1.Advent, 27.11.2022, Stadtkirche, Offenbarung 3,14 - 22, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent - 27.XI.2022
Offenbarung 3, 14-22
Liebe Gemeinde!
„Beglänzt von seinem Lichte, / hält euch kein Dunkel mehr …“ (EG 16,4)
… Kein Dunkel hält dich mehr, Kiew! Keine Dunkelheit mehr über dir, Cherson! Keine Verdunkelung in den Dörfern und Städten ohne Strom und ohne Wärme zwischen Lwiw, Odessa und Charkiw!
„Beglänzt von seinem Lichte, / hält euch kein Dunkel mehr …“ ——
Jerusalem hat die Tore weit gemacht, als der König der Ehre einzog!
… „Kein Dunkel mehr“.
Rom allerdings hat das andere Tor geöffnet, das sog. „Schaftor“ (Neh.3,1), durch das Gottes Lamm zur Kreuzigung gezerrt und draußen vor der Stadt begraben wurde. Doch auch diese letzte Tür, die Tür ohne Griffe oder Innenriegel – die Grabestür, die außen von Soldaten unter Verschluss gehalten wurde – hat nicht geschlossen! Sie wurde aufgesprengt.
… „Hält euch kein Dunkel mehr …“! ——
Warum ist es dann aber so dunkel in der Welt?
Woher das Dunkel in diesem November eines europäischen Kriegsjahres, in diesem ersten Adventsgottesdienst einer Notzeit auf Erden, die sich lang zusammengebraut hat in den Schatten, die man gerne übersah und die nun wirklich vor aller Augen als große Finsternis steht?
Wie kann es solche Dunkelheit geben, … da wir gerade doch vom Licht des kommenden Friedens für die Ukraine berührt wurde, … da wir gerade doch vom Leuchten des sanftmütigen Helfers auf dem Esel vor Jerusalem erfasst waren, … ja, da wir gerade doch vom Osterlicht des offenen, leeren Grabes her die Todesnacht im Morgenrot vergehen sahen?!
Wie kann es noch so dunkel sein, wenn es doch über Kiew und Jerusalem und über dem Totenacker leuchtet?
Nun, das steht in dem Brief: In dem Brief, den der treue Zeuge geschrieben hat, dessen Name „Amen“ heißt und der also mit seinem ganzen Dasein das beglaubigt, was man wirklich nicht glauben will. Der Zeuge schreibt einen Brief, dessen Annahme die Adressaten wohl verweigern würden. Deshalb bringt der Bote diesen Brief auch nicht zu Händen der Angeschriebenen und der Beschriebenen, sondern er lässt sich den Empfang der Botschaft bestätigen durch den guten Geist, der auch die stumpfesten Botschaftsverweigerer und Anti-Zeugen doch nicht verlässt. Der Engel der Gemeinde nimmt entgegen, was der treue und wahrhaftige Zeuge geschrieben hat, mit dem die Schöpfung Gottes anfing und dessen Wort daher die Wirklichkeit von Anfang bis Ende aufklärt. Der Engel, der die Gemeinde – die entgeistert wäre, wenn sie sich sähe – nicht verlässt, akzeptiert die Sendung des Gesandten an die Gesammelten.
Der Brief, der aufklärt, wodurch das Dunkel trotz des Lichtes blieb, ist also angenommen.
Die Offenbarung des Johannes ist das Verzeichnis aller dieser unverlorenen Einschreiben der Wahrheit. Und so umfasst die Bibel die Liste der Adressaten der Adventsschreiben Gottes, die zu Händen der Seele Seiner Gemeinden gehen, auch wenn der Verstand und Stolz und Eigensinn der Gemeinden steif und fest behauptet, die Angesprochenen seien unter dieser Adresse unbekannt. Aber die Seele der Gemeinde, ihr Engel hat’s quittiert. Es ist eingetroffen, was Gott durch den wahren Zeugen ausrichtet. Es steht da schwarz auf weiß: Der Engel der Gemeinde von Laodizea, dem das letzte der sieben Sendschreiben der geheimen Offenbarung gilt, hat es nicht abgelehnt, nicht unterdrückt, nicht in den Reißwolf gegeben. Der Brief an die Laodizeer ist erhalten[i].
… Ihre Postleitzahl ist 40489. Und die angrenzenden Bezirke.
Denn Laodizea – ob wir’s wollen oder nicht, und ohne irgendeine vermeintlich unparteiische Anklagehaltung – … Laodizea ist hier; Laodizea sind wir: Gleichgültig, sorglos und vollkommen in Illusionen verstrickt.
Man kann es natürlich auch netter sagen, weshalb wir diesen apokalyptischen Liebesbrief zusammen mit den wohlhabenden, zufriedenen und doch so radikal sich selber täuschenden Laodizeern empfangen, … diesen Brief, in dem das zu Recht verpönte Erziehungsprinzip des weisen Salomo – „Wer seinen Sohn lieb hat, der züchtigt ihn“ (Sprüche 13,24b) – zu unserer Empörung auch auf uns reife und mündige Christenmenschen angewendet wird: „Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich“, heißt es in dem pädagogisch fragwürdigen, aber fraglos ernsthaft emotionalen Brief Gottes an uns, … die bürgerliche Mitte?!
Man kann es netter sagen, weshalb wir in der Krise nun auch noch eine blaue Epistel vom Himmel, einen Mahnbrief also erhalten, obwohl wir doch das ganze Malheur der Zeit weder allein verursacht haben noch bewältigen können.
Warum?
Weil Gott, der Treue und Wahrhaftige sich Sorgen macht über unsere emotionale Störung! Gott rüttelt an uns, die wir so ungerührte, so bornierte Leute sind, die mit ihrem vermeintlichen Überfluss die völlige Leere verdecken, die in ihnen herrscht.
…. Das Leben der Welt, die Zukunft der Kinder, die Hoffnung des Heils, die Wahrheit des Wortes … alles wankt und bröckelt, alles schmilzt und verweht uns ja. Aber das historisch tatsächlich erdbebenerprobte Laodizea[ii] schüttelt die Katastrophen immer wieder ab und vertraut darauf, dass es über einen derartigen Wohlstand verfügt, dass das Leben vor Ort schon weitergehen wird.
Und tatsächlich: Es geht weiter. Der Ort, der zu den illustren Städten Kleinasiens zählt, berühmt durch die dort gewalkte und gewebte schwarze Wolle, schafft es durch Kommerz und Technik und Eitelkeit sich lange gegen eine unruhige Erde und eine stürmische Zeit zu behaupten.
…. Und das christliche Laodizea einst dort und heute hier ist gar nicht mal verstohlen froh, dass man so sicher da- oder zumindest wieder aufsteht: Die Infrastruktur und das Geschäft sind auch für die Getauften die ersten und die wichtigsten Garantien. Obwohl der Vordere Orient tektonisch wackelt, obwohl die Pax romana, die Friedensordnung des Welt-reichs merklich brüchig wird, obwohl das Leben der meisten in der Menschenmasse physisch wie psychisch fragwürdiger und fragwürdiger wird, sagen wir Laodizeer doch: „Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts!“, weil unser Lebensstandard ja nur angegriffen, aber noch nicht verloren ist und alle unsere Gewohnheiten zwar auslaufen müssen, aber noch vorwärtstaumeln, wie der Läufer, der nach der Ziellinie nicht abrupt stillstehen kann, sondern torkelt bis er kollabiert. … Wir haben alles noch und geben es auch nicht auf: Das Öl, das Gas, das Wasser, das Geld, den Luxus und das Brot, um die uns viele beneiden. … Uns geht’s doch noch „Gold“, sagen wir Laodizeer. „Wie hoch ist schließlich - glücklicherweise - auch wenn’s an’s Klagen geht unser Niveau noch immer!“
Und genau diese Betäubungs- und Verdrängungskunst von Laodizea, diese irgendwo zwischen Blindheit und Bosheit, Wahnsinn und Primitivität schaukelnde Unfähigkeit, die Wahrheit und den Weg, den sie erfordert, einzusehen, bereitet Gott Kummer und Zorn im Blick auf uns, … einen Zorn und einen Kummer, die im furchtbarsten, drastischsten Bild gipfeln, das überhaupt in den Gemeindebriefen, den Seelensendschreiben der Offenbarung begegnet: Es ist das Bild vom Ausspucken. … Buchstäblich sogar noch ein grässlicherer Vorgang.
Die emotionale Störung, die seelische Selbstverstümmelung, die weder wirkliche Angstschauder noch glühende Zuversicht zulässt, sondern bloß geschmacklosen Gleichmut, … dieser morbus laodicensis, … dieses unter uns chronische Wohlstandssyndrom: „Was geht’s uns schon an, wie’s andern geht, wenn’s uns noch so geht?!“ … die sind für Gott zum Kotzen!
Für Gott, Der Sich der ganzen Welt zum Lebensmittel Brot, … Der Sich der ganzen Welt zum Lebensbrot gegeben hat, ist es ganz einfach ungenießbar, wie gleichgültig und realitätsfremd und selbstgenügsam solche wie wir sind: Solche Lauigkeit, so dumpfe Egalität zwischen Hassen oder Lieben, zwischen Jubeln oder Zittern, kann Gott nicht aushalten, … für Ihn ist sie völlig unbekömmlich, … sie schadet Ihm im Innersten.
Das ist die schreckliche, die wermutbittere Wahrheit über die teilnahmslose und also leidenschaftslose und in beidem doppelt glaubenslose Weltanschauung, die in Laodizea-Düsseldorf auch Christen hegen: Sie dreht Gott den Magen um, … Er bricht, … zerbricht an ihr beinah.
Und darum fleht Er in Seinem Brief an uns, dass wir von der wertlosen Materie, die unser Wertmaßstab ist, zum wirklich Wertvollen kommen!
Dass wir uns lösen vom nackten Egoismus, den wir unter all unserm Stoff doch nicht bedecken können, und reinen Neuanfang in den weißen Kleidern der Ungezählten wagen, die miteinander das Mahl des Lammes, der Gemeinschaft aus allen Nationen, Stämmen, Völkern und Sprachen feiern (vgl. Offenb.7,13).
Gott bittet uns - der Heiland bittet die Verblendungskranken! -, sich behandeln zu lassen, sich die Augen auftun zu lassen, sich das Herz im Sehen, Hören und Fühlen aufgehen zu lassen und nicht mehr zu so tun, … nicht mehr so zu handeln, … nicht mehr so zu sündigen, als reichten für uns die Mittel und die Medizinen noch.
Das ist die Drohung und die Züchtigung, die Gottes Liebe zu uns aus Sorge um uns und um die Dunkelheit, in der wir verharren und die wir verbreiten, verhängt: Er will, dass wir sehen!
… Genau das heißt nämlich Umkehr: Einsehen! Die Augen nicht mehr willkürlich verschließen. Nicht mehr ausblenden, was wir sind: „Elend, jämmerlich, arm, blind und bloß!“ …….
Dass diese Botschaft noch immer nach Laodizea gesandt werden muss - nun unter der Postleitzahl 40489 -, das liegt daran, dass sie wirklich ja eine Botschaft für den zweiten, den nachdenklichen, den einsichtigen, den bußfertigen Blick ist: Vordergründig - wir sagten es uns gerade noch selbst - sind wir ja sicher und abgesichert, sind wir reich und umsichtig und eingedeckt.
… Aber mit der Tiefe und der Weite, aus der das Sendschreiben dieser Himmelsbotschaft uns sieht, erscheint unsere Sicherheit als die Illusion, die sie ist: Sind wir es nämlich nur für uns, so sind wir es gar nicht! … Sind wir gut dran, während andere es böse haben, dann ist auf der ganzen Erde in Wahrheit nichts Gutes! Fällt uns alles zu, was anderen fehlt, dann gibt es nur Verlierer! Hoffen und planen wir, nur uns selber zu retten, dann sind wir verdammt! … ———
Und darum muss die sorglose Stadt Laodizea, die sorg-, lieb- und gottlose Stadt, in die wir gehören, nun tatsächlich Ohren empfangen, um das alles Entscheidende zu hören und Augen für das Wesentliche, die ihr hoffentlich noch aufgehen. … Damit sie sieht und hört, damit sie fasst und glaubt und sucht und findet, was der zornige und an unserer Verstockung, unserer Einbildung leidende Gott tut.
Suche Gott, Laodizea!
Suche Gott, Düsseldorf!
Kaiserswerth, suche Gott!
Zion, empfange Ihn!
… Wie? … Wie???
– Erschütternd einfach: Werde inne, dass Er dir fehlt! Dass nichts zählt und nichts hält ohne Ihn! Dass es kein Licht und keine Wärme gibt ohne Ihn! Dass man nirgends innerlich satt werden und niemals echten Frieden haben kann ohne Ihn! … Dass Jerusalem Ihn braucht, auch wenn Er, … nein, gerade weil Er nur auf einem Esel kommt. … Dass Rom Ihn braucht und Moskau, dass Kiew Ihn braucht und Teheran, dass jedes Land, jede Stadt, jedes Dorf, jedes Haus Ihn braucht in Seinem Dasein für alle, in Seinem Hunger nach uns, … Seinem Hunger danach, uns Liebe und Leben zu gewähren, die unbegrenzt sind!
Wir sind doch in Wirklichkeit so elend, jämmerlich, so arm und blind und bloß, wenn wir meinen, wir könnten und würden leben ohne Gott!
Wir müssen doch endlich wirklich spüren und bekennen, dass wir Ihn nötiger haben als alles, was oberflächlich glänzt und vorübergehend schützt und uns trügerisch befriedigt.
… Wenn wir das aber jetzt merken … in dieser grimmigen, törichten, düsteren Zeit, die „Advent“ heißt und „Advent“ ist – Wartezeit, Hoffnungszeit, Sehnsuchtszeit, Zeit, deren Spannung vorm kostbaren Ziel unermesslich wird – … wenn wir das also jetzt merken, wie Gott unserer Menschheit und Welt, wie Gott unserm Ort und unserem Leben fehlt, dann wird es uns unwillkürlich doch heiß und kalt zugleich, wenn wir nun hören, was der zornige und an unserer Verstockung, unserer Einbildung leidende Gott tut.
… Er steht vor der Tür!
Er pocht und Er pocht … wie unser eigenes Herz!
Er will zu uns kommen, will mit uns leben, will uns alle bei sich haben … trotz unserer laodizeischen Lauigkeit!
Hört Ihr’s?
Er selber, der treue Zeuge, der Amen heißt, der Anfang der Schöpfung Gottes klopft bei uns an!
…………
EG 1: „Macht hoch, die Tür …“
[i] Ein gewisses Spiel mit dem schweren Sendschreiben ergibt sich, wenn man an dieser Stelle die altkirchlich beginnende Jagd nach einem Laodizeer-Brief berücksichtigt, der in Kolosser 4,16 erwähnt wird, aber nicht im Neuen Testament enthalten ist. Der verlorene Paulusbrief wird durch das schwierige Sendschreiben nach Laodizea in der Offenbarung (als einziges enthält es gar kein Lob für die Gemeinde!) zwar nicht wettgemacht, aber immerhin gibt uns das Schreiben in Offenbarung 3,14-22 wahrlich mehr als genug zu denken!
[ii] Erste grundlegende Informationen zur Stadt am Lykos finden sich in: Neues Testament und Antike Kultur, hgg. v. K. Erlemann, K. L. Noethlichs u.a., Bd.2: Familie – Gesellschaft – Wirtschaft, Neukirchen/Vluyn 2005, S. 175f.
Ewigkeitssonntag, 20.11.2022, Stadtkirche, Psalm 16,11, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 20.XI.2022
Psalm 16, 11
Liebe Gemeinde!
Das Kirchenjahr endet stets mit einer Fuge, die zwei Themen in unterschiedlicher Weise verschmilzt: Da ist das gewaltige Thema der Ewigkeit, die in einem alten Choral als „Donnerwort“ besungen wird[i]; und da ist das leise, wehmütig klagende Thema unserer Trauer um die Toten, die uns die letzte Zeit genommen hat.
Das künftige Ende der ganzen Welt und der einzelne Schmerz im Schicksal aller Sterblichen werden also im letzten Akt unserer alljährlichen Liturgie verbunden. Mal tönt die apokalyptische Posaune, mal entrückt uns der Chor der Seligen beinah ins Jenseits, und dann wieder vernimmt man nur das traurig gedämpfte Läuten der Friedhofsglocken und die Monotonie der Erde, die die Hinterbliebenen durch den schweren Nebel ihrer Verlassenheit kaum erreicht.
Eine Fülle des Überwältigenden und eine erstickende Leere, … etwas ganz Universales und etwas völlig Individuelles fließen da also ineinander in den Motiven der allgemeinen und ausnahmslosen Vergänglichkeit und des rein persönlichen, des privaten Verlustes.
Und so ist es kein Zufall, wenn die Gemeinde eines jeden letzten Sonntags immer wieder etwas Zwiespältiges erlebt: Der eine Blick weist voraus in die Öffnung der Zukunft nach der Zeit; der andere Blick geht zurück zu dem, was nun in den Gräbern, für uns also in der Vergangenheit ruht.
Was aber verbindet diese beiden gegensätzlichen Blick- und Denkrichtungen? Was verknüpft die leidtragende Erinnerung mit der Hoffnung, die ihr Haupt erhebt? ……..
In der Liturgie ist es etwas ganz Bescheidenes. Sowohl in der Gottesdienstordnung des Ewigkeitssonntags als auch in den Texten, die für die Feier des Totensonntags vorgesehen sind, begegnet ein gemeinsamer Bestandteil: Das einzige Identische, das die beiden so unter-schiedlichen Feiern verbindet, ist bloß der Hallelujavers, der nach den jeweiligen Schriftle-sungen seinen Ort hat[ii].
… Diesen Vers aber, der die Todtraurigen genauso wie die Zukunftshungrigen im Lob Gottes vereinen will, … den sollten wir uns anschauen: Es ist der letzte Satz von Psalm 16, des ersten Psalms, in dem uns in der biblischen Gebetssammlung überhaupt eine Hoffnung über den Tod hinaus begegnet, … heißt es da doch:
„Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich;
auch mein Leib wird sicher liegen.
Denn du wirst meine Seele nicht der Unterwelt überlassen
und nicht gestatten, dass dein Treuer die Verwesung schaut.“
Und dann folgt der Hallelujavers für die Bedrückten wie für die Gespannten unter uns:
„Halleluja!
Du, HERR, tust mir kund den Weg zum Leben:
Vor Dir ist Freude die Fülle
und Wonne zu Deiner Rechten ewiglich.
Halleluja!“
Ein Wegweiserwort also, ein Spruch auf der Wanderschaft, ein Versprechen des Ankommens. Solche Ermutigungen auf der Landstraße, solche Lieder der Wallfahrt, solche Verse, die sich die Pilger oder die Flüchtlinge oder die Nomaden oder die Treibenden oder die Verirrten oder die Atemlosen oder die Gipfelstürmer oder die Dauerläufer oder die im Kreis umher Tappenden auf ihrem Gewaltmarsch, ihrer Durststrecke vorsagen, schlicht um nicht aufzugeben, … die dürfen nicht schwer sein. … Und sie sind es auch nicht!
Sie sind Wegzehrung und Kraftration, Labsal und Lockruf; sie sind hochkonzentrierte, aufbauende Stärkung für Leib und Seele, für den Mut und den Glauben.
… Vielleicht erscheinen sie uns deshalb aber auch zu einfach.
Wir meinen womöglich, in einer so furchtbaren Zeit wie heute oder in einem so tiefen Tal der Tränen wie dem unseren, müsste es weltanschaulich anspruchsvoller oder therapeutisch sensibler zugehen: Nicht ein so schlichtes Wort für den Weg hätten wir vielleicht gern, sondern eine pointierte Botschaft an die Generationen, die fürchten, die letzten zu sein, oder einen motivierenden Gedanken, der für mich ganz subjektiv zur Bewältigung meiner Traurigkeit führt. …….
… Was aber, wenn der Untergang der Welt in Krieg, Gewalt und schreiender Ungerechtigkeit und die verstörende Trübung aller unserer Grundgefühle in Kopf und Herz nicht dagegen, sondern dafür sprechen, dass uns nur noch die direkteste Einfachheit helfen kann?
… Keine zeitgemäßen Losungen, keine maßgeschneiderten Ansätze; nicht „Der Trost für 2022“ oder „Das positive Mantra nur für Dich“, sondern der herbe Klang einer Wahrheit, deren schlackenlos reduzierter, nicht weiter formbarer Kern unverändert durch die Jahrtausende überliefert wurde und uns jetzt unmittelbar angeht: Es ist die Wahrheit für Hinterbliebene genauso wie für Vorreiter. … Es ist die Wahrheit, die alle schon immer in ihrer lakonischen Nüchternheit einzigartig berührt hat. Es ist die Wahrheit: Wir sind noch nicht im Leben. …….
– „Aber das Leben, … das Überleben ist doch so schrecklich bedroht“, entgegnen uns die, die als Zeitgenossen ernstnehmen, was für eine Endzeit uns heute schlägt.
– „Aber das Leben, das Leben wie’s war ist doch längst vorbei“, entgegnen die andern, denen ein Abschied das Weiterleben schier unvorstellbar macht.
Doch der kleine Hallelujavers, der nichts bestreitet und nichts erklärt, der weder nach rechts noch nach links weicht, sondern in seiner verdichteten Form uns alle einfach weiterweist, … der kleine Hallelujavers lehrt uns sagen und dann denken und vielleicht auch verstehen und schließlich sogar glauben, dass wir tatsächlich noch nicht im Leben sind, sondern dass jeder Mensch noch unterwegs ist: Die einen holen Luft und essen und trinken und schlafen und probieren und schaffen und sündigen und machen irgendwie weiter; die andern sind ganz still, haben vielleicht die Hände gefaltet, liegen in der Erde und werden wieder zu Staub oder sind durch das Feuer wieder zu Asche geworden.
So ist das, sagt der Hallelujavers. Es ist schrecklich und manchmal verstörend; oft ist es aber auch gewöhnlich und man spürt es kaum. Doch ob so oder so: Ihr sollt wissen, ihr sollt darauf vertrauen, sagt der Hallelujavers, dass die einen wie die andern nicht zurückbleiben und auch nicht zuvorkommen. Sondern hier wie da, auf der Erde in der Zeit und auch da, wo das Zeitzählen aufgehört hat, geht der Weg weiter. Der Weg, den der HERR uns allen gemeinsam kundtut, … der wirkliche Weg, … der Weg zum wahren Leben. ——
– Pfui, hört man da einwenden. Wollt ihr wirklich immer noch den Leuten erklären, dass es eine andere Realität gebe als die messbare und von uns beherrschte Immanenz?! Wollt ihr immer noch den Leuten weismachen, es käme etwas danach, etwas Besseres, Schöneres, Echteres?
… Nein. Das will ich gar nicht.
… Mich würde es letztlich schon überfordern und endgültig aus der Fassung bringen, wenn ich auch nur meinen eigenen Kindern erklären sollte, dass das, was viele Menschen hier erleiden, tatsächlich das Leben sei. Wenn ich erklären sollte, dass das, was man zur Zeit erlebt und das, was sich abzeichnet, die endgültige und unveränderliche Wirklichkeit darstellt, wäre ich mit meinem Latein und meiner Logik sehr schnell nämlich am Ende. Wenn ich ernsthaft vermitteln müsste, dass die Schrecken dieses Daseins endgültig sind und alle Schuld der Menschheit unverzeihlich ist und unverziehen bleibt und dass alles Sterben das letzte Wort bedeutet, dann würde ich mein Lebtag lieber schweigen wie ein Grab, als irgendetwas von alledem als gesicherte, gültige und bleibende Erkenntnis zu vertreten, die man nicht für die Schule, sondern für’s sogenannte „Leben“ gewinnen soll.
… Weil es aber ja so ist, … weil wir in einem Zustand existieren, der für viele ein Albtraum ist und für andere eine Illusion, darum bin ich von ganzem Herzen dankbar, nicht berufen zu sein, diese trostlosen Verhältnisse eins-zu-eins festzuhalten und weiterzugeben, sondern zwischen Erinnerung und Hoffnung einen Hallelujavers weiterzutragen, der sagt: „Der HERR tut mir kund den Weg zum Leben.“
Diese fortdauernde, diese weitergehende Offenbarung Gottes ist es, die das, was noch nicht erschienen, aber verheißen ist, unter uns wachhält. Die Botschaft vom kommenden Leben verdankt sich also keiner alten, längst überwundenen Vertröstung- oder Verdummungsstrategie der Christen, sondern sie ist Gottes akut unabgeschlossenes Schöpfungs- und Erlösungswerk.
Gott sucht noch immer nach und Er führt noch immer auf Wegen, die allen Seinen Kindern und Geschöpfen wirklich und bleibend das Leben eröffnen werden.
Es ist noch nicht abgeschlossen oder vorüber, was mit Seinem „Es werde Licht“-Ruf begann und durch das „Siehe, es ist sehr gut!“-Urteil bekräftigt wurde.
Es ist immer noch der große Exodus aus dem Nichts in das Sein, aus der Gefangenschaft in die Freiheit; es zieht immer noch das Volk, das im Finstern wandelt, durch die Nacht dem Licht entgegen. Und Er ist immer noch unterwegs, der überall die Verstockten und Verstoßenen, die Kranken und die Hoffnungslosen, die Tauben, die Lahmen, die Blinden, die Verlorenen und die Sterbenden ruft: „Folge mir nach!“
Noch immer geht Er voran, auf dem Weg zum Leben, auf dem Er selber das ganz große, das ganz schwere, das ganz erdrückende Kreuz getragen hat.
Er geht durch die Feindschaft aller Zeiten und durch die Leiden jeder Generation. Er geht auf dem Kreuzweg der irdischen Geschichte an keinem einzigen Menschen vorbei, sondern sammelt uns sämtlich in Seiner Nachfolge. Er will, dass Du Dich ihm anschließt, und Er ruft unsere Liebsten genauso wie unsere Feinde und alle uns Unbekannten. „Kommt, ich erkunde den Weg zum Leben vor Euch her“, ruft Er den Menschen unserer hasskranken, pessimismusvergifteten, in tatenlos apathischem Weltschmerz versackten Gegenwart zu.
„Kommt: Auch Euren Weg zum Leben finde ich, und darum schließt Euch mir an unter Schmerzen, in der Erschöpfung, im Sterben“, hat Er unsere Toten gerufen.
Und so zieht Er als unser aller Kundschafter voran, bahnbrechend und unaufhaltsam selbst durch den Tod. Er zieht voran, weil Er der Weg ist und die Wahrheit des Weges und das Ziel des Weges: Das Leben (vgl. Joh.14,6)! ———
Doch weil Er voranzieht, weil Er selbst erprobt und aushält, erleidet und zurücklegt, was der Weg durch die Zeit und die Welt bedeutet, darum ist uns nicht alles an Ihm klar. Er geht ja vor und wir können Ihm noch nicht ins Gesicht blicken. Wir können noch nicht alles aus Seinen Zügen lesen, was wir an Antworten suchen; wir können Sein Bild, nach dem wir geschaffen sind, noch nicht entschlüsseln und so unsere eigenen Rätsel aufklären.
Wir müssen vertrauen, dass Sein Weg tatsächlich jeden Menschen, die Geborenen und die Gestorbenen schließlich zum Leben führt und dass wir – wenn es erreicht ist und wir Ihm von Angesicht zu Angesicht begegnen – tatsächlich Freude die Fülle und Wonne vor Ihm finden und unter Seinen Augen teilen werden. ——
Wir können und wir dürfen also nur vertrauen auf den Inhalt des Hallelujaverses, der am Sonntag der ewigen Zukunft und beim Gedenken an die Verstorbenen so unendlich Großes in so eindrücklicher Kürze verspricht.
… Wir müssen vertrauen; wir können nicht wissen, dass das wahre Leben uns erst noch bevorsteht.
… Und doch ist dieses Nicht-Wissen, diese Nicht-Kenntnis, dieses schlichte Sich-Einlassen und Festhalten am uralten Bekenntnis ungleich lebenströstlicher schon hier und heute als aller Vorzug für den Zweifel und alles Zögern vor dem Glauben:
Wie sollten wir unsere Kinder in diese Welt, die vor ihnen liegt, schicken und wie sollten wir unsere Toten verabschieden, wenn sie diese Welt wieder verlassen, ohne das Vertrauen auf den Lebensweg und das Lebensziel des kleinen Hallelujaverses?!
Welche Zuversicht, welche Bereitschaft zu gutem Tun und guter Hoffnung, welche Stärkung in schwerer Not und letzter Notwendigkeit gäbe es, wenn wir nicht auf den Weg Gottes setzten, der unserer Tränen in Freude und alles Unheil der Welt in himmlischen Jubel verwandeln wird?! ——
… Und selbst wer keine Nachkommen mehr in die Zukunft entlassen und keine beklagten Toten mehr in dieser Zeit zurücklassen muss, hat doch die Verantwortung und die Wahl für ein Geschöpf, das ohne das Zutrauen zu Gottes Ziel die Orientierung schwer halten und also eine menschlich-fröhliche Haltung schwer bewahren wird: Das ist die Seele – Deine Seele! –, die die Alten früher bei der Empfängnis wie beim Scheiden aus der Welt im Bild eines kleinen Kindes darstellten.
Lassen wir also doch auch die eigene Seele nicht ohne den Trost und ohne die Wegweisung des heutigen Hallelujaverses durch die Zeit ziehen!
Geben wir der eigenen Seele doch Teil an der Kraft und Ermutigung, die in der Nachfolge Jesu aus dem Glauben an Gottes Weg zum Leben fließen.
Stimmen wir in unserer Trauer wie in unserer Hoffnung also ein in das Lob Gottes, das sie beide verbindet, weil es über beide hinaus auf das herrlich Kommende und ewig Bleibende weist!
„Halleluja!
Du, HERR, tust mir kund den Weg zum Leben:
Vor Dir ist Freude die Fülle
und Wonne zu Deiner Rechten ewiglich.
Halleluja!“
Amen.
[i] Der berühmte Choral „O Ewigkeit, du Donnerwort“ von Johann Rist stand im alten EG unter Nr. 324 bezeichnenderweise in unmittelbarer Nachbarschaft (Nr. 325) zu einer bewussten Kontrafaktur, die ein halbes Jahrhundert jünger und ganz anders gestimmt war: „O Ewigkeit, du Freudenwort“ von Kaspar Heunisch. Schon hier zeigt sich die gegensätzliche Dynamik dessen, was am letzten Sonntag des Kirchenjahres unter dem gemeinsamen Nenner des „Eschatologischen“, also der „letzten Dinge“ betrachtet und verkündigt werden muss.
[ii] Im neuen Perikopenbuch (Lektionar) von 2018 findet sich der gemeinsame Hallelujavers beider Gottesdienstformulare auf den Seiten 533 für den Ewigkeitssonntag und 539 für den (dort auch so bezeichneten) „Totensonntag“.
Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 06.11.2022, Stadtkirche, Lukas 17, 20 - 24, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Drittletzter So. - 6.XI.2022
Lukas 17,20-24
Liebe Gemeinde!
Eine der hübscheren Eigenarten unseres Kirchen-Jargons ist seine ausgeprägte Vorliebe für das Rund. Alles ist bei uns ein Kreis: Der Bibelkreis, der Jugendkreis, der Flötenkreis, der Gesprächskreis, der Bastelkreis und der Besuchsdienstkreis, der 3.Welt-, der Männer- und der Frauen-Kreis; ja, unsere Kirche selbst sieht sich ein wenig wie Platon den Urmenschen … als ursprüngliche Kugelgestalt[i], die in der Kreissynode am nächsten Wochenende wieder vollständig - rund und schön - zusammenkommt.
Doch weshalb ist die christliche Sprechweise so hartnäckig einfallslos auf den Zirkel abonniert, wenn sie etwas benennen will, dass in anderen Organisationsformen eher eine „Grupe“, ein „Komitee“, ein „Team“ oder meinetwegen ein „Rat“, ein „Treff“, ein „Trupp“ genannt würde?
… Reine Gedankenlosigkeit wird es vielleicht ja nicht gewesen sein, dass nach den von frühen Verboten und späteren Zwängen geformten christlichen Vergesellschaftungsmustern nicht etwa der lose Geheimbund und auch nicht die streng hierarchische Gliederung einer von oben nach unten verfassten Struktur übriggeblieben sind, sondern alles in die archimedische Konstante drängte, in der Umfang und Durchmesser ein unveränderliches Verhältnis haben: Die berühmte Zahl „Pi“. Ein Kreis jedoch wird gar nicht grundlegend durch die Zahl „Pi“ bestimmt, sondern noch einfacher: Durch seinen Mittelpunkt. Nur wo ein solcher ist, entsteht auch ein Kreis. Wenn der Zirkel an verschiedenen Stellen haftet und der Bogen von mehrfachen Punkten aus geschlagen wird, ergeben sich blasenartige, wolkige oder pockige Formen. Es sieht aus wie Froschlaich oder Erbsensuppe. Es ist alles Mögliche drin. Aber es ist kein Kreis.
Nur der Mittelpunkt also bestimmt den Kreis! ————
Das wollen wir uns merken, wenn wir jetzt ins Durcheinander, in das Chaos hören, das da entflammt, wo Menschen über das Ende der Zeit nachdenken.
Bei der Zeit scheint es sich ja umgekehrt zur Geometrie des Kreises zu verhalten: In der Zeit, die zwar aus lauter „Zeitpunkten“ besteht, sind doch alle diese Tupfer gleich wichtig oder unwichtig, weil sie alle bloß die Linie fortsetzen, den Zeitstrahl schlicht verlängern. Von allesentscheidender Bedeutung auf dieser Achse sind lediglich zwei Punkte, die gerade nicht von einer Mitte ausgehen: Der Anfang und das Ende eines Einzellebens oder auch der Universalgeschichte. Erst wenn man diese beiden hat, kann man nachträglich eine Mitte dazwischen ausrechnen.
… Und darum – weil man bei der Zeit nie genau weiß, wo man ist – ist die Frage nach ihr eine so aufreibende. Wenn wir noch ganz lange vor uns sähen, hätten wir vielleicht in Vielem die Ruhe weg. Wenn wir aber befürchten müssen, dass das Finale, das Zeichen des Endes ganz direkt bevorsteht, dann kommt Hektik auf, … Panik vor dem Schlusspunkt. Und dann fragen die Leute sich oder die Sterne oder die Wissenschaft oder das Bauchgefühl oder ein Medium oder die Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie viel noch bleibt und woran man erkennen kann, dass es alsbald aus sein wird. „Herr Doktor, wie lange noch?“ … „Greta Thunberg, schlägt es schon Zwölf?“ … „António Guterres, ist’s nicht zu spät?“ … „Väterchen Vladimir, wir drücken auf den großen, letzten Knopf, не так?!“ ——
Ach, wenn man doch nur die Zeit und ihre Punkte besser bestimmen könnte und dann zur Mitte und zur Klarheit fände!!! – Doch das konnten wir noch nie!
Und darum ist das Rätseln über die Zeichen der Zeit, über ihren Restbestand und ihr irgendwann unumgänglich plötzliches Abbrechen seit Jahrtausenden lebendig.
Zu Jesu Erdenzeit zuckte und schwirrte es also auch durch die Gemüter: „Endet nicht bald die Römerherrschaft? Steht nicht das Zeitalter des Messias bevor? Wird die Macht des uns täglich bedrohenden Todes endlich vergehen? Sind wir vielleicht die Zeugen des Durchbruchs der neuen Welt der Erlösten?“ … so trieb es das Volk in Galiläa, Samarien und Judäa, in Kapernaum, in Bethanien und Jerusalem um. „Wann wird’s geschehen? Ist jetzt nicht der Augenblick? Hat sich nicht alles zusammengezogen, um gewaltig, verheerend … und herrlich aufzuplatzen und das zu offenbaren, was Gott endgültig schafft?“
Diese Naherwartung, diese atemlose und bis in die Haarwurzeln elektrisierende Spannung, die Menschen wirklich hin- und herreißt, sie aus letzter Apathie zu höchster Antizipationsfreude katapultiert, sie Verzweiflung und Triumph fast gleichzeitig kosten lässt, je nachdem, ob man gerade die Schaden- oder Gnadenzeichen der Zeit verspürt, ist eine wellenförmige Begleiterscheinung des christlichen Glaubens durch die Jahrhunderte geblieben: Da sich die Ansage des Endes der erbarmungslosen Welt der Sünde und die Verheißung des kommenden Reiches Gottes im Herzen des Neuen Testaments finden, gab es immer wieder Zeiten, Generationen und Gemeinschaften in der Kirche, die geprägt waren von dieser Zukunft. Manche spekulierten auf das Ende, andere fürchteten es unmittelbar; etliche suchten es zu beschleunigen, einige wollten es durch Buße aufhalten; viele dachten wenig darüber nach und schauderten, wenn eine Katastrophe, ein Bruch in der Zeit ihnen plötzlich wieder nahebrachte, dass wir in garantiert instabilen Wirklichkeiten leben, die darin alle gleich und sicher sind, dass sie vergehen werden, und weil niemand unser Morgen kennt, muss jeder damit rechnen, dass alles bleibt, wie’s war, bis es einst unversehens völlig anders … oder bis gar nichts mehr kommt.
Wir heute stehen auch in einer - zuletzt gar politisch festgestellten - Wende der Zeiten. Die Welt mit ihrem immer noch gewaltigen Potential an Lust (vgl. 1.Joh.2,17) und ihrem noch größeren Arsenal an Schmerz welkt und verwandelt sich vor unseren Augen:
Mag sein, dass sie im Inferno, mag sein, dass sie in großem Metzeln, mag sein, dass sie in zermürbendem Verfall und Auszehren auf’s Ende zusteuert, … mag aber ebenso auch sein, dass sie sich fängt, dass Besinnung, Vernunft und Innovationsgeist, dass Menschlichkeit und der berechtigte Lebenshunger der Jungen und der Armen gerade in den qualvollen Wehen von heute eine Epoche gebären, die eine anders geordnete, anders funktionierende, anders geteilte Welt mit Zukunft sein wird.
Wir könnten wohl zu finsterer Untergangsstimmung genauso neigen wie zu radikalem, ja (zumindest technisch-)revolutionärem Hoffnungskampf.
… Und tatsächlich: Die einen resignieren schon: Was zynisch ist! … Die anderen blockieren: Was ebenso zynisch ist! … Viele ignorieren: Was unheilvoll und sinnlos im Quadrat ist! … Und viele schwanken: Hierhin oder dorthin? … Sollen wir Vorräte für den Atomkrieg bunkern? … Oder sollen wir in Haus und Garage, in aller Gewohnheit und aller Bewegtheit auf grüne Zukunft setzen? … Letze Kräfte vorm Verhängnis mobilisieren oder in der Dynamik der gekommenen Stunde „Auf zum Wagnis“? ————
„Sie werden zu euch sagen: Siehe, da! oder: Siehe, hier!
Geht nicht hin und lauft nicht hinterher!“
Wenn wir nur für uns wären, wenn wir einfach nur rätseln und uns den Kopf blutig kratzen müssten, wo wir in der Zeit stehen – vor einem Umschwung und Neubeginn? oder vor dem letzten ungerührten Wimpernschlag, der Armageddon bringt? –, dann müssten wir jetzt wirklich fliehen, … hierhin oder dorthin: In die flatternde Aktion – und natürlich müssen wir (verdammt noch mal!) handeln! – … oder in die totenstarre Passivität – und natürlich müssen wir (so wahr uns Gott helfe!) auch bereit dazu werden, Verluste und Leiden anzunehmen.
Wenn das aber - so oder so - unsere einzige Wahl wäre, um der Orientierungslosigkeit dieser Zeit und der Spannungsentladung dieser Welt zu entkommen, wenn wir also im rüttelnden und schüttelnden Wirrwarr des Heute herrenlose Teilchen, zentrifugale Partikel wären, die es entweder in’s eine oder in’s gegenteilige Extrem schleudert und drückt …, nun, dann wäre Jesus Christus eine Illusion: Es gäbe ihn nicht. … Wenn wir heute haltlos wären, hätte es ihn nie gegeben.
……. Denken wir aber an das sonderbare, so fraglos als selbstverständlich abgenutzte Bild vom Kreis und seinem Mittelpunkt!
Egal, wodurch es aufkam, egal, wer es zu einer festen Vokabel in der Sprache Kanaans, dem Jargon der Kirche machte: Das Bild vom Kreis sagt uns unüberhörbar: „Ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten und Apostel geredet haben (vgl. Lk.24,25)!
Christus ist der Mittelpunkt, und darum kann es keine Fliehkräfte geben, die euch in die Extreme jagen, die euch aus dem Kraftfeld und der Umlaufbahn des lebendigen Erlösers reißen oder euch anders chaotisch zerstreuen!
Jesus Christus ist die Mitte des Kreises aus Menschen und Zeiten, zu dem auch ihr gehört.
Jesus Christus ist die unverrückbare Mitte, die jeden und alles zusammenhält.
Jesus Christus ist der eine, unentbehrliche, unersetzliche, aber auch wirklich unverrückbare Punkt, der der Gesamtheit aller Ereignisse und Veränderungen, aller Aufschwünge und Abschiede ihre sinnvolle Ausdehnung und ihre vollendete Gestalt gibt.
Jesus Christus ist das Zentrum, aus dem Raum und Zeit ihren Verlauf herleiten und durch das sie unlösliche, gleichbleibende, ewig konstante Verbindung behalten. ———
……. Doch Jesus geht noch einen Schritt weiter!!! Einen unglaublichen Schritt!!!
Und das nicht etwa seinen Jüngern gegenüber, denen er versichert, dass der große und endgültige Tag der Vollendung nicht versäumt werden kann: Ohne jeden Zweifel sollen sie ihn sehen und erleben – den Tag, an dem der Menschensohn das Ziel der Menschengeschichte bringt durch sein endgültiges Erscheinen vom Himmel her. Dieser Tag, an dem die Mitte den ganzen Kreis erleuchten und durchdringen wird, … dieser Tag, den die Jünger und alle Menschen gleichzeitig erfahren werden, ist der Tag, auf den auch wir noch warten. … Amen: Möge es bald sein!
Jesus aber geht noch einen Schritt weiter … und zwar gegenüber den Pharisäern, den treuen, messianisch erwartungsvollen, vor ihm jedoch zurückhaltenden Trägern des echten Glaubens Israels. Ihnen sagt Jesus zu, dass ihre verzehrende Hoffnung auf die Verheißung, ihre Sehnsucht nach der Gegenwart Gottes, ihre Bitte, alle Not zu überwinden und ihre Vorfreude drauf, alle Herrlichkeit zu erlangen tatsächlich in der Mitte schon fest, schon sicher gegeben und realisiert sind, … dass das Reich und der Messias und der Frieden und das Leben schon „da“ sind. In der Mitte des Kreises, … die ja für alle, die in den Kreis der Welt und ihrer Wirklichkeit gehören, auch die eigene Mitte ist!
„In Eurer Mitte ist es da!“, sagt Jesus den zwischen ungeduldiger Heils-Eile und banger Furcht-Flucht hin- und hergerissenen Pharisäern.
… Manche übersetzen: „In Eurem Innern ist es.“
Den Pharisäern sagt Jesus das. Und also uns!
Das Reich Gottes – alles, was wir hoffen, erwarten und erbitten können, die Freiheit und Seligkeit, der Frieden und das wahre Ziel, die höher sind als alle Vernunft: Sie liegen in uns!!! ———
Wenn wir das hören und bedenken, wenn es uns im Wort Jesu begegnet und durch Seinen Geist in uns aufgeht, wenn der Geist uns diese Wahrheit in unserem Innersten tatsächlich enthüllt, … dann steht die Zeit still. Die Konflikte zwischen Eifer und Panik, zwischen Zweifel am Ganzen und Bereitschaft zu Allem verlieren ihre tödlichen Zug- und Schubkräfte.
… Nicht weil uns die Welt nicht mehr anginge. Nicht weil die Probleme, Schrecken und drängenden Forderungen unserer Tage – die amerikanischen Zwischenwahlen heute, die Klimakonferenz in Ägypten, die bevorstehende Schlacht um Cherson – gegenstandslos würden. Sondern weil sich die Mitte, die alles hält und deren Halt und Harmonie nichts jemals endgültig entgleiten wird, dann auch in unserer kreisenden Bewegung, in unserem und in allem noch so zerrissenen Leben bemerkbar macht.
… Tief unter dem wogenden Hin und Her ist das Reich da.
… Reich ist der Frieden in dieser Tiefe.
Und doch ist diese Tiefe nicht fern.
Wir müssen sie nur nicht in weiter Entfernung, an den Rändern der Zeit, in den Verwerfungsfalten der Materie oder in den Zufällen der zurückliegenden und sich immer noch ver- und entwickelnden Ereignisse suchen.
Wir brauchen gerade nur gerade zu sein.
… Ruhend.
… Mit gefalteten Flügeln … nicht mehr treibend im Sturm und rudernd auf der Oberfläche. Einfach nur zentriert, … kon-zentriert aus der Mitte, die dem gesamten Weltkreis und dem Zeit-Raum aller Geschichte jenen Zusammenhalt einstiftet, der nicht vergehen soll.
Unser Leben im Kreis aller anderen ist gegründet.
Wir sind in uns selbst gehalten vom Erhalter.
Nicht außerhalb, nicht jenseits, sondern hier in Dir und mir ist der Vollender vollkommen da.
Sein Reich, das kommt, ist da.
Wohl denen, die dieser Frieden innen erfüllt und von allen äußeren Seiten umfasst, … dieser Frieden, der in uns und allem anderen der Grund ist und die Ewigkeit.
Amen.
[i] Das „dritte“ oder mannweibliche Ursprungsgeschlecht des Menschen bedingt seine Kugelgestalt im Mythos des platonischen Dialogs „Symposion“ (189c – Platon, Sämtliche Werke - Griechisch und Deutsch nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, hgg. v. K.Hülser, Bd. IV, Frankfurt/M – Leipzig, 1991, S.99).
20.Sonntag n. Trinitatis, 30.10.2022, Stadtkirche, Hohelied 8,6b+7, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 20.n.Trin. - 30.X.2022
Hohes Lied 8, 6b+7
Liebe Gemeinde!
Was ich niemals gutheiße, niemals ertrage, niemals teile, … hier und heute muss ich’s ausnahmsweise tun: … Hallowe’en betrachten. Die furchteinflößende Dunkelheit, die dem Endzeitmonat November vorausgeht, … Totentanz, … Geisterstunde, … Fest der ruhelosen Seelen, die dem Gericht unterliegen. ——
…… Nicht, dass ich Lust am Karneval des Grauens oder am Rausch der Verdammnis hätte. Es ist niemals ein Spaß, das Reich des Zwielichts zu betreten und freiwillig die Qual der Unerlöstheit nachzuempfinden. Und es ist niemals ungefährlich, die uns - Gott sei Dank! - meist verborgene Welt des Bösen, die Abgründe aller Verbündeten des Todes, die dämonische Sphäre der beabsichtigten Totalvernichtung des Guten aufzustören. … Es ist und bleibt höllisch ungut, mit der Hölle Allotria zu treiben.
Doch wenn es morgen überall von Polter- und Foltergeistern wimmeln wird, wenn Verwesung als Schminke und Seelenpein als Kostüm erscheinen, wenn die ungreifbaren Boten eines letzten Schreckens, eines letzten Feindes als Gäste und Tanzpartner durch Straßen und Häuser ziehen, dann wird diese gespenstische Party des Todes und der Verdammnis so erschüt-ernd und ernüchternd nah an der Wahrheit sein, dass einen tatsächlich nur das Grauen packen könnte. Oder das verzweifelte Mitleid eines Menschen, der weiß, dass der Abwehrzauber, den das Angstfest darstellt, nicht wirkt und auch nicht verbirgt, dass auf dem Maskenball, der „Hallowe’en 2022“ heißt, tatsächlich Sünde, Tod und Teufel mit-mischen, den Reigen anführen und unerkannt um uns herum immer rasender wirbeln.
… Alle die lächerlichen Unterwelt- und Spukgestalten sind ja in die Wirklichkeit hinein aus den Friedhöfen der Vergangenheit aufgestanden: Der mörderische Hass, der die Menschheit kannibalisch bis zur Selbstzerfleischung macht, … die giftmischende Lüge, die lieber auf den Sensenmann ihren Toast ausbringt als auf die spielverderbende Vernunft, … die apokalyptischen Vampire, die durch den besessenen homo sapiens der Natur das Blut aussaugen, bis sie röchelnd sterben muss und die letzte Sonne den letzten Menschen zeigt, dass sie nicht nur fremdes, sondern das eigene Leben bis zum letzten Tropfen ausgezehrt haben.
»Das Ende aller Dinge«, »die endgültige Schuld und Verlorenheit« steht also als Motto über dem Hallowe’en-Geschehen am Ende der Pandemie, in den Anfängen irrer Kriegseskalation und auf dem Scheitelpunkt der Umweltvernichtung. ———
Doch auf der Kanzel ist nicht der zynische Prediger Salomo aufgeschlagen, der dürr und trocken wie ein Totenkopf nur „Alles ist eitel und Haschen nach Wind“ zischt, sondern der junge, verliebte, an die Schönheit und Lust sich verlierende Salomo, … der Sänger des Hohen Liedes.
Wir sollen also wohl zu Hallowe’en doch nicht den danse macabre der Generation „Weltuntergang“ oder der vorigen Generationen – meiner Generation und der sattgesogenen Nachkriegsgeneration, die alles im Überfluss hatten und verschleudern – tanzen, sondern den heute so befremdlichen Tanz der Lebensfreude und der unschuldig hingerissenen Daseinsbejahung.
Wir sollen statt des Jammerns und Heulens der armen Seelen die Liebeslyrik der jungen Körper, die einander gehören und genießen und so neues Leben zeugen, als die Melodie des Glaubens in der Katastrophe dieses Jahres anstimmen.
Obwohl es also so viele Vorzeichen des Untergangs gibt, sollen wir Hirn und Herz dem paradiesischen Anfang und dem Paradies als dem endgültigen Ziel zuwenden.
Nicht Hallowe’en also, sondern die wirklich christlichen Feste, die das schöpferische Geschenk des Lebens, das rettende Gericht der Liebe über die Menschheit und das herrliche Zukunftsversprechen Gottes begehen, … die sollen wir heute feiern.
– Welche das sind? – Weihnachten. Karfreitag. Ostern. Und sie alle zusammen ergeben als das Fest der fleischgewordenen Liebe, die Sünde und Tod besiegt, das große bevorstehende Fest: … Den Jüngsten Tag – den Tag der Erlösung, der alles zurechtbringt und die Welt zum Reich Gottes hin vollendet. ——
Weshalb wir das feiern sollen, obwohl es doch so düster und drückend über uns liegt und sich in aller Welt so tödlich zusammenbraut wie beim koreanischen Hallowe’en gestern?
– Weil die ganze Bibel - und das heißt alle alten und neuen, alle erfüllten und offenen, alle geschehenen und alle verheißenen Worte und Taten Gottes – in dieser einen Wirklichkeit zusammengefasst werden können, die wir eben noch besungen haben (EG 401): Sie alle zusammen – das Vergangene, das Gegenwärtige und das ewig Bleibende – bezeugen die „Liebe“, ……. die Liebe, die uns erkoren und geboren hat, die für uns gestritten und gelitten hat, die für uns starb und uns erwarb, die uns an sich bindet und überwindet, die uns das Beten und Stellvertreten schenkt und die uns auferwecken und ewig zu sich ziehen wird.
Dieses Rühmen und Feiern, dieses sich Festmachen und Festhalten an der Liebe Gottes ist das Herz unseres Glaubens. … Nicht sein Gefühl, sondern seine Philosophie, weil das Herz für die Bibel nicht der Sitz des Sentimentalen, sondern die Schaltstelle von Gehorsam und Denken, von Wille und Verstehen ist.
Das Herz unseres Glaubens besteht also im Wahrnehmen, … im strengen Sinne des „Für-wahr-Nehmens“ der Liebe Gottes. ———
… O Pardon! – Das ist aber doch kitschig. Kitschig und naiv. Genauso stellen sich die Millionen, die am Glauben nichts finden können, seine ewig gleiche Leier und Harmlosigkeit vor. Glaube ist kuhäugige und wiederkäuende Dämlichkeit, die nicht mitkriegt, was ist, sondern unablässig an etwas mümmelt, das längst welk wurde und das die meisten schon wer weiß wie gründlich ausgeschieden haben. … Liebe … das ist doch Schnee und Stroh von gestern. Längst geschmolzen und verbrannt. Es gibt sie doch gar nicht in einer Welt, die überwiegend von Gewalt und Gewinn, von Kalkulation und Kampf geprägt wird und günstigstenfalls von unserer Technik und Logik verbessert. Die daneben noch immer nicht erledigten Reste der Liebe haben wir familiär gezähmt oder sexuell freigegeben, … haben sie als eine Begleiterscheinung der Kindheit eingestuft, vergleichbar den Milchzähnen, oder als eine senile Wunschvorstellung, wenn die sechzig, siebzig Jahre der stolzen, erfolgshungrigen Eigenverantwortung und Hochleistung nachlassen und der erfolgloser werdende Machermensch einen Pflegeroboter braucht. Liebe hat keinen Platz in unseren Vorstellungen. Und in dem, was um uns herum geschieht, wird sie ständig, … ständig sogar noch immer stärker widerlegt.
… Aber wiederum: Pardon! Ist denn die Bibel wirklich naiv?
… Die Bibel, die beginnt mit dem Misslingen der paradiesischen Grundlagen, die Gott legte? Ist die Bibel harmlos, die das Unhaltbare an den gewaltigen Errungenschaften und Zerstörungen des Menschengeschlechtes - so peinlich für den Herrn der Welt! - schonungslos thematisiert?
Ist nicht die Bibel die Urkunde, in der von der Bosheit und Härte des Menschenherzens so unschmeichelhafte Kostproben gegeben werden und so zermürbende Zeugnisse sich häufen? Enthält nicht die Bibel die beißende Klage von der schauerlichen Liebesunfähigkeit und Liebesverachtung unserer Spezies? …. Die Bibel ist doch gerade nicht der Groschenroman, der alles erstickt unter der klebrigen Vanillesoße falscher Gefühligkeit. Denn die Botschaft der Bibel feiert die Liebe ja gerade nicht als die simple Antwort auf alle Fragen und die automatische Lösung aller Probleme. … Sondern sie schildert die Liebe als den Widerstand, den unsere menschliche Wirksamkeit und Wirklichkeit hervorruft: Den Widerstand Gottes.
Weit entfernt davon, dass die Bibel eine kleine Heile-Welt-Musik wäre oder ein Trostpflaster für alte Tanten, deren klappriges Nervenkostüm diesen wärmenden Wickel braucht, … weit entfernt auch von dem, was man ihr am längsten schon anhängt: Legalisiertes Cannabis zu sein, das beim Konsum so schöne Dinge simuliert und dabei doch nur schleichend und lähmend verblödet … weit entfernt also von allem menschlichen Liebesschmu, ist die Bibel zuallererst das Dokument des Kampfes, den Gott gegen das Böse und gegen die Gleichgültigkeit gegenüber dem Guten führt. Sie ist das Dokument eines Kampfes, in dem Gottes Waffe die Liebe ist.
Weil schon die Sintflut bewiesen hat, dass Zorn nur vernichtet, nicht aber rettet, ist die Geschichte dieser Erde - die Geschichte, die seither unter dem Bundeszeichen der verschonenden und langmütigen Liebe Gottes steht, von dem die Schriftlesung heute berichtete (vgl.1.Mose 8) - tatsächlich die ständige Abfolge der Gegenreaktionen Gottes auf die Unbelehrbarkeit und Unbekehrbarkeit der harten Menschenherzen. Gott setzt gegen das, was wir tun, was wir lassen, was wir verbrechen und verweigern, was wir durchsetzen und was wir zerstören, bei aller strengen und ernsten Warnung vor den Folgen unserer Rücksichts- und Ehrfurchtlosigkeit doch immer weiter, immer tiefer Seine Liebe ein. Er hat geschworen, dass der Bund Seines Friedens nicht hinfallen soll, … der Bund, den Er zuerst Noah zusagte und den Jesaja dann ausgerechnet im Strafgericht in Babel doch nur als eine einzige Liebeserklärung (vgl.54,10) schildern konnte, … den Bund, den Gott endgültig besiegelt und universal bekräftigt hat gerade da, wo die Gewissen- und Sinnlosigkeit restlos herrschte, als Pontius Pilatus Einen kreuzigen ließ, den er angeblich nicht einmal für schuldig befand.
Gott hat geliebt, wo niemand liebte.
Gott liebte, als reiner Hass sich auf Ihn richtete.
Gottes Liebe ließ sich töten, aber sie ließ sich nicht besiegen.
Gottes Liebe starb, um stärker als zuvor und umfassender noch aufzuerstehen! –
Das ist die Weltbejahung und die Lebensfreude, die wir gerade auch in unserer verfinsterten Zeit, in der dämonische und satanische Gefahren die Zukunft radikal in Frage stellen, feiern sollen. Wir sind ja eben die Zeugen einer Liebe, die nicht harmlos, sondern wehrlos … und gerade darin der Gewaltwelt überlegen ist.
In ihrer Verweigerung des Hasses ist sie dem Hass unendlich, ja uneinholbar weit voraus.
Sie hat das Ende, das er bringen will, an dem er zündelt, mit dem er droht und das er tatsächlich riskiert, schon hinter sich.
Der Hass will die Liebe Gottes zu Seinen Geschöpfen groß und klein, zu Erde und Menschheit auslöschen. Doch die göttliche Liebe, die Seine Feinde wie Seine Kinder umfängt, ja, die Seine Feinde als Seine Kinder betrifft, ist genau das nicht: Sie ist nicht endlich! … Sie kann nicht unter- oder ausgehen, sie kann nicht weggerissen oder aufgelöst werden.
… Sie ist so völlig, sie gilt so gänzlich, sie bleibt so unverbrüchlich, weil sie nicht altern kann, da sie ewig ist, … durch alle Jahrtausende und ihre Wechselfälle, durch alle Katastrophen und Rebellionen, durch alles Unheil und durch alle Abnutzungskriege hindurch bleibt die Liebe, die ohne Verfall ist, weil sie Gott ist, vital.
Und darum endet das Buch von der ganz natürlichen jungen Liebe – die schöne Sammlung der unverkrampften, erotischen Liebeslieder Salomos und Sulamiths – mit den Versen, die zwar wie der Schwur und die Beschwörung zweier Menschenherzen klingen, aber doch zeigen, dass es hier noch höher und noch tiefer, noch weiter und noch wundervoller geht, als unter uns:
Was bei uns vom Herzenklopfen zum Hochzeithalten und zum Honigmond führt, … was Vertrauen und Vertragen und Vergeben stärkt, … was in geteilten Lebensjahren und gemeinsamem Lebensabend und individuellem Lebensende bei uns dann schließlich nach der Zunahme und Reifung auch die Vergänglichkeit der Liebe bringt – nämlich, dass sie die Liebe sterblicher Menschen ist, die darum auch sterben muss – das wird hier nicht beschrieben.
Nicht die Leidenschaft von Menschen, die flackert und nicht die Treue von Menschen, die halten kann und soll, bis der Tod sie scheidet, wird am Ende des Hohen Liedes besungen.
Sondern die Liebe, deren Stärke es mit der Finalität von Tod und Totenreich aufnehmen kann.
Die Liebe, die durch keine Wasser und keine Flut - durch keine Sünde und keine Gewalt der Vernichtung - vernichtet werden kann.
Die Liebe Gottes wird in diesen wenigen Worten des Hohen Liedes besungen.
Sie beendet die Geisterfahrt dieser Welt in den Tod. Denn sie ist der Welt zuvorgekommen, indem sie aus dem Tod das Leben hervorbrachte.
Im Ernst müssen wir also auch in noch so schwerer und sorgenvoller Zeit nie ein Fest der Angst vorm Tod, vor der Qual der Unerlösten oder der Wiederkehr des Vergangen-Geglaubten im Geist bewegen.
Was uns allein bewegen soll, ist die Liebe, … stark wie der Tod. Siegreich für alle!
… Jesus also, von dem es heißt: „Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, würde man ihn verachten?“
… Würde man ihn verachten?
… Ihn, der nicht nur in Nazareth, sondern bei seinem Vater alles aufgab, … der nicht daran festhielt, Gott gleich zu sein, sondern sich erniedrigte in Knechtsgestalt bis zum Tod am Kreuz, … ihn, den der Vater darum auch erhöht hat und ihm den Namen gab, der über alle Namen ist, damit im Namen Jesu sich beugen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind und alle Zungen bekennen, dass Jesus der Herr ist zur Ehre Gottes, des Vaters (vgl. Phil 2, 6-11)?!
Ihn, der alles aufgab, verachten? … Stark wie der Tod. Sieger für alle.
… Niemals!
Sondern lieben!
Amen.
15. Sonntag nach Trinitatis, 25.09.2022, Stadtkirche, Galater 5, 25 - 6, 10 , Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 15.n.Trin. - 25.IX.2022
Galater 5,25 - 6,10
Liebe Gemeinde!
Was passiert, wenn Menschen aus einem Modus – einer Art zu denken, zu leben und sich zu verhalten – in einen anderen Modus fallen, das ist in Galatien geradezu lehrbuchmäßig zu besichtigen. Doch bei diesem abrupten, überraschenden Wechsel der Galatergemeinde von einer Rahmenordnung ihres praktischen und geistigen Daseins in eine andere, geht es nicht um eine historische oder soziologische Studie. Es geht darum, was unserer Welt, was uns als Zeitgenossen gerade insgesamt geschieht: Das Umschalten vom Geist aufs Fleisch, die Ausrichtung aller Maßstäbe nicht mehr in Annäherung an gottgemäße, sondern an gegengöttliche Ideale. Dieses Umschalten findet heute statt. Es ist das Zeichen unserer Zeit: Wie einst die Galater verfallen wir Menschen der Gegenwart aus einer erstaunlichen Freiheitserfahrung in erstaunliche Zwangsumstände, … aus einer geringgeschätzten Friedfertigkeit in eine hochgefährliche Roheit der Gewalt.
Der Moduswechsel, der dieser Welt gerade widerfährt, ist also wahrhaftig schlaf- und atemberaubend, … aber gewiss nicht beispiellos: Schauen wir also nach Galatien.
Galatien war der Wilde Westen des alten Ostens. Es war zivilisationsjunges Pionier- und Migrationsgelände. Auf der anatolischen Hochebene, die offen wie die Prärie liegt, hatten wandernde, kriegslüstern-abenteuerliche Keltenstämme auf ihren Beutezügen und Fluchtwegen sich seit zwei-, dreihundert Jahren zusammengefunden: Diese „Gallier“ Vorderasiens, die „Galater“ standen also nicht in der altgriechischen oder in der neu weltmächtig-römischen Ökumene der Kulturen, sondern sie waren und blieben Barbaren. Ihre einstweilige Integration in den hellenisierten Vorderen Orient war eine strategische Option und keine Zähmung. Mehr als die geistige Weltausstrahlung Athens imponierte ihnen jedenfalls die militärische Dominanz Roms.
……. Ausgerechnet unter diesen grobschlächtigen Stämmen der Galatern Missionserfolge erzielt zu haben, war für Paulus also eine bemerkenswerte Erfahrung.
… Doch seine Erfolgserfahrung sollte nicht von Dauer sein.
Die verlockende Mission des Heidenapostels, der den keltisch-kämpferischen Galatern das Ende aller Gehorsams-, aller Unterordnungskultur brachte und ihnen die Liebe Dessen eröffnete, Der für uns alle den letzten, bittersten Zwang - den Tod - getragen und durch Seine Freiwilligkeit dabei diesen Zwang schließlich aufgelöst hat … – diese Mission des Paulus elektrisierte die Galater nur eine Zeitlang.
Bald spürten sie, dass die Großzügigkeit der göttlichen Liebe und die Weite des göttlich-globalen Gnadengeistes eine überraschende Unsicherheit bedeutete:
In der Eigenverantwortung eines geliebten Menschen zu stehen, ist anstrengender, als fremde Befehle auszuführen.
Wen Gott frei auf die Botschaft Seiner Liebe antworten lässt, der wird stärker herausgefordert als jene, die aus irgendeiner Nötigung etwas müssen.
Der Geist Gottes will in einer persönlich-lebendigen Wechselwirkung mit den Glaubenden stehen, während bloß Unterworfene sich ja gedankenlos wie Gegenstände durch den Willen eines Anderen von außen bewegen lassen können.
Die eigene geistliche Beteiligung, diese Freiheit und Selbständigkeit des Lebens in Beziehung auf den Geist, wurde den Galatern daher rasch mühsam.
Sie fielen zurück … nicht in eine angeblich blinde jüdische Gesetzlichkeit, die aller tiefentschlossenen Frömmigkeit des eigenwilligen Volkes Israel wirklich fremd ist, sondern in die Bequemlichkeit ausführender Organe: „Gib uns eine Moral; gib uns Normen; gib uns einen Kodex, einen Drill, eine Marschordnung“ … so mag es in den einzeln zügellosen und deshalb als Gemeinschaft besonders dressurwilligen Galatern geklungen haben. „Häuptling befiehl, wir folgen!“ …
Die ersten keltischen Clanangehörigen, die in Galatien Christen geworden waren und im Christentum das Regelwerk und die Erkennungszeichen vermissten, die z.B. die Beschneidung in der jüdischen Gemeinde darstellte (vgl. Gal.5, 3ff), wollten also lieber Kommandoklarheit als die Last der getauften Mündigkeit.
„Zur Freiheit hat Christus uns doch befreit“, rief ein entsetzter Paulus ihnen da in seinem Brief (5,1) zu: Warum drängt ihr euch denn nach Abhängigkeit? Warum wollt ihr wieder nur stupide nach Vorschrift leben und nicht inspiriert, nicht unbefangen, als Menschen, die sich im Glauben als Gottes Kinder erfahren, die Er nicht bevormundet, sondern zu Einsicht und eigenem, geistgelenktem Urteil bevollmächtigt?!
Warum?
… Weil der Modus der Unterwerfung, der Modus der Unselbständigkeit, der Modus des Mitmachens so viel einfacher ist. Als Massenmensch, … als Mensch im Sog des Vorgegebenen, … als Mensch, der nicht viel denken muss, da bist Du einfach Fleisch. Fleisch ist ein anderes Wort für „Ich“. … Und gerade die Unselbständigen, die reibungslos Konformen sind trotz ihrer Ununterscheidbarkeit lauter „Iche“: „Ich will nur durchkommen. Ich will nicht abschmieren. Ich will für mich wenigstens auch mein bissl Platz an der Sonne und Ruhe in Frieden und Preis für Fleiß genießen. Ich störe sonst keinen und also soll mich auch keiner stören. Ich und mein Fleisch: Wir bleiben im Rahmen, wir nehmen, was wir kriegen und uns zusteht … und gut ist’s.“
… Der Geist dagegen: Der Geist stört das Ich. Der Geist ist ja die Liebe.
Der Geist verbindet und versöhnt … und schon hat die liebe Seele keine Ruhe mehr.
Der Geist macht - weil er Gnade ist - gnädig … und schon ist im Denken und Fühlen alles kompliziert aufgeweicht, das gerade noch so quadratisch, eckig, ordentlich war.
Der Geist bricht aus der Gewohnheit, … der Geist spricht für die Unerwünschten, … der Geist traut der Hoffnung, … der Geist hält die Tür auf, … der Geist schließt das Herz auf, … der Geist öffnet uns die Augen, … der Geist bewegt die Erde, … der Geist wirbelt den Staub und stößt die Gewissheiten um, … der Geist braust im Neuen …
… Der Geist redet anders, … der Geist weiß es anders, … der Geist macht es anders …
… Der Geist heilt die Herzgelähmten, … der Geist leert die Gefängnisse der Gewohnheit, … der Geist verteidigt die längst Abgeurteilten, … der Geist befreit die Unterdrückten, … der Geist weckt die Kinder, … der Geist spürt das Abenteuer, … der Geist kennt die Braut (vgl. Offenb.22,17!) und lädt die ganze Welt unangekündigt und unsortiert zur Hochzeit …
… Der Geist ist das Leben im Sturm, … der Geist ist das Menschliche, das entflammt, … der Geist ist die Sehnsucht nach Allen in Allem. ———
Und darum wollen die Galater den Geist nicht mehr spüren müssen. Sie wollen ja nur selber gerettet und gesichert sein, aber doch nicht noch das ganze Leid der Erde mitbewegen, bis es nachlässt und überall alles gut wird.
Es selber gut haben, … gut sein.
Nicht mehr. Nicht weniger.
Das pure Fleisch.
Dagegen der irrwitzige Geist heißt: Sich kümmern. Wenn ein anderer Mensch kämpfen muss, … dann sich nicht feine raushalten, sondern darauf einlassen: Auf Schmerzen, die man selber gar nicht hat oder haben könnte. Auf Trauer, die einen nicht im Leisesten betrifft. Auf Schuld und Tragik, die man sonst im weitesten Abstand umgeht.
Solche Geduld mit den Problemen anderer, solche Sanftmut bei den Verfehlungen, bei den Fehlschlägen im Leben fremder Leute: Das ist nichts für uns Galater! Da kümmern wir uns doch besser um die eigene Bilanz, die eigenen, ja auch nicht immer einfachen Belange. Her mit den knallharten Spielregeln und weg mit dem ganzen weicheierigen Mitleids-Kram! ——
Dieses wiederholte Hin und Her, dieses Pendel, das immer wieder vor und zurückschwingt zwischen der empathischen Nächstenliebe, der offenen Gemeinschaftsfähigkeit, die der Heilige Geist bewirkt, und dem natürlichen Instinkt, sich auf den unbarmherzigsten Egoismus zurückzuziehen, … diese Verschiebungen dessen, was wir den Modus nannten, die sind wahrlich nicht bloß eine Anfangsverunsicherung aus den Tagen der ersten christlichen Mission.
Die Bereitschaft zum Ergreifen und Ertragen der Last der anderen – und nichts sonst verbirgt sich ja im Geheimnis des in uns gegenwärtigen Geistes Gottes – war nie selbstverständlich … auch im sogenannten „christlichen“ Abendland nicht, das man vom keltischen Westen bis zur galatischen Hochebene sich erstrecken sehen mag.
Die Natur des Menschen - sein Fleisch - hat stets gegen die unnatürliche, die übernatürliche Herzlichkeit und Menschlichkeit des Heiligen Geistes rebelliert: Die „Anderen“ waren immer die geborenen Feinde, unwillkommene Eindringlinge, unliebsame Rivalen. Das Eigene schien uns immer größer, weil ja schließlich der Fingerhut, den man sich dicht vor Augen hält, die höchsten Gipfel des Kaukasus, des Taurusgebirges oder der Alpen verdecken kann.
Aber jene mehr als natürliche, jene übernatürliche Gemeinschaft, die der Geist begründet hat, seit Maria durch Ihn den wahren Menschen zu empfangen bereit war und seit der Sohn der Maria in der Taufe dann selber durch den Geist Seinen göttlichen Vater erfuhr … diese Gemeinschaft, die der Geist zwischen Gott und der Menschheit immer schon schenkt und in Jesus besiegelt hat, … diese Gemeinschaft, die wir die Kirche nennen und in der nicht das fleischliche Einzel-„Ich“, sondern das geistliche Band, das uns alle zu einem in lebendiger Liebe verbundenen Leib macht, …diese Christusgemeinschaft, diese Gemeinschaft der Christen hat im ganz Großen und im ganz Kleinen auf ganz andere Weise den Samen der menschlichen Zukunft gesät, als die Einzelkämpfer, die nur Zwietracht auf’s Feld bringen.
Denn bei allem, was man Schlechtes über die Folgen des Christentums, seiner Willfährigkeit, Blindheit und Taubheit sagen kann, stimmt dennoch, dass in der ganzen Welt kein vergleichbares Ideal gepredigt, geglaubt und geübt wird, wie das Gesetz Christi, das Liebe fordert, weil es Liebe voraussetzt (vgl.Gal.5,14).
Diese Liebe aber – praktiziert im Weltmaßstab und im Privatleben von Abertausenden, die vor uns und um uns herum getauft sind und den Geist der Menschenfreundlichkeit, der Sanftmut und der Wohltätigkeit empfangen haben und durch sich wirken lassen –: Sie ist in Gefahr! … Der Modus geht verloren:
Der christliche und der aus dem Christentum gespeiste, säkularisierte Modus der Geduld, der Güte und Gnade, der geistliche Modus auch im politischen Gewand der Grundrechte eines jeden, der Gleichstellung aller, der Großzügigkeit gegen die „Anderen“ … er ist in akuter Gefahr: Wie die Wälder im Feuer, wie das Eis in der Schmelze, wie die Hoffnung im Unwetter des Hasses, so verschwindet das, was die Gemeinde Jesu Christi in die Welt zu säen und zu pflanzen hatte.
Doch mehr denn je gilt, dass wir uns nicht irren dürfen, weil Gott sich nicht spotten lässt:
Was der Mensch sät, das wird auch seine Ernte werden.
Wenn die geistlose Ideologie, dass man sich um fremde Lasten drücken könne, sich um fremdes Leid nicht scheren müsse und nur die eigenen Belange kultivieren dürfe, weiter um sich greift, dann droht noch Schrecklicheres, als das jetzt schon erkennbare Unheil der rein weltlichen, rein fleischlichen Epoche, in der wir uns finden.
Schon jetzt dreht sich der materialistische Mensch - der Mensch ohne Geist - nur um sich selbst: Die eigene Wirkung, das eigene Wohlergehen sind die alleinigen Motive des großen Geistlosen, des kleinen Herzlosen unserer Tage.
Und was der Einzelne in der einsamen Eitelkeit seines Daseins als Ersatz für die Liebe und als Mittel gegen das Mitgefühl einsetzt, das wird im grausamen Klimawandel der nationalen und der internationalen Verhältnisse in weit furchtbarerem Maße angeheizt:
„Alles für uns, nichts für die anderen!“
„Groß sind nur wir! Möge jede Erscheinung daneben verschwinden … buchstäblich!“
Diese krankhaften Haltungen, die als Spitze des Eisbergs in einem Krieg gipfeln, der uns das Entsetzen und das Fasten und Beten lehren muss, … diese krankhaften Haltungen des „Ich ohne die Anderen“ würden das Ende der Menschheit bedeuten, wenn sie weiter ungebremst um sich griffen.
Der Wechsel vom Versöhnungs- und Verständigungsmodus, der seit 70 Jahren in den Vereinten Nationen trotz aller Konflikte ein Maßstab war, zum Modus der Verneinung und Vernichtung würde weltweit bedeuten, was schon in Galatien drohte, als sie den Heiligen Geist zugunsten des Eigensinns verschmähten:
„Wer auf sein Fleisch sät, der wird vom Fleisch das Verderben ernten.“
…….
Doch so endet die letzte Predigt vor dem Erntedanksonntag nächste Woche nicht!
Trotz aller Bedrohung, trotz aller Warnung von Galatien damals bis nach Italien, wo man heute die Wahl hat, … von Moskau bis Peking: Wir leben in jener Welt, in der Jesus Christus durch den Heiligen Geist empfangen wurde – das ist das wichtigste politische, soziale und physische Geschehen aller Zeiten! –; und damit leben wir in jener Welt, in der allen Menschen die Gnade eröffnet ist, durch den Glauben an Jesus und durch die Gabe des Geistes statt der Zukunftslosigkeit des Fleisches das bleibende Leben zu erfassen.
Noch haben wir Zeit.
Noch können wir Gutes tun, … Gutes hoffen, … Gutes bewegen, … Gutes erbitten, … Gutes gönnen und Gutes ernten.
Säen wir darum auf den Geist … und warten getrost auf das Erntdedankfest, das kommt!
Amen.
13.Son. n. Trin., 11.09.2022, Stadtkirche, 500 Jahre "September-Testament", Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 11.IX.2022 – 13.n.Trin.
500 Jahre „September-Testament“[i]
Liebe Gemeinde!
Was wollen wir hier wirklich feiern?
… Dass Gott durch ein Buch zu uns spricht?
… Dass Er die jahrtausendlang für den Menschen überlebensnotwendige Übung des genauen Hinhörens und dann den menschheitsgeschichtlichen Meilenstein der entlastenden Erfindung von Schriftzeichen nutze? Dass Er die erstaunliche Aleph-Betisierung der jüdischen Gelehr-ten, die in der Bronzezeit bei aller Bescheidenheit doch herrliche Techniken der Aufzeichnung und der Lektüre beherrschten, einsetzte, um weiter auf den erstaunlichen Wegen des Transports und der Speicherung der Heiligen Schriften Israels, ihrer Übersetzung in’s Griechische der edelschönen Wahrheit und dann ihrer verpflichtenden Anerkennung durch die Kirche, die sie für Europa verwestlicht, also lateinisch gemacht hat, schließlich mittelbar auch uns, die kaum noch lesekundigen Emoji-Stenographen am Ende des Abendlandes zu erreichen?
… Wollen wir feiern, dass Gott diese Heils- und Mediengeschichte so feinmechanisch abgestimmt hat, dass der Durchbruch zur Wortvervielfältigung durch bewegliche Bleibuchstaben und die historische Tiefenbohrung hinunter bis zu den Quellen just dann zusammentrafen, als ein alerter, dickschädeliger, seelenempfindlicher, verdammnisfürchtender und gnadendurstiger Eigenbrötler sich so aus der Schar der beruhigt Halbwissenden herauskatapultiert hatte, dass man ihn zur Deeskalation ein bisschen wegsperren musste, um in der Luftkur mitten im Thüringer Wald den ganzen öffentlichen, päpstlichen, kaiserlichen, humanistischen, reformatorischen Blut- und Wutdruck in den Griff zu kriegen?!
… Wollen wir also feiern, dass Buchdruck, Renaissance und Reichstagsärger dazu führten, dass die gesamte Offenbarungs-, Überlieferungs- und Übersetzungsgeschichte der Bibel in dem knappen Jahr von Luthers unfreiwilliger Sicherheitsverwahrung und Reha auf der Wartburg einen so idealen Kulminationspunkt erreichte?
… Und dass in diesem unwahrscheinlichen „Zufall“ so viel in der hebräisch-griechisch-lateinischen Bibel angestaute Energie auf den Überdruck, unter dem Luther stand, reagierte, dass alles sich in einem deutschen Urknall entlud, als das Jahrtausendwerk heiliger Altsprachlichkeit in nur 11 Wochen zu einem deutschen Neu-Bestseller wurde … zumindest in seinem damals, über den Jahreswechsel 1521/22 wie in Trance übersetzten und seit dem Frühjahr im Akkord auf zwei oder drei Wittenbeger Druckerpressen entstandenen neutestamentlichen Teil?! …….
Wollen wir wirklich diese Seite der medialen Geschichte feiern … und dann natürlich das Genie, das vor einem halben Jahrtausend in 80 Tagen die Welt endgültig bewegte, weil da-mals - „Boom!“ - die schönste, dynamischste, poetischste, emotionalste Übersetzung entstand, auf die wir stolz, stolzer, am stolzesten sind, weil sie mit Bachischer Musik und Klopstock’schen Rhythmen und Goethe’scher Lebendigkeit und Nietzscheanischem Pathos und Dibelius’scher Bürgerlichkeit bis heute in unserm Denken, Reden und Sein fortwirkt???!!!
……. Ich dachte, ich wollte.
Aber das ist eine dumme und betriebsblinde Sicht dessen, was die „Luther-Bibel“ - gerade zu 2017 noch einmal schön restauriert - bedeutet und bedeuten kann.
Die erhabene oder - schlimmer noch - die selbstverständliche Feier des O-Tons unserer „Luther-Bibel“, die so fruchtbar in sämtlichen Schichten unserer Glaubens- und Kulturvergangenheit gewirkt hat, wird durch solche Verklärung nur musealer.
Wir machen uns viel vor, wenn wir tatsächlich nicht zugeben, dass diese wundervolle, packende, berührende und inspirierende Sprachleistung Luthers heute nichts anderes ist als die sogenannten tausendjährigen Eier der chinesischen Küche: Wer dran gewöhnt ist, schwört drauf und liebt diesen einzigartigen Geschmack, den die Zeit hervorbringt, … wer’s aber nicht kennt, ist befremdet.
Nun spricht gar nichts dagegen – im Gegenteil: Alles spricht dafür! –, dass man neugierig gemacht und auch auf ungewohnten Geschmack gebracht werden kann.
Aber das Ziel dabei sollte nicht sein, dass wir die Grundlagen für den Deutschunterricht oder den Oratorienführer oder ein verständiges Geschichtsbewusstsein gewinnen und diese verwechseln mit einem theologischen Sinn.
… Einen besonderen theologischen Sinn als Text hat die sog. Luther-Bibel – an der neben Martin Luther zahlreiche und noch vertrauenswürdigere Köpfe als nur der seinige mitgewirkt haben – nicht!
Im Gegenteil: Luther hat mit seinem starken, für ihn und seine Zeit unvermeidlichen Eigensinn auch wirklichen Unsinn in die Bibel, besonders auch ins Neue Testament hineingetragen: Dass er alles, was ihm Evangelium zu sein schien, eigentlich nur an den Briefen des Paulus maß, … dass er sich - wie es in der Darstellung „welches die edelsten und rechten Bücher des Neuen Testaments seien“ heißt - lieber einen taten-, als einen wortlosen Jesus vorstellen wollte, … dass er schließlich ganze Bestandteile des neutestamentlichen Kanons in seiner Anordnung nach hinten verdrängte und nicht mehr richtig mitzählte, weil ihm diese Schriften zu praktisch oder zu prophetisch (und damit in beiden Fällen letztlich wohl: „zu jüdisch“!) vorkamen, … das ist ein so dreister und größenwahnsinniger Entschluss, dass es mir eigentlich vor solcher Hybris graut.
… Wie dankbar müssen wir nicht sein, dass es die praktische Botschaft der Bibel – die heutige Epistel, dass Gott die Liebe ist (1.Joh4,7ff) – gibt und dass diese universale und rettende Tatsache gerade in den Taten, den Speisungen, Heilungen und Tröstungen Jesu und in seinem Opfer für alle ohne Theorie greifbar, wahr und nachahmungsfordernd geworden ist! ——
Wenn wir also heute das „Septembertestament“ feiern, dann nicht um seiner geschichtlichen, literarischen oder auch ästhetischen Qualität willen und erst recht nicht, um Luther damit indirekt neben Homer und Shakespeare, neben Ernst Jandl und Friederike Mayröcker als gigantischen Sprachschöpfer auf einen Denkmalsockel zu stellen.
Er war Erzeuger und Hebamme, er war streuender Sporenpilz und gärende Hefe unserer Sprache und damit auch vieler unserer schönsten Lieder und zutiefst-vertrauten Seelenschätze, … daran besteht kein Zweifel.
Aber damit war er doch nur Schnitzer oder Schneider: Er hat eine Form, einen Schnitt, ein Gewand für die Bibel sauer erarbeitet oder begnadet spontan hingeworfen.
Der Inhalt aber ist etwas Anderes!
Doch der – der Inhalt! – ist es, den wir auch heute, bei der Erinnerung an eine große Übersetzungsleistung feiern wollen.
Um diesen Inhalt geht es ja auch jedes Mal, wenn uns eine Motette, ein Choral, eine Predigt eine Anspielung, eine rhetorische Figur, eine Erinnerung mit der urwüchsigen Kraft, der schwebenden Aura, dem spürbaren Puls oder auch nur dem leisen Nachklang der luther’schen Sprache berühren. Immer geht es eigentlich um das, was Luther nun tatsächlich selber nicht geschaffen und nicht geleistet, sondern in der Ergriffenheit der Übersetzungsfreu-de bezeugt hat: Es geht um DAS WUNDER, DASS GOTT SPRICHT.
Dass Gott nicht schweigt, ist ein – nein, wenn wir dem Schöpfungsbericht trauen, ist es das ursprüngliche und grundlegende – Wunder Gottes.
Gott könnte ja im Geheimnis, das Er ist und bleibt, verhüllt existieren.
Er könnte stumm über oder jenseits aller menschlichen Wahrnehmung verborgen bleiben.
Das Werk Seiner Hände könnte ahnungslos und taub für Ihn, ungerufen, ohne jede Kontaktaufnahme, ohne jedes Angesprochen-Werden in völligem Abgeschnitten-Sein seine Bahnen ziehen.
Dass Gott – die ewige Weisheit, die aus jeder Idee, jedem Gedanken sofort Wirklichkeit machen kann – schon für die Entstehung des Kosmos nicht tonlose Gesten oder geräuschlose innere Prozesse, sondern vernehmbare Äußerungen verwendet, ist ein Schlüssel zu Seinem Herzen:
Gott will Sich mitteilen, statt Sich für Sich Selbst zu behalten.
Gott legt der Welt nicht Seinen nackten Willen, sondern das Mittel zur Verständigung zugrunde und darum auch Verstehbarkeit.
Gott hüllt Sich nicht in Rätsel, die hingenommen werden müssen; Er erzwingt nicht die schaudernde Anbetung, die das versiegelte Mysterium verlangt, sondern Er setzt bereits den Anfang aller Dinge auf dem Weg der Kommunikation.
Gott öffnet Sich, statt Sich verschlossen zu geben.
Er atmet aus, so dass andere aus Seiner Lebendigkeit schöpfen können.
Er spricht und also weckt Er Hören und Denken, weckt Worte, weckt Gehorsam, Gegenrede und Gewissen, … weckt uns als Seine Antwort! ——
Diese unglaubliche Tatsache, dass wir es in der Bibel und durch die Bibel mit einem redenden, mit einem Sich äußernden, mit einem Sich auf den Menschen beziehenden Gott zu tun haben, ist das, was wirklich jeden Tag und jeden Augenblick vor Gott zu einem Fest macht:
Gott spricht uns an! Wir sind die Adressaten dessen, was Gott bewegt!
Wie uns das auszeichnet! Wie uns das aus der trüben, brütenden Verlassenheit, aus dem Vakuum eines nicht wörtlich gemeinten, eines bloß sachlich gegebenen Daseins herauslockt in eine Aufmerksamkeit und eine Erfahrung, die in und unter, über und hinter allem nicht die bleierne Sinnlosigkeit, sondern eine Nachricht, eine Botschaft, einen Sinn suchen … und finden darf: … Durch Anstrengung, durch Zweifel, durch Missverständnisse hindurch, gewiss … aber doch einen ausdrücklichen, weil ausgesprochenen und also auch verständlichen Sinn!
… Den guten Sinn, der in allem liegt und einst wieder auch aus allem sprechen wird: »Eu-Angelion« …Gottes sinn- und heilvolle Selbstmitteilung! ——
Dass Gott im Wort und im Verb Sich Selbst also zu uns hin auf den Weg macht, das ist nun tatsächlich noch viel mehr als die Geschichte einer einmal diktierten Offenbarung, eines einmal geschriebenen Textes, eines einmal gedruckten Buches, einer einmal geglückten Übersetzung.
Dass Gott redet, statt zu schweigen, … dass Er offenes Buch, weil offenes Wort ist, … dass Er eben buchstäblich Offen-Barung und nicht Abschließung wählt, … dass Er Sich also durch Überraschung und nicht durch Gewohnheit oder stummes Geheimnis kundtut, … das ist es, was tatsächlich alle, die Ohren haben zu hören und einen Mund, der fragen kann oder weitersagen, der Echo und Fortsetzung sein darf und soll, inspirieren muss!
Spricht Gott, wie sollten Menschen dann das Maul halten?
Hat Gott Seinem Wesen nach stets neue Nachricht für uns, wie sollten wir dann Sprach- und Teilnahmslose oder bloße Wiederholer sein oder bleiben wollen?
Das Wort Gottes macht Menschenworte locker, … lässt Menschenrede sprießen, blühen, Ernte werden und neue Saat, … macht Menschen also Lust zu sagen und zu singen, zu üben und zu versuchen, was sie noch nie vernommen, nie gesehen, nie festgehalten, nie ausgesprochen haben. ———
Die elf Wochen, in denen das Evangelium in Luther auf der kalten Wartburg so perlend und so dampfend sprudelte und wie erwärmtes Edelmetall sich zu schönster Zier und Kleinod formen ließ, diese fruchtbare, experimentelle, enthusiastische Phase der sprachlichen Freiheiten, der Neuprägungen und Eingebungen ist also kein Endpunkt, und das Septembertestament darf kein Aggregatzustand des Neuen Testamentes oder der Bibel sein, der noch ein halbes Jahrtausend später, ausgekühlt und mit allem Grünspan, allem Staub der Geschichtlichkeit nun hinter Panzerglas, im Schummerlicht einer Vitrine konserviert werden müsste.
Solche Schätze, die bloß eine Beute für die Altertumsdiebe und ein Fraß für den Rost wären, hat Jesus Christus eben nicht bringen wollen.
Vielmehr spricht Christus jede Zeit und jeden Menschen lebendig an, weil Er das Wort und Leben selber ist.
Darum ist aber das eigentliche Fest, zu dem Luther uns einlädt und sein eigentlicher Geniestreich – also das Zeichen seiner wirklichen Freiheit in der Geistesgegenwart des von Ewigkeit her und also auch heute und also auch in Ewigkeit redenden Gottes – nicht das Ergebnis jener Übersetzung, die Luther gelungen ist, sondern ihre Absicht.
Gottes Sprechen so zu fassen, ihm so zu dienen und ihm so auf die Sprünge zu helfen, dass es die berühmten Alltagsmenschen, die zeitgebundenen, konkreten Gestalten, die einfachen Leute mit dem echt existentiellen Horizont genau ihres Lebens erreicht, an die Luther im berühmten „Sendbrief vom Dolmetschen“ dachte – „die Mutter im Hause, die Kinder auf den Gassen, der gemeine Mann auf dem Markt“: Das ist der wirkliche Freibrief und das dringliche Erneuerungsmotiv aller Bibelarbeit, aller Verkündigung, aller sprachlichen Übersetzung und aller praktischen Übertragung des hier und jetzt wahren Wortes in das Leben jetzt und hier.
… Dass die sorgenden und die spielenden und die handelnden Menschen heute, … die, deren Alltag von Hektik beherrscht wird, … und die, deren Bestimmung das Lernen ist, … und schließlich auch die, deren Augenmerk geradezu areligiös auf dem rein Materiellen liegt, … dass diese alle spüren müssen, dass Gott sie anspricht: Das ist die Verheißung, die durch Luthers Übersetzung weht!
Es ist eine Verheißung, die keine sprachliche Form bevorzugt. Sie setzt weder ausschließlich einen vermeintlich „modernen“ Klang, noch irgendeine klassische geronnene Sprachgestalt ins Recht. Sie nutzt und sie verflüssigt, sie belebt und sie entfaltet alle sprachlichen Mittel und Zustände durch ihre eigene, aktuelle Erschließungskraft eben als Verheißung, … als Verheißung nämlich, dass alle Menschen spüren sollen und dürfen, wie Gott unmittelbar an ihr Ohr und ihr Herz drängt, dass Er in ihnen wahrgenommen und dann angenommen, also geglaubt werden will: Das ist das Eine, um das allein es geht!
Es kann durch hohe, hehre Feierlichkeit oder mit ganz unaufdringlicher Beiläufigkeit geschehen, dass Gottes Sprechen Gehör findet. Es wird sich in tausend tradierten und in ebenso vielen spontanen Formen ereignen, dass Gott Menschen erreicht.
Er spricht ja alle Sprachen; Er wählt für jede Frau, für jedes Kind und jeden Mann die Worte, die sie zu wecken und zu rufen vermögen und die ihre Antwort in Sprache, Tat oder einfacher Liebe auslösen werden.
Dass Luthers unbekümmert schnelle, lebensnahe, unverbildete, phantasievoll und zugleich organisch kreative Übersetzung das meinte und dass ihr das gelang – ja, immer noch gelingt! -, genauso wie es anderen Übersetzungen, Vertonungen, Auslegungen, Aneignungen, Fortschreibungen und direkten Erleuchtungen gelingt, Gott hörbar und verständlich und Menschen ansprechbar und verständig zu machen: Das feiern wir heute und jeden Tag, den wir mit dem redenden Gott, mit Seinem Wort in unserer Welt und Zeit verbringen dürfen.
Denn Seine Worte sind die Wahrheit und sie haben in sich das ewige Leben (vgl. Joh. 6,68 und 17,17)!
Amen.
[i] Auf einem Gottesdienstblatt war ein entscheidender Passus aus der Darlegung „wilchs die rechten vnd Edlisten bucher des newen testaments sind“, die Luther der NT-Ausgabe vom September 1522 nebst der Vorrede angefügt hatte, abgedruckt. Den Zitaten aus dem „Sendbrief vom Dolmetschen“ und der Bezugnahme auf die Vorreden zu einzelnen biblischen Büchern in dieser Predigt liegt Bd.6 der sog. „Münchner“ Luther-Ausgabe zugrunde: „Bibelübersetzung. Schriftauslegung. Predigt“ (Martin Luther - Ausgewählte Werke, hgg. v. H.H.Borchert und G.Merz, München, 19583).
12. So. n. Trin., 04.09.2022, Stadtkirche, Apostelgeschichte 9, 1 - 19, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 12.n.Trin. - 4.IX.2022
Apostelgeschichte 9
Liebe Gemeinde!
Ein schönes Lied haben wir da eben gesungen (EG 256) … aus Tagen, als es noch möglich schien, eine globale Hoffnung ausdrücklich im Namen des Christentums zu hegen: Damals – als es schon schrecklich viel koloniale Gewalt und Unterdrückung gab, Versklavung und Ausbeutung, die von der europäischen und amerikanischen Christenheit ausgingen – … damals haben sie in Württemberg bei Albert Knapp genauso wie im Wuppertal oder im Ravensberger Land und überall, wo es Erweckungen und Missionsgeist gab, immer noch geglüht in der Vorfreude darauf, dass alle Völker den Herrn Jesus in der Einfalt als ihren göttlichen Freund, in der Not als ihren sicheren Befreier und im Tod als ihren gnädigen Erlöser erkennen und dadurch unendlich glücklich, ja selig werden sollten.
Da war echte Jesusliebe genauso lebendig wie echte Menschenliebe. Die Welt schien den Frommen damals wirklich wie ein Heer von ziellos Irrenden, das zusammen den langen Weg durch die Wüste antreten werde, wenn nur ein Paar Kundschafter, die das Zeichen von Golgatha kannten, es ermutigten, sich in die dort weit ausgebreiteten Arme der Barmherzigkeit zu flüchten und dann an der Hand des auferweckten Gekreuzigten zur ewigen Heimat zu ziehen.
Das war der Traum von der allüberall lockenden, tröstenden, liebenden, hoffenden, leidenden und dann im Himmel schließlich triumphierenden Kirche aus allen Stämmen, Sprachen und Völkern. …
Das war der Traum.
……. Zerrissen und kaputtgegangen wie alle Träume, wenn die Realität sie entfärbt und entweiht. Die Kirchen haben sich vor viele Karren spannen lassen; … zu manchen Völkern haben unsere christlichen Missionare nicht nur Heil, sondern Hölle getragen, … andere haben sie kulturell und psychologisch gespalten in vermeintlich unterlegene und vermeintlich überlegene Bestandteile, … wieder andere haben sie vor Ausbeutung und inneren Orientierungskrisen nicht ausreichend schützen können.
Die begeisterte Reich-Gottes-Arbeit, das Versöhnungswerk der Menschheitssammlung, um den Thron des Lammes ist für viele Heutige von finsterer Unterwerfung und brutaler Zwangsvereinheitlichung nicht mehr zu unterscheiden.
Von Anfang an sind Christen zwar in alle Himmelsrichtungen ausgezogen, um die unterschiedslose Liebe Gottes zur Fülle der Völker zu tragen, aber neben unglaublichem Segen ist dabei tatsächlich auch viel Zwietracht und Missbrauch entstanden. So dass der Traum von der allen geltenden, jeden umfassenden Gemeinschaft heute zwar noch in vielerlei säkularisierter Gestalt begegnet – Globalisierung, Weltmarkt, schrankenlose Virtualität, klassenlose Gesellschaft, Demokratisierung aller Nationen, Schutz der fächerartigsten Vielfalt – und doch unendliche Verlegenheit herrscht, wie das gehen könne: Eigene Ideale zu verbreiten, gilt als Imperialismus; fremde Inhalte zu übernehmen, wird geschmäht als enterbende Aneignung. Die Menschheit sieht sich ratlos an und kommt auch da, wo sie nicht von der Spaltung lebt, über das Trennende nicht hinweg, vertieft die Gräben sogar wieder immer mehr und wundert sich, dass Angst, Hass und Grausamkeit so unverändert aus dem Abgrund steigen.
…. Dass bald das einzig wirklich alle Verbindende der entfesselte Sturm der Vernichtung dieser Erde sein könnte, ist eine bittere Bilanz der misslungenen christlichen und antichristlichen, der religiösen, kommunistischen, kapitalistischen und technologischen Träume von der Menschheitseinung. ———
Warum also noch die alten Lieder von der Ausbreitung der Frohen Botschaft in Nord und Süd und Ost und West singen?
Warum den alten Traum noch feiern mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen, durch den gerade so viele verschiedene Vertreter der Menschheit bei der Vollversammlung in Karlsruhe zusammenkommen, die alle aus der einen Taufe in den Tod und in die Auferstehung leben und die das eine Ziel des irdischen Friedens hier und des himmlischen Friedens einst in der kommenden Welt teilen? Warum - um alles in der Welt - also immer noch ein missionarisches Herz und eine missionarische, welteinladende, welt-liebende Haltung bewahren, die Jesus bei allen und alle in Jesus zu erfahren wünscht? …….
Aus Nostalgie und Naivität?
Aus pietistischer Pietät oder schlichter dogmatischer Phantasielosigkeit?
Nein!
Denn das Neue Testament ist auf keinen Fall ein simpler Leitfaden für harmlose Verbrüderungsschwärmer oder leichtgläubige Allversöhnungsspinner. Die Bewegung des Neuen Testaments ist kein Weltbeglückungszwang europäischer Eroberer und seine missionarische Parole lautet auch nicht: Geht hin und verbreitet Woodstock-Stimmung, haltet Händchen, tanzt, kifft und erklärt in Stuhlkreisen, bei Sit-ins oder im Sandalenschweiß einer Kirchentagsmasse, warum man sich basisdemokratisch emanzipativ und inklusiv benehmen soll.
Die Mission im Neuen Testament fängt nämlich gar nicht als das Schneeballsystem einer sich siegreich ausbreitenden apostolischen Sendung an. Das Neue Testament kennt keinen solchen schönen Traum.
… Vielmehr beginnt’s mit dem Albtraum!
Die Weltbewegung, die wir Kirche nennen, geht los mit einer schrecklich düsteren film-noir-Szene: Ein zynischer Agent mit Plänen für einen großen Schauprozess - Saulus aus Tarsus - bewegt sich auf Damaskus zu. Viele aus dem verfeindeten Lager sollen ausgehoben werden. Es kann schmutzig enden, … kann auch auf Massenmord hinauslaufen.
So ist es auf der Straße nach Damaskus. Heute auch noch. … Oder auf den Pisten, die in die verbliebene Wildnis des Amazonas führen: Da müssen auch nicht nur Bäume und Tiere dran glauben. … Oder auf den Panzerspuren, die aus Russland Richtung Westen pflügen. Oder auf den Gefangenentransporten in China, den Schlepperrouten aus Afrika, den Drogen-Highways, von Süd- über Mittelamerika bis zum Klemensplatz. … So ist es, wo immer Menschen sich sicher genug fühlen, um anderen schadlos zu schaden. Jeder Menschengruppe, erst recht jeder Opposition drohen heimliches Unheil oder offene Inszenierungen der Verfolgung an unzähligen Orten der Erde: Man treibt die mit den abweichenden Anschauungen, Sitten oder Maßstäben zusammen, man pfercht sie ein, erzieht sie um, hungert sie aus und macht sie kalt … überall … rundherum, wo immer die Macht dafür reicht und das Recht dagegen zu schwach ist. … Menschen sind Bestien, deren Opfer Menschen sind. … So ist das, mit der Menschheit!
… Sage also niemand, die blauäugigen Christen machten es sich leicht mit dem Traum von der netten Wandlung zum Guten. Sage niemand, die christliche Mission, die Menschen im größtmöglichen Maßstab vor einander - und das heißt: vor sich selber! - retten und sie in den Heilsbereich Gottes, in das universale Asyl Seiner Liebe rufen will, verkenne die Wirklichkeit!
Das Gegenteil ist der Fall: Die christliche Umkehrbewegung fängt mit einem zum Äußersten entschlossenen Gesinnungsmörder an … „Saulus schnaubte mit Drohen und Morden“! So hart, so ungeschönt.
Was aber mit einem derart ausgeprägten Anti-Helden und dessen brandgefährlicher Aggression losgeht, das taugt nie und nimmer für ein schlichtes Drehbuch ansteckender Wohlfühlübungen durch große Gurus.
In seiner Apostelgeschichte will Lukas indes auch gar nicht die großartigen Pioniere der ersten Stunde verklären. Solche Propaganda führt nur zu dem, was man in Düsseldorf von der Naziverehrung für deren Pseudomärtyrer Schlageter kannte oder in den Lügenkult des Lenin-Mausoleum, während die echten - also niemals tadellosen - Bewährungshelfer der Menschheit – man denke denkbar an den gestern zu Grabe getragene Michail Gorbatschow! – kaum jemals reine Bewunderung erfahren, weil alles, was an ihnen glänzt, eben auch Schatten wirft.
Lukas will also nicht erzählen, wie der rabiate Ideologe Saulus zum leuchtenden Genie der Christentums-Werbung wurde.
Seine unwahrscheinliche und unheimliche Ouvertüre der Kirchengeschichte mit einem Finsterling, wie sie die Weltgeschichte serienmäßig und verhängnisvoll bevölkern, hat einen anderen Brennpunkt. Und auf Den sollen wir unsere Augen richten … auch wenn sie uns - ähnlich wie bei Saulus - den Dienst versagen und nicht aushalten können, was sich mitten über den leidvollen und schuldreichen Ereignissen unserer Tage zeigt.
Lukas will - und er kann! - erzählen von einem Licht, das nicht nur Alltagsgrau und Trübung unserer so gar nicht traumhaften Welt wirklich heller, wirklich schöner machen kann.
Lukas kann und will darüber hinaus vor allem aber erzählen von einem Licht, das die tiefste Finsternis zerreißt, … gerade jene Finsternis, die heute über der Welt lastet wie im Vorschöpfungschaos (vgl. 1.Mose1,2).
Es gibt ein Licht, das über den Mördern und ihren Opfern strahlt.
Es gibt Glanz und Wärme, die alle Verantwortung und alle Verantwortungslosigkeit, alle Schuld und alle Destruktion, deren der Mensch fähig ist, durchdringen, bis der tiefschwarze Kern, bis die abgründigste Nachtseite unseres Da- und Soseins nicht mehr lichtlos bleiben.
Es gibt eine Helligkeit, die alle Schatten des Todes aufklärt.
Es gibt eine Sonne, die den ganzen Kosmos und noch die Antimaterie darin nicht im Bann jener Kraft lässt, die alles kollabieren macht, sondern die Leben weckt und Funken schlägt in der kältesten, fühllosesten, erloschensten Peripherie, weit, weit, weit, … unendlich weit von der Mitte, in der die Dinge stabil und harmonisch erscheinen.
Es gibt jenes Urlicht, jenes ewige Licht, dessen Klarheit und Milde, dessen strömender Segen und stoffwechselnde Heilkraft alles erleuchten und umschmelzen und unumkehrbar ansehnlich und glanzvoll machen können.
Es gibt dieses Licht der Welt, die doch so dunkel scheint.
Von diesem Licht erzählt uns Lukas. Die Augen des sterbenden Simeon sahen es - und gingen über -, als er ein kleines Kind im Tempel auf die Arme nahm (vgl.Lk2,30ff). Da drückte Simeon Den ans Herz, Der sprach: „Es werde Licht!“.
Und dieses Licht reinster, unverlöschlicher Liebe zu allen, die verloren gehen oder schon verloren sind, … dieser ansteckende Glanz leuchtender Herrlichkeit für die Armen, die Hoffnungslosen, die Ausgeblendeten, … dieses Morgenrot tatsächlicher Gerechtigkeit, unanfechtbarer Freiheit und bleibenden Lebens war Tag und Nacht, dreißig Jahre lang auf dieser Erde.
Dann kreuzigte man das Licht.
Aber so wenig wie wir je einen Sonnenstrahl fangen können, so wenig konnte das wahre Licht von der finsteren Gewalt der Sünde und der Sünder festgehalten oder gar ausgeschaltet werden. Das Licht brach durch die Nacht, die es erstickte. Und dann erleuchtete das endgültig aufgegangene Licht ununterdrückbar die sichtbare und die unsichtbare Welt, bis die Finsternis des Weltalls zum hellen Himmel wurde, erfüllt von dieser lebendigen und lebensweckenden Kraft, von der Lukas uns zu Weihnachten ebenso erzählt wie zu Ostern und zu Pfingsten, dem Tag, als das Licht in so vielen Menschen gleichzeitig aufflammte.
Lichtergeschichte ist die Apostelgeschichte des Lukas darum genauso wie sein Evangelium: Aber eben eine Lichtergeschichte, die nicht von strahlenden Helden oder glanzvollen Meistern unter den Schriftgelehrten, den Jüngerinnen und Jüngern oder den Aposteln erzählt, sondern von Menschen - teils aufgeklärten, teils wirklich undurchsichtigen -, denen der Glanz des einen, endgültigen, ewigen Lichtes erschienen ist und die es wegen seiner überwältigenden Herrlichkeit schlicht reflektieren mussten.
Lichtergeschichte ist also die Apostelgeschichte, …. oder wir könnten auch sagen: Der einleuchtendere Name für dieses Werk wäre eben doch Jesus-Spiegel oder Christus-Reflektion. Die Geschichte, wie der Glanz von Jesu Liebe und Lebendigkeit sich auf den Zügen von Menschen zeigte, ja, wie er in Menschen zündete und sie transparent für ihn machte! ——
Darum kommt nun auch jener Saulus, von dessen tödlichen Absichten und rettendem Sturz, von dessen Tücke, Hilflosigkeit und Rehabilitation im Kreis seiner Opfer wir doch heute im Predigttext hörten, in der Predigt kaum vor.
Wir kennen ihn als evangelische Christen ja gut genug: Unser einsam leuchtender Fixstern, dessen ganz individuell gefasste Rechtfertigungslehre es in den reformatorischen Köpfen zu einer jahrhundertelangen Verzögerung bracht, bis aus der von Paulus vermeintlich beantworteten Frage „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ die Unruhe wurde: „Und wie kriegen Andere einen gnädigen Gott? Wie erfahren Alle von der Gnade Gottes?“
Ausgerechnet die evangelischen Paulusschüler waren wirkliche Nachzügler im Begreifen, dass Christentum Mission bedeutet.
Das aber ändert sich heute vielleicht deshalb wieder, weil wir das Unaufgebbare, das Unverzichtbare an der Hoffnung für alle empfinden, die nicht vom Frieden des Einzelnen mit seinem Gott in den Hintergrund verdrängt werden darf!
Die Lichtergeschichte, die den verfinsterten Saulus tatsächlich leiblich sehunfähig machte, bis ihm mit der Taufe aus verachteten Händen die Erleuchtung geschenkt wurde, dass man Jesus nicht verfolgen, nicht überwinden, nicht ausschalten kann, weil man überall Ihn finden wird, wo man auch hinschaut, … weil man, sobald man einen Menschen erkennt, gerade auch die Liebe Jesu zu diesem Menschen erkennt … und weil man von dieser Liebe, diesem Licht, diesem Jesus eben selbst auch durchdrungen wird, wenn man die Welt auch nur irgendwie oder sogar insgesamt wahrnimmt ……. diese Lichtergeschichte ist die entscheidende Botschaft für uns hier und jetzt.
… Sie ist die Mission, die uns Hoffnungsverlierer, uns Glaubensverabschieder, uns Schwarzseher und Weltaufgeber, uns Zeugen radikaler und restloser Zukunftsdunkelheit treffen und entzünden muss und wird … wie das für die Lichtdurchflutung und Weltaufhellung auserwählte Werkzeug Paulus.
Auch uns – das ist die Hoffnung und die Wahrheit dieser Tage – auch uns nämlich wird es nicht möglich sein, Jesus zu dämpfen, … wie trüb wir auch tun mögen.
Auch uns, in diesen Tagen wird durch Ihn das widerfahren, was der Prophet in der Schriftlesung (Jes.29,18ff) uns verheißen hat:
„Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches
und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen,
und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN
und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.
Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen
und mit den Spöttern aus sein,
und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten.“
Das ist die globale Hoffnung.
Das ist Jesu Lichtgeschichte für Alle!
Amen.
11.So. n. Trin., 28.08.2022, Stadtkirche, 2.Samuel 12, 1 - 15, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 11.S.n.Trin. - 28.VIII.2022
2.Sam.12 i.A.
Liebe Gemeinde!
Gleichniserzähler sind vorsichtige Kämpfer. Ihre Waffe kann ganz harmlos wirken, wie irgendein alltägliches Werkzeug. Aber wer eine Gleichnisgeschichte richtig auffasst, merkt – wenn er selbst nämlich nicht stumpf ist –, dass es sich dabei um eine geschliffene Pointe handelt, um eine Spitze, die trifft. Aus einer gewöhnlichen Begebenheit wird durch eine rechte Gleichniserzählung der geschärfte Blick für die Wahrheit.
Nun bin ich kein begnadeter Gleichniserzähler wie es viele Rabbiner von der Antike bis heute waren, die Banales zu schildern und darin Heiliges zu veranschaulichen wussten; ich bin auch kein Weiser wie der Dichter Lessing, der mit seiner Fassung des Drei-Ringe-Gleichnisses die Menschheit vor eine unlösbare Schiedsaufgabe in Sachen Religionsstreit gestellt hat; auch bin ich kein Parabeldichter, dessen politischer Widerstand sich wie bei Bertold Brecht in Kurzgeschichten reiner Unauffälligkeit kleidet, um unbemerkt an aller Zensur vorbeizukommen und dann in’s Schwarze zu treffen; am allerwenigsten bin ich natürlich ein Prophet Nathan oder Jesaja oder Jeremia … oder ein Rabbi und Zimmermann aus Nazareth, der das Reich Gottes auf dem Acker, bei der Bauernhochzeit und in galiläischen Kleinstadtgeschichten für alle Welt fassbar gemacht hat.
Wenn ich ein Gleichnis erzählen wollte, würde es hinken und sich in einem unnatürlich auf-gesetzten Kostüm sofort verraten.
… Meine Geschichte von den bequemen Leuten, die es gern warm haben wollten und sich deshalb von einem entfernten Ort das Feuer an den Ofen tragen ließen ohne zu fragen, aus welchem Inferno die Flamme wohl stammte und ob der Wärmebote nicht vielleicht unterwegs versehentlich oder voll tückischer Absicht alle Nachbarhäuser lichterlohn in Brand stecke, … mein Gleichnis von den Toren, die an frostigen Tagen dennoch 22 Grad haben wollten und dadurch unwillkürlich an einem höllischen Feuer mitschürten, das ihnen selbst das Feld und den Wald verwüstete, … das würde jeder sofort gelangweilt durchschaut und vergessen haben: So töricht wie in dieser Geschichte sind die Menschen doch nicht …….
Und darum – weil kein Gleichnis, das ich spinnen könnte, uns wohl helfen würde – … darum stehen wir in Jerusalem. Dem Ort, der vor Gott alle Orte vertritt und alle Menschen verbindet. Wir stehen in Jerusalem.
Wo man tuschelt. Weil alle wissen, dass Macht - sogar die Macht der Guten! - Menschen zerstört: Die reine Möglichkeit von etwas wird in den Händen der Mächtigen, denen nichts und niemand sich in den Weg stellt, zu seiner Wahrscheinlichkeit, nein: zu seiner Verwirklichung. Wenn ein Machtmensch etwas Begehrenswertes sieht, dann muss er sich nicht verzehren danach, … nicht davon träumen, … sich in den Träumen nicht ausmalen, wie es wohl wäre … Nein: Er reißt es an sich. Ein Stück Land. Einen Schatz. Eine Schönheit. Wie der König David jene betörende Bathseba, die er im Bade beobachtet hatte (vgl.2.Sam.11). Der Bauernbub aus Bethlehem, der auf den einsamen Triften mit seinen Schafen vermutlich noch manchmal hungerte, … der Bandenführer in der Wüste, der für seine Schar betteln oder stehlen musste (vgl.1.Sam.21; 25; 27,9), er konnte auf dem Söller seines Königshauses in Jerusalem jeden Appetit stillen: Also musste Uria, der Soldat, der Mann der Bathseba meuchlings sterben, weil David sie wollte.
… Das ist das heillose Unrecht, ja, der Fluch der Macht: Zu können, was man will! – Und das ist ja auch der Fluch unseres kranken Denkens geworden, dass wir sagen: Was man nur will, das kann man auch!
In Jerusalem brodelt die Stadt, weil es sich so gerade nicht leben lässt: Unbeschränktes Wollen, unbegrenztes Können sind nicht Freiheit, sondern Verdammnis. Ein Mensch, der kriegt, was immer er verlangt, wird zum Unmenschen. Ein Volk, das einem Wahn von Allmacht unterliegt, ist von Innen dem Unaufhaltsamen ausgeliefert. ——
Was aber begrenzt den Menschen?
Welches Gleichnis findet sich für die Schranke, die es braucht, um uns vor dem totalen, dem absoluten, dem losgelösten Menschenspleen, dem Übermenschen, dem Menschengötzen zu bewahren?
… Ist es die Bindekraft des Gesetzes, für die Franz Kafka so einprägsame surreale Gedankenbilder gefunden hat?
Oder kann der Mensch nur durch Angst im Zaum gehalten werden …, womit wir bei Luthers altem Vergleich wären, der im Menschen ein störrisches Lasttier sah, dass entweder von Gott oder vom Teufel geritten werden muss. —
… Was nimmt dem Menschen die schreckliche Allmöglichkeit, die ihn verdirbt?
… Wir stehen in Jerusalem, in Davids Kreml.
Wir hören Nathan vor der Tür zum Thronsaal schwer atmen: Er, der Prophet, dem der König gerne sein Ohr lieh, hatte vor Kurzem noch die unbeschränkte Heilszusage Gottes für das Haus Davids auszurichten. Gott versprach dem Nachkommen Davids: „Ich will sein Vater sein und er soll mein Sohn sein“, so dass das Königtum des Knaben aus Bethlehem in Ewigkeit bestehen wird (vgl. 2.Sam.7, 14-16). … Solche Verheißung im Superlativ – ein Versprechen, das dreihundert Jahre später bei Jesaja so zentral werden sollte, dass wir noch heute keine Adventszeit, kein Weihnachtsfest erleben, in denen nicht die unerschütterliche Hoffnung auf den Davidssohn als Garantie des Heils begegnet – … solche Verheißung im Superlativ, die Nathan überbracht hatte, muss ja wahrhaftig wie eine toxisch-tyrannische Überdosis auf den großen König gewirkt haben. … Grenzenloses Heil hat Gott an ihn geknüpft, grenzenlose Hoffnung. Kein Wunder, wenn seine Hybris in’s Gewissenlose schoss.
… Zu große Gaben Gottes an einen bloßen kleinen Menschen aus dem kleinen Bethlehem Ephrata! … Zu viel göttlicher Vertrauensvorschuss in’s Menschliche. … Gott zu sehr auf Menschenwegen!
… Nun also muss Er donnern wie Kollege Zeus, damit der Zwergenkönig sich gebührend fürchtet und demütigt! Nathan muss jetzt den Menschen also stutzen, den Gott wohl doch zu sehr erhöht hat, dem Gott wohl doch zu weit entgegenkam! Der Mensch muss seine Grenze am Übermenschlichen finden; er muss scheitern an der überragenden Größe Gottes! …
Wir stehen mit Nathan auf der Schwelle, Aug’ in Aug’ mit der Hybris der Menschenmacht.
Welches Gleichnis wird er finden? – „Gedenk’, dass Du nichts bist als eine Blume des Feldes, die heute blüht und sprosst, morgen aber welkt und verdorrt! Gott ist Dein Töpfer, du irdenes Gefäß, der Dich auch wieder zerschlagen kann! Er kann Dich löschen wie die Schrift an der Wand, … Er kann Dich wechseln wie ein Gewand, … kann Dich und alle Bewohner der Erde dahinsterben lassen wie die Mücken. Mensch!, - König! - Geschöpf! - Dich begrenzt der Tod!“ …….
Wir stehen hinter Nathan, der jetzt Blut, Blitz und Feuer aufbieten muss, Grimm und Panik.
Er muss dem ohnmächtigen Beherrscher von Saporischschja, dem Möchtegern-Gott, der so schrecklich über das Gedeihen und Verderben anderer gebietet, die unüberschreitbare rote Linie aufzeigen und ihn vernichtend in die Schranken weisen. Es muss eine Strafrede werden, von der man über Jahrtausende noch sprechen wird, weil sie so gebieterisch überwältigend war. …
… Doch Gott hat die Zukunft keinem Demosthenes und keinem Cato, keinem großen Rhetoriker oder Rabulisten auf der Rednertribüne, keinem geifernden Robespierre, auch keinem Garibaldi oder Spurgeon oder Lenin oder Roosevelt - oder wie die gewandtesten Überredungs-, Verführungs- und Begeisterungskünstler der Welt sonst noch heißen - überlassen!
… Stattdessen spricht Gott durch Gleichniserzähler, … vorsichtige Kämpfer, die im Einfachsten das Entscheidende berühren.
… Als Nathan nämlich endlich anhebt – jene Rede, die den Hochmut, die Anarchie, die Sünde des von Gott erwählten Menschen endgültig begrenzen soll! –, … da erzählt er von einer ganz gewöhnlichen kleinen Familie, … von sentimentaler Tier- und Kinderliebe, … und von der Störung dieses trivialen Idylls, in dem ein Armer neben seinen Kindern auch sein Schäfchen hätschelt, durch die dreiste Anspruchshaltung eines geizigen Wohlstandsbürgers. … Es hätte die Moralpredigt, … das reformatorische Fanal, … der weltwendende Basta!-Appell schlechthin werden müssen ……. und was wurde es?
– Ein seifenoperettenhaftes Nachbarschaftstheater!
Das soll den Titan, der glaubt, er dürfe alles, weil er alles kann, die Mores lehren? – Die Hinterhofgeschichte vom zärtlichen Zusammenleben von Mensch und Tier, das scheitert weil ein gefühlloser Grobian verächtlich darin eingreift? Eine solche Schmonzette, ein solches Herz-Schmerz-Rührstück soll es richten?
… O Gott! … Wie gutgläubig Du bist! … Wie sehr Du - „lieber“ Gott - im Ernst an die Liebe zu glauben scheinst?! Kannst Du denn keine gewaltigeren Argumente aufhäufen, um den Menschen zu bekehren, der sich an allem vergreift, der alles verdirbt, der alles vernichtet? Kannst Du nicht, … musst Du nicht - Gott - Deinen Zorn aufbieten, Dein Gericht und alle Verdammnis, statt an’s Gefühl, an’s Mitgefühl, an’s Mitmensch-Sein zu appellieren? …….
Doch auch wenn unsere, in diesen Tagen der Weltuntergangsdrohung beinah unerträgliche Spannung hier, an Nathans Seite so lächerlich entweicht wie die heiße Luft aus einem aufgeblasenen Ballon: Die biblische Überlieferung von der Strafe und Bekehrung des heiligen Königs David, der so ein erbärmlicher Sünder vor dem HERRN war, gewährt uns nicht die Flucht in den Gotteszorn, zu dem wir uns so gern als letzter Projektion versteigen, oder die Hoffnung darauf, dass eine jupiterhafte Gegenreaktion die unbotmäßigen Geschöpfe schon zerschmettern werde.
Gott, der im Gleichnis von dem verletzten weichen Menschenherzen an’s Gemüt greift, nicht aber zur Gewalt, … dieser Gott Abrahams und Davids und Jesu ist eben von altersher, seit Erschaffung der Erde ein Gott auf Menschenwegen.
Er verlässt sich nicht auf den Schrecken, den Er erregen kann – und doch wissen wir, dass Er schrecklich ist (vgl. Hebr.10,31!) –, sondern Er geht den Weg der Verlorenen seit dem Sündenfall so mit, dass Er sich an das Vertrauen wendet – Abraham! –, … dass Er Seine Leidenschaft für die Menschenkinder in ihrem Mitgefühl sucht – David, dank Nathans! –, … und dass Er schließlich die gesamte Menschennot, den Menschheitsschmerz, das Welt- und Höllengrauen nicht atomisiert, sondern annimmt, mitträgt, austrinkt, ausbadet, durchleidet und durchstirbt.
Gott ist so auf den Weg an’s Herz geeicht, … Er ist so hingebungsvoll entschlossen, nicht über Leichen zu gehen, sondern zu den Sterblichen, den Sterbenden, ja schließlich auch den Toten, dass die ganze biblische Heilsgeschichte ein einziges Gleichnis des göttlichen Machtverzichtes ist.
Immer ärmer wird unser Gott, immer schwächer, Der doch anfänglich eine Sintflut und einen Schwefelregen einsetzte, Der Unwetter, Verheerung und Plagen über die Sklaventreiber Ägyptens kommen ließ und noch in Sauls Tagen, kurz vor Davids Herrschaft einen Schrecken auf Israels Feinde, die Philister fallen machte (vgl.1.Sam.14,15!).
In der Nathansstrafpredigt aber ist das Ende der Rachezüge Gottes greifbar geworden: Er verändert Seinen erwählten und verirrten Knecht und König David nicht mehr durch Einwirkung auf dessen Furchtinstinkte, sondern dadurch, dass Davids Herz in Mitleid schmilzt: Er spürt das Leid des Armen, dem das Lämmchen genommen wurde. … Er fühlt!
… Und als dieses Gefühl nun David zu einem Racheschwur hinreißt – „Der Mann ist ein Kind des Todes, der solches Unrecht tat!“ –, da bricht der heiße Vergeltungsdrang unter dem einfachen Wort zusammen, das alle Verbundenheit der Welt enthält:
„Der Mann ist ein Kind des Todes!“, empörte sich der König, dem die Macht vergehen sollte.
„Du bist der Mann“, entgegnet der Prophet.
… Und da ist die Macht, die Allmachtsphantasie, das Übermachtgehabe gebrochen.
David hat untrüglich gespürt, was ein Anderer – und sei’s auch nur im Gleichnis! – erlitten hat. Und er hat erfahren, dass er in nichts von diesem Anderen und seinem Schmerz verschieden ist. Er nahm am Verlust des armen Lämmchenvaters teil. Und so erfuhr er, dass die bittere Sterblichkeit, die dem Unschuldigen so viel Schmerz bereitete, als man seinen Liebling nahm, nicht nur eine Strafe sein kann, die allein dem Schuldigen droht.
Der Schmerz des Verlustes, den er so tief mitfühlte, hat David verändert.
Und die Schuld, die aus ihm - der der Richter sein wollte - einfach einen „Mann“, einen Mitmenschen machte - „Du bist der Mann!“ -, hat David verändert.
… Die Lehre also vom allseits geteilten Leid der vielen Kinder des Todes, zu denen alsbald sein eigenes Kind von Bathesba gehören sollte und in späterer Zeit einmal auch der Davidssohn, der das einziggeliebte Kind Gottes sein würde … diese Lehre vom allseits geteilten Leid der Kinder des Todes, die doch Gottes Kinder sind: Sie ist es, die den David veränderte; sie ist es, die den Menschen begrenzt!
Unser Mitmensch begrenzt uns!
Die Liebe zu ihm begrenzt uns!
Das Leiden mit ihm, … das Leiden um ihn, … das Leiden für ihn, begrenzt uns! ——
Das ist die Hilfe, die das schlichte, anrührende Gleichnis Nathans auch unserer Zeit bietet, in der die Hybris, die Großmachtsucht, der Allmachtswahn ein solch abgründiges Verderben bereiten: Kampf, Gewalt und Kräftemessen bis auf den Tod sind - Gott sei’s geklagt! - zwar vorerst wieder unumgänglich geworden, als seien wir in den Tagen der Sintflut oder der primitiven Eroberungszüge bei der Landnahme und Wanderung der Völker des Altertums.
Doch der Weg zu Gottes Zielen geht nicht über diese längst absurd gewordenen Verirrungen.
Den Weg Gottes geht nur, wer fühlt, was die Menschen fühlen, was ihnen fehlt, woran sie kranken, wodurch sie leiden, womit ihnen geholfen werden kann.
Wenn unsere Herzen das spüren und wir so leben, dann werden wir selber zu Gleichnissen: Zu Gleichnissen Gottes, in Dessen Ebenbild wir erschaffen sind und von Dem es in der Stunde Seiner höchsten Liebe nicht hieß – „Da, der Allmächtige!“, sondern „Sehet, welch ein Mensch!“ (vgl. Joh19,5).
Amen.
Israelsonntag, 21.08.2022, Matth.5,17-20, Mutterhauskirche, Dr. Katrin Stückrath
Amen, liebe Gemeinde!
Jetzt wundern Sie sich vielleicht und denken: Wieso fängt die Pfarrerin eine Predigt mit Amen an? Das kommt doch normalerweise am Schluss! Ist die Predigt jetzt schon zu Ende?
Nein, liebe Gemeinde. Ich beginne nur meine Predigt heute mit dem Amen. Genau wie Jesus es tut in dem Abschnitt, über den ich heute erzählen will. Er beginnt mit Amen und leitet über zu einem Teil der Bergpredigt, wo Jesus einige der 10 Gebote und andere Gebote auslegt.
Er gibt dieser Auslegung eine Überschrift, die lautet:
17Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.
Hier erklärt Jesus seine Mission. Ich bin nicht der, der die Heiligen Schriften auflöst. Man kann hier auch „zerstören“ übersetzen. Zum Wegwerfen seiner Tradition ist Jesus nicht angetreten. Stattdessen: Er ist gekommen, um zu erfüllen. Das soll wohl bedeuten, dass er sich daran hält, was im Gesetz und in den Propheten geschrieben steht. Er zeigt sich als ein normaler Jude, der als Jugendlicher lernt, in den Heiligen Schriften zu lesen, sie auch vorzulesen im Synagogengottesdienst. Der Bar Mizwa feiert ähnlich wie die Konfirmation und damit ein „Sohn des Gesetzes“ – das heißt Bar Mizwa, wird.
Jesus ist nicht gekommen, um das Gesetz zu zerstören, sondern um es zu erfüllen. Darin steckt mindestens noch ein zweiter Sinn: In der hebräischen Bibel – wir kennen sie als Altes Testament - stecken viele Verheißungen Gottes. Vielleicht will Jesus auch andeuten, dass er diese Verheißungen der Liebe Gottes, der guten Zukunft, des Friedens, verkörpert. „Erfüllen“ heißt hier mehr als „befolgen“, es heißt auch „zur Fülle bringen“.
Soweit also zu unserer Überschrift des zweiten Teils der Bergpredigt (zu lesen bei Matthäus im 5, Kapitel ab Vers 17). Dann legt Jesus los:
18 Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.
Auch wenn Jesus es sagt, ist es uns etwas fremd, dass das Amen das erste Wort ist und nicht das letzte Wort. Im Judentum zur Zeit Jesu wurde das „Amen“ meistens als Antwort benutzt. Wenn jemand einen anderen Gott loben hörte, antwortete er mit Amen und stimmte so in den Lobpreis Gottes ein. Genauso machen wir es eigentlich bis heute im Gottesdienst. Ich spreche ein Gebet - und die Gemeinde antwortet mit Amen. So sollte es sein. Wenn die Pfarrerin im Gottesdienst die einzige ist, die immer das Amen spricht, ist das eigentlich nicht richtig. Ich habe in der Ausbildung noch gelernt: „Das Amen gehört der Gemeinde.“ Denn wörtlich ist „Amen“ eine Bestätigung. Es bedeutet: „Ja, wahr ist es.“ Da merken Sie, dass das Amen der Gemeinde gehört, sonst würde sich die Pfarrerin nur selbst bestätigen. Nach dem Motto: „Recht habe ich.“ Ob ich recht habe, ob Sie das bestätigen möchten, das liegt bei Ihnen.
Andere Bedeutungen, die beim „Amen“ auch noch mitschwingen sind: „Verlässlich ist es und treu.“
Und das will Jesus hier auch sagen: Die Verheißungen Gottes, die niedergeschrieben sind im Gesetz und in den Propheten, sie sind treu und ich bin ihnen auch treu. Ich löse sie nicht auf. Ich erfülle sie. 18 Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.
Liebe Gemeinde, jetzt halte ich mich einmal mit dem Kleinsten auf: Für „kleinster Buchstabe“ steht im griechischen Text: Jota – das kann einem auch im Deutschen begegnen, es bedeutet „Etwas sehr Kleines bzw. Geringes, in Anlehnung daran, dass der Buchstabe Jod das kleinste Schriftzeichen des hebräischen Alphabets ist.“ Das Jota, der Buchstabe joder i ist im Hebräischen nur ein Häkchen. Und weil die Hebräer lieben, alles in Parallelismen zu sagen, fügt Jesus zu dem Jota noch hinzu: „und kein Häkchen“.
Hier wurde ich neugierig, wie der alte Luther selbst diese Stelle übersetzt hat und schaute in die Lutherbibel von 1536. Da steht: „Denn ich sage euch wahrlich (so hat Luther das Amen übersetzt mit wahrlich) bis das himel und erden zurgehe, wird nicht zurgehen der kleinest buchstab noch ein tüttel vom gesetz, bis das es alles geschehe.“ Das Wort Tüttel für Häkchen kannte ich noch nicht, fand ich süß.
So jetzt wende ich mich aber wieder dem Großen zu. Also, das ganze jüdische Gesetz soll gehalten werden, solange die Erde besteht. Jetzt kommt der zweite unseres Predigttextes. Da spricht Jesus vom Himmelreich. Das ist etwas schwer zu fassen. Einerseits sagt Jesus, es kommt. Andererseits ist es auch schon da. Und zwar mit seiner Person. Wo Jesus ist, da ist schon Himmelreich könnte man sagen. Und wo 2 oder 3 Menschen in seinem Namen versammelt sind, da kann auch Himmelreich sein. Jesus sagt:
19Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.
Das heißt: Wer ein Gebot des Alten Testaments auflöst, soll keinen Ruhm bekommen. Sondern wer sie tut und lehrt.
Wenn ich mal so überlege, was wir lehren von den Geboten des Alten Testaments, so fallen mir und Ihnen wahrscheinlich auch, zuerst die 10 Gebote ein. Die muss jeder Konfirmand / jede Konfirmandin bis heute lernen. Und sie sind so etwas wie eine Zusammenfassung der allerwichtigsten Gebote. Ja, die 10 Gebote lehrt unsere evangelische Kirche bis heute.
Aber was ist mit den anderen Geboten? 613 Gebote zählt das Alte Testament insgesamt. Da sind auch viele, die gelten für uns nicht mehr: Speisegebote, Festtagsgebote, Opfergebote, Sklavengebote, Ehegebote. Dürfen wir die einfach auflösen oder laufen wir Gefahr, am Ende die Kleinsten im Himmelreich genannt zu werden?
Wir geraten hier mitten in die wichtigste Diskussion der ersten Christen darüber, was für sie gelten sollte. Die einen sagten: „Jesus hat sich immer an alle Gebote gehalten, wir sollten das auch tun.“ Die anderen sagten: „Jesus selber hat aber auch gesagt: ‚Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst. Das ist das ganze Gesetz und die Propheten.‘ Das heißt doch wohl, wenn die Liebe unser Maßstab ist, können wir nichts falsch machen, auch wenn wir nicht die Speisegebote halten und anderes.“
Sie dürfen raten, welche Gruppe sich irgendwann durchgesetzt hat. Richtig, die zweite. Wir Evangelischen sagen: „Wir halten uns nicht wörtlich an alle Gebote der Bibel, aber wir legen sie im Geist von Jesus, im Geist der Liebe aus. In diesem Sinne gelten sie immer noch für uns, dass wir sie lesen, bedenken und so versuchen in unser Leben zu übertragen.“
Jetzt kommt der letzte Satz in unserem Predigttext, der zugleich der steilste Satz ist:
20Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.
Ui ui ui - eben liefen wir noch Gefahr, die Kleinsten im Himmelreich zu werden und jetzt kommen wir gar nicht hinein? Was oder wen kritisiert Jesus da? Er hat ganz viel mit Schriftgelehrten und Pharisäern diskutiert. Das war kein Streit, das war ganz normale Auseinandersetzung damals. Es ist deshalb schwierig, dass Luther oft übersetzt hat: Die Schriftgelehrten wollten Jesus versuchen. Als ob sie ihn in Versuchung führen wollten. Nein, sie wollten ihm einfach eine interessante Frage stellen, ihn auch ein bisschen herausfordern, wie das unter den Schulen der Rabbiner üblich war. Also die Schriftgelehrten und Pharisäer sind die Gesprächspartner von Jesus. Sie standen voll auf der Seite des jüdischen Gesetzes. Gerade die Pharisäer versuchten, die Gebote Gottes voll und ganz in ihrem Alltag unter zu bringen, sie wirklich zu befolgen.
Jesus aber legt den Maßstab noch höher, wenn Sie die Bergpredigt ganz lesen, dann merken sie das. Er nimmt die Gebote und radikalisiert sie noch. Ich glaube, dass soll heißen, dass wir uns nie mit einem Gesetz zufrieden geben sollen. Wir sollten immer fragen: Können wir noch mehr tun? Reicht es, keinen Menschen zu töten? Oder müssen wir nicht auch dafür sorgen, dass er leben kann, und zwar so gut leben wie wir? Reicht es, keine Ehe zu brechen oder sollen wir nicht auch mit allen anderen Beziehungen sorgsam und vorsichtig umgehen? Reicht es nicht zu stehlen, oder sollten wir nicht auch in unserer globalen Wirtschaft darauf achten, dass niemand ausgebeutet wird? Sie merken, mit dem Gebot alleine ist es nicht getan. Ich glaube, das will Jesus uns hier sagen.
Dieser letzte Satz von Jesus: 20Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. - wurde natürlich gerne missverstanden. Nach dem Motto: Natürlich sind wir besser als die Juden, schon weil wir ja an Jesus glauben.
Der liebe alte Luther, der die Bibel so schön übersetzt hat, war gar nicht lieb zu den Juden seiner Zeit. Er hetzte gegen sie. In seiner Bibel von 1536 schrieb er zu diesem Bibelvers, von dem ich gerade spreche, eine Bemerkung an den Rand: „Der Phariseer fromigkeit stehet allein in eusserliche wercken un schein, Christus aber fodert des hertzen fromigkeit.“
Hier wirft Luther den Pharisäern vor, dass sie sich nur formal an das Gesetz halten und auch nur zum Schein. Sie seien also Heuchler. Christus aber fordere des Herzens Frömmigkeit. Hier arbeitet sich Luther eigentlich an der Kirche seiner Zeit ab. Er predigte ja immer wieder: Es geht nicht um Werke wie Fasten um sich Gottes Gnade zu verdienen, es geht eigentlich nicht darum, die Gebote zu befolgen, sondern auf den Glauben kommt es an. „Innerlichkeit“ sagt Luther hier.
Im Prinzip wirft Luther in seiner Randbemerkung die Pharisäer mit den Anhängern des Papstes in einen Topf. Und das machten viele in seiner Zeit und die Juden wurden sehr bedrängt, beschimpft als solche, die nur Werke tun, aber keinen Glauben haben. Das geschah viele Jahrhunderte lang. Und als die Nazis 1938 Synagogen anzündeten und Tora-Rollen verbrannten, sagten sich viele Evangelische: Das ist ja nur das jüdische Gesetz, was da brennt, das gilt ja für uns nicht mehr.
Ein schrecklicher Fehler. Denn das jüdische Gesetz ist eben die Tora, es sind die 5 Bücher Mose. Wenn wir das zerstörten, hätten wir keine Schöpfungsgeschichte mehr, keine Arche Noah, keine Abraham und Sarah, keinen Jakob und keinen Josef, kein Volk, das mit Mose entdeckt, dass Gott die große Befreiungskraft ist. Ja, ich kann sagen, ich liebe das jüdische Gesetz, die Tora, und in großen Teilen halte ich mich daran. Ich liebe auch unser Neues Testament. Aber genau wie Jesus kann ich mir einen Glauben ohne das Alte Testament nicht vorstellen. Sonst wüsste ich gar nicht genau, wie dieser Gott ist, den Jesus Vater nennt. Sonst würde mir so vieles fehlen. Nein, lasst uns kein Jota, kein Häkchen, kein Tüpfelchen und keinen Tüttel von der Tora wegnehmen. Sie sollen alle bestehen, gelesen werden, ausgelegt, diskutiert, aktualisiert und dann im Geist der Liebe befolgt werden.
Was darf die Gemeinde jetzt sagen?
Genau: Amen.
9. S. n. Trin., 14.08.2022, Stadtkirche, Matthäus 13, 44-46, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 9.n.Trin. - 14.VIII.2022
Matthäus 13, 44-46
Liebe Gemeinde!
Jesus hat mich predigen hören, letzte Woche: Das steht ja sowieso fest. … Er hat also gehört, wie hier einer das wichtig und richtig scheinende Evangelium des Anti-Materialismus zu formulieren versuchte. … Und weil Er Jesus ist und weil Er die Überraschung über alle Überraschungen ist, weil Er die Freiheit des Geistes besitzt und die völlige Wahrheit offenbart, die all mein Versuchen und Begreifen übersteigt, darum setzt Er heute die Predigt von vor einer Woche außer Kraft.
„Der Materialismus wird Euch retten“, ruft Er heute. „Predige Du also mal gefälligst das!“, sagt Er!!? …
… Und ich sehe es.
Ich sehe, wie das, was die Welt unter unseren Händen und vor unseren Augen im Zeitraffer zerstört, gleichzeitig der Hebel unserer Hoffnung ist: Wenn diese nach den jüngsten Einschränkungen wieder so hemmungslos verzehrende Lust auf’s Genießen und Auskosten nicht wäre, wenn die Menschheit also die Lektion gelernt hätte, was sie sich alles abschminken muss – sie hat sie aber erkennbar nicht gelernt! –, dann würde vermutlich jedes Band zwischen der brennenden Erde und dem brandstiftenden Menschen zerreißen.
Wenn wir nicht alle wieder das Gefühl hätten, wie es uns hinauszieht zu den Flecken, die für uns etwas jeweils Paradiesisches haben, wenn wir also das notwendige Ende unserer vernichtenden Reisewut beherzigen könnten, dann würden allzu viele von uns wohl auch das letzte Interesse am Erhalten und Bewahren dieser Erde verlieren.
Wenn wir wirklich aufhörten, selber Abwechslung und Freude, Befriedigung und Wertvolles in diesem Dasein zu verlangen und zu suchen, dann liefe die sich ergebende Schonung der ausgelaugten Welt vermutlich auf ihre ungerührte Preisgabe hinaus. …….
Die abstoßende Logik des „Wenn ich’s nicht haben kann, soll’s auch niemand sonst haben!“ beschreibt also nicht bloß den Zynismus des egoistischen Menschen, sondern sie weist uns zugleich auf das Versteck seiner Moral hin: Gepackt bei seinen eigenen Wünschen kann der Mensch Gutes bewirken, das über den eigenen Appetit weit hinausgeht. —
Wenn die Menschheit etwas will, dann wird sie auch etwas dafür tun: Diese ernüchternde, aber auch erhebende Erkenntnis ist weder neu, noch originell. Wir verdanken sie Jesus genauso wenig wie Buddha; sie ist in allen Schichten unserer Erfahrung und unseres Verhaltens aufzuspüren.
Wenn wir heute aber eine solche Lethargie, eine solche Lähmung feststellen müssen, zu retten, was sich in der vergifteten, in der ausgeweideten und überstrapazierten Natur noch retten lässt, dann stoßen wir tatsächlich auf ein noch tieferes Problem als die ohnehin schon abgrundtiefen Probleme des ökologischen Kollapses. Die Menschen scheinen den ganz egoistischen, man könnte auch sagen den „ganz natürlichen“ Willen verloren zu haben, weiterhin Glück und Gutes zu erfahren. Denn so töricht, so verblendet, zu meinen, für ihr Glück und ihr Vergnügen werde der verschwindende Rest an Lebensraum und Lebenswert noch ausreichen, … so verblendet, so töricht können Millionen Menschen der westlichen Welt ja nicht im Ernst sein. Jeder muss inzwischen doch erkennen, dass sich die Dinge so rasend und grausam zum Schrecklichen verändern, dass wir selbst uns jetzt wirklich noch schneller ändern müssen … um des Guten willen, um unseres eigenen Wohles und Wohlstands willen!
Wo dieser ganz eigensüchtige, lebenserhaltende Reflex aber ausbleibt, da ist etwas im Argen. Da ist der Arge am Werk, um es in der gegenwärtig nicht unangemessen apokalyptischen Sprache der Bibel zu sagen: Das Ende des menschlichen Lebens- und Überlebenswillens, das uns in der hoffnungs- und taten- und also auch widerstandslosen Apathie der jüngsten Zeit aus leeren Augen wie aus einem Totenschädel entgegenstiert, ist satanisch!
Wir müssten mit so vielem aufhören, einfach nur, um mit allem weitermachen zu können!
… Warum bewegt uns das nicht? … Wieso bewegen wir uns nicht?? ——
Psychologen, Zeithistoriker und andere Fachleute - vielleicht sogar Politiker?! - werden ihre eigenen Antworten auf das Rätsel der abgestumpften Katastrophengenossen haben.
Ich bin bloß ein Pfarrer, dem Jesus nachsichtig, aber auch voller Kritik beim Predigen zuhört und der seinerseits nichts anderes als Jesus hören will. Und so ist meine Antwort klar zu finden: Warum wir so teilnahmslos bleiben, wenn das Leben in höchster Gefahr ist, … das muss damit zusammenhängen, dass wir den Lebenssinn, dass wir das Gespür für’s wirkliche Leben verloren haben. Dieses wirkliche Leben aber, das wir nicht mehr ahnen und darum auch nicht erreichen, nicht erhalten wollen, … das ist buchstäblich der verborgene Schatz, die in der Tiefe schlummernde Perle, nach denen Jesus uns voller materialistischer Jagd- und Sammelleidenschaft zu suchen auffordert.
Das versteckte wirkliche Leben, das unvorstellbar reiche und beglückende Leben, dessen Glanz und Schönheit uns überhaupt nicht mehr losließe, wenn wir’s nur entdeckten, … es ist von uns zwar ungehoben und unbemerkt, aber dennoch ist es kein Geheimnis.
Wozu sind wir denn geschaffen? Was ist denn unser Ziel?
… Wir sind dazu geschaffen, in Gottes Gegenwart zu existieren; wir sind ursprünglich und endgültig dazu bestimmt gewesen, die Fülle zu empfangen, die Gott mit allen Seinen guten und schönen Werken in sorgenlosem, sabbatlichem Segen teilen will (vgl.1.Mose 1,27-2,4!). Die dem ganzen Kosmos und in ihm darum auch dem Menschen angemessene Existenzform ist die paradiesische Harmonie, von der die Bibel auf ihren ersten (vgl.1.Mose1f) … und auf ihren letzten Seiten (vgl. Offenb.22, 1-5) blühend, leuchtend und heilend-heilig erfüllt ist. In dieser universalen und vollkommenen Fülle Gottes zu existieren und also nicht in Zwängen und Mängeln nach einem möglichst fetten Knochen, einer hoffentlich noch länger nicht ausgetrockneten Pfütze zu suchen, während andere schlicht darben und lechzend sterben müssen, das war und das bleibt die wahre Berufung der Nachkommen Adams und Evas.
Wenn wir es weniger von der ökologischen Seite des Paradieses her betrachten – wobei die Bibel wohlgemerkt mit solcher ökologischen Schöpfungslehre anhebt! –, wenn wir also die nicht-nur-sichtbare Seite der Vollkommenheit und des Heils bedenken, dann führt schon der natürliche Anfang der biblischen Offenbarung zum Himmelreich, also über die greifbare Natur hinaus, in die geistliche Herrlichkeit der Gottesgemeinschaft.
… Ob also materiell oder spirituell gesehen: Der Satz, der an anderen Orten und zu anderen Zeiten der elementarste Inhalt der christlichen Botschaft war und ist, ist bei uns so verschüttet, aber immer noch auch so kostbar wie ein unvorstellbarer Schatz. Der Satz: Wir Menschen sollen in der Vollendung des Lebens wieder zu Gott kommen und für immer bei Ihm sein. Wir Menschen sind bestimmt für’s Himmelreich.
Generationen vor uns war dieser eine - erste und letzte - Grundsatz des Glaubens ein unersetzlicher, aber gottlob auch in langen Jahrhunderten unverlierbarer Schatz. Dieser Satz machte reich in der Not und füllte in der Welt ungesättigte Herzen mit überirdischem Glanz. Aus diesem Schatz – dass uns das Himmelreich als unverlierbares Eigentum und Erbe erwartet – ließ sich das nehmen, womit die Mittellosen nicht mehr mittellos und die Unvermögenden nicht mehr kraftlos waren. Mit dem Himmelreich als ihrem Schatz haben sich Sklaven als Königskinder gewusst und Tagelöhner spürten, dass alle Herrlichkeit der Welt nichts wiegt im Vergleich zu dem Wert, den Gott ihnen - den armen Schluckern - zumisst. Den reichen Überfluss des Himmel-Reiches haben zahllose Geschlechter in ihren Gedanken und Anschauungen, in ihren Schöpfungen und Visionen, in ihren Seelenbilder und ihrem Herzenstrost gesehen, gekostet und geteilt. Sie konnten leben „als die Traurigen, aber allezeit fröhlich, als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben“ (2.Kor.6,10)! … Sie konnten leben, weil sie den Himmel hatten! … Und sterben auch!
Das „vorgesteckte Ziel, der Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus“, von dem die heutige Epistel (Eph.3,14) spricht, war tatsächlich der Grundstock ganzer goldener Epochen und ihrer Blüte, und war auch der Notgroschen, der Millionen im Elend vor dem gänzlichen Verkümmern bewahrte.
Das Himmelreich blieb Inbegriff des eigenen Lebenszieles und erzeugte zugleich die überwältigende Spannung im Herzen des vertrauten Hoffnungs- und Glaubenssystems.
Das Himmelreich! Die reinste Fülle, der flutendste Schimmer, der satteste Frieden, die lockendste Weite, das Schnurren und Jubeln der Seele, das tiefste Behagen ermüdeter Glieder, die trauteste Nähe, der bunteste Reigen, das tränenloseste Lieben, das mitfühlendste Haben, die heiligste Intimität, das unergründlichste Bedürfnisloswerden, das berauschendste Geistesleben, die nüchternste Übereinstimmung mit dem Ganzen.
Das Himmelreich! Wenn wir es in seiner Glorie betrachten, wie lieb und kostbar macht es uns dann nicht alles, was wir hier kennen, haben, gefährden und verlieren.
Das Himmelreich ist die Summe und Essenz aller nur denkbaren irdischen Vorgeschmäcker, es wird die Realisierung aller unserer biographischen Präludien sein, in ihm wird alles bewahrt und erneuert, wird alles geklärt und gewährt sein, was hier angedeutet, abgebrochen, unerfüllbar oder verdorben war.
Wie lässt also das Himmelreich nicht jenes sonderbare Wunderwort erstrahlen, das wir heute am liebsten auf alle Gegen- und Zustände, auf alle Erzeugnisse und Ziele der materiellen Prozesse unserer Welt anwenden: „Nachhaltig“. … So wie alles sein soll, gerade jetzt, auf dem Gipfel der Verbrauchs- und Vernichtungsorgien der Menschheit. Nachhaltig, unerschöpflich, ewig-neu, bleibend klar, zerstörungsfrei, wieder- und wieder- und wiederholbar ohne physische Abnutzung, ohne psychische Enttäuschung.
… „Nachhaltig“, … bleibendes Gut, … von unentwertbarer Herrlichkeit, … frisch noch nach aller Zeit: Genau das ist ja das Himmelreich, der Schatz, die Perle, die uns versprochen sind … und wir projizieren es auf Mandelmilch und Biosprit, auf Stromerzeugung und Verpackungskünste!
… Eigentlich aber müssten wir da doch merken, dass niemand wirklich so klar und sachlich von den Schönheiten der Erde, von Genuss und Köstlichkeit des Natürlichen, vom Reichtum der Welt schwärmen kann, wie solche, die nicht das Hiesige mit dem Himmel verwechseln, sondern denen die Erde schon die Lust auf’s Ewige und die Freude daran weckt! ——
Dass in unserer Kirche dieser Schatz - die Botschaft vom ewigen Leben - so gründlich veruntreut, so vergessen worden ist, dass wir uns dieses höchste Gut, dieses Pfand der zeitlichen und der überzeitlichen Seligkeit so haben aus der Hand nehmen lassen, bis schließlich ganz verschüttet war, was Gottes höchste Gabe ist, … das ist ein blöder und ein böser Jammer!
Aber es ist nicht zu spät, den Acker der biblischen Verkündigung und der kirchlichen Lehre – das eine der Mutterboden, das andere zum Teil die Steine darin – uns wieder zu anzueignen, wenn uns der Schatz darin deutlich wird. Es ist nicht zu spät, sich anstelle von wertlosen Imitationen und billigem Kram die unvergleichliche echte Perle des Glaubens zu leisten.
Wir müssen und wir können tatsächlich Jesu wunderbar materialistischen Appel an unser Wollen und Begehren hören: Wenn Ihr das Leben und seine Schönheiten, wenn Ihr die Werke Gottes und die Freude, die sie schenken, liebt, … dann lasst Euch das Himmelreich nicht nehmen!
Und wenn Ihr das Himmelreich, wenn Ihr die ewige Aussicht, Gottes Gaben zu teilen, … die Aussicht, ohne Schuld und ohne Schranken für immer vollstes Leben in und um Euch zu spüren, … wenn Ihr diesen einzigartigen Schatz, der Euch gehören kann, entdeckt habt, dann werdet Ihr das Richtige tun!
Dann gebt Ihr alles andere leicht her, weil Euch ja doch nichts fehlen wird.
Dann könnt Ihr sparen, weil Ihr wisst, dass Ihr auf Dauer verlustfrei bleibt.
Und so muss Euer Drang nach viel zu vielem Euch nicht mehr quälen, wenn gar nichts Euch entgeht, und Eure zerstörerische Gier kann verlöschen, weil der Genuss der Güte Gottes unendlich währen wird!
Die Verheißung, ja der Vorgeschmack des ewigen Lebens – so lang verpönt als Trostplacebo der Hungerkünstler, als aggressive Weltverachtung der Glücksunfähigen und als asketisch-unzufriedene Lebensverneinung für chronisch Zukurzgekommene – … die Verheißung und der Vorgeschmack des ewigen Lebens offenbaren sich also als die praktische Gestalt ganz materieller Vernunft und Notwendigkeit für heute!
Verzicht um der Zukunft willen, … Entsagung, die rettet, … ein Fasten, eine Keuschheit, ein Warten auf Erfüllung, das bloß dem Leben dient: Alles das, was sich heute konkret und nachhaltig als Lebenshaltung und Existenzform für die Menschheit aufdrängt, ist längst vorgebildet in der Nachfolge Dessen, Der uns aufruft, mit unserer Lust am Leben ernst zu machen und darum alles auf Sein Reich zu setzen.
Weil das also unser Antrieb sein darf, ja sein muss – dass wir gar nicht genug von der Herrlichkeit und Freude der Geschöpfe Gottes kriegen können, … dass wir immer mehr, ja grenzenlos viel vom Paradies, das Er uns geschenkt hat, entdecken wollen, … dass wir Zeit in Fülle von Ihm begehren und ein Miteinander-Teilen ohne Einschränkung und ohne Abschied erleben wollen – … weil alles das nicht nur unser Wunsch ist, sondern mehr noch Seine Zusage, darum müssen die Himmelreichs-Leute, darum müssen die Christenmenschen in dieser Gegenwart den Lebensmut und die Hoffnung für das Leben aufrecht halten.
Wenn viel zu viele andere offensichtlich nicht mehr sehen können, worauf noch zu hoffen wäre, wenn sie nicht mehr wissen, wie sich die Freude des Lebendigseins anfühlt und wie urgewaltig der Drang nach echtem, tiefem, weitem, langem, reichem Leben-Dürfen wirkt, dann müssen und können wir als die Gemeinde Jesu nur aus Seinem Vollen vorleben:
Dass es sich wahrhaftig lohnt, die Zukunft sehen zu wollen.
Und dass wir dabei nicht nur überleben, sondern sogar ewig leben sollen.
Weil dieser Schatz im Acker verborgen ist, der allen gehören wird, die nach ihm verlangen.
Diese Perle, die wertvoller ist als alles andere.
Leben aus dem Gnadenreichtum Jesu Christi … das Leben im Himmelreich.
Amen.
8.n.Trinitatis, 07.08.2022, Stadt- und Jonakirche, Markus 12, 41 - 44, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth und Jonakirche 7.VIII.2022 - 8.n.Trin.
Markus 12, 41 – 44
Liebe Gemeinde!
Auf der Central Line der Londoner U-Bahn, gerade wenn man die Haltestelle St.Paul’s in östlicher Fahrtrichtung verlassen hat, kommt eine bemerkenswerte Kurve. Die Bahn liegt ziemlich schräg auf den Gleisen und sie quietscht dabei ungeheuerlich. Der Grund dieser seit hundertzwanzig Jahren störend auffälligen Streckenführung ist tatsächlich bemerkenswert: Als man 1899 die Tunnel grub, war an dieser Stelle keine gerade Linie zu ziehen, weil dort die tiefen Tresore der Bank of England liegen, die zur vorletzten Jahrhundertwende noch bis unter die Decke mit Goldbarren gefüllt waren. Das Pfund Sterling war ja damals - wie auch die Reichsmark - gedeckte Währung: Hinter jedem Stück Papier lag greifbar der verbriefte Wert.
Heute sind die unterirdischen Gewölbe auch der Bank of England keine Schatzkammern mehr; wie so vieles in unseren Tagen einer hohlen Welt und Währung ist auch vom soliden Wohlstand nur noch virtuell auszugehen. … Bloß das beinah ohrenbetäubende Quietschen hat sich erhalten. Wer in die finanziell aufgepumpte City fährt, dem dröhnt immer noch der Schädel an der Stelle, wo einst konkret war, was heute spekulativ ist. ———
Dieses Quietschen, dieses Getöse, das das Gold hervorruft, hat Jesu letzte Tage in Jerusalem durchzogen. Am „Gottes-Kasten“ – ein sonderbar leer gewordenes Wort, oder? – … am „Gotteskasten“ klingelte nicht nur der Münzwurf, sondern reiche Gaben wurden buchstäblich ausposaunt – bei satten Spenden stießen die Leviten tatsächlich lautstark in’s Horn –; …ganz zu schweigen vom aufgedonnerten Spektakel, das die „großen Hansen“ - wie Luther die Eliten gerne nannte - auch selber zu machen pflegten, wenn sie ihre nicht wirklich schmerzhaften Opfer in den Almosenbehälter legten, der Liturgie und Diakonie, soziale und kulturelle Dienste des Tempels speisen sollte.
Geld und Gackern also; Geben … nicht so sehr für den Tisch des HERRN, sondern für den Tusch der Leute; Tun … für’s Tamtam. Das sind uralte, offenbar eingefleischte Bedürfnisse des Menschen: Wenn er etwas hat, das ihn auszeichnet, dann hält der Mensch es trotz aller Vorsicht und Vernunft selten ganz verborgen und wenn er sich von etwas trennt, das ihm viel bedeutet, dann muss man’s wenigstens bemerken.
Das Wesen und der Weg des Menschlichen quietschen halt vernehmlich, wenn es um den Besitz geht.
Diese Aufmerksamkeitswirtschaft, diese Ökonomie der Beachtung - von der Antike bis heute unverändert am Markt - muss für Jesus verstörend fremd gewesen sein: In Ihm, Der so gar kein Gewese und Gehabe machte, ist ja der Eigentümer der Erde zur Welt gekommen; der Inhaber der Wirklichkeit wurde in Ihm ein Kind der Landstraße, der Herr der Herrlichkeit ein Bettler, der auf dem Müllplatz enden würde. Wie muss es in Seinen Ohren geklungen haben, wenn Menschen sich großtaten, weil ihnen dieser oder jener Teil des geschaffenen Kosmos vermeintlich „gehörte“. Wie muss es Ihn gequält haben, wenn sie quietschten - die Erdensöhne -, weil sie vom Irdischen, aus dem sie stammten, etwas abgaben, das sie sich angeeignet hatten. Dieses schrille Geräusch, das entsteht, wenn Fleisch und Blut in ehrfürchtigem Bogen das Gold umrundet: Es muss Den, Der beides gleichermaßen aus Nichts hervorgebracht hat, noch stärker irritiert haben, als die Fahrgäste jener scharfe Ton in der Schleife rings um das gesicherte Depot der alten Kapitalkapitole. —
Menschen - also atmender Staub - machen viel Lärm um den nicht einmal belebten Staub des Edelmetalls. Das schnitt dem Herrn des Lebens gewiss in’s Herz, als Er damals in den Tod für die Welt ging, um sie aus der Versklavung unter alles Irdische zu befreien.
… Und es wird Ihn heute nicht minder quälen, nein, mehr wird es Ihn foltern und peinigen, dass der Kult des Stoffes, der Dienst und die Verehrung der Materie so gnadenlos fortgesetzt worden sind, seit Er für die Freiheit davon sterben ging, … bis jetzt die Neige aller Schätze erreicht ist, das Ende der Rohstoffe, das Versiegen der wirklich für den Menschen geschaffenen und der von ihm vergeudeten Güter der Natur. ——
Jesu Meditation am Gotteskasten - wo der Gottes- und der Götzendienst so unvermeidlich und doch auch so zwielichtig miteinander verschmelzen - ist ein Teil seiner Passionsgeschichte, der unverändert weitergeht[i]: Wie Er jetzt leiden muss, wie es Ihn um Frieden und Verständnis bringen muss, zu sehen, dass immer noch die sich durchsetzen, die laut und stark Anspruch auf Vieles erheben und dass immer noch in Ansehen steht, wer Dinge hortet, über Stoff gebietet, sich die Erde und das Irdische zunutze macht.
Was ist nur mit Dem, in Dessen Kraft der Erlöser empfangen wurde (vgl. Lk1,35) und gesalbt ist (vgl. Lk.4,18)? Was ist mit dem geistlichen Wesen Gottes (vgl. Joh.4,24), Der seine Menschen nicht zu Dienern und Instrumenten von Stein, Holz oder Erz machen, sondern sie in Freiheit vollenden will? … Die entsetzte Frage des Paulus erhebt sich heute als die fassungslose Frage Jesu nach zweitausend Jahren über der Christenheit, die den Materialismus inbrünstiger als die Heiden jemals pflegt: „Im Geiste habt ihr angefangen; wollt ihr’s denn nun im Fleisch vollenden?“ (Gal.3,3)
… Seid Ihr immer noch nicht in der Lage, die tödlichen Mechanismen und Muster Eures Materialverschleißes, Eurer Stoffvergötzung, Eurer Verbrauchsgier zu überwinden? …
Den Kopf in die Hand gestützt sitzt Jesus am Gotteskasten und sieht uns an: Der Todgeweihte, der für uns alle den Tod besiegt hat, voller Traurigkeit darüber, dass wir vom Tod und allem Tödlichen nicht lassen wollen. ———
Als wir vor zwei Wochen mit der Central Line nach St.Paul’s fuhren, ging es allerdings weniger um die Bank of England, als um eine fiktive, arme alte Frau, die sich schon in meiner Kindheit und dann auch in derjenigen meiner Kinder in unser Herz geschlichen hat: Im kitschigen Musikfilm zu Mary Poppins - der strengen Nanny mit dem Herzen voll urmenschlicher Anarchie - sitzt auf den Stufen von St. Paul’s diese verarmte Alte, die wie so viele Rentner auch heute ohne Nebenverdienst nicht überleben könnte: Sie verkauft dort Brotkrümel für zwei Pennies die Tüte, mit denen man die Tauben füttern kann. Und für die Krumen dieser Alten würden die Zöglinge Mary Poppins’ ihr Taschengeld viel lieber ausgeben, als es auf die Bank hinter der Kathedrale zu bringen und festverzinst anzulegen, wie ihr tumber Vater es sich wünscht.
Das unglaublich schmalzige Lied zu dieser Szene hat uns als Kinder allerdings gelehrt, dass die barocken Heiligen und Apostel auf dem Sims rund um die Kuppel von St. Paul’s lächeln müssen, jedes Mal, wenn ein Mensch zwei Pennies für die Alte hat, zwei Pennies für Krümchen für die Vögel unter dem Himmel … und damit schlicht Herz zeigt.
… Und das kommt nun direkt aus dem Evangelium! Zwei Pennies, … zwei Scherflein, zusammen ein Heller, die sind es, die Jesus, den zu Tode Betrübten in den Tagen seiner Passion wieder lächeln ließen.
Warum? ……. ———
Reden wir von dem, was man „Es“ nennt. Sigmund Freud hat davon geredet[ii].
Er sah etwas im „Es“, das ganz stark, ganz machtvoll in uns ist. Dem „Es“ gehorchen wir unbewusst. Es hält uns am Leben, … aber auch an der Leine. Es treibt uns als Trieb und es steuert uns mehr noch als der zu Erkenntnis und Absicht geformte Wille. Das „Es“ ist nahezu beherrschend. Kein Wunder, dass es in der Populärkultur zum Horror schlechthin geworden ist: Stephen King und die Verfilmungen seines Thrillers haben Generationen das Fürchten vor dem „Es“ gelehrt, ohne dass es beschreibbar, greifbar, bewältigt wurde. Das uns im tiefen Inneren beherrschende „Es“ verfolgt uns also auch von außen und bedroht uns je schrecklicher, desto grotesker es komisch wirkt.
… Was aber ist „Es“ denn? ——
Wenn man wieder einmal im englischen Sprachraum war, dann ist die Rückkehr in unsere Muttersprache eine etwas unheimliche Begegnung. Die herzlich höflichen und doch so unnahbaren, die unverbindlich, indirekten Engländer mit ihrer charmant gewinnenden und trotzdem nie zu überbrückenden Distanz sprechen einen ja sonderbarer Weise viel unmittelbarer an, als wir hierzulande.
Sie fragen: „Wie bist du?“ „Wie sind Sie?“, wo wir zu formulieren pflegen: „Wie geht es Dir?“, „Wie geht es Ihnen?“ …
Und auch bei Unangenehmem fragen ausgerechnet die Engländer überraschend unverblümt: „Was ist die Sache?“, “What’s the matter“, während wir auch da den Umweg nehmen: „Was hast Du denn?“, im Klartext also: „Was ist es, das Du da gegen mich oder gegen etwas anderes hast?“ …….
Bei uns, die wir fragen, wie’s geht oder wie’s ist oder was man hat, da geht „Es“ also … oder „Es“ ist … oder wir haben „etwas“, haben ein „Es“ auf dem Herzen. Überraschend konsequent schiebt unsere Sprache tatsächlich immer ein „Es“ ein, wo es eigentlich ganz unumwunden um die 2. Person gehen könnte.
Das ist vielleicht sehr deutsch. Nicht pragmatisch - „Sprich von Dir!“ -, sondern philosophisch feiner, differenzierter: Wir sind ja kaum nur wir selbst, ganz mit uns eins, sondern von Vielem zugleich bestimmt, beherrscht, getrieben. Glücklich, wer da direkt beim „Du“ zu landen glaubt (wie die englische Sprache mit dem vermeintlich fehlenden „Siezen“ es zu vermögen scheint). … Wir hingegen ahnen immer noch, dass auch ganz andere Mächte und Gewalten, andere Einflüsse, Kräfte, Zwänge, Zügel und einschüchternde Ansprüche an uns zerren, uns binden, festlegen und gängeln. Wir sprechen einander darum lieber mit „Sie“ an, im Plural (!) der vielen Geister und Dämonen, … in der komplexen und bedrohlichen Symbiose zumindest des Ich und des „Es“.
Nun wäre es albern und kurzsichtig, das „Es“, das uns da innerlich mitbestimmt und von allen Seiten so haarsträubend wie im Thriller bestürmt, nur im Reichtum, in den Lockungen und Drohungen der Materie und des irdisch Stofflichen zu suchen.
Aber heute, mit Jesus am Gotteskasten sollten wir den enormen Anteil bedenken, den Güter und Besitz, Wohlstand und das Sicherheitsversprechen der Dinge am uns beherrschenden Elend haben.
Die unersättliche Gier nach Materiellem, das Getöne, das wir darum machen und die schreckliche, unmoralische Angst vor jeder Gestalt materiellen Verlustes sind schon sehr große Teile jenes „Es“, um das es uns zu gehen scheint, wenn wir fragen, wie „es“ uns heute geht und wie „es“ weitergehen soll. …….
Wir sehen’s doch, wie „es“ weitergehen wird, jetzt, wo alles brennt und schmilzt und sich verflüchtigt, bis es unter unseren Füßen so leer ist und so schaurig hallt wie die modrigen Katakomben unter der ehrwürdigsten Bank, die man immer noch aus alter götzendienerischer Ehrfurcht schonend umkreist.
… Wir werden vieles verlieren.
… Und wir werden wohl dran tun, viel mehr noch aufzugeben. Ohne Gequietsche, ohne Fanfaren oder Geheul.
Wir werden ärmer werden, bis wir äußerlich so arm sind wie unser Inneres. Die Sicherheit des Goldes, die Ruhe des betäubenden Besitzes, die ganze psychosoziale Unerreichbarkeit, hinter der wir uns verschanzen, obwohl sie aus Vergänglichem gebaut ist, das gerade verdampft … alles das wird nicht bleiben, wie es war. Mag sein, dass es nicht verschwindet, aber sein Wert und was es vermag, nimmt ab. ——
……. Vielleicht aber ahnen wir, wenn wir den sonderbaren Bogen um das verschwundene Gold, das es längst nicht mehr gibt, ein letztes Mal schnaufend und schnarrend und ächzend und zähneklappernd gemacht haben, dass es gar nicht so schlimm ist, hinauf auf die Stufen vor dem Haus Gottes zu klettern … und wie die Alte mit den Krumen geworden zu sein, über die die Apostel und Heiligen lächeln.
… Vielleicht - wer weiß? - werden wir sogar ohne Weltuntergangsängste wie die wunderbare, glaubensstarke und Gott selber stärkende Witwe, die auch noch ihre beiden finalen Scherflein, … das letzte Stück vom „Es“, die letzten alten Garantien und Gewohnheiten abgeworfen hat.
Sie hatte gar nichts mehr, kein „Etwas“, kein „Es“, das sie noch aufhielt.
Sie wurde ein einfaches Ich, nein, … noch viel schöner: Sie wurde für Jesus das „Du“, das Ihn wieder aufrichtete und also auch uns arme, noch nicht freie Menschen lieben ließ, … lieben bis in den Tod. —
Die Frau ohne alles, ohne jedes Dies und Das, ohne unser ganzes „Es“ hat einfach nur ihr Leben in den Gotteskasten gelegt. … Der dadurch so viel voller, so viel reicher, so viel lebendig-kostbarer für Jesus wurde als durch alle Münzen und Wertgegenstände jemals insgesamt. ——
Ein anderes Ziel als dieses allmählich nun fällige, irgendwann dann auch mögliche Ablegen von Allem wäre in diesen Zeiten nun aber auch für uns zu wenig, zu billig, … Zeiten, in denen so viel Angst und so viel Sorgen sich erheben.
Nicht aus Realitätsverleugnung, nicht aus Leichtsinn können auch wir jetzt nur noch darauf zielen, unsere Sicherheit und unsere Sorge, unsere Angst und unsere Habe endlich abzuwerfen.
… Nicht aus Leichtsinn, nicht aus Realitätsverleugnung, sondern weil das allein bleibt: Dass wir einfach unser Leben - ohne Sorge, ohne Sicherheit - Gott ganz überlassen und uns in Seinen Kasten, uns in Seine Hände legen.
Nicht also: „Wie geht es uns? Wie geht’s der Welt?“, sondern bloß noch: „Wie gehen wir nun? Wie geht jetzt die Welt?“
– Zugrunde?
… Nein! Zu Gott! ——
Wenn wir so glauben und so antworten werden, dann ist alles gewonnen!
„Wie gehst Du, Welt?“ – „Zu Gott!“
„Wie geht das Leben?“ – „Zu Gott!“
„Wie gehen wir?“ – „Zu Gott!“
Amen.
[i] Vielleicht ist so die Verlegung des bisher an Okuli zu predigenden Evangeliums auf den 8.Sonntag nach Trinitatis zu erklären.
[ii] Gebündelt natürlich in „Das Ich und das Es“ (1923), in: Sigmund Freud Studienausgabe (hgg. v. A. Mitscherlich u.a., Frankfurt/M 2000) Bd. III: „Psychologie des Unbewußten“, S. 273-330.
6.S.n.Tr., 24.07.2022, Jes.43,1-5 u. Röm.6,3-4, Stadt- u. Jonakirche, Daniel Kaufmann
Wer oder was gehört eigentlich zu wem oder was?
Adam gehört zu Eva,
Kain gehört zu Abel,
Asterix gehört zu Obelix,
Romeo gehört zu Julia.
Der gute Hirte gehört zu den Schafen,
zu den schwarzen und weißen und auch zu denen,
die ab und an Reißaus nehmen.
Es heißt sogar, dass der gute Hirte
für diese widerspenstigen Exemplare
eine ganz besondere Vorliebe hat.
Die Sonne gehört zum Sommer,
der Schnee gehört zum Winter.
Das Klima gehört zu den Themen,
die uns viel mehr beschäftigen sollten.
Die Waldbrände und die Hitzewelle gehören zum Klimawandel.
Die Erde gehört uns allen -
das war wenigstens mal die Grundidee,
die dann bis in unsere Tage hinein
zunehmend auf den Hund gekommen ist.
Das Kind in der Krippe gehört zu Weihnachten,
der Auferstandene Christus gehört zu Ostern,
der Heilige Geist gehört zu Pfingsten,
die 95 Thesen gehören zu Martin Luther.
Das Nachdenken über eine lebendige,
den Menschen zugewandte Kirche gehört uns allen,
und wie wir zurzeit bei Bürgerbefragung,
öffentlichen Verlautbarungen
und Dystopien über die Kirche von morgen sehen,
sind wir da keinesfalls am Ende,
sondern bestenfalls am Anfang eines Nachdenkprozesses.
Freude gehört zum Fest des Lebens,
Trauer gehört zum Abschied des Lebens,
Urlaub gehört zu den schönsten Zeiten des Jahres
Arbeit gehört zu den anstrengendsten Tätigkeiten,
Homeschooling gehört zu den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie,
auch wenn der Ertrag dürftig
und die Auswirkungen schädlich fürs Lernen sind.
Analoger Unterricht ist durch nichts zu ersetzen.
Fußballfans gehören in die Stadien,
die Toten Hosen gehören zu Düsseldorf,
Musik gehört in den Gottesdienst,
die Orgel gehört zum Singen in der Kirche.
Ab und an geht es auch mit Flügel, E-Piano und Schlagzeug,
warum eigentlich nicht öfter?
Brot gehört zum Wein,
das Kreuz in der Kirche gehört auf den Altar,
an die Wand oder kann auch schon mal fehlen.
Aber dafür muss man dann schon ziemlich reformiert sein.
Mann gehört zur Frau,
und Frau gehört zum Mann,
überwiegend jedenfalls,
das heißt, rein quantitativ, also statistisch,
qualitativ ist da inzwischen ja höchste Vorsicht geboten,
gestern war Christopfer Street Day in Berlin,
da wurde einmal mehr klar,
dass Statistik als Argument immer etwas wackelig ist.
Liebe gehört zu einer intensiven Beziehung,
Hass gehört zum Streit,
Krieg gehört zu den Autokraten und Diktatoren dieser Welt.
Tendenz steigend und vorhersehbarer
als noch vor einem halben Jahr
Wahrheit gehört zum Wein, in vino veritas, heißt es,
die Weisheit gehört zum Alter,
kann auch schon mit 20 Jahren anfangen oder aufhören,
je nachdem, wie´s läuft.
Oder die Weisheit bleibt ganz aus,
dann ist etwas schiefgegangen
bei dem langen Abnutzungskampf des Lebens.
Kinder gehören zu den Eltern,
Eltern gehören zu den Kindern,
Opa und Oma gehören zur Familie,
vor allem aber auch zu den Enkeln und Enkelinnen.
Wir alle gehören zu der großen Menschheitsfamilie,
dachten wir wenigsten bis vor kurzem noch,
und vielleicht ist das ja auch der eigentliche Schmerz,
wenn wir jeden Tag neu
die Nachrichten von Mord und Totschlag weltweit hören.
Unsere Daten gehören uns vor allem selbst,
es sei denn, wir verkaufen sie an einen großen Konzern.
Oder der CIA, FSB oder ein anderer Geheimdienst
braucht die, um die Welt zu retten
oder die Menschheit zu beglücken.
Oder um einfach mehr Profit zu machen.
Der Krieg gehört vor allem abgeschafft und beendet,
der Frieden sollte uns allen gehören,
schafft es aber oft nur bis vor unsere Haustür.
Und selbst da nicht durchgehend und dauernd.
Die Gemeinschaft gehört zu dem Wichtigstem,
was wir als Menschen sind und haben,
auch wenn so manche Selbstoptimierung
echte Teilhabe verhindert oder doch einschränkt.
Mein Bauch gehört mir,
heißt es neuerdings wieder etwas lauter,
zu Recht oder zu Unrecht,
darüber gibt es zumindest in den USA
wieder heftigere Auseinandersetzungen.
Wir gehören uns selbst,
sind selbstbestimmt, überwiegend,
sind, wenn irgend möglich, autonom,
handeln und leben nach eigenen Gesetzen,
bemühen uns jedenfalls darum
oder peilen das als hohes Ideal an.
Zu wem oder was gehören wir?
Die heutige Lesung aus dem Jesajabuch hält fest:
Wir gehören zu Gott.
„Fürchte dich nicht,
denn ich habe dich erlöst,
ich habe dich bei deinem Namen gerufen,
du gehörst zu mir."*
Ruft der Prophet Jesaja ziemlich vollmundig seinen Zuhörern zu.
Die hatten sich schon fast damit abgefunden,
dass sie vor allem denen gehören,
die mächtig sind, die was zu sagen haben,
die das Geld und das Land besitzen,
die Geschichte schreiben,
die verantwortlich Politik machen,
die die stärkeren Waffen haben, kurzum:
die gewählt oder selbst ernannt
oder aus eigenem Gutdünken
autokratisch oder diktatorisch
besonderen Einfluss und Geltung für sich reklamierten.
Und die damit weitestgehend Zustimmung
oder zumindest keine nennenswerte Gegenwehr erhielten.
Die Babylonier galten jedenfalls nicht
als allzu zimperlich bei ihren Raub und Eroberungszügen
durch die damalige Welt.
Neben der kriegerischen blutigen Auseinandersetzung
gehörten auch Deportationen und die Entwurzelung der Oberschicht
zu den Standardmaßnahmen, wenn dann auch schon mal die eine oder andere tolerante gnädige Großmacht-Geste durchschimmerte.
Und sie für damalige Verhältnisse als geradezu tolerant, fast schon human und friedlich galten, weil sie nicht alles komplett niederbrannten und ausmerzten,
was ansatzweise nach Widerstand aussah.
Angst und Schrecken gehörte schon immer zum Arsenal derer,
die unterdrückten und knechteten.
Deshalb und genau darum also die sehr steile
und auch mutige Einlassung des Propheten:
„Fürchte dich nicht! Du gehörst zu Gott!"
Egal, wer da sonst noch Besitzanspruch auf dein Leben anmeldet oder durchzusetzen versucht. Und mehr noch:
„Ich habe dich erlöst, sagt dieser Mitgehgott,
ich bin dein Goel (hebräisches Wort an dieser Stelle),
ich bin der Loskäufer,
ich halte dich frei und kaufe dich los",*
egal in welcher Abhängigkeit und Zwangslage
du auch gekommen sein magst.
Ich zahle jeden Preis für dich.
„Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld,
Kusch und Seba an deiner statt."*
Geradezu absurd übersteigert wird hier festgezurrt, welchen Wert das Volk Gottes und alle, die dazugehören bei Gott hat.
Wir gehören uns nicht selbst,
wir sind, weil Gott uns gewollt hat,
dich und mich,
jeden einzigartig und einmalig.
Und weil dieser Mitgehgott uns hält und erhält.
Und diese Zugehörigkeit ist unverbrüchlich und dauerhaft
und währt im Leben und im Sterben.
So jedenfalls hören wir es
in dem zu diesem Text korrespondierenden Wort
aus dem neuen Testament, aus dem Römerbrief, Kapitel 6**:
„Wisst ihr nicht, dass alle,
die wir auf Christus Jesus getauft sind,
die sind in seinen Tod getauft?
So sind wir ja mit ihm begraben
durch die Taufe in den Tod,
auf dass, wie Christus auferweckt ist
von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters,
so auch wir in einem neuen Leben wandeln."
Mit der Taufe sind wir untrennbar verbunden
mit der Geschichte des Jesus von Nazareth.
Durch die Taufe sind wir mit Christus begraben und auferweckt
und haben Anteil an dem Leben, das nie mehr vergeht.
Martin Luther hat diese Zugehörigkeit
einmal bildhaft und sehr drastisch beschrieben:
„Durch die Taufe wird der alte Adam ersäuft
und der neue Adam ins Leben gezogen."
Das Untertauchen des Täuflings zeigt,
dass wir durchaus von der Abwärts- und Todesspirale des Lebens
etwas wissen und immer wieder auch spüren.
Das Auftauchen des Täuflings macht sichtbar,
dass wir uns aufwärts dem Leben zuwenden,
einem Leben, das bei und in Gott verwurzelt ist
und das nie mehr vergeht.
Die Taufe markiert und hält fest:
Wir gehören zu dem Gott,
der uns vom Tod zum Leben bringen kann und will und wird.
Wir gehören zu dem Gott,
der Himmel und Erde gemacht hat,
der Bund und Treue hält für immer
und der nie fallen lässt das Werk seiner Hände,
sondern dieses Werk seiner Hände
im Leben und im Sterben und also auch dann,
wenn sonst nichts mehr hält,
Halt gibt.
Im Holländischen heißt Taufen „Dopen".
Ich mag diesen Ausdruck sehr.
Es ist das einzige Dopen,
dass keine schädlichen Nebenwirkungen
und Suchtfolgen hat.
Wir sind durch die Taufe mit „dem Leben gedopt",
das Gott schenkt.
Und das ist in einer Zeit,
in der reichlich, um nicht zu sagen:
alles und vieles ins Rutschen gekommen ist,
die Ungewissheiten und Fraglichkeiten überproportional steigen
und die lang erarbeiteten Sicherheiten abhandenkommen,
eine wirklich gute Nachricht.
„Keiner von uns lebt für sich allein,
und keiner von uns stirbt für sich allein.
Leben wir, so leben wir dem Herrn,
sterben wir so sterben wir dem Herrn.
Darum, egal ob wir leben oder sterben,
wir gehören zu dem Herrn,
dem Ursprung und Ziel allen Lebens,
dem Herrn über Zeit und Ewigkeit,
dem lebendigen Gott." (Römer 14, 7+8)
Diese Zugehörigkeit bekennen wir zu Beginn des Lebens,
wenn ein Kind getauft wird,
diese Zugehörigkeit bekennen wir beim Abschied eines Menschen,
wenn wir - wie Michelangelo es sagt - die Räume wechseln
und unser irdisches Zuhause mit der himmlischen Heimat tauschen.
Und diese Zugehörigkeit werden wir nicht müde,
für die Zeit zwischen Geburt und Tod zu erinnern,
wenn uns alle Nase lang
andere Zugehörigkeits- und Besitzansprüche begegnen.
Wenn es heißt:
„Ich habe Euer Leib und Leben in der Hand.
Euren Wohlstand, Eure Energieversorgung,
Eure Gaslieferungen, Eure Gesundheit,
Eure Nahrungsmittelzufuhr, Euer Sicherheitsbedürfnis, Eure Zukunft."
Gegen diese angemaßten Besitzansprüche
werden wir heute Morgen erinnert:
Wir sind Gottes. Wir gehören zu Gott.
Und wir gehören zu der Geschichte,
die Gott mit uns Menschen schreibt.
Die in der Ewigkeit verwurzelt ist
und zu dieser Ewigkeit zurückführt.
Die von dem großen Ja Gottes begleitet wird.
Trotz und mit allem, was dagegen spricht.
Und deshalb und darum, so der Apostel,
lasst uns von diesem großen Ja zum Leben etwas weitergeben.
Lasst andere etwas davon spüren und teilhaben,
zu wem wir im Leben und Sterben gehören.
Macht es wie Martin und Luther:
Pflanzt einen Apfelbaum.
Da gibt es zurzeit inzwischen auch eine ziemlich populäre,
recht erfolgreiche Variante zu: Ecosia, die Suchmaschine, bei der man nach etwa 40 Suchanfragen jeweils einen Baum auf den Weg bringt. Zur Zeit sind das weltweit ca. 154 Millionen. Ziel dieser Suchmaschine sind mindestens 1 Milliarde Bäume.
Oder, wem das mit der Suchmaschine zu technisch ist:
Lasst Euch neu von Jesu Wort aus der Bergpredigt inspirieren:
„Stellt euer Licht nicht unter den Scheffel."
So etwas auch Marianne Williamson***,
vorübergehend, (demokratische) Präsidentschaftsanwärterin in den USA 2020, bekennende Christin.
Duckt euch nicht von morgens bis abends weg.
Überwindet die Angst,
dass ihr nicht perfekt oder ungenügend seid.
Dass andere brillanter, großartiger, talentierter sind
oder alles besser können.
Zieht euch nicht in die Nischen zurück,
die man euch überlässt,
aber aus denen so gut wie nie
etwas Entscheidendes und Bedeutendes hervorkommt.
Kirche ist mehr als Aufarbeitungsinstitut für Missbrauchsfälle.
Kirche ist mehr als Statistikamt für Ausgetretene.
Kirche ist mehr als Bürgerbefragung,
wer was noch gerne als Sahnehäubchen und Zuckerstückchen
zum allgemeinen Unterhaltungs- und Eventkalender dazu haben möchte.
Wir sind dazu bestimmt, zu leuchten, sagt Jesus.
Wir sind geboren worden,
um den Glanz Gott, der in uns ist, sichtbar zu machen.
Also mischt euch ein in die zentralen Fragen
der Weltgeschichte und des Lebens.
Sagt, wie die Liebe, das Vertrauen und die christliche Hoffnung einer Gesellschaft Halt geben, voranbringen,
wie sie das Zusammenleben fördern und befördern,
wie sie dem gelingenden Miteinander dienen und gut tun.
Ihr gehört zu Gott.
Durch die Taufe ist eure Geschichte
untrennbar mit der Geschichte Jesu verbunden.
Und in seinem Geist seid ihr dazu aufgerufen,
Salz der Erde und Licht der Welt zu sein.
Und wo das noch nicht voll umfänglich und ausreichend gelingt,
faltet die Hände und bittet Gott um Beistand, Kraft und neue Ideen.
Bittet, so wird euch gegeben,
suchet so werdet ihr finden,
klopfet an so wird euch aufgetan.
Und der Friede Gottes, der höher ist
als alle menschliche Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Pfarrer Daniel Kaufmann
*Jesaja 43,1-5:
1 Und nun spricht der HERR,
der dich geschaffen hat, Jakob,
und dich gemacht hat, Israel:
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst;
ich habe dich bei deinem Namen gerufen;
du bist mein!
2 Wenn du durch Wasser gehst,
will ich bei dir sein,
und wenn du durch Ströme gehst,
sollen sie dich nicht ersäufen.
Wenn du ins Feuer gehst,
wirst du nicht brennen,
und die Flamme wird dich nicht versengen.
3 Denn ich bin der HERR, dein Gott,
der Heilige Israels, dein Heiland.
Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld,
Kusch und Seba an deiner statt.
4 Weil du teuer bist in meinen Augen
und herrlich und weil ich dich lieb habe,
gebe ich Menschen an deiner statt
und Völker für dein Leben.
5 So fürchte dich nun nicht,
denn ich bin bei dir.
**Römer 6,3-4:
3 Wisst ihr nicht, dass alle,
die wir auf Christus Jesus getauft sind,
die sind in seinen Tod getauft?
4 So sind wir ja mit ihm begraben
durch die Taufe in den Tod,
auf dass, wie Christus auferweckt ist von den Toten
durch die Herrlichkeit des Vaters,
so auch wir in einem neuen Leben wandeln."
*** Bestimmt, um zu leuchten
„Unsere tiefgreifendste Angst ist nicht,
dass wir ungenügend sind,
unsere tiefgreifendste Angst ist,
über das Messbare hinaus kraftvoll zu sein.
Es ist unser Licht,
nicht unsere Dunkelheit,
die uns am meisten Angst macht.
Wir fragen uns, wer ich bin,
mich brillant, großartig,
talentiert, phantastisch zu nennen?
Aber wer bist Du,
Dich nicht so zu nennen?
Du bist ein Kind Gottes.
Dich selbst klein zu halten,
dient nicht der Welt.
Es ist nichts Erleuchtetes daran,
sich so klein zu machen,
dass andere um Dich herum
sich nicht unsicher fühlen.
Wir sind alle bestimmt, zu leuchten,
wie es die Kinder tun.
Wir sind geboren worden,
um den Glanz Gottes,
der in uns ist, zu manifestieren.
Er ist nicht nur in einigen von uns,
er ist in jedem einzelnen.
Und wenn wir unser Licht erscheinen lassen,
geben wir anderen Menschen die Erlaubnis,
dasselbe zu tun.
Wenn wir von unserer eigenen Angst befreit sind,
befreit unsere Gegenwart automatisch andere."
Marianne Williamson
2.So.n.Trin., 26.06.2022, Stadtkirche, Jona 3, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.n.Trin. - 26.VI.2022
Jona 3, 1-10
Liebe Gemeinde!
Jona, der nicht wollte, aber musste: Er könnte sowieso der Patron unserer Zeit sein.
Wir hätten ja alle miteinander sehr gern noch weiter so getan, als gäbe es niemals eine Begrenzung unserer Freiheiten, sondern nur deren weltweites Ausufern. Wir hätten durchaus weiter träumen mögen, dass das Gute immer nur zum noch Besseren und nie zum Bösen führen könne. Wir hätten wirklich nichts dagegen gehabt, wenn unser naives Märchen, dass die Menschheit durch ihre eigene Kunst und Weisheit Hass und Leid und Endlichkeit überwinden kann, in die Worte mündet „Und wenn sie nicht gestorben sind …“
Wir wollten lange nichts ändern am Denken, Dichten und Trachten unserer menschlichen Herzen. … Genau wie Jona und genau wie dessen brave Eltern, … genau wie das Geschlecht in den Tagen des Kaisers Tiberius, unter dem - eigentlich absichtslos, wie aus Versehen - Gott ermordet wurde, … und genau wie unsere stolzen Ururgroßeltern in den glänzenden Tagen der beiden Vettern Wilhelm II. und Nikolaus II., die leider in einen Weltkrieg gerieten, dem dann noch ein Weltkrieg folgte und heute - immer noch oder schon wieder oder doch die ganze Zeit - eine Welt voll Krieg und Seuche und Hunger wie in den Tagen des hochverehrten evangelischen Kriegshelden Gustav Adolf oder in den Tagen des lebenslustigen Boccaccio oder in den Tagen des frommen Kaisers Justinian oder in den Tagen des nimmersatten Nebukadnezar oder in den Tagen der Sintflut. …….
Ach, wir wollten es immer anders. Wir meinten es immer gut. Es kam nur immer so gegenteilig aus. Es ging halt immer so gegen unsere Natur, die wir hätten ändern müssen, dass wir es lieber laufen liefen, und so ging es schief. … Weil wir eigentlich doch nicht wollten, sondern nachher immer nur mussten.
Für dieses Geschlecht, das wir sind – die Unwilligen, denen der Wille fehlt, … die Vermeintlichen, die sich nie gemeint meinen, … die Lieber-zu-Späten, weil man nur die Vorschnellen bei ihren Fehlern sieht, während das Scheitern der Zögernden ja im Untergang untergeht –, … für dieses tatenlose, keine Verantwortung übernehmende und allenfalls bloß Bedenken tragende Geschlecht, das wir sind, ist die kleine Geschichte des Jona die größte.
Nicht wegen seines salto mortale ins Meer, bei dem er kopfüber - die anständigste Tat seiner Flucht in die Sonne! - dem Tod in den Rachen sprang, um die restliche Mannschaft zu retten, sondern wegen seiner Demütigung in Ninive.
Denn was dem Mahner wider Willen, dem lustlosen Rufer und entschlossenen Nicht-Propheten da widerfuhr, das war das, was auch wir so gar nicht gern hätten: Es war der Erfolg, den wir fürchten. Es war das Gelingen, vor dem wir kneifen. Es war der Neuanfang, den wir alle zu den Akten gelegt haben.
Schlimmer als das Verschlungenwerden vom Ungeheuer war ja das Ausgespucktwerden in einer anderen Welt und neuen Zeit für den Jona. … Weil die Niniviten tatsächlich taten, was ihm so unheimlich war: Sie folgten dem Wort, das er floh. Sie glaubten die Botschaft, von der er schweigen wollte. Sie beschlossen zu leben, wie es ihm undenkbar schien. Sie kehrten um, wo er sich abgekehrt hatte.
Viele Propheten in der Bibel kennen das Leid, Recht zu behalten: Jeremia etwa hat wie kein Zweiter erleiden müssen, dass sich seine leidenschaftlich warnende Drohpredigt als wahr erwies. Und auch Johannes der Täufer, dessen Feiertag vorgestern war, hat die Botschaft vom kommenden Zorn und das Wort von der Axt, die den Bäumen schon an die Wurzel gelegt ist (vgl. Matth.3,10), am eigenen Leib erfahren. So wie Jesus das Gericht über die Sünde, von dem seine Verkündigung - wie in der heutigen Lesung (Lk.14,15-24) - wahrhaftig auch durchzogen ist, ganz und gar in eigener Person erlitten und gebüßt hat.
Kein anderer Prophet außer Jona aber hat es als ein solches Unglück erlebt, dass sein Rettungsruf beherzigt und seine Wegweisung befolgt wurde. Kein anderer Prophet wurde von seinen Hörern dadurch bloßgestellt, dass sie ihm vertrauten, während er selbst nicht teilen mochte, was er ausrichtete.
Ninive kehrte um und Jona kehrte sich wiederum ab von dem Gott, Der zur Gnade ruft.
Er hatte Gott aus Zweifel nicht folgen wollen. … Und als andere es taten, verzweifelte er wirklich an Ihm. Setzte sich schmollend unter den Strauch über der Welt, sah verächtlich herab auf die Zivilisation, der er einen Ausweg aus dem Verderben gewiesen hatte, und wollte dass es vorbeigeht, dass es endet, dass es aufhört.
Jona, der Gottes-, der Gerichts- und erst recht der Gnadenflüchtling … Jona will nicht zum Zeugen des Lebens werden. Wenn, dann Tod. … Und doch muss er. ———
Doch jetzt: Butter bei den Walfisch! --- Worum geht es hier konkret? … Wie übersetzen wir das Wunder von Ninive in die Weltkrisenzeit von heute?
Ein naheliegender Versuch müsste es sein, auf unsere verstockte Weigerung zur praktischen Umkehr zu blicken. Seit genau fünfzig Jahren – seit dem legendären Club-of-Rome-Bericht, der unter volkswirtschaftlichen, techniktheoretischen, naturwissenschaftlichen und kulturphilosophischen Gesichtspunkten der freien industrialisierten Welt die „Grenzen des Wachstums“ vor Augen stellte – ist der Ruf zu ökonomischer und ökologischer Umkehr und Erneuerung im Generalbass der Weltmelodie nie verstummt, … aber auch nie gehört worden.
Seit den achtziger Jahren haben dann die Kirchen, teilweise in schier monomanischer Konzentration den konziliaren Prozess für „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ in den Rang eines zentralen Glaubensartikels erhoben, der das Nord-Süd-Gefälle der Weltwirtschaft und die Kapitalismuskritik, das Bemühen um Nachhaltigkeit und teilweise utopische, immer identitärer funktionierende Gerechtigkeitsideologien in den Mittelpunkt rückte.
Befreiungs- und Friedens- und Frauen- und Freitagsbewegungen haben nachdrückliche, provokante, berechtigte Forderungen in jeden Winkel der Privatwelt wie der Gesellschaft getragen, so dass wer Ohren hat zu hören, hätte hören können, bis ihm die Ohren gellten.
Wie wenig aber sich bewegt hat, wie träge nicht nur die anderen, sondern Du und ich selbst sind, obwohl es immer unbestreitbarer wurde, dass die Forderung aller Propheten - jene Forderung, die elegische Dichter genauso wie philosophische Harlekine theoretisch populär machten[i] - praktisch überlebensnotwendig geworden ist: „Du musst dein Leben ändern!“ …, wie wenig sich bewegt hat, wie träge wir sind, das könnte der Anreiz sein, heute nach Ninive zu blicken und alle die wichtigen, lästigen, endgültigen Reiz- und Rettungsthemen unserer Zeit noch einmal mit Wucht und Pathos zu beschwören:
Jetzt endlich, nach fünfzig Jahren müssen wir den manischen Konsum bremsen und das Nichtverbrauchen von Materie als heiliges Gebot der Ehrfurcht und Dankbarkeit achten; jetzt endlich muss der räuberische Mensch seine Schuld an allen Mitgeschöpfen durch ein Hüte-Amt als Pfleger und Heiler der zerstörten Natur sühnen; jetzt endlich müssen die Lügen und Rechtsbrüche der Gattung, die sich auf Wort und Vernunft gründet, benannt und beendet werden, indem ein langsames und langes Zeitalter des Genügens und der Rücksicht den Rausch der brutalen Zukunftsverbrennung durch’s Verheizen der organischen Vergangenheitsspeicher entgiftet. Jetzt muss endlich die überdehnte und überdrehte und überforderte Herrschaft der Anspruchsdenkenden aufhören und eine Bewegung radikal solidarischer Gemeinschaftsleute eintreten.
… So könnte man ohne jeden Zweifel und mit jedem Recht die erschütternde Volksbewegung aktualisiert predigen, die in Ninive kurz vor der Stadtmitte begann: Eine Tagereise weit war Jona in’s Gewimmel der dreimal so weit sich erstreckenden Stadt vorgedrungen, als die Menschen dort mit der Metamorphose, mit der Transformation, mit der Erneuerung an Haupt und Gliedern, mit der fastenden Revitalisierung degenerierter Menschen und Tiere begannen.
… Im Dreitage-Schema, das die Ausmaße Ninives beschreibt, hören wir natürlich den Abstieg in das Reich des Todes anklingen, der die drei Tage zwischen Karfreitag und Ostern ausmachte. Am ersten Tag also, der der letzte war, am Todestag des Karfreitag ging in Ninive die Umkehr los, die dann über den König und alle Kreaturen in ihr die Stadt zur Auferstehung, die Stadt zur Gnade neuen Lebens führte.
… Das könnten wir mit Fug und Recht in dieser Karfreitagsepoche der Weltgeschichte also aktualisieren: Der Klimawandel ist da, die tödlichen Dürren und tödlichen Fluten, der tödliche Hunger und der tödliche Meeresanstieg sind allesamt schon Realität. Das Mikroreich der Krankheitserreger gärt, die Bäume brennen, die Erde bebt und im Osten blitzt die Makromöglichkeit totaler Weltauslöschung im Atomkrieg fahl auf. …Willkommen im Reich des Todes!
In dieser globalen Topographie der Sünde und des Sicherheitsverlustes ist es gewiss eine Glaubenstat, wenn trotz alles frustrierenden Nihilismus nun zu politischen, ökologischen und sozialen Paradigmenwechseln aufgerufen, … ja, aufgeschrien wird! Die Menschheit im Inferno, die Menschheit nahe am Nabel der Stadt Ninive muss hören, dass es trotz der Zeiger, die nach Mitternacht stehen, die Botschaft vom dritten Tag gibt (vgl. Hosea6,2), die Botschaft dessen, der drei Tage und drei Nächte im Leib des Seeungeheuers verschlungen war (vgl. Jona2,1), die Botschaft von ihm, der am dritten Tage nach der Schrift auferstanden ist (vgl. 1.Kor.15,4), … und dass diese Botschaft auch heute gilt und Widerstandskraft, Hoffnung und Perspektive schenkt. – Und so wird ja bestimmt viel gepredigt heute, … politisch, ökologisch, sozial.
… Aber im Namen der Niniviten geschieht das nicht mit letztem Recht! Denn so unzweifelhaft viel biblische Prophetie harsche Sozialkritik enthält und sich parteiisch im Namen Gottes gegen Korruption, gegen Ausbeutung und Vermögensungleichheit, schlicht gegen jede Bedrohung des Rechts und Lebens der Schwachen durch Eliten und Machthaber richtet, so verblüffend ist das Buch Jona im Blick auf die Botschaft, die der Prophet dem heidnischen Volk in der Weltstadt Ninive ausrichten sollte. Jona, der erste Apostel an die Völker der Welt, der erste Gesandte, der nicht das erwählte kleine Israel, sondern eine antike Großmacht außerhalb des heilsgeschichtlichen Rahmens ansprechen sollte, empfing keine ethische Weisung oder politische Forderung.
Das Wort des HERRN, das zweimal an ihn erging[ii], war nur von grandioser Einfachheit: „Sage Ninive, … sag’ der Menschheit, … sag’ der Welt: Ihre Bosheit ist vor mich gekommen.“
Also: Sag’ der Welt: Ich sehe!
Sag’ den Menschen: Sie stehen vor Mir!
Und darum sag’ allen: Es ist nicht alles gut!
……. Mehr nicht! Den Untergang nach vierzig Tagen hat Jona der Wirkung halber dazuerfunden oder seine Hörer haben sich den entsprechenden Reim auf seine Verkündigung gemacht. Von Gott aber kam nur das: „Ich sehe euch vor Mir mit allem, was nicht gut ist!“ … Nur dies erschütternde und zugleich trotz allem so tröstliche Echo des Ursprungs, als alles gut war mit allen Geschöpfen, die Der gemacht hat, Der im Anfang nicht Dunkelheit, sondern Licht rief.
Nur das!
Dass alles und alle mit ihrem Recht und Unrecht, mit ihrem Segen und ihrer Schuld vor Gott stehen. Bemerkt. Begleitet. Berufen. Verantwortlich. —————
Denken wir darüber nach.
Wie wenig ist das: Der eine Satz, der die Wirklichkeit mit Gott verbindet. Der also auch das Böse und Traurige und Grausame nicht einfach gottlos lässt. ——
Kein Forderungskatalog. Kein Rettungsplan. Kein Programm.
Und trotzdem der Satz, von dem wir glauben dürfen, dass er wichtiger ist als jeder andere.
Denn dieser Satz – genauso schmucklos und unerklärt, wie bei Jona – fehlt der Welt.
Dieser Satz, der sie in einen Atemzug mit Gott bringt.
Ohne Schlussfolgerungen und - wohlgemerkt! - auch ohne Drohung. Einfach nur dieses unerschütterliche: „Du stehst vor Gott!“
Längst haben wir erprobt und herausgefunden, dass alle anderen Sätze, mit denen man diesen als zu karg, zu stark oder zu leer empfundenen Satz widerlegen oder überbieten wollte, nur Trostlosigkeit und Horror erzeugt haben.
Als es hieß: „Du stehst als Gott“, da wurde nicht weit von Ninive Babel errichtet: Die Welt der menschlichen Hybris, deren Bauplan noch den Gedankengebäuden der Gegenwart zugrunde liegt.
Und als daraus die verzweifelte Verneinung wurde: „Du stehst ohne Gott!“, da begann das wirklich Moderne unserer Gegenwart: Die Welt der Einsamen, die sich unbeachtet wähnte und nicht merkte, wie sie alle Selbstachtung und alle Achtung vor anderen verlor, als sie Den ausblendete, Der auf jeden achtet.
Dass wir vor Gott stehen, ist gleichzeitig die Quelle alles Aufrichtenden wie Aufrichtigen.
Dass wir vor Gott stehen, legt ersten Grund und setzt letzte Verantwortung.
Dass wir vor Gott stehen, gewährt uns höchste Auszeichnung und trägt uns höchste Pflichten auf.
Dass wir nicht in Zufälligkeit entstanden und nicht in Sinnlosigkeit vergehen, sondern dass unser Werden sich vor Gottes Angesicht vollzieht und dass Alles von Gott Angesehene und Vorgesehene durch Seine Vorsehung teilhat an Seiner Ewigkeit: Das sagt der eine Satz von der Wirklichkeit, die in ihrer Verderbnis ebenso vor Gott ist wie in ihrer ursprünglichen Reinheit.
In Ninive hat die Botschaft, dass Gott ist und sieht, alles Leben gerettet. ————
Denken wir darüber nach.
Diese Botschaft rettet auch heute.
Gott sieht die Welt. Und als die Welt in Ninive ihre Augen aufschlug und Seinen Bick erwiderte, da fand sie Gnade.
……. Vielleicht wollen wir nicht so einfach, so schlicht denken, reden und glauben.
Aber um Ninives willen, um des Überlebens der Menschheit willen müssen wir.
… Zu Zeugen des Lebens werden. Zu Zeugen Gottes!
Amen.
[i] Rilkes ästhetizistisches Credo von 1908 - „Du musst dein Leben ändern“ -, mit dem sein Gedicht „Archaïscher Torso Apollos“ endet, wurde von Peter Sloterdijk in seinem gleichnamigen Buch von 2012 in den Kontext der (philosophischen) Lebensstil und -kunst-Fragen der Krise unserer Zivilisation gestellt. Beide, das poetische wie das polemische Manifest haben den jeweiligen Zeitgeist mit dem prophetischen Pathos, das sich im Lebensänderungs-Appell verdichtet, popularisiert.
[ii] Der Inhalt der dem Jona aufgetragenen Gottesbotschaft wird tatsächlich nur in Jona 1,2 zitiert! Es gehört zu den humoresken Doppeldeutigkeiten, an denen das Buch Jona reich ist, dass die scheinbar stilechte Untergangsbotschaft, die man mit einer prophetischen Sendung unwillkürlich assoziiert, eben nicht als direkte Gottesrede begegnet. Das Spiel mit diesem Missverständnis, als sei Prophetie zwangsläufig und ausschließlich Drohung, setzt der Text also bewusst ein. Und steigert damit noch die Gnade Gottes, um Dessen eigene Umkehrbereitschaft es ja vor allem in diesem Buch geht. Das „Übel, das er ihnen angekündigt hatte“ (3,10) und das Gott gereut, hat ja innerhalb des Textes ein offenes Subjekt: Offenbar tut Gott ja leid, was Jona angekündigt hat. Gott kehrt also stellvertretend für den auf Zweifel und Unheil versessenen Propheten um. Das ist reine Christologie!
Trinitatis, 12.06.2022, Stadtkirche, Römer 11,33-36, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Trinitatis - 12.VI.2022
Römer 11, 33-36
Liebe Gemeinde!
Sherlock Holmes und Miss Marple, Pater Brown und Kommissar Maigret, Emil Tischbein und Kurt Wallander - von den Schimanskis, den Lindholms oder Odenthals, den Batics und Leitmayrs, den Ballaufs und Schenks, den Thiels und Professoren Boerne ganz zu schweigen - … diese Detektive und Inspektoren sind langfristig ohne jeden Zweifel sämtlich gut für den Blutdruck: Zwar muss man Schock und Spannung, muss Hängen und Würgen aushalten und ein bisschen Gänsehaut, ein wenig Zittern und stockenden Atem ertragen, aber wenn der Buchdeckel zugeklappt, der Abspann vorübergeflimmert ist, dann ist die Sache geritzt. Der Fall findet seine Lösung. Das beruhigt die Nerven schließlich mehr, als der ganze Krimikitzel sie bewegt hat. Und darum schläft Deutschland am heiligen Sonntagabend so gern auf dem Tatortsofa ein.
… Mord und Mystery machen uns Spießer zufrieden, weil sie am Ende ordentlich geklärt werden. … Und Ordnung muss nun mal sein. Lösungen müssen her. Klarheit soll herrschen. Der Müll wird sortiert und jedes Rätsel mit Geduld und Spucke eingespeichelt, bis es der widerstandslose Brei ist, mit dem wir am besten fertigwerden. Mag also auch die Schale rauh sein: Im Kern erwarten wir immer nur Weichheit.
… Wo kämen wir auch hin, wenn die Dinge hart und unrund blieben, wenn sie ihren Stachel, ihre unnachgiebige Verschlossenheit nicht schließlich doch aufgäben? … Was wäre das für eine Welt, in der die Nüsse sich nicht knacken lassen, in der das Unverständliche nicht vernebelt und das Erschütternde nicht kleingeredet, wegretuschiert oder den Dummen überlassen wird, die nicht kapieren, dass man sich seine Wirklichkeit aussuchen kann, wenn man nur ein bisschen gewieft ist?!
Machen wir’s uns also weiter gemütlich. Alles andere ist schließlich nervenaufreibender als jeder Krimi es sein könnte!
……. Unlösbare Fragen, nicht aufzuklärende Fälle? … Eijeijei.
Wo Schwierigkeiten unlösbar sind, bieten sich ja doch nur drei Möglichkeiten: Endloser Kampf, unversöhnte Kapitulation oder demütige Unterwerfung. Alle drei dieser schrecklich nach der militärischen Wirklichkeit unserer Tage klingenden Optionen sind aber erkennbar bitter.
Wenn die Ukrainer bis zum Untergang kämpfen müssten, wäre es genauso tödlich wie ein vergeltungsträchtiges Besiegt-Werden; und ein hingenommener Waffenstillstand, dem die Fremdherrschaft eines barbarischen Tyrannen folgte, wäre ebenfalls katastrophal. ——
Gibt es also keine Alternative, als bloß die leichte Schulter oder die tragische Ergebung in’s Verhängnis, wenn es um die Sackgasse geht, in die die Welt oft führt?
Zunächst müssen wir uns wohl daran gewöhnen, dass wir tatsächlich in einer Klemme sitzen:
Da machen die einen sich die letzten sonnigen Tage - schließlich könnte es nächstes Jahr sogar wieder Zinsen geben!!! -, eh die Zerstörung der Welt mit Wucht losgeht, noch einmal dekadent nett, während die andern längst betrogen und entwurzelt im gestaffelten Verderben stecken. … Aber etwas Verzicht auf exotische Cocktails am Pool oder ein paar agile Gerettete, die vor dem Tsunami vorübergehend nochmal Boden unter die Füße kriegten, die sind ja nun weder so noch so die Lösung. … Keine Lösung also, nur Komplexität. …….
Oder in der anderen Frage, der augenblicklich akuteren, die uns bewegen muss: Pazifismus ist keine Lösung im Angesicht real-radikaler Aggression, und die dringend nötigen Waffenlieferungen sind keine Lösung für die Gemeinde dessen, der in der Bergpredigt die Friedfertigen seligpreist. Wer also selig werden will auf dem Weg der Friedensethik, wird blutig schuldig, weil er lebensnotwendige Hilfe verweigert, und wer schuldig wird auf dem Weg der konkret gebotenen Verantwortung, der kann nicht die Seligkeit der wehrlosen Kinder Gottes erwarten. Die politische Tatenlosigkeit und Verzögerungstaktik aber versündigt sich sowohl am Gebot wie am Evangelium. … Keine Lösung also, nur Komplexität! …….
… Und kein Bienzle und kein Bond, die mit ihrem untrüglichen Gespür das Verworrene auseinanderpflücken bis alle Enden glatt sind und sich die unumstößliche Auflösung zeigt. ——
Ein solches frustrierendes Lebensproblem hatte nun auch Paulus: Seit Damaskus, seit der von Saulus verfolgte tote Betrüger von Golgatha ihm als die lebendige Wahrheit vom Himmel her in die Quere gekommen war, konnte der Weg des Paulus nicht mehr logisch verlaufen. Sein neues Ziel war für seine alten Lehrer die schlimmste Verirrung; was er erreichen wollte, sahen fast alle seiner Genossen als reine Zerstörung an; die er zum Heil rufen wollte - seine geliebten Blutsverwandten und Glaubensbrüder - argwöhnten seinen völligen Abfall. Paulus, der leidenschaftliche Pharisäer, der Frömmste der Frommen erschien denen, die er retten wollte, als Verderber, und denen, für die er warb, war er unheimlich. Die Jünger des gerechten und wunderwirkenden Jesus von Nazareth zweifelten an ihm, und die anderen Schüler des weisen und gerechten Lehrers Gamaliel in Jerusalem verzweifelten an ihm. …
… Wer sollte den Knoten lösen? … Wer sollte das Rätsel entwirren?
Den Heiden bot er das Heil Israels an, das viele gar nicht suchten, und den Juden konnte er ihren Messias nicht vermitteln, obwohl der ihn doch gefunden hatte.
Komplexer, irritierender, frustrierender geht es auch in unserem Leben und Denken nicht zu;
widersprüchlicher stehen Wollen und Vollbringen, Problembewusstsein und Lösungsmöglichkeiten auch bei uns nicht in Spannung zueinander. ——
Eigentlich schlägt in solchen vertrackten Situationen ja tatsächlich meistens die Stunde der Vereinfachung. Wenn die widerstreitenden Argumente, die gleichwertigen Gesichtspunkte, die unversöhnlich diametralen Prinzipien sich einfach nicht in ein harmonisches Gefüge bringen lassen wollen, dann fällt halt eins hinten runter.
Wir kennen das ungeschriebene Gesetz ja zur Genüge: Der Markt von heute oder der Mensch von morgen; eine Mehrheit der Stimmen oder die Stimme der Wahrheit; die rasche Zufriedenheit oder das nur langsam zu gewinnende Gleichgewicht … Man kann nicht beides haben – was also soll’s? Eins geben wir auf.
Paulus aber tut genau das nicht.
Der Heidenapostel gibt die Juden nicht auf. Der unterschiedslose Wohltäter vieler Völker hält dennoch am Heilsvorsprung des einen Volkes fest. Der Missionar, der die weltweite Kirche der späteren Antisemiten anstieß, wird doch nicht müde die umgekehrte, positive Diskriminierung zu bezeugen: „Das Evangelium gilt den Juden zuerst, (und) dann auch den Griechen“ (Rö1,16)!
Paulus, konsequent, messerscharf, haltungsstark und völlig unabhängig wie vielleicht kein zweiter unter den Botschaftern Jesu Christi, ist am entschiedensten vor allem anderen kein Mann des Entweder-Oder!
Unsere primitive, weil aus der Frustration geborene Logik eines „Wenn nicht links herum, dann eben rechts“, ist eben ganz und gar nicht das Denkmuster des Verkündigers der Rechtfertigung allein aus Glauben.
… Fängt also mit Paulus schon die Wischi-Waschi-Verlegenheit der Kirche an?
Diese haarsträubende Spezialität besonders der evangelischen Sprechblasen- und Nebelkerzen-Produzenten, die’s nie wagen, etwas rundheraus zu behaupten und zu vertreten, sondern immer im Kompromiss baden und also die Meinungen Dritter, die Gefühle Anderer, die denkbaren Hindernisse so sehr betonen, dass jede klare Kontur verschwimmt und man nur das scheußliche Gefühl bekommt, alles Gesagte sei Soße und alles Geschriebene Schaum?
Ist Paulus also verantwortlich dafür, dass wir im unverbindlichen und darum offenbar auch völlig unnötigen Sowohl-als-auch für ein bisschen Krieg und ein bisschen Frieden, ein bisschen assistierten Suizid und ein bisschen Lebensschutz, ein bisschen Bibel und ein bisschen Koran, ein bisschen schwäbische Frömmigkeit und ein bisschen Frankfurter Kritische Theorie und praktischen Atheismus stehen? … ——
Wenn wir so fragen, fehlt es uns in erster Linie nicht an Klarheit, sondern an geistlicher Tiefe.
Dass viele unserer eigenen und viele der öffentlich amtskirchlichen Positionen unklar, unentschlossen, quälend dialektisch und also unbefriedigend sein mögen, wo sie’s nicht sein müssten, lassen wir dahingestellt sein.
… Denn mit Paulus und seiner Weigerung, die Heilshoffnung der Juden zu opfern, um die Universalität seines Christuszeugnisses zu unterstreichen, betreten wir ein anderes Gebiet, als das der menschlichen Exklusivitäts-Logik.
Mit Paulus, der kein Entweder-Oder predigen kann, stehen wir vor dem wirklichen Gott, Der mehr ist, als alle unsere Vereinfachungen! —
Das Wesen des lebendigen Gottes ist eben nicht jene Einfalt, mit der wir einen Fall für abgeschlossen, eine Frage für geklärt halten.
So sind, so denken, reden und handeln wir Menschen. Unsere Person, unser Verstand, unser Fassungsvermögen und unser Einsatz sind von Natur aus einfach: Das bin immer nur ich Einer, der da lebt und reflektiert, der da kommuniziert oder agiert. Es ist nie mehr als nur das eine Ich allein.
Doch gerade so ist der Gott, von Dem, durch Den und zu Dem alle Dinge sind, nicht: Er ist in Sich das tiefe und das weite „Und“; Er ist die hohe und die innige Vereinigung, die wir niemals erreichen können, weil das Verbindende, das Versöhnen, der Zusammenhalten an unserer Vereinzelung scheitern muss.
Wir können nur erkennen, was zeitlich ist. Gott indes ist nicht einmal an die Ewigkeit gebunden.
Wir können nur begreifen, was unsere Sinne berührt. Gott dagegen bedarf keiner Organe, denn in Ihm sind die Wirklichkeit und die Möglichkeit, das Materielle und das Geistige selbst inbegriffen.
Wir vermögen nicht mehr wahrzunehmen und nichts anderes zu bewirken, als was uns ursprünglich zugänglich ist. Gott jedoch, weil Er selber die Offenheit ist, Der sich alles verdankt, in Der nichts ausgeschlossen sein kann und bei Der alles sein Ziel findet, … Gott übersteigt und Gott verknüpft das Vergängliche, das Noch-nicht-Seiende und die zeitliche, räumliche Schrankenlosigkeit in einer unlöslichen, unerforschlichen und unendlichen Gemeinsamkeit des für alle Geschöpfe Unzähligen und für den Schöpfer Unzertrennlichen.
… Dass Gottes Wesen also den Einen, die Vielen und darin Alles umfängt, …
… dass Er Beginn, Dauer und Vollendung zugleich gewährt, …
… dass in Ihm Wort und Fleisch und Geist der Selbe sind, …
… dass Er in sich die unverbrüchliche Identität von Geber, Gabe und Geben ist, …
… dass Gott nicht als Gott allein, sondern als Mensch erkannt werden will, und dass Er diesen Bund nicht nur als wundersames Ereignis, sondern in ewiger Wirklichkeit beschließt, vollzieht und bezeugt, …
… dass Gott also nicht einfach, sondern komplex, unglaublich, ununterscheidbar und dennoch nicht versteinert ist, … nicht versteinert, sondern bewegt von Liebe, erfüllt von Liebe, getrieben von Liebe, souverän in der Liebe, leidend aus Liebe, sterbend aus Liebe - unsterblicher Liebe! -, … dass Gott so viel mehr, so viel mehr, so viel mehr ist, als unsereiner - unser „Einer“! - jemals auch nur ahnen, nur vermuten, nur träumen kann, das ist der Grund weshalb Paulus nicht in schlichter Exklusivität denken, sprechen oder hoffen kann. —
Es ist – wenn wir es mit dem heiligen Gott, dem Gott des Liebesbundes, dem Gott des Himmels, der Erde und der Tiefe zu tun haben – … es ist unmöglich und unsinnig und unverzeihlich, wenn wir abschließend oder ausschließend von Gott oder zu Ihm sprechen wollten!
Das verbieten Demut und Weisheit gleichermaßen!
Die Torheit und der Stolz des Menschen, die ihn immer wieder verleiten zu behaupten, er sehe, wisse, urteile und vollziehe die Wahrheit, … die müssen stumm werden in heiliger Ehrfurcht und brennendem Verlangen und niemals zu erschöpfender Liebe, wenn er Gott zu spüren, zu vertrauen, zu erwarten beginnt.
Ein Mensch, der - so wie Paulus - existentiell erfährt, dass schon der irdische Sinn unserer Erfahrungen und Probleme sich nicht in simple Eindeutigkeit, in platte Basta!-Sprüche fassen lässt, der gibt nicht etwa seinen Verstand auf, sondern erweist ihm überhaupt erst Ehre, wenn er vor Gott und von Gott nicht in dummdreister Vereinfachung spricht.
Es ist also keine Feier der Irrationalität, sondern die erleuchteteste Einsicht, wenn ein Mensch, der denken und unterscheiden kann, das Unbegreifliche Gottes, die Unerforschbarkeit Seines Geheimnisses bekennt!
Wer die Welt als Sonntagabendkrimi, als kleine Denksportübung für Hobby-Spürnasen, als Unterhaltungsformat mit garantiert publikumsfreundlicher Pointe betrachtet, der hat nichts, gar nichts auch nur von Ferne von Dem erfasst, Der unser Gott ist.
Alles an Ihm ist wunderbar und unerklärlich. Seine Liebe zu uns und Seine Schöpfung haben keinen Grund, … kein Ende.
Sein Zorn, Sein Richten, Sein Zubereiten und Zurechtbringen gehen über unser sämtliches Fassungsvermögen, und Seine Gnade reicht tiefer, weiter, als die abstraktesten Formeln des menschlichen Geistes.
Niemand hat es je auch nur in abgeleiteter Annäherung streifen können, wie überwältigend die Wirklichkeit Gottes ist und niemand könnte sich je einbilden, sich auch nur einen Schatten dessen angeeignet zu haben, was Gott vermag, worüber Er gebietet und was Er schenkt.
Gott zu begegnen, heißt darum nicht, die Lösung zu finden, sondern die Unendlichkeit.
Gott zu erkennen, heißt nicht zu wissen, wie es endet und warum, sondern anzubeten, dass es ist und war und bleiben wird, wie Er es wollte, … wie Er es will.
Gott also, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, der Heilige, der Starke, der Unsterbliche, ist nicht die Erklärung, sondern das Geheimnis, … nicht die Begründung, sondern die Vertiefung, … nicht das fehlende Puzzlestück, sondern die immer schon und noch nie dagewesene Vielzahl aller Einzelheiten.
… Der Dreieinige, der nicht dieser, dies und das ist, … sondern Alles – Der ist kein Fall, den man löst, keine Komplexität, gegen die man rebellieren oder vor der man kapitulieren müsste.
Der dreieinige Gott ist schlicht die höher als alle unsere Vernunft und weiter als unser Wissen - und Wünschen! - reichende Wahrheit, die wir anbeten!
O welch eine Tiefe des Reichtums, beides der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!
Ihm sei Ehre in Ewigkeit!
Amen.
Pfingstsonntag, 05.06.2022, Stadtkirche, 200.Jubiläum des Amtsantrittes von Theodor Fliedner in Kaiserswerth, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Pfingstsonntag - 5.VI.2022
200 Jahre seit Theodor Fliedners Amtsantritt in Kaiserswerth[i]
Liebe Gemeinde!
In allem, was geschieht, stoßen wir auf den Geist.
… Kann man so sprechen in Tagen des Krieges und der Katastrophe??
… Man muss: Wenn wir die Welt als unerreichbar oder verschlossen für Gottes Geist sähen, dann wäre das Licht verloschen, dann ginge das Wasser des Tohuwabohu über alles und verschlänge, was noch bleibt von der Welt und ihrer Zeit im Sog des Chaos. Doch schon über dem ersten Tohuwabohu schwebte der schöpferisch brütende Geist (vgl.1.Mose1,2) und über den Wirbeln des Weltendes wird er genauso seine bergenden Schwingen breiten. In allem also, was geschieht, stoßen wir auf den Geist. Das ist gewiss.
… Ob aber alle Geschichte darum auch geistvoll auf uns wirkt, das darf man fragen.
… Oft werden wir auf den rohen Stoff der Welt – früher nannte man es „das Fleisch“, heute nennt man es „das Materielle“ – als stärksten Trieb und sichtbarstes Ergebnis dessen stoßen, was man Geschichte nennt. Das ist dann der rationalistische Blick, der beobachten kann und gut ist im Zählen und Erklären, der aber nicht wahrzunehmen vermag, was unerklärlich bleibt und nur erzählt werden will … oder staunend anerkannt … oder gläubig angebetet.
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Wenn man nun aber – weil wir zweihundert Jahre zählen, seit die Geschichte begann, die aus der verlassenen und zum Verschwinden verurteilten evangelischen Kirchengemeinde, die heute wir sind, etwas Unerhörtes und Unvergessliches machte – … wenn man nun aber auf die Zeit und Gestalt zurückblickt, die aus einer abgewirtschafteten Winkelsekte am Niederrhein ein prägendes Kraftfeld der Menschenliebe gemacht hat, … dann entdeckt man zunächst nichts vom Geist, sondern erschreckt.
… Man erschreckt sich, wie unvorstellbar spröde, wie zwanghaft, wie neurotisch und lächerlich der junge Th. Fliedner, der Anfang 1822 hier, in dieser Kirche in sein Amt eingeführt wurde, tatsächlich war.
Er war ein typisches Kind jenes Jahrhunderts, in das er gerade nicht mehr gehörte: In den allerersten Tagen des 19.Jahrhunderts geboren, war es doch geprägt vom Geist der Aufklärungszeit. Die heiligste Dreieinigkeit, der er diente, hieß nicht Vater, Sohn und Geist, sondern Vernunft, Tugend und Zivilisation. Er war ein rationalistischer Moralist, wie viele seiner Lehrer und Amtsbrüder unter den Geistlichen damals, die der Argwohn gegen jeden Überschwang an Glaube, Hoffnung und Liebe in die engen, nüchternen, phantasielosen Bahnen eines volkserzieherischen Selbstverständnisses zwang. Man verbesserte den Ackerbau und die Tischmanieren, man bildete sich und andere im redlichen Geist bürgerlichen Gewerbefleißes und nichtrevolutionärer Sittlichkeit und man strebte nach Form und Inhalt dessen, was als Kultur betrachtet wurde: Maß und Selbstkontrolle des Denkens und Fühlens, durch die das menschliche Los positiv vor allzu extremen Erfahrungen und Reaktionen geschützt werden sollte.
Wer diesen jungen Kandidaten der Gottesgelehrtheit, diesen pedantischen Hauslehrer und pathetischen Neu-Pfarrer Theodor Fliedner vor Augen hat, wer sein quälendes „Selbstprüfungsbuch“ durchblättert[ii], in dem er sich peinlich akkurat benotet, wenn er nach eigenem Eindruck anständig, salbungsvoll und diszipliniert genug war, … wer also denjenigen, dem wir die besondere Geschichte unserer Gemeinde verdanken, zunächst kennenlernt, dem wird alles, … außer pfingstlich zumute sein: Da ist so gar nichts schrankenlos Beschwingtes, nichts, das frei atmet oder ausstrahlt, nichts von energischem Aufbruch oder spontaner Leidenschaft. Nur ein konventioneller, ziemlich von sich selbst bewegter kleiner Kulturprotestant, der sich ab und zu hohle Phrasen leistet – wenn er bei seiner Ordination am Altar das Vorbild und den Geist des verstorbenen Vaters um Segen anruft und ihm Nachahmung schwört[iii] – und der ansonsten - wie jeder Gutmensch heute - sich selber als missionarisches Vorbild des Richtigen sieht und darum nichts ernster nehmen kann als sich selbst.
Diese kleinkarierte und doch gernegroße Eigenschaft derer, die verkrampft an ihrer Selbstverbesserung arbeiten, müsste uns ziemlich vertraut sein:
Wie sehr die Beschäftigung mit den eigenen Leistungen und Bildern, den eigenen Blutwerten und Fußabdrücken, der eigenen Beliebtheit und Beispielhaftigkeit von links bis rechts, von öko bis turbokapitalistisch unser Leben bestimmt, ist deutlich.
Bei Theodor Fliedner könnte man die ständige Selbstbeschau und Selbstbewertung, die ständige Selbstkritik und Selbstkorrektur durchaus als eine Gestalt des Heiligungsstrebens[iv], der strengen ethischen Selbstzucht bewerten, die so typisch für das reformierte Erbe war. Solche Gesetzlichkeit ist noch einmal verstärkt aus der Verbindung von evangelischem Bekenntnis und rationalistischem Menschenbild als Mischprodukt zwischen aufgeklärtem Optimismus und negativer Katechismus-Pädagogik hervorgegangen. Aber wenn der eben 22-jährige Fliedner in schlechtem Schiller-Stil schreibt: „So kehre, du heilige Ordnung, Tochter des Himmels, mit deiner Schwester Ueberlegung, kehre wieder in mein Herz und mein Haus ein!“[v], und wenn eine intensive Reflektion seines Amtes und seiner Vorsätze in dem Vorsatz gipfelt „Jesus Christus sei mein Vorbild, und der edle Paulus mein zweites Muster“[vi], dann wird deutlich, was in der Frühzeit, als er vor zweihundert Jahren hier ankam, Fliedners Mangel war: Er glaubte an nichts so sehr, wie an die Moral. Er wollte gut werden; und wer gut werden will, will irgendwann der Beste sein[vii]. Und dann kann man wirklich nur ein Apostel der Moral - der eigenen Moral wohlgemerkt! - werden und niemals der Apostel eines Anderen, dessen Liebe auch allen anderen gilt - besonders aber denen, die gerade nicht gut, sondern schlecht sind, … meistens ja, weil sie es schlecht und nicht gut haben.
Fliedner, der unreife Rationalist, der unsichere junge Moralapostel musste also ein Pfingsten erleben, das seine Beschäftigung mit der eigenen Rolle und dem eigenen Ruf verglühen ließ und eine andere Liebe in ihm entzünden sollte, die hier in Kaiserswerth zum Leuchtfeuer der Nächstenliebe werden sollte ….. eine Liebe, die nicht dem eigenen Gutsein, sondern dem Geliebtwerden entstammte.
Und wie Gott unseren Fliedner diese Liebe hat erfahren lassen, das ist ein pfingstliches Wunder, weil es in seiner Mischung von Materie und Geist, von Geld und Glauben so kurios war.
Es war die Jagd nach dem bitter nötigen Materiellen, die in Fliedners Biographie das Feuer der Liebe entzünden sollte. Die Evangelische Kirchengemeinde Kaiserswerth war ja pleite - eine Erfahrung der Anfänge also, die uns für die Zukunft nur heitere Gelassenheit nahelegt. Fliedner musste sie finanziell retten. Und schätze sich durchaus - erbsenzählend und korinthenkackend - richtig ein: Rechnen konnte er, und seine Gabe als Bettler war eine Gottesgnade. Vor der großen Kollektenreise, die ihn in seinem zweiten Amtsjahr nach Holland und nach England führen sollte, schrieb er doch tatsächlich in ungewohnt selbstbewusster Tonlage an seine Mutter und Geschwister: „So denke ich denn, wenn der Herr mich geleitet, stark genug zu sein, um die englischen Kassen zu sprengen“[viii]!
Erbsenzählender, panzerknackender Moralapostel auf Fundraising-Tour: Das war die Ausgangslage des Pfingstwunders im Leben Theodor Fliedners.
Zunächst bestand es für den jungen Mann in der gleichen Urerfahrung wie einst bei der Jerusalemer Apostelschar: Die überwältigende Vielfalt der Menschheit kann einen gemeinsamen Nenner bekommen, und wer in der bunten Menge nicht nur die Variationen, sondern das Thema vernimmt, wer nicht bloß das Unterscheidende, sondern das Einende verspürt, der wächst über das Eigene hinaus und wird vom Unvertrauten ergriffen und vom Neuen angesteckt, … ja, er wird bereichert von dem, was nicht Seines ist.
Das ist Fliedner ganz buchstäblich widerfahren: Der skrupulöse Beobachter seiner selbst, der so ängstlich auf die eigene Entwicklung und Wirkung konzentriert war, wurde von der Großzügigkeit, die ihm aus ganz ungewohnten Bereichen entgegenkam, nachhaltig überrascht.
Dass seine eigentlich ja so anonyme Bittstellerei für die völlig namenlose, unbekannte Zwerggemeinde Kaiserswerth im Ausland ein solches Gehör fand, dass solche Hilfsbereitschaft mobilisiert werden und schlichtes Mitgefühl zu so konkreter Solidarität führen konnte, hat Fliedner zweifellos auf dem ihm vertrauten Feld des Ethischen zutiefst ermutigt.
Wie in Holland die unterschiedlichsten Konfessionen und Glaubensgemeinschaften sich von ihm ansprechen und in die Pflicht nehmen ließen, brachte sein durchaus beschränktes Welt-bild in heilsame Unruhe und fröhliches Durcheinander: Da waren Calvinisten und Lutheraner bereit zu tätiger Hilfe; französische und niederländische Gemeinden empfingen ihn; es gab Pfeffersäcke und kleine Dienstmädchen, die jeweils ungeheuer großzügig waren; er ging bei Herrnhuter Gemeinschaftsleuten – „Muckern und Mystikern“, wie er sie vor Kurzem noch genannte hätte – und bei Mennoniten, die er als sektiererische „Wiedertäufer“ angesehen hätte, aus und ein. Doch nicht nur das: Auch römisch-, ja sogar griechisch-katholische Christen in Amsterdam und Rotterdam nahmen Anteil an seiner Mission und unterstützen ihn … Zu seinen orthodoxen Wohltätern in Amsterdam zählte etwa – es sei uns in dieser Zeit eine besondere Pflicht, ihn zu erwähnen! – der reiche russische Baron Stroganoff[ix]!
… Und dann waren da noch die Juden! Neben hugenottischem und holländischem Geld, neben dem anrüchigen Profit aus den Kontoren des Kolonialismus und den Beiträgen aus strikt friedensethischen Gemeinschaften wie den Mennoniten sind auch Spenden sephardischer Kaufleute aus Holland und aus London bald darauf dann auch eine Zuwendung aus dem Vermögen der Rothschilds in die Rettung dieser, unserer Gemeinde geflossen! Und wie Fliedner in der britischen Metropole die Hocharistokratie - er lernte beim Betteln auch die spätere Queen Victoria als Fünfjährige kennen - abklapperte und daneben auch die politischen Kreise, die aktiv gegen die Sklaverei etwa kämpften und aus quakerischem und methodistischem Geist sich in vielen sozialreformerischen Pionierprojekten versuchten, das ist eine atemberaubende Pfingstgeschichte von wegbrechenden Trennungen und aufbrechenden Verbindungen unter denen, die nach Christi Namen heißen oder nach dem Volk Israel, die nach Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit streben und auf so vielerlei Wegen zu gleicher Zeit doch alle von Seinem Heiligen Geist geleitet werden!
Fliedners starker, wohl vor allen Dingen jugendlicher Selbstbezug musste durch solche horizonterweiternden Erfahrungen mit unterschiedlichen Konfessionen, Kulturen und Nationen ohnehin erhebliche Veränderungen, musste Auffächerungen und Vertiefungen erfahren: Wer die Anderen kennenlernt, der kann nicht mehr wie zuvor nur bei sich selber bleiben, … er muss lernen , dass die eigene Haltung, Meinung und Bedeutung ein ziemlich nebensächliches, jedenfalls kein entscheidendes Element der Heilspläne und der Heilsgedanken Gottes sind. …….
Das moralische Streben nach der eigenen Heiligung – etwas, das für den sittenstrengen, und unnachgiebig gewissenhaften späteren Gründer und Verbreiter der Diakonissenschwesternschaft trotzdem ein Leben lang wichtig blieb – das moralische Streben nach der eigenen Heiligung, das für Fliedner vor seiner Reise zu den Nachbarvölkern zentral gewesen war, trat allerdings nicht nur vor dem Erlebnis der vielen, vielen anderen rechtschaffenen, mitfühlenden und einsatzwilligen Menschen, denen er begegnete, zurück.
Er traf auf seinen Reisen noch auf einen anderen. Eher noch: Ein anderer traf ihn[x]!
Bei den mancherlei Kirchen und Frömmigkeitsformen, die er kennenlernte, geschah es Theodor Fliedner, dass er immer mehr aus dem Blick verlor, was er selber tat, und immer klarer sehen musste, was Christus tut. Er war aus Kaiserswerth abgereist, wo er gut sein wollte und er stieß unter den anderen Christen darauf, dass es nicht mehr um dieses eigene Gute ging: Die Gütergemeinschaft – in Jerusalem einst Folge der Ausgießung des Geistes Gottes – lehrte Fliedner in umgekehrter Reihenfolge auf die Quelle alles Guten, aller Güte und Gerechtigkeit, aller Gnade und Liebe, aller Wahrheit und allen Segens zu schauen.
Um es kurz zu sagen: Der Mann, der die Ethik –- das Gutsein - für sich verstanden zu haben meinte, erfuhr, dass sie einzig aus dem Evangelium - der Guten Nachricht Gottes - stammen kann! … Nicht, was wir tun, sondern was Gott getan hat, tut und tun wird, ist also die Rettung!
Diese Erfahrung - noch kürzer gesagt: dieser Glaube an die Rechtfertigung durch Christus - wurde Fliedner erst durch seine lebendigen und leibhaftigen Begegnungen mit der Menschheit geschenkt. Nicht das Sehen auf sich, nicht das Kreisen um die eignen Aufgaben und Möglichkeiten, sondern die Berührung durch die Not, die andere leiden und lindern, und die Liebe, die andere zu und von Christus haben, … erst diese Erkenntnis dessen, was außerhalb des eigenen Lebens und ohne das eigene Zutun geschieht, machte Fliedner zu einem Menschen, der seinen Glauben nicht bloß rational, sondern existentiell erfuhr und ihn dann als Liebe weltweit weitergeben konnte. ——
Er hat diese Reise, die ihm unter den Völkern die absolute Angewiesenheit auf Jesus Christus zeigte, als eine Reise zu einem lebendigen, persönlichen Erlösungsglauben empfunden. Sie machte aus dem mit sich selbst beschäftigten, in sich selbst befangenen jungen Mann einen Jünger des auferweckten Jesus Christus mitten in der Welt.
Sie war sein Pfingsten.
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So wie es unser Pfingsten sein wird, zu erfahren, dass wir nicht alleine sind!
Und dass es also nicht darauf ankommt, uns ständig zu verbessern, um irgendwann unübertroffen und einsam gut zu sein, sondern darauf kommt es an, dass wir getroffen werden von der Gnade Jesu Christi, der gerade dann und dort zu uns Menschen allen drängt, weil und wo es schlecht um uns steht!
Wenn wir das wie Fliedner begreifen, dass wir mitsamt dieser ganzen Welt nichts so dringend nötig haben, wie die in Christus wirklich rettende Liebe Gottes, die im Heiligen Geist auch nach uns persönlich greift und die auch unsere bittere Zeit verändern und unsere zerfallende Welt heilen kann, dann werden auch wir tatsächlich Pfingsten feiern!
Nicht unsere Güte, sondern die Güte Gottes wird uns dann ja erfüllen!
Und nicht menschliche Kraft und Gerechtigkeit wird dann unser Maß und Ziel sein, sondern diese überschwängliche Hilfe Gottes!
Sie, nur sie ist es, die die Welt braucht: Russland braucht sie genauso wie die Ukraine, die römische und die evangelische Kirche brauchen sie, um Zukunft zu haben, die Frommen brauchen sie und die Zweifler, die hilflos Verunsicherten und die gedankenlos Übersicheren unter den Religiösen und den Atheisten brauchen sie, … schlicht sämtliche Sünder und alle, die reines Herzens sind!
Wir brauchen Gott: Vater, Sohn und Heiligen Geist!!! ——
Auf der Suche nach dem Materiellen fand Fliedner zu diesem Glauben.
Möge uns das Gleiche widerfahren heute, da das materialistische Zeitalter, das Zeitalter der Gier, der Gewalt und des rein stofflichen, rein weltlichen Gewinns enden muss.
… Möge es uns also wirklich trotz allem noch gewährt werden, in allem, was geschieht, auf den Geist zu stoßen!
Mit den Worten Israels: Mögen wir den Frieden Gottes und Seien Güte wie in der Höhe, so auch auf Erden sehen, … bald und in unseren Tagen[xi].
Komm, Heiliger Geist!
Amen.
[i] Als Grundlage sowohl der biographischen als auch der geistlichen Wahrnehmung Fliedners in dieser Predigt dienen die beiden großen Lebensbilder: Die erste Biographie, die Fliedners Sohn Georg verfasste: „Theodor Flieder - Durch Gottes Gnade Erneuerer des apostolischen Diakonissenamtes in der Evangelischen Kirche. Sein Leben und Wirken. I.Band“ (Kaiserswerth a. Rh., 1908), sowie; Martin Gerhardt, Theodor Fliedner. Ein Lebensbild. Erster Band, Düsseldorf-Kaiserswerth, 1933.
[ii] Breite Auszüge bietet Georg Fliedner, aaO, S.87ff.
[iii] Vgl. Gerhardt, S.93.
[iv] Bei Gerhardt wird die moralistische Fassung des Heiligungsstrebens besonders kritisch eingeordnet, vgl. S.95ff.
[v] Georg Fliedner, aaO, S.88.
[vi] Gerhardt, aaO, S.99.
[vii] Überraschend scharf ordnet Georg Flieder die frühen rationalistisch-moralistischen Anschauungen seines Vaters ein: „Er wollte sich selbst erlösen; Gott sollte dabei nur ein wenig helfen“ (aaO, S.103).
[viii] Georg Fliedner, aaO, S.138.
[ix] Gerhardt, aaO, S. 118. Die zahllosen, farbigen Einzelheiten, die Gerhardt ab S. 114 als Eindrücke von der Kollektenreise, in sehr genauer Aufzählung der verschiedensten Unterstützer bietet, sind ein wirklich pfingstliches Gemälde multikultureller, pluralistischer Gemeinsamkeit avant la lettre.
[x] Diesen entscheidenden Umschwung analysiert Gerhardt ausführlich, vgl. aaO, S,125ff. Besonders zu beachten ist das resümierende, spätere Selbstzeugnis Fliedners, der im Blick auf die erste Kollektenreise festhält: „… daß ich nicht länger zweifeln konnte, mein bisheriger Glaube sei noch nicht der rechte gewesen, und der Glaube an Christus als unsern Herrn und Gott, an die Wiedergeburt durch die Erneuerung des heiligen Geistes in lebendiger, gründlicher Buße mir vor allen Dinge nottue, ehe ich andern Christus predigen könnte als göttliche Kraft und göttliche Weisheit“ (aaO, S.137).
[xi] Diese Grundbitte des „Oseh Schalom bimromav“ kommt in der Sabbatliturgie ebenso vor wie im Kaddisch.
Rogate, 22.05.2022, Ps.65,3, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text: „Gott, du erhörst Gebet; darum kommt alles Fleisch zu dir." (Ps.65,3)
Liebe Schwestern und Brüder,
wenn man nach einem „roten Faden" sucht, einem Marker, der allen Religionen und Konfessionen eignet, dann ist es das Gebet. Das Gebet ist das Kennzeichen eines gläubigen Menschen und ist es seit Anbeginn der Menschheit. Schon auf den Höhlengemälden der Eiszeit finden sich menschliche Gestalten in Orantenhaltung.
Seitdem ich mich mit den religiösen Vorstellungen der Menschen in anderen Kulturen und anderen Zeiten beschäftige, staune ich immer wieder, wieviel Ähnlichkeiten es da gibt - mit unserer christlichen Tradition und untereinander.
Gewiss, es gibt auch Unterschiede. Gerade auch beim Gebet - und das nicht nur in der Körperhaltung, sondern auch in der Anrede: der Jude spricht Jahwe/Adonaj an, die Christin betet „unser Vater", wie es Jesus beispielhaft vorgebetet hat. Der Hindu sucht hinter den vielen Gestalten seiner Götter das eine Sein, das er Brahma nennt. Der Moslem spricht zu Allah. Der Buddhist betrachtet das Nichtfassbare des ganz Anderen. Wie sollen wir mit dieser Vielfalt, diesen so unterschiedlichen Sprachbildern von Gott umgehen?
Als christliche Abendländer sind wir gewohnt, zu bewerten, falsche von richtigen Anreden an Gott zu trennen. Nicht wenige stellen sich vor, das Gebet eines Christen höre Gott, während das Gebet irgendeines indigenen Stammes zu irgendeinem Gott nicht zum wirklichen Gott gelangt. Bei den Magandscha, einem afrikanischen Stamm, betet die Priesterin: „Höre, du, o Mpambu, sende uns Regen", und der versammelte Stamm antwortet mit leisem Klatschen und in singendem Ton: „Höre, o Mpambu."
Soll ich nun annehmen, dass dieser Ruf, dieses Gebet, buchstäblich ins Nichts geht, weil es den Regengott Mpambu „nicht gibt"? Oder hört und sieht da nicht doch einer die Rufe und Bitten der Menschen? Wird es nicht der eine Gott sein, der jedem Menschen auf dieser runden Erde nahe ist und der jede Stimme hört und sie immer gehört hat? Oder wird er, der eine, wirkliche, ewige Gott, sein Ohr - um es mal ganz menschlich zu umschreiben - verschließen, weil er nicht mit seinem korrekten Namen angeredet wird? Was besagen denn überhaupt die Namen, mit denen wir Menschen Gott benennen? Haben da nicht die Muslime mit ihrer Tradition recht, wenn sie sagen, Gott habe hundert Namen, neunundneunzig kann der Mensch nennen, den hundertsten aber, der seine eigentliche Wesenheit und Wahrheit ausdrückt, wisse allein das Kamel, das aber spreche ihn nicht aus?
„Gott, du erhörst Gebet; darum kommt alles Fleisch zu dir."
El heißt es da in der hebräischen Bibel - El oder Elohim ~ Gott, Gottheit. Die Bezeichnung die ganz offen ist. Es steht nicht JHWH, nicht der Name, mit dem sich Gott Israel offenbart hat. Als wenn der Psalmist hier eine Tür des Verstehens öffnet: „Gott, du erhörst Gebet. Wir Israeliten, wir sprechen dich an mit JHWH, dieser Name ist uns heilig, so heilig, dass wir ihn nicht aussprechen und stattdessen Adonaj, „Herr" lesen. Die anderen aus den Völkern, sie rufen dich mit den Namen, mit denen du dich ihnen offenbart hast. Aber der Adressat der Gebete, das bist immer Du, der Eine Gott."
Diese fundamentale Einsicht es Beters des 65.Psalms stünde uns allen gut an. Unsere abendländische Bildung hat uns diese demütige Haltung eher ausgetrieben. Auch ich bin noch damit groß geworden, dass es Hochreligionen gibt und primitive Religionen wie Naturreligionen. Was für eine Arroganz steckt hinter solcher Wertung. Den Vers aus dem 65.Psalm, den haben wir eher so formuliert: „Dreieiniger Gott, du erhörst unsere Gebete; darum ist es für alle wichtig, unseren Glauben, unsere Vorstellungen von dir zu übernehmen."
Nach zweitausend Jahren christlicher Geschichte ist eine grundlegende Wandlung des christlichen Nachdenkens gefordert, vor der noch viele zurückschrecken. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an das erste religionsübergreifende Friedensgebet in Assisi, zu dem Papst Johannes Paul II. im Oktober 1986 Vertreter aller Religionen eingeladen hatte. Gerade aus den protestantischen Kirchen, aus evangelikalen und fundamentalistischen Kreisen kam viel Kritik und Ablehnung: man könnte doch nicht gemeinsam beten, unser Gott sei doch ein ganz anderer als der Gott der Muslime oder Hindus. Hier würden Grenzen verwischt, die doch unbedingt eingehalten werden müssten, denn nur im Namen Jesu könne man Gott in Wahrheit anbeten. An dieser Stelle sind die Bemühungen des Heiligen Geistes in der katholischen Kirche seit dem 2.Vatikanum deutlich erfolgreicher gewesen als in den Kirchen der Reformation. Und das trotz der sonst so konservativen Päpste und Kurienkleriker.
Die Bibel selbst lädt uns ein, uns als Christen, als Christen der Reformation neu zu positionieren, weiter, offener, demütiger und befreiter über unseren Glauben und über den Glauben der Menschen anderer Religionen zu denken.
Die biblische Urgeschichte erzählt, nach der großen Flut, in der von der Menschheit nur acht Personen in einer Arche gerettet worden seien, die Urvorfahren der Menschheit, habe Gott sie angesprochen mit den Worten: „Ich verbinde mich heute mit euch, mit euren Nachkommen und allen lebendigen Wesen der Erde. Meinen Schutz und meinen Segen gewähre ich euch allen. Nie mehr soll das Leben in den Wassern der Flut versinken. Als Zeichen dafür setze ich meinen Bogen in die Wolken als Bild für den festen Zusammenhalt zwischen der Erde und mir." (Gen.9)
Der Noah-Bund mit dem Bundeszeichen des Regenbogens ist der erste, der grundlegende Bund, von dem die Bibel spricht - und der gilt allen Menschen und Tieren, der gilt der ganzen Erde, der ganzen Schöpfung. Gott stellt sich vor als helfender, schützender, sprechender und hörender Gott nicht nur für die Religionen, die ihren Ursprung in der Bibel haben, sondern für alle Menschen.
So von Gott und seiner Schöpfung zu denken, ist heute wichtiger als jemals zuvor, in der globalisierten Gegenwart geradezu not-wendig: dass wir aus dem engen Raum unseres Anspruchs auf die alleinige Wahrheit heraustreten und eine liebende Achtung gewinnen für die Stimmen, die uns aus anderen Welten des Glaubens und des inneren Nachdenkens in der Geschichte der Menschheit und in anderen Räumen unserer Erde erreichen. Ich bin überzeugt: wo immer ernsthaft nach Gott gefragt wird und wo auf diese Frage nach Gott die Antwort Gottes gehört wurde, hat sich der Eine Gott offenbart. Wie es in den Psalmen immer wieder heißt: Gott erhört das Gebet des Gerechten, des Menschen, der ihn ernsthaft sucht und anruft. Und er hört das Schreien der Elenden, aller Menschen in Not. Ohne Unterschied, egal welcher Religion oder Kultur sie angehören.
Ich bin überzeugt, dass Gott immer gegenwärtig war, in den Höhlen der Steinzeitmenschen, in deren Wänden in Löchern oder Nischen Figuren standen, die ihnen die göttliche Gegenwart begreifbar machten. Immer und überall, wo irgendwelche Chiffren für Gott an die Wände gemalt wurden. Die Menschen mögen sich Gott so seltsam, so unmittelbar handgreiflich, so menschlich vorgestellt haben wie sie wollten, sie hatten es immer mit dem wirklichen, dem Einen Gott zu tun. Mit wem sonst?
Ob Gott den Menschen nahe ist, entscheidet sich nicht an ihren primitiven oder intellektuell reifen Vorstellungen. Wo immer Menschen Gott anrufen - sei es als Ahnengott, als Tiergott, vor einer Steinfigur oder in meditativer Versenkung - ihr Gebet ist ein Gebet zu Gott. Immer ist Gott hinter den Bildern, auch hinter den Wortbildern. Er ist keines davon, er ist dahinter. Immer sind die Bilder nur Zeichen für Gott. Wo Gott als Regengott eines indigenen Stammes in Afrika angerufen wird, hört der wirkliche, der Eine Gott. Wer sonst?
Gott, man lobt dich in der Stille zu Zion,
und dir hält man Gelübde.
Du erhörst Gebet; darum kommt alles Fleisch zu dir.
Erhöre uns nach der wunderbaren Gerechtigkeit,
Gott, unser Heil, der du bist die Zuversicht aller auf Erden und fern am Meer,
der du die Berge gründest in deiner Kraft und gerüstet bist mit Macht;
der du stillst das Brausen des Meeres, das Brausen seiner Wellen und das Toben der Völker,
dass sich entsetzen, die an den Enden wohnen, vor deinen Zeichen.
Du machst fröhlich, was da lebet im Osten wie im Westen.
(Ps.65,1-3.6-9)
Brahma, dir huldige ich.
Du hast die Welt erschaffen und erhältst sie.
Du wirst sie einst auflösen und in dich zurückziehen.
Unermesslicher, du hast die Welt gemessen.
Du willst nichts und erfüllst doch unsere Bitten
Unsichtbarer, du bist die Ursache der sichtbaren Welt.
Du wohnst in unserem Herzen und bist doch weit entfernt.
Du leidest mit uns und bist doch vom Leid unberührt.
Du bist überall und doch zeitlos.
Du bist allwissend, doch niemand kennt dich.
Du bist über allem, und keiner regiert dich.
Du bist allein, doch lebst du in allem Geschaffenen.
Die Pfade zur Erlösung unterscheiden sich wie die Gedanken der Menschen,
aber alle führen zu dir, wie die Arme des Ganges in dasselbe Meer münden.
(Gebet eines Hindu, 4.Jh.)
Der du vor allem Anfang warst,
der du nichts als Licht bist, mächtig und zart.
Viel wirst du besungen,
doch niemand kann dich beschreiben.
Nicht zu schauen bist du, strahlend in deinem Glanz.
Du nahmst das Dunkel von unseren Augen.
Du sandtest dein heiliges Licht über die Welt hin,
du ertöntest mächtig in der Stille dieses Lichts.
König der Welt, weithin schauender Geber des Lichts,
gib den Völkern das Glück deiner Heiligkeit,
dass geschlossene Augen beginnen zu schauen.
Sende Leben. Sende das Licht. Sende die Liebe.
(Orphischer Hymnus, 700 v.Chr., Griechenland)
Ewige Einheit,
die in Stille für uns singt,
leite meine Schritte mit Kraft und Weisheit.
Möge ich die Lehren verstehen, wenn ich gehe,
möge ich den Zweck aller Dinge ehren.
Hilf mir, alles mit Achtung zu berühren,
immer von dem zu sprechen,
was hinter meinen Augen liegt.
Lass mich beobachten, nicht urteilen.
Möge ich keinen Schaden verursachen
und Musik und Schönheit zurücklassen, wenn ich gehe.
Und wenn ich in das Ewige zurückkehre,
möge sich der Kreis schließen.
(Ritueller Gesang der Aborigines, Australien)
Möge der Gott,
der „unser Vater" für die Christen ist,
JHWH für die Juden,
Allah für die Muslime,
Ahura Mazda für die Zarathustrier,
Aarhat für die Jainas,
Buddha für die Buddhisten,
Brahma für die Hindus,
möge dieses allmächtige und allwissende Wesen,
das wir alle als Gott anerkennen,
uns Menschen den Frieden geben
und unsere Herzen brüderlich (geschwisterlich) vereinen.
(Vivekananda, 1863-1902; Hindu)
Rogate, 22.05.2022, Kantatengottesdienst zu TVWV 1:1746 "Victoria!, mein Jesus ist erstanden", Stadtkirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Rogate - 22.05.2022
Kantatengottesdienst „Victoria!, mein Jesus ist erstanden“ (TVWV 1:1746) & Apostelgeschichte 1,2f
Liebe Gemeinde!
Wer ins Neue Testament hineinhört, wird jedes Mal von einem quasi-musikalischen Geistes- und Glücksblitz überwältigt: Da meint man, Karfreitag sei der letzte Takt und letzte Ton. … Doch, nein: Das blutgefrierende, atemabschnürende Schweigen des Entsetzens und des Sterbens wird von einem unvermuteten, darum aber nur umso strahlenderen Wiedereinsatz durchbrochen: Osterjubel, Auferstehungsfreude, Triumphklänge … so, wie wir sie gerade hörten!
Das eigentliche Ende des Liedes, das die Evangelien singen, der tatsächliche Schlussakkord ist ein anderer. Er folgt erst in dieser Woche mit der Himmelfahrt: Das letzte Mal, dass Jesu Stimme erklang, die finalen Brusttöne seines lebendigen Herzens, sein letzter Lebenslaut. … Danach ……. nun, dazu kommen wir später. ——
Wenn wir uns also gründen auf das Wort, das Jesus Christus heißt (vgl.Joh.1), wenn wir einen Glauben haben, der aus dem Hören kommt (vgl.Rö.10,14-17), dann kann man nur staunen über die akustische Wirkung der Frohen Botschaft, über die unermessliche Fortsetzung, Variation und motivische Fruchtbarkeit, die ein kleiner Grundstock an Gehörtem etwa in der christlichen Musik hervorgebracht hat. Georg Philipp Telemann, unser heutiger Komponist – tatsächlich der produktivste Urheber geistlicher Vokalmusik in unserer Kirche – ist ein gutes Beispiel: Er alleine hat mehr ganze Kantaten geschrieben, als einzelne Sätze von Jesus von Nazareth überliefert sind. Ein ganz geringer Bestand an gesprochenen Worten hat also unendliche Vertonungen, Nachdichtungen, Meditationen, künstlerische Bearbeitungen, Aktualisierungen, Vergegenwärtigungen, freie Inspirationen und Assoziationen durch alle Zeitalter geweckt. Anders gesagt: Zwei Jahrtausende sind inzwischen durchwebt vom Klang und Nachklang einer einzigen Stimme, eines kleinen mündlichen Themas, das in unzähligen Abwandlungen, Brechungen, Spiegelungen und Verstärkungen sämtliche Epochen anregt und in Schwingung versetzt. Jesus ist – obwohl wir Karfreitag für das Ende hielten und den Abbruch durch die Himmelfahrt nicht vorhersahen – die hörbarste Stimme der Menschheit, er ist der Grundton der Weltmusik und Himmelsklänge geblieben … die heutige Basskantate lässt uns etwas hinkend sagen: Der Generalbass, auf dem das Konzert der Wirklichkeit, wie wir sie erleben, fußt, ist Jesus.
… Dabei waren es nur 3 Jahre seiner Verkündigung, seiner Lehre in Vollmacht, seines natürlichen Gleichnisreichtums, seiner heilenden Seelsorge, seiner prophetischen Offenbarung und geistvollen Schriftdeutung, die seine Jünger und alle, die ihn hören konnten, so erfüllten.
… Drei Jahre, in denen der Wanderprediger aus Nazareth auftrat, reichten, dass Menschen ihn liebten!
… Und nicht mehr als vierzig Tage waren es, vierzig Tage, in denen sie ihn wieder sahen und neu hörten, vierzig Tage bis zur Himmelfahrt, in denen daraus Glaube wurde.
Mehr ist das Christentum nicht, als die theologische und ethische, die musikalische und menschliche Echowirkung von drei Jahre Liebe und vierzig glaubensgründenden Tagen!
… Eine Luftnummer also. Ein flüchtiger Hauch bloß, ein mikroskopisch kleiner Wirbel inmitten des Strömens und Rauschens der unendlich vielstimmigen Weltgeschichte.
… Als Außenstehender muss man sich wahrhaftig fragen, wie es kommt, dass ein so nichtiger Anlass, ein so leicht zu überhörender und rasch verwehender Luftzug wie die wenigen Worte und Taten eines Einzelnen, der drei Jahre lang von sich reden macht und vierzig Tage lang das endgültige Schweigen durchbricht, solche Wirkung haben können? Wie kann man zu Telemanns Zeiten, wie kann man in unseren Tagen derart lebhaft „Victoria!“ rufen oder - wie mindestens drei andere Osterkantaten Telemanns beginnen - „Triumph!“ oder gleich „Victoria! Triumph! Victoria!“, wie der Eingang einer letzten österlichen Kantate des selben Meisters anhebt[i] … wie kann man so voller Freude und Überlegenheit reagieren, wie kann man sich so unanfechtbar, so getrost fühlen angesichts derart bescheidener Ursache?
So wenige Worte, so wenige Taten! Was können die uns noch bedeuten? Warum singen wir immer noch davon? Weshalb sind sie nicht längst im großen Lärm und im noch größeren Verstummen der Zeit verflogen? …
Sind es kleine Wunder und Zufälle, Launen der Geschichte, kuriose Kausalitätsketten, die gegen alle Wahrscheinlichkeit für die Durchsetzung eines untergangsbedrohten Stücks der Vergangenheit sorgen, weshalb es uns in Hochstimmung versetzt, wenn wir solche unerfindlichen Vorgänge nachzeichnen?
… Ein solches Staunen kann uns angesichts der Überlieferung der Telemann’schen Musik zum Beispiel tatsächlich überkommen. Die unermessliche Fülle seines bis heute längst nicht erschlossenen Nachlasses hat eine Gänsehaut-Geschichte, seit sein Enkel zahllose Manuskripte des Großvaters nach Riga mitnahm. Aus der dem Untergang geweihten baltischen Welt führten teilweise vertraute Namen diese Schätze im 19.Jahrhundert nach Berlin, an die Sing-Akademie. Dort gingen sie im Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit so vielem anderen verloren. Vor zwanzig Jahren aber, als niemand mehr an ihre Fortexistenz glaubte, wurden sie völlig überraschend wiederentdeckt und konnten schließlich dem Preußischen Kulturbesitz zugeführt zu werden. Ein halbes Jahrhundert lang aber waren sie rätselhaft erhalten geblieben ausgerechnet in … Kiew[ii]!
Doch solche Wechselfälle der Geschichte sind es nicht, die dem Inhalt der Jahre vor und des Monats nach Ostern ihre unermessliche Bedeutung verleihen. Es sind einzig die begrenzten, aber unwiderruflichen Taten, die wenigen, leichten und doch unvergänglichen Worte Jesu, die alle späteren Zeiten durchdringen: Dass er Hunger bekämpfte und Krankheit, dass er Isolation aufsprengte und Verstoßene in sein Herz schloss, dass er Gott in der Wirklichkeit und den Tod als vergänglich zeigte, … das begründet die Liebe zu ihm, die nie wieder verlosch.
Und was er sagte - nach Ostern, als das Ende des Endes anfing - das ist die Quelle und der Stoff des Glaubens, der bis hier und heute in unsere Gegenwart und weiter noch und weiter reicht.
Wenn wir heute also, am Ende der diesjährigen vierzig Tage nach der Auferstehung, am Ende der vierzig Tage, die aus Liebe Glauben machten, in unserer Zeit des Hassens, Zweifelns und Verzweifelns wissen wollen, was uns Heutigen die Sicherheit und Zuversicht einer „Victoria!“-singenden Seele geben könnte, dann sollten auch wir wieder - in aller Bereitschaft uns vom Geringfügigen überraschen zu lassen – die wenigen, unglaublich kostbaren Worte Jesu hören, die überhaupt nur zwischen Ostern und Himmelfahrt überliefert sind.
Sie kristallisieren sich um nicht einmal zehn Motive herum.
Das stärkste ist sein Gruß, seine Zusage: „Frieden!“ (vgl. Lk.24,36; Joh 20,21+26;). Der, an Dem der Tod scheiterte, bringt trotz dieses allesentscheidenden Konflikts zwischen dem Beendiger und Vernichter aller Existenz und der Kraft des Lebens kein anderes Versprechen, keine wichtigere persönliche und politische Verheißung als dieses: „Frieden!“ – Das „Victoria“ des Glaubens ist also nicht Siegesgeschrei der Entscheidungsschlacht, sondern die Gewissheit, dass das letzte Wort der Frieden haben wird.
Das andere, was Jesus nach dem Abstieg in das Reich des Todes hören lässt, ist: „Fürchtet euch nicht!“ (Matth.28,10) – Wer österlich „Victoria“ ruft, besingt also nicht die Vernichtung des Feindes, sondern die Freiheit von aller Furcht vor ihm.
Als Nächstes dann spricht der Auferstandene Jesus in vielen Wendungen eine einfache, endlose Weisung aus: „Geht!“ – Geht nach Galiläa (vgl. Matth.28,10), zu meinen Brüdern (vgl. Joh.20,17), in alle Welt (vgl. Matth.28,19). – Der Sieg von Ostern ist also nicht im Stillstand - weder der Waffen noch der Uhren -, sondern in der Bewegung, im Fortschritt, im Weitergehen und -geben des Lebens zu suchen.
Ein weiteres Wort nun finden wir in Jesu Mund nach dem Wunder des dritten Tages, … etwas, das wir mit ewigem Leben und Himmelreich und allem, was wir sonst „Jenseits“ nennen, auf keinen Fall verbinden, auch wenn in unserer Wirklichkeit alles danach schreit, … mehr als nach allem anderen: Es ist das Essen (vgl. Lk24,41; Joh.21,5; vgl. dazu Mk.14,25!). Jesus will, ja Er muss gemeinsam mit den Jüngern wieder Nahrung verzehren, die den Hunger nimmt, um zu zeigen, dass Er auch auf der anderen Seite des Grabes ein Mensch unter Menschen und keine Erscheinung ist. – Die lebensbejahend-weltliche Barockmusik Telemanns ist da ein richtiges Signal, dass die Auferstehung nicht „ab von’s Weltliche“, sondern in die kreatürliche Gemeinschaft mit all dem begrenzten Leben, das doch nur leben will[iii], führt.
Der nächste unerschöpfliche Wink des nicht mehr Sterblichen in den Tagen seines Umgangs mit den Sterblichen ist die wiederholte Erinnerung, dass das Leiden und überwundene Grauen seiner Folter und Hinrichtung nicht einfach zynischer Willkür entstammten. Jesus legt nämlich nach Ostern ebenso wie vorher die Tora und die Propheten aus (vgl. Lk24,25-27 + 44-48), um aufzudecken, dass Gott einen Plan hat und trotz allen Anscheins Nichts endgültig der Sinnlosigkeit überlässt. – Diese Trophäe, diese Beute des Ostersieges ist vielleicht gerade heute die Entscheidende: Sieg bedeutet für uns, gegen die Diktatur des Destruktiven zu kämpfen und festzuhalten, dass wir - auch in der gegenwärtigen Welt! - echten Sinn für möglich und trotz aller Lüge zuletzt für wahr halten!
Und dann ist da der Dreiklang in Jesu Worten während seiner letzten Erdentage, der sofort ahnen lässt, weshalb in der irdischen Geschichte niemals zuende gehen wird, was diese wenigen Äußerungen an Echo, Aufschwung und Jubel hervorrufen: Jesus spricht in den vierzig Tagen vom Bleiben Seiner Jünger (vgl. Joh.21,22f) und Seinem Bleiben bei ihnen (vgl. Matth.28,20); Er spricht von der Kraft, die Er hat (vgl. Matth.28,19) und von der Kraft aus der Höhe, die Er ihnen senden und schenken will (vgl. Lk.24,49; Apg.1,5+8; Joh.20,22) und schließlich spricht Er von der Mission, die in Seinem Namen, im Glauben an Seine Gegenwart, ohne Ihn zu schauen (vgl. Joh.21,29) und unter Seinem Segen alles Geschehen durchziehen wird, bis alle Welt die Weisung Gottes (vgl.Matth.28,20) und Vergebung der Sünden (vgl. Lk.24,47; Joh.20,23) und das heißt freien, eigenen, wahren Zugang zu Gott gefunden hat (vgl. Joh.20,17). – Wenn das Rezitativ der Telemann’schen „Victoria“-Kantate also vom Auferweckten singt „Er triumphiert, daß ich dereinst soll triumphieren“, dann ist damit die universale Erlösung, Versöhnung und Verbindung zwischen der verlorenen Menschheit, die kraft- und ziellos vergehen muss und dem bleibenden, belebenden Gott gemeint. Es wäre also irreführend, in der Solokantate bloß die Feier pietistischer privater Erlösungsfreude zu finden: Ihr Sänger ist Stellvertreter sämtlicher Menschen. ———
In den vierzig Tagen zwischen Ostern und Himmelfahrt hat Jesus also mit spärlichen Worten und in einfachster Klarheit die Perspektiven aller Lebenswege und Zeitalter, die noch kommen sollten, aufgezeigt:
Der Frieden, der alle Angst hinter sich lässt, wird durch alle Veränderungen hindurch die gesamte Kreatur aus der Vergeblichkeit lösen und in den universalen Bund mit Gott endlich einbeziehen.
Oder wie es bei Lukas (Apg.1,2f) heißt: Nach seiner Auferstehung gab Jesus „den Aposteln, die er erwählt hatte, durch den Heiligen Geist Weisung. Er zeigte sich ihnen nach seinem Leiden durch viele Beweise als der Lebendige und ließ sich sehen unter ihnen vierzig Tage lang und redete mit ihnen vom Reich Gottes.“ ——
Drei Jahre Verkündigung und Rettungswunder, die tiefe Liebe hervorriefen, und vierzig Tage voll schlichter, erleuchtender Offenbarung der göttlichen Ziele für die Todbefreiung des Lebens insgesamt, die bei seinen Jüngern den Glauben begründeten, haben nun-mehr also genügt, um zwei Jahrtausenden Hoffnung zu geben.
… Nichts anderes ist ja die Rede vom Reich Gottes, als diese unendlich tiefe, starke, zähe Hoffnung, die sich aus der Liebe zum Menschgewordenen und aus dem Glauben an den Auferstandenen speist. ——
… Natürlich werden und natürlich müssen Außenstehende da seufzen oder sogar höhnen: „Was für eine Luftnummer!“ …….
… Aber sind wir nicht alle in den vergangenen Wochen zu Außenstehenden geworden, … zu Menschen, die außer sich sein sollten, … zu Christen, die neben sich stehen müssten, wenn wir nur ein wenig in unsere Zeit hören, die so grausame Ereignisse und so brutale Erfordernisse demonstriert?! …….
… Mit der Welt im Reinen, selbstgewiss oder gar siegessicher kann im Ernst doch niemand von uns sein, wenn wir die wirklichen Tragödien und die tragische Wirklichkeit des brutalen Krieges, der menschlichen Niedertracht, der gefährlichen Ratgeber und der ebenso gefährlichen Ratlosigkeit unserer Tage bedenken. …….
… Wenn uns so aber alles Rechthaben auf der Zunge verwelkt und alles Bescheidwissen sich in unserm Denken verflüchtigt, … weht es uns denn nicht gerade dann unwiderleglich an: Bessere Worte, gesegnetere Weisung, eine seligere Verheißung kann unsere Zeit gar nicht treffen, als diejenige, die der Auferstandene uns mit seinen wenigen Worten hinterlassen hat als Er auffuhr, um das Reich Seines Vaters vom Himmel aus der Welt endgültig nahezubringen?!!!
… Dass Frieden werden wird, der alle Angst hinter sich lässt, … dass durch alle Veränderungen hindurch die gesamte Kreatur aus der Vergeblichkeit gelöst und endlich in den universalen Bund mit Gott einbezogen werden soll, … das ist doch das Einzige, das uns überhaupt noch zu atmen hilft.
Und mehr verlangt ja niemand unter allem Lebendigen jetzt und in Ewigkeit, als nur dass Gott uns Seinen Geist, den Hauch und das Wort Seines Mundes, von dem und durch das wir leben, nicht entziehe!
Dass Er aber weht und belebt, dass Gott Seinen Geist sendet und dass Sein Reich kommt, indem Jesus wiederkehren und alles zurecht bringen wird … genau das ist es, was uns aufatmen lässt seit das Leben, das wir am Karfreitag beendet sahen, sich nach Ostern wieder regt, voll Atemluft der Ewigkeit.
Wo uns der nun aber streift - Atem Dessen, Dem der Atem im Tod stillstand - , wo wir Luft schöpfen dürfen mit allem, was Odem hat, um für immer auf- und durch- und weiter zu atmen, …da antwortet alles in uns wohl mit ganzem Recht auf die „Luftnummer“ des Evangeliums bei jedem Ein- und Ausatmen: „Victoria! … Leben!“
Amen.
[i] Zu Telemanns (erhaltenen) Kantaten vgl. Werner Menke, Thematisches Verzeichnis der Vokalwerke von Georg Philipp Telemann, Bd. I: Cantaten zum gottesdienstlichen Gebrauch, Frankfurt/M 1982, hier: S.214f.
[ii] Vgl. dazu: Siegbert Rampe, Georg Philipp Telemann und seine Zeit, Laaber 2017, S. 308f.
[iii] So Albert Schweitzer berühmte Formulierung für das Kernmotiv seiner Ethik.
Kantate, 15.05.2022, Stadt- und Jonakirche, Lukas 19,37 - 40, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona Kantate - 15.V.2022
Lukas 19,37-40
Liebe Gemeinde!
Am vergangenen Wochenende, bei den Konfirmationen habe ich noch einmal wirkliche Zuversicht aufgebracht und aus Überzeugung den Jugendlichen, die an der Schwelle des Lebens stehen, Mut zu machen versucht. Als Christinnen und Christen haben sie einen Glauben bestätigt und sollen ihn künftig weiter erfahren, der wirklich die - einzig - „Gute“ Nachricht ist und dessen tragende Kraft, dessen kraftspendende Verheißung sich auch in Widrigkeiten bewähren und im Schweren erweisen wird. Dessen bin ich gewiss.
Aber ebenso gewiss bin ich dessen, dass wir dem christlichen Glauben und dem Evangelium, auf dem er ruht, lange schon nicht mehr gerecht werden, wenn wir ihn nur zur Motivationsenergie erklären. Die Botschaft, von der wir leben, ist keine der vielen optimistischen Illusionen, keiner der zahlreichen Positivitäts-Tricks, mit denen sich das Publikum heute abspeisen lässt und selbst betäubt. Die unreife Haltung, die um sich greift, dass Menschen sich weismachen, Leben sei ein Produkt in Frischhaltefolie, das dauerhaft glatt und im Geschmack gleichbleibend allergiefreundlich sein werde, … diese Haltung verwöhnter Kinder darf nicht noch mit billigen christlichen Parolen unterfüttert werden.
Das Leben ist nicht nur nett und lecker, sondern auch hart und bitter.
Und wer sich an reine Schonkost gewöhnt hat und meint, aus solcher Bequemlichkeit einen Anspruch ableiten zu dürfen, die Welt müsse ihm regelmäßig und ausschließlich servieren, was er gernhat, ist auf dem Holzweg. In den Enttäuschungen, die da unweigerlich eintreten, und in den tatsächlich schockierten Reaktionen auf die Realität, die nicht wunschgemäß ist, wird nun aber immer wieder angst- und vorwurfsvoll gefragt, ob Gott denn nicht der Garant des Gelingens sei und ob das Glück denn also nicht als Garantiefall eingeklagt werden könne? … Was anderes, als eine solche Rundum-Sorglos-Versicherung solle denn bitte Segen sein? ——
Und darum will ich, wenn es nicht um die Jugendlichen geht – deren Leben wir Erwachsenen und Älteren schon mit einer Dreistigkeit belastet haben, die unverzeihlich ist – in absehbarer Zeit nun nicht mehr nur von der berechtigten Zuversicht, sondern vom ungeschminkten Realismus des Glaubens sprechen.
Unser Glaube fängt an mit der nüchternen Erkenntnis: Die Menschheit lebt in der Welt, die sie aus Gottes Schöpfung gemacht hat. Es war ein Garten, geschützt durch Gott. Der Mensch hat daraus die Bühne seines eigenen Willens gemacht. Das freie Können und Lassen wurde so durch menschliche Wahl zu menschlichem Müssen - im Guten wie im Bösen. Weil der Mensch sich entschied für den Verzicht auf Gottes Schutz.
Und in dieser Welt, in der der Mensch aus Abneigung gegen jede Bevormundung allein seine Verantwortung tragen wollte, muss er seine Entscheidung nun leben: Der Mensch, der Adam und Eva heißt und die ganze Menschheit umfasst, auch wenn wir Individualisten das nicht werden wahrhaben wollen, bis es uns auf die schmerzhafteste Weise dämmern wird …, aus Abneigung gegen jede Bevormundung hat der Mensch also wirklich zu tragen.
…Viel zu tragen: Folgen hat er zu tragen. Lasten, die ungleich verteilt sind. Risiken, die sich nicht in individueller Betrachtungsweise, sondern nur in der Bilanz des großen Ganzen zeigen. Der Mensch hat zu tragen und zu ertragen, dass die Freiheit, die er sich nahm, nur ein Teilchen ist, das mit so vielem Anderen in Widerspruch gerät, das in den von Gott gegebenen Gesetzen blieb: Himmel und Erde, Stoff und Geist, Wasser und Land, Tier und Pflanze, Tod und Leben. Sie alle folgen dem alten und klaren Gesetz von Ursache und Wirkung. Nur der Mensch in seiner Freiheit meinte, für ihn gelte nicht, dass man erntet, was man sät, … dass wo Licht ist, auch Schatten sein muss, … dass vor Gott nichts bleibt und nichts verjährt, … dass zum Geborenwerden das Sterbenmüssen gehört und zum Lachen das Weinen, zur Höhe der Fall und zum Haben der Verlust. Dass alles also Echowirkung hat.
… Der Mensch: Die Ausnahme.
Der Mensch: Ein freier Einzelner, ein spontaner Solist, eine Stimme nur für sich, in eigener Sache und niemals Ausführender im Werk eines anderen!
Darum ist der Mensch, der weitere Zusammenhänge leugnet und vergisst, der sich so gern als uneingeschränkt empfindet und nur die eigenen Zielen auf eigene Weise verfolgt, so verwundert, so verstimmt, wenn er spürt, dass er einer unter Vielen sein muss und dass sich das Leben eben doch nicht nach seinem Taktstock, seiner Pfeife richtet, sondern aus der Harmonie und Spannung, aus der „Sym-Phonie“ - dem Zusammenklingen - und der „Dis-Sonanz“ - der Unterbrechung der Stimmigkeit - des großen Gesamtkörpers besteht. Er wollte ganz allein das eigentliche Organum[i], die große Orgel also sein - der Mensch! - und ist doch bloß … eine Pfeife! ————
Warum aber nun dieser lange Umweg über Schöpfung und Sündenfall, über die menschliche Freude am Solo ohne Chor und Orchester und den Hauch und Atem Gottes, der dennoch alles durchweht und endlich in allem zum wohltönende Vollklang kommen wird?
Weil wir heute vom Jesus-Chor hören.
… Sonst sind die Zwölf seine Schar, sein Gefolge, sein Freundeskreis. Manchmal sind es auch nur Einzelstimmen, wenn Petrus mit seinem Bass groß von seiner Treue zum Meister tönt (vgl. Lk.22,33), oder Jakobus und Johannes jeweils mit krähendem Tenor beanspruchen, Stimmführer zu sein (vgl.Mk.10,35). … Oft schwätzen, noch öfter schweigen die Jünger.
Dabei kann doch, wo zehn jüdische Männer zusammen sind, der Gesang nie weit weg sein. Beten und Singen sind in Israel eines. Und jeder zwölfjährige Knabe muss wahrhaftig weder erst das Lesen noch den Text der Heiligen Schrift lernen, um in der Synagoge als mündig aufgenommen zu werden, sondern er erwirbt die religiöse Reife, indem er die Melodie eines bestimmten Abschnitts der Torah auswendiggelernt und vorgesungen hat.
Wer glaubt, wer bekennt, wer die Schrift beherrscht und nach dem Wort lebt, der ist in der Welt Jesu wie im heutigen Judentum also ein singender Mensch.
Und der Klangteppich des frommen Lebens ist so dichtgewirkt, dass manche Melodiefetzen, manche Tonfolgen eine so feststehende Bedeutung haben, dass sie von Hoffnung oder Buße, von Jubel oder Trauer zeugen auch ohne Worte. In späteren Zeiten haben die Wunderrabbiner und mystischen Gebetslehrer des chassidischen Judentums jeder seine typische Summweise, seine charakteristische Versenkungsmelodie, die nicht auf Worte, sondern endlos auf sinnfreie Silben – oijoijoij, daidaidai – wiederholt werden und so auf Flügeln des Gesanges die Seele rein, ohne allen Gedankenwust zu Gott führen. Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ sind ein Nachklang der heiligen Tonleitern und Himmelsvokale, auf denen sich die jüdische Frömmigkeit über die dunkle Welt erhebt.
Und das christlich-musikalische Erbe der festen Psalmtöne, der gesungenen Stundengebete, der bestimmten liturgischen Weise für jeden großen Text, ist die uns ganz nahe Erinnerung daran, dass Gottes Leute keine Monotonie und kein brütendes Verstummen kennen, sondern ihr Vertrauen und ihre Sehnsucht, ihre Bitten und ihren Gehorsam stets hörbar, erfüllt vom lebendig-bewegten Atem des Geistes miteinander und der ganzen Schöpfung teilen.
Das verdammte Corona-Schweigen der beiden letzten Jahre ist also nicht nur ein kultureller Verlust, sondern eine geistliche Erkrankung geworden, denn wenn die Gemeinde nicht mehr auf die Weise Gottes eingestimmt und nicht mehr vom Grundton des Glaubens bestimmt wird und wenn sie ihr Bekenntnis nicht mehr vernehmlich anstimmt und wenn ihr atmendes Miteinander also gar nicht mehr stimmt, dann ist der Sündenfall, in dem jeder nur für sich ist, zwischen uns wieder eingetreten.
Darum ist es so zum Aufmerken und Hinhorchen, dass wir heute zu Ohrenzeugen werden, wie aus Jesu Jüngern ein Chor wurde!
Sie singen - wie gesagt - erstaunlich wenig in seiner Gegenwart, obwohl doch der Psalmbeter in dem schönen Hochzeitspsalm (45,1), der immer schon auf die Verbindung des Messias mit seiner erwählten Gemeinde gedeutet wurde, sagt: „Mein Herz dichtet ein feines Lied, einem König will ich es singen“!
Die einzige Gelegenheit also, bei der Jesu Jünger nun endlich wirklich sein Lied anstimmen, … die einzige Singwoche ihrer Zeit mit dem Heiland ist … seine letzte!
Die Jünger stimmen unter freiem Himmel ihren hellen, überwältigenden Jubel am Palmsonntag an, und am Gründonnerstag singen sie im Obergemach in Jerusalem die Hallelpsalmen (Pss.113-118) der Passaliturgie (vgl. Matth.26,30), ehe sie in die Nacht von Gethsemane und in das große, furchtbare Karfreitags-Verstummen aufbrechen.
Zweimal nur singen sie sich also die Seele aus dem Leib, zweimal nur lassen sie in ekstatischer Erhebung ihrem Gefühl für Ihn, ihrer Zuversicht, ihrer Inspiration durch den Geist, der sie durchflutet, freien Lauf: Bei seinem Einzug singen sie die Erlösungshymne des 118.Psalms, den wir während der Osterzeit immer wieder anstimmen – „Gelobt sei, der da kommt im Namen des HERRN!“ – verbunden mit dem weihnachtlichen Gloria: „Friede im Himmel, Gloria in Excelsis!“, und mit den Worten des gleichen 118.Psalms endet ihre Feier des Abendmahls in der Stunde seiner Agonie und ihres Verrates.
Der Chor, den Jesus geweckt hat, das Lied seiner Jünger ist mithin - ohne dass sie es ahnten - Gesang im Zeichen des Unheils, es ist Singen im Angesicht des Todes.
Und darin ist es der bleibende Maßstab für unser eigenes Dasein als singende Kirche: Die Musik der Kirche, die Melodie des Glaubens ist keine Tonspur für das Selbstverständliche, sondern sie erhebt sich da, wo man sie nicht erwartet und wo sie nicht einmal einordnen lässt.
… Nicht dass wir unsere Schlager also in heiteren Zeiten dudeln, nicht dass wir Marsch- oder sonstige Begleitmusik für das geordnete Leben liefern, nicht dass wir Feierliches nur steigern, Festliches hübsch verzieren, Fröhliches noch anheizen ist der Sinn unseres wahrnehmbaren Miteinanders, sondern dass wir uns aus der Vereinzelung, der solistischen Beschränkung auf eigene Befindlichkeiten lösen und unsere Stimme erheben, wenn es am unwahrscheinlichsten ist und man es am wenigsten vermutet.
Dass Jesu Jünger erst da zu Sängern werden, wo Er selbst bald den letzten Atemzug tun wird, ist dafür ein eindringlicher Beweis! Dass Jesu Jünger ahnungslos also gerade dann herrlich hörbar werden, als Er beinah schon zum Verstummen gebracht wird, ist wirklich ein unmissverständlicher Wink:
Wer sich nur in eigener Sache äußert, wer nur das aufgreift und ventiliert, was ohnehin schon in der Luft liegt ist, gehört nicht in den Chor Jesu. Diejenigen unter uns, die nur jaulen, wenn ihnen etwas wehtut, … die nur pfeifen, wenn sie eine Glückssträhne empfinden, … die man nur von den eigenen Sorgen und Erfolgen tönen hört, … von deren Lippen nur das Rühmen des eigenen Namens und das Beklagen des eigenen Geschicks fließt, … die sollen schweigen in der Gemeinde: Ihre Stimme, die nur von sich selbst und für sich selber spricht, wird sich niemals in den Jubel oder die Klagelieder der Kinder Israels, in das Gloria der Jünger Jesu, in die Liturgie der heiligen christlichen Kirche einfügen lassen!
… Nur wer vor der seltsamen Erkenntnis nicht zurückschreckt, dass die ersten Nachfolger Jesu erst in der Karwoche zu seinen vernehmlichen Zeugen, zu seinem willkommenen Chor wurden – „Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien!“ –, nur also, wer das Singen als das wissentliche oder unwillkürliche Stärken und Trösten Anderer im Leid versteht, kann mitsingen in der Gemeinde Jesu Christi!
Was man im politischen Bereich als Utopie gerne einmal durchspielte – wie wäre es z.B., wenn heute niemand an der Wahlurne seine Stimme nur für sich abgegeben dürfte, sondern jeder die eigene Stimme einlegen müsste für einen anderen Menschen und dessen Anliegen?! – … was also im politischen Bereich unvorstellbar ist, das soll uns im geistlichen Bereich je länger desto lieber und leichter, desto bewusster und bewegender werden: Unser Lied und Lob, unser Halleluja und unser Kyrie-Ruf, unsere Zukunftshymnen und Sterbechoräle sind nicht die Äußerungen unserer persönlichen Befindlichkeit, sondern sie dienen viel größeren Zwecken, … sie dienen Anderen und darin dienen sei dem Herrn, … denn sie sind wortwörtlich Liturgie, also „Dienst!“ ———
Die in der Karwoche singende Jüngerschar, die Lieder, die - auch wenn ihre Sänger vor und in Jerusalem es nicht ahnten - das Kreuz leichter tragen, den Schmerz gefasster durchhalten, das Sterben zuversichtlicher dulden ließen, … diese älteste und einzige Musik, die Menschen in den Evangelien anstimmen, hat daher aber auch gerade mit unserer Zeit zu tun!
Dass es eine Zeit ist, in der die gewohnten und die frivolen, die leichtfertigen und die harmlosen Lieder und Lebensweisen uns plötzlich nicht mehr geheuer sind, in der uns das unbedachte Trallala vergeht und die Stille einer tiefen Sorge, bald dann wohl aber auch wieder das dumpfe Alltagsrauschen der Gewohnheit sich unaufhaltsam ausbreitet, … dass es eine solche ernste Zeit ist, bedeutet nicht, dass wir als die Kirche Jesu Christi nun unsere Gesangbücher schließen oder die ohnehin schon viel zu kurz und unvertraut gewordene Liturgie einstellen sollten.
Im Gegenteil:
Singen ist unser Amt im Angesicht des Schreckens, der verstummen lassen will!
Lob ist unsere Weise, wenn die Welt sich fürchterlich gibt!
Gott zu preisen und zu verherrlichen mit Seiner ganzen Schöpfung, ist und bleibt der Sinn unseres Lebens und Atmens bis zum Schluss.
Je realistischer wir die Welt sehen, desto klarer zeigen uns die singenden Jünger in Jesu letzten Lebenstagen: Wir sollen unsere Zeit in Trost und Zuversicht verwandeln bis zuletzt.
Gott sollen wir singen solange wir leben.
Nichts als Sein Lied soll auf unseren Lippen sein.
… Denn dann stimmen wir ein in das, was immer neu ist in unserer alten, grausamen Realität der durch den Menschen so unglücklich gewordenen Welt der Einzelgänger: Das Lied der Gemeinde des Mose und des Lammes[ii], … die Melodie des Chores der Ewigkeit, … das Halleluja aller Zungen, das nie verklingt.
Amen.
[i] Wer dabei an Francis Bacons Grundlagenwerk „Novum organum scientiarum“ denken muss, mit dem 1620 in England der Paradigmenwechsel von der religiös-philosophischen Weltsicht zur technisch-empiristischen Weltbeherrschung eingeläutet wurde, liegt nicht falsch.
[ii] Schriftlesung an Kantate ist Offenbarung 15, 2- 4: ... Zugleich das Ziel aller unserer Zeit.
Jubilate - Konfirmation, 08.05.2022, Mutterhauskirche, Philipper 4,7, Jonas Marquardt
Predigt Konfirmation - Jubilate 8.V.2022
Philipper 4,7
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Dass das heutige Datum, das nun immer mit Eurem eigenen Leben verbunden sein wird, ein weltgeschichtlicher Tag ist, wisst Ihr vermutlich: Vor 77 Jahren endete am 8.Mai der 2.Welt-krieg, der so furchtbar war, dass viele, die das damals erlebten und die zum Teil ja heute noch unter uns sind, das große, feierliche Versprechen taten „Nie wieder!“
Und Ihr wisst auch, dass wir spätestens seit 74 Tagen erleben, wie die menschliche Absicht „Nie wieder“ sich in Luft auflöst, und wie man deshalb das schlimme Gefühl hat: „Schon wieder!“
… Doch diese beiden schmerzlichen Seufzer: „Nie wieder!“ und „Schon wieder!“ können nun nicht wirklich den einzigen Rahmen abgeben für Euren ganz persönlichen 8.Mai, an dem Ihr noch etwas anderes erlebt und selber in Gang setzt, als die wichtige und zur Zeit so ausweglos erscheinende Geschichte der kriegführenden und friedesuchenden Menschheit.
Wozu Ihr heute mit Eurem Glaubensbekenntnis und Eurer Entscheidung, in der Nach-folge Jesu Christi leben zu wollen, beitragt, das hat genauso viel mit einem „Noch nie“ und einem „Schon immer“ zu tun, wie mit dem „Nie und schon wieder!“
Das „Noch nie“ seid Ihr.
Ihr zwölf – was für eine besonders gute Zahl! – seid heute die welt-geschichtliche Premiere: So’ne wie Euch hatte Jesus noch nie im Gefolge. Zwar dürfen wir sicher sein, dass es in der Gemeinschaft der Kirche schon alle möglichen und auch fast alle unmöglichen Gestalten gegeben hat – Heilige und Eilige und Langweilige, Begabte, Begeisterte und Bekloppte – aber Ihr wart bisher noch nicht mit von der Partie als mündige Mitglieder der Kirche. So ist Eure Konfirmation, Euer eigenständiger Einstieg in die größte Glaubensgemeinschaft der Welt-geschichte also doch ein weltgeschichtlicher Tag ohne dass wir in die Vergangenheit zurück-blicken müssen.
Und auf der anderen Seite, obwohl so Vieles uns in den letzten Jahren so überrumpelt und überfordert hat, obwohl so Vieles in den Zeiten, die wir jetzt miteinander verbracht haben, unerhört und wirklich nicht zum Angewöhnen war, ist doch auch ein herrliches, tiefes und weites „Schon immer“ spürbar gewesen, … jedenfalls hoffe ich, dass Ihr es auch gemerkt habt: Wenn wir von Gott hören und bewegt werden, wenn wir mit Psalmworten zu Ihm beten, und in den biblischen Geschichten, die Lukas festgehalten hat, teilnehmen am packenden Leben Jesu, das in der Krippe anfing, am Kreuz zu enden schien und dann durch Ostern und die Himmelfahrt unendlich wurde, … dann merken wir, dass wir eine Wahrheit kennenlernen, eine Kraft empfangen und in eine Liebe einbezogen sind, die schon immer da waren: Von Anbeginn der Zeit.
Ihr noch nie Gewesenen und der immer schon wirkliche und wahre Gott trefft also an diesem Tag und dieser Stunde ein Abkommen: Ihr bleibt für Gott einzigartig und unwie-derholbar und Er wiederum bindet Euch ein in Seine Ewigkeit.
Jeder Augenblick Eures Lebens und die ganze Unvergänglichkeit Gottes finden hier also zueinander: Was noch nie war und vergleichbar nie wird, geht in das Unendliche ein.
Das klingt jetzt ein bisschen nach Quantenphysik. Irre kompliziert, theoretisch und an-spruchsvoll. … Habt Ihr das verdient? Dass da an einem Sonntag etwas so Anstrengen-des an Eure Tür klopft?
… Beruhigt Euch! Erstens habt Ihr morgen – wenn Ihr wollt und Eure Lehrer keine Spielver-derber sind – schulfrei. Und zweitens habt Ihr bis ans Ende aller Tage, nein sogar unendlich Gelegenheit, zu erleben, was man eben nur mit Gott erleben kann.
Drittens aber will ich versuchen, es Euch noch etwas einfacher zu sagen, … obwohl ich das am schlechtesten kann, weil ich nicht hellsehe.
… Ich weiß ja nicht, was kommt.
… Ich weiß nicht, was aus Euch wird.
… Weiß nicht, was auf Euch wartet.
Dass ich Euch nur Gutes wünsche, dass ich mit Euch am liebsten Eure Träume in Erfüllung gehen sähe und dass es mich froh machte - wie alle Eure Eltern, Eure Angehörigen und Freunde -, wenn Ihr nur noch sorgenfreie Zeiten, lösbare Probleme oder wundervolle Erfin-dungen, Durchbrüche und Rettungen vor Euch hättet, das ist klar.
… Aber auch wenn die Nüsse, die Ihr knacken und die Nöte, die Ihr bestehen müsst, nicht harmlos, sondern hart sein sollten, auch wenn Ihr tatsächlich weiter Mist erlebt, wie in den beiden letzten Jahren, und den Dreck, den man Euch hinterlässt, irgendwie bereinigen müsst: Mein Kopf und mein Herz sind trotzdem voller Zuversicht für Euch!
Weil Ihr nichts von alledem alleine, nichts nur mit eigener Genialität oder Verbissenheit be-wältigen müsst. Heute verbindet und verbündet sich mit Euch der klügste Ratgeber und stärkste Helfer, der treuste Beschützer und unermüdlichste Begleiter, sen es überhaupt gibt: Der die Welt geschaffen hat und die Menschen liebt, Der den Tod besiegen konnte und Der Euren Weg zum bleibenden Ziel lenken wird, Den habt Ihr an Eurer Seite, … Den habt Ihr auf Eurer Seite!
Auch wenn keiner von uns also weiß, was kommt: Er wird da sein, wie Er’s immer war.
Und auch wenn keiner von uns weiß, was aus Euch wird - weil das ja zu dem gehört, was noch nie war -, so wird doch nichts von alledem ohne Gott geschehen.
Und auch wenn weder Ihr noch wir wissen könnt, was auf Euch wartet, so ist doch das Eine sicher: Es wird Gottes Gegenwart bei Euch nicht unterbrechen und Euer Bleiben bei Ihm nicht verhindern. ———
Das war jetzt nicht die Sprache der komplizierten Philosophie oder sonst einer kom-plexen Wissenschaft, sondern die Sprache des einfachen Glaubens.
Aber lasst Euch niemals weismachen, das Eine davon schlösse das Andere aus.
Wie nun die Naturwissenschaft, wie die Technik zu Euren Lebzeiten, vielleicht durch Euern Beitrag, hoffentlich zu Eurem Nutzen sich noch entwickeln mögen, wie sie das Leben auf Erden zu schützen und zu verbessern helfen werden, das wollen wir zuversichtlich abwarten. Ich will Euch in diesen Tagen, in denen es auf der Erde so schrecklich zugeht, während wir sahen und hörten, dass im Weltraum bei der SpaceX-Mission die amerikanischen, die west-europäischen und die russischen Kosmonauten friedlich zusammenarbeiteten, nur noch rasch vom Mond erzählen:
Das Erste nämlich, was Menschen nach der Mondlandung dort in ihrer Raumkapsel ver-zehrten, sollte uns zu denken geben: Der Astronaut Buzz Aldrin hatte von seiner Kirchen-gemeinde nämlich einen kleinen Kelch mitbekommen. Und nach der Landung der Apollo 11 auf dem Mond, nahm er das Brot, füllte aus einem kleinen Fläschchen Wein in den Kelch und feierte mit Neil Armstrong zusammen das Abendmahl[i]. Dazu las er die Worte des Johannes-evangeliums (15,5): „Jesus Christus spricht: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“ … Jesus Christus in Brot und Wein auf dem Mond!
Und der achte Mensch, der jemals seinen Fuß auf den Mond setzte - also so weit entfernt von allem, was wir kennen und beherrschen, wie’s einem von uns bisher überhaupt möglich war -, der Raumfahrer James Irwin hat es noch schlichter erlebt. Er versuchte die Apparatur eines bei seinem Mondspaziergang vorgesehen Experiments in Betrieb zu setzen und scheiterte wiederholt. Weil er von Kindheit an einen christlichen Glauben hatte - auch wenn dieser Glaube in der Zwischenzeit etwas angestaubt war - , fing er unwillkürlich an zu beten, dass sein Vorhaben doch noch gelingen möge. Und da spürte er Gottes Nähe plötzlich so leibhaftig - 384.400 km jenseits der Erde! -, dass er sich umdrehte, weil er sicher meinte, Jesus stünde hinter seiner Schulter[ii]. Jesus Christus – überall, gestern, heute und Ewigkeit. Nur dass es – wie James Irwin, der Astronaut, der sich ihm auf dem Mond so nahe wusste, später wieder und wieder predigte – … nur dass es „viel wichtiger ist, dass dieser Jesus Christus wirklich die Erde betreten hat, als dass der Mensch jemals den Mond betrat“.
Diesem Jesus Christus vertrauen wir darum Eure Zukunft und die Zukunft der ganzen Welt an: Das Leiden des Krieges, das wir nie wieder wollten und vom dem wir für die Menschheit wünschen und beten, dass es bald vorbei sein möge.
Ihm vertrauen wir genauso aber auch das an, was bei Ihm von Anfang an verheißen und entschieden ist: Den Frieden.
Und Euch vertrauen wir Ihm an mit den Worten, die über diesem Tag und Eurem Weg stehen, die alles Hören auf sein Wort beschließen und uns Allen Hoffnung für immer eröffnen:
Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der bewahre Eure Herzen und Sinn in Christus Jesus, unserm Herrn – von nun an bis in Ewigkeit!
Amen.
[i] https://www.youtube.com/watch?v=rwovIEmyFt0
[ii] https://www.godreports.com/2011/03/encounter-with-jesus-on-the-moon-left-astronaut-changed/
Konfirmation 07.05.2022, Mutterhauskirche, Hebräer 13,20f, Jonas Marquardt
Predigt Konfirmation - 7.V.2022
Hebräer 13,20f – Lehrtext des Tages in den Herrnhuter Losungen
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Wir müssen heute, an Eurem Feiertag gar nicht erst drumherum reden: Eure Kindheit und Jugend sind verrückt. … Ich sage nicht, dass Ihr es seid …, sondern die Zeit.
… Und das ist - im dritten Satz der Predigt! - schon ein gigantisches und ehrliches Kompliment: Obwohl die Welt spinnt, seid Ihr kein bisschen durchgeknallter, als man mit dreizehn, vierzehn sein soll.
Man hat Euch eingesperrt, und Ihr seid innerlich trotz allem wunderbar lebendig geblieben. Man prophezeit Euch Nöte, und Ihr habt das Lachen nicht verlernt. Man brockt Euch Dinge ein, versalzt Eure Suppe, legt Euch in jeder Richtung Steine in den Weg und zieht die Daumenschrauben an … und Ihr habt trotzdem Humor und Träume, „worked hard“ und „played hard“ und schafft es unnachahmlich echt, Kleinigkeiten tragisch und Katastrophen leicht zu nehmen.
Und nun ist auch noch Krieg und man möchte die Luft anhalten. … Ihr aber wachst in Eure Zukunft, verblüfft und entwaffnet Eure Eltern, holt ein und überholt, die vor Euch waren und gebt das Menschliche und Helle nicht auf, sondern tragt Euer zunehmendes Teil dazu bei!
Euretwegen würde Jesus eine weitere Seligpreisung finden wollen, … vielleicht so etwas wie: „Selig sind, die eine kranke Welt erleben, denn sie werden die Heilung, sie werden das Heil suchen!“
Das soll nun aber auch schon genug von den ernsten Umständen unserer Tage, genug vom Donnergrollen im Hintergrund Eurer bewussten Anfänge als Christenmenschen sein.
Wir sind ja nicht hier, um unsere Sorgen, sondern Euren Segen zu teilen!
… Wobei, eine Frage müsst Ihr mir noch gestatten: Eine für mich therapeutische Frage, mit der ich mein eigenes Einmal-vierzehn-Gewesen-Sein allmählich aufarbeite. Abgesehen von saurem Regen und Waldsterben, radioaktiven Wolken aus Tschernobyl und Ozonloch aus der Spraydose - oder wie die Weltuntergangsszenarien damals alle hießen -, lag ein wirklicher Schatten auf meinen jungen Jahren. Immer habe ich mich gefragt, warum die Mathelehrer so ungerührt (und ich hatte - ungelogen - einen mit einem Glasauge!) solche schwierigen Aufgaben, solche Problemstellungen anschleppten?
– Mittlerweile dämmert es mir: Sie kamen mit ihren vertrackten Fragen, … weil es eine Lösung gibt!
… Es könnte sinnvoll sein, sich das zu merken: Während ich mir die Haare raufte, … während ich so frustriert war, dass ich vor lauter Algebra-Depression mein Zimmer kaum aufräumen, vor ständigen Kurvendiskussionen und nichtlinearen Funktionen selten pünktlich sein und vor ständiger Sinnkrise angesichts von Sinnus und Unsinnus und Kosinnus kaum noch an meine menschenwürdige Zukunft glauben konnte, hatten alle diese quälenden, für mich Hirn- und Herzmuskelkater erzeugenden Übungen einen Grund, … sie waren Rätsel mit einer klaren Lösung!
… Und so ist es viel, viel öfter, als wir denken!
Euch sage ich das aus besonderer Überzeugung, weil Ihr mir - ohne es zu ahnen - zwei Jahre lang höchstpersönlich gezeigt, ja verkörpert habt, dass wir zwar längst nicht alles erkennen, dass es aber deshalb trotzdem vollständig vor uns steht, auch wenn wir daran rumrätseln müssen.
Was ich meine, ist: In Eurer Gegenwart fühlte ich mich immer erinnert an Neil Armstrong. … Kennt Ihr nicht mehr? Der war auch so ein Himmelskörper-Typ wie Ihr: … Schließlich seid Ihr mein erster Jahrgang ausnahmslos mondgesichtiger Konfis.
… Das ist jetzt nicht beleidigend gemeint!
Ich mobbe nicht Eure Gesichtsform, die mir bei Euch ja in sechzig Varianten begegnete, genauso wie Eure sechzig verschiedenen Charaktere und Wesen, Eure sechzig Seelen, wie wir in der Kirche sagen, die in jeder Hinsicht einzigartig und von Gott unwiederholbar erschaffen sind, und die Gott mit Seiner Liebe erfüllen und erlösen wollte, um sich in alle Ewigkeit an und mit Euch zu freuen.
… Eure Mondgesichter verdanktet Ihr einfach den Masken!
Beinah zwei Jahre lang habe ich immer nur zunehmenden Mond gesehen, und außer in Bad Berleburg fast nie das ganze Leuchten Eurer Angesichter! Immer nur die halbe Ausstrahlung.
Aber ein alter Dichter, der vielleicht das schönste Abendlied von allen geschrieben hat, war mein Trost. Er hat im Blick auf halbversteckte Gesichter und auf unerkannte Lösungen und auf beinah schon aufgegebene Hoffnung für’s Ganze geschrieben:
„Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht sehn.“
(Matthias Claudius- EG 482)
Der alte Mondsänger hat völlig recht! Bloß weil wir es im Augenblick nicht mit den Augen erblicken, ist etwas noch lange nicht unvollständig oder ohne passende Ergänzung, ohne Aussicht auf das heile Ganze. Wie bei den unlösbar scheinenden Klassenarbeiten, wie bei den riesigen Fragen unserer verrückten Zeit, wie bei den Überraschungen, den Enttäuschungen und den motivierenden Herausforderungen Eurer Zukunft gilt immer, dass wir nicht alles sofort und auch nicht alles auf Erden erfassen und vollenden können, aber dass es immer die noch unsichtbare, die unentdeckte und trotzdem doch vorhandene Hälfte gibt, die aus einem Bruchstück etwas Vollkommenes macht.
Diese Gewissheit, dass auch die dünne Mondsichel in Wirklichkeit ein ganzer Himmelskörper ist, diese Gewissheit, dass Teile und Splitter und sogar Trümmer nicht nur Zerfallendes - wie wir es wahrnehmen - , sondern von Gott Zusammengehaltenes sind, dieses Vertrauen ist das, was Ihr am meisten braucht in der verrückten Zeit Eurer Jugend!
Dieses Vertrauen darauf, dass es in der Welt mehr Wahrheit und mehr Segen gibt, als man meinen möchte, heißt Glauben. … Den haben wir alle nötig, und darum wird er auch durch alle Jahre, die Eurer verrückten Jugend folgen, wichtig bleiben:
- Dass Ihr Euch nicht irre machen lasst am Sinn Eures persönlichen Daseins;
- dass Ihr Euch nicht ausreden lasst, dass es mehr Hoffnung gibt, als Gründe zu verzagen;
- dass Ihr Euch den Glanz verliebter Mondnächte und langer Sommertage nicht verderben lasst, auch wenn Ihr davor und danach mitten im Alltag lebt;
- dass Ihr Euch nicht nehmen lasst, vieles anders und besser zu machen als Eure manchmal unerleuchteten und teilweise auch ungerechten Vorgänger auf dieser Welt;
- dass Ihr Euch nicht schrecken lasst, … weder vom deutlich Erkennbaren, noch vom Unbekannten und auch nicht von dem, was heute noch verborgen sein und morgen erschütternd klar werden mag;
- dass Ihr Euch immer erinnert, dass wir getrost über all unser begrenztes Wissen lachen und an unserm vielen Nichtwissen dennoch nicht verzweifeln sollen,
weil wir ja nicht die Sonne sind, die alles hell macht, sondern zur Erde und ihrem Licht- und Schattenspiel gehören, in dem manches völlig offenbar wird und anderes ein Geheimnis bleibt.
Diesen Glauben, der so viel Mut machen kann – Mut, den Ihr braucht, weil die Menschheit ihn braucht – …, diesen Glauben, der so viel Gutes sehen und auch ungesehen ahnen lässt, den werdet Ihr gleich bestätigen.
Es ist der Glaube an den Gott, Den der heutige Lehrtext den „Gott des Friedens“ nennt.
Dass unser Gott der Gott des Friedens ist, liegt aber wieder – falls Ihr noch beleidigt seid, weil ich Euch Mondgesicht genannt habe – an dem, was wir nur halb einsehen und doch ganz annehmen können:
Unser Gott ist Der, Der zusammenhält, was wir nicht auf einmal zusammenbringen: Er hält im Großen Himmel und Erde - also das Geistige und das Materielle - zusammen; Er hält im Kleinen Körper und Seele - also das Materielle und das Geistige - zusammen. Er hält Nähe und Ferne - den Raum! - und Gestern und Morgen - die Zeit! - zusammen. Er verbindet und versöhnt, was wir als Gegensatz oder Widerspruch empfinden!
Das ist in dieser verrückten Zeit unglaublich wichtig: Dass es Euch Christen geben wird, die sich nicht immer nur in Lager spalten lassen werden; die sich nicht auf’s Hassen festlegen oder zum Lügen verbiegen; die es aushalten können, nicht über alles selbst zu verfügen und trotzdem gelassen und getrost zu sein.
Dieser Gott des Friedens mache Euch in Eurem Glauben und Euerm Handeln genau darin tüchtig! Damit für Euch und durch Euch wieder Zeiten kommen, die nicht so verrückt, nicht so gefährlich, nicht so unklar sind! Sondern uns das Gute an dieser herrlichen Welt, das Gute für alle Menschen finden und teilen lassen.
Und dann führe Gott Euch so durch die aufregenden und die gewöhnlichen Zeiten Eures Lebens, dass Ihr schließlich dahin kommt, wo das, was wie der Mond ist - die halben Sachen, das Unvollständige … - einmal aufhört. Und wo wir alle erkennen wer-den, dass Der, Den wir im Menschen Jesus Christus unsern Lehrer, unsern Meister, unsern Freund und Heiland nennen, wenn wir Ihn ganz sehen können, wirklich Gott ist: Der Gott des Friedens, … Euer Gott, …. Der Euch segnet in Zeit und Ewigkeit!
Amen.
Miserikordias Domini, 01.05.2022, Stadtkirche, Johannes 21, 15 - 19, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Miserikordias Domini - 1.V.2022
Johannes 21, 15-19
Liebe Gemeinde!
Nach der Auferstehung ist alles vorbei? …….
– Das wäre das größte denkbare Missverständnis.
Nach der Auferstehung ist nichts vorbei? …….
– Das ist der Ernstfall dessen, was wir als Ostern feiern.
… Nach der Auferstehung - wenn alles anders, aber alles eben auch anders da ist - wird erst einmal der Puls genommen. Da schlagen Herzen. Da geht der Atem ein und aus. Da sammelt und verflüchtigt sich die Lebendigkeit und sammelt sich wieder, da sind und bleiben Menschen Menschen.
Wir sollten uns das klar machen: Wenn ein Puls schlägt, wenn ein Mensch mit seinem erschreckten Luftschnappen und seinem entspannten Auspusten, wenn ein Mensch mit seinem Ge- und Misslingen, seinem Einsehen und seinen Versehen, mit seinen schwachen und starken Schwächen und seinen starken und schwachen Stärken im lebendigen Wechselstrom des Wirklichseins vor uns steht, … dann könnte es sich um eine Begegnung im Licht der Auferstehung handeln.
Ganz bestimmt nicht österlich sind dagegen unsere permanenten Begegnungen mit Menschen ohne solche natürlichen Widersprüche: Menschen, deren Interessen, deren Zuneigungen und Hoffnungen nicht geteilt sind und darum hin und her gehen, sondern konsequent und konzentriert nur um sich selbst kreisen. Menschen, die durch Materie beruhigt und durch Moral beunruhigt werden, weshalb sie die eine häufen und auf die andere verzichten. Menschen, die das Worte Güte mit einem „r“ am Ende buchstabieren. Menschen, die so besonders harmonisch wirken, weil ihr ausgeprägtester Zug die Gleichgültigkeit ist. Solche Menschen üben das Totsein, …virtuos. Und darum sind sie unösterlich. Auferstehung als wirklich menschliche Erfahrung bleibt ihnen vollkommen fremd.
Anders als dem ersten armen Jünger. Dem glühend begeisterten, eiskalt von der Angst erwischten, nachtschwarz verzweifelten, puterrot von Scham übergossenen Petrus. Der hatte in wenigen Tagen so viele Zustände der Seele, so viel Aufschwung und Enttäuschung, so viel Ehrlichkeit und Selbstbetrug, so viel Eifer, so viel Scheitern durchlaufen, dass es kaum auszudenken ist. Die Wechselbäder zwischen Gewissheit und Nihilismus, die nicht zu verwindende Spannung zwischen Treue bis zum Tod und Lüge für sein sinnloses Leben sind in der Brust des Fischers aus Kapernaum wie in einem Reaktor eingekesselt. Petrus droht die Kernschmelze. … Darum hat er unbewusst aufs Abschalten gedrängt. … Ist im Abklingbecken des Sees Tiberias, um dort das, was ihn zerreißen muss, in den langsamen Strom des Alltäglichen zu tauchen, bis es irgendwann abkühlt und aufhört: Dann wird jene plötzlich unterbrochene extreme Energie, die Jesus war, ausgebrannt haben. Und als menschliches Wrack, als ein Tschernobyl, in dem einst eine Hoffnung, eine Hingabe an die Herrlichkeit loderte, die nun für immer eingesargt bleiben wird, will Petrus selbst zuende-, ja zugrundgehen. Wie der Herr! … Der noch einmal aufflackerte, als die verwirrten Frauen ihn nachglühen sahen, als sie behauptet hatten, er leuchte heller denn je und werde nie mehr verlöschen. … Dabei war er doch verpufft! Und Petrus hatte selber, noch vor der letzten Verfinsterung die Verbindung zu ihm gekappt, als er an dem verfluchten Feuer im Hof des Hohenpriesters stand und Jesus nicht gekannt haben wollte. Was für eine unaufhaltsame Kettenreaktion, was für eine Spaltung im Seelenkern! …..
……. Und da steht Er!
Es durchzuckt Petrus bis ins Mark. Es läuft wie der Blitz durch ihn durch. Es zündet wieder … und es brennt! …, weil Auferstehung eben nicht alles unter sich begräbt und das Vergangene durch die Auferstehung eben nicht vergangen ist, sondern weil alles wieder gegenwärtig wird. … Das hat Thomas am Leib des Herrn erfahren wollen. … Und Petrus muss es am eigenen Leib erfahren: Dass der Auferstandene kein anderer, sondern der Gleiche ist. … Den er, Petrus verleugnet hatte.
Für die Dauer eines Frühstücks konnte der erste Jünger damals in der Morgenstunde am heimischen See sich noch einbilden, das Gewesene sei nun das Vergessene. Glücklich wie ein Kind am ersten Ferientag, das alle Erinnerungen an die Schule ausradiert hat, stürzte er sich ins funkelnde Wasser, dem Herrn entgegen, der im Sonnenaufgang am Ufer stand (vgl.Joh.21,4-7). … „Juhu! Alles neu, endlos frei…“
… Dabei hätte er doch eigentlich rasch merken müssen, dass hier das wirkliche und das ganze Leben wiederkehrte: Der Herr, der aus dem Reich des Todes kam, hatte die Fischer ja begrüßt mit dem unnachahmlich herzhaft-konkreten Ruf: „Kinder, habt ihr nichts zu essen?“ – So spricht weder ein Gespenst, noch ein ins Ätherische Entrückter, ein Idee-Gewordener. So spricht der Lebendige. Der jeden Atemzug teilt und Der ewige Zukunft hat und Der dabei Derselbe ist, Der Er war: Der Österliche hat also auch Vergangenheit, denn in Ihm verbinden sich die Ewigkeit mit der Geschichte; in Ihm berührt das Gestern das Grenzenlose.
… Nichts ist vorbei.
… Und wie durchrieselt es da den Petrus, in dem sich alles anfühlte, als werde der Schmerz seiner Schuld, als werde seine Scham noch ewig tödlich weiterstrahlen, auch wenn Jesu lebendige Wärme längst verlosch! … Es geht ihm durch und durch, dass mit der unfassbaren, der unendlichen Kraft des Auferstehungslebens nun doch auch das bisher schon gelebte Leben, das erlittene Leid, die verschuldete Schuld, die vertanen Taten wieder durchpulst und durchströmt werden von der Gegenwart Jesu. … Nichts ist vorbei. …
… Konnte das größte Wunder der Welt denn nicht auch den tiefsten Schnitt mit sich bringen? Konnte mit dem, was der Endlichkeit ergreifend folgte, nicht doch auch alles Vorherige endgültig abgelegt sein?
…Warum auf das Gewesene zurückkommen? Warum die alten Wunden aufreißen? Warum nicht radikal anders anfangen: Alle Verbindungen durchtrennen und jeden Zusammenhang mit Früherem sprengen? … ———
Wenn wir ehrlich sind, wissen wir die Antwort:
Wenn wir die Vergangenheit verscharren, hoffend, im Grab werde sie schweigen, dann heult sie zur Geisterstunde unüberhörbar … und alle Stunden, die noch folgen, bleiben Mitternacht! Wenn wir unsere Fehler und Schmerzen, unser Gewissen und unsere Gemeinheit einfach abspalten und meinen, dann verlören sie sich schon, dann verfolgen sie uns erst richtig, wachsen und verformen sich in jeder Nervenbahn und jedem Bett eines Gedankenflusses, bis wir von den toxischen Altlasten vergiftet sind und nichts mehr gedeihen kann. Wir können Schuld und Erfahrungen nicht verleugnen, wie Petrus Jesus verleugnete. Wir können es nicht dabei belassen, dass das letzte Wort, wenn wir auf unsere Überzeugungen und Entscheidungen angesprochen werden, wie Petrus nachts im Hof, seine Antwort bleibt: „Ich bin’s nicht“ (vgl.Joh.18,17+25).
… Gefragt, wer wir sind und waren, was wir taten, was wir wollen, müssen wir den herrlichen Namen Gottes als unsere eigene Antwort auf die Frage nach unserm Persönlichsten zu nennen lernen: „Ich bin’s“ (vgl. 2.Mose 3,14 / Joh.18,5)! ———
Was die Verdrängung, was die Leugnung der Vergangenheit für katastrophale Folgen hat, was unterbliebene Wahrhaftigkeit und unterbliebene Haftung im Blick auf die Vergangenheit bedeuten, das zeigt uns die Welt in diesen Tag schrecklich deutlich.
Je mehr ich lese[i] und meine Unkenntnis ein wenig korrigiere, desto klarer wird mir, dass wir Zeugen eines riesigen Gespensterkrieges werden: Die Wiederkehr der verdrängten unglaublichen Verbrechen des sowjetischen Russland, die Wiederkehr der entmenschlichenden Brutalität des Kommunismus, die Wiederkehr des Stalin’sche Völkermords an den Ukrainern sind mindestens so treibende Kräfte im gegenwärtigen Albtraum wie die Phantomschmerzen eines zerbrochenen Imperiums oder die Pläne und Fehler, die die Nato zu verantworten hat. … Quälgeister von vor hundert Jahren gehen um. Untote Mörder morden; verleugnetes Blutvergießen fordert Blutzoll. Das Nie-Bekannte drängt ins Scheinwerferlicht. Die tückisch geleugnete Gewalt von vorgestern vergegenwärtigt sich rücksichtlos im Heute.
Darum muss das Evangelium – das Evangelium! – enden, wie es endet: Indem es nichts in der Vergangenheit begraben sein lässt!
… Das nämlich ist keine Drohung. Kein unnötiges Festbeißen an dem, was niemand mehr wissen will oder zu bekennen bräuchte. Sondern umgekehrt: Es ist Befreiung. Lösung vom Fluch, den nur lebendiges Ansprechen und Angesprochen-Werden brechen kann.
Nur dies eben – dass nach der Auferstehung tatsächlich nichts einfach vorbei ist – , … nur dies macht’s möglich, dass schließlich alles wirklich gerichtet, alles wirklich geheilt, alles wirklich gerettet werden kann: Vergangenes, Jetziges und die ganze Zukunft! ——
Wie diese Rettung aussieht, das hat Petrus erlebt, als die plötzliche Gegenwart des Auferstandenen in ihm wieder alle Erinnerungen und Gefühle, alle widerstreitenden Kräfte wie in einem gewaltigen Reaktor in Umlauf setzte.
Am liebsten wäre er vermutlich wieder geflohen, als sein von ihm verlassener, umgekehrt ihm aber in Tod und neuem Leben treugebliebener Herr ihn nach dem Frühstück beiseite nahm.
Doch dieses Mal konnte er sich nicht entziehen. Dieses Mal sollte Petrus - wieder an einem Kohlenfeuer wie in jenem schrecklichen Hof in der Karfreitagsnacht - durch den innersten und unauslöschlichen Glutkern der Verbundenheit mit Jesus transformiert werden.
Er sollte sich weder in Notlagen noch im Glückstaumel je wieder abschneiden von Jesus, sondern die Glut zulassen, die seine Vergangenheit und seine Zukunft, seine negativen und seine positiven Pole verschmelzen würde.
Und es ist ganz einfach.
Keine Vorwürfe.
Kein Verhör.
Keine Methode.
Jesus fragt Petrus gar nichts Theoretisches.
Kein: „Siehst Du’s ein? -… Bereust Du? … Versprichst Du Änderung, gelobst Du Besserung?“
– … Sondern einfach ins Zentrum. Da, wo das Herz schlägt:
„Hast Du mich lieb?“
Eine Frage, die, wenn sie beantwortet wird, über zwei Menschen Auskunft gibt. Eine Frage, die das Ich und das Du klärt.
Eine Frage, der Petrus, der Jesus-Verleugner, der dabei sich selbst verleugnet hatte, nicht ausweichen kann, obwohl sie Scham weckt über das Vergangene.
„Hast du mich lieb?“
Eine Frage, der Petrus, der für sich den toten Jesus unter seinem Alltag begraben wollte, nicht ausweichen kann, weil sie so trivial oder so pathetisch, auf alle Fälle aber so emotional ist, dass sie das Alltägliche verdunsten macht.
„Hast du mich lieb?“
Eine Frage, der Petrus, der sich scheut und schämt, doch schon beim ersten, beim zweiten, auch beim dritten Mal nicht anders als ehrlich antworten kann.
Sein Versagen – scheinbar völliger Widerspruch zur Liebe, die man sich gern heroisch, opferbereit, grenzenlos hingabefähig denkt – sein Versagen hat nichts geändert an der unauflöslichen Verbindung mit Jesus: … Sein „Ich bin’s nicht“, sein „Ich liebe nicht“ war die Lüge. Nicht seine Antwort vor dem Auferstandenen!
Und genauso wenig wie das, was da war, kann das, was ihm gerade noch am geheuersten wäre – dieser Versuch, nun ein Leben der Vergangenheitsverdrängung zu führen – ihn von Jesus trennen. Mit dem, was war, wird auch was ist und wird, immer mit Jesus verbunden sein.
… Auch nach Jesu eigener Vorstellung. Denn Er nimmt Petrus mit dem, was hinter ihm, wie mit dem, was vor ihm liegt, in die größte Gemeinsamkeit auf, die sich denken lässt: Der gute Hirt, der Auferstandene will, dass der gefallene und weggelaufene Petrus sein Mithirte wird.
„Weide andere! Leite meine Menschen! Sorge für die Kirche!“ ———
Nun müsste nach der unsystematischen, untheoretischen, aber zutiefst therapeutischen Frage, ob Petrus sich trotz aller Widersprüche denn angesichts des Geschehenen wie des Gegenwärtigen und des Kommenden einfach ein Herz fassen und die Liebe wahrhaben will, etwas Praktisches folgen:
… Wenn hier das Hirtenamt allgemein oder das besondere Petrusamt, wenn hier die Verantwortung eines Bischofs für die Herde oder eines Erzapostels für die künftigen Generationen im Mittelpunkt stünde, dann müsste man jetzt Anweisungen zur Leitungsdisziplin erwarten.
Doch das Einzige, was Jesus dem Petrus, der liebt – der wieder liebt und weiter liebt und in Wahrheit auch immer geliebt hat – mitgibt, ist kein Führungsauftrag, sondern die Aussicht des Geführt-Werdens, … bis ins Alter, bis in die Widersprüche der unselbständig werdenden Hilfsbedürftigkeit eines gebrechlichen Hirten.
Immer wieder also Unaufgelöstes, Gegensätzliches und Unerwartetes.
So wie das Leben.
Und das Sterben.
Und das Auferstehen.
Die Liebe, die das alles zusammenhält, hat nämlich weder eine Theorie, noch eine festumrissene Praxis. Was sie ist und tut, das ist schlicht, sich zu verzehren nach und immer wieder neu entzünden zu lassen von Jesus.
Sie ist die Reaktion, die nie zuendegehende Reaktion darauf, dass dieser Jesu war und ist und bleibt, weil Vergangenheit und Tod Ihn nicht überwältigen und auch die fernste Ewigkeit Ihn nicht entrücken wird.
Dieser Jesus lebt.
Das ist alles, was wir mit Petrus zusammen erfahren.
Und alles, was wir brauchen. ———
Sagen wir es einmal so nüchtern wie es auch damals war, als Petrus das erste Frühstück mit dem Auferstandenen geteilt hatte und als Verheißung für seine Liebe bloß erfuhr, welchen Todes er sterben würde:
Wir, die wir zu Zeugen des bleibenden Grauens einer nicht-vergangenen Vergangenheit werden, … wir wissen nicht, was die Zukunft auf dieser Erde noch sein mag. Wir wissen nicht, ob nicht – Gott behüte! – die Menschheit in diesem Jahr ein letztes Mal Ostern gefeiert haben könnte. Wir wissen nicht, was dem Ende nahe ist. Und wissen nicht, was noch kommen könnte.
Aber wenn die Auferstehung bedeutet, dass nichts vorbei ist, … wenn die Auferstehung bedeutet, dass auch wir den Auferstandenen lieben dürfen - trotz allem! - … und wenn dieser Auferstandene auch uns im Leben und im Tod österlich nahe war und ist und sein wird, dann endet mit seiner Frage an Petrus und an uns, das Fragen.
… Lieben wir Ihn?
… Dann ist das die Auferstehung. Und das Leben!
Amen.
[i] Pflichtlektüre bei Interesse: Anne Applebaum, Red Famine: Stalin’s War on Ukraine (London [Penguin UK], 2018).
Ostersonntag, 17.04.2022, Stadtkirche, Markus 16, 1 - 8, Jonas Marquardt
Predigt[i] Kaiserswerth Tag der Auferstehung des Herrn - 17.IV.2022
Markus 16, 1-8
Liebe Gemeinde!
Ostern, … wo man endlich das Passions- und kriegswochenlang aufgestaute, spontane, erst glucksende, dann lautstarke, befreite, für immer ungezwungene Lachen der Erlösten (vgl. Ps.126,2!) anstimmen will, ……. Ostern: … Und nun just Markus!
… Der Evangelist Markus - sparsam wie ein Schwabe, ernst wie ein Westfale, wortkarg wie ein Mecklenburger –, der in seiner staubigen Nüchternheit bloß drei Verse eines rätselhaft spröden Osterberichtes braucht, um die Welt zu beschreiben, die jetzt endet.
…Und nicht einmal das macht er mit großem theologischem Pathos oder investigativen Schock-Methoden. Nichts haut er uns um die Ohren, durch nichts erzwingt er unsere Selbsterkenntnis, nirgends stößt er Nasen drauf. Überhaupt streicht er aus der trockenen, unterkühlten österlichen Skizze seines Evangeliums alles Sensationelle: Kein Erdbeben (vgl. Matth.28,2) keinen Blitz (vgl. Matth.28,3), keinen menschlichen Marathon zum Tatort (vgl. Joh.20,4), keinen himmlischen Kraftakt (vgl. Matth.28,2) schildert er. Aber dennoch geraten in seinem unvergleichlich lakonischen Protokoll dessen, was das umstürzendste Ereignis der Menschheitsgeschichte ist und bleibt, die Pfeiler unseres Daseins, das Gerüst unserer Welt ins Wanken! … Weil sie plötzlich, ohne weiteren Kommentar, unbemerkt einfach gegenstandslos werden.
Welche es sind? – Das Rechnen mit der Zeit, … das Geld, … die Sorgen.
Diese drei Faktoren, diese drei Umstände, die das Tun der drei Frauen formen, ehe sie die Auferweckung erfahren, schildert Markus so selbstverständlich wie sie uns sonst ja auch er-scheinen:
Erst, so berichtet er, musste der Sabbat vorüber sein, d.h. die akribische Kalkulation und Einteilung der vergehenden Zeit musste man exakt eingehalten haben, bevor die Begegnung mit dem Wunder anfangen sollte, das die Vergänglichkeit außer Kraft setzen würde.
Dann streift ausgerechnet dieses Evangelium von Ostern ganz beiläufig die prosaischste Bedingung unseres Lebens und alles dessen, was folgt: Vor Sonnenaufgang noch waren nämlich die Frauen schon beim Krämer gewesen, waren Trauernde zu Kundinnen geworden, haben klingende Münzen die Hände gewechselt. Es wurde also ver- und gekauft, ehe die Begegnung mit dem Gut stattfinden konnte, das mit Gold nicht aufzuwiegen wäre.
Und drittens, so weiß es Markus ganz nüchtern und natürlich, … drittens waren die Magdalena, die Mutter des Jakobus - damit vermutlich die Tante Jesu - und die Frau mit dem schönen Namen des Friedens, Salome tief von Sorgen beunruhigt: „Wie lässt sich das Quadrat entzirkeln? Wer rollt den Stein vom Grab?“, so plagten sie sich kurz bevor ihnen das gesagt werden konnte, was alle Plage, Angst und Sorge ein für allemal absurd machen würde. ——
Das also sind die drei Schicksalsmächte, an denen für uns alles zu liegen scheint, die am Morgen der Auferstehung jeden Grund, jedes Gewicht und jeden Ernst einbüßen müssen: Frau Sorge, „die graue, verschleierte Frau“ - wie der Dichter[ii] sie nennt -, der ungerechte Mammon und die unerbittliche Parze „Zeit“.
…Und hinter und über diesen Dreien steht natürlich eigentlich der ewig gleiche Beherrscher und Zerstörer aller Dinge: Der Tod. …
Doch plötzlich sind sie alle nicht mehr ausschlaggebend: Die Uhr und das Portemonnaie und die Panik.
Plötzlich sind sie vorbei ……..
Vielleicht muss man es nach Art dieses irritierenden Dreiklangs sagen, um endlich wieder einmal zu hören, was die viel zu gewohnte, aber auch viel zu wenig bedachte Botschaft dieses Morgens vom besiegten Tod ist.
Dass Ostern dem Tod die Macht genommen hat, das behauptet man nicht nur zeit unseres Lebens, sondern seit Jahrtausenden.
… Trotzdem aber ist nach unserer Erfahrung der Tod so schrecklich real, so kräftig und munter, so ungebremst vital und aktiv, so täuschend lebensecht unterwegs, dass alles, alles immer noch ihm zu dienen bereit scheint: Alles, was Menschen tun, was sie schaffen, woran sie sich klammern, wodurch sie Glück erhoffen, … alles zahlt ein auf’s Konto des per Klima, Krieg und Krise expandierenden Todes.
Dass der Tod entmachtet sei, glauben wir darum kaum.
… Doch wieviel kritischer, wieviel skeptischer noch reagierten wir wohl, wenn wir dem sarkastisch wirkenden, aber wahrhaftig keine Witze machenden Markus Gehör schenkten: Hintergründig entlarvt er mit seinen neutralen Erwähnungen des ungeduldig abgepassten Sabbatendes, des endlich wieder alltäglichen Geschäftsbetriebes und des nur allzu verständlichen Pessimismus der Frauen, die keine Steinmetze sind, wie schlecht wir uns in eine Osterwelt hineinfinden würden, wenn wir es überhaupt je versuchen wollten. Denn das alles sind Dinge, die wir uns ja nicht nehmen lassen würden: Zeiteinteilen, Geldhorten, Pläneschmieden, … das geben wird doch nicht ernsthaft auf! Das kann ja wohl niemand verlangen! Zeit ist schließlich Geld. Geld ist Sicherheit. Und Vorsorge für Sicherheit beizeiten ist Weisheit!
… Markus beliebt demnach zu scherzen?!
… O nein! – Bewahre! – Markus, der westfälische Schwabe aus Mecklenburg scherzt nie!
… Er ist bloß - vielleicht - ein ganz subtiler Satiriker! Denn bei wiederholtem Nachdenken über seine unkomische Osterminiatur beschleicht uns allmählich der ungemütliche Verdacht, es könnte unser Auferstehungsglaube womöglich nicht an der ungebrochenen Vorherrschaft des Todes scheitern, sondern an unsrer Unfähigkeit und Unwilligkeit, unsern Todesglauben und dessen praktischen Auswirkungen auf unser Leben aufzugeben.
Was, wenn wir alle wie die drei Frauen, denen der Bote des Auferstandenen begegnet ist, … denen er den Ort zeigte, an dem sich kein Gekreuzigter und Begrabener mehr findet, … denen er eine Wegweisung gab ins Leben, in dem sie Jesus von Nazareth selber lebendig und wirklich sehen werden, … was also, wenn wir wie diese drei Frauen einfach zu überfordert wären, den Tod vergangen sein zu lassen? Ihr Zittern, ihr Entsetzen kann man wahrhaftig ja verstehen, wenn sie plötzlich endlos ohne alles das weiterleben sollen, was noch am frühen Sonntagmorgen für sie völlig normal (wenn auch tragisch), vollkommen gewohnt (wenn auch jammervoll), tief vertraut (wenn auch herzzerreißend) war.
Wenn all die Orientierung, die Schutzmaßnahmen, die eigenen Anstrengungen, die sie eben noch kannten, plötzlich gar nicht mehr zur neuen Wirklichkeit passen?
Wenn ihr Zeitsystem –„Wird sein / ist und / war“ – gar nichts mehr sinnvoll einordnet, weil der Vergangene nicht hinter ihnen, sondern vor ihnen zu finden sein soll?
Wenn ihr Erspartes ihnen nichts mehr verschaffen kann, weil man jetzt immer einfach nehmen soll, ohne vorher irgendetwas zu geben?
Wenn die Gedanken, die man sich macht - auch die verrücktesten, auch die vernünftigsten -, nur noch Quatsch sind, weil alles auf einmal nur noch Wunder ist und bleibt?
Kann man in einer solchen Welt ohne Maß, ohne Leistung, ohne Logik klarkommen?
… Magdalena, los sprich! Tante Marie, was meinst du? Salome, verstumm’ doch nicht bloß!
Doch sie sagten niemand etwas, denn sie fürchteten sich. ……. ————
Tja. …………
Und doch sind wir heute hier!
Die Osterbotschaft, selbst in ihrer stocknüchternen Markus-Form ist zwar total verwirrend, ist schwindelerregend, macht einen benommen und wackelig, so dass man sich wie an einem verfrühten Pfingsttag schon am Morgen beinah beschwipst fühlt und nicht weiß, ob man nicht besser wirklich noch einmal zurück in die Federn oder hinter die Grabfelsen gehen und den Rausch ausschlafen und erst wieder wach werden sollte, wenn man zuverlässig sagen kann, was die Stunde geschlagen hat und wieviel Geld wir brauchen und noch haben und was wir wohl anstellen können, um einigermaßen unbeschadet durch die argen, trüben Zeiten zu kommen, die nun einmal herrschen …
Dieses Ostern, diese Auferweckung, diese ganze andere, ganze neue, ganze freie Wirklichkeit ohne den guten alten Tod und die gute alte Zeit und die gute alte Materie und die gute alte Vernunft, … das ist zu viel, … zu kraus, … zu irre!
Lieber stillhalten. Schweigend fliehen vor dem leeren Grab. …..
Und doch sind wir heute hier!
… Und auch wenn er immer noch so aus dem etwas faden, etwas humorlosen Gesicht guckt, als könne er kein Wässerchen trüben und gehe zum Lachen in das Tal Gehinnom, wo in Jerusalem bekanntlich der Eingang zur Unterwelt ist, dämmert es uns endlich vielleicht doch, dass der Evangelist Markus und sein Evangelium einen schier unergründlichen, einen nie dagewesenen, … einen Ur-Witz haben, an den kein Komiker und auch kein Philosoph der Weltgeschichte je herankam und -kommt. Der Evangelist Markus hat nämlich diesen Mutter-Witz, nein: Vater-Witz, Sohn-Witz, Heiliger-Geist-Witz, dass er wirklich als Erster etwas weitergegeben hat, das alle Welt völlig überfordert, … das niemand sonst zu sagen oder festzuhalten wagte, weil es so unglaublich, so aberwitzig ist, dass jeder, der es ahnt, lieber den Schnabel hält, als dazustehen wie ein Idiot.
Doch eben das macht dem Markus gar nichts. Trotz seines nachweislichen, extrem sachlichen Verständnisses für die völlige Unverständlichkeit als die eigentliche Pointe des ganzen Evangeliums – eine Pointe, die Markus immer wieder vorbereitet, weil alle großen Wunder und Taten Jesu bei ihm von einem strengen Schweigegebot gefolgt werden – … trotz seines Bewusstseins also, dass niemand jemals angemessen in Worte und Verständnis fassen kann, was Gott in Jesus und an Ihm getan hat, hat Markus daraus eine unspektakuläre und nicht-spekulative kleine Schrift gemacht. So dass alle Welt es schwarz auf weiß hat, dass keine der immer noch ernstgenommenen Kategorien und auch kein kategorischer Ernst mehr letzte Gültigkeit besitzt. … Und wenn man es auch noch so schwer begreifen kann, … wenn es auch noch so verunsichernd ist, dass nichts mehr die Menschheit total verunsichern kann - was für ein irrwitziger Gag! -, so hat Markus es doch in seiner überhaupt nicht reißerischen Art schlicht notiert:
Auch wenn das Uhrwerk der Welt weiter tickt, … auch wenn die Leute rechnen und raffen und auch wenn sie schließlich klüger sein wollen, als der Zufall oder die Fügung, so ist das alles trotzdem ein Abarbeiten an Phänomenen und ein Kalkulieren mit Größen, die passé sind! Denn der Garant der Zeit - die Endlichkeit! - und das Motiv aller Geschäfte - die Verlustangst! - und der Motor unserer Weisheit - die Abwehr von Todesgefahren! - …: Sie alle haben keinen Bürgen mehr. Der Tod kann nicht mehr vorgaukeln, nur jetzt dies’ Leben sei der Güter höchstes und jede Sorge, jede Schweinerei sei’s wert! … Irrtum! … Die Wirklichkeit ist eine völlig andere geworden! … Und deshalb sind wir doch heute hier ……. ————
Aber noch immer hör’ ich kein Lachen, seh’ noch nicht einmal ein leises Schmunzeln.
Noch immer die rat- und hilflosen, schockierten, leeren Gesichter der beiden Marias und der Salome, … die Gesichter von Nadeshda und Ljuba, die Gesichter von Natalja und Nastassja, von Oksana, Sofija[iii] und Darja, die so voller Schmerzen und gefrorener Tränen sind, die so Furchtbares gesehen haben und so ergebnislos suchen, was das Leben wieder hell machen könnte.
… Und dann weiß ja auch ich es: Die nächsten Wochen werden das Totenfeld der Ukraine so schrecklich umpflügen bei der gottlosen „Oster-Offensive“, die bevorsteht, … so viele mehr werden dort weiter viel zu früh gesät werden verweslich (vgl.1.Kor.15,42), … so furchtbare Zeiten kündigen sich überall auf Erden - auch dank unserer eigenen Trägheit und Unbelehrbarkeit! - an, … so schwarz ist die Zukunft, so groß sind die kommenden Nöte, so schwer wird das Leben: Also schweigen, wie die drei Frauen?! Zurück zur bleiernen Zeit, zum Blutgeld, zu den schlaf- und verstandraubenden Sorgen?! …………
– … Markus?
… Er verzieht keine Miene.
… Immer noch so streng, so karg und so ernst wie wir ihn kennen. Wie unser Leben in dieser Zeit. Wie unsere Pflicht, mit dem Leben, mit der Zeit und der Welt - soweit sie uns Menschen und unserer Verantwortung überlassen sind - gewissenhaft und gerecht und klug umzugehen.
Aber Markus hat dennoch das Evangelium verfasst! … Obwohl es über unser Verständnis und unsere Verantwortlichkeit weit hinausgeht, dass Gott da allen Mächten die Macht genommen, alle Vernichtung vernichtet, alles Unheil geheilt, alles Endgültige umgekehrt und alles Schreckliche gut gemacht hat.
Der sterbenslangweilige, leichenbittere, todernste Evangelist Markus hat’s einfach nicht dabei lassen können, dass wir Frauen und Männer und Kinder so wenig verstehen und aussprechen können von dem, was die letzte, die größte und bleibende Wahrheit, … vor allem aber die fröhlichste Wahrheit ist: Dass mit dem Leben und dem Tod nicht nur wir Menschen alleine befasst, behaftet und belastet sind.
Dass außerhalb und jenseits unseres ernsten Verantwortungsbereiches, in dem wir immer noch damit rechnen müssen, wie Vieles und wie Viele dem entmachteten Tod an-hängen und verfallen, Gott ein Neues geschaffen hat, als Er Jesus auferweckte mitten in der Welt!
Das ist so unendlich wunderbar, … so viel höher, so viel tiefer, so viel ernster, aber auch so viel heiterer als alles, was wir sonst sehen, sagen und suchen könnten, dass es viel-leicht wirklich nur ein so völlig nüchterner Zeitgenosse wie Markus schaffen konnte, das festzuhalten.
Ihm war es nicht zu irre, zu idiotisch, zu lächerlich.
Sondern ernst!
Und das ist es.
So ernst wie die Welt.
Und genau deshalb braucht es den stoischen Mut des Markus, es weiterzusagen: Nicht trotz des Krieges und Sterbens in der Ukraine, sondern wegen dieses Krieges! Nicht trotz der drohenden Zerstörung noch weit größerer Länder und Lebensräume, sondern wegen dieser Gefahr. Nicht trotz des Leidens, das der Tod noch immer entfacht, son-dern genau deswegen!
Die Zeit des Todes - also auch unsere Zeit - vergeht nämlich. Und sein Geschäft und alle, die mit ihm Profit machen, werden schließlich doch bankrottgehen wie Russland. Wie tiefbesorgt auch immer uns die Wirklichkeit darum also noch macht: Nicht, was wir vorhersehen, sondern die Überraschung durch Gott ist doch das einzig Sichere an dieser Welt.
Weshalb das anhaltende Schweigen der drei Frauen und das Chaos unserer Gegenwart und der Rest unseres Lebens alles zusammen nur eine einzige Zeitlupe ist, in der es sich kaum merklich vorbereitet und ankündigt, wozu das alles endlich werden soll:
Überhaupt kein Scherz, keine Satire, sondern der leise, lösende, lebenspendende Witz im Sinne von Geistesblitz, den Markus als Erster weitergesagt hat - weshalb wir heute hier sind -, und über den wir lachen werden als die Erlösten bis in Ewigkeit:
„Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden. Er ist nicht hier! Geht und ihr werdet ihn sehen, wie er gesagt hat!“
Kein Scherz also. … Aber zum Lachen!
Amen.
[i] Die Predigt mutet zu, dreimal in die Ratlosigkeit und den Zweifel zu führen, so wie jede der drei ersten Zeuginnen des Ostertages schließlich in das geriet, was wir hochtrabend eine „Aporie“ nennen … was aber schlicht beschreibt, dass wir nicht verstehen, fassen und glauben können, wovon der Evangelist dennoch schreibt und was in unserer Begegnung mit dem Evangelium dennoch geschieht und sich selber durchsetzt: Die Gegenwart Jesu Christi, des Auferweckten.
[ii] So beginnt das titelgebende Gedicht, das Hermann Sudermann 1887 seinen Eltern zur Silberhochzeit widmete und seinem Roman „Frau Sorge“ voranstellte.
[iii] Dass so viele der Namen, deren Trägerinnen auf der Flucht aus der Ukraine jetzt unter uns Aufnahme finden sollen, eine ganze Predigt im Kern enthalten – „Hoffnung“ und „Liebe“, die „Weihnachtliche“, die „Österliche“, „die Gastfreundliche“, die „Weisheit (Gottes)“ bedeuten die ersten sechs hier willkürlich aufgegriffenen Namen – , ist eine sprechende Botschaft davon, wie sehr das Christentum getroffen und gefordert ist, einer Katastrophe in seinen eigenen Reihen mit Widerstand und Klarheit zu begegnen, die immerhin von einem „Kirchenoberhaupt“, dem Pseudo-Patriarachen von Moskau salbungsvoll und mörderisch unterstützt wird. Die Nüchternheit des Markus ist eine existentielle Tugend gerade auch wo Glaube und Politik sich berühren!
Osternacht, 16./17.04.2022, Joh.20,19-21, Stadtkirche, Dr. Sascha Flüchter
Die Predigt in der Osternacht 2022 in der Stadtkirche Kaiserswerth kann man auf der Webseite von Dr. Sascha Flüchter nachlesen.
Karfreitag, 15.04.2022, Stadtkirche, Lukas 23, 32 - 49, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag - 15.IV.2022
Lukas 23, 32-49
Liebe Gemeinde!
Heute auf Golgatha haben wir nur einen Wunsch: Dass hier, in diesem furchtbaren Geschehen, in dieser Zeit des Furchtbaren nicht bloß ein weiterer brutaler Mord hinzukommt.
Wir haben heute auf Golgatha die tiefe, widersinnige erscheinende, aber von der Kirche seit Jahrtausenden genährte Hoffnung, dass aus dem Schrecken dieses Tages, der am Mittag schon zur Nacht wird, ein neuer Morgen dämmert; dass aus den Wunden, die wir sehen, Heilung wächst; dass aus den Tränen Lieder werden und dass der Welt im wartenden Grab unseres Gekreuzigten eine Geburt bevorsteht.
Auf Golgatha soll heute Gutes werden, denn Schlimmes gibt es schon so viel. —
Diese Hoffnung auf die Hinrichtungsstätte, diese Wünsche der Welt an einen wehrlosen Märtyrer, dieser Traum, der sich an einen Verfluchten klammert, sind das Geheimnis des Glaubens. Wenn wir sie nicht mehr teilten, dann hätte der Übeltäter, der neben Jesus litt und der ihn lästerte, den Nerv für immer getroffen: Jesus, der Hilflose wäre das Schlussbild einer makaber dünnen Biographie aus der Antike. Man müsste sie ernüchtert und verbittert zusammenrollen und in den Ofen werfen. … Geplatzte Illusion. Sinnloses Experiment. Allerweltsirrtum!
… Wenn Golgatha Golgatha bleibt, dann liegt das Finale der Weltgeschichte hinter uns. Dann ist Tod das Ziel und Mord der Weg. …………
Wenn aber das Evangelium Recht hat, … diese Nachricht, die Markus, dann Matthäus, Johannes und schließlich auch Lukas, der Heide aus dem Erleben und den Predigten derer schöpften, die den Karfreitag nicht aushalten konnten, dann aber Ostern fassen sollten und schließlich noch fünfzig Tage bis Pfingsten brauchten, um aus der Sprachlosigkeit in’s Wort zurück zu finden, … wenn also das Evangelium Recht hat, dass wir das Leben Jesu nicht wegwerfen müssen, weil es nicht weggeworfen blieb, dann ist es nicht vergebens, dass wir heute hier um Golgatha versammelt sind, … dass wir der Vollstreckung eines Todesurteils beiwohnen und dass wir uns in jeder Hinsicht so verhalten, wie man sich eigentlich nicht verhalten darf und doch gerade in diesem entsetzlichen Jahr seit mehr als fünfzig Tagen verhält: Als tatenlose Zuschauer des Tötens.
Wenn das Evangelium Recht hat, ist es nicht vergebens, sondern es wird uns Vergebung bringen, dass wir nach Golgatha schauen! ——
Es ist nicht vergebens, … aber auch nicht umsonst!
Diesen Gedanken, dass wir nun tatsächlich nicht ohne begründete Hoffnung dem Todeskampf und Sterben Jesu folgen werden, dass wir das aber auch nicht auf’s Geratewohl, dass wir es nicht einfach ohne alle Voraussetzungen tun können, … diesen Gedanken wollen wir weiter entfalten.
Die ersten Zeugen wussten nicht, was auf Golgatha anderes als sinnloses Sterben zu er-warten sein sollte.
Einige von ihnen wickelten dieses zynische Schauspiel als bezahlte Kräfte immer wieder ab oder waren durch ihren Dienst dazu gezwungen. Manche trieb die sadistische Erregung, die leider allzu viele kennen, sich an extremen Schmerzen zu weiden, die, wenn wir sie an anderen sehen, ja nicht in uns wüten. Andere wieder waren aus religiöser Enttäuschung zugegen beim letzten Akt im Drama des schiffbrüchigen Messias.
Und ganz Wenige dort auf Golgatha sind aus hilfloser, bedingungsloser Liebe den grauenvollen Gang mitgegangen bis zum grauenvollen Ziel.
Die meisten Freunde Jesu allerdings, weil sie weder Mörder noch Zyniker noch Helden waren, blieben fern. Sie wollten das Scheitern, sie konnten die Ohnmacht nicht hautnah ertragen.
Von ihnen aber, die damals so ohne Haltung und ohne Hoffnung waren, ist in den Predigten und Evangelien, die sie nach Pfingsten trotz ihres tragischen Versagens weitersagen durften, die Botschaft ausgegangen - und bis zu uns gedrungen -, dass der am Kreuz Sterbende schon dort begonnen hat, Heil und Leben zu schenken!
Daher ist für uns aber statt der hoffnungslosen Verzweiflung das Evangelium selber zu unserer Voraussetzung für’s Dabeisein, zu unserem Zugang zu Golgatha geworden.
… Das bedeutet allerdings, dass wir - wenn wir vom Positiven des Kreuzestodes gehört haben - unsere eigene Negativität ausbluten lassen müssen, um aufnahmefähig zu sein für das, was da strömt; es bedeutet, dass die, die am Kreuz das Gute von Jesus erhoffen dürfen, an seinem Fuß dem Bösen in sich den finalen Abschied zu geben haben.
In der Sprache der Alten heißt das, dass Allen, die nicht ahnungslos, sondern durch das Evangelium eingeweiht den Karfreitag feiern, keine neutrale, sondern eine beteiligte Rolle dabei zufällt: Wem schon gesagt ist, was da geschieht, dem bleibt nur die Wahl, dort mit zu quälen oder mitzuleiden, dort mit zu töten oder mitgekreuzigt zu werden.
Wenn der Tod Jesu das Heil ist, auf das wir hoffen, wenn er die Rettung ist, die wir wünschen, dann führt uns nur ein Mitsterben zum Miterben, … nur Mit-Vergehen führt zum Mit-Erstehen, … nur Selbst-Aufgeben zu wahrem Neu-Leben. ——
Hart, aber wahr.
Wir selbst müssen dort am Kreuz Jesu für uns den Tod finden, um die daraus wachsende Zukunft zu gewinnen: So hat es der Lehrer des Lukas - der Völkerapostel Paulus - immer wieder eingeschärft (vgl. z.B. Rö.6,3f; Gal.6,14; 2.Kor.4,10f; Kol.3,3f; 2.Tim.2,11).
Was diese alte, uns von Natur aus höchst unwillkommene Botschaft bedeutet, will ich nicht als abstrakte Wahrheit stehen lassen. … Also muss ich es persönlich sagen.
Mein erstes denkwürdiges Kulturerlebnis als Kind war zugleich die erste Gelegenheit, bei der meine Mutter mir sagte, dass sie sich meiner schäme: Wir waren erst vor knapp drei Monaten in England angekommen, als unsere neue Nachbarin, eine herzensheitere Methodistin aus Wales, wo die Leute ein wenig sind wie in dem kitschigen Lied - „wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus“ (vgl. EG 663) - …als unsere liebenswürdige Nachbarin uns zwei Karten für die Liverpooler Philharmonie schenkte. Da mein Vater natürlich eine Sitzung hatte, durfte ich als achtjähriger Ältester mit und war geschmeichelt. Das Programm, das ein unbekannter Lockenschopf namens Simon Rattle dirigierte, war mir durch den Konzertführer schmackhaft gemacht worden: Ich freute mich auf Musik, die einen Giftzwerg und einen Ochsen schildern würde und das große Tor einer Stadt, deren Name - Kiev - mir da zum ersten Mal begegnete, ganz besonders aber auf einen Hexenofen, der auf Hühnerfüßen grotesk daher fahren sollte. Märchenhaft, majestätisch, bunt: So lernte ich durch Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ große Orchestermusik kennen. ….. Und sprach zwischen meiner Mutter und der milden Waliserin neben mir in das Schweigen vor dem Beifall einen meiner ersten englischen Sätze nachdrücklich laut aus: „I hate the Russians“ - Ich hasse die Russen! ….. Das hatte mir trotz aller traumatischen Leidenserfahrungen, trotz Plünderung, Vergewaltigung, Kindermord und Vertreibung niemand aus meiner Verwandtschaft in dieser Form, so nackt und so heillos je vorgesagt. … Das war ich: Ein Kind, in dem erzähltes Grauen und aufgewühlte Gefühle die Bremse gelöst hatten. Ein Mensch, aus dem auch angesichts des Schönen dieser Welt, unter dem Eindruck des Edlen und ja auch Erhebenden, das wir als Kultur kennen, die Menschenwirklichkeit des Bösen sprach, … des Bösen, das nicht persönlich und nicht rational, weder verstanden, noch kontrollierbar, keinesfalls geplant und keinesfalls provoziert doch schlicht und einfach da ist und sich Ausdruck verschafft. …………
Dieses Böse im Menschen, dieses Böse in der Welt, … wer es wahrnimmt, wer es in sich findet oder kennt, der kann es nach Golgatha nur mitbringen, um es dort enden zu lassen, … um es dort mit an das Kreuz zu heften, an dem aus Unrecht Recht, aus Sünde Segen wird, aus einem Verbrechen ein Verheilen und ein endloser Anfang.
Das ist zwar, seit es das Evangelium und die Paulusbriefe gibt keine neue Erkenntnis: Dass Jesu Sterben ein inklusives, ein umfassendes Sterben ist, so wie sein Leben eine Einladung ist, die das Leben aller, die das Leben der ganzen Welt in sich einlassen und aufnehmen will.
Aber wir sind vor dieser Form der grenzenlosen Vergemeinschaftung scheu geworden.
„Bringt Eure Schuld, Eure Fehler, Eure Schande und Erbärmlichkeit, Eure Finsternis, Euer Schlechtes, Euer Verderben … bringt sie, damit sie hier ein Ende finden, damit sie den Tod erleiden!“: Das ist ein Ruf, der uns mehr abschreckt, als dass er uns anzieht.
… Haben wir denn etwa so viel Verwerfliches an uns? … Und wenn Ja, wäre es denn dann nicht immer noch nur unsere Angelegenheit?
… Nun: Blicken wir uns um!
Hat die Menschheit etwa bewältigt, hat sie entschärft, was in ihr schwelt und immer wieder ausbrechen kann? Haben Fortschritt und Ethik, haben Optimismus und Naivität, haben Wunschdenken und Flucht in das Reich der unbeschränkten Verbindungen, das sich als Netz der Menschenfressertrolle herausstellt, mehr Güte als Gier geweckt, haben sie in den nunmehr langen Jahren unsrer Bequemlichkeit mehr Frieden gebracht und weniger Wahnsinn?
Der Hass ist doch so urgewaltig und so giftig ausgebrochen, er beweist so tödlich seine Macht und Ansteckungskraft, er hat die rohe Gewalt von der Leine gelassen und dadurch auch den brutalsten Selbstschutzinstinkt, er hat Stumpfes und Einschneidendes in der Psyche der Massen aufgedeckt, dass es zum Erbarmen ist. Wie scharf müssen wir alle unsere eigene Blindheit und Verstrickung angesichts einer Realität erkennen, die wir für undenkbar erklärten; wie deutlich wird auch unser verderblich-verdorbenes Wesen als solche, die sich vormachten, das Böse sei nicht mehr da und die nun alles tun würden, nur um es sich selbst vom Leib zu halten! Dass es aber nicht nur dort, sondern auch hier ist, dass es nicht nur plötzlich von Außen droht, sondern sich genauso tückisch auch in unserem Inneren versteckt und ausbreitet, das wollen wir auch jetzt nicht gerne wahrhaben.
Es ist aber so.
Ich mache es kurz. Zu Beginn des Krieges vor sechs Wochen schämte ich mich, als ich im Werk eines großen ukrainischen Schriftstellers - Jurij Andruchowytsch - vor Jahren geschriebene, klare Vorwegnahmen des heutigen Mordens las[i]. Dann erfassten mich Mitleid und Bewunderung, als vor vier Wochen der über sechzigjährige Autor in einem Interview beschrieb, warum er sich nicht in Sicherheit bringt, sondern in der Verteidigung der Freiheit etwas Größeres als seinen eigenen Lebenswunsch erblickt[ii]. Zuletzt aber hat mich Verzweiflung gepackt, als der gleiche hellsichtige, mutige, aufrechte Dichter jüngst über alle Russen mit einem so abgründigen Hass schrieb, dass es zum Fürchten war[iii].
… Das achtjährige Kind und der kluge Intellektuelle, die beide nichts Verworfenes an sich haben mögen – … und aus beiden spricht unerwartet, aber noch unmissverständlicher der blanke Hass! —
Wenn wir diesen Keim und diese Wurzel, diesen Quell und diese Flut, diesen Funken und diesen Brand des Bösen, wenn wir diese Verachtung und diese Selbstgerechtigkeit, diese Angst und diese Grausamkeit, diesen fehlerhaften Zufall und dieses mörderisch programmierte System des Menschen, wenn wir diesen Hass, der die Sünde ist (vgl.1.Joh.2,11), da wo wir ihn erleben, wo wir ihm erliegen, wo wir ihn erleiden, nicht am Kreuz Jesu Christi kreuzigen lassen, dann haben die Menschen keine Zukunft.
Damit die gefährliche, gefährdete Menschheit also Zukunft finde, muss das alles auf Golgatha sterben.
Wenn wir aber mit dem Evangelium schon im Ohr heute hier sind, … wenn wir wissen, dass es hier nicht um ein beliebiges Beispiel oder die traurige Fortsetzung und Feier der Macht des Bösen geht, sondern um dessen Überwindung, dann kann unsere Hoffnung, Tat und Bitte nur sein, dass wir unsere eigene, uns selbst vielleicht verborgene, genauso aber auch die zum Himmel schreiende sichtbare Misere des Bösen hier wirklich enden sehen. …….
Halten wir also ganz bewusst still, decken wir unsere Herzen auf, verstecken wir die uns winzig klein oder furchtbar groß erscheinenden Anteile an Härte, Kälte und Verderbnis darin nicht, sondern überlassen sie Dem, Der dort am Kreuz hängt.
Wie ein Magnet zieht Er die Splitter und die Brocken an sich.
Und wenn wir sie diese Verbindung mit dem Unschuldigen, dem Gütigen, dem Heiligen eingehen lassen, wenn wir Jesus unsere Sünde und Verlorenheit und die der ganzen Welt tragen lassen, dann bejahen wir, dass dort wirklich geschieht, was wir uns heute auf Golgatha wünschen!
Das unmenschliche Unwesen in uns und allen anderen erhält auf Golgatha den Gnadenstoß!
Und die Verheißungen, die Zusagen des an und für uns Sterbenden gehen in Erfüllung:
Dort am Kreuz geschieht die Vergebung aller uns bewussten und aller unbewussten Schuld!
Dort tut sich der Himmel auf, der Himmel voller Verbrecher, denen solche Vergebung gilt!
Und alle und alles sind wir nicht dem Verderben, sondern den Händen Gottes anbefohlen!
*******
Und so können wir auf Golgatha heute keine Wünsche mehr haben.
Nur Dank in Ewigkeit!
Amen.
[i] So endet z.B. die deutsche Übersetzung des 1993 (!) im Original erschienen Romans „Moscoviada“ von Andruchowytsch, der eine umgekehrte Göttliche Komödie im Moskau der post-sowjetischen (?) Ära schildert und folglich in der Hölle kulminiert, wo die Gespenster der kommunistischen Gewaltherrschaft von der Wiederrichtung des zerfallenen Imperiums träumen, mit den Sätzen eines Autoren-Nachwortes von 2006: „[Die imperialen Gespenster] sind viel standhafter, lebendiger, mithin überhaupt keine Gespenster. Bewaffnet mit einer Gaspipeline verfolgt Schwarzstrumpf seinen superambitionierten Plan weiter. Ich hoffe, daß er auch diesmal keine Beute macht“ (Juri Andruchowytsch, Moscoviada, Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr, Frankfurt/M 2006, S.223).
[ii] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/als-partisan-gegen-putin-interview-mit-juri-andruchowytsch-17844089.html
[iii] Vgl. den „Aufschrei“ von J. Andruchowytsch am 08.04.2022 in der FAZ, dessen Überschrift „Alles, was wir sehen, zeugt von Entmenschlichung“ die Richtung einer totalen und undifferenzierten Verallgemeinerung in seinem nunmehrigen Feindbild zu erkennen gibt: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/butscha-war-kein-zufall-plan-zur-vernichtung-der-ukraine-17942535/russlands-bevoelkerung-hat-17942610.htmlgl. Dass fatale, existentielle Bedrohung solche extreme Verrohung als (unvermeidliche?) Konsequenz des Schocks und der Todesangst bedingt, belegt das wirkliche, tragische Verhängnis des Bösen.
Gründonnerstag, 14.04.2022, Stadtkirche, 1.Korinther 10,16f; Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Gründonnerstag - 14.IV.2022
1.Korinther 10, 16f
Liebe Gemeinde!
Irgendwann war der, den wir mit seinem griechischen Namen den „Kleinen“ nennen und der auf Hebräisch „der Gefragte“ oder „der Frager“ hieß - Saul, genannt Paulus also - tatsächlich ein kleiner Fragender. Wie alle Jüngsten in Israel wird es ihm eine Zeitlang beim Passafest zugefallen sein, die Frage zu stellen: „Was unterscheidet diese Nacht - die Nacht des Passamahles - eigentlich von allen anderen Nächten?“ — Woraufhin die Alten am Tisch mit den ungesäuerten Broten und den Kelchen voller Wein ihre lange, gesungene, ausgeschmückte und mitreißende Antwort gaben, indem sie erzählten und rühmten, dass Gott Seinem Volk in dieser Nacht die Freiheit geschenkt hat.
Es sind unauslöschliche Kindheitserinnerungen jedes jüdischen Menschen, egal ob er in Nazareth oder im kleinasiatischen Tarsus, in Czernowitz in der Bukowina oder im bedeutenden aufklärerischen jüdischen Stadtteil von Lemberg geboren wurde: Alle diese Kinder haben nie vergessen können, wie die Alten mit leuchtendem Gesicht, mit echten Tränen der unmittelbaren Ergriffenheit, vor allem aber mit einer unvergleichlich ansteckenden Freude berichteten, was Gott getan hat: Vor tausend Jahren, vor zwei-, vor dreitausend Jahren so, als sei es heute geschehen! ———
Liest man das 10.Kapitel des 1.Korintherbriefes, in dem Paulus ausführlich die Erfahrungen der Generation des Exodus aus Ägypten meditiert, dann merkt man auch bei ihm diese direkte Erfahrung: Obwohl er in Korinth fast ausschließlich an Heidenchristen schreibt, die keinerlei persönliche Verbundenheit mit dem Wunder der Befreiung und den komplizierten Verlockungen der Freiheit auf dem Weg durch die Wüste verspürten, so wird doch unmissverständlich deutlich, dass der Apostel hier erzählt und summt und staunt und innerlich mitgeht wie damals, als in seinen Kindertagen der Vater, der Großvater, die rabbinischen Lehrer dem kleinen Saul nahebrachten, dass die Heilstaten Gottes keine Vergangenheitsform haben, sondern im Hier und Heute ihm ganz direkt gelten und zugutekommen.
Fast schweift er ab, indem er eine rabbinische Predigt darüber hält, wie die befreiten Sklaven aus Ägypten unter der Wolke und beim Durchzug durch das Meer getauft wurden und die geistliche Speise des Manna teilten und den Trank aus dem geistlichen Felsen, der Christus ist, genossen und wie sie das zu einem einzigen geheiligten Körper machte, zu einem Vorbild - und natürlich auch einem warnenden Beispiel - für die Gemeinde, an die er jetzt schreibt. —
Die Korinther werden sich die Augen gerieben haben bei dieser Übertragung der höchstpersönlichen jüdischen Grunderfahrung auf die griechische und kosmopolitische Versammlung, in der die Epistel des Paulus verlesen werden sollte. Ihre Vorfahren hatten vor Troja gelegen, waren einst Untertanen des Krösus in Lydien oder des Minos auf Kreta oder zogen mit den Seevölkern des östlichen Mittelmeeres auf den Odysseen der Vorzeit über das Wasser. … Ägypten und die Sklaverei, das Passa Israels und das lebendige Gedächtnis, das den Juden alle Epochen zur Gleichzeit machte, weil ihr Gott - der „ICH WERDE SEIN, DER ICH SEIN WERDE“ - immer und überall gegenwärtig ist, … das betraf doch sie nicht?!?
… Und doch hat Paulus, aus dem der kleine Saul mit den seligen Passaerinnerungen an das Essen, das Trinken, das Beten, Singen und Lachen an der erleuchteten Tafel der freien Kinder Gottes spricht, es mit ihnen geteilt. Es war seine, ihm tief eingestiftete Erfahrung der Gegenwart des rettenden Gottes an jedem Ort, in jedem Augenblick … und er teilte sie mit den Unbeteiligten, den ziemlich Gleichgültigen, den eigentlich geradezu Abwehrenden.
Bedenken wir das für einen kurzen Augenblick: Solche Horizontverschmelzung, solches Teilen von Erfahrungen, die den einen in Fleisch und Blut, ja tiefer noch als existentielle DNA in’s Seelische eingeschrieben sind, mit gänzlich außenstehenden Menschen, … solches Teilen ist immer eine Herausforderung. Was hier das Persönlichste ist, wirkt dort völlig abstrakt. Was mir das Kostbarste bedeutet, lässt jemand anderen voll-kommen kalt.
Wir haben es nach dem Krieg im eigenen Land erfahren:
Die einen - die Vertriebenen - war durchdrungen von Gefühlen des Grauens und der Sehnsucht, von Erfahrungen von Rettungen und Schmerzen, die den Einheimischen nicht nur einerlei, sondern oft auch überflüssig und lästig waren. Und dieses kalte Befremden angesichts des Innenlebens derer von Anderswo hat sich seitdem fort- und fortgesetzt: Was die Fremden im Schrein ihres Herzens hüteten, was den Geflohenen, den Wanderern, den Gastarbeitern, den Verjagten, den Kriegsopfern das einzige Licht auf ihrem Weg und die Quelle aller Hoffnungen ist, das interessiert die Sesshaften, die Zufriedenen keinen Deut.
Solches Nebeneinander aber endet am Tisch des Herrn!
… Das ist die Botschaft des Abendmahles. … Das ist seine Kraft und Verheißung.
Ja, es ist die Wirkung dieses Sakraments: Es stellt alle in eine gemeinsame, unzertrennliche Gegenwart.
Wer zum Abendmahl kommt und dort die Gaben empfängt, die nicht nur den Leib, sondern mehr noch die Seele ernähren und erhalten, den lassen die Erfahrungen des Exodus, … die Erfahrungen, die mit dem Exodus aus Ägypten beginnen, nicht mehr kalt: Wer nämlich an den Tisch des lebendigen Herrn tritt, wer dort die Speise isst und den Kelch trinkt, die nicht nur Brot und Wein sind, der ist bereit, nicht nur an seinem Ort und seiner Zeit zu haften.
Wer in die Gemeinschaft jenes Blutes und Leibes eintritt, die sich bei der Feier des Passamahles auftut, das durch Jesus zum Herrenmahl erweitert worden ist, der geht dort „gelöst“ hin, … der hat seine Wurzeln im Hier und Jetzt gelöst, … der hat sich befreien lassen von den Bindungen der gegenwärtig sichtbaren Welt, … der ist bereit, aus dem Rahmen des Vertrauten entlassen und auf den Weg der Freiheit, auf den Weg in jene Welt gebracht zu werden, die wir noch nicht als Heimat bewohnen, zu der wir aber unterwegs sind.
Wer also das Sakrament empfängt, verlässt seine eigenen Bedingungen und Umstände und ist willens sie einzutauschen gegen eine neue, eine unbedingte Wirklichkeit.
Er stimmt - mit anderen Worten - der Horizontverschmelzung zu: Das Bekannte und das Unbekannte, … seine Wirklichkeit und fremde Wirklichkeit, … das Alte und das Neue sollen ihn nun also gemeinsam betreffen und berühren.
Das ist das grundlegende Geheimnis, das Mysterium jener Feier, die Israel und die Kirche beim Passa und bei der Eucharistie als „Mahl-Zeit“ feiern, obwohl wir sie besser eigentlich doch die „Mahl-Ewigkeit“ nennen sollten!
… Was unterscheidet also diese Nacht des Gedächtnisses an die Wunder des HERRN von allen anderen Nächten und Tagen? — Dass in dieser Nacht das Gedächtnis nicht allein des Wunders gedenkt, also nicht bloß Erinnerung ist, … sondern dass das feiernde Gedenken das Wunder hier und jetzt wirkt: Wo der betende Dank und das dankende Gebet des Glaubens als das aktive Gedächtnis der Gemeinschaft Gewesenes hier in den Horizont des Augenblicks rücken, da entspricht der überall und überzeitlich wirkliche Gott diesem Geschehen. Der erzählenden Danksagung und dem liturgischen Segen der Feiernden entspricht Gott mit Seinem herrlichen „Jetzt!“, Seinem schöpferischen „Hier!“, das keine Er-Innerung, sondern eine Er-Äußerung, keine Vergeistigung, sondern eine Verwirklichung bedeutet.
Was der vollkommene Glaube als Tat und Gegebenheit im Mahl also annimmt und feiert, das vergegenwärtigt Gott!
Wie es also der kleine Saul einst erlebte, dass die Zeit durchsichtig, ja dass sie nichtig wurde und der rauschende Weg durch das Rote Meer, der Weg aus dem Land der Toten ans Ufer der Zukunft tatsächlich von ihm selbst erfahren, … nein, gegangen, … ja gelaufen wurde … so hat er es auch den Korinthern weitergegeben: Der Glaube an das Heil erinnert sich nicht bloß, sondern darf es erleben, dass das nur scheinbare Gestern sonnenklar im Heute durchscheint, … dass im transparenten Moment die Anwesenheit alles Bisherigen sich zeigt, … dass die Schatten langer historischer Zeit verschwinden, wenn die vergangenheitslose und auch nicht zukünftige, sondern ewige Wirklichkeit Gottes erstrahlt und sich unmissverständlich manifestiert … bis Damals und Jetzt im Kern verschmolzen eins werden.
Diese köstliche, mystische, aber eben nicht mentale, sondern reale Erfahrung hat Paulus den Korinthern in den fundamentalen Sätzen vermittelt, dass jener Kelch, über den in der Feier ihrer Gemeinde die liturgischen Segensworte gesprochen werden und jenes Brot, das nach dem von Christus selbst befohlenen Brauch gebrochen wird, die tatsächliche Gemeinschaft, also die gemeinsame, tatsächliche Teilhabe an Leib und Leben Jesu Christi bedeuten: Wo die danksagende, liturgisch handelnde und erzählend zeugende Gemeinde das zu Christi Gedächtnis tut, trennt kein Abstand, kein garstiger Graben mehr von Ihm, denn da ist Er lebendig, leiblich, wirklich. … Unsere Zeit, dieser heutige Abend hört auf, nur uns zu gehören, nur unser Lebensrahmen zu sein: Christus macht diesen Abend, macht unsere Zeit, unsere Gemeinschaft, ja unsere eigenen Leiber zum Raum Seiner Gegenwart! Wer Ihn empfängt, tritt aus den bisherigen Bindungen und wird frei, indem er nun Christus gehört … mit Leib und Leben!
Wenn wir also gleich das gebrochene Brot, die Gemeinschaft des wahren Leibes, der aktuellen Präsenz Jesu Christi empfangen, dann werden wir aus den einzelnen, einander gegenseitig begrenzenden Teilen, die wir jeweils sind, verwandelt in den Einen, Der wirklich alle Zeit erfüllt und umfasst, Der wirklich alle sekundenschnell vergehenden Augenblicke der menschlichen Geschichte durchdringt und zum bleibenden Leben, zur Ewigkeit macht: Wir werden ein Leib, … Sein Leib!
Wer das Abendmahl teilt, nimmt darum auch Teil an allem anderen:
Wer das Abendmahl teilt, lebt in Galiläa. Steht auf dem Berg. Schläft im Sturm. Sitzt durstig am samarischen Brunnen. Wandert durch Judäa. Berührt die Widerlichen. Liebt die Sünder. Duldet den Hass. Brennt für das Haus Gottes. Fürchtet die Pein. Bittet, dass Gottes Wille geschehe. Hält dem Kuss still. Schweigt zur Anklage. Spürt die Dornen. Trägt sein Kreuz. Erfährt den Schmerz. Erleidet die Gottverlassenheit. Schreit in der Sonnenfinsternis. Stirbt verwundet und versinkt im Grab. Wird vom Reich des Todes umfangen. Wird reißend gerissen, wird rettend gerettet aus der Vernichtung. Lebt in einem neuen Leben unter den Menschen. Gehört an die Seite Gottes. Ist droben und doch bis ans Ende der Welt der Menschheit verbunden.
Wer das Abendmahl teilt, nimmt Teil an allem.
Auch in jener Richtung, die uns ein Rückwärts zu sein scheint:
Feiert das Passa Israels wie der kleine Knabe in Tarsus; wie der Mann mit den zwölf Begleitern im Obergemach von Jerusalem; wie das Kind im Haus der Maria, wo sie das ungesäuerte Brot in dem Ofen gebacken hat, an den womöglich der Engel trat, um ihr zu verkünden, dass sie das wahre Brot des Lebens zur Welt bringen werde.
Wer das Abendmahl feiert, nimmt Teil an allem:
Darf - auch wenn er Heide ist - das Wunder der Rettung besingen. Darf in Israels Jubel und Lied auf dem sicheren Land einstimmen. Darf den ungeheuerlichen Wunderweg durch die Mauern des Meeres betreten. Darf aufstehen und entkommen aus der bitteren Sklaverei. Darf hinter der Tür, die vom Blut des Lammes gezeichnet ist, dem Tod entgehen. Darf am Abend des Aufbruchs das Wenige, das not ist, nehmen und danken und alles andere verlassen.
Wer das Abendmahl teilt, nimmt Teil an allem.
Auch in jene anderen Richtungen, die uns umgeben oder nach vorne zu weisen scheinen:
Wenn wir das Mahl der Befreiung, der Rettung, der Erlösung in Gottes Gegenwart feiern, dann sind wir verbunden auch mit denen, die ab morgen das Passa halten. In Uman in der Ukraine, wo am Grab des Rabbi Nachman von Brazlav, der so besonders fröhliche und ekstatische Jünger hat, das Tauchbad der Synagoge als Luftschutzraum dient, sind nur noch wenige Fromme übrig, aber auch sie werden dann die Erlösungsfreude des Passa spüren … und wir mit ihnen.
Und im einst goldenen Odessa, wo das jüdische Leben vor den Katastrophen des 20. und 21.Jahrhunderts von südländischem Übermut geprägt war, werden sie morgen singen, beten und die Psalmen derer erklingen lassen, die Gott aus der Not geführt und unter Seinen starken Schutz gestellt hat. Nehmen wir auch daran, an unserem stillsten Feiertag in ehrfürchtiger Verbundenheit teil!
Ob nun Selenskyj, der jüdische Präsident der Ukraine das Passa feiern würde, wenn er könnte, das wissen wir zwar nicht … aber wir wollen doch auch für ihn die Taten Gottes und Seinen Weg zum Leben betrachten und begehen! …….
Und dann wollen wir unser Abendmahl für die zahllosen Brüder und Schwester gemeinsam begehen, … wollen, was wir empfangen, im Geist teilen mit ihnen, deren Gründonnerstag und Ostern nächste Woche zu feiern wären, wenn sie nur könnten.
Wir wollen also das Abendmahl halten und Christus in Wahrheit und Wirklichkeit in unser Leben aufnehmen stellvertretend für die Getauften in Mariupol, wo es kein Brot, keinen Wein und auch kein Wasser mehr gibt und wo die Kelche und Kommunionlöffel und Ikonen der Kirchen im Schutt verloren und verdorben sind und die Straßen Friedhöfe geworden.
Wir wollen mit den Gemeinden von Kiew und Charkiw und Mykolajiw, mit den tapferen und den verwirrten Soldaten beider Seiten, mit all den geschundenen Menschen, mit den traumatisierten Kindern, den heroischen Müttern, den schockierten Alten, mit den Verletzten und Hungernden und Leidenden allen gemeinsam das Abendmahl halten: Weil doch wir, die Vielen, ein Leib sind, weil wir alle an einem Brot teilhaben!
Denn der Kelch des Segens, den wir segnen, ist die Gemeinschaft des Blutes Christi.
Und das Brot, das wir brechen, ist die Gemeinschaft des Leibes Christi.
So soll Gottes Volk, so soll Seine Kirche zusammengebracht werden von den Enden der Erde in Seinem Reich[i]!
Amen.
[i] Schlussdoxologie des ältesten christlichen Gebets zum Brotbrechen bei der Eucharistie in der sog. Didache (Apostellehre) 9,4 (Schriften des Urchristentums II – Didache (Apostellehre). Barnabasbrief. Zweiter Klemensbrief. Diognetbrief., Eingeleitet, hgg, übertragen u. erkl. V. K.Wengst, Darmstadt 1984, S.81).
Palmarum, 10.04.2022, Jubelkonfirmation, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Erinnerungen: Aufbruch - woher wir kommen
Gen.12,1-5
Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und bin dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abram aus, wie der HERR zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran zog. So nahm Abram Sarai, seine Frau, und Lot, seines Bruders Sohn, mit aller ihrer Habe, die sie gewonnen hatten, und die Leute, die sie erworben hatten in Haran, und zogen aus, um ins Land Kanaan zu reisen.
Meditation
Aufbruch mit 75. Nicht wohlverdienter Ruhestand, beschaulicher Feierabend. Nein, Aufbruch. Abram bricht auf.
Wer aufbricht, losgeht, lässt auch los. Abram und natürlich auch Sara und alle, die mit ihnen aufbrechen, brechen ihre Zelte ab. Buchstäblich und im übertragenen Sinn: da brechen auch Beziehungen ab, Bindungen gehen verloren. Aus den Augen, aus dem Sinn - dieses Sprichwort trifft es ziemlich gut. Aufbrechen hat auch mit Abschiednehmen zu tun - und der ist oft schmerzlich. Aber es gehört zu unserem Leben, aufzubrechen, immer wieder; immer wieder ins Unbekannte zu ziehen. Mir sind Menschen begegnet, die vor allen Dingen aus beruflichen Gründen mehr als 15-mal ihren Wohnort gewechselt haben. Für andere hieß es, drei oder viermal eine neue berufliche Tätigkeit erlernen und dann ausüben zu müssen. Und besonders diejenigen unter uns, deren Konfirmation schon 70 oder mehr Jahre zurückliegt, die kennen auch den erzwungenen Aufbruch, die Flucht vor Krieg und den heranrückenden Feinden. Die Ereignisse in der Ukraine, die Bilder von fliehenden Menschen, Frauen, Kindern, alten Menschen, sie haben bei vielen die alten Albträume wachgerufen.
Wir alle bringen Erinnerungen mit - heute, hier in diesen Gottesdienst. Erinnerungen an sehr unterschiedliche Zeiten und Erfahrungen. Sie haben uns alle geprägt. Wer den Krieg erlebt hat, der sieht die Welt einfach anders als ein Mensch, der bisher das unverdiente Glück gehabt hat, immer im Frieden gelebt zu haben. Wer das Glück hatte oder noch hat, seinen Lebensweg mit einem geliebten Menschen an der Seite zu gehen, dessen Schritt ist leichter als der Schritt eines anderen, dessen Beziehung zerbrochen ist oder viel zu früh endete.
Doch egal - wie unterschiedlich uns alle das Leben geprägt hat - welche Wege wir bislang zurückgelegt haben - eines verbindet uns: jede und jeder hat mit seinem ersten Atemzug das Ja Gottes eingeatmet. Wir sind Kinder seiner Liebe.
Das macht die Taufe sinnenfällig.
Gott selbst hat uns an den Start des Lebens gestellt und uns zum Aufbruch in diese Welt animiert. Leben heißt aufbrechen, losgehen, wandern, immer wieder auch zurücklassen, loslassen, verlassen. Mit 5, mit 10, mit 14, mit 18, mit 30 oder auch mit 75 Jahren wie Abram. Es hört nie auf. Solange wir leben. Da ist immer dieser Ruf, dieses große Ja Gottes, der will, dass wir diese Welt gestalten und bewahren, der uns dazu gesegnet hat und immer noch und immer wieder neu darauf hofft, dass wir füreinander zum Segen werden - allen Widrigkeiten und Schrecknissen der Zeit zum Trotz.
Erinnerungen: Aufbruch - wo wir stehen
Matth.4,18-22
Als nun Jesus am Galiläischen Meer entlangging, sah er zwei Brüder, Simon, der Petrus genannt wird, und Andreas, seinen Bruder; die warfen ihre Netze ins Meer; denn sie waren Fischer. Und er sprach zu ihnen: Folgt mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen! Sogleich verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach. Und als er von dort weiterging, sah er zwei andere Brüder, Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, seinen Bruder, im Boot mit ihrem Vater Zebedäus, wie sie ihre Netze flickten. Und er rief sie. Sogleich verließen sie das Boot und ihren Vater und folgten ihm nach.
Mk.8,34-36
Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird's erhalten. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden?
Meditation
Im Zentrum der Konfirmation steht seit den Tagen der Reformation die Bestätigung des Taufversprechens, das einst Eltern und Paten für das Kind abgelegt haben: die nun selbst gegebene Antwort auf das Ja Gottes. Ja, ich will mit dir, Gott, meinen Lebensweg gehen, ich will wachsen im Glauben, im Vertrauen, in der Hoffnung und in der Liebe. Ich will Erfahrungen machen mit dir und versuchen, die Welt mit deinen Augen zu sehen, den Menschen so zu begegnen, wie du es dir gedacht hast und wie Jesus es beispielhaft gelebt hat.
Die Konfirmation - ein Ruf in die Nachfolge. Ich weiß nicht, wie Sie damals ihre Konfirmation erlebt haben. Ein besonderer Tag war es sicher für alle. Das Konfirmationskleid, bei den meisten wohl schwarz oder dunkelblau, der erste Anzug für die Jungen, auch in dunkler Farbe. Der feierliche Einzug in die Kirche. Die Urkunde mit dem Konfirmationsspruch. Wir konnten uns, wenn wir wollten, diesen Spruch selbst aussuchen. Das war damals 1972 etwas ganz Neues in der Gemeinde. Ein Satz aus der Bibel, der einen durchs Leben begleiten sollte. Und für sehr viele hat er das tatsächlich getan. Ein Wort der Ermutigung. Diejenigen unter uns, die 1952 oder auch 1962 konfirmiert worden sind, die konnten eine solche Ermutigung oft sehr gut brauchen. Denn damals hieß es für viele nach Ostern, aufzubrechen und in die Lehre zu gehen. Das war dann schon zu meiner Zeit anders. Und doch brauchen wir Menschen bis heute solche Worte der Ermutigung. Denn der Lebensweg mit Gott zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er leicht ist. Der Ruf in die Nachfolge mag am Anfang wie ein großes Abenteuer für die Jünger gewesen sein, raus aus dem Alltagstrott, Neues erleben, hören und sehen, sich nicht mehr die Nächte um die Ohren schlagen auf dem See, um am Morgen nur ein paar kümmerliche Fische im Netz zu haben und dann tagsüber die Netze zu flicken. Ja, es war schon spannend, die Welt und die Menschen mit den Augen Gottes zu sehen, aber da gab es auch unangenehme, anstrengende, nervige Zeitgenossen, Jesus, mit denen können wir es einfach nicht und die können es mit uns ja auch nicht. Lass uns da lieber aus dem Spiel. Hat er aber nicht. Er hatte es von Anfang an gewusst: wer die Welt, die Menschen, das Leben mit den Augen Gottes sieht, der sieht auch das Dunkle, die Schatten und die vielen Verstrickungen in Schuld und Leid; der kann sich nicht da raushalten, weil Gott auch da anwesend ist und uns gerade da braucht und hineinruft, damit wir Licht in die Dunkelheiten bringen und helfen, die Verstrickungen zu lösen, indem wir Vergebung und Versöhnung in den Streit und in die Konflikte bringen. Das Zeichen der Nachfolge ist das Kreuz: die Vertikale verbindet uns mit Gott und die Horizontale mit unseren Mitmenschen, mit den Freuden und Leiden, mit den Nöten und Konflikten dieser Welt. Jede Zeit hat ihr Kreuz. Jesus hat uns jedenfalls nicht nur zugemutet, sondern uns auch zugetraut, dass wir unser Kreuz tragen können, nicht als Einzelkämpfer und -kämpferinnen, sondern in der Gemeinschaft und mit ihm im Geist verbunden und so vergebend und versöhnend zum Segen werden in der Welt.
Erinnerungen: Aufbruch - wohin wir gehen
Joh.21,15-18
Als sie nun das Mahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieber, als mich diese haben? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Lämmer! Spricht er zum zweiten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! Spricht er zum dritten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst.
Meditation
Aufbruch - wohin wir gehen. Ja, wohin gehen wir? Als Christen, als Kirche, als Gesellschaft? Seit März 2020, seit Corona, ist das für uns alle nicht mehr so eindeutig und erst recht nicht seit dem 24.Februar dieses Jahres, seit dem Angriffskrieg Putins auf die Ukraine, der im Tiefsten ein Angriff auf unsere fundamentalen Werte ist, auf eine demokratische, freiheitliche und rechtsstaatliche Ordnung, die die Menschenrechte respektiert, Konflikte gewaltfrei angeht und das Selbstbestimmungsrecht jedes Volkes achtet. Dafür steht für mich das Grundgesetz und ich fühlte mich gerade als Christin und Bürgerin unserer Demokratie in Erinnerung an die Schrecknisse des Dritten Reiches und an seine ungeheuren Verbrechen verpflichtet, mit aller Entschiedenheit für den Frieden einzutreten, Frieden zu schaffen ohne Waffen. Die großen Friedensdemos Anfang der 80er Jahre, Abrüstung statt Nachrüstung - irgendwie schienen mir die Ereignisse des Jahres 1989, die zum Mauerfall und zur Wiedervereinigung führten, auch Zeichen dafür zu sein, dass diese Friedensstrategie einfach richtig ist. Zumindest in Europa waren wir doch nun von Freunden umzingelt und sicher. Ich bin noch dabei, mir darüber klar zu werden, was dann schiefgelaufen ist - in unseren Kirchen und in unserer Gesellschaft im Inneren und dann nach außen, dass wir heute da stehen, wo wir stehen - mit Querdenkern und Impfverweigerern, mit Hasspredigern und Rechtsradikalen in den Parlamenten, mit unglaublich vielen Autokraten und Diktatoren weltweit. Und dann ist da noch der Klimawandel, der eigentlich unsere ganze Aufmerksamkeit und Kraft beansprucht. Was Not tut: schonungsloses Hinsehen, ernsthaftes Reflektieren verbunden mit dem Bekennen von Fehlern und Versäumnissen auf allen Ebenen, nicht nur in den Parlamenten und Parteizentralen, sondern auch in den Gemeinden und Kirchen, in den Familien und am Arbeitsplatz. Ehrlichkeit, Offenheit und Transparenz sind unerlässlich. Und die Bereitschaft, für unsere Werte zu streiten. Lassen wir nicht zu, dass diejenigen Recht behalten, die behaupten, wir würden Freiheit und Demokratie nur so lange schätzen, solange unser Wohlstand nicht gefährdet ist.
Wohin also gehen wir? Auf jeden Fall nehmen wir uns mit und müssen uns den Folgen unserer Versäumnisse wie unserer Taten stellen. Aber sie sollen nicht unseren Weg in die Zukunft bestimmen, denn der, der uns auf den Weg schickt, trägt uns nichts nach. Er will immer wieder den Neuanfang schenken - denn er braucht uns in dieser seiner Welt. Er braucht uns in zweifacher Rolle: als Hirten, die sich gerade um die Schwachen kümmern, aber auch entschlossen allen Raubtieren und Räubern entgegentreten. Und er braucht uns als eine Art Leithammel, die Teil der Herde sind, denen auch immer wieder der Durchblick und Überblick abhandenkommt, und die auf den einen guten Hirten angewiesen sind, die sich von ihm rufen und senden lassen - auf Wege, die sie sich selbst gewiss nicht aussuchen würden - auf unbequeme, anstrengende und ja auch gefährliche Wege - mitten hinein in die Konflikte dieser Zeit und Welt, um seinen Willen nach Recht und Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Güte mit unserem Reden und Tun zu bezeugen. Was mir trotz allem Mut und Zuversicht gibt: diese Welt mit all ihrer Schönheit wie mit ihrer Gefährdung ist Gottes geliebte Welt. Er wird sie nicht aus seinen Händen lassen und uns auch nicht.
(Pfarrerin Ulrike Heimann - Konfirmationsjubiläum 10.4.2022)
Palmarum, 10.04.2022, Stadtkirche, Johannes 17, 1 - 8, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Palmarum - 10.IV.2022
Johannes 17, 1-8
Liebe Gemeinde!
Ein bitterer Gedanke zuvor: Wie gut, dass uns die Ordnung der Predigttexte in diesem Jahr die Meditation der Hochstimmung, des „Hosianna!“ erspart. Es wäre uns ja doch gegangen wie denen, die Trauergefühle bei der Hochzeit haben oder fasten müssen beim Fest-mahl, wenn es heute ein Palmsonntag der ausgelassenen Art hätte werden sollen. Wie die jüdische Exilsgemeinde an den Wassern zu Babel, die ihre Harfen in die Weiden hängten, hätten wir den Kloß im Hals gespürt: „Sie hießen uns singen und in unserem Heulen fröhlich sein“ (Ps.137,3), seufzen die Beter des großen Klageliedes Psalm 137, das unversehens zum wildesten Rachegebet der Bibel wird. – Wobei natürlich klar ist, dass wir weder zu Schmerz noch Rachegefühlen in irgendeiner persönlichen Weise die leiseste Berechtigung haben, wenn wir an die tatsächlichen Angegriffenen und Opfer des Krieges gegen die Ukraine denken: Die Menschen von Kramatorsk, Borodjanka und Butscha.
Aber als die Gemeinde des wehrlosen Königs ohne Gewalt kann es uns nur den Seelenfrieden rauben und das Herz zerreißen, wenn wir zu Zeugen solcher barbarischer Niedertracht, solcher schändlichen Verbrechen werden, wie sie derzeit geschehen … und immer geschahen, müssen wir sogleich hinzufügen. Das Elend des Mordens, die menschliche Grausamkeit und die Hilflosigkeit, wenn man außerhalb des realen Albtraums seinen Sinnen nicht trauen mag, obwohl es Menschen wie Du und ich sind, die da zu bestialischen Jägern und bestialisch Gejagten werden, … alle diese überwältigenden und lähmenden Eindrücke der letzten Woche lassen jede Fröhlichkeit über den Einzug Jesu ersticken.
Man möchte sich wie die Chöre am Anfang der Matthäuspassion gegenseitig zur Klage aufrufen oder wie der schreckliche, stumme Leichenzug, der in Pasolinis Verfilmung des Matthäusevangelium gehetzt einen noch Lebenden zum Sterben begleitet, der Ankunft des zum Leiden Bestimmten wortlos anschließen.
Denn jedes Herz muss heute ja fühlen: Da kommt noch Einer, den der Abgrund erwartet. Da zieht noch Einer in sein Verhängnis.
… Armer, unschuldiger Herr Jesus, auf dessen Weg zum Galgen die Blumenkinder von Jerusalem Blatt und Blüten streuen! … Der Sommer der Liebe, die Macht der Blumen, die ganze schöne Hippieatmosphäre der vollgedröhnten Massen und der kuscheligen kollektiven Harmonie, die am Palmsonntag sonst so oft greifbar wird, … das alles ist dieses Jahr wirklich in Rauch aufgegangen, in den schlammigen Spuren der Panzer zermalmt, im Lärm des Dauerbeschusses radikal abgewürgt worden. Es ist keine Zeit des großen, wogenden Hallo, wenn die Welt Abschied nimmt von der zerfetzten Illusion des Friedens und vom Traum, ein Kontinent habe seine letzten gegenseitigen Opfer gefordert und werde künftig nur noch in gemeinsamer Trauer an allen Gräbern stehen.
Armer, unschuldiger Herr Jesus! Du kommst in das uralte Grausen: Die Menschen, die du trösten und erlösen sollst, … sie sterben nicht bloß, … nein, sie töten!
Töten einander.
Töten Dich. ——
Es gibt also für uns unbeteiligte Passanten und bis vor Kurzem noch genüssliche Gruselgaffer wirklich nichts zu Begrüßen und zu Beklatschen an diesem Tag der öffentlichen Erscheinung Jesu vor der Welt. Es gibt – wenn wir in die Welt schauen, in die Jesus aus der Abgeschiedenheit von Galiläa auf dem kleinen Esel unter den Augen des römischen Imperiums nun hineinreitet – nur Grausamkeit vor unseren Augen: Die Grausamkeit von Babyn Jar und Srebrenica, die Grausamkeit von Butscha und von Golgatha. Die Grausamkeit von Orten, Zeiten, Menschen, die wir alle kennen könnten.
„Kehre um!“, möchte man in einer seltsamen Parodie des Rufes, mit dem Johannes der Täufer und Jesus die Erlösungsbereitschaft vor Kurzem erst zündeten, ihn darum warnen: „Kehre um! Zu nahe kommst Du dem Reich der Hölle, wenn Du ungebremst in die Wirklichkeit der Weltgeschichte trottest. Kehre um in’s Reich der Märchen, der frommen Wünsche, der naiven Hoffnung. Kehre um nach Galiläa, zu den hinterwäldlerischen Träumern. Segne die Kinder da, streichle die Kranken. Erzähl den Armen hungerstillende Legenden vom Brot und lass ein paar Leute lächeln.
… Aber meide die Vertreter der Politik und der Religion. Ihren Lügen bist Du nicht gewachsen. Ihre Brutalität ist so abgründig, … was willst Du mit Deinem alten prophetischen Herzenswunsch nach Frieden, was willst Du mit Deiner harmlosen Unerfahrenheit der Gottessohnschaft unter den Monstren und Maschinen der Mächtigen bewirken? Du wirst pulverisiert werden. Und es wird lächerlich und schmerzlich enden. Aussichtlos.“
Aber auch wenn wir ihn warnen könnten, auch wenn wir uns dem König aus Nazareth vor den Toren Jerusalems in den Weg stellten oder zu Füßen würfen, … er wird weiterreiten. Er wird nicht abdrehen und dankend heimkehren an den Genezareth, wo es Stürme gibt, aber auf Häfen, wo sie manchmal gefährlich höhnisch sind, aber oft genug auch voll einfältigem, ehrlichem Dank, wem ein kleines Mädchen vom Totenbett aufersteht (vgl. Matth.9,26) oder ein Taubstummer zu hören und zu reden anfangen darf (vgl. Mk.7,37).
Er will unbedingt durch Jerusalem hindurch, das er von Palmsonntag bis Karfreitag einmal wie die Sonne von Ost nach West durchquert, um nach Golgatha zu kommen. Dort will er hin!... Zur Schädelstätte. In jene Landschaften von der baltischen Küste über Polen, Weißrussland und die Ukraine bis in die rumänischen Karpaten, die ein Historiker schon 2010 zusammenfasste unter dem Titel „Blutgegend“, bloodlands[i]. Er will nach Butscha, er will nach Kramatorsk. Er will dorthin, wo Schmerz und Horror dieser Welt auf ihn warten!
… Weshalb? – Die einzigartige Antwort darauf gibt das Gebet, das bei Johannes zwischen Jesu vermächtnishaften Schlussreden und seinem Todesleiden steht. Dieses gebetete Testament, das zwischen Abschied und Agonie den Kipppunkt der Passionsgeschichte, den Umschlag von Tat und Lehre zu Leid und Tod bedeutet, … dieses unerschöpflich reiche, tiefe, glühende und heilende Gebet nennt die Kirche von altersher Jesu „hohepriesterliches Gebet“. Es ist die Liturgie, die aus allem Geschehenen und Folgenden den zentralen, den letzten, bleibenden, ewigen Gottesdienst der Weltgeschichte macht, den allesentscheidenden Dienst Gottes an den Menschen.
Und in diesem hohepriesterlichen Dienst, in diesem von Gott selbst geleisteten und gelebten und durchlittenen Dienen geht es um das Allereinfachste: Dass das Licht Licht nur ist, wenn es im Dunkeln leuchtet. Dass Klarheit nur erscheint, wo sie das Unklare von innen heraus verwandelt. Dass das Heil nur dann also Heil ist, wenn es am Unheilen, am Zerstörten und Zerstörerischen sein Werk vollbringt. Dass Hoheit und Herrlichkeit des heiligen und heilenden Gottes sich nirgends so zeigen, wie dort wo sie sich freiwillig erniedrigen und in den Schatten stellen lassen.
Gott im Himmel ist angemessen und stimmig, aber weder sicht- noch greifbar. Erst auf der Erde und in der Hölle fällt auf wie unersetzlich und notwendig Gott wirklich ist; erst in der Tiefe wird der Höchste also vom Herrn zum Heiland.
Man könnte es noch drastischer, dann schon beinah gotteslästerlich ausdrücken: Glück lässt Gott verblassen. … So leben wir bisher. Und solche, die so leben, brauchen keinen Gott.
… Aber in der Nacht des Leidens, wo kein Stern, kein Funke sonst mehr die totale Finsternis durchdringt … da tritt spürbar, sichtbar, unzweifelhaft hervor, wie sehr Gott gebraucht wird!
Außer Ihm ist nichts, wenn die Vernichtung einsetzt.
Das aber ist die Wirklichkeit, die den meisten Menschen bleibt: Nichts … oder Gott!
Und darum können wir nur in die Knie gehen, können nur den tiefsten Grund der Nacht, können nur den Abgrund des Leidens küssen, in den wir den Menschen auf dem Esel so entschlossen reiten, in den wir den Mann in Gethsemane sich so schonungslos werfen sehen:
Es zieht Ihn ja nicht um Seiner Selbst willen dahin, sondern damit die Verlassenen und Verlorenen, damit die Leidenden und Sterbenden dort ganz unten, ganz am Ende, ganz im Aus die Herrlichkeit erfahren, … Licht, … Heil.
„Vater, die Stunde ist gekommen: verherrliche deinen Sohn!“
… Dieser feierlich klingende Satz, der wirkt wie von einem Motivationscoach oder wie der Startschuss einer Siegerehrung, bedeutet in Wirklichkeit also den hohepriesterlichen Dienst schlechthin: „Schicke mich, dass ich in die Dunkelheit gehe; sende mich in’s Nichts; entlass mich, Vater, in die fernste Tiefe. … Denn dort sind die, die das brauchen, was Du mir gegeben hast: Das Leben!“
Nichts anderes treibt und bewegt ja den Sohn Gottes, Dessen Herrlichkeit nicht herrscherlicher Pomp, sondern demütiger Dienst ist. Er, Der ohne Gott nicht ist und nichts wäre, gibt allen weiter, was Er selbst vom Vater empfängt: Vollkommene Liebe, die nicht ablösbar und nicht zu verlieren ist, … ganz gleich, wie sehr der Geliebte angefochten, angegriffen, ja vernichtet wird.
Diese selbst in der Schande unzerstörbare Herrlichkeit, diese selbst in der Trennung nicht zu zerbrechende Zugehörigkeit, dieses selbst im Tod unverlierbare Leben, … dieses alles, das Jesus von, in und mit Gott hat, trägt Er vom heutigen Palmsonntag an unter die Menschen, … die Menschen, die es nötig…, … die es schreiend nötig …, … die es himmelschreiend nötig …, … die es höllisch nötig haben! …
Er trägt es zu den Massen.
Er trägt es auf das Fest.
Er trägt es in die Stunde der Panik und des Kontrollverlustes.
Er trägt es vor’s Gericht, vor das Forum der Lüge, vor die Öffentlichkeit des Hasses.
Er trägt es in’s Gefängnis.
Er trägt es in den Folterkeller.
Er trägt es auf den Todesmarsch.
Er trägt es in die letzten Augenblicke des Erstickens.
Er trägt es durch den Exitus.
In’s Reich des Todes.
„Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir, mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war!“
Was da geschieht, auf diesem sturen Eselsritt, auf diesem unbeirrten Höllenritt, ist wirklich nur für eine solche gedämpfte, … ja, eine schweigende Palmsonntags-Gemeinde, wie wir es in diesem Jahr sind, von ferne zu ahnen: Die Ewigkeit fährt da in der Gestalt der Gnade unseres Herrn Jesu Christi und der Liebe Gottes und Ihrer Beider Gemeinschaft im Heiligen Geist (vgl. 2.Kor13,13) dorthin, wo niemand sie jemals gedacht hätte. Die Ewigkeit fährt nicht nur in die Endlichkeit - was ja schon gar nicht zu denken ist - , sondern dahin, wo das Ende ist. Die Ewigkeit der Liebe, der Verbundenheit, des Lebens dringt in das endgültige, perspektivlose Nichts hinein.
Wo alles aus ist, wird alles wahr.
Wo es vorbei ist, erfüllt es sich.
Wo nichts mehr folgt, beginnt das Leben.
Das Leben, das im Anfang war.
Das Leben, das der Anfang ist.
Das bezeugt uns der heutige Palmsonntag, den wir auf dem ausweglosen Fluchtbahnhof von Kramatorsk münden sehen, auf dem Abstellgleis aller Hoffnung, im Sackbahnhof der Menschlichkeit. …….
———
Vater, gib, dass diese Worte nicht leichtfertig, nicht wie Formeln oder Beschwichtigungen von den Lippen gehen!
Vater, gib, dass wir begreifen, was wir da glauben!
Vater, gib, dass es uns nicht dumpf beruhigt, sondern hellauf erschüttert, wenn uns das ungemilderte Ungeheuerliche Deiner Botschaft trifft:
Dass der Weg des Sohnes zu den Menschen, die Gott gehören und die Er diesem Sohn anvertraut hat, wirklich auf den Bahnsteig führt, wo die blutigen Rucksäcke und die zerfetzten Kuscheltiere und die anderen quälenden Hinterlassenschaften der Kinder aus der östlichen Ukraine, aus dem Donezker Oblast verstreut liegen … jener Kinder, die einfach nur mit ihren Müttern in eine Richtung fliehen wollten, in der sie Zukunft haben würden. …
Nun sind diese Kinder nicht mehr auf Erden, um Jesus in den Orten unserer Landkarten zu empfangen. Sie begrüßen ihn nicht mehr hier mit den anderen Kindern von Jerusalem, den anderen Menschenkindern zu Beginn der Karwoche.
Ihr Karfreitag war schon vorgestern.
Aber der Sohn, dem Gott Macht gegeben hat über alle Menschen – die Macht, das ewige Leben zu schenken! –, Der ist nicht umsonst, sondern gerade ihretwegen auf dem kleinen Esel zum großen Kreuz von Golgatha geritten.
Zu dem Kreuz, das von überall auf der ganzen Erdoberfläche und auch aus allen unteririschen Tiefen als Richtungsweiser den Weg zu Gott zeigt: Auf Jesu Spur durch’s Leid zur Freude, durch Tod zum Leben.
Und so kehrt sich der stille Palmsonntag, an dem uns das Jubeln nicht über die Lippen kommen und das ausgelassene Wedeln mit grünen Frühlingszweigen nicht gelingen will, tatsächlich um.
Es ist ja nicht so, als müssten wir Ihn begrüßen, Der da in die Stadt reitet.
Denn Er ist’s, Der wirklich begrüßt, Der tatsächlich empfängt, Der in Wirklichkeit will-kommen heißt: Alle Welt. … Alle, die aus der Welt mussten.
Die Toten. Im Leben.
Die Menschheit. Bei Gott.
… Können wir solche Herrlichkeit fassen?
„Vater, die Stunde ist gekommen.
Verherrliche Deinen Sohn!“
Amen.
[i] Zum Heulen aktuell: Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, (dt.) München 2011.
Judika, 03.04.2022, Stadtkirche, Markus 10, 35 - 45, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Judika - 3.IV.2022
Markus 10,35-45
Liebe Gemeinde!
Zwei Männer, bei denen selbst die Sitzordnung Motive ihrer Konkurrenzsucht bietet: … Wie lächerlich! …….
Wenn das Gespräch der beiden Fischersöhne vom Genezareth mit dem Hauptmann ihrer Freischärler-Bande hundert Jahre später stattgefunden hätte, … wenn sie also wie viele junge Männer um das Jahr 132 n.Chr. beim Aufstand und beim Kampf zur Befreiung ihrer judäischen Heimat von einem übermächtigen Feind als patriotische Partisanen aktiv gewesen wären, dann hätte die Christenheit ein gefundenes Fressen gehabt. Die beiden jungen Rebellen, die mit Simon bar Kochba, den sie damals für den Messias hielten, gegen Rom gekämpft hätten, wären von den Christen in den schwärzesten Farben gemalt worden: „Seht ihr, was der Kern der messianischen Hoffnung ist? - Unverhohlene Machtgelüste! Weltherrschaftsphantasien! Eine rein innerweltliche Diktatur!“ … So hätte die Kirche in ihrem antjudaistischen Wahn gehetzt und verleumdet, wenn eine Quelle aus dem letzten Aufflammen der nationalen Freiheitsbewegung Israels vor dem zweitausendjährigen Exil berichtet hätte, wie zwei seiner Getreuen den Anführer bar Kochba um die Ehrenplätze zu seiner Rechten und zu seiner Linken baten, sobald seine Herrschaft gefestigt sein würde. Verächtlich und voller Vorurteil wären solche Hoffnungen auf aktive Teilhabe an der neuen Friedensordnung unter dem Banner Gottes von den Christen als Verschwörungspolitik des Weltjudentums karikiert worden und hätten den Vorwand geliefert, an dem es in der Passionszeit nie fehlte: Pogrome als Ventil für die Begegnung mit überforderndem Leiden.
Nun sind es keine jüdischen Widerständler, keine Zeloten, sondern die Zebedäiden, die beiden sogenannten „Donnersöhne“ (vgl. Mk.3,17) aus Jesu engstem Kreis, die gerne als seine Ratgeber und Statthalter, als Vize-Messias auf den Thronen neben ihm beweisen wollen, wem sie dienen und wessen Herrschaft sie mit jeder Faser ihres Daseins am liebsten in Ewigkeit vertreten wollen.
Und weil es nicht jüdische Untergrundkrieger, sondern genauso jüdische Fürstreiter des Christus sind, Apostel seines Reiches, darum hat die Kirche sich nicht einfach von ihnen abwenden können und ihren brennenden Ehrgeiz, ihre karrierebewusste Bewerbung als Stellvertreter des Gesalbten nicht annähernd so scharf verurteilt, wie sie es unter anderem Vorzeichen sicher getan hätte. —
… Das müssen wir daher nachholen.
Kirche und Macht: Das ist die Geschichte eines scheußlichen Skandals. Die Geschichte der Ausrottung der Philosophenschule von Alexandrien und ihrer großen heidnischen Lehrerin, Hypatia durch den christlichen Mob[i]. Die Geschichte der Wahl zwischen Taufe und Tod für viele Völker und Kulturen bis in die Neuzeit. Die Geschichte der heiligen Kriege unter dem Kreuz und der gesegneten Waffen bis hin zu Hitlers Schutzstaffel. Die Geschichte einer Religion, die sich zur Überlegenheit in aller Welt berufen fühlte und die ihre Altäre in Rom als Throne menschlicher Stellvertreter Gottes, ihre Throne in deutschen Territorien dagegen als Altäre eines protestantischen Obrigkeitskultes betrachtete.
Kirche und Macht: Das ist der scheußliche Skandal, den heute Putin und Kirill verkörpern. Waffen als liturgisches Gerät. Geweihte Gewalt. Blutrituale im Namen des Sohnes, der sich auf Golgatha als letztes Opfer, stellvertretend für die Vielen hingab.
Wie gotteslästerlich die Passionszeit des Jahres 2022 wirklich ist[ii], wird klar, wenn wir uns die Verstrickung des Moskauer Patriarchates in die Brutalität des russischen Regimes anschauen. Diese Perversion eines Christentums, das nicht aufschreit, sondern den Krieg gutheißt, ist aber nur eine späte Sumpfblüte an einer Wucherung, die im Laufe der Kirchengeschichte furchtbar ins Kraut geschossen ist. Klerus und Theologie haben Wurzeln in unendlich vielen Verbrechenskloaken getrieben und genährt, wo sie Fäulnis und Verwesung hervorbrachten … und immer wieder meinten sie dabei, direkt neben dem Sitz Christi zu entspringen. ….. Pfui, Teufel!!! —
Der überloyale Ehrgeiz der beiden Apostelbrüder hat aber noch eine andere Seite.
Ihre forsche Geltungslust, ihr Drang, Hingabefähigkeit zu beweisen und den Ruhm einer echten Vertrauensstellung dafür zu erringen, ist kein leeres Gehabe geblieben. Der ihnen unbekannte, ja unvorstellbare Kelch: … Die beiden tranken ihn! Jakobus sollte der Erste der Zwölfe werden, der nur zehn, elf Jahre nach dem Meister ebenfalls schon das Martyrium erlitt (vgl. Apg. 12). Und sein Bruder, Johannes, der Lieblingsjünger wurde zum einsamen letzten Zeugen der Auferweckung. Zu Beginn und am Ende der pfingstlichen Zeit der Apostel haben die beiden brennenden Eiferer tatsächlich also ihr je eigenes Leiden tragen müssen, das ihnen viel mehr Ehre einbrachte, als irgendein Amt oder Rang es sonst getan hätten. Ihre Gedenkorte umfassen das Abendland und predigen heute allen Europäern, dass man bis an die Grenze gehen kann und muss – bis nach Santiago de Compostela zu Jakobus oder über seine Gefängnisinsel Patmos hinaus, bis ins türkische Ephesus, wo Johannes starb –, wenn man ein Gespür für die Weite, für die Ausdauer, ja die Endlosigkeit der Geduld, … des Glaubens und des Duldens bekommen will, zu denen Jesu Nachfolger und Nachahmer berufen sind.
Die Kirche also und die Ohnmacht: Das ist die helle Seite, das ist der Segen der christlichen Geschichte!
… Es hat nicht nur Unterdrückung und Ausbeutung im Namen des Erlösers gegeben, sondern eine unauslöschliche Spur der Befreiung, der Selbstlosigkeit und des Trostes, der stärker ist als der Tod, begleitet das Evangelium durch die Zeitalter, … und je schwerer die Nöte, je dunkler die Nächte, desto ergreifender ist das, was die Jünger Jesu darin im Leben und im Sterben für ein Zeugnis ablegten!
Es ist die Geschichte der großen Liebe, die in Laurentius, dem Diakon, keinen kostbareren Schatz der Kirche als die Armen kannte. Es ist die Geschichte des Friedens, die in Martin von Tours und den Mennoniten und den Versöhnten von Taizé bis heute gegen alle Kämpfer den Schutz des Gebetes ausspannt. Es ist die Geschichte des grenzenlosen Mitleids, das sich in den Söhnen und Töchtern der Bettelorden, in der unterschiedslosen Krankenpflege der Klöster und in der weiblichen Weltfürsorge unserer Kaiserswerther Diakonissentradition verwirklicht. Es ist die Geschichte der leidenden Kinder Gottes, die von den Katakomben bis zum Gulag, von der Sklaverei Roms über diejenige der East India und Royal African Company bis auf die Baumwollplantagen der Südstaaten und unter der offenen oder versteckten Apartheid der Kolonien ein unendliches menschliches Elend nur ertrugen durch ihr Vertrauen auf’s ewige Leben im Himmel, den Jesus, der Schmerzensmann mit den Genossen seiner Qualen teilen wird. Es ist die Geschichte der ungezählten Millionen, die in Verfolgung treublieben bis heute, und die standhielten und standhalten, weil die Freude des Glaubens in ihren Herzen den Schmerz in ihren Gliedern überwiegt.
Die Kirche und die Ohnmacht: Das ist die Geschichte der Taufe und des Kelches, die die Gemeinde des Menschensohnes, der bei den Kleinen, bei den Knechten als einer der Ihren war und ist und bleibt, mit ihm teilt … es ist die Passionsgeschichte der Welt, die Leidenschaftsgeschichte des Himmelreiches.
… Und es ist die Geschichte Dessen, zu Dessen Rechter und zu dessen Linker in der Herrlichkeit zu sitzen überhaupt niemandem zugeteilt werden kann, da ja auch der Ehrenplatz in der Mitte immer noch frei ist!
… Jesus, der Menschensohn sitzt ja nicht auf einem Thron und hält nicht Hof. …
Zwar haben es gerade die alten Kirchen des Ostens, die orientalischen und byzantinischen Kirchen der syrischen und griechischen und kaukasischen und slawischen Traditionen sich gerne vorgestellt, wie der Kyrios, der Pantokrator thront. Und das Volk Gottes dort im Osten hat vor Jahrhunderten beinah demokratisch abgestimmt - indem es auf sein Herz hörte -, wer denn wohl neben dem Herrscher aller Herren den gebührenden Platz einnehme: Eine ganz reine, ganz mütterliche Ratgeberin und ein ganz klarer, ganz auf das Kommende konzentrierter Sachwalter des Gottesreiches sind unfehlbar neben Christus anzutreffen, wann immer ein Mensch in eine orthodoxe Kirche kommt, um das Mysterium der Rettung des Kosmos zu feiern und anzubeten[iii]. Die Jungfrau und Gottesmutter und der Vorläufer des Herrn, der zur Buße und Erneuerung der Welt rufende Täufer sind in unablässiger Sorge für die arme Menschheit und in nimmermüder Fürbitte für die Sünder die Begleiter des Menschgewordenen, die ausdauernden Assistenten des Erlösers.
Doch gerade die von so viel Heimsuchung erschütterten Kirchen des Morgenlandes und die gefährdeten, vom Krieg nun so zerrissenen Kirchen der Orthodoxie sind heute unsere unfreiwilligen Zeugen dafür, dass die schöne Szene des gemeinschaftlichen Eintretens für die Rettungsbedürftigen, die den Vorboten, die Mutter und den Sohn in einem ewig weihnachtlichen Zur-Welt-Bringen des Heils verbindet, kein ungestörter himmlischer Thronrat ist, sondern blutiger, staubiger Ernst.
… Die drei Plätze in der Herrlichkeit sind bloße Symbole; die Wirklichkeit ist chaotisch irdisch, … ein Kelch voller Wermut, … ein Blutbad.
… Und mitten darin und darunter die Drei!
Die Mutter Gottes sitzt im Luftschutzkeller von Charkiw, eingeschlagen in ihr altes Tuch.
Der große, heilige Bereiter der Wege des Herrn, Johannes mit seinem struppigen Bart und lumpigen Aufzug fällt im Dämmerlicht der umfunktionierten U-Bahn-Schächte von Kherson unter den anderen Vogelscheuchen der Obdachlosigkeit in der eigenen Heimat kaum auf, wo auch er die neue Zeit erwartet.
Und der Menschensohn, der nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um sein Leben einzusetzen, kauert in Mariupol unterm Beschuss, und ein fast teilnahmsloses Kind lehnt sich an die Schulter, die einst das Kreuz schleppte, und spürt ein Zittern in dem Arm, der die Welt geschaffen hat, und merkt in diesem schwachen Fleisch und Blut das Mitleid mit seiner traumatischen Angst. Und dann schleicht der Menschensohn aus den kalten, unterirdischen Kammern des Todes vor Tagesanbruch durch die Trümmer der belagerten Stadt und geht in die lichtlose Klinik, wo die Kinder nicht einmal auf Heu und auf Stroh in einer Krippe liegen, und dann herzt Er sie und legt die Hände auf sie und segnet sie, die in so unsägliches Leid hineingeboren werden, gerade so wie Er’s tat ehe die Söhne des Zebedäus nach den Ehrenplätzen fragten (vgl.Mk.10,13ff).
Und dann steht die neben Ihm, die Ihn einst wie ein Brandscheit aus dem Feuer des herodianischen Kindermordes rettete (vgl. Sacharja 3,2), als sie mit Ihm nach Ägypten floh, … und Mutter und Sohn schauen sich an aus Augen, die alles Leid der ganzen Welt gesehen haben, und so sehr sie einander den Himmel gönnten, so einig sind sie sich, dass es noch nicht Zeit dafür ist.
Und auch wenn Er so müde ist wie damals, als sie Ihn mit der Last des Menschengeschlechtes beluden und nach Golgatha schleiften, geht dieser Diener aller Diener weiter, so wie Er seit Jahrtausenden gegangen ist: Er kehrt ein auf den eiskalten Höhen in Afghanistan, wo der Hunger schon herrscht, bei den Menschen, deren Fleisch ist wie Gras, das abends welkt und verdorrt (Ps.90,6).
Und im Jemen, wo so lange schon die gleiche, namenlose Grausamkeit wütet, die uns in der Ukraine so schockiert, oder in den Zeltlagern der syrischen Flüchtlinge, die seit sieben Jahren im Niemandsland vegetieren, da haust der Täufer wie der wahnsinnig wirkende Prophet Hesekiel, starr vom Leid, ernährt von verschwindend winzigen Essensrationen, die vor den Augen der Leute auf Menschenkot gebacken werden, wie es in der Bibel heißt (vgl. Hes.4,9-12!).
Und Maria breitet ihren löchrigen Schleier über die Leichen auf den Straßen von Bucha, wo die Russen beim Abzug gestern Ladungen von ukrainischen Kindern vor den Panzern herfahren ließen, um durch die Körper dieser Kleinsten „geschützt“ zu sein[iv]. ——
So sehen die Plätze aus, die der leidende Knecht Gottes mit seinen nächsten Getreuen teilt, die verstehen und ertragen müssen, dass er nicht mächtig, sondern in letzter Ohnmacht, nicht als Herrscher, sondern als geschändetes Opfer der wahre Heiland am offenen Herzen der Welt ist.
Es mag wie dunkle, wie morbide Poesie klingen, von der heiligen Jungfrau im Granathagel nun auch von Odessa zu hören, vom Vorboten des jüngsten Tages im Dunkel des möglichen innerchristlichen Völkermords in der äthiopischen Provinz Tigray, von Jesus in den Lagern für die Uiguren oder in den Strafkolonien für die Dissidenten des neu-alten Russland. …….
Es ist aber keine schwarze Poesie.
Es ist die fiktionslose Wahrheit dessen, der diese verdammte Welt, in der die Herrscher ihre Völker niederhalten und ihnen Gewalt antun, nicht aufgibt, sondern sie voller Mitleid heimsucht und sie schließlich auch heimholen wird, wenn endlich sein Leben ihnen allen bis zum letzten Blutstropen zugeflossen und zugutegekommen ist. …….
Diese fiktionslose Wahrheit habe ich durch die nüchternste Frau meines Lebens zu erkennen gelernt: Meine vollkommen unpoetische Urgroßmutter, die wegen des letzten Krieges um viele, viele Mitglieder aus vier Generationen ihrer Familie zu trauern hatte: Ihren Vater, ihre Schwester, ihren Sohn, Neffen, Nichten, Enkelkinder. Und um ihren Mann, den die Russen an dem Januartag, als sie in Hinterpommern ankamen, erschossen. Der Winter war frosthart, kein Mann war mehr im Dorf; ein Neffe meiner Urgroßmutter, ein Halbwaise aus Ostpreußen, den man in Hinterpommern sicher geglaubt hatte, schleifte die Leiche seines Onkels wenigstens zurück auf den Hof, und bedeckte sie auf dem Mist mit gefrorenem Stroh.
Nun vertrieben die Russen in diesem neumärkischen Teil Hinterpommerns die Besiegten nicht sofort, sondern versklavten sie. Als es taute, ragten die Beine meines Urgroßvaters aus dem Dung: Das war das Letzte, was die Urgroßmutter auf ihrem Hof, in ihrer Heimat vor Augen hatte. Beerdigen durfte man nicht. …….
In meiner Kindheit blickte sie manchmal in einer unerklärlichen Ausdruckslosigkeit aus dem Fenster. … Ich wusste, wohin.
… Und ich spürte, dass sie genau dann den Platz an Jesu Seite hatte. Sich leise an Ihn lehnte. Weil sie wusste, dass ihr Erlöser lebt[v], der Sein Leben als Lösegeld von allen diesen Erfahrungen des Leidens und der Schuld für alle eingesetzt hat. ——
So ist es an Jesu Seite: Schwer, aber voll endgültiger Verheißung.
Es ist der Platz, den heute die siebenjährige Katja[vi] im umkämpften Kiew hat. Und die überlebenden Alten in Odessa, deren Lebensabend die Schrecken ihrer Kindheit wachwerden lässt. Und die Schriftstellerin[vii] und der Student, die aus allen Träumen gerissen worden sind und jetzt brutalste Wirklichkeit erfahren[viii].
Sie alle sind auf den Plätzen zur Rechten und zur Linken!
Und zwischen ihnen allen ist Er, … der herzliebste Jesu, ohne Den niemand, gar niemand ist, weil Er Sein Leben mit ihren verbindet, bis sie, … bis wir alle erlöst sein werden.
Amen.
(EG 81, 1 + 4 – 7 + 11)
[i] Dass der vehement antisemitische und brutale Patriarch Kyrill von Alexandrien, dessen Einfluss auf den frauenfeindlichen, antiwissenschaftlichen Mönchsmob, der die neuplatonische Philosophin Hypatia im März 415 oder 416 lynchte, nicht nur ein Kirchenvater des orthodoxen christologischen Bekenntnisses ist, sondern auch ein Namenspatron des heutigen Moskauer Patriarchen, lässt etwas von der tragischen Ambivalenz unseres christlichen Erbes grell aufscheinen.
[ii] Den vierzig Tagen der Buße und Erneuerung der Fastenzeit entsprechen am Sonntag Judika 2022 schon 39 Tage der irrsinnigen, unerträglichen Aggressionsorgie des Krieges Russlands gegen die Ukraine!
[iii] Die sog. „Deesis“ (d.h. Bittszene) gehört zum Bildprogramm der orthodoxen Ikonostasen und ist ein aus der Kirche des Ostens im Mittelalter in die westliche Kunst eingewandertes Motiv. Zu seiner Entstehung heißt es im Handbuch der Ikonenkunst - Bd. I, hgg. v. B. Rothemund, München 19853, S.287: „URSPRUNG: Orientalische Marienlegenden (so »Gang Mariens durch die Qualen«), die besagen, daß die Gottesmutter beim Jüngsten Gericht, zusammen mit Johannes dem Täufer, den Weltenrichter um Gnade bitten werde.“
[iv] Vgl. https://www.theguardian.com/world/2022/apr/02/ukrainian-children-used-as-human-shields-near-kyiv-say-witness-reports.
[v] Bezug auf die alttestamentliche Schriftlesung des Sonntags Judika aus Hiob 19, 19-27.
[vi] Vgl. das eindrucksvolle Langgedicht „To Katya, aged seven, in a bomb shelter in Kyiv“ des nigerianischen Schriftstellers Ben Okri, in dem er die Hoffnung der Welt für ein ukrainisches Mädchen ergreifend formuliert, das am 02.04.2022 im Guardian veröffentlicht wurde: https://www.theguardian.com/commentisfree/2022/apr/02/ben-okri-ukraine-poem-to-katya-aged-seven-in-a-bomb-shelter-in-kyiv.
[vii] Vgl. das „Tagebuch aus Mariupol: Und dann wird es still. Totenstill“ von Nadezhda Sukhorukova, das in Auszügen in der FAZ vom 26.03.2022 (u.a.) veröffentlicht wurde (https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/tagebuch-aus-mariupol-und-dann-wird-es-still-totenstill-17909099.html) , sowie den Beitrag von Natal’ya Vorozhbit über ihre Flucht: https://www.theguardian.com/stage/2022/mar/30/natalya-vorozhbit-diary-of-a-playwright-fleeing-ukraine-bad-roads.
[viii] Vgl. zum Beispiel den Beitrag mit Bildern des Photographen Alexander Chekmenev, der im New York Times Magazine unter dem Titel: „Citizens of Kyiv“ erschien und derzeit im Netz zugänglich ist unter: https://www.nytimes.com/interactive/2022/03/18/magazine/ukraine-war-kyiv.html.
Laetare, 27.03.2022, Stadtkirche, 2.Korinther 1, 3 - 7, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Lætare - 27.III.2022
2.Korinther 1, 3 - 7
Liebe Gemeinde!
Trost gibt es nicht als Büchsenmilch: Reichlich gesüßt auf Vorrat haltbar. …
Trost gibt es nur, wo Traurigkeit herrscht. … Frisch. Gepresst aus Säure und Bitterkeit.
Darum ist es auch kein Wunder, dass die gehaltvollsten Trost-Abschnitte in den Episteln des Paulus sich ausgerechnet im konfliktreichen 2.Korintherbrief finden. Diesen Brief hat die Wissenschaft in ihrer Auflösungswut in verschiedene unabhängige Schreiben aufgeteilt, von denen eines in der Forschung den Namen „Tränenbrief“ erhalten hat (vgl.2.Kor.2,4). Die Zersplitterung des Briefes ist sicherlich unnötig, … der enge Zusammenklang von viel Enttäuschung, Schmerz und Sorge in den Erfahrungen des Apostels und seiner schwierigsten Gemeinde mit einer reichen Trosterfahrung dagegen ist völlig naheliegend.
Nur Leid macht trostempfänglich; nur Tränen spülen den Staub des Gewohnten von den seelischen Geschmacksnerven und lassen sie kosten, was wirklich gnädig guttut.
Trost fließt also nur, wo vorher etwas Anderes, ja Entgegengesetztes sich Bahn gebrochen hat.
Vielleicht ist auch deshalb der Bei- und Nachgeschmack so schal und bitter, den die effektive Mitleidlosigkeit unserer Politik jüngst und wiederholt vor Augen führt. Dass der Präsident eines dem Verderben ausgelieferten Volkes zum Bundestag spricht … und man daraufhin die Geburtstage von Abgeordneten bedenkt und die Bundes-Kommission „Kleine Forscher“ besetzt, ist für Satire zu gnadenlos.
… Und dass trotz aller Beteuerungen des Mitgefühls in Wirklichkeit unsere Wirtschaft und unser Wohlstand das Einzige sind, was geschützt wird, während wir das Leben anderer keines Opfers für wert erachten, ist so wenig neu, wie es dennoch immer wieder, in unseren seltenen Momenten der Wahrnehmung eisig entsetzt. Trostlos, … ohne allen Trost ist es, wenn Schreckliches solch tiefen Spuren in die Gegenwart gräbt, und dann nichts an wirklicher Teilnahme und Verbundenheit, nichts an wirklich schmerzendem Wagnis jenseits unserer allerengsten Umgebung dadurch in Bewegung kommt, … weil die Angst alles blockiert.
Nun empfinde ich es wirklich, dass das das Amt der Verkündigung nicht das Geschäft der Politikschelte im Nebenerwerb betreiben soll. Und dass alle Verantwortlichen in Gemeinwesen und Gesellschaft vom Ausbruch der staatlich-russischen Zerstörungswut vor ungeheure Probleme gestellt werden, ist mir mehr als deutlich. Aber es ist eine Kritik, die gar nicht nur der Politik, sondern uns allen gelten muss, wenn nach vier Wochen abgründiger Grausamkeit im Krieg gegen die Ukraine der Eindruck sich festigt, dass bei aller - wunderbaren! - Hilfsbereitschaft hierzulande, die wirkliche Lehre aus dieser Katastrophe sich nicht durchsetzen kann: Die Lehre, die der Apostel Paulus an einer anderen Stelle seines Briefwechsels mit den Korinthern in die täuschend schlichte Sentenz kleidet: „Ich suche nicht meinen Nutzen, sondern den Nutzen aller, damit sie gerettet werden. Nehmt mich zum Vorbild, wie ich Christus zum Vorbild nehme.“ (1.Kor.10,33+11,1).
Den Nutzen Aller suchen.
In der Nachahmung Christi.
Die Beschränkung auf die eigene Rettung oder Sicherheit aufgeben.
… Gemeinschaft als Lebensmaßstab!
… Wenn nicht einmal das Ermorden der Kinder und das Anzünden des Hauses unseres Nachbarn an unserer eigenen grundsätzlichen Begrenzung auf private Maßstäbe etwas zu ändern vermag, dann geht es nicht um Politikschelte, sondern um das Schlagen an jede Brust - voran die eigene - auf der Suche nach einem Herzen.
Wo kein Mitleid, da kein Trost.
Sollte es wirklich nach vier Wochen Barbarei vor unseren Augen so sein, dass unsereins zu Ostern ausschließlich wieder sorgt für die Skiferien im Kunstschnee oder den Badeurlaub im Massengrab Mittelmeer, dann hilft auch der Sonntag Lætare - der Sonntag des Zwischenhochs im Leidensdruck - nichts. Dann gilt statt rosafarbenem Lætare[i] nur finsteres Levitenlesen!
Wir müssen die Katastrophen dieses Zeitalters - Krankheit, Krieg und Klima - uns zur Neuausrichtung unseres gesamten Lebens auf den Nutzen Aller und die Nachahmung Jesu treiben lassen, … sonst gehen wir in der Wüste zugrunde wie es dem Volk drohte, von dem wir in Leviticus lesen (vgl. bes. 3.Mose 26!). … Nur, dass es keine vierzig Jahre mehr sein werden ……. ———
Doch wenn das möglich ist, wovon der Apostel des einen großen Leibes Jesu Christi spricht – des Leibes, in dem keine Spaltung sein soll, weil alle Glieder in gleicher Weise füreinander sorgen sollen, so dass wenn ein Glied leidet, alle Glieder mitleiden und wenn ein Glied geehrt wird, sich alle Glieder mitfreuen sollen (1.Kor.12,25f) – … wenn das möglich ist, wovon der Apostel solcher körperschaftlichen Organisation und Anatomie der Menschengemeinschaft Gottes spricht, dann finden wir ausgerechnet in diesen Zeiten der schwersten Prüfung auch den Ansatz stärkster Hoffnung.
Denn wir sind nun einmal herausgerissen worden aus der Täuschung, alles werde schon glatt und gut gehen. Wir sind schonungslos schmerzhaft aus aller dummen Harmlosigkeit herauskatapultiert worden und sehen die Gefahr und Gefährdung des Menschen, … jedes Menschen, … aller Menschen klar vor Augen. Die Illusion, unsere Verdrängungsmanöver ließen uns sicher um fremde Not herumlavieren und wir könnten uns das Leid anderer vom Leib halten, ist vorüber. Entweder wir Menschen beginnen in echter Gemeinschaft zu leben … oder wir sterben miteinander.
In dieser ernsten Entscheidungsstunde der Geschichte schlägt darum aber unüberhörbar die Stunde des Christentums.
Das Christentum der zwölf Jünger und der galiläischen Frauen, das Christentum des Paulus und Barnabas und Timotheus, das zu den winzigen, versprengten Diasporagemeinden aus Juden und Griechen, aus Sklaven und Freien, aus männlichen und weiblichen Heiligen und Sündern in der römischen Diversitätsnorm führte, hatte ja von Anfang an einen größenwahnsinnigen - aber wie wir jetzt erkennen und bekennen müssen, auch rettenden! - Grundsatz: … Es meinte immer schon „ALLE“!!!
Allesamt sieht das Christentum die Menschen als Sünder (vgl.Rö.3,23) und bekennt gerade deshalb, dass allen Menschen geholfen werden solle (vgl.1.Tim.2,4).
Allen Menschen ist ja die heilsame Gnade Gottes erschienen (vgl.Titus 2,11) und drum sollen auch ausnahmslos alle Völker aller Welt in Jesu Namen gelehrt und getauft werden (vgl.Matth.28,19), weil alle, die an ihn glauben, gerettet werden (vgl. Joh3,16) und alle Zungen im Himmel und auf Erden einst bekennen müssen, dass er der Herr ist zur Ehre Gottes, des Vaters (vgl.Phil.2,11).
Und so wird schließlich alles, was Odem hat (vgl.Ps.150,6) Den anbeten und schauen, Der Alles in Allem sein wird (vgl.1.Kor.15, 28)!
… Alle, alle, alle, alle! …
Dieser im Anfang belächelte, auf manchen Strecken furchtbar missbrauchte und heute gedankenlos fallengelassene universale Anspruch des Christentums, dass Gott niemandem fern sei (vgl.Apg.17,27) und dass alles in seiner ganzen Problematik bloß und aufgedeckt vor Ihm ist (vgl.Hebr.4,13) und dass daher Er und Er allein tatsächlich alles in der verfallenden Welt wieder neu machen wird (vgl.Offenb.21,5), …dieser universale Anspruch des Christentums ist wahrhaftig das Gebot und die Verheißung der Stunde!
Die Einzelwege sind vorüber.
Das Denken bloß an sich ist gescheitert.
Der Kampf um’s Eigene ist aussichtlos geworden.
Wir können nur noch das Ganze zu Herzen nehmen und für jeden glauben, hoffen und lieben … oder wir geben jene Abschiedsvorstellung der töricht Todgeweihten, die Jesaja und Paulus in den anscheinend unseren Zeitgenossen abgelauschten, hedonistischen Zynismus kleideten: „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“ (Jes22,13/1.Kor.15,32).
Für andere also zu leben, für andere zu leiden, für andere stark zu sein und für andere sich hinzugeben, für andere Trost zu erfahren und für andere das Ziel des Daseins und seinen Sinn zu suchen und zu bewahren, ist die Übung, die Jesus vor- und Paulus nachgelebt hat, um die Gemeinschaft der neuen Menschheit, der Menschheit, die bei Trost ist, zu gründen und zu stärken.
Dahinter steckt keine Naivität. Beide - Jesus wie Paulus - haben giftigste Aggression erfahren, Unrecht erlitten und sind zu Opfern tödlicher Widersacher geworden.
Aber der Meister wie der Schüler, der Herr wie sein Apostel haben nur diesen Weg der umfassenden Stellvertretung, der Einbindung auch der Ablehnenden, der Sorge für die Feinde, der beharrlichen Bereitschaft zur Versöhnung, ja der überindividuellen Verschmelzung mit Gegenspielern, Gegenkräften und allen Gegnern insgesamt gekannt und uns geboten.
……. Im Ernst? … Im Ernst einer Zeit, die von Krieg und endgültiger Gewalt verdunkelt wird?
—— Genau in diesem Ernst!
Denn die Leiden Christi, die bis zum heutigen Tag reichlich über seine Nachfolger kommen in allen Bedrängnissen der Welt, sind gerade auch die Quelle des Trostes, der noch viel reichlicher darin entsteht.
Das ist ja das eigentliche Wunder der Passion Jesu Christi und des Passions-Gedächtnisses, das wir derzeit sechs Wochen lang begehen: Die Erfahrung bitterster Brutalität und furchtbarster Ohnmacht hat in der Urgemeinde von Jerusalem und den christlichen Gründungen des Paulus eine Gemeinschaft der Solidarität und nicht der Vergeltung hervorgebracht. Die Schar, die auf den Verachteten und Verwundeten, auf den Gekreuzigten und Getöteten getauft wurde, ist zu einer Bewegung der Liebe und des Lebens geworden. Die Anhänger des Opfers einer pervertierten Justiz haben erst recht an die Gerechtigkeit zu glauben gelernt. Die Kirche des besiegten Nazareners hat sich dem weltgeschichtlichen Kampf für eine Welt ohne Sieger und Besiegte je länger, desto mehr verschrieben. ——
Können alle solche Schritte der Nachfolge, können diese trostreichen Etappen und Erfahrungen, diese Errungenschaften und Erkenntnisse, dass Leiderleben nicht zu einer Leidensspirale, sondern zur Erlösung von Leid führen will, nun etwa durch das menschenverachtende Leid unserer Gegenwart ausgelöscht werden? —— Genau das kann und darf nicht sein!
……. Ohne irgendeins der gegenwärtigen Geschehnisse mit heilsgeschichtlicher Bedeutung aufzuladen, müssen wir uns doch an einen der allerersten, allerältesten Zusammenhänge erinnern, in denen in der Bibel Hader und Verrat, Gemeinheit, Hass, gewissenlose Täuschung und nackte Gewalt gegenüber Wehrlosen begegnen: Brüder sind es da, die über einen aus ihrer Mitte herfallen und ihn für ein paar Silberlinge verkaufen; Brüder, die einen, der ihnen nahestand, auslöschen und vergessen machen wollen, bloß weil er ihnen fremd erschien. Das Martyrium des Joseph, erst in seinem engen Schacht, dann deportiert nach Ägypten, als Heimatloser aufgestiegen, doch trotz seiner Tüchtigkeit nie wirklich in der Welt der Nilkultur integriert, sondern nur ein bei der Hungerabwehr hilfreicher Fremdkörper, … dieser Josephs-Roman führt bekanntlich zur Rettung vor dem furchtbaren Hungertod, als der ukrainische, … nein, der Delta-Weizen Ägyptens ausblieb. Die hinterhältigen Brüder werden ausgerechnet von ihrem Opfer gerettet! Und die ganze Dramatik des menschlichen Denkens und göttlichen Lenkens in dieser Schuld- und Wende-Geschichte wird in einem winzigen Satz zusammengepresst: „Ihr gedachtet es böse zu machen, Gott aber gedachte es gut zu machen!“ (1.Mose50,20)
Das ist der Satz, auf dem alles ruht, was wir glauben und was uns in Bedrängnis und Geduld zum Trost wird: Gott macht auch aus dem Leiden das Heil der Welt. Gott wendet sogar Sünde so, dass sie Segen bewirkt. Gott ist immer schon und wird ewig bleiben der Wiedergutmacher des von Menschenbosheit Verdorbenen.
Der Überfall Russlands sollte seine Gegner spalten. Er scheint sie in mancher Hinsicht enger verbunden zu haben. Das Grausen sollte die Überfallenen das Fürchten lehren. Sie lernten, die Freiheit noch mehr zu lieben. Die wieder so eng gezogenen Grenzen Europas haben sich vor den Flüchtlingen nicht verschlossen, sondern geweitet. Die reale Bedrohung der Auslöschung allen Lebens muss den Wandel zur Bewahrung des Lebens nun umso dringlicher beschleunigen, solange es noch „heute“ heißt (vgl.Hebr.3,13)! ———
Solche Hoffnung zu haben, die der ganzen Welt gilt, die insgesamt am Abgrund steht, … das ist der Trost, der nur durch die Erfahrung der heutigen Leiden geweckt werden kann.
Da wir wahrhaftig nicht mehr ohne Leid, … ohne Mitleid auch nur einen einzigen kurzen Blick in unsere Zeit tun können, … darum geht’s nun wirklich um den Trost, der nicht uns, sondern Allen gilt!
Wenn wir ihn empfangen, spüren, festhalten dürfen – so wie Maria am vorgestrigen Tag der Verkündigung des Herrn den Erlöser aller Menschen empfing – … wenn wir diesen Trost also haben sollten und wachsen sehen, dann in jener allumfassenden, nie mehr zu leugnenden oder zu lassenden Gemeinschaft Aller.
Denn wer am Leiden teilhat, hat auch am Trost teil! ———
Und darum: Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes!
Gelobt sei der Sohn, dessen Passionsleiden aus dem Bösen das Gute für die gesamte Welt gemacht hat!
Gelobt sei der Geist, den uns der Vater und der Sohn als Tröster senden![ii]
Amen.
[i] Das neue Evangelische Gottesdienstbuch sieht tatsächlich als liturgische Farbe des Sonntags in der Mitte der Passionszeit Rosa vor.
[ii] Nach der Predigt wurde gesungen: EG 133, 6 – 9. Gott sei Dank auch dafür, dass wir die Choräle des Barock, aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges noch immer in unseren Gesangbüchern haben! … Was würden wir nur singen, wenn die Leiden und der Trost der Väter uns nicht solche Worte liehen?!
Okuli, 20.03.2022, Stadtkirche, 1.Könige 19, 1 - 13a, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Okuli - 20.III.2022
1.Könige 19, 1-13a
Liebe Gemeinde!
Mord ist nicht mein Hobby.
Aber…….
Irgendwann habe ich zwar aufgehört, es mir noch ausdrücklich zu merken, doch seit dem 24.Februar dürfte wohl immer noch kein Tag vergangen sein, an dem mir nicht jemand - ein liebenswerter Mensch, ein bürgerlicher Zeitgenosse, eine vollendete Dame - gesagt hat, es müsse einfach einen gewaltsamen Tod geben: Ein Geheimdienst oder ein zweiter Stauffenberg oder - Sapperlot nochmal! - ein letzter zurechnungsfähiger Berater müsse doch den Wahnsinn des Krieges abkürzen, indem er das Leben des Kriegstreibers im Kreml beendet.
… Vielleicht war auch ich es, der das gesagt oder hervorgerufen hat.
… Das Gefühl, das unerträgliche Morden durch einen erträglichen Mord beenden zu wollen, ist mir nicht fremd.
… Irgendwo in Rumänien läuft tatsächlich sogar einer rum, der es mir erspart hat, selbst ein Mörder zu werden. Mit 20 Jahren hatte mich im Herbst der Freiheit 1989 die Wut über den tyrannischen Schlächter Ceauşescu so gepackt, dass ich mit einem anderen Pfarrerssohn im Theologiestudium davon phantasierte, in Bukarest eine Schillerballade mit Dolch im Gewande oder Pistole im Anorak auszuführen. … Weil es die letzten Tage des Advent waren und wir das Brandenburger Tor noch aufgehen sehen wollten, verschoben wir die Verschwörung auf nach Weihnachten, … wie Pfarrerssöhne eben sind. … Ein anderer kam unserm unreifen Schwachsinn im Ernst zuvor.
Aber Gott weiß, was ich damals dachte. ———
Der verzweifelte Zorn über die moralische Verkommenheit und die selbstzerstörerische Verblendung von Menschen hat auch den Propheten Elia gerüttelt. Er sah sich einer er-drückenden Übermacht von Zeitgenossen gegenüber, die aufgepeitscht waren vom Kult nackter Kraftvergötzung: Der Pseudo-Gott Baal, der das Potenzgehabe und Brunftspektakel der Wildbahn verkörpert, hatte Israel ergriffen. Man feierte wie im Rausch, dass im Reich der Natur angeblich immer der Stärkere gewinnt und sich dann grenzenlos ausbreitet und vermehrt, wuchernd fruchtbar wird. Dieser Baals-Dienst ist die interkulturellste Form der Amoral: Gier, Trieb und Sieg sind seine Motive, und seine Gemeinde ist bis heute in allen Völkern zahlreich.
Als Elia zur Zeit der großen Hungersnot aber auf dem Karmel erlebte, dass trotz der Urgewalten des Baalismus der Befreier Israels, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, Der ein Gott des Rechtes und der Gerechtigkeit ist, Sich gegenüber dem Götzen der Genusssucht als lebendig, hörend, wundertätig erwies, da riss es ihn hin zu unkontrollierter Rache an den Anhängern der „Wer-wächst-hat-Recht“-Weltanschauung. Elias Leiden an der rechtverdrängenden Triebreligion Baals entlud sich in seinen verdrängten Rachetrieben, als er die Propheten Baals nach dem Gottesurteil auf dem Karmel schlicht schlachtete (vgl.1.Könige 18). …….
Doch auf das deutsche Wort Mord ist das seelische Echo immer der gleichlautende französische Klang („mort“): Wer Mord begeht, der weckt seinen eigenen Tod, so dass er keinen Frieden mehr findet.
Elia fühlt wie das Morden ihn dem Tod geweiht hat. Er kann nicht weiterleben. Will sterben.
Gott aber führt den blutschuldigen Menschen, den das Töten lebensmüde gemacht hat, in die Wüste, in’s Reich des Fastens und der Reinigung, in dem der selbstmörderisch gewordene Mörder noch „einen langen Weg vor sich hat“.
…Das ist der Weg der Schuld.
… Der Weg, für den uns niemand bereitmachen kann, außer Gott.
Und wir müssen gut und tapfer hinhören, wenn wir mit dem schuldigen Gottesmann Elia die vierzig Tage und Nächte in die Wüste hin zum Horeb wandern, wo der verzehrende Gott der Befreiung und der Gerechtigkeit einst dem Mose im Dornbusch erschienen war (vgl.2.Mose3,1).
… Denn dieser Weg der Schuld liegt auch vor uns. Nicht nur, weil wir als Sünder zur Welt kommen und die Sünde unser Erbteil ist wie Atmen und Geliebtseinwollen.
Wir sind schlicht auch schuldig, blutschuldig, weil die Geschichte des Menschengeschlechtes uns dazu macht. … Spätestens seit dem 24.Februar können wir das nicht mehr vergessen! Spätestens seit dem Tag, von dem an wir alle immer wieder einen suchen, der den Mörder ermorden könnte, um uns uns unschuldiger fühlen zu lassen.
Doch das quälend Unzweifelhafte ist nun einmal geschehen: Vor aller Energieabhängigkeit und aller Furcht vor Eskalationen sind wir sämtlich schlicht zu Zeugen eines Verbrechens an der Ukraine geworden, das uns als Mitwisser am Vergießen von Menschenblut schuldig macht. … Und würden wir eingreifen in den Krieg, würden wir schuldig als Mittäter. … Schuldig - oder: Schuldig! ———
Es sind darum keine Spekulationen - und waren es tatsächlich auch nie! -, wenn wir die erschütternde Botschaft der Bibel hören, die von einem Menschen berichtet, der an fremder Lust zum Bösen ebenso wie an seiner eigenen Last des Bösen verzweifelt, und wenn wir dann spüren, dass mit diesem unschuldig-schuldigen, lebensverwirkenden, zum Tod resignierten Menschen wir gemeint sind!
… Richtig erschüttern aber muss es uns, wenn wir dann hören, dass Gott diesen Menschen in der Vermischung von gutem Wollen und böser Schuld eben nicht liegen und verrecken lässt, sondern ihn auf einem Weg - sagen wir’s ruhig! - … auf einem Weg der „Läuterung“ begleitet!
Was aber ist es, das den von einem Engel gestärkten, durch Brot und Krug am Leben erhaltenen Elia am Gottesberg erwartet?
Was ist es, das auch uns, vor aller Schuld schon schuldig Verwickelte jenseits des langen Weges vor uns durch diese drückend-schwere Zeit erwartet?
– Die Stille.
Es ist eine Höhle da, wo Gott die Müden und Entsetzten, die Traurigen und Verwirrten, die Untätigen und die Blutigen unter Seine Hand stellt. Und dann schlägt die Hand nicht, in die Elia sich da schmiegt, und sie presst auch nicht und macht keinen kurzen Prozess und zermalmt den verlorenen Menschen nicht einfach wieder zu Staub, wie wir die Mücke, sondern dann kommt Gott nach dem Schrecken, durch den der Mensch gewandert ist, nach dem Durst und der Ratlosigkeit und der Reue und der Ermattung … und offenbart Sich! ——
Dass es eine solche Offenbarung, ein schützendes Dasein Gottes für den Elia, für den Menschen in seinem Zweispalt und seiner Not gibt, allein das ist ja schon Grund zu tiefstem Aufatmen und stärkster Hoffnung in den bedrückenden, erstickenden Ereignissen unserer Tage! Dass wir selber und auch dass wir stellvertretend für die mutigen und sterbensmatten, für die kämpfenden und für die zerbrochenen Menschen zwischen dem Donbass und Lemberg Gott entgegen ziehen, Der die ausgelieferten Opfer und ihre Mörder in der Person des Propheten Elia gleichzeitig unter den Schatten Seiner Flügel sammelt, das ist das Evangelium vom Horeb!
Dieses Evangelium für die Sünder heißt, dass Gott ihnen in Seiner Gegenwart und an Seiner Hand den Jüngsten Tag bereitet, … den Tag, an dem das ganze Höllenspektakel der zurückliegenden Tage noch einmal an ihnen vorübergeht: „In deinem Aufwallen wenden alle unsere Tage“, übersetzen Rosenzweig und Buber den berühmten Vers (9) aus dem 90.Psalm, „wir lassen unsere Jahre wie einen Seufzer vergehen“.
… Ja, da wird es alles noch einmal seufzen und stöhnen und aufwallen, wenn der Sturm und das Beben und das Feuer, die wir Menschen entfachten, an uns vorüberheulen. Mit allen erlebten und erlittenen Gewalten, mit allem Unheil, das die Welt zittern machte und allem Toben des Zerstörerischen werden wir wie bei jeder Therapie und Lossprechung, bei jedem Aufarbeiten und Bewältigen noch einmal konfrontiert: Und werden erkennen müssen, … werden erkennen dürfen, dass diese scheinbar letzten Erfahrungen, diese das Leben und die Geschichte endgültig wendenden Katastrophen und Gefahren nicht das Werk und nicht das Wort sind, an denen sich tatsächlich alles entscheidet.
Der HERR war nicht im Winde.
Der HERR war nicht im Erdbeben.
Der HERR war nicht im Feuer. ————
Wo aber war der HERR?
Wo ist Er in den Erschütterungen und Grausamkeiten und Vernichtungen dieser Tage des Zornes, der Rache und des Untergangs? …
Treten wir – wir!, in unserer ohnehin ja so harmlosen Zuschauerrolle! – doch noch einen Schritt weiter zurück und geben uns Rechenschaft, wo wir die Spuren unseres Glaubens, ja, wo wir unsere Glaubensgewissheiten finden, wenn Pulver und Dampf, Geschrei und Pandämonium jeder akuten Katastrophe sich wieder gelegt haben?
… Von den Schlachten und Schlächtern finden wir, wenn ihre Sturmstunde, ihr augenblickliches Beben-Machen vergangen sind, alsbald nichts mehr!
– Es hat in der südlichen Ukraine schon einmal einen scheußlichen Krieg gegeben, … Menschenmetzgern, Seuchenleid. Aber wer von uns könnte Näheres über Zusammenhang, Hergang und Wendepunkte des Krimkrieges vor 170 Jahren sagen? … Nur eines wissen wir noch - gerade wir in Kaiserswerth -, wenn von diesem ersten Krieg mit industriellen Massenwaffen, mit menschenverachtenden Belagerungen an der Schwarzmeerküste und gewaltigem Tötungsaufwand die Rede ist: Dass da nachts, zwischen den stöhnenden Sterbenden eine Frau durch die widerlichen Lazarette gegangen ist, die eine Lampe trug. Und das Licht ihres Lämpchens, die Hand auf der Stirn der Versehrten im Fieberdelir, das bisschen Wasser oder Jodtinktur in den grässlichen Wunden: Die sehen und spüren wir noch, während Menschikow, Totleben und Raglan, ihre Siege und Finten, ihr Heldentum und ihre Schande längst verblasst sind. Das in Kaiserswerth entzündete Nachtlicht von Florence Nightingale – das leuchtet! —
– Oder das Pappschild der Marina Owsjannikowa: Die wenigen Sekunden Menschenmut, die da im Staatsfernsehen Russlands aufblitzten, als sie den handgeschriebenen Schrei ihres Gewissens, das keinen Krieg und keine Lüge mehr decken konnte, hochhielt, waren eine Sternstunde der Wahrheit, der Freiheit und der Würde. Ein Pappdeckel und wenige flüchtige gekritzelte Worte genügten, um das unvergängliche Pathos des „Die Wahrheit wird euch freimachen“ (Joh.8,32b) vor aller Welt zu vergegenwärtigen! —
– Oder die ergebnislose, aber schlicht beschämend beherzte Geste der gefährlichen Reise der drei Staatsoberhäupter Polens, Sloweniens und Tschechiens, die ins bedrängte Kiew fuhren, um an der Seite der kämpfenden ukrainischen Verantwortlichen einfach leibhaftig auszuharren wie Hiobs drei Freunde, ehe sie begannen, den Dulder zu beschwätzen und zu vertrösten.
– Oder die eindrückliche Predigt[i] von Vater Ioann Burdin, einem Dorfpopen im russischen Karabanovo, der vor vierzehn Tagen, am orthodoxen Sonntag der Vergebung ganz biblisch-schlicht den Gläubigen erklärte, dass wir Christen nicht müßig danebenstehen dürfen, wenn menschliches Blut vergossen wird. Er wurde als einer der Ersten nach der neuen russischen Gesetzgebung wegen Diskreditierung der Armee zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, und Schlimmeres droht ihm. Aber er hat bewiesen, dass auch in der russischen Kirche wahrlich noch Knie übrig sind, die sich nicht vor Baal gebeugt haben und Münder, die ihn nicht küssten (vgl.1.Könige19,18)!
Wo also ist der HERR?
Im stillen, sanften Sausen – oder wie wiederum Buber und Rosenzweig übersetzen: „In der Stimme verschwebenden Schweigens.“
Gott ist mitten in den Turbulenzen und dem Chaos, in den Strudeln und der Sündflut der Zeit, … aber eben nicht da, wo die Kriegstreiber ihren Lärm machen und auch nicht im entfesselten Wüten derer, die die Verbrechen der Menschheit anstacheln oder deuten, sondern in den kaum vernehmlichen Stimmen, die im dunklen Bunker beten und trösten, die nach dem Angriff ihre Nachbarn vorsichtig beim Namen rufen, die heimlich bei Nacht das bisschen Buchweizen und Wasser in’s Theater von Mariupol zu den Zusammengepferchten brachten, die in den Trümmern tragen, im Hunger teilen und im Hagel einfach standhalten bis zuletzt.
In diesen leisen, unhörbaren, nicht die Welt verändernden, aber den Himmel erfüllenden Silben und Gesten der Treue, der Liebe, der Hoffnung, in diesem verschwebenden Schweigen, das das Ewige noch in der Implosion alles Irdischen bezeugt und aus dem Krachen der Hölle in den Frieden der kommenden Welt übersetzt, da ist der HERR!
Denn – ein Satz, den ich nie sagen zu müssen erwartete – denn alles, … auch der Krieg wird vor Gott und von Ihm entschieden. Er hat auch das, was Menschen heute erleiden, schon entschieden: Nicht im Tosen, nicht im Zittern, nicht in der Glut: … In der Stille ist ER … auch jetzt, bei diesem Atemzug – für uns einer von unzähligen, für Unzählige der letzte! ——
Nun mögen und können wir, die Zuschauer es nicht vorschnell beurteilen, dass es diese Stille mitten im Auge des Wirbels gibt.
Aber bei Elia am Horeb werden wir ihre Zeugen.
Und darum kann man nur bitten, dass auch wir immer einen Tropfen Trost-Öl in unsrer Lampe, einen Fetzen Pappe, groß genug für die Wahrheit, Standhaftigkeit in Trübsal und ein lauteres Herz für Gottes unvergängliche Maßstäbe haben mögen!
Damit uns der jüngste Tag, der Tag heute nicht anders und nirgends sonst antrifft, als mit Elia im Schweigen, das uns Gottes Gegenwart zeigt … die Gegenwart Dessen, Der hier und bei den Leidenden, den Schuldigen, den Sterbenden, den Lebenden jenen Frieden schafft und hält, der höher ist als alle Vernunft (vgl.Phil.4,7).
Amen.
Reminiszere, 13.03.2022, Stadtkirche, Matthäus 26,35-46, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reminiszere - 13.III.2022
Matthäus 26,36 - 46
Liebe Gemeinde!
Die Wehen von Gethsemane leiten die Geburt einer neuen Welt ein.
Sie wäre nicht wirklich geworden, wenn das Verständliche, das Unerträgliche dort nicht geschehen wäre: In Gethsemane stieß der Erlöser der Welt an seine Grenzen, der Herr verlor dort die Beherrschung.
Das könnte also das Neue sein, das da in der Nacht von Angst und Tränen - und wie Lukas ergänzt: spontaner Blutung dessen, der in diesen Wehen lag (vgl.Lk.22,44) - entstand.
Eine Welt, in der Gott aufgeben will. Eine Welt, die es vielleicht nicht wert ist, dass man ihre Schmerzen bis zur Neige erleidet. … Eine Welt, die nicht zu retten sein könnte. …….
Denn genau darum geht es, und wir dürfen keine Gewöhnung, kein Wissen um das Ende vom Lied uns abstumpfen lassen für die unerhörte Spannung von Gethsemane. Dort macht ja nicht nur ein ohnehin schon ausgemergelter, strapazierter Hungerkünstler und Wanderprediger aus Galiläa schlapp; dort fordert ja nicht nur die Natur mit ihrem Angstreflex und Fluchtinstinkt ihren Tribut von einem Menschen unter höchstem Druck, sondern dort hängt’s in der Schwebe, ob nicht gleich Gottes Plan zusammenbricht. ……
Wenn uns die Botschaft der Kirche nämlich irgendetwas sagt, wenn uns das Bekenntnis, zu dem sie kam, auch nur im Ansatz verpflichtet, dann müssen wir gerade in der Passionszeit die eine entscheidende Grundlage dessen, was Christentum bedeutet, vor Augen haben: Christentum bedeutet, in dem Mann aus Nazareth nicht nur den Kumpel zu sehen, … den Typen, in dem wir uns wiederfinden, … den Menschen, der Mut macht, weil er so echt ist, … den Lehrer, der so kluge Dinge sagt, … den Meister, der so große Dinge tut, … den Helden, der so sagenhafte Vorbildqualitäten bündelt, … sondern Christentum bedeutet, in dem unscheinbaren, unbekannten, hinfälligen und angefochtenen, versuchten, verstörten, ausgelieferten, misshandelten, wehrlosen, rettungslosen Leidenden GOTT zu sehen!
… Wenn das aber wahr ist, dann ist in dem Hain Gethsemane etwas geschehen, das Himmel und Erde und die Zeitalter und Abgründe des Kosmos in ein unbekanntes Licht taucht.
… Denn so offen hat sich noch keine lenkende Kraft, keine bestimmende Macht, kein Schicksal, keine Notwendigkeit, kein Zufall in die Karten gucken lassen. Alle anderen Gewalten leben vom Geheimnis, das sie umgibt. Nur der lebendige Gott, von Dem und zu Dem alle Dinge sind, macht keinen Hehl aus dieser Stunde auf des Messers Schneide.
Die Jünger verschliefen zwar seine Agonie, aber das Zeugnis der Evangelisten breitet sie vor der ganzen Welt aus: Was erst die Tagebücher eines Dag Hammerskjöld oder einer Mutter Teresa der entsetzten Nachwelt aufdeckten - das fast unglaubliche Privaterleben schwindelerregender Zweifel -, …was man erst aus nachgelassenen Aufzeichnungen in dieser schockierenden Blöße erfahren sollte - wie trostlos die Anfechtung einer Therese von Lisieux oder eines Jochen Klepper waren -, das gehört im Neuen Testament zum Kern der Offenbarung: Ohnmacht der Allmacht, … Bruchgefahr des Heils, … Not Gottes!
In einer solchen Welt lebten die Heiden nicht: Ihre Götter waren launisch, willkürlich und herrisch. Aber die Sterblichen konnten sie nicht zum Weinen bringen.
In einer solchen Welt leben auch die säkularen Zeitgenossen nicht, deren Instanzen vielleicht Naturgesetz, Kausalität oder Thermodynamik heißen oder völlig ungesteuerte Spiele des Beiläufigen sind. Auch hier gibt es nichts und niemandem, dem der Mensch wehtun könnte.
Der biblische Passionsbericht dagegen lässt uns das buchstäblich peinliche, das schmerzende und schändliche Schauspiel sehen, wie unsere Schuld und unser Schrecken Gott demütigen, Gott zermürben und in’s Scheitern treiben.
Da liegt der fleischgewordene Logos, der reale Sinn der ganzen Schöpfung ganz er-schöpft am Boden. Es bricht ihm Herz und Genick, das drückende Gewicht seiner Liebe zu den Sündern tragen zu müssen. So weit hat es die Menschheit, die keine Gnade will, gebracht, dass der Allmächtige und Gnädige meint, nicht mehr weiter zu können.
… Dies Tragödie erkennen natürlich nur jene, die bei der Frage nach Christus nicht bloß den Menschen sehen, in dem sich etwas von Gott zeigt. Für eine solche Einwohnungs-Christologie, der zufolge in dem Menschen Jesus von Nazareth sich Gott besonders intensiv bemerkbar macht, ist der mentale Breakdown von Gethsemane fast zwangsläufig: Dass es dem braven Kerl, der vor drei Jahren noch ein Schreinergeselle war wie du und ich, einfach zu viel werden musste, die undankbare Stelle eines gern verdrängten, ja, am liebsten abgeschafften Gottes zu vertreten, kann jeder verstehen. Das Heulen unter den Ölbäumen, als alle anderen nach dem Festmahl ihr Verdauungsnickerchen halten, ist bloß das sprichwörtliche „arme Tier“, das in dem überforderten Menschen rebelliert. …
Aber so kann die Christologie der Menschwerdung Gottes, die ernstnimmt, dass Gott nicht unter Vorbehalt, sondern bis zur letzten Konsequenz in die Wirklichkeit von Menschenkind und Menschenkörper, Menschenlos und Menschenleid eingegangen ist, es nicht erklären.
Sie steht vielmehr vor der ganzen Wucht der Tatsache, dass Gott, der Sohn von elementarer Panik geschüttelt wird, nicht aushalten zu können, was er um Gottes, des Vaters willen doch als nötig erkennt: Mensch in der unmenschlichen Entmenschlichung, die Menschen Menschen zufügen können, zu bleiben, … das Bild Gottes also auch in Qual und Mord und Hölle nicht auslöschen zu lassen. ———
Warum dieser Umweg über die hohe, die orthodoxe Christologie, die mit den uralten, längst vergangenen Konzilien von Nicäa und Chalzedon verbunden ist, bei denen die sog. „Väter“ um die zwei Naturen in Christus und deren Verhältnis zueinander stritten, … warum dieser Umweg über die hohe Christologie, um sich doch nur dem Tiefpunkt eines zerrissenen Gottmenschen zu nähern, der in der einsamen Nacht von Gethsemane den wahnsinnig erscheinenden und Wahnsinn auslösenden inneren Monolog erleidet zwischen dem, der den Kelch nicht trinken will und Dem, Dessen Wille dennoch geschehen soll?
… Weil es anders gedeutet nur eine leere, trostlose, gewaltsame und wie alle Gewalt letztlich brutal nihilistische Geschichte wäre, wenn hier einer, der etwas Schreckliches muss, bei der Unterwerfung belauscht und geschildert würde.
…Hier wird aber kein Mensch dem blinden Befehl eines unerbittlichen Gottes geopfert. Und wir werden hier auch nicht Zeugen davon, wie die völlig natürliche Todesfurcht einer Kreatur schließlich durch gehorsame Selbstaufopferung überwunden wird.
Sondern hier erfasst uns die Ahnung, dass Gottes Bei-uns-Sein und Für-uns-Sein Ihm – Gott selbst! – Unerträgliches zufügt und abverlangt.
Gott wird vom Leid, das Er nicht will und das Ihn erdrückt, zerrissen: Das zeigt Gethsemane.
… Gott weiß nicht, wie lange Er die Schrecken aushalten kann:
… Wie lange kann Er den Durst in Mariupol aushalten und das Frieren in den Kellern?
… Gott wird mürbe im Grauen der Belagerungen, wo Er in Müttern und in Neugeborenen und kleinen Kindern Passionszeit leidet, die mit dem ersten Atemzug beginnt, und Er schwitzt Blut und Wasser in all den Seelen, die als Mörder und als Opfer um Kiew und in Kiew sich gegenseitig verderben sollen.
… Vom Säurebad der vielen Lügen, die im Krieg alles durchtränken, schwinden Gott die Sinne … Er will den Kelch nicht trinken müssen!
… Und wenn Er sich nach den Freunden umsieht, den Verbündeten, die doch so forsch an Seiner Seite zu sein vorgaben, dann Wehe!, Wehe! über Gott, den Verlassenen.
… Und Wehe!, Wehe! über Gott, den Mutterseeleneinsamen, Der in den Burschen in der russischen Uniform so ausgesetzt und so verraten irgendwo auf dunklen Straßen im brenzligen Vorgefühl des nahen Verhängnisses in die Hosen scheißen könnte und heim zur Mama will.
… Und überhaupt: Die tausend schönen Bilder Seiner lieben Mutter - die Ikonen, die „Freude aller Leidenden“ oder „Lindere meinen Kummer“ heißen - und die nun in den Kirchen, Klöstern und Häusern der Ukraine durch Christen missachtet, verbrannt und zertrümmert werden!
… Und die Sonnenblumen, die bis zum Horizont auf den Feldern stehen sollten, damit die Armen Öl haben, und der gelbe Weizen unterm blauen Himmel, das Brot des nächsten Winters, in dem nun so viele Menschen weltweit werden hungern müssen, … es dreht Gott den Magen um, Der doch an diesem Abend von Gethsemane Selbst Seinen Leib als Brot dahingegeben hat, damit die Welt an Seinem Tisch satt werde! …….,
Aber das Schwerste, das für uns Menschen eigentlich Unvorstellbare an der Gethsemane-Spannung, die Gott unter dem Druck der Menschheit erleidet, ist das, wovon der Wochenspruch (Röm.5,8) redet: Dass Gott nicht anders kann, als die Sünder … zu lieben?!
Gethsemane, das ist der Ort, an dem der traurigste Kuss der Welt gegeben und empfangen wird: „Siehe, er ist da, der mich verrät“
… Was für eine Bitterkeit Gott in der Liebe erfährt!
Und was für eine Liebe in dieser Bitterkeit!
Judas wird gleich mit dem Kuss, der alles besiegelt. zwei Worte sagen, die alles umfassen: Er wird Jesus mit dem Gruß grüßen, den der Engel Maria bei der Verkündigung entbot: „Freue Dich!“ (Χαῖρε! Matth.26,49 vgl. Lk.1,28!), und er wird ihn nennen „Rabbi!“, wie Maria Magdalena beim Wiedererkennen am Ostermorgen (Matth.26,49 vgl. Joh.20,16). … Anfang und Vollendung in der bitteren Liebe des Sünders, der bitteren Liebe zum Sünder!
Das macht Gethsemane so unerträglich: Dass der leidende Gott-und-Mensch da nicht einfach auf und davon kann, sich aus der Affäre ziehen, sich emporschwingen zu den Regionen ungerührter Erhabenheit über der Misere aller dieser Dinge.
Nein, Er bleibt der Gefangene Seiner schmerzhaften Liebe zu den Sündern, den Verrätern, Häschern, Folterern, den Kommandeuren und Prokuratoren und Agitatoren, die Ihn kreuzigen lassen.
Er bleibt, weil der Wille zur Liebe Ihn bindet.
Nicht sein menschlicher Wunsch und Wille, das aussichtlose, grauenerregend schmerzhafte Elend nicht weiter aushalten zu müssen, sondern dieser Wille letzter, endgültiger, langmütiger Liebe wird Jesus im Garten der Ohnmacht und Agonie, in der Schicksalsgemeinschaft mit den umzingelten Todgeweihten und verzweifelten Freiheitssuchenden unserer Tage ausharren und für immer ihr Genosse im Leiden bleiben lassen.
Und er wird dabei das tun, was man heute kaum hörbar aussprechen mag: Sein Leiden aus Liebe auch denen zugutekommen lassen, die des Hasses sind und gehasst werden.
Jesus zieht sich vom Schauplatz der Geschichte - Gethsemane - nicht zurück … auch um Putins willen.
Wenn Er diesen aufgäbe, … wenn Er den Pilatus damals aufgegeben hätte, … wenn Er den Judas aufgegeben hätte, der mit Ihm für alle Zeiten den Tag des letzten inneren Kampfes und des Todes teilen wird, … wenn Er die Sünder aufgäbe, dann wäre Er eben ein Mensch an der Grenze der Zumutungen, an der Grenze aller Belastbarkeit, ein Mensch an der Grenze des Nichts, der da endlich zunichtewird.
Aber wenn wir auf Ihn schauen, in seinem Kampf mit der Last aller Welt und der Schuld des ganzen Menschengeschlechts und der Angst aller Sterblichen und der Trüb-sal aller Verlassenen unter dem Himmel, … dann sehen wir Ihn unter den Menschen für die Menschen leiden, … unter ALLEN und für ALLE! ———
Und hinter dem Jammerbild des beinah an Seiner Liebe zu den Lieblosen zerbrechenden Gottes ahnen wir aus der Tiefe der Vorzeit jenes geheimnisumwitterte Vorzeichen aufragen, von dem unsere heutige Lesung (4.Mose 21, 4-9) sprach.
Die Israeliten wurden von den durch sie selbst heraufbeschworenen Angriffen der Schlangen in der Wüste geheilt, indem sie ihren Blick fest ausgerechnet auf eine eherne Schlange richten sollten:
Von denen, deren Biss den Tod brachte, sollte durch einen beruhigten Blick das Leben kommen.
Von dorther, wo das Gift war, musste auch die Heilung stammen. …
Da, wo wir nur den Hass erkennen, muss demnach auch die Liebe zu finden sein.
Wo wir nichts als das Böse entdecken, ist auch die Güte zu suchen.
Wo wir den Feind ausmachen, wartet der künftig mit uns Versöhnte.
Diese völlig verwandelte Wirklichkeit, in der die Quelle des Horrors zum Ursprung des Heils wird, verdankt ihre Entstehung aber eben wirklich Gethsemane.
Dort zeigt sich, wie bitter das Leid ist, das Gott in Jesus erträgt bis zum Ende, um nicht Seine Liebe zu denen zu verraten und zu verlassen, die Ihm feind sind.
Nur aus diesem bitteren Leiden kann darum aber auch die Versöhnung kommen.
Der die Schrecken aushielt - einmal, noch einmal, ein drittes Mal -, Der will ja, dass die Schrecklichen schließlich Gesegnete werden.
Er entzieht sich ihrer Grausamkeit nicht, weil Er nur so ihre Grausamkeit einst ihnen wird entziehen können durch Seine Vergebung.
Er lässt Sich zu ihrem Opfer machen, opfert Sich ihnen, damit Er das Opfer zu ihrer Versöhnung werden kann. ——
Nicht menschlicher, sondern göttlicher Wille ist das! ——
Wenn wir aber nach Gethsemane blicken, dann sehen wir dort in der Dunkelheit und hören im Stöhnen dieser Nacht die schwachen Umrisse und die fast noch erstickte Andeutung, was dieses Leiden aus Liebe schaffen wird:
… Dass die selbe Welt, die uns heute so finster erscheint, den Glanz des schönsten Lichtes widerspiegeln wird.
… Dass dort, wo wir bloß ausweglose Not sehen, sich Zukunft auftun kann.
… Dass der blanke Hass beigelegt werden und dass Frieden sich zeigen soll auf den verzerrten Zügen und in den verletzten Seelen so vieler Menschen.
Wir wollen – weil Gott es in Gethsemane darauf schließlich angelegt hat, indem Er sich nicht entzog – daran glauben.
Und wollen beten, dass unser Glaube nicht von der Angst des schwachen Fleisches, sondern von der Willigkeit des Geistes Gottes zu lieben geprägt sei.
Und dass dieser Wille geschehe!
Amen.
Invokavit, 06.03.2022, Stadtkirche, 2.Korinther 6, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Invokavit - 6.III.2022
2.Korinther 6, 1-10
Liebe Gemeinde!
Die Hand zittert beim Schreiben, der Kopf beim Denken, die Stimme beim Sprechen, das Herz beim Hören. … Wenn wir das herrliche Evangelium von Jesus Christus in so höllischer Zeit fassen und weitergeben sollen, greifen zwei Kräfte gleichzeitig nach uns: Eine Freude, die kein Mund aussprechen kann und ein unbeschreiblicher Kummer, … Frieden und Krieg also, … Gnade und Verzweiflung. ——
Wie wollen wir im Angesicht der Kolonnen und Belagerungen von Mariupol, Kherson, Charkiw und Kiew, des Beschusses und der Gewalt, der Fliehenden und der Eingekesselten, der Zu-allem-Entschlossenen und der Unschuldig-Verdammten das himmlische Rettungswort Gottes mit der Grausamkeit auf Erden verbinden können?
Wie wollen wir den feiern, dessen Leidenszeit das Leid der Zeit vergehen und ewige Leichtigkeit des Seins schaffen soll?
Wie wollen wir solchen seligen Glauben bekennen, wenn wir so verfluchte Dinge erleben wie die Auferstehung des totgesagten Völkerkampfes in Europa und das Spiel mit aller Tage Abend?
……. Es stimmt doch nicht zusammen. Es sperrt sich doch. Man bleibt doch hängen in den unlösbar verwirrten Widersprüchen von Heil und Unheil.
……. So klamüsert der systematische Buchhalter in unserem Kopf: Entgegengesetzte Vorzeichen heben sich nach seiner Rechengewohnheit auf. Was nicht auf einen Nenner zu bringen ist, bleibt ohne Verbindung. Und also ohne sinnvollen Bezug. Und irgendwann entscheidet sich der brave Rechnungsprüfer, der die unverständliche Wirklichkeit bilanzieren will, dass es einen dummen Rechtschreibfehler gegeben haben muss: In dieser Welt kann es keine Rubrik geben, die „Zeichen und Wunder“ heißt, … der letzte Buchstabe muss in Wahrheit ein kleines „n“ sein. Nur „Zeichen und Wunden“ kann man aufzählen. … So ist Passionszeit! Der Kreuzweg der Ukraine. Die Via dolorosa der armen Soldaten und der armen Zivilisten. Das Golgatha der menschlichen Geschichte. … Zeichen und Wunden. Ohne Lösung, ohne Sinn. …….
Und ausgerechnet an einem solchen Satanssonntag, an dem uns sogar in Wochenspruch (1.Joh.3,8b) und Schriftlesung (Hiob 2) nur diabolische Konflikte begegnen, treffen wir auf den komplizierten Apostel Paulus, der seiner vielfach gespaltenen, tief misstrauischen Gemeinde in Korinth auf dem Höhepunkt von Wirren und Zerwürfnissen eine sonderbare Ansage macht. Er zitiert aus dem einzigartig beflügelnden Buch des Trostpropheten Jesaja, der nach der Höllenfahrt Israels in der babylonischen Gefangenschaft die Heilswende der Geschichte, das Ende des Exils ausrief. Und nichts als diesen Ruf der Erlösung bekräftigt Paulus mitten in der Zerreißprobe von Korinth:
„Siehe, jetzt ist die angenehme Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils“!?
Es stimmt doch nicht zusammen. Es sperrt sich doch. …….
Doch gerade darum sind wir hier!
Zum Brunnen kommt man nicht ohne Durst.
Das Licht der Lampe erkennt man erst im Dunkeln.
Und das reine Glück des physischen Organismus spüren wir am gesunden Körperteil selten so direkt wie da, wo erst eine Verletzung heilen muss.
Wir sind hier, weil auf Erden nichts zusammenstimmt und alles sich sperrt.
Immer wieder durchlöchert die Wirklichkeit unsere Fröhlichkeit.
Immer wieder aber wirft sich auch das todesmutige Evangelium gegen den Aufmarsch der Verzweiflung.
Genau dieser Kampf der beiden Kräfte, genau diese Unruhe und Zerrissenheit, diese Spannung und Widersprüchlichkeit ist ja die schlichte Bestätigung dafür, dass das Pendel noch hin- und hergeht, dass das Morgenrot noch auf die Dunkelheit folgt und das Blut noch weiter aus der einen wie der anderen Herzkammer in seine Bahnen strömt, um Wohl und Weh zu sichern und zu wehren.
Wenn wir meinten, das Evangelium nur im Garten Eden predigen, hören oder glauben zu können und nicht in den Kerkern und Katakomben, den Lagern und Bunkern der Erde, dann wären wir so weit entfernt von allem, was in der Geschichte Israels und der Kirche grundlegende Erfahrung ist, dass wir wohl gar keine Hoffnung auf Zugang und Verständnis hegen sollten.
Es ist unendlich mehr Offenbarung, mehr Wahrheit, mehr Theologie, mehr Frömmigkeit im Versteck, auf dem Krankenbett und im Knast, auf der Flucht, in der Not und durch Leiden begriffen und geformt worden, als in Muße bei Sonnenschein nach einer guten Mahlzeit.
Darum ist der heute zu betrachtende Abschnitt aus dem 2.Korintherbrief in Wirklichkeit ein Wink des Himmels an die erschütterten Zeitgenossen, die wir sind, wenn in ihm ausgerechnet die Überschrift von der angenehmen Zeit und dem Tag des Heils eine aufwühlende Aufzählung einleitet, für die es einen nüchternen technischen Fachbegriff gibt. Solche Listen von Leidenserfahrungen, solche Zusammenfassungen von erlittenen Zumutungen und Bitterkeiten bei Paulus nennt man „Peristasenkataloge“: Übersichten der Peristasen, wörtlich: der äußeren „Umstände“, die nun einmal bei keiner - und sei’s noch so innerlichen – Erfahrung und Entwicklung ausgeblendet werden können.
Die stoischen Philosophen hatten mit derartigen Schilderungen begonnen, weil sie ihre Haltung des Gleichmuts und der Unanfechtbarkeit gerade dadurch werbewirksam verkauften, dass sie demonstrierten, wie völlig wurscht ihnen alle Umstände des Leibes und des Lebens waren. … Doch was bei den Stoikern das Staunen über ihre heldenhafte und beneidenswerte Ungerührtheit hervorrief, wenn sie bewiesen, dass Hitze und Kälte, Hunger und Durst, Schmach oder Ehre, Beliebtheit oder Einsamkeit sie schlicht nicht juckten, das bedrohte beim Apostel unter den Griechen eigentlich den Kern seiner Botschaft. Er hatte doch - wie im berühmten Abschnitt unmittelbar vor der heutigen Aufzählung seiner Leiden - der Menschheit zu verkünden, dass jedermann in Christus eine neue Kreatur werden dürfe, weil das Alte vergangen ist und siehe!, alles neu geworden (vgl. 2.Kor.5,17).
… Wie konnte es da sein, dass dieser Botschafter einer geheilten Welt ein Kranker, dass der Rufer in die endgültige Befreiung ein politischer Gefangener, dass der Gesandte des Erlösers ein hilfloser Gequälter sein sollte? Nichts stimmte da doch zusammen bei diesen unlösbar verwirrten Widersprüchen von Heil und Unheil!
Doch gerade darin unterscheiden sich Lüge, Autosuggestion und religiöse Ideologie vom echten Evangelium: Die menschlichen Mätzchen wollen uns weismachen, die Wirklichkeit sei irrelevant und wer nur richtig glaube, werde auch richtig gesund, …wer hoffe, werde unfehlbar belohnt, …wer sich habe taufen lassen, sei der Sterblichkeit entronnen. Solchen schwachen Blödsinn haben schon die Korinther allzu gern glauben wollen.
Die Macht des Evangeliums aber ist es, dass sie der Wirklichkeit und ihrer Widrigkeit nicht durch Wegzaubern oder Schönreden oder sonstige Täuschungen entgeht, sondern standhält: Als das Wort vom Kreuz unter Kreuzen, … als die Treue eines Leidenden zu sämtlichen Leidenden, … als der Sieg der Gnade in einer Passion, die alle Opfer in sich einschließt und verbindet.
„Mächtig nicht in Machern und Gewinnern, sondern in den Schwachen“ (vgl.2.Kor12,9), so wurde es dem Paulus offenbart und so hat er es selbst erlebt, verkörpert und erlitten: Nicht als Verschonter, sondern als Gezeichneter, … nicht als Überlegener, sondern als Betroffener, … nicht als Beobachter, sondern als „Mithelfer“, als Mitleidender, Mitgefangener und Mitgehangener des gekreuzigten Jesus von Nazareth.
Seine Bedrängnisse, Nöte, Ängste, seine Bestrafungen durch Stockschläge, Verhaftung und Lynchjustiz, seine Anstrengungen, Erschöpfungen und Entbehrungen, seine große menschliche Selbstüberwindung und die Bewährungen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe in alledem, haben nicht widerlegt, sondern bewahrheitet, dass er in der Nachfolge dessen lebte, wirkte und litt, der die Leidtragenden und Verfolgten seligpries (vgl. Matth.5, 4+10). ——
Was wir dem Buddhismus mit Interesse und Lernbereitschaft abnehmen, … wofür wir als Galionsfiguren Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi, Alexander Solschenizyn oder Mutter Teresa gelten lassen, nur um es dadurch in kultureller oder historischer Distanz zu uns selbst zu halten, … das wird uns von Paulus, ja vom gesamten Neuen Testament in Wahrheit als unser ureigenstes, nächstes, verdrängtestes und vergessenstes christliches Fundament bezeugt:
Dass Leid und Mitleid viel mehr lösen, ja erlösen, als bloße Macht es jemals könnte!
Diese grundlegende kreuzestheologische, christusgebundene Offenbarung, dass Gott nicht den Weg der überlegenen Gewalt, sondern der tiefsten Teilnahme gegangen ist und uns zur Nachfolge darauf ruft, darf gewiss nicht im Sinne der Leidverklärung gedeutet werden - schon gar nicht mit der furchtbaren Lage der kämpfenden Ukraine vor unsern Augen und ihrem heldenhaften Mut, versinnbildlicht in diesem Judas Makkabäus von einem Präsidenten, … im Übrigen aber genauso wenig wenn wir an die Hilf- und Ahnungslosigkeit der russischen Truppen denken, die nichts als heimwehkrank-verunsichertes Kanonenfutter sein können, wie die meisten Soldaten der Welt. Es geht nicht um die Verherrlichung von Schmerzen oder die Bejahung der Machtlosigkeit um ihrer selbst willen, es geht nicht um eine paradoxe Umkehrung der landläufigen Logik, durch die Schwäche zur eigentlichen Stärke und Unterliegen zu einer Form des Triumphes umgewidmet würde! Leid bleibt schrecklich, Unrecht bleibt grausam, das Erdulden von Pein und das Ertragen von Brutalität bleiben empörende Brüche mit dem Schöpfungssegen, der auf allem Leben liegen soll! …
Aber Gottes Gnade und Gottes Gerechtigkeit, Gottes Heil und Gottes Ziel bleiben alle auch genau das, was sie sind - der sichere, letzte Sinn aller Dinge! - … gleichgültig ob wir uns ihnen unter leichten oder schweren Umständen anvertrauen und überlassen. —
Allerdings wird Gottes Macht, die Welt zu retten, von den Mächten und dem Vermögen, die wir aufbieten und einsetzen, fast immer entstellt, überschattet, ausgeblendet und verunstaltet.
… Während in unserem Leiden und unserem Mitleid tatsächlich viel mehr von der alle Traurigkeit und alles Böse überwindenden Uferlosigkeit der Liebe zu erfahren ist, die als Einziges Bestand haben wird, wenn der Hass, die Sünde und der Tod längst vergingen.
Weil also nun das, was Menschen aus Welt und Leben machen können - und das Leben und die Welt aus ihnen - nicht das Letzte ist, sondern weil das bleiben wird, was aus der Ohnmacht kommt, darum hat Paulus in den Spannungen der schwierigen und verletzenden Umstände seiner Existenz - in seinen „Peristasten“ also - eine so widersprüchlich erscheinende Gewissheit und Ruhe behalten. … Nicht weil er stoisch unerreichbar und unberührbar war, sondern weil ihn über das Augenblickliche und Verschwindende hinaus schon die Erwartung des Unverlierbaren trug: Er spürte etwas, das ihn trotz aller Verleumdung getrost, trotz aller Einsamkeit geborgen, trotz tödlicher Gefahr sicher, trotz echter Agonie lebendig, trotz Katastrophen im Gleichgewicht hielt. … Er spürte und ihn trug die unvergängliche Gnade Gottes, von der er seinen schwierigen, verfeindeten, zerrissenen Korinthern und auch seinen erschreckten, verunsicherten, ohnmächtigen Kaiserswerthern wünscht, sie möge ihnen nicht vergeblich zuteilgeworden sein.
„Amen“, so möchte man schließen.
Aber heute gehen der Blick und die Zusage der Gnade noch weiter, als nur bis zu unserer Vergewisserung, dass es nicht umsonst und nicht folgenlos ist, dass wir die ungefärbte Liebe und Kraft Gottes und mit diesen die Waffen der Gerechtigkeit empfangen haben.
Diese Liebe, diese Kraft, dieser Schutz sind nicht für uns allein bestimmt und gelten wahrlich nicht bloß im Zwiespalt zwischen Freude und Kummer, Glaube und Verzweiflung bei uns.
Viel, viel weiter ist ihr Rahmen. ……. ———
An diesem Sonntag Invokavit vor fünfhundert Jahren kehrte Luther aus der Sicherheit der Wartburg zurück auf die Wittenberger Schlosskirchenkanzel, weil die radikalen Kräfte der Frühreformation eine unerträglich gefährliche, eine aggressive und destruktive Bewegung verursacht hatten, die in Gewalt und Selbstzerfleischung der Christen in Volk, Kirche und Obrigkeit hätte enden können,
Die erste Predigt, die er damals zur Beruhigung der lebensgefährlich aufrührerischen Spannungen hielt und nach der die Predigtreihe der folgenden ersten Fastenwoche die „Invokavitpredigten“ genannt werden sollte, beginnt mit den erschütternden Worten:
„Wir seind allsampt zu dem tod gefodert / und wirt keyner wird für den andern sterben. Sonder ein yglicher in eygner person für sich mit dem todt kempffen. In die oren künden wir woll schreyen. Aber ein yeglicher müß für sich selbst geschickt sein in d’ zeyt des tods / ich würd denn nit bey dir sein / noch du bey mir.“[i] …….
Dieser natürlich seelsorgliche, gleichwohl aber extreme Individualismus der frühen Neuzeit jedoch vergeht in diesen Tagen vor unseren Augen.
Die Katastrophe der Ukraine zeigt es uns vielleicht krasser als jede andere Warnung unserer Zeit, dass niemand je für sich alleine zum Tod gefordert ist, sondern wir alle - menschheitlich! – nur das Miteinander unseres Lebens, unserer Schuld, unseres Sterbens und der Gnade Gottes erwarten können und erfahren sollen.
Sind wir also trotz unserer quälenden, ungerechtfertigten Zuschauerrolle dabei mit den Menschen zwischen Lwiw und Tschernihiw, zwischen Odessa, der Krim und Luhansk wirklich Teile jenes unlöslichen Miteinanders, dann müssen wir die Spannung zwischen den Kräften in der Welt auch wirklich in unzerstörbarer Gemeinschaft mit ihnen erleben:
Wenn sie auch Krieg führen müssen, werden wir doch ihren Frieden vorbereiten;
wenn sie auch Gewalt erleiden und verüben müssen, dürfen wir doch an Versöhnung glauben;
wenn sie auch auf der Flucht sein müssen, sollen wir doch ihr Zuhause sein;
wenn sie auch geopfert werden, verheißt unser Glaube doch, dass ihnen bestimmt ist, zu leben, … ohne Feindschaft, ohne Leid und ohne Ende!
Denn nicht nur von uns, sondern – obwohl es nicht zusammenstimmt und doch um Christi willen gilt und ewig gelten wird! – ebenso von ihnen, den Brüdern und Schwestern im Leid dieser Zeit ist trotz allen Kummers die Freude gesagt, die kein Mund ohne Zittern aussprechen kann:
„Als die Sterbenden, … und siehe, sie leben!“
Amen.
[i] „Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert, und keiner wird für den anderen sterben, sondern jeder in eigener Person für sich mit dem Tod kämpfen. In die Ohren können wir wohl schreien, aber ein jeder muss für sich selbst geschickt sein in der Zeit des Todes: Ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei mir.“ (Zitat nach: Luthers Werke [Bonner Ausgabe], Bd.7: Predigten, hgg. v. E. Hirsch, Berlin 1962, S. 363)
Sexagesimae, 20.02.2022, Stadtkirche, Hebräer 4,12f, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Sexagesimæ - 20.II.2022
Hebräer 4,12f
Liebe Gemeinde!
Sturm, Krieg und Seuche: Die Reiter der Endzeit scheinen sich warm zu laufen.
Und auch wenn man die Übererregung, die absurde Empfindlichkeit und übertriebene Ängstlichkeit unserer Tage großzügig abzieht, liegt doch viel Bedrohliches in der Luft, immer neue Schatten, die sich auf’s Gemüt legen, das ja am liebsten einfach wieder stinknormale Gewohnheiten pflegen würde und sich im Alltag schlicht auskennen.
Die Welt ist uns wirklich in mancher Hinsicht fremd geworden, und mit dem selben Argwohn, mit dem so viele von uns etwas Fremdem in der eigenen vertrauten Welt begegnen, begegnen wir nun eben der einst vertrauten Welt, die sich uns plötzlich so fremd zeigt. …
Aber vielleicht ist es ja auch eine Täuschung gewesen, wenn wir bisher glaubten, wir kennten unser Leben und wüssten in der Welt Bescheid. Vielleicht waren wir blind, taub und lahm, wenn wir die Geißeln der Erde - Unglück, Gewalt und Krankheit - für bloße biblische Bilder oder übriggebliebene Fremdkörper auf dem Rückzug aus einer heilen Wirklichkeit hielten.
Vielleicht sind wir gerade dabei, nicht in einem Albtraum zu versinken, sondern aus einer Benebelung zu erwachen und nüchtern zu werden. Wirklichkeiten zu erkennen. Tatsachen zu begegnen. Wahrheit zuzulassen. …….
Das wäre natürlich mehr als überraschend, wenn ausgerechnet in der ungeduldigen Weltlage, die nur überwinden will, was ist, und wiederhaben, was war, die Wahrheit eine Chance hätte.
Es sieht ja nach dem völligen Gegenteil aus: Weil man die Wirklichkeit wirklich nicht mehr aushalten möchte, flüchtet man sich in die Unwirklichkeit, die Irrealität, die Irrationalität.
Zieht sich zurück in ein Labyrinth der Verschwörungen, das der inneren Verwirrung äußerlich entspricht, greift als von Innen geschwächte Großmacht die leichte Beute seiner noch schwächeren Nachbarn an oder verblendet und verblödet sich und die Öffentlichkeit wie das winterkalte Regime von Peking und das Olympische Komitee mit den Spielen der auf Eis gelegten Menschenrechte. Die Lüge ist die Muse unserer Zeit. Brot und Lüge … mehr scheinen wir nicht zu wollen. …….
Und ausgerechnet da soll die Wahrheit noch eine Chance haben? Ausgerechnet im Netz und in der Schlinge der weltweiten Ignoranz soll sich die Wahrheit nicht heillos verheddern? …
Durch welchen Schutz, mit welchen Mitteln sollte ihr das gelingen, wenn Fakten und Vernunft, wenn Erfahrung, Logik und Forschung, wenn Ämter öffentlicher Verantwortung und alle Lebensdeutung durch die Tradition sämtlich nicht mehr ernst genommen werden? …
Als Christen kann es für uns nur eine Antwort geben: Die Wahrheit setzt sich gewiss nicht mit Gewalt durch, sie will ihre Geltung keinesfalls erzwingen und nutzt auch nicht die armseligen Vorteile, die die Durchschaubarkeit und Ungereimtheit der Lüge ihr bieten.
Die Wahrheit ist wie die Liebe, ja wie Gott selbst in den Schwachen mächtig (vgl. 2.Kor.12,9): Ihr einziges Mittel ist tatsächlich kein eiserner Schlag, kein raffinierter Kniff und keine besondere Technik, sondern schlicht ein Hauch … und obendrein auch noch das gleiche Mittel wie es die Lüge ebenso einsetzt: Es ist das Wort.
Dabei sind Worte - trotz allen Missbrauchs als Waffe - zunächst ja tatsächlich nur arme Dinger. Ganz wehrlos ist das Wort. Es muss bloß zwanzigmal in schlechter Nachbarschaft begegnen und schon hat es alle eigenen Merkmale eingebüßt: Das bürokratische Fremdwort „Inzidenz“, das ehrenwerte Fremdwort „vulnerabel“, …wer könnte die beiden je wieder hören ohne an die gegenwärtige Pandemie zu denken und die von ihr getönten Ausdrücke instinktiv als belastet abzulehnen?
Worte sind wirklich weder unwiderstehliche Mittel noch unwiderlegliche Gründe. Sie können verkehrt und vergewaltigt, verbraucht und verdorben werden. Und dann bleiben sie Gespenster aus toten Buchstaben, verfluchte Zeugen eines bösen Geistes: „Der Führer“, „die Maid“ und „das Volkstum“ sind solche sprachlichen Ruinen, in denen nichts Lebendiges je wieder gedeihen wird.
Worte sind also schwach und zweifelhaft. Ein Gegenstand mutet uns handhabbarer und echter und also in gewissem Sinne auch vertrauenswürdig an als reine Laute. Die Bezeichnung ist mehrdeutig; das Ding dagegen halten wir für eindeutig. Und ohnehin gilt: Schnell ist etwas gesagt; getan wird’s langsamer.
… Wie ungeschickt und unklug daher, dass das Christentum keine Macht und keinen Beweis kennt, dass es nichts annimmt und sich auf nichts gründet, außer dem Wort!
Wie wäre es doch einfach und eindrücklich, wenn die Tatsachen und die Verhältnisse, der Lauf der Zeit und der Stoff der Welt untrüglich für die Botschaft sprächen, die unser Glaube ist. … Ja, wie viel direkter und kompakter wäre überhaupt das, was wir „Glauben“ nennen, wenn es sich eben keiner Botschaft, keinem Evangelium, sondern einem Sachverhalt, ja einer Sache, einem Eu-Pragma[i], einer Eu-Praxis, … irgendetwas „Pragmatischem“ verdankte?!
Dass wir uns das immer wieder wünschen, kann man bei uns dauernd hören und sehen: Wie viel lieber reden wir doch von der „Sache Jesu“, als von seiner Verkündigung, … wie viel eher neigen wir dazu, die gute Praxis der Kirche für glaubwürdig zu deklarieren, als ihre gute Nachricht. Doch wo das Christentum zur Sache, zur Herrschaftsform, zum politischen Aktivismus, zu einer Moral oder einer Interessenvertretung wird - sei’s der Abtreibungsgegner, sei’s der Regenbogenlobby (für beide habe ich meine Sympathien) -, da hört es auf zu leben und wird reine, missbräuchliche Funktion: Es wird zur Ideologie der byzantinischen Kaiser, zum Handlanger der Kolonialmächte, zum Strippenzieher von Kriegs- oder Friedensparteien, zur Öko-Clique, zur verdummenden Folklore nord- und südamerikanischer Populisten.
Die Kirche muss beim Wort bleiben, wenn sie die Kirche und nicht Partei oder Sekte sein will! Sie muss beim wehrlosen Wort und beim meditierenden Hören, ob sie es verstehen kann oder missversteht, bleiben und sich nicht auf Machenschaften einlassen: Maria hat das gute Teil erwählt, die sich zu des Herrn Füßen setzte und hörte seine Rede (vgl. Lk.10,42+39)!
Konstantinopel und das Empire nämlich, der international solidarische Sozialismus und das Kaleidoskop der diversen Identitäten, die um sich selber kreisen, der Köder des Wohlstandsevangeliums in den Favelas und der wütende Pseudopatriotismus einer weißen Minderheit oder wie die Sachen sonst noch heißen mögen, die in der Kirche das Wort ersetzen, sind alles Eintagsfliegen, Mücken im Sumpf und Motten bei Nacht, bestenfalls Schmetterlinge, die für kurze Zeit brummen, summen und schillern. Dann sind sie vorbei. Himmel und Erde nämlich werden unweigerlich vergehen – aber Jesu Worte nicht (vgl. Mk.13,31 / Matth.24,35 / Lk.21,33).
Das wehrlose Wort bleibt. In Ewigkeit (vgl. Jes.40,8). ——
Also reden wir von diesem Wort, das der Ursprung und Kern nicht nur des Lebens der Kirche, sondern der gesamten Welt ist.
Denn das behauptet die Bibel ja wirklich: Dass das Universum, seine Gründe und Gestalt, seine Ratio und Realität zuallererst Wirkungen und Vergegenständlichungen des Wortes sind. Der Kosmos ist nicht nur eine Summe und ein Produkt von ungelenkten Energien, sondern in seiner gewaltigen Kraft und riesigen Fülle ist er eine absichtliche Mitteilung.
Der Kosmos will also nicht stumm angestaunt, abergläubisch vergötzt oder gelangweilt als reiner Zufall abgetan werden, … sondern verstanden!
Der Kosmos und alles, was in ihm zu entdecken und zu entschlüsseln ist, ist klar ansprechend und nicht nur dumpf überwältigend, weil ihn ihm Gott uns anspricht.
Diese Verbindung aber bleibt fundamental: Wenn wir Welt und Leben nicht als Sprache Gottes verstehen wollen, sind wir entweder verlassen in einer Sinnlosigkeit ohnegleichen oder müssen uns verführen lassen, selbst allem seinen Sinn einzustiften und ihm unsere Deutung, unser Siegel aufzuprägen.
Diese beiden tödlichen Möglichkeiten - die Wirklichkeit ist nihilistisch oder die Welt muss Menschendiktat unterworfen werden - bleiben, wo wir das Wunder des göttlichen Wortes, das Geschenk des Logos, der „logischen“, ja dia-logischen Schöpfung vergessen oder verleugnen.
Alles hängt wirklich am Wort und ohne dasselbe ist nichts gemacht (vgl.Joh1,3!). ——
Doch die biblische, die jüdische und christliche Faszination durch das Wort geht weiter, als dass sie nur die Ahnung einer Sprache wäre, die uns Wunder erschließt, wenn wir endlich das Lied in allen Dingen singen hörten[ii].
Das Wort dringt nämlich aktiv zu uns: In der Torah ist es das Licht auf allen Wegen Israels (vgl.Ps.119,105), … ja, es kommt dem jüdischen Menschen noch näher in seinem alltäglichen, allstündlichen, allgegenwärtigen Tun der Bundesgebote: Es ist das Wort da ganze nahe bei ihm in seinem Mund und in seinem Herzen (vgl.5.Mose30,14)! ———
Und so wird das wehrlose Wort Fleisch (vgl.Joh 1,14!).
Das ist das Urwunder und die Urgnade, die echte Beunruhigung und bleibende Beglückung des Christentums: Nicht von Gottes übernatürlicher Allgewalt und nicht von Seiner abstrakten Grenzenlosigkeit wird das gesagt, sondern von Gottes verstehbarem und verständlichem Wort! Das, was ohnehin als die Kommunikation Gottes auf uns zielt und zu uns drängt, wird in Jesu Menschwerdung unseresgleichen. Wir sind seither nicht mehr nur die Angesprochenen Gottes und auch nicht nur Zeichen im System Seiner großen Selbstmitteilung, die ja alle Dinge umfasst, sondern wenn das Wort Fleisch wurde - also zu dem Stoff, der wir sind -, dann sind wir Menschen das eigentliche Sprachbett der Gottesbotschaft geworden, sind selber Satzteile des Evangeli-ums, Wortverwandte der Wahrheit.
Und darum kann das Wort, das wie wir ist, auf Dauer keine Unklarheit, nichts Verschleiertes, Verstecktes, Verschwiegenes, keine Lüge in Sachen Gott und Mensch zulassen.
Das wehrlose und doch weltbewegende Wort, das Fleisch wurde, bringt die menschliche Wahrheit ans Licht. Da wird das Wort, das alles trägt und sich zu meines-, mich zu seinesgleichen machte, persönlich. Wenn Gottes Schöpferruf trotz aller Widerstände, ja Widersprüche tatsächlich zur Menschennatur werden wollte, dann wird genau dadurch diese Menschennatur schöpferisch zur Gotteswahrheit gerufen. Und das heißt - ganz persönlich -, dass Gott, Der in Seinem Wesen verständlich ist und versteht, auch mich verstehen will!
Und das ist buchstäblich unheimlich. … Mir gefällt es doch, unverstanden zu sein: Als Vierzehnjährige erleben die meisten von uns ja bewusst und absichtlich das Unverstandensein. Später dann verdecken oder verdrängen wir, was immer noch tatsächlich unverständlich in jedem Menschen bleibt, und bilden uns ein, wir wären uns unserer selbst bewusst oder könnten mit etwas Hilfe uns selber klären und erklären.
… Nun muss man aber nicht erst die Menschen beim Sterben erleben, um zu erkennen, dass kaum einer sein eigenes Rätsel, seine Schuld und Schulden, seine Enttäuschungen und seine tiefe Angst bewältigt. Wir sind bei aller Zurechnungsfähigkeit und Reife immer auch unzugängliche und unsichere Wesen, die sich lieber einbilden, ein anderer zu sein, als dass sie sich eingestehen, wer sie selber wirklich sind.
Und nun kommt das Wort, das alle Dinge in’s Dasein ruft und das die Menschheit als seine eigene Art angenommen und also mit unbezweifelbarem Sinn erfüllt hat, mir so ganz und gar nahe, zwischen meiner Schädeldecke und meinen Blutgefäßen, in den Nervenbahnen und den elementaren Bedürfnissen meines Menschseins, … da kommt mir nun also das Grundwort und Sinnwort Gottes so nahe, dass es auch mich an Leib und Sinnen mit seinem Sinn durchdringen und durchleuchten kann, ja, dass es mich erkennen lässt, dass ich erkannt bin (vgl. 1.Kor.13,12).
… Und das ist unheimlich. Da endet nämlich alles Geheime!
Gott, der Offenbarer der Wahrheit macht auch mich offenbar: Meine Geheimnisse, die kaum ein Mensch teilt, meine widersprüchlichen Schwächen, die ich so geschickt gegeneinander ausspiele – dass meine Konfliktvermeidung meinen Jähzorn bändigt, dass die Bequemlichkeit in mir den eitlen Übereifer dämpft, dass meine Bescheidenheitsmarotte meinen Hochmut schmeichelhaft ummantelt –… alle meine unausdenklichen und unausgleichlichen Eigenheiten, Blößen und Täuschungen erfasst, erschließt und erkennt die göttliche Weisheit und Wahrheit Spur um Spur, Zug für Zug, Wort für Wort in meinem unerforschten Inneren! ——
In diesem lebendigen und wunderkräftigen und kritisch-scharfen Werk des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, die das Wort in Schöpfung, Fleischwerdung und Zurechtweisung sprechen, sind und senden, findet sich nun aber der heutige Predigttext (Hebräer 4,12f):
„Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.
Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen.“
Und daraus wächst die Hoffnung, dass tatsächlich die Wahrheit siegt: Nicht ohne Schmerzen und Scheidung, weil Gott bis zu jedem von uns persönlich vordringen muss, um auch in uns unsern nicht haltbaren Unsinn und unsre unsinnigen Haltungen zu richten und zurechtzubringen.
Aber da wir wissen, dass wir vor Seinem Geist nicht fliehen können (vgl.Ps.139,7) und Sein Wort wahrhaftig tut, was Ihm gefällt und wozu Er es sendet (vgl.Jes.55,11[iii]) können wir auch angesichts der Schwierigkeiten, die uns die Wahrheit in einer Welt voll menschlicher Verwirrung, menschlicher Verfehlung und menschlichen Leidens bereitet, an denen wir jeder von uns beteiligt sind, in Wahrheit zuletzt nur fragen wie der Erste der Jünger (Joh.6,68):
„Herr, wohin sollen wir denn gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“
… Und wenn sie auch noch so scharf, noch so eindringlich, noch so unwidersprechlich sind, so sind es doch die Worte, ohne die wir nicht wären, … von und mit denen wir aber leben werden: So wahr der Mensch nicht vom Brot allein existieren kann, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht (vgl. Matth.4,4)!
Amen.
[i] Anstelle der Guten Nachricht (griechisch: Eu-Angellion) wäre ja auch eine Gute Sache (Eu-Pragma) eine werbewirksame Größe. Auch kirchlicherseits wird die Suche nach „best practice“-Beispielen als Anreiz und Motivation des Gemeindeaufbaus schließlich bewusst gefördert.
[ii] Vgl. Joseph von Eichendorffs Gedicht „Wünschelrute“:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
[iii] Alttestamentliche Lesung des „Wort-Gottes-Sonntages“ Sexagesimæ (Jesaja 55,6-12).
4.So.v.d.Passionsz., 06.02.2022, Matth.14,22-33, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Schwestern und Brüder,
der Predigttext für den 4.Sonntag vor der Passionszeit steht im Matthäusevangelium, Kapitel 14,22-33.
„Kurz nachdem die 5000 gemeinsam gegessen hatten, forderte Jesus die Jünger auf, in das Boot zu steigen und ihm ans andere Ufer vorauszufahren, bis er die Volksmenge verabschiedet habe. Und er verabschiedete die Volksmenge und stieg auf einen Berg, um allein zu sein beim Beten. Als es Abend geworden war, war er dort ganz für sich allein. Das Boot war schon viele hundert Meter vom Ufer entfernt und kämpfte mit den Wellen. Der Wind stand ihm entgegen. In der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen. Er ging über den See. Die Jünger sahen, wie er auf dem Wasser lief, und erschraken und meinten, er sei ein Gespenst. Und sie schrien vor Angst. Jesus sprach sie sofort an und sagte: „Seid mutig, ich bin es. Fürchtet euch nicht!" Petrus antwortete ihm: „Jesus, wenn du es bist, dann sag mir, dass ich über das Wasser zu dir kommen soll." Er antwortete: „Komm." Petrus stieg aus dem Boot aus und lief über das Wasser, um zu Jesus zu gelangen. Als er den starken Wind wahrnahm, bekam er Angst und begann zu versinken. Er schrie: „Jesus, rette mich!" Jesus streckte sofort seine Hand aus und ergriff ihn und sagte: „Du mit deinem geringen Vertrauen! Warum zweifelst du?" Als sie dann ins Boot gestiegen waren, legte sich der Wind. Die im Boot aber fielen vor Jesus nieder und sagten: „Du bist wirklich Gottes Sohn!"
Als ich den für diesen Sonntag vorgeschlagenen Predigttext vor einiger Zeit las, dachte ich als erstes: wunderbar, das sind Worte, die sind genau die richtigen für diese Zeit, für Menschen, die seit fast zwei Jahren durch das Auf und Ab einer Pandemie gehen, deren Lebensboot gründlich durchgeschüttelt wird, Worte für unsere Kirchen und Gemeinden, die mit allerlei Gegenwind kämpfen müssen - Missbrauchsskandal, Kirchenaustritte, Umstrukturierungen und Finanzsorgen - und denen das rettende Ufer noch in weiter Ferne zu liegen scheint. Dann kam die Nachricht vom Tod des Autors und Filmregisseurs Herbert Achternbusch und ich erinnerte mich sofort an seinen Film „Das Gespenst", der 1982 einen enormen Skandal ausgelöst hatte. Das Gespenst, das war nämlich Jesus, der karikaturmäßig daherkam. In einer Szene lief er über das Wasser eines bayrischen Sees. Ich konnte mit diesem Film gar nichts anfangen, fand ihn einfach geschmacklos. Mir fiel auch die Karikatur ein, die sie auf dem Gottesdienstblatt finden: der kleine Jesus steht auf dem Wasser des Badezubers und Mutter Maria wird ärgerlich: Sei brav, bade jetzt! Ja, es stimmt: der Textabschnitt aus dem Matthäusevangelium, der kann ganz schön missverstanden werden, gerade heute in unserer ach so aufgeklärten Zeit.
Darum bin ich froh, ihn gemeinsam mit einem wirklich kompetenten Gast zu betrachten und ihn so zu uns sprechen zu lassen, wie er gemeint war: als Ermutigung und Aufforderung, Gott zu vertrauen, auch wenn alles gegen einen steht.
Ich begrüße Salome, die zu dem Kreis der Judenchristen gehörte, die etwa um 80 n.Chr. Erinnerungen an Jesus, sein Leben und Wirken zusammengetragen und schriftlich festgehalten haben, damit die gute, die frohmachende Botschaft, die er gebracht hat, auch die Menschen ferner Zeiten noch erreicht. Als Matthäusevangelium sind ihre Erinnerungen uns bekannt. Herzlich willkommen in der Mutterhauskirche, Salome.
Danke für die Einladung. Ich freue mich auf unser Gespräch.
Wenn ich diese Karikatur betrachte und an so manche Jesus-Bibel-Filme denke, die ich in den USA gesehen habe, dann wundere ich mich doch sehr, welch schlichten Gemütes die angeblich so fortschrittlichen Menschen des 21.Jahrhunderts sind. Das hätten wir uns damals nicht vorgestellt, dass man unsere Erzählungen von Jesus so missverstehen kann.
Er war doch kein Zauberer und auch kein Trickser.
Die Gesetze von Dichte und Schwerkraft galten für ihn
wie für jeden von uns und von euch.
Mir ist das schon klar, dass Jesus nicht über den See Genezareth gelaufen ist; und ich glaube auch nicht, dass er mittels irgendeiner Zauberei 5000 Menschen mit 5 Broten und 2 Fischen satt bekommen hat. Aber ich weiß auch, dass es bis heute viele Christen gibt, die diese Wundergeschichten wörtlich verstehen. Sie glauben, dass Jesus sich genau darin als Sohn Gottes erweist, dass er etwas kann, was sonst keiner vermag. An Jesus zu glauben, bedeutet für sie, alles für wahr zu halten, was von ihm in den Evangelien steht. Also auch alle Wunder, die er vollbracht hat.
Wenn wir das damals in unserem Redaktionskreis geahnt hätten, dass die Menschen späterer Zeiten unsere Wunder-Geschichten für Reportagen halten und die Erzählungen unseres Evangeliums für eine Biografie ...
... dann hättet ihr es anders geschrieben?
Ich denke, nein; vielleicht hätten wir ein klärendes Nachwort angehängt. Aber etwas anderes hätten wir nicht schreiben können. Keiner von uns ist Jesus persönlich begegnet.
Mehr als 50 Jahre waren vergangen, seit er durch Galiläa gewandert war. Die wenigsten von uns haben Geschichten von ihm von Augenzeugen gehört. Wir haben Jesus nicht gekannt, aber wir haben mit ihm etwas erlebt, erfahren -
und diese Erfahrungen haben wir in den Geschichten und Erzählungen des Evangeliums festgehalten.
Das musst du näher erklären: um welche Erfahrungen ging es, die dann in Wundererzählungen wie die von der Speisung der 5000 oder vom Seewandel verpackt wurden?
Da ist nichts verpackt worden, sondern wir haben uns damals bemüht, so verständlich wie möglich über unsere Erfahrungen mit Jesus zu berichten. Deshalb haben wir die Symbolsprache gewählt, die eigentlich jeder Mensch verstehen kann. Ging es uns doch um Themen, mit denen jeder Mensch in seinem Leben konfrontiert wird - in jeder Zeit, an jedem Ort.
Ich verstehe. Die Erzählungen in eurem Evangelium müssen symbolisch verstanden werden, nicht als Tatsachenberichte. Und in ihrer Symbolik geht es um Themen, die für jeden von uns wichtig sind.
Genau.
Wenn ich die Erzählung vom Seewandel betrachte, da geht es um Angst und darum, wie man mit dieser Angst umgeht, umgehen kann.
Ja, darum geht es in dem ganzen 14.Kapitel. Eigentlich ist es schade, dass ihr in euren Gottesdiensten immer nur so kleine
Abschnitte als Predigttexte habt und sie damit ziemlich aus dem Zusammenhang reißt und so Entscheidendes oft gar nicht mitbekommt. Es geht nämlich nicht nur um die Angst, umzukommen und zu ertrinken, sondern auch um die Angst, zu kurz zu kommen. Die beiden Urängste des Menschen, die einfach nicht verschwinden wollen, mit denen wir uns immer wieder herumschlagen müssen.
Die Angst zu kurz zu kommen, das ist das Thema in der Erzählung von der Speisung der 5000. Die Angst, dass es nicht reicht für alle - „nur" fünf Brote und zwei Fische, wie soll das für so viele hungrige Mäuler reichen? Schick sie weg, da soll jeder für sich selbst sorgen, das war die Lösung, die den Jüngern einfiel. Sie hatten Angst um ihren Proviant, Angst, zu kurz zu kommen. So sind wir Menschen - frei nach dem Motto: wenn jeder an sich denkt, dann ist an alle gedacht.
Aber die Angst, dass es nicht reicht für alle, die bleibt an einem kleben.
Und genau da haben Menschen erlebt, dass Jesus einen anderen Lösungsvorschlag gemacht hat, wie dieser Angst zu begegnen sei und wie sie überwunden werden kann.
Er hat sie ermutigt, zu teilen, einfach auszuteilen, was da ist - im Vertrauen auf Gott, den Geber aller Gaben und den Erhalter des Lebens. Und: es hat nicht nur für alle gereicht,
es blieben sogar noch 12 Körbe voller Brotstücke übrig.
Die Bereitschaft, auszuteilen und so die Angst, zu kurz zu kommen, zu überwinden, das ist das Wunder - dazu hat Jesus den Anstoß gegeben. Und das kann er heute immer noch.
Das können wir immer noch und immer wieder erleben.
Im Vertrauen auf Gott - die Angst überwinden. In der Geschichte vom Seewandel ist das nun doch ein bisschen komplizierter mit der Angst. Die Angst umzukommen, zu scheitern. Ich muss sagen, das ist ein eindrückliches Bild, das uns da vor Augen gemalt wird.
Das Meer - Inbegriff der Gefahr, schon in der hebräischen Bibel. So wie im Psalm 107, wo auch von Sturm und Wellen die Rede ist, von der Angst derer, die im Boot, im Schiff sitzen. Der See Genezareth ist der kleine, aber nicht minder bedrohliche Bruder des Meeres. Das aufgewühlte Wasser - ein Bild für Lebensgefahr, für Todesangst.
Bei uns gibt es dafür auch viele Sprachbilder: mir steht das Wasser bis zu Hals, ich ertrinke in Arbeit, einer Firma droht der Untergang. Und auch das Bild vom Gegenwind gehört dazu, der einem ins Gesicht bläst und der uns am Weiterkommen hindert, einem die Luft zum Atmen nimmt.
Und dann noch die Dunkelheit der Nacht, die die Orientierung schwer macht. Man sieht das Ufer nicht. Man weiß nicht, wo man ist. Alles steigert die Angst.
Wir hatten vorhin die Erzählung aus dem Markusevangelium gehört. Bei Markus ist das Setting etwas anders: da sind die Jünger nicht allein im Boot, sondern Jesus fährt mit ihnen über den See. Er schläft seelenruhig, während die Jünger voller Panik sind. In eurem Evangelium hat er sich allein auf einen Berg zum Beten zurückgezogen.
Sich in die Stille und Einsamkeit zurückzuziehen, um mit Gott ins Gespräch zu kommen, um vor ihm seine Gedanken zu sortieren, das war für Jesus entscheidend. So ging er mit seiner Angst um, so hat er sie immer wieder überwunden. Denn natürlich kannte auch er Angst. Auch Angst vor dem Tod.
Davon schreibt ihr ja auch in diesem 14.Kapitel; als Jesus hört, dass Johannes der Täufer hingerichtet worden ist, da verlässt er unverzüglich den Machtbereich von König Herodes und zieht sich zurück, was ihm dann aber nicht gelingt, weil er immer wieder von den Leuten angesprochen und um Rat und Hilfe gebeten wird.
Aber ohne Punkt und Komma für andere da sein, das konnte auch Jesus nicht. Er musste immer wieder seinen geistlichen Akku aufladen - in der Einsamkeit und in der Stille die Nähe Gottes spüren - in der Tiefe seines Herzens, seiner Seele. Der Berg als Ort symbolisiert solche Einkehr bei sich und bei Gott.
Und weil Jesus sich die Zeit dieser Begegnung mit Gott genommen hatte, sich der Nähe Gottes neu bewusst geworden ist, konnte er seine Angst überwinden und seinen Weg getrost weitergehen.
Über das Meer, über das Wasser der Angst. Die Gefahr war immer noch da, es war immer noch dunkel, Nacht, es stürmte. Aber er wusste in seinem Innersten, dass auch diese stürmische Nacht zu Ende gehen würde, dass es einen neuen Morgen gibt. So war es seit Anbeginn der Schöpfung: da wurde aus Abend und Morgen der neue Tag Gottes. Darauf hat er einfach vertraut. Auf Gottes Kraft. Aber genau das ist für uns oft schrecklich schwer: einfach zu vertrauen.
Glauben lernen heißt vertrauen lernen. Das macht diese Erzählung eindrücklich klar. Gerade an der Gestalt des Petrus. Aber bevor es um Petrus geht, habe ich doch noch eine Frage: warum habt ihr geschrieben, dass die Jünger Jesus nicht erkennen, ihn für ein Gespenst halten und nun erst recht in Panik geraten? Da kommt der Retter, und die Angst nimmt überhand.
Aber ist das nicht eine sehr menschliche Erfahrung?
Gerade das, was einem helfen würde, macht die Angst noch größer - ein bis dahin unbekanntes Zugehen auf oder Umgehen mit einem Problem, das sprengt die Vorstellungen und die eigenen Erfahrungen. Feuerwehren und Rettungskräfte erleben das immer wieder bei ihren Einsätzen.
Mit Angst so umzugehen wie Jesus - das macht den Jüngern Angst. Sein Vertrauen in Gott, das macht ihre Angst paradoxerweise noch größer.
Vertrauen heißt, sich in Gott fallen zu lassen. Um im Bild zu bleiben: nur der, der bereit ist, sich in Gott fallen zu lassen, der geht im Meer der Angst nicht unter, sondern der kann über das Wasser gehen.
„Seid mutig; ich bin's. Fürchtet euch nicht!"
So ähnlich hat es schon Josua gehört, da stand er an den Wassern des Jordan und das Volk Israel hatte große Angst vor dem, was da und wer da jenseits, am anderen Ufer in Kanaan auf sie warten würde. „Sei mutig und unverzagt,
lass dich nicht grauen und fürchte dich nicht;
denn ich, dein Gott, bin mit dir auf allen deinen Wegen."
Ja, glauben heißt, sich immer wieder seiner Angst zu stellen und sie im Vertrauen auf Gott zu überwinden. Immer wieder das Wunder zu erleben, dass das Wasser trägt, dass es weitergeht in einen neuen Morgen, an ein neues Ufer.
Petrus hat das versucht. Interessant, wie ihr ihn da in Szene gesetzt habt. Wie er die doch relative Sicherheit im Boot aufgibt, mit einem Satz über die Reling springt und auf Jesus zuläuft. Die Angst kann eben jeder überwinden, nicht nur Jesus. Das Vertrauen auf Gott, auf den „Ich bin für dich da" ist jedem so möglich wie Jesus.
So ist es, und Jesus ist für uns derjenige, der zu diesem Vertrauen die Brücke baut. Er steht für Gott, er hilft uns, Gott zu vertrauen. Jesus - „Gott hilft". Er zeigt uns, dass Gott ganz nah bei uns ist, in unserem Innersten.
Aber weit kommt Petrus ja nicht. Nach ein paar Schritten ist es vorbei mit dem festen Glauben und er beginnt zu versinken.
Statt auf Jesus zu sehen, sieht er die Wellen, hört er den Wind heulen, nimmt die Dunkelheit wahr, die Gefahr. Und die gibt es ja. Der Blick auf Jesus zaubert das ja nicht weg. Das Vertrauen in Gott macht die Welt erst einmal nicht zu einer angenehmeren Welt, aber es verwandelt den, der zu vertrauen wagt. Es weist der Angst, den Sorgen einen Platz zu -
hinter der Hoffnung, hinter der Zuversicht, hinter der Liebe. Aber solches Vertrauen, solchen Glauben hat man nicht,
sondern der will gelebt werden - Schritt für Schritt.
Immer wieder neu. Will immer wieder neu erbeten werden.
Dieser Ruf „Jesus, rette mich! Jesus, hilf mir!" und dann Jesus, der ihn fest an der Hand ergreift und über dem Wasser hält mit seinem leicht bekümmerten „Du mit deinem kleinen Vertrauen, warum zweifelst du?", der erinnert mich an den Ruf des Vaters eines kranken Kindes im Markusevangelium: „Ich glaube, ich will ja vertrauen, hilf meinem Nicht-Glauben, meinem Zweifeln." So sind wir Menschen wohl gestrickt. Aus dieser Nummer kommen wir kaum heraus. Auch ein Petrus nicht. Mein Trost: Gott weiß das. Er hat uns so erschaffen.
Gott weiß es und er hilft uns; er bewahrt uns vor dem Untergehen. Davon erzählt schon die Geschichte von Jona in der hebräischen Bibel: da kommt die Rettung durch den großen Fisch. Gott hilft uns; auf ganz unterschiedliche Weise werden wir im Versinken gehalten, vor dem Fall ins Nichts bewahrt,
aus dem Sumpf der Trauer und der Hoffnungslosigkeit gezogen, bekommen wir festen Boden unter die Füße.
Und immer geht es um Vertrauen, dass wir unser ganzes Vertrauen auf Gott setzen. Alles auf diese eine Karte Vertrauen.
So wie Jesus das gemacht hat. Selbst noch am Kreuz.
Als er allen Grund hatte, an Gott zu zweifeln:
„Warum hast du mich verlassen?"
Um sich zuletzt in Gottes Arme fallen zu lassen:
„In deine Hände befehle ich meinen Geist."
Und alle Evangelien sind sich darin einig:
Er hatte recht mit seinem Vertrauen.
Er ist nicht ins Nichts gefallen im Tod,
sondern in ein neues Leben gezogen worden.
Diese Erzählung vom Seewandel, da dämmert schon der Ostermorgen. Das Boot auf dem See ist unterwegs zum „anderen Ufer" - die Panik der Jünger legt sich, als Jesus mit Petrus ins Boot steigt. Er teilt ihren Weg und ermöglicht es ihnen so, wie er den Zweifel in Schach zu halten und Vertrauen zu wagen.
Gott zu vertrauen wie Jesus, wie Jesus zu glauben.
Sich darauf einzulassen, zu leben wie er,
alles auf die Karte Vertrauen zu setzen,
dazu will uns eure Erzählung Mut machen.
Ja, sie will einladen, selbst die Erfahrungen zu machen, die Jesus gemacht hat und die viele, die ihm nachgefolgt sind,
durch die Jahrtausende gemacht haben: die Stürme der Zeit,
die unterschiedlichsten Abgründe und Dunkelheiten können bewältigt werden; wir werden im letzten gehalten und ans andere Ufer gezogen, geleitet und begleitet - auch durch unsere eigenen Zweifel.
Danke, Salome, dass du dir die Zeit genommen hast, mit mir dieses Gespräch zu führen. Dadurch ist mir dieser Text neu lebendig und wichtig geworden.
Letzter Sonntag nach Epiphanias, 30.01.2022, Stadt- und Mutterhauskirche, 2.Mose 34, 29 - 35, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Letzter n. Epiphanias - 30.I.2022
2.Mose 34, 29-35
Liebe Gemeinde!
Das Lied, das wir eben gesungen haben (EG 70), hat einen Zwilling (EG 147). Philipp Nicolai schrieb beide Lieder in der absoluten Verfinsterung der ihn umgebenden Welt- und Seelenlandschaft durch einen Pestausbruch in seiner Gemeinde Unna. Und wir singen diese Lieder jeweils am Beginn und Ende der dunkelsten Zeiten: Im November „Wachet auf, ruft uns die Stimme“, mit seiner Aufforderung „Wohlauf, die Lampen nehmt!“ und in den grautrüben Winterwochen des Januar und Februar das funkelnde „Wie schön leuchtet der Morgenstern“. Weil zwischen Ewigkeitssonntag und dem Abschluss der vierzig Tage nach Christi Geburt in unsere irdische Nacht das Licht aus der Höhe als adventlicher und weihnachtlicher und epiphanischer Glanz dringt, … gerade dann, wenn wir es am meisten brauchen, wenn wir am lichthungrigsten sind.
Nun aber endet diese Lichterzeit. Die immer noch ohnmächtige Sonne muss die kargen, leeren Monate, die an Septuagesimæ beginnen werden, während der Passionswochen allein zu durchwärmen und zu erhellen versuchen. Während die Tage sich unfühlbar verlängen, schwindet das Leuchten dann zusehends aus den Gottesdiensten der Kirche. Und wenn der Frühling endlich da ist und die Nacht einen Augenblick kürzer als das Tageslicht dauern wird, dann tritt die Sonnenfinsternis auf Golgatha ein. …
Wir merken also: Die Erleuchtung, von der wir wirklich leben, die unser Wachstum und Gedeihen, unsere Photosynthese – wörtlich also: unsere Licht-Verknüpfung - ermöglicht, ist nicht einfach mit den Strahlungs- und Wärmequellen des materiellen Kosmos gleichzusetzen.
In der Dunkelheit kann uns das wahre Licht leuchten und in der Helligkeit kann’s uns verlöschen.
… Es muss also einen Glanz geben, der außerhalb des uns vertrauten Wechsels und der Vergänglichkeit ist: Alles andere Licht wurde ja ursprünglich nur erschaffen, um mit seinem Erstrahlen und Schwinden die Zeit danach zu teilen, um „Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre zu geben“ (1.Mose1,14). Das Licht jedoch, das die Heilige Nacht erhellt, das am Karfreitag ein schwarzes Loch der Leere in die Wirklichkeit reißt, um am Ostermorgen für immer zu entflammen, hat gerade keinen solchen Rhythmus der Wiederkehr, sondern ist Licht ohne Schatten und Schwund. Unveränderliches Licht also! Helligkeit ohne Zu- oder Abnahme! Klarheit, die nicht mehr getrübt werden kann!
… Welche gnädige Aussicht für Augen, die sich im Zwielicht müde gespäht haben, ob es überhaupt Einleuchtendes und Aufklärendes geben kann, oder ob wie in einer Welt leben, die dem Dunklen verfallen ist. ……. ——
Was würde ich wohl sagen, wenn ich nur Sonne, Mond und Sterne kennte? Was müsste man schließen, wenn das klarste Licht, das uns vor Augen stünde, der Blitz von Hiroshima wäre und das Leuchten, das unser Herz erwärmt, weil es das innere Leben daheim durchfließt, aus der Leuchtdiode stammt, die zwischen Infrarot und Ultraviolett auch eine dem Menschenauge sichtbare Skala von kalt bis warm umfasst? Was wäre unsere Aussicht, wenn bloß die Sonne hinterm Smog der Megacities und das unablässige elektronische Flimmern und Flirren, zu dem unser Geist mutiert und unsere Denkprozesse gemacht worden sind, für uns die Quellen aller Erleuchtung wären? …
Ich wäre vermutlich einer der Dunkelmänner, die in diesem finsteren Weltall, in dem die Galaxien wie Sternschnuppen und Feuerwerk kurz aufglimmen und sich dann in Schwärze auflösen, keine Lichtung sähe. Nur ein von Nacht zu Nacht treibendes Beinah-Nichts.
… Dass die Schneeglöckchen jetzt schon im Januar erscheinen, ist ja kein Hoffnungsschimmer, sondern eine groteske Fata Morgana der kommenden Glut. Und dass niemand von uns mehr die nächtliche Finsterfurcht aushalten muss, weil unsere Handies leuchten können wie einst nur das Weltwunder von Pharos, das ist ein Fortschritt, der dem Vandalismus ähnelt: Der Trost der Nacht - den’s ja auch gibt - wird plattgemacht vom toten Grelllicht unseres Dauerquatschens.
… Es ist nicht wirklich hell auf dieser Erde.
Etwas von der tiefen Trübung der Welt ist letzte Woche, am 27.Januar so greifbar geworden wie die sprichwörtliche ägyptische Finsternis. Da stand eine siebenundachtzigjährige alte Frau vor den Vertretern unseres Landes und sprach mit einem toten Kind. Inge Auerbacher, das „badische Mädel“ aus New York rief mit einem Pathos, das unser Bundestag sonst nicht mehr kennt, nach der siebenjährigen Ruth Abraham[i]. Im Schatten des Todes in Theresienstadt hatten die beiden jüdischen Kinder einander versprochen, sich gegenseitig zu besuchen, wenn die Nacht des Holocaust vergangen sein würde. Aber die kleine Ruth wurde in Auschwitz ermordet. Und die Überlebende konnte nach acht Jahrzehnten in Ruths Heimatstadt Berlin nur in die Luft nach ihrer Freundin rufen: „Ruth, ich bin da, dich zu besuchen!“ – Wem da nicht, wie dem israelischen Parlamentspräsidenten, die Tränen kommen, der ist kein Mensch. ———
Mose aber leuchtet.
Mose leuchtet. Seit dreieinhalb Jahrtausenden – durch alle Apokalypsen bis Auschwitz, durch allen Alltag und alle Abnutzung, alle Verschmutzung und alle Vernichtung der Welt leuchtet Moses Antlitz, seit er Gott begegnete in Seiner Gnade.
Vielen ist es aufgefallen: Den Israeliten, deren Augen sich vor Kurzem noch vernarrt hatten in jenen faulen Glanz, der bis heute das blendendste von allen Irrlichtern ist - Goldgefunkel -, das von Horn bis Hoden den Börsenstier so attraktiv macht. Um ihren Goldbullen hatten sie eben noch getanzt, der ja auch uns gezeigt wird, wenn die Börse ihre Kurse schön aufwärtskrümmt. … Und nun kam ein Licht, das den Schimmer des Edelmetalls zu Schatten machte.
… „Gold, statt Gott“: Das Experiment wurde durch den bloßen Augenschein, durch die schlichte Ausstrahlung dessen, der den Unterschied begriffen hatte, entlarvt.
… Gold, statt Gott: Das war der Anfang. Und jede Generation seither arbeitet weiter im Weltlabor der lächerlichen Vertauschungen und Ersetzungen:
Gewalt statt Gott.
Gehorsam statt Gott.
Geilheit statt Gott.
Genuss statt Gott.
Gewinn statt Gott.
Gesundheit statt Gott.
Gefühl statt Gott.
Geltung statt Gott.
Glitzer statt Gott.
Gier statt Gott.
Gold statt Gott. …….
Es dreht sich immer im selben Kreis; der Reigen um die Kälber reißt nie ab.
Doch Mose leuchtet. …
Er wollte das gar nicht. Die Verfinsterung hatte ihn ergriffen, als er vom Sinai, aus Gottes Gegenwart kam und fand wie seine frisch Befreiten sich dem dümmsten Dienst von allen ergaben: Der Knechtschaft im Bann des eigenen Besitzes. Wie sie umschwärmten und ehrfürchtig sich bückten vor dem, was sie selbst an den Ohren, an den Hand- und Fußgelenken als Schmuckreifen getragen hatten, wo es doch schon deutlich genug nach Fesseln ausgesehen hatte. … Und nun vertrauten sie sich dem an, das sie selbst geformt, ja zum Schmelzen gebracht hatten!
Torheit des Menschen! Der sein Können an den Dingen auslässt - und den Menschen - und sich daran berauscht: Ich kann Hartes weich machen und Lebendiges zur Leiche! Ich, der Mensch, mit meiner Technik.
Ich, statt Gott!
Da wollte Moses reinschlagen. Wie die Bundestafeln mit den heiligen, helfenden Worten Gottes, so zerschlug er auch den toten Popanz des menschlichen Ichkultes und ließ die Israeliten saufen, wovon sie besoffen waren: Den Staubstoff ihrer eigenen Fähigkeiten (vgl. 2.Mose 32,19f!).
Und Gott wollte dieses Volk nicht weiter mehr begleiten. Er wollte sie unter Moses, des Verfinsterten Leitung weiter ziehen lassen, aber ohne Seinen eigenen Beistand. …….
Warum es anders kam? Durch ein Miteinander von Angesicht zu Angesicht. In ihrer gemeinsamen Not, ihrem geteilten Leid mit dem halsstarrigen Volk „redete der HERR mit Mose wie ein Mann mit seinem Freunde redet“ (2.Mose 33,11)! Und da gelang es dem Mose, Gott zu bewegen, dass Er doch Sein Angesicht vorangehen ließ (vgl.2.Mose 33,15) auf dem weiteren Weg Israels in die Zukunft. Obwohl Moses größter Wunsch dabei, sich völlig sattsehen zu dürfen an Gott – Männer reden auch mit ihren Freunden eher Seite an Seite, als Aug in Aug –, nicht in Erfüllung gehen sollte, hat Gott dennoch Sein Wesen vor Mose völlig aufgedeckt. Er hat Mose Seine Gnade wissen lassen: Den herrlichen Namen „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich“ (2.Mose33,19); diesen herrlichen Namen „HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetaten, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied“ (2.Mose34,6f).
Diese unauslöschliche Begegnung zwischen Gott dem HERRN und seinem Freund Mose, als beide zugleich dem Schatten begegnen, den Menschen auf sich und die, die sie noch erleben können, werfen und dann daneben die unendliche Gnade betrachten, die die Schatten vergehen machen und alles in ihr Licht tauchen wird, … diese unauslöschliche Begegnung hat Mose verwandelt: Er ist erhellt. Das ewige Licht, das ihm im Namen Gottes aufgegangen ist, das Licht, das nicht steigt und nicht versinkt, sondern war und ist und bleibt, „reflektiert“ … strahlt ab und strahlt weiter, wo immer es hingefallen ist.
Es ist die Ausstrahlung, die Aaron und Israel in ihrem eignen Schuldbewusstsein überwältigt.
Dass Gott trotz aller Sünde nicht als Auslöschender, sondern als Strahlender begegnet: Das ist das Evangelium.
Wer es hört - wirklich hört! - , der hört auf ein Mensch der Dunkelheit zu sein. Gnade macht erleichterte Erleuchtete. Gnade macht die gnädig Angesehenen zu Ausstrahlenden. Sie schenkt ihre Schönheit den mit ihr Beschenkten.
Das Gottvertrauen der Vertrauten Gottes hat auf dem Antlitz des Mose zu zünden angefangen und es ist auf menschlichen Zügen weitergespiegelt worden, … hat im Blick ansonsten unscheinbarer Menschen gelegen, wo andere es auffingen, … ist in den elendesten Leidensnächten der Menschheit die Öllampe gewesen, die Gefolterte und Verlassene und Sterbende für das Kommen des Bräutigams zur Mitternacht bereitete, und kann auch heute noch erkannt und nie wieder vergessen werden, wenn man in ein Gesicht schaut, in dem Gottes Gnade ihr wundervolles Ebenbild zum Leuchten brachte. ———
Hier endet die eigentliche Predigt über den Text.
Das Weitere – wie Mose das heilbringende Leuchten, den Nachglanz und Vorschein der Gegenwart Gottes, bei Dem er immer wieder sein durfte, dem Alltag anpasste, der ja auch vollzogen sein will und nicht von ausschließlicher Anbetung und Erhebung geflutet werden kann, und dann das lustige Missverständnis, das aus einer Fehlübersetzung der glänzenden Haut des Mose seine Glanzhörner machte, die Michelangelo in Marmor verewigt hat und die allzu viele andere Künstler in antisemitischer Bockshornigkeit karikierten …– alle diese weiteren kleinen Leuchtstreifen und Nebelkerzen, die die menschliche Interpretation und Spekulation erzeugt, sollen uns jetzt nicht ferner beschäftigen.
Dass Gottes Gnade so herrlich ist, dass ein von ihr erfüllter Augenblick die Ansichten und das Aussehen dessen verwandelt, der ihn genoss, lässt sich schlicht nicht angemessen in Worten wiedergeben. Vielmehr findet sich hier der Übertritt der ansonsten so wenig photographische Beweise - wörtlich: „lichtgeschriebene“ Beweise - liefernden Bibel auf das Feld des Optischen.
Das Leuchten, das Israel auf Moses Zügen sah, ist ein sichtbarer Gotteserweis gewesen[ii] und seither auf anderen Gesichtern geblieben.
Ich meine das nicht rhetorisch. Ich rede phänomenologisch … von der Epiphanie, der Erscheinung der Liebe Gottes im Ausdruck, in der Ausstrahlung von Menschen, die Ihn ihrerseits lieben, denen Er nahe ist, die - womöglich sogar unbewusst - die Gefäße Seiner Gnade sind, die aus ihnen leuchtet.
Verallgemeinern lässt sich da nichts: Es ist keine besondere Milde oder typische Süße in den Zügen der „Gott-Strahlenden“, wie die orthodoxe Kirche sie vielleicht nennen würde. Sie sind nicht alle aus einem Tuschkasten entworfen, gleich harmlos, blasiert, naiv und nazarenisch. Aber es gibt ganz verschiedene Gesichter, aus denen es aufblitzt: Hier lacht mich Gottes Güte an, hier wärmt Seine Geduld das Herz, hier zündet der Funken unerschöpflicher
Liebe!
Und dann gibt es auf dieser Erde fast nichts Besseres, als dass Menschen mit einem solchen Leuchten uns grüßen oder uns pflegen, uns zuhören oder uns trösten, uns lieben oder uns schlicht über den Weg laufen, in flüchtigem Erkennen und Einvernehmen, in der stärkenden Gemeinschaft eines einzigen Augenblicks, bis man sich einst dann wirklich wiedersieht, wo das Licht seinen Ursprung hat und alle, die von ihm erleuchtet sind, ihre Zukunft.
Fast nichts Besseres als solches Aufleuchten Gottes in, aus und durch Menschen gibt es. … Nur den einen: Gott im Menschen, das Licht im Fleisch. Jesus Christus.
Heute, am Ende der Lichterzeit feiert die Kirche seine Verklärung.
Dass Jesus urherrlich ist und unendliche Klarheit bringt, haben seine Jünger mit bloßem Auge damals sehen können. Als auch Mose bei ihm war und Elia (vgl. Matth.17 par.)
Und wenn wir ihn anbeten, von ihm hören und singen, ihn selbst im Mahl empfangen, auf seinen Wegen gehen, sein Wort halten, seine Liebe teilen, … wenn wir mit ihm leben, dann sehen wir es auch: Die Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi (vgl. 2.Kor 4,7 = heutige Epistel).
Dieses Angesicht leuchte über uns allen und sei uns gnädig!
Der Herr erhebe dies Angesicht auf uns und gebe uns Frieden (vgl. 4.Mose 6,24f)!
Amen.
[i] Vgl. https://www.tagesspiegel.de/berlin/bitte-einer-holocaust-ueberlebenden-wer-hat-ein-bild-von-ruth-nelly-abraham/12134722.html
[ii] Im Hintergrund der Predigt steht der letzte vor dem Holocaust verfasste Exodus-Kommentar eines gelehrten Rabbiners in deutscher Sprache. Benno Jacobs Auslegung, die er 1940 abschloss, aber bis 1943 laufend ergänzte, führt in (bewusster?!) Parallele zum Episteltext des letzten Sonntags nach Epiphanias zu einer beinahe christologischen Aufladung der Gestalt des Mose: „Sie (scil. die Israeliten) sollen die Herrlichkeit Gottes, und zwar auf Moses Angesicht sehen“ (Benno Jacob, Das Buch Exodus, hgg, im Auftrag des Leo Baeck Institutes von Shlomo Mayer, Stuttgart 1997, S. 990).
3.n.Epiphanias, 23.01.2022, Stadtkirche, Matthäus 8, 5-13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.n. Epiphanias - 23.I.2022
Matthäus 8, 5 -13
Liebe Gemeinde!
Diese berühmte Geschichte führt uns ein drittes Mal auf seinem Lebensweg Jesus und die Fremden vor Augen. Als Kind fiel ihm die Weisheit und Wissenschaft der Heidenwelt zu Füßen in Gestalt der Himmelskundigen aus dem Osten, die ihn gesucht und angebetet haben: Ohne innerweltlichen Grund, ohne immanente Kausalität, sondern aus einer höheren und tieferen Wahrheit heraus, die keine sogenannte Ursachen braucht, um Jenes zu erkennen, das sich in den Einzelheiten der Welt verzerrt und verstreut zeigt, im Kind unter dem Stern aber ganz offenbarte. Diese Pietät der Ausländer ist dem kleinen jüdischen Jungen Jesus also in die Wiege gelegt worden.
Die zweite Erfahrung der Fremde für Jesus war seine Flucht. Er wurde zum Migrantenkind in jener stolzen Nil-Kultur unten im Süden, die für Jakobs Nachkommen ein jahrtausendelanges Trauma darstellt. Da muss die Angst vor den Anderen, vor ihrer Mehrheitsmacht und vor den uralten Konflikten zwischen der eigenen und der fremden Überlieferung für den kleinen Kerl spürbar geworden sein. Er lernte zu sprechen, aber auf der Straße verstand man ihn nicht, und seine Mutter hielt seine Hand so fest, wenn jemand von den Ägyptern in seine Nähe kam, als fürchte sie die Kinderfreundlichkeit der Leute. Die Ausländerfremdheit hat der Säugling Jesus also mit der Sorge in der Muttermilch eingesogen.
Und dann der dritte Ausländer. Man möchte am liebsten wissen, ob es einen Augenblick des Auskostens bei Jesus gab, einen Sonnenstrahl des Genießens: Kommt der Mensch in Uniform, der gestiefelte römische Centurio und sagt zu ihm, dem barfüßigen Zimmermann aus Nazareth: „Kyrios!“ … Ob es einmal über Jesu Züge gehuscht ist: Das kaum verkneifbare Lächeln darüber, wie kurios das ist? … Der Militärmensch und der kleine Wunderjude?! Der gedrillte Verteidiger der westlichen Weltmacht und der ungelernte heimliche Sohn Gottes?! Gönnten wir’s ihm, wenn er es denn empfunden haben sollte: Den absurden Humor dieser Begegnung, als er die Hoffnung und Hilfsbedürftigkeit der Fremden, der Gott-Fremden erfuhr!
Spätere Christen jedenfalls haben es gar nicht übersehen können, wie hintergründig das war, dass da ganz früh schon die aufgedonnerte und darin tatsächlich ja auch erfolgreiche Autorität der westlichen Zivilisation vor dem, den sie kreuzigen würde, ein Bittsteller war! Die Macht der Erde, das Gesetz der Gewalt hat sich Jesus ausliefern müssen, noch ehe er mehr getan hatte, als einige brutale Haut-, Muskel- und Gemütskrankheiten zu heilen (vgl. Matth.4,24+8,1ff), die Armen, die Sanften und die Traurigen selig zu preisen und die Menschen insgesamt zu strenger Einfachheit und Heiligkeit zu rufen (vgl. Matth5-7). … Gesundheit, Glück und Reinheit werden ein paar Galiläern zuteil, und schon stößt Rom an die Grenzen seiner unermesslichen Tat- und Formkraft: Daran haben viele denken müssen, die sich in den Katakomben verbargen, in den schrecklichen Bergwerken am Schwarzen Meer als Christen in endloser Zwangsarbeit wiederfanden oder in den Arenen eingekreist von Gladiatoren zusammenhielten. Der römische Hauptmann von Kapernaum hatte ihnen den Trost erwiesen, zu zeigen, wer der Sieger über Rom und seine Herrschaft, wer der Sieger über all die unterdrückerische, lähmende Gewalt des Todes ist. ———
Und trotzdem ist auch etwas Sonderbares in dieser tröstlichen Unterordnung des Zwingherrn unter den Besiegten. Es ist etwas Sonderbares in dieser so ungeheuer notwendigen Demut des Soldaten vor dem Zivilisten, des Heiden vor dem Juden, die aus den tiefen Worten spricht, die die Gläubigen in jeder Messe auf sich persönlich anwenden und die auch wir uns wahrhaftig zu eigen machen sollten, um wieder geerdet, eingemenscht und sünderehrlich zu sein: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort so wird meine Seele gesund“[i].
Das Sonderbare, ja Irritierende an diesem Inbegriff des Glaubenbekennens fällt uns dann auf, wenn wir darin nicht nur die bescheidene, ehrlich selbstkritische Einschätzung der eigenen Verdienste sehen, sondern auf die Begründung achten, die der Hauptmann für sein blindes Vertrauen findet.
… Denn der Soldat bleibt Soldat. Auch seine Demut wächst auf dem Grund eines markigen Hochmutes. Und das Gefühl, das mich bei der Predigtmeditation beschlichen hat, dass ich wirklich nicht über einen Militär predigen mag in Tagen, in denen solche Kriegsgefahr in Osteuropa herrscht, wie wir sie uns - mit vielem andern in jüngster Zeit - wirklich nicht mehr hätten vorstellen können, … dieses Gefühl innerer Abwehr gegen den zwar knieenden, aber sich selbst dennoch nicht ernsthaft verneinenden Offiziers ist machtvoll. Was ihn da bei der rührenden Bitte für seinen kranken Knecht (wissen wir aber, wie er ihn kujonierte, … wie er also in Wahrheit seine Arbeitskraft und nicht sein Anrecht zu leben bewahren wollte?) … was den Hauptmann bei seiner rührenden Bitte für den kranken Knecht motiviert ist … Kadavergehorsam!
„Auch ich bin ein Mensch der Hierarchie! Auch ich versteh’ mich auf Kommandos und blindlings ausgeführte Befehle! Auch ich weiß, wie pariert wird, wenn nur der richtige Vorgesetzte einmal gut brüllt!“: Diese Logik des Kasernenhofes hat ihn so zuversichtlich gemacht, dass der Kyrios Jesus, dieser Rabbi aus den Dörfern, der unerklärlicherweise der Oberbefehlshaber in der verworrenen Geister- und Dämonentruppe des Vorderen Orients ist, etwas ausrichten kann. …….
… Und es wird einem schlecht!
Was für ein plumper, stupider, unverfrorener Rückschluss von sich auf andere! Eigentlich verbietet es sich, das ernst zu nehmen: Die dreiste Anwendung des beschränkten eigenen Weltbildes auf die unvergleichliche Neuigkeit, die mit Gottes Realität in Jesus, die mit der Fleischwerdung des Schöpferwortes mitten in der Weltgeschichte eingekehrt ist. Wie kann ein Mensch es wagen, die simplen Mechanismen, in denen er befangen ist und sich wichtig vorkommt, auf den Heiland, auf den Höchsten zu übertragen.
Wenn wir das vor dem Hintergrund unserer Geschichte hören – aus Osten, Süd und West kommend nun also auch im Norden angelangt – … wenn wir diese bornierte „Befehl-ist-Befehl“-Logik hören, muss es uns bei der Erinnerung an die in der letzten Woche zum achtzigsten Mal sich jährende Wannsee-Konferenz schlicht grauen!
Weil ein Handlanger der Macht weiß, dass das System des amoralischen, blinden Gehorsams auch Unmögliches möglich macht, ist die Einsicht in’s Funktionieren der Befehlsketten-Maschinerie doch wohl noch lange kein Argument dafür, Heil und Heilung könnten ebenso gut wie Unheil und Tod in diesen Bahnen laufen!
Dass der Kommandant von Kapernaum Jesus mit dieser spezifischen Legionärserfahrung tief bewegt haben sollte, ist darum hoffentlich, … nein: sicherlich ein Missverständnis!
Die Heidenkirche, die zwar zunächst zu den Opfern der römischen Unterdrückungspolitik gehörte, sich später aber gerne als urrömisch sah und gab, … die Heidenkirche hat es gerade auch in ihrer protestantischen Spielart am liebsten so verstanden, als habe Jesus vor lauter Rührung angesichts des braven Soldaten und seines Zutrauens gar nicht gewusst, wohin. In heidenchristlichen Ohren klang es immer, als habe Jesus damals gestaunt: „Einen so tiefen, echten, wahren Glauben habe ich noch nie erlebt wie ausgerechnet bei diesem Fremden!“ Und damit war ja ausgemacht, dass die Lateiner und Germanen, die Landser und die Leute wie du und ich viel redlicher in ihrem urigen Gottvertrauen sein müssen, als die Juden und die Judenchristen, bei denen es von Anfang an unerhört war, dass einer, dem bloß „Geh hin!“ oder „Komm her!“ oder „Tu das!“ gesagt wurde, sofort parierte. Das Volk der Bibel hat immer schon gefragt und widersprochen, hat immer schon seine Freiheit zu Wider-rede und Irrtum, zu trotzigem Eigensinn und martyriumswilligem Widerstand behauptet. Frage und Gegenfrage, Befehl und Achselzucken sind jüdische Grundmuster der Reaktion.
Dass Jesus das militärische Konformitätsschema der jüdischen Lust an der Kritik vor-ziehen solle, ist eine Einbildung Europas.
Er hat es so auch nicht gesagt, als der Hauptmann ihm erklärte, dass sein felsenfestes Jesus-Vertrauen auf der eisernen Disziplin seiner Kohorte beruhe.
„Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden!“, war seine Entgegnung. … Das Werturteil, das wir darin zu hören gewohnt sind, gibt es nicht: Es ist Jesu Begegnung mit dem Glaubensweg und der Glaubensweise eines Fremden, eines Menschen, dessen Horizont und Vorstellungen, dessen Lebensumstände und geistige Veranlagung ganz anders sind als alles, was es in Galiläa und Judäa damals gab.
Doch indem Jesus auch diese eigene Prägung eines ihm ganz fremden Menschen als dessen spirituelle Bereitschaft anerkennt, … indem Jesus auch die eigentlich haarsträubende, hinkende Analogie zwischen Leutnant und Heiland als eine Form des Glaubens würdigt, setzt er Weihnachten fort!
Hatte es bis zum Erscheinen des Sohnes Gottes im Fleisch vom Schöpfer zu Recht geheißen, dass wir kein Bild des Unsichtbaren haben, keine Vergleiche zwischen dem Überweltlichen und den Innerweltlichen ziehen sollten und in philosophischer und theologischer Suche nach dem lebendigen Gott keine Analogie zwischen dem Ewigen und Endlichem annehmen dürften, hat sich das mit der Geburt des menschgewordenen Erlösers radikal verändert: Der uns begegnet, wenn wir Jesus suchen und finden, ist uns nicht total fremd, er ist nicht absolut anders und unerreichbar für unsere fehlerhaften, versuchsweisen Verständnisbemühungen[ii].
Seit Gott Mensch wurde, dürfen - ja müssen!!! - Menschen menschlich über Ihn zu denken und zu reden versuchen; seit Gott Mensch wurde, ist nichts Menschliches mehr prinzipiell unvereinbar mit Ihm oder unvorstellbar als Behelf beim Suchen, als Brücke zur Annäherung, als Bild des Geliebten.
Und wenn eine Charge beim Kommiss der Römer plötzlich weich wird, … wenn so ein bärbeißiger uniformierter Haudegen, den es in seiner Garnison in Galiläa ins Grübeln bringt, dass sein Bursche, sein Adjutant über’n Deister gehen und nie wieder Heimaturlaub kriegen soll, anfängt sich zu schneuzen, … wenn so eine olle Rumpelnatur im Waffenrock plötzlich das menschliche Rühren kriegt, dann ist das nichts anderes als die naive Neugier der Hirten von Bethlehem und der kosmische Tiefsinn der naturfrommen Sterndeuter aus Morgenland: Es ist das Menschenwesen, das sich dem lieben Gott, dem großen Gott, dem heiligen Gott, dem ewigen Gott nicht entziehen kann … und sich vor Ihm auch nicht verstecken muss.
Es ist einer der vielen Wege, die von Osten und von Westen, vom Norden und vom Süden ganz unterschiedliche Verläufe nehmen, um ganz verschiedene Menschen ihre Pilgerfahrt zu Gott, dem Ziel aller Welt vollziehen zu lassen.
So öffnet sich mit dem Hauptmann von Kapernaum im Matthäusevangelium die Weite, in die es im Taufbefehl schließlich großartig münden wird: In aller Welt (vgl.Matth.28,18ff) sind Menschen, die aus allen Himmelsrichtungen zusammenkommen und auf ihren je unvergleichlichen Glaubenswegen zu Abraham, Isaak und Jakob geführt werden, in den Bund, den Gott geschlossen hat, um darin Raum für zahllose Glaubende und Gerechtfertigte zu schaffen, die wie der Sand am Meer und die Sterne am Himmel sein sollen. ———
Das Modewort von der Toleranz, das immer wieder zwischen halbherziger Duldung und leidenschaftslosem Unernst schwankt, beschreibt das nicht annähernd, was durch Jesus an Weitherzigkeit und Gleichzeitigkeit, an Verbundenheit der Verschiedenen und an Einigkeit der Andersartigen aufgetan ist.
Wer hört, wie er den römischen Soldaten in seiner kulturellen Fremdheit und persönlichen Eigenart als einen Glaubenden begrüßt, den muss eigentlich Geschwisterheimweh und Menschheitsliebe packen, wenn er ein Reich-Gottes-Herz hat.
So seltsam uns andere Menschen berühren mögen, so unvertraut und unheimlich uns ihre schönsten Bilder, ihre innigsten Träume, ihre ehrlichste Hoffnung auch erscheinen mögen, so befremdet wir vor ihrer Art und ihren Taten vielleicht auch stehen: Denken wir daran, dass so unendlich viele berufen und willkommen sind im Himmelreich! ——
„Es geht kein Mensch über die Erde, den Gott nicht liebt“, hat dazu der alte Vater Bodelschwingh in Bethel gesagt[iii].
Und darum führt kein Weg über die Erde, den Gott nicht endlich zu sich lenken wird. ——
In keinem Menschen also und in keinem Glaubensweg mehr das ausschließlich Fremde zu sehen: Das ist der beste Schritt, den wir auf’s Ziel hin setzen können.
Daher will ich heute – in der tiefen, vor allem Wissen tragenden Gewissheit, dass Jesus Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben überall und immerdar ist – die Predigt mit einem Blick nach Osten und einem Wort aus dem Westen schließen.
Gestern, als es dort Mitternacht wurde ist in Vietnam ein Mensch der Frömmigkeit und des Friedens gestorben, der buddhistische Mönch Thích Nhȃ́t Hạnh, dessen Lehre von der Achtsamkeit und dessen Botschaft davon, wie man Leid und Glück nie trennen kann und wie das Leben rein im Augenblick ein Engagement für Großes und für Viele nicht ausschließt, Menschen überall bewegt hat.
Ich selber verstehe nichts vom Buddhismus. Er bleibt mir fremd.
Aber Martin Luther King hat Thích Nhȃ́t Hạnh einen Apostel genannt[iv]. …….
Und da höre und sehe ich meinen Herrn zwischen ihnen beiden – dem Mönch fern aus dem Osten und dem kämpferischen Prediger aus dem Westen –, … und ich weiß, wie das, was er diesen beiden genau wie dem Hauptmann einst im Süden sagte, uns heute morgen hier im Norden auch gesagt ist:
Dir geschehe, wie du geglaubt hast! ——
Herr, bring uns alle an das Ziel, an das wir glauben!
Bring uns zu Dir!
Amen.
[i] Zu diesem Teil der eucharistischen Liturgie vgl. Birgit Jeggle-Merz / Walter Kirchschläger / Jörg Müller, Kapitel: Einladung zur Kommunion, in: dies. (Hgg.), Leib Christi empfangen, werden und leben. Die Liturgie mit biblischen Augen betrachtet (Luzerner Biblisch-Liturgischer Kommentar zum Ordo Missae 3), Stuttgart 2016, 119- 131.
[ii] Auch hier vollzieht sich für mich eine Abkehr von identitätsstiftenden protestantischen Positionen. Die Bestreitung der Analogie als sinnvollen Mittels und hilfreicher Methode des menschlichen Nach-Denkens über Gott hat in den dreißiger Jahren noch einmal geradezu bekenntnishafte kontroverstheologische Bedeutung gewonnen. Der (innerprotestantische) Streit, der letztlich aber v.a. das Gesamt der katholischen, aristotelisch-thomistischen fundamentaltheologischen Tradition verwarf, ist dokumentiert in dem Sammelband, der Karl Barths und der Seinen Ablehnung der natürlichen Theologie etwa Emil Brunners bündelt: „Dialektische Theologie“ in Scheidung und Bewährung 1933.1936. Aufsätze, Gutachten und Erklärungen, hgg. v. Walther Fürst, (Theolog. Bücherei, Bd.34), München 1966. So sehr die Perversion der völkischen Pseudo-Theologie und aller naturalistischer Kurzschlüsse in der Theologie abzulehnen bleibt, so eindeutig ist die Verwerfung des Analogieschlusses als hermeneutischen Verfahrens eine ideologische Selbstverhinderung der fides quaerens intellectum, … also des Verstehen suchenden Glaubens. Um auf Barth mit Barth zu antworten: Verwerfung der Analogie im theologischen, philosophischen und interreligiösen Gespräch? – „Nein!“
[iii] Vgl. dazu Manfred Hellmann, „Es geht kein Mensch über die Erde, den Gott nicht liebt“. Das Leben Friedrich von Bodelschwinghs d.Ä., Holzgerlingen 2010.
[iv] https://plumvillage.org/letter-from-dr-martin-luther-king-jr-nominating-thich-nhat-hanh-for-the-nobel-peace-prize-in-1967/
16.01.2022, 2.So. n. Epiphanias, Stadtkirche, 1.Korinther 2, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 16.I.2022 - 2.n.Epiphanias
1.Korinther 2,1-10
Liebe Gemeinde!
Die ersten rechten Auftritte, bei denen ich dem Publikum so etwas wie eine Moral oder eine Anti-Moral in die Ohren zu vermelden hatte, habe ich in einer sonderbaren Rolle bestritten. Ich trug ein selbstgebasteltes Joch mit zwei Blecheimern und plärrte - damit die Schultheater- Zuschauer in der Kleinstadt es auch gleich begriffen, wer ich da im fernen China sei und was ich anzubieten habe - „Kauft Wasser! Kauft Wasser!“. Es war der mir nicht allzu sympathische Wasserträger Wang, im Stück über den „guten Menschen von Sezuan“ des mir nicht allzu sympathischen Dichters Bertolt Brecht, den ich da verkörpern sollte. Herrn Wang fiel die Aufgabe zu, drei Göttern bei der Suche nach einem menschlichen Menschen zu helfen, einem Menschen, dessen Haltung und Handeln den Fortbestand der großen Stadt Sezuan rechtfertigen könnten. … Der Wasserträger selbst war dieser Gerechte jedoch nicht. Herr Wang war zwar einfach und unvoreingenommen, aber aus Armut bar jeder Moral.
Zwei weitere seiner Züge jedoch verbinden mich mit ihm bis heute: Er wartete - ohne besonders fromm zu sein, vielleicht aus Neugier - auf den Besuch der Götter. So möchte ich auch bleiben: Jetzt am Jahresanfang, in der Lebensmitte, in einer endzeitlich-ernsten Epoche. Die Gotteserwartung, die Bereitschaft, jederzeit das Dasein und das Hier-Sein Gottes als wichtigstes Tagesereignis, als allesentscheidende Zukunftsperspektive zu sehen, will ich bewahren dürfen.
Doch die andere Gewohnheit, die der Brecht’sche Antiheld und der Pfarrer hier vorne teilen, will ich abzulegen üben: Der Wasserträger verkaufte seine lebensnotwendige Ware in Bechern, die größer aussahen als ihr Hohlmaß wirklich war. Man schien bei ihm mehr zu erhalten, als man wirklich bekam. … Den Trick aber kennen alle, die predigen, alle, die in der Verkündigung, im Dienst der Gottesbeschreibung und Evangeliumswerbung stehen. Die Aufmachung soll ansehnlich scheinen, soll Dimensionen haben, die etwas darstellen, soll medial, statt medioker wirken, soll die „Kundschaft“, die „Verbraucher“, die Durstigen befriedigen noch ehe auch nur ein Quäntchen „intus“ ist.
Und so wird der Gottesbecher, das Fass der Glaubensbrause, der versilberte Kübel des irgendwie feierlichen, letztlich aber läppischen Schaumweins bei den Lebensfesten, die Karaffe zum Dekantieren zeitgemäßen Jahrgangsjargons zu den vermeintlich gesellschaftlichen Themen immer schicker und marktgängiger, während der Inhalt nicht zunimmt.
… Dass der Inhalt immer mehr werden müsse, dass es die üblichen Steigerungsgelüste, das alte Wachstumsträumen auch in Sachen christlicher Botschaft geben müsse, will damit gar nicht gesagt sein. Und doch sollten wir, … doch will ich nun wirklich wieder ehrlich werden, was die Verkündigung anbelangt.
Zu lange ist so getan worden, als wandle sich die Substanz des Bekenntnisses unseres Glaubens mit den Bedürfnissen unserer Gegenwart. Zu lange haben wir mitgespielt beim Täuschungsmanöver, als nähme die Verkündigung immer so zu und immer jene Färbung an, dass gerade die Kategorien unseres Geschmackes und Gefallens damit bedient würden.
Doch diese reine Maßlosigkeit, dieses immer allen Angemessen-Sein-Wollen ist unser Betrug, ist unser Spiel, als servierten wir mehr, als wir eigentlich zu vergeben haben.
Wenn Menschen selber eine Marke schaffen, wenn wir selbst ein Modell entwerfen, dann geht das natürlich so zu: Dann wird gefragt und geforscht, worauf die Leute Lust haben, was Mode ist und reizvoll wirkt, woran man sich längst übersättigt hat und wodurch nun ein neuer Appetit geweckt werden könnte. Das alles macht man, wenn man Einlegegurken, Computerspiele oder populäre Religion verkaufen will. Dann kommt etwas weniger Dill, etwas agileres 3-D oder eine harmlosere Wohlfühlsprache zum Einsatz.
So haben auch nicht erst die schamlosen Ultrakapitalisten des Internet, die jede, jede, jede innerste Regung der Menschheit zu kommerzialisieren verstehen, es gehandhabt, sondern seit es Kultur gibt, macht der Markt, macht das menschliche Miteinander sich anheischig, jedem das Richtige zu bieten:
Olympier kriegen sportliche Götter; die Germanen schufen sich um ein gemütliches Herdfeuer schnaufende und saufende Überirdische, der riesige indische Subkontinent hat die bunteste, fruchtbarste Vielfalt göttergleicher Wesen, die denkbar ist, und wir Heutigen haben eine Entgötterung ausgerufen, die unserem Ideal der Unverbindlichkeit gerecht wird: Nicht, was Gott sich unter einem Menschen denkt, sondern was ein Mensch an Gott noch für akzeptabel hält, ist zum Maß theologischer Aussagen gemacht.
Alles findet also einen Gott nach Maß.
Und wenn die Masse, die Menge oder die Macht des Göttlichen mal nicht passen, wenn’s für die einen nicht reaktionär und für die anderen nicht poltisch-korrekt genug ist, wird eben nachgemessen: Soll jedes auf sein Lieblingsformat kommen, … light, öko oder ultra. Kein Problem. …….
Doch damit muss - für mich jedenfalls - Schluss sein. Kein Panschen und kein Pfuschen, kein Aufbauschen und kein Verdünnen mehr.
… Und das nicht, weil ich auf meine alten Tage nun so aggressiv konservativ werde oder solch eine Umkehr zur altehrwürdigen Tradition vollziehen mag. … Das alles sicher auch. … Aber Auslöser des ehrlichen, des enttäuschenden Maßhaltens in einer hemmungslos der Menschheit den Bauch pinselnden welt-anschaulichen Ranschmeiße an die momentane Konjunktur ist ein Anderer: Den hätten sie damals gern als pikant und mysteriös erlebt. Sie hätten wirklich applaudiert, wenn er ihnen nur Gänsehaut bereitet und ihre Emotionen geknetet hätte. Man konnte gefeiert werden, damals, für eingängige Publikumserfolge ebenso wie für die rücksichtlose, überwältigende Sprengung des normalen Horizontes. Hauptsache spektakulär und nervenaufreibend oder ölig angenehm. Hauptsache die Sache hat Reiz!
Und er … floppte.
Kein Zauberer, der das leicht erregbare, phantasievolle, abwechslungswütige Publikum beherrschte, das sich nach der harten Maloche in den Docks und in der heimwehkranken provisorischen Lebensweise, wie sie alle Hafenstädte hervorbringen, doch so nach Ergriffenheit und Entrückung sehnte. … Er war nun mal spröde. Und obwohl sein Kernsatz - dass die Welt in der Erneuerung und der Tod vergangen sei! - … obwohl sein Kernsatz so zum Träumen, zum Aufstehen, zum Abschütteln der Schmerzen und zum Aufstieg ins Jauchzen taugte, konnte man sich durch ihn keinen Augenblick in Trance, in eine Realität der Wunscherfüllung oder einen Taumel der Selbsterhöhung versetzt finden.
Die Korinther, deren Herz berührt und deren Fleisch getauft worden war, waren so enttäuscht von ihrem Apostel Paulus. … Gewiss, er brachte ihnen Gott nahe.
… G O T T!
… Den, Den kein Augen sehen und kein Ohr hören kann; Der sich unsichtbar macht vor Mose, um ihn nicht zu überwältigen (vgl. die heutige Lesung: 2Mose 33,18-23!); Dessen Herrlichkeit unanschaulich und unergründlich ist. Diesen Gott brachte Paulus den Korinthern, den Sklaven und den Geschäftemachern, den suchenden Tagelöhnern und den rastlosen Luxusweibchen, den wirklich geistlich Hungernden und den einfach nur Unterhaltungssüchtigen. Diesen Gott brachte Paulus tatsächlich. Und doch machte er niemanden zittern, weder durch Furcht noch durch Ekstase. Alles, was er sagte, belief sich - auch da, wo es eine ungeheure Befreiung, eine spürbare Lösung aus der Unsicherheit, echte Antwort, unumstößliche Hoffnung brachte - doch immer wieder auf das Eine:
Der Sinn des Lebens findet sich in einem Ermordeten!
An einem Galgen hat das Himmelreich begonnen!
Allein der Gekreuzigte, allein Jesus Christus!
Das war die ganze Weisheit, die ganze Erleuchtung, die ganze Offenbarung, die dieser unbedeutende Jude aus der Provinz Kilikien in ihren großen Umschlagplatz, in ihre Metropole der Vielfalt, der kulturellen und ethnischen Diversität brachte: Die Geschichte von Einem, der nicht gewonnen hatte, sondern kampf- und wehr- und ehrlos von der politischen Weltmacht umgebracht worden war?!
… Das sollte das Geheimnis der Erlösung sein?! … Daran sollte sich entscheiden und darin sollte sich finden, was der gehetzten und prekären Spannung einer Welt voller Gegensätze und Fliehkräfte Verheißung geben konnte?!
Das Hin- und Hergerissen-Sein der Korinther, die im Evangelium einer Kraft begegneten, die sich nicht leugnen ließ, obwohl sie keinerlei schlüssige Erklärung dafür finden konnten, hat Paulus über Jahre verfolgt.
Andere Kulte der Antike waren viel lebens- und erlebnisnäher. Man konnte pharmazeutisch, autosuggestiv und sexuell befeuert ganz andere Zustände erleben. Man konnte ganz andere soziale und spirituelle Energien entfesseln, und auch im Namen des Jesus von Nazareth gab es ganz andere Hypnotiseure und Therapeuten, glänzende Volksredner und Idole der hobbyphilosophischen Liebhaberei.
Aber Paulus hat - bis auf seltene Ausnahmen der Verzweiflung (vgl.2.Kor.12,1-13) - nicht mehr als das ernüchternde Wort vom Kreuz verkündet: Dass Gott selber da lieber das menschliche Sterben erlitt, als den Wahnsinn des gottlosen Lebens zu teilen. Dass Gott sich lieber klein, niedrig und hilflos, dass er sich leidend, schwach und bezwungen eher sehen ließ, als in die Lüge der Selbstherrlichkeit und Allmacht dieser vergänglichen Welt eingebunden zu werden. Dass Gott in solcher Ohnmacht mehr Recht und in diesem Tod mehr Zukunft aufgedeckt hat, als alle anderen Mächte und Gewalten der Erde in ihren sämtlichen Triumphen und bestrickenden Illusionen es jemals würden. ——
So wenig und so viel hat Paulus nur gepredigt.
Und man konnte ihm ansehen, an seiner ganzen Gestalt konnte man es geradezu ablesen, dass da nicht ein Effekt gehascht wurde, der Mitleid hervorrufen und dann in Staunen umschlagen würde, wenn aus dem irreführend geringen Einstieg schließlich doch noch - „Simsalabim!“ - ein mit „Oh!“ und „Ah!“ gewürdigter Überraschungsknaller wurde. Dieser erkennbar kranke Prediger (vgl. 2.Kor.10,10:12,7!) blieb befremdlich bescheiden, und auch, was er von Ostern und von der himmlischen Gegenwart des Herrn Jesus zu sagen hatte, was er von der Herrschaft dieses Herrn Jesus zu sagen hatte, was er von der Hoffnung auf diesen Herrn Jesus zu sagen hatte, was er vom Wiederkommen seines Herrn Jesus und von dessen Gericht zu sagen hatte, was er von der Vollendung aller Dinge und dem endgültigen Sieg dieses Herrn Jesus, der Gott alles in allem machen würde, zu sagen hatte, … das alles betraf immer noch und ewig weiter Jesus Christus, den Gekreuzigten.
Das alles löste sich also nicht in Wohlgefallen auf oder schäumte über in einen gewaltigen Akt explosiver Erleuchtung. Die Herrlichkeit des Herrn Jesus hatte Paulus vor Damaskus blind gemacht (vgl. Apg.9; 22;26). Und als er wieder sehen konnte, da wusste er, dass im Gekreuzigten das Heil lag und dass das Licht, das ihn geblendet hatte, nur der nachzitternde Schatten jener Liebe war, die sich auf Golgatha geoffenbart hat[i].
Nichts Größeres als das also! ——
… Und wenn das den Korinthern nicht reicht? An Erklärung und Logik? An emotionaler Bandbreite und praktischer Anwendbarkeit? Wenn sie es gerne mehr auf sich bezogen wüssten, lieber von den persönlichen Folgen, am besten gleich vom eigenen Vorteil durch diese Botschaft etwas hörten, … was dann?
Dann bleibt es trotzdem im Geheimnis verborgen, dass die Weisheit Gottes nicht übernatürlich, nicht metaphysisch, nicht schockierend und auch sonst nicht dynamisch zündend, funkensprühend, glutvoll die Wirklichkeit umschmilzt oder sensationell transformiert, sondern in die Unerkennbarkeit gehüllt bleibt, die wir Beherrscher und zu-gleich Diener dieser Welt nicht erkennen können, die uns Kindern dieser Zeit unbegreiflich bleibt.
Und darum - so habe ich mir’s vorgenommen - will und werde auch ich nicht mehr den vergeblichen, den vermessen törichten Versuch fortsetzen, dieses Geheimnis Gottes zu erklären und die Weisheit Gottes zu verknüpfen und zu verrechnen mit dem Wenigen, das wir erfassen und verstehen können.
Es wäre der Wasserträgertrick eines Gefäßes, das mehr andeutet, als es aufnehmen kann.
Zwar würde ich vielleicht auch heute noch gerne Herrn Wang spielen, das treuherzige Schlitzohr, der’s eigentlich gut meint, aber halt hier und da ein wenig flunkern und die Wirklichkeit seinen Möglichkeiten unverdrossen nachempfinden muss, so dass sie beide zueinander passen.
Ich könnte so tun, als wären die großen Löcher in der Zuverlässigkeit unserer Erkenntnis mit gutem Willen und Moral zu stopfen. Ich könnte so tun, als passe auf die abgründigen Schlaglöcher in der Landschaft dieser Welt immer ganz kommod ein Deckel des forschen Gutmenschentums. Ich könnte, ja ich würde gern auch vorgeben, dass es überhaupt keine Schwierigkeiten gibt, keine Krisen, keine Klima- und Coronanöte, denen wir nicht mit der hausgemachten Floskel- und Behauptungskiste irgendeiner politischen, ökonomischen, humanistischen Ideologie zu Leibe rücken sollten, bis durch Impfen und erneuerbare Energien und treulich gegenderter Sprache alles in Glück und Sonnenschein sich auflöst.
Doch ich halte es für richtig, das mir nicht und auch anderen nicht weiszumachen.
Ich halte es für richtig, nichts zu wissen, als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten.
Dass er aber und wie er aber die Antwort auf alle unsere Fragen ist, … wie und dass er die Überwindung des Verderbens, … die Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben, … die Rettung der Verlorenen, … die einzige Hoffnung der Menschen aller Zeiten ist und bleibt, … das kann nicht mit überredenden Worten der Weisheit demonstriert und durchgesetzt werden.
Es ist nämlich dem Erweis des Geistes und der Kraft vorbehalten!
Und darum so sehr ich die guten Menschen, die wir sind, sein können und sein sollen, schätze, so glaube ich doch nicht, dass sich das Schicksal unserer Zeit von Menschenseite alleine wenden und klären lassen wird.
Bertolt Brechts Stück vom guten Menschen von Sezuan, das Stück von der Suche nach einer rettungsfähigen und lebenswürdigen Menschheit endet mit dem in meinen Ohren verzweifelten Appell:
„Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach:
[Die Menschen] selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis‘ dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß!
Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!“[ii]
Das Stück jedoch, in dem wir stehen, wird nicht so einsam nur vom gottverlassenen Menschen geschrieben und hängt auch nicht allein von ihm als Held oder als Versager ab.
Sondern – auch wenn uns das ganz und gar bescheiden, leise, still und wartend machen will – … sondern von diesem Stück, dessen Auflösung wir allein nicht finden können, weil sie sich am Geheimnis des Gekreuzigten entscheidet, heißt es:
Gott offenbart es schließlich durch den Geist; denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen Gottes.
Und darum steht unser Glaube wirklich nicht auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft!
Amen.
[i] Die im Werk von Karl-Heinz Menke immer wieder begegnende und meditierte Wendung von der „gekreuzigten Liebe“ ist eine entscheidende Verdichtung dieses Glaubenssatzes. Vgl. z.B. durchgängig: Karl-Heinz Menke, Das unterscheidend Christliche. Beiträge zur Bestimmung seiner Einzigkeit, Regensburg 2015.
[ii] Bertolt Brecht, Gesammelte Werke 4 (Stücke 4), hgg. Vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit m. Elisabeth Hauptmann, Frankfurt/M 1967, S.1607.
02.01.2022, 1.S.n.d.Christfest, Joh.6,37, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text: Joh.6,37 (Jahreslosung 2022)
Liebe Gemeinde,
„Botschaft in Bildern", so heißt das neueste Buch von Gerd Theißen, das ich in der Adventszeit mit großem Vergnügen und Gewinn gelesen habe. In diesem gar nicht dicken Buch beschreibt Theißen sehr eindrücklich, wie sehr die biblische Botschaft mit Bildern verbunden ist, die die Menschen über alle Religionsgrenzen hinweg anspricht, weil es Bilder sind, die den Menschen kollektiv ins Herz und in die Seele geschrieben sind. Er ist damit sehr nahe bei der Erkenntnis Carl Gustav Jungs, der einmal gesagt hat, die einzige Fremdsprache, die alle Menschen lernen müssten, sei die Sprache der Symbole/der Bilder, weil diese ihnen zeigen könnte, wer sie sind im Zusammenspiel mit allen anderen Menschen und als Geschöpfe der Erde und des Himmels.
Jesus hat das wohl schon 1900 Jahre vor C.G.Jung so gesehen, weshalb er das, was ihm besonders wichtig war, in Bildergeschichten erzählte: das Gleichnis vom verlorenen Sohn oder vom verlorenen Schaf, das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter oder von den Arbeitern im Weinberg. Geschichten und Bilder, die über Kultur- und Religionsgrenzen hinweg verstanden werden können.
Sehr nahe bei den Wort-Bildern sind die Bilder in der darstellenden Kunst - Gemälde und auch Plastiken. Auch sie malen uns Geschichten vor Augen und helfen uns so, uns einzufühlen und zu verstehen, was der Künstler uns durch sie mitteilen will.
Mit zwei Bildern will ich Ihnen darum heute morgen die Jahreslosung für 2022 näherbringen.
Die Jahreslosung selbst ist gänzlich bildlos, ohne Substantiv oder Adjektiv. Ein Vers aus dem Johannesevangelium:
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Doch auch für dieses Jahr haben verschiedene Künstler/innen versucht, sie ins Bild zu setzen. Diese Aufgabe war sicher in der Vergangenheit oft einfacher. Aber sehen wir, was ihnen da eingefallen ist, in der Auseinandersetzung mit dem Vers aus Johannes 6: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Das erste Bild finden Sie auf dem Gottesdienstprogramm (Quelle: Verlag Am Birnbach). (siehe pdf-download)
Eine offene Tür, die den Weg freigibt in einen Raum, der erfüllt ist von einem hellen warmen gelben Licht - ganz im Kontrast zu der Wand mit der Tür, die in einem kühlen Blau gehalten ist. In diesem lichterfüllten Raum stehen in der Mitte auf einer angedeuteten Tischplatte ein Laib Brot und ein gläserner Becher mit je nach Betrachtung Rotwein oder rotem Traubensaft. Wie an einer Halskette hängend schwingt ein filigranes goldfarbenes Kreuz mit einem Schlüsselbart am unteren Ende des vertikalen Balkens nach links und gibt damit den Durchgang durch die Tür frei. Das Licht aus dem Raum fällt auf den Fußboden und zeichnet einen einladenden Weg, auf den der Vers der Jahreslosung geschrieben steht: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Der Künstler oder die Künstlerin - ich habe den Namen im Prospekt leider nicht gefunden - hat sich von der Bildlosigkeit des Verses nicht irritieren lassen. Vielmehr hat sie oder er sich inspirieren lassen von der Tatsache, dass es sich um einen Vers aus dem Johannesevangelium handelt und zwar aus der sogenannten Brotrede. Das sehr lange 6. Kapitel beginnt mit der Erzählung von der Speisung der 5000, die bei den Menschen eine solche Begeisterung auslöst, dass sie Jesus sofort zum König ausrufen wollen. Das wiederum steht Jesus völlig fern; ihm geht es eben nicht um weltliche Herrschaft, sondern um ein Leben, das sich am Willen Gottes orientiert. Doch er hat es schwer, sich verständlich zu machen; es folgt eine lange Rede, in deren Zentrum das erste der sog. „Ich-bin-Worte" steht: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten."(Joh.6,35) Und es fällt auch der Satz „Wer mein Fleisch isst und trinkt mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm." (6,56) Worte, die an das Abendmahl erinnern - darum auch der gläserne Kelch und das Brot auf dem Bild. Und auch die Tür erinnert an eines der „Ich-bin-Worte": „Ich bin die Tür, wer durch mich hineingeht, der wird glücklich werden und wird ein und ausgehen und erfüllt und sinnvoll leben." Und der Lichtstrahl auf dem Fußboden weist auf ein weiteres Ich-bin-Wort: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben."
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Dieser Jesus ist uns wichtig: die offene Tür, die bedingungslose Annahme. Daran lassen wir uns gerne am Beginn dieses Jahres erinnern. Zu ihm können wir kommen mit allem, was uns auf dem Herzen liegt. Mit allem, was uns gelungen ist und mit allem, was uns misslungen ist. Die Tür steht offen, jede und jeder kann hineingehen und auch wieder hinausgehen; da läuft man nicht Gefahr, auf einmal festzusitzen. Jesus respektiert unseren Wunsch nach Freiheit. Mit ihm kann jeder und jede ihren eigenen Lebensweg finden und gehen. Brot und Wein sind Wegzehrung und Stärkung.
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Was irgendwie nicht so ganz ins Bild passt: es ist das wie ein Uhrpendel schwingende Kreuz, das Kreuz als Schlüssel - auch zum rechten Verständnis der Jahreslosung. Um dem auf die Spur zu kommen, schauen wir uns einmal das zweite Bild an:
Im Zentrum eine Gestalt im warmen gelben Licht mit offenen, einladenden Armen: Jesus Christus. Und im Vordergrund, uns den Rücken zukehrend, kleine und große Gestalten, die die Einladung offensichtlich annehmen und zu Jesus hinlaufen. Eine bunt gemischte Schar. Mich erinnert dieses Bild an ein anderes Jesus-Wort aus dem Matthäusevangelium: „Kommt her zu mir all, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken." Und auch an eine andere Begebenheit, wo Mütter mit ihren Kindern zu Jesus kamen, um diese von ihm segnen zu lassen. Wo die Jünger sie abwiesen und sich Jesus erst energisch dagegen verwehren musste: Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, weist sie nicht ab.
Dieses Bild verweist uns darauf, dass Jesus gerade damit immer wieder angeeckt ist: dass er alle, wirklich alle, die zu ihm kommen wollten, an sich herangelassen hat:
die Mühseligen und Beladenen, die moralisch Anrüchigen, die Sünderinnen und Sünder, die Außenseiter und Fremden, die, mit denen die Anständigen, die Frommen, die Tüchtigen nichts zu tun haben wollten.
Genau dieses Verhalten brachte ihm Ablehnung, Abweisung ein. Mit jemandem, der sich in solch schlechte Gesellschaft begab, mit dem wollten die Frommen und Anständigen nichts zu tun haben. Die Tischgemeinschaften, die Jesus praktizierte, die Einladung ins Haus des Zachäus z.B., die führten dazu, dass viele nicht zu ihm hineingehen wollten. Er entsprach damit einfach nicht ihren Vorstellungen, wie ein Mensch Gottes zu sein und sich zu verhalten hatte.
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Ja, Jesus weist keinen ab, aber wer kommt zu ihm? Wer will zu ihm kommen, wenn er sich in schlechter Gesellschaft befindet, sich mit Leuten einlässt, die mehr als zweifelhafte Existenzen sind?
Und heute - da ist es doch auch angebracht, sich ehrlich zu machen: wer kommt denn noch zu ihm? Viele Menschen kehren der Kirche jedenfalls den Rücken. Da sind nicht nur finanzielle Erwägungen ausschlaggebend, sondern oft auch enttäuschte Erwartungen. Was bedeutet das für uns als Gemeinde? Was müssen wir ändern? Mit diesen Fragen hat sich tatsächlich schon die frühe Kirche befasst, die ersten Christen. Und wie es das Johannesevangelium schreibt, schon Jesus selbst. In eben jenem 6. Kapitel, in dem die Jahreslosung steht. Da können wir lesen, dass schon Jesus die Menschen in Scharen davongelaufen sind. Wie konnte es dazu kommen? Bei Jesus liegen doch ganz gewiss nicht die Versäumnisse vor, die man uns, seiner Kirche, oft zu Recht nachsagt: Versäumnisse an Achtsamkeit, an Glaubwürdigkeit, an Toleranz, an einer zeitgemäßen Verkündigungspraxis ...
Auch Jesus hat Erwartungen enttäuscht: für die einen hatte er den falschen Umgang, den sie ihm nicht verzeihen konnten.
Für andere wiederum war er nicht politisch genug, rief er nicht entschlossen zum Widerstand gegen die römische Besatzung auf. Für andere war sein Lebenswandel anstößig: er feierte offensichtlich gerne, konnte das Leben genießen - Fresser und Weinsäufer schimpften sie ihn. Selbst seine engsten Angehörigen irritierte er, sie hielten ihn für geistesgestört, hatten Angst, der er die ganze Familie in Misskredit bringen könnte. Und sogar seine Jünger konnten es nicht begreifen, warum er nicht seine Wunderkräfte zielgerichteter einsetzte gegen seine Neider und Widersacher - „Lass doch Feuer vom Himmel regnen und sie verbrennen!".
Nur sehr wenige haben ihn zu seinen Lebzeiten verstanden: dass er kein Zauberkönig sein wollte, kein Messias, der es richtet, sondern eben ein Mensch nach dem Willen Gottes, der nach seiner Weisung fragt - immer im Gleichmaß Gottesliebe und Nächstenliebe übt und genau darin seine Erfüllung findet. Ein Mensch mit weitem Herzen und weit geöffneten Armen. Der sich einladen lässt und selber einlädt, der das Brot, das ihn ernährt, teilt und weitergibt; der ausgießt, was ihm Lebenskraft und Hoffnung schenkt, den Wein der Gottesfreude. Der Geborgenheit gibt, ohne einzuengen, dessen Tür offen ist, der uns kommen und gehen lässt, der sich über unsere Zuneigung und Liebe freut und sich nicht darüber mokiert, wenn wir uns nicht jeden Tag bei ihm melden. Der uns niemals aus seiner Liebe fallen lässt - wie er es von Gott gelernt und übernommen hat; dessen Arme immer offen sind - selbst noch am Kreuz. „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Das ist die tröstliche Verheißung, die in der Jahreslosung liegt. Und daneben, eher darin verborgen die ermutigende Bitte an uns, es ihm, dem Christus Jesus doch gleich zu tun:
„Wer zu euch kommt, den weist um meinetwillen und um Gottes willen nicht ab.
Wer eure Liebe braucht und eure Hilfe, eure Zuwendung und euren Beistand, den weist um meinetwillen und um Gottes willen nicht ab.
Lasst euch nicht beirren von Ablehnung und Feindschaft; wer nach dem Willen Gottes fragt, findet nicht überall Beifall.
Erfolg ist kein Name Gottes, aber Barmherzigkeit, Güte, Geduld, Freundlichkeit und Klarheit.
Zeigt doch dieses ganze Jahr über, dass ihr die Botschaft von Weihnachten begriffen habt, dass ihr nicht nur Gottes Kinder heißt, sondern es auch seid - Töchter und Söhne Gottes - wie ich ein Sohn Gottes bin. Gemeinsam sind wir berufen, daran zu arbeiten, das Antlitz der Erde zu erneuern, für Gerechtigkeit und Frieden einzutreten und die Schöpfung zu bewahren."
Gebe Gott, dass wir diese Berufung nicht aus den Augen und aus dem Sinn verlieren.
„Christus Jesus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen. Und wer zu euch kommt, den weist um meinetwillen und um Gottes willen nicht ab."
Amen.
Altjahresabend 2021, Stadtkirche, Johannes 8,31f, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2021
Johannes 8,31f
Liebe Gemeinde!
Was nun endet, war ein Jahr der Schrecken, … Schrecken beinah apokalyptischen Ausmaßes: Feuer wütete weltweit, … sogar die Frostböden Sibiriens standen in Flammen. Fluten zur Sommerzeit haben in unserer unmittelbaren Heimat Zerstörung und Tod gebracht. Der Hunger hat himmelschreiendes Leid im Jemen geweckt, das dort den Krieg begleitet und ihm in Afghanistan nun ungehindert folgen wird. Und was die Krankheit vermag, ist allerorten die Morgen- und die Abendlitanei. Dass auf Erden die Verzweiflung wächst, dass die Menschheit in Umwälzung gerät, dass die Meere Gräber und die Wälder Mauern werden und manche zum Mars wollen, um dem irdischen Elend zu entrinnen, fügt sich zu einem Bild, dessen Züge von Breughel’scher Unübersichtlichkeit bei größer Klarheit sind: „Der Triumph des Todes“ ist keine finstere Vision des 16.Jahrhunderts, sondern die Überschrift über das, was wir als gebundene Chronik der Menschheit im 2021.Jahr nach Christi Geburt heute Abend abschließen werden. …
So bitter das klingt und so bunt und hell wiederum viele Blätter und Blüten gewesen sein mögen, die wir trotz alledem in unseren eigenen Erinnerungen an dieses Jahr einlegen und aufbewahren werden, … so wenig fällt es eigentlich doch aus dem Rahmen unserer Erwartungen. So lange ich denken kann, sehe ich uns alle voller Sorgen.
Wir Deutschen - und wir Evangelischen nun in ganz besonderer Weise! - waren lange vorm Zusammenschrumpfen der Welt in der Globalisierung ja immer schon für Sorgen im planetaren Maßstab zuständig: … Der Frieden! … Die Gerechtigkeit! … Die Natur! … Die Zukunft der Erde!
Philosophischere Verantwortung, wichtigeres Wesen zur Weltgenesung kann es nicht geben. … Und nichts davon ist Nebensache!
Aber kann all unser Sorgen - Betonung auf „unser“ Sorgen - die Hauptsache ersetzen?
Wissen wir indes überhaupt, was die Hauptsache ist?
… Oder haben wir gerade das vielleicht vergessen? …
Denn eins haben wir vernachlässigt unter all den großen Themen, die eines Hegel oder Marx würdig wären und aller anderer, die alles erklären und vollenden zu müssen meinen, … eines unter all den großen Themen hat niemand bebrütet, der das Welten-Ei des Kolumbus begackerte.
Das Entscheidende berührt hat nur der Erzfeigling dieser Erde, und als er merkte, was die Befassung mit diesem Thema bedeuten würde, ließ er es wie eine heiße Kartoffel fallen.
… Genug aber der lächerlichen Vergleiche bei etwas, das uns wirklich angeht wie unser tägliches Brot: Die ungestellte Frage, das unbestellte Feld ist … die Wahrheit.
Um die Wahrheit haben wir uns in den vergangenen Jahrzehnten wenig Sorgen gemacht. Unsere Systeme waren ja scheinbar intakt. Was Dinge bedeuten, war klar. Und wie man zu den Fakten eine Meinung findet, ergab sich aus Anschauungen, die durch Argumente und Logik geformt und verändert wurden. Dass wir dabei trotzdem ideologische Gegensätze kannten und teilweise bitter parteiische Konflikte, ließ die wahrhaftig entgegengesetzten Wege zur Wahrheit spüren. Aber dass man zur Wahrheit kommen müsse - und sie nicht schon habe - und dass man sich schließlich bei ihr treffen werde - dass sie also verbinde und nicht trenne -, das immerhin schien längere Zeit allgemein denkbar. … Dass ohne Chancen für alle Menschen, ohne den Blick über das bloß eigene Bedürfen und Besitzen hinaus kein sinnvoller, kein zuträglicher Weg in die Zukunft möglich werde - und nichts anderes als Wege zur Zukunft sind menschliches Denken und Handeln selbst in ihren schlichtesten Formen -, das war der vermutete Mittel- und Haltepunkt unserer unterschiedlichsten Ansätze.
Vermittlung der Unterschiede bis zur objektiven Stimmigkeit, Ausgleich geistiger Gegensätze im letztlich Sachlichen, Verbindung des Einzelnen zu Großem: So dachte man sich wohl - naiv - die Wirkung der Wahrheit.
Doch das war vielleicht immer schon eine Illusion und ist heute, beim Siegeszug des blanken Subjektivismus endgültig vorbei: Wahrheit ist, was mir gefällt, nicht das, was allen gilt. Wahrheit hat jene Bedeutung, die ich ihr beilege, nicht eine Überzeugungskraft, der ich mich und notfalls auch meinen Willen beuge. Darum wird sie nurmehr behauptet und nicht bewiesen. Auf diese Weise ist Wahrheit eine den Fall ab- und die gegenteilige Auffassung ausschließende Größe, und längst nicht mehr etwas, das Aufschluss über meine Fehler bietet und mir mehr erschließt als mein Vorurteil erfasste. Solche Wahrheit verpflichtet mich nicht, sondern ich eigne sie mir an, sie dient meinen Zwecken. …….
Wenn wir es aber dabei belassen - bei dieser ungeheuerlichen Gleichsetzung zwischen Gefühl und Wahrheit, zwischen Meinung und Wahrheit, zwischen Lüge und Wahrheit - dann ist das Ende des Christentums besiegelt.
Denn der Kern unseres Glaubens ist es doch eben, ganz persönlich zwischen der Wahrheit und mir zu unterscheiden: Ein anderer ist die Wahrheit, nicht ich! Und darum kann das Ziel nicht sein, dass ich die Wahrheit besitze, sondern dass ich ihr treu bin.
Das liegt aber daran, dass wir nicht loskommen von dem, den Pilatus, der Wahrheitsfeigling schnell von einer populistischen Stimmung wegbrüllen ließ (vgl. Joh18,28-38). Wie da ein Mensch stand und selber nicht seinen Wahrheitswahn herausschrie, sondern stillschwieg, obwohl das unglaubliche, beneidenswerte Wort von ihm im Umlauf war, dass er selber die Wahrheit sei (vgl.Joh14,8), das brachte Pilatus aus der Fassung. Wieso machte dieser wahre Mensch nicht einen Triumph aus seiner Botschaft und Haltung, wie wir anderen das mit unseren Schnapsideen und Einbildungen unternehmen? Wieso war dieser Sendbote des größten Anspruchs so seltsam unmissionarisch, so gar nicht militant? Musste er denn nicht im herrischen Bewusstsein, dass er und er allein die Weisheit und das Gute kenne, jeden anderen mit Verachtung strafen und mit Vernichtung bedrohen, wie gewöhnliche Leute in ihrer Unsicherheit vor den eigenen Grundsätzen es immer wieder tun? Wieso war dieser Eingeweihte in alle Geheimnis-se, dieser Bringer bleibender Erleuchtung - das alles hatte man schließlich über ihn und von ihm gehört - so souverän passiv, statt panisch aggressiv? … Es scheint nicht weit her zu sein mit solcher Wahrheit, muss Pilatus geschlossen haben. Was soll sie denn eigentlich sein, wenn sie einen nicht zu fragloser Selbstsicherheit und knallharter Überlegenheit führt? … Wenn man sie fesseln kann, … abführen, … töten? …….
Was solche Wahrheit, die nicht auf ihrem Recht besteht, die nicht auf Durchsetzung getrimmt ist, vermag? – Sie kann uns frei machen.
Die, die meinen, sie müssten immer Recht haben und behalten, … die die meinen, sie könnten das ihres Erachtens Richtige erzwingen und durchsetzen, sind ja Sklaven. Sklaven jener Sorte, die uns heute anonym umgeben, … Sklaven wie wir.
… Wem sie, wem wir als Treiber unterworfen sind? – Einem Gangsterpaar wie Bonnie und Clyde, nur grausamer. Einem Moloch-Duo, das Blut saugt, Leben frisst und keine Gnade kennt: Maxi und Ego heißen sie. Das Ich und sein Erfolg. Die wollen Recht haben. Sich behaupten. Gewinnen. Das Ich und sein Erfolg wollen herrschen.
Und wir kuschen. Schalten Vernunft, Augenmaß und Anstand aus, um das Himmelfahrtskommando der Egomanie, des Größenwahns eines kleinen Mannes, einer kleinen Frau zu exekutieren.
Dabei entsteht die lebensgefährlich lügenhafte Täuschung, die wir das Projekt unseres Lebens nennen: Wirklichkeit verdrängen, Mitbewerber ausschließen, Belohnungsmechanismen des Selbst blindlings bedienen und immer mehr steigern, und dabei unausstehlich, … unglücklich, … unmenschlich werden bis zur Vollendung.
Das ist die Sklaverei, von der wir befreit werden können! Nicht jedoch auf dem Weg, den wir verfolgen. Der hoffnungslos falsche Weg zur Freiheit, den wir immer noch grimmig behaupten, besteht im Zerstören von Bindungen.
Je mehr wir Beschränkungen abwerfen … je mehr wir fordern … je mehr wir erwarten … je mehr wir werden, haben und sein können, desto unbegrenzter scheinen wir uns.
Dass gerade dieser Wahn in die Schrecken unserer Zeit führt – weil eine Welt, aus der jeder mehr entnehmen als zurückgeben will, der Auslöschung verfallen ist, weil das Kollektiv von ungezügelten Einzelinteressen grenzenlosen Konflikt schürt, und weil die unfassbare Torheit der Sterblichkeitsleugnung viel zu viel an der menschlichen Natur nur noch künstlich zulässt – … dass alle unsre Ansprüche an das Dasein also es immer mehr aushöhlen und untergraben, dämmert den meisten allmählich.
Darum sehen wir ja die Freiheiten schwinden.
Einerseits bringen Vernunft und Rücksicht Beschränkungen hervor, die vor Kurzem noch unvorstellbar waren, auf der anderen Seite führen Angst und Geiz zu immer engeren Kreisen, in denen wir uns noch sicher fühlen, während außerhalb unserer Isolationsblasen eine Welt wartet, vor der man sich lieber verbarrikadiert. Dagegen aber helfen die verzweifelten Manipulationen an der Wahrheit, die wir zuhauf erleben, rein gar nichts. Zu behaupten, ja zu glauben, dass es eine Krankheit oder Krise nicht gebe oder dass die nüchtern nötigen Maßnahmen in Wirklichkeit verborgenen Zwecken dienten, ist ein Beispiel dafür, wie die willkürliche Ermächtigung über die Wahrheit Menschen in erstickend tiefe Lügen einspinnt.
Was aber führte zur Befreiung? … Wenn nun ich oder ein anderer die Wahrheit nach seiner Lesart und Überzeugung propagierte? Wenn man aus Fakten Monstranzen macht … also Schau- und Vorzeigeinstrumente?
… Auf Tatsachen, die in der Monstranz präsentiert werden, reagieren allzu viele ja inzwischen mit Gegendemonstrationen, und Fakten kontert man mit Alternativen.
Es könnte daher sein, dass es kein Rückzug aus der Debatte und kein Aufgeben der vernünftigen Diskussion und ihrer kostbaren Frucht - der rechtsstaatlichen Demokratie - ist, wenn wir Christen uns auf eine andere Weise in den unversöhnlichen Streit der Wahrheit und der Anti-Wahrheit begeben.
Indem wir nämlich - nicht zur Abwechslung, sondern in demütigem Ernst! - nicht behaupten, wir hätten die Wahrheit. Indem wir nicht uns selbst zu Hütern des wissenschaftlich oder rational Richtigen aufschwingen - so sehr Ratio und Wissenschaft uns lieb und teuer sein müssen -, sondern etwas anderes vermitteln: Dass wir zutiefst getrost leben können ohne absolute Ansprüche an unser Erkenntnis- und Unterscheidungsvermögen, weil wir die letzte Wahrheit nicht beherrschen, sondern verehren.
Die letzte, die bleibende Wahrheit nämlich besteht vor aller Zeit und in wirklicher Unbegrenztheit nicht in einer Formel, einem System oder auch nur einem Modell: Die Wahrheit, die uns befreit von allen unseren Sorgen, Lügen und Begierden besteht in der Schöpfung, der Rettung und der Heilung der Welt durch Gott. Oder noch klarer ausgedrückt: Nur aus und in Gottes Liebe zu dieser trudelnden, selbstzerfleischenden, von Menschen bedrohten und Menschen bedrohenden Welt … nur aus und in Gottes Liebe kann es damit richtig werden.
Wer das auch in diesem Jahr und im nächsten, wer das in unserer Zeit erkennen darf: Dass die Welt nicht verloren ist und auch nicht verloren geht, der kann Freiheit finden.
Weil sich das, was bei Gott Zukunft hat, wirklich nicht allein auf mich und meinen Gebrauch, mein Gutdünken beschränken lässt! Wenn diese erschreckend unerklärliche Welt, die sich scheinbar immer weiter weg von aller Kontrolle und Selbstkontrolle entfernt, nicht herrenlos ist, obwohl sie eben nicht mir ausschließlich dient - und ich ihr nicht -, dann muss ich weder für den Sinn aller Dinge bürgen noch allein ihre Rettung betreiben, noch weniger aber muss ich dann die Gelegenheit des Daseins so nutzen und beherrschen, als sei es darin alles zu finden. In Wahrheit ist alles weiter als mein Radius, eigenwilliger und gleichberechtigter als unsere illusionäre Idee von der menschlichen Solomacht und in Segen wie Entsetzen so unbezwinglich für jeden von uns, dass wir wirklich nur in der Freiheit existieren können, nicht selbst über Welt und Wahrheit zu gebieten.
Nicht, weil wir keine Verantwortung trügen.
Sondern weil wir die Anmaßung nicht fortführen, die den menschlichen Geist alles ausschlachten und sich nirgends begrenzen lässt.
Wir sind begrenzt. Das Jahresende zeigt es uns anschaulich.
Aber das ist nicht unser Verhängnis, sondern unsere Verschonung: Dass wir die großen Belange der Welt nicht alleine schultern und die Zukunft nicht bloß aus dem begrenzten Stoff der Zeit schaffen und die bleibende Wahrheit nicht aus eigener Macht behaupten müssen.
Sondern glauben dürfen, dass das alles in Jesus Christus liegt und nicht in uns.
Darum gehen wir frei von uns, frei vom Alten, frei von allem auf das Neue zu – durch den, der allein Weg und Wahrheit und Leben ist: Jesus Christus.
Amen.
Heiligabend, Christvesper, Micha 5,1-4a, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
„Kommt, lasst uns gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat."
So haben wir es gerade wieder gehört, liebe Gemeinde, aus dem Evangelium des Lukas.
Lasst uns gehen nach Bethlehem. Bethlehem, heute eine kleine Stadt im palästinensischen Autonomiegebiet im Westjordanland. Damals, vor 2000 Jahren, ein Dorf in der röm. Provinz Judäa. Bethlehem - in unseren christlichen Ohren ein Signalwort, das uns sofort an Weihnachten denken lässt. Bethlehem, der Ort, an dem Jesus geboren wurde. In vielen Weihnachtsliedern so besungen: „Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein", gedichtet von Friedrich von Spee, 17. Jahrhundert, bis „In einer Höhle zu Bethlehem", getextet von Klaus Berg, vertont von Oskar Gottlieb Blarr, 20. Jahrhundert. Die Erzählungen der beiden Evangelisten Lukas und Matthäus lassen Jesus beide in Bethlehem geboren werden, auch wenn sie sich sonst erheblich voneinander unterscheiden. Bethlehem - ein geographischer Ort auf, den es „gibt", der real ist, in unserer Wirklichkeit mit ihrer Geschichte festzumachen.
Aber Bethlehem ist mehr. Es ist ein Symbol. Ein Symbol der Verheißung und der Hoffnung, ein Ort, in dem der Himmel die Erde berührt. Ein Symbol für eine Welt, die anders ist als die Welt heute, aber eine Welt, die eben keine Utopie ist, sondern schon da, nicht in Vollendung, sondern im Anfang - wie es uns die Engel jedes Jahr verkünden: Euch ist heute der Heiland geboren - in Bethlehem.
Die Liturgiereform von 2017 hat uns in diesem Jahr für den Heiligen Abend einen neuen Predigttext beschert, der uns zu einem weihnachtlichen Nachdenken über Bethlehem einlädt - jenseits der Hirten- und Stallromantik, in die das Weihnachtsevangelium des Lukas oft abzugleiten droht. Eben mit viel mehr Bezug zu dieser unserer Welt und Realität. Er steht im Buch des Propheten Micha im 5.Kapitel; ich lese die Verse 1 bis 4a in der Übersetzung der Basis-Bibel.
„Du aber, Bethlehem Efrata, bist zu klein, um zu den Landstädten Judas zu zählen. Doch aus deiner Mitte soll einer kommen, der Herrscher sein wird in Israel. Seine Wurzeln reichen zurück bis in die Urzeit, seine Herkunft steht von Anfang an fest. Darum wird die Not nur so lange anhalten, bis eine Frau das Kind zur Welt gebracht hat. Dann wird der Rest seiner Geschwister heimkehren zu den Menschen in Israel. Er wird auftreten und sein Volk weiden. Dazu gibt ihm Adonaj die Kraft und die Macht. Sie liegt in dem Namen Adonajs, seines Gottes. Dann wird man wieder sicher im Land wohnen können. Denn seine Macht reicht bis zum Rand der Welt. Er wird sich für den Frieden stark machen."
Als diese Verse geschrieben wurden, da sah es düster aus für Israel, für Juda. Die Babylonier hatten Jerusalem zerstört und die Oberschicht ins Exil verschleppt. Das Nordreich Israel war schon Jahrzehnte vorher von den Assyrern ausradiert worden. Was macht man, wenn die Gegenwart so hoffnungslos ist? Wie soll man da Zuversicht aufbringen für die Zukunft? Menschen in einer solchen Lage retten sich vielfach in die Verklärung der Vergangenheit: früher war alles besser. Man träumt von der alten Größe und Stärke.
Das tut Micha hier allerdings nicht. Denn er weiß nur zu genau, dass die Vergangenheit nicht nur gut war, nicht in Juda, nicht in Israel. Seit den Zeiten von König David war die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter auseinandergegangen, Ungerechtigkeit und Unrecht hatten um sich gegriffen, Korruption und Unfähigkeit der Davididen hatten beide Reiche ruiniert und dazu eine schier ausweglose außenpolitische Lage zwischen rivalisierenden Großreichen, denen man entweder als Vasall dienen durfte oder die einen als Truppenaufmarschgelände auf ihren Eroberungszügen missbrauchten. Nein, auf das Haus Davids will Micha nicht mehr setzen. Mit den Davididen ist er durch. Da muss etwas Neues kommen - und doch muss dieses Neue die wirklich großen, guten, alten Träume und Hoffnungen umschließen, die Sehnsucht nach Recht und Gerechtigkeit, nach einem sicheren Leben, wo jeder von seiner Hände Arbeit leben kann, wo die Felder nicht von den durchziehenden Heeren feindlicher Reiche zertrampelt werden, die Viehherden nicht geraubt, wo man einfach sicher und im Frieden wohnen kann. Das sind weiß Gott uralte Sehnsüchte und Hoffnungen und sie sind lebendig bis in unsere Tage. Ist es uns eigentlich bewusst, wie unglaublich privilegiert wir hier sind in Deutschland, dass wir seit 76 Jahren im Frieden leben können? Wo zeigen wir da eine entsprechende Dankbarkeit gegenüber Gott und all den Menschen, die dieses Glück nicht mit uns teilen?
Wie gesagt: auf die Dynastie der Davididen kann und will Micha nicht mehr für die Zukunft bauen; überhaupt auf die Mächtigen, die Großen, die Klugen will er nicht mehr setzen, denen sind die kleinen Leute, die am Rande leben und um ihr Überleben tagein tagaus kämpfen, letztlich egal. Die haben den Bund, der am Sinai geschlossen wurde zwischen Israel und Gott, längst vergessen. Sie haben verdrängt, dass Gott ein Herz hat für die Armen und Kleinen, für die Fremden, Witwen und Waisen. Dass es ihm zuerst und zuletzt um Gerechtigkeit geht, um Gemeinschaftsgerechtigkeit, darum, dass jeder Mensch ein Leben in Würde führen kann.
Und dafür steht als reales Symbol Bethlehem.
Bethlehem, nicht Jerusalem, nicht die Hauptstadt mit dem Zion, dem Tempelberg, sondern das kleine Kaff Bethlehem.
Was hat ihn dazu gebracht? Nun: Bethlehem Efrata spielt auf Gottes Weg mit seinem Volk eine stetige Rolle. Bethlehem ~ das Haus des Brotes. Jener Ort, an dem Rahel über der Geburt ihres Sohnes stirbt; sie nennt ihn „Ben-Oni", Sohn meines Unglücks, der Vater Jakob gibt ihm den Namen „Ben-Jamin", Sohn des Glücks. Bethlehem, der Ort in dem die Ausländerin Ruth ihr Auskommen, einen Lebenspartner und eine Heimat findet; Bethlehem, der Ort, auf dessen Feldern David die Schafe seines Vaters hütete und wo er als jüngster und kleinster seiner Brüder zum König gesalbt wurde, wo der Prophet Samuel die Weisheit formulierte: „Der Mensch sieht, was vor Augen ist, aber Gott sieht das Herz an." (1.Sam.16,7)
Bereits in diesen Worten klingt jener Sichtwechsel an, der viel später die Geburt des Gott gemäßen und gefälligen Retters eben nicht in der „Hauptstadt" mit ihren Palästen, Villen und dem Tempel, sondern auf dem Land und in einer Krippe liegend erzählen lässt.
„Du aber, Bethlehem Efrata, bist zu klein, um zu den Landstädten Judas zu zählen. Doch aus deiner Mitte soll einer kommen, der Herrscher sein wird in Israel. Seine Wurzeln reichen zurück bis in die Urzeit, seine Herkunft steht von Anfang an fest." Das heißt doch: er wird ein Mensch sein nach dem Herzen Gottes, ein Mensch, der Gottes Leidenschaft für das Leben teilt, der sein Tun ausrichten wird am Tun Gottes, dessen Name Barmherzigkeit, Güte und Geduld ist und der gerade den Kleinen und Schwachen in Liebe zugewandt ist.
„Er wird auftreten und sein Volk weiden." Er wird eben nicht wie alle anderen Herrscher von oben nach unten herunter-willküren, nicht mit harter Hand durchgreifen, sondern sich an Gottes Herrschaftsstil orientieren, an dem Hirten Israels. Er wird Israel, ja im Tiefsten alle Menschen - denn Israel steht biblisch immer als pars pro toto, als das eine Volk für alle Völker - weiden, d.h. für sie Sorge tragen wie ein guter Hirte für seine Schafe, für die weißen genauso wie für die schwarzen, für die starken wie für die schwachen, für die folgsamen genauso wie für die verbockten. „Dazu gibt ihm Adonaj die Kraft und die Macht." Und auch die Geduld und Ausdauer. „Dann wird man wieder sicher im Land wohnen können." Und genau da liegt der schmerzliche Stachel bloß vor uns: wann ist dann? Eines ist doch offensichtlich: die Erfüllung dieser Vision von gerechter Herrschaft, von Frieden und sicherem Wohnen steht noch aus. Dieser eine ist noch nicht geboren, der Messias, auf den Israel immer noch sehnsüchtig wartet. Das ist offensichtlich, das wird uns jeden Tag in den Nachrichten vor Augen gestellt. In wie vielen Bildern ziehen da Leid und Unrecht, Verzweiflung und Hilflosigkeit, himmelschreiende Ungerechtigkeit und abgrundtiefer Hass an uns vorbei - soviel, dass wir es kaum noch ertragen können und vielfach abstumpfen und verdrängen. Die Weltgeschichte - eine Via Dolorosa; schon immer und auch im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Auch da hat das Elend nicht aufgehört. Auch die Geburt Jesu ist in dem Sinne nicht die eine Geburt gewesen, von der Micha schreibt, dass mit dem Erscheinen dieses Einen aller Not ein Ende gesetzt wird, dass man dann wieder sicher im Lande wohnen kann. Als Lukas und Matthäus ihre Evangelien schrieben, da lag Jerusalem in Trümmern, waren die Kinder Israels zu hunderttausenden gefallen, ermordet, versklavt oder in alle Welt zerstreut. Was brachte sie - trotzdem! - dazu, diesen Text aus Micha auf Jesus von Nazareth zu beziehen, ihn als Messias zu sehen, obwohl er offensichtlich nicht der erhoffte Messias Israels war, nicht sein konnte angesichts seines Scheiterns am Kreuz?
Um was ging es ihnen, als sie das kleine Bethlehem zum Geburtsort des Jesus von Nazareth machten - wobei Nazareth ein ebenso unbedeutendes Nest in Galiläa war?
Meine Antwort: weil sie in der Begegnung mit diesem Jesus eine neue Sichtweise gelernt haben wie gut 500 Jahre vor ihnen Micha angesichts des Scheiterns seines Volkes Israel. Scheitern, Leid und Tod sind in unseren Augen reine Zeichen für Misserfolg. Wer Erfolg haben will, darf sich nicht an Menschen orientieren, die davon gezeichnet sind. Und was will man mit einem Gott, der einen gerade vor Scheitern, Leid und Tod nicht bewahrt? So, liebe Gemeinde, sieht die Welt - auf die Geschichte, auf Bethlehem. Sie sieht, was vor Augen ist. Aber Micha, Matthäus und Lukas haben sich sozusagen die Brille Gottes aufgesetzt, mit seinen Augen gesehen - auf die Geschichte, auf Bethlehem, auf Jesus von Nazareth. Und sie haben erkannt: das Kleine ist das Große, das Unbedeutende das Bedeutsame, im Scheitern liegt Heil, im Tod ist Leben. „Er wird auftreten und sein Volk weiden. Dazu gibt ihm Adonaj die Kraft und die Macht. Sie liegt in dem Namen Adonajs, seines Gottes." Und dieser Name heißt „Ich bin für euch da - und ich bin barmherzig, gnädig, langmütig, reich an Güte und Treue." Mit diesen Worten umschreibt Gott selbst seinen biblischen Gottesnamen JHWH am Berg Sinai beim Bundesschluss mit Israel (Ex.34,6)
Und wo immer Menschen Barmherzigkeit erfahren, wo man ihnen aus der Not hilft, wo man geduldig mit ihren Schwächen umgeht, wo sie erleben, dass sie eine neue Chance erhalten, wenn sie sich verrannt haben, wenn sie Fehler gemacht, Schuld auf sich geladen haben - immer da ist Gott am Werk in Gestalt einer seiner Hirtinnen und Hirten, die seine Liebe zu den Kleinen und Schwachen teilen. Immer da berührt der Himmel die Erde, immer da ist das Reich Gottes gegenwärtig, immer da ist Bethlehem - dieses Haus des Brotes, werden die Hungrigen satt, die Traurigen getröstet, die Einsamen und an den Rand Gedrängten in die Mitte geholt.
Bethlehem ist real-politisch bis heute nicht zum Friedenssymbol geworden und - wenn wir ehrlich sind - das Kind in der Krippe in Bethlehems Stall ist erwachsen geworden als Jesus von Nazareth nicht zur erfolgreichsten Gestalt der Weltgeschichte geworden. Aber unzählige Menschen haben durch die Jahrhunderte den Mann aus Nazareth als Begleiter und Beschützer in Erfolg und Misserfolg, in Glück und Verzweiflung, in Krankheit und Todesnot erfahren, erlebt - seine so andere Macht und Kraft, die aus dem Namen Gottes erwächst.
„Kommt, lasst uns gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist und die Gott uns kund gemacht hat."
Bethlehem, der Kraftort für alle Kraftlosen, für alle Verzweifelten, für alle am Rande.
Bethlehem, viel mehr als ein Flecken auf der Landkarte Palästinas.
Bethlehem, ein Ort der Hoffnung für unsere Welt, für Gottes geliebte Welt, wo Himmel und Erde sich verbinden, wo das Kleine das Große wird und das Große eine Chance hat, sich wahrhaft menschlich zu zeigen.
Rudolf Otto Wiemer gibt uns mit seinem Gedicht eine Wegbeschreibung an die Hand, wie wir nachhaltig und klimaneutral diesen Ort erreichen können:
Sage, wo ist Bethlehem?
Sage, wo ist Bethlehem?
Wo die Krippe? Wo der Stall?
Musst nur gehen, musst nur sehen -
Bethlehem ist überall.
Sage, wo ist Bethlehem?
Komm doch mit, ich zeig es dir!
Musst nur gehen, musst nur sehen -
Bethlehem ist jetzt und hier.
Sage, wo ist Bethlehem?
Liegt es tausend Jahre weit?
Musst nur gehen, musst nur sehen -
Bethlehem ist jederzeit.
Sage, wo ist Bethlehem?
Wo die Krippe, wo der Stall?
Musst nur gehen, musst nur sehen -
Bethlehem ist überall.
Also: Lasst uns nun gehen nach Bethlehem - heute - morgen und jeden Tag im neuen Jahr Weihnachten erleben.
Amen.
1.Christfest, 25.12.2021, Stadtkirche, 1.Johannes 3,1f, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Christtag 2021
1.Johannes 3,1-2
Liebe Gemeinde!
Was wäre, wenn wir Weihnachten immer verkehrt herum betrachten? … Selbst beim besten Willen, es so zu verstehen und zu feiern wie die Bibel es uns nahelegt? Was, wenn wir immer das Fernrohr falsch herum gehalten haben, so dass wir gar nicht das eigentliche Ereignis in der Ferne vor Augen hatten, sondern stets nur unsere direkte Umgebung, aber verfremdet, weil wir sie durch eine verkleinernde Linse wahrnehmen? —
Was das heißen soll? Nun, alle unsere Weihnachtsgedanken kreisen ja immer um Bethlehem, um die Geburt dort, um die Freude dort, um das herrliche Erlebnis eines neuen Menschenkindes, das mitten in den damals wirklich jämmerlichen Verhältnissen eine solche Helligkeit und Zuversicht, solche neue Begeisterung und solche spontane Liebe geweckt hat, dass wir immer noch davon ergriffen werden und immer noch Glaube, Glück und Zuversicht sich daran entzünden, …obwohl es so lange her und weit entfernt geschah, dass dieses Kind geboren wurde.
Nun stimmt ja, dass zweitausend Jahre ein ungeheuer großer Abstand zu diesem Morgen sind und dass die geographische Lage des jüdischen Landes uns wirklich entlegen scheint. Und darum schrauben wir das Fernrohr unserer Lieder und unserer Stimmung immer wieder so, dass das Damalige und Dortige uns irgendwie nahegeht.
Dennoch aber haben wir das Wunder der Weihnacht damit vielleicht immer am falschen Ende gesucht. Denn was wir hören und sehen, wenn wir nach Bethlehem blicken und lauschen, ist ja die geschichtliche, die weltliche, die uns zugängliche, …uns mehr oder weniger verständliche Seite der Geburt des Sohnes Gottes. Er kommt zu uns und bringt uns eine Gottesnähe, eine Gottesgnade, eine Gottesgegenwart, die ohne Weihnachten niemals möglich geworden wäre.
… Gott ein Menschenkind! Das ist das uns beinah kribbelig machende, immer wieder aufwühlende, manchmal auch überfordernde und beunruhigende Ergebnis unseres Blickes nach Bethlehem, unserer Weihnachtsperspektive zurück in Raum und Zeit an den Punkt, an dem alles begann, was wir als den christlichen Glauben kennen und bekennen.
Doch eins muss man sich eingestehen, wenn man Christi Geburt auf diese Weise betrachtet: Es ist immer noch ein Blickwinkel, es ist immer noch eine Sichtweise, die ganz und gar an unserer Welt haftet … und dabei in der Tat etwas völlig Unvergleichliches entdeckt: Gott mit uns. …
Wenn wir allerdings - obwohl es uns wirklich schwerfällt und gegen alle unsere Gewohnheiten geht - ausnahmsweise einmal das Fernrohr des Herzens umdrehen und nicht auf Erden das Ereignis suchen, das wir an diesem Fest feiern, dann könnte uns noch ganz anders schwummerig werden. Wenn wir einmal nämlich in die größte Ferne blicken, aus der der unsichtbare und unendliche Gott herangezoomt und erkennbar wird durch die Fleischwerdung des Wortes, dann müssten wir uns tatsächlich die Augen reiben und uns eben noch mehr, … noch viel mehr wundern, als wenn wir auf Ihn unter uns stoßen.
… Denn dort, in der Wirklichkeit, die kein Auge je gesehen und kein Ohr gehört hat, in dem Reich, in das nicht nur unsere Wissenschaft und Spekulation nicht hinreichen, sondern das nicht einmal unsere Wünsche wirklich erschwingen, … in der Gegenwart Gottes nicht für uns, sondern da, wo Er bei Sich ist und wir folglich die große Einheit und Alleinheit Gottes erwarten, die wir uns weder vorstellen können noch sollen, … dort in der nicht fleischlichen und nicht stofflichen und nicht fassbaren und nicht zu beschreibenden Transzendenz stößt das Auge, das wirklich einmal wagt, in das zu schauen, was dem Menschen unzugänglich ist, auf die allerunerwarteteste Überraschung. Da bei Gott sind - wenn nicht alles täuscht – anscheinend menschliche Wesen. Da bei Gott wimmelt es von solchen wie uns. Da bei Gott - kann das sein? spielt uns das Fernrohr auch keinen optischen Streich? - da bei Gott stoßen wir in unendlicher Entfernung und außerhalb aller Zeit auf unser eigenes, lachendes, unbeschwertes, aber auch unverkennbares Gesicht!
Meinten wir eben noch, Weihnachten heiße und zeige eindeutig und ausschließlich „Gott mit uns“, so führt der umgekehrte Blick, der nicht nur den irdischen, sondern auch den überirdischen Pol der Verbindung zwischen Schöpfer und Geschöpf betrachtet, zu der ergänzenden Einsicht: „Und wir mit Ihm“!
Die Menschwerdung Gottes, die Geburt Jesu Christi ist nicht nur die unumkehrbare Ankunft des Höchsten in der Wirklichkeit der Sterblichen, sondern ebenso auch der Beginn der Eigliederung der Menschheit in der Wirklichkeit Gottes.
Der unter den Menschen wenig willkommene Kommende macht denen bei sich Raum, die keinen Raum für Ihn hatten.
Der die Menschheit im Kind Jesus annimmt, nimmt sie auch auf.
Der vermenschte Gott - wie man im Barock bei uns gern sagte - vergöttlicht den Menschen … wie es die Väter der Kirche früh und schockierend frei schon nannten, und wie man es in der Orthodoxie bis heute zu bekennen nicht aufgehört hat.
Diese Umkehrung unserer Perspektive, die so konsequent nur auf die Welt schaut und nicht auf das, was über sie hinausgeht, ist allerdings unentbehrlich, will man wirklich die Tiefe und Höhe, die Weite und Breite dessen ermessen, was geschieht, als die fein säuberlichen Trennungen und Unterscheidungen, die Aufgliederungen in Gattungen und die Begrenzungen des Zutritts überschritten und aufgehoben wurden, mit denen man bis dato zwischen Himmel und Erde alles klar in Oben und Unten, Diesseits und Jenseits, in’s Reich der Menschennatur und das Reich Gottes aufgespalten hatte.
Was unvorstellbar war, weil es das Unvereinbare verband, … was unbegreiflich war, weil es das Unwahrscheinliche schlicht vollzog, … was unerhört war, weil es das Gefälle kippte und die Gefahr der Verwechslung riskierte, … was unwiderruflich war, weil es kein Zurück in die Vergangenheit gibt, … das alles also geschah in der verwirrenden und befreienden Grenzüberschreitung, die wir Weihnachten nennen: Es erschien im Fleisch, der von Rechts wegen nicht hätte geboren werden können, weil Er ewig ist, und Es gefiel Ihm, durch diesen Eingang uns völlig beschränkte Menschen am eigenen Leben die Unendlichkeit erfahren zu lassen, die uns weder zusteht, noch offen. So furchtlos wie Gott sich in die Vulnerabilität - die menschliche Verletzlichkeit - fallen ließ, so ohne jede Engigkeit lässt Er Menschen teilhaben an Seiner Vollkommenheit. Ein natürlicher, sterblicher Lebensanfang in Bethlehem löste endloses übernatürliches Leben aus. …….
Man könnte dieses Spiel mit den Paradoxien, die Zug für Zug unser Denken weiten und unsere geistige Undurchlässigkeit aufbrechen, weiter und weiter spielen.
Es hat vor allem die frühe Kirche und ihre großen Prediger entzückt, in solchen Aufsehen- und Kopfschütteln-erregenden Gewagtheiten, in solchen unheimlichen Antithesen und verblüffenden Pointen aus den Brettern, die wir vorm Kopf haben, eine Krippe für den überraschungsreichen Gott der Bibel, der frei von allem Zwang unserer Logik des Entweder-Oder ist, zuzubereiten.
Doch der allerabenteuerlichste Satz des christlichen Bekenntnisses, … die Botschaft, die man unter allen Umständen nur mit echter Bereitschaft zum Umsturz unserer selbstverständlichen Kategorien hören kann, … die Botschaft, die unser Selbstverständnis von den Füßen auf den Kopf stellt und uns zumutet, ganz andere zu werden, als wir zu sein glaubten, … diese völlige Verdrehung aller theologischen Tatsachen – Gott ist Gott! Mensch ist Mensch! - und dogmatischen Grundsätze – „Der Mensch darf nicht Gott sein wollen!“ - steht mitten in der Bibel.
Wir haben sie eben gehört (Joh1,1 – 14!).
Johannes, der Apostel der Fleischwerdung des Wortes, der Menschwerdung Gottes hat sie in seinem Liebesbrief formuliert: Das Wunder der göttlichen Liebe besteht nicht nur darin, dass G o t t M e n s c h e n k i n d wird, sondern als dessen Folge ebenso darin, dass der M e n s c h G o t t e s k i n d wird!
Er wird unser Art- und Todesgenosse. Und wir kommen in den Genuss Seiner Weise ewigen Lebens!
Das ist – wohlgemerkt! - kein geistreicher Aphorismus, kein raffiniertes Aperçus, kein stilvolles Bonmot und auch keine der sonstigen Blüten griechischer Philosophie und Rhetorik, die in der Sprache und Denkwelt der Alten Kirche ein solches Feuerwerk schillernder Geistesblitze entzünden, sondern den Satz, dass wir Menschen Gottes Kinder werden, ja sind – Kinder Dessen, Der selber Kind einer menschlichen Mutter wurde – … diesen Satz hat der junge Fischer aus der Zebedäiden-Sippe vom Genezareth spät in seinem Leben irgendwann einmal geschrieben.
Die alte Kirche wusste zu berichten, dass dieser Lieblingsjünger Jesu in seinem Greisenalter eine - sagen wir: fokussierte – Demenz erreichte, eine Beschränkung seines Wortschatzes und stetige Wiederholung seiner Äußerungen, die sich schließlich auf den einen Satz beliefen: „Kindlein, liebet einander!“
Die höchste Theologie des Neuen Testaments – der Prolog des Johannesevangeliums, der das Mysterium der Inkarnation, die Einfleischung des Logos, das Geschöpflich-Werden des schöpferischen Wortes Gottes besingt – diese höchste theologische Verdichtung von Weih-nachten, in deren Verlauf es tatsächlich auch schon heißt „Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden“ (Joh1,12), mündet in eine altersweise Einfalt der Liebe.
Das Bindeglied zwischen dem mystischen Aufschwung und dem ethischen Aus-klang aber ist die Gewissheit der Gotteskindschaft.
Das muss sich dem Johannes, der Jesus selber erlebt hatte, sogar bei seinem Tod zugegen war, aufgedrängt und eingeprägt haben: Dass die Bindung an Jesus uns wesentlich, ja wesenhaft verändert. Johannes selber hat unter dem Kreuz konkret erfahren, dass Jesus „versöhnt“ … uns zu Söhnen - und Töchtern - macht, als der Gottessohn, den wir zu Weihnachten immer wieder auch als Mariensohn besingen, die Adoption einleitete, die aus Johannes das Kind der Mutter Jesu und aus Maria die Mutter des Jüngers machte: „Weib, siehe, das ist dein Sohn!“ und „Siehe, das ist deine Mutter!“ (Joh19,26f)
Aus diesem Augenblick, der den Johannes in eine neue, lebensbestimmende und lebenverbindende Beziehung versetzte, ergab sich für ihn vielleicht allmählich der Gedanke des Undenkbaren: Wenn Jesus die Mutter mit uns teilt, dann ist es wirklich Ernst, dass er wie wir sein will und uns wie sich sieht. Wenn er seine menschliche Zugehörigkeit so inklusiv erweitert, dass wir sein dürfen, was wir biologisch nicht sind - Kinder seiner Mutter -, dann ist das keine familiäre, sondern eine theologische Verbundenheit an der Wurzel!
Der Sohn dieser Mutter, der mit dem Vater eins ist (Joh10,30), ist tatsächlich das Zeichen und die Wirklichkeit der Vereinigung der Unvereinbaren. Er ist das Sakrament der Einheit: Zwischen sich und uns. Zwischen verwandt und verfeindet. Zwischen Todverfallenheit und ewiger Lebensberufung. Zwischen Menschheit und Gottheit. Jesus ist das Tatwort, das uns verbindet, versöhnt und vereint: Menschliches Fleisch und Blut mit Gottes Leben und Licht.
Wo wir mit diesem Jesus Gemeinschaft haben, da sind wir tatsächlich auch Kinder Gottes, die Ihm so nahestehen und so lieb sind, so ähnlich sein können und so unlöslich zu Ihm gehören wie das Wort, das im Anfang war, bei Gott. ——
Wir merken: Das Fernrohr ist uns längst aus der Hand gesunken. Der Blick in eine Welt jenseits der uns Vertrauten – obwohl wir ihn versuchen müssen, wenn wir nicht in der Sackgasse des 19.Jahrhunderts stecken bleiben wollen, das diese Welt für alles und den Menschen darum für den einzigen Herrscher hielt – der Blick in die Wirklichkeit Gottes hat uns doch zurückgeführt zu einer menschlichen Mutter und ihrem Kind, das so verbindend ist, das solche Einheit auftut und selber stiftet.
Aber auch dieses Weihnachtsbild aus unserer unmittelbaren Menschennähe zeigt uns, was Gott ausmacht:
Wir mögen immer wieder gottlos sein wollen – Er aber niemals menschenlos!
Er will Kinder ohne Zahl, … Menschen, die Ihn Vater und Mutter nennen und darum versöhnt leben können.
Das ist also Gottes Weihnachtsgeschenk an Sich selbst, Der die Menschen so liebt, dass Er sie zu den Seinen macht, … vielen Menschen noch verborgen und fremd, aber doch unwiderruflich zum Offenbarwerden bestimmt!
……. Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget, dass wir Gottes Kinder heißen sollen; und es auch sind! Darum kennt uns die Welt nicht; denn sie kennt ihn nicht.
Meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder; und es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, dass wir ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.
Amen.
Christmette, 24.12.2021, Stadtkirche, Hirten-Weihnacht (Lukas 2,18), Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christmette 2021
Hirtenweihnacht (Lukas 2,18)
Liebe Gemeinde!
Heiligabend und Hirtenvolk gehören zusammen wie Roastbeef und Remoulade, wie Hering und Rote Beete im Salat oder Gin und Tonic im Glas. Eins ohne das andere ist unvollständig. Und wer das eine mag, wird das andere nicht verachten.
Hirtenvolk und Heiligabend.
Was genau sie verbindet? … Na ja, sie waren halt schon immer zusammen. Die alten Maler liebten sie, weil man nach so viel engelhafter Schönheit und neugeborener Süße eben auch mal Stoppeln, Schiet und Schielen auf den Fratzen der Viehknechte darstellen wollte, und die Krippenschnitzer konnten aus einem widerborstigen Stück Lindenholz oder Zirbelkiefer herrlich kantige Vierschröter und Lumpenkasper rausholen, die weder glatt noch ebenmäßig sein mussten, sondern ganz knorrig bleiben durften.
Schaftreiber und der Weihnachtsstall durchziehen die Folklore und Romantik, die Nachdichtungen und die Meditation der Geburt von Bethlehem. Kein Krippenspiel und keine naive Kinderzeichnung ohne sie. Und die Frühmesse von Weihnachten, die wir jetzt eigentlich feiern, heißt im katholischen Brauchtum bis heute das „Hirtenamt“.
Was genau aber die halbnomadischen Tagelöhner von den Schafhürden dabei eigentlich bedeuten, was genau diese letzten umherziehenden Viehhirten symbolisieren, deren ungesicherte Lebensweise an die Ursprünge Israels zurückerinnert, als Abraham, Isaak und Jakob auch im Rhythmus des Weidewechsels durch das fremde Land der Verheißung zogen, … das ist allerdings gar nicht sofort eindeutig zu benennen.
Fragt man eine jüngere evangelische Theologin, wird sie vielleicht von allen Unterdrückten und Verdrängten sprechen, die in den Außenseitern an der Krippe aus dem Schatten treten: Die Hirt:innen bereiten den Weg des Genderns vor.
Fragt man einen Vertreter des Fremdenverkehrs in den Salzburger Alpen oder dem Böhmerwald, dann sieht er in Jesu ersten Besuchern die besten Werbeträger für jene urwüchsige Gastfreundschaft, die aus all den treuherzigen Hirtenliedern spricht, die uns eine Weihnacht im verschneiten Gebirge so anheimelnd vorkommen lassen.
Fragt man einen Impfgegner, wird er vermutlich von den robusten Anpassung- und Überlebenstechniken der freien Wildbahn sprechen und in den zivilisationsfernen Naturburschen solche erkennen, die sich dem römischen Staat und seiner Zwangsraison trotzig entzogen.
Fragt man eine Kleinbäuerin auf Madagaskar, die der Dürre und der Hungersnot nichts mehr entgegenzusetzen weiß, mögen die ärmsten Erstgeladenen Gottes nicht nur eine soziale oder politische Hoffnung für sie verkörpern, sondern vielleicht auch den geistlichen Trost, dass das Kind Gottes vor allen anderen den Hoffnungslosen nahe sein will.
Die einfachen, wahrhaftig ungehobelten, ein wenig auch unberechenbaren Gesellen, die am Segen der Seßhaftigkeit keinen Anteil hatten, den Israels Patriarchen doch alle erwarteten, während Israels Messias ihn selbst nicht genoss, … diese obdachlosen und streunenden Knechte scheinen sich also für allerlei Deutungen und Spiegelungen zu eignen: Verkitschung und Ideologisierung nehmen sie in ihre Umarmung und machen revolutionäre Proletarier oder sentimentale Einfaltspinsel aus ihnen. … Hauptsache, das Hirtenvolk ist irgendwie da eingeordnet, wo man sie von heute aus im Blick behalten und für die jeweils eigenen Bedürfnissen nutzen kann. Aus den Hirten macht die Christenheit also so etwas wie eine Herde, die man hier- oder dorthin treibt, so wie es in die Tagesordnung der Gegenwart gerade passt. Mal rührend, mal aufrührerisch. Immer aber so, dass man selbst den Hirten zeigt, wo’s langgeht.
Doch wenn sie wirklich die Ersterwählten, die Unabhängigen, die Aufrichtigen und die Gerechten und all das andere sind, das man in ihnen sehen zu können glaubt, dann sollten wir vielleicht einmal aufhören, die Hirten in eine bestimmte Schablone unseres Weltbildes zu pressen, die dann aus ihnen Bannerträger des gemütvollen 19. oder des divers-inklusiven 21.Jahrhunderts stanzt. ———
Bedenken wir, dass sie das älteste unblutige Werk der Menschheit tun. Nach den Jägern kamen die Hüter. Die nicht-mehr-wilden Tiere zu weiden und zu versorgen, den Schritt von der Tötung zur Aufzucht zu gehen, die Weitsicht der Lenker der Schutzbefohlenen zu üben, … alle diese zivilisatorischen Fortschritte hingen am Hirtenamt. Und es führt tatsächlich eine unmittelbare Linie von den urzeitlichen Hirtenhäuptlingen der frühen nomadischen Menschenclans erst zum altorientalischen und dann zum klassisch-antiken Verständnis des Königtums. Die Mächtigen der Erde sahen sich gern und gaben sich gern als die Hirten der Völker. Noch dem Kaiser Augustus war es willkommen, sich als solcher titulieren zu lassen. Und schon die Propheten Israels, die das buchstäbliche Hirtenkönigtum des Hüteknaben David aus Bethlehem vor Augen hatten, griffen die Herrscher scharf an, die sie als schlechte Hirten sahen, so dass man kaum entscheiden kann, wer giftiger gegen die Pseudo-Hirten polemisierte: Jeremia (23) oder Hesekiel, mit dem berühmten Ausbruch (34,2+10): „Wehe den Hirten, die sich selber weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? … So spricht der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern.“
Biblische Hirtengestalten sind aber nun von solchen eindrücklichen Sprach- und Sinnbildern schlicht nicht abzulösen.
Wo die Bibel von den Hirten redet, die Israels Urväter waren, die seine Könige sein sollten und deren Maßstab der HERR selber ist, Der die Seinen auf einer grünen Aue weidet und zum frischen Wasser führt und Dessen Stecken und Stab trösten wie sonst nichts auf Erden (vgl. Ps.23), … wo die Bibel also von Hirten redet, da sind nicht irgendwelche Tölpel oder Alm-Öhis oder kernige Bu’am gemeint, sondern da geht es um den Inbegriff echter Verantwortung.
Die Hirten Bethlehems – so abgehängt und abgehalftert sie ohne Zweifel auch waren – rufen den ursprünglichsten Auftrag und Adel der Menschheit in’s Gedächtnis: Die Fürsorge für das Lebendige.
Mit den Hirten sind also die Ersten, die Christus auf Erden empfangen – und die er empfängt – Menschen, die selbst in eigener Armut und Demut nicht nur für sich selber sorgen, sondern für etwas, das ihnen anvertraut ist. ——
Doch das biblische Symbol des Hirten geht noch über diese Ebene des verantwortungsvollen Menschseins hinaus: Wenn man sich in die Denkweise und Bildwelt der Bibel versetzt, dann könnte einen sogar der Gedanke beschleichen, dass auf dem Feld in der nächtlichen Gemarkung von Bethlehem unten bei den Hürden und oben in der Höhe ein Dialog unter Gleichen stattfindet. Denn tatsächlich weisen innerbiblisch und nachbiblisch jüdische und christliche Überlieferungen darauf, dass man im vertrauten Alltag der Viehhüter nicht nur das Urbild königlicher Verantwortung, sondern auch den geheimnisvoll lebensnahen Auftrag der Engel verdeutlicht empfand. Die Engel, die des Einzelnen Bewahrer aber auch die Wächter und Lenker ganzer Völker sind, nehmen die Aufgabe der Hut und Führung ihrer Schutzbefohlenen ganz ähnlich wahr wie ein guter Hirte es tut: Sie wachen über den Weg und wehren Gefahren ab, sie schützen vor Fehltritt und Fall und achten auf den Zusammenhalt aller. Ihr Dienst an denen in ihrer Obhut ist leise, unmerklich und vor der Wahrnehmung der Beschützten beinah ganz verborgen. Kein Schaf spürt auf der Weide, wie im Hintergrund der Hirte wacht. Kein Mensch merkt seinen Engel ihn beschützen. Doch gerade dieses Verschwinden in einer Wolke der Selbstverständlichkeit ist es, was die Menschenhüter und die Tierhirten tief verbindet.
Und auf den Weiden in der Weihnacht rufen die himmlischen Wächter und Hüter ihren irdischen Brüdern zu, dass ihnen Großes und Gutes widerfahren ist: Ihnen, … die im Verborgenen sorgen, die sich mit einer Verantwortung tragen, nach der viel zu selten gefragt wird, die achtgeben auf andere und selber nicht geachtet werden, … ihnen, den dienenden Geistern, den helfenden Händen, den pflegenden Kräften, den unentbehrlichen Übersehenen ist heute der Heiland geboren.
Was aber das Hocherfreulichste an der Ankunft des Heilandes ist, das ist nicht, dass er die Hirten von der Härte ihres Daseins erlöst. Sie werden nach der Nacht an seiner Krippe vielmehr wieder umkehren, Gott preisen und loben und dann bei Tag und Nacht, in Frost und Hitze, sommers wie winters weiter die Lämmchen auf die Welt zu bringen helfen, die Mutterschafe schonend leiten, Angriffe abwenden, schmutzige Handgriffe leisten; sie werden weiter in der Bescheidenheit und Unbequemlichkeit ihres Wächteramtes, ihres Hirtendienstes da sein für eine Herde, die das nicht danken könnte, selbst wenn sie wollte; und dann werden sie eines Tages wettergegerbt und gichtig nicht mehr ausziehen können mit den andern, sondern liegen bleiben und aushauchen oder einer von ihnen stürzt ab, wenn er nach dem verlorenen Schaf klettert oder sie werden - wenn sie in der Weihnacht erst Hirtenbuben waren - von den Römern am Ende des jüdischen Aufstands gemetzelt werden, als trügen sie Dolche im Gewand, obwohl es zeitlebens nur Hirtenstäbe oder - David zu Ehren - kleine Schleudern waren.
Sie werden also nicht aufhören, Hirten zu sein.
Niedrig und gewiss auch ausgegrenzt. Selten im Licht. Meistens im Zwielicht.
… Und die großen Völkerhirten werden weit über die Zeit der Weihnachtshirten hinaus weiter das tun, was Hesekiel (34,3f) schon so leidenschaftlich an ihnen tadelte: „Ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Ge-mästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete holt ihr nicht zurück und das Verlorene sucht ihr nicht …“
… „Mietlinge“ wird das Kind in der Krippe diese verantwortungslosen, diese nur auf sich selbst und ihren Vorteil, ihre Sicherheit bedachten Menschenvernachlässiger nennen.
Doch allein das, genau das ist das Heil, das den Hirten von Bethlehem widerfahren ist!
Genau das und das allein ist die große Freude, die allem Volk widerfahren kann und soll: Zu hören, zu glauben und an sich selbst zu erfahren, dass das Kind in der Krippe geboren wurde, nicht um zu einem jener Pseudo-Hirten zu werden, die viel von sich geben und wenig wirklich übernehmen, sondern dass dieses Kind in der Krippe ein ebenso treuer, ja noch treuerer Hirte geworden ist, als die Schäfer von Bethlehem und die himmlischen Sänger.
Der große Hirte der Schafe - wie der Hebräerbrief (13,20) das Kind Jesus nennen wird - hat wie die Hüter auf dem Felde bei den Hürden mit der Fürsorge und Verantwortung, die das Menschen- und Engelamt ist, Ernst gemacht und macht es noch! Er trägt unbemerkt und unbedankt Sorge für alle. Er wendet das allgemeine und unausweichlich Unheil ab, in das der vereinzelte Mensch gerät, dem aber auch die ganze Herde der Menschen entgegenstrebt, weil sie dem falschesten aller Hirten vertraut – dem Tod, der sie in seinem Reich weidet (vgl.Ps.49,15). Er nimmt es mit den Feinden auf, die seine Herde gar nicht bemerkt – der unerkannten Sünde und dem selbstverständlichen Egoismus –, und er verteidigt sie gegen ihren Pakt mit dem Bösen und gegen die Finsternis mit dem eigenen Leben. Und das alles tut er übersehen von den allermeisten Menschen, unbemerkt wie die Schutz- und Hüteengel es sind und sogar sein wollen.
… Er ist da und es liegt alles an ihm, aber die Seinen nehmen ihn nicht wahr, sondern halten sich selbst für die Leithammel der Welt.
Aber in der Nacht der Viehhirten und der himmlischen Hirten und des neugeborenen Hirten in Bethlehem, da ist dennoch ein Pakt geschlossen worden: Die, die helfen wollen und werden, sind einander da begegnet. Die, die Verantwortung für andere zu übernehmen bereit sind, haben sich dort gefunden. Die, die ganz ohne große Gesten und eitlen Anspruch einfach das Amt des Auf-andere-Achtens untereinander teilen, haben da aneinander Freude gefunden, … Freude für immer. ——
Ein ganz klein wenig haben die letzten harten Jahre, die bitteren Zeiten der Krankheit und Krise es die Menschheit vielleicht sogar gelehrt, die unscheinbaren Hirten und Helfer, die Pflegenden, die Hüter und Wächter der Angewiesenen zu sehen und zu ehren, ihnen Dank abzustatten und ihren Dienst zu feiern in einer Welt, die den Selbstlosen und Hilfsbereiten bisher nur mit höhnischer Verachtung für solche Dummheit gegenübertrat.
Dass wir alle ohne einen Hüter im finsteren Tal dem Unglück ausgeliefert und im Angesicht unserer Feinde Hunger, Durst und Qual preisgegeben wären, hat sich vielleicht auch den bockigsten Einzelkämpfern mitgeteilt.
Wenn wir heute abend jedenfalls wieder mit den Schäfern an die Krippe getreten sind und nach dem Wort der himmlischen Herdenlenker dort den kleinen Hirtenjungen gefunden haben, der das Lamm Gottes ist und der sein Leben lässt für seine Schafe, dann widerfährt sie auch uns: Die große Freude, von der ein altes Lied, ein Lied für die stille Stunde am Bettchen eines Kleinkinds singt!
„Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin
über meinen guten Hirten, der mich wohl weiß zu bewirten,
der mich liebet, der mich kennt und bei meinem Namen nennt.“ [i]
… Das Kleinkind als der große Fürst der Engel und Hüter aller Herden auf Erden und im Himmel! …
Und alle vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten.
Amen.
Christvesper, 24.12.2021, Stadtkirche, Micha 5, 1 - 4a, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christvesper 2021
Micha 5,1-4a
Liebe Gemeinde!
Was ist die Geburt?
… Diese Weihnachtsfrage ist weniger dumm als sie zunächst klingt.
Was ist die Geburt? – Für manche werdende Mütter ist sie das stunden-, zuweilen tagelange Urereignis der Wehen, die so gewaltig sein können, dass die Gebärende dabei beinah mehr Erfahrungen mit dem Tod als mit dem Leben macht. Doch das ist das höchst aktive Erleiden, die höchst energische Passivität des Gebärens, … nicht die Geburt.
Für andre – die eigentümlich zweck- und tatenlosen Väter etwa, die bloß bangen und den Müttern mittelbar Mut machen oder deren Not notdürftig teilen können – … für andre mag es sich zuspitzen auf den Augenblick des Durchbruchs, in dem tatsächlich das bisher umschlossene Geheimnis sich aus dem Mutterleib löst und ein erstes Stückchen Schädel oder Steiß in die Welt hinausdringt. Doch mit diesen Minuten – in denen die Presswehen wie im Zeitraffer alles beschleunigen, aber gelegentlich auch quälende Stillstände sich in’s Endlose dehnen – … mit diesen Minuten endet nur die Phase, die medizinisch einen höchst biblischen Namen trägt, der am heutigen kirchlichen Gedenktag für Adam und Eva die ganze Urgeschichte unserer Wirklichkeit zusammenfasst: Die Austreibungsphase ist das, … aber beileibe nicht das Ganze der Geburt.
Denn mit der Drehung des Kindes und seinem dann oft so raschen glücklichen Verlassen des Geburtskanals geht der Exodus ja weiter: … Was wäre schließlich die sichtbare Ankunft ohne den ersten hörbaren Laut des Luftholens und Schreiens?
Und was wäre dieses in Fleisch und Atem - also Geist - wahrhaftig dasein ohne das Blut der Freiheit, wenn die Nabelschnur durchtrennt und aus einem lebendigen Ganzen wirklich zwei Wesen werden?
Und was wäre alles dies ohne das seelische Finden des neuen Menschen und der alten?
Und was wäre das große, erfüllende Gefühl ohne den alsbald einsetzenden, rein leiblichen Hunger und die Plagen, die mit dem Säugen und Trinken und Vertragen und Wieder-Loswerden der Nahrung einhergehen?
… Was von alledem ist die Geburt? Nichts und alles zugleich.
Hören Menschen eigentlich überhaupt jemals auf, geboren zu werden? Geht das plötzliche In-der-Welt-Sein mit allen ihren Gefahren, ihren Wundern und ihren Wiederholungen irgendwann in ein abgeschlossenes Fertig-in-der-Welt-Sein über? Wenn aber ja, wann endet dann dieses Fertig-Sein und beginnt das Nicht-mehr-lange-Haben-in-der-Welt? Fließen also die lebenslangen Nachwehen der Geburt und die Vorboten unseres ebenso lebenslangen Sterbens nicht tatsächlich ineinander? … Ist dann aber nicht alles, was wir erleben, Teil des großen Prozesses, den wir Geburt nennen, … ohne eingrenzen zu können, wo er endet?
Wir immer Sterblichen sind zugleich auch immer Geburtliche: So sehr wir auf’s Ende hin leben, so unablösbar sind wir zugleich vom Anfang. …
Zugegeben: Das ist Spekulation. Wissenschaftlich ist es nicht, den Menschen so von der Geburt her, so post-natal zu definieren, … obwohl manches in der Psychologie auf eine tiefe Gegenwart unserer allerfrühesten Erlebnisse deutet und die medizinische Statistik neben der in diesem Jahre so viel bemühten Mortalität auch die Natalität als Größe bemisst und immerhin eine bedeutende Philosophin, die das Böse in seiner Banalität erkundete - Hannah Arendt - die Geburtlichkeit des Menschen als sein entscheidendes Merkmal nicht zu banal fand[i], … so sind wir dennoch mit der Entscheidung, die Geburt für unbegrenzbar wichtig zu halten, auf ziemlich eigenartigen Wegen. …….
Aber es sind Wege, die nach Bethlehem führen.
Der erste Prophet nämlich, der in dem judäischen Dorf, aus dem König David stammte, etwas bleibend Wichtiges, ja die entscheidende Keimzelle der Heilsgeschichte sah, war der Prophet Micha. Er war ein Bauer, der weit westlich von Bethlehem, in Richtung der Mittelmeerküste zuhause war. Für die bescheidene Heimat der Davididen hatte er darum allerdings Sinn, während er ihre Hauptstadt, Jerusalem, als eine Metropole der Ausbeutung durch die Aristokraten und der Selbstbestätigung eitler Tempel-Eliten betrachtete.
Der Flecken Bethlehem dagegen, das Kleine-Leute-Kuddelmuddel aus fensterlosen, im Herbst und Winter schrecklich verräucherten Häusern, gammeligen Tennen und Schuppen, Viehunterständen und je nach Witterung und Wind Staub oder Schlamm auf allen freien Flächen, … dieses gottverlassene Nest brachte in dem Gottesmann des 8.Jahrhunderts vor Christi Geburt eine Saite zum Schwingen: So wie das Königtum dort 8 Generationen zuvor mit einem rotzigen Hirtenknaben angefangen hatte, so konnte die menschliche, menschennahe, humane, d.h. erdverbundene, gerechtigkeitsstiftende Herrschaft Gottes für das Volk der Armen im Lande anheben. … Nicht so gernegroß wie Jerusalem und Davids Nachkommen sich inzwischen gaben, sondern eben im Maßstab von Bethlehem Ephrata: Klein unter den Städten in Juda, aber von ursprünglicher und urwüchsiger Lebendigkeit erfüllt, … nicht zerfressen von Machthunger und zerfallender Menschlichkeit. ——
In diesem Blick des Micha auf den Ursprungsort einer Gott angemessenen Herrschaft, einer von Gott bewegten und erfüllten, einer aus Gott schöpfenden und von Ihm gespeisten Herrschaft, die den Schutz- und Wehrlosen zu Recht und Frieden und den Geplagten und Verschreckten zu Heil und Freuden verhilft, begegnet nun aber eine bemerkenswerte Formulierung. Von dem, in dem Gott für die Not der Menschen Verantwortung übernehmen wird, sagt Micha: Seine Herkunft ist vorzeitlich ewig, doch sein Ziel in der Zeit wird er erreichen, wenn die Gebärende geboren hat.
Damit aber hat Micha als Allererster versucht, die beiden für uns so widersprüchlichen Kategorien der Ewigkeit und der Geburt in einem einzigartigen Gedanken zu verbinden. Und der Eindruck, den sein Zusammenfügen eines zeitlosen Ursprungs mit einem die Weltgeschichte unbegrenzt prägenden Geburtsvorgang ergibt, ist tatsächlich viel nachhaltiger, als es der Bauernprophet aus Juda ahnen konnte, der vermutlich ja nur eine Umschreibung dafür suchte, dass der wirklich erwählte Herrscher über Gottes Volk von altersher vorherbestimmt ist. … Neben dieser weihnachtlichen Verheißung, dass Gott den Retter der Menschheit einst bewusst und gezielt in’s Leben rufen wird, hat Micha doch - beinah unabsichtlich - die Ahnung in Worte gefasst, dass mit solcher Erwartung des Messias eigentlich die gesamte Wirklichkeit der Welt als eine von Urzeit her gewollte Geburt zu begreifen sei:
Alles, was im Kosmos geschieht, alle Evolutionen und Komplikationen, alle Stadien und Bedrohungen der Schöpfung, alle Phasen der Entwicklung und Gestaltung von Natur und Geschichte sind also die Geburt oder die Hervorbringung, die Gott dem Universum bestimmt hat, … sie alle zusammen sind jener „Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her“. In diesem umfassenden, ursprungshaften Sinn ist unsere gesamte Lebenserfahrung „natal“, … „geburtlich“ oder eben auch „weihnachtlich“: Weil Gott der Welt das Werden, weil Er der Geschichte die Entwicklung eingestiftet hat und dem Glauben ein Kind!
Alles ist also Wachstum auf Gottes Zukunft hin, alles ist ein allmähliches Heranreifen der Lebensfähigkeit und Lebensfülle.
Zeit - wie wir sie kennen - ist Verheißung. ——
….. Doch kann man das wirklich sagen?
In einer Epoche so quälenden Stillstands und so bitterer Bedrohung wie unserer global kranken Gegenwart?
Kann man - auch wenn Weihnachten ist - so zuversichtlich tun, obwohl so viel schwerer Schatten über der Zukunft des Planeten liegt und so viel Bedrückung, so viel Angst sich im Gewebe aller Seelen unserer Zeitgenossen eingenistet hat?
Müssten wir nicht von Siechtum und Seuche, von Schmelzen und Schwund sprechen, statt von einem geschichtslangen Ausbilden und Austragen neuer Schöpfung, die Gott vollenden wird auf die Zeit, dass die, welche gebären soll, geboren hat?
Ist das nicht Bethlehems-Kitsch, weihnachtliches Süßholzraspeln, das der krassen pandemischen und ökologischen Krise dieser Tage nicht an die Wurzel geht, sondern bloß künstlichen Schnee - das Betäubungsmittel unserer Zeit - leise rieseln lässt? …….
Unsere Bibel antwortet mit Nein auf diese Fragen.
Denn sie enthält wenige andere Ab-schnitte, die so unmittelbar grausam, ja schonungslos brutal gewirkt haben, wie die herrliche Prophezeiung von der Geburt, die die Weltgeschichte schreibt und von der Geschichte, die sich als Geburt vollzieht.
Als Leser oder Hörer der Bibel möchte man Micha ja in den Arm fallen, möchte ihm den Mund zuhalten, da man weiß, dass ausgerechnet seine Verheißung vom unscheinbaren Bethlehem, in dem sich die Geburtshoffnung aller Welt verdichten wird, nach Jahrhunderten als exakt lokalisierte Anstiftung zum Kindermord in den Ohren des Herodes wirken wird (vgl. Matth.2,5f). „Sag es nicht!“, möchte man ihm zurufen. „Feind hört mit!“
Doch im gleichen Augenblick - in diesem Moment also! – fällt man sich selbst ins Wort! ....... Wenn die Verheißung, dass diese Welt heil werden kann, dass der Tod in dieser Welt also sterben und wirklich endgültig ungefährdetes Leben geboren werden soll, nicht mitten hinein in die Tragik unserer Wirklichkeit zielte … wozu wäre sie dann wohl gut? Wenn das unglaublich tröstliche Wort, dass alles ein Anfang ist und nichts zuende, nur Kitsch und keine Katastrophen auslöste, dann wüssten wir sofort, dass es nicht wahr, sondern erfunden ist, weil es nicht in diese Welt gehört.
Mit der furchtbaren Realität, die durch das Hoffnungswort von lebenslanger, ja weltgeschichtslanger Geburtlichkeit aufgestachelt wird - die Realität frühzeitigen, sinnlosen, gewaltsamen Sterbens - … mit dieser Reaktion auf ein Vertrauen, das dem Werden mehr Potential als dem Vergehen beimisst, beweist sich ja geradezu, dass die Todesmächte zittern, es könnte mit ihnen wirklich vorbeisein, … es könnte sich alles umkehren und statt des Endes werde der Ursprung das letzte Wort bekommen, … statt der Verneinung könnte sich die Bejahung durchsetzen, …statt des unweigerlichen Sterbenmüssens könnte das Prinzip des Geborenseins triumphieren.
So schrecklich es wahrhaftig ist, dass Micha dem Herodes mit seiner Ankündigung den Fingerzeig zum Weihnachtsort in dieser Welt gegeben hat, den Herodes dann zum Ort eines Massenmordes machte, … so entscheidend ist doch, dass genau solche krisenhaften Berührungen mit dem Verderben, solche schmerzlichen, tief verstörenden Phänomene des pressenden Wehs, der abgeschnürten Luft oder gellenden Geschreis aus tiefster Not auch zur Geburt gehören. Bis die geboren hat, die gebären soll, geht es immer wieder zwischen Jauchzen und Horror, zwischen Geschluchz und Ekstase hin und her.
Das wirkliche Weihnachten und unser aller Wirklichkeit als Weihnachten ist kein Idyll, sondern die Entfaltung des Ur-Dramas zwischen dem Dasein und dem Nichts. Dabei setzt sich schließlich das Leben durch im Sohn Davids, der endlich wieder im erbärmlich mickrigen Bethlehem und nicht im allzu sicheren Jerusalem, unter grausamen Umständen das Licht der Welt erblickte.
Genau weil diese Welt aber eben kein ungefährdetes Leben kennt, vollzieht sich die Entstehung der Erlösung, die Geburt des Heilands, der alle Leiden dieser Zeit aushalten wird, um Zeiten ohne Leid hervorzubringen, so umgeben von Schwerem, Schatten und Sterben: Allen, die dort im Schmutz ersticken, in der Unterdrückung verstummen, in der Sorge ertrinken, vom Leid gepackt oder vom Bösen überwältigt werden, ist heute der Heiland geboren in jenem kleinen Bethlehem, wo Schlichtes und Schreckliches die Wirklichkeit ausmachen.
Weihnachten in Bethlehem ist also tatsächlich nur österlich zu verstehen: Als der Sieg des Schwachen, als Triumph des Mitleidens, als Durchbruch und Ausgang aus allem Elend, aller Engigkeit und allem Erdrückenden dieser Welt.
Was also ist die Geburt? – Ostern.
Und Weihnachten ist sichtbar, greifbar, singbar, sagbar, fühlbar und glaubhaft jener Ausgang und Anfang, der von Ewigkeit her gewesen ist und unter uns in dieser Nacht Gestalt annahm, um uns alle mitzureißen durch die Wehen der Welt bis zum Durchbruch der neuen Schöpfung, die an dieser Krippe hier beginnt.
Amen.
2.Advent, 05.12.2021, Stadtkirche, Jesaja 63,15 - 64,3, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Advent - 5.XII.2021
Jesaja 63,15 - 64,3
Liebe Gemeinde!
Was tun in der Stille?
……. Das ist keine stimmungsvolle Frage, die das Gemüt ins leise Leuchten der Kerzen oder den lautlosen Tanz der Schneeflocken versetzen will. Es geht nicht um die Besinnlichkeit, die wir einander so häufig in diesen Tagen wünschen mögen. Es geht auch nicht um die eher beklemmende Ahnung, dass uns ein neuer Lockdown, mindestens aber sehr reduzierte Möglichkeiten an den Festtagen erwarten dürften.
Es geht um die wirkliche, die schreckliche Stille, … um das Schweigen.
… Gottes.
Wenn Gott sich in sein Schweigen hüllt, so tief wie der Schlittenfahrer im alten Russland in seinen Pelz. Wenn Gott sich in sein Schweigen hüllt, so tief wie das Verstummen nach dem Löschen der Lichter: Wenn hinterm Vorhang sich der Staub wieder auf der Bühne sammelt und im Orchestergraben; wenn in der leeren Kirche der letzte Rauch der Kerzen verweht ist und niemand mehr betet oder singt. Wenn Gott sich in sein Schweigen hüllt, so tief wie in der Nacht nach dem Ende aller Gottesdienste, nach dem Aussterben der Kultur. Wenn Gott sich in sein Schweigen hüllt, so tief wie die Ertrunkenen in die Dunkelheit der See.
Was tun in dieser Stille? …….
Viele sind wie unsere ein wenig dummen Hunde. Wenn jemand draußen vor der Tür zu hören ist, schlagen sie ausdauernd an. Hält sich derjenige auf der Schwelle allerdings still - obwohl die Hundenasen ihn vermutlich immer noch wittern -, dann ebbt die Aufregung rasch ab. Ein durch die Tür unsichtbarer Gast, der keinen Laut von sich gibt, hört für die Hunde auf zu existieren.
… Das ist die häufigste Reaktion auf Gott.
Weil wir Ihn nicht sehen und weil Er uns oft auch nicht auf anderen Wegen der Wahrnehmung nahekommt, löst Er sich für uns auf. Gott gibt es nicht, sagen wir dann. Gott ist tot. Gott war immer nur eine Erfindung. Ihr merkt doch, dass da niemand ist.
Aber Er hat doch geklingelt, sagen manche. Ganz laut hat Er gerufen. Es klang wie Donner von Posaunen auf einem feurigen Berg (vgl.2.Mose19,16), als Er den Menschen eine Richtschnur, eine erste Hilfe gab, Zehn Worte, durch die sie gut zu leben lernen konnten. Gott hat sich doch bemerkbar gemacht. Er hat doch scharf und deutlich und auch zärtlich wie ein Freund Einlass gesucht und Israel hat Ihn in seiner Mitte aufgenommen und dann ging das Haus kaputt, in dem Er Wohnung genommen hatte und Er wurde obdachlos mit Seinem Volk und später kam Er selbst an viele Türen, aber es gab bloß einen Stall und dann gab’s ein paar freundliche Häuser und viel Taubheit und wenig Willkommen und eine Grabkammer gab es, aber kein Verweilen und seitdem ein Laufen von Haus zu Haus, von Tür zu Tür und eigentlich gibt’s keine Tür, an der nicht schon Gott stünde, keine Klingel, keinen Klopfer, die Er nicht schon versucht hätte (vgl. Offenb.3,20); Er ist der Klinkenputzer der ganzen Welt, Der jedes Portal und jede Hintertür nutzen würde, wenn man Ihn reinließe, …aber mit Gewalt zerbricht Er nirgends ein Tor, Er stellt keinen Fuß rein, da wo man Ihm nur mit vorgelegter Kette misstrauisch so einen schmalen Spalt einräumt, weil Betteln und Hausieren verboten sind; und dass Er einst wie ein Dieb in der Nacht kommen wird, das hat Er zwar angekündigt (vgl.Matth.24,43), aber noch kann man Ihn einfach aussperren und weil Er ja nicht ständig Rabatz machen kann, sondern irgendwann auch heiser wird und den Schnabel hält und nur noch hofft, dass irgendwer Ihn doch nicht einfach da draußen vergisst, sondern Ihn hineinbittet und sich freut, dass Er eine halbe Ewigkeit lang auf der Fußmatte stand und nicht müde wurde, zu warten, … ja darum steht Er eben immer noch da, aber man hat sich an den Wartenden gewöhnt, niemand sieht Ihn, wenn die Menschen den Eingang nehmen oder den Ausgang, sie kommen und gehen an Ihm vorbei und Er ist still geworden, stumm und unsichtbar und sie sagen hinter ihren sicheren Türen, dass da nie jemand war, denn wie sie Ihn streifen, wenn sie in das Haus des Lebens treten und wie sie Ihn streifen, wenn sie es wieder verlassen müssen, das merken sie nicht: Gott ist für sie nicht da.
Das ist die Summe des kritischen, aufgeklärten, autonomen, mündigen Denkens.
Aber ist es zwingend?
Ist die inzwischen zum alten Hut, zur staubigen Selbstverständlichkeit gewordene Überzeugung, dass niemand draußen vor der Tür der sogenannten Wirklichkeit warte oder von außerhalb der sogenannten Welt zu erwarten sei, … ist diese unglaublich beschränkte Binnenperspektive der Erdbewohner zwingend?
Nicht zwingender, als wenn unsere Hunde sich wieder ins Körbchen trollen, um weiter zu schnarchen, weil nach dem im nächsten Augenblick vergessenen Schellen niemand mit der Tür in’s Haus fiel. …
Was aber könnten wir denn sonst tun in der Stille? …….
… Das alte Buch Jesaja lesen. Es hat eine unglaubliche Tonfolge. Es fängt laut an und stark. Der erste Jesaja, der im Tempel selber von den Seraphim, den Wächterengeln Gottes zum Rufer-Beruf tauglich gemacht wird (vgl.Jes.6) kündet Gericht und verheißt Heil mit der Stimme einer Glocke. Klarheit weht durch die ersten 40 Kapitel.
Dann fallen der Tempel und alles, was fest war, und der zweite Jesaja, der im babylonischen Exil ein Tröster werden soll, lässt sich hören mit der Reinheit einer Weidenflöte und der perlenden Ruhe einer Harfe, die sie an den Wasserbächen von Babel eigentlich in die Bäume gehängt hatten (vgl,Ps.137,2). Er singt von der Einzigkeit Gottes und Seiner Ewigkeit und vom Heil und Licht, das Gott durch Leid und Liebe für Israel schließlich schaffen wird.
Und nach diesem süßen Evangelium im zweiten Teil der Rolle des Propheten Jesaja gibt es noch einen dritten Teil. In dem weder die Klarheit noch die Tröstlichkeit der beiden früheren Propheten den Klang bestimmen. Die Motive im dritten Jesaja sind kürzer und variieren mehr, denn die Zeit dieses dritten Propheten ist zwiespältig: In ihr gibt es wieder ein sehr bescheidenes Leben in Israel und sogar einen lächerlich hinfälligen kleinen Tempel, aber es gibt auch noch die vielen Verunsicherten, die Gottes Weg nicht erkennen können und lieber freiwillig in der Verbannung geblieben sind. Hoffnung und Mahnung, Visionen und Frustrationen klingen daher am Ende des größten Prophetenbuches unharmonisch durcheinander.
… Und in die Pausen zwischen den unverbunden wirkenden Themen hinein dröhnt das Schweigen: … Ist Gott wirklich noch da? Kann Er in der Tat und mit der Tat überhaupt noch helfen? Oder doch nicht? …….
Es sind also keine Fragen, keine Themen unserer Gegenwart, wenn es darum geht, ob Gott vernehmlich oder verklungen ist.
Der Dreiklang der Jesajas – vom Grund- und Glockenton der Gewissheit über das zartere Schwingen des Trosttones hin zum Abbruch solcher erkennbaren Melodien – zeigt uns, dass die Wahrnehmung Gottes immer bedroht, von altersher nie selbstverständlich und auch in der Vergangenheit eine verschwindende war.
Gott ist immer schon von der Blindheit und Taubheit, von der Angst und der Lustlosigkeit des Menschengeschlechtes in Frage gestellt worden.
Aber nicht immer schon ließ die Menschheit sich darüber so beschwichtigen wie heute. Gottesferne und Gottlosigkeit wurden nicht immer schon mit Achselzucken und dem Griff zur Fernbedienung oder zu einem anderen unserer Ersatzapparate für den Abwesenden beantwortet.
Es galt nicht immer schon, dass Gott, wenn wir Ihn nicht wahrnehmen können, dann eben nicht Gott ist.
Ganz umgekehrt geradezu: Beim letzten Jesaja, beim Propheten aus der Unklarheit, beim Propheten, der den Nebel und das Verstummen sich ausbreiten spürt, wird der ungewisse Gott, der Gott, Den man so schlecht fassen, so wenig nur ahnen, so erschütternd schwach nur erkennen kann, gerade bei Seinem Gott-Sein gepackt!
… Nicht, dass Er nicht Gott wäre, ist für Jesaja die Erklärung für die Erfahrung der Ferne Gottes.
Vielmehr begegnet Jesaja dem entrückten, dem undeutlichen, verborgenen, entzogenen Gott, … dem Gott hinter der Tür, dem Gott außerhalb des Gesichtsfeldes und aller Hörweite der verlassenen Menschen mit einem unerwarteten, mutigen, ergreifend übergriffigen, angreifenden Schrei:
Sei endlich Gott!, heißt es da.
Wir können Dich doch nicht zu Gott machen!
Wir können das nicht tun, und auch kein Segen und kein Glauben Abrahams können uns Dich erfahren und darin dann getrost sein lassen.
Wenn Du, Gott, nicht mit Macht und Eifer, … wenn Du nicht mit einem Wagnis und einem Wunder, … wenn Du nicht mit ungeahnter und uns unzugänglicher Entschiedenheit Deinen Weg zu uns, Deinen Heilsweg bahnst, dann bleiben wir ohne Dich!
Wenn Du nicht Dein Gottesziel verfolgst, … wenn Du nicht Deine Gottespläne in unsere Wirklichkeit trägst, … wenn Du nicht aus dem Himmel auf die Erde fährst, … wenn Du den Sprung nicht springst, … wenn Du die Ferne nicht entfernst, … wenn Du nicht jenseits des Jenseits gelangst, … wenn Deine Vollkommenheit nicht ins Verkommende kommt, … wenn Du nicht hinunter und nicht hineindrängst: Wer sollte Dich wohl zu nötigen wissen?
Wie können wir die Tür öffnen, wenn Du sie nicht sprengst?
Wie können wir durchlässig werden, wenn Du nicht mitreißt und zerreißt, was Dich aussperren möchte?
Wie können wir Dich aufnehmen, wenn Du uns und die Welt nicht aufbrichst?
Wie können wir Dich eintreten lassen, wenn Du nicht eintrittst … die Mauern und Riegel und Schutzwälle und Gitter, die diese Welt gottlos halten wollen?
… Unsere Gottlosigkeit kannst nur Du überwinden, weil nur Du Gott bist!!! ——
Das ist der eigentliche Ton des von uns als so tragisch und so resignativ missverstandenen Klagegebetes des orientierungslosen, schwankenden, angefochtenen Volkes zwischen Verzweiflung und Vertrauen, dem Jesaja seine Stimme leiht.
Der bleierne Himmel ihrer Zeit ist genauso wie der leere, sinnlose, verheißungsarme Horizont unserer Tage nur von dieser Seite, nur von Innen her so trüb und grau und so verlassen.
Weil wir uns wie die Hunde im Körbchen verkriechen. Weil wir unserem Nicht-Sehen und Nicht-Hören zutrauen, dass es uns die ganze Wahrheit zeige.
… Wenn aber die Wahrheit draußen ist, auf der Seite, auf die unsre sinnliche Wahrnehmung nicht hinüberreicht, dann ist wahrhaftig nicht gesagt, dass wir gottlos und vergessen hier, im Inneren der Welt leben.
Denn das, worum der Prophet das klagende Volk bitten lässt, dessen verstocktes Herz Gott nicht fürchten, also schlicht nichts von Ihm merken kann, ein Volk, das keine Ahnung von Ihm hat und also geworden ist wie solche, über die Er niemals herrschte und wie Leute, über die Sein Name nie genannt wurde, … worum der Prophet also dieses Volk bitten lässt, ist doch gerade, dass es eine Wahrheit erfahren will, die es nicht wahrnimmt, eine Wahrheit, die Gott wahrmachen und sie dann für wahr nehmen lassen muss!
Das Durchbrechen der Begrenztheit, das Durchstoßen der Definitionen, der endlichen Abriegelungen und Abfertigungen, durch die wir ausschließen, was in Wirklichkeit nur außerhalb unseres Fassungsvermögens und unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle ist: Darum bittet der Prophet im Namen derer, die er ausgerechnet mitten in ihrer Gottlosigkeit von Gott als Vater sprechen lässt.
… Und seine Bitte, dass der Vater im Himmel den Himmel verlassen, dass der König der Herrlichkeit die Herrlichkeit aufgeben und in die Hilflosigkeit fahren möge: Sie ist erfüllt worden!
Die Berge, die dabei verbrannt und geschmolzen sind, sind die Olympe der von den Menschen gemachten Götter. Kein Parnass, kein Capitol, kein Gipfel der Selbsterhöhung der Sterblichen, keine Spitzenleistung irdischer Phantasie, kein Höhepunkt philosophischen Aufschwungs bleibt bestehen neben der spektakulären Selbsterniedrigung Gottes.
Alles verdampft, was Menschen sich an Gewaltigem und Unübertrefflichem denken, … es verflüchtigt sich alles im Angesicht des einzigartigen Wunders, dass Gott tatsächlich Sein Reich verlassen hat und in geschichtlicher Zufälligkeit, irdischer Hilflosigkeit, ja sterblichem Ausgeliefertsein ein Menschenkind wurde, Fleisch, Not und Tod annahm und herabfuhr durch alle Grenzen zwischen Unsichtbarkeit und Sichtbarem, zwischen Vollkommenheit und Schwäche, zwischen dem Jenseitigem und unserer Seite, zwischen Ewigkeit und Zeit, zwischen Himmel und Erde.
Gott hat alle Riegel, die das ausschließen, die Ihn ausschließen gesprengt, alle Tore aufgestoßen, alle Türen durchschritten von der abstraktesten Idealität der Transzendenz durch die Pforte des Lebens in Marien Schoß hinein in die Realität unseres Daseins bis hinunter in das Reich des Todes, dessen Schranken Ihn auch nicht halten konnten.
Alle Türe, alle Tore, alle Grenzen, alles hat Er aufgeschlossen.
Den Himmel verlassen.
Ist erschienen unter uns.
… Wir können Ihn nicht sehen?
Nicht hören? …
… Was sollen wir tun, in dieser Stille?
Feiern, was kein Ohr gehört und kein Auge gesehen hat: Gott selbst …. in Jesus Christus: Ganz und wahr und wirklich!
Der so wohltut denen, die auf Ihn harren!
Amen.
1.Advent, 28.11.2021, Stadtkirche, Jeremia 23, 5 - 8, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent - 28.XI.2021
Jeremia 23, 5 - 8
Liebe Gemeinde!
In mancher Hinsicht führt die Adventszeit uns in die Irre.
Sie ist - trotz der Pandemie, oder vielleicht auch gerade deswegen - für uns oft ja eine einzige hemmungslose Feier der Gewohnheiten, der Rituale und des altvertrauten Liebgewonnenen. Im Advent muss es wieder so sein wie’s früher war, … es soll klingen, duften, schmecken und sich anfühlen wie immer.
Doch ausgerechnet das - das Versprechen unveränderter Wiederholung - kann man bei Gott nicht finden. Gott ist nur deshalb der „alte Gott“ mit den „ewigen Armen“ (vgl.5.Mose33,27), weil Er so radikal das ist, was Er im Anfang war: Schöpferisch.
Wer Gott als die Garantie von gestern betrachtet, wer Gott als den letzten Zeugen einer Vergangenheit, die sich heute kaum noch durchsetzen kann, sieht, der ist Heide oder Atheist. Denn die einen wie die anderen kennen die Götter, die sie machen oder verwerfen.
… Nur die Gemeinde des biblischen Gottes hat es mit Einem zu tun, Der nicht feststeht und der ewig Gleiche wäre (obwohl Er der selbe bleibt!), sondern von Zeitalter zu Zeitalter, von Mensch zu Mensch, von Tag zu Tag ein Neuer ist (nicht ein Anderer!), der Herr der Gegenwart und in jedem Augenblick der alleinige Ursprung aller Zukunft. Dieser lebendige Gott, Der sich dem Mose als der „Ich werde sein, Der Ich sein werde“ geoffenbart hat (vgl 2.Mose3,14), ist kein Fertiggott, keine Wahrheit-wie-sie-immer-war, kein alter Bekannter der Väter, sondern … ein ungeborenes Kind, eine Erwartung, ein Besuch aus der Zukunft.
… Das ist ja immerhin unmissverständlich das eigentliche Adventsgeheimnis, der wahre Zauber dieser Zeit vor dem kommenden Fest: Es ist alles im Werden, alles in der Entstehung; nichts ist schon da, aber allem dürfen wir entgegensehen.
Advent bedeutet also für die, die ihn christlich feiern, den bewusst, ja notwendig ungewohnten Gedanken an einen unvollendeten Gott und eine Gotteswirklichkeit, die sich erst entwickelt[i].
Nun mag man das vielleicht für einen durchaus modernen, für einen zeitgenössischen Gedanken halten, der einer Welt, die alle Festlegungen abstreift, entgegenkommt. Doch die Tatsache, dass Gottes Geschichte uns nicht als abgeschlossenes Werk vorliegt, sondern als eine unvollendete Symphonie, ist in der ganzen Bibel bezeugt, die sich damit - entgegen unseren Vorurteilen, aber entsprechend unserer Erfahrung - als ein Buch ohne Nachwort, ja als ein einziges Vorwort zum richtigen Leben, zur kommenden Menschheit, zur Erlösung der Welt zu erkennen gibt. Zukunftsmusik: Das ist die Bibel. Eine Ouvertüre.
… Wie aufregend aber und wie ungewiss es wirklich ist, wenn man nicht weiß, was kommt, nicht vorhersieht, was sich entwickelt, nicht ahnt, wie es weitergeht, das sollte bei aller Freude an der Offenheit nicht unterschlagen werden: Die jüngste Vergangenheit hat ja auch das bewiesen.
Und an diesem ersten Advent des zweiten Jahres unserer Ungewissheit tritt uns in der scheinbar uralten Prophetie des Jeremia eine beinah schockierende Neuigkeit entgegen: Schon in den letzten Zuckungen der Welt von Juda, die doch immerhin auf die beiden heilsgeschichtlich erwählten Könige David und Salomo zurückging, als man am Hof und Tempel von Jerusalem geradezu von der Überlieferung hypnotisiert so tat, als müsse die Zukunft die Fortsetzung der Vergangenheit sein, wagte Jeremia einen denkwürdigen Angriff auf das ererbte Glaubensgut.
… Er warf - um es nicht einmal übertrieben zu formulieren - das Credo auf den Schrotthaufen der Geschichte. Das, worauf sich Israels Gedächtnis gründete, das Urdatum der Erlösung erklärte Jeremia für ein befristetes Bekenntnis, das irgendwann einmal auch der Vergessenheit anheimfallen könnte, weil es von Gott selbst überholt werden wird.
Statt auf den Exodus zurückzublicken, mit dem die Geschichte des Volkes Israel begann, würde man einst auf die Heimholung Israels aus der Zerstreuung als auf das größte Wunder und den klarsten Gottesbeweis schauen. So prophezeite Jeremia: „Es wird die Zeit kommen, da man sagen wird: So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.“
Diese Theologie der Zukunft belächelte man in Juda müde und zynisch: Das wusste doch jeder, dass das Brudervolk im Norden, Israel verloren war, weil einer der hungrigen Nachbarn - Assur - es schlicht verschluckt hatte, weshalb man ja eben in Juda, der Südhälfte des einstigen Davidsreiches gelernt hatte, sich mit den Großmächten zu verbünden. Und so lange man mit Ägypten eine vorteilhafte Allianz hatte, würde Babylon niemals anzugreifen wagen, und man hatte ja auch noch Jerusalem und den salomonischen Tempel, die so viel Verheißung darstellten und die im Süden wegen ihrer Greifbarkeit noch viel wichtiger waren als die Bindung an das Mose-Gesetz, und man würde sich immer nur in’s Gedächtnis rufen müssen, wie der HERR die Israeliten aus Ägyptenland geführt hatte, um getrost feststellen zu dürfen, dass das schon das Ziel der Geschichte und man selber ihre Krönung war und alles nun bleiben würde wie bisher.
Diese Seifenblase falscher Sicherheit zerplatzte noch in den Tagen des Jeremia.
Er selber wurde in den Strudel der irren Politik, die Jerusalem zum Affen Ägyptens und zum Opfer Babylons machte, hineingerissen und alle seine spöttischen Feinde in Juda, die nichts Neues in der Welt erwarteten, schüttelte Nebukadnezar wie Fallobst in seine Deportationskörbe.
Da war auch im südlichen Teil des alten Israel die Heilsgeschichte vorbei.
„Siehe, ich mache alles neu.“ (Offenb.21,5) …….
Dass Jeremia, der Untergangsprophet, der selbst in der Krise des Volkes Gottes unterging, es allerdings mitten in der ablaufenden Zeit für möglich hielt, über alle zurückliegenden Erfahrungen mit Gott vorauszublicken auf eine völlig unwahrscheinlich anmutende Zukunft, das sollte uns zu denken geben!
Erstens muss uns der ungeheure Mut, sich nicht zu klammern an die Überlieferung, sondern die Hoffnung auf gänzlich unbekanntes Neues zu lenken, im Blick auf das „Neue“ Testament daran erinnern, dass es das wirklich gibt und geben darf: Eine Offenbarung Gottes, die nicht einfach bruchlos fortsetzt, was schon war, sondern Ungeahntes, Unvorhersehbares, Nie-Dagewesenes enthüllt. … Wir sind wohl doch zu kleinmütig, wenn wir in Jesus Christus nur die Fülle und Erfüllung des Alten Testamentes sehen wollen, wenn Gott doch - wie Jeremia es verkündete - tatsächlich durch neue Beweise seiner Kraft und Herrlichkeit über die höchsten Glaubenssätze von ehedem hinausgeht.
Wenn das aber in Israel in alt- und neutestamentlicher Zeit wahr ist – dass Gott ganz neue Seiten aufschlagen und die Vergangenheit verblassen lassen will! – …, wenn die Bibel sich selber also umblättert und auf das weist, was nicht schon in ihr steht, sondern erst noch kommen soll: Dann muss - gerade wegen ihrer Bibelliebe - die Kirche zweitens die selbe Beweglichkeit aufbringen, wie Jeremia sie - vergebens - von den Judäern seiner Tage verlangte. ———
Der Advent, die Zeit der schamlos-schönen Nostalgie und Gewohnheitspflege ist also in Wirklichkeit dazu da, dass wir ins völlig Experimentelle, ins Fremde und Freie hinausdenken und uns wie Jeremia wagen eine Zeit und Weise Gottes zu denken, neben denen das uns Vertraute in den Hintergrund treten könnte! …….
Bei der tastenden Frage, wohin die neuen Wege Gottes womöglich weisen könnten, muss ich unwillkürlich an meine Urgroßmutter zurückdenken, die das Wort des Jeremia, dass einst die Heimkehr der Israeliten ihren Auszug aus der Sklaverei als Rettungswunder verdrängen werde, ganz persönlich nahm: Ihre Salzburger Vorfahren waren - wie das Volk der Bibel, bloß freiwillig, mit dem Willen zur Freiheit - ins Exil gezogen, um in Ostpreußen als Lutheraner eben Glaubensfreiheit zu finden. Meine Urgroßmutter kniete sich darum noch 250 Jahre später morgens an ihr Bett, um Gott aus lauterem Herzen zu danken, dass er den Doctor Luther gesendet habe, „um die Kirche aus der babylonischen Gefangenschaft des Papstes zu befreien“.
… Ich denke, diese Feier einer kirchen-, ja heilsgeschichtlichen Gottestat in der Reformation hat inzwischen aber in den Hintergrund zu treten, um der Hoffnung zu weichen, dass wir uns einst zu dem Gott bekennen werden, Der die Kirche um der Wahrheit willen nicht nur gespalten, sondern in der Wahrheit versöhnt hat.
Damit die Spaltung, die unsre Gegenwart vergiftet, überwunden werden kann, wird man wohl auch andere Vergangenheiten, denen ich dankbar verpflichtet bin, in Vergessenheit geraten lassen müssen: Die tiefe, persönliche Frömmigkeit, die uns der Pietismus geschenkt hat und der ich selbst so viel verdanke, ist kein reines Glück mehr, seit man sogar in der Zeitung lesen kann, wohin ihr Erbe führt[ii]: Dass jede fromme Seele ihre eigene Erleuchtung und Bekehrung, ihre persönliche Überzeugung von und Bindung an die Wahrheit erfahren soll, schlägt seit langem gerade in den ehemals pietistischen Landstrichen Württembergs und Sachsens um in eine Abneigung gegen allgemeinen Konsens und gegen die Anerkennung übergreifender Wissenschafts- und Wertmaßstäbe. Dass der Vorrang der individuellen, der direkten Gottesnähe aber bei den längst weltlichen Urenkeln der Frommen in eine Verweigerung gegen Impfungen führt, weil man schließlich doch sein eigener Experte ist, zeigt wie der Segen der Erweckungszeit vergangen ist und wie wir hoffen müssen, einst nicht mehr von Gott zu sprechen, Der sich jedem Einzelnen subjektiv zu offenbaren vermag, sondern davon wie Er auch in rationaler Objektivität Gläubigen und Ungläubigen zugleich Zugang zu Sinn und Hilfe schenkt.
Auf diesem Feld aber - der Gemeinsamkeit von Menschen, die glauben und solchen ohne Glauben - wird uns die zweite Adventszeit der Pandemie, die das Bisherige verschwinden macht und die Welt radikal verändert, ohnehin in Erinnerung bleiben: Beginnt mit ihr doch ein neues Kirchenjahr, in dessen Verlauf die Zahl der Christen in unserem Land zum ersten Mal nur noch eine Minderheit der Bevölkerung ergeben könnte.
Wir werden in Zukunft also nicht mehr nur von dem Gott sprechen können, Dessen Wort und Wesen vielen von uns durch Kindergottesdienst und Schule, durch Konfirmation und Kultur bekannt sind und Der in der Taufe schon den Anfang unseres Lebens, in Gottesdienst und Abendmahl aber dessen Rhythmus oder Wendepunkte geprägt und mit Sich selbst erfüllt hat.
Wir werden also nicht mehr sagen: „So wahr der HERR lebt, Den wir kennen“, sondern wir werden sprechen von dem lebendigen Gott, Den wenige nur ahnen, dem immer weniger mit Vertrauen und immer mehr mit Skepsis begegnet wird. Wir werden Gott immer weniger voraussetzen und immer seltener als klaren Fall bezeichnen können. Immer häufiger werden wir nichts mehr nennen, nichts mehr zeigen können, das allgemein als Seine Handschrift oder Seine Wegweisung gilt.
Öfter und öfter werden wir dagegen erleben, dass nicht nur die fröhlichen oder kämpferischen oder teilnahmslosen Atheisten, Agnostiker oder Unreligiösen, sondern wir alle nichts Altes, Einfaches, Immergrünes von Dem wissen, glauben oder hoffen, Der alles leben lässt und liebt und letztlich fügt, und dass wir darum alle in eine Zukunft gehen müssen, die voller Unbekanntem, … voll des Fremden, … nur noch offen ist.
… Da wird es dann aber nicht an uns Christen sein, so zu tun, als wäre alles in der Unklarheit uns klar, … als beantworte der alte Katechismus alle Fragen, die noch nie gestellt werden mussten, … als stünde in den Schriften, was auch nicht in den Sternen steht, weil es eine Zukunft ist, die von der labilen, unvernünftigen, eigenwilligen, sprunghaften und herzlosen Natur des Menschen abhängt. …….
Wir wissen alle nicht, was kommt.
Wir spüren aber alle: Es wird das Alte nicht sein, die Wiederkehr der vorigen Zeiten, die Fortsetzung des längst schon Vorgezeichneten.
… Sondern Zukunft wird es sein. … Echte. Unerforschte, undurchdringliche, unheimliche Zukunft. ———
Seit vorgestern scheint die Zukunft für die nächste absehbare Zeit eine neue Abkürzung, eine Formel zu haben, mit der man sie bezeichnen, aber kein bisschen einordnen oder einfacher machen kann: Das kleine O des griechischen Alphabets, das Omikron.
Dieser kleine, kurze Buchstabe, mit dem eine neue Variante des Virus benannt wird, das unsere Gegenwart so sehr verändert, reicht schon, um die reine Unvorhersehbarkeit dessen, was uns bevorsteht, zu umschreiben.
… Aber gerade in dieser Qualität des für uns völlig Unbekannten, findet sich ja die ursprüngliche, die wahre Gestalt des Advent!
In ihm bereiten wir uns vor auf Den, Der uns nicht aus der Vergangenheit nach- oder angeht, sondern mit Seiner Zukunft, Seinem Reich bevorsteht und entgegenkommt: Sein Wachstum und Seine Entwicklung erwartet die christliche Gemeinde mit der Bereitschaft für das Neue, die jede solche Erwartungszeit erfordert, … wie jede werdende Mutter, jede Familie, die ein neues Wesen und damit eine ganz und gar veränderte, ungewisse, aber ohne jeden Zweifel durch das noch unbekannte Kind bereicherte und bestimmte Zukunft vor sich sieht.
Dass dieser Sproß, diese Zukunft Gottes sich entwickelt und erwachen wird, das ist der verborgene Sinn auch dieser Adventszeit in der Krise.
… Und das glauben wir nun allerdings: Mit Ihm, der Gottes kommende Zeit, Gottes Ewigkeit bringt, da wächst nichts Nebensächliches heran und endlich auch nichts Vorübergehendes mehr, nichts, das einst gewesen und vergessen sein wird. Mit Ihm und durch Ihn kommt das, was die vielen einander fremden, von einander entfernten Lebensgefühle und Denkweisen, die Zweifels- und die Glaubenswege der unterschiedlichsten Menschen verbinden und vereinigen wird.
Denn Er heißt „Der HERR ist unsere Gerechtigkeit“, … unser aller Lebensrecht und unsere weltweite, gemeinsame Lebensgrundlage.
Mit Ihm kommt also das Omega, das große O, das Ziel aller offenen, ungewissen Zukunft.
Mit Ihm kommt das neue Licht. Das, was bleibt.
Hosianna[iii]!
Amen.
[i] Vgl. dazu das Karl Barth interpretierende Werk des in diesem Jahr verstorbenen großen Theologen Eberhard Jüngel, Gottes Sein ist im Werden, Tübingen 19763).
[ii] Vgl. den Artikel von Reinhard Bingener „Ist der deutschsprachige Raum eine Hochburg der Impfgegner?“ in der FAZ vom 22.11.2021.
[iii] Das Palmsonntagsevangelium (das zum 1.Advent konstitutiv dazugehört!) vom Einzug des unkenntlichen, verwirrenden Verweigerers aller Macht und Repräsentation, der doch der Kyrios ist, steht als die beste Veranschaulichung, dass die Zukunft anders kommt, als wir Menschen es antizipieren, und doch das Heil bedeutet, über allem, was wir in diesen Wochen und dieser Zeit zu hören und zu glauben haben.
Ewigkeitssonntag / Gedenktag der Entschlafenen, 21.11.2021, Stadtkirche, 5.Mose 34, 1 - 8, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 21.XI.2021
5.Mose 34, 1-8
Liebe Gemeinde!
Sterben, das sei der Tiefpunkt denken wir. …Weil es uns tatsächlich – uns, die Hinterbliebenen, uns, die Lebenden! – in einem finsteren Tal, manchmal in einem Abgrund der Trauer zurücklässt: Gebeugter, bedrückter und niedergeschlagener als da unten in der Dunkelheit nach dem Abschied, … niedergeschlagener, bestürzter und lahmgelegter als da unten in der plötzlichen Stille des Endes, … lahmgelegter, versunkener und untergegangener als da, wo uns einer gestorben ist, können wir vielleicht gar nicht sein. … Denen, die weiter leben, ist das Sterben ein Tiefpunkt.
Wie aber ist es für die, die sterben?
… Wir können nicht verallgemeinern.
Aber eben auch nicht von uns, den Lebenden auf die schließen, die schon hinter sich haben, was noch vor uns liegt.
Und da hören wir von Mose, dem Mann Gottes, dem, der „Gottes Freund“ genannt wird (vgl.2.Mose33,11), dass sein Sterben ganz anders gewesen sein muss, als unser Bild des Abstiegs und Niedergangs und des Tiefpunktes es nahelegt.
Mose, dessen Leben nach dem großen Aufbruch des Exodus ein einziges Wandern im Kreis wurde – vierzig Jahre Wüste, die ihn doch nicht zum Einzug in Kanaan gelangen ließen – … dieser Mose mit der unerfüllten Lebensgeschichte, mit dem unabgeschlossenen Abenteuer wurde von Gott am Schluss nicht hinunter und hinaus geführt, in die Tiefe des Vergessens, sondern das Ende des Mose ist wie der Ausgang Jesu mit einer ganz besonderen Richtungsangabe verbunden: Der Vermittler des ersten Bundes mit Gott ist wie der Mittler des erneuerten Bundes zu seinem Tod hinaufgezogen (vgl. 5.Mose32, 50; Mk10,32f)!
Sie beide – der, der in der Bibel Gottes Freund heißt und der, der Gottes Sohn ist – … sie beide sind dem Tod nicht als Erniedrigung der Sterbenden begegnet, sondern haben durch ihn schließlich Erhöhung erfahren.
Dabei wissen wir, dass der Sohn, der ans Kreuz erhöht wurde, schreckliche Qualen litt.
Der Freund aber – der, den die christliche Theologie als Bringer des Gesetzes und Symbol einer angeblichen Gerechtigkeit durch Strafe missverstanden hat – Mose also starb hoch erhoben über das Labyrinth des Lebens, auf dem Gipfel, auf dem das Kleine klein, das Große groß erscheint[i] und man nicht mehr aus der Mitte der Not, die uns verwickelt, sondern aus der Weite der Freiheit, die uns verheißen ist, das Ganze schaut.
Mose starb einen schönen Tod.
Auch an einem Tag, an dem wir den Schmerz, den das Sterben zufügt, nicht vergessen können, begegnet uns also heute eine andere Seite der Endlichkeit. Sie ist nicht nur der Bergrücken, auf dem wir endgültig absteigen.
Unsere Lebensbewegung kann uns - im Gegenteil - auch erheben und zum höchsten Punkt emporführen.
Das Beispiel des Mose aber mag uns gerade in diese Blickrichtung lenken.
Mose, dem die Formung, ja die Bildung einer chaotischen Menschenmenge - das eben noch versklavte Israel - zufiel, die als Losgelassene keine Bindung, keine Verantwortung tragen wollten, sondern ihren Träumen und Bedürfnissen folgen, … Mose steht vor uns als der Übervater schlechthin. Sein ganzes Leben ist der energischen und frustrierenden Erziehung eines zur Unabhängigkeit drängenden, lernenden, eigensinnigen Volkes gewidmet. Er lenkt sie und will sie einbinden in die Gebote, an denen sie zur Mündigkeit, zur Partnerschaft mit Gott heranwachsen sollen, und sie - wie alle Lebensanfänger - sind stur in ihrem Beharren bloß auf äußerlicher Geschwindigkeit beim Erreichen ihrer Ziele und können dem Wachstum nicht Zeit lassen. Wie sehr es aber an Moses Nerven zehrt und wie furchtbar das gegenseitige Leiden Israels an seinem Pädagogen (vgl.Gal3,24) und Moses an seinen halsstarrigen Anbefohlenen ist, davon erzählen die Wutausbrüche und Missverständnisse, die vom Sinai an vierzig Jahre lang auf den Wegen und Umwegen eintreten, die Gottes Freund und Gottes Volk dann nehmen mussten, um der Selbständigkeit und der Verwirklichung eines eigenen Lebens im gelobten Land näher zu kommen.
Doch Mose soll das Ziel nicht sehen. Er soll nicht ernten, was er in den heißen, stürmischen Wüstenzeiten mit Tränen zu säen versucht hat. Mose soll wie die ganze Generation der Unreifen, die der Autonomie noch nicht gewachsen waren, die im zuverlässigen Halten eines eigenen Gesetzes besteht, nicht erleben, wie die Vision, der er diente, zur Realität wird. ——
Ob solche Erfahrungen dessen, was nicht erreichbar war, was offenbleiben wird, nicht aber zu jedem Sterben gehören?
… Wem ist schon vergönnt, die Vollendung zu schauen?
Ist das aber ein Grund dafür, dass wir das Enden ohne Vollendung - das menschliche Sterben also - als einen solchen Abbruch, ja einen Absturz erleben?
…. Gewiss: Für Vieles, das man sich und den Seinen noch wünschte, ist es nach dem Tode zu spät und es lässt sich nicht klar- und richtigstellen, was noch unbewältigt blieb.
Aber wenn wir hier Vollkommenheit erführen, … was für einen Kampf, welchen Widerstand müsste dann nicht das Ende des Lebens auslösen?
Umgäbe uns hier tatsächlich das gelobte Land, wäre der unumgängliche Abschied von der Welt ja noch viel katastrophaler; und ginge alles in Erfüllung, was wir begehren, wie sollten wir jemals die Freiheit gewinnen, die Welt und die Menschen, wie wir sie kennen, loszulassen?
Dass zum Aufgehen aller Pläne und zum Reifen aller Hoffnungen eine Grenze gezogen bleibt, die wir nicht überschreiten werden, ist für uns, die wir siebzig oder achtzig oder inzwischen auch neunzig Jahre in der Zeit haben, eher ein Glück als ein Unheil. Wie sollten wir denn jemals klug werden können beim Gedanken daran, dass wir sterben müssen - wie es im einzigen Psalm (90) heißt, der Mose zugeschrieben wird -, wenn uns der Tod das Reich der Herrlichkeit verlieren machte?! ——
Der schöne Tod des Mose lehrt uns statt der unerfüllbaren Illusion vollkommenen Lebens eine andere, … die wirkliche Weisheit: Sie erreicht, wer nicht fürchtet, dass die Zeitlichkeit nur abschüssig ist und Niedergang bringt. Die wirkliche Weisheit - die nichts mit scharfem Verstand oder tiefsinniger Philosophie zu tun hat - erreicht, wer sich allmählich oder auch nur endlich zum Schluss seiner Tage führen lässt, wohin er nicht wollte (vgl. Joh21,18), wo aber gut sein ist. … Dahin führt Gott. Es ist der Weg empor auf den Berg, den Weg des Hinauswachsens über sich selber.
Denn auch das ist für unser eigenes Ende einst nötig: Dass wir mit der Zeit nicht nur lernen, das perfekte Leben nicht herbeizwingen zu wollen - Kanaan also nicht vor der Frist zu stürmen -, sondern dass wir uns allmählich an die Begrenzung heranführen lassen von Dem, Der uns dabei nicht vergisst, nicht verstößt und nicht verlässt, sondern - im Gegenteil - wie Seinen Freund Mose näher zu Sich heran, heraus aus dem Gedränge, hinauf auf den Berg führt.
Und dort oben – vielleicht ist das der intimste Augenblick, den unsere spröde, weise Bibel überhaupt schildert – dort oben auf dem Berg Nebo, gegenüber von Jericho da geschieht etwas erschütternd Schönes, etwas von dem man eigentlich auch heute nur mit gedämpfter Stimme und ganz sachte sprechen kann. Gott zeigt uns da, von dieser letzten Höhe aus die Welt: „Der HERR zeigte Mose das ganze Land: Gilead bis nach Dan und das ganze Land Naphtali und das Land Ephraim und Manasse und das ganze Land Juda bis an das Meer im Westen und das Südland und die Gegend am Jordan, die Ebene von Jericho, der Palmenstadt bis nach Zoar.“
Was also zeigt Gott da auf dem Berg?
Dem Mose zeigt er das Land, das für andere zu erreichen seine Mission und selbst nicht zu betreten sein Schicksal war. Gott zeigt dem Mose also Seine Treue: Dass Er Wort hält, auch wenn die Erfüllung Seiner Zusage nicht so geschieht, wie wir wohl wünschen.
Gott zeigt dem Mose, was diesem zeit seines Lebens vorgeschwebt sein muss: Die Wahrheit, an die er glaubte, die Hoffnung, die kein Trug war. Doch Er zeigt dem Mose auch, dass man diese Wahrheit gar nicht besitzen und die Hoffnung nicht mit eigenen Händen greifen muss. Stattdessen weitet Gott den Blick dafür, dass jede Seiner Verheißungen viel größer ist, als sie sich einem Einzelnen von uns je zeigen könnten.
Und indem Er den Mose sehen lässt, was dieser nicht selber erleben würde, führt Er ihn über seine Grenzen hinaus. … Mose selbst hätte vom ganzen schönen Lande Israel ja auch nur einen Fleck besitzen oder bewohnen können, wenn er hineingelangt wäre, und am Ende wäre ihm nicht mehr geblieben als der Vater des Glaubens, Abraham besaß: Eine Grabkammer.
Wenn er nun aber von Dan bis in das Südland, vom Jordan bis zum Mittelmeer blicken darf, dann entfaltet sich vor ihm, was weit über seine eigenen Möglichkeiten sowohl zu hoffen als auch zu haben hinausgeht. … Mose, da oben im Land Naphtali - wenn’s später einmal Galiläa heißen wird -, da wird einer heranwachsen und in Gilead am Jordan wird der Heilige Geist ihn als Gottes lieben Sohn offenbaren, der wird auf den Bergen von Dan predigen und in den Dörfern heilen, der wird im Land Ephraim und Manasse wandern, der wird im Südland, noch tiefer als Zoar dem Teufel widerstehen und in Jericho mit den Sündern essen und dann wird er im Herzen des Landes Juda sterben, erhöht wie du, aber sein Tod wird furchtbar sein und doch der Durchbruch für die ganze Welt. Denn durch den Tod dieses Einen, - erhöht an’s Kreuz - wird für alle, die davon hören und es glauben, sich zeigen, was Du, Mose hier auf dem Berg Nebo siehst: Dass es weiter geht!
Das ist die wunderbare Einsicht, die der Blick vom letzten Gipfel des Lebens eröffnet: Dass es weiter geht, … über mein eigenes, begrenztes Leben hinaus!
Wer das erfährt, dem tut sich die große Weisheit auf, in deren Licht - und sei’s ein Sonnenuntergang! - das eigene und alles Leben neu leuchtet.
Dass es weitergeht, das ist - wo Gott uns dafür die Augen öffnet - der Beginn aller Ethik. Weil Ethik doch nichts anderes bedeutet, als zu erkennen, dass mein eigenes Leben weder der Rahmen noch die Begrenzung des Guten und des Richtigen sein kann. Es muss weit über meine eigenen Möglichkeiten und auch über meine Zeit hinaus das geben und das gelten, es muss das erhalten bleiben und bestehen, was man sich selber wünschen und worin man selber den Wert des Daseins finden kann.
Dieser Blick vom Nebo, über die eigenen Grenzen hinaus, ist in der Menschheit noch nie so nötig gewesen wie heute. Wir alle müssen ja wahrlich hoffen, nicht zu jenen zu gehören, die dem Sterben als einem trostlosen Abstieg entgegensehen und darum alles mit sich in den Abgrund reißen möchten. Vielmehr sollen wir beten und schaffen, dass wir Schritt für Schritt jene höhere Erkenntnis erlangen, die uns das Leben im Land der Zukunft zeigt, das wir zwar nicht mehr teilen werden und dessen Aussichten doch unser Trost sein können. Blicken wir dorthin, wo sie nach uns ihre Zeit zubringen werden, um selbst getrost das Zeitliche zu segnen. Es wäre der schöne Tod des Mose, wenn wir das zuversichtlich tun dürften.
Dass es weitergeht, das ist - wo Gott uns dafür die Augen öffnet - aber nicht nur im Blick auf die Nächstenliebe, sondern auch im Blick auf uns selber eine Quelle der Vergewisserung. Dass unsere Perspektive zwar nicht endlos weit reicht, trifft zu, aber dass unser Tun und unsere Wirkung weiter als nur bis an die Grenze unserer Gegenwart führen, ist noch klarer. Wir leben immer auch über den Rand des Gegenwärtigen hinaus, weil wir die Zukunft für uns und andere in unserm heutigen Leben anlegen, einbeziehen und mitdenken. Diese verpflichtende, zugleich aber tröstende Dimension, dass uns heute auch schon das Morgen berührt, hat Dietrich Bonhoeffer bewogen, nachdem sein Todesurteil unausweichlich zu werden schien, im Gefängnis ein Gedicht über den Tod des Mose[ii] zu schreiben, das durch-sichtig ist für seine eigene, begrenzte Lebenserwartung, die doch nicht verzweifelt. Bonhoeffer legt Mose darin die Bitte um das Geschenk des Todes „auf steilem Berge“ in den Mund … „das Sterben, über dessen ernste Grenzen / schon die Fanale neuer Zeiten glänzen“. Diese Trostdimension, dass auch meine vergehende Existenz mit ihren Folgen in die Zukunft eingebunden ist, bleibt die zweite Botschaft, durch die der Blick über mein Ende hinaus ein gesegneter werden kann.
Der dritte und letzte und eigentliche Segen der Botschaft, dass es weitergeht - wo Gott uns auch für ihn die Augen öffnet -, ist nun aber schlicht der Punkt an dem Moses schöner Tod zum Evangelium wird.
Es ist die schlichte und doch die Welt, in der der Tod ein Tiefpunkt sein soll, überwindende Wahrheit, dass unser Sterben nicht ohne Gott geschieht, ja, dass im Gegenteil Gott solchen Anteil daran nimmt, dass es dadurch zum Gipfel werden kann.
Mose starb nach dem Wort des HERRN, heißt es an dieser Stelle in der Bibel, ……. in ihrer Muttersprache aber ist eine noch berührendere wörtliche Aussage enthalten: Mose starb „nach dem Mund Gottes“, könnte man lesen. Er, der Übervater wurde von Gott wie ein kleines Kind geküsst[iii], um über die Grenze dieser Zeit hinüber und hinauf in Gottes Wirklichkeit treten zu dürfen.
Sein Grab bereitete ihm Gott selber, … doch so wie die Bibel es formuliert, sollen wir dieses unauffindbare Grab nicht als Ort auf Erden denken. … Es liegt damit anders[iv]:
Weil es weitergeht, wenn einer von uns nach dem Wort des HERRN sterben wird, … wenn er den Gute-Nacht-Kuss empfängt, der der Atem der Lebendigkeit, der Anfang des Endlosen ist, … weil es weitergeht, wenn wir bei Gott in das Leben der kommenden Geschlechter blicken, … wenn wir bei Gott die Zukunft finden, die unser Leben durchzog, … wenn wir bei Ihm die kommende, nie vergehende Wirklichkeit jenseits aller Grenzen betreten dürfen, in die Er uns ruft, führt und schließlich aufnimmt.
Rätselhaft, aber unendlich tröstlich ist also dieser schöne Tod des Mose auf dem Berg.
Er zeigt uns unsere Grenzen, lehrt uns wahre Weisheit und schenkt uns den Trost im eigenen Leben und Sterben, dass es weitergeht.
… „Herr, nun lässest du deinen Diener im Frieden fahren, wie du gesagt hast“ (Lk2,28)!
Amen.
[i] Vgl. das Lied von Marie Schmalenbach „Brich herein, heller Schein“: EG 572,4.
[ii] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung (DBW 8, hgg. v. Chr.Gremmels, E. und R.Bethge, I.Tödt, Gütersloh 1998, S.590-598).
[iii] So deutet die jüdische Auslegung den Ausdruck „al-Pi“ = „nach dem Munde von/ gemäß dem Wort von“ auch gerne.
[iv] Dass Mose auch für das Neue Testament nicht einfach zu den Vergangenen und Toten zu zählen ist, ergibt sich aus seiner Gegenwart bei Jesu Verklärung gemeinsam mit dem in Himmel entrückten Propheten Elia (vgl.2.Könige 2,11): Mk9,4 und Parallelstellen.
Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 14.11.2021, Stadtkirche, 2.Korinther 5, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Vorl.So. - 14.IX.2021
2.Korinther 5, 1-10
Liebe Gemeinde!
Viele von uns sind in diesem Jahr, in diesen Jahren müder als wir uns je erinnern können.
Der Stillstand und die Spannung, die Regeln und die Rätselhaftigkeit in der Pandemie haben mehr Energie gekostet als der abwechslungsreichste Alltag. Dass hier und dort die Ungeduld zunimmt und das Gefühl sich Bahn bricht, wie schön eine Flucht aus alledem sein müsste, wie wohltuend das Reisen war und wie gerne man eigentlich gleich in ein anderes Leben hinüberwechselte, indem man zurückkehrt in das versunkene Land der Normalität oder vorauseilt in eine neue Welt ohne den Druck der jüngsten Monate, … alle diese Ermüdungserscheinungen kann man wahrhaftig erklären, wenn man sie nicht sogar teilt: Nach einer langen Phase der Hochzufriedenheit mit unserer Gegenwart, nach einer langen Phase der totalen Fixierung auf das, was für Christen doch nur zeitlich und vergänglich ist, sind wir plötzlich alle an die Grenze gestoßen, die dem Irdischen gesetzt bleibt: Es hat keine Dauer, es steht nie fest und es bleibt uns die versprochene Sicherheit stets schuldig.
… So ist das Leben. So muss es auch sein. Wer es nicht in seiner Bewegung, in seiner Veränderlichkeit und Offenheit aushielte, der hätte nie am Dasein teilgenommen und nie von der Wirklichkeit gekostet. Denn unwandelbar sind nur die abgeschlossene Vergangenheit und die flachen Bilder. Vorwärtsziehende Zeit und vielseitige Körper unterliegen dem Wandel, … man kann auch sagen: Blühen erst durch ihre Verwandlung wirklich auf! ———
Darf man aber deshalb nicht auch müde sein?
Ist das von der gegenwartsversessenen Welt erzwungene Bekenntnis zum doch nie ewigen „Hier und Jetzt“ nicht irgendwann einmal schal und fad?
Ist es nicht an der Zeit, dass wir das alte Heimwehlied (EG 517), das wir eben noch einmal gesungen haben und das nie wieder in einem Gesangbuch stehen wird, in uns nachklingen lassen?!
… Wir sind bestimmt nicht nur für das geschaffen, das wir kennen. Wir gehören ohne jeden Zweifel nicht bloß in das, was hier besteht und untergeht.
Menschsein heißt – wenn wir das biblische Von-Gott-her-Kommen und Zu-Gott-unterwegs-Sein der Menschen ernstnehmen –, neben dem irdischen auch den überirdischen, neben dem geschichtlichen auch den ewigen Zusammenhang des eigenen Daseins zu spüren und also manchmal zwischen den Zeiten, den Welten und Wirklichkeiten hin- und hergerissen zu sein.
Die meisten von uns waren es lange nicht. Wir waren eingerichtet im Vertrauten. Über das Hiesige ging unser Horizont nicht hinaus.
Es wäre albern zu behaupten, dass sich daran in den vergangenen Monaten allzu viel geändert habe. Es bestand dazu auch wenig Anlass: Wir haben Planungsunsicherheit und Lebensverunsicherung erfahren, … aber das, was die meisten Menschen vor und neben uns erleiden, ist uns immer noch fern. Das tagtägliche „Heute rot und morgen tot“ der Sterblichen, das Bewusstsein, wie sehr man mitten im Leben im Tode ist (vgl. EG 518), ist uns immer noch eigentlich fremd.
Und doch hat sich etwas gewandelt an unserem selbstverständlichen In-dieser-Welt-Leben.
Beides - die Welt und das Leben - verstehen sich ganz und gar nicht mehr von selber. Mindestens eine Wand ist herausgebrochen worden aus dem Gebäude, das wir zu bewohnen glaubten: Hinten, rechts und links sind geblieben, was sie waren … aber die Fassade ist weg, nach vorne ist alles ganz offen.
Und das ist unheimlich. Denn so ungeschützt war unser Lebensgefühl bisher nie. Wir hatten Mauern und Dämme gegen die Not, einen hübschen Vorgarten und Hecken und Zäune, die das Drohende von unserer Schwelle fernhielten.
Nun aber ist es da. Kommt auf die schmucken, schicken, schalldichten Lebensräume zu, in denen es uns gut ging, und muss uns noch nicht mal mehr die Tür weisen: Ohne Wand zur Zukunft sehen wir auch so, dass wir davon müssen. Irgendwann einmal. Schleichend. Oder bald. Im Strudel der sterbenden Natur oder dank einer stummen Gefahr, virenklein, aber weltweit.
Und da hören wir mit dem ein ganz klein wenig geschärften Ohr unserer Tage das leise Geräusch. Das daherstreicht wie das Lied der Grillen in der Sommernacht, wie das rascheln-de Schlaflied im Novemberlaub. … Seufzer sind es. … Leise, kaum hörbare Seufzer. Es summt in allen Kirchen und Klöstern der Erde, in Kapellen und auf Friedhöfen, aus allen Gefängnissen und Spitälern seufzt es, es erfüllte die vielen, vielen Gebäuden, deren Grundmauern unter den heutigen Straßen liegen und deren Wände nurmehr Luft sind, aber auch in alten Häusern, die noch stehen, kann man es hören. … Wie sie da einmal, wenn sie erschöpft waren, zu den Türen blickten, aus den kleinen Fenstern, auf die wenigen Bilder, die meistens von der anderen Wirklichkeit durchglüht waren, und wie ihnen die Worte des müdesten Menschen der Welt auf die Lippen stiegen, der ganz alleine den ganzen Erdkreis aus der Traurigkeit ins Glück, aus der Nacht in die Helligkeit, aus dem Totentanz in die Schar der Sieger holen wollen: Wie unzählige Menschen haben nicht mit den Worten des Paulus danach geseufzt und sich danach gesehnt, mit der Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet zu werden, damit irgendwann einmal das große Frieren und die vielen Schmerzen und die tiefe Sorge und die aussichtlose Müdigkeit von ihnen genommen werden und sie sich endlich, endlich nicht mehr in der Fremde, sondern zuhause fühlen können.
… Wie viele Menschen in den chaotischen und instabilen Verhältnissen dieser irdischen Welt haben nicht irgendwann einmal diese Sehnsucht empfunden, endlich an den fernen, schönen Ort kommen zu dürfen, wo man nicht mehr zu jeder Stunde Hiobsbotschaften oder das Sausen der Sense befürchten muss, sondern in Sicherheit sein würde. … Wie viele Menschen hat dieses Heimweh nach der Ewigkeit nicht irgendwann einmal gepackt, so dass sie wirklich bereit waren, die armselige und mühselige Wartewelt zu verlassen und in die Heimat zu ziehen, wo man nie wieder vertrieben wird, wo die Glocken nicht mit jeder Geburt auch einen Leichenzug einläuten und das Lieben und das Leben etwas anderes sein werden als ein einziges Abschiednehmen. … Wie vielen Menschen ist es nicht ein unglaublicher Trost gewesen, dass sie hier nicht für immer bleiben, sondern endlich – wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen sein wird – an einer nicht dem Vorübergehen, sondern dem Bleiben geweihten Stätte einkehren werden. ———
Das ist keine kranke Haltung! Es ist nicht Weltflucht, nicht Lebensmüdigkeit oder -untüchtigkeit, wenn Menschen es nicht mehr lange aushalten, sich nicht mehr dauerhaft arrangieren, es nicht weiter mit ansehen können, wie ihr Dasein zerstört und ihr Herz zerrissen wird.
Wer heute noch auf das Jenseitsheimweh unserer Vorgänger im Glauben herabblickt und es für eine irgendwie schwächliche, irgendwie simple Haltung erklärt, die man nicht ernstnehmen könne, der ist ein so arroganter Wohlstandsmensch, ein so sattgefressener Materialist, dass er sich derart bitteren Zynismus leisten kann: Die Sehnsucht nach einem Leben ohne ständige Not, ohne weitere Leiden, ohne unstillbare Trauer ist eine Wirklichkeit, vor der wir im Blick in die Vergangenheit wie in die Gegenwart deutlich mehr Respekt haben müssen, wenn es um die Menschlichkeit nicht geschehen sein soll!
Dass Friederike Fliedner bleich und tonlos schluchzend durch das Haus nebenan gewandert ist, wenn wieder eines ihrer Kinder gestorben und draußen auf dem schmalen Friedhof hinter der Klemensbrücke unter einem immergrünen Kranz in die Erde gebettet worden war, und dass sie dann mit dem missionsmüden Apostel gemeinsam begehrte, „den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn“, das ist nicht besser und nicht schlechter zu verstehen als die furchtbare Notlage aller, die gelockt und geködert werden von der Hoffnung auf ein weniger trostloses Dasein, und die dann verführt und missbraucht ihre Lust auf Lebensglück bezahlen in der sinnlosen Sackgasse der weißrussischen Wälder oder dem Schwebezustand an einem Ziel, das doch kein Himmelreich ist.
Wir sollen also – wenn er uns selber denn wirklich immer noch fremd und unzugänglich wäre – lernen den Wunsch zu verstehen, der Menschen bewegt, das alte Leben zu verlassen und in’s neue freudig gehen zu wollen.
Wir sollen verstehen, dass das ein inniger und ehrlicher, ein ernsthafter und echter Wunsch sein kann. ——
Und dann sollen wir uns in der Gegenwart und Geisteshaltung des Apostels einfinden: Der so hundemüde und so heimatlos war, wie man es sich kaum vorstellen kann. Der gesehen und geschafft hatte - auf seinen rastlosen Reisen für das Reich Gottes -, was man nur erreichen kann, und dem Widrigeres widerfahren war, als man sich ausmalen mag.
Und obwohl es ihn mächtig zieht in die verheißene Zukunft, in der man nicht mehr bloß und leer dastehen muss, sondern eingehüllt wird in Lebenskraft und Menschenwürde, in den Glanz und die Wärme des großen, von Gott gehaltenen Versprechens … obwohl Paulus sich also wahrhaftig mit so viel Recht dem Himmel entgegenfreut, wo das Sterbliche verschlungen wird von dem Leben, überlässt er sich selbst und andere doch nicht nur dem Wunsch nach dem Ziel, sondern setzt seinen Weg und unsere Wege fort unter einem wichtigen Zeichen:
Paulus erinnert sich selbst und alle, die ihr Lebensweg und Lebenswerk - wie ihn - endlich auch lebensmüde gemacht hat, nämlich daran, dass es in allem, was wir schaffen und allem, was unbewältigt bleibt, nicht nur um unsere eigene Bilanz, nicht nur um das Wohl und das Weh, die wir empfinden, geht.
Es gibt über unsere Zufriedenheit und unsere Sehnsucht hinaus noch eine ganz andere Wirklichkeit: Es gibt in alledem – dem gelungen Geleisteten und dem schmerzhaft Fehlenden unserer Existenz – nämlich einen tieferen Sinn. Dieser Lebenssinn, der so unergründlich, aber auch so entscheidend ist, dass unsere höchste Anstrengung ihn zwar nicht sichern, aber unsere höchste Erschöpfung ihn auch nicht aushöhlen kann, … dieser LEBENSSINN beruht darin, dass alles und alle, jeder Mensch und jeder seiner Tage zuletzt CHRISTUS GEHÖREN!
Alles, was geschieht, führt zu ihm!
Alles, was wir erreichten und alles, was wir verloren, mündet und findet sich nicht in unserem derzeitigen Dasein hier, sondern in der endgültigen Begegnung und Bergung und Geborgenheit bei Christus.
Das Leben in seiner Not und Unbehaustheit fließt ebenso wie das Leben in seiner lohnenden Herausforderung und Gestalt auf diese bleibende Christusgemeinschaft zu.
Nichts geht daran vorbei.
Alles wird dort, in der Gegenwart Christi, zur Klarheit und Richtigkeit kommen, zur Offenheit des Verschlossenen und zur Verständlichkeit des Verhüllten.
Und aus diesem Grund – weil nichts im Vergehenden bleiben, sondern alles Vergängliche in diese Dauer eingebracht werden soll – … aus diesem Grund führt das Ermatten der Lebensgeister und das Abnehmen der Lebenskräfte und die Bedrohung der Lebensperspektiven Paulus nicht etwas zu Resignation und Verzweiflung:
… Alles einfach liegen zu lassen oder gar wegzuwerfen, wäre nur dann denkbar, wenn dann alles vorbei wäre. … Weil aber alles, was Menschen trifft und betrifft, Gott angeht und endlich bei Gott in das große Schauen, Staunen und Bleiben, das wir Ewigkeit nennen, eingehen wird, darum kann es sich nicht darum handeln, kurzen Prozess zu machen oder Lebensläufe abzubrechen, Lebenswege abzukürzen, wenn sie mühsam, bitter, unsicher werden.
Schließlich wird sich ja alles in Gottes Fülle einfügen, was wir hier getan, auch was wir gelitten, sogar, was wir verschuldet haben.
Wer davon also etwas aufgibt, wer auf Erfahrung - sei sie gut, sei sie schlecht - verzichtet, der mindert das, was einmal in die kommende Welt gehören und dort seine endgültige - dem Guten, dem Schlechten, dem Gesamten des Lebens entsprechende - Gestalt gewinnen soll.
Ungelebtes Leben ist also Raubbau an der Ewigkeit.
Unterlassenes Leben, vorzeitig abgebrochenes Leben, willkürlich verhindertes Leben ist alles Leben, das der großen Offenbarung, das dem Sieg des Lebens über den Tod einst fehlen wird, obwohl es auch dort hingehört hätte. ———
Heute, am Volkstrauertag steht uns die Menge der vor der Zeit abgebrochenen Lebensgebäude, steht uns die Trümmerlandschaft vor Augen, die aus Millionen von unfertigen, sinnlos zerstörten Biographien besteht. Millionen von Menschen konnten Gott keine satten Erfahrungen, nichts Zuende-Gelebtes bringen, sondern nur Fragmente, nur Ansätze von Erlebtem und vertane Möglichkeiten.
Um diese Last Gottes – das viele Leid, das zu Ihm strömt, weil es nicht am Leben bleiben durfte – nicht zu vermehren, hat aber Paulus sich vorgenommen und uns vorgelebt, dass trotz allen Seufzens und trotz aller Hioberfahrungen das Weiterleben gesucht und gewagt werden soll. … Es wird seinen Sinn schon noch entfalten. Es wird an jenem Richterstuhl Christi, an jenem Thron des Zurechtbringens sich zeigen, wie Gott geehrt und wie Gott gedient werden kann mit dem, was noch an Kraft, an Zeit, an Willen und an Neugier bleibt.
Dieser Trost aus dem Vertrauen, dass uns der Lebenssinn nicht hier aufgehen muss, sondern dort geschenkt werden soll, hat Paulus zum Dienst und Durchhalten verholfen und wird uns ähnliches gewähren.
Wie müde wir auch sein mögen und wie schwer es auch fallen mag, uns der Ungewissheit der Zukunft zu stellen: Wir dürfen und wir können leben in solchem Blick auf unser Ziel bei Christus … und weil wir’s dürfen und können, darum sollen wir’s auch.
Denn Christus, der Lebendige ist Grund und Sinn all unseres Erlebens: Hier in der Ferne und einst, wenn wir daheim bei ihm sein werden.
Darum – im Glauben hier, wie im Schauen dort – gilt: Leben wir, so leben wir dem Herrn. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. …Denn wir leben oder sterben: Wir sind des Herrn! (Rö14,8)
Amen.
Reformationstag, 31.10.2021, Gal.5 1-6, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Schwestern und Brüder,
heute ist der Gedenktag an die Reformation. Vor vier Jahren wurde der 500.Jahrestag fast ein ganzes Jahr lang in der evangelischen Kirche befeiert und erinnert. 500 Jahre Thesenanschlag an die Schlosskirche zu Wittenberg, der Aufschlag für das mutige Auftreten des Dr. Martin Luther, der uns Evangelischen die Freiheit unseres Glaubens erstritten hat gegen den Widerstand der Kirchenoberen seiner Zeit. So das zugegeben etwas verkürzte Verständnis dessen, was da vor 504 Jahren begann, der Gründungsmythos des Protestantismus. Das alles beherrschende Grundthema der Reformation war und ist jedenfalls die Freiheit, die Martin Luther in seinen frühen Hauptschriften immer wieder zur Sprache brachte und auf die sich bis in unser Jahrhundert die Evangelische Kirche immer wieder bezieht, so in dem Impulspapier „Kirche der Freiheit" der EKD von 2006. Doch so wie es im Fußball heißt „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel", so heißt es auch für unsere Kirche „Nach der Reformation ist vor der Reformation" - die Freiheit hat man nicht, sondern sie will erstritten, verteidigt, gelebt werden. Ein hoch aktuelles gesellschaftspolitisches Thema in diesen Corona-Zeiten, aber eben auch ein dringendes Thema für unsere Kirche. Um was geht es da, wenn wir von Freiheit sprechen - als Christenmenschen mit Blick auf unseren Glauben?
Es trifft sich da sehr gut, dass der Predigttext für den heutigen Reformationstag einer, wenn nicht sogar der zentrale biblische Text zum Thema christliche Freiheit ist. Paulus hat ihn an die Gemeinden in Galatien geschrieben. Ich lese ihn in einer Übersetzung, die eine Zusammenschau von Lutherbibel, Zürcher Bibel und der Bibel in gerechter Sprache ist.
„Für die Freiheit hat uns Christus frei gemacht; steht also aufrecht und lasst euch nicht wieder unter ein Joch der Sklaverei bringen!
Gebt acht - ich, Paulus, sage euch: wenn ihr euch beschneiden lasst, wird Christus euch nichts nützen. Noch einmal bin ich Zeuge für jeden Mann, der sich beschneiden lässt, dass es seine Pflicht und Schuldigkeit ist, die ganze Thora zu tun. Ihr seid von Christus losgelöst, die ihr durch die Gesetzesordnung ins Recht gesetzt werden wollt, ihr seid herausgefallen aus der geschenkten Gnade.
Denn unser Warten und Hoffen auf Gerechtigkeit und Zurecht-Bringen steht im Zeichen der Geistkraft und des Vertrauens.
Denn im Christus Jesus vermag weder Beschneidung noch Vorhaut etwas, sondern der Glaube, der sich durch Liebe wirksam erweist."
Zur Freiheit befreit - für die Freiheit freigemacht.
Die Freiheit als Geschenk und Aufgabe.
Darum geht es Paulus.
Es ist die Freiheit der Kinder Gottes, die keine trennenden Unterschiede zwischen den Menschen kennt und alle Menschen vor Gottes Angesicht stehen und von Gott willkommen geheißen weiß, in seine verwandelnde, heilende Liebe einbezogen.
Diese Erkenntnis hat ihm Christus gebracht - als Geschenk und Aufgabe zugleich. In der Apostelgeschichte erzählt Lukas davon, dass es Paulus wie ein Blitz vom Himmel traf, der Anruf von oben, der ihn gänzlich umgeworfen hat - alle seine bisherigen Glaubensüberzeugungen gerieten ins Wanken. Sein Eifer für Gott - alles auf einmal in Frage gestellt. Stattdessen erfuhr er in seiner plötzlichen Schwäche und Hilflosigkeit - Liebe und Zuwendung von Menschen, denen er Verrat am jüdischen Glauben vorgeworfen hatte. Liebe und Güte im Namen Gottes, im Namen des Christus Jesus Gemeinschaft und Heilung. Diese unglaubliche Erfahrung stand am Anfang als Geschenk des Himmels und daraus folgte dann die Aufgabe, die eigenen Vorstellungen kritisch zu hinterfragen, Abschied zu nehmen von überkommenen Überzeugungen und Traditionen, sich freizumachen von Vorurteilen und Glaubenssätzen und Neues zu denken über Gott und die Welt, Gedanken, die vormals für ihn schier undenkbar waren, geradezu mit einem Tabu belegt.. Die Apostelgeschichte schweigt leider über diese Phase im Leben des Paulus; es sind aber wahrscheinlich einige Jahre gewesen, in denen er in judenchristlichen Hausgemeinden in der Diaspora im Austausch mit anderen stand. Ein für ihn anstrengender Glaubens-Weg, denn alte Glaubensüberzeugungen loszulassen ist nicht leicht, ist mit Verunsicherung und seelischen Schmerzen verbunden.
„Für die Freiheit hat uns Christus frei gemacht."
Aber am Ende stand die Erkenntnis der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, der verwandelte Blick auf die Wirklichkeit: nicht mehr Juden und Griechen, nicht mehr Sklaven und Freie, nicht mehr Männer und Frauen, sondern alles Kinder Gottes, alle einer im Christus. Befreiung vom Schubladendenken, vom genüsslichen und zugleich schrecklichen Drang und Zwang einzuteilen in Gute und Böse, in Reine und Unreine, in vor Gott Gerechte und von ihm Verworfene. Befreiung zur umfassenden Menschlichkeit - Geschenk und Aufgabe.
„Für die Freiheit hat uns Christus frei gemacht."
Hatte Paulus zuvor seinen Glauben ganz und gar an die Überlieferungen seines Volkes, an die jüdischen Traditionen und die Thora gebunden, die ihm fraglos vorgaben, was er zu denken und zu glauben hatte, - völlig losgelöst davon, wann diese entstanden waren und welche Lebensumstände und Verhältnisse damals herrschten - so sah er sich jetzt herausgefordert, seine Umwelt, seine Mitmenschen wahrzunehmen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sich und seine Vorstellungen mit ihnen ins Gespräch zu bringen. Glaube und Denken mussten so dem Heute, der Wirklichkeit standhalten.
Das ist die anstrengende Seite der Freiheit, die Aufgabe, die angenommen und durchgehalten werden muss.
Die Freiheit, zu der Christus befreit, ist kein Geschenk, das ungeteilten Beifall findet. Der goldene Käfig der Traditionen und dessen, was schon immer so war, schon immer geglaubt wurde, verspricht mehr Sicherheit und oft auch weniger Konflikte mit den lieben Mitmenschen und ist deshalb sehr verführerisch. Deshalb sofort die Mahnung „Steht also aufrecht und lasst euch nicht wieder unter ein Joch der Sklaverei bringen!"
Steht aufrecht, vertraut darauf, dass ihr Gottes Kinder seid, nicht aufgrund eurer Herkunft und Zugehörigkeit zu einem Volk, nicht aufgrund eines Ritus - im Text: die Beschneidung -, sondern einfach, weil ihr darauf vertraut, was euch der Geist des Christus zu glauben und zu denken eingibt.
Liebe Gemeinde, die Freiheit des Christus als Geschenk und Aufgabe anzunehmen und wahrzunehmen, darum geht es auch für uns heute. Sich darüber klar zu werden, darüber nachzudenken, dazu ist der Reformationstag eigentlich da. Wo haben wir Befreiung zur Freiheit im Glauben erfahren? Wie steht es mit unserer Standfestigkeit, unserem aufrechten Gang? Vor welchen Jochen müssen wir uns hüten? Welche Gedanken sind heute befreiend, welche Begegnungen hilfreich und weiterführend?
In seinem Schreiben an die Galater gibt uns Paulus zwei wichtige Stichworte für unsere Überlegungen an die Hand.
1. Macht euch klar, worauf ihr eigentlich hofft.
2. Und vergesst bei allem Denken und Glauben nicht, der Liebe Hand und Fuß zu geben.
Im Positionspapier der Kirchenleitung der EKiR, das im August unter dem Titel „E.K.I.R. 2030 - Wir gestalten „evangelisch rheinisch" zukunftsfähig" veröffentlicht wurde und in dem es vor allem um die strukturellen, personellen und finanziellen Probleme auf allen Ebenen unserer Landeskirche geht und über Glaubensfragen so gut wie gar nichts zu lesen ist (als gäbe es da keinen Gesprächs- und Handlungsbedarf), heißt es immerhin im letzten Kapitel unter der Überschrift „Kommunikation: wie wir motivieren": „.... Um die Hoffnung zu stärken braucht es geistliche Zurüstung, eine Zielgewissheit, ein zukunftsorientiertes Selbstverständnis, eine Haltung innerer Freiheit.
Was heißt es, protestantisch im 21. Jahrhundert zu sein?
Was heißt es für uns konkret, Christus nachzufolgen?
Und wieso ist das für unsere Mitmenschen, unsere Gesellschaft, unsere Welt relevant?
Als Protestant*innen haben wir eine „transformative Spiritualität", die wir sowohl im Blick auf uns selbst, auf unsere Kirche, als auch mit Blick auf die Welt neu entfalten sollten."
Ich möchte an dieser Stelle einmal einen Aufschlag machen und ein Beispiel für solch „transformative Spiritualität" geben. Sie ist nicht am Schreibtisch entstanden, sondern mir über viele Jahre zugewachsen - in der Begegnung mit ganz unterschiedlichen Menschen, in beglückenden wie auch in schmerzvollen Erlebnissen, in Erfolg und Misslingen, in immer größerer Achtsamkeit und Empathie gegenüber unserer Mitwelt mit all ihren Geschöpfen. Und natürlich haben auch Bücher eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Aber entscheidend war, dass ich den Mut bekommen habe, von meinem Glauben zu sprechen, mich nicht hinter der Tradition, den Bekenntnissen und den theologischen „Kirchenvätern" zu verstecken, sondern selber zu entscheiden, was ich glaube, in welchen biblischen Texten mich der Geist Gottes anspricht. Ich habe es als befreiendes Geschenk des Christus erlebt, zu erkennen, dass Gott sich in allen Religionen und Konfessionen auf unterschiedliche Weise offenbart, weil er von all seinen Kindern in allen Zeiten, in allen Kulturen, Religionen und Konfessionen erkannt werden will und alle einladen will, seinem Willen gemäß zu leben. Überall, wo Liebe, Barmherzigkeit und Mitgefühl gelehrt werden, ist er mit seinem Geist, ist der Christus am Werk. Deshalb ist jede Religion, die darauf basiert, wertvoll. Ich bin bei meiner Beschäftigung mit fremden Religionen und ihren Zeugnissen in jeder Religion Texten begegnet, von denen ich einfach nur sagen kann, dass sie denselben Geist atmen, den ich an vielen Stellen - längst nicht an allen - in der Bibel finde. Über das Fremde ist mir vieles an der eigenen Religion klarer geworden.
Gott liebt die Welt, er liebt seine ganze Schöpfung, er liebt alle seine Kinder. Und bis auf diesen Tag sucht er immer wieder den Kontakt zu seinen Menschenkindern, um sie für sein Projekt zu gewinnen, die Bewahrung und Verwandlung dieser Erde in eine Welt, in der Gerechtigkeit und Frieden herrschen und Güte und Mitgefühl das Handeln der Menschen bestimmen. Jesus nannte diese Welt „das Reich Gottes". Für mich ist die Ökumene der Religionen das zentrale Gebot unserer Zeit - mit allen Menschen guten Willens zusammenzukommen, voneinander zu lernen und miteinander zu beten und zu arbeiten am Projekt „Reich Gottes" - ganz profan ausgedrückt: zusammenzustehen im Kampf gegen die Klimakatastrophe, für das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten im Bewusstsein unserer gemeinsamen Verantwortung vor Gott und allen Mitgeschöpfen.
Und genauso wichtig ist es, mit den Naturwissenschaftler*innen ins Gespräch zu kommen. Gott hat uns mit der Vernunft und mit dem Bestreben ausgestattet, die Welt, in der wir leben, zu verstehen - ihre Zusammenhänge, ihre Ordnungen. Da sind der Vernunft keine Glaubensgrenzen gesetzt. Die Grenzen liegen in der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit selbst, was kein Grund zum Verzweifeln ist, denn genau so sind wir von Gott gewollt und geliebt. Ich finde es höchst bemerkenswert, dass gerade die Naturwissenschaftler wie Astrophysiker, Biologen und Paläontologen über ihre Forschungen nicht nur Erkenntnisse gewinnen, von denen sie nie genau wissen, ob sie nicht schon bald überholt sein werden, sondern immer wieder zum Staunen kommen angesichts der phantastischen Ordnungen und Abläufe im Universum - im Großen wie im Kleinen. Ein Staunen, das eine unmittelbare Berührung mit Glauben hat, mit der Haltung eines demütigen, ehrfürchtigen Vertrauens gegenüber einer Macht, die unfassbar ist und die unser Leben auf dieser Erde ermöglicht.
Als Kirche, als Christen können wir von den Wissenschaftlern etwas sehr Wichtiges lernen: wie diese bereit sind, alte Erkenntnisse durch neue Erfahrungen - Experimente - zu revidieren und fortzuentwickeln, so sollten wir bereit sein, alte Bekenntnisse durch neue Erfahrungen, durch neue Begegnungen zu transzendieren, unser Verständnis von Gott und Welt zu vertiefen und unseren Glauben neu auszusprechen. Denn Gott ist immer größer, unfassbar.
Wenn wir allerdings glauben, nur im christlichen Bekenntnis, in unserer Religion, gar nur in unserer Konfession ein richtiges Verständnis von Gott und Welt zu haben, dass er sich nur uns in seiner ganzen Wahrheit offenbart hat, dann haben wir unsere Freiheit verspielt und sind unter einem Joch der Sklaverei gelandet. Religiöser Konfessionalismus versklavt uns wie der Nationalismus, beide engen unser Denken, Fühlen und Handeln ein und verhindern, dass wir uns als Mitmenschen über alle Grenzen hinweg begegnen. Da heißt es wirklich: aufrecht und fest zu stehen.
Protestantisch im 21. Jahrhundert zu sein, das heißt für mich, bereit sein, einfach Mensch unter Menschen zu sein, mit aller Kreatur verbunden, mit Jesus im Herzen und mit Gott unterwegs durch seine Welt in unserer Zeit, so wie es der Prophet Micha schon seinen Zeitgenossen ins Gewissen schrieb: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Gott von dir erwartet: nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott." (Micha 6,8)
Gott geht weiter in seine Zukunft. Bleiben wir nicht stehen.
Amen.
Lied „Wir glauben: Gott ist in der Welt"
Reformationstag, 31.10.2021, Stadtkirche, Galater 5, 1 - 6, Jonas Marquardt
Predigt Reformationstag 2021
Galater 5, 1 - 6
Liebe Gemeinde!
Man sieht weit in die Runde, wenn man da oben auf der Burg am Erker steht: Unter den Mauern die Wipfel der Bäume, und ihr finsterer Baldachin breitet sich rundherum aus wie ein Spinnennetz, in dem die Landschaft sich verfangen hat. Den kleinen Saumpfad den steilen Felsen hinauf verbirgt das Dach aus Laub- und Nadelkronen, und der Ort unten am Fuß, wo die Landgräfin Elisabeth erst die Armen verpflegte und dann selbst die Armut auslöffeln musste, als der Schwager sie verjagt hatte und sie nur noch von den Seligpreisungen satt werden konnte, den sieht man von der Höhe vor lauter Bäumen nicht. So dicht ist der Wald.
… In dem weiter nach Westen die Germanen hausten, wo die Felsen des Wesersandes und die von den Römern gefürchteten Urforste den Kämpfern Unterschlupf und Rückzug boten, die sich nicht hinter den Schutzwall der Zivilisation verlocken ließen.
Der Wald, in den es alle treibt, die es nicht geordnet, sondern wild lieben. Der Sherwood-Wald bei Nottingham, wo die Gesellen des Umverteilers Robin Hood ihre dreisten, kindlichen, utopischen Träume vom Nehmen und Geben nach Not und Bedarf auslebten. Der rauhe Gebirgswald der Cevennen, in dem jahrhundertelang der evangelische Widerstand gegen den Glaubenszwang und schließlich die französische Résistance gegen die deutschen Besatzer ihr uneinnehmbares Revier hatten. Der Hambacherforst, in dem die jungen Leute auf den Bäumen sich gegen die ausgeweidete, verbrannte Erde von morgen stemmen.
… Der Wald, der Deutschen liebster Aufenthalt.
Warum ausgerechnet am Reformationstag davon reden? Weil da die deutschen Befindlichkeiten so schön zusammenkommen? Weil seit Hermann dem Cherusker das vermeintliche Freiheitsgefühl der Deutschen sich so besonders in ihren Wäldern spiegelt, in denen sie sich alle gern wie das Wildvögelein fühlen … „und niemand kann mich zwingen“[i]?! Und weil das an den alsbald Vogelfreien erinnert, der sich in Worms vor einen Thron und eine Garde stellte und vom einen nicht einschüchtern und von der andern nicht haschen ließ?!
… Genau.
… Wir Deutschen und unsere natürlichen Freiheitshelden!? Wir Deutschen, die in der Kneipe oder im Gleichschritt so unbeschwert „Faria-, Fariaho!“ singen … vom lustigen Leben derer, deren liebster Aufenthalt der Wald war, weil sie dort nicht gleich verhöhnt und verjagt und in ein Lager gesteckt wurden[ii]. Wir Deutschen, die sich die Freiheit immer so erhaben und urig zugleich denken … ein Leben, in dem getan und gelassen wird, was man will, … ein Leben, in dem jeder sein eigener Herr, jede die Meisterin ihres Geschickes ist. Juhu! Freiheit, die ich meine[iii]! … Freiheit, das schönste Wort, das die Reformation der längst nicht mehr an Christus-Gnade-Glaube interessierten Gegenwart hinterlassen hat.
Freiheit, die in der ungepflegt verwilderten evangelischen Lesart unserer Tage bedeutet, jeder ist sein eigener Papst und seine eigene Gemeinde, jede Meinung ist ein Bekenntnis, jedes Gefühl ist gleich heilig und alle Dinge sind gleich gültig denen, die sich selbst die herrliche Freiheit nehmen, sich um nichts zu scheren und vor allem selbst ungeschoren zu bleiben. …….
Doch diese Gestalt der Freiheit – eine Freiheit, die etwas rein Individuelles und Egoistisches ist, weil sie darin besteht, den einzelnen Menschen nur sich selbst zu überlassen – hat nichts mit dem zu tun, was die Reformatoren, allen voran Luther im Christuszeugnis des Paulus entdeckten.
Um aber zu verstehen, wie jene Freiheit beschaffen wäre, von der die evangelische Erkenntnis Christi geformt ist, müssen wir noch einmal in die Wälder. Weit nach Osten. Wo sich gerade etwas Furchtbares vollzieht in unseren Tagen. Ein Lump von einem Diktator zieht dort die Verzweifelten der Welt zusammen. Er lockt sie aus allen Ecken, verspricht ihnen, sie auf die Straße zu ihrem Glück zu bringen, treibt sie weiter auf einem Weg, der sie vermeintlich ins Paradies bringt und dann lässt er sie in die Wälder laufen. Da soll es anfangen … das Reich der Wunscherfüllung.
… Doch da hocken sie nun, die Flüchtlinge, die Lukaschenko ohne jedes Gewissen nutzt, um mit der wilden Aussaat von Menschenleben irgendwo Unruhe und Spaltung zu streuen, wo immer so ein Mensch von ihm hingeworfen wird.
Nun geht es heute nicht um die Anklage gegen diesen grausamen Missbrauch von Not und Hoffnung. Es geht nicht um den Appell, dass man die solcherart Missbrauchten und Betrogenen nicht erfrieren oder im Schlamm der weißrussischen und polnischen Wälder verderben lassen kann. Wer meint, man könne das verantworten, wird wohl nicht hier sitzen.
Worum es heute aber geht ist schlicht die unglaubliche, für uns völlig unvorstellbare Tatsache, dass es Menschen geben muss … entsetzlich viele Menschen, denen das Leben sonst überhaupt nichts zu bieten vermag, so dass sie sich tatsächlich so radikal von jeder anderen Aussicht abgeschnitten fühlen, dass ihnen nur noch die Auslieferung an das perfide Spiel eines Menschenfeindes bleibt.
Ob das höllisch verzweifelt, sträflich naiv oder wahnsinnig töricht ist, … auch das wollen wir weder ergründen, noch beurteilen.
Nur das eine ist zu verstehen nötig: Die Flüchtlinge in den Wäldern des Ostens, die da in dünner Kleidung und völliger Ahnungslosigkeit zwischen allen Grenzen und moralischen Kategorien ins Land von Niemand geraten sind, … sie stellen uns auf einzigartige Weise vor, was passiert ist, als die Menschheit durch Paulus zu Christus gerufen wurde:
Die Rettungslosen kamen, weil sie von der Rettung hörten.
Die Verlorenen horchten auf, als es hieß, gerade sie würden gesucht.
Die heillos Verdorbenen waren am ehesten bei dem, der ein Heiland aller sein sollte.
Die, denen nichts half, die nichts hielt, denen nichts heilig sein konnte, … sie wollten glauben, dass tatsächlich ein Erlöser gekommen sei.
Die Freiheit, in der diese Menschen kamen, um sich taufen und sammeln zu lassen, um an Leib und Seele aus hoffnungslosen Geschöpfen zu neuer Kreatur zu werden, … diese Freiheit, die das Merkmal der Christen werden sollte, war also tatsächlich die Freiheit von jeder anderen Möglichkeit. Sie kamen, weil es das Einzige war, was ihnen offenstand. Sie kamen, weil nur dieser eine Jesus Christus ihrem Leben eine Aussicht und ihrem Leiden ein Ende bereiten konnte. Sie kamen, weil sie ohne jede weitere Verbindung zu Sinn und Sicherheit waren. … „Solus Christus“! Niemand außer Christus machte Anspruch auf ihr Herz oder ihre Hand. Sie waren bindungs- und besitzlos, … schutz- und darum zuletzt auch sorglos. … Vogelfrei.
Das Bild solcher Armut und solchen Mangels an allem, worauf man sich ausruhen und verlassen könnte, war aber nicht nur typisch für die ersten Gemeinden, sondern es wiederholte sich zur Reformationszeit: Die Sicherheiten, die religiös und sozial das Mittelalter bestimmt hatten, waren zerbrochen. Eine Krise - eine Glaubwürdigkeitskrise - hatte ausgehöhlt, was man zuvor für verlässlich und tragend gehalten hatte. Der Gnadenschatz der Kirche war wertlos geworden, weil die immer offensichtlichere Zweideutigkeit, dass die Sakramente und Tröstungen Gottes nicht als Gaben der Güte, sondern als Geschäfte der Gier vermittelt wurden, die Menschheit mittellos gemacht hatte. Keine wirkliche, keine wirksame Hilfe schien weit und breit mehr aufzutreiben. Alles hatte sich in einer Inflation vermeintlicher Wundermittel als letztlich leer erwiesen.
Frei von Hoffnung, frei von Verpflichtung, frei von Erwartung, frei von Bindung … verunsichert bis zur Orientierungslosigkeit so standen die Zeugen der Kirchenkrise da. … Vogelfreie, die aus den alten, zum Nistplatz der Fledermäuse und Gespenster gewordenen Kirchen davontrieben und kaum etwas mitnahmen, weil nichts mehr sie verband mit dem, was sich da zu Beginn des 16.Jahrhunderts auflöste.
Doch das war kein Betriebsunfall, ebenso wie die erbärmliche Mittellosigkeit des Urchristentums kein dummer Zufall war. Die Verlorenheit, das Freisein von allem, was einen hält und was man darum gerne selber behält, war vielmehr die Voraussetzung dafür, dass überhaupt eine christliche Kirche und in ihr später eine evangelische Konfession entstanden! Zu solcher Freiheit von allem anderen hatte Christus sie befreit, zu einem solchen Mangel an Festlegung sie gelöst, zu einer solchen inneren Unbestimmtheit sie bestimmt.
Das Problem der Kirche war darum niemals – und ist es auch heute nicht –, wenn sie Sicherheit einbüßt oder an Selbstwertgefühl verliert.
Im Gegenteil: Wenn anderes wieder ebenso wichtig wird wie das nackte Angewiesensein auf Gott, … dann fängt die Bedrohung der christlichen Gemeinde an! … Wo sie außer Gott nichts hat, da lebt sie sola gratia. Wenn sie aber mit den großen Verbindungen anfängt, wenn sie den freien, nackten Glauben mit den Tributen an die öffentliche Meinung oder mit der Einordnung in etwas Vorgegebenes verknüpft, dann wird die von aller Verhaftung an wen oder was auch immer befreite Kirche „fällig“, … hinfällig bis zum Sündenfall. Dann fängt sie nämlich an, das Reich Christi und die weltliche Herrschaft miteinander zu verkuppeln. Dann macht sie aus der Liebe eine Sache der praktischen Vernunft. Dann bietet sie den Altar dem Thron an und lässt sich dafür bezahlen, dass sie sich an Weltbilder und Weltmächte bindet. Dann wendet sie sich nicht mehr an die, die nichts haben, nichts wissen, nichts glauben, sondern nur noch an die, die das Richtige mitbringen und kennen und bekennen.
Dass die Kirche immer wieder aus der obdachlosen, aber auch unabhängigen Freiheit von allem sich zurückwendet zur engen Eingliederung in ihre Zeit und deren Ansprüche, … dass es die Kirche immer wieder aus dem autonomen Nicht-dazu-Gehören zum gesellschaftlichen Vorneweg-Marschieren zieht, … dass die Kirche sich nie traut, im eigenen bloßen Glauben ohne die Betätigung und damit auch Bestätigung auf allen möglichen Feldern des Zeitgeistes zu bleiben, das bezahlt sie von Anfang an mit der Unmöglichkeit, zwei Verpflichtungen gleichzeitig zu erfüllen: Entweder sie „wartet im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen“, oder sie muss alles leisten, was sie selber fordert.
Das bedeutet aber, dass man alle politischen Programme durchziehen, jeden vehement beschworenen Fortschritt selber umsetzen und alle Vorschläge zu lebensweltlicher Praxis mustergültig in der Welt praktizieren muss. Die Kirche muss dann die bessere Partei und die tüchtigere Agentur, die weisere Wirtschaftsprüfungs-, die cleverere Politikberatungs- und die innovativere Technikgesellschaft sein.
Das alles - und eine Behörde, eine Bank, ein Thinktank, eine Influencerin - will sie ja auch tatsächlich sein.
Aber so wie, wer sich beschneiden lässt, dann auch das gesamte Gesetz Israels halten muss, so muss, wer mit einem dieser Projekte beginnt, es auch vollständig durchführen. Und kann dabei nur unfrei werden. In lauterer Absicht, aber mit schrecklichen Folgen. Denn dann kann es uns nicht mehr allein darum gehen, dass wir Christus in Glauben und Liebe anhängen – was die Freiheit derer ist, die nicht in andere Bindungen, Rücksichten und Erwartungen gleichzeitig verstrickt sind –, sondern dann müssen wir retten, was zu retten, und bauen, was zu bauen, und formen, was zu formen, und machen, was zu machen ist.
Nun kann keiner von uns bezweifeln, wie verzweifelt viel die Menschheit und jeder Einzelne in ihr in unseren Tagen ändern, ablegen, aufgeben, umstellen und beitragen muss, damit das Leben der ganzen Welt nicht bald erstickt.
Aber fragen wir uns doch nur das eine: Wird die Welt in Glasgow gerettet werden? Wird die Zukunft entschieden mit dem heutigen 31.Oktober, an dem die Konferenz beginnt, von der tatsächlich so viel abhängt[iv]? …
So müsste es sein, wenn wir den Fakten folgen und die Prognosen der Wissenschaft sehen.
Aber diese nüchterne Erkenntnis ergibt noch keine Quelle, die die Menschheit heute mit der Verheißung des Lebens, mit der Kraft ungebrochener Hoffnung, mit dem Geist der bußfertigen und aufbruchbereiten Umkehr und Erneuerung erfüllen könnte.
Leer steht die Menschheit da und ohne eine eigene Aussicht auf Zukunft und Überleben. Vogelfrei, unabgesichert, ausgeliefert an das eigene Geschick, losgelöst von allem, was sonst bei Trost und Sinnen hält.
Im Wald steht sie … auch wenn der Wald bald vertrocknet und abgebrannt sein mag.
… Wie die, die ins Niemandsland geworfen werden, weil sie keinen Rückhalt und keine Aussicht haben.
Doch genau darum ist heute Reformationstag!
Weil wieder – wie in den Tagen des Anfangs und den Tagen des großen Umbruchs – eine Zeit beginnt, der Nichts weiter gegeben ist, als solus Christus: Christus, der Einzige und seine Gnade allein.
An nichts anderem liegt das, was kommt.
Wir bringen’s nicht mit. Wir können’s nicht einmal sehen: So tief im Schatten liegt der Saumpfad zum Überleben den steilen Felsen hinauf. Jeder Schritt in dieser unheimlichen Dunkelheit kann Sturz bedeuten. Jede Nacht in diesem unwirtlichen Gewucher der Krisen, der Katastrophen und der Schuld, in dem die Menschheit sich wiederfindet wie die ausgesetzten Flüchtlinge in den Wäldern, wird gefährlich sein.
Aber – so sagt es uns dieser Tag, so ruft es uns der Galaterbrief zu, der Luther aus so vielen Bindungen in die glaubende Offenheit für Christus befreit hat – … aber über dem steilen Pfad und nach der dunklen Nacht werdet ihr Christus finden: Nicht wie eine Burg aus massiven Steinen, nicht wie das Wunscherfüllungswunder, das ihr euch träumt.
Aber Christus, das Leben selber steht euch bevor! Wenn nichts anderes mehr Ersatz und Sicherheit bietet, dann schenkt Er euch Menschen das Ende aller Knechtschaft und die Freiheit, zu der ihr befreit werdet, wenn der faule Frieden und die Ungerechtigkeit des Bisherigen vergehen.
Nur Christus, nur Seine Liebe wird Euer Schutz sein. … Doch dafür kann man alles verlieren und aufgeben. Weil Er allein stehen bleibt.
Zur Freiheit hat uns Christus befreit. So steht nun fest!
Amen.
[i] Aus dem durch den Wandervogel verbreiteten Volkslied „Es saß ein klein, wild Vögelein“ (vgl. „Bruder Singer“, div. Auflagen - Kassel, S.144).
[ii] Das um jede (immer schon durch den Antiziganismus der romantischen Projektionen konterkarierte) Unschuld gebrachte Lied vom „Zigeunerleben“, aus dem dieser Refrain stammt, ist heute nurmehr als belastende historische Quelle zu werten.
[iii] Auch Max von Schenkendorfs Lied aus den Befreiungskriegen thematisiert in der 2.Strophe nicht zufällig den Wald: „Auch bei grünen Bäumen in dem luftgen Wald, unter Blütenträumen ist dein Aufenthalt“ („Bruder Singer, S. 205). Der „Topos“ des Waldes ist erkennbar die deutsche „U-Topie“ schlechthin.
[iv] Beginn der „26th UN Climate Change Conference of the Parties“ in Glasgow.
21.S.n.Tr., 24.10.2021, Mt.10,34-39, Stadtkirche + Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text/Thema: Mt.10,34-39 „Vom Verlieren und Finden"
Liebe Gemeinde,
heute geht es ums Verlieren und Finden, ums Abreißen von Beziehung und um neue Beheimatung. Dazu möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Die Protagonistin heißt Charlotte. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.
Charlotte ist Mitte 40. Sie hat eigentlich alles, was sie sich nach dem Abitur so erträumt hat: einen interessanten Beruf, den sie mit Erfolg ausübt, sie ist verheiratet, hat zwei Kinder, die ihr und ihrem Mann deutlich mehr Freude als Kummer bereiten, ein Haus mit Garten, das in 5 Jahren abbezahlt sein wird. Eigentlich gehört sie zu den Gewinnertypen, den Erfolgsmenschen. Aber irgendetwas nagte an ihr. Seit Monaten liegt sie nachts stundenlang wach, die Gedanken fahren Karussell. Morgens steigt sie wie gerädert aus dem Bett. Ist tagsüber oft müde und gereizt. Du bist in der Midlifecrisis, stellte ihr Mann vor ein paar Wochen fest. Was hältst du davon, mal richtig auszuspannen, raus aus dem Beruf, raus aus dem Alltag mit der Familie, ganz bei dir zu sein? Er hatte im letzten gemeinsamen Sommerurlaub das Buch von Hape Kerkeling gelesen „Ich bin dann mal weg", in dem dieser von seinem Burnout und seiner Pilgerreise auf dem Jakobsweg erzählt. Das hatte ihn schwer beeindruckt. Ich weiß ja, dass Wandern mit Rucksack nicht gerade deine Sache ist, aber mal alleine unterwegs seine Gedanken sortieren, das wäre sicher gut für dich - und am Ende auch für uns alle. Sie wusste, dass er recht hatte. Und dann kam ihr ein Zufall zu Hilfe: ihre Freundin rief an und erzählte ihr, dass sie sich unglücklicherweise den Fuß gebrochen hätte und so leider nicht ihre Reise nach Israel antreten könnte. Sie hatte Charlotte unlängst davon erzählt: eine Pilgerreise 4 Wochen durchs Heilige Land. In 4 Tagen sollte es losgehen. Sag mal, Henrike, hörte sich Charlotte zu ihrer eigenen Überraschung sagen, kann ich nicht für dich fliegen?
Und so wandert sie eine Woche später mit einer kleinen Pilgergruppe am Ufer des Sees Genezareth entlang. Immer wieder bleibt sie stehen, schaut über das glitzernde Wasser. Geschichten aus der Bibel fallen ihr ein: wie Jesus dort seine Jünger „eingesammelt" hat, einfache Fischer wie Petrus und Andreas, die hier mit ihren Familien in harter Arbeit ihr Brot verdient hatten. „Und sie ließen alles zurück und folgten Jesus nach ..." heißt es dazu in den Evangelien. Charlotte überlegt: Wie fanden das wohl die zurückgelassenen Familien? Sie setzt sich etwas abseits auf einen großen Stein. Ihre Gedanken wandern nach Deutschland, zu ihrer Familie. Eine große Familie, mit Geschwistern und Eltern, Tanten und Onkeln, Cousinen und Cousins. Man ist sich sehr verbunden. Einmal im Jahr trifft man sich zum Familientag. Die Zugehörigkeit gibt Geborgenheit. Aber Charlotte empfindet es oft auch als erdrückend. So viele Erwartungen der anderen; sie selbst geht dabei verloren. Was wäre, wenn (und ihr Herz pocht schneller bei diesem verbotenen Gedanken), was wäre, wenn sie, wie die Jünger, alles zurücklassen würde: die Erwartungen, die Verpflichtungen, die Schuldgefühle ... ? Könnte sie das, alles so ablegen, hinter sich lassen? Wäre sie dann frei?
Abends versammelt sich die Pilgergruppe am Seeufer. Der mitreisende Pfarrer liest aus der Bibel, aus dem Matthäusevangelium Kapitel 10, aus einer Rede von Jesus:
„Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert, oder wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert. Wer das Leben findet, wird es verlieren, wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es finden."
Charlotte zuckt bei diesen harten Bibelworten zusammen. Ihr Jesusbild war bis dahin ein völlig anderes. Vor ihrem inneren Auge taucht die Grafik aus dem Konfirmandenunterricht auf von Otto Pankok: Jesus zerbricht ein Gewehr, das Schwert der Neuzeit. Selig sind die Friedfertigen, die Friedensstifter. Und dann „Wer zum Schwert greift, der kommt durchs Schwert um". Hatte Jesus nicht zu Petrus gesagt „Stecke dein Schwert ein", als dieser ihn im Garten Gethsemane verteidigen wollte? Und jetzt auf einmal bringt Jesus nicht den Frieden, sondern das Schwert. Charlotte spürt, dass sie dabei ist, an der Oberfläche des Textes zu bleiben. Sie spürt: da geht es um eine tiefere Wahrheit, für die Jesus eingestanden ist. Es ging ihm nicht um Frieden, Freude, Eierkuchen, sondern um richtiges Leben. Und um den Einsatz dafür.
Nicht Harmonie und Wohlgefühl, sondern Auseinandersetzung und Streiten. Nicht blutiger Kampf auf Leben und Tod, aber doch ernsthaftes Streiten und Ringen um ein Leben, das diesen Namen verdient, um das, was lebenswert ist, was mir wichtig ist - und was für mich und meine Mitwelt lebenswichtig ist.
Nachdem alle eine Weile schweigend dagesessen haben und jede/r ihren/seinen Gedanken Raum gegeben hat, liest der Pfarrer den Text noch einmal vor und versucht dann, ihn der Gruppe näherzubringen. Er erklärt, dass Matthäus hier die schmerzlichen Erfahrungen der ersten Christinnen und Christen hat einfließen lassen. Sie wurden damals noch gar nicht Christen genannt, sondern waren Juden, die durch das, was der Rabbi Jesus von Nazareth ihnen erzählt und vorgelebt hat, zu einem neuen Weg, einer neuen Lebensweise aufgebrochen waren. Sie gingen einfach anders, als es traditionell üblich war, mit ihren Mitmenschen um. Sie hatten ein anderes Bild von Gott in ihrem Herzen als das, was ihnen von den Priestern und Schriftgelehrten gepredigt wurde. Dieser neue Weg war ein Ablösungsprozess von der Mutterreligion und das führte zu Zerwürfnissen innerhalb der Familie Judentum. Und dazu kamen die Auseinandersetzungen mit der Gewalt, mit der die Römer alle im Land überzogen. Nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Römer kam es zum totalen Zerwürfnis in der jüdischen Familie. Die Anhänger des neuen Weges hatten sich nämlich nicht am bewaffneten Widerstand gegen die römische Besatzung beteiligt, erzählt der Pfarrer, sie hatten es abgelehnt zum Schwert zu greifen, so wie es ihnen Jesus gepredigt hatte. Dafür wurden sie nun aus der Gemeinschaft der Juden ausgeschlossen, erfuhren sie von ihren jüdischen Geschwistern Ablehnung und Hass. Ein Riss, der oft quer durch Familien ging. Viele verloren so buchstäblich ihre Familie, ihre bisherigen Lebensbezüge. Aber sie machten auch die andere Erfahrung: sie konnten ganz neue Beziehungsbande knüpfen. Zu Menschen, die von ihrer kulturellen, nationalen und auch religiösen Herkunft her ihnen eigentlich ganz fernstanden; zu Menschen, die sie als fromme Juden als unrein gemieden hätten. Aber auf dem Weg, den ihnen der Rabbi Jesus vorgelebt hatte, waren sie ihnen unvoreingenommen begegnet, haben sie sich auf Augenhöhe kennengelernt. Männer und Frauen, Sklaven und Herren - auf einer Ebene; Römer und Griechen und Juden nebeneinander in den neu entstehenden Gemeinden, in einer neuen Familie Gottes. Das gab's noch nie! Deine Feinde werden deine Hausgenossen sein. Feindesliebe, Nächstenliebe über alle Grenzen hinweg. Die Anhänger des neuen Weges, des Weges in der Nachfolge Jesu, die haben nicht nur etwas verloren, sondern auch ganz viel Neues und Lebendiges gefunden. Sie sind ihren Weg gegangen, haben jeweils ihr Kreuz getragen, haben verloren, was ihnen einmal lieb und wert war, und haben Neues gefunden, das, was sie als richtig und wahr für sich erkannt hatten.
Verlieren und finden, denkt Charlotte, das Problem ist nur: man weiß vorher nie, was man finden wird, wenn man gerade dabei ist, alles zu verlieren.
Drei Tage später lernt die Pilgergruppe in Bethlehem Faten kennen, eine palästinensische Christin. Sie lauschen gebannt ihrer bewegenden Geschichte. Fatens Bruder war in den Unruhen der Intifada ums Leben gekommen. Sie erzählt: „Auf beiden Seiten, auf der israelischen und auf der palästinensischen, gibt es immer noch zu viel Wut, Hass und Vergeltung. Das muss aufhören", sagt sie. „Die Gewalt muss ein Ende haben. Einer muss anfangen. Die Feindesliebe, die Jesus uns gelehrt hat und die er gelebt hat: Hier gilt sie." Charlotte hängt an ihren Lippen. So hat sie noch nie über die Feindesliebe nachgedacht: Dem Feind, der den eigenen Bruder erschossen hat, die Hand reichen. Trotz aller schlimmen und leidvollen Erfahrungen klingt die Palästinenserin hoffnungsfroh: „Wir werden immer mehr. Auf beiden Seiten wächst die Zahl derjenigen, die bereit sind zum Vertrauen." „Was sagt Ihre Familie dazu?", will Charlotte wissen. Faten seufzt leise auf: „Viele aus meiner Familie beschimpfen mich als Verräterin. Für sie bin ich gestorben." Charlotte bohrt weiter: „Das heißt, Sie haben alles verloren? Ihren Bruder, der ums Leben kam und Ihre Familie, weil sie Sie ablehnt. Wie halten Sie das durch?"
„Ich glaube einfach, dass es richtig ist, was ich tue und denke", ist Fatens schlichte Antwort. „Ich glaube, dass Gott es so will. Jesus hat genau so geredet und gelebt." Für eine kleine Ewigkeit herrscht tiefes Schweigen. Dann sagt sie noch. „Frieden gibt es nur, wenn man bereit ist, zu vergeben und loszulassen. Wenn man bereit ist, zu verlieren. Dann gewinnt das Leben."
Charlotte liegt an diesem Abend noch lange wach in ihrem Bett im Hotel. Die Worte von Faten gehen ihr nicht aus dem Sinn. Frieden gibt es nur, wenn man bereit ist, zu vergeben und loszulassen. Ja, loslassen, das ist die Aktivität hinter dem Verlieren. Das muss man wollen und können: loslassen. Loslassen, nicht krampfhaft festhalten; die Hände öffnen. Kann ich das? Will ich das? Wie steht es da mit ihr? Mit ihrer Lebensplanung, ihrem Beruf, ihrer Familie? Ja, denkt sie, das ist es wohl, was mir in den letzten Monaten so viel Druck gemacht hat: immer alles im Griff haben zu müssen, es allen recht zu machen, stark und nett zu sein. Was könnte das bringen, hier die Hände zu öffnen, loszulassen, zuzugeben, dass man ganz tief innen eine Sehnsucht hat nach einem ganz anderen Leben ... Dass man nicht mehr funktionieren will, sondern eben leben ... Wie ihre Familie darauf reagieren würde ... ihre Arbeitskollegen ...? Ihr Arbeitgeber ...? Die Klimakrise, sie erfordert doch eigentlich genau das: dass man loslässt - die Ansprüche an das Leben, dass man bereit ist, zu verlieren, was bisher Lebensstandard war. Wenn man bereit ist, zu verlieren, dann gewinnt das Leben. - Diese Worte von Faten haben sich in Charlottes Gehirn gebrannt. Wenn man bereit ist, zu verlieren, dann gewinnt das Leben. Nicht das Ich gewinnt, sondern das Leben. Das Wir der Schöpfung. Das Leben, zu dem ich gehöre, und meine Angehörigen, und meine Freunde, alle Menschen und alle Geschöpfe. Alle zusammen die Familie Gottes. Ein tiefer Frieden erfüllt sie und lässt sie bald darauf in einen erholsamen Schlaf sinken.
Voll von neuen Eindrücken und Begegnungen sitzt Charlotte 3 Wochen später im Flugzeug auf dem Weg zurück in die Heimat. Während die Maschine abhebt, steigt für sie am Horizont eine neue tiefe Hoffnung auf. Sie hatte sich auf den Weg gemacht, um bei sich anzukommen, sich zu finden. Dabei war erst einmal das Gegenteil passiert: Alles wurde in Frage gestellt. Aber sie hatte dann doch noch etwas gefunden. So ganz kann sie es noch nicht in Worte fassen. Es sind neue Empfindsamkeiten dem Leben gegenüber. Sie hat gelernt, sich im Augenblick zu verlieren, um die Fülle einer Begegnung zu erfahren. Sie hat das Gefühl, dazuzugehören, Anteil zu haben an etwas Großem und Schönem, was im Entstehen ist, was aufwachsen will - trotz allem Leiden und aller Gewalt, trotz aller Ungerechtigkeit - was sich durchkämpft durch jedes einzelne Menschenherz. Sie fühlt sich gefunden. Gott hat sie gefunden. Das Leben hat sie zurückgeholt. Sie ahnt: „Gewinnen ist gar nicht so wichtig. Vielleicht ist es nicht einmal die Gesundheit, die mir zu einem guten Leben verhilft. Wenn ich einfach loslasse, was ich bisher so krampfhaft festgehalten habe, mal sehen, was das Leben mir bringt." Und dann kamen ihr wieder die Worte von Faten in den Sinn: „Wenn man bereit ist, zu verlieren, dann gewinnt das Leben."
Liebe Gemeinde, lassen wir uns anstecken von dieser Neugier und Offenheit, von diesem Gottvertrauen. Von dem Mut, loszulassen. Und lassen wir uns überraschen von dem, was Gott, was das Leben für uns bereithält. Amen.
(Literatur: Faten Mukarker, Leben zwischen Grenzen. Karlsruhe 1998)
Konfirmationen, 26.09.2021, Mutterhauskirche, Epheser 1,18, Jonas Marquardt
Predigt Konfirmation Mutterhauskirche 26.IX.2021
Epheser 1,18
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Gemeinde!
Ich stelle mir mal ein schlechtes Zeugnis aus … und sogar ohne mich zu schämen:
Wenn’s nach mir ginge, würde ich das, was Ihr im Unterricht gelernt habt, nicht zu stark bewerten. Es wird vielleicht so irgendwie im befriedigenden Bereich gelegen haben … wegen der Pandemie, die das Ganze im späteren Winter dann viel zu lange doch eingeschränkt hat, sagen wir mal: 3 -. Besser war’s eher nicht.
Um aber ganz klar zu sein: An Euch liegt‘s nicht, dass ich feststelle, dass Ihr beim Kennenlernen des christlichen Bekenntnisses, beim Lesen des Lukasevangeliums, beim Verstehen, wer Gott ist und wie Er sich in Jesus Christus zeigt, bloß mittelprächtig viel mitgekriegt habt. … Es liegt daran, dass man sich etwas anderes gar nicht vorstellen kann, und dass ich das auch nicht wollen würde: Wenn Ihr alles begriffen hättet, wenn Ihr Jesus Christus und den Heiligen Geist nicht mehr bei den spannendsten Fragen des Lebens, sondern unter den bekannten Antworten einsortieren würdet, wenn Ihr abschließend feststellt, dass Ihr in Sachen Glauben Bescheid wisst - wenn Ihr also glatt „1“ stündet -, dann würde ich verzweifeln. … Denn dann wäret Ihr fertig. Und etwas Schlimmeres gibt es nicht!
Leute, die mit Gott fertig sind, die den Glauben abhaken können, die alles wissen, was wir anderen nur suchen und worum wir beten, … solche Leute sind das Gift der Welt.
Das gilt ehrlichgesagt für alle, die fertig sind: Wer nichts Neues mehr erwartet, wer alles kennt und in allem Routine hat, muss am Steuer einschlafen oder von seiner eigenen Langeweile aufgefressen werden. Die Fertigen sind beinah schon tot. Die alles kennen oder können, sind die, denen nichts mehr begegnen kann.
Man muss sie von Herzen bedauern und man darf sich wünschen, dass man niemals selber ein Mensch wird, der so viel hinter sich und so wenig vor sich hat, wie die, die alles beherrschen.
Seid darum mit dem, was Ihr vielleicht gelernt und begriffen habt, genauso zufrieden wie mit dem, was Ihr überhaupt nicht verstehen oder behalten konntet!
Nur dass Ihr mit beidem nicht einfach „durch“ seid, würde ich Euch von Herzen wünschen: Was man weiß, das weiß man nie genau genug. Und was man noch erfahren kann, das wird einem schließlich immer noch mehr zu fassen und zu versuchen geben in diesem Leben.
Gut also, wenn es Lücken gibt. Durch sie kommt das zukünftige Wissen. Durch die Maschen im Netzt kommen die Fragen, wie eigentlich alles zusammenhält. Durch die unerklärten Dinge entstehen sämtliche Entdeckungen und wächst der Glaube.
Gut also, wenn Ihr in Nichts perfekt seid!
…… Dass kann man Euch heute umso besser sagen, als Ihr ja noch nie so nah dran wart am Zustand der Vollkommenheit: Ihr seid schön anzusehen und werdet groß gefeiert; Ihr seid der Mittelpunkt dieses Tages und steht dabei so klar erkennbar an der Schwelle noch viel spannenderer Tage und Jahre, in denen Ihr immer sicherer und selbständiger, mutiger und mündiger werden dürft … was könnte Euch da nun denn eigentlich fehlen? Wonach könntet Ihr Hunger haben, was könntet Ihr brauchen?
— Wir müssen nicht ausführlich antworten.
Sicher würde Euch – trotz aller Geschenke, die gleich noch auf Euch niederprasseln könnten – genügend einfallen. Sinnvolles und Irres.
Aber die einfachste Antwort ist schlicht, dass Euch der morgige Tag fehlt.
Er war noch nicht da und niemand kann ihn Euch heute schon schenken.
Aber wenn er nicht käme … was wäre das heute dann für ein Fest? Wie würdet Ihr feiern und Geschenke auspacken und Euch Reden anhören können und vielleicht gar selbst bei Tisch eine eigene Rede halten, wenn morgen nicht mehr käme?
Merkt Ihr: Wenn man sich auch in noch so vielen Dingen sicher sein könnte, wenn man bei noch so vielem sagen könnte: Ich hab’s, ich kann’s, ich bin’s, … es hat alles gar keinen Sinn und keinen Wert mehr, wenn das Sein, das Können und das Genießen nicht weitergehen.
Der morgige Tag fehlt dem heutigen. Oder umgekehrt: Von morgen her gewinnt heute seine Bedeutung, seine alltägliche ebenso wie seine besondere Bedeutung.
Das könnt Ihr an Eurem Konfirmationstag später in der Erinnerung besonders gut festmachen: Äußerlich, weil es ein Tag war, an dem sich vieles ereignet haben wird, das in die Zukunft reicht und aus dem die Zukunft sich ableiten muss. Es ist schließlich ja ein Wahltag, ein Tag, der Weichen stellt, die sich praktisch und bleibend in dem, was kommt, auswirken werden. Aber das gilt nicht nur im öffentlichen Bereich der Politik, sondern auch im Blick auf Euer persönliches Leben: Ihr wählt heute auch. Oder Ihr bestätigt, dass Eure Wahl sich gefestigt hat und gültig ist.
Ihr wählt Gott!
Was das heißt? – Dass Ihr eine bestimmte Partei, ein Programm, eine Linie übernehmt, wird es nicht bedeuten. Gott ist die Freiheit, das wisst Ihr. Und Er ist die Liebe, die nichts anderes fordert, als dass Ihr immer weiter lernt, Gott und die Menschen zu lieben von ganzem Herzen und mit allen Euren Kräften – von 3- heute bis 2+ mit * einst.
Auf welche Wege Euch das genau bringt, ist damit aber immer noch offen. Weil ja weder Ihr noch das Leben heute schon fertig sein sollt.
Aber nur wer Gott wählt, wählt auch wirklich das, worum es jeden Tag und allen Menschen eigentlich geht. Wer Gott wählt, wählt die Hoffnung.
Hoffnung ist etwas, an dem man merkt, wann man aufhört ein Kind zu sein: Kinder nehmen alles erst einmal als selbstverständlich an, … dass nichts selbstverständlich ist, fangt Ihr dagegen längst an zu begreifen. Weil für sie jedoch alles wirklich selbstverständlich ist, werden Kinder einfach nur sauer, wenn etwas kaputt geht oder fehlt oder nicht eintritt, wie sie es sich felsenfest vorgestellt haben. Was sie nicht - oder nicht mehr - ganz wie von selbst haben und vorfinden, das wollen Kinder einfach. Ihr Wollen ist die einzige Brücke zwischen dem, was nicht da ist und dem, was aber da sein soll.
Da seid Ihr schon ganz anders … eben gar keine Kinder mehr. Dass das reine Wollen, das reine Quengeln und Bocken, das reine Fordern und Herbeitrotzen nichts bringt … an guten Tagen wisst Ihr es!
Aber ohne ein Wünschen, ohne ein Vertrauen darauf, dass es Brücken zwischen heute und morgen gibt, Brücken zwischen dem, was nicht mehr oder noch nicht ist, und dem was doch sein oder kommen soll, … ohne eine solche Hoffnung, dass das Leben weitergeht und sich ändert, kann man nicht existieren.
Hoffnung ist es, weshalb Ihr heute feiert und gefeiert werdet: Das wunderbare, wenn auch gar nicht in klare Pläne gefasste Vertrauen darauf, dass Ihr mit vierzehn, fünfzehn Jahren noch so dermaßen viel vor Euch habt, das erst noch kommt und werden wird.
Und daran merkt man, dass Ihr keine Kinder mehr seid: Eure Entwicklung, Eure Zukunft, Eure Chancen und Aussichten und Lebenswege, die wollt Ihr nicht (nicht immer jedenfalls!) durch Maulen oder Motzen herbeizwingen, sondern Ihr wisst, dass man dafür Zeit und Geduld und Spucke braucht, dass man sich anstrengen und einsetzen muss und dass es um Warten und Aushalten, um Versuche der Vernunft und die Bereitschaft zum Lernen und Ändern geht, die dann das, was werden kann, möglich machen. Da geht es Euch wie einem Land, das wählen darf und wie der gesamten Menschheit, die nicht mehr durch kindisches „Alles-Wollen“ in die Zukunft kommen wird.
Nur dass Ihr einen unglaublichen Vorteil habt! Euer Blick nach vorne, die Brücke, die vor Euch liegt, … ja, die vielleicht gerade erst gebaut, zu der heute der tragendste Pfeiler gesetzt wird … ist sicher! Ihr müsst in diese Zukunft nicht ängstlich gehen, nicht mutlos oder festgebissen in das, was war, … Ihr könnt fröhlich gehen und trotz allen Ernstes heiter und fest und frei. Weil Ihr Euch gleich hinknieen werdet, um zu zeigen, wem Ihr vertraut. Diese Geste bedeutet ja nicht, dass Ihr nicht danach aufstehen und aus eigener Kraft vorankommen werdet. Aber wer sich vor Gott hinkniet und damit bekennt: DU bist der HERR meines Lebens, DU bist der HERR der Welt, DU bist der HERR der Zukunft … was für einen guten Mut, was für ein Vertrauen darf ein solcher Mensch haben!
Ihr wisst nämlich und zeigt es mit dieser Geste, dass Jesus gekommen ist, um Euch solches Vertrauen zu schenken:
Er wurde geboren, damit Ihr dem Leben, Eurem Menschenleben vertraut.
Er hat gelitten und er starb sogar, damit Ihr sicher wisst, dass auch das Schlimmste nicht das Ende bedeutet für die, die Gott lieben.
Und er ist auferstanden, damit Euer Herz und Euer ganzes Lebensgefühl voller Zukunft, voller Hoffnung sein kann.
Dieses Vertrauen, dieser Trost, diese Hoffnung sind der Sinn der Konfirmation. Wenn das nicht befriedigend, wenn das nicht hochzufriedenstellend, wenn das nicht der Frieden selbst ist, dann weiß ich gar nichts!
Und wenn Ihr das auch wisst, dann wisst Ihr das Wichtigste und wählt das Beste!
Weil Gott die Augen Eures Herzens erleuchtet hat und Ihr erkennt, zu welcher Hoffnung Ihr durch Ihn berufen seid.
Glückwunsch!
Amen
Konfirmationen, 25.09.2021, Mutterhauskirche, Epheser 1,18, Jonas Marquardt
Predigt Konfirmation Mutterhauskirche 25.IX.2021
Epheser 1,18
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Gemeinde!
Noch ein Augenblick und Ihr seid dran – mit Eurer Konfirmation!
… Das ist übrigens ein ziemlich schöner deutscher Ausdruck, dass wir eine kurze Zeit nicht nur ein „Handumdrehen“ nennen oder bloß sagen „Eine Sekunde noch“ (was sowieso immer gelogen ist!), sondern dass wir vom „Augenblick“ sprechen. Wie lange man sich etwas anguckt, ist nämlich nicht nach der Uhr zu messen. Manchmal ist so ein Draufschauen ganz kurz … einige von Euch haben so die Zehn Gebote oder einen Psalm oder etwas anderes gelernt: Hinsehen, inneren Screenshot machen und gespeichert.
Und manchmal kann man etwas noch so lange anstarren, ohne mit der Wimper zu zucken und es bleibt trotzdem sehenswert und voller Entdeckungen.
Augenblicke sind also sehr unterschiedlich. Und manche von Euren älteren Verwandten, die sich heute zurück an ihre eigene Konfirmation erinnern, werden Euch sagen, dass ihnen das ganze Leben gar nicht so wahnsinnig lang vorkommt, aber es Augenblicke darin gab, die wie festgefroren oder eingegraben sind: Wunderbare Momente, … aber auch furchtbare Schockerlebnisse. Manches, das ganz kurz war, bleibt so lebendig und entscheidend, dass Jahre nichts ändern an der Wichtigkeit eines solchen Augenblicks.
Auf Euch kommt das auch zu. Die Tage, in denen Ihr erlebt, was der andere schöne altmodische Ausdruck bedeutet: „Schöne Augen machen“. Wenn man sich nicht satt sehen kann.
Oder wenn man plötzlich das erkennt, was die Lösung einer schweren Aufgabe, einer furchtbaren Frage war. Oder wenn das Leben insgesamt so rundum herrlich ist, dass man wie ein rastloser Irrer (Goethes Faust nämlich) plötzlich zu einer bestimmten Situation sagen könnte: „Verweile doch, du bist so schön“.
… Aber es kommen auch Augenblicke, die Ihr lieber vergessen würdet. Wenn etwas nicht mehr zurückzudrehen ist. Wenn etwas wehtut, das in diesem Leben nicht mehr heilen kann.
… Und sehr, sehr viele andere Augenblicke und Sehenswürdigkeiten und Einsichten und Ansichten und Absichten und Aussichten kommen auf Euch zu, bei denen Ihr die Übersicht gewinnen oder verlieren werdet und Eure eigene Sicht der Dinge sich formt und festigt.
Ihr werdet ja sehen.
… Werdet Ihr wirklich. Weil Ihr in einer Zeit heranwachst, die so viel mehr Visuelles bietet und verbindet als jemals denkbar war. Das muss ich Euch nicht erklären, das könnt Ihr mir viel besser beibringen. Blitzschnell, weltweit, durch und durch kann man alles sehen und sehen lassen. Nichts bleibt verborgen. Alles steht allen vor Augen. – Stimmt’s? ——
Natürlich nicht.
Habt Ihr je ein Bild von morgen gesehen? – Trotz aller Sciencefiction: Noch nie! Es waren nur Entwürfe, Ahnungen. Aber nie konnte man erkennen, was wirklich um die Ecke des nächsten Tages, der nächsten Zeit wartet. Das hat die ganze Welt in den vergangenen Jahren – für Euch so wichtigen Jahren! – ja kapieren müssen. Von der Zukunft haben wir trotz allem kein Bild! …. Wann könnte man das nun aber so ehrlich und drängend festhalten wie am Vorabend einer so offenen und spannenden Wahl?!
Ein bisschen ist uns aber obendrein - Ihr habt’s an mir gemerkt - in dieser maskierten Zeit auch noch das Bild von anderen Menschen abhandengekommen: Viele schwarze Kacheln, viele halbe Gesichter, viel weniger Neues als sonst … jedenfalls in echten Begegnungen. Das wird sich hoffentlich wieder ändern. Ihr werdet Unbekannte und Unbekanntes kennenlernen und über die Menschen und Euch selbst dadurch viel mehr erfahren, als wenn man nur immer auch sich guckt oder bloß auf Vertrautes stößt.
Aber wieder stellen wir fest: So unglaublich viel uns auch im Netz und auf der Netzhaut vorschwebt … wir sind längst nicht die Sorte Hellseher, denen wirklich alles klar wäre.
Geheimnisse und Unerkennbares bleiben jede Menge.
Und wenn Ihr daran geht, diese blinden Flecken aufzufüllen, wenn Ihr das, was man noch nie klargekriegt hat, klärt – und ich fürchte, Ihr werdet ziemlich vieles, was einigermaßen trüb ist, heller und besser machen müssen auf dieser Erde –, dann wäre es ganz gut, wenn Euch von diesem Tag, an dem Ihr zu Gott „Ja!“ gesagt habt und Er zu Euch „Amen!“, ein Bild vor Augen stünde. … Das Bild, das niemand hier machen kann – und auch nicht soll.
Erinnert Ihr Euch? Von Gott soll man sich kein Bild machen, so lautet das 2.Gebot. Das ist - wie auch die anderen Gebote Gottes - in erster Linie kein Verbot, sondern eine Verschonung: Ein sinnloser Kampf, ein blödsinniger Krampf wird ausgeschlossen durch die Erinnerung daran, dass es keine Kunst und keine Technik auf der Erde gibt, die an Gott rankommen. Man kann noch so angestrengt alles filmen, alles zoomen, alles knipsen: Kein Close-up und kein Weitwinkel, kein Filter und keine andere unserer Aufzeichnungsmöglichkeiten können uns zeigen, dass Gott bei Eurem Fest hier ist und es wird sich auch nichts entwickeln lassen, was dann eines Tages beweisen würde, dass Gott hier oder da oder überall anwesend war oder bleibt. Das ist sicher.
Und doch wünsche ich Euch, … bitte ich Euch, dass Ihr das Bild von Gott in Erinnerung haltet, um gut durch’s Leben zu kommen und in der Welt das Nötige und Wichtige tun zu können, das auf Euch wartet. Das Bild, das keiner machen kann.
Das aber eben auch niemand machen muss.
Weil Gott es Euch schenkt. Heute, gleich in einem Augenblick, … für alle Tage.
Er nimmt dabei nichts an Euren Augen vor. Dahin, wo Gott sein Bild nun projiziert, reicht unser Blick sowieso nicht.
Gott speichert es heute nämlich anders in Euch. Ihr müsst dafür gar nichts Besonderes unternehmen oder leisten.
Ihr wisst ja, dass Ihr hier nicht einmal viel aufsagen oder vorturnen müsst.
Ihr sollt nur gesegnet werden. Und in diesem Segen, den man auch nicht aufzeichnen oder festhalten kann, da senkt sich das Bild ein, auf das Ihr Euer Leben lang zurückkommen sollt, … das sich Euch plötzlich zeigen wird, wenn Ihr gar nicht dran denkt, das immer noch von sich aus leuchtet, auch wo kein Licht ist und das Euch einzigartig helfen wird, … wo Ihr meint, Ihr hättet alles im Blick, genauso wie da, wo Ihr meinst, es gäbe nichts mehr zu erwarten.
Gott legt in Euer Leben heute den Segen der Hoffnung.
… Hoffnung … das heißt mit noch so einem schönen deutschen Wort: Zuversicht.
Vielleicht hört Ihr daran, dass Ihr immer etwas, … nein: Jemanden haben werdet, zu Dem Ihr sehen, auf Den Ihr erwartungs- und vertrauensvoll blicken dürft, Der Euch etwas von sich zeigen und geben wird, das Euch weiterbringt.
Die Zuversicht, der Blick, der nicht in’s Leere geht, sondern Wege und Ziele zeigt, wird Euch im Segen eingepflanzt. Das bedeutet logischerweise, dass Ihr als Gesegnete sicher Zeiten ohne klare Wegvorstellung und ohne erkennbares Ziel erleben werdet. Das werden Zeiten sein, in denen Ihr total beschäftigt seid und darum nicht weiterdenkt, als nur das zu schaffen, was gerade nötig ist. Es können auch Zeiten sein, in denen Ihr Euch ganz leer fühlt oder allein oder gelähmt. Es können weltweite Pandemiezeiten oder Eure persönlichen Olympiaden sein – und manchmal fällt beides ja sogar zusammen.
Aber in solchen Zeiten - und in allen anderen auch! - wird unversehens das, worauf es sich zu sehen lohnt, erscheinen: Die unglaubliche Liebe, die Gott zu einem Menschen werden ließ und die jeden Menschen umfasst. Die unglaubliche Liebe, die Gott in Jesus mitten in sämtliche Extreme, auch extreme Leiden des menschlichen Lebens brachte, um in jeder Situation bei den Menschen zu sein. Die unglaubliche Liebe, die keinen Menschen als etwas, das vorbeigehen und verschwinden kann, betrachtet, sondern jedem, der das will die Ewigkeit auftut, um für immer Gutes und Barmherzigkeit zu erfahren.
Diese unglaubliche Liebe, die in Jesus Christus geboren wurde, litt und starb und auferstand, um bei uns allen zu bleiben und uns alle zu sich zu ziehen: Die legt Gott heute in Eurem Leben fest an, weil Ihr sie begehrt und bejaht, weil Ihr sie bestätigt („konfirmiert“!) und annehmt.
Und sie wird sich in unzähligen, unerwarteten, unbeschreiblichen Bildern zeigen … dann, wenn Ihr sie braucht.
Das ist es, was Ihr mitnehmen solltet in’s Leben: Die Gewissheit, dass alles, was kommt und alles, was Ihr machen und werden könnt, so etwas wie ein Rahmen ist, in dem das Bild erscheint, wenn es nötig sein wird: Dass Ihr geliebte Menschen seid, die Gott niemals zu lieben aufhören wird.
Ihr werdet es sehen.
Jedes Mal neu.
Immer anders.
Auch wenn Ihr es kaum glauben und selber nicht suchen könnt.
Denn es ist kein Bild, das von uns Menschen hergestellt werden muss.
Gott wird Euch erleuchten, bis in die Tiefen Eures Herzens. So dass Ihr erkennen könnt, zu welcher Hoffnung Ihr berufen seid – von heute an, in jedem Augenblick und in alle Ewigkeit!
Amen.
16.S.n.Tr., 19.09.2021, Dan.5, Mutterhauskirche, Heimann&Höh
Text/Thema: Das Mene Tekel in unserer Zeit (Dan.5)
(Dialogpredigt von Pfarrerin Ulrike Heimann und der Studentin der Theologie Mareile Höh)
Liebe Schwestern und Brüder,
kennen Sie die Geschichte, die im 5.Kapitel des Danielbuches erzählt wird? Wenn auch nicht im Original, so ist sie Ihnen vielleicht in der Dichtung von Heinrich Heine schon begegnet. Und weil diese deutlich kürzer ist als das Kapitel 5 und ihr außerdem viel besser zu folgen ist, bringen wir sie hier zu Gehör - als etwas anderen Einstieg in eine Predigt:
„Belsazar"
Die Mitternacht zog näher schon;
In stummer Ruh lag Babylon.
Nur oben in des Königs Schloss,
da flackert's, da lärmt des Königs Tross.
Dort oben in dem Königssaal
Belsazar hielt sein Königsmahl.
Die Knechte saßen in schimmernden Reihn
Und leerten die Becher mit funkelndem Wein.
Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht;
So klang es dem störrischen Könige recht.
Des Königs Wangen leuchten Glut;
Im Wein erwuchs ihm kecker Mut.
Und blindlings reißt der Mut ihn fort,
und er lästert die Gottheit mit sündigem Wort.
Und er brüstet sich frech und er lästert wild;
Die Knechtenschar ihm Beifall brüllt.
Der König rief mit stolzem Blick;
Der Diener eilt und kehrt zurück.
Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt;
Das war aus dem Tempel Jehovas geraubt.
Und der König ergriff mit frevler Hand
Einen heiligen Becher, gefüllt bis zum Rand.
Und er leert ihn hastig bis auf den Grund
Und rufet laut mit schäumendem Mund:
Jehovah, dir künd ich auf ewig Hohn -
Ich bin der König von Babylon!
Doch kaum das grause Wort verklang.
Dem König ward's heimlich im Busen bang.
Das gellende Lachen verstummte zumal;
Es wurde leichenstill im Saal.
Und sieh! Und sieh! An weißer Wand
Da kam's hervor wie Menschenhand
Und schrieb und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand.
Der König stieren Blicks da saß,
mit schlotternden Knien und totenblass.
Die Knechtenschar saß kalt durchgraut
Und saß gar still, gab keinen Laut.
Die Magier kamen, doch keiner verstand
Zu deuten die Flammenschrift an der Wand.
Belsazar ward aber in selbiger Nacht
Von seinen Knechten umgebracht.
Soweit die Dichtung zu Daniel 5 von Heinrich Heine. Liebe Schwestern und Brüder, ich würde ihn, wenn ich könnte, schrecklich gerne fragen, warum er die entscheidenden Verse der biblischen Erzählung nicht mit in sein Gedicht aufgenommen hat. „Die Magier kamen, doch keiner verstand / zu deuten die Flammenschrift an der Wand." So weit stimmt es. Aber es kam ja dann doch einer, nämlich Daniel, und der konnte die Schrift lesen und deuten - ähnlich wie Josef die Träume des Pharao schildern und deuten konnte. Daniel, der schon Belsazars Vater, dem König Nebukadnezar, unerschrocken Rede und Antwort gestanden hat, tritt so auch vor Belsazar hin.
(Mareile) „O König, der höchste Gott hat deinem Vater Nebukadnezar Königreich, Macht, Ehre und Herrlichkeit gegeben. Und um solcher Macht willen, die ihm gegeben war, fürchteten und scheuten sich vor ihm alle Völker, Nationen und Sprachen. Er tötete, wen er wollte; er ließ leben, wen er wollte; er erhöhte, wen er wollte; er demütigte, wen er wollte. Als sich aber sein Herz überhob und er stolz und hochmütig wurde, da wurde er vom königlichen Thron gestoßen und verlor seine Ehre und wurde verstoßen aus der Gemeinschaft der Menschen ... bis er lernte, dass der höchste Gott Gewalt hat über die Königreiche der Menschen und sie gibt, wem er will. Aber du, Belsazar, sein Sohn, hast dein Herz nicht gedemütigt, obwohl du das alles wusstest, sondern hast dich gegen den Herrn des Himmels erhoben. ... Darum wurde von ihm diese Hand gesandt und diese Schrift geschrieben. So aber lautet die Schrift, die dort geschrieben steht: Mene mene tekel u-parsin. Und sie bedeutet dies: mene, das ist, Gott hat dein Königtum gezählt. Tekel, das ist, man hat dich auf der Waage gewogen und zu leicht befunden. Peres, das ist, dein Reich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben."
(Ulrike) Eine hoch spannende Geschichte. Auch wenn sie sich teilweise so anhört wie ein Märchen aus Tausend und einer Nacht. Es ist eine Geschichte, die uns einen Spiegel vorhält, in dem wir uns und unsere Zeit wiederfinden können - mit unseren Problemen, unseren politischen und gesellschaftlichen Nöten und Fragen. Sie will uns zum Nachdenken bringen und - gut prophetisch - zum Umdenken und Umkehren.
Mene mene tekel - gezählt, gewogen und zu leicht befunden.
Mareile, bei unserem ersten Gespräch über diesen Text Daniel 5 hast Du sehr deutlich gesehen: es geht hier nicht nur um den einen König, um den einen Verantwortlichen, um Belsazar, sondern um eine ganze Gesellschaft - in der Geschichte repräsentiert durch die Höflinge und Knechte. Das hat Heinrich Heine glasklar gesehen:
Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht;
So klang es dem störrischen Könige recht.
Und weiter:
Und er brüstet sich frech und er lästert wild;
Die Knechtenschar ihm Beifall brüllt.
Es gibt das Bonmot: Jede Gesellschaft, jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.
(Mareile:) Es scheint mir als wollte diese Geschichte uns den Spiegel vorhalten: Belsazar, der Herrschende, der abhängig von der Gunst seiner Gesellschaft ist, erkennt erst in dem Moment seinen Fehler, in dem das Unsichtbare durch die schreibende Hand sichtbar wird. Sein Handeln wird buchstäblich angekreidet. Das Unsichtbare, das Belsazar in Trunkenheit und angespornt von seiner Gesellschaft leichtfertig herausfordert, lässt ihn durch das Sichtbar-Werden seine volle Macht spüren.
Ich weiß nicht, wie es Dir, wie es Ihnen, liebe Gemeinde, ergeht, aber für mich tut sich hier eine erschreckende Parallele auf. Wie Belsazar fordern auch wir immer wieder leichtfertig das Unsichtbare heraus, obwohl uns doch bewusst ist, dass es erheblichen Einfluss auf uns nehmen kann. Ich denke hierbei konkret an die Klimakrise. Eine Krise, die nicht tagtäglich in vollem Ausmaß bei uns zu spüren ist, die lange ignoriert wurde.
(Ulrike:) Stimmt genau, ignoriert vom Volk, von den meisten von uns und von den politisch Verantwortlichen, die ja bis heute vor allem die Sorge umtreibt, ob sie als Verkünder schlechter Botschaft wie weniger Fleischkonsum und weniger Individualverkehr wiedergewählt werden.
(Mareile:) Dabei wäre beides absolut nötig: Die Politikerinnen und Politiker müssen den Mut haben, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu einem nachhaltigen Gebrauch der Ressourcen gesetzlich festzuschreiben. Und wir als Wahlvolk müssten aufhören, nur an das individuelle Wohlergehen zu denken. Wir müssten unsere Ansprüche zurückschrauben, unseren Lebensstil verändern. Die Ressourcen unserer Erde sind begrenzt und müssen für alle reichen, nicht nur für uns Europäer, sondern für alle Menschen weltweit und für alle anderen Lebewesen.
(Ulrike:) Und nicht nur für meine Generation, sondern auch für Deine und für die Kinder, die heute und morgen geboren werden. Wir haben da eine große Verantwortung. Bisher sind wir dieser Verantwortung nicht gerecht geworden. Uns ging es ja gut. Die Katastrophen ereigneten sich weit weg, in Afrika, in Asien.
Es ist verrückt, aber irgendwie bin ich fast froh, dass die meist unsichtbare Klimakrise jetzt bei uns sichtbar geworden ist.
(Mareile:) Die zerstörerischen Wetterphänomene, der Starkregen in diesem Juli bei uns, oder auch die verheerenden Waldbrände in Südeuropa und der Türkei - das ist jetzt so sichtbar geworden, dass wir es nicht mehr ignorieren können.
(Ulrike:) Der Weltklimarat hat im August geradezu beschwörend an die politisch Verantwortlichen appelliert, wirklich alles zu tun, um das Ruder noch herumzureißen und den Anstieg der Erderwärmung unter 2 Grad zu halten - es sind nicht mehr fünf Minuten, sondern 5 Sekunden vor Zwölf.
(Mareile:) Die Dringlichkeit sichtbar gemacht haben aber nicht nur Großbrände und verheerende Hurrikans. Am 20. August 2018 verweigerte ein 15-jähriges Mädchen in Schweden den Schulbesuch, um stattdessen vor dem schwedischen Parlament für ein Umdenken in der Klimapolitik zu demonstrieren. Sie alle werden ihren Namen kennen: Greta Thunberg bewegte mit ihrem Einsatz weltweit SchülerInnen und StudentInnen dazu, für das Klima und somit auch für unsere Zukunft auf dieser Erde auf die Straße zu gehen. Sie alle kreideten das Nicht-Handeln der Politik an wie niemand sonst zuvor.
(Ulrike:) Dabei haben Wissenschaftler des Club of Rome schon vor fast 50 Jahren die Gefahren beschrieben, die unser westlicher konsumverliebter Lebensstil für das Leben auf der Erde nach sich zieht. „Die Grenzen des Wachstums" hieß ihr Bericht. Kein Politiker hat sich beeindrucken lassen, und das Wahlvolk hat immer denjenigen Beifall und Stimme geschenkt, die Wirtschaftswachstum versprochen haben.
(Mareile:) Greta Thunberg hat für mich fast so eine Rolle wie der Prophet Daniel. Sie und die Fridays-for-Future Bewegung haben erneut das laut gemacht, was vor 50 Jahren schon bekannt war. Aber aufgrund ihres Alters zählen sie nicht. Ihr Alter macht sie als Wählergruppe uninteressant. Sie sind lautstarke Unmündige. Vielleicht gerade deswegen haben sie als solche die Problematik umso klarer erkannt. Als Außenseiter haben sie sich in die politische Debatte eingebracht. Außenseiter wie auch viele Propheten des Alten Testamentes es waren. So auch Daniel. Ihre Botschaft ist so wie die der Propheten: Nicht gewünscht, aber eindringlich: Mene mene tekel -Die Zeit unseres Planeten und unseres Lebens auf diesem ist gezählt.
(Ulrike:) Für Belsazar heißt es: mene mene tekel gezählt, gewogen, zu leicht befunden. Er hat sich an Gott versündigt, hat Gott gelästert, wie es im Text heißt. Und nun ist es für ihn aus und vorbei. Und das Urteil vollstrecken ironischer Weise diejenigen, die eben noch mitgegrölt und mitgefeiert und ihm Beifall geklatscht haben.
(Mareile:) Belsazar hat sich an Gott versündigt. Irgendwie tun die Menschen unserer Tage das ja auch. Er hat uns diese Erde anvertraut, um sie als Lebensraum für alle Geschöpfe zu erhalten. Aber wie wir mit ihr umgehen, sie ausbeuten, ihre Lebensgesetze mit Füßen treten - das ist für mich wie Gotteslästerung.
(Ulrike:) So sehe ich das auch. Gott ist die Lebenskraft in allem. Wer das Leben und die Lebensordnungen stört und zerstört, der versündigt sich am Schöpfer, an Gott.
Mene mene tekel - ich muss immer öfter daran denken, wo wir da heute stehen, ob der homo sapiens mit seinem Tun gewogen, gezählt und zu leicht befunden ist; ob seine Tage auf dieser Erde bereits gezählt sind, weil seine Taten einfach für die Erde mit all ihren anderen Geschöpfen unerträglich geworden sind. Er ist nämlich nicht weise - sapiens - gewesen, sondern dumm und selbstsüchtig.
(Mareile:) Du denkst an die Kipp-Punkte, nicht wahr? Ob die schon im Gang sind - das Abschmelzen der Polkappen, das Auftauen der Permafrostböden, das Versiegen des Golfstroms im Atlantik. Die Folgen wären unvorstellbar, würden menschliches Leben, wie wir es kennen, unmöglich machen.
(Ulrike) Genau. Ich habe deshalb auch lange Zeit einen Bogen um diese Erzählung von Daniel gemacht. Mene mene tekel - gezählt, gewogen und zu leicht befunden. Chance vertan. Das war für mich viel zu düster. Aber inzwischen habe ich einen neuen Zugang zu diesem 5.Kapitel entdeckt - nämlich den Abschnitt, den Heinrich Heine in seinem Gedicht übergangen hat. Für ihn war Belsazar die wichtige Figur. Aber für Daniel ist es jemand anderes: nämlich Nebukadnezar, der Vater von Belsazar.
(Mareile:) Aber Nebukadnezar, das ist doch für die Juden der Bösewicht schlechthin. Nebukadnezar hat Jerusalem erobert, den Tempel zerstört und viele Juden ins Exil verschleppt.
(Ulrike:) Ja, das stimmt. Und das verschweigt Daniel auch nicht. Nebukadnezar war ein größenwahnsinniger Tyrann, der große Schuld auf sich geladen hat. Und der damit buchstäblich im Dreck gelandet ist, ausgestoßen und aller Macht verlustig gegangen. Aber dann, so erzählt Daniel die Geschichte weiter, ist er umgekehrt, hat er erkannt, dass nicht er, sondern Gott der Herr des Lebens ist. Ist er aus seinem Wahn, der Herr zu sein, aufgewacht und ist umgekehrt - hin zu Gott; und das heißt auch: er konnte so der Verantwortung, die er als Herrscher hatte, gerecht werden. Und man hat ihn wieder als König akzeptiert.
Auch von einem total verkehrten Weg kann man umkehren, das erzählt hier Daniel. Und damit macht er uns Mut. Auch wenn wir schon mitten in der Katastrophe sitzen - wie viele Menschen im Ahrtal es ja erlebt haben und heute noch erleben - wir können lernen und umkehren, wir können uns neu einfinden im Gewebe des Lebens auf dieser Erde - als Teil des Ganzen, der eine besondere Verantwortung für das Ganze hat.
(Mareile:): Noch haben wir die Wahl: Sind wir Belsazar oder Nebukadnezar? Lernen wir? Kehren wir um? Oder sind wir weiter verschwenderisch? Und wird uns das zum Verhängnis werden? Vielleicht braucht es nicht nur einen Wandel von außen, sondern auch einen Wandel von innen. Einen Wandel, der unsere Haltung und unser Denken verändert. Auch die Theologie. Einen Wandel hin zu einer Theologie, die weniger über den Menschen allein und seinen Bezug zu Gott spricht, sondern viel stärker die Gemeinschaft der Schöpfung wahrnimmt und auslegt. Eine Theologie, die den Menschen in den Kreis der Geschöpfe zurücktreten lässt und ihn als einen von vielen betrachtet. Eine Theologie, die den Menschen haftbar für sein Handeln macht, weil es eben nicht länger nur um ihn geht.
(Ulrike:) Daniel steht hier in einer Reihe mit den Propheten bis hin zu Jesus. Die haben immer wieder gemahnt und betont: Gott hat nicht Gefallen am Tod der Gottlosen, sondern ihm ist es darum zu tun, dass die Menschen umkehren und leben.
(Mareile:) Belsazar oder Nebukadnezar. Lernen wir? Kehren wir um? Wir können wählen.
15.So.n.Trinitatis, 12.09.2021, Stadtkirche, Lukas 17,5f, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 15.n.Trin. - 12.IX.2021
Lukas 17, 5f
Liebe Gemeinde!
Als Jesus acht Jahre alt war oder neun – zu jung, um als Sohn der Gebote, als Bar Mitzwah schon nach Jerusalem zu pilgern, noch ganz das Kind der frischen Luft von Galiläa, in dem die frühkindlichen Erinnerungen an’s ägyptische Flüchtlingslager verblassten – … als Jesus also neun oder acht Jahre alt war, kopierten fleißige Schreiber in Italien gerade eines der größten Werke der Weltliteratur. Es wird wohl nicht bis an den See Genezareth gedrungen sein, dass damals Ovids „Metamorphosen“ das Publikum erreichten, die phantastischen, hellsichtigen und tiefsinnigen, aber auch schlicht entzückenden und packenden Verwandlungsgeschichten des großen lateinischen Dichters, in denen die Geographie und die Botanik und die Himmelskörper, das Gesicht und die Lebendigkeit dieses Kosmos also persönlich, göttlich, dämonisch geschildert und entfaltet werden.
Die „Metamorphosen“ – wenn man sie heute wieder läse – würden jeden erschüttern, der durch diese Mythen darauf stößt, dass jedes Irdische seine Geschichte hat, Glück und Leiden und alles, was zwischen den hellen und den dunklen Losen des Daseins liegt und sie verbindet. Nichts an der Natur ist Gegenstand oder Objekt für Ovid und den Schatz der Welt-Sagen und der Menschen-Reime darauf, … alles ist beseelt.
Das wird das Kind Jesus von Nazareth nicht gelesen haben.
Aber es muss in seiner Kindheit Tage gegeben haben, an denen ihm die Lilien auf dem Feld und die Vögel unter dem Himmel auffielen; Tage, an denen er bei den Fischern unterhalb der Höhen durch den Dunst das lebendige Gewimmel in den morgendlich eingeholten Netzen sah und beobachtete, wie Kraut und Unkraut auf den Feldern in buntem Durcheinander wächst. Er muss das jahreszeitliche Wunder des kleinen Senfkorns und der großen Staude bemerkt haben und die Sonne, die über alledem gnädig auf- und untergeht und den Regen, der das alles tränkt und den Wind, der bläst, wo er will; das unbeschwerte Tschilpen der Sperlinge, die nicht aus Gottes Hand fallen und das unbemerkte Reifen der Weintrauben am Stock und das unverdiente Glück der Weizenernte müssen ihn berührt haben und er hat die Knospen am Feigenbaum und den Schutzinstinkt der Glucke wahrgenommen[i].
… Er war gewiss kein Romantiker und kein Dichter nach unseren Maßstäben, aber ein Gotteskind und ein Kind vom Land und seine Augen waren geöffnet. … Gewiss hätte er Ovid, dem großen heidnischen Seelenfreund der Geschöpfe daher seinen kindlichen Segen gegeben.
Und wenn er Maulbeeren naschte – verschwenderisch köstlich und verwirrend blutig – dann mag er von irgendwoher vielleicht die in der Antike beheimatete und womöglich auch verbreitete Maulbeerensage aufgeschnappt haben, die Ovid in seinen Metamorphosen verewigt. Wir kennen sie in Gestalt der Tragödie von Romeo und Julia. Bei Ovid ist es die Geschichte des babylonischen Liebespaares Pyramus und Thisbe[ii]: Diese unzertrennlichen, von den eige-nen Eltern aber verfolgten Liebenden waren heimlich verabredet. Allerdings wurde Thisbe, die früher am Ort des Stelldicheins eintraf, von einer Löwin erschreckt, die nach ihrer Jagd an die Quelle unterm Maulbeerbaum strebte, an dem sich das Paar hatte treffen wollen. Da floh das Mädchen vor Entsetzen, verlor unterwegs indes seinen Schleier, den die Löwin mit dem noch blutigen Maul zerfetzte. Als wenig später Pyramus eintraf und den verschmierten Stoffrest vorfand, schloss er auf ein grausiges Unglück und stürzte sich derart verzweifelt in das eigene Schwert, dass sein spritzendes Blut die weißen Maulbeeren dunkel färbte. Die alsbald wiederkehrende Thisbe fand nur noch den Sterbenden, und von wildem Schmerz gepackt durchbohrte auch sie den eigenen Leib mit seinem Schwert. Seitdem – so wollten es die Unsterblichen – erinnert die Trauerfarbe der ehedem hellen Maulbeeren an das Unglück und den Doppeltod der Liebenden.
Nichts Menschliches ist den Bäumen fremd.
An den Tragödien unter den Menschen leidet auch deren stumme Zeugin … das Reich der Natur. Das ist Ovids Sicht der Dinge.
Warum aber auf diesem Umweg über den dramatischen Mythos den Zugang zu unserm schlichten, kurzen Predigttext suchen?
Weil die Prägnanz des Satzes Jesu täuschen kann. Wer ohne Denkmühen einfach bloß eine Faustregel aus der Sentenz macht, dass Glaube einen Maulbeerbaum versetzen könnte, der kommt zu fürchterlich verkehrten Folgerungen.
Sollte Jesus, als die Jünger – die Jünger! Seine Augenzeugen! Seine Vertrauten! Seine direktesten Schüler und Nachahmer! – … sollte Jesus also, als die Jünger um Glaubenshilfe baten, wirklich nur so eine barsche Abfuhr, so einen gehämmerten Wenn-dann-Satz für sie übrig gehabt haben?
Undenkbar ist das nicht. Dass Jesus undurchdringlich und abweisend, dass er erhaben und wie alle rechten Propheten unwirsch und zornig reden, antworten, abfertigen konnte, müssen wir endlich wieder lernen! Jesus ist die Macht Gottes, er ist das Wort, das Gott zu sagen hat, in, gegen und trotz aller anderen Worte.
Es ist nicht auszuschließen, dass er eine dringliche, lebensnotwendige Bitte auf so kategorische und damit letztlich unerfüllbare Weise beschieden hat. Jedenfalls hat die protestantische Welt über Jahrhunderte gemeint, Jesus rede von der Gerechtigkeit mit bewusst und absichtlich überspitztem Ernst, so dass in der Bergpredigt - nach Luther - nur das Scheitern sichtbar würde, in das die Forderung Gottes uns ohne das Evangelium von der Rechtfertigung aus Gnaden treiben muss.
Inzwischen ist eine solche Auslegung, die dem Menschen nichts Ethisches zutraut und alles allein dem Glauben zuweist, nicht mehr zu verantworten: Wir wissen nach dem Scheitern der christlichen, der protestantischen Ethik im 20.Jahrhundert, dass wir das, woran wir gescheitert sind - die Ethik -, üben müssen, um das, worauf wir hoffen können, glauben zu dürfen: Dass die Gerechtigkeit Gottes unser Unrecht nicht gegen uns hält, sondern dennoch grundlos für uns einsteht. ——
Wenn allerdings gegen Schluss des Evangeliums die Not des Glaubens, der Wunsch, doch leichter, ehrlicher, „mehr“ glauben zu können, laut wird, dann scheint es mir nicht denkbar, dass Jesus hier nur einen unerreichbaren Maßstab benennen sollte, an dem alle menschlichen Versuche, ihn anzuwenden, zuschanden werden müssen.
Noch weniger aber kann ich glauben, dass Jesus das Glauben als einen schlichten Trick, also als wortwörtliche Aushebelung aller Schwierigkeiten und alles Schweren beschreiben sollte. …….
Zum Glück jedoch zeigt der Blick, mit dem wir die Welt und Zeit Jesu, die auch die Zeit und Welt Ovids gewesen sind, eben umfassten, dass unsere Mühe mit der Wortwörtlichkeit, unser Problem des buchstäblichen Verständnisses damals nicht herrschten. Die Wirklichkeit und ihre Gegenstände, die Welt, die Natur, das Sichtbare sprachen zu den Kindern jener Tage eine reichere, vielfältigere Sprache als unser auf Fakten verkürztes Begreifen ahnen kann.
Wie immer man das aber beschreiben wollte, was die Weltanschauung des römischen Dichters und des Heilands aus Israel gemeinsam als ihren Horizont haben können – ein Gespür für die Symbolik der Realität, ein lebendiges Fassungsvermögen, das Inneres und Äußeres einander spiegeln und erhellen sieht –, … auf alle Fälle können wir gewiss sein, dass Jesus den Maulbeerbaum auf dem Meer nicht als physikalisch naturwissenschaftliches, sondern als ein Wunder des Geistes in Aussicht gestellt hat.
Darum dürfen wir fragen und suchen, welches Zeichen Jesus seinen zaghaften Jüngern damals und heute mit dem Bäumeverpflanzen des Glaubens gegeben haben könnte: Dass die bloße Macht zum reinen Bergeversetzen nämlich sinn- und segenslos sein würde, das hat ja schon Paulus erklärt in seinem Rückgriff auf Jesu Wort von der Landschaftsneuordnung derer, die den Weg Christi gehen wollen. „Und hätte ich allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts“, hält der Apostel fest (1.Kor.13,2).
Das Ziel des Glaubens ist also nicht in seiner Wirkung zu suchen, sondern durch Glauben und Lieben wird dem Menschen das Ziel seines Wirkens bestimmt!
Und wiederum: Was wir im Glauben versetzen, bewegen, bewirken können, ist wirklich ein Wunder.
Aber nicht umgekehrt: Der Glaube beweist sich dadurch, dass er über die Wirklichkeit hinauswill.
Jesu Antwort als die Jünger ihn fragten, ob er ihnen das Geheimnis des Glaubens klarer und seine Wirkung stärker machen könne, sollen wir also nicht einfältig verstehen.
Er hat ihnen nicht gesagt, dass ihr Glaube sich im Unmöglichen bestätigen würde, sondern dass dem Glauben nichts unmöglich ist. Und das ist der wirkliche Unterschied.
Wunder an sich sind sinnlos.
Nur für den Glauben können sie sinnvoll werden. Weil er sie nicht um ihrer selbst willen und auch nicht alleine will und würdigt, sondern weil si