer weiter mitnehmen, auch nach Jerusalem, aber auch nach seinem Tod darüber hinaus.“
Als sie so vom Berg heruntergehen, wird Petrus klar, dass Jesus das alles ist: Menschensohn und Messias und Sohn Gottes. Es sind verschiedene Wörter, aber allen gemeinsam ist: Gott ist am Werk für sein Volk. Er ist in diesem Jesus, um den Menschen Hoffnung zu geben. Jesus gibt Sicherheit gegen Angst, Mut gegen Gewalt, Gerechtigkeit gegen Unrecht.
Ich stelle mir vor, dass Petrus Jesus noch etwas gefragt hat: „Woher hast du das alles, was du geben kannst? Wieso bist du so stark?“ Und ich stelle mir vor, dass Jesus geantwortet hat: „Mose und Elia haben doch mit mir geredet.“ Bei Mose und Elia gibt es Parallelen zu Jesus: Mose hatte auch Angst, aber Gott hat ihn am Dornbusch beauftragt, sein Volk, die Kinder Israels aus Ägypten zu befreien. Mose hat es geschafft, das war das Ende der Sklaverei. Und Elia war der Prophet, der für Gott gekämpft hat und am Ende nicht gestorben ist. Er ist in einem Wagen zum Himmel gefahren. Mose und Elia haben Jesus Mut gemacht.
Liebe Gemeinde, ich komme noch einmal auf den Anfang zurück, auf den Sonntag. „Gib der Seele einen Sonntag und dem Sonntag eine Seele.“ Lassen Sie uns den Sonntag als eine besondere Chance wahrnehmen. Ihn als besondere Zeit wahrnehmen. Man kann an einen besonderen Ort gehen. Es kann ein Berg sein oder auch eine Kirche. Wichtig ist: Mose und Elia reden mit einem. Hier in der Kirche ist das ganz einfach: Denn Mose haben wir in den 5 Büchern Mose und Elia steht ebenfalls in der Bibel und alle Prophetenbücher ebenfalls. Wir können Mose und die Propheten mit uns reden lassen durch die Lesung im Gottesdienst. Oder wir lesen selber in der Bibel. Oder wir lesen einen anderen guten Text oder schauen ein gutes Video.
Wir gucken aber nicht so ein Tictoc-Video, wo man denkt: Mist, ich bin nicht richtig, ich müsste anders sein. Nein, wir suchen Ratgeber und Freunde wie Mose und Elia, Menschen, oder Texte oder etwas, das Mut gibt. Mut gegen die Hoffnungslosigkeit und die Resignation und die Traurigkeit. Mut gegen die Gewalt, die in der Welt im Spiel ist. Mut gegen die Ausbeutung, die Sklaverei.
Lassen wir Mose und die Propheten mit uns reden, damit wir merken: Gott hat ganz andere Ziele mit der Welt. Er wirkt in ihr durch Menschen wie Jesus. Er lässt sein Volk, er lässt die Menschheit nicht allein. Er taucht alles in anderes Licht.
Ja, liebe Gemeinde, das zu erfahren ist möglich an einem Sonntag. Was an einem Sonntag alles passieren kann! Wir blicken auf einmal in Gottes Zeit, in seine Welt. Nicht alles, was uns bedrückt, ist damit vorbei. Aber es kann in einem neuen Licht erscheinen. Gottes Liebe kann spürbar werden. Und wir kriegen neuen Mut. Das kann an einem Sonntag alles passieren!
Letzter Sonntag nach Epiphanias, 29.01.2023, Stadtkirche, Kantatengottesdienst mit Telemanns "Ihr Völker, hört!" (TWV 1:921) / Matthäus 17, 1 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Letzer S.n.Epiphan. - 29.I.2023
Matthäus 17, 1-9 & Kantate G.Ph. Telemann, „Ihr Völker, hört“ (TWV 1:921)
Liebe Gemeinde!
Wenn Ludwig Wittgenstein - der große Denker der klaren Logik und der eher unklaren Menschensprache - Recht hat, dann ist unser Gottesdienst heute, mit all seinem Drum und Dran heller Unfug. Nicht das oder vielmehr „Der“, Der uns hier versammelt, fällt unter das harte Urteil des Philosophen, aber sehr wohl alles, was wir hier bisher getan haben. Denn Wittgenstein hat einen Satz geprägt, der paradoxerweise zum geflügelten Wort wurde, obwohl er die Reichweite aller Worte drastisch stutzt: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.[i]“
… Dieses völlig zu Tode wiederholte und doch unerschöpflich treffende Zitat aus Wittgensteins Werk sagt uns heute unverblümt zweierlei: Die Theologie ist verrückt und Telemann ist verrückt. … Weil beide nicht schweigen können, weil sie auf je ihre Weise formulieren und hörbarmachen wollen, was logisch - also mit dem Logos, mit der verstehbaren Mitteilung - gar nicht auszudrücken ist:
Theologie, Liturgie und Kirchenmusik kreisen schließlich alle um das Unaussprechliche, … sie kreisen alle um ein Geheimnis, ein Schweigen, das völlig undurchdringlich wäre, wenn nicht aus dem Abgrund des Mysteriums und vom Gipfel jenseitiger Ferne ausgerechnet der göttliche Logos selber gekommen wäre, um sich in Menschenmündern mitzuteilen und sich schließlich in einem Menschenkind - rätselhaft und greifbar zugleich - zu offenbaren.
Seither, seit Abrahams Berufung, seit Moses Begegnung auf dem Sinai, seit Elias und Jesajas und Hesekiels beinah leibhaftigen Berührungen durch Den, Der sie sandte, reden Menschen in Menschenwendungen nicht nur über, sondern aus Gottes Fülle. Und an Weihnachten kam der, von dem sein Apostel sagt: Wir alle - wir Verkündiger Jesu Christi - haben Gnade um Gnade aus der fleischgewordenen Fülle dieses Wortes genommen (vgl. Joh.1,16). ——
Wenn nun aber der Apostel und Evangelist Johannes, der in der Ostkirche immer nur mit dem Finger auf den Lippen und dem Engel am Ohr als der größte Schweigende und Lauschende abgebildet wird, sich an Wittgensteins Prinzip gehalten hätte, gäbe es keine christliche Theologie, Liturgie und Musik: … Das kann man so verkürzt und ohne Matthäus, Markus und Lukas zu nahe zu treten, sagen. Es gäbe also weniger Verrückte, die das unendlich Unbegreifliche und unnahbar Gegenwärtige begrüßen, beschreiben und besingen wollen, das uns in Jesus aus Gott entgegenströmt.
Vielleicht wäre es ja auch ganz gut, wenn sich die Sprüche und die Widersprüche des Glaubens langsam wieder in’s Verschwiegene und dann ins Schweigen zurückzögen. … Die Mehrheit unserer Zeitgenossen fände es erkennbar sinnvoll oder zumindest gleichgültig, wenn das Christentum einfach gar nicht mehr dazwischenfunkte: Angefangen beim blöden Glockenläuten über den unverständlichen, aus der Zeit gefallenen Klangteppich altmodischer Floskeln, barocker Musikmotive und sonstiger feierlicher Versatzstücke, bis hin zu den Polit-Parolen und moralischen Einlassungen der Kirchen-Gremien … wie Wenigen würde das wohl fehlen?! … Es gäbe eben noch mehr TikTok, noch mehr Twitter, noch mehr Spotify, wenn die Lautsprecher, die Chöre und der Lobpreis der Christen endlich Ruhe gäben!
Doch noch etwas anderes würde ausfallen, wenn die Christen ihre Kommunikationskanäle, ihre Lieder und Predigten, ihre Bete- und Bekenntnisversuche, ihre Sprache und ihre Stimme stummschalteten. Was man am wenigsten vermuten würde - so verrückt ist es! -, und gleichzeitig das Allerbeste würde ausfallen, wenn das Schweigen der Christen einträte: … Das Licht!
… Sehr weit muss man ja in der Bibel nicht vordringen, sehr tief muss man nicht forschen, um auf die fundamentale Behauptung zu stoßen, dass schon die Initialzündung, die kreative Energie, von der alles Organische im Universum unmittelbar abhängig ist, keinen bloß physikalisch-materiellen, sondern einen logischen Funken brauchte. Das Licht kommt aus dem Wort!
Die auch in atheistischen Modellen grundlegende Kraft bei der Entstehung der Welt ist nach dem biblischen Zeugnis tatsächlich das ursprünglichste WORT GOTTES: „ES WERDE LICHT“ (1.Mose1,3).
… Wenn Gott Sich also äußert, wenn Er Sich mitteilt, entsteht Helligkeit!
Das ist ein Grund-Satz, aus dem viele, viele, … vielleicht alle weiteren Sprechversuche und Aussagen des Glaubens entspringen:
Die Sprache Gottes ist erleuchtend. Und darum ist das Sprechen, das Ihm antwortet, ist das Echo, das Seinen Ruf aufgreift, notwendigerweise auch Rede vom Licht.
Dass das natürlich verrückt ist, dass es unmöglich und unleistbar, aber mehr noch nötig und unverzichtbar ist, kann man schnell erkennen: Wenn unsere Worte verdunkeln würden, wenn unsere Sprache nicht dem Einsehbaren, sondern dem Schatten dienen wollte, dann wäre alles Reden ein Instrument der Lüge.
… Dass es das sein kann, erleben wir immer häufiger: Wir stehen ja mitten in einem Wandel der Kommunikation, die statt zu erhellen und aufzuklären immer öfter vernebelt. Diese Dunkelkunst der Unwahrheit, diese schwarze Magie des Behauptens, des Verzeichnens und Verschwörens hat eine Epoche der Unklarheit, des Verschwommenen und Verzerrten hervorgebracht. Was man von der Welt wissen und wahrnehmen kann, seit so viel Zwielichtiges und Nebulöses von menschlichen Lippen und vom menschlichen Tippen verbreitet wird, ist getrübt. Klare Perspektiven verlaufen wie Tinte auf Löschpapier. Undurchschaubar verschmutzen Interessen und Absichten die Ansichten, die man gewinnen will. … Welt-Anschauung wird ein dreckiges Geschäft.
Doch Gott lob! gibt es noch die Unverdrossenen, die das Verrückte tun, mit dem Georg Philipp Telemann uns heute erfreut hat. Es kommt in seiner Epiphanias-Kantate – obwohl ihre Bezeichnung spontan so sehr an die verdammt martialische „Internationale“ erinnert („Völker, hört die Signale!“) – gar nicht mit Pauken und Trompeten daher, sondern luftig und flötenleicht, … das hellauf Verrückte unseres Glaubens mit seinem unmöglichen Imperativ: „Ihr Völker, hört … das Licht!“[ii]
Angesichts der dunklen Zeiten heute und der Schwarzmalerei, die auch einen objektiven Blick auf unsre Gegenwart prägen kann, muss man eigentlich laut lachen und sie lieben … diese Christen, diese heiter fühlenden Barockmenschen im Zeitalter der Aufklärung: Obwohl jeder weiß, dass das nicht möglich ist, versuchen sie, tatsächlich das Licht zu beschreiben und hoffen, optische Phänomene akustisch zu spiegeln und zu nutzen!
Es haben sich schon ganz andere Dichter die Zähne dran ausgebissen, mit Worten Farben zu schildern, die man doch sehen muss; schon ganz andere Musiker haben’s versucht, mit Klängen die Sonne zu vergegenwärtigen[iii], die ganz unbeschreiblich ist, weil auch das sonnenhafte Auge[iv] sie selber doch nicht fassen kann.
Aber ein Mensch wie Telemann - der Leuchtende und zugleich Unaufdringliche - lässt es sich trotzdem nicht nehmen, eine ganze Kantate, die die verschiedenen Schimmer und Strahlen und Herrlichkeiten, den Glanz und die Glut und die Klarheit Gottes in den Augen des Glaubens zum Thema hat, aus Tönen zu weben. … Obwohl es niemals gelingen kann, die Transparenz und Allgegenwart, den spektrale Farbenreichtum und die physikalische Notwendigkeit des Lichtes nachzuahmen, das schier alles erfasst und aus der allgemeinen Unsichtbarkeit zur Kenntlichkeit bringt, versuchen der Glaube Telemanns und der Glaube der Theologie genau das immer und immer und immer wieder. … Obwohl wir nicht davon reden können, können wir nämlich wirklich noch weniger davon schweigen: Wir müssen das Licht besingen und beschreiben!
Jeder Klang und Gedanke im Christentum wollen ja erhellen!
Seele und Zunge, Geist und Mund sind von Gottes Klarheit nun einmal entzündet und also vollziehen sie in den Wellen ihres Schalls das Strahlenmuster der Erleuchtung nach, so gut sie nur irgend können.
Wenn es demnach so etwas wie ein gültiges Merkmal der christlichen Rede, der Botschaft des Christentums gibt, dann ist es die einfache Unterscheidung: Wo sie verdüstert, ist sie nicht recht! … Wo man an den unzulänglichen oder den ungewohnten, wo man an den allzu gewohnten und darum vielleicht langweilig wirkenden Äußerungen des Glaubens und der Gläubigen keinen Funken, keinen Glanz wahrnimmt, … wo sie gar nichts ausstrahlen, da sind sie verkehrt!
Wo es bloß um Angst oder Schuld geht, … wo du, der Mensch, dich in den Schatten gestellt siehst oder nur deine dunklen Seiten und Sorgen begegnen, da geht’s nicht um das Wunder, dass Worte es tatsächlich Licht werden lassen und in den Herzen die Hoffnung hell machen können!
Zeugen der Finsternis, Nebelwerfer, Schattenflüsterer, dunkle Propheten und Sänger, die ihre Hymnen nur an die Nacht[v] richten können, gibt es so viele.
Wenn es aber auch weiterhin Menschen geben soll, die von Jesus Christus durchdrungen und durchströmt sind, dann muss man es an ihrer Helligkeit trotz allen Dunkels spüren.
Das ist nämlich die Botschaft, die wir auch an diesem letzten Sonntag nach Epiphanias, ja gerade an ihm hören: Die Finsternis vergeht und das wahre Licht scheint jetzt (1.Joh.2,8)!
Mit dem adventlichen Warten auf den Aufgang der kommenden Sonne, mit dem weihnachtlichen Geheimnis, dass das Licht der Welt in die Welt gekommen ist, in einer winzigen Flamme der Liebe, die aber gerade deshalb von der Finsternis weder begriffen, noch ergriffen werden konnte (vgl. Joh.1,5!), und mit dem Epiphanias-Ereignis, dass die Lichtsuchenden aus Morgenland es zeigen, wie alle Menschen überall angestrahlt und angezogen und erleuchtet werden können ……. mit diesen lichtreichen liturgischen und seelischen Erfahrungen der vergangenen zwei Monate stehen wir jetzt an einem Scheideweg:
Kranz und Kerzen und Baum und Lichter und Stern haben ihre Zeit gehabt. Sie entschwinden den Blicken: Viel von unserm Weihnachtswachs und unsern Kerzenstümpfen bringt man in diesen Wochen tatsächlich an einen der finstersten nicht „Brenn“punkte, sondern Verbrannt-Punkte dieser Erde, damit die Menschen im Kriegselend der Ukraine wenigstens ein erbärmliches Anflackern gegen die schwarze Kälte spüren.
… Und so scheint es, als solle mit dem Ausklang der Epiphaniaszeit nun überall das Graue und Triste, die bleiche Furcht vor dunkler Zukunft anbrechen.
Doch jedes Wort und jeder Klang bei uns, lauten und leuchten anders!
Gewiss: Es ist saudüster auf Erden und das Schrecklichste, was uns drohen könnte, wäre ein letzter, finaler Blitz, den Menschen zünden können, um dadurch eine unvorstellbare Nacht auszulösen. Und noch dazu wird es nach dem Karnevalsflimmern in wenigen Wochen in unsern Lebensgewohnheiten, in unserer Liturgie und Predigt rasch wieder gedämpft und ernst, leise und nach Innen gekehrt zugehen.
Aber wir sollen uns nicht täuschen lassen und wir sollen auch nicht enttäuschen!
… Auch, nein gerade die Wirklichkeit, … auch, nein gerade der Alltag, … auch, nein gerade das Leid und die Trübsal sind nicht mehr lichtlos, sind nie mehr lichtlos. Über ihnen allen und in ihnen und durch sie hindurch strahlt tatsächlich ein Glanz, der nicht verlöschen wird, … der ewig ist und war und bleibt.
… Wir nehmen ihn nicht immer wahr. Und können das auch nicht.
… Nicht immer können die Völker „das Licht hören“.
Aber alle unsere Gottesdienste und Gebete, alle unsere Gedanken und Gewohnheiten müssen und werden auf die eine oder andere Weise erhellt, illuminiert und durchglänzt sein von Dem, bei Dem auch die Nacht leuchtet wie der Tag und Finsternis wie das Licht ist (vgl. Ps.139,12).
An diesem Glanz, an dieser Verklärung – die kein Weichzeichnen, sondern ein Scharfstellen ein Fokussieren auf die Quelle des Lichtes und des Leben ist – … an diesem Glanze, an dieser Verklärung sollen wir heute unsere Augen und unsere Worte, unsern Geist und unsern Glauben aufladen:
Damit wir – wie wir’s gleich nüchtern und ernüchternd hören werden – nicht den Fehler machen, zu denken, wir dürften schon ganz abgeklärt in reinem Glanz aufgehen und müssten nicht mehr weiter durch Trübsal und Alltag und Wirklichkeit ziehen.
… Wir werden weiter ziehen.
… Aber wir werden dabei nicht schweigen, von Dem, Der eigentlich alles Reden und Begreifen, alle Erkenntnis und Einsicht übersteigt … und uns dennoch vor Augen stehen wird und heller bleibt als alles andere, bis wir selbst ganz und gar zu Seinem Licht kommen dürfen in der Auferstehung der Toten: Jesus allein!
Denn das ist das Evangelium (Matth.17, 1-9):
Jesus nahm mit sich Petrus und Jakobus und Johannes, dessen Bruder, und führte sie allein auf einen hohen Berg.
Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.
Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia; die redeten mit ihm.
Petrus aber antwortete und sprach zu Jesus: Herr, hier ist gut sein! Willst du, so will ich hier drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine.
Als er noch so redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!
Als das die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und fürchteten sich sehr.
Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht!
Als sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein.
Und als sie vom Berge hinabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: Ihr sollt von dieser Erscheinung niemandem sagen, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist.
Amen.
[i] Dies der finale Satz (No.7) in Wittgensteins bahnbrechendem „Tractatus logico-philosophicus“ (Ludwig Wittgenstein Werkausgabe Band I: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916 u.a., [neu durchgesehen v. Joachim Schulte], Frankfurt/M 19907, S. 85). – Das aporetische Motiv des Schweigens ist in der exakten Mitte der Telemann-Kantate Nr.921 in einem reichentfalteten Rezitativ inhaltlich wie musikalisch überraschend motivgebend: Nach einer ungewöhnlichen Pause konstatiert die Solostimme dort „Doch welche Stille! Ist schon das Lobgeschrei, ist schon der Jubelton vorbei?“
[ii] Mit diesem programmatisch rezitierten Imperativ – der das performative Paradox der biblischen Materialisierung durch’s Wort nachvollzieht – beginnt die Kantate TWV 1:921 leuchtend unmittelbar: „Ihr Völker, hört wie Gott aufs Neue spricht: Es werde Licht!“
[iii] Neben vielen anderen musikgeschichtlichen Beispielen der photonen (griechisch Phōs = Licht) Phonetik (griechisch Phonē = Stimme) ist an das Gustav Mahler intensiv poetisch wie musikalisch beschäftigende „Urlicht“ zu denken, das er immer wieder und weiter aus „Des Knaben Wunderhorn“ auch symphonisch-vokal bearbeitet hat.
[iv] „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt es nie erblicken; / Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt uns Göttliches entzücken?“: Der berühmte aphoristische Vers Goethes begründet nicht nur seine Farbenlehre, sondern seine poeto-mythologische Kosmos-Hermeneutik insgesamt (zitiert nach: Goethes Gedichte in zeitlicher Folge, hgg. v. Heinz Nicolai, Frankfurt/M 19907, S. 556).
[v] Bei aller Liebe zur Romantik: Novalis‘ epochale „Hymnen an die Nacht“ sind ohne das aufgeklärte, das heiter-helle Gegengewicht des christlichen Zeugnisses in seiner biblischen, barocken und (meinetwegen) auch rationalistischen Gestalt nicht heilsam denk- und deutbar.
3.Sonntag n. Epiphanias, 22.01.2023, Stadtkirche, Römer 1, 13-17, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.So.n.Epiphan. – 22.I.2023
Römer 1, 13-17
Liebe Gemeinde!
… Mir hier auf der Kanzel fehle der Zweifel, höre ich häufig. Und wo man keinen Zweifel spürt, da sei das Gegenteil - das, was wir „Glauben“ nennen - eben grade nicht glaubhaft: Um glaubhaft etwas vom Glauben zu erzählen, müsse man die Frage, die Ferne, den Widerstand spüren. … Nicht Leichtigkeit. … Nicht eine Selbstverständlichkeit, die niemand teilen kann. … Nicht das Einfache, das in Wahrheit doch so kompliziert sei. … Kompliziert wie die Predigten, hier auf der Kanzel. ……. ——
Das alles ist so.
Wo wir uns selbst oder einander vormachen, es sei einfach in dieser Welt an die Liebe zu glauben, die Gott und Mensch ist, … es sei einfach, in dieser Welt, 2023 ein Gefühl für die Ewigkeit zu haben, die Mensch und Gott gemeinsam haben können, … es sei einfach, in dieser Welt, 2023 angesichts der menschlichen und materiellen Sackgassen aus einer an sich unglaublichen Liebe und einer für alle unfassbaren Ewigkeit hier und jetzt Freude und Hoffnung zu schöpfen, … wo wir uns selber oder einander vormachen, das sei einfach, da ist es ganz kompliziert. Glaube nicht weniger als Zweifel. Sie sind ganz kompliziert, in ihrer jeweiligen Einfachheit: Wenn wir nichts vom Guten wahrnehmen, ist es schreck-lich. Und wenn wir nichts vom Schrecklichen wahrnehmen, ist es nicht gut. …….
… Was also?
Einfach kompliziert bleiben … und kompliziert einfach sein, werden wir müssen. Um des Zweifels genau wie um des Glaubens willen. Damit sie den nötigen Raum in dieser Welt behalten: In einer Welt nämlich, in der es keinen Glauben, nur Zweifel gäbe, möchte wahrscheinlich nicht nur ich nicht wirklich leben: Es wäre die Welt der Verzweifelten. Aber in dieser Welt zu leben, ohne dass Zweifel den Glauben bewegten, aufwühlten und provozierten, kann ich mir auch nicht vorstellen: Es wäre eine Welt der Blinden, Tauben und Stummen, … es wäre das Grab.
Zweifeln wir also! Glauben wir! Und leben wir weiter, gewiegt und geweckt von diesen beiden Kräften, die uns vor geistigem Terror und seelischer Lähmung bewahren.
… Nur eines wünsche ich ganz bewusst ganz fern von mir … und niemand anderem an den Hals: Die Scham, die beides manchmal begleitet.
Es gibt ein Gefühl – und die Kirche hat verderblich lang daran gearbeitet, es zu streuen –, als sei es Menschen vorzuwerfen oder als seien Menschen in der Bringschuld, wenn sie nicht glauben können, wenn ihnen Ohren für die fremde Botschaft, wenn ihnen Vertrauen in die fern-nahe Liebe und der Kinder-Mut zu bestätigungsloser Gewissheit fehlen.
Dass das Schwachsinn ist, … brutaler Schwachsinn, wird heute vermutlich allen klar sein: Sich auf Gott einzulassen, ist keine menschliche Verpflichtung, sondern reine Menschenfreiheit. … Wir Christen würden sagen: Sich auf Gott einlassen zu dürfen, ist eine einzige unverdiente, abenteuerliche und unverschämte Gnade.
Wer’s nicht kann, wer’s nicht erlebt, wem’s nicht passiert, steht wahrlich nicht in der Kritik!
Doch wem’s widerfährt, wer’s darf oder muss, wen es allmählich oder schlagartig überkommt – das grund- und ziellose Sichersein der Gottverbundenen –, der darf sich auch nicht schämen oder rechtfertigen müssen. Denn so wie es immer banal wird, wenn sich Zweifel oder Glaube selbst erklären sollen, genauso ist es immer bitter, wenn sie sich selber unterdrücken und an die Leine legen müssen. Weder Christentum noch Atheismus verdienen es, geheuchelt zu werden. … Sie brauchen frische Luft und freien Lauf. —
… Und deshalb ging er nach Rom!
Man muss sich das einmal vorstellen: Ein ursprünglich vermutlich ziemlich blasser Torah-Student aus einer der Jerusalemer Akademien für pharisäische Schriftgelehrte. Er hatte fern von Israel, im heimatlichen Tarsus die Sehnsucht der Diaspora nach dem Mittelpunkt der Bibel und ihrer Heilsgeschichte von Kindesbeinen an geteilt. … Und war dann dort, wo der Himmel die Erde berührt. Wo man sein muss, wenn die Auferstehung der Toten anfängt. Wo man bleiben kann, wenn in den Tagen des Messias das Reich der Gerechtigkeit beginnt und alle Völker dorthin, zum Zion strömen werden.
Damit das so werden möge, wollte er die Verwirrten zurück auf den schmalen Weg bringen. Er wusste, dass es nicht mit einem Handwerker aus Galiläa und ein paar prophetischen Zeichen, ein paar prophetischen Predigten getan sein würde, … schon gar nicht wenn das Ende so schmählich war, … eine skandalös-satirische Hinrichtung des „Königs aller Juden“ durch römische Henker. Deshalb zog er nach Damaskus hinauf, um die Verwirrten, die Verlaufenen und Verirrten, die sich selber dort ausgerechnet als die Gemeinde „des Weges“ bezeichneten (vgl. Apg.9,2) vorm Straucheln und Scheitern zu bewahren – … so wie wir es eben gerade mit gut pharisäischen Worten, ganz im Geist des Saulus gesungen haben: „Erleuchte, die da sind verblend’t, / bring her, die sich von uns getrennt; versammle, die zerstreuet gehen, / mach feste, die im Zweifel stehn.“ (EG 72,5)
… Was aber dann geschah - vor den Toren von Damaskus -, das feiert die Kirche am kommenden Mittwoch, am 25.Januar, genau einen Monat nach Weihnachten: Denn die Berufung des Saulus zum Apostel war in der Tat auch eine Geburtsstunde - er selbst sagt einmal ja tatsächlich im Rückblick auf das Damaskus-Ereignis, dass der auferweckte Christus da mit seinem überirdischen Glanz wie in einem Brutkasten aus einem abgetriebenen Foetus, aus einer ungewollten oder lebensunfähigen Totgeburt einen Anfang gemacht hat (vgl. 1.Kor.15,8) … wenn auch eine kleinen und geringen, … einen, der zurecht „Paulus“, „Knirps“ heißt .
So jedenfalls kann der Glaube auch über einen Menschen kommen: Unter schauderhaft widrigen, völlig destruktiven, urknall-chaotisch-kreativen Verhältnissen.
Für Paulus, der das Undenkbare einsehen musste, … dessen Sicht vor lauter Licht erlosch, … der sich in den Armen derer fand, gegen die er die Hand erhoben hatte, … und der nun Dem nachfolgte, Den er nicht weiter verfolgen konnte, … für Paulus ist seine Berufung, seine Bekehrung, dieser absurde Kopfstand seiner sämtlichen Ansichten ein Schock: Falsches wird Wahrheit. Bekämpftes wird Segen, … das Abgelehnte mutiert zum Liebsten, … das Ausgeschlossene zeigt sich als Tür und das unzweifelhaft Feststehende tanzt aus der Reihe und durchkreuzt und durchquert sein Leben und dreht ihn auf und um, und sein Anti-Christ wird sein Christus und Jerusalem wird so groß, ja so heidenweltweit, so global, dass der Vogel, der mit Leib und Seele sein Nest doch in der Stadt Davids hatte, plötzlich ausschwärmt und überall landen kann – auf der arabischen Halbinsel war er (vgl. Gal.1,17), in Galatien in Sichtweite des Kaukasus, auf dem Peloponnes und auf Malta, in türkischen, griechischen und italienischen Gefilden, … wer weiß: vielleicht sogar in Katalonien[i] … überall für Christus, mit Christus, durch Christus.
Und überall als einer, der sich so total korrigiert hatte, der sich so relativiert und demontiert hatte, der sich so radikal überholt und widerlegt und re-orientiert hatte, dass der Gedanke an die Schärfe und lawinenartige Wucht seiner Zweifel und die unlösbare Nabelschnur, die seinen neuen Glauben mit dem Alten verband, das ihm zugleich sicher und fraglich, zugleich vertraut und verkehrt, zugleich als klar und als dunkel erschien, uns eigentlich völlig überfordert!
… Wie kann ein Mensch solche Zweifel zulassen an allem, was für ihn fest- und wofür er selber einstand? … Wie kann ein Mensch solche Gelassenheit und Zustimmung verkörpern, wenn eben solche Erdstöße und Orkanwirbel den Rahmen und das Bild seiner Welt weggefegt haben?
Paulus, den wir als den Apostel des Glaubens mit ganz großem „G“, als Garanten des reformatorischen „sola fide“ kennen, ist also in seiner eigenen Geschichte der Kronzeuge eines schlechthin umstürzenden Zweifels. Ihm war es nötig - und möglich! -, auf einmal alles aus der entgegengesetzten Richtung und in einem neuen Licht zu sehen. … Über wie viel von seinem Schatten der Erblindete dabei springen musste! … Wie viel Unheimliches ihm dabei offenbart wurde und wie viel Klares ihm verschwamm, das können wir Gewohnheitschristen uns genauso wenig vorstellen wie die Gewohnheits-Atheisten und überhaupt sämtliche Gewohnheitstiere!
Paulus ist damit also bestimmt ebenso als der Schutzpatron der Zweifelnden und Umdenkenden - der aus der Umkehr Denkenden - zu betrachten, wie als der Inbegriff des standhaft Überzeugten! ———
Wenn wir uns da an die Verbissenheit der Lügner und der Leugner erinnern, die uns umgeben und die wir selber sind, wird Paulus umso bemerkenswerter: Jeder von uns weiß, was nicht mehr moralisch vertretbar ist. Jeder von uns weiß, was wir - bei Androhung der Todesstrafe für Dritte - aufgeben und ändern müssten an unserm makabren Wohlstand und verzehrenden Verhalten. Jeder von uns sieht ernste und wichtige Ideale - den Pazifismus etwa - von einer Wende der Zeiten infrage gestellt werden… Stürzen wir darum indes zu Boden und kehren wir um? … Bekehren wir uns je?
Und wenn es uns graust, zu erkennen wie kaltblütig die Industrie seit Jahrzehnten gewusst hat, wie viele ihrer Erzeugnisse und Verfahren einen Fortschritt vor allen andern betrieben - den Fortschritt der Zerstörung! - und wie ihre verlockendsten Produkte in Wahrheit eine unbeliebte Nachfrage steigerten - die Nachfrage nach Särgen! -, da kann man vor dem Mann, der alle seine hehren und heiligen Prinzipien loslassen und sich mit dem Gegenteil seiner bisherigen Rolle identifizieren konnte, nur in die Knie gehen! Auch er hatte etwas zu verlieren: Nämlich sich selber und seine Würde!
… Denn seien wir ehrlich: Wie nennen wir einen, der es schafft, fundamental und konsequent neu anzusetzen im Sinn einer umstrittenen Vorhut, einer exzentrischen Minderheit? … Na, wie? – Spinner! … Und als was gilt uns einer, der das Anerkannte verlässt und in eine unerprobte, unüberprüfbare Vision vertraut? … Na eben! – Als Bekloppter!
… Paulus anders zu sehen und zu nennen, würde ihm nicht gerecht. Was er tat und was er aufgab, wie er es wagte und was er verlor, das war so unvorhergesehen, so jenseits und außerhalb aller Gewohnheit und Wahrscheinlichkeit und so konträr zu allen seinen eigenen Mustern und Maßstäben, dass Drumrum-Reden nicht hilft: Niemand konnte von dem eifrigen Aufklärer der christlichen Lüge, der ein ebenso eifriger Verkünder der christlichen Wahrheit wurde, hören, lesen oder reden ohne ihn für lächerlich bloßgestellt und jeder Seriosität, ja jeder Selbstachtung beraubt zu halten. …
… Und das ist nun der, der bei allen seinen weltbekannten Zweifeln nichts unternimmt, um seinen Rollenwechsel, seine neue Position, seine scheinbar völlig labile Persönlichkeit zu rechtfertigen oder zu begründen!
Stattdessen schreibt er, der kleine Jerusalemer Wendehals nach Rom – also in’s Hauptquartier der strammen Selbstgewissheit einer traditionsvernarrten Soldatenkultur – jenen Satz, der jeden Dünkel und jede Selbstdarstellung wie eine schmierig schillernde Seifenblase platzen lässt: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht!“
Mag es mich noch so verunsichert und umgekrempelt haben - das Evangelium -, … mag es mich noch so unbekümmert idiotisch, mag es mich noch so sehr als lächerlichen Von-vorn-Anfänger und Bei-Null-Beginner dastehen lassen: … Geht’s denn um mich?
… Geht’s denn etwas nicht um Gott? Um das, was Er zu sagen hat und was Er tut?!
Und macht das, was Gott tut, nicht aus allem, was wir uns zu tun einbildeten oder getan zu haben unterstanden, etwas zu guter Letzt Nicht-Entscheidendes?
Nicht das, was wir festgestellt und festgelegt haben, muss und wird ja bleiben!
Nicht das, was uns gelegen kommt oder gelungen ist, wird und muss zuletzt entscheiden!
Bleibend Wichtiges und echte Zukunft findet sich eben doch nicht in dem, was wir können und machen, in dem, was wir meinen und behaupten, in dem, was wir haben und verteidigen, weil das alles - wie wir - vergeht: Entweder in siebzig, achtzig Jahren, wenn es jenes Ganze ist, das wir waren, oder in Jahrmillionen, wenn es die Kerne sind, die wir spalten.
Gottes Kraft, wahres Leben mit Dauer und Zukunft zu schaffen, ist wirklich weder auf unsern Vorschuss und unsere Vorleistung noch auf unsere Bestätigung oder unsere Beglaubigung angewiesen.
Gottes Kraft allein schafft, rettet und heilt die Welt und uns alle für immer! … Anders, besser, tiefer, höher, weiser, großzügiger, überraschender, herrlicher … und menschlicher, als wir es uns jemals einfallen ließen.
Das ist Sein Recht und Seine Gerechtigkeit.
… Und nur die entscheiden und bleiben! Und nur wer denen vertraut, bleibt und wird leben!
… Wer sich deshalb aber von seinen eigenen Grundsätzen und Zweifeln lösen lässt und an ihrer Stelle sich ohne alle Peinlichkeit schlicht - und ganz! - auf Gott verlässt, den preist Paulus selig!
Gib’s auf, dich um dich und was du weißt und denkst und bist und hast und fühlst und willst und bringst zu drehen!
Gib Gott, Dessen Wahrheit, Wirklichkeit und Zukunft nicht von dir entschieden werden, weil Er Sich umgekehrt längst schon wirklich für deine Zukunft in der Wahrheit entschieden hat, die Ehre, indem du Ihm glaubst!
Und schäme dich nicht, dass du zu leben weder besser weißt noch anders beweisen kannst, als einfach durch dieses Vertrauen auf das Evangelium von Jesus Christus, der dich und alles retten kann! ——
…. Und da fehlt mir nun wirklich der Zweifel, da fehlt mir der Abstand, es hier beim „Vielleicht“, beim „Wer weiß?“, beim „Womöglich“ zu belassen, um das Gesicht zu wahren, wenn das alles nichts wäre.
Dann wäre nämlich wirklich alles nichts.
Und dann ist sowieso nichts zu verlieren.
Wie also sollte man sich schämen, statt des Nichts das Alles anzunehmen, das Alles zu akzeptieren, das das Evangelium verspricht?
Und das hat Paulus der römischen Soldatenkultur und der Unkultur aller Welt ja tatsächlich gebracht und gezeigt, was ein römischer Hauptmann für uns alle bekannte (vgl. Matth.8,8)[ii]: Wir sind nicht wert, dass Gott zu uns kommt, … aber wenn wir Ihn lassen, … wenn wir Ihn sprechen lassen, dann wird die Welt heil!
Wir sind also frei, zu glauben. Und dadurch zu leben!
Und darum - wie Paulus - : „Schämt euch nicht!“
Amen.
[i] Die geplante Missionsreise des Apostels nach Spanien (vgl. Rö.15, 24) ist ein bleibendes Ratespiel der Forschung: Hat er? Hat er nicht? Warten wir ab, wie es gewesen ist, wenn wir dort sind, wo wir’s wissen werden.
[ii] Evangelium des 3.Sonntags nach Epiphanias.
2.Sonntag nach Epiphanias, 15.01.2023, Stadtkirche, Johannes 2, 1 - 11, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.S.n.Epiphan. - 15.I.2023
Johannes 2, 1-11
Liebe Gemeinde!
Manche werden wissen - was nicht wichtig ist -, dass die hiesigen Predigten, wenn ich sie ins Internet einstelle, eine Überschrift abkriegen. In aller Regel kurzfristig, beim Speichern, und spontan als eine Art rückblickender Kurzfassung der Kernaussage.
Bei der heutigen Predigt ging es anders. Sie wird die rätselhafte Überschrift tragen „Tegel in Kana“.
… Damit kann man nichts anfangen, denn die Ineinssetzung zweier geographischer Angaben ist einfach nur unsinnig. Tegel ist ein ehemals dörflicher Vorort nordwestlich von Berlin, wo das Anwesen und der Friedhof der Familie von Humboldt etwas Weltoffenes und wissenschaftlich Freigeistiges mit märkisch-bescheidener Verträumtheit verbanden; und über das Dorf Kana in Galiläa streiten die Gelehrten und die Pilger und die Bevölkerung seit Jahrhunderten, denn mindestens zwei Siedlungen im Umkreis von Nazareth beanspruchen, Schauplatz des ersten Wunders Jesu zu sein.
Was soll also die Verbindung eines Fleckens in der brandenburgischen Streusandbüchse mit einem Weiler in Israels nördlichem Hügelland?
… Zunächst einmal vielleicht nicht mehr als dies: Uns zu zeigen, dass Jesus die Welt verändert hat.
Seit Er auf dieser Erde wandelte, sind Seine Spuren, ist der Eindruck Seiner Wirklichkeit bis in die Erdkunde eingewandert. Ob historisch zu Recht oder „nur“ aus einer inneren Überzeugung von Menschen heraus: Es gibt unzählige Stellen und Punkte auf dem Globus, an denen sich eine damalige, eine später gelebte, eine heute geglaubte Verbindung mit Jesus Christus niederschlägt. … Er hat nicht nur Geschichte, sondern auch Geographie geschrieben.
Wir hier, in Kaiserswerth leben auch an einem Jesus-Ort, einem Ort, der seine Entwicklung und Rolle schlicht der Tatsache verdankt, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde und keine Generation seither ohne vielfältige Bezüge zu Ihm existierte, handelte und Ihm diente, indem sie in Fleisch und Stein, in Ethik und Architektur die Welt zu Seinem Gedächtnis veränderte.
… Doch warum „Kana und Tegel“?
Welches lebendige, weltverändernde Jesus-Bild symbolisieren diese beiden Dörfer?
Dazu muss man einen dritten geographischen Raum betreten, einen Raum, den wir alle viel lieber längst wieder am Rand unseres Gesichtskreises verschwimmen ließen. Doch wir müssen weiter hinschauen. Dort tobt die Geschichte auch des neuen Jahrs 2023: Die Geschichte nicht nur der schleichenden Gewalt gegen das Leben auf Erden, mit der wir uns abgefunden haben, sondern auch die Geschichte der mörderischen Heimtücke von Menschen gegen Menschen, die Geschichte eines irrwitzigen Hasses gegen völlig Unschuldige, die Geschichte der finstersten Brutalität im hellsten Tageslicht, … eine Geschichte des Wahnsinns und der Sünde, mit der wir uns aber ebenfalls abzufinden drohen, wenn man merkt, wie die Ukraine in unseren Nachrichten und Gedanken allmählich in den Hintergrund rückt.
Doch immerhin ist das niederträchtige Verachten und Verwüsten menschlichen Lebens so schmerzhaft gegenwärtig, dass ich in dieser Woche an Kana nicht wie sonst denken konnte:
Jedes Mal wenn ich versucht habe, mir das harmlos-schöne Hochzeitsfest vorzustellen, mit dem das hohe Evangelium des Johannes beginnt, war es anders als sonst. Nicht die ausgelassenen jüdischen Hochzeiten mit Schmaus und Tanz, die ich als Kind erleben konnte, … nicht die lebensfrohen Bilder, die Brueghel von Bauernhochzeiten mit Jesus als Gast gemalt hat, … nicht die schönen feierlichen Kirchenbilder, auf denen Maria als Fürsprecherin und der Kellermeister als vorweggenommener Liturg des Abendmahls erscheint.
Nein, dieses Jahr stehen mir plötzlich wieder Hochzeitsbilder in schwarz-weiß vor Augen: Die Bilder der jungen Großeltern und ihrer Geschwister und Gleichaltrigen. … Liebespaare, gewiss, … auch schöne Paare, schöne Brautkleider, … hier und da sogar schöne Brautsträuße. Aber die Bräutigame auf diesen Bildern tragen etwas, das den Ernst auch auf den Zügen ihrer Bräute erklärt. Sie stehen in Uniform da.
… Und zwei schreckliche Kreuze stechen auf diesen Hochzeitsbildern ins Auge: Die Hakenkreuze der Sünde auf allen Abzeichen … und die unsichtbaren Kreuze, die in der Rückschau über den bald Gefallenen und den blutjungen Witwen aufzutauchen scheinen.
Hochzeitsfest der Todeskandidaten. Brautwalzer der bald wieder durch letzte Gewalt Getrennten: Wenn man dieses Bild vor Augen hat, versteht man noch viel besser, wieso Maria, die Mutter der Freude für den Wein sorgt. „Sollen sie doch tanzen dürfen und sich freuen, die armen Menschenkinder, deren Lebens- und Liebesfeste so im Schatten des nahen Todes stehen. Jede Stunde, jeder Tropfen Glück sei ihnen gegönnt.“ …….
Natürlich ist auf der Hochzeit, bei der diese mütterlichen Gefühle den Menschen schlicht etwas von der Leichtigkeit des Seins gönnen, noch nicht die große, entscheidende Stunde des Menschensohnes gekommen, … die Stunde von Golgatha, die Stunde, in der der Tod besiegt wird, die Stunde des Ostermorgen, in der das wirkliche Leben gefeiert werden soll.
Es ist noch nicht Jesu wirkliches Wunder, wenn er - durch seine Mutter bewegt - eine schwerelose Nacht der Fröhlichkeit ermöglicht.
Aber eine jüdische Hochzeit ist immer eine trotzige Feier der Zukunft gewesen, selbst wenn die Pogromreiter am Rand des Dorfes standen, selbst wenn die Hakenkreuzfahnen und die „Judenfrei“-Schilder überall wie giftige Pilze sprossen.
… Heiliger Marc Chagall!, Du weißt es, dass dennoch immer irgendwo eine Braut und ein Bräutigam über der brennenden Welt schweben. … Und Jesus taucht seinen Pinsel in Chagalls Tuschkasten und malt mit Wasserfarbe den buntesten, fröhlichsten Reigen, den ein Bordeaux oder Montepulciano oder ein süßer Karmelwein überhaupt anstoßen können: … Wie sie tanzen, … wie die Kapelle spielt, … wie das ewig tröstliche Wort des Propheten Jeremia (33,11), das bei jeder jüdischen Hochzeit endlos gesungen wird, sich wieder einmal erfüllt: „Trotz der Verwüstung Jerusalems soll man dennoch wieder hören den Jubel der Freude und Wonne, die Stimme des Bräutigams und der Braut …“ … Das ganze Stetl, das ganze Ghetto singt und schluchzt und wirbelt – „L’chaim: Zum Leben!“ – im Takt der Messias-Hoffnung auf die Erlösung zu, die ein weiteres Paar, ein neues Haus in Israel um einen Schritt näher-bringt. …….
Doch nun sind wir in Witebsk, in Weißrussland gelandet und suchen eigentlich ja nach Kana und Tegel: ´
Kana, das Dorf der Unbeschwerten, in dem Maria die gut jüdische Aufgabe der Hochzeitsvermittlung übernimmt, indem sie für Jesu vorösterlichen Wunderanfang[i] sorgt, … ein Wunderanfang, der einer kleinen Festgemeinde einen Vorgeschmack der ewigen Seligkeit schenkt durch die schlichte Erfahrung: Alle sind da … und nichts fehlt … und siehe, alles ist sehr gut! ——
Auf dieses selige Hochzeitsfest gehen wir ja alle zu: Besonders wieder seit am 27.November 2022 das Kirchenjahr neu anfing und wir es währen des ganzen Advent singen konnten „Macht euch bereit / zu der Hochzeit! / Ihr müsset ihm entgegengehn!“ (EG 147,1)
Christ-Sein bedeutet, diese Hochzeitseinladung zu haben. Unsere Tage sind die Vorbereitung dafür, … die Zeit, sich zu freuen, sich auf das einzustellen, was in der Gegenwart der Liebe die richtige Gabe und der schönste Schmuck sein wird, und in die gelöste innere Bereitschaft zum Mitfeiern des Festes zu finden, das nicht enden soll.
Das ist die Zukunftsdimension des biblischen Hochzeitsbildes: Wir alle erkennen uns darin als Gäste in spe … und das wortwörtlich: Wir sind die zur Hoffnung Gebetenen, wir sind die nach und nach eintreffende Tischgesellschaft der Zuversicht.
Das ist Kana. ———
Was aber ist dann nur mit Tegel?
… Tegel ist die Todeszelle. Es erinnert uns – die Eingeladenen des Lammes, das im himmlischen Jerusalem goldene und silberne und diamantene und edelsteinfarbene Hochzeit mit der Menschheit feiern wird, … Jaspis-Hochzeit, Saphir-Hochzeit, Chalzedon-Hochzeit, Smaragd-Hochzeit, Sardonyx-Hochzeit bis zur Amethyst-Hochzeit in der spektakulären Farbenpracht und Licht- und Liebesfülle, von der in der Bibel ganz am Schluss die Offenbarung (21,19ff) spricht – … Tegel erinnert uns, die Eingeladenen des Lammes, an die Kreuze, die über den Häuptern von Braut und Bräutigam hier in unserer Gegenwart erscheinen.
Die Zukunft, die hier entsteht, die Hoffnungen, die hier genährt werden, die Träume und Pläne des Lebens, die wir hier feiern und - um im Kana-Bild zu bleiben - erwartungsfroh begießen: Sie stehen alle unter dem Vorbehalt, unter dem unsere Großeltern heirateten, unter dem sämtliche Liebesgeschichten und Lebensentwürfe der heutigen Ukraine sich entfalten und der auch über den menschlichen Schicksalen der russischen Soldaten und überhaupt aller unserer Mitmenschen waltet. Es ist der Vorbehalt, dass Jesu erstes Wunder nicht sein letztes ist:
In Kana schenkte er Freude für einen Augenblick und eine überschaubare Schar.
Für deren Augen in diesem Moment, für diese Augenzeugen offenbarte Jesus in Kana seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn.
Doch ein größeres, ein noch nicht erschienenes, ein unvollendetes Wunder steht noch aus. Am Schluss des Johannesevangeliums (20,30f) deutet der Verfasser es ja an, wenn er - nach etlichen Osterberichten - schreibt: „Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.“
Dass wir das Leben haben: Das ist das Ziel der Taten, Wunder und Zeichen, das ist das Ziel der Menschwerdung, Kreuzigung und Auferstehung Jesu.
Das Leben zu haben: Genau das aber ist auch die Hoffnung und Verheißung, die Kana, den Ort der hochzeitlichen Lebensfreude, mit Tegel, der Todeszelle verbindet.
Dass Tegel diese Todeszelle ist, dass es eindringlich vor Augen steht, wenn wir Liebe im Schatten des Verlustes und menschliche Bindungen, über denen die gewaltsame Trennung schwebt, betrachten, das liegt für uns natürlich an der Gestalt und Geschichte Dietrich Bonhoeffers, der im Tegeler Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis anderthalb Jahre lang eingesperrt war, bis man ihn ins Reichssicherheitshauptamt, das Gestapogefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße verlegte, von wo er schließlich zur Hinrichtung in Flossenbürg abtransportiert wurde.
Die junge Maria von Wedemeyer und ihr Verlobter, Dietrich Bonhoeffer stehen vielen Menschen vermutlich vor Augen als ein solches Paar, deren Miteinander gar nicht betrachtet werden kann, ohne dass über ihnen oder in ihrem Rücken sich schon das Dunkel zusammenbraut – zusammen-„braut“! -, das ihre Leben überschatten und zerstören würde.
Wenn wir auf sie blicken, auf zwei Menschen, die zusammen sein wollten und denen es nicht vergönnt war, … denn erkennen wir in ihnen die jungen und nicht mehr so jungen ukrainischen Männer und Frauen, ja, die sämtlichen Menschen, deren Beziehungs- und Vertrauensgeflecht zerrissen worden ist und die das einfach Alltagsleben, das gewöhnliche Glück und das Glück der Gewohnheit überhaupt nicht mehr finden können, von dem das Paar in Kana vielleicht geträumt hat.
Wir erkennen in den Hochzeitern von damals die Bedrohten und Todgeweihten von heute, … die Menschheit, die nicht weiß, was morgen sein wird, … unsere Kinder und Kindeskinder, die befürchten, dass nach ihnen nichts und niemand mehr gesegnet und gewöhnlich wird leben können auf diesem von einer einzigen Spezies so entwerteten und dem Schöpfer entwendeten Planeten. …
Aber weil wir Tegel in Kana finden, Kiew in Kana, Soledar in Kana, Bakhmut in Kana, … darum soll uns auch das andere Wasserzeichen immer wieder durchscheinen durch alle Bilder, die wir vor Augen haben. Es stehen ja nicht nur die unsichtbaren Kreuze über den Häuptern der Sterblichen, die morgen oder in diesem Jahr oder doch erst in vielen, vielen Jahrzehnten sterben werden.
Sondern überall, wo Kana ist – wo mitten im Tanz das Malheur, mitten im Glück die Tragik, mitten im Leben das Ende gegenwärtig bleibt –, da ist auch jener Gast von Kana zugegen!
… Und Seine Mutter bittet Ihn um Hilfe und sie weist uns auf Ihn hin.
Und dann erkennen wir, dass Jesus das Wasserzeichen der gesamten Welt ist: Wo immer uns das Glück ausgeht, wo uns der Wein ausgeht, die Luft ausgeht, die Zeit ausgeht, da müssen wir das Bild der Welt, da müssen wir die Lage und die Frage unseres Lebens vor das Licht Seiner Herrlichkeit halten.
… Denn dann wird es wie das geheimnisvolle Wasserzeichen sichtbar werden, dass Er da ist. Um Wunder zu tun. … Die kleinen, die wir kaum bemerken: Freude des Alltags. Zeit wie immer.
Aber auch die großen, die wir kaum für möglich halten. Die Wunder, die zum letzten und endgültigen Wunder führen, wenn aus dem Wasserzeichen die klare Offenbarung wird, die Gegenwart Jesu in Seinem Reich, an Seinem Tisch, bei Seinem Mahl, … der Kelch des Heils (vgl. Ps.116,13), in den Er voll einschenkt und mit dem Er Gutes und Barmherzigkeit uns alle erquicken lässt in Seinem Hause, in dem wir bleiben werden immerdar (vgl. Ps.23), weil jede Frau und jeder Mann und jedes Kind dort das Leben haben werden in Seinem Namen (vgl. Joh.21,31)!
Das ist das Ziel des ersten Wunders in Kana.
Und davon hat der in Tegel gefangene Bonhoeffer gezehrt und gelebt, und aus der Prinz-Albrecht-Straße hat er davon geschrieben und gesungen, so wie wir jetzt davon singen wollen (EG 65):
„Von guten Mächten treu und still umgeben, / behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben / und mit euch gehen in ein neues Jahr.
…….“
Amen.
[i] Der barocke Choral von Heinrich Arnold Stockfleth „Wunderanfang, herrlich’s Ende, / wo die wunderweisen Hände / Gottes führen ein und aus …“ steht heute nicht mehr im Stammteil des EG.
Altjahrsabend, 31.12.2022, Stadtkirche, Römer 8,31b-39, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2022
Römer 8, 31b-39
Liebe Gemeinde!
Unverkennbar sind wir hier bei einer Beerdigung: Psalm 121 und Römer 8 machen es unüberhörbar, dass wir hier als endliche Menschen, als Kinder von Sterblichen, die die Sterblichkeit weitergeben, etwas Letztes feiern, … das Letzte, das trägt, … das zuletzt Tragende.
Vielleicht hätte man vorm Beerdigungscharakter des Altjahresabends ausdrücklich warnen sollen.
Womöglich müsste an den Stufen zu unserer Kirche – nein: zu jeder Kirche! – inzwischen eigentlich eine sog. „Trigger-Warnung“ angebracht werden: Ein Warnhinweis, dass man nicht näherkommen und sich auf die Inhalte hier nicht einlassen kann, ohne aus Schuld und Tragik zusammengesetzten, verstörenden, belastenden, schmerzhaften, ja furchterregenden Botschaften, Erfahrungen und Tatsachen gegenüberzustehen. Was an vielen Universitätsseminaren den Lernenden nicht mehr zugemutet werden kann, was viele Bildungs- und Informationsträger nur noch schonend durch Filter und Schleier durchsickern lassen - man nennt es: „die Wirklichkeit“ -, das hat in der Kirche nun einmal Platz zu haben! Wenn nicht, dann müssen wir die Kirchen schließen. Wenn es hier nicht um das Leben geht, das niemals ohne Salz und Eisen besteht, in dem wir also immer auch Hartes und Brennendes finden, das genauso von der Nacht wie vom Tag gegliedert wird, … wenn wir hier also nicht ein einigermaßen ungeschöntes Bild von den Verhältnissen kommunizieren, wenn wir hier nicht von der Klarheit über uns ausgehen - die nicht gleichbedeutend mit Glanz ist! - und nicht zu dieser Klarheit zurückfinden, dann täte man wirklich besser dran, die Kirchen zu vergessen und sich mit aller Kraft darauf zu konzentrieren, seine Illusionen zu pflegen.
Diese Illusionen, die anfangen, eine ganze Epoche zu lähmen: Die Illusion, unser Leben könne, nein müsse planbar sein, ungefährlich und ungefährdet und alles, was überraschend bleibt, solle von dritter Seite ab- oder aufgefangen, entschärft und sanft verträglich gemacht werden. Und die Illusion, wenn man Veränderungen und Zwänge, wenn man Dynamik und Druck, wenn man Schäden und Sterben ignoriere, dann habe man eine positive Tat getan, habe Sicherheit erlangt und seine Ruhe verdient. …….
Zugegeben: Diese zutiefst entfremdete, abgründig abgehobene Weltsicht einer in Watte gepackten und dennoch über Erbsen unter den Matratzen klagenden Verwöhntheit wirkt im Kaiserswerther Komfortstandard besonders abstoßend, wo die Heiz- und Lebenshaltungskosten bestimmt nicht die grimmige Herausforderung bieten, die sie andernorts darstellen – gehen wir nur einmal zu den Tafeln und fragen unsere hungrigen, ratlosen Mitmenschen! –, aber eine Tendenz, uns für das zu schade zu sein, was für die meisten Menschen weltweit noch paradiesisch wäre, lässt sich vielerorts schwer leugnen und ist überall zynisch.
Wer also findet, es gäbe ein Recht auf das Bequeme, der sollte jedenfalls in keine Kirche kommen, die ihre Ursprünge um eine Krippe herum, einen behauenen Steintrog hat, der die ganze Härte der Natur und das Drama verweigerter Solidarität veranschaulicht.
Wer denkt, die Misere der Menschheit liege außerhalb seines Radius, weil seine Aufgaben, seine private Vorsorge, seine unbestreitbaren Privilegien ihn da nicht zum Beteiligten werden ließen, der soll die Kirchen meiden, in denen der Leib eines Menschen sich darstellt, der gar nicht erst geboren worden wäre, wenn er nicht als Gabe und Brot für die anderen - als Opfer - hätte greifbar und angreifbar werden wollen.
Wer bei seinem Glück zu bleiben hofft, Schlimmes und Schmerzen bisher geschickt vermieden zu haben, der sollte tatsächlich niemals dort einkehren, wo das Kreuz steht und daran erinnert, dass Gott Selbst keine Spazierfahrt auf die Erde unternahm, sondern einen Leidensweg und eine Höllenfahrt antrat, um nirgends abseits zu bleiben, wo seine Kinder sein könnten …
… Wer also das Silvester des Kriegs- und Kummerjahres 2022 mit Sausen und Brausen feiern, wer’s krachen und schäumen lassen will, der hat sich auf dieser Beerdigung hier vertan.
… Hier werden Tote beweint.
Hier steht das Jahr, dessen letzte Atemzüge wir gerade verspüren, in seiner nackten Wahrheit vor uns: … Dieses Jahr, in dem tatsächlich nicht nur unter den Menschen und im Reich der Natur - als seien sie zweierlei?! - sich große Unglücke ereignet haben, sondern auch im Reich der Geister, das uns biblisch vertraut sein könnte unterm Sprachgewand der „Engel, Mächte und Gewalten“ … also der beherrschenden und um Einfluss ringenden Kräfte, die geistig bewusst wie unterbewusst, allemal aber kollektiv auf die Menschheit wirken und sie bewegen.
In dem, was stofflich ist, ist vieles verbrannt und vieles davongespült worden in diesem Jahr, und es sind schwelende und schwellende Katastrophen gewesen, die weder gedämpft noch gedämmt auch weiter Not, Leid und Grauen auslösen werden. Wir klagen also um das zerstörte Land und Leben auf diesem kleinen Globus, um die vernichteten Ernten, die ausgerotteten Schönheiten, den verdorrten Schöpfungssegen eines bitteren Jahres. ——
Unter den Menschen sind neben den Todesfügungen, die uns als Einzelne und als Familien trafen, auch Gestalten der geschichtlichen Gemeinschaft unwiderruflich in die Vergangenheit versetzt worden: Mit besonderer Verpflichtung gilt es, an Michail Gorbatschow zu erinnern; mit besonderer Zuneigung werden manche von uns das Sterben und das Grabgeleit der britischen Königin in ihrem Gedächtnis als ein Datum verbuchen, das unserer Gegenwart etwas Unwiederbringliches nahm; mit besonderer Verbundenheit im Gemeinsamen wie im Unterscheidenden werden wir auch des vor wenigen Stunden - wie er selber glaubte - vor seinen Richter und Erlöser, in das Haus des Vaters gerufenen emeritierten Papstes aus Deutschland gedenken. Ehe wir aber weiter aufzählen, welche Stimmen in der Musik künftig schweigen, welche Farben man in der Mode so nie wieder mischen wird, welche Kunst auf dem Rasen nunmehr endgültig Legende wurde, bleiben wir in unserer kleinen Stadt, bei unserer Gemeinde, deren Altpfarrer, Achim Engels nun auch am Ende dieses Jahres glaubend das Ziel seiner Tage erreichen durfte. Sein Zeugnis und sein Gebet sind im Leben vieler unter uns bleibend wirksam geworden. Zu Recht trauern wir also um unsere Toten, denn gerade Dankbarkeit ermisst ja jeweils den Verlust. ——
Doch das Dritte, das uns heute bewegt, … das Schrecklichste ist nicht der Schmerz um alles, was uns in der Kreatur und unter den Menschen mit der Vergangenheit verband und mit der Zukunft verbinden wollte, sondern der Schmerz um das, was im Geistigen, mit verheerenden Folgen für alle Lebensbereiche vernichtet worden ist: Es ist eine Illusion gewesen, … eine Täuschung oder auch ein Traum. … Jeder Blick nach Äthiopien oder in den Jemen hätte uns schon vor Jahr und Tag erschüttern und verändern müssen! Doch nun ist es den meisten von uns erst in diesem beinah erloschenen Jahr widerfahren: Wir haben den Frieden sterben sehen!
Und der tote Frieden – der schon faul war, solange wir ihn mit Blindheit erkauften und auf Kosten anderer Menschen als unerprobte heroisch-rhetorische Figur zu unserm Wahlspruch erklärten - … der tote Frieden des Jahres 2022 ist eine der tiefsten Zäsuren unserer Zeit.
Nicht, weil er uns naiv aussehen lässt, … nicht, weil er unsere harmlose oder vielleicht auch verlogene Wirklichkeitsverdrehung auffliegen lässt, nach der der Fortschritt oder der Markt oder die Demokratie idiotensichere Garanten des Guten seien, … nicht, weil er uns unsere ernstgemeinten Ideale und unsere mühsam gelernten Lektionen zerstört, … nicht, weil er uns aus unserem Spiegelbild eine schreckliche Frage entgegenzischt: „Erkennst Du eigentlich den Menschen wieder?“ …….
Nicht aus allen diesen tatsächlich schwerwiegenden Gründen ist der Tod des Friedens der schlimmste Zug unsrer Zeit, sondern schlicht, weil er so viel himmelschreiendes, Gott und die Menschheit anklagendes Blutvergießen, so viel Brutalität und so viele Wunden am Fleisch und in den Seelen von Millionen bedeutet … und weil er bei uns zu einer Herzensverhärtung zu führen droht, die unvorstellbar ist! … Wie ruhig wir sind, … wie unbeteiligt, weil ratlos, … wie gewöhnungsbereit wir uns zeigen, … wie wenig Zorn, wie wenig Stärke, wie wenig Beten und Hoffen sich in uns regen, … wie klein und gleichgültig unser Geist sich in einer Prüfung wie dieser enthüllt.
Der Frieden ist ermordet worden … und wir machen dumpf weiter.
Und dann die Freiheit: Die nächste Geist-konkrete Wirklichkeit unter den „Engeln, Mächten und Gewalten“, die uns - die Völker der Erde, die Stämme des Menschengeschlechtes – beatmen, beleben und begleiten. Die Freiheit hat die Schwindsucht: Hier und da treibt sie grell-geschminkte Blüten, die wie gespenstische Frühlingsboten am leblosen Holz wirken, aber an wie vielen Orten der Welt wird sie geknüppelt, gefangen und geschändet. Und der Kampf des iranischen Volkes, der Schrei der afghanischen Frauen, das Flackern in China, die lautstarke Sorge in Israel, das erzwungene Schweigen in Nord-Korea, Myanmar, Russland … es ist zum Haareraufen und zum Heulen. ——
… Ich sagte ja, wir sind hier auf einer Totenwache, bei einer Beerdigung.
Und so soll nun das Jahr enden?!
… Das ist keine Frage.
Es scheint eine Tatsache zu sein.
… Die Frage jedoch, die bleibt, ist die Frage des Paulus. Jene Frage, die im Römerbrief seinen schönsten Hymnus - schöner noch als das Hohe Lied der Liebe - auslöst. Denn sein Hymnus auf’s Vertrauen, sein Hohes Lied des Glaubens trägt nicht nur als Überschrift, sondern als durchgängiges Grundmotiv die Frage vor: „Kann uns das scheiden von der Liebe Gottes?“
Mit dieser Frage gehen wir Christen an jedes Sterbebett und auf jede Beerdigung, … und auf jeden Geburtstag, zu allen Hochzeiten, an unsre Arbeit, in unsre Mühen, an unser Scheitern und zu unseren hässlichen oder heiligen Erfolgen auch. Es ist tatsächlich eine ganz echte Frage, wenn wir uns der Wirklichkeit stellen, … wenn wir das Hohe und Tiefe, das Feine und Schwere, die Fülle und die Leere unseres Lebens und des Lebens in der Welt betrachten: „Kann uns das - das alles, oder irgendetwas davon - scheiden von der Liebe Gottes?“ …
Wir fragen aber nicht nur für uns, sondern so wie der Apostel, der nach Rom schrieb, an eine Gemeinde, die gerade eine katastrophale Vertreibung und zaghafte Rückkehr in die Mauern des Zentralortes der Welt erlebt hatte[i]: Wir fragen uns global, weltwirklich.
Kann uns das Kritische und Katastrophale der Geschichte in der Zeit scheiden von der Liebe, die in Christus Jesus ist und bleibt?
Sind die Toten von Butscha aus Seiner Liebe, die für sie starb, herausgefallen?
Sind die Hungernden in Syrien, im Süd-Sudan und auf Madagaskar von Dem getrennt, Der in Ägypten von Almosen oder Tagelöhner-Verdienst lebte und in Samaria um Wasser bettelte?
Sind die Geplagten und Entwurzelten, die Traumatisierten und Bibbernden in der Ukraine nun etwa in eine Wirklichkeit geraten, die Den, Der Licht in die Dunkelheit, Heilung ins Elend, Hoffnung zu den Verlorenen brachte, ausschließt?
Sind die Welt voller Unheil und die Zeit voll Verhängnis also Gründe dafür, zu glauben, dass es kein Heil und keine Erlösung geben könne und werde? Sind sie Gründe dafür, zu glauben, Christus sei nicht gekreuzigt worden und nicht auferstanden?
… Oder: … Im Gegenteil?!
Ist nicht gerade der Blick auf die Wirklichkeit, der Blick auf die Bitterkeit, der Blick auf die Opfer, der Blick auf uns und auf alle der Ort, an dem unser Glaube das ist, was zuletzt einzig und alleine tragen kann?
Unser Glaube ist buchstäblich dieses Letzte, weil er das Einzige ist, das ganz in die Wirklichkeit – die furchtbar schlimme, die erdrückend traurige Wirklichkeit – gehört, ohne in ihr aufzugehen!
Unser Glaube, der in genau dieser Wirklichkeit fußt, geht über sie hinaus!
Das ist der Grund, weshalb wir eine Beerdigung am Ende des Jahres feiern, die um Mitternacht zu etwas ganz anderem führt: Noch nichts ist von 2023 festzustellen, … außer, dass im kommenden Jahr der Lebendigen alles möglich ist.
Das Alte - Leben und Tod - werden wir verlassen und mit der gesamten Welt in ein Neues gehen: Tod und Leben, so wie sie noch nie waren.
Weil nichts uns von der Liebe Gottes scheiden kann.
Und darin ist unser Glaube vielleicht am besten mit etwas ganz Gegenständlichem zu vergleichen, das eine junge Frau aus Butscha, Daryna Gladun, in einem Brief aus dem Herbst dieses Jahres beschreibt[ii].
Bei ihrer Flucht aus der sich abzeichnenden Hölle konnte sie wenig mitnehmen. Als Flüchtling quer durch Europa und darüber hinaus hat sie dagegen manches empfangen und erworben und es ohne innere Beteiligung wieder losgelassen und abgegeben.
Nur die Schuhe! Die unscheinbaren, nunmehr abgetretenen Schuhe aus Butscha, nach denen niemand sie mehr fragt: „Meine ganze Odyssee hat sich in diesen Schuhen zugetragen. In ihnen habe ich mein Zuhause verlassen, in ihnen werde ich nach Hause zurückkehren.“ ——
Gebe Gott uns die Gnade, dass wir das heute und zu aller Zeit genauso auch von unserem Glauben sagen können:
„In diesem Glauben haben wir angefangen.
Dieser Glaube trägt uns durch die Welt.
In ihm gehen wir zu Beerdigungen und zu Neuanfängen, in ihm durchqueren wir Hohes und Tiefes, von ihm getragen erleben wir die Engel, die Mächte und Gewalten … suchen nach dem Frieden, zittern um die Freiheit, hoffen für die ganze Kreatur.
Allein dank dieses Glaubens kommen wir aus der Vergangenheit, ziehen durch die Gegenwart und streben in die Zukunft.
Und in diesem Glauben werden wir auch nach Hause zurückkehren.
Weil nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn! Dessen bin ich gewiss.“
Amen.
[i] Das Datum des sog. „Claudius-Ediktes“, das eine Vertreibung der Juden – und folglich auch der judenchristlichen römischen Urgemeinde – anordnete, ist in der Forschung nicht vollends gesichert. Wahrscheinlich bleibt die Ansetzung und Durchführung des Ediktes im Jahr 49 n.Chr. Betroffen waren mithin mehr oder weniger alle Adressaten des Römerbriefes, der eine Gemeinschaft anspricht, die sich erst wenige Jahre lang wieder zaghaft zusammenfand, nachdem das Vertreibungs-Edikt nicht mehr durchgesetzt wurde.
[ii] Der Brief der jungen Ukrainerin, der in der FAZ veröffentlicht wurde, findet sich unter: https://weiterschreiben.jetzt/weiter-schreiben-ukraine-briefe/ukraine-test/aber-nach-den-schuhen-fragt-keiner-brief-1/
Christvesper, 24.12.2022, Matth.2,1-12, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Als Jesus geboren war in Bethlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem und sprachen: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland und sind gekommen, ihn anzubeten. Als das der König Herodes hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem, und er ließ zusammenkommen alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes und erforschte von ihnen, wo der Christus geboren werden sollte. Und sie sagten ihm: In Bethlehem in Judäa; denn so steht geschrieben durch den Propheten (Micha 5,1): »Und du, Bethlehem im jüdischen Lande, bist keineswegs die kleinste unter den Städten in Juda; denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volk Israel weiden soll.« Da rief Herodes die Weisen heimlich zu sich und erkundete genau von ihnen, wann der Stern erschienen wäre, und schickte sie nach Bethlehem und sprach: Zieht hin und forscht fleißig nach dem Kindlein; und wenn ihr's findet, so sagt mir's wieder, dass auch ich komme und es anbete. Als sie nun den König gehört hatten, zogen sie hin. Und siehe, der Stern, den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war. Als sie den Stern sahen, wurden sie hocherfreut und gingen in das Haus und fanden das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe. Und Gott befahl ihnen im Traum, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren; und sie zogen auf einem andern Weg wieder in ihr Land. (Matth.2, 1-12)
Liebe Schwestern und Brüder,
die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland kennen Sie bestimmt alle. In den meisten Krippenspielen tauchen sie auf als Besucher an der Krippe und knien dann oft in trauter Eintracht neben den Hirten. An der Krippe ist es so, wie an Heiligabend in unseren Wohnzimmern: die ganze Sippschaft kommt zusammen, das große Familientreffen unter dem Weihnachtsbaum. So erzählt es die Tradition.
Bemerkenswert ist nun, dass es sie in der Bibel so gar nicht gibt. Die Bibel überliefert uns vielmehr zwei sehr unterschiedliche Weihnachtserzählungen: mit der einen – von dem Evangelisten Lukas – fängt bei uns immer Weihnachten/Heilig Abend an; mit der anderen – von dem Evangelisten Matthäus – endet die Weihnachtszeit, enden die 10 Heiligen Nächte am 6.Januar, an Epiphanias. Als Evangeliumslesung wird am 6.Januar der eben vorgelesene Abschnitt aus dem Matthäusevangelium vorgetragen. Doch er ist es wert, einmal am Heiligabend einer deutlich größeren HörerInnenschaft zu Ohren zu kommen.
Vielleicht ist Ihnen gerade bei der Verlesung aufgefallen, dass die Heiligen Drei Könige weder heilig noch drei noch Könige sind. Matthäus erzählt einfach von einer unbestimmten Zahl von Magiern oder Weisen, deren Herkunft vage mit „Morgenland“ angegeben wird. Namen werden nicht genannt und auch keine Angaben zu ihren Fortbewegungsmitteln (Kamel, Pferd, Elefant) gemacht. Das Handlungsgerüst der Geschichte in der Bibel ist sehr dürftig und lässt bei genauem Hinsehen viele Fragen offen. Nun begegnen uns in der Bibel immer wieder Texte, Geschichten, in denen nicht alles genau erklärt wird, die vieles offen lassen für die Hörer und Hörerinnen. Und vielleicht sind manchmal ja gerade die Stellen, die etwas nicht erzählen, besonders interessant. In einer jüdischen Auslegungstradition heißt es: Die Buchstaben der Bibel sind das schwarze Feuer, und die Zwischenräume zwischen den Buchstaben sind das weiße Feuer – das, was nicht ausdrücklich im Text steht, aber woran sich unsere Phantasie, unser eigenes Nachdenken und unsere eigenen Erfahrungen entzünden. Wenn ich sie nun zu meinem Gang durch die Weihnachtsgeschichte des Matthäus mitnehme, werden es unterschiedliche Gedanken zu unterschiedlichen Stellen sein, die Ihre Erfahrungen und Phantasie entzünden, und die sie vielleicht in die Weihnachtstage dieses Jahres aus diesem Gottesdienst mitnehmen.
Die Geschichte des Matthäus beginnt ziemlich abrupt damit, dass Magier aus dem Morgenland nach Jerusalem kommen und nach dem neugeborenen König der Juden fragen, weil sie angeblich seinen Stern gesehen haben. Wie die Magier dazu kommen, in Judäa zu erscheinen, erzählt Matthäus nicht. Möglicherweise waren sie Astronomen, die sich beruflich mit dem Sternenhimmel befassten, sodass ihnen ein neuer Stern, eine neue Sternenkonstellation am Himmel aufgefallen sein könnte. Aber warum sie das auf die Idee bringt, dass dieses Himmelsereignis die Geburt eines neuen jüdischen Königs anzeigt, dazu gibt es keinen Hinweis. Und warum sollten sie sich für ihn interessieren? Und dann wollen sie ihn auch noch anbeten – wo sie doch gar nicht jüdischen Glaubens sind. Die Geschichte sagt uns auch nicht, was sie sich von diesem neuen König erwarten. Dass die Hirten in der Weihnachtsgeschichte des Lukas zur Krippe eilen, das ist deutlich einleuchtender: Sie erwarteten den Messias, den Retter ihres Volkes, der endlich das jüdische Volk befreien sollte, was ihnen der Engel ja auch eindeutig so verkündigte. Die Geschichte von Matthäus erzählt uns dagegen, dass es offenbar auch andere Gründe gibt, sich zur Krippe aufzumachen und nach dem Kind zu suchen – und dass es nicht einmal nötig ist, zu begründen, warum. Aus allem kann sich die Suche nach dem Kind entwickeln. Bei den Magiern/Weisen ist es die naturwissenschaftliche Beobachtung des nächtlichen Himmels – ihr Beruf -, der am Anfang steht. Die Sterne waren für sie etwas Selbstverständliches, Alltägliches, sich mit ihnen zu beschäftigen, verschaffte ihnen ihren Lebensunterhalt. Und diese Sterne werden plötzlich durchsichtig für etwas Größeres, was dahintersteht. Die Weisen haben erkannt, dass die bekannten Dinge nicht nur das sein müssen, was sie sind, sondern auch auf eine andere Wirklichkeit, auf eine göttliche Wirklichkeit hindeuten können. Sie haben sich getraut, das ernst zu nehmen und dem zu folgen – auch wenn sie vermutlich nicht wussten, was sie denn eigentlich genau suchten. Ihre Informationen waren ja wirklich äußerst dürftig. Unter den damaligen Umständen muss es ein ziemliches Wagnis gewesen sein, einfach mal loszuziehen auf eine weite und beschwerliche Reise, ohne das Ziel genau zu kennen.
Matthäus erzählt die Suche nach dem Kind als einen Aufbruch ins Ungewisse. Um loszugehen, muss man nicht wissen, wo der Weg genau verläuft und wo man fündig werden wird. Es reicht das Gefühl zu haben: da gibt es etwas, das ich finden möchte, etwas, was ich noch gar nicht genau benennen und beschreiben kann, aber was da ist, eine Sehnsucht im Herzen. Bei einer solchen Suche sind Umwege und Irrwege sehr wahrscheinlich. Die Magier landen ja auch prompt am falschen Ort. Sie haben sich anscheinend das nach menschlicher Logik und Vernunft Nächstliegende überlegt: Königskinder werden in Palästen geboren, Paläste stehen in Hauptstädten – also auf nach Jerusalem. Vor diesem Irrtum bewahrt sie auch der Stern nicht; anders als wir das von Krippenspielen kennen, zog er ihnen nämlich nicht auf ihrem Weg voran. Sie hatten den Stern nur zu Hause, in ihrer Heimat am Himmel gesehen. Doch dieser Umweg ist für die Magier in zweierlei Hinsicht wichtig. Als praktische Hilfe, denn in Jerusalem bekommen sie genauere Informationen über das Kind und man nennt ihnen auch den Zielort: Bethlehem. Und außerdem erkennen sie, dass man mit menschlicher Logik zwar weiterkommt, dass aber die göttliche Logik eine andere sein kann: nicht in der Hauptstadt, im Palast, wird der König geboren, sondern in dem kleinen Ort Bethlehem, abseits der großen Gebäude und wichtigen Geschäfte. Die Geschichte des Matthäus erzählt wiederum nicht, was die Magier sich bei dieser Auskunft „Bethlehem“ gedacht haben. Entscheidend jedoch ist, dass sie dieser Auskunft geglaubt haben und ihr gefolgt sind – auch wenn es ihrer ursprünglichen Logik zuwiderlief.
Als sie in Jerusalem nach dem neugeborenen König fragen, kommt dieses auch dem König Herodes persönlich zu Ohren. Seine Reaktion wird beschrieben: Er erschrickt. Soweit noch verständlich: Herodes sieht seine Machtposition bedroht durch einen neugeborenen König, der zudem in den heiligen Schriften seines Volkes schon lange angesagt ist. Aber warum erschrickt „ganz Jerusalem mit ihm“? Das Volk, gerade die armen und kleinen Leute, leiden doch unter Herodes und der römischen Besatzung. Das Volk wartet doch auf den Messias, auf einen König, der Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden bringt. Ich denke, die Menschen spüren, dass der neue König nicht einfach dort weitermacht, wo der alte König aufgehört hat. Sie spüren, dass mit ihm etwas Neues anbricht und aufbricht, das die alte Ordnung in Frage stellt. Auch wenn man sich das Neue wünscht, löst es zunächst ganz oft Erschrecken aus. Das Alte mag gar nicht gut sein, schon gar nicht für die da unten, aber viele in den oberen und mittleren Etagen, die sich in Jerusalem eine Wohnung leisten konnten, die haben doch auch nicht so schlecht darunter gelebt, konnten sich arrangieren mit der Herrschaft des Alten. Und selbst für viele in den kleinen Orten wie Bethlehem galt: das Alte, selbst wenn es schlecht ist, das kennt man wenigstens, man weiß, wo man dran ist. Weihnachten, die Geburt des Königs abseits der Hauptstadt, bedeutet den Anbruch einer neuen Zeit, einer neuen Ordnung. Die alten Herrschaftsverhältnisse stehen zur Disposition. Das lässt erschrecken.
Auch die Hirten sind vor dem Engel und seiner guten Nachricht erschrocken – und gingen dennoch los. Vor etwas Neuem zu erschrecken, muss nicht lähmen – muss nicht heißen, dass man das Neue nicht will. Über den Schreck hinweg kann man dem Neuen entgegengehen – aber man kann sich dem auch entziehen, wie die Jerusalemer es in der Geschichte tun. Herodes versucht dabei, mit List die alte Ordnung zu behaupten. Er lässt zunächst die Theologen und Gelehrten seines Volkes erkunden, wo nach den Schriften der König geboren werden soll. Sie finden heraus: in Bethlehem; so steht es beim Propheten Micha, wie wir vorhin in der Lesung gehört haben. Im Gegensatz zu den Magiern ist für sie die Frage offenbar nur eine theoretische, die mit einer schlichten Antwort beendet ist. Sie fragen nicht, warum Herodes dies wissen will, und sie brechen nicht selbst auf, um das Kind, den neugeborenen König in Bethlehem zu suchen. Sie haben recht mit ihrer Antwort – und verpassen doch das, was den Magiern vergönnt ist: sich selbst aufzumachen und zu suchen, zu fragen – statt sich mit klaren und richtigen Antworten zufrieden zu geben. Die Geschichte stellt uns hier ganz nüchtern die zwei Möglichkeiten vor Augen, wie man mit Fragen nach Glauben und Leben umgehen kann. Herodes macht die Magier ohne ihr Wissen zu seinen Verbündeten, indem er sie heimlich zu sich kommen lässt und dann nach Bethlehem schickt. Die Magier scheinen naiv, gehen ihm ins Netz – und machen sich auf Richtung Bethlehem. Aber als sie der Weisung des Herodes folgen, übernimmt plötzlich ein anderer die Führung – der Stern. Jetzt zieht er vor ihnen her. Der Stern, der Himmel gibt Orientierung in dem Moment, wo es kritisch wird. Wo es nicht nur um den richtigen Ort geht, sondern um ein Macht- und Intrigenspiel, das auf Leben und Tod geht.
Die Suche der Magier aufgrund von edlen Motiven ist nicht davor gefeit, von dem Bösen für seine Zwecke missbraucht zu werden. Die Geschichte erzählt nicht von einer heilen Welt, in der die Suche nach dem Kind, nach dem neuen Leben glatt und selbstverständlich verläuft. Das Böse, verkörpert in Herodes, stellt sich nicht nur gegen die „Guten“, sondern missbraucht sie auch noch. Aber die Geschichte erzählt auch, dass gerade in dieser Situation der Stern, der erst nur am Horizont erschien, vorausgeht und zur Begleitung und Orientierung wird und sie ihr Ziel erreichen lässt: sie finden das Kind und sind „hoch erfreut“. Gerade weil der Text so sparsam ist mit Emotionen, fällt diese Reaktion der Magier besonders auf: die Reise hat sich gelohnt, trotz der nur vagen Vorstellungen und der Umwege, trotz aller Schwierigkeiten und Belastungen unterwegs sind wir am Ziel! Ich denke, es ist kein Zufall, dass der Text dies als zweite Gefühlsregung nach dem „Erschrecken“ des Herodes und der Jerusalemer Gesellschaft beschreibt. Offenbar gehört beides zusammen: das Erschrecken, solange man dem Alten verhaftet ist, und die jubelnde Freude, wenn man – das Alte loslassend und sich auf den Weg machend - das Kind, den neuen Anfang, das neue Leben vor Augen hat.
Der letzte Satz erzählt wiederum eher nüchtern, dass Gott die Magier im Traum anweist, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren. Am Ende läuft die List des Bösen ins Leere. Es ist tröstlich, dass Gott letztlich stärker ist als das Böse. Und wieder glauben die Magier auf Verdacht hin – Träume sind für sie nicht Schäume. Sie folgen dieser eher vagen und leisen Stimme mehr als dem ausdrücklichen Befehl des weltlichen Herrschers. So kehren sie auf einem anderen Weg in ihre Heimatländer zurück. Sie selbst sind dabei auch andere geworden als die, die einstmals losgezogen sind. Die Geschichte von der Suche nach dem neugeborenen Kind, nach dem Neuen Anfang, dem Neuen Leben, ist nicht damit zu Ende, dass man es findet und anbetet.
Das Leben geht weiter, aber wir gehen als Verwandelte weiter. Neue Wege sind nötig – auch heute, auch für uns, äußerlich und innerlich. Und das nicht nur einmal im Leben, sondern immer wieder. Gut, dass es jedes Jahr Weihnachten gibt, um uns daran zu erinnern.
Amen.
2.Christfest, 26.12.2022, Stadtkirche, Matthäus 1, 1 - 17, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Weihnachtstag - 26.XII.2022
Matthäus 1, 1-17
Liebe Gemeinde!
Jesus und Miss Sophie: Beide haben Gäste an ihrem Fest, die nicht da sind … und doch anwesend.
Sir Toby, Admiral von Schneider, Mr.Pommeroy und Mr.Winterbottom mögen noch vor wenigen Jahren in persona die Menü- und die Getränkefolge mit ihrer Gastgeberin geteilt haben. Ihre Abwesenheit weckt jenen Schmerz, den gerade an Weihnachten jede Lücke in unsern Familien, jeder Stuhl, der am Tisch künftig unbesetzt bleiben wird, mit sich bringt.
Der englische König sprach gestern für alle Trauernden, wenn er auch diese Seite unseres hellen und heiteren Festes berührte: Obwohl wir es wissen, dass irgendwann der Erste und irgendwann auch der Letzte aus der Vertrautheit unserer geteilten Gewohnheiten und Rituale sich verabschieden muss, ist es schwer, bitter schwer, die Lieder zu singen, die nicht mehr so vielstimmig wie früher gelingen, … die Post zu sortieren, ohne wieder - wie in jedem Jahr - auf die liebgewonnene Handschrift zu stoßen, … die Rezepte zu kochen, den Schmuck zu benutzen, den Rhythmus zu befolgen, die alle unlöslich mit einem verbunden waren, der nun nicht mehr die Speisen, die Freuden und das Licht der Sterblichen teilt.
Ein Zug der Wehmut, manchmal auch der wachsenden Verlassenheit ist gerade auch in die nur scheinbar ungetrübtesten Feiertage des kirchlichen und des bürgerlichen Kalenders unlösbar hineinverwebt.
Denn jedes Fest, das wir begehen, lebt und vertieft ja ein Miteinander, das im Augenblick seiner Ereignung schon zu jenem „Weißt du noch?“ von morgen wird, das uns daran gemahnt, wer wir sind, wo wir herkommen und was uns verbindet.
Alle Freude schafft Erinnerung, bis der Tod uns scheidet … und wird dann zu Schmerz, … bis schließlich aus der schmerzlichen Erinnerung sich wieder eine Freude herauskristallisiert, die nun auch der Tod nicht mehr zerstören kann.
Ein Fest, von dem wir unsere Trauer ausschließen, ein Fest, zu dem die toten Gäste nicht willkommen wären, wäre ein unkluges und ein unmenschliches Beginnen. Wo wir sind, sollen auch die sein, die nicht mehr hier sind. … Bis wir dahinkommen, wo sie sind.
Mit Ahnenkult oder Schauerromantik hat es also gar nichts zu tun, wenn die alten Weihnachtsbräuche oft noch Spuren des größeren Kreises an sich tragen, bei dem die Gestrigen nicht totgeschwiegen werden, sondern ihren Platz in unserer Mitte behalten und in unsern Jubel, unser Gespräch, unser Gebet auch Stimmen einbezogen bleiben, die zwar unser leibliches Ohr nicht mehr vernimmt, ohne die wir aber doch nur wie eine Orgel ohne Pedal, wie eine Antwort ohne Frage klingen würden.
Damit nie jemand auf die Idee käme - auf die natürlich inzwischen alle Welt gekommen ist! -, dass das Fest der Geburt des Erlösers der Menschen bloß ein harmloses, sprich: hirnloses Gelage sei, hat die Kirche von Anfang an dem 1.Tag des Christfestes einen zweiten beigesellt, der seit jeher den Blick der Weihnachtschristen um die entscheidende Dimension erweiterte: Was auf dieser Erde in der Zeit gefeiert wird, das ist nicht zu denken, nicht zu verstehen und … eben auch nicht zu feiern ohne die, die nicht mehr auf Erden, sondern im Himmel, in der Gottes-Gegenwart also sind.
Darum ist der Zweite Weihnachtstag in seinem Proprium, in seinem eigentlichen Gepräge der Festtag des ersten Zeugen Jesu Christi, durch den die heilige christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen zu einer menschlichen Verbindung auf zwei Ebenen wurde: Der irdischen ist mit dem ersten Märtyrer Stephanus für immer auch die himmlische Gemeinde an die Seite gestellt. Und so erinnert uns dieser zweite Feiertag, der Stephanus-Tag stets daran: Es gibt uns nicht nur „hier“ ohne: „Da“; … es gibt uns nicht nur in der Zeit, sondern ebenso auch in der Ewigkeit, … es gibt uns nicht nur zeitlich lebend, sondern wir sind immer auch schon dem Leben voraus, im bleibenden „Jetzt“. ———
Mit diesen Vorüberlegungen zur Vergangenheit vor dem Heute und zur Ewigkeit jenseits des Heute sind wir nun vielleicht in der angemessenen Verfassung, um bewusst die große Schar an der Pforte des Neuen Testaments zu empfangen, … die nicht leiblich, aber geistlich gegenwärtigen Ehrengäste, mit deren Reigen Matthäus das Evangelium von Jesus Christus anhebt.
Diese Aufzählung sonorer, durch ihre Aura der Sakralität und des Aristokratischen ehrfurcht-gebietender Namen wird meistens als ein vernachlässigenswertes Kuriosum übergangen, mit dem der doch etwas zu schriftgelehrte Matthäus im Hopplahopp den engmaschigen Anschluss des Neuen an das Alte Testament belegen wollte. Man sieht eine Art hochkonzentrierter Summe der Heilsgeschichte in seinem genealogischen Abriss – was ja wahrlich aller Ehren wert bleibt! –, oder eine historisierende Fleißarbeit, die Jesus seinen Kontext in der realen Chronologie verschaffen soll. ——
Andere – so gewiss auch die, die den Stammbaum Jesu neu zu Ehren als Predigttext gebracht haben – freuen sich an den delikaten Webfehlern im gleichmäßigen Geflecht der Generationenfolge, wo nicht immer nur das monotone Leiern zu berichten ist: Einer wurde geboren, freite ein Weib, zeugte einen Sohn und dann „legt er sich“ - nach Matthias Claudius - „zu den Vätern nieder und kömmt so nimmer wieder“. Auffallend häufig sind ja die Unregelmäßigkeiten, die durch die starken Vorfahrinnen Jesu in das rechtschaffen-biedere Muster seiner Herkunft eingetragen werden: Fremde, verfemte, freie Frauen – Tamar (vgl. 1.Mose38), Rahab (vgl. Josua 2 und 6,22ff) und Ruth - , die nicht als namenloses Anhängsel irgendwelcher Patriarchen, sondern als die Schmiedinnen ihres eigenen Schicksals leben und handeln, haben ihrem Nachfahren gewiss ein Erbe der Autonomie in die Krippe gelegt: Wer solche Stammmütter hat wie Jesus, der kommt schon als gewagtes Vertrauen und vergebene Sünde zur Welt. ——
Wieder ein anderer Blick auf die scheinbar so monotone und insgesamt doch extrem männerlastige Liste der zeugenden Vorväter hat hinter dem allgemein sexuellen Vorgang ein tiefes Prinzip freigelegt[i], das die reine Fortpflanzungs-Biologie völlig verblassen lässt: Mit dem Doppelausdruck, der das ganze Neue Testament an der Spitze dieser Aufzählung doch wohl programmatisch eröffnet – „Βίβλος γενέσεως“ (Biblos geneseos) = „Buch der Zeugungen / Buch der Entstehungen“ – klingt ja schon in unseren Ohren das Buch „Genesis“ an, das exakt diesen Ausdruck zweimal als Zusammenfassung der Schöpfungs- und Urgeschichte verwendet (vgl. 1.Mose 2,4; 5,1): Die „Zeugungen des Himmels und der Erde“ und die „Zeugungen Adams“ - so werden die Erschaffung des Kosmos und die Anfänge des Menschengeschlechtes da genannt.
… Wer aber nur einen Augenblick über diese biblischen Ursprungsüberlieferungen nachdenkt, dem fällt auf, dass da überall – im Bericht über die Schöpfung, in der Urgeschichte der Menschheit und im Stammbaum Jesu – nun gerade nicht rein naturhafte, rein biologische Vorgänge geschildert werden, die gerne Charles Darwin zu überlassen sind, sondern dass es da um Gottes unentbehrliches, um Gottes völlig entscheidendes Wirken in und unter allen diesen Prozessen geht. Genauso wenig wie die Bibel in der Genesis nämlich die fruchtbare Produktivität und Variationsfreude von Mutter Natur feiert, genauso wenig feiert sie im Matthäusevangelium die Manneskraft und den Geschlechtsverkehr an sich. Vielmehr geht es am Anfang des Alten wie des Neuen Testaments unter der Überschrift des „Βίβλος γενέσεως“ jeweils darum, wie in den scheinbar selbstverständlichen Grundlagen und Entwicklungen des Lebens immer und überall Gott am Werk ist: Nichts – und sei es noch so gewöhnlich, noch so „natürlich“, triebhaft, elementar – … nichts geschieht ohne das weckende und lenkende, ohne das schöpferische und segnende Tun Gottes.
Auf diese Weise – nicht durch sexuelle Begattung, sondern durch segnende Begleitung – ist die Gotteskindschaft demnach tatsächlich der gesamten Wirklichkeit als Ur-Prinzip eingeschrieben.
Und die Geburt Jesu aus der langen Folge der Segnungen Gottes in der Geschichte Seines Volkes Israel ordnet sich in den großen Zusammenhang einer Welt ein, die ganz von Gott erfüllt ist, sich Ihm verdankt und in allen ihren Entwicklungen Ihm folgt und zustrebt. ———
Diese Linie des israelitischen Schöpfungsglaubens als Glaubens an den Segen Gottes, … diese Linie der Segensgeschichte Israels erklärt dann aber auch, wieso das Neue Testament mit einer biologischen Abstammungstafel anfängt, die Jesu Geburt gar nicht biologisch vorbereitet, da sie ja auf Joseph hinausläuft, der auch im Stammbaum selbst nicht als der in unserem Sinne „genetische“ Vater des Christus bezeichnet wird: Jesus gehört in die generationen- und Genetik-übergreifende Kette des Segens, Er ist eingebettet in die gottgewirkte Geschichte, die den Kosmos und Israel durchzieht und verbindet, … Segen hat Ihn vorbereitet, Segen gab Ihm Dasein, Segen ist Sein Leben.
Die ehrwürdige Schar der Erzväter, der frühesten Generationen Israels in Kanaan, schließlich die anfänglich stolze, dann gedemütigte, erneut aber auf Hoffnung gerettete und sehnsüchtig harrende Dynastie des Hauses Davids verkörpert also am Eingang des Neuen Testaments das, was der Hebräerbrief (11; vgl.12,1) „die Wolke der Zeugen“ nennt: Von Anfang an, durch alle Vergangenheit, die Ihm voranging, ist Jesus umfangen von denen, die Segen erben, teilen, weitergeben. Sie umgeben Ihn wie unsere unsichtbaren, aber uns tief vertraut zugehörigen Weihnachtsgäste uns umgeben: Mit einer wartenden Zuversicht und einer bleibenden Liebe, die vor unserm Leben begann und die der Tod nicht zu zerschneiden vermag.
Und damit sind sie letztlich allesamt - wie Stephanus - Zeugen der Gotteskraft, die am Anfang der Genesis (1,2) und am Ende des Evangeliums (vgl. Lk24,49 /Joh.20,22) als der Heilige Geist in Erscheinung tritt.
Der lebenspendende Geist Gottes, Der durch alle Räume der Schöpfung und die Zeiten aller Geschichte weht, ist in jeder Generation, in jeder Geburt, in jedem Geschehen gegenwärtig, um Jesus den Weg zu bereiten, um Ihn zu empfangen und auch um zu sichern, dass es nach Jesu Weg in’s Fleisch, in’s Grab, in’s Leben in Gottes Gegenwart weiter geht … weiter geht in weiteren Zeugen, … weiter geht auch in uns!
Und so ist der Geist Gottes, Der in den Vorfahren wirkt, Der Sich in ihnen bezeugt und sie zu Jesu Zeugen macht, nach Pfingsten Der, Der in uns Anwesenden allen genauso wie in den nicht gegenwärtigen Gästen die Verbindung mit Jesus und untereinander herstellt, stärkt und segnet.
Damit aber ist das Leben Jesu, Der aus dem Geist Gottes gezeugt ist, nicht nur in die Schöpfungs-, Israels- und Weihnachtsgeschichte als Seiner Herkunft eingebunden, sondern ebenso auch in die Pfingst- und Kirchen- und Weltgeschichte, als deren Fortsetzung, und es erstreckt sich ein einziger, unverbrüchlicher Lebens- und Segenszusammenhang nicht nur durch die dreimal zweimal-sieben Geschlechter des Stammbaums, sondern vom Uranfang bis zum Fernziel: Alles ist Jesu Leben und alle, die nicht mehr oder noch nicht da sind, sind doch in und bei Ihm – mit-gesegnet - anwesend! ——
… Diese ununterbrochen und ununterbrechbar durchgängige Linie des Heils ist wunderbar tröstlich, … ist in ihrer natürlichen wie symbolischen Einfachheit vollkommen schön, und sie scheint die Geschichte der Welt so glatt zu machen, …. so glatt, dass wir in unserer verzerrten, aufgelösten, zerreißenden Gegenwart eine derart sichere Fortentwicklung kaum mehr für denkbar und glaubhaft halten können. …….
Doch auch Matthäus kannte kein bruchlos geschmeidiges, widerstandsloses Abspulen der Geschichte. Sein wunderbar gegliedertes Triptychon aus vierzehn Geschlechtern der Vorbereitung und Erwartung bis zum Messias David, dann vierzehn Geschlechtern auf dem Thron und im Reiche Davids und zuletzt vierzehn Geschlechtern unterm Gericht und in der existentiellen Erwartung dessen, in dem alles verheißene Heil sich doch noch erfüllen werde, ist schief.
… Es besteht nicht symmetrisch aus zweiundvierzig Gliedern, sondern einem weniger.
Das liegt an der tiefen Krise des babylonischen Exils, als Davids Stern erlosch, als alle Zusagen Gottes zusammengebrochen schienen, als das Land verloren und das Volk gescheitert war, … als - kurzum - die Zukunft beendet sein musste, weil die Verbannung in Babel den Schlussstrich und Todesstreich herbeigeführt hatte.
Diese Krise im Weltuntergangsmaßstab begegnet als einziges historisches Ereignis in der Aufzählung der Namen, die wir als Segensträger und Jesus-Zeugen verstanden haben … und sie begegnet gleich zweimal, … so tief teilend, so einschneidend war sie.
Die Wirklichkeit also durchbricht das allzu schöne, allzu glatte Schema der Heilsgeschichte auch im Buch der Zeugungen - der Zeugen - Jesu, so wie unsere Erfahrungen der weltgeschichtlichen Gegenwart es auch tun.
Doch der Einbruch des Unheils zerstört nur das Schema, nicht aber die innere Wahrheit des unwiderruflichen und unumkehrbaren Wirkens Gottes auf das Leben hin, … das Leben Jesu und das Leben aller!
In der Reihe derer, die Jesus vorbereiten und empfangen, fehlt also – was Matthäus unmöglich entgangen sein kann – unterbrochen durch das Exil, ein Name, … aber kein Glied: Jesus - so zeigt es der Evangelist - hat Zeugen, Er hat Angehörige, die zwar nicht aufgezählt sind, aber darum doch nicht in Nichts aufgelöst, doch nicht spurlos verschwunden.
Die, die nicht da sind, sind Ihm doch gegenwärtig.
Die, die wir nicht finden, sind doch für Ihn nicht verloren.
Für Jesus, Der aus dem Segen, aus dem Geist des Vaters gezeugt wurde, gilt nämlich weihnachtlich der eine, trotz aller Anfechtungen einfache Satz:
Er, Der unmittelbar aus Gottes Leben kommt, ist Der, Dem alle leben, … hier und da, … die Anwesenden und die in Seiner Gegenwart! —
Und so ist Weihnachten das Lebens-Fest der gesamten Menschheit; Hier, in der Zeit und dort in der Gegenwart!
Amen.
[i] Das Verdienst, spröde-scheinende biblische Texte – wie etwa alles Genealogische – sensibel, aufmerksam und theologisch fruchtbar eng zu lesen („close reading“) kommt unbestreitbar der Tradition der holländischen Exegese zu, die sich auf den großen reformierten Theologen Kornelis Heiko Miskotte (1894 – 1976) zurückführen läßt. Aus seiner Schule hat besonders Frans H. Breukelman den biblischen Wirklichkeits- und Geschichtsbegriff aus dem Denken und den sprachlichen Formen der Hebräischen Bibel erhoben. Breukelmans mehrbändige „Bijbelse Theologie“ beginnt nicht zuletzt mit grundlegenden Untersuchungen des hebräischen Wortstammes und der Denkfigur, die im Griechischen als „Βίβλος γενέσεως“ übersetzt wird. Breukelman plädiert bei diesem hermeneutisch entscheidenden Terminus, der geschichtsphilosophisch als ein hebräisches Äquivalent zum Konzept von „history“ betrachtet werden kann, asl angemessene Wiedergabe schließlich für das schöne niederländische Wort „verwekkingen“ (also: Weckungen, Auf-Erweckungen?!), das in unserem Horizont die natur- und stammesgeschichtlichen Entwicklungsschübe aus der Dynamik des Segens von vorherein österlich färbt; vgl. F.H.Breukelman, Bijbelse Theologie, Deel I,2 תולדות - De Theologie van het Boek Genesis. Het eerstelingschap van Israël temidden van de voelkeren op de aarde als thema van „het boek van de verwekkingen van Adam, de mens“, Kampen 1992, S. 24.
1.Christfest, 25.12.2022, Stadtkirche, Kolosser 2,3.6-10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Tag der Geburt des Herrn - 25.XII.2022
Kolosser 2,3.6-10
Liebe Gemeinde!
Sonntag und Weihnachten – in dieser Reihenfolge: Das Leben, das den Tod besiegt, ist heute geboren worden! … Mehr Wirklichkeit und mehr Verheißung kann in einem Satz nicht zusammenkommen. Ein größeres Fest lässt sich nicht feiern als an diesem Tag, an dem Beginn und Vollendung gemeinsam begangen werden wollen.
Die Geburtsgrotte in Bethlehem ist ja schlicht der Eingang zum 11 Kilometer, 33 Jahre und eine Lebens-, Leidens- und Todesgeschichte entfernten Felsengrab von Jerusalem, in dem eine neue, … eine Geburt für die Ewigkeit geschah. Ohne den seit Pfingsten allwöchentlich begangenen Tag der Auferstehungsfeier wäre unser heutiges irdisch-historisches Geburtsfest Christi gewiss niemals in die christliche Liturgie aufgenommen worden. Und daher dürfen wir Weihnachten heute endlich einmal wieder so feiern, wie es ursprünglich gemeint war: Als österlich durchglühtes Fest der Inkarnation, … als den Tag, von dem an es dem Fleisch – also der physischen, organischen, konkreten Menschennatur, die Jesus von Maria annahm – bestimmt war, zu jenem unverweslichen Leib zu werden, der die persönliche Wirklichkeit des Auferstandenen ist. ———
Allerdings ist gerade diese Verbindung zwischen dem obdachlosen Säugling in Bethlehem -also einem Allerwelts-Migrantenkind, das heute ebenso aus der Nähe von Aleppo stammen könnte oder aus Bachmut, aus dem Jemen oder der mittelamerikanischen Tristesse, aus der sie nach Norden strömen - … die Verbindung also zwischen dem bedrohten kleinen Wurm, das zwischen Hypothermie und Hunger in Bethlehem zur Welt kam und dem, den die Forschung gern den „Christus des Glaubens“ nennt, ist eine geradezu peinliche.
… Denn dass ein menschlicher Organismus – also ein reines Beispiel stammesgeschichtlich-biologischer Evolution und Adaption des homo sapiens an das heterogene Ökosystem der Erde – in irgendeiner Beziehung zu einer transzendentalen Existenzform stehen könne, das scheint nicht erst heute unbegreiflich.
Zwar werden die inzwischen die Mehrheit darstellenden Nicht-Christen weiter so tun, als sei-en die Fragen, die die moderne Naturwissenschaft hier stellt und die Zweifel, die ein geschlossen materialistisches System hier anmeldet, nun mit sofortiger Wirkung das endgültige Ende des lächerlich voraufgeklärten, des „mythischen“ christlichen Bekenntnisses.
… Doch wie wenig wissen die, die ihren heutigen Horizont für universal halten, tatsächlich vom hohen Alter und der langen Tradition ihrer eigenen Zweifel!
Es brauchte nicht die verengte Wahrnehmung einer auf reine Sinneseindrücke beschränkten Weltsicht, um zwischen dem Geborenen und Gekreuzigten und Dem, Den wir heute als den Lebendigen bekennen, einen tiefen, unüberbrückbaren Graben zu ziehen: Seit dem Sonntag, den wir Ostern nennen, ist es eine ständige, schon in Athen zu Paulus’ Zeiten (vgl. Apg17). von reinem Hohn gekennzeichnete Ablehnung des Zusammenhangs zwischen der körperlichen und der spirituellen Gestalt Christi, die das Evangelium weckt.
Heute, weil alles auf’s Physische reduziert ist; damals, weil nur das Metaphysische zählte.
Wo die Moderne nur Greif- und Messbares anerkennt, verneinte die Antike gerade dieses, denn philosophisch gültig schien den körperskeptischen Alten einzig das geistige Reich der Ideen, wohingegen uns geistfernen Naturalisten nur das wissenschaftlich Eingegrenzte dingfest vorkommt.
Doch beide Ansichten sind wirklichkeitsferne Reduktionen.
Der Marxist, der lehrt, dass Leben einzig im angemessenen Stillen der physischen Bedürfnisse bestehe, ist genauso ein halber Mensch wie der Buddhist, der hofft, dem Kreislauf des Brauchens, Begehrens und Befriedigens zu entkommen, um endlich zur Freiheit zu gelangen. Im Menschen ist vielmehr beides angelegt: Das stoffliche und das geistige Angewiesensein, … der nackte Hunger und die seelische Aufnahmebereitschaft.
Die Menschenwürde ist es, dass er vom Brot lebt und vom Wort!
Und damit treten wir zur Krippe, in der beides liegt: Das Wort Gottes und das Brot des Lebens … und zwar ungetrennt und unvermischt im Körper eines kleinen Kindes.
Denn das ist das Dritte, was die Weisheit und die Kritik der philosophischen wie der wissenschaftlichen Schulen der Menschen übertrifft: Nicht Weizenmehl findet sich da und nicht die Zeichenfolge der Buchstaben und Laute und doch Der, Der uns an Leib und Seele mit Sich Selbst erfüllen kann.
Was für ein seltsames Wunder, das zugleich die uralte und die allerjüngste Weltanschauung der Menschen herausfordert. „Zu primitiv!“, ärgern sich die Alten: „Der sublime Gottesgeist als reales Menschenkind?“ – „Zu spekulativ!“, ärgern sich die Modernen: „In einem realen Menschen den abstrakten Gott zu sehen?“
Doch die Gemeinde, die da so paradox von zwei Seiten die Größe ihres einen, versöhnenden Mittelpunkts bestätigt sieht, kann sich daran nur freuen: Zerreißt es auch der Rest der Menschen lieber, um in der je eigenen, ihnen geheuren Hälfte der Wirklichkeit ungestört zu verharren, so ist das Geheimnis des Christus-Ganzen, der Ganzheit in Christus doch zu herrlich, um es bestreiten und zerstören zu lassen.
Die Zeit der Pandemie hat es uns ebenso gezeigt, wie jetzt die Kriegszeit, wieviel Unheil in der säuberlichen Zergliederung und Zerstückelung unserer Wirklichkeit liegt: Wo man nur die Gesundheit des Leibes schützte, kam der Mensch seelisch zu kurz; wo man nur die Reinheit seines Gewissens retten will, opfert man dem pazifistischen Seelenheil das Leben anderer Menschen.
Es müssen um des fleischgewordenen Wortes willen immer beide Seiten in der christlichen Gemeinde zusammenkommen, um das weihnachtliche und österliche Wunder zusammen zu halten: Dass das Kind, das die schmutzstarrenden Hirten mit ihren reinen Herzen und ihrer Ziegenmilch beschenkten, zugleich der König ist, den die durch ihn erleuchteten Weisen für seinen Leidensweg und Siegeszug mit Gold, Weihrauch und Myrrhe ausrüsteten.
Leib und Seele, das Unmittelbare und das Reflektierte, Gefühl und Gedanke sind durch die Inkarnation, die zur Auferstehung führt – die Geburt, die Ostern bringt – schlicht und ungeschieden und unverbrüchlich verbunden. ———
An der Sollbruchstelle, die das eine vom anderen separieren will, hat indes schon Paulus sich abgemüht.
Er konnte nicht zulassen, dass bereits die ersten Taufanwärter für sich eine fundamentale Unterscheidung trafen: Den vergeistigten Christus – das jenseitige Ideal eines Übermenschen, den sie mal mehr jüdisch als den perfekten Frommen und Gerechten, mal mehr griechisch als den leidenschaftslosen Philosophen in der Sphäre der reinen Theorie, der vollkommenen Wahrheitsschau deuteten … –, den wollten sie gerne als ihr Über-Ich, als ihr Maskottchen, als ihren Avatar, ihren virtuellen Stellvertreter akzeptieren. In die Nachfolge dieses rein spirituellen Idols gliederten sie sich je nach Schule oder Sekte schon in den allerersten Gemeinden gerne ein.
… Dass aber diesem früh entwickelten Christusbild in der Wirklichkeit der vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Heilsereignisse eben gerade kein Bild, keine Projektionsfläche, sondern ein echter Mensch entspricht, das blendeten viele von Anfang an lieber aus.
„Lasset uns Christus machen nach unserem Bild“, lautete ihr instinktiver Vorsatz.
Doch gerade dieser Versuch läuft dem Weihnachtswunder und dem Osterziel genau zuwider: Gott, Der den Menschen nach Seinem Bilde schuf, hat damit die Gottähnlichkeit jenem Geschöpf eingestiftet, zu dem Er selbst zu werden bereit war. Dass das Geschöpf aber auch das wieder besser zu können glaubt, … dass es Gott nicht gar so menschlich, sondern viel lieber den Menschen in Christus nach eigenem Gusto noch göttlicher machen würde, das ist die alte Sünde im neuen Gewand des neuen Glaubens.
Der rein himmlische, transzendente Christus, den sich die Menschen gerne denken und ausmalen, … der Gott, der als Mensch nach den Vorstellungen der Menschen etwas weniger Mensch und dafür etwas stärker Gott sein sollte: Ist das nicht schon wieder das goldene Kalb?
Alle die vom Menschenwahn geschaffenen Christusse – der entrückte byzantinische Herrscher-Christus, … der auf russischen Ikonen abgebildete „Zar aller Zaren“, dessen götzendienerischer Patriarch heute wieder im Kriegsrat des Kreml thront, … der arisch antibiblische Christus unserer Großeltern, … das allgemein moralische und korrekte, von jedem freiwillig erlittenen Schmerz, aber auch jeder richtenden Autorität unüberbrückbar weit entfernte, woke Weichei der heutigen a-theologischen Kirche … sie alle sind törichte Abgötter, geformt nach den Trends und Theorien, den Moden und Marotten ihrer jeweiligen Zeit.
Doch das Kind in der Krippe von Bethlehem, der kleine jüdische Knabe, der am achten Tag als Sohn von obdachlosen Reisenden beschnitten wurde, der dann als Fremdling in Ägypten zusah, wie die Eltern sich durchschlugen, der in der galiläischen Heimat die stillen Jahrzehnte seiner Alltäglichkeit verbrachte, der drei Jahre des harten Wanderprediger und Wunderheilerlebens bestand und dann in weniger als fünf Tagen vom Liebling zum Sündenbock der Stadt Gottes wurde, der Märtyrer, den man auspeitschte, folterte und langsam zu Tode quälte, der Gleiche, lebenslichtleuchtend als Auferweckter mit berührbaren Wundmalen an Händen und Füßen, der segnende Kyrios, der in die universale Gegenwart Gottes aufgenommen worden ist, der weihnachtlich-österlich - als Fleisch aus Maria und ewiges Wort Gottes - im Heiligen Geist jetzt hier unter uns Gegenwärtige, Der ist in alledem nicht das, was jedermann aus Ihm machen mag, … Er ist und bleibt stattdessen einfach und ganz Er selber.
Und auch wenn die Philosophen und die Materialisten das nicht zugeben können, dass Jesus der wahre Mensch bleibt und dass es sich in Bethlehem und auf Golgatha und im Gartengrab genauso wahrhaftig ganz um Gott handelt, so gilt doch das Beharren des Paulus, dass gerade und nur so alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis – der Sophia und der Gnosis im Griechischen, der sapientia und scientia auf Latein – in Ihm verbunden sind:
… Dass es bei diesen Reichtümern, bei dieser psychosomatischen Erfahrungsfülle um nichts Theoretisches, Abstraktes, Ideales gehen kann, das wird jedem klar sein, der je wirklich einen neugeborenen, einen leidenden und sterbenden Menschen oder im Vorgriff einen erlösten, einen losgelassenen, einen seligen Menschen wahrnehmen konnte.
Die wirklich nötige Erkenntnis, was das Elend und was das Glück der Menschen ist, … die wirklich notwendige Wissenschaft, die das Eine zu mindern und das Andere zu fördern hilft, … die wahrhaft menschenwürdige und menschenfreundliche Anschauung und Praxis, die am weihnachtlichen Anfang Jesu und an Seinem österlichen Ziel ihre Maßstäbe und Motive des Ernstnehmens der Liebe zu allem Leben und der Hoffnung für jeden Sterblichen gewinnen, die sind eben tatsächlich nie und nimmer so klar, so echt und so tief zu begreifen wie dort, wo Jesus Christus uns Glaubende prägt.
Jesu Leben ist die Schule allen Lebens.
Jesu Leben ist die Therapie für alles Leid.
Jesu Leben ist die Verarbeitung und Bewältigung aller menschlichen Schuld.
Jesu Leben ist das Verheißungspotential des gesamten Menschengeschlechtes, in dem die Seinen wurzeln, gründen und leben.
Andere Faktoren können neben dieser Fülle nicht wirklich ins Gewicht fallen: Die jeweils zu verschiedenen Zeiten verschiedenen Brennpunkte und Hauptschauplätze der wunderbaren und erschreckenden Macht des menschlichen Forschens und der menschengemachten Technik kommen an die Dichte und an die Universalität, an das Existentielle und an das Konkrete des lebendigen Leibes Jesu nicht heran. Er umfasst alle. Verbindet sie. Erhält und heilt sie, durchströmt und löst sie von allen Lasten, Fesseln und Gewalten.
In Seiner Menschheit und Gottheit ist allen alles gegeben, was Leib und Seele in Zeit und Ewigkeit brauchen.
Das verbindet uns an diesem sonntäglichen Weihnachtsfest in einer Zeit der weltweiten Passion restlos untereinander.
In unser Vertrauen auf den Menschengewordenen und Auferweckten schließen wir darum unverbrüchlich gerade die ein, die in diesem Augenblick unterm Krieg, unter der Kälte, unter den Verheerungen, die wir an der Natur verüben, so bitter leiden müssen, ebenso wie die, deren Dasein von starrem Unrecht, ständigem Mangel, steigender Aussichtlosigkeit seit Jahr und Tag ausgepresst wird.
Die Fülle Gottes, die leiblich in Jesus verkörpert und greifbar bleibt, ist grenzenlos: Ihre immanente Wirklichkeit in der uns verwandten und zugänglichen Menschengestalt ist unerschöpflich und allumfassend. Wo sie noch nicht spürbar verwirklicht ist, wird sie es werden. Wo sie noch nicht ungehindert wirken kann, wird es nicht dabei bleiben. Wo sie nur teilweise begegnen kann, werden ihre Ansätze und Bruchstücke sich zum großen Ganzen fügen.
Am heutigen Weihnachtssonntag nehmen wir darum für Ost und West und Nord und Süd, im Namen der Feiernden wie im Namen der Klagenden, … nehmen wir Wenigen hier für alle in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stellvertretend Teil an einer Vollkommenheit, die ohne Abbrüche, ohne Leerstellen sein wird.
Und darum wollen wir hier im Westen mit Worten des Ostens das besingen, was alle Erkenntnis noch übersteigt, was der mängellose Reichtum und die vollständige Wirklichkeit des zur Erlösung geborenen Lebens ist, … mit Worten des unvergleichlichen ostkirchlichen Hymnendichters Romanos, genannt „der Melode“[i]:
„Bethlehem öffnete Eden, / kommt hierher, lasst uns schauen!
Wir haben den Überfluss im Verborgenen gefunden; / kommt hierher, lasst uns empfangen
die Gaben des Paradieses im Inneren der Höhle!
Dort zeigte sich die nicht bewässerte Wurzel, die die Vergebung hervorsprießen ließ.
Dort fand sich der nichtgegrabene Brunnen,
aus dem einst David zu trinken begehrte.
Dort stillte die Jungfrau, da sie ein Kind gebar,
sogleich den Durst von Adam und David.
Deshalb lasst uns dorthin eilen, wo geboren ward
ein kleines Kind, der urewige Gott!“
Amen.
[i] Zitiert nach: Maria H. Duffner, Romanos der Melode: „…denn für uns wurde geboren ein kleines Kind, der urewige Gott“. Gedanken zu einem alten griechischen Weihnachtshymnus, Gersau 2001, S.17.
1.Advent, 27.11.2022, Stadtkirche, Offenbarung 3,14 - 22, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent - 27.XI.2022
Offenbarung 3, 14-22
Liebe Gemeinde!
„Beglänzt von seinem Lichte, / hält euch kein Dunkel mehr …“ (EG 16,4)
… Kein Dunkel hält dich mehr, Kiew! Keine Dunkelheit mehr über dir, Cherson! Keine Verdunkelung in den Dörfern und Städten ohne Strom und ohne Wärme zwischen Lwiw, Odessa und Charkiw!
„Beglänzt von seinem Lichte, / hält euch kein Dunkel mehr …“ ——
Jerusalem hat die Tore weit gemacht, als der König der Ehre einzog!
… „Kein Dunkel mehr“.
Rom allerdings hat das andere Tor geöffnet, das sog. „Schaftor“ (Neh.3,1), durch das Gottes Lamm zur Kreuzigung gezerrt und draußen vor der Stadt begraben wurde. Doch auch diese letzte Tür, die Tür ohne Griffe oder Innenriegel – die Grabestür, die außen von Soldaten unter Verschluss gehalten wurde – hat nicht geschlossen! Sie wurde aufgesprengt.
… „Hält euch kein Dunkel mehr …“! ——
Warum ist es dann aber so dunkel in der Welt?
Woher das Dunkel in diesem November eines europäischen Kriegsjahres, in diesem ersten Adventsgottesdienst einer Notzeit auf Erden, die sich lang zusammengebraut hat in den Schatten, die man gerne übersah und die nun wirklich vor aller Augen als große Finsternis steht?
Wie kann es solche Dunkelheit geben, … da wir gerade doch vom Licht des kommenden Friedens für die Ukraine berührt wurde, … da wir gerade doch vom Leuchten des sanftmütigen Helfers auf dem Esel vor Jerusalem erfasst waren, … ja, da wir gerade doch vom Osterlicht des offenen, leeren Grabes her die Todesnacht im Morgenrot vergehen sahen?!
Wie kann es noch so dunkel sein, wenn es doch über Kiew und Jerusalem und über dem Totenacker leuchtet?
Nun, das steht in dem Brief: In dem Brief, den der treue Zeuge geschrieben hat, dessen Name „Amen“ heißt und der also mit seinem ganzen Dasein das beglaubigt, was man wirklich nicht glauben will. Der Zeuge schreibt einen Brief, dessen Annahme die Adressaten wohl verweigern würden. Deshalb bringt der Bote diesen Brief auch nicht zu Händen der Angeschriebenen und der Beschriebenen, sondern er lässt sich den Empfang der Botschaft bestätigen durch den guten Geist, der auch die stumpfesten Botschaftsverweigerer und Anti-Zeugen doch nicht verlässt. Der Engel der Gemeinde nimmt entgegen, was der treue und wahrhaftige Zeuge geschrieben hat, mit dem die Schöpfung Gottes anfing und dessen Wort daher die Wirklichkeit von Anfang bis Ende aufklärt. Der Engel, der die Gemeinde – die entgeistert wäre, wenn sie sich sähe – nicht verlässt, akzeptiert die Sendung des Gesandten an die Gesammelten.
Der Brief, der aufklärt, wodurch das Dunkel trotz des Lichtes blieb, ist also angenommen.
Die Offenbarung des Johannes ist das Verzeichnis aller dieser unverlorenen Einschreiben der Wahrheit. Und so umfasst die Bibel die Liste der Adressaten der Adventsschreiben Gottes, die zu Händen der Seele Seiner Gemeinden gehen, auch wenn der Verstand und Stolz und Eigensinn der Gemeinden steif und fest behauptet, die Angesprochenen seien unter dieser Adresse unbekannt. Aber die Seele der Gemeinde, ihr Engel hat’s quittiert. Es ist eingetroffen, was Gott durch den wahren Zeugen ausrichtet. Es steht da schwarz auf weiß: Der Engel der Gemeinde von Laodizea, dem das letzte der sieben Sendschreiben der geheimen Offenbarung gilt, hat es nicht abgelehnt, nicht unterdrückt, nicht in den Reißwolf gegeben. Der Brief an die Laodizeer ist erhalten[i].
… Ihre Postleitzahl ist 40489. Und die angrenzenden Bezirke.
Denn Laodizea – ob wir’s wollen oder nicht, und ohne irgendeine vermeintlich unparteiische Anklagehaltung – … Laodizea ist hier; Laodizea sind wir: Gleichgültig, sorglos und vollkommen in Illusionen verstrickt.
Man kann es natürlich auch netter sagen, weshalb wir diesen apokalyptischen Liebesbrief zusammen mit den wohlhabenden, zufriedenen und doch so radikal sich selber täuschenden Laodizeern empfangen, … diesen Brief, in dem das zu Recht verpönte Erziehungsprinzip des weisen Salomo – „Wer seinen Sohn lieb hat, der züchtigt ihn“ (Sprüche 13,24b) – zu unserer Empörung auch auf uns reife und mündige Christenmenschen angewendet wird: „Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich“, heißt es in dem pädagogisch fragwürdigen, aber fraglos ernsthaft emotionalen Brief Gottes an uns, … die bürgerliche Mitte?!
Man kann es netter sagen, weshalb wir in der Krise nun auch noch eine blaue Epistel vom Himmel, einen Mahnbrief also erhalten, obwohl wir doch das ganze Malheur der Zeit weder allein verursacht haben noch bewältigen können.
Warum?
Weil Gott, der Treue und Wahrhaftige sich Sorgen macht über unsere emotionale Störung! Gott rüttelt an uns, die wir so ungerührte, so bornierte Leute sind, die mit ihrem vermeintlichen Überfluss die völlige Leere verdecken, die in ihnen herrscht.
…. Das Leben der Welt, die Zukunft der Kinder, die Hoffnung des Heils, die Wahrheit des Wortes … alles wankt und bröckelt, alles schmilzt und verweht uns ja. Aber das historisch tatsächlich erdbebenerprobte Laodizea[ii] schüttelt die Katastrophen immer wieder ab und vertraut darauf, dass es über einen derartigen Wohlstand verfügt, dass das Leben vor Ort schon weitergehen wird.
Und tatsächlich: Es geht weiter. Der Ort, der zu den illustren Städten Kleinasiens zählt, berühmt durch die dort gewalkte und gewebte schwarze Wolle, schafft es durch Kommerz und Technik und Eitelkeit sich lange gegen eine unruhige Erde und eine stürmische Zeit zu behaupten.
…. Und das christliche Laodizea einst dort und heute hier ist gar nicht mal verstohlen froh, dass man so sicher da- oder zumindest wieder aufsteht: Die Infrastruktur und das Geschäft sind auch für die Getauften die ersten und die wichtigsten Garantien. Obwohl der Vordere Orient tektonisch wackelt, obwohl die Pax romana, die Friedensordnung des Welt-reichs merklich brüchig wird, obwohl das Leben der meisten in der Menschenmasse physisch wie psychisch fragwürdiger und fragwürdiger wird, sagen wir Laodizeer doch: „Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts!“, weil unser Lebensstandard ja nur angegriffen, aber noch nicht verloren ist und alle unsere Gewohnheiten zwar auslaufen müssen, aber noch vorwärtstaumeln, wie der Läufer, der nach der Ziellinie nicht abrupt stillstehen kann, sondern torkelt bis er kollabiert. … Wir haben alles noch und geben es auch nicht auf: Das Öl, das Gas, das Wasser, das Geld, den Luxus und das Brot, um die uns viele beneiden. … Uns geht’s doch noch „Gold“, sagen wir Laodizeer. „Wie hoch ist schließlich - glücklicherweise - auch wenn’s an’s Klagen geht unser Niveau noch immer!“
Und genau diese Betäubungs- und Verdrängungskunst von Laodizea, diese irgendwo zwischen Blindheit und Bosheit, Wahnsinn und Primitivität schaukelnde Unfähigkeit, die Wahrheit und den Weg, den sie erfordert, einzusehen, bereitet Gott Kummer und Zorn im Blick auf uns, … einen Zorn und einen Kummer, die im furchtbarsten, drastischsten Bild gipfeln, das überhaupt in den Gemeindebriefen, den Seelensendschreiben der Offenbarung begegnet: Es ist das Bild vom Ausspucken. … Buchstäblich sogar noch ein grässlicherer Vorgang.
Die emotionale Störung, die seelische Selbstverstümmelung, die weder wirkliche Angstschauder noch glühende Zuversicht zulässt, sondern bloß geschmacklosen Gleichmut, … dieser morbus laodicensis, … dieses unter uns chronische Wohlstandssyndrom: „Was geht’s uns schon an, wie’s andern geht, wenn’s uns noch so geht?!“ … die sind für Gott zum Kotzen!
Für Gott, Der Sich der ganzen Welt zum Lebensmittel Brot, … Der Sich der ganzen Welt zum Lebensbrot gegeben hat, ist es ganz einfach ungenießbar, wie gleichgültig und realitätsfremd und selbstgenügsam solche wie wir sind: Solche Lauigkeit, so dumpfe Egalität zwischen Hassen oder Lieben, zwischen Jubeln oder Zittern, kann Gott nicht aushalten, … für Ihn ist sie völlig unbekömmlich, … sie schadet Ihm im Innersten.
Das ist die schreckliche, die wermutbittere Wahrheit über die teilnahmslose und also leidenschaftslose und in beidem doppelt glaubenslose Weltanschauung, die in Laodizea-Düsseldorf auch Christen hegen: Sie dreht Gott den Magen um, … Er bricht, … zerbricht an ihr beinah.
Und darum fleht Er in Seinem Brief an uns, dass wir von der wertlosen Materie, die unser Wertmaßstab ist, zum wirklich Wertvollen kommen!
Dass wir uns lösen vom nackten Egoismus, den wir unter all unserm Stoff doch nicht bedecken können, und reinen Neuanfang in den weißen Kleidern der Ungezählten wagen, die miteinander das Mahl des Lammes, der Gemeinschaft aus allen Nationen, Stämmen, Völkern und Sprachen feiern (vgl. Offenb.7,13).
Gott bittet uns - der Heiland bittet die Verblendungskranken! -, sich behandeln zu lassen, sich die Augen auftun zu lassen, sich das Herz im Sehen, Hören und Fühlen aufgehen zu lassen und nicht mehr zu so tun, … nicht mehr so zu handeln, … nicht mehr so zu sündigen, als reichten für uns die Mittel und die Medizinen noch.
Das ist die Drohung und die Züchtigung, die Gottes Liebe zu uns aus Sorge um uns und um die Dunkelheit, in der wir verharren und die wir verbreiten, verhängt: Er will, dass wir sehen!
… Genau das heißt nämlich Umkehr: Einsehen! Die Augen nicht mehr willkürlich verschließen. Nicht mehr ausblenden, was wir sind: „Elend, jämmerlich, arm, blind und bloß!“ …….
Dass diese Botschaft noch immer nach Laodizea gesandt werden muss - nun unter der Postleitzahl 40489 -, das liegt daran, dass sie wirklich ja eine Botschaft für den zweiten, den nachdenklichen, den einsichtigen, den bußfertigen Blick ist: Vordergründig - wir sagten es uns gerade noch selbst - sind wir ja sicher und abgesichert, sind wir reich und umsichtig und eingedeckt.
… Aber mit der Tiefe und der Weite, aus der das Sendschreiben dieser Himmelsbotschaft uns sieht, erscheint unsere Sicherheit als die Illusion, die sie ist: Sind wir es nämlich nur für uns, so sind wir es gar nicht! … Sind wir gut dran, während andere es böse haben, dann ist auf der ganzen Erde in Wahrheit nichts Gutes! Fällt uns alles zu, was anderen fehlt, dann gibt es nur Verlierer! Hoffen und planen wir, nur uns selber zu retten, dann sind wir verdammt! … ———
Und darum muss die sorglose Stadt Laodizea, die sorg-, lieb- und gottlose Stadt, in die wir gehören, nun tatsächlich Ohren empfangen, um das alles Entscheidende zu hören und Augen für das Wesentliche, die ihr hoffentlich noch aufgehen. … Damit sie sieht und hört, damit sie fasst und glaubt und sucht und findet, was der zornige und an unserer Verstockung, unserer Einbildung leidende Gott tut.
Suche Gott, Laodizea!
Suche Gott, Düsseldorf!
Kaiserswerth, suche Gott!
Zion, empfange Ihn!
… Wie? … Wie???
– Erschütternd einfach: Werde inne, dass Er dir fehlt! Dass nichts zählt und nichts hält ohne Ihn! Dass es kein Licht und keine Wärme gibt ohne Ihn! Dass man nirgends innerlich satt werden und niemals echten Frieden haben kann ohne Ihn! … Dass Jerusalem Ihn braucht, auch wenn Er, … nein, gerade weil Er nur auf einem Esel kommt. … Dass Rom Ihn braucht und Moskau, dass Kiew Ihn braucht und Teheran, dass jedes Land, jede Stadt, jedes Dorf, jedes Haus Ihn braucht in Seinem Dasein für alle, in Seinem Hunger nach uns, … Seinem Hunger danach, uns Liebe und Leben zu gewähren, die unbegrenzt sind!
Wir sind doch in Wirklichkeit so elend, jämmerlich, so arm und blind und bloß, wenn wir meinen, wir könnten und würden leben ohne Gott!
Wir müssen doch endlich wirklich spüren und bekennen, dass wir Ihn nötiger haben als alles, was oberflächlich glänzt und vorübergehend schützt und uns trügerisch befriedigt.
… Wenn wir das aber jetzt merken … in dieser grimmigen, törichten, düsteren Zeit, die „Advent“ heißt und „Advent“ ist – Wartezeit, Hoffnungszeit, Sehnsuchtszeit, Zeit, deren Spannung vorm kostbaren Ziel unermesslich wird – … wenn wir das also jetzt merken, wie Gott unserer Menschheit und Welt, wie Gott unserm Ort und unserem Leben fehlt, dann wird es uns unwillkürlich doch heiß und kalt zugleich, wenn wir nun hören, was der zornige und an unserer Verstockung, unserer Einbildung leidende Gott tut.
… Er steht vor der Tür!
Er pocht und Er pocht … wie unser eigenes Herz!
Er will zu uns kommen, will mit uns leben, will uns alle bei sich haben … trotz unserer laodizeischen Lauigkeit!
Hört Ihr’s?
Er selber, der treue Zeuge, der Amen heißt, der Anfang der Schöpfung Gottes klopft bei uns an!
…………
EG 1: „Macht hoch, die Tür …“
[i] Ein gewisses Spiel mit dem schweren Sendschreiben ergibt sich, wenn man an dieser Stelle die altkirchlich beginnende Jagd nach einem Laodizeer-Brief berücksichtigt, der in Kolosser 4,16 erwähnt wird, aber nicht im Neuen Testament enthalten ist. Der verlorene Paulusbrief wird durch das schwierige Sendschreiben nach Laodizea in der Offenbarung (als einziges enthält es gar kein Lob für die Gemeinde!) zwar nicht wettgemacht, aber immerhin gibt uns das Schreiben in Offenbarung 3,14-22 wahrlich mehr als genug zu denken!
[ii] Erste grundlegende Informationen zur Stadt am Lykos finden sich in: Neues Testament und Antike Kultur, hgg. v. K. Erlemann, K. L. Noethlichs u.a., Bd.2: Familie – Gesellschaft – Wirtschaft, Neukirchen/Vluyn 2005, S. 175f.
Ewigkeitssonntag, 20.11.2022, Stadtkirche, Psalm 16,11, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 20.XI.2022
Psalm 16, 11
Liebe Gemeinde!
Das Kirchenjahr endet stets mit einer Fuge, die zwei Themen in unterschiedlicher Weise verschmilzt: Da ist das gewaltige Thema der Ewigkeit, die in einem alten Choral als „Donnerwort“ besungen wird[i]; und da ist das leise, wehmütig klagende Thema unserer Trauer um die Toten, die uns die letzte Zeit genommen hat.
Das künftige Ende der ganzen Welt und der einzelne Schmerz im Schicksal aller Sterblichen werden also im letzten Akt unserer alljährlichen Liturgie verbunden. Mal tönt die apokalyptische Posaune, mal entrückt uns der Chor der Seligen beinah ins Jenseits, und dann wieder vernimmt man nur das traurig gedämpfte Läuten der Friedhofsglocken und die Monotonie der Erde, die die Hinterbliebenen durch den schweren Nebel ihrer Verlassenheit kaum erreicht.
Eine Fülle des Überwältigenden und eine erstickende Leere, … etwas ganz Universales und etwas völlig Individuelles fließen da also ineinander in den Motiven der allgemeinen und ausnahmslosen Vergänglichkeit und des rein persönlichen, des privaten Verlustes.
Und so ist es kein Zufall, wenn die Gemeinde eines jeden letzten Sonntags immer wieder etwas Zwiespältiges erlebt: Der eine Blick weist voraus in die Öffnung der Zukunft nach der Zeit; der andere Blick geht zurück zu dem, was nun in den Gräbern, für uns also in der Vergangenheit ruht.
Was aber verbindet diese beiden gegensätzlichen Blick- und Denkrichtungen? Was verknüpft die leidtragende Erinnerung mit der Hoffnung, die ihr Haupt erhebt? ……..
In der Liturgie ist es etwas ganz Bescheidenes. Sowohl in der Gottesdienstordnung des Ewigkeitssonntags als auch in den Texten, die für die Feier des Totensonntags vorgesehen sind, begegnet ein gemeinsamer Bestandteil: Das einzige Identische, das die beiden so unter-schiedlichen Feiern verbindet, ist bloß der Hallelujavers, der nach den jeweiligen Schriftle-sungen seinen Ort hat[ii].
… Diesen Vers aber, der die Todtraurigen genauso wie die Zukunftshungrigen im Lob Gottes vereinen will, … den sollten wir uns anschauen: Es ist der letzte Satz von Psalm 16, des ersten Psalms, in dem uns in der biblischen Gebetssammlung überhaupt eine Hoffnung über den Tod hinaus begegnet, … heißt es da doch:
„Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich;
auch mein Leib wird sicher liegen.
Denn du wirst meine Seele nicht der Unterwelt überlassen
und nicht gestatten, dass dein Treuer die Verwesung schaut.“
Und dann folgt der Hallelujavers für die Bedrückten wie für die Gespannten unter uns:
„Halleluja!
Du, HERR, tust mir kund den Weg zum Leben:
Vor Dir ist Freude die Fülle
und Wonne zu Deiner Rechten ewiglich.
Halleluja!“
Ein Wegweiserwort also, ein Spruch auf der Wanderschaft, ein Versprechen des Ankommens. Solche Ermutigungen auf der Landstraße, solche Lieder der Wallfahrt, solche Verse, die sich die Pilger oder die Flüchtlinge oder die Nomaden oder die Treibenden oder die Verirrten oder die Atemlosen oder die Gipfelstürmer oder die Dauerläufer oder die im Kreis umher Tappenden auf ihrem Gewaltmarsch, ihrer Durststrecke vorsagen, schlicht um nicht aufzugeben, … die dürfen nicht schwer sein. … Und sie sind es auch nicht!
Sie sind Wegzehrung und Kraftration, Labsal und Lockruf; sie sind hochkonzentrierte, aufbauende Stärkung für Leib und Seele, für den Mut und den Glauben.
… Vielleicht erscheinen sie uns deshalb aber auch zu einfach.
Wir meinen womöglich, in einer so furchtbaren Zeit wie heute oder in einem so tiefen Tal der Tränen wie dem unseren, müsste es weltanschaulich anspruchsvoller oder therapeutisch sensibler zugehen: Nicht ein so schlichtes Wort für den Weg hätten wir vielleicht gern, sondern eine pointierte Botschaft an die Generationen, die fürchten, die letzten zu sein, oder einen motivierenden Gedanken, der für mich ganz subjektiv zur Bewältigung meiner Traurigkeit führt. …….
… Was aber, wenn der Untergang der Welt in Krieg, Gewalt und schreiender Ungerechtigkeit und die verstörende Trübung aller unserer Grundgefühle in Kopf und Herz nicht dagegen, sondern dafür sprechen, dass uns nur noch die direkteste Einfachheit helfen kann?
… Keine zeitgemäßen Losungen, keine maßgeschneiderten Ansätze; nicht „Der Trost für 2022“ oder „Das positive Mantra nur für Dich“, sondern der herbe Klang einer Wahrheit, deren schlackenlos reduzierter, nicht weiter formbarer Kern unverändert durch die Jahrtausende überliefert wurde und uns jetzt unmittelbar angeht: Es ist die Wahrheit für Hinterbliebene genauso wie für Vorreiter. … Es ist die Wahrheit, die alle schon immer in ihrer lakonischen Nüchternheit einzigartig berührt hat. Es ist die Wahrheit: Wir sind noch nicht im Leben. …….
– „Aber das Leben, … das Überleben ist doch so schrecklich bedroht“, entgegnen uns die, die als Zeitgenossen ernstnehmen, was für eine Endzeit uns heute schlägt.
– „Aber das Leben, das Leben wie’s war ist doch längst vorbei“, entgegnen die andern, denen ein Abschied das Weiterleben schier unvorstellbar macht.
Doch der kleine Hallelujavers, der nichts bestreitet und nichts erklärt, der weder nach rechts noch nach links weicht, sondern in seiner verdichteten Form uns alle einfach weiterweist, … der kleine Hallelujavers lehrt uns sagen und dann denken und vielleicht auch verstehen und schließlich sogar glauben, dass wir tatsächlich noch nicht im Leben sind, sondern dass jeder Mensch noch unterwegs ist: Die einen holen Luft und essen und trinken und schlafen und probieren und schaffen und sündigen und machen irgendwie weiter; die andern sind ganz still, haben vielleicht die Hände gefaltet, liegen in der Erde und werden wieder zu Staub oder sind durch das Feuer wieder zu Asche geworden.
So ist das, sagt der Hallelujavers. Es ist schrecklich und manchmal verstörend; oft ist es aber auch gewöhnlich und man spürt es kaum. Doch ob so oder so: Ihr sollt wissen, ihr sollt darauf vertrauen, sagt der Hallelujavers, dass die einen wie die andern nicht zurückbleiben und auch nicht zuvorkommen. Sondern hier wie da, auf der Erde in der Zeit und auch da, wo das Zeitzählen aufgehört hat, geht der Weg weiter. Der Weg, den der HERR uns allen gemeinsam kundtut, … der wirkliche Weg, … der Weg zum wahren Leben. ——
– Pfui, hört man da einwenden. Wollt ihr wirklich immer noch den Leuten erklären, dass es eine andere Realität gebe als die messbare und von uns beherrschte Immanenz?! Wollt ihr immer noch den Leuten weismachen, es käme etwas danach, etwas Besseres, Schöneres, Echteres?
… Nein. Das will ich gar nicht.
… Mich würde es letztlich schon überfordern und endgültig aus der Fassung bringen, wenn ich auch nur meinen eigenen Kindern erklären sollte, dass das, was viele Menschen hier erleiden, tatsächlich das Leben sei. Wenn ich erklären sollte, dass das, was man zur Zeit erlebt und das, was sich abzeichnet, die endgültige und unveränderliche Wirklichkeit darstellt, wäre ich mit meinem Latein und meiner Logik sehr schnell nämlich am Ende. Wenn ich ernsthaft vermitteln müsste, dass die Schrecken dieses Daseins endgültig sind und alle Schuld der Menschheit unverzeihlich ist und unverziehen bleibt und dass alles Sterben das letzte Wort bedeutet, dann würde ich mein Lebtag lieber schweigen wie ein Grab, als irgendetwas von alledem als gesicherte, gültige und bleibende Erkenntnis zu vertreten, die man nicht für die Schule, sondern für’s sogenannte „Leben“ gewinnen soll.
… Weil es aber ja so ist, … weil wir in einem Zustand existieren, der für viele ein Albtraum ist und für andere eine Illusion, darum bin ich von ganzem Herzen dankbar, nicht berufen zu sein, diese trostlosen Verhältnisse eins-zu-eins festzuhalten und weiterzugeben, sondern zwischen Erinnerung und Hoffnung einen Hallelujavers weiterzutragen, der sagt: „Der HERR tut mir kund den Weg zum Leben.“
Diese fortdauernde, diese weitergehende Offenbarung Gottes ist es, die das, was noch nicht erschienen, aber verheißen ist, unter uns wachhält. Die Botschaft vom kommenden Leben verdankt sich also keiner alten, längst überwundenen Vertröstung- oder Verdummungsstrategie der Christen, sondern sie ist Gottes akut unabgeschlossenes Schöpfungs- und Erlösungswerk.
Gott sucht noch immer nach und Er führt noch immer auf Wegen, die allen Seinen Kindern und Geschöpfen wirklich und bleibend das Leben eröffnen werden.
Es ist noch nicht abgeschlossen oder vorüber, was mit Seinem „Es werde Licht“-Ruf begann und durch das „Siehe, es ist sehr gut!“-Urteil bekräftigt wurde.
Es ist immer noch der große Exodus aus dem Nichts in das Sein, aus der Gefangenschaft in die Freiheit; es zieht immer noch das Volk, das im Finstern wandelt, durch die Nacht dem Licht entgegen. Und Er ist immer noch unterwegs, der überall die Verstockten und Verstoßenen, die Kranken und die Hoffnungslosen, die Tauben, die Lahmen, die Blinden, die Verlorenen und die Sterbenden ruft: „Folge mir nach!“
Noch immer geht Er voran, auf dem Weg zum Leben, auf dem Er selber das ganz große, das ganz schwere, das ganz erdrückende Kreuz getragen hat.
Er geht durch die Feindschaft aller Zeiten und durch die Leiden jeder Generation. Er geht auf dem Kreuzweg der irdischen Geschichte an keinem einzigen Menschen vorbei, sondern sammelt uns sämtlich in Seiner Nachfolge. Er will, dass Du Dich ihm anschließt, und Er ruft unsere Liebsten genauso wie unsere Feinde und alle uns Unbekannten. „Kommt, ich erkunde den Weg zum Leben vor Euch her“, ruft Er den Menschen unserer hasskranken, pessimismusvergifteten, in tatenlos apathischem Weltschmerz versackten Gegenwart zu.
„Kommt: Auch Euren Weg zum Leben finde ich, und darum schließt Euch mir an unter Schmerzen, in der Erschöpfung, im Sterben“, hat Er unsere Toten gerufen.
Und so zieht Er als unser aller Kundschafter voran, bahnbrechend und unaufhaltsam selbst durch den Tod. Er zieht voran, weil Er der Weg ist und die Wahrheit des Weges und das Ziel des Weges: Das Leben (vgl. Joh.14,6)! ———
Doch weil Er voranzieht, weil Er selbst erprobt und aushält, erleidet und zurücklegt, was der Weg durch die Zeit und die Welt bedeutet, darum ist uns nicht alles an Ihm klar. Er geht ja vor und wir können Ihm noch nicht ins Gesicht blicken. Wir können noch nicht alles aus Seinen Zügen lesen, was wir an Antworten suchen; wir können Sein Bild, nach dem wir geschaffen sind, noch nicht entschlüsseln und so unsere eigenen Rätsel aufklären.
Wir müssen vertrauen, dass Sein Weg tatsächlich jeden Menschen, die Geborenen und die Gestorbenen schließlich zum Leben führt und dass wir – wenn es erreicht ist und wir Ihm von Angesicht zu Angesicht begegnen – tatsächlich Freude die Fülle und Wonne vor Ihm finden und unter Seinen Augen teilen werden. ——
Wir können und wir dürfen also nur vertrauen auf den Inhalt des Hallelujaverses, der am Sonntag der ewigen Zukunft und beim Gedenken an die Verstorbenen so unendlich Großes in so eindrücklicher Kürze verspricht.
… Wir müssen vertrauen; wir können nicht wissen, dass das wahre Leben uns erst noch bevorsteht.
… Und doch ist dieses Nicht-Wissen, diese Nicht-Kenntnis, dieses schlichte Sich-Einlassen und Festhalten am uralten Bekenntnis ungleich lebenströstlicher schon hier und heute als aller Vorzug für den Zweifel und alles Zögern vor dem Glauben:
Wie sollten wir unsere Kinder in diese Welt, die vor ihnen liegt, schicken und wie sollten wir unsere Toten verabschieden, wenn sie diese Welt wieder verlassen, ohne das Vertrauen auf den Lebensweg und das Lebensziel des kleinen Hallelujaverses?!
Welche Zuversicht, welche Bereitschaft zu gutem Tun und guter Hoffnung, welche Stärkung in schwerer Not und letzter Notwendigkeit gäbe es, wenn wir nicht auf den Weg Gottes setzten, der unserer Tränen in Freude und alles Unheil der Welt in himmlischen Jubel verwandeln wird?! ——
… Und selbst wer keine Nachkommen mehr in die Zukunft entlassen und keine beklagten Toten mehr in dieser Zeit zurücklassen muss, hat doch die Verantwortung und die Wahl für ein Geschöpf, das ohne das Zutrauen zu Gottes Ziel die Orientierung schwer halten und also eine menschlich-fröhliche Haltung schwer bewahren wird: Das ist die Seele – Deine Seele! –, die die Alten früher bei der Empfängnis wie beim Scheiden aus der Welt im Bild eines kleinen Kindes darstellten.
Lassen wir also doch auch die eigene Seele nicht ohne den Trost und ohne die Wegweisung des heutigen Hallelujaverses durch die Zeit ziehen!
Geben wir der eigenen Seele doch Teil an der Kraft und Ermutigung, die in der Nachfolge Jesu aus dem Glauben an Gottes Weg zum Leben fließen.
Stimmen wir in unserer Trauer wie in unserer Hoffnung also ein in das Lob Gottes, das sie beide verbindet, weil es über beide hinaus auf das herrlich Kommende und ewig Bleibende weist!
„Halleluja!
Du, HERR, tust mir kund den Weg zum Leben:
Vor Dir ist Freude die Fülle
und Wonne zu Deiner Rechten ewiglich.
Halleluja!“
Amen.
[i] Der berühmte Choral „O Ewigkeit, du Donnerwort“ von Johann Rist stand im alten EG unter Nr. 324 bezeichnenderweise in unmittelbarer Nachbarschaft (Nr. 325) zu einer bewussten Kontrafaktur, die ein halbes Jahrhundert jünger und ganz anders gestimmt war: „O Ewigkeit, du Freudenwort“ von Kaspar Heunisch. Schon hier zeigt sich die gegensätzliche Dynamik dessen, was am letzten Sonntag des Kirchenjahres unter dem gemeinsamen Nenner des „Eschatologischen“, also der „letzten Dinge“ betrachtet und verkündigt werden muss.
[ii] Im neuen Perikopenbuch (Lektionar) von 2018 findet sich der gemeinsame Hallelujavers beider Gottesdienstformulare auf den Seiten 533 für den Ewigkeitssonntag und 539 für den (dort auch so bezeichneten) „Totensonntag“.
Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 06.11.2022, Stadtkirche, Lukas 17, 20 - 24, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Drittletzter So. - 6.XI.2022
Lukas 17,20-24
Liebe Gemeinde!
Eine der hübscheren Eigenarten unseres Kirchen-Jargons ist seine ausgeprägte Vorliebe für das Rund. Alles ist bei uns ein Kreis: Der Bibelkreis, der Jugendkreis, der Flötenkreis, der Gesprächskreis, der Bastelkreis und der Besuchsdienstkreis, der 3.Welt-, der Männer- und der Frauen-Kreis; ja, unsere Kirche selbst sieht sich ein wenig wie Platon den Urmenschen … als ursprüngliche Kugelgestalt[i], die in der Kreissynode am nächsten Wochenende wieder vollständig - rund und schön - zusammenkommt.
Doch weshalb ist die christliche Sprechweise so hartnäckig einfallslos auf den Zirkel abonniert, wenn sie etwas benennen will, dass in anderen Organisationsformen eher eine „Grupe“, ein „Komitee“, ein „Team“ oder meinetwegen ein „Rat“, ein „Treff“, ein „Trupp“ genannt würde?
… Reine Gedankenlosigkeit wird es vielleicht ja nicht gewesen sein, dass nach den von frühen Verboten und späteren Zwängen geformten christlichen Vergesellschaftungsmustern nicht etwa der lose Geheimbund und auch nicht die streng hierarchische Gliederung einer von oben nach unten verfassten Struktur übriggeblieben sind, sondern alles in die archimedische Konstante drängte, in der Umfang und Durchmesser ein unveränderliches Verhältnis haben: Die berühmte Zahl „Pi“. Ein Kreis jedoch wird gar nicht grundlegend durch die Zahl „Pi“ bestimmt, sondern noch einfacher: Durch seinen Mittelpunkt. Nur wo ein solcher ist, entsteht auch ein Kreis. Wenn der Zirkel an verschiedenen Stellen haftet und der Bogen von mehrfachen Punkten aus geschlagen wird, ergeben sich blasenartige, wolkige oder pockige Formen. Es sieht aus wie Froschlaich oder Erbsensuppe. Es ist alles Mögliche drin. Aber es ist kein Kreis.
Nur der Mittelpunkt also bestimmt den Kreis! ————
Das wollen wir uns merken, wenn wir jetzt ins Durcheinander, in das Chaos hören, das da entflammt, wo Menschen über das Ende der Zeit nachdenken.
Bei der Zeit scheint es sich ja umgekehrt zur Geometrie des Kreises zu verhalten: In der Zeit, die zwar aus lauter „Zeitpunkten“ besteht, sind doch alle diese Tupfer gleich wichtig oder unwichtig, weil sie alle bloß die Linie fortsetzen, den Zeitstrahl schlicht verlängern. Von allesentscheidender Bedeutung auf dieser Achse sind lediglich zwei Punkte, die gerade nicht von einer Mitte ausgehen: Der Anfang und das Ende eines Einzellebens oder auch der Universalgeschichte. Erst wenn man diese beiden hat, kann man nachträglich eine Mitte dazwischen ausrechnen.
… Und darum – weil man bei der Zeit nie genau weiß, wo man ist – ist die Frage nach ihr eine so aufreibende. Wenn wir noch ganz lange vor uns sähen, hätten wir vielleicht in Vielem die Ruhe weg. Wenn wir aber befürchten müssen, dass das Finale, das Zeichen des Endes ganz direkt bevorsteht, dann kommt Hektik auf, … Panik vor dem Schlusspunkt. Und dann fragen die Leute sich oder die Sterne oder die Wissenschaft oder das Bauchgefühl oder ein Medium oder die Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie viel noch bleibt und woran man erkennen kann, dass es alsbald aus sein wird. „Herr Doktor, wie lange noch?“ … „Greta Thunberg, schlägt es schon Zwölf?“ … „António Guterres, ist’s nicht zu spät?“ … „Väterchen Vladimir, wir drücken auf den großen, letzten Knopf, не так?!“ ——
Ach, wenn man doch nur die Zeit und ihre Punkte besser bestimmen könnte und dann zur Mitte und zur Klarheit fände!!! – Doch das konnten wir noch nie!
Und darum ist das Rätseln über die Zeichen der Zeit, über ihren Restbestand und ihr irgendwann unumgänglich plötzliches Abbrechen seit Jahrtausenden lebendig.
Zu Jesu Erdenzeit zuckte und schwirrte es also auch durch die Gemüter: „Endet nicht bald die Römerherrschaft? Steht nicht das Zeitalter des Messias bevor? Wird die Macht des uns täglich bedrohenden Todes endlich vergehen? Sind wir vielleicht die Zeugen des Durchbruchs der neuen Welt der Erlösten?“ … so trieb es das Volk in Galiläa, Samarien und Judäa, in Kapernaum, in Bethanien und Jerusalem um. „Wann wird’s geschehen? Ist jetzt nicht der Augenblick? Hat sich nicht alles zusammengezogen, um gewaltig, verheerend … und herrlich aufzuplatzen und das zu offenbaren, was Gott endgültig schafft?“
Diese Naherwartung, diese atemlose und bis in die Haarwurzeln elektrisierende Spannung, die Menschen wirklich hin- und herreißt, sie aus letzter Apathie zu höchster Antizipationsfreude katapultiert, sie Verzweiflung und Triumph fast gleichzeitig kosten lässt, je nachdem, ob man gerade die Schaden- oder Gnadenzeichen der Zeit verspürt, ist eine wellenförmige Begleiterscheinung des christlichen Glaubens durch die Jahrhunderte geblieben: Da sich die Ansage des Endes der erbarmungslosen Welt der Sünde und die Verheißung des kommenden Reiches Gottes im Herzen des Neuen Testaments finden, gab es immer wieder Zeiten, Generationen und Gemeinschaften in der Kirche, die geprägt waren von dieser Zukunft. Manche spekulierten auf das Ende, andere fürchteten es unmittelbar; etliche suchten es zu beschleunigen, einige wollten es durch Buße aufhalten; viele dachten wenig darüber nach und schauderten, wenn eine Katastrophe, ein Bruch in der Zeit ihnen plötzlich wieder nahebrachte, dass wir in garantiert instabilen Wirklichkeiten leben, die darin alle gleich und sicher sind, dass sie vergehen werden, und weil niemand unser Morgen kennt, muss jeder damit rechnen, dass alles bleibt, wie’s war, bis es einst unversehens völlig anders … oder bis gar nichts mehr kommt.
Wir heute stehen auch in einer - zuletzt gar politisch festgestellten - Wende der Zeiten. Die Welt mit ihrem immer noch gewaltigen Potential an Lust (vgl. 1.Joh.2,17) und ihrem noch größeren Arsenal an Schmerz welkt und verwandelt sich vor unseren Augen:
Mag sein, dass sie im Inferno, mag sein, dass sie in großem Metzeln, mag sein, dass sie in zermürbendem Verfall und Auszehren auf’s Ende zusteuert, … mag aber ebenso auch sein, dass sie sich fängt, dass Besinnung, Vernunft und Innovationsgeist, dass Menschlichkeit und der berechtigte Lebenshunger der Jungen und der Armen gerade in den qualvollen Wehen von heute eine Epoche gebären, die eine anders geordnete, anders funktionierende, anders geteilte Welt mit Zukunft sein wird.
Wir könnten wohl zu finsterer Untergangsstimmung genauso neigen wie zu radikalem, ja (zumindest technisch-)revolutionärem Hoffnungskampf.
… Und tatsächlich: Die einen resignieren schon: Was zynisch ist! … Die anderen blockieren: Was ebenso zynisch ist! … Viele ignorieren: Was unheilvoll und sinnlos im Quadrat ist! … Und viele schwanken: Hierhin oder dorthin? … Sollen wir Vorräte für den Atomkrieg bunkern? … Oder sollen wir in Haus und Garage, in aller Gewohnheit und aller Bewegtheit auf grüne Zukunft setzen? … Letze Kräfte vorm Verhängnis mobilisieren oder in der Dynamik der gekommenen Stunde „Auf zum Wagnis“? ————
„Sie werden zu euch sagen: Siehe, da! oder: Siehe, hier!
Geht nicht hin und lauft nicht hinterher!“
Wenn wir nur für uns wären, wenn wir einfach nur rätseln und uns den Kopf blutig kratzen müssten, wo wir in der Zeit stehen – vor einem Umschwung und Neubeginn? oder vor dem letzten ungerührten Wimpernschlag, der Armageddon bringt? –, dann müssten wir jetzt wirklich fliehen, … hierhin oder dorthin: In die flatternde Aktion – und natürlich müssen wir (verdammt noch mal!) handeln! – … oder in die totenstarre Passivität – und natürlich müssen wir (so wahr uns Gott helfe!) auch bereit dazu werden, Verluste und Leiden anzunehmen.
Wenn das aber - so oder so - unsere einzige Wahl wäre, um der Orientierungslosigkeit dieser Zeit und der Spannungsentladung dieser Welt zu entkommen, wenn wir also im rüttelnden und schüttelnden Wirrwarr des Heute herrenlose Teilchen, zentrifugale Partikel wären, die es entweder in’s eine oder in’s gegenteilige Extrem schleudert und drückt …, nun, dann wäre Jesus Christus eine Illusion: Es gäbe ihn nicht. … Wenn wir heute haltlos wären, hätte es ihn nie gegeben.
……. Denken wir aber an das sonderbare, so fraglos als selbstverständlich abgenutzte Bild vom Kreis und seinem Mittelpunkt!
Egal, wodurch es aufkam, egal, wer es zu einer festen Vokabel in der Sprache Kanaans, dem Jargon der Kirche machte: Das Bild vom Kreis sagt uns unüberhörbar: „Ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten und Apostel geredet haben (vgl. Lk.24,25)!
Christus ist der Mittelpunkt, und darum kann es keine Fliehkräfte geben, die euch in die Extreme jagen, die euch aus dem Kraftfeld und der Umlaufbahn des lebendigen Erlösers reißen oder euch anders chaotisch zerstreuen!
Jesus Christus ist die Mitte des Kreises aus Menschen und Zeiten, zu dem auch ihr gehört.
Jesus Christus ist die unverrückbare Mitte, die jeden und alles zusammenhält.
Jesus Christus ist der eine, unentbehrliche, unersetzliche, aber auch wirklich unverrückbare Punkt, der der Gesamtheit aller Ereignisse und Veränderungen, aller Aufschwünge und Abschiede ihre sinnvolle Ausdehnung und ihre vollendete Gestalt gibt.
Jesus Christus ist das Zentrum, aus dem Raum und Zeit ihren Verlauf herleiten und durch das sie unlösliche, gleichbleibende, ewig konstante Verbindung behalten. ———
……. Doch Jesus geht noch einen Schritt weiter!!! Einen unglaublichen Schritt!!!
Und das nicht etwa seinen Jüngern gegenüber, denen er versichert, dass der große und endgültige Tag der Vollendung nicht versäumt werden kann: Ohne jeden Zweifel sollen sie ihn sehen und erleben – den Tag, an dem der Menschensohn das Ziel der Menschengeschichte bringt durch sein endgültiges Erscheinen vom Himmel her. Dieser Tag, an dem die Mitte den ganzen Kreis erleuchten und durchdringen wird, … dieser Tag, den die Jünger und alle Menschen gleichzeitig erfahren werden, ist der Tag, auf den auch wir noch warten. … Amen: Möge es bald sein!
Jesus aber geht noch einen Schritt weiter … und zwar gegenüber den Pharisäern, den treuen, messianisch erwartungsvollen, vor ihm jedoch zurückhaltenden Trägern des echten Glaubens Israels. Ihnen sagt Jesus zu, dass ihre verzehrende Hoffnung auf die Verheißung, ihre Sehnsucht nach der Gegenwart Gottes, ihre Bitte, alle Not zu überwinden und ihre Vorfreude drauf, alle Herrlichkeit zu erlangen tatsächlich in der Mitte schon fest, schon sicher gegeben und realisiert sind, … dass das Reich und der Messias und der Frieden und das Leben schon „da“ sind. In der Mitte des Kreises, … die ja für alle, die in den Kreis der Welt und ihrer Wirklichkeit gehören, auch die eigene Mitte ist!
„In Eurer Mitte ist es da!“, sagt Jesus den zwischen ungeduldiger Heils-Eile und banger Furcht-Flucht hin- und hergerissenen Pharisäern.
… Manche übersetzen: „In Eurem Innern ist es.“
Den Pharisäern sagt Jesus das. Und also uns!
Das Reich Gottes – alles, was wir hoffen, erwarten und erbitten können, die Freiheit und Seligkeit, der Frieden und das wahre Ziel, die höher sind als alle Vernunft: Sie liegen in uns!!! ———
Wenn wir das hören und bedenken, wenn es uns im Wort Jesu begegnet und durch Seinen Geist in uns aufgeht, wenn der Geist uns diese Wahrheit in unserem Innersten tatsächlich enthüllt, … dann steht die Zeit still. Die Konflikte zwischen Eifer und Panik, zwischen Zweifel am Ganzen und Bereitschaft zu Allem verlieren ihre tödlichen Zug- und Schubkräfte.
… Nicht weil uns die Welt nicht mehr anginge. Nicht weil die Probleme, Schrecken und drängenden Forderungen unserer Tage – die amerikanischen Zwischenwahlen heute, die Klimakonferenz in Ägypten, die bevorstehende Schlacht um Cherson – gegenstandslos würden. Sondern weil sich die Mitte, die alles hält und deren Halt und Harmonie nichts jemals endgültig entgleiten wird, dann auch in unserer kreisenden Bewegung, in unserem und in allem noch so zerrissenen Leben bemerkbar macht.
… Tief unter dem wogenden Hin und Her ist das Reich da.
… Reich ist der Frieden in dieser Tiefe.
Und doch ist diese Tiefe nicht fern.
Wir müssen sie nur nicht in weiter Entfernung, an den Rändern der Zeit, in den Verwerfungsfalten der Materie oder in den Zufällen der zurückliegenden und sich immer noch ver- und entwickelnden Ereignisse suchen.
Wir brauchen gerade nur gerade zu sein.
… Ruhend.
… Mit gefalteten Flügeln … nicht mehr treibend im Sturm und rudernd auf der Oberfläche. Einfach nur zentriert, … kon-zentriert aus der Mitte, die dem gesamten Weltkreis und dem Zeit-Raum aller Geschichte jenen Zusammenhalt einstiftet, der nicht vergehen soll.
Unser Leben im Kreis aller anderen ist gegründet.
Wir sind in uns selbst gehalten vom Erhalter.
Nicht außerhalb, nicht jenseits, sondern hier in Dir und mir ist der Vollender vollkommen da.
Sein Reich, das kommt, ist da.
Wohl denen, die dieser Frieden innen erfüllt und von allen äußeren Seiten umfasst, … dieser Frieden, der in uns und allem anderen der Grund ist und die Ewigkeit.
Amen.
[i] Das „dritte“ oder mannweibliche Ursprungsgeschlecht des Menschen bedingt seine Kugelgestalt im Mythos des platonischen Dialogs „Symposion“ (189c – Platon, Sämtliche Werke - Griechisch und Deutsch nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, hgg. v. K.Hülser, Bd. IV, Frankfurt/M – Leipzig, 1991, S.99).
20.Sonntag n. Trinitatis, 30.10.2022, Stadtkirche, Hohelied 8,6b+7, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 20.n.Trin. - 30.X.2022
Hohes Lied 8, 6b+7
Liebe Gemeinde!
Was ich niemals gutheiße, niemals ertrage, niemals teile, … hier und heute muss ich’s ausnahmsweise tun: … Hallowe’en betrachten. Die furchteinflößende Dunkelheit, die dem Endzeitmonat November vorausgeht, … Totentanz, … Geisterstunde, … Fest der ruhelosen Seelen, die dem Gericht unterliegen. ——
…… Nicht, dass ich Lust am Karneval des Grauens oder am Rausch der Verdammnis hätte. Es ist niemals ein Spaß, das Reich des Zwielichts zu betreten und freiwillig die Qual der Unerlöstheit nachzuempfinden. Und es ist niemals ungefährlich, die uns - Gott sei Dank! - meist verborgene Welt des Bösen, die Abgründe aller Verbündeten des Todes, die dämonische Sphäre der beabsichtigten Totalvernichtung des Guten aufzustören. … Es ist und bleibt höllisch ungut, mit der Hölle Allotria zu treiben.
Doch wenn es morgen überall von Polter- und Foltergeistern wimmeln wird, wenn Verwesung als Schminke und Seelenpein als Kostüm erscheinen, wenn die ungreifbaren Boten eines letzten Schreckens, eines letzten Feindes als Gäste und Tanzpartner durch Straßen und Häuser ziehen, dann wird diese gespenstische Party des Todes und der Verdammnis so erschüt-ernd und ernüchternd nah an der Wahrheit sein, dass einen tatsächlich nur das Grauen packen könnte. Oder das verzweifelte Mitleid eines Menschen, der weiß, dass der Abwehrzauber, den das Angstfest darstellt, nicht wirkt und auch nicht verbirgt, dass auf dem Maskenball, der „Hallowe’en 2022“ heißt, tatsächlich Sünde, Tod und Teufel mit-mischen, den Reigen anführen und unerkannt um uns herum immer rasender wirbeln.
… Alle die lächerlichen Unterwelt- und Spukgestalten sind ja in die Wirklichkeit hinein aus den Friedhöfen der Vergangenheit aufgestanden: Der mörderische Hass, der die Menschheit kannibalisch bis zur Selbstzerfleischung macht, … die giftmischende Lüge, die lieber auf den Sensenmann ihren Toast ausbringt als auf die spielverderbende Vernunft, … die apokalyptischen Vampire, die durch den besessenen homo sapiens der Natur das Blut aussaugen, bis sie röchelnd sterben muss und die letzte Sonne den letzten Menschen zeigt, dass sie nicht nur fremdes, sondern das eigene Leben bis zum letzten Tropfen ausgezehrt haben.
»Das Ende aller Dinge«, »die endgültige Schuld und Verlorenheit« steht also als Motto über dem Hallowe’en-Geschehen am Ende der Pandemie, in den Anfängen irrer Kriegseskalation und auf dem Scheitelpunkt der Umweltvernichtung. ———
Doch auf der Kanzel ist nicht der zynische Prediger Salomo aufgeschlagen, der dürr und trocken wie ein Totenkopf nur „Alles ist eitel und Haschen nach Wind“ zischt, sondern der junge, verliebte, an die Schönheit und Lust sich verlierende Salomo, … der Sänger des Hohen Liedes.
Wir sollen also wohl zu Hallowe’en doch nicht den danse macabre der Generation „Weltuntergang“ oder der vorigen Generationen – meiner Generation und der sattgesogenen Nachkriegsgeneration, die alles im Überfluss hatten und verschleudern – tanzen, sondern den heute so befremdlichen Tanz der Lebensfreude und der unschuldig hingerissenen Daseinsbejahung.
Wir sollen statt des Jammerns und Heulens der armen Seelen die Liebeslyrik der jungen Körper, die einander gehören und genießen und so neues Leben zeugen, als die Melodie des Glaubens in der Katastrophe dieses Jahres anstimmen.
Obwohl es also so viele Vorzeichen des Untergangs gibt, sollen wir Hirn und Herz dem paradiesischen Anfang und dem Paradies als dem endgültigen Ziel zuwenden.
Nicht Hallowe’en also, sondern die wirklich christlichen Feste, die das schöpferische Geschenk des Lebens, das rettende Gericht der Liebe über die Menschheit und das herrliche Zukunftsversprechen Gottes begehen, … die sollen wir heute feiern.
– Welche das sind? – Weihnachten. Karfreitag. Ostern. Und sie alle zusammen ergeben als das Fest der fleischgewordenen Liebe, die Sünde und Tod besiegt, das große bevorstehende Fest: … Den Jüngsten Tag – den Tag der Erlösung, der alles zurechtbringt und die Welt zum Reich Gottes hin vollendet. ——
Weshalb wir das feiern sollen, obwohl es doch so düster und drückend über uns liegt und sich in aller Welt so tödlich zusammenbraut wie beim koreanischen Hallowe’en gestern?
– Weil die ganze Bibel - und das heißt alle alten und neuen, alle erfüllten und offenen, alle geschehenen und alle verheißenen Worte und Taten Gottes – in dieser einen Wirklichkeit zusammengefasst werden können, die wir eben noch besungen haben (EG 401): Sie alle zusammen – das Vergangene, das Gegenwärtige und das ewig Bleibende – bezeugen die „Liebe“, ……. die Liebe, die uns erkoren und geboren hat, die für uns gestritten und gelitten hat, die für uns starb und uns erwarb, die uns an sich bindet und überwindet, die uns das Beten und Stellvertreten schenkt und die uns auferwecken und ewig zu sich ziehen wird.
Dieses Rühmen und Feiern, dieses sich Festmachen und Festhalten an der Liebe Gottes ist das Herz unseres Glaubens. … Nicht sein Gefühl, sondern seine Philosophie, weil das Herz für die Bibel nicht der Sitz des Sentimentalen, sondern die Schaltstelle von Gehorsam und Denken, von Wille und Verstehen ist.
Das Herz unseres Glaubens besteht also im Wahrnehmen, … im strengen Sinne des „Für-wahr-Nehmens“ der Liebe Gottes. ———
… O Pardon! – Das ist aber doch kitschig. Kitschig und naiv. Genauso stellen sich die Millionen, die am Glauben nichts finden können, seine ewig gleiche Leier und Harmlosigkeit vor. Glaube ist kuhäugige und wiederkäuende Dämlichkeit, die nicht mitkriegt, was ist, sondern unablässig an etwas mümmelt, das längst welk wurde und das die meisten schon wer weiß wie gründlich ausgeschieden haben. … Liebe … das ist doch Schnee und Stroh von gestern. Längst geschmolzen und verbrannt. Es gibt sie doch gar nicht in einer Welt, die überwiegend von Gewalt und Gewinn, von Kalkulation und Kampf geprägt wird und günstigstenfalls von unserer Technik und Logik verbessert. Die daneben noch immer nicht erledigten Reste der Liebe haben wir familiär gezähmt oder sexuell freigegeben, … haben sie als eine Begleiterscheinung der Kindheit eingestuft, vergleichbar den Milchzähnen, oder als eine senile Wunschvorstellung, wenn die sechzig, siebzig Jahre der stolzen, erfolgshungrigen Eigenverantwortung und Hochleistung nachlassen und der erfolgloser werdende Machermensch einen Pflegeroboter braucht. Liebe hat keinen Platz in unseren Vorstellungen. Und in dem, was um uns herum geschieht, wird sie ständig, … ständig sogar noch immer stärker widerlegt.
… Aber wiederum: Pardon! Ist denn die Bibel wirklich naiv?
… Die Bibel, die beginnt mit dem Misslingen der paradiesischen Grundlagen, die Gott legte? Ist die Bibel harmlos, die das Unhaltbare an den gewaltigen Errungenschaften und Zerstörungen des Menschengeschlechtes - so peinlich für den Herrn der Welt! - schonungslos thematisiert?
Ist nicht die Bibel die Urkunde, in der von der Bosheit und Härte des Menschenherzens so unschmeichelhafte Kostproben gegeben werden und so zermürbende Zeugnisse sich häufen? Enthält nicht die Bibel die beißende Klage von der schauerlichen Liebesunfähigkeit und Liebesverachtung unserer Spezies? …. Die Bibel ist doch gerade nicht der Groschenroman, der alles erstickt unter der klebrigen Vanillesoße falscher Gefühligkeit. Denn die Botschaft der Bibel feiert die Liebe ja gerade nicht als die simple Antwort auf alle Fragen und die automatische Lösung aller Probleme. … Sondern sie schildert die Liebe als den Widerstand, den unsere menschliche Wirksamkeit und Wirklichkeit hervorruft: Den Widerstand Gottes.
Weit entfernt davon, dass die Bibel eine kleine Heile-Welt-Musik wäre oder ein Trostpflaster für alte Tanten, deren klappriges Nervenkostüm diesen wärmenden Wickel braucht, … weit entfernt auch von dem, was man ihr am längsten schon anhängt: Legalisiertes Cannabis zu sein, das beim Konsum so schöne Dinge simuliert und dabei doch nur schleichend und lähmend verblödet … weit entfernt also von allem menschlichen Liebesschmu, ist die Bibel zuallererst das Dokument des Kampfes, den Gott gegen das Böse und gegen die Gleichgültigkeit gegenüber dem Guten führt. Sie ist das Dokument eines Kampfes, in dem Gottes Waffe die Liebe ist.
Weil schon die Sintflut bewiesen hat, dass Zorn nur vernichtet, nicht aber rettet, ist die Geschichte dieser Erde - die Geschichte, die seither unter dem Bundeszeichen der verschonenden und langmütigen Liebe Gottes steht, von dem die Schriftlesung heute berichtete (vgl.1.Mose 8) - tatsächlich die ständige Abfolge der Gegenreaktionen Gottes auf die Unbelehrbarkeit und Unbekehrbarkeit der harten Menschenherzen. Gott setzt gegen das, was wir tun, was wir lassen, was wir verbrechen und verweigern, was wir durchsetzen und was wir zerstören, bei aller strengen und ernsten Warnung vor den Folgen unserer Rücksichts- und Ehrfurchtlosigkeit doch immer weiter, immer tiefer Seine Liebe ein. Er hat geschworen, dass der Bund Seines Friedens nicht hinfallen soll, … der Bund, den Er zuerst Noah zusagte und den Jesaja dann ausgerechnet im Strafgericht in Babel doch nur als eine einzige Liebeserklärung (vgl.54,10) schildern konnte, … den Bund, den Gott endgültig besiegelt und universal bekräftigt hat gerade da, wo die Gewissen- und Sinnlosigkeit restlos herrschte, als Pontius Pilatus Einen kreuzigen ließ, den er angeblich nicht einmal für schuldig befand.
Gott hat geliebt, wo niemand liebte.
Gott liebte, als reiner Hass sich auf Ihn richtete.
Gottes Liebe ließ sich töten, aber sie ließ sich nicht besiegen.
Gottes Liebe starb, um stärker als zuvor und umfassender noch aufzuerstehen! –
Das ist die Weltbejahung und die Lebensfreude, die wir gerade auch in unserer verfinsterten Zeit, in der dämonische und satanische Gefahren die Zukunft radikal in Frage stellen, feiern sollen. Wir sind ja eben die Zeugen einer Liebe, die nicht harmlos, sondern wehrlos … und gerade darin der Gewaltwelt überlegen ist.
In ihrer Verweigerung des Hasses ist sie dem Hass unendlich, ja uneinholbar weit voraus.
Sie hat das Ende, das er bringen will, an dem er zündelt, mit dem er droht und das er tatsächlich riskiert, schon hinter sich.
Der Hass will die Liebe Gottes zu Seinen Geschöpfen groß und klein, zu Erde und Menschheit auslöschen. Doch die göttliche Liebe, die Seine Feinde wie Seine Kinder umfängt, ja, die Seine Feinde als Seine Kinder betrifft, ist genau das nicht: Sie ist nicht endlich! … Sie kann nicht unter- oder ausgehen, sie kann nicht weggerissen oder aufgelöst werden.
… Sie ist so völlig, sie gilt so gänzlich, sie bleibt so unverbrüchlich, weil sie nicht altern kann, da sie ewig ist, … durch alle Jahrtausende und ihre Wechselfälle, durch alle Katastrophen und Rebellionen, durch alles Unheil und durch alle Abnutzungskriege hindurch bleibt die Liebe, die ohne Verfall ist, weil sie Gott ist, vital.
Und darum endet das Buch von der ganz natürlichen jungen Liebe – die schöne Sammlung der unverkrampften, erotischen Liebeslieder Salomos und Sulamiths – mit den Versen, die zwar wie der Schwur und die Beschwörung zweier Menschenherzen klingen, aber doch zeigen, dass es hier noch höher und noch tiefer, noch weiter und noch wundervoller geht, als unter uns:
Was bei uns vom Herzenklopfen zum Hochzeithalten und zum Honigmond führt, … was Vertrauen und Vertragen und Vergeben stärkt, … was in geteilten Lebensjahren und gemeinsamem Lebensabend und individuellem Lebensende bei uns dann schließlich nach der Zunahme und Reifung auch die Vergänglichkeit der Liebe bringt – nämlich, dass sie die Liebe sterblicher Menschen ist, die darum auch sterben muss – das wird hier nicht beschrieben.
Nicht die Leidenschaft von Menschen, die flackert und nicht die Treue von Menschen, die halten kann und soll, bis der Tod sie scheidet, wird am Ende des Hohen Liedes besungen.
Sondern die Liebe, deren Stärke es mit der Finalität von Tod und Totenreich aufnehmen kann.
Die Liebe, die durch keine Wasser und keine Flut - durch keine Sünde und keine Gewalt der Vernichtung - vernichtet werden kann.
Die Liebe Gottes wird in diesen wenigen Worten des Hohen Liedes besungen.
Sie beendet die Geisterfahrt dieser Welt in den Tod. Denn sie ist der Welt zuvorgekommen, indem sie aus dem Tod das Leben hervorbrachte.
Im Ernst müssen wir also auch in noch so schwerer und sorgenvoller Zeit nie ein Fest der Angst vorm Tod, vor der Qual der Unerlösten oder der Wiederkehr des Vergangen-Geglaubten im Geist bewegen.
Was uns allein bewegen soll, ist die Liebe, … stark wie der Tod. Siegreich für alle!
… Jesus also, von dem es heißt: „Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, würde man ihn verachten?“
… Würde man ihn verachten?
… Ihn, der nicht nur in Nazareth, sondern bei seinem Vater alles aufgab, … der nicht daran festhielt, Gott gleich zu sein, sondern sich erniedrigte in Knechtsgestalt bis zum Tod am Kreuz, … ihn, den der Vater darum auch erhöht hat und ihm den Namen gab, der über alle Namen ist, damit im Namen Jesu sich beugen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind und alle Zungen bekennen, dass Jesus der Herr ist zur Ehre Gottes, des Vaters (vgl. Phil 2, 6-11)?!
Ihn, der alles aufgab, verachten? … Stark wie der Tod. Sieger für alle.
… Niemals!
Sondern lieben!
Amen.
15. Sonntag nach Trinitatis, 25.09.2022, Stadtkirche, Galater 5, 25 - 6, 10 , Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 15.n.Trin. - 25.IX.2022
Galater 5,25 - 6,10
Liebe Gemeinde!
Was passiert, wenn Menschen aus einem Modus – einer Art zu denken, zu leben und sich zu verhalten – in einen anderen Modus fallen, das ist in Galatien geradezu lehrbuchmäßig zu besichtigen. Doch bei diesem abrupten, überraschenden Wechsel der Galatergemeinde von einer Rahmenordnung ihres praktischen und geistigen Daseins in eine andere, geht es nicht um eine historische oder soziologische Studie. Es geht darum, was unserer Welt, was uns als Zeitgenossen gerade insgesamt geschieht: Das Umschalten vom Geist aufs Fleisch, die Ausrichtung aller Maßstäbe nicht mehr in Annäherung an gottgemäße, sondern an gegengöttliche Ideale. Dieses Umschalten findet heute statt. Es ist das Zeichen unserer Zeit: Wie einst die Galater verfallen wir Menschen der Gegenwart aus einer erstaunlichen Freiheitserfahrung in erstaunliche Zwangsumstände, … aus einer geringgeschätzten Friedfertigkeit in eine hochgefährliche Roheit der Gewalt.
Der Moduswechsel, der dieser Welt gerade widerfährt, ist also wahrhaftig schlaf- und atemberaubend, … aber gewiss nicht beispiellos: Schauen wir also nach Galatien.
Galatien war der Wilde Westen des alten Ostens. Es war zivilisationsjunges Pionier- und Migrationsgelände. Auf der anatolischen Hochebene, die offen wie die Prärie liegt, hatten wandernde, kriegslüstern-abenteuerliche Keltenstämme auf ihren Beutezügen und Fluchtwegen sich seit zwei-, dreihundert Jahren zusammengefunden: Diese „Gallier“ Vorderasiens, die „Galater“ standen also nicht in der altgriechischen oder in der neu weltmächtig-römischen Ökumene der Kulturen, sondern sie waren und blieben Barbaren. Ihre einstweilige Integration in den hellenisierten Vorderen Orient war eine strategische Option und keine Zähmung. Mehr als die geistige Weltausstrahlung Athens imponierte ihnen jedenfalls die militärische Dominanz Roms.
……. Ausgerechnet unter diesen grobschlächtigen Stämmen der Galatern Missionserfolge erzielt zu haben, war für Paulus also eine bemerkenswerte Erfahrung.
… Doch seine Erfolgserfahrung sollte nicht von Dauer sein.
Die verlockende Mission des Heidenapostels, der den keltisch-kämpferischen Galatern das Ende aller Gehorsams-, aller Unterordnungskultur brachte und ihnen die Liebe Dessen eröffnete, Der für uns alle den letzten, bittersten Zwang - den Tod - getragen und durch Seine Freiwilligkeit dabei diesen Zwang schließlich aufgelöst hat … – diese Mission des Paulus elektrisierte die Galater nur eine Zeitlang.
Bald spürten sie, dass die Großzügigkeit der göttlichen Liebe und die Weite des göttlich-globalen Gnadengeistes eine überraschende Unsicherheit bedeutete:
In der Eigenverantwortung eines geliebten Menschen zu stehen, ist anstrengender, als fremde Befehle auszuführen.
Wen Gott frei auf die Botschaft Seiner Liebe antworten lässt, der wird stärker herausgefordert als jene, die aus irgendeiner Nötigung etwas müssen.
Der Geist Gottes will in einer persönlich-lebendigen Wechselwirkung mit den Glaubenden stehen, während bloß Unterworfene sich ja gedankenlos wie Gegenstände durch den Willen eines Anderen von außen bewegen lassen können.
Die eigene geistliche Beteiligung, diese Freiheit und Selbständigkeit des Lebens in Beziehung auf den Geist, wurde den Galatern daher rasch mühsam.
Sie fielen zurück … nicht in eine angeblich blinde jüdische Gesetzlichkeit, die aller tiefentschlossenen Frömmigkeit des eigenwilligen Volkes Israel wirklich fremd ist, sondern in die Bequemlichkeit ausführender Organe: „Gib uns eine Moral; gib uns Normen; gib uns einen Kodex, einen Drill, eine Marschordnung“ … so mag es in den einzeln zügellosen und deshalb als Gemeinschaft besonders dressurwilligen Galatern geklungen haben. „Häuptling befiehl, wir folgen!“ …
Die ersten keltischen Clanangehörigen, die in Galatien Christen geworden waren und im Christentum das Regelwerk und die Erkennungszeichen vermissten, die z.B. die Beschneidung in der jüdischen Gemeinde darstellte (vgl. Gal.5, 3ff), wollten also lieber Kommandoklarheit als die Last der getauften Mündigkeit.
„Zur Freiheit hat Christus uns doch befreit“, rief ein entsetzter Paulus ihnen da in seinem Brief (5,1) zu: Warum drängt ihr euch denn nach Abhängigkeit? Warum wollt ihr wieder nur stupide nach Vorschrift leben und nicht inspiriert, nicht unbefangen, als Menschen, die sich im Glauben als Gottes Kinder erfahren, die Er nicht bevormundet, sondern zu Einsicht und eigenem, geistgelenktem Urteil bevollmächtigt?!
Warum?
… Weil der Modus der Unterwerfung, der Modus der Unselbständigkeit, der Modus des Mitmachens so viel einfacher ist. Als Massenmensch, … als Mensch im Sog des Vorgegebenen, … als Mensch, der nicht viel denken muss, da bist Du einfach Fleisch. Fleisch ist ein anderes Wort für „Ich“. … Und gerade die Unselbständigen, die reibungslos Konformen sind trotz ihrer Ununterscheidbarkeit lauter „Iche“: „Ich will nur durchkommen. Ich will nicht abschmieren. Ich will für mich wenigstens auch mein bissl Platz an der Sonne und Ruhe in Frieden und Preis für Fleiß genießen. Ich störe sonst keinen und also soll mich auch keiner stören. Ich und mein Fleisch: Wir bleiben im Rahmen, wir nehmen, was wir kriegen und uns zusteht … und gut ist’s.“
… Der Geist dagegen: Der Geist stört das Ich. Der Geist ist ja die Liebe.
Der Geist verbindet und versöhnt … und schon hat die liebe Seele keine Ruhe mehr.
Der Geist macht - weil er Gnade ist - gnädig … und schon ist im Denken und Fühlen alles kompliziert aufgeweicht, das gerade noch so quadratisch, eckig, ordentlich war.
Der Geist bricht aus der Gewohnheit, … der Geist spricht für die Unerwünschten, … der Geist traut der Hoffnung, … der Geist hält die Tür auf, … der Geist schließt das Herz auf, … der Geist öffnet uns die Augen, … der Geist bewegt die Erde, … der Geist wirbelt den Staub und stößt die Gewissheiten um, … der Geist braust im Neuen …
… Der Geist redet anders, … der Geist weiß es anders, … der Geist macht es anders …
… Der Geist heilt die Herzgelähmten, … der Geist leert die Gefängnisse der Gewohnheit, … der Geist verteidigt die längst Abgeurteilten, … der Geist befreit die Unterdrückten, … der Geist weckt die Kinder, … der Geist spürt das Abenteuer, … der Geist kennt die Braut (vgl. Offenb.22,17!) und lädt die ganze Welt unangekündigt und unsortiert zur Hochzeit …
… Der Geist ist das Leben im Sturm, … der Geist ist das Menschliche, das entflammt, … der Geist ist die Sehnsucht nach Allen in Allem. ———
Und darum wollen die Galater den Geist nicht mehr spüren müssen. Sie wollen ja nur selber gerettet und gesichert sein, aber doch nicht noch das ganze Leid der Erde mitbewegen, bis es nachlässt und überall alles gut wird.
Es selber gut haben, … gut sein.
Nicht mehr. Nicht weniger.
Das pure Fleisch.
Dagegen der irrwitzige Geist heißt: Sich kümmern. Wenn ein anderer Mensch kämpfen muss, … dann sich nicht feine raushalten, sondern darauf einlassen: Auf Schmerzen, die man selber gar nicht hat oder haben könnte. Auf Trauer, die einen nicht im Leisesten betrifft. Auf Schuld und Tragik, die man sonst im weitesten Abstand umgeht.
Solche Geduld mit den Problemen anderer, solche Sanftmut bei den Verfehlungen, bei den Fehlschlägen im Leben fremder Leute: Das ist nichts für uns Galater! Da kümmern wir uns doch besser um die eigene Bilanz, die eigenen, ja auch nicht immer einfachen Belange. Her mit den knallharten Spielregeln und weg mit dem ganzen weicheierigen Mitleids-Kram! ——
Dieses wiederholte Hin und Her, dieses Pendel, das immer wieder vor und zurückschwingt zwischen der empathischen Nächstenliebe, der offenen Gemeinschaftsfähigkeit, die der Heilige Geist bewirkt, und dem natürlichen Instinkt, sich auf den unbarmherzigsten Egoismus zurückzuziehen, … diese Verschiebungen dessen, was wir den Modus nannten, die sind wahrlich nicht bloß eine Anfangsverunsicherung aus den Tagen der ersten christlichen Mission.
Die Bereitschaft zum Ergreifen und Ertragen der Last der anderen – und nichts sonst verbirgt sich ja im Geheimnis des in uns gegenwärtigen Geistes Gottes – war nie selbstverständlich … auch im sogenannten „christlichen“ Abendland nicht, das man vom keltischen Westen bis zur galatischen Hochebene sich erstrecken sehen mag.
Die Natur des Menschen - sein Fleisch - hat stets gegen die unnatürliche, die übernatürliche Herzlichkeit und Menschlichkeit des Heiligen Geistes rebelliert: Die „Anderen“ waren immer die geborenen Feinde, unwillkommene Eindringlinge, unliebsame Rivalen. Das Eigene schien uns immer größer, weil ja schließlich der Fingerhut, den man sich dicht vor Augen hält, die höchsten Gipfel des Kaukasus, des Taurusgebirges oder der Alpen verdecken kann.
Aber jene mehr als natürliche, jene übernatürliche Gemeinschaft, die der Geist begründet hat, seit Maria durch Ihn den wahren Menschen zu empfangen bereit war und seit der Sohn der Maria in der Taufe dann selber durch den Geist Seinen göttlichen Vater erfuhr … diese Gemeinschaft, die der Geist zwischen Gott und der Menschheit immer schon schenkt und in Jesus besiegelt hat, … diese Gemeinschaft, die wir die Kirche nennen und in der nicht das fleischliche Einzel-„Ich“, sondern das geistliche Band, das uns alle zu einem in lebendiger Liebe verbundenen Leib macht, …diese Christusgemeinschaft, diese Gemeinschaft der Christen hat im ganz Großen und im ganz Kleinen auf ganz andere Weise den Samen der menschlichen Zukunft gesät, als die Einzelkämpfer, die nur Zwietracht auf’s Feld bringen.
Denn bei allem, was man Schlechtes über die Folgen des Christentums, seiner Willfährigkeit, Blindheit und Taubheit sagen kann, stimmt dennoch, dass in der ganzen Welt kein vergleichbares Ideal gepredigt, geglaubt und geübt wird, wie das Gesetz Christi, das Liebe fordert, weil es Liebe voraussetzt (vgl.Gal.5,14).
Diese Liebe aber – praktiziert im Weltmaßstab und im Privatleben von Abertausenden, die vor uns und um uns herum getauft sind und den Geist der Menschenfreundlichkeit, der Sanftmut und der Wohltätigkeit empfangen haben und durch sich wirken lassen –: Sie ist in Gefahr! … Der Modus geht verloren:
Der christliche und der aus dem Christentum gespeiste, säkularisierte Modus der Geduld, der Güte und Gnade, der geistliche Modus auch im politischen Gewand der Grundrechte eines jeden, der Gleichstellung aller, der Großzügigkeit gegen die „Anderen“ … er ist in akuter Gefahr: Wie die Wälder im Feuer, wie das Eis in der Schmelze, wie die Hoffnung im Unwetter des Hasses, so verschwindet das, was die Gemeinde Jesu Christi in die Welt zu säen und zu pflanzen hatte.
Doch mehr denn je gilt, dass wir uns nicht irren dürfen, weil Gott sich nicht spotten lässt:
Was der Mensch sät, das wird auch seine Ernte werden.
Wenn die geistlose Ideologie, dass man sich um fremde Lasten drücken könne, sich um fremdes Leid nicht scheren müsse und nur die eigenen Belange kultivieren dürfe, weiter um sich greift, dann droht noch Schrecklicheres, als das jetzt schon erkennbare Unheil der rein weltlichen, rein fleischlichen Epoche, in der wir uns finden.
Schon jetzt dreht sich der materialistische Mensch - der Mensch ohne Geist - nur um sich selbst: Die eigene Wirkung, das eigene Wohlergehen sind die alleinigen Motive des großen Geistlosen, des kleinen Herzlosen unserer Tage.
Und was der Einzelne in der einsamen Eitelkeit seines Daseins als Ersatz für die Liebe und als Mittel gegen das Mitgefühl einsetzt, das wird im grausamen Klimawandel der nationalen und der internationalen Verhältnisse in weit furchtbarerem Maße angeheizt:
„Alles für uns, nichts für die anderen!“
„Groß sind nur wir! Möge jede Erscheinung daneben verschwinden … buchstäblich!“
Diese krankhaften Haltungen, die als Spitze des Eisbergs in einem Krieg gipfeln, der uns das Entsetzen und das Fasten und Beten lehren muss, … diese krankhaften Haltungen des „Ich ohne die Anderen“ würden das Ende der Menschheit bedeuten, wenn sie weiter ungebremst um sich griffen.
Der Wechsel vom Versöhnungs- und Verständigungsmodus, der seit 70 Jahren in den Vereinten Nationen trotz aller Konflikte ein Maßstab war, zum Modus der Verneinung und Vernichtung würde weltweit bedeuten, was schon in Galatien drohte, als sie den Heiligen Geist zugunsten des Eigensinns verschmähten:
„Wer auf sein Fleisch sät, der wird vom Fleisch das Verderben ernten.“
…….
Doch so endet die letzte Predigt vor dem Erntedanksonntag nächste Woche nicht!
Trotz aller Bedrohung, trotz aller Warnung von Galatien damals bis nach Italien, wo man heute die Wahl hat, … von Moskau bis Peking: Wir leben in jener Welt, in der Jesus Christus durch den Heiligen Geist empfangen wurde – das ist das wichtigste politische, soziale und physische Geschehen aller Zeiten! –; und damit leben wir in jener Welt, in der allen Menschen die Gnade eröffnet ist, durch den Glauben an Jesus und durch die Gabe des Geistes statt der Zukunftslosigkeit des Fleisches das bleibende Leben zu erfassen.
Noch haben wir Zeit.
Noch können wir Gutes tun, … Gutes hoffen, … Gutes bewegen, … Gutes erbitten, … Gutes gönnen und Gutes ernten.
Säen wir darum auf den Geist … und warten getrost auf das Erntdedankfest, das kommt!
Amen.
13.Son. n. Trin., 11.09.2022, Stadtkirche, 500 Jahre "September-Testament", Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 11.IX.2022 – 13.n.Trin.
500 Jahre „September-Testament“[i]
Liebe Gemeinde!
Was wollen wir hier wirklich feiern?
… Dass Gott durch ein Buch zu uns spricht?
… Dass Er die jahrtausendlang für den Menschen überlebensnotwendige Übung des genauen Hinhörens und dann den menschheitsgeschichtlichen Meilenstein der entlastenden Erfindung von Schriftzeichen nutze? Dass Er die erstaunliche Aleph-Betisierung der jüdischen Gelehr-ten, die in der Bronzezeit bei aller Bescheidenheit doch herrliche Techniken der Aufzeichnung und der Lektüre beherrschten, einsetzte, um weiter auf den erstaunlichen Wegen des Transports und der Speicherung der Heiligen Schriften Israels, ihrer Übersetzung in’s Griechische der edelschönen Wahrheit und dann ihrer verpflichtenden Anerkennung durch die Kirche, die sie für Europa verwestlicht, also lateinisch gemacht hat, schließlich mittelbar auch uns, die kaum noch lesekundigen Emoji-Stenographen am Ende des Abendlandes zu erreichen?
… Wollen wir feiern, dass Gott diese Heils- und Mediengeschichte so feinmechanisch abgestimmt hat, dass der Durchbruch zur Wortvervielfältigung durch bewegliche Bleibuchstaben und die historische Tiefenbohrung hinunter bis zu den Quellen just dann zusammentrafen, als ein alerter, dickschädeliger, seelenempfindlicher, verdammnisfürchtender und gnadendurstiger Eigenbrötler sich so aus der Schar der beruhigt Halbwissenden herauskatapultiert hatte, dass man ihn zur Deeskalation ein bisschen wegsperren musste, um in der Luftkur mitten im Thüringer Wald den ganzen öffentlichen, päpstlichen, kaiserlichen, humanistischen, reformatorischen Blut- und Wutdruck in den Griff zu kriegen?!
… Wollen wir also feiern, dass Buchdruck, Renaissance und Reichstagsärger dazu führten, dass die gesamte Offenbarungs-, Überlieferungs- und Übersetzungsgeschichte der Bibel in dem knappen Jahr von Luthers unfreiwilliger Sicherheitsverwahrung und Reha auf der Wartburg einen so idealen Kulminationspunkt erreichte?
… Und dass in diesem unwahrscheinlichen „Zufall“ so viel in der hebräisch-griechisch-lateinischen Bibel angestaute Energie auf den Überdruck, unter dem Luther stand, reagierte, dass alles sich in einem deutschen Urknall entlud, als das Jahrtausendwerk heiliger Altsprachlichkeit in nur 11 Wochen zu einem deutschen Neu-Bestseller wurde … zumindest in seinem damals, über den Jahreswechsel 1521/22 wie in Trance übersetzten und seit dem Frühjahr im Akkord auf zwei oder drei Wittenbeger Druckerpressen entstandenen neutestamentlichen Teil?! …….
Wollen wir wirklich diese Seite der medialen Geschichte feiern … und dann natürlich das Genie, das vor einem halben Jahrtausend in 80 Tagen die Welt endgültig bewegte, weil da-mals - „Boom!“ - die schönste, dynamischste, poetischste, emotionalste Übersetzung entstand, auf die wir stolz, stolzer, am stolzesten sind, weil sie mit Bachischer Musik und Klopstock’schen Rhythmen und Goethe’scher Lebendigkeit und Nietzscheanischem Pathos und Dibelius’scher Bürgerlichkeit bis heute in unserm Denken, Reden und Sein fortwirkt???!!!
……. Ich dachte, ich wollte.
Aber das ist eine dumme und betriebsblinde Sicht dessen, was die „Luther-Bibel“ - gerade zu 2017 noch einmal schön restauriert - bedeutet und bedeuten kann.
Die erhabene oder - schlimmer noch - die selbstverständliche Feier des O-Tons unserer „Luther-Bibel“, die so fruchtbar in sämtlichen Schichten unserer Glaubens- und Kulturvergangenheit gewirkt hat, wird durch solche Verklärung nur musealer.
Wir machen uns viel vor, wenn wir tatsächlich nicht zugeben, dass diese wundervolle, packende, berührende und inspirierende Sprachleistung Luthers heute nichts anderes ist als die sogenannten tausendjährigen Eier der chinesischen Küche: Wer dran gewöhnt ist, schwört drauf und liebt diesen einzigartigen Geschmack, den die Zeit hervorbringt, … wer’s aber nicht kennt, ist befremdet.
Nun spricht gar nichts dagegen – im Gegenteil: Alles spricht dafür! –, dass man neugierig gemacht und auch auf ungewohnten Geschmack gebracht werden kann.
Aber das Ziel dabei sollte nicht sein, dass wir die Grundlagen für den Deutschunterricht oder den Oratorienführer oder ein verständiges Geschichtsbewusstsein gewinnen und diese verwechseln mit einem theologischen Sinn.
… Einen besonderen theologischen Sinn als Text hat die sog. Luther-Bibel – an der neben Martin Luther zahlreiche und noch vertrauenswürdigere Köpfe als nur der seinige mitgewirkt haben – nicht!
Im Gegenteil: Luther hat mit seinem starken, für ihn und seine Zeit unvermeidlichen Eigensinn auch wirklichen Unsinn in die Bibel, besonders auch ins Neue Testament hineingetragen: Dass er alles, was ihm Evangelium zu sein schien, eigentlich nur an den Briefen des Paulus maß, … dass er sich - wie es in der Darstellung „welches die edelsten und rechten Bücher des Neuen Testaments seien“ heißt - lieber einen taten-, als einen wortlosen Jesus vorstellen wollte, … dass er schließlich ganze Bestandteile des neutestamentlichen Kanons in seiner Anordnung nach hinten verdrängte und nicht mehr richtig mitzählte, weil ihm diese Schriften zu praktisch oder zu prophetisch (und damit in beiden Fällen letztlich wohl: „zu jüdisch“!) vorkamen, … das ist ein so dreister und größenwahnsinniger Entschluss, dass es mir eigentlich vor solcher Hybris graut.
… Wie dankbar müssen wir nicht sein, dass es die praktische Botschaft der Bibel – die heutige Epistel, dass Gott die Liebe ist (1.Joh4,7ff) – gibt und dass diese universale und rettende Tatsache gerade in den Taten, den Speisungen, Heilungen und Tröstungen Jesu und in seinem Opfer für alle ohne Theorie greifbar, wahr und nachahmungsfordernd geworden ist! ——
Wenn wir also heute das „Septembertestament“ feiern, dann nicht um seiner geschichtlichen, literarischen oder auch ästhetischen Qualität willen und erst recht nicht, um Luther damit indirekt neben Homer und Shakespeare, neben Ernst Jandl und Friederike Mayröcker als gigantischen Sprachschöpfer auf einen Denkmalsockel zu stellen.
Er war Erzeuger und Hebamme, er war streuender Sporenpilz und gärende Hefe unserer Sprache und damit auch vieler unserer schönsten Lieder und zutiefst-vertrauten Seelenschätze, … daran besteht kein Zweifel.
Aber damit war er doch nur Schnitzer oder Schneider: Er hat eine Form, einen Schnitt, ein Gewand für die Bibel sauer erarbeitet oder begnadet spontan hingeworfen.
Der Inhalt aber ist etwas Anderes!
Doch der – der Inhalt! – ist es, den wir auch heute, bei der Erinnerung an eine große Übersetzungsleistung feiern wollen.
Um diesen Inhalt geht es ja auch jedes Mal, wenn uns eine Motette, ein Choral, eine Predigt eine Anspielung, eine rhetorische Figur, eine Erinnerung mit der urwüchsigen Kraft, der schwebenden Aura, dem spürbaren Puls oder auch nur dem leisen Nachklang der luther’schen Sprache berühren. Immer geht es eigentlich um das, was Luther nun tatsächlich selber nicht geschaffen und nicht geleistet, sondern in der Ergriffenheit der Übersetzungsfreu-de bezeugt hat: Es geht um DAS WUNDER, DASS GOTT SPRICHT.
Dass Gott nicht schweigt, ist ein – nein, wenn wir dem Schöpfungsbericht trauen, ist es das ursprüngliche und grundlegende – Wunder Gottes.
Gott könnte ja im Geheimnis, das Er ist und bleibt, verhüllt existieren.
Er könnte stumm über oder jenseits aller menschlichen Wahrnehmung verborgen bleiben.
Das Werk Seiner Hände könnte ahnungslos und taub für Ihn, ungerufen, ohne jede Kontaktaufnahme, ohne jedes Angesprochen-Werden in völligem Abgeschnitten-Sein seine Bahnen ziehen.
Dass Gott – die ewige Weisheit, die aus jeder Idee, jedem Gedanken sofort Wirklichkeit machen kann – schon für die Entstehung des Kosmos nicht tonlose Gesten oder geräuschlose innere Prozesse, sondern vernehmbare Äußerungen verwendet, ist ein Schlüssel zu Seinem Herzen:
Gott will Sich mitteilen, statt Sich für Sich Selbst zu behalten.
Gott legt der Welt nicht Seinen nackten Willen, sondern das Mittel zur Verständigung zugrunde und darum auch Verstehbarkeit.
Gott hüllt Sich nicht in Rätsel, die hingenommen werden müssen; Er erzwingt nicht die schaudernde Anbetung, die das versiegelte Mysterium verlangt, sondern Er setzt bereits den Anfang aller Dinge auf dem Weg der Kommunikation.
Gott öffnet Sich, statt Sich verschlossen zu geben.
Er atmet aus, so dass andere aus Seiner Lebendigkeit schöpfen können.
Er spricht und also weckt Er Hören und Denken, weckt Worte, weckt Gehorsam, Gegenrede und Gewissen, … weckt uns als Seine Antwort! ——
Diese unglaubliche Tatsache, dass wir es in der Bibel und durch die Bibel mit einem redenden, mit einem Sich äußernden, mit einem Sich auf den Menschen beziehenden Gott zu tun haben, ist das, was wirklich jeden Tag und jeden Augenblick vor Gott zu einem Fest macht:
Gott spricht uns an! Wir sind die Adressaten dessen, was Gott bewegt!
Wie uns das auszeichnet! Wie uns das aus der trüben, brütenden Verlassenheit, aus dem Vakuum eines nicht wörtlich gemeinten, eines bloß sachlich gegebenen Daseins herauslockt in eine Aufmerksamkeit und eine Erfahrung, die in und unter, über und hinter allem nicht die bleierne Sinnlosigkeit, sondern eine Nachricht, eine Botschaft, einen Sinn suchen … und finden darf: … Durch Anstrengung, durch Zweifel, durch Missverständnisse hindurch, gewiss … aber doch einen ausdrücklichen, weil ausgesprochenen und also auch verständlichen Sinn!
… Den guten Sinn, der in allem liegt und einst wieder auch aus allem sprechen wird: »Eu-Angelion« …Gottes sinn- und heilvolle Selbstmitteilung! ——
Dass Gott im Wort und im Verb Sich Selbst also zu uns hin auf den Weg macht, das ist nun tatsächlich noch viel mehr als die Geschichte einer einmal diktierten Offenbarung, eines einmal geschriebenen Textes, eines einmal gedruckten Buches, einer einmal geglückten Übersetzung.
Dass Gott redet, statt zu schweigen, … dass Er offenes Buch, weil offenes Wort ist, … dass Er eben buchstäblich Offen-Barung und nicht Abschließung wählt, … dass Er Sich also durch Überraschung und nicht durch Gewohnheit oder stummes Geheimnis kundtut, … das ist es, was tatsächlich alle, die Ohren haben zu hören und einen Mund, der fragen kann oder weitersagen, der Echo und Fortsetzung sein darf und soll, inspirieren muss!
Spricht Gott, wie sollten Menschen dann das Maul halten?
Hat Gott Seinem Wesen nach stets neue Nachricht für uns, wie sollten wir dann Sprach- und Teilnahmslose oder bloße Wiederholer sein oder bleiben wollen?
Das Wort Gottes macht Menschenworte locker, … lässt Menschenrede sprießen, blühen, Ernte werden und neue Saat, … macht Menschen also Lust zu sagen und zu singen, zu üben und zu versuchen, was sie noch nie vernommen, nie gesehen, nie festgehalten, nie ausgesprochen haben. ———
Die elf Wochen, in denen das Evangelium in Luther auf der kalten Wartburg so perlend und so dampfend sprudelte und wie erwärmtes Edelmetall sich zu schönster Zier und Kleinod formen ließ, diese fruchtbare, experimentelle, enthusiastische Phase der sprachlichen Freiheiten, der Neuprägungen und Eingebungen ist also kein Endpunkt, und das Septembertestament darf kein Aggregatzustand des Neuen Testamentes oder der Bibel sein, der noch ein halbes Jahrtausend später, ausgekühlt und mit allem Grünspan, allem Staub der Geschichtlichkeit nun hinter Panzerglas, im Schummerlicht einer Vitrine konserviert werden müsste.
Solche Schätze, die bloß eine Beute für die Altertumsdiebe und ein Fraß für den Rost wären, hat Jesus Christus eben nicht bringen wollen.
Vielmehr spricht Christus jede Zeit und jeden Menschen lebendig an, weil Er das Wort und Leben selber ist.
Darum ist aber das eigentliche Fest, zu dem Luther uns einlädt und sein eigentlicher Geniestreich – also das Zeichen seiner wirklichen Freiheit in der Geistesgegenwart des von Ewigkeit her und also auch heute und also auch in Ewigkeit redenden Gottes – nicht das Ergebnis jener Übersetzung, die Luther gelungen ist, sondern ihre Absicht.
Gottes Sprechen so zu fassen, ihm so zu dienen und ihm so auf die Sprünge zu helfen, dass es die berühmten Alltagsmenschen, die zeitgebundenen, konkreten Gestalten, die einfachen Leute mit dem echt existentiellen Horizont genau ihres Lebens erreicht, an die Luther im berühmten „Sendbrief vom Dolmetschen“ dachte – „die Mutter im Hause, die Kinder auf den Gassen, der gemeine Mann auf dem Markt“: Das ist der wirkliche Freibrief und das dringliche Erneuerungsmotiv aller Bibelarbeit, aller Verkündigung, aller sprachlichen Übersetzung und aller praktischen Übertragung des hier und jetzt wahren Wortes in das Leben jetzt und hier.
… Dass die sorgenden und die spielenden und die handelnden Menschen heute, … die, deren Alltag von Hektik beherrscht wird, … und die, deren Bestimmung das Lernen ist, … und schließlich auch die, deren Augenmerk geradezu areligiös auf dem rein Materiellen liegt, … dass diese alle spüren müssen, dass Gott sie anspricht: Das ist die Verheißung, die durch Luthers Übersetzung weht!
Es ist eine Verheißung, die keine sprachliche Form bevorzugt. Sie setzt weder ausschließlich einen vermeintlich „modernen“ Klang, noch irgendeine klassische geronnene Sprachgestalt ins Recht. Sie nutzt und sie verflüssigt, sie belebt und sie entfaltet alle sprachlichen Mittel und Zustände durch ihre eigene, aktuelle Erschließungskraft eben als Verheißung, … als Verheißung nämlich, dass alle Menschen spüren sollen und dürfen, wie Gott unmittelbar an ihr Ohr und ihr Herz drängt, dass Er in ihnen wahrgenommen und dann angenommen, also geglaubt werden will: Das ist das Eine, um das allein es geht!
Es kann durch hohe, hehre Feierlichkeit oder mit ganz unaufdringlicher Beiläufigkeit geschehen, dass Gottes Sprechen Gehör findet. Es wird sich in tausend tradierten und in ebenso vielen spontanen Formen ereignen, dass Gott Menschen erreicht.
Er spricht ja alle Sprachen; Er wählt für jede Frau, für jedes Kind und jeden Mann die Worte, die sie zu wecken und zu rufen vermögen und die ihre Antwort in Sprache, Tat oder einfacher Liebe auslösen werden.
Dass Luthers unbekümmert schnelle, lebensnahe, unverbildete, phantasievoll und zugleich organisch kreative Übersetzung das meinte und dass ihr das gelang – ja, immer noch gelingt! -, genauso wie es anderen Übersetzungen, Vertonungen, Auslegungen, Aneignungen, Fortschreibungen und direkten Erleuchtungen gelingt, Gott hörbar und verständlich und Menschen ansprechbar und verständig zu machen: Das feiern wir heute und jeden Tag, den wir mit dem redenden Gott, mit Seinem Wort in unserer Welt und Zeit verbringen dürfen.
Denn Seine Worte sind die Wahrheit und sie haben in sich das ewige Leben (vgl. Joh. 6,68 und 17,17)!
Amen.
[i] Auf einem Gottesdienstblatt war ein entscheidender Passus aus der Darlegung „wilchs die rechten vnd Edlisten bucher des newen testaments sind“, die Luther der NT-Ausgabe vom September 1522 nebst der Vorrede angefügt hatte, abgedruckt. Den Zitaten aus dem „Sendbrief vom Dolmetschen“ und der Bezugnahme auf die Vorreden zu einzelnen biblischen Büchern in dieser Predigt liegt Bd.6 der sog. „Münchner“ Luther-Ausgabe zugrunde: „Bibelübersetzung. Schriftauslegung. Predigt“ (Martin Luther - Ausgewählte Werke, hgg. v. H.H.Borchert und G.Merz, München, 19583).
12. So. n. Trin., 04.09.2022, Stadtkirche, Apostelgeschichte 9, 1 - 19, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 12.n.Trin. - 4.IX.2022
Apostelgeschichte 9
Liebe Gemeinde!
Ein schönes Lied haben wir da eben gesungen (EG 256) … aus Tagen, als es noch möglich schien, eine globale Hoffnung ausdrücklich im Namen des Christentums zu hegen: Damals – als es schon schrecklich viel koloniale Gewalt und Unterdrückung gab, Versklavung und Ausbeutung, die von der europäischen und amerikanischen Christenheit ausgingen – … damals haben sie in Württemberg bei Albert Knapp genauso wie im Wuppertal oder im Ravensberger Land und überall, wo es Erweckungen und Missionsgeist gab, immer noch geglüht in der Vorfreude darauf, dass alle Völker den Herrn Jesus in der Einfalt als ihren göttlichen Freund, in der Not als ihren sicheren Befreier und im Tod als ihren gnädigen Erlöser erkennen und dadurch unendlich glücklich, ja selig werden sollten.
Da war echte Jesusliebe genauso lebendig wie echte Menschenliebe. Die Welt schien den Frommen damals wirklich wie ein Heer von ziellos Irrenden, das zusammen den langen Weg durch die Wüste antreten werde, wenn nur ein Paar Kundschafter, die das Zeichen von Golgatha kannten, es ermutigten, sich in die dort weit ausgebreiteten Arme der Barmherzigkeit zu flüchten und dann an der Hand des auferweckten Gekreuzigten zur ewigen Heimat zu ziehen.
Das war der Traum von der allüberall lockenden, tröstenden, liebenden, hoffenden, leidenden und dann im Himmel schließlich triumphierenden Kirche aus allen Stämmen, Sprachen und Völkern. …
Das war der Traum.
……. Zerrissen und kaputtgegangen wie alle Träume, wenn die Realität sie entfärbt und entweiht. Die Kirchen haben sich vor viele Karren spannen lassen; … zu manchen Völkern haben unsere christlichen Missionare nicht nur Heil, sondern Hölle getragen, … andere haben sie kulturell und psychologisch gespalten in vermeintlich unterlegene und vermeintlich überlegene Bestandteile, … wieder andere haben sie vor Ausbeutung und inneren Orientierungskrisen nicht ausreichend schützen können.
Die begeisterte Reich-Gottes-Arbeit, das Versöhnungswerk der Menschheitssammlung, um den Thron des Lammes ist für viele Heutige von finsterer Unterwerfung und brutaler Zwangsvereinheitlichung nicht mehr zu unterscheiden.
Von Anfang an sind Christen zwar in alle Himmelsrichtungen ausgezogen, um die unterschiedslose Liebe Gottes zur Fülle der Völker zu tragen, aber neben unglaublichem Segen ist dabei tatsächlich auch viel Zwietracht und Missbrauch entstanden. So dass der Traum von der allen geltenden, jeden umfassenden Gemeinschaft heute zwar noch in vielerlei säkularisierter Gestalt begegnet – Globalisierung, Weltmarkt, schrankenlose Virtualität, klassenlose Gesellschaft, Demokratisierung aller Nationen, Schutz der fächerartigsten Vielfalt – und doch unendliche Verlegenheit herrscht, wie das gehen könne: Eigene Ideale zu verbreiten, gilt als Imperialismus; fremde Inhalte zu übernehmen, wird geschmäht als enterbende Aneignung. Die Menschheit sieht sich ratlos an und kommt auch da, wo sie nicht von der Spaltung lebt, über das Trennende nicht hinweg, vertieft die Gräben sogar wieder immer mehr und wundert sich, dass Angst, Hass und Grausamkeit so unverändert aus dem Abgrund steigen.
…. Dass bald das einzig wirklich alle Verbindende der entfesselte Sturm der Vernichtung dieser Erde sein könnte, ist eine bittere Bilanz der misslungenen christlichen und antichristlichen, der religiösen, kommunistischen, kapitalistischen und technologischen Träume von der Menschheitseinung. ———
Warum also noch die alten Lieder von der Ausbreitung der Frohen Botschaft in Nord und Süd und Ost und West singen?
Warum den alten Traum noch feiern mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen, durch den gerade so viele verschiedene Vertreter der Menschheit bei der Vollversammlung in Karlsruhe zusammenkommen, die alle aus der einen Taufe in den Tod und in die Auferstehung leben und die das eine Ziel des irdischen Friedens hier und des himmlischen Friedens einst in der kommenden Welt teilen? Warum - um alles in der Welt - also immer noch ein missionarisches Herz und eine missionarische, welteinladende, welt-liebende Haltung bewahren, die Jesus bei allen und alle in Jesus zu erfahren wünscht? …….
Aus Nostalgie und Naivität?
Aus pietistischer Pietät oder schlichter dogmatischer Phantasielosigkeit?
Nein!
Denn das Neue Testament ist auf keinen Fall ein simpler Leitfaden für harmlose Verbrüderungsschwärmer oder leichtgläubige Allversöhnungsspinner. Die Bewegung des Neuen Testaments ist kein Weltbeglückungszwang europäischer Eroberer und seine missionarische Parole lautet auch nicht: Geht hin und verbreitet Woodstock-Stimmung, haltet Händchen, tanzt, kifft und erklärt in Stuhlkreisen, bei Sit-ins oder im Sandalenschweiß einer Kirchentagsmasse, warum man sich basisdemokratisch emanzipativ und inklusiv benehmen soll.
Die Mission im Neuen Testament fängt nämlich gar nicht als das Schneeballsystem einer sich siegreich ausbreitenden apostolischen Sendung an. Das Neue Testament kennt keinen solchen schönen Traum.
… Vielmehr beginnt’s mit dem Albtraum!
Die Weltbewegung, die wir Kirche nennen, geht los mit einer schrecklich düsteren film-noir-Szene: Ein zynischer Agent mit Plänen für einen großen Schauprozess - Saulus aus Tarsus - bewegt sich auf Damaskus zu. Viele aus dem verfeindeten Lager sollen ausgehoben werden. Es kann schmutzig enden, … kann auch auf Massenmord hinauslaufen.
So ist es auf der Straße nach Damaskus. Heute auch noch. … Oder auf den Pisten, die in die verbliebene Wildnis des Amazonas führen: Da müssen auch nicht nur Bäume und Tiere dran glauben. … Oder auf den Panzerspuren, die aus Russland Richtung Westen pflügen. Oder auf den Gefangenentransporten in China, den Schlepperrouten aus Afrika, den Drogen-Highways, von Süd- über Mittelamerika bis zum Klemensplatz. … So ist es, wo immer Menschen sich sicher genug fühlen, um anderen schadlos zu schaden. Jeder Menschengruppe, erst recht jeder Opposition drohen heimliches Unheil oder offene Inszenierungen der Verfolgung an unzähligen Orten der Erde: Man treibt die mit den abweichenden Anschauungen, Sitten oder Maßstäben zusammen, man pfercht sie ein, erzieht sie um, hungert sie aus und macht sie kalt … überall … rundherum, wo immer die Macht dafür reicht und das Recht dagegen zu schwach ist. … Menschen sind Bestien, deren Opfer Menschen sind. … So ist das, mit der Menschheit!
… Sage also niemand, die blauäugigen Christen machten es sich leicht mit dem Traum von der netten Wandlung zum Guten. Sage niemand, die christliche Mission, die Menschen im größtmöglichen Maßstab vor einander - und das heißt: vor sich selber! - retten und sie in den Heilsbereich Gottes, in das universale Asyl Seiner Liebe rufen will, verkenne die Wirklichkeit!
Das Gegenteil ist der Fall: Die christliche Umkehrbewegung fängt mit einem zum Äußersten entschlossenen Gesinnungsmörder an … „Saulus schnaubte mit Drohen und Morden“! So hart, so ungeschönt.
Was aber mit einem derart ausgeprägten Anti-Helden und dessen brandgefährlicher Aggression losgeht, das taugt nie und nimmer für ein schlichtes Drehbuch ansteckender Wohlfühlübungen durch große Gurus.
In seiner Apostelgeschichte will Lukas indes auch gar nicht die großartigen Pioniere der ersten Stunde verklären. Solche Propaganda führt nur zu dem, was man in Düsseldorf von der Naziverehrung für deren Pseudomärtyrer Schlageter kannte oder in den Lügenkult des Lenin-Mausoleum, während die echten - also niemals tadellosen - Bewährungshelfer der Menschheit – man denke denkbar an den gestern zu Grabe getragene Michail Gorbatschow! – kaum jemals reine Bewunderung erfahren, weil alles, was an ihnen glänzt, eben auch Schatten wirft.
Lukas will also nicht erzählen, wie der rabiate Ideologe Saulus zum leuchtenden Genie der Christentums-Werbung wurde.
Seine unwahrscheinliche und unheimliche Ouvertüre der Kirchengeschichte mit einem Finsterling, wie sie die Weltgeschichte serienmäßig und verhängnisvoll bevölkern, hat einen anderen Brennpunkt. Und auf Den sollen wir unsere Augen richten … auch wenn sie uns - ähnlich wie bei Saulus - den Dienst versagen und nicht aushalten können, was sich mitten über den leidvollen und schuldreichen Ereignissen unserer Tage zeigt.
Lukas will - und er kann! - erzählen von einem Licht, das nicht nur Alltagsgrau und Trübung unserer so gar nicht traumhaften Welt wirklich heller, wirklich schöner machen kann.
Lukas kann und will darüber hinaus vor allem aber erzählen von einem Licht, das die tiefste Finsternis zerreißt, … gerade jene Finsternis, die heute über der Welt lastet wie im Vorschöpfungschaos (vgl. 1.Mose1,2).
Es gibt ein Licht, das über den Mördern und ihren Opfern strahlt.
Es gibt Glanz und Wärme, die alle Verantwortung und alle Verantwortungslosigkeit, alle Schuld und alle Destruktion, deren der Mensch fähig ist, durchdringen, bis der tiefschwarze Kern, bis die abgründigste Nachtseite unseres Da- und Soseins nicht mehr lichtlos bleiben.
Es gibt eine Helligkeit, die alle Schatten des Todes aufklärt.
Es gibt eine Sonne, die den ganzen Kosmos und noch die Antimaterie darin nicht im Bann jener Kraft lässt, die alles kollabieren macht, sondern die Leben weckt und Funken schlägt in der kältesten, fühllosesten, erloschensten Peripherie, weit, weit, weit, … unendlich weit von der Mitte, in der die Dinge stabil und harmonisch erscheinen.
Es gibt jenes Urlicht, jenes ewige Licht, dessen Klarheit und Milde, dessen strömender Segen und stoffwechselnde Heilkraft alles erleuchten und umschmelzen und unumkehrbar ansehnlich und glanzvoll machen können.
Es gibt dieses Licht der Welt, die doch so dunkel scheint.
Von diesem Licht erzählt uns Lukas. Die Augen des sterbenden Simeon sahen es - und gingen über -, als er ein kleines Kind im Tempel auf die Arme nahm (vgl.Lk2,30ff). Da drückte Simeon Den ans Herz, Der sprach: „Es werde Licht!“.
Und dieses Licht reinster, unverlöschlicher Liebe zu allen, die verloren gehen oder schon verloren sind, … dieser ansteckende Glanz leuchtender Herrlichkeit für die Armen, die Hoffnungslosen, die Ausgeblendeten, … dieses Morgenrot tatsächlicher Gerechtigkeit, unanfechtbarer Freiheit und bleibenden Lebens war Tag und Nacht, dreißig Jahre lang auf dieser Erde.
Dann kreuzigte man das Licht.
Aber so wenig wie wir je einen Sonnenstrahl fangen können, so wenig konnte das wahre Licht von der finsteren Gewalt der Sünde und der Sünder festgehalten oder gar ausgeschaltet werden. Das Licht brach durch die Nacht, die es erstickte. Und dann erleuchtete das endgültig aufgegangene Licht ununterdrückbar die sichtbare und die unsichtbare Welt, bis die Finsternis des Weltalls zum hellen Himmel wurde, erfüllt von dieser lebendigen und lebensweckenden Kraft, von der Lukas uns zu Weihnachten ebenso erzählt wie zu Ostern und zu Pfingsten, dem Tag, als das Licht in so vielen Menschen gleichzeitig aufflammte.
Lichtergeschichte ist die Apostelgeschichte des Lukas darum genauso wie sein Evangelium: Aber eben eine Lichtergeschichte, die nicht von strahlenden Helden oder glanzvollen Meistern unter den Schriftgelehrten, den Jüngerinnen und Jüngern oder den Aposteln erzählt, sondern von Menschen - teils aufgeklärten, teils wirklich undurchsichtigen -, denen der Glanz des einen, endgültigen, ewigen Lichtes erschienen ist und die es wegen seiner überwältigenden Herrlichkeit schlicht reflektieren mussten.
Lichtergeschichte ist also die Apostelgeschichte, …. oder wir könnten auch sagen: Der einleuchtendere Name für dieses Werk wäre eben doch Jesus-Spiegel oder Christus-Reflektion. Die Geschichte, wie der Glanz von Jesu Liebe und Lebendigkeit sich auf den Zügen von Menschen zeigte, ja, wie er in Menschen zündete und sie transparent für ihn machte! ——
Darum kommt nun auch jener Saulus, von dessen tödlichen Absichten und rettendem Sturz, von dessen Tücke, Hilflosigkeit und Rehabilitation im Kreis seiner Opfer wir doch heute im Predigttext hörten, in der Predigt kaum vor.
Wir kennen ihn als evangelische Christen ja gut genug: Unser einsam leuchtender Fixstern, dessen ganz individuell gefasste Rechtfertigungslehre es in den reformatorischen Köpfen zu einer jahrhundertelangen Verzögerung bracht, bis aus der von Paulus vermeintlich beantworteten Frage „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ die Unruhe wurde: „Und wie kriegen Andere einen gnädigen Gott? Wie erfahren Alle von der Gnade Gottes?“
Ausgerechnet die evangelischen Paulusschüler waren wirkliche Nachzügler im Begreifen, dass Christentum Mission bedeutet.
Das aber ändert sich heute vielleicht deshalb wieder, weil wir das Unaufgebbare, das Unverzichtbare an der Hoffnung für alle empfinden, die nicht vom Frieden des Einzelnen mit seinem Gott in den Hintergrund verdrängt werden darf!
Die Lichtergeschichte, die den verfinsterten Saulus tatsächlich leiblich sehunfähig machte, bis ihm mit der Taufe aus verachteten Händen die Erleuchtung geschenkt wurde, dass man Jesus nicht verfolgen, nicht überwinden, nicht ausschalten kann, weil man überall Ihn finden wird, wo man auch hinschaut, … weil man, sobald man einen Menschen erkennt, gerade auch die Liebe Jesu zu diesem Menschen erkennt … und weil man von dieser Liebe, diesem Licht, diesem Jesus eben selbst auch durchdrungen wird, wenn man die Welt auch nur irgendwie oder sogar insgesamt wahrnimmt ……. diese Lichtergeschichte ist die entscheidende Botschaft für uns hier und jetzt.
… Sie ist die Mission, die uns Hoffnungsverlierer, uns Glaubensverabschieder, uns Schwarzseher und Weltaufgeber, uns Zeugen radikaler und restloser Zukunftsdunkelheit treffen und entzünden muss und wird … wie das für die Lichtdurchflutung und Weltaufhellung auserwählte Werkzeug Paulus.
Auch uns – das ist die Hoffnung und die Wahrheit dieser Tage – auch uns nämlich wird es nicht möglich sein, Jesus zu dämpfen, … wie trüb wir auch tun mögen.
Auch uns, in diesen Tagen wird durch Ihn das widerfahren, was der Prophet in der Schriftlesung (Jes.29,18ff) uns verheißen hat:
„Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches
und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen,
und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN
und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.
Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen
und mit den Spöttern aus sein,
und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten.“
Das ist die globale Hoffnung.
Das ist Jesu Lichtgeschichte für Alle!
Amen.
11.So. n. Trin., 28.08.2022, Stadtkirche, 2.Samuel 12, 1 - 15, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 11.S.n.Trin. - 28.VIII.2022
2.Sam.12 i.A.
Liebe Gemeinde!
Gleichniserzähler sind vorsichtige Kämpfer. Ihre Waffe kann ganz harmlos wirken, wie irgendein alltägliches Werkzeug. Aber wer eine Gleichnisgeschichte richtig auffasst, merkt – wenn er selbst nämlich nicht stumpf ist –, dass es sich dabei um eine geschliffene Pointe handelt, um eine Spitze, die trifft. Aus einer gewöhnlichen Begebenheit wird durch eine rechte Gleichniserzählung der geschärfte Blick für die Wahrheit.
Nun bin ich kein begnadeter Gleichniserzähler wie es viele Rabbiner von der Antike bis heute waren, die Banales zu schildern und darin Heiliges zu veranschaulichen wussten; ich bin auch kein Weiser wie der Dichter Lessing, der mit seiner Fassung des Drei-Ringe-Gleichnisses die Menschheit vor eine unlösbare Schiedsaufgabe in Sachen Religionsstreit gestellt hat; auch bin ich kein Parabeldichter, dessen politischer Widerstand sich wie bei Bertold Brecht in Kurzgeschichten reiner Unauffälligkeit kleidet, um unbemerkt an aller Zensur vorbeizukommen und dann in’s Schwarze zu treffen; am allerwenigsten bin ich natürlich ein Prophet Nathan oder Jesaja oder Jeremia … oder ein Rabbi und Zimmermann aus Nazareth, der das Reich Gottes auf dem Acker, bei der Bauernhochzeit und in galiläischen Kleinstadtgeschichten für alle Welt fassbar gemacht hat.
Wenn ich ein Gleichnis erzählen wollte, würde es hinken und sich in einem unnatürlich auf-gesetzten Kostüm sofort verraten.
… Meine Geschichte von den bequemen Leuten, die es gern warm haben wollten und sich deshalb von einem entfernten Ort das Feuer an den Ofen tragen ließen ohne zu fragen, aus welchem Inferno die Flamme wohl stammte und ob der Wärmebote nicht vielleicht unterwegs versehentlich oder voll tückischer Absicht alle Nachbarhäuser lichterlohn in Brand stecke, … mein Gleichnis von den Toren, die an frostigen Tagen dennoch 22 Grad haben wollten und dadurch unwillkürlich an einem höllischen Feuer mitschürten, das ihnen selbst das Feld und den Wald verwüstete, … das würde jeder sofort gelangweilt durchschaut und vergessen haben: So töricht wie in dieser Geschichte sind die Menschen doch nicht …….
Und darum – weil kein Gleichnis, das ich spinnen könnte, uns wohl helfen würde – … darum stehen wir in Jerusalem. Dem Ort, der vor Gott alle Orte vertritt und alle Menschen verbindet. Wir stehen in Jerusalem.
Wo man tuschelt. Weil alle wissen, dass Macht - sogar die Macht der Guten! - Menschen zerstört: Die reine Möglichkeit von etwas wird in den Händen der Mächtigen, denen nichts und niemand sich in den Weg stellt, zu seiner Wahrscheinlichkeit, nein: zu seiner Verwirklichung. Wenn ein Machtmensch etwas Begehrenswertes sieht, dann muss er sich nicht verzehren danach, … nicht davon träumen, … sich in den Träumen nicht ausmalen, wie es wohl wäre … Nein: Er reißt es an sich. Ein Stück Land. Einen Schatz. Eine Schönheit. Wie der König David jene betörende Bathseba, die er im Bade beobachtet hatte (vgl.2.Sam.11). Der Bauernbub aus Bethlehem, der auf den einsamen Triften mit seinen Schafen vermutlich noch manchmal hungerte, … der Bandenführer in der Wüste, der für seine Schar betteln oder stehlen musste (vgl.1.Sam.21; 25; 27,9), er konnte auf dem Söller seines Königshauses in Jerusalem jeden Appetit stillen: Also musste Uria, der Soldat, der Mann der Bathseba meuchlings sterben, weil David sie wollte.
… Das ist das heillose Unrecht, ja, der Fluch der Macht: Zu können, was man will! – Und das ist ja auch der Fluch unseres kranken Denkens geworden, dass wir sagen: Was man nur will, das kann man auch!
In Jerusalem brodelt die Stadt, weil es sich so gerade nicht leben lässt: Unbeschränktes Wollen, unbegrenztes Können sind nicht Freiheit, sondern Verdammnis. Ein Mensch, der kriegt, was immer er verlangt, wird zum Unmenschen. Ein Volk, das einem Wahn von Allmacht unterliegt, ist von Innen dem Unaufhaltsamen ausgeliefert. ——
Was aber begrenzt den Menschen?
Welches Gleichnis findet sich für die Schranke, die es braucht, um uns vor dem totalen, dem absoluten, dem losgelösten Menschenspleen, dem Übermenschen, dem Menschengötzen zu bewahren?
… Ist es die Bindekraft des Gesetzes, für die Franz Kafka so einprägsame surreale Gedankenbilder gefunden hat?
Oder kann der Mensch nur durch Angst im Zaum gehalten werden …, womit wir bei Luthers altem Vergleich wären, der im Menschen ein störrisches Lasttier sah, dass entweder von Gott oder vom Teufel geritten werden muss. —
… Was nimmt dem Menschen die schreckliche Allmöglichkeit, die ihn verdirbt?
… Wir stehen in Jerusalem, in Davids Kreml.
Wir hören Nathan vor der Tür zum Thronsaal schwer atmen: Er, der Prophet, dem der König gerne sein Ohr lieh, hatte vor Kurzem noch die unbeschränkte Heilszusage Gottes für das Haus Davids auszurichten. Gott versprach dem Nachkommen Davids: „Ich will sein Vater sein und er soll mein Sohn sein“, so dass das Königtum des Knaben aus Bethlehem in Ewigkeit bestehen wird (vgl. 2.Sam.7, 14-16). … Solche Verheißung im Superlativ – ein Versprechen, das dreihundert Jahre später bei Jesaja so zentral werden sollte, dass wir noch heute keine Adventszeit, kein Weihnachtsfest erleben, in denen nicht die unerschütterliche Hoffnung auf den Davidssohn als Garantie des Heils begegnet – … solche Verheißung im Superlativ, die Nathan überbracht hatte, muss ja wahrhaftig wie eine toxisch-tyrannische Überdosis auf den großen König gewirkt haben. … Grenzenloses Heil hat Gott an ihn geknüpft, grenzenlose Hoffnung. Kein Wunder, wenn seine Hybris in’s Gewissenlose schoss.
… Zu große Gaben Gottes an einen bloßen kleinen Menschen aus dem kleinen Bethlehem Ephrata! … Zu viel göttlicher Vertrauensvorschuss in’s Menschliche. … Gott zu sehr auf Menschenwegen!
… Nun also muss Er donnern wie Kollege Zeus, damit der Zwergenkönig sich gebührend fürchtet und demütigt! Nathan muss jetzt den Menschen also stutzen, den Gott wohl doch zu sehr erhöht hat, dem Gott wohl doch zu weit entgegenkam! Der Mensch muss seine Grenze am Übermenschlichen finden; er muss scheitern an der überragenden Größe Gottes! …
Wir stehen mit Nathan auf der Schwelle, Aug’ in Aug’ mit der Hybris der Menschenmacht.
Welches Gleichnis wird er finden? – „Gedenk’, dass Du nichts bist als eine Blume des Feldes, die heute blüht und sprosst, morgen aber welkt und verdorrt! Gott ist Dein Töpfer, du irdenes Gefäß, der Dich auch wieder zerschlagen kann! Er kann Dich löschen wie die Schrift an der Wand, … Er kann Dich wechseln wie ein Gewand, … kann Dich und alle Bewohner der Erde dahinsterben lassen wie die Mücken. Mensch!, - König! - Geschöpf! - Dich begrenzt der Tod!“ …….
Wir stehen hinter Nathan, der jetzt Blut, Blitz und Feuer aufbieten muss, Grimm und Panik.
Er muss dem ohnmächtigen Beherrscher von Saporischschja, dem Möchtegern-Gott, der so schrecklich über das Gedeihen und Verderben anderer gebietet, die unüberschreitbare rote Linie aufzeigen und ihn vernichtend in die Schranken weisen. Es muss eine Strafrede werden, von der man über Jahrtausende noch sprechen wird, weil sie so gebieterisch überwältigend war. …
… Doch Gott hat die Zukunft keinem Demosthenes und keinem Cato, keinem großen Rhetoriker oder Rabulisten auf der Rednertribüne, keinem geifernden Robespierre, auch keinem Garibaldi oder Spurgeon oder Lenin oder Roosevelt - oder wie die gewandtesten Überredungs-, Verführungs- und Begeisterungskünstler der Welt sonst noch heißen - überlassen!
… Stattdessen spricht Gott durch Gleichniserzähler, … vorsichtige Kämpfer, die im Einfachsten das Entscheidende berühren.
… Als Nathan nämlich endlich anhebt – jene Rede, die den Hochmut, die Anarchie, die Sünde des von Gott erwählten Menschen endgültig begrenzen soll! –, … da erzählt er von einer ganz gewöhnlichen kleinen Familie, … von sentimentaler Tier- und Kinderliebe, … und von der Störung dieses trivialen Idylls, in dem ein Armer neben seinen Kindern auch sein Schäfchen hätschelt, durch die dreiste Anspruchshaltung eines geizigen Wohlstandsbürgers. … Es hätte die Moralpredigt, … das reformatorische Fanal, … der weltwendende Basta!-Appell schlechthin werden müssen ……. und was wurde es?
– Ein seifenoperettenhaftes Nachbarschaftstheater!
Das soll den Titan, der glaubt, er dürfe alles, weil er alles kann, die Mores lehren? – Die Hinterhofgeschichte vom zärtlichen Zusammenleben von Mensch und Tier, das scheitert weil ein gefühlloser Grobian verächtlich darin eingreift? Eine solche Schmonzette, ein solches Herz-Schmerz-Rührstück soll es richten?
… O Gott! … Wie gutgläubig Du bist! … Wie sehr Du - „lieber“ Gott - im Ernst an die Liebe zu glauben scheinst?! Kannst Du denn keine gewaltigeren Argumente aufhäufen, um den Menschen zu bekehren, der sich an allem vergreift, der alles verdirbt, der alles vernichtet? Kannst Du nicht, … musst Du nicht - Gott - Deinen Zorn aufbieten, Dein Gericht und alle Verdammnis, statt an’s Gefühl, an’s Mitgefühl, an’s Mitmensch-Sein zu appellieren? …….
Doch auch wenn unsere, in diesen Tagen der Weltuntergangsdrohung beinah unerträgliche Spannung hier, an Nathans Seite so lächerlich entweicht wie die heiße Luft aus einem aufgeblasenen Ballon: Die biblische Überlieferung von der Strafe und Bekehrung des heiligen Königs David, der so ein erbärmlicher Sünder vor dem HERRN war, gewährt uns nicht die Flucht in den Gotteszorn, zu dem wir uns so gern als letzter Projektion versteigen, oder die Hoffnung darauf, dass eine jupiterhafte Gegenreaktion die unbotmäßigen Geschöpfe schon zerschmettern werde.
Gott, der im Gleichnis von dem verletzten weichen Menschenherzen an’s Gemüt greift, nicht aber zur Gewalt, … dieser Gott Abrahams und Davids und Jesu ist eben von altersher, seit Erschaffung der Erde ein Gott auf Menschenwegen.
Er verlässt sich nicht auf den Schrecken, den Er erregen kann – und doch wissen wir, dass Er schrecklich ist (vgl. Hebr.10,31!) –, sondern Er geht den Weg der Verlorenen seit dem Sündenfall so mit, dass Er sich an das Vertrauen wendet – Abraham! –, … dass Er Seine Leidenschaft für die Menschenkinder in ihrem Mitgefühl sucht – David, dank Nathans! –, … und dass Er schließlich die gesamte Menschennot, den Menschheitsschmerz, das Welt- und Höllengrauen nicht atomisiert, sondern annimmt, mitträgt, austrinkt, ausbadet, durchleidet und durchstirbt.
Gott ist so auf den Weg an’s Herz geeicht, … Er ist so hingebungsvoll entschlossen, nicht über Leichen zu gehen, sondern zu den Sterblichen, den Sterbenden, ja schließlich auch den Toten, dass die ganze biblische Heilsgeschichte ein einziges Gleichnis des göttlichen Machtverzichtes ist.
Immer ärmer wird unser Gott, immer schwächer, Der doch anfänglich eine Sintflut und einen Schwefelregen einsetzte, Der Unwetter, Verheerung und Plagen über die Sklaventreiber Ägyptens kommen ließ und noch in Sauls Tagen, kurz vor Davids Herrschaft einen Schrecken auf Israels Feinde, die Philister fallen machte (vgl.1.Sam.14,15!).
In der Nathansstrafpredigt aber ist das Ende der Rachezüge Gottes greifbar geworden: Er verändert Seinen erwählten und verirrten Knecht und König David nicht mehr durch Einwirkung auf dessen Furchtinstinkte, sondern dadurch, dass Davids Herz in Mitleid schmilzt: Er spürt das Leid des Armen, dem das Lämmchen genommen wurde. … Er fühlt!
… Und als dieses Gefühl nun David zu einem Racheschwur hinreißt – „Der Mann ist ein Kind des Todes, der solches Unrecht tat!“ –, da bricht der heiße Vergeltungsdrang unter dem einfachen Wort zusammen, das alle Verbundenheit der Welt enthält:
„Der Mann ist ein Kind des Todes!“, empörte sich der König, dem die Macht vergehen sollte.
„Du bist der Mann“, entgegnet der Prophet.
… Und da ist die Macht, die Allmachtsphantasie, das Übermachtgehabe gebrochen.
David hat untrüglich gespürt, was ein Anderer – und sei’s auch nur im Gleichnis! – erlitten hat. Und er hat erfahren, dass er in nichts von diesem Anderen und seinem Schmerz verschieden ist. Er nahm am Verlust des armen Lämmchenvaters teil. Und so erfuhr er, dass die bittere Sterblichkeit, die dem Unschuldigen so viel Schmerz bereitete, als man seinen Liebling nahm, nicht nur eine Strafe sein kann, die allein dem Schuldigen droht.
Der Schmerz des Verlustes, den er so tief mitfühlte, hat David verändert.
Und die Schuld, die aus ihm - der der Richter sein wollte - einfach einen „Mann“, einen Mitmenschen machte - „Du bist der Mann!“ -, hat David verändert.
… Die Lehre also vom allseits geteilten Leid der vielen Kinder des Todes, zu denen alsbald sein eigenes Kind von Bathesba gehören sollte und in späterer Zeit einmal auch der Davidssohn, der das einziggeliebte Kind Gottes sein würde … diese Lehre vom allseits geteilten Leid der Kinder des Todes, die doch Gottes Kinder sind: Sie ist es, die den David veränderte; sie ist es, die den Menschen begrenzt!
Unser Mitmensch begrenzt uns!
Die Liebe zu ihm begrenzt uns!
Das Leiden mit ihm, … das Leiden um ihn, … das Leiden für ihn, begrenzt uns! ——
Das ist die Hilfe, die das schlichte, anrührende Gleichnis Nathans auch unserer Zeit bietet, in der die Hybris, die Großmachtsucht, der Allmachtswahn ein solch abgründiges Verderben bereiten: Kampf, Gewalt und Kräftemessen bis auf den Tod sind - Gott sei’s geklagt! - zwar vorerst wieder unumgänglich geworden, als seien wir in den Tagen der Sintflut oder der primitiven Eroberungszüge bei der Landnahme und Wanderung der Völker des Altertums.
Doch der Weg zu Gottes Zielen geht nicht über diese längst absurd gewordenen Verirrungen.
Den Weg Gottes geht nur, wer fühlt, was die Menschen fühlen, was ihnen fehlt, woran sie kranken, wodurch sie leiden, womit ihnen geholfen werden kann.
Wenn unsere Herzen das spüren und wir so leben, dann werden wir selber zu Gleichnissen: Zu Gleichnissen Gottes, in Dessen Ebenbild wir erschaffen sind und von Dem es in der Stunde Seiner höchsten Liebe nicht hieß – „Da, der Allmächtige!“, sondern „Sehet, welch ein Mensch!“ (vgl. Joh19,5).
Amen.
Israelsonntag, 21.08.2022, Matth.5,17-20, Mutterhauskirche, Dr. Katrin Stückrath
Amen, liebe Gemeinde!
Jetzt wundern Sie sich vielleicht und denken: Wieso fängt die Pfarrerin eine Predigt mit Amen an? Das kommt doch normalerweise am Schluss! Ist die Predigt jetzt schon zu Ende?
Nein, liebe Gemeinde. Ich beginne nur meine Predigt heute mit dem Amen. Genau wie Jesus es tut in dem Abschnitt, über den ich heute erzählen will. Er beginnt mit Amen und leitet über zu einem Teil der Bergpredigt, wo Jesus einige der 10 Gebote und andere Gebote auslegt.
Er gibt dieser Auslegung eine Überschrift, die lautet:
17Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.
Hier erklärt Jesus seine Mission. Ich bin nicht der, der die Heiligen Schriften auflöst. Man kann hier auch „zerstören“ übersetzen. Zum Wegwerfen seiner Tradition ist Jesus nicht angetreten. Stattdessen: Er ist gekommen, um zu erfüllen. Das soll wohl bedeuten, dass er sich daran hält, was im Gesetz und in den Propheten geschrieben steht. Er zeigt sich als ein normaler Jude, der als Jugendlicher lernt, in den Heiligen Schriften zu lesen, sie auch vorzulesen im Synagogengottesdienst. Der Bar Mizwa feiert ähnlich wie die Konfirmation und damit ein „Sohn des Gesetzes“ – das heißt Bar Mizwa, wird.
Jesus ist nicht gekommen, um das Gesetz zu zerstören, sondern um es zu erfüllen. Darin steckt mindestens noch ein zweiter Sinn: In der hebräischen Bibel – wir kennen sie als Altes Testament - stecken viele Verheißungen Gottes. Vielleicht will Jesus auch andeuten, dass er diese Verheißungen der Liebe Gottes, der guten Zukunft, des Friedens, verkörpert. „Erfüllen“ heißt hier mehr als „befolgen“, es heißt auch „zur Fülle bringen“.
Soweit also zu unserer Überschrift des zweiten Teils der Bergpredigt (zu lesen bei Matthäus im 5, Kapitel ab Vers 17). Dann legt Jesus los:
18 Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.
Auch wenn Jesus es sagt, ist es uns etwas fremd, dass das Amen das erste Wort ist und nicht das letzte Wort. Im Judentum zur Zeit Jesu wurde das „Amen“ meistens als Antwort benutzt. Wenn jemand einen anderen Gott loben hörte, antwortete er mit Amen und stimmte so in den Lobpreis Gottes ein. Genauso machen wir es eigentlich bis heute im Gottesdienst. Ich spreche ein Gebet - und die Gemeinde antwortet mit Amen. So sollte es sein. Wenn die Pfarrerin im Gottesdienst die einzige ist, die immer das Amen spricht, ist das eigentlich nicht richtig. Ich habe in der Ausbildung noch gelernt: „Das Amen gehört der Gemeinde.“ Denn wörtlich ist „Amen“ eine Bestätigung. Es bedeutet: „Ja, wahr ist es.“ Da merken Sie, dass das Amen der Gemeinde gehört, sonst würde sich die Pfarrerin nur selbst bestätigen. Nach dem Motto: „Recht habe ich.“ Ob ich recht habe, ob Sie das bestätigen möchten, das liegt bei Ihnen.
Andere Bedeutungen, die beim „Amen“ auch noch mitschwingen sind: „Verlässlich ist es und treu.“
Und das will Jesus hier auch sagen: Die Verheißungen Gottes, die niedergeschrieben sind im Gesetz und in den Propheten, sie sind treu und ich bin ihnen auch treu. Ich löse sie nicht auf. Ich erfülle sie. 18 Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.
Liebe Gemeinde, jetzt halte ich mich einmal mit dem Kleinsten auf: Für „kleinster Buchstabe“ steht im griechischen Text: Jota – das kann einem auch im Deutschen begegnen, es bedeutet „Etwas sehr Kleines bzw. Geringes, in Anlehnung daran, dass der Buchstabe Jod das kleinste Schriftzeichen des hebräischen Alphabets ist.“ Das Jota, der Buchstabe joder i ist im Hebräischen nur ein Häkchen. Und weil die Hebräer lieben, alles in Parallelismen zu sagen, fügt Jesus zu dem Jota noch hinzu: „und kein Häkchen“.
Hier wurde ich neugierig, wie der alte Luther selbst diese Stelle übersetzt hat und schaute in die Lutherbibel von 1536. Da steht: „Denn ich sage euch wahrlich (so hat Luther das Amen übersetzt mit wahrlich) bis das himel und erden zurgehe, wird nicht zurgehen der kleinest buchstab noch ein tüttel vom gesetz, bis das es alles geschehe.“ Das Wort Tüttel für Häkchen kannte ich noch nicht, fand ich süß.
So jetzt wende ich mich aber wieder dem Großen zu. Also, das ganze jüdische Gesetz soll gehalten werden, solange die Erde besteht. Jetzt kommt der zweite unseres Predigttextes. Da spricht Jesus vom Himmelreich. Das ist etwas schwer zu fassen. Einerseits sagt Jesus, es kommt. Andererseits ist es auch schon da. Und zwar mit seiner Person. Wo Jesus ist, da ist schon Himmelreich könnte man sagen. Und wo 2 oder 3 Menschen in seinem Namen versammelt sind, da kann auch Himmelreich sein. Jesus sagt:
19Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.
Das heißt: Wer ein Gebot des Alten Testaments auflöst, soll keinen Ruhm bekommen. Sondern wer sie tut und lehrt.
Wenn ich mal so überlege, was wir lehren von den Geboten des Alten Testaments, so fallen mir und Ihnen wahrscheinlich auch, zuerst die 10 Gebote ein. Die muss jeder Konfirmand / jede Konfirmandin bis heute lernen. Und sie sind so etwas wie eine Zusammenfassung der allerwichtigsten Gebote. Ja, die 10 Gebote lehrt unsere evangelische Kirche bis heute.
Aber was ist mit den anderen Geboten? 613 Gebote zählt das Alte Testament insgesamt. Da sind auch viele, die gelten für uns nicht mehr: Speisegebote, Festtagsgebote, Opfergebote, Sklavengebote, Ehegebote. Dürfen wir die einfach auflösen oder laufen wir Gefahr, am Ende die Kleinsten im Himmelreich genannt zu werden?
Wir geraten hier mitten in die wichtigste Diskussion der ersten Christen darüber, was für sie gelten sollte. Die einen sagten: „Jesus hat sich immer an alle Gebote gehalten, wir sollten das auch tun.“ Die anderen sagten: „Jesus selber hat aber auch gesagt: ‚Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst. Das ist das ganze Gesetz und die Propheten.‘ Das heißt doch wohl, wenn die Liebe unser Maßstab ist, können wir nichts falsch machen, auch wenn wir nicht die Speisegebote halten und anderes.“
Sie dürfen raten, welche Gruppe sich irgendwann durchgesetzt hat. Richtig, die zweite. Wir Evangelischen sagen: „Wir halten uns nicht wörtlich an alle Gebote der Bibel, aber wir legen sie im Geist von Jesus, im Geist der Liebe aus. In diesem Sinne gelten sie immer noch für uns, dass wir sie lesen, bedenken und so versuchen in unser Leben zu übertragen.“
Jetzt kommt der letzte Satz in unserem Predigttext, der zugleich der steilste Satz ist:
20Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.
Ui ui ui - eben liefen wir noch Gefahr, die Kleinsten im Himmelreich zu werden und jetzt kommen wir gar nicht hinein? Was oder wen kritisiert Jesus da? Er hat ganz viel mit Schriftgelehrten und Pharisäern diskutiert. Das war kein Streit, das war ganz normale Auseinandersetzung damals. Es ist deshalb schwierig, dass Luther oft übersetzt hat: Die Schriftgelehrten wollten Jesus versuchen. Als ob sie ihn in Versuchung führen wollten. Nein, sie wollten ihm einfach eine interessante Frage stellen, ihn auch ein bisschen herausfordern, wie das unter den Schulen der Rabbiner üblich war. Also die Schriftgelehrten und Pharisäer sind die Gesprächspartner von Jesus. Sie standen voll auf der Seite des jüdischen Gesetzes. Gerade die Pharisäer versuchten, die Gebote Gottes voll und ganz in ihrem Alltag unter zu bringen, sie wirklich zu befolgen.
Jesus aber legt den Maßstab noch höher, wenn Sie die Bergpredigt ganz lesen, dann merken sie das. Er nimmt die Gebote und radikalisiert sie noch. Ich glaube, dass soll heißen, dass wir uns nie mit einem Gesetz zufrieden geben sollen. Wir sollten immer fragen: Können wir noch mehr tun? Reicht es, keinen Menschen zu töten? Oder müssen wir nicht auch dafür sorgen, dass er leben kann, und zwar so gut leben wie wir? Reicht es, keine Ehe zu brechen oder sollen wir nicht auch mit allen anderen Beziehungen sorgsam und vorsichtig umgehen? Reicht es nicht zu stehlen, oder sollten wir nicht auch in unserer globalen Wirtschaft darauf achten, dass niemand ausgebeutet wird? Sie merken, mit dem Gebot alleine ist es nicht getan. Ich glaube, das will Jesus uns hier sagen.
Dieser letzte Satz von Jesus: 20Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. - wurde natürlich gerne missverstanden. Nach dem Motto: Natürlich sind wir besser als die Juden, schon weil wir ja an Jesus glauben.
Der liebe alte Luther, der die Bibel so schön übersetzt hat, war gar nicht lieb zu den Juden seiner Zeit. Er hetzte gegen sie. In seiner Bibel von 1536 schrieb er zu diesem Bibelvers, von dem ich gerade spreche, eine Bemerkung an den Rand: „Der Phariseer fromigkeit stehet allein in eusserliche wercken un schein, Christus aber fodert des hertzen fromigkeit.“
Hier wirft Luther den Pharisäern vor, dass sie sich nur formal an das Gesetz halten und auch nur zum Schein. Sie seien also Heuchler. Christus aber fordere des Herzens Frömmigkeit. Hier arbeitet sich Luther eigentlich an der Kirche seiner Zeit ab. Er predigte ja immer wieder: Es geht nicht um Werke wie Fasten um sich Gottes Gnade zu verdienen, es geht eigentlich nicht darum, die Gebote zu befolgen, sondern auf den Glauben kommt es an. „Innerlichkeit“ sagt Luther hier.
Im Prinzip wirft Luther in seiner Randbemerkung die Pharisäer mit den Anhängern des Papstes in einen Topf. Und das machten viele in seiner Zeit und die Juden wurden sehr bedrängt, beschimpft als solche, die nur Werke tun, aber keinen Glauben haben. Das geschah viele Jahrhunderte lang. Und als die Nazis 1938 Synagogen anzündeten und Tora-Rollen verbrannten, sagten sich viele Evangelische: Das ist ja nur das jüdische Gesetz, was da brennt, das gilt ja für uns nicht mehr.
Ein schrecklicher Fehler. Denn das jüdische Gesetz ist eben die Tora, es sind die 5 Bücher Mose. Wenn wir das zerstörten, hätten wir keine Schöpfungsgeschichte mehr, keine Arche Noah, keine Abraham und Sarah, keinen Jakob und keinen Josef, kein Volk, das mit Mose entdeckt, dass Gott die große Befreiungskraft ist. Ja, ich kann sagen, ich liebe das jüdische Gesetz, die Tora, und in großen Teilen halte ich mich daran. Ich liebe auch unser Neues Testament. Aber genau wie Jesus kann ich mir einen Glauben ohne das Alte Testament nicht vorstellen. Sonst wüsste ich gar nicht genau, wie dieser Gott ist, den Jesus Vater nennt. Sonst würde mir so vieles fehlen. Nein, lasst uns kein Jota, kein Häkchen, kein Tüpfelchen und keinen Tüttel von der Tora wegnehmen. Sie sollen alle bestehen, gelesen werden, ausgelegt, diskutiert, aktualisiert und dann im Geist der Liebe befolgt werden.
Was darf die Gemeinde jetzt sagen?
Genau: Amen.
9. S. n. Trin., 14.08.2022, Stadtkirche, Matthäus 13, 44-46, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 9.n.Trin. - 14.VIII.2022
Matthäus 13, 44-46
Liebe Gemeinde!
Jesus hat mich predigen hören, letzte Woche: Das steht ja sowieso fest. … Er hat also gehört, wie hier einer das wichtig und richtig scheinende Evangelium des Anti-Materialismus zu formulieren versuchte. … Und weil Er Jesus ist und weil Er die Überraschung über alle Überraschungen ist, weil Er die Freiheit des Geistes besitzt und die völlige Wahrheit offenbart, die all mein Versuchen und Begreifen übersteigt, darum setzt Er heute die Predigt von vor einer Woche außer Kraft.
„Der Materialismus wird Euch retten“, ruft Er heute. „Predige Du also mal gefälligst das!“, sagt Er!!? …
… Und ich sehe es.
Ich sehe, wie das, was die Welt unter unseren Händen und vor unseren Augen im Zeitraffer zerstört, gleichzeitig der Hebel unserer Hoffnung ist: Wenn diese nach den jüngsten Einschränkungen wieder so hemmungslos verzehrende Lust auf’s Genießen und Auskosten nicht wäre, wenn die Menschheit also die Lektion gelernt hätte, was sie sich alles abschminken muss – sie hat sie aber erkennbar nicht gelernt! –, dann würde vermutlich jedes Band zwischen der brennenden Erde und dem brandstiftenden Menschen zerreißen.
Wenn wir nicht alle wieder das Gefühl hätten, wie es uns hinauszieht zu den Flecken, die für uns etwas jeweils Paradiesisches haben, wenn wir also das notwendige Ende unserer vernichtenden Reisewut beherzigen könnten, dann würden allzu viele von uns wohl auch das letzte Interesse am Erhalten und Bewahren dieser Erde verlieren.
Wenn wir wirklich aufhörten, selber Abwechslung und Freude, Befriedigung und Wertvolles in diesem Dasein zu verlangen und zu suchen, dann liefe die sich ergebende Schonung der ausgelaugten Welt vermutlich auf ihre ungerührte Preisgabe hinaus. …….
Die abstoßende Logik des „Wenn ich’s nicht haben kann, soll’s auch niemand sonst haben!“ beschreibt also nicht bloß den Zynismus des egoistischen Menschen, sondern sie weist uns zugleich auf das Versteck seiner Moral hin: Gepackt bei seinen eigenen Wünschen kann der Mensch Gutes bewirken, das über den eigenen Appetit weit hinausgeht. —
Wenn die Menschheit etwas will, dann wird sie auch etwas dafür tun: Diese ernüchternde, aber auch erhebende Erkenntnis ist weder neu, noch originell. Wir verdanken sie Jesus genauso wenig wie Buddha; sie ist in allen Schichten unserer Erfahrung und unseres Verhaltens aufzuspüren.
Wenn wir heute aber eine solche Lethargie, eine solche Lähmung feststellen müssen, zu retten, was sich in der vergifteten, in der ausgeweideten und überstrapazierten Natur noch retten lässt, dann stoßen wir tatsächlich auf ein noch tieferes Problem als die ohnehin schon abgrundtiefen Probleme des ökologischen Kollapses. Die Menschen scheinen den ganz egoistischen, man könnte auch sagen den „ganz natürlichen“ Willen verloren zu haben, weiterhin Glück und Gutes zu erfahren. Denn so töricht, so verblendet, zu meinen, für ihr Glück und ihr Vergnügen werde der verschwindende Rest an Lebensraum und Lebenswert noch ausreichen, … so verblendet, so töricht können Millionen Menschen der westlichen Welt ja nicht im Ernst sein. Jeder muss inzwischen doch erkennen, dass sich die Dinge so rasend und grausam zum Schrecklichen verändern, dass wir selbst uns jetzt wirklich noch schneller ändern müssen … um des Guten willen, um unseres eigenen Wohles und Wohlstands willen!
Wo dieser ganz eigensüchtige, lebenserhaltende Reflex aber ausbleibt, da ist etwas im Argen. Da ist der Arge am Werk, um es in der gegenwärtig nicht unangemessen apokalyptischen Sprache der Bibel zu sagen: Das Ende des menschlichen Lebens- und Überlebenswillens, das uns in der hoffnungs- und taten- und also auch widerstandslosen Apathie der jüngsten Zeit aus leeren Augen wie aus einem Totenschädel entgegenstiert, ist satanisch!
Wir müssten mit so vielem aufhören, einfach nur, um mit allem weitermachen zu können!
… Warum bewegt uns das nicht? … Wieso bewegen wir uns nicht?? ——
Psychologen, Zeithistoriker und andere Fachleute - vielleicht sogar Politiker?! - werden ihre eigenen Antworten auf das Rätsel der abgestumpften Katastrophengenossen haben.
Ich bin bloß ein Pfarrer, dem Jesus nachsichtig, aber auch voller Kritik beim Predigen zuhört und der seinerseits nichts anderes als Jesus hören will. Und so ist meine Antwort klar zu finden: Warum wir so teilnahmslos bleiben, wenn das Leben in höchster Gefahr ist, … das muss damit zusammenhängen, dass wir den Lebenssinn, dass wir das Gespür für’s wirkliche Leben verloren haben. Dieses wirkliche Leben aber, das wir nicht mehr ahnen und darum auch nicht erreichen, nicht erhalten wollen, … das ist buchstäblich der verborgene Schatz, die in der Tiefe schlummernde Perle, nach denen Jesus uns voller materialistischer Jagd- und Sammelleidenschaft zu suchen auffordert.
Das versteckte wirkliche Leben, das unvorstellbar reiche und beglückende Leben, dessen Glanz und Schönheit uns überhaupt nicht mehr losließe, wenn wir’s nur entdeckten, … es ist von uns zwar ungehoben und unbemerkt, aber dennoch ist es kein Geheimnis.
Wozu sind wir denn geschaffen? Was ist denn unser Ziel?
… Wir sind dazu geschaffen, in Gottes Gegenwart zu existieren; wir sind ursprünglich und endgültig dazu bestimmt gewesen, die Fülle zu empfangen, die Gott mit allen Seinen guten und schönen Werken in sorgenlosem, sabbatlichem Segen teilen will (vgl.1.Mose 1,27-2,4!). Die dem ganzen Kosmos und in ihm darum auch dem Menschen angemessene Existenzform ist die paradiesische Harmonie, von der die Bibel auf ihren ersten (vgl.1.Mose1f) … und auf ihren letzten Seiten (vgl. Offenb.22, 1-5) blühend, leuchtend und heilend-heilig erfüllt ist. In dieser universalen und vollkommenen Fülle Gottes zu existieren und also nicht in Zwängen und Mängeln nach einem möglichst fetten Knochen, einer hoffentlich noch länger nicht ausgetrockneten Pfütze zu suchen, während andere schlicht darben und lechzend sterben müssen, das war und das bleibt die wahre Berufung der Nachkommen Adams und Evas.
Wenn wir es weniger von der ökologischen Seite des Paradieses her betrachten – wobei die Bibel wohlgemerkt mit solcher ökologischen Schöpfungslehre anhebt! –, wenn wir also die nicht-nur-sichtbare Seite der Vollkommenheit und des Heils bedenken, dann führt schon der natürliche Anfang der biblischen Offenbarung zum Himmelreich, also über die greifbare Natur hinaus, in die geistliche Herrlichkeit der Gottesgemeinschaft.
… Ob also materiell oder spirituell gesehen: Der Satz, der an anderen Orten und zu anderen Zeiten der elementarste Inhalt der christlichen Botschaft war und ist, ist bei uns so verschüttet, aber immer noch auch so kostbar wie ein unvorstellbarer Schatz. Der Satz: Wir Menschen sollen in der Vollendung des Lebens wieder zu Gott kommen und für immer bei Ihm sein. Wir Menschen sind bestimmt für’s Himmelreich.
Generationen vor uns war dieser eine - erste und letzte - Grundsatz des Glaubens ein unersetzlicher, aber gottlob auch in langen Jahrhunderten unverlierbarer Schatz. Dieser Satz machte reich in der Not und füllte in der Welt ungesättigte Herzen mit überirdischem Glanz. Aus diesem Schatz – dass uns das Himmelreich als unverlierbares Eigentum und Erbe erwartet – ließ sich das nehmen, womit die Mittellosen nicht mehr mittellos und die Unvermögenden nicht mehr kraftlos waren. Mit dem Himmelreich als ihrem Schatz haben sich Sklaven als Königskinder gewusst und Tagelöhner spürten, dass alle Herrlichkeit der Welt nichts wiegt im Vergleich zu dem Wert, den Gott ihnen - den armen Schluckern - zumisst. Den reichen Überfluss des Himmel-Reiches haben zahllose Geschlechter in ihren Gedanken und Anschauungen, in ihren Schöpfungen und Visionen, in ihren Seelenbilder und ihrem Herzenstrost gesehen, gekostet und geteilt. Sie konnten leben „als die Traurigen, aber allezeit fröhlich, als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben“ (2.Kor.6,10)! … Sie konnten leben, weil sie den Himmel hatten! … Und sterben auch!
Das „vorgesteckte Ziel, der Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus“, von dem die heutige Epistel (Eph.3,14) spricht, war tatsächlich der Grundstock ganzer goldener Epochen und ihrer Blüte, und war auch der Notgroschen, der Millionen im Elend vor dem gänzlichen Verkümmern bewahrte.
Das Himmelreich blieb Inbegriff des eigenen Lebenszieles und erzeugte zugleich die überwältigende Spannung im Herzen des vertrauten Hoffnungs- und Glaubenssystems.
Das Himmelreich! Die reinste Fülle, der flutendste Schimmer, der satteste Frieden, die lockendste Weite, das Schnurren und Jubeln der Seele, das tiefste Behagen ermüdeter Glieder, die trauteste Nähe, der bunteste Reigen, das tränenloseste Lieben, das mitfühlendste Haben, die heiligste Intimität, das unergründlichste Bedürfnisloswerden, das berauschendste Geistesleben, die nüchternste Übereinstimmung mit dem Ganzen.
Das Himmelreich! Wenn wir es in seiner Glorie betrachten, wie lieb und kostbar macht es uns dann nicht alles, was wir hier kennen, haben, gefährden und verlieren.
Das Himmelreich ist die Summe und Essenz aller nur denkbaren irdischen Vorgeschmäcker, es wird die Realisierung aller unserer biographischen Präludien sein, in ihm wird alles bewahrt und erneuert, wird alles geklärt und gewährt sein, was hier angedeutet, abgebrochen, unerfüllbar oder verdorben war.
Wie lässt also das Himmelreich nicht jenes sonderbare Wunderwort erstrahlen, das wir heute am liebsten auf alle Gegen- und Zustände, auf alle Erzeugnisse und Ziele der materiellen Prozesse unserer Welt anwenden: „Nachhaltig“. … So wie alles sein soll, gerade jetzt, auf dem Gipfel der Verbrauchs- und Vernichtungsorgien der Menschheit. Nachhaltig, unerschöpflich, ewig-neu, bleibend klar, zerstörungsfrei, wieder- und wieder- und wiederholbar ohne physische Abnutzung, ohne psychische Enttäuschung.
… „Nachhaltig“, … bleibendes Gut, … von unentwertbarer Herrlichkeit, … frisch noch nach aller Zeit: Genau das ist ja das Himmelreich, der Schatz, die Perle, die uns versprochen sind … und wir projizieren es auf Mandelmilch und Biosprit, auf Stromerzeugung und Verpackungskünste!
… Eigentlich aber müssten wir da doch merken, dass niemand wirklich so klar und sachlich von den Schönheiten der Erde, von Genuss und Köstlichkeit des Natürlichen, vom Reichtum der Welt schwärmen kann, wie solche, die nicht das Hiesige mit dem Himmel verwechseln, sondern denen die Erde schon die Lust auf’s Ewige und die Freude daran weckt! ——
Dass in unserer Kirche dieser Schatz - die Botschaft vom ewigen Leben - so gründlich veruntreut, so vergessen worden ist, dass wir uns dieses höchste Gut, dieses Pfand der zeitlichen und der überzeitlichen Seligkeit so haben aus der Hand nehmen lassen, bis schließlich ganz verschüttet war, was Gottes höchste Gabe ist, … das ist ein blöder und ein böser Jammer!
Aber es ist nicht zu spät, den Acker der biblischen Verkündigung und der kirchlichen Lehre – das eine der Mutterboden, das andere zum Teil die Steine darin – uns wieder zu anzueignen, wenn uns der Schatz darin deutlich wird. Es ist nicht zu spät, sich anstelle von wertlosen Imitationen und billigem Kram die unvergleichliche echte Perle des Glaubens zu leisten.
Wir müssen und wir können tatsächlich Jesu wunderbar materialistischen Appel an unser Wollen und Begehren hören: Wenn Ihr das Leben und seine Schönheiten, wenn Ihr die Werke Gottes und die Freude, die sie schenken, liebt, … dann lasst Euch das Himmelreich nicht nehmen!
Und wenn Ihr das Himmelreich, wenn Ihr die ewige Aussicht, Gottes Gaben zu teilen, … die Aussicht, ohne Schuld und ohne Schranken für immer vollstes Leben in und um Euch zu spüren, … wenn Ihr diesen einzigartigen Schatz, der Euch gehören kann, entdeckt habt, dann werdet Ihr das Richtige tun!
Dann gebt Ihr alles andere leicht her, weil Euch ja doch nichts fehlen wird.
Dann könnt Ihr sparen, weil Ihr wisst, dass Ihr auf Dauer verlustfrei bleibt.
Und so muss Euer Drang nach viel zu vielem Euch nicht mehr quälen, wenn gar nichts Euch entgeht, und Eure zerstörerische Gier kann verlöschen, weil der Genuss der Güte Gottes unendlich währen wird!
Die Verheißung, ja der Vorgeschmack des ewigen Lebens – so lang verpönt als Trostplacebo der Hungerkünstler, als aggressive Weltverachtung der Glücksunfähigen und als asketisch-unzufriedene Lebensverneinung für chronisch Zukurzgekommene – … die Verheißung und der Vorgeschmack des ewigen Lebens offenbaren sich also als die praktische Gestalt ganz materieller Vernunft und Notwendigkeit für heute!
Verzicht um der Zukunft willen, … Entsagung, die rettet, … ein Fasten, eine Keuschheit, ein Warten auf Erfüllung, das bloß dem Leben dient: Alles das, was sich heute konkret und nachhaltig als Lebenshaltung und Existenzform für die Menschheit aufdrängt, ist längst vorgebildet in der Nachfolge Dessen, Der uns aufruft, mit unserer Lust am Leben ernst zu machen und darum alles auf Sein Reich zu setzen.
Weil das also unser Antrieb sein darf, ja sein muss – dass wir gar nicht genug von der Herrlichkeit und Freude der Geschöpfe Gottes kriegen können, … dass wir immer mehr, ja grenzenlos viel vom Paradies, das Er uns geschenkt hat, entdecken wollen, … dass wir Zeit in Fülle von Ihm begehren und ein Miteinander-Teilen ohne Einschränkung und ohne Abschied erleben wollen – … weil alles das nicht nur unser Wunsch ist, sondern mehr noch Seine Zusage, darum müssen die Himmelreichs-Leute, darum müssen die Christenmenschen in dieser Gegenwart den Lebensmut und die Hoffnung für das Leben aufrecht halten.
Wenn viel zu viele andere offensichtlich nicht mehr sehen können, worauf noch zu hoffen wäre, wenn sie nicht mehr wissen, wie sich die Freude des Lebendigseins anfühlt und wie urgewaltig der Drang nach echtem, tiefem, weitem, langem, reichem Leben-Dürfen wirkt, dann müssen und können wir als die Gemeinde Jesu nur aus Seinem Vollen vorleben:
Dass es sich wahrhaftig lohnt, die Zukunft sehen zu wollen.
Und dass wir dabei nicht nur überleben, sondern sogar ewig leben sollen.
Weil dieser Schatz im Acker verborgen ist, der allen gehören wird, die nach ihm verlangen.
Diese Perle, die wertvoller ist als alles andere.
Leben aus dem Gnadenreichtum Jesu Christi … das Leben im Himmelreich.
Amen.
8.n.Trinitatis, 07.08.2022, Stadt- und Jonakirche, Markus 12, 41 - 44, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth und Jonakirche 7.VIII.2022 - 8.n.Trin.
Markus 12, 41 – 44
Liebe Gemeinde!
Auf der Central Line der Londoner U-Bahn, gerade wenn man die Haltestelle St.Paul’s in östlicher Fahrtrichtung verlassen hat, kommt eine bemerkenswerte Kurve. Die Bahn liegt ziemlich schräg auf den Gleisen und sie quietscht dabei ungeheuerlich. Der Grund dieser seit hundertzwanzig Jahren störend auffälligen Streckenführung ist tatsächlich bemerkenswert: Als man 1899 die Tunnel grub, war an dieser Stelle keine gerade Linie zu ziehen, weil dort die tiefen Tresore der Bank of England liegen, die zur vorletzten Jahrhundertwende noch bis unter die Decke mit Goldbarren gefüllt waren. Das Pfund Sterling war ja damals - wie auch die Reichsmark - gedeckte Währung: Hinter jedem Stück Papier lag greifbar der verbriefte Wert.
Heute sind die unterirdischen Gewölbe auch der Bank of England keine Schatzkammern mehr; wie so vieles in unseren Tagen einer hohlen Welt und Währung ist auch vom soliden Wohlstand nur noch virtuell auszugehen. … Bloß das beinah ohrenbetäubende Quietschen hat sich erhalten. Wer in die finanziell aufgepumpte City fährt, dem dröhnt immer noch der Schädel an der Stelle, wo einst konkret war, was heute spekulativ ist. ———
Dieses Quietschen, dieses Getöse, das das Gold hervorruft, hat Jesu letzte Tage in Jerusalem durchzogen. Am „Gottes-Kasten“ – ein sonderbar leer gewordenes Wort, oder? – … am „Gotteskasten“ klingelte nicht nur der Münzwurf, sondern reiche Gaben wurden buchstäblich ausposaunt – bei satten Spenden stießen die Leviten tatsächlich lautstark in’s Horn –; …ganz zu schweigen vom aufgedonnerten Spektakel, das die „großen Hansen“ - wie Luther die Eliten gerne nannte - auch selber zu machen pflegten, wenn sie ihre nicht wirklich schmerzhaften Opfer in den Almosenbehälter legten, der Liturgie und Diakonie, soziale und kulturelle Dienste des Tempels speisen sollte.
Geld und Gackern also; Geben … nicht so sehr für den Tisch des HERRN, sondern für den Tusch der Leute; Tun … für’s Tamtam. Das sind uralte, offenbar eingefleischte Bedürfnisse des Menschen: Wenn er etwas hat, das ihn auszeichnet, dann hält der Mensch es trotz aller Vorsicht und Vernunft selten ganz verborgen und wenn er sich von etwas trennt, das ihm viel bedeutet, dann muss man’s wenigstens bemerken.
Das Wesen und der Weg des Menschlichen quietschen halt vernehmlich, wenn es um den Besitz geht.
Diese Aufmerksamkeitswirtschaft, diese Ökonomie der Beachtung - von der Antike bis heute unverändert am Markt - muss für Jesus verstörend fremd gewesen sein: In Ihm, Der so gar kein Gewese und Gehabe machte, ist ja der Eigentümer der Erde zur Welt gekommen; der Inhaber der Wirklichkeit wurde in Ihm ein Kind der Landstraße, der Herr der Herrlichkeit ein Bettler, der auf dem Müllplatz enden würde. Wie muss es in Seinen Ohren geklungen haben, wenn Menschen sich großtaten, weil ihnen dieser oder jener Teil des geschaffenen Kosmos vermeintlich „gehörte“. Wie muss es Ihn gequält haben, wenn sie quietschten - die Erdensöhne -, weil sie vom Irdischen, aus dem sie stammten, etwas abgaben, das sie sich angeeignet hatten. Dieses schrille Geräusch, das entsteht, wenn Fleisch und Blut in ehrfürchtigem Bogen das Gold umrundet: Es muss Den, Der beides gleichermaßen aus Nichts hervorgebracht hat, noch stärker irritiert haben, als die Fahrgäste jener scharfe Ton in der Schleife rings um das gesicherte Depot der alten Kapitalkapitole. —
Menschen - also atmender Staub - machen viel Lärm um den nicht einmal belebten Staub des Edelmetalls. Das schnitt dem Herrn des Lebens gewiss in’s Herz, als Er damals in den Tod für die Welt ging, um sie aus der Versklavung unter alles Irdische zu befreien.
… Und es wird Ihn heute nicht minder quälen, nein, mehr wird es Ihn foltern und peinigen, dass der Kult des Stoffes, der Dienst und die Verehrung der Materie so gnadenlos fortgesetzt worden sind, seit Er für die Freiheit davon sterben ging, … bis jetzt die Neige aller Schätze erreicht ist, das Ende der Rohstoffe, das Versiegen der wirklich für den Menschen geschaffenen und der von ihm vergeudeten Güter der Natur. ——
Jesu Meditation am Gotteskasten - wo der Gottes- und der Götzendienst so unvermeidlich und doch auch so zwielichtig miteinander verschmelzen - ist ein Teil seiner Passionsgeschichte, der unverändert weitergeht[i]: Wie Er jetzt leiden muss, wie es Ihn um Frieden und Verständnis bringen muss, zu sehen, dass immer noch die sich durchsetzen, die laut und stark Anspruch auf Vieles erheben und dass immer noch in Ansehen steht, wer Dinge hortet, über Stoff gebietet, sich die Erde und das Irdische zunutze macht.
Was ist nur mit Dem, in Dessen Kraft der Erlöser empfangen wurde (vgl. Lk1,35) und gesalbt ist (vgl. Lk.4,18)? Was ist mit dem geistlichen Wesen Gottes (vgl. Joh.4,24), Der seine Menschen nicht zu Dienern und Instrumenten von Stein, Holz oder Erz machen, sondern sie in Freiheit vollenden will? … Die entsetzte Frage des Paulus erhebt sich heute als die fassungslose Frage Jesu nach zweitausend Jahren über der Christenheit, die den Materialismus inbrünstiger als die Heiden jemals pflegt: „Im Geiste habt ihr angefangen; wollt ihr’s denn nun im Fleisch vollenden?“ (Gal.3,3)
… Seid Ihr immer noch nicht in der Lage, die tödlichen Mechanismen und Muster Eures Materialverschleißes, Eurer Stoffvergötzung, Eurer Verbrauchsgier zu überwinden? …
Den Kopf in die Hand gestützt sitzt Jesus am Gotteskasten und sieht uns an: Der Todgeweihte, der für uns alle den Tod besiegt hat, voller Traurigkeit darüber, dass wir vom Tod und allem Tödlichen nicht lassen wollen. ———
Als wir vor zwei Wochen mit der Central Line nach St.Paul’s fuhren, ging es allerdings weniger um die Bank of England, als um eine fiktive, arme alte Frau, die sich schon in meiner Kindheit und dann auch in derjenigen meiner Kinder in unser Herz geschlichen hat: Im kitschigen Musikfilm zu Mary Poppins - der strengen Nanny mit dem Herzen voll urmenschlicher Anarchie - sitzt auf den Stufen von St. Paul’s diese verarmte Alte, die wie so viele Rentner auch heute ohne Nebenverdienst nicht überleben könnte: Sie verkauft dort Brotkrümel für zwei Pennies die Tüte, mit denen man die Tauben füttern kann. Und für die Krumen dieser Alten würden die Zöglinge Mary Poppins’ ihr Taschengeld viel lieber ausgeben, als es auf die Bank hinter der Kathedrale zu bringen und festverzinst anzulegen, wie ihr tumber Vater es sich wünscht.
Das unglaublich schmalzige Lied zu dieser Szene hat uns als Kinder allerdings gelehrt, dass die barocken Heiligen und Apostel auf dem Sims rund um die Kuppel von St. Paul’s lächeln müssen, jedes Mal, wenn ein Mensch zwei Pennies für die Alte hat, zwei Pennies für Krümchen für die Vögel unter dem Himmel … und damit schlicht Herz zeigt.
… Und das kommt nun direkt aus dem Evangelium! Zwei Pennies, … zwei Scherflein, zusammen ein Heller, die sind es, die Jesus, den zu Tode Betrübten in den Tagen seiner Passion wieder lächeln ließen.
Warum? ……. ———
Reden wir von dem, was man „Es“ nennt. Sigmund Freud hat davon geredet[ii].
Er sah etwas im „Es“, das ganz stark, ganz machtvoll in uns ist. Dem „Es“ gehorchen wir unbewusst. Es hält uns am Leben, … aber auch an der Leine. Es treibt uns als Trieb und es steuert uns mehr noch als der zu Erkenntnis und Absicht geformte Wille. Das „Es“ ist nahezu beherrschend. Kein Wunder, dass es in der Populärkultur zum Horror schlechthin geworden ist: Stephen King und die Verfilmungen seines Thrillers haben Generationen das Fürchten vor dem „Es“ gelehrt, ohne dass es beschreibbar, greifbar, bewältigt wurde. Das uns im tiefen Inneren beherrschende „Es“ verfolgt uns also auch von außen und bedroht uns je schrecklicher, desto grotesker es komisch wirkt.
… Was aber ist „Es“ denn? ——
Wenn man wieder einmal im englischen Sprachraum war, dann ist die Rückkehr in unsere Muttersprache eine etwas unheimliche Begegnung. Die herzlich höflichen und doch so unnahbaren, die unverbindlich, indirekten Engländer mit ihrer charmant gewinnenden und trotzdem nie zu überbrückenden Distanz sprechen einen ja sonderbarer Weise viel unmittelbarer an, als wir hierzulande.
Sie fragen: „Wie bist du?“ „Wie sind Sie?“, wo wir zu formulieren pflegen: „Wie geht es Dir?“, „Wie geht es Ihnen?“ …
Und auch bei Unangenehmem fragen ausgerechnet die Engländer überraschend unverblümt: „Was ist die Sache?“, “What’s the matter“, während wir auch da den Umweg nehmen: „Was hast Du denn?“, im Klartext also: „Was ist es, das Du da gegen mich oder gegen etwas anderes hast?“ …….
Bei uns, die wir fragen, wie’s geht oder wie’s ist oder was man hat, da geht „Es“ also … oder „Es“ ist … oder wir haben „etwas“, haben ein „Es“ auf dem Herzen. Überraschend konsequent schiebt unsere Sprache tatsächlich immer ein „Es“ ein, wo es eigentlich ganz unumwunden um die 2. Person gehen könnte.
Das ist vielleicht sehr deutsch. Nicht pragmatisch - „Sprich von Dir!“ -, sondern philosophisch feiner, differenzierter: Wir sind ja kaum nur wir selbst, ganz mit uns eins, sondern von Vielem zugleich bestimmt, beherrscht, getrieben. Glücklich, wer da direkt beim „Du“ zu landen glaubt (wie die englische Sprache mit dem vermeintlich fehlenden „Siezen“ es zu vermögen scheint). … Wir hingegen ahnen immer noch, dass auch ganz andere Mächte und Gewalten, andere Einflüsse, Kräfte, Zwänge, Zügel und einschüchternde Ansprüche an uns zerren, uns binden, festlegen und gängeln. Wir sprechen einander darum lieber mit „Sie“ an, im Plural (!) der vielen Geister und Dämonen, … in der komplexen und bedrohlichen Symbiose zumindest des Ich und des „Es“.
Nun wäre es albern und kurzsichtig, das „Es“, das uns da innerlich mitbestimmt und von allen Seiten so haarsträubend wie im Thriller bestürmt, nur im Reichtum, in den Lockungen und Drohungen der Materie und des irdisch Stofflichen zu suchen.
Aber heute, mit Jesus am Gotteskasten sollten wir den enormen Anteil bedenken, den Güter und Besitz, Wohlstand und das Sicherheitsversprechen der Dinge am uns beherrschenden Elend haben.
Die unersättliche Gier nach Materiellem, das Getöne, das wir darum machen und die schreckliche, unmoralische Angst vor jeder Gestalt materiellen Verlustes sind schon sehr große Teile jenes „Es“, um das es uns zu gehen scheint, wenn wir fragen, wie „es“ uns heute geht und wie „es“ weitergehen soll. …….
Wir sehen’s doch, wie „es“ weitergehen wird, jetzt, wo alles brennt und schmilzt und sich verflüchtigt, bis es unter unseren Füßen so leer ist und so schaurig hallt wie die modrigen Katakomben unter der ehrwürdigsten Bank, die man immer noch aus alter götzendienerischer Ehrfurcht schonend umkreist.
… Wir werden vieles verlieren.
… Und wir werden wohl dran tun, viel mehr noch aufzugeben. Ohne Gequietsche, ohne Fanfaren oder Geheul.
Wir werden ärmer werden, bis wir äußerlich so arm sind wie unser Inneres. Die Sicherheit des Goldes, die Ruhe des betäubenden Besitzes, die ganze psychosoziale Unerreichbarkeit, hinter der wir uns verschanzen, obwohl sie aus Vergänglichem gebaut ist, das gerade verdampft … alles das wird nicht bleiben, wie es war. Mag sein, dass es nicht verschwindet, aber sein Wert und was es vermag, nimmt ab. ——
……. Vielleicht aber ahnen wir, wenn wir den sonderbaren Bogen um das verschwundene Gold, das es längst nicht mehr gibt, ein letztes Mal schnaufend und schnarrend und ächzend und zähneklappernd gemacht haben, dass es gar nicht so schlimm ist, hinauf auf die Stufen vor dem Haus Gottes zu klettern … und wie die Alte mit den Krumen geworden zu sein, über die die Apostel und Heiligen lächeln.
… Vielleicht - wer weiß? - werden wir sogar ohne Weltuntergangsängste wie die wunderbare, glaubensstarke und Gott selber stärkende Witwe, die auch noch ihre beiden finalen Scherflein, … das letzte Stück vom „Es“, die letzten alten Garantien und Gewohnheiten abgeworfen hat.
Sie hatte gar nichts mehr, kein „Etwas“, kein „Es“, das sie noch aufhielt.
Sie wurde ein einfaches Ich, nein, … noch viel schöner: Sie wurde für Jesus das „Du“, das Ihn wieder aufrichtete und also auch uns arme, noch nicht freie Menschen lieben ließ, … lieben bis in den Tod. —
Die Frau ohne alles, ohne jedes Dies und Das, ohne unser ganzes „Es“ hat einfach nur ihr Leben in den Gotteskasten gelegt. … Der dadurch so viel voller, so viel reicher, so viel lebendig-kostbarer für Jesus wurde als durch alle Münzen und Wertgegenstände jemals insgesamt. ——
Ein anderes Ziel als dieses allmählich nun fällige, irgendwann dann auch mögliche Ablegen von Allem wäre in diesen Zeiten nun aber auch für uns zu wenig, zu billig, … Zeiten, in denen so viel Angst und so viel Sorgen sich erheben.
Nicht aus Realitätsverleugnung, nicht aus Leichtsinn können auch wir jetzt nur noch darauf zielen, unsere Sicherheit und unsere Sorge, unsere Angst und unsere Habe endlich abzuwerfen.
… Nicht aus Leichtsinn, nicht aus Realitätsverleugnung, sondern weil das allein bleibt: Dass wir einfach unser Leben - ohne Sorge, ohne Sicherheit - Gott ganz überlassen und uns in Seinen Kasten, uns in Seine Hände legen.
Nicht also: „Wie geht es uns? Wie geht’s der Welt?“, sondern bloß noch: „Wie gehen wir nun? Wie geht jetzt die Welt?“
– Zugrunde?
… Nein! Zu Gott! ——
Wenn wir so glauben und so antworten werden, dann ist alles gewonnen!
„Wie gehst Du, Welt?“ – „Zu Gott!“
„Wie geht das Leben?“ – „Zu Gott!“
„Wie gehen wir?“ – „Zu Gott!“
Amen.
[i] Vielleicht ist so die Verlegung des bisher an Okuli zu predigenden Evangeliums auf den 8.Sonntag nach Trinitatis zu erklären.
[ii] Gebündelt natürlich in „Das Ich und das Es“ (1923), in: Sigmund Freud Studienausgabe (hgg. v. A. Mitscherlich u.a., Frankfurt/M 2000) Bd. III: „Psychologie des Unbewußten“, S. 273-330.
6.S.n.Tr., 24.07.2022, Jes.43,1-5 u. Röm.6,3-4, Stadt- u. Jonakirche, Daniel Kaufmann
Wer oder was gehört eigentlich zu wem oder was?
Adam gehört zu Eva,
Kain gehört zu Abel,
Asterix gehört zu Obelix,
Romeo gehört zu Julia.
Der gute Hirte gehört zu den Schafen,
zu den schwarzen und weißen und auch zu denen,
die ab und an Reißaus nehmen.
Es heißt sogar, dass der gute Hirte
für diese widerspenstigen Exemplare
eine ganz besondere Vorliebe hat.
Die Sonne gehört zum Sommer,
der Schnee gehört zum Winter.
Das Klima gehört zu den Themen,
die uns viel mehr beschäftigen sollten.
Die Waldbrände und die Hitzewelle gehören zum Klimawandel.
Die Erde gehört uns allen -
das war wenigstens mal die Grundidee,
die dann bis in unsere Tage hinein
zunehmend auf den Hund gekommen ist.
Das Kind in der Krippe gehört zu Weihnachten,
der Auferstandene Christus gehört zu Ostern,
der Heilige Geist gehört zu Pfingsten,
die 95 Thesen gehören zu Martin Luther.
Das Nachdenken über eine lebendige,
den Menschen zugewandte Kirche gehört uns allen,
und wie wir zurzeit bei Bürgerbefragung,
öffentlichen Verlautbarungen
und Dystopien über die Kirche von morgen sehen,
sind wir da keinesfalls am Ende,
sondern bestenfalls am Anfang eines Nachdenkprozesses.
Freude gehört zum Fest des Lebens,
Trauer gehört zum Abschied des Lebens,
Urlaub gehört zu den schönsten Zeiten des Jahres
Arbeit gehört zu den anstrengendsten Tätigkeiten,
Homeschooling gehört zu den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie,
auch wenn der Ertrag dürftig
und die Auswirkungen schädlich fürs Lernen sind.
Analoger Unterricht ist durch nichts zu ersetzen.
Fußballfans gehören in die Stadien,
die Toten Hosen gehören zu Düsseldorf,
Musik gehört in den Gottesdienst,
die Orgel gehört zum Singen in der Kirche.
Ab und an geht es auch mit Flügel, E-Piano und Schlagzeug,
warum eigentlich nicht öfter?
Brot gehört zum Wein,
das Kreuz in der Kirche gehört auf den Altar,
an die Wand oder kann auch schon mal fehlen.
Aber dafür muss man dann schon ziemlich reformiert sein.
Mann gehört zur Frau,
und Frau gehört zum Mann,
überwiegend jedenfalls,
das heißt, rein quantitativ, also statistisch,
qualitativ ist da inzwischen ja höchste Vorsicht geboten,
gestern war Christopfer Street Day in Berlin,
da wurde einmal mehr klar,
dass Statistik als Argument immer etwas wackelig ist.
Liebe gehört zu einer intensiven Beziehung,
Hass gehört zum Streit,
Krieg gehört zu den Autokraten und Diktatoren dieser Welt.
Tendenz steigend und vorhersehbarer
als noch vor einem halben Jahr
Wahrheit gehört zum Wein, in vino veritas, heißt es,
die Weisheit gehört zum Alter,
kann auch schon mit 20 Jahren anfangen oder aufhören,
je nachdem, wie´s läuft.
Oder die Weisheit bleibt ganz aus,
dann ist etwas schiefgegangen
bei dem langen Abnutzungskampf des Lebens.
Kinder gehören zu den Eltern,
Eltern gehören zu den Kindern,
Opa und Oma gehören zur Familie,
vor allem aber auch zu den Enkeln und Enkelinnen.
Wir alle gehören zu der großen Menschheitsfamilie,
dachten wir wenigsten bis vor kurzem noch,
und vielleicht ist das ja auch der eigentliche Schmerz,
wenn wir jeden Tag neu
die Nachrichten von Mord und Totschlag weltweit hören.
Unsere Daten gehören uns vor allem selbst,
es sei denn, wir verkaufen sie an einen großen Konzern.
Oder der CIA, FSB oder ein anderer Geheimdienst
braucht die, um die Welt zu retten
oder die Menschheit zu beglücken.
Oder um einfach mehr Profit zu machen.
Der Krieg gehört vor allem abgeschafft und beendet,
der Frieden sollte uns allen gehören,
schafft es aber oft nur bis vor unsere Haustür.
Und selbst da nicht durchgehend und dauernd.
Die Gemeinschaft gehört zu dem Wichtigstem,
was wir als Menschen sind und haben,
auch wenn so manche Selbstoptimierung
echte Teilhabe verhindert oder doch einschränkt.
Mein Bauch gehört mir,
heißt es neuerdings wieder etwas lauter,
zu Recht oder zu Unrecht,
darüber gibt es zumindest in den USA
wieder heftigere Auseinandersetzungen.
Wir gehören uns selbst,
sind selbstbestimmt, überwiegend,
sind, wenn irgend möglich, autonom,
handeln und leben nach eigenen Gesetzen,
bemühen uns jedenfalls darum
oder peilen das als hohes Ideal an.
Zu wem oder was gehören wir?
Die heutige Lesung aus dem Jesajabuch hält fest:
Wir gehören zu Gott.
„Fürchte dich nicht,
denn ich habe dich erlöst,
ich habe dich bei deinem Namen gerufen,
du gehörst zu mir."*
Ruft der Prophet Jesaja ziemlich vollmundig seinen Zuhörern zu.
Die hatten sich schon fast damit abgefunden,
dass sie vor allem denen gehören,
die mächtig sind, die was zu sagen haben,
die das Geld und das Land besitzen,
die Geschichte schreiben,
die verantwortlich Politik machen,
die die stärkeren Waffen haben, kurzum:
die gewählt oder selbst ernannt
oder aus eigenem Gutdünken
autokratisch oder diktatorisch
besonderen Einfluss und Geltung für sich reklamierten.
Und die damit weitestgehend Zustimmung
oder zumindest keine nennenswerte Gegenwehr erhielten.
Die Babylonier galten jedenfalls nicht
als allzu zimperlich bei ihren Raub und Eroberungszügen
durch die damalige Welt.
Neben der kriegerischen blutigen Auseinandersetzung
gehörten auch Deportationen und die Entwurzelung der Oberschicht
zu den Standardmaßnahmen, wenn dann auch schon mal die eine oder andere tolerante gnädige Großmacht-Geste durchschimmerte.
Und sie für damalige Verhältnisse als geradezu tolerant, fast schon human und friedlich galten, weil sie nicht alles komplett niederbrannten und ausmerzten,
was ansatzweise nach Widerstand aussah.
Angst und Schrecken gehörte schon immer zum Arsenal derer,
die unterdrückten und knechteten.
Deshalb und genau darum also die sehr steile
und auch mutige Einlassung des Propheten:
„Fürchte dich nicht! Du gehörst zu Gott!"
Egal, wer da sonst noch Besitzanspruch auf dein Leben anmeldet oder durchzusetzen versucht. Und mehr noch:
„Ich habe dich erlöst, sagt dieser Mitgehgott,
ich bin dein Goel (hebräisches Wort an dieser Stelle),
ich bin der Loskäufer,
ich halte dich frei und kaufe dich los",*
egal in welcher Abhängigkeit und Zwangslage
du auch gekommen sein magst.
Ich zahle jeden Preis für dich.
„Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld,
Kusch und Seba an deiner statt."*
Geradezu absurd übersteigert wird hier festgezurrt, welchen Wert das Volk Gottes und alle, die dazugehören bei Gott hat.
Wir gehören uns nicht selbst,
wir sind, weil Gott uns gewollt hat,
dich und mich,
jeden einzigartig und einmalig.
Und weil dieser Mitgehgott uns hält und erhält.
Und diese Zugehörigkeit ist unverbrüchlich und dauerhaft
und währt im Leben und im Sterben.
So jedenfalls hören wir es
in dem zu diesem Text korrespondierenden Wort
aus dem neuen Testament, aus dem Römerbrief, Kapitel 6**:
„Wisst ihr nicht, dass alle,
die wir auf Christus Jesus getauft sind,
die sind in seinen Tod getauft?
So sind wir ja mit ihm begraben
durch die Taufe in den Tod,
auf dass, wie Christus auferweckt ist
von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters,
so auch wir in einem neuen Leben wandeln."
Mit der Taufe sind wir untrennbar verbunden
mit der Geschichte des Jesus von Nazareth.
Durch die Taufe sind wir mit Christus begraben und auferweckt
und haben Anteil an dem Leben, das nie mehr vergeht.
Martin Luther hat diese Zugehörigkeit
einmal bildhaft und sehr drastisch beschrieben:
„Durch die Taufe wird der alte Adam ersäuft
und der neue Adam ins Leben gezogen."
Das Untertauchen des Täuflings zeigt,
dass wir durchaus von der Abwärts- und Todesspirale des Lebens
etwas wissen und immer wieder auch spüren.
Das Auftauchen des Täuflings macht sichtbar,
dass wir uns aufwärts dem Leben zuwenden,
einem Leben, das bei und in Gott verwurzelt ist
und das nie mehr vergeht.
Die Taufe markiert und hält fest:
Wir gehören zu dem Gott,
der uns vom Tod zum Leben bringen kann und will und wird.
Wir gehören zu dem Gott,
der Himmel und Erde gemacht hat,
der Bund und Treue hält für immer
und der nie fallen lässt das Werk seiner Hände,
sondern dieses Werk seiner Hände
im Leben und im Sterben und also auch dann,
wenn sonst nichts mehr hält,
Halt gibt.
Im Holländischen heißt Taufen „Dopen".
Ich mag diesen Ausdruck sehr.
Es ist das einzige Dopen,
dass keine schädlichen Nebenwirkungen
und Suchtfolgen hat.
Wir sind durch die Taufe mit „dem Leben gedopt",
das Gott schenkt.
Und das ist in einer Zeit,
in der reichlich, um nicht zu sagen:
alles und vieles ins Rutschen gekommen ist,
die Ungewissheiten und Fraglichkeiten überproportional steigen
und die lang erarbeiteten Sicherheiten abhandenkommen,
eine wirklich gute Nachricht.
„Keiner von uns lebt für sich allein,
und keiner von uns stirbt für sich allein.
Leben wir, so leben wir dem Herrn,
sterben wir so sterben wir dem Herrn.
Darum, egal ob wir leben oder sterben,
wir gehören zu dem Herrn,
dem Ursprung und Ziel allen Lebens,
dem Herrn über Zeit und Ewigkeit,
dem lebendigen Gott." (Römer 14, 7+8)
Diese Zugehörigkeit bekennen wir zu Beginn des Lebens,
wenn ein Kind getauft wird,
diese Zugehörigkeit bekennen wir beim Abschied eines Menschen,
wenn wir - wie Michelangelo es sagt - die Räume wechseln
und unser irdisches Zuhause mit der himmlischen Heimat tauschen.
Und diese Zugehörigkeit werden wir nicht müde,
für die Zeit zwischen Geburt und Tod zu erinnern,
wenn uns alle Nase lang
andere Zugehörigkeits- und Besitzansprüche begegnen.
Wenn es heißt:
„Ich habe Euer Leib und Leben in der Hand.
Euren Wohlstand, Eure Energieversorgung,
Eure Gaslieferungen, Eure Gesundheit,
Eure Nahrungsmittelzufuhr, Euer Sicherheitsbedürfnis, Eure Zukunft."
Gegen diese angemaßten Besitzansprüche
werden wir heute Morgen erinnert:
Wir sind Gottes. Wir gehören zu Gott.
Und wir gehören zu der Geschichte,
die Gott mit uns Menschen schreibt.
Die in der Ewigkeit verwurzelt ist
und zu dieser Ewigkeit zurückführt.
Die von dem großen Ja Gottes begleitet wird.
Trotz und mit allem, was dagegen spricht.
Und deshalb und darum, so der Apostel,
lasst uns von diesem großen Ja zum Leben etwas weitergeben.
Lasst andere etwas davon spüren und teilhaben,
zu wem wir im Leben und Sterben gehören.
Macht es wie Martin und Luther:
Pflanzt einen Apfelbaum.
Da gibt es zurzeit inzwischen auch eine ziemlich populäre,
recht erfolgreiche Variante zu: Ecosia, die Suchmaschine, bei der man nach etwa 40 Suchanfragen jeweils einen Baum auf den Weg bringt. Zur Zeit sind das weltweit ca. 154 Millionen. Ziel dieser Suchmaschine sind mindestens 1 Milliarde Bäume.
Oder, wem das mit der Suchmaschine zu technisch ist:
Lasst Euch neu von Jesu Wort aus der Bergpredigt inspirieren:
„Stellt euer Licht nicht unter den Scheffel."
So etwas auch Marianne Williamson***,
vorübergehend, (demokratische) Präsidentschaftsanwärterin in den USA 2020, bekennende Christin.
Duckt euch nicht von morgens bis abends weg.
Überwindet die Angst,
dass ihr nicht perfekt oder ungenügend seid.
Dass andere brillanter, großartiger, talentierter sind
oder alles besser können.
Zieht euch nicht in die Nischen zurück,
die man euch überlässt,
aber aus denen so gut wie nie
etwas Entscheidendes und Bedeutendes hervorkommt.
Kirche ist mehr als Aufarbeitungsinstitut für Missbrauchsfälle.
Kirche ist mehr als Statistikamt für Ausgetretene.
Kirche ist mehr als Bürgerbefragung,
wer was noch gerne als Sahnehäubchen und Zuckerstückchen
zum allgemeinen Unterhaltungs- und Eventkalender dazu haben möchte.
Wir sind dazu bestimmt, zu leuchten, sagt Jesus.
Wir sind geboren worden,
um den Glanz Gott, der in uns ist, sichtbar zu machen.
Also mischt euch ein in die zentralen Fragen
der Weltgeschichte und des Lebens.
Sagt, wie die Liebe, das Vertrauen und die christliche Hoffnung einer Gesellschaft Halt geben, voranbringen,
wie sie das Zusammenleben fördern und befördern,
wie sie dem gelingenden Miteinander dienen und gut tun.
Ihr gehört zu Gott.
Durch die Taufe ist eure Geschichte
untrennbar mit der Geschichte Jesu verbunden.
Und in seinem Geist seid ihr dazu aufgerufen,
Salz der Erde und Licht der Welt zu sein.
Und wo das noch nicht voll umfänglich und ausreichend gelingt,
faltet die Hände und bittet Gott um Beistand, Kraft und neue Ideen.
Bittet, so wird euch gegeben,
suchet so werdet ihr finden,
klopfet an so wird euch aufgetan.
Und der Friede Gottes, der höher ist
als alle menschliche Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Pfarrer Daniel Kaufmann
*Jesaja 43,1-5:
1 Und nun spricht der HERR,
der dich geschaffen hat, Jakob,
und dich gemacht hat, Israel:
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst;
ich habe dich bei deinem Namen gerufen;
du bist mein!
2 Wenn du durch Wasser gehst,
will ich bei dir sein,
und wenn du durch Ströme gehst,
sollen sie dich nicht ersäufen.
Wenn du ins Feuer gehst,
wirst du nicht brennen,
und die Flamme wird dich nicht versengen.
3 Denn ich bin der HERR, dein Gott,
der Heilige Israels, dein Heiland.
Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld,
Kusch und Seba an deiner statt.
4 Weil du teuer bist in meinen Augen
und herrlich und weil ich dich lieb habe,
gebe ich Menschen an deiner statt
und Völker für dein Leben.
5 So fürchte dich nun nicht,
denn ich bin bei dir.
**Römer 6,3-4:
3 Wisst ihr nicht, dass alle,
die wir auf Christus Jesus getauft sind,
die sind in seinen Tod getauft?
4 So sind wir ja mit ihm begraben
durch die Taufe in den Tod,
auf dass, wie Christus auferweckt ist von den Toten
durch die Herrlichkeit des Vaters,
so auch wir in einem neuen Leben wandeln."
*** Bestimmt, um zu leuchten
„Unsere tiefgreifendste Angst ist nicht,
dass wir ungenügend sind,
unsere tiefgreifendste Angst ist,
über das Messbare hinaus kraftvoll zu sein.
Es ist unser Licht,
nicht unsere Dunkelheit,
die uns am meisten Angst macht.
Wir fragen uns, wer ich bin,
mich brillant, großartig,
talentiert, phantastisch zu nennen?
Aber wer bist Du,
Dich nicht so zu nennen?
Du bist ein Kind Gottes.
Dich selbst klein zu halten,
dient nicht der Welt.
Es ist nichts Erleuchtetes daran,
sich so klein zu machen,
dass andere um Dich herum
sich nicht unsicher fühlen.
Wir sind alle bestimmt, zu leuchten,
wie es die Kinder tun.
Wir sind geboren worden,
um den Glanz Gottes,
der in uns ist, zu manifestieren.
Er ist nicht nur in einigen von uns,
er ist in jedem einzelnen.
Und wenn wir unser Licht erscheinen lassen,
geben wir anderen Menschen die Erlaubnis,
dasselbe zu tun.
Wenn wir von unserer eigenen Angst befreit sind,
befreit unsere Gegenwart automatisch andere."
Marianne Williamson
2.So.n.Trin., 26.06.2022, Stadtkirche, Jona 3, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.n.Trin. - 26.VI.2022
Jona 3, 1-10
Liebe Gemeinde!
Jona, der nicht wollte, aber musste: Er könnte sowieso der Patron unserer Zeit sein.
Wir hätten ja alle miteinander sehr gern noch weiter so getan, als gäbe es niemals eine Begrenzung unserer Freiheiten, sondern nur deren weltweites Ausufern. Wir hätten durchaus weiter träumen mögen, dass das Gute immer nur zum noch Besseren und nie zum Bösen führen könne. Wir hätten wirklich nichts dagegen gehabt, wenn unser naives Märchen, dass die Menschheit durch ihre eigene Kunst und Weisheit Hass und Leid und Endlichkeit überwinden kann, in die Worte mündet „Und wenn sie nicht gestorben sind …“
Wir wollten lange nichts ändern am Denken, Dichten und Trachten unserer menschlichen Herzen. … Genau wie Jona und genau wie dessen brave Eltern, … genau wie das Geschlecht in den Tagen des Kaisers Tiberius, unter dem - eigentlich absichtslos, wie aus Versehen - Gott ermordet wurde, … und genau wie unsere stolzen Ururgroßeltern in den glänzenden Tagen der beiden Vettern Wilhelm II. und Nikolaus II., die leider in einen Weltkrieg gerieten, dem dann noch ein Weltkrieg folgte und heute - immer noch oder schon wieder oder doch die ganze Zeit - eine Welt voll Krieg und Seuche und Hunger wie in den Tagen des hochverehrten evangelischen Kriegshelden Gustav Adolf oder in den Tagen des lebenslustigen Boccaccio oder in den Tagen des frommen Kaisers Justinian oder in den Tagen des nimmersatten Nebukadnezar oder in den Tagen der Sintflut. …….
Ach, wir wollten es immer anders. Wir meinten es immer gut. Es kam nur immer so gegenteilig aus. Es ging halt immer so gegen unsere Natur, die wir hätten ändern müssen, dass wir es lieber laufen liefen, und so ging es schief. … Weil wir eigentlich doch nicht wollten, sondern nachher immer nur mussten.
Für dieses Geschlecht, das wir sind – die Unwilligen, denen der Wille fehlt, … die Vermeintlichen, die sich nie gemeint meinen, … die Lieber-zu-Späten, weil man nur die Vorschnellen bei ihren Fehlern sieht, während das Scheitern der Zögernden ja im Untergang untergeht –, … für dieses tatenlose, keine Verantwortung übernehmende und allenfalls bloß Bedenken tragende Geschlecht, das wir sind, ist die kleine Geschichte des Jona die größte.
Nicht wegen seines salto mortale ins Meer, bei dem er kopfüber - die anständigste Tat seiner Flucht in die Sonne! - dem Tod in den Rachen sprang, um die restliche Mannschaft zu retten, sondern wegen seiner Demütigung in Ninive.
Denn was dem Mahner wider Willen, dem lustlosen Rufer und entschlossenen Nicht-Propheten da widerfuhr, das war das, was auch wir so gar nicht gern hätten: Es war der Erfolg, den wir fürchten. Es war das Gelingen, vor dem wir kneifen. Es war der Neuanfang, den wir alle zu den Akten gelegt haben.
Schlimmer als das Verschlungenwerden vom Ungeheuer war ja das Ausgespucktwerden in einer anderen Welt und neuen Zeit für den Jona. … Weil die Niniviten tatsächlich taten, was ihm so unheimlich war: Sie folgten dem Wort, das er floh. Sie glaubten die Botschaft, von der er schweigen wollte. Sie beschlossen zu leben, wie es ihm undenkbar schien. Sie kehrten um, wo er sich abgekehrt hatte.
Viele Propheten in der Bibel kennen das Leid, Recht zu behalten: Jeremia etwa hat wie kein Zweiter erleiden müssen, dass sich seine leidenschaftlich warnende Drohpredigt als wahr erwies. Und auch Johannes der Täufer, dessen Feiertag vorgestern war, hat die Botschaft vom kommenden Zorn und das Wort von der Axt, die den Bäumen schon an die Wurzel gelegt ist (vgl. Matth.3,10), am eigenen Leib erfahren. So wie Jesus das Gericht über die Sünde, von dem seine Verkündigung - wie in der heutigen Lesung (Lk.14,15-24) - wahrhaftig auch durchzogen ist, ganz und gar in eigener Person erlitten und gebüßt hat.
Kein anderer Prophet außer Jona aber hat es als ein solches Unglück erlebt, dass sein Rettungsruf beherzigt und seine Wegweisung befolgt wurde. Kein anderer Prophet wurde von seinen Hörern dadurch bloßgestellt, dass sie ihm vertrauten, während er selbst nicht teilen mochte, was er ausrichtete.
Ninive kehrte um und Jona kehrte sich wiederum ab von dem Gott, Der zur Gnade ruft.
Er hatte Gott aus Zweifel nicht folgen wollen. … Und als andere es taten, verzweifelte er wirklich an Ihm. Setzte sich schmollend unter den Strauch über der Welt, sah verächtlich herab auf die Zivilisation, der er einen Ausweg aus dem Verderben gewiesen hatte, und wollte dass es vorbeigeht, dass es endet, dass es aufhört.
Jona, der Gottes-, der Gerichts- und erst recht der Gnadenflüchtling … Jona will nicht zum Zeugen des Lebens werden. Wenn, dann Tod. … Und doch muss er. ———
Doch jetzt: Butter bei den Walfisch! --- Worum geht es hier konkret? … Wie übersetzen wir das Wunder von Ninive in die Weltkrisenzeit von heute?
Ein naheliegender Versuch müsste es sein, auf unsere verstockte Weigerung zur praktischen Umkehr zu blicken. Seit genau fünfzig Jahren – seit dem legendären Club-of-Rome-Bericht, der unter volkswirtschaftlichen, techniktheoretischen, naturwissenschaftlichen und kulturphilosophischen Gesichtspunkten der freien industrialisierten Welt die „Grenzen des Wachstums“ vor Augen stellte – ist der Ruf zu ökonomischer und ökologischer Umkehr und Erneuerung im Generalbass der Weltmelodie nie verstummt, … aber auch nie gehört worden.
Seit den achtziger Jahren haben dann die Kirchen, teilweise in schier monomanischer Konzentration den konziliaren Prozess für „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ in den Rang eines zentralen Glaubensartikels erhoben, der das Nord-Süd-Gefälle der Weltwirtschaft und die Kapitalismuskritik, das Bemühen um Nachhaltigkeit und teilweise utopische, immer identitärer funktionierende Gerechtigkeitsideologien in den Mittelpunkt rückte.
Befreiungs- und Friedens- und Frauen- und Freitagsbewegungen haben nachdrückliche, provokante, berechtigte Forderungen in jeden Winkel der Privatwelt wie der Gesellschaft getragen, so dass wer Ohren hat zu hören, hätte hören können, bis ihm die Ohren gellten.
Wie wenig aber sich bewegt hat, wie träge nicht nur die anderen, sondern Du und ich selbst sind, obwohl es immer unbestreitbarer wurde, dass die Forderung aller Propheten - jene Forderung, die elegische Dichter genauso wie philosophische Harlekine theoretisch populär machten[i] - praktisch überlebensnotwendig geworden ist: „Du musst dein Leben ändern!“ …, wie wenig sich bewegt hat, wie träge wir sind, das könnte der Anreiz sein, heute nach Ninive zu blicken und alle die wichtigen, lästigen, endgültigen Reiz- und Rettungsthemen unserer Zeit noch einmal mit Wucht und Pathos zu beschwören:
Jetzt endlich, nach fünfzig Jahren müssen wir den manischen Konsum bremsen und das Nichtverbrauchen von Materie als heiliges Gebot der Ehrfurcht und Dankbarkeit achten; jetzt endlich muss der räuberische Mensch seine Schuld an allen Mitgeschöpfen durch ein Hüte-Amt als Pfleger und Heiler der zerstörten Natur sühnen; jetzt endlich müssen die Lügen und Rechtsbrüche der Gattung, die sich auf Wort und Vernunft gründet, benannt und beendet werden, indem ein langsames und langes Zeitalter des Genügens und der Rücksicht den Rausch der brutalen Zukunftsverbrennung durch’s Verheizen der organischen Vergangenheitsspeicher entgiftet. Jetzt muss endlich die überdehnte und überdrehte und überforderte Herrschaft der Anspruchsdenkenden aufhören und eine Bewegung radikal solidarischer Gemeinschaftsleute eintreten.
… So könnte man ohne jeden Zweifel und mit jedem Recht die erschütternde Volksbewegung aktualisiert predigen, die in Ninive kurz vor der Stadtmitte begann: Eine Tagereise weit war Jona in’s Gewimmel der dreimal so weit sich erstreckenden Stadt vorgedrungen, als die Menschen dort mit der Metamorphose, mit der Transformation, mit der Erneuerung an Haupt und Gliedern, mit der fastenden Revitalisierung degenerierter Menschen und Tiere begannen.
… Im Dreitage-Schema, das die Ausmaße Ninives beschreibt, hören wir natürlich den Abstieg in das Reich des Todes anklingen, der die drei Tage zwischen Karfreitag und Ostern ausmachte. Am ersten Tag also, der der letzte war, am Todestag des Karfreitag ging in Ninive die Umkehr los, die dann über den König und alle Kreaturen in ihr die Stadt zur Auferstehung, die Stadt zur Gnade neuen Lebens führte.
… Das könnten wir mit Fug und Recht in dieser Karfreitagsepoche der Weltgeschichte also aktualisieren: Der Klimawandel ist da, die tödlichen Dürren und tödlichen Fluten, der tödliche Hunger und der tödliche Meeresanstieg sind allesamt schon Realität. Das Mikroreich der Krankheitserreger gärt, die Bäume brennen, die Erde bebt und im Osten blitzt die Makromöglichkeit totaler Weltauslöschung im Atomkrieg fahl auf. …Willkommen im Reich des Todes!
In dieser globalen Topographie der Sünde und des Sicherheitsverlustes ist es gewiss eine Glaubenstat, wenn trotz alles frustrierenden Nihilismus nun zu politischen, ökologischen und sozialen Paradigmenwechseln aufgerufen, … ja, aufgeschrien wird! Die Menschheit im Inferno, die Menschheit nahe am Nabel der Stadt Ninive muss hören, dass es trotz der Zeiger, die nach Mitternacht stehen, die Botschaft vom dritten Tag gibt (vgl. Hosea6,2), die Botschaft dessen, der drei Tage und drei Nächte im Leib des Seeungeheuers verschlungen war (vgl. Jona2,1), die Botschaft von ihm, der am dritten Tage nach der Schrift auferstanden ist (vgl. 1.Kor.15,4), … und dass diese Botschaft auch heute gilt und Widerstandskraft, Hoffnung und Perspektive schenkt. – Und so wird ja bestimmt viel gepredigt heute, … politisch, ökologisch, sozial.
… Aber im Namen der Niniviten geschieht das nicht mit letztem Recht! Denn so unzweifelhaft viel biblische Prophetie harsche Sozialkritik enthält und sich parteiisch im Namen Gottes gegen Korruption, gegen Ausbeutung und Vermögensungleichheit, schlicht gegen jede Bedrohung des Rechts und Lebens der Schwachen durch Eliten und Machthaber richtet, so verblüffend ist das Buch Jona im Blick auf die Botschaft, die der Prophet dem heidnischen Volk in der Weltstadt Ninive ausrichten sollte. Jona, der erste Apostel an die Völker der Welt, der erste Gesandte, der nicht das erwählte kleine Israel, sondern eine antike Großmacht außerhalb des heilsgeschichtlichen Rahmens ansprechen sollte, empfing keine ethische Weisung oder politische Forderung.
Das Wort des HERRN, das zweimal an ihn erging[ii], war nur von grandioser Einfachheit: „Sage Ninive, … sag’ der Menschheit, … sag’ der Welt: Ihre Bosheit ist vor mich gekommen.“
Also: Sag’ der Welt: Ich sehe!
Sag’ den Menschen: Sie stehen vor Mir!
Und darum sag’ allen: Es ist nicht alles gut!
……. Mehr nicht! Den Untergang nach vierzig Tagen hat Jona der Wirkung halber dazuerfunden oder seine Hörer haben sich den entsprechenden Reim auf seine Verkündigung gemacht. Von Gott aber kam nur das: „Ich sehe euch vor Mir mit allem, was nicht gut ist!“ … Nur dies erschütternde und zugleich trotz allem so tröstliche Echo des Ursprungs, als alles gut war mit allen Geschöpfen, die Der gemacht hat, Der im Anfang nicht Dunkelheit, sondern Licht rief.
Nur das!
Dass alles und alle mit ihrem Recht und Unrecht, mit ihrem Segen und ihrer Schuld vor Gott stehen. Bemerkt. Begleitet. Berufen. Verantwortlich. —————
Denken wir darüber nach.
Wie wenig ist das: Der eine Satz, der die Wirklichkeit mit Gott verbindet. Der also auch das Böse und Traurige und Grausame nicht einfach gottlos lässt. ——
Kein Forderungskatalog. Kein Rettungsplan. Kein Programm.
Und trotzdem der Satz, von dem wir glauben dürfen, dass er wichtiger ist als jeder andere.
Denn dieser Satz – genauso schmucklos und unerklärt, wie bei Jona – fehlt der Welt.
Dieser Satz, der sie in einen Atemzug mit Gott bringt.
Ohne Schlussfolgerungen und - wohlgemerkt! - auch ohne Drohung. Einfach nur dieses unerschütterliche: „Du stehst vor Gott!“
Längst haben wir erprobt und herausgefunden, dass alle anderen Sätze, mit denen man diesen als zu karg, zu stark oder zu leer empfundenen Satz widerlegen oder überbieten wollte, nur Trostlosigkeit und Horror erzeugt haben.
Als es hieß: „Du stehst als Gott“, da wurde nicht weit von Ninive Babel errichtet: Die Welt der menschlichen Hybris, deren Bauplan noch den Gedankengebäuden der Gegenwart zugrunde liegt.
Und als daraus die verzweifelte Verneinung wurde: „Du stehst ohne Gott!“, da begann das wirklich Moderne unserer Gegenwart: Die Welt der Einsamen, die sich unbeachtet wähnte und nicht merkte, wie sie alle Selbstachtung und alle Achtung vor anderen verlor, als sie Den ausblendete, Der auf jeden achtet.
Dass wir vor Gott stehen, ist gleichzeitig die Quelle alles Aufrichtenden wie Aufrichtigen.
Dass wir vor Gott stehen, legt ersten Grund und setzt letzte Verantwortung.
Dass wir vor Gott stehen, gewährt uns höchste Auszeichnung und trägt uns höchste Pflichten auf.
Dass wir nicht in Zufälligkeit entstanden und nicht in Sinnlosigkeit vergehen, sondern dass unser Werden sich vor Gottes Angesicht vollzieht und dass Alles von Gott Angesehene und Vorgesehene durch Seine Vorsehung teilhat an Seiner Ewigkeit: Das sagt der eine Satz von der Wirklichkeit, die in ihrer Verderbnis ebenso vor Gott ist wie in ihrer ursprünglichen Reinheit.
In Ninive hat die Botschaft, dass Gott ist und sieht, alles Leben gerettet. ————
Denken wir darüber nach.
Diese Botschaft rettet auch heute.
Gott sieht die Welt. Und als die Welt in Ninive ihre Augen aufschlug und Seinen Bick erwiderte, da fand sie Gnade.
……. Vielleicht wollen wir nicht so einfach, so schlicht denken, reden und glauben.
Aber um Ninives willen, um des Überlebens der Menschheit willen müssen wir.
… Zu Zeugen des Lebens werden. Zu Zeugen Gottes!
Amen.
[i] Rilkes ästhetizistisches Credo von 1908 - „Du musst dein Leben ändern“ -, mit dem sein Gedicht „Archaïscher Torso Apollos“ endet, wurde von Peter Sloterdijk in seinem gleichnamigen Buch von 2012 in den Kontext der (philosophischen) Lebensstil und -kunst-Fragen der Krise unserer Zivilisation gestellt. Beide, das poetische wie das polemische Manifest haben den jeweiligen Zeitgeist mit dem prophetischen Pathos, das sich im Lebensänderungs-Appell verdichtet, popularisiert.
[ii] Der Inhalt der dem Jona aufgetragenen Gottesbotschaft wird tatsächlich nur in Jona 1,2 zitiert! Es gehört zu den humoresken Doppeldeutigkeiten, an denen das Buch Jona reich ist, dass die scheinbar stilechte Untergangsbotschaft, die man mit einer prophetischen Sendung unwillkürlich assoziiert, eben nicht als direkte Gottesrede begegnet. Das Spiel mit diesem Missverständnis, als sei Prophetie zwangsläufig und ausschließlich Drohung, setzt der Text also bewusst ein. Und steigert damit noch die Gnade Gottes, um Dessen eigene Umkehrbereitschaft es ja vor allem in diesem Buch geht. Das „Übel, das er ihnen angekündigt hatte“ (3,10) und das Gott gereut, hat ja innerhalb des Textes ein offenes Subjekt: Offenbar tut Gott ja leid, was Jona angekündigt hat. Gott kehrt also stellvertretend für den auf Zweifel und Unheil versessenen Propheten um. Das ist reine Christologie!
Trinitatis, 12.06.2022, Stadtkirche, Römer 11,33-36, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Trinitatis - 12.VI.2022
Römer 11, 33-36
Liebe Gemeinde!
Sherlock Holmes und Miss Marple, Pater Brown und Kommissar Maigret, Emil Tischbein und Kurt Wallander - von den Schimanskis, den Lindholms oder Odenthals, den Batics und Leitmayrs, den Ballaufs und Schenks, den Thiels und Professoren Boerne ganz zu schweigen - … diese Detektive und Inspektoren sind langfristig ohne jeden Zweifel sämtlich gut für den Blutdruck: Zwar muss man Schock und Spannung, muss Hängen und Würgen aushalten und ein bisschen Gänsehaut, ein wenig Zittern und stockenden Atem ertragen, aber wenn der Buchdeckel zugeklappt, der Abspann vorübergeflimmert ist, dann ist die Sache geritzt. Der Fall findet seine Lösung. Das beruhigt die Nerven schließlich mehr, als der ganze Krimikitzel sie bewegt hat. Und darum schläft Deutschland am heiligen Sonntagabend so gern auf dem Tatortsofa ein.
… Mord und Mystery machen uns Spießer zufrieden, weil sie am Ende ordentlich geklärt werden. … Und Ordnung muss nun mal sein. Lösungen müssen her. Klarheit soll herrschen. Der Müll wird sortiert und jedes Rätsel mit Geduld und Spucke eingespeichelt, bis es der widerstandslose Brei ist, mit dem wir am besten fertigwerden. Mag also auch die Schale rauh sein: Im Kern erwarten wir immer nur Weichheit.
… Wo kämen wir auch hin, wenn die Dinge hart und unrund blieben, wenn sie ihren Stachel, ihre unnachgiebige Verschlossenheit nicht schließlich doch aufgäben? … Was wäre das für eine Welt, in der die Nüsse sich nicht knacken lassen, in der das Unverständliche nicht vernebelt und das Erschütternde nicht kleingeredet, wegretuschiert oder den Dummen überlassen wird, die nicht kapieren, dass man sich seine Wirklichkeit aussuchen kann, wenn man nur ein bisschen gewieft ist?!
Machen wir’s uns also weiter gemütlich. Alles andere ist schließlich nervenaufreibender als jeder Krimi es sein könnte!
……. Unlösbare Fragen, nicht aufzuklärende Fälle? … Eijeijei.
Wo Schwierigkeiten unlösbar sind, bieten sich ja doch nur drei Möglichkeiten: Endloser Kampf, unversöhnte Kapitulation oder demütige Unterwerfung. Alle drei dieser schrecklich nach der militärischen Wirklichkeit unserer Tage klingenden Optionen sind aber erkennbar bitter.
Wenn die Ukrainer bis zum Untergang kämpfen müssten, wäre es genauso tödlich wie ein vergeltungsträchtiges Besiegt-Werden; und ein hingenommener Waffenstillstand, dem die Fremdherrschaft eines barbarischen Tyrannen folgte, wäre ebenfalls katastrophal. ——
Gibt es also keine Alternative, als bloß die leichte Schulter oder die tragische Ergebung in’s Verhängnis, wenn es um die Sackgasse geht, in die die Welt oft führt?
Zunächst müssen wir uns wohl daran gewöhnen, dass wir tatsächlich in einer Klemme sitzen:
Da machen die einen sich die letzten sonnigen Tage - schließlich könnte es nächstes Jahr sogar wieder Zinsen geben!!! -, eh die Zerstörung der Welt mit Wucht losgeht, noch einmal dekadent nett, während die andern längst betrogen und entwurzelt im gestaffelten Verderben stecken. … Aber etwas Verzicht auf exotische Cocktails am Pool oder ein paar agile Gerettete, die vor dem Tsunami vorübergehend nochmal Boden unter die Füße kriegten, die sind ja nun weder so noch so die Lösung. … Keine Lösung also, nur Komplexität. …….
Oder in der anderen Frage, der augenblicklich akuteren, die uns bewegen muss: Pazifismus ist keine Lösung im Angesicht real-radikaler Aggression, und die dringend nötigen Waffenlieferungen sind keine Lösung für die Gemeinde dessen, der in der Bergpredigt die Friedfertigen seligpreist. Wer also selig werden will auf dem Weg der Friedensethik, wird blutig schuldig, weil er lebensnotwendige Hilfe verweigert, und wer schuldig wird auf dem Weg der konkret gebotenen Verantwortung, der kann nicht die Seligkeit der wehrlosen Kinder Gottes erwarten. Die politische Tatenlosigkeit und Verzögerungstaktik aber versündigt sich sowohl am Gebot wie am Evangelium. … Keine Lösung also, nur Komplexität! …….
… Und kein Bienzle und kein Bond, die mit ihrem untrüglichen Gespür das Verworrene auseinanderpflücken bis alle Enden glatt sind und sich die unumstößliche Auflösung zeigt. ——
Ein solches frustrierendes Lebensproblem hatte nun auch Paulus: Seit Damaskus, seit der von Saulus verfolgte tote Betrüger von Golgatha ihm als die lebendige Wahrheit vom Himmel her in die Quere gekommen war, konnte der Weg des Paulus nicht mehr logisch verlaufen. Sein neues Ziel war für seine alten Lehrer die schlimmste Verirrung; was er erreichen wollte, sahen fast alle seiner Genossen als reine Zerstörung an; die er zum Heil rufen wollte - seine geliebten Blutsverwandten und Glaubensbrüder - argwöhnten seinen völligen Abfall. Paulus, der leidenschaftliche Pharisäer, der Frömmste der Frommen erschien denen, die er retten wollte, als Verderber, und denen, für die er warb, war er unheimlich. Die Jünger des gerechten und wunderwirkenden Jesus von Nazareth zweifelten an ihm, und die anderen Schüler des weisen und gerechten Lehrers Gamaliel in Jerusalem verzweifelten an ihm. …
… Wer sollte den Knoten lösen? … Wer sollte das Rätsel entwirren?
Den Heiden bot er das Heil Israels an, das viele gar nicht suchten, und den Juden konnte er ihren Messias nicht vermitteln, obwohl der ihn doch gefunden hatte.
Komplexer, irritierender, frustrierender geht es auch in unserem Leben und Denken nicht zu;
widersprüchlicher stehen Wollen und Vollbringen, Problembewusstsein und Lösungsmöglichkeiten auch bei uns nicht in Spannung zueinander. ——
Eigentlich schlägt in solchen vertrackten Situationen ja tatsächlich meistens die Stunde der Vereinfachung. Wenn die widerstreitenden Argumente, die gleichwertigen Gesichtspunkte, die unversöhnlich diametralen Prinzipien sich einfach nicht in ein harmonisches Gefüge bringen lassen wollen, dann fällt halt eins hinten runter.
Wir kennen das ungeschriebene Gesetz ja zur Genüge: Der Markt von heute oder der Mensch von morgen; eine Mehrheit der Stimmen oder die Stimme der Wahrheit; die rasche Zufriedenheit oder das nur langsam zu gewinnende Gleichgewicht … Man kann nicht beides haben – was also soll’s? Eins geben wir auf.
Paulus aber tut genau das nicht.
Der Heidenapostel gibt die Juden nicht auf. Der unterschiedslose Wohltäter vieler Völker hält dennoch am Heilsvorsprung des einen Volkes fest. Der Missionar, der die weltweite Kirche der späteren Antisemiten anstieß, wird doch nicht müde die umgekehrte, positive Diskriminierung zu bezeugen: „Das Evangelium gilt den Juden zuerst, (und) dann auch den Griechen“ (Rö1,16)!
Paulus, konsequent, messerscharf, haltungsstark und völlig unabhängig wie vielleicht kein zweiter unter den Botschaftern Jesu Christi, ist am entschiedensten vor allem anderen kein Mann des Entweder-Oder!
Unsere primitive, weil aus der Frustration geborene Logik eines „Wenn nicht links herum, dann eben rechts“, ist eben ganz und gar nicht das Denkmuster des Verkündigers der Rechtfertigung allein aus Glauben.
… Fängt also mit Paulus schon die Wischi-Waschi-Verlegenheit der Kirche an?
Diese haarsträubende Spezialität besonders der evangelischen Sprechblasen- und Nebelkerzen-Produzenten, die’s nie wagen, etwas rundheraus zu behaupten und zu vertreten, sondern immer im Kompromiss baden und also die Meinungen Dritter, die Gefühle Anderer, die denkbaren Hindernisse so sehr betonen, dass jede klare Kontur verschwimmt und man nur das scheußliche Gefühl bekommt, alles Gesagte sei Soße und alles Geschriebene Schaum?
Ist Paulus also verantwortlich dafür, dass wir im unverbindlichen und darum offenbar auch völlig unnötigen Sowohl-als-auch für ein bisschen Krieg und ein bisschen Frieden, ein bisschen assistierten Suizid und ein bisschen Lebensschutz, ein bisschen Bibel und ein bisschen Koran, ein bisschen schwäbische Frömmigkeit und ein bisschen Frankfurter Kritische Theorie und praktischen Atheismus stehen? … ——
Wenn wir so fragen, fehlt es uns in erster Linie nicht an Klarheit, sondern an geistlicher Tiefe.
Dass viele unserer eigenen und viele der öffentlich amtskirchlichen Positionen unklar, unentschlossen, quälend dialektisch und also unbefriedigend sein mögen, wo sie’s nicht sein müssten, lassen wir dahingestellt sein.
… Denn mit Paulus und seiner Weigerung, die Heilshoffnung der Juden zu opfern, um die Universalität seines Christuszeugnisses zu unterstreichen, betreten wir ein anderes Gebiet, als das der menschlichen Exklusivitäts-Logik.
Mit Paulus, der kein Entweder-Oder predigen kann, stehen wir vor dem wirklichen Gott, Der mehr ist, als alle unsere Vereinfachungen! —
Das Wesen des lebendigen Gottes ist eben nicht jene Einfalt, mit der wir einen Fall für abgeschlossen, eine Frage für geklärt halten.
So sind, so denken, reden und handeln wir Menschen. Unsere Person, unser Verstand, unser Fassungsvermögen und unser Einsatz sind von Natur aus einfach: Das bin immer nur ich Einer, der da lebt und reflektiert, der da kommuniziert oder agiert. Es ist nie mehr als nur das eine Ich allein.
Doch gerade so ist der Gott, von Dem, durch Den und zu Dem alle Dinge sind, nicht: Er ist in Sich das tiefe und das weite „Und“; Er ist die hohe und die innige Vereinigung, die wir niemals erreichen können, weil das Verbindende, das Versöhnen, der Zusammenhalten an unserer Vereinzelung scheitern muss.
Wir können nur erkennen, was zeitlich ist. Gott indes ist nicht einmal an die Ewigkeit gebunden.
Wir können nur begreifen, was unsere Sinne berührt. Gott dagegen bedarf keiner Organe, denn in Ihm sind die Wirklichkeit und die Möglichkeit, das Materielle und das Geistige selbst inbegriffen.
Wir vermögen nicht mehr wahrzunehmen und nichts anderes zu bewirken, als was uns ursprünglich zugänglich ist. Gott jedoch, weil Er selber die Offenheit ist, Der sich alles verdankt, in Der nichts ausgeschlossen sein kann und bei Der alles sein Ziel findet, … Gott übersteigt und Gott verknüpft das Vergängliche, das Noch-nicht-Seiende und die zeitliche, räumliche Schrankenlosigkeit in einer unlöslichen, unerforschlichen und unendlichen Gemeinsamkeit des für alle Geschöpfe Unzähligen und für den Schöpfer Unzertrennlichen.
… Dass Gottes Wesen also den Einen, die Vielen und darin Alles umfängt, …
… dass Er Beginn, Dauer und Vollendung zugleich gewährt, …
… dass in Ihm Wort und Fleisch und Geist der Selbe sind, …
… dass Er in sich die unverbrüchliche Identität von Geber, Gabe und Geben ist, …
… dass Gott nicht als Gott allein, sondern als Mensch erkannt werden will, und dass Er diesen Bund nicht nur als wundersames Ereignis, sondern in ewiger Wirklichkeit beschließt, vollzieht und bezeugt, …
… dass Gott also nicht einfach, sondern komplex, unglaublich, ununterscheidbar und dennoch nicht versteinert ist, … nicht versteinert, sondern bewegt von Liebe, erfüllt von Liebe, getrieben von Liebe, souverän in der Liebe, leidend aus Liebe, sterbend aus Liebe - unsterblicher Liebe! -, … dass Gott so viel mehr, so viel mehr, so viel mehr ist, als unsereiner - unser „Einer“! - jemals auch nur ahnen, nur vermuten, nur träumen kann, das ist der Grund weshalb Paulus nicht in schlichter Exklusivität denken, sprechen oder hoffen kann. —
Es ist – wenn wir es mit dem heiligen Gott, dem Gott des Liebesbundes, dem Gott des Himmels, der Erde und der Tiefe zu tun haben – … es ist unmöglich und unsinnig und unverzeihlich, wenn wir abschließend oder ausschließend von Gott oder zu Ihm sprechen wollten!
Das verbieten Demut und Weisheit gleichermaßen!
Die Torheit und der Stolz des Menschen, die ihn immer wieder verleiten zu behaupten, er sehe, wisse, urteile und vollziehe die Wahrheit, … die müssen stumm werden in heiliger Ehrfurcht und brennendem Verlangen und niemals zu erschöpfender Liebe, wenn er Gott zu spüren, zu vertrauen, zu erwarten beginnt.
Ein Mensch, der - so wie Paulus - existentiell erfährt, dass schon der irdische Sinn unserer Erfahrungen und Probleme sich nicht in simple Eindeutigkeit, in platte Basta!-Sprüche fassen lässt, der gibt nicht etwa seinen Verstand auf, sondern erweist ihm überhaupt erst Ehre, wenn er vor Gott und von Gott nicht in dummdreister Vereinfachung spricht.
Es ist also keine Feier der Irrationalität, sondern die erleuchteteste Einsicht, wenn ein Mensch, der denken und unterscheiden kann, das Unbegreifliche Gottes, die Unerforschbarkeit Seines Geheimnisses bekennt!
Wer die Welt als Sonntagabendkrimi, als kleine Denksportübung für Hobby-Spürnasen, als Unterhaltungsformat mit garantiert publikumsfreundlicher Pointe betrachtet, der hat nichts, gar nichts auch nur von Ferne von Dem erfasst, Der unser Gott ist.
Alles an Ihm ist wunderbar und unerklärlich. Seine Liebe zu uns und Seine Schöpfung haben keinen Grund, … kein Ende.
Sein Zorn, Sein Richten, Sein Zubereiten und Zurechtbringen gehen über unser sämtliches Fassungsvermögen, und Seine Gnade reicht tiefer, weiter, als die abstraktesten Formeln des menschlichen Geistes.
Niemand hat es je auch nur in abgeleiteter Annäherung streifen können, wie überwältigend die Wirklichkeit Gottes ist und niemand könnte sich je einbilden, sich auch nur einen Schatten dessen angeeignet zu haben, was Gott vermag, worüber Er gebietet und was Er schenkt.
Gott zu begegnen, heißt darum nicht, die Lösung zu finden, sondern die Unendlichkeit.
Gott zu erkennen, heißt nicht zu wissen, wie es endet und warum, sondern anzubeten, dass es ist und war und bleiben wird, wie Er es wollte, … wie Er es will.
Gott also, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, der Heilige, der Starke, der Unsterbliche, ist nicht die Erklärung, sondern das Geheimnis, … nicht die Begründung, sondern die Vertiefung, … nicht das fehlende Puzzlestück, sondern die immer schon und noch nie dagewesene Vielzahl aller Einzelheiten.
… Der Dreieinige, der nicht dieser, dies und das ist, … sondern Alles – Der ist kein Fall, den man löst, keine Komplexität, gegen die man rebellieren oder vor der man kapitulieren müsste.
Der dreieinige Gott ist schlicht die höher als alle unsere Vernunft und weiter als unser Wissen - und Wünschen! - reichende Wahrheit, die wir anbeten!
O welch eine Tiefe des Reichtums, beides der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!
Ihm sei Ehre in Ewigkeit!
Amen.
Pfingstsonntag, 05.06.2022, Stadtkirche, 200.Jubiläum des Amtsantrittes von Theodor Fliedner in Kaiserswerth, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Pfingstsonntag - 5.VI.2022
200 Jahre seit Theodor Fliedners Amtsantritt in Kaiserswerth[i]
Liebe Gemeinde!
In allem, was geschieht, stoßen wir auf den Geist.
… Kann man so sprechen in Tagen des Krieges und der Katastrophe??
… Man muss: Wenn wir die Welt als unerreichbar oder verschlossen für Gottes Geist sähen, dann wäre das Licht verloschen, dann ginge das Wasser des Tohuwabohu über alles und verschlänge, was noch bleibt von der Welt und ihrer Zeit im Sog des Chaos. Doch schon über dem ersten Tohuwabohu schwebte der schöpferisch brütende Geist (vgl.1.Mose1,2) und über den Wirbeln des Weltendes wird er genauso seine bergenden Schwingen breiten. In allem also, was geschieht, stoßen wir auf den Geist. Das ist gewiss.
… Ob aber alle Geschichte darum auch geistvoll auf uns wirkt, das darf man fragen.
… Oft werden wir auf den rohen Stoff der Welt – früher nannte man es „das Fleisch“, heute nennt man es „das Materielle“ – als stärksten Trieb und sichtbarstes Ergebnis dessen stoßen, was man Geschichte nennt. Das ist dann der rationalistische Blick, der beobachten kann und gut ist im Zählen und Erklären, der aber nicht wahrzunehmen vermag, was unerklärlich bleibt und nur erzählt werden will … oder staunend anerkannt … oder gläubig angebetet.
*******
Wenn man nun aber – weil wir zweihundert Jahre zählen, seit die Geschichte begann, die aus der verlassenen und zum Verschwinden verurteilten evangelischen Kirchengemeinde, die heute wir sind, etwas Unerhörtes und Unvergessliches machte – … wenn man nun aber auf die Zeit und Gestalt zurückblickt, die aus einer abgewirtschafteten Winkelsekte am Niederrhein ein prägendes Kraftfeld der Menschenliebe gemacht hat, … dann entdeckt man zunächst nichts vom Geist, sondern erschreckt.
… Man erschreckt sich, wie unvorstellbar spröde, wie zwanghaft, wie neurotisch und lächerlich der junge Th. Fliedner, der Anfang 1822 hier, in dieser Kirche in sein Amt eingeführt wurde, tatsächlich war.
Er war ein typisches Kind jenes Jahrhunderts, in das er gerade nicht mehr gehörte: In den allerersten Tagen des 19.Jahrhunderts geboren, war es doch geprägt vom Geist der Aufklärungszeit. Die heiligste Dreieinigkeit, der er diente, hieß nicht Vater, Sohn und Geist, sondern Vernunft, Tugend und Zivilisation. Er war ein rationalistischer Moralist, wie viele seiner Lehrer und Amtsbrüder unter den Geistlichen damals, die der Argwohn gegen jeden Überschwang an Glaube, Hoffnung und Liebe in die engen, nüchternen, phantasielosen Bahnen eines volkserzieherischen Selbstverständnisses zwang. Man verbesserte den Ackerbau und die Tischmanieren, man bildete sich und andere im redlichen Geist bürgerlichen Gewerbefleißes und nichtrevolutionärer Sittlichkeit und man strebte nach Form und Inhalt dessen, was als Kultur betrachtet wurde: Maß und Selbstkontrolle des Denkens und Fühlens, durch die das menschliche Los positiv vor allzu extremen Erfahrungen und Reaktionen geschützt werden sollte.
Wer diesen jungen Kandidaten der Gottesgelehrtheit, diesen pedantischen Hauslehrer und pathetischen Neu-Pfarrer Theodor Fliedner vor Augen hat, wer sein quälendes „Selbstprüfungsbuch“ durchblättert[ii], in dem er sich peinlich akkurat benotet, wenn er nach eigenem Eindruck anständig, salbungsvoll und diszipliniert genug war, … wer also denjenigen, dem wir die besondere Geschichte unserer Gemeinde verdanken, zunächst kennenlernt, dem wird alles, … außer pfingstlich zumute sein: Da ist so gar nichts schrankenlos Beschwingtes, nichts, das frei atmet oder ausstrahlt, nichts von energischem Aufbruch oder spontaner Leidenschaft. Nur ein konventioneller, ziemlich von sich selbst bewegter kleiner Kulturprotestant, der sich ab und zu hohle Phrasen leistet – wenn er bei seiner Ordination am Altar das Vorbild und den Geist des verstorbenen Vaters um Segen anruft und ihm Nachahmung schwört[iii] – und der ansonsten - wie jeder Gutmensch heute - sich selber als missionarisches Vorbild des Richtigen sieht und darum nichts ernster nehmen kann als sich selbst.
Diese kleinkarierte und doch gernegroße Eigenschaft derer, die verkrampft an ihrer Selbstverbesserung arbeiten, müsste uns ziemlich vertraut sein:
Wie sehr die Beschäftigung mit den eigenen Leistungen und Bildern, den eigenen Blutwerten und Fußabdrücken, der eigenen Beliebtheit und Beispielhaftigkeit von links bis rechts, von öko bis turbokapitalistisch unser Leben bestimmt, ist deutlich.
Bei Theodor Fliedner könnte man die ständige Selbstbeschau und Selbstbewertung, die ständige Selbstkritik und Selbstkorrektur durchaus als eine Gestalt des Heiligungsstrebens[iv], der strengen ethischen Selbstzucht bewerten, die so typisch für das reformierte Erbe war. Solche Gesetzlichkeit ist noch einmal verstärkt aus der Verbindung von evangelischem Bekenntnis und rationalistischem Menschenbild als Mischprodukt zwischen aufgeklärtem Optimismus und negativer Katechismus-Pädagogik hervorgegangen. Aber wenn der eben 22-jährige Fliedner in schlechtem Schiller-Stil schreibt: „So kehre, du heilige Ordnung, Tochter des Himmels, mit deiner Schwester Ueberlegung, kehre wieder in mein Herz und mein Haus ein!“[v], und wenn eine intensive Reflektion seines Amtes und seiner Vorsätze in dem Vorsatz gipfelt „Jesus Christus sei mein Vorbild, und der edle Paulus mein zweites Muster“[vi], dann wird deutlich, was in der Frühzeit, als er vor zweihundert Jahren hier ankam, Fliedners Mangel war: Er glaubte an nichts so sehr, wie an die Moral. Er wollte gut werden; und wer gut werden will, will irgendwann der Beste sein[vii]. Und dann kann man wirklich nur ein Apostel der Moral - der eigenen Moral wohlgemerkt! - werden und niemals der Apostel eines Anderen, dessen Liebe auch allen anderen gilt - besonders aber denen, die gerade nicht gut, sondern schlecht sind, … meistens ja, weil sie es schlecht und nicht gut haben.
Fliedner, der unreife Rationalist, der unsichere junge Moralapostel musste also ein Pfingsten erleben, das seine Beschäftigung mit der eigenen Rolle und dem eigenen Ruf verglühen ließ und eine andere Liebe in ihm entzünden sollte, die hier in Kaiserswerth zum Leuchtfeuer der Nächstenliebe werden sollte ….. eine Liebe, die nicht dem eigenen Gutsein, sondern dem Geliebtwerden entstammte.
Und wie Gott unseren Fliedner diese Liebe hat erfahren lassen, das ist ein pfingstliches Wunder, weil es in seiner Mischung von Materie und Geist, von Geld und Glauben so kurios war.
Es war die Jagd nach dem bitter nötigen Materiellen, die in Fliedners Biographie das Feuer der Liebe entzünden sollte. Die Evangelische Kirchengemeinde Kaiserswerth war ja pleite - eine Erfahrung der Anfänge also, die uns für die Zukunft nur heitere Gelassenheit nahelegt. Fliedner musste sie finanziell retten. Und schätze sich durchaus - erbsenzählend und korinthenkackend - richtig ein: Rechnen konnte er, und seine Gabe als Bettler war eine Gottesgnade. Vor der großen Kollektenreise, die ihn in seinem zweiten Amtsjahr nach Holland und nach England führen sollte, schrieb er doch tatsächlich in ungewohnt selbstbewusster Tonlage an seine Mutter und Geschwister: „So denke ich denn, wenn der Herr mich geleitet, stark genug zu sein, um die englischen Kassen zu sprengen“[viii]!
Erbsenzählender, panzerknackender Moralapostel auf Fundraising-Tour: Das war die Ausgangslage des Pfingstwunders im Leben Theodor Fliedners.
Zunächst bestand es für den jungen Mann in der gleichen Urerfahrung wie einst bei der Jerusalemer Apostelschar: Die überwältigende Vielfalt der Menschheit kann einen gemeinsamen Nenner bekommen, und wer in der bunten Menge nicht nur die Variationen, sondern das Thema vernimmt, wer nicht bloß das Unterscheidende, sondern das Einende verspürt, der wächst über das Eigene hinaus und wird vom Unvertrauten ergriffen und vom Neuen angesteckt, … ja, er wird bereichert von dem, was nicht Seines ist.
Das ist Fliedner ganz buchstäblich widerfahren: Der skrupulöse Beobachter seiner selbst, der so ängstlich auf die eigene Entwicklung und Wirkung konzentriert war, wurde von der Großzügigkeit, die ihm aus ganz ungewohnten Bereichen entgegenkam, nachhaltig überrascht.
Dass seine eigentlich ja so anonyme Bittstellerei für die völlig namenlose, unbekannte Zwerggemeinde Kaiserswerth im Ausland ein solches Gehör fand, dass solche Hilfsbereitschaft mobilisiert werden und schlichtes Mitgefühl zu so konkreter Solidarität führen konnte, hat Fliedner zweifellos auf dem ihm vertrauten Feld des Ethischen zutiefst ermutigt.
Wie in Holland die unterschiedlichsten Konfessionen und Glaubensgemeinschaften sich von ihm ansprechen und in die Pflicht nehmen ließen, brachte sein durchaus beschränktes Welt-bild in heilsame Unruhe und fröhliches Durcheinander: Da waren Calvinisten und Lutheraner bereit zu tätiger Hilfe; französische und niederländische Gemeinden empfingen ihn; es gab Pfeffersäcke und kleine Dienstmädchen, die jeweils ungeheuer großzügig waren; er ging bei Herrnhuter Gemeinschaftsleuten – „Muckern und Mystikern“, wie er sie vor Kurzem noch genannte hätte – und bei Mennoniten, die er als sektiererische „Wiedertäufer“ angesehen hätte, aus und ein. Doch nicht nur das: Auch römisch-, ja sogar griechisch-katholische Christen in Amsterdam und Rotterdam nahmen Anteil an seiner Mission und unterstützen ihn … Zu seinen orthodoxen Wohltätern in Amsterdam zählte etwa – es sei uns in dieser Zeit eine besondere Pflicht, ihn zu erwähnen! – der reiche russische Baron Stroganoff[ix]!
… Und dann waren da noch die Juden! Neben hugenottischem und holländischem Geld, neben dem anrüchigen Profit aus den Kontoren des Kolonialismus und den Beiträgen aus strikt friedensethischen Gemeinschaften wie den Mennoniten sind auch Spenden sephardischer Kaufleute aus Holland und aus London bald darauf dann auch eine Zuwendung aus dem Vermögen der Rothschilds in die Rettung dieser, unserer Gemeinde geflossen! Und wie Fliedner in der britischen Metropole die Hocharistokratie - er lernte beim Betteln auch die spätere Queen Victoria als Fünfjährige kennen - abklapperte und daneben auch die politischen Kreise, die aktiv gegen die Sklaverei etwa kämpften und aus quakerischem und methodistischem Geist sich in vielen sozialreformerischen Pionierprojekten versuchten, das ist eine atemberaubende Pfingstgeschichte von wegbrechenden Trennungen und aufbrechenden Verbindungen unter denen, die nach Christi Namen heißen oder nach dem Volk Israel, die nach Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit streben und auf so vielerlei Wegen zu gleicher Zeit doch alle von Seinem Heiligen Geist geleitet werden!
Fliedners starker, wohl vor allen Dingen jugendlicher Selbstbezug musste durch solche horizonterweiternden Erfahrungen mit unterschiedlichen Konfessionen, Kulturen und Nationen ohnehin erhebliche Veränderungen, musste Auffächerungen und Vertiefungen erfahren: Wer die Anderen kennenlernt, der kann nicht mehr wie zuvor nur bei sich selber bleiben, … er muss lernen , dass die eigene Haltung, Meinung und Bedeutung ein ziemlich nebensächliches, jedenfalls kein entscheidendes Element der Heilspläne und der Heilsgedanken Gottes sind. …….
Das moralische Streben nach der eigenen Heiligung – etwas, das für den sittenstrengen, und unnachgiebig gewissenhaften späteren Gründer und Verbreiter der Diakonissenschwesternschaft trotzdem ein Leben lang wichtig blieb – das moralische Streben nach der eigenen Heiligung, das für Fliedner vor seiner Reise zu den Nachbarvölkern zentral gewesen war, trat allerdings nicht nur vor dem Erlebnis der vielen, vielen anderen rechtschaffenen, mitfühlenden und einsatzwilligen Menschen, denen er begegnete, zurück.
Er traf auf seinen Reisen noch auf einen anderen. Eher noch: Ein anderer traf ihn[x]!
Bei den mancherlei Kirchen und Frömmigkeitsformen, die er kennenlernte, geschah es Theodor Fliedner, dass er immer mehr aus dem Blick verlor, was er selber tat, und immer klarer sehen musste, was Christus tut. Er war aus Kaiserswerth abgereist, wo er gut sein wollte und er stieß unter den anderen Christen darauf, dass es nicht mehr um dieses eigene Gute ging: Die Gütergemeinschaft – in Jerusalem einst Folge der Ausgießung des Geistes Gottes – lehrte Fliedner in umgekehrter Reihenfolge auf die Quelle alles Guten, aller Güte und Gerechtigkeit, aller Gnade und Liebe, aller Wahrheit und allen Segens zu schauen.
Um es kurz zu sagen: Der Mann, der die Ethik –- das Gutsein - für sich verstanden zu haben meinte, erfuhr, dass sie einzig aus dem Evangelium - der Guten Nachricht Gottes - stammen kann! … Nicht, was wir tun, sondern was Gott getan hat, tut und tun wird, ist also die Rettung!
Diese Erfahrung - noch kürzer gesagt: dieser Glaube an die Rechtfertigung durch Christus - wurde Fliedner erst durch seine lebendigen und leibhaftigen Begegnungen mit der Menschheit geschenkt. Nicht das Sehen auf sich, nicht das Kreisen um die eignen Aufgaben und Möglichkeiten, sondern die Berührung durch die Not, die andere leiden und lindern, und die Liebe, die andere zu und von Christus haben, … erst diese Erkenntnis dessen, was außerhalb des eigenen Lebens und ohne das eigene Zutun geschieht, machte Fliedner zu einem Menschen, der seinen Glauben nicht bloß rational, sondern existentiell erfuhr und ihn dann als Liebe weltweit weitergeben konnte. ——
Er hat diese Reise, die ihm unter den Völkern die absolute Angewiesenheit auf Jesus Christus zeigte, als eine Reise zu einem lebendigen, persönlichen Erlösungsglauben empfunden. Sie machte aus dem mit sich selbst beschäftigten, in sich selbst befangenen jungen Mann einen Jünger des auferweckten Jesus Christus mitten in der Welt.
Sie war sein Pfingsten.
*******
So wie es unser Pfingsten sein wird, zu erfahren, dass wir nicht alleine sind!
Und dass es also nicht darauf ankommt, uns ständig zu verbessern, um irgendwann unübertroffen und einsam gut zu sein, sondern darauf kommt es an, dass wir getroffen werden von der Gnade Jesu Christi, der gerade dann und dort zu uns Menschen allen drängt, weil und wo es schlecht um uns steht!
Wenn wir das wie Fliedner begreifen, dass wir mitsamt dieser ganzen Welt nichts so dringend nötig haben, wie die in Christus wirklich rettende Liebe Gottes, die im Heiligen Geist auch nach uns persönlich greift und die auch unsere bittere Zeit verändern und unsere zerfallende Welt heilen kann, dann werden auch wir tatsächlich Pfingsten feiern!
Nicht unsere Güte, sondern die Güte Gottes wird uns dann ja erfüllen!
Und nicht menschliche Kraft und Gerechtigkeit wird dann unser Maß und Ziel sein, sondern diese überschwängliche Hilfe Gottes!
Sie, nur sie ist es, die die Welt braucht: Russland braucht sie genauso wie die Ukraine, die römische und die evangelische Kirche brauchen sie, um Zukunft zu haben, die Frommen brauchen sie und die Zweifler, die hilflos Verunsicherten und die gedankenlos Übersicheren unter den Religiösen und den Atheisten brauchen sie, … schlicht sämtliche Sünder und alle, die reines Herzens sind!
Wir brauchen Gott: Vater, Sohn und Heiligen Geist!!! ——
Auf der Suche nach dem Materiellen fand Fliedner zu diesem Glauben.
Möge uns das Gleiche widerfahren heute, da das materialistische Zeitalter, das Zeitalter der Gier, der Gewalt und des rein stofflichen, rein weltlichen Gewinns enden muss.
… Möge es uns also wirklich trotz allem noch gewährt werden, in allem, was geschieht, auf den Geist zu stoßen!
Mit den Worten Israels: Mögen wir den Frieden Gottes und Seien Güte wie in der Höhe, so auch auf Erden sehen, … bald und in unseren Tagen[xi].
Komm, Heiliger Geist!
Amen.
[i] Als Grundlage sowohl der biographischen als auch der geistlichen Wahrnehmung Fliedners in dieser Predigt dienen die beiden großen Lebensbilder: Die erste Biographie, die Fliedners Sohn Georg verfasste: „Theodor Flieder - Durch Gottes Gnade Erneuerer des apostolischen Diakonissenamtes in der Evangelischen Kirche. Sein Leben und Wirken. I.Band“ (Kaiserswerth a. Rh., 1908), sowie; Martin Gerhardt, Theodor Fliedner. Ein Lebensbild. Erster Band, Düsseldorf-Kaiserswerth, 1933.
[ii] Breite Auszüge bietet Georg Fliedner, aaO, S.87ff.
[iii] Vgl. Gerhardt, S.93.
[iv] Bei Gerhardt wird die moralistische Fassung des Heiligungsstrebens besonders kritisch eingeordnet, vgl. S.95ff.
[v] Georg Fliedner, aaO, S.88.
[vi] Gerhardt, aaO, S.99.
[vii] Überraschend scharf ordnet Georg Flieder die frühen rationalistisch-moralistischen Anschauungen seines Vaters ein: „Er wollte sich selbst erlösen; Gott sollte dabei nur ein wenig helfen“ (aaO, S.103).
[viii] Georg Fliedner, aaO, S.138.
[ix] Gerhardt, aaO, S. 118. Die zahllosen, farbigen Einzelheiten, die Gerhardt ab S. 114 als Eindrücke von der Kollektenreise, in sehr genauer Aufzählung der verschiedensten Unterstützer bietet, sind ein wirklich pfingstliches Gemälde multikultureller, pluralistischer Gemeinsamkeit avant la lettre.
[x] Diesen entscheidenden Umschwung analysiert Gerhardt ausführlich, vgl. aaO, S,125ff. Besonders zu beachten ist das resümierende, spätere Selbstzeugnis Fliedners, der im Blick auf die erste Kollektenreise festhält: „… daß ich nicht länger zweifeln konnte, mein bisheriger Glaube sei noch nicht der rechte gewesen, und der Glaube an Christus als unsern Herrn und Gott, an die Wiedergeburt durch die Erneuerung des heiligen Geistes in lebendiger, gründlicher Buße mir vor allen Dinge nottue, ehe ich andern Christus predigen könnte als göttliche Kraft und göttliche Weisheit“ (aaO, S.137).
[xi] Diese Grundbitte des „Oseh Schalom bimromav“ kommt in der Sabbatliturgie ebenso vor wie im Kaddisch.
Rogate, 22.05.2022, Ps.65,3, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text: „Gott, du erhörst Gebet; darum kommt alles Fleisch zu dir." (Ps.65,3)
Liebe Schwestern und Brüder,
wenn man nach einem „roten Faden" sucht, einem Marker, der allen Religionen und Konfessionen eignet, dann ist es das Gebet. Das Gebet ist das Kennzeichen eines gläubigen Menschen und ist es seit Anbeginn der Menschheit. Schon auf den Höhlengemälden der Eiszeit finden sich menschliche Gestalten in Orantenhaltung.
Seitdem ich mich mit den religiösen Vorstellungen der Menschen in anderen Kulturen und anderen Zeiten beschäftige, staune ich immer wieder, wieviel Ähnlichkeiten es da gibt - mit unserer christlichen Tradition und untereinander.
Gewiss, es gibt auch Unterschiede. Gerade auch beim Gebet - und das nicht nur in der Körperhaltung, sondern auch in der Anrede: der Jude spricht Jahwe/Adonaj an, die Christin betet „unser Vater", wie es Jesus beispielhaft vorgebetet hat. Der Hindu sucht hinter den vielen Gestalten seiner Götter das eine Sein, das er Brahma nennt. Der Moslem spricht zu Allah. Der Buddhist betrachtet das Nichtfassbare des ganz Anderen. Wie sollen wir mit dieser Vielfalt, diesen so unterschiedlichen Sprachbildern von Gott umgehen?
Als christliche Abendländer sind wir gewohnt, zu bewerten, falsche von richtigen Anreden an Gott zu trennen. Nicht wenige stellen sich vor, das Gebet eines Christen höre Gott, während das Gebet irgendeines indigenen Stammes zu irgendeinem Gott nicht zum wirklichen Gott gelangt. Bei den Magandscha, einem afrikanischen Stamm, betet die Priesterin: „Höre, du, o Mpambu, sende uns Regen", und der versammelte Stamm antwortet mit leisem Klatschen und in singendem Ton: „Höre, o Mpambu."
Soll ich nun annehmen, dass dieser Ruf, dieses Gebet, buchstäblich ins Nichts geht, weil es den Regengott Mpambu „nicht gibt"? Oder hört und sieht da nicht doch einer die Rufe und Bitten der Menschen? Wird es nicht der eine Gott sein, der jedem Menschen auf dieser runden Erde nahe ist und der jede Stimme hört und sie immer gehört hat? Oder wird er, der eine, wirkliche, ewige Gott, sein Ohr - um es mal ganz menschlich zu umschreiben - verschließen, weil er nicht mit seinem korrekten Namen angeredet wird? Was besagen denn überhaupt die Namen, mit denen wir Menschen Gott benennen? Haben da nicht die Muslime mit ihrer Tradition recht, wenn sie sagen, Gott habe hundert Namen, neunundneunzig kann der Mensch nennen, den hundertsten aber, der seine eigentliche Wesenheit und Wahrheit ausdrückt, wisse allein das Kamel, das aber spreche ihn nicht aus?
„Gott, du erhörst Gebet; darum kommt alles Fleisch zu dir."
El heißt es da in der hebräischen Bibel - El oder Elohim ~ Gott, Gottheit. Die Bezeichnung die ganz offen ist. Es steht nicht JHWH, nicht der Name, mit dem sich Gott Israel offenbart hat. Als wenn der Psalmist hier eine Tür des Verstehens öffnet: „Gott, du erhörst Gebet. Wir Israeliten, wir sprechen dich an mit JHWH, dieser Name ist uns heilig, so heilig, dass wir ihn nicht aussprechen und stattdessen Adonaj, „Herr" lesen. Die anderen aus den Völkern, sie rufen dich mit den Namen, mit denen du dich ihnen offenbart hast. Aber der Adressat der Gebete, das bist immer Du, der Eine Gott."
Diese fundamentale Einsicht es Beters des 65.Psalms stünde uns allen gut an. Unsere abendländische Bildung hat uns diese demütige Haltung eher ausgetrieben. Auch ich bin noch damit groß geworden, dass es Hochreligionen gibt und primitive Religionen wie Naturreligionen. Was für eine Arroganz steckt hinter solcher Wertung. Den Vers aus dem 65.Psalm, den haben wir eher so formuliert: „Dreieiniger Gott, du erhörst unsere Gebete; darum ist es für alle wichtig, unseren Glauben, unsere Vorstellungen von dir zu übernehmen."
Nach zweitausend Jahren christlicher Geschichte ist eine grundlegende Wandlung des christlichen Nachdenkens gefordert, vor der noch viele zurückschrecken. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an das erste religionsübergreifende Friedensgebet in Assisi, zu dem Papst Johannes Paul II. im Oktober 1986 Vertreter aller Religionen eingeladen hatte. Gerade aus den protestantischen Kirchen, aus evangelikalen und fundamentalistischen Kreisen kam viel Kritik und Ablehnung: man könnte doch nicht gemeinsam beten, unser Gott sei doch ein ganz anderer als der Gott der Muslime oder Hindus. Hier würden Grenzen verwischt, die doch unbedingt eingehalten werden müssten, denn nur im Namen Jesu könne man Gott in Wahrheit anbeten. An dieser Stelle sind die Bemühungen des Heiligen Geistes in der katholischen Kirche seit dem 2.Vatikanum deutlich erfolgreicher gewesen als in den Kirchen der Reformation. Und das trotz der sonst so konservativen Päpste und Kurienkleriker.
Die Bibel selbst lädt uns ein, uns als Christen, als Christen der Reformation neu zu positionieren, weiter, offener, demütiger und befreiter über unseren Glauben und über den Glauben der Menschen anderer Religionen zu denken.
Die biblische Urgeschichte erzählt, nach der großen Flut, in der von der Menschheit nur acht Personen in einer Arche gerettet worden seien, die Urvorfahren der Menschheit, habe Gott sie angesprochen mit den Worten: „Ich verbinde mich heute mit euch, mit euren Nachkommen und allen lebendigen Wesen der Erde. Meinen Schutz und meinen Segen gewähre ich euch allen. Nie mehr soll das Leben in den Wassern der Flut versinken. Als Zeichen dafür setze ich meinen Bogen in die Wolken als Bild für den festen Zusammenhalt zwischen der Erde und mir." (Gen.9)
Der Noah-Bund mit dem Bundeszeichen des Regenbogens ist der erste, der grundlegende Bund, von dem die Bibel spricht - und der gilt allen Menschen und Tieren, der gilt der ganzen Erde, der ganzen Schöpfung. Gott stellt sich vor als helfender, schützender, sprechender und hörender Gott nicht nur für die Religionen, die ihren Ursprung in der Bibel haben, sondern für alle Menschen.
So von Gott und seiner Schöpfung zu denken, ist heute wichtiger als jemals zuvor, in der globalisierten Gegenwart geradezu not-wendig: dass wir aus dem engen Raum unseres Anspruchs auf die alleinige Wahrheit heraustreten und eine liebende Achtung gewinnen für die Stimmen, die uns aus anderen Welten des Glaubens und des inneren Nachdenkens in der Geschichte der Menschheit und in anderen Räumen unserer Erde erreichen. Ich bin überzeugt: wo immer ernsthaft nach Gott gefragt wird und wo auf diese Frage nach Gott die Antwort Gottes gehört wurde, hat sich der Eine Gott offenbart. Wie es in den Psalmen immer wieder heißt: Gott erhört das Gebet des Gerechten, des Menschen, der ihn ernsthaft sucht und anruft. Und er hört das Schreien der Elenden, aller Menschen in Not. Ohne Unterschied, egal welcher Religion oder Kultur sie angehören.
Ich bin überzeugt, dass Gott immer gegenwärtig war, in den Höhlen der Steinzeitmenschen, in deren Wänden in Löchern oder Nischen Figuren standen, die ihnen die göttliche Gegenwart begreifbar machten. Immer und überall, wo irgendwelche Chiffren für Gott an die Wände gemalt wurden. Die Menschen mögen sich Gott so seltsam, so unmittelbar handgreiflich, so menschlich vorgestellt haben wie sie wollten, sie hatten es immer mit dem wirklichen, dem Einen Gott zu tun. Mit wem sonst?
Ob Gott den Menschen nahe ist, entscheidet sich nicht an ihren primitiven oder intellektuell reifen Vorstellungen. Wo immer Menschen Gott anrufen - sei es als Ahnengott, als Tiergott, vor einer Steinfigur oder in meditativer Versenkung - ihr Gebet ist ein Gebet zu Gott. Immer ist Gott hinter den Bildern, auch hinter den Wortbildern. Er ist keines davon, er ist dahinter. Immer sind die Bilder nur Zeichen für Gott. Wo Gott als Regengott eines indigenen Stammes in Afrika angerufen wird, hört der wirkliche, der Eine Gott. Wer sonst?
Gott, man lobt dich in der Stille zu Zion,
und dir hält man Gelübde.
Du erhörst Gebet; darum kommt alles Fleisch zu dir.
Erhöre uns nach der wunderbaren Gerechtigkeit,
Gott, unser Heil, der du bist die Zuversicht aller auf Erden und fern am Meer,
der du die Berge gründest in deiner Kraft und gerüstet bist mit Macht;
der du stillst das Brausen des Meeres, das Brausen seiner Wellen und das Toben der Völker,
dass sich entsetzen, die an den Enden wohnen, vor deinen Zeichen.
Du machst fröhlich, was da lebet im Osten wie im Westen.
(Ps.65,1-3.6-9)
Brahma, dir huldige ich.
Du hast die Welt erschaffen und erhältst sie.
Du wirst sie einst auflösen und in dich zurückziehen.
Unermesslicher, du hast die Welt gemessen.
Du willst nichts und erfüllst doch unsere Bitten
Unsichtbarer, du bist die Ursache der sichtbaren Welt.
Du wohnst in unserem Herzen und bist doch weit entfernt.
Du leidest mit uns und bist doch vom Leid unberührt.
Du bist überall und doch zeitlos.
Du bist allwissend, doch niemand kennt dich.
Du bist über allem, und keiner regiert dich.
Du bist allein, doch lebst du in allem Geschaffenen.
Die Pfade zur Erlösung unterscheiden sich wie die Gedanken der Menschen,
aber alle führen zu dir, wie die Arme des Ganges in dasselbe Meer münden.
(Gebet eines Hindu, 4.Jh.)
Der du vor allem Anfang warst,
der du nichts als Licht bist, mächtig und zart.
Viel wirst du besungen,
doch niemand kann dich beschreiben.
Nicht zu schauen bist du, strahlend in deinem Glanz.
Du nahmst das Dunkel von unseren Augen.
Du sandtest dein heiliges Licht über die Welt hin,
du ertöntest mächtig in der Stille dieses Lichts.
König der Welt, weithin schauender Geber des Lichts,
gib den Völkern das Glück deiner Heiligkeit,
dass geschlossene Augen beginnen zu schauen.
Sende Leben. Sende das Licht. Sende die Liebe.
(Orphischer Hymnus, 700 v.Chr., Griechenland)
Ewige Einheit,
die in Stille für uns singt,
leite meine Schritte mit Kraft und Weisheit.
Möge ich die Lehren verstehen, wenn ich gehe,
möge ich den Zweck aller Dinge ehren.
Hilf mir, alles mit Achtung zu berühren,
immer von dem zu sprechen,
was hinter meinen Augen liegt.
Lass mich beobachten, nicht urteilen.
Möge ich keinen Schaden verursachen
und Musik und Schönheit zurücklassen, wenn ich gehe.
Und wenn ich in das Ewige zurückkehre,
möge sich der Kreis schließen.
(Ritueller Gesang der Aborigines, Australien)
Möge der Gott,
der „unser Vater" für die Christen ist,
JHWH für die Juden,
Allah für die Muslime,
Ahura Mazda für die Zarathustrier,
Aarhat für die Jainas,
Buddha für die Buddhisten,
Brahma für die Hindus,
möge dieses allmächtige und allwissende Wesen,
das wir alle als Gott anerkennen,
uns Menschen den Frieden geben
und unsere Herzen brüderlich (geschwisterlich) vereinen.
(Vivekananda, 1863-1902; Hindu)
Rogate, 22.05.2022, Kantatengottesdienst zu TVWV 1:1746 "Victoria!, mein Jesus ist erstanden", Stadtkirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Rogate - 22.05.2022
Kantatengottesdienst „Victoria!, mein Jesus ist erstanden“ (TVWV 1:1746) & Apostelgeschichte 1,2f
Liebe Gemeinde!
Wer ins Neue Testament hineinhört, wird jedes Mal von einem quasi-musikalischen Geistes- und Glücksblitz überwältigt: Da meint man, Karfreitag sei der letzte Takt und letzte Ton. … Doch, nein: Das blutgefrierende, atemabschnürende Schweigen des Entsetzens und des Sterbens wird von einem unvermuteten, darum aber nur umso strahlenderen Wiedereinsatz durchbrochen: Osterjubel, Auferstehungsfreude, Triumphklänge … so, wie wir sie gerade hörten!
Das eigentliche Ende des Liedes, das die Evangelien singen, der tatsächliche Schlussakkord ist ein anderer. Er folgt erst in dieser Woche mit der Himmelfahrt: Das letzte Mal, dass Jesu Stimme erklang, die finalen Brusttöne seines lebendigen Herzens, sein letzter Lebenslaut. … Danach ……. nun, dazu kommen wir später. ——
Wenn wir uns also gründen auf das Wort, das Jesus Christus heißt (vgl.Joh.1), wenn wir einen Glauben haben, der aus dem Hören kommt (vgl.Rö.10,14-17), dann kann man nur staunen über die akustische Wirkung der Frohen Botschaft, über die unermessliche Fortsetzung, Variation und motivische Fruchtbarkeit, die ein kleiner Grundstock an Gehörtem etwa in der christlichen Musik hervorgebracht hat. Georg Philipp Telemann, unser heutiger Komponist – tatsächlich der produktivste Urheber geistlicher Vokalmusik in unserer Kirche – ist ein gutes Beispiel: Er alleine hat mehr ganze Kantaten geschrieben, als einzelne Sätze von Jesus von Nazareth überliefert sind. Ein ganz geringer Bestand an gesprochenen Worten hat also unendliche Vertonungen, Nachdichtungen, Meditationen, künstlerische Bearbeitungen, Aktualisierungen, Vergegenwärtigungen, freie Inspirationen und Assoziationen durch alle Zeitalter geweckt. Anders gesagt: Zwei Jahrtausende sind inzwischen durchwebt vom Klang und Nachklang einer einzigen Stimme, eines kleinen mündlichen Themas, das in unzähligen Abwandlungen, Brechungen, Spiegelungen und Verstärkungen sämtliche Epochen anregt und in Schwingung versetzt. Jesus ist – obwohl wir Karfreitag für das Ende hielten und den Abbruch durch die Himmelfahrt nicht vorhersahen – die hörbarste Stimme der Menschheit, er ist der Grundton der Weltmusik und Himmelsklänge geblieben … die heutige Basskantate lässt uns etwas hinkend sagen: Der Generalbass, auf dem das Konzert der Wirklichkeit, wie wir sie erleben, fußt, ist Jesus.
… Dabei waren es nur 3 Jahre seiner Verkündigung, seiner Lehre in Vollmacht, seines natürlichen Gleichnisreichtums, seiner heilenden Seelsorge, seiner prophetischen Offenbarung und geistvollen Schriftdeutung, die seine Jünger und alle, die ihn hören konnten, so erfüllten.
… Drei Jahre, in denen der Wanderprediger aus Nazareth auftrat, reichten, dass Menschen ihn liebten!
… Und nicht mehr als vierzig Tage waren es, vierzig Tage, in denen sie ihn wieder sahen und neu hörten, vierzig Tage bis zur Himmelfahrt, in denen daraus Glaube wurde.
Mehr ist das Christentum nicht, als die theologische und ethische, die musikalische und menschliche Echowirkung von drei Jahre Liebe und vierzig glaubensgründenden Tagen!
… Eine Luftnummer also. Ein flüchtiger Hauch bloß, ein mikroskopisch kleiner Wirbel inmitten des Strömens und Rauschens der unendlich vielstimmigen Weltgeschichte.
… Als Außenstehender muss man sich wahrhaftig fragen, wie es kommt, dass ein so nichtiger Anlass, ein so leicht zu überhörender und rasch verwehender Luftzug wie die wenigen Worte und Taten eines Einzelnen, der drei Jahre lang von sich reden macht und vierzig Tage lang das endgültige Schweigen durchbricht, solche Wirkung haben können? Wie kann man zu Telemanns Zeiten, wie kann man in unseren Tagen derart lebhaft „Victoria!“ rufen oder - wie mindestens drei andere Osterkantaten Telemanns beginnen - „Triumph!“ oder gleich „Victoria! Triumph! Victoria!“, wie der Eingang einer letzten österlichen Kantate des selben Meisters anhebt[i] … wie kann man so voller Freude und Überlegenheit reagieren, wie kann man sich so unanfechtbar, so getrost fühlen angesichts derart bescheidener Ursache?
So wenige Worte, so wenige Taten! Was können die uns noch bedeuten? Warum singen wir immer noch davon? Weshalb sind sie nicht längst im großen Lärm und im noch größeren Verstummen der Zeit verflogen? …
Sind es kleine Wunder und Zufälle, Launen der Geschichte, kuriose Kausalitätsketten, die gegen alle Wahrscheinlichkeit für die Durchsetzung eines untergangsbedrohten Stücks der Vergangenheit sorgen, weshalb es uns in Hochstimmung versetzt, wenn wir solche unerfindlichen Vorgänge nachzeichnen?
… Ein solches Staunen kann uns angesichts der Überlieferung der Telemann’schen Musik zum Beispiel tatsächlich überkommen. Die unermessliche Fülle seines bis heute längst nicht erschlossenen Nachlasses hat eine Gänsehaut-Geschichte, seit sein Enkel zahllose Manuskripte des Großvaters nach Riga mitnahm. Aus der dem Untergang geweihten baltischen Welt führten teilweise vertraute Namen diese Schätze im 19.Jahrhundert nach Berlin, an die Sing-Akademie. Dort gingen sie im Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit so vielem anderen verloren. Vor zwanzig Jahren aber, als niemand mehr an ihre Fortexistenz glaubte, wurden sie völlig überraschend wiederentdeckt und konnten schließlich dem Preußischen Kulturbesitz zugeführt zu werden. Ein halbes Jahrhundert lang aber waren sie rätselhaft erhalten geblieben ausgerechnet in … Kiew[ii]!
Doch solche Wechselfälle der Geschichte sind es nicht, die dem Inhalt der Jahre vor und des Monats nach Ostern ihre unermessliche Bedeutung verleihen. Es sind einzig die begrenzten, aber unwiderruflichen Taten, die wenigen, leichten und doch unvergänglichen Worte Jesu, die alle späteren Zeiten durchdringen: Dass er Hunger bekämpfte und Krankheit, dass er Isolation aufsprengte und Verstoßene in sein Herz schloss, dass er Gott in der Wirklichkeit und den Tod als vergänglich zeigte, … das begründet die Liebe zu ihm, die nie wieder verlosch.
Und was er sagte - nach Ostern, als das Ende des Endes anfing - das ist die Quelle und der Stoff des Glaubens, der bis hier und heute in unsere Gegenwart und weiter noch und weiter reicht.
Wenn wir heute also, am Ende der diesjährigen vierzig Tage nach der Auferstehung, am Ende der vierzig Tage, die aus Liebe Glauben machten, in unserer Zeit des Hassens, Zweifelns und Verzweifelns wissen wollen, was uns Heutigen die Sicherheit und Zuversicht einer „Victoria!“-singenden Seele geben könnte, dann sollten auch wir wieder - in aller Bereitschaft uns vom Geringfügigen überraschen zu lassen – die wenigen, unglaublich kostbaren Worte Jesu hören, die überhaupt nur zwischen Ostern und Himmelfahrt überliefert sind.
Sie kristallisieren sich um nicht einmal zehn Motive herum.
Das stärkste ist sein Gruß, seine Zusage: „Frieden!“ (vgl. Lk.24,36; Joh 20,21+26;). Der, an Dem der Tod scheiterte, bringt trotz dieses allesentscheidenden Konflikts zwischen dem Beendiger und Vernichter aller Existenz und der Kraft des Lebens kein anderes Versprechen, keine wichtigere persönliche und politische Verheißung als dieses: „Frieden!“ – Das „Victoria“ des Glaubens ist also nicht Siegesgeschrei der Entscheidungsschlacht, sondern die Gewissheit, dass das letzte Wort der Frieden haben wird.
Das andere, was Jesus nach dem Abstieg in das Reich des Todes hören lässt, ist: „Fürchtet euch nicht!“ (Matth.28,10) – Wer österlich „Victoria“ ruft, besingt also nicht die Vernichtung des Feindes, sondern die Freiheit von aller Furcht vor ihm.
Als Nächstes dann spricht der Auferstandene Jesus in vielen Wendungen eine einfache, endlose Weisung aus: „Geht!“ – Geht nach Galiläa (vgl. Matth.28,10), zu meinen Brüdern (vgl. Joh.20,17), in alle Welt (vgl. Matth.28,19). – Der Sieg von Ostern ist also nicht im Stillstand - weder der Waffen noch der Uhren -, sondern in der Bewegung, im Fortschritt, im Weitergehen und -geben des Lebens zu suchen.
Ein weiteres Wort nun finden wir in Jesu Mund nach dem Wunder des dritten Tages, … etwas, das wir mit ewigem Leben und Himmelreich und allem, was wir sonst „Jenseits“ nennen, auf keinen Fall verbinden, auch wenn in unserer Wirklichkeit alles danach schreit, … mehr als nach allem anderen: Es ist das Essen (vgl. Lk24,41; Joh.21,5; vgl. dazu Mk.14,25!). Jesus will, ja Er muss gemeinsam mit den Jüngern wieder Nahrung verzehren, die den Hunger nimmt, um zu zeigen, dass Er auch auf der anderen Seite des Grabes ein Mensch unter Menschen und keine Erscheinung ist. – Die lebensbejahend-weltliche Barockmusik Telemanns ist da ein richtiges Signal, dass die Auferstehung nicht „ab von’s Weltliche“, sondern in die kreatürliche Gemeinschaft mit all dem begrenzten Leben, das doch nur leben will[iii], führt.
Der nächste unerschöpfliche Wink des nicht mehr Sterblichen in den Tagen seines Umgangs mit den Sterblichen ist die wiederholte Erinnerung, dass das Leiden und überwundene Grauen seiner Folter und Hinrichtung nicht einfach zynischer Willkür entstammten. Jesus legt nämlich nach Ostern ebenso wie vorher die Tora und die Propheten aus (vgl. Lk24,25-27 + 44-48), um aufzudecken, dass Gott einen Plan hat und trotz allen Anscheins Nichts endgültig der Sinnlosigkeit überlässt. – Diese Trophäe, diese Beute des Ostersieges ist vielleicht gerade heute die Entscheidende: Sieg bedeutet für uns, gegen die Diktatur des Destruktiven zu kämpfen und festzuhalten, dass wir - auch in der gegenwärtigen Welt! - echten Sinn für möglich und trotz aller Lüge zuletzt für wahr halten!
Und dann ist da der Dreiklang in Jesu Worten während seiner letzten Erdentage, der sofort ahnen lässt, weshalb in der irdischen Geschichte niemals zuende gehen wird, was diese wenigen Äußerungen an Echo, Aufschwung und Jubel hervorrufen: Jesus spricht in den vierzig Tagen vom Bleiben Seiner Jünger (vgl. Joh.21,22f) und Seinem Bleiben bei ihnen (vgl. Matth.28,20); Er spricht von der Kraft, die Er hat (vgl. Matth.28,19) und von der Kraft aus der Höhe, die Er ihnen senden und schenken will (vgl. Lk.24,49; Apg.1,5+8; Joh.20,22) und schließlich spricht Er von der Mission, die in Seinem Namen, im Glauben an Seine Gegenwart, ohne Ihn zu schauen (vgl. Joh.21,29) und unter Seinem Segen alles Geschehen durchziehen wird, bis alle Welt die Weisung Gottes (vgl.Matth.28,20) und Vergebung der Sünden (vgl. Lk.24,47; Joh.20,23) und das heißt freien, eigenen, wahren Zugang zu Gott gefunden hat (vgl. Joh.20,17). – Wenn das Rezitativ der Telemann’schen „Victoria“-Kantate also vom Auferweckten singt „Er triumphiert, daß ich dereinst soll triumphieren“, dann ist damit die universale Erlösung, Versöhnung und Verbindung zwischen der verlorenen Menschheit, die kraft- und ziellos vergehen muss und dem bleibenden, belebenden Gott gemeint. Es wäre also irreführend, in der Solokantate bloß die Feier pietistischer privater Erlösungsfreude zu finden: Ihr Sänger ist Stellvertreter sämtlicher Menschen. ———
In den vierzig Tagen zwischen Ostern und Himmelfahrt hat Jesus also mit spärlichen Worten und in einfachster Klarheit die Perspektiven aller Lebenswege und Zeitalter, die noch kommen sollten, aufgezeigt:
Der Frieden, der alle Angst hinter sich lässt, wird durch alle Veränderungen hindurch die gesamte Kreatur aus der Vergeblichkeit lösen und in den universalen Bund mit Gott endlich einbeziehen.
Oder wie es bei Lukas (Apg.1,2f) heißt: Nach seiner Auferstehung gab Jesus „den Aposteln, die er erwählt hatte, durch den Heiligen Geist Weisung. Er zeigte sich ihnen nach seinem Leiden durch viele Beweise als der Lebendige und ließ sich sehen unter ihnen vierzig Tage lang und redete mit ihnen vom Reich Gottes.“ ——
Drei Jahre Verkündigung und Rettungswunder, die tiefe Liebe hervorriefen, und vierzig Tage voll schlichter, erleuchtender Offenbarung der göttlichen Ziele für die Todbefreiung des Lebens insgesamt, die bei seinen Jüngern den Glauben begründeten, haben nun-mehr also genügt, um zwei Jahrtausenden Hoffnung zu geben.
… Nichts anderes ist ja die Rede vom Reich Gottes, als diese unendlich tiefe, starke, zähe Hoffnung, die sich aus der Liebe zum Menschgewordenen und aus dem Glauben an den Auferstandenen speist. ——
… Natürlich werden und natürlich müssen Außenstehende da seufzen oder sogar höhnen: „Was für eine Luftnummer!“ …….
… Aber sind wir nicht alle in den vergangenen Wochen zu Außenstehenden geworden, … zu Menschen, die außer sich sein sollten, … zu Christen, die neben sich stehen müssten, wenn wir nur ein wenig in unsere Zeit hören, die so grausame Ereignisse und so brutale Erfordernisse demonstriert?! …….
… Mit der Welt im Reinen, selbstgewiss oder gar siegessicher kann im Ernst doch niemand von uns sein, wenn wir die wirklichen Tragödien und die tragische Wirklichkeit des brutalen Krieges, der menschlichen Niedertracht, der gefährlichen Ratgeber und der ebenso gefährlichen Ratlosigkeit unserer Tage bedenken. …….
… Wenn uns so aber alles Rechthaben auf der Zunge verwelkt und alles Bescheidwissen sich in unserm Denken verflüchtigt, … weht es uns denn nicht gerade dann unwiderleglich an: Bessere Worte, gesegnetere Weisung, eine seligere Verheißung kann unsere Zeit gar nicht treffen, als diejenige, die der Auferstandene uns mit seinen wenigen Worten hinterlassen hat als Er auffuhr, um das Reich Seines Vaters vom Himmel aus der Welt endgültig nahezubringen?!!!
… Dass Frieden werden wird, der alle Angst hinter sich lässt, … dass durch alle Veränderungen hindurch die gesamte Kreatur aus der Vergeblichkeit gelöst und endlich in den universalen Bund mit Gott einbezogen werden soll, … das ist doch das Einzige, das uns überhaupt noch zu atmen hilft.
Und mehr verlangt ja niemand unter allem Lebendigen jetzt und in Ewigkeit, als nur dass Gott uns Seinen Geist, den Hauch und das Wort Seines Mundes, von dem und durch das wir leben, nicht entziehe!
Dass Er aber weht und belebt, dass Gott Seinen Geist sendet und dass Sein Reich kommt, indem Jesus wiederkehren und alles zurecht bringen wird … genau das ist es, was uns aufatmen lässt seit das Leben, das wir am Karfreitag beendet sahen, sich nach Ostern wieder regt, voll Atemluft der Ewigkeit.
Wo uns der nun aber streift - Atem Dessen, Dem der Atem im Tod stillstand - , wo wir Luft schöpfen dürfen mit allem, was Odem hat, um für immer auf- und durch- und weiter zu atmen, …da antwortet alles in uns wohl mit ganzem Recht auf die „Luftnummer“ des Evangeliums bei jedem Ein- und Ausatmen: „Victoria! … Leben!“
Amen.
[i] Zu Telemanns (erhaltenen) Kantaten vgl. Werner Menke, Thematisches Verzeichnis der Vokalwerke von Georg Philipp Telemann, Bd. I: Cantaten zum gottesdienstlichen Gebrauch, Frankfurt/M 1982, hier: S.214f.
[ii] Vgl. dazu: Siegbert Rampe, Georg Philipp Telemann und seine Zeit, Laaber 2017, S. 308f.
[iii] So Albert Schweitzer berühmte Formulierung für das Kernmotiv seiner Ethik.
Kantate, 15.05.2022, Stadt- und Jonakirche, Lukas 19,37 - 40, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona Kantate - 15.V.2022
Lukas 19,37-40
Liebe Gemeinde!
Am vergangenen Wochenende, bei den Konfirmationen habe ich noch einmal wirkliche Zuversicht aufgebracht und aus Überzeugung den Jugendlichen, die an der Schwelle des Lebens stehen, Mut zu machen versucht. Als Christinnen und Christen haben sie einen Glauben bestätigt und sollen ihn künftig weiter erfahren, der wirklich die - einzig - „Gute“ Nachricht ist und dessen tragende Kraft, dessen kraftspendende Verheißung sich auch in Widrigkeiten bewähren und im Schweren erweisen wird. Dessen bin ich gewiss.
Aber ebenso gewiss bin ich dessen, dass wir dem christlichen Glauben und dem Evangelium, auf dem er ruht, lange schon nicht mehr gerecht werden, wenn wir ihn nur zur Motivationsenergie erklären. Die Botschaft, von der wir leben, ist keine der vielen optimistischen Illusionen, keiner der zahlreichen Positivitäts-Tricks, mit denen sich das Publikum heute abspeisen lässt und selbst betäubt. Die unreife Haltung, die um sich greift, dass Menschen sich weismachen, Leben sei ein Produkt in Frischhaltefolie, das dauerhaft glatt und im Geschmack gleichbleibend allergiefreundlich sein werde, … diese Haltung verwöhnter Kinder darf nicht noch mit billigen christlichen Parolen unterfüttert werden.
Das Leben ist nicht nur nett und lecker, sondern auch hart und bitter.
Und wer sich an reine Schonkost gewöhnt hat und meint, aus solcher Bequemlichkeit einen Anspruch ableiten zu dürfen, die Welt müsse ihm regelmäßig und ausschließlich servieren, was er gernhat, ist auf dem Holzweg. In den Enttäuschungen, die da unweigerlich eintreten, und in den tatsächlich schockierten Reaktionen auf die Realität, die nicht wunschgemäß ist, wird nun aber immer wieder angst- und vorwurfsvoll gefragt, ob Gott denn nicht der Garant des Gelingens sei und ob das Glück denn also nicht als Garantiefall eingeklagt werden könne? … Was anderes, als eine solche Rundum-Sorglos-Versicherung solle denn bitte Segen sein? ——
Und darum will ich, wenn es nicht um die Jugendlichen geht – deren Leben wir Erwachsenen und Älteren schon mit einer Dreistigkeit belastet haben, die unverzeihlich ist – in absehbarer Zeit nun nicht mehr nur von der berechtigten Zuversicht, sondern vom ungeschminkten Realismus des Glaubens sprechen.
Unser Glaube fängt an mit der nüchternen Erkenntnis: Die Menschheit lebt in der Welt, die sie aus Gottes Schöpfung gemacht hat. Es war ein Garten, geschützt durch Gott. Der Mensch hat daraus die Bühne seines eigenen Willens gemacht. Das freie Können und Lassen wurde so durch menschliche Wahl zu menschlichem Müssen - im Guten wie im Bösen. Weil der Mensch sich entschied für den Verzicht auf Gottes Schutz.
Und in dieser Welt, in der der Mensch aus Abneigung gegen jede Bevormundung allein seine Verantwortung tragen wollte, muss er seine Entscheidung nun leben: Der Mensch, der Adam und Eva heißt und die ganze Menschheit umfasst, auch wenn wir Individualisten das nicht werden wahrhaben wollen, bis es uns auf die schmerzhafteste Weise dämmern wird …, aus Abneigung gegen jede Bevormundung hat der Mensch also wirklich zu tragen.
…Viel zu tragen: Folgen hat er zu tragen. Lasten, die ungleich verteilt sind. Risiken, die sich nicht in individueller Betrachtungsweise, sondern nur in der Bilanz des großen Ganzen zeigen. Der Mensch hat zu tragen und zu ertragen, dass die Freiheit, die er sich nahm, nur ein Teilchen ist, das mit so vielem Anderen in Widerspruch gerät, das in den von Gott gegebenen Gesetzen blieb: Himmel und Erde, Stoff und Geist, Wasser und Land, Tier und Pflanze, Tod und Leben. Sie alle folgen dem alten und klaren Gesetz von Ursache und Wirkung. Nur der Mensch in seiner Freiheit meinte, für ihn gelte nicht, dass man erntet, was man sät, … dass wo Licht ist, auch Schatten sein muss, … dass vor Gott nichts bleibt und nichts verjährt, … dass zum Geborenwerden das Sterbenmüssen gehört und zum Lachen das Weinen, zur Höhe der Fall und zum Haben der Verlust. Dass alles also Echowirkung hat.
… Der Mensch: Die Ausnahme.
Der Mensch: Ein freier Einzelner, ein spontaner Solist, eine Stimme nur für sich, in eigener Sache und niemals Ausführender im Werk eines anderen!
Darum ist der Mensch, der weitere Zusammenhänge leugnet und vergisst, der sich so gern als uneingeschränkt empfindet und nur die eigenen Zielen auf eigene Weise verfolgt, so verwundert, so verstimmt, wenn er spürt, dass er einer unter Vielen sein muss und dass sich das Leben eben doch nicht nach seinem Taktstock, seiner Pfeife richtet, sondern aus der Harmonie und Spannung, aus der „Sym-Phonie“ - dem Zusammenklingen - und der „Dis-Sonanz“ - der Unterbrechung der Stimmigkeit - des großen Gesamtkörpers besteht. Er wollte ganz allein das eigentliche Organum[i], die große Orgel also sein - der Mensch! - und ist doch bloß … eine Pfeife! ————
Warum aber nun dieser lange Umweg über Schöpfung und Sündenfall, über die menschliche Freude am Solo ohne Chor und Orchester und den Hauch und Atem Gottes, der dennoch alles durchweht und endlich in allem zum wohltönende Vollklang kommen wird?
Weil wir heute vom Jesus-Chor hören.
… Sonst sind die Zwölf seine Schar, sein Gefolge, sein Freundeskreis. Manchmal sind es auch nur Einzelstimmen, wenn Petrus mit seinem Bass groß von seiner Treue zum Meister tönt (vgl. Lk.22,33), oder Jakobus und Johannes jeweils mit krähendem Tenor beanspruchen, Stimmführer zu sein (vgl.Mk.10,35). … Oft schwätzen, noch öfter schweigen die Jünger.
Dabei kann doch, wo zehn jüdische Männer zusammen sind, der Gesang nie weit weg sein. Beten und Singen sind in Israel eines. Und jeder zwölfjährige Knabe muss wahrhaftig weder erst das Lesen noch den Text der Heiligen Schrift lernen, um in der Synagoge als mündig aufgenommen zu werden, sondern er erwirbt die religiöse Reife, indem er die Melodie eines bestimmten Abschnitts der Torah auswendiggelernt und vorgesungen hat.
Wer glaubt, wer bekennt, wer die Schrift beherrscht und nach dem Wort lebt, der ist in der Welt Jesu wie im heutigen Judentum also ein singender Mensch.
Und der Klangteppich des frommen Lebens ist so dichtgewirkt, dass manche Melodiefetzen, manche Tonfolgen eine so feststehende Bedeutung haben, dass sie von Hoffnung oder Buße, von Jubel oder Trauer zeugen auch ohne Worte. In späteren Zeiten haben die Wunderrabbiner und mystischen Gebetslehrer des chassidischen Judentums jeder seine typische Summweise, seine charakteristische Versenkungsmelodie, die nicht auf Worte, sondern endlos auf sinnfreie Silben – oijoijoij, daidaidai – wiederholt werden und so auf Flügeln des Gesanges die Seele rein, ohne allen Gedankenwust zu Gott führen. Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ sind ein Nachklang der heiligen Tonleitern und Himmelsvokale, auf denen sich die jüdische Frömmigkeit über die dunkle Welt erhebt.
Und das christlich-musikalische Erbe der festen Psalmtöne, der gesungenen Stundengebete, der bestimmten liturgischen Weise für jeden großen Text, ist die uns ganz nahe Erinnerung daran, dass Gottes Leute keine Monotonie und kein brütendes Verstummen kennen, sondern ihr Vertrauen und ihre Sehnsucht, ihre Bitten und ihren Gehorsam stets hörbar, erfüllt vom lebendig-bewegten Atem des Geistes miteinander und der ganzen Schöpfung teilen.
Das verdammte Corona-Schweigen der beiden letzten Jahre ist also nicht nur ein kultureller Verlust, sondern eine geistliche Erkrankung geworden, denn wenn die Gemeinde nicht mehr auf die Weise Gottes eingestimmt und nicht mehr vom Grundton des Glaubens bestimmt wird und wenn sie ihr Bekenntnis nicht mehr vernehmlich anstimmt und wenn ihr atmendes Miteinander also gar nicht mehr stimmt, dann ist der Sündenfall, in dem jeder nur für sich ist, zwischen uns wieder eingetreten.
Darum ist es so zum Aufmerken und Hinhorchen, dass wir heute zu Ohrenzeugen werden, wie aus Jesu Jüngern ein Chor wurde!
Sie singen - wie gesagt - erstaunlich wenig in seiner Gegenwart, obwohl doch der Psalmbeter in dem schönen Hochzeitspsalm (45,1), der immer schon auf die Verbindung des Messias mit seiner erwählten Gemeinde gedeutet wurde, sagt: „Mein Herz dichtet ein feines Lied, einem König will ich es singen“!
Die einzige Gelegenheit also, bei der Jesu Jünger nun endlich wirklich sein Lied anstimmen, … die einzige Singwoche ihrer Zeit mit dem Heiland ist … seine letzte!
Die Jünger stimmen unter freiem Himmel ihren hellen, überwältigenden Jubel am Palmsonntag an, und am Gründonnerstag singen sie im Obergemach in Jerusalem die Hallelpsalmen (Pss.113-118) der Passaliturgie (vgl. Matth.26,30), ehe sie in die Nacht von Gethsemane und in das große, furchtbare Karfreitags-Verstummen aufbrechen.
Zweimal nur singen sie sich also die Seele aus dem Leib, zweimal nur lassen sie in ekstatischer Erhebung ihrem Gefühl für Ihn, ihrer Zuversicht, ihrer Inspiration durch den Geist, der sie durchflutet, freien Lauf: Bei seinem Einzug singen sie die Erlösungshymne des 118.Psalms, den wir während der Osterzeit immer wieder anstimmen – „Gelobt sei, der da kommt im Namen des HERRN!“ – verbunden mit dem weihnachtlichen Gloria: „Friede im Himmel, Gloria in Excelsis!“, und mit den Worten des gleichen 118.Psalms endet ihre Feier des Abendmahls in der Stunde seiner Agonie und ihres Verrates.
Der Chor, den Jesus geweckt hat, das Lied seiner Jünger ist mithin - ohne dass sie es ahnten - Gesang im Zeichen des Unheils, es ist Singen im Angesicht des Todes.
Und darin ist es der bleibende Maßstab für unser eigenes Dasein als singende Kirche: Die Musik der Kirche, die Melodie des Glaubens ist keine Tonspur für das Selbstverständliche, sondern sie erhebt sich da, wo man sie nicht erwartet und wo sie nicht einmal einordnen lässt.
… Nicht dass wir unsere Schlager also in heiteren Zeiten dudeln, nicht dass wir Marsch- oder sonstige Begleitmusik für das geordnete Leben liefern, nicht dass wir Feierliches nur steigern, Festliches hübsch verzieren, Fröhliches noch anheizen ist der Sinn unseres wahrnehmbaren Miteinanders, sondern dass wir uns aus der Vereinzelung, der solistischen Beschränkung auf eigene Befindlichkeiten lösen und unsere Stimme erheben, wenn es am unwahrscheinlichsten ist und man es am wenigsten vermutet.
Dass Jesu Jünger erst da zu Sängern werden, wo Er selbst bald den letzten Atemzug tun wird, ist dafür ein eindringlicher Beweis! Dass Jesu Jünger ahnungslos also gerade dann herrlich hörbar werden, als Er beinah schon zum Verstummen gebracht wird, ist wirklich ein unmissverständlicher Wink:
Wer sich nur in eigener Sache äußert, wer nur das aufgreift und ventiliert, was ohnehin schon in der Luft liegt ist, gehört nicht in den Chor Jesu. Diejenigen unter uns, die nur jaulen, wenn ihnen etwas wehtut, … die nur pfeifen, wenn sie eine Glückssträhne empfinden, … die man nur von den eigenen Sorgen und Erfolgen tönen hört, … von deren Lippen nur das Rühmen des eigenen Namens und das Beklagen des eigenen Geschicks fließt, … die sollen schweigen in der Gemeinde: Ihre Stimme, die nur von sich selbst und für sich selber spricht, wird sich niemals in den Jubel oder die Klagelieder der Kinder Israels, in das Gloria der Jünger Jesu, in die Liturgie der heiligen christlichen Kirche einfügen lassen!
… Nur wer vor der seltsamen Erkenntnis nicht zurückschreckt, dass die ersten Nachfolger Jesu erst in der Karwoche zu seinen vernehmlichen Zeugen, zu seinem willkommenen Chor wurden – „Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien!“ –, nur also, wer das Singen als das wissentliche oder unwillkürliche Stärken und Trösten Anderer im Leid versteht, kann mitsingen in der Gemeinde Jesu Christi!
Was man im politischen Bereich als Utopie gerne einmal durchspielte – wie wäre es z.B., wenn heute niemand an der Wahlurne seine Stimme nur für sich abgegeben dürfte, sondern jeder die eigene Stimme einlegen müsste für einen anderen Menschen und dessen Anliegen?! – … was also im politischen Bereich unvorstellbar ist, das soll uns im geistlichen Bereich je länger desto lieber und leichter, desto bewusster und bewegender werden: Unser Lied und Lob, unser Halleluja und unser Kyrie-Ruf, unsere Zukunftshymnen und Sterbechoräle sind nicht die Äußerungen unserer persönlichen Befindlichkeit, sondern sie dienen viel größeren Zwecken, … sie dienen Anderen und darin dienen sei dem Herrn, … denn sie sind wortwörtlich Liturgie, also „Dienst!“ ———
Die in der Karwoche singende Jüngerschar, die Lieder, die - auch wenn ihre Sänger vor und in Jerusalem es nicht ahnten - das Kreuz leichter tragen, den Schmerz gefasster durchhalten, das Sterben zuversichtlicher dulden ließen, … diese älteste und einzige Musik, die Menschen in den Evangelien anstimmen, hat daher aber auch gerade mit unserer Zeit zu tun!
Dass es eine Zeit ist, in der die gewohnten und die frivolen, die leichtfertigen und die harmlosen Lieder und Lebensweisen uns plötzlich nicht mehr geheuer sind, in der uns das unbedachte Trallala vergeht und die Stille einer tiefen Sorge, bald dann wohl aber auch wieder das dumpfe Alltagsrauschen der Gewohnheit sich unaufhaltsam ausbreitet, … dass es eine solche ernste Zeit ist, bedeutet nicht, dass wir als die Kirche Jesu Christi nun unsere Gesangbücher schließen oder die ohnehin schon viel zu kurz und unvertraut gewordene Liturgie einstellen sollten.
Im Gegenteil:
Singen ist unser Amt im Angesicht des Schreckens, der verstummen lassen will!
Lob ist unsere Weise, wenn die Welt sich fürchterlich gibt!
Gott zu preisen und zu verherrlichen mit Seiner ganzen Schöpfung, ist und bleibt der Sinn unseres Lebens und Atmens bis zum Schluss.
Je realistischer wir die Welt sehen, desto klarer zeigen uns die singenden Jünger in Jesu letzten Lebenstagen: Wir sollen unsere Zeit in Trost und Zuversicht verwandeln bis zuletzt.
Gott sollen wir singen solange wir leben.
Nichts als Sein Lied soll auf unseren Lippen sein.
… Denn dann stimmen wir ein in das, was immer neu ist in unserer alten, grausamen Realität der durch den Menschen so unglücklich gewordenen Welt der Einzelgänger: Das Lied der Gemeinde des Mose und des Lammes[ii], … die Melodie des Chores der Ewigkeit, … das Halleluja aller Zungen, das nie verklingt.
Amen.
[i] Wer dabei an Francis Bacons Grundlagenwerk „Novum organum scientiarum“ denken muss, mit dem 1620 in England der Paradigmenwechsel von der religiös-philosophischen Weltsicht zur technisch-empiristischen Weltbeherrschung eingeläutet wurde, liegt nicht falsch.
[ii] Schriftlesung an Kantate ist Offenbarung 15, 2- 4: ... Zugleich das Ziel aller unserer Zeit.
Miserikordias Domini, 01.05.2022, Stadtkirche, Johannes 21, 15 - 19, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Miserikordias Domini - 1.V.2022
Johannes 21, 15-19
Liebe Gemeinde!
Nach der Auferstehung ist alles vorbei? …….
– Das wäre das größte denkbare Missverständnis.
Nach der Auferstehung ist nichts vorbei? …….
– Das ist der Ernstfall dessen, was wir als Ostern feiern.
… Nach der Auferstehung - wenn alles anders, aber alles eben auch anders da ist - wird erst einmal der Puls genommen. Da schlagen Herzen. Da geht der Atem ein und aus. Da sammelt und verflüchtigt sich die Lebendigkeit und sammelt sich wieder, da sind und bleiben Menschen Menschen.
Wir sollten uns das klar machen: Wenn ein Puls schlägt, wenn ein Mensch mit seinem erschreckten Luftschnappen und seinem entspannten Auspusten, wenn ein Mensch mit seinem Ge- und Misslingen, seinem Einsehen und seinen Versehen, mit seinen schwachen und starken Schwächen und seinen starken und schwachen Stärken im lebendigen Wechselstrom des Wirklichseins vor uns steht, … dann könnte es sich um eine Begegnung im Licht der Auferstehung handeln.
Ganz bestimmt nicht österlich sind dagegen unsere permanenten Begegnungen mit Menschen ohne solche natürlichen Widersprüche: Menschen, deren Interessen, deren Zuneigungen und Hoffnungen nicht geteilt sind und darum hin und her gehen, sondern konsequent und konzentriert nur um sich selbst kreisen. Menschen, die durch Materie beruhigt und durch Moral beunruhigt werden, weshalb sie die eine häufen und auf die andere verzichten. Menschen, die das Worte Güte mit einem „r“ am Ende buchstabieren. Menschen, die so besonders harmonisch wirken, weil ihr ausgeprägtester Zug die Gleichgültigkeit ist. Solche Menschen üben das Totsein, …virtuos. Und darum sind sie unösterlich. Auferstehung als wirklich menschliche Erfahrung bleibt ihnen vollkommen fremd.
Anders als dem ersten armen Jünger. Dem glühend begeisterten, eiskalt von der Angst erwischten, nachtschwarz verzweifelten, puterrot von Scham übergossenen Petrus. Der hatte in wenigen Tagen so viele Zustände der Seele, so viel Aufschwung und Enttäuschung, so viel Ehrlichkeit und Selbstbetrug, so viel Eifer, so viel Scheitern durchlaufen, dass es kaum auszudenken ist. Die Wechselbäder zwischen Gewissheit und Nihilismus, die nicht zu verwindende Spannung zwischen Treue bis zum Tod und Lüge für sein sinnloses Leben sind in der Brust des Fischers aus Kapernaum wie in einem Reaktor eingekesselt. Petrus droht die Kernschmelze. … Darum hat er unbewusst aufs Abschalten gedrängt. … Ist im Abklingbecken des Sees Tiberias, um dort das, was ihn zerreißen muss, in den langsamen Strom des Alltäglichen zu tauchen, bis es irgendwann abkühlt und aufhört: Dann wird jene plötzlich unterbrochene extreme Energie, die Jesus war, ausgebrannt haben. Und als menschliches Wrack, als ein Tschernobyl, in dem einst eine Hoffnung, eine Hingabe an die Herrlichkeit loderte, die nun für immer eingesargt bleiben wird, will Petrus selbst zuende-, ja zugrundgehen. Wie der Herr! … Der noch einmal aufflackerte, als die verwirrten Frauen ihn nachglühen sahen, als sie behauptet hatten, er leuchte heller denn je und werde nie mehr verlöschen. … Dabei war er doch verpufft! Und Petrus hatte selber, noch vor der letzten Verfinsterung die Verbindung zu ihm gekappt, als er an dem verfluchten Feuer im Hof des Hohenpriesters stand und Jesus nicht gekannt haben wollte. Was für eine unaufhaltsame Kettenreaktion, was für eine Spaltung im Seelenkern! …..
……. Und da steht Er!
Es durchzuckt Petrus bis ins Mark. Es läuft wie der Blitz durch ihn durch. Es zündet wieder … und es brennt! …, weil Auferstehung eben nicht alles unter sich begräbt und das Vergangene durch die Auferstehung eben nicht vergangen ist, sondern weil alles wieder gegenwärtig wird. … Das hat Thomas am Leib des Herrn erfahren wollen. … Und Petrus muss es am eigenen Leib erfahren: Dass der Auferstandene kein anderer, sondern der Gleiche ist. … Den er, Petrus verleugnet hatte.
Für die Dauer eines Frühstücks konnte der erste Jünger damals in der Morgenstunde am heimischen See sich noch einbilden, das Gewesene sei nun das Vergessene. Glücklich wie ein Kind am ersten Ferientag, das alle Erinnerungen an die Schule ausradiert hat, stürzte er sich ins funkelnde Wasser, dem Herrn entgegen, der im Sonnenaufgang am Ufer stand (vgl.Joh.21,4-7). … „Juhu! Alles neu, endlos frei…“
… Dabei hätte er doch eigentlich rasch merken müssen, dass hier das wirkliche und das ganze Leben wiederkehrte: Der Herr, der aus dem Reich des Todes kam, hatte die Fischer ja begrüßt mit dem unnachahmlich herzhaft-konkreten Ruf: „Kinder, habt ihr nichts zu essen?“ – So spricht weder ein Gespenst, noch ein ins Ätherische Entrückter, ein Idee-Gewordener. So spricht der Lebendige. Der jeden Atemzug teilt und Der ewige Zukunft hat und Der dabei Derselbe ist, Der Er war: Der Österliche hat also auch Vergangenheit, denn in Ihm verbinden sich die Ewigkeit mit der Geschichte; in Ihm berührt das Gestern das Grenzenlose.
… Nichts ist vorbei.
… Und wie durchrieselt es da den Petrus, in dem sich alles anfühlte, als werde der Schmerz seiner Schuld, als werde seine Scham noch ewig tödlich weiterstrahlen, auch wenn Jesu lebendige Wärme längst verlosch! … Es geht ihm durch und durch, dass mit der unfassbaren, der unendlichen Kraft des Auferstehungslebens nun doch auch das bisher schon gelebte Leben, das erlittene Leid, die verschuldete Schuld, die vertanen Taten wieder durchpulst und durchströmt werden von der Gegenwart Jesu. … Nichts ist vorbei. …
… Konnte das größte Wunder der Welt denn nicht auch den tiefsten Schnitt mit sich bringen? Konnte mit dem, was der Endlichkeit ergreifend folgte, nicht doch auch alles Vorherige endgültig abgelegt sein?
…Warum auf das Gewesene zurückkommen? Warum die alten Wunden aufreißen? Warum nicht radikal anders anfangen: Alle Verbindungen durchtrennen und jeden Zusammenhang mit Früherem sprengen? … ———
Wenn wir ehrlich sind, wissen wir die Antwort:
Wenn wir die Vergangenheit verscharren, hoffend, im Grab werde sie schweigen, dann heult sie zur Geisterstunde unüberhörbar … und alle Stunden, die noch folgen, bleiben Mitternacht! Wenn wir unsere Fehler und Schmerzen, unser Gewissen und unsere Gemeinheit einfach abspalten und meinen, dann verlören sie sich schon, dann verfolgen sie uns erst richtig, wachsen und verformen sich in jeder Nervenbahn und jedem Bett eines Gedankenflusses, bis wir von den toxischen Altlasten vergiftet sind und nichts mehr gedeihen kann. Wir können Schuld und Erfahrungen nicht verleugnen, wie Petrus Jesus verleugnete. Wir können es nicht dabei belassen, dass das letzte Wort, wenn wir auf unsere Überzeugungen und Entscheidungen angesprochen werden, wie Petrus nachts im Hof, seine Antwort bleibt: „Ich bin’s nicht“ (vgl.Joh.18,17+25).
… Gefragt, wer wir sind und waren, was wir taten, was wir wollen, müssen wir den herrlichen Namen Gottes als unsere eigene Antwort auf die Frage nach unserm Persönlichsten zu nennen lernen: „Ich bin’s“ (vgl. 2.Mose 3,14 / Joh.18,5)! ———
Was die Verdrängung, was die Leugnung der Vergangenheit für katastrophale Folgen hat, was unterbliebene Wahrhaftigkeit und unterbliebene Haftung im Blick auf die Vergangenheit bedeuten, das zeigt uns die Welt in diesen Tag schrecklich deutlich.
Je mehr ich lese[i] und meine Unkenntnis ein wenig korrigiere, desto klarer wird mir, dass wir Zeugen eines riesigen Gespensterkrieges werden: Die Wiederkehr der verdrängten unglaublichen Verbrechen des sowjetischen Russland, die Wiederkehr der entmenschlichenden Brutalität des Kommunismus, die Wiederkehr des Stalin’sche Völkermords an den Ukrainern sind mindestens so treibende Kräfte im gegenwärtigen Albtraum wie die Phantomschmerzen eines zerbrochenen Imperiums oder die Pläne und Fehler, die die Nato zu verantworten hat. … Quälgeister von vor hundert Jahren gehen um. Untote Mörder morden; verleugnetes Blutvergießen fordert Blutzoll. Das Nie-Bekannte drängt ins Scheinwerferlicht. Die tückisch geleugnete Gewalt von vorgestern vergegenwärtigt sich rücksichtlos im Heute.
Darum muss das Evangelium – das Evangelium! – enden, wie es endet: Indem es nichts in der Vergangenheit begraben sein lässt!
… Das nämlich ist keine Drohung. Kein unnötiges Festbeißen an dem, was niemand mehr wissen will oder zu bekennen bräuchte. Sondern umgekehrt: Es ist Befreiung. Lösung vom Fluch, den nur lebendiges Ansprechen und Angesprochen-Werden brechen kann.
Nur dies eben – dass nach der Auferstehung tatsächlich nichts einfach vorbei ist – , … nur dies macht’s möglich, dass schließlich alles wirklich gerichtet, alles wirklich geheilt, alles wirklich gerettet werden kann: Vergangenes, Jetziges und die ganze Zukunft! ——
Wie diese Rettung aussieht, das hat Petrus erlebt, als die plötzliche Gegenwart des Auferstandenen in ihm wieder alle Erinnerungen und Gefühle, alle widerstreitenden Kräfte wie in einem gewaltigen Reaktor in Umlauf setzte.
Am liebsten wäre er vermutlich wieder geflohen, als sein von ihm verlassener, umgekehrt ihm aber in Tod und neuem Leben treugebliebener Herr ihn nach dem Frühstück beiseite nahm.
Doch dieses Mal konnte er sich nicht entziehen. Dieses Mal sollte Petrus - wieder an einem Kohlenfeuer wie in jenem schrecklichen Hof in der Karfreitagsnacht - durch den innersten und unauslöschlichen Glutkern der Verbundenheit mit Jesus transformiert werden.
Er sollte sich weder in Notlagen noch im Glückstaumel je wieder abschneiden von Jesus, sondern die Glut zulassen, die seine Vergangenheit und seine Zukunft, seine negativen und seine positiven Pole verschmelzen würde.
Und es ist ganz einfach.
Keine Vorwürfe.
Kein Verhör.
Keine Methode.
Jesus fragt Petrus gar nichts Theoretisches.
Kein: „Siehst Du’s ein? -… Bereust Du? … Versprichst Du Änderung, gelobst Du Besserung?“
– … Sondern einfach ins Zentrum. Da, wo das Herz schlägt:
„Hast Du mich lieb?“
Eine Frage, die, wenn sie beantwortet wird, über zwei Menschen Auskunft gibt. Eine Frage, die das Ich und das Du klärt.
Eine Frage, der Petrus, der Jesus-Verleugner, der dabei sich selbst verleugnet hatte, nicht ausweichen kann, obwohl sie Scham weckt über das Vergangene.
„Hast du mich lieb?“
Eine Frage, der Petrus, der für sich den toten Jesus unter seinem Alltag begraben wollte, nicht ausweichen kann, weil sie so trivial oder so pathetisch, auf alle Fälle aber so emotional ist, dass sie das Alltägliche verdunsten macht.
„Hast du mich lieb?“
Eine Frage, der Petrus, der sich scheut und schämt, doch schon beim ersten, beim zweiten, auch beim dritten Mal nicht anders als ehrlich antworten kann.
Sein Versagen – scheinbar völliger Widerspruch zur Liebe, die man sich gern heroisch, opferbereit, grenzenlos hingabefähig denkt – sein Versagen hat nichts geändert an der unauflöslichen Verbindung mit Jesus: … Sein „Ich bin’s nicht“, sein „Ich liebe nicht“ war die Lüge. Nicht seine Antwort vor dem Auferstandenen!
Und genauso wenig wie das, was da war, kann das, was ihm gerade noch am geheuersten wäre – dieser Versuch, nun ein Leben der Vergangenheitsverdrängung zu führen – ihn von Jesus trennen. Mit dem, was war, wird auch was ist und wird, immer mit Jesus verbunden sein.
… Auch nach Jesu eigener Vorstellung. Denn Er nimmt Petrus mit dem, was hinter ihm, wie mit dem, was vor ihm liegt, in die größte Gemeinsamkeit auf, die sich denken lässt: Der gute Hirt, der Auferstandene will, dass der gefallene und weggelaufene Petrus sein Mithirte wird.
„Weide andere! Leite meine Menschen! Sorge für die Kirche!“ ———
Nun müsste nach der unsystematischen, untheoretischen, aber zutiefst therapeutischen Frage, ob Petrus sich trotz aller Widersprüche denn angesichts des Geschehenen wie des Gegenwärtigen und des Kommenden einfach ein Herz fassen und die Liebe wahrhaben will, etwas Praktisches folgen:
… Wenn hier das Hirtenamt allgemein oder das besondere Petrusamt, wenn hier die Verantwortung eines Bischofs für die Herde oder eines Erzapostels für die künftigen Generationen im Mittelpunkt stünde, dann müsste man jetzt Anweisungen zur Leitungsdisziplin erwarten.
Doch das Einzige, was Jesus dem Petrus, der liebt – der wieder liebt und weiter liebt und in Wahrheit auch immer geliebt hat – mitgibt, ist kein Führungsauftrag, sondern die Aussicht des Geführt-Werdens, … bis ins Alter, bis in die Widersprüche der unselbständig werdenden Hilfsbedürftigkeit eines gebrechlichen Hirten.
Immer wieder also Unaufgelöstes, Gegensätzliches und Unerwartetes.
So wie das Leben.
Und das Sterben.
Und das Auferstehen.
Die Liebe, die das alles zusammenhält, hat nämlich weder eine Theorie, noch eine festumrissene Praxis. Was sie ist und tut, das ist schlicht, sich zu verzehren nach und immer wieder neu entzünden zu lassen von Jesus.
Sie ist die Reaktion, die nie zuendegehende Reaktion darauf, dass dieser Jesu war und ist und bleibt, weil Vergangenheit und Tod Ihn nicht überwältigen und auch die fernste Ewigkeit Ihn nicht entrücken wird.
Dieser Jesus lebt.
Das ist alles, was wir mit Petrus zusammen erfahren.
Und alles, was wir brauchen. ———
Sagen wir es einmal so nüchtern wie es auch damals war, als Petrus das erste Frühstück mit dem Auferstandenen geteilt hatte und als Verheißung für seine Liebe bloß erfuhr, welchen Todes er sterben würde:
Wir, die wir zu Zeugen des bleibenden Grauens einer nicht-vergangenen Vergangenheit werden, … wir wissen nicht, was die Zukunft auf dieser Erde noch sein mag. Wir wissen nicht, ob nicht – Gott behüte! – die Menschheit in diesem Jahr ein letztes Mal Ostern gefeiert haben könnte. Wir wissen nicht, was dem Ende nahe ist. Und wissen nicht, was noch kommen könnte.
Aber wenn die Auferstehung bedeutet, dass nichts vorbei ist, … wenn die Auferstehung bedeutet, dass auch wir den Auferstandenen lieben dürfen - trotz allem! - … und wenn dieser Auferstandene auch uns im Leben und im Tod österlich nahe war und ist und sein wird, dann endet mit seiner Frage an Petrus und an uns, das Fragen.
… Lieben wir Ihn?
… Dann ist das die Auferstehung. Und das Leben!
Amen.
[i] Pflichtlektüre bei Interesse: Anne Applebaum, Red Famine: Stalin’s War on Ukraine (London [Penguin UK], 2018).
Ostersonntag, 17.04.2022, Stadtkirche, Markus 16, 1 - 8, Jonas Marquardt
Predigt[i] Kaiserswerth Tag der Auferstehung des Herrn - 17.IV.2022
Markus 16, 1-8
Liebe Gemeinde!
Ostern, … wo man endlich das Passions- und kriegswochenlang aufgestaute, spontane, erst glucksende, dann lautstarke, befreite, für immer ungezwungene Lachen der Erlösten (vgl. Ps.126,2!) anstimmen will, ……. Ostern: … Und nun just Markus!
… Der Evangelist Markus - sparsam wie ein Schwabe, ernst wie ein Westfale, wortkarg wie ein Mecklenburger –, der in seiner staubigen Nüchternheit bloß drei Verse eines rätselhaft spröden Osterberichtes braucht, um die Welt zu beschreiben, die jetzt endet.
…Und nicht einmal das macht er mit großem theologischem Pathos oder investigativen Schock-Methoden. Nichts haut er uns um die Ohren, durch nichts erzwingt er unsere Selbsterkenntnis, nirgends stößt er Nasen drauf. Überhaupt streicht er aus der trockenen, unterkühlten österlichen Skizze seines Evangeliums alles Sensationelle: Kein Erdbeben (vgl. Matth.28,2) keinen Blitz (vgl. Matth.28,3), keinen menschlichen Marathon zum Tatort (vgl. Joh.20,4), keinen himmlischen Kraftakt (vgl. Matth.28,2) schildert er. Aber dennoch geraten in seinem unvergleichlich lakonischen Protokoll dessen, was das umstürzendste Ereignis der Menschheitsgeschichte ist und bleibt, die Pfeiler unseres Daseins, das Gerüst unserer Welt ins Wanken! … Weil sie plötzlich, ohne weiteren Kommentar, unbemerkt einfach gegenstandslos werden.
Welche es sind? – Das Rechnen mit der Zeit, … das Geld, … die Sorgen.
Diese drei Faktoren, diese drei Umstände, die das Tun der drei Frauen formen, ehe sie die Auferweckung erfahren, schildert Markus so selbstverständlich wie sie uns sonst ja auch er-scheinen:
Erst, so berichtet er, musste der Sabbat vorüber sein, d.h. die akribische Kalkulation und Einteilung der vergehenden Zeit musste man exakt eingehalten haben, bevor die Begegnung mit dem Wunder anfangen sollte, das die Vergänglichkeit außer Kraft setzen würde.
Dann streift ausgerechnet dieses Evangelium von Ostern ganz beiläufig die prosaischste Bedingung unseres Lebens und alles dessen, was folgt: Vor Sonnenaufgang noch waren nämlich die Frauen schon beim Krämer gewesen, waren Trauernde zu Kundinnen geworden, haben klingende Münzen die Hände gewechselt. Es wurde also ver- und gekauft, ehe die Begegnung mit dem Gut stattfinden konnte, das mit Gold nicht aufzuwiegen wäre.
Und drittens, so weiß es Markus ganz nüchtern und natürlich, … drittens waren die Magdalena, die Mutter des Jakobus - damit vermutlich die Tante Jesu - und die Frau mit dem schönen Namen des Friedens, Salome tief von Sorgen beunruhigt: „Wie lässt sich das Quadrat entzirkeln? Wer rollt den Stein vom Grab?“, so plagten sie sich kurz bevor ihnen das gesagt werden konnte, was alle Plage, Angst und Sorge ein für allemal absurd machen würde. ——
Das also sind die drei Schicksalsmächte, an denen für uns alles zu liegen scheint, die am Morgen der Auferstehung jeden Grund, jedes Gewicht und jeden Ernst einbüßen müssen: Frau Sorge, „die graue, verschleierte Frau“ - wie der Dichter[ii] sie nennt -, der ungerechte Mammon und die unerbittliche Parze „Zeit“.
…Und hinter und über diesen Dreien steht natürlich eigentlich der ewig gleiche Beherrscher und Zerstörer aller Dinge: Der Tod. …
Doch plötzlich sind sie alle nicht mehr ausschlaggebend: Die Uhr und das Portemonnaie und die Panik.
Plötzlich sind sie vorbei ……..
Vielleicht muss man es nach Art dieses irritierenden Dreiklangs sagen, um endlich wieder einmal zu hören, was die viel zu gewohnte, aber auch viel zu wenig bedachte Botschaft dieses Morgens vom besiegten Tod ist.
Dass Ostern dem Tod die Macht genommen hat, das behauptet man nicht nur zeit unseres Lebens, sondern seit Jahrtausenden.
… Trotzdem aber ist nach unserer Erfahrung der Tod so schrecklich real, so kräftig und munter, so ungebremst vital und aktiv, so täuschend lebensecht unterwegs, dass alles, alles immer noch ihm zu dienen bereit scheint: Alles, was Menschen tun, was sie schaffen, woran sie sich klammern, wodurch sie Glück erhoffen, … alles zahlt ein auf’s Konto des per Klima, Krieg und Krise expandierenden Todes.
Dass der Tod entmachtet sei, glauben wir darum kaum.
… Doch wieviel kritischer, wieviel skeptischer noch reagierten wir wohl, wenn wir dem sarkastisch wirkenden, aber wahrhaftig keine Witze machenden Markus Gehör schenkten: Hintergründig entlarvt er mit seinen neutralen Erwähnungen des ungeduldig abgepassten Sabbatendes, des endlich wieder alltäglichen Geschäftsbetriebes und des nur allzu verständlichen Pessimismus der Frauen, die keine Steinmetze sind, wie schlecht wir uns in eine Osterwelt hineinfinden würden, wenn wir es überhaupt je versuchen wollten. Denn das alles sind Dinge, die wir uns ja nicht nehmen lassen würden: Zeiteinteilen, Geldhorten, Pläneschmieden, … das geben wird doch nicht ernsthaft auf! Das kann ja wohl niemand verlangen! Zeit ist schließlich Geld. Geld ist Sicherheit. Und Vorsorge für Sicherheit beizeiten ist Weisheit!
… Markus beliebt demnach zu scherzen?!
… O nein! – Bewahre! – Markus, der westfälische Schwabe aus Mecklenburg scherzt nie!
… Er ist bloß - vielleicht - ein ganz subtiler Satiriker! Denn bei wiederholtem Nachdenken über seine unkomische Osterminiatur beschleicht uns allmählich der ungemütliche Verdacht, es könnte unser Auferstehungsglaube womöglich nicht an der ungebrochenen Vorherrschaft des Todes scheitern, sondern an unsrer Unfähigkeit und Unwilligkeit, unsern Todesglauben und dessen praktischen Auswirkungen auf unser Leben aufzugeben.
Was, wenn wir alle wie die drei Frauen, denen der Bote des Auferstandenen begegnet ist, … denen er den Ort zeigte, an dem sich kein Gekreuzigter und Begrabener mehr findet, … denen er eine Wegweisung gab ins Leben, in dem sie Jesus von Nazareth selber lebendig und wirklich sehen werden, … was also, wenn wir wie diese drei Frauen einfach zu überfordert wären, den Tod vergangen sein zu lassen? Ihr Zittern, ihr Entsetzen kann man wahrhaftig ja verstehen, wenn sie plötzlich endlos ohne alles das weiterleben sollen, was noch am frühen Sonntagmorgen für sie völlig normal (wenn auch tragisch), vollkommen gewohnt (wenn auch jammervoll), tief vertraut (wenn auch herzzerreißend) war.
Wenn all die Orientierung, die Schutzmaßnahmen, die eigenen Anstrengungen, die sie eben noch kannten, plötzlich gar nicht mehr zur neuen Wirklichkeit passen?
Wenn ihr Zeitsystem –„Wird sein / ist und / war“ – gar nichts mehr sinnvoll einordnet, weil der Vergangene nicht hinter ihnen, sondern vor ihnen zu finden sein soll?
Wenn ihr Erspartes ihnen nichts mehr verschaffen kann, weil man jetzt immer einfach nehmen soll, ohne vorher irgendetwas zu geben?
Wenn die Gedanken, die man sich macht - auch die verrücktesten, auch die vernünftigsten -, nur noch Quatsch sind, weil alles auf einmal nur noch Wunder ist und bleibt?
Kann man in einer solchen Welt ohne Maß, ohne Leistung, ohne Logik klarkommen?
… Magdalena, los sprich! Tante Marie, was meinst du? Salome, verstumm’ doch nicht bloß!
Doch sie sagten niemand etwas, denn sie fürchteten sich. ……. ————
Tja. …………
Und doch sind wir heute hier!
Die Osterbotschaft, selbst in ihrer stocknüchternen Markus-Form ist zwar total verwirrend, ist schwindelerregend, macht einen benommen und wackelig, so dass man sich wie an einem verfrühten Pfingsttag schon am Morgen beinah beschwipst fühlt und nicht weiß, ob man nicht besser wirklich noch einmal zurück in die Federn oder hinter die Grabfelsen gehen und den Rausch ausschlafen und erst wieder wach werden sollte, wenn man zuverlässig sagen kann, was die Stunde geschlagen hat und wieviel Geld wir brauchen und noch haben und was wir wohl anstellen können, um einigermaßen unbeschadet durch die argen, trüben Zeiten zu kommen, die nun einmal herrschen …
Dieses Ostern, diese Auferweckung, diese ganze andere, ganze neue, ganze freie Wirklichkeit ohne den guten alten Tod und die gute alte Zeit und die gute alte Materie und die gute alte Vernunft, … das ist zu viel, … zu kraus, … zu irre!
Lieber stillhalten. Schweigend fliehen vor dem leeren Grab. …..
Und doch sind wir heute hier!
… Und auch wenn er immer noch so aus dem etwas faden, etwas humorlosen Gesicht guckt, als könne er kein Wässerchen trüben und gehe zum Lachen in das Tal Gehinnom, wo in Jerusalem bekanntlich der Eingang zur Unterwelt ist, dämmert es uns endlich vielleicht doch, dass der Evangelist Markus und sein Evangelium einen schier unergründlichen, einen nie dagewesenen, … einen Ur-Witz haben, an den kein Komiker und auch kein Philosoph der Weltgeschichte je herankam und -kommt. Der Evangelist Markus hat nämlich diesen Mutter-Witz, nein: Vater-Witz, Sohn-Witz, Heiliger-Geist-Witz, dass er wirklich als Erster etwas weitergegeben hat, das alle Welt völlig überfordert, … das niemand sonst zu sagen oder festzuhalten wagte, weil es so unglaublich, so aberwitzig ist, dass jeder, der es ahnt, lieber den Schnabel hält, als dazustehen wie ein Idiot.
Doch eben das macht dem Markus gar nichts. Trotz seines nachweislichen, extrem sachlichen Verständnisses für die völlige Unverständlichkeit als die eigentliche Pointe des ganzen Evangeliums – eine Pointe, die Markus immer wieder vorbereitet, weil alle großen Wunder und Taten Jesu bei ihm von einem strengen Schweigegebot gefolgt werden – … trotz seines Bewusstseins also, dass niemand jemals angemessen in Worte und Verständnis fassen kann, was Gott in Jesus und an Ihm getan hat, hat Markus daraus eine unspektakuläre und nicht-spekulative kleine Schrift gemacht. So dass alle Welt es schwarz auf weiß hat, dass keine der immer noch ernstgenommenen Kategorien und auch kein kategorischer Ernst mehr letzte Gültigkeit besitzt. … Und wenn man es auch noch so schwer begreifen kann, … wenn es auch noch so verunsichernd ist, dass nichts mehr die Menschheit total verunsichern kann - was für ein irrwitziger Gag! -, so hat Markus es doch in seiner überhaupt nicht reißerischen Art schlicht notiert:
Auch wenn das Uhrwerk der Welt weiter tickt, … auch wenn die Leute rechnen und raffen und auch wenn sie schließlich klüger sein wollen, als der Zufall oder die Fügung, so ist das alles trotzdem ein Abarbeiten an Phänomenen und ein Kalkulieren mit Größen, die passé sind! Denn der Garant der Zeit - die Endlichkeit! - und das Motiv aller Geschäfte - die Verlustangst! - und der Motor unserer Weisheit - die Abwehr von Todesgefahren! - …: Sie alle haben keinen Bürgen mehr. Der Tod kann nicht mehr vorgaukeln, nur jetzt dies’ Leben sei der Güter höchstes und jede Sorge, jede Schweinerei sei’s wert! … Irrtum! … Die Wirklichkeit ist eine völlig andere geworden! … Und deshalb sind wir doch heute hier ……. ————
Aber noch immer hör’ ich kein Lachen, seh’ noch nicht einmal ein leises Schmunzeln.
Noch immer die rat- und hilflosen, schockierten, leeren Gesichter der beiden Marias und der Salome, … die Gesichter von Nadeshda und Ljuba, die Gesichter von Natalja und Nastassja, von Oksana, Sofija[iii] und Darja, die so voller Schmerzen und gefrorener Tränen sind, die so Furchtbares gesehen haben und so ergebnislos suchen, was das Leben wieder hell machen könnte.
… Und dann weiß ja auch ich es: Die nächsten Wochen werden das Totenfeld der Ukraine so schrecklich umpflügen bei der gottlosen „Oster-Offensive“, die bevorsteht, … so viele mehr werden dort weiter viel zu früh gesät werden verweslich (vgl.1.Kor.15,42), … so furchtbare Zeiten kündigen sich überall auf Erden - auch dank unserer eigenen Trägheit und Unbelehrbarkeit! - an, … so schwarz ist die Zukunft, so groß sind die kommenden Nöte, so schwer wird das Leben: Also schweigen, wie die drei Frauen?! Zurück zur bleiernen Zeit, zum Blutgeld, zu den schlaf- und verstandraubenden Sorgen?! …………
– … Markus?
… Er verzieht keine Miene.
… Immer noch so streng, so karg und so ernst wie wir ihn kennen. Wie unser Leben in dieser Zeit. Wie unsere Pflicht, mit dem Leben, mit der Zeit und der Welt - soweit sie uns Menschen und unserer Verantwortung überlassen sind - gewissenhaft und gerecht und klug umzugehen.
Aber Markus hat dennoch das Evangelium verfasst! … Obwohl es über unser Verständnis und unsere Verantwortlichkeit weit hinausgeht, dass Gott da allen Mächten die Macht genommen, alle Vernichtung vernichtet, alles Unheil geheilt, alles Endgültige umgekehrt und alles Schreckliche gut gemacht hat.
Der sterbenslangweilige, leichenbittere, todernste Evangelist Markus hat’s einfach nicht dabei lassen können, dass wir Frauen und Männer und Kinder so wenig verstehen und aussprechen können von dem, was die letzte, die größte und bleibende Wahrheit, … vor allem aber die fröhlichste Wahrheit ist: Dass mit dem Leben und dem Tod nicht nur wir Menschen alleine befasst, behaftet und belastet sind.
Dass außerhalb und jenseits unseres ernsten Verantwortungsbereiches, in dem wir immer noch damit rechnen müssen, wie Vieles und wie Viele dem entmachteten Tod an-hängen und verfallen, Gott ein Neues geschaffen hat, als Er Jesus auferweckte mitten in der Welt!
Das ist so unendlich wunderbar, … so viel höher, so viel tiefer, so viel ernster, aber auch so viel heiterer als alles, was wir sonst sehen, sagen und suchen könnten, dass es viel-leicht wirklich nur ein so völlig nüchterner Zeitgenosse wie Markus schaffen konnte, das festzuhalten.
Ihm war es nicht zu irre, zu idiotisch, zu lächerlich.
Sondern ernst!
Und das ist es.
So ernst wie die Welt.
Und genau deshalb braucht es den stoischen Mut des Markus, es weiterzusagen: Nicht trotz des Krieges und Sterbens in der Ukraine, sondern wegen dieses Krieges! Nicht trotz der drohenden Zerstörung noch weit größerer Länder und Lebensräume, sondern wegen dieser Gefahr. Nicht trotz des Leidens, das der Tod noch immer entfacht, son-dern genau deswegen!
Die Zeit des Todes - also auch unsere Zeit - vergeht nämlich. Und sein Geschäft und alle, die mit ihm Profit machen, werden schließlich doch bankrottgehen wie Russland. Wie tiefbesorgt auch immer uns die Wirklichkeit darum also noch macht: Nicht, was wir vorhersehen, sondern die Überraschung durch Gott ist doch das einzig Sichere an dieser Welt.
Weshalb das anhaltende Schweigen der drei Frauen und das Chaos unserer Gegenwart und der Rest unseres Lebens alles zusammen nur eine einzige Zeitlupe ist, in der es sich kaum merklich vorbereitet und ankündigt, wozu das alles endlich werden soll:
Überhaupt kein Scherz, keine Satire, sondern der leise, lösende, lebenspendende Witz im Sinne von Geistesblitz, den Markus als Erster weitergesagt hat - weshalb wir heute hier sind -, und über den wir lachen werden als die Erlösten bis in Ewigkeit:
„Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden. Er ist nicht hier! Geht und ihr werdet ihn sehen, wie er gesagt hat!“
Kein Scherz also. … Aber zum Lachen!
Amen.
[i] Die Predigt mutet zu, dreimal in die Ratlosigkeit und den Zweifel zu führen, so wie jede der drei ersten Zeuginnen des Ostertages schließlich in das geriet, was wir hochtrabend eine „Aporie“ nennen … was aber schlicht beschreibt, dass wir nicht verstehen, fassen und glauben können, wovon der Evangelist dennoch schreibt und was in unserer Begegnung mit dem Evangelium dennoch geschieht und sich selber durchsetzt: Die Gegenwart Jesu Christi, des Auferweckten.
[ii] So beginnt das titelgebende Gedicht, das Hermann Sudermann 1887 seinen Eltern zur Silberhochzeit widmete und seinem Roman „Frau Sorge“ voranstellte.
[iii] Dass so viele der Namen, deren Trägerinnen auf der Flucht aus der Ukraine jetzt unter uns Aufnahme finden sollen, eine ganze Predigt im Kern enthalten – „Hoffnung“ und „Liebe“, die „Weihnachtliche“, die „Österliche“, „die Gastfreundliche“, die „Weisheit (Gottes)“ bedeuten die ersten sechs hier willkürlich aufgegriffenen Namen – , ist eine sprechende Botschaft davon, wie sehr das Christentum getroffen und gefordert ist, einer Katastrophe in seinen eigenen Reihen mit Widerstand und Klarheit zu begegnen, die immerhin von einem „Kirchenoberhaupt“, dem Pseudo-Patriarachen von Moskau salbungsvoll und mörderisch unterstützt wird. Die Nüchternheit des Markus ist eine existentielle Tugend gerade auch wo Glaube und Politik sich berühren!
Osternacht, 16./17.04.2022, Joh.20,19-21, Stadtkirche, Dr. Sascha Flüchter
Die Predigt in der Osternacht 2022 in der Stadtkirche Kaiserswerth kann man auf der Webseite von Dr. Sascha Flüchter nachlesen.
Karfreitag, 15.04.2022, Stadtkirche, Lukas 23, 32 - 49, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag - 15.IV.2022
Lukas 23, 32-49
Liebe Gemeinde!
Heute auf Golgatha haben wir nur einen Wunsch: Dass hier, in diesem furchtbaren Geschehen, in dieser Zeit des Furchtbaren nicht bloß ein weiterer brutaler Mord hinzukommt.
Wir haben heute auf Golgatha die tiefe, widersinnige erscheinende, aber von der Kirche seit Jahrtausenden genährte Hoffnung, dass aus dem Schrecken dieses Tages, der am Mittag schon zur Nacht wird, ein neuer Morgen dämmert; dass aus den Wunden, die wir sehen, Heilung wächst; dass aus den Tränen Lieder werden und dass der Welt im wartenden Grab unseres Gekreuzigten eine Geburt bevorsteht.
Auf Golgatha soll heute Gutes werden, denn Schlimmes gibt es schon so viel. —
Diese Hoffnung auf die Hinrichtungsstätte, diese Wünsche der Welt an einen wehrlosen Märtyrer, dieser Traum, der sich an einen Verfluchten klammert, sind das Geheimnis des Glaubens. Wenn wir sie nicht mehr teilten, dann hätte der Übeltäter, der neben Jesus litt und der ihn lästerte, den Nerv für immer getroffen: Jesus, der Hilflose wäre das Schlussbild einer makaber dünnen Biographie aus der Antike. Man müsste sie ernüchtert und verbittert zusammenrollen und in den Ofen werfen. … Geplatzte Illusion. Sinnloses Experiment. Allerweltsirrtum!
… Wenn Golgatha Golgatha bleibt, dann liegt das Finale der Weltgeschichte hinter uns. Dann ist Tod das Ziel und Mord der Weg. …………
Wenn aber das Evangelium Recht hat, … diese Nachricht, die Markus, dann Matthäus, Johannes und schließlich auch Lukas, der Heide aus dem Erleben und den Predigten derer schöpften, die den Karfreitag nicht aushalten konnten, dann aber Ostern fassen sollten und schließlich noch fünfzig Tage bis Pfingsten brauchten, um aus der Sprachlosigkeit in’s Wort zurück zu finden, … wenn also das Evangelium Recht hat, dass wir das Leben Jesu nicht wegwerfen müssen, weil es nicht weggeworfen blieb, dann ist es nicht vergebens, dass wir heute hier um Golgatha versammelt sind, … dass wir der Vollstreckung eines Todesurteils beiwohnen und dass wir uns in jeder Hinsicht so verhalten, wie man sich eigentlich nicht verhalten darf und doch gerade in diesem entsetzlichen Jahr seit mehr als fünfzig Tagen verhält: Als tatenlose Zuschauer des Tötens.
Wenn das Evangelium Recht hat, ist es nicht vergebens, sondern es wird uns Vergebung bringen, dass wir nach Golgatha schauen! ——
Es ist nicht vergebens, … aber auch nicht umsonst!
Diesen Gedanken, dass wir nun tatsächlich nicht ohne begründete Hoffnung dem Todeskampf und Sterben Jesu folgen werden, dass wir das aber auch nicht auf’s Geratewohl, dass wir es nicht einfach ohne alle Voraussetzungen tun können, … diesen Gedanken wollen wir weiter entfalten.
Die ersten Zeugen wussten nicht, was auf Golgatha anderes als sinnloses Sterben zu er-warten sein sollte.
Einige von ihnen wickelten dieses zynische Schauspiel als bezahlte Kräfte immer wieder ab oder waren durch ihren Dienst dazu gezwungen. Manche trieb die sadistische Erregung, die leider allzu viele kennen, sich an extremen Schmerzen zu weiden, die, wenn wir sie an anderen sehen, ja nicht in uns wüten. Andere wieder waren aus religiöser Enttäuschung zugegen beim letzten Akt im Drama des schiffbrüchigen Messias.
Und ganz Wenige dort auf Golgatha sind aus hilfloser, bedingungsloser Liebe den grauenvollen Gang mitgegangen bis zum grauenvollen Ziel.
Die meisten Freunde Jesu allerdings, weil sie weder Mörder noch Zyniker noch Helden waren, blieben fern. Sie wollten das Scheitern, sie konnten die Ohnmacht nicht hautnah ertragen.
Von ihnen aber, die damals so ohne Haltung und ohne Hoffnung waren, ist in den Predigten und Evangelien, die sie nach Pfingsten trotz ihres tragischen Versagens weitersagen durften, die Botschaft ausgegangen - und bis zu uns gedrungen -, dass der am Kreuz Sterbende schon dort begonnen hat, Heil und Leben zu schenken!
Daher ist für uns aber statt der hoffnungslosen Verzweiflung das Evangelium selber zu unserer Voraussetzung für’s Dabeisein, zu unserem Zugang zu Golgatha geworden.
… Das bedeutet allerdings, dass wir - wenn wir vom Positiven des Kreuzestodes gehört haben - unsere eigene Negativität ausbluten lassen müssen, um aufnahmefähig zu sein für das, was da strömt; es bedeutet, dass die, die am Kreuz das Gute von Jesus erhoffen dürfen, an seinem Fuß dem Bösen in sich den finalen Abschied zu geben haben.
In der Sprache der Alten heißt das, dass Allen, die nicht ahnungslos, sondern durch das Evangelium eingeweiht den Karfreitag feiern, keine neutrale, sondern eine beteiligte Rolle dabei zufällt: Wem schon gesagt ist, was da geschieht, dem bleibt nur die Wahl, dort mit zu quälen oder mitzuleiden, dort mit zu töten oder mitgekreuzigt zu werden.
Wenn der Tod Jesu das Heil ist, auf das wir hoffen, wenn er die Rettung ist, die wir wünschen, dann führt uns nur ein Mitsterben zum Miterben, … nur Mit-Vergehen führt zum Mit-Erstehen, … nur Selbst-Aufgeben zu wahrem Neu-Leben. ——
Hart, aber wahr.
Wir selbst müssen dort am Kreuz Jesu für uns den Tod finden, um die daraus wachsende Zukunft zu gewinnen: So hat es der Lehrer des Lukas - der Völkerapostel Paulus - immer wieder eingeschärft (vgl. z.B. Rö.6,3f; Gal.6,14; 2.Kor.4,10f; Kol.3,3f; 2.Tim.2,11).
Was diese alte, uns von Natur aus höchst unwillkommene Botschaft bedeutet, will ich nicht als abstrakte Wahrheit stehen lassen. … Also muss ich es persönlich sagen.
Mein erstes denkwürdiges Kulturerlebnis als Kind war zugleich die erste Gelegenheit, bei der meine Mutter mir sagte, dass sie sich meiner schäme: Wir waren erst vor knapp drei Monaten in England angekommen, als unsere neue Nachbarin, eine herzensheitere Methodistin aus Wales, wo die Leute ein wenig sind wie in dem kitschigen Lied - „wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus“ (vgl. EG 663) - …als unsere liebenswürdige Nachbarin uns zwei Karten für die Liverpooler Philharmonie schenkte. Da mein Vater natürlich eine Sitzung hatte, durfte ich als achtjähriger Ältester mit und war geschmeichelt. Das Programm, das ein unbekannter Lockenschopf namens Simon Rattle dirigierte, war mir durch den Konzertführer schmackhaft gemacht worden: Ich freute mich auf Musik, die einen Giftzwerg und einen Ochsen schildern würde und das große Tor einer Stadt, deren Name - Kiev - mir da zum ersten Mal begegnete, ganz besonders aber auf einen Hexenofen, der auf Hühnerfüßen grotesk daher fahren sollte. Märchenhaft, majestätisch, bunt: So lernte ich durch Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ große Orchestermusik kennen. ….. Und sprach zwischen meiner Mutter und der milden Waliserin neben mir in das Schweigen vor dem Beifall einen meiner ersten englischen Sätze nachdrücklich laut aus: „I hate the Russians“ - Ich hasse die Russen! ….. Das hatte mir trotz aller traumatischen Leidenserfahrungen, trotz Plünderung, Vergewaltigung, Kindermord und Vertreibung niemand aus meiner Verwandtschaft in dieser Form, so nackt und so heillos je vorgesagt. … Das war ich: Ein Kind, in dem erzähltes Grauen und aufgewühlte Gefühle die Bremse gelöst hatten. Ein Mensch, aus dem auch angesichts des Schönen dieser Welt, unter dem Eindruck des Edlen und ja auch Erhebenden, das wir als Kultur kennen, die Menschenwirklichkeit des Bösen sprach, … des Bösen, das nicht persönlich und nicht rational, weder verstanden, noch kontrollierbar, keinesfalls geplant und keinesfalls provoziert doch schlicht und einfach da ist und sich Ausdruck verschafft. …………
Dieses Böse im Menschen, dieses Böse in der Welt, … wer es wahrnimmt, wer es in sich findet oder kennt, der kann es nach Golgatha nur mitbringen, um es dort enden zu lassen, … um es dort mit an das Kreuz zu heften, an dem aus Unrecht Recht, aus Sünde Segen wird, aus einem Verbrechen ein Verheilen und ein endloser Anfang.
Das ist zwar, seit es das Evangelium und die Paulusbriefe gibt keine neue Erkenntnis: Dass Jesu Sterben ein inklusives, ein umfassendes Sterben ist, so wie sein Leben eine Einladung ist, die das Leben aller, die das Leben der ganzen Welt in sich einlassen und aufnehmen will.
Aber wir sind vor dieser Form der grenzenlosen Vergemeinschaftung scheu geworden.
„Bringt Eure Schuld, Eure Fehler, Eure Schande und Erbärmlichkeit, Eure Finsternis, Euer Schlechtes, Euer Verderben … bringt sie, damit sie hier ein Ende finden, damit sie den Tod erleiden!“: Das ist ein Ruf, der uns mehr abschreckt, als dass er uns anzieht.
… Haben wir denn etwa so viel Verwerfliches an uns? … Und wenn Ja, wäre es denn dann nicht immer noch nur unsere Angelegenheit?
… Nun: Blicken wir uns um!
Hat die Menschheit etwa bewältigt, hat sie entschärft, was in ihr schwelt und immer wieder ausbrechen kann? Haben Fortschritt und Ethik, haben Optimismus und Naivität, haben Wunschdenken und Flucht in das Reich der unbeschränkten Verbindungen, das sich als Netz der Menschenfressertrolle herausstellt, mehr Güte als Gier geweckt, haben sie in den nunmehr langen Jahren unsrer Bequemlichkeit mehr Frieden gebracht und weniger Wahnsinn?
Der Hass ist doch so urgewaltig und so giftig ausgebrochen, er beweist so tödlich seine Macht und Ansteckungskraft, er hat die rohe Gewalt von der Leine gelassen und dadurch auch den brutalsten Selbstschutzinstinkt, er hat Stumpfes und Einschneidendes in der Psyche der Massen aufgedeckt, dass es zum Erbarmen ist. Wie scharf müssen wir alle unsere eigene Blindheit und Verstrickung angesichts einer Realität erkennen, die wir für undenkbar erklärten; wie deutlich wird auch unser verderblich-verdorbenes Wesen als solche, die sich vormachten, das Böse sei nicht mehr da und die nun alles tun würden, nur um es sich selbst vom Leib zu halten! Dass es aber nicht nur dort, sondern auch hier ist, dass es nicht nur plötzlich von Außen droht, sondern sich genauso tückisch auch in unserem Inneren versteckt und ausbreitet, das wollen wir auch jetzt nicht gerne wahrhaben.
Es ist aber so.
Ich mache es kurz. Zu Beginn des Krieges vor sechs Wochen schämte ich mich, als ich im Werk eines großen ukrainischen Schriftstellers - Jurij Andruchowytsch - vor Jahren geschriebene, klare Vorwegnahmen des heutigen Mordens las[i]. Dann erfassten mich Mitleid und Bewunderung, als vor vier Wochen der über sechzigjährige Autor in einem Interview beschrieb, warum er sich nicht in Sicherheit bringt, sondern in der Verteidigung der Freiheit etwas Größeres als seinen eigenen Lebenswunsch erblickt[ii]. Zuletzt aber hat mich Verzweiflung gepackt, als der gleiche hellsichtige, mutige, aufrechte Dichter jüngst über alle Russen mit einem so abgründigen Hass schrieb, dass es zum Fürchten war[iii].
… Das achtjährige Kind und der kluge Intellektuelle, die beide nichts Verworfenes an sich haben mögen – … und aus beiden spricht unerwartet, aber noch unmissverständlicher der blanke Hass! —
Wenn wir diesen Keim und diese Wurzel, diesen Quell und diese Flut, diesen Funken und diesen Brand des Bösen, wenn wir diese Verachtung und diese Selbstgerechtigkeit, diese Angst und diese Grausamkeit, diesen fehlerhaften Zufall und dieses mörderisch programmierte System des Menschen, wenn wir diesen Hass, der die Sünde ist (vgl.1.Joh.2,11), da wo wir ihn erleben, wo wir ihm erliegen, wo wir ihn erleiden, nicht am Kreuz Jesu Christi kreuzigen lassen, dann haben die Menschen keine Zukunft.
Damit die gefährliche, gefährdete Menschheit also Zukunft finde, muss das alles auf Golgatha sterben.
Wenn wir aber mit dem Evangelium schon im Ohr heute hier sind, … wenn wir wissen, dass es hier nicht um ein beliebiges Beispiel oder die traurige Fortsetzung und Feier der Macht des Bösen geht, sondern um dessen Überwindung, dann kann unsere Hoffnung, Tat und Bitte nur sein, dass wir unsere eigene, uns selbst vielleicht verborgene, genauso aber auch die zum Himmel schreiende sichtbare Misere des Bösen hier wirklich enden sehen. …….
Halten wir also ganz bewusst still, decken wir unsere Herzen auf, verstecken wir die uns winzig klein oder furchtbar groß erscheinenden Anteile an Härte, Kälte und Verderbnis darin nicht, sondern überlassen sie Dem, Der dort am Kreuz hängt.
Wie ein Magnet zieht Er die Splitter und die Brocken an sich.
Und wenn wir sie diese Verbindung mit dem Unschuldigen, dem Gütigen, dem Heiligen eingehen lassen, wenn wir Jesus unsere Sünde und Verlorenheit und die der ganzen Welt tragen lassen, dann bejahen wir, dass dort wirklich geschieht, was wir uns heute auf Golgatha wünschen!
Das unmenschliche Unwesen in uns und allen anderen erhält auf Golgatha den Gnadenstoß!
Und die Verheißungen, die Zusagen des an und für uns Sterbenden gehen in Erfüllung:
Dort am Kreuz geschieht die Vergebung aller uns bewussten und aller unbewussten Schuld!
Dort tut sich der Himmel auf, der Himmel voller Verbrecher, denen solche Vergebung gilt!
Und alle und alles sind wir nicht dem Verderben, sondern den Händen Gottes anbefohlen!
*******
Und so können wir auf Golgatha heute keine Wünsche mehr haben.
Nur Dank in Ewigkeit!
Amen.
[i] So endet z.B. die deutsche Übersetzung des 1993 (!) im Original erschienen Romans „Moscoviada“ von Andruchowytsch, der eine umgekehrte Göttliche Komödie im Moskau der post-sowjetischen (?) Ära schildert und folglich in der Hölle kulminiert, wo die Gespenster der kommunistischen Gewaltherrschaft von der Wiederrichtung des zerfallenen Imperiums träumen, mit den Sätzen eines Autoren-Nachwortes von 2006: „[Die imperialen Gespenster] sind viel standhafter, lebendiger, mithin überhaupt keine Gespenster. Bewaffnet mit einer Gaspipeline verfolgt Schwarzstrumpf seinen superambitionierten Plan weiter. Ich hoffe, daß er auch diesmal keine Beute macht“ (Juri Andruchowytsch, Moscoviada, Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr, Frankfurt/M 2006, S.223).
[ii] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/als-partisan-gegen-putin-interview-mit-juri-andruchowytsch-17844089.html
[iii] Vgl. den „Aufschrei“ von J. Andruchowytsch am 08.04.2022 in der FAZ, dessen Überschrift „Alles, was wir sehen, zeugt von Entmenschlichung“ die Richtung einer totalen und undifferenzierten Verallgemeinerung in seinem nunmehrigen Feindbild zu erkennen gibt: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/butscha-war-kein-zufall-plan-zur-vernichtung-der-ukraine-17942535/russlands-bevoelkerung-hat-17942610.htmlgl. Dass fatale, existentielle Bedrohung solche extreme Verrohung als (unvermeidliche?) Konsequenz des Schocks und der Todesangst bedingt, belegt das wirkliche, tragische Verhängnis des Bösen.
Gründonnerstag, 14.04.2022, Stadtkirche, 1.Korinther 10,16f; Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Gründonnerstag - 14.IV.2022
1.Korinther 10, 16f
Liebe Gemeinde!
Irgendwann war der, den wir mit seinem griechischen Namen den „Kleinen“ nennen und der auf Hebräisch „der Gefragte“ oder „der Frager“ hieß - Saul, genannt Paulus also - tatsächlich ein kleiner Fragender. Wie alle Jüngsten in Israel wird es ihm eine Zeitlang beim Passafest zugefallen sein, die Frage zu stellen: „Was unterscheidet diese Nacht - die Nacht des Passamahles - eigentlich von allen anderen Nächten?“ — Woraufhin die Alten am Tisch mit den ungesäuerten Broten und den Kelchen voller Wein ihre lange, gesungene, ausgeschmückte und mitreißende Antwort gaben, indem sie erzählten und rühmten, dass Gott Seinem Volk in dieser Nacht die Freiheit geschenkt hat.
Es sind unauslöschliche Kindheitserinnerungen jedes jüdischen Menschen, egal ob er in Nazareth oder im kleinasiatischen Tarsus, in Czernowitz in der Bukowina oder im bedeutenden aufklärerischen jüdischen Stadtteil von Lemberg geboren wurde: Alle diese Kinder haben nie vergessen können, wie die Alten mit leuchtendem Gesicht, mit echten Tränen der unmittelbaren Ergriffenheit, vor allem aber mit einer unvergleichlich ansteckenden Freude berichteten, was Gott getan hat: Vor tausend Jahren, vor zwei-, vor dreitausend Jahren so, als sei es heute geschehen! ———
Liest man das 10.Kapitel des 1.Korintherbriefes, in dem Paulus ausführlich die Erfahrungen der Generation des Exodus aus Ägypten meditiert, dann merkt man auch bei ihm diese direkte Erfahrung: Obwohl er in Korinth fast ausschließlich an Heidenchristen schreibt, die keinerlei persönliche Verbundenheit mit dem Wunder der Befreiung und den komplizierten Verlockungen der Freiheit auf dem Weg durch die Wüste verspürten, so wird doch unmissverständlich deutlich, dass der Apostel hier erzählt und summt und staunt und innerlich mitgeht wie damals, als in seinen Kindertagen der Vater, der Großvater, die rabbinischen Lehrer dem kleinen Saul nahebrachten, dass die Heilstaten Gottes keine Vergangenheitsform haben, sondern im Hier und Heute ihm ganz direkt gelten und zugutekommen.
Fast schweift er ab, indem er eine rabbinische Predigt darüber hält, wie die befreiten Sklaven aus Ägypten unter der Wolke und beim Durchzug durch das Meer getauft wurden und die geistliche Speise des Manna teilten und den Trank aus dem geistlichen Felsen, der Christus ist, genossen und wie sie das zu einem einzigen geheiligten Körper machte, zu einem Vorbild - und natürlich auch einem warnenden Beispiel - für die Gemeinde, an die er jetzt schreibt. —
Die Korinther werden sich die Augen gerieben haben bei dieser Übertragung der höchstpersönlichen jüdischen Grunderfahrung auf die griechische und kosmopolitische Versammlung, in der die Epistel des Paulus verlesen werden sollte. Ihre Vorfahren hatten vor Troja gelegen, waren einst Untertanen des Krösus in Lydien oder des Minos auf Kreta oder zogen mit den Seevölkern des östlichen Mittelmeeres auf den Odysseen der Vorzeit über das Wasser. … Ägypten und die Sklaverei, das Passa Israels und das lebendige Gedächtnis, das den Juden alle Epochen zur Gleichzeit machte, weil ihr Gott - der „ICH WERDE SEIN, DER ICH SEIN WERDE“ - immer und überall gegenwärtig ist, … das betraf doch sie nicht?!?
… Und doch hat Paulus, aus dem der kleine Saul mit den seligen Passaerinnerungen an das Essen, das Trinken, das Beten, Singen und Lachen an der erleuchteten Tafel der freien Kinder Gottes spricht, es mit ihnen geteilt. Es war seine, ihm tief eingestiftete Erfahrung der Gegenwart des rettenden Gottes an jedem Ort, in jedem Augenblick … und er teilte sie mit den Unbeteiligten, den ziemlich Gleichgültigen, den eigentlich geradezu Abwehrenden.
Bedenken wir das für einen kurzen Augenblick: Solche Horizontverschmelzung, solches Teilen von Erfahrungen, die den einen in Fleisch und Blut, ja tiefer noch als existentielle DNA in’s Seelische eingeschrieben sind, mit gänzlich außenstehenden Menschen, … solches Teilen ist immer eine Herausforderung. Was hier das Persönlichste ist, wirkt dort völlig abstrakt. Was mir das Kostbarste bedeutet, lässt jemand anderen voll-kommen kalt.
Wir haben es nach dem Krieg im eigenen Land erfahren:
Die einen - die Vertriebenen - war durchdrungen von Gefühlen des Grauens und der Sehnsucht, von Erfahrungen von Rettungen und Schmerzen, die den Einheimischen nicht nur einerlei, sondern oft auch überflüssig und lästig waren. Und dieses kalte Befremden angesichts des Innenlebens derer von Anderswo hat sich seitdem fort- und fortgesetzt: Was die Fremden im Schrein ihres Herzens hüteten, was den Geflohenen, den Wanderern, den Gastarbeitern, den Verjagten, den Kriegsopfern das einzige Licht auf ihrem Weg und die Quelle aller Hoffnungen ist, das interessiert die Sesshaften, die Zufriedenen keinen Deut.
Solches Nebeneinander aber endet am Tisch des Herrn!
… Das ist die Botschaft des Abendmahles. … Das ist seine Kraft und Verheißung.
Ja, es ist die Wirkung dieses Sakraments: Es stellt alle in eine gemeinsame, unzertrennliche Gegenwart.
Wer zum Abendmahl kommt und dort die Gaben empfängt, die nicht nur den Leib, sondern mehr noch die Seele ernähren und erhalten, den lassen die Erfahrungen des Exodus, … die Erfahrungen, die mit dem Exodus aus Ägypten beginnen, nicht mehr kalt: Wer nämlich an den Tisch des lebendigen Herrn tritt, wer dort die Speise isst und den Kelch trinkt, die nicht nur Brot und Wein sind, der ist bereit, nicht nur an seinem Ort und seiner Zeit zu haften.
Wer in die Gemeinschaft jenes Blutes und Leibes eintritt, die sich bei der Feier des Passamahles auftut, das durch Jesus zum Herrenmahl erweitert worden ist, der geht dort „gelöst“ hin, … der hat seine Wurzeln im Hier und Jetzt gelöst, … der hat sich befreien lassen von den Bindungen der gegenwärtig sichtbaren Welt, … der ist bereit, aus dem Rahmen des Vertrauten entlassen und auf den Weg der Freiheit, auf den Weg in jene Welt gebracht zu werden, die wir noch nicht als Heimat bewohnen, zu der wir aber unterwegs sind.
Wer also das Sakrament empfängt, verlässt seine eigenen Bedingungen und Umstände und ist willens sie einzutauschen gegen eine neue, eine unbedingte Wirklichkeit.
Er stimmt - mit anderen Worten - der Horizontverschmelzung zu: Das Bekannte und das Unbekannte, … seine Wirklichkeit und fremde Wirklichkeit, … das Alte und das Neue sollen ihn nun also gemeinsam betreffen und berühren.
Das ist das grundlegende Geheimnis, das Mysterium jener Feier, die Israel und die Kirche beim Passa und bei der Eucharistie als „Mahl-Zeit“ feiern, obwohl wir sie besser eigentlich doch die „Mahl-Ewigkeit“ nennen sollten!
… Was unterscheidet also diese Nacht des Gedächtnisses an die Wunder des HERRN von allen anderen Nächten und Tagen? — Dass in dieser Nacht das Gedächtnis nicht allein des Wunders gedenkt, also nicht bloß Erinnerung ist, … sondern dass das feiernde Gedenken das Wunder hier und jetzt wirkt: Wo der betende Dank und das dankende Gebet des Glaubens als das aktive Gedächtnis der Gemeinschaft Gewesenes hier in den Horizont des Augenblicks rücken, da entspricht der überall und überzeitlich wirkliche Gott diesem Geschehen. Der erzählenden Danksagung und dem liturgischen Segen der Feiernden entspricht Gott mit Seinem herrlichen „Jetzt!“, Seinem schöpferischen „Hier!“, das keine Er-Innerung, sondern eine Er-Äußerung, keine Vergeistigung, sondern eine Verwirklichung bedeutet.
Was der vollkommene Glaube als Tat und Gegebenheit im Mahl also annimmt und feiert, das vergegenwärtigt Gott!
Wie es also der kleine Saul einst erlebte, dass die Zeit durchsichtig, ja dass sie nichtig wurde und der rauschende Weg durch das Rote Meer, der Weg aus dem Land der Toten ans Ufer der Zukunft tatsächlich von ihm selbst erfahren, … nein, gegangen, … ja gelaufen wurde … so hat er es auch den Korinthern weitergegeben: Der Glaube an das Heil erinnert sich nicht bloß, sondern darf es erleben, dass das nur scheinbare Gestern sonnenklar im Heute durchscheint, … dass im transparenten Moment die Anwesenheit alles Bisherigen sich zeigt, … dass die Schatten langer historischer Zeit verschwinden, wenn die vergangenheitslose und auch nicht zukünftige, sondern ewige Wirklichkeit Gottes erstrahlt und sich unmissverständlich manifestiert … bis Damals und Jetzt im Kern verschmolzen eins werden.
Diese köstliche, mystische, aber eben nicht mentale, sondern reale Erfahrung hat Paulus den Korinthern in den fundamentalen Sätzen vermittelt, dass jener Kelch, über den in der Feier ihrer Gemeinde die liturgischen Segensworte gesprochen werden und jenes Brot, das nach dem von Christus selbst befohlenen Brauch gebrochen wird, die tatsächliche Gemeinschaft, also die gemeinsame, tatsächliche Teilhabe an Leib und Leben Jesu Christi bedeuten: Wo die danksagende, liturgisch handelnde und erzählend zeugende Gemeinde das zu Christi Gedächtnis tut, trennt kein Abstand, kein garstiger Graben mehr von Ihm, denn da ist Er lebendig, leiblich, wirklich. … Unsere Zeit, dieser heutige Abend hört auf, nur uns zu gehören, nur unser Lebensrahmen zu sein: Christus macht diesen Abend, macht unsere Zeit, unsere Gemeinschaft, ja unsere eigenen Leiber zum Raum Seiner Gegenwart! Wer Ihn empfängt, tritt aus den bisherigen Bindungen und wird frei, indem er nun Christus gehört … mit Leib und Leben!
Wenn wir also gleich das gebrochene Brot, die Gemeinschaft des wahren Leibes, der aktuellen Präsenz Jesu Christi empfangen, dann werden wir aus den einzelnen, einander gegenseitig begrenzenden Teilen, die wir jeweils sind, verwandelt in den Einen, Der wirklich alle Zeit erfüllt und umfasst, Der wirklich alle sekundenschnell vergehenden Augenblicke der menschlichen Geschichte durchdringt und zum bleibenden Leben, zur Ewigkeit macht: Wir werden ein Leib, … Sein Leib!
Wer das Abendmahl teilt, nimmt darum auch Teil an allem anderen:
Wer das Abendmahl teilt, lebt in Galiläa. Steht auf dem Berg. Schläft im Sturm. Sitzt durstig am samarischen Brunnen. Wandert durch Judäa. Berührt die Widerlichen. Liebt die Sünder. Duldet den Hass. Brennt für das Haus Gottes. Fürchtet die Pein. Bittet, dass Gottes Wille geschehe. Hält dem Kuss still. Schweigt zur Anklage. Spürt die Dornen. Trägt sein Kreuz. Erfährt den Schmerz. Erleidet die Gottverlassenheit. Schreit in der Sonnenfinsternis. Stirbt verwundet und versinkt im Grab. Wird vom Reich des Todes umfangen. Wird reißend gerissen, wird rettend gerettet aus der Vernichtung. Lebt in einem neuen Leben unter den Menschen. Gehört an die Seite Gottes. Ist droben und doch bis ans Ende der Welt der Menschheit verbunden.
Wer das Abendmahl teilt, nimmt Teil an allem.
Auch in jener Richtung, die uns ein Rückwärts zu sein scheint:
Feiert das Passa Israels wie der kleine Knabe in Tarsus; wie der Mann mit den zwölf Begleitern im Obergemach von Jerusalem; wie das Kind im Haus der Maria, wo sie das ungesäuerte Brot in dem Ofen gebacken hat, an den womöglich der Engel trat, um ihr zu verkünden, dass sie das wahre Brot des Lebens zur Welt bringen werde.
Wer das Abendmahl feiert, nimmt Teil an allem:
Darf - auch wenn er Heide ist - das Wunder der Rettung besingen. Darf in Israels Jubel und Lied auf dem sicheren Land einstimmen. Darf den ungeheuerlichen Wunderweg durch die Mauern des Meeres betreten. Darf aufstehen und entkommen aus der bitteren Sklaverei. Darf hinter der Tür, die vom Blut des Lammes gezeichnet ist, dem Tod entgehen. Darf am Abend des Aufbruchs das Wenige, das not ist, nehmen und danken und alles andere verlassen.
Wer das Abendmahl teilt, nimmt Teil an allem.
Auch in jene anderen Richtungen, die uns umgeben oder nach vorne zu weisen scheinen:
Wenn wir das Mahl der Befreiung, der Rettung, der Erlösung in Gottes Gegenwart feiern, dann sind wir verbunden auch mit denen, die ab morgen das Passa halten. In Uman in der Ukraine, wo am Grab des Rabbi Nachman von Brazlav, der so besonders fröhliche und ekstatische Jünger hat, das Tauchbad der Synagoge als Luftschutzraum dient, sind nur noch wenige Fromme übrig, aber auch sie werden dann die Erlösungsfreude des Passa spüren … und wir mit ihnen.
Und im einst goldenen Odessa, wo das jüdische Leben vor den Katastrophen des 20. und 21.Jahrhunderts von südländischem Übermut geprägt war, werden sie morgen singen, beten und die Psalmen derer erklingen lassen, die Gott aus der Not geführt und unter Seinen starken Schutz gestellt hat. Nehmen wir auch daran, an unserem stillsten Feiertag in ehrfürchtiger Verbundenheit teil!
Ob nun Selenskyj, der jüdische Präsident der Ukraine das Passa feiern würde, wenn er könnte, das wissen wir zwar nicht … aber wir wollen doch auch für ihn die Taten Gottes und Seinen Weg zum Leben betrachten und begehen! …….
Und dann wollen wir unser Abendmahl für die zahllosen Brüder und Schwester gemeinsam begehen, … wollen, was wir empfangen, im Geist teilen mit ihnen, deren Gründonnerstag und Ostern nächste Woche zu feiern wären, wenn sie nur könnten.
Wir wollen also das Abendmahl halten und Christus in Wahrheit und Wirklichkeit in unser Leben aufnehmen stellvertretend für die Getauften in Mariupol, wo es kein Brot, keinen Wein und auch kein Wasser mehr gibt und wo die Kelche und Kommunionlöffel und Ikonen der Kirchen im Schutt verloren und verdorben sind und die Straßen Friedhöfe geworden.
Wir wollen mit den Gemeinden von Kiew und Charkiw und Mykolajiw, mit den tapferen und den verwirrten Soldaten beider Seiten, mit all den geschundenen Menschen, mit den traumatisierten Kindern, den heroischen Müttern, den schockierten Alten, mit den Verletzten und Hungernden und Leidenden allen gemeinsam das Abendmahl halten: Weil doch wir, die Vielen, ein Leib sind, weil wir alle an einem Brot teilhaben!
Denn der Kelch des Segens, den wir segnen, ist die Gemeinschaft des Blutes Christi.
Und das Brot, das wir brechen, ist die Gemeinschaft des Leibes Christi.
So soll Gottes Volk, so soll Seine Kirche zusammengebracht werden von den Enden der Erde in Seinem Reich[i]!
Amen.
[i] Schlussdoxologie des ältesten christlichen Gebets zum Brotbrechen bei der Eucharistie in der sog. Didache (Apostellehre) 9,4 (Schriften des Urchristentums II – Didache (Apostellehre). Barnabasbrief. Zweiter Klemensbrief. Diognetbrief., Eingeleitet, hgg, übertragen u. erkl. V. K.Wengst, Darmstadt 1984, S.81).
Palmarum, 10.04.2022, Jubelkonfirmation, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Erinnerungen: Aufbruch - woher wir kommen
Gen.12,1-5
Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und bin dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abram aus, wie der HERR zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran zog. So nahm Abram Sarai, seine Frau, und Lot, seines Bruders Sohn, mit aller ihrer Habe, die sie gewonnen hatten, und die Leute, die sie erworben hatten in Haran, und zogen aus, um ins Land Kanaan zu reisen.
Meditation
Aufbruch mit 75. Nicht wohlverdienter Ruhestand, beschaulicher Feierabend. Nein, Aufbruch. Abram bricht auf.
Wer aufbricht, losgeht, lässt auch los. Abram und natürlich auch Sara und alle, die mit ihnen aufbrechen, brechen ihre Zelte ab. Buchstäblich und im übertragenen Sinn: da brechen auch Beziehungen ab, Bindungen gehen verloren. Aus den Augen, aus dem Sinn - dieses Sprichwort trifft es ziemlich gut. Aufbrechen hat auch mit Abschiednehmen zu tun - und der ist oft schmerzlich. Aber es gehört zu unserem Leben, aufzubrechen, immer wieder; immer wieder ins Unbekannte zu ziehen. Mir sind Menschen begegnet, die vor allen Dingen aus beruflichen Gründen mehr als 15-mal ihren Wohnort gewechselt haben. Für andere hieß es, drei oder viermal eine neue berufliche Tätigkeit erlernen und dann ausüben zu müssen. Und besonders diejenigen unter uns, deren Konfirmation schon 70 oder mehr Jahre zurückliegt, die kennen auch den erzwungenen Aufbruch, die Flucht vor Krieg und den heranrückenden Feinden. Die Ereignisse in der Ukraine, die Bilder von fliehenden Menschen, Frauen, Kindern, alten Menschen, sie haben bei vielen die alten Albträume wachgerufen.
Wir alle bringen Erinnerungen mit - heute, hier in diesen Gottesdienst. Erinnerungen an sehr unterschiedliche Zeiten und Erfahrungen. Sie haben uns alle geprägt. Wer den Krieg erlebt hat, der sieht die Welt einfach anders als ein Mensch, der bisher das unverdiente Glück gehabt hat, immer im Frieden gelebt zu haben. Wer das Glück hatte oder noch hat, seinen Lebensweg mit einem geliebten Menschen an der Seite zu gehen, dessen Schritt ist leichter als der Schritt eines anderen, dessen Beziehung zerbrochen ist oder viel zu früh endete.
Doch egal - wie unterschiedlich uns alle das Leben geprägt hat - welche Wege wir bislang zurückgelegt haben - eines verbindet uns: jede und jeder hat mit seinem ersten Atemzug das Ja Gottes eingeatmet. Wir sind Kinder seiner Liebe.
Das macht die Taufe sinnenfällig.
Gott selbst hat uns an den Start des Lebens gestellt und uns zum Aufbruch in diese Welt animiert. Leben heißt aufbrechen, losgehen, wandern, immer wieder auch zurücklassen, loslassen, verlassen. Mit 5, mit 10, mit 14, mit 18, mit 30 oder auch mit 75 Jahren wie Abram. Es hört nie auf. Solange wir leben. Da ist immer dieser Ruf, dieses große Ja Gottes, der will, dass wir diese Welt gestalten und bewahren, der uns dazu gesegnet hat und immer noch und immer wieder neu darauf hofft, dass wir füreinander zum Segen werden - allen Widrigkeiten und Schrecknissen der Zeit zum Trotz.
Erinnerungen: Aufbruch - wo wir stehen
Matth.4,18-22
Als nun Jesus am Galiläischen Meer entlangging, sah er zwei Brüder, Simon, der Petrus genannt wird, und Andreas, seinen Bruder; die warfen ihre Netze ins Meer; denn sie waren Fischer. Und er sprach zu ihnen: Folgt mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen! Sogleich verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach. Und als er von dort weiterging, sah er zwei andere Brüder, Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, seinen Bruder, im Boot mit ihrem Vater Zebedäus, wie sie ihre Netze flickten. Und er rief sie. Sogleich verließen sie das Boot und ihren Vater und folgten ihm nach.
Mk.8,34-36
Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird's erhalten. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden?
Meditation
Im Zentrum der Konfirmation steht seit den Tagen der Reformation die Bestätigung des Taufversprechens, das einst Eltern und Paten für das Kind abgelegt haben: die nun selbst gegebene Antwort auf das Ja Gottes. Ja, ich will mit dir, Gott, meinen Lebensweg gehen, ich will wachsen im Glauben, im Vertrauen, in der Hoffnung und in der Liebe. Ich will Erfahrungen machen mit dir und versuchen, die Welt mit deinen Augen zu sehen, den Menschen so zu begegnen, wie du es dir gedacht hast und wie Jesus es beispielhaft gelebt hat.
Die Konfirmation - ein Ruf in die Nachfolge. Ich weiß nicht, wie Sie damals ihre Konfirmation erlebt haben. Ein besonderer Tag war es sicher für alle. Das Konfirmationskleid, bei den meisten wohl schwarz oder dunkelblau, der erste Anzug für die Jungen, auch in dunkler Farbe. Der feierliche Einzug in die Kirche. Die Urkunde mit dem Konfirmationsspruch. Wir konnten uns, wenn wir wollten, diesen Spruch selbst aussuchen. Das war damals 1972 etwas ganz Neues in der Gemeinde. Ein Satz aus der Bibel, der einen durchs Leben begleiten sollte. Und für sehr viele hat er das tatsächlich getan. Ein Wort der Ermutigung. Diejenigen unter uns, die 1952 oder auch 1962 konfirmiert worden sind, die konnten eine solche Ermutigung oft sehr gut brauchen. Denn damals hieß es für viele nach Ostern, aufzubrechen und in die Lehre zu gehen. Das war dann schon zu meiner Zeit anders. Und doch brauchen wir Menschen bis heute solche Worte der Ermutigung. Denn der Lebensweg mit Gott zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er leicht ist. Der Ruf in die Nachfolge mag am Anfang wie ein großes Abenteuer für die Jünger gewesen sein, raus aus dem Alltagstrott, Neues erleben, hören und sehen, sich nicht mehr die Nächte um die Ohren schlagen auf dem See, um am Morgen nur ein paar kümmerliche Fische im Netz zu haben und dann tagsüber die Netze zu flicken. Ja, es war schon spannend, die Welt und die Menschen mit den Augen Gottes zu sehen, aber da gab es auch unangenehme, anstrengende, nervige Zeitgenossen, Jesus, mit denen können wir es einfach nicht und die können es mit uns ja auch nicht. Lass uns da lieber aus dem Spiel. Hat er aber nicht. Er hatte es von Anfang an gewusst: wer die Welt, die Menschen, das Leben mit den Augen Gottes sieht, der sieht auch das Dunkle, die Schatten und die vielen Verstrickungen in Schuld und Leid; der kann sich nicht da raushalten, weil Gott auch da anwesend ist und uns gerade da braucht und hineinruft, damit wir Licht in die Dunkelheiten bringen und helfen, die Verstrickungen zu lösen, indem wir Vergebung und Versöhnung in den Streit und in die Konflikte bringen. Das Zeichen der Nachfolge ist das Kreuz: die Vertikale verbindet uns mit Gott und die Horizontale mit unseren Mitmenschen, mit den Freuden und Leiden, mit den Nöten und Konflikten dieser Welt. Jede Zeit hat ihr Kreuz. Jesus hat uns jedenfalls nicht nur zugemutet, sondern uns auch zugetraut, dass wir unser Kreuz tragen können, nicht als Einzelkämpfer und -kämpferinnen, sondern in der Gemeinschaft und mit ihm im Geist verbunden und so vergebend und versöhnend zum Segen werden in der Welt.
Erinnerungen: Aufbruch - wohin wir gehen
Joh.21,15-18
Als sie nun das Mahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieber, als mich diese haben? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Lämmer! Spricht er zum zweiten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! Spricht er zum dritten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst.
Meditation
Aufbruch - wohin wir gehen. Ja, wohin gehen wir? Als Christen, als Kirche, als Gesellschaft? Seit März 2020, seit Corona, ist das für uns alle nicht mehr so eindeutig und erst recht nicht seit dem 24.Februar dieses Jahres, seit dem Angriffskrieg Putins auf die Ukraine, der im Tiefsten ein Angriff auf unsere fundamentalen Werte ist, auf eine demokratische, freiheitliche und rechtsstaatliche Ordnung, die die Menschenrechte respektiert, Konflikte gewaltfrei angeht und das Selbstbestimmungsrecht jedes Volkes achtet. Dafür steht für mich das Grundgesetz und ich fühlte mich gerade als Christin und Bürgerin unserer Demokratie in Erinnerung an die Schrecknisse des Dritten Reiches und an seine ungeheuren Verbrechen verpflichtet, mit aller Entschiedenheit für den Frieden einzutreten, Frieden zu schaffen ohne Waffen. Die großen Friedensdemos Anfang der 80er Jahre, Abrüstung statt Nachrüstung - irgendwie schienen mir die Ereignisse des Jahres 1989, die zum Mauerfall und zur Wiedervereinigung führten, auch Zeichen dafür zu sein, dass diese Friedensstrategie einfach richtig ist. Zumindest in Europa waren wir doch nun von Freunden umzingelt und sicher. Ich bin noch dabei, mir darüber klar zu werden, was dann schiefgelaufen ist - in unseren Kirchen und in unserer Gesellschaft im Inneren und dann nach außen, dass wir heute da stehen, wo wir stehen - mit Querdenkern und Impfverweigerern, mit Hasspredigern und Rechtsradikalen in den Parlamenten, mit unglaublich vielen Autokraten und Diktatoren weltweit. Und dann ist da noch der Klimawandel, der eigentlich unsere ganze Aufmerksamkeit und Kraft beansprucht. Was Not tut: schonungsloses Hinsehen, ernsthaftes Reflektieren verbunden mit dem Bekennen von Fehlern und Versäumnissen auf allen Ebenen, nicht nur in den Parlamenten und Parteizentralen, sondern auch in den Gemeinden und Kirchen, in den Familien und am Arbeitsplatz. Ehrlichkeit, Offenheit und Transparenz sind unerlässlich. Und die Bereitschaft, für unsere Werte zu streiten. Lassen wir nicht zu, dass diejenigen Recht behalten, die behaupten, wir würden Freiheit und Demokratie nur so lange schätzen, solange unser Wohlstand nicht gefährdet ist.
Wohin also gehen wir? Auf jeden Fall nehmen wir uns mit und müssen uns den Folgen unserer Versäumnisse wie unserer Taten stellen. Aber sie sollen nicht unseren Weg in die Zukunft bestimmen, denn der, der uns auf den Weg schickt, trägt uns nichts nach. Er will immer wieder den Neuanfang schenken - denn er braucht uns in dieser seiner Welt. Er braucht uns in zweifacher Rolle: als Hirten, die sich gerade um die Schwachen kümmern, aber auch entschlossen allen Raubtieren und Räubern entgegentreten. Und er braucht uns als eine Art Leithammel, die Teil der Herde sind, denen auch immer wieder der Durchblick und Überblick abhandenkommt, und die auf den einen guten Hirten angewiesen sind, die sich von ihm rufen und senden lassen - auf Wege, die sie sich selbst gewiss nicht aussuchen würden - auf unbequeme, anstrengende und ja auch gefährliche Wege - mitten hinein in die Konflikte dieser Zeit und Welt, um seinen Willen nach Recht und Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Güte mit unserem Reden und Tun zu bezeugen. Was mir trotz allem Mut und Zuversicht gibt: diese Welt mit all ihrer Schönheit wie mit ihrer Gefährdung ist Gottes geliebte Welt. Er wird sie nicht aus seinen Händen lassen und uns auch nicht.
(Pfarrerin Ulrike Heimann - Konfirmationsjubiläum 10.4.2022)
Palmarum, 10.04.2022, Stadtkirche, Johannes 17, 1 - 8, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Palmarum - 10.IV.2022
Johannes 17, 1-8
Liebe Gemeinde!
Ein bitterer Gedanke zuvor: Wie gut, dass uns die Ordnung der Predigttexte in diesem Jahr die Meditation der Hochstimmung, des „Hosianna!“ erspart. Es wäre uns ja doch gegangen wie denen, die Trauergefühle bei der Hochzeit haben oder fasten müssen beim Fest-mahl, wenn es heute ein Palmsonntag der ausgelassenen Art hätte werden sollen. Wie die jüdische Exilsgemeinde an den Wassern zu Babel, die ihre Harfen in die Weiden hängten, hätten wir den Kloß im Hals gespürt: „Sie hießen uns singen und in unserem Heulen fröhlich sein“ (Ps.137,3), seufzen die Beter des großen Klageliedes Psalm 137, das unversehens zum wildesten Rachegebet der Bibel wird. – Wobei natürlich klar ist, dass wir weder zu Schmerz noch Rachegefühlen in irgendeiner persönlichen Weise die leiseste Berechtigung haben, wenn wir an die tatsächlichen Angegriffenen und Opfer des Krieges gegen die Ukraine denken: Die Menschen von Kramatorsk, Borodjanka und Butscha.
Aber als die Gemeinde des wehrlosen Königs ohne Gewalt kann es uns nur den Seelenfrieden rauben und das Herz zerreißen, wenn wir zu Zeugen solcher barbarischer Niedertracht, solcher schändlichen Verbrechen werden, wie sie derzeit geschehen … und immer geschahen, müssen wir sogleich hinzufügen. Das Elend des Mordens, die menschliche Grausamkeit und die Hilflosigkeit, wenn man außerhalb des realen Albtraums seinen Sinnen nicht trauen mag, obwohl es Menschen wie Du und ich sind, die da zu bestialischen Jägern und bestialisch Gejagten werden, … alle diese überwältigenden und lähmenden Eindrücke der letzten Woche lassen jede Fröhlichkeit über den Einzug Jesu ersticken.
Man möchte sich wie die Chöre am Anfang der Matthäuspassion gegenseitig zur Klage aufrufen oder wie der schreckliche, stumme Leichenzug, der in Pasolinis Verfilmung des Matthäusevangelium gehetzt einen noch Lebenden zum Sterben begleitet, der Ankunft des zum Leiden Bestimmten wortlos anschließen.
Denn jedes Herz muss heute ja fühlen: Da kommt noch Einer, den der Abgrund erwartet. Da zieht noch Einer in sein Verhängnis.
… Armer, unschuldiger Herr Jesus, auf dessen Weg zum Galgen die Blumenkinder von Jerusalem Blatt und Blüten streuen! … Der Sommer der Liebe, die Macht der Blumen, die ganze schöne Hippieatmosphäre der vollgedröhnten Massen und der kuscheligen kollektiven Harmonie, die am Palmsonntag sonst so oft greifbar wird, … das alles ist dieses Jahr wirklich in Rauch aufgegangen, in den schlammigen Spuren der Panzer zermalmt, im Lärm des Dauerbeschusses radikal abgewürgt worden. Es ist keine Zeit des großen, wogenden Hallo, wenn die Welt Abschied nimmt von der zerfetzten Illusion des Friedens und vom Traum, ein Kontinent habe seine letzten gegenseitigen Opfer gefordert und werde künftig nur noch in gemeinsamer Trauer an allen Gräbern stehen.
Armer, unschuldiger Herr Jesus! Du kommst in das uralte Grausen: Die Menschen, die du trösten und erlösen sollst, … sie sterben nicht bloß, … nein, sie töten!
Töten einander.
Töten Dich. ——
Es gibt also für uns unbeteiligte Passanten und bis vor Kurzem noch genüssliche Gruselgaffer wirklich nichts zu Begrüßen und zu Beklatschen an diesem Tag der öffentlichen Erscheinung Jesu vor der Welt. Es gibt – wenn wir in die Welt schauen, in die Jesus aus der Abgeschiedenheit von Galiläa auf dem kleinen Esel unter den Augen des römischen Imperiums nun hineinreitet – nur Grausamkeit vor unseren Augen: Die Grausamkeit von Babyn Jar und Srebrenica, die Grausamkeit von Butscha und von Golgatha. Die Grausamkeit von Orten, Zeiten, Menschen, die wir alle kennen könnten.
„Kehre um!“, möchte man in einer seltsamen Parodie des Rufes, mit dem Johannes der Täufer und Jesus die Erlösungsbereitschaft vor Kurzem erst zündeten, ihn darum warnen: „Kehre um! Zu nahe kommst Du dem Reich der Hölle, wenn Du ungebremst in die Wirklichkeit der Weltgeschichte trottest. Kehre um in’s Reich der Märchen, der frommen Wünsche, der naiven Hoffnung. Kehre um nach Galiläa, zu den hinterwäldlerischen Träumern. Segne die Kinder da, streichle die Kranken. Erzähl den Armen hungerstillende Legenden vom Brot und lass ein paar Leute lächeln.
… Aber meide die Vertreter der Politik und der Religion. Ihren Lügen bist Du nicht gewachsen. Ihre Brutalität ist so abgründig, … was willst Du mit Deinem alten prophetischen Herzenswunsch nach Frieden, was willst Du mit Deiner harmlosen Unerfahrenheit der Gottessohnschaft unter den Monstren und Maschinen der Mächtigen bewirken? Du wirst pulverisiert werden. Und es wird lächerlich und schmerzlich enden. Aussichtlos.“
Aber auch wenn wir ihn warnen könnten, auch wenn wir uns dem König aus Nazareth vor den Toren Jerusalems in den Weg stellten oder zu Füßen würfen, … er wird weiterreiten. Er wird nicht abdrehen und dankend heimkehren an den Genezareth, wo es Stürme gibt, aber auf Häfen, wo sie manchmal gefährlich höhnisch sind, aber oft genug auch voll einfältigem, ehrlichem Dank, wem ein kleines Mädchen vom Totenbett aufersteht (vgl. Matth.9,26) oder ein Taubstummer zu hören und zu reden anfangen darf (vgl. Mk.7,37).
Er will unbedingt durch Jerusalem hindurch, das er von Palmsonntag bis Karfreitag einmal wie die Sonne von Ost nach West durchquert, um nach Golgatha zu kommen. Dort will er hin!... Zur Schädelstätte. In jene Landschaften von der baltischen Küste über Polen, Weißrussland und die Ukraine bis in die rumänischen Karpaten, die ein Historiker schon 2010 zusammenfasste unter dem Titel „Blutgegend“, bloodlands[i]. Er will nach Butscha, er will nach Kramatorsk. Er will dorthin, wo Schmerz und Horror dieser Welt auf ihn warten!
… Weshalb? – Die einzigartige Antwort darauf gibt das Gebet, das bei Johannes zwischen Jesu vermächtnishaften Schlussreden und seinem Todesleiden steht. Dieses gebetete Testament, das zwischen Abschied und Agonie den Kipppunkt der Passionsgeschichte, den Umschlag von Tat und Lehre zu Leid und Tod bedeutet, … dieses unerschöpflich reiche, tiefe, glühende und heilende Gebet nennt die Kirche von altersher Jesu „hohepriesterliches Gebet“. Es ist die Liturgie, die aus allem Geschehenen und Folgenden den zentralen, den letzten, bleibenden, ewigen Gottesdienst der Weltgeschichte macht, den allesentscheidenden Dienst Gottes an den Menschen.
Und in diesem hohepriesterlichen Dienst, in diesem von Gott selbst geleisteten und gelebten und durchlittenen Dienen geht es um das Allereinfachste: Dass das Licht Licht nur ist, wenn es im Dunkeln leuchtet. Dass Klarheit nur erscheint, wo sie das Unklare von innen heraus verwandelt. Dass das Heil nur dann also Heil ist, wenn es am Unheilen, am Zerstörten und Zerstörerischen sein Werk vollbringt. Dass Hoheit und Herrlichkeit des heiligen und heilenden Gottes sich nirgends so zeigen, wie dort wo sie sich freiwillig erniedrigen und in den Schatten stellen lassen.
Gott im Himmel ist angemessen und stimmig, aber weder sicht- noch greifbar. Erst auf der Erde und in der Hölle fällt auf wie unersetzlich und notwendig Gott wirklich ist; erst in der Tiefe wird der Höchste also vom Herrn zum Heiland.
Man könnte es noch drastischer, dann schon beinah gotteslästerlich ausdrücken: Glück lässt Gott verblassen. … So leben wir bisher. Und solche, die so leben, brauchen keinen Gott.
… Aber in der Nacht des Leidens, wo kein Stern, kein Funke sonst mehr die totale Finsternis durchdringt … da tritt spürbar, sichtbar, unzweifelhaft hervor, wie sehr Gott gebraucht wird!
Außer Ihm ist nichts, wenn die Vernichtung einsetzt.
Das aber ist die Wirklichkeit, die den meisten Menschen bleibt: Nichts … oder Gott!
Und darum können wir nur in die Knie gehen, können nur den tiefsten Grund der Nacht, können nur den Abgrund des Leidens küssen, in den wir den Menschen auf dem Esel so entschlossen reiten, in den wir den Mann in Gethsemane sich so schonungslos werfen sehen:
Es zieht Ihn ja nicht um Seiner Selbst willen dahin, sondern damit die Verlassenen und Verlorenen, damit die Leidenden und Sterbenden dort ganz unten, ganz am Ende, ganz im Aus die Herrlichkeit erfahren, … Licht, … Heil.
„Vater, die Stunde ist gekommen: verherrliche deinen Sohn!“
… Dieser feierlich klingende Satz, der wirkt wie von einem Motivationscoach oder wie der Startschuss einer Siegerehrung, bedeutet in Wirklichkeit also den hohepriesterlichen Dienst schlechthin: „Schicke mich, dass ich in die Dunkelheit gehe; sende mich in’s Nichts; entlass mich, Vater, in die fernste Tiefe. … Denn dort sind die, die das brauchen, was Du mir gegeben hast: Das Leben!“
Nichts anderes treibt und bewegt ja den Sohn Gottes, Dessen Herrlichkeit nicht herrscherlicher Pomp, sondern demütiger Dienst ist. Er, Der ohne Gott nicht ist und nichts wäre, gibt allen weiter, was Er selbst vom Vater empfängt: Vollkommene Liebe, die nicht ablösbar und nicht zu verlieren ist, … ganz gleich, wie sehr der Geliebte angefochten, angegriffen, ja vernichtet wird.
Diese selbst in der Schande unzerstörbare Herrlichkeit, diese selbst in der Trennung nicht zu zerbrechende Zugehörigkeit, dieses selbst im Tod unverlierbare Leben, … dieses alles, das Jesus von, in und mit Gott hat, trägt Er vom heutigen Palmsonntag an unter die Menschen, … die Menschen, die es nötig…, … die es schreiend nötig …, … die es himmelschreiend nötig …, … die es höllisch nötig haben! …
Er trägt es zu den Massen.
Er trägt es auf das Fest.
Er trägt es in die Stunde der Panik und des Kontrollverlustes.
Er trägt es vor’s Gericht, vor das Forum der Lüge, vor die Öffentlichkeit des Hasses.
Er trägt es in’s Gefängnis.
Er trägt es in den Folterkeller.
Er trägt es auf den Todesmarsch.
Er trägt es in die letzten Augenblicke des Erstickens.
Er trägt es durch den Exitus.
In’s Reich des Todes.
„Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir, mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war!“
Was da geschieht, auf diesem sturen Eselsritt, auf diesem unbeirrten Höllenritt, ist wirklich nur für eine solche gedämpfte, … ja, eine schweigende Palmsonntags-Gemeinde, wie wir es in diesem Jahr sind, von ferne zu ahnen: Die Ewigkeit fährt da in der Gestalt der Gnade unseres Herrn Jesu Christi und der Liebe Gottes und Ihrer Beider Gemeinschaft im Heiligen Geist (vgl. 2.Kor13,13) dorthin, wo niemand sie jemals gedacht hätte. Die Ewigkeit fährt nicht nur in die Endlichkeit - was ja schon gar nicht zu denken ist - , sondern dahin, wo das Ende ist. Die Ewigkeit der Liebe, der Verbundenheit, des Lebens dringt in das endgültige, perspektivlose Nichts hinein.
Wo alles aus ist, wird alles wahr.
Wo es vorbei ist, erfüllt es sich.
Wo nichts mehr folgt, beginnt das Leben.
Das Leben, das im Anfang war.
Das Leben, das der Anfang ist.
Das bezeugt uns der heutige Palmsonntag, den wir auf dem ausweglosen Fluchtbahnhof von Kramatorsk münden sehen, auf dem Abstellgleis aller Hoffnung, im Sackbahnhof der Menschlichkeit. …….
———
Vater, gib, dass diese Worte nicht leichtfertig, nicht wie Formeln oder Beschwichtigungen von den Lippen gehen!
Vater, gib, dass wir begreifen, was wir da glauben!
Vater, gib, dass es uns nicht dumpf beruhigt, sondern hellauf erschüttert, wenn uns das ungemilderte Ungeheuerliche Deiner Botschaft trifft:
Dass der Weg des Sohnes zu den Menschen, die Gott gehören und die Er diesem Sohn anvertraut hat, wirklich auf den Bahnsteig führt, wo die blutigen Rucksäcke und die zerfetzten Kuscheltiere und die anderen quälenden Hinterlassenschaften der Kinder aus der östlichen Ukraine, aus dem Donezker Oblast verstreut liegen … jener Kinder, die einfach nur mit ihren Müttern in eine Richtung fliehen wollten, in der sie Zukunft haben würden. …
Nun sind diese Kinder nicht mehr auf Erden, um Jesus in den Orten unserer Landkarten zu empfangen. Sie begrüßen ihn nicht mehr hier mit den anderen Kindern von Jerusalem, den anderen Menschenkindern zu Beginn der Karwoche.
Ihr Karfreitag war schon vorgestern.
Aber der Sohn, dem Gott Macht gegeben hat über alle Menschen – die Macht, das ewige Leben zu schenken! –, Der ist nicht umsonst, sondern gerade ihretwegen auf dem kleinen Esel zum großen Kreuz von Golgatha geritten.
Zu dem Kreuz, das von überall auf der ganzen Erdoberfläche und auch aus allen unteririschen Tiefen als Richtungsweiser den Weg zu Gott zeigt: Auf Jesu Spur durch’s Leid zur Freude, durch Tod zum Leben.
Und so kehrt sich der stille Palmsonntag, an dem uns das Jubeln nicht über die Lippen kommen und das ausgelassene Wedeln mit grünen Frühlingszweigen nicht gelingen will, tatsächlich um.
Es ist ja nicht so, als müssten wir Ihn begrüßen, Der da in die Stadt reitet.
Denn Er ist’s, Der wirklich begrüßt, Der tatsächlich empfängt, Der in Wirklichkeit will-kommen heißt: Alle Welt. … Alle, die aus der Welt mussten.
Die Toten. Im Leben.
Die Menschheit. Bei Gott.
… Können wir solche Herrlichkeit fassen?
„Vater, die Stunde ist gekommen.
Verherrliche Deinen Sohn!“
Amen.
[i] Zum Heulen aktuell: Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, (dt.) München 2011.
Judika, 03.04.2022, Stadtkirche, Markus 10, 35 - 45, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Judika - 3.IV.2022
Markus 10,35-45
Liebe Gemeinde!
Zwei Männer, bei denen selbst die Sitzordnung Motive ihrer Konkurrenzsucht bietet: … Wie lächerlich! …….
Wenn das Gespräch der beiden Fischersöhne vom Genezareth mit dem Hauptmann ihrer Freischärler-Bande hundert Jahre später stattgefunden hätte, … wenn sie also wie viele junge Männer um das Jahr 132 n.Chr. beim Aufstand und beim Kampf zur Befreiung ihrer judäischen Heimat von einem übermächtigen Feind als patriotische Partisanen aktiv gewesen wären, dann hätte die Christenheit ein gefundenes Fressen gehabt. Die beiden jungen Rebellen, die mit Simon bar Kochba, den sie damals für den Messias hielten, gegen Rom gekämpft hätten, wären von den Christen in den schwärzesten Farben gemalt worden: „Seht ihr, was der Kern der messianischen Hoffnung ist? - Unverhohlene Machtgelüste! Weltherrschaftsphantasien! Eine rein innerweltliche Diktatur!“ … So hätte die Kirche in ihrem antjudaistischen Wahn gehetzt und verleumdet, wenn eine Quelle aus dem letzten Aufflammen der nationalen Freiheitsbewegung Israels vor dem zweitausendjährigen Exil berichtet hätte, wie zwei seiner Getreuen den Anführer bar Kochba um die Ehrenplätze zu seiner Rechten und zu seiner Linken baten, sobald seine Herrschaft gefestigt sein würde. Verächtlich und voller Vorurteil wären solche Hoffnungen auf aktive Teilhabe an der neuen Friedensordnung unter dem Banner Gottes von den Christen als Verschwörungspolitik des Weltjudentums karikiert worden und hätten den Vorwand geliefert, an dem es in der Passionszeit nie fehlte: Pogrome als Ventil für die Begegnung mit überforderndem Leiden.
Nun sind es keine jüdischen Widerständler, keine Zeloten, sondern die Zebedäiden, die beiden sogenannten „Donnersöhne“ (vgl. Mk.3,17) aus Jesu engstem Kreis, die gerne als seine Ratgeber und Statthalter, als Vize-Messias auf den Thronen neben ihm beweisen wollen, wem sie dienen und wessen Herrschaft sie mit jeder Faser ihres Daseins am liebsten in Ewigkeit vertreten wollen.
Und weil es nicht jüdische Untergrundkrieger, sondern genauso jüdische Fürstreiter des Christus sind, Apostel seines Reiches, darum hat die Kirche sich nicht einfach von ihnen abwenden können und ihren brennenden Ehrgeiz, ihre karrierebewusste Bewerbung als Stellvertreter des Gesalbten nicht annähernd so scharf verurteilt, wie sie es unter anderem Vorzeichen sicher getan hätte. —
… Das müssen wir daher nachholen.
Kirche und Macht: Das ist die Geschichte eines scheußlichen Skandals. Die Geschichte der Ausrottung der Philosophenschule von Alexandrien und ihrer großen heidnischen Lehrerin, Hypatia durch den christlichen Mob[i]. Die Geschichte der Wahl zwischen Taufe und Tod für viele Völker und Kulturen bis in die Neuzeit. Die Geschichte der heiligen Kriege unter dem Kreuz und der gesegneten Waffen bis hin zu Hitlers Schutzstaffel. Die Geschichte einer Religion, die sich zur Überlegenheit in aller Welt berufen fühlte und die ihre Altäre in Rom als Throne menschlicher Stellvertreter Gottes, ihre Throne in deutschen Territorien dagegen als Altäre eines protestantischen Obrigkeitskultes betrachtete.
Kirche und Macht: Das ist der scheußliche Skandal, den heute Putin und Kirill verkörpern. Waffen als liturgisches Gerät. Geweihte Gewalt. Blutrituale im Namen des Sohnes, der sich auf Golgatha als letztes Opfer, stellvertretend für die Vielen hingab.
Wie gotteslästerlich die Passionszeit des Jahres 2022 wirklich ist[ii], wird klar, wenn wir uns die Verstrickung des Moskauer Patriarchates in die Brutalität des russischen Regimes anschauen. Diese Perversion eines Christentums, das nicht aufschreit, sondern den Krieg gutheißt, ist aber nur eine späte Sumpfblüte an einer Wucherung, die im Laufe der Kirchengeschichte furchtbar ins Kraut geschossen ist. Klerus und Theologie haben Wurzeln in unendlich vielen Verbrechenskloaken getrieben und genährt, wo sie Fäulnis und Verwesung hervorbrachten … und immer wieder meinten sie dabei, direkt neben dem Sitz Christi zu entspringen. ….. Pfui, Teufel!!! —
Der überloyale Ehrgeiz der beiden Apostelbrüder hat aber noch eine andere Seite.
Ihre forsche Geltungslust, ihr Drang, Hingabefähigkeit zu beweisen und den Ruhm einer echten Vertrauensstellung dafür zu erringen, ist kein leeres Gehabe geblieben. Der ihnen unbekannte, ja unvorstellbare Kelch: … Die beiden tranken ihn! Jakobus sollte der Erste der Zwölfe werden, der nur zehn, elf Jahre nach dem Meister ebenfalls schon das Martyrium erlitt (vgl. Apg. 12). Und sein Bruder, Johannes, der Lieblingsjünger wurde zum einsamen letzten Zeugen der Auferweckung. Zu Beginn und am Ende der pfingstlichen Zeit der Apostel haben die beiden brennenden Eiferer tatsächlich also ihr je eigenes Leiden tragen müssen, das ihnen viel mehr Ehre einbrachte, als irgendein Amt oder Rang es sonst getan hätten. Ihre Gedenkorte umfassen das Abendland und predigen heute allen Europäern, dass man bis an die Grenze gehen kann und muss – bis nach Santiago de Compostela zu Jakobus oder über seine Gefängnisinsel Patmos hinaus, bis ins türkische Ephesus, wo Johannes starb –, wenn man ein Gespür für die Weite, für die Ausdauer, ja die Endlosigkeit der Geduld, … des Glaubens und des Duldens bekommen will, zu denen Jesu Nachfolger und Nachahmer berufen sind.
Die Kirche also und die Ohnmacht: Das ist die helle Seite, das ist der Segen der christlichen Geschichte!
… Es hat nicht nur Unterdrückung und Ausbeutung im Namen des Erlösers gegeben, sondern eine unauslöschliche Spur der Befreiung, der Selbstlosigkeit und des Trostes, der stärker ist als der Tod, begleitet das Evangelium durch die Zeitalter, … und je schwerer die Nöte, je dunkler die Nächte, desto ergreifender ist das, was die Jünger Jesu darin im Leben und im Sterben für ein Zeugnis ablegten!
Es ist die Geschichte der großen Liebe, die in Laurentius, dem Diakon, keinen kostbareren Schatz der Kirche als die Armen kannte. Es ist die Geschichte des Friedens, die in Martin von Tours und den Mennoniten und den Versöhnten von Taizé bis heute gegen alle Kämpfer den Schutz des Gebetes ausspannt. Es ist die Geschichte des grenzenlosen Mitleids, das sich in den Söhnen und Töchtern der Bettelorden, in der unterschiedslosen Krankenpflege der Klöster und in der weiblichen Weltfürsorge unserer Kaiserswerther Diakonissentradition verwirklicht. Es ist die Geschichte der leidenden Kinder Gottes, die von den Katakomben bis zum Gulag, von der Sklaverei Roms über diejenige der East India und Royal African Company bis auf die Baumwollplantagen der Südstaaten und unter der offenen oder versteckten Apartheid der Kolonien ein unendliches menschliches Elend nur ertrugen durch ihr Vertrauen auf’s ewige Leben im Himmel, den Jesus, der Schmerzensmann mit den Genossen seiner Qualen teilen wird. Es ist die Geschichte der ungezählten Millionen, die in Verfolgung treublieben bis heute, und die standhielten und standhalten, weil die Freude des Glaubens in ihren Herzen den Schmerz in ihren Gliedern überwiegt.
Die Kirche und die Ohnmacht: Das ist die Geschichte der Taufe und des Kelches, die die Gemeinde des Menschensohnes, der bei den Kleinen, bei den Knechten als einer der Ihren war und ist und bleibt, mit ihm teilt … es ist die Passionsgeschichte der Welt, die Leidenschaftsgeschichte des Himmelreiches.
… Und es ist die Geschichte Dessen, zu Dessen Rechter und zu dessen Linker in der Herrlichkeit zu sitzen überhaupt niemandem zugeteilt werden kann, da ja auch der Ehrenplatz in der Mitte immer noch frei ist!
… Jesus, der Menschensohn sitzt ja nicht auf einem Thron und hält nicht Hof. …
Zwar haben es gerade die alten Kirchen des Ostens, die orientalischen und byzantinischen Kirchen der syrischen und griechischen und kaukasischen und slawischen Traditionen sich gerne vorgestellt, wie der Kyrios, der Pantokrator thront. Und das Volk Gottes dort im Osten hat vor Jahrhunderten beinah demokratisch abgestimmt - indem es auf sein Herz hörte -, wer denn wohl neben dem Herrscher aller Herren den gebührenden Platz einnehme: Eine ganz reine, ganz mütterliche Ratgeberin und ein ganz klarer, ganz auf das Kommende konzentrierter Sachwalter des Gottesreiches sind unfehlbar neben Christus anzutreffen, wann immer ein Mensch in eine orthodoxe Kirche kommt, um das Mysterium der Rettung des Kosmos zu feiern und anzubeten[iii]. Die Jungfrau und Gottesmutter und der Vorläufer des Herrn, der zur Buße und Erneuerung der Welt rufende Täufer sind in unablässiger Sorge für die arme Menschheit und in nimmermüder Fürbitte für die Sünder die Begleiter des Menschgewordenen, die ausdauernden Assistenten des Erlösers.
Doch gerade die von so viel Heimsuchung erschütterten Kirchen des Morgenlandes und die gefährdeten, vom Krieg nun so zerrissenen Kirchen der Orthodoxie sind heute unsere unfreiwilligen Zeugen dafür, dass die schöne Szene des gemeinschaftlichen Eintretens für die Rettungsbedürftigen, die den Vorboten, die Mutter und den Sohn in einem ewig weihnachtlichen Zur-Welt-Bringen des Heils verbindet, kein ungestörter himmlischer Thronrat ist, sondern blutiger, staubiger Ernst.
… Die drei Plätze in der Herrlichkeit sind bloße Symbole; die Wirklichkeit ist chaotisch irdisch, … ein Kelch voller Wermut, … ein Blutbad.
… Und mitten darin und darunter die Drei!
Die Mutter Gottes sitzt im Luftschutzkeller von Charkiw, eingeschlagen in ihr altes Tuch.
Der große, heilige Bereiter der Wege des Herrn, Johannes mit seinem struppigen Bart und lumpigen Aufzug fällt im Dämmerlicht der umfunktionierten U-Bahn-Schächte von Kherson unter den anderen Vogelscheuchen der Obdachlosigkeit in der eigenen Heimat kaum auf, wo auch er die neue Zeit erwartet.
Und der Menschensohn, der nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um sein Leben einzusetzen, kauert in Mariupol unterm Beschuss, und ein fast teilnahmsloses Kind lehnt sich an die Schulter, die einst das Kreuz schleppte, und spürt ein Zittern in dem Arm, der die Welt geschaffen hat, und merkt in diesem schwachen Fleisch und Blut das Mitleid mit seiner traumatischen Angst. Und dann schleicht der Menschensohn aus den kalten, unterirdischen Kammern des Todes vor Tagesanbruch durch die Trümmer der belagerten Stadt und geht in die lichtlose Klinik, wo die Kinder nicht einmal auf Heu und auf Stroh in einer Krippe liegen, und dann herzt Er sie und legt die Hände auf sie und segnet sie, die in so unsägliches Leid hineingeboren werden, gerade so wie Er’s tat ehe die Söhne des Zebedäus nach den Ehrenplätzen fragten (vgl.Mk.10,13ff).
Und dann steht die neben Ihm, die Ihn einst wie ein Brandscheit aus dem Feuer des herodianischen Kindermordes rettete (vgl. Sacharja 3,2), als sie mit Ihm nach Ägypten floh, … und Mutter und Sohn schauen sich an aus Augen, die alles Leid der ganzen Welt gesehen haben, und so sehr sie einander den Himmel gönnten, so einig sind sie sich, dass es noch nicht Zeit dafür ist.
Und auch wenn Er so müde ist wie damals, als sie Ihn mit der Last des Menschengeschlechtes beluden und nach Golgatha schleiften, geht dieser Diener aller Diener weiter, so wie Er seit Jahrtausenden gegangen ist: Er kehrt ein auf den eiskalten Höhen in Afghanistan, wo der Hunger schon herrscht, bei den Menschen, deren Fleisch ist wie Gras, das abends welkt und verdorrt (Ps.90,6).
Und im Jemen, wo so lange schon die gleiche, namenlose Grausamkeit wütet, die uns in der Ukraine so schockiert, oder in den Zeltlagern der syrischen Flüchtlinge, die seit sieben Jahren im Niemandsland vegetieren, da haust der Täufer wie der wahnsinnig wirkende Prophet Hesekiel, starr vom Leid, ernährt von verschwindend winzigen Essensrationen, die vor den Augen der Leute auf Menschenkot gebacken werden, wie es in der Bibel heißt (vgl. Hes.4,9-12!).
Und Maria breitet ihren löchrigen Schleier über die Leichen auf den Straßen von Bucha, wo die Russen beim Abzug gestern Ladungen von ukrainischen Kindern vor den Panzern herfahren ließen, um durch die Körper dieser Kleinsten „geschützt“ zu sein[iv]. ——
So sehen die Plätze aus, die der leidende Knecht Gottes mit seinen nächsten Getreuen teilt, die verstehen und ertragen müssen, dass er nicht mächtig, sondern in letzter Ohnmacht, nicht als Herrscher, sondern als geschändetes Opfer der wahre Heiland am offenen Herzen der Welt ist.
Es mag wie dunkle, wie morbide Poesie klingen, von der heiligen Jungfrau im Granathagel nun auch von Odessa zu hören, vom Vorboten des jüngsten Tages im Dunkel des möglichen innerchristlichen Völkermords in der äthiopischen Provinz Tigray, von Jesus in den Lagern für die Uiguren oder in den Strafkolonien für die Dissidenten des neu-alten Russland. …….
Es ist aber keine schwarze Poesie.
Es ist die fiktionslose Wahrheit dessen, der diese verdammte Welt, in der die Herrscher ihre Völker niederhalten und ihnen Gewalt antun, nicht aufgibt, sondern sie voller Mitleid heimsucht und sie schließlich auch heimholen wird, wenn endlich sein Leben ihnen allen bis zum letzten Blutstropen zugeflossen und zugutegekommen ist. …….
Diese fiktionslose Wahrheit habe ich durch die nüchternste Frau meines Lebens zu erkennen gelernt: Meine vollkommen unpoetische Urgroßmutter, die wegen des letzten Krieges um viele, viele Mitglieder aus vier Generationen ihrer Familie zu trauern hatte: Ihren Vater, ihre Schwester, ihren Sohn, Neffen, Nichten, Enkelkinder. Und um ihren Mann, den die Russen an dem Januartag, als sie in Hinterpommern ankamen, erschossen. Der Winter war frosthart, kein Mann war mehr im Dorf; ein Neffe meiner Urgroßmutter, ein Halbwaise aus Ostpreußen, den man in Hinterpommern sicher geglaubt hatte, schleifte die Leiche seines Onkels wenigstens zurück auf den Hof, und bedeckte sie auf dem Mist mit gefrorenem Stroh.
Nun vertrieben die Russen in diesem neumärkischen Teil Hinterpommerns die Besiegten nicht sofort, sondern versklavten sie. Als es taute, ragten die Beine meines Urgroßvaters aus dem Dung: Das war das Letzte, was die Urgroßmutter auf ihrem Hof, in ihrer Heimat vor Augen hatte. Beerdigen durfte man nicht. …….
In meiner Kindheit blickte sie manchmal in einer unerklärlichen Ausdruckslosigkeit aus dem Fenster. … Ich wusste, wohin.
… Und ich spürte, dass sie genau dann den Platz an Jesu Seite hatte. Sich leise an Ihn lehnte. Weil sie wusste, dass ihr Erlöser lebt[v], der Sein Leben als Lösegeld von allen diesen Erfahrungen des Leidens und der Schuld für alle eingesetzt hat. ——
So ist es an Jesu Seite: Schwer, aber voll endgültiger Verheißung.
Es ist der Platz, den heute die siebenjährige Katja[vi] im umkämpften Kiew hat. Und die überlebenden Alten in Odessa, deren Lebensabend die Schrecken ihrer Kindheit wachwerden lässt. Und die Schriftstellerin[vii] und der Student, die aus allen Träumen gerissen worden sind und jetzt brutalste Wirklichkeit erfahren[viii].
Sie alle sind auf den Plätzen zur Rechten und zur Linken!
Und zwischen ihnen allen ist Er, … der herzliebste Jesu, ohne Den niemand, gar niemand ist, weil Er Sein Leben mit ihren verbindet, bis sie, … bis wir alle erlöst sein werden.
Amen.
(EG 81, 1 + 4 – 7 + 11)
[i] Dass der vehement antisemitische und brutale Patriarch Kyrill von Alexandrien, dessen Einfluss auf den frauenfeindlichen, antiwissenschaftlichen Mönchsmob, der die neuplatonische Philosophin Hypatia im März 415 oder 416 lynchte, nicht nur ein Kirchenvater des orthodoxen christologischen Bekenntnisses ist, sondern auch ein Namenspatron des heutigen Moskauer Patriarchen, lässt etwas von der tragischen Ambivalenz unseres christlichen Erbes grell aufscheinen.
[ii] Den vierzig Tagen der Buße und Erneuerung der Fastenzeit entsprechen am Sonntag Judika 2022 schon 39 Tage der irrsinnigen, unerträglichen Aggressionsorgie des Krieges Russlands gegen die Ukraine!
[iii] Die sog. „Deesis“ (d.h. Bittszene) gehört zum Bildprogramm der orthodoxen Ikonostasen und ist ein aus der Kirche des Ostens im Mittelalter in die westliche Kunst eingewandertes Motiv. Zu seiner Entstehung heißt es im Handbuch der Ikonenkunst - Bd. I, hgg. v. B. Rothemund, München 19853, S.287: „URSPRUNG: Orientalische Marienlegenden (so »Gang Mariens durch die Qualen«), die besagen, daß die Gottesmutter beim Jüngsten Gericht, zusammen mit Johannes dem Täufer, den Weltenrichter um Gnade bitten werde.“
[iv] Vgl. https://www.theguardian.com/world/2022/apr/02/ukrainian-children-used-as-human-shields-near-kyiv-say-witness-reports.
[v] Bezug auf die alttestamentliche Schriftlesung des Sonntags Judika aus Hiob 19, 19-27.
[vi] Vgl. das eindrucksvolle Langgedicht „To Katya, aged seven, in a bomb shelter in Kyiv“ des nigerianischen Schriftstellers Ben Okri, in dem er die Hoffnung der Welt für ein ukrainisches Mädchen ergreifend formuliert, das am 02.04.2022 im Guardian veröffentlicht wurde: https://www.theguardian.com/commentisfree/2022/apr/02/ben-okri-ukraine-poem-to-katya-aged-seven-in-a-bomb-shelter-in-kyiv.
[vii] Vgl. das „Tagebuch aus Mariupol: Und dann wird es still. Totenstill“ von Nadezhda Sukhorukova, das in Auszügen in der FAZ vom 26.03.2022 (u.a.) veröffentlicht wurde (https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/tagebuch-aus-mariupol-und-dann-wird-es-still-totenstill-17909099.html) , sowie den Beitrag von Natal’ya Vorozhbit über ihre Flucht: https://www.theguardian.com/stage/2022/mar/30/natalya-vorozhbit-diary-of-a-playwright-fleeing-ukraine-bad-roads.
[viii] Vgl. zum Beispiel den Beitrag mit Bildern des Photographen Alexander Chekmenev, der im New York Times Magazine unter dem Titel: „Citizens of Kyiv“ erschien und derzeit im Netz zugänglich ist unter: https://www.nytimes.com/interactive/2022/03/18/magazine/ukraine-war-kyiv.html.
Laetare, 27.03.2022, Stadtkirche, 2.Korinther 1, 3 - 7, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Lætare - 27.III.2022
2.Korinther 1, 3 - 7
Liebe Gemeinde!
Trost gibt es nicht als Büchsenmilch: Reichlich gesüßt auf Vorrat haltbar. …
Trost gibt es nur, wo Traurigkeit herrscht. … Frisch. Gepresst aus Säure und Bitterkeit.
Darum ist es auch kein Wunder, dass die gehaltvollsten Trost-Abschnitte in den Episteln des Paulus sich ausgerechnet im konfliktreichen 2.Korintherbrief finden. Diesen Brief hat die Wissenschaft in ihrer Auflösungswut in verschiedene unabhängige Schreiben aufgeteilt, von denen eines in der Forschung den Namen „Tränenbrief“ erhalten hat (vgl.2.Kor.2,4). Die Zersplitterung des Briefes ist sicherlich unnötig, … der enge Zusammenklang von viel Enttäuschung, Schmerz und Sorge in den Erfahrungen des Apostels und seiner schwierigsten Gemeinde mit einer reichen Trosterfahrung dagegen ist völlig naheliegend.
Nur Leid macht trostempfänglich; nur Tränen spülen den Staub des Gewohnten von den seelischen Geschmacksnerven und lassen sie kosten, was wirklich gnädig guttut.
Trost fließt also nur, wo vorher etwas Anderes, ja Entgegengesetztes sich Bahn gebrochen hat.
Vielleicht ist auch deshalb der Bei- und Nachgeschmack so schal und bitter, den die effektive Mitleidlosigkeit unserer Politik jüngst und wiederholt vor Augen führt. Dass der Präsident eines dem Verderben ausgelieferten Volkes zum Bundestag spricht … und man daraufhin die Geburtstage von Abgeordneten bedenkt und die Bundes-Kommission „Kleine Forscher“ besetzt, ist für Satire zu gnadenlos.
… Und dass trotz aller Beteuerungen des Mitgefühls in Wirklichkeit unsere Wirtschaft und unser Wohlstand das Einzige sind, was geschützt wird, während wir das Leben anderer keines Opfers für wert erachten, ist so wenig neu, wie es dennoch immer wieder, in unseren seltenen Momenten der Wahrnehmung eisig entsetzt. Trostlos, … ohne allen Trost ist es, wenn Schreckliches solch tiefen Spuren in die Gegenwart gräbt, und dann nichts an wirklicher Teilnahme und Verbundenheit, nichts an wirklich schmerzendem Wagnis jenseits unserer allerengsten Umgebung dadurch in Bewegung kommt, … weil die Angst alles blockiert.
Nun empfinde ich es wirklich, dass das das Amt der Verkündigung nicht das Geschäft der Politikschelte im Nebenerwerb betreiben soll. Und dass alle Verantwortlichen in Gemeinwesen und Gesellschaft vom Ausbruch der staatlich-russischen Zerstörungswut vor ungeheure Probleme gestellt werden, ist mir mehr als deutlich. Aber es ist eine Kritik, die gar nicht nur der Politik, sondern uns allen gelten muss, wenn nach vier Wochen abgründiger Grausamkeit im Krieg gegen die Ukraine der Eindruck sich festigt, dass bei aller - wunderbaren! - Hilfsbereitschaft hierzulande, die wirkliche Lehre aus dieser Katastrophe sich nicht durchsetzen kann: Die Lehre, die der Apostel Paulus an einer anderen Stelle seines Briefwechsels mit den Korinthern in die täuschend schlichte Sentenz kleidet: „Ich suche nicht meinen Nutzen, sondern den Nutzen aller, damit sie gerettet werden. Nehmt mich zum Vorbild, wie ich Christus zum Vorbild nehme.“ (1.Kor.10,33+11,1).
Den Nutzen Aller suchen.
In der Nachahmung Christi.
Die Beschränkung auf die eigene Rettung oder Sicherheit aufgeben.
… Gemeinschaft als Lebensmaßstab!
… Wenn nicht einmal das Ermorden der Kinder und das Anzünden des Hauses unseres Nachbarn an unserer eigenen grundsätzlichen Begrenzung auf private Maßstäbe etwas zu ändern vermag, dann geht es nicht um Politikschelte, sondern um das Schlagen an jede Brust - voran die eigene - auf der Suche nach einem Herzen.
Wo kein Mitleid, da kein Trost.
Sollte es wirklich nach vier Wochen Barbarei vor unseren Augen so sein, dass unsereins zu Ostern ausschließlich wieder sorgt für die Skiferien im Kunstschnee oder den Badeurlaub im Massengrab Mittelmeer, dann hilft auch der Sonntag Lætare - der Sonntag des Zwischenhochs im Leidensdruck - nichts. Dann gilt statt rosafarbenem Lætare[i] nur finsteres Levitenlesen!
Wir müssen die Katastrophen dieses Zeitalters - Krankheit, Krieg und Klima - uns zur Neuausrichtung unseres gesamten Lebens auf den Nutzen Aller und die Nachahmung Jesu treiben lassen, … sonst gehen wir in der Wüste zugrunde wie es dem Volk drohte, von dem wir in Leviticus lesen (vgl. bes. 3.Mose 26!). … Nur, dass es keine vierzig Jahre mehr sein werden ……. ———
Doch wenn das möglich ist, wovon der Apostel des einen großen Leibes Jesu Christi spricht – des Leibes, in dem keine Spaltung sein soll, weil alle Glieder in gleicher Weise füreinander sorgen sollen, so dass wenn ein Glied leidet, alle Glieder mitleiden und wenn ein Glied geehrt wird, sich alle Glieder mitfreuen sollen (1.Kor.12,25f) – … wenn das möglich ist, wovon der Apostel solcher körperschaftlichen Organisation und Anatomie der Menschengemeinschaft Gottes spricht, dann finden wir ausgerechnet in diesen Zeiten der schwersten Prüfung auch den Ansatz stärkster Hoffnung.
Denn wir sind nun einmal herausgerissen worden aus der Täuschung, alles werde schon glatt und gut gehen. Wir sind schonungslos schmerzhaft aus aller dummen Harmlosigkeit herauskatapultiert worden und sehen die Gefahr und Gefährdung des Menschen, … jedes Menschen, … aller Menschen klar vor Augen. Die Illusion, unsere Verdrängungsmanöver ließen uns sicher um fremde Not herumlavieren und wir könnten uns das Leid anderer vom Leib halten, ist vorüber. Entweder wir Menschen beginnen in echter Gemeinschaft zu leben … oder wir sterben miteinander.
In dieser ernsten Entscheidungsstunde der Geschichte schlägt darum aber unüberhörbar die Stunde des Christentums.
Das Christentum der zwölf Jünger und der galiläischen Frauen, das Christentum des Paulus und Barnabas und Timotheus, das zu den winzigen, versprengten Diasporagemeinden aus Juden und Griechen, aus Sklaven und Freien, aus männlichen und weiblichen Heiligen und Sündern in der römischen Diversitätsnorm führte, hatte ja von Anfang an einen größenwahnsinnigen - aber wie wir jetzt erkennen und bekennen müssen, auch rettenden! - Grundsatz: … Es meinte immer schon „ALLE“!!!
Allesamt sieht das Christentum die Menschen als Sünder (vgl.Rö.3,23) und bekennt gerade deshalb, dass allen Menschen geholfen werden solle (vgl.1.Tim.2,4).
Allen Menschen ist ja die heilsame Gnade Gottes erschienen (vgl.Titus 2,11) und drum sollen auch ausnahmslos alle Völker aller Welt in Jesu Namen gelehrt und getauft werden (vgl.Matth.28,19), weil alle, die an ihn glauben, gerettet werden (vgl. Joh3,16) und alle Zungen im Himmel und auf Erden einst bekennen müssen, dass er der Herr ist zur Ehre Gottes, des Vaters (vgl.Phil.2,11).
Und so wird schließlich alles, was Odem hat (vgl.Ps.150,6) Den anbeten und schauen, Der Alles in Allem sein wird (vgl.1.Kor.15, 28)!
… Alle, alle, alle, alle! …
Dieser im Anfang belächelte, auf manchen Strecken furchtbar missbrauchte und heute gedankenlos fallengelassene universale Anspruch des Christentums, dass Gott niemandem fern sei (vgl.Apg.17,27) und dass alles in seiner ganzen Problematik bloß und aufgedeckt vor Ihm ist (vgl.Hebr.4,13) und dass daher Er und Er allein tatsächlich alles in der verfallenden Welt wieder neu machen wird (vgl.Offenb.21,5), …dieser universale Anspruch des Christentums ist wahrhaftig das Gebot und die Verheißung der Stunde!
Die Einzelwege sind vorüber.
Das Denken bloß an sich ist gescheitert.
Der Kampf um’s Eigene ist aussichtlos geworden.
Wir können nur noch das Ganze zu Herzen nehmen und für jeden glauben, hoffen und lieben … oder wir geben jene Abschiedsvorstellung der töricht Todgeweihten, die Jesaja und Paulus in den anscheinend unseren Zeitgenossen abgelauschten, hedonistischen Zynismus kleideten: „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“ (Jes22,13/1.Kor.15,32).
Für andere also zu leben, für andere zu leiden, für andere stark zu sein und für andere sich hinzugeben, für andere Trost zu erfahren und für andere das Ziel des Daseins und seinen Sinn zu suchen und zu bewahren, ist die Übung, die Jesus vor- und Paulus nachgelebt hat, um die Gemeinschaft der neuen Menschheit, der Menschheit, die bei Trost ist, zu gründen und zu stärken.
Dahinter steckt keine Naivität. Beide - Jesus wie Paulus - haben giftigste Aggression erfahren, Unrecht erlitten und sind zu Opfern tödlicher Widersacher geworden.
Aber der Meister wie der Schüler, der Herr wie sein Apostel haben nur diesen Weg der umfassenden Stellvertretung, der Einbindung auch der Ablehnenden, der Sorge für die Feinde, der beharrlichen Bereitschaft zur Versöhnung, ja der überindividuellen Verschmelzung mit Gegenspielern, Gegenkräften und allen Gegnern insgesamt gekannt und uns geboten.
……. Im Ernst? … Im Ernst einer Zeit, die von Krieg und endgültiger Gewalt verdunkelt wird?
—— Genau in diesem Ernst!
Denn die Leiden Christi, die bis zum heutigen Tag reichlich über seine Nachfolger kommen in allen Bedrängnissen der Welt, sind gerade auch die Quelle des Trostes, der noch viel reichlicher darin entsteht.
Das ist ja das eigentliche Wunder der Passion Jesu Christi und des Passions-Gedächtnisses, das wir derzeit sechs Wochen lang begehen: Die Erfahrung bitterster Brutalität und furchtbarster Ohnmacht hat in der Urgemeinde von Jerusalem und den christlichen Gründungen des Paulus eine Gemeinschaft der Solidarität und nicht der Vergeltung hervorgebracht. Die Schar, die auf den Verachteten und Verwundeten, auf den Gekreuzigten und Getöteten getauft wurde, ist zu einer Bewegung der Liebe und des Lebens geworden. Die Anhänger des Opfers einer pervertierten Justiz haben erst recht an die Gerechtigkeit zu glauben gelernt. Die Kirche des besiegten Nazareners hat sich dem weltgeschichtlichen Kampf für eine Welt ohne Sieger und Besiegte je länger, desto mehr verschrieben. ——
Können alle solche Schritte der Nachfolge, können diese trostreichen Etappen und Erfahrungen, diese Errungenschaften und Erkenntnisse, dass Leiderleben nicht zu einer Leidensspirale, sondern zur Erlösung von Leid führen will, nun etwa durch das menschenverachtende Leid unserer Gegenwart ausgelöscht werden? —— Genau das kann und darf nicht sein!
……. Ohne irgendeins der gegenwärtigen Geschehnisse mit heilsgeschichtlicher Bedeutung aufzuladen, müssen wir uns doch an einen der allerersten, allerältesten Zusammenhänge erinnern, in denen in der Bibel Hader und Verrat, Gemeinheit, Hass, gewissenlose Täuschung und nackte Gewalt gegenüber Wehrlosen begegnen: Brüder sind es da, die über einen aus ihrer Mitte herfallen und ihn für ein paar Silberlinge verkaufen; Brüder, die einen, der ihnen nahestand, auslöschen und vergessen machen wollen, bloß weil er ihnen fremd erschien. Das Martyrium des Joseph, erst in seinem engen Schacht, dann deportiert nach Ägypten, als Heimatloser aufgestiegen, doch trotz seiner Tüchtigkeit nie wirklich in der Welt der Nilkultur integriert, sondern nur ein bei der Hungerabwehr hilfreicher Fremdkörper, … dieser Josephs-Roman führt bekanntlich zur Rettung vor dem furchtbaren Hungertod, als der ukrainische, … nein, der Delta-Weizen Ägyptens ausblieb. Die hinterhältigen Brüder werden ausgerechnet von ihrem Opfer gerettet! Und die ganze Dramatik des menschlichen Denkens und göttlichen Lenkens in dieser Schuld- und Wende-Geschichte wird in einem winzigen Satz zusammengepresst: „Ihr gedachtet es böse zu machen, Gott aber gedachte es gut zu machen!“ (1.Mose50,20)
Das ist der Satz, auf dem alles ruht, was wir glauben und was uns in Bedrängnis und Geduld zum Trost wird: Gott macht auch aus dem Leiden das Heil der Welt. Gott wendet sogar Sünde so, dass sie Segen bewirkt. Gott ist immer schon und wird ewig bleiben der Wiedergutmacher des von Menschenbosheit Verdorbenen.
Der Überfall Russlands sollte seine Gegner spalten. Er scheint sie in mancher Hinsicht enger verbunden zu haben. Das Grausen sollte die Überfallenen das Fürchten lehren. Sie lernten, die Freiheit noch mehr zu lieben. Die wieder so eng gezogenen Grenzen Europas haben sich vor den Flüchtlingen nicht verschlossen, sondern geweitet. Die reale Bedrohung der Auslöschung allen Lebens muss den Wandel zur Bewahrung des Lebens nun umso dringlicher beschleunigen, solange es noch „heute“ heißt (vgl.Hebr.3,13)! ———
Solche Hoffnung zu haben, die der ganzen Welt gilt, die insgesamt am Abgrund steht, … das ist der Trost, der nur durch die Erfahrung der heutigen Leiden geweckt werden kann.
Da wir wahrhaftig nicht mehr ohne Leid, … ohne Mitleid auch nur einen einzigen kurzen Blick in unsere Zeit tun können, … darum geht’s nun wirklich um den Trost, der nicht uns, sondern Allen gilt!
Wenn wir ihn empfangen, spüren, festhalten dürfen – so wie Maria am vorgestrigen Tag der Verkündigung des Herrn den Erlöser aller Menschen empfing – … wenn wir diesen Trost also haben sollten und wachsen sehen, dann in jener allumfassenden, nie mehr zu leugnenden oder zu lassenden Gemeinschaft Aller.
Denn wer am Leiden teilhat, hat auch am Trost teil! ———
Und darum: Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes!
Gelobt sei der Sohn, dessen Passionsleiden aus dem Bösen das Gute für die gesamte Welt gemacht hat!
Gelobt sei der Geist, den uns der Vater und der Sohn als Tröster senden![ii]
Amen.
[i] Das neue Evangelische Gottesdienstbuch sieht tatsächlich als liturgische Farbe des Sonntags in der Mitte der Passionszeit Rosa vor.
[ii] Nach der Predigt wurde gesungen: EG 133, 6 – 9. Gott sei Dank auch dafür, dass wir die Choräle des Barock, aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges noch immer in unseren Gesangbüchern haben! … Was würden wir nur singen, wenn die Leiden und der Trost der Väter uns nicht solche Worte liehen?!
Okuli, 20.03.2022, Stadtkirche, 1.Könige 19, 1 - 13a, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Okuli - 20.III.2022
1.Könige 19, 1-13a
Liebe Gemeinde!
Mord ist nicht mein Hobby.
Aber…….
Irgendwann habe ich zwar aufgehört, es mir noch ausdrücklich zu merken, doch seit dem 24.Februar dürfte wohl immer noch kein Tag vergangen sein, an dem mir nicht jemand - ein liebenswerter Mensch, ein bürgerlicher Zeitgenosse, eine vollendete Dame - gesagt hat, es müsse einfach einen gewaltsamen Tod geben: Ein Geheimdienst oder ein zweiter Stauffenberg oder - Sapperlot nochmal! - ein letzter zurechnungsfähiger Berater müsse doch den Wahnsinn des Krieges abkürzen, indem er das Leben des Kriegstreibers im Kreml beendet.
… Vielleicht war auch ich es, der das gesagt oder hervorgerufen hat.
… Das Gefühl, das unerträgliche Morden durch einen erträglichen Mord beenden zu wollen, ist mir nicht fremd.
… Irgendwo in Rumänien läuft tatsächlich sogar einer rum, der es mir erspart hat, selbst ein Mörder zu werden. Mit 20 Jahren hatte mich im Herbst der Freiheit 1989 die Wut über den tyrannischen Schlächter Ceauşescu so gepackt, dass ich mit einem anderen Pfarrerssohn im Theologiestudium davon phantasierte, in Bukarest eine Schillerballade mit Dolch im Gewande oder Pistole im Anorak auszuführen. … Weil es die letzten Tage des Advent waren und wir das Brandenburger Tor noch aufgehen sehen wollten, verschoben wir die Verschwörung auf nach Weihnachten, … wie Pfarrerssöhne eben sind. … Ein anderer kam unserm unreifen Schwachsinn im Ernst zuvor.
Aber Gott weiß, was ich damals dachte. ———
Der verzweifelte Zorn über die moralische Verkommenheit und die selbstzerstörerische Verblendung von Menschen hat auch den Propheten Elia gerüttelt. Er sah sich einer er-drückenden Übermacht von Zeitgenossen gegenüber, die aufgepeitscht waren vom Kult nackter Kraftvergötzung: Der Pseudo-Gott Baal, der das Potenzgehabe und Brunftspektakel der Wildbahn verkörpert, hatte Israel ergriffen. Man feierte wie im Rausch, dass im Reich der Natur angeblich immer der Stärkere gewinnt und sich dann grenzenlos ausbreitet und vermehrt, wuchernd fruchtbar wird. Dieser Baals-Dienst ist die interkulturellste Form der Amoral: Gier, Trieb und Sieg sind seine Motive, und seine Gemeinde ist bis heute in allen Völkern zahlreich.
Als Elia zur Zeit der großen Hungersnot aber auf dem Karmel erlebte, dass trotz der Urgewalten des Baalismus der Befreier Israels, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, Der ein Gott des Rechtes und der Gerechtigkeit ist, Sich gegenüber dem Götzen der Genusssucht als lebendig, hörend, wundertätig erwies, da riss es ihn hin zu unkontrollierter Rache an den Anhängern der „Wer-wächst-hat-Recht“-Weltanschauung. Elias Leiden an der rechtverdrängenden Triebreligion Baals entlud sich in seinen verdrängten Rachetrieben, als er die Propheten Baals nach dem Gottesurteil auf dem Karmel schlicht schlachtete (vgl.1.Könige 18). …….
Doch auf das deutsche Wort Mord ist das seelische Echo immer der gleichlautende französische Klang („mort“): Wer Mord begeht, der weckt seinen eigenen Tod, so dass er keinen Frieden mehr findet.
Elia fühlt wie das Morden ihn dem Tod geweiht hat. Er kann nicht weiterleben. Will sterben.
Gott aber führt den blutschuldigen Menschen, den das Töten lebensmüde gemacht hat, in die Wüste, in’s Reich des Fastens und der Reinigung, in dem der selbstmörderisch gewordene Mörder noch „einen langen Weg vor sich hat“.
…Das ist der Weg der Schuld.
… Der Weg, für den uns niemand bereitmachen kann, außer Gott.
Und wir müssen gut und tapfer hinhören, wenn wir mit dem schuldigen Gottesmann Elia die vierzig Tage und Nächte in die Wüste hin zum Horeb wandern, wo der verzehrende Gott der Befreiung und der Gerechtigkeit einst dem Mose im Dornbusch erschienen war (vgl.2.Mose3,1).
… Denn dieser Weg der Schuld liegt auch vor uns. Nicht nur, weil wir als Sünder zur Welt kommen und die Sünde unser Erbteil ist wie Atmen und Geliebtseinwollen.
Wir sind schlicht auch schuldig, blutschuldig, weil die Geschichte des Menschengeschlechtes uns dazu macht. … Spätestens seit dem 24.Februar können wir das nicht mehr vergessen! Spätestens seit dem Tag, von dem an wir alle immer wieder einen suchen, der den Mörder ermorden könnte, um uns uns unschuldiger fühlen zu lassen.
Doch das quälend Unzweifelhafte ist nun einmal geschehen: Vor aller Energieabhängigkeit und aller Furcht vor Eskalationen sind wir sämtlich schlicht zu Zeugen eines Verbrechens an der Ukraine geworden, das uns als Mitwisser am Vergießen von Menschenblut schuldig macht. … Und würden wir eingreifen in den Krieg, würden wir schuldig als Mittäter. … Schuldig - oder: Schuldig! ———
Es sind darum keine Spekulationen - und waren es tatsächlich auch nie! -, wenn wir die erschütternde Botschaft der Bibel hören, die von einem Menschen berichtet, der an fremder Lust zum Bösen ebenso wie an seiner eigenen Last des Bösen verzweifelt, und wenn wir dann spüren, dass mit diesem unschuldig-schuldigen, lebensverwirkenden, zum Tod resignierten Menschen wir gemeint sind!
… Richtig erschüttern aber muss es uns, wenn wir dann hören, dass Gott diesen Menschen in der Vermischung von gutem Wollen und böser Schuld eben nicht liegen und verrecken lässt, sondern ihn auf einem Weg - sagen wir’s ruhig! - … auf einem Weg der „Läuterung“ begleitet!
Was aber ist es, das den von einem Engel gestärkten, durch Brot und Krug am Leben erhaltenen Elia am Gottesberg erwartet?
Was ist es, das auch uns, vor aller Schuld schon schuldig Verwickelte jenseits des langen Weges vor uns durch diese drückend-schwere Zeit erwartet?
– Die Stille.
Es ist eine Höhle da, wo Gott die Müden und Entsetzten, die Traurigen und Verwirrten, die Untätigen und die Blutigen unter Seine Hand stellt. Und dann schlägt die Hand nicht, in die Elia sich da schmiegt, und sie presst auch nicht und macht keinen kurzen Prozess und zermalmt den verlorenen Menschen nicht einfach wieder zu Staub, wie wir die Mücke, sondern dann kommt Gott nach dem Schrecken, durch den der Mensch gewandert ist, nach dem Durst und der Ratlosigkeit und der Reue und der Ermattung … und offenbart Sich! ——
Dass es eine solche Offenbarung, ein schützendes Dasein Gottes für den Elia, für den Menschen in seinem Zweispalt und seiner Not gibt, allein das ist ja schon Grund zu tiefstem Aufatmen und stärkster Hoffnung in den bedrückenden, erstickenden Ereignissen unserer Tage! Dass wir selber und auch dass wir stellvertretend für die mutigen und sterbensmatten, für die kämpfenden und für die zerbrochenen Menschen zwischen dem Donbass und Lemberg Gott entgegen ziehen, Der die ausgelieferten Opfer und ihre Mörder in der Person des Propheten Elia gleichzeitig unter den Schatten Seiner Flügel sammelt, das ist das Evangelium vom Horeb!
Dieses Evangelium für die Sünder heißt, dass Gott ihnen in Seiner Gegenwart und an Seiner Hand den Jüngsten Tag bereitet, … den Tag, an dem das ganze Höllenspektakel der zurückliegenden Tage noch einmal an ihnen vorübergeht: „In deinem Aufwallen wenden alle unsere Tage“, übersetzen Rosenzweig und Buber den berühmten Vers (9) aus dem 90.Psalm, „wir lassen unsere Jahre wie einen Seufzer vergehen“.
… Ja, da wird es alles noch einmal seufzen und stöhnen und aufwallen, wenn der Sturm und das Beben und das Feuer, die wir Menschen entfachten, an uns vorüberheulen. Mit allen erlebten und erlittenen Gewalten, mit allem Unheil, das die Welt zittern machte und allem Toben des Zerstörerischen werden wir wie bei jeder Therapie und Lossprechung, bei jedem Aufarbeiten und Bewältigen noch einmal konfrontiert: Und werden erkennen müssen, … werden erkennen dürfen, dass diese scheinbar letzten Erfahrungen, diese das Leben und die Geschichte endgültig wendenden Katastrophen und Gefahren nicht das Werk und nicht das Wort sind, an denen sich tatsächlich alles entscheidet.
Der HERR war nicht im Winde.
Der HERR war nicht im Erdbeben.
Der HERR war nicht im Feuer. ————
Wo aber war der HERR?
Wo ist Er in den Erschütterungen und Grausamkeiten und Vernichtungen dieser Tage des Zornes, der Rache und des Untergangs? …
Treten wir – wir!, in unserer ohnehin ja so harmlosen Zuschauerrolle! – doch noch einen Schritt weiter zurück und geben uns Rechenschaft, wo wir die Spuren unseres Glaubens, ja, wo wir unsere Glaubensgewissheiten finden, wenn Pulver und Dampf, Geschrei und Pandämonium jeder akuten Katastrophe sich wieder gelegt haben?
… Von den Schlachten und Schlächtern finden wir, wenn ihre Sturmstunde, ihr augenblickliches Beben-Machen vergangen sind, alsbald nichts mehr!
– Es hat in der südlichen Ukraine schon einmal einen scheußlichen Krieg gegeben, … Menschenmetzgern, Seuchenleid. Aber wer von uns könnte Näheres über Zusammenhang, Hergang und Wendepunkte des Krimkrieges vor 170 Jahren sagen? … Nur eines wissen wir noch - gerade wir in Kaiserswerth -, wenn von diesem ersten Krieg mit industriellen Massenwaffen, mit menschenverachtenden Belagerungen an der Schwarzmeerküste und gewaltigem Tötungsaufwand die Rede ist: Dass da nachts, zwischen den stöhnenden Sterbenden eine Frau durch die widerlichen Lazarette gegangen ist, die eine Lampe trug. Und das Licht ihres Lämpchens, die Hand auf der Stirn der Versehrten im Fieberdelir, das bisschen Wasser oder Jodtinktur in den grässlichen Wunden: Die sehen und spüren wir noch, während Menschikow, Totleben und Raglan, ihre Siege und Finten, ihr Heldentum und ihre Schande längst verblasst sind. Das in Kaiserswerth entzündete Nachtlicht von Florence Nightingale – das leuchtet! —
– Oder das Pappschild der Marina Owsjannikowa: Die wenigen Sekunden Menschenmut, die da im Staatsfernsehen Russlands aufblitzten, als sie den handgeschriebenen Schrei ihres Gewissens, das keinen Krieg und keine Lüge mehr decken konnte, hochhielt, waren eine Sternstunde der Wahrheit, der Freiheit und der Würde. Ein Pappdeckel und wenige flüchtige gekritzelte Worte genügten, um das unvergängliche Pathos des „Die Wahrheit wird euch freimachen“ (Joh.8,32b) vor aller Welt zu vergegenwärtigen! —
– Oder die ergebnislose, aber schlicht beschämend beherzte Geste der gefährlichen Reise der drei Staatsoberhäupter Polens, Sloweniens und Tschechiens, die ins bedrängte Kiew fuhren, um an der Seite der kämpfenden ukrainischen Verantwortlichen einfach leibhaftig auszuharren wie Hiobs drei Freunde, ehe sie begannen, den Dulder zu beschwätzen und zu vertrösten.
– Oder die eindrückliche Predigt[i] von Vater Ioann Burdin, einem Dorfpopen im russischen Karabanovo, der vor vierzehn Tagen, am orthodoxen Sonntag der Vergebung ganz biblisch-schlicht den Gläubigen erklärte, dass wir Christen nicht müßig danebenstehen dürfen, wenn menschliches Blut vergossen wird. Er wurde als einer der Ersten nach der neuen russischen Gesetzgebung wegen Diskreditierung der Armee zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, und Schlimmeres droht ihm. Aber er hat bewiesen, dass auch in der russischen Kirche wahrlich noch Knie übrig sind, die sich nicht vor Baal gebeugt haben und Münder, die ihn nicht küssten (vgl.1.Könige19,18)!
Wo also ist der HERR?
Im stillen, sanften Sausen – oder wie wiederum Buber und Rosenzweig übersetzen: „In der Stimme verschwebenden Schweigens.“
Gott ist mitten in den Turbulenzen und dem Chaos, in den Strudeln und der Sündflut der Zeit, … aber eben nicht da, wo die Kriegstreiber ihren Lärm machen und auch nicht im entfesselten Wüten derer, die die Verbrechen der Menschheit anstacheln oder deuten, sondern in den kaum vernehmlichen Stimmen, die im dunklen Bunker beten und trösten, die nach dem Angriff ihre Nachbarn vorsichtig beim Namen rufen, die heimlich bei Nacht das bisschen Buchweizen und Wasser in’s Theater von Mariupol zu den Zusammengepferchten brachten, die in den Trümmern tragen, im Hunger teilen und im Hagel einfach standhalten bis zuletzt.
In diesen leisen, unhörbaren, nicht die Welt verändernden, aber den Himmel erfüllenden Silben und Gesten der Treue, der Liebe, der Hoffnung, in diesem verschwebenden Schweigen, das das Ewige noch in der Implosion alles Irdischen bezeugt und aus dem Krachen der Hölle in den Frieden der kommenden Welt übersetzt, da ist der HERR!
Denn – ein Satz, den ich nie sagen zu müssen erwartete – denn alles, … auch der Krieg wird vor Gott und von Ihm entschieden. Er hat auch das, was Menschen heute erleiden, schon entschieden: Nicht im Tosen, nicht im Zittern, nicht in der Glut: … In der Stille ist ER … auch jetzt, bei diesem Atemzug – für uns einer von unzähligen, für Unzählige der letzte! ——
Nun mögen und können wir, die Zuschauer es nicht vorschnell beurteilen, dass es diese Stille mitten im Auge des Wirbels gibt.
Aber bei Elia am Horeb werden wir ihre Zeugen.
Und darum kann man nur bitten, dass auch wir immer einen Tropfen Trost-Öl in unsrer Lampe, einen Fetzen Pappe, groß genug für die Wahrheit, Standhaftigkeit in Trübsal und ein lauteres Herz für Gottes unvergängliche Maßstäbe haben mögen!
Damit uns der jüngste Tag, der Tag heute nicht anders und nirgends sonst antrifft, als mit Elia im Schweigen, das uns Gottes Gegenwart zeigt … die Gegenwart Dessen, Der hier und bei den Leidenden, den Schuldigen, den Sterbenden, den Lebenden jenen Frieden schafft und hält, der höher ist als alle Vernunft (vgl.Phil.4,7).
Amen.
Reminiszere, 13.03.2022, Stadtkirche, Matthäus 26,35-46, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reminiszere - 13.III.2022
Matthäus 26,36 - 46
Liebe Gemeinde!
Die Wehen von Gethsemane leiten die Geburt einer neuen Welt ein.
Sie wäre nicht wirklich geworden, wenn das Verständliche, das Unerträgliche dort nicht geschehen wäre: In Gethsemane stieß der Erlöser der Welt an seine Grenzen, der Herr verlor dort die Beherrschung.
Das könnte also das Neue sein, das da in der Nacht von Angst und Tränen - und wie Lukas ergänzt: spontaner Blutung dessen, der in diesen Wehen lag (vgl.Lk.22,44) - entstand.
Eine Welt, in der Gott aufgeben will. Eine Welt, die es vielleicht nicht wert ist, dass man ihre Schmerzen bis zur Neige erleidet. … Eine Welt, die nicht zu retten sein könnte. …….
Denn genau darum geht es, und wir dürfen keine Gewöhnung, kein Wissen um das Ende vom Lied uns abstumpfen lassen für die unerhörte Spannung von Gethsemane. Dort macht ja nicht nur ein ohnehin schon ausgemergelter, strapazierter Hungerkünstler und Wanderprediger aus Galiläa schlapp; dort fordert ja nicht nur die Natur mit ihrem Angstreflex und Fluchtinstinkt ihren Tribut von einem Menschen unter höchstem Druck, sondern dort hängt’s in der Schwebe, ob nicht gleich Gottes Plan zusammenbricht. ……
Wenn uns die Botschaft der Kirche nämlich irgendetwas sagt, wenn uns das Bekenntnis, zu dem sie kam, auch nur im Ansatz verpflichtet, dann müssen wir gerade in der Passionszeit die eine entscheidende Grundlage dessen, was Christentum bedeutet, vor Augen haben: Christentum bedeutet, in dem Mann aus Nazareth nicht nur den Kumpel zu sehen, … den Typen, in dem wir uns wiederfinden, … den Menschen, der Mut macht, weil er so echt ist, … den Lehrer, der so kluge Dinge sagt, … den Meister, der so große Dinge tut, … den Helden, der so sagenhafte Vorbildqualitäten bündelt, … sondern Christentum bedeutet, in dem unscheinbaren, unbekannten, hinfälligen und angefochtenen, versuchten, verstörten, ausgelieferten, misshandelten, wehrlosen, rettungslosen Leidenden GOTT zu sehen!
… Wenn das aber wahr ist, dann ist in dem Hain Gethsemane etwas geschehen, das Himmel und Erde und die Zeitalter und Abgründe des Kosmos in ein unbekanntes Licht taucht.
… Denn so offen hat sich noch keine lenkende Kraft, keine bestimmende Macht, kein Schicksal, keine Notwendigkeit, kein Zufall in die Karten gucken lassen. Alle anderen Gewalten leben vom Geheimnis, das sie umgibt. Nur der lebendige Gott, von Dem und zu Dem alle Dinge sind, macht keinen Hehl aus dieser Stunde auf des Messers Schneide.
Die Jünger verschliefen zwar seine Agonie, aber das Zeugnis der Evangelisten breitet sie vor der ganzen Welt aus: Was erst die Tagebücher eines Dag Hammerskjöld oder einer Mutter Teresa der entsetzten Nachwelt aufdeckten - das fast unglaubliche Privaterleben schwindelerregender Zweifel -, …was man erst aus nachgelassenen Aufzeichnungen in dieser schockierenden Blöße erfahren sollte - wie trostlos die Anfechtung einer Therese von Lisieux oder eines Jochen Klepper waren -, das gehört im Neuen Testament zum Kern der Offenbarung: Ohnmacht der Allmacht, … Bruchgefahr des Heils, … Not Gottes!
In einer solchen Welt lebten die Heiden nicht: Ihre Götter waren launisch, willkürlich und herrisch. Aber die Sterblichen konnten sie nicht zum Weinen bringen.
In einer solchen Welt leben auch die säkularen Zeitgenossen nicht, deren Instanzen vielleicht Naturgesetz, Kausalität oder Thermodynamik heißen oder völlig ungesteuerte Spiele des Beiläufigen sind. Auch hier gibt es nichts und niemandem, dem der Mensch wehtun könnte.
Der biblische Passionsbericht dagegen lässt uns das buchstäblich peinliche, das schmerzende und schändliche Schauspiel sehen, wie unsere Schuld und unser Schrecken Gott demütigen, Gott zermürben und in’s Scheitern treiben.
Da liegt der fleischgewordene Logos, der reale Sinn der ganzen Schöpfung ganz er-schöpft am Boden. Es bricht ihm Herz und Genick, das drückende Gewicht seiner Liebe zu den Sündern tragen zu müssen. So weit hat es die Menschheit, die keine Gnade will, gebracht, dass der Allmächtige und Gnädige meint, nicht mehr weiter zu können.
… Dies Tragödie erkennen natürlich nur jene, die bei der Frage nach Christus nicht bloß den Menschen sehen, in dem sich etwas von Gott zeigt. Für eine solche Einwohnungs-Christologie, der zufolge in dem Menschen Jesus von Nazareth sich Gott besonders intensiv bemerkbar macht, ist der mentale Breakdown von Gethsemane fast zwangsläufig: Dass es dem braven Kerl, der vor drei Jahren noch ein Schreinergeselle war wie du und ich, einfach zu viel werden musste, die undankbare Stelle eines gern verdrängten, ja, am liebsten abgeschafften Gottes zu vertreten, kann jeder verstehen. Das Heulen unter den Ölbäumen, als alle anderen nach dem Festmahl ihr Verdauungsnickerchen halten, ist bloß das sprichwörtliche „arme Tier“, das in dem überforderten Menschen rebelliert. …
Aber so kann die Christologie der Menschwerdung Gottes, die ernstnimmt, dass Gott nicht unter Vorbehalt, sondern bis zur letzten Konsequenz in die Wirklichkeit von Menschenkind und Menschenkörper, Menschenlos und Menschenleid eingegangen ist, es nicht erklären.
Sie steht vielmehr vor der ganzen Wucht der Tatsache, dass Gott, der Sohn von elementarer Panik geschüttelt wird, nicht aushalten zu können, was er um Gottes, des Vaters willen doch als nötig erkennt: Mensch in der unmenschlichen Entmenschlichung, die Menschen Menschen zufügen können, zu bleiben, … das Bild Gottes also auch in Qual und Mord und Hölle nicht auslöschen zu lassen. ———
Warum dieser Umweg über die hohe, die orthodoxe Christologie, die mit den uralten, längst vergangenen Konzilien von Nicäa und Chalzedon verbunden ist, bei denen die sog. „Väter“ um die zwei Naturen in Christus und deren Verhältnis zueinander stritten, … warum dieser Umweg über die hohe Christologie, um sich doch nur dem Tiefpunkt eines zerrissenen Gottmenschen zu nähern, der in der einsamen Nacht von Gethsemane den wahnsinnig erscheinenden und Wahnsinn auslösenden inneren Monolog erleidet zwischen dem, der den Kelch nicht trinken will und Dem, Dessen Wille dennoch geschehen soll?
… Weil es anders gedeutet nur eine leere, trostlose, gewaltsame und wie alle Gewalt letztlich brutal nihilistische Geschichte wäre, wenn hier einer, der etwas Schreckliches muss, bei der Unterwerfung belauscht und geschildert würde.
…Hier wird aber kein Mensch dem blinden Befehl eines unerbittlichen Gottes geopfert. Und wir werden hier auch nicht Zeugen davon, wie die völlig natürliche Todesfurcht einer Kreatur schließlich durch gehorsame Selbstaufopferung überwunden wird.
Sondern hier erfasst uns die Ahnung, dass Gottes Bei-uns-Sein und Für-uns-Sein Ihm – Gott selbst! – Unerträgliches zufügt und abverlangt.
Gott wird vom Leid, das Er nicht will und das Ihn erdrückt, zerrissen: Das zeigt Gethsemane.
… Gott weiß nicht, wie lange Er die Schrecken aushalten kann:
… Wie lange kann Er den Durst in Mariupol aushalten und das Frieren in den Kellern?
… Gott wird mürbe im Grauen der Belagerungen, wo Er in Müttern und in Neugeborenen und kleinen Kindern Passionszeit leidet, die mit dem ersten Atemzug beginnt, und Er schwitzt Blut und Wasser in all den Seelen, die als Mörder und als Opfer um Kiew und in Kiew sich gegenseitig verderben sollen.
… Vom Säurebad der vielen Lügen, die im Krieg alles durchtränken, schwinden Gott die Sinne … Er will den Kelch nicht trinken müssen!
… Und wenn Er sich nach den Freunden umsieht, den Verbündeten, die doch so forsch an Seiner Seite zu sein vorgaben, dann Wehe!, Wehe! über Gott, den Verlassenen.
… Und Wehe!, Wehe! über Gott, den Mutterseeleneinsamen, Der in den Burschen in der russischen Uniform so ausgesetzt und so verraten irgendwo auf dunklen Straßen im brenzligen Vorgefühl des nahen Verhängnisses in die Hosen scheißen könnte und heim zur Mama will.
… Und überhaupt: Die tausend schönen Bilder Seiner lieben Mutter - die Ikonen, die „Freude aller Leidenden“ oder „Lindere meinen Kummer“ heißen - und die nun in den Kirchen, Klöstern und Häusern der Ukraine durch Christen missachtet, verbrannt und zertrümmert werden!
… Und die Sonnenblumen, die bis zum Horizont auf den Feldern stehen sollten, damit die Armen Öl haben, und der gelbe Weizen unterm blauen Himmel, das Brot des nächsten Winters, in dem nun so viele Menschen weltweit werden hungern müssen, … es dreht Gott den Magen um, Der doch an diesem Abend von Gethsemane Selbst Seinen Leib als Brot dahingegeben hat, damit die Welt an Seinem Tisch satt werde! …….,
Aber das Schwerste, das für uns Menschen eigentlich Unvorstellbare an der Gethsemane-Spannung, die Gott unter dem Druck der Menschheit erleidet, ist das, wovon der Wochenspruch (Röm.5,8) redet: Dass Gott nicht anders kann, als die Sünder … zu lieben?!
Gethsemane, das ist der Ort, an dem der traurigste Kuss der Welt gegeben und empfangen wird: „Siehe, er ist da, der mich verrät“
… Was für eine Bitterkeit Gott in der Liebe erfährt!
Und was für eine Liebe in dieser Bitterkeit!
Judas wird gleich mit dem Kuss, der alles besiegelt. zwei Worte sagen, die alles umfassen: Er wird Jesus mit dem Gruß grüßen, den der Engel Maria bei der Verkündigung entbot: „Freue Dich!“ (Χαῖρε! Matth.26,49 vgl. Lk.1,28!), und er wird ihn nennen „Rabbi!“, wie Maria Magdalena beim Wiedererkennen am Ostermorgen (Matth.26,49 vgl. Joh.20,16). … Anfang und Vollendung in der bitteren Liebe des Sünders, der bitteren Liebe zum Sünder!
Das macht Gethsemane so unerträglich: Dass der leidende Gott-und-Mensch da nicht einfach auf und davon kann, sich aus der Affäre ziehen, sich emporschwingen zu den Regionen ungerührter Erhabenheit über der Misere aller dieser Dinge.
Nein, Er bleibt der Gefangene Seiner schmerzhaften Liebe zu den Sündern, den Verrätern, Häschern, Folterern, den Kommandeuren und Prokuratoren und Agitatoren, die Ihn kreuzigen lassen.
Er bleibt, weil der Wille zur Liebe Ihn bindet.
Nicht sein menschlicher Wunsch und Wille, das aussichtlose, grauenerregend schmerzhafte Elend nicht weiter aushalten zu müssen, sondern dieser Wille letzter, endgültiger, langmütiger Liebe wird Jesus im Garten der Ohnmacht und Agonie, in der Schicksalsgemeinschaft mit den umzingelten Todgeweihten und verzweifelten Freiheitssuchenden unserer Tage ausharren und für immer ihr Genosse im Leiden bleiben lassen.
Und er wird dabei das tun, was man heute kaum hörbar aussprechen mag: Sein Leiden aus Liebe auch denen zugutekommen lassen, die des Hasses sind und gehasst werden.
Jesus zieht sich vom Schauplatz der Geschichte - Gethsemane - nicht zurück … auch um Putins willen.
Wenn Er diesen aufgäbe, … wenn Er den Pilatus damals aufgegeben hätte, … wenn Er den Judas aufgegeben hätte, der mit Ihm für alle Zeiten den Tag des letzten inneren Kampfes und des Todes teilen wird, … wenn Er die Sünder aufgäbe, dann wäre Er eben ein Mensch an der Grenze der Zumutungen, an der Grenze aller Belastbarkeit, ein Mensch an der Grenze des Nichts, der da endlich zunichtewird.
Aber wenn wir auf Ihn schauen, in seinem Kampf mit der Last aller Welt und der Schuld des ganzen Menschengeschlechts und der Angst aller Sterblichen und der Trüb-sal aller Verlassenen unter dem Himmel, … dann sehen wir Ihn unter den Menschen für die Menschen leiden, … unter ALLEN und für ALLE! ———
Und hinter dem Jammerbild des beinah an Seiner Liebe zu den Lieblosen zerbrechenden Gottes ahnen wir aus der Tiefe der Vorzeit jenes geheimnisumwitterte Vorzeichen aufragen, von dem unsere heutige Lesung (4.Mose 21, 4-9) sprach.
Die Israeliten wurden von den durch sie selbst heraufbeschworenen Angriffen der Schlangen in der Wüste geheilt, indem sie ihren Blick fest ausgerechnet auf eine eherne Schlange richten sollten:
Von denen, deren Biss den Tod brachte, sollte durch einen beruhigten Blick das Leben kommen.
Von dorther, wo das Gift war, musste auch die Heilung stammen. …
Da, wo wir nur den Hass erkennen, muss demnach auch die Liebe zu finden sein.
Wo wir nichts als das Böse entdecken, ist auch die Güte zu suchen.
Wo wir den Feind ausmachen, wartet der künftig mit uns Versöhnte.
Diese völlig verwandelte Wirklichkeit, in der die Quelle des Horrors zum Ursprung des Heils wird, verdankt ihre Entstehung aber eben wirklich Gethsemane.
Dort zeigt sich, wie bitter das Leid ist, das Gott in Jesus erträgt bis zum Ende, um nicht Seine Liebe zu denen zu verraten und zu verlassen, die Ihm feind sind.
Nur aus diesem bitteren Leiden kann darum aber auch die Versöhnung kommen.
Der die Schrecken aushielt - einmal, noch einmal, ein drittes Mal -, Der will ja, dass die Schrecklichen schließlich Gesegnete werden.
Er entzieht sich ihrer Grausamkeit nicht, weil Er nur so ihre Grausamkeit einst ihnen wird entziehen können durch Seine Vergebung.
Er lässt Sich zu ihrem Opfer machen, opfert Sich ihnen, damit Er das Opfer zu ihrer Versöhnung werden kann. ——
Nicht menschlicher, sondern göttlicher Wille ist das! ——
Wenn wir aber nach Gethsemane blicken, dann sehen wir dort in der Dunkelheit und hören im Stöhnen dieser Nacht die schwachen Umrisse und die fast noch erstickte Andeutung, was dieses Leiden aus Liebe schaffen wird:
… Dass die selbe Welt, die uns heute so finster erscheint, den Glanz des schönsten Lichtes widerspiegeln wird.
… Dass dort, wo wir bloß ausweglose Not sehen, sich Zukunft auftun kann.
… Dass der blanke Hass beigelegt werden und dass Frieden sich zeigen soll auf den verzerrten Zügen und in den verletzten Seelen so vieler Menschen.
Wir wollen – weil Gott es in Gethsemane darauf schließlich angelegt hat, indem Er sich nicht entzog – daran glauben.
Und wollen beten, dass unser Glaube nicht von der Angst des schwachen Fleisches, sondern von der Willigkeit des Geistes Gottes zu lieben geprägt sei.
Und dass dieser Wille geschehe!
Amen.
Invokavit, 06.03.2022, Stadtkirche, 2.Korinther 6, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Invokavit - 6.III.2022
2.Korinther 6, 1-10
Liebe Gemeinde!
Die Hand zittert beim Schreiben, der Kopf beim Denken, die Stimme beim Sprechen, das Herz beim Hören. … Wenn wir das herrliche Evangelium von Jesus Christus in so höllischer Zeit fassen und weitergeben sollen, greifen zwei Kräfte gleichzeitig nach uns: Eine Freude, die kein Mund aussprechen kann und ein unbeschreiblicher Kummer, … Frieden und Krieg also, … Gnade und Verzweiflung. ——
Wie wollen wir im Angesicht der Kolonnen und Belagerungen von Mariupol, Kherson, Charkiw und Kiew, des Beschusses und der Gewalt, der Fliehenden und der Eingekesselten, der Zu-allem-Entschlossenen und der Unschuldig-Verdammten das himmlische Rettungswort Gottes mit der Grausamkeit auf Erden verbinden können?
Wie wollen wir den feiern, dessen Leidenszeit das Leid der Zeit vergehen und ewige Leichtigkeit des Seins schaffen soll?
Wie wollen wir solchen seligen Glauben bekennen, wenn wir so verfluchte Dinge erleben wie die Auferstehung des totgesagten Völkerkampfes in Europa und das Spiel mit aller Tage Abend?
……. Es stimmt doch nicht zusammen. Es sperrt sich doch. Man bleibt doch hängen in den unlösbar verwirrten Widersprüchen von Heil und Unheil.
……. So klamüsert der systematische Buchhalter in unserem Kopf: Entgegengesetzte Vorzeichen heben sich nach seiner Rechengewohnheit auf. Was nicht auf einen Nenner zu bringen ist, bleibt ohne Verbindung. Und also ohne sinnvollen Bezug. Und irgendwann entscheidet sich der brave Rechnungsprüfer, der die unverständliche Wirklichkeit bilanzieren will, dass es einen dummen Rechtschreibfehler gegeben haben muss: In dieser Welt kann es keine Rubrik geben, die „Zeichen und Wunder“ heißt, … der letzte Buchstabe muss in Wahrheit ein kleines „n“ sein. Nur „Zeichen und Wunden“ kann man aufzählen. … So ist Passionszeit! Der Kreuzweg der Ukraine. Die Via dolorosa der armen Soldaten und der armen Zivilisten. Das Golgatha der menschlichen Geschichte. … Zeichen und Wunden. Ohne Lösung, ohne Sinn. …….
Und ausgerechnet an einem solchen Satanssonntag, an dem uns sogar in Wochenspruch (1.Joh.3,8b) und Schriftlesung (Hiob 2) nur diabolische Konflikte begegnen, treffen wir auf den komplizierten Apostel Paulus, der seiner vielfach gespaltenen, tief misstrauischen Gemeinde in Korinth auf dem Höhepunkt von Wirren und Zerwürfnissen eine sonderbare Ansage macht. Er zitiert aus dem einzigartig beflügelnden Buch des Trostpropheten Jesaja, der nach der Höllenfahrt Israels in der babylonischen Gefangenschaft die Heilswende der Geschichte, das Ende des Exils ausrief. Und nichts als diesen Ruf der Erlösung bekräftigt Paulus mitten in der Zerreißprobe von Korinth:
„Siehe, jetzt ist die angenehme Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils“!?
Es stimmt doch nicht zusammen. Es sperrt sich doch. …….
Doch gerade darum sind wir hier!
Zum Brunnen kommt man nicht ohne Durst.
Das Licht der Lampe erkennt man erst im Dunkeln.
Und das reine Glück des physischen Organismus spüren wir am gesunden Körperteil selten so direkt wie da, wo erst eine Verletzung heilen muss.
Wir sind hier, weil auf Erden nichts zusammenstimmt und alles sich sperrt.
Immer wieder durchlöchert die Wirklichkeit unsere Fröhlichkeit.
Immer wieder aber wirft sich auch das todesmutige Evangelium gegen den Aufmarsch der Verzweiflung.
Genau dieser Kampf der beiden Kräfte, genau diese Unruhe und Zerrissenheit, diese Spannung und Widersprüchlichkeit ist ja die schlichte Bestätigung dafür, dass das Pendel noch hin- und hergeht, dass das Morgenrot noch auf die Dunkelheit folgt und das Blut noch weiter aus der einen wie der anderen Herzkammer in seine Bahnen strömt, um Wohl und Weh zu sichern und zu wehren.
Wenn wir meinten, das Evangelium nur im Garten Eden predigen, hören oder glauben zu können und nicht in den Kerkern und Katakomben, den Lagern und Bunkern der Erde, dann wären wir so weit entfernt von allem, was in der Geschichte Israels und der Kirche grundlegende Erfahrung ist, dass wir wohl gar keine Hoffnung auf Zugang und Verständnis hegen sollten.
Es ist unendlich mehr Offenbarung, mehr Wahrheit, mehr Theologie, mehr Frömmigkeit im Versteck, auf dem Krankenbett und im Knast, auf der Flucht, in der Not und durch Leiden begriffen und geformt worden, als in Muße bei Sonnenschein nach einer guten Mahlzeit.
Darum ist der heute zu betrachtende Abschnitt aus dem 2.Korintherbrief in Wirklichkeit ein Wink des Himmels an die erschütterten Zeitgenossen, die wir sind, wenn in ihm ausgerechnet die Überschrift von der angenehmen Zeit und dem Tag des Heils eine aufwühlende Aufzählung einleitet, für die es einen nüchternen technischen Fachbegriff gibt. Solche Listen von Leidenserfahrungen, solche Zusammenfassungen von erlittenen Zumutungen und Bitterkeiten bei Paulus nennt man „Peristasenkataloge“: Übersichten der Peristasen, wörtlich: der äußeren „Umstände“, die nun einmal bei keiner - und sei’s noch so innerlichen – Erfahrung und Entwicklung ausgeblendet werden können.
Die stoischen Philosophen hatten mit derartigen Schilderungen begonnen, weil sie ihre Haltung des Gleichmuts und der Unanfechtbarkeit gerade dadurch werbewirksam verkauften, dass sie demonstrierten, wie völlig wurscht ihnen alle Umstände des Leibes und des Lebens waren. … Doch was bei den Stoikern das Staunen über ihre heldenhafte und beneidenswerte Ungerührtheit hervorrief, wenn sie bewiesen, dass Hitze und Kälte, Hunger und Durst, Schmach oder Ehre, Beliebtheit oder Einsamkeit sie schlicht nicht juckten, das bedrohte beim Apostel unter den Griechen eigentlich den Kern seiner Botschaft. Er hatte doch - wie im berühmten Abschnitt unmittelbar vor der heutigen Aufzählung seiner Leiden - der Menschheit zu verkünden, dass jedermann in Christus eine neue Kreatur werden dürfe, weil das Alte vergangen ist und siehe!, alles neu geworden (vgl. 2.Kor.5,17).
… Wie konnte es da sein, dass dieser Botschafter einer geheilten Welt ein Kranker, dass der Rufer in die endgültige Befreiung ein politischer Gefangener, dass der Gesandte des Erlösers ein hilfloser Gequälter sein sollte? Nichts stimmte da doch zusammen bei diesen unlösbar verwirrten Widersprüchen von Heil und Unheil!
Doch gerade darin unterscheiden sich Lüge, Autosuggestion und religiöse Ideologie vom echten Evangelium: Die menschlichen Mätzchen wollen uns weismachen, die Wirklichkeit sei irrelevant und wer nur richtig glaube, werde auch richtig gesund, …wer hoffe, werde unfehlbar belohnt, …wer sich habe taufen lassen, sei der Sterblichkeit entronnen. Solchen schwachen Blödsinn haben schon die Korinther allzu gern glauben wollen.
Die Macht des Evangeliums aber ist es, dass sie der Wirklichkeit und ihrer Widrigkeit nicht durch Wegzaubern oder Schönreden oder sonstige Täuschungen entgeht, sondern standhält: Als das Wort vom Kreuz unter Kreuzen, … als die Treue eines Leidenden zu sämtlichen Leidenden, … als der Sieg der Gnade in einer Passion, die alle Opfer in sich einschließt und verbindet.
„Mächtig nicht in Machern und Gewinnern, sondern in den Schwachen“ (vgl.2.Kor12,9), so wurde es dem Paulus offenbart und so hat er es selbst erlebt, verkörpert und erlitten: Nicht als Verschonter, sondern als Gezeichneter, … nicht als Überlegener, sondern als Betroffener, … nicht als Beobachter, sondern als „Mithelfer“, als Mitleidender, Mitgefangener und Mitgehangener des gekreuzigten Jesus von Nazareth.
Seine Bedrängnisse, Nöte, Ängste, seine Bestrafungen durch Stockschläge, Verhaftung und Lynchjustiz, seine Anstrengungen, Erschöpfungen und Entbehrungen, seine große menschliche Selbstüberwindung und die Bewährungen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe in alledem, haben nicht widerlegt, sondern bewahrheitet, dass er in der Nachfolge dessen lebte, wirkte und litt, der die Leidtragenden und Verfolgten seligpries (vgl. Matth.5, 4+10). ——
Was wir dem Buddhismus mit Interesse und Lernbereitschaft abnehmen, … wofür wir als Galionsfiguren Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi, Alexander Solschenizyn oder Mutter Teresa gelten lassen, nur um es dadurch in kultureller oder historischer Distanz zu uns selbst zu halten, … das wird uns von Paulus, ja vom gesamten Neuen Testament in Wahrheit als unser ureigenstes, nächstes, verdrängtestes und vergessenstes christliches Fundament bezeugt:
Dass Leid und Mitleid viel mehr lösen, ja erlösen, als bloße Macht es jemals könnte!
Diese grundlegende kreuzestheologische, christusgebundene Offenbarung, dass Gott nicht den Weg der überlegenen Gewalt, sondern der tiefsten Teilnahme gegangen ist und uns zur Nachfolge darauf ruft, darf gewiss nicht im Sinne der Leidverklärung gedeutet werden - schon gar nicht mit der furchtbaren Lage der kämpfenden Ukraine vor unsern Augen und ihrem heldenhaften Mut, versinnbildlicht in diesem Judas Makkabäus von einem Präsidenten, … im Übrigen aber genauso wenig wenn wir an die Hilf- und Ahnungslosigkeit der russischen Truppen denken, die nichts als heimwehkrank-verunsichertes Kanonenfutter sein können, wie die meisten Soldaten der Welt. Es geht nicht um die Verherrlichung von Schmerzen oder die Bejahung der Machtlosigkeit um ihrer selbst willen, es geht nicht um eine paradoxe Umkehrung der landläufigen Logik, durch die Schwäche zur eigentlichen Stärke und Unterliegen zu einer Form des Triumphes umgewidmet würde! Leid bleibt schrecklich, Unrecht bleibt grausam, das Erdulden von Pein und das Ertragen von Brutalität bleiben empörende Brüche mit dem Schöpfungssegen, der auf allem Leben liegen soll! …
Aber Gottes Gnade und Gottes Gerechtigkeit, Gottes Heil und Gottes Ziel bleiben alle auch genau das, was sie sind - der sichere, letzte Sinn aller Dinge! - … gleichgültig ob wir uns ihnen unter leichten oder schweren Umständen anvertrauen und überlassen. —
Allerdings wird Gottes Macht, die Welt zu retten, von den Mächten und dem Vermögen, die wir aufbieten und einsetzen, fast immer entstellt, überschattet, ausgeblendet und verunstaltet.
… Während in unserem Leiden und unserem Mitleid tatsächlich viel mehr von der alle Traurigkeit und alles Böse überwindenden Uferlosigkeit der Liebe zu erfahren ist, die als Einziges Bestand haben wird, wenn der Hass, die Sünde und der Tod längst vergingen.
Weil also nun das, was Menschen aus Welt und Leben machen können - und das Leben und die Welt aus ihnen - nicht das Letzte ist, sondern weil das bleiben wird, was aus der Ohnmacht kommt, darum hat Paulus in den Spannungen der schwierigen und verletzenden Umstände seiner Existenz - in seinen „Peristasten“ also - eine so widersprüchlich erscheinende Gewissheit und Ruhe behalten. … Nicht weil er stoisch unerreichbar und unberührbar war, sondern weil ihn über das Augenblickliche und Verschwindende hinaus schon die Erwartung des Unverlierbaren trug: Er spürte etwas, das ihn trotz aller Verleumdung getrost, trotz aller Einsamkeit geborgen, trotz tödlicher Gefahr sicher, trotz echter Agonie lebendig, trotz Katastrophen im Gleichgewicht hielt. … Er spürte und ihn trug die unvergängliche Gnade Gottes, von der er seinen schwierigen, verfeindeten, zerrissenen Korinthern und auch seinen erschreckten, verunsicherten, ohnmächtigen Kaiserswerthern wünscht, sie möge ihnen nicht vergeblich zuteilgeworden sein.
„Amen“, so möchte man schließen.
Aber heute gehen der Blick und die Zusage der Gnade noch weiter, als nur bis zu unserer Vergewisserung, dass es nicht umsonst und nicht folgenlos ist, dass wir die ungefärbte Liebe und Kraft Gottes und mit diesen die Waffen der Gerechtigkeit empfangen haben.
Diese Liebe, diese Kraft, dieser Schutz sind nicht für uns allein bestimmt und gelten wahrlich nicht bloß im Zwiespalt zwischen Freude und Kummer, Glaube und Verzweiflung bei uns.
Viel, viel weiter ist ihr Rahmen. ……. ———
An diesem Sonntag Invokavit vor fünfhundert Jahren kehrte Luther aus der Sicherheit der Wartburg zurück auf die Wittenberger Schlosskirchenkanzel, weil die radikalen Kräfte der Frühreformation eine unerträglich gefährliche, eine aggressive und destruktive Bewegung verursacht hatten, die in Gewalt und Selbstzerfleischung der Christen in Volk, Kirche und Obrigkeit hätte enden können,
Die erste Predigt, die er damals zur Beruhigung der lebensgefährlich aufrührerischen Spannungen hielt und nach der die Predigtreihe der folgenden ersten Fastenwoche die „Invokavitpredigten“ genannt werden sollte, beginnt mit den erschütternden Worten:
„Wir seind allsampt zu dem tod gefodert / und wirt keyner wird für den andern sterben. Sonder ein yglicher in eygner person für sich mit dem todt kempffen. In die oren künden wir woll schreyen. Aber ein yeglicher müß für sich selbst geschickt sein in d’ zeyt des tods / ich würd denn nit bey dir sein / noch du bey mir.“[i] …….
Dieser natürlich seelsorgliche, gleichwohl aber extreme Individualismus der frühen Neuzeit jedoch vergeht in diesen Tagen vor unseren Augen.
Die Katastrophe der Ukraine zeigt es uns vielleicht krasser als jede andere Warnung unserer Zeit, dass niemand je für sich alleine zum Tod gefordert ist, sondern wir alle - menschheitlich! – nur das Miteinander unseres Lebens, unserer Schuld, unseres Sterbens und der Gnade Gottes erwarten können und erfahren sollen.
Sind wir also trotz unserer quälenden, ungerechtfertigten Zuschauerrolle dabei mit den Menschen zwischen Lwiw und Tschernihiw, zwischen Odessa, der Krim und Luhansk wirklich Teile jenes unlöslichen Miteinanders, dann müssen wir die Spannung zwischen den Kräften in der Welt auch wirklich in unzerstörbarer Gemeinschaft mit ihnen erleben:
Wenn sie auch Krieg führen müssen, werden wir doch ihren Frieden vorbereiten;
wenn sie auch Gewalt erleiden und verüben müssen, dürfen wir doch an Versöhnung glauben;
wenn sie auch auf der Flucht sein müssen, sollen wir doch ihr Zuhause sein;
wenn sie auch geopfert werden, verheißt unser Glaube doch, dass ihnen bestimmt ist, zu leben, … ohne Feindschaft, ohne Leid und ohne Ende!
Denn nicht nur von uns, sondern – obwohl es nicht zusammenstimmt und doch um Christi willen gilt und ewig gelten wird! – ebenso von ihnen, den Brüdern und Schwestern im Leid dieser Zeit ist trotz allen Kummers die Freude gesagt, die kein Mund ohne Zittern aussprechen kann:
„Als die Sterbenden, … und siehe, sie leben!“
Amen.
[i] „Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert, und keiner wird für den anderen sterben, sondern jeder in eigener Person für sich mit dem Tod kämpfen. In die Ohren können wir wohl schreien, aber ein jeder muss für sich selbst geschickt sein in der Zeit des Todes: Ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei mir.“ (Zitat nach: Luthers Werke [Bonner Ausgabe], Bd.7: Predigten, hgg. v. E. Hirsch, Berlin 1962, S. 363)
Sexagesimae, 20.02.2022, Stadtkirche, Hebräer 4,12f, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Sexagesimæ - 20.II.2022
Hebräer 4,12f
Liebe Gemeinde!
Sturm, Krieg und Seuche: Die Reiter der Endzeit scheinen sich warm zu laufen.
Und auch wenn man die Übererregung, die absurde Empfindlichkeit und übertriebene Ängstlichkeit unserer Tage großzügig abzieht, liegt doch viel Bedrohliches in der Luft, immer neue Schatten, die sich auf’s Gemüt legen, das ja am liebsten einfach wieder stinknormale Gewohnheiten pflegen würde und sich im Alltag schlicht auskennen.
Die Welt ist uns wirklich in mancher Hinsicht fremd geworden, und mit dem selben Argwohn, mit dem so viele von uns etwas Fremdem in der eigenen vertrauten Welt begegnen, begegnen wir nun eben der einst vertrauten Welt, die sich uns plötzlich so fremd zeigt. …
Aber vielleicht ist es ja auch eine Täuschung gewesen, wenn wir bisher glaubten, wir kennten unser Leben und wüssten in der Welt Bescheid. Vielleicht waren wir blind, taub und lahm, wenn wir die Geißeln der Erde - Unglück, Gewalt und Krankheit - für bloße biblische Bilder oder übriggebliebene Fremdkörper auf dem Rückzug aus einer heilen Wirklichkeit hielten.
Vielleicht sind wir gerade dabei, nicht in einem Albtraum zu versinken, sondern aus einer Benebelung zu erwachen und nüchtern zu werden. Wirklichkeiten zu erkennen. Tatsachen zu begegnen. Wahrheit zuzulassen. …….
Das wäre natürlich mehr als überraschend, wenn ausgerechnet in der ungeduldigen Weltlage, die nur überwinden will, was ist, und wiederhaben, was war, die Wahrheit eine Chance hätte.
Es sieht ja nach dem völligen Gegenteil aus: Weil man die Wirklichkeit wirklich nicht mehr aushalten möchte, flüchtet man sich in die Unwirklichkeit, die Irrealität, die Irrationalität.
Zieht sich zurück in ein Labyrinth der Verschwörungen, das der inneren Verwirrung äußerlich entspricht, greift als von Innen geschwächte Großmacht die leichte Beute seiner noch schwächeren Nachbarn an oder verblendet und verblödet sich und die Öffentlichkeit wie das winterkalte Regime von Peking und das Olympische Komitee mit den Spielen der auf Eis gelegten Menschenrechte. Die Lüge ist die Muse unserer Zeit. Brot und Lüge … mehr scheinen wir nicht zu wollen. …….
Und ausgerechnet da soll die Wahrheit noch eine Chance haben? Ausgerechnet im Netz und in der Schlinge der weltweiten Ignoranz soll sich die Wahrheit nicht heillos verheddern? …
Durch welchen Schutz, mit welchen Mitteln sollte ihr das gelingen, wenn Fakten und Vernunft, wenn Erfahrung, Logik und Forschung, wenn Ämter öffentlicher Verantwortung und alle Lebensdeutung durch die Tradition sämtlich nicht mehr ernst genommen werden? …
Als Christen kann es für uns nur eine Antwort geben: Die Wahrheit setzt sich gewiss nicht mit Gewalt durch, sie will ihre Geltung keinesfalls erzwingen und nutzt auch nicht die armseligen Vorteile, die die Durchschaubarkeit und Ungereimtheit der Lüge ihr bieten.
Die Wahrheit ist wie die Liebe, ja wie Gott selbst in den Schwachen mächtig (vgl. 2.Kor.12,9): Ihr einziges Mittel ist tatsächlich kein eiserner Schlag, kein raffinierter Kniff und keine besondere Technik, sondern schlicht ein Hauch … und obendrein auch noch das gleiche Mittel wie es die Lüge ebenso einsetzt: Es ist das Wort.
Dabei sind Worte - trotz allen Missbrauchs als Waffe - zunächst ja tatsächlich nur arme Dinger. Ganz wehrlos ist das Wort. Es muss bloß zwanzigmal in schlechter Nachbarschaft begegnen und schon hat es alle eigenen Merkmale eingebüßt: Das bürokratische Fremdwort „Inzidenz“, das ehrenwerte Fremdwort „vulnerabel“, …wer könnte die beiden je wieder hören ohne an die gegenwärtige Pandemie zu denken und die von ihr getönten Ausdrücke instinktiv als belastet abzulehnen?
Worte sind wirklich weder unwiderstehliche Mittel noch unwiderlegliche Gründe. Sie können verkehrt und vergewaltigt, verbraucht und verdorben werden. Und dann bleiben sie Gespenster aus toten Buchstaben, verfluchte Zeugen eines bösen Geistes: „Der Führer“, „die Maid“ und „das Volkstum“ sind solche sprachlichen Ruinen, in denen nichts Lebendiges je wieder gedeihen wird.
Worte sind also schwach und zweifelhaft. Ein Gegenstand mutet uns handhabbarer und echter und also in gewissem Sinne auch vertrauenswürdig an als reine Laute. Die Bezeichnung ist mehrdeutig; das Ding dagegen halten wir für eindeutig. Und ohnehin gilt: Schnell ist etwas gesagt; getan wird’s langsamer.
… Wie ungeschickt und unklug daher, dass das Christentum keine Macht und keinen Beweis kennt, dass es nichts annimmt und sich auf nichts gründet, außer dem Wort!
Wie wäre es doch einfach und eindrücklich, wenn die Tatsachen und die Verhältnisse, der Lauf der Zeit und der Stoff der Welt untrüglich für die Botschaft sprächen, die unser Glaube ist. … Ja, wie viel direkter und kompakter wäre überhaupt das, was wir „Glauben“ nennen, wenn es sich eben keiner Botschaft, keinem Evangelium, sondern einem Sachverhalt, ja einer Sache, einem Eu-Pragma[i], einer Eu-Praxis, … irgendetwas „Pragmatischem“ verdankte?!
Dass wir uns das immer wieder wünschen, kann man bei uns dauernd hören und sehen: Wie viel lieber reden wir doch von der „Sache Jesu“, als von seiner Verkündigung, … wie viel eher neigen wir dazu, die gute Praxis der Kirche für glaubwürdig zu deklarieren, als ihre gute Nachricht. Doch wo das Christentum zur Sache, zur Herrschaftsform, zum politischen Aktivismus, zu einer Moral oder einer Interessenvertretung wird - sei’s der Abtreibungsgegner, sei’s der Regenbogenlobby (für beide habe ich meine Sympathien) -, da hört es auf zu leben und wird reine, missbräuchliche Funktion: Es wird zur Ideologie der byzantinischen Kaiser, zum Handlanger der Kolonialmächte, zum Strippenzieher von Kriegs- oder Friedensparteien, zur Öko-Clique, zur verdummenden Folklore nord- und südamerikanischer Populisten.
Die Kirche muss beim Wort bleiben, wenn sie die Kirche und nicht Partei oder Sekte sein will! Sie muss beim wehrlosen Wort und beim meditierenden Hören, ob sie es verstehen kann oder missversteht, bleiben und sich nicht auf Machenschaften einlassen: Maria hat das gute Teil erwählt, die sich zu des Herrn Füßen setzte und hörte seine Rede (vgl. Lk.10,42+39)!
Konstantinopel und das Empire nämlich, der international solidarische Sozialismus und das Kaleidoskop der diversen Identitäten, die um sich selber kreisen, der Köder des Wohlstandsevangeliums in den Favelas und der wütende Pseudopatriotismus einer weißen Minderheit oder wie die Sachen sonst noch heißen mögen, die in der Kirche das Wort ersetzen, sind alles Eintagsfliegen, Mücken im Sumpf und Motten bei Nacht, bestenfalls Schmetterlinge, die für kurze Zeit brummen, summen und schillern. Dann sind sie vorbei. Himmel und Erde nämlich werden unweigerlich vergehen – aber Jesu Worte nicht (vgl. Mk.13,31 / Matth.24,35 / Lk.21,33).
Das wehrlose Wort bleibt. In Ewigkeit (vgl. Jes.40,8). ——
Also reden wir von diesem Wort, das der Ursprung und Kern nicht nur des Lebens der Kirche, sondern der gesamten Welt ist.
Denn das behauptet die Bibel ja wirklich: Dass das Universum, seine Gründe und Gestalt, seine Ratio und Realität zuallererst Wirkungen und Vergegenständlichungen des Wortes sind. Der Kosmos ist nicht nur eine Summe und ein Produkt von ungelenkten Energien, sondern in seiner gewaltigen Kraft und riesigen Fülle ist er eine absichtliche Mitteilung.
Der Kosmos will also nicht stumm angestaunt, abergläubisch vergötzt oder gelangweilt als reiner Zufall abgetan werden, … sondern verstanden!
Der Kosmos und alles, was in ihm zu entdecken und zu entschlüsseln ist, ist klar ansprechend und nicht nur dumpf überwältigend, weil ihn ihm Gott uns anspricht.
Diese Verbindung aber bleibt fundamental: Wenn wir Welt und Leben nicht als Sprache Gottes verstehen wollen, sind wir entweder verlassen in einer Sinnlosigkeit ohnegleichen oder müssen uns verführen lassen, selbst allem seinen Sinn einzustiften und ihm unsere Deutung, unser Siegel aufzuprägen.
Diese beiden tödlichen Möglichkeiten - die Wirklichkeit ist nihilistisch oder die Welt muss Menschendiktat unterworfen werden - bleiben, wo wir das Wunder des göttlichen Wortes, das Geschenk des Logos, der „logischen“, ja dia-logischen Schöpfung vergessen oder verleugnen.
Alles hängt wirklich am Wort und ohne dasselbe ist nichts gemacht (vgl.Joh1,3!). ——
Doch die biblische, die jüdische und christliche Faszination durch das Wort geht weiter, als dass sie nur die Ahnung einer Sprache wäre, die uns Wunder erschließt, wenn wir endlich das Lied in allen Dingen singen hörten[ii].
Das Wort dringt nämlich aktiv zu uns: In der Torah ist es das Licht auf allen Wegen Israels (vgl.Ps.119,105), … ja, es kommt dem jüdischen Menschen noch näher in seinem alltäglichen, allstündlichen, allgegenwärtigen Tun der Bundesgebote: Es ist das Wort da ganze nahe bei ihm in seinem Mund und in seinem Herzen (vgl.5.Mose30,14)! ———
Und so wird das wehrlose Wort Fleisch (vgl.Joh 1,14!).
Das ist das Urwunder und die Urgnade, die echte Beunruhigung und bleibende Beglückung des Christentums: Nicht von Gottes übernatürlicher Allgewalt und nicht von Seiner abstrakten Grenzenlosigkeit wird das gesagt, sondern von Gottes verstehbarem und verständlichem Wort! Das, was ohnehin als die Kommunikation Gottes auf uns zielt und zu uns drängt, wird in Jesu Menschwerdung unseresgleichen. Wir sind seither nicht mehr nur die Angesprochenen Gottes und auch nicht nur Zeichen im System Seiner großen Selbstmitteilung, die ja alle Dinge umfasst, sondern wenn das Wort Fleisch wurde - also zu dem Stoff, der wir sind -, dann sind wir Menschen das eigentliche Sprachbett der Gottesbotschaft geworden, sind selber Satzteile des Evangeli-ums, Wortverwandte der Wahrheit.
Und darum kann das Wort, das wie wir ist, auf Dauer keine Unklarheit, nichts Verschleiertes, Verstecktes, Verschwiegenes, keine Lüge in Sachen Gott und Mensch zulassen.
Das wehrlose und doch weltbewegende Wort, das Fleisch wurde, bringt die menschliche Wahrheit ans Licht. Da wird das Wort, das alles trägt und sich zu meines-, mich zu seinesgleichen machte, persönlich. Wenn Gottes Schöpferruf trotz aller Widerstände, ja Widersprüche tatsächlich zur Menschennatur werden wollte, dann wird genau dadurch diese Menschennatur schöpferisch zur Gotteswahrheit gerufen. Und das heißt - ganz persönlich -, dass Gott, Der in Seinem Wesen verständlich ist und versteht, auch mich verstehen will!
Und das ist buchstäblich unheimlich. … Mir gefällt es doch, unverstanden zu sein: Als Vierzehnjährige erleben die meisten von uns ja bewusst und absichtlich das Unverstandensein. Später dann verdecken oder verdrängen wir, was immer noch tatsächlich unverständlich in jedem Menschen bleibt, und bilden uns ein, wir wären uns unserer selbst bewusst oder könnten mit etwas Hilfe uns selber klären und erklären.
… Nun muss man aber nicht erst die Menschen beim Sterben erleben, um zu erkennen, dass kaum einer sein eigenes Rätsel, seine Schuld und Schulden, seine Enttäuschungen und seine tiefe Angst bewältigt. Wir sind bei aller Zurechnungsfähigkeit und Reife immer auch unzugängliche und unsichere Wesen, die sich lieber einbilden, ein anderer zu sein, als dass sie sich eingestehen, wer sie selber wirklich sind.
Und nun kommt das Wort, das alle Dinge in’s Dasein ruft und das die Menschheit als seine eigene Art angenommen und also mit unbezweifelbarem Sinn erfüllt hat, mir so ganz und gar nahe, zwischen meiner Schädeldecke und meinen Blutgefäßen, in den Nervenbahnen und den elementaren Bedürfnissen meines Menschseins, … da kommt mir nun also das Grundwort und Sinnwort Gottes so nahe, dass es auch mich an Leib und Sinnen mit seinem Sinn durchdringen und durchleuchten kann, ja, dass es mich erkennen lässt, dass ich erkannt bin (vgl. 1.Kor.13,12).
… Und das ist unheimlich. Da endet nämlich alles Geheime!
Gott, der Offenbarer der Wahrheit macht auch mich offenbar: Meine Geheimnisse, die kaum ein Mensch teilt, meine widersprüchlichen Schwächen, die ich so geschickt gegeneinander ausspiele – dass meine Konfliktvermeidung meinen Jähzorn bändigt, dass die Bequemlichkeit in mir den eitlen Übereifer dämpft, dass meine Bescheidenheitsmarotte meinen Hochmut schmeichelhaft ummantelt –… alle meine unausdenklichen und unausgleichlichen Eigenheiten, Blößen und Täuschungen erfasst, erschließt und erkennt die göttliche Weisheit und Wahrheit Spur um Spur, Zug für Zug, Wort für Wort in meinem unerforschten Inneren! ——
In diesem lebendigen und wunderkräftigen und kritisch-scharfen Werk des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, die das Wort in Schöpfung, Fleischwerdung und Zurechtweisung sprechen, sind und senden, findet sich nun aber der heutige Predigttext (Hebräer 4,12f):
„Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.
Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen.“
Und daraus wächst die Hoffnung, dass tatsächlich die Wahrheit siegt: Nicht ohne Schmerzen und Scheidung, weil Gott bis zu jedem von uns persönlich vordringen muss, um auch in uns unsern nicht haltbaren Unsinn und unsre unsinnigen Haltungen zu richten und zurechtzubringen.
Aber da wir wissen, dass wir vor Seinem Geist nicht fliehen können (vgl.Ps.139,7) und Sein Wort wahrhaftig tut, was Ihm gefällt und wozu Er es sendet (vgl.Jes.55,11[iii]) können wir auch angesichts der Schwierigkeiten, die uns die Wahrheit in einer Welt voll menschlicher Verwirrung, menschlicher Verfehlung und menschlichen Leidens bereitet, an denen wir jeder von uns beteiligt sind, in Wahrheit zuletzt nur fragen wie der Erste der Jünger (Joh.6,68):
„Herr, wohin sollen wir denn gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“
… Und wenn sie auch noch so scharf, noch so eindringlich, noch so unwidersprechlich sind, so sind es doch die Worte, ohne die wir nicht wären, … von und mit denen wir aber leben werden: So wahr der Mensch nicht vom Brot allein existieren kann, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht (vgl. Matth.4,4)!
Amen.
[i] Anstelle der Guten Nachricht (griechisch: Eu-Angellion) wäre ja auch eine Gute Sache (Eu-Pragma) eine werbewirksame Größe. Auch kirchlicherseits wird die Suche nach „best practice“-Beispielen als Anreiz und Motivation des Gemeindeaufbaus schließlich bewusst gefördert.
[ii] Vgl. Joseph von Eichendorffs Gedicht „Wünschelrute“:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
[iii] Alttestamentliche Lesung des „Wort-Gottes-Sonntages“ Sexagesimæ (Jesaja 55,6-12).
4.So.v.d.Passionsz., 06.02.2022, Matth.14,22-33, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Schwestern und Brüder,
der Predigttext für den 4.Sonntag vor der Passionszeit steht im Matthäusevangelium, Kapitel 14,22-33.
„Kurz nachdem die 5000 gemeinsam gegessen hatten, forderte Jesus die Jünger auf, in das Boot zu steigen und ihm ans andere Ufer vorauszufahren, bis er die Volksmenge verabschiedet habe. Und er verabschiedete die Volksmenge und stieg auf einen Berg, um allein zu sein beim Beten. Als es Abend geworden war, war er dort ganz für sich allein. Das Boot war schon viele hundert Meter vom Ufer entfernt und kämpfte mit den Wellen. Der Wind stand ihm entgegen. In der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen. Er ging über den See. Die Jünger sahen, wie er auf dem Wasser lief, und erschraken und meinten, er sei ein Gespenst. Und sie schrien vor Angst. Jesus sprach sie sofort an und sagte: „Seid mutig, ich bin es. Fürchtet euch nicht!" Petrus antwortete ihm: „Jesus, wenn du es bist, dann sag mir, dass ich über das Wasser zu dir kommen soll." Er antwortete: „Komm." Petrus stieg aus dem Boot aus und lief über das Wasser, um zu Jesus zu gelangen. Als er den starken Wind wahrnahm, bekam er Angst und begann zu versinken. Er schrie: „Jesus, rette mich!" Jesus streckte sofort seine Hand aus und ergriff ihn und sagte: „Du mit deinem geringen Vertrauen! Warum zweifelst du?" Als sie dann ins Boot gestiegen waren, legte sich der Wind. Die im Boot aber fielen vor Jesus nieder und sagten: „Du bist wirklich Gottes Sohn!"
Als ich den für diesen Sonntag vorgeschlagenen Predigttext vor einiger Zeit las, dachte ich als erstes: wunderbar, das sind Worte, die sind genau die richtigen für diese Zeit, für Menschen, die seit fast zwei Jahren durch das Auf und Ab einer Pandemie gehen, deren Lebensboot gründlich durchgeschüttelt wird, Worte für unsere Kirchen und Gemeinden, die mit allerlei Gegenwind kämpfen müssen - Missbrauchsskandal, Kirchenaustritte, Umstrukturierungen und Finanzsorgen - und denen das rettende Ufer noch in weiter Ferne zu liegen scheint. Dann kam die Nachricht vom Tod des Autors und Filmregisseurs Herbert Achternbusch und ich erinnerte mich sofort an seinen Film „Das Gespenst", der 1982 einen enormen Skandal ausgelöst hatte. Das Gespenst, das war nämlich Jesus, der karikaturmäßig daherkam. In einer Szene lief er über das Wasser eines bayrischen Sees. Ich konnte mit diesem Film gar nichts anfangen, fand ihn einfach geschmacklos. Mir fiel auch die Karikatur ein, die sie auf dem Gottesdienstblatt finden: der kleine Jesus steht auf dem Wasser des Badezubers und Mutter Maria wird ärgerlich: Sei brav, bade jetzt! Ja, es stimmt: der Textabschnitt aus dem Matthäusevangelium, der kann ganz schön missverstanden werden, gerade heute in unserer ach so aufgeklärten Zeit.
Darum bin ich froh, ihn gemeinsam mit einem wirklich kompetenten Gast zu betrachten und ihn so zu uns sprechen zu lassen, wie er gemeint war: als Ermutigung und Aufforderung, Gott zu vertrauen, auch wenn alles gegen einen steht.
Ich begrüße Salome, die zu dem Kreis der Judenchristen gehörte, die etwa um 80 n.Chr. Erinnerungen an Jesus, sein Leben und Wirken zusammengetragen und schriftlich festgehalten haben, damit die gute, die frohmachende Botschaft, die er gebracht hat, auch die Menschen ferner Zeiten noch erreicht. Als Matthäusevangelium sind ihre Erinnerungen uns bekannt. Herzlich willkommen in der Mutterhauskirche, Salome.
Danke für die Einladung. Ich freue mich auf unser Gespräch.
Wenn ich diese Karikatur betrachte und an so manche Jesus-Bibel-Filme denke, die ich in den USA gesehen habe, dann wundere ich mich doch sehr, welch schlichten Gemütes die angeblich so fortschrittlichen Menschen des 21.Jahrhunderts sind. Das hätten wir uns damals nicht vorgestellt, dass man unsere Erzählungen von Jesus so missverstehen kann.
Er war doch kein Zauberer und auch kein Trickser.
Die Gesetze von Dichte und Schwerkraft galten für ihn
wie für jeden von uns und von euch.
Mir ist das schon klar, dass Jesus nicht über den See Genezareth gelaufen ist; und ich glaube auch nicht, dass er mittels irgendeiner Zauberei 5000 Menschen mit 5 Broten und 2 Fischen satt bekommen hat. Aber ich weiß auch, dass es bis heute viele Christen gibt, die diese Wundergeschichten wörtlich verstehen. Sie glauben, dass Jesus sich genau darin als Sohn Gottes erweist, dass er etwas kann, was sonst keiner vermag. An Jesus zu glauben, bedeutet für sie, alles für wahr zu halten, was von ihm in den Evangelien steht. Also auch alle Wunder, die er vollbracht hat.
Wenn wir das damals in unserem Redaktionskreis geahnt hätten, dass die Menschen späterer Zeiten unsere Wunder-Geschichten für Reportagen halten und die Erzählungen unseres Evangeliums für eine Biografie ...
... dann hättet ihr es anders geschrieben?
Ich denke, nein; vielleicht hätten wir ein klärendes Nachwort angehängt. Aber etwas anderes hätten wir nicht schreiben können. Keiner von uns ist Jesus persönlich begegnet.
Mehr als 50 Jahre waren vergangen, seit er durch Galiläa gewandert war. Die wenigsten von uns haben Geschichten von ihm von Augenzeugen gehört. Wir haben Jesus nicht gekannt, aber wir haben mit ihm etwas erlebt, erfahren -
und diese Erfahrungen haben wir in den Geschichten und Erzählungen des Evangeliums festgehalten.
Das musst du näher erklären: um welche Erfahrungen ging es, die dann in Wundererzählungen wie die von der Speisung der 5000 oder vom Seewandel verpackt wurden?
Da ist nichts verpackt worden, sondern wir haben uns damals bemüht, so verständlich wie möglich über unsere Erfahrungen mit Jesus zu berichten. Deshalb haben wir die Symbolsprache gewählt, die eigentlich jeder Mensch verstehen kann. Ging es uns doch um Themen, mit denen jeder Mensch in seinem Leben konfrontiert wird - in jeder Zeit, an jedem Ort.
Ich verstehe. Die Erzählungen in eurem Evangelium müssen symbolisch verstanden werden, nicht als Tatsachenberichte. Und in ihrer Symbolik geht es um Themen, die für jeden von uns wichtig sind.
Genau.
Wenn ich die Erzählung vom Seewandel betrachte, da geht es um Angst und darum, wie man mit dieser Angst umgeht, umgehen kann.
Ja, darum geht es in dem ganzen 14.Kapitel. Eigentlich ist es schade, dass ihr in euren Gottesdiensten immer nur so kleine
Abschnitte als Predigttexte habt und sie damit ziemlich aus dem Zusammenhang reißt und so Entscheidendes oft gar nicht mitbekommt. Es geht nämlich nicht nur um die Angst, umzukommen und zu ertrinken, sondern auch um die Angst, zu kurz zu kommen. Die beiden Urängste des Menschen, die einfach nicht verschwinden wollen, mit denen wir uns immer wieder herumschlagen müssen.
Die Angst zu kurz zu kommen, das ist das Thema in der Erzählung von der Speisung der 5000. Die Angst, dass es nicht reicht für alle - „nur" fünf Brote und zwei Fische, wie soll das für so viele hungrige Mäuler reichen? Schick sie weg, da soll jeder für sich selbst sorgen, das war die Lösung, die den Jüngern einfiel. Sie hatten Angst um ihren Proviant, Angst, zu kurz zu kommen. So sind wir Menschen - frei nach dem Motto: wenn jeder an sich denkt, dann ist an alle gedacht.
Aber die Angst, dass es nicht reicht für alle, die bleibt an einem kleben.
Und genau da haben Menschen erlebt, dass Jesus einen anderen Lösungsvorschlag gemacht hat, wie dieser Angst zu begegnen sei und wie sie überwunden werden kann.
Er hat sie ermutigt, zu teilen, einfach auszuteilen, was da ist - im Vertrauen auf Gott, den Geber aller Gaben und den Erhalter des Lebens. Und: es hat nicht nur für alle gereicht,
es blieben sogar noch 12 Körbe voller Brotstücke übrig.
Die Bereitschaft, auszuteilen und so die Angst, zu kurz zu kommen, zu überwinden, das ist das Wunder - dazu hat Jesus den Anstoß gegeben. Und das kann er heute immer noch.
Das können wir immer noch und immer wieder erleben.
Im Vertrauen auf Gott - die Angst überwinden. In der Geschichte vom Seewandel ist das nun doch ein bisschen komplizierter mit der Angst. Die Angst umzukommen, zu scheitern. Ich muss sagen, das ist ein eindrückliches Bild, das uns da vor Augen gemalt wird.
Das Meer - Inbegriff der Gefahr, schon in der hebräischen Bibel. So wie im Psalm 107, wo auch von Sturm und Wellen die Rede ist, von der Angst derer, die im Boot, im Schiff sitzen. Der See Genezareth ist der kleine, aber nicht minder bedrohliche Bruder des Meeres. Das aufgewühlte Wasser - ein Bild für Lebensgefahr, für Todesangst.
Bei uns gibt es dafür auch viele Sprachbilder: mir steht das Wasser bis zu Hals, ich ertrinke in Arbeit, einer Firma droht der Untergang. Und auch das Bild vom Gegenwind gehört dazu, der einem ins Gesicht bläst und der uns am Weiterkommen hindert, einem die Luft zum Atmen nimmt.
Und dann noch die Dunkelheit der Nacht, die die Orientierung schwer macht. Man sieht das Ufer nicht. Man weiß nicht, wo man ist. Alles steigert die Angst.
Wir hatten vorhin die Erzählung aus dem Markusevangelium gehört. Bei Markus ist das Setting etwas anders: da sind die Jünger nicht allein im Boot, sondern Jesus fährt mit ihnen über den See. Er schläft seelenruhig, während die Jünger voller Panik sind. In eurem Evangelium hat er sich allein auf einen Berg zum Beten zurückgezogen.
Sich in die Stille und Einsamkeit zurückzuziehen, um mit Gott ins Gespräch zu kommen, um vor ihm seine Gedanken zu sortieren, das war für Jesus entscheidend. So ging er mit seiner Angst um, so hat er sie immer wieder überwunden. Denn natürlich kannte auch er Angst. Auch Angst vor dem Tod.
Davon schreibt ihr ja auch in diesem 14.Kapitel; als Jesus hört, dass Johannes der Täufer hingerichtet worden ist, da verlässt er unverzüglich den Machtbereich von König Herodes und zieht sich zurück, was ihm dann aber nicht gelingt, weil er immer wieder von den Leuten angesprochen und um Rat und Hilfe gebeten wird.
Aber ohne Punkt und Komma für andere da sein, das konnte auch Jesus nicht. Er musste immer wieder seinen geistlichen Akku aufladen - in der Einsamkeit und in der Stille die Nähe Gottes spüren - in der Tiefe seines Herzens, seiner Seele. Der Berg als Ort symbolisiert solche Einkehr bei sich und bei Gott.
Und weil Jesus sich die Zeit dieser Begegnung mit Gott genommen hatte, sich der Nähe Gottes neu bewusst geworden ist, konnte er seine Angst überwinden und seinen Weg getrost weitergehen.
Über das Meer, über das Wasser der Angst. Die Gefahr war immer noch da, es war immer noch dunkel, Nacht, es stürmte. Aber er wusste in seinem Innersten, dass auch diese stürmische Nacht zu Ende gehen würde, dass es einen neuen Morgen gibt. So war es seit Anbeginn der Schöpfung: da wurde aus Abend und Morgen der neue Tag Gottes. Darauf hat er einfach vertraut. Auf Gottes Kraft. Aber genau das ist für uns oft schrecklich schwer: einfach zu vertrauen.
Glauben lernen heißt vertrauen lernen. Das macht diese Erzählung eindrücklich klar. Gerade an der Gestalt des Petrus. Aber bevor es um Petrus geht, habe ich doch noch eine Frage: warum habt ihr geschrieben, dass die Jünger Jesus nicht erkennen, ihn für ein Gespenst halten und nun erst recht in Panik geraten? Da kommt der Retter, und die Angst nimmt überhand.
Aber ist das nicht eine sehr menschliche Erfahrung?
Gerade das, was einem helfen würde, macht die Angst noch größer - ein bis dahin unbekanntes Zugehen auf oder Umgehen mit einem Problem, das sprengt die Vorstellungen und die eigenen Erfahrungen. Feuerwehren und Rettungskräfte erleben das immer wieder bei ihren Einsätzen.
Mit Angst so umzugehen wie Jesus - das macht den Jüngern Angst. Sein Vertrauen in Gott, das macht ihre Angst paradoxerweise noch größer.
Vertrauen heißt, sich in Gott fallen zu lassen. Um im Bild zu bleiben: nur der, der bereit ist, sich in Gott fallen zu lassen, der geht im Meer der Angst nicht unter, sondern der kann über das Wasser gehen.
„Seid mutig; ich bin's. Fürchtet euch nicht!"
So ähnlich hat es schon Josua gehört, da stand er an den Wassern des Jordan und das Volk Israel hatte große Angst vor dem, was da und wer da jenseits, am anderen Ufer in Kanaan auf sie warten würde. „Sei mutig und unverzagt,
lass dich nicht grauen und fürchte dich nicht;
denn ich, dein Gott, bin mit dir auf allen deinen Wegen."
Ja, glauben heißt, sich immer wieder seiner Angst zu stellen und sie im Vertrauen auf Gott zu überwinden. Immer wieder das Wunder zu erleben, dass das Wasser trägt, dass es weitergeht in einen neuen Morgen, an ein neues Ufer.
Petrus hat das versucht. Interessant, wie ihr ihn da in Szene gesetzt habt. Wie er die doch relative Sicherheit im Boot aufgibt, mit einem Satz über die Reling springt und auf Jesus zuläuft. Die Angst kann eben jeder überwinden, nicht nur Jesus. Das Vertrauen auf Gott, auf den „Ich bin für dich da" ist jedem so möglich wie Jesus.
So ist es, und Jesus ist für uns derjenige, der zu diesem Vertrauen die Brücke baut. Er steht für Gott, er hilft uns, Gott zu vertrauen. Jesus - „Gott hilft". Er zeigt uns, dass Gott ganz nah bei uns ist, in unserem Innersten.
Aber weit kommt Petrus ja nicht. Nach ein paar Schritten ist es vorbei mit dem festen Glauben und er beginnt zu versinken.
Statt auf Jesus zu sehen, sieht er die Wellen, hört er den Wind heulen, nimmt die Dunkelheit wahr, die Gefahr. Und die gibt es ja. Der Blick auf Jesus zaubert das ja nicht weg. Das Vertrauen in Gott macht die Welt erst einmal nicht zu einer angenehmeren Welt, aber es verwandelt den, der zu vertrauen wagt. Es weist der Angst, den Sorgen einen Platz zu -
hinter der Hoffnung, hinter der Zuversicht, hinter der Liebe. Aber solches Vertrauen, solchen Glauben hat man nicht,
sondern der will gelebt werden - Schritt für Schritt.
Immer wieder neu. Will immer wieder neu erbeten werden.
Dieser Ruf „Jesus, rette mich! Jesus, hilf mir!" und dann Jesus, der ihn fest an der Hand ergreift und über dem Wasser hält mit seinem leicht bekümmerten „Du mit deinem kleinen Vertrauen, warum zweifelst du?", der erinnert mich an den Ruf des Vaters eines kranken Kindes im Markusevangelium: „Ich glaube, ich will ja vertrauen, hilf meinem Nicht-Glauben, meinem Zweifeln." So sind wir Menschen wohl gestrickt. Aus dieser Nummer kommen wir kaum heraus. Auch ein Petrus nicht. Mein Trost: Gott weiß das. Er hat uns so erschaffen.
Gott weiß es und er hilft uns; er bewahrt uns vor dem Untergehen. Davon erzählt schon die Geschichte von Jona in der hebräischen Bibel: da kommt die Rettung durch den großen Fisch. Gott hilft uns; auf ganz unterschiedliche Weise werden wir im Versinken gehalten, vor dem Fall ins Nichts bewahrt,
aus dem Sumpf der Trauer und der Hoffnungslosigkeit gezogen, bekommen wir festen Boden unter die Füße.
Und immer geht es um Vertrauen, dass wir unser ganzes Vertrauen auf Gott setzen. Alles auf diese eine Karte Vertrauen.
So wie Jesus das gemacht hat. Selbst noch am Kreuz.
Als er allen Grund hatte, an Gott zu zweifeln:
„Warum hast du mich verlassen?"
Um sich zuletzt in Gottes Arme fallen zu lassen:
„In deine Hände befehle ich meinen Geist."
Und alle Evangelien sind sich darin einig:
Er hatte recht mit seinem Vertrauen.
Er ist nicht ins Nichts gefallen im Tod,
sondern in ein neues Leben gezogen worden.
Diese Erzählung vom Seewandel, da dämmert schon der Ostermorgen. Das Boot auf dem See ist unterwegs zum „anderen Ufer" - die Panik der Jünger legt sich, als Jesus mit Petrus ins Boot steigt. Er teilt ihren Weg und ermöglicht es ihnen so, wie er den Zweifel in Schach zu halten und Vertrauen zu wagen.
Gott zu vertrauen wie Jesus, wie Jesus zu glauben.
Sich darauf einzulassen, zu leben wie er,
alles auf die Karte Vertrauen zu setzen,
dazu will uns eure Erzählung Mut machen.
Ja, sie will einladen, selbst die Erfahrungen zu machen, die Jesus gemacht hat und die viele, die ihm nachgefolgt sind,
durch die Jahrtausende gemacht haben: die Stürme der Zeit,
die unterschiedlichsten Abgründe und Dunkelheiten können bewältigt werden; wir werden im letzten gehalten und ans andere Ufer gezogen, geleitet und begleitet - auch durch unsere eigenen Zweifel.
Danke, Salome, dass du dir die Zeit genommen hast, mit mir dieses Gespräch zu führen. Dadurch ist mir dieser Text neu lebendig und wichtig geworden.
Letzter Sonntag nach Epiphanias, 30.01.2022, Stadt- und Mutterhauskirche, 2.Mose 34, 29 - 35, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Letzter n. Epiphanias - 30.I.2022
2.Mose 34, 29-35
Liebe Gemeinde!
Das Lied, das wir eben gesungen haben (EG 70), hat einen Zwilling (EG 147). Philipp Nicolai schrieb beide Lieder in der absoluten Verfinsterung der ihn umgebenden Welt- und Seelenlandschaft durch einen Pestausbruch in seiner Gemeinde Unna. Und wir singen diese Lieder jeweils am Beginn und Ende der dunkelsten Zeiten: Im November „Wachet auf, ruft uns die Stimme“, mit seiner Aufforderung „Wohlauf, die Lampen nehmt!“ und in den grautrüben Winterwochen des Januar und Februar das funkelnde „Wie schön leuchtet der Morgenstern“. Weil zwischen Ewigkeitssonntag und dem Abschluss der vierzig Tage nach Christi Geburt in unsere irdische Nacht das Licht aus der Höhe als adventlicher und weihnachtlicher und epiphanischer Glanz dringt, … gerade dann, wenn wir es am meisten brauchen, wenn wir am lichthungrigsten sind.
Nun aber endet diese Lichterzeit. Die immer noch ohnmächtige Sonne muss die kargen, leeren Monate, die an Septuagesimæ beginnen werden, während der Passionswochen allein zu durchwärmen und zu erhellen versuchen. Während die Tage sich unfühlbar verlängen, schwindet das Leuchten dann zusehends aus den Gottesdiensten der Kirche. Und wenn der Frühling endlich da ist und die Nacht einen Augenblick kürzer als das Tageslicht dauern wird, dann tritt die Sonnenfinsternis auf Golgatha ein. …
Wir merken also: Die Erleuchtung, von der wir wirklich leben, die unser Wachstum und Gedeihen, unsere Photosynthese – wörtlich also: unsere Licht-Verknüpfung - ermöglicht, ist nicht einfach mit den Strahlungs- und Wärmequellen des materiellen Kosmos gleichzusetzen.
In der Dunkelheit kann uns das wahre Licht leuchten und in der Helligkeit kann’s uns verlöschen.
… Es muss also einen Glanz geben, der außerhalb des uns vertrauten Wechsels und der Vergänglichkeit ist: Alles andere Licht wurde ja ursprünglich nur erschaffen, um mit seinem Erstrahlen und Schwinden die Zeit danach zu teilen, um „Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre zu geben“ (1.Mose1,14). Das Licht jedoch, das die Heilige Nacht erhellt, das am Karfreitag ein schwarzes Loch der Leere in die Wirklichkeit reißt, um am Ostermorgen für immer zu entflammen, hat gerade keinen solchen Rhythmus der Wiederkehr, sondern ist Licht ohne Schatten und Schwund. Unveränderliches Licht also! Helligkeit ohne Zu- oder Abnahme! Klarheit, die nicht mehr getrübt werden kann!
… Welche gnädige Aussicht für Augen, die sich im Zwielicht müde gespäht haben, ob es überhaupt Einleuchtendes und Aufklärendes geben kann, oder ob wie in einer Welt leben, die dem Dunklen verfallen ist. ……. ——
Was würde ich wohl sagen, wenn ich nur Sonne, Mond und Sterne kennte? Was müsste man schließen, wenn das klarste Licht, das uns vor Augen stünde, der Blitz von Hiroshima wäre und das Leuchten, das unser Herz erwärmt, weil es das innere Leben daheim durchfließt, aus der Leuchtdiode stammt, die zwischen Infrarot und Ultraviolett auch eine dem Menschenauge sichtbare Skala von kalt bis warm umfasst? Was wäre unsere Aussicht, wenn bloß die Sonne hinterm Smog der Megacities und das unablässige elektronische Flimmern und Flirren, zu dem unser Geist mutiert und unsere Denkprozesse gemacht worden sind, für uns die Quellen aller Erleuchtung wären? …
Ich wäre vermutlich einer der Dunkelmänner, die in diesem finsteren Weltall, in dem die Galaxien wie Sternschnuppen und Feuerwerk kurz aufglimmen und sich dann in Schwärze auflösen, keine Lichtung sähe. Nur ein von Nacht zu Nacht treibendes Beinah-Nichts.
… Dass die Schneeglöckchen jetzt schon im Januar erscheinen, ist ja kein Hoffnungsschimmer, sondern eine groteske Fata Morgana der kommenden Glut. Und dass niemand von uns mehr die nächtliche Finsterfurcht aushalten muss, weil unsere Handies leuchten können wie einst nur das Weltwunder von Pharos, das ist ein Fortschritt, der dem Vandalismus ähnelt: Der Trost der Nacht - den’s ja auch gibt - wird plattgemacht vom toten Grelllicht unseres Dauerquatschens.
… Es ist nicht wirklich hell auf dieser Erde.
Etwas von der tiefen Trübung der Welt ist letzte Woche, am 27.Januar so greifbar geworden wie die sprichwörtliche ägyptische Finsternis. Da stand eine siebenundachtzigjährige alte Frau vor den Vertretern unseres Landes und sprach mit einem toten Kind. Inge Auerbacher, das „badische Mädel“ aus New York rief mit einem Pathos, das unser Bundestag sonst nicht mehr kennt, nach der siebenjährigen Ruth Abraham[i]. Im Schatten des Todes in Theresienstadt hatten die beiden jüdischen Kinder einander versprochen, sich gegenseitig zu besuchen, wenn die Nacht des Holocaust vergangen sein würde. Aber die kleine Ruth wurde in Auschwitz ermordet. Und die Überlebende konnte nach acht Jahrzehnten in Ruths Heimatstadt Berlin nur in die Luft nach ihrer Freundin rufen: „Ruth, ich bin da, dich zu besuchen!“ – Wem da nicht, wie dem israelischen Parlamentspräsidenten, die Tränen kommen, der ist kein Mensch. ———
Mose aber leuchtet.
Mose leuchtet. Seit dreieinhalb Jahrtausenden – durch alle Apokalypsen bis Auschwitz, durch allen Alltag und alle Abnutzung, alle Verschmutzung und alle Vernichtung der Welt leuchtet Moses Antlitz, seit er Gott begegnete in Seiner Gnade.
Vielen ist es aufgefallen: Den Israeliten, deren Augen sich vor Kurzem noch vernarrt hatten in jenen faulen Glanz, der bis heute das blendendste von allen Irrlichtern ist - Goldgefunkel -, das von Horn bis Hoden den Börsenstier so attraktiv macht. Um ihren Goldbullen hatten sie eben noch getanzt, der ja auch uns gezeigt wird, wenn die Börse ihre Kurse schön aufwärtskrümmt. … Und nun kam ein Licht, das den Schimmer des Edelmetalls zu Schatten machte.
… „Gold, statt Gott“: Das Experiment wurde durch den bloßen Augenschein, durch die schlichte Ausstrahlung dessen, der den Unterschied begriffen hatte, entlarvt.
… Gold, statt Gott: Das war der Anfang. Und jede Generation seither arbeitet weiter im Weltlabor der lächerlichen Vertauschungen und Ersetzungen:
Gewalt statt Gott.
Gehorsam statt Gott.
Geilheit statt Gott.
Genuss statt Gott.
Gewinn statt Gott.
Gesundheit statt Gott.
Gefühl statt Gott.
Geltung statt Gott.
Glitzer statt Gott.
Gier statt Gott.
Gold statt Gott. …….
Es dreht sich immer im selben Kreis; der Reigen um die Kälber reißt nie ab.
Doch Mose leuchtet. …
Er wollte das gar nicht. Die Verfinsterung hatte ihn ergriffen, als er vom Sinai, aus Gottes Gegenwart kam und fand wie seine frisch Befreiten sich dem dümmsten Dienst von allen ergaben: Der Knechtschaft im Bann des eigenen Besitzes. Wie sie umschwärmten und ehrfürchtig sich bückten vor dem, was sie selbst an den Ohren, an den Hand- und Fußgelenken als Schmuckreifen getragen hatten, wo es doch schon deutlich genug nach Fesseln ausgesehen hatte. … Und nun vertrauten sie sich dem an, das sie selbst geformt, ja zum Schmelzen gebracht hatten!
Torheit des Menschen! Der sein Können an den Dingen auslässt - und den Menschen - und sich daran berauscht: Ich kann Hartes weich machen und Lebendiges zur Leiche! Ich, der Mensch, mit meiner Technik.
Ich, statt Gott!
Da wollte Moses reinschlagen. Wie die Bundestafeln mit den heiligen, helfenden Worten Gottes, so zerschlug er auch den toten Popanz des menschlichen Ichkultes und ließ die Israeliten saufen, wovon sie besoffen waren: Den Staubstoff ihrer eigenen Fähigkeiten (vgl. 2.Mose 32,19f!).
Und Gott wollte dieses Volk nicht weiter mehr begleiten. Er wollte sie unter Moses, des Verfinsterten Leitung weiter ziehen lassen, aber ohne Seinen eigenen Beistand. …….
Warum es anders kam? Durch ein Miteinander von Angesicht zu Angesicht. In ihrer gemeinsamen Not, ihrem geteilten Leid mit dem halsstarrigen Volk „redete der HERR mit Mose wie ein Mann mit seinem Freunde redet“ (2.Mose 33,11)! Und da gelang es dem Mose, Gott zu bewegen, dass Er doch Sein Angesicht vorangehen ließ (vgl.2.Mose 33,15) auf dem weiteren Weg Israels in die Zukunft. Obwohl Moses größter Wunsch dabei, sich völlig sattsehen zu dürfen an Gott – Männer reden auch mit ihren Freunden eher Seite an Seite, als Aug in Aug –, nicht in Erfüllung gehen sollte, hat Gott dennoch Sein Wesen vor Mose völlig aufgedeckt. Er hat Mose Seine Gnade wissen lassen: Den herrlichen Namen „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich“ (2.Mose33,19); diesen herrlichen Namen „HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetaten, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied“ (2.Mose34,6f).
Diese unauslöschliche Begegnung zwischen Gott dem HERRN und seinem Freund Mose, als beide zugleich dem Schatten begegnen, den Menschen auf sich und die, die sie noch erleben können, werfen und dann daneben die unendliche Gnade betrachten, die die Schatten vergehen machen und alles in ihr Licht tauchen wird, … diese unauslöschliche Begegnung hat Mose verwandelt: Er ist erhellt. Das ewige Licht, das ihm im Namen Gottes aufgegangen ist, das Licht, das nicht steigt und nicht versinkt, sondern war und ist und bleibt, „reflektiert“ … strahlt ab und strahlt weiter, wo immer es hingefallen ist.
Es ist die Ausstrahlung, die Aaron und Israel in ihrem eignen Schuldbewusstsein überwältigt.
Dass Gott trotz aller Sünde nicht als Auslöschender, sondern als Strahlender begegnet: Das ist das Evangelium.
Wer es hört - wirklich hört! - , der hört auf ein Mensch der Dunkelheit zu sein. Gnade macht erleichterte Erleuchtete. Gnade macht die gnädig Angesehenen zu Ausstrahlenden. Sie schenkt ihre Schönheit den mit ihr Beschenkten.
Das Gottvertrauen der Vertrauten Gottes hat auf dem Antlitz des Mose zu zünden angefangen und es ist auf menschlichen Zügen weitergespiegelt worden, … hat im Blick ansonsten unscheinbarer Menschen gelegen, wo andere es auffingen, … ist in den elendesten Leidensnächten der Menschheit die Öllampe gewesen, die Gefolterte und Verlassene und Sterbende für das Kommen des Bräutigams zur Mitternacht bereitete, und kann auch heute noch erkannt und nie wieder vergessen werden, wenn man in ein Gesicht schaut, in dem Gottes Gnade ihr wundervolles Ebenbild zum Leuchten brachte. ———
Hier endet die eigentliche Predigt über den Text.
Das Weitere – wie Mose das heilbringende Leuchten, den Nachglanz und Vorschein der Gegenwart Gottes, bei Dem er immer wieder sein durfte, dem Alltag anpasste, der ja auch vollzogen sein will und nicht von ausschließlicher Anbetung und Erhebung geflutet werden kann, und dann das lustige Missverständnis, das aus einer Fehlübersetzung der glänzenden Haut des Mose seine Glanzhörner machte, die Michelangelo in Marmor verewigt hat und die allzu viele andere Künstler in antisemitischer Bockshornigkeit karikierten …– alle diese weiteren kleinen Leuchtstreifen und Nebelkerzen, die die menschliche Interpretation und Spekulation erzeugt, sollen uns jetzt nicht ferner beschäftigen.
Dass Gottes Gnade so herrlich ist, dass ein von ihr erfüllter Augenblick die Ansichten und das Aussehen dessen verwandelt, der ihn genoss, lässt sich schlicht nicht angemessen in Worten wiedergeben. Vielmehr findet sich hier der Übertritt der ansonsten so wenig photographische Beweise - wörtlich: „lichtgeschriebene“ Beweise - liefernden Bibel auf das Feld des Optischen.
Das Leuchten, das Israel auf Moses Zügen sah, ist ein sichtbarer Gotteserweis gewesen[ii] und seither auf anderen Gesichtern geblieben.
Ich meine das nicht rhetorisch. Ich rede phänomenologisch … von der Epiphanie, der Erscheinung der Liebe Gottes im Ausdruck, in der Ausstrahlung von Menschen, die Ihn ihrerseits lieben, denen Er nahe ist, die - womöglich sogar unbewusst - die Gefäße Seiner Gnade sind, die aus ihnen leuchtet.
Verallgemeinern lässt sich da nichts: Es ist keine besondere Milde oder typische Süße in den Zügen der „Gott-Strahlenden“, wie die orthodoxe Kirche sie vielleicht nennen würde. Sie sind nicht alle aus einem Tuschkasten entworfen, gleich harmlos, blasiert, naiv und nazarenisch. Aber es gibt ganz verschiedene Gesichter, aus denen es aufblitzt: Hier lacht mich Gottes Güte an, hier wärmt Seine Geduld das Herz, hier zündet der Funken unerschöpflicher
Liebe!
Und dann gibt es auf dieser Erde fast nichts Besseres, als dass Menschen mit einem solchen Leuchten uns grüßen oder uns pflegen, uns zuhören oder uns trösten, uns lieben oder uns schlicht über den Weg laufen, in flüchtigem Erkennen und Einvernehmen, in der stärkenden Gemeinschaft eines einzigen Augenblicks, bis man sich einst dann wirklich wiedersieht, wo das Licht seinen Ursprung hat und alle, die von ihm erleuchtet sind, ihre Zukunft.
Fast nichts Besseres als solches Aufleuchten Gottes in, aus und durch Menschen gibt es. … Nur den einen: Gott im Menschen, das Licht im Fleisch. Jesus Christus.
Heute, am Ende der Lichterzeit feiert die Kirche seine Verklärung.
Dass Jesus urherrlich ist und unendliche Klarheit bringt, haben seine Jünger mit bloßem Auge damals sehen können. Als auch Mose bei ihm war und Elia (vgl. Matth.17 par.)
Und wenn wir ihn anbeten, von ihm hören und singen, ihn selbst im Mahl empfangen, auf seinen Wegen gehen, sein Wort halten, seine Liebe teilen, … wenn wir mit ihm leben, dann sehen wir es auch: Die Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi (vgl. 2.Kor 4,7 = heutige Epistel).
Dieses Angesicht leuchte über uns allen und sei uns gnädig!
Der Herr erhebe dies Angesicht auf uns und gebe uns Frieden (vgl. 4.Mose 6,24f)!
Amen.
[i] Vgl. https://www.tagesspiegel.de/berlin/bitte-einer-holocaust-ueberlebenden-wer-hat-ein-bild-von-ruth-nelly-abraham/12134722.html
[ii] Im Hintergrund der Predigt steht der letzte vor dem Holocaust verfasste Exodus-Kommentar eines gelehrten Rabbiners in deutscher Sprache. Benno Jacobs Auslegung, die er 1940 abschloss, aber bis 1943 laufend ergänzte, führt in (bewusster?!) Parallele zum Episteltext des letzten Sonntags nach Epiphanias zu einer beinahe christologischen Aufladung der Gestalt des Mose: „Sie (scil. die Israeliten) sollen die Herrlichkeit Gottes, und zwar auf Moses Angesicht sehen“ (Benno Jacob, Das Buch Exodus, hgg, im Auftrag des Leo Baeck Institutes von Shlomo Mayer, Stuttgart 1997, S. 990).
3.n.Epiphanias, 23.01.2022, Stadtkirche, Matthäus 8, 5-13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.n. Epiphanias - 23.I.2022
Matthäus 8, 5 -13
Liebe Gemeinde!
Diese berühmte Geschichte führt uns ein drittes Mal auf seinem Lebensweg Jesus und die Fremden vor Augen. Als Kind fiel ihm die Weisheit und Wissenschaft der Heidenwelt zu Füßen in Gestalt der Himmelskundigen aus dem Osten, die ihn gesucht und angebetet haben: Ohne innerweltlichen Grund, ohne immanente Kausalität, sondern aus einer höheren und tieferen Wahrheit heraus, die keine sogenannte Ursachen braucht, um Jenes zu erkennen, das sich in den Einzelheiten der Welt verzerrt und verstreut zeigt, im Kind unter dem Stern aber ganz offenbarte. Diese Pietät der Ausländer ist dem kleinen jüdischen Jungen Jesus also in die Wiege gelegt worden.
Die zweite Erfahrung der Fremde für Jesus war seine Flucht. Er wurde zum Migrantenkind in jener stolzen Nil-Kultur unten im Süden, die für Jakobs Nachkommen ein jahrtausendelanges Trauma darstellt. Da muss die Angst vor den Anderen, vor ihrer Mehrheitsmacht und vor den uralten Konflikten zwischen der eigenen und der fremden Überlieferung für den kleinen Kerl spürbar geworden sein. Er lernte zu sprechen, aber auf der Straße verstand man ihn nicht, und seine Mutter hielt seine Hand so fest, wenn jemand von den Ägyptern in seine Nähe kam, als fürchte sie die Kinderfreundlichkeit der Leute. Die Ausländerfremdheit hat der Säugling Jesus also mit der Sorge in der Muttermilch eingesogen.
Und dann der dritte Ausländer. Man möchte am liebsten wissen, ob es einen Augenblick des Auskostens bei Jesus gab, einen Sonnenstrahl des Genießens: Kommt der Mensch in Uniform, der gestiefelte römische Centurio und sagt zu ihm, dem barfüßigen Zimmermann aus Nazareth: „Kyrios!“ … Ob es einmal über Jesu Züge gehuscht ist: Das kaum verkneifbare Lächeln darüber, wie kurios das ist? … Der Militärmensch und der kleine Wunderjude?! Der gedrillte Verteidiger der westlichen Weltmacht und der ungelernte heimliche Sohn Gottes?! Gönnten wir’s ihm, wenn er es denn empfunden haben sollte: Den absurden Humor dieser Begegnung, als er die Hoffnung und Hilfsbedürftigkeit der Fremden, der Gott-Fremden erfuhr!
Spätere Christen jedenfalls haben es gar nicht übersehen können, wie hintergründig das war, dass da ganz früh schon die aufgedonnerte und darin tatsächlich ja auch erfolgreiche Autorität der westlichen Zivilisation vor dem, den sie kreuzigen würde, ein Bittsteller war! Die Macht der Erde, das Gesetz der Gewalt hat sich Jesus ausliefern müssen, noch ehe er mehr getan hatte, als einige brutale Haut-, Muskel- und Gemütskrankheiten zu heilen (vgl. Matth.4,24+8,1ff), die Armen, die Sanften und die Traurigen selig zu preisen und die Menschen insgesamt zu strenger Einfachheit und Heiligkeit zu rufen (vgl. Matth5-7). … Gesundheit, Glück und Reinheit werden ein paar Galiläern zuteil, und schon stößt Rom an die Grenzen seiner unermesslichen Tat- und Formkraft: Daran haben viele denken müssen, die sich in den Katakomben verbargen, in den schrecklichen Bergwerken am Schwarzen Meer als Christen in endloser Zwangsarbeit wiederfanden oder in den Arenen eingekreist von Gladiatoren zusammenhielten. Der römische Hauptmann von Kapernaum hatte ihnen den Trost erwiesen, zu zeigen, wer der Sieger über Rom und seine Herrschaft, wer der Sieger über all die unterdrückerische, lähmende Gewalt des Todes ist. ———
Und trotzdem ist auch etwas Sonderbares in dieser tröstlichen Unterordnung des Zwingherrn unter den Besiegten. Es ist etwas Sonderbares in dieser so ungeheuer notwendigen Demut des Soldaten vor dem Zivilisten, des Heiden vor dem Juden, die aus den tiefen Worten spricht, die die Gläubigen in jeder Messe auf sich persönlich anwenden und die auch wir uns wahrhaftig zu eigen machen sollten, um wieder geerdet, eingemenscht und sünderehrlich zu sein: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort so wird meine Seele gesund“[i].
Das Sonderbare, ja Irritierende an diesem Inbegriff des Glaubenbekennens fällt uns dann auf, wenn wir darin nicht nur die bescheidene, ehrlich selbstkritische Einschätzung der eigenen Verdienste sehen, sondern auf die Begründung achten, die der Hauptmann für sein blindes Vertrauen findet.
… Denn der Soldat bleibt Soldat. Auch seine Demut wächst auf dem Grund eines markigen Hochmutes. Und das Gefühl, das mich bei der Predigtmeditation beschlichen hat, dass ich wirklich nicht über einen Militär predigen mag in Tagen, in denen solche Kriegsgefahr in Osteuropa herrscht, wie wir sie uns - mit vielem andern in jüngster Zeit - wirklich nicht mehr hätten vorstellen können, … dieses Gefühl innerer Abwehr gegen den zwar knieenden, aber sich selbst dennoch nicht ernsthaft verneinenden Offiziers ist machtvoll. Was ihn da bei der rührenden Bitte für seinen kranken Knecht (wissen wir aber, wie er ihn kujonierte, … wie er also in Wahrheit seine Arbeitskraft und nicht sein Anrecht zu leben bewahren wollte?) … was den Hauptmann bei seiner rührenden Bitte für den kranken Knecht motiviert ist … Kadavergehorsam!
„Auch ich bin ein Mensch der Hierarchie! Auch ich versteh’ mich auf Kommandos und blindlings ausgeführte Befehle! Auch ich weiß, wie pariert wird, wenn nur der richtige Vorgesetzte einmal gut brüllt!“: Diese Logik des Kasernenhofes hat ihn so zuversichtlich gemacht, dass der Kyrios Jesus, dieser Rabbi aus den Dörfern, der unerklärlicherweise der Oberbefehlshaber in der verworrenen Geister- und Dämonentruppe des Vorderen Orients ist, etwas ausrichten kann. …….
… Und es wird einem schlecht!
Was für ein plumper, stupider, unverfrorener Rückschluss von sich auf andere! Eigentlich verbietet es sich, das ernst zu nehmen: Die dreiste Anwendung des beschränkten eigenen Weltbildes auf die unvergleichliche Neuigkeit, die mit Gottes Realität in Jesus, die mit der Fleischwerdung des Schöpferwortes mitten in der Weltgeschichte eingekehrt ist. Wie kann ein Mensch es wagen, die simplen Mechanismen, in denen er befangen ist und sich wichtig vorkommt, auf den Heiland, auf den Höchsten zu übertragen.
Wenn wir das vor dem Hintergrund unserer Geschichte hören – aus Osten, Süd und West kommend nun also auch im Norden angelangt – … wenn wir diese bornierte „Befehl-ist-Befehl“-Logik hören, muss es uns bei der Erinnerung an die in der letzten Woche zum achtzigsten Mal sich jährende Wannsee-Konferenz schlicht grauen!
Weil ein Handlanger der Macht weiß, dass das System des amoralischen, blinden Gehorsams auch Unmögliches möglich macht, ist die Einsicht in’s Funktionieren der Befehlsketten-Maschinerie doch wohl noch lange kein Argument dafür, Heil und Heilung könnten ebenso gut wie Unheil und Tod in diesen Bahnen laufen!
Dass der Kommandant von Kapernaum Jesus mit dieser spezifischen Legionärserfahrung tief bewegt haben sollte, ist darum hoffentlich, … nein: sicherlich ein Missverständnis!
Die Heidenkirche, die zwar zunächst zu den Opfern der römischen Unterdrückungspolitik gehörte, sich später aber gerne als urrömisch sah und gab, … die Heidenkirche hat es gerade auch in ihrer protestantischen Spielart am liebsten so verstanden, als habe Jesus vor lauter Rührung angesichts des braven Soldaten und seines Zutrauens gar nicht gewusst, wohin. In heidenchristlichen Ohren klang es immer, als habe Jesus damals gestaunt: „Einen so tiefen, echten, wahren Glauben habe ich noch nie erlebt wie ausgerechnet bei diesem Fremden!“ Und damit war ja ausgemacht, dass die Lateiner und Germanen, die Landser und die Leute wie du und ich viel redlicher in ihrem urigen Gottvertrauen sein müssen, als die Juden und die Judenchristen, bei denen es von Anfang an unerhört war, dass einer, dem bloß „Geh hin!“ oder „Komm her!“ oder „Tu das!“ gesagt wurde, sofort parierte. Das Volk der Bibel hat immer schon gefragt und widersprochen, hat immer schon seine Freiheit zu Wider-rede und Irrtum, zu trotzigem Eigensinn und martyriumswilligem Widerstand behauptet. Frage und Gegenfrage, Befehl und Achselzucken sind jüdische Grundmuster der Reaktion.
Dass Jesus das militärische Konformitätsschema der jüdischen Lust an der Kritik vor-ziehen solle, ist eine Einbildung Europas.
Er hat es so auch nicht gesagt, als der Hauptmann ihm erklärte, dass sein felsenfestes Jesus-Vertrauen auf der eisernen Disziplin seiner Kohorte beruhe.
„Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden!“, war seine Entgegnung. … Das Werturteil, das wir darin zu hören gewohnt sind, gibt es nicht: Es ist Jesu Begegnung mit dem Glaubensweg und der Glaubensweise eines Fremden, eines Menschen, dessen Horizont und Vorstellungen, dessen Lebensumstände und geistige Veranlagung ganz anders sind als alles, was es in Galiläa und Judäa damals gab.
Doch indem Jesus auch diese eigene Prägung eines ihm ganz fremden Menschen als dessen spirituelle Bereitschaft anerkennt, … indem Jesus auch die eigentlich haarsträubende, hinkende Analogie zwischen Leutnant und Heiland als eine Form des Glaubens würdigt, setzt er Weihnachten fort!
Hatte es bis zum Erscheinen des Sohnes Gottes im Fleisch vom Schöpfer zu Recht geheißen, dass wir kein Bild des Unsichtbaren haben, keine Vergleiche zwischen dem Überweltlichen und den Innerweltlichen ziehen sollten und in philosophischer und theologischer Suche nach dem lebendigen Gott keine Analogie zwischen dem Ewigen und Endlichem annehmen dürften, hat sich das mit der Geburt des menschgewordenen Erlösers radikal verändert: Der uns begegnet, wenn wir Jesus suchen und finden, ist uns nicht total fremd, er ist nicht absolut anders und unerreichbar für unsere fehlerhaften, versuchsweisen Verständnisbemühungen[ii].
Seit Gott Mensch wurde, dürfen - ja müssen!!! - Menschen menschlich über Ihn zu denken und zu reden versuchen; seit Gott Mensch wurde, ist nichts Menschliches mehr prinzipiell unvereinbar mit Ihm oder unvorstellbar als Behelf beim Suchen, als Brücke zur Annäherung, als Bild des Geliebten.
Und wenn eine Charge beim Kommiss der Römer plötzlich weich wird, … wenn so ein bärbeißiger uniformierter Haudegen, den es in seiner Garnison in Galiläa ins Grübeln bringt, dass sein Bursche, sein Adjutant über’n Deister gehen und nie wieder Heimaturlaub kriegen soll, anfängt sich zu schneuzen, … wenn so eine olle Rumpelnatur im Waffenrock plötzlich das menschliche Rühren kriegt, dann ist das nichts anderes als die naive Neugier der Hirten von Bethlehem und der kosmische Tiefsinn der naturfrommen Sterndeuter aus Morgenland: Es ist das Menschenwesen, das sich dem lieben Gott, dem großen Gott, dem heiligen Gott, dem ewigen Gott nicht entziehen kann … und sich vor Ihm auch nicht verstecken muss.
Es ist einer der vielen Wege, die von Osten und von Westen, vom Norden und vom Süden ganz unterschiedliche Verläufe nehmen, um ganz verschiedene Menschen ihre Pilgerfahrt zu Gott, dem Ziel aller Welt vollziehen zu lassen.
So öffnet sich mit dem Hauptmann von Kapernaum im Matthäusevangelium die Weite, in die es im Taufbefehl schließlich großartig münden wird: In aller Welt (vgl.Matth.28,18ff) sind Menschen, die aus allen Himmelsrichtungen zusammenkommen und auf ihren je unvergleichlichen Glaubenswegen zu Abraham, Isaak und Jakob geführt werden, in den Bund, den Gott geschlossen hat, um darin Raum für zahllose Glaubende und Gerechtfertigte zu schaffen, die wie der Sand am Meer und die Sterne am Himmel sein sollen. ———
Das Modewort von der Toleranz, das immer wieder zwischen halbherziger Duldung und leidenschaftslosem Unernst schwankt, beschreibt das nicht annähernd, was durch Jesus an Weitherzigkeit und Gleichzeitigkeit, an Verbundenheit der Verschiedenen und an Einigkeit der Andersartigen aufgetan ist.
Wer hört, wie er den römischen Soldaten in seiner kulturellen Fremdheit und persönlichen Eigenart als einen Glaubenden begrüßt, den muss eigentlich Geschwisterheimweh und Menschheitsliebe packen, wenn er ein Reich-Gottes-Herz hat.
So seltsam uns andere Menschen berühren mögen, so unvertraut und unheimlich uns ihre schönsten Bilder, ihre innigsten Träume, ihre ehrlichste Hoffnung auch erscheinen mögen, so befremdet wir vor ihrer Art und ihren Taten vielleicht auch stehen: Denken wir daran, dass so unendlich viele berufen und willkommen sind im Himmelreich! ——
„Es geht kein Mensch über die Erde, den Gott nicht liebt“, hat dazu der alte Vater Bodelschwingh in Bethel gesagt[iii].
Und darum führt kein Weg über die Erde, den Gott nicht endlich zu sich lenken wird. ——
In keinem Menschen also und in keinem Glaubensweg mehr das ausschließlich Fremde zu sehen: Das ist der beste Schritt, den wir auf’s Ziel hin setzen können.
Daher will ich heute – in der tiefen, vor allem Wissen tragenden Gewissheit, dass Jesus Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben überall und immerdar ist – die Predigt mit einem Blick nach Osten und einem Wort aus dem Westen schließen.
Gestern, als es dort Mitternacht wurde ist in Vietnam ein Mensch der Frömmigkeit und des Friedens gestorben, der buddhistische Mönch Thích Nhȃ́t Hạnh, dessen Lehre von der Achtsamkeit und dessen Botschaft davon, wie man Leid und Glück nie trennen kann und wie das Leben rein im Augenblick ein Engagement für Großes und für Viele nicht ausschließt, Menschen überall bewegt hat.
Ich selber verstehe nichts vom Buddhismus. Er bleibt mir fremd.
Aber Martin Luther King hat Thích Nhȃ́t Hạnh einen Apostel genannt[iv]. …….
Und da höre und sehe ich meinen Herrn zwischen ihnen beiden – dem Mönch fern aus dem Osten und dem kämpferischen Prediger aus dem Westen –, … und ich weiß, wie das, was er diesen beiden genau wie dem Hauptmann einst im Süden sagte, uns heute morgen hier im Norden auch gesagt ist:
Dir geschehe, wie du geglaubt hast! ——
Herr, bring uns alle an das Ziel, an das wir glauben!
Bring uns zu Dir!
Amen.
[i] Zu diesem Teil der eucharistischen Liturgie vgl. Birgit Jeggle-Merz / Walter Kirchschläger / Jörg Müller, Kapitel: Einladung zur Kommunion, in: dies. (Hgg.), Leib Christi empfangen, werden und leben. Die Liturgie mit biblischen Augen betrachtet (Luzerner Biblisch-Liturgischer Kommentar zum Ordo Missae 3), Stuttgart 2016, 119- 131.
[ii] Auch hier vollzieht sich für mich eine Abkehr von identitätsstiftenden protestantischen Positionen. Die Bestreitung der Analogie als sinnvollen Mittels und hilfreicher Methode des menschlichen Nach-Denkens über Gott hat in den dreißiger Jahren noch einmal geradezu bekenntnishafte kontroverstheologische Bedeutung gewonnen. Der (innerprotestantische) Streit, der letztlich aber v.a. das Gesamt der katholischen, aristotelisch-thomistischen fundamentaltheologischen Tradition verwarf, ist dokumentiert in dem Sammelband, der Karl Barths und der Seinen Ablehnung der natürlichen Theologie etwa Emil Brunners bündelt: „Dialektische Theologie“ in Scheidung und Bewährung 1933.1936. Aufsätze, Gutachten und Erklärungen, hgg. v. Walther Fürst, (Theolog. Bücherei, Bd.34), München 1966. So sehr die Perversion der völkischen Pseudo-Theologie und aller naturalistischer Kurzschlüsse in der Theologie abzulehnen bleibt, so eindeutig ist die Verwerfung des Analogieschlusses als hermeneutischen Verfahrens eine ideologische Selbstverhinderung der fides quaerens intellectum, … also des Verstehen suchenden Glaubens. Um auf Barth mit Barth zu antworten: Verwerfung der Analogie im theologischen, philosophischen und interreligiösen Gespräch? – „Nein!“
[iii] Vgl. dazu Manfred Hellmann, „Es geht kein Mensch über die Erde, den Gott nicht liebt“. Das Leben Friedrich von Bodelschwinghs d.Ä., Holzgerlingen 2010.
[iv] https://plumvillage.org/letter-from-dr-martin-luther-king-jr-nominating-thich-nhat-hanh-for-the-nobel-peace-prize-in-1967/
16.01.2022, 2.So. n. Epiphanias, Stadtkirche, 1.Korinther 2, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 16.I.2022 - 2.n.Epiphanias
1.Korinther 2,1-10
Liebe Gemeinde!
Die ersten rechten Auftritte, bei denen ich dem Publikum so etwas wie eine Moral oder eine Anti-Moral in die Ohren zu vermelden hatte, habe ich in einer sonderbaren Rolle bestritten. Ich trug ein selbstgebasteltes Joch mit zwei Blecheimern und plärrte - damit die Schultheater- Zuschauer in der Kleinstadt es auch gleich begriffen, wer ich da im fernen China sei und was ich anzubieten habe - „Kauft Wasser! Kauft Wasser!“. Es war der mir nicht allzu sympathische Wasserträger Wang, im Stück über den „guten Menschen von Sezuan“ des mir nicht allzu sympathischen Dichters Bertolt Brecht, den ich da verkörpern sollte. Herrn Wang fiel die Aufgabe zu, drei Göttern bei der Suche nach einem menschlichen Menschen zu helfen, einem Menschen, dessen Haltung und Handeln den Fortbestand der großen Stadt Sezuan rechtfertigen könnten. … Der Wasserträger selbst war dieser Gerechte jedoch nicht. Herr Wang war zwar einfach und unvoreingenommen, aber aus Armut bar jeder Moral.
Zwei weitere seiner Züge jedoch verbinden mich mit ihm bis heute: Er wartete - ohne besonders fromm zu sein, vielleicht aus Neugier - auf den Besuch der Götter. So möchte ich auch bleiben: Jetzt am Jahresanfang, in der Lebensmitte, in einer endzeitlich-ernsten Epoche. Die Gotteserwartung, die Bereitschaft, jederzeit das Dasein und das Hier-Sein Gottes als wichtigstes Tagesereignis, als allesentscheidende Zukunftsperspektive zu sehen, will ich bewahren dürfen.
Doch die andere Gewohnheit, die der Brecht’sche Antiheld und der Pfarrer hier vorne teilen, will ich abzulegen üben: Der Wasserträger verkaufte seine lebensnotwendige Ware in Bechern, die größer aussahen als ihr Hohlmaß wirklich war. Man schien bei ihm mehr zu erhalten, als man wirklich bekam. … Den Trick aber kennen alle, die predigen, alle, die in der Verkündigung, im Dienst der Gottesbeschreibung und Evangeliumswerbung stehen. Die Aufmachung soll ansehnlich scheinen, soll Dimensionen haben, die etwas darstellen, soll medial, statt medioker wirken, soll die „Kundschaft“, die „Verbraucher“, die Durstigen befriedigen noch ehe auch nur ein Quäntchen „intus“ ist.
Und so wird der Gottesbecher, das Fass der Glaubensbrause, der versilberte Kübel des irgendwie feierlichen, letztlich aber läppischen Schaumweins bei den Lebensfesten, die Karaffe zum Dekantieren zeitgemäßen Jahrgangsjargons zu den vermeintlich gesellschaftlichen Themen immer schicker und marktgängiger, während der Inhalt nicht zunimmt.
… Dass der Inhalt immer mehr werden müsse, dass es die üblichen Steigerungsgelüste, das alte Wachstumsträumen auch in Sachen christlicher Botschaft geben müsse, will damit gar nicht gesagt sein. Und doch sollten wir, … doch will ich nun wirklich wieder ehrlich werden, was die Verkündigung anbelangt.
Zu lange ist so getan worden, als wandle sich die Substanz des Bekenntnisses unseres Glaubens mit den Bedürfnissen unserer Gegenwart. Zu lange haben wir mitgespielt beim Täuschungsmanöver, als nähme die Verkündigung immer so zu und immer jene Färbung an, dass gerade die Kategorien unseres Geschmackes und Gefallens damit bedient würden.
Doch diese reine Maßlosigkeit, dieses immer allen Angemessen-Sein-Wollen ist unser Betrug, ist unser Spiel, als servierten wir mehr, als wir eigentlich zu vergeben haben.
Wenn Menschen selber eine Marke schaffen, wenn wir selbst ein Modell entwerfen, dann geht das natürlich so zu: Dann wird gefragt und geforscht, worauf die Leute Lust haben, was Mode ist und reizvoll wirkt, woran man sich längst übersättigt hat und wodurch nun ein neuer Appetit geweckt werden könnte. Das alles macht man, wenn man Einlegegurken, Computerspiele oder populäre Religion verkaufen will. Dann kommt etwas weniger Dill, etwas agileres 3-D oder eine harmlosere Wohlfühlsprache zum Einsatz.
So haben auch nicht erst die schamlosen Ultrakapitalisten des Internet, die jede, jede, jede innerste Regung der Menschheit zu kommerzialisieren verstehen, es gehandhabt, sondern seit es Kultur gibt, macht der Markt, macht das menschliche Miteinander sich anheischig, jedem das Richtige zu bieten:
Olympier kriegen sportliche Götter; die Germanen schufen sich um ein gemütliches Herdfeuer schnaufende und saufende Überirdische, der riesige indische Subkontinent hat die bunteste, fruchtbarste Vielfalt göttergleicher Wesen, die denkbar ist, und wir Heutigen haben eine Entgötterung ausgerufen, die unserem Ideal der Unverbindlichkeit gerecht wird: Nicht, was Gott sich unter einem Menschen denkt, sondern was ein Mensch an Gott noch für akzeptabel hält, ist zum Maß theologischer Aussagen gemacht.
Alles findet also einen Gott nach Maß.
Und wenn die Masse, die Menge oder die Macht des Göttlichen mal nicht passen, wenn’s für die einen nicht reaktionär und für die anderen nicht poltisch-korrekt genug ist, wird eben nachgemessen: Soll jedes auf sein Lieblingsformat kommen, … light, öko oder ultra. Kein Problem. …….
Doch damit muss - für mich jedenfalls - Schluss sein. Kein Panschen und kein Pfuschen, kein Aufbauschen und kein Verdünnen mehr.
… Und das nicht, weil ich auf meine alten Tage nun so aggressiv konservativ werde oder solch eine Umkehr zur altehrwürdigen Tradition vollziehen mag. … Das alles sicher auch. … Aber Auslöser des ehrlichen, des enttäuschenden Maßhaltens in einer hemmungslos der Menschheit den Bauch pinselnden welt-anschaulichen Ranschmeiße an die momentane Konjunktur ist ein Anderer: Den hätten sie damals gern als pikant und mysteriös erlebt. Sie hätten wirklich applaudiert, wenn er ihnen nur Gänsehaut bereitet und ihre Emotionen geknetet hätte. Man konnte gefeiert werden, damals, für eingängige Publikumserfolge ebenso wie für die rücksichtlose, überwältigende Sprengung des normalen Horizontes. Hauptsache spektakulär und nervenaufreibend oder ölig angenehm. Hauptsache die Sache hat Reiz!
Und er … floppte.
Kein Zauberer, der das leicht erregbare, phantasievolle, abwechslungswütige Publikum beherrschte, das sich nach der harten Maloche in den Docks und in der heimwehkranken provisorischen Lebensweise, wie sie alle Hafenstädte hervorbringen, doch so nach Ergriffenheit und Entrückung sehnte. … Er war nun mal spröde. Und obwohl sein Kernsatz - dass die Welt in der Erneuerung und der Tod vergangen sei! - … obwohl sein Kernsatz so zum Träumen, zum Aufstehen, zum Abschütteln der Schmerzen und zum Aufstieg ins Jauchzen taugte, konnte man sich durch ihn keinen Augenblick in Trance, in eine Realität der Wunscherfüllung oder einen Taumel der Selbsterhöhung versetzt finden.
Die Korinther, deren Herz berührt und deren Fleisch getauft worden war, waren so enttäuscht von ihrem Apostel Paulus. … Gewiss, er brachte ihnen Gott nahe.
… G O T T!
… Den, Den kein Augen sehen und kein Ohr hören kann; Der sich unsichtbar macht vor Mose, um ihn nicht zu überwältigen (vgl. die heutige Lesung: 2Mose 33,18-23!); Dessen Herrlichkeit unanschaulich und unergründlich ist. Diesen Gott brachte Paulus den Korinthern, den Sklaven und den Geschäftemachern, den suchenden Tagelöhnern und den rastlosen Luxusweibchen, den wirklich geistlich Hungernden und den einfach nur Unterhaltungssüchtigen. Diesen Gott brachte Paulus tatsächlich. Und doch machte er niemanden zittern, weder durch Furcht noch durch Ekstase. Alles, was er sagte, belief sich - auch da, wo es eine ungeheure Befreiung, eine spürbare Lösung aus der Unsicherheit, echte Antwort, unumstößliche Hoffnung brachte - doch immer wieder auf das Eine:
Der Sinn des Lebens findet sich in einem Ermordeten!
An einem Galgen hat das Himmelreich begonnen!
Allein der Gekreuzigte, allein Jesus Christus!
Das war die ganze Weisheit, die ganze Erleuchtung, die ganze Offenbarung, die dieser unbedeutende Jude aus der Provinz Kilikien in ihren großen Umschlagplatz, in ihre Metropole der Vielfalt, der kulturellen und ethnischen Diversität brachte: Die Geschichte von Einem, der nicht gewonnen hatte, sondern kampf- und wehr- und ehrlos von der politischen Weltmacht umgebracht worden war?!
… Das sollte das Geheimnis der Erlösung sein?! … Daran sollte sich entscheiden und darin sollte sich finden, was der gehetzten und prekären Spannung einer Welt voller Gegensätze und Fliehkräfte Verheißung geben konnte?!
Das Hin- und Hergerissen-Sein der Korinther, die im Evangelium einer Kraft begegneten, die sich nicht leugnen ließ, obwohl sie keinerlei schlüssige Erklärung dafür finden konnten, hat Paulus über Jahre verfolgt.
Andere Kulte der Antike waren viel lebens- und erlebnisnäher. Man konnte pharmazeutisch, autosuggestiv und sexuell befeuert ganz andere Zustände erleben. Man konnte ganz andere soziale und spirituelle Energien entfesseln, und auch im Namen des Jesus von Nazareth gab es ganz andere Hypnotiseure und Therapeuten, glänzende Volksredner und Idole der hobbyphilosophischen Liebhaberei.
Aber Paulus hat - bis auf seltene Ausnahmen der Verzweiflung (vgl.2.Kor.12,1-13) - nicht mehr als das ernüchternde Wort vom Kreuz verkündet: Dass Gott selber da lieber das menschliche Sterben erlitt, als den Wahnsinn des gottlosen Lebens zu teilen. Dass Gott sich lieber klein, niedrig und hilflos, dass er sich leidend, schwach und bezwungen eher sehen ließ, als in die Lüge der Selbstherrlichkeit und Allmacht dieser vergänglichen Welt eingebunden zu werden. Dass Gott in solcher Ohnmacht mehr Recht und in diesem Tod mehr Zukunft aufgedeckt hat, als alle anderen Mächte und Gewalten der Erde in ihren sämtlichen Triumphen und bestrickenden Illusionen es jemals würden. ——
So wenig und so viel hat Paulus nur gepredigt.
Und man konnte ihm ansehen, an seiner ganzen Gestalt konnte man es geradezu ablesen, dass da nicht ein Effekt gehascht wurde, der Mitleid hervorrufen und dann in Staunen umschlagen würde, wenn aus dem irreführend geringen Einstieg schließlich doch noch - „Simsalabim!“ - ein mit „Oh!“ und „Ah!“ gewürdigter Überraschungsknaller wurde. Dieser erkennbar kranke Prediger (vgl. 2.Kor.10,10:12,7!) blieb befremdlich bescheiden, und auch, was er von Ostern und von der himmlischen Gegenwart des Herrn Jesus zu sagen hatte, was er von der Herrschaft dieses Herrn Jesus zu sagen hatte, was er von der Hoffnung auf diesen Herrn Jesus zu sagen hatte, was er vom Wiederkommen seines Herrn Jesus und von dessen Gericht zu sagen hatte, was er von der Vollendung aller Dinge und dem endgültigen Sieg dieses Herrn Jesus, der Gott alles in allem machen würde, zu sagen hatte, … das alles betraf immer noch und ewig weiter Jesus Christus, den Gekreuzigten.
Das alles löste sich also nicht in Wohlgefallen auf oder schäumte über in einen gewaltigen Akt explosiver Erleuchtung. Die Herrlichkeit des Herrn Jesus hatte Paulus vor Damaskus blind gemacht (vgl. Apg.9; 22;26). Und als er wieder sehen konnte, da wusste er, dass im Gekreuzigten das Heil lag und dass das Licht, das ihn geblendet hatte, nur der nachzitternde Schatten jener Liebe war, die sich auf Golgatha geoffenbart hat[i].
Nichts Größeres als das also! ——
… Und wenn das den Korinthern nicht reicht? An Erklärung und Logik? An emotionaler Bandbreite und praktischer Anwendbarkeit? Wenn sie es gerne mehr auf sich bezogen wüssten, lieber von den persönlichen Folgen, am besten gleich vom eigenen Vorteil durch diese Botschaft etwas hörten, … was dann?
Dann bleibt es trotzdem im Geheimnis verborgen, dass die Weisheit Gottes nicht übernatürlich, nicht metaphysisch, nicht schockierend und auch sonst nicht dynamisch zündend, funkensprühend, glutvoll die Wirklichkeit umschmilzt oder sensationell transformiert, sondern in die Unerkennbarkeit gehüllt bleibt, die wir Beherrscher und zu-gleich Diener dieser Welt nicht erkennen können, die uns Kindern dieser Zeit unbegreiflich bleibt.
Und darum - so habe ich mir’s vorgenommen - will und werde auch ich nicht mehr den vergeblichen, den vermessen törichten Versuch fortsetzen, dieses Geheimnis Gottes zu erklären und die Weisheit Gottes zu verknüpfen und zu verrechnen mit dem Wenigen, das wir erfassen und verstehen können.
Es wäre der Wasserträgertrick eines Gefäßes, das mehr andeutet, als es aufnehmen kann.
Zwar würde ich vielleicht auch heute noch gerne Herrn Wang spielen, das treuherzige Schlitzohr, der’s eigentlich gut meint, aber halt hier und da ein wenig flunkern und die Wirklichkeit seinen Möglichkeiten unverdrossen nachempfinden muss, so dass sie beide zueinander passen.
Ich könnte so tun, als wären die großen Löcher in der Zuverlässigkeit unserer Erkenntnis mit gutem Willen und Moral zu stopfen. Ich könnte so tun, als passe auf die abgründigen Schlaglöcher in der Landschaft dieser Welt immer ganz kommod ein Deckel des forschen Gutmenschentums. Ich könnte, ja ich würde gern auch vorgeben, dass es überhaupt keine Schwierigkeiten gibt, keine Krisen, keine Klima- und Coronanöte, denen wir nicht mit der hausgemachten Floskel- und Behauptungskiste irgendeiner politischen, ökonomischen, humanistischen Ideologie zu Leibe rücken sollten, bis durch Impfen und erneuerbare Energien und treulich gegenderter Sprache alles in Glück und Sonnenschein sich auflöst.
Doch ich halte es für richtig, das mir nicht und auch anderen nicht weiszumachen.
Ich halte es für richtig, nichts zu wissen, als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten.
Dass er aber und wie er aber die Antwort auf alle unsere Fragen ist, … wie und dass er die Überwindung des Verderbens, … die Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben, … die Rettung der Verlorenen, … die einzige Hoffnung der Menschen aller Zeiten ist und bleibt, … das kann nicht mit überredenden Worten der Weisheit demonstriert und durchgesetzt werden.
Es ist nämlich dem Erweis des Geistes und der Kraft vorbehalten!
Und darum so sehr ich die guten Menschen, die wir sind, sein können und sein sollen, schätze, so glaube ich doch nicht, dass sich das Schicksal unserer Zeit von Menschenseite alleine wenden und klären lassen wird.
Bertolt Brechts Stück vom guten Menschen von Sezuan, das Stück von der Suche nach einer rettungsfähigen und lebenswürdigen Menschheit endet mit dem in meinen Ohren verzweifelten Appell:
„Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach:
[Die Menschen] selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis‘ dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß!
Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!“[ii]
Das Stück jedoch, in dem wir stehen, wird nicht so einsam nur vom gottverlassenen Menschen geschrieben und hängt auch nicht allein von ihm als Held oder als Versager ab.
Sondern – auch wenn uns das ganz und gar bescheiden, leise, still und wartend machen will – … sondern von diesem Stück, dessen Auflösung wir allein nicht finden können, weil sie sich am Geheimnis des Gekreuzigten entscheidet, heißt es:
Gott offenbart es schließlich durch den Geist; denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen Gottes.
Und darum steht unser Glaube wirklich nicht auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft!
Amen.
[i] Die im Werk von Karl-Heinz Menke immer wieder begegnende und meditierte Wendung von der „gekreuzigten Liebe“ ist eine entscheidende Verdichtung dieses Glaubenssatzes. Vgl. z.B. durchgängig: Karl-Heinz Menke, Das unterscheidend Christliche. Beiträge zur Bestimmung seiner Einzigkeit, Regensburg 2015.
[ii] Bertolt Brecht, Gesammelte Werke 4 (Stücke 4), hgg. Vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit m. Elisabeth Hauptmann, Frankfurt/M 1967, S.1607.
02.01.2022, 1.S.n.d.Christfest, Joh.6,37, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text: Joh.6,37 (Jahreslosung 2022)
Liebe Gemeinde,
„Botschaft in Bildern", so heißt das neueste Buch von Gerd Theißen, das ich in der Adventszeit mit großem Vergnügen und Gewinn gelesen habe. In diesem gar nicht dicken Buch beschreibt Theißen sehr eindrücklich, wie sehr die biblische Botschaft mit Bildern verbunden ist, die die Menschen über alle Religionsgrenzen hinweg anspricht, weil es Bilder sind, die den Menschen kollektiv ins Herz und in die Seele geschrieben sind. Er ist damit sehr nahe bei der Erkenntnis Carl Gustav Jungs, der einmal gesagt hat, die einzige Fremdsprache, die alle Menschen lernen müssten, sei die Sprache der Symbole/der Bilder, weil diese ihnen zeigen könnte, wer sie sind im Zusammenspiel mit allen anderen Menschen und als Geschöpfe der Erde und des Himmels.
Jesus hat das wohl schon 1900 Jahre vor C.G.Jung so gesehen, weshalb er das, was ihm besonders wichtig war, in Bildergeschichten erzählte: das Gleichnis vom verlorenen Sohn oder vom verlorenen Schaf, das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter oder von den Arbeitern im Weinberg. Geschichten und Bilder, die über Kultur- und Religionsgrenzen hinweg verstanden werden können.
Sehr nahe bei den Wort-Bildern sind die Bilder in der darstellenden Kunst - Gemälde und auch Plastiken. Auch sie malen uns Geschichten vor Augen und helfen uns so, uns einzufühlen und zu verstehen, was der Künstler uns durch sie mitteilen will.
Mit zwei Bildern will ich Ihnen darum heute morgen die Jahreslosung für 2022 näherbringen.
Die Jahreslosung selbst ist gänzlich bildlos, ohne Substantiv oder Adjektiv. Ein Vers aus dem Johannesevangelium:
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Doch auch für dieses Jahr haben verschiedene Künstler/innen versucht, sie ins Bild zu setzen. Diese Aufgabe war sicher in der Vergangenheit oft einfacher. Aber sehen wir, was ihnen da eingefallen ist, in der Auseinandersetzung mit dem Vers aus Johannes 6: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Das erste Bild finden Sie auf dem Gottesdienstprogramm (Quelle: Verlag Am Birnbach). (siehe pdf-download)
Eine offene Tür, die den Weg freigibt in einen Raum, der erfüllt ist von einem hellen warmen gelben Licht - ganz im Kontrast zu der Wand mit der Tür, die in einem kühlen Blau gehalten ist. In diesem lichterfüllten Raum stehen in der Mitte auf einer angedeuteten Tischplatte ein Laib Brot und ein gläserner Becher mit je nach Betrachtung Rotwein oder rotem Traubensaft. Wie an einer Halskette hängend schwingt ein filigranes goldfarbenes Kreuz mit einem Schlüsselbart am unteren Ende des vertikalen Balkens nach links und gibt damit den Durchgang durch die Tür frei. Das Licht aus dem Raum fällt auf den Fußboden und zeichnet einen einladenden Weg, auf den der Vers der Jahreslosung geschrieben steht: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Der Künstler oder die Künstlerin - ich habe den Namen im Prospekt leider nicht gefunden - hat sich von der Bildlosigkeit des Verses nicht irritieren lassen. Vielmehr hat sie oder er sich inspirieren lassen von der Tatsache, dass es sich um einen Vers aus dem Johannesevangelium handelt und zwar aus der sogenannten Brotrede. Das sehr lange 6. Kapitel beginnt mit der Erzählung von der Speisung der 5000, die bei den Menschen eine solche Begeisterung auslöst, dass sie Jesus sofort zum König ausrufen wollen. Das wiederum steht Jesus völlig fern; ihm geht es eben nicht um weltliche Herrschaft, sondern um ein Leben, das sich am Willen Gottes orientiert. Doch er hat es schwer, sich verständlich zu machen; es folgt eine lange Rede, in deren Zentrum das erste der sog. „Ich-bin-Worte" steht: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten."(Joh.6,35) Und es fällt auch der Satz „Wer mein Fleisch isst und trinkt mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm." (6,56) Worte, die an das Abendmahl erinnern - darum auch der gläserne Kelch und das Brot auf dem Bild. Und auch die Tür erinnert an eines der „Ich-bin-Worte": „Ich bin die Tür, wer durch mich hineingeht, der wird glücklich werden und wird ein und ausgehen und erfüllt und sinnvoll leben." Und der Lichtstrahl auf dem Fußboden weist auf ein weiteres Ich-bin-Wort: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben."
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Dieser Jesus ist uns wichtig: die offene Tür, die bedingungslose Annahme. Daran lassen wir uns gerne am Beginn dieses Jahres erinnern. Zu ihm können wir kommen mit allem, was uns auf dem Herzen liegt. Mit allem, was uns gelungen ist und mit allem, was uns misslungen ist. Die Tür steht offen, jede und jeder kann hineingehen und auch wieder hinausgehen; da läuft man nicht Gefahr, auf einmal festzusitzen. Jesus respektiert unseren Wunsch nach Freiheit. Mit ihm kann jeder und jede ihren eigenen Lebensweg finden und gehen. Brot und Wein sind Wegzehrung und Stärkung.
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Was irgendwie nicht so ganz ins Bild passt: es ist das wie ein Uhrpendel schwingende Kreuz, das Kreuz als Schlüssel - auch zum rechten Verständnis der Jahreslosung. Um dem auf die Spur zu kommen, schauen wir uns einmal das zweite Bild an:
Im Zentrum eine Gestalt im warmen gelben Licht mit offenen, einladenden Armen: Jesus Christus. Und im Vordergrund, uns den Rücken zukehrend, kleine und große Gestalten, die die Einladung offensichtlich annehmen und zu Jesus hinlaufen. Eine bunt gemischte Schar. Mich erinnert dieses Bild an ein anderes Jesus-Wort aus dem Matthäusevangelium: „Kommt her zu mir all, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken." Und auch an eine andere Begebenheit, wo Mütter mit ihren Kindern zu Jesus kamen, um diese von ihm segnen zu lassen. Wo die Jünger sie abwiesen und sich Jesus erst energisch dagegen verwehren musste: Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, weist sie nicht ab.
Dieses Bild verweist uns darauf, dass Jesus gerade damit immer wieder angeeckt ist: dass er alle, wirklich alle, die zu ihm kommen wollten, an sich herangelassen hat:
die Mühseligen und Beladenen, die moralisch Anrüchigen, die Sünderinnen und Sünder, die Außenseiter und Fremden, die, mit denen die Anständigen, die Frommen, die Tüchtigen nichts zu tun haben wollten.
Genau dieses Verhalten brachte ihm Ablehnung, Abweisung ein. Mit jemandem, der sich in solch schlechte Gesellschaft begab, mit dem wollten die Frommen und Anständigen nichts zu tun haben. Die Tischgemeinschaften, die Jesus praktizierte, die Einladung ins Haus des Zachäus z.B., die führten dazu, dass viele nicht zu ihm hineingehen wollten. Er entsprach damit einfach nicht ihren Vorstellungen, wie ein Mensch Gottes zu sein und sich zu verhalten hatte.
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Ja, Jesus weist keinen ab, aber wer kommt zu ihm? Wer will zu ihm kommen, wenn er sich in schlechter Gesellschaft befindet, sich mit Leuten einlässt, die mehr als zweifelhafte Existenzen sind?
Und heute - da ist es doch auch angebracht, sich ehrlich zu machen: wer kommt denn noch zu ihm? Viele Menschen kehren der Kirche jedenfalls den Rücken. Da sind nicht nur finanzielle Erwägungen ausschlaggebend, sondern oft auch enttäuschte Erwartungen. Was bedeutet das für uns als Gemeinde? Was müssen wir ändern? Mit diesen Fragen hat sich tatsächlich schon die frühe Kirche befasst, die ersten Christen. Und wie es das Johannesevangelium schreibt, schon Jesus selbst. In eben jenem 6. Kapitel, in dem die Jahreslosung steht. Da können wir lesen, dass schon Jesus die Menschen in Scharen davongelaufen sind. Wie konnte es dazu kommen? Bei Jesus liegen doch ganz gewiss nicht die Versäumnisse vor, die man uns, seiner Kirche, oft zu Recht nachsagt: Versäumnisse an Achtsamkeit, an Glaubwürdigkeit, an Toleranz, an einer zeitgemäßen Verkündigungspraxis ...
Auch Jesus hat Erwartungen enttäuscht: für die einen hatte er den falschen Umgang, den sie ihm nicht verzeihen konnten.
Für andere wiederum war er nicht politisch genug, rief er nicht entschlossen zum Widerstand gegen die römische Besatzung auf. Für andere war sein Lebenswandel anstößig: er feierte offensichtlich gerne, konnte das Leben genießen - Fresser und Weinsäufer schimpften sie ihn. Selbst seine engsten Angehörigen irritierte er, sie hielten ihn für geistesgestört, hatten Angst, der er die ganze Familie in Misskredit bringen könnte. Und sogar seine Jünger konnten es nicht begreifen, warum er nicht seine Wunderkräfte zielgerichteter einsetzte gegen seine Neider und Widersacher - „Lass doch Feuer vom Himmel regnen und sie verbrennen!".
Nur sehr wenige haben ihn zu seinen Lebzeiten verstanden: dass er kein Zauberkönig sein wollte, kein Messias, der es richtet, sondern eben ein Mensch nach dem Willen Gottes, der nach seiner Weisung fragt - immer im Gleichmaß Gottesliebe und Nächstenliebe übt und genau darin seine Erfüllung findet. Ein Mensch mit weitem Herzen und weit geöffneten Armen. Der sich einladen lässt und selber einlädt, der das Brot, das ihn ernährt, teilt und weitergibt; der ausgießt, was ihm Lebenskraft und Hoffnung schenkt, den Wein der Gottesfreude. Der Geborgenheit gibt, ohne einzuengen, dessen Tür offen ist, der uns kommen und gehen lässt, der sich über unsere Zuneigung und Liebe freut und sich nicht darüber mokiert, wenn wir uns nicht jeden Tag bei ihm melden. Der uns niemals aus seiner Liebe fallen lässt - wie er es von Gott gelernt und übernommen hat; dessen Arme immer offen sind - selbst noch am Kreuz. „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Das ist die tröstliche Verheißung, die in der Jahreslosung liegt. Und daneben, eher darin verborgen die ermutigende Bitte an uns, es ihm, dem Christus Jesus doch gleich zu tun:
„Wer zu euch kommt, den weist um meinetwillen und um Gottes willen nicht ab.
Wer eure Liebe braucht und eure Hilfe, eure Zuwendung und euren Beistand, den weist um meinetwillen und um Gottes willen nicht ab.
Lasst euch nicht beirren von Ablehnung und Feindschaft; wer nach dem Willen Gottes fragt, findet nicht überall Beifall.
Erfolg ist kein Name Gottes, aber Barmherzigkeit, Güte, Geduld, Freundlichkeit und Klarheit.
Zeigt doch dieses ganze Jahr über, dass ihr die Botschaft von Weihnachten begriffen habt, dass ihr nicht nur Gottes Kinder heißt, sondern es auch seid - Töchter und Söhne Gottes - wie ich ein Sohn Gottes bin. Gemeinsam sind wir berufen, daran zu arbeiten, das Antlitz der Erde zu erneuern, für Gerechtigkeit und Frieden einzutreten und die Schöpfung zu bewahren."
Gebe Gott, dass wir diese Berufung nicht aus den Augen und aus dem Sinn verlieren.
„Christus Jesus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen. Und wer zu euch kommt, den weist um meinetwillen und um Gottes willen nicht ab."
Amen.
Altjahresabend 2021, Stadtkirche, Johannes 8,31f, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2021
Johannes 8,31f
Liebe Gemeinde!
Was nun endet, war ein Jahr der Schrecken, … Schrecken beinah apokalyptischen Ausmaßes: Feuer wütete weltweit, … sogar die Frostböden Sibiriens standen in Flammen. Fluten zur Sommerzeit haben in unserer unmittelbaren Heimat Zerstörung und Tod gebracht. Der Hunger hat himmelschreiendes Leid im Jemen geweckt, das dort den Krieg begleitet und ihm in Afghanistan nun ungehindert folgen wird. Und was die Krankheit vermag, ist allerorten die Morgen- und die Abendlitanei. Dass auf Erden die Verzweiflung wächst, dass die Menschheit in Umwälzung gerät, dass die Meere Gräber und die Wälder Mauern werden und manche zum Mars wollen, um dem irdischen Elend zu entrinnen, fügt sich zu einem Bild, dessen Züge von Breughel’scher Unübersichtlichkeit bei größer Klarheit sind: „Der Triumph des Todes“ ist keine finstere Vision des 16.Jahrhunderts, sondern die Überschrift über das, was wir als gebundene Chronik der Menschheit im 2021.Jahr nach Christi Geburt heute Abend abschließen werden. …
So bitter das klingt und so bunt und hell wiederum viele Blätter und Blüten gewesen sein mögen, die wir trotz alledem in unseren eigenen Erinnerungen an dieses Jahr einlegen und aufbewahren werden, … so wenig fällt es eigentlich doch aus dem Rahmen unserer Erwartungen. So lange ich denken kann, sehe ich uns alle voller Sorgen.
Wir Deutschen - und wir Evangelischen nun in ganz besonderer Weise! - waren lange vorm Zusammenschrumpfen der Welt in der Globalisierung ja immer schon für Sorgen im planetaren Maßstab zuständig: … Der Frieden! … Die Gerechtigkeit! … Die Natur! … Die Zukunft der Erde!
Philosophischere Verantwortung, wichtigeres Wesen zur Weltgenesung kann es nicht geben. … Und nichts davon ist Nebensache!
Aber kann all unser Sorgen - Betonung auf „unser“ Sorgen - die Hauptsache ersetzen?
Wissen wir indes überhaupt, was die Hauptsache ist?
… Oder haben wir gerade das vielleicht vergessen? …
Denn eins haben wir vernachlässigt unter all den großen Themen, die eines Hegel oder Marx würdig wären und aller anderer, die alles erklären und vollenden zu müssen meinen, … eines unter all den großen Themen hat niemand bebrütet, der das Welten-Ei des Kolumbus begackerte.
Das Entscheidende berührt hat nur der Erzfeigling dieser Erde, und als er merkte, was die Befassung mit diesem Thema bedeuten würde, ließ er es wie eine heiße Kartoffel fallen.
… Genug aber der lächerlichen Vergleiche bei etwas, das uns wirklich angeht wie unser tägliches Brot: Die ungestellte Frage, das unbestellte Feld ist … die Wahrheit.
Um die Wahrheit haben wir uns in den vergangenen Jahrzehnten wenig Sorgen gemacht. Unsere Systeme waren ja scheinbar intakt. Was Dinge bedeuten, war klar. Und wie man zu den Fakten eine Meinung findet, ergab sich aus Anschauungen, die durch Argumente und Logik geformt und verändert wurden. Dass wir dabei trotzdem ideologische Gegensätze kannten und teilweise bitter parteiische Konflikte, ließ die wahrhaftig entgegengesetzten Wege zur Wahrheit spüren. Aber dass man zur Wahrheit kommen müsse - und sie nicht schon habe - und dass man sich schließlich bei ihr treffen werde - dass sie also verbinde und nicht trenne -, das immerhin schien längere Zeit allgemein denkbar. … Dass ohne Chancen für alle Menschen, ohne den Blick über das bloß eigene Bedürfen und Besitzen hinaus kein sinnvoller, kein zuträglicher Weg in die Zukunft möglich werde - und nichts anderes als Wege zur Zukunft sind menschliches Denken und Handeln selbst in ihren schlichtesten Formen -, das war der vermutete Mittel- und Haltepunkt unserer unterschiedlichsten Ansätze.
Vermittlung der Unterschiede bis zur objektiven Stimmigkeit, Ausgleich geistiger Gegensätze im letztlich Sachlichen, Verbindung des Einzelnen zu Großem: So dachte man sich wohl - naiv - die Wirkung der Wahrheit.
Doch das war vielleicht immer schon eine Illusion und ist heute, beim Siegeszug des blanken Subjektivismus endgültig vorbei: Wahrheit ist, was mir gefällt, nicht das, was allen gilt. Wahrheit hat jene Bedeutung, die ich ihr beilege, nicht eine Überzeugungskraft, der ich mich und notfalls auch meinen Willen beuge. Darum wird sie nurmehr behauptet und nicht bewiesen. Auf diese Weise ist Wahrheit eine den Fall ab- und die gegenteilige Auffassung ausschließende Größe, und längst nicht mehr etwas, das Aufschluss über meine Fehler bietet und mir mehr erschließt als mein Vorurteil erfasste. Solche Wahrheit verpflichtet mich nicht, sondern ich eigne sie mir an, sie dient meinen Zwecken. …….
Wenn wir es aber dabei belassen - bei dieser ungeheuerlichen Gleichsetzung zwischen Gefühl und Wahrheit, zwischen Meinung und Wahrheit, zwischen Lüge und Wahrheit - dann ist das Ende des Christentums besiegelt.
Denn der Kern unseres Glaubens ist es doch eben, ganz persönlich zwischen der Wahrheit und mir zu unterscheiden: Ein anderer ist die Wahrheit, nicht ich! Und darum kann das Ziel nicht sein, dass ich die Wahrheit besitze, sondern dass ich ihr treu bin.
Das liegt aber daran, dass wir nicht loskommen von dem, den Pilatus, der Wahrheitsfeigling schnell von einer populistischen Stimmung wegbrüllen ließ (vgl. Joh18,28-38). Wie da ein Mensch stand und selber nicht seinen Wahrheitswahn herausschrie, sondern stillschwieg, obwohl das unglaubliche, beneidenswerte Wort von ihm im Umlauf war, dass er selber die Wahrheit sei (vgl.Joh14,8), das brachte Pilatus aus der Fassung. Wieso machte dieser wahre Mensch nicht einen Triumph aus seiner Botschaft und Haltung, wie wir anderen das mit unseren Schnapsideen und Einbildungen unternehmen? Wieso war dieser Sendbote des größten Anspruchs so seltsam unmissionarisch, so gar nicht militant? Musste er denn nicht im herrischen Bewusstsein, dass er und er allein die Weisheit und das Gute kenne, jeden anderen mit Verachtung strafen und mit Vernichtung bedrohen, wie gewöhnliche Leute in ihrer Unsicherheit vor den eigenen Grundsätzen es immer wieder tun? Wieso war dieser Eingeweihte in alle Geheimnis-se, dieser Bringer bleibender Erleuchtung - das alles hatte man schließlich über ihn und von ihm gehört - so souverän passiv, statt panisch aggressiv? … Es scheint nicht weit her zu sein mit solcher Wahrheit, muss Pilatus geschlossen haben. Was soll sie denn eigentlich sein, wenn sie einen nicht zu fragloser Selbstsicherheit und knallharter Überlegenheit führt? … Wenn man sie fesseln kann, … abführen, … töten? …….
Was solche Wahrheit, die nicht auf ihrem Recht besteht, die nicht auf Durchsetzung getrimmt ist, vermag? – Sie kann uns frei machen.
Die, die meinen, sie müssten immer Recht haben und behalten, … die die meinen, sie könnten das ihres Erachtens Richtige erzwingen und durchsetzen, sind ja Sklaven. Sklaven jener Sorte, die uns heute anonym umgeben, … Sklaven wie wir.
… Wem sie, wem wir als Treiber unterworfen sind? – Einem Gangsterpaar wie Bonnie und Clyde, nur grausamer. Einem Moloch-Duo, das Blut saugt, Leben frisst und keine Gnade kennt: Maxi und Ego heißen sie. Das Ich und sein Erfolg. Die wollen Recht haben. Sich behaupten. Gewinnen. Das Ich und sein Erfolg wollen herrschen.
Und wir kuschen. Schalten Vernunft, Augenmaß und Anstand aus, um das Himmelfahrtskommando der Egomanie, des Größenwahns eines kleinen Mannes, einer kleinen Frau zu exekutieren.
Dabei entsteht die lebensgefährlich lügenhafte Täuschung, die wir das Projekt unseres Lebens nennen: Wirklichkeit verdrängen, Mitbewerber ausschließen, Belohnungsmechanismen des Selbst blindlings bedienen und immer mehr steigern, und dabei unausstehlich, … unglücklich, … unmenschlich werden bis zur Vollendung.
Das ist die Sklaverei, von der wir befreit werden können! Nicht jedoch auf dem Weg, den wir verfolgen. Der hoffnungslos falsche Weg zur Freiheit, den wir immer noch grimmig behaupten, besteht im Zerstören von Bindungen.
Je mehr wir Beschränkungen abwerfen … je mehr wir fordern … je mehr wir erwarten … je mehr wir werden, haben und sein können, desto unbegrenzter scheinen wir uns.
Dass gerade dieser Wahn in die Schrecken unserer Zeit führt – weil eine Welt, aus der jeder mehr entnehmen als zurückgeben will, der Auslöschung verfallen ist, weil das Kollektiv von ungezügelten Einzelinteressen grenzenlosen Konflikt schürt, und weil die unfassbare Torheit der Sterblichkeitsleugnung viel zu viel an der menschlichen Natur nur noch künstlich zulässt – … dass alle unsre Ansprüche an das Dasein also es immer mehr aushöhlen und untergraben, dämmert den meisten allmählich.
Darum sehen wir ja die Freiheiten schwinden.
Einerseits bringen Vernunft und Rücksicht Beschränkungen hervor, die vor Kurzem noch unvorstellbar waren, auf der anderen Seite führen Angst und Geiz zu immer engeren Kreisen, in denen wir uns noch sicher fühlen, während außerhalb unserer Isolationsblasen eine Welt wartet, vor der man sich lieber verbarrikadiert. Dagegen aber helfen die verzweifelten Manipulationen an der Wahrheit, die wir zuhauf erleben, rein gar nichts. Zu behaupten, ja zu glauben, dass es eine Krankheit oder Krise nicht gebe oder dass die nüchtern nötigen Maßnahmen in Wirklichkeit verborgenen Zwecken dienten, ist ein Beispiel dafür, wie die willkürliche Ermächtigung über die Wahrheit Menschen in erstickend tiefe Lügen einspinnt.
Was aber führte zur Befreiung? … Wenn nun ich oder ein anderer die Wahrheit nach seiner Lesart und Überzeugung propagierte? Wenn man aus Fakten Monstranzen macht … also Schau- und Vorzeigeinstrumente?
… Auf Tatsachen, die in der Monstranz präsentiert werden, reagieren allzu viele ja inzwischen mit Gegendemonstrationen, und Fakten kontert man mit Alternativen.
Es könnte daher sein, dass es kein Rückzug aus der Debatte und kein Aufgeben der vernünftigen Diskussion und ihrer kostbaren Frucht - der rechtsstaatlichen Demokratie - ist, wenn wir Christen uns auf eine andere Weise in den unversöhnlichen Streit der Wahrheit und der Anti-Wahrheit begeben.
Indem wir nämlich - nicht zur Abwechslung, sondern in demütigem Ernst! - nicht behaupten, wir hätten die Wahrheit. Indem wir nicht uns selbst zu Hütern des wissenschaftlich oder rational Richtigen aufschwingen - so sehr Ratio und Wissenschaft uns lieb und teuer sein müssen -, sondern etwas anderes vermitteln: Dass wir zutiefst getrost leben können ohne absolute Ansprüche an unser Erkenntnis- und Unterscheidungsvermögen, weil wir die letzte Wahrheit nicht beherrschen, sondern verehren.
Die letzte, die bleibende Wahrheit nämlich besteht vor aller Zeit und in wirklicher Unbegrenztheit nicht in einer Formel, einem System oder auch nur einem Modell: Die Wahrheit, die uns befreit von allen unseren Sorgen, Lügen und Begierden besteht in der Schöpfung, der Rettung und der Heilung der Welt durch Gott. Oder noch klarer ausgedrückt: Nur aus und in Gottes Liebe zu dieser trudelnden, selbstzerfleischenden, von Menschen bedrohten und Menschen bedrohenden Welt … nur aus und in Gottes Liebe kann es damit richtig werden.
Wer das auch in diesem Jahr und im nächsten, wer das in unserer Zeit erkennen darf: Dass die Welt nicht verloren ist und auch nicht verloren geht, der kann Freiheit finden.
Weil sich das, was bei Gott Zukunft hat, wirklich nicht allein auf mich und meinen Gebrauch, mein Gutdünken beschränken lässt! Wenn diese erschreckend unerklärliche Welt, die sich scheinbar immer weiter weg von aller Kontrolle und Selbstkontrolle entfernt, nicht herrenlos ist, obwohl sie eben nicht mir ausschließlich dient - und ich ihr nicht -, dann muss ich weder für den Sinn aller Dinge bürgen noch allein ihre Rettung betreiben, noch weniger aber muss ich dann die Gelegenheit des Daseins so nutzen und beherrschen, als sei es darin alles zu finden. In Wahrheit ist alles weiter als mein Radius, eigenwilliger und gleichberechtigter als unsere illusionäre Idee von der menschlichen Solomacht und in Segen wie Entsetzen so unbezwinglich für jeden von uns, dass wir wirklich nur in der Freiheit existieren können, nicht selbst über Welt und Wahrheit zu gebieten.
Nicht, weil wir keine Verantwortung trügen.
Sondern weil wir die Anmaßung nicht fortführen, die den menschlichen Geist alles ausschlachten und sich nirgends begrenzen lässt.
Wir sind begrenzt. Das Jahresende zeigt es uns anschaulich.
Aber das ist nicht unser Verhängnis, sondern unsere Verschonung: Dass wir die großen Belange der Welt nicht alleine schultern und die Zukunft nicht bloß aus dem begrenzten Stoff der Zeit schaffen und die bleibende Wahrheit nicht aus eigener Macht behaupten müssen.
Sondern glauben dürfen, dass das alles in Jesus Christus liegt und nicht in uns.
Darum gehen wir frei von uns, frei vom Alten, frei von allem auf das Neue zu – durch den, der allein Weg und Wahrheit und Leben ist: Jesus Christus.
Amen.