Invokavit, 21.02.2021, Joh.13,21-30, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
„Jesus und Judas und die Überlieferung"
Liebe Schwestern und Brüder,
die Neuordnung der Lesungs- und Predigttexte vor 3 Jahren hat uns für den heutigen 1.Sonntag der Passionszeit einen Abschnitt aus dem Johannesevangelium beschert, der bisher nie vorkam. Ein schwieriger und rätselhafter Text, der keine eindeutige Erklärung zulässt, uns vielmehr herausfordert, unseren eigenen Standpunkt in der Beziehung zu Jesus kritisch zu hinterfragen.
Ich lese uns nun den Text aus Johannes 13,21-30. Es ist die Geschichte einer Beziehung.
„Als Jesus das gesagt hatte, wurde er erregt im Geist und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich überliefern/ausliefern/verraten.
Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ihnen wurde bange, von wem er wohl redete.
Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tisch lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb.
Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete.
Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist's?
Jesus antwortete: Der ist's, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er nahm den Bissen, tauchte ihn ein und gab ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot.
Und als der den Bissen nahm, fuhr der Satan in ihn. Da sprach Jesus zu ihm: Was du tust, das tue bald!
Aber niemand am Tisch wusste, wozu er ihm das sagte.
Einige meinten, weil Judas den Beutel hatte, spräche Jesus zu ihm: Kaufe, was wir zum Fest nötig haben!, oder dass er den Armen etwas geben sollte.
Als er nun den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht."
Jesus und Judas: die Zuschreibungen, die seit 2000 Jahren diesen beiden Gestalten zukommen, können nicht gegensätzlicher sein. Heiland - Verräter, Sohn Gottes - Sohn des Teufels. Und wie Jesus alle positiven Aussagen auf sich zog, so hängte man Judas alles nur erdenklich Negative an, nicht erst in späteren Zeiten, sondern schon in den Evangelien: er, der die Gemeinschaftskasse der wandernden Jüngerschar in seiner Obhut hatte, wird im Johannesevangelium als Dieb gebranntmarkt, in den anderen Evangelien als geldgierig, als jemand, der Jesus verrät und dafür 30 Silberlinge kassiert; und als Gipfel der Schändlichkeit der sprichwörtlich gewordene Judaskuss.
Besonders verhängnisvoll sollte sich die sprachliche Nähe von Judas und Jude auswirken: der christliche Antisemitismus warf den Juden bald kollektiv Geldgier, verräterischen Charakter und als Höhepunkt die Schuld am Tod des Gottessohnes Jesus vor. Dass Jesus Jude war und blieb bis zum Tod am Kreuz, ja, dass der Titel eines Sohnes Gottes aus der griechisch-römischen und ägyptischen Kultur und Religion Jesus angeheftet worden war, um ihn der heidnischen Welt vermitteln zu können - das wurde verdrängt.
Und immer wieder bis heute wird der Antisemitismus befördert, wenn Jahr für Jahr die Passionszeit im kirchlichen Kalender begangen wird und die Erzählungen aus den Evangelien dem Kirchenvolk vorgetragen und gepredigt werden, als wären sie historisch korrekte Berichte. Doch das sind sie nicht. Sie sind Erzählungen, in die jeder Evangelist seine Deutungen eingetragen hat und das mit dem Blick auf eine jeweils sehr andere Leserschaft. Das Johannesevangelium fällt - nicht nur was die Passionsgeschichte angeht - besonders aus dem Rahmen, den die synoptischen Evangelien abgeben. Das liegt an dem Evangelisten, dem es darum geht, die Jesusgeschichte als kosmisches Ereignis darzustellen. Jesus ist für ihn eine Gestalt, die nicht von dieser Welt ist, die sozusagen nur auf Besuch ist und eine Aufgabe zu erfüllen hat, um sich dann zu verabschieden und dorthin zurückzukehren, woher er gekommen ist. Das wird schon in den ersten Sätzen des Johannesevangeliums deutlich: „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort ... und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit ..." Und das zeigt sich auch in den Kapiteln der Passionsgeschichte, die mit dem 13.Kapitel beginnt, zuerst mit der Erzählung von der Fußwaschung, eine Geschichte, die nur von Johannes überliefert wird; während sich in den anderen Evangelien Jesus mit dem letzten Abendmahl von seinen Jüngern verabschiedet und ihnen darin sein Vermächtnis hinterlässt, so ist es bei Johannes die Geste der Fußwaschung, die geradezu zum Vermächtnis Jesu an seine Jünger und Jüngerinnen wird - mit fast sakramentalen Zügen: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe." (Joh.13,15) „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe." (Joh.13,34)
Das Vermächtnis Jesu: Freundschaft und Liebe auf Augenhöhe. Das ist das eine, das andere ist der Auftrag, den Jesus zu erfüllen hat: den Sieg über die Mächte der Finsternis und des Todes zu erringen. Es geht um den entscheidenden kosmischen Kampf zwischen „Gott und Welt". Die Rolle, die Judas Iskariot dabei zugeschrieben wird, schwankt bis heute in der Geschichte der Auslegung zwischen den Extremen von „Verteufelung" und „Seligpreisung". Als Beispiel für Letzteres mag hier Walter Jens angeführt sein: „Ohne Judas kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Erfüllung des Heilsplans. Keine Kirche ohne diesen Mann; keine Überlieferung ohne diesen Überlieferer."
Sehen wir uns den Text aus dem Johannesevangelium vor diesem doppelten Hintergrund einmal genauer an.
Die Szene, die Johannes da wachruft, führt uns in einen großen Raum, in dem Jesus mit seinen Jüngern zu Abend isst. Wohlgemerkt, es ist nicht das Passahmahl, wie es die anderen Evangelien erzählen. Während die Jünger wohl ganz locker zu Tisch liegen, sich unterhalten, wie man das ja so macht in größerer Runde, ist Jesus angespannt, „erregt im Geist"; ihm war seit einiger Zeit klar, so heißt es zu Beginn des 13.Kapitels, dass das kommende Passahfest für ihn zur Stunde der Entscheidung werden wird. Sein Auftrag, seine Mission wird sich sehr bald erfüllen „Es ist vollbracht!" so wird er es bald allen bekannt geben. Und auch das weiß er: bevor er die Welt verlässt und zum Vater heimgeht (Joh.13,1), wird die letzte Wegstrecke ihm alles abverlangen. Kein Wunder also, dass „Jesus erregt ist im Geist": der Countdown läuft ... und er läuft nicht nur für ihn: „Ich habe euch etwas zu sagen: einer von euch wird mich ausliefern/überliefern." Auch noch in der neuesten Revision der Lutherbibel steht leider an dieser Stelle immer noch das Verb „verraten". Dabei ist das griechische Wort paradidomi mit „überliefern" zu übersetzen, in der lateinischen Bibel steht das Wort „tradere" ~ „Tradition" - das, was einem überliefert ist. Der Inhalt, der überliefert wird, wird dadurch natürlich auch „ausgeliefert" - der Deutung, der Praxis, dem Verständnis der folgenden Generationen. Da kommt ein Prozess in Gang. Einer von euch wird mich überliefern/ausliefern - meine Botschaft, ich selbst gerate in einen Prozess. Während das Wort „Verrat" einfach nur moralische Verwerflichkeit beinhaltet, es einen schändlichen Verräter und ein hilfloses Opfer dazu braucht, steckt in „überliefern/ausliefern" etwas ganz anderes, nämlich Einwilligung und Hingabe an eine Entwicklung, in einen Prozess.
Und diesen Prozess kann Jesus nicht aufhalten, er muss da durch. Ja, er setzt ihn sogar selbst in Gang. Auf die Frage von einem seiner Jünger, wer es denn sei, der ihn überliefert, antwortet er: „Der ist's, dem ich den Bissen eintauche und gebe." Im Vers 27 zeigt sich dann die ungeheure Zerreißprobe, vor der sich der Evangelist Johannes sah: auf der einen Seite seine Überzeugung, sein fester Glaube, dass Jesus der Christus, der Sohn Gottes ist, der in allem der Herr der Geschichte und auch seines Geschickes ist, dem niemand das Leben nehmen kann, es sei denn, er gebe es selber hin; der Christus Jesus, der, wie im Philipperhymnus besungen, seinen Weg in der himmlischen Welt begann, herabstieg auf die Erde, in seine irdische Existenz, um danach wieder in die himmlische Herrlichkeit aufzusteigen, ein Christus, dessen Herrlichkeit selbst am Kreuz aufstrahlte. Und auf der anderen Seite: das Wissen um die reale Kreuzigung des Jesus von Nazareth, das Wissen, wie schrecklich dieser Foltertod für einen Menschen war, das Wissen um die wohl in den christlichen Gemeinden weit verbreiteten Erzählungen, wie Jesus am Kreuz geschrien hat, dass er in einer Nacht- und Nebelaktion verhaftet worden war, dass es da einen Verräter in den eigenen Reihen gegeben haben muss und dass seine Jünger ihn alle miteinander im Stich gelassen hatten. Erzählungen, die in den anderen Evangelien ihren viel deutlicheren Nachhall gefunden haben.
Wie soll er also beides zusammenbringen? Er bedient sich des Judas, des „Überlieferers", der in der Überlieferung der ersten Christenheit fast einhellig die Rolle des Verräters zugeschrieben bekommen hatte. Aber Johannes war seinerseits ja überzeugt, dass ein Mensch mit seiner Bosheit Jesus überhaupt nicht schaden konnte, dass Jesus für Menschen unangreifbar war (so erzählt er es auch von der Gefangennahme Jesu, dass die Soldaten ihn nicht ergreifen konnten, sondern allein vor seinem „Ich bin's" vor Schreck umfielen und erst als er sich selbst zur Gefangennahme anbot, ihren Auftrag erfüllen konnten). Allerdings steht Jesus ja jetzt vor der letzten Runde des kosmischen Kampfes Gut gegen Böse, Licht gegen Finsternis, der Christus und Sohn Gottes gegen die satanischen Mächte. Und so heißt es: „Nach dem Bissen fuhr Satan in ihn. ... Und als er den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht."
Ein verhängnisvoller Text, der eine schlimme Wirkungsgeschichte, ausgelöst hat: die buchstäbliche Verteufelung des Judas als Verräter Jesu und daran anschließend die Verteufelung der Juden als Mörder des Gottessohnes. Da wurde aus der Überlieferung/Auslieferung des einen, die Auslieferung eines ganzen Volkes durch die Zeiten an mörderische Gewalt, eine furchtbare „Traditionsgeschichte", die mit Auschwitz lange nicht an ihr Ende gekommen ist, wie der Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9.Oktober 2019 bewiesen hat.
Liebe Gemeinde, Jesus hatte 12 Jünger - und als es darauf ankam, da haben ihn alle im Stich gelassen, haben ihn alle verraten, verleugnet. Was sich im Einzelnen abgespielt hat in den letzten Tagen vor der Kreuzigung, das wissen wir nicht. Die Überlieferungen darüber sind teilweise widersprüchlich und geprägt von Erfahrungen sehr unterschiedlicher christlicher Gemeinden im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, Einzelne biblische Gestalten, gerade auch die Jünger, wurden zu willkommenen Projektionsträgern, die gebraucht wurden, um die Gemeinden in Verfolgungssituationen bei der Stange zu halten. Dem Glauben abzuschwören, um dem Tod zu entgehen, das hieß nichts anderes, als Jesus zu verraten, es Judas gleich zu machen, der Jesus verriet und ihn dem Tod auslieferte. Wer wollte schon ein Judas sein?
Wie gesagt: wir wissen nicht, was an den Geschichten um Judas wahr ist und was nicht; es ist viel spekuliert worden über die Motive des Judas. Es bleiben Spekulationen.
Eine davon fußt auf der Überlieferung des Matthäus. Als einziger schreibt er, dass Judas, nachdem das Urteil über Jesus gefällt worden ist, zu den Hohenpriestern geht voller Reue über das, was er da angerichtet hat und den „Handel" rückgängig machen will; aber vergeblich. In seiner Verzweiflung geht er dann hin und hängt sich auf. Der Verräter und Selbstmörder - bei Dante in der „Göttlichen Komödie" landet er damit in der untersten Hölle, geschieht ihm recht.
Wie anders steht Simon Petrus da, der Jesus ja auch verraten hat, dessen Reue vom auferstandenen Jesus aber angenommen wurde und der so Vergebung und Neuanfang erfuhr. Von einer entsprechenden Begegnung des Auferstandenen mit Judas erzählt die Bibel nichts.
Einen mittelalterlichen Steinmetz hat das Schicksal des Judas aber nicht losgelassen und er hat eine wunderbare Überlieferung aus dem Geist Jesu in Stein gemeißelt.
In der Kathedrale Sainte Marie-Madeleine in Vézelay in Burgund findet sich ein Säulenkapitell mit einer einzigartigen und beeindruckenden Darstellung, die aus zwei Szenen besteht. Auf der linken Seite ist Judas zu sehen. Verzweifelt, hilf- und wehrlos hängt er an einem Baum, die Zunge, mit der er den Verrat geübt hat, hängt ihm aus dem Mund. Er hat sich - ausweglos verstrickt in seine Schuld - selbst den Tod gegeben.
Auf der anderen Seite des Kapitells sieht man, wie jemand den toten Judas vom Baum genommen, von seinen Verstrickungen befreit und auf seine Schultern gelegt hat. Nun trägt er ihn - wie ein Hirte das verlorene oder verletzte Schaf - und bringt ihn nach Hause. Kein Zweifel, der Hirte ist der auferstandene Christus. Christus, der den toten Judas aufnimmt, ihn heimholt und annimmt und ihm einen Neuanfang schenkt. Was für eine revolutionäre, mutige und wahrhaft von Jesu Geist getränkte Überlieferung, wahrhaftes Evangelium von der Barmherzigkeit und Güte Gottes, der Jesus sich bis in den Tod verpflichtet fühlte. Sollte er, der dem Schächer am Kreuz einen Platz im Paradies verhieß, dieses seinem Jünger Judas nicht auch ermöglicht haben? Der Steinmetz war jedenfalls davon fest überzeugt - mochten die Theologen und Frommen seiner Zeit es auch anders sehen.
Und wir heute? Wie und mit welchen Geschichten „überliefern" wir Jesus? Tragen wir seinen Geist der Barmherzigkeit und Güte weiter - oder liefern wir ihn aus, verraten wir ihn mit unserer Unbarmherzigkeit und Lieblosigkeit gegenüber denen, die er immer als seine geringsten Schwestern und Brüder bezeichnete, mit denen er sich identifizierte?
Darüber einmal nachzudenken, das könnte sich lohnen in den kommenden Wochen der Passionszeit.
Amen.
Invokavit, 21.02.2021, Stadtkirche, Johannes 13,21-20 (Thematischer Gottesdienst: "Das Jüdische Wiegenlied"), Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Invokavit 21.II.2021
1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland - Gottesdienstliche Musik: „Das jüdische Wiegenlied“[i]
Johannes 13, 21-30
Liebe Gemeinde!
Als die Passion Jesu anfing – in der Nacht des Passamahles, bei dem er Dank sagte und das Brot und den Kelch einsetze, die der ganzen Welt das Leben schenken – … als die Passion Jesu anfing, war Jerusalem überfüllt: Ganz Israel und zahllose herbeigereiste Gäste aus der Diaspora saßen zusammen und feierten die Nacht der Befreiung. Es roch nach den vielen gebratenen Lämmern, es wehte der Geruch der Menschenmenge, ihrer gewöhnlichen Anstrengung und ihrer festlich gereinigten und gesalbten Körper durch die alte heilige Stadt, Murmeln, Lachen, feierlicher Gesang und von abertausend Stimmen verstärkte Gebete hallten über die Dächer, auf denen man in der Abendluft saß, hallten durch die Gassen und von den hohen Plattformen und Zinnen des Tempels: Überall Lichter, Lieder, Lebensfreude.
Und irgendwo dazwischen, in den Polstern der festlichen Passamähler, in Gastzimmern oder den Säulengängen, wo die Pilger übernachten würden, … irgendwo dazwischen war es wie es immer ist, seit Menschengedenken: Mütter hatten ihre Kleinen auf dem Arm, legten das vertraute Kopftuch wie den Vorhang und Schirm eines Heiligtums um müde Köpfchen und Glieder und wiegten ihre Kinder an der Brust in den Schlaf, geschützt, geborgen, eingehüllt in die Sicherheit, die jener Puls und jene Stimme geben, die das Dunkel heimat-friedlich machen.
So sind Kinder immer in die Stille geführt worden, die das neugierige, welthungrige, schutzbedürftige Wachstum braucht: Immer haben Eltern, haben die Alten einen Rhythmus, ein hörbares Geheimnis des nahen Friedens gefunden, der sich in Tönen, Silben, Atemzügen ankündigt, die das Heute zur Ruhe und das Morgen herbeibringen.
In Höhlen und Bunkern, auf endlosen Zügen und in tödlichen Lagern, im Reich der Gewohnheit und in den Verstecken der Todesangst: Das sanfte Lied, das dem neuen Leben jetzt eine Pause und damit Kraft für seine Zukunft schafft, begleitet Menschenkinder unter den unglaublichsten Umständen.
Wiegenlieder erklangen also auch am Gründonnerstag in der berstend vollen, festlich glühenden und summenden Heiligen Stadt: Wahrscheinlich sangen die meisten Mütter ihren Kindern dabei das Lied vom kleinen Lämmchen („Chad gadja“), das noch heute in der uralten aramäischen Muttersprache Jesu am Schluss der Passafeiern endlos, endlos, drollig-traurig, voller volksliedhafter Wiederholungen gesungen wird.
Früher in Nazareth hat Maria das Lamm Gottes zu diesem Lied eingewiegt; in der Nacht, in der seine Schlachtung bevorstand, wiegten andere jüdische Mütter ihre Jüngsten damit … und ahnten nicht, dass diese Neugeborenen den Untergang Jerusalems unter Titus würden erleiden und deren Enkel die endgültige Säuberung des gelobten Landes vom auserwählten Volk und den Anfang des endlosen Exils würden dulden müssen und dass aus denen, die damals auf die Wanderschaft durch das römische Reich und den Orient gejagt wurden, nach siebzig Generationen die Männer, Frauen und Kinder von Auschwitz, Sobibor, Majdanek und Treblinka werden sollten.
Das Wiegenlied der Mütter von Jerusalem, in der Nacht, da Jesus verraten ward, trug und tröstete weiter durch Jahrtausende und ihre Leiden, … und erstickte beinah endgültig erst im Gas, wo sie immer noch die Kleinsten in das Kopftuch gehüllt an der trockenen Brust hielten und ihnen leise oder verzweifelt gellend vorsummten, bis es vorbei war. ———
Von der Feier der Befreiung in Jerusalem bis zur Finsternis von Auschwitz haben also die Wiegenlieder das Volk Israel – wie alle anderen Völker auch – begleitet und trotz unvorstellbarer Leiden immer wieder eine Generation heranwachsen lassen, die überlebte, was die Alten ertragen hatten und weitertrug, was die Alten vorgelebt hatten. ——
Wir aber müssen erschrecken, dass ein Bindeglied zwischen dem Einschlafen der kleinen Passafeiernden damals und dem Auslöschen der späteren Kinder Israels – Gott sei’s geklagt!!! – aus dem Evangelium stammt, ja, aus diesem Bericht vom Anfang der Passion. ———
Ich liebe den Evangelisten Johannes.
Sein Platz am Herzen Jesu ist der Mittelpunkt der Welt.
Doch gerade dieser Herz-Jesu-Evangelist, den ich so liebe, hat mit dem Evangelisten der Gnade - Lukas - das Furchtbare gemeinsam, dass sie beide den Anfang von Jesu Passion in einer schrecklich einfachen Formel zusammenfassen, einer Verbindung, die tödlich werden sollte: „Judas und Satan“ werden von ihnen dabei in einem Atemzug genannt.
… Und wie man es auch dreht und wendet: Die insgesamt drei Verse (Lk.22,3/Joh.13,2+27), in denen der Jünger Judas, der zum Werkzeug eines Heilsplanes wurde, dem wir den Sieg über den Tod verdanken, mit dem Fürsten, dem Prinzip des Bösen verkuppelt wird, haben Jahrtausende verdunkelt.
Dass im vierten Evangelium der ausführliche Bericht darüber, wie Jesus, Johannes und Judas den Verrat, die „Auslieferung“ zur Passion besprechen – das gleiche Wort bedeutet sonst bei den Aposteln übrigens immer die „Überlieferung“, die Tradition –, … dass im vierten Evangelium also der Bericht vom Beginn der Passionstradition mit dem leises Horrorgrauen erregenden Satz schließt „Und es war Nacht“, ist allzu wirksam geworden.
Die rauschende Passanacht der Wiegenlieder über Jerusalem brachte für das Volk Israel durch die Christen eine Finsternis, die jene ägyptische, von der man beim Festmahl gesungen hatte, weit übertraf.
Seither hörten die nichtjüdischen Gläubigen dessen, der damals überliefert wurde und Leid und Tod auf sich nahm, um Tod und Leid zu überwinden, nicht mehr den schönen, prinzlichen Klang des Namens „Juda“ (Ps.60,9).
Sie hörten nicht mehr, wie der alte Name des Jakobssohnes den Löwenmut des Stammvaters (vgl.1.Mose 49,9) mit der Königswürde des Südreiches verband, in dem David mit Jerusalem, mit Zion auf den judäischen Bergen das Urbild der himmlischen Stadt schuf (vgl.Ps.48,12).
Und es half auch nicht, dass der Name Judas unter den Aposteln zweimal vertreten ist und sein anderer Träger – Judas Thaddäus – ein ganz geheimnisvoller und von manchen ganz besonders geliebter Heiliger der Kirche war[ii].
Und es half auch nicht, dass das, was da in der Nacht der Überlieferung, in der Nacht des Passionsanfang geschah, sich auf ausdrückliches Geheiß des Herrn vollzog: „Was du tust, das tue bald“, sagte Jesus … am gleichen Abend, als er mit dem Befehl „Solches tut zu meinem Gedächtnis“ die wirklichkeitstiftendste Wortwirkung aller Zeiten einsetzte.
Und auch das half nichts, dass sich im Bekenntnis des Glaubens, wenn es heißt „gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes“ in der unmittelbaren Fortsetzung dessen, was mit der Passnacht begann, etwas Atemberaubendes andeutet: Wenn der getötete Jesus in das Reich des Todes, in die Unterwelt – die „Hölle“, wie es früher an dieser Stelle hieß – geriet, wen sollte er da als ersten getroffen, mit wem sollte sein Weg sich also am direktesten wieder gekreuzt und verbunden haben, wenn nicht mit dem, der am gleichen Tag, nur wenig vor ihm (vgl.Matth.27,5) ebenfalls gestorben und in die Gottverlassenheit der Hölle gestürzt war?
Aber nichts von alledem – nicht, dass Jesus selbst aus dem Hause Juda (vgl.Heb.7,5) hervorgegangen ist und sein eigener Bruder Judas hieß (vgl.Mk.6,3), noch die Aufforderung des Herrn, noch die letzten Geheimnisse, dass nur Judas beim Abendmahl den Bissen eingetauchten Brotes von Jesus selbst erhielt und nur Judas am Abend des Karfreitag noch da sein würde, wo Jesus war –, … nichts von alledem hat den unglaublichen, erschütternden Satz entschärft: „Und als er den Bissen nahm, fuhr der Satan in ihn“.
Die Christen behielten nur dies: Wer ist in Judas, … dem „Juden“? Satan. Und wo ist Satan? Im „Juden“, … in Judas.
Und nähten es dem jüdischen Volk schwefelgelb auf die Brust.
Stempelten das todbringende „J“ in ihre Papiere.
Plünderten und mordeten durch die Passionszeiten der Jahrhunderte.
Machten die Träume der kleinen Kinder aus dem Volk Gottes zu Albträumen, machten die Wiegenlieder ihrer Mütter darum zu Klagepsalmen …. oder Hymnen des Widerstands, zu therapeutischer Poesie, zu Quellen dessen, was wir heute „Resilienz“, Überlebensfähigkeit, Zukunftstrotz nennen – wie das Wiegenlied für die Verbannten in Babylon, das wir eben aus Jesaja hörten (Jes.49,14–23).
… Oder Wiegenlieder wie das klassische Lied der verwitweten Mutter Zion, die dem kleinen Jüdele im polnischen Ghetto von den Süßigkeiten des gelobten Landes singt; Wiegenlieder wie die ergreifenden Gedichte eines Mädchens aus der Bukowina, das nie Mutter werden sollte und doch in einfachster Form zwischen Eichendorff, Heine und ihrem Vetter Paul Celan den Abgrund eines persönlichen zweitausendjährigen Weltschmerzes besingt, um still werden zu können. ———
Warum wir aber heute noch von den Schrecken und den Kräften reden, die Israel nicht erst seit Jesu Leiden, aber verstärkt durch Jesu Kirche erfuhr? Warum wir das nicht dem Vergehen und Vergessen überantworten, in einer Zeit, die ihren eigenen Verwickelungen und ihren eigenen Wahnsinn kennt und weder Rat noch Erkenntnis aus Vergangenem erhofft? …….
Weil eine Welt ohne Gedächtnis, eine Welt ohne den Trostspeicher und die Bewältigungskunst, die in Wiegenliedern und im Passionsgedenken, im Ausdruck des Verstörenden wie im Beschwören das Tröstlichen liegen, nicht auf Dauer zur Ruhe kommen kann.
Betäuben und Verdrängen – der ganze Schwindel des Erinnerungsverzichtes – lassen die unbehandelten Schmerzen zu seelischen (und nicht nur seelischen) Geschwüren werden, die durch ihre Verkapselung gefährlich bleiben.
Aber wie jedes Drüberreden, wie das Beten, wie das Bekennen, genauso erfüllen echte Schlaflieder das, was ihr Name verspricht: Nicht Flucht in’s Wegdämmern wollen sie sein, sondern die Möglichkeit zur wirklichen Erneuerung durch Nennen und Aussprechen, durch Loslassen und Neubeginn.
Darum sind die alten Wiegenlieder – ehe die La-Le-Lu-Welle der vergangenheitsleugnenden Nachkriegsjahre anbrach – gar nicht nur mondbeschienene Harmlosigkeiten, sondern einfache, beiläufige, darin manchmal auch beinah schockierend ungeschönte Wirklichkeitsbewältigungen.
Sie färben nicht.
Sie legen keinen Schleier über das Ganze dieser Welt.
Indem sie Kinder an der Schwelle des tiefsten Kräftesammelns auf das tatsächliche Leben vorbereiten, machen sie ihnen gerade nichts vor.
„Der Vater ist im Krieg, die Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt“ auf die Melodie von „Schlaf, Kindchen schlaf“: … Das ist ein Grundton der nüchternen Wahrheit, die an vielen Wiegen gesungen wurde, und auch in der eigentlichen Schlafliedfassung aus dem „Wunderhorn“[iii] begegneten die beißenden Hunde und der Tod des Lämmchens noch zu Menschengedenken.
„Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt …“[iv]: Als Kind selbst hat man bei diesen Zeilen vom plötzlichen Kindstod nicht so gezuckt, wie als Erwachsener an den Bettchen der eigenen Kinder.
Aber gerade die Weigerung zu Lügen, der Verzicht auf Illusionen machen den Sinn des Einschlafliedes aus: Nur Schlaf, der die Sorgen an seiner Schwelle wirklich noch einmal gewogen und dann abgelegt hat, ermöglicht Leben in der Welt und nicht im Traumland.
Aus diesem Grund nennt der evangelische Nachtchoral, dem das Wiegenlied entstammt, das auch wir als Eltern abends immer noch beten, den, der sonst kaum angesprochen wird, … den, den auch Johannes genannt hat.
… Nur dass das Wiegenlied Paul Gerhardts mit der Verbindung zwischen dem Teufel und dem armen Judas bricht und daran erinnert, dass das wirklich Böse, die echte Angst, die furchtbare Macht der Schuld und das Unheil, von dem die Welt leider voll ist, Jeden, … jedes einzige Menschenkind betreffen:
„Will Satan mich verschlingen, breit aus die Flügel beide, o Jesu!“ (EG 477,8)
In diesen Zeilen, die das Satanische, Zerstörerische, Grausame nicht als antijudaistisches Zerrbild, sondern als Teil unseres Menschseins, unseres innerlichen wie äußerlichen Bedrohtseins begreifen, wird ein wahrheitsgemäßer Blick auf die Wirklichkeit gewagt.
Genauso soll alle unsere Passionserinnerung, unsere Passionsfrömmigkeit auch sein! So dass sie auch Judas nicht als den Verbrecher, sondern den Gebrochenen, den Angefochtenen, den Verzweifelten sieht, der mit der Wegzehrung, die Jesus ihm auf die Zunge legte, ja mit einem eigenen Sendungswort in das unerklärliche, aber wirkliche Verhängnis der Verkehrtheit, der Sünde in allem Leben und Tun, in allem Leiden und Tod gehen muss.
Es ist schwer, diese ungeschönte Wahrheit auszuhalten, die die Wiegenlieder schon den Kleinsten zumuten: Dass nicht alles aus Wattewolken, sondern vieles aus Dornen und Rätseln besteht.
Aber wie das ehrliche, treue, durch die Stimme und den Puls der Liebe zuletzt beruhigende Lied für die Müden, so wirkt auch die Passionszeit, die jetzt beginnt: Sie zeigt die Welt, wie sie ist.
Sie erspart nichts.
Sie sagt, was Juden und Christen – schuldig und schuldlos – bis heute erleben: „Und es war Nacht.“
Aber indem das nicht vergessen wird, dient das Lied der dunklen Stunden gerade nicht der Finsternis, sondern dem Morgen, dem Tag des großen Wachwerdens und Aufstehens, der kommt.
Denn den Abend lang währet das Weinen, aber des Morgens ist Freude (Psalm 30,6)!
Amen.
Nach der Predigt, anstelle der Fürbitte
Schlaflied
Schlaf, der Tod hält uns umfangen,
Kleines Herz, ruh aus!
Was am Tag die Lippen sangen,
Schwebt noch um das Haus.
Bis die Hähne Morgen singen,
Ist die Nacht noch groß.
Manchem Stern noch mags gelingen
Und er löst sich los.
Leuchtend stürzt er sich hinunter,
Fern erlischt sein Schein.
Schlafe, morgen bist du munter
Und der Tod schläft ein.
(David Goldfeld, [1904 – 1942], 1940)[v]
[i] In diesem Gottesdienst im Rahmen des Themenschwerpunktes „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ sang Clementine Jesdinsky, begleitet von Susanne Hiekel folgende Stücke:
„Rozhinkes mit Mandlen“ von Abraham Goldfaden; „Schlaflied für mich“ und „Lied“ von Selma Meerbaum-Eisinger in den Vertonungen von Felicitas Kukuck; „Du Kind, zu dieser heil’gen Zeit“ von Jochen Klepper (Melodie: Volker Gwinner) – EG 50; „Awinu Malkeinu“ (traditionell synagogal).
[ii] Vgl.: St. Judas Thaddäus – der große Helfer in aussichtslosen Anliegen und gegen Depression und Verzweiflung, zusammengestellt von Sr. Michaela Hutt, Kisslegg-Immenried, 20103.
[iii] (…..) „Schlaf, Kindlein, schlaf / Christkindlein hat ein Schaf, / Ist selbst das liebe Gotteslamm, / Das um uns all zu Tode kam, / Schlaf, Kindlein, schlaf. … Schlaf, Kindlein, Schlaf, / Und blök nicht wie ein Schaf, / Sonst kömmt des Schäfers Hündelein / Und beißt mein böses Kindelein, / Schlaf, Kindlein, schlaf.“ (Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. Achim von Arnim und Clemens Brentano, Vollständige Ausgabe nach dem Text der Erstausgabe von 1806/1808. Mit enem Nachwort versehen von Willi A. Koch, Lizenzausgabe 1991, Darmstadt, S.828)
[iv] Aus Anton von Zuccalmaglios: „Die Blümelein, sie schlafen“, das wiederum seine Weise mit Fr. von Spees „Zu Bethlehem geboren“ teilt und den Blick auf die Wiegenlieder-Tradition des Weihnachtsfestkreises lenkt, die etwa im mittelalterliche Überlieferung gestaltenden Volkslied „Auf dem Berge, da wehet der Wind“ ebenfalls eine echte Konfrontation mit der gar nicht idyllischen Wirklichkeit vermittelt.
[v] Aus: Fäden ins Nichts gesponnen. Deutschsprachige Dichtung aus der Bukowina. Hgg.v. Klaus Werner, Frankfurt/M und Leipzig, 19983, S. 69.
Darstellung Jesu im Tempel, 02.02.2021, Stadtkirche, Lukas 2, 22-40, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Darstellung des Herrn - 2.II.2021
Lukas 2, 22-40
Liebe Gemeinde!
Eine ganz regelrechte „Quarantäne“ haben wir seit Weihnachten nun hinter uns: Vierzig Tage, fast anderthalb Monde, die vergingen, seit die westliche Christenheit die Geburt des Herrn feierte. … Und nun, nachdem unter mehr als trüben winterlichen Verhältnissen ein Neuntel eines Sonnenjahres verstrichen ist, … nun will auch Jerusalem endlich feiern!
Denn darum geht es beim heutigen, erst vor Kurzem in’s evangelische Kirchenjahr zurückgekehrten Fest[i]: Die christliche Gemeinde von Jerusalem, die sich immerhin als Mutter der Kirche fühlen durfte, tat sich schwer, dass das Urereignis in jedem Jahr des Herrn außerhalb ihrer Mauern, 10 Kilometer Richtung Süden seinen festen, feierlichen, hochheiligen Ort hatte.
Weil aber an der Lokalisierung von Weihnachten in der Kirche über der Bethlehemer Grotte weder zu zweifeln noch zu rütteln war, konnte die Mutterkirche im Heiligen Land von Glück sagen, dass die Geburt eines Kindes, erst recht eines männlichen Erstgeborenen nach biblischem Gesetz tatsächlich noch Handlungen im Herzen Israels vorsah: Die Darbringung einer Dank- und Reinigungsgabe am Heiligtum für die aus dem Wochenbett kommende Mutter und die Auslösung des ersten Sohnes am Tempel, der nach uralter Überlieferung von Rechts wegen als Eigentum Gottes zu betrachten war.
Neugeborenes und Wöchnerin sollten also zusammen die Pilgerfahrt nach Jerusalem antreten, so dass die außerordentlichen, völlig kreatürlichen und doch auch tief persönlichen Erfahrungen von Wehen und Geborensein, Mutterschaft und Kindheit ihren Ort nicht nur im Einzelleben, sondern im geheiligten Raum der Gemeinschaft erhielten.
Und weil die Jungfrau und ihr Sohn diesen Weg zu Gott wie alle jüdischen Mütter und Kinder gingen, konnte der Patriarch von Jerusalem im 4.Jahrhundert mit Fug und Recht den Tag am Schluss der Weihnachtsquarantäne, den Tag, mit dem Weihnachten einmal durch das ganze menschliche System hindurchgegangen ist, als hohes Fest auf Zion einsetzen: Mit einer Lichterprozession von den Toren der Jerusalemer Stadtmauer durch die Straßen und in alle ihre Kirchen: Christus – das Licht zu erleuchten die Heiden und zum Preis des Volkes Israel – Christus kehrt zu seiner Darbringung und zur Reinigung Mariens zum ersten Mal im Kreislauf eines Jahres in der Stadt Gottes ein. Christus kommt an’s Ziel: Das war die sinnenfällige Botschaft, mit der die christliche Gemeinde der spätrömischen Jahrhunderte das Fackeln- und Kerzenfest, das man im Rheinland als „Lichtmess“ kennt, in Jerusalem beging. Christus kommt an’s Ziel, schon als Säugling, noch vor allen Taten und Leiden, noch vor Flucht und Verborgenheit, noch vor Wanderschaft und Offenbarung.
Christus kehrt heim zu seinem Vater, in Dessen Haus er sein muss. ——
Eine solche Zionszentrierung unseres Kirchenjahres und unserer Liturgie ist uns heute reichlich fremd; doch bleibt es nötig, uns zu erinnern, dass nichts an unserem Glauben und auch keines unserer Feste unter nördlichem Himmel oder in abstrakter Entfernung zu halb märchenhaften, poetischen Orten der Vorzeit begonnen hat, sondern mitten drin, in echter, auch räumlicher Vertrautheit mit und Kontinuität zu den biblischen Ereignissen.
Wir können also der etwas pikierten Jerusalemer Glucke und Mutter der Kompanie nur dankbar sein, dass auch sie etwas vom Glanz und von der Volksfestfreude der Heilandsgeburt haben wollte, die nach Bethlehem gehörte. Denn diese Ortstradition der Heiligen Stadt schenkt uns – 1700 Jahre später und in wahrlich gewandelten Verhältnissen – die Nachweihnacht dieses Abends. Und mit ihr die Bestätigung, dass Christus tatsächlich und konkret an sein Ziel, … dass er zum Vater und gerade damit und dort auch in die Herzen und sogar die Arme der Menschen kommt.
Zunächst ist die Bewegung vierzig Tage nach Weihnachten nicht anders als jene am vierzigsten nachösterlichen Tag. Darbringung und Himmelfahrt weisen und führen in die selbe Richtung: Christus muss – wie er es zwölfjährig selber gesagt hat – sein in dem, was seines Vaters ist (vgl. Lk2,49). Er gehört in das Heiligtum, in die Heimat, in das himmlische Reich Gottes!
Christus und der Vater: Unmöglich, sie voneinander-, unmöglich sie auseinander zu halten. Wo der eine ist, gehört auch der andere hin. Ihr Daseinsraum, ihre Existenzweise zeigen sich bei der Darbringung des neugeborenen Kindes und der Auffahrt des aus dem Reich der Toten wiedergeborenen Mannes als identisch.
Alle Wege Jesu sind Jerusalems- und also Himmelswege: Wege zur Einkehr in Gottes Gegenwart, … Wege zur Einheit mit Gott.
Doch gerade der erste dieser Gotteswege Jesu, der erste dieser Heimkehrwege des Gotteskindes von Bethlehem zeigt uns – gottlob! – auch ganz leuchtend und wärmend, dass es nicht um Abstand, nicht um soziale Distanz, nicht um Geschiedenheit von uns Menschen geht, wenn der Sohn in das Leben des Vaters eingeht, sondern im Gegenteil:
In Jerusalem, im Haus Gottes steht doch die wartende Menschheit, ergraut vielleicht, viel-leicht kopfschüttelnd belächelt und für lebensuntauglich gehalten in ihrer Sehnsucht danach, dass Gott kommen und sie wieder jung machen möge wie ein Adler.
Über Simeon, den kurzatmigen Todeskandidaten und über Hanna, die schrullige Alte, über diese beiden Vertreter einer aus der Zeit gefallenen Erwartung, dass Gott wirklich und dass er sogar im eigenen Dasein wichtig sein könne, wird man gelächelt haben und sich an die Stirn getippt. Über ihre Einfalt, ihre greisenhafte Sturheit, ihre Demenz, die Dinge wahrnimmt – für „wahr“ nimmt –, die alle anderen weder sehen noch hören können.
… Die armen Altchen. Trottelig wieder geworden wie die Kinder. ———
Aber jeder, der jemals das Fest der Darbringung des Herrn gefeiert hat, … jeder, der wie die Kirche es seit Jahrhunderten tut und ich es jedem unter uns nur herzlich empfehlen kann, seinen Tag beschließt mit dem kurzen, herrlichen Lobgesang des Simeon, … jeder, der weiß, was diesen beiden unbeirrbaren Gotteserhoffern, Heilsherbeiwartern, lebensverlängernd Lebensverlangenden widerfahren ist, kann doch nur heute und immer wieder an die großen alten Wartenden denken und sagen (Ps.84,11): „Lieber will ich die Tür hüten in meines Gottes Haus, als wohnen in der Gottlosen Hütten.“
Denn ihre Erwartung ist in Erfüllung gegangen: Vor allen anderen Taten oder Leiden, vor aller Herrlichkeit und allen Schrecken seines ganzen Weges ist das neugeborene Jesulein einfach und unmittelbar ihnen geschickt worden, damit sie getröstet, damit sie gerüstet, damit sie im Frieden seien!
Herz, was willst Du mehr?
Seele, was suchst du wohl noch?
Mensch, was kannst Du anderes hoffen, als es diesen beiden widerfahren ist?
Den Heiland sehen und sterben. Sterben und den Heiland sehen: Nicht umsonst steht das am Anfang des Evangeliums. Nicht umsonst ist das das erste Geschenk, das das Kind aus der Krippe in die Welt bringt: Der alles andere übersteigende Friede des Herrn strahlt und strömt aus, seit die beiden Alten das kleine Kind auf Erden begrüßen und herzen durften.
Man muss nicht, … vielleicht sollte man auch gar nicht Theologie studiert oder des Pudels Kern oder den Code zum Entriegeln der großen Sinnmaschine des Universums gesucht haben, um das zu erfassen, was da geschieht: Ein Menschenleben ist erschienen, ein einfaches, echtes, gewöhnliches Menschenleben, und auch wenn es seine junge Mutter gewiss erschreckt haben muss, … sie wird nicht bloß hilflos zugesehen, nein, sie wird mit ihrem großen „Ja“ verstanden haben, warum dieses kleine, unscheinbare, welttröstende Menschenleben in zwei alte Arme gelegt werden musste: Dieses Menschenleben ist erschienen denen, die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes (vgl.Lk.1,79).
Und wer dieses Menschenleben empfängt, so wie sie – Maria – es empfangen hat, der kann nur noch singen wie sie, singen wie der selige alte Mann (vgl. Lk1,46ff + 2, 29ff):
„NUNC MAGNIFICAT[ii]
– Jetzt erhebt meine Seele den Herrn,
denn meine Augen haben den Heiland gesehen,
und er hat große Dinge an mir getan
und mich den Frieden finden lassen,
weil er die Niedrigen erhebt
und allen Völkern das Licht bringt,
weil er Abraham und Israel
und Simeon und Hanna
und alle Heiden und alle Müden,
alle Zweifler und alle Verzweifelten,
alle Kämpfenden und alle Wartenden,
alle Hoffenden und alle ohne Hoffnung
in diesem Kind, in diesem Menschenkind hält und erhellt
und niemand je wieder außerhalb dieses Lebens sterben,
niemand je wieder ohne dieses Menschenkind leben wird!“
Es ist so schlicht, es ist so einfach … dieses unendliche Geschenk der Darbringung des Herrn.
Man kann es verstehen, wenn man es bloß sieht, und man wird darüber hinaus nicht klüger, wenn man es auch noch so oft durchdenkt und durchdreht: Dieses Menschenleben, das da am Ort Gottes ist, dieses Menschenleben, das zu Gott gehört und das gerade darum in die ausgebreiteten Arme eines Fremden gelegt wird, ist das Ziel jedes Weges, ist der Sinn aller Dinge. ———
Die orthodoxe Kirche, die in der Tradition der Jerusalemer Anfänge das Fest dieses Tages als das „Fest der Begegnung“ zwischen dem Christuskind und der Menschheit feiert, wacht in ihrer Ikonentheologie eifersüchtig über das Mysterium der Fleischwerdung, das alles zudringliche Begreifen und plumpe Betasten übersteigt. Orthodoxen Christen ist darum vieles von unserer rührseligen und berührseligen Weise, uns Weihnachten zu nähern, verdächtig … läppisch, oberflächlich vielleicht. Einfach einen Stall, eine Landschaft nachzubauen, in denen wir uns die Geburt und Wirklichkeit Christi sizilianisch oder alpenländisch oder rheinisch vergegenwärtigen und einbilden, zu Weihnachten gehörten eben das Maskottchen unseres Lieblingssports oder die Mülllabfuhr unserer Stadtwerke dazu[iii] – wie es an traditionsreichen Krippen in Köln der Fall ist –, würde den Christen des Ostens und des Orients furchtbar widerstreben. Für sie ist es ganz unsinnig und unvorstellbar, ja lästerlich den fleischgewordenen Sohn des Vaters so unbekümmert einfach in Beschlag und Besitz zu nehmen, weshalb auf den Bildern, die sie kennen, eigentlich nur die Mutter – die Gottesmutter, wie es die Kirche in Ost und West seit dem 5. Jahrhundert bekennt[iv]! – das Kind hält und berührt.
Doch das heutige „Fest der Begegnung“ – bei dem auch wir jetzt keine malerische Krippe mehr vor Augen haben, sondern vor allem das reine Licht, das in diesen Tagen am Himmel nun wieder so eindeutig zunimmt und wächst – … das heutige Begegnungsfest also bringt allerdings die Ausnahme auf den Ikonen: Simeon, der das Menschenkind voller Gottesleben, das Gotteskind in seiner Menschenwirklichkeit im Haus des Vaters begrüßt, er darf es auch ehrfürchtig und selbst überschwänglich berührt halten. Er darf dies Kostbarkeit dieses Lebens, das Gottes ist, auf den Händen tragen. Und heißt darum: „Simeon, der Gottesempfänger“.
Denn er zeigt und verkörpert es für uns alle:
Christus, der da ist, wo sein Vater ist, kommt an’s Ziel!
Wenn wir ihn – den Glanz, den die Augen unseres Herzens auch da schauen, wo kein Weihnachtslicht mehr brennt – … wenn wir ihn mit den Augen der Seele, den Armen des Glaubens, der Empfänglichkeit unseres Herzens fassen, dann ist er wirklich angekommen: Christus bei Gott, Christus bei uns.
Christus, in dem die Verbindung besteht, … das Licht, das die Heiden heimführt nach Jerusalem, zum Preis Israels, in das Reich, in die Gegenwart, in das Leben des Vaters.
Amen.
[i] Zur Wiederaufnahme des Festes der „Darstellung Jesu im Tempel (Lichtmess)“ in das von der Liturgischen Konferenz der EKD 2018 herausgegebene Perikopenbuch (dazu aaO S. XXVf) heißt es auf den kommentierenden Seiten zwischen S. 568 und 569: „Im protestantischen Bereich ist der Gedenktag kaum verankert. Mit der jüngsten Perikopenrevision hat er allerdings auch im evangelischen Kirchenjahreskalender seine Funktion als Schwelle zwischen der weihnachtlich geprägten Epiphaniaszeit und die Kar- und Ostertage ankündigenden Vorpassionszeit zurückerhalten.“ AaO auch einiges zur liturgiegeschichtlichen Einordnung des Tages. Vgl. dazu außerdem: Karl-Heinrich Bieritz, Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart, München 19882, S.207ff.
[ii] Das „Magnificat“ - der Lobgesang Mariens - ist seit jeher der Vesper zugeordnet und das „Nunc dimittis“ - Simeons Lobgesang - der Komplet: Die Abend- und Nachtgebete der Kirche sind also zugleich Gebete aus dem Kindheitsevangelium und darum voller Lebensbejahung, zu der auch die Bejahung des Sterbens gehört, das dem Leben keinen endgültigen Abbruch mehr tun kann.
[iii] So zu sehen an den Krippen von St.Maria im Kapitol und des Doms zu Köln!
[iv] Dies einer der wichtigsten Beschlüsse des dritten ökumenischen Konzils der alten Kirche, das 431 in Ephesus zusammentrat und im Streit verschiedener Schulen der Schriftauslegung u.a. feststellte, dass Maria „Theotokos“ - „Gottesgebärerin“ - zu nennen sei, um die Konsequenz der vorhergegangenen Konzilien zur christologischen Zwei-Naturen-Lehre ausdrücklich zu benennen. Das III. ökumenische Konzil gehört zu denen, die auch in den Bekenntnissen der reformatorischen Kirchen allgemein anerkannt worden sind.
Letzter Sonntag nach Epiphanias, 31.01.2021, Stadtkirche, 2.Petrus 1,16 - 21, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Letzter n.Epiphanias 31.I.2021
2.Petrus 1, 16-21
Liebe Gemeinde!
Das Mutigste, was der neue amerikanische Präsident bisher getan hat, findet sich in seiner Ansprache zur Amtseinführung. Er hat den – nicht bloß von seinem gewissenlosen Vorgänger, sondern ebenso von der ganzen sich für postmodernen haltenden westlichen Welt verächtlich gemachten – Satz gewagt: „Es gibt Wahrheit – und es gibt Lügen!“[i]
Wer kann denn heute einen solchen Satz sagen, obwohl wir alle doch vom Verdacht vergiftet sind, dass jede Aussage und jede Perspektive, dass jedes Prinzip und jede Forschung nur als Ausdruck eines bestimmten Interesses, einer subjektiv motivierten Absicht zu deuten seien?!
„Es gibt Wahrheit – und es gibt Lügen!“
Wer kann denn heute einen solchen Satz sagen, obwohl wir umgekehrt alle von der vermeintlichen Toleranz beseelt sind, die jede Anschauung und jede Phantasie, jede Meinung und jeden Spleen als persönlich und darum auch persönlich gültig schützt, seit wir „Wahrnehmung“ statt Wahrheit als den menschlichen Maßstab nehmen?!
Die Wahrheit hat ausgedient. Das Denken hat sich von ihren und ähnlichen Diktaten befreit und dient – toleriert und gleichzeitig verdächtigt – keinen heiligeren Motiven als Neigungen und Interessen Einzelner. Größeres, Allgemeingültiges, Beständiges bekümmert und verpflichtet grundsätzlich niemanden mehr.
… Zum Glück beschreibt diese teils aggressive und teils progressive Gleichgültigkeit nicht alle gleich gültig. Es gibt immer noch die Wissenschaft und Medizin, die sich dem Anspruch reiner Objektivität verschreiben. Und es gibt Menschen in Politik, Wirtschaft und Justiz, in der Kunst und in der Kirche, die das vertreten, was allen gilt und frommt, und ebenso das, was alle zügelt und begrenzt, weil es nicht in’s Belieben gestellt ist, sondern übergeordnet und unantastbar bleibt, solange irgendjemand ein Gewissen, Augen im Kopf und einen demütigen, nüchternen Geist hat. … Doch dass die Annahme klarer Wahrheit im Gewaber der eigen-mächtigen Meinung und im Nebel gegenseitigen Misstrauens verschwimmt und so an Orientierungskraft verliert, ist leider kaum zu bestreiten.
… Daher muss man tatsächlich fragen, ob es denn überhaupt stimmt, dass es Wahrheit und dass es Lügen gibt? Bringt eine solche Ansage nun endlich eine Rückkehr zur Vernunft oder ist sie doch bloß eine Vereinfachung, die sich einen schlichten, sittlichen Anschein gibt?
… Ist an der Idee von Wahrheit überhaupt etwas Wahres dran?
… Oder lügt, wer von der Wahrheit redet?
… Und sagt die Wahrheit, wer behauptet, alles sei zuletzt doch wohl nur Lüge?
Diese Fragen – auch wenn sie uns schwindelig machen – müssen wir Christen uns immer wieder stellen. Damit wir eines nicht werden … oder sind … oder bleiben: Fertig. ——
Fertige Leute, die alle Antworten haben, denen klar ist, wo lang und wie’s geht, die im Besitz letzter Erkenntnis und unangefochtener Sicherheit sind, … fertige Leute sind tot oder tödlich. Und die Gefahr, dass ausgerechnet wir Christen – die Gemeinde des Auferweckten! – eine solche abschließende, todesstarre Gestalt unbeweglicher Gewissheit annehmen, ist immer wieder eingetreten. Die Versuchung ist ja auch groß, uns vollständiges, lückenloses Bescheidwissen einzubilden: Sind wir doch die einzige Religion, die Gottes Geburtsdatum kennt und darum auch gleich Gottes Buchhaltung mitmacht, indem sie die eigene Zeit praktischerweise einfach seit Seiner Geburt rechnet und auch sonst auf so vertraut erleuchtetem Fuß mit Gott steht, dass wir Ihn den „lieben“ nennen und Ihn, weil Er Mensch geworden ist so verniedlicht haben, dass Er gar kein Eigenleben mehr behält, sondern läuft, wie wir Ihn aufziehen und lässt, was wir Ihm nicht zutrauen. Wir Christen können vor lauter angeblicher Glaubensgewissheit durchaus dem Trugschluss erliegen, Gott sei eine bekannte Größe, ein erforschter Kontinent, ein gelöstes Rätsel, ein abgeschlossener Fall.
… Doch dadurch verpassen wir alles.
Weshalb es buchstäblich ein Geschenk Gottes ist, dass wir immer – wenn wir denn die Bibel ernstnehmen und nicht nur unsere Gewohnheit! – offenen Fragen begegnen und einer bleibenden Freiheit, sobald wir Israel und seine Bibel, sobald wir das Alte Testament und das jüdische Volk hören.
Die unendliche – buchstäblich: niemals beendete – Spannung, Hoffnung und Verheißung, die uns in den hebräischen Schriften und im lebendigen Judentum entgegentreten, bewahren eine hörende, fragende, suchende Christenheit vor der Trostlosigkeit der Fertigen. … Denn das ist Israel nie gewesen und will es und wird es in dieser Welt auch nicht werden: Ein Volk, dessen Werk erledigt, dessen Botschaft überbracht, dessen Wahrheit unangefochten geteilt und praktiziert würde.
Doch eben deshalb ist Israels Zeugnis und Vorbild für alle Zeiten auch so herausfordernd, so aufregend und beschämend, so befremdlich und so existentiell: Menschen, die mit Gott nie abgeschlossen haben, die nie etwas Geringeres als Seinen Willen suchten und dabei nie eine einheitliche, sondern stets eine vielfältige, konkrete, umstrittene Antwort übten auf die Frage, die die Philosophen auf den Zuschauerrängen und in den Hörsälen sich so lebensfern und ungefährlich stellen: „Was ist Wahrheit?“
Israel dagegen hat immer den Kopf hingehalten, um ergriffen und geistreich zu erforschen und kritisch und beharrlich zu insistieren, was der Wille Gottes sei und wie er sich – angefangen bei den unentbehrlichen Zehn Geboten – erfüllen lasse im Alltag der Welt.
Israel hat den Kopf hingehalten und nach Wegen der Freiheit, nach Wegen der Gerechtigkeit, nach Wegen der Ethik gesucht, weil das seine schrecklich herrliche Erwählung, sein tödlich heilsames Lebenswerk ist.
… Christen – zumal seit der Reformation – begnügten sich damit, Gottes Wort zu glauben.
Die Juden dagegen haben es beglaubigt. —————
Das alles sollten wir bedacht haben, wenn wir den geheimnisvoll wunderbaren Abschnitt aus dem 2.Petrusbrief betrachten, mit dem heute die Epiphanias-Zeit, die Zeit des weihnachtlichen Glücks zu Ende geht:
2. Petrus 1, 16 -21
„Wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln“, … wir sind keinen philosophischen Systemen oder Mythen gefolgt, als die Kraft und das Kommen Jesu Christi zum Wendepunkt unseres Lebens wurden: So hält es der Verfasser dieses Briefes fest, in dem manche einen ganz späten Nachzügler innerhalb des Neuen Testaments und andere den ersten Jünger und das Haupt der Apostel erkennen. So oder so aber – ob der Brief nun zu den ursprünglichsten oder den letzten Zeugnissen des Neuen Testaments gehört – … so oder so erstaunt es allerdings, worauf sich die Überzeugung gründet, dass Jesu Kraft und Kommen schlichtweg entscheidend sind.
Denn der Kristallisationspunkt, der Energieausbruch, durch den die Glaubensahnung der Jünger fest und ihre Messiashoffnung belastbar gemacht wurde, war die Verklärung Jesu auf dem Berg, bei der den neutestamentlichen Zeugen – so macht der 2.Petrusbrief es unmissverständlich klar – die zuverlässigste Beglaubigung zuteilwurde: Das Wort des Vaters, dass Jesus sein geliebter Sohn sei und das Licht der prophetischen Zeugen, die dabei aufstrahlten. Mose und Elia – so berichten es die Evangelien –, der Lehrer der Torah und der glühendste ihrer Deuter waren leibhaft zugegen in der Stunde, in der der Christus-Glaube, der christliche Glaube in Simon Petrus, in Jakobus und in Johannes aufflammte (vgl. Mk. 9,2-13 // Matth.17,1-13 // Lk.9,28-36)
Diese maßgeblich, diese prinzipielle Bindung des christlichen Glaubens an die beiden treuen Zeugen des Mose-Bundes, die Jesus bei seiner Verklärung das unauslöschliche Siegel ihres wechselseitigen, ihres dreiseitigen Einvernehmens – zwischen Gesetz, Propheten und Evangelium – verleihen, ist ein viel zu lange vergessener, verleugneter, verdrängter Grundsatz der Bibel: Nicht, was der erste Apostel oder letzte Zeuge des Neuen Testaments, … ja, überhaupt nicht das, was die christliche Überzeugung über ihn sagen würde, sondern das Licht Israels entscheidet, wen wir in Jesus Christus sehen!
Umso fester haben wir das prophetische Wort!, bekräftigt die heutige Epistel: Umso ernster nehmen wir das Vorbild und den Auftrag Israels, die in Jesus Christus kristallisiert, nein, gerade nicht, sondern …Fleisch geworden sind, … das Vorbild und den Auftrag, Gottes Willen, Gottes Gebot und Gerechtigkeit zu erfüllen und im Leben der Menschheit zu verwirklichen.
Das ist die Quelle der Autorität, auf die sich mit dem 2.Petrusbrief das Neue Testament abschließend beruft.
Das ist das wahre Licht, das Licht der Wahrheit, in dem die, die den Aposteln nachfolgen und nacheifern wollen, ihren Herrn erkennen und bekennen sollen: Die prophetische Predigt, die Mahnung, die Hoffnung, dass es zur weltweiten und endgültigen Aufrichtung des lebendigen und gelebten Bundes kommen wird, den Gott im Gesetz Seiner Gerechtigkeit mit Israel geschlossen und in Jesus Christus für alle Völker eröffnet hat. ————
Wenn wir das als den Maßstab, als das praktische Kriterium der Wahrheit begreifen, was ein Nathan und ein Elia, ein Jesaja und ein Jeremia zu sagen hatten, dann werden wir den Morgenstern, das Licht des Reiches Gottes aufgehen sehen!
Das ist das Ziel und Vermächtnis des Simon Petrus nach dem zweiten Brief, der seinen Namen trägt, und es ist ein Ruf zu Mut und Klarheit, wie sie uns selten zu Gebote stehen!
… Denn das prophetische Wort ist das Wort eines lästig unerbittlichen Rufes zu heiliger Ethik und sozialer Moral, … eines Rufes, getrieben vom Heiligen Geist in Gottes Auftrag:
Das prophetische Wort ist die Strafandrohung, die Nathan dem selbstgefälligen König David (vgl.2.Samuel 11+12) und Elia den wachstumsvergötzenden Baalsjüngern in Israel entgegenhielt (vgl. 1.Könige 17ff).
Das prophetische Wort ist die schonungslose Abrechnung des Amos mit den Gierigen und des Hosea mit den Verlogenen in der Gesellschaft.
Das prophetische Wort ist der Traum des Joel von der Freiheit des Geistes und die dem Jona persönlich widerfahrene Bloßstellung unserer Engigkeit.
Das prophetische Wort ist die Herausforderung der Gewalt durch den Glauben, die Jesaja predigte; die Vision vom waffenlosen Frieden, die Micha bewegte; es ist die als Pessimismus verhasste Weitsicht des Jeremia und es ist Hesekiels heilende Utopie von wirklicher Gottes-nähe im Irdischen.
Das prophetische Wort ist die scharfe Schonungslosigkeit Obadjas beim Blick in die Welt und die klagende Dünnhäutigkeit Habakuks; es ist der Zorn Nahums und die Angst des Zephanja.
Das prophetische Wort ist die Befreiungstheologie Haggais und die radikale Liebe zur Gottesherrschaft, die Sacharja erfüllte.
Das prophetische Wort ist schließlich die endzeitliche Bereitschaft zum Gehorsam, die Daniel lebte und die erschreckende, beflügelnde Erlösungsbereitschaft Maleachis. ———
Das prophetische Wort, das in der Dunkelheit den Morgen erhellt, der mit Jesus Christus für immer angebrochen ist, weist uns also tatsächlich zur Wahrheit!
Und zwar nicht zu einer Wahrheit, die man behauptet, mit der man argumentativ oder theoretisch Recht behält und die die Dinge nach unserem Gutdünken zähmt und ordnet, sondern das prophetische Wort, durch das Jesus Christus beglaubigt und wir erleuchtet werden, weist in praktische, gelebte, gehorsam und unendlich zuversichtlich geübte Einwilligung und Einbindung in den Bund und Willen Gottes; … und damit über alles Einzelinteresse hinaus auf das für alle für immer Gültige!
Es sagt und verpflichtet uns, dass die Wahrheit Gottes keine leere Figur der Rhetorik – aus eigener Auslegung und menschlichem Willen hervorgebracht – , sondern Form und In-halt unseres gesamten Daseins sei und dass es darum tatsächlich nicht angeht, zu verachten oder zu verschachteln, was wirklich geboten und gut ist: Das Leben, über das Gott gebietet, ehrfürchtig zu schützen; die Schöpfung, die Er mit uns teilt, endlich als Spiegel Seiner Herrlichkeit vor der Vergewaltigung zu verteidigen und echte, soziale, ökonomische Gerechtigkeit in der Welt herbeizuführen, weil nur eine Menschheit, die bereit ist zur Liebe, der gerechten Strafe Gottes entgehen kann.
Wenn wir dieses prophetische Wort festhalten und am dunklen Ort darauf achten, wird der Morgenstern nicht nur in unseren Herzen aufgehen, sondern für die ganze Welt nicht ewig auf sich warten lassen.
Das ist der Weg der Wahrheit, der Weg Jesu Christi, … dessen Jünger und dessen Kirche dem Licht, das Israel voranträgt und das sich in Jesus verleiblicht und verklärt hat, ehrfürchtig folgen.
Bedenken wir das, so erkennen wir, dass nicht nur ein Satz in der amerikanischen Politik der letzten Tage von wirklicher Leuchtkraft erfüllt war, sondern auch eine Gnade, die der deutschen Politik widerfahren ist, als am Mittwoch (27.Januar: Gedenktag der Shoah) in einem Raum des Bundestages der Schluss der Torah in die gerettete Sulzbacher Schriftrolle[ii] eingetragen wurden, die von den höchsten Vertretern dieses Staates gehalten wurde. —
Und wenn wir das Wort nicht nur mit der Hand, sondern mit dem Leben halten, dann werden wir in Wahrheit seine Jünger sein … nie fertig mit Gott, aber durch und für Ihn frei zum Leben in Ewigkeit (vgl.Joh8,31)!
Amen.
[i] „There is truth and there are lies”. Vgl. https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2021/01/20/inaugural-address-by-president-joseph-r-biden-jr/ (Aufgerufen am 30.01.2021)
[ii] https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/die-letzten-acht-buchstaben/ (Aufgerufen am 30.01.2021)
3.n.Epiphanias, 24.01.2021, Mt.25,34-46, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Schwestern und Brüder,
welche Überschriften die Historiker einmal dem gerade begonnenen Jahr 2021 geben werden, mit welchen Themen es in den Geschichtsbüchern auftauchen wird, das wissen wir heute noch nicht. Ob es das Jahr des Impfsieges über die erste Pandemie des 21.Jahrhunderts sein wird ... keine Ahnung. Aber es wäre schön, wenn es für uns zu einem Jahr der Barmherzigkeit wird - inspiriert von der Jahreslosung „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist." Barmherzigkeit, ein altes, aber keineswegs antiquiertes Wort, ein Wort voller Schätze, die verborgen sind und entdeckt werden wollen.
Ich möchte Sie heute auf eine solche Schatzsuche mitnehmen.
Sie kennen sicher alle die Redewendung von den „Sieben Werken der Barmherzigkeit". Der biblische Bezug findet sich im Matthäusevangelium im Gleichnis vom großen Weltgericht (Mt.25,34-46). In diesem Gleichnis macht Jesus deutlich: ob der Mensch seine Seele, seine Menschlichkeit rettet, das entscheidet sich daran, wie er sich gegenüber den Ärmsten der Armen, gegenüber denjenigen, die ganz unten sind, verhält, mit denen Jesus sich identifiziert: alles entscheidet sich daran, ob einer die Hungernden gespeist, den Durstigen zu trinken gegeben, die Nackten bekleidet, die Fremden aufgenommen, die Kranken und die Gefangenen besucht hat. Wer genau nachgehalten hat, wird festgestellt haben, dass das nur 6 Werke der Barmherzigkeit sind. Nun, die mittelalterliche Tradition hat mit Bezug auf das Buch Tobit (Tob.1,17-20) noch ein Werk hinzugefügt: die Toten bestatten - was gerade in Krisenzeiten wie während der großen Seuchenzüge der Pest, aber auch in Kriegs- und Nachkriegszeiten alles andere als selbstverständlich war, wo jeder nur an sich dachte, an seine Sicherheit, an sein Überleben. Es hat Bruderschaften und Orden gegeben, die sich gerade diesem Dienst der Barmherzigkeit gewidmet haben.
Bei manchen Beerdigungen, den sogenannten Sozialbeerdigungen, wo der Verstorbene mittellos ist, es oft keine Angehörigen gibt und auch keine Bekannten und Freunde und ich als Pfarrerin alleine hinter dem Sarg aus rohem Fichtenholz hergehe, da habe ich mir immer wieder gedacht: wir bräuchten sie dringend auch in unserer Zeit, solche Bruder- oder Schwesternschaften, Menschen, die wenigstens mit dem Geistlichen zusammen am Grab ein Vaterunser beten.
Die Hungernden speisen, den Durstigen zu trinken geben, die Nackten bekleiden, die Fremden aufnahmen, die Kranken besuchen, die Gefangenen besuchen, die Toten begraben - Werke der Barmherzigkeit.
Im 14.Jahrhundert wurden diesen 7 leiblichen Werken der Barmherzigkeit noch weitere 7 geistliche Werke der Barmherzigkeit an die Seite gestellt:
- Die Unwissenden lehren
- Die Zweifelnden beraten
- Die Trauernden trösten
- Die Sünder zurechtweisen
- Den Beleidigern gerne verzeihen
- Die Lästigen geduldig ertragen
- Für die Lebenden und Verstorbenen beten.
So wichtig die leiblichen Werke der Barmherzigkeit sind, so wichtig sind auch die geistlichen Werke, ja sie fordern uns sogar als Einzelne manchmal noch mehr heraus.
Schauen wir uns drei dieser geistlichen Werke einmal etwas näher an.
Die Unwissenden lehren:
Bildung, das ist viel mehr als sich Wissen aneignen, um ein Top-Abitur hinzulegen, um studieren zu können und dann Karriere zu machen.
Bildung, das meint Einsichten vermitteln, um die Welt zu verstehen, nicht nur mathematisch-naturwissenschaftlich, sondern als gemeinsame Heimat und Lebensgrundlage aller Lebewesen, heißt Einsicht bekommen, wie alles zusammenhängt, wie wir voneinander abhängig sind und einander brauchen, nicht nur um zu überleben, sondern auch um erfüllt zu leben. Bildung in diesem Sinn betrifft nicht nur den Geist, die kognitiven Fähigkeiten des Menschen, sondern auch sein Herz. Der Apostel Paulus sagt mit recht: Wenn ich alle Erkenntnisse hätte, alles Wissen der Welt und hätte keine Liebe, kein Herz - es würde mir nichts nützen. Ja, es kann mir und allen anderen dann sogar massiv schaden, wie wir spätestens seit der Zündung der ersten Atombombe 1945 wissen.
Die Unwissenden lehren: da geht es nicht nur um Schulpolitik, da sind nicht nur die Kinder im Blick, sondern Menschen aller Altersstufen. Wir haben nie „ausgelernt" und das ist eigentlich wunderbar. Wir können immer noch etwas Neues erfahren, unsere Welt immer besser verstehen lernen, nicht nur biologische und physikalische Zusammenhänge, sondern auch die Hoffnungen und Sehnsüchte der Menschen anderer Religionen und Kulturen, ihre Einsichten, die sie in ihren heiligen Schriften und religiösen Traditionen festgehalten haben - Gottes geliebte Kinder wie wir.
Bildung heute hat vor allen Dingen die Aufgabe, den Menschen Wertschätzung anderen Kulturen gegenüber zu vermitteln, die Liebe zur Schöpfung, zur Natur und all ihren Geschöpfen, die demütige Einsicht in unsere Grenzen, die Bereitschaft, es sich in diesen Grenzen genügen zu lassen - nicht als Zumutung, sondern als Zukunft eröffnenden Segen.
Instrumentalmusik
Die Sünder zurechtweisen:
Dieses vierte geistliche Werk der Barmherzigkeit klingt oberlehrerhaft. Oft haben Menschen gelitten unter den Zurechtweisungen der kirchlichen Oberlehrer. Noch im letzten Jahrhundert haben sie eher die Friedensfreunde zurechtgewiesen als die Kriegslüsternheit, eher die Streikenden als die Blutsauger. Tanz und Kinobesuche wurden zur Sünde erklärt, die Lektüre gesellschaftskritischer Bücher - aber nicht der Größenwahn und die Verschwendungssucht der Herrschenden, die Kolonisation und die Versklavung und Ausbeutung von Millionen Menschen. Da wurde in den Schlafzimmern geschnüffelt und die Menschen von ihrem Glück abgehalten.
Und doch gehört es zur prophetischen Aufgabe einer Kirche in der Nachfolge Jesu, dem Unrecht in den Weg zu treten - also die Blutsauger zurechtzuweisen, diejenigen, die meinen, alles in der Welt sei eine Ware zum Kaufen und Verkaufen, alles sei da, damit man es sich aneignen kann zum eigenen Vorteil und Gewinn: Wohnraum und Ackerflächen, Medikamente und Impfstoffe, Wasser und Urwälder, Tiere und Pflanzen, Mineralien und Rohstoffe - die Arbeitskraft der Menschen und selbst den Sand in der Sahara.
In der Bibel gibt es viele Geschichten von mutigen Propheten, die dem Unrecht im Namen Gottes entgegengetreten sind. Eine steht im 2.Buch Samuel.
König David begehrt Batseba, die Frau seines Feldherrn Uria. Er will sie unbedingt für sich haben und sorgt dafür, dass Uria aus einer Schlacht nicht lebend nach Hause kommt. „Dem Herrn aber missfiel, was David getan hatte", heißt es in Kapitel 11, Vers 27. Gott sendet den Propheten Natan zu David, und der erzählt ihm - wenn auch verschleiert - die Geschichte seiner eigenen Untat. Er erzählt von zwei Männern, einem reichen und einem armen. Der Reiche hatte viele Schafe und Rinder, der Arme nur ein einziges kleines Lamm, das er liebte und nährte. Zum Reichen kam ein Gast, dem er ein Mahl bereiten wollte. Er brachte es aber nicht über sich, von seinen eigenen Schafen und Rindern eines für das Festmahl zu schlachten, sondern er nahm sich das Lamm des Armen. Als er das hört, wird König David zornig und ruft: „Der Mann, der das getan hat, verdient den Tod!" Da antwortet Natan: „Du selbst bist der Mann!"
Seine Sünde ist für den König selbst zunächst nicht erkennbar. Macht scheint sich alles erlauben zu können, ohne dass sie zur Rechenschaft gezogen wird. Macht hat selten ein Unrechtsbewusstsein.
Das ist heute nicht anders. Ein Beispiel: unter den Superreichen hat ein Wettkampf darum begonnen, wer die längste und teuerste Yacht besitzt. Um die 800 Millionen Euro ist schon für ein einziges Boot ausgegeben worden: edles Teakholz, Tapeten aus Reptilienhaut, Liegen aus weißem Kalbsleder, vergoldete Armaturen, Luxuskabinen, 2 Hubschrauberlandeplätze. Auch hier wird munter das Lamm des kleinen Mannes und der kleinen Frau gestohlen, wird das Brot der Armen für den eigenen Luxus verschwendet. Und das Schlimmste: das ungeheure Unrecht wird als Unrecht nicht erkannt. Es maskiert sich als Recht: Es ist doch mein Geld, das habe ich doch verdient und kann damit machen, was ich will - werden Leute wie sie sagen. Diese Menschen handeln damit nicht gegen ihr Gewissen; sie haben kein Gewissen. Es ist ihnen verloren gegangen, begraben unter ihren eigenen Interessen. Das Gewissen orientiert sich nämlich am Interesse der Gemeinschaft.
Liebe Gemeinde, das, was sich bei den Superreichen so klar erkennen lässt, das betrifft aber grundsätzlich auch die Armen und natürlich auch uns Mittelständler. Auch wir laufen permanent Gefahr, unsere eigenen Interessen über die der anderen zu stellen: das jüngste Beispiel - die Impfdosen gegen Covid-19. Da können wir hören: warum gibt es für uns Deutsche nicht viel mehr Impfdosen; schließlich haben doch Deutsche das Mittel erfunden, also haben wir das erste Anrecht. Und ähnlich heißt es anderswo: America first, Britain first. Da ist es bitter nötig, dass Propheten ihre Stimme erheben - seien es Politiker oder Geistliche, Gewerkschafter oder Studentinnen, Wissenschaftler oder Mediziner, dass Menschen ihre Stimme im Namen der Menschheit, im Namen Gottes erheben und zurechtweisen: „Was hast du, Mensch, das du nicht empfangen hättest?" (1.Kor.4,7) Was du hast, das gehört nicht dir, sondern es ist dir geliehen, anvertraut, damit du es einsetzt für das Leben, für alle. Was hast du, was nicht allen anvertraut ist als Gabe des Schöpfers, als Gabe des Lebens? Der Segen liegt nicht auf dem Ich, sondern auf dem Wir. Mir geht es nur gut, wenn es dir gut geht, wenn es uns gut geht. Legen wir alle miteinander und jede und jeder für sich immer wieder unsere Gewissen frei, frei vom Schutt der vielen Ich und Mein und erleben das befreiende Glück von Wir und Unser, können so Verbundenheit und Gemeinschaft erleben, was uns helfen wird, viel besser mit allen Krisen und Gefährdungen, denen unser Leben nun einmal auf dieser Welt ausgesetzt ist, umzugehen und sie zu bestehen.
Instrumentalmusik
Für die Lebenden und Verstorbenen beten:
Das siebte geistliche Werk der Barmherzigkeit kann leicht missverstanden werden. Es geht nicht darum, dass hier ein gutes Werk getan wird, dass zum Beispiel für Kranke gebetet wird, damit sie gesund werden oder für Verstorbene, dass sie in den Himmel kommen. Wobei ich zugestehen will, dass viele das genauso denken und entsprechend tun.
Für mich hat sich da ein anderes Verständnis aufgetan.
Für andere beten: wenn ich für andere bete, dann heißt das erst einmal, dass ich vor Gott an sie denke, dass ich mit Gott über sie ins Gespräch komme. Mit „unserem" barmherzigen Vater. Ihm kann ich den oder die andere ans Herz legen - mit allen Hoffnungen, die ich für sie oder ihn und auch für mich und damit für uns habe. Vor ihm kann ich auch die Verletzungen benennen, die ich durch den anderen erfahren habe oder die ich ihm zugefügt habe. Geborgen an seinem Herzen kann ich die Verknotungen unserer gemeinsamen Geschichte ansehen und auflösen, auch wenn das oft schmerzliche Erkenntnisse über einen selbst zutage bringt; auf jeden Fall können so neue Einsichten und ein neues Verständnis auch für den anderen Menschen gewonnen werden. So kann sich ein neuer Zugang zu dem anderen auftun, auf jeden Fall aber ein entspannterer Umgang mit ihm - und mit mir selbst.
Und das betrifft auch noch die Verstorbenen. Sie sind ja nicht aus unserem Leben verschwunden. Sie gehören weiter zu uns, zu unserer Geschichte. Sie begleiten uns, ob uns das bewusst ist oder nicht.
Wer für die Verstorbenen betet, der betet immer auch für sich. Auf jeden Fall bringt er sie mit sich ins Gespräch mit Gott. Es tut einfach gut, vor Gott über die gemeinsame Geschichte nachzudenken. In Gottes Gegenwart noch einmal dankbar alles zu erinnern, was gut war. Aber auch das zu benennen und anzusehen, was nicht gut war, wo der andere einem etwas schuldig geblieben ist oder wo man selbst etwas versäumt hat. Wer das vor dem barmherzigen Gott tut, wer sein Herz vor dem Herzen Gottes ausschüttet, nicht nur einmal, sondern immer wieder, manchmal über ein paar Jahre, der kommt heraus aus Bitterkeit und Vorwürfen, der kann alles dem barmherzigen Vater in die Hände legen - im Wissen darum, dass nicht nur der oder die andere auf seine Barmherzigkeit angewiesen ist, sondern auch man selbst - und im Vertrauen darauf, dass Gott auch noch über das Grab hinaus Vergebung und Versöhnung, gegenseitiges Verständnis stiften kann, dass die Bitterkeit aus dem eigenen Herzen weicht und Platz macht für Wehmut und Liebe. Sie können darauf vertrauen: Gott ist auch ein hervorragender Psychotherapeut, ein Heiland der Seele.
Für die Lebenden und Verstorbenen beten, das ist ein geistliches Werk der Barmherzigkeit, das nicht nur dem anderen, sondern immer auch einem selbst zugutekommt.
Probieren Sie es aus. Suchen Sie das Gespräch mit Gott, dem barmherzigen Vater. Bei diesem Psychotherapeuten gibt es keine langen Wartelisten bis zur ersten Sprechstunde. Er ist jederzeit erreichbar.
Amen.
2.n.Epiphanias, 17.01.2021, Jahreslosung, Jonakirche, Daniel Kaufmann
„Seid barmherzig wie euer Vater barmherzig ist" oder: Der kürzeste und der längste Umweg zu Gott
Der kürzeste Weg zu Gott ist der Umweg über den Nächsten.
Der Königsweg zu Gott ist der Weg über den, der meine Hilfe braucht. Es mag andere, außergewöhnlichere Wege für spirituelle Erkenntnisse geben: Ein Gipfelerlebnis bei einer abenteuerlichen Tour auf dem Berg. Eine asketische Einkehr- und Besinnungswoche in einem abgelegenen Kloster. Eine überraschende Wende in einer Krankengeschichte. Eine außergewöhnliche Begegnung mit einem Menschen, die alles verändert. Im Alltag, in den altbewährten Abläufen, wo alles mehr oder weniger gewohnt seinen Gang geht, ist der kürzeste Weg zu Gott der Umweg über den Nächsten. Paradebeispiel dafür ist die Geschichte, die Jesus vom barmherzigen Samariter erzählt. (Lukas 10,25-37) Der unter die Räuber geraten ist. Und der nicht mehr weiter weiß und der nicht mehr weiter kann. Ihm zu helfen und unter die Arme zu greifen, so Jesus, ist nicht nur ein Gebot der Humanität, des Erbarmens und der Nächstenliebe, es ist zugleich der Schlüssel zu einem erfüllten und gelingenden Leben. Zu einem Leben, das von Gott herkommt und bei ihm ankommt. Diesem Menschen zu helfen, der mir vor die Füße gelegt wird, erschließt die Ewigkeit, das „ewige Leben". Öffnet die Dimension zu dem, was bleibt, egal, was sonst noch auf dieser Welt passiert. Wobei auch dieser Umweg über den Nächsten zu Gott und seine Gegenwart Tücken hat. Ein Priester und ein Kantor scheitern an der offensichtlichen Frage, was zu tun ist. Im ganz normalen Alltag kann der allgegenwärtige Prioritätenkatalog dafür sorgen, dass uns der Blick verstellt, verdeckt, vernebelt ist oder ganz abhanden kommt. Insofern ist das mit dem kürzesten Weg zu Gott so eine Sache. Also, jedenfalls auch nicht zum Nulltarif zu haben. Halten wir an dieser Stelle fest, dass auf dem barmherzigen Tun, dem Erbarmen mit dem, der uns aus welchem Grund und in welchem Zusammenhang auch immer nötig hat und braucht, ein großer Segen liegt.
Der kürzeste Weg zu Gott ist oft der Umweg über den Nächsten.
Der längste Weg zu Gott ist der Umweg über die Schweine.
Zugegeben: Ich würde es gerne etwas weniger drastisch sagen, aber Jesus ist hier ziemlich unverschnörkelt und direkt, wenn er die Geschichte vom barmherzigen Vater erzählt. (Lukas 15,11-24) Der längste Weg zu Gott ist der Umweg über die Schweine. Und das liegt weniger an den Schweinen selbst. Das sind ja durchweg intelligente und oft auch sehr ansehnliche Tierchen. Der längste Weg zu Gott ist der Umweg über die Schweine. Und das liegt daran, dass vor dem Hüten der Schweine noch eine Menge anderes kommt, um nicht zu sagen: Vor den Schweinen kommt in der Regel noch alles andere, was uns auf die eine oder andere Weise erstrebenswert erscheint: Die Maximal entdeckte und ausgelebte individuelle Freiheit. Endlich mal tun und lassen, was man immer schon tun und lassen wollte. Vor den Schweinen kommt der Traum von einem Leben als eine Aneinanderreihung von Höhepunkten und Events, von Leistungen, die Anerkennung finden und möglichst auch bejubelt werden. Vor den Schweinen kommt das Kalkül, dass das Leben ein überwiegend von Erfolg, Wachstum und Fortschritt erlebter Prozess sein könnte. Bei dem es kontinuierlich immer höher, immer weiter geht. Vor den Schweinen kommt das Leben als ein Ein- und Abtauchen in all die Freuden und Vergnügungen, die normalerweise unerreichbar sind oder nur wenigen Privilegierten offenstehen. Das Leben auf der Sonnenseite des Lebens ist aller Ehren wert, allein: Es währt meist nicht ewig. Oft reicht es noch nicht mal für die Rente. Oft auch noch nicht mal bis kurz vor die Rente. Meistens gibt es schon vorher empfindliche Störungen. Weil eine Wirtschaftskrise alles ändert. Weil das Klima die Lebensgrundlagen bedroht. Weil ein Virus und seine Mutanten nicht so ohne weiteres in den Griff zu bekommen ist. Vielleicht klappt es mit der Sonnenseite des Lebens auch deshalb nicht durchgehend, weil Gesundheit, Liebe und Freundschaft letzten Endes nichts Verfügbares sind.
Allerdings kann es sich hinziehen, bis nichts mehr so geht wie geplant. Und das Hüten der Schweine ist dann lediglich der Endpunkt eines länger währenden Prozesses. Dieser Nullpunkt indes ist verbunden mit einer fundamentalen und wichtigen Erkenntnis. Die lautet überraschender Weise nicht: „Das Leben ist ohne Pflichten, Lasten, Verantwortlichkeiten nicht zu haben." Auch nicht: „Eine wesentliche Herausforderung für Tiefgang im Leben ist der Umgang mit den Pleiten, Pech und Pannen." Auch nicht: „Freiheit gibt es nur in Bindung."
Die eigentliche und wesentliche Erkenntnis bei den Schweinen ist: „Wenn es schattig, dunkel und kalt wird, brauchst du eine Hand, die dir entgegengestreckt wird. Die dich auch dann noch hält. Die dich in die Arme nimmt und zu dir sagt: Willkommen zu Hause." Im Letzten leben wir von der Barmherzigkeit Gottes, der wie ein Vater, der wie eine Mutter uns letzten Schutz und Halt gibt. Wir leben von seinem Erbarmen und von sonst nichts. Ohne diese Zuwendung gibt es keinen ersten und keinen letzten Atemzug. Und ohne diese Zuwendung gibt es auch kein Leben zwischen dem ersten und letzten Atemzug. Aber mit dieser Barmherzigkeit Gottes, die das Innerste, den Kern der Liebe Gottes zu uns Menschen beschreibt, ist alles anders. Selbst das Leben bei und mit den Schweinen.
Der kürzeste Weg zu Gott ist der Umweg über den Nächsten.
Der längste Weg zu Gott ist der Umweg über die Schweine.
„Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist." (Lukas 6,36)
So lautet die diesjährige Losung für das Jahr 2021. Es geht darin um die Barmherzigkeit Gottes, die uns geschenkt wird. Wie bei der Geschichte vom verlorenen Sohn/vom barmherzigen Vater.
Es geht um die Barmherzigkeit, die wir weitergeben. Wie bei der Geschichte vom barmherzigen Samariter.
Mit meiner Kollegin hatte ich Ende letzten Jahres einen sehr konstruktiven Disput über die Frage, welche biblische Geschichte für diese Jahreslosung Pate gestanden hat: Die „vom barmherzigen Samariter" oder die „vom barmherzigen Vater". Geht es bei dem Wort „Barmherzigkeit" um lateinisch: „misericordia", zu deutsch: ein Herz für die Elenden haben? Oder geht es bei dem Wort „Barmherzigkeit" um hebräisch: „rächäm", den Mutterschoß, das umsichtige und umfassende, bedingungslose Annehmen eines Schutzbedürftigen wie das eigene Kind?
Ich glaube, recht besehen, geht es in dieser Jahreslosung für 2021 um beides: Es geht um Gottes Barmherzigkeit, die nicht zu Ende ist sondern jeden Morgen neu. Und es geht um unsere Barmherzigkeit, die von dieser göttlichen Barmherzigkeit angesteckt wird und sie dann weitergibt. Die ein Herz für die Elenden hat. Es geht um einen mehr oder weniger kurzen oder langen Umweg zu dem, der alles Leben in seinen Händen hält und es täglich neu geben will. Es geht um das Leben, das von der geschenkten Barmherzigkeit Gottes ausgeht und diese Barmherzigkeit anderen weitergibt. Unser Leben ist eingebettet zwischen diesen beiden Polen. Wir sind in diesem Jahr eingeladen, das Thema Barmherzigkeit zu bedenken, dass den barmherzigen Vater und den barmherzigen Samariter gleichermaßen im Blick hat.
Ich möchte schließen mit einigen Neujahrswünsche, die in der österreichischen Dorfkirche in Lech zu finden sind:
„Immer dann, wenn die Liebe nicht ganz reicht,
wünsche ich Dir Großherzigkeit.
Immer dann, wenn Du verständlicherweise
auf Revanche sinnst,
wünsche ich Dir Mut zum Verzeihen.
Immer dann, wenn sich bei Dir das Misstrauen rührt,
wünsche ich Dir einen Vorschuss an Vertrauen.
Immer dann, wenn Du mehr haben willst,
wünsche ich Dir die Sorglosigkeit der Vögel des Himmels.
Immer dann,
wenn Du Dich über die Dummheit anderer ärgerst,
wünsche ich Dir ein herzhaftes Lachen.
Immer dann, wenn Dir der Kragen platzt,
wünsche ich Dir tiefes Durchatmen.
Immer dann, wenn Du gerade aufgeben willst,
wünsche ich Dir Kraft zum nächsten Schritt.
Immer dann,
wenn Du Dich von Gott und der Welt verlassen fühlst,
wünsche ich Dir eine unverhoffte Begegnung,
ein Klingeln an der Haustür.
Immer dann, wenn Gott für Dich weit weg scheint,
wünsche ich Dir Seine spürbare Nähe."
Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.
Amen.
2.n.Epiphanias, 17.01.2021, Stadtkirche, Johannes 2, 1 -11, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.n.Epiphan. - 17.I.2021
Johannes 2, 1-11
Liebe Gemeinde!
Die gähnende Leere meines Kalenders an den planbaren fröhlichen Terminen, die ihn gewöhnlich spätestens ab Januar zu füllen beginnen, lässt es mich besonders spüren: Wie packend und schön es ist, dass das Johannesevangelium so früh von Jesu erstem Zeichen erzählt!
… Kaum hat ein Jahr begonnen, das vorerst tauffrei und hochzeitslos zu werden droht, kaum hat ein Jahr begonnen, in dem man das Feiern, das Singen, die Gemeinschaft nur noch als Erinnerungen zu teilen fürchtet, da geschieht tatsächlich das erste Wunder Jesu: Seine Gemeinde ist an seiner Seite miteingeladen zur Hochzeit.
…Und weil nun 2021 mit all seinen schwierigen Umständen herrscht, wird der Ausflug nach Kana zu einem bahnbrechenden, tiefen Erlebnis. Was sonst immer nur eine belächelte Anekdote war vom dusseligen Barkeeper, der die Partystimmung nicht ordentlich befeuern kann und von der lästigen Mutter, die ihren Sohn deshalb Partytricks machen lässt, das wird in diesem einsamen, frustrierenden Winter unsres Missvergnügens zu einem strahlenden Lichtblick.
Denn das ist ja der große Segen des Kirchenjahres und seiner immer wiederkehrenden biblischen Begegnungen: Wir ändern uns, während die Evangelien und Episteln, die Torah und die Propheten bleiben, was sie waren. Aber durch unsere Veränderungen werden wir dichter an sie herangeführt oder von ihnen entfremdet; was uns einmal wie kalter Kaffee selber kalt lässt, wird ein anderes Mal – weil wir es gerade nötig haben, weil wir es plötzlich schmecken und genießen können – so herzerwärmend und fährt so in die Glieder wie guter Wein, … wie der beste Wein!
Und in der grauen Menschenleere, die sich über diese Tage legt, in der unheimlichen Entkoppelung, die nicht nur Länder und Kontinente wieder auseinanderreißt – gerade weil sie in Mund-zu-Mund-Beatmung verbunden waren – , sondern die auch den Abstand zu den Nachbarn, zur eigenen Familie plötzlich interkontinental macht, … in dieser Zeit der schmerzhaften Vereinzelung wird die Wohltat des heutigen, des ganzen Evangeliums umso deutlicher: Mit Jesus kommt das Hochzeitliche, der Geist der Freude, die gemeinsame Feier der Verbundenheit zu uns allen.
Ziel und Zweck des Christentums ist die ungetrübte Teilnahme aller Gäste am Hochzeitsmahl der Liebe. ——
… Was ist das aber für ein Ziel?, fragen die verkniffenen Züge unseres eigenen Glaubens … und die kirchenfeindlichen Tendenzen der Gegenwart erst recht. Was soll das für ein Zweck, für ein Sinn von Religion sein: Gibt’s denn keine ernsthafteren Anliegen in einer zerrissenen und erschütterten, in einer hungernden und dürstenden Welt als das völlig Überflüssige solcher Festlichkeit? …….
Man soll dieser Frage nicht ausweichen. Das Johannesevangelium mit seiner absichtsvollen Zählung der wunderbaren Taten Jesu tut das schließlich auch nicht. Vielmehr hebt die Liste der Beglaubigungszeichen und wirksamen Selbsterweise des fleischgewordenen Wortes durch die Stellung an der Spitze das hochzeitliche Wunder von Kana ja geradezu unübersehbar hervor, das am dritten Tag von allen durch Johannes berichteten Ereignissen geschieht: „Am dritten Tage“ … dem Tag der Tage, dem österlichen, endgültigen Tag des Heiles!
Dem Evangelisten Johannes war es also offenkundig nicht zu läppisch, dass die schöpferische Kraft Gottes, die in Jesus unter uns erschienen ist, damit wir wirklich in dieser Welt, in diesem Leben Gnade um Gnade von ihr nähmen, Feiernden ihr Glück nicht verdirbt.
Und wem das peinlich ist, dass Jesu oberste Priorität, dass Jesu Prinzip und erste Amtshandlung einen Luxus darstellen und nicht etwa den Ruf zur Umkehr, die strenge Mahnung zu Dienst und Arbeit oder eine Zucht und Lehre der asketischen Entsagung, der wird von Johannes am Schluss des Reigens, der in Kana festlich eröffnet wurde, noch viel schockierender belehrt. Am Ziel seines Weges sitzt Jesus vor den Toren Jerusalems noch einmal bei einem Fest. Da hat Martha in Bethanien ihm ein Mahl bereitet mit einem einzigartigen Ehrengast: Lazarus, ihrem Bruder, der gerade von den Toten auferweckt worden ist. Und Maria gießt dem Retter, dem Todesüberwinder kostbares, duftendes Nardenöl auf die Füße, um sie zu salben. Dem protestierenden Judas aber, der die dreihundert Silbergroschen, die solche Kosmetik kostete – immerhin zehnmal so viel, wie Jesu eigenes Leben wert war – lieber den Armen gegeben hätte, … dem Judas also antwortet Jesus mit dem berühmten: „Arme habt ihr allezeit bei euch; mich aber habt ihr nicht allezeit“ (Joh12,8).
Am Schluss wie am Anfang der Wirksamkeit Jesu steht also etwas, das nach den Maßstäben der Moral und Nützlichkeit in kein pädagogisches Programm und in keinen Maßnahmen-Katalog der Politik passt.
Zu Beginn und am Ziel des Evangeliums geht es um mehr als das, was im Leben vernünftig und verpflichtend ist: Es geht um das, was darüber hinausgeht. ——
In etwa diese Richtung bewegt sich derzeit tatsächlich auch die Debatte um das, was man zum Eigentlichen, gar zur Daseinsberechtigung des Glaubens in einer vollkommen durch-rationalisierten Gegenwart sagen könnte[i]. Dass Ethik und Hoffnung, dass mit einem Wort: Religion unentbehrlich sei, um das Leben zu bewältigen, ist schließlich unter den alltäglichen Umständen unseres Lebens nicht glaubhaft zu machen: Denn was weckt schon Opferbereitschaft oder Liebe oder Erwartung in uns, die wir es so sinnlos gut haben, dass wir noch immer nicht wirklich fürchten, dafür verantwortlich gemacht zu werden, wenn es unseren eigenen Kindern und unzähligen andern nie mehr so gut gehen wird?
Das Leben funktioniert ohne Religion aber nicht nur im egoistisch-materialistischen Modus des Alltags, sondern auch die harten Proben bewältigen die allermeisten von uns ohne Trost aus der Ewigkeit, durch Verdrängen ihres möglichen Sinns.
Braucht man dann also keine Religion? Ist das Versickern des Christentums in der teilnahmslosen Gleichgültigkeit demnach kein Warnzeichen für die Welt? …….
… Warnung hin oder her; … das wird sich zeigen.
Wer aber nach dem direkten Nutzen des Glaubens, wer nach seiner Funktionslogik fragt, um sich darüber klar zu werden, was dafür sprechen mag, als Christ zu leben, sollte die Antwort wohl erwägen: Nichts spricht zwingend dafür!
Der Glaube an Gott ist kein unverzichtbarer Programmierschritt, ohne den das System dieser Wirklichkeit und unseres Lebens darin nicht funktioniert. … Man kann Gott und den Glauben an Ihn durchaus entbehren. Wie man alles Schöne, alles, was mehr ist als Gerät und Geschäft, alles, was freier macht und höher führt als die biologischen Selbsterhaltungstriebe natürlich nicht existentiell nötig hat und also auch nicht instinktiv und unwiderstehlich ergreift.
Und dennoch wissen wir alle, dass das, was zunächst entbehrlich, funktionslos, zweckfrei erscheint, das menschliche Leben paradiesisch und das heißt dem ursprünglichen Willen Gottes in der Schöpfung gemäß macht, … Schönheit und Freude.
Dabei geht es nicht um Luxus oder das entfremdete Etepetete-Gehabe verwöhnter Seelchen, sondern um das, was in unserem Grundbegriff vom Menschen – der „Menschenwürde“ – biblisch durchscheint.
Einen eigenen, abstrakten Begriff für Würde kennt die Bibel nämlich nicht, sondern um das auszudrücken, was das menschliche Wesen unantastbar macht, was zuinnerst in ihm ruht und in seiner Lebendigkeit ausstrahlt und wie ein Schutzsiegel über ihm steht, nutzt die hebräische Sprache ihr schönstes Wort von Gott: Das Wort für „Herrlichkeit“, dessen Bedeutung von „Gewicht“ bis „Glanz“, von „Autorität“ bis „Attraktivität“ alles verbindet, was unverwechselbar macht – כבוד („kawod“). An solcher Herrlichkeit teilzuhaben, ist also die Bestimmung des Menschen (vgl. Ps8,7), der damit in der beständigen Glorie und unaussprechlichen Bedeutsamkeit von Gottes eigenem Wesen gründet.
Menschenleben soll herrlich sein: Frei, leuchtend und – mit dem gewitzten Doppelsinn unserer Sprache, die Spaß und Ernst in diesem Wort unbekümmert verbindet – „glückselig“.
Um diese herrliche erste und letzte Verwirklichung des Menschseins geht es in der Religion, geht es im Glauben: Den Glanz des Guten als Gottes Gabe zu erfahren, dankbar zu feiern und liebend zu verströmen.
Darum ist der Hochzeitswein ein so echtes und gültiges Symbol dessen, was Jesus Christus an Überflüssigem, an sprudelnder Kostbarkeit und frei Verschenktem ohne weitere Zielsetzung und Zweckbindung in die Welt bringt: Wer es mit Jesus hält, wer ihm folgt, der findet nicht das, was er zu brauchen meint, sondern er trifft die reine Quelle unvorstellbarer Gnade.
Man kann darum alles bestimmt auch ohne Jesus tun und lassen, aber die Verheißung nicht-versiegender Freude, das unbedingte Zeichen, dass Gutes und Barmherzigkeit zu unserem vom Austrocknen und Leerlaufen bedrohten Leben gehören, eröffnen dem Christen-Dasein ein Glück, das über das gewöhnliche Maß weit hinausgeht.
Was ohne Jesus einfach nur der bequeme oder harte Menschen-Alltag ist, wird durch seine Gnade zum Fest des unnötigen, aber erhebenden Geschenks, dass jeder von uns durch Gott gewürdigt und in solcher Würde zu nichts instrumentalisiert wird, sondern an sich Wunderwerk der freien Gnade seines Schöpfers ist: Das ist die Botschaft des ersten Zeichens, die über unsere auf rationale Verhältnismäßigkeit geeichte Erfahrung hinausgeht und uns wie ein Überschuss, ein verschwenderischer Überschwang erscheint, der logisch nicht zu erklären ist. … Wozu schenkt Gott sabbatlichen Wein, wenn gegen den Durst doch Wasser in sechs Maßkrügen nach der Zahl der Arbeitstage reicht? „Wozu dient dieser Unrat“ (vgl. Matth.26,8)? …….
Doch die Tatsache, dass das Eröffnungswunder des Evangeliums, für das Maria sich als Fürsprecherin bei ihrem Sohn einsetzt, nicht Rettung aus tiefsten Leiden, sondern Bestätigung, ja sogar Mehrung der Daseinsfreude bedeutet, lässt sich nicht mit den Berechnungen unseres Planens und Wollens vereinbaren.
Gottes Überfluss ist der Anfang aller Dinge und darum auch der Anfang des Evangeliums. Und weil der Anfang, darum auch ihre Fortsetzung und ihr Ziel. Gott schenkt nichts nach dem Maß (vgl.Joh.3,34), sondern voll, gedrückt, gerüttelt und überfließend misst er uns Seine Barmherzigkeit zu (vgl.Lk.6,38).
Und wenn es den sparsamen Schwaben und philisterhaften Preußen, den nüchternen Norddeutschen und dem ganzen gewinnsüchtigen Germanien auch schrecklich naserümpfend zuwider ist: In diesen Tagen, die neben dem Chaos der angelsächsischen Staaten auch die Erinnerung an die alte Erbfeindschaft beleben, die vor 150 Jahren die Schmach Frankreichs zur Grundlage des Deutschen Reiches machte, so können wir die Hochzeit zu Kana und die joie de vivre, die Lebenslust, zu der sie uns befreit, eigentlich nur französisch begreifen und leben.
Der fröhlich beschwingte, das Heil schamlos genießende Geist des Glaubens, den das Wunder hervorruft, bei dem Jesus zum allerersten Mal seine Herrlichkeit und damit die Herrlichkeit seiner Gäste, die zum Hochzeitsmahl des Lammes berufen sind (vgl. Offenb.19,9), offenbarte, drückt sich am schönsten in einem französischen Kirchenlied aus[ii].
Dort heißt es:
„Wie sollte, Herr, – nachdem der Weinstock sich ja so verbreitet –
auf Erden je der Wein der Freude fehlen?
Uns Pilgern in dem Neuen Bund ist Durst nach besserm Wein gegeben,
der unsre Hoffnung ganz erfüllt.
In dein Volk der Messias-Sehnsucht ist Jesus ja gekommen,
um sich als Licht zu zeigen.
Und siehe da! Das erste Zeichen: Maria glaubt ganz fest an jenen bessern Wein,
den nur der eingeborne Sohn ausschenkt.
So sehen wir in Kana, wo Wasser sich in Wein verwandelt,
der Glauben bei den Zeugen wachsen.
Und alle, die dem Meister folgen, werden vom bessren Wein noch kosten,
weil er beim Hochzeitsfest des Lichts versprochen ist.“
„Joie de vivre“ - das also soll unsere Jesus-Losung sein in diesem Jahr: Freude am reinen Überfluss der Gnade, die „auch noch in tiefer Nacht Menschenleben herrlich macht“ (vgl.EG 428,5)!
Amen.
[i] Zum Teil dürfte die gegenwärtig auch in den Feuilletons auftauchende Debatte auf Peter Sloterdijks neues Buch zurückgehen: Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie, Berlin 2020. Nicht immer lohnend, aber niemals langweilig.
[ii] Jour de noces en Galiée (Worte: Claude Bernard / Weise: Michel Wackenheim / dt. Übersetzung der Strophen: J.M.)
Jour de noces en Galilée,
Jour de noces,
Jour de noces en Galilée,
Jésus Christ est l’Invité !
Jour de fête pour nos coeurs,
Jour de fête,
Jour de fête pour nos coeurs,
Il partage son bonheur ! (bis)
1
Sur la terre avec ses vignes déployées,
Seigneur Dieu, le vin des joies peut-il manquer ?
Pèlerins de la nouvelle Alliance,
Nous avons soif du vin meilleur
Qui comblera notre espérance.
2
Dans ton Peuple à la recherche du Messie,
Jésus vient manifester qu’il est la Vie.
Le voici pour le premier des signes !
Marie croit ferme au vin meilleur
Que donnera ton Fils unique.
3
À Cana où l’eau puisée se change en vin,
Nous voyons la foi grandir chez les témoins ;
Appelés sur le chemin du Maître,
Ils goûteront le vin meilleur
Promis aux noces de lumière.
(Quelle: https://www.chantonseneglise.fr/voir-texte/1429)
Altjahresabend, 31.12.2020, Stadtkirche, Jesus Sirach 1, (18) 22, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahresabend 2020
Jesus Sirach 1, 18 (Vulgata: 22)
Liebe Gemeinde!
… Sollen wir Bilanz ziehen?
Oder ist das nicht das Tagesgeschäft seit Monaten schon, dass wir dieses schön mit der doppelten 20 so symmetrisch, so parallel geordnet daherkommende Jahr vermaledeien und verwerfen, weil es in Wahrheit nun gar nicht einzuordnen, gar nicht ebenmäßig, sondern unrund und chaotisch und voller Brüche ist?! ….
Doch, wir ziehen Bilanz: Viel zu danken. Viel zu lernen. Viel zu hoffen. Viel zu üben. Viel zu verbessern und viel zu vergessen.
– Nur das Eine nicht, das nottut: „Was Er dir Gutes getan hat“ (Ps.103, 2)! ——
Das Jahr, das jetzt leiser, als es seit Jahrzehnten üblich war, Vergangenheit wird, hat niemanden ungerührt lassen können. Der Alltag wurde 2020 zu etwas Köstlichem. Und Selbstverständliches hörte auf verachtet zu sein. Globales durchdrang den eigenen Lebensraum, wie es für Weltbürger, die keine Höhlenmenschen mehr sind, sein muss. Angst und Unverstand, Tapferkeit und Wissenschaft begegneten einander und ihr Ringen dehnte sich aus der öffentlichen Arena bis in jeden einzelnen Zug unseres Denkens und Handelns. Und wir wuchsen über Gewohnheiten hinaus und versagten in einfachsten Herausforderungen. Medizin und Menschlichkeit, nackte Sorge, ungeahnte Langeweile, turbulente Spannung bestimmten in ihrem Durcheinander die Schlagzeilen und die Stundenpläne. Wirkliches oder dessen Ersatz, die Not mit der Nähe, die heiligen Urerfahrungen von Berührung und Gesang: Alles kam auf den Prüfstand, und wenn wir nicht demütig daraus lernen, wovon der Mensch lebt und was ihn zum Menschen macht und weshalb er keine Maschine ist und werden darf, dann käme ebenso eine Zivilisationsfinsternis, wie wenn nach dem Impfen nur der geile Reigen der Hemmungslosigkeit anbräche, den die Soziologen für die wilden Zwanzigerjahren vorhersagen. —
Über dem allen aber wurde die ernsteste Mahnung, die jede Stunde von Neujahr bis Silvester predigt, vielen von uns ungewollt bewusst: Zeitlich sind wir und darum steht nichts fest; sterblich sind wir und also nie sicher. —
Ob aber das Unvorhersehbare und Ungewisse dieser Tage ein Vorbote großer Verdunkelung oder der Aufbruch zu einer vorsichtigeren Weise des In-der-Welt-Seins war, können wir nicht sagen, … gebannt wie wir sind an den jeweiligen Augenblick, der je und je so unterschiedliche Folgen freisetzen kann. ——
Doch gerade bei diesem Eingeständnis, dass die Zeichen der gegenwärtigen Zeit bei aller Eindrücklichkeit keine Eindeutigkeit ergeben, kann uns eine der großen Konstanten der Geistesgeschichte des Glaubens zur Eröffnung klarer Perspektiven werden.
Ich meine ein biblisches, ein jüdisches und christliches Prinzip, das so uralt und so verdrängt ist, dass seine Vergessenheit es beinah schon wieder frisch macht: Es ist der unvordenkliche Grundsatz, dass unsre Erkenntnis und damit aller Sinn, dass sämtliche gültige Wahrheit und jedwede Anwendung unseres Intellektes anhebt und hinzielt auf die Gottesfurcht.
… Da zucken wir. … Und grinsen. „Gottesfurcht“ ist keine geläufige Vokabel des 21.Jahr-hunderts und war es schon seit dem 18. nicht mehr.
Und wenn tatsächlich die logische und technische Vernunft, die wir experimentell entgrenzen und verfeinern, wenn tatsächlich der materielle und der virtuelle Kosmos, die wir entwerfen und gestalten und verschmelzen, unter das Vorzeichen oder in die Perspektive der „Gottesfurcht“ gerückt werden sollen, dann klingt das für die wenigsten von uns noch nach der großen abendländischen Tradition, die von Aristoteles bis Anselm, von Thomas über Erasmus bis zu Kant das Denken ja nicht etwa theologisch unterdrückt, sondern christlich universalisiert und humanisiert hat, … sondern für die allermeisten von uns ist „Gottesfurcht“ eher gleichbedeutend mit der Rückständigkeit, die das Stichwort Scharia hervorruft.
Wie um alles in der Welt sollte also ein so ungeschmeidiger, archaisch-absoluter Begriff wie ausgerechnet „Gottesfurcht“ uns in der komplexen Pluralität und Zufälligkeit unserer Krisen weiterhelfen? Wie viele Fliegen soll die eine Klatsche denn zu unserer Beruhigung treffen?
Doch es war – entgegen landläufiger Meinung – nie naiv, wenn die Frommen Israels und der Kirche in der Gottesfurcht das erste Motiv und das letzte Kriterium unseres Selbst- und Weltbewusstseins fanden.
Es war vielmehr immer schon der alles-entscheidende Vorbehalt vor dem katastrophalen Irrtum, der Mensch sei alles, … einem Irrtum, der entweder in die Hybris, in den Größenwahn führte, als wäre Gott vom Menschen erledigt oder aber zur Resignation, zur Verzweiflung, dass der Mensch von Gott verlassen sei.
„Gottesfurcht“ ist also ein rettendes Korrektiv, das aus der Isolation befreit. Weder Angst, die ja immer tiefer in die Einsamkeit treibt, wie unsere Viren- und also Menschen- und letztlich Lebensfurcht es beweist, noch die Sklavenmentalität, die Nietzsche am Christentum verabscheute, sind das, was im Glauben seit jeher wegweisender Maßstab war.
Eher sollten wir darin das sinnenscharfe Bewusstsein sehen, uns an einer Intention beteiligen zu können, statt uns reiner Willkür auszuliefern.
Wer das aber spürt – dass er selbst als Geschöpf im Entwurf aller Dinge nicht Objekt, sondern Teilhaber ist –, dem gehen Werte und Wunder auf, die sich nicht im Materiellen erschöpfen.
Die Tiefe und Weite des Wirklichen erwachen ja für den, der auf seinem Feld nicht nur zum Täter oder Opfer, sondern zum Zeugen berufen ist.
Wo wir aber eines größeren Forums innewerden, dessen Urteil nicht allein unserem augenblicklichen Nutzen und Lustgewinn gilt, da erfassen wir das Gewissen nicht mehr bloß als überflüssigen Blinddarm oder nutzlose Wolfskralle, sondern als Antenne für die Richtung, die unser eigener Beitrag zum Ganzen nehmen soll.
Und so formt die Einsicht, dass wir nicht Urheber des Alls und auch nicht seine Tyrannen sein können, uns viel mehr zu mündigen Wesen als die vermeintliche Unabhängigkeit gottloser Erfahrung es vermag.
Weit davon entfernt, den Menschen zu knechten, befreit die Gottesfurcht ihn also zur respektvollen Aufmerksamkeit für das Gefüge des Lebens und zur zuversichtlichen Einbindung und Entfaltung seines persönlichen Scherfleins in das Kunstwerk der sinnreich geschaffenen Gesamtheit.
… Wollten wir sie also mit unseren Worten beschreiben – die alte Ehrfurcht, die der biblische Glaube immer schon als Grundhaltung und Erkenntnisziel gelehrt hat –, dann müssten wir von ethischer Lebensbejahung oder empathischer Weltverantwortung sprechen, die geborgen sind in einer unverbrüchlichen Gottesbindung. ——
Was aber trägt eine solche Meditation über die jahrtausendelange Überlieferung, die in der Einordnung unter Gottes Willen nicht Beklemmung, sondern Befreiung erfährt, denn noch aus in der Lage, in der wir heute sind?
Sind das nicht doch veraltete Schablonen und unbrauchbare Versatzstücke mitten im schrillen Schwirren von Inzidenzzahlen und im großen Schweigen des Abstandserlebens? Gehört die Gottesfurcht nicht irgendwo in das Archiv der frühen Menschheitsmuster, die heute nicht mehr tragbar sind?
— Salomo, der König vor dreitausend Jahren, als Israel plötzlich selbstbewusst aus dem Schatten der ägyptischen und mesopotamischen Mächte trat, hat der Gottesfurcht doch diese sprichwörtliche Rolle zugewiesen: „Aller Weisheit Anfang“ sei sie, sagte Salomo (vgl. Sprüche 1,7; 9,10; Ps.111,10); … was aber, wenn man so fortgeschritten ist wie wir, wenn der Ausgangspunkt der menschlichen Erforschung der Welt in grauer Vorzeit verloren liegt? … Was ist „die Furcht des HERRN“ denn dann?
„»Corona«, … die »Krönung« also, die höchste Auszeichnung aller Verstehensbemühungen des Menschen, das ist die Gottesfurcht bis zum heutigen Tag“, sagt ein anderer Weiser in Israel: Jesus, Sohn des Sirach, dessen philosophisches Trostbuch aus der Epoche stammt, in der Europa aus dem Geist der Griechen und den Sitten der Römer zu etwas zusammenwuchs, das dem fruchtbaren alten Orient an Kultur ebenbürtig werden sollte.
Die Ehrfurcht vor Gott, die fundamentale Achtung vor der Gabe und der Grenze, die den Menschen im Glauben begegnen, sind für Jesus Sirach auch vor dem Hintergrund hellenistischen Denkens nicht roher Ausgangsstoff, sondern schönste Besiegelung des Geistes.
Insofern ist es eine glückliche Fügung, dass mich der heutige Abend zu diesem uns fremden, für uns apokryphen Buch geführt hat.
Ich wollte das Wort, das in 2020 alles beherrschte, nicht einfach wiederholen und damit stehen lassen, als sei dieses Jahr nun plötzlich doch eindeutig.
Auf der Suche nach der biblischen Verwendung der lateinischen Vokabel blieb ich dann aber dort hängen, wo ich nicht heimisch bin: In den Büchern, die die Reformatoren verwarfen, weil sie zu ihrer Zeit nicht auf Hebräisch bekannt waren und deutlich jünger als alle anderen Schriften des Alten Testaments sind. Inzwischen sind in Qumran und andernorts große Teile des Urtextes von Jesus Sirach entdeckt worden, und da ich ohnehin eine Verpflichtung diesem Buch gegenüber spüre, weil einer meiner Urgroßväter wegen seines hartnäckigen Zitierens des jüdischen Weisheitslehrers aus dem öffentlichen Dienst des 3.Reiches entfernt wurde, habe ich mich am Beginn von Jesus Sirach festgelesen, in einem herrlichen Hymnus auf die Gottesfurcht, die Weisheit – also segensreiche Lebensethik – ist.
Und siehe da: In der lateinischen Bibel findet sich im 22.Vers des 1.Kapitels der einprägsame Vierwortsatz: „CORONA SAPIENTIÆ TIMOR DOMINI“ – „Krone aller Erfahrung und Wissenschaft ist der Respekt vor dem Herrn.“ Im Griechischen aber folgt (nach dortiger Zählung in Vers 18) die Bestimmung, dass diese Krönung aller Theorie und Praxis ὑγίειαν ἰάσεως, (unsere zentralen Themen des Jahres: Hygiene und Pflege!) d.h. „gesunde Heilung“ hervorbringt.
… Und das glaube ich auch!
Was wir brauchen – jetzt, am Schluss des europäischen Doppeljahrtausends, das zu Jesus Sirachs Zeiten heraufdämmerte –, ist genau diese, der Welt trotz allem vertrauende und das sterbliche Leben achtende, aber nicht vergötzende Einwilligung in die Weisheit des Schöpfers und Vollenders.
Wenn wir unsere Gründung in Seinem großen Werk, unsern Halt an Seiner allesumfassenden Wirklichkeit bewahren, dann entgehen wir den Gefahren der ängstlichen Einseitigkeiten und versöhnen, was wir sonst verabsolutieren: Gesundheit des Leibes und der Seele; die Ansprüche von Bedürftigen wie Befähigten; das Recht auf Schonung neben dem Recht auf freie Entfaltung; die Bereitschaft zu leben ebenso wie die notwendige Bereitschaft zum Sterben. In der „Gottesfurcht“, in der Beugung vor und der Einbettung in Gottes Welt- und Himmelsherrschaft schwinden die ausschließlichen Betonungen, mit denen wir – wie in diesem Jahr scheinbar so zwangsläufig – immer nur einen Akzent setzen und uns nur einem Anliegen widmen können, …. nicht, weil wir durch die Gottesfurcht plötzlich so viel mehr oder gar alles selber vermöchten, sondern weil wir uns einbezogen wissen in die unendliche, die gerechte, die gnädige Gesamtliebe Gottes.
Und wenn wir diese Krone der Weisheit erlangen, dass wir unser Leben und Erleben und alles Lebendige und Erlebte als Winke und Werke aus Gottes Hand verstehen, dann kommen wir zu der gesündesten, der nötigsten und heilsamsten Erkenntnis, die unsere ganze Gegenwart am meisten braucht: Wo Gott der Schöpfer und der Herr, ja der Heiland Seiner Schöpfung ist, da ist unser einziger geschichtlicher Auftrag in der Welt nicht jenes pulverisierende Verschleißen, das wir „Machen“ nennen, sondern das sorgfältige Hüten und Heilen des Gemachten; nicht als Hersteller, sondern als Wiederhersteller nehmen wir Christen Teil an Gottes Plan; nicht die Erfindung, sondern die Heilung der Welt ist die Aufgabe, vor die Zeit und Zukunft uns in der Furcht Gottes stellen.
So bringt sie nämlich Frieden und Gesundung. Das, was alle hoffen und was sie alle haben sollen.
Das vergessen wir gerade am Ende dieses schrecklichen Jahres nicht: Was Er uns Gutes getan hat und tut. Und wie wir nicht in Menschen-, Krankheits- oder Todesangst schweben müssen, sondern in Gottesfurcht leben dürfen.
„Benedices coronæ anni benignitatis tuæ“ sagt es ein Psalm (Vulgata:64,11) mit dem Wort, das uns so bis zum Überdruss verfolgt hat und das doch so viele andere Inhalte, so viel Verheißung und Hoffnung freisetzen kann: „Du krönst das Jahr mit Deinem Gut!“ (Ps.65,11)
Wünschen wir und suchen wir das für uns, für die Menschen, für alle Welt im kommenden Jahr: Die Krone der Weisheit, die uns heilt – DOMINI TIMOR SAPIENTIÆ CORONA!
Amen
1.Christtag, 25.12.2020, Stadtkirche, Jesaja 52, 7 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Christfest - 25.XII.2020
Jesaja 52, 7-10
Liebe Gemeinde!
Weihnachten der Unsichtbaren: Das ist 2020 wahrhaftig.
Nicht im sozialkritischen oder im Märchen-Ton……. , obwohl es immer bitter richtig ist, dass wir wie Oscar Wildes glücklicher Prinz uns die Augen öffnen lassen für das massenweise unbeachtete, das übersehene, in Hintergrund und Tiefe, jenseits der Nachrichten verdrängte Leid und Elend dieser Erde: Gerade alle Unsichtbaren, ungern Gesehenen, von denen voller Absicht abgesehen wird, sollten uns Christen, wenn Gott uns Sein Licht aufgehen lässt, ja am meisten vor Augen stehen.
… Sonst wäre das obdachlose Kind aus dem Himmel umsonst in der unverschlossenen Höhle geboren worden, um die sperrangelweite Tür zum Vater zu werden.
… Wenn wir nicht wissen, dass Weihnachten die Einladung an alle ohne Ansehen ist, dann läuft es in’s Leere, in’s hirn- und herzlos Unsinnige.
Doch 2020 ist ein Weihnachten der Unsichtbaren in einer weiteren Hinsicht. Es wird gefeiert in einer Welt, die belagert und durchdrungen wird von etwas, das wir nicht sehen: Weil unsere Augen zu grob, zu ungeeignet sind, um es zu erfassen.
Ohne dass wir es wahrnehmen oder erkennen könnten, ist aber trotzdem das zackenreiche Virus zum ungekrönten Beherrscher der Weltlage bei der diesjährigen Weihnacht geworden. Und die Unsichtbarkeit verleitet wie alles, was unsere Begriffe übersteigt, zu Furcht und Zweifel. … Trotzdem aber sollte es bereits einem Kind von sieben Jahren bekannt sein, wie hilflos unsere Sinnesorgane ja tatsächlich bleiben, wie klein der Ausschnitt dessen, was wir wirklich mitkriegen und aus eigener Erfahrung bestätigen können, ist und wie tausendfältig, vielschichtig, ungezählt die Elemente und Geheimnisse der Wirklichkeit sein müssen, die sich uns entziehen! … Das müsste das Jahr, in dem Weihnachten im Schatten des Unsichtbaren liegt, uns lehren.
Und dann müsste es uns – wenn wir die Grenzen der Empirie, der Beobachtung und Anschaulichkeit verspüren – leichter, sogar leicht werden, vor der Grenzenlosigkeit zu stehen. …
Da stehen wir nämlich wirklich. Wir vor ihr, … die Grenzenlosigkeit vor uns.
Denn wir stehen vor Gott.
… Das ist ja Weihnachten: Die Grenzenlosigkeit, die alles Verstehen übersteigt (vgl.Phil4,7), ist in den winzigen Ausschnitt eines einzigen Wesens gekommen. Die unendliche Gesamtheit beginnt endlich – „endlich“ im doppelten Sinn – irdisch zu leben! —
Eigentlich müsste so etwas völlig unbegreiflich, völlig unfassbar sein, wenn wir die Botschaft von der Sichtbarkeit des Geistes, von der Geburt des Ewigen, von der Individualität des Universalen angesichts jenes kleinen Kindes von Bethlehem hören.
Das sprengt doch alles Denkvermögen, obwohl Menschenaugen das schmatzende oder greinende oder schlummernde Körperchen voller Verletzlichkeit wahrhaftig anschauen können, und eine Mutterbrust kann das Mäulchen füttern und eine Hirtenhand kann die runzligen Neugeborenenärmchen streicheln und der Mund eines Weisen kann schweigen und den kleinen Fuß vorsichtig, vorsichtig küssen. … Aber dass in diesem Geschöpf der Schöpfer, in diesem rohen Organismus die ewige Weisheit, in dieser winzigen Wirkung die alleinige Ursache des Alls zu treffen sei – wie soll das jemals nachvollziehbar werden? … Wer könnte das jemals einsehen? ———
… Weihnachten der Unsichtbaren.
– Doch es gibt Hilfe, es gibt Hinweise und Hinwege, es gibt Hinworte und Hinführung zu dem, was unsere Augen nicht sehen, unsere Sinne nicht aufgreifen, unsere Gedanken nicht verarbeiten können.
Und von dieser Hilfeleistung lebt Weihnachten. Dank dieser Hilfestellung wurde es überhaupt auch nur Weihnachten, und nur durch ein ähnliches Auf-die-Sprünge-Helfen hat sich die Weihnachtswahrheit trotz ihrer Un„wahrschein“lichkeit durchgesetzt.
Von diesen Helfern also, die das nahebringen und weitersagen, die das verkündigen und deuten, die zum Hören, zum Einsehen und schließlich nicht nur zum Verstehen, sondern – was noch wichtiger ist – zum Glauben helfen, muss jetzt also die Rede sein.
Sie sind die Unsichtbaren, deren Weihnachten wir immer feiern und nicht nur in diesem Jahr: Es sind die Boten, deren Füße auf den Bergen lieblich sind, es sind die Wächter, deren laute Stimmen den Jubel der Erlösung erklingen lassen.
Nur dass wir sie nicht erblicken, nicht erkennen können. Unsere Antennen für sie sind zu schwach, unser Radar ist nicht dafür ausgerüstet, sie zu erfassen. Zwar umgeben und durchstrahlen sie uns, sie berühren und sie elektrisieren uns genau wie alle anderen Wellen und Teilchen, Kräfte und Ströme, Impulse und Felder, die den ungesehenen Kosmos ausmachen, … aber ihre unmerkliche Bewegung – so „lieblich“ sie auch ist – , und ihre nicht einzuordnen Stimmen – so „laut“ sie auch sind – lassen uns staunend, skeptisch, zweifelnd zurück.
Zu den Engeln fällt uns nichts ein: Zu den Engeln, den unsichtbaren Boten und Verkündern, ohne die Weihnachten und Christentum, ohne die Ostern und die Kirche nicht wären. Wir haben keine Vorstellung von ihnen.
Ihr Auftauchen und ihre Ausbreitung, die Übertragunsgwege, auf denen sie in Menschen Glauben entzünden und Hoffnung anstecken und dann die Wirkung, durch die sie aus Einzelnen Unzählige machen, die es ebenfalls in sich tragen und weitergeben werden – die Freu-de, den Frieden, das Gute, das Heil – , …. diese Inspirationsketten, die sich von der Heiligen Nacht her durch die gesamte Menschheit verbreitet haben und immer wieder neue, persönliche, leib-seelische Schicksalsgemeinschaft mit dem menschgewordenen Gott hervorrufen, bis eine weltweite Herden-Kommunität, die wir die Kirche nennen, entstand … für dieses ganze Geschehen sind unsere bloßen Augen von Natur aus mindestens so blind wie für die Erfassung der viralen Vorgänge, die dieses Jahr so prägen. ——
… Mein blinder Fleck sind die Engel jedenfalls seit Jahrzehnten, und wäre nicht das gesundheitliche Drama von 2020 mit dem Predigttext aus dem Propheten Jesaja zusammengetroffen, ginge mir womöglich immer noch nicht auf, wie verblendet ich da bin … beinah so willkürlich ignorant wie jene, die das Virus nicht selber festmachen können und es darum als Mythos betrachten.
Doch die Freudenboten, die nicht schwerfällig über die geröllreichen Hügel Judas oder gar die Trümmer Jerusalems steigen müssen, sondern leichtfüßig, ja schwebend überm Hirtenfeld den unendlichen Gloria-Gesang anstimmen, der seither nicht mehr verstummt, diese Evangeliumssänger und Herolde des Trostes und der Erlösung Jerusalems und aller Welt sind es wirklich wert, dass sie wie bei Jesaja zum Gegenstand unserer fröhlichen Betrachtung an diesem Weihnachtsmorgen werden:
Wir mögen keine Vorstellungen von ihnen formen können; sie werden den geflügelten Götterboten Griechenlands und den gefiederten ägyptischen und babylonischen Halbwesen, die bei uns ihr Bild prägen, so unähnlich sein wie ihr krankheitserregendes Gegenstück in Wahrheit keiner Krone gleicht, … doch alle diese Schwierigkeiten, sie uns zu vergegenwärtigen, können und sollen uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie wirklich und wirksam sind, so heilvoll wie die anderen Unsichtbaren unheilvoll, und dass wir letztlich ihretwegen versammelt und durch sie bewegt sind, weil wir es schließlich ihnen, der Menge der himmlischen Heerscharen verdanken, dass die frohe Kunde von Bethlehem bis hier und jetzt ihre lebensverändernde, stärkende, frohmachende, erlösende Wirkung entfaltet.
Gabriel, der Maria die Empfängnis verkündet (vgl.Lk.1,26ff), und der namenlose Engel, der sie dem Joseph erklärt (vgl.Matth.1,20ff), sind für die Jungfrau der erste Freudenbote des Weihnachtswunders und für ihren Verlobten der erste Wunderbote zögerlicher Erlösungsfreude.
… Weihnachten der Unsichtbaren!
Doch wie dann dem Joseph vor und nach der Geburt des Immanuel immer wieder ein Engel das je Nötige und Richtige, die je neue Weisung und Hoffnung trotz aller Schatten und Schrecken mit tragender Gewissheit nahebringt (vgl.Matth.1,24ff; 2,13ff. 19ff), das ist das erste individuelle Motiv, die erste Einzelstimme, die sich aus dem himmlischen Weihnachtschor über den dunklen Landschaften der verstörten, der erwählten, der beglückten Hirten Bethlehems löst.
……. Und seither bereiten, säumen und deuten Engel den Weg des Weihnachtskindes: Dienen ihm im Hunger (vgl.Mk.1,12), trösten ihn im Leid (vgl.Lk.22,43), öffnen sein Grab (vgl.Matth.28,2), verkündigen seine herrliche Auferstehung (vgl.Joh.20,12ff), bezeugen seine Himmelfahrt und Wiederkunft (vgl.Apf.1,10f), lenken und stärken seine Jünger (vgl.Apg.10,3; 12,7ff), schützen, lehren und bewachen das Wachstum der Gemeinden (vgl.Offenb.2f) und warten auf jedes Zeichen, dass sie einen der Kleinen, die zu Jesus gehören, verteidigen und schirmen oder endlich zu Gott heimtragen sollen (vgl.Matth.18,10; Ps.91,11f).
Dass die Weihnachtslieder und -bilder durch und durch auch Bilder und Lieder der Engel sind – Lieder über die heimlichen und doch unüberhörbaren Zeugen und Gesandten, Bilder der unanschaulichen und doch unbezwinglichen Helfer und guten Mächte der Christusbotschaft und der christlichen Gemeinde –, das ist für jeden, der nicht mehr zu den schnöden Engel-Leugnern zählen mag, mehr als schmückendes Beiwerk. Um es in der Sprache dieses Jahres und im Geist des Propheten Jesaja, der die Boten der guten Nachricht so überschwänglich rühmt, zu sagen: Die Engel sind als treibende Kräfte jederzeit so zur Stelle, sie sind als die dynamischen Beweger, die das Geschehen des Weihnachtsevangeliums in Gang und voran bringen, so zentral, dass man in ihnen erkennen muss, was wir in den letzten Monaten endlich in den pflegenden und helfenden, den erziehenden und sorgenden Berufsgruppen erkannt haben … die wirklich „Relevanten“, d.h. wörtlich die, die wirklich „hochheben“ und „erhöhen“, was zählt.
Und was dieses Überragend, alles Aufwiegende, dieses Allein-Wichtige auf Erden ist, das sagen uns Jesaja und Lukas in den Grundworten ihrer Engels-Kunde: Trost und Erlösung, große Freude, die Ehre Gottes, Frieden der Welt und den Menschen ein Wohlgefallen!
Das ist vor allem anderen und zu allen Zeiten wirklich relevant: Wer davon ergriffen ist, wer von den Engeln, die diesen Frieden, dieses Heil und Gute verkündigen, mit ihrer wundervollen, auf landläufige Weise unsichtbaren, aber nichtsdestotrotz unendlich wirksamen Freude über Jesus, den Christus angesteckt wurde, der hat auch in diesem trüben, bedrückenden, lähmenden Jahr das beste Gegenmittel gegen alle Leiden gefunden, den echtesten Inhalt in aller Leere, die unvergänglichste Gabe für alle menschlichen Entbehrungen und Mängel.
Wo sich die Weihnachtsbotschaft der Engel verbreitet, verbreitet sich genau das, was wir Menschen sämtlich brauchen: Zuversicht, dass nichts unheilbar zerbrochen, nichts unrettbar zerstört sein wird. Hoffnung, dass die Einsamkeit der Vielen und die Feindschaft durch die wahre göttliche Menschlichkeit überwunden werden soll. Glaube daran, dass unsere Zweifel und unsere Schuld schließlich doch von Gottes Nähe widerlegt und durch seine barmherzig-endlose Gerechtigkeit getilgt werden. … Und eine Liebe, die mit einem weiteren, einem tieferen, einem höheren Sinn als alle unsere anderen Wahrnehmungen schließlich tatsächlich beherzigt und begreift, dass in dem kleinen Kind in der Krippe in Davids Stadt alle gemeint und alle verbunden, alle erwählt und alle versöhnt sind! ——
Diese wunderreiche Zusage, dieses Evangelium bringen die unsichtbar gegenwärtigen Freudenboten Zions, die Heerscharen des HERRn in jedes Land, an jeden Ort, zu jedem Menschenkind auch heute.
Und so verborgen und geheimnisvoll das uns immer noch scheinen mag, hat doch Jesaja das letzte Wort: „Aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes.“
Auf Hebräisch wörtlich: „Alle Enden der Welt sehen den »Jesus« unseres Gottes“!
Amen.
2. Christtag, 26.12.2020, Jonakirche, Daniel Kaufmann
Predigt-Paraphrase zu Lukas 2,1-20 am zweiten Weihnachtstag
Es begab sich aber zu der Zeit, als ein Gebot weltweit die Runde macht, dass alle Abstand halten sollte. Zu viel Nähe, so die, die das Sagen hatten, sei nicht nur von übel, sondern gefährlich, im schlimmsten Fall sogar tödlich und vor allem: unverantwortlich. Jeder Kontakt sei im Grunde schon einer zu viel. Mit den Familienangehörigen, das könnte eventuell noch gut gehen. Alles andere würde aber die Zahlen in unermessliche Höhe schnellen lassen. Und da sei der Inzidenzwert, der R-Wert, der R 7 Wert, der Ct-Wert und all die anderen exponentiellen oder doch eher wellenförmigen Bewegungen ja nur einige Indikatoren. Man denke bitte auch an die überfüllten Intensivstationen und die Bilder aus aller Herren Ländern, die unerträgliche Situation einer „Triage“ und die Überforderungen des Pflegepersonals. Und neuerdings auch noch die Mutationsmeldungen, B 1.1.7, mit ungeahnten Folgen. Kurzum: Es reihte sich ein Horrorszenarium an das nächste, wenn nicht dem Gebot Folge geleistet werde, das ausführlich und detailliert in dem Infektionsschutzverordnungsgesetz angeführt, begründet, hinterlegt und mit geradezu erdrückender Faktenlage der Exekutive an die Hand gegeben wurde. Schuld und Auslöser dieser Einsicht war kein Kaiser, kein Monarch, kein Autokrat und kein Möchtegerndiktator. Schuld war ein kleines, sehr ansehnliches, zugleich aber brandgefährliches Virus namens Covid 19 Sars-cov.2. Es hatte sich - keiner weiß es so ganz genau – im fernen Osten auf den Weg in alle Welt gemacht, hinterher wollte es keiner gewesen sein, egal: Es war dann auf jeden Fall da, und versetzte alle, die es in geballter und gehäufter Weise traf, in Angst und Schrecken, vornehmlich auch jene, die schon mehr als 700 Monde zu und abnehmen gesehen hatten. Und dann vor allem die sogenannten Risikogruppen, zu denen sich viele mal mehr mal weniger zugehörig fühlten.
Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa. Wenn man der kirchlichen Tradition folgen darf, schon etwas älter und damit ein geradezu klassischer Risikopatient, zusammen mit Maria, blutjung, seinem anvertrauten Weibe. Mit dem nötigen Abstand zu Josef (150 cm), wie die kirchliche, vornehmlich die katholische Tradition vehement und mit immer neuer Überzeugung verkündete. Also, Josef war mit Maria unterwegs, soviel war und ist klar, aber da sei definitiv nichts zwischen den beiden gelaufen, auch wenn Maria trotzdem oder gerade deswegen schwanger war, aber das ist eine Geschichte vor Covid 19. Und genau genommen haben sich da außer Matthäus, der Evangelist, und Lukas, der Evangelist, auch die neutestamentlichen Autoren weniger ums Detail bemüht. Der Apostel Paulus etwa, der sonst gerade auch bei den evangelischen Christen für allerlei dogmatische Programmatik herhalten muss, äußert sich da sehr sparsam und geradezu uninteressiert: Eine junge Frau bekommt ein Kind (Galater 4,4), das wars. Aber sei´s drum. Maria also, blutjung schwanger und Josef, alt, sagen wir es etwas netter: in gesetztem Alter und jedenfalls mit züchtigem Abstand, waren also unterwegs nach Bethlehem, zu ihren Geburtsort. Um auch dort einmal mehr Abstand zu halten, soviel war klar, denn Reisen in Risikogebiete, das verstand sich von selbst, das ging nur unter strengen Auflagen. Ganz zu schweigen von späteren Verpflichtungen zu Schnelltest und Quarantäne, falls da irgendetwas positiv anschlagen sollte. Die beiden hatten alles, was geboten war, mit dabei, den Mundschutz sowieso, für alle Fälle aber auch FFP 2 und FFP 3 Masken nebst Desinfektionssprays und einigen Arzneimitteln, sollte es zu ungeplanter Atemnot oder gar Atem-Stillstand kommen.
Und es kam die Zeit, dass Maria gebären sollte, aber es war da kein Raum in der Herberge. Man ist geneigt zu sagen, ein Beherbergungsverbot machte es unmöglich irgendwo unterzukommen. Aber so war es nun doch nicht. Es lag nicht an den Einschränkungen und Hygienevorschriften, die es der Gastronomie allenthalben schwer machte, in der gewohnten Weise ihr Geld zu verdienen. Die Lokalitäten und Hotels waren schlichtweg voll, zu voll, viele Menschen waren heilfroh, ein Dach überm Kopf zu haben und trotz aller sonstigen Vorschriften ein wenig gesellige Wärme zu verspüren. Und dieser besondere Abend im Winter erschien ihnen wie die große, wenn auch mühsam abgetrotzte Erlaubnis, wenigstens für ein bis zwei Tage dem inzwischen trist gewordenen Alltag als Soloheld auf dem heimischen Sofa zu entkommen. Dafür waren sie auch bereit, etwaige Strafzahlungen in Kauf zu nehmen, notfalls auch 250 € pro Nase. Aber angesichts der breiten Gesamtbewegung und der schieren Menge schien es so, als wäre man an diesem Abend vor ordnungspolitischen Maßnahmen oder gar polizeilichen Eingriffen einigermaßen sicher. Die Zimmer waren also schlichtweg ausgebucht und so musste sich unser jung-altes Pärchen eine andere luftigere Bleibe suchen, zwischen Ochs und Esel, Heu und Stroh. Das war zweifelsohne gesünder. Das Ansteckungsrisiko war hier ja so gut wie ausgeschlossen. Von den Tieren ging ja keinerlei Gefahr aus, und der Durchzug im Stall sorgte für so viel Frischluft, dass eine Aerosol- oder Virenübertragung im Prinzip nicht stattfinden konnte. Angesichts der bescheidenen, vielleicht sollte man besser sagen: ärmlichen und erbärmlichen Verhältnisse waren auch keine anderen Störungen zu erwarten. Ein Jubellied auf das Neugeborene war weder von dem alternden Vater noch von der erschöpften Mutter zu befürchten, auch andere Beileidskundgebungen würden komplett ausfallen, hatte doch jeder schon genug an seinem eigenen Päckchen oder Elend zu tragen. Wenn alles mit rechten Dingen zuging, versteht sich, war also eine ruhige Niederkunft zu gewärtigen. Wenn nicht - wie so oft in diesen Zeiten - irgendein digitaler Shitstorm alles durcheinanderbringen würde. Oder andere unbehauste und heimatlose Gesellen, die wegen der Kälte, der Sehnsucht nach Wärme und Heimat kein Auge zukriegten, noch für die eine oder andere Überraschung gut wären. Und genau von solchen etwas heruntergekommen Figuren muss an dieser Stelle nun tatsächlich und wie auf Bestellung geredet werden.
Es waren Hirten auf den Feldern von Bethlehem, die hüteten des nachts ihre Herde. Sie hatten zwar auch schon von Corona gehört, aber da sie ständig draußen waren, nur den Himmel als Dach überm Kopf hatten, und sie auch sonst wenig bis gar nicht am gesellschaftlichen Leben teilnahmen, juckte sie die allgemeine Aufregung um Aha-Regeln und Infektionsgeschehen wenig. Dafür plagte sie etliches Sorgen um das täglich Brot und dem Auskommen zum Leben. Davon allerdings wussten sie reichlich zu erzählen. Denn obwohl sie bei leidlicher Gesundheit waren, hatte es sie wirtschaftlich voll erwischt. Die Rezession hatte ihre Auftragslage drastisch verschlechtert, eine mittelfristige Perspektive hatten sie schon länger aufgegeben. Rettungsschirm hin oder her, sie gehörten eben nicht zu der bevorzugten oder allzu systemrelevanten Berufsgruppen. Und während sie also so vor sich hin sinnierten, das Leid, die Sorgen und die Mängel des kleinen Mannes und der mittellosen Frau beklagten, erschien ein Engel, ein Bote aus den himmlischen Sphären mit einer wundersamen Botschaft auf den Lippen:
„Fürchtet euch nicht!“, sagte er. Angst ist kein Konzept, bei dem man glücklich werden kann. Sorgen ernähren einen nicht, sondern bringen einen nur früher ins Grab. Das alles aber könnt ihr getrost hinter euch lassen, denn es gibt Grund zur Freude, denn: „Euch ist heute der Heiland geboren.“ Diese Ansage verfehlte ihre Wirkung nicht. „Fürchtet euch nicht!“, hatte der Engel gesagt. Wusste er eigentlich, wovon er da sprach, das war doch das einzig Sichere in diesen Tagen, die Furcht, die immer mehr Raum und Zeit einnahm, die die Beziehungen und allem Leben dieses ungute Vorzeichen verschaffte. Aber darauf war Verlass: „Wenn wir nicht so und so tun, dann befürchte ich noch Schlimmeres“, “…dann verlieren wir die Kontrolle“, „… dann lassen sich die Zahlen nicht mehr in den Griff kriegen“, „…dann lässt sich im Grunde gar nicht mehr gescheit und schon gar nicht normal leben“. Die Hirten, eigentlich alle, auch die Hochbetagten, waren auf einmal hellwach und hörten die Worte des himmlischen Boten. Und der war noch nicht fertig:
„Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ Gott ist nicht mehr auf Abstand, ließ der Engel verlauten, weder 150cm noch 200 cm. Er ist und kommt euch nah in dem Kind in der Krippe. Will Wohnung nehmen bei und in euch, hautnah, so dicht es irgend geht, will er in Kontakt zu euch kommen. Und das habt zum Zeichen: Keiner von euch muss mehr einsam und allein leben und ohne Hoffnung sterben. Mit dem Kind in der Krippe hat diese selbst verordnete oder erzwungene Isolation ein Ende. Und auch die Furcht vor was auch immer kann getrost ein Ende finden. Zieht los und seht selbst, was da geschehen ist. Schon wollte der eine oder andere Hirte sein berühmtes „Aber“ in Stellung bringen, allein dazu war keine Gelegenheit und Zeit. Denn in Null-Komma-Nichts hatte sich zu dem einen Engel ein ganzer Chor gesellt, und die sangen - Aerosolgefahr hin oder her - einen gewaltigen Choral zur Ehre Gottes. Und das brachte vorübergehend alles zum Verstummen. Selbst die sonst nie um einen Gedanken verlegenen Bedenkenträger, selbst die immer noch etwas von Vernunft, selbst wahrgenommener und für andere stellvertretend übernommene Verantwortung redeten, selbst die zur Besonnenheit und immer neuen Geduld mahnten, kamen einen Moment aus dem Tritt. Und hörten ergriffen auf jene Worte, die im Leben und im Sterben Halt verhießen und denen man sich anvertrauen konnte ohne, mit, trotz der Angst, die in diesen Tagen ja nie ganz weg zu diskutieren war. Und wie ein zugleich österliches Erdbeben und pfingstliches Brausen durchfuhr es alle, die da zusammengekommen waren, und führte und geleitete sie auf wundersam leichte und beschwingte Weise hin zu dem Stall, wo alles sich zu einem großen Ganzen zusammenfügen sollte.
Und als sie hinkamen, sahen sie das Kind in der Krippe. Und weil sie es inzwischen gewohnt waren, Abstand zu halten, traten sie einzeln ein in den Stall. Sie nahmen sich Zeit. Keiner drängelte. Keiner meinte an diesem Abend: „Wer zuerst kommt, malt zuerst“. Es war vielmehr so, dass eine große, stabile Ruhe alle ergriffen hatte, so, als gehörte ihnen dieser Abend, nur ihnen allein. Und da kam es dann auf die paar Minuten Warten auch nicht mehr an. Die Hirten also nahmen sich alle Zeit der Welt. Sie waren komplett entschleunigt und im wahrsten Sinne des Wortes „auf Null“ gebracht. Und in dieser geradezu meditativen Grundstimmung wechselten sie sich ab, um das Kind zu betrachten. Und das war auch für das heilige Paar, für den betagten älteren Josef und für die wunderschöne jungfräuliche Maria ungemein ergreifend und ermutigend. Die Hirten traten einzeln ein. Und sie sahen in diesem Kind in der Krippe die Liebe Gottes, den Ursprung und das Ziel allen Lebens. Und mehr als mit dem Verstand erreichte es ihr Herz, so dass sie, jeder auf seine Weise, nach dem Besuch im Stall und wie die Engel auf den Feldern, Aerosol hin oder her, anfingen, Gott zu preisen und zu danken. Für diese Wohltat. Für diese übergroße Wohltat. Für diese Rettung aus aller Angst und Not. Für die Befreiung von aller Furcht. Für diesen Trost im Leben und im Sterben. Für dieses Vertrauen zum Dasein, das ihnen neu geschenkt worden war. Und sie beschlossen, diese Erfahrung mit anderen zu teilen. Mit allen Menschen, die das Leben neu als Geschenk ihres Schöpfers be- und ergreifen wollten. Und sie nahmen sich vor, nicht müde zu werden, und davon zu erzählen: Wie Gott in ihr Leben kam und es gut machte. So gut, dass sie mit allem anderen getrost weiterleben konnten.
Maria aber, seltsam angerührt von diesem Geschehen, bewegte alles in ihrem Herzen. Weil man nur mit dem Herzen gut sieht. Weil man mit den Augen des Herzens alle Chancen hat zu gesunden, heil zu werden und heil zu bleiben. „Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen; und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen. O dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen.“ Paul Gerhard. „Den aller Welt Kreis nie beschloss der liegt in Marien Schoss, er ist ein Kindlein worden klein, der alle Ding erhält allein.“ So Martin Luther. „Die ihr arm seid und elende, kommt herbei, füllet frei eures Glaubens Hände. Hier sind alle guten Gaben und das Gold, da ihr sollt euer Herz mit laben.“ Nochmal Paul Gerhard. Und Jochen Klepper fasst es so zusammen: „Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und Schuld, doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld, bekränzt von seinem Licht hält euch kein Dunkel mehr. Von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.“ Wenn das nicht Evangelium, gute Nachricht, frohe Botschaft genug ist, dachte Maria, und ergänzte für sich: aber es ist ja genug frohe Botschaft. Für mich und für alle, die es hören und in ihrem Herzen bewegen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere menschliche Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus unserem Herrn. Amen.
3. Advent, 13.12.2020, Lk.1,68-79, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
„Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils“ – jubelnd bricht dieser Lobgesang aus dem Mund des Zacharias heraus. Während das Lied der Maria, das Magnificat, ein sehr klares und verständliches Loblied ist, so ist das Lied, das Zacharias anstimmt, eher schwer verständlich, mit vielen Wendungen und Anspielungen auf die Geschichte Israels und der biblischen Tradition gespickt. Es ist halt das Loblied eines Theologen und Priesters, und da sind die Sätze eben manchmal sehr lang und sehr verschachtelt. Aber immerhin, Zacharias singt und lobt.
Und wenn man sich hineinarbeitet in seinen verschachtelten Lobgesang, dann lässt sich überraschend Neues feststellen, passend zur Erzählung, mit der Lukas sein Evangelium beginnt. Da geht es um gleich zwei Geburten, die angesagt werden, die Geburt von Johannes dem Täufer und die Geburt von Jesus. Über ihre Mütter sind beide miteinander verwandt. Beide werden von dem Engel Gabriel angesagt, beide Kinder sind Gotteskinder, sofern der Engel ihren Namen nennt, sie von Gott her ihre Lebensberufung haben: Johannes ~ Gott ist gnädig; Jesus ~ Gott ist Rettung und Hilfe.
Aber während der Besuch des Engels bei Maria überraschend unproblematisch abläuft, so verhält es sich bei Zacharias deutlich anders. Zacharias ist ein Priester am Tempel in Jerusalem. Er ist verheiratet mit Elisabeth und von beiden heißt es, dass sie gerecht und untadelig in ihrem Lebenswandel vor Gott waren. Allerdings war ihre Ehe kinderlos und beide mittlerweile im fortgeschrittenen Alter. Mit diesen wenigen Angaben schlägt Lukas einen großen Bogen an den Anfang der Heilsgeschichte. Denn genau dasselbe wird im 1.Buch Mose von Abraham und Sara erzählt: dass sie gerecht und untadelig in ihrem Lebenswandel waren (Gen.17,1) und keine Nachkommen hatten.
Für die Menschen in der Antike war es immer klar, dass Kinderlosigkeit an der Unfruchtbarkeit der Frau lag; und so erzählt es auch Lukas von Elisabeth. Aber so ganz hat er daran wohl selbst nicht geglaubt, denn es ist Zacharias, der von dem Engel besucht und ins Gebet genommen wird. Als Zacharias wieder einmal seinen priesterlichen Dienst im Tempel in Jerusalem versah, wurde er durch das Los bestimmt, im Allerheiligsten das Rauchopfer darzubringen, im Gebet also vor Gott zu treten und Fürbitte für das Volk zu tun, das währenddessen auf dem Platz vor dem Tempel wartete, um nach dem Rauchopfer den Segen Gottes vom Priester zugesprochen zu bekommen. All das war Zacharias bekannt, die Gebete, das Räuchern, die Gesten, die theologischen Begründungen und Vorstellungen von der Gegenwart Gottes, darüber hatte er alles gelesen und viel nachgedacht, alles war ihm vertraut. So meinte er zumindest.
Aber dann kam auf einmal das große Erschrecken. Da stand auf einmal der Engel da, stiegen nicht länger seine Worte am Altar einseitig hinauf zu Gott, sondern sprach Gott durch den Engel zu ihm, waren Gott und Glaube nicht mehr Lehre und Bekenntnis, sondern Erfahrung und Erlebnis – und das erschütterte ihn genauso wie viele andere, die ähnlich von Gott berührt worden sind, durch die Jahrtausende. Zum Beispiel Blaise Pascal, der französische Philosoph und Theologe. Nach seinem Tod fand ein Bediensteter zufällig einen schmalen Pergamentstreifen, den Pascal sich in das Futter seines Rockes eingenäht hatte. Darauf hatte er eine mystische Erfahrung festgehalten, die ihn wohl nicht mehr losgelassen hatte. Er schreibt:
„Jahr der Gnade 1654 Montag, den 23. November,
Tag des heiligen Klemens,
Papst und Märtyrer, und anderer im Martyrologium.
Vorabend des Tages des heiligen Chrysostomos,
Märtyrer, und anderer.
Seit ungefähr abends zehneinhalb bis ungefähr
eine halbe Stunde nach Mitternacht
Feuer Gott Abrahams, Gott Isaaks,
Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten.
Gewissheit, Gewissheit,
Empfinden: Freude, Friede.
Der Gott Jesu Christi.“
Berührt werden von Gott, eine Erfahrung mit Gott machen, mit seiner Heiligkeit, seiner Gegenwart – Mose am brennenden Dornbusch, Elia in der Höhle am Berg Horeb, die Propheten Jesaja und Jeremia, Zacharias im Tempel, Maria in Nazareth – zuerst ist immer Erschrecken, weshalb den von Gott Angesprochenen und Angerührten als erstes zugerufen wird „Fürchte dich nicht!“
Keine dieser Begegnungen lässt die Betroffenen so zurück, wie sie vorher waren. Eine Begegnung mit Gott hat immer erneuernde, schöpferische, verwandelnde Folgen für die Menschen. Darum erzählt die Bibel Geschichten, in denen Menschen nach solch einer Gottesbegegnung aufbrechen, Altes hinter sich lassen und sich neuen Zielen zuwenden – wie Abraham und Mose, wie die Propheten, die aus ihrer alten beruflichen Existenz aussteigen und als Sprachrohr Gottes weiterleben; oder Geschichten, in denen die Geburt eines Kindes angesagt wird, Inbegriff des Neuen, das in die Welt hineingeboren werden soll – Isaak für Abraham und Sara, Simson, der Nasiräer und Richter in der Frühzeit Israels und nun Johannes für Zacharias und Elisabeth und Jesus für Maria und Josef. Mit den Kindern soll Neues kommen; mit ihnen setzt sich nicht einfach das Alte fort, sie treten nicht die Nachfolge ihrer Erzeuger an, sie sind im tiefsten Sinne nicht die Kinder ihrer Eltern, sondern Kinder des Vaters im Himmel. Deshalb erhalten sie von ihm auch ihre Namen; neue Namen, die zeigen, dass Gott neue Wege mit seinen Menschenkindern gehen will.
Und so hört Zacharias, dass sein Sohn Johannes heißen soll. Und tatsächlich wird an diesem Namen gleich erkennbar, dass Neues in die Welt kommt, gerade auch in die Welt, für die Zacharias steht: in die Welt der jüdischen Religion. Zacharias steht vor uns als einer, der als Priester korrekt und zuverlässig vor Gott seine Pflichten zu erfüllen bemüht war, der alle Gebote befolgte – aber der darin selbst keine Erfüllung fand, der das Leben an sich vorbeiziehen sah, es nicht weitergeben konnte. Und da verheißt der Engel das Kind und das soll Johannes heißen: Gott ist gnädig. Da geht es um ein ganz neues Verständnis Gottes: Gott ist nicht der Herr im Himmel, dem gegenüber der Mensch sich seine Existenzberechtigung verdienen muss mit religiösen Übungen und Ritualen und mit der strikten Befolgung von Geboten; sondern er wendet sich von sich aus den Menschen zu, umfängt sie in ihren Nöten und befreit sie aus ihren Ängsten – aus lauter Güte und Liebe, aus lauter Barmherzigkeit. Das allerdings kann Zacharias nicht so einfach glauben. Zu fest ist er eingeschlossen in seine Glaubensvorstellungen von Gott, in seine Theologie und Religion. Zu lange ist er Priester am Tempel, hängt seine Existenz doch auch an den traditionellen Glaubensformen und -inhalten.
Liebe Gemeinde, ich kann ihn gut verstehen, den Zacharias; und gleichzeitig weiß ich auch, dass sich das Neue, das Leben nicht aufhalten lässt, dass das Kind geboren werden wird und muss, damit es gut weitergehen kann. In der Erzählung des Lukas verhängt Gabriel über Zacharias das Verstummen bis zur Geburt des Kindes mit der Begründung, weil Zacharias an der Erfüllung der Verheißung zweifelt. Doch im Tiefsten geht es nicht um eine „Bestrafung für den Unglauben“, sondern darum, dass Zacharias Zeit geschenkt wird, sich in das Neue hineinzufinden – wie jede Frau die Zeit der Schwangerschaft ja auch braucht, um sich und ihr Leben neu aufzustellen. Salopp gesagt: Zacharias, dieser professionelle Prediger, soll nun einmal den Mund halten und in sich gehen, schweigen und hören, wahrnehmen, wie das Leben sich entfaltet und entwickelt, worauf es ankommt im Verhältnis zwischen Gott und Mensch, wie Gott es sich mit uns und mit ihm gedacht hat. Die neuen Einsichten müssen wachsen können; der Abschied vom vertrauten Denken ist nicht leicht, ist oft schmerzhaft und braucht Zeit, seine Zeit.
Aber, und das ist das Tröstliche an der Erzählung des Lukas: es sind nicht nur die jungen Menschen, die für das Neue offen sind, Gott schreibt seine Geschichte auch mit den Menschen im letzten Lebensdrittel weiter, für das neue Leben und für neue Lebenseinsichten, für neue Glaubenseinsichten ist es nie zu spät – jedenfalls nicht von Gott her. Es geht nicht bergab mit uns, sondern einfach weiter unter dem offenen Himmel. Advent – da kommt noch etwas zu uns, auf uns zu, da gibt es noch neue Herausforderungen von Gott her. Zacharias verstummt, geht in sich, schweigt, denkt nach, denkt Neues, nimmt Abschied von seinem alten Gottesbild, wo man Gott dient mit der Erfüllung von Geboten und der Einhaltung von Ritualen. Und nach 9 Monaten ist es dann auch für ihn soweit: als sein Sohn geboren wird, da bestätigt er: das Kind soll Johannes heißen, Gott ist gnädig. Seine Freunde und Priesterkollegen sind darüber total irritiert: So heißt doch keiner in der Familie, so sieht doch keiner von uns die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Aber Zacharias bleibt dabei, und er kann wieder sprechen: „Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils.“
Das neue Lied gerät noch etwas holprig, da sind noch viele alte Vorstellungen drin verwoben – da ist noch die Rede von Feinden, da ist Gott noch der Gott für uns und gegen die anderen, aber es ist auch schwer, eine so lange religiöse Tradition hinter sich zu lassen, 2000 Jahre Glaubensgeschichte sind schwer zu verwandeln. Aber den entscheidenden Schritt, den ist Zacharias gegangen: das Heil kommt nicht aus der Erfüllung der Gebote, geht nicht vom Menschen aus, sondern Gott besucht uns, Gott kommt zu uns – und er kommt voller Barmherzigkeit und Güte, schafft den Neuanfang durch Vergebung. Gott kommt nicht erst dann, wenn wir hier alles in Ordnung gebracht haben, sondern sein Licht geht auf über denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes. Gott kommt in unsere oft so schreckliche und notvolle Welt, so wie sie ist, um mit uns einen Weg in die Zukunft zu finden, uns zu ermutigen und zu stärken, um unsere Füße auf den Weg des Friedens zu richten.
Zacharias jubelt und freut sich. Gott hat auch mit ihm noch etwas Neues vor. Da kommt noch etwas, für das es sich zu leben lohnt. „Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils“.
Amen.
1.Advent, 29.11.2020, Stadtkirche, Sacharja 9, 9+10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 29.XI.2020 – 1.Advent
Sacharja 9, 9 + 10
Liebe Gemeinde!
Vielleicht begreifen wir an diesem 1.Advent viel eher und viel besser, was wir da in Gottes Wort, in den Liedern der Kirche und im eigenen Herzen zu hören kriegen, wenn unsere Zeitrechnung alljährlich immer wieder negativ, im Minus sozusagen beginnt – vor Christi Geburt – und wir also noch gar nichts auf der „Haben“-, sondern alles auf der „Werden“-Seite sehen: Es ist einfach noch nicht so weit, wie wir es gerne hätten. Wir irren uns, wenn wir uns nur eine stets zunehmende Summe vortäuschen … „Noch ’n Jahr, und noch ’n Jahr, und noch eins.“ Ein reines Wachstumsspiel, bloße Akkumulation zu feiern, wäre zu simpel wenn die Kirche Jahreswechsel hat, und darum schaltet jeder 1.Advent die Uhren und Kalender zu unserm Glück wieder auf ein viel früheres Stadium zurück.
„Kehret um!“ heißt dann, dass wir inne werden sollen, dass es nie zu spät und nie vorbei ist, dass es nie zu lange dauert, sondern dass wir – wenn wir auf Christus hoffen und warten wollen – noch vor dem Beginn stehen, auch wenn’s uns längst nach Abpfiff erscheint.
Alles liegt vor uns, wenn wir nur bereit sind, die Zeit gegen den Strich vergehen zu lassen, unsere Uhr und mit ihr unser Leben zurück zu stellen und nicht vom Erreichten, sondern vom Anfangen zu leben. ——
Bloß funktioniert unsere ganze Natur nicht so.
Blutige Anfänger sind das Verächtlichste, was wir uns denken können, und selbst sind wir froh um jeden Bereich, in dem wir irgendwann Erfahrung haben und niemand uns mehr etwas vormachen kann. Denn was sind schon die jungen Hüpfer, die sich noch Schwachheiten einbilden, gegen so ein altes Schlachtross, das alles schon erlebt hat und mit allem auch schon fertig geworden ist?! Wie gut, wenn wir uns nicht mehr Hoffnungen machen müssen, sondern auf Leistungen zurückblicken können! Wie gut, wenn nicht das Morgenrot, sondern unsere Verdienste unser Dasein vergolden!
… Und so setzt sie sich immer wieder durch, von Generation zu Generation, in beinah jedem Lebenslauf, bis auch unsereiner sattelfest und unerreichbar für störende Regungen zu ihr gehört: Die Kultur der alten Männer. ——
Ehe nun aber Einspruch erhoben wird, wie hier die Frauen ausgeschlossen oder die Alten diskriminiert werden, will ich sagen – so modern wie beinah nie! –, dass wir in einer Epoche leben, in der jeder sich als irgendetwas identifizieren darf und soll, und dass darum nach reiflicher Selbstbeschau auch ich mich identifiziere … und zwar – wenn ich ehrlich sein soll –, als das Schlimmste, was noch rumläuft: Ein angehender alter, weißer Mann.
Meine unaussterbende Art ist besonders heimtückisch: Hat sie doch immer schon deutlich mehr als das halbe Leben hinter sich und dennoch mangelt es ihr nie an Nachwuchs; immer ist sie erdrückend voller Gestern und beherrscht dennoch jedes Morgen. … ——
Doch nun kommt der Advent und sagt und zeigt mir, dass mein selbstbewusster Anspruch keinen Zuwachs durch Jahresvermehrung, sondern glatte Abzüge erhält, wenn wir nicht immer auf uns selbst zurück, sondern von vorne auf das Heil blicken: „O, ihr alten weißen Männer!“, sagt mir und den anderen Bescheid- und Besserwissern das Wort, das Lied, das Herz, in denen der Advent sich ankündigt. „Trotz Eurer permanenten Dominanz, trotz Eures Festgewachsen-Seins auf den Stühlen der Macht und Eures Bestandsschutzes, mit dem ihr euch selbst und euren Brüdern Denkmäler spendiert und eure Brüder und - wer weiß? - am Ende noch euch selbst begnadigt, trotz eurer Weisheit, Zahlkraft und Netzwerke, trotz eurer erstickend klebrigen Rechthaberei … ihr seid am Ende, wenn ihr nicht zum Anfang gehört! Seht euch doch um! Wer reitet euch voran? Wem jubelt ihr zu? Wer ist eure Galions-figur?“
… In meinem Fall ist das entlarvend klar mit einem Kindheitsmuster zu illustrieren: Im gleichen Alter von acht, neun Jahren winkten nachweislich meine Großmutter ganz frenetisch dem Kaiser, mein Onkel fanatisch dem Führer und ich … Johannes Paul II. zu, der in unserer Nebenstraße im erzbischöflichen Palais von Liverpool übernachten sollte.
… Eine befremdliche Reihe, ohne Zweifel, … aber noch der Beste von ihnen nur ein alter Mann in einem Auto.
Und es wäre auch nicht besser gewesen, wenn die Bejubelten Madonna, Margot Honecker oder Mata Hari gewesen wären: Jede Gestalt des Personenkultes, der sinnlosen Bewunderung eines Menschen und massenhaften Identifikation mit einem großen Phänomen ist ja doch immer nur die Eingliederung in eine Kohorte, die ihre eigene Zeit feiert und am liebsten auf Kosten des Wandels und der Zukunft festhielte.
„O, ihr alten Männer und Frauen!“, sagen also das Herz, das Lied, die Botschaft, die uns heute vielleicht endlich den Advent erfassen lassen. „Kehrt um! Reitet nicht im Tross dessen, was war … und wenn es noch so sehr zu euch gehört, wenn’s noch so schön, noch so blendend, noch so verführerisch war und euch und euer Selbstgefühl bis heute trägt. Dreht euch einmal so um, dass ihr nicht mitten in der Strömung eurer Zeit, sondern dagegen steht. … Da lernt ihr einen kennen, der ist seit über fünfundzwanzig Jahrhunderten jünger als ihr und eure sämtlichen Idole, der ist kleiner als alle eure großen Vor- und Selbstbilder, der ist sanfter als jede der machtvollen Erscheinungen, an die sich die Massen hängen. Da, … seht ihr ihn? Den, der seit Urzeiten jünger ist als das, was gestern war[i]? Seht ihr den, der vor Generationen auch schon mehr Zukunft bedeutete als jeder andere Fortschrittsbote? … Könnt ihr ihn wirklich nicht erkennen? Seid ihr so völlig auf die alte Logik fixiert, dass ihr wirklich nicht fassen könnt, wie viel früher eure Zukunft sich zeigte als eure Vergangenheit? Seid ihr so starr, dass ihr immer noch nicht begreifen wollt, dass das Neue sich eher ankündigte als das, was es überholen wird?“ ——
…. Das sind ernste, nicht nur absichtlich verwickelt gestellte Fragen.
Doch in diesem Jahr müssten wir wirklich allmählich erkennen, worauf sie zielen. Die Realität – eine vieltausendjährige Realität – der Großmannssucht, der Weltbeherrschungsphantasie, die Realität von Kulturen, die sich selber über alles andere stellen und die dabei völlig den Blick für die Breite und Tiefe, den Blick für den Widerspruch und das Spiegelbild und den Unterton und die Zusammenhänge in der Wirklichkeit bekämpfen und verlieren, …. diese Realität ist widerlich allgegenwärtig. … Und nach all diesen Jahrtausenden muss sie weg!
Die Kultur der kranken Größe, die – man muss es verneinend sagen! – Un-Kultur der Brutalität, die Unkultur der Durchsetzung, die Antikultur der Lüge, die Gegenkultur des höhnisch kalten Gewalt-Gefälles, das die Gewissenlosen oben und die Hilflosen unten lässt, … sie müssen weg!
Das aber ist leider ja unsere augenblickliche Zeitgeschichte: Ein fürchterliches Aufbäumen, ein sagenhaftes Auftürmen von längst veraltetem, zutiefst der Vergangenheit verhaftetem Männer-, Macht- und Macherwahn: Da spielt einer den Zaren, ein anderer den Sultan, wieder andere wollen das heilige Polen, die slawische Sendung, den unbändigen Stolz der Magyaren oder das Empire über allen Ozeanen aus dem Grab der Geschichte zerren; ein einzigartiges Despotensystem knechtet unliebsame Völker und Religionen und bereitet vor unseren Augen – fast widerspruchslos – ein Weltreich der totalitären, wirtschaftlich übermächtigen Diktatur; wo bisher die Idee der Freiheit ihre Fackel hob, reckt sich die Gier nach gelenktem Denken und nährt sich von Vorurteil und Falschheit, und die Nachahmer solcher Macht der geistigen Unreife verbrennen den Amazonas und plündern mitleidlos jeden Staat in Afrika, den sie beherrschen und dann wie ausgesaugte Eierschalen wegwerfen können, wo der Terrorismus schon bereitsteht, um den Müll der großen Männermächte zu recyceln und lauter liegengelassene kleine Ohnmächtige zu Mördern um des Himmelreiches willen zu machen. —
Düster ist dieses Bild des 21.Jahrhunderts, und was Wetter und Wolken darüber buchstäblich zusammenbrauen, vertieft die Schatten umso mehr, bis die Welt umnachtet wirkt.
Doch es ist ganz und gar keine Weltflucht, kein Rückwärtsweichen, wenn wir diese angestaute globale Machtmisere, die Jahrhunderte, Jahrtausende hervorgebracht haben, hinter uns lassen und uns an den Anfang stellen, an einen Punkt, der vor dem allen liegt und doch den einzigen Durchgang zu einer Zukunft aller Menschen dieser Erde eröffnet.
Dort hat das biblische Volk Israel die Machtphase, diese Pubertät, die noch Greise jahrtausendelang nicht überwinden sollten, hinter sich lassen müssen. Die große Davidszeit, als Jerusalem das Zentrum eines Mitspielers auf der Weltbühne zwischen dem Pharaonenreich am Nil und den Stadtstaaten des Zweistromlandes darstellte, war nach der salomonischen Glanz- und Sättigungsepoche schnell verdampft. Expansion und militärisches Gewicht, wie David sie zeitweilig behaupten konnte, verloren sich im Anbruch jener Zeit[ii], die eine Großmacht nach der anderen aufflammen und ausglühen sah und die bis heute das Beispiel abgibt, nach dem Staaten streben: „Hegemonie“, Vorrangs-Herrschaft über andere ist das seit der Eisenzeit bis in die digitale Ära reichende Leitbild der Gernegroßen.
Doch Gottes Israel war ausgeschieden aus diesem Wettkampf.
Es erlitt ihn vielmehr als Opfer zwischen den Fronten.
Israel – auch Ephraim genannt – ging dabei unter.
Juda auch.
Unter gingen jedoch genauso ihre Eroberer: Assur und Babylon - und zwar bald. Denn das ist das Gesetz jener Kultur der Stärke, von der der Advent uns lockend, liebend lösen will: Sie ist als Kult der Macht eine Kette der Machtkämpfe und Machtübergänge, eine Kette also der Untergänge.
Und als die großen Zivilisationen sich zu erheben begannen, deren Nachwirkungen bis heute unsere Gegenwart ausmachen – die hellenistische, die zur römischen, die zur westlichen werden sollte, und die persische, die lange später mit anderen zur muslimischen und endlich zur antiwestlichen werden sollte –, als diese Zivilisationen von Athen, von Sparta, von Persepolis entstanden[iii], da trat Sacharja in Jerusalem – der lächerlich hinfälligen, notdürftig wieder zusammengeflickten Stadt des gedemütigten Gottes, der die Seinen dennoch heimbringt – vor die traumatisierten, eingeschüchterten, vom Glück der unverhofften Heimkehr überwältigten Menschen der Nachexils-Generation.
… Und sagte nichts Großes mehr! Entfachte keine Trugbilder von alter Macht. Wollte Jerusalem und Israel und ihren Gott nicht wieder stark machen. Sondern begann den Advent!
Das aber war die jüngste Stunde, die vielversprechendste, die die alte Welt einst kennen- und verstehen und lieben lernen soll.
Als damals Sacharja den unübertroffenen Jubelruf – „Tochter Zion, freue dich!“ – anstimmte, da öffnete sich nämlich unsere Zukunft … vor zweieinhalb Jahrtausenden die Zukunft, die wir vor uns haben, wenn wir nicht ins Nichts laufen!
Nicht Erdrückung, sondern Befreiung wird sich einst durchsetzen.
Nicht durch’s Besiegen kommt’s zum Frieden, sondern das Frieden-Durchhalten wird zum Sieg kommen.
Nicht Tötungs-, sondern Tröstungskraft wird bleibend Eindruck in der Menschheit schaffen und sie wandeln.
Die wehrlose Liebe erlöst die lieblosen Werwölfe.
Im Zeichen des Schwachen erkennen und verbinden sich alle, die sich unter der Standarte der Stärke zerstörten.
Das ist es, was in Sacharjas gesungenem Aufruf zum Advent für immer angekündigt und durch Jesu Einzug in Jerusalem für immer bestätigt worden ist: Die Welt der Machtmenschen ist die Welt, die vergeht.
Und es kommt die Welt, die im Zeichen des Esels steht: Des Esels, der Geduld und lasttragende Ausdauer verkörpert, der anders als die Schlachtrösser nie Tod, sondern bei uns zu Lande hin und her zur Mühle nur Brot trägt. Des Esels, auf den der barmherzige Samariter das Opfer der Räuber legte; des Esels, von dem es im geheimnisvollen Jakobssegen am Beginn der Bibel über Issachar heißt (1.Mose 49,14f): „Er ist ein knochiger Esel … und er sah die Ruhe, dass sie gut ist, und das Land, das es lieblich ist; da hat er seine Schulter geneigt, zu tragen, und ist ein fronpflichtiger Knecht geworden.“
– In diesem Eselssegen aber erkennen wir Den, Der selbst – weil der Frieden so nötig und so gut ist – auf Seine Schulter das schwere Kreuz nahm und in Knechtsgestalt den Weg der Wehrlosigkeit, den Todesweg zur Auferstehung, zu Ostern gegangen ist.
Dein König kommt auf einem Esel, Zion, ein Gerechter und ein Helfer, arm und in der reinsten Demut!
Das ist die Zukunft, die vor allem, was war und was ist, durch den Adventspropheten verheißen wurde!
Wenn wir uns dieses Jahr so weit zurückrufen lassen, bis an den Anfang, … so weit hinter alle Geschichte, hinter die furchtbare Gegenwart, die wir und unsere Unkultur verschuldet haben, … wenn wir so wirklich umkehren bis an den Adventsanfang zurück, für den es wahrhaftig höchste, letzte Zeit ist: Dann möge unsere Adventsumkehr uns bereit machen für sein Bevorstehen, für sein endliches Eintreffen, für den jüngsten aller Tage, den Tag des Königs auf dem Esel, den Tag der Freude für die Tochter Zion!
Amen.
[i] Die Umkehr der zeitlichen Reihen- und Rangfolge ist das Erste, was das Evangelium durch die Leitgestalt des Advent – Johannes den Täufer – uns lehrt: „Nach mir kommt, der vor mir war“ (Joh.1,30) ist die zentrale, alles umkehrende Erkenntnisordnung, die wir lernen müssen, wenn wir wirklich Christus, dem Alpha und Omega, begegnen wollen
[ii] Zu denken wäre – auch in der neuerdings zurecht eingenommen multifokalen Perspektive einer nicht mehr allein auf Europa und Vorderasien zentrierten Geschichtsschreibung – an das, was Karl Jaspers in seinem Werk „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ vor siebzig Jahren als die „Achsenzeit“ herausgearbeitet hat: Ein Paradigma, das trotz aller Modifikationen immer noch eine bemerkenswert globale Sicht auf eine Phase im letzten Jahrtausend vor Christi Geburt bietet, die eine bis heute fast unmittelbare Wirkungsgeschichte entfaltet.
[iii] Die Fortsetzung dieser Entwicklung wird kenntnisreich und atemberaubend vermittelt durch Tom Holland, In the Shadow of the Sword – The Battle für Global Empire and the End of the Ancient World, London 2012 (der deutsche Titel „Im Schatten des Schwertes. Mohammed und die Entstehung des arabischen Weltreichs“, Stuttgart, 2012 ist bei weitem zu reißerisch!).
Ewigkeitssonntag, 22.11.2020, Stadtkirche, Hebräer 4, 9-11a, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 22.XI.2020
Hebräer 4, 9-11a
Liebe Gemeinde!
Wie hat dieses Jahr – das für die Kirche heut endet – uns zugesetzt!
Krankheit und Lüge haben die Welt in ihren Würgegriff genommen, bis einen Schwindel und Grausen packte. Chaos und Wahn, Furcht und Ansteckung: Alles vermischt sich in staubi-ger Unklarheit.
Und der letzte Feind, der tatsächlich alle Wirklichkeit in Staub und Asche legt, war auch am Werk: Der grimme Schnitter von Bergamo, der Tod in der Tiefe, den so viele auf der Flucht leiden, … das Sterben, das in unser Haus, in unsere Herzen griff und uns Geliebte nahm.
… Wie hat dies Jahr uns wehgetan!
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Kaiserswerth von oben bietet ein schönes, aber seltsames Bild: Eingefasst von einem Raster rasender, rauschender Lärmlinien – B 8, A 57, A 44, A 52, A 524 – und begrenzt von zwei ungleichen Geräuschwirbeln, die zu Wasser auf dem Rhein und in der Luft überm Flughafen den steten Bewegungspegel aufrecht halten, den unsere Welt braucht, liegt unser mittelalterliches Städtchen da: Dass in diesem Kessel aus Krach dennoch die Gässchen und die Kirchen, die Heime und Schulen, die Krankenhäuser und die traditionsreichen Einrichtungen der Diakonie etwas von der Geduld und Treue der göttlichen Liebe beheimaten, ist wirklich erstaunlich.
Aber es kommt nicht von ungefähr. Ein Blick auf’s Satellitenbild oder die Filmaufnahmen, die kleine Drohnen heute machen, verdeutlicht ein unerwartetes Herzstück des Ortes in seiner heutigen Gestalt. Da sind weder der Markt, noch Klemensplatz und -viertel das Zentrum zwischen Schlosspark und Kaiserpfalz, sondern die Mitte von Kaiserswerth birgt das Gegenteil der lauten Tragikomödie all unseres Laufens und Kaufens und Schnaufens. Und an der Mauer dieses völlig verschenkten Areals, auf dem man so wunderbar einen Supermarkt, einen Modetempel, einen repräsentativen Büro- und Kanzlei- und Praxiskomplex hinsetzen könnte, … an der Mauer, da steht es: „Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes. So lasset uns nun Fleiß tun, hineinzukommen zu dieser Ruhe.“ ———
Ein seltsamer Ort muss das sein, in dem tatsächlich die erste Adresse am Platz denen gelassen wird, die nichts mehr brauchen und nichts mehr geben, weil sie alles entbehren können, … weil sie alles haben.
Gewiss: Es war nicht immer so, dass Kaiserswerth im Kern seine Verstorbenen vom Leben umgeben ließ. Angefangen hat der Friedhof dort mit den Gräbern der Evangelischen, die außerhalb der Reichsstadt zu beerdigen waren. Doch mit den Diakonissen, deren Gottesacker den kleinen protestantischen Begräbnisplatz so stark erweiterte, trat die besondere Lage ein, dass nunmehr zwischen dem historischen und dem diakonischen Kaiserswerth, zwischen Altstadt und Anstalt das Feld der Toten zum Bindeglied wurde. Und seit dann auch die katholische Gemeinde ihre Verstorbenen auf den Flächen beiderseits des Schwesternfriedhofs bestattete, ist vollends der seltene Fall eingetreten, dass ein lebendiger Ortskern im Innersten von so vielfältigen letzten Ruhestätten zusammengehalten wird.
Wie wichtig aber ist es, dass auf diese buchstäblich unumgängliche Weise jeder Mensch bei uns darauf gestoßen wird – in den Turbulenzen ebenso wie im Einerlei des Alltags –, dass kein Weg, den wir gehen, kein Geschäft, das uns fesselt, kein Schmerz, der uns quält, keine Angst, die uns treibt, kein Wahnsinn, der uns mitreißt, das letzte Wort haben!
Auch in einem Jahr mit einem solchen Sog, auch in einer Zeit, die für Einzelne oder für Viele überwältigend wirkt, zeigt der Kaiserswerther Stadt- und Straßenplan uns unmissverständlich, dass alles, was uns bewegt und aufwühlt, wie das große Drumherum ist, in dessen Mitte sich für Gottes Volk eine noch größere Ruhe findet.
Was aber ist die Ruhe, die alle unsere vielen, angestrengten und ernstgenommenen Wege wie die Umlaufbahnen eines Mondes oder die staubigen, eisigen Ringe des Saturn umkreisen?
Was ist die Ruhe, die wir heute, am Tag des Totengedenkens und der Ewigkeitshoffnung in der Mitte unseres Daseins wahrnehmen?
Sollte das der Tod sein?
Ist das die Botschaft: Dass wir uns trösten lassen oder hüten sollen, weil all unsre donnernde Geschwindigkeit doch letztlich irgendwann an dem großen Halteschild nicht vorbeikommt und dann Stillstand herrschen wird, wo es eben noch so zielstrebig oder ziellos zuging?
Ist also etwa die Friedhofsruhe, die Grabesruhe, die man bei gesetzlicher Strafe nicht stören darf, der Mittelpunkt unseres Glaubens und unserer Hoffnung?
Ist das Evangelium tatsächlich eine Lebenshilfe, die sich aus dem Befristet-Sein von Glück und Unglück speist und die wie das alte Wienerlied und die anderen Leierkastenweisen des Fatalismus bloß darauf verweist, dass einen irgendwann gar nix mehr stört und gar nix mehr juckt, weil am End is’ alles gleich g’hobelt[i]?! …….
Gewiss nicht!
Unser Glaube tröstet uns nicht mit dem Ende und vertröstet auch nicht auf die reinweiße Leidens- und Leidenschafts- und Leblosigkeit, in der die Stoiker und die Buddhisten das Ziel erkennen, das Nachlassen und Verlassen, das Lösen und Auflösen, dem einst das tiefe Nichts folgen soll.
Solche Ruhe, die im Schwinden und Schweigen mündet, ist nicht das Herzstück, das wir an diesem Ort auf unseren gewöhnlichen Wegen stets berühren.
Denn der Satz aus dem Hebräerbrief, der an der Mauer des Schwesternfriedhofs zu lesen ist, enthält auch im Griechischen ein Fremdwort, ein Wort, das alle abstrakten Vorstellungen von einem entwesentlichten Nirwana, einem inhaltslosen Nirgendwo undenkbar macht.
Es heißt dort nämlich, dass Gottes Volk einen „SABBATISMOS“ erwarten darf, … einen Tag nicht des „Vorbei“, sondern der „Vollendung“, eine Zeit nicht der Verdünnung, sondern der Verdichtung dessen, was durch Gott selber wirklich ist, weil Gott es gewollt und geschaffen hat!
Der SABBAT, das ist ja nicht die Minderung, sondern die letzte Steigerung dessen, was Gottes Lebensentwurf umfasst.
Der SABBAT, so wie er die Schöpfung krönt und den geschichtlichen Zeitrhythmus gliedert, verheißt und verkörpert nicht ein Minimum oder gar einen Negativposten an Seinskraft, sondern nimmt deren ungestörte positive Entfaltung vorweg: Alle Anfechtung der Selbstmitteilung, die Gott in der Wirklichkeit freisetzt, … alles, was die freie Schönheit des Leben-Dürfens angreift, … alles, was die Fülle, die in Gottes Menschen-Ebenbild Gestalt gewinnt, einschränkt und auslaugt, … alles, was dem ewigen Weiterschwingen des „Siehe, sehr gut!“ (vgl. 1. Mose 1,31) Fesseln anlegt oder den Atem abschnürt … alles das, was gegen das Leben spricht, widerlegt der biblische Ruhetag, der der Gipfel der Schöpfung und ihr Herzstück, ihr Angelpunkt, ihre Mitte ist.
… Es ist eine Lust, nicht eine Last, zu leben: Das ist die allwöchentliche Botschaft des Tags ohne Quälerei, der Stunden ohne Hast, der liturgischen Gottesnähe ohne alles Gefühl von Schuld und Sorgen.
Wer in dieser Zusage – dass solche Sabbatfreude, solche sabbatliche Seligkeit uns bevorsteht – die Botschaft an der Friedhofsmauer mitten in unserem Dasein erkennt, der wird dadurch keinesfalls lebensmüde oder todessehnsüchtig, den packen keine nihilistischen Anwandlungen und den verlangt nicht nach der Vernichtung, sondern der entdeckt, dass tatsächlich mitten im Getriebe, unter allen Gewalten und Geräuschen, die uns lenken und ablenken wollen, eine kräftigere Kraft, eine wirklichere Wirklichkeit, ein lebendigeres Leben sich nicht verdrängen lassen: Der Frieden, der sich in der Gottesruhe findet und der kein jenseitiges Geheimnis, sondern der Ur-Sinn und Ur-Segen der gesamten geschaffenen Wirklichkeit ist.
SABBAT, das war ja schon das Ziel der ersten Woche dieser Welt und wurde nie verschoben auf ein noch nicht verwirklichtes Stadium der Möglichkeiten. ——
Und doch – jetzt zeigt sich, was das Christentum des Hebräerbriefes als österliche Glaubenserfahrung vom vorösterlichen Hoffen Moses und der Propheten unterscheidet – und doch … obwohl der Sabbat, obwohl die Gottesruhe ganz innerweltlich, ganz lebenswirklich, ganz schöpfungsbejahend gestiftet ist, stellt das Sterben dazu keinen Widerspruch dar.
Wer aus der guten Welt Gottes, aus der irdischen Lebenszeit, mit ihrem sabbatlichen Werk- und Ruherhythmus herausgestorben ist, der versäumt deshalb nicht seine Teil-habe an der Fülle des göttlichen Friedenszieles, sondern der nimmt nun völlig unbedingt, völlig ungestaffelt und restlos unvermittelt Teil an der höchsten Friedensfreude, Lebenstiefe, Segensweite Gottes!
Der Tod kann uns nach Christi Auferstehung vom Sinn der Welt und vom Sinn des Lebens nicht nur nicht fernhalten oder trennen, sondern im Gegenteil: Er ist so entmachtet, dass er ganz und gar dem höchsten, dem letzten Lebenszweck dienen muss.
Der Tod, der nach dem Bruch der ursprünglichen Schöpfungsharmonie den gottfernsten aller Zustände bedeutete, ist durch Jesu Christi Kreuz und Auferweckung um seine begrenzende, seine definierende, seine scheidenden Macht gebracht worden.
Gott hat dem Tod seinen Anspruch als die Außenseite einer auf’s Leben zielenden Schöpfung genommen.
Der Tod ist nicht mehr in der Lage, seine Macht als die Ausnahme von Gottes „Siehe, es ist sehr gut!“ zu beanspruchen.
Gott ist in den Tod hinein- und durch ihn hindurchgezogen. Gott hat ihn verwandelt, Er hat den Tod – wenn man so will – verlegt vom Rand und Ende weg: Wie in den Straßen unserer Stadt liegt der Tod seit Ostern in der Mitte, zwischen Leben und Leben, zwi-schen Licht und Licht, zwischen schöpferischem und ewigem Segen.
Was der Tod jetzt noch bedeutet, ist nicht mehr das Abbrechen, sondern das unwiderrufliche Anbrechen der Freude bei Gott; er nimmt nicht mehr den Frieden, sondern er schenkt ihn; er kann uns vom Schönsten am geschöpflichen Leben – und das ist: Geschöpf des selbst lebendigen Gottes zu sein! – nicht mehr abschneiden, sondern mit ihm endet nun der wechselhafte Abschnitt aller wachsenden Entfaltung unserer Gottesnähe und beginnt der für immer reife Zustand ihrer Dauer. ———
Wer diese Botschaft des Hebräerbriefes, dieses Versprechen, dass wir unwiderruflich zur Feier des Sabbats Gottes kommen werden, kennt und glaubt, wer in ihr die Mitte aller anderen Erfahrungen findet, dessen Leben ändert sich nun allerdings gewiss auch vor dem Sterben und im Sterben selbst.
Davon zeugt der Bericht vom Leben und vom Tod der jungen Römerin Cäcilie[ii], der so verbreitet und so wirkungsvoll war, dass auch die evangelische Kirche das Gedächtnis dieser Märtyrerin nicht gänzlich aufgegeben hat, und weil heute ihr Tag im kirchlichen Namenskalender ist, wollen wir den entscheidenden Satz darin noch bedenken.
Cäcilie ist tatsächlich erst durch ein Missverständnis zur Patronin und Muse der Orgelklänge und der Kirchenmusik geworden. In Wirklichkeit war sie eine Heilige nicht des vernehmlich Klingenden, sondern des alle Klänge übertönenden Gesanges der Seelenruhe, der herrlich und sabbatlich jubelnden Heiterkeit des Herzens: Wie so viele andere der von der Befreiung durch Christus ergriffenen Menschen der frühen Kirche hatte auch Cäcilie keinen Sinn mehr für die Statusfragen und Rollenbilder einer rein materiell ausgerichteten Ehe. Ihre zunächst erzwungene Verbindung führte sie stattdessen so, dass sie vor ihrem Mann und schließlich auch mit ihm ein von allen konventionellen Erwartungen gelöstes, ganz auf die Gottesbindung konzentriertes Miteinander suchte.
Diese Freiheit für Gott, für das Wesentliche begann für Cäcilie schon bei der Hochzeit und vollendete sich in ihrem Sterben als Glaubenszeugin. Schon als die pompöse Kultmusik, mit der standesgemäße Vermählungen römischer Patrizier öffentlich gemacht wurden, anhob, so heißt es jedenfalls in der Überlieferung, da hat – unterm klingenden Erz und tönenden Schellen der Lärmgeräte: „cantantibus organis“ – Cäcilie in ihrem Herzen alleine Gott – „soli Domino“ – gesungen, … die Heilige der inneren Musik, die dieses sonderbare Jahr uns ja auch zu kennen und teilen gelehrt hat.
Solche unerschütterliche Ruhe – innerlich bei Gott zu sein und nicht die störenden Nebengeräusche, sondern den ewig tragenden Grundton der Welt zu hören und anzustimmen – solche unerschütterliche Ruhe ist den Menschen Gottes gegeben.
Die Sabbatruhe, die ewige Ruhe, die mitten in unserem Leben liegt, da wo wir jetzt und für immer Gott glauben, auf Ihn hoffen und Ihn lieben dürfen!
… Auch in diesem Jahr, das so wehgetan hat, steht diese Ruhe dem Volk Gottes ja wahrhaftig offen. … So lasst uns nun bemüht sein, in diese Ruhe einzugehen!
Amen.
[i] Vgl. das sog. „Hobellied“ von Ferdinand Raimund, in dessen erster Strophe es heißt: „Das Schicksal setzt den Hobel an und hobelt alle gleich“.
[ii] In Ermangelung gut greifbarer Literatur zur Gestalt der Märtyrerin Caecilie und der Überlieferung ihrer Passio sei auf den differenzierten und seriösen Wikipedia-Eintrag verwiesen, der die Belege aus dem Text der Passio bietet: https://de.wikipedia.org/wiki/C%C3%A4cilia_von_Rom (aufgerufen am 21.11.2020).
Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 08.11.2020, Stadtkirche, 1.Thessalonicher 5, 1 - 6, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Drittletzter Sonntag - 8.XI.2020
1.Thessalonicher 5, 1 – 6
Liebe Gemeinde!
Mit dem ersten Brief des Paulus an die Thessalonicher beginnt 17 Jahre nach der Auferstehung Jesu Christi das Neue Testament, beginnt die Gemeinde Jesu Christi, … die Kirche, … unser eigenes heutiges Dasein als Christen.
Es ist ein fröhlicher kleiner Brief, ziemlich persönlich, spontan, lebensklug, unsystematisch, warm.
Und wenn man an den Rhabarber denkt, mit dem Zusammenschlüsse heutzutage anfangen – Diskussionen und Abstimmungsverfahren und Protokolle und Präliminarien und dann Statuten und Satzungen und Strategiepapiere –, oder wenn wir an das Tamtam denken, mit dem gegenwärtig Bewegungen losgehen – Aufrufe und Aufmärsche und Aufsehen und virale Wellen und Postings und Hashtags und dann Mobs und Demos und Kampagnen –, … dann wundert man sich und kann sich am Heiligen Geist nur freuen, dass die allergrößte Bewegung und umfassendste Versammlung in der gesamten Menschheitsgeschichte – die heilige christliche Kirche – mit einer derart unaufgeregten, beiläufigen Selbstverständlichkeit ans Tageslicht der Geschichte tritt.
An diesem 1.Thessalonicherbrief lässt sich wirklich das Senfkorngleichnis (vgl.Mk4,31f par.) bestätigen. Ein noch unspektakulärerer Anfang ist kaum vorstellbar, so einfach ist das organische Geschehen, das sich da entfaltet: Einige Menschen, in die durch den Zugvogel Paulus der Same der Heilsbotschaft aus dem jüdischen Land, vom Sohn Davids gefallen ist, sind auf dem Boden der europäischen Mittelmeerküste zusammengewachsen, in ihrem Gemeindekern schlägt das Evangelium Wurzeln und wird weiter streuen und nach Jahrhunderten, Jahrtausenden ist diese erstmals in Thessaloniki bezeugte kleinblättrige Pflanzung der Stamm für aktuell zweieinhalb Milliarden Triebe.
Dann muss sich aber der Bauplan für das gewaltige Wachstumswunder in den frühesten Spuren dieses Phänomens nachweisen lassen?! Eine technische Analyse muss in der DNA der Urzelle das Material isolieren können, aus dem alles Weitere hervorgehen konnte?!
— Nun, das mag in biologischer Hinsicht ein nachvollziehbarer Zugang sein. Doch in theologischer Hinsicht führt größere Bescheidenheit zu umso größerem Staunen. Denn dass im 1.Thessalonicherbrief keineswegs alles enthalten ist, was schließlich zur Entfaltung des Neuen Testaments, der kirchlichen Überlieferung, der zweifelnden und glaubenden Bewegung des Christentums und seiner globalen Fruchtbarkeit bis heute führen würde, … das ist gerade kein Mangel, sondern die Stärke unseres Ursprungs.
Der älteste Paulusbrief redet nicht vom Kreuz Christi und enthält keine Rechtfertigungslehre, er polemisiert nicht gegen Gegner und ordnet weder Liturgie noch Ämter, er beschreibt keine Sakramente und beweist nichts aus der Schrift. Er bezeigt bloß unmittelbar Verbundenheit – wie jedes gelegentliche Gespräch – und klärt eine dringend gestellte Frage auf.
… Die aber hat es in sich! In Thessaloniki waren die ersten Christen nicht darauf vorbereitet gewesen, dass es noch Leid und Sterben geben könne, nachdem vor gerade einmal anderthalb Jahrzehnten doch der Tod besiegt worden war. …….
Doch es gab sie.
Der Triumph von Ostern ist in nichts der Abschluss.
Sondern er ist Erstling einer Ernte, die bis zur vollen Reife noch lange wachsen wird (vgl.1.Kor15,20).
Und darum ist die alles entscheidende Kraft, die die Entwicklung der Bibel und der Kirche und des Christentums eröffnete, nicht als die lückenlose Vollständigkeit einer Grundlage, die alles Künftige vorprogrammiert, zu suchen, sondern gerade im Mut zur Lücke.
Das Geheimnis unseres Glaubens von den Tagen des Völkerapostels an bis heute ist es doch, dass er in die Weite wachsen und sich verbreiten kann, dass er Halt findet und emporrankt, wo auch immer ein Spalt, ein Fleckchen Erde, ein wenig Abfall sich zeigt, gerade genug, um einem zähen Schössling erste Entfaltung zu ermöglichen: Das kann dann auf den Hügeln Galiläas, in den Gassen Jerusalems, entlang der Handelswege bis zur Pracht von Damaskus, in den Häfen Griechenlands oder unter den Straßen von Rom sein, ebenso aber auch in der Wüste Ägyptens oder an der ganzen Küste Nordafrikas und in den kaukasischen Bergwelten.
Überall fand es einen anderen Boden und andere Bedingungen – das Pflänzchen des Christusglaubens –, aber es hat sich allüberall eingesenkt und seither auf der ganzen Welt inkulturiert.
Weil es lichtwärts wächst.
Das ist sein ganzes Geheimnis! ———
Was im ersten Moment wie ein öder Allgemeinplatz und dann wie eine esoterische Stereotype klingt, ist doch nur die eigentlich befreiende Botschaft, die der erste Thessalonicherbrief in seiner Licht-Theologie entwickelt.
„Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis“ bedeutet ja schlicht, dass Christen keinerlei Verborgenheit, keine Ummantelung, keine Schutz- und Schlupfwinkel brauchen, sondern sorglos in’s Blaue, in’s Freie, in die Offenheit wachsen können. … Natürlich wissen wir trotzdem auch von christlicher Geheimnistuerei, vom Festklammern in irgendwelchen Nischen, vom Eingraben in vermeintlich geschützten Stellungen und vom Genügen an allerhand Schattenplätzen, in denen nichts Helles, sondern ziemlich Obskures im Namen der Kirche wuchert.
… Aber das ändert nichts daran, dass der Anfang und das Ziel allen Gemeinde- und Glaubenswachstums in der unbegrenzt leuchtenden, durchsichtigen Klarheit liegt, die Gott rief – „Es werde Licht“ (1.Mose1,3) – und die Er ist – „Ich bin das Licht“ (Joh8,12) – und die wir bei Ihm finden werden – „denn die Herrlichkeit des Herrn erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm!“ (Offenb21,23).
Und darum wachsen wir Christen und wächst die Gemeinde Jesu Christi, seine Kirche einfach still und stark dem Licht entgegen: Durch Nacht und Nebel, Angst und Druck, Durst und Fieber hindurch zum Tag, der kein Ende hat, an dem nichts mehr im Schweigen der Gefängnisse und Gräber verborgen, nichts mehr von der Lüge unterschlagen, unterdrückt und ausgeblendet, nichts mehr hässlich wie die Sünde sein wird.
Dieses Wachsen in den Tag Gottes hinein, dieses Bereitsein dafür, dass es hell und frei und gerecht, … dass es wunderbar zugehen wird, wenn alle Schatten endlich fliehen, ist der Grund dafür, dass Christen nicht verschlafen, sondern gespannt und aufgeweckt sein sollen: Nicht aus Angst, sondern wegen der Vorfreude darauf, dass es Licht werde!
Solche Freude an Transparenz und Aufklärung, solche – sprechen wir mal ausnahmsweise mit Goethe! – „Sonnenhaftigkeit“[i] im Gemüt und in der Haltung von Christen, die sich vor keinem Kommenden scheuen, ist also die Botschaft des fröhlichen ersten Thessalonicherbriefs, der so vieles ungesagt lässt.
Der Mut zur Lücke, das Wagnis, nicht in der Sorge, nicht im Klein-mut, sondern in der Öffnung zu immer mehr innerer und äußerer Helligkeit zu existieren, lässt unseren Glauben – geschichtlich wie persönlich – schließlich auch die Rätsel der Dunkelheiten überstehen, die genauso wenig wie alles andere schon vorgezeichnet und damit abgeschlossen sind, aber wahrhaftig auch nicht ständig auf- und nachgezählt werden müssen!
Der Apostel Paulus begegnet der Anfechtung und Herausforderung und Bekämpfung und vermeintlichen Widerlegung des christlichen Glaubens durch die andauernde Wirklichkeit des Todes in der Welt ja eben nicht mit einem systematisch lückenlosen Gegenentwurf.
Als Lösung des Fragekatalogs der Geschichte ist das Christentum nicht zu gebrauchen. Denn in Wahrheit ist es ja das Warten und das Wachsen auf die weltweite Klarheit hin und nicht etwa selber schon das endgültige Licht.
Darum lässt auch das erste, was wir als Christen buchstäblich schriftlich haben, alles offen:
Von den Zeiten und Stunden – von den Problemen und Schmerzen, den Reibungsverlusten und der Ausdauer – ist es nicht nötig euch zu schreiben.
… Das ist die ursprünglichste Auskunft darüber, wie wir mit dem Ungeklärten und Unerklärlichen des Daseins umgehen sollen: Nicht verlogen, als wären wir schlauer im Vergleich zu anderen Menschen, … bloß gelassen!
Auch für Menschen, die mit Jesus Christus leben und die Ihn erwarten, hat die Welt nun einmal keinen auf die Minute fixierten Fahrplan und läuft die Zukunft nicht getaktet nach minutiösem Drehbuch, so dass man Einzelnes sicher vorhersagen und Entwicklungen irrtumsfrei berechnen könnte.
Aber gerade diese Erfahrung, die das Jahr 2020 uns allen so existentiell nahegebracht hat und täglich noch näher bringt, stellt uns noch einmal vor die Alternative des Anfangs:
Brauchen wir die Enge und Sicherheit, die in der Abschottung von allem Lebendigen und Unberechenbaren – in der Finsternis also – herrschen, oder bleiben wir zum zunehmenden Himmelslicht des Reiches Gottes gewendet, das uns auf seiner Bahn vieles bringt und zeigt, von dem wir uns unter Tage, in der Schutzhöhle der Zukunftsverängstigten nichts träumen ließen?! …….
In dieser Grundfrage – Starre oder Offenheit? hartverschlossener Kern oder verletzliches Hinauswagen ins Wachsende? – zeigt sich, dass die Botschaft Jesu Christi die Welt, die wir kennen, nicht festigt, sondern im Gegenteil deren Festgelegtes verunsichert, … zeigt sich also, dass uns mit dem Evangelium tatsächlich nicht Bestätigung, sondern Überraschung verkündet wird, und dass das Neue Testament, das aus dem harmlosen kleinen Thessalonicherbrief wachsen sollte, nicht Garantie, sondern Anarchie in unsere Perspektiven bringt! …….
An nichts aber wird diese Tendenz zum Unvorhergesehenen, zum unplanbar unserm Zugriff Entzogenen in der christlichen Erwartung so deutlich wie an jenem eigentümlich unbürgerlichen Bild, das in den Evangelien, den Briefen und der Offenbarung[ii] übereinstimmend als beste Illustration des unabwendbaren Eingreifens Gottes in die Statik der weltlichen Verhältnisse begegnet. Die Welt ist nicht dagegen abzusichern, dass Gott nach Seinem Belieben in sie fasst und das Ihre an Sich nimmt. … Nichts kann die Welt vor Ihm sicher machen. … Denn Er kommt „wie ein Dieb in der Nacht“! ——
Dieses mehr als gewagte, dieses kriminelle Bild hätte niemand erfunden und dem Heiligen des Höchsten in den Mund gelegt (vgl.Matth24,43par.)! Wir dürfen darum gewiss sein, dass wir Jesus selbst vernehmen, wenn wir von Seiner Zukunft, Seiner Wiederkehr als einem ungebetenen nächtlichen Überfall hören.
Doch der springende Punkt dieser bildlichen Redeweise ist nicht die Drohung, die bis heute allen gut, indes völlig nutzlos verbarrikadierten Wohlhabenden den Schweiß auf die Stirn treibt, sondern dass diese Metapher Funken aus ihrer sonnenhaften Witzigkeit schlägt: Der da nämlich kommt und die Welt überrumpeln wird, ist doch der Herr!
Wie und wo aber sollte der Herr aller Dinge, ihr Schöpfer und Eigentümer ein „Dieb“ sein können, … wie und wo außer in der geist- und sinnlosen Angst derer, die nicht begriffen haben, was sich und wer wem gehört?!
— Der Dieb, der da kommt, ist Der, der es nicht einmal „wie einen Raub behielt, Gott gleich zu sein“, sondern alles dahingab (vgl.Phil2,6; Rö8,32). Der Dieb, der da kommt und die Nacht für die Ungläubigen so unheimlich macht, ist kein anderer als der helle Morgenstern (vgl.2.Petr1,19), der Aufgang aus der Höhe (vgl.Lk1,78), das Licht, das alle Menschen erleuchtet (vgl.Joh1,9). Dieser Ruhestörer und Verbrecher, der aus dem Nichts auftaucht, ist der plötzliche Richter, Der Seinen Überfluss an Gerechtigkeit mit unwiderstehlicher Vollmacht gegen unsern Mangel tauscht und so einen Ausgleich schafft (vgl.2.Kor8,9ff), der zwar alle berechenbaren Werte wertlos macht und die eben noch Reichen mithin leer ausgehen lässt, aber die Hungrigen füllt er dafür wahrlich und ewig mit Gütern (vgl.Lk1,53)!
Dieser Coup – zugleich Staats- wie Geniestreich – ist das Licht, das der Welt blüht und die nüchtern nicht zu datierende, aber täglich frisch zu erwartende Hoffnung, die allem bevorsteht.
In ihrem Licht ist das Christentum bis heute immer in die Zeit hineingewachsen, dem hellen Tag entgegen.
Und niemand hat die unbedingte christliche Offenheit für das große Ziel, dem alles lichtwärts zustrebt, so ausgesprochen, so ausgeseufzt und -gejubelt wie die kleine Therese von Lisieux, die 1897 auf ihrem wahrhaftig quälenden Sterbelager, auf dem sie immer wieder in die Nacht des Zweifels und den Abgrund des Nihilismus getaucht wurde[iii], immer wieder sagte:
„Ich fürchte den Dieb nicht. Ich sehe ihn von ferne, und ich hüte mich zu schreien: Haltet den Dieb! Im Gegenteil, ich rufe ihn und sage: Hierher bitte, hierher bitte!“[iv]
Denn sie wusste wie der Apostel, dass wir Kinder des verstohlen, aber unaufhaltsam kommenden Lichtes und Tages sind.
Auf den hin ist aber und bleibt alles offen: Denn wenn er einbricht, bricht er an!
Wohl denen, die das nicht als das Ende fürchten, sondern darin den Anfang erkennen!
Amen.
[i] Vgl. Goethes Gedicht: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt es nie erblicken; / Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt uns Göttliches entzücken?“, in: Goethes Gedichte in zeitlicher Folge, hgg v. H.Nicolai, Frankfurt/M 19907, S. 556.
[ii] Da neben der gemeinsamen Überlieferung, die sich in Matth24,43 ‖ Lk 2,39 / 1.Thess 5, 2 + 4 / 2.Petr.3,10 und Offenb.3,3 + 16,15 findet, auch das (koptische) Thomasevangelium das Logion vom Dieb in der Nacht kennt (vgl. ThomEv (Logion 21) in: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung – I.Bd.: Evangelien, hgg.v. W.Schneemelcher, Tübingen 19875, S. 102) ist dessen gewiss nicht erfindliche, dafür aber ununterdrückbare Eigenheit mit umso größerer Sicherheit als „historisch“ zu betrachten. Interessant ist, dass sich im Umkreis dieses Logions im ThomEv auch das Senfkorngleichnis findet (Logion 20) und kurz davor ein weiterer Gedanke, der sich mit der Predigtintention berührt, obwohl deren Anmerkungen erst nachträglich erarbeitet wurden: „Die Jünger sagten zu Jesus: Sage uns, wie unser Ende sein wird. Jesus sagte: Da ihr entdeckt habt den Anfang, warum sucht ihr das Ende? Denn da, wo der Anfang ist, wird auch das Ende sein. Selig, wer sich an den Anfang (im Anfang) halten wird, und er wird das Ende erkennen, und er wird den Tod nicht schmecken“ (Logion 18, aaO, S.101).
[iii] Vgl. dazu: Jean-Francois Sixt, Licht in der Nacht: Die (18) letzten Monate im Leben der Therese von Lisieux. Mit einem Vorwort für die deutsche Ausgabe von Ulrich Dobhan, Würzburg 1997.
[iv] Hier zitiert nach: Therese von Lisieux, Ihm kann ich alles sagen – Gebete der Liebe. Mit einer Einführung von Waltraud Herbstrith, München u.a. 19984, S.97.
3.letzt. S. d. Kirchenjahres, 08.11.2020, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
„Mahatma Gandhi - ein Botschafter für Frieden und Versöhnung"
Liebe Gemeinde,
der November ist ein eher unbeliebter Monat: dunkel, nass-kalt und dann noch behaftet mit vielen traurigen Feiertagen, mit der Erinnerung an Verlust, an Tod und Trauer. Und in diesem Jahr dann auch noch Corona! Eine zu unseren Lebzeiten so noch nie erlebte Erfahrung, die wir mit der ganzen Menschheit teilen. Ja, es ist viel Dunkelheit da, aber es gibt keinen Grund, sich ihr zu ergeben. Denn da gibt es auch Licht, mehr als wir manchmal vermuten. Seit Gott sein Schöpferwort „Es werde Licht!" gesprochen hat, ist auch die Finsternis nicht mehr finster. Allerdings liegt es seitdem auch an uns Menschen, dem göttlich initiierten Licht Nahrung zu geben, zu brennen für das Leben, das Gott geschenkt hat. „Lasst euer Licht leuchten vor den Leuten", hat Jesus seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern zugerufen, „zeigt durch eure Worte und Taten, mit eurem Leben, dass ihr Kinder des Vaters im Himmel seid." Und da schätze ich gerade die Gedenk- und Feiertage des November sehr, denn sie fordern mich geradezu auf, über den eigenen Tellerrand hinauszusehen, wahrzunehmen, wo Lichter leuchten, darüber nachzudenken, was man selber tun kann, welche Veränderungen nötig sind, um es auf dieser Welt heller werden zu lassen.
Heute beginnt die ökumenische Friedensdekade. Sie erinnert uns daran, dass die tiefste Dunkelheit vom Menschen ausgeht, von seiner Gewaltverhaftetheit. Und sie fordert uns auf, vor der Gewalt, vor Hass und Unterdrückung nicht zurückzuweichen, sondern den Kampf für den Frieden aufzunehmen - gewaltfrei, aber entschlossen und mit einem langen Atem. Wir sind in diesem Kampf nicht allein, sondern wir sind verbunden mit Menschen durch die Zeiten und aus den unterschiedlichsten Kulturen und Religionen. Was uns verbindet, dass ist die Erkenntnis, Geschwister zu sein, Kinder Gottes, Kinder der Sehnsucht des Lebens nach sich selber, wie es Khalil Gibran so wunderbar formuliert hat.
Wie sehr wir einander nahe sind, das überrascht auch mich noch immer wieder und hat mich dankbar und demütig gemacht. Nicht die Religion ist entscheidend, sondern die wahrhaftige, ehrliche Suche nach dem, was Gottes Wille ist. Nicht der Christ ist der Mensch nach dem Herzen Gottes, sondern der, der seinen Willen tut - völlig unabhängig, in welcher religiösen Tradition er wurzelt.
Ich möchte Sie heute an einer meiner überraschenden Entdeckungen teilhaben lassen und Sie mit einigen Gedanken Mahatma Gandhis bekannt machen, diesen Propheten und Botschafter des Friedens und der Gewaltlosigkeit, diesen wahrhaften Nachfolger des Jesus von Nazareth. Jede und jeder wird seinen Namen kennen, wird wahrscheinlich auch ein Bild vor seinem inneren Auge haben, von einem kleinen, freundlichen Herrn mit kahlem Kopf und gekleidet, nein gewickelt in ein weißes Baumwolltuch, das er selbst gesponnen und gewebt hat. Und die meisten werden wissen, dass es seinem Einsatz zu verdanken war, dass Großbritannien 1947 Indien in die Unabhängigkeit entlassen musste und dass Gandhi das Schicksal Martin Luther Kings geteilt hat, dass er 1948 von einem religiösen Fanatiker ermordet wurde. Im Folgenden soll Mahatma Gandhi, die „Große Seele", selbst zu Wort kommen. Seinen Aussagen werden immer wieder biblische Texte gegenübergestellt.
1.Für mich ist Wahrheit das Grundprinzip, das viele andere Prinzipien in sich schließt. Diese Wahrheit ist nicht nur Wahrhaftigkeit im Reden, sondern auch Wahrhaftigkeit im Denken, und nicht nur die relative Wahrheit unseres Begriffs, sondern die absolute Wahrheit, das ewige Prinzip, das heißt Gott. Es gibt unzählige Definitionen von Gott, weil seine Manifestationen unzählige sind. Sie überwältigen mich in Bewunderung und Ehrfurcht und betäuben mich für einen Augenblick. Doch ich bete Gott nur als Wahrheit an. Ich habe ihn noch nicht gefunden, aber ich suche ihn. (AB S.13)
Joh.4,23-24
Aber die Stunde kommt und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. Gott ist Geist, und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten.
2.Bei meiner Suche nach der Wahrheit wächst in mir die Erkenntnis, dass Wahrheit alles andere umfasst. Sie ist nicht in Ahimsa (~ Gewaltlosigkeit), sondern Ahimsa ist in ihr. Das, was wir mit reinem Herzen und Verstand erkennen, ist in diesem Moment die Wahrheit... Es geht hier nicht darum, Herz und Verstand voneinander zu trennen. Aber oft genug ist es schwierig zu entscheiden, was Ahimsa ist. ... Wir müssen ein Leben in Ahimsa inmitten einer Welt voll Himsa (~ Gewalt) leben, und das ist nur möglich, wenn wir an der Wahrheit festhalten. So leite ich Ahimsa aus der Wahrheit her. Aus der Wahrheit gehen Liebe, Zärtlichkeit und Demut hervor. Ein Verehrer der Wahrheit muss demütig bis in den Staub sein. (SL S.144)
Mt.11,28-29
Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele.
3.Liebe und Wahrheit sind wie zwei Seiten einer Münze, beide sind äußerst schwierig umzusetzen, und beide sind die einzigen Werte, für die es sich zu leben lohnt. Ein Mensch kann nicht wahrhaftig sein, wenn er nicht alle Geschöpfe Gottes liebt; Wahrheit und Liebe sind darum das vollkommene Opfer. So bete ich darum, dass wir beide, du und ich, dies in vollem Umfang erkennen mögen. (SL S.474)
2.Joh.3
Gnade wird mit uns sein, Erbarmen und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, dem Sohn des Vaters, in Wahrheit und Liebe.
4.Wir dürfen andere nicht für etwas töten, das wir als wahr und rein ansehen. Wir sollten bereit sein, für die Wahrheit zu sterben, und, wenn es soweit ist, unser Leben dafür geben und die Wahrheit mit unserem Blut besiegeln. Aus meiner Sicht ist dies die Kernbotschaft aller Religionen. (SL S.362f)
5.Wörtlich bedeutet Ahimsa Nicht-Töten. Für mich aber enthält es einen ganzen Kosmos an Bedeutungen... Ahimsa meint in Wirklichkeit, dass du niemanden kränken sollst, dass du keinem lieblosen Gedanken in dir Raum geben sollst, auch nicht gegenüber einem anderen, der sich vielleicht als dein Feind betrachtet. Beachte, wie vorsichtig ich diesen Gedanken formuliert habe. Ich sage nicht „wen du als deinen Feind betrachtest", sondern „wer sich als dein Feind betrachtet". Für den, der die Lehre von Ahimsa befolgt, gibt es keinen Platz für Feinde; er verneint die Existenz eines Feindes. Doch es gibt Menschen, die sich als seine Feinde betrachten, und daran kann er nichts ändern. So steht fest, dass wir keinem bösen Gedanken in uns Raum geben dürfen, auch nicht im Hinblick auf einen solchen Menschen. (VT, S.129f)
Mt.5,21-22
Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemanden tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein; und wer zu seinem Bruder sagt: Du Dummkopf!, soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein; wer aber zu ihm sagt: Du Narr!, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein.
6.Es ist keine Gewaltlosigkeit, wenn wir nur die lieben, die uns lieben. Gewaltlosigkeit ist es, wenn wir die lieben, die uns hassen. Ich weiß, wie schwer es ist, dieses große Gesetz der Liebe zu befolgen. Aber sind nicht alle großen und guten Dinge schwierig? Den Hassenden zu lieben ist das Schwierigste überhaupt. Doch durch die Gnade Gottes lässt sich selbst diese äußerst schwierige Aufgabe leicht erfüllen, wenn wir es nur wollen. (VT, S.155)
Mt.5,43-48
Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!
7.Es gibt keine Ruhe ohne Sturm; es gibt keinen Frieden ohne Unfrieden. Unfrieden ist Teil des Friedens. Davon müssen wir ausgehen. Das Leben ist ein ständiger Kampf gegen inneren und äußeren Unfrieden. Darum ist es nötig, Frieden zu schaffen inmitten allen Unfriedens. (SL, S.489)
8.Gott ist keine Person außerhalb unserer selbst oder des Universums. Er durchdringt alles, ist allwissend und allmächtig. Er braucht keine Anbetung oder Bittgebete. Weil er allen Wesen innewohnt, hört er alles und kennt unsere tiefsten Gedanken. Er wohnt in unseren Herzen und ist uns näher als die Haut unter unseren Fingernägeln. (VT, S.101)
Apg.17,24-28a
Der Gott, der die Welt erschaffen hat und alles in ihr, er, der Herr über Himmel und Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind. Er lässt sich auch nicht von Menschenhänden dienen, als ob er etwas brauche, er, der allen das Leben, den Atem und alles gibt. Er hat aus einem einzigen Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen, damit es die ganze Erde bewohne. Er hat für sie bestimmte Zeiten und die Grenzen ihrer Wohnsitze festgesetzt. Sie sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten; denn keinem von uns ist er fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir; wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seinem Geschlecht.
9.Langjährige Beobachtungen und Erfahrungen haben mich zu dem Schluss gebracht, dass 1. Alle Religionen wahr sind; 2. Alle Religionen bestimmte Irrtümer in sich bergen; 3. Mir alle Religionen genauso lieb sind wie mein eigener Hinduismus - so wie einem alle menschlichen Wesen genau so lieb sein sollten wie die eigenen nahen Angehörigen. Meine Ehrfurcht vor anderen Glaubensrichtungen ist genauso groß wie vor meinem eigenen Glauben; darum stellt sich die Frage der Konversion erst gar nicht. Das Ziel brüderlichen Lebens sollte sein, einem Hindu zu helfen, ein besserer Hindu zu werden, einem Moslem, ein besserer Moslem zu werden, und einem Christen, ein besserer Christ zu werden. (VT, S.269)
10.Ich glaube an die grundlegende Wahrheit aller großen Weltreligionen. Ich glaube, dass sie alle gottgegeben sind und dass sie zum Nutzen derer sind, denen sie offenbart wurden. Und ich glaube, wenn wir nur alle in der Lage wären, die heiligen Schriften der verschiedenen Religionen aus dem Blickwinkel derer zu lesen, die der jeweiligen Religion angehören, dann würden wir entdecken, dass sie in ihrem tiefsten Grund alle eins sind und einander ergänzen. (VT, S.264)
11.Ich halte es für falsch, Sicherheiten in dieser Welt zu erwarten, wo alles außer Gott, der die Wahrheit ist, ungewiss ist. Alles, was mit und um uns erscheint und geschieht, ist unsicher, flüchtig. Aber dahinter ist als Sicherheit ein höchstes Wesen verborgen. Und wer gesegnet ist, der vermag einen Schimmer dieser Sicherheit zu erhaschen und den Karren seines Daseins daran zu hängen. Die Suche nach dieser Wahrheit ist das höchste Gut des Lebens. (AB, S.217)
Nicht wahr, liebe Schwestern und Brüder, was wir da gehört haben, das hat es wirklich in sich. Wie ist das möglich, mögen Sie sich fragen, dass ein Hindu so nah dran ist an dem, was Jesus 1900 Jahre vor ihm gesagt hat? Wie ist es möglich, dass ein Mensch ganz anderer Kultur und Angehöriger einer anderen Religion offensichtlich mehr von Jesus verstanden hat, als Heerscharen frommer Christen durch die Jahrhunderte? Wie ist das möglich, dass ein Hindu ein Mensch in der Nachfolge Jesu ist; denn es gilt, was Jesus selbst gesagt hat: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, an ihrem Lebenszeugnis. Und da hat sich Mahatma Gandhi wirklich als Bruder Jesu im Geist erwiesen.
Mich ermutigen die Zeugnisse Mahatma Gandhis ungemein - gerade in diesen Zeiten. Sie bezeugen mir, dass Gott nichts unversucht lässt, seinen Friedenswillen unter seine Menschenkinder zu bringen. Keine Religion lässt er dabei außen vor. Sein Geist weht nicht nur unter Christen, sondern auch unter Hindus und Buddhisten, unter Muslimen und Juden, unter Taoisten und Animisten; er lässt sich vernehmen in Tempeln und Pagoden, in Moscheen und Synagogen, in Kirchen und Bethäusern, auf Kultplätzen der Indigenen und in schamanistischen Hütten. Wir können ihn finden in allen Heiligen Schriften, wenn wir sie nur richtig und das heißt vor allen Dingen mit demütigem und staunendem Herzen und mit wachem Interesse und Verstand lesen und das, was lebensfördernd, dem Frieden und der Gemeinschaft aller Menschen dienlich ist in den Texten freilegen, immer unterscheiden zwischen Menschenwort und dem göttlichen Anruf dahinter.
Einer, der auch ähnlich überrascht und fasziniert von der Nähe und Verwandtschaft zwischen der Botschaft von Mahatma Gandhi und Jesus von Nazareth war, war Dietrich Bonhoeffer. Erst in diesem Jahr wurde ein Brief bekannt, den er an Gandhi 1934 geschrieben hat, in dem er sein Interesse bekundete, Gandhi in seinem Aschram in Indien zu besuchen. Gandhi antwortet ihm darauf in einem Brief: „ ...Im Blick auf Ihren Wunsch, an meinem alltäglichen Leben teilzunehmen, möchte ich Ihnen sagen, dass Sie sich bei mir aufhalten können, wenn ich nicht im Gefängnis bin und an einem festen Ort verweile, wenn Sie kommen. Andernfalls, wenn ich auf Reisen bin oder im Gefängnis, müssen Sie sich mit dem Aufenthalt in oder bei einer der Einrichtungen begnügen, die unter meiner Aufsicht geführt werden. Wenn Sie in einer dieser Einrichtungen, an die ich denke, wohnen mögen und von der einfachen vegetarischen Kost leben können, die diese Einrichtungen Ihnen bieten können, brauchen Sie für Verpflegung und Unterkunft nichts zu zahlen. ...." Als ich das las, musste ich sofort an eine Begebenheit denken, von der Johannes in seinem Evangelium erzählt. Da sprechen einige Griechen Philippus, einen der Jünger Jesu an und bitten ihn, ihnen den Kontakt zu Jesus zu ermöglichen. Jesus antwortet daraufhin mit dem Hinweis, dass das jetzt nicht günstig ist, da er unmittelbar davor steht, in sein Leiden zu gehen (Joh.12,20-24). Jesus wie Gandhi lernt man kennen, wenn man ihren Weg, ihr Leben teilt.
Dietrich Bonhoeffer hat die Reise nach Indien nicht angetreten, er hat statt dessen seinen eigenen Aschram in Finkenwalde gegründet, das Predigerseminar der Bekennenden Kirche, sein Eintritt in den Widerstand gegen die Nazi-Diktatur, der Beginn seines Weges im Kampf gegen das Unrecht und im Kampf für den Frieden; er ist seinen Weg in der Nachfolge Jesu und irgendwie auch den Weg Mahatma Gandhis gegangen - jeder eben an dem Ort, an den ihn Gott gestellt hat.
Liebe Schwestern und Brüder, es wird bestimmt im nächsten Jahr noch weitere Gottesdienste geben, in denen ich Ihnen zeigen möchte, mit wie vielen Menschen guten Willens wir gemeinsam unterwegs sind, wenn wir uns um Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung bemühen. Das zu erkennen ist so wundervoll und tröstlich, so ermutigend in diesen Zeiten.
AS : Hg. Martin Kämpchen, Mahatma Gandhi.
Der Atem der Seele. Über Gottesliebe und Gebet
Patmos Verlag 2006
AB : M.K.Gandhi, Eine Autobiographie oder Die Geschichte
meiner Experimente mit der Wahrheit.
Verlag Hinder + Deelmann 2009
VT : The Selected Works of Mahatma Gandhi. Volume Six. The Voice of Truth
Ahmedabad 1968
SL : The Selected Works of Mahatma Gandhi. Volume Five. Selected Letters.
Ahmedabad 1968
19.S.n.Tr., 18.10.2020, Eph.4 22-32, StK + Jonakirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
kennen Sie das auch? Da steht man vor dem offenen Kleiderschrank und sucht nach dem passenden Outfit. Der Schrank ist voll, aber mit jeder Minute wächst die Verzweiflung, die Hektik. Irgendwie passt nichts, passt nichts zusammen: die Farbe der Bluse nicht zum Rock, der Schnitt des Shirts nicht zur Hose, und der Druck auf dem Sweater ist von vorgestern. Auf dem Bett wächst der Berg der anprobierten Teile und der Uhrzeiger bewegt sich unerbittlich weiter.
Nein, sich zu kleiden ist heutzutage schwerer denn je, weil die Auswahl beides ist: zu groß und nie genug. Und immer wieder der kritische Blick in den Spiegel, die bange Frage „Geht das so?"
Eigentlich müsste sie lauten „Bin ich das?"
Kann sie bejaht werden, wird Kleidung zur zweiten Haut, die Körper und Persönlichkeit in einer harmonischen Gesamterscheinung zur Geltung bringt. Aber oft begegnen wir Menschen, die eher ver-kleidet sind, als ge- und be-kleidet. Sich Einkleiden ist ein Vorgang, der alles andere als unerheblich ist. Es geht um Identitätsarbeit, die zu leisten ist und die eben auch schief gehen kann. Unser Predigttext knüpft daran an. In ihm geht es um das Ausziehen und Anziehen und darum, was einem steht.
Ich lese uns aus dem Epheserbrief aus dem 4.Kapitel die Verse 22 - 32.
„Ihr wisst, dass ihr nicht so weiterleben könnt, wie ihr früher gelebt habt. Legt den alten Menschen ab, der sich von seinen selbstsüchtigen Wünschen verlocken lässt. Sie sind trügerisch und bringen ihm nur den Tod. Lasst eure Gesinnung vom Geist Gottes erneuern! Zieht den neuen Menschen an, den Gott nach seinem Bild geschaffen hat und der so lebt, wie Gott es haben will - in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.
Hört also auf zu lügen und betrügt einander nicht; denn wir alle sind Glieder am Leib Christi. Versündigt euch nicht, wenn ihr in Zorn geratet, und versöhnt euch wieder miteinander, bevor die Sonne untergeht. Sonst bekommt der Teufel Macht über euch. Wer vom Diebstahl gelebt hat, der muss jetzt damit aufhören. Er soll seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit verdienen und zusehen, dass er auch noch etwas für die Armen übrig hat. Lasst kein giftiges Wort über eure Lippen kommen. Seht lieber zu, dass ihr für die anderen in jeder Lage das rechte Wort habt, das ihnen weiterhilft. Beleidigt nicht durch euer Verhalten den Heiligen Geist, den Gott euch gegeben hat. Denn er bürgt euch dafür, dass Gott zu seiner Zeit eure Rettung vollenden wird. Weg also mit aller Verbitterung, mit Aufbrausen, Zorn und jeglicher Art von Beleidigung! Schreit einander nicht an. Legt jede feindselige Gesinnung ab. Seid gütig und barmherzig zueinander und vergebt euren Mitmenschen, so wie Gott euch durch Christus vergeben hat."
Dieser Text führt uns weit zurück in die Anfänge der Kirche. Er lässt uns erahnen, was das damals für die Menschen im römischen Reich bedeutet hat, sich taufen zu lassen und so in die christliche Gemeinde aufgenommen zu werden. Es war anders als heute keine Normalität, sondern etwas Außerordentliches - man gehörte nicht mehr zum Mainstream, sondern war Außenseiter.
Der Epheserbrief richtet sich an Menschen, die von dem Apostel Paulus für den Glauben an Jesus Christus gewonnen worden sind. Die Begeisterung des Anfangs ist offensichtlich verflogen. Die ethischen Ansprüche, denen man selber einmal gerecht werden wollte, weil sie einen überzeugt hatten, werden immer mehr als Last empfunden. Die Werte zu leben, die in den eben verlesenen Versen genannt werden, das ist anstrengend. Die Toga war leicht auszuziehen und das Taufkleid leicht anzuziehen - aber das Leben in diesem neuen Kleid, das überforderte offensichtlich.
Den alten Menschen ablegen und den neuen anziehen; hier geht es um etwas anderes, als dem Heidentum, den alten Göttern und Bräuchen abzusagen und sich taufen zu lassen. Der Alte Mensch ist nicht der Heide und der Neue Mensch der Christ.
Dann wären wir ja fein raus; dann könnten wir den Text zur Seite legen. Als Christen von Anfang an wären wir nicht mehr gemeint, wir könnten so bleiben, wie wir sind.
Doch damit liegt man falsch. Mit der Taufe, bei den meisten von uns bei der Kindertaufe, hat man eben nicht den alten Menschen aus- und den neuen Menschen angezogen. Der alte und der neue Mensch - sie meinen verschiedene Möglichkeiten des Menschseins, die sich uns beständig anbieten und für die wir uns immer wieder neu entscheiden, die wir aktiv ergreifen müssen.
Paulus beschreibt den alten Menschen als programmiert von der Angst, zu kurz zu kommen, mit allen negativen, destruktiven Konsequenzen.
Diesen alten Menschen vergleicht er mit einem Kleidungsstück. Damit sagt er, dass ich mit ihm nicht identisch bin. Mein eigentliches Selbst, mein wahres Ich hat damit nichts zu tun. Der alte Mensch, das ist das Ego - alle kennen das Wort Egoismus, das die rücksichtslose Durchsetzung eigener Interessen bezeichnet. Dieses Ego trage ich an mir, aber es gehört nicht essenziell zu mir. Eine erstaunliche Aussage, die Paulus da macht.
Man muss schon weit gehen, mindestens bis zu den Mystikern, bis man in der christlichen Kirche wieder hört, dass es in jedem Menschen einen Kern gibt, einen Raum, in dem nur Gott wohnt und in dem das Bild, das dieser sich von jedem Menschen gemacht hat, aufbewahrt und geschützt wird.
Der Kern des Menschen, das eigentliche Selbst, Gottes Ebenbild in uns, sein lebendiger Atem, das ist die Urbedeutung des Wortes Seele. Das Ego ist nur Drumherum. Das bin nicht wirklich Ich. Dazu kann und muss ich auf Distanz gehen. Auf die alten Programmierungen wie
- Wenn du bedroht wirst, wehr dich ohne Rücksicht!
- Du kannst dir nicht erlauben, fair zu sein, sonst ziehst du den Kürzeren!
- Du bist allein auf dich gestellt; sieh zu, wie du durchkommst.
- Du bist nur wert, was du leistest.
- Du darfst keine Schwäche zeigen.
Ich denke, jeder kennt seine eigene Programmierung. Und es ist dieses falsche Programm, das uns und unser Zusammenleben so oft zerstört.
Doch das Evangelium, die frohe Botschaft, die uns Paulus zuruft, lautet: Auf diesen alten Menschen seid ihr nicht festgelegt. All die selbstzerstörenden und lebenszerstörenden Äußerungen, sie sind nicht allmächtig oder gar unabänderlich. „Ihr könnt auch anders, ganz anders!" „Wendet nach außen, was tief in euch längst da ist: zieht den neuen Menschen an. Werdet der Mensch, als den Gott euch gedacht hat von Anfang an. Verändert euer Denken und Handeln. Lebt so, wie Gott es haben will," schreibt Paulus, „in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit."
Das ist die Freiheit eines Christenmenschen: wir haben die Wahl, bekommen eine Alternative geschenkt.
Die Frage ist: Nehmen wir das Geschenk an?
Wer sich taufen, sich konfirmieren lässt, sagt eigentlich: Ja, ich nehme dieses Geschenk an - mit all den Folgen, die sich daraus für mich ergeben.
In einer Parallelüberlieferung zu unserem Text im Kolosserbrief heißt es: „Ihr habt den alten Menschen ausgezogen und den neuen Menschen angezogen, der erneuert wird nach dem Ebenbild dessen, der ihn geschaffen hat." (Kol.3,9b.10)
Hier wird ausdrücklich von diesem Bild Gottes gesprochen, das mein wahres Selbst, den Kern meiner Person ausmacht. Von diesem Bild her geschieht das Neu-Werden, das neue Bewusst-Sein, welches das neue Sein nach sich zieht. Damit ein Mensch in einer konkreten Entscheidungssituation Freiheit, Freiraum hat, sich für Gerechtigkeit, Liebe, Wahrheit, Versöhnung, Ehrlichkeit bewusst zu entscheiden. Damit wir uns in diesem Sinne als Menschen Gottes ein neues Outfit leisten und darin eine gute Figur machen und als christliche Gemeinde darin auch anziehend wirken.
Genau so sind die Aufforderungen in unserem Predigttext gemeint:
Hört auf zu lügen und betrügt einander nicht.
Unterscheidet euch darin z.B. von vielen Politikern heutzutage, die nur sagen, was Wahlerfolg verspricht.
Versündigt euch nicht, wenn ihr in Zorn geratet.
Seid gütig und barmherzig zueinander und vergebt euren Mitmenschen, so wie Gott euch durch Christus vergeben hat.
Gerade die Bereitschaft und Fähigkeit zu vergeben zeichnet den neuen Menschen aus. Dem anderen zu vergeben - und auch sich selbst, wenn man an seinen eigenen Maßstäben gescheitert ist. Sich selbst zu vergeben ist oft ganz schön schwer.
„Ihr könnt auch anders, ganz anders!"
Der Dichter Ödön von Horvath hat ein Bonmot formuliert, das genau hier hinpasst. Einer seiner Protagonisten sagt da: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu." Dieser Satz hat Udo Lindenberg zu einem ganzen Song inspiriert „Ganz anders". Ich bin ehrlich gesagt nun wirklich kein Fan der Musik von Udo Lindenberg, aber der Text dieses Songs, der ist klasse.
„Oh ja, Udo ist im Haus,
oh ja, hör zu, ich sage
Eigentlich bin ich ganz anders
Ich komme nur viel zu selten dazu
Du machst hier grad mit einem Bekanntschaft
Den ich genauso wenig kenne wie du.
Ich hab so viele Termine
In der Disco, vor Gericht und bei der Bank
Da schick ich einfach meine Vize-Egos
Und das wahre Ich bleibt lieber im Schrank.
Ich bin gar nicht der Typ
Den jeder in mir sieht
Und das wird ich euch bei Zeiten
Auch alles noch beweisen.
Eigentlich bin ich ganz anders
Ich komme nur viel zu selten dazu
Du machst hier grad mit einem Bekanntschaft,
den ich genauso wenig kenne wie du.
Du hast bestimmt ein falsches Bild von mir
Sowas wie n echten Kujau
Es tut mir leid, da kann ich nix dafür
Denn mein eigentliches Ich ist im Urlaub.
Ich bin gar nicht der Typ
Den jeder in mir sieht
Und das werd ich euch bei Zeiten
Auch alles noch beweisen.
Eigentlich bin ich ganz anders
Ich komme nur viel zu selten dazu
Du machst hier grad mit einem Bekanntschaft,
den ich genauso wenig kenne wie du.
Eigentlich sind wir ganz anders
Wir kommen nur viel zu selten dazu
Du machst hier grad mit Leuten Bekanntschaft
Die wir genauso wenig kennen wie du."
In der Tat, diesen Text hätte ich Udo Lindenberg nicht zugetraut.
Bin ich die, als die mich die anderen sehen, ja, als die ich mich selber sehe? Bin ich das? Bist du das?
Oder sind wir verkleidet und nicht als die Menschen erkennbar, als die Gott uns geschaffen und in Christus zu leben berufen hat?
Menschen, die sich nicht darum bemühen müssen, begehrenswert zu sein und erfolgreich, weil sie doch geliebt und wertgeschätzt sind von ihrem Schöpfer. Die es sich leisten können, barmherzig und großzügig zu sein, weil ihnen der „Kleiderschrank" ihres himmlischen Vaters zur Verfügung steht, und die angesagtesten und chicesten Modelle sind Großmut, Barmherzigkeit und Freundlichkeit.
„Eigentlich sind wir ganz anders
Wir kommen nur viel zu selten dazu."
Das nimmt uns auch miteinander als Gemeinde in den Blick.
Wir sind und können auch ganz anders als wir oft nach außen sind. Wir können über unseren Schatten springen, auf andere zugehen, anderen Raum geben, ihre Begabungen und Vorstellungen von Gemeinde, von Glauben und Leben, mit einzubringen. Zeigen wir es doch einmal! Überraschen die anderen und vor allen Dingen auch uns selbst.
Eigentlich sind wir ganz anders - haben längst das Kleid des neuen Menschen, kreiert in himmlischer Werkstatt.
Lassen wir es doch nicht im Kleiderschrank hängen.
Machen wir vielmehr dem Designer die Freude, seine tollen und so abwechslungsvollen Modelle im Alltag getragen zu sehen.
Amen.
18.So.n.Trin., 11.10.2020, Stadtkirche, 5.Mose 30,11-14, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 18.n.Trin. - 11.10.2020
5.Mose 30,11-14
Liebe Gemeinde!
Der Abstand – diese hygienisch-praktische, aber eben auch tief seelische Erfahrung der letzten Monate – hat eine theologische Dimension:
Als Israel – das Volk, in das Gott selbst sich immer deutlicher hineinwob mit Seinen Verheißungen an Abraham, Seiner Torah durch Mose, Seinen Gottesdiensten unter Aaron, Seinen Ämtern für David und Salomo, Seinen Symbolen bei den Propheten, Seiner Gegenwart in Ritus, Recht und Alltag – … als Israel, das Volk der praktischen Gottesnähe nach Babylon verschlagen wurde, da erfuhr es einen solchen Abstandsschock, dass es beinah um seine Existenz kam. Wenn man den Tempel nicht mehr betreten, die Gebote, die am gelobten Land und am geordneten Leben hingen, nicht mehr ausüben, die Gegenwart des Heils am auserwählten Ort und in der geheiligten Art nicht mehr wie selbstverständlich spüren konnte, … was blieb da noch?
Gottes Nähe war entzogen. Der eigene Körper – dessen Waschung und Nahrung und Tätigkeit durch das Gesetz selber zu einem Medium der Gottesverbundenheit geworden war – … der eigene Körper wurde ohne die Torah zu einem sinnlosen, toten Kontaktorgan: Nicht mehr essen und arbeiten und ruhen und leben zu können, wie es die Gebote über Reinheit und Unreinheit vorsahen, hieß sinnlos zu vegetieren, da keine Begegnung mit dem Heiligen, keine heiligenden Berührungen mehr möglich waren.
Die Gottesferne, die für Israel außerhalb des Heiligen Landes herrschte, war die schrecklichste Form des Abstands, die sich nur denken lässt. Keine Wiederannäherung schien vorstellbar. Keine Normalität konnte man sich je wieder erträumen. Denn das, was Israel da in seiner fürchterlichen Quarantäne an den Flüssen Babylons durchlitt, erfuhr man zunächst ja nicht als Prozess der Eindämmung eines Übels, sondern als den endgültigen Schnitt, als Strafe, die für immer vom heilen Leben trennen würde.
Vielleicht – manche Forscher behaupten es so – … vielleicht war es aber wirklich da, in diesem Albtraum von Abstand, von unüberbrückbarer Distanz, den wir das „babylonische Exil“ nennen, dass die tiefste, tröstlichste Flamme der göttlichen Liebe im Herzen Israels zündete!
Denn gerade bei denen, die den Abstandsschock erlebten – bei Jeremia, der nach dem Fall Jerusalems in die Nacht Ägyptens verschleppt wurde (vgl.43), bei Hesekiel, der die Deportation nach Babylon erlebte, beim Tröster Jesaja, der in der Kontaktsperre einer gottesdienstlosen Generation fern vom Zion wirkte – … bei ihnen allen erwacht ein Vertrauen, das das Unmögliche zu glauben wagt: Dass Gott abstandslos ist; dass Sein Bund und Seine Treue nicht bloß an bestimmten Punkten haften, sondern sich überall vergegenwärtigen können.
Diese Erfahrung, dass auch Verschleppung keine Trennung, dass Fremde keine Entfremdung, dass Isolation keine Verlassenheit bringt, ist ein Meilenstein jener Entwicklung Israels, von der der romantische Dichter Novalis gesprochen haben könnte bei seiner Feststellung „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg!“[i]
Jeremia drückt die erstaunliche Gewissheit, dass Gott sich nirgends ausschließen lässt, in dem Satz aus: „Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?“ (23,23), der nichts anderes bedeutet als die rhetorische Frage: Bin ich denn nur ein Gott der Heimat und nicht auch ein Gott der Fremde, ein Gott des Exils?
Da aber Israels Glaube nichts Virtuelles an sich hat, keine Abstraktion des bloß Vermeintlichen, des rein Theoretischen, darum nimmt auch der von Seiner Stätte auf dem Zion entwurzelte und durch Nebukadnezars Vernichtungsfeldzug obdachlos gewordene Gott im Augenblick der Tempelzerstörung eine neue Herbergssuche auf … und der Ort, den Er dann einnehmen wird, ist der Ort des Neuen Bundes, von dem die Exilspropheten zu sprechen lernen: „Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein“ (Jer.31,33).
Das Herz, das innere Allerheiligste, das jeder Mensch in sich trägt, ist die Stelle, an der der Gott Israels Seine Allgegenwart erweist. Hier kann kein äußerer Feind und Feldzug Ihm den Ort streitig machen. Hier findet Er eine Bundeslade, die von Dritten niemals gestohlen werden kann, weil selbst Gefangenen und Sklaven, weil Flüchtlingen und Wanderern, weil Heimatlosen und Bettlern das Herz nicht entrissen werden kann.
Im Herzen bleibt Gott nahe. Hat Gott in einem Herzen Einlass gefunden, hört aller Abstand zu Ihm auf.
Das ist der Neue Bund, der sich in Israels Geschichte vollzieht: Der Gott einer heiligen Heimat wird der Gott aller heiligen Herzen.
Genau diese Entwicklung aber bereitet sich tatsächlich in den 5 Büchern der Torah, den 5 Büchern Moses selber vor. Jedem Bibelleser ist zu allen Zeiten schon aufgefallen, dass das Gesetz vom Sinai doppelt überliefert ist: Was von den Zehn Geboten im 20.Kapitel des Buches Exodus an an Gesetzen und Bestimmungen im 2., 3. und 4.Buch Mose folgt, das wird in verdichteter Form – wieder mit der Voranstellung der Zehn Gebote – im 5.Buch Mose wiederholt.
Schon vor Christi Geburt nannte man dieses letzte Buch der Torah auf Griechisch darum bei den Juden der Diaspora „Deuteronomium“, also „Das Zweite Gesetz“. … Kein anderes, sondern ein neuerlich eindringlich einprägsam gesammeltes Werk, das die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, und den Glauben, der sich im Leben nach dem Gesetz äußert, veranschaulicht.
Das Deuteronomium, also die zweite Gestalt, in der die Torah vom Sinai in der Bibel vorliegt, gipfelt nun aber in der kleinen, herzergreifenden Absage an allen Abstand zwischen Gott und Seinen Menschen, den wir heute hörten:
Es ist nicht hoch und fern, was dir gesagt ist, Mensch, und was der HERR von dir fordert (vgl. Micha 6,8), … du musst auch nicht gen Himmel fahren oder mit Flügeln der Morgenröte an’s äußerste Meer oder dich bei den Toten betten, um es zu begreifen (vgl.Ps.139,8f), sondern Gottes Wort und Wille sind dir gegenwärtig, bleiben dir nah, wachsen dir ans Herz, gehen dir in Fleisch und Blut über, bis aus dieser unlöslichen Symbiose zwischen Israels Gott und Israels Innerstem ein neues Herz geworden ist (vgl. Hesekiel 36,26), ein neuer Mensch, … das fleischgewordene Wort! ———
Das alles nun ist wirklich und wahrhaftig der Bund Gottes – der erste und der neue – mit Israel, … und es ist in einer Welt, die immer noch vom Hass auf dieses Israel Gottes (vgl. Galater 6,16) entstellt wird, … es ist in einer Welt, die immer noch an den Stammtischen, in den Parlamenten und auf den Straßen sogar der freien, christlich geprägten Völker eine Welt der Antisemiten ist, eine erschütternde Mahnung, dass wir diesen biblischen Weg, den Gott in die Herzkammer Israels nimmt, ausgerechnet heute hören, …am fröhlichsten der hochheiligen Tage der Synagoge.
Nach dem grässlichen Ereignis von Hamburg, das letzte Woche das Laubhüttenfest überschattet hat, ist gestern abend der Feiertag der Torahfreude, des Gesetzesjubels – Simchat Torah – gekommen, und in den Synagogen in aller Welt nehmen sie wörtlich und machen sie wirklich, was unser Predigttext uns versichert: „Das Wort ist ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust!“
Sie tun es gerade in diesen Stunden: Überall nehmen alte und junge Juden freudetrunken die herrlich geschmückten Schriftrollen in den Arm, küssen sie andächtig überschwänglich und drücken sie so sehr an das Herz wie die Liebste, wie den Augenstern … und dann tanzen sie, tanzen selig und tanzen wild, taumeln beglückt und beflügelt daher, drehen sich mit der Torah am Herzen im Kreis, denn sie ist ihnen so nah, … sie ist ihnen so lieb, … sie ist ihnen das Kostbarste innerlich und äußerlich, das sie haben.
Und der Reigen der seligen Geister, die an der Brust das Feuer der Torah spüren und die es entzückt, dass Gott sich uns so unmittelbar, so ohne jeden Abstand, so innig schenkt … er ist eine Frage an uns, … an das christliche Herz!
Die Simchat-Torah-Glückseligkeit angesichts der Nähe des göttlichen Wortes, das uns Herz und Mund und Tat und Leben[ii] füllt, stellt eine ganz einfache Frage, ... eine Frage, derer ich mich nicht mehr schäme.
Es gab Jahre, da war es mir peinlich oder zumindest eine Irritation, dass von mir – oft im höflichsten Ton (dem nämlich, den man selbst nicht zu hören kriegt) – gesagt wurde: „Schade, dass er wohl doch ein Pietist ist“.
Die Bezeichnung ist dabei schnuppe.
……. Die Sache aber ist es nicht!
Denn wenn ich an die selbstvergessene, hingebungsvolle Erfülltheit denke, die ich als Kind bei der Simchat-Torah-feiernden Gemeinde meiner Schulkameraden erlebt habe, dann blutet mir das Herz vor der Frage, die sich uns da stellt: „Simon, des Johannes Sohn, hast du mich lieb?“ (Joh.21,15ff).
Haben wir ihn lieb, der uns so nahe ist?
Haben wir ihn lieb, der nicht vom Himmel geholt werden muss, weil er selber ja kam, … weil er selber ja kam – das fleischgewordene Wort der Nähe ohne Abstand – , … der selbst also kam, um in unserem Mund und in unserem Herzen im Brot und im Wort die unverlierbarste Nähe einzunehmen und unser Tun und Leben ganz zu prägen?
Wissen wir, was das heißt? – Dass dieser Jesus, dieses Wort Gottes, diese Wahrheit, die von Anfang an gewesen ist, auch zu uns keinen Abstand, sondern dichteste Unmittelbarkeit gewählt hat?! Dass er von uns nicht um- und abständlich theoretisiert, sondern schlicht ins uns aufgenommen und heimisch werden will?
… Wissen wir – die so krampfhaft unsere Abwehr aus komplexen Reflektionen und kritischen Reserven errichten – was solche entwaffnende Schlichtheit bedeutet?
– Eben nicht, dass eine Idee, die wir skeptisch geprüft und distanziert erwogen haben, irgendwann in den Fundus unserer Überzeugungen eingehen darf, wo wir sie immer noch auf den Abstand jederzeit wieder veränderlicher Einstellungen halten, sondern dass der Gott von Israels neuem Bund in’s Herz will: Wo man sich nicht zimperlich und spröde wie unsere bindungsunfähige Objektivität gibt, sondern wie ein Mensch, der sich nicht endlos ziert und entzieht, sondern sich öffnet und dann tatsächlich …liebt.
Damit haben die Pietisten aller Zeiten und Färbungen – und es hat sie immer gegeben (wenn auch unter verschiedenen Namen) und es wird sie immer geben! – … damit nun haben die Pietisten, die Frommen tatsächlich einfach recht: Wer erst Himmel und Hölle durchkämmen muss, um logische Gründe dafür oder sachliche Gründe dagegen zu finden, der wird nie auftun, wo einer vor der Herzenstür steht und klopft (vgl.Offenb.3,20)!
Darum sprich nicht: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun!
Der Heiland will das Herz, so sagen es die Frommen ( – und die Weisheit! [vgl. Sprüche Salomos 23,26]). Und ihn lieben, ist wahrlich mehr als alles andere (vgl. Mk12,33), denn die Liebe zu ihm erfüllt das Gesetz (vgl. Rö13,10), wie er selbst es ja sagt (Joh14,15): „Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten!“ – und seine Gebote sind nicht schwer (vgl.1.Joh5,3).
So nah ist Jesus, das Wort Gottes.
So einfach.
……. Und so zu lieben! ———
Viele Fromme, die man nicht Pietisten, sondern Orthodoxe nennt, haben ausgehend von der Herzensnähe des Wortes, die uns in Deuteronomium begegnet, ihr ganzes Leben tatsächlich auf ein einziges Wort ausgerichtet, auf das Herzensgebet des immer und endlos wiederholten Namens „Jesus!“, der sie tröstet, ihr Tun bestimmt und ihr Ziel vorwegnimmt.
Viele andere Fromme haben in einfachster Offenheit für das biblische Wort Gottes einen Liebesdienst geübt – hier in so vielen Diakonissenherzen! – oder haben in Mission und Gemeindeleben und Ökumene die ganze Wahrheit der Menschennähe Gottes und eines von Gott erfüllten Herzens einfach und tragend bewiesen und beweisen sie überall immer noch!
Es gibt unzählige solcher einfachen Wege, die die Liebe zum nahen Wort Gottes uns führt.
Keiner ist besser als ein anderer, wenn sie nur aus einem reinen Herzen hervorgehen, das das Wort Gottes hört, bewegt und tut.
Und wenn wir vom schlichten Hängen an Gottes Wort gleich mit einem Lied von Dora Rappard singen werden – der Tochter des ersten evangelischen Bischofs von Jerusalem, die in ihrer Kindheit echte Simchat-Torah-Freude am Fuß des Zionsberges erlebt haben wird –, dann wollen wir daran denken, dass tatsächlich nichts hoch, nichts tief, nichts weit, nichts schwer sein kann, das einfach aus der uralten Erfahrung Israels lebt:
„Es ist das Wort ganz nahe bei dir!“
Amen.
[i] „Die Phantasie setzt die künftige Welt entweder in die Höhe oder in die Tiefe oder in der Metempsychose zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht ins uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. – Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheint es uns freilich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos, aber wie ganz anders wird es uns dünken, wenn diese Verfinsterung vorbei und der Schattenkörper hingweggerückt ist. Wir werden mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt.“ Novalis (d.i. Fr.v.Hardenberg), Blütenstaub [16], in: Novalis – Werke in einem Band, Ausgewählt und eingeleitet v. H.-D. Dahnke, Berlin(Ost) und Weimar, 19894, S. 279f.
[ii] Vgl. J.S. Bachs Kantate BWV 147!
Konfirmation (Erntedank), 04.10.2020, Mutterhauskirche, Psalm 73,1+23, Jonas Marquardt
Predigt Mutterhauskirche Konfirmation 4.X.2020
Psalm 73, 1 + 23
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Reden wir an Eurem Glücks- und Segenstag doch mal vom Pech; … vom Pech, das an manchen Leuten oder Dingen, an manchen Zahlen oder Vögeln einfach klebt: Der Rabe wird seit den Tagen der Sintflut bloß noch mit Unglück verknüpft; Freitag, der Dreizehnte wird misstrauisch betrachtet, ob er nun einen Lockdown bringt oder nicht; und wenn irgendjemand eine bahnbrechende Maschine konstruieren wollte, würde er den Protoptypen – wovon auch immer – wohl „Titanic“ nennen? …
Wieso allerdings von solchem Aberglauben reden, wenn’s heute doch um Glauben geht?
Wieso von schlechten Vorzeichen sprechen, wenn Ihr heute Euer Leben doch unter das beste nur denkbare stellt, indem Ihr es Gott überlasst?
… Weil wir Evangelischen stets Spielverderber sein müssen, die nur bloß keine ungetrübte Laune aufkommen lassen können, sondern gleich immer das Bittere und Bedenkliche vor Augen setzen und daran arbeiten wollen?
Nein. Über’s Traurige lohnt sich’s tatsächlich nur vom Trost her zu reden, und so viele ungute Ahnungen kann in Wirklichkeit nur ertragen, wer eine gute Nachricht dagegen zu setzen weiß.
Darin ist die menschliche Natur eigentlich sogar sehr gnädig eingerichtet, was Ihr auch im Rückblick auf den heutigen Tag noch merken werdet: Was uns zur Zeit einschränkt und was wir mit Unbehagen, mit Sorge erlebt haben in den vergangenen Monaten, die das Leben so verschwommen, so beklommen machten, … alles das werdet Ihr, wenn Ihr später einmal die heutigen Fotos seht, auf denen Ihr Euch so stolz und schön und zugleich so versteckt begegnet, gar nicht mehr direkt im Gedächtnis wieder finden.
Ich merke, wie dieses feine Sieben, das der Erinnerung das Schöne so hell wie weißes Mehl zuführt und die hässlich-stacheligen Lagen darum verwehen macht, schon einsetzt: Die ganze Sorge, die ich um Euch hatte, als der Konfirmandenunterricht plötzlich abbrach, … als der Frühlingstag, den wir miteinander feiern wollten, aus dem Kalender einfach gelöscht wurde, als wäre in die Zeit ein Loch gerissen, … als man sich lange nicht sah und die Ungewissheit, wie und ob und wann einen echten Juckreiz unter dem Gips auslöste, in dem der Abstand alle stillgelegte, … diese ganze Irritation und Komplikation, die wir in Wirklichkeit bisher zumeist ja mehr als glimpflich überstanden haben: Das alles wird kleiner und dünner und blasser und leiser, und stattdessen treten die Erfahrungen, die dann eben zu machen waren, hell und warm hervor. … Statt im Saal kamen wir eben im Garten zusammen. Anstelle von Stühlen saßen wir halt im Gras. Und wo wir selbst nicht singen konnten, sangen uns dafür die Vögel – und ab und zu die Hunde – die ewige Melodie des großen Gotteslobes.
Es war – in allem Unheimlichen und in aller Unklarheit – alles plötzlich ein wenig einfacher geworden. Wir sind dem Wanderprediger, der unser Herr ist, der die Leute auf dem Feld zusammenrief und ihnen unter freiem Himmel Essen und Hoffnung und Vergebung und Heilung und Wahrheit und Leben schenkte, unverhofft näher gekommen.
Und seinem Jünger Franz von Assisi, an den die evangelischen Christen gestern und die katholischen heute denken, sind wir da unter den Bäumen und in der völligen Ahnungslosigkeit, wie alles wohl weitergeht, ein bisschen ähnlicher geworden: … Trotz Kummer unbekümmert, trotz Fragen fröhlich, trotz Mist prächtig gelaunt.
Denn – alte Erntedank-Weisheit! – viel Gutes gedeiht tatsächlich nur auf dem Mist!
Und darum wollte ich über das Pech reden, über das, was man sich nicht wünschen und nicht aussuchen würde.
Man soll sich danach bestimmt nicht drängeln! … Und den Eindruck habe ich von Euch zum Glück durchaus, dass Ihr lästig von angenehm und anstrengend von lau und Hausaufgaben von Zusatzaufgaben, die bloß Sternchen bringen, gesund und eindeutig unterscheiden könnt.
Doch noch gesünder ist, dass Ihr erlebt habt, wie auch harte Zeiten zarte Seiten zum Schwingen bringen: Oder hättet Ihr gedacht, woran und worauf man sich alles freuen kann, wenn es nicht eine Zeitlang unmöglich gewesen wäre … und an manchen Stellen auch noch bleibt?
Ein Pech kann sich als eine Pause zeigen; ein Reinfall kann reinigen; ein Nachteil, der uns zum Nachdenken führt, kann uns weit voranbringen.
Darum lasst uns nicht nur negativ über das Negative urteilen.
Und lasst uns dabei ganz vorne anfangen, … bei einem unscheinbaren, kleinen, benachteiligten Negativum, mit dem so vieles beginnt. Ich spreche vom Buchstaben „N“, den ich – entweder weil ich ein Narr oder ein Neuverliebter bin – ganz frisch für mich entdeckt habe.
Das „N“ hat’s bei uns schwer. Es kann nichts Gutes sagen. Mit ihm kommt das „Nein“! Der „Neid“. Die „Not“. Das „Nackte“. Die „Null“. Mit dem „N“ wird’s „Nacht“, mit dem „N“ wird’s „November“. Mit dem „N“ heißt’s schließlich: „Nie“! Das arme „N“ ist wahrhaftig ja schon buchstäblich der Auslöser des „Negativen“. Und es führt den schrecklichsten ersten und letzten Angriff auf Gott, den Schöpfer aller Dinge, indem es einfach frech und verzweifelt trostlos etwas buchstabiert, das doch eigentlich ausgeschlossen ist: Das „Nichts“. …….
Aber zugleich ist es das Schönste alle Zeichen, denn es führt uns in seiner schlichten Form einen tödlichen Trugschluss und eine unerledigte Hoffnung vor Augen.
Erst will es uns weismachen, dass die Enttäuschung, dass das Pech ganz ausnahmslos seien:
So hoch wie’s geht, so tief geht’s auch.
Auf diesen beiden Bahnen ist der Buchstabe, der hinauf- und hinuntergeschrieben wird, ganz nüchtern, vielleicht sogar zynisch. Und wäre er damit fertig – ein Aufstrich, ein Abstrich –, dann wüsste man, was er zu sagen hat: „Wie gewonnen, so zerronnen“.
Aber dieser Buchstabe, mit dem sie andernorts die Christen, die „Nazarener“ als Freiwild kennzeichnen, erzählt eine andere Geschichte von einer anderen Freiheit.
Wenn Ihr beides – hoffentlich bewusst, hoffentlich gelassen, hoffentlich zu Eurem Heil! – erlebt habt …, dass Euch ist, als würdet Ihr der siebten Wolke zuschweben oder den Himalaya des menschenmöglichen Erfolges bezwingen, wenn Euch also schwindelig von der Höhenluft des Glücks zumute war … und wenn Ihr dann auch verstanden habt, dass es wohl sinnvoll wäre, nicht immer in der dünnen Atmosphäre solcher Gipfelerfahrungen zu bleiben, sondern auch wieder den Boden der Tatsachen und irgendwann sogar den Schoß der Erde zu erreichen, weil Bruder Tod – wie Franz von Assisi ihn nennt – dem vielen Auf und Ab mit seiner Ruhe folgen soll … wenn Ihr das erlebt habt, dann schlägt die Stunde unseres ganz und gar nicht negativen, sondern überwältigend positiven, hoffnungsfrohen Buchstabens, der uns (selbst im Tod) nicht einfach zurück an den Ausgangspunkt und hinab in die Niederungen bringt.
… Er hat ja noch eine Linie, dieser kleine Buch-Stab, … noch einen Federstrich.
Und wenn wir den noch bedenken und beherzigen, wenn wir den noch verfolgen, dann sind wir bei allem, was uns das Schlechte doch noch als Weg zum Segen, die Nacht als den Anfang des Tages, das Unglück als die Vorform des Glücks erkennen lässt.
Wenn wir den dritten Ansatz des übersehenen und missachteten Buchstaben „N“ beherzigen, wenn wir den noch begreifen, dann erkennen wir den Weg der Christen in Wahrheit.
Wenn wir den noch begreifen, dann erkennen wir das „Dennoch“!
Das „Dennoch“, das Gottes Leute in Israel und in der Kirche immer und immer gesagt haben und sagen werden.
Es kann ein ganz trotziges und rotziges Wort sein, so ein „Dennoch“! Es kann heißen, dass wir uns wie ein Jakob, ein Hiob, eine Magdalena nicht abspeisen lassen mit Weniger als dem ganzen Segen, der vollen Gerechtigkeit, dem reinen Heil. Hartnäckig brechen solche Menschen, die das „Dennoch“ einklagen, durch alle Widerstände hindurch und verlangen, ja erstreiten, dass Gott sie nicht am Boden lässt, sondern erhebt und froh macht und frei.
Es kann auch ein ganz mutiges Wort sein – so ein gläubiges „Dennoch!“ – , ein Licht, das durch die Nebelnächte der eigenen Tränen oder fremden Leids leuchtet und hinüber führt, wie Mose die Israeliten in die Zukunft oder der Gedanke an den Vater den verlorenen Sohn nach Hause.
Es kann ein Wort der Gelassenheit oder umgekehrt auch ein Wort des Triumphes sein, wenn jemand da, wo allen alles schlecht scheint, vom Negativen nicht bloß negativ redet, sondern ein „Dennoch“ sagt, ein „Es geht auch anders – nämlich: weiter, …. nämlich: besser, … nämlich: zu Gott hin“.
Es kann so vieles sein: Das Wörtchen „Dennoch“, das den Weg eröffnet, der in meinem neuen Lieblingsbuchstaben das endgültige Hinauf, die Aufwärtsbewegung, das letzte Aufstehen aus Trägheit und Tod bezeichnet und uns zeigt, dass wir nicht im Niedergang, sondern im Aufgang, nicht im Tiefen, sondern im Freien unser Ziel haben. ———
Es kann so vieles sein, das Wörtchen „Dennoch“!
Euch aber wünsche ich vor allem anderen, dass es Euer Wort wird und bleibt!
Darum sagt Euch dies „Dennoch“: Gegen allen Zweifel und gegen alle Gewöhnung.
Sagt Euch dies „Dennoch“: Wenn Ihr Sorgen habt und genauso wenn Ihr mal selbstzufrieden werdet.
Sagt im Negativen „Dennoch“ und sagt’s im Positiven auch.
Sagt es auf der Lebens-Höhe und an ihrem Gegenteil; sagt’s in Glück und Leid!
Denn auf dem schönen Buchstaben „N“, der gleich doppelt darin vorkommt, werdet Ihr schließlich ja in die neue Welt hinauf geführt, in die Nähe, ja, in die Gegenwart Gottes, Der es hört und Der es wahrmacht, was Ihr jetzt konfirmiert, also bekennt (Ps.73,23):
„Dennoch bleibe ich stets an Dir, HERR, denn Du hältst mich bei meiner rechten Hand, Du leitest mich nach Deinem Rat und nimmst mich am Ende zu Ehren an!“
AmeN!
Konfirmation, 03.10.2020, Mutterhauskirche, Psalm 73, 1+ 23, Jonas Marquardt
Predigt Mutterhauskirche Konfirmation 3.X.2020
Psalm 73, 1 + 23
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Eigentlich dachte ich inzwischen, es höre vielleicht nie auf … und das war ein schöner Gedanke: Mit Euch hätte ich durchaus alt werden können, nachdem wir Euer eigentliches Haltbarkeitsdatum im Frühjahr, als Ihr frisch und rosig und bereit wart, sang- und klanglos überschritten hatten und uns ab Ende Mai dann im Gras draußen wiedersahen und Ihr da in der Sonne wie Fallobst immer länger vor Euch hinreiftet und immer älter wurdet und inzwischen alle irgendwo auf dem Weg zur 15 seid und es Herbst geworden ist und man an diesem Wochenende einen Doppelfeiertag begeht, der das, was uns die Geschichte und die Natur an guten Gaben schenken, feiert, … und noch immer seid Ihr meine ewigen Konfirmandinnen und Konfirmanden … und die Zeit steht still, nur dass Ihr wieder Schule habt, … aber das stört Eure tiefinnere Gelassenheit auch nicht so furchtbar … und demnächst kommt Weihnachten und dann ist das unglaubliche und ja auch scheußlich Jahre 2020 irgendwann vorbei … und noch immer sitzt Ihr da an der frischen Luft im Gemeindegarten und schneit vielleicht ein wenig ein, falls man nochmals downgelocked wird, …und vielleicht muss man Euch dann neue Masken umbinden, weil die Mode sich ja ändert und die Jungs sich demnächst mal die Backen schaben wollen und die Mädchen auch den unteren Teil des Gesichtes schminken, und der wunderbar vertraute, dauerhafte Jahrgang, der 2018 anfing und mit dem das ewige Jetzt, der verweilende Augenblick erreicht zu sein scheint, ist immer noch da, … nur ein bisschen eingewachsen in jenem versunkenen Paradies, in dem Ihr an der Luft trocknet und konserviert werdet … und die Kleinen, die ein Jahr nach Euch angefangen haben, werden eingesegnet und Ihr bleibt immer noch wie schrumpelnden Apfelringe da und nichts ändert sich, und nachdem man Euch einmal aus der gewöhnlichen Spur der Beschleunigung und der Entwicklung und der Fortbewegung rausgebracht hat, bleibt Ihr unabänderlich stillgestellt, homegeschooled und ortsgebunden, … und es hört nie auf. ————
Von wegen! Natürlich hört es auf.
Weil alles vorübergeht. Weil nichts jemals bleibt, wie es war. Und weil ja gerade dieses Tag-der-deutschen-Einheit-&-Erntedank-Wochenende uns historisch und biologisch zeigt, dass jeder Traum und jeder Alptraum endet und dass alle Frühlinge erntereif werden und dass Ihr ab jetzt eben keine Konfirmandinnen und Konfirmanden mehr seid, sondern Ex-, … Gewesene!
Denn natürlich habt auch Ihr Euch verändert in der unvermutet langsamen Zeit, die hinter uns liegt und die Euch Erfahrungen gebracht hat, die wir nicht vorhersehen konnten und nun nicht mehr rückgängig machen.
Unser Leben ist unplanbar: Das nennt man seine Geschichtlichkeit.
Unser Leben ist unaufhaltsam: Das ist seine Endlichkeit.
Unser Leben ist überraschend und es ist bedroht; es ist tief und doch leicht; es schlägt Purzelbäume und es kann sich stauen; unser Leben nimmt sich Freiheiten und es bedarf der Pflichten; still und unbewusst strömt es dahin und plötzlich wird’s getroffen und schlagartig nehmen wir es wahr.
Unser Leben hat keinen Bestand, und was kommt, wissen wir alle nicht.
Nur dass Ihr, die Herbstkonfirmanden 2020 mehr an Erfahrungen im Großen und im Kleinen habt, als jeder andere Jahrgang seit 70 Jahren, das wissen wir: Euch hat sich – ohne Schaden, aber doch auch ohne Zweifel – gezeigt, dass nichts sicherer ist als das Ungewisse und dass kein noch so gewöhnlicher Mensch ohne die gesamte Menschheit existiert.
Und so sitzt Ihr also nun hier. In einer Zeit, die man vielfach eine „Krisenzeit“ nennt. … Und was tut Ihr?
Ihr entscheidet Euch bewusst und mit einer halbjährigen zusätzlichen Bedenkzeit, dass Ihr Euch zur verfolgtesten Religion weltweit (denn das ist das Christentum!) bekennen wollt und Ihr tut es - als G8ler - näher am Abitur als an der Grundschule.
Das ist bemerkenswert. … Und es lässt mich eine sprachliche Verwirrung aufklären, die sich angesichts des Fremdwortes für Eure heutige Tat immer häufiger einschleicht.
Ihr seid keine Konformaten, sondern Konfirmanden. Konform zu sein oder gemacht zu werden, ist etwas Verheerendes. Es bedeutet Masse zu werden: Gleich schön, gleich stark,
gleich gültig wie ein reproduziertes Heer von Avataren oder Clonen oder Memes.
Versprecht Euch, so etwas nicht zu werden, nicht zu wollen!
Wenn Ihr heute einen Glauben bestätigt, der mit seiner Botschaft von Gott, Der in Christus Mensch wird, mit seiner Botschaft von einer Liebe, die unsere Schuld auslöscht und einem Leben, das den Tod vernichtet, nicht für alle Welt selbstverständlich ist, dann bedeutet das doch gerade, dass Ihr eine andere Wirklichkeit und einen anderen Maßstab behauptet, als sehr viele andere Menschen.
Aber nachdem wir gerade vom Leben insgesamt sahen, dass es erstens anders kommt und zweitens als man denkt, scheint mir, Ihr seid gerade dann am besten für’s Leben gerüstet, wenn auch Ihr anders seid, nicht konform. … Sondern konfirm!
„Firm“ heißt fest. Befestigt, nicht zementiert; nicht aus Beton und doch unerschütterlich!
Wenn Ihr so seid – und wer immer Euch da im Garten hockend beim Gespräch, bei der Bibellektüre, beim Beten gesehen hat, als sei das Alles das Gewöhnlichste von der Welt, der kann es nur glauben – wenn Ihr also firm seid, dann könnt Ihr getrost und fröhlich leben!
Denn nur die innerlich Festen, die, die eine Haltung und einen Halt haben, die nicht immer gleich flatterig werden und sich nicht dauernd fragen, ob sie gut oder sehr gut oder die Besten waren oder ob sie etwa scheitern, … nur solche firmen Leute können die Brise und den Wind, der kommt, den Sturm, der drohen mag, unerschüttert bestehen.
Warum? Weil sie das „N“ kennen, das schönste Zeichen unseres Alphabets. Es ist nämlich der beste Wegweiser durch das Leben, … das Leben, das für feste Menschen drei Richtungen hat:
Leben strebt empor. Pflanzen wachsen, Krabbelnde richten sich auf, Vierzehnjährige – wenn sie nicht durch Bequemlichkeit versaut sind – wollen weit hinausschießen über das, was bisher für den Gipfel gehalten wurde. Recht so! Man kann nicht immer nur niedergehalten werden. Sucht senkrecht nach oben! Lasst Euch von der Sonne helfen, spürt den Kitzel hohen Anspruchs, nehmt andere mit auf Wege ans Licht …denn alleine überragend sein zu wollen, heißt der erste Baum zu sein, den’s fällt.
Aber seid nach allem, was das letzte halbe Jahr uns lehrte, nicht naiv: Erinnert Euch, dass die Dinge und Ihr mit ihnen irgendwann an ihre Grenze stoßen. Und so habt die Würde und die Reife auch den zweiten Teil des Lebens – den Herbst, wenn Ihr so wollt – genauso mutig und dankbar und gespannt zu erfahren: Dass man vom Berg auch wieder herunter zu steigen hat, dass Höhe nur einen Blick für Niedriges bedeutet und dass wir endlich werden müssen, was wir waren … Menschen, die vor vielen Jahren miteinander im Gras saßen und die genauso verdorren müssen wie damals der Rasen.
Doch dann, Ihr Lieben!, … dann kommt das, was uns fest macht und so unglaublich frei und so unendlich zuversichtlich! Dann kommt der dritte Strich des N, der zeigt, dass es nicht nur um Auf- und Abschwung, um Mehren und Mindern, um Top und Tiefe geht, sondern dass wir Christen, die man auch „Nazarener“ nennt – besonders da, wo sie verfolgt werden –, ganz, ganz anders, unerwartet, unerklärlich, unerschrocken, unerschütterlich glauben, lieben und hoffen dürfen.
Kein Mensch, der dem lebendigen Gott gehört, kann nämlich so weit unten, so abgestürzt, so reingefallen sein, dass dort im Abgrund der letzte Punkt für ihn wäre.
Nein (fängt mit „N“ an!)! Niemals (fängt mit „N“ an!)! Neu wird alles werden (fängt mit „N“ an und hört damit auf!)!
Es gibt für die, die auf Jesus Christus getauft sind, eine Perspektive, die sich immer und überall in einem einzigen Wörtchen ausdrücken lässt, einem Wort, das Luther – so wie er es gerne tat – ab und zu in die Bibel eingefügt hat, auch wenn es zunächst gar nicht da stand. Nicht immer hat Luther in seinen Einfügungen Recht gehabt, aber wenn er das Wörtchen „Dennoch“ wählt, dann trifft er ins Schwarze, trifft in die Wirklichkeit, trifft hoffentlich auch in Euer Herz!
„Dennoch“ zu sagen, heißt die Freiheit zu kennen, die nicht nur Wachstum und Welken, sondern auch die dritte Dimension umfasst: Dass Gott mitten in allem Guten und Bösen und allem Schönem wie Schlechtem zum Trotz wirklich ist und Wunder tut, … noch und noch, neu und neu!
Dass es nie so anders und nie so furchtbar, aber auch nie so langweilig und nie so alltäglich zugehen wird in Eurem Leben, dass Ihr nicht sagen könntet „Dennoch bleibe ich stets an Dir, Gott!“: Das ist mein größter, tiefster Wunsch für Euch.
Sagt Euch dies „Dennoch“: Gegen allen Zweifel und gegen alle Gewöhnung.
Sagt Euch dies „Dennoch“: Wenn Ihr Sorgen habt und genauso wenn Ihr mal selbstzufrieden werdet.
Sagt in der Krise „Dennoch“ und sagt‘s wenn Ihr feiert … und manchmal ist das ja zur gleichen Zeit.
Sagt es oben und unten, sagt’s in Glück und Leid.
Denn auf dem schönen Buchstaben „N“, der gleich doppelt darin vorkommt, werdet Ihr schließlich ja in die neue Welt hinauf geführt, in die Nähe, ja, in die Gegenwart Gottes, Der es hört und Der es wahrmacht, was Ihr jetzt konfirmiert, also bekennt (Ps.73,23):
„Dennoch bleibe ich stets an Dir, HERR, denn Du hältst mich bei meiner rechten Hand, Du leitest mich nach Deinem Rat und nimmst mich am Ende zu Ehren an!“
AmeN!
15.So.n.Trin., 20.09.2020, Stadtkirche, 1.Mose 2, 4 - 25, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 15.n.Trin. - 20.IX.2020
1.Mose 2, 4 - 25
Liebe Gemeinde!
Erst ist der Staub: Das ist der Mensch.
Dann ist der Garten: Das ist die Welt.
Dann ist der Auftrag: Das ist der Bund.
Dann endet die Einsamkeit von Menschenfleisch und -bein: Das ist die Liebe. ——
Und aus diesen vier Quellen, die reicher und tiefer sind als Pischon und Gihon, als Euphrat und Tigris strömt alles, was die Schöpfung und Geschichte Gottes und seiner Erde ausmacht:
Mensch und Welt und Bund und Liebe sind Ursprung und Ziel der geschaffenen, uns heute noch vertrauten Wirklichkeit. Zusammen ergeben sie das, was Gott wollte.
… Und es ist die wunderbarste Sicht auf unseren Planeten, die man je gehört hat und die man jemals hören wird.
Selbst wenn wir die frohe Botschaft von Jesus Christus, der liebt bis in den Tod und aus dem Tod heraus liebt, nicht hätten: Schon der Schöpfungsbericht Israels würde uns erkennen lassen, dass Gott der Gott des Evangeliums ist. Denn auf den Eröffnungsseiten der Bibel und der Welt erscheint etwas, das kein Volk, keine Kultur, kein einzelner Mensch sonst kennt: Eine Welt ohne Angst.
Den anderen Religionen und Mythologien der Menschheit ist die Natur dunkles Geheimnis: Überwältigende Gewalt, die sich in den Schrecken vieler Gottheiten, den Kämpfen vieler Mächte, den Forderungen vieler Gebieter ahnen lässt, aber umgeben von Rätseln und durchdrungen von Feindschaft.
Ein Garten, in dem das nackte Tier auf zwei Beinen nicht das schwächste Glied, sondern der geistige Bezugspunkt aller Kreaturen ist, weil es jedes Wesen ansprechen, weil es jedes Wesen durch Nennung aus der Unheimlichkeit befreien und in den Kreis des Urvertrauens ein-gliedern darf, … ein Garten, in dem der Mensch nicht Jäger, nicht Gejagter, sondern Rufer und Entdecker sein darf, bis er zuletzt sogar sich selbst im anderen finden und Liebe fühlen darf … ein solches Bild der Welt ist einzigartig fromm und schön!
Die Titanenkämpfe und phantastischen Zeugungen, die listigen Patente und tragischen Fabeln, denen der unsichere Stamm der Menschenkinder auf halbem Weg zwischen Himmel und Hölle sonst seine Zwitterstellung neben Bestien und Dämonen verdankt, trüben die Harmonie des biblischen Schöpfungsglaubens nicht im mindesten.
Statt der Gärung und Spannung, die andere Mutmaßungen dem Menschenwesen einschreiben, schildert die Überlieferung des Glaubens einen Ursprung unseres Geschlechtes, der Solidarität – „Von Staub bist du genommen“ – und Verantwortung – „Bebaue und Bewahre!“ – mit dem selbstverständlichsten Frieden verbindet: „Sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau und schämten sich nicht.“———
Auf dieser Stufe abgeklärter, balancierter, ganzheitlicher Kosmologie, in der Mensch und Schöpfung als durch das Wort Verbündete koexistieren, beginnt also das Zeugnis, dem wir Christen verpflichtet sind nachzuleben. —
Wenn das klar ist, dann verstehen wir, warum die gegenwärtige Stunde der Welt eine unvergleichliche Schicksalswende des Christentums ankündigt. …
Vielleicht muss man es aber noch einmal klarer sagen: Das, was in unserer Zeit geschieht und was so viele von uns als nervtötendes Thema der Grünschnäbel beiseite wischen oder als emotionale Politisierung von Kirche, Schule und Gesellschaft abwürgen wollen, um zur sog. „Vernunft“ zurückzukehren, … das bezieht seine Bedeutung für uns Christen nicht aus irgendeiner Ideologie, einem Zeitgeist, einem Trend, sondern aus der Grundlage unseres Glaubens!
Wenn wir erkennen müssen, dass die ersten Seiten der Bibel vor unseren Augen und durch unser Zutun und unser Unterlassen ausradiert werden, dann stehen wir nicht vor Nebenfragen, sondern wir hören den Zünder, der das Zentrum sprengen und uns (wenn überhaupt) zu Zeugen einer rauchenden Ruine, einer klaffenden Leere, eines monströsen Kraters machen wird.
Der Garten Gottes, das Werk der ersten Liebe wird abgeholzt und verbrannt.
Der Mensch verrät seine Berufung.
Es geht zu Ende mit der Schöpfung des Beginns.
„Und siehe, es wird sehr leer …….“ ———
Aber so darf man doch nicht predigen! So etwas will kein Mensch hören!
…… Ich weiß.
… Ich ja auch nicht.
Doch erstaunlicherweise warnt die Bibel seit den Tagen des Elija, und dann seit den Tagen des Amos, des Jeremia, des Johannes und schließlich auch des Mannes aus Nazareth … erstaunlicherweise warnt die Bibel stets und ständig nur vor der Hellseherei und nicht vorm Schwarzmalen! Die Hellseher, die Beschwörer und bezahlten Optimisten sind zu allen Zeiten die Priester Baals gewesen, die verzapften, was man gern hört, weil’s das Gewissen betäubt und den Schlaf befördert. Solche Ohrenbläser der Entwarnung, solche Pillendreher des „Nur-halb-so wild“ waren immer die Lieblinge der Gemeinde. Sie haben goldene Kälber und saftstrotzende Götzen und Götzinnen propagiert; sie haben in Frieden gelullt und Kompromisse gesegnet; sie haben den Kult der praktischen Notwendigkeit und der Göttin der Vernunft gefördert und wacker gegen alle Schwärmer der Umkehr und Erneuerung gekämpft; sie haben sich mit jeder Großmacht und jeder Schlüsselindustrie in’s Bett gelegt und die Anrufung des armen Sankt Florian derart zur Weltreligion pervertiert, dass ihr Gebet um die eigene Verschonung und die Katastrophe im Haus der Fremden ganze Kontinente verbindet; und so strahlen sie bis heute im milden Heiligenschein derer, die großzügig Bequemlichkeiten zugestehen, während die Unruhestifter Gottes in einem fahlen Zwielicht erscheinen, als neideten sie andern bloß deren Komfort, wollten Wohlstand willkürlich vernichten und unschuldige Sektlaunen mürrisch verderben.
Indes: Popularität und Wahrheit sind zweierlei Maßstäbe, und die eine kann süß den Tod bringen, während die andere trotz ihrer Bitterkeit zur Rettung dient.
Gehen wir also nicht dem Geschmack auf den Leim, den eine Botschaft haben mag, sondern suchen wir ihren Gehalt … und wenn er noch so schwerverdaulich wäre.
Jene, die uns heute die Ruhe rauben mit den nüchtern wissenschaftlichen, aber auch mit den parteiisch leidenschaftlichen Warnungen, dass die Rückabwicklung der schönen Schöpfung Gottes sich rasend beschleunigt, sie sprechen die Sprache der wahren, der ungeliebten Propheten. Mit dem ungeliebtesten und radikalsten der Boten Gottes kann man die weltliche Predigt von der ökologischen Passion durchaus als eine Abwandlung jenes „Wortes vom Kreuz“ verstehen, das „denen, die verloren werden, eine Torheit ist“ (vgl.1.Kor.1,18).
Und so muss man den Widerhall dessen, was jede Zeitung, jeder Forschungsbericht, jeder Gang übers Feld und jeder Weg durch den Wald uns nahebringen, leider Gottes in jenes helle, heile Bild der Welt ohne Angst zurückverfolgen, mit dem unser Glaube beginnt:
Diese erstaunliche Harmonie, in der der Mensch aus Staub und die von ihm angesprochene Kreatur dem großen „Es werde!“ klingende Antwort gaben, ist zerrissen.
In den unvorstellbaren Bränden, die den wasserreichen Wald, aus dem wir alle unseren Atem schöpfen, verkohlen lassen, … in den ungebremsten Fluten, die vor Trockenheit dürstende Landstriche plötzlich ersäufen, … im fernen Zerstörungswerk, das das ewige Eis aufbricht, … in den Knochenlandschaften, die auf dem Meeresboden erstarren, wo vor Kurzem noch ungesehene Farbvielfalt blühte, … in allen diesen Folgen des menschlichen Vernichtungsfeldzugs gegen die anderen Gestalten seiner eigenen Geschöpflichkeit leidet Gott!
Das ist keine Naturreligion und keine romantische Häresie – obwohl man sich gewiss fragen kann, was die Eichendorffs Amazoniens und die Caspar David Friedrichs der pazifischen Inselwelt jetzt für Schmerzenswerke schaffen mögen.
Dass aber Gott wirklich mit jeder der unzähligen Arten an Lebewesen, die wir auslöschen und in jedem der unwiederbringlich verlorenen Lebensräume, die wir verwüstet haben, einen Schmerz erleidet, der zurückreicht bis in jene Anfänge, als Er weckte, was jetzt stirbt, das kann jeder ermessen, den der Geist der Schöpfungsgeschichte je berührte.
Die Freude Gottes an Seinem Werk, … die Großzügigkeit, in der Er uns Menschen die Freiheit gab, tatsächlich heimisch und zum Hüter in einer Welt zu werden, die sich nicht uns verdankt, … das Vertrauen, das Gott in Augenmaß und Gehorsam Seines Ebenbildes setzte, das in Eden doch so spürbar nicht die Macht, sondern die Liebe suchte … alle diese Frühlingsgefühle und Freiheiten der neuen Welt sind uns in schrecklicher Eindeutigkeit inzwischen zum Opfer gefallen.
… Tatsächlich wiederholt sich in der Schändung der Natur, ohne die wir doch nicht leben könnten, das Ereignis von Golgatha, wo der Lebendige selbst der blinden Brutalität des Menschen ausgeliefert war, der zerstört, was ihn erhält. ———
Wozu dann aber noch die Geschichte von Eden lesen und hören und in den herrlich unschuldigen Liedern von Neander (EG 504) und Spitta (EG 510) besingen, wenn wir doch nur ihren verzerrten, panischen Nachhall in den furchtbaren Statistiken und ausweglosen Sackgassen unserer Gegenwart aufschnappen und uns eingestehen müssen, dass wir trotz knallharter Erfahrung immer noch bloß butterweiche Antworten auf den Zusammenbruch des so kunstvoll auf einander abgestimmten Systems der ganzen Schöpfung haben?!
Wozu an Gottes Eden erinnert werden, wenn wir bloß das von uns selbst versalzene Sodom bewohnen?
– Weil wir Christen sind!
Wir sind die, die dort, wo andern die letzte Schwäche und die tiefste Nacht begegnen, die stärkste Kraft erkennen und den hellsten Mut schöpfen sollen.
Wenn uns tatsächlich die Erzählung vom Anfang aller Dinge heute als ein Karfreitagsbericht anmutet und wenn wir in Eden anstelle des Baumes der Erkenntnis und des Lebens das Kreuz erblicken, das Kreuz der geschändeten und gemarterten und verlassenen Kreatur …, dann kann dieser schmerzhafte, aber uns ja nicht fremde Anblick uns nicht entmutigen, sondern nur wecken und wappnen!
So wie Gott durch die Schöpfung die Schönheit der Welt und die Sorge für sie und die Liebe zu ihr mit dem Menschen geteilt hat, so ist auch das Leid der Welt geteiltes Leid, … geteilt mit Dem, Der ausgerechnet als der Gekreuzigte gerade nicht zum Besiegten, sondern zum Befreier wurde. Die Kreuzigung löste ja nicht die endgültige Auslöschung des göttlichen Lebens, sondern schließlich die Überwindung des menschlichen Todes aus.
… Doch nur wer die Augen vor der Passion nicht verschließt, kann erfahren, was Ostern bedeutet.
In gleicher Weise müssen wir heute also schonungslos die Schuld und den Schrecken, die Ursache und den selbstzerstörerischen Wahnsinn der Schöpfungsvernichtung betrachten und bekennen, wenn wir als Christen zu Zeugen dessen werden wollen, was stärker als die Todesmächte in der Menschheit ist.
Ohne die klare Erkenntnis des Unheils, das wir verüben, dringen wir keinesfalls durch zur rettenden Erlösung von dem Bösen, das uns treibt.
Wenn wir also weiter leugnen, was der Mensch aus Staub der Welt antut, die unter seiner Obhut doch gedeihen soll, … wenn wir das weiter leugnen und verdrängen, dass wir allen Kreaturen und unserm eignen Fleisch und Blut ein Golgatha bereiten, dann ist das, was wir nicht einsehen, das Ende.
Verschließen wir aber unsere Augen nicht mehr vor der Passionsgeschichte, die sich heute ereignet, dann setzt die Einsicht in die Wahrheit Hoffnung für Eden frei:
Sehen wir das Kreuz, so sehen wir das Heil.
Gestehen wir unsere Schuld, beginnt der Weg der heilenden Gnade.
Kehren wir um, dann werden wir leben (vgl. Hesekiel 18,32 / EG 589). ——
… Nicht als sei dann ein märchenhaftes „Sesam-öffne-dich“ zurück zum mythologischen Ursprung gefunden.
Aber das, was Eden war, ist ja trotz allem noch gar nicht unwiderruflich vergangen:
Der Staub – der Mensch! – , … der Garten – die Welt! – , … unser Auftrag – der Bund! – und die Hoffnung, nicht allein zu sein – die Hoffnung der Liebe! – … sie alle reichen doch in’s Hier und Heute; sie sind die Quellen, zu denen wir zurückkehren müssen als zu dem Strom, der von Eden ausgeht.
Die Schöpfung geht darin weiter.
Wenn wir sie so fortleben wollen, wie Gott sie schuf, ist alles noch da: Wir müssen die Kreaturen, ihre Kostbarkeit und ihr Leid nur in Worte fassen und nennen, wir müssen an ihrem Kreuz nur unser Fleisch und Bein erkennen, damit das wunderbare Werk Gottes aus dem Schatten des Todes in das Licht Seiner Zukunft reicht:
Wo Mensch und Welt verbunden sind und keine Angst sie quält.
Wo wir mit Recht zu Gott wieder sprechen dürfen wie die Braut des Hohen Liedes (4,16c): „Mein Freund komme in seinen Garten!“
Amen.
13.So.n.Trin., 06.09.2020, Stadtkirche, Apostelgeschichte 6, 1 - 7, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 13.n.Trin. - 6.IX.2020
Apostelgeschichte 6, 1 – 7
Liebe Gemeinde!
Wer glaubt, die Deutschen seien Vereinsmeier und G’schaftlhuber, die zu allem eine Uniform und Hierarchie bräuchten, kennt den weltweiten christlichen Erfindungsreichtum nicht, wenn’s um die Schaffung von Wichtigkeitsbestätigung geht. Die Stufen und Verästelungen der kirchlichen Ämtervielfalt sind eine Wissenschaft für sich. Ob das die Metropoliten und Erzpriester, die Archi- und Subdiakone, die Akolyten der Orthodoxie oder die Weih- und Suffraganbischöfe und Pfarrvikare und Pastoralreferenten der katholischen Kirche sind: Überall kann man einen herrlichen Artenreichtum seltener Vögel beobachten.
Falls wir uns aber selbst mal wieder für unverdächtig halten sollten, so sind die süddeutschen Dekanate und Prälaturen, die hannöver‘schen Sprengel, die preußischen Generalsuperintendenturen, die Konsistorialräte und die Präsides nur ein willkürlicher Auszug aus der freien Wildbahn und dem hohen Tierleben der evangelischen Kirche. Und wer - wie ich - angelsächselt, weiß dass der Schlussstein aller Pyramiden kirchlicher Gewalt und Herrlichkeit ein umstrittener Ort ist, der entweder den Flower- oder den Church-coffee-ladies gebührt – wobei ganz anglikanische Gemeinden auch noch die Damen berücksichtigen müssen, die die schönen Kniekissen sticken, ausbessern und an den einzig bestimmungsgemäßen Platz in der Bank zurücksortieren.
Das Amt macht den Christenmenschen. … So könnte man frotzeln.
Oder die Apostelgeschichte lesen.
Und feststellen, dass es gar nicht so lächerlich, sondern entscheidend ist, dass die Kirche genau das kennt und seit dem Ursprung, von dem heute die Rede ist, auch weitergibt: Ihre Ämter. ———
Ein wenig sind wir vielleicht ja doch alle Kinder der 68er oder einfach unbedarfte Rheinländer, wenn wir immer wieder meinen, es ginge auch ohne den organisationssoziologischen Ballast echter Ämter. … Ein bisschen Klüngel, ein bisschen „Schaumermal“, ein bisschen Anarchie und ein bisschen kreatives Chaos müssten die Sache eigentlich doch auch wuppen.
Aber just so laissez-faire ruckelt sich das menschliche Leben meistens doch nicht zurecht. Und das eigentliche kreative Chaos, aus dem die ganze Welt stammt – jener unbeschreibliche, ungeformte und unstrukturierte Ur- und Allzustand des noch Ungewordenen, den die Bibel als das „Tohuwabohu“ des Anfangs beschreibt – lehrt uns etwas ganz Erstaunliches über die kirchlichen Ämter.
Denn dieses malmende und kreisende Chaos, in dem alles nichts und nichts etwas war, wurde eben nicht sich selbst überlassen, sondern über und in ihm schwebte und durch alle seine Fluktuationen und Wirbel hindurch schimmerte der Geist Gottes (vgl.1.Mose 1,2).
Dieser Geist Gottes aber ist – manche mögen’s bedauern – kein kiffender, mühelos entspannter, halluzinatorischer Rauschzustand, in dem alles möglich wird, sondern der Geist Gottes ist die wirkende, die werkende, ja, die technische Kraft der Gestaltung, der Bildung, der Formung, der Schöpfung der Wirklichkeit.
Gottes Geist ist die Tat-Kraft, die aus Dingen Wesen, aus Versuchen Bleibendes, aus Ungefährem Klarheit, ja, die aus Wirrem Wahres macht.
Gottes Geist also ist in höchstem Maße praktisch, tatkräftig, eigentlich müsste man sogar sagen: Gerade Gottes Geist bringt die handwerkliche Verwirklichung des Wortes „Es werde“ zustande. Der Geist, der über der Tiefe des Abgrunds brütet und allem seine gewollte Struktur gibt; der Geist, der „künstlich und fein uns bereitet.“
Warum das wichtig ist im Blick auf die Ämter? Weil sich diese praktische Fähig- und Fertigkeit, durch die Gottes Geist sich zeigt und die er verleiht, bei der ersten Beauftragungen, der ersten Geistübertragung, von der die Bibel spricht, erneut bestätigt. Da heißt es im zweiten Buch Mose (31,2f / 35,30f): „Der HERR sprach: Siehe, ich habe mit Namen berufen Bezalel … und habe ihn erfüllt mit dem Geist Gottes, mit Weisheit und Verstand und Erkenntnis und mit aller Geschicklichkeit …“; doch was war dieser Bezalel, der erste Empfänger eines Pfingstgeschenkes, der erste feierlich Begabte und Begeisterte: War er ein glühender Prediger, ein eifriger Richter, ein tugendreicher Heiliger oder Herrscher? … Nein, er war Handwerker, war der Architekt und Bauleiter der Stiftshütte, des ersten provisorischen Gotteshauses auf dieser Erde.
Der Geist Gottes ist also der Geist der Kunstfertigkeit und der schöpferischen Materialbearbeitung; er weckt den Kulturkeim in der menschlichen Natur und führt die Hand, die aus einem ungeschlachten Rohstoff – Erz, Stein oder Holz – etwas Schönes schafft. Gottes schöpferischer Geist, der im Anfang die chaotische Natur geordnet hat, treibt also auch die Kultur, die Zivilisation hervor, die aus dem rohen Zustand der Menschheit den schönheitswilligen und -fähigen, den absichtsvoll die Welt gestaltenden Menschen macht.
Und setzen wir diese Linie fort – vom strukturierenden zum zivilisierenden Werk, das Gottes Geist hervorbringt – so setzen wir auch die alte Linie fort, die vom Wahren zum Schönen zum Guten führt.
Und kommen damit zum dritten Chaos, das dem Tohuwabohu-Chaos der Kreatur und dem unbearbeiteten Zustand der stofflichen Welt folgt: Es ist das ganze brodelnde und blubbernde und ungefüge Durcheinandergären im Menscheninneren. Da, wo die Bedürfnisse und die Nöte, die Angst und die Begierden jedes Menschen ihr eigenes „Tohuwabohu“ ergeben und die Welt im Kleinen nach dem Geist Gottes schreit, der auch sie sicher werden lässt und schön macht. ——
Gewiss: Das ist nun allerdings eine weite Anreise gewesen – vom kosmischen Urzustand über die Anfänge der Kultur –, um bei der Unordnung und Unzufriedenheit, bei der Unübersichtlichkeit und dem Durcheinander der Urgemeinde in Jerusalem zu landen. Dort hatte nach Pfingsten ja tatsächlich so etwas wie eine neue Kreatur begonnen. Massen, die von einer starken Anziehung, einer geheimnisvollen Urkraft bewegt und in erstmalige Zusammensetzungen gebracht worden waren: Die Treuen aus Galiläa und die in Jerusalem schon von Christus selbst Bewegten und die auswärtigen, die fremden Menschen, die nach der Geistausgießung am Wochenfest nicht nach Partien, Medien und Elam, nicht nach Mesopotamien und Kappadozien, nicht nach Phrygien und Pamphylien (vgl. Apg,2,9ff) oder wohin sonst auch immer zurückgekehrt waren, sondern die blieben, weil das Wunder der damals im Feuer geborenen und sich langsam abzeichnenden Gemeinschaft der auf den Gekreuzigten und Auferstandenen Getauften sie nicht mehr in ihre alten Leben zurückfinden ließ. Die Menschheit schien umgeschmolzen werden zu sollen; eine nie dagewesene Verbundenheit versprach, sich im versöhnten, verbrüderten, vergeschwisterten Miteinander der Jesus-Jüngerschaft herauszukristallisieren.
Dass ein solcher Transformationsprozess, eine solche Metamorphose der bisher einander fliehenden Kräfte Israels und der anderen Kulturen der Welt nun aber chaotische Züge trägt, dass es Reibung und Funkenflug zwischen diesen und jenen, dass es Zusammenstöße und schmerzhafte Reaktionen gibt, wenn derart unverbundene Elemente einen stabile Aggregatzustand suchen, ist wenig überraschend.
Die judenchristliche Urgemeinde, in die noch gar keine wirklichen Heiden wie später in Korinth und Philippi, in Ephesus und Rom gehörten, sondern nur Judenchristen aus der Provinz, aus den Parteien der Davidsstadt und aus den vielen Diasporasiedlungen Israels, wo auch Nicht-Juden sich dem Gesetzesbund vom Sinai anschlossen, … diese judenchristliche Urgemeinde schien implodieren zu sollen. Hunger, Neid und Misstrauen stauten sich in ihr an.
Und die schwächsten Glieder – die nicht-einheimischen Witwen, die in der Stadt Jerusalem zunächst keine Fürsprecher hatten – waren der Auslöser einer bedrohlichen Krisenreaktion: Ihr wirkliches Leid wäre beinah der Zündfunke geworden, dessen Explosion die Kirche atomisiert hätte, noch ehe sie ein belastbares Gebilde hatte werden können.
Vor dem Ernst dieser Lage versteht man daher vielleicht, dass die ersten Jünger Jesu etwas Gewagtes und doch darin gerade Angemessenes taten:
Für sie war die Lösung des Problems der Unvereinbarkeit so drängend, dass sie ihr eigenes Unvermögen dazu eingestehen mussten. Sie konnten und wollten das Wort Gottes weitergeben, aber wie man die Unzusammenhaltbaren an einen Tisch bringen könne, entzog sich ihrer Weisheit. Und darum baten die ursprünglichen Jünger des Herrn um einen neuen Beweis des Geistes und der Kraft … und überließen die Realisierung dieser Suche nach Menschen „voller Geist und Weisheit“ dem Votum der Gemeinde selber. ———
Das nun ist also der Ursprung des ersten im Neuen Testament geschilderten Amtsverständnisses: Es geht in der Unübersichtlichkeit und im Gedränge des zwischen- und des innermenschlichen Lebens mit seiner sozialen Not, seinen körperlichen Belastungen, seinen politischen und privaten Unrechtserfahrungen um die Kunst des Richtigmachens. Der schöpferische Geist der Genesis, der auch der Schön-Geist in aller menschlichen Kultur ist, will als der gute Geist der Nächstenliebe konkret, praktisch, feinfühlig, unbestechlich dem Recht des Menschen und seinen Ansprüchen zur Geltung und zur Wirklichkeit verhelfen.
Das ist das tätig wirksame Diakonen-Amt, das Dienst-Amt göttlicher Weltgestaltung, durch das der Heilige Geist nach der Ordnung der Welt und ihrer Ästhetik auch ihre Ethik hervorbringt.
Tatsächlich kommt dieser geistgewirkte Dreiklang des Guten, Wahren und Schönen, der auch die griechische Philosophie erfüllt, in der kirchlichen Wahl und Beauftragung von sieben hellenistisch erzogenen Juden – das verraten uns ja ihre Namen: Stephanus, Philippus, Prochorus, Nikanor, Timon, Parmenas und Nikolaus – … tatsächlich kommt dieser Dreiklang des Wahren, des Schönen, des Guten in der Geburtsstunde der kirchlichen Ämter, der Geburtsstunde der Diakonie zur vollen Entfaltung.
Die Kirche Jesu Christi ist das Organ, durch das der Heilige Geist seine direkte und tatkräftige Kunst und Fähigkeit einsetzen will, Leere und Mangel mit seinen Gaben zu füllen, Sinnloses in Sinnvolles umzuwandeln und Zerstörerisches zu Konstruktivem zu machen.
Die Ämter, die der Heilige Geist in der Kirche ausprägt und die nach dem Wunsch der Apostel aus der Mitte der Gemeinde besetzt werden sollen, indem die Apostel selbst durch Handauflegung wie Jesus es bei den Kindern tat (vgl.Mk10,16) die Gottesbindung der Berufenen bekräftigen, sind praktischer Natur und sollen wirksam sein.
Durch ihre im Heiligen Geist ausgeübten Ämter dient die Kirche nämlich dann dem Schöpfungs-, dem Erlösungs- und dem Vollendungswerk Gottes, wenn die Ämter den großen Drei-klang befördern:
Alles, wodurch Menschen im kreatürlichen Leben gesegnet werden, … alles, was die irdische Schöpfung kultiviert und den von Gott geordneten weltlichen Lebensraum verschönt, … alles, was der Not und dem Leiden auch nur eines einzigen Menschen abhilft, … alles das ist ein Werkzeug des Geistes Gottes und seiner Weisheit.
Wenn die Berufenen und Begabten, die Lebens- und die Seelenkünstler, die Handwerker der Nächstenliebe und die Bauarbeiter der besseren Welt im Auftrag des Geistes sein Werk als ihr Amt umsetzen, dann treten sie in die Nachfolge, in die apostolisch gewollte und gesegnete Sukzession der sieben Diakone von Jerusalem, die das Chaos der Frühzeit durch ihren Dienst an den Menschen zu gedeihlichem Gemeindewachstum wandelten.
Und ob solche apostolischen Nachfolger in den Ämtern des weltbewegenden Geistes dann Kissen aufschütteln oder Mauern niederreißen, ob sie den Hungrigen bei den Tafeln Speise oder in den Künsten Trost und Gotteslob zukommen lassen, ob sie in der Sterbebegleitung oder im Kindergottesdienst das Heil von Anfang bis Ende des Daseins vergegenwärtigen, ob sie in der Gemeinde die Kasse oder den Keller ordentlich halten, ob sie Fenster oder Seelen putzen, ob sie Blumengestecke arrangieren oder den bunten Strauß der Ökumene liebevoll versammeln: Wenn diese vielen Ämter nur durch den einen Geist den Menschen allen zugutekommen, die doch ohne das Schöne, das Wahre, das Gute nicht leben können, … nun, dann kann es gar nicht genug Ämter in der Gemeinde Jesu Christi geben, Ämter, die ihm durch den Geist Ehre machen, … Ehren-Ämter für Gott im Dienst an den Seinen!
Wer also noch kein Amt hat, der bitte den Heiligen Geist darum!
Damit wir bald eine Gemeinde des allgemeinen Priestertums und des ebenso allgemeinen Diakonats sein möchten!
Amen.
12.So.n.Trin., 30.08.2020, Stadt- und Jonakirche, 1.Korinther 3,9-17, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 12.n.Trin. - 30.VIII.2020
1.Korinther 3, 9 – 17
Liebe Gemeinde!
Bei einem Bauunglück in den Tagen Jesu wurden an der sudöstlichen Stadtmauer Jerusalems achtzehn Menschen getötet. Ein Turm an der Teichanlage von Siloah – vielleicht der Pfeiler eines Aquädukts – stürzte ein und begrub dabei womöglich fast zwanzig Arbeiter unter sich, womöglich aber auch nur zufällige Passanten oder Straßenvolk.
Die Zeitgenossen damals beschäftigte eine andere Sensationsmeldung aber gerade noch mehr – ein Massaker in Jesu Heimat –, und sie eilten auf der Suche nach Erklärungen so sinnloser Katastrophen zu ihm (vgl.Lk.13,1-5).
Ohne Erfolg: … Eine einfache Erklärung, eine glatte Auflösung des uralten „Warum“-Rätsels verweigerte Jesus ihnen schlicht. Vielmehr wies er bei der Frage, wie man denn ein Blutbad an Unschuldigen verstehen solle, auf den blutigen Un- und Zufall auf der Baustelle von Siloah. Und wenn man genau zuhört, ist es damals sogar Jesus selbst, der damit angesichts so schauerlicher Nachrichten die Sinn-Frage stellt, nur um sie zu für absurd zu erklären: „Meint ihr, dass die Opfer schuldiger waren als andere? Ich sage euch: Nein. Wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle so umkommen.“ ———
Das ist die schwärzeste Botschaft des Neuen Testaments.
So schonungslos klar und trostlos konsequent kennen wir Jesus am liebsten nicht. Er soll uns doch - bitte schön! - beruhigen, und wenn die Menschheit ihn auch anstrengt, so soll er schließlich doch seufzen und sagen: „Geh’ hin, dein Glaube hat dir geholfen“. Er soll am Ende der täglichen Schreckensnachrichten aus aller Welt das Betthupferl des irgendwie Versöhnlichen vermitteln. Wenn wir nämlich überhaupt noch auf Jesu Stimme achten, dann weil wir ihn beschwichtigen hören wollen: „Alles wird gut!“ …….
Nun. Die Wahrheit ist: Niemand kann uns sagen „Alles wird gut“.
… Niemand, als Jesus allein. Er sagt es auch tatsächlich. Er sagt es, weil er es ist, … er ist das gute Ende aller Dinge, weil er das Alpha und das Omega ist, … der, der da ist, der da war und der da kommt (vgl.Offb.1,8).
Aber – und das schreit danach, dass wir es endlich auch wieder wahrnehmen! – … aber Jesu Versprechen, dass es endlich gut mit allem Bösen werden und recht nach allem Unrecht zugehen wird, ist uns nicht zur Beruhigung, sondern zur Beunruhigung gesagt.
Denn der große, schwere, kranke Widerspruch zwischen „Es wird alles gut“ und „Es ist alles gut“ … den müssen wir wieder als den Ort unserer Wirklichkeit und als die Aufgabe unserer Bewährung erkennen.
Es ist nämlich gar nicht alles gut. Im Gegenteil: Die Welt ist es nicht und wir in ihr sind’s nicht. Die Weltwirklichkeit, in der wir alle miteinander leben, ist vielmehr mit etwas zu vergleichen, das wie der Turmsturz von Siloah ein symbolisches Unglück voller Hinweise auf uns alle sein könnte: Beirut.
Beirut, wo die Mächte einen faulen Burgfrieden im Interesse der eigenen Ungestörtheit einhalten, bei dem keine Gerechtigkeit für die Vielen herrscht und man sich nicht fragt, welche Vernichtungskräfte unbekümmert und ungeschützt mitten unter den Leuten vor sich hin gammeln.
… Und sich schließlich wundert, wenn die ungehindert schleichende Gefahr hochgeht.
Das giftige Düngemittel, das wir seit langer Zeit sorglos herumliegen lassen, ist die fahrlässige Meinung, es müsse keine Wahrheit geben[i].
Den Wahrheitsverzicht konnte man in den letzten zwanzig, dreißig Jahren tatsächlich in der Welt ausstreuen und dabei den Eindruck erwecken, alles gedeihe nun besser: Wenn es keine absolute Wahrheit gibt, dann muss man sich auch nicht um sie streiten. Wenn niemand auf die Wahrheit aufpasst, niemand sie sucht, gibt es auch keine Konflikte mehr darum. Jeder kann seinen eignen Willen hegen, die Welt nach eigenem Gutdünken umgraben, das Leben ganz nach eigenem Belieben behandeln, benutzen, verbrauchen. Die Gleichgültigkeit gegenüber Wahrheitsfragen ist das beste Mittel gewesen, um in jüngster Vergangenheit wenigstens im Westen keine schmerzhaften Unannehmlichkeiten vom Zaun zu brechen. So haben wir unseren kleinen Libanon gezüchtet, in dem allem Anderen das Interesse vorgeordnet ist, dass man bloß nicht streitet, sondern die Dinge so lässt, wie jeder Einzelne sie gern hätte.
Bis es knallt.
Die Explosion ist geschehen. Die Explosion der Wahrheitsschlamperei, von der wir noch benommen, ja betäubt sind.
… „Kann das sein?“, fragen wir uns. „Kann das sein, dass in einer durchsichtig gewordenen Welt, in der alle alles von allen wissen, sehen und erfahren können, alles undurchsichtig geworden ist?
Kann das sein, dass tatsächlich die Lüge das stärkste Mittel in Demokratien wird, die eben noch für Freiheit und Vernunft standen?
Kann das sein, dass trotz der vollständigen Informationsmöglichkeiten der Technik die reine, schamlose Unwahrheit siegt?
Kann das sein, dass man vor aller Augen Giftanschläge begehen und es nicht gewesen sein kann?
Kann das sein, dass man mit der Kirche der Heiligen Weisheit in Istanbul machen kann, was man will und es die heilige Weisheit der Kirche in aller Welt kaum anficht?
Kann das sein, dass die Menschheit ihre unlösbar schicksalhafte Gemeinsamkeit so deutlich wie nie vor Augen sieht und mit einem blinden Trotz der Vereinzelung reagiert?
Kann das sein, dass Verschwörungswahn und Selbstmitleid mit dem kritischen Dringen auf Denk- und Redefreiheit so trübe Mischungen, so unverantwortliche Quengelwettbewerbe eingehen?
… Kann so viel Lüge, so viel nackte Provokation des einfachen Menschenverstandes, kann so viel Unsinn, so viel Denkfaulheit und geistige Selbstbeschränkung wirklich vorherrschen, wo einst Kant und Hegel den Geist, Alexander von Humboldt und Max Weber das Handeln, Carl von Ossietzky und Marion Gräfin Dönhoff die Meinungsbildung aufgeklärt, erhellt und unabhängig gemacht haben?“ ————
Damit nun niemand einwenden möge, wie billig es ist, nur auf die Lügen, die Märchen und Halbfalschheiten der Masse und ihrer Rattenfänger und aller anderen Gegenweltler zu zeigen, muss der Finger aber selbstverständlich auch auf uns selbst gerichtet werden.
Wenn wir nämlich nicht Buße tun, werden wir genauso wie die Achtzehn von Siloah auf dem Schrottplatz unserer pseudochristlichen Erfindungen und unter dem Schutt unserer morschen kirchlichen Lügengebäude begraben werden. ……. ———
…. Schon recht gehört.
Hier wird gelogen! Hier gibt es Fake Theology. Hier kann man dem nicht trauen, was man doch von allen Seiten und in schönster Harmonie hört:
Eine der großen, gefährlichen Täuschungen unserer Tage ist die schillernde Illusion von der Gesundheit, die über alles sonstige gehe.
Das sagen mir Eltern bei jedem Taufgespräch, dass sie sich nichts anderes für ihr Kind wünschen, weil doch Gesundheit die Hauptsache sei; und da ich genauso beschränkt und von Natur aus geistlos bin, widerspreche ich nicht, denn instinktiv denke ich gar nicht anders und habe im Übrigen gut reden. Also das Pseudoevangelium von der Kindes- und der Volks- und Systemgesundheit, das in den letzten Monaten eine solche überragende, ausschließliche Rolle gewonnen hat: Alles andere ist zweitrangig. Sola sanitas! Seelsorge, Verkündigung, Gotteslob und Unterweisung sind Nebensache. ……. Hauptsache nicht krank!
Natürlich weiß ich, was gemeint ist. Natürlich soll nicht dem roulettespielenden Leichtsinn, dem Egoismus oder der unsolidarischen Arroganz derer, die sich nicht berührt sehen, das Wort geredet werden. Und trotzdem gilt: „Gesund ist nicht alles“! … Welcher Hohn ist ein solcher Satz in den Ohren derer, die’s nie waren oder nie mehr werden. Welche Irrlehre, wenn gerade die Kirche dessen, der sich zu den Kranken und nicht den Gesunden gesandt weiß (vgl.Mk2,17), sich hinter solch einem Schlagwort völlig falscher Priorität versammelt und zusieht, wie Menschen mit Krankheit dadurch plötzlich auf der anderen Seite landen, wo das real ist, was der törichte Anspruch des Vorrangs der Gesundheit ausschließen will.
Vor die Wahl gestellt, würde ich meine Kinder und wen ich liebe jedenfalls nicht vor allem physisch gesund sehen wollen, … sondern in Ewigkeit selig. ———
Doch es gibt noch eine fatalere Kirchen- und Kanzellüge.
Weitverbreitet.
Populär bis zum Populismus. Das ist die wahnwitzige Halbfettbutterwerbungs-Banalität des „So wie du bist“.
Überall schwappt es einem kirchlich entgegen: So wie du bist, bist du recht. Gott kann sich dich gar nichts anders vorstellen, als gerade so wie du bist – …. der arme Einfältige! Dein Du-Sein ist überhaupt der Clou. Bleib so. Nichts muss sich ändern. Alles ist in Butter – wenn’s auch nur Margarine wäre. Denn du bist „okay“. Und natürlich ich auch[ii]. So wie ich bin.
… Das indes soll das Evangelium sein?! Phantasiefreie, alternativlose Bestätigung des Ist-Zustandes.
… Wer so Politik machen wollte, müsste von Rechts wegen schon bangen, ob eine so zu-kunftsvergessene Parole nicht alle Merkmale geistlos lähmender Langeweile erfüllte.
Dem aber, der das Himmelreich mit dem Ruf „Tut Buße!“ nahegebracht (vgl.Mk1,15) und ausgerufen hat „Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden; was wollte ich lieber, als dass es schon brennte!“ (Lk12,49), … dem kann man in einer solchen Haltung der Selbstzufriedenheit wahrlich nicht begegnen! Er ist gekommen, damit die Welt brandneu und der Mensch von den alten Fehlern und Zuständen frei werden kann! Er hat den Grund gelegt zu jener Verwandlung aller Dinge, die wir das Reich Gottes nennen. Mit ihm hat begonnen, was als die Ewigkeit einst alles Wirre und alles Wüste, allen Horror und allen Hass beseitigen und bleibendes, blühendes Leben schaffen wird: Wie irre wären wir da doch, wenn wir glaubten, er wolle an uns das zementieren, was ist! Nein! Er ändert uns!
… Und wir ändern uns, wenn wir in seine Nachfolge, in seine Nähe kommen und mit ihm dem Anbruch der endgültigen Erneuerung der Wirklichkeit entgegenleben.
Diese Wirklichkeit, auf die wir vertrauen und an der wir mitwirken sollen, wenn wir die Angst und die Engigkeit des Menschen, der wir bisher waren, hinter uns lassen und unser Herz und unsere Hoffnung erweitern, bis sie Raum für die neue Welt Gottes bieten[iii], … diese Wirklichkeit, die auf Jesus beruht als ihrem einzigen Grund und die darum alles andere verändert, sie ist jene Wahrheit, die wir in der Kirche am liebsten ummodeln zu einer billigen Beruhigungsbotschaft.
Doch so kann man nicht auf dem Grund bauen, der in Christus gelegt ist.
Wenn wir die fundamentale Gewissheit, dass die Liebe Christi nicht vergeht und dass niemand uns jemals von ihr scheiden kann (vgl.Rö8,35ff), missverstehen als die Ewigkeitsgarantie unseres Egoismus, unserer Gewohnheiten, unserer Eitelkeit und Feigheit, dann wird eine unhaltbare Fehlkonstruktion aus dem Glauben.
In Jesus Christus ist Gottes Liebe uns zugewendet nicht, weil wir so sind, wie wir sind, sondern trotzdem. Und sie haftet nicht an unserm jetzigen, sondern sie befreit unser zukünftiges Wesen.
Nicht die Brüchigkeit des Rohres, nicht die Unsauberkeit des Dochtes (vgl. Jes.42,3a), von denen der Wochenspruch redet, sind es, die Gott erhalten will, sondern was immer an uns einknickt, soll begradigt, was rußt und die Welt verdunkelt, soll gereinigt werden, damit es hell und heil sein kann.
Und darum ist – noch so eine (und für heute die letzte) zu benennende und zu beseitigende Unwahrheit unserer Verkündigung – … darum ist das Verschweigen des göttlichen Feuers keine Wohltat, sondern eine Unterlassung durch uns zeitgenössische Prediger.
Dass es ein Feuer gibt, in dem viele unserer Eigenschaften und Unarten, in dem unsere Verstockung und unsere Gewissenlosigkeit schmelzen müssen, unterschlagen wir heute grundsätzlich: Zu sehr fürchten wir, der alte Schwefelgeruch, mit dem man früher die Hölle heiß machte, könne eine moderne Gemeinde verschnupfen.
Doch um den feurigen Pfuhl geht es gar nicht, sondern um eine Energie, die unerlässlich ist, um alles, was wir verbauen und verhindern, zum Tanzen zu bringen und umzugestalten. Es ist das Feuer, durch das hindurch wir gerettet werden können.
Eine Hitze, von der die Bibel sagt, hier, in dieser feurigen Glut brenne die Flamme des HERRN (Hohes Lied 8,6): Diese Hitze, Glut und Flamme ist die Liebe.
Die Liebe Gottes, die verzehrt, was an uns falsch und böse ist. Die uns nicht lässt, wie wir eben gerade sind. Die uns nicht kalt lässt. Sondern ansteckt mit einer Kraft, die immer schon feurig erschien: Der Kraft des Heiligen Geistes, der uns zu Gottes Tempel, Gottes eigenem Aufenthalt umgestaltet.
Wenn wir uns also endlich wieder auf die Wahrheit einlassen, dass wir anders werden müssen, wenn wir Gott gehören wollen, dann wird sie uns verändern!
Nicht ohne Schmerzen, nicht ohne Prozesse des Verlustes und Verlassens.
Aber so, dass schließlich auch unser Leben aufbaut auf dem Grund der großen, heilsamen und endgültigen Veränderung, die Jesus Christus bringt: Das Ende der menschlichen Selbstsucht und das Wachstum in der versöhnenden, gerechten, rechtfertigenden Liebe.
Alles andere – ein Leben nach der Melodie „Ich will so bleiben wie ich bin“, ein Leben ohne Wahrheitssuche, eine Gottesbindung ohne das Feuer Seiner uns umschmelzenden Liebe – … alles andere ist der Turmbau von Siloah.
Es wird einstürzen und uns unter sich begraben.
Aber wir dürfen anders, frei und neu werden, weil nicht wir bleiben, wie und was wir sind, sondern bloß der Grund, auf dem wir selbst und Gottes Reich für immer feststehen werden: Jesus Christus!
Amen.
[i] So schwer es meiner Generation auch fallen mag: Der vor zwanzig, dreißig Jahren in den „postmodernen“ Diskursen gefeierte Abschied von starren Wahrheitskonzepten zugunsten der dekonstruktiven Sinngebungspotentiale endlos produktiver, autonomer Deutungen zeigt jetzt seine fatale Seite. Sinn, Konsens und Objektivität – die Kategorien, von denen die Postmoderne sich löste – sind abgelöst worden. Vom Wahn restlos subjektiver Weltformeln und einer pathologisch kommunikations- und kompromissverweigernden Wirrnis der selbstermächtigten Erkenntnisse.
[ii] Man muss die gedanken- und geistlosen Lieder nicht zitieren, die mit solchen Botschaften der bedingungslos unkritischen Stabilisierung eines persönlichen, psychischen und gesellschaftlichen Status-quo erfolgreich sind, den der Heiland und Erlöser der Menschen doch gerade verwandeln will. Der alte Paul Gerhardt mit seinem „An mir und meinem Leben / ist nichts auf dieser Erd …“ (vgl. EG 351,3) wirkt da ungleich dynamischer und in seiner Entwicklungstoleranz offener als die Opioide, die wir so harmlos verabreichen!
[iii] Karl Barths taufrisch wirkender Vortrag – „Die neue Welt in der Bibel“ – von vor über hundert Jahren verdient es, immer wieder gelesen zu werden – und in Auszügen zitiert: „Wer ist Gott? Der himmlische Vater! Ja, recht. Aber der himmlische Vater auch auf der Erde, und auf der Erde wirklich der himmlische Vater! Der das Leben nicht will spalten lassen in ˶Diesseits̏ und ˶Jenseits̏! Der es nicht dem Tod überlassen will, uns von Sünde und Leid frei zu machen! Der uns segnen will, nicht mit Kirchenkräften, sondern mit Lebenskräften! Der in Christus sein Wort hat Fleisch werden lassen! Der die Ewigkeit für die Zeit und wahrhaftig schon in der Zeit hat anbrechen lassen – denn was wäre das für eine Ewigkeit, die erst ˶nachheȑ käme! Der nicht irgend etwas im Sinn hat, sondern die Aufrichtung einer neuen Welt!“ (K.Barth, Die neue Welt in der Bibel, in: ders., Das Wort Gottes und die Theologie – Gesammelte Vorträge, München 1924, S.31.
Israelsonntag, 10.So.n.Trin., 16.08.2020, Stadtkirche, Römer 11,25-32, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 10.n.Trin. - 16.VIII.202
Römer 11, 25-32
Liebe Gemeinde!
Von Mysterien redet man als heutiger evangelischer Christ eher nicht: Geheimnisse lüften wir ja, Rätsel lösen wir, Probleme nennen wir „Herausforderungen“, Rückschläge nennen wir … „Herausforderungen“, … Unerklärliches und Unglückliches und sogar Schreckliches nennen wir … – na eben! – „Herausforderungen“, und in dieser permanenten Herausforderung unserer mentalen und technischen Fähigkeiten, die immer schärfer schließen und schneller schießen und genauer ansetzen müssen, wird die Wirklichkeit zwar nicht weniger sprung- oder rätselhaft, als sie es immer schon war, doch wir bauen sie ab: Schreckliches wird erklärt (… und tut immer noch weh), Unheil kann man berechnen (… und es ist trotzdem auch weiter das Ende so vieler Dinge), Tiefes und Böses wird entmythologisiert (… und es verdunkelt die aufgeklärte Welt dennoch wie eh und je) ……. wir können so viel und ändern damit so wenig! … Oder ist irgendjemandem kühler geworden seit wir genau wissen, wie wir die Welt erhitzen?
Nur die Mysterien, die schaffen wir ab, indem wir rationale Scheinlösungen, technische Ersatzwunder, algorithmische Pseudoangebote erzeugen, wenn das Leben uns herausfordert.
… Worauf aber Hoffnung ruhen soll, wie man sich mit Schuld belädt und damit ohne Lüge leben kann, was den Tod überwindet und wo wir einmal sein dürfen, wenn nichts mehr ist: Diese Grundfragen der armen, zähen, entschlossenen und doch ohnmächtigen Menschheit … die laufen vor lauter illusionären Lösungen ins Leere. —
Dagegen Paulus, der wagemutige und geistesgegenwärtige Pionier, dem wir es verdanken, dass es weltweites und nicht nur bibelländisches Christentum gibt, … Paulus bekannte und Paulus verkündete auf seiner Mission ohne die Anmaßung, sie erklären zu können, überall „Mysterien“ … und er nannte sie auch so. Das Mysterium der Sünde und das Mysterium des Heils – an denen wir rettungslos scheitern müssten, wenn wir sie als unseren Denksport betrachteten –, … das Mysterium des Kreuzes und das Mysterium der Auferweckung – Not-Wendiges, auf das kein menschliches Genie verfallen wäre –, … das Mysterium des Gnadenwillens Gottes und Seiner Gnadenwege: Sie alle hat Paulus den Menschen mitgeteilt. … „Gelöst“ aber hat er keines von ihnen.
Denn das ist ja ihr Wesen, dass wir in ihnen dem begegnen, das unsere Horizonte übersteigt und uns dennoch nicht bedroht, sondern aus dem Staunen in den Frieden führt, der sich auftut, wo man nicht über allen Dingen steht, sondern vertrauensvoll in ihrer Mitte oder an ihrem Rand, jedenfalls aber als ein Teil des unermesslichen Ganzen ruht. ——
Das heutige Mysterium aber bleibt beunruhigend.
Jedenfalls für uns.
Es heißt Israel.
Nichts Beunruhigendes hat Israels Zukunft: Über dieses „Geheimnis“ – griechisch eben: „mysterion“ – hat Paulus schon vor zweitausend Jahren die Gemeinde in der heidnischen Welthauptstadt aufgeklärt. Israels Zukunft ist in keiner Weise ungewiss oder verborgen.
Wo Gottes Liebe den Anfang bezeichnet – bei Seinem erwählten Volk ebenso wie bei der Erschaffung Seiner ganzen Welt, da der Kosmos und Israel sich ja wie das Rad und die Nabe vom Ursprung her in einer gemeinsamen Form und Bewegung befinden – … wo Gottes Liebe also den Anfang bezeichnet, da ist das Ziel unzweifelhaft genau diese Liebe.
Das können und sollen wir heute im Blick auf die kritische Situation in Nahen Osten ebenso wie auf die krisen-, ja katastrophenhafte Lage der Erde und des Lebens auf ihr festhalten:
Gott hat alle eingeschlossen in das Rätsel, in die Symptome und Folgen des Ungehorsams, damit Er sich aller erbarme! ——
Doch was dazwischen geschieht, was sich in Israels langer und erst recht, was sich in Israels jüngster Vergangenheit ereignet hat, das ist so unverständlich wie es unverzeihlich ist, wenn wir von denen reden, die das geliebte Volk Gottes haben leiden lassen. Und was sich in der derzeitigen Geschichte der gesamten Schöpfung zuträgt, fällt unter das gleiche Urteil: Unverzeihlich und unverständlich. … Aber niemals – auch nicht in der Nacht der Vernichtung – ist es ein Grund, an der Berufung und den Gaben Gottes, an Seiner Kraft, die allein Entstehung und Vollendung bewirkt, zu verzweifeln. ——
Welche Rolle jedoch wir – die Zeitgenossen des eben noch preisgegebenen Israel und der gesamten verratenen Kreatur – spielen, das lässt sich einfach nicht erklären, weil darin die Gefahr des Verstehens und im Verstehen die Täuschung der Nachvollziehbarkeit läge.
Wer aber tatsächlich nachvollziehbar (!) darstellen und damit rechtfertigen würde, was die Christen an Israel getan haben oder der moderne Mensch an der Natur, der würde sich in Schuld und Lüge verstricken müssen, weil es unmöglich ist begreifbar zu machen, dass eine Kirche, die den Römerbrief kannte, Pogrome und Endlösungen der Judenfrage stillschweigend oder gar beteiligt ertrug, … genauso wie es unbegreiflich ist, dass eine Menschheit, die Vernunft und Wissenschaft besitzt, dem Brandopfer, dem Holocaust, zu dem alles Lebendige wird, nicht Einhalt gebietet. —
Es ist diese schreckliche, aber unzweifelhafte Rätselhaftigkeit, es ist das Geheimnis, dass wir nicht verstehen können, was wir doch selber tun und was durch uns selbst geschieht, die in unseren Tagen das Mysterium Israel ausmacht – vielmehr als das Rätsel des Ungehorsams, des nicht-christlichen Glaubens der jüdischen Gemeinde.
Weil’s aber Wahnsinn und Frevel wäre, wenn ich jetzt Logik, wenn ich Erkenntnis, wenn ich Verständliches predigen würde in Anbetracht dessen, was wir nicht begründen und nicht beschönigen, was wir nicht entschärfen und nicht bewältigen können, … darum nimmt die Meditation des mysteriösen Weges, auf dem Gott die volle Zahl der Menschen retten und triumphierende Barmherzigkeit durchsetzen wird, nun eine andere Richtung.
… Barock, rokokohaft wendet sich der Blick.
… Nach oben, wo man vor drei Jahrhunderten die Decke sich plötzlich einfach von den Gebäuden lösen ließ, wo man das Gebilde von Menschenhand, die Bauwerke der menschlichen Kunst nicht mehr selbstgenügsam abschließen, nicht mehr krönen wollte: Der Rahmen über dem, was die Menschen errichten, verschwindet in jener von uns als verspielt, ja verkitscht empfundenen Zeit. Und Wolken und Engel, Sphären und Sonnen, unendliche Offenheit und wimmelnde Weite tun sich auf, wo früher die Rippen des Gewölbes und der Schlußstein die Zielstrebigkeit und das Fertigwerden der Bau-meister bewiesen.
Unter diesen dachlosen, diesen endlosen, unter diesen unabschließbaren Überwelten des Barock bin ich Freund strenger Romanik und trockener Backsteingotik in den letzten Wochen also mit verrenktem Hals, mit protestantischem Zweifel, orientierungslosem Glotzen … und schließlich immer leichter und luftiger werdender Freude daher spaziert.
Und ob ich nun skeptisch und überlegen in Oberammergau oder in der Wieskirche, im Kloster Ettal oder auf der Birnau, in Meersburg in der Schlosskapelle oder in jener auf der Mainau den Kopf in den Nacken legte oder ob es sonstwo in Dorf- und Abteikirchen zwischen Bayern und der Schweiz war: Immer verlor sich der Blick in der selben, für einen evangelischen Pfarrer befremdlichen Aussicht.
Doch mit der Zeit hat dieser Sog, den da die naiven Lüftelmaler und die raffinierten Rokokokünstler nach oben ins herrlich Endlose und endlos Herrliche erzeugen, etwas in mir gelöst.
Denn die, die dort immer und überall im Herzen der rauschenden Himmelswelt aufsteigt, die auf Wolken oder einfach nur im Lichtglanz alle Schwere hinter sich lässt und uns die immer wunderbarere Freiheit der sichtbar erscheinenden Gottesnähe zu spüren hilft, … wie schwer hatte sie sich doch getan.
Sie ist die Tochter Zion, sie ist die jüdische Mutter.
Das junge Mädchen, das kaum begreifen kann, was Gott mit ihr gemeinsam anfängt.
Sie ist es, in der sich alles Heilige verkörpert, was Israel liebt: Die Prinzessin Sabbat, die in jeder Synagoge und jedem jüdischen Haus umworben und empfangen wird wie eine Braut, die paradiesische Unschuld und Heiterkeit mit sich bringt, weil mit ihr die Weisheit, die Geisttaube, der Hauch der Gottesnähe wenigstens für einen Tag von sieben verbunden ist.
… Aber wie ist ihr das Lachen so schnell vergangen.
Ein Schwert ging durch ihr Herz, als sie ihr Kind schon am achten Tag wieder in einen viel größeren Rahmen als den ihrer Mutterträume gehoben sah (vgl. Lk2,35).
Und sie hütete die Hoffnung ebenso wie die Angst, die das Kind in ihr weckte (vgl. Lk2,51).
Und sie schützte ihn, als er hilflos war, nur um zu erleben, wie er sie schon mit zwölf Jahren ein erstes Mal vergaß und verließ (vgl. Lk2,49).
Wer kann der Tochter Zion, wer kann der jüdischen Mutter verdenken, dass ihr Jesus ihr Kummer machte?
Und wer kann ihr nachfühlen, was sie empfand, als er dann schlicht aus dem Vertrauten, das sie ihm sein wollte, aufbrach und ein Leben führte, das fremd und unerhört, das frei, aber auch feindselig wurde?
Er trennte sich von ihr und wollte statt ihrer Andere in seiner Umgebung haben: Denn alle, die das Wort seines Vaters hören und den Willen dieses Vaters tun, sollten jetzt seine Mutter und sein Bruder sein (vgl. Mk3,35//Lk8,21).
Und die jüdische Witwe, von der die traurigen Wiegenlieder in den Ghettos so voll waren, die Mutter, deren Sohn auf und davon zog und sie nicht mehr brauchte, scheinbar auch nicht mehr kannte und ehrte … wie bitter wurde es ihr, dass es ihr Fleisch und Blut war, das sich da so gegen sie zu wenden schien.
… Es ist das Mysterium Israels verdichtet in einer einzigen Menschengestalt.
Der Konflikt, die Enttäuschung, die Entfremdung, die diese Mutter durchlitt, als ihr geliebter Sohn sich von ihr abwandte und allen anderen zu …, die sind auf die Jahrhunderte verteilt genau die Ursache dessen, was Paulus die „Verstockung“ Israels nennt. Die Erfahrung, dass das Evangelium Feindschaft bringt, ja, dass – in Jesu Worten – „des Menschen Feinde seine eigenen Hausgenossen sein werden“ (Matth10,36) hat sich in Israel geradezu bestätigen müssen: Er gehört doch ihnen, sie haben ihn hervorgebracht, ihr Erbe und ihre Verheißung wachsen heran und strahlen hervor in ihm, doch er bricht so ohne Umschweif aus der Gemeinsamkeit aus, dass sie wirklich bitterste Wut und herbste Zweifel packen können … und kaltes Grauen.
… Bis er den schrecklichen Weg geht, den Israel nur allzu gut kennt, den es vor ihm und nach ihm immer schon, immer wieder so grauenvoll trostlos und hilflos ziehen musste.
Da sind sie wieder beisammen.
Da steht die Tochter Zion unter dem Kreuz und leidet, leidet, leidet alles, was er leidet.
Da ist es wieder: Das Mysterium Israel. Sie sind in aller Trennung und allem Zwiespalt, in die seine unendlich weite Liebe sie stürzt – eine Liebe, deren Weite ja gerade uns gilt!, die gerade uns rettet! – … sie sind in alledem doch eins.
Um unseretwillen geschieht das!
Um unseretwillen geschieht, was der jüdischen Mutter und ihrem geliebten Sohn, dem geliebten Sohn Gottes, widerfährt.
Ich will euch dieses Geheimnis nicht verhehlen, so hat es der Apostel gesagt. ——
Und auch das Geheimnis, das Mysterium nicht, das die süddeutschen Freskenmaler in allen ihren wunderbar offenen Kirchenhimmeln zeigen und das die katholische Kirche gestern ohne biblischen Beleg, aber mit aller biblischen Hoffnung als „Mariä Himmelfahrt“ gefeiert hat:
Die jüdische Mutter, der Schoß, aus dem er stammt, das Volk, zu dem er gehört: Ihr Platz ist in Ewigkeit ganz und gar bei ihm!
… Wie könnte es anders sein?!
Wie könnte seine Mutter nicht bei Christus in seiner Herrlichkeit den Platz haben?!
Wie könnte ganz Israel nicht gerettet werden?!
Nicht stellen und erst recht nicht auflösen lässt sich diese rhetorische Frage, sondern nur anbeten als das Mysterium Gottes, Der Sich aller erbarmt!
Amen.
9.S.n.Tr., 09.08.2020, Jer.1 4-10, StK+MhK, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
der Lesungs- und Predigttext, der für den heutigen Gottesdienst vorgeschlagen ist, der hat es in sich und vor allen Dingen: er trifft mitten hinein in unsere Zeit. Die 2500 Jahre, die uns von dem Autor bzw. Protagonisten Jeremia trennen, fallen da kaum ins Gewicht. Vielmehr zeigt die Geschichte, die mit der Gestalt Jeremias lebendig und anschaulich wird, verblüffende Parallelen zum Zeitgeschehen heute auf.
Damit wir nicht den Überblick verlieren, möchte ich die Gedanken, die mir dazu gekommen sind, jeweils unter ein Stichwort stellen:
Was ist Prophetie?
Um was geht es, wenn wir von Prophetie sprechen, was ist damit gemeint und was gerade auch nicht?
Es ist nicht gemeint, dass die Zukunft vorhergesagt wird, dass angekündigt wird, was sich genau ereignen wird.
Prophetie ist keine Wahrsagerei.
Prophetie zeigt vielmehr auf, was möglich ist unter schonungsloser Betrachtung dessen, was ist und aufgrund des Bewusstseins, dass es eigentlich - vor Gott, vor dem Gewissen - immer um ein gutes Leben auf dieser Erde gehen soll.
In diesem Sinne gibt es nicht nur in den abrahamitischen Religionen Prophetie, sondern auch in den anderen. Denn in den Gesellschaften aller Zeiten gab und gibt es Krisen, die dazu auffordern, sich Klarheit zu verschaffen darüber, auf welchem Weg man sich befindet - woher man kommt, wo man steht - und wohin es geht oder gehen sollte, weil das besser wäre.
Und damit wären wir bei der Frage
Was ist ein Prophet / eine Prophetin?
In der Bibel finden sich eine ganze Reihe, deren Namen uns bekannt sind, in der Mehrzahl Männer, aber es gab auch Frauen wie die Prophetin Hulda.
Prophet oder Prophetin ist kein Ausbildungsberuf, den man sich aussucht. Die Existenz als Prophet ist im wahrsten Sinne des Wortes „Berufung". Gott ruft; er ruft an - offensichtlich auch viele Personen, die mit Religion intensive Berührung haben, Priesterkinder wie eben Jeremia, aber auch aus völlig kultfernem Leben (Amos war ein Schafzüchter). Aber immer ist es ein Ruf heraus: heraus aus dem Alltag, heraus aus dem sozialen Umfeld, heraus aus jeder Sicherheit und Bequemlichkeit. Ein Prophet war Außenseiter. Er war gerade nicht auf einem „Selbstverwirklichungstrip", er wollte nicht Prophet sein, sondern er musste es sein. Er vertrat nicht seine Sache, sondern Gottes Sache. Und weil das immer zu einem Zeitpunkt war, wo Gefahr im Anmarsch war, etwas, womit die meisten Zeitgenossen nicht gerne konfrontiert werden, war das nicht mit Wertschätzung, sondern mit Aggression und Abwehr verbunden. Viele namenlos gebliebene Propheten haben ihren Dienst mit ihrer Gesundheit und gar mit ihrem Leben bezahlt. Auch die Lebensgeschichte von Jeremia als Prophet ist in großen Teilen eine Leidensgeschichte.
Prophet zu sein, das war nicht erstrebenswert. Unheil anzusagen, sozusagen den Teufel an die Wand zu malen - nein Danke. Zumal ja andere Propheten oft genau das Gegenteil sagten und dafür gefeiert wurden, Geld und einflussreiche Positionen am Königshof erhielten. Und wer Recht hatte mit seiner Ansage, was die Zukunft wirklich bringen würde, das wusste ja keiner mit Sicherheit. Erst die ferne Zukunft würde zeigen, wessen Rede „Wort Gottes" war und wer seine eigenen Gedanken und Interessen verkündet hatte und so ein Lügenprophet war.
Erst viele Jahrzehnte nach seinem Tod - Jeremia wurde von seinen Landsleuten nach der endgültigen Zerstörung Jerusalems und des Tempels auf deren Flucht vor den Babyloniern nach Ägypten verschleppt und ist dort irgendwann gestorben - erinnerten sich seine Volksgenossen an ihn und seine Reden und hatten die Größe, die Schuld und das Versagen der geistlichen und politischen Führung Judas zu erkennen und zu bekennen, indem sie mit der Aufnahme des Jeremiabuches in die Heilige Schrift Israels sich selbst ein Mahnmal setzten: nur wer sich erinnert, begeht die gleichen Fehler nicht noch einmal. Und genauso wie Lukas die Geburtsgeschichte von Jesus - nach dessen erst einmal offensichtlichem Scheitern am Kreuz - seinem Evangelium vorgeschaltet hat, um so zu zeigen, dass Jesus von Anfang an Sohn Gottes war, so erzählt der Redakteur zu Beginn des Jeremiabuches von der Berufung des Propheten, mit der er deutlich macht, dass Jeremia es war, der seinerzeit das Wort Gottes ausgerichtet hat.
Was zeichnete Jeremia als „echten Propheten" aus?
„Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker." (V.5)
Wir können an den weiteren Versen ablesen, was einen „echten" Propheten auszeichnet, welche menschlichen (geistige und seelische) Qualitäten gerade Jeremia mitbringt:
„Ich aber sprach: Ach, Herr, Ewiger, ich tauge nicht zu predigen, denn ich bin zu jung." Jeremia will sich hier nicht vor der Aufgabe drücken, aber ihm kommen mit recht Selbstzweifel, ob er der Sache gewachsen ist. Ob man ihn denn hören wird, auf ihn hören wird - so ohne Lebenserfahrung. Er ist bei seiner Berufung 23 Jahre alt. Diese Selbstzweifel äußerte auch Mose, als ihn der Ruf Gottes zum Pharao nach Ägypten schickte: Ich kann doch nicht reden, ich stottere. Wie soll das gehen?
Doch genau das zeichnet den echten Propheten aus: er weiß um seine Schwächen, er ist nicht der große Macher. Er ist fähig zur Selbstkritik, unerlässlich, wenn einer glaubwürdig kritikfähig gegenüber anderen und seiner Umwelt sein will.
Und so lautet die Antwort Gottes: „Sage nicht, ich bin zu jung, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und alles predigen, was ich dir gebiete." Es geht nicht um dich, sondern um meine Sache, sagt Gott. Und weil er um all die Widerstände und allen Hass, den Jeremia wie jeder Prophet, jede Prophetin auf sich ziehen wird, weiß, versichert er ihn seiner bleibenden Gegenwart; er kann ihm die Unannehmlichkeiten, das Leiden nicht ersparen, aber er wird bei ihm sein: „Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der Herr."
Und noch eine Qualität wird in dieser Berufungsgeschichte sichtbar. Sie ist im 9.Vers zu finden - verborgen hinter einer eher befremdlichen, mysteriösen Aussage: „Und der Herr streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund."
Wie soll man das verstehen, ohne ins Phantastische zu entschwinden?
Offensichtlich hat Jeremia eine tiefe Erfahrung gemacht mit Gott. Er ist berührt worden von Gott. Ein außergewöhnliches Erlebnis, aber - davon bin ich überzeugt - doch keine einmalige, einzigartige Sache.
Ich frage mich, ob nicht bei jedem Menschen das Leben mit solchen Berührungen beginnt. Es gibt dafür ein ungewöhnliches, aber wunderschönes Wort: „Seinsfühlung". Mit dem Sein, dem Leben, mit Gott in Fühlung kommen. Ein alter Meditationslehrer (Graf Dürckheim) hat das so beschrieben: Es sind die selbstvergessenen Momente in unserer Kindheit, in denen uns solche Berührungen zuerst begegnen, uns mitgegeben werden - im selbstvergessenen Spielen im Sand, der einem durch die Finger rinnt, oder beim Betrachten einer Blume oder eines krabbelnden Insektes. Da wurden wir berührt von einer Freude, die nicht aus uns selbst stammte, waren raum- und zeitlos geborgen, fühlten uns eins mit uns und der Welt. Entscheidend ist, wie wir solche Erfahrungen deuten. Als kindische Träumereien, die man, um erwachsen zu werden und um als erwachsen zu gelten, ablegen muss. Oder als wertvolle Erfahrungen, die wir weiter einüben und pflegen sollten, denn sie sind wie Türen in eine Welt und Wirklichkeit voller Leben und Mitgefühl. Jeremia jedenfalls hatte wohl diese „Seinsfühlung" gepflegt, war empfänglich geblieben für den Anruf des Lebens, den Anruf Gottes.
Wie sehr gerade Jeremia sich allem verbunden wusste, das spiegelt sich auch im letzten Vers wider: „Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche..." Er ist gerade nicht nur der Prophet für Israel, für das Königreich Juda. Gott geht es nie nur um eine „besondere" Gruppe, sondern um alle seine Menschenkinder. Alles Tun oder auch Lassen hat Folgen nicht nur vor Ort, sondern weltweit, für alle. Dieser moderne Gedanke - hier ist er schon zu finden.
Der Inhalt der Botschaft - damals und heute
Dass die Existenz als Prophet wenig mit Lust, aber viel mit Last zu tun hat, das macht die göttliche „Dienstanweisung" deutlich: „Du sollst ausreißen und einreißen, zerstören und verderben und bauen und pflanzen." Immerhin, das Ziel ist etwas Heilvolles, Positives - bauen und pflanzen - aber der Weg dahin voller Gewalt und Zerstörung, voller Unheil. Und das wiegt zunächst einmal viel schwerer und trägt dem Boten keinen Beifall, sondern Ablehnung ein.
Liebe Gemeinde, was hat das nun mit uns heute zu tun? Haben wir nicht andere Probleme zu bewältigen als die Menschen in Juda vor 2500 Jahren? Sind das nicht heute Corona und Klimawandel, Flüchtlingskrise und populistische bis faschistische Egomanen in immer mehr Regierungen weltweit? Und gibt es sie überhaupt noch: Propheten oder Prophetinnen im Jahr 2020, wo doch gerade hier in Europa die Kirchen immer mehr an Mitgliedern und an Bedeutung verlieren?
Nun, ich denke, dass das Interesse Gottes an seiner Schöpfung nach wie vor da ist; dass er allerdings auch mit der Zeit geht und nach immer neuen Wegen sucht, die Menschheit an ihre Aufgabe zu erinnern, Bewahrer und Pfleger der Erde zu sein, sie als Lebensraum aller Kreaturen zu erhalten. Und so wird er auch wissen, dass es nicht mehr reicht, nur religiöse Menschen anzusprechen, sondern auch Menschen, die in anderen Bereichen des Geistes unterwegs sind. Zum Beispiel in der Medizin und in der Biologie, in der Physik und der Meteorologie. Nicht nur die Geisteswissenschaften, auch die Naturwissenschaften haben selbstverständlich eine Verbindung zum Geist Gottes. Und so sind es in unseren Tagen eben oft „Fachleute" aus den Wissenschaften, die die Funktion von Propheten übernommen haben - in Sachen Corona die Virologen zum Beispiel. Und sie erleben dabei wie Jeremia seinerzeit, dass Beifall und hasserfüllte Ablehnung dicht beieinander liegen. Sie können nur sagen, was sie vor ihrem Wissen und Gewissen verantworten können; wie die Zukunft wirklich aussieht, wissen sie nicht.
Und dann fällt mir natürlich Greta Thunberg ein, die als 14jährige Schülerin ganz einfach und ganz allein angefangen hat, gegen die drohende Klimakatastrophe zu protestieren - aus ihrer Verantwortung als Mensch heraus, in tiefer „Seinsfühlung" mit aller Kreatur. Die in der UNO in New York den Regierenden ins Gewissen geredet hat. Und natürlich: wenn wir diese Erde bewahren wollen, sie als Wohnstatt für die kommenden Generationen erhalten wollen, dann muss zunächst vieles ausgerissen und eingerissen werden, nämlich unsere derzeitige Weltwirtschaftsordnung, die alles dem Wachstum und der Gewinnmaximierung unterordnet. Und natürlich wird das nicht ohne Verwerfungen von sich gehen. Und wie die Zukunft dann aussieht, das weiß ja keiner. Und darum macht diese Veränderung so große Angst. Und deshalb stoßen Greta Thunberg und alle „Fridays for future"-Aktivisten auch auf so viel Hass, Häme und Unglauben. „Ich will, dass ihr in Panik geratet" - aber doch nur, damit es am Ende gut wird, damit weiter auf Erden gebaut und gepflanzt werden kann, damit Kultur und Natur versöhnt miteinander für die Menschen aller Völker und für alle Kreaturen auf dieser Erde Lebensmöglichkeiten bereithalten.
Was spricht eigentlich dagegen, dass wir gerade mit dem Wissen der prophetischen Texte unserer Bibel die „Fridays for Future"-Bewegung als Gottes Anruf an die Menschen in unserer Gesellschaft, ja weltweit verstehen und ihren Mahnungen und Aufrufen, ihrem Drängen nach Umkehr („Buße") folgen? Wenn wir in uns hineinhören, dann werden wir die Klarheit gewinnen, welchen Weg wir einschlagen müssen, und dann werden wir den Zuspruch hören: „Fürchte dich nicht vor den ganzen Schwierigkeiten, die dieser neue Weg mit sich bringt; denn ich bin mit dir und will dich erretten, spricht der Herr."
Von CD eingespielt:
„Lass deinen Mund stille sein, dann spricht dein Herz.
Lass dein Herz stille sein, dann spricht Gott."
Text: koptische Tradition; Musik: Helge Burggrabe HAGIOS
Pfingstsonntag, 31.05.2020, 2.Tim.,1,7, Jonakirche, Daniel Kaufmann
„Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Timotheus 1,7)
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.
Wir Deutschen sind in den letzten 80 Jahren 4 x Weltmeister im Fußball gewesen. Das ist schon was, aber nichts im Vergleich zu einer Weltmeisterschaft, in der wir Deutsche als absoluter Serien- und Abonnement-Weltmeister gelten. Die Disziplin, um die es dabei geht, ist nicht olympisch und findet sich auch sonst in keinem Guinessbuch der Rekorde. Allerdings ist sie im Bewusstsein aller Deutschen verankert. Und in allen anderen Ländern ist sie zu einem stehenden Begriff geworden.
Die Rede ist von der „Deutschen Angst“, die „German Angst“ hat sich weltweit als Markenzeichen durchgesetzt. Sie bezeichnet eine Denkweise, die dem Leben und seinen Herausforderungen mit einer großen Portion Skepsis und mit sehr viel Vorsicht begegnet. Und dem Wissen, dass alle Sicherheiten sich als trügerisch erweisen könnten und von jetzt auf gleich in Frage stehen können. Diese „German Angst“ ist oder soll doch zumindest etwas zutiefst Deutsches sein, wie man an kompetenter Stelle nachlesen kann. Sie verdankt sich der Katastrophenerfahrung des zweiten Weltkrieges und der Stunde Null danach, in der nichts sicher und gewiss war und niemand sich auch nur ansatzweise ein halbwegs positives Bild von der Zukunft machen konnte. Diese „German Angst“ ist uns nun schon 75 Jahre ein treuer und keineswegs langweiliger Begleiter. Denn sie verändert ihr Gesicht ständig und immer so, dass sie den Stoff für neue, ernstzunehmende und getrübte Wahrnehmungen bereithält.
Einer, der es genauer wissen wollte, ein gewisser Frank Biess, hat diesem Phänomen sogar ein ganzes Buch gewidmet: „Republik der Angst“ heißt das über 600 Seiten starke Buch, dass die politische und gesellschaftliche Geschichte der BRD auf der Folie dieser ganz besonderen Gemütsverfassung beschreibt. Die darin markierten Angstzyklen beginnen mit der Angst vor Vergeltung nach dem Krieg, direkt gefolgt von der Sorge, dass alle noch vorhandenen jungen Männer mehr oder weniger unfreiwillig in die Fremdenlegion rekrutiert würden. Es folgte die Angst vor einer weiteren katastrophalen militärischen Auseinandersetzung zu Zeiten des Kalten Krieges. Dann meldete sich Ende der 50-iger Jahre verstärkt die Angst vor Arbeitslosigkeit, dann kam die Angst vor einem autoritären Staat in den 60-iger Jahren. Die unzufriedene Jugend, die 68-iger gingen unter anderem deshalb auf die Straßen. Dann kam der Terror von Links durch die RAF. Die Sorge vor einem Atombombenkrieg ist mir noch von meiner eigenen Zeit bei der Bundeswehr Anfang der 80-iger Jahre in guter Erinnerung. Zeitgleich fürchtete man den Kollaps der Natur, der Club of Rome hatte schon länger durchblicken lassen, dass unser Wirtschaften ruinös für die Ressourcen dieser Erde ist. Dann kam zu Anfang des neuen Jahrtausends die zunehmende Angst vor dem Terror fundamentalistischer Islamisten. Dann die Angst vor dem Euro, vor dem Verlust des Ersparten in der Finanzkrise, schließlich die Angst vor den Flüchtlingen aus aller Welt, begleitet von der Angst der Wut- und Sorgenbürger mit und ohne rechten Hintergründen. Letztes Jahr wünschte sich Greta Thunberg, dass die Menschen angesichts der Klimakatastrophe in Panik geraten mögen. Zumindest Letzteres ist in den letzten Monaten eingetreten, wenn auch nicht wegen den verheerenden Veränderungen beim Klima, sondern wegen Corona.
Diese Fähigkeit, sämtliche Phänomene des Lebens mit Verlust, gestörtem Genuss, verkürzten oder auch verdorbenem Spaß, Lebensgefahr, Haar in der Suppe und apokalyptischen Weltuntergangsszenarien zu verbinden ist allerdings kein rein deutsches Phänomen. Es findet sich in den Grunderzählungen der Menschheit weltweit wieder. Die Bestsellerautorin und Philosophin Martha Nussbaum hat in einem vielbeachteten Buch („Königreich der Angst“) diese Angst in den zutiefst beunruhigenden Ausgeliefert- und Angewiesenheitserfahrungen aller Menschen in der frühen Kindheit ausgemacht. Jedes Baby erlebt sich in den ersten Tagen, Wochen und Monaten des Lebens als extrem hilflos, ausgeliefert und angewiesen auf Hilfe von außen. Damit verbunden ist das Grundgefühl der Verlorenheit und Abhängigkeit von Dingen oder Menschen, die man nicht beeinflussen oder kontrollieren kann. Diese „Traumata“ der frühen Kindheit gehören zu den Grunderfahrungen des Lebens, die von den Menschen auf sehr unterschiedliche Weise bewältigt, kompensiert und verarbeitet werden. Möglich also, dass wir Deutschen mit unserer „German Angst“ nicht ganz so exklusiv sind wie zuweilen behauptet. Die Intensität, mit der wir Deutschen diesem Phänomen immer wieder Raum geben, scheint indes doch nicht nur vom Himmel gefallen zu sein.
Heute, am Pfingstfest, wird eine Geschichte erzählt und zu Gehör gebracht, die dieser Angst, hoffentlich auch der „German Angst“ grundsätzlich und sehr rigoros zu Leibe rückt. „Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Schreibt der Apostel Paulus in seinem 2. Brief an Timotheus, Kapitel 1, Vers 7. Wenn Pfingsten einen Ehrenplatz im Festkalender der Kirchen verdient, dann weil es in einer ungemein zupackenden Weise der Angst und Furcht den Kampf ansagt. Und die Menschen an das erinnert, was gegen diese Angst und diese Furcht Abhilfe schaffen kann.
Der Heilige Geist ist hier Gold wert, hören wir. Konkret sind es 3 Eigenschaften des Heiligen Geistes, die helfen. 1. Der Heilige Geist ist ein Geist der Kraft. Im Griechischen steht das Wort „Dynamis“, das wir auch aus dem eingedeutschten Wort „Dynamik“ kennen. Gemeint ist jene Kraft, die dem Leben Ziel und Richtung, Energie und Ausdauer, im wahrsten Sinne des Wortes Power gibt. Diese „Dynamis“ spielt in der Pfingstgeschichte eine entscheidende Rolle. Die ersten Jünger hatten zunächst alles dicht gemacht, sich verschanzt hinter Schloss und Riegel. Es gab so eine Art Lockdown in Jerusalem. Und dann kam eben jener Geist der Kraft, der alles veränderte. Es folgten energische Schritte in die Öffentlichkeit. Zunächst noch auf Abstand, dann aber in einer Urgewalt, die ihresgleichen sucht. Nicht nur, dass da 3000 Menschen im wahrsten Sinne des Wortes begeistert waren, sich taufen ließen und ernsthaft beschlossen, ein neues Leben zu beginnen. Diese Kraft des Heiligen Geistes machte aus zögerlichen und zweifelnden Durchschnittsbürgern und Bedenkenträgern eine schlagfertige, unerschrockene Gruppe von Menschen, die nichts und niemanden fürchteten. „Wir müssen Gott mehr gehorchen als den Menschen“, sagten sie denen, die den Ton angaben und die meinten, mit Gefängnis, Folter und Drohungen Einfluss nehmen zu müssen. Dieses Konzept, sich auch gegen Unterdrückung und Einschüchterungsversuche gleich welcher Art zur Wehr zu setzen, bildete geradezu den Auftakt für eine beispiellose Verbreitung des Evangeliums rund um das ganze Mittelmeer. Und wenn man der einen oder anderen legendären Erzählung glauben darf auch bis nach Indien.
Es ist nicht so, dass die Apostel überall und jederzeit mit offenen Armen empfangen wurden. Die Listen von Repressalien und Zwangsmaßnahmen etwa bei einem Apostel Paulus sind beträchtlich und nicht ohne. Im 2. Kor. 11, 23ff. listet er auf: 5 mal 40 Streiche weniger einen bekommen, dreimal mit Ruten geschlagen, einmal gesteinigt, dreimal Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht auf dem offenen Meer getrieben, ausgeliefert der Gefahr unter Räuber, missgünstigen Zeitgenossen, Wutbürgern, falschen und heuchlerischen Geschwistern, bedroht durch Hunger Durst, Frost und Kälte. Aber das alles hat Paulus und die anderen Apostel nicht davon abgehalten, das Evangelium, die frohe Botschaft von dem heruntergekommenen Gott in die ganze damalige Welt zu bringen. Und die Gewissheit und Zuversicht im Leben und Sterben allem Volk zu verkündigen. Diese von Gottes Geist erfüllten Männer und Frauen sind nicht müde geworden, bevor nicht auch Kaiserswerth und Lohausen erreicht wurde. Zugegebener Weise über den Umweg der iroschottischen Mönche - unsere Vorväter und Vormütter waren wohl keine ganz leichten Zuhörer - aber dann eben doch noch mit bleibenden und bis heute anhaltenden Wirkungen.
Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft. Und der Liebe, und damit bin ich bei einem zweiten Punkt: 2. Das beste und wirkungsvollste Gegenmittel gegen die Angst ist die Liebe Man kann zwar nicht allein von Luft und Liebe leben, aber ohne Luft geht’s auch nicht und ohne Liebe ist man lebendig tot. Die ersten Christen waren ein Herz und eine Seele (Apg. 4,32). Sie waren verbunden durch die Agape, die Liebe, die sie im Gottesdienst feierten und im Alltag der Welt lebten. Sie entdeckten in diesem Miteinander die Kraft des Lebens. Diese Agape, diese Liebe hat Erstaunliches bewegt. Die ersten Christen konnten sich plötzlich und ohne Wehmut von ihrem Besitz trennen. Die ansonsten immer wichtigen Statussymbole, Marken und beglaubigten Urkunden, Abzeichen, Orden und Belobigungsorgien spielten nicht mehr die erste Geige. In der Literatur ist diese grundsätzlich neue Haltung als „Liebeskommunismus“ eingegangen, mit der immer etwas tadelnden Nebenbemerkung, dass der schon bald am Ende war, genauer: bei der nächsten Inflation viele mittellose Gemeindeglieder zurückließ. Also, die erste Christengemeinschaft war da vermutlich noch etwas naiv unterwegs, hatte keine hartgesottenen Investmentbanker und schlitzohrigen Börsenspekulanten, die über welche Kanäle auch immer den Besitzstand zu mehren verstanden. Immerhin ließ sich die Urgemeinde auch von diesen äußeren materiellen Einschränkungen nicht davon abbringen, „Liebesmahle“ und Kommunion zu feiern: Das Gemeinsame, die Mitte, die sich in J.C. und seinem Geist mit Gott ergab. Festgeschrieben und im Gedächtnis blieb und bleibt aus dieser Zeit jedenfalls: Niemand ist eine Insel. Die Gemeinschaft ist nicht zur Dekoration da. Sie findet in der gelebten Liebe einen lebenswichtigen Ausdruck. Diese Agape-Gemeinschaft ist extrem systemrelevant - und durch keine wie auch immer geartete professionelle digitale und virtuelle Realität ersetzbar. Wir sind auf ein Du hin geschaffen. Und die Liebe ist der Kitt, die Verbindung, der Stoff, der die Angst, der jegliche Angst überwinden kann. Martha Nussbaum empfiehlt das in ihrem viel beachteten Buch „Königreich der Angst“ immer wieder. Die Liebe vermag am ehesten und am besten unsere Angst vor dem Ende von was auch immer zu überwinden. „Das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes.“ Heißt es bei Oscar Wilde. „Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes“, hält der Apostel Paulus fest. (Römer 8) Denn die Liebe verbindet uns mit dem Leben schlechthin.
Der Geist von Pfingsten ist ein Geist der Kraft, der Liebe und, ein letztes: 3. Der Geist von Pfingsten ist ein Geist der Besonnenheit Das dürfte ein wenig überraschen: zu den bewegenden und verbindenden beiden ersten Eigenschaften kommt zur Ergänzung der Trias eine griechisch-römische Tugend, die „Sophrosyne“, lateinisch „modestia“, zu Deutsch: die Besonnenheit oder die Gelassenheit dazu. Jene Fähigkeit, die ja besonders unserer Bundeskanzlerin zugesprochen wird. Diese Besonnenheit ist nicht der Motor, auch nicht der klimatische Höhepunkt dieser Dreiheit, sondern markiert eher das Moment, das alles beieinander und aufeinander bezogen hält. Die Besonnenheit sorgt dafür, dass es einen respektablen Mittelweg zwischen Leisetreterei und Elefant im Porzellanladen gibt. Die ersten Christen haben das Evangelium nicht mit der Dampfhammermethode und nicht mit KO-Schlägen und auch nicht mit säuselnden und einschläfernden Narkotika verkündigt. Sondern in einem überzeugenden Maße mitreißend, ansteckend, so dass Pfingsten alle Menschen erreichen und sozusagen zu einer „Pandemie des Lebens“ werden konnte.
Von dieser pfingstlichen „Pandemie des Lebens“ brauchen wir zurzeit eine große Portion. Es braucht das Vertrauen in das Leben: Dass wir auch jenseits vom Lock und Shutdown leben können. Dass es jetzt nicht um „Rechthaben“ und „Alles richtig gemacht“ geht. Nicht um den Klassenprimus bei der Krisenbewältigung und die Goldmedaille bei der Corona- Olympiade. Die Versuchung ist groß und viele Gespräche haben hier auch eine entsprechende Schlagseite. Aber wenn diese Gesellschaft sich nicht in Grabenkrämpfe rechts, links und in der Mitte der alles beherrschenden Richtigkeiten verausgaben will, muss sie den Gemeinsinn in pfingstlicher Gemeinschaft neu einüben. Mit einer Besonnenheit, die das richtige Maß zwischen den durch allerlei Zweifel verminten Fakten, Fakes und Zahlenspielereien findet. Mit der Liebe, die im Nächsten wie bei der Geschichte vom barmherzigen Samariter den besten Umweg auf dem Weg zu einem tragfähigen Miteinander und damit auch zu Gott sieht. Und mit der Kraft, die ganz am Anfang von allem das Leben in Gang setzte und die mit ihrer schöpferischen Urgewalt auch unser Leben Stabilität und Dauer zu verleihen mag.
Möge Gott uns seinen Geist reichlich und in großer Fülle geben, den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit, der der Furcht und aller Angst eine Grenze setzt und dem Vertrauen ins Leben Raum gibt. Amen.
Fürbitten-Gebet
Barmherziger Gott
In unsere Welt voller Sorgen und Furcht Sende deinen Geist der Kraft und der Zuversicht
In unsere zerissene Welt voller Streit und Hass Sende deinen Geist der Liebe und des Vertrauens
In unsere Welt der übersteigerten Einseitigkeiten Sende deinen Geist der Besonnenheit und des Maßes
In unsere Welt der Rechthaberei Sende deinen Geist der Versöhnung
In unsere Welt der mutlosen Richtigkeiten Sende deinen Geist der mutigen Wahrheiten
In unsere Welt der Angst vor dem Unbekannten Sende deinen Geist der Gewissheit auf Leben
In unsere Welt der Verunsicherten und Zweifelnden Sende deinen Geist des Glaubens und der Verlässlichkeiten
In unsere Welt der halbguten Konfliktlösungen Sende deinen Geist der Weisheit und Einsicht
In unsere Welt des zu kurz Kommens und des Mangels Sende deinen Geist, der allen Menschen Leben in Fülle gibt
In unsere Welt der Verteilungsungerechtigkeiten Sende deinen Geist, der jedem das zum Leben Notwendige gibt
In unsere Welt der zahlreichen Fragwürdigkeiten Sende deinen Geist der gut belegten Eindeutigkeiten
In unsere Welt der unübersichtlichen Entscheidungsfindungen Lass uns deinem Geist vertrauen, der uns hoffnungslos zuversichtlich macht
In unsere Welt der Sprachlosigkeit Sende deinen Geist des Gebetes, der uns mit deinem Sohn sagen lässt: Vater unser im Himmel
Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.
Rogate, 17.05.2020, Luk.18,1-8, Jonakirche, Daniel Kaufmann
Liebe Gemeinde,
Wann sind Sie Gott zum letzten Mal so richtig auf die Nerven gegangen?
Wann haben Sie zum letzten Mal mit Gott um ihr Leben gefeilscht?
Wann haben Sie zum letzten Mal mit Gott einen „Deal" gemacht:
Wenn Du mich hier heile rauskommen lässt...
Wenn ich die Klinik gesund verlassen kann...
Wenn mein Sohn/meine Tochter seinen/ihren Abschluss schafft...
Wenn ich mit dem Partner, der Partnerin so richtig glücklich werde...
Wenn Fortuna nicht absteigt und Schalke Meister wird...
Wenn ich durch die Bank zufrieden mit dem Leben bin...
Wenn das mit Mathe und Latein in der Schule klappt...
Wenn der Coronavirus uns endlich zufrieden lässt..
Wann haben Sie zum letzten Mal Gott die Pistole auf die Brust gesetzt, sozusagen ein Ultimatum gestellt?
Geht doch gar nicht, wenden Sie möglicherweise ein.
So redet man nicht mit Gott.
In der hohen Schule des Gebets gibt es ja mehrere Kapitel:
Und richtig, das erste heißt vermutlich:
Sag Gott alles, was Du auf dem Herzen hast.
Trage ihm alle Deine Wünsche vor.
Und hoffe darauf, dass die Gebete in Erfüllung gehen.
Dass Gott Deine Wunschliste abarbeitet.
Dass das eintrifft, was für Dich vorteilhaft, lebensnotwendig und wichtig ist.
Und wenn es anders kommt, dann bist Du gut beraten
mit dem zweiten Kapitel zum Thema Beten.
Dann bist Du schon bei den Anweisungen für Fortgeschrittene.
Die beginnen mit dem Satz:
„Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.2
„Der Mensch denkt, Gott lenkt."
„Gott tut nichts anderes als fügen, fügen, fügen."
„Gott weiß, was wir bedürfen, noch bevor wir ihn bitten.
Haltet Gott also keine Vorträge."
„Wir können nichts erzwingen. Nicht einen Atemzug."
Wer hier bei den fortgeschrittenen Betern vorankommen will, schließe sich dem Gebet Jesu, dem Vater Unser, an.
Darin heißt es ziemlich am Anfang:
„Dein Wille geschehe."
Nicht mehr nicht weniger.
Das kann gut oder schlecht für Dich ausgehen.
Das heißt:
Für den fortgeschrittenen Beter geht es immer gut aus.
Also so, wie Gott es für einen vorgesehen hat, ist es doch gut.
Für den Ungeübten bleibt allerdings nach wie vor ein Unbehagen:
Warum soll der Verlust, der Tod, der Schmerz, die Krise, die Auszeit, der Shutdown etwas Gutes sein? Damit kann man sich vielleicht arrangieren, abfinden, drauf einstellen: Aber gut und richtig finden, dazu gehört doch wohl noch etwas Anderes.
Wer in dieser Gebetsschule, Kapitel 1 und 2 noch nicht die Segel gestrichen hat, für den gibt es noch ein weiteres, ein drittes Kapitel. Das findet man weiter hinten, jenseits von den Hinweisen für Anfänger und Fortgeschrittene, schon fast im Anhang. Also dort, wo viele gar nicht mehr hinkommen. Weil Kapitel 1 und 2 sich mehr oder weniger bewährt haben. Oder einen mehr oder weniger enttäuscht zurückgelassen haben. Jesus selbst bringt uns an diesem Morgen dieses dritte Kapitel aus der Gebetsschule nah. Ich lese aus dem Lukasevangelium, Kapitel 18, die Verse 1-8:
„Jesus sagte ihnen aber ein Gleichnis darüber, dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollten, und sprach: Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher! Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue, will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage.
Und Jesus sagte: Hört, was der ungerechte Richter sagt! Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er's bei ihnen lange hinziehen? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze."
Egal, was man zum Beten sonst noch sagen kann: Diese Geschichte von der Witwe hält unüberhörbar fest, dass das nervende Gebet, dass Gott auf dem Wecker geht, dass Gott in den Ohren liegt, dass ihm immer wieder und immer neu vorhält, was hier auf Erden geändert werden muss und soll, nicht ohne Erfolg bleiben wird. Das Gebet, das nicht müde wird, sondern sich in endlosen Schleifen mit immer denselben Anliegen an Gott wendet, bewegt Gottes Arme. Das Gebet, das sich nicht frustrieren lässt, dass fast schon ein wenig gewaltsam und fast schon unanständig intensiv ist, wird gute Wirkungen und Folgen erzielen. Diese Art zu beten mag in heutiger Zeit aus der Mode gekommen zu sein. Möglicherweise auch, weil wir kirchlich immer auf den Fortgeschrittenenmodus aus Kapitel 2 beharren. Und diesen nach Anfänger scheinenden „Schreimodus" für einen Rückschritt halten. So unverschämt Gott um Erfüllung seiner Wünsche zu bitten, ist was für Kinder, für die Naiven, für die, die noch nicht durch das Leben und seinen Tiefen eines Besseren belehrt sind. Für uns reklamieren wir lieber die Gebetschule höherer Ordnung.
„Als mein Gebet immer andächtiger und innerlicher wurde, da hatte ich immer weniger und weniger zu sagen. Zuletzt wurde ich ganz still. Ich wurde, was womöglich noch ein größerer Gegensatz zum Reden ist, ich wurde ein Hörer. Ich meinte erst, Beten sei Rede. Ich lernte aber, dass Beten nicht bloß Schweigen ist, sondern Hören. So ist es. Beten heißt nicht, sich selber reden hören. Beten heißt: Still werden und still sein und warten, bis der Betende Gott hört." So Sören Kierkegaard, der bekannte Philosoph und sehr ernsthafte gläubige Christ in einer seiner bekannten Bonmots zum Thema Beten.
Begleitet ist und wird diese Ergebung in den Willen Gottes von einer Reihe von ziemlich einleuchtenden Argumenten. Wer zu aufdringlich, wer zu fordernd ist, läuft ja auch in menschlichen Beziehungen oft ins Leere. Warum sollte das bei Gott anders sein? Wer viel, um nicht zu sagen, zu viel erwartet, kann auch maximal enttäuscht werden. Dann lieber kleine Brötchen backen und sich darauf einstellen, dass es nicht so kommt wie erhofft. Man riskiert auf diese Weise auch keine Enttäuschung. Wenn das Gebet mehr im Allgemeinen, im Ungefähren bleibt, dann bleibt immer etwas übrig, was einen zufriedenstellt und mit dem man dann auch leben kann. Der Beter erspart sich auf diese Weise eine Menge Frust. Solche und ähnliche Argumente mögen menschlich nachvollziehbar sein. Auch die biblische Tradition weiß davon und erinnert in mehreren Texten daran. Erstaunlich oft und anders aber erzählt die Bibel Geschichten wie die von der Witwe aus dem Lukasevangelium, Kapitel 18. Diese Witwe ist nämlich keine Eintagsfliege. Sie hat viele und prominente Vorgänger. In der Geschichte der Glaubensmütter und Väter hat diese Art zu beten geradezu einen Ehrenplatz.
So hören wir schon bei Abraham, dass er mit Gott feilschte, als es um den Untergang Sodoms und Gomorras ging. „Herr, wenn noch 50 Gerechte, wenn noch 45, wenn noch 40, wenn noch 30, wenn noch 20 wenn noch 10..." Immer wieder hakt Abraham, der Vater des Glaubens, nach. „Gott, es könnte doch so sein, dass es da noch immerhin 10 Gerechte in Sodom gibt, willst du um dieser 10 willen die Stadt nicht verschonen?" „Ja, ich will", sagt Gott, „Wenn es diese 10 Menschen da gibt, dann will ich es so machen, wie du es erflehst." (Genesis 18) Dummerweise oder besser erschreckenderweise gibt es selbst diese 10 Gerechten nicht. Das zieht zweifelsfrei andere Überlegungen nach sich, stellt aber die Verhandlungsbereitschaft Gottes nicht in Frage. Gott lässt sich von Abraham wie bei einem orientalischen Basar nach und nach erweichen, runterhandeln, gnädiger stimmen, zu einer veränderten Haltung bewegen.
Ähnliches wird von Mose berichtet. Der hat alles Mögliche im Kopf, nur nicht die Anführerschaft über ein mehr oder weniger halsstarriges Volk und den Auszug in ein gelobtes Land, das weit weg liegt. Und so trägt er sämtliche Einwände vor, die gegen den Auftrag Gottes sprechen. (Exodus 3-4) „Was soll ich sagen? Ich weiß doch noch nicht mal deinen Namen." „Ich heiße Jahwe, „Ich bin für dich da" ist mein Name." „Wie sollen die mir glauben? Ohne sichtbares Zeichen?" fragt Mose. Und Gott antwortet: „Mach aus dem Stab eine Schlange. Und lass deine Hand aussätzig und wieder gesund werden. Das wird seinen Eindruck nicht verfehlen." „Wie sollen die Ägypter auf mich hören und das Volk ziehen lassen, ohne Autoritätsbeweis?" „Mach aus dem Nilwasser Blut." „Ich habe eine schwere Zunge. Ich stottere." „Dann nimm Aaron, deinen Bruder als Sprachrohr. Er wird mit dir vor den Pharao ziehen." Auch hier sehr berührend, wie geduldig und langmütig Gott jeden dieser Einwände erhört. Und Mose endlich das tut, was Gott ihm aufträgt.
Oder man denke an den Jakob, der ein Sturkopf sondergleichen war. Der sich selbst und seinen Möglichkeiten, vor allem seiner Schlauheit und Verschlagenheit eine Menge zutraute. Und damit ja auch lange Zeit durchkam. Bis ihm in einer denkwürdigen Nacht am Jabbok (Genesis 33) eine merkwürdige, gottgleiche Gestalt begegnet und zu einem Ringkampf auf Leben und Tod auffordert. Und Jakob nimmt diesen Kampf an, er spürt, hier hat er es nicht mit irgendjemand, sondern mit Gott selbst zu tun. Eigentlich hat er keine Chance, diesen ungleichen Kampf zu gewinnen. Aber er setzt alles auf eine Karte, klammert sich mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht an diese Gestalt und fleht um den Segen Gottes, ohne den sein weiteres Leben für ihn nicht denkbar ist. Und diesen Segen bekommt er dann auch. Inklusive und als Erinnerung an dieses Ringen dauerhafte Schmerzen im und am Hüftgelenk.
Oder man erinnere sich an die Hannah (1. Samuel 1), die unbedingt ein Kind will und keine Gelegenheit auslässt, diesen Wunsch Gott vorzutragen. Sie macht so ziemlich alle Kränkungen, Enttäuschungen und Frustrationen durch, die einem im Zusammenhang eines nicht erfüllten Kinderwunsches begleiten können. Aber sie lässt nicht locker. Und dann erlebt sie, dass Gott sie, besser: ihren Kinderwunsch, erhört. Und nennt dieses Kind „Gott hat mich erhört" - Samuel. Das Leben dieses Samuel wird damit zu einem Dauerhinweis auf den Gott, der sich durch ausdauerndes, geduldiges, intensives und drängerisches, vielleicht auch unverschämtes Gebet erweichen lässt und erhört.
Oder man nehme schließlich den Hiob, der sein Herz Gott ausschüttete. Der nicht locker ließ. Der sich nicht durch den Verlust von Vermögen und Besitz, nicht durch Katastrophen, die ihm Knechte und Kinder nahm, nicht durch die bitteren Kommentare von seiner Frau, nicht durch die gutgemeinten, aber irgendwie unpassenden Ratschläge seiner Freunde davon abhalten lässt, von Gott selbst zu erfahren, was und warum und wieso gerade er dies alles erleiden, ertragen und aushalten muss. Dieser Hiob wird in allem Irrewerden nicht an Gott irre, sondern erwartet von ihm allein letzte Gewissheiten. Und findet sie dann auch. Hiob 19,25ff. sagt er: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt und als der letzte wird er sich über meinen Staub erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder."
„Betet ohne Unterlass!" , hören wir in dem 1. Thessalonicherbrief (5,17) „Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist", heißt es im Jakobusbrief (5,16). Beter bewegen Gottes Arme. Bete also beharrlich. Geduldig. Ausdauernd. Betet euch um Kopf um Kragen. „Betet, als ob alles Arbeiten nichts nutzt und arbeitet, als ob alles Beten nichts nutzt!" Empfiehlt der Reformator Martin Luther. Und Philipp Melanchthon schreibt:
„Das weiß ich, sooft ich mit Ernst gebetet habe, bin ich gewiss erhört worden und habe mehr erlangt, als ich erbetet habe. Unser Herrgott hat wohl bisweilen gewartet, aber letztlich dennoch erhört. Wirf dein Anliegen auf den Herrn, der wird dich versorgen. Ach, wer das Werfen gut lernen würde, der würde erfahren, dass es gewiss so ist. Wer dieses Werfen nicht lernt, der bleibt ein verworfener, unterworfener, umgeworfener Mensch."
Liebe Gemeinde, lassen Sie uns dieses „Alles auf Gott Werfen" neu einüben. Unser Herrgott wartet wohl bisweilen, erhört aber dann doch. Die Themen solchen intensiven Betens sind indes vielschichtig und bunt wie das Leben selbst. Es geht dabei um das Anliegen einer Witwe, das Überleben der Gerechten wie bei Abraham. Es geht dabei um die Sorgen und Zweifel wie bei Mose. Es geht dabei um die große Sehnsucht nach Segen wie bei Jakob. Es geht um Kinder wie bei Hannah. Und es geht um die Frage, wie man das Leid bewältigen kann wie bei Hiob. Es geht um die ganz großen Themen des Daseins, aber auch um die Kleinigkeiten des Alltags. Es geht dann z.B. auch um die „Verdauung" wie bei Thomas Morus oder die „Liebenswürdigkeit" wie bei Teresa von Avila.(siehe Anhang mit den Gebeten von T. Morus und Teresa von Avila, die auch im Gottesdienst zur Sprache kamen) Es geht in und bei allem Beten darum, die Arme Gottes zum Heil dieser Welt und uns Menschen zu bewegen.
„Ein Rabbiner durchquerte ein Dorf, ging in den Wald, und dort, am Fuß eines Baumes, immer desselben, betete er. Und Gott hörte ihn. Auch sein Sohn durchquerte immer dasselbe Dorf. Er wusste nicht mehr, wo der Baum war, so betete er am Fuß irgendeines Baumes, und Gott hörte ihn. Sein Enkel wusste weder, wo der Baum, noch wo der Wald war. Er ging zum Beten ins Dorf. Und Gott hörte ihn. Sein Urenkel wusste weder, wo der Baum war noch der Wald noch selbst das Dorf. Aber er kannte noch das Gebet. So betete er in seinem Haus. Und Gott hörte ihn. Sein Ururenkel kannte weder den Baum noch den Wald noch das Dorf noch die Worte des Gebets. Er kannte aber noch die Geschichte vom Beten. Er erzählte sie seinen Kindern. Und Gott hörte ihn."
„Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft
noch seine Güte von mir wendet." (Psalm 66)
heißt es im Wochenspruch.
Gott verwirft dein Gebet nicht.
Weder das mit noch ohne Worte. Gott sei Dank. Amen.
Schenke mir eine gute Verdauung
Schenke mir eine gute Verdauung, Herr,
und auch etwas zum Verdauen.
Schenke mir Gesundheit des Leibes,
mit dem nötigen Sinn dafür,
ihn möglichst gut zu erhalten.
Schenke mir eine heilige Seele, Herr,
die das im Auge behält, was gut ist und rein,
damit sie im Anblick der Sünde nicht erschrecke,
sondern das Mittel finde,
die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.
Schenke mir eine Seele,
der die Langeweile fremd ist,
die kein Murren kennt und kein Seufzen und Klagen,
und lasse nicht zu, dass ich mir allzu viel Sorgen mache,
um dieses sich breit machende Etwas,
das sich „Ich" nennt.
Herr, schenke mir Sinn für Humor,
gib mir die Gnade, einen Scherz zu verstehen,
damit ich ein wenig Glück kenne im Leben
und andere davon mitteile.
(Thomas Morus, 1478-1535)
Erhalte mich liebenswert
O Herr, du weißt besser als ich,
dass ich von Tag zu Tag älter und eines Tages alt sein werde.
Bewahre mich vor der Einbildung,
bei jeder Gelegenheit und zu jedem Thema etwas sagen zu müssen.
Erlöse mich von der großen Leidenschaft,
die Angelegenheiten anderer ordnen zu wollen.
Lehre mich, nachdenklich, aber nicht grüblerisch,
hilfreich, aber nicht diktatorisch zu sein.
Bei meiner ungeheuren Ansammlung von Weisheit
erscheint es mir ja schade, sie nicht ständig weiterzugeben -
aber du verstehst, Herr, dass ich mir ein paar Freunde erhalten möchte.
Bewahre mich vor der Aufzählung endloser Einzelheiten
und verleihe mir Schwingen, zur Pointe zu gelangen.
Lehre mich schweigen über meine Krankheiten und Beschwerden.
Sie nehmen zu - und die Lust, sie zu beschreiben, wächst von Jahr zu Jahr.
Ich wage nicht, die Gabe zu erflehen,
mir Leidensberichte anderer mit Freude anzuhören,
aber lehre mich, sie geduldig zu ertragen.
Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass ich mich irren kann.
Erhalte mich so liebenswert wie möglich.
Ich möchte kein Heiliger sein - mit ihnen lebt es sich so schwer - ,
aber ein alter Griesgram ist das Krönungswerk des Teufels.
Lehre mich, an anderen Menschen unerwartete Talente zu entdecken,
und verleihe mir, o Herr, die schöne Gabe es ihnen auch zu sagen.
(Theresa von Avila 1515-1582)
Kantate, 10.05.2020, Matth.6,24-35, Jonakirche, Daniel Kaufmann
Lesung auf dem Matthäusevangelium, Kapitel 6, Vers 25-34: Vom Schätze sammeln und Sorgen
„Jesus sagt: Sorget nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Speise und er Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt? Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: Sollte er das nicht viel mehr für euch tun? Habt ihr so wenig Vertrauen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Mit solchen Fragen plagen sich Menschen, die Gott nicht kennen. Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all das braucht. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.“
Die Geschichte vom Flickschuster
In der Hauptstadt seines Landes lebte ein guter und gerechter König. Oft verkleidete er sich und ging unerkannt durch die Straßen, um zu erfahren, wie es um sein Volk stand. Eines Abends geht er vor die Tore der Stadt. Er sieht aus einer Hütte einen Lichtschein fallen und erkennt durch das Fenster: Ein Mann sitzt allein an seinem zur Mahlzeit bereiteten Tisch und ist gerade dabei, den Lobpreis zu Gott über das Mahl zu singen. Als er geendet hat, klopft der König an der Tür: „Darf ein Gast eintreten?“ „Gerne“, sagt der Mann, „komm, halte mit, mein Mahl reicht für uns beide!“ Während des Mahles sprechen die beiden über dieses und jenes. Der König – unerkannt – fragt: „Wovon lebst du? Was ist dein Gewerbe?“ „Ich bin Flickschuster“, antwortete der Mann. „Jeden Morgen gehe ich mit meinem Handwerkskasten durch die Stadt und die Leute bringen mir ihre Schuhe zum Flicken auf die Straße“. Der König: „Und was wird morgen sein, wenn du keine Arbeit bekommst?“ „Morgen?“, sagte der Flickschuster, „Morgen? Gott sei gepriesen Tag um Tag!“
Als der Flickschuster am anderen Tag in die Stadt geht, sieht er überall angeschlagen: Befehl des Königs! In dieser Woche ist auf den Straßen meiner Stadt jede Flickschusterei verboten! Sonderbar, denkt der Schuster. Was doch die Könige für seltsame Einfälle haben! Nun, dann werde ich heute Wasser tragen; Wasser brauchen die Leute jeden Tag. Am Abend hatte er so viel verdient, dass es für beide zur Mahlzeit reichte. Der König, wieder zu Gast, sagt: „Ich hatte schon Sorge um dich, als ich die Anschläge des Königs las. Wie hast Du dennoch Geld verdienen können?“ Der Schuster erzählt von seiner Idee Wasser für jedermann zu holen und zu tragen, der ihn dafür entlohnen konnte. Der König: „Und was wird morgen sein, wenn du keine Arbeit findest?“ „Morgen? Gott sei gepriesen Tag um Tag!“
Als der Schuster am anderen Tag in die Stadt geht, um wieder Wasser zu tragen, kommen ihm Herolde entgegen, die rufen: „Befehl des Königs! Wassertragen dürfen nur solche, die eine Erlaubnis des Königs haben!“ Sonderbar, denkt der Schuster, was doch die Könige für seltsame Einfälle haben. Nun, dann werde ich Holz zerkleinern und in die Häuser bringen. Er holte seine Axt und am Abend hatte er so viel verdient, dass das Mahl für beide bereitet war. Und wieder fragte der König: „Und was wird morgen sein, wenn du keine Arbeit findest?“ „Morgen? Gott sei gepriesen Tag um Tag!“
Am anderen Morgen kam dem Flickschuster in der Stadt ein Trupp Soldaten entgegen. Der Hauptmann sagte: „Du hast eine Axt. Du musst heute im Palasthof des Königs Wache stehen. Hier hast du ein Schwert, lass deine Axt zu Hause!“ Nun musste der Flickschuster den ganzen Tag Wache stehen und verdiente keinen Pfennig. Abends ging er zu seinem Krämer und sagte: „Heute habe ich nichts verdienen können. Aber ich habe heute Abend einen Gast. Ich gebe Dir das Schwert…“ – er zog es aus der Scheide – „…als Pfand! Gib mir, was ich für das Mahl brauche.“ Als er nach Hause kam, ging er zuerst in seine Werkstatt und fertigte ein Holzschwert, das genau in die Scheide passte. Der König wunderte sich, dass auch an diesem Abend wieder das Mahl bereitet war. Der Schuster erzählte alles und zeigte dem König verschmitzt das Holzschwert. „Und was wird morgen sein, wenn der Hauptmann die Schwerter inspiziert?“ „Morgen? Gott sei gepriesen Tag um Tag!“
Als der Schuster am anderen Morgen den Palasthof betritt, kommt ihm der Hauptmann entgegen, an der Hand einen gefesselten Gefangenen: „Das ist ein Mörder. Du sollst ihn hinrichten!“ „Das kann ich nicht“, rief der Schuster voll Schrecken aus. „Ich kann keinen Menschen töten!“ „Doch, du musst es! Es ist Befehl des Königs!“ Inzwischen hatte sich der Palasthof mit vielen Neugierigen gefüllt, die die Hinrichtung eines Mörders sehen wollten. Der Schuster schaute in die Augen des Gefangenen. Ist das ein Mörder? Dann warf er sich auf die Knie und mit lauter Stimme, so dass alle ihn beten hörten, rief er: „Gott, du König des Himmels und der Erde: wenn dieser Mensch ein Mörder ist und ich ihn hinrichten soll, dann mache, dass mein Schwert aus Stahl in der Sonne blitzt! Wenn aber dieser Mensch kein Mörder ist, dann mache, dass mein Schwert aus Holz ist!“
Alle Menschen schauten atemlos zu ihm hin. Er zog das Schwert, hielt es hoch – und siehe: es war aus Holz. Gewaltiger Jubel brach aus. In diesem Augenblick kam der König von der Freitreppe seines Palastes, ging geradewegs auf den Flickschuster zu, gab sich zu erkennen, umarmte ihn und sagte: „Von heute an sollst du mein Ratgeber sein!“
(Verfasser unbekannt)
„Gesegnet ist der Mann, der sich auf den HERRN verlässt und dessen Zuversicht der HERR ist. Der ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt, der seine Wurzeln zum Bach hin streckt. Denn obgleich die Hitze kommt, fürchtet er sich doch nicht, sondern seine Blätter bleiben grün; und er sorgt sich nicht, wenn ein dürres Jahr kommt, sondern bringt ohne Aufhören Früchte.“
( Jeremia 17:7-8)
Liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde,
es tut gut, Sie an diesem Sonntag Abend wieder hier in der Jonakirche „analog“, „dreidimensional“ und sichtbar „physisch“ zu sehen. Und ich freue mich sehr und bin Gott sehr dankbar, dass er uns diese gemeinsame Zeit schenkt. In den letzten Wochen der „Quarantäne“ bin ich immer wieder an der gerade gelesenen Geschichte vom Flickschuster hängen geblieben. Diese Geschichte liest sich durchweg wie ein Kommentar zu dem, was uns zur Zeit alles umtreibt. Da ist zunächst dieser „merkwürdige“ König. Er ist gut und gerecht, heißt es, dazu kümmert er sich mit Herz und Verstand um seine Untertanen. Und doch sind die Anweisungen, die er von Tag zu Tag verlautbaren lässt, höchst sonderbar: Die Flickschusterei wird verboten. Wasser dürfen nur die tragen, die eine Erlaubnis dazu haben. Das Wache-Stehen muss ohne Entgelt abgeleistet werden. Und schlussendlich soll der Flickschuster als verlängerter Arm des Gesetzes dienen und ein Todesurteil vollstrecken. Die Einschränkungen, Vorschriften und Anordnungen sind alle mehr oder weniger nachvollziehbar, die Wissenschaftlichkeit und die Rationalität des Befohlenen aber durchweg unterschiedlich einsichtig. Insofern gibt es bezüglich des Königs und seiner Maßnahmen eine Reihe berechtigter Fragestellungen. Unter anderem, nach welchem Gusto dem einen die Lebensgrundlagen entzogen werden und dem anderen noch ein Sahnehäubchen und Belohnung gewährt wird. Warum ganze Geschäftszweige systemrelevant und andere entbehrlich sind und insofern auch genauso gut auf Eis gelegt werden können. Bemerkenswerter als diese offensichtlichen Schieflagen bei der Gerechtigkeitsdebatte ist das Reaktions- und Handlungsmuster des Flickschusters. Der ist mitnichten und zu keiner Zeit bereit, den Kopf in den Sand zu stecken, klein beizugeben und sich in sein Schicksal zu ergeben, zu resignieren oder die Hände in den Schoss zu legen. Seine Unerschütterlichkeit hat geradezu ein biblisches Format. „Gott sei gepriesen Tag um Tag“ ist seine Überschrift zum Leben. Das ist ein Motto, wie es sich etwa auch in dem gerade gehörten Abschnitt aus der Bergpredigt bei Jesus findet: „Sorget nichts… Sorget nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Speise und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.
Dieser Text aus der Bergpredigt wird oft als blauäugiger Sandalen-Hippieverschnitt abgetan. Oder, wenn ´s hoch komm, als Möchtegernkonzept eines an der Realität komplett vorbei gehenden Sehnsuchtsglaubens. Andere wie Ministerpräsident Otto von Bismarck und in seinem Gefolge der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt haben ihre Sicht der Dinge etwas nüchterner formuliert: „Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen“, kann man da lesen. Die Bergpredigt taugt nicht für die politischen Fragestellungen und nur selten für die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen des Alltags.
Wobei die derzeitige Lage und Befindlichkeit unseres Landes sehr wohl und insbesondere und vermutlich wie nie zuvor Menschen braucht, die sich in den täglich wechselnden Gegebenheiten nicht nur einfinden, sondern sie – wie es in der Bergpredigt anklingt- mitgestalten und verändern, die in einem hohen Maße erfinderisch, kreativ, vielseitig und flexibel sind und auch bei den merkwürdigsten Wendungen und Vorgaben ihr Gottvertrauen, ihren Optimismus, ihre positive Einstellung zum Leben, ihr Gespür für das, was nötig ist, nicht verlieren. Es braucht in diesen Tagen Menschen mit Flickschustermentalität - der Name ist vielleicht doch nicht ganz zufällig so gewählt. „Nomen est omen“, sagt der Lateiner, der Name, besser die Berufsbezeichnung „Flickschuster“ bürgt geradezu für die Fähigkeit, das eigene Denken und Handeln an die jeweiligen Herausforderungen anzupassen, flexibel zu sein für das, was Not tut.
Und diese Fähigkeit wird gerade auch dann und dort gebraucht, wo der Tod das Regiment führt und unausweichlich alles zu beherrschen scheint. Da gilt es, das Vertrauen auf das Leben aufrecht zu erhalten und gegebenenfalls und nicht zuletzt auch sein unerschütterliches Festhalten an den Gott des Lebens in die Waagschale werfen. Das Gottesurteil mit dem Holzschwert mag als Schildbürgerstreich mit Augenzwinkern und Bauernschläue daherkommen, es macht doch sehr eindrücklich und markant deutlich, dass es spätestens bei der Frage um Leben oder Tod nicht nur um Befehl und Gehorsam, Willkür oder Argumentation, Rationalität, Regeln und Paragraphen geht. Spätestens bei der Frage nach Leben oder Tod muss der Horizont weiter gespannt werden und das ist für uns Christen ohne Ostern und dem Gedanken vom Leben trotz und im Angesicht des Todes nicht denkbar.
In unserer Geschichte bringt der Flickschuster mit dem Gottesurteil die Dimension Gottes und der Ewigkeit ein und sorgt zugleich dafür, dass alles politische Denken und Handeln im Horizont Gottes zu stehen kommt. Dem Tod in seinem Allmachtsanspruch wird auf subtile Weise die Show gestohlen und der Zahn gezogen. Hier wird festgehalten, dass nicht wir, sondern ein anderer im Regiment sitzt. Dass diese Welt mit und ohne Corona nicht den Händen Gottes entgleitet. Dass die Botschaft von Ostern nicht nur ein Zuckerguss für übersättigte Wohlstandsbürger ist, nicht nur ein kultureller Zeitvertreib, der sich unter dem Stichwort „Systemrelevanz“ mehr oder weniger ins Gedächtnis bringen kann und soll.
Liebe Schwester und Brüder, bei aller digitaler auch von uns kirchlich betriebener geflissentlicher Betriebsamkeit nehme ich in diesen Tagen vermehrt die Frage mit, welchen Diesseitskult wir mit der beispiellosen Lebens-Rettungsaktion angesichts einer Pandemie eigentlich betreiben. Im Februar dieses Jahres haben wir in Deutschland noch ein Gesetz auf dem Weg gebracht, in dem verankert wurde, dass jeder Mensch in Deutschland ein Recht auf seinen eigenen Tod hat.
Die „Zeit-Online“ vom 26. Februar 2020 schreibt dazu: „Die Karlsruher Richter (Bundesverfassungsgericht) haben nicht nur ausdrücklich ein "Recht auf selbstbestimmtes Sterben" anerkannt, sie haben auch explizit hinzugefügt, dass dieses Recht die Freiheit einschließe, "sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen", und zwar unabhängig vom Alter, vom Gesundheitszustand, von besonderen Motiven oder irgendwelchen moralischen oder religiösen Erwägungen. "Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben", so formuliert das Gericht nicht ohne Pathos, sei ein, "wenngleich letzter Ausdruck von Würde". Und die Würde des Menschen, das steht ganz am Anfang des Grundgesetzes, ist unantastbar. Das Urteil vom Mittwoch ist ein Hochamt der Autonomie, Ausdruck einer Gesellschaft, die ganz auf das Individuum abstellt. Die Mehrheit der Bevölkerung ist entschieden für die Zulässigkeit der Sterbehilfe.“
Jetzt, gerade mal knapp 3 Monate später und einer Pandemie ohne Analogie darf um Himmels willen kein einziger mit und ohne Coronaverdacht so ohne weiteres die Augen schließen, sondern muss möglichst isoliert von Gott und der Welt darum kämpfen, dass er noch ein paar Stunden, Tage, Woche, Monate und vielleicht auch Jahre überlebt. Diese ungesunde Vergötzung des irdischen Lebens bedarf dringend einer Korrektur. Die Botschaft von Ostern lautet nicht: Das Grab ist voll, es gibt im Tod nichts zu hoffen, ohne Gesundheit geht alles den Bach runter. Die Botschaft von Ostern lautet: Das Grab ist leer. Der Totgesagte ist auferstanden. Wir werden ihm auf dem Weg ins Leben folgen, und zwar auch dann, wenn wir unseren letzten Atemzug tun und sterben.
Wir brauchen dringend diese unerschütterliche Zuversicht, die auch die ersten Christen in ihrem Glauben getragen hat. Seit Ostern ist der Tod verschlungen in den Sieg. „Tod wo ist dein Stachel, Hölle wo ist dein Sieg“ (1. Kor. 15,55) heißt es in den ersten urchristlichen Bekenntnissen und Gesängen. Dieser Zuversicht entstammt das Osterlachen und die Witze vom leeren Grab, das Josef von Arimathäa dem Jesus doch ohne allzu viel Sorgen zur Verfügung stellen kann. Mit dem augenzwinkernden Hinweis: Ist doch nur für ein Wochenende (3 Tage). Diese Zuversicht findet sich auch bei unserem Flickschuster wieder, der im Zweifel für das Leben eintritt.
Möge uns diese österliche Zuversicht und Gewissheit bei allen Paragraphen, Regeln, Gesetzen, Vorschriften und Empfehlungen, die uns in diesen Tagen erreichen, wie eine Überschrift, wie ein Motto und wie ein roter Faden begleiten und ermutigen. Einer, der dieser Zuversicht auf ganz eigene Weise Ausdruck gegeben hat, heißt Johnson Gnanabraranam, ein indischer Christ. Seine Worte wollen wir jetzt gemeinsam sprechen.
Glaubensbekenntnis (Johnson Gnanabraranam, Indien)
Der Glaube an Christus verwandelt nicht
mein einfaches Essen in Delikatessen,
aber er bringt mich dazu,
das wenige, das ich habe, mit den Armen zu teilen.
Der Glaube an Christus verwandelt nicht
meine einfache Hütte in einen Luxusbungalow,
aber er hilft mir, glücklich in meiner Hütte auszuhalten.
Der Glaube an Christus liefert meinem Kopf keinen Heiligenschein,
aber er hebt mich auf und reinigt mich,
wenn ich gefallen bin.
Der Glaube an Christus garantiert mir nicht,
dass ich hundert Jahre lebe,
aber er ermutigt mich, ein Leben zu führen,
das täglich nützlich ist für andere.
Der Glaube an Christus bringt mich jetzt nicht dahin,
wo die Engel leben, aber er bringt Christus in mein Herz.
Der Glaube an Christus macht mich nicht stolz, weil ich glauben kann,
sondern er macht mich demütig, seine Gnade zu empfangen.
Der Glaube an Christus bewahrt mich nicht vor dem Sterben,
aber er gibt mir die Gewissheit der Auferstehung und die Gemeinschaft mit allen Heiligen.
Herr, Jesus, ich danke dir, dass ich an dich glauben kann.
Stärke meinen Glauben.
Amen.
Reminiszere, 08.03.2020, Stadtkirche, Römer 5, 1 - 5, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reminiszere - 8.III.2020
Römer 5,1 – 5
Liebe Gemeinde!
Skeptisch macht die flotte Aufzählung christlicher Erfahrungen und ihrer Folgen schon. … Klingt sie doch ein bisschen nach Rezept oder Bastelanleitung:
„Man nehme Glauben und Friede, vermische mit Liebe und Geist, füge nach Belieben Trübsal hinzu, lasse es kräftig mit Geduld vermengt gehen und im Ofen des Leidens garen: Fertig ist der Napfkuchen der Hoffnung und der Herrlichkeit.“
„Kleben Sie auf die Grundplatte des Herzens eine dicke Schicht ausgegossener Liebe, drücken den Glauben kräftig an, härten das Ganze in Trübsal, legen dann – nachdem Sie mit Hoffnungsfirnis die Oberflächen versiegelt haben – den Zugang über die tragenden Seitenteile und der Sockel der Herrlichkeit ist stabil zusammengeleimt.“
Ob das wirklich so einfach geht, … der Reihe nach? Ob man solche allgemeinen Abfolgen psychischer Zustände und deren komplexe Ergebnisse wirklich so nach Laufzettel und Lehrbuch aufsetzen kann? … Uns bleibt der Zweifel angesichts eines derartigen Schemas. Ist das nicht allzu mechanisch, allzu formal? …….
Was ist es aber, das uns so misstrauisch gegen eine Botschaft macht, die ja nicht ein Akademiker für ein Preisgeld zusammengetüftelt oder irgendein Phantast um des Ruhmes willen ausgebrütet hat, sondern die im Brief eines der erprobtesten, hingebungsvollsten Glaubensmenschen der Geschichte steht … noch dazu in einem Brief an echte Leser, an konkrete Frauen und Männer, deren Erleben zu schmerzhaft war, um von Floskeln berührt zu werden?
Ist unsere Zurückhaltung darin, Glaubenserfahrungen Wirklichkeit mit Wirkungen und Folgen zuzutrauen, nicht wie die unbeteiligte Haltung eines Gesunden, der der Medizin nicht traut?
… Dass Honig heilt und Penicillin rettet, dass ein Kaiserschnitt nötig und eine Schädeltrepanation überhaupt möglich sein könne, … das alles scheint manchen Menschen höchst unwahrscheinlich, märchenhaft, nüchtern betrachtet wenig überzeugend.
… Sei’s drum. Wenn die Schürfwunde nicht eitert und die Blattern nicht mehr entstellen, wenn weder Mutter noch Kind sterben und der Patient lebt, dann sind die neunmalklugen Besserwissereien plötzlich nicht mehr gültig. Dann zeigt sich, dass es nicht an dem liegt, was wir uns leicht vorstellen können, sondern an dem, was im Schweren wirklich wirkt.
……. Wie der Glaube. Er ist eine so mächtige Hilfe, eine so wirksame Heilkraft, dass alle unsere theoretischen Vorbehalte und unsere kühle Distanz – so unbenommen und verständlich sie sind und bleiben – dennoch nicht die richtige Frage stellen. Die Frage ist nicht: Kann der Glaube helfen? Sondern: Kennst Du seine Hilfe?
So unbefriedigend es nämlich auch für Gespräche am Kamin oder Urteilsbildung in der Diskussion sein mag: Wir müssen erkennen, dass wir wo jeder mitredet und alle ihre Meinung haben, nicht der Wirklichkeit begegnen, von der Paulus den Römern schreibt. Vielmehr … und noch viel unangenehmer: Wir müssen erkennen, dass wahrscheinlich gerade wir den Schnabel und die Luft anhalten müssten, wenn es um das geht, was der Heilige Geist den Angefochtenen und Leidenden schenkt. Nicht das Geschwätz des Internet, das wir auch ohne Tastatur und Bildschirm fortsetzen, wenn wir immer schon erklären, was nicht stimmt und was wie sein müsste … nicht das Geschwätz der Ahnungslosen hilft uns weiter zur Wahrheit: Wenn nämlich – wie Jesus es im Blick auf seine eigene Hilfe sagt (Mk.2,17//Lk5,31) – die Starken und Gesunden keines Arztes bedürfen, dann sollten sie sich auch nicht anmaßen, dessen Kunst und Kuren zu beurteilen. Sondern schweigen und hören, was die Schwachen, die Patienten – wörtlich: die „Geduldigen“ – zu sagen haben. So erfahren Verwöhnte und Verschonte wie wir es sind mehr als ihre bloßen Vorstellungen es ihnen je vermittelt hätten. ———
Dafür ist der Römerbrief aber ein besonders geeignetes Erkenntnis-Instrument.
Als echter Brief überliefert er uns nicht nur die Stimme seines Verfassers, sondern den Ton und Inhalt eines wirklichen Austausches. Was Paulus schrieb, schrieb er doch bewusst vor dem Horizont der Erfahrungen seiner Adressaten. ……. Und die waren wie aus den Schlagzeilen unserer unruhigen, hasserfüllten Tage geformt: Wer den Römerbrief als Erstes las, hatte persönlich intoleranten - rassistischen – Menschenhass, Fluchtschicksale und die Gleichgültigkeit einer frühen Globalgesellschaft erlebt.
Etwa sechs Jahre vor der Abfassung dieses letzten und größten der Gemeindebriefe des Paulus waren aus der Hauptstadt des Weltreiches sämtliche Juden vertrieben worden, weil Kaiser Claudius, der eine Politik altrömischer Tradition verfolgte, sie als Bedrohung der Identität des Reichs und seiner Bürger ansah[i]. Auslöser der Judenvertreibung war die Unruhe, die ein gewisser „Chrestos“ unter den jüdischen Stadtrömern ausgelöst hatte. Ob es sich bei diesem Chrestos bereits um die Nachricht von dem Mann aus Nazareth handelte, ist ungewiss; sicher dagegen ist, dass mit der Synagogengemeinde auch die allerfrühesten Anhänger Jesu Christi in der Stadt am Tiber zu Flüchtlingen wurden.
Einige Spuren ihrer erzwungenen Migration durchziehen das Neue Testament.
Besonders auffallend immer wieder der Weg des judenchristlichen Ehepaares Prisca und Aquila[ii]. Ihr Zeltmacherhandwerk und alles, was an Gerätschaft und Geschäft dazu gehört, verloren sie, als sie im Jahr 49 n.Chr. aus Rom weggejagt wurden. Bei der Ankunft im griechischen Korinth waren sie mittellos, doch weder die leibhaftige Not noch die quälenden inneren Sorgen brachen ihren Glaubensmut: In Korinth verband sie die Freiheit derer, die nichts mehr zu verlieren haben, und der Fleiß derer, deren Gewinn nicht auf Erden zu suchen ist, mit ihrem Glaubens- und Zunftgenossen Paulus. Zusammen arbeiteten sie sich durch die bittere geteilte Armut und die gemeinsame herrliche Freude des Missionarsdaseins und sammelten erst in Korinth, danach hinter der griechisch-türkischen Grenze in Vorderasien, in Ephesus zusammen mit dem Apostel Menschen zur weltweiten Kirche Jesu Christi. In Ephesus riskierten sie beide – Prisca, die tonangebende Frau und ihr wohl weniger bedeutender Mann – ihr Leben für den inhaftierten Paulus (vgl.Rö16,4), leiteten die Gemeinde nach dessen Abreise weiter und waren weder durch Heimatlosigkeit noch durch Bedrängnis, weder durch gemeindlichen Zwist noch persönliche Erschöpfung zu entmutigen. Die Liebe Gottes war aus-gegossen in ihre Herzen durch den Heiligen Geist, so dass weder Trübsal noch Angst noch Verfolgung noch Hunger noch Blöße noch Gefahr noch Schwert (vgl.Rö8,35) sie klein-kriegten.
Prisca und Aquila lebten ihren Glauben und ihr Glaube lebte in ihnen … unter ökonomischen, sozialen und psychischen Umständen, die uns unvorstellbar erscheinen müssen: Doch gerade an sie – die am Briefschluß eigens genannt werden (vgl.Rö16,3f!) – richtet sich der Römerbrief, denn sie waren nach dem Tod des judenfeindlichen Kaisers Claudius wieder in die Hauptstadt zurückgekehrt. Ihre Trübsal hatte ja tatsächlich Geduld in ihnen gewirkt, die sich als Hoffnung in unmittelbarer Not bewährte. Gewiss: Sie waren Treibgut der Geschichte, Ohnmächtige im Gewoge der politischen Entwicklungen, und wenn sie noch länger lebten nach des Claudius Tod, dann wurden sie Zeugen und vermutlich auch Opfer der Epoche Neros, des nächsten Christenverfolgers an der Spitze des Weltreiches. Aber wie so viele damals und später … und heute: Prisca und Aquila hatten Frieden mit Gott durch ihren Herrn Jesus Christus.
Diese Worte des Apostels sprachen in den Ohren seiner römischen Geschwister nichts Theoretisches, sondern ihre allerunmittelbarsten Erfahrungen aus: So mächtig ist die Wirkung des Zugangs zur Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, den der Glaube öffnet, dass Menschen dadurch wirklich Linderung aller Schmerzen zuströmt und eine Kraftquelle, ein Heilmittel, eine Stärkung, denen nichts sonst gleichkommt.
Wer es – wie die Gemeinde des Römerbriefes – am eigenen Leib erfahren hat, für den bezeugen die Ausführungen des Apostels die grundlegendste Tatsache der Welt.
Wer dagegen – wie wir – aus sicherem Abstand ungläubig rätselt, wie der Friede des Glaubens an den Katastrophen des Lebens nicht scheitern soll, sondern über sie hinaus in Gottes kommendes Reich tragen, der wird am heutigen Tag der Fürbitte für die verfolgten Christen zumindest ganz bescheiden gemacht. Denn wenn wir uns umschauen – rückwärts in die Vergangenheit und seitwärts zu unseren Mitchristen heute, – dann wird klar, dass unsere vermeintliche Weisheit Stückwerk und unser Erkennen Stückwerk sind (vgl. 1.Kor13,9):
Millionen von Christen bezeugen es in drückendem Elend und aussichtslosen Lagen, dass ihre Hoffnung durch Leiden nicht etwa vernichtet, sondern verdichtet wird und dass Druck sie als Christen nicht bricht, sondern festigt. ——
Wenn der Blick an diesem Sonntag Reminiszere in das zweite Mutterland der Christen gelenkt wird, nach Syrien[iii], wo der Völkerapostel vor Damaskus zu seinem globalen Dienst berufen wurde und die Nachfolger Jesu in Antiochien zum ersten Mal den Christennamen erhielten (vgl.Apg.11,26), auf den wir eben noch einen Menschen getauft haben, … wenn wir heute also nach Syrien blicken, wo anfing, was die Kirche in aller Welt werden sollte, dann begegnen uns in unserer Gegenwart ganz ähnliche Bestätigungen der Paulusworte von der Trübsal, in der Hoffnung wächst, die nicht zuschanden werden lässt:
Von 23 Millionen syrischer Staatsbürgern sind 11 Millionen entwurzelt, traumatisiert und geflohen.
An der Wiege unseres Glaubens herrscht flächendeckend tiefste, brutale Verstörtheit. Die ältesten Kirchen der Erde hat der IS gesprengt, die ältesten urchristlichen Gemeinschaften, die in Jesu Muttersprache zweitausend Jahre ununterbrochen weitergebetet haben, wie er sie lehrte, hat der Krieg in alle vier Winde getragen.
… Und doch: Wo immer man auf sie treffen mag – die chaldäischen und assyrischen Christen, die byzantinischen und melkitischen, die armenischen und arabischen Getauften – ob in den Trümmern der Kirchen und Klöster Syriens oder im Exil von der Türkei bis Kanada, von Detroit bis Gütersloh (weil weltweit nirgends so viele Menschen die aramäische Sprache Jesu sprechen, wie in diesen beiden Städten) – … wo immer man also auf die Glaubensgeschwister des Paulus, der Prisca und des Aquila trifft, wird man auf allen ihren Fluchtrouten und Wegen des Martyriums einen Verlust kaum antreffen: Was sie auch aufgeben und zurücklassen mussten, ihren Glauben haben sie nicht verloren! In den Ruinen Syriens bauen sie architektonisch tatsächlich das alte Erbe, das auch unsere Wurzel ist, mühsam und behelfsmäßig wieder auf, obwohl ihre Zahl grauenvoll gemindert wurde; in der Raubtieratmosphäre des Bürgerkriegs und der wiedererstarkten Zwangsherrschaft Assads reiben sie sich auf, um Diakonie und Bildungsarbeit der Kirche nicht auslöschen zu lassen; und auch in den womöglich dauerhaften Exilen und Asylen, in die es die Nachkommen der ursprünglichen Christenheit verschlagen hat, feiern sie Liturgie und Eucharistie, bauen die Gemeinde und sind fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal und halten an am Gebet (Rö.12,12).
Denn das vermag der Glaube:
Er hält am Leben. Er heilt fürchterliche Verletzungen. Er richtet Gequälte auf. Er bringt Entkräftete zu sich und auf die Beine. Er nimmt Schmerzen und schenkt Antrieb. Er entgiftet die Erinnerung und entbindet Energie. Er nährt das Herz und schützt die angegriffene Seele. Er löscht das entflammte Rachegefühl und tränkt die welkenden Empfindungen mit Mut.
Der Glaube, durch den wir gerecht geworden sind, beugt den Mord- und Selbstmord-gefahren vor, denen Menschen in akuter Not begegnen, weil er unverstellte Sichtweisen auf das eröffnet, was die Trübung, die in aller Trübsal herrscht, sonst verschleiert.
Und so verwandelt der Glaube negative Erlebnisse in die Grundlegung von Besserung. Glaube transformiert Übel in Überwindbares und setzt Erwartungen frei, die bis in den Himmel beflügeln.
Glaube ist tatsächliche Rettung durch die Widerstandskraft herrlicher Hoffnung, deren Lebendigkeit sich nicht mit dem Lauf der Zeit abnutzt, sondern wächst, weil sie von der Zukunft erfüllt ist.
Glaube ist die Zugabe, ohne die Leben bloß stofflicher Verschleiß und Verbrennung wäre. Wenn aber die schöpferische Liebe des ewigen Gottes in Herzen ausgegossen wird, dann wachsen Menschen auf Ihn hin, was immer ihnen auch sonst widerfährt.
Und so versetzt Glaube Berge, macht Kleine groß und Schwache stark, strahlt in der Finsternis, schafft freie Menschen hinter Gefängnismauern, versetzt Opfer der Welt auf den Thron der Geschichte und öffnet die Ewigkeit für vergessene und vergehende Sterbliche. ——
Diese Botschaft von den wirklichen Möglichkeiten, von der möglichen Wirklichkeit, die gläubige Christen in Trübsal, Geduld, Bewährung und Hoffnung erfahren haben und immer wieder erfahren, steht heute so vor uns, wie sie vor den ersten verfolgten Christen stand und ihren gegenwärtigen Leidensgenossen.
Dass ihre Frage dabei nicht unsere Frage ist – „Wie sollte solche Wirkung des Glaubens denkbar sein?“ – hat seinen letzten Grund aber nicht in denen selber, die es erfahren, sondern in Christus: Christus hat die Möglichkeiten des Glaubens zur unumstößlichen Tatsache gemacht, als er nicht für einige wenige, sondern für uns alle, für jeden einzigen Menschen den Tod an- und vorweggenommen hat, um allen Gerechtigkeit und Frieden zu eröffnen.
Denn das ist Fakt, dass Christus zu der Zeit, da wir noch schwach waren, für uns Gottlose gestorben ist (Rö5,6 – Wochenspruche an Reminiszere)!
Und darum müssen – und werden! – auch wir nicht immer weiter nur fragen, ob denn das alles möglich sei, was Christen im Glauben widerfährt.
… Auch unsere starke Stunde kommt, … die Stunde, in der wir es erleben werden.
Amen.
[i] In bündiger Form fasst die Diskussion zum sog. Edikt des Claudius zusammen: Bernd Kollmann, Einführung in die neutestamentliche Zeitgeschichte, Darmstadt 2006, S.99f.
[ii] Prisc(ill)a und Aquila begegnen in Apostelgeschichte 18 sowie den Grußlisten Römer 16 und 1.Korinther 16, außerdem in 2.Timotheus 4,19. Sie faszinieren, weil sie ein nicht-paulinisches Judenchristentum belegen, das intensiv mit der paulinischen Heidenmission kooperierte. Ihre Bedeutung für das Urchristentum verliert sich zwar weitgehend im Unklaren der spärlichen Quellenlage, aber eine originär judenchristlich-stadtrömische Tradition wird durch die beiden immerhin greifbar. Weitere – naheliegende – Spekulationen, wie die zuerst von Adolf von Harnack vertretene These, Prisca können die ungenannte Verfasserin des Hebräerbriefes sein, bleiben reizvoll, wenn auch nicht beweisbar.
[iii] Vgl. zum Folgenden auch die empfehlenswerte Handreichung: Fürbitte für bedrängte und verfolgte Christen – Sonntag Reminiszere 8.März 2020. Im Fokus: Syrien, hgg.v. EKD Hannover, Oktober 2019, die im Netz zugänglich ist unter: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/reminiszere_2020_syrien.pdf
Invokavit, 01.03.2020, Stadtkirche, 1.Mose 3, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Invokavit - 1.III.2020
1.Mose 3
Liebe Gemeinde!
Jetzt fängt die lange Nachdenklichkeit der sechs Wochen an. … Eine Nachdenklichkeit, die das Leben anders betrachtet, als es üblich geworden ist.
Unser Passions-Nachdenken fragt nicht: Was wollen wir aus unserem Leben machen?
– Es fragt: Was haben wir gemacht?
Unser Passions-Nachdenken fragt nicht: Was ist das Geheimnis des Gelingens?
– Es fragt: Was ist das Geheimnis des Leidens?
Unser Passions-Nachdenken fragt nicht: Wodurch bin ich einzigartig?
– Es fragt: Worin bin ich wie alle? ——
Und auch in den dunkelsten Stunden der Nachdenklichkeit, wenn – ganz ohne Panik, ohne Quarantäne – man plötzlich stumm mit sich und seinem Tod und Leben alleine ist und das Versteckte sieht, das Verleugnete, das Verschwiegene, das Verwerfliche, das Schmerzliche, das Unabwendbare, das Endgültige, ……. gerade in dieser dunklen Klarheit der Erkenntnis lehrt uns die Passions-Nachdenklichkeit, dass die letzte Frage nicht die alte Frage ist: „Warum ich?“, sondern eine ganz andere, ganz neue … : „Warum Christus?“
… Warum steht plötzlich Christus vor mir, wenn ich mich in Frage stellen muss?
… Warum dreht sich nicht alles bloß um mich, wenn es hart auf hart kommt und Selbstbetrug nicht mehr weiter hilft …, warum hängt Christus mit drin in den verworrenen und verfänglichen Schattenseiten unseres Lebens?
Warum sind wir in der Einsamkeit, in die uns alle einmal Krankheit und Alter, Schuld oder Schicksal, Leiden und Tod stoßen werden, in Wahrheit nicht alleine, sondern in seiner Nähe? …….
… Dies ist doch keine heile Welt mehr?! Wir haben doch jede Form von Unschuld längst verloren?! Wir sind – nach dem erklärten Willen der Mehrheit unserer Mitmenschen – ja in einem Universum ohne Gott angekommen, und die Unendlichkeit ist für unsere Wahrnehmung bis auf den kleinen Globus und die paar Jahrzehnte, die jeder von uns darauf verbringt, wegrationalisiert worden.
Hier ist also nicht das Paradies, sondern höchstens das geopolitische Reich des homo sapiens … und seine epochale Welteroberung und Weltgestaltung scheint schief gehen zu wollen. Wie um alles in dieser nackten, kleinen Welt ist dann aber Christus immer noch da?
Wenn der Märchenpark, den sie Eden nannten – der Park der sprechenden Tiere und des blühenden Lebens und der lebendigen Gottesgegenwart – doch geschlossen ist …., wieso ist Gott dann nicht in jener jenseitigen Unwirklichkeit geblieben, die Seine Feinde Ihm allenfalls noch einräumen, sondern in der lausigen Realität einer Welt von Idlib, Lesbos, Libyen, … wieso ist Gott in unserer Welt von Golgatha anzutreffen? …….
War denn da nicht ein Schnitt?
Hatte sich nicht eine Grenze geschlossen, als die Menschen zu Übertretern im schönen Garten Gottes wurden und ihren Exodus, ihren Exitus antraten dahin, wo man den Acker schwitzend bestellt und die Kinder mühsam und qualvoll geboren, nicht aber im Schlaf von sicherer Hand geschaffen werden?
Was verstehen wir bloß falsch an der großen, dramatischen Geschichte vom Sündenfall, die doch immer als der kosmische Bruch, als Scheitern der Schöpfung und Scheidung von Schöpfer und Geschöpf, als radikaler Sturz in die Gottferne gedeutet wurde?
Wie kommt es, dass die Bibel mit dieser Ab- und Ausschlussgeschichte allererst anfängt?
Ist der Gott, Der uns in die nunmehr vertraute Welt menschlichen Lebens, Liebens, Leidens geschickt hat, vielleicht ein Gott, bei Dem Ende Anfang ist und Strafe Gnade und Fluch Segen? ……. ——
So wird es wohl sein.
Denn die tiefe Verderbnis, die wir in der Erzählung von der Lust am verbotenen Baum zu sehen gewöhnt sind, ist eben nicht so radikal, dass ihr die Hölle folgte, sondern vielmehr die gesamte, bis heute fortdauernde biblische Heilsgeschichte! ———
Wenn ich also die Karten auf den Tisch legen sollte, müsste ich sagen, dass die urprotestantische Erbsündenlehre, die in der Konkordienformel – der letzten lutherischen Bekenntnisschrift – ungewöhnlicherweise durch den Rückgriff auf ein Lied begründet wird (das Lied, das wir eben gesungen haben[i]), mir verkehrt gefasst zu sein scheint; … ich müsste also sagen, dass ich nicht mehr evangelisch bin im Sinne jener beiden Grundüberzeugungen, die einst die Reformation mit auslösten und die das Zeitalter ihres Durchbruchs und ihrer Festigung in der Konkordienformel definitiv abschließen. Diese radikale Lehre, die ich nicht mehr teile, ist die Überzeugung von der völligen und ausnahmslosen Verdorbenheit der menschlichen Natur. Und die dazu gehörende Überzeugung vom versklavten menschlichen Willen, der von sich aus nie und nichts Freies vermag.
Diese beiden fundamentalen Lehren Luthers hat die evangelische Kirche in ihrem zeitgeistigen Freiheitsrummel beim Reformationsjubiläum zwar nach Kräften unter den Teppich gekehrt – aber die Tatsache ist nicht zu leugnen, dass die Angst vor der Werkgerechtigkeit vor fünfhundert Jahren dazu führte, dass man ein völlig entmachtetes Menschenbild als das geringere Übel dem fleißigen Verdienenkönnen der Gnade vorzog.
Der Mensch ist durch seine erste und letzte Entscheidung in Eden demnach so kaputt gegangen, dass er überhaupt nichts Gutes, wirklich rein gar nichts Gutes mehr ist und hat und kann: Das wäre also echte und konsequente evangelische Meinung. …….
Doch von einer solchen totalen Form der Erbsündenlehre spricht die einzige Autorität in dieser Sache gerade nicht: Die Bibel macht vielmehr vom Augenblick der fatalen Entscheidung gegen Gottes Warnung an deutlich, dass die sich mühende Menschheit in der unparadiesischen Welt immer wieder vor die selbe Wahl gestellt wird, vor der Adam und Eva standen.
Darum erzählen wir unseren Kindern ja deren Urerfahrung, darum vererben wir ihnen diese Sündengeschichte: Nicht, weil sie rettungslose verdorben wären, sondern umgekehrt, damit sie gerettet werden, indem sie in ihrer schicksalhaften Adam-und-Eva-Stunde nicht ahnungslos wiederholen, was ihr Vater und ihre Mutter, der Mensch und die Lebendige einst taten.
„Zweifelt nicht an Gott!“, das ist die Ur- und Erblehre, die sich aus dem Sündenfall der Erzeltern ergibt. „Gottes Warnungen und Seine Weisungen, was Gott gebietet ebenso wie das, was Er untersagt, Seine Hilfe, aber auch Seine Härte dienen Eurem Leben!“
… Wenn Ihr das bezweifelt, liebe Kinder Adams und Evas, wenn Ihr also nicht das Erbe des Vertrauens antretet, das auf dem Grund des Fehlers derer, die vor Euch waren, erwächst, dann wird Eure Zukunft düster und Euer Leben nur bedroht sein.
Wenn Ihr Euch so wie die Voreltern lieber vor Gottes Weisheit als vor der Euren verschließt, dann seht zu, wohin das führt: Immer und immer wieder führt die ungezügelte Lust an den Möglichkeiten, die uns Menschen ja doch so reichlich geblieben sind, in Fernen und in Tiefen, in denen der Mensch nicht Gott, sondern sich verliert.
… Doch wer den Menschen dann sucht, wenn er sich wieder neu verloren hat, wenn er wieder einen Garten verwüstet, einen Frieden gebrochen, ein Glück zertrampelt, einem Segen misstraut, einen Schutz verweigert hat … wer den Menschen noch sucht, wenn er Jahrtausende lang das Törichte geliebt und das Heilige verlacht hat, … wer den Menschen noch sucht, auch wenn der seinen treusten Hüter und geduldigsten Lehrer von Generation zu Generation verleumdet und verleugnet: Das ist Gott selber.
Er, Dessen angebotene Freiheit – schließlich war im Paradies ja bis auf eine einzige Vor- und Rücksicht alles erlaubt! – … Gott, Dessen Freiheitsangebot dem Menschen zu gering schien, verwirft trotz alledem nicht die ewig eigenwilligen, trotzigen Nachkommen des ersten Paares.
Nein, Er unterzieht sich der gleichen Versuchungen wie sie, so hörten wir es in Epistel (Hebräer 4, 14-16) und Evangelium (Matthäus 4, 1-11): Er lernt den Biss des Hungers, das Bohren der Zweifel, das Frieren der Angst am eigenen Menschenleib kennen, … Er trägt Versuchung, Anfechtung und Leid bis zum Ende.
… Was für einen Gott wir also haben! Einen Gott, Der nicht fallen lässt, wo wir fallen, und nicht in Sicherheit bleibt, wo uns die Unsicherheit umgibt; einen Gott, Der, wo wir kein Recht mehr haben, sondern bloß noch sündigen, sich selber „zur Sünde macht“ – so sagt es Paulus –, damit wir in Ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Ihm gilt (vgl.2.Kor5,21)!
Unser Gott ist Der, Der, wenn wir sterben müssen, nicht alleine leben will und also in den Tod geht!
Der Fluch, der den Betrüger und die Betrogenen, der Fluch, der Frau und Mann, Arbeit und Nahrung, Geburt und Sterben verknüpft …. er verbindet seither noch etwas: Gott nämlich und die Menschen. Denn nicht alleine sollten wir darunter sein, sondern auch der Fluch der Schmerzen und Mühsal, ja sogar noch der Fluch des Todes sollte uns mit Gott vereinen (vgl. Gal 3,13)! ——
Umso schaler, umso bitterer ist es darum, wenn wir auf die vergangene Woche zurückblicken. Aber auch konsequent ist das, was nun offen vor uns liegt.
„Sollte Gott wirklich gesagt haben: IcH Werde sein, der icH sein werde (vgl. 2.Mose 3,14)? Sollte Er wirklich dazusein versprochen haben? Zuverlässig? Immer?“ …….
… Nein, das können Ihm die Adams und Evas von heute nicht mehr abnehmen. Sie trauen Ihm nicht mehr. Trauen Ihm das nicht zu!
Sie erinnern sich zwar noch gut, dass Gott schon zur ersten Mutter aller, die da leben, gesagt hat „Ihr werdet des Todes sterben“. Dass Er aber auch gesagt hat, dass wer an Ihn glaubt, leben werde, ob er gleich stürbe (Joh11,25), das ist vergessen. Dass Gott gesagt hat, dass wer Seinem Weg folgt, nicht in der Finsternis wandeln, sondern das Licht des Lebens haben soll (vgl. Joh8,12), das ist unglaubwürdig geworden. Dass Gott geschworen hat: „Ich will sie aus dem Totenreich erlösen und vom Tode erretten. Tod, ich will dir ein Gift sein; Totenreich, ich will dir eine Pest sein; Rache kenne ich nicht mehr“ … dass Gott das in den Tagen Hoseas (13,14) versprochen und am dritten Tag nach Seiner eigenen tödlichen Passion zu erfüllen begonnen hat, das ist scheinbar völlig unbekannt geblieben.
Wie einst an jenem Tag in Eden so ist nunmehr für uns Heutige entschieden worden: Lieber soll der Mensch sich selbst den Tod pflücken, als sich auf Gott zu verlassen.
… Im Vergleich zur brutal bequemen Todsicherheit des Todes ist Gott zu unsicher!
… Besser der eigene Tod, als das Leben eines fremd gewordenen Gottes!
Das Bundesverfassungsgericht hat Adam und Eva jedenfalls freigesprochen: Das Recht, die eigenen - und seien’s tödliche!?! - Erfahrungen zu machen, geht über alles andere.
Und gewiss ist es nicht an uns Christen, irgendeinem Menschen dieses Recht auf die eigenen Entscheidungen und Erfahrungen abzusprechen.
Aber wir können die Hände zu Gott erheben und die Stimme vor der Welt, um dreier Anliegen willen:
Da sind erstens die – Millionen sind es und werden es bleiben! –, die niemals das gleiche Recht erfahren werden, auf das nun hierzulande Anspruch besteht: Das Recht, Schmerzen, Leid und Angst ganz selbstverständlich zu meiden. Das mag zwar vielen wie ein herrliches Recht, wie die letzte Freiheit erscheinen: Aber es trennt jene, die dieses Freiheitsrecht besitzen, von allen Menschen, die vor uns waren und von den meisten, die mit uns leben und auch nach uns kommen.
Gewiss: Rechthaben scheidet immer von denen, die Unrecht haben oder erleiden müssen. Aber dieses Recht, über den eigenen Tod so zu verfügen wie über den Anspruch auf ein Kind und den Termin seiner Geburt, … dieses Recht, unser Dasein rein als eigenes Erzeugnis hervorzubringen und dann auch wieder abzustoßen, scheidet uns nicht nur von der Masse der Menschheit, die ein Leben annehmen und schließlich auch wieder verlieren, das sie nicht sich selber verdanken, sondern dieses Recht scheidet uns auch von unserer ersten und unserer letzten, unserer tiefsten und menschlichsten Erfahrung. Der Mensch – auch der um Gut und Böse weiß! – ist nicht wie Gott geworden, aus dem gleichen Grund, aus dem Gott Mensch wurde: Weil Menschlichkeit – seit Adam ohne Eva unvollständig war – Angewiesensein und Hilfsbedürftigkeit bedeutet.
… Kommen wir zur Welt, so empfängt uns Hilfe, ohne die wir nicht sein könnten. Verlassen wir wiederum die Welt, so auch dann immer noch als Unbeholfene und Angewiesene … aber gerade darin eben auch als Nicht-Maschinen, als solche, die nicht alles alleine können und machen müssen, als solche, denen eine Hilfe gemacht ist (vgl.1.Mose 2,18!).
Wer nun aber in Zukunft noch leiden und Hilfe brauchen wird, der ist selber dafür verantwortlich zu machen. … Wer leidet und andere sein Leid erleben lässt, ist künftig schuldig. …
Das Recht, keine Hilfe zu brauchen, bedeutet also das Recht, mit der Menschheit zu brechen … gerade auch der eigenen, die doch seit dem Paradies und trotz seiner Verschlossenheit nicht zum Misstrauen, sondern zum Vertrauen bestimmt war.
Und das ist der dritte Bruch und Fall, der uns widerfährt, wo man sich alleine den Tod als Lösung für die Lebenslast verspricht: Wir erlösen uns zur Unerlöstheit. Denn den Erlöser, Der im schrecklich schweren Letzten treu ist, weil Er voranging, um uns auch im Sterben mit Seiner Hilfe zu umfangen, wo wir sie am meisten brauchen, Den finden wir nicht, wenn wir den Tod suchen.
Der Tod ist nämlich kein Mittel Gottes.
Bei Ihm ist Ende ja Anfang.
… Wo Er in Dunkelheit und Fremde verstößt, da führt Er die Seinen in Wahrheit durch die Welt nachhause, … und wo Er uns von Staub genommen hat, der wieder zum Staub zurückkehrt, da ist Er ja auch zum Erlöser geworden, Der sich als Letzter über dem Staub erheben wird, um uns Ihn sehen zu lassen (vgl. Hiob19,25).
Als Christ möchte ich darum lieber mit Gott in der Welt, als ohne Ihn im Paradies sein.
Und lieber sterbe ich, wenn Er’s gebietet, als einen freien Tod ohne Gott zu suchen.
… Denn Seine Güte ist besser als Leben (vgl. Ps.63,4)! ——
……. Das aber reicht für diese Zeit der Nachdenklichkeit, die uns durch’s Leben und durch’s Sterben mit Christus führt.
Amen.
[i] „Durch Adams Fall ist ganz verderbt menschlich Natur und Wesen“ (vormals: EKG 243) des Nürnberger Ratsschreibers Lazarus Spengler (1479-1534), auf das in der 1.Epitome der Konkordienformel („Von der Erbsünde“) wie auf einen Schriftbeweis verwiesen wird: Wir glauben, lehren und bekennen, daß die Erbsünde nicht sei eine schlichte, sondern so tiefe Verderbung menschlicher Natur, daß nichts gesundes oder unverderbt an Leib, Seel des Menschen, seinen innerlichen und äußerlichen Kräften geblieben, sondern wie die Kirche singet: „Durch Adams Fall ist ganz verderbet menschlich Natur und Wesen.“ (BSLK, 11.Aufl., Göttingen 1992, S.772)
Estomihi, 23.02.2020, "Halleluja und Helau", Mutterhauskirche, Peter Krogull
Büttenreden-Predigt 2020, Pfr. Peter Krogull
Halleluja und Helau,
Gott schuf uns als Mann und Frau!
In diesem Thema sind wir mittendrin,
nun kommen wir zu seinem biblischen Sinn.
Da fangen wir am besten am Anfang an,
als Gott schuf den Prototyp von Frau und Mann.
Adam und Eva, ihr kennt die beiden,
die konnten sich im Garten Eden ziemlich gut leiden.
Sie chillten nackig unterm Baum.
Das Leben war für sie ein Traum.
Zwischen die beiden passte kein Feigenblatt!
Lange Zeit ging alles glatt.
Das lag daran, dass Sie eines Fleisches waren.
Denn Eva kam mit Haut und Haaren
aus des Adams Rippe raus.
Für diese Stelle kriegt die Bibel nur selten Applaus.
Denn das klingt auf deutsch als sei die Frau nur ein Nebenprodukt.
Im hebräischen Original ist es etwas anders abgedruckt:
Da ist die Rede nicht von Rippe, sondern von Seite,
Die Frau als bessere Hälfte, dem Manne zum Geleite.
Eindeutiger ist zum Glück der erste Schöpfungsbericht.
Genesis eins bringt in das Geschlechterdunkel Licht:
Da heißt es klipp und klar und ganz genau:
Gott schuf den Menschen als Mann und Frau.
Beide sind sie Gottes Bilde!
Dieser Satz, der stimmt mich milde,
wenn ich an andere Stellen der Bibel denke,
bei denen ich mir manchmal das Gehirn ausrenke.
Ich denke da im Neuen Testament an den Epheserbrief.
Der verbreitet einen streng patriachalischen Mief:
„Das Weib sei dem Manne Untertan!"
Lieber Epheser, da hast du dich vertan!
Lies mal lieber das erste Testament!
Oder hast du da im Reli-Unterricht gepennt?
Da ist nicht nur die Rede von der Schöpfung als Frau und Mann,
sondern auch von dem, was die Frau so alles kann.
Stellvertretend möchte ich da die Miriam nennen.
Ich vermute mal, dass alle hier sie kennen
und wissen, wie Moses Schwester stand ihre Frau
bei der eindrucksvollen Schilfmeer-Überquerungsschau.
Wo vielen Männern noch schlotterten vor Angst die Knie,
da dachte sich Mirjam: Jetzt oder Nie!
Sie nahm eine Siegestrommel in ihre Hände
und sang laut: Danke Gott, für diese erfrischende Wellenwende!
Wie ein Ultra-Fan im Stadion
gab Mirjam an den Sieges-Ton.
Eine starke Frau! Die wird in der Bibel nicht verkannt,
sondern ganz eindeutig „Prophetin" genannt.
Wenn es schon im alten Testament eine Prophetin gibt,
warum ist die Frau als Priesterin in manchen Konfessionen unbeliebt?
Ich finde, es ist langsam an der Zeit,
dass man ziehe den Kreis der Geistlichen weit.
In alle kirchlichen Ämter gehören Frauen.
Selig die Kirchen, die sich das trauen!
Maria 2.0 küsst die katholische Kirche wach.
Hoffentlich werden da bald die Kardinäle schwach.
Doch will ich als Evangele heute nicht nur auf andere gucken.
Frauen im Protestantismus? Auch dieses Thema tut mich jucken!
Da sehe ich nämlich nicht alles rosarot.
Zwar sind viele Frauen als Pfarrerinnen in Lohn und Brot...
...doch magerer wird es, schaut man auf die Kirchenkreisspitzen,
weil da im Rheinland nur 9 Frauen, aber 28 Männer sitzen.
Und dürftiger noch, jetzt haltet euch fest,
wird es beim Landeskirchen-Test!
Denn noch nie gab es im rheinischen Lande,
eine Frau als Präses! Das ist zwar keine Schande,
aber im kommenden Jahr gibt es wieder eine Wahl,
vielleicht kriegt dann ja mal eine Frau die höchste Stimmenzahl.
Ich sage das nicht, weil ich hier dastehen will als der mega-emanzipierte Mann und auch nicht weil ich meine, dass eine Frau das grundsätzlich besser kann...
aber eine Frau an der Spitze wäre ein Spiegel der kirchlichen Realität, weil ohne Frauen in der Kirche gar nichts geht.
Da denke ich besonders an das Amt der Ehre,
dort geht auseinander die Geschlechterschere.
Weil viel mehr Frauen sich ehrenamtlich engagieren,
ohne sie würde die Kirche noch mehr Mitglieder verlieren.
Im Feld der Seelsorge, beispielsweise,
sind Männer im Ehrenamt auffällig leise.
Im aktuellen Kurs, den ich gerade begleite,
stehen 13 Frauen und 3 Männer Seite an Seite.
Diese Quote ist beim Ehrenamt ziemlich normal.
Trotzdem ist sie mir nicht egal,
denn Gott hat auch den Männern geistliche Gaben gegeben,
darum sollten auch wir unsere Popos bewegen...
...und in den Gemeinden helfen, wo Not ist am Mann.
Weil Seelsorge auch ein Mann gut kann.
Die Anmeldezeit für den kommenden Kurs ist noch nicht vorbei!
Vielleicht denkt ja heute ein Mann: Ich bin so frei!
Falls bei Erwin oder bei Kurt heute Interesse entsteht,
erzähle ich denen gerne nach dem Gottesdienst wie die Ausbildung geht.
Wichtig ist mir noch ein letzter Gedanke:
Zwischen die Geschlechter gehört keine Schranke.
Männer und Frauen und alle dazwischen:
Vielleicht können Geschlechter sich ja auch vermischen?
Eine abschließende Antwort auf diese Frage habe ich nicht:
Doch sage ich dazu heute im Karnevalslicht:
Jeder Jeck ist anders und das ist O.K.,
Der Ehre Gottes tut die Vielfalt nicht weh.
Im Gegenteil: Gott hat alle Menschen lieb.
Hetero, Homo oder Trans: Bei ihm fällt keiner durch das Sieb.
Ihm liegen alle Geschöpfe am Herzen.
Nur Intoleranz und Hass bereitet ihm Schmerzen.
Doch nun genug der vielen Worte,
Lasst uns jetzt singen an diesem Orte.
Schunkeln ist meinetwegen auch o.k.,
nur tue sich dabei bitte niemand weh!
Vorher komm ich nun zum Ende,
ohne eine überraschende Wende,
Nicht mit Helau, nicht mit Alaaf,
sondern so richtig evangelisch brav.
Mit einem einzigen knappen Wort:
Immer das Beste an diesem Ort.
Jeder Predigt gibt es den Rahmen.
Ihr wisst was ich meine, drum sag ich nun: Amen.
Septuagesimae, 09.02.2020, Stadtkirche, Matthäus 20, 1 - 16, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Septuagesimæ – 9.II.2020
Matthäus 20, 1-16
Liebe Gemeinde!
Wie vieles auch in dieser Woche an den Grundfesten des demokratischen Konsenses durcheinandergerüttelt worden ist – etwa, dass man in einem echten Prozess Zeugen und Beweismittel zu berücksichtigen hat und dass man die Wahl seiner Verbündeten über das eigene Gewählt-Werden stellen sollte, weil es in der Politik nicht um Macht allein, sondern um Verantwortung geht – …. wie vieles dieser Tage, da man Ministerpräsident für eine halbe Woche sein kann, also auch durcheinandergerät, so gibt es doch immer noch eine philosophisch-politische Grundfrage, die der Pausenhof und der Stammtisch genauso gut und eindeutig beantworten zu können meinen wie etwa die Schule des Aristoteles: „Was ist Gerechtigkeit?“
… Obwohl eine differenzierte Definition kaum jemandem zur Verfügung stehen wird: Die allermeisten Menschen sind sicher unbefangen bereit, in Sachen Gerechtigkeit ihrem Bauch zu vertrauen, ihrem Instinkt oder wie immer man das rein intuitive Empfinden nennen wollte, das ja schon kleine Kinder zu empörter Anzeige und Anklage befähigt, wenn sie voll Selbstverständlichkeit protestieren: „Das ist nicht fair“. – Rückfrage: „Was wäre denn fair?“ – „Jedenfalls nicht, wenn der andere gewinnt.“
Wem das nun zu naiv, zu wenig ernsthaft klingt, der möge die Politik und die Wissenschaft, die Steuerexperten, die Wirtschaftsweisen, … nicht zuletzt die Rechtsgelehrten befragen. Er wird die selbe Schwierigkeit antreffen: Dass nämlich, was immer man jeweils im Brustton der Überzeugung als „Gerechtigkeit“ schildert, an zu viel Subjektivität – Parteilichkeit also – oder zu reiner Objektivität – Wirklichkeitsfremdheit – leidet und darum nicht herrschen wird. ——
Und doch bleibt die Frage nach der Gerechtigkeit die wichtigste Frage des Menschengeschlechtes: Grundlage seiner Verschiedenheit von allem, was bloße „Natur“ ist, Motor seiner Entwicklung und vor allem sein zentraler Auftrag, sein heiligstes Gebot von Gott: „Trachet zuerst nach Gottes Reich und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch alles andere zufallen“ (Matth. 6,33).
Wer die Gerechtigkeitsfrage aufgibt, wer das Recht gar nicht erst sucht, weil er erkannt hat, damit in eine unlösbare Aufgabe einzuwilligen, … wer sich also weigert, nach dem Heiligen Gral zu fahren, den zwar alle Menschen Gottes vielleicht noch nie in ihren Händen hielten, aber unablässig vor Augen hatten, … wer also kurzum darauf pfeift, dass es so viel Ungerechtigkeit gibt und doch zugleich die Überzeugung, wie anders es sein müsste: Der macht sich schuldig, ehe er sagen könnte, was Unschuld und Schuld seien.
Gerechtigkeit zu begehren, zu bestimmen und zu schaffen, bleibt der Silberstreifen am Horizont der Weltgeschichte, der verhindert, dass alles nur in Finsternis verläuft. ——
… Wo aber bleibt denn nun Gott?
Wenn Er Gerechtigkeit ist und Gerechtigkeit fordert, warum setzt Er sie dann nicht einfach autoritär um: Wieso sind so viele Seiner Gebote eigentlich nur Einschränkungen und Verhinderungen von Bösem und nicht klipp und klar Befehle des Rechts? Warum wird nicht unmissverständlich markiert, genau was genau wie genau wann genau von wem genau geleistet und gemacht werden muss? …….
Die Frage zu stellen, heißt sie zu beantworten: Weil eine Welt, in der das Gute auf Kommando erfolgt und Gerechtigkeit eine Vorschrift erfüllt, eine Diktatur wäre.
Wo Gerechtigkeit dem Zwang gehorcht, herrscht also Unrecht.
… Das ist die Schwierigkeit der Gerechtigkeit: Dass sie Freiheit und Freiwilligkeit erfordert, um sich nicht selbst zu verhindern.
Gerechtigkeit, die den Namen verdient und nicht mit Widerwillen oder hasserfüllt zustande kommt, hat eben nichts von einer eigehaltenen Regel an sich, dafür aber alles von einer guten Gabe. Sie ist nicht der physikalisch statische Zustand, dass jeder das Gleiche hat, wie jeder, … dass kein Gut, kein Ding, kein Recht in unterschiedlicher Weise verteilt werden könnte, weil alles unabänderlich festliegt, … dass jeder nur tun soll, was jeder tut und einer nur muss, was alle müssen.
Statt solcher Erstarrung muss Gerechtigkeit ein freies Spiel der Kräfte, ein Durch- und Füreinander der Schwächen und der Stärken sein, eine Bewegung, die das Leben trägt. … Nicht Eis, sondern Fluss.
Niemand hat das jemals lebendiger und besser und weiter weg von dürren Definitionen zu sagen vermocht, als der sozialkritischste aller Propheten, Amos, bei dem es heißt (5,24): „Es ströme das Recht wie Wasser und Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“.
So ist Gerechtigkeit: Nie festzuschreiben, immer im Strom des Lebens, ein Geschenk des Guten an die Wirklichkeit, … das Geschenk der Wirklichkeit des Guten. ———
Das war – wie jedermann bemerkt haben wird – der dritte Teil der Predigt, der „Was lernt uns das?“-Abschnitt, die zusammenfassende Anwendung.
… Bloß warum so früh?
Warum nicht schön erst erzählen, dann deuten, dann schlußfolgern?
Weil Jesus sein Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg so angelegt hat, dass es theoretisch nicht auf eine beruhigende, leicht fassbare Pointe, auf eine bündige Moral hinausläuft, sondern auf blanken Anstoß.
… Kein Mensch kann diese kleine Dichtung von einem ganz normalen Tag der Tagelöhner hören, ohne sich am Ende unwillkürlich mit zu ärgern.
Denn da kitzelt Jesus unser Stammtisch- und Schulhof-Bauchgefühl so stark, dass man wirklich gereizt reagieren muss: Es ist einfach nicht fair, die Knochenarbeit eines ganzen Tages nicht besser zu belohnen als das Stündchen Nachlese derer, die erst nach dem Ende der schrecklichen Hitze, die sie irgendwo im Schatten verdösen durften, noch ein bisschen rege waren! Es ist nicht fair, dass Schuften nicht mehr wiegen und bringen solle, als das Liegen auf der faulen Haut!
… Gewiss: Am Morgen, als alle noch Konkurrenten um den Tagesverdienst, um das tägliche Brot, das man erst am Abend bezahlen kann, waren, da hatten die einen Glück, weil der Ruf sie traf, und die anderen Pech, weil ihr Magen, je länger ihre Muße blieb, desto unheilvoller zu knurren begann. Bei Schichtbeginn haben die früh Geheuerten gefeixt und noch am Nachmittag sahen die Übriggebliebenen der Not entgegen. … Aber warum konnten die Verhältnisse nicht trotzdem objektiv gewahrt bleiben und alle dennoch satt werden …, nur die harten Arbeiter eben etwas satter?
… Wieso musste die übertriebene Großzügigkeit des Weinbergbesitzers die Zufriedenheit über einen an sich angemessenen Lohn verderben?
Wieso konnte das psychologische Gesetz nicht berücksichtigt werden, dass erst Vergleichsmöglichkeiten schrumpfen und nachdunkeln lassen, was uns eben noch reichlich und hell vorkam?
… Wieso erzählt Jesus ein so weltfremdes und der menschlichen Natur zuwiderlaufendes Geschehen überhaupt?
Wieso reizt er den Wutbürger in uns, der - je nachdem - in den Asozialen, den Leistungsschwachen, den Schmarotzern, denen, die nicht von Anfang an dabei waren, Verwöhnte, Bevorzugte oder schlicht „Schädlinge“ sieht … scheel, scheel, scheel??! …….
… Vierzig, fünfzig Tage nach Weihnachten – als wir alle ihn noch einfach lieben konnten – … das ist ja nur sechzig, siebzig Tage vor Golgatha: ……. Und man gewinnt beinah den Eindruck, als habe Jesus es darauf angelegt, möglichst provokant, möglichst unpopulär, möglichst verwirrend in alle menschlichen Maßstäbe und Muster hinein- und sich damit bewusst um Kopf und Kragen zu reden.
Pass auf, Du, Jesus!
Unser Stammtischgefühl, dass wir ja nicht ganz ahnungslos sein können, was richtig und was verkehrt, was angemessen und was unzumutbar ist, weil wir ja schließlich auch was von der Welt verstehen … unser Stammtischgefühl ist uns verdammt nochmal heilig! Da können Amos und Aristoteles uns viel erzählen von ihren schwammigen Gerechtigkeitstheorien – Gerechtigkeit „wie Wasser“ oder abstrakt wie eine Algebraformel als ausgleichende, distribuierende, Billigkeit herstellende Funktion: Das ist alles das Gewäsch solcher, die nie zusehen mussten, dass der Lohn ihrer harten Arbeit nicht von den Bedürfnissen irgendwelcher anderer geschmälert und ihre Zufriedenheit verdorben wird durch die billige Tour, auf die so viele sich ein schönes Leben machen.
Jesus, erzähl’ Deine verdrehte, unlogische, sinnlose Geschichte wem anders!
Sonst wundert uns nicht, was Dir in septuagesimæ Tagen blüht! ———
Das war der Mittelteil der Predigt, der das Problem herausarbeitet, das es zu verstehen, das es zu durchdringen gilt: Jesu zu allen Zeiten und also auch ursprünglich wahrhaftig anstößige Gleichberechtigung der Nachzügler mit denen, die einen Vorzug haben müssten … historisch gesprochen: Der Heiden mit den ersterwählten Juden; soziologisch aber immer auch schon eine Parteinahme für die Benachteiligten, für das Lumpenproletariat, für die Chancenlosen, die bei ihm in jeder Hinsicht das selbe Gewicht wie die Eifrigen und Glänzenden und Vollkommenen haben. ———
Wie aber soll denn nun der wirklich dritte Teil, das Fazit der Predigt über die fair bis üppig entlohnten Erntehelfer, in denen wir die Menschheit am Ziel ihrer Anstrengungen erkennen müssen, ausfallen?
Soll es bei der Überlegung zur Freiheit und zum Gabecharakter der Gerechtigkeit bleiben?
– Der Gedanke ist nicht neu. Johann Gottfried Seume hat in einem Gedicht über das Recht, in dem er die Gerechtigkeit als Bauwerk vorstellt, festgehalten:
„Die strenge Pflicht, die der Vertrag erzwingt, / bleibt ewig Grund zu dem Gebäude; /
doch Milde nur und Güte bringt /ins leere Haus den Harrenden die Freude.“[i]
Dass Gerechtigkeit nicht das Starre, sondern das ist, was über den reinen Buchstaben des Gesetzes hinausgeht, ein Überfluss, der das Formale des Rechtlichen übertrifft, das kann man also auch ohne das Evangelium erkennen und lernen.
Und dass die sture Rechthaberei unchristlich ist, die den weniger Beteiligten, den weniger Befähigten, den weniger Bemühten grundsätzlich auch immer nur proportional weniger von allem zuerkennt und gönnt, das ist ebenfalls eine alte und nichtsdestotrotz wahr Erkenntnis. Ja, tatsächlich: Jesus ist der Parteigänger der Armen gegen die Reichen; er hat mehr übrig für die, die weniger haben, sind und können; und er wurde nicht nur unter Pontius Pilatus gekreuzigt, sondern auch seit seiner Auferstehung wieder und wieder verworfen, weil das Evangelium die Weltanschauung der Wohlhabenden und Abgesicherten zum Einsturz freigibt.
Eine sozialkritische Betrachtung als Predigtschluss wäre also keine gewaltsame Fehldeutung; ein befreiungstheologisches Plädoyer zugunsten der übersehenen Massen, denen materiell wie geistlich mindestens das zusteht, was wir für uns beanspruchen, wäre keine abwegige Verirrung, sondern schriftgemäß, … obwohl der Applaus von der nächste Woche vielleicht schon zu erwartenden Thüringer Minderheitsregierung auch nicht gerade beruhigend wäre. ……. ——
Doch die eigentliche Botschaft des Gleichnisses, das wir etwa auf der Mitte zwischen dem Geburtsfest und dem Todestag Jesu hören, geht weder in einer Theorie noch einer Partei der Gerechtigkeit auf.
… Sondern in der Person Christi: Um Ihn geht es uns, wenn es um Gerechtigkeit geht.
Nicht philosophische und nicht politische Gründe sind es ja, die im Gleichnis die befremdlich großzügige und doch unanfechtbar berechtigte Haltung des Weinbergbesitzers bestimmen, sondern allein seine ureigenste Entscheidung. Er hätte zwar Zulagen und Abzüge ganz anders zumessen können, aber es hat ihm gefallen, dass alle das empfangen sollten, was als Lohn für ihre Mühe unzweifelhaft gerecht, … in den meisten Fällen aber zudem auch fraglos gnädig ist.
Ein reiner Überfluss an Güte zeigt sich also in der Gerechtigkeit des Dienstherrn.
Und das ganze Matthäusevangelium, das mit dem heiligen Gebot: „Suchet zuerst die Gerechtigkeit des Reiches Gottes“ anfängt, wird spätestens durch die antwortlose Frage „Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin?“ zur Botschaft von der Rechtfertigung.
Was wir suchen sollen, ist also nicht ein Programm oder ein Plan, die unsere Gerechtigkeit kodifizieren oder quantifizieren könnten, sondern Den sollen wir suchen, Der sie jedem nach Seinem Wohlwollen schenken kann.
Denn Ihm – so schließt ja das Matthäusevangelium – Ihm ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden (vgl. 28,18)
Und darum gilt von Ihm, dass Er Macht hat zu tun, was Er will, mit dem, was Sein ist.
Er ist also der Herr. Und Seine Güte ist der Maßstab Seines Rechtes.
Vor dieser unglaublichen Güte aber, die den Verlierern und Verlorenen den vollständigen Gewinn zumisst und den Gottlosen Gnade schenkt, … vor dieser unglaublichen Güte, die die Sünder rechtfertigt, müssen die Weisheit und der Anspruch unseres als bloßes Bauchgefühl eingebildeten Rechtsempfindens schweigen.
Da gilt nur (Dan9,18 = Wochenspruch an Septuagesimæ): „Wir vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf Deine große Barmherzigkeit.“
Dann allerdings muss all unser Besserwissen und Besserseinwollen auch wirklich enden.
Wenn aber unser Gefühl, unsere vermeintliche Intuition von dem, was recht und billig sein soll, von Gottes Barmherzigkeit so überholt wird, dann wird aus dieser Predigt, in der das Letzte das Erste war, das Erste das Letzte: Dann ist Barmherzigkeit die Gerechtigkeit der christlichen Gemeinde und alle unsere Ansprüche werden zu Vertrauen.
Und in diesem Vertrauen sollen wir gehen und sie suchen und üben und leben: Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, … die Gerechtigkeit Jesu Christi, die uns allen – Sündern und Gerechten, Reichen und Armen, Starken und Schwachen, den Früheren und den Nachgekommenen, jetzt und künftig – nach Seinem gnädigen Willen widerfahren soll. Die Gerechtigkeit, die Barmherzigkeit, die in Christus sind.
Amen.
[i] Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syrakus, 1.Abteilung, in: Ders., Gesammelte Schriften, hhg. v. J.P.Zimmermann, 2.Bd., Wiesbaden 1823, S.44.
Letzter So. nach Epiphanias / Darstellung des Herrn, 02.02.2020, Stadtkirche, "Wie schön leuchtet der Morgenstern" (Liedpredigt über EG 70), Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.II.2020 – Darstellung des Herrn
„Wie schön leuchtet der Morgenstern“ (EG 70)[i]
Liebe Gemeinde!
Philipp Nicolai[ii], dem wir mit die allerschönsten Choräle unserer evangelischen Kirche verdanken – das Brautlied vom Morgenstern und das Hochzeitslied „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (EG 147) – … Philipp Nicolai war unsympathisch, borniert und voll rechthaberischen Misstrauens.
Wenn man eine Ursache der unangenehmsten Nationaleigenschaften unseres Volkes suchen wollte – mit seiner Kleinkariertheit, seinem Nachbarschaftsbespitzelungszwang, seinem engen Konformismus –, dann stieße man wohl unweigerlich auf die geschichtlichen Einflüsse, die einen Menschen wie Philipp Nicolai und seine Brüder Jonas und Jeremias prägten: Sie waren die erste Generation geborener Protestanten; sie hatten keinen reformatorischen Aufbruch zur Freiheit mehr miterlebt, sondern wurden groß im Schatten der um ein Haar gescheiterten sächsisch-hessischen Sonderlehre mit ihren Katechismuswahrheiten von fürstlichen Gnaden; und selbst da, wo die lutherische Sache Verbündete wusste – in den freien Reichsstädten, in den Hanselandschaften längs der Ostsee, im alemannischen Raum Südwestdeutschlands und der Eidgenossenschaft und in Osteuropa bis weit in die ungarische Puszta – … selbst da, wo also nicht der alt böse Feind Land und Seelen beherrschte, sah man mit bitterer Missgunst und schrecklichem Verfolgungswahn lauter Feinde die reine Lehre bedrohen: Die Rotten der Täufer, der Schwärmer, der Sekten und das Monster der reformierten Lehre, die viel radikaler als das Luthertum die Ordnung und das Wesen der alten Zeit umkrempelte, bis eine frühe Form der Selbstverwaltung und der Mitbestimmung die calvinistischen Gemeinden zu Schmerztiegeln der Neuzeit machten.
Der brave Lutheraner Nicolai und die Seinen waren also umzingelt.
Und ihre Theologie gefror. Sie hüteten eisern den Barbestand der Wahrheit. Ihr Auftrag lautete, diesen Grundstock erbarmungslos zu schützen und potentielle Mitbewerber um den öffentlichen Kredit – also den Glauben der Menschen – ruchlos auszuschalten: Das Ergebnis war die Zeit der wahnhaften konfessionellen Vorverurteilungen und der innerprotestantischen Säuberungskriege, die in der Geschichte Europas zu Hexenjagden, Gesinnungsschnüffeleien, ideologischer Intoleranz und der Ausschaltung des jeweiligen geistigen Gegners führten, … Grundhaltungen wie wir sie heute so unverhüllt und massenhaft wieder erleben. —
Leider hat die Kirchenspaltung tatsächlich diese Kultur eines Bürgerkriegs aller gegen alle hervorgebracht, … diese Unkultur eines totalen Kampfes um die Wahrheit.
Weshalb Philipp Nicolai, wenn er heute zufällig als sein jüngeres Ego – als der Student der evangelischen Theologie in Erfurt und Wittenberg oder als verbissen kämpfender junger lutherischer Pfarrer in Herdecke oder im Kölner Untergrund, ja selbst noch als Erzieher seines künftigen Landesherrn, des Grafen Wilhelm Ernst von Waldeck – hätte hier sein sollen, sofort unter wildem Protest aus unseren Gottesdienst gestürmt wäre: Unser reformiertes Kirchlein hätte ihn an seine erklärten Erzfeinde – die Calvinisten in den Niederlanden und in der Pfalz – erinnert, und seine eigene musikalische Schöpfung, die Melodie des Morgenstern in der gewaltigen, herrlichen Fassung eines katholischen Künstlers (Max Reger) zu hören, so wie wir sie eben hörten, wäre ihm als eine an Gotteslästerung grenzende Folter erschienen. ……. ——
Das ist der Preis der auf dogmatische Wahrheit und den Anspruch eines absoluten Rechthabens fixierten Abwehrkonstellation der gespaltenen Kirche: … Den Glanz des Morgensternes und aller Schönheit des Himmels und der Erden, … die für sich selber sprechenden Erfahrungen der Liebe und des Geliebtwerdens, … die jedes Argument überbietende Logik des puren Vertrauens, … die schlichtweg unbeweisbare Urkraft der Hoffnung, … alles also, was die Seele empfangen und empfinden kann, auch wenn die Schulbücher und der offizielle Jargon der Theologie es nicht absegnen oder wiedergeben, ……., alles das kann ein Vertreter der als rein definierten Lehre einfach nicht wahrnehmen, darf es nicht anerkennen, vermag es nicht mitzuteilen. ……. ———
Doch dann kam der Tod.
… Philipp Nicolai war inzwischen wieder in Westfalen, als lutherischer Pfarrer von Unna, … in konfessionelle Grabenkämpfe verwickelt wie eh und je.
……. Indes: Die Gräber, die sich damals grauenhaft öffneten, sollten ihn verändern. Im Sommer 1597 brach in Unna die Pest aus, um erst zu Beginn des Jahres 1598 zu erlöschen. Während dieser ganzen Zeit unvorstellbarer Schrecken wohnte Nicolai im Pfarrhaus mitten auf dem Kirchhof, und unter seinen eigenen Fenstern begrub er auf dem Höhepunkt der wütenden Seuche Tag für Tag zwischen 20 und 30 Menschen.
Er roch auf Schritt und Tritt, wachend und schlafend ihre Verwesung; Sterbende und Trauernde waren seine ganze Gemeinde; Horror und Verzweiflung beherrschten die Wirklichkeit jener Monate. … Das Rechthaben aber, die aggressive Rechtgläubigkeit, das intolerante Wahrheitsmonopol: Sie wurden plötzlich nebensächlich.
… Und aus der Theologie eines Besserwissers wurde Theologie der Hoffnung. Aus Haarspalterei und dem auch uns vertrauten Korrektheitsterror, der genau abzirkelt, was gesagt oder gedacht werden darf, wurde die befreiende Weite der Zuversicht, wurde die Atmosphäre des Reiches Gottes, in dem nicht Kleinigkeiten entscheiden, sondern das Ganze versöhnt wird und willkommen ist.
Mitten in der radikalen Sterblichkeit jener Pestepidemie entstanden so in Philipp Nicolais seelsorglichem Trostbuch „Freudenspiegel des Ewigen Lebens“ die schönsten Zeugnisse eines unbeirrbaren biblischen Glaubens an das Leben und einer grenzenlosen persönlichen Lebensfreude.
Wer die beiden mitreißenden hochzeitlichen – also höchstfestlichen – Choräle, mit denen Advents-, Weihnachts- und Epiphaniaszeit bei uns Evangelischen gerahmt und erfüllt werden – das Wächter- und das Brautlied – , jemals wirklich gesungen und geteilt hat, der muss ja ahnen, dass es eine pulsierende Vitalität des Glaubens gibt, die anderen Gipfelerfahrungen der Ekstase in Nichts nachsteht: Seien es die Momente reinster Daseinsfülle im Sport, im Sieges- oder Freudentaumel, in der Entfesselung durch Lachen oder Lust oder im unmittelbaren Liebeserlebnis.
Solches nicht mehr steigerungsfähige Glück, das aus allem schöpft, was es an Farbe und Klang, Geschmack und Duft, was es an geistlichen Affekten und Emotionen aber auch an leiblicher Empfindung nur geben kann, besingt Nicolai in der ursprünglichen, ungeglätteten und überraschend sinnlichen Gestalt des Morgensternliedes geradezu schwelgerisch: In orientalischer Fülle – angelehnt an den biblischen Hochzeitspsalm 45 und das hemmungslose Hohe Lied der Liebe – werden die Zustände und Zutaten reinsten Liebesgenusses auf die Verbindung zu Christus übertragen.
… Da wird beschenkt und gezuckert, gejuchzt und geliebäugelt, da wird einverleibt und ausgetauscht, da tanzen sie und applaudieren einander, da sprühen Geschmeide äußerliche Funken und innerlich wiederholt sich die Schöpfung, bei der im Fleisch zweier Wesen doch nur ein gemeinsames Gerüst nachweisbar ist, die Rippe, die Adam mit Eva teilt[iii].
Es ist beinah unglaublich, welche Direktheit ein so strenger Kirchenmann sich erlaubt, wenn er ohne Scham und Geschlechtergrenzen seine eigene Person, die innere Anima, die Seele sich ganz natürlich nach der Nähe des geliebten Gottessohnes verzehren, an der innigen Partnerschaft mit ihm sich enthusiastisch freuen und in der völligen Vereinigung mit ihm sich wärmen und Leben schenken lässt[iv].
… Und alle diese ganz unmittelbaren, ganzheitlichen Erlebnisbilder klingen wie selbstverständlich: Weltlich-schön, ästhetisch, psychosomatisch ganz offen und eben kein bisschen sublimiert, kein bisschen hinter Hüsteln oder Umschreibungen verkappt.
Überdies gelingt Philipp Nicolai dabei aber auch noch das Kunststück, ausdrucksvolle, spontan wirkende Gefühlslyrik in symbolhafte Form zu gießen: Sieben (!) Strophen aus jeweils zwölf (!)nZeilen, die im Druckbild Kelche darstellen, aus denen tagtäglich das Leben strömt; und dieses als sakramentales Sinnbild Gedruckte dann wieder verlebendigt durch eine textgemäße Melodie, die lautmalerische Steigerungen erblühen lässt und zugleich atemkonforme sprachrhythmische Aufzählungen des vielen Guten und Schönen wiedergeben kann.
Ein Meisterwerk in Wort und Laut und Bild, das dennoch nur aus frischen Eingebungen zu bestehen scheint…. ——
Doch genug davon.
Die entscheidende Frage an diese sogenannte „Königin der Choräle“ ist eine andere: Nämlich, ob diese Blüte der Lebensfreude nicht eine Form von Weltflucht sei, … da sie doch unzweifelhaft die Seligkeit und die Fülle des Glücks beschreibt, die den Christen im Himmel erwartet?
Trifft hier nicht also der religionskritische Rundum-Vorwurf genau zu, dass der Glaube aufgrund seiner Ohnmacht und Sinnlosigkeit in der Gegenwart sich stets nur Vertröstungen schafft, … eine herbeigesehnte Gegenwelt, in die projiziert werden kann, was nun einmal konkret ausbleibt oder im Diesseits – warum auch immer – nicht gesucht werden soll? …….
—— Oder hat das Christentum vielleicht doch eine umgekehrte Logik, eine Linie, die seine Kritiker regelmäßig verwirrt, weil sie ihr nicht von innen heraus – im Fluss sozusagen – folgen, sondern nur auf den letzten, für die Kritiker anstößigen Etappen kurz vor der Mündung, an der alles gewaltig ins Ewige strömt, ihre Beobachtungsposten beziehen?
Gewiss: Der christliche Glaube ist die Botschaft vom ewigen Leben … trotz aller selbst-mörderischen Verleugnung seitens einer selbstzensierenden, sich selber säkularisierenden Theologie der Neuzeit.
Die christliche, die biblische Botschaft weist über alles, was sie zur Gegenwart unter den Bedingungen des Leidens, der Schuld und des Todes zu sagen hat, hinaus auf eine kommende Welt und auf ein neues Leben, das bleibt.
Ja, das Christentum ist also tatsächlich die Offenbarung, die Verkündigung und das Bekenntnis des der Wirklichkeit noch bevorstehenden Endes der Endlichkeit und des Durchbruchs der Ewigkeit durch alle Schranken, die uns heute noch von der Erkenntnis, der Nähe und der herrlichen Liebe Gottes trennen.
… Ja! Ja! … Tausendmal Ja!: Wir Christen sind Gläubige, die ihr Ziel und ihre Erfüllung jenseits der Grenzen suchen, in denen die landläufige Auffassung von Realität sich beschränkt.
Ja, wir erwarten, dass die Transzendenz – das Entzogene, das Unbekannte, das Unvergängliche der Gegenwart Gottes – sich als das Wesentliche zeigt, wenn alles andere sein derzeitiges, vorübergehendes Wesen einst verloren haben wird.
Ja, wir freuen uns und hoffen auf das, was das Himmelreich sein wird.
……. Aber doch nicht, weil wir die Welt verdrängten, das Leben geringschätzten, das Irdische verachteten!
—— Im Gegenteil! Im Gegenteil:
Die Bibel – das Buch des ewigen Lebens – fängt an mit der Erschaffung von Himmel und Erde, von Zeit und Raum und Materie!
Und das Zeugnis Israels ist ein geschichtliches, politisches, alltäglich-menschliches Zeugnis vom Leben nach Gottes Willen in den Gegebenheiten aller Welt!
Und das Herzstück unseres Glaubens ist die vollständig schutzlose, persönliche Beteiligung Gottes am Menschsein zwischen Geborenwerden und Sterbenmüssen!
Wie könnte denn wohl eine so welt- und lebensnahe Glaubensurkunde, wie könnte eine so intensive Verflechtung und Verpflichtung Gottes und der Erde, wie unser Credo sie bezeugt, zu Weltverleugnung oder einem Ausweichen vor der Realität führen? …
Genau umgekehrt ist es doch: Weil uns Christen die Schöpfung des Schöpfers heilig ist, weil wir die Wunder der Welt als Seine Werke und Gaben betrachten und weil wir das Leben im Fleisch, das Er mit uns gemeinsam hat, darum auch so lieben dürfen, weil Er Sich darin offenbart hat … darum sind wir wie Philipp Nicolai von einer unbändigen Zuversicht und Begeisterung für das Leben durchdrungen.
Und darum können wir sein Ende, seine Zerstörung und sein Verlöschen nicht ungerührt hinnehmen.
Zwar kann die Auslieferung an das, was das Leben vernichtet, wie bei Nicolai dazu führen, dass all unsere Selbstbeschäftigung endet, dass alle unsere Ansprüche an Wahrheit oder Recht oder Eigensinn sich auflösen und verdampfen, weil plötzlich ganz nebensächlich wird, was wir eben noch im verzerrten Maßstab wichtig nehmen zu müssen meinten.
Aber gerade dann tritt uns doch die herrliche und unvergängliche Gnade umso mehr und umso tröstlicher vor Augen, dass wir schon hier – in der Schönheit von Natur und Kunst und Geist und Liebe – Dinge empfangen haben, auf die wir kein Recht geltend machen könnten. Und dass Gott, Der das Leben so kostbar und so hinreißend gemacht hat – obwohl es so zerbrechlich und kurz nur ist –, eine noch weit größere Verheißung darin angelegt hat: Dass Er nämlich der Herr und Geber des Lebens bleibt und dass die Gemeinschaft mit Ihm darin – in der Liebe Seines von den Toten auferweckten Sohnes – auf Ewigkeit angelegt ist!
Davon singt Philipp Nicolai in der Pestzeit in Unna: Dass das arme Leben, das uns schon so herrliche Dinge erfahren lässt, wie sein Morgenstern-Lied sie ekstatisch und zugleich doch ganz natürlich schildert, … dass dieses arme Leben ein Vorbote und ein Vorgeschmack dessen ist, was alles sich tiefer noch zeigen, echter noch uns umgeben und endlos unsere Freude und Wonne sein soll.
Und genau das ist ja die Botschaft der heute endenden Weihnachtszeit (1.Joh1,2): „Das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist.“
Und weil es in dem Kind – winzig, zart, wirklich – erschienen ist, darum kann der alte Mann, der wir alle sind, … der Mensch, dessen Zeit unwiderruflich vergeht, so getrost sein, dass er im Blick auf dieses neugeborenen Leben, das er selbst schon sehen durfte, im Frieden sterben kann[v].
Weil Christus gnadenbringend erschienen ist und weil Seine Geburt nicht nur die dreißig Jahre, die ihr bis Golgatha folgen sollten, bringt, sondern dies: Ewiges Leben!
Amen.
[i] Im festlichen Gottesdienst zu „Lichtmess“ erklang die Choralphantasie „Wie schön leucht’t uns der Morgenstern“, Op.40 Nr.1 von Max Reger (1899), gespielt von Arno Ruus.
Ein Gottesdienstblatt bot die originale – im Internet leicht einsehbare – Fassung des Chorals von Philipp Nicolai.
[ii] Keine der Darstellungen Nicolais – seien sie erbaulich, seien sie wissenschaftlich – kann verschleiern, dass er in seinem anticalvinistischen und antikatholischen Furor eine überdurchschnittliche Aggression auch im Vergleich zu den grob-polemischen Sitten seines Zeitalters verbreitete. Wichtiges ist umfassend der Darstellung durch Martin Rößler zu entnehmen, der Philipp Nicolai in seinem Referenzwerk „Liedermacher im Gesangbuch – Liedgeschichte in Lebensbildern“, Stuttgart 2001, ein ausführliches Kapitel widmet (S.302-338). Selbst in der betulichen und hagiographischen Darstellung Philipp Nicolais von Wilhelm Nelle im alten Sammelwerk „Unsere Kirchenliederdichter – Bilder und Bildnisse aus der Geschichte des evangelischen Kirchenliedes. Bd. II,“ (2.Auflage, Hamburg - o.J. [vermutlich 1905]) heißt es nach der Schilderung der bitteren Ausfälle Nicolais gegen die Calvinisten: „Grausige Sprache eines theologischen Parteihasses!“ (aaO, S.25).
[iii] In der 3.Strophe heißt es bei Nicolai ursprünglich: „Vnd erfreuw mich / daß ich doch bleib / An deinem außerwehlten Leib / Ein lebendige Rippe“. In dieser besonders leidenschaftlichen Strophe achtet der sonst erkennbar geschulte Poet im Weiteren absichtlich nicht mehr auf Reime: Der Taumel innerer Verschmolzenheit macht solches äußere Regelwerk sinnlos.
[iv] Die 4. Strophe enthält bei Nicolai die Zeilen: „Nimm mich / freundtlich / Jn dein Arme / Daß ich warme / Werd von Gnaden“, die das bibelkundige Zeitalter des Dichters vermutlich an 1.Könige 1, 1ff erinnerten.
[v] Das Evangelium des Tages der Darstellung des Herrn (Lukas 2,22-35) steht im Hintergrund der gesamten Predigt.
3.So.n..Epiphanias, 26.01.2020, Stadtkirche, Apostelgeschichte 10,21 - 35, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.n.Epiphanias - 26.I.2020
Apostelgeschichte 10,21-35
In diesem Gottesdienst feierte der verehrte Amtsbruder, Vorgänger und Freund, Pastor Achim Engels mit der Gemeinde seinen 90. Geburtstag. Ihm ist die Predigt in dakkbarer Verbundenheit in der geteilten zweifachen Liebe zu Christus und Israel gewidmet.
Liebe Gemeinde!
Landschaft auf der Landkarte lässt sich leicht lesen: Norden und Süden sind klar, Meer und Land und Höhenunterschiede sind alle eindeutig markiert und man spaziert mühelos über die wissenschaftlich genaue Skizze dahin. … Leider nur ist die Orientierung im wirklichen Gelände ganz anders und auch das Bewältigen der auf den Meter genau erfassten Entfernungen wird zu etwas ganz anderem, wenn man’s nicht auf dem Atlas, sondern auf der Landstraße unternehmen soll.
Genauso wie mit dem Raum verhält es sich auch mit der Zeit: Der Kalender besteht aus lauter exakten, gleichen Einheiten, in denen wir säuberlich und logisch schlüssig alles unterbringen könnten, was ansteht und sich vollziehen soll. Selbst ein Schaltjahr ergänzt das System nur um eine weitere 24-stündige Größe, … weil die 5 Stunden 48 Minuten und 45 Sekunden, die eigentlich pro Kalenderjahr überschüssig wären und nicht in das geordnete Ganze passen wollen, eben zu unregelmäßig sind, um anders als gerundet von uns erlebt zu werden.
Wirklichkeit ist nämlich schwieriger zu fassen als Theorie. Darum ist sie mit ihren räumlichen Unebenheiten, mit ihren plastischen Hindernissen und Grenzen und ihren zeitlichen Dehnungen und Sprüngen und völligen Anomalien etwas ganz anderes als man bei reiner Außenbetrachtung meinen sollte:
Was könnte schon zwischen Helmstedt und Marienborn für ein Zauberbann liegen, dass die paar Kilometer zwischen beiden Orten mehr als bloß ein kleiner Spaziergang wären?
Was sollte zwischen Januar 1933 und Mai 1945 schon Exorbitantes haben geschehen können, dass kein Zeitabschnitt der Menschheitsgeschichte diesen hundertpaarunddreißig Monaten zu vergleichen wäre? ——
Ja, …., was unterscheidet stets vergleichbare Maß- und Kalendereinheiten in Raum und Zeit so sehr voneinander, dass ihre scheinbar neutrale Logik eigentlich zum Trug, zur Täuschung führt? … Es ist der Mensch. Der Mensch, der aus etlichen hundert Metern einen Graben macht, der unüberwindlich wird. Der Mensch, der nur wenige Sonnenjahre braucht, um eine so ungeheuerliche Finsternis zu verbreiten, wie sie eigentlich nicht von dieser Welt sein kann. ———
Zeit und Raum mögen klar und konstant sein und die Weisheit des Schöpfers bezeugen; der Mensch aber macht sein Chaos aus ihnen, … in den Tagen Noahs, … im 20.Jahrhundert, … in der Epoche, die wir gerade verschwommen vor uns zu ahnen beginnen.
Was aber macht Gott? …….
Es wäre einfach und unwürdig – unwürdig für Ihn wie für uns –, wenn Gott wie ein Zimmermädchen ständig bloß wieder Ordnung machte, wo wir Menschen das heillose, schreckliche Durcheinander anrichten, auf das wir uns so gut verstehen. Wenn Gott nur geradeböge, was wir krümmen, wenn Er nur zusammenstückte, was wir zerfleddern, wenn Er nur herrichtete, was wir zugrunde richten … – und Er tut das alles wahrhaftig und zuletzt ja doch! …. wenn aber Gott nun nur das Aufräumkommando hinter der Spur menschlicher Verwüstung wäre, dann wäre Er ein Knecht der Sünde und ein Handlanger des Bösen, indem er die Müllabfuhr der Welt darstellte.
Und darum hat Gott Menschen in den Bund mit Sich, hat Er Menschen in Seinen Dienst gerufen: Damit Er nicht alleine Derjenige wäre, Der gut macht, was andere böse meinten, Der aufhellt, was andere verdunkeln, Der säubert, was andere besudeln, … damit also nicht nur das Böse, sondern auch der Widerstand dagegen, damit also auch das Gute Menschengeschichte sei.
Seit Abraham nämlich ist es ein Gemeinschaftswerk zwischen Gott und den Seinen, die innere Nacht und die äußere Verwirrung der Menschheit zu beheben und zu heilen. Die Erwählten Gottes, das heilige Volk, das Er ruft, sind als Helfer und Heiler der von Zerstörung bedrohten Welt gewollt.
Wenn man die Mission Israels zusammenfassen sollte, wäre nämlich das ihre Grundlage: „Bringt die Welt durch Euer Recht zurecht! Setzt sie zusammen durch Euer Gesetz! Reinigt sie durch Eure Reinheit! Heilt sie durch Eure Heiligkeit!“
Und in alledem: „Helft dem helfenden Gott! Löst mit die Aufgaben des Erlösers! Ertragt, was Er trägt!“ ———
Wenn wir diesen hochnotwendigen Sinn der Berufung der Väter und des Volkes Israel vor Augen haben – dass sie im Chaos der Geschichte, in dem Menschen Zeit und Raum verderben und vernichten, Gerechtigkeit und Frieden, ausgehend von ihrem Land durch ihren Sabbat, ihre Feste, ihren Alltag bezeugen und verbreiten sollten –, dann wundert es uns weniger, dass kein Volk an so vielen Orten hat leben müssen und dass in der Weltgeschichte aus Licht und Dunkelheit die erhabensten und abgründigsten Momente jeweils Daten der Geschichte Israels sind: Die unglaubliche neue Freiheit, die Exodus und Sinai und Ostern beweisen und die unaussprechliche alte Bosheit, die sich am Karfreitag und bei den Kreuzzügen und in Auschwitz entblößt. ———
Diese Erinnerung daran, was Israels Auftrag ist, war nötig, um den Wendepunkt zu verstehen, an den der heutige Predigttext uns stellt. Der kleine Schritt, den Simon Petrus, der christusgläubige fromme Jude aus Galiläa über die Schwelle des judenfreundlichen römischen Hauptmanns Kornelius tat, war in etwa von der Größenordnung der historischen Fußbewegung Neil Armstrongs bei der Mondlandung: Gering für einen Einzelnen und doch eine folgenreichste Pionierleistung im Rahmen der Menschheitsgeschichte.
… Nicht nur darum ging es aber dabei, dass der vielleicht ja wirklich etwas provinzielle Gesichtskreis eines Fischers vom Genezareth erweitert wurde.
… Nicht nur um die Überwindung der religiös begründeten jüdischen Scheu vor den unappetitlichen Sitten der Heiden ging es.
Und auch nicht nur um die Ausbreitung des Evangeliums und das Wachstum der Kirche, die aus dem heilsgeschichtlichen Heimatboden Israels in die globale Fremde und Weite aller Völker und Nationen ausgreifen sollte.
Sondern durch das Zögern auf beiden Seiten – auf Seiten des Besatzungssoldaten mit seiner Sehnsucht nach Gott, wie auf Seiten des Hauptes der nachpfingstlichen Kirche, die ja wahrhaftig kein Hauptquartier hatte, sondern in der anrüchigen Gewöhnlichkeit einer Gerberwerkstatt in Joppe Unterschlupf fand – … durch das Zögern auf beiden Seiten also, die sich auf nichts wirklich Gemeinsames hätten verständigen können, brach Gott hindurch, um die Zahl derer zu mehren, die dem Schaden der Welt zuleibe rücken, indem sie in den heiligen Leib des Messias eingegliedert werden.
Anders gesagt: Durch das Zögern des judenchristlichen Apostels Petrus und die Befangenheit des proselytischen Heiden Kornelius brach Gott hindurch, um den jüdischen Auftrag, Bauleute des Reiches Gottes zu werden[i], unter alle Völker der Erde zu bringen.
Und diese Erweiterung der Gemeinschaft, die dem Chaos trotz und dem Leben dient, die dem Sinnlosen das Gute entgegenhält und in die endlosen Furchen der Todesmächte die Saat der Hoffnung ausbringt, … diese Erweiterung der Gemeinschaft, die Gottes Werk menschlich unter Menschen begleitet und bestärkt, ist ein Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte! ———
Man hätte ihn allerdings nie, … niemals so sehen dürfen, wie man ihn unerträglich und unverzeihlich lange sah: Als sei in Cäsarea das Evangelium und mit ihm die Erwählung von den Kindern Israels übergegangen in die Befehlsgewalt der römischen Weltmacht und der heidnischen Völker.
Kornelius empfing ja die tolldreiste Idee, er könne den Vertrauten des Gekreuzigten und Auferstandenen aus Nazareth in sein Haus einladen – das Haus eines aus dem Tätervolk!, das Haus eines Angehörigen der Mordarmee! – ausdrücklich mit dem Hinweis darauf, dass die Almosen, die er als römischer Hauptmann der jüdischen Bevölkerung zugewendet hatte, ihn zu dieser nie dagewesenen Kühnheit berechtigten. „Dein Gebet ist erhört worden und deiner Almosen ist gedacht worden vor Gott“: Das war der türöffnende Vorgang!
Und ist damit am Anfang der heidenchristlichen Zukunft genau die gleiche Formulierung, wie Dietrich Bonhoeffer sie wählte für das, was den Getauften nach dem selbstverschuldeten Ende der christlichen Ära noch übrig bleiben würde: „Beten und das Tun des Gerechten“[ii].
Der religiöse hebräische Ausdruck für das Almosengeben, ist nämlich doppeldeutig. Die Vokabel „Zedakah“ bedeutet im engeren Sinn wohltätige Spendenmittel, … im eigentlichen, weiten Sinn aber bezeichnet „Zedakah“ das Ideal und Ziel des jüdischen Lebens nach der Torah insgesamt: „Gerechtigkeit“!
Beten und Gerechtes tun: Das können, … dürfen, … SOLLEN auch die Heiden! Das ist die weltgeschichtliche Wendung, die uns am heutigen Tag bezeugt wird. ———
Doch diese Weltwende, die den Beginn der weltweiten Kirche und der menschheitlichen Ökumene als das Reich des Gottes Israels bezeichnet, ist ganz bestimmt nicht trügerisch auf der Landkarte zu lokalisieren oder auf dem Zeitstrahl der Kirchengeschichte als ein Fixpunkt einzutragen. …
… Es ist nicht damals in Raum und Zeit fertig geschehen und vollendet worden, dass die Mission Israels, Gott zu begleiten bei Seinem Rettungs- und Gerechtigkeitsweg für die sich um’s Heil bringende Welt, zur gemeinsamen Sache aller Menschen wurde.
… Es ist nicht in Cäsarea Maritima, zwischen Haifa und Tel Aviv an einem Tag in den vierziger Jahren des 1.Jahrhunderts nach Christi Geburt geschehen, dass Gott Seine Gemeinde endgültig um das Herzstück Israel herum zur universalen Kirche erweitert hätte.
… Es ist nicht damals und dort geschehen, weil es dort und damals zwar begann, aber seither so heftig fehlschlug, so übel verkannt, so kaltblütig verraten, … so himmelschreiend verleugnet wurde, dass man sich fragen muss, ob es überhaupt als historisches Faktum gelten darf, dass Juden und Heiden zusammengehören in der Gemeinde Jesu Christi??? …….
Können wir das wirklich beanspruchen? Können wir tatsächlich – wie Kornelius es konnte – die Apostel des Messias, die Propheten Israels bitten, sich zu uns zu gesellen und uns einzubinden in ihre heilige Gemeinschaft mit Gott? …….
Gestern hätte unsere Kirche nach der neu geordneten Gestalt des Kirchenjahres wieder den Tag der Berufung des Paulus zu feiern gehabt: Ein Tag, der uns die Fortsetzung des Durchbruchs im Haus des Kornelius – wo tatsächlich Gottes Heiliger Geist Menschen in römischer Uniform eingegossen wurde! – im riesigen Maßstab des Lebenswerkes des Völkerapostels vor Augen führt.
Doch wenn man im neuen Lektionar die letzte Lesung für diesen Gedenktag des großen Heidenmissionars und Lieblings der evangelischen Theologie vor Augen hat, dann heißt es dort: „Viele die die Ersten sind, werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein“ (Matth.19,30). … Und blättert man nach diesem unheimlichen Satz, der alle sichere Ordnung rückgängig macht und alle Gewissheiten aufhebt, nur eine Seite im Lektionar weiter, dann folgt auf den 25.Januar die Liturgie des 27.Januar, …. die Liturgie des offiziellen kirchlichen Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. … Dessen letzte Lesung aber endet mit den Worten (Lk22,62): „Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich“. …………
Wir dürfen also nicht so sicher sein, dass wir auf die Entstehung der wahren Kirche, die alle Völker mit dem Volk Gottes verbindet, als Vergangenheit zurückblicken.
Wenn wir vor Augen haben, was wir morgen als unsere jüngste Vergangenheit erkennen müssen, dann rückt die Kirche Jesu Christi, in der Petrus aus Kapernaum und Kornelius von der italischen Legion zusammengehören, in tiefe Schatten.
Oder aber … wenn wir es wagen wie der heidnische Hauptmann von damals, mehr zu erbitten, als wir verdient hätten, … oder aber die Kirche Jesu Christi, in der auch wir an der Mission Gottes zur Erlösung der Welt und zur Versöhnung der Menschen beteiligt werden, rückt in das Licht der Zukunft:
… Sind wir denn heute nun endlich, endlich bereit, allem Hass, der Menschen von Menschen trennt, abzuschwören?
… Sind wir bereit, endlich die mutlosen Vorurteile gegenüber den Anderen – den kulturell, religiös oder weltanschaulich Fremden – abzulegen und unser eigenes Leben als Wagnis zu beginnen, das auch sie in den Bund mit Gott einladen und auch ihren Platz darin freihalten will?
… Sind wir bereit, zwar nicht eine bessere Welt zu verkörpern – die wird Gott alleine schaffen, wenn Sein Tag kommt – …, aber eben doch eine andere Lebensweise in der Welt zu suchen, als die von Gier und Gewalt und Gewinn gezeichnete Gottlosigkeit?
… Sind wir bereit für’s „Beten und Tun des Gerechten“?
… Sind wir bereit, Gott zu fürchten und zu tun, was Ihm angenehm ist und aus allen Völkern der Menschheit – so wie Israel – zur wirklichen Gemeinschaft des lebendigen Gottes zusammen zu wachsen?
… Sind wir bereit, die heilige, christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen zu werden?
Dann möge Gott uns nicht als einzelne Personen ansehen, sondern als den einen Leib Seines geliebten Sohnes!
Dann wird in Raum und Zeit das Ewige anfangen, „das Heil, für das Er uns geschaffen hat“[iii]!
Amen.
[i] Vgl. dazu den Aufsatz von Franz Rosenzweig: Die Bauleute – Über das Gesetz (1923), in: Ders., Kleinere Schriften, Berlin (Jüdischer Buchverlag), 1937, S.106-121, in dem es vom umfassenden Ethos des Judentums heißt: „Damit aber ist jede Grenzlinie durchbrochen, die beiden Welten, die des jüdischen Verbotenen und die des erlaubten Unjüdischen fließen ineinander. Es gilt nun kein Nebeneinander von jüdischem und unjüdischem Tun mehr; hier wie dort umzäunt uns überlieferte Form, dort wie hier umblüht uns gewachsene Freiheit. Das Reich des Tubaren ist ein eines geworden“ (aaO, S.115).
Zum Motiv der Bauleute vgl. ebenso Zinzendorfs Lied „Wir wolln uns gerne wagen“ (EG 254)!
[ii] Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung – Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hgg. v. Chr. Gremmels u.a. (DBW Bd.8), Gütersloh 1998, aus den für Bonhoeffers Großneffen und Patenkind bestimmten „Gedanken zum Tauftag von Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge“: „Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein. Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen.“ (aaO, S.435)
[iii] Vgl. Dietrich Bonhoeffer, „Von guten Mächten treu und still umgeben“ (EG 65,2).
2.S.n.Epiphan., 19.01.2020, "Vertrauen wagen", Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Die Freundlichkeit und Liebe Gottes sei mit euch allen.
Ich heiße alle ganz herzlich willkommen zu diesem Gottesdienst am 2.S.n.Epiphanias, und schließe auch alle mit ein, die an den Übertragungsgeräten in den Häusern der Kaiserswerther Diakonie mit uns verbunden sind.
Dieser Gottesdienst hat heute eine ganz andere Gestalt als üblich. Ich lade Sie ein zu einer Reise, zu einer Glaubens-Reise. In der nächsten Stunde werde ich Sie mit Ihnen bislang unbekannten „Ländern" und „Landschaften" unseres christlichen Glaubens bekannt machen. Was Sie hören werden, wird sicher beides für Sie bereithalten: etwas, das interessant ist und fasziniert und etwas, das eher erschreckend ist.
Mir selbst sind beide Seiten begegnet, als ich vor über 30 Jahren diese Reise unternahm; sie stand nicht im Lehrplan der theologischen Fakultäten (da wird sie leider bis heute nicht angeboten).
Sie überhaupt anzutreten, war gar nicht so leicht. In gewissem Sinne gab es da auch ein Gleis Neundreiviertel (Harry Potter Fans kennen das); da muss man den Mut haben, durch eine Wand zu springen, um auf den Bahnsteig und so zum Zug zu gelangen, der einen auf diese Reise mitnimmt. Ja, es braucht den Mut, die eigenen Glaubenstraditionen in Frage zu stellen und einmal zur Seite zu legen, die verschiedenen Tabus, mit denen man im eigenen Glauben, in der eigenen Konfession und Religion „eingehegt" wurde, zu durchbrechen, es braucht den Mut, aus dem Boot „Evangelische Volkskirche" auszusteigen und über das Wasser zu gehen - dem Christus Jesus entgegen..
„Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.", so heißt es im Wochenspruch aus dem Johannesevangelium.
Darum geht es mir: ich möchte Ihnen an dieser Fülle, die sich mir erschlossen hat, Anteil geben. Nicht nur Gott ist größer, als wir uns das gemeinhin so vorstellen, auch Christus ist größer und darum ist es wichtig, dass auch unser Glaube wächst und größer wird. Denken wir nur an die Jahreslosung: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!" Ich hoffe, dass dieser Gottesdienst ihnen Mut macht, mehr Vertrauen zu wagen, tiefer und weiter zu glauben.
Das Gottesdienstprogramm will dabei zweierlei sein:
Einmal soll es Ihnen Orientierung geben, wo wir im Ablauf dieses Gottesdienstes sind, welche Lieder wir zusammen singen. Zum anderen habe ich Inhalte/Aussagen, die mir wichtig sind, festgehalten; so können Sie auch noch später einmal den angesprochenen Gedanken nachgehen und gerne auch mich daraufhin noch einmal ansprechen.
In der nächsten Stunde möchte ich Ihnen wichtige Stationen unseres Glaubens nahebringen, biblische Texte zu Gehör bringen und sie als Zeugnisse des Glaubens in ihrer Zeit und in ihrer Bedeutsamkeit heute würdigen. Dabei werden uns auch Glaubenszeugnisse anderer Menschen helfen.
Wir werden miteinander singen und beten und immer wieder auch Zeit finden, in uns hineinzuhören.
Lassen sie uns nun miteinander beginnen mit dem
Lied 165 „Gott ist gegenwärtig", die Strophen 1+2+4+5.
Gebet
Hier bin ich
Und suche Zutritt zu dir, weil ich deiner bedarf.
Doch wie könnte ich Zutritt zu dir suchen durch das,
was dich unmöglich erreichen kann?
Oder wie könnte ich klagen bei dir über meine Lage,
da sie dir nicht verborgen ist?
Oder wie könnte ich dir`s erklären mit meiner Rede,
da sie von dir kommt und auch zu dir geht?
Und wie könnten meine Hoffnungen scheitern,
da sie zu dir gekommen sind?
Und wie könnte meine Lage nicht gut sein,
da sie durch dich besteht und zu dir hin geht?
Mein Gott,
durch die Vielfalt der geschaffenen Zeichen
und den ständigen Wechsel der Phasen
habe ich gelernt,
dass es dein Wille ist,
dich mir kenntlich zu machen
in allem,
damit ich dich nirgendwo
nicht erkenne.
(Ibn Ata Allah)
Meditation A
Wir kommen von Weihnachten und Epiphanias her. Dieser Sonntag ist der 2.S.n.Epiphanias und die Epiphaniaszeit dauert noch bis zum 2.Februar. Bis Mariä Lichtmess leuchtet uns noch der Stern, möchte er uns Mut machen, unsere Reise anzutreten und fortzuführen.
Weihnachten, das ist ein guter Ausgangspunkt für unsere Glaubensreise. Das Fest der Geburt Jesu ist verbunden mit einer Geschichte, an der deutlich wird: der christliche Glaube war von Anfang an nichts Statisches, nichts Abgeschlossenes. Vielmehr bezog er seine Lebendigkeit aus seiner Wandlungsfähigkeit, aus seiner Fähigkeit, die Menschen, mit denen er es zu tun bekam, ernst zu nehmen mit ihren Hoffnungen, mit ihren Visionen und Bildern, mit ihren Traditionen und mit ihrer Welterfahrung, mit ihren Freuden wie mit ihren Leiden.
Die zentrale Gestalt im christlichen Glauben ist Jesus. Ohne Jesus kein Christentum. Jesus ist beides: eine Gestalt des Glaubens und eine historische Person.
Von den Umständen seiner Geburt wissen wir - nichts.
Damals gab es keine Standesämter.
Wahrscheinlich ist er in Nazareth geboren; dort lebte seine Herkunftsfamilie.
Doch als die Nachfolger und Nachfolgerinnen Jesu in den Jahrzehnten nach der Kreuzigung und nachdem ihnen Jesus bleibend als der Lebendige aufgeleuchtet war, als sie nun das, was sie von Jesus gehört und verstanden hatten, den Menschen außerhalb Judäas und Galiläas, also außerhalb ihres eigenen kulturellen und religiösen Umfeldes weitersagen wollten, da sahen sie sich genötigt, eine Geburtsgeschichte zu erzählen, die der Bedeutung, die Jesus für ihren Glauben hatte, gerecht würde. Ein wichtiger Mensch musste einfach eine besondere Herkunft haben.
So erzählt Lukas davon, dass Jesus in Bethlehem zur Welt kommt. Das war ihm deshalb wichtig, weil es die Verheißung gab, dass einmal ein Nachkomme aus dem Haus Davids kommen würde, der Israel aus seiner Knechtschaft befreit. Und David stammte aus Bethlehem. Mit Jesus ist der verheißene Retter geboren, das ist Lukas wichtig. Diese Botschaft verkündet deshalb ein Engel. Und die Rettung gilt vor allen Dingen den Menschen am Rand, den Geringsten; das war ja die Botschaft, die Jesus verkündigt hatte. Und deshalb erzählt Lukas, dass die Engel zuerst den Hirten auf den Feldern Bethlehems die Geburt des Retters verkünden. Hirten gehörten zu den Menschen, die ganz unten in der damaligen Gesellschaft standen.
Lukas wusste offensichtlich schon etwas von der „Freiheit eines Christenmenschen". Um die Botschaft Jesu seinem Freund Theophilus und dessen Umfeld möglichst verständlich zu machen, entdeckt der Arzt Lukas sein erzählerisches Talent und setzt es wirklich gekonnt ein - zur Freude der Menschen bis heute.
Ähnlich Matthäus, der sein Evangelium ja für einen ganz anderen Adressatenkreis schreibt und selbst anderer Herkunft ist als der Grieche Lukas. Die ganze Geschichte mit der Volkszählung: die hatte sich Lukas einfallen lassen, um Maria und Josef einen Grund zu liefern, von Nazareth nach Bethlehem zu gehen; außerdem konnte er so noch einmal die schlimme Lage des jüdischen Volkes unter römischer Besatzungsherrschaft vor Augen zu führen. Nichts davon finden wir bei Matthäus. Bei ihm bewohnen Maria und Josef ein Haus in Bethlehem, und dort kommt Jesus eben zur Welt. Matthäus lässt auch keine Engel auftreten und Hirten kommen auch nicht gelaufen. Matthäus hat ein ganz anderes Interesse: er will zeigen, dass die Botschaft Jesu nicht nur für das jüdische Volk von Bedeutung ist, sondern auch für die Menschen in anderen Ländern, anderer Kultur und Religion. Die Männer, die dem Neugeborenen ihre Huldigung entgegenbringen, sind deren Repräsentanten. Sie sind gerade keine Könige. Sie sind Suchende, die bereit sind, sich der unterschiedlichsten Quellen zu bedienen - seien es Sternkonstellationen oder die heiligen Schriften einer ihnen fremden Religion - um ihr Ziel zu erreichen. Am Ende seines Evangeliums lässt Matthäus den Auferstandenen genau daran anknüpfen. Da weist er seine Nachfolgerinnen und Nachfolger an, zu den Menschen aller Völker hinauszugehen, um die Botschaft von der Liebe Gottes zu verkünden.
Wirklich wunderbare, bedenkenswerte Erzählungen, die uns auch heute noch begreifen und spüren lassen, was diese beiden Feste - Weihnachten und Epiphanias - uns vermitteln wollen. Wobei es eben um beides geht: der Glaube ist eine Sache von Herz und Verstand.
Doch wenn wir uns umsehen, dann müssen wir feststellen: die Verbindung zu beiden ist äußerst bedroht:
zum Herzen durch den überbordenden Konsum gerade in der Weihnachtszeit
und zum Verstand durch die verhängnisvolle Unwissenheit, zu der die theologische Zunft leider maßgeblich beigetragen hat. Besonders dadurch, dass sie die biblischen Erzählungen nicht als solche gewürdigt hat, sondern zu historischen Fakten umgebogen hat, die „man eben glauben muss".
Für das Theologiestudium habe ich Griechisch und Hebräisch lernen müssen, um die Bibel in ihrer Originalsprache lesen zu können. Das ist auf jeden Fall sinnvoll.
Aber eine Sprache hat man dabei völlig außer Acht gelassen, die Symbolsprache, von der der Psychoanalytiker
Carl Gustav.Jung mit Recht gesagt hat, das sei die Sprache, die alle lernen sollten, weil sie die Sprache ist, in der sich die Seele des Menschen ausdrückt und mit der sich die Menschen über Kultur- und Religionsgrenzen hinweg austauschen und verbinden können. Diese Sprache habe ich mir dann selbst beigebracht und habe erlebt: C.G.Jung hat Recht. Denjenigen, die mit der Symbolsprache vertraut sind, erschließen sich viele biblische Texte erst in ihrem ganzen spirituellen Reichtum. Und darüber hinaus auch Texte aus den Heiligen Schriften anderer Religionen.
Die Symbolsprache ist in besonderer Weise die Sprache der Mystikerinnen und Mystiker aller Religionen und aller Zeiten. Sie ist wirklich universal und global. Ich bin tief davon überzeugt, dass es für die Menschheit von entscheidender Bedeutung sein wird, dass sich alle Religionen wieder auf diese Sprache besinnen. Sie müssen sie in ihren eigenen Kontexten neu kultivieren und mit ihr Brücken bauen von einer Religion zur anderen, von einer Kultur zur anderen, von einer Lebensweise zur anderen. Nur so können wir der um sich greifenden Kultur der Abgrenzung und des Hasses etwas Konstruktives und Positives entgegensetzen.
Der erste Lernschritt ist das Innehalten.
Man wird sich bewusst, wie oberflächlich man bisher vieles genommen hat, was in der Bibel zu lesen ist, mit welchem verkürzten Begriff von wahr und wirklich.
Und dann bittet man Gott um seinen Geist, dass er einem neue Zugänge eröffnet.
Lassen sie uns das jetzt zusammen tun, indem wir das Lied 382 miteinander singen „Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr"; nach jeder gesungenen Strophe hören wir ein Zwischenspiel der Orgel, das uns Gelegenheit zum eigenen Nachdenken gibt.
Meditation B
Glauben heißt unterwegs sein, nur so ist er lebendig.
Dabei gibt es zwei Reiserouten.
Auf beiden heißt es zu wandern.
Beide sind gleich wichtig.
Die eine Route führt uns ins Weite, die andere in die Tiefe.
Die eine verläuft außen, die andere im Innern.
Die eine heißt Mission, die andere Kontemplation.
Bei der Mission geht es allerdings entgegen dem landläufigen Verständnis nicht um Bekehrung zum christlichen Glauben, darum, möglichst viele „Heiden" zu taufen (es hat ja tatsächlich solch schlimme „Wettbewerbe" gegeben zwischen Missionsgesellschaften); nein, es geht um die Mission Gottes, der möchte, dass allen Menschen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen:
Der Wahrheit nämlich, dass wir alle zu der einen Menschheitsfamilie gehören,
dass wir untereinander Geschwister sind,
als Geschöpfe mit aller Kreatur verbunden,
gebildet aus Sternenstaub und lebendig durch Gottes Geist, Gottes Atem,
mit Gott verbunden in der Liebe und in der Barmherzigkeit.
Der ökumenische Rat der Kirchen formulierte 1983 auf der Vollversammlung in Vancouver den Missionsauftrag als Lernprozess so: „Geht hinaus und macht euch stark für Gerechtigkeit und Frieden und die Bewahrung der Schöpfung."
Das meint auch: verbindet euch in diesem Bemühen mit allen Menschen guten Willens, entdeckt, wo Menschen anderer Kultur und Religion, aber doch lebendig durch denselben Gottesgeist und so auch eure Geschwister, sich ebenfalls darum bemühen, dass es gerechter und friedlicher auf dieser Welt zugeht, die sich dafür einsetzen, dass die Menschheit ihre Heimat, diesen einzigartigen Planeten Erde nicht durch ihre Gier nach Macht und Geld zerstört.
Als in der Sylvesternacht das Affenhaus des Krefelder Zoos abbrannte, da löste das eine Welle der Betroffenheit und Trauer aus. Wie sehr müssten wir aber trauern um all die Tiere, die den verheerenden Bränden in Australien zum Opfer gefallen sind! Über 1 Milliarde lautete die Schätzung von Wissenschaftlern am 6.Januar; allein in der Provinz New South Wales starben über 8000 Koalabären. Und das Sterben in den Flammen geht weiter. Ja, Mutter Erde fiebert.
„Gott will nicht den Tod des Sünders, sondern dass er sich bekehre und umkehre von seinem falschen Weg." (vgl. Hes.18,23) Das ist die Mission Gottes: die Menschheit auf den richtigen Weg bringen. Und Gott zieht alle Register, um dieses Ziel zu erreichen, um das Überleben der Menschheit, ihr Zusammenleben miteinander und mit allen Geschöpfen zu befördern. Er zeigt die unterschiedlichsten Wege auf, in der Hoffnung, dass da schon für jede und jeden einer dabei ist, der für ihn oder für sie möglich und gangbar ist.
Mission so zu verstehen und diesen Weg nach außen zu gehen, hinaus und unter Menschen fremder Kultur und Religion ohne den Herrschaftsanspruch, meine Religion ist die einzig wahre, das setzt voraus, dass eben auch der Weg nach innen gegangen wird, der Weg der Kontemplation.
Der Apostel Paulus ist geradezu der Prototyp eines Reisenden in Sachen Glauben, der auf beiden Wegen unterwegs ist.
Er war bis zu seinem berühmten Erlebnis vor Damaskus ein jüdischer Fundamentalist und Eiferer, der für seinen Glauben über Leichen ging, mit klaren Grenzziehungen: hier das Volk Gottes und dort die Gojim, die Heiden. Und nur Israel kennt Gott, liebt seine Weisungen und wird von Gott geliebt.
Doch dann verändert sich für ihn vor Damaskus alles.
Lukas berichtet davon in der Apostelgeschichte. Seine Erzählung hat aber eine Lücke, eine Lücke von ein paar Jahren, nämlich zwischen dem Damaskus-Erlebnis und dem Beginn der Missionstätigkeit des Paulus. Ich denke, in dieser Zeit hat die geistliche Verwandlung des Saulus zum Paulus stattgefunden. Wir wissen es nicht, aber ich glaube, er wird sich noch einmal sehr intensiv und kritisch mit seinem bisherigen Glauben befasst haben; ganz sicher hat er ihn nicht einfach auf den Müll geworfen, das sieht man jedenfalls an seinen Briefen. Und er wird sich neu und mit weniger Abwehr, eher neugierig und interessiert mit den Religionen und Kulturen seiner Umwelt befasst haben. Auch das spürt man seinen Briefen ab. Auf jeden Fall ist sein Glaube tiefer und weiter geworden. Über Nacht passiert so etwas nicht. Das braucht Zeit. Aber dann war er soweit, seine Erkenntnisse mit anderen zu teilen, anderen mitzuteilen.
Gebet
Immerfort empfange ich mich aus deiner Hand, Gott.
Das ist meine Wahrheit und meine Freude.
Immerfort blickst du mich voll Liebe an,
und ich lebe aus deinem Blick.
Du mein Schöpfer und mein Heil.
Lehre mich in der Stille deiner Gegenwart
das Geheimnis zu verstehen, dass ich bin.
Und dass ich bin durch dich
und vor dir
und für dich.
(Romano Guardini)
Lied EG 379 „Gott wohnt in einem Lichte" 1-3+5
Meditation C
Im 1.Korintherbrief (4,1) schreibt Paulus: „So soll man uns betrachten: als Diener Christi und als Verwalter von Geheimnissen Gottes."
Ein Geheimnis, dass sich ihm erschlossen hat und so sein bisheriges Denken und Glauben auf den Kopf gestellt hat, benennt Paulus im Epheserbrief (3,3-7):
„Durch Offenbarung ist mir das Geheimnis kundgemacht worden, wie ich zuvor aufs Kürzeste geschrieben habe.
Daran könnt ihr, wenn ihr's lest,
meine Einsicht in das Geheimnis Christi erkennen.
Dies war in früheren Zeiten den Menschenkindern nicht kundgemacht,
wie es jetzt offenbart ist
seinen heiligen Aposteln und Propheten durch den Geist;
nämlich, dass die Heiden Miterben sind
und mit zu seinem Leib gehören
und Mitgenossen der Verheißung in Christus Jesus sind durch das Evangelium."
Zwei Dinge sind Paulus ganz neu klar geworden und das nicht, weil er so ein kluger Mann war. Paulus spricht hier nicht von Erkenntnissen, zu denen er gekommen ist, sondern von Offenbarung. Ihm ist eine Einsicht geschenkt worden, eine neue Sicht auf das Leben. „Durch Offenbarung ist mir das Geheimnis kundgemacht worden."
Wir sind durch eine jahrhundertelange Tradition dazu gebracht worden, uns vorzustellen, dass diese Offenbarung etwas ganz Besonderes war, die geheimnisvolle Stimme von Oben, die nur Paulus zuteil wurde. Doch das ist Unsinn.
Offenbarungen geschahen und geschehen immer wieder.
Auch heute noch und morgen auch.
Der Geist Gottes, auf den sich Paulus hier ja auch bezieht, war seit Anbeginn der Schöpfung unterwegs. Er suchte und sucht sich bis heute Menschen, denen er neue Einsichten vermitteln kann, denen er ein Licht aufgehen lassen kann.
Damit sie begreifen, wes Geistes Kinder sie sind.
Damit sie begreifen, worauf es ankommt, um im Frieden und Einklang mit allen Menschen guten Willens und mit allen Geschöpfen auf Erden zu leben.
Solange Gottes Geist über diese Erde weht, wird es Offenbarung geben. Allerdings: dieser Geist zwingt niemandem neue Einsichten auf. Er will eingeladen werden. „Komm, Heiliger Geist!", das ist einer der ältesten Gebetsrufe der Christenheit. „Komm, Heiliger Geist, und erneuere uns!"
Wie töricht, wenn die Kirchen, nicht nur viele Theologinnen und Theologen, sondern auch viele Männer und Frauen in den Gemeinden gerade im Gottesverständnis alles Neue abwehren mit Hinweis auf die Tradition.
Doch zurück zu Paulus. An zwei entscheidenden Punkten ist ihm ein neues Verständnis aufgeleuchtet.
Das erste ist das „Geheimnis Christi". Um was geht es da?
Nun, erst einmal muss ich hier eine entscheidende Korrektur an der Übersetzung auch der neuen Lutherbibel vornehmen, sonst ist das Geheimnis kein Geheimnis, sondern Irreführung.
Im griechischen Text heißt es nicht „das Geheimnis Christi", sondern „das Geheimnis des Christus". Und das macht einen riesigen Unterschied.
In unserer Umgangssprache in der Kirche haben wir uns daran gewöhnt, immer von Jesus Christus zu sprechen, so als wäre das ein Eigenname wie Karl Otto, Hans Christian oder Eva Maria. Und da, wo wir in der Bibel von Christus lesen, ergänzen wir automatisch: aha, hier geht es um Jesus.
Doch das ist falsch. Christus ist kein Name, sondern ein Titel. Im Aramäischen und Hebräischen steht dafür Messias. Der Messias aber ist eine Hoffnungsgestalt des Glaubens, er ist derjenige, der einmal, wenn er kommt, am Ende der Zeiten, Recht und Gerechtigkeit, Frieden und Heil durchsetzen wird.
Damals um die Zeitenwende herum, als es Vielen im römischen Reich elendig ging, war die Hoffnung unerhört lebendig, jetzt müsse doch dieser Messias, dieser Christus kommen. „Bist du es, der da kommen soll?", so lässt Johannes der Täufer aus dem Gefängnis heraus seine Anhänger Jesus fragen.
In den Briefen des Paulus findet sich häufig die Nennung „der Christus Jesus", wie in unserem Text ja auch. Das ist angemessen. Aber Paulus ist noch etwas ganz anderes aufgeleuchtet, der Geist Gottes hat ihm noch weiteres zu verstehen gegeben: nicht nur Israel, nicht nur die Juden hofften auf einen Retter, einen Messias. Paulus, der ja aus Tarsus kam und wohl immer schon viel gereist war, ein richtiger Kosmopolit der Antike, der wusste: überall im Reich hofften Menschen auf Rettung, gab es in den unterschiedlichsten Religionen und Kulturen solche Hoffnungsgestalten. Überall beteten die Menschen, dass da einer komme, der Recht und Gerechtigkeit, Frieden und Heil mit sich bringt. Paulus sah darin das Wirken des Heiligen Geistes. Und vor allen Dingen begriff er: der Christus-Messias, der kann nicht nur der Messias für Israel sein. Der muss viel größer sein. Der Christus ist der Christus der Welt, der Christus des Kosmos.
Im Kolosserbrief findet sich der wunderbare Satz „In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis." (2,3)
Der kosmische Christus ist größer und anders als Paulus bisher gedacht hat. Und was ihm auch aufgeht: das Heil, das er bringt, ist längst da, aber eben wie ein Schatz, der gehoben werden will. Wen erinnert dieser Satz nicht an das Gleichnis vom Schatz im Acker, das Jesus erzählte? Auf das Heben der Schätze der Weisheit und der Erkenntnis kommt es an. Der kosmische Christus ist kein kosmischer Supermann, sondern er braucht Menschen, die sich in Dienst nehmen lassen und sich die Mühe machen, neu zu werden in ihrem Denken und Verstehen, in ihrem Glauben und Handeln.
Und wie gehört Jesus nun dazu? Für Paulus ist Jesus derjenige, der ihm den Zugang zu diesem Christusverständnis geschenkt hat. Und vor allen Dingen ist Jesus für ihn derjenige, der dafür gesorgt hat, dass der Christus in seiner Größe nicht abgehoben über den Menschen und ihrer Realität schwebt, sondern dass er geerdet ist.
In Jesus ist dieser Christus Mensch geworden, ist hinabgestiegen in alle Tiefen menschlicher Existenz bis ans Kreuz und in den Tod. Die Christen in der Gemeinde des Johannes hatten sogar einen Hymnus, der diese Erdung besingt und feiert, den Johannes an den Anfang seines Evangeliums gesetzt hat: Das Wort wurde Fleisch. Der Christus wurde Fleisch.
Auf die Erdung kommt es an, und die erfahren wir, wenn wir den Weisungen Jesu folgen, ihm nachfolgen, ganz konkret mit Werken der Barmherzigkeit, erfüllt von Liebe und Demut; dann, so Paulus, haben wir Anteil an dem kosmischen Christus. So heißt es im Kolosserbrief weiter (2,6-10):
„Wie ihr nun angenommen habt den Herrn Christus Jesus,
so lebt auch in ihm, verwurzelt und gegründet in ihm
und fest im Glauben, wie ihr gelehrt worden seid,
und voller Dankbarkeit.
Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen und nicht Christus.
Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig
und ihr seid erfüllt durch ihn, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist."
Dieses „Geheimnis des Christus" ist letztendlich das Geheimnis der übergroßen Liebe Gottes. Es ist allen Mystikerinnen und Mystikern aller Zeiten und aller Religionen geoffenbart worden - von dem einen Geist Gottes in jeweils der Gestalt, wie sie es zu ihrer Zeit, in ihrer jeweiligen Kultur erkennen konnten.
Hören wir das Gebet von Husain Ibn Mansur Al-Haladsch:
Herr,
in meinem Herzen kreisen alle Gedanken um dich.
Anderes nicht spricht die Zunge, als meine Liebe zu dir.
Wenn ich nach Osten mich wende,
strahlst du im Osten mir auf,
wenn ich nach Westen mich wende,
stehst vor den Augen du mir,
wenn ich nach oben mich wende,
bist du noch höher als dies,
wenn ich nach unten mich wende,
bist du das „Überall hier".
Du bist, der allem den Ort gibt, aber du bist nicht sein Ort.
Du bist in allem das Ganze, doch nicht vergänglich wie wir.
Du bist mein Herz, mein Gewissen,
bist mein Gedanke, mein Geist.
Du bist der Rhythmus des Atmens,
du bist der Herzknoten mir.
Lied EG 400,1+4-7 „Ich will dich lieben, meine Stärke"
Das zweite Geheimnis, das Paulus vom Geist erschlossen wurde, betrifft die Beziehung des Juden Paulus zu seiner nichtjüdischen Umwelt, zu den sog. Heiden - ein schreckliches Wort. Nachdem er begriffen hatte, dass der Christus ja nicht nur eine Glaubenshoffnung für Israel und von Israel war, sondern dass er ein Bild für die weltumspannende Hoffnung aller Menschen war, eine Hoffnung, die ihnen derselbe Geist Gottes geschenkt hatte, verschwand für Paulus jede Berechtigung, die Menschheit in von Gott erwählte und von Gott nicht erwählte Menschen und Völker zu unterteilen. Alle sind Kinder des einen Vaters im Himmel. Alle sind Miterben und Mitgenossen der Verheißung in dem Christus Jesus durch das Evangelium, durch die Botschaft von der allen Menschen geltenden Liebe Gottes, durch die Botschaft vom Reich Gottes, das mitten unter uns Wirklichkeit werden will.
Orgelspiel
Meditation D
Was können wir aus all diesem für uns heute „mitnehmen"?
Wohin könnte uns der eine Heilige Geist auf unseren Glaubenswegen führen?
Es gibt nicht die eine Reiseroute für alle, sondern je eine für jeden und jede. Gott, der Christus gibt sich redlich Mühe, jedem etwas Gangbares anzubieten.
Sind wir bereit, uns der Mühe zu unterziehen, die Schätze der Weisheit und Erkenntnis, die in Christus verborgen sind, für uns und unsere Zeit zu heben?
Welche Grenzen müssen wir für uns einreißen, welche Tabus brechen, damit das Reich Gottes unter uns wachsen kann?
Das ist doch spannend. Darüber lohnt sich der Diskurs.
Wann fangen wir ihn an?
Mission und Kontemplation, die Glaubensreise nach außen und nach innen. Beide wollen angetreten werden. Von jeder und jedem einzelnen - und dann auch von uns zusammen.
Lied „Kommt, teilt das Leben"
Abkündigungen
Gebet
Dies ist an dich mein Gebet, Herr -
Triff, triff bis zur Wurzel des Mangels mein Herz.
Gib mir die Kraft, leicht meine Freuden und Sorgen zu tragen.
Gib mir die Kraft, meine Liebe fruchtbar im Dienste zu machen.
Gib mir die Kraft, die Armen nie zu verleugnen und meine Knie vor ungerechter Macht nicht zu beugen.
Gib mir die Kraft, meinen Geist über den täglichen Kleinkram zu heben.
Und gib mir die Kraft, meine Kraft deinem Willen hinzugeben in Liebe.
(Rabindranath Tagore)
VaterUnser
Segen
Orgelnachspiel
2.S.n.Weihnachten, 05.01.2020, Jahreslosung, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
als mir vor den Sommerferien im letzten Jahr zum ersten Mal die Jahreslosung für 2020 unter die Augen kam, war ich ziemlich enttäuscht. Nach der so klaren, kernigen Jahreslosung 2019 „Suche Frieden und jage ihm nach!" (Ps.34,15), die mich wirklich durch das ganze Jahr begleitet hat, immer wieder Ansporn und Wegweisung gegeben hat, jetzt dieser Hilferuf „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!" (Mk.9,24)
Ausgesucht hätte ich mir diesen Vers niemals. Und eigentlich war ich noch Anfang Dezember entschlossen, diese Jahreslosung links liegen zu lassen, sie auf keinen Fall um den Jahreswechsel herum als Predigttext zu nehmen. Eine Jahreslosung soll doch Wegweisung geben. Wie kann das ein sehr persönlicher Hilferuf leisten? Aber dann, ja, dann hat dieser Text in mir gearbeitet. Ein persönlicher Hilferuf eines Vaters wurde so zur Grundlage einer sehr persönlichen Auslegung und Predigt, die ich Ihnen im Folgenden zu bedenken gebe - und vielleicht ergeben sich für jede und jeden von Ihnen Anknüpfungspunkte wieder ganz persönlicher Art. Und ja, irgendwie ist es so: diese Jahreslosung ist - anders als ihre Vorgängerin - mehr eine Wegweisung nach innen als nach außen. Sie wendet sich mehr an den Einzelnen als an eine Gemeinschaft, sie ist mehr persönlich ausgerichtet als politisch, wobei das, was das Herz und den Verstand des einzelnen Menschen bewegt und verwandelt durchaus auch politisch von Bedeutung sein kann und will.
„Ich glaube, hilf meinem Unglauben!" Dieser Vers gehört zu einer Heilungsgeschichte, die uns der Evangelist Markus überliefert hat. Eine Heilungsgeschichte mit Hindernissen.
Da hören wir von einem Vater, der sein krankes Kind zu Jesus bringt. Auf dem Weg zu ihm begegnet er Jesu Jüngern, die sich anbieten, zu helfen; sind sie doch sozusagen bei Jesus in die Schule gegangen, haben erfolgreich ein Praktikum absolviert und wollen gerne helfen. Doch ihre Bemühungen bleiben ohne Erfolg. Nun setzt der Vater all seine Hoffnung auf Jesus. Jesus sieht ihn, hört sich seine Leidensgeschichte an und sagt: „Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt." Aber die Sache mit dem Glauben ist eben nicht so einfach. Für die Jünger nicht - warum wohl konnten sie das kranke Kind nicht heilen? - und für den Vater, der hier auch stellvertretend steht für alle diejenigen, die von Krankheiten betroffen sind und der auf diesen Satz Jesu, der beides ist, Zumutung und Verheißung, ausruft: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!"
Glaube - ein Wort, das leicht zu Missverständnissen führt.
Glaube kann verstanden werden im Sinne von „etwas für wahr halten". So haben die Menschen lange Zeit geglaubt, dass die Erde eine Scheibe ist.
Wer Glauben so versteht, der unterscheidet dann auch zwischen dem richtigen und dem falschen Glauben, zwischen Glauben und Unglaube oder Aberglaube. Da geht es darum, das richtige Bekenntnis zu haben, der richtigen Lehre zu folgen, die vorgegebenen Glaubenssätze und Dogmen für wahr zu halten.
Doch um einen so verstandenen Glauben geht es hier gar nicht. Es geht nicht darum, was ich glaube oder an wen ich glaube, sondern es geht darum, wem ich glaube, wem ich vertraue.
„Alles kann, wer glaubt", sagt Jesus zu dem Vater, der daraufhin ausruft: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben."
Ich möchte so übersetzen: „Wenn du nur Vertrauen hast, ist alles möglich." Und „Ich will ja vertrauen; hilf mir, mit meinen Zweifeln und Ängsten klar zu kommen."
Vielleicht wundern sie sich, dass ich nicht formuliert habe: „Hilf mir raus aus meinen Zweifeln und Ängsten."
Gewiss, das wäre ja das Allerbeste: wenn wir in einer schlimmen Situation feststecken, dann wollen wir da einfach nur raus. Hilf mir raus aus meiner Krankheit. Hilf mir raus aus meiner Ehekrise. Hilf uns raus aus all den politischen Sackgassen wie Brexit, Klimakrise und wie immer sich die ganzen Krisen heute präsentieren - Plastikmüll, nitratverseuchtes Grundwasser, Antibiotikaresistenzen u.s.w. All diese Krisen machen Angst vor dem, was da kommt, lassen einen Zweifeln an den eigenen Möglichkeiten.
Und doch will ich bei meiner Übersetzung von „Unglaube" bleiben: hilf mir, mit meinen Zweifeln und Ängsten klarzukommen. Ich erhoffe mir nämlich von Jesus, von Gott ein „nachhaltiges Wunder", keine Zauberei, sondern die Erfahrung, die der Apostel Paulus in vergleichbarer Situation gemacht hat, wo er zu hören bekam: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in der Schwachheit mächtig."
„Ich vertraue dir, Gott, hilf mir, mit meinen Zweifeln und Ängsten klar zu kommen."
Liebe Gemeinde, beim Nachdenken über die Jahreslosung ist mir ein Lied in den Sinn gekommen, das wirklich das passende Lied zur Jahreslosung ist. Es ist das Lied Nr.600 in unserem Gesangbuch. Besonders die ersten beiden Strophen sprechen verschiedene Aspekte von Zweifeln und Ängsten an und die Chancen, die uns das Vertrauen-können ermöglicht, um getroster und mutiger, um heil in die Zukunft zu gehen.
„Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor dich: wandle sie in Weite! Herr, erbarme dich!"
Die weiteste Reise, die meine Großmutter (Jahrgang1892) je unternommen hat, war die damals mehrtägige Fahrt mit Pferdewagen und Zug von Ukta in den Masuren ins Ruhrgebiet nach Herten. 1910 folgte sie so ihrem Mann, der als Steiger im Bergbau sich bessere Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten erhoffte als in der Landwirtschaft der Masuren. Sie ist in ihrem ganzen Leben nie geflogen, die Besuche zu ihren Kindern mit Entfernungen bis 80 Kilometern bewältigte sie mit Zug, Bus und Straßenbahn. Das war ihre Welt. Eng begrenzt in jeder Hinsicht, auch in ihren Ansichten. Ein Mensch aus dem vorletzten Jahrhundert.
Heute werden „miles and more" gesammelt, haben die Flughäfen in der Vorweihnachtszeit wieder Rekordzahlen an Passagieren gemeldet; ist von Flugscham noch wenig zu spüren. Die Welt ist zum Dorf geworden. Die Grenzen werden im Flugzeug gar nicht erst gesehen. Die Zoll- und Passformalitäten werden bei Abflug und Ankunft allenfalls als lästig wahrgenommen.
Doch das grenzenlose Reisen hat uns nicht von den Grenzen befreit, die unser Denken und Fühlen umschließen. Viele unserer Zeitgenossen sind bei genauer Betrachtung in ihrem Denken und Fühlen näher bei den Menschen des 18. Jahrhunderts als bei denen des 20. Jahrhunderts. Und daran haben weder Urlaubsreisen auf die Kanarischen Inseln noch ein Lehramtsstudium (wie man bei Herrn Höcke sieht) etwas ändern können. Und auch die Digitalisierung ist da machtlos.
Es ist gleichermaßen erstaunlich wie auch erschreckend, mit welcher Macht sich Nationalismus und Chauvinismus in der aktuellen Politik zurückgemeldet haben. Und mit ihnen Rassismus und Antisemitismus, und als wäre das nicht schlimm genug, als neue Zugabe die Islamphobie. Manchmal möchte man sich einfach wachschütteln und fragt sich, ob denn die Menschheit, gerade die in Europa, nichts gelernt hat aus der Geschichte des letzten Jahrhunderts. Und auch die Erkenntnisse der Wissenschaften scheinen bei allzu vielen nichts zu fruchten, dass nämlich die Menschheit eine ist, dass alle miteinander verwandt sind, dass es keine verschiedenen menschlichen Rassen gibt und dass unterschiedliches Aussehen in keiner Weise dazu berechtigt, auf bessere oder schlechtere geistige Fähigkeiten zu schließen.
Ja, und auch das ist wissenschaftlich längst bewiesen: es gibt nicht nur die heterosexuelle Liebe zwischen Mann und Frau, sondern auch die homosexuelle bzw. lesbische Liebe zwischen Mann und Mann und Frau und Frau. Sie gehören zur Natur des Menschseins. Der Einzelne kann daran ebenso wenig ändern wie an seiner Augenfarbe.
Liebe Gemeinde, an dieser Stelle mögen Sie nun einwenden, dass für Sie diese Fragen um die Homosexualität keine Probleme mehr machen. Aber gehe jeder und jede einmal in sich: wie würden Sie reagieren, wenn das eigene Kind, der Enkel Ihnen offenbart, er sei schwul oder sie liebe eine Frau?
Oder etwas anders: was würde es bei Ihnen auslösen, wenn ihre Tochter einen Afghanen kennen und lieben lernt, der muslimischen Glaubens ist?
„Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor dich; wandle sie in Weite, Herr, erbarme dich!"
„Ich möchte vertrauen, Gott, hilf mir, mit meinen Zweifeln und Ängsten klar zu kommen."
Das Private ist das Politische - und umgekehrt.
Es ist offenbar ein menschliches Kernproblem, dass jeder das Eigene sehr leicht für das einzig Richtige und Zulässige hält, vor allen Dingen dann, wenn er nur so seine Lebensweise und die damit verbundenen Privilegien meint retten, nur so seinen Wohlstand meint verteidigen zu können.
Und in genau so einer Situation befinden wir uns derzeit offensichtlich.
Dabei ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die wirklich großen Probleme dieses Jahrhunderts nur global zu lösen sind, dass sie die gemeinsamen Anstrengungen aller Menschen brauchen, um menschliches Leben auf diesem Planeten auch in Zukunft zu ermöglichen. Wir brauchen einander. Und zwar in unserer Unterschiedlichkeit. Die unterschiedlichen Lebensweisen, Kulturen und Religionen bergen einen Schatz an Erfahrungen und Erkenntnismöglichkeiten, auf den die Menschheit zurückgreifen kann, um die anstehenden Probleme zu lösen. Die gemeinsame Anstrengung braucht dabei eine gemeinsame Basis: die Anerkennung, dass jeder Mensch das gleiche Recht auf Leben hat und dass es selbstverständlich in einer Gesellschaft unterschiedliche Lebensformen und Lebensweisen geben kann.
„Meine ganze Ohnmacht, was mich beugt und lähmt bringe ich vor dich: wandle sie in Stärke! Herr, erbarme dich!"
Gerade diese Strophe ist ganz nah an der Jahreslosung, diesem Hilferuf eines Vaters, der mit seinem kranken Kind zu Jesus gekommen ist. Er ist mit seinem Latein am Ende und hofft verzweifelt auf Heilung für sein Kind und damit auch auf Befreiung von seinen Sorgen, die ihn geradezu auffressen. „Ich will ja vertrauen; hilf mir aus meinen Sorgen und Ängsten raus." Das ist sein Ruf. Markus erzählt, dass Jesus daraufhin dem bösen Geist, der den Jungen immer wieder fallen lässt - die Schilderungen lassen eigentlich nur den Schluss zu, dass das Kind an Epilepsie leidet - dass er dem bösen Geist befiehlt, er möge aus dem Kranken endgültig ausfahren; daraufhin erleidet das Kind erneut einen heftigen Anfall und liegt wie tot da; Jesus ergreift dann seine Hand und stellt den Jungen auf die eigenen Füße. Jesus konnte hier helfen, wo die Jünger vorher versagt hatten. Der Hilferuf des Vaters ist erhört worden.
Vielleicht haben wir das auch schon einmal erlebt: da wurde ein Mensch überraschend gesund oder ein Problem, das schier unlösbar schien, löste sich in Luft auf. Aber ist es geraten, darauf zu hoffen, auf ein Wunder? Ist das das Anliegen der Jahreslosung? Ist der Glaube, das Vertrauen in Gott nur dann etwas wert, wenn er Wunder wirkt?
Liebe Gemeinde, erlauben Sie, dass ich hier sehr persönlich werde. Im Frühjahr letzten Jahres befielen mich immer wieder Schmerzen. Vom unteren Rücken her strahlten sie ins rechte Bein aus. Der Orthopäde, der mich seit vielen Jahren kennt und immer wieder natürlich auch mit „Rücken" behandelt hat, tippte auf Probleme der Lendenwirbelsäule und behandelte mich entsprechend. Doch im Juni und Juli wurden die Schmerzen unerträglich, ließen mich wochenlang nachts kaum schlafen - und nichts half. Um es abzukürzen: seit September habe ich die Diagnose „Tarlov-Zysten" im kleinen Becken an S1 und S2. Eine sog. „seltene Krankheit". Therapeutisch helfen kann nur eine Operation. Aber es muss erst einmal ein Operateur gefunden werden; denn die OP ist mit nicht geringen Risiken verbunden. Und so bleibt mir zur Zeit nur, die Symptome zu bekämpfen - vor allen Dingen mit Schmerzmitteln. Und eben eine Neurochirurgin oder einen Neurochirurgen zu finden, der den Eingriff wagen würde.
„Ich glaube, hilf meinem Unglauben." Ich formuliere für mich so: „Gott, ich will dir vertrauen; hilf mir, die Ungewissheit auszuhalten, wie sich diese Krankheitsgeschichte entwickeln wird, lass mich mit der Angst klar kommen, die mir die Einnahme der ganzen Schmerzmittel macht, genauso mit der Angst, die mir eine OP machen wird; lass mich mit den Einschränkungen angemessen umgehen und ermutige mich, um Hilfe zu bitten." Gott, ich vertraue dir, hilf mir, mit meinen Zweifeln und Ängsten klar zu kommen.
(Natürlich hätte ich auch gegen ein kleines Wunder nichts einzuwenden.)
Sie haben alle beim Hereinkommen zweierlei bekommen: diese Karte mit der Jahreslosung. Sie zeigt ein Boot, das schwer gegen Wind und Wellen ankämpfen muss. Ein Bild für unser Leben, wo unser Lebens-Boot immer wieder in schwere See gerät, wo das, was auf uns einstürmt, uns Angst macht und uns daran zweifeln lässt, ob wir noch das rettende Ufer, den sicheren Hafen, unser Ziel erreichen. Doch wir können uns darauf verlassen: Gott sitzt mit uns im Boot, er schenkt Kraft und Hoffnung. Trotz aller Zweifel dürfen wir darauf vertrauen und uns an ihn wenden: „Ich vertraue dir, Gott, hilf mir, mit meinen Ängsten und Zweifeln klar zu kommen."
Und dazu haben sie dieses Blatt mit einem Text darauf erhalten - „Tatsache". Vielleicht haben Sie sich auch schon über diesen Text gewundert und sich gefragt, was es damit auf sich hat. Er ist ja nun wirklich nicht besonders geeignet, uns optimistisch in dieses neue Jahr gehen zu lassen, kommen doch da alle Bedenken und Sorgen zur Sprache, die uns schon im vergangenen Jahr niedergedrückt haben.
Stimmt. Von oben heruntergelesen ist das keine Ermutigung.
Aber er kann uns passend zu Beginn des neuen Jahres zu einem „Perspektivwechsel" verhelfen - zu einem wesentlich zukunftsfähigeren Blick auf uns, auf unser Leben, auf unsere Möglichkeiten, genauso wie auf unsere Grenzen, auf all das, was uns oft die Luft zum Atmen nehmen will - und zu einem Blick auf Gott, auf das, was Glauben heißt. Er kann uns helfen, ihn so zu verstehen und zu leben wie Jesus, der gesagt hat: „Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt. / Wenn du nur Vertrauen hast, ist alles möglich."
Um dahin zu kommen, müssen wir nur den Weg Jesu gehen: den Weg von unten her - von der Krippe bis hinauf in den Himmel. (den Text von unten nach oben lesen)
Amen.
Tatsache
Unser Glaube schenkt uns Hoffnung für die Welt.
Nein. Tatsache ist,
dass Gott hier nicht mehr wohnt.
Ich glaube nicht,
dass Freude möglich ist,
dass es sich in Gemeinschaft besser lebt,
dass wir einander radikal lieben sollen.
Die Wahrheit ist,
dass der Glaube kurz vor dem Aus steht.
Ich weigere mich zu glauben,
dass wir Teil von etwas sind, das über uns selbst hinaus reicht,
dass wir verändert wurden, um zu verändern.
Es ist doch ganz klar,
dass Armut zu übermächtig ist,
dass Rassismus nicht zu überwinden ist,
dass das Böse niemals zu besiegen sein wird.
Ich kann unmöglich glauben,
dass Dinge sich in Zukunft zum Besseren wenden.
Es wird sich herausstellen,
dass Gott nicht helfen kann,
und du liegst falsch, wenn du glaubst,
Gott kann.
Ich bin davon überzeugt:
Man kann Dinge nicht verändern.
Es wäre eine Lüge, würde ich sagen:
Gott kümmert sich!
(„Perspektivwechsel" - Messianische Akrobatik)
Altjahrsabend, 31.12.2019, Stadtkirche, Hebräer 13,8-9b, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2019
Hebräer 13. 8-9b
Liebe Gemeinde!
Als solle der Predigttext vom Silvesterabend des vergangenen Jahres bewiesen werden, hat die Neuordnung unseres Lektionars ihn auch heute wieder auf den Plan gesetzt.
„Jesus Christus – der Selbe“: So sollen wir es wieder meditieren.
Mit den gleichen Worten aus dem Hebräerbrief vor Augen sollen wir nach 365 Tagen die Gedanken vom letzten Altjahrsabend wiederholen. Und wenn wir sie auf ihre Ähnlichkeit, auf ihren Gleichlaut, ihre Identität mit dem Predigtversuch und den persönlichen Betrachtungen vom Ausklang des Jahres 2018 geprüft haben und feststellen, dass alles so blieb wie es war, dann könnten sich die Namensbotschaft – „Jesus Christus“ – und ihre Empfangsbestätigung – „fest im Herzen angekommen“ – verdoppelt als konstant, als beständig, als identisch gezeigt haben.
… Und wir hätten einen Weg – eine gewundene Spirale – gefunden, um uns aus dem eigentlichen Phänomen heraus zu halten, das wir heute abend geistlich und weltlich so deutlich vor Augen gestellt sehen: Das Phänomen der Zeit, des Wandels und des Vergehens.
Wenn wir immer die selben Gedanken und immer die gleichen Worte wiederholen und nie einen anderen Gegenstand und den identischen auch nie in einem anderen Licht betrachten, dann kann ein solches liturgisches Kreisen, dann kann das monotone Winden der Spule unseres Glaubens, dann kann das stete Wickeln des einen biblischen Fadens tatsächlich eine Gegenkraft zum Flug der rasenden Gegenwart darstellen.
… Und auch wenn das in vielen Ohren wie ein Clichée des überholten Christentums, das der Gegenwart nichts zu sagen habe, klingen mag oder wie eine Karikatur wirkt: Ich bin gar nicht so sicher, ob wir uns nicht dennoch genau darin finden und daran halten sollten, dass wir tatsächlich immer nur Einen zu hören und zu verkünden haben und dass wir das immer wieder und weiter so tun müssen, wie andere vor uns es ebenfalls schon taten. Denn diese schmelzende Schwundwelt braucht ja wohl nicht noch mehr Dampferregung durch heiße Luft und Verbrennungsenergie aus überhitzter Instantware, sondern würde den ruhenden Pol und die tiefe Gelassenheit schon erkennen, wenn wir wirklich treu und unabgelenkt nicht das Gehirn durch Kurzfristigkeit noch mehr erweichen, sondern das Herz durch echtes Ewiges stärken wollten.
Von mir aus darf die Liturgie das große Gleichmaß sein, das uns im Gleichgewicht hält, statt in den Schleudergang der piependen Sofortmedien zu beamen.
Von mir aus soll die Verkündigung der Kirche das Bleibende in der flüchtigen „Weder-gestern-noch-morgen-sondern-nur-mal-eben“-Halbherzigkeit unter Unentschlossenen festmachen.
Von mir aus – man ahnt es – darf’s gerne das Immerwährende, das „Wie-es-war-im-Anfang-jetzt-und-immerdar“ sein. Nicht umsonst liebe ich kein Wort der Schrift so sehr wie unser heutiges, das nun einmal im 1.Jahrhundert ebenso Halt und Hoffnung gab, wie es das auch am jüngsten Tag noch tun wird. …….
Aber ein museales Wort, ein Denkmal schöner Gestrigkeit, eine reine Erinnerung oder eine erinnerte Reinheit ist dieses Wort eben nicht, sondern die Quelle und der Speicher, der Ursprung und der Vorrat ewigen Lebens … und wo ewiges Leben ist, das ist auch immerwährender Anfang, dauernde Erneuerung, unverbrüchliche Gottes-Gegenwart.
Der Hebräerbriefsatz von Christus, dem Selben ist in Wirklichkeit also kein konservatives Prinzip – „Alles bleibt gefälligst, wie’s war!“ –, sondern mindestens eine solche Herausforderung wie der kleine Satz in den Medien der Kurzatmigkeit, der über Weihnachten zu einem so lächerlichen Skandälchen aufgebauscht wurde. Dort hatten junge Freitagsprotestierer den Satz, den vor ihnen jede einzige Generation seit den Enkeln Adams und Evas geteilt hätte, verbreitet: „Warum reden uns die Großeltern eigentlich immer noch jedes Jahr rein? Die sind doch eh bald nicht mehr dabei.“
… Diese mehr als schlichte Anwendung von Psalm 90 (12) – „HERR, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ – wird in unseren Tagen zu einer Beleidigung hochstilisiert von einer Menschheit, die allen Ernstes ihre Sterblichkeit vergessen und die Lehre ihres eigenes Alterns und die Demut, die sie vor den Türen weckt, durch die die einen kommen und die anderen gehen werden, als Angriff durch die ungeliebten Nachrücker verstehen will.
Doch was der junge Johann Sebastian Bach in seinem „Actus tragicus“ für alle Zeiten vertont hat, wird heute nicht weniger wahr, nur weil man es als persönliche Beleidigung begreift: „Es ist der alte Bund: Mensch, du mußt sterben!“
Nichts anderes sagt mein Lieblingssatz von Jesus Christus, Der der Selbe bleibt, mir heute abend doch auch: Er ja – Du nicht! Du bleibst nicht … und schon gar nicht der selbe. Deine Zeit und ihre Entwicklungen und Verwicklungen, Deine Zeit, ihre Möglichkeiten, ihr Vertun verringern sich ständig. Ein Silvester wie dieses, mit dem ein Jahrzehntenwechsel verbunden ist, wirst Du, Jonas Marquardt, wenn’s hoch kommt noch allenfalls dreimal erleben. Und wie neben Dir und mit Dir die Welt sich abnutzt und verbraucht wird, wie die Menschheit auf ihrer höchsten Stufe der Sicherheit und der Versorgung plötzlich auf die schrecklichste Entleerung blickt, die sie mitangerichtet hat, weil unersetzliche Güter und Gaben der Schöpfung verschwendet wurden und sich vor unseren Augen immer ungebremster verflüchtigen …, wie also alles geradezu davon schreit, dass wir bald eh nicht mehr dabei sein werden: Das kann man nicht abtun mit so törichtem Piquiertsein über die eigene Endlichkeit und die uns Vorübergehenden gebührende Verantwortung für Spätere und Späteres.
… Wen das stört, der darf nicht Silvester feiern und den Kalender wechseln.
Und er darf erst recht nicht den Hebräerbrief aufschlagen, der von Anfang bis Ende eine Urkunde derer ist, die zugunsten einer ganz anderen Zeit und Wirklichkeit in den Hintergrund der Geschichte traten:
Die ersten jüdischen Christen, die von der Tora und vom Tempel und von der Treue zum Gesetz erfüllt waren und ihr Glaube an den Messias, der aus Davids Haus geboren und in Davids Hauptstadt gekreuzigt wurde, sprechen im Hebräerbrief zu uns. Sie sprechen in ihrer allmählich verschwindenden Sprache, in der der Hohepriester und die heiligen Opfer Israels das Erhabenste und Wirklichste sind, das in Christus sich zeigt. Sie geben ihr Zeugnis weiter in einer Gestalt, die bald keine mehr Zukunft haben sollte unter den getauften Heiden … aber diese Welt im Übergang, diese Welt des Ausklangs und des unbekannten Neuanfangs hat uns das wunderbare Bekenntnis beschert, in das wir heute einstimmen sollen – auch wir wieder an einer Schwelle, hinter der sich die Welt von gestern allmählich zurückzieht und langsam eine Epoche hervordämmert, die wir alle nicht kennen. …….
Jesus bleibt sich als Christus treu gerade in den Verwandlungen der Welt, die Er zu retten kam, sagen uns die christlichen Hebräer, die bald wie Dinosaurier wirken sollten.
„Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“, hatte ja schon der größte unter den Propheten von Ihm gesagt, in einem Wort (Joh3,30), das in Kaiserswerth Weltgeschichte werden sollte.
Und in diesen Stunden eines endenden Jahrzehnts, dessen Terror, Flüchtlingsströme, Umweltunheil und dessen daraus sich speisende anschwellende Neigung zu Lüge, Hass und selbstmörderischer Irrationalität uns alle wie eine bedrohte Art erscheinen lassen, die in Stürme und Fluten, Brände und Finsternis geht wie andere veraltete Gattungen vor ihr, fängt das Wort von Dem, Der Er selber ist und bleiben wird, noch einmal ganz und gar neu zu leuchten an:
Jesus Christus, wie der Hebräerbrief ihn bekennt, ist Gottes Mensch, ist Gott im Menschen – denn dieser frühe Hebräerbrief wagt schon zu sagen, Er sei der Abglanz der Herrlichkeit Gottes und das Ebenbild Seines Wesens (vgl. Heb.1,3) – … Jesus Christus ist also der menschgewordene Gott!
Wenn nun aber Dieser Er Selbst bleibt in allem Wechsel, in allem Schatten und Licht, allem Glanz und aller Not der Zeiten und Äonen, … dann ist das tatsächlich die fundamentalste und existentiellste Hoffnung der Menschheit.
Jesus Christus war nämlich nicht nur gestern Mensch, sondern bleibt es heute und in Ewigkeit! Die Menschheit, die in Ihm ihre eigene Wahrheit erkennen kann, ist an Ihm und mit Ihm also unvergänglich!
Das ist die letzte – uns lange theoretische und plötzlich doch so praktische – Konsequenz des Geheimnisses der zwei Naturen in Jesus Christus, die auf dem Mosaik der Hagia Sophia und den östlichen Ikonen durch die beiden Augen, die beiden Gesichtshälften symbolisiert werden, die nicht zueinander passen wollen: Die eine Seite ist streng – „das grimme Auge“ nennt die Orthodoxie diese Pantokrator-Bilder deshalb – und die andere Seite lächelt menschlich-mild. Deckt man jeweils eine Hälfte dieses Gesichtes ab, wird das vollends deutlich – Majestät und Harmlosigkeit springen so zerteilt dann sofort in’s Auge –, aber es ist eben kein vollständiges Bild Jesu Christi mehr, es ist nicht mehr Seine ganze Wirklichkeit.
… Man kann Jesus, Der ewig ist, Seine Menschheit einfach nicht nehmen!
Er bleibt der Mensch, Der Er ist und war, … der Mensch vor Gott, … der Mensch, in Dem Gott der Menschheit einverleibt und darum grenzenlos verbunden ist!
Und das hat nun tatsächlich weltwendende, das hat endgültig rettende und heilstiftende Konsequenzen: Andere Glieder der Menschheit – beispielsweise wir – können und werden sich immer wieder eine Zeit lang gegen das Veralten und Scheiden wehren, werden es verdrängen oder übelnehmen, … aber einst werden wir gewesen sein, … so wie 2019 in 6 Stunden nie mehr sein, sondern nur noch Vergangenheit bleiben kann.
…Und was wird dann aus unserer Sorge für die Nächsten, aus unserer Hoffnung für die Nachkommen?
Wer von uns wird es überhaupt erleben, was in den beiden nächsten Jahrzehnten, die entscheidend werden dürften, von Menschen für das Menschenleben und das Leben insge-samt geleistet wird?
Was aber kümmert’s uns denn auch, was wird, wenn wir vergehen?
Wen von uns kann es denn schon berühren, ob in achtzig Jahren, wenn ein neues Jahrhundert beginnen soll, noch etwas blieb, wie es einst war? …….
… Wen?
– Ihn! Ihn, Der bei uns und unseren Kindern, unseren Enkeln sein wird bis an der Welt Ende (vgl. Matth.28,20)!
Ihn berührt es!
Er wird auch dann in dieser irdischen Wirklichkeit da- und gegenwärtig sein, wenn wir Heutigen die Zeit längst mit der Ewigkeit vertauschen durften.
Er wird weinen über Jerusalem – die geteilte oder ungeteilte Hauptstadt eines, … zweier Länder – und die dann kleinen Kinder segnen,
Er wird die Säugenden von morgen auf der immer gleichen Flucht beklagen und die nach Gerechtigkeit Dürstenden wird Er zu allen Zeiten seligpreisen,
Er wird auch einst noch die Blumen auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel verständnisvoll betrachten und wird das Unkraut neben dem Weizen wachsen lassen,
Er wird Seine Schafe an ihrer Stimme kennen und Seine Lämmer treulich weiden,
Er wird das Licht des 22.Jahrhunderts und das Heil der fernsten Generationen unseres kleinen Globus sein,
Er wird aber auch jenes Geschlecht am Ende, dem letzte Trübsal bevorsteht, nicht verlassen, und Er wird die Freudenboten, die das Reich und die Kraft und die Herr-lichkeit unseres Gottes und Seines Gesalbten endgültig auf Erden bringen, stärken und festmachen bis Er alles Seinem Vater übergeben kann. —
Dieser Jesus Christus ist die Zukunft der Menschheit und der Erde, weil Er Der bleibt, Der Er war: Gott und Mensch in unauflöslicher, niemals veraltender oder vergehender Einheit … ewig in der Zeit und eben in Seiner zeitlichen Menschlichkeit doch auch endgültig unvergänglich. ——
Und in Ihm, in Dem die Zukunft liegt, so wie alle Dinge mit Ihm begonnen haben, als die Welt durch Ihn geschaffen wurde (vgl. Heb.1,2!), … in Ihm finden wir Christen den Imperativ und die Zusage für das, was wir in der Zeit noch vor uns liegen sehen.
Weil Er Derjenige ist, Der im Anfang war und sein wird immerdar, ist auch von unseren vorübergehenden, irdischen, menschlichen Dingen nichts gleichgültig und nichts bloß zeitlich, sondern die Geschicke dieser Welt und die Geschichte ihrer Menschen sind dauerhafter und integraler Teil des buchstäblichen „Schicksals“ – also: des Auftrags und der Sendung – Jesu Christi.
Was immer wir – wie Zinzendorf es singt – also noch von „Grad zu Grad“, von Stufe zu Stufe, von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt in dieser Welt befördern und entwickeln können, was immer wir einsetzen und wagen, was immer uns noch zu versuchen und zu tun bleibt, nimmt seinerseits Teil an der Gegenwart Dessen, Der aktuell und akut allezeit das Leben der Lebenden teilt und nie mehr sterben wird.
Und Er wird die Fossilien, die derzeit die mächtigsten Männer dieser Welt zu sein glauben, und die Steinzeitfraktionen, die allzu viele Religionen verhärten, als der lebendige und junge Jesus Christus verwandeln und die alte Welt, die doch niemand zementieren kann, erneuern auf Sein Reich hin.
Und darum wollen auch wir in die Zukunft schauen und in ihr unerschrocken handeln:
Was wir tun, tun wir mit Ihm und für Ihn.
Was uns widerfährt, trifft uns bei Ihm und Ihn mit uns.
Wer wir im Leben sind und noch werden, verknüpft uns mit Ihm, Der als unseres-gleichen Er Selber bleibt von Geschlecht zu Geschlecht.
Er, der Anfang – Er, das Nun – Er alles, was uns erwartet.
Dieser Jesus Christus, Der gestern und heute und Der Selbe auch in Ewigkeit ist, ist wahrhaftig also die Überraschung und Verheißung unseres Lebens … wie Er auch dessen Dauer und Vollendung ist.
Und das wird nie alt, das bleibt unerhört.
Wie gut darum, ein neues Jahr mit Ihm anzufangen, … ein gutes neues Jahr, … ein Jahr nach Seiner Zeitrechnung: 366 Tage mit Ihm geteilten Lebens, … jenes Lebens, das ewig bleibt!
Amen.
2.Christtag, Stadtkirche, Matthäus 1, 18 - 25, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Christfest 2019
Matthäus 1,18 – 25
Liebe Gemeinde!
Es gibt in der jüdischen Welt einen Wunsch, der eigentlich unübersetzbar und unnachvollziehbar bleibt, wenn man nicht wenigstens ein paar tausend Jahre jüdischer Geschichte im Gepäck hat.
Bei jeder Hochzeit wird den Frischvermählten dieser Wunsch zugeprostet und frischgebackene Eltern hören ihn aus aller Mund: Er lautet im Jiddisch-Englischen, das meine Schulzeit begleitete: „Mazzel tov! May you live to shep naches from your children!“ – „Glückwunsch! Möget Ihr lang genug leben, um »Naches« von euren Kindern zu schöpfen!“
… Nur: Was ist „Naches“?
Das hebräische Wort dahinter – „Nachat“ – bedeutet Seelenruhe, inneren Frieden, innere Zufriedenheit. … Aber „Naches“ von den Kindern zu haben, ist eine völlig andere Art des Glücks als alles, was uns sonst befriedigt. Mit dem guten Gefühl eines konkreten Erfolges, eines verwirklichten Traumes, einer verbrieften Sicherheit ist „Naches“ nicht zu vergleichen.
… Also, was meint es denn dann? Erklär’s mir.
– Nu, sieh’ es doch so: „Naches“ von den Kindern hast Du, wenn es gut mit ihnen läuft, … wenn sie gut werden, … wenn mit ihnen Gutes geschieht.
– Wenn sie gute Schüler sind?
– Bitte …
– Wenn Sie promovieren?
– Ähhhh.
– Wenn Sie die Relativitätstheorie entdecken?
– Ach.
– Wenn Sie endlich auf der Liste für den Nobelpreis stehen?
– Mit Peter Handke? Für was?
– Ja, aber wann hast Du denn dann „Naches“?
– Gut, ich sag’s Dir: Wenn sie heiraten! „Naches“ von den Kindern schep’ ich, wenn sie heiraten.
– So?! Und was ist das dann, wie zeigt sich das? Was sagst Du ihnen dann?
– Dann sag ich ihnen, dass ich hoffe, sie werden leben bis sie „Naches“ von ihren Kindern scheppen. ——
Das also ist Naches: Dass es weiter und weiter geht; dass der Faden nicht reißt; dass die Generationen nicht abbrechen; dass der Segen nicht im Sand verläuft; dass die Verheissung nicht umsonst war, die Hoffnung nicht trog, das Erwartete nicht ausbleibt, dass das Kommende nicht nicht kommt und dass es auch mit den nächsten, den Nachkommen, dass es auch in Zukunft weiter geht mit dem Leben. ———
Mit einer solchen Kette der „Naches“-Erfahrungen geht nun aber das Neue Testament los.
Wer es aufschlägt – beispielweise an Weihnachten, weil er wissen will, wie das, was die Christen feiern, begonnen hat –, stößt auf eine unvergleichlich jüdische Konstruktion: Von Abraham, dem Erzvater angefangen reihen sich da vierzehn und weitere vierzehn und noch mal vierzehn Glieder einer ununterbrochenen Linie aneinander in einer Chronik, die aus einem einzigen Thema zu bestehen scheint: Der Fortpflanzung. Einen Außenseiter – zumal wenn er nicht-jüdisch ist und keinen Sinn für Geschichte hat – muss diese ausschließlich auf die Zeugung konzentrierte Sicht auf zahllose Menschenleben befremdlich berühren, … noch dazu, wenn er eine heilige Botschaft, eine Quelle der Offenbarung und Theologie erwartete. Statt geistlicher Inhalte eröffnet das Evangelium ihm nur den Blick auf höchst weltliche, natürliche Vorgänge: Ein Name, eine Kopulation, eine Geburt; ein Name, eine Kopulation, eine Geburt usw., usw.
… Und das soll die größte Religion aller Zeiten ausgelöst haben? So fängt die stärkste Erneuerungsbewegung der Weltgeschichte, … so fängt unter der Überschrift „Dies ist das Buch von der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“ die Kunde vom kommenden Reich Gottes an: „Abraham zeugte Isaak, Isaak zeugte Jakob, Jakob zeugte Juda und seine Brüder“ (Matth1,2)???
Für den zartbesaiteten, vergeistigten Sinnsucher, der Spiritualität als eine psychologische oder ideelle Dimension erwartet, ist der biologische Schock dieses Evangelienanfangs radikal. Für jeden Juden dagegen ist es eine Fundgrube von „Naches“: Ob sie ziellos wanderten oder brutal versklavt wurden, ob sie überraschende Blütezeiten, zähe Epochen der Dekadenz und des Verfalls durchlitten, ob sie den Nullpunkt der nationalen Aus-löschung oder die bleierne Zeit des Exils ertragen mussten, ob sie staubige Durststrecken überwanden oder die beim Channukah-Fest gefeierte Zeit des bescheidenen Wiederaufstiegs im Frieden des griechisch-römischen Schattens erlebten: Die vorigen Geschlechter haben keinen so nachhaltigen, keinen so schöpferischen und perspektivischen Segen erfahren wie die staunenswerte Tatsache, dass immer wieder – Pharao und Nebukadnezar und Haman und Alexander und Cäsar zum Trotz – Kinder gezeugt und geboren wurden und die Geschichte Gottes mitten in Irrtum und Gewalt der Welt weiterging.
Mit solchen Ohren gehört, mit solchen Augen betrachtet sind die Geschlechtsregister der Bibel lauter praktische Gottesbeweise von Abraham bis jenseits von Auschwitz: Nichts ist stärker als das, was allein durch „Abraham zeugte“, „Isaak zeugte“, „Jakob zeugte“ weitergeht! ———
… Womit wir beim armen Joseph wären: Nicht dem Jakobssohn mit dem schönen Mantel und der ägyptischen Gruben- und Auferstehungserfahrung, durch die der Same Abrahams überhaupt nur für die Zukunft der Verheißungen Gottes gerettet wurde. Heute sind wir beim anderen Joseph, dessen Vater im Stammbaum bei Matthäus tatsächlich auch Jakob heißt. Aber ob dieser Joseph ein Liebling seines Vaters war oder ein Liebling der Frauen, wie der Vorgänger gleichen Namens, wissen wir nicht.
Nichts wissen wir von ihm, außer dass bei ihm – nach etwa zwölfhundert Jahren – die Kette von „Naches“, von Glück und Zuversicht im Blick auf das Wunder der nächsten Generation der Segensträger reißt.
Die lange, stolze, dankbare Geschichte des Glaubens daran, dass es weitergeht und dass man als Sohn Abrahams selber auch zum Vater eines verheißenen Nachkommen werden darf, sie bricht bei Joseph ab, … kurz vor der Erfüllung: Der Verlobungsvertrag ist unterzeichnet, das durchaus sakramentale Verständnis der Ehe, in der sich die Bundestreue Gottes gegenüber Israel in jedem Brautpaar konkret verkörpert und in ihrer Sexualität zu greifbarem Segen und Fortsetzung der Verheißung führt, … dieses einzigartige, heilig-nüchterne Gefühl, das eine jüdische Hochzeit buchstäblich zum Gipfel jeder Biographie macht, hat Besitz von Joseph ergriffen. Der Zimmermann von Nazareth wird mit der Holdseligen nicht nur ein Haus gründen, sondern er wird bauen dürfen an jenem Gerüst aus Zeugungen, das die Welt beim Gründen und Errichten des Reiches Gottes zusammen- und stabil hält.
… Wie herrlich muss es gewesen sein, Joseph zu sein.
Noch ein paar Wochen, und sie werden ihm unter dem Baldachin der Hochzeiter „Naches“ wünschen und er wird für immer mit ihr, die schön ist wie die Rose von Saron und die Lilie des Feldes, die Wiesenblumen am Ufer des Genezareth ein Teil jenes Mysterium werden, dass Israel heißt, im dem nicht das heidnische Werden und Vergehen, sondern das ewige Zeugen und Gebären und Leben durch Gottes Segen sich vollzieht.
… Wie herrlich muss es gewesen sein, Joseph zu sein! ……. ———
Wie vernichtend.
… Kein „Naches“!
… Leben und Segen – aber nicht durch ihn!
… Fortgang der Heilsgeschichte, doch ohne dass sein Name im grünenden, sprossenden Buch des Lebens steht, wie es die Stammbäume Israels verkörpern.
Joseph, durch den die Geschichte nicht mehr ihren Verlauf nahm, weil sie bei ihm in eine Sackgasse geführt hatte.
Joseph, der vertrocknete Ast.
Joseph, einer von denen, die sie in Israel „die Verschnittenen“ nennen, die Eunuchen, … deren trostloses Verkümmern und Verblassen und Verschwinden aus den Chroniken, die doch voll Zukunft sind, nur durch den Propheten Jesaja aufgehalten wird, der in Gottes Auftrag verspricht, dass auch die Ausradierten, auf die niemand folgt, im Hause Gottes und in seinen Mauern ein Denkmal und einen Namen erhalten werden (vgl. Jes.56,5); … und wenn wir diesen letzte Trost, den Joseph womöglich hätte ahnen konnte, auf Hebräisch hören, … erst dann wissen wir, wie schlimm es um ihn stand: „Yad va-Shem“ verheißt Gott auf Hebräisch denen, die keine Nachkommen mehr haben werden. …….
„Yad va-Shem“ statt „Naches“. ——
Das ist die Situation, mit der das Neue Testament anfängt, die Situation, in der es zum ersten Mal Weihnachten wird.
Natürlich nur, wenn wir es überhaupt aushalten, das Neue Testament sprechen und es darin tatsächlich Weihnachten werden zu lassen.
Wenn die entscheidende Voraussetzung, die das Neue Testament über Jesus von Nazareth macht, uns als zu unwahrscheinlich erscheint, weil wir keinerlei Erfahrungsansatz dafür haben, … wenn wir also die Voraussetzung ablehnen, dass Jesus der Sohn Gottes ist, dann gibt es nichts, das an Joseph zu meditieren wäre.
Dann wäre der Beginn des Matthäusevangeliums entweder die Geschichte eines Eifersüchtigen, der sich halt doch nicht traute, das untreue Mädchen sitzen zu lassen, oder es wäre die Geschichte eines jungen Mannes, der nicht bis zur Hochzeit warten mochte.
Es wäre jedenfalls eine Geschichte ohne neue Botschaft. … Wie wir ja ohnehin ohne jegliche Erneuerung und Erweiterung unseres Geistes und unserer Gedanken und damit unseres Horizontes und unserer Wirklichkeit existieren müssten, wenn wir nur Dinge wahr- und ernstnähmen, für die es in unserer eigenen Erfahrung einen Ansatz gibt.
Die neue Geschichte des Joseph, für die wir keinen Vergleichswert in unserem Alltag und doch unfassbar viel Vergleichbares finden, ist die Geschichte einer Lebensenttäuschung, aus der trotzdem nicht nur für einen, sondern für uns alle Segen geworden ist. Zunächst muss man den Zweifel Josephs an der Jungfrau und seine Verzweiflung über Gott aber als das nehmen, was sie sind: Nicht nur menschliche Beziehungs-, Zweifels- und Konkurrenzgeschichten – als wären solche nicht oft schon existentiell tragisch und zerstörerisch genug! –, sondern eben wirkliche, furchtbare, hiob’sche Gottesgeschichten, … Erfahrungen, in denen Gott schmerzt und prüft!
…Dass Liebe enttäuscht werden kann und Vertrauen verraten, dass Hoffnungen sich zerschlagen, Träume platzen, dass Pläne schief gehen und das Leben dennoch weiter: Das kennen wir.
Bei Joseph aber ist es nicht nur die dumpfe Ahnung, der nagende Zweifel, die trotzige Wut, die das alles irgendwie auf Gott zurückführen, sondern Gott selber ist es, Der dem Joseph bestätigt: „ICH habe dich aus der uralten, bisherigen Ordnung genommen; ICH habe die Rechnung durchgestrichen, in der du Mich als Wirt stehen hattest, Der dir Hoffnung und Segen einschenken sollte, wie sie seit Abraham allen Vätern zuteilwurden. ICH habe dir die Prüfung auferlegt, aus einer langen Reihe tanzen zu müssen und alleine da zu stehen. So wie die Mutter meines Kindes ohne menschlichen Vater dazu bleiben sollte, so sollst Du – Sohn so vieler Väter – nach menschlicher Weise kein Kind haben … und doch Meinen Sohn benennen und erziehen. ICH bin es, Der dir das zumutet. – Warum? Weil die Welt, in der du lebst und das Leben, von dem du träumst, nicht so heil sind, wie es scheinen mag. Weil mitten in deinem Volk – Meinem Volk Israel! – und auch überall sonst neben den vielen Ketten und Linien des Segens, neben den vielen Verbindungen, die zwischen Mir und den Menschen, zwischen der Herkunft und der Zukunft des Lebens bestehen, so viele Brüche, Einbrüche und Abbrüche, so viele Gefährdungen, so viel Verdunkelung, so viel Zerstörung eintritt. Und irgendwo muss deshalb ICH dazwischentreten, muss eintreten in die Geschichte, in der Segen und Unheil, in der Verheißung und Gericht weiter und weiter wachsen. ICH muss mitten dorthinein … zwischen „Naches“ und „Yad va-Shem“, zwischen Himmel und Hölle des Menschseins. Und dich, Joseph, habe ICH gerufen, Mir Platz zu machen. Damit ICH der »Immanuel« werden kann.
Und so wirst Du kein Kind haben, das dich Vater nennt, sondern du sollst »Jesus«“ – also »Hilfe« – zu einem Kind sagen lernen!“ ———
Wie schwer muss es gewesen sein, Joseph zu sein!
… Wie herrlich aber auch: Den eigenen Platz Diesem zu lassen, Der dadurch die Hilfe der Welt, die Vergebung der Sünden, den Immanuel bringen würde!
– Joseph, was für „Naches“ hast Du wohl geschöpft aus dem Kind, das du benennen und be-gleiten, dass du beschützen und bewahren durftest!
Denn das ist doch eigentlich und im wahrsten Sinne „Naches“: Dass es weitergeht … viel weiter, als ein einzelnes Leben, eine einzelne Lebensgeschichte je reichen könnte.
Eine moderne Erläuterung des Hebräischen-Jiddischen Wunsches nach „Naches“ definiert dieses unübersetzbare Gefühl denn auch besonders gelungen als „Second-hand Freude“[i], als ein Glücklichsein also, das über das eigene persönlich zugehörige Können und das Selbst-Erreichte weit hinausreicht und den Segen, den man selber überhaupt erfahren kann, vertieft, ihn erweitert, … ja, in’s Unermessliche vergrößert dadurch, dass auch jener Segen, der für andere und durch andere kommen wird, dazuzählt.
Und eine andere heutige Beschreibung von Naches im amerikanisch-jiddischen Sprachraum klingt, als habe sie – obwohl das keineswegs der Fall sein kann – schlicht Josephs Aufgabe an Jesus klären wollen: „Naches is ……. the achievement of bringing up a mensch“[ii].
Dieses Glück, dass Joseph für uns alle einen Menschen – Den Menschen! – gepflegt, geliebt und erzogen hat, ist die dauerhafteste, weitreichendste „Second-hand-Freude“ der Welt: Es ist die Freude, die wir heute spüren, die wir feiern.
Es ist die Weihnachtsfreude!
Und darum – Du gestattest, Maria, Holdselige – … darum werden Dich, Joseph, seligpreisen alle Kindeskinder!
Amen.
[i] „Naches, from Hebrew נחת (naḥath) meaning contentment, usually refers to second-hand joy at see one's children or grandchildren succeed. It can also be used to describe the joy of helping someone else.“ (http://www.yiddishslangdictionary.com/word/331/naches
[ii] „Naches is more properly applied not to some fleeting public feat but to the achievement of bringing up a mensch.“ (https://www.thejc.com/judaism/jewish-words/naches-1.8111)
1.Christtag 2019, Stadtkirche, Titus 3, 4 - 7, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Christfest 2019
Titus 3, 4-7
Liebe Gemeinde!
Wie kommt ein Tauftext auf die Weihnachtskanzel?, so muss fragen, wer auch nur ein wenig weiß über das Verständnis und die Praxis der Aufnahme in den Bund Gottes mit denen, die Jesus Christus nachfolgen. Das Zeichen der Taufe, das die Zeitgenossen des Täufers als Vertiefung der rituellen Waschungen übten, wie die Torah sie kennt, um ihre Bereitschaft zu bezeugen, radikal zu Gott umzukehren, … dieses Reinigungsbad im Jordan war durch die Passion und Auferweckung Jesu ja zu etwas wiederum neu Entfaltetem geworden.
Nach dem Wunder des dritten Tages zeigte sich im Untertauchen und Emporgerissen werden der Taufhandlung ja, dass sie tatsächlich am Täufling genau besiegelte und in Kraft setzte, was Christus widerfahren war, mit dem die Getauften unlösliche Gemeinschaft empfangen: Untergang und Neuanfang, Sterben und Rettung aus dem Tod.
Und so spricht das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung auch heute noch die Sprache von Ostern und ist auch heute noch als Sakrament am vielsagendsten, wenn wir es in der Osternacht und unter dem Halleluja der Auferstehungsbotschaft feiern.
Warum ist dann aber der Tauftext aus dem Titusbrief seit vielen Jahrhunderten die Epistel des 1.Weihnachtstages, über die Luther vor einem halben Jahrtausend in der Früh-Christmeß ebenso predigte, wie es weltweit heute in allen katholischen Kirchen der Fall sein wird? —
Man könnte versucht sein, an die berühmteste Weihnachtstaufe der Welt- und Kirchengeschichte zu denken, die immerhin in unserer Nachbarschaft einen Gedächtnisort hat: Die Wittlaerer Kirche St.Remigius erinnert mit ihrem Patron an das Weihnachtsfest irgendwann zwischen 497 und 507, bei dem der Bischof Remigius von Reims den König der Westfranken, Chlodwig taufte.
Chlodwig, der den christlichen Glauben seiner Frau als Schwäche empfand, hatte die in Antike und Völkerwanderung übliche martialische Kraftprobe abgewartet: Wenn ein Gelübde, das dem christlichen Gott gemacht wurde, zum militärischen Sieg verhalf – und das tat es in Chlodwigs Ringen mit den Alamannen in der Schlacht von Zülpich –, dann konnte man offenkundig auch als König die Nachfolge des Gekreuzigten erwägen.
So aberwitzige diese Idee auch ist: Dass Chlodwig sich mitten in einer Zeit, in der die ihn umgebenden Stämme wenn überhaupt, dann die sog. arianische Verzerrung des Christentums übernahmen, in der eine Selbsterniedrigung Gottes durch echte Menschwerdung nicht denkbar schien, … dass Chlodwig sich also zur römischen Gestalt des Christentums und derem Beharren auf den beiden Naturen Christi – wahrer Gott und wahrer Mensch in einer Person! – bekannte, wurde durch die Weihnachtstaufe besonders deutlich. Dass das westliche Frankenreich seitdem als die „älteste Tochter der römischen Kirche“ gilt und dass in Westeuropa nicht die bequeme Abspaltung Christi von Gott, wie die Arianer sie lehrten, sondern die dynamische und anstrengende Denkübung lebendig blieb, Allmacht und Ohnmacht, Ewigkeit und Geburt, Schöpfer und Geschöpf, den stellvertretend Gekreuzigten und den Sieger über den Tod nicht auseinander-, sondern zusammenzuhalten, war eine wichtige Folge dieses ersten großen Missionsereignisses in Europa.
Dass wir hier – auch nach dem Ende der großen christlichen Epoche Europas – überhaupt Weihnachten feiern, ist nicht erklärlich ohne die Taufe eines barbarischen Kriegskönigs, der damals die Geburt eines Kindes beging, dessen Liebe und Leid sich stärker als alle fränkischen Waffen und allamanischen Rüstungen erweisen sollten. ——
Den kleinen Briefabschnitt aus dem Titusbrief hat der geschichtliche Wendepunkt der merowingische Königstaufe am 25.Dezember aber doch nicht auf unsere Kanzeln gebracht.
Vielmehr sind es genau zwei Wort, die hier das Weihnachtsevangelium verdichten wie in einem Diamanten. Es sind die Worte, die schon vor Jahrhunderten bei der Auswahl der Epistel für das Fest der Geburt des Herrn genauso wenig zu übergehen waren, wie heute … wobei sie – ehrlichgesagt – zum Mittelalter noch klarer und unmissverständlicher sprachen.
„Freundlichkeit“ und „Menschenliebe“ heißen die beiden Weihnachtsvokabeln bei Luther, und dass sie einen wundervollen Klang haben, in dem das Wichtigste von Gott zu spüren ist, kann niemand leugnen: Der HERR ist – so sagt es ja der endlose Cantus firmus der Gebete Israels – „freundlich und Seine Güte währet ewiglich“ (vgl. z.B. Ps.106 / 107 / 136 u.v.a.m.), denn so hat Er sich dem Mose offenbart: „Barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue …“ (vgl. 2.Mose 34,6).
Diese Neigung Gottes zum Menschen, zu Israel, dem erwählten Volk und zu allen, die den Namen des HERRN anrufen – und seien es die hundertundzwanzigtausend Idioten von Ninive – … diese Neigung Gottes zum Menschen ist Seine eigentliche DNA. Sie hat Ihn überhaupt zum Schöpfer werden lassen, Der den Menschen machte, den Er nicht gebraucht hätte. Die Freundlichkeit und Menschenliebe in Seiner ureigensten Substanz hat Gott alle Rückschläge, alles, womit Sein geliebter Mensch zurückschlug gegen die ursprüngliche Liebe aushalten lassen und Ihn wieder und wieder dazu gebracht, Seinem weichen Herzen nachzugeben, von dem Er durch die Propheten Jeremia (31,20) und Hosea (11,8) spricht. Seine unüberwindliche Freundlichkeit und Menschenliebe hat Gott immer wieder Zugeständnisse und Neuanfänge, Großzügigkeit und Nachsicht, vermeintliche … tatsächliche Inkonsequenz und Autoritätsverlust eingetragen … so sehr, dass patriarchale Machtmenschen wie ein Chlodwig diesem Gott der Weichheit und Milde misstrauten. … Aber was kann Er gegen Seine Natur, in die nun einmal Freundlichkeit und Menschenliebe eingeschrieben sind, wie die chemischen Sequenzen, die unsere Veranlagungen ausmachen?
Gott kann nicht aus Seinem Wesen!
… Bei Hosea hören wir Ihn sogar beinah neidisch auf den Menschen weisen, der so viel härter, so viel unzugänglicher und selbstbezogener sein kann, als der barmherzige und gnädige Gott. Gerade am heutigen Weihnachtstag hält man förmlich ganz scharf und ganz schockiert die Luft an, wenn der mitleidige HERR durch Hosea (11,9) sagt: „Ich will nicht tun nach meinem grimmigen Zorn, … denn ich bin Gott und nicht ein Mensch und bin der Heilige unter dir und will nicht kommen, zu verheeren“!?!
Wäre es demnach tatsächlich so furchtbar, wenn Gott Sein Wesen vermenschlichte? Sind wir so furchtbar, dass ein menschlicher Gott für andere Menschen eine Katastrophe wäre, wie es in diesem frustrierten Augenblick bei Hosea den Anschein hat? …….
Der Stachel sollte sitzen! Menschen in ihrer Unzuverlässigkeit, in ihrer Blindheit, ihrem Egoismus, Menschen in ihrer Gewissenlosigkeit und ihrem rücksichtslosen Götzendienst am eigenen Interesse sind tatsächlich weder Hilfe noch Heil. Die Welt der Menschen wäre rettungslos, wenn sie keinen Retter in ihrem göttlichen Liebhaber gefunden hätte. Menschen sind … unmenschlich.
Das ist die seltsame Erkenntnis, die nicht nur uns in unseren Tagen der nackten, programmatischen Engherzigkeit und Ichsucht auf der global politischen Menschheitsbühne ankommt, wenn uns die Menschenliebe in ihrer göttlichen Urform begegnet.
Schon Luther verfiel in seiner herrlichen, herzwärmenden Weihnachtspredigt zu Titus 3 in der Kirchenpostille auf die eigentlich beschämende Assoziation, dass er das Wort von der Menschenliebe, das ihn spürbar ergriff und erfüllte, durch eine unwahrscheinliche Erläuterung aus der griechischen Naturphilosophie illustrierte: „Also nennen die natürlichen Meister etliche Tiere »Menschenlieber« oder leutselig, als da sind die Hund, Pferd, Delphin. Denn dieselben Tiere haben natürliche Lust und Lieb zu den Menschen, tun sich auch zu ihnen und dienen ihnen gern, als hätten sie Vernunft und Verstand gegenüber dem Menschen.“[i]
Sollte man also wirklich eher bei den Kötern, Gäulen und Tümmlern als bei den Zweibeinern die anschaulichste Erklärung der Menschenliebe finden?
……. Gehen wir auf die griechischen Inseln, gehen wir in die Umerziehungslager in China, gehen wir in die nordkoreanische Hölle, in das Chaos von Haiti, in die Mördergruben des Terrors, in die korrupte Tristesse Venezuelas, in das geistige Vakuum des Weißen Hauses, in den Glutofen Australiens, in die zynische Gesellschaft der russischen, türkischen, syrischen Mächtigen, … gehen wir mit allen diesen Brennpunkten der allgemeinen Menschenfeindlichkeit der Menschheit vor Augen in unser eigenes träges, abwehrendes, dickfelliges, fühlloses Herz … und wir könnten tatsächlich auf unsere treuen Tiere verfallen, wenn wir echte Menschenfreundlichkeit suchten.
Oder wir wagen es, doch nach Bethlehem zu blicken.
Dort findet sich in seiner denkbar kleinsten, unscheinbarsten Gestalt das, was wir überall auf Erden vergeblich suchten könnten.
Dort findet sich Der, durch Dessen Dasein Menschlichkeit und Freundlichkeit eine Renaissance, ein Wiederaufleben erfahren, wann immer ein Mensch in dieses neugeborene und Neugeburt schenkende Wunder der unaustilgbaren Menschenliebe Gottes eintaucht. Wer sich auf diese Geburt von damals wieder einlässt, wer erfasst, welche DNA der Gnade und Barmherzigkeit sich da dem menschlichen Erbe von Adam her verbunden hat, wer sich dazu hinkniet, es sich über Haupt und Herz und Hände fließen lässt, wie dort das Beste Gottes zum Besten der Menschheit in unsere Gefäße, in unser Fleisch und Blut eingeflossen ist und wie das Beste Gottes von dort weiterströmt und uns alle – unverdient – mit dieser neuen Wirklichkeit tränkt und transformiert, … wer sich darauf taufen lässt, der wird tatsächlich durch den Heiligen Geist erneuert und wiedergeboren.
Denn das ist das Werk des Geistes – Der uns oft so abstrakt, manchmal beinah wesenlos zwischen den Personen des Vaters und des Sohnes zu verschwinden scheint, obwohl Er doch Ihre Einheit ist:
Der Geist ist es, Der die Beziehung trägt, die in Gottes Menschenfreundlichkeit so folgenreich wirkt.
Der Geist Gottes ist es, Der das Wunder in Gott vollbringt, dass Gottes Wesen und die menschliche Natur des Sohnes der Maria sich in einer geeinten, gemeinsamen Wirklichkeit verbinden.
Und der Geist Gottes ist es darum auch, Der diese neue Wirklichkeit in einem Menschen schaffen kann, der sich der Liebe zu und der Gemeinschaft mit dem Gott überlässt, Der Ihm in Jesus Christus begegnet.
Das ist in etwa die Lehre der allgemein anerkannten Trinitäts- und christologischen Dogmen, die Chlodwig, der Frankenkönig bei seiner weihnachtlichen Taufe an der Wende zum 6.Jahrhundert übernahm: Eine Lehre, in der die absolute Unterordnung und Fremdheit des Menschen vor und gegen Gott, wie die arianische Sekte sie lehrte – und wie die streng hierarchischen, patriarchalen Kriegerstämme der Goten, der Burgunden und Alamannen sie in ihr Menschen- und Gesellschaftsbild viel besser integrieren konnten – , nicht vertreten wurde. … Eine Lehre – so muss man im Blick auf das, was allzu oft nur als die Orthodoxie der kaiserlichen Religionspolitik Konstantins verleumdet wird, betonen –, die gerade auch in Gott auf Gemeinschaft statt Vorherrschaft, auf wechselseitige Liebe statt auf einseitigen Gehorsam beharrte.
Eine Lehre, die den Wortlaut von Titus 3, 4 in der damaligen Form ernstnahm und Ernst damit machte.
… Das war vorhin ja schon angeklungen, dass die Epistel dieses Morgens gerade im abendländischen Frühmittelalter sprachlich noch eindringlicher war als der griechische Urtext uns vermuten lassen könnte, der in unseren Ohren beinah bieder klingen könnte. … Das Wort, das der Apostel zur Beschreibung des Liebesgeheimnisses in Gott nutzt, heißt auf Griechisch natürlich „Philanthropie“ und erinnert uns vielleicht allzu schnell an gute Werke – die doch gerade keine Rolle spielen sollen! … „Philanthropen“, das sind Hamburger Pfeffersäcke, die an der Alster ein Paar Bänke stiften, das sind Wohltäter, die ihren unmoralischen Gewinn kompensieren oder ihr zwackendes Gewissen salvieren, indem sie auch für gefallene Mädchen oder für „die Kultur“ oder zur Not für die Ausrottung der Polio oder die Verbreitung des Elektroautos Teile ihres Vermögens einsetzen.
Alles schön und gut. Und nötig in Zeiten, in denen Ehrenamt und Allgemeinwohl zu lästigen Störfaktoren bei den eigentlichen Prioritäten herabsinken.
Doch solche Formen von wohltätiger Ersatzhandlung oder Herablassung auf die Ebene der unbedarften und benachteiligten Menschenmassen sind mit der Philanthropie Gottes gewiss nicht gemeint.
Viel dramatischer, konsequenter und revolutionärer ist nämlich in der Tat nicht der griechische Urtext, sondern seine lateinische Übersetzung.
Dort steht tatsächlich – skandalös und rettend von den Tagen des Paulus über die Tage Chlodwigs bis in unsere immer noch und immer weiter unmenschlichen Tage – nicht mehr und nicht weniger, als dass die „humanitas“ Gottes erschienen sei, … Gottes Humanität also unwiderruflich offenbar geworden ist.
……. Darum liegt dieser Briefabschnitt also heute vor uns!
… Weil nach der Schrecksekunde bei Hosea, als die Option für die Menschlichkeit Gott zu unmenschlich schien, die Menschenliebe doch gesiegt hat!
Er ist doch wirklich Mensch geworden und hat die wahre Humanität mit Sich auf die Welt gebracht und Er will uns alle vermenschen, wenn wir in der Taufe Seinen Geist der Freundlichkeit das Werk der Humanisierung wirken lassen.
Ob wir dahin aber als Krieger oder König oder Sünder oder Philanthrop, ob wir als Spötter, ob wir als Zweifler, als Kapitalist oder Nationalist oder Ninivit kommen …, die Taufe auf die Weihnachtswahrheit wird uns zu Menschen machen.
Denn die Freundlichkeit und humanitas Gottes ist erschienen und sie macht die Welt neu in der Hoffnung auf ewiges Leben!
Amen.
[i] Martin Luther, Epistel in der Früh-Christmeß, W.A. 10 I, 1, S. 98, zitiert nach: Martin Luther, Ausgewählte Werke [Münchner Ausgabe], Ergänzungsreihe 5.Bd, München 1960, S. 114.
Christmette 2019, Stadtkirche, "All bells in paradise" (John Rutter), Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christmette 2019
„All bells in Paradise“ (John .Rutter)
Liebe Gemeinde!
Glockenklang ist der Puls der Kirche und der Christenheit: Und da die Herzen höher schlagen und uns große Freude verkündigt wird in dieser Nacht, ist es nur natürlich, dass kein Geräusch so intensiv mit dem Heiligen Abend und den Stunden des Weihnachtsmorgens verbunden ist, wie die metallene Stimme der Glocken und Glöckchen, die von allen Türmen in die Winternacht den Jubel der Erlösung rufen, die hinter den Türen der guten Stuben das lang ersehnte Signal zur Bescherung klingeln und deren Nachhall in Schmuck und Kitsch und tausend Liedern es bestätigt, dass heute etwas Weltbewegendes, Feierliches und gleichzeitig Einladendes und Helles und Süßes in aller Welt zu vermelden ist.
… Weihnachten: Das ist das schönste Wort der Glockensprache und Geläute ist die beste Übersetzung des Gloria von Bethlehem, des Hirtenlobes, des Kindelwiegens und der anbetenden Ehrfurcht vorm Mysterium des Immanuel … Gott selbst in unserer Mitte.
Weihnachtsglocken sind das Evangelium von den Dächern (vgl. Matth.10,27), denn ihr Schall geht aus in alle Lande und ihr Reden bis an die Enden der Welt (vgl.Ps.19,5).
… Was also könnte wohl schöner und stimmiger sein, als diese Harmonie aus Erz und Herzblut, die seit unvordenklichen Jahren den Ton unseres Festes bestimmt und unglaubliche Stimmungswerte und Erinnerungskristallisationen in sich schließt und in den allermeisten europäischen Gemütern eine Schwingung auslöst, die einzigartig ist: „Ding-dong, merrily on high: Kling Glöckchen, klingelingeling, … and all the bells on earth shall ring / on Christmas day in the morning!“
……. Dabei ist der Klang, den Bruder Jakob nicht verschlafen und ein Christenmensch nicht ohne Rührung hören kann … chinesisch!
… Nicht aus der Welt der Bibel und nicht von den Chören der himmlischen Heerscharen stammt nämlich der in unseren Ohren so heilsschwangere Klang der Kirchenglocken, sondern in jedem Campanile und von jeder Kathedrale tönt die Erfindung des mythischen Gelben Kaisers, der im 3.Jahrtausend vor Christus mit 12 Glocken die natürliche Tonleiter nachgebildet und damit die erste Verquickung von kosmischer Ordnung und Kunst geschaffen haben soll.
Von diesen vorzeitlichen Anfängen im Reich der Mitte drang der kultische Gebrauch der klingenden Körper auf den Wegen des Buddhismus durch Ostasien und brachte die vielerlei gegossenen Schlaginstrumente hervor, die der Meditation und dem Gebet als Klangschale, Gong, Schelle und Glockenspiel auch heute noch in typisch fernöstlicher Manier durch physikalische Wellen eine ins Nichts mündende Schwebebewegung unterlegen.
Auf der Seidenstraße und den Wanderwegen der Erleuchteten, auf Kriegs- und Beutezügen der asiatischen Kulturen verbreitete sich das uns so essentiell kirchlich scheinende Schlagwerk, bis es die Steppen am Saum des fruchtbaren Halbmondes und damit die Tore der biblischen Welt erreichte. Dort, bei den Reitervölkern der iranischen Hochebene und bei den Ägyptern aber wurde es vor allem zur furchterregenden und alarmverbreitenden Begleitmusik der kavalleristischen Horden, die ihre Schlachtrösser mit schrill gellenden Glöckchen am Sattelzeug zäumten[i]. Wo immer es klingelte, da verbreiteten sich in biblischen Tagen Überfall und Schrecken. … Anders als warnend war das Gebimmel heransprengender Heere in Israel also nicht zu hören.
Ein unserem vergleichbares, spirituelles oder nostalgisches Verhältnis zum Läuten von Glocken konnte man sich in biblischer Zeit daher kaum denken.
Und so kommt es, dass das, was für uns die Titelmusik der Heilsgeschichte und der Ur-ton der gottesdienstlichen Versammlung ist, in der Bibel beinah ausschließlich als fremdes, ja, verstörendes Geräusch begegnet.
Während viele Kulte bereits um Christi Geburt die eindringliche Musik der ehernen Schall-kelche als heilige Klänge vernahmen, stießen sie Paulus als sinnfreies Geklapper ab: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle“ (1.Kor13,1). … Take that, Schiller[ii]!
Für die Generation des Neuen Testaments war es also tatsächlich eine gänzlich suspekte Geräuschkulisse leerer Klöppelei, was uns als Weihnachtsklang schlechthin vorschwebt.
Wer aber hat denn nun Recht, und was ist geschehen, dass aus dem, was die Apostel kaum kannten und nicht mochten, etwas so anders besetztes wurde?
Zunächst: Die biblischen Zeugen hatten natürlich Recht mit ihrer kritischen Distanz zu den Klingeltönen der Heiden.
Technische Schlaginstrumente sind im musikgeschichtlichen Sinn als Lärminstrumente zu fassen und ihre urtümlichste Funktion ist wohl in der ganzen Ge-schichte unserer Art die tief ängstliche und darin abergläubische Gefahrenabwehr. Wo Menschen großes Spektakel machen, wo sie rasseln und scheppern und sich mit Getöse bemerkbar machen, da wittert man an der Lautstärke ihrer Begleitmusik, wie unheimlich und wie gefahrvoll ihnen die stumme Welt erscheint. Sie hauen auf das Trommelfell und schlagen seit sie Metalle schmelzen das Blech, damit die bösen Geister und die brütenden Dämonen ihnen nicht zu nahe kommen, sondern Reißaus nehmen.
Glockentöne sind magisch aufgeladene Hilfeschreie des dem feindseligen Schweigen der Dinge ausgelieferten Geschöpfes mit der schwachen Stimme und den kurzen Armen.
Eine solche auf’s Abschrecken fixierte Klangerzeugung scheint eigentlich wirklich kein sehr sinnvoller Jingle zu sein, unter dem sich die große Freude, die allem Volke widerfahren soll, ankündigen ließe.
Dass die Kirche dennoch – und zwar beginnend bei den ägyptischen Mönchen in den Anfechtungen der Einsamkeit, die damit tatsächlich ihre Abwehr gegen die Teufel und Ungeister ausläuteten – den Glockenklang allmählich übernahm, dürfte auch pragmatische Gründe gehabt haben: Während es in den kleinen Bezirken der Klöster auf dem Athos heute noch teilweise ausreicht, mit Klanghölzern zu den Gebetszeiten zu rufen, war die Tragweite des Läuteschalls ein Motiv, das der christlichen Mission entsprach. Weithin hörbar sollte der Ruf der ehernen Münder tragen: „O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort“ (Jer22,29) – und so hat sich die uns tief vertraute Vielstimmigkeit über die ganze Landschaft Europas gelegt, mit der von Dorf zu Stadt, von Kirchturm zu Kapelle, von Tal zu Tal und Gipfel zu Gipfel das große Gespräch, das fortwährende konzertierende Einsetzen und Ausklingen der Glockenspiele unserer Welt uns umgibt, die immer wieder von Gott im Himmel und von uns auf Erden sprechen.
Weil man sie überall hören kann, haben die Glocken denn auch das Leben geordnet, hat das dreimalige Angelusläuten das Tagwerk, seine Unterbrechung und sein Ziel in jeder Werk-statt, jeder Küche und auf jedem Acker getaktet und auch unsere Kinder noch zum Reinkommen und Zubettgehen gemahnt.
Und mehr noch. Weil es so stetig hörbar ist, dass wir es gar nicht mehr wahrnehmen müssen, vermag das Geläute sogar zur Tonspur unseres Unterbewussten zu werden, die uns näher geht, als wir ahnen. Den ersten richtigen Zusammenbruch nach allem Leid der Vertreibung und tödlicher Verluste erlitt meine Großmutter erst als sie Jahre nach Kriegsende die aus ihrer pommer’schen Heimat zum Einschmelzen zwar abgeholten, aber dann doch nicht verwendeten Kirchenglocken in einer Gemeinde in Norddeutschland wieder läuten hörte: Mehr als alles andere sprechen die Glocken der Heimat anscheinend die Sprache des Seelischen und unserer Biographie. Denn sie begleiten uns so existentiell wie keine wechselnde Vorliebe für diese oder jene Melodie es so kontinuierlich und zu derart herausgehobenen Augenblicken täte. … Schließlich sitzen auch hier Menschen, denen die bescheidenen beiden barocken Blecheimer in unserem kleinen Glockenstuhl zur Taufe läuteten und zur Konfirmation, bei der Hochzeit und auch in den schwersten Stunden des Lebens.
Die Glocken sind – zumindest waren sie’s bis vor wenigen Jahren – tatsächlich treue Zeugen und Sinngeber unseres alltäglichen Daseins, … die Glocken sind – zumindest waren sie’s bis vor wenigen Jahren – einfach verlässliche Orientierungszeichen und Maßeinheit alles Irdischen.
Und ehrlichgesagt ist es das – gerade dieses Weltliche und Menschliche – , was die Glocken zu Weihnachtsklängen macht!
Alles nämlich, was das kultur- und religionsgeschichtlich Fremde an ihrer Herkunft ist, alles, was das psychologisch Zweideutige, das Zeitliche, das Profane, das Geschichtliche an ihrem Dienst ausmacht … alles, was gegen die ursprüngliche Eignung oder Auszeichnung dieses weltlichen Klangkörpers als Medium der göttlichen Botschaft spricht, … alles das spricht ja vielmehr gerade dafür, dass sie wie kein anderes Instrument die Weihnachtsbotschaft vermitteln können.
Denn das unergründliche Wunder der Inkarnation, des Einzugs Gottes in die Menschheit als Mitglied des großen globalen Chores aller Menschenstimmen bedeutet ja, dass kein anderes Mittel zur Vertonung der Menschlichkeit Gottes so passend sein könnte, wie der sämtlichen Kulturen und Kulten gemeinsame Laut, der mal in den tibetanischen Gebetsschellen und mal in hinduistischen Tempelglöckchen, mal bei heidnischen Feiern, dann wieder in säkularen Schulglocken oder politischem Sturmläuten auf dem ganzen Erdkreis erklingt und der biblisch eben doch auch in den Zimbeln des liturgischen Psalmengesangs in Jerusalem (vgl.Ps.150,5) und in den kleinen klingelnden Metallschellen und Granatäpfeln, die seit Moses Tagen den Saum des hohepriesterlichen Gewandes schmücken (vgl.2.Mose28,33ff), seinen Widerhall findet.
Dass es bis heute – mit der auffallenden Ausnahme des Islam, der die Glocken zu den Musikinstrumenten Satans erklärt – eine beinah universale religiöse Ökumene im Geläute gibt, ist schon ein wahrlich weihnachtliches Motiv, das den Heiland der ganzen Welt hörbar in allgemeiner Verständlichkeit veranschaulicht.
Und dass in jedem Läuten die durch Christi Geburt auf Erden und seine unerschütterliche Teilnahme an unserem Schicksal überwundene Angst nur noch mitschwingt in der Erinnerung an die urtümliche Abwehrfunktion des Läutelärms, gibt den Tönen der Glocken ihren gültigen Text: „Fürchtet euch nicht“.
Und dass die selben Klänge, die uns das Evangelium von der einmaligen Geburt des Erlösers bezeugen, auch unsere Geburten und Fortschritte, unsere Stadien auf dem Weg und unsern Heimgang öffentlich ausrufen, macht sinnenfällig, wie unlöslich die Verbindung zwischen Jesus Christus und den Seinen ist, die mit Weihnachten beginnt: Auf einen Ton gestimmt waltet Harmonie zwischen seinem und unserm Lebenslauf.
Das also ist Weihnachten im Klang unserer Glocken: Dass Gott in die Welt kommt und in ihre Geschichte, dass Gott in die Angst kommt und dass er mitten hineintritt auch in unser einzelnes Leben bis hin zum Ziel.
Das sagt jeder Klang von dort oben: „Weihnachten hier! Gott hier! Bei Dir hier!“ ——
Dass diese Bewegung, die unsere Glocken vergegenwärtigen und bestätigen, aber nur die eine Seite der großen Zusammengehörigkeit und Übereinstimmung ist, die diese Heilige Nacht einläutet, das hat uns der eben gehörte herrliche Glockenchor von John Rutter gezeigt, der die Dinge wunderbar auf den Kopf oder andersherum dreht, indem er sonderbarerweise das Paradies zum Ort des großen weihnachtlichen Glockenjubels macht.
… Was für ein Einfall! Im Paradies vergeht ja keine Zeit, weder muss dort geweckt werden, noch zum Feierabend gerufen, da schlägt niemandes Stunde mehr, es läuten keine Hochzeits-glocken, niemand muss erst geboren werden, keinem kann das Sterbeglöcklein gelten, es herrscht keine Furcht, die der Lärm bannen und keine Entfernung, die der Schall überbrücken müsste. Das Ticktack, mit dem die Glocken auf Erden das Kommen und Gehen der liturgischen wie der menschlichen Zeit begleiten und anzeigen, ist im ewigen Leben und der ewigen Gottesgegenwart ganz unnötig.
Und doch trifft Rutter das weihnachtliche Mysterium genau, wenn er uns das Paradies, das sie nicht braucht, als Ort schildert, an dem die Glocken voll und tönend, weit und herrlich schwingen und singen.
Denn eben nicht „ewigen und ernsten Dingen ist ihr metall’ner Mund geweiht“ – Sorry, Schiller! –, sondern dem Weltlied, dem Zeitklang, dem Geburtssalut, der Feiernacht, die just auf Erden, in der Zeit, im Heute, jetzt und hier zu hören sind.
Im Himmel wie auf Erden ist ja das der Dienst und Segen unseres Geläutes: Dass den irdischen Menschen dieses Augenblicks glockenhell in’s Ohr gesungen wird, was ihr Herz höherschlagen und den Puls stark machen will:
„Gott ist Dir nah! Gott ist hier da! Weihnacht!“
Amen.
[i] Ein Reflex dieses Schreckens der Reitervölker findet sich in Sacharja 14,20, wo für die Glöckchen am Zaumzeug der Rosse – der messianisch-pazifistischen Vision der Propheten Israels entsprechend – die bezeichnende Inschrift vorgesehen wird: „Heilig dem HERRN“. Diese Symbolik ist eine endzeitliche Umwertung alles Militärischen wie das „Schwerter-zu-Pflugscharen“-Motiv Jesajas und Michas.
[ii] Schillers berühmtes „Lied von der Glocke“ war auf dem Gottesdienstblatt mit dem Vers vertreten: „Nur ewigen und ernsten Dingen sei ihr metall’ner Mund geweiht“.
Christvesper 2019, Stadtkirche "Zu Bethlehem geboren" (Friedrich Spee), Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christvesper 2019
„HERTZ-OPFFER“
Zu Bethlehem geboren /ist uns Kindelein,
das hab ich auserkoren, / sein eigen will ich sein.
Eia, eia, sein eigen will ich sein.
In seine Lieb versenken / will ich mich ganz hinab;
mein Herz will ich ihm schenken / und alles, was ich hab.
Eia, eia, und alles, was ich hab.
O Kindelein, von Herzen / will ich dich lieben sehr
in Freuden und in Schmerzen, / je länger mehr und mehr.
Eia, eia, je länger mehr und mehr.
Dich wahren Gott ich finde / in meinem Fleisch und Blut;
darum ich fest mich binde / an dich, mein höchstes Gut.
Eia, eia, an dich, mein höchstes Gut.
Dazu dein Gnad mir gebe, / bitt ich aus Herzensgrund,
dass dir allein ich lebe / jetzt und zu aller Stund.
Eia, eia, jetzt und zu aller Stund.
Lass mich von dir nicht scheiden, / knüpf zu, knüpf zu das Band
der Liebe zwischen beiden, / nimm hin mein Herz zum Pfand.
Eia, eia, nimm hin mein Herz zum Pfand.
(„Geistliches Psälterlein“, Köln 1637 –
Friedrich von Spee [1591-1635])
Liebe Gemeinde!
Fangen wir unangenehm an: Ob jemand wohl vergessen worden ist von der Geschenkeliste, die viele von uns in den letzten Tagen geführt und – hoffentlich! - gewissenhaft abgearbeitet haben? … Ob uns also doch noch jemand einfällt oder begegnet, den wir übersehen haben? Für den nichts ausgewählt und eingewickelt wurde? …….
Das ist tatsächlich ja das Risiko der Zeit der Gaben.
Ein Risiko, das unsere Zeit sonst spielend zu vermeiden versteht: Schenken steht eigentlich doch in schreiendem Gegensatz zur Grundfigur, die menschliches Miteinander, staatliche Beziehungen, wirtschaftliche, wissenschaftliche Austauschbereitschaft und sogar den grünen Fortschritt neuerdings ordnen soll, … dem „Deal“. Die undiplomatische und unverblümte Aneignung des Deal-Denkens, das das vorherrschende Modell abgibt, um Menschen Kosten immer nur durch deren Nutzen einsichtig zu machen, ist ein ganz und gar unweihnachtliches Manöver und damit unchristlich: Wer, wie wir Christen die völlig einseitige Hingabe Gottes für das Wohl der Welt als Herzstück seines Glaubens kennt und darum ein Nachahmungsspiel des vielfachen Gabengebens als Brauch zur Feier der Geburt des Gebers aller guten Gaben übt, dem muss das penetrante Berechnen des höchsteigenen Gewinns ein fremdes Kriterium bleiben.
… Dass das Gute, das Nötige, das Richtige etwas kostet und damit doch nicht zu teuer wird, eben weil es recht und geboten und also gerecht ist: Das ist der unveränderliche christliche Vorbehalt gegen alle schnöde Kalkulation der Menschheit, die kriegen will, noch wenn sie gibt und haben will, noch wenn sie lässt.
… Am Ende zeichnet sich hinter diesem Vorbehalt ja auch nur ab, dass alle wirkliche Weisheit auf Erden nicht Gewinn oder Gewinner feiert, sondern um den Wert des Opfers weiß, und dass wir Christen die Gemeinde Dessen sind, Der nichts Geringeres als Sich selber dazu hergab.
… Doch das ist eine andere Predigt, zu einem noch wichtigeren Fest. ——
Heute ist Weihnachtsabend und es geht um den herrlich schönen Gabenreichtum, der uns etwas ahnen lassen will vom Überfluss, den Gott ohne Rücksicht auf Seinen Verlust für uns Menschen eingesetzt, ausgegeben, gratis – gnadenhalber also – verteilt hat, als Er sich nicht im Himmelstresor als Schatz verwahrte, sondern in irdischen Umlauf brachte als … „Schätzchen“.
Und wenn wir an dieser Stelle – Schatz und Schätzchen – zweimal zucken, weil die zuckerige Verniedlichung und die schamlos monetäre Metapher uns unangemessen vorkommen, dann haben wir immerhin in beidem das letzte Zeitalter gespürt, das solche Bilder noch hemmungslos und genussvoll zu nutzen verstand: Es war das Zeitalter des Barock, das so ungeniert Freude an Effekt und an Affekt, an Pracht und am Gefühl bekunden konnte.
Dieses uns fremde, suspekte, oft geradezu peinliche Zeitalter der Überwältigung und des Überschwangs, dem nichts ferner lag als die später so selbstverständliche penible Kosten-Nutzen-Kalkulation, hat Kaiserswerth nun aber seinen größten Sohn geschenkt. … Und mit ihm, dem Sohn des Amtmannes der alten Kaiserpfalz am Rhein feiern wir dieses Jahr die Nacht von Bethlehem.
Friedrich Spee von Langenfeld[i], der größte volkssprachliche Dichter, den die Gegenreformation hervorgebracht hat, setzt auf seine Weise die Kaiserswerther Tradition des Lernens von den Lutheranern fort: Hatte vor ihm Kaspar Ulenberg, der als lutherischer Pfarrerssohn geborene Priester an der Basilika St.Suitbertus die Wirkung der Choräle in der Muttersprache tatsächlich mit der Muttermilch aufgesogen und dann als Propagandainstrument gegen seinen evangelischen Kindheitsglauben das wichtigste katholische Gesangbuch in deutscher Sprache hinterlassen, so begegnet uns in unserem Landsmann Friedrich Spee ein natürlicher Seelsorger, dessen Menschenliebe derart in’s Auge springt, dass ein unverständliches und unverstandenes Singen für ihn gar nicht in Frage kommen konnte. Spee wollte Herzen bewegen, wollte bilden und beistehen, wollte trösten und stärken und musste daher so dichten, dass weder Gelehrsamkeit noch Muße, sondern nur Menschlichkeit Voraussetzung für das Verständnis seiner Lieder sein sollten.
Er selber erfuhr indes so viel Bitterkeit und Enttäuschung – vor allem weil seine Ordensoberen seinen Lieblingsplan untersagten, sich der berühmten Ostasienmission der Jesuiten anzuschließen und Indien und China, vielleicht sogar das verbotene Japan mit der Liebe Christi vertraut zu machen –, und noch mehr erfuhr er Brutalität und Unrecht, gegen die er einsam, gebeugt, aber leidenschaftlich kämpfte, als er den auch in seinem Orden geschürten frauenfeindlichen Sadismus entlarvte, der in den Beschuldigungen, Folterungen und Verbrennungen vermeintlicher Hexen gipfelte, die Spee in den Nächten ihrer Todesangst und auf dem grauen-erregenden Weg zu ihrem schuldlosen Martyrium begleiten musste.
Die Klarheit seiner mutigen öffentlichen Absage an Aberglaube und peinliche Gerichtsbarkeit erwies ihn als einen später z.B. von Leibniz selber gerühmten Vordenker der Aufklärung in Jurisprudenz und Psychologie, … einen Menschen, dessen reiner Glaube und noch reinere Liebe die Menschheit erhellt haben.
Als er mit nur 44 Jahren der Pest erlag, deren Opfer er eigenhändig gepflegt und im Sterben begleitet hatte, endete ein Leben, das weihnachtlich und barock im besten Sinne war: Ohne Vorbehalt und ohne Berechnung, verschwenderisch im Einsatz und im Opfer und von einer heute unerhörten Unmittelbarkeit des Mitgefühls, des Gerechtigkeitssinnes und der selbstvergessenen Bereitschaft, um Gottes willen am Menschlichen festzuhalten. … Ein Leben aus der Menschwerdung des gütigen, gebenden Gottes.
Und ein Leben, das davon barock zu singen vermochte: Direkt das Zentrum des Menschseins – Geist und Gemüt – ansprechend, mühelos liebevoll in einer Sprache, die das Berührtsein sucht und Emotion nicht scheut, in einer Sprache also, die Gott nicht entfernt, sondern Ihn auffindbar und nahbar macht, eine Sprache, die ihrerseits das Band zwischen beiden – Gott und Mensch, Groß und Klein – knüpft, das kluge Formeln und Floskeln sonst so oft zerstrapazieren.
So haben wir es jedenfalls eben mit Spees Worten, die zwei Jahre nach dem Tod des großen Kaiserswerthers im deutschsprachigen Jesuitengesangbuch „Geistliches Psälterlein“ erschienen, gesungen:
Ein Wiegenlied, eine kleine Nachtmeditation an der Krippe für Gott!
Doch so innig diese Worte zunächst wirken, die für uns vielleicht harmlos antiquiert klingen, wie das Schlaflied von den „Blümelein im Mondenschein“, das ihrer Weise im 19.Jahrhundert unterlegt wurde: Friedrich Spee hat kein Kinderlied geschrieben, auch wenn der Gott, Dem es gilt, zu Bethlehem ein Kindlein wurde.
Das Lied der Liebe, das die Christenheit erst kennenlernte, als der einsame Kämpfer für die heilige Menschlichkeit und gegen die Herrschaft des Hasses schon in seinem Pesttotengrab in Trier unter einer Ladung Kalk verschüttet lag, … dieses Lied der Liebe, das ein sterblicher Mensch seinem eben zur Welt gekommenen – und also ebenfalls dem Tod geweihten – Gotteskind singt, ist nicht nur anmutig und kosend, wie barocke Schäferspielerei es immer vorgibt.
… Nein, es ist viel, viel klarer und auch so mutig, wie man es von dem Mann, der als Einzelner die Hexenhysterie des 17.Jahrhunderts gegen alle weltlichen und kirchlichen Instanzen ablehnte, erwarten kann. Das Lied ist wie der Titel seiner gesammelten Dichtungen: Eine „Trutz-Nachtigall“, ein süßer Gesang, der sich gerade so in jede Herausforderung stellt.
Weil es die größte denkbare Reaktion auf Weihnachten, die natürlichste und problematischste und ernsteste und delikateste existentielle Reaktion, die es überhaupt unter Menschen auf Menschliches geben kann, zum Gegenstand hat.
Den Zeitgenossen verriet das schon seine Melodie, die hier im Rheinland spätestens im Dreißigjährigen Krieg durch die französischen Truppen und Söldner zu einem echten Schlager geworden war: Es handelte sich bei dem ungeheuer verbreiteten, derben Text von „Une petite feste“ nicht etwa um eine galante Prise französischer Erotik, sondern um reine Schlüpfrigkeit, ja eigentlich Pornographie. Gegrölt von besoffener Soldateska, Unzucht und Not-zucht der schmutzigen Phantasie im Elend der liebelosen Konfessionskriege Europas. … Doch für uns bedeutet – weil Pater Spee sie so umgewidmet hat – die gleiche, damals zotige Schmiege-Weise das Zarteste und Behüteteste, das es gibt: Das Einschlafen unserer Kinder in ihren Bettchen. … „Es rüttelt sich der Blütenbaum und säuselt wie im Traum“… So hat der junge Brahms, als er hier in Düsseldorf die Aufgaben der Nanny übernahm, die verunsicherten Schumann’schen Kinder zu Spees vormals schmutzigem Weihnachts-Lullaby in den Traum gewiegt. …….
Das Lied für das Kind von Bethlehem, das ein erwachsener, dem Ungeist seiner Zeit widerspenstig entgegentretender und darum schwergeprüfter Mann verfasste, dessen erste Erfahrungen an einer Weihnachtskrippe sich hier in Kaiserswerth begaben, … dieses Lied stellt sich mit seiner denkwürdigen Melodie und seinen schlichten Worten also der größten aller Fragen, der wir aus nüchternen und feigen Gründen weiter und weiter ausweichen, … nämlich: Trotz aller Zweideutigkeit, trotz allen Risikos, trotz aller Entwöhnung, trotz aller Verhärtung, trotz aller Kratzer auf unserem Selbstbild als beherrschte und bedürfnislose Rationalisten, die das alles längst hinter sich haben ……., können wir trotzdem noch lieben? …….
Wen Weihnachten so noch nicht gefragt hat, der war noch nie dabei.
Wer dem elementarsten Reflex noch nicht begegnet ist, den ein so unerklärlich vollkommenes und doch so unverkennbar hilfloses Geschöpf wie ein Neugeborenes auslöst – dem Reflex bedingungslos von selbst bejahter Zuneigung und Fürsorge –, der ist selbst noch nicht Mensch geworden.
Mensch wird man nur, wenn das Leben uns fragt, ob wir es mit allem Schmerz und allem Lächeln, mit seinen tausend Verletzlichkeiten und seinen abertausend Zufriedenheiten akzeptieren, übernehmen, verantworten und tragen wollen.
Tatsächlich fragt das Leben uns in jedem Kind und mit jedem Morgen, fragt uns durch jeden Lichtstrahl und bei jeder Wahrheit, fragt uns aus jedem Antlitz und hinter jedem Blitz und Hauch des Geistes, … das Leben fragt uns tatsächlich: „Liebst Du mich? Oder gehst Du vorüber und verrätst mich durch Verzicht, verrätst mich durch Verachtung?“ ————
Wer darin barocke Exaltiertheit wittert, liegt nicht falsch. Das Barock war in seiner Lebens-liebe hochgespannt, weil es so tief dem Tode ausgesetzt blieb, … so tief wie Friedrich Spee, der Tröster derer, die ein Todesurteil getroffen hatte, das sie zu Asche werden ließ, noch ehe sie brannten.
Aber diese exaltierte Lebensfrage – „Liebst oder verrätst Du mich?“ – ist immer noch und ohne Milderung die Weihnachtsfrage, die Gott uns in dem zu Bethlehem geborenen Kindlein, in unserem Fleisch und Blut also stellt – so gut, wie vor vierhundert Jahren. Und weiter weg als damals ist der Tod dem Leben, ist das Leid dem Glück, ist der Schrecken dem scheinbaren Frieden auch nicht. … Nur wir leisten uns die Illusion, von beidem weniger berührt werden zu können.
„Liebst Du mich? Oder weißt Du gar nicht, was das ist?“, fragt das höchste Gut, das wir in seiner verwundbarsten und verwunderlichsten Form in dem Kind von Bethlehem, in dem Kind finden, in dem Gott uns trifft.
Und in dieser Frage liegt alles, was es uns zu geben hat: Mehr als das geliebte Leben – das Leben, das von Gott ist, das Leben, das mit Gottes Leben unlöslich verbunden ist! – bringt es nicht … und könnte es ja auch gar nicht bringen!
Es liegt einfach da, in der Krippe, es liegt auf dem Schoß Mariens und fragt uns, ob wir es wollen?
„Wollt Ihr mich, das Leben? Wollte Ihr mich – die Liebe – haben, … die Liebe, die hier geboren wurde und einmal auch sterben wird, aber nicht enden, weil sie stärker ist als der Tod, weil sie die Auferstehung ist und das Leben“ (vgl.Joh.11,25)?! ———
„Wollt Ihr, … könnt Ihr mich lieben?“
Friedrich Spee hat geantwortet, und wir haben seine Antwort in seinem Lied auch auf der Zunge gehabt.
Wenn die Antwort aber von dort nur etwas weiter einsinkt, wenn sie uns etwas mehr unter die Haut und in’s Innere geht, dann … ja, dann fällt uns wohl ein, dass wir tat-sächlich glatt Einen vergessen hätten bei unseren vielen Geschenken und Gaben, mit denen wir das Leben und die Liebe heute feiern.
……. Er fragt uns heute in allem und durch alles, was wir hören und teilen, was wir glauben und genießen ja immer wieder nur nach Seinen eigenen guten Gaben: „Willst Du das Leben, das ich Dir heute bringe? … Liebst Du es?“
Und wenn wir antworten sollten, … wenn wir es denn wollten, … wenn wir es jetzt vielleicht tun, … dann verstehen wir die Überschrift, die Spee seinem Lied für das Kind, das uns zu Bethlehem geboren ist, gab.
Und dann wissen wir, dass auch Er – Den wir fast vergessen hätten – das passende, das einzig richtige Geschenk von uns erhält.
… Nur dass es kein Opfer ist, wenn ich Ihm das Herz und alles, was ich hab’ schenke, sondern das größte Glück, Ihm zu geben, was von Ihm ist, damit Er es für immer bewahren kann … diese „Gabe“ und mich, den Geber.
Und dann stimmt es mit uns.
Dann sind wir Menschen wie Er.
Amen.
[i] Immer noch eine glänzende Einführung in Spees Leben, Werk und Wirkungsgeschichte: Emmy Rosenfeld, Friedrich Spee von Langenfeld – Eine Stimme in der Wüste, Berlin 1958.
2.Advent, 08.12.2019, Stadtkirche, Lukas 21,25 - 33, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Advent - 8.XII.2019
Lukas 21,25 - 33
Liebe Gemeinde!
In seiner kirchlichen Gestalt hat der Advent einen Wackelkontakt.
Jedenfalls aus Sicht derer, die das Weihnachtsgeschäft konzentrierter in seiner „jinglebelligen“, „let-it-snowigen“, „last-christmasigen“ Spielart betreiben.
Für diese professionellen Weihnachtserzeuger ist die Ausrichtung des ganzen Unternehmens klar: Störungsfrei von Start bis Stille Nacht auf Stollen-, Stern- und Stallstimmung, denn dann klingen die Glöckchen und klimpern die Herzen und klingeln die Kassen. Schließlich ist diese Verlässlichkeit des Schönen und Glitzernden das Erfolgsgeheimnis der ganzen Weihnachtszeit: Es geht nur um Nettes und ganz bewusst nie um Probleme!
… Bloß die dumme Christenheit kriegt’s nicht hin, den Fokus scharf weihnachtlich zu stellen. Immer wenn man denkt, mehr „Macht hoch die Tür“-Schwung, mehr „Tochter Zion“-La-Ola gehe nicht und es weihnachte sogar in der kirchlichen Adventszeit ordentlich, verschwimmt das Bild: Statt Kerzenschein und Schneegefunkel reitet am ersten Advent ein magerer Kerl auf einem Esel durch’s Bild hinauf in eine sonnengrelle Stadt, … brüllt am dritten Advent ein Irrer im Fellschurz am Flussufer etwas über Umkehr und Gericht, … stört am vierten Advent ein Mädchen mit einem ganz sonderbaren Blick auf einen ganz sonderbaren Engel die Glühweinheiterkeit beim Baumbehängen und will etwas von Gottesgeburt – am besten noch in der eigenen Seele?! – loswerden; …. und vor allen diesen Bildverschiebungen und Überlagerungen kommt man in der Kirche im Advent begreiflicherweise gar nicht zum Eigentlichen: Von schöner Feiertags- und großzügiger Verwöhnlaune ist so gar nicht die Rede … und das nicht erst, seit die Kirche das Meckern über den Konsum entdeckt oder die Tränendrüse von „Brot für die Welt“ aktiviert hat, sondern schon seit mehr als einem Jahrtausend.
Weihnachten wird überhaupt nicht spürbar, wenn die Kirche den Advent immer so verwackelt. … Und am allerwenigsten am 2.Advent. Den überspringen wir also am besten gleich! …
Am zweiten Advent verwischt das idyllische Bild eines „feliz navidad“ nämlich vollends und wird überblendet von anderen Eindrücken: Kosmische Katastrophen-Szenarien, Bilder vom letzten Ende aller Dinge.
Man nennt solche Ergebung und Widerstandskraft verbindende geistliche Erwartung des Weltuntergangs „Apokalyptik“ und bezeichnet damit eine Haltung, die Jesus Christus und seine Apostel von den Propheten Israels nach dem babylonischen Exil übernommen haben.
Seit zweieinhalb Jahrtausenden also halten die Frommen in Juden- und Christentum nun Ausschau nach Warnungen oder ermutigenden Vorzeichen, die die endgültige Ablösung der alten und den Anfang der neuen Schöpfung Gottes bezeichnen könnten.
Dass der Übergang von der auseinanderfallenden, von der zerreißenden bisherigen Wirklichkeit zur Kommenden schreckliche Drangsal und bittere Bereinigung bedeuten dürfte und dennoch etwas unvorstellbar Vollkommenes dadurch hervorgebracht werden soll, ist den mit Abschied und Neubeginn vertrauten Erben Abrahams und Moses selbstverständlich. Und darum sind es selten oder nie Angst oder Sorge allein, die die biblischen Gemeinden in apokalyptische Spannung versetzen.
Stattdessen ist Apokalyptik – Erwartung des nahen Endes – ein Beharren auf Gottes Herrschaft trotz des geschichtlichen Chaos.
Apokalyptik ist Festhalten an wirklicher Zukunft in der Gegenwart reiner Negativität.
Apokalyptik ist Weitblick auch wenn’s finster wird auf Erden.
Apokalyptik ist der Kitzel des „morgen“, wenn aller Tage Abend sich senkt.
Apokalyptik ist Lebenserwartung im Angesicht der Todesmächte.
Und darum ist Apokalyptik der Mutterschoß des Christentums: Im Nährboden solcher unbedingten Hoffnung auf Gottes Zukunft wurzelte seine Ankunft in Christus. Christi Geburt ist ja nicht anderes als der Anfang des Endes, sie ist die Bestätigung, dass Gott die Welt zu sehr liebt, um sie bleiben zu lassen, wie sie ist! ——
Und trotzdem hat das apokalyptische Weltbild – also die große und unermüdete Erwartung des neuen Lebens nach dem Vergehenden – es oft so schwer gehabt. …
In aller Liebe zur alten Kirche: Ihre selbstverliebte Prächtigkeit und ihr byzantinisches Zeremoniell haben Alexandrien und Konstantinopel und Rom so satt gemacht, dass wenig vom Aufblick zur Zukunft unter ihren schweren Bischofskronen und ihren Gewölben, die schon den Himmel abbilden, lebt. Doch auch die Reformation ließ die Erwartung neuer Zeiten lieber von den Fürsten bekämpfen und von den Sekten heimlich weitertragen, als dass man gewagt hätte, die Ordnung dieser Welt ernsthaft unter Vorbehalt zu stellen. Um wieviel mehr nun hat dann aber die bürgerlich-aufgeklärte Kirche seitdem die Reich-Gottes-Erwartung der Urzeit belächelt und eben für … unaufgeklärt und unbürgerlich gehalten: Bei allem, was man erreicht hat und wissenschaftlich noch an Fortschritt erwarten darf … wozu denn wilde Dinge hoffen, wenn Fleiß und Technik und Warenverkehr und ein wenig Imperialismus doch die Welt schon so herrlich immer besser machen? Schließlich dann haben die Menschheitsträume, die zu Albträumen führten – die totalitäre Endzeiterzwingung des Kommunismus – der Apokalyptik völlig den Garaus gemacht.
Seither wissen wir, was über unserer Gegenwart steht, die allem Apokalyptischen entsagt hat, … – die Worte der (Dante’schen) Hölle nämlich: „Lasst alle Hoffnung fahren …….“ ——
Und so ist die Endzeiterwartung an ihr Ende gekommen. Das Forschen nach Zeichen, das Bitten um den versprochenen Tag, das Harren auf die Verheißung sind passé.
… Wenn ich sage, dass ich bei bestimmtem Lichteinfall, wenn die Alltagshelligkeit sich verändert oder der Himmel plötzlich blendend aufreißt oder ein Feuer hinterm Horizont zu glühen scheint, manchmal unwillkürlich den Kopf hebe und denke: „Etwa jetzt?“, dann darf sich jeder gern an die Stirn tippen und meinen seltsamen Vogel grüßen. ———
Und doch ist uns die Apokalypse in Wahrheit nicht fremd geworden: Das Brausen und Wogen des Meeres, das Wanken der Kräfte der Himmel, die Zeichen an Sonne und Mond, … sie sind inzwischen Tagesgeschehen und Zeitungsnachrichten oder sie finden sich in sämtlichen wissenschaftlichen Prognosen. …….
Mit welchem Recht haben wir dann aber die biblischen Endzeitprophezeiungen und die Lehre Jesu von den Dingen, die kommen sollen über die ganze Erde, als überholte Weltbilder ausrangiert? Weshalb belächeln wir die naive alte Vorstellung von einem Ziel der Zeiten und von den Schrecken, die das Finale bringen wird? … Etwa deshalb, weil wir im Gegensatz zu den rätselnden und furchtsamen Alten, die sich mit Spekulation über das Ungewisse und Unerklärliche der Zukunft behelfen mussten, so umfassend unterrichtet und informiert sind? Was für sie bange Mutmaßung war, darüber sind wir uns im Klaren?
……. Als ob! Die Apokalypse hinter der nächsten Wegbiegung, die uns in’s Gesicht starrt, das Weltende, das wir vorhersehen müssen, sind zwar täglicher Gegenstand von Forschung, von Konferenzen, Debatten, Demonstrationen und Gesetzgebung … und dennoch dringt dieses Wissen nicht in unser Bewusstsein vor. Es ist also offenkundig zweierlei, die Vorzeichen des Endes zu erkennen und sie zu beherzigen. Man kann am Ausgang der Zeiten leben und trotzdem so tun, als hätte man noch keinen Augenblick verloren. Man kann von Signalen des Jüngsten Tages umtost werden und dennoch so gewohnheitsblind, gewohnheitstaub, gewohnheitslahm sein, dass nichts am Alltag sich je ändern zu müssen scheint. …….
… Hat denn etwa irgendjemand von uns tatsächlich begriffen, dass nicht nur „die da oben“ oder jene anderen in der Mehrheit oder die Verhältnisse an sich, sondern wir höchstpersönlich es sind, die das Bersten des Kosmos und das Schmelzen der Elemente (vgl.2.Petrus3,10) beschleunigen und doch keiner hier wirklich etwas tut, um es aufzuhalten (vgl.2.Thess.2,6f)?
Die Apokalyptik wird also auch in ihrer größten Aktualität als alter Hut, als Aberglaube der Vergangenheit betrachtet.
Wenn sie aber irgendetwas nicht ist, dann eine überholte Ansicht der Antike!
Im Gegenteil: Die antike Philosophie und Wissenschaft hat sich bis heute tiefgreifend im Unterbewussten der Menschheit gegen alle Apokalyptik verschanzt!
Denn es ist ein Leitsatz der griechischen Naturphilosophie, dass der Kosmos weder Anfang noch Ende habe, oder dass er – wie Aristoteles lehrt[i] – eine ewige Bewegung darstelle.
Diese uralte, buchstäblich antike Idee also sitzt bis heute unverändert fest in unserer Hirnrinde: Die Wirklichkeit des Ganzen, das wir Welt nennen, ist unendlich. Darum geht sie uns nichts an, fällt sie nicht in unsere Verantwortung. … Deshalb müssen wir auch nicht um sie bangen. … Daher bleiben wir untätig auch dann, wenn die Zeichen der Zeit solche ihres Endes sind. ———
Wer aber hat denn nun tatsächlich eine überholte Wahrheit im Angebot? – Die sture Gleichgültigkeit derer, die das Ende nicht denken wollen, oder die gläubige Erfahrung, dass alle Dinge endlich sind, weil sie aus Nichts geschaffen wurden (vgl.Rö4,17!) und alleine auch zum Nichts zurückkehren (vgl.Ps.103,16), … dass sie darum aber auch alle unter dem Zeichen der Treue ihres Schöpfers stehen, in dessen Hand wie im Anfang auch Neuschöpfung und neues Leben in Ewigkeit liegen?
Wer also hat den alten Hut? – Der dumpfe „Es war schon immer so“-Dickschädel, der sich sicher wähnt und festkrallt in dem, was doch dem Untergang geweiht ist?
Oder die apokalyptische Erkenntnis, dass alles Stoffliche begrenzt ist und einst vergehen wird, die der denkende heutige Mensch in ihrer naturwissenschaftlichen Gestalt als Urknall-Theorie und Schwarze-Löcher-These und Entropie-Gesetz letztlich mit den biblischen Zeugen teilt? …
Ganz deutlich ist es doch wohl – wenn wir denken und glauben können –, dass wir in apokalyptischer Zeit leben, … in End- und Übergangszeit, in einer Zeit des Schreckens, in einer Zeit der Furcht und Erwartung der Dinge, die kommen sollen.
Dass das nicht heißt, die Welt aufzugeben, sondern mit allem, was endlich und sterblich ist, das Gemeinsame, das gemessene Maß und die gesetzte Begrenzung zu suchen und sie von keiner Seite willkürlich und selbstsüchtig zu überschreiten, versteht sich von selber für jeden, der weiß, dass das Gras verdorrt und die Blume verwelkt (vgl.Jes40,7f!) und zum Staub zurückkehrt, was aus Staub geworden ist (vgl.Prediger3,20): Die Dinge und ich, die wir zusammengehören als Vergängliche. ——
Doch nun ist unser Lehrer und Mahner vom Ende aller Dinge eben kein Untergangsprophet, sondern es ist auch - ja: gerade! - am Zweiten Advent, diesem endzeitlichen Sonntag der Vorbereitung und der Erwartung kein anderer als er, von dem wir zu Weihnachten im eingängigsten und populärsten aller Lieder die apokalyptische Strophe singen werden (vgl. EG 44,1): „Welt ging verloren! Christ ist geboren!“
Christus, der Kommende ist es doch, der uns lehrt, die Zeit des Endes zu sehen, … aber wie?! … Mit einem ganz und gar adventlichen Wackelkontakt, mit einem Verrutschen der Bilder und einem Überblenden von Eindrücken, auf die kein Mensch sonst je käme!
Wenn Christus nämlich von den Zeichen und Verschiebungen, den großen Wandlungen und Abbrüchen der anbrechenden letzten Zeit spricht, dann ruft er: „Seht doch auf! Jammert nicht, verzagt nicht, resigniert nicht! Erhebet eure Häupter! Streckt euch mit Leib und Seele also der nahen Zukunft entgegen, der Rettung, dem Heil der Erlösten!“
Wenn Christus, unsere Zukunft von der Vergänglichkeit spricht, dann sind es nicht Bilder aus Asche und tot verglühter Materie, sondern von frühlingsreif blühenden Bäumen erzählt er, die für alle Welt erkennbar den Sommer und Süßigkeit verheißen!
Predigt Christus also auch von den letzten Dingen, so nutzt er dazu doch gerade die Ersten und Ewigen: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht!“ Denn im Anfang war ja dieses Wort – ehe die Zeit des Himmels und der Erde kam und durch dasselbe alle Dinge gemacht wurden (vgl.Joh.1,3) –, und dieses Wort unseres Gottes bleibt ewiglich und wenn Er es aussendet, macht es neu die Gestalt der Erde (vgl.Jes40,8; Ps.104,30).
Christus also, wenn er vom Jüngsten Tag spricht, spricht von der schönsten Erwartung!
Er spricht vom Untergang, aber dabei blüht das Bleibende auf.
Er nennt das Ende, doch durch ihn wird’s zum Anfang.
Sogar die Schrecken verschweigt er nicht, und dennoch hören wir noch darin unsere Erlösung.
Christus, wenn er also apokalyptisch predigt, predigt das Reich Gottes.
Und dieses Durchbrechen aller Erwartung, dieses Überbieten des Horizontes, der sich uns aufzutun scheint, diese ungeheure Hoffnungsweite, in die Christus führt, ist das Beste am Advent: Mehr ist es als Weihnachten, mehr als der Blick auf die Geburt und den Beginn.
Es ist Aufblick zum Ewigen, zur endgültigen Erlösung, die sich uns wahrhaftig naht!
Der Aufblick zum kommenden Menschensohn, dessen verheißene Ankunft, die wir erwarten dürfen, doch der Grund ist, warum wir auch dieses Jahr noch einmal Weihnachten feiern werden: Der da einst geboren wurde, ist die bevorstehende Zukunft!
So geht der Kontakt nach beiden Seiten – zurück an den Anfang, voraus auf das Ziel –, den die Kirche in ihrem wunderbaren Advent, ihrem Warten und Eilen, ihrer Erinnerung und Hoffnung feiert.
Die Kirche freut sich auf’s Ende und gedenkt des Ursprungs, sie sieht Weihnachten und meint den jüngsten Tag, wenn sie ihr Haupt hebt und jubelt:
Amen, ja, komm, Herr Jesus! (Offenb.22,20)
[i] Dass die für das Abendland wirkungsgeschichtlich als die antike Autorität maßgebliche Anschauung des Aristoteles von der Ewigkeit des Kosmos eine frühere Denkschule der Schöpfung aus dem Nichts ablöste, wird zutreffend von Hellmut Flashar, Aristoteles – Lehrer des Abendlandes, München 2013, S. 268 festgehalten. Insofern ist die biblische, später christliche Anschauung einer creatio ex nihilo gewiss auch mit vorsokratischen und voraristotelischen Strömungen der Kosmologie verwandt. Doch das antike Erbe in der europäischen Geistesgeschichte ist mit dem Stachel, den Aristoteles‘ dezidiert antiapokalyptische Sicht darstellt, entscheidend charakterisiert.
1.Advent, 01.12.2019, Stadtkirche, Römer 13, 8 - 12, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent - 1.XII.2019
Römer 13, 8-12
Liebe Gemeinde!
Wenn ab heute wieder runtergezählt wird, jedes Mal wenn ein Türchen aufgepult oder ein Säckchen aufgeschnürt wurde, dann denkt kaum ein Mensch an die politische Seite des Tagezählens: Ein weiterer Kohlestrich auf der weißen Zellenwand; ein weiterer Trennungstag, den jemand abzieht, wenn er weit weg in’s Straflager denkt, wo ein Demokrat wegen Putin, ein Uigure wegen seiner Tradition, ein Kurde wegen seines Stolzes, ein Christ wegen seines Herrn sitzt; ein weiterer Schritt auf dem Weg zu jener Zukunft, auf die die Unterdrückten, die Gespannten, die Kämpfer, die Zornigen und die Verzweifelten Tag und Nacht warten.
Jedes Türchen sagt, dass es so Vieles gibt, das enden muss, weil seine Zeit schon lang, … zu lange währt.
Adventstage sind also nicht umsonst die nummeriertesten des Jahres. Sie könnten aber eigentlich mit ihrem fließenden Rhythmus – wenn man sie nicht nur als Stresszeit des Rausch- und Tauschgeschäftes verpulvert – doch eine solche Dynamik entfalten, dass man geradezu an den guten Ideen des Abendlandes wieder Geschmack gewinnen möchte: Entwicklung und Veränderung, Wandel und Fortschritt werden ja zu lebendigen, praktischen Erfahrungen, wenn man beim Tagestreichen so adventlich spürt, was das Zukünftige an positiven Erwartungen weckt.
Tage zählen, weil Zeit zu guten Zielen führt, ist also die eine Botschaft des Advent.
Seine andere ist politische Zuversicht, weil eben viele Dinge an das Ende ihrer Dauer kommen.
… Das eine vergeht, ein anderes dagegen kommt: Das ist - in aller Schlichtheit - schon eine wichtige Zeitansage, noch vor jeder geistlichen Botschaft. Alles, was in unserer Gegenwart erkennbar oder vermutlich oder beängstigenderweise ausläuft – die Ära einer Bundeskanzlerin, die historisch lange Regentschaft einer Königin, die Strukturen des bisherigen Europa, die Bündnisse der einstigen Weltordnung, das Zeitalter der fossilen Energieträger, der selbstverständliche Konsum, die gewohnte Mobilität, das vertraute Klima, die Atmosphäre jener christlichen Gewissheit, die alles überwölbt und unterfängt … – alles, was ausläuft und mit seinem Abschied von der Weltbühne Lücken reißt und Fragen aufwirft, räumt immer zugleich der Zukunft ein freies, weites Feld.
Wenn wir das gegen die Zukunftsgleichgültigkeit, die doch nur Verzagtheit ist, setzten und gegen die Zukunftssorgen, die zu immer aggressiverer Selbstbehauptung führen, dann würden wir als Christen aber etwas ganz Einfaches merken: Die Veränderungen und Abschiede, die Epochenwechsel und die rasanten Verwerfungen, die wir zur Zeit auf Erden so massiv empfinden, sind gerade nicht das Chaos an Auflösungserscheinungen, das manche daraus machen wollen, sondern Prozesse einer lebendigen Weltwirklichkeit, die nicht stillsteht, weil sie zukunftsträchtig ist.
Und – das ist der eigentlich springende Punkt dessen, was uns Paulus zu Beginn des neuen Kirchenjahres in die Kalender schreibt – … und diese Wandlungen unserer Zeit sind nicht eigengesetzlich oder zufällig, sondern sie stehen alle unter der Zulassung und Lenkung Gottes: Schließlich stammt der heutige Predigtabschnitt aus dem 13.Kapitel des Römerbriefes, der umstrittenen Urkunde aller politischen Theologie.
Mit dem ersten Imperativ aus Römer 13 – „Jederman sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt hat über ihn“ – hat man jahrhundertelang die fürchterlichen Folgen der luther’schen Zwei-Reiche-Lehre begründet: Evangelischer Untertanengeist als Ausdruck der in Thron und Altar einträchtig verkörperten beiden Schwerter Gottes.
Ebenso blindwütig aber hat man in jüngerer Zeit gegen das 13.Kapitel des Briefs in die Welthauptstadt gewettert, hat hinter allem, was nicht Fundamentalopposition war, staatstragende Ranschmeiße, systemkonforme Bürgerlichkeit gewittert und wollte kein realpolitisches Regiment je wieder stützen, sondern reine Revolution predigen.
… Heute dagegen, … heute stehen wir in Krisen, die bis an die Grundfesten der demokratischen Staatsordnung und des internationalen Vertrags- und Verträglichkeitswillens gehen und merken, wie wichtig es ist, dass Gottes Herrschaft nicht eine unweltliche oder utopische Jenseitigkeit bezeichnet, sondern dass die Apostel Jesu Christi, die unter den Machthabern ihrer Zeit tödlich litten, dennoch darauf vertrauten, dass der ganze weltliche Raum doch bloß ein Teilbereich des Gottesreiches ist.
Nicht neben der irdischen und somit politischen Realität und auch nicht gegen sie, sondern durch sie hindurch und über sie hinaus ist der Herr dieser Welt und ihrer Geschicke am Werk …. und Er ist kein anderer als der Vater Jesu Christi. Darum können weder noch Engel, noch Fürstentümer, noch Gewalten uns von der Liebe Gottes trennen (vgl. Rö8,38) und auch keine andere Kreatur: Alle und alles sind ja doch in der Hand und im Herzen dessen, der in Windeln von den Hirten begrüßt, auf dem Esel staubig gefeiert und am blutigen Kreuz verlassen wurde, um die Herrschaft Gottes aufzurichten.
Das ist die erste und letzte politische Theologie, die es für uns Christen geben kann: Die Welt regiert von einem Kind, … der König des Erdkreises erschienen in schlichtester Demut, … der Pantokrator erhöht im freiwilligen Tod für seine aufrührerischen Untertanen, … dieser in sämtlichen politischen Systemen beispiellose Herrscher führt doch in ihnen allen die Menschheit in sein kommendes Reich.
Wenn darum im politischen Kapitel Römer 13 die Mahnung ergeht, sich der jeweiligen politischen Ordnung nicht zu entziehen, sondern einzugliedern, dann begegnet uns darin keine unmündige Form der Anpassung oder des Opportunismus gegenüber den jeweils Mächtigen, sondern eine an Christi einzigartigem Beispiel geschulte, eine christologische Aktualisierung der Weltherrschaft Gottes. Wo immer Christen leben, welche Bedingungen auch immer ihnen gelten, sie können und sie sollen stets die Politik ihres Herrn befolgen, dessen Gebot und dessen Praxis eindeutig sind: Lieben!
Es gibt keine andere Pflicht, aber auch keine andere Freiheit – gleich unter welchem gesellschaftlichen Vorzeichen – als diesen kategorisch-königlichen Imperativ: „Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt.“ ———
Dieser scheinbar so idyllische Maßstab, den wir am ehesten auf eine kleine Schar wie die zwölf Jünger oder die Hausgemeinde der Lydia in Philippi anwenden mögen, ist nun aber die Ethik von Römer 13!
Die Liebe, die man niemandem schuldig bleiben soll, bezieht sich also auf die Nachfolger des Pilatus, die römischen Beamten, die in Gestalt des Anwaltes Tertullus (vgl. Apg.24,2ff) und der Statthalter Felix und Festus (vgl. Apg.24-26) den Anstoß zum behördlichen Vorgang von Anklage, Verhaftung, Berufung und endlicher Tötung des Paulus auf den Weg brachten. Die Liebe, die man niemandem schuldig bleiben soll, bezieht sich im Römerbrief auf den jüngst verstorbenen Kaiser Claudius, der Juden und Judenchristen in der Welthauptstadt bitter drang-saliert hatte; die Liebe bezieht sich auf Nero, den neuen Imperator … und bald der erste blu-tige Christenverfolger, und sie bezieht sich ebenso auf das zur Zeit der Abfassung des Römerbriefes drei- oder vierjährige Kind Domitian und den einjährigen Trajan, von denen Paulus nichts wissen konnte, die aber just in Rom heranwuchsen, der eine, um der Peiniger der Gemeinden in der Offenbarung des Johannes zu werden und der andere um schließlich der Befehlsgeber für das Martyrium des letzten, des Lieblingsjüngers zu sein. ———
Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Und sie allein ist die Erfüllung des Gesetzes.
Wem das so im historischen Gewand immer noch bloß wie eine Erbauungslegende erscheint, der möge bedenken, was die Geschichte der zweitausend Jahre seither ist: Ist sie doch nur der eine und noch nicht an’s Ende gekommene Adventskalender, der uns mit der Generation der Apostel verbindet.
Sie durften und mussten die Tage zählen ebenso wie auch wir es heute noch müssen.
An unserem Auftrag, an unserer Ethik der christusförmigen Liebe hat sich durch das Kommen und Gehen, durch die Verbrechen und den Untergang aller Neros aber nichts geändert.
Und also ist es vielleicht nicht unnütz, es tatsächlich – so schwer es auch fallen mag – einmal zu buchstabieren: Wo sie Claudius, Nero und Domitian lieben sollten, sollen wir den politischen Gegnern, den weltanschaulichen Gegnern, den – sagen wir’s ruhig! – Menschenfeinden von heute nichts anderes erweisen.
… Das ist empörend, finden wir? Unmöglich? Sinnlos? Weil die waschechten Diktatoren und die Möchtegern-Volksverhetzer, die Nationalisten und Rassisten, die Terroristen und die Putschisten von heute nicht irgendwelche römischen Kaiser im Lorbeerkranz, sondern propagandistische Schwätzer, ungebildete Geschichtsverdreher und ressentimentgeladene Verächter des klugen Kompromisses sind?
Weil wir einen Erdogan und einen Maduro, einen Xi Jinping und einen Orban, einen unzurechnungsfähigen Präsidenten oder eine Partei der Unzufriedenen und das ganze beunruhigende Panoptikum der sonstigen gegenwärtigen Politik einfach nicht „lieben“ können?
… Sondern? … Korrigieren? Ignorieren? Abservieren? … Oder parodieren, isolieren, diffamieren? …….
Wir können sie nicht lieben – obwohl die Liebe des Gesetzes Erfüllung ist – also müssen sie folglich … hassen??! ———
Denken wir nur daran, was in unserem eigenen Staat, in unserer insgesamt doch so günstigen und gelungenen Gesellschaftsform heute das größte und gefährlichste Problem geworden ist, … so gravierend, dass sich die Herbsttagung des Bundeskriminalamts in der vergangenen Woche der Bekämpfung dieses Verbrechens unserer Zeit widmete: Hasskriminalität.
Denn die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung. ——
Wenn wir Christen uns also aus der politischen Verantwortung stehlen wollen, weil Liebe uns in dieser Welt eine unzulängliche Kategorie erscheint, dann haben wir die Zeichen der Zeit gleich doppelt falsch gedeutet!
Einerseits haben wir verkannt, wie unmittelbar es uns trifft, dass nicht die Gier, nicht die Lüge, nicht die Selbstsucht – alles wahrhaftig ja Hauptsünden unseres Heute! –, sondern der Hass die Welt vergiftet, der doch das klare und eindeutige Gegenteil des Grundgebotes unserer Ethik ist. Zudem hat jeder, der die Liebe für zu harmlos, zu weich hält, um in der aggressiven Stimmung dieser Tage zu bestehen, nicht verstanden, dass Paulus die politische Berufung der Gemeinde eben nicht im Wegducken oder Säuseln sieht, sondern im Gegenteil in der offensiven Handhabung der Waffen des Lichtes!
Wir sollen die Kraft, die den Hass überwindet, einsetzen; wir sollen Angriff, nicht Rückzug durch die Liebe üben; wir sollen sie ausweiten auf Fremde, ja, auf Feinde und uns nicht etwa hinter die Linien zurückziehen, wo man sich sowieso verträgt und einig ist.
Die Liebe ist die entwaffnende Tat an den Hetzern und Misstrauischen. Sie ist Großmut gegenüber den Kleingeistern und Engen. Sie ist das Unerwartete, das die Verstockten durcheinanderbringt. Sie ist das Neue, das den am Alten Verbissenen das Maul offenstehen macht. Sie ist die Verunsicherung aller Bannerträger des Vorurteils. Sie ist die offene Herausforderung aller, die sich nur auf’s Aus- und Abschließen verstehen.
Liebe ist die Waffe gegen unsere eigene Angst. Sie ist die Heilung, wenn wir auch uns vom Hass anstecken lassen. Sie ist die uns selber wunderbare Gegenwart Christi in einer Wirklichkeit, die ihn rundweg leugnet und aussperrt.
Wer liebt, erschüttert Weltbilder. Wer liebt, bezeugt einen Mut, der stärker ist als jeder Kampf, weil er es wagt, den anderen nicht zu negieren, sondern zu bestätigen. Wer liebt, löscht niemanden aus, sondern weckt das Morgenrot der Verheißung.
Wer liebt, ist auf der Seite des Siegers.
Und das ist das Zweite, … das Entscheidende, das alle verkennen, die die Liebe für ungeeignet im Kampf um Wahrheit, um Gerechtigkeit und Frieden halten:
Die Weltgeschichte ist der Adventskalender Gottes.
Wir wissen nicht, wie viele Tage das Ziel noch entfernt ist. Wir wissen nicht, wie viele Türchen sich noch öffnen, wie viele Mauern fallen und Fesseln sich noch lösen müssen. Wir wissen nicht, wie viele Schlachten noch zu schlagen, wie viele Opfer noch zu bringen, wie viele Wunder noch zu erbitten und zu bezeugen sein mögen.
… Aber dass die Tage des Wartens gezählt sind – gezählt wie Haare auf unserem Haupt (vgl. Matth.10,30) und die Tränen in Gottes Krug (vgl. Ps.56,9) –, das ist gewiss, denn der König der Welt ist in die Krippe und auf dem Esel und aus dem Grab gekommen und sein Reich bricht seither endgültig und unaufhaltsam an!
Gezählte Tage: So lautet also die Botschaft des 1.Advent, mit dem ein neues Kirchenjahr anfängt.
Gezählte Tage nur noch.
Endliche Zeit.
Schwindende Sorgen.
Weichende Nebel.
Wachsendes Licht.
Denn die Nacht ist vorgerückt.
Und der Tag ist nahe herbeigekommen!
Amen.
Ewigkeitssonntag, 24.11.2019, Stadtkirche, Matthäus 25, 1 - 13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag 2019
Matthäus 25, 1 – 13
Liebe Gemeinde!
Wenn das Licht ausgeht, ist es schön. Der Tag war lang genug, die Müdigkeit darf übernehmen, das Buch kommt auf den Nachttisch, die letzte Nachricht ist geschrieben, das Gebet vorm Einschlafen beendet. Nun kommt die Ruhe. Wenn das Licht ausgeht. ——
Wenn das Licht ausgeht, ist es trostlos. Was täte man nicht, um es nicht einfach verlöschen zu lassen?! Natürlich brennt die Kerze irgendwann nieder. Natürlich müssen die Fluter abgeschaltet und die Bühne in Finsternis getaucht werden. Natürlich gehen irgendwann die Augen, aus denen das Sehen sich zurückzog, nicht mehr auf und das Letzte, was uns noch das innere Licht verrät, ist der stockende, unterbrochene, mühsam unregelmäßig aufgenommene Atem. Aber nach dem letzten Aufzucken ist es so eng, so verloren. Wenn das Licht ausgeht. ——
Das Licht darf nicht ausgehen. So schön die Eichendorff‘sche Nacht überm Waldrand ist und so schrecklich der grelle Lichthochdruck der rastlosen Megastädte: Eine Welt in der Finsternis ist ein Horror. … Noch immer gibt es Menschen – und auch unter denen, die wir in diesem Jahr zu Grabe getragen haben, waren viele –, die wissen, wie die Verdunkelung war, bei der kein Lichtstrahl nach außen dringen durfte, um der Auslöschung kein Ziel zu bieten. Noch immer gibt es Menschen, die die Nacht über Europa kennen.
Das Licht, das damals ausging, hat für immer gezeigt, welcher Schrecken in einem der - für mich! - grauenerregendsten Worte der Bibel liegt: „Gebt dem HERRN, eurem Gott, die Ehre, ehe es finster wird und ehe eure Füße sich an den dunklen Bergen stoßen und ihr auf das Licht wartet, während er es doch finster und dunkel machen wird.“
Diese bedrohliche Mahnung des Propheten Jeremia (13,16), bei der es einen schaudert, wird nun aber von dem, der selber das Licht der Welt ist, … von Jesus aufgegriffen (Joh12,35):
„Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht.“
Das Licht wird also ausgehen, sagt uns Jesus: „Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“ (Joh9,4). Ihr werdet die Dunkelheit erfahren, in der das Leben verschwindet. ——
Das ist der Erwartungshorizont, vor dem die Gemeinde Jesu Christi am Ewigkeitssonntag versammelt ist: Schatten und Eintrübung, Dämmer und Anbruch der schwarzen Stunden. So steht’s überm Horizont. …….
Dass das der Tod ist, dass es aber auch die lange Zeit und Weile ist, die zwischen dem Erscheinen des Lichtes unter uns und seinem Verglänzen liegt, dass das die Nebel sind, in denen sich unsere Zuversicht und Spannung verlieren und die Erschöpfung, in die das Sinnlose des Daseins uns tauchen kann, dass die Dunkelheit, die den Horizont bedeckt, aus allen Zuständen und Erfahrungen des Lebens sich verdichtet und wir dabei wie die Mädchen, deren Hochstimmung verflogen ist, allmählich leise und schließlich regungslos werden, weil das, was wir erwarteten, nicht kommt, … das ist die nüchterne und ja auch menschliche Botschaft des Gleichnisses von den zehn Jungfrauen in hochzeitlicher Vorfreude: Ja, sagt uns diese verständnisvolle Dichtung Jesu, … ja, es kommt anders als ihr denkt, und nein, es ist nicht anders zu erwarten, als dass ihr zwischendurch am eigenen Leib erfahrt, wie schwer das Leben ist und wie man nicht mehr kann, wie manches zu viel, zu hart, zu unabsehbar wird und man dann einstweilen auf der Strecke bleibt, weil es nur immer so öde weiter zu gehen scheint.
Die Eingeschlummerten des Gleichnisses sind also kein tadelndes Bild, sie stellen keinen Vorwurf dar. Sie sind lebensechte Verkörperungen unserer Natur, die sich verausgabt, ausbrennt und in den Schlaf sinken muss.
Doch damit ist die Nacht, die den Tag und sein Tun beendet, die die Anstrengungen und Erwartungen des Lebens erschöpft, die eigentlich Herausforderung, wenn wir den dunklen Rand der Zeit betrachten: Soll da denn wirklich alles runtergebrannt sein, wenn die Dunkelheit da ist? Arbeiten und - wichtiger noch! - leben wir bloß auf den Sonnenuntergang aller Tage zu, mit dem der letzte Funke unserer Reserven, der letzte zündende Strahl unseres Geistes, unserer Energie erlöschen wird?
Soll unser ganzes Fassungsvermögen sich also zeitgleich mit der Zeit verbraucht haben?
Oder gibt es etwas, das nicht angezapft, nicht einfach in Rauch aufgelöst sein wird, wenn das Zeitalter, in dem wir uns und alles verbrannten, endgültig zuende ist?
Wird noch Öl da sein?, so fragt das Gleichnis uns.
Oder habt ihr restlos verschleudert, was immer euch Wärme, Trost und Aussichten gab?
… Habt ihr also weiter als bis zum Einbruch der Nacht nie gedacht? …….
Wenn wir ehrlich sind: Selten.
Der Tag der Welt ist aufregend und aufreibend genug. Es fängt verheißungsvoll an, … wir alle glauben, auf dem Weg zum Tanz, zur freien Feier des Lebens zu sein. Doch manchmal wird’s lang. Zäh. Kraftraubend. Andere spüren es gar nicht; kommen unbeschwerter durch die Zeit; merken erst gegen Feierabend, dass es zur Neige geht und bald vorbei sein wird. Und dann wird einer nach dem anderen leiser, manchmal flackert noch einmal das Leben auf – Genossenes, Erhofftes, Verlorenes – , … aber schließlich schweigt alles.
Und wird dann noch Öl da sein? Oder bleibt es dunkel und kalt? …….
Die Frage, die wir viel zu selten nur noch stellen, solange die Flamme da ist, solange das Leben da ist.
Doch sogar die Zeitläufte der Gegenwart predigen es uns ja in unvermuteter Eindringlichkeit, was wir auf den Kanzeln und in den Herzen schon lange nicht mehr fragen:
Wird noch Öl da sein?
Oder was sonst könnte die Finsternis hell machen und das Erstarrte wieder in Fluss bringen?
… Ist denn wirklich keine Salbe in Gilead (vgl. Jeremia 8,22)?
… Müssen wir tatsächlich damit leben, dass am Ende der letzte Tropfen aufgezehrt ist und es nie wieder Licht wird? … ——
Ich persönlich frage es mich ja auch: Wie wird das Ende Deiner Vorräte Dich berühren? Was wird es bedeuten, wenn man nur noch eine Sparflamme, nur noch ganz Spärliches einzusetzen hat? Es war ja mal Überfluss da: Zeit und Zukunft und Kraft und Möglichkeiten und von allem viel und erneuerbar und lebendig. Und es soll ja - bitte schön! - auch brennen, lustig und hell, ... wie in dem alten Biedermeier-Gassenhauer „Freut euch des Lebens, / weil noch das Lämpchen glüht, / pflücket die Rose, / eh sie verblüht.“
… Aber wenn das Lämpchen …, wenn die Rose …, ……. dunkel, … welk, …….
Mehr haben wir doch nicht auf Lager.
Wer hätte denn über diesen Tag und diese Stunde X hinaus noch Licht, wenn es ausgeht?
… Und wir nichts, gar nichts mehr wirken können.
… Und nicht wissen, wo wir hingehen.
… Und unsere Füße sich an den dunklen Bergen stoßen und wir fallen, … fallen in das schwarze Nichts und verlöschen. ———
Und seht Ihr? – Darum brauchen wir mehr als alles andere auf dieser Welt den Herrn Jesus Christus, denn er – der „Christus“ heißt: „der Gesalbte“ –, von dem das Wort „Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein“ gilt (Ps.23,5), er hat das Öl, ja, er ist diese nie versiegende Lichtquelle, dieser Hoffnungsglanz und er speist jede Faser, die in ihn eintaucht, mit dem Feuer des ewigen Lebens.
Jesus Christus, der Erzähler unseres Gleichnisses von der Lebenserschöpfung, die für die Törichten mit dem Ende aller Dinge gleichbedeutend ist, über das man nicht hinausdenken kann, gegen die die Klugen aber doch noch einen unplanbaren, ja einen unwahrscheinlichen Überschuss an Aussichtsreichtum in Kauf nehmen, … Jesus Christus, der Erzähler der Erschöpfungsgeschichte unseres Lebens, der ist nämlich das unerschöpfliche Leben selber!
Er ist nicht nur der Bräutigam, auf den alles sich zu konzentrieren scheint beim Warten auf Godot, … nein, er ist auch schon die Weisheit dieser Wartenden, … er ist die nach jeder Berechnung unsinnige Reserve, die sie – als die Zeit vergangen war – mit in den tiefen Schlaf nahmen, … und er ist das helle mitternächtliche Aufleuchten der ausgebrannten Lämpchen selbst.
Jesus Christus ist die Quelle und das Geheimnis und das Ziel dieser Geschichte in einem!
Nicht hellere Köpfe, nicht raffiniertes Vorausdenken, das die Wahrscheinlichkeitsstatistik oder die mathematischen Unbekannten berücksichtigt hat, nicht clevere Vorratsspeicherung, nicht trainiertere und leistungsfähigere Frömmigkeit oder Theologie der Hoffnung steht am hochzeitlichen Ziel des Gleichnisses gerechtfertigt da, sondern da leuchtet nur überwältigend und himmlisch schön der Morgenglanz der Ewigkeit, die mit Jesus Christus echt geworden und eingezogen ist auf Erden.
Und nichts kann uns den Ewigkeitssonntag, der zugleich der Totensonntag, den Totensonntag, der der Ewigkeitssonntag ist, so klar und hell machen, so kostbar und so einfach, wie diese schlichte Erinnerung, dass Jesus Christus ewiges Leben ist und ewiges Leben hat.
Über die Vorräte der klugen Jungfrauen müssen wir uns gar nicht lange den Kopf zerbrechen: Ob wir sie uns hoffnungsvoller oder glaubensreicher oder bibeltreuer oder endzeitlicher als andere Menschen denken sollen, ist nicht entscheidend. Denn was wären schon meine Reserven oder Eure Hoffnung, was wären unsere - wie auch immer beschaffene - Voraussicht und Erwartung des Himmelreiches wohl im Vergleich mit der Tatsache, dass wir schließlich von alledem wirklich nichts sagen können, außer: In Jesus ist es angebrochen und wir dürfen es einst mit ihm teilen!
Das ist der sprudelnde Reichtum des kommenden Lichtes, wenn die Herrlichkeit des HERRN aufgeht und den Trauernden zu Zion Schmuck statt Asche und Freudenöl statt eines Trauerkleides geschaffen werden (vgl.Jes.60,1;61,3): Jesus Christus, der auferweckte Gekreuzigte, der Getötete, der lebt … Jesus Christus, an den wir glauben und den wir erwarten, schenkt ewiges Leben. ——
Wer das fassen kann – und wir haben es inzwischen so lange kaum noch gehört, haben’s entmythologisiert und hinterfragt und bezweifelt und unterdrückt und nicht mehr verstehen können und betreten verschwiegen, dass es unverschämt, beinah aufrüttelnd neu wirkt und nur noch unser fettes, lahmes Phlegma durchstoßen muss, um uns zu elektrisieren – wer das also fassen kann, dass uns allen wirkliches, bleibendes, ewiges Leben angeboten wird im Glauben an Jesus Christus: Was bräuchte der noch?
… Wie unsere Vorstellungen davon sind, was wir also in petto haben, welche Notration ein jeder von uns in der Stunde der Verdunkelung noch behauptet, in den grauen Zeiten, wenn wir ein Leben, das wir lieben, wegdämmern sehen oder vor uns selbst die Nacht liegt und das Licht verlöscht, … das ist nicht wichtig, das ist nicht jenes Öl, auf das es ankommt, um endlich strahlend zum Leben zu gehen.
Dass unsere Hoffnung nicht irgendwo auf Flaschen gezogen im Keller steht, um dann hervorgeholt zu werden, wenn sie uns mangelt, das ist wohl so.
Früher wollte ich es nicht verstehen, dass gerade die Alten immer wortkarger, immer verhaltener in ihrem Blick auf die Ewigkeit wurden, der sie doch viel näher waren als ich und nach der ich mich so voller Vorfreude sehnte: Weil mein Köcher noch so voller frischer - also kindlicher - Vorstellungen war, wie die goldenen Gassen sein und wie die Chöre klingen und wie das Lamm leuchten und die Engel uns empfangen und die Wiedersehensfreude uns aufwühlen würden, darum schien mir die Sparsamkeit der im Glauben still auf’s Schauen Wartenden spröde.
Langsam aber beginne ich zu verstehen: Mag sein, dass es genauso wird, wie es uns die geliebten barocken Choräle beschreiben; mag sein, dass es genauso wird, wie es die gotischen Bilder vom Paradies und seiner Seligkeit im Kreise Christi und seiner lieben Mutter schildern; mag sein, dass es schöner und pathetischer kommen wird, als alle Gospels und ganz Hollywood es je zu färben wagten, wenn wir alle endlich wieder zusammenkommen auf der anderen Seite des reißenden Jordan; mag sein, dass es mystischer wird, als alle Väter und Heiligen es je ahnten, die der lebenspendenden Anschauung des göttlichen Geheimnisses nachsannen; mag sein, dass es allen Kinder- und allen Kirchen- und auch noch allen kritischen Glauben verbindet und übertrifft, ……. im tiefsten Herzen jedenfalls freue ich mich immer noch wie ein Kind am Weihnachtsmorgen auf diese größte aller Erfahrungen und diese letzte Erfüllung aller Sehnsucht, und werde mich auf diese oder eine andere Weise bis zu jenem Augenblick freuen, da alles Wirklichkeit wird, was ich erwarte, … hoffe, … wünsche. …….
…. Es mag also alles sein, wie es sein mag, – aber nichts von alledem ist wichtig, außer diesem: Es wird sein!!!
Es wird ewiges Leben sein, wenn Jesus Christus wiederkommt, …wenn wir bei ihm sind.
Ewiges Leben wird sein, wenn die Dunkelheit ausgeht und das Licht kommt!
Ewiges Leben!
……. Und wen das freut, wem das guttut, wer das will: Dem wird das Öl nicht fehlen und er wird nicht draußen bleiben, auch wenn er selbst noch so leer und ausgebrannt wäre: Denn das Öl, das unsre Lichter leuchten lassen und in der Seele brennen und die Nacht hell machen wird, ist einfach dieser:
Jesus Christus, der Ewige, der lebt!
Jesus Christus, der jetzt in die Nacht hineinruft (Lk12,49): „Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden; was wollte ich lieber, als dass es schon brennte!“
Amen.
2.ltzt.S.d.Kj., 17.11.2019, Mutterhauskirche, 2.Kor 5,10, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
ich weiß nicht, wie es Ihnen mit der Vorstellung vom Jüngsten Gericht geht. Im Seniorenkreis habe ich im letzten Monat einmal nachgefragt, was den Anwesenden dazu so einfällt. Als erstes kam ganz spontan die Feststellung: „Wir Evangelischen haben das doch nicht." Das mit dem Jüngsten Gericht, das sei katholisch, so wie das Fegefeuer. Dass die Vorstellung vom Jüngsten Gericht in der Bibel vorkommt und wir auch als Evangelische ja im Apostolischen Glaubensbekenntnis davon sprechen, dass der in den Himmel aufgefahrene Jesus Christus „von dort wiederkommen wird zu richten die Lebenden und die Toten", wurde mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Es entspann sich jedenfalls ein interessantes Gespräch, in dessen Verlauf die unterschiedlichsten Fragen in den Raum gestellt wurden: Wann ist denn der Zeitpunkt da? Wann steht man vor dem Richter?
Wer kommt dann in den Himmel, wer in die Hölle? Ja, die ganz bösen Buben der Weltgeschichte, die mögen alle in die Hölle kommen; aber bei allen anderen, so eine der Anwesenden, da muss sich doch irgendetwas Gutes finden lassen, das sie auf die rettende Seite bringt. Und am Ende stand dann für alle fast die erleichternde Feststellung: Uns steht das Richten nicht zu. Im Staat mag es Richter geben, die eben aufgrund der Gesetze die Gesetzesverstöße ahnden, aber so grundsätzlich über den Menschen als ganzen zu richten, nein, das steht keinem Menschen zu. Soweit das Gespräch im Seniorenkreis.
Das Jüngste Gericht, eine Vorstellung, die sehr alt ist, älter als die Bibel. Schon die alten Ägypter hatten sich intensiv mit der Frage beschäftigt, was denn nach dem Tod mit dem einzelnen Menschen weiter geschehe? Ihre Gedanken und Überlegungen haben das biblische Nachdenken erheblich mitgeprägt. Was für die Ägypter unzweifelhaft feststand: das Leben und Tun eines jeden hat Folgen für seine Existenz nach dem Tod. Dass am Ende doch die Gerechtigkeit siegen muss, dass für alle das gleiche Recht gilt - wenn schon nicht auf Erden, so doch im Himmel - das war die Grundüberzeugung.
Sie sehen auf dem Gottesdienstprogramm einen Auszug aus dem ägyptischen Totenbuch. Dort ist die entscheidende Szene dargestellt: Der schakalköpfige Totengott Anubis führt den Verstorbenen zur Waage, wo sein Herz gewogen wird - gegen eine Feder der Maat, der Göttin der Wahrheit und Weisheit. Der ibisköpfige Gott Thot befragt den Verstorbenen zu seinem Tun und Lassen; es gibt Texte, in denen zum Beispiel auch eine Gans als Vertreterin der Kreatur befragt wird, ob sie von den Verstorbenen Gutes oder Schlechtes erfahren hätte; all das wird von Thot festgehalten. Und dann wird die Waage in Gang gesetzt. Und hoffentlich senkt sich die Schale mit dem Herz, hebt sich die Schale mit der Feder der Maat - ansonsten stürzt sich das bleckend neben der Waage sitzende Ungeheuer aus Löwe, Nilpferd und Krokodil auf den Toten und vernichtet ihn - der zweite endgültige Tod.
Für viele dieser Vorstellungen lassen sich Anklänge im Neuen Testament finden, nicht nur in der Apokalypse, der Offenbarung des Johannes, sondern auch in den Evangelien und selbst in den Briefen des Apostel Paulus. So heißt es im 2.Kor.5,10: „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeder empfange nach dem, was er getan hat im Leib, es sei gut oder böse." Und in der Evangeliumslesung haben wir es ja auch gehört, da erzählt Jesus ein Gleichnis, wo der Menschensohn zum Gericht erscheint und die Böcke von den Schafen trennt, die einen in den Himmel befördert und die anderen in die Verdammnis schickt.
Kaum eine Szene hat Künstler durch die Jahrhunderte mehr inspiriert als dieses „Jüngste Gericht". Geradezu überdimensional hat es Michelangelo in der Sixstinischen Kapelle über die gesamte Kopfwand gemalt. Auf dem Gottesdienstprogramm ist nur eine Planungsskizze des Meisters von der oberen Hälfte zu sehen, der Absturz der Verdammten fehlt.
Seit ich denken kann, habe ich gegen diese Vorstellung von ewiger Verdammnis innerlich rebelliert. Bis heute will und kann ich nicht „glauben", dass Gott ein solch unbarmherziger Richter sein soll, der irgendeines seiner Geschöpfe in die ewige Qual hinausstößt. Und von Jesus kann und will ich das schon gar nicht glauben. Offensichtlich hat es auch der Evangelist Johannes nicht geglaubt, lässt er Jesus doch sagen: „Ich richte niemand." (Joh.8,15)
Aber offensichtlich konnten und wollten unsere Vorväter im Glauben nicht auf das Bildwort des Richters verzichten. Das zu ignorieren, bringt nichts, denn es ist zu tief im Unbewussten aller Menschen, zumindest derer mit christlicher Prägung, eingebrannt. Aber genau das macht es um so nötiger, einen neuen Zugang, ein neues Verständnis zu suchen und aufzuzeigen, dass den Schrecken auflöst und dem Evangelium Raum gibt, der Botschaft von der vergebenden, neumachenden Liebe Gottes.
Ja, das traditionelle Bild Jesu Christi als Richter, das Bild vom Jüngsten Gericht halte ich für schief und dringend überholungsbedürftig. Alle Vorstellungen von Vergeltung und Rache sind menschlich, nur allzu menschlich gedacht. Es mag ja sein, dass wir als Menschen nicht gerne auf Rache- und Vergeltungsgedanken verzichten wollen. Aber dann dürfen wir sie nicht Gott und Jesus in die Schuhe schieben. Es mag ja sein, dass Menschen in besonderer Not und Bedrängnis sich daran klammern, dass irgendwann eine göttliche Instanz es ihren Peinigern heimzahlt, dass ihr Leid nicht unbeachtet und ungesühnt bleibt - aber auch hier gilt: „Ihr denkt, was menschlich ist, nicht was göttlich ist."
„Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi." Es fällt schwer, diesen Satz aus dem 2.Korintherbrief - übrigens der Wochenspruch - nicht als Drohwort zu hören; wobei es interessant ist, dass die Verantwortlichen der liturgischen Konferenz auf die zweite Satzhälfte verzichtet haben, die war ihnen wohl zu hart („auf dass ein jeder empfange nach dem, was er getan hat im Leib, es sei gut oder böse"). Vielen Menschen macht dieser Satz Angst. Es ist die Angst vor Bloßstellung, die mitschwingt. Die Angst, am Ende dazustehen - vor Gott und den Menschen - behaftet mit allem, was schief gelaufen ist im Leben, mit allen Versäumnissen und allen großen und kleinen Gemeinheiten, mit aller Schuld und allen Schwächen. So als würde man nackt mitten auf einem Stadionplatz stehen vom Flutlicht angestrahlt, den Blicken der anderen schutzlos ausgeliefert. Ein seelischer Albtraum ohnegleichen. Zu erwarten ist da nur: Verurteilung, Aburteilung. Verdammnis.
„Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi."
Allerdings - wir können dieses Wort auch anders verstehen. Auch gegen Paulus, der tatsächlich hier in seinem Brief an die Korinther seine sehr menschliche Vorstellung von der Vergeltung nach den Taten darlegt.
Der Schlüssel zu diesem anderen Verständnis, das für mich Evangelium verkündet, Frohbotschaft und nicht Drohbotschaft, ist ein doppelter.
Zunächst: was meint „wir müssen offenbar werden"? Eben nicht: bloßgestellt werden. Sondern da muss etwas aufgedeckt, erschlossen werden, muss sichtbar werden, was wesentlich ist. Alles, was an unserem Leben verzerrt, verbogen und unverständlich ist, alles, was wir bei der oft verzweifelten Suche nach Sinn und Glück uns selbst und anderen antun, wo wir uns selbst und andere verstümmeln und verletzen, wo wir Böses tun und getan haben, obwohl wir doch nur das Gute wollten - das wird sich uns einmal erschließen. Und da wo wir sehen und zum Verstehen kommen, wo wir zur Erkenntnis unserer selbst kommen im Guten wie im Bösen - da wird Vergebung und Neuanfang möglich. Da erfolgt kein Schuldspruch, sondern Freispruch.
Das - und das ist das zweite - garantiert der „Richter", wenn wir denn an diesem Wort aus dem Rechtswesen festhalten wollen. Auf dem Gottesdienstprogramm finden sie noch ein drittes Bild; es ist leider nicht deutlicher abzudrucken gewesen. Es handelt sich um die Abbildung einer großen vergoldeten Scheibe, die viele Jahrhunderte am Turm des Konstanzer Münsters hing. Sie zeigt den auf seinem himmlischen Thron zu Gericht sitzenden Christus, flankiert von zwei Engeln. Dieser Christus hält keine Waage in der Hand, und er kommt auch nicht so stürmisch und grimmig daher wie der Christus des Michelangelo. Er hält vielmehr eine Tafel in der Hand. Auf ihr stehen in Latein die Worte: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken." (Mt.11,28)
Der Richter ist der Messias Jesus, der Christus, der die Mühseligen und Beladenen, auch die Schuld-Beladenen, aufrichtet. Der sich darin mit Gott, den er unseren Vater nennt, einig weiß, von dem der Prophet Hesekiel hört: Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tod des Gottlosen und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? (Hes.18,23) Und wer wollte behaupten, dass das nicht in Ewigkeit so ist? Dass die Gelegenheit zur Umkehr nicht auch im Augenblick des Todes und darüber hinaus von Gott gegeben wird?
Jesus Christus richtet, indem er aufrichtet.
Er verurteilt nicht, er bringt zurecht.
Und da ist kein Leben so verkorkst, dass er es nicht zurechtbringen könnte. In der Tat, wir Menschen können durch unsere bösen Taten unsere Gottebenbildlichkeit schrecklich entstellen und verzerren. So schrecklich, dass wir manch einen Menschen gar nicht mehr als Menschen wahrnehmen können oder wollen, sondern nur noch als Bestie, als Teufel. Aber Jesu Christi Augen sehen klarer, sehen in jedem immer noch den Menschen so, wie ihn Gott gedacht und gemacht hat. Und als Heiland, der er ist, wird er auch die Wunden und Verletzungen, für die in dieser Welt und Zeit keine Heilung vorstellbar ist, zu guter Letzt heilen, Versöhnung ermöglichen, wo hier und heute nur Hass und Feindschaft herrschen.
Ich jedenfalls will daran festhalten: der Richter Jesus Christus ist der Zurechtbringer. Und deshalb können wir getrost und zuversichtlich unser Leben führen und gestalten, versöhnt sein damit, dass lange nicht alles Gold an uns ist, was glänzt, dass uns lange nicht alles gelingt, was wir uns vorgenommen haben, dass wir uns immer wieder selbst im Wege stehen und an anderen schuldig werden. All das wird nicht so bleiben. Sondern wir werden all das ablegen können im Licht Christi und werden dann die sein, als die uns Gott gedacht und gemeint hat.
Hören wir es noch einmal neu - als Evangelium für uns heute: „Wir müssen, nein: wir werden alle offenbar werden und erscheinen als die, die wir wesentlich von Gott her sind, vor dem Angesicht Christi, im Licht seiner Güte."
Amen.
3.ltzt.S.d.Kj., 10.11.2019, Mutterhauskirche, Jer.8,4-7, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
heute beginnt die ökumenische Friedensdekade 2019. In gewissem Sinn haben wir sie gestern schon eröffnet und zwar mit einem Fahrradkorso vom Klemensplatz zur Erinnerungsstätte auf der Kalkumer Schlossallee, die uns daran erinnert, dass dort ein Außenlager des KZ Buchenwald war, ein Bombenräumkommando, dessen Insassen in Düsseldorf und Umgebung eingesetzt wurden und von denen viele diese „Arbeit" mit ihrem Leben bezahlt haben. Wir haben dort einen Kranz niedergelegt und aus der gemeinsamen Erinnerung viel Kraft bezogen, unser Rückgrat gestärkt, um gemeinsam und jede und jeder für sich an dem Ort, wo er oder sie gerade ist, den Mund aufzumachen für die Stummen und an den Rand gedrängten, für alle, die ausgegrenzt werden und zu Nicht-zu-uns-Gehörigen erklärt werden von Menschen, die nichts gelernt haben aus der Geschichte und die sich nichts zu Herzen genommen haben von dem, was der Jude Jesus von Nazareth uns als Wegweisung gesagt und hinterlassen hat. Eingeladen hatte die ökumenische Flüchtlingshilfe, die selbst durch und durch ein lebendiges Zeichen für den Frieden ist: einmal in ihrem Einsatz für Flüchtlinge, in ihrem Bemühen, diese Menschen in unserer Gesellschaft zu beheimaten (das Wort finde ich viel besser als das Wort „integrieren", es zeigt mehr Wärme); zum anderen sind die, die sich in dieser Arbeit gefunden haben, dadurch selber beschenkt worden, haben erlebt, dass das Andere, das Fremde nicht trennen muss, sondern bereichern kann, dass es immer auf den einzelnen Menschen ankommt, auf seine Menschlichkeit und nicht auf seine Konfession, seine Religion, seine Nationalität, seine Herkunft, seine Hautfarbe.
Frieden ist möglich, wo sich Mensch und Mensch begegnen.
Frieden ist beides: Geschenk und Arbeit.
Frieden fordert uns heraus
Frieden fordert den ganzen Menschen - sein Denken, Reden und Handeln.
Frieden ist zwar nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.
Um Frieden geht es darum auch in dieser Predigt. Ich möchte mit ihnen darüber nachdenken, worauf es ankommt, damit uns dieses hohe Gut erhalten bleibt. Und dabei sollen uns Worte aus dem Buch des Propheten Jeremia an die Hand nehmen:
„So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?
Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, dass sie nicht umkehren wollen.
Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt.
Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen."
Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme? Das ist doch eigentlich selbstverständlich, möchte man sagen, und gar keine Frage wert. Aber dem Propheten Jeremia stellt sich das ganz anders dar, wenn er sein Volk in den Blick nimmt. Es scheint in keiner Weise aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt zu haben, auch aus den Fehlern des Nordreiches Israel, das mittlerweile seit 100 Jahren von der Landkarte verschwunden ist - innerlich ausgehöhlt aufgrund sozialer Verwerfungen und dann äußerlich dem Großmachtstreben der Assyrer zum Opfer gefallen. Doch das ist für das Volk und die Mächtigen und Einflussreichen im Volk Juda alles kein Grund, nachzudenken und umzukehren. Kein Grund, eigenes Fehlverhalten zu benennen und nach neuen Regeln im Miteinander zu suchen.
Keiner hält inne, keiner denkt nach, keinem tut irgendetwas leid, keiner sieht einen Grund, sich selbst zu ändern, sein Verhalten, sich selbst in Frage zu stellen mit dem, was ihm wichtig ist, worauf es für ihn im Leben ankommt. Die Großen und Einflussreichen nicht und auch nicht der kleine Mann, die kleine Frau auf der Straße.
Liebe Gemeinde, gibt uns das nicht zu denken?
Kennen wir das nicht auch?
Sind wir wirklich bereit, heute innezuhalten, nachzudenken, uns in Frage stellen zu lassen, eigenes Fehlverhalten einzugestehen und umzukehren?
Oder trifft es auch auf uns zu, was Jeremia Gott schon resigniert sagen hört: „Sie laufen alle ihren Lauf" ... sie machen einfach weiter, Augen zu und durch.
Denn dass es auch für uns heute Zeit ist, sich für das Recht des Herrn zu interessieren, das ist wohl unbestreitbar. Sind wir doch mitten drin in einer Krise - oder sind es gar mehrere? Auf jeden Fall ist sie oder sind sie nicht auf einmal aufgeploppt, sondern haben sie einen langen Vorlauf. Jedenfalls bei genauerem Hinsehen und Nachdenken.
Nehmen wir nur einmal die Klimakrise, die nicht nur mit dem Wetter zu tun hat, sondern grundlegend mit der Welt, in der und von der wir leben. Spätestens mit der Veröffentlichung des Berichts des Club of Rome zur Lage der Menschheit 1972, erschienen unter dem Titel „Die Grenzen des Wachstums" konnte es jeder mündige Bürger, jede mündige Bürgerin wissen: immer nur auf Wirtschaftswachstum zu setzen, ist einfach töricht; die Ressourcen der Erde sind endlich; sie vertragen nicht immer mehr Konsum. Spätestens seitdem ist klar: der vor allen Dingen von den Menschen in der westlichen Welt, in Nordamerika, Europa und Australien gepflegte Lebensstil ist für die Erde und damit auch für uns tödlich.
Doch der Weckruf der Wissenschaftler verhallte. Unsere Gesellschaften sprachen nicht „Was tun wir da eigentlich?" Sondern es wurde weitergemacht wie zuvor. Wir haben, um die Worte Jeremias zu nehmen, festgehalten am falschen Gottesdienst, wir haben blind den Götzen Wohlstand und Fortschritt vertraut. Und noch mehr. Unser Lebensstil wurde zum Exportschlager. Mit ihm bescherten z.B. die PKW-Exporte Mercedes, BMW und Volkswagen immer neue Rekordeinnahmen. Dass alle diese Wagen auch CO2 in die Luft blasen, war lange kein Thema. Dass auch die Menschen in Asien und Afrika ihren Anteil am wirtschaftlichen Wohlstand und am Fortschritt haben wollen, ist nur zu verständlich, bringt Mutter Erde aber nun noch deutlich schneller an ihre Grenzen.
Die andere große Krise betrifft die Demokratie. Betrifft den gesellschaftlichen Zusammenhalt in fast allen demokratischen Staaten, besonders in Europa und in den USA.
Gewiss, es gibt da viele Faktoren und nicht die eine Ursache für die wirklich erschreckenden Entwicklungen, die einen ratlos oder auch zornig machen können und denen man doch wieder meistens nur gelähmt zusehen kann. Abgesehen davon, dass man sich fragt, wie es sein kann, dass derartig viele dumme und/oder schwerst narzistisch gestörte Männer weltweit gleichzeitig in Machtpositionen sind - (Trump, Putin, Erdogan, Assad, Kim Jong Un, Duterte, Bolsonaro, Johnson, Katchinsky, Orban) .... Die allermeisten von ihnen sind ja durch Wahlen an die Macht gekommen. In fast allen Demokratien drohen die Populisten die Macht zu übernehmen, ohne Putsch, durch Wahlen.
Das ist einmal einer in leider weiten Teilen unserer Bevölkerung verankerten Fremdenfeindlichkeit geschuldet; neueste Untersuchungen zeigen das ganz eindeutig auf. Und dazu kommt dann bei vielen die Angst, unter die Räder zu kommen, die Angst vor sozialem Abstieg, der seit Ende der 80er Jahre gerade auch den sog. bürgerlichen Mittelstand erreicht hat. Denn seit dem Ende des klassischen Ost-West-Konfliktes ist die Weltwirtschaft in die Hände des ungebremsten Finanzkapitalismus geraten, dessen Mantra „Privat ist besser als Staat" und „Der Markt wird es schon richten." die Gehirne der führenden Politiker der westlichen Welt benebelt hat. Wie es bei Jeremia heißt: „Sie laufen alle ihren Lauf", sie machen einfach weiter ... Sie überlassen der Gier das Feld... Wie viele Krisen haben wir nicht in den letzten 20 Jahren erlebt: da platzte 1999 die „Internet-Blase", wie viele Menschen verloren ihre Altersvorsorge, weil sie ihr Geld in Telekom-Aktien investiert hatten. Dann kam der 11.September 2001 mit all seinen Folgen, das Elend im Irak, in Afghanistan, in Syrien, in Libyen, die Destabilisierung des ganzen Nahen Ostens; 2008 dann die Finanzkrise, das Platzen der „Immobilien-Blase" in den USA mit dem Zusammenbruch der Investmentbanken weltweit .... Die Flüchtlings-Krise 2015 in Europa, das Erstarken der Rechtspopulisten, Antisemiten und Rassisten; der Brexit, Terroranschläge, Verunsicherung überall ...
Instrumentalmusik
Krise ~ kritische Zeit ~ Zeit der Entscheidung.
Was für uns erst nur schlecht klingt, will eigentlich etwas Positives sein. Denn die Krise macht nur deutlich: da ist etwas grundlegend faul. Da läuft etwas gänzlich schief.
Da stehen neue Grund-Entscheidungen an.
Da hilft kein Jammern „Hätte ich doch" oder „Die anderen sind schuld", sondern nur die Erkenntnis „Das ist falsch gewesen, da habe ich mitgemacht." und die Bereitschaft „Hier will ich mich ändern, da mache ich nicht mehr mit."
Es sind die jungen Menschen, die das offensichtlich begriffen haben, es zu ihrem Programm gemacht haben. Allen voran Greta Thunberg.
Ihre Unerbittlichkeit in der Sache stößt bei vielen mittlerweile auf Unverständnis, löst gar Aggressionen aus bis hin zu Morddrohungen. Man will sich nichts vorschreiben lassen, sich kein schlechtes Gewissen machen lassen, will weiter so gut und komfortabel leben wie bisher.
Greta Thunberg ergeht es da nicht anders als den alttestamentlichen Propheten. Gerade von Jeremia wissen wir, dass er überhaupt keine Lust hatte, mit seiner Botschaft vor sein Volk zu treten. Sein erstes Argument: „Ich bin zu jung!" Doch dieses Argument ließ Gott nicht gelten. „Sage nicht, ich bin zu jung; sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende; und alles predigen, was ich dir gebiete." Und dann vernimmt Jeremia noch etwas, was mit Blick auf Greta Thunberg wirklich spannend ist: „Ich will dich heute zur festen Stadt, zur eisernen Säule, zur ehernen Mauer machen im ganzen Land gegen die Könige Judas, gegen seine Großen, gegen seine Priester, gegen das Volk des Landes, dass, wenn sie auch gegen dich aufstehen, sie dir dennoch nichts anhaben können; denn ich bin bei dir."
Die Wahrheit zu Gehör zu bringen, das ist noch nie eine Angelegenheit gewesen, die dem Überbringer nur Anerkennung gebracht hat. Im Gegenteil: die Wahrheit stört - sie stört auf, sie beunruhigt. Weshalb Lügen es viel leichter haben, anzukommen. In unseren Tagen verkleidet als „andere Wahrheiten".
Wer für die Wahrheit die Stimme erhebt, muss gewappnet sein. „Ich mache dich hart", das vernimmt Jeremia. Die Angriffe sollen an dir abprallen; du kannst sie aushalten, ohne einzuknicken.
Auch Greta Thunberg erlebe ich als so von Gott her zugerüstet. Es ist ihr Asperger-Syndrom, das sie ehern macht, unerbittlich und bislang alle Angriffe aushalten lässt.
Dazu stehe ich: wir sind heute Augen- und Ohrenzeugen einer Prophetin; wir können erleben, wie es den biblischen Propheten ergangen ist. Hoffentlich sind wir klüger als die Zeitgenossen von Jeremia, die eben nicht bereit waren, von ihrem Lebensstil zu lassen, denen die Katastrophe so nicht erspart geblieben ist. Erst die nachfolgenden Generationen haben begriffen, dass er recht hatte mit dem, was er kritisiert hatte, wo er Umkehr und Veränderungen gepredigt hatte.
Ja, hoffentlich sind wir klüger - wir alle, nicht nur „die da oben", denn die da oben werden in den Demokratien von „denen da unten", also auch von uns gewählt.
Instrumentalmusik
Ja, wir sind in einer Krise, nicht nur die Wirtschaft durch Brexit und Klimakrise, sondern unsere ganze westliche Gesellschaft - und die Kirchen gehören dazu! Und das in einer Zeit, wo die Welt ein Dorf geworden ist. Wo es nichts mehr gibt, was nur uns hier in Deutschland betrifft, sondern wo alles mit allem zusammenhängt. Das ist anstrengend, keine Frage. Aber es ist so und wir dürfen davor nicht die Augen verschließen.
Uns ist durch die Globalisierung - ob wir sie gewollt haben oder nicht, ist hier völlig unwichtig - uns ist durch die Globalisierung eine weltweite Verantwortung füreinander zugewachsen.
Unser Wirtschaften und Konsumieren haben nicht nur Folgen für die Umwelt, für das weltweite Klima.
Unser Wirtschaften und Konsumieren kann auch das: Frieden fördern oder Krieg.
Aber wir wollen doch keinen Krieg, mögen sie jetzt erschrocken denken. Keiner ist doch für Krieg. Jeder will doch Frieden.
Schon möglich. Aber Frieden ist tatsächlich mehr und anderes, als Schweigen der Waffen. So wie der Krieg seinen Preis hat, so hat auch der Frieden seinen Preis.
Welchen?
Der, der Frieden will, muss für das Recht, für Gerechtigkeit sorgen. „Mein Volk will das Recht des Herrn nicht wissen" hört Jeremia die Klage Gottes.
Frieden braucht Recht und Gerechtigkeit.
In der Bibel wird uns Gott immer wieder als der vorgestellt, der Recht und Gerechtigkeit liebt. Friede, Schalom, ist nur denkbar als Frucht von Recht und Gerechtigkeit. Darum liegt Gott nichts so sehr am Herzen, als dass Gerechtigkeit unter den Menschen wohnt.
Gerechtigkeit im biblischen, im göttlichen Sinn meint immer Gemeinschaftsgerechtigkeit. Hat immer das Zusammenleben der Menschen auf allen Ebenen des Lebens und Arbeitens im Blick. Da geht es auch beim Recht nicht darum, dass der eine gegen den anderen Recht bekommt, dass das Lebensrecht des einen höher bewertet wird als das des anderen aufgrund seiner Herkunft, seines sozialen Status. Da geht es darum, das gesellschaftliche Leben so zu regeln, dass es dem Lebensbedürfnis eines jeden gerecht wird. Dass jeder Raum hat, sich und seine Gaben und Fähigkeiten zu entfalten, dass jeder die Möglichkeit hat, selbstbestimmt sein Leben zu gestalten.
Das Gegenbild dazu ist das ins Soziale übertragene Darwin'sche „Survival of the fittest", wo der Stärkste, der Klügste, der Einflussreichste, der Reichste das Maß aller Dinge ist und vorgibt, was Sache der Gemeinschaft ist.
Gerechtigkeit ist soziale Gerechtigkeit ist Gemeinschaftsgerechtigkeit - nicht nur vor Ort in unserer Gesellschaft, sondern weltweit.
Nach Gott und seiner Gerechtigkeit, seinem Willen für uns fragen in dieser Zeit können wir nicht mehr anders als in globaler Verantwortung.
Unser Problem ist, dass wir zwar technisch in der Lage sind, jederzeit überall in der Welt zu sein, aber unsere Seele ist noch nicht nachgekommen. Wir denken und handeln vielfach noch so, als gingen uns die Menschen in Afrika und Asien und Lateinamerika nichts an, als könnten wir unser Leben in Deutschland wie auf einer Insel gestalten. Sind wir noch gefangen im Blick auf die eigene Gesellschaft und fühlen uns schon überfordert, wenn 5 Millionen Menschen anderer Hautfarbe und Herkunft und Kultur unter uns und mit uns leben wollen. Und jetzt sollen wir uns auch noch Gedanken machen über die Lebensverhältnisse der Menschen in Afrika!?
Aber wenn wir wirklich Frieden wollen, in Frieden leben wollen, dann müssen wir uns dazu bequemen, den Blick zu weiten. Wir hier in Kaiserswerth müssen dann wenigstens einmal bis nach Garath und Eller schauen, begreifen, was soziale Not in unserer Stadt bedeutet - dass Hartz IV kein Dauerzustand sein kann. Der Ausgleich schon in Düsseldorf wird uns hier etwas kosten. Ich finde, es ist ein Skandal, dass die Bauplanungen für Kaiserswerth und Umgebung nur maximal 30% der neuen Wohnungen für Sozialwohnungen vorsehen und dass die Sozialbindung nur 15 Jahre beträgt. Klar, die Investoren wollen schnell Rendite. Aber es geht um den Frieden in unserer Gesellschaft - und der hat seinen Preis.
Und dann müssen wir in Deutschland und Europa gemeinsam nach Afrika sehen, uns dafür interessieren und dafür einsetzen, dass die Menschen dort eine Zukunft haben. Da geht es sofort an unseren Lebensstil - z.B. unseren Textil- und Kleiderkonsum, unseren Umgang mit Elektronik und dem anfallenden Elektroschrott, um unsere Essgewohnheiten mit einem überbordenden Fisch- und Fleischkonsum. Bislang lassen wir Millionen Afrikanern gar keine andere Lebensmöglichkeit, als die lebensgefährliche Flucht nach Europa.
Ja, das wird uns einiges kosten. Frieden und Gerechtigkeit auf dieser Erde haben ihren Preis.
Aber es lohnt sich, diesen Preis zu zahlen.
Es lohnt sich, abgeben und teilen einzuüben.
Es lohnt sich, sich für weltweite Gerechtigkeit einzusetzen.
Weil es dem Willen Gottes entspricht und weil wir nur dann
eine friedliche, lebenswerte Zukunft vor uns haben und die uns nachfolgenden Generationen zumal, in der wir keine Angst haben müssen, auf der Strecke zu bleiben, von anderen, nur weil sie stärker sind als wir, niedergemacht zu werden. Wer sich auf seine Stärke verlässt, der ist verlassen. Wer sich an Gott und seinem Willen orientiert, der wird sich für Gerechtigkeit weltweit stark machen und wird erleben, dass Gerechtigkeit und Frieden sich küssen, wie es in Ps.85 heißt.
So wird es uns von Jeremia vor Augen gestellt.
Wollen wir hinsehen, nachdenken und umkehren?
Das gebe Gott.
Amen.
20.So.n.Trinitatis, 03.11.2019, Stadtkirche, 1.Mose 8,18-22. 9, 12-17, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 20.n.Trin. - 3.XI.2019
1.Mose 8,18-22. 9, 12-17
Liebe Gemeinde!
Man muss kein Christ sein, um den November zu verstehen: Er sagt mit allen seinen Klängen und allem seinem Schweigen, mit seinem eigentümlich trüben Licht und seiner grauen Abschiedsluft jedem Blatt im Wind und jedem Lebewesen, das sich noch hält: Du musst sterben.
… Nicht, als wolle er Schrecken verbreiten. Uns hat dieser Monat zwei Kinder geschenkt, und die im November Geborenen haben nach einer vielleicht halbwegs nachprüfbaren Studie sogar die durchschnittlich längste Lebenserwartung. Aber auch langem Leben und Jahren mit sonnigen Sommern und einem satten Herbst gilt die Botschaft des Welkens und des Fallens, … die Botschaft der Endlichkeit. ——
Doch ist das wirklich so?
Spricht der sich schließende Kreis des Jahres wirklich vom Tod?
Für einen Menschen, der mit der Bibel lebt, rufen Ernte und Winter, Nacht und Frost ja eine ganz andere Erinnerung wach. Diese Atempausen in der Zeit, diese Stillstände und Einkehr-bewegungen sind doch die notwendigen Gegenstücke der Lebenskräfte und Lichtgeschenke der Natur. Verdorren und Saftigkeit, Ruhe und Überschwang sind so miteinander verschwistert, sind solche Doppelphänomene der zyklisch geschaffenen Welt, dass das eine immer schon das andere bedingt und in sich mitenthält: Helligkeit und Finsternis, Wachstum und Verzehr könnten jeweils nichts sein ohne ihr notwendiges Gegenteil, und wenn wir das eine erfahren, so klingt uns doch immer im Ohr, wie Gott auch das andere garantiert und in seiner unerlässlichen Rolle der Rekreation und Vorbereitung festgesetzt hat.
„So lange die Erde steht soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“
Nirgends ist die Bibel näher dran an Ying und Yang, an kosmischer Harmonie, an Öko-Idyll als im schönen Noah-Bund, dessen Stiftung wir gerade eben wieder hörten.
In diesen naturreligiösen Worten, die älter sind als alles, was wir dann in der Kulturgeschichte der biblischen Menschheit hören, ist die Welt in Ordnung. Und die Versuchung liegt nahe, den damaligen Zustand, der dem Ideal unbehandelter Streuobstwiesen und artenvielfalterhaltender Nationalparks und ressourcenschonenden Klimaschutzes entspricht, als das biblisch gebotene und gesegnete Weltbild zu einem einfachen politischen Maßstab zu machen: Das von Gottes mit dem Regenbogenzeichen besiegelter Verheißung dauerhafte zugesagte Gleichgewicht in der Schöpfung ist die Norm, der unser Verhalten, unsere Wirtschaft und Politik sich verpflichten müssen. … So wird der feierliche Naturschutzschwur Gottes im 8.Kapitel der Bibel sicher am häufigsten verstanden. Und so wird die Selbstverpflichtung Gottes sicher auch am häufigsten zu einem Vorbild für unsere Umweltverantwortung gemacht.
Doch so schlicht – dass im Haushalt der Natur und ihren Wechselprozessen nur das gottgegebene, ausgleichende Maß zwischen Frost und Hitze, Brache und Düngung, nachhaltigem Verbrauch und verbrauchsarmer Regeneration gehalten werden müsste, damit alles gut wird – … so schlicht sollte man sich die Welt wohl nur von montags bis samstags machen: Dass unsere Zeit, die das Maß verraten hat, sich entweder klar und einfach auf den Zweiklang von Haben und Geben, Gebrauchen und Sparen, Nutzen und Verzichten einstimmen muss oder das Ende aller menschlichen Verfügung über die Welt erleben wird, ist deutlich.
Doch diese unbestreitbar eindeutige Botschaft vom ökologischen Ying und Yang ist nicht die eigentliche Botschaft vom Noahbund, der unter dem Regenbogen geschlossen wurde, auch wenn sie vordergründig eine Botschaft für unsere Tage ist.
Sonntags muss man aber auch die Geschichte der Natur, wie sie uns in der Bibel begegnet, eher in ihrer Doppelbödigkeit betrachten.
Dann geht uns auf, dass das Versprechen, die Tages- und die Jahreszeiten, die Temperaturen und die Fruchtbarkeit der Erde sollten künftig Bestand haben, keine positive Gebrauchsanleitung für das Leben auf einem schönen Planeten ist, sondern die Bewahrung einer defekten, … ja, einer längst zerstörten Schöpfung!
Alles, was wir heute hörten – und das ist eine der unergründlichen Tiefen der Bibel! – …alles, was so klingt, wie der ursprüngliche Bauplan des Kosmos, ist nicht mehr Schöpfungsgeschichte, sondern Rettungsgeschichte nach einem ersten Weltuntergang.
Die Bibel erzählt – und das müssten wir uns gerade als Christen immer, immer wieder klar machen – die Bibel erzählt fast alles, was sie uns mitteilt, als Geschichten von jenseits des Todes!
Denn dass die Sintflut eine tragische Brechung der Wirklichkeit wie Gott sie gewollt hatte darstellt, dürfte unverkennbar sein. Zum zweiten Mal in weniger als sechs Kapiteln ist in den Tagen Noahs die Schöpfung durch den Menschen zerbrochen: Adam und Eva verursachten den Einbruch des Todes ins Leben und die Generation der Flut rief den fast vollständigen Untergang alles nunmehr ohnehin schon Sterblichen herbei.
Und so ist eine schrecklich zerstörerische Unfähigkeit, mit dem Leben zu leben, in die Welt gekommen durch den Menschen.
Was immer er in seiner kreativen Neugier, die über jeden Baum verfügen und jede Frucht schmecken will, anfasst, kann der Mensch radikal gefährden. Gewiss kann er auch flicken, erfinden und wohltätige Überraschungen zustandebringen durch dieselbe Neugier. Aber eines steht fest und wird nie zu verrücken sein: Ein Schöpfer, … sein Schöpfer kann der Mensch nicht werden. Das Leben ist nicht seine Erfindung und liegt nicht in des Menschen Hand. Darin liegt zu seinem unendlichen Unglück seit jenem Griff, der in Eden vor solcher Anmaßung nicht zurückschreckte, nur der Tod. …….
Und darum ist eine Welt, die allein dem Menschen überlassen wäre, immer auch eine tödlich bedrohte Welt.
Nun müssen wir uns aber eingestehen, dass genau dies die Welt ist, die die Mehrheit unserer Zeitgenossen zu kennen glaubt! Für die meisten Mitmenschen in unserer Gegenwart gilt wohl, dass niemand über der Welt steht, dass niemand über sie gebietet und wacht und dass niemand jenseits der Welt – vor ihrem Beginn, nach ihrem Ende – das Leben weckte und wieder wecken kann.
Darum ist es aber umso dringlicher, dass wir die christliche Perspektive, die biblische Perspektive nicht aus den Augen verlieren, in der eine Menschheit ohne Gott schlicht nicht denkbar ist! Von Anfang an braucht die Menschheit einen Retter und nach biblischem Zeugnis hat sie von Anfang an eben diesen: Sie hat Den, Der den Sündenfall und die Sintflut so wandte, dass beide Katastrophen nicht zur Auslöschung führten, obwohl der Mensch sie allein jeweils nicht überstanden hätte. ——
Das ist nun zweifellos ein unermesslicher Trost.
Doch was genau löst solcher Trost eigentlich aus, wenn schon die allerersten Seiten der Bibel von apokalyptischen Vorgängen sprechen, die nur durch Gottes Eingreifen verhindert werden konnten: Soll man am Menschen vollständig verzweifeln? Oder soll man seine selbst- und weltmörderische Zerstörungskraft im Gegenteil auf die leichte Schulter nehmen, weil es dank Gottes ja immer wieder „joot jejange hat“?
Soll man die Erde nun, im ausgerufenen Anthropozän – dem Zeitalter des menschengemachten Klimawandels, das nach dem Zerstörer des bisherigen Weltzustands seinen neuen Namen trägt – soll man die Erde im Anthopozän nun also als zum Scheitern verurteilt auf dem schnellsten Weg dem kurzen Prozess des Menschen überlassen? Oder soll man sorglos darauf wetten, dass die Sünden- und die Sintflutkrise eine Blaupause abgeben, nach der auch die Klimakrise durch Gottes Gnade zu lösen sein wird? …….
Oder könnte der Blick auf das zerstörerische Treiben des Menschen und das Rettungswerk Gottes uns zwischen Zynismus und Leichtfertigkeit nicht etwas Drittes lehren?
Genau das ist doch wohl die Botschaft des Noahbundes, in dem zwei schreiende Gegensätze versöhnt werden.
Ausgerechnet der Verzicht auf weitere Strafen, ausgerechnet die Verheißung des dauerhaften Segens nach der Sintflut, ausgerechnet diese Errettung aus dem Tode wird in Gottes Wort ja begründet mit dem nüchternsten Menschenbild, das es nur geben kann:
Dass das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf, bewegt Gott dazu, hinfort das Dasein und den Lebensraum und Lebensrahmen dieses Mängelwesens nicht mehr infrage zu stellen.
In der aus dem Meer des Todes, aus der Sintflut geretteten Welt nach Noah herrscht also nicht Vollkommenheit. Im Gegenteil: Die von Gott aus dem Grab des Bisherigen gerufene Menschheit besteht nun nicht aus solchen, die aus sich heraus Schonung verdient hätten oder Gefahrlosigkeit versprechen könnten. Sie bleiben gefährliche und gefährdete Geschöpfe.
So lange die Erde steht, auf der solche Menschen leben, so lange wird sich nichts auf ihr von selbst verstehen, wird nichts von sich aus schlicht „laufen“.
Doch weder ist die Welt darum hoffnungslos, noch wäre sie jemals einfach auf der sicheren Seite.
Der Mensch ist ein stetes Risiko für die Schöpfung; der Schöpfer aber verspricht genauso stetig, ausgleichend für die Welt einzustehen, die Saat brauchen wird, wenn es Ernte geben soll, die zum Abbau ihrer Hitze der Kälte bedarf, in der es neben der guten auch die harte Zeit des Jahres geben wird und deren Licht immer auch Schatten und Finsternis hervorruft.
Es ist also weniger die ideale natürliche Harmonie, die in der Zusage Gottes an Noah beschworen wird, als vielmehr die Verheißung, dass Gott, der Retter aus dem Tod und Richter über die Sünde unermüdlich zu sein verspricht bei seiner Bewahrung der unsicheren Welt.
Wenn wir das aber erkennen – dass die scheinbar naturgesetzliche Stabilität des Weltsystems nicht ein Urzustand ist, den man bewahren oder als Ziel verordnen könnte, sondern ein Zeugnis der Gnade, mit der Gott sich gegen alle Abbrüche und Einbrüche der menschlichen Hybris einsetzt –, dann kann sich weder Kleinmut noch träge Gelassenheit aus der Einsicht in das stetige und zuverlässige Heilswerk ergeben, das Gott auch in der Natur beweist.
Wenn die uns heute bekannte Natur nämlich nicht als Ergebnis seines ersten Schöpfungswerkes, sondern als Ausdruck des zweiten Werkes Gottes – des Einsatzes für die Rettung des bedrohten und bedrohlichen Menschen – zu begreifen ist, dann muss sie uns ja umso mehr am Herzen liegen.
In solchem biblischen Verständnis der nachsintflutlichen Kreatur und materiellen Wirklichkeit als einer Überlebenden der menschheitlichen Urkatastrophe und darum als Mittel der Gnade Gottes im Kampf um die Zukunft seines Ebenbildes, wird dann aber auch der Auftrag unserer Umweltverantwortung aus dem ersten Artikel des Glaubensbekenntnisses – „Von Gott, dem Schöpfer der Welt“ – in den zweiten Artikel aus-gedehnt: „Von Gott, dem Retter, dem Heiland der Welt“.
Es geht eben nicht darum, das verlorene Paradies in der wahrhaftig ja auch nicht naiv zu verherrlichenden Natur zu suchen und zu pflegen, sondern es gilt, das kommende Reich Gottes – in dem dann endgültig und für immer alle Schuld und der Tod, alle Sünde und Sintflut überwunden sein werden – nicht zu gefährden, indem man Gottes Wege für die Menschheit auf’s Spiel setzt.
In dieser Erwartung, dass der versprochene dauerhafte Wechsel der Prozesse, die das Leben erhalten, ein Ziel hat – nämlich die endgültige Rettung der Welt – wird die Dringlichkeit der heutigen ökologischen Fragen für uns Christen erst unmissverständlich deutlich: Nicht das Klima, nicht der Regenwald, nicht der Schutz der Arten an sich sind Selbstzwecke. Aber weil Gott mit allem Fleisch, das auf Erden ist, einen Bund geschlossen hat, der sich erfüllt, wenn alles – wie Noah und die Seinen und mit ihnen die Kreaturen – vom Tod errettet ist, … darum sind die großen Themen unserer Zeit wahrhaft christliche Anliegen!
Denn alles, was uns umgibt – gerade im November, der letzten Zeit vor dem Advent, in dem wir ganz bewusst das Ewige erwarten – …. alles, was uns umgibt, was mit uns wächst und reift und besteht, zehrt von der Verheißung und weist auf sie hin: Du wirst leben!
Und das ist gewiss: Am schönsten, am einfachsten und am unvergesslichsten bezeugt diesen ewigen Bund zwischen Gott und allem Fleisch der Bogen in den Wolken, den die Christen immer schon unter den Füßen des endgültig Erscheinenden sahen.
Denn im letzten Buch der Bibel, da leuchtet er wieder – der Bogen, den Noah nach der ersten Rettung der Welt aus dem Tod erblickte (vgl.Offenb.4,3 und 10,1), und vom Thron, um den der Regenbogen steht, hören wir die Stimme:
„Ich mache alles neu!“ (Offenb.21,5)
Amen.
Reformationstag, 31.10.2019, Stadtkirche, 5.Mose 6, 4 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reformationstag 2019
5.Mose 6, 4-9
Liebe Gemeinde!
Was wir hier feiern, ist nicht der Reformationstag.
Reformationstag ist, wenn in westdeutschen Kirchen vormittags Menschen, die nicht arbeiten müssen oder für ihren kirchlichen Dienst bezahlt werden, eine Versammlung mit Festrede abhalten: Da hörten sie bis vor einigen Jahrzehnten Würdenträger feierliche Dinge über das große geistesgeschichtliche Erbe des Protestantismus tönen; dann vernahm man etliche Jahre lang politisch-kritische Erklärungen mit entsprechend gefärbten Halstüchern über Rassenfrage, Weltfrieden und Atomkraft, bis man in jüngster Zeit auf schön populäre Bestseller-Bischöfe und -innen sattelte, die ganz sanft Themen der Lebensmitte, der Seelenbalance und der metaphysischen Ökologie aller religiösen Gewächse ausbreiten.
Reformationstag ist also eine Sache für wenige akademische oder gewohnheitstreue Beamten, Ruheständler und Regelmäßige.
Wir dagegen feiern hier etwas anderes. Einen anderen Tag und andere Leute.
In biblischer und kirchlich-liturgischer Zeitrechnung ist laut unseren Armbanduhren nämlich seit Sonnenuntergang nicht mehr der Tag der selbstvergewissernden Festreden einer frühneuzeitlichen Sondergruppe in der Christenheit, sondern eine universalere Feier hat begonnen. Die Feier, die auch historisch den Anlass gab, dass Luther vor oder nach der ersten Festmesse die Tür der besonders gerade mit diesem Fest verbundene Schlosskirche[i] als Aushängekasten nutzte, … die Feier, die jetzt mit dem Vorabend des 1.November begann und beginnt, ist die Feier Aller Heiligen!
Und wenn wir es ernst nehmen, dass der Beginn der Reformation sich seit Menschengedenken ausgerechnet an dieses Fest geknüpft hat, und wenn wir die verblassten und überholten konfessionellen Abgrenzungen einmal auf sich beruhen lassen, dann könnte uns tatsächlich aufgehen, wie sach- und evangeliumsgemäß es ist, dass die evangelische Kirche ihrer Ursprünge an keinem anderen Tag gedenken sollte, als am Tag der universalen, weltgeschichtlichen Fülle aller Heiligen.
Kein geringeres Selbstbewusstsein darf nämlich alles haben, was – mit Luthers anschaulicher Drastik gesprochen – „aus der Taufe gekrochen ist“. Jeder getaufte Christenmensch soll wissen und glauben, dass er ein Teil der allergrößten und umfassendsten Gemeinschaft der Welt ist: Ein Glied der Una sancta – der einen Heiligen – nämlich der Gemeinde Gottes, ein Glied jener Gemeinde, die nach Calvin „alle Auserwählten Gottes (umfasst), unter deren Zahl auch die einbegriffen werden, die bereits verstorben sind“ (Institutio IV 1,2) und die dabei so uranfänglich und ewig ist, dass der Heidelberger Katechismus bekennt (Fr.54), „daß der Sohn Gottes aus dem ganzen menschlichen Geschlecht sich eine auserwählte Gemeinde zum ewigen Leben, durch seinen Geist und Wort, in Einigkeit des wahren Glaubens von Anbeginn der Welt bis ans Ende versammelt, schützt und erhält.“
Nichts anderes ist also die Reformation als die Einladung an alle Menschen, sich nicht durch Geldforderungen und nicht durch menschliche Skandale, sich weder durch Selbst- oder Gottes-Zweifel noch durch religiöse Einschüchterung, sich ebenso wenig von Minderwertigkeitskomplexen wie von eigenen gottlosen Einbildungen weismachen zu lassen, man sei nicht kirchenfähig, nicht gnadenvoll, nicht gottgewollt, nicht heilig. …
Die Entdeckung, dass Gottes Wort jeden Menschen ansprechen will, dass die Heilsbotschaft von der Gnade radikale Dimensionen bedingungsloser Einschließlichkeit für alle Sünder der Welt besitzt, … die Entdeckung, dass Berufung und Gerechtigkeit und Priestertum – also Gebets- und Gottesdienst – allgemeine Geistesgaben für die Glaubenden sind, … die Entdeckung, dass man aus dem durch Gottes Erwählen gestifteten Bund nicht austreten kann, wie schuldig, wie trotzig, wie vergesslich man auch sei, weil in Jesus Christus aller Menschen Verlassenheit und Verlorenheit zu Gottes ganz eigenem Leid gemacht und in Gottes restlosen Sieg darüber verschlungen sind, … die Entdeckung des großen, freien, vollen Heils, das Gott seinen Menschen eröffnet und im Bund mit Israel, in den apostolischen Gemeindegründungen, in der heiligen, christlichen Kirche mit ihnen teilt … diese Entdeckung, dass das Reich aller Heiligen uns allen offen steht, ist die Reformation: Mit der besonderen Verwunderung und dem immer wieder frischen Staunen darüber, dass die offenstehende Welt Gottes, dass der einladende Kreis des Heils, der Geheilten, der Heiligen wirklich auch als Platz für mich gemeint ist – … den Skeptiker, den Spötter, den Schüchternen, den Stumpfen, … den Sünder?!!
Auch dieses beinah ungläubige Verdutzt-Sein darüber, wohin man gehört und wer man sein darf, wenn man ein Christ ist, … dieses augenreibende Glückszwinkern der Beschenkten, der Heimgekehrten, der Aufgenommenen, beschreibt der Heidelberger Katechismus, wenn er die Erwähnung der ewig auserwählten Gemeinde münden lässt in die zögerlich-herzklopfende Überwältigung durch die unzweifelhafte Tatsache, „daß ich derselben ein lebendiges Glied bin und ewig bleiben werde.“ (Fr.54)
Dieser Satz, den man nicht oft genug wiederholen kann, ist die kürzeste, direkteste Übersetzung der großen, manchmal spröden reformatorischen Entdeckung von der Rechtfertigung aus Glauben:
„Ich … auch ich gehöre dazu! Das ist nicht mein Erfolg. Nicht mein Verdienst. Erst recht nicht: »Mein Kampf«. Aber Gott meint es ernst: Auch ich gehöre dazu!“
Und darum wäre ein gutes, gesundes und gesegnetes evangelisches Grundgefühl – wenn man es denn nicht spießig, nicht kitschig, nicht elitär und nicht vereinsmeierisch neuerfinden könnte – … ein gut-evangelisches Grundgefühl wäre das Gefühl der Zugehörigkeit: „… daß ich ein Glied derselben bin!“
Dieses Gefühl sollte uns wärmen, wenn wir einen barocken Hochaltar voller flatternder Engel und purzelnder Putten betrachten, genauso wie da, wo uns die Wellen und Wogen des Protestes und der Hoffnungen junger Menschen auf der Straße begegnen.
„Daß ich ein Glied derselben bin“, das sollte uns durch Kopf und Herz gehen, wenn wir einen freikirchlichen Gottesdienst ohne Formen und mit viel schlichtem Enthusiasmus mitfeiern genauso wie dort, wo die zeitlose Klarheit und Strenge der gregorianischen Tradition unser Beten läutert.
„Daß ich ein Glied derselben bin“, das dürfen wir uns sagen, wo die Kraft der Christen kirchengründend den Untergrund durchbricht oder trostlose Gesellschaften erneuert wie rasend in China und in weiten Teilen Afrikas; aber „daß ich ein Glied derselben bin“, soll jeder von uns auch spüren, wenn er das Kreuz der Kirche sieht, die verfolgt und umerzogen und gefoltert und getötet wird in Lagern und Landstrichen rund um den Globus.
Ich, … auch ich gehöre dazu: Zur christlichen Minderheit, die den Sozialismus überstanden hat, zur langweiligen, blass gewordenen Normalkirche der dreiviertelsäkularisierten Gewohnheitsgemeinden, die wir noch kennen, zur diskussions- und musikbewegten Kirchentagscommunity, zu den kreativen, experimentellen, virtuellen Christus-Missionen in die zersplitterten Lebensräume der Postmoderne.
Ich, … auch ich gehöre dazu, wenn sie in Taizé oder in Gnadenthal auf Zeit oder für immer nach Gemeinschaftsformen der verbindlichen Nachfolge suchen; ich, … auch ich gehöre dazu, wenn leere Klöster in Frankreich oder mitten in Köln eine neue Ordensvielfalt der Armen, der Betenden, der Brennenden und Liebenden sammeln.
Du, … auch du bist ein Glied derselben, einen und ewigen Gemeinde.
Du bist einer von allen Heiligen! ——
Und es ist keine Phantasiereise, sondern eine Wanderung des Glaubens wie in der göttlichen Komödie, wenn wir jetzt durch die Stufen und Regionen, durch die historischen Zeitzonen und die archäologischen Schichten dringen wollten, um die ganze Länge und Breite, die Höhe und Tiefe jener unvergänglichen Gemeinschaft zu ermessen, in die das Wort uns ruft, das Vertrauen uns führt und Christus jeden von uns vertretend stellt.
Man ahnt und soll sich nach Lust und Laune ausmalen, wie voll die Menschheit an solchen Heiligen, wie Du und ich es sind, ist und war und bleibt. Man ahnt, wie die Fülle und Abwechslung im Mischgewebe der Christenheit farbenprächtig und vielfältig ist und uns doch überall einlädt, zu begreifen, dass wir ein Glied derselben sind:
Ob’s die rockenden Harlem Gospel Singers oder die mattgoldenen Vierzehn Nothelfer des Mittelalters wären, … die zungenredenden Pfingstler, die stummen Quaker, … die steifen Wohltäter, die die Diakonie anfingen, oder die draufgängerischen Jesus-Liebhaber, die Herrnhut in alle Welt sandte, … die sinn- und segenslos Kämpfenden des Dreißigjährigen Krieges, … die herrlichen, mutigen, wilden, gerechten und sündigen Befreier und Begeisterer von 1517 bis 1555, … die franziskanischen Alternativen, die die Vögel auf den Dächern zu Christen machen konnten … oder die schreibenden, schreibenden, schreibenden Bewahrer und Deuter der Lichtes in dunklen Zeiten, als außerhalb der Konvente und Einsiedeleien die Kultur zusammenbrach, … ob’s die großen Redner von Konstantinopel oder die unermüdlichen Apostel und Apostelinnen wären, die zwischen dem Nil, dem Euphrat und dem Ganges ganze Völker zu frühen christlichen Reichen formten, … ob’s die lieben Philipper oder die zickigen Korinther wären, … überall muss – wenn die Wahrheit uns frei macht von allen Vorurteilen und Verboten – uns aufgehen, dass wir dazugehören!
Das ist herrlich!
Doch Vorsicht.
Gemütlich ist es nicht. Bequem ist es nicht.
Landeskirchlich und ortsgemeindlich ist es nicht!
Weil’s mehr gibt, als nur die sächsischen Fürsten oder die rheinischen Synoden, mehr als die Schweizer Kantonskirchen oder die Altpreußische Union.
Dieses „daß ich ein Glied derselben bin“, das bürgert uns – wenn wir die provinzielle Verfassung, die uns die Reformation hinterlassen hat, in der man kurhessisch-waldeck’sch oder pfälzisch oder hannöver’sch oder württembergisch evangelisch sein soll, endlich überwinden – …. dieses „daß ich ein Glied derselben bin“, das bürgert uns auch aus!
Ein Christ in der Freiheit der Kinder Gottes, in der Familie der Erlösten des HERRN zu sein, macht uns auch – und in zahlenmäßiger Hinsicht: überwiegend – zu Brüdern und Schwestern der ganz anderen Heiligen.
Wie vieles an Kirche gibt es, das nicht europäisch geformt und gefärbt ist: Die Batak-Kirchen, die unsere Missionare auf den Inseln Indonesien ermöglichten; die immer mehr inkulturierten Christentümer der asiatischen Welt; die gigantische Glaubenslandschaft des christlichen Afrika; das amazonische Christentum, durch das die katholische Kirche in den letzten Tagen einen zukunftsträchtigen Globalisierungsschub erlebt habt; die uralten Völker des christlichen Kaukasus; die indischen, iranischen, irakischen, syrischen und äthiopischen Wiegen der ersten Liturgien und ältesten Theologie der Kirche, das ganze Griechisch, Koptisch, Chaldäisch und Aramäisch sprechende Volk der Getauften, die bis heute die Welt des Urchristentums besiedeln und deren Heimat uns heilig sein sollte als Quelle der Kirche, … und alle ihre Millionen christlichen Geschwister und Nachfahren, die auf Arabisch bekennen, dass Issa al-Massih, der Sohn der Jungfrau Maryam zugleich der Sohn Alla’hs ist! …….
„Daß auch ich ein Glied derselben bin …“: Das zu betrachten und zu bekennen, ist nun allerdings doch eine ungewohnte Übung am reformatorischen Allerheiligen-Vorabend.
Es zeigt uns die andere Seite der weltweiten und überzeitlichen Gemeinschaft aller Glaubenden:
Sie beheimatet uns in der Fremde und macht uns zu Fremden in der Heimat.
Wer den freien Ruf der Gnade hört, wer dem befreienden Wort Christi folgt, wer auf die freie Einladung, dazuzugehören, eingeht, der muss erst einmal ausziehen können, wie Luther und Calvin und ihre Generation auszogen aus den Lügen einer Seelenknechtschaft und Traditionsverhaftung, die Gott verriet!
Wer die freie Einladung in die Gemeinschaft aller Heiligen befolgen will, der muss zunächst „die gottlosen Bindungen dieser Welt“ (Barmen II) hinter sich lassen können … die Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten, den Ich-Sinn und das Wir-Gefühl, die kleine überschau-bare Parzellen des Eigenen und der Selbstverteididgung schaffen, die am Reformationsfest so oft als Selbstbeweihräucherung auftreten, wenn wir uns evangelischer Bespiegelung und Kirchtürmlichkeit und Trotzigkeit – „das Reich muss uns doch bleiben!“ – hingeben.
Schluss damit!
Am Ende, vielmehr am Anfang der Glaubensreise durch die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe der auserwählten Gemeinschaft, deren Glied auch wir sind, steht keiner von uns.
Der Ursprung der einen Gemeinde, deren Glied auch wir sind durch’s Wort der Gnade – und das macht das Wunder des „Auch du gehörst dazu“ erst eigentlich aus – … der Ursprung der einen Gemeinde ist ein anderes, das ältere, das erste Volk des Eigentums.
Der Ursprung aller Heiligen ist Israel, dessen Glaubensbekenntnis wir heute auch unter den Heiden, die dazugehören sollen, als den neuen Predigttext, den alten Grundtext von allem hören, was Menschen frei zu Gott und fremd in der Welt und als Glied Desselben daheim allein in Ihm macht:
Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer.
Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.
Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst.
Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.
Amen.
[i] In der recht neuen Wittenberger Schlosskirche hatte Kurfürst Friedrich der Weise eine der allergrößten spätmittelalterlichen Reliquiensammlungen – die Heiltumbskammer – zusammengetragen, die am Fest aller Heiligen einen wichtigen Anziehungspunkt darstellte … auch wegen der mit den Reliquien verbundenen Ablässe. Der 1.November war mithin so etwas wie das Patronatsfest dieses bedeutenden Kirchenschatzes, den übrigens Cranach wirkungsvoll in Holzschnitten inventarisiert und damit beworben hat.
18.S.n.Tr., 20.10.2019, Mutterhauskirche, Jak.2,14-26, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
die Überarbeitung des liturgischen Kalenders der Evangelischen Kirche in Deutschland bietet uns am heutigen Sonntag eine echte Überraschung. Ich habe es selber kaum fassen können, als ich vor Wochen im Perikopenbuch den vorgeschlagenen Predigttext las, ein recht langer Abschnitt aus dem Jakobusbrief. 11 Tage vor dem Reformationstag, dessen 500. Jubeltag 2017 wir ja noch in guter Erinnerung haben, wird uns ein Text vorgelegt, der nichts weniger ist als eine Provokation, aber eine gute, eine heilsame, eine not-wendige Provokation. Und diese Provokation heißt: „Der Glaube ohne Werke ist tot." Ich weiß, dass Martin Luther das ganz anders beurteilen würde und beurteilt hat; denn wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte es den Jakobusbrief in der Evangelischen Bibel nicht mehr gegeben. Das war ja das Credo Luthers „Der Glaube allein macht selig und gerecht - die Werke nützen nichts." Oder anders „Solus Christus - Sola fide". Paulus war für ihn der rechte Apostel, Jakobus lag ihm schwer im Magen.
Und diese „Wertschätzung" hat Luther den Evangelischen vererbt: der Glaube ist gut - die Werke sind schlecht.
Immerhin: Jakobus hat die Reformation überlebt. Sein Brief findet sich in unserer Bibel. Auch in der Luther-Bibel.
Hören wir einmal, was Jakobus uns zu sagen hat, wie er die Botschaft Jesu verstanden hat, wie er sie in seinen Alltag einbezogen hat.
„Was hilft's, Brüder und Schwestern, wenn jemand sagt, er habe Glauben, und hat doch keine Werke? Kann denn der Glaube ihn selig machen?
Wenn ein Bruder oder eine Schwester nackt ist und Mangel hat an täglicher Nahrung und jemand unter euch spricht zu ihnen: Geht hin in Frieden, wärmt euch und sättigt euch!, ihr gebt ihnen aber nicht, was der Leib nötig hat - was hilft ihnen das?
So ist auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, tot in sich selber.
Aber es könnte jemand sagen: Du hast Glauben, und ich habe Werke. Zeige mir deinen Glauben ohne die Werke, so will ich dir meinen Glauben zeigen aus meinen Werken. Du glaubst, dass nur einer Gott ist? Du tust recht daran; die Teufel glauben's auch und zittern. Willst du nun einsehen, du törichter Mensch, dass der Glaube ohne Werke nutzlos ist?
Ist nicht Abraham, unser Vater, durch Werke gerecht geworden, als er seinen Sohn Isaak auf dem Altar opferte? Da siehst du, dass der Glaube zusammengewirkt hat mit seinen Werken, und durch die Werke ist der Glaube vollkommen geworden. So ist die Schrift erfüllt, die da spricht: „Abraham hat Gott geglaubt und das ist ihm zur Gerechtigkeit gerechnet worden", und er wurde „ein Freund Gottes" genannt. So seht ihr nun, dass der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durch Glauben allein.
Desgleichen die Hure Rahab: Ist sie nicht durch Werke gerecht geworden, als sie die Boten aufnahm und sie auf einem anderen Weg hinausließ? Denn wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot."
Sie müssen zugeben: für evangelisch sozialisierte Ohren ist das eine ziemliche Provokation.
- Kann denn der Glaube ihn selig machen?
- Der Glaube ohne Werke ist tot in sich selber.
- Der Mensch wird durch Werke gerecht, nicht durch Glauben allein.
- Wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot.
Und dann noch die Auslegung über Abraham, diesen „Vater des Glaubens": der eben nicht nur einfach Gott geglaubt hat, sondern getan hat, was Gott ihm zu tun aufgetragen hat, und genau das wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet; sein Glaube wurde durch die Werke vollkommen.
Ja, es stimmt: das klingt bei Paulus und Martin Luther doch ziemlich anders.
Haben die nicht immer und immer wieder betont, dass es allein auf den Glauben ankommt? Dass Werke sogar schädlich sind, den Menschen dazu verführen zu meinen, sie könnten ihrer Seelen Seligkeit selbst bewerkstelligen? Geht es beim Glauben nicht um die Gnade Gottes, darum, dass er alleine uns selig machen kann, uns gerecht machen kann?
Ja, ich selber bin noch mit diesem Verständnis ins Studium gegangen und aus dem Studium herausgekommen:
Der Glaubensgerechtigkeit steht diametral die Werkgerechtigkeit gegenüber; die erste ist hui, die zweite pfui; die erste ist gut evangelisch, die zweite eben katholisch.
Doch damit werden wir nicht nur Jakobus nicht gerecht, sondern auch Jesus nicht. Und darüber hinaus schaden wir uns selbst. Denn Glaube und Werke gehören zusammen - wie Reden und Tun, oder besser: wie Hören und Tun, wie Denken und Handeln.
Liebe Gemeinde, hier ist Jakobus wirklich viel näher bei Jesus als Paulus. Denn Jesus hat gesagt (so ist es in der Bergpredigt bei Matthäus zu lesen): „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel." Ja, was hilft's, den richtigen Glauben, das richtige Bekenntnis, die richtige Überzeugung zu haben - wenn sie keine „Früchte" trägt, sprich: wenn sich nichts positiv im Alltag verändert.
Und damit ist Jakobus brennend aktuell.
Was hilft's, wenn man erkennt, dass die Klimawende wirklich notwendig ist, aber selber kauft man noch schnell einen SUV, oder bucht eine Kreuzfahrt in die Karibik?
Was hilft's, wenn die Regierungsparteien aus lauter Sorge um ihre Wiederwahl, man kann auch sagen: aus lauter Angst vor dem Wahlvolk, das der Devise folgt „Wasch mich, aber mach mir den Pelz nicht nass", zwar von der Klimawende reden, aber ihren Worten keine Taten folgen lassen, die auch nur halbwegs positive Effekte zeigen?
Was hilft's, wenn man sich für den Tierschutz ausspricht, aber im Supermarkt ein Kilo Rinderhack für 3,99 Euro in den Einkaufswagen legt?
Was hilft's, wenn man sich zum Grundgesetz samt Artikel 1 bekennt, aber als Wohnungseigentümer keinen Mieter haben möchte, der einen türkischen oder arabischen Namen hat.
Was hilft's, wenn man natürlich für Inklusion in den Schulen ist, aber sich im Urlaub bei der Reiseleitung darüber beschwert, dass am Nachbartisch eine Familie mit einem behinderten Kind sitzt.
Was hilft's, dass man natürlich junge Menschen für die Kirche und für den Gottesdienst gewinnen will, aber es soll alles so bleiben, wie es schon immer war - die Liturgie, die Lieder.
Liebe Gemeinde, ich denke, sie haben gemerkt, wie aktuell dieser Brief des Jakobus ist, wie er mitten hineingreift genau dorthin, wo es schmerzt.
Ja, wir sind schnell dabei mit den richtigen Bekenntnissen und Einstellungen, wir sind für Umweltschutz und Klimawende, wir sind für Gerechtigkeit und Frieden - aber bitte, bitte, das darf uns nichts kosten, das darf unseren ruhigen Lebensablauf nicht durcheinanderbringen.
Es sind schon harte Sätze, die uns Jakobus da auf den Tisch legt oder auch an den Kopf wirft:
- Der Glaube, wenn er nicht Werke hat, ist tot in sich selber.
- Du glaubst, dass nur einer Gott ist?
Du tust recht daran; die Teufel glauben's auch und
zittern.
- Seht ihr nun, dass der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durch Glauben allein.
- Denn wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot.
Harte Sätze für eingefleischte Protestanten, die sich seit der Reformation am „Sola fide" - „allein aus Glauben" festhalten.
Wie geht das nun zusammen?
Ich glaube nicht, dass Jakobus sich hier von Paulus und seiner Botschaft von der Vorrangstellung des Glaubens und der Gnade Gottes, die uns geschenkt wird, absetzen wollte; es ist noch nicht einmal klar, ob er überhaupt die entsprechenden Briefe des Paulus kannte. Dass Gott uns in seiner Güte annimmt, uns seine Liebe geschenkt hat, das steht auch für Jakobus fest. Aber ihm geht es - und da ist er wirklich anders unterwegs als Paulus - ihm geht es nicht so sehr um die Beziehung zwischen Gott und Mensch, als vielmehr um die Beziehungen der Menschen untereinander. Es geht weniger um das Thema „Erlösung" als vielmehr um das Thema „Weltverantwortung". In der Welt, dort zeigt sich, ob der einzelne Mensch aus dem Glauben heraus lebt und handelt oder ob er sich den gerade herrschenden Verhältnissen angepasst verhält oder seiner Bequemlichkeit nachgibt. Wenn er letzteres tut, dann - so Jakobus - ist sein Glaube tot. Da kann er noch so viel mit dem Mund bekennen. Modern ausgedrückt wendet sich Jakobus hier gegen das „Sonntagschristentum", das den Glauben in die Innerlichkeit einschließt, ihn auf das ganz persönliche Verhältnis Mensch - Gott oder Mensch - Jesus begrenzt. Alles andere ist dann Politik, die nichts mit dem Glauben zu tun hat.
Offenbar hat Jakobus hier Gemeinden vor Augen, bei denen das notwendige Zusammenspiel von Glauben und Handeln zerbröselt. Dagegen schreibt er seinen Mahnbrief.
Wer den ganzen Jakobusbrief liest, der wird immer wieder darauf hingewiesen, dass für den Glaubenden nur eines wirklich wichtig ist: sein Leben aus Gottes Wort und Weisung zu leben, eben zu hören und zu handeln - und so die richtige „Antwort" auf Gottes Zuwendung, auf seine Güte zu geben.
Wie diese Antwort im Einzelnen aussieht, das muss immer wieder neu überlegt und bedacht werden. Es gibt keine fertigen Antworten in der Bibel, sondern nur Wegmarken oder Leitlinien - und diese sind immer in ihren geschichtlichen Zusammenhängen zu bedenken. Ja, der Glaube ist etwas für mündige Menschen, er führt immer in den kritischen Diskurs.
Und ja, der Glaube basiert auf dem Vertrauen, dass Gott jeden Menschen wertschätzt, dass er zu jedem sein Ja spricht, noch bevor dieser überhaupt in der Lage ist, ihm zu antworten. Aber die Antwort muss eben kommen. Gott erwartet, dass er wertgeschätzt wird, indem der Mensch die Werte, für die Gott steht, umsetzt und für sie einsteht mit Hand und Fuß und natürlich auch mit seiner Stimme. „Seid Täter des Wortes und nicht nur Hörer", fordert Jakobus im ersten Kapitel seines Briefes. Und das heißt: Übernehmt endlich die Verantwortung, die euch von Gott her übertragen ist, und handelt. Ihr seid keine unmündigen Kinder mehr, sondern die Erben. Verspielt nicht das, was euch anvertraut ist. Verspielt es nicht, indem ihr etwas Falsches tut, aber verspielt es auch nicht, indem ihr gar nichts tut.
Liebe Gemeinde, Jakobus ist unbequem - gerade für uns Protestanten. Nachdem wir uns seit 500 Jahren in der von Martin Luther so hoch geschätzten paulinischen Lehre „allein aus Glauben" eingekuschelt haben, haben die Worte des Jakobus fast die Wirkung einer kalten Dusche. Und gleichzeitig sind sie genau der richtige Ruf in dieser Zeit. Und weil die Christen, die Kirchen auf Jakobus nicht gehört haben, hat der Heilige Geist inzwischen noch ganz andere Wege gefunden, diesen Ruf „Seid Täter - tut was - übernehmt Verantwortung" laut werden zu lassen - um Gottes und der Menschen willen, um des Lebens auf dieser Erde willen. Es schreien nicht die Steine (Lk.19,40), sondern Kinder und Jugendliche und das weltweit.
Lassen wir uns aufrütteln; es kann nicht mehr einfach so weiter gehen wie bisher, jedenfalls nicht, wenn uns das Leben auf dieser Erde am Herzen liegt. Gott liegt es am Herzen. Er will, dass wir umkehren, dass wir die Ressourcen der Erde nicht ausbeuten für unseren Wohlstand, sondern so gebrauchen, dass alle Menschen und Tiere miteinander gut leben können; darin zeigt sich seine Gerechtigkeit, die Gemeinschaftsgerechtigkeit ist. Zu dieser Gerechtigkeit hat uns Christus befreit und berufen. Schenken wir ihm also Glauben, vertrauen wir ihm und zeigen dieses durch unser Tun und Lassen.
Amen.
17.n.Trinitatis, 13.10.2019, Stadtkirche, Josua 2, 1- 21, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 17.n.Trin. - 13.X.2019
Josua 2, 1 - 21
Liebe Gemeinde!
Abscheuliche, kranke Ausbrüche einer männlichen Kleinkinder-Wut und eines widerwärtigen Hass-Erbes im Abendland, in dem Abrahams Kinder und Jesu Glaubensgeschwister vor den sogenannten Christen nie sicher sein konnten … solche Ausbrüche des alten Elends, das uns anhängt, schreien geradezu nach neuen Wegen des Denkens und Handelns.
Und so ist die Geschichte einer heldenhaften, helfenden Hure, einer Außenseiterin, die die ersten Israeliten in Israel retten kann, natürlich ein Glücksfall für alle zeitgenössischen Theologien und es ist wenig Wunder, dass diese schwierige und zwielichtige Episode tatsächlich denn auch jüngst unter die Predigttexte kam. In dieser Erzählung ist schließlich alles enthalten, was heute auf der Tagesordnung steht: Ihre Hauptgestalt ist weiblich, ihre Sexualmoral straft alte kirchlichen Vorstellungen Lügen, sie bringt die unkonventionelle Farbe der nichtisraelitischen Kulturen in die Bibel und sie befolgt Impulse, die es mit der Wahrheit nicht so genau, dafür aber mit der Solidarität umso ernster nehmen.
Wer also nicht direkt über Carola Rackete, die beherzte Seenotamazone und Klimaretterin meditieren will, findet in der multikulturellen Grenzüberschreiterin Rahab und ihrem feministischen Ethos der Mitmenschlichkeit einen würdigen biblischen Ersatz.
Dabei ist – obwohl die Passgenauigkeit dieses Schnittmusters zu heutigen Musterbeispielen des politisch Korrekten einigermaßen frappiert – auch nichts von alledem zu kritisieren, was uns bei Rahab an landläufigen Vorstellungen von vorurteilsfreier Humanität begegnet: Die Überwindung von Geschlechterklischees, nach denen Heldentum männlich ist, … die Überwindung von Ausgrenzungsmoral, die tabuisierten Lebensformen ohne Ansehen der Person mit vorgefertigter Ablehnung begegnet, … die Überwindung von geschlossenen Gruppenzugehörigkeiten, außerhalb derer Fremden nur Misstrauen gilt – alle diese Überschreitungen ehedem unbestrittener Scheidelinien gehören zum christlichen Glauben dazu: „Nicht Mann, nicht Frau, nicht Jude, nicht Heide, nicht Gerechter, nicht Sünderin … neue Kreatur“ … das ist biblische Freiheitslehre vom Ursprung her (vgl. Gal3, 26f).
Und doch wäre es zu simpel und zu plakativ, die Geschichte der Prostituierten von Jericho, die Israels Spione schützt und vorm Fremdenhass ihrer Heimat bewahrt, als Steinbruch für unsere tagespolitischen Ideale zu nutzen.
Eine bloße Motivationserzählung für Zivilcourage und weibliche Autonomie, für interreligiöse Toleranz und kreative Konfliktstrategien bietet das Husarenstück dieser Rapunzel, die die bedrängten Männer abseilt, deren Wiederkehr den Untergang des alten heidnischen Stadtstaates im Westjordanland bringen wird, denn doch nicht. Wenn wir uns zu solchen Haltungen motivieren wollen, dann sollte eine Standortbestimmung in den Herausforderungen der Gegenwart wohl genügen.
Erzählt uns die Bibel aber von Rettung und Entkommen, von fragwürdigen Menschenplänen und unvorhersehbarem Segen, dann müssen wir den Namen derer, die uns heute beschäftigt, wörtlicher nehmen. Es ist ein ganz und gar anzüglicher, schmutziger Name für eine verächtliche Frau ……. bedeutet er doch auf Hebräisch buchstäblich „die Weite“.
… So widerwärtig grob, ja vulgär kann die Bibel sein, dass sie eine Hure unter diesem unflätigen Begriff aus dem Schweinestall des Sexismus auftreten lässt.
… Am liebsten bliebe man viktorianisch weit weg von so unnötiger Obszönität.
Aber dann verfehlte man das Eigentliche. Denn Gottes Wort und die heiligen Geschichten sprechen nie entschärft, nie also nach unserer Façon zu uns. Wenn wir sie uns prüde oder politisch in der geglätteten, in der modernisierten Form zurechtmachen, die uns gerade zusagt, sehen und hören wir nur unser eigenes Abbild und Echo.
Und darum hat die Kirche seit Jahrtausenden eine ganz andere, ganz ehrwürdige und ganz verachtete Methode des Verstehens geübt, eine Methode, die versucht, in jedem Teil und Bild der Bibel nicht das aufzudecken, was uns entspricht und ähnelt, sondern die Ähnlichkeit mit Gott, die Spiegelbildlichkeit der Gottesgeschichten und Gottestaten untereinander zum Vorschein zu bringen.
Es ist also weder Phantasielosigkeit noch Systemzwang, wenn die alte Kirche und die frommen Auslegungstraditionen bis vor wenigen Jahrzehnten immer wieder in allen biblischen Einzelheiten Erinnerungen an Gott selber und seine dreifaltige Wirklichkeit aufspürten und Korrespondenzen und verhüllte Spiegelungen zwischen entlegenen Teilen des einen heiligen Zeugnisses aufdeckten. Sie waren nicht arm an Vorstellungskraft, sondern - im Gegenteil - gerade aufgeschlossen für verborgene Feinheiten, wenn sie sich sagten: Die Mitte muss in diesem herrlichen Buch bis an seine Ränder aus-strahlen und die beherrschende und unersetzliche Hauptgestalt wird sich in jedem De-tail reflektierend, prägend, licht- oder schattenwerfend entdecken lassen.
Es ist also wirklich nicht zu belächeln, wenn jedes Holz in der Bibel an’s Kreuz von Golgatha denken lässt, wenn jede Schuld an den Kreuzestod und jede Unschuld an den Gekreuzigten erinnert, wenn alles Licht österlich und noch so geringfügige Schritte der Befreiung endgültig gedeutet werden.
Es ist nicht zu verachten, wenn im Alltäglichsten das Heilige, wenn im Normalen das Wunder und im Selbstverständlichsten das Heil durchschimmert; es ist nicht absurd zu nennen, wenn jede Mutter wie die an der Krippe und unter dem Kreuz erscheint und jedes Kind wie ein verfremdetes oder treffendes Echo dessen klingt, der beten lehrte: „Unser Vater! Abba!“
… Es ist keine Torheit und auch keine Vergewaltigung, wenn das Zeitliche in den biblischen Geschichten den Glanz der Ewigkeit freisetzt und sämtliche hohe und niedrige, neben- und hauptsächliche Einzelheiten gebrochene, aber doch sichtbare Reflexe des Einen, des Einzigen offenbaren.
Jesus in allen Dingen sehen: Das ist nicht unsinnig!
… Es sei denn, es wäre unsinnig, Licht zu sehen, wenn die Sonne scheint oder Glück zu empfinden, wenn man liebt und geliebt wird.
Jesus in allen Dingen zu sehen, das Geheimnis Gottes in jedem Menschen, die Erlösung der Welt in deren Bruchstücken: Das passiert, wo Menschen glauben, wo sie sich und wo sie alles stets im Angesicht Gottes und vor Seinen Augen erfahren. ———
Darum hat die Tradition auch die Geschichte aus dem Bordell von Jericho für eine Heilsgeschichte gehalten: Da, wo die Vorboten Israels in purer Zweideutigkeit bei einer ausgenutzten und abgehalfterten Prostituierten abstiegen, weil sie sonst keinen Raum in der Herberge hatten, sah die Tradition auch nur jene Viehhöhle, in der im Mist und unter den dunkeln Gestalten der nomadischen Halbwelt von den Hürden Gott selber das erste Nachtquartier auf Erden fand. Er kehrt bei den Sündern ein. Ernsthaft!
Und die Herbergsmutter dort im Rotlichtviertel Jerichos, die sie mit dem scheußlichen Namen für das viel zu oft gespielte Empfangen und Aufnehmen verspotteten, … diese Hure, die sie „die Weite“ nannten, sie kehrt schon beim Propheten Jesaja in einem neuen Licht wieder. Da ruft der Trösterprophet die inzwischen lange verfallene und verödete Stadt Jerusalem auf – sie, in der es so leer und einsam war –: „Mache den Raum deines Zeltes weit“ …, denn sie kommen, kommen alle zu ihr und werden sie erfüllen, bis die weitgewordene Stadt tatsächlich die Verlorenen der Menschheit umfasst (Jes.54,1ff).
Es ist also ein Evangelium noch in diesem widerwärtigen Schmähnamen: Sie, die durch ihr entwürdigendes Gewerbe jedermann umfangen und einlassen musste, wird zum Vorzeichen eines tatsächlichen Willkommens in echter, unbegrenzter Liebe.
Das aber – diese wirkliche Öffnung und Erweiterung der sonst immer auf Ausschluss und Begrenzung bedachten Verhältnisse unter den Menschen – geschieht unter wahrhaftigen Opfern: Die alte Welt der Rahab, das vorisraelitische, altorientalische Jericho ist ja dem Untergang geweiht. Die Randfigur Rahab, in ihrem Haus an der äußersten Peripherie, an der Stadtmauer, … diese Randfigur, in der allein sich Hoffnung auf Zukunft verkörpert, muss durch einen schrecklichen Umbruch, sie muss durch ein Gericht hindurch, wenn es Zukunft geben soll.
– Auch in dieser Hinsicht – dass die Retterin der Vorhut Israels das Ende der Welt, in die sie gehörte wird erfahren müssen – ist bei Rahab ein echter Vorschein (oder eine Vorfinsternis?) der Ereignisse, von denen das Neue Testament berichtet, zu finden: Wenn das Alte leben will, muss es durch das Sterben hindurch! So eng und einig sind die beiden Bibelteile verbunden.
Und das, was retten kann, wenn alles andere vergeht … da haben schon die ältesten christlichen Ausleger keinen Zweifel gekannt, wie symbolisch, wie vielsagend es ist: Aus Rahabs Fenster, aus dem die Kundschafter durch ihren mutigen Einsatz für sie entkommen konnten, hängt ein blutrotes Seil zum Zeichen der künftigen Bewahrung. Dieses scharlachfarbene Band, das anzeigt, dass Rahab, die Fremde, die Kanaanäerin und ihre Sippe verschont werden sollen, ist nichts anderes als das Schutzzeichen, das von Israel aus in die ganze Welt, über alle Völker und Stämme, über Gottsuchende und Heiden, über Gerechte und Sünder zugleich sich ergießt: Es fließt aus Jesu Herz. Es ist das Herzblut dessen, der so weit … so weitherzig ist, dass er für jeden Menschen Platz macht in seinem Innersten, dass er sein eigenes Dasein für alle öffnet und sein Leben in der Hingabe auf Golgatha als Schutz und Schirm für die Welt einsetzt. ———
Diese alte, symbolische, allegorische Weise, die Gestalt der grenzenlos solidarischen Prostituierten aus der Zeit vor Israel voller Christusbezüge und Christusbeziehungen zu deuten, ist aber nicht nur eine gesuchte Interpretation, sondern eine biblische Tatsache. Nach dem Zeugnis der jüdischen Ausleger wie des Neuen Testaments ist die heidnische Hure, die unzüchtige Beschützerin der Zukunft eine Stammmutter der größten Söhne Israels. Sie, die Israel moralisch wie ethnisch unversöhnlich fernstand, ist zu einer Garantin von Israels Fortbestand geworden:
Für die Rabbinen steht fest, dass sie nach der Eroberung und Zerstörung Jerichos Josua, den Anführer Israels heiratete und dass zu ihren Nachkommen viele Propheten, v.a. aber Jeremia zählen[i].
Das Neue Testament indes wagt sich dabei an eine noch erstaunlichere Erinnerung (vgl. Matth.1,5f!): In Rahab, „der Weiten“ bereitet sich tatsächlich das erstaunlichste aller Wunder vor. Ihr Urenkel sollte David heißen … der König Israels. Und dessen entfernter Sohn und Nachfahre – der starb, weil er in den Augen der Weltmacht „der König der Juden“ war – Jesus Christus selber also ist es, in dem das rote Rettungsband der Rahab sich fortsetzte. ——
So weit ist das Herz und Wesen Gottes: Er nimmt nicht nur das erwählte Fleisch Israels, sondern auch das Erbe der Heiden an. Gott wird Mensch nicht nur aus heiligem Stamm, sondern genauso aus dem Stoff der Sünder. Er trägt von seiner kanaanäischenVorfahrin her die weite, weite Liebe im Herzen, die zu allen Vorstellungen einer engen, starren, kleinkarierten Ausschließlichkeit in denkbar größtem Gegensatz steht! …
Die unabhängige, selbstbewusste, schlagfertige, risikobereite Fremde, die einst für Israel den Anfang seiner Geschichte ermöglichte, ist so auch der Anfang der Geschichte aller Geretteten. Denn in Rahab sind sie tatsächlich schon eins: Die Vorzeichen Christi und die vergehende Wirklichkeit der Sünder.
Und so ist die Dirne aus Jericho tatsächliche eine der Mütter Gottes, der in Jesus Mensch wurde! ———
Dieser bis heute spürbare Skandal, diese gewaltige Zumutung an unser beschränktes Denken – „Dies: Gut, das: Böse; hie Freund!, da Feind!; wir: Ja, die: Nein!“ – diese unglaubliche Aufweitung unserer Herz- und Hirnverengungen ist es, was mit der zentralen Botschaft gemeint ist, dass Gott die Sünde auf sich und die Sünder in Jesus an- nimmt. …………
……. Dass Rahabs Ur-Ur-Ur-Enkel die Sünder annimmt, bleibt verstörend.
Aber es gibt gerade angesichts des alten Hasses, der ewigen Schuld, der Wiederkehr aller längst überwundenen Auswüchse des Bösen in der Menschheit bis heute keinen so radikalen, so nötigen Weg, wie den Weg dieser skandalösen Annahme. ———
Karl Barth hat es sofort nach dem Krieg, als die unfasslichen Nazi-Greuel unleugbar aller Welt vor Augen standen, den Schweizern in direkter Konfrontation zugemutet, diesen Skandal, gegen den sich alles in uns sträubt, ganz konkret anzuhören. … Ob wir ihn heute – wenn wir den vermeintlichen Sicherheitsabstand zwischen uns und den Tätern, den Schreibern und Verbreitern und Betreibern des Hasses unserer Gegenwart einmal durch diese Worte durchbrechen lassen – … ob wir den Skandal der Sündersolidarität wohl besser aushielten, als die braven Schweizer, denen Barth 1945 schrieb:
„Wie, wenn es plötzlich heißen würde: »Her zu mir, ihr Unsympathischen, ihr bösen Hitlerbuben und -mädchen, ihr brutalen SS-Soldaten, ihr üblen Gestaposchurken, ihr traurigen Kompromißler und Kollaborationisten, ihr Herdenmenschen alle, die ihr nun so lange geduldig und dumm hinter eurem sogenannten Führer hergelaufen seid! Her zu mir, ihr Schuldigen und Mitschuldigen, denen nun widerfährt und widerfahren muß, was eure Taten wert sind! Her zu mir, ich kenne euch wohl, ich frage aber nicht wer ihr seid und was ihr getan habt, ich sehe nur, daß ihr am Ende sei und wohl oder übel von vorne anfangen müßt, ich will euch erquicken, gerade mit euch will ich jetzt vom Nullpunkt her neu anfangen! Wenn diese, die Schweizer, geschwollen von ihren demokratischen, sozialen und christlichen Ideen, die sie immer hochgehalten haben, an euch nicht interessiert sind, ich bin es; wenn sie es euch nicht sagen wollen, ich sage es euch: Ich bin für euch! Ich bin euer Freund!«“[ii]
Rahab, die Mutter Jesu?!
Jesus nimmt die Sünder an?!
… Wie weit!!!
……. Wie weit!!!
Amen.
[i] Der Babylonische Talmud ins Deutsche übersetzt von Lazarus Goldschmidt, Bd. IV: Traktat Megillah I, xi (fol.14 b), Nachdr.: Frankfurt/M 1996, S. 60.
[ii] Karl Barth, Die Deutschen und wir (1945), in: Ders., Eine Schweizer Stimme – 1938-1945, Zollikon-Zürich, 1945, S.354f.
Michaelis, 29.09.2019, Stadtkirche, Lukas 10, 17 - 23, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Michaelis - 29.IX.2019
Lukas 10, 17-23
Liebe Gemeinde!
In meinen Predigten klafft – wenn ich es richtig überlege – eine Leerstelle.
Jemand kommt nicht darin vor.
Ist abwesend.
Das ist nicht – wie mir zunächst durch den Kopf ging – Feigheit.
… Nein, ich würde mich durchaus trauen von ihm zu reden, wenn es angebracht wäre. Und auch wenn es nicht zeitgemäß erscheint.
Vielleicht aber spreche ich so selten von ihm, weil es zu billig ist. Er hat so unendlich lange den Predigenden als zuverlässigstes Mittel gedient, um Gehör und furchtsamen Gehorsam zu wecken, dass ich auf seinen ehemals garantiert wirkungsvollen Einsatz lieber verzichte. Lieber scheitern, als im Bund mit ihm an’s Ziel kommen. Sollen andere ihn meinetwegen nutzen. Mir kommt das Nutzen des großen Unnützen, des Verdrehers und Zerstörers suspekt vor.
Vielleicht taucht er bei mir auch nicht auf, weil ich zu viel Phantasie hätte, um einen, von dem man nur nüchtern reden soll, zu schildern. Es könnte passieren, dass er faszinierte, wenn man sich mit ihm beschäftigt. Das ist schon anderen so gegangen. Er wurde ihr Gesellenstück: Niemanden haben sie so darzustellen, so nachzuahmen, so vorzutäuschen vermocht wie ihn, ihren Meister. Dem sie die eigenen Züge liehen. Geschrieben und gemalt haben sie einen anderen: Erschienen ist aber ihr Selbstporträt.
Vielleicht fällt mir darum nichts zu ihm ein. Damit ich nicht zu redselig werde. Oder anfange, Menschen für den Falschen zu interessieren.
… Wobei: Selbst das ist nicht der Grund meines Verschweigens. Obwohl das Drittelstündchen in der Woche, das wir hier zusammen versuchen dem Dienst an der Wahrheit zu widmen, tatsächlich zu kostbar für noch so schöne, schreckliche Lügen ist.
Allerdings ist meine Zunge auch nicht deshalb so schwer, weil ich den Lügner für unwahr hielte; die lächerliche zeitgenössische Absprache, an so etwas könne man doch längst nicht mehr glauben, ist beinah zu erbärmlich, um sie zu kommentieren: ……. An den, von dem sich nicht zu reden lohnt, hat noch nie ein Christ, der bei Trost war, „geglaubt“.
Christen glauben an Gott, weil Glauben Vertrauen heißt und Treue. Nur an Gott. An niemanden sonst.
Erst recht nicht an den Niemand, den Verneiner, der kein „Ja“, kein „Amen“ verträgt und alles entkernt, aushängt, wegdünnt, bis jeder Satz und jede Tat und jede Wahrheit nur noch ein Dunst, eine Täuschung, … eine Leerstelle wie er selber ist.
Ich spreche vom Verbreiter der Sinnlosigkeit also nicht deshalb so wenig, weil ich nicht an ihn glaube.
… Sondern weil in einer der schönsten und geheimnisvollsten Sekunden der Weltgeschichte die Trostlosigkeit und alles Destruktive, das ganze Gift und die perverse Anziehungskraft Satans verpufft sind. Eine Implosion des Vernichters. Ein Zusammenbruch der Negativität. Eine gigantische, endgültige Ent-Ladung, eine Ausladung des Bösen.
… Und nach diesem atemlosen Moment auf Messers Schneide, der apokalyptischen Gewalt, der pilzförmigen Wolke, dem elektrisierenden Blitz, der die Eingeweide der Wirklichkeit noch einmal leichenblass auf schwarzem Grund sichtbar macht, … nach dieser ungeheuerlichen Reaktion des Kosmos, der so oft ja nur wie die Schale um die furchtbare Leerstelle, wie die rissige Hülle um das reine Nichts anmutet … nach dieser Entkernung der Welt, in der wir so viel Grausames erleben, dass wir manchmal vermuten, das Schreckliche hielte sie zusammen ……. was hören und erleben wir da? …….
Den Urknall des Neuen Testamentes, ein Geräusch, in dem unser Glaube sich so einzigartig verdichtet, wie in nichts sonst: Es ist der Klang eines Jauchzausbruchs, eines Überschall-jubels, eines Lach-Lobes, der so beispiellos ist, dass die hochpoetische und hochpsychologische griechische Sprache dafür keinen Begriff hatte; erst die Autoren des Neuen Testaments haben dieses Wort geschaffen, um den unvergleichlichen Laut der grenzenlosen Erlösungsfreude zu beschreiben, die losbricht, wo das Evangelium wahr wird.
„Agallíasis“ ist das neutestamentliche Urwort des Rettungsglückes: Jubelpracht, Feierschrei, Heilsjodler!
Lukas, der einzige Grieche unter den Evangelisten und Aposteln liebt dieses Fremdwort, das die tragischen und philosophischen und komischen Autoren seiner Muttersprache nicht kannten und er verwendet es mit der Entdeckerfreude eines Überraschten öfter als andere Zeugen Jesu Christi.
Und auch für mich ist der Satz des Lukas, den wir eben gehört haben „Zu der Stunde freute sich Jesus im Heiligen Geist und sprach: Ich preise dich Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du dies den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart. Ja, Vater, so hat es dir wohlgefallen“ eine der schönsten Stellen der Bibel, ……. einer meiner Lieblingsaugenblicke mit Jesus: Seine Agallíasis, sein großer Freudenausbruch, in dem die drei – der Sohn, der Heilige Geist und der Vater – eins sind, … das lachende Herz der Trinität.
Dass Jesus so lachen kann, dass er so überschäumt vor erleichterter Leichtigkeit und dass wir ihn hier und jetzt sprudelnd singen hören können, ist ein Höhepunkt seiner Zugänglichkeit und unserer Verbundenheit mit ihm. Gelöst und frei zeigt sich uns sein Herz in diesem sogenannten „Heilandsruf“, … vorbehaltlos positiv, wie er es von Maria, seiner unendlich liebens-werten Mutter geerbt hat, die genauso – mit einer Agallíasis – auf seine Empfängnis reagierte, als sie ihr Magnifikat anstimmte, in dem gleich zu Beginn diese charakteristisch neutestamentliche Freudenekstase sich ausspricht: „Mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes“ (Lk2,47) …. übrigens noch ein Satz, in dem alle drei Elemente der Trinität sich finden.
Jubel in Gott, weil Gott Jubel ist!
Das ist das Neue Testament in einer einzigen, ansteckenden Gefühlsregung: Der klare Rausch innergöttlicher, welterlösender Lebensfreude. ——
Doch wie kommt es, dass wir schon wieder von so uferloser Fröhlichkeit reden?
Waren wir denn nicht auf der Suche nach dem, der uns pessimistisch und schuldbewusst, der uns furchtsam und depressiv stimmen würde, wenn wir ihn mehr in unsere Worte und Gedanken einließen?
Wo ist denn Satan nur, der im fahlen und fatalen Blitz eben noch kurz und dramatisch durch die Predigt wetterleuchtete? …….
Ja, wo ist Satan?
… Wer dürfte das sagen?
Wer wollte das sagen, wenn doch Himmel und Erde – jedenfalls für die, deren Weisheit und Klugheit sie nicht blind und taub machen – erfüllt sind von Jesu Jubelruf?
Wer wollte ernsthaft Satanskunde treiben, wenn Jesus doch so unbekümmert reine Glückseligkeit verbreitet?
Wer von uns könnte wohl – und wenn wir noch so viel Sorge und Skepsis, Kritik, ja Panik beim Blick auf die Welt empfinden mögen – … wer von uns könnte zurück hinter den zeitenwendenden Durchbruch, der sich im innergöttlichen Schrei der Erleichterung kundtut?
Wenn wir so täten, als habe Jesus nie den Triumph gefeiert, den seine Agallíasis uns mitteilt, dann wäre es so wie da, wo die Welt hinter allen Optimismus, hinter all die Gewissheit der Verbesserung, hinter jene unerschütterliche Zuversicht zurückfällt, die in den Visionen, den Vorwegnahmen und Erwartungen der Besten liegt und kräftig bleibt, auch wo sie sich nicht zur Gänze, auch wenn sie sich nicht rasch erfüllen.
Gewiss: Man kann jeden Schwung, jeden Auftrieb, jedes Vertrauen auf ein Ziel zu vernichten versuchen, wenn man es will. Man kann den Frieden hindern, man kann Landschaften statt sie zu pflegen auch verkümmern lassen, man kann die Gerechtigkeit und die Zukunft und den Wandel unterhöhlen und zum Einsturz bringen wollen.
… Wenn man vom und mit dem Teufel spricht, ist das ein Leichtes. …….
Aber man bekommt trotz aller Schwarzseherei und aller tödlichen Entmutigung, man bekommt trotz aller Schwächung der Moral und trotz allen Entzugs der eigenen, einsatzscheuen Kräfte, … man bekommt trotz aller Feigheit und Faulheit, mit der man das Schlechte groß und das Gute klein redet, den Traum – biblisch wissen wir, dass er „Verheißung“ heißt – nicht mehr aus der Welt.
Der Traum, dass unsere Landschaften in Ost und West, auf der nördlichen wie auf der südlichen Seite der Erde blühen könnten, den unauslöschlichen Traum, den Martin Luther King von der Versöhnung unter den Rassen hatte, die prophetische Weitsicht, mit der Martin Buber vom einen Land und einen Frieden der zwei Völker sprach … alle diese Vorgriffe auf Zustände, die so noch nicht herrschen, haben doch unvergleichliche Kraft bewiesen, die die herrschenden Zustände wandelt.
Um wieviel mehr gilt aber, dass der Augenblick der inneren Verzückung, der Jesu Jubelruf vorausgeht, eine solche unumkehrbar wirkmächtige Vorwegnahme ist, die längst tief greift, ehe sie auch umfassend eingetreten scheint.
Vor seinem Ausbruch in helle Freude hat Jesus seelisch ja den entscheidenden Wendepunkt der Welt erlebt und es bezeugt mit Worten, die in ihrer Knappheit wie gemeißelt wirken: „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz.“ …….
– Mehr nicht.
Kein Wie und Wo.
Kein Wann und Wodurch.
Nur das endgültige Zeugnis von Satans Ende.
Ob Christus dabei nun Einblick in einen gegenwärtigen Vorgang oder durch die Geschichte hindurch bis an deren Ende nahm, ist nicht von Belang. Jede Ausschmückung, jede erläuternde Verständnishilfe versagt ja doch vor der Größe und Bedeutung des Geschauten.
Es ist von der Wucht des „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“.
Und es besiegelt, was jener erste Satz besagt: „Siehe, alles ist sehr gut!“
Denn dieser Augenblick, in dem Jesus die vollständige Vernichtung des Bösen schaut, bringt ja die unumstößliche aber auch unergründliche Offenbarung des Guten: Es ist gewiss. Es bleibt. Es trägt schon jetzt und wird für immer tragen.
… Denn das Böse ist zukunftslos. Es ist verloren. Alles, was es vermag, alles, worin es sich zeigt und aufspielt, ist nur sein eigenes Verlöschen. Das Böse ist unumkehrbar auf dem Weg ins Nichts.
… So muss man – wenn überhaupt – von ihm reden: Vom Bösen geht das Nichts aus, weil das Böse selbst zur Nichtigkeit verdammt ist.
Wenn wir aber erkennen – durch Jesu atemberaubende innerste Vision und seinen welterschütternden Freudenschrei nach außen –, dass das Böse nichts mehr wird, sondern nur in den Sog seines eigenen Untergangs zieht, … wenn wir erkennen, dass Satan und alle seine Ziele im Nie-Mehr enden und dass er darum nur als Herr des Nirgendwo, ja, als die Verkörperung des Niemand begegnen kann, und dass dieser Nichts und Niemand selber der von Gott Verdammte ist: Wie sollte man da noch Interesse an ihm finden? Wo die absolute Leerstelle klafft, der verneinte Verneiner, wo die Negativität sich selbst überlassen ist und dem Schrecklichen tatsächlich keine einzige dauerhafte Möglichkeit mehr bleibt … wen oder was sollte man da noch suchen?
Satan ist verloren.
Niemand wird ihn einst mehr finden.
Sein Wüten ist die Verzweiflung des Sich-Auflösenden. Sein Griff nach uns und unsere unmittelbare Hilflosigkeit sind schauerliche Zuckungen und Stromschläge des Verglühenden.
Und auch wenn wir ihn noch wahrnehmen und teuflisches Leiden noch herrscht: Es ist im wahrsten Sinne des Wortes das alles „endlich“, … zuendegehend, … vom Ende gezeichnet und aussichtlos unwahr. ———
Dagegen ist Jubel das neue Wort der neuen Wirklichkeit.
Die Wirklichkeit – das lehrt uns der heutige Tag der Engel ja in staunender Dankbarkeit zu bekennen – … die Wirklichkeit das ist die Fülle der guten Mächte. Die Wirklichkeit, das sind die unzählbaren, unsichtbaren Kräfte und Dienste Gottes, die Ihn umgeben und Ihm als Herrn gehorchen und deren grenzenlos Hilfe zugleich unsere Gegenwart durchdringt.
So übermächtig sind aber die Wirkungen und Lenkungen dieser Heerscharen des Guten, dass wir tatsächlich das Wesentliche und Eigentliche, das Wahre und Wirkliche verleugnen und missachten, wann immer wir uns bleibend mit anderem aufhalten als dem großen Jubel der himmlischen Heerscharen.
Sind sie doch die Zeugen und Garanten der Wahrheit und der Liebe, des Lebens und der Freude! Und an ihrem Dienst und ihrem Lob teilzunehmen, mit ihnen zu leben und zu wirken – weil unsere Namen im Himmel geschrieben sind – das ist unsere Agallíasis!
Und darum lobet den HERRN, ihr seine Engel, ihr starken Helden, die ihr seinen Befehl ausrichtet, dass man höre auf die Stimme seines Wortes (Ps.103,20)
Denn selig sind die Augen, die sehen, was ihr seht!
Amen.
14.n.Trin., 22.09.2019, Jonakirche, 1.Mose 28, 10-19; Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 14.n.Trin. - 22.IX.2019
1.Mose 28, 10 – 19
Liebe Gemeinde!
Freiheit, … das ist Durchlässigkeit. Man muss seinen Ort und Standpunkt wechseln können, man muss anders hinaus als hinein kommen können, man muss lernen und sich wandeln und das Leben verändern dürfen, um frei zu sein.
Wo die Zunft- und Standesgrenzen nicht mehr alles einschränken, wo Juden Handwerker und Handwerker Gelehrte werden dürfen, wo der Junge aus der einen Kaste das Mädchen aus der anderen heiraten darf, wo man im Norden ebenso willkommen ist wie im Süden, wo die Grenze grün ist und man auf beiden Seiten leben kann, wo kein Verbot des Neue, Fremde, Andere hindert und wo keine Schranke und kein Graben das Denken von Widerspruch und Gegenteil abriegeln, … da herrscht Freiheit.
Das alles sind Gemeinplätze, Plattitüden … und doch gäbe schon die Erörterung, wieviel von solchen Grundfreiheiten wir wirklich kennen und wollen, Stoff für manche kritische Selbstprüfung. Durchlässig soll immer nur sein, was uns einschränken könnte; … den Durchbruch anderer durch die Schranken, die sie festlegen, sehen auch wir „freiheitlich“ uns nennenden Gesellschaften viel weniger als nötig an.
Und über ein Grundmaß an derzeit befürworteter Durchlässigkeit von allerhand Barrieren in den Köpfen und Karten unserer Wirklichkeit hinaus verkriechen die meisten Modernen sich vor der wirklichen Freiheit. Es reicht, dass wir ein Denkmal für 1989 planen und Rosa Luxemburg mit der „Freiheit der Andersdenkenden“ zitieren und Hongkong alles Gute und den Geschlechterrollen den baldigen Garaus wünschen: Mehr wollen wir nicht wirklich durchlässig und durchlassen in unseren Weltbildern. Denn eine Grenze zementiert gerade die Einheitsfront der aufgeklärten, der liberalen und sonstigen Freidenker: Was nicht durchgelassen wird, ist die andere Welt, die höhere Wirklichkeit, die Fremdheit und Selbständigkeit Gottes.
Für Gott ist unser Horizont geschlossen; die Schranken unseres menschlichen Geistes sind für Zeichen und Worte des Himmels schwer passierbar; die Wissenschaft und ihre Regionen der Wahrscheinlichkeit und mehr noch ihre festen Provinzen des Bewiesenen sind zu Offenheit und Ewigkeit hin abgeriegelt. ……. ———
Das ist nicht neu. Die Götterbilder der Menschheit wuchsen fast immer aus ihren Weltbildern, aus ihren natürlichen, geographischen und meteorologischen Bedingungen, aus den erotischen und psychologischen Trieben, aus materiellen und militärischen Wunschträumen eines Zeitalters, einer Kultur. Waldbewohner haben zottelige Götter, Seefahrer sturmgebietende, Händler haben geschmeidig-schmierige Götzen … und Materialisten haben Fetische.
Die Götter der Welt kommen von innen und von unten, nicht von Oben oder Außen.
Darum weiß auch Jakob, der Dahintreibende nicht mehr, ob er einen Gott hat. …
Sein Vater, der blinde Isaak hatte wohl einen – einen erschreckenden Gott, der einen Menschen ganz für sich fordern kann und darum auch einen Menschen ganz retten kann: Beides ist dem Isaak früh geschehen; im Alter aber nannte man ihn im ganzen Land Kanaan „den Gesegneten des HERRN“ (vgl. 1.Mose 26,29).
Doch eben vom HERRN, dem unsichtbaren, die Geschichte und das Universum lenkenden und überschreitenden Gott des Bundes mit und der Verheißungen für Abraham … vom HERRN also war zwischen Isaaks Söhnen nicht mehr die Rede: Die Zwillinge Esau und Jakob konkurrierten mit ihrer jeweiligen Neigung zu Gewalt und Lüge um handfeste, landestypische, innerweltliche, … um säkulare Dinge, Dinge aus Wald und Feld, die mit einem kräftig-deftigen Eintopf und einem Jagdschmaus symbolisiert und übertragen werden konnten. Und das ergaunerte Erbe, das zum Auslöser von Jakobs Rückkehr zu den heidnischen Wurzeln Abrahams werden sollte, … diese beinah magische Segensübertragung des erlöschenden Vaters unterschied sich so gut wie gar nicht von den Sprüchen und Orakeln anderer uralter Naturvölker und Strotzkulturen: „Gott gebe dir vom Tau des Himmels und von der Fettigkeit der Erde und Korn und Wein die Fülle. Völker sollen dir dienen, und Stämme sollen dir zu Füßen fallen. Sei ein Herr über deine Brüder, und deiner Mütter Söhne sollen dir zu Füßen fallen ….“ (1.Mose27,28ff)
Einen Gott Jakobs kann man in diesen Formeln, die jeder Ackerbauer und Genussbürger heute noch am Erntedanktag feierlich fände, nicht entdecken. Das können Zeus und Gaia und Wotan und Frau Holle und die Schutzgöttin Britanniens und Boris Johnson auch: Fraß und Glanz versprechen, ist das phantasielos Naheliegendste, das es gibt.
Und so ist die Nacht Jakobs, der auf dem Weg zurück nach Haran ist, von wo der HERR Abraham in die Offenheit gerufen hatte, ziemlich genau unsere eigene Nacht: Die Erschöpfung eines ganz auf Lust, Erfolg und Habe fixierten Schlages, der im Wettbewerb um sein Begehren alle Hebel in Bewegung setzt … der dann auch triumphiert - und doch verliert, … der siegt und scheitert in einem Manöver.
Ein Erfolgsversprechen hat Jakob, … nur hatte er kein Recht darauf und wo soll er jetzt Frieden finden? Allein des Wohlstands wurde er ja versichert, aber nicht des Bleibens. Betrüger mit gerissenem Gewinn, doch ohne Glück; getrieben von der eigenen Rücksichtslosigkeit, gejagt vom Aufgehen seiner eigenen Pläne.
So reibt das Leben auf, bei dem bloße Sachen zu Ursachen werden, deren Folgen Erfolg sein müssen. In der leeren Flachheit des Irdischen bleibt man unbefriedigt und orientierungslos auf der Strecke zwischen zurückliegenden Projekten und bevorstehenden Ambitionen. ——
Doch Jakobs Zug durchs öde Dasein, in dem er seinen Bruder betrogen hatte und von seinem Onkel betrogen werden sollte, wird durchkreuzt, als er am reglosesten ist: Dem schlafenden Menschen, dem wehr- und hilf- und absichtslos in die Horizontale Gestreckten …, dem zeigt sich plötzlich die andere Dimension, … die Vertikale, die Senkrechte! Auf der Erde irrt er, doch da öffnet sich über ihm der Himmel.
Und siehe da: Durchlässigkeit! Es gibt sie! Es gibt eine Freiheit, die der Betrüger und bald Betrogene nicht durch seine Schläue und auch nicht durch seine strategische Flucht, nicht durch seine Pläne, ja überhaupt nicht durch sein eigenes Zutun erlangt.
Mitten im Nichts ist da die Leiter!
In der Dunkelheit der Nacht ist da der offene Weg nicht nur von Kanaan nach Mesopotamien oder sonst von A nach B auf der horizontalen Fläche der Erdkugel, sondern der Weg aus der Tiefe in die Unendlichkeit, der Weg aus dem Ewigen in den staubigen Moment.
… Aus dem Nirgendwo – aus dem All; … schwebend aus unfassbarer Ferne – fußend neben dem eignen schweren Haupt; … unerklärlich – unmittelbar …….
Dieser Durchbruch Gottes in die müde Nacht des Wanderers, dieser Durchbruch der Gegenwart des Heiligen in der Wildnis, dieser Durchbruch lebendiger Boten- und Kommunikationsströme in die Einsamkeit eines Menschen auf dem Rückzug ist vielleicht das größte Ereignis, von dem das erste Buch der Bibel nach der Schöpfung berichtet.
Es ist der Augenblick reiner, unvorhersehbarer, unverfügbarer Offenbarung.
Dem Jakob wird weder Speise noch Trank dadurch beschert, er empfängt kein Wunderschwert und keine Schatzkarte, er findet nichts unter dem Stein und nichts verändert sich an seiner Lage: Doch was ihm geschenkt wird, indem er die Engel Gottes erkennt, die ständig Verbindung zwischen Erde und Himmel schaffen und ununterbrochen Irdisches und Überirdisches verknüpfen, … was dem Jakob aufgeht, als er den Zusammenhang der sichtbaren mit der verborgenen Wirklichkeit erkennt, … was Jakob widerfährt, als der HERR Sich ihm in so lebendig vermittelter Direktheit als den Bezugspunkt des auf- und absteigenden Kontaktes von hier und dort zu erkennen gibt – das ist das große radikale Wunder, das wir Christen heute kaum noch ansprechen, kaum noch benennen mögen, obwohl es doch unser Ein und Alles ist: Es ist eben Offenbarung! Offen-Barung … also Eröffnung, Aufschließen dessen, was uns sonst niemals zugänglich wäre, … Durchlässig-Machen des Undurchdringlichen. Offenbarung von Gottes Seite, … Aufschluss durch Ihn, … Einladung in Seine Offenheit!
Mit dieser Jakobsleiter steht und fällt für uns alles.
Entweder, wir dürfen sie erblicken, … dürfen die angeknüpfte Bindung, die uns da von oben zufällt, ergreifen, … entweder wir dürfen also eine unablässige Vermittlung und Beziehung zwischen Gott und der Welt, zwischen uns Menschen und dem HERRN annehmen und dadurch in einer allgegenwärtigen Gottesnähe leben, im wunderbaren Vertrauen, dass Er Sich aus Seiner Wirklichkeit der unsrigen zuwendet und uns nicht abschneiden lässt von Ihm; ……. oder wir meiden den steilen, „senkrecht von oben“ – wie Karl Barth zu lehren pflegte[i] – dringenden Begriff der Offenbarung und basteln kleine Modelleisenbahnlandschaften der Welt, in der wir künstliche Miniaturbrücken und Pappmaché-Hügel errichten, die dann die hervorragenden Aussichtspunkte und die überraschungslosen Spannungsbögen unserer innerweltlichen Gottesvorstellungen sind.
Entweder Gott stellt sich vom Himmel her als der HERR vor – wie Er es in Verheißung und Segen für Jakob getan hat –, oder wir bleiben eingeschränkt auf die Vorstellungen, die wir nun mal haben und machen.
Entweder also es ereignet sich der Durchbruch durch die äußerste Begrenzung unseres Gesichtskreises, der darum Offenbarung heißt, weil er Freiheit über alles hinaus eröffnet, was unser Denken und Wissen sonst einengt, oder es bleibt bei der Gefangenschaft des Menschen in den Grenzen, die uns ohne Gottes Einbruch aus der Höhe vom Himmel und seiner Weite ausschließen.
Darum ist jener Gedenkstein, den Jakob an dem Ort errichtete, an dem Erde und Überwelt miteinander kommunizieren, ein Meilenstein unserer Befreiung und ein Wegweiser über alles Vertraute hinaus! „Pforte des Himmels“, „Beth-El“: Dass wir solche Punkte kennen dürfen, an denen zwei getrennte Ebenen sich verbinden, an denen aus der einen Wirklichkeit der Zugang zur anderen führt, … dass wir von solchen Punkten wissen dürfen, ist Geschenk und Gabe, Freude und Hoffnung für eine immer weniger von oben beleuchtete und belüftete Welt und für uns immer enger in eine gemeinsame Schicksalshaftung geschweißte Menschheit.
Wenn wir Christen nicht laut und fröhlich im stickigen Gedränge der Erde zu Zeugen der Himmelsfreiheit werden, die sich durch die Offenbarung Gottes auftut, dann betrügen wir die Öffentlichkeit, indem wir ihr die eigentliche Öffnung des Lebens vorenthalten.
Wir sollten – weil wir es dürfen! – von der Leiter sprechen, von der göttlichen Herablassung in der Offenbarung und dem Aufstieg in Glauben und Liebe, der uns über alle Hoffnungslosigkeit so hoch hinausführt.
Wir sollten von den Boten Gottes sprechen und singen, die unter uns gegenwärtig sind und uns verbinden mit der Quelle und dem Ziel alles dessen, was wir sehen und dessen, was uns noch nicht zugänglich ist.
Wir dürfen wie Jakob von Gottes Nähe zur Nacht wissen.
Wir dürfen wie Jakob die Durchlässigkeit unserer Angst, unserer Schuld, unserer Verlorenheit spüren …, weil keine dieser Lasten, keiner dieser belastenden Sargdeckel unseres Daseins den Weg, den Gott Sich bahnt und die Bahn, die Er uns bricht, aufhalten kann.
Gott durchstößt sie. Seine himmlischen Heerscharen lassen sich nicht hindern, sondern tragen hinauf – uns, die wir so untragbar sind! – und bringen herab was Er, Der so hoch ist, unter uns bringt und über uns breitet.
So dürfen wir in der alten schon die neue Welt eintreten und auftreffen sehen: Bethel-Punkte … Niederlassungen Gottes, Ankünfte und Einzüge, Heimsuchungen und Einwohnungen des Himmlischen in der irdischen Geschichte.
Beth-El: Gottes Hiersein auf Erden! – In der Verschonung Noahs und der Verheißung für Abraham; in der Erwählung der Jakobskinder - des Volkes Israel - und in dem Bund, der durch Moses für immer ein heiliges Gesetz gegen alle Anarchie der Menschen aufrichtete; in der Vielzahl der treuen und tapferen Gottesboten, der menschlichen Engel, die wir als Propheten und Zeugen des Lebendigen in allen biblischen Zeitaltern und allen Jahrhunderten Israels und der Kirche erlebt haben; einzigartig dann in der Pforte des Himmels und dem Haus Gottes, die wir in Maria finden, in der Gott tatsächlich die Offenbarung bis an den Fuß der Jakobsleiter gebracht und in den Schoß einer menschlichen Mutter gebettet hat – … und da dann, in Ihm, in Jesus, …. da ist der vollkommene Durchbruch unserer Freiheit, da ist die allernächste Wirklichkeit, die wir kennen, lieben und brauchen – da ist dieser Mensch in unserer Nacht und unserem Leid, in unserem Durst und unserem Tod – zum Beth-El geworden, wie der Stein von Lus, den Jakob begoss, den er am Morgen salbte: … Christus!
Gott hat sich in Ihm tatsächlich für immer geoffenbart – dessen sind wir Zeugen!
Er hat in der Dunkelheit, die wir so fassbar erfahren, Öffnung geschaffen, … einen Weg.
Und darum – weil Er Sich der Welt verbunden, sie mit Seinen Engeln und Mächten und Gewalten durchdrungen hat und alles, was lebt, zur Freiheit Seiner Kinder führen wird – darum ist zu allen Zeiten und also heute zu beten:
„Lobe den HERRN, meine Seele und vergiss nicht, was Er dir Gutes getan hat!“ (Ps.103,2)
Wir sind auf der Leiter zu Ihm.
Immer näher.
Unumstößlich.
Amen.
[i] Die berühmte Formulierung begegnet früh bei Barth u.a. im sog. „Tambacher“ Vortrag von 1919: „Der Christ in der Gesellschaft“, in: Karl Barth, Das Wort Gottes und die Theologie – Gesammelte Vorträge, München 1924, hier: S. 40
12.Sonntag nach Trinitatis, 08.09.2019, Stadtkirche, Apostelgeschichte 3, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 8.IX.2019 - 12.n.Trin.
Apostelgeschichte 3, 1-10
Liebe Gemeinde!
Erhalten, worum man nicht gebeten hatte.
… Was zunächst klingt wie der Brexit, ist in Wirklichkeit nur das Leben.
Wie oft geht es Menschen so, dass sie sich etwas sehnlichst wünschen, … sich das Haben immer schöner ausmalen und schließlich so in den Drang nach Besitz und Genuss des Objekts ihrer Begierde steigern, dass der Heißhunger nicht mehr zu beherrschen ist. Und dann – im Empfangen und Zupacken – ist man sehr schnell, beinah schlagartig doch nur des Fischers Frau: … Hat, was man wollte, … aber das war es nicht…. Es fühlt sich anders an, nun, da man es nicht mehr mit Verlangen erwartet, sondern in Gebrauch hat, aus der Nähe sieht, spannungslos darüber verfügt. … Man hat bekommen, aber nicht das Gewünschte. Oder ärger noch: Die Medizin, die endlich zu haben war, hilft nicht gegen das Fieber, …der Wunsch ist erfüllt, aber das Wünschen lässt nicht nach. … Es stolpert weiter, klammert sich andernorts an, träumt von Neuem. …….
Diese Erfahrung ist aber – so nüchtern sie macht – eben darum nicht nur schlecht.
Wenn in der Wunscherfüllung tatsächlich etwas Vollkommenes läge, dann wären nicht nur junge Menschen gefährdet, denen das Leben Träume früh verwirklicht. Wir wissen und wir sorgen uns ja, dass es – bei aller Kinder- und Familienarmut in unserem Land – viel zu viele Jugendliche gibt, die niemals warten und keine abgeschlagenen Bitten erleben müssen.
… Wie stumpf, wie traurig das aber ist: Wenn mir alles zufällt und jede Hoffnung in Erfüllung geht. Nie gibt es dann Anlass, über ein Bedürfnis hinauszuwachsen, nie gibt es Gelegenheit, eigene Wege und Mittel zu finden. Am Ende bleibt denen, deren Wünsche alle wahr werden, nur noch die Verschmelzung mit den Dingen, die sie so zu brauchen meinen und begehren. … Und schon man geht auf in dem, was da regelmäßig, immer neu, aber auch immer einfach unseren Appetit, unsere Abhängigkeit bedient.
… Menschen werden stillgestellt durch Stillung ihrer Wünsche.
Wer da also noch erhält, was er sich nicht wünschte, oder wer wünscht, ohne zu bekommen, der ist vielleicht nicht glücklich, aber doch auf dem Weg der Weisheit und der Wahrheit und nicht am Punkt der Lähmung durch die vollgestopfte Erwartungslosigkeit. ——
Solche Gelähmten allerdings, die wissen, wo und wie ihre Wünsche sich regelmäßig befriedigen lassen, gibt es viele. Viele haben ein geregeltes Verdienst und einen fest abgesteckten Standpunkt im Leben und können mehr als beruhigt zu Bett und am Morgen wieder an die nächste Runde gehen: Es kommt alles, wie erwartet und nach nichts muss man sich sehnen, denn es ist gesorgt. …
Ein solcher Bruder im Geist und im Fleisch der in dieser Welt befriedigend Versorgten sitzt an der Schönen Pforte des Tempels. Das ist seine Sicherheit, seine Bank. Er hat dabei einen guten Posten.
… Bis heute knien die meisten, die auf diesem Weg durch’s Leben kommen, nicht an den Flügeltüren der Grand-hotels oder an den Eingängen der Gourmet-Tempel, sondern am Hauptportal der Kathedralen und auf den Stufen der schönsten Kirchen.
Denn was immer die Besucher an solche Stätten treibt – ob sie ihrerseits Wünsche, Bitten, Hoffnungen, … vielleicht nur Neugier oder sogar bloß Gewohnheit spüren – … eine ausgestreckte Hand vor dem Haus Gottes ist ein wirkungsvoller Hebel: Drinnen will der Eintretende ja auch irgendetwas empfangen, also bestätigt er draußen den Mechanismus, der auf Wünschen das Bekommen folgen lässt.
Doch nun ist die große Überraschung des Christentums – der Grund dafür, dass Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth jeweils meinten, es unterscheide sich grundsätzlich von allem, was man sonst „Religion“ nennt –, dass der christliche Glaube mit dem „Gib, um zu empfangen“-Gesetz, mit dem Mechanismus „Sei gut, damit’s noch besser für dich wird“ bricht.
Dass Gott unsere Wünsche erfüllen könnte und dass nur das ein Schlüssel oder Hebel für unseren Glauben, unsere Moral, unser Herz, unsere Haltung sein könnte …, darüber lacht das Neue Testament herzlich und unerschrocken.
Gott ist unbestechlich!
Seine Pädagogik – wie Er seine Kinder führt – ist nicht darauf angewiesen, dass man Ihn erst beeindruckt oder befriedigt, um dann selbst an die Reihe zu kommen mit Vergünstigung und Lohn.
Gott gibt aus Liebe.
Und wer Ihn liebt, gibt.
… Kein Müssen! Keine Berechnung!
Gnade, und von der Gnade geformte Freiheit.
So sieht Religion sonst nicht aus: Die festgelegten Strategien zur Besänftigung einer Gottheit und die einleuchtenden Gesetze, die die Kosten und den zu erwartenden Gewinn zwischen Moral und Segen vermakeln.
Dagegen ist das Evangelium, die Botschaft vom grundlos begründeten Heil der Welt eine einzige Blüte des Unerklärlichen und eine Frucht ohne die Mühsal des Ackerns, Verzichtens und Schuftens. … Und für alle, die Aufwand gegen Ertrag zu stellen vermögen, ist das, was Jesus Christus in die Welt gebracht hat und verteilt bis an deren Ende, eine einzige Verdatterung und Unheimlichkeit: Bedingungslose Hilfe, die bedingungslose Hilfe weckt, wie der Ruf sein Echo. ……
Sonderbare Größe und Güte!
… Unberechenbar und unverdient. … Nicht wie Gold und Geld. … Andere Maßstäbe als Silber und Kupfer. … Nichts, das wie ein Vermögen erworben oder mit dem Geiz der Kleingeldgeber verteilt werden könnte. ———
„– Lahmer, auf Deinem gewohnten Posten, der Du Geld erwartest, weil Geld Dir genügt: Streck’ die Hand nicht aus, wenn die beiden Apostel der unermesslichen Liebe und ihrer maßlosen Folgen die Stufen heraufkommen, um im Tempel des verschwenderischen Gottes Israels anzubeten, Der Heil ausschüttet, das keinem gehört und jeder haben soll.
– Lahmer, der Du weißt, dass Almosenbetteln – also das Wünschen des Wahrscheinlichen – Dich von Mutterleibe an ernährt. Sei still, wenn die Fischer kommen, die die Menschen aus dem trüben Schlamm ihrer müden Sicherheit in die Wunderwelt Gottes verwickeln, wo alles neu und frei ist.
– Lahmer, duck Dich so rasch Du kannst, … oder ist Dir das tägliche, jahrtausendealte Geschäft, das bis jetzt auch Deines war, nicht mehr lieb? Geld und Gewissen lassen sich so doch gut verknüpfen, wenn die Dich tragen und unterstützen an Dir im Gewissen gewinnen und Du an ihnen im Geldbeutel. Aber die Jünger des reinen Vergebens da, die verderben das Verdienen am Verdienstlichen. Wer ihnen begegnet, kann an allem Weltlichen Schaden nehmen, aber seine Seele gewinnen …….
– Willst Du das, Lahmer? Willst du das, Mensch im Geschäft Deines Alltags? Willst Du das, Mensch in der Erfüllungsmaschine Deiner kleinen, fabrikneuen, computergesteuerten, paketbotenhetzenden Wünsche?“ ——
Die beiden galiläischen Beter, die da zum Nachmittagsgebet eilen, zerstören jedenfalls die Mechanik der alten Welt, in der jeder von uns sich eingerichtet hat und das Leben so bequem wie möglich aussitzt.
Man sieht’s ihnen vermutlich nicht an – diesen ganz gewöhnlichen, einfachen Frommen. …
Aber sie kommen nicht zufällig zu dieser Stunde. Es ist jene neunte Stunde, die vor wenigen Monaten ihr Leben zerstört hatte: Da hatte man parallel zur Schlachtung des Nachmittagsopfers am Tempel draußen auf dem Müllberg ihre Hoffnung, ihre Vorfreude, ihre ganze angesammelte Hochstimmung der erfüllten Messiaserwartung ebenfalls geschlachtet. … Genau um diese Stunde im Frühjahr hatte man sie um alles gebracht, was sie je für möglich, dann für denkbar, schließlich für direkt greifbar gehalten hatten.
Da war ihnen das Herz und mit ihm sein Wünschen zerbrochen als sie diese Gottverlassenheit erlebten: Der eine von ihnen unter einem Galgen, der andere in einem stickigen Versteck, verkrochen vor der eigenen Reue. … Betrogen, entblößt, beschämt und besiegt hatte die neunte Stunde auf Golgatha sie beide zurückgelassen, … Petrus und Johannes!
… Doch seitdem …! In den Frühjahrs- und Sommermonaten dieses unglaublichen Jahres, das nun auf den Herbst zugeht, da war mehr geschehen, als sie sich in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatten: Zwar war keiner ihrer Ansprüche in Erfüllung gegangen. Sie waren nicht zu Prinzen des heiligen Volkes, nicht zu Richtern des Erdkreises, zu Trägern letzter Macht, zu Thronräten der Herrlichkeit erhoben worden.
Aber mehr, weit mehr, … unendlich mehr war geschehen: ER war auferstanden von den Toten. ER hatte den Tod und mit ihm alles Scheitern, Leiden, Verderben und Verlorengehen besiegt. ER hatte nicht eine, … nicht ihre, … nein, ER hatte die Hoffnung schlechthin, die größere Hoffnung, die Hoffnung jenseits aller Hoffnung erfüllt: Das Letzte, auf das alles zuläuft und mit dem alles zerstört wird, hatte ER zerstört. ER hat unendlichen Anfang, unendliche Zukunft, unendliche Freiheit, unendliche Freude, unendliche Liebe gebracht und es ihnen – den Menschen, die immer noch einfach, immer noch sterblich, immer noch Staunende waren - … ER hatte es ihnen, den Aposteln geschenkt und dazu Seinen Geist, durch den sie es weitergeben und ausbreiten und jedem Menschen nahebringen konnten, dass der Tod Jesu Christi Leben für alle bedeutet.
Und als sie zur Sterbestunde Jesu zum Opfer und Gebet in den Tempel gehen, da reißen sie eben mit dem Namen Jesu Christi einen Menschen, der gar nicht auf Rettung oder Heil gehofft hatte, aus seinem angestammten Dasein, aus den Bedingungen und Gewohnheiten, den Fesseln und der Regelmäßigkeit seiner Gegenwart.
Er empfängt, was er nicht erbeten hatte! … Das Alte vergeht und es ersteht ein neuer Mensch, … einer, der zum ersten Mal an diesem beliebigen Tag nicht vor der Tür, sondern in Gottes Nähe beten kann … beten auch jenes Gebet, das auf Hebräisch „Amidah“, also das „Gebet im Aufrechtstehen“ heißt.
Und nicht nur, dass er sich aufrichtet, nicht nur dass er steht und betet, … nein er hüpft und tanzt, er zappelt und jubelt, dass es um ihn her nur so vor österlichen Funken sprüht und Gotteslob- und Auferstehungskonfetti regnet. ——
Aber jetzt sind wir dran!
Mit der Frage, ob wir das nicht nur als eine erbauliche Geschichte verstehen wollen, womöglich gar als alte Legende von einer Heilung, an die wir nur noch selten glauben zu können meinen, sondern ob wir die Botschaft und Wirkung des Christentums darin erkennen …, des Christentums, das auch uns nicht gibt, was wir gern hätten, das auch uns nicht bedient mit unsern Wunschvorstellungen, das auch uns nicht einfach versorgt mit dem, was wir von einer Religion erwarten?!
Das wirkliche Christentum löst nicht alle unsere ärgerlichen Probleme; es vertreibt nicht jede Sorge, es entlastet uns nicht von unserer vielfältigen Verantwortung, es ordnet unsere komplizierte Welt nicht in ein einfaches Schwarz-Weiß-Schema.
Der lebendige Gott, Dem wir in Jesus Christus begegnen, ist keine Bestellannahme für alle, die sich den Alltag erleichtert oder das Denken abgenommen wissen wollen.
Die Gnade Gottes liegt nicht in unserer Verfügung, und was wir begehren, können wir auf dem Weg über’s Gebet noch lange nicht nach unseren Launen beeinflussen.
Wer es so mechanisch, so überraschungsfrei braucht, ist bei Gott und Seinen Boten an der falschen Adresse und sollte sich einen festen Bürostuhl, eine von hohen Zäunen verteidigte Privatwelt oder eine unverrückbar zementierte Weltanschauung zulegen, damit er hat und halten kann, was ihm seines Erachtens zusteht und nur erfährt, nur empfängt, was er will.
Wer sich aber Gott aussetzt, wer den Heiligen Geist nicht abwehrt, wer dem Evangelium von Jesus Christus nicht ausweicht, der wird das Unerwartete und Unvorhergesehene erleben, der wird Wunder schauen:
Statt einer engen Moral wird Jesus Christus ihm womöglich ein weites Herz und ganz viel Güte schenken.
Statt Gesundheit findet ein anderer plötzlich zu Geduld und zum Verständnis für die Schwachen.
Statt einem selbstzufriedenen Gewissen entdeckt ein Jünger Jesu durch den Glauben plötzlich das Zerstörerische an seiner eigenen Sünde und das unfassbar Schöpferische der Liebe Gottes.
Statt satter Sicherheit gewinnt ein Gläubiger den seligen Hunger nach Gerechtigkeit und dem Reich Gottes.
Statt beruhigende Schläfrigkeit zu verbreiten, lodert ein Bibelwort plötzlich als Kraft und Licht in der Dunkelheit und erweckt den Hörer.
Statt Seelenfriedens beschert das Evangelium dem Christen die heilige Unrast der Menschenfreundlichkeit Gottes, der will, dass allen geholfen werde (vgl.1.Tim.2,4) .
Statt eigener Wünsche setzt das Wort vom Kreuz die Fürbitte für andere, ein Leben im Dienst, und stellvertretende Hoffnung für die ganze Erde frei.
Was immer wir wollten, was immer uns wichtig war: Wenn Jesus Christus uns berührt und beruft, wenn er uns heilt und in uns leiblich, seelisch, geistlich herrscht, dann geraten die Meinungen und Maßstäbe durcheinander und verschieben sich die Ziele.
Aber eines haben alle diese Zeichen und Wunder gemeinsam, die die Offenbarung des auferstandenen Heilands an den Menschen wirkt: Sie sind herrlich, …. sie sind frisch, … sie befreien und beflügeln und beglücken. Sie bringen eine neue Wirklichkeit im alten Dasein zum Glühen, … sie wecken einen Jubel, der den Alltag und das Leid überstrahlt, … sie verwandeln stumpfe Gewohnheitstiere in heilige Seelen, … sie überraschen die Welt und uns selber durch das Geschenk der mächtigen, gnädigen, ewigen Liebe, die uns allen offensteht.
Und darum: „Lahmer, streck die Hände hin und nimm entgegen, was Dir angeboten wird!“
Gold und Silber sind es nicht:
Es ist Jesus Christus – das Leben!
Amen.
11.S.n.Tr., 01.09.2019, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Thema: „Erinnern und tun, was dem Frieden dient"
Liebe Gemeinde,
der Krieg begann mit einer Lüge. „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen", erklärte Adolf Hitler am Morgen des 1.Septembers im Reichstag in seiner vom Rundfunkt übertragenen Ansprache unter dem Jubel seiner Anhänger, als wären es polnische Soldaten gewesen, die zuerst geschossen hätten und den Sender Gleiwitz überfielen. Dabei hatte in der Nacht zuvor eine Gruppe SS-Männer die Szenerie an der deutschen Zollstation und dem Rundfunksender arrangiert. Sie hatten Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen geholt, sie erschossen und in polnische Uniformen gesteckt und vor Ort liegengelassen. Die Polen hatten Deutschland bis dahin eben keinen Anlass für einen Krieg gegeben. Doch da das Deutsche Reich wirtschaftlich vor dem Bankrott stand und bereits die Septembergehälter der in den Behörden arbeitenden Angestellten und Beamten nicht mehr hätte bezahlen können, musste ein Kriegsanlass herbeigelogen werden. Fake news gibt es nicht erst seit Donald Trump. Der Überfall auf Polen erfolgte ohne Kriegserklärung. Um 5.45 Uhr schlugen die ersten Granaten des Schlachtschiffs „Schleswig-Holstein" auf der Westerplatte in Danzig ein. Zeitgleich fiel die Wehrmacht an verschiedenen Fronten in Polen ein.
Dass es Krieg geben würde, das lag schon länger in der Luft.
Eigentlich hätte es jeder wissen können, denn bereits auf der ersten Seite seines Buches „Mein Kampf" hatte Hitler dargelegt, dass sein politisches Programm auf Aggression setzte. Es war Hitler nach der Machtergreifung 1933 gelungen, dass der überwiegende Teil der Deutschen ihm Gefolgschaft leistete. Die Aufrüstungspolitik, zu der auch der Bau der Autobahnen gehörte, stoppte die galoppierende Arbeitslosigkeit, ein bescheidener Wohlstand wurde möglich. Die Rassen-Ideologie der Nazis streichelte das Nationalgefühl der Deutschen, die sich nicht erst seit 1933 für etwas Besseres als die anderen Völker Europas hielten. So konnte auch der in weiten Bevölkerungskreisen verbreitete Antisemitismus mit Macht aufblühen. Es war leicht, sich an geplündertem jüdischen Vermögen, enteigneten Wohnungen und arisierten Geschäften zu bereichern. Der Rechtsstaat wurde hinweggefegt. Recht war, was der neuen Ordnung diente.
Das brutale Vorgehen der Nazis machte natürlich auch Angst und hinderte so manchen daran, seinen Mund aufzumachen und Unrecht Unrecht zu nennen. Der Verlust an Freiheit schien aber den meisten ein akzeptabler Preis für die neue Blüte Deutschlands zu sein. Mit Inbrunst wurde gesungen „Deutschland, Deutschland über alles" - und dafür wurde Krieg geführt.
Er sollte 6 Jahre dauern, kostete fast 60 Millionen Menschen das Leben und endete in der Niederlage Deutschlands. Es sollte aber noch einmal 40 Jahre dauern, bis ein Bundespräsident in der Feierstunde zum 8.Mai im Bundestag sagte bzw. zu sagen wagte, dass die militärische Niederlage auch eine Befreiung der Deutschen „von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" war. Ich möchte nicht wissen, wie eine entsprechende Rede eines Herrn Gauland, eines Björn Höcke oder einer Alice Weidel heute ausfallen würde - ein echter Lackmustest in Sachen Krieg und Frieden, Freiheit oder Diktatur.
Ab 13 Uhr laden heute der Düsseldorfer Appell und die Landeshauptstadt Düsseldorf zu einem Fest für Frieden, Freiheit und Demokratie ein. Der 1.September ist mittlerweile zum Weltfriedenstag ernannt. Seine Nachhaltigkeit hängt aber daran, ob wir bereit sind, uns auch zu erinnern an das, was da gewesen ist und vor 80 Jahren einen schrecklichen Höhepunkt erfahren hat; zu erinnern - nicht zurückzuschauen wie Lots Frau auf das brennende Sodom, um zu erstarren, sondern um nachzudenken, um die richtigen Konsequenzen für heute und morgen zu ziehen, um mutige und entschlossene Schritte zu gehen.
Zeitzeugen sind dabei besonders wichtig, Menschen, die selbst erlebt haben, wie schrecklich Krieg ist. Davon gibt es immer weniger - 80 Jahre nach Kriegsbeginn.
Ich war froh, dass noch einige solcher Zeitzeugen in unserer Gemeinde leben und hatte sie eingeladen, an dieser Stelle kurz zu berichten, wie sie diese Tage um den 1.September 1939 erlebt haben - in ihren Familien, in ihrer Nachbarschaft.
Doch leider mussten sie kurzfristig aus gravierenden gesundheitlichen Gründen absagen. Ob es zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal möglich ist, dass sie von ihren Erlebnissen und Erinnerungen berichten, wird sich zeigen. An dieser Stelle wünsche ich den Betreffenden gesundheitlich alles Gute.
Lesung Jak.3,13-18 (Übersetzung von Jörg Zink)
„Wer ist weise und klug unter euch? Der zeige es durch die Tat! Er zeige die Wirkung eines guten und erfreulichen Verhaltens, er zeige die Gelassenheit, die die Weisheit an sich hat. Habt ihr aber bitteren Neid und Streit in eurem Herzen, dann behauptet nicht, ihr wäret weise! Ihr müsstet lügen und die Wirklichkeit fälschen. Denn damit verfügt ihr nicht über die Weisheit, die von oben kommt, sondern vielleicht über irdische Wendigkeit, menschliche Gewandtheit oder gar teuflisches Geschick. Wo man nämlich neidet und streitet, da herrschen die Unordnung und jede Art von Schlechtigkeit. Die Weisheit dagegen, die von oben kommt, ist zum ersten rein und klar, sie ist ferner auf Frieden bedacht, sie ist fähig, nachzugeben und sich einem fremden Willen zu fügen. Sie ist voll Erbarmen und reich an guten Wirkungen. Sie ist frei von Gespaltenheit und Zweifel und kennt keine Verstellung. Die Frucht der Gerechtigkeit wird in Frieden für die gesät, die Frieden schaffen."
Da hat Jakobus Jesus genau verstanden, der in der Bergpredigt sagt: nur ein guter Baum kann gute Früchte bringen. Nur ein friedfertiger Mensch kann Frieden schaffen. Aber was macht einen friedfertigen Menschen aus?
Wer ist weise und klug?
Jakobus hält fest: ein solcher Mensch zeigt ein gutes und erfreuliches Verhalten; er ist in dem, was er sagt, rein und klar, nicht zweideutig und verklausuliert; er ist kompromissbereit und um Ausgleich bemüht; er hat ein Gespür dafür, was machbar und möglich ist; er ist voller Verständnis - er bemüht sich, zu verstehen, was in dem anderen vorgeht, seine Sicht auf die Dinge nachzuvollziehen. Es geht ihm wirklich um Frieden, nicht um die Durchsetzung der eigenen Interessen.
Ein friedfertiger Mensch besteht niemals auf seinem Standpunkt, sondern er ist bereit, sich zu bewegen, sich auf einen oft anstrengenden und langwierigen Weg zu machen - auf den anderen zu und mit ihm weiter.
Jakobus ist erstaunlich realistisch. Er weiß darum, dass Frieden Arbeit bedeutet, zuerst Arbeit an sich selbst und dann Arbeit mit dem Gegenüber, ein Ringen und Streiten, aber kein Ringkampf und kein Aufeinandereinschlagen, sondern Reden und Hören, ja Hinhören - und dabei ehrlich sein - rein und klar.
Ich glaube, daran mangelt es heute vor allen Dingen, daran hat es immer schon gemangelt in den letzten 74 Jahren. Man hat die Arbeit gescheut, die es gebraucht hätte, um auf den Trümmern des 2.Weltkrieges wirklich Frieden zu schaffen. Fast jeder Mann und jede Frau in Deutschland haben sich vor der Auf-Arbeitung der Zeit der Nazidiktatur gedrückt, hätten sie sich dann doch auch mit eigenem Weggucken, mit eigenem Mitmachen, mit eigenem Schuldigwerden befassen müssen. Lieber wurde in die Hände gespuckt, die Trümmer weggeräumt und der Wohlstand aufgebaut. Doch in das schicke neue Haus, das da aufgebaut wurde, die westdeutsche Bundesrepublik, da sind unübersehbar die alten Dämonen wieder mit eingezogen: Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus. Das Grundgesetz als bloßer Grundstein der Demokratie ist da kein ausreichender Schutz. Demokratie und Freiheit sind lebenslange Arbeitsprogramme. Die Arbeit, die die Kriegsgeneration nicht leisten wollte, die Teile der Kriegskinder und Nachkriegskinder in den 1968er Jahren angestoßen, aber nicht wirklich in die Breite der Gesellschaft hineinbekommen haben, müssen jetzt die Nachkriegsenkel leisten - nach innen und nach außen. Es ist die Auseinandersetzung mit der AfD und all denen, die mit ihr gemeinsam unterwegs sind. Hier ist Klarheit nötig, die nur gewonnen werden kann, wenn man sich mit den Verstrickungen in der eigenen Familie ehrlich auseinandergesetzt hat.
Liebe Gemeinde, das, was nach innen zu leisten ist, das gilt auch für die anstehenden Verhandlungen zwischen den Nationen. Auch dort ist Erinnerungsarbeit angesagt; auch dort geht es darum, zu hören, sich gegenseitig zu erzählen, wie man den anderen jeweils wahrnimmt; welchen Blick man auf die Vergangenheit hat, welche Hoffnungen und Befürchtungen man für die Zukunft hegt - in Europa, zwischen einzelnen Völkern, weltweit. Die Vergangenheit ist nie einfach vergangen. Gerade das, was in der Vergangenheit mit Schuld und Scham besetzt ist, kann fatale Folgen haben, wenn es nicht ver-arbeitet ist, angesehen und ab-gearbeitet im Sinn und Geiste Jesu: im gegenseitigen Bekennen mit der Bitte um Vergebung und mit der gewährten Vergebung. Viel ist da noch zu tun, nicht nur gegenüber den Nationen Osteuropas, sondern gerade auch im Umgang mit den Nationen Afrikas und des Vorderen Orients, die alle noch bis heute an den Folgen der Kolonisierung durch die Europäischen Mächte leiden. Es braucht da wirklich, wie Jakobus schreibt, die Weisheit von oben, um einen Weg in eine gute, friedvolle Zukunft der Menschheitsfamilie finden zu können.
Und machen wir uns nichts vor: es gibt sehr viele, gerade auch reiche, mächtige und einflussreiche Menschen, die an diesem Weg kein Interesse haben, einfach weil sie von der herrschenden Ungerechtigkeit, von Krieg und Elend profitieren.
Der Weg des Friedens ist ein steiniger und unbequemer Weg, ein Weg voller Auseinandersetzungen.
Hören wir einmal, was uns der Epheserbrief für diesen Weg zu bedenken aufgibt; Kapitel 6, die Verse 10-18b.
„Zu guter Letzt: Werdet stark durch die Kraft und Macht des Herrn. Zieht an die Waffenrüstung Gottes, um den listigen Anschlägen des Teufels zu widerstehen! Denn wir haben nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen Mächte und Gewalten, gegen die Weltherrscher dieser Finsternis, gegen die bösen Geister in den himmlischen Bereichen. Darum legt die Waffenrüstung Gottes an, damit ihr am Tag des Unheils widerstehen und standhalten könnt! Steht also da, eure Hüften umgürtet mit Wahrheit, angetan mit dem Brustpanzer der Gerechtigkeit, die Füße beschuht mit der Bereitschaft für das Evangelium des Friedens. Vor allem greift zum Schild des Glaubens! Mit ihm könnt ihr alle feurigen Geschosse des Bösen auslöschen. Und nehmt den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, das ist das Wort Gottes. Hört nicht auf zu beten und zu flehen! Betet jederzeit im Geist; seid wachsam und harrt aus."
Liebe Gemeinde, das Weltbild, das dem Epheserbrief zugrunde liegt, ist nicht meines und ich denke, es ist auch nicht ihres. Hinter all dem Bösen auf der Welt steckt für mich nicht der Teufel im metaphysischen Sinn, kein personifizierter Gegenspieler Gottes. Nein, das Böse ist durch und durch eine menschliche Möglichkeit. Was das Böse so „teuflisch" macht, das ist die Fähigkeit des Menschen, es zu maskieren. Es wäre zu schön, wenn es nur brutal daherkommt, mit der Fratze des Schlächters, des Massenmörders. Nein, es wird verkleidet. Ich möchte Ihnen aus meiner Kindheit und Jugendzeit ein solch ganz harmlos daherkommendes Beispiel benennen, einen Satz, den ich nicht nur von meinen Eltern gehört habe: „Wir bringen unser Geld zur Bank; dort lassen wir es für uns arbeiten."
Wie das? Wer hat schon einmal Geld arbeiten sehen? Nein, arbeiten, das tun Menschen; und am Ende der Wertschöpfungskette sind das meistens Menschen, die miserabel bezahlt werden und die damit die Zinserträge, die Aktiengewinne erwirtschaften. Das ist die unangenehme Wahrheit der globalen Wirtschaft, wie sie von uns Menschen eingerichtet ist. Es ist die menschliche Gier nach Geld und Macht, die mittlerweile das Überleben der Menschheit auf dieser Erde bedroht. Eine wahrhaft teuflische und gefährliche Angelegenheit. Gegen diese Bedrohung kommt man nicht mit herkömmlichen Waffen an, sondern tatsächlich nur mit geistlich-geistigen „Waffen".
Mit Wahrheit - gegen die Lügen und fake news.
Mit Gerechtigkeit - vor allen Dingen gegen die ganzen strukturellen Ungerechtigkeiten, aus denen sich die vielen Armen weltweit nicht befreien können.
Mit der Bereitschaft, die Güter dieser Erde wirklich zu teilen und so das Evangelium des Friedens mit Leben zu erfüllen.
Und sich nicht darin beirren zu lassen, dass eine gerechte, friedliche Welt möglich ist, eben der Verheißung Jesu zu glauben, ihm zu vertrauen.
Das meint: den Schild des Glaubens, den Helm des Heils und - übrigens die einzige „Offensivwaffe" - das Schwert des Wortes zu ergreifen.
Mit dieser Waffenrüstung ist Widerstand möglich, Widerstand nicht, um zu siegen, sondern um zu versöhnen.
Sieger im klassischen Sinne produzieren nämlich mit den Verlierern nur wieder neuen Hass und neue Gewalt.
Die Dichterin Christa Wolf legte mitten in der Zeit des Kalten Krieges in ihrem Buch „Kassandra" eben dieser antiken Seherin aus Homers „Ilias" einen wahrhaft prophetischen Satz in den Mund. Als der siegreiche Agamemnon nach der Zerstörung Trojas von ihr wissen wollte, wie es um die Zukunftsaussichten seiner Stadt Mykene steht, antwortet sie ihm: „Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehen." Ein Satz, der den Geist Jesu atmet.
Der dient dem Frieden und sucht damit auch seiner Stadt Bestes, der den Ausgleich sucht, das Lebensrecht jedes Menschen, jedes Volkes achtet und aller Lebewesen auf dieser herrlichen Erde. Darum: „Lass ab vom Bösen und tu Gutes. Suche den Frieden und jage ihm nach!" Amen.
11.n.Trinitatis, 01.09.2019 - 80.Jahrestag des Beginns des 2.Weltkrieges, Stadtkirche, Hiob 23, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth1.IX.2019 - 80 Jahrestag des Beginns des II. Weltkrieges (11.n.Trin.)
Hiob 23
Liebe Gemeinde!
Unser Kirchenbuch verrät nicht viel über den Ausklang des Friedens in einem Altweibersommer hier am Rhein: Am frühen Morgen des 24.August 1939 ist weit oben in Wittlaer ein zwölfjähriger Junge gestorben, der zwei Tage später beerdigt wird. … Für ein paar Menschen steht die Zeit still! —
Am 2.September wird in der Walburgisstr. eine fünfzigjährige Frau sterben mit einem Nachnamen, der in unserer Gemeinde bis heute vorkommt. … Für ein paar Menschen geht das Liebste unter! —
Am 3.September holt der Tod einen fünf Monate alten Knaben vom Töllershof, der auch noch in dieser ersten Kriegswoche mit einer Grabrede beigesetzt wird. … Ein paar Menschen können an Gottes Gnade wohl nicht mehr glauben! —
Pastor Schruck, der alle drei beerdigt, tauft am 3.September im Krankenhaus einen kleinen Kurt Hermann Gottfried und Anfang Oktober folgen Haustaufen in Familien, die ebenfalls noch bei uns bekannt sind.
Und zwischen alle dem haben am 30. und am 31.August 1939 zwei Paare geheiratet; der zweite Bräutigam ist mit 55 Jahren zu alt, um noch von dem, was kommt, unmittelbar ereilt zu werden.
Die nächsten beiden Trauungen allerdings – vom 9.September – sind zwar schon in unser Kirchenbuch eingetragen, aber am Ende der Zeilen findet sich eine Anmerkung, die besagt, dass diese Trauungen – beide Bräutigame waren 26 – doch nicht stattfanden, weil „kein Urlaub“ erteilt wurde.
So schleicht der Krieg sich also bei uns ein. Geburt und Sterben sind einstweilen wie immer … nur das Lieben, Anfang und Gründung eines gemeinsamen Lebens wird überschattet und muss dem viel wichtigeren Siegen, dem Töten und Getötetwerden weichen.
Dabei ist es doch so eine schöne Zeit … die Zeit der Dahlien und der Spinnfäden im Blauen. Die Ernte ist eingebracht, nur die Winzer warten noch auf die Süße und für die Kartoffeln werden die Kinder Schulferien kriegen und es wird ein Herbst wie immer. In Pommern sammeln sich erste Wildgänse auf den Wiesen, die Störche lassen ihre Nester bald zurück. Meine Großmutter näht am Hochzeitskleid, im Oktober wird der Großvater tatsächlich Urlaub kriegen und in Uniform heiraten. In Stettin-Neutorney, in der Bethanienstr.9 sitzt die Urgroßmutter Marquardt, die seit März verwitwet ist. 12 Kinder hatte sie, und jetzt ist sie allein. Aber die leisen Uhren und die Sicherheit der eigenen Möbel im Stift machen, dass sie sich in die Stille ihres Lebensabends ergeben kann, hier bei den über 430 Diakonissen des Kaiserswerther Verbandes, … die allerdings seit zwei Jahren ihr Lyceum nicht mehr betreiben dürfen und aus allen Kindergärten gekündigt worden sind, damit braune Schwestern der NSV sie ersetzen können … die Diakonissen und ihren christlichen Geist. —
Nachsommer; … Ahnung des Frühherbst; … kühle Dämmerung, Klarheit der Luft.
Heute früh vor 80 Jahren aber – an einem Freitagmorgen – ist aller Tage Abend gekommen, … nicht nur für die paar Menschen, die ein Kirchenbucheintrag betrifft, sondern in der Chronik der Menschheit: Es gibt von Sizilien bis mindestens zum Skaggerak vielleicht keine Familie in Europa, in der durch den 1.September 1939 nicht Unheil, Trauer, Verlust, Gewalt oder Schuld eingebrochen sind, … und von Kanada bis Australien, von Nordafrika bis auf die japanischen Kriegsschauplätze sind die Leidtragenden der Folgen dieses Tages die globalisierteste Schicksalsgemeinschaft, die es bis in unsere Zeit weltweiter ökologischer Opfer-Täter-Gemeinsamkeit je gab.
Und es begann mit diesem Septembersonnenaufgang, als sie vor vier Uhr schon in den Garnisonen weit im Osten, wo es früh tagt, zum Überfall rüsteten, weil die fieber- und lügenhaften Gespräche zwischen den Vertretern des 3.Reiches, Polens, Englands, Frankreichs und Italiens während der vorangegangenen Tage und noch während der ganzen Nacht nichts daran änderten: Deutschland schlug los.
Der Hitler-Stalin-Pakt hatte es ermöglicht: Man griff auf Polen über, nicht nur auf der Danziger Westerplatte, an der das arge völkerrechtliche Konstrukt des Korridors eine Sollbruchstelle der Versailler Verhältnisse bot, sondern auf breiter Front. Für die Kameras im oberschlesischen Gleiwitz, wo der Überfall auf den Rundfunksender eine teuflische Inszenierung war, um deutsche Opfermythen zu erzeugen, … doch neben vielen Grenzposten auch im Landesinneren selbst, in Wieluń, wo der deutsche Luftangriff am ersten Tag dieses Krieges auch das erste Kriegsverbrechen der Wehrmacht brachte, die in drei Stuka-Angriffswellen gleich zu Beginn das städtische Krankenhaus vollkommen zerstörte und bis zu 1200 zivile Opfer bereits in den allerfrühesten Morgenstunden der sich auf Europa senkenden Finsternis forderte.
Dieser schreckliche Tag, der sich heute jährt, ist aber nicht nur für die Geschichtsschreibung eine epochenscheidende Verdunkelung – als wäre das Grauen des 1.Weltkrieges nur 25 Jahre vorher nicht abgründig und unheilbar genug gewesen! –, … sondern wirkt für die Theologie und den Glauben der Christenheit mindestens ebenso.
Wir wissen, was diesem Anfang folgte: Eine geistige und militärische, eine antizivilisatorische Barbarei, die den Prozess der Weltgeschichte gesprengt hat. … Nach der Verwirklichung jenes kranken Albtraums – unserer jüngsten Vergangenheit noch zu Menschengedenken! –, ist es ja unmöglich geworden, der Abfolge der Zeiten und Generationen eine Richtung anzudichten. Weil wir ahnen: Jederzeit kann das gewonnene und gewachsene Gute der Jahrhunderte sich auflösen und blutigste Bestialität hervorbrechen; jederzeit kann mitten in edelster Kultur primitivste Gemeinheit, niedrigste Beutegier, urzeitlicher Jagdrudelinstinkt sich selbstverständlich zeigen; jederzeit kann die Horde nach Kannibalismus verlangen und Zähmung sich umkehren; … jede Zeit kann Ur- und Endzeit sein.
Wenn wir das aber ernst nehmen – dass am 1.September 1939 oder auch im Jahr 1933 und womöglich sogar im Jahr 1942 mit der sog. „Endlösung“, die zum Holocaust führte, nicht eine einzigartige, unvergleichliche, eine unwiederholbare Verfinsterung des sonst so klaren, aufgeklärten Selbstbildes der Menschheit eintrat, sondern nur ein entsetzlich grelles Licht nichts mehr von den allgemeinen unmenschlichen Möglichkeiten verbarg – … wenn wir also nicht plötzlich etwas Beispielloses darin erkennen, was der Krieg aufdeckte, … sondern uns selber, dann müssen wir wohl fragen, was denn da mit dem Tag vor 80 Jahren verdunkelt wird? Wenn er uns den Menschen leider so überdeutlich zeigt in seiner Unbelehrbarkeit, in seiner feigen Grausamkeit und brutalen Gewöhnlichkeit … wird dann nicht durch das, was wir am Menschen erblicken müssen, Gott verdunkelt?
Wenn der Mensch so furchtbar ist, kann Gott nicht wundervoll sein.
Ist der Mensch zu solcher Schande fähig, kann Gott keine Ehre behaupten.
Ist der Mensch so böse, so ist Gott nicht gut. ———
....... Seien wir ehrlich: Dieses Denken, das in der evangelischen Kirche durch Dorothee Sölles Wort, sie könne nach Auschwitz nicht mehr den Herrn loben, „der alles so herrlich regieret“ zu einem Leitmotiv geworden ist, … dieses Denken ist unmittelbar nachvollziehbar, verständlich und sympathisch.
… Doch es gibt dem Recht, der am 1.September 1939 den Befehl zum Angriff gab!
Auf eine furchtbare Weise würde das tausendjährige Reich tatsächlich tausend Jahre in den Köpfen und ihren Fragen, ihrer Verzweiflung und ihrem Nihilismus an der Macht bleiben, wenn es in alle Zukunft Gott ausschließen könnte von der Entscheidung über die Weltgeschichte. Tatsächlich wäre der verlorene Krieg, dessen Beginn und unfassbare Opfer heute vor uns stehen, auch weiterhin im Gange, wenn er die Bedeutung Gottes für die Menschheit und ihre Zukunft hätte zerstören können. Und der Erfolg, dass man Gott nicht mehr trauen, auf Ihn nicht mehr hoffen könnte, weil die von den Deutschen frei gewählte Diktatur von 1933 bis 1945 Ihn aller Glaubwürdigkeit entkleidet und beraubt hat … dieser Erfolg wäre Hitlers wahnhaft bis zuletzt verfolgter Endsieg. ———
Und so stehen wir da: Die Geschichte