Laetare, 10.03.2024 - Einführung der neuen Presbyterinnen und Presbyter, Stadtkirche, Lukas 22, 54 - 62,Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Lætare –10.III.2024
Lukas 22, 54 - 62
Liebe Gemeinde!
… Das tut mir echt leid! Ausgerechnet heute, beim Dank für und beim Eintritt in den Dienst der Presbyterin und des Presbyters … ausgerechnet heute also mit diesem Archetypen, diesem Alpha-Modell aller Presbyter konfrontiert zu werden, ist - vorsichtig formuliert – tatsächlich was für den Sportsgeist. …
Nicht bloß, weil selbst wir Evangelischen Petrus beinah unwillkürlich als Premieren-Papst einsortieren, während er selbst sich in seinem Brief an alle Ältesten, alle Gemeindeleiter wendet und dabei ausdrücklich ihren „Mitpresbyter“ nennt (vgl.1.Petrus 5,1), … nicht bloß wegen dieser Petrus-Kollegialität ist die Last und Kragenweite eines mit dem Ur-Apostel geteilten Amtes ziemlich groß.
Allerdings: Mitpresbyterinnen und -presbyter des Papstes Numero Uno zu sein, heißt inzwischen ja wohl v.a. einen ziemlich heißen Stuhl innezuhaben, an dem viel Dreck klebt und auf den viel aggressiv antireligiöser Schmutz geworfen, ja gekübelt wird. Die in Verschiss geratene christliche Gemeinde in nachchristlicher Zeit zu leiten, ist eher nichts für Feiglinge oder Sonnenbank-Naturen, die es gern warm und ansehnlich mögen. Mitpresbyterinnen und Mitpresbyter in der Gemeinschaft zu sein, die seit zweitausend Jahren den Namen Jesu und das Kreuz Jesu und das Leben Jesu in Ewigkeit hochhalten, mit Herz und Mund und Tat und Leben bezeugen und von ganzer Seele und mit allen Kräften zu Ehren und Verehrung bringen will, … das ist kein Pappenstiel und Kinderspiel. Sondern großer, verantwortungsvoller, befreiender und todüberwindender Ernst.
… „Salute!“ dazu, wie man anerkennend und aufmunternd an dem Ort sagen würde, an dem der Mitpresbyter aller Gemeindeleitungen sein Leben einsetzte und verlor … und durch seinen auferweckten Herrn wiedergewann. „Salute!“ ——
Aber mit den ehrwürdigen Fußtapfen und der spürbaren Verantwortung ist es ja nicht getan, wenn wir heute mit einer Mischung aus Respekt und Besorgnis auf die gucken, die unter dem neutestamentlichen Titel „Presbyter“ der Gemeinde den Dienst ihrer Zeit, ihrer Weisheit, ihrer Fürsorge, ihrer Gaben, ihres Glaubens, ihrer Inspiration zur Verfügung stellen.
Das, was einem wirklich Muffensausen machen kann, ist nicht die hierarchische Stellung des Fischers aus Kapernaum, der alle gleich zu Verabschiedenden und Einzuführenden - kumpelhaft wie er war - „Mitpresbyter“ heißt. Gegen Vorrang und Würde irgendwelcher Autoritäten sind evangelische Christen (inzwischen) weitgehend gleichgültig, … und rheinische nun gar sind dagegen beinah immun: Ein gutes Dutzend Leute im Rat und geschäftsführende Komitees halten sie für das Organigramm des Karneval.
Aber was niemanden kalt lassen kann, ist nicht das Privileg des Petrus, sondern seine Pleite.
Petrus, der Pionier christlicher Jüngerschaft ist zugleich der Prototyp des Flops in der Nachfolge.
Er schlich hinter seinem Herrn und Freund am Anfang von dessen Ende zwar her und er hätte erleben dürfen, wie dieser sein Heiland, ja, wie Gott selber alles annahm, alles ertrug, alles bis in den Tod aushielt um der Menschheit willen, … aber ehe es so weit war, folgte bei Petrus schon nichts mehr. Sein Puls und seine Panik waren stärker als Treue und Vertrauen: Er kam ins Stottern, der lebenserhaltende Instinkt der Lüge siegte über die Wahrheit und er versagte. … Sprach und versagte!
Und das ist der Gipfel seines Elends! Nicht mal schweigend, sondern redend – in galiläischer Mundart, in Jesu Dialekt also, dem Herrn im Tonfall zum Verwechseln ähnlich! – hat Petrus die Sache Jesu torpediert.
„Si tacuisses“, sagt bei so was der Lateiner: Wenn Du immerhin die Schnauze gehalten hättest, wäre Deine Bindung an Deinen Berufer und Erlöser vielleicht ge-rade noch so gerade geblieben ……. trotz Deiner vollen Hosen! Aber weil Du selbst im Scheitern labern musstest, ging und wurde alles schief, Du Großmaul des Kleinglaubens.
Weil Du die Luft nicht ein Mal anhalten konntest, sondern Dein eigenes vermeintliches Nicht-Sein rausposaunen musstest, wirst Du als Verleugner Deiner Wahrheit und darin als der Verleugner des Weges und der Wahrheit und des Lebens für alle (vgl.Joh.14,6!) während der gesamten Geschichte der Kirche in Erinnerung bleiben.
Petrus, vorlaut, forsch und vordergründig bis zum Schwachsinn kann die Zunge nicht im Zaum halten.
Statt eine anklagende Anfrage einfach stehen zu lassen – eine Anfrage, auf die wir noch zu sprechen kommen müssen, weil sie auch uns fordert –, hat er den theologisch nihilistischsten Satz gesagt (wenn Nihilismus denn steigerungsfähig sein sollte), den es geben kann. Bedenken wir: Gott heißt „ICH BIN“ (2.Mose3, 14); und Petrus kontert, als er nach Gott und ihm gefragt wird, wie aus der Pistole geschossen: „Ich bin’s nicht!“ ——
… Nein, Du bist nichts, Petrus! … Nichts bist Du ohne Gott! ———
Das aber, was uns hier begegnet im fernen Flackerlicht des Bühnenrands der Nacht des Leidens Jesu, … das ist nun nicht nur das Drama oder die Tragik derer, die Petrus später als seine Mitpresbyter bezeichnen wird, sondern das ist die Sein-oder-Nicht-Sein-Frage der gesamten Christenheit, … aller, die nach Petrus das Bekenntnis ablegen: „Jesus, Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Matth.16,16).
Ist das ein Wort, zu dem wir stehen?
Oder stößt man auch bei uns ins Nichts, stößt man auf unser Nichts-Sein, wenn man uns danach fragt? …….
Luft-Anhalten.
… Lieber Schweigen, als jetzt Unsinn quasseln.
… Möglicherweise ja auch ganz ehrlich schweigen.
Ehe wir ein geheucheltes Bekenntnis nachsprechen, ist das Offen-Gelassene immerhin ein Raum, in den wir hineinwachsen können, … in dem andere sich und ihren fragenden Glauben entfalten könnten, … ein Raum, in dem sich mein und Dein Glauben begegnen können als jene Art von Glauben, die Unglaube ist, dem geholfen werden muss, ……. weil ihm geholfen werden kann (vgl.Mk.9.24!), wenn der glaubensunfähige Glaube sich einzeln oder besser noch gemeinsam an Jesus wendet und an Jesus hält.
Von Petrus’ bitterer Bauchlandung zu lernen, sich zu ihm, unserm Mitpresbyter, unserm Mitchristen in seiner Schande zu stellen, bedeutet, den Wert des Aushaltens und Ausharrens in den Jesus-Verlegenheiten, in der christlichen Überforderung, in den Rätseln des eigenen Glaubens zu erfahren.
Wenn wir nach Jesus gefragt werden, ist nicht unser Selbsterhaltungstrieb gefragt, der uns zur Lüge reißt.
Wo Jesus fraglich ist und folglich wir es sind, da ist nicht die spontane Antwort die beste: Die dient fast immer entweder unserer Selbstbehauptung, unserer Selbstverteidigung oder unserer Selbstdarstellung … da, wo wir als Follower Jesu auf mehr „Likes“, auf Zuspruch und auf Beifall rechnen können.
Wenn wir nach Jesus gefragt werden – und wir können in einer so ahnungslosen, Gottes-vergessenen, Religions-müden, Kirchen-skeptischen Zeit nur hoffen und beten, dass wir nach Jesus gefragt werden!!! – , … noch einmal also: Wenn wir nach Jesus gefragt werden, dann soll nicht der Reflex, sondern die Reflektion antworten!
Nicht die instinktive Witterung, was jetzt wohl passt und nützt, soll uns dann leiten, sondern die pietätvolle und empathische Erinnerung an den Ersten in unserer Reihe:
Er hatte sich schon verrannt in seinem kämpferisch-großkotzigen Eifer, mit Jesus - wenn er gleich sterben müsste - ins Gefängnis und in den Tod zu gehen (vgl.Mk.14,31 / Lk.22,33), … und genauso verrannte er sich in seiner kreatürlichen Angst, die einfach nur den eigenen galiläischen Dickschädel aus der sich zusammenziehenden Karfreitags-Schlinge retten wollte.
Wer aber nun wie wir in der Nachfolge dieses Bekenners und dieses Verleugners Petrus steht, der soll von Jesus und zu Jesus nichts sagen, das mit „Ich bin“ anfängt – z.B. „Ich bin mir völlig bombensicher“, denn auch Paulus sagt da, wo wir ihn immer mit „Ich bin gewiss“ zitieren (vgl. Rö.8,38), wörtlich: „Ich wurde überzeugt; ich wurde gewiss gemacht“. Wir sollen die Jesus-Frage also nicht mit markigen „Ich bin“-Sätzen beantworten, und umgekehrt erst Recht natürlich auf keinen Fall mit teigig-wabbeligen „Ich bin’s nicht“-Sätzen, in denen wir uns selber auflösen wie das Häufchen Elend, das ein begeistert streunender und Menschen suchender Fischer war und ein Presbyter und Papst erst noch werden sollte.
Wir Christenmenschen sollen die Frage nach Jesus nicht mit irgendwelchen großspurigen oder kleinlauten Privatsätzen, sondern mit reinen, einfachen Jesus-Sätzen oder mit Sätzen für alle Menschen beantworten!
Das sollte der Maßstab unseres Zeugnisses als Gemeinde und unseres Dienstes in ihr sein: Es geht um Jesus und die Menschen.
Er muss wachsen (Joh.3,30) – so haben’s uns schon die Fliedners mitgegeben – und alle Völker, alle Zeiten, alle Welt soll zu Ihm kommen und in Seinem Namen das Heil finden (vgl. Apg.4,12).
Das ist alles, was zählt.
… Und also sind da wir und unsere Privatmeinung, … wir und unser einzelner Dienst, … wir und unsere Gewohnheit – und das heißt auch: Wir und unsere Gemeindegewohnheit! – nicht das Wesentliche!
Hätte Petrus doch nur einen Satz mit „Du“ gewagt, als ihn die neugierigen, hämischen, bedrohlichen Stimmen nach der Verbindung zwischen Jesus und ihm fragten. Er hätte ja die reine Wahrheit dort im Hof des Hohenpriesters gesagt, wenn er der Magd und dem Gaffer und dem Spitzel, die ihn alle fragten, ob er nicht mit Jesus gewesen sei, geantwortet hätte: „Dreh’ Dich um! Du bist doch auch mit ihm hier!!! … Da steht er doch hinter Dir. Da steht er - weil er hinter Dir steht! - vor dem Richter.“
Kurzum: „Wer Du auch bist, die oder der mich hier fragt: Der, nach dem Du mich fragst, ist auch mit Dir!“
Das wäre eine Antwort auf die Jesus-Frage, die womöglich mehr als jedes eifrige individuelle Bekenntnis auslösen würde, und allemal mehr auch als ein vorsichtiges Schweigen.
Es ist aber auch alles, was wir zur Zeit sagen können und sollen: Dass Jesus bei den Menschen ist, weil Er für sie ist, … weil Sein ganzes Wesen und Sein ganzer Weg und Seine ganze Wirkung dieses Für-Andere-Dasein, dieses Mitmensch-Werden, dieses Mitleid-Haben, dieses Mit-uns-in-Tod-Gehen-damit-wir-nicht-verloren-werden sind.
Jesus ist das große, ursprüngliche, erlösende, ewige „Mit“, das Gott und Mensch verbindet
Jesus ist mit allen, die uns nach Ihm fragen, weil Er selbst die Verbindung zwischen Gott und allen schafft. Er ist in Person die nicht weichende Gnade, wo alle Berge und Hügel stürzen, … Er in Person ist der Bund des Friedens, der nicht hinfallen wird, sondern für immer besteht (vgl.Jes.54,10).
Und deshalb ist er zuletzt auch unsere Hoffnung auf eine Antwort auf die Jesus-Frage in der Ich-Form.
Es ist vermessen, sie für uns selbst heute schon zu beantworten: Ob wir ebenso bei und mit Jesus sind, wie Er mit uns, ob wir Ihm so verbunden bleiben, wie Er uns bis in Seinen Tod … das können wir alle noch nicht sagen und behaupten, sondern nur hoffen und wünschen.
Weil wir aber heute päpstlich-presbyterial begonnen haben, schließen wir vielleicht auch genauso mit Blick auf ein vermeintliches Spitzenamt, das zwar niemandem von uns heilig, aber hoffentlich doch ernst ist.
Um die zu Lebzeiten von uns selbst nicht zu gebende Ich-Antwort auf die Frage nach unserem Jesus-Verhältnis hat sich eines unserer Staatsoberhäupter – zu einer Zeit, als Bundespräsidenten noch nicht aus der Kirche ausgetreten zu sein pflegten – Gedanken gemacht.
In Wuppertal nannte man ihn den „Bruder Johannes“, weil er als fliegender Buchhändler in einem frommen Barmer Traktat- und Bibelgeschäft anfing. Gestorben ist er, nachdem er das höchste Amt in unserm Staat bekleidete er in Berlin und liegt dort auch auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof begraben.
Er wird selbst gewählt und selbst gewusst haben, was auf dem Grabstein steht:
Die Anklage, mit der der erste Presbyter der Kirche nach seinem dummen Reden zum noch dümmeren Schweigen und dann zum Heulen gebracht gebracht wurde.
Diese schwebende Frage des heutigen Tages, die nur beantwortet werden kann, weil wir glauben dürfen, dass Jesus mit uns ist und wir darum auch hoffen sollen, in der Ewigkeit – wenn alle unsere Verantwortung verantwortet, alle unsere Schuld entschuldet, all unser Nichts durch Ihn zu etwas gebracht worden sein wird – die Antwort auch über uns selbst zu hören, die Petrus schuldig blieb. … Warst Du?
… Bei Johannes Rau steht – nach dem Tod!, nicht wegen seines eigenen Verdienstes, sondern weil Jesus Sein Heiland und Retter war! – auf dem Grab der Schuldspruch, der uns selig macht: „Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth“.
Möge das von uns allen einst ebenso gesagt werden!
Amen.
Okuli, 03.03.2024, Stadtkirche, 1.Petrus 1, 13 - 21, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Okuli 3.III.2024
1.Petrus 1, 13 - 21
Liebe Gemeinde!
Sie waren jung. Sie waren lebendig. Sie waren nicht zu bremsen.
Die weißen Bärte und Glatzen, die Folterinstrumente oder Himmelsschlüssel und natürlich auch die Heiligenscheine, die sie später auszeichneten, waren den Aposteln keineswegs von Anfang an auf den Leib geschneidert. … Und wenn sie leben – wir glauben aber, dass sie leben, weil Gott ein Gott der Lebendigen ist (vgl. Lk.20,38) –, dann ist es unsinnig, sie als die Sechzigjährigen oder gar Hundertjährigen in unserem Gedächtnis festzulegen, die Nero im Fall des Petrus kreuzigen ließ oder die - wie Johannes - bis in die Zeit des Kaisers Trajan am Leben blieben.
Die Kirche ist ein Aufbruch der Jugend gewesen: Ein gerade einmal Anfang Dreißigjähriger und seine Gefährten zogen aus der alten Wirklichkeit des Todes aus und in die kommende neue Welt Gottes.
Zwar hatten sie schüchtern und hinterwäldlerisch, mit schlechtem Gewissen und lähmender Überforderung durch das größte Wunder aller Zeiten begonnen: Aber die Energie, die Kraft, die der Geist Gottes ist, hatte sie – die jungen Frauen und Männer, die Karfreitag und Ostern ganz dicht oder aus feigem Abstand miterlebten – über alle Angst, über alle Gewohnheit und Konvention hinausgetragen und machte sie feurig, fessellos und stürmisch frei. Hier war eine Generation, die etwas so völlig Anderes, Unerwartetes, Beispielloses bezeugen und ausbreiten wollte, dass niemand ihnen hätte mitgeben, vormachen oder gar vorschreiben können, wie man als Vorhut der zukünftigen Menschheit leben solle. Eine Menschheit, die nicht von der Sicherheit des Unausweichlichen, nicht von den Grenzen des Gewesenen, nicht von der Erwartung des Fatalen geformt und gewürgt wurde, sondern die durch Vergebung, Befreiung und Hoffnung völlig veränderte Perspektiven hatte:
Sie steckten nicht im Zwang der Sünde, sondern wurden getragen von der Strömung der Versöhnung, die im Blut Jesu die Welt wie einst die Sintflut ausschwemmen und reinigen sollte.
Sie klammerten sich nicht an Legitimierungen ihrer selbst, sondern ließen sich zusammen mit allen anderen überraschen von den Wundern, die an ihnen und durch sie geschahen.
Sie duckten sich nicht vor den ständigen Winken des Todes, sondern machten sich ungeachtet aller natürlichen Furcht los vom Kleinmut der Endlichkeit und lebten in einem Maßstab der Großzügigkeit, der Liebe und des Gemeinsamen, dass man in ihrer Gegenwart die grenzenlose Ewigkeit spüren musste. Sie waren jung, lebendig und nicht zu bremsen.
Sie waren aber auch radikal.
Ihre Entschlossenheit zur Nachfolge, ihre Leidenschaft für Den, Der ein zweites Mal die Sklaven – die Sklaven der Gier, des Bösen und des Todes – aus ihrer Knechtschaft durch den österlichen Exodus zu neuen Ufern und neuen Horizonten und zu einer neuen Ethik und neuen Heiligkeit als das freie Volk Gottes führte, machte sie so ernsthaft und so unbedingt, wie nur junge Leute es sein können.
Sie lebten gegürtet - also auf dem Sprung -, wie Israel die Nacht seines Passa gefeiert hatte (vgl. 2.Mose12,11). Bis unter die Haarspitzen waren sie von nüchtern-alerter Hoffnung elektrisiert; und ihre gemeinsame Haltung - ihr Gehorsam - war die geradezu jugendlich-sture Ablehnung aller alten Konventionen: Übernehmt kein „Schema“ der Bedürfnisse, der Interessen und Begierden der Alten, heißt es im Griechischen dieses Jugendmanifests das wir als 1.Petrusbrief kennen. Und in der lateinischen Übersetzung, die auch in die Antike zurückreicht, heißt es: „Konfiguriert euch nicht den alten Begierden eurer früheren Ignoranz“.
… „Konfiguriert“ euch auf keinen Fall wieder der überholten Ignoranz: So klar ist das neue Programm, das Lebens-Update dieser apostolischen Avantgarde.
Was sie dagegen statt der abgenutzten und nicht mehr funktionalen Codes und Systeme der alten Welt zu ihrem alternativen Lebensentwurf machten, das war die Heiligkeit.
Heiligkeit – wie sie auch schon der Aufbruchsgeneration des Exodus als die kollektive neue Identität Israels, als sein neues Profil und Ziel aufgetragen wurde (vgl. 3.Mose 11,44f und besonders 19,2!) – … Heiligkeit ist die Alternative Gottes zum unheilvollen Schema der Welt.
Heiligkeit ist der kompromisslose Versuch und der hartnäckige Elan, seelisch ganzheitlich, moralisch gesund, in Geist und Gerechtigkeit fruchtbar zu leben, statt halbherzig, krank und steril.
Auch Heiligkeit ist also eine junge Lebensform oder aber eine verjüngende Lebenskur. Heiligkeit setzt den Idealismus und die Entschiedenheit derer voraus, die nicht bis zum Hals in Kompromissen, Verpflichtungen oder Bequemlichkeit stecken.
Heiligkeit setzt Hunger und Mut frei, die sich weder abspeisen noch abschrecken lassen von der öden Erfahrung und der noch öderen Behauptung, dass das nur schwer geht.
Heiligkeit ist die Bereitschaft, mit dem Unmöglichen zu rechnen, das Unerprobte zu riskieren, das Ungemütliche zu unternehmen und das Unbewiesene zu veranschaulichen.
Zu ihrem eigenen Schaden hat die evangelische Kirche vor lauter Entlastung durch die Rechtfertigung – israelitisch gesprochen: vor lauter Entlastung durch den Exodus, das Befreiungsgeschenk Gottes an Seine versklavten Leute – die Folge und Fortsetzung dieses Wunders vergessen[i]: Dass die von alter Knechtschaft, Unterdrückung und Fremdsteuerung Befreiten nun ein neues Leben beginnen und vertiefen, in dem sie unkonventionell und ungezwungen Maßstäbe verfolgen, die anderen viel zu aufwendig und auffällig, viel zu freischwebend und überirdisch vorkommen mögen. …….
… Essen, Trinken, Sorgen, Schlafen sind Herausforderung genug. Kommen dann noch Genuss, Erfolg, Absicherung und deren jeweilige Demonstrationen dazu, dann sind Menschen ausgelastet. Wer braucht da noch die herausfordernde Verheißung, heilig sein zu sollen? …
Es ist mit der Heiligkeit wie mit der Freiheit in der vergangenen Woche. Egoismus und Sklaverei sind einfacher. Von beiden wird man beherrscht. Ihr Zwang macht den Willen gefügig. Freiheit und Heiligkeit dagegen stellen unsern Willen andauernd vor die Wahl. … Nicht nur in Sachen demokratischer Gesellschaft, sondern auch im ganz eigenen Leben ist aber das Wählen offenbar lästig. Bequemer ist man Knecht.
Aber als das junge Christentum die frische Botschaft unter die Völker trug, dass man nicht wahllos und schicksalsfürchtig leben müsse, sondern berufen sei, als vom Schicksal befreiter Mensch sein Leben einzig und allein in freier Anlehnung an und bewusster Nachahmung von und reinem Vertrauen auf Gott zu leben ……, da sprangen die Ketten Satans und der ausbeuterischen sozialen Hierarchie der Antike, da öffneten sich die psychischen und die kulturellen Sperren und Schranken und tastend oder überstürzt zogen Männer und Frauen hinaus in die Freiheit der Heiligen! …
Niemand konnte sie mehr vor der Geburt auf einen Status festlegen, niemand ihnen ein Leben lang ihre Rolle und Pflicht vorschreiben, niemand sie bis in den Tod verdinglichen und entwürdigen! Sie wurden in der aufregend neuen, heiligen christlichen Kirche, in dieser Gemeinschaft, der nicht mehr nach Herkunft, Geschlecht, Besitz unterschiedenen Heiligen tatsächlich zu neuen Menschen! … Menschen, deren Wert nicht mehr nach alter Währung und Berechnungsweise, nicht mehr in Silber oder Gold, Können oder Vermögen auszudrücken war, sondern einen ganz anderen Nenner hatte: Jesus Christus, der vor aller Zeit erwählte, dann unter uns erschienene, als Opfer aller barbarischen Brutalität sich freiwillig rückhaltlos einsetzende und damit schließlich dem an ihm unberechtigten Tod endgültig abgewonnene neue Mensch.
Dieser Mensch Jesus Christus, sein lebendiges und lebenspendendes Blut ist die Quelle, aus der die freie, heilige, junge Kirche der apostolischen Zeit ihre ganze Stärke, ihre Leidenschaft, ihre dynamische Daseinsfreude, ihre überschäumende Glaubensenergie und Liebestatkraft schöpfte.
Wer ihm angehört, der ist nicht mehr von der abhängighaltenden alten Welt geprägt, sondern - wie’s im Lutherdeutschen heißt - „vom nichtigen Wandel nach der Väter Weise erlöst“.
Wer mit Jesus Christus lebt, der ist befreit aus „einem Leben ohne Inhalt, wie es euch von den Vätern vorgelebt wurde“, übersetzt die Zürcher Bibel. Der kann also aufatmen und jung, lebendig, ungehindert existieren. Innovativ wie die Pioniergeneration der Apostel und Apostelinnen und die Heiligen aller Zeiten.
Schön. ——
Bloß was heißt das für uns in einer altgewordenen Kirche, … zumal für diejenigen unter uns, die selbst nicht mehr die Jungen sind? Ist die sinnlose Festlegung durch Vergangenes, … ist die Festlegung durch das, was war und was ausgerechnet in der lateinischen Übersetzung dieser Stelle als die „leere Unterhaltung der väterlichen Tradition“ erscheint, … ist alle Bevormundung und Einbindung in Überliefertes, an der wir ja doch mehr oder weniger sämtlich beteiligt sind, dann nicht unsere Verhinderung der christlichen Freiheit, unsere Blockade frischer Aufbrüche zur Heiligkeit?
Dazu gäbe es viel zu sagen.
Nicht bloß wegen der Missbrauchsstudien.
Bei jeder ehemaligen Konfirmandin, jedem ehemaligen Konfirmanden, die aus der Kirche austreten, frage ich mich, welche Schuld ich mit meiner Art des Festhaltens und Festlegens im Sinn der Tradition an ihrem Aufgeben, Loslassen und Weggehen wohl habe? …
Aber ein viel allgemeineres, säkulares wie kirchliches Schuldproblem gegenüber der jungen Generation beschäftigt mich mit dem herrlich freien 1.Petrusbrief, dem Jugendmanifest aus apostolischer Zeit im Ohr noch mehr.
Wir sperren die Generation von morgen zwar nicht mehr so folgenschwer räumlich ein, wie es in den letzten Jahren der Pandemie geschehen ist und wahrhaftig nachwirkt. Wir sperren die Generation von morgen aber noch viel schlimmer in unserm Heute, das ihr Gestern sein wird, ein, … wir verhaften sie in weltlicher Sinnlosigkeit und fesseln sie an gegenwärtige Hoffnungslosigkeit durch ein perfides, giftiges, gleichgültiges geistiges Erbe, mit dem wir sie blockieren.
Man kann das ganz praktisch unter anderem an der unfassbaren Fehlentscheidung zur Cannabislegalisierung sehen. Dabei geht es überhaupt nicht darum, dass etwas unbedingt strafbar sein sollte, sondern es geht um das, was unbedingten Schutz verdient: Das Innere des Menschen nämlich! Das muss frei sein … und es muss uns heilig sein!
Wir dürfen das Innere nicht als vernachlässigenswerte Nebensache, als unwichtiges Organ der Ablenkung und des Konsums betrachten! Wir dürfen im Inneren des Menschen nicht bloß einen neutralen Hohlraum sehen, der eben auch durch materielle Ersatzbefriedigung oder sonstige Ablenkungsmanöver das abbekommt, was sein Funktionieren und Leisten in einer rein stofflichen Auffassung vom menschlichen Dasein ermöglicht.
Genau diese immanente, rein materialistische Sicht des Menschseins ist der pervers sinnlose, nichtige Wandel nach der Väter Weise, den die Kinder des sog. aufgeklärten Zeitalters, des bloß auf das Greif- und Messbare fixierten Menschenbildes fortsetzen müssen. Doch dieser Nihilismus, den wir auf unsere Kinder ausdehnen, wenn wir sie nur im Schema des Äußerlichen und Immanent-Irdischen festhalten, … dieser Nihilismus ist verbrecherisch, und wir sehen buchstäblich links wie rechts, in der Gewaltvergötzung wie der Ichsucht der großen Mächte, was er anrichtet.
Auf seine Wurzel aber hat mich der Satz einer weltlichen Dichterin aus Nordamerika - Fanny Howe - gestoßen, die ihre sinnlos destruktiven Erfahrungen als Mädchen und Jugendliche in den betäubend-aufrüttelnden Satz kleidet: Die Offenheit des jungen Menschen für Verwandlung wird im Heranwachsen versiegelt, „bis an die Stelle der Seele das Selbst tritt, um nun die Faust des Überlebens zu sein.“[ii]
Das Selbst an Stelle der Seele: Das ist die perfide, nihilistische Festlegung auf ein trostloses Schrumpfbild unserer Berufung und Möglichkeiten, mit dem wir die Generation nach uns einschränken, verarmen lassen und aussichtslos festlegen. Das „Selbst“ des Selbstbewusstseins, der Selbstverteidigung, der Selbstversorgung, der Selbsthilfe. … Das „Selbst“ als Faust und Pfund zur eigenen Selbstdarstellung. … Das „Selbst“ als die einzig wahre Größe, die wir behaupten müssen, weil sie mit uns und wir mit ihr vergehen.
So ist das eitle, leere, sinnlose Bild vom Menschen, der nichts als er selbst sein soll: Ichbezogen und fixiert auf Maximierung seiner kleinen Erfolgserlebnisse in der kurzen Zeit. … Her mit dem Rauschgift, wenn’s so wäre! … ———
Doch ist der Mensch ja so viel mehr: Nicht mit Vergänglichem, sondern mit dem ewig Lebendigen ist der Mensch von diesen erbärmlichen Suchten und Begierden befreit worden.
Und darum schulden wir den Jungen - Euch jungen Menschen - , nicht mehr wie Seelenlose behandelt zu werden. Wir schulden Euch als Pfarrerinnen und Pfarrer, Lehrerinnen und Lehrer, als Eltern und Familien, als Gemeinde und Gesellschaft, dass wir Eure Seelen schätzen und schützen, weil Gott sie liebt. Gott will Eure Seelen - die Er liebt - , wenn sie leer sind, füllen; Er will sie heilen, wenn sie krank sind, und weil sie wichtiger sind als alles andere (vgl. Matth.16,26 / Mk. 8,36 / Lk.9,25), wird Er sie retten.
Die Seele des Menschen ist ja die unmittelbare Verbundenheit mit, die Anwesenheit von und die Offenheit für Gott im Menschen (vgl. 1.Mose 2,7). …
Weil wir Seelen sind, darum sind wir Menschen nicht auf uns selbst geworfen, sondern herausgerufen in eine Lebenserfahrung und Lebensverwirklichung, die göttliche Maße hat: In seiner Seele nämlich hat jeder Mensch ja gerade die Freiheit, über sich selbst hinauszuwachsen, hinein in die endlose, abenteuerliche Reise und Reifung, die die Heiligkeit ist. … Die Heiligkeit, die seine eigentliche und für immer bleibende Gottebenbildlichkeit werden wird.
Solange wir allerdings hier in der Fremde leben, sagt der 1.Petrusbrief, werden wir nie so weit kommen, erfolgreich fertig mit uns selbst zu sein.
Und darum müssen wir hier jung wie die Apostel bleiben, … lebendig, beweglich und weder fest- noch aufzuhalten in unserer schönsten Berufung, innerlich und äußerlich von allem gelöst nur Gott entgegenzuwachsen.
Denn es steht geschrieben: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“ (3.Mose19,2 / 1.Petrus 1,16).
Amen.
[i] Die reformierte Tradition der Ethik, die stark die Heiligung als Frucht der Gerechtigkeit im Glaubensgehorsam betonte, hat heute kaum noch Wirkung. Dass Ethik unter dem Gesichtspunkt der Heiligkeit betrachtet und betrieben würde, ist fast nirgends festzustellen. Man sollte also in die Schule der Heiligen gehen, schlicht um ethisch nicht im Jargon und in der Perspektive des Tagesbetriebs hängen zu bleiben, sondern horizonterweitert in der Lösung ethischer Probleme auch Erlösung ethisch buchstabieren zu lernen.
[ii] Fanny Howe, „My Father Was White but not Quite”. In diesem Essay heißt es: “The self is not the soul, and it is the soul (coherence) that lives for nine years on earth in a potential state of liberty and harmony. Its openness to metamorphosis is usually sealed up during those early years until the self replaces the soul as the fist of survival.” Zititert nach: https://www.poetryfoundation.org/poetrymagazine/articles/69163/my-father-was-white-but-not-quite
Reminiscere, 25.02.2024, Num.21,4-9, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
„Durch die Wüste“, so heißt eines der Bücher von Karl May. Der Held ist darin Kara Ben Nemsi, der im Lauf der Erzählung manch knifflige Situation zu bewältigen hat – und das natürlich mit Erfolg erledigt.
„Durch die Wüste“ so lautet der jüdische Titel des vierten Mosebuches: „B‘ Midbar“. In diesem Buch gibt es keine Helden wie Kara Ben Nemsi. Da begegnen wir ganz normalen, schwachen Menschen, die aus ihrem Leben in Ägypten, aus Gefangenschaft und Zwangsarbeit, herausgerissen und herausgeführt nun auf der Flucht durch die Wüste sind. Dabei sind sie in eine Sackgasse geraten. Der direkte Weg in die Freiheit und Sicherheit ist versperrt. Nun sollen sie umkehren und eine neue Route suchen. Welch eine Zumutung!
Ich lese uns die Verse 4 bis 9 aus „B’Midbar“ Kapitel 21.
„Als sie nun vom Berg Hor in Richtung Schilfmeer aufgebrochen waren, um so das Land Edom zu umgehen, wurde das Volk auf dem langen Weg kurzatmig. Die Israeliten beklagten sich bei Gott und bei Mose: „Wozu hast du uns aus Ägypten herausgeführt? Sollen wir in der Wüste sterben? Nicht einmal Brot und Wasser gibt es hier! Wir ekeln uns vor dem schlechten Essen.“ Da schickte Gott dem Volk Seraf-Schlangen. Viele Israeliten wurden gebissen und starben. Nun kam das Volk zu Mose und bat: „Wir haben Unrecht getan, als wir so mit dem Ewigen und dir geredet haben. Bete zu Gott, dass er die Schlangen von uns fortschafft!“ So betete Mose für das Volk. Und Gott sagte zu Mose: „Fertige eine Schlange aus Kupfer an und setze sie auf eine hohe Stange: Wer gebissen wird und sie ansieht, wird leben.“
Da machte Mose eine Schlange aus Kupfer und setzte sie auf eine hohe Stange. Und es geschah: Wenn eine Schlange jemanden biss und er/sie die kupferne Schlange fest in den Blick nahm, so blieb er/sie am Leben.“
Eine merkwürdige Geschichte. Der Einstieg ist dabei bekannt aus anderen Erzählungen vom Zug des Volkes Israel aus Ägypten in die Freiheit. Es beginnt mit der Wiederkehr des Gleichen: Die Israeliten nörgeln, murren, motzen mal wieder herum. Sie sind „verdrossen“ heißt es in einer Übersetzung, „Die Seele des Volkes ist erschöpft“ in einer anderen. „Der Atem des Volkes reicht nicht aus“, das Volk ist kurzatmig. Und Mose ist es wahrscheinlich auch. Irgendwo im Nirgendwo der Wüste haben die Leute einfach genug. Selbst das Manna, die Speise, die ihnen so oft das Leben gerettet hat, bekommt sein Fett ab: es ekelt sie nur noch.
Nein, dass Israel murrt und meckert, das ist wirklich nichts Neues. Neu ist vielmehr die Reaktion auf Seiten Gottes. Bislang war er immer tröstlich-nachsichtig mit Israel umgegangen, hatte ihrem Mangel an Wasser und Nahrung wiederholt abgeholfen. Aber hier sieht alles nach einer Strafaktion aus: dieses Mal schickt er ihnen Seraf-Schlangen, deren Bisse brennende Schmerzen verursachen und zum Tode führen.
Warum reagiert Gott so heftig? In ihrer Verzweiflung sind die Israeliten dieses Mal einen Schritt zu weit gegangen. Sie sind dabei, alles zu zerstören, was ihnen bisher das Leben bewahrt hat. In Ägypten wären sie in elender Sklaverei untergegangen: diese Tatsache haben sie völlig verdrängt. Der Weg durch die Wüste ist beschwerlich, keine Frage, und der Speiseplan ist auch alles andere als üppig. Aber was sie haben, das erhält ihnen das Leben, das Brot vom Himmel. Und sie können ihren Weg in (die) Freiheit gehen. Indem sie die tägliche Nahrung als ekligen Fraß abtun und die geschenkte Freiheit verfluchen, sagen sie sich von Gott los. Und Gott – er lässt sie los; er zieht seine beschirmende Hand ab. Giftschlagen gibt es überall in der Wüste; Gott schickt sie nicht extra. Bisher hat er die Schlangen daran gehindert, die Israeliten anzugreifen. Aber jetzt, ohne den Lebensschutz Gottes, sind sie den Schlangen ausgeliefert.
Die Israeliten verachten das Gute, das Gott ihnen gegeben hat und gibt. Sie schauen von Gott weg. Dieses Wegschauen bedeutet Lebensgefahr und bringt ihnen letztlich den Tod.
Wer sein Ziel, den entscheidenden Fixpunkt seines Lebens aus den Augen verliert, begibt sich in Gefahr. Ebenso wie ein Mensch, der im Straßenverkehr seine Augen nicht nach vorne richtet.
Die Israeliten erkennen in der Katastrophe, dass sie ihr Ziel, dass sie den Ankerpunkt ihres Lebens aus den Augen verloren haben. Immerhin: sie zetern nicht weiter und schlagen wild um sich, sondern sie schlagen sich an die eigene Brust.
Nicht Gott oder Mose sind schuld an ihrer Malaise, sondern sie selbst. Sie erkennen ihre Schuld und bekennen sie und bitten Mose um Fürbitte. Auf ihn, so die Hoffnung, wird Gott bestimmt eher hören. Ihre Bitte: Gott möge die Giftschlangen fortschaffen.
Doch Gott erfüllt diesen Wunsch nicht. Schlangen gehören nun einmal in die Wüste. Vielmehr fordert Gott Mose auf, ausgerechnet eine solche Schlange aus Kupfer anzufertigen und an einer hohen Stange zu befestigen. Wer gebissen wird und dann diese Kupferschlange anschaut und auf diesem Weg sein Gesicht dem Himmel zuwendet, der bleibt am Leben.
Eine merkwürdige Geschichte – halb Märchen, halb Fantasy.
Aber eine Geschichte, die auch uns heute noch Wichtiges vermitteln kann.
Es ist eine Wüstengeschichte. Sie erzählt von Menschen, die auf einem beschwerlichen Weg sind, Katastrophen liegen hinter ihnen und irgendwie sehen sie für sich noch kein Licht am Ende des Tunnels. Vielmehr tauchen immer wieder neue Probleme auf.
Bei wohl jedem Menschen gibt es im Leben solche Durststrecken, da kommt man irgendwann an den Punkt, wo es nicht mehr weitergeht, wo man einfach nicht mehr zur Ruhe kommt. Die Anzahl der Menschen in unserer Gesellschaft, die an einem „Burnout“, an Erschöpfung zusammenbrechen, steigt seit Jahren.
Doch unsere Geschichte lässt uns über das individuelle Leben hinaus auf unsere Gesellschaft als ganze blicken. Es lassen sich interessante Parallelen entdecken.
Unter den Rufen „Wir sind das Volk!“ zogen 1989 die Menschen aus der Unterdrückung durch das SED-Regime in die Freiheit, die das Grundgesetz der Bundesrepublik ihnen verhieß. Aber nach dem Durchzug durch das „Rote Meer“, für sie die Überwindung der Sperranlagen und der Mauer, da wartete – nach dem Abklingen der Begeisterung der ersten Wochen – die Wüste auf sie, der Umbau ihres ganzen Lebensgefüges. Und je länger dieser Wüstenweg wurde, desto verklärter die Blicke zurück.
Und gesamtgesellschaftlich erleben wir Vergleichbares nach 2014 – seit Flüchtlinge in großer Zahl nach Europa kamen. Da wurde klar, dass Globalisierung bedeutet, nicht nur überall hin verreisen und Waren aus aller Herren Länder kaufen zu können, sondern eben auch hineinverwickelt zu sein in die Geschehnisse weltweit, in das Leid und die Not der Menschen überall auf der Erde. Deutschland ist keine Insel. Doch viele sind nicht bereit, das einzusehen. Sie fühlen sich in ihren Lebensmöglichkeiten beschnitten und von den Fremden bedroht. Sie rufen zwar wieder „Wir sind das Volk!“, aber ihr Blick geht zurück: sie verklären die alten Verhältnisse von einem ethnisch reinen Deutschland, das es so nie gab. Es gab allerdings Folterknechte, Angst und Hass. Keine Freiheit, sondern brutalen Zwang. Aber klar: als Frau konnte man damals nachts allein auf die Straße gehen. Wer braucht denn da schon Freiheit, wenn es in der Diktatur nun ja: unangenehm war, aber wenigstens schön warm? So zu denken und zu reden ist gottvergessen, ist Sünde; aber wer will das wissen?
Freiheit ist anstrengend und unbequem. Sie konfrontiert uns mit den schwierigen, unangenehmen Seiten unseres Lebens, mit unseren Ängsten und Vorurteilen, die immer wieder unberechenbar auftauchen – wie Schlangen – und ihr Gift versprühen. Die Giftschlangen, mit denen wir es heute in unserer Gesellschaft zu tun haben, die kommen aus uns selbst, aus den Herzen der Menschen. Ihr Gift, der Hass auf die Anderen, schmerzt, es brennt und es tötet – andere Menschen und die eigene Menschlichkeit.
Wenn wir die symbolische Bedeutung der Schlangen in dieser Weise verstehen, dann bekommt auch die Anweisung Gottes zur Aufrichtung der kupfernen Schlange ihren heilsamen Sinn. Die Schlangen verschwinden nicht, können nicht verschwinden, weil sie aus unseren Herzen, aus unseren Gefühlen herausschlüpfen. Es gibt kein angstfreies Leben. „In der Welt habt ihr Angst“, hören wir Jesus im Johannesevangelium sagen. „In der Welt habt ihr Angst, aber ich bin mit dieser Angst fertig geworden, ich habe sie überwunden.“ Und das könnt ihr auch – ruft er uns zu.
Stellt euch euren Ängsten, verdrängt sie nicht, steckt auch nicht euren Kopf in den Sand, sondern schaut genau hin; hebt euren Blick auf. Seht an, was euch Angst machen will. Und schaut darüber hinaus – auf den Himmel, auf Gott, dessen Liebe und Güte euch mit all euren Ängsten und Sorgen umfängt. Nicht die kupferne Schlange hilft, sondern der Blick, den jede und jeder nach oben richtet – die Tatsache, genau anzusehen, was da Angst macht, sich der Realität zu stellen und dahinter den wahrzunehmen, der allein diese Ängste beruhigen kann. Dieser Blick, der bringt Leben, der lässt leben – mich und den anderen.
Die Überwindung eigener Ängste hilft, Mitgefühl und Barmherzigkeit in sich selbst zu empfinden, hilft, in dem anderen, dem Fremden den Mitmenschen zu erkennen, der genauso wie man selbst immer wieder von Ängsten heimgesucht wird. Wir sind alle „Gebissene“, aber Gott will, dass wir leben, dass wir an dem Gift von Hass und Verachtung, Gewalt und Menschenfeindlichkeit nicht zugrunde gehen. Er will, dass das Gift sich zum Heilmittel verwandelt, das uns befähigt, in Gerechtigkeit und Frieden miteinander unter seinem Himmel zu leben.
Dazu will uns diese Erzählung ermutigen:
Dass wir uns selbst annehmen so wie wir sind, gerade in den Wüstenzeiten unseres Lebens, als von Ängsten immer wieder Verletzte;
Dass wir lernen, barmherzig mit uns selbst zu sein, weil Gott barmherzig mit uns ist;
Und dass wir so fähig werden, den Fremden neben uns als Mitmensch zu sehen und ihm die gleiche Barmherzigkeit entgegenbringen wie uns selbst, weil er unser Bruder, unsere Schwester ist, verletzt und von Ängsten heimgesucht wie wir, dem Gottes Barmherzigkeit und Güte genauso gilt wie uns.
Amen.
Reminiszere, 25.02.2024, Stadtkirche, 4.Mose 21, 4 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reminiszere - 25.II.2024
4.Mose 21, 4 - 9
Liebe Gemeinde!
Na, Ihr Schaulustigen? – Sind wir gar nicht!
… Nein; stimmt schon: Es ist ja Affenzeit! … Wenn auch das Nichts-Sprechen bei mir noch nicht richtig klappt: Nichts hören wollen, nichts sehen wollen, geht schon ganz gut.
… Die Nachrichten? – Lieber nicht!
… Die Berichte aus der seit 2 Jahren von einem Krieg gegen die Freiheiten unsrer Gegenwart heimgesuchten Ukraine? – Lieber nicht ansehen!
… Die Wimmel- und Suchbilder aus den Höllenkreisen des Gazastreifens? – Lieber Wegschauen!
… Die vielen Gesichter des menschenverachtenden Hasses, der sich wählen lassen will und wird? – Lieber ausblenden!
… Die trostlosen Statistiken und ratlosen Mienen und kraftlosen Debatten unserer Politik? – Lieber Augen zu und weghören und irgendwelche Ausflüge ins Einflussgebiet der künstlich schönen Doofen als hier im Land der wirklich ganz schön Doofen irgendwem oder -was ins Auge sehen.
Trotz unseres pausenlosen Zuguckens, Gaffens, Bildschirmscrollens, Fotosendens, Selfieschießens: Es lebe die Blendung! Ein Hoch auf die Blindheit!
An der Welt, wie sie ist, haben wir uns sattgesehen. Die überlassen wir den Überwachungskameras und denen ohne Smartphones. Wir kommen bestens klar, ohne die Wirklichkeit zu Gesicht zu kriegen, ihrer Wut und ihren Tränen zuzuhören oder sie anders anzusprechen als mit „Verschwinde doch, du bist nicht schön!“ ——
Deshalb brauchen wir Jahr für Jahr die Passionszeit. Die Zeit, die aus uns Affen Menschen macht.
Sie tut es durch Zumutung. Diese Zeit, in der wir Christenaffen dem Menschen Christus begegnen, ist eine einzige Schule des Sehens. Des Sehens auf das Unansehnliche. Des Sehens auf das Übersehene also. Des Sehens aber ebenso auch auf das Überdeutliche. Des Sehens auf das, was ist. Luther hat in einer seiner frühen Disputationen - 1518 in Heidelberg - den ganzen Unterschied zwischen der Verkündigung, die das Schöne, das Nette, das was glänzend oder appetitlich oder sexy oder unterhaltsam wäre, in den Mittelpunkt stellt, und der anderen Verkündigung, die das Unpopuläre zu sagen wagt, in eine so kantige Formel gebracht, dass man es sich ausnahmsweise auf Latein anhören kann: „Theologus gloriæ dicit malum bonum et bonum malum, Theologus crucis dicit id quod res est.“[i] – auf Deutsch also: „Ein Herrlichkeits-Theologie nennt das Böse gut und das Gute böse. Ein Theologe des Kreuzes sagt das, was Sache ist.“
Der flapsige Ausdruck, der hier im Gelehrten-Latein vor einem halben Jahrtausend schon begegnet, hat nichts von seiner notwendigen Irritation verloren: Sagen, was Sache ist. Nicht schönreden. Nicht erzählen, was gern gehört wird … Luther hätte gesagt: Nicht das formulieren, wonach den Leuten die Ohren jücken. Sondern das, was kratzt. Das, was das Anstößige nicht glatt macht wie die Lüge, sondern anstößig lässt.
Das aber ist nun einmal nichts Anderes als das Kreuz.
Das Kreuz ist die empfindliche Störung unserer hübschen Oberflächlichkeit. Es reißt nicht bloß den Rasen auf, den wir über alles so gern wachsen lassen und den Teppich weg, unter den wir alles kehren, sondern es reißt auch alle möglichen Wunden auf. …
Wer das Kreuz sieht, kann nicht mehr so tun, als sei alles heil.
Wer dem Kreuz nicht ausweicht, kann sich nicht einbilden, Menschsein sei einfach oder die Menschheit habe das Zeug, sich innerlich so zu vervollkommnen, wie Photoshop sie scheinen lässt.
Wer das Kreuz nicht ausblendet, wird nicht getäuscht werden: Es ist eine unglaublich verstörende Sache mit dem Menschen. Er ist Gottes liebstes Kind und zugleich Gottes bitterster Schmerz. Der Mensch ist Gottes Glück und Gottes Fluch. Er kann und soll in Gott die Liebe finden und erkennen und er reagiert auf Gott mit einem solchen Hass, mit einer solchen Abwehr, dass es scheinen muss, als herrsche Feindschaft zwischen ihnen. Gott ist der Ursprung des menschlichen Lebens, und der Mensch …. – kann es sein? – … der Mensch bastelt nicht nur an der Abschaffung seines eignen Ursprungs, sondern es gelingt ihm tatsächlich, das Leben zu morden, … es gelingt ihm die Liebe, der er sich verdankt, zu kannibalisieren, … es gelingt ihm, Gott zu töten.
Das Kreuz zeigt, was Sache ist.
Es ist ein Spiegel, der nicht schmeichelt.
Es ist ein Steckbrief, der uns anklagt.
Es ist ein Röntgenbild, auf dem das Innere erscheint.
Und wir sehen an ihm etwas, für das uns der Name fehlen mag: Die Störung in uns, die sich gegen alles Leichte, alles Gute richtet … gegen die Liebe, gegen das Leben, gegen Gott. Die Zerstörung also. … Diese unsinnige Sonderbarkeit unserer Abwehr des Segens. Unsere Absonderung von allem, was uns helfen, unser Dasein sinnvoller, unser Wesen harmonischer machen könnte. … Absonderung. Abschied. Abschieben des Heiligen und der Heilung. … Absolutes, von allem stützenden und haltenden Zusammenhang abgelöstes Unheil. Mit dem alten Wort für den Graben, der vom glückenden Leben trennt: Sünde. ——
Eijeijei, Ihr lieben schauunlustigen Menschen! Das ist doch alles jetzt genau der Grund, weshalb man nicht in die Kirche kommen muss: Miesmache. Null Unterhaltungswert. Bloß Runterziehen.
… Warum sollte man sich so etwas sagen lassen? Wieso sollte man sich die ohnehin schon gereizte, aufgeheizte, unerquickliche Stimmung noch extra verderben lassen? …….
Ich versuche es einmal ganz vorsichtig. Mit riesigem Abstand. So dass jeder sofort sagen kann: Schwachsinn. Gelaber. Mythos. Nichts, das einen Bezug zu mir hätte.
Na gut! … Ohne Bezug zu Dir. Nur uralte Erfahrung. Aus einer Zeit, in der die Hoffnung auf Freiheit kollektiv mindestens so im Argen lag wie heute, wo sie im Osten bombardiert, unterminiert und exekutiert wird und im Westen einfach in den Wind geschlagen, für Peanuts und Potenzgefühle geopfert wird. Die lästige Freiheit, die eben nicht das Gleiche wie garantierte Bequemlichkeit ist, sondern in langen, großen, ausholenden Bewegungen besteht, durch die Zwang zurückgelassen, Spielraum gewonnen, Zukunft umsichtig angesteuert und das Mitkommen der Langsameren und das Ankommen der Kleinen in der Freiheit durch Rücksicht erreicht werden muss.
Freiheit und Exodus also.
Freiheit und Anstrengung.
Freiheit und Opfer.
… Wie quälend das ist. Wie nervenaufreibend, weil offen. Freiheit lässt sich ja eben nicht abschließend oder abgeschlossen haben, sondern sie bedeutet immer, dass man weitergehen muss, um Neues und um Andere in die Freiheit mithinüber- und hineinzunehmen, die sonst ja Gefangenschaft und Sklaverei bedeuten würde, so bald man sie besäße wie etwas Fertiges und dann davon besessen wäre, dass nun nichts weiter kommen und passieren darf.
Die Kinder Israel – die ersten Wanderer zur Freiheit – hatten offenbar genau die tranige Trägheit, die uns Menschen bis heute auszeichnet: Sie durften aufbrechen, … sie durften das Wunder erleben, dass sie, statt den sicheren Tod im Schilfmeer zu finden, trockenen Fußes in sein Jenseits kamen … und dann – als die Geretteten! – wurden sie bitter enttäuscht: Die Freiheit der Erlösten entpuppte sich nicht als die sorglose Verwöhnung auf einer Kreuzfahrt, sondern als das Vertrauensabenteuer eines Kreuzwegs. Sie sollten nicht bloß die Nutznießer eines Sonderangebots für Komfortable werden, sondern Begleiter und Mitstreiter eines unermüdlich beweglichen und herzbewegenden Gottes, Der Pläne und Ziele in dieser Welt hat.
Und also streikten sie.
Wollten zurück in die Affenzeit, in der sie weder hören, noch sehen, noch Rede und Antwort stehen mussten, sondern bloß gehorchen, bloß Augen zu und bis zum Feierabend irgendwie durchkommen und dann das Maul ausschließlich zum Fressen auftun.
Fraß statt Freiheit. So simpel erträumt der Mensch sich sein Glück.
Ein Glück, an dem er über kurz oder lang ersticken würde.
… Doch Gott macht ihm Beine.
Denn genau das bewirken die Schlangen: Panik! Das Gift, das mit ihrem tückischen Biss droht und vermutlich die Atmung stillstellt und den Körper zu ewiger Faulheit, ja zum Verfaulen bringt, … dieses lähmende Gift zeigt den Israeliten plötzlich unmissverständlich, dass es zu kurz gehofft war, reine Bequemlichkeit und Ruhe und Versorgung und Sattsein wie in Ägypten zu wünschen.
Plötzlich wollen sie leben und nicht mehr so starr, so gelähmt, so tot sein, wie es der Traum vom Voll-Fressen ohne Freiheit ihnen vorgaukelte.
Und darum wird der Träger der Gefahr, in die sie sich wünschten – die Erstarrungs-, die Erstickungsgefahr – für sie zum rettenden Zeichen. Wer die auf den Stab erhöhte Schlange ansieht, entgeht der ansteckenden, lähmenden Drohung des Zurückwollens in die Unfreiheit.
Die Zumutung der Giftschlange, das Hinschauen auf das Trauma, das Einsehen dessen, was Sache ist, eröffnet die Freiheit, … die Freiheit zum Heil. ———
Das können wir wohl einsehen, wir Schauscheuen … auch wenn es uns ja nichts angeht.
Wir können einsehen, dass es nötig und befreiend und heilsam sein kann, auf das zu schauen, was einem tatsächlich droht. … Nur wenn man’s sieht, kann man es meiden, überwinden und frei davon weiterleben. … Nur wenn die Gefahr oder das Verhängnis, der Fehler oder die Schuld, um die es geht, auch tatsächlich vor Augen stehen, kann es weitergehen. Andernfalls bleiben sie übermächtig und endgültig: Die Ohnmacht, die Übermacht, vor der man blinde Angst hat.
Und darum doch noch einmal der zweite Blick aus unseren eigenen Augen auf das, was in diesen Wochen vor uns steht.
Da ist ein schreckliches Stück Weltgeschichte im Leiden eines erniedrigten und misshandelten Menschen auf Golgatha. Schon alleine das wirklich wahrzunehmen, ist entscheidend, damit wir wissen, welches Unheil wir riskieren, wenn wir nicht den Schutz der Schwachen und die Sorge für Leib und Seele anderer Menschen zum Anliegen unseres Herzens machen.
Doch was das Kreuz uns zeigt, ist sogar noch schrecklicher als alles Grauen, das Menschen an Menschen verüben und das Menschen für Menschen verhindern können.
Denn da am Kreuz erhöht – … so, dass die Menschheit es seit nunmehr zweitausend Jahren sieht, wo immer sie auf das Zeichen blickt, das Christen auf ihren Kirchen, in ihrer Kunst, als Traumamahnung oder Hoffnungsbild hochhalten – … da am Kreuz erhöht, sieht die Menschheit seit nunmehr zweitausend Jahren, was ihre Sache war und ihre Sache wäre: Gott los zu werden.
Gott los zu werden, war ihr erster Trieb. Ihn nicht nötig zu haben, sondern selbst zu sein wie Gott (vgl. 1.Mose 3,5). Und das Kreuz erinnert jeden, der es sieht daran: Du könntest ganz ohne Gott sein und bleiben. … Jedes Kreuz erinnert uns daran, dass das möglich war und wäre.
Und jedes Kreuz fragt darum auch: Ist es das, was Du willst? Dass über Dir nur die absolute Leere starrt? Dass Du nur den Tod über und vor Dir hast? Dass Du einsam bist und einsam bleibst: Dein Ursprung abgeschüttelt, verleugnet, ausgeschaltet, … Deine Hoffnung verworfen, kaltgestellt und umgebracht?
Mensch, willst Du mit diesem Pseudo-Sieg leben? Willst Du diese Katastrophe, nach der Du Dich in Deiner Selbstherrlichkeit zu sehnen glaubtest, wirklich wahrmachen und dann wahrhaben und schließlich als letzte Wahrheit stehen lassen müssen?
Oder heilt nicht der Blick auf den Mann am Kreuz, in dem Dir Gott am Kreuz begegnet, Deinen kranken Wahnsinn?
Jagt Dir der Blick auf das, was Du – die Menschheit, die die Gottheit nicht ertragen konnte – da endgültig angerichtet hättest, nicht ganz ungeheure und widersprüchliche Schrecken und Erleichterungen durch alle Glieder und durch Geist und Herz?
Du hättest Gott auf diese Weise ausgeblendet: Ihn nie wieder gesehen oder gehört und Ihm auch nie wieder antworten müssen, wenn Du allein gekonnt hättest. …
… Aber das Kreuz hast Du nun eben nicht alleine auf- und anrichten können!
Es zeigt Dir gar nicht Deinen Sieg!
Sondern es zeigt, dass Der, Der Seine Gottheit nicht ohne Dich - die Menschheit - haben wollte, Dir Seinen Tod als Zeichen Seiner lebendigen und ewigen Liebe eingesetzt hat.
Was da seit zweitausend Jahren über allen Kirchen steht, was in unzähligen Bildern von Golgatha und unzähligen täglichen, stündlichen, jeden Augenblick dieser Welt erfüllenden Gesten der Bekreuzigung und des Kreuzschlagens vergegenwärtigt wird, das ist das Wunder, dass Gott der Menschheit zuvorkam: Er hat nicht ihren Hass, sondern Seine Liebe am Kreuz verewigt.
Nicht der gelungene Mord an Ihm, sondern das Geschenk, das Opfer Seines Lebens wird da sichtbar.
Gott lässt am Kreuz sehen, dass man Ihm nicht nehmen konnte, was Er freiwillig gab: Sich, Seine Gottheit und Menschheit, Seine menschgewordene und dennoch unendliche Bereitschaft zur Gnade für den Glauben.
Am Kreuz ist die Sache die: Was wir geworden wären, wenn wir es allein getan hätten – Affen, Monster, Teufel, die Gott los wurden –, das können wir nicht werden, wenn Gott sich selbst da einsetzt. Wenn Er unsere Gottlosigkeit annimmt, dann hebt Er sie zugleich auf.
Wenn Er den Tod, der Ihn abwürgen sollte, zum Beweis Seiner allem überlegenen Verbundenheit mit uns macht, dann ist diese vermeintliche Erniedrigung der höchste Ausdruck Seines Plans, dass wir Menschen werden sollen, wie Er sie will und liebt: Lebendig und voller Vertrauen auf Ihn.
Nicht umsonst setzt Johannes die Erinnerung an die eherne Schlange vor das schönste und dichteste und höchste und tiefste und größte und unvergesslichste Wort seines Evangeliums, … ja, des ganzen Neuen Testaments (Joh.3,16!).
Wie die von Mose erhöhte Schlange zeigte, dass was Israel sich gewünscht hatte, nicht eintrat, sondern Gott es zu seinem Heil doch in die Freiheit führte, so zeigt auch der Mensch am Kreuz, dass die menschliche Versuchung des Ohne-Gott-Seins zum Gegenteil geführt hat: Dass Gott Seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben!
Sehen wir zu, dass wir’s nicht aus den Augen lassen.
Denn es ist wie bei der Schlange, die man nicht sehen mag, aber doch sehen muss: Wer es ansieht, der soll leben!
Amen.
[i] W.A. 1, 354, 19ff
Invocavit, 18.02.2024, Matth.4,3-11, Stadtkirche, Jenny Müller
Versuchung: Ist das die Sucht oder sind wir auf der Suche?
I
„Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden.“ Mt 4,3
Bist du also Gottes Kind, so zeig ihn mir, deinen Gott, denn ich bin doch nicht blind.
Bist du ein Christ, so zeig mir wo Er ist,
oder versteckt Er sich, wenn die Welt geht unter in diesem Mist?
Bist du eine, die an Ihn glaubt- dann sag mir, hat deine Glaube dir den Verstand geraubt?
Oder bist du der, der abends betet, Gott dankt für diesen guten Tag, sag - was macht deinen Glauben so stark? - Dass du nicht davon ablässt und dich erfreust an dem was du hast nur selbst erzeugt?
„Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab, denn es steht geschrieben“ Er wird seinen Engeln für dich Befehl geben und sie werden dich auf den Händen tragen...“ Mt 4,6
II
Ja, Herr Teufel, gern und recht, will ich dir zeigen wir wunderbar mein Gott ist.
Doch braucht Er dafür nicht Steine verwandeln oder mit Wundertaten anbandeln, braucht nicht beweisen Seine Größe, denn ich gib Ihm und mir nicht die Blöße - mich und meinen Glauben beweisen zu müssen, vor dir und der ganzen Welt, nur weil du so kleingläubig glaubst, dass du dich selber hältst.
Ich bin es satt, die ganzen Fragen, die mich in die Irre führen wollen, die mir und dir Herr Teufel beweisen sollen, dass es meinen Gott nicht gibt.
Was für ein Humbug in diesen Tagen, die Leute glauben nicht mehr an Wundertaten, wollen mir zur Vernunft raten -
denn gerade befind ich mich für sie wohl zwischen verrückt sein und verrückt werden - sollte mich und meine Gedanken lieber erden.
Ich bin es leid die ganzen Blicke, die mich verurteilen, nur weil ich mein Herz gen Himmel strecke, muss mich und Dich, mein Gott, verteidigen in dieser Zeit, muss dabei zu sehen wie sie Dich entweihen, bei dem Anblick will ich nur schreien.
Was hat es so weltfern gemacht, Gott, an dich zu glauben? …Dass Leute haben aufgehört zu staunen? ..Dass sie ihren Verstand haben erlauben lassen, Dich aus ihrer Welt zu rauben?
..Oder dass all die schlechten Nachrichten einem selbst deine Hoffnung klauben?
III
„Und so …führt der Teufel uns mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigt uns alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und spricht: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“ Mt 4,8-9
Ja die Versuchung lauert überall,
wir können bald leben im Weltall,
mit Gentechnik aufhalten unseren Verfall,
wahrscheinlich mit Drohnen fliegen schneller als der Schall,
unsere Vorstellung vom Leben so ….prall.
Und da stellt sich mir die Frage: Kommt des Teufels Versuchung eigentlich von Sucht oder von Suche?
…und ist es wirklich so ratsam bei dieser Frage auf Gott zu fluchen,
oder … doch lieber vielleicht einen Platz in seinem Reich zu buchen?
Versuchung, dass ich die Sucht,
sie haut einen um mit ihrer Wucht.
All die Wünsche und Gedanken,
die unseren Verstand bringen ins Wanken,
all das „hätte-wäre-könnte“, welches nicht aufgibt und dir verspricht, dass es noch besser geht, dass da noch mehr ist in diesem Licht:
All das Verlangen nach der Unmöglichkeit,
nach der eignen Utopie in der Wirklichkeit.
Und so können wir manchmal nicht anderes - müssen uns hingeben,
müssen es fühlen in uns so bebend,
müssen es aufnehmen in unsere innere Leere in der Hoffnung, dass es uns erfüllt.
„… Der Geist zwar ist willig, das Fleisch aber schwach.“ Mt 26,41
Doch was ist, wenn es dann einfach wieder verdampft und gleich darauf spüren wir innerlich wieder diesen Kampf, ..kein Gefühl des Friedens in uns, so sanft.
Das Versprechen: Nur versprochenen Silben,
kein festes Wort, das unser Verlangen kann stillen.
Kommt Versuchung also von Sucht …oder doch von Suche?
Denn dann sehen wir all die anderen Götter in dieser Welt, die uns angepriesen werden, in der Hoffnung, dass ein bisschen Glück vom Himmel fällt:
all die anderen Götter, wie die Liebe, die sagt „Am Ende sieg ich“,
oder die Hoffnung die uns spuckt „Alles wird gut“ ins Gesicht,
das Schicksal das stolz darbietet: „Es kommt wie es kommen soll“
und das Karma, das vorfreudig grollt: „Jeder bekommt was er verdient“
Ja, das Feld zu Dir, unser Gott, ist wahrlich vermint.
Ach und dann nicht zu vergessen, all die Helden und Heldinnen die ihren Glauben an sich selber messen: Ihre Schönheit, ihren Reichtum und Besitz.
Ja.. man kann echt reinfallen auf diese ganzen Tricks.
Denn wer muss nicht zugeben, dass es einfach ist,
mal die Welt in der eigenen Hand sich drehen zu lassen -
ohne auf Anderes zu achten, ohne über Andere zu wachen, ohne was für die Gemeinschaft zu machen.
Unsere Welt ist manchmal klein, wir wollen manchmal einfach nur sein.
Der Alltag rauscht an uns vorbei, zieht uns mit sich und uns in ihn hinein:
Dann sind da all die Sachen in unserem Kopf, all die Zwänge und Wünsche und hirnlosen Gespinste .. und all das was uns aus dem Gleichgewicht bringt.
Wie ein Schiff, das zu einer Seite hin langsam sinkt.
Die Freiheit uns dann hinterherwinkt und das Mögliche was unsere Utopie umschlingt.
Puh - das ist ganz schön viel Versuchung.
Doch die Größte, das ist der Nicht-Glaube in diesen Tagen.
Der Zweifel, der stellt deine ganze Weltanschauung in Frage.
Die dunklen Schwaden, die ab und zu aus dem hellen Licht ragen.
Das ist der Moment, wenn du gerne sehen würdest, wie der Teufel auch, dass Gottes Engel dich tragen.
Wenn all die grauen Gedanken an dir nagen und du stolperst und verlierst dein Gleichgewicht.
Da wünschen wir uns Du Gott, tauchst auf und schaust uns ins Angesicht. Da suchen wir Dich in all den Nebelschwaden - da suchen wir Dich, kurz vorm Verzagen.
Das ist ganz schön viel Versuchung. Doch auf was sind wir auf der Suche? Ist das vielleicht nur die Suche nach einer Zukunft?
IV
Sind auf der Suche in all dem Chaos, im Jetzt und Hier, wollen doch eigentlich nur ein Gefühl des WIRS.
Wollen, dass eine Hand uns festhält,
wollen, dass unsere innere Leere uns nicht ständig vor die Füße fällt, wollen das Jemand unser Leben mit Seinem Licht erhellt.
Und so brauchen wir doch eigentlich sonst nichts in dieser Welt,
wollen doch nur dass Sein himmlischer Glanz auf uns fällt.
Das Wissen, dass Er für uns da ist, alle Zeit,
und dass so unsere Seelen nicht mehr nach Unvollkommenheit schreien.
Müssen uns eben nur besinnen.
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“ Mt 4,4
All die Versprechungen nach „Höher-Schneller-Weiter“ aus deiner Hand, mein lieber Teufel,
kannst du behalten - sie zerfallen zu Sand.
Denn wir haben‘s erkannt.
Haben erkannt, was wir brauchen, stehen manchmal etwas auf dem Schlauche.
Denn all die Verheißungen unserer Zeit, sind nichts wert gegen Seine Ewigkeit.
Sind nichts wert, denn wir wollen Gottes Herrlichkeit.
„Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“M t 4,10
Brauchen also nicht mehr suchen, nicht mehr fragen, nicht mehr versuchen ständig was Neues zu wagen - denn da ist diese Ruhe, dieses Licht, Sein Wort, das zu uns spricht -
Und es hat Gewicht: Ist wahr, ist klar, ist voll Liebe für uns.
Und an Ihn zu glauben ist keine große Kunst.
So kann es aufhören das Suchen und all die Versuchung, denn..
Er ist unsere Antwort auf die Zukunft!
Und „Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel herzu und dienten ihm.“ Mt 4,11
So bewege Gott, der Herr unsere Herzen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Sexagesimae, 04.02.2024, Stadtkirche, Markus 4, 26 - 29, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Sexagesimæ - 4.II.2024
Markus 4,26 - 29
Liebe Gemeinde!
In einem ziemlich durchwachsenen – und schon haben wir landentfremdeten, virtualitätsaffinen Städter ein Bild aus dem Ackerbau! – … in einem ziemlich durchwachsenen Zeitungsartikel also, der sich über die protestantische Neigung zur Hochschätzung eines strengen Arbeitsethos ausließ, wurde Jesus als etwas bezeichnet, das mir nie in den Sinn kam, kaum über die Lippen und nun nicht mehr aus dem Hinterkopf kommt: Jesus war „ein glücklicher Arbeitsloser“ hieß es da, in dem Donnerstagsblatt, das die sog. Intelligenzia gern liest[i].
… Jesus, ein Arbeitsloser. So denken sicher nur Protestanten, die im engen Sinn buchstabengläubig sind. Denn das Neue Testament zeigt Ihn uns tatsächlich nicht als den Zimmermann, der Er war. Es schweigt über die beinah zwanzig Jahre Maloche, in denen Er in Nazareth tagaus, tagein einfach mit Seinen Händen arbeitete und Sich abrackerte.
Wer allerdings ein wenig Lebenserfahrung oder Phantasie hat (was sich gegenseitig bedingt), der ahnt, wie eine anstrengende körperliche Tätigkeit, wie genaue Maßarbeit, wie Auftragserfüllung und Haushalten mit den Schaffenskräften, wie Fertigstellung eines Werks und dann sofort Entwurf und Entstehung eines neuen Gegenstandes den Menschen Jesus, den Arbeiter Jesus geformt haben.
Für manche Christen - unter ihnen besonders der berühmte französische Aristokrat Charles de Foucauld[ii] - war es darum gar nicht das im Neuen Testament beschriebene Wanderprediger- und Wunderheiler-Dasein Jesu, das sie in Seine Nachfolge brachte, sondern das buchstäblich verschwiegene, ordinäre Handwerkerleben. Dieses verborgene Leben in Nazareth, die Jahre der einfachen Arbeit Jesu ließen Charles de Foucauld den Luxus und die militärischen Ehren seiner Herkunft aufgeben und stattdessen ein Leben als Pförtner, Hausmeister, Laufbursche, Straßenfeger, Dachdecker, Gärtner und Kloputzer bei verschiedenen Klöstern in Nazareth und Jerusalem versuchen, um schließlich in Algerien als Einsiedler unter der berberischen Landbevölkerung wie Ihresgleichen zu existieren: In der Nachfolge Jesu, des Alltäglichen, … des Kleingewerbetreibenden, des Tagelöhners.
Wer also ein wenig Lebenserfahrung und Phantasie hat, spürt zwischen und hinter den Zeilen der Bibel nicht nur den fröhlichen Taugenichts, den unbekümmerten Landstreicher Jesus, sondern auch den schuftenden, unauffällig sich abmühenden Menschen. Jesus, das Arbeitstier.
So dass ich durchaus zu der Predigt ausholen könnte, die seit Wochen in mir gärt, weil ich - wie wir alle - an jeder Ecke und jedem Ende, in der Kita, in den Pflegeeinrichtungen, bei Behörden und auf Bauernhöfen, in den Nachrichten und in beinah jedem Gespräch höre und merke: Es gibt zu wenig Arbeitsbereitschaft in unserm Land, … zu wenig Arbeitsbereitschaft und zu wenige Arbeitskräfte. Da ließe sich nicht nur streng arbeitswütig und geschäftstüchtig und gewinnsüchtig, wie der berühmte Soziologe Max Weber das Ethos der Reformatoren zusammenfasste, ansetzen, sondern auch durchaus einfach biblisch – und das heißt immer kritisch gegenüber uns Zeitgenossen.
Biblisch wäre die Kritik folgende: Ihr könnt durchaus ja noch Leistung und Einsatz bringen. Aber im Namen des Verkehrten. Wo Arbeit als Mittel zum persönlichen Erfolg, mit dem Ziel origineller Sinnfindung, als ein Weg der Selbstverwirklichung betrachtet wird, werden Ursache und Wirkung verwechselt. In der biblischen Ethik dient Arbeit keinem dieser Zwecke des Selbst[iii]; biblisch ist Arbeit nie Ego-motiviert, sondern sie ist - in einem antiquiert scheinenden Begriff gefasst - „Dienst“[iv]. Dienst, der geleistet wird für die Gemeinschaft, für Andere, für den Frieden, gegen die Mächte der Sünde und des Todes.
Insofern ist der Vorschlag, eine Dienstpflicht für junge Menschen einzuführen, nicht nur hilfreich und notwendig, sondern auch heilsam: Weil nur so sich zeigen kann, dass etwas, das ich nicht für mich tue, sondern eindeutig für andere, mir selbst dennoch eine Erfahrung des Lohnenden - nicht des Lohns! - und eine Bestätigung der Menschlichkeit - was mehr ist als Selbstbestätigung! - und ein beglückendes Bedanktwerden - das nicht als Selbstbeglückung denkbar ist! - eröffnen kann.
… Dienst ist mehr als Arbeit, weil er den arbeitenden Menschen in einen größeren Zusammenhang als das bloße Eigeninteresse rückt.
Deshalb stellt sich bei allen, die vorhaben, durch ihre Arbeit v.a. sich selbst zu bedienen und zu beweihräuchern, so wenig tiefes Glück und so viel Unbefriedigung ein. Weil sie mit ihrem Anspruch, sich selbst durch ihren Erfolg zu finden und zu bestätigen, an etwas arbeiten, das nicht erarbeitet werden kann: Einbettung in die tiefste menschliche Lebenserfüllung einer neid- und sorglosen Harmonie.
Genau diese Erfüllung aber werden wir nicht herbeischaffen oder uns zusammensparen oder durch Sonderzulagen erwerben können, auch wenn sie in der Dankbarkeit und Sinnerfahrung des menschlichen Für- und Miteinanders, des Einander-Dienens also aufleuchtet.
Und damit sind wir nun an der Stelle, an der unterm Trampeln und Stampfen aller menschlichen Anstrengung trotz allen Einsatzes dennoch kein Gras wächst und kein Segen! … Wieland, der Waffenschmied, Hans Sachs, der singende Schuster, Dagobert, die metallbrütende Ente, … wir ganz unterschiedlich schaffenden, schaffenden Häuslebauer alle miteinander werden dieses Eigentliche tatsächlich nie fabrizieren, produzieren, kultivieren, aktivieren können.
… Unsere ganze Arbeit an dieser allesentscheidenden Stelle ist und bleibt für die Katz!
… Trotz aller Schwielen an Jesu Händen, trotz aller apostolischen Ethik des Dienstes, trotz aller Notwendigkeit, das Arbeiten als sinnvollen Beitrag nicht für den Einzelnen, sondern für die Gesellschaft wiederzugewinnen, sind wir hier auf dem eigentümlichen, dem einzigartigen Acker aus Jesu Gleichnis, auf dem das Wesentliche wächst, während niemand etwas tut.
Diese kurze Erfindung Jesu, des Reich-Gottes-Geschichtenerzählers von der selbstwachsenden Saat bleibt ja auch heute noch so irritierend, wie sie es ursprünglich war. Sie zeugt von einer buchstäblich blühenden Phantasie.
Denn ob er uns Hobbygärtnern aus der Vorstadt oder seinen galiläischen Pappenheimern damals erklärt, dass ein Bauer sät und danach schläft und Däumchen dreht: Alle, die das Regal des Supermarkts nicht für den Ursprung der Nahrungsmittel halten, wissen, dass das nicht zutreffen kann. Selbst Robinson in seinem Südseeklima, das wie ein Gewächshaus Furchtbarkeit unterstützt, musste Gerste und Reis, die er zufällig sprossen fand, mit mühevollem gezieltem Einsatz anbauen und pflegen, um einen wirklichen Ertrag davon zu haben.
Jesu lässige Landwirtschaft des dolce far niente - diese Ernteentwicklung ohne menschlichen Einsatz - ist aber nicht nur agrartechnischer Quatsch, sondern auch theologisch fragwürdig: Das unbekümmerte „Einfach-Kommen-Lassen“, von dem das Gleichnis spricht, steht ja im klaren Widerspruch zu dem Fluch auf dem Acker, den Adam einst verursachte: „Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang“, hatte Gott da verhängt. „Dornen und Disteln soll er dir tragen dein Leben lang … und im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist“ (1.Mose 3, 17ff).
So hart also stößt sich Jesu Idyll von „der Mensch schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie“ mit der biblischen Urkunde unserer nicht arbeitsfreien, nicht mühelosen Wirklichkeit.
Aber genau an dieser Naht- und Reibungsstelle enthüllt sich schließlich auch der Sinn des unrealistischen kleinen Gleichnisses vom bequemen Bauernleben. Seit den ersten Zügen der Bibel wissen wir ja bereits, dass die Schöpfung zwei Möglichkeiten bot: Das reine Naturwunder jener Lebendigkeit, die jede Gestalt des Lebens beherbergen und bewirten kann, und die aus des Menschen Entfremdung resultierende Eigenleistungswelt, in der der nunmehrige menschliche Fremdkörper nur unter Anstrengungen über die Runden kommt und alle anderen Geschöpfe in seinen Überlebenskampf verstrickt.
Letzteres ist die Welt der Arbeit: Der Mensch im Stress, der die gesamte Kreatur mitstresst.
Ersteres war das Paradies, der Garten des selbstwachsenden Segens.
Und so irritiert, so befremdet wir zunächst auch sind, wenn wir durch Jesu Worte auf eine Wirklichkeit stoßen, die nicht die unsere zu sein scheint, so wenig rätselhaft und geheimnisvoll ist dann doch, wovon er dabei spricht.
Wer – wie es in Jesu Mund immer wieder heißt (vgl. allein Mk.4,9+23; [8,18]) – „Ohren hat, zu hören“, der merkt, was Jesus ja auch ausdrücklich in der Einleitung zur Beschreibung der von uns Menschen unbeschleunigten und ungestörten und unverursachten und unaufhaltsamen Wachstumsentfaltung ausspricht: Nämlich dass der Acker, der ohne Fluch und Plagen einfach nur aus sich Frucht bringt, kein Arbeitsfeld der Menschen darstellt, sondern den Durchbruch des Reiches Gottes! ————
Und jetzt ist es an uns, in die Ruhe einzukehren, die sich da ausbreitet!
… Wie viel sind wir in Habacht-Stellung angesichts der riesengroßen Aufgaben, die auch dem einsatzwilligen, dem dienstbereiten und frei verantwortlichen Teil der Menschheit über den Kopf wachsen, … von denen ganz zu schweigen, die in ihrer materiellen Not oder Abhängigkeit, ihrer Unterdrückung, ihrer Zermürbung überhaupt nicht daran denken können, ob das Feld noch für die nächste Ernte bestellt ist!
… Wie viel Flurschaden ist in der Welt angerichtet; wie viel Boden haben wir schon verloren, verbrannt, überdüngt, ausgelaugt; wie viel Saat auf Zukunft haben wir mit unserm Tun und Lassen zerstört, wieviel veruntreut, wie viel ist uns auf dem Halm verdorben; wie viel Einsatz sind wir schuldig geblieben, obwohl Jesus uns doch zu seufzen lehrt (Matth.9,37f): „Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige! Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende!“
… Stimmt alles, stimmt alles! …
… Und dennoch das Gleichnis von der Ruhe vor der Ernte.
Dennoch dieses Gleichnis Jesu vom seelenruhigen Reich-Gottes-Abwarten!!
Dieses Gleichnis vom seligen Nichts-Tun-Können und also auch Nichts-Tun-Müssen!!!
„Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht und hernach lange sitzet und esset euer Brot mit Sorgen, denn seinen Freunden gibt’s der HERR im Schlaf“: Dieser einzigartige – wenn wir ihn ernstnehmen: tausend Jahre Yoga aufwiegende, allen Leistungsdruck der Erde aushebelnde, alles Burnout vorbeugend löschende, alle schwätzende, panikverbreitende, apokalyptikschürende, aktivismusverströmende Weltrettungsgeschäftigkeit entlarvende – Satz der Entlastung in den Psalmen ist der lange, tiefe, regelmäßige Atem, den Jesus uns zu schöpfen und auch wieder ausströmen zu lassen lehrt.
… Schlafen und Aufstehen, Leben und Sterben, Sterben und Auferstehen: Dieser Rhythmus schlichter, existentieller, vertrauender Hingabe an die Quelle und das Ziel unseres Daseins – Gott, Der uns beatmet und belebt und unsern Atem und unser Leben wieder in Sich hineinnimmt – … dieser Rhythmus voller Ruhe ist die unvergleichliche Gabe des Glaubens: Warten zu dürfen, dass alles reif wird.
Warten zu dürfen, dass in dieser Welt, die wirkt, als sei sie welk zum Tode, das Reich Gottes heranreift. Warten zu dürfen, dass in der Geschichte, die wir als unsere zerrissene Gegenwart erleben, die Zukunft – gute Zukunft, heile Zukunft, ewige Zukunft – wächst …, auch wenn wir nicht wissen wie: So heißt es ja ausdrücklich! … Wir wissen nicht wie! Wir können es nicht wissen. Und nur darum auch nicht selbst in die Hand nehmen, beschleunigen, beschlagnahmen und zerstören.
Warten zu dürfen, dass um uns und in uns das Ziel Gottes sich durchsetzt. Dass Gott zu Seinem immer schon gültigen und dann endgültig unumstößlichen Ziel kommt, dass alle Dinge, alles Menschliche, jede Seele, jedes Wesen sein werden, wie Er sie wollte (vgl. 1.Mose1,31): „Sehr gut!“
Dieses unerklärliche, unbemerkte, unaufhaltsame Wachstum Gottes in mir, in Dir, in den Verhältnissen, in den Formen, in den Kleinigkeiten und den überwältigenden Zusammenhängen der Wirklichkeit, ist unserem Zugriff, unserem Einfluss, unserer Mühe entzogen.
Einzig in der Ruhe, die der Glaube daran schenkt, … einzig im völligen Einswerden mit dem Geheimnis, dass alles trotz allem gut werden wird, liegt der Sinn des unsinnigen Gleichnisses vom Nichtstun. ———
Dass wir faule Leute, „glückliche Arbeitslose“, desinteressierte Schmarotzer dadurch werden sollten, die dank der Ausbeutung der armen 90 % oder eines sonstigen Automatismus unserer Lebensumstände einfach bequem absahnen: Das sei ferne!
Der Acker, auf dem Gott allein Sein Reich hervorbringt, ist zu heilig für solche Sünde.
Die Sichel, die Er schickt – im Neuen Testament begegnet sie nur noch einmal am Ende aller Tage, wenn es in der Offenbarung (14,14) heißt: „Und ich sah … auf der Wolke saß einer gleich einem Menschensohn; der hatte eine goldene Krone auf seinem Haupt und in seiner Hand eine scharfe Sichel …“ – die Sichel also und die Ernte sind zu ernst für solchen Schwachsinn.
Jesus hat mit Seinen eigenen Händen zu viel getan, … sie sind Ihm zu schrecklich verwundet worden, man hat sie zu brutal zugerichtet, um Ihm am Kreuz die Welt aus der Hand zu nehmen, für die Er Schweiß und Blut als Zimmermann und Schöpfer, als Arbeiter und Erlöser vergoss.
Unbeteiligt an der Welt kann uns das Evangelium vom Warten-Dürfen also wahrlich nicht machen.
Aber unverzagt: Gottes Reich wächst. Es reift. Nicht davon wird wieder leer zurückkommen (vgl. die Schriftlesung: Jesaja 55, 8 -12); es wird vollkommen aufgehen.
Und wir dürfen schlafend und wachend, lebend und sterbend uns ganz darauf verlassen.
Wie Charles de Foucauld, der dem Arbeiter von Nazareth sein Leben im tiefsten Vertrauen der Hingabe an Seine Ziele überließ. – So können auch wir beten[v]:
Mein VATER,
ich überlasse mich Dir,
mach mit mir, was Dir gefällt.
Was du auch mit mir tun magst,
ich danke Dir.
Zu allem bin ich bereit, alles nehme ich an.
Wenn nur Dein Wille sich an mir erfüllt
und an allen Deinen Geschöpfen,
so ersehne ich weiter nichts, mein Gott.
In Deine Hände lege ich meine Seele;
Ich gebe sie Dir, mein Gott,
mit der ganzen Liebe meines Herzens,
weil ich Dich liebe,
und weil diese Liebe mich treibt,
mich Dir hinzugeben,
mich in Deine Hände zu legen,
ohne Maß,
mit einem grenzenlosen Vertrauen;
denn Du bist
mein VATER.
Amen.
[i] https://www.zeit.de/karriere/2016-11/martin-luther-reformation-arbeit-kapitalismus/komplettansicht
[ii] Vgl. dazu Jean-François Six, Charles de Foucauld – Der kleine Bruder Jesu, hgg. v. J.Rintelen, Freiburg/Breisgau 2015 und Gerd A. Treffer, Charles de Foucauld begegnen (Reihe: Zeugen des Glaubens), Augsburg 2000.
[iii] Die Krone der Schöpfung ist der Sabbat, die Ruhe: Das ist ein Grunddatum des biblischen Verhältnisses zur Wirklichkeit. Und so ist Arbeit biblisch tatsächlich zunächst die (negative) Konsequenz der menschlichen Wahl, wie Gott sein zu wollen. Früher hätte man formuliert: Arbeit ist Strafe für den Sündenfall. Nicht zufällig ist daher das Ur-Wunder der großen Taten Gottes, das Sein Lob, unseren Glauben und letztlich die Theologie weckt, die Befreiung Israels aus Sklaverei und Fron. Im Neuen Testament ist die Bilanz dann immer noch ungünstig für alle Verklärung eines Arbeitsethos der Selbstzwecklichkeit. Zwar ist der Apostel Paulus aus Bescheidenheit und aus Hochschätzung seiner Autonomie bedacht auf seinen eigenen Broterwerb als Handwerker (vgl. bes. 1.Korinther 9) und kann deshalb apodiktisch die Arbeit als Zuchtmittel der Freiheitsordnung eines evangeliumsgemäßen Lebens vertreten (bes. 2.Thess. 3,6-13), aber die überwältigende Perspektive, in der die Wirklichkeiten und Terminologie des Eifers, der Arbeit, des Knechtseins und Dienstes begegnen, ist eben die Praxis, die bei uns bis heute mit dem griechischen Wort für „Dienst“ verknüpft bleibt: „Diakonie“. Menschlicher Einsatz ist gesegnet, wenn er dem Miteinander und den Bedürfnissen der Gemeinschaft dient.
[iv] Die problematische Konnotation des Dienstbegriffs im folgenden Kontext, der immer wieder auch den NS-Arbeitsdienst vergegenwärtigt, gehört zu den Ambivalenzen, denen unsere Sprache, unsere Sozialformen und Weltgestaltung historisch nicht entgehen kann.
[v] Zitiert nach: https://www.charlesdefoucauld.de/index.php/spiritualitaet/messtexte-und-gebete/36-gebet-der-hingabe
Für die vollständige (stärker mündliche) „Urfassung“ vgl. Charles de Foucauld, Allen ein Bruder – Passwörter einer Spiritualität für unsere Zeit, hgg. von einer Gruppe Kleiner Schwestern und Kleiner Brüder, München-Zürich-Wien, 2020. S. 90.
3.So. n. Epiphanias, 21.01.2024, Stadtkirche Kaiserswerth, 2.Könige 5, 1 - 19 i.A., Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.n. Epiphan. - 21.I.2024
2.Könige 5, 1-19 i.A.[i]
Liebe Gemeinde!
Dieses Jahr dürfte politisch eines der bittersten Jahre seit dem einstweiligen Ende der großen, grässlichen, genozidalen und gewaltverherrlichenden Diktaturen in Europa werden.
Nach 1945 und 1989 hat es uns gefallen, die Sünden der Väter und Mütter, den mörderischen und gewissenlosen alten Adams- und Evasmenschenschlag für historisch zu erklären. Man meinte, „historisch“ heiße vergangen[ii]; es bedeutet aber etwas anderes: Es bedeutet „geschichtlich“, … und das heißt mit anderen Worten „real“.
Bereitschaft zu jeder Form der Lüge, Versessenheit auf jeden Unsinn und jede Untat im eigenen Interesse, Gier nach sinnloser Zerstörung, weil man sonst nichts fühlt, … hoffnungslose Flucht in den Krieg, der so wie er derzeit überall geführt wird den Menschen darin entmenschlicht, dass er Tat ohne Plan, Handlung ohne Zukunftsperspektive ist, obwohl doch das Bewusstsein der Zukunft den Menschen vom Tier unterscheiden dürfte, … alle diese Perversionen sind so losgelassen, so beherrschend, so weltwirksam geworden, dass man angesichts der Vertrauenskrise in unserm Land, …angesichts der Barbarei der Kompromisslosigkeit, die die Demokratien bedroht, …angesichts des unverhohlenen Sadismus, der auch in sogenannten aufgeklärten Gesellschaften, erst recht aber in den Tyrannenreichen dominiert, fragen muss: Was wird uns helfen? …….
Und nun ist die Antwort aus der grauen Vorzeit, als der Staat Israel - nicht der Staat Juda - sich auflöste, weil auf Erden nichts sicher ist und weil der HERR - wie es im Predigttext schaudererregend schnörkellos heißt - den Feinden Israels den Sieg gab, … nun ist die Antwort auf die Frage, was uns helfen wird, überraschend schnodderig: Kinder und Krankheiten.
Und da die alte, heilige Heilungsgeschichte so unverblümt daherkommt, leisten wir’s uns jetzt auch mal. Krankheiten wären manchen der Kriegstreiber und Gewaltschürer zu gönnen: Wenn ich Pest und Cholera herbeipfeifen könnte (eigentlich unerhört, in einer Predigt so zu reden), wäre es ein Leichtes zu sagen, an wessen Hals ich sie wünschte. Dass nämlich gewisse Volksverhetzer und Anwärter auf den Massenmörder-Titel von Thüringen bis Florida, vom Kreml bis zur Knesset und gewisse Schurken mit Atomraketen und Tunneln unter Kranken-häusern mal ordentlich von Schmerz und Schwäche schachmatt gesetzt sein sollten, statt scheinbar unempfindlich robust ihre Aggression verbreiten zu können, ist vielleicht nicht mal ein ganz unfrommer Wunsch: Wer Leiden nutzt und wem es nutzt, der sollte es auch kennen.
… So war es bei Naaman, dem Feldherrn, den der HERR obwohl er gegen Israel kämpfte mit Sieg segnete. - Und durch Krankheit verwandelte.
Verweilen wir kurz bei diesem sonderbaren Gedanken, der uns zu wild und unzivilisiert, zu ungezähmt und primitiv erscheinen mag. Darf man den Feinden der Menschlichkeit, darf man den Vernichtern des Guten, den Zerstörern des Friedens Böses wünschen?
Die angefochtenen Beter der Bibel, das leidende Volk Gottes tut es andauernd.
Weil in diesem Wunsch, gegen den sich unsere Wohlerzogenheit und unsere naive Humanität sträuben, der Ernst der göttlichen Verheißung und unseres Vertrauens darauf sich Ausdruck verschaffen:
Würden wir Gott nicht zutrauen, dass Er Heil will, ließe das Unheil uns im unbequemen Zweifelsfall gleichgültig und stumm.
Wenn Gott nichts heilig wäre, dann gäbe es nicht das, was wir Sünde und Sünder nennen.
Wenn es aber das Gute gibt und die Gerechtigkeit, dann können wir dem Schlechten keinen Bestand und dem Bösen keine Ruhe gönnen! Dann dürfen, nein, dann müssen wir hoffen, dass das Verderben verdirbt, … dass die Vernichtungsenergie vernichtet, der stets Verneinende verneint, der Würger erwürgt wird.
Das ist ehrlichgesagt sogar das Zentrum unseres Glaubens.
Wohlgemerkt: Nicht, dass wir hier die Vollstrecker, dass wir die Rächer, die Entscheidenden, die Handelnden sind oder sein dürften.
Aber dennoch sollen wir unbedingt darauf hoffen, daran glauben, darum beten, dass die Grausamkeit und abgründige Bosheit in den Menschen von einem Widerstand, von einer Gegenkraft getroffen und dann geschwächt und dann besiegt und unschädlich gemacht werden.
Das zu wünschen heißt, das Kreuz, an dem Einer alle Krankheit, alle Schuld, alles Gift der Sünde an Seinem Leib ertrug, in seinem Ernst ernst zu nehmen.
Die zum Zerstören Mächtigen, die zum Lügen Eifrigen, die zum Blutvergießen Lustigen, die mit dem Bösen Verbündeten müssen getroffen werden von dem, was sie tun, es muss aus ihnen heraus, es muss ausbrechen an ihnen selbst, damit sie in der Vergiftung und Krankheit ihrer Schuld Gnade, Vergebung und Heilung finden können.
Solange sie es nur anderen antun und selbst nicht erleiden, wären sie nicht zu retten. Die bloßen Täter der Sünde werden durchs Kreuz - wo die Sünde unschädlich gemacht wird - nicht gerettet, sondern nur die Opfer der Sünde.
Mögen sie also krank werden: Auch wenn die Welt immer noch erschrickt und orakelt, wenn ein amerikanischer Verteidigungsminister ins Hospital muss und ein Monarch mit ähnlichen Beschwerden auch, oder eine Kronprinzessin[iii] oder eine andere der vielen Kunstfiguren, die wir die Starken und die Schönen nennen.
Dabei ist doch nicht die unerkannte, die bloß inkubierte, die rein latente oder bewusst ignorierte Krankheit der Weg zur Heilung, sondern nur ihr Ausbruch. …
Das ist eine der um den Preis der Rettung vergessenen Wahrheiten: Dass uns nicht das Leiden, sondern vielmehr seine Verdrängung und Verleugnung im Weg steht.
Wenn wir anfangen, das wieder zu begreifen – dass unser Kult des Gesunden, unsere Vergötzung des Wohlfühlens, unsere Selbstverdummung, man könnte ohne Schmerzen Mensch sein, uns schaden, uns schwach und unreif in Angst und Täuschung halten – … wenn wir anfangen, das wieder zu begreifen, dann kann uns geholfen werden.
Wir brauchen eine Kultur, die nicht das Strotzende, sondern das Hinfällige, nicht das Brutale, sondern das Bedrohte, nicht das Unberührte, sondern das vom Leben Gezeichnete achtet und ehrt. Ein Kultur, die nicht die Kranken, die Eingeschränkten, die Ohnmächtigen, die Hilfs- oder Pflegebedürftigen „aussetzt“, sondern deren Randfiguren und Außenseiter die gedankenlosen Egoisten, die Macht- und Erfolgsmenschen sein werden.
Diese Kultur ist fern gerückt in unserer nachchristlichen Zeit.
Aber wir müssen sie in uns tragen, müssen sie praktizieren und ausbreiten, wohin immer Gott uns geraten lässt, wohin immer er uns stellt, … so wie jenes verschleppte Kind aus Israel, das im Haus des Naaman von dem Propheten in Israel erzählt.
Dieses Mädchen mit einem Vertrauen, das man nur naiv nennen kann, ist ja diejenige, die dem großen Kriegsmann, der endlich krank geworden ist, um heil werden zu können, die einzig wahre Hilfe weist.
Sie macht aus der Geschichte von der helfenden Krankheit die Geschichte von zwei Kindern und dem Heil.
Ihr Vorschlag ist exotisch abseitig.
Das ist unser Glaube auch.
In die Welt der Siegertypen passt eine Einladung zurück zu den Besiegten wirklich nicht.
Aber eine andere haben auch wir nicht.
Israel, das von Aram geschlagen war, ist eine ebenso lächerliche Anlaufstelle für etwas Gutes, wie ein von den Römern Gekreuzigter für das römische Reich sinnvollerweise eine Erlöserfigur hätte sein können. Doch diese Unwahrscheinlichkeit hielt das Mädchen aus Israel aus, und die gleiche Unwahrscheinlichkeit hielten die Apostel, hielten die Märyterinnen und Märtyrer, die Sendboten und Sendbotinnen des Mannes von Golgatha aus, die das Imperium zu heilen begannen, als sie in Seinem Namen Kranke heilten und Sklaven und Geächtete und Namenlose und Einfältige seligpriesen und in der Gemeinde sammelten.
Das Reich der Römer fiel.
Die Kirche aus den Katakomben aber, die Kirche, die am Ende der Erde in Armenien und Äthiopien, in Georgien und in Südindien früheste christliche Völker schuf, ist trotz aller ihrer Torheiten, ihres Verrates, ihrer Anpassungen und Panikattacken bis heute geblieben. Und sie wird weiter bleiben, so lange es Kinder gibt, die von dem Propheten in Israel erzählen und sagen, dass man bei Ihm Heil und Leben, Gerechtigkeit und Brot, Liebe und das Reich des Friedens finden kann.
Nur darf die Kirche nicht aufhören, dieses Sonderbare und Unwahrscheinliche zu tun: Immer bloß auf den Mann aus Israel zu weisen, Der kann, was niemand sonst kann!
Mir ist bang um unsere Kirche heute, weil sie sich so darauf einlassen will, zu sagen, was angeblich verständlich oder heutig oder lebensnah ist. … Aber dass man bei den Besiegten in einem kleinen, sterbenden Zwergstaat Zukunft und Rettung findet, wenn man ein großmächtiger Kämpfer ist …: Das zu sagen, was allen Erwartungen und jedem einfachen Einsehen derart diametral widerspricht, das will die Kirche heute viel zu wenig.
Zu sagen, dass man dahin gehen muss – und zwar mit seiner ausgebrochenen und nicht mehr versteckten Krankheit, mit seinen peinlichen und ekelhaften Nöten – … dass man dahin gehen muss, wo einer selbst in Not und Krankheit und Schmerz und Elend steckt und wirklich keinen Zauber, keinen Reiz verströmt, sondern bloß blutet, … zu sagen, dass man dahin gehen muss, wenn man Hilfe sucht: Sagen wir, … sagt die Kirche das noch?
Sie muss es sagen!
Wir müssen es sagen!
Keep Christianity weird[iv]!
Wir müssen - und was noch viel mehr ist: Wir können - wie das im 2.Buch der Könige so genannte „kleine Mädchen“ werden, das dem kranken Großen half. Naiv, meinetwegen. „Weird“. Aber unbeirrt. Nicht geltungssüchtig, sondern einfach sicher.
Wir können wie dieses kleine Mädchen werden, … wir Männer und Frauen, wir Jungen und Alten, die am komischen, am rettenden Glauben an den Propheten hängen, Der kann, was kein König, kein Diktator und kein Präsident sonst kann und was den König in Israel zu Naamans Zeiten so schockierte, als er die Bitte um Hilfe verstand: ER kann töten und lebendig machen.
… Der König in Israel erschrak über die Bitte, den kranken Krieger zu heilen: „Bin ich denn Gott?“ … Wir aber können zu einem Propheten in Israel weisen, zu einem neugeborenen König der Juden, der vor dieser Bitte nicht erschrecken muss.
… Ist ER denn nicht Gott?
Und so können wir – wenn wir beim Eigenartigen, beim unverwechselbar Einzigartigen unseres Glaubens bleiben! – wie mein allerliebstes kleines Mädchen aus Israel werden: Maria heißt sie, und auf den ersten, ältesten Bildern von ihr, da tut sie das, was wir tun können, sollen, müssen, dürfen: Auf diesen ältesten Ikonen heißt sie einfach nur die „Hodegetria“ - die Wegweiserin - und tut das, was die namenlose Kleine in Naamans Haus tat. Sie weist auf Den, Der unsere und aller Welt Hilfe ist.
Und was dann passiert?
---- Pah! Lächerlich! Niemand muss wie im Managermotivationsbootcamp über glühende Kohlen laufen oder eine Marathon-Challenge bestehen; niemand muss über sich hinauswachsen oder eine absurde Gegenleistung, einen fiktiven Preis für schamanistisch besprochene Eigenbluttransfusionen oder genetisch-molekulare aufbereitete Immunpräparate, die ewig-jung halten zahlen; niemand muss da beweisen oder vortäuschen, wie selbstherrlich und selbstheilend man doch ist.
Wir sind es nicht. Wir sind weder herrlich, noch in der Lage, uns selbst zu heilen als die Menschen, die wir sind.
Aber wie Naaman wird uns geholfen:
Bloß eintauchen.
Das heißt: Untergehen.
In nichts Großem. … Keinem gewaltigen Krater der Läuterung, keinem brodelnden Brunnen der neuesten chemischen Wunderwaffen gegen das Wirkliche am Leben. Nur in einem kleinen Wasserlauf am Rand von Israel: Einem Wasser, das einmal die Grenze zwischen der Wüstenwanderung und dem Heimatfinden war.
In diesem ehemaligen Trennungsfluss - dem Jordan -, der Drinnen und Draußen unterschied, der eine Linie zwischen der Todesgefahr des unsicheren Umherziehens und dem friedlichen Leben im Verheißenen markierte, … in diesem Fluss untergehen und doch nicht untergehen: Das ist alles.
Naaman hätte es beinah zu albern gefunden. Zu unerklärlich und auch zu antiklimaktisch.
Unter seiner Würde als Vertreter der Aramäerwelt politischer Gewalt.
Aber: Keep Christianity weird! … Uns ist die selbe Heilung gegeben. Die Taufe. Die alle, die sich auf diese vermeintliche Kleinigkeit einlassen, von großen, … von allergrößten Schädigungen, Täuschungen und Krankheiten heilt.
Wer sich auf die Taufe einlässt, auf das kleine Bad, das den alten Menschen mit seiner Sucht nach eigener Größe verschwinden macht, der kann werden, was Naaman wurde.
Denn beim Ergebnis des Heilungswunders durch das Wasser zeigt das 2.Buch der Könige ganz glasklar, dass es nicht um eine äußerliche Wiederherstellung allein geht. Sagt es doch von der Haut des aussätzig-gewesenen Naaman nicht nur, dass sie rein wurde, sondern sie wurde wie die Haut eines „jungen Knaben“ in genauer Entsprechung zu dem jungen Mädchen, dessen Vertrauen diese Wandlung anstieß.
– „Na’ar katan“ und „na’ara k’tanah“. Im Hebräischen hört man unmittelbar, wie es um diesen Gleichlaut geht in der Geschichte zweier Kinder. Einer Geschichte, in der einer durch Krankheit, Leid und Taufe so wird wie die andere - trotz Gefangenschaft und Leid - es dank ihres Glaubens schon war.
Es ist die Geschichte dieser beiden, die Jesus vor Augen gestanden haben muss, als Er sagte: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“ (Mathh.18,3)
Und darum sind es Taufgeschichten wie diese, in denen der alte Adams- und Evasmenschenschlag verwandelt wird in Kinder Gottes, die uns Hoffnung geben können in unserer Zeit.
Weil Menschen, die das Großspurige und Gewaltsame hinter sich und das Leid an sich heran lassen, die neue Welt, die neue Kreatur näher bringen, weil der Prophet in Israel, Der alles teilt und alles heilt, auch in ihnen jene Quelle fließen macht, von der Er selbst im heutigen Evangelium spricht (Joh.4,14): Wasser, das in das ewige Leben quillt … das Leben, das niemand allein, das wir alle gemeinsam nur in Gott haben!
Amen.
[i] Bei diesem Predigttext, der uns wegen des altkirchlichen Epiphaniaszeit-Motivs „Taufe“ an diesem Sonntag traditionell vorgegeben sein dürfte, stellt sich eine Grundfrage: Kann man – was seit Langem in der evangelischen Kirche und Theologie verpönt ist – heute noch „allegorisch“ predigen, d.h. im Ersten Testament Motive erkennen und entsprechend deuten, die im Neuen Testament wiederbegegnen und weiter gestaltet, gelebt, gefüllt werden? … Wie könnte man nicht? Wo die allegorische Korrespondenz und gegenseitige Abhängigkeit der beiden Teile der christlichen Bibel und damit auch der Traditionen von Synagoge und Kirche nicht in ihrer Differenzierung lebendig und fruchtbar wird, ist dem historischen Scheiden und aktuellen Zerreißen der Corpora– bei bester Absicht – unweigerlich der Weg geebnet.
[ii] Das „Ende der Geschichte“, das Francis Fukuyama 1992 in seinem vielzitierten Buchtitel feststellte, ist der tödlichste Bumerang der politischen und anthropologischen Diskurse der jüngeren Vergangenheit gewesen: Wunschdenken einer privilegierten West-Welt, die ausblendete, dass die meisten Milliarden dieser Erde weiterhin unter den vermeintlich vergangenen Realitäten der Gewalt, der Not und des Kampfes ihr Leben fristen müssen.
[iii] Eine Woche, in der nicht nur bunte Blätter über entsprechende Meldungen zu Lloyd Austin, Charles III. und Catherine, Princess of Wales berichteten, ist immerhin bemerkenswert für eine Epoche, die Krankheit oder Schwäche so ideologisch tabuisiert wie die unsrige.
[iv] Dieses Leitwort – „Haltet das Christentum eigentümlich / sonderbar / sperrig!“ – ist für mich sicherlich ein Impuls, der in diesem Jahr immer wiederkehren wird. Er verdankt sich dem unvorstellbar aufrichtenden Buch: Justin Brierley, The Surprising Rebirth of Belief in God – Why New Atheism grew old and secular thinkers are considering Christianity again, Tyndale House Publishers (Carol Stream, Illinois) 2023 - bes. S.222ff. - Wenn möglich: LESEN!
2.So. n. Epiphanias, 14.01.2024, Stadtkirche, Hebräer 12, 12 - 25 i.A., Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.n. Epiphanias - 14.I.2024
Hebräer 12, 12 - 18. 22- 25a
Liebe Gemeinde!
Vierzehn Tage später als alle anderen haben wir heute hier ein echtes Silvester-Feuerwerk aus dem Hebräerbrief erlebt: Es kracht und zischt, schlägt donnernd ein wie der Blitz, stäubt Funken und blüht hell auf in schönsten Farben.
Was Böller und Raketen, Sternenregen und Knallfrösche bei mir nicht auslösen, das bewirkt das vorletzte Kapitel des großen geheimnisvollsten Briefes der Bibel spielend. Der Hebräerbrief kann mit seinen pyrotechnischen Effekten elektrisieren, er jagt mir Schauder durch Kopf und Körper, er klingt nach kräftiger Abwehr und jubelndem Einläuten. Er erregt Furcht und den Reflex fest geschlossener Augen … und ist gleichzeitig exotisch schön.
Erschütternd laut und schrecklich ist im Hebräerbrief das wiederholte Dringlichkeitssignal, der große Paukenschlag seiner Warnungen:
„Lasst uns achten auf das Wort, damit wir nicht am Ziel vorbeitreiben!“ (2,1) – BUMM!
„Ermahnt euch selbst alle Tage, solange es »heute« heißt, dass nicht jemand unter euch verstockt werden!“ (3,13) – KNALL!
„Laßt uns mit Furcht darauf achten, dass keiner von euch zurückbleibe, solange die Verheißung noch besteht …“ (4,1). – ZISSSCCCHHH!
„Wir wünschen, dass jeder von euch den selben Eifer beweise, die Hoffnung festzuhalten bis ans Ende, damit ihr nicht träge werdet …“ (6,11). – PENG!
„Lasst uns nicht verlassen unsere Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das um so mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht. … Sonst bleibt uns nichts als ein schreckliches Warten auf das Gericht und das gierige Feuer, das die Widersacher verzehren wird.“ (10,25-27) – KRACH!
„Denn unser Gott ist ein verzehrendes Feuer!“ (12,29) – PCHCHUH!!!
Wen diese kritisch-knisternde Pyrotechnik der geschürten Erwartung, der aufgeladenen Hochspannung nicht bis in die Haarwurzeln aufweckt, der ist geistlich nicht mehr zu erreichen:
Der christliche Glaube und die christliche Hoffnung sind ein Stoff wie Zunder, … sie sind eine Ladung glühender Energie. Es drängt in ihnen und durch sie ein Augenblick heran, der es hell auf Erden machen wird: Der Anbruch des Friedensreiches, der Durchbruch der Gerechtigkeit Gottes. Die Zündschnur dieser Zukunft aber, die die Sünde und alle Lebenszerstörungskräfte sprengen wird, ist schon angesteckt. Die Zeit läuft rasch wie das Flämmchen an der Lunte, und man muss sich einstellen auf die Entladung, in der alle Weihnachtswärme, alle Menschenfreundlichkeit Gottes, Seine urknallauslösende Weltliebe, Sein feuriger Neuschöpfungsgeist das tödlich Böse in unserer Wirklichkeit zerreißen und Heilung sprühend vom Himmel regnen oder aus der Erde emporzüngeln lassen wird (vgl. Jes45,8; 63,19-64,1!).
… Darum entlädt der Hebräerbrief dieses Trommelfeuer von Silvesterböllern, die das rasche Ende des Alten und den nahen Anfang einer lebensfähigen und lebensfreundlichen und lebenswilligen Welt bekunden: Achtet, mahnt und haltet Euch fest! Die große Stunde von Schluß und Beginn steht unmittelbar bevor.
… Feuerwerk des Glaubens am Abend des Abgesangs, in der Mitternacht der Zeit vorm Morgenglanz der Ewigkeit! ——
Wo allerdings solches Feuerwerk aufsteigt - man konnte sich vor zwei Wochen wieder davon überzeugen -, da stinkt’s auch mächtig, und wehe, eine Salve oder eine ganze Batterie solcher Freudengeschosse und Angstvertreiber geht daneben! Wenn das gute Feuer der ungeduldig machenden frohen Botschaft zu jener Brandwaffe wird, die man in byzantinischer Zeit das „griechische Feuer“ nannte - eine spätantike Vorahnung der Phosphorbombe -, da wird es scheußlich. Freudenfeuer, die zu Verbrennungen oder Flächenbrand führen, sind etwas Gotteslästerliches, weil das ungestüme Lodern der Hoffnung und des Glaubens zwar ungeduldig machen darf und soll, aber nicht unduldsam!
Leider verlassen aber auch im Hebräerbrief – wie überall, wo Menschen mit dem überirdischen Licht Gottes umgehen – manche seiner Leuchtzeichen die richtige Bahn und richten Schaden an: Im Neuen wie im Alten Testament geschieht das unseligerweise oft dort, wo von Esau die Rede ist (vgl. Maleachi 1,3 // Rö.9,13), dem älteren der Zwillinge Isaaks und Rebekkas und direkten Bruder des in Jakob erwählten Volkes Israel. Neutestamentlich könnte man sagen: Wo Esau, das eigenständig-andersartige Ebenbild der zum Glauben Berufenen genannt wird - Esau, der diese Berufung nicht hat -, da liegt oft Schwefel in der Luft. Weil wir den, der ganz wie wir und darin dann doch anders ist, oft am wenigsten ertragen und ja auch am ehesten treffen und verletzen können.
Die schönen Leuchtkugeln und hellen Wecksignale des Hebräerbrief-Feuerwerks – „Die alte, zerstört-zerstörerische Welt vergeht und die neue Zeit zum Leben ist nah: Darum tröstet die Müden …, tut sichere Schritte …, jagt dem Frieden nach …, jagt der Heiligung nach …“ – diese hell an den Himmel über uns geschriebene Fackelschrift geht leider wie ein Ascheregen nieder auf dem Haupt des Esau, der nicht an den Segen und nicht zur Buße kommen konnte.
Und so hat der starke Hebräerbrief die Schwäche aller Botschaften, die um des Kontrastes willen ihren Glanz vor einer dunklen Folie der Gegnerschaft, des Ausschließens, der Verwerfung entfalten zu müssen meinen.
Solche negativen Begleiterscheinungen des christlichen Trostes und seiner Motivationskraft müssten uns inzwischen allerdings vergangen sein. … Wir dürfen sie jedenfalls nicht mehr zünden, dürfen diese Wurzel der Verbitterung nicht mehr aufgehen lassen … lieber pyrotechnische Lichtblumen: Die Strahlkraft unseres Glaubens verbietet es doch schlicht, dass wir für möglich halten oder behaupten, andere seien dem Licht und der Erleichterung des Evangeliums dauerhaft entzogen. Die Nebelkerzen eines Glaubens, der erst angesichts von trübem Anti-Glauben hell wirken kann, sind ganz bestimmt unter unserer Würde! Uns ist Größeres, Weiteres, Umfassenderes anvertraut als dieses Schattenspiel, andere zu verdunkeln, um besser sichtbar zu werden.
Wir haben das wahre Licht, das unvergleichliche und unüberwindliche, das völlig grenzenlose Licht Gottes gespürt, … mit blinzelnden Augen an der Krippe sogar gesehen, … wir hören, ja wir essen dieses Licht der Welt, … wir nehmen es in uns auf, auch wenn wir es kein bisschen einfangen oder zähmen oder uns dienstbar machen können.
Es ist ein Licht, das man nicht speichern kann: Man muss ständig davon leben.
Es ist ein Licht, das sich nicht horten lässt, … weder aus Sparsamkeit, noch aus Egoismus: Es leuchtet nur, wenn es sich verströmen kann.
Es ist ein Licht, das weder als Teilchen noch als Welle, weder als Hitze noch als Helligkeit auftritt, sondern in allem und durch alles hindurch leuchtet.
Ein Licht, das uns die Welt zeigt, wie wir sie sonst nie sähen: Obwohl sie in Wahrheit so ist. Und ein Licht, das uns gleichzeitig alles verbirgt, weil die Materie in diesem Licht unsichtbar und bedeutungslos wird und tiefe Schatten oder Stellen, an denen für uns gar nichts zu sein scheint, plötzlich erfüllt und zur Quelle werden.
Es ist ein Licht, das man nicht fassen kann, weil es mehr ist als die uns bekannte, als die uns überhaupt zugängliche Welt, die doch seit dieser Woche auch astrophysikalisch wieder nur um ein neues Wunder des Nichtwissens und der Unerklärbarkeit reicher und schöner geworden ist: Eine junge Forscherin aus England hat eine gigantische Ringstruktur von Galaxien im Weltraum entdeckt[i], die nach gängiger wissenschaftlicher Lesart in dieser Dicht gar nicht vorkommen dürfte. Aber gerade das ist Wissenschaft: Zu erkennen, was wir nicht verstehen, sondern zuerst und zuletzt nur bestaunen können.
Wohin wir also auch blicken: Wir stoßen auf das für uns Unerkennbare, Unergründliche, aber gerade darin nicht auf einen Mangel, ein Defizit, ein Weniger, sondern auf den Überfluss, auf das Darüberhinausgehende, auf das unerschöpfliche Mehr … oder Meer.
Diese Erfahrung, dass es mehr gibt, als wir bisher fassen, einordnen, ergreifen konnten, steht im Hebräerbrief hinter seiner typischsten und am häufigsten missverstandenen Denkfigur.
Dieser Brief, der so alttestamentlich, so vollbiblisch jüdisch und christlich ist wie keine andere Schrift der Urkirche, wird oft bemüht, wenn es um Abwertung des Alten Testaments, um Überbietung des Judentums geht. Da wären wir im schlechten Sinn wieder beim Jakob-und-Esau-Spiel des Einander-in-den-Schatten-Stellens.
Doch wenn der Hebräerbrief die Gesetze und Gebräuche des ersten Bundes als Schatten und Vorbilder bezeichnet (vgl. u.a. Hebr.9,23ff;10,1 usw.), dann spricht er dabei ja gerade von seinem Vertrautesten, vom Heiligsten und Heimatlichsten, vom Sichersten und Segensvollsten, das das Volk Gottes bisher kannte.
… Und von dieser Höhe aus, von diesem Gipfel des Gottgegebenen und Gültigen aus wagt der Brief dann zu sagen: Und nun gibt es noch mehr, es kommt noch mehr, es ist noch mehr vorhanden, als wir bisher ahnen, glauben und bezeugen konnten.
Nicht, dass das Alte schlecht war, soll damit bewiesen werden, sondern dass es noch nicht alles war.
Und an dieser Stelle geht das Feuerwerk erst richtig los. … Auch für uns. … Richtig los: Wenn wir erkennen, dass alles, was wir wissen, lieben und verehren, alles, was wir behaupten, beschwören und beweisen können, noch nicht, … noch längst nicht „Alles“ ist. … Denn ihr seid nicht zu etwas gekommen, das man anrühren konnte.
Da aber, wo das bisher Begriffene und die bisherigen Begriffe aufhören, … wo man nicht mehr sagen kann „Das ist Feuer“ und „Das ist Finsternis“, wo die Macht unserer Gewohnheiten, die Gültigkeit unserer Behauptungen, die Begründung unserer Beweis- und Glaubenssätze endet, … da geht das Feuerwerk los: Da blühen die bengalischen Feuer und regnen die funkenstäubenden Himmelskörper herab aus der Höhe! Da wehen die Farben wie Sternschnuppen über den Horizont, da bündeln sich Strahlen zu Ähren und tanzen Lichter im Reigen, … da ist es so betörend exotisch und spektakulär visuell, dass man den Hals reckt und mit den hungrigen Ohren schlackern muss, dass man „Oh!“ und „Ah!“ schreien und zwischen den Zähnen pfeifen will, weil es viel irrwitziger und lebenssatter zugeht, als wenn Oberkassel und Altstadtufer am Japantag sich von der Meisterkunst der Feuerwerker zu einer Menschheit verwandeln lassen, die nur noch Augen für den Himmel hat.
… Der ist es nämlich!
Vom Himmel und seiner fremd-schillernden, bunt-lockenden Fülle sind die letzten Höhenflüge unseres heutigen Hebräerbriefabschnitts angetrieben. Von dem, was man nicht fassen oder festlegen kann, weil es in so vielen Formen und Bildern schwebt und sich vor unseren staunenden Augen eröffnet:
… Der feste Zionsberg und die pulsierende Stadt des lebendigen Gottes,
… die vergeistigten Myriaden und Chöre der Engel, … das genießerische Festfeiern der Erlösten,
… die paradoxe Schar aus lauter Erstgeborenen, die den Rangstreit von Jakob und Esau längst hinter sich ließen, weil ihre Namen alle für immer beurkundet sind und sie sich also als intime Masse der unzählig Zugehörigen erleben,
… sie alle: die von Gott Gerichteten und durch das Gericht Geretteten,
… die Geister der Heiligen, der Märtyrer, der Bekenner, der Leuchten und der Kerzen Gottes,
… der ganze Bund, in dem sie alle, in dem wir alle verquickt sind und verknüpft, die nie wieder auflösbare Zukunftsgewissheit, die alles übertrifft, was wir an Sicherem oder Vertrautem schon haben oder einst kannten.
Der Himmel – das, was über alles hinausgeht, was hier war und ist – ist das Thema des Hebräerbriefes. Der Himmel ist es, der sein Feuerwerk auslöst[ii].
Und er ist – in seiner Offenheit und seinem vielfarbenen Glanz, in seiner sprühenden Vitalität und seiner silbrigen, irisierenden, changierenden Schönheit – das, worum es geht!
– Basta!
Gewiss: Wir hätten über die Friedenshoffnung und die Heiligungsmahnung des Hebräerbriefes meditieren können, über die Rivalitäten und Geschwisterlichkeiten, die er in unserer Welt der aggressiv ansteckenden Sünde eindämmen und einüben will; wir hätten über seine Botschaft an die geisteskranken Vertreibungstreiber in unserer Politik diskutieren und die Warnungen vor Verspätung und Zerspaltung bedenken müssen, die unsere Gesellschaft ohne Mumm und unsere Kirchen im Auslaufmodus berühren.
Wir hätten das alles in seiner ganzen Trübheit und besorgniserregenden Aussichtslosigkeit mustern können. Aber dann hätten wir genau das Feuerwerk verpasst, das über dem bleiernen, grauen Horizont des sogenannten Wirklichen in der Weltlichkeit aufleuchtet.
Wir hätten sprechen und klagen können über alles, was wir in seiner Unabsehbarkeit und erst recht über alles, was wir in seiner schrecklichen Absehbarkeit sehen können.
Aber mein Neujahrsvorsatz lautet: Nicht das, sondern was mehr ist, soll uns hier bewegen.
Statt im absehbar Aussichtslosen zu verharren, wünsche ich mir, wünsche ich uns, … erwarte ich von mir, erwarte ich von uns, dass wir das Unsichtbare ansehen, das Licht, das niemand erkennen kann und das doch über alle Finsternis längst hinausleuchtet.
Weil wir mit diesem Licht getauft sind, … mit diesem Blut!
Weil der Himmel unsere Berufung ist und weil der Himmel – der übertrifft, was wir kennen und erschließt, was wir für ausgeschlossen hielten, – der Ausgangspunkt unsres Glaubens und das Ziel unseres Lebens und unserer Welt ist.
Was wir abseits vom Himmel besprechen, bedenken, betrachten, ist - mit Verlaub - Nebensache.
Mehr, nein Alles in Allem ist das, was heute das Feuerwerk hieß: Das Aufleuchten, die Epiphanie Jesu unter uns, in dieser Welt, in unserem Leben als die Seinen … ein Aufleuchten, eine Epiphanie, die auch unser Herz und unsre Seele, unsern Geist und unser Dasein zum Himmel hin führt, zu dem wir schon gekommen sind, wenn wir mit Jesus leben, wenn wir in Jesus leben und von Jesus leben,
Davon redet Sein Blut, Sein Für-uns-Leben: Vom Himmel für uns und für die ganze Welt.
Sehen wir zu, dass wir den nicht abweisen, der da redet, sondern gesund werden … gesunde Christen, … Menschen im Licht, … Menschen, die dem Himmel gehören.
Amen.
[i] Als Erstes meldete die BBC diese Entdeckung, vgl. https://www.bbc.com/news/science-environment-67950749
[ii] Die beherrschende „Feuerwerk“-Metapher greift die Sinai-Motivik der im Predigttext ausgelassenen Verse auf: Verse, die eine eingehende Entschlüsselung verdienten, weil in ihnen sich die tiefe Verankerung der besonderen Botschaft und Schriftauslegung des Hebräerbriefes in der jüdischen Tradition erweist. Außerdem nimmt die Metapher vorweg, dass die Klimax des 12.Kapitels in der aus 5.Mose 4,24/ 9,3 zitierten Beschreibung Gottes als „verzehrendes Feuer“ besteht. Das theologische Lichtmotiv, zu dem das Feuerwerk führt, ist natürlich wiederum das eigentliche Leitmotiv der Epiphaniaszeit. Und die Dominanz des Himmels am Ende der Predigt entspricht dem Schlussteil des ausgewählten Textabschnitts, der eine herrlich vielschichtige, anregende Collage biblischer Motive des eschatologischen Ziels der Seligkeit in der Gegenwart Gottes aufbietet.
Altjahrsabend 2023, 31.12.2023, Stadtkirche, Jesaja 49, 13 - 16, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2023
Jesaja 49, 13-16
Liebe Gemeinde!
Werden wir „Weißt Du noch?“ sagen?
– Wie die, die den 27. Januar oder den 8. Mai 1945 erlebten, oder den 9. November 1989?
… Wohl eher nicht.
– Wie jene, die an das Ende eines Frühlings in Prag am 21. August 1968 oder an den 9. September 2001 zurückdenken? … Vielleicht schon eher.
… Werden wir „Weißt Du noch?“ sagen? …….
Vielleicht ist den meisten von uns unbewusst jetzt erst einmal so, dass man wieder eine Zahl verlernen kann, die nach menschlichem Ermessen bei keinem von uns mehr auf dem Grabstein stehen wird: Mit unsern individuellen Lebensdaten wird dieses Jahr 2023 vermutlich nicht ganz unmittelbar verbunden werden. Es wird am Anfang, in der Mitte oder gegen Ende unserer Lebensspane unter den anderen Jahren, die in ihrer Summe dann einmal unsre Lebzeiten ausgemacht haben werden, einfach subsumiert, aufgerundet, eingereiht. … Gewiss, wer „heuer“ - wie die Süddeutschen sagen - Vater oder Mutter geworden ist, wer Witwer oder Witwe wurde, wer eine Prüfung bestanden, einen Umzug bewältigt, eine Überraschung erlebt hat, mag dann einst noch besser nachrechnen können, dass das in diesem Jahr war. Ansonsten wird’s verschwimmen. Verblassen. Verklingen. …….
Wird es das? …
Ehrlich gesagt, ist es ja viel zu früh auch nur zu mutmaßen, wie es um das Nachwirken dieses Jahres bestellt sein könnte. Denn dass es einfach ein solches Jahr gewesen wäre, wie die konturlosen anderen Jahre, die irgendwann unsere besten Jahre oder unsere Lehr-, nicht Herrenjahre oder unsere stürmischen oder unsere Tretmühlen-Jahre gewesen sein dürften, … das kann man von diesem Jahr heute schon nicht sagen, und wer von uns weiß denn, welche Folgen es in der Zukunft noch hat, die man später einmal ganz genau auf eine Entwicklung oder ein Ereignis der letzten Monate zurückführen muss?
Was 2023 war, ist also undeutlich. Zäh in vielem, … im Kriegs- und Krisen- und Lügen-Stillstand. Jäh im Grausen des Hamas-Terrors vom 7. Oktober: Jenem Datum, das zweifellos zur Signatur dieses Jahres werden wird.
Aber wie es wirklich war und wie es zu dem, was werden soll, führt, können wir nicht ausmachen, obwohl wir doch mitten darin standen und lebten und webten und jetzt an seiner Grenze verharren und zurückblicken.
Wir können die Zeit also nicht entziffern, obwohl wir zeitliche Wesen sind.
Und also werden wir nicht „Weißt Du noch?“ fragen können, weil wir so wenig wissen.
Trotzdem aber wird man uns einst fragen – die wir dabei waren, die wir dran waren –, wieso es uns so verborgen war oder weshalb wir so wenig wahrhaben wollten oder warum wir so abwegig unzeitgemäß vor den Fragen unsrer Tage versagt haben?
Und dann werden wir vermutlich tun, was Menschen immer taten: Immer schon wurde das Positive, das Gute, der Gewinn privatisiert - das ist „Meins“! -, und das Negative, der Verlust, die Schuld und die Schulden werden sozialisiert, werden andern zugeschoben - „Na, das betrifft doch nicht bloß mich!“- …….
Und wenn es ganz eng wird, wenn wir ganz ernsthaft eindringlich gefragt werden, warum uns alles das, was wir hätten sehen und wissen können und also auch hätten abwehren, abwenden, abarbeiten sollen, … wenn uns das gezeigt wird, was unsere Zeit gebraucht und verlangt hätte an Mitgefühl, an Tapferkeit, an Verzicht, an Überwindung des Eigeninteresses, an reiner Gottesfurcht und klarer Menschlichkeit, … wenn wir dieses 2023, in dem wir hier alle mit dem Leben davongekommen sind, endlich nicht mehr im Dunst, sondern im Licht sehen werden, dann werden wir den Fragenden anschauen und wohl tatsächlich sagen: „Du weißt doch: Er, sie, es war’s (vgl. 1.Mose3,12)… : Der Mann, die Frau, das Schlangenbiest, … alles das, was Du geschaffen hast; … Du also warst’s in Wirklichkeit. Nicht wir!“
Sonderbar nur, dass wir nicht merken, was wir da sagen, … acht Tage nach Weihnachten!
Letzte Woche haben wir ganz bewusst oder im geistlichen Halbschlaf, immerhin aber doch vergnügt genug gefeiert, dass Gott und Mensch eine Schicksalsgemeinschaft eingehen, mehr noch: Dass da eine natürliche Verbindung, eine Verbindung und wechselseitige Durchdringung ihrer Naturen geschehen ist, wie die klassische Theologie es formuliert[i].
Dieser Austausch der Naturen, diese Kommunikation und Vermittlung der Bedingungen und Besonderheiten von Ewigem und Zeitlichem, von Weisheit und Fehlbarkeit in der Gestalt eines Kindes, das das gewöhnliche Sichtbare mit dem vollkommen Unvorstellbaren verbindet, ist eine kollektive Freude: Fast nirgends in unserer Kultur lehnt man es ab, dieses Glück eines unwahrscheinlichen und unentbehrlichen Miteinanders zu feiern. Die echten Ebenezer Scrooges – „Grinches“, sagt man heute - dieser Welt, … die mit Bedacht bekennenden Anti-Weihnachtsmenschen sind selten.
„Jauchzet, ihr Himmel, freue dich Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der HERR hat sein Volk getröstet …“ – In Ordnung: Wird gemacht! ——
Aber wenn das Leid der Welt einsetzt, …wenn wir die Tragödien und Verbrechen sehen, die Misere, an der wir treibend oder unterlassend beteiligt sind, und auch die uns schlicht stumm machenden Grausamkeiten des Terrors im Süden Israels und an Heiligabend in Nigeria oder die uns zur Verzweiflung treibenden Grausamkeiten des Krieges in der Ukraine und in Gaza …, dann endet die Gemeinsamkeit, dann kündigen wir die weihnachtliche Partnerschaft. … Ein Fest mit fernem Gott und gemischten Glaubensresten: „Ja!“ Die Wirklichkeit aber unter der selben Perspektive: „Nein!“
Das Schlimme also, das wir erlebt haben, … das zumindest die Menschheit in kaskadenförmiger Weiterung in den letzten Jahren immer mehr erleidet: Das sehen wir nicht als eine Erfahrung, die uns immer unverbrüchlicher, immer existentieller mit dem leidenschaftlich mitleidensbereiten Gott verbindet, der unsre Geburt und unsre Schuld und unsern Tod mitträgt, sondern das betrachten wir - wenn nicht ausdrücklich, so doch gern ausschließlich - als Sein Problem.
Nicht Viele formulieren es bewusst so, aber die anschwellende Zahl derer, die innerhalb und außerhalb der Kirche das Christentum hinter sich lassen, ist zumindest von ferne auch ein Vorwurf in Gottes Richtung: Wenn Du das Leid nicht abschaffen willst, sondern bloß teilen, dann bleib’ uns gestohlen, … dann kann man Dich vergessen. … Eh man es aber so formuliert - eh man also aktiv Ihn verlässt -, heißt es dann eben häufig: „Du hast uns ja wohl vergessen!“
Und schon ist man raus: Aus Verantwortung und Haftung, … aus der Mühe von Mitleid und Hoffnung und allem voran aus der lästigen Erwartung und Möglichkeit von Umkehr!
Wir, die wir so wenig wirklich wissen und wissen wollen, fragen Gott also „Weißt Du noch?“ … aber mit dem Unterton, dass Er es ja gerade nicht wisse, wie schwer so Vieles für so Viele in diesem Jahr ist und war, wie viel Trübsal, Trostlosigkeit und verschwindende Hoffnung die Kriege, die Gier und der Wahnsinn in der Welt bedeuten. Du weißt das gar nicht mehr, Gott, … Du hast es durchgehenlassen, … hast es überhaupt nicht mitgekriegt. …
Zion sprach schon immer: „Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.“
Aber fragen wir doch einmal einen Vater, der sein krankes, entkräftetes Kind aus dem Bombenhagel von Gaza bis nach Rafah geschleppt hat, obwohl er selbst fast verdurstet. Oder eine der grimmigen Gestalten, die zu Tausenden auf dem Weg durch Mexiko nach Norden ihre Babies in Staub und Bitterkeit huckepack nur immer weiter schleppen. Oder einen der Soldaten in den ukrainischen Schützengräben, der machtlos ist, wenn über ihn hinweg die Raketen bis nach Kiew zischen, wo die Seinen - verflucht noch mal - trotz seiner endlosen Entbehrungen auch nicht sicher sein können: „Hast Du Dein Kind, das Du da auf den Armen trägst, das Du im Herzen trägst, vergessen? Müsste Dein Kindchen aus seinem Angstdelir nicht in Kalifornien oder in München erwachen, wenn Du es wirklich liebhättest, wenn Dir wirklich an ihm läge?“ …….
Oder fragen wir eine Mutter, … fragen wir jene, die vor acht Tagen entbunden hat: „Als die Hirten endlich etwas von ihrer sauren Ziegenmilch zu Euch in die Höhle brachten und Du Deinen Durst nach den Anstrengungen der Wehen löschen konntest: Hast Du da nur für Dich getrunken? Und als Ihr die sagenhaften Gaben aus dem Morgenland empfingt: Hast Du Dich da für Dich gefreut? Und als Ihr vor den herodianischen Kindermördern fliehen musstet: Ranntest Du um Dein Leben? Hast Du Nazareth wiedersehen wollen, weil Du es da leichter haben würdest? Ist Dir der Zwölfjährige und dann der Dreißigjährige nicht irgendwann in seinem Eigensinn und seiner Entschiedenheit zu fremd erschienen? Warst Du nicht drauf und dran, ihn endgültig aufzugeben, als er immer nur die Anderen heilte und nährte, tröstete, um sich scharte und als die Seinen bezeichnete und Dich vergessen zu haben schien? Wärst Du nicht lieber weit, weit weg von Jerusalem, … weit weg von der Dolorosa-Straße, mit der Du den schmerzensreichen Namen teilen musst, …wärst Du nicht lieber daheim in Galiläa, statt auf Golgatha gewesen, wo Dir bei lebendigem Leib Herz und Seele erstorben sind?“
Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes?
Und obwohl wir so wenig bewusst wissen: … Hier ist die Antwort uns unbewusst deutlich.
Gott aber – der unvergessliche Gott, für die, die Ihn einmal kennengerlernt haben – Gott korrigiert uns nicht und verteidigt sich nicht. Er zählt nicht auf, was Er an Einzelheiten wahrgenommen und erlebt hat in diesem Jahr: Einzelheiten, die uns überfordern, zerreißen und auflösen würden; Einzelheiten, die uns die Haare sträuben und oft genug auch die Schamesröte ins Gesicht treiben müssten, wenn wir sie nicht so systematisch verleugneten und verdrängten; Einzelheiten, die unser Fassungsvermögen und auch die scheinbar uferlose Kapazität aller KI restlos übersteigen würden, weil Gott nicht nur die Fakten und Zusammenhänge, die menschheitlichen Verstrickungen und sämtliche ihrer Nebenwirkungen, die Absichten und die von jeglichem Gewissen unkontrollierten Schludrigkeiten der Akteure dieser Welt kennt, … nein, Gott kennt das nicht nur alles, es ist kein Sachwissen bei Ihm, keine aufgehäufte, abgespeicherte Information, sondern es ist Seine eigene Erfahrung, Sein Erleiden, Sein ungemindertes Teilnehmen, … Sein Wahrnehmen, Anteilnehmen, Übernehmen, … schließlich Sein Annehmen, Sein Hinnehmen und Sein endgültiges Abnehmen aller Schuld, Schmerzen, Schande, Schrecken und Leiden.
Gott kennt nicht nur das alles, was wir uns vom Leib halten, um es Ihm zum Vorwurf zu machen: Gott nimmt es auch alles an … und Er wird es allen auch abnehmen!
Von allen Schultern, aus allen Herzen, aus jedem Leben, aus jedem Schicksal wird Er fortnehmen und nicht übriglassen, worunter Menschen seufzen, stöhnen und vergehen:
Dieser unvergessliche Gott, Der Selber nichts vergisst, Der niemanden vergisst, sondern alles und alle aus unmittelbarster Nähe, direkt, ungemindert annimmt, durchhält und schließlich … ja, tatsächlich: versöhnen wird!
Gott wird jeden Menschen versöhnen mit Sich und mit der Menschheit und mit dem eigenen Leben, zu dem für uns alle, die wir heute erleben, nun auch 2023 gehört.
Gott wird uns mit Sich und uns selbst, mit der Wirklichkeit, wie sie war und vergeht und mit Seinem Reich des erneuerten, des wahren Lebens versöhnen. ———
Und das habt zum Zeichen: Beim „Wißt Ihr noch?“, haben wir begonnen und festgestellt, wie wenig wir heute schon wissen können, wie wenig wir vom gerade Gewesenen wissen wollen und wie wenig von unserem Wissen uns bewusst sein kann, wenn wir Gott immer vorwerfen müssen, uns und die Welt zu vergessen, um uns selbst von echter eigener Teilnahme zu entlasten.
Ein einfaches Zeichen unseres Nicht-Wissens hat jeder von uns zur Hand: Wir - die wir selbstbewusst und nicht nur zu Unrecht stolz sind auf unsere Eigenheit und Einzigkeit - … wir alle haben ja ein unverwechselbares Siegel unseres ganz unmittelbaren, physischen Selbst. … Aber wir kennen es nicht.
Oder weiß jemand hier, wie sein Fingerabdruck aussieht? … Den man doch gerade heute, im virtuellen Zeitalter als unerfindbarsten, naturgegebenen Zug des Menschen scannt, speichert und weltweit abrufen kann.
In Wahrheit aber weiß ich nicht, wie mein Fingerabdruck wirklich ist.
Gott jedoch, Der nicht nur kollektiv, sondern darin auch individuell unsere Natur angenommen hat, … Der also auch meine Natur angenommen hat, mein Wesen, meine Art und Eigenart, … Der also auch meinen Fingerabdruck mit mir teilt: Gott kennt auch dieses Wasserzeichen des Einzelnen.
„Siehe, in die Hände habe ich Dich gezeichnet …“[ii].
Alle Furchen meiner feinsten Persönlichkeitsmarkierung, … alle Knitter-, Wachstums-, Altersfalten meines leib-seelischen Organismus und seiner Biographie … alle Spuren, Wunden, Narben meines und Deines und jedes Daseins trägt Gott also buchstäblich an Sich selbst.
Er, der unvergessliche, vergessenslose Teilnehmende an und in allem ist gezeichnet, gekennzeichnet von unserem Leben in seiner persönlichsten, intimsten, unaustauschbarsten Form.
Ein Gott, Der mich sieht, hieß Er in diesem Jahr (1.Mose 16,13 – Jahreslosung 2023).
Weißt Du noch?
Er weiß es und wird nichts davon vergessen.
Weil Er uns liebt. Weil Seine Liebe in Seine Hände als Fingerabdrücke aller, als Wundmale für die ganze Welt eingegraben ist.
Und darum legen wir in diese Hand des mitleidenden, annehmenden, versöhnenden Gottes alles, was war, … aus ihr nehmen wir alles, was kommt … und in ihr finden wir, was bleibt.
Das weiß ich noch. … Das wissen wir noch!
Gott Lob!
Amen.
[i] Ganz sauber hat die Theologie immer betont, dass sich nicht die beiden „Naturen“ in der Person Jesu Christi vermischen, aber dass sie dennoch jeweils Anteil an den Eigenschaften der anderen Natur haben. Diese wechselseitige Teilhabe von Göttlichem und Menschlichem in Christus ist als „communicatio idiomatum“ bekannt. Sie hat nicht nur die Alte Kirche und die mittelalterliche Theologie beschäftigt, sondern auch bei Luther – der den „fröhlichen Wechsel“ ergreifend feiern und weihnachtlich besingen konnte – einen großen Stellenwert besessen und dann in der religiös sehr eigenständigen Philosophie des großen Zeitgenossen und Landsmanns Immanuel Kants, Johann Georg Hamann eine frische, nach wie vor anregende Wirkung entfaltet: Alles und alle in dieser Welt Gottes kommunizieren mit und haben Teil an der göttlichen Realität und umgekehrt nimmt Gott Teil an allen und allem Irdischen.
[ii] Auch im Hebräischen ist unbestimmt, wessen Hände die Einzeichnung aufweisen. Die vorherrschende Deutung, dass in einem anthropomorphen (und in unserer Kultur der Tätowierungsfreudigkeit geradezu trendigen) Bild hier von einer Markierung an den Händen Gottes – dem wichtigsten Organ des bei Deutero-Jesaja wieder und wieder im Gegensatz zu den toten Götzen als „handelnd“ (sic!) beschriebenen Gottes Israels die Rede sein dürfte, ist aber sehr überzeugend. Sie bedeutet, dass Gott nichts tun kann, ohne an Israel, ohne an die Menschen im Bund mit Ihm erinnert zu werden. Die in der Predigt vorgenommene Deutung auf die Fingerabdrücke ist eine sekundäre Folge und Veranschaulichung der Inkarnation und der aus ihr resultierenden communicatio idiomatum.
Fest der Geburt des Herrn / 2.Christtag, 26.12.2023, Stadtkirche, 2.Korinther 8, 7 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 26.XII. 2023 - 2.Christfest
2.Korinther 8, 7f
Liebe Gemeinde!
Zwei „Stände“ gibt es … um mal ein Wort zu benutzen, das selbst in meinem Mund altmodisch klingt. Zwei Stände also, die sich nicht wie in der hierarchischen alten Zeit klar und einfach auf Adel und Bettel, auf „Wohlgeboren“ oder „Hergelaufen“ verteilen lassen, sondern mal gut zusammen und dann irritierend getrennt existieren.
Ich rede von Wohlstand und Anstand. … Die leider ganz gewiss nicht identisch sind und öfter als uns lieb sein kann reine Gegensätze beschreiben.
Der eine Stand setzt Sachen voraus, der andere Seele.
Hier hat und da ist man, was der Stand benennt.
Diese holzschnittartigen Kontraste ließen sich spielend fortsetzen, aber kein noch so pointierter Witz in Sachen Kapital und Moral käme an die schneidende Satire heran, die Jesus in dieser Frage pflegte.
Er hatte - was sage ich? Er hat! - keinen Sinn für Äußerliches, und Sein Blick auf die Reichen ist der Blick auf eine fremde Tierart, über deren kaum vorstellbar mühsames Leben mit Höckern auf dem Buckel (vgl. Mk.10,25) oder einem Rüssel überm Maul man nur abwechselnd lachen oder seufzen kann: „Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen“, sagt Jesus (Mk.10,23), und man spürt, dass es hier Mitleid ist.
Zuweilen aber kann Er durchaus schärfer urteilen, so dass man zusammenfährt und sich fragt, ob es Ihm wirklich so gleichgültig ist, was aus den mühselig mit Besitz Beladenen werden soll: „So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich für Gott“ (Lk.12,21), lautet Sein achselzuckendes Fazit des Gleichnisses vom wohlversorgten Kornbauern, der jählings in das Nichts des Todes stürzte. Denn die Hölle der Begüterten ist nach dem Gleichnis von Luxus versus Lazarus auch aus dem Himmel nicht mehr zu verändern (vgl. Lk.16,29ff).
Diese widerborstige, ja stachelige Seite des Materialismus-Bashing sollte eine Weihnachtsgemeinde vielleicht nicht allzu sehr wundern: Ein Baby, das im Mist zur Welt kommen muss, weil die mit der sauberen Wäsche an ihm nicht wie an anderen verdienen konnten, … ein solches Kind, dem nur die unterste Schicht - das Tierreich und seine Viehhirten - etwas Wärme und Willkommen bot, ist frühkindlich geprägt.
Es wird unsereinen immer nur als verwöhnten Warmduscher betrachten.
- Obwohl … . Ach, egal.
… Jesus jedenfalls und die Reichen: Das wird nichts.
Das war auch in der Kirche lange Jahrhunderte lang nichts.
Wer getauft werden wollte, tat gut daran, dem schlimmsten Götzen aller Völker – dem Mammon, …jenem Gott, den wir „Kohle“ nennen, weil er nicht einfach zu erlangen ist; der die, die den Keller voll von ihm und anderen Leichen haben, dann zwar wärmt, aber zum Schluss doch nur verbrannte Erde hinterlässt – … wer also getauft werden wollte, tat gut daran, diesem Mammon, der Kohle am besten mit öffentlich wirksamen Zeichen des Besitzverzichtes zu entsagen.
Diese rigide, wenngleich im wesentlichen freiwillige Enteignungslinie der Kirche hat uns durch die unglaublichen Stiftungen, durch den Ballast, den die Besitzenden abwarfen, durch Schenkungen und mildtätige Verfügungen innerlich und äußerlich das Schönste an der Gestalt Europas hinterlassen: Keine Kirche, kein Kloster, kein Spital, keine Fuggerei, kaum ein Bild oder sonstiges Kunstwerk aus den Jahrhunderten bis zum Frühkapitalismus, das nicht auch bezeugt wie die, die es bezahlten, sich bewusst vom Materiellen trennen wollten. Sie gaben her, was sie innerlich von der Freiheit der Kinder Gottes trennte.
An diese Seite der altkirchlichen Askese und der mittelalterlichen Blüte der Bettelorden und des seelisch entschlackenden Almosenwesens erinnert man in einer Kirche und einem Amt wie unserer und meinem nicht so gern. … Unsere, meine ganz persönliche, immer noch komfortable Behaglichkeit mit kirchlichen Hauptämtern und auskömmlicher Alimentation und Altersbezügen ist das Gegenteil alles dessen, was Jesus und die abendländischen Kirchen einst meinten, und in vielen in der Wildnis blühenden Gemeinden heute – wir hörten am Heiligen Abend davon in Dr. Vetters Predigt über die wachsenden Kirchen in Hongkong und China – gibt es keine Gefahr, dass man Glaube und Wohlstand verbinden oder wie in den geisteskranken nord- und südamerikanischen Pseudo-Kirchen eines „Wohlstands-Evangeliums“ gar verwechseln könnte.
Wohlstand und Christentum waren ursprünglich oft ein Vorher/Nachher.
Die von Max Weber geschürte Idee[i] – die vermutlich viele reformationsgeschichtliche Einzelzüge und Nebenaspekte bündelt – , dass man umgekehrt auch Christentum und Wohlstand als das Vorher-Nachher-Modell, als Ursache und Wirkung koppeln könne, ist dagegen alles, ... nur nicht im Sinne Jesu.
Das aber liegt nicht nur am Furor einer bethlehemitischen Stallgeburt, die als Kleinkind zwar Gold, Weihrauch und Myrrhe als Patengeschenke erhielt, aber in der Sturm-und-Drang-Zeit, als er zum galiläischen Underdog gegen Jerusalem und Rom heranwuchs nur sarkastisch über den Instagram-tauglichen Influencer-Plunder der orientalischen Wunderkind-Touristen lachen konnte, weil er längst wie Robin Hood Verbrüderung der Armen und Erleichterung der Überladenen betrieb, … sondern es liegt an dem, was Weihnachten tatsächlich feiert, wenn wir es im allerhöchsten und -tiefsten Sinn theologisch verstehen wollen.
Und dieses allerhöchste und -tiefste Mysterium von Christi Geburt, das die Kirche vierhundert Jahre lang durchmeditierte, bis sie es im Bekenntnis, dass da Einer, Der vor aller Zeit aus Gott geboren wurde und darum Gott von Gott, Licht vom Licht ist, Fleisch um unseretwillen annahm und Mensch wurde, formulieren konnte (vgl. Nicäno-Constantinopolitanum: EG 854) ……., dieses Mysterium von Christi eigenem Vorher/Nachher ist der tiefste Grund für seine völlige Immunität gegen das Bling-Bling der Dinge, das uns so wuschig und so sündig macht.
Der großen und herrlichen und auch heiligen Theologien, die man in Alexandrien und Antiochien ebenso wie in den römischen Provinzen und im kleinasiatisch-kappadokischen Idyll[ii] pflegte, um endlich zur gültigen Zwei-Naturen- und Drei-Personen-Lehre im Blick auf Christus zu kommen, bedurfte es aber letztlich nicht einmal, um den Punkt zu treffen, den wir an Weihnachten feiern und der das Vorher-Nachher der Menschwerdung des Sohnes, der Fleischwerdung des Wortes Gottes bezeichnet.
Diesen Punkt, in dem die ganze spätere Inkarnationstheologie und Weihnachtsfrömmigkeit schon wie in der Urzelle enthalten ist, hat Paulus in ganz praktischer Absicht – in einem seiner Spendenaufrufe an etliche schicke und durchaus kommerziell erfolgreiche Gemeindeglieder in Korinther – getroffen.
Dieser Appell daran, dass man nach dem Hören und Verstehen des Evangeliums weniger wohlhabend sein möge als vorher, diese Erinnerung an die Selbstminderung, die Selbstentäußerung des Herrn ist heute in zunächst blumiger Stimmungsauflockerung und dann beinah knauseriger, aber auch knallharter Knappheit unser Predigttext:
Wie ihr aber in allen Stücken reich seid, im Glauben und im Wort und in der Erkenntnis und in allem Eifer und in der Liebe, die wir in euch erweckt haben, so gebt auch reichlich bei dieser Wohltat. Nicht als Befehl sage ich das; sondern weil andere so eifrig sind, prüfe ich auch eure Liebe, ob sie echt sei. Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet.
Wenn wir die geradezu triefende Höflichkeit der PR-geölten Einleitungssätze getrost weglassen – unwillkürlich fragt man sich ja angesichts der sonstigen Raubolzigkeit des Paulus gegenüber allen Blendern, ob er hier nicht vielleicht besonders ironisch spricht? –, dann ist das ganze Weihnachtswunder, das Geheimnis der Inkarnation des als Gott von Gott ewigen Sohnes, das ganze Vorher-Nachher also in einem kinderleichten Merksatz erfasst:
Obwohl er reich ist, wurde Christus doch arm um unseretwillen. ———
Das war Weihnachten:
Reich gewesen, arm geworden.
Alle gehabt, nix behalten.
Eben noch Himmelreich; jetzt: Bethlehem.
Top of the world – Totalabsturz.
Ewig nicht das Geringste entbehrt; erwacht in Stall und Scheiße. ——
Man kann es auch schöner, frömmer, poetischer sagen:
Allmacht wird Ohnmacht. Geber wird Gabe. Herr wird Knecht. Alles aus Liebe.
Um den Menschen nicht verloren gehen zu lassen, scheint Licht auf in der Nacht der Sünde, neigt der Himmel sich zur Erde, begibt sich das unüberwindliche Leben freiwillig ins Reich des Todes.
Doch die beiden Stände Jesu (da sind sie wieder!) – Erhöhung und Erniedrigung – … die beiden Zustände, deren Abfolge die Geschichte ergibt, die uns das Evangelium berichtet, sind im Anfang am unmittelbarsten und verständlichsten beschrieben in dem dürren Satz:
Der Reiche wurde für uns arm.
– Bang!
Dieses Vorher-Nachher Jesu aber hat Folgen. … Nicht nur, dass wir es an Weihnachten feiern, sondern es hat Folgen auch an jedem Tag, an dem wir dazu bereit sind, bewusst nach Weihnachten, also nach dem Totalverzicht Jesu auf Alles um unseretwillen zu leben:
Wenn wir das nämlich ernstnehmen, … wenn wir das glauben, dass Jesu Geburt und Anfang ein Aufgeben war - Aufgeben von grenzenloser Seligkeit und vollkommenem Glück -, damit wir unser arg begrenztes Glück mit den völlig bedingten Habseligkeiten aufzugeben anfangen, dann muss sich etwas bei uns verändern.
Jesu Armwerden, Seine Armut will uns ja bereichern, sagt Paulus, … was aber bedeutet, dass wir unsern uns verarmenden Reichtum auf welche Weise auch immer loswerden müssen.
Wir müssen loswerden, was hier unser lästig-lächerlicher Reichtum ist, um in dem anderen Stand - dem Stand, der kommt - in ganz anderer Hinsicht frei und dann mit ganz anderen, ganz anders herrlichen Gaben begnadet sein zu dürfen: … Glaube, zum Beispiel, oder Hoffnung … und Liebe!
Nun hab’ ich im Seminar „Klassenkampf predigen“ nicht gut aufgepasst, und revolutionäre Taktiken oder moralische Traktate zu den Wegen, die wir alle aus unserm Reichtum zur befreienden Armut Jesu gehen müssen, richten in der Theorie nichts aus.
Dass der Wohlstand, wo wir ihn haben, nur in Verbindung mit dem Anstand vertretbar ist, nur also als die berühmte Verpflichtung auch auf das Wohl der Allgemeinheit, als die das Grundgesetz das Eigentum bestimmt, das ist keine politische Rede, sondern ein schlicht weihnachtlicher Grundsatz, eine unmittelbare Konsequenz der Inkarnation, so wie wir sie bei Paulus schnörkellos erklärt fanden:
Christus wurde nicht bloß Mensch wie wir, sondern darin wurde Er für uns auch das, was wir noch nicht sind und doch sollen.
Er wurde es aus Seiner Freiheit. Einer Freiheit, die Ihn auch so unabhängig und unbeeindruckt von den Größen und Werten machte, die wir sonst so wichtig nehmen und hochschätzen.
Vielleicht ist es aber ein guter erster Schritt auf dem Weg zur unerschöpflichen Armut Jesu, wenn wir Ihn heute noch einmal als Kind vor uns sehen.
Was brauchen Kinder schon?
… Materiell kaum etwas. Und wenn, dann zum Spielen.
Wenn wir nun uns und unsere Habe, uns und unser Gehabe einfach dem spielenden Kind Gottes zur Verfügung stellten, wären vielleicht die ersten Schritte auf dem Weg zur Freiheit auch für uns leichter, als wenn wir gleich das Ende unserer Wirtschaftsordnung besiegeln müssen …
Wenn wir uns und das Unsrige nur in dem heiter-amüsierten, wenn auch distanzierten Licht sähen, in dem Jesus später auf uns Reiche blickte, die wir so dumm sind, Schätze zu schätzen und zu sammeln, die von Rost und Motten zernagt und von jedem Dieb davongebracht
werden können (vgl. Matth.6,19f!).
Wenn wir dann vielleicht lachten über das, was wir nötig finden, obwohl es so ganz das Gegenteil ist.
Wenn wir auf diesem Weg dann freier würden, lockerer, lustiger.
Ich habe uns deshalb heute ein Arme-Leute-Spielzeug hier auf den Tisch gestellt, das nicht nur wegen E.T.A. Hoffmanns Erzählung und Tschaikowskis Ballett in die Weihnachtszeit gehört:
… In der Gestalt eines Nussknackers haben die kleinen, die armen Leute immer schon den belustigten Blick auf die Großkopferten gefeiert. … Die das Maul so weit aufreißen und es selten voll genug bekommen. Indem sie dem Nussknacker die schneidige Uniform des strammen Militärs oder den Kopfputz und pompösen Zwirbelbart des Monarchen andrechselten, haben die erzgebirgischen Handwerker und ihre Nürnberger Vorgänger gezeigt, wozu die Mächtigen, die Großen und Reichen auf Erden in ihren Augen und Händen gut sind: Sollen Sie - die Maulhelden - sich doch an dem, womit ihnen das Maul gestopft wird, die Zähne ausbeißen. Und für die Armen die harten Nüsse aufbrechen. So nutzen auch sie etwas.
In der Gestalt des Nussknackers haben die armen Leute also immer schon den weihnachtlichen Standes- und Herrschaftswechsel (vgl. EG 27, 3 +4!) ganz praktisch begriffen und ergriffen: Dass der Höchste für die Kleinen zur Hilfe und zum Segen wird. Dass die einfachen Menschenkinder Den bewegen und Gutes durch Den gewinnen, Der ihnen so unerreichbar fern in Seiner hohen Entrückung war.
Der Nussknacker, in dem die eine Seite ganz unwahrscheinlich für die andere sich einsetzt, so dass nachher nicht mehr ist, was vorher war.
Fangen wir doch vielleicht auch einfach damit an, …. mit dem Nussknacken.
… Den Hungrigen die Schale aufzubrechen.
Wenigstens dazu können wir gut sein: Dass wir wie das Spielzeug mit unseren Mitteln und Eigenarten helfen, dass Menschen kriegen, was ihnen sonst nicht zugänglich wäre.
Es wäre anständig von uns, wenigstens als Nussknacker zu wirken.
… Und vielleicht geht ja auch unsere harte Schale dabei auf und wir kommen hervor und sind Jesus näher und ähnlicher und menschlicher, als wir es je waren.
Beim Lied jetzt – dem herrlichen, weihnachtlichen, unser Mund auf Nussknacker-Maße weitenden „Gloria!“ (EG 54) – können wir es üben!
Amen.
[i] Max Webers religionssoziologische Studie von 1905 über „Die protestantische Ethik und de[n] Geist des Kapitalismus“ dürfte eine der fruchtbarsten Fundstellen für sinnvolle und unsinnige, kapitalismus-affine christentumskritische (und umgekehrt) Zitate, Systeme und Vorurteile sein. Lesenswert, heuristisch anregend, eye-opening und bestreitbar bis heute. Die Beweislast, die die allzu oft verkürzten und einseitigen Rezeptionen weltanschaulich diametraler Interpretation („Kapitalismus ergibt sich zwangsläufig aus dem Calvinismus“ / „Das reformatorische Christentum ist schuld an der materialistischen Wende in Produktions- und Konsumbedingungen des Westens“) ihr aufbürden, kann sie allerdings keinesfalls tragen.
[ii] Alexandrien steht (vergröbert) für die „hohe“ 2-Naturen-Christologie, Antiochien für Tendenzen einer jeweiligen Vereinseitigung der menschlichen, bzw. göttlichen Person in Jesus Christus, römische und gallische altkirchliche Theologie hat gesunde Mittelwege beschritten und bewahrt und die Väter der griechischen Welt – besonders Basilius die beiden Gregor (von Nyssa und von Nazianz) – haben eine wunderbar durchgeistigte, poetische Christologie, die eben auch den allzu oft vergessenen Heiligen Geist integriert, beigesteuert, bis endlich im 5. Jahrhundert das bis heute maßgebliche Dogma allgemeine Anerkennung fand. Wie schön und wie entscheidend dieses Dogma ist, wird bei uns allzu oft verleugnet und vergessen. Weihnachten bringt es aber zum Glänzen!
Fest der Geburt des Herrn / 1.Christtag, 25.12.2023, Stadtkirche, 2.Mose 2, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 25.XII. 2023 – Tag der Geburt des Herrn
2.Mose 2, 1- 10
Liebe Gemeinde!
Babysitten wir doch ein wenig an den beiden sonderbaren Kinderbettchen, die uns das Neue und das Alte Testament heute hier auf der Neugeborenen-Station der Bibel zusammenrücken[i]: Ein Trog, ein Korb, in denen sich Lebendiges regt. Zwei Behältnisse, die eigentlich Lebensmittel fassen wollten, müssen heute das Leben selbst aufnehmen: … Aufregend und ergreifend wie immer, wenn in einer tödlichen Welt ausgerechnet das Schwächste - die handlungsunfähige Hilflosigkeit - sich gegen Schmerzen, Gefahren und Widerstand durchsetzt.
Jede Geburt lehrt uns ja dieses Wunder gegen alle Wahrscheinlichkeit: Was sich nicht verteidigen und nicht wehren, ja, was sich nicht einmal durch Reaktionsgeschwindigkeit oder Flucht entziehen kann - Säuglingsleben -, wird dennoch gegen erdrückende Kräfte bewahrt. Kinder werden geboren, obwohl so viel dagegenspricht.
Kinder werden geboren, auch wenn die physischen und psychischen, die politischen und praktischen Umstände es überhaupt nicht denkbar erscheinen lassen.
Kinder werden geboren: Und Gott hat nichts Theoretisches damit zu tun.
… Kinder werden geboren, … und wir könnten Ihn erkennen!
Und darum babysitten wir hier, wie es die Christenheit seit sie Weihnachten feiert getan hat: Das Weihnachtsstaunen, das menschliche Verwundern über das unbeschreibliche Allerweltsgeheimnis unseres irdischen und ewigen Lebens macht auf eine Weise andächtig und empfänglich, dass es immer schon ein Bedürfnis war – und nicht nur in den kinderlosen Frauenklöstern des Mittelalters –, sich in meditativer Versenkung oder bäuerlicher Unmittelbarkeit, in sentimentaler Ergriffenheit oder sogar in abstrakter Spekulation einfach bei dem neugeborenen Kindlein an der Krippe einzufinden und zu verharren. Alles klärt sich ja schließlich, wenn man so einfach nur auf Atemzüge an einer Wiege lauscht; und alles wird unglaublich surreal, wenn man in der leisen Wache an einem Bett erfährt, dass nur diese winzigen Bewegungen der Luft in zwei kleinen Lungenflügel und das oft beinah unmerkliche Pochen im fast noch durchsichtigen Brustkorb das Leben darstellen?!
Die Kirche hat in ihren Wachen, ihren Vigilien, ihrem weihnachtlichen Babysitten also gewiss viel gelernt: Wie kostbar und seltsam es ist, Mensch zu sein … das Wesen, das anders als Flora und Fauna von Natur aus weder Wurzeln noch Waffen hat, sondern nur dank gezielter Zuwendung leben kann.
Die Kirche hat an der Krippe sicher auch gelernt, wie heilig alles Bedrohte und Abhängige an sich schon ist: Hat doch Gott nicht umsonst gewählt, Sich in dieser ganz unvermuteten Gestalt auszuliefern. … Allmacht wird auslöschbar, wenn sie Liebe ist.
Und noch eins muss die Kirche in ihren dunklen Stunden am Kinderbett, im Leuchten eines neuen Sterns über den alten Schicksalen der Erde ja ganz bestimmt gelernt haben: Dass die Anfänge aller Wege Gottes schwach sind. Dass sie dauern. Dass Geduld und Zittern, Hindernisse, Aufenthalte, Umwege nicht dagegen sprechen, sondern geradezu bestätigen, dass Gott in der Wirklichkeit und nicht im Traum Seine Ziele für uns und mit uns verfolgt.
Darum sitzen wir heute Morgen, nach einer heiligen und unter allen Kriegen und Katastrophen an dieser umgewidmeten Krippe dennoch fröhlich verbrachten Nacht immer noch hier als die Babysitter des Heils.
Vielleicht sind die vielen anderen jetzt eingeschlafen, die am Anfang der beiden Kinderleben standen, die wir hier gemeinschaftlich hüten: Die hebräischen Hebammen, von denen die Bibel bis heute zu ihrem Gedächtnis berichtet, was sie an den zum Genozid freigegebenen Säuglingen der Sklavinnen in Ägypten taten (vgl.2.Mose1,15ff), … sie werden nach den vielen Nachtschichten, in denen sie heimlich Leben retteten, müde sein; und auch die gläubige und die ungläubige israelitische Hebamme, die das legendarische Jakobusevangelium in der Höhle von Bethlehem der Jungfrau beistehen lässt[ii], müssen das Wunder, das sie erlebt haben, in tiefem Schlaf verarbeiten. Und Maria schläft hoffentlich auch ein wenig, und Josef. Und die von Sorgen zerrissenen Amram und Jochebed, vom Stamme Levi (vgl.2.Mose6,20), die Eltern des nur durch Aussetzen zu rettenden „feinen Kindes“, die der Kummer zutiefst ausgelaugt hat, sind traumlos erschöpft. Und selbst die erste Maria - oder Miriam - in Ägypten, die so furchtlos wie nur ein ganz unverdorbener, junger Mensch sein kann, … die so furchtlos wie ihre Namensschwester aus Nazareth dafür gesorgt hat, dass ein Kind, das Gott dringlich brauchen wird, auch wirklich überlebt und leben darf, … selbst sie muss die Augen geschlossen haben und ruhen.
Nur wir sind zwischen Korb und Trog jetzt wach. Und wollen die beiden hüten, … den Mosesknaben und das Jesuskind.
Man hat sie immer in enger Verbindung zueinander gesehen, diese Beiden, die den Willen Gottes und Seine Wege so vermittelt, so gewiesen haben, dass für Israel und alle Völker Licht und Recht (vgl. 2.Mose 28,30) aufstrahlen, an denen man sich orientieren und durch die man Gottes Ziel mit der Welt erkennen und erstreben kann.
Wenn wir aber mit der einen Hand das Körbchen schaukeln, in dem der drei Monate alte Mose gurgelt und juchzt, und mit der anderen im Futtertrog sanft wie die Hirten den Säugling streicheln, dessen Geburt wir gerade begehen, dann wird es uns zwischen den Schulterblättern vielleicht auch kühl.
… Sind sie wirklich gut aufgehoben bei uns: Der, der die Vorhut aller Gequälten auf dem Weg in die Freiheit war und das Bündel Hunger und Durst, in Dem wir den großen und ewigen Menschenhüter erkennen?
Sind wir gute Kinderhüter an Gottes statt, ja an der Seite Gottes?
Wenn wir auch kein Pharao, kein Herodes sein mögen: Kinder wie diese beiden - Kinder der Not, Kinder der Flucht - wollen wir in Wirklichkeit ja nicht so häufig bei uns wiegen.
Und es stimmt natürlich, dass die schrecklichen und gefährlichen und sinnlosen Fluchten aufhören müssen und dass das Entvölkern ganzer Landstriche und die trügerischen Träume der Armen von nicht versiegenden Quellen andernorts Elend bedeuten.
Aber neben und gegen diese großen, dürren Richtigkeiten treten die kleinen Kinder, die menschliche Eltern zu allen Zeiten immer schon um beinah jeden Preis vorm Verderben retten wollten. Und darum kann die Kirche, die zu Weihnachten den kleinen König Israels und Herrn der Welt babysitten darf, nur eine einseitige, praktische „Stall-von-Bethlehem“-Haltung haben. Auch wenn alle Welt dicht macht und abwinkt, so haben wir Gott doch tatsächlich in einem Viehtrog gefunden, und darum bleiben wir bei unsrer Arme-Leute-Moral angesichts der Mengen Menschenkinder: „So viele wie nun einmal kommen, so viele Mäuler wird Gott auch zu stopfen helfen.“
……. Wir haben’s beim Kindelwiegen in der allerersten weihnachtlichen Notunterkunft so gelernt: Raum in der Herberge muss sein, weil Gott zwar vielleicht nicht immer viel von uns will, … aber einen Korb, einen Trog, eine Ecke für das Leben will Er haben, … damit Er lebt und wir auch leben können!
Und noch eins sollten wir an diesem Weihnachtsfest, das zum ersten Mal in der Geschichte der Kirche eine Doppelgeburtsfeier sein will, ganz schlicht begreifen: Wie Moses und Jesus – die vollkommen rechtlosen Objekte pharaonischer und römischer Herrschaftsansprüche –, so sind unzählige namen- und perspektivlos Ohnmächtige unsere Zeitgenossen, … und die Geschichte des Reiches Gottes ist ihre Geschichte, … nicht also das, was uns die Tage und die Nächte so finster macht: Die grauenvollen Gewaltorgien und die ebenso grauenvollen Grabenkämpfe von Überfällen und Terror, von Krieg und Kampfhandlungen. Zwar scheint die Erde wieder ganz in den blutigen Bann der Bestialität geraten zu sein, die die schärferen Klauen, den erbarmungsloseren Biss und das Leitwolf-Gehabe im Rudel zum Maßstab macht.
Aber heute ist nicht Herrscherhuldigung oder Diktatorentriumph, sondern das Fest der bedrohten Kinder, die mithilfe eines Esels und eines Binsenkörbchen jeweils von einem Mädchen namens Miriam vor den Mächtigen ihrer Zeit beschützt wurden und deren Wirkung und Wirklichkeit doch viel, viel größer und wichtiger sein sollten, als es bei einem Ramses oder Nero, einem Robespierre oder Napoleon, einem Putin oder Netanjahu oder einem Hamas-Mörder je der Fall war oder sein wird:
Weil das Kind, das Miriam auf dem Wasser in Sicherheit brachte, durch Exodus und Torah die Verheißung von Freiheit und Recht in die Welt trug.
Und das Kind, das Maria in einer Höhle allen schenkte, die es als Weg des Lebens und Sieger über den Tod annehmen wollen, Gnade und Frieden in himmlischem Überfluss ausbreiten wird.
Diese Freiheit und dieser Frieden aber, so wie sie heute hier in Korb und Trog liegen, sind das, was die Welt braucht, wovon sie lebt und wodurch sie gerettet werden wird. —
Wenn wir in dieser Morgenstunde also den kleinen Herold der Freiheit und den Friedefürsten vor Augen haben und sie in unserer Vorstellung hüten dürfen, dann sehen wir die Zukunft der Welt vor uns. Und obwohl wir dazu weit zurückblicken ins römische Juda und an die Ufer des Nils in der Zeit pharaonischen Glanzes, und obwohl das unsagbare Leid der Kriege und Greuel dieser Tage wie ein schmutzig-trüber Schleier über allem liegt, woran wir uns freuen und erbauen wollten am Christfest, sind die beiden gefährdeten und doch nicht ausgelieferten Kinder wahrhaftig die gültigste Hoffnung, die wir haben können.
Denn die tiefste Einigkeit, die diese beiden Kindheitsgeschichten des einen und des anderen biblischen Retters miteinander verbindet, ist ja die, dass die Retter als Gerettete ihr Leben beginnen.
Der Mann, der den Exodus Israels aus der Unterdrückung anführte und Der, Der die menschliche Versklavung unter die Sünde und die Fesseln des Todes lösen sollte, sie sind beide bereits in den Anfängen ihres Daseins nicht in paradiesischer Sicherheit und märchenhafter Unschuld gewiegt worden, sondern wurden hineingeboren in den Malstrom der Geschichte. Ihre Geburt war jeweils so wunderbar, wie jede menschliche Geburt gegen die Lebensgefahr es ist. Sobald sie aber geboren waren, befanden sich beide schon in äußerster Todesgefahr.
… Und diese Tatsache, dass Gott Seinen Freund Moses (vgl. 2.Mose33,11) und dann auch seinen geliebten Sohn nicht in harmloser Weltfremdheit, sondern in Druck und Drangsal zur Welt kommen ließ, lässt uns instinktiv spüren, was es mit der Rettung auf sich hat: Sie ist Gottes unmittelbares, ja Sein ganz ureigenes Anliegen!
… Gott nimmt kein Privileg für sich in Anspruch, keine Schonung oder Sonderbehandlung, sondern teilt das Los aller Gefährdeten und Bedrohten, … aller, die gerettet werden müssen!
Dass Er rettet, geschieht also nicht als Zugeständnis oder mit Unwillen, als wäre es etwas Unnötiges, dass wir auf Sein Eigreifen angewiesen sind, wenn wir in unserer gegenwärtigen Erfahrung an die Grenzen des Menschenmöglichen stoßen und oft genug nicht zu erkennen oder zu sagen vermögen, wie die verhängnisvoll aussichtlosen Horrorszenarien, für die die Leiden in der Ukraine und Gaza nur stellvertretend stehen, denn zu etwas Gutem gewendet werden könnten.
Gerade die lebensnotwendige Rettung der Menschenretter Gottes, gerade die weihnachtliche Urerfahrung, dass alles nur anfangen und weitergehen kann, wenn es als Rettung geschieht, verbindet uns mit den beiden Kindern, die wir an diesem Tag „betreuen“ dürfen, … und zwar in des Wortes wirklichster Bedeutung:
Unsere Treue zu diesen beiden, zum kleinen Findelkind der Pharaonentochter und dem kleinen Flüchtlingskind, das an Marias Brust dreizehn Jahrhunderte später sich wiederum nach Ägypten retten musste, … unsere Treue zu diesen Kindern ist lebenswichtig für sie und für uns, wenn sie uns - wie heute - so unmissverständlich vor Augen stellen, was ihre neugeborene Schutzlosigkeit uns predigt: WIR BRAUCHEN RETTUNG … UND GOTT BRAUCHT SIE AUCH!
… Gott, der Herr, der Heiland, der Heilige … Gott braucht Rettung!?!
Das sagt uns der Weihnachtstag mit den beiden hilflosen Kindern, durch die im Alten wie im Neuen Testament das Heil beginnt.
Gott braucht uns: Dass wir Ihm die Treue halten, dass wir Ihn nicht vernachlässigen oder verlassen, dass wir bei Ihm bleiben, um des Wunders des Anfangs willen … und damit wir die Wunder der Zukunft mit Ihm erleben und erlangen.
Wenn wir also den kleinen Mose auf seinem gefährdeten Weg ins Wasser, das ihm das Leben rettete, jetzt vor uns sehen, dann sind wir gefordert, dass wir seinen Weg der Gerechtigkeit und sein Volk Israel - das es sich und uns heute so schwer dabei macht - in seiner Gefährdung nicht verlassen. Denn überall, wo das Volk Israel verlassen wurde und wird, da wird auch der Gott Israels verlassen. … Wer wüsste das besser als wir?! —
Hüten wir also den, der Israel und uns die Freiheit und die Gebote Gottes brachte, und halten wir damit Gott selbst die weihnachtliche Treue in Seiner eigenen Kindergestalt! … Denn auch das Kind in der Krippe, das zum Mann am Kreuz und zum Sieger über das Böse und die Vernichtung werden sollte … auch dieses Jesuskind, dieser neugeborene Versöhner der Welt wird ja geistlich und praktisch so gänzlich verlassen in unserer Zeit, dass es zum Fürchten ist!
Wir aber - Seine Babysitter, Seine Betreuer, Seine Treuen - … wir wollen Ihn hüten und halten von ganzem Herzen und mit allen unseren Kräften!
Wir wollen Acht auf Ihn geben, Den so viele heut her- und aufgeben!
Wir wollen das Wunder bewahren, das Er bedeutet:
Gott wird geboren, obwohl so viel dagegenspricht.
Gott wird geboren, auch wenn die physischen und psychischen, die politischen und praktischen Umstände es überhaupt nicht denkbar erscheinen lassen.
Gott wird geboren: Und wir haben nichts Theoretisches, sondern Praktisches damit zu tun.
… Gott wird geboren, … und wir sollen Ihn erkennen!
So wie Er sich uns schenkt, so wollen auch wir uns Ihm mit Leib und Seele geben: Weil Er uns braucht, wie wir und die Welt Ihn! ——
Weihnachten mit den zwei rettungsbedürftigen Kindern, die unsere Retter vor Unrecht und Unheil, vor Sünde und Tod werden, schenkt uns also wirklich die Gnadengabe und stellt uns zugleich mit allem Ernst die Aufgabe, dass wir sie wahrhaftig behüten und bewahren, die uns die Wahrheit und das Leben schenken.
… Dass wir Gott behüten, den rettenden Gott, Der auf uns wartet!
Kommen wir also zu Ihm in den Dienst des Hütens und der Treue und bringen Ihm und schenken Ihm, was Er Selber uns gegeben hat in Körben und Trögen, in Atomen und Galaxien, in Einzigartigkeit und Unbegrenztheit (vgl. EG 37,4): Geben wir Ihm Leib und Seele, Vergangenheit und Zukunft, Zeit und Ewigkeit.
Alles, was Er braucht.
Alles. Weil Er’s braucht.
… Wie wir.
Amen.
[i] Die Perikope 2.Mose 2, 1-10 ist bei der Reform der Perikopenordnung für den 5.Jahrgang neu unter die Predigttexte des Christfestes aufgenommen worden. Noch nie ist also an diesem Tag in der Kirche verbreitet über diesen Text gepredigt worden!
[ii] Diese apokryphen Hebammen, die ein Moment des ungläubigen Thomas auch schon in die Geburtsgeschichte eintragen, begegnen in der Kunst der Ost- und Westkirche häufig. Das Beharren der Salome genannten Hebamme darauf, dass sie die undenkbare Geburt aus der Jungfrau handgreiflich nachprüfen will, steht im Dienst des marianischen Glaubens der alten Kirche. Grundlage der Legende ist u.a. das sog. „Protevangelium des Jakobus“, das spätestens auf das 4.Jahrhundert zurückgeht. Vgl. die Übersetzung in: Neutestamentliche Apokryphen, hgg. v. Wilhelm Schneemelcher, I.Band: Evangelien, Tübingen 19875 S. 346. Der ungläubigen Hebamme verdorrt die Hand, mit der sie die Untersuchung an Maria vornahm, aber sie betet um Vergebung („Gott meiner Väter, gedenke meiner; denn ich bin Abrahams, Isaaks und Jakobs Same …“ [aaO, S.347]) und sie darf „gerechtfertigt aus der Höhle hinausgehen“ (ebd.). Dem Protevangelium des Jakobus verdankt übrigens das in unserer Gemeinde so beliebte Lied Oskar Gottlieb Blarrs von der „Höhle zu Bethlehem“ (EG 547) die historisch gewiss zutreffende Lokalisierung der bethlehemitischen Viehunterstände in den Grotten um die Siedlung.
Christmette, 24.12.2023, Weihnachtspredigt, Stadtkirche, Jenny Müller
I
Lk 2,11 „Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“
Heiland, du versprichst uns Heil und schenktest uns Land.
Doch wo ist heute dieses Land?
.. in dem Milch und Honig fließen,
oder Bäume der Erkenntnis sprießen,
oder wo Menschen nur Menschen sind und keine Riesen.
Ein Land, das du uns doch versprochen hast.
Doch ich sehe dort nur Hass- Und hier:
Hier, Angst, die sich in Hass verwandelt und mit Fremdenfeindlichkeit anbandelt,
Menschen, die auf dunklen Spuren wandeln-
und egoman handeln.
So sagen viele in diesen Tagen:
Gott, Wer bist du denn? - Ich brauch dich nicht;
wer sollst du sein? - Ich kaufe nichts.
Die Welt, brennt und lodert. Du feiner Geist, wo bist du nur?... und in mir brodelt‘s.
Wenn du da bist, wenn‘s dich gibt, so tu doch was, in diesem Augenblick.
Der Zweifel: Der steigt, wächst ab und zu über deine Herrlichkeit.
Und so wird die Welt immer kälter, obwohl sie stetig wärmer wird.
Die Welt geht vor die Hunde, Katastrophen ziehen ihre Runden, Diktatoren lecken ihre Wunden.
Und dann heißt es in der wunderbaren Weihnachtsnacht: (Lk 2,1)4
Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.
So sag wo ist dein Frieden auf Erden?
Wir sehen nur ein Kummer des Werdens- Nichts zum Ehren.
Als würde alle Welt wissen wie Krieg geht, aber nicht wie es ist, wenn der Hauch des Friedens weht.
Wo ist die Wahrheit, wo ist die Wärme und dein Licht?
Joh 9,5 „Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt“- hast du gesagt!
So mach doch dein Licht an und schau dir diese Welt doch an.
Sitzen hier und du verkündigst uns große Freud: Denn uns ist heut der Heiland geboren!
Ja, das ist ganz famos, sitzen hier wie jedes Jahr - doch fragen uns:
Ist es wirklich wahr? Wann wird der Himmel auf Erden wahr?
Wie es wohl war, in dieser Heiligen Nacht - und
was diese heute wohl noch mit uns macht?
Hat sie eigentlich noch irgendeine Macht?
Und bist du noch der, der über uns wacht?
II
Gott, wir fürchten uns in diesen Zeiten,
wollen so gerne, dass deine Hand uns leitet,
dass das Böse uns meidet,
dass deine Liebe in der Welt waltet.
Und dann, in dieser dunklen Nacht auf dem Felde, erhörst du uns:
Lk 2,9 „Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie.“
Erhörst uns - aus dem Nichts: Schaust du, Gott, uns mit deiner Klarheit ins Angesicht.
Schickst uns ein Zeichen in diese Zeit,
schickst uns ein Zeichen, da sich bei uns zu vieles aneinanderreiht- weil wir schlafen wie die Hirten in diesen Tagen, haben nichts Hoffnungsvolles mehr zu sagen,
sehend zu dir hoch klagend, anstatt dein Licht in die Welt zu tragen.
Wenn die Welt nach deiner Hoffnung schreit,
wenn du siehst dieses Leid- dann siehst du, wir sind für dein Wunder bereit.
Schickst uns heute deinen Engel, der da sagt:
Lk 2, 10,11 „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren.“
III
Fürchtet euch nicht- das ist leichter gesagt als getan,
doch Hoffnung vollzieht in uns leise ihre Bahnen
und so machen wir uns auf den Weg,
wollen‘s glauben, was da in der Krippe liegt.
Sind die Hirten in der Geschicht‘, eilen zum Kind,
legen dahin einen kräftigen Sprint.
Wollen des Engels Wort nach gehen- wollen unsere Er-Lösung wahrhaftig sehen:
Das Kindlein was uns angeblich alles gibt -was wir so dringend brauchen.
Doch um dies zu erkennen, ums zu glauben, trauen wir heute leider nur noch unseren Augen.
Wir stürmen hin in unserer Zeit,
drängen uns in der Wirklichkeit an Fakten, Wünsche und erkennen – leider nur diese Welt, die wir sehen können und benennen.
Doch ist das der Zauber dieser Nacht- können wir mit bloßem Auge sehen, was diese Nacht mit uns macht?
Ja, das Kind in der Krippe kann fesseln sprengen, uns lossagen von allen Zwängen, kann uns hören lassen seine Himmels-Klänge, kann uns befreien von dieser weltlichen Enge.
Doch muss ich dafür in die Krippe schauen,
muss in diesem Kasten nach ihm tasten und es anfassen?
Nein, ich muss mich einfach bezaubern lassen! - Inne halten und bei dir weilen, anstatt durch Raum und Zeit zu eilen.
Muss mich ergreifen lassen von deiner Kraft- ich höre sie in deiner Heiligen Nacht.
Denn ist es nicht gerade die Stille, die sie zur Heiligen macht?
„Stille Nacht! Heilige Nacht! Die der Welt Heil gebracht,..“
Doch wir in diesem stillen Raum-
können kaum halten, unserer Unruhe im Zaun- ist ja auch nicht gefordert im Jetzt und Hier.
Muss immer schneller werden, immer weiter, immer höher auf der Leiter.
Denn wer kann sich heut noch vorstellen, dass da was ist in dieser Nacht,
was auf uns wartet-
ein Wunder das hell erwacht und unsere bisherigen Grenzen zu Nichte macht.
Und so begeben wir uns alle auf unseren eigenen Pfad, schaufeln uns alle unseren eigenen Graben, der uns von dir trennt.
IV
So ist das Kindlein zu finden ist der heutige Preis,
unser Hauptgewinn,
doch der fordert von uns keinen Fleiß.
Kannst suchen, kannst fragen, kannst die Weisheit mit Löffeln gegessen haben, kannst der Beste sein und was wagen.
Doch finden wir es nicht unterm Tannenbaum, nicht in Geschenk-Verpackungen oder im Lichter-Traum.
Nein, das Kindlein bahnt sich seinen ganz eigenen Weg. Wartet schon auf dich, bevor du dich überhaupt bewegst.
Klopft an die Herzenstür- „mach auf die Tür, die Tor macht weit“- ich komme in Herrlichkeit.
Lass mich bei dir nieder, erfülle dein Herz, schenke dir Liebe und die Gewissheit, die dir sagt:
Ich ziehe mit meiner Gnade ein, sodass dir Freundlichkeit erschein. So dass mein Geist dich überall hinleitet, dass er dir und der Welt Heil bereitet.
So..
„Komm, o mein Heiland Jesu Christ,
Meins Herzens Tür dir offen ist.
Ach zieh mit deiner Gnade ein;
Dein Freundlichkeit auch uns erschein.“
V
So sprengst du uns, so erkennst du uns, so beschenkst du uns- wenn wir dich lassen, wenn wir glauben, hoffen und unsere Herzenstür dir offenlassen:
sprengst dann unserer Mauern, und unseren Verstand.
Hast uns erkannt: Unsere bittenden Hände und flehenden Knie.
Beschenkst uns und drängst alles Weltliche in uns an den Rand.
Doch! - nicht zu vergessen und nicht ganz vermessend:
Hast du uns auch ernannt,
hast uns auf deinen Namen gerufen.
Hast gesendet uns dies Zeichen, damit nicht nur ein bisschen Herrlichkeit vom Himmel fällt- nein, hast uns ernannt- denn deine Botschaft, hat Gewicht,
sie brennt in uns, führt uns zum Licht.
Dieser winzige Lichtstrahl da im Stroh- das kleine Kind bringt uns Hoffnung, Wärme und neues Leben- doch redet auch immer wieder davon sie weiterzugeben:
So seid nicht nur Hirten dieser Zeit, die davoneilen, ohne zu verweilen.
Seid keine Hirten, denn ihr seid voll Hoffnung für die Zukunft bereit, ihr seid nämlich mit dem Kindlein im Herzen vor Allem gefeit.
Seid wie die Engel unserer Zeit und verkündigt die große Freud!
So versteckt euch nicht im Hoffnungslosen, seid frohen Mutes auch wenn draußen die Welt am toben,
Lasst euch nicht von Dunkelheit ergreifen und alle diesen Zweifeln!
Denn seht ihr es nicht- heute Nacht, sein strahlendes Licht?
Seht wie schön sein Licht die Welt gemacht, seht wie Er über uns wacht,
seht was seine Liebe mit und in unseren Herzen macht!
Und so ist…(Ps 27,1) „Der HERR .. mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten?“
Und so bewege Gott der Herr unsere Herzen von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Amen.
Christvesper, 24.12.2023, Installation „Schattendasein“, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Bild/Installation „Schattendasein“ von Jens Henning -
Liebe Gemeinde,
Weihnachten ist ein Fest, das von Erinnerungen lebt, die buchstäblich über alle Sinne wachgerufen werden: das sind die Gerüche, der Duft von Tannennadeln und von Glühwein, da sind die Klänge vertrauter weihnachtlicher Lieder und Musiken, selbst das Frösteln beim Besuch auf dem Weihnachtsmarkt, beim Spazierengehen und gegen Ende des Gottesdienstes hier in der Mutterhauskirche gehört dazu. Und all die Bilder, die sich unseren Augen bieten: der Anblick von Kerzen, der geschmückte Weihnachtsbaum, die Krippe und ihre Darstellung auf unzähligen Bildern durch die Jahrhunderte. Maria und Josef mit dem Jesuskind, mit Ochs und Esel, Hirten und Weisen, Schafen und Kamelen und manch anderen Gestalten. Vertraute Bilder, die weihnachtliche Stimmung bringen, wie auch das Bild auf dem Liederheft. Wobei dieses Bild schon einen ersten Schritt zu einem neuen Blick auf Weihnachten darstellt: hat doch Josef dort das Kind auf seinem Arm und Schoß, während Maria in die Lektüre eines Buches (es soll natürlich die Bibel sein) vertieft ist.
Hier ein paar Reaktionen darauf:
Das soll ein Weihnachtsbild sein?
Also mir fehlt da etwas. Eigentlich die ganze Weihnachtsstimmung. Kerzen, Tannenzweige. Maria und Josef. Der Engel und die Hirten. Irgendwie alles.
Ich finde schon, dass das ein Weihnachtsbild ist. Das Kind in der Krippe sieht man sofort. Und das ist doch das Wesentliche an Weihnachten.
Mir gefällt der Lichtschein. Es erinnert mich an einen Sonnenaufgang. Die Sonne geht hinter der Krippe auf.
Aber irgendwie ist es auch nur wie ein Schatten. Ist es real? Machen wir uns da etwas vor mit Religion, mit Weihnachten und überhaupt?
Machen wir uns an Weihnachten nicht alle irgendwie etwas vor? Ich meine die heile Welt und so. Und anderswo ist Krieg.
Ich finde, Weihnachten ist ein sehr ambivalentes Fest.
Ich mag es einfach, wenn es an Weihnachten schön ist. Wenn der Weihnachtsbaum in der Kirche leuchtet und dann die Gemeinde singt „O du fröhliche“. Das erfüllt einen doch.
Es kann aber auch ganz anders sein: Für viele ist es der einsamste Tag im Jahr. Für den, der allein ist. Oder der jemand verloren hat.
Aber was hat das alles mit dem Bild zu tun? Ehrlich gesagt, berührt es mich nicht. All die Drähte und Spulen. Da hat einer lange gebastelt. Das Ganze ist mir zu technisch.
Wieso? Da trifft die 2000 Jahre alte Geschichte auf die Wirklichkeit heute. Gerade das finde ich spannend. Ein Weihnachtsbild ohne jeden Weihnachts-Kitsch.
Wenn jemand die Lampe vorne ausknipst, sieht man gar nichts mehr. Dann ist das Jesuskind an der Wand verschwunden.
Genau das ist es doch: Man glaubt daran, dann sieht man etwas. Den Friedensbringer, den Heiland. Wenn man nicht glaubt, dann bleibt das alles eine leere Hülse, Elektroschrott, der nichts bedeutet.
Mir gefällt dieser Gegensatz zwischen vorne und hinten. Vorne der Schrott. Aber dann wird etwas draus. Ist das nicht dieses „Gott kommt in die Welt“? Das heißt dann doch im Umkehrschluss: Schauen, wo überall Jesus steckt. Vielleicht ganz woanders als man sonst immer meint.
Aber die Botschaft von Weihnachten lautet: Jesus ist da! Auch wenn man ihn manchmal nicht so leicht sieht. Oder gar nicht. Aber hinter allem steckt er, finde ich.
Das gefällt mir jetzt: Man könnte das Bild unter zweierlei Blickwinkeln betrachten. Wenn ich es mit den Augen der Resignation anschaue, sehe ich nur Metallteile, die niemand braucht. Ist im Moment nicht vieles in der Welt so? Aber wenn ich auf die Welt mit den Augen der Hoffnung schaue, wenn ich mit Gottes Gegenwart rechne, dann kann da etwas entstehen, etwas Neues, etwas, dass klein beginnt und dann wachsen kann. Dann sehe ich das Jesuskind in der aufgehenden Sonne.
Anregung zu einem Gespräch über Weihnachten, das gibt dieses Bild auf jeden Fall. Und es lehrt uns, neu hinzuschauen – gerade weil es uns zunächst fremd entgegentritt.
Die Weihnachtskrippe mit dem Jesuskind ist zu einem Schattenriss geworden, der zu einem Zentrum der Ausstrahlung wird. Weihnachten als Überraschung: mitten aus scheinbar willkürlich angehäuften Gegenständen, aus Elektroteilen oder Elektroschrott wird die Krippe mit dem Kind sichtbar.
Auch die Farbgebung, das Himmelblau, auf dem die Konstruktion aufgebaut ist, ist bedenkenswert: sie kann dafür stehen, dass hier Himmel und Erde zusammentreffen. „Schattendasein“ hat der Künstler seine Installation benannt.
Es ist kein Bild, das für immer fertig gemalt und an die Wand gehängt werden kann.
„Schattendasein“ – diese Bezeichnung betrifft nicht nur den Schatten von Krippe und Kind, sondern das gesamte Werk.
Die Installation ist überhaupt nur dann als solche da, wenn das Licht leuchtet.
Ohne das Licht gibt es nur einen Haufen Elektroschrott auf einer blauen Platte, für den sich keiner interessieren würde.
Das Licht verändert alles.
„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. … Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben und die Herrschaft ist auf seiner Schulter.“ (Jes.9,1.5a)
So haben wir es vorhin in der Lesung aus dem Buch des Propheten Jesaja gehört.
Licht und Finsternis – das sind die großen kosmischen Stichworte der Weihnacht.
Kind und Krippe – das sind die irdischen Realitäten.
Wie lassen sich beide Ebenen so miteinander verbinden, dass Weihnachten mehr ist für uns als ein Event, das nur ein begrenztes Schattendasein in unserem Leben spielt, das aus und vorbei ist, wenn der Stecker der Tannenbaumbeleuchtung aus der Steckdose gezogen ist?
Was haben Licht und Finsternis und das Kind in der Krippe mit uns zu tun? Wo kommen wir vor?
Dass Jesus derjenige ist, der das Licht in die Welt gebracht hat, das ist allen, die mit dem christlichen Glauben groß geworden sind, fraglos klar. Und gerade an Weihnachten wird uns das alle Jahre wieder vor Augen gestellt.
Durch seine Hinwendung zu denen, die an den Rand ihrer Gesellschaft gedrückt werden oder wie es in der Sprache der Bibel heißt, in Finsternis und Todesschatten wohnen, hat Jesus Licht in ihr Leben gebracht. Er hat ihnen gezeigt, dass Gott für sie ein anderes, besseres Leben gewollt hat. Und selbst denjenigen, die sich selbst durch ihr Fehlverhalten, durch ihre Schuld ins Abseits, in die moralische Finsternis begeben haben, selbst denen hat er heimgeleuchtet, hat sie ins Licht der vergebenden Liebe Gottes, an einen neuen Anfang gestellt.
Kein Wunder, dass der Evangelist Johannes diesen Jesus zum Licht der Welt erklärte. Allerdings hat er damit auch einen Weg beschritten, der nicht unproblematisch ist …
Der dazu verführt, Jesus und den lieben Gott alles machen zu lassen. Jesus selbst hat diese Gefahr gesehen. In der Bergpredigt hat er es allen, die ihm zuhörten, gesagt, geradezu ins Stammbuch geschrieben: „Ihr seid das Licht der Welt.“…und „Lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, sie sollen eure guten Taten sehen und den Vater im Himmel preisen.“ (Mt.5,14-16)
Im Grunde genommen geht es den Weihnachtserzählungen von Lukas und Matthäus gerade auch darum: deutlich zu machen, dass das Licht, das im Leben von Jesus unauslöschlich aufgeleuchtet ist, ein Licht ist, das seitdem auf Wanderschaft ist durch die Zeiten. Es wäre erloschen, wenn es nicht weitergegeben worden wäre. Das Feuer der Liebe, das Licht des Lebens, es braucht keine Kandelaber, sondern Menschen, die sich anstecken lassen, die in die Dunkelheiten jeweils ihrer Zeit hineinleuchten, um es heller werden zu lassen in ihren Familien und Gesellschaften, um Gottes Wohlwollen und seine Freundlichkeit, seinen Lebens- und Heilswillen für alle seine Menschenkinder spürbar, erfahrbar zu machen – so wie Jesus es zu seiner Zeit getan hat.
Nun mag sich mancher hier fragen: Wie kann ich mich denn da mit Jesus vergleichen? Er ist doch unvergleichlich, der Christus, der Sohn Gottes? Wer bin ich denn schon?
Die Botschaft von Weihnachten sagt das unmissverständlich: Du, Mensch, bist sein Bruder, seine Schwester, du bist ein Kind Gottes, ein Sohn, eine Tochter Gottes wie Jesus von Nazareth. Du bist es von deinem ersten Atemzug an. So, wie er es gewesen ist. Mit dem Leben hat Gott dir die Gabe geschenkt, Licht zu sein, die Welt heller, schöner, gerechter zu machen. Alles, was nötig ist, liegt in der Krippe, im Kinderbettchen, in der Wiege schon bereit. Es muss nur zur Entfaltung kommen – im Leben eines jeden Menschenkindes. Das Licht der Weihnacht – ein Geschenk von Gott, das angenommen, ausgewickelt, gebraucht und weitergegeben werden will. Von jeder und jedem von uns.
Jesus von Nazareth ist uns darin ein leuchtendes Vorbild. Er hat uns ein Beispiel dafür gegeben, worum es im Leben geht: Sich nicht von allen Dunkelheiten lähmen zu lassen, zu resignieren angesichts von allen Schrecknissen und Schwierigkeiten, sondern einfach das Licht, das Gott jedem Menschenleben eingestiftet hat, leuchten zu lassen – mitten in alle Finsternisse. Wir werden die Finsternis nicht abschaffen, aber wir können die Wirklichkeit erhellen, das, was chaotisch daherkommt, so durchleuchten, dass Hoffnung auf einen Neuanfang aufscheinen kann. Das kann uns das Bild, die Installation von Jens Henning vermitteln. Und dazu passt ein Vers aus dem 2.Korintherbrief (4,6), wo es heißt:
„Gott hat einst gesagt:
Aus der Dunkelheit soll ein Licht aufleuchten.
Genauso hat er es in unseren Herzen hell werden lassen. Durch uns sollte das Licht der Erkenntnis aufleuchten:
die Herrlichkeit Gottes, seine Güte und Liebe,
sollte sichtbar werden, die uns im Christus Jesus begegnet.“ (Übersetzung Basis-Bibel)
In uns ist Licht. Es will in uns etwas aufleuchten, wie das Licht auf der Karte, in dem dann das Kind in der Krippe erkennbar wird. Wenn jemand die Lampe ausschaltet, ist es weg. Das könnte bedeuten: manchmal verliert man in der Geschäftigkeit des Alltags den Kontakt zur Quelle des Lichts, dann braucht es jemand oder ein Ereignis, etwas, das den Kontakt wieder herstellt. Das ist der tiefe Sinn von Weihnachten. Weihnachten erinnert uns an das Licht, das von Gott her in die Welt gekommen ist – durch Jesus hell aufgestrahlt ist und weitergegeben wurde bis in unsere Gegenwart.
Es ist gut, dass wir jedes Jahr daran erinnert werden: das Licht von Gott leuchtet in uns und will von uns weitergegeben werden, um so der Finsternis unserer Zeit entgegenzuleben, im Vertrauen auf Gott, der verheißen hat: Siehe, ich will ein Neues schaffen. Jetzt wächst es auf, jetzt kommt es in dir zur Welt. (Jes.43,19)
Amen.
Christvesper, 24.12.2023, Stadtkirche, Lukas 2, 15 - 17, Pfr. Dr. Uwe Vetter
Heiligabend 2023
17.30 Uhr Christvesper Kaiserswerth
Predigttext LukasEvg 2 : (8-20) Verse 15 und 17
Propheten-Lesung Jesaja 65, 17-25
Predigt Uwe Vetter
Bei den Hirten in Hongkong
Lukas 2 (8) Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. (9) Und des HERRN Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des HERRN leuchtete um sie, und sie fürchteten sich sehr . (10) Und der Engel sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. (11) Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. (12) Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“ (13) Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: (14) „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen Seines Wohlgefallens“. - (15) Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: „Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der HERR kundgetan hat“. (16) Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. (17) Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kind gesagt war. (18) Und alle, vor die es kam, wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. … (20) Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.
Was haben die Hirten gesehen? Wir wissen, irgendetwas haben sie gesehen, an Heiligabend, ´zu Bethlehems Stall`. Etwas hat gemacht, dass sie ihre Herde verließen und die Hürden überwanden (die uns hindern, am Gottesdienst teilzunehmen), dass sie sich auf den Weg machten, um persönlich dabei zu sein, zu Heiligabend in Bethlehems Stall. „Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der HERR kundgetan hat“ haben sie sich gesagt. Das müssen wir mit eigenen Augen sehen, was uns da in die Wiege gelegt ist, was da so große Freude macht, die allem Volk widerfahren wird. Sagten die Hirten. Und gingen los.
Folgen wir Ihnen, liebe Heiligabendgemeinde, unauffällig. - Aber bevor wir uns an ihre Fersen heften, rasch noch einen prüfenden Blick in den Spiegel: Warum haben wir uns heute Abend aufgemacht in die Kaiserswerther Stadtkirche, unserm Bethlehem-Stall? Warum lassen Sie Weihnachten nicht sausen, gehen auf Kreuzfahrt oder lassen sich unter Palmen verwöhnen im Dezembersommer irgendwo am Strand?
´An Heiligabend gehört Kirche einfach dazu`, werden Sie sagen. Nachmittags mit den Kindern zum Krippenspiel … das Christkindlhafte, und das Windelweiche… ich liebe es`. – Und ja, Sie haben Recht, auch das ist an Heiligabend eine der Sprachen Gottes, auch das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und Sie sitzen jetzt zur Vesper mit Streichquartett und Oboe in der Kirche,… die altvertrauten Weihnachtslieder singen, die Weihnachtsgeschichte hören – da erwacht, was mit uns selbst von Klein auf geschehen ist., „Lasst uns nun gehen nach Bethlehem,“ sprachen die Hirten untereinander, „und die Geschichte sehen, die da geschehen ist“.
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Also kommen Sie, folgen wir den Hirten. Bleiben wir dran und lassen sie nicht aus den Augen, jetzt, wo sie nach Bethlehem kommen. Denn ihnen passiert etwas, womit sie nicht gerechnet hatten. Eigentlich wollten sie Heiligabend nur mal das Christkind gucken und dann wieder heim, zurück an ihre (Küchen)Herde und Hürden. Doch während Heiligabend im Familien/Freundeskreis (unserer „Herde“) meist minutiös getaktet ist – Kirche, Bescherung, Essen, Christmette… haben die biblischen Hirten plötzlich viel Zeit. Irgendwas treffen sie dort an, das sie trifft. Statt nach Hause zu gehen, überkommt die Hirten ein unstillbares Mitteilungsbedürfnis. Sie müssen mit irgendwem reden, über das, was sie gesehen haben. Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kind gesagt war. Heut würde es heißen: Die Smartphones laufen heiß, da wird ge-signalt, ge-simst und ge-whatsappt, bis das Netz nachgibt. Die Hirten haben was erlebt, was sie irgendwem erzählen müssen, unbedingt.
Können Sie sich vorstellen, dass uns heute Abend etwas aus unsrer alle-Jahre-wieder-Routine holt und wir mit einem Mal alle-Zeit-der-Welt haben? Was verwandelt Menschen, die nichts andres wollen als im Gottesdienst singen und sagen hören, in Augenzeugen, die Aufregendes zu Protokoll geben? - Man müsste die Hirten fragen: Was ist los mit euch? Ihr seid ja gar nicht wiederzuerkennen! Was ist euch begegnet, in Bethlehems Stall?
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Liebe Heiligabendgemeinde, ich hab das einfach mal gemacht. Ich habe die Hirten gefragt. Ich hab mich diesen Herbst nach Hongkong aufgemacht. Ich wollte sehen, was los ist, was in diese Leute gefahren ist. Warum dort, im Schatten Chinas, in Hongkong, wo es gerade immer düsterer und dunkler wird, warum ausgerechnet dort so viele zu Christen werden und sich so auffällig benehmen. Ich habe an einer Theologischen Hochschule unterrichtet. Unter den studentes waren viele bereits gestandene Hirten, also Pastoren, die längst eine Gemeinde („Herde“) führten - in Hong Kong und Macao, in Myanmar in der Volksrepublik China. Was ist der Grund? fragte ich die Hirten dort, warum „kommen“ bei Euch so viele Menschen „zum Christus“ ?
Es ist wirklich kaum zu glauben: Nach Mao´s Kulturrevolution 1965-1976 gab es nur noch kleine Restbestände von Kirche. Doch seitdem hat sich die Zahl der Christen vervierzigfacht.[1] Heute gehen dort sonntags mehr Menschen zur Kirche als in sämtlichen Ländern Europas zusammen.[2]
Obwohl „Kirche“ dort nicht bequem ist. Der „Stall zu Bethlehem“ dürfte mehr Sterne gehabt haben als die meisten Adressen dort.[3] Um der Partei-Kontrolle zu entgehen, treffen sich in mainland viele in „house churches“, in Privatwohnungen, Hinterzimmern, Fabrik-Cafeterien und unter freiem Himmel. Ohne Kirchgebäude, ohne Mitgliederkartei sind Christen zwar nicht „underground“, aber schwer zu fassen. Eine Laienkirche ist es, mit wenigen Pfarrern und notdürftig ausgebildeten Evangelisten. Man erzählt die Jesusgeschichte dem, dem man vertraut. Glaube wird von Freund zu Freund, von Kollegin zu Kollegin, von Schülern und Studentinnen weitergetragen. Jeder Getaufte ist beseelt von einer Mission. - Und das ist erstaunlich, denn Kirche wirbt mit einer Botschaft, die völlig irre klingt im geschäftstüchtigen Reich der Mitte(l): Christsein kostet mich was! Christsein kostet das Risiko, keinen Job beim Staat zu bekommen[4]. Christsein kostet den freiwilligen >biblischen Zehnten< (des Einkommens), den jeder ins Gottesreich investiert. Christsein bringt einen Wettbewerbsnachteil: Christen dürfen nicht betrügen im Brutalkapitalismus. Und der Sonntag ist nicht Tag der Arbeit und Geschäfte, am Sonntag formiert sich Gemeinde im Gottesdienst. 100 Millionen Christenmenschen, manche schätzen bereits bis zu zehn Prozent der Bevölkerung in Chinas Kirchen – ohne fremde Hilfe, ohne Werbeetat, ohne Handreichungen und Enzykliken, fast aus dem Stand.
…es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten ihre Herde des Nachts – …des Nachts, - ja so ist es: es wird mit jedem Jahr düsterer und dunkler. Die Hürden für freies Denken werden in Hongkong immer höher. So viele wandern aus, weil sie fürchten, dass der verordnete Nationalkunde-Unterricht ihren Kindern das Gehirn wäscht. Sie fürchten sich vor dem neuen „Nationalen Sicherheitsgesetz“, das Willkür Tor und Tür öffnet. Die Nacht ist vorgedrungen und greift um sich – wer das nicht merkt, muss naiv sein.
Ich habe die Hirten dort gefragt: Why do Chinese turn to Christ ? – Wen immer ich fragte, die gleiche Antwort: Well, they encountered Christ, sie sind dem Christus begegnet. Dem „Heiland“.
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° Der Heiland heilt, sagten sie, der Heiland heilt unsere alten Kernzellen des Lebens, die Familien. Die Kulturrevolution hatte die Familie zerstört. Kinder wurden gegen ihre Eltern gehetzt. Schüler verprügelten ihre Lehrer. Ehemänner zeigten ihre Frauen an. Ehefrauen ließen ihre Männer in Umerziehungslager schaffen. Niemand wagte mehr etwas zu sagen, ja nicht mal mehr zu denken. – Dann kam Kirche. Die Gemeinde ist Familie, Brüder und Schwestern, Väter und Mütter im Geiste. Hier vertrauen wir einander, sagten die Hirten.
° Und Christentum kennt Schuld und Vergebung. Im Alltag, sagten sie, gebe es wenig Raum für Schuldempfinden: horrende Umweltfrevel, Lebensmittelskandale, „Handgeld“ für Ärzte, wenn man eine OP im Krankenhaus braucht, das sei Alltag. Wer Beziehungen hat, darf alles. – Aber in der Kirche nennt Gott das Böse beim Namen, und sagt zugleich: Ich schenke dir die Kraft, anders zu sein. Sündige hinfort nicht mehr! - das ist … eine Gegenwelt, sagten die Hirten.
° Und diese andre Kultur scheint auch attraktiv für die muslimischen Hausangestellten, die zu Hundertausenden aus Indonesien nach Hongkong kommen. Die Christen sinds, die sich un sie kümmern. Die sie einladen, die ihnen Raum geben, damit sie nicht auf den Fußgängerbrücken in Pappkartons picknicken müssen. Von denen, die in den Kirchen eine Heimat auf Zeit finden, kommen immer wieder Musliminnen, die sich taufen lassen wollen. Aber das ist dann jedes Mal hart für sie. Wenn das rauskommt, werden sie aus der Familie ausgestoßen, enterbt, aus dem Dorf verbannt, müssen gehen, nur mit den Kleidern, die sie auf dem Leib tragen. – Warum um alles in der Welt tun die sich das an!? frage ich. Und die Hirtin (aus Saba, Borneo) antwortet: “Well, they encountered Christ. What can you do “. Was sollen sie machen, sie sind dem Christus begegnet.
Die Christengemeinde ist Freiraum, Raum der Freiheit, genau wie der Engel es angekündigt hat: Und der Engel sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! Siehe, … euch ist heute der Heiland/ d.i. „Befreier“/ geboren, welcher ist Christus, der Herr, …
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Liebe Heiligabendgemeinde, verzeihen Sie, dass ich Sie in so eine fremde Welt entführe. Aber manchmal braucht es das Fremde, um etwas zu erfassen, das so nah ist, vor unseren Augen: Weihnachten ist keine Geschichte, die irgendwann mal geschehen ist. Weihnachten geschieht jetzt, heute, in unseren Tagen. Der Christus kommt in einer Welt zur Welt, die geistig umnachtet wirkt wie lange nicht mehr. Der Christus ist in eine Welt geboren, die dachte, sie hätte Gott gegen ihre eigenen Idole ausgetauscht. Und da sagt die Weihnachtsgeschichte: Ihr habt keine Ahnung. Das Heilige ist mitten unter uns. Beugt. Euch nicht dem Dunkel! Sagt die Weihnachtsgeschichte. Macht euch nicht gemein mit dem Gemeinen. Das Licht ist auf dem Weg, und die Nacht muss, die Nacht wird weichen. Das ist das große Weihnachtsversprechen Gottes, an uns alle. - Wenn ich den Hirten (dort im Osten) zuhörte, wie sie von ihrem Glauben erzählten, dass das der „game changer“ war, wie eine Freilassung von Geiseln, dann fragte ich mich: Könnte es sein, dass wir im Abendland unser Christentum total unterschätzen? Ich frage mich, ob wir noch ahnen, was für eine Power hinter diesem Heiligen Geist steckt. Wenn man hingeht, sich drauf einlässt.
Und heute Abend höre ich die Weihnachtsgeschichte predigen: Folgt den Hirten! Folgt ihrem Beispiel! Lasst uns hingehen, sagen die Hirten, und einen Blick auf die Menschlichkeit Gottes werfen. – Und fürchtet euch nicht! Was ist denn so fürchterlich daran, wenn auch wir wieder anfingen andern weiterzusagen, was wir glauben?!
Amén
Fürbitten
Heiliger Gott und Quelle allen Lebens, in einer der dunkelsten Nächte des Jahres hast Du Dein Licht aufgehen lassen. In Gestalt eines Kindes hast Du aller Welt das Zeichen des Neuanfangs gesetzt.
Lass die Nachricht dieser Nacht auch uns erreichen. Stärke uns alle und lass uns finden, wonach wir suchen, wonach wir uns sehnen: Verständnis für unsere Schwächen. Vergebung für das, was wir schuldig geblieben sind. Trost, wo wir niedergeschlagen sind. Und Mut in allem, was uns Angst macht.
An diesem Abend, wenn wir an Deine Friedensverheißung erinnern, bitten wir für Menschen, die jetzt in Gefahr sind: die auf der Flucht sind vor Willkür und Gewalt, die keine Ruhe finden aus Angst um ihre Familien, die im Kriegsgebiet festsitzen, und die als Geiseln in den Tunneln hocken, ausgeliefert und nicht wissen, wie sie diese Nacht überstehen. HERR, setze dem Bösen eine Frist.
Wir bitten Dich für die Menschen unserer Stadt, für alle, die´s gut haben, aber denen die Festtage trotzdem schwerfallen: für die, die übers Jahr einen vertrauten Menschen verloren haben, wenn alles heute Abend daran erinnert, wie sehr er fehlt. Lass sie mit ihren Erinnerungen nicht allein.
Wir bitten Dich für Deine Kirche, in die wir getauft sind. Die Du mitnimmst in Deine Mission. Schenk uns eine neue Reformation. Verwandle Online-Christen zurück in Menschen, die hingehen. Mach aus Nutzern wieder Gläubige. Lass Menschen, in ihrer Meinung einpfercht, die Hürden überwinden und neue Erfahrungen machen. Lass uns am Ende zu denen zählen, von denen man sagen wird: „Dieser war auch mit Jesus von Nazareth“ (Mt26:71).
Wir bitten Dich für all jene, die heute einfach nur froh und ausgelassen sind: Behüte die Erwachsenen vor den falschen Themen. Bewahre die Kinder vor Überdruss und mach, dass niemand etwas Gezwungenes tun muss. Und erhalte allen, die gern leben, die Lebenslust.
Amén
[1] Eine Zählung im Jahr 1980, 5 Jahre nach Ende der Verwüstung, gibt die Christenzahl Chinas bereits wieder mit 3 Millionen an.
[2] Die kommunistischen Behörden, nach der Lehre Maos auf Atheismus eingeschworen, räumen heute zähneknirschend ein, dass es in den vom Staat kontrollierten Gemeinden mittlerweile 40 Millionen Christen gebe. Was sie verschweigen ist, dass dabei nur Erwachsene über 18 Jahren gezählt werden, Minderjähre mit Religion in Berührung zu bringen ist per Gesetz verboten. Und was sie vor allem verschweigen, ist, dass auf einen staatlich überwachten Christen vermutlich drei unregistrierte, illegale Christen kommen, die sich in Hausgemeinden zusammenfinden.
[3] Es gibt noch einige alte, imposante Kirchgebäude aus den Zeiten der Kolonien und der Missionsgesellschaften, die heute wir Fossilien, wie Zwerge in den Glasbetontürmen der modernen Innenstädte stehen, aber belebt sind vom geistlichen Leben der neuen Gemeinde. Es gibt die (mehr)Etagen-Kirchen in den kommerziellen Hochhäusern der Innenstädte, mit 1000 Plätzen und modernsten Tonsystemen, wo man sich in drangvoller Enge zu Gottesdienst und Gemeindeleben versammelt. Es gibt sogar einen Fall in der Provinz Guangzhou (Kanton), wo die egierung den Kirchen ein Grundstück für einen Kirchneubau gewährt hat und drauf besteht, dass dieses Kirchgebäude imposant sein müsse, weil die Regierung sich nur mit etwas Eindrucksvollem identifizieren möchte. Doch verglichen mit unserer europäischen Kirchlandschaft ist Christentum – aufs Ganze gesehen - im Stadtbild Chinas unsichtbar.
[4] Zum Universitätsstudium wird man von der kommunistischen Partei eingeladen, und man wird mit der Einschreibung an der Universität zum Parteimitglied, der Philosophie der atheistischen Doktrin unterworfen. Während Christentum andernorts geduldet wird, stehen Parteimitglieder gewissermaßen unter Eid und strenger Aufsicht, sich von Religion fern zu halten. Zuwiderhandeln ist Vertragsbruch. Entsprechend gehört missionarische Arbeit unter Universitätsstudenten zu den riskantesten Pastorenaufträgen im Lande. Die Gefahr von „IMs“, die sich in Gemeindekreise einschleusen, ist allgegenwärtig.
Schulgottesdienst des Suitbertus Gymnasiums, 20.12.2023, Stadtkirche, Weihnachts-Ansprache, Erik Heukelbach (Jahrgangsstufe 12)
Weihnachts-Ansprache von Erik Heukelbach (Jgst.12) nach dem Krippenspiel der Jahrgangsstufe 12 im Schulgottesdienst der evangelischen Schülerinnen und Schüler des Suitbertus Gymnasiums am 20.12.2023
Ich hoffe wirklich, euch hat dieses unkonventionelle Krippenspiel gefallen und ihr konntet zumindest etwas lachen. Das sage ich nicht, weil wir da alle viel Zeit reingesteckt haben, weil sich das anhören würde, als würden wir in unserer Einbildung irgendeine Art Dank erwarten, oder auch nur, weil mich irgendeine Kritik zu diesem schauspielerischen Meisterwerk wirklich interessieren würde, sondern weil es bei dieser ganzen Sache um ein zentrales Element geht: Freude.
Pure, reine Freude. Denn was ist Weihnachten sonst, als die Freude des ganzen Christentums über die Ankunft ihres Heilands, der ihnen als Licht in dieser dunklen Zeit erscheint?!
Und für alle, die jetzt beginnen, die Augen zu verdrehen und eine Sintflut prätentiöser biblischer Phrasen in Kombination mit Verweisen in die tiefsten Tiefen der Bibel erwarten, die kann ich beruhigen, denn mir geht es nur um den „Kern“ dieses Festes.
Die Geburt eines kleinen Windelpakets, was ein Licht in die damals dunkle Zeit brachte. Und auch wenn dieses Ereignis jetzt mehrere Jahrtausende zurückliegt, könnten wir auch heute noch diese Erscheinung gebrauchen.
Im Nahen Osten sprengt das israelische Militär den Gazastreifen in die Luft, in der Hoffnung eine Terrororganisation zu besiegen, während sie dabei auch noch unzählige Zivilisten umbringt, und man selbst ist in einem Schwebezustand der Meinungen zwischen „Gut, dass sie Terrorismus bekämpfen“ und „Zivilisten als Kollateralschaden sind inakzeptabel und das alles muss stoppen“ gefangen. Ein simplerer Fall ist der Ukraine-Konflikt, was diesen aber auch nicht einfacher macht, da er jetzt schon so lange geht, dass man sich schon so langsam fragt, ob man das nicht einfach mal ignorieren kann - und dadurch die Gefahr eines solchen Krieges im Angesicht der eigenen Ignoranz völlig aus den Augen verliert. Und selbst in den Gebieten, in denen nicht Krieg herrscht, gibt es Probleme. Die Ampelregierung stolpert von einer Krise in die andere, in ganz Europa haben rechte Parteien einen besorgniserregenden Erfolg, was wir hier auch an der AfD sehen. Flüchtlinge ertrinken vor den europäischen Küsten, während Rassismus in unserem Land wieder auflebt. Die USA stehen kurz vor einem neuen Bürgerkrieg zwischen Trumpisten und Demokraten, und als wäre all das noch nicht schlimm genug, zerstören wir bei dem allen noch still und heimlich unseren schönen Planeten, weil Klimaschutz ja nur schön ist, solange er nicht eigene Entbehrungen verlangt.
Angesichts dieser erschreckenden Anzahl an Krisen gehe man doch nicht falsch in der Annahme, dass es so langsam an der Zeit wäre für einen unserer heutigen Retter aufzutauchen. Ein Hightech-Billionär, der mit einem fliegenden Kampfanzug das Unrecht bekämpft, ein Baby vom fernen Planeten Krypton, das ohne Eltern auf dieser Erde ankommt oder der fleischgewordene Gott, der wieder auf die Erde zurück kommt, um uns durch seine Worte aus dieser misslichen Lage zu retten.
Stattdessen bekommen wir Weihnachten.
Ein symbolischer Geburtstag - denn der reale ist uns nicht bekannt - eines Mannes, der seit knapp zwei Jahrtausenden tot ist und dessen größte Tat doch technisch gesehen Ostern war, das Besiegen des Todes.
Warum also Weihnachten? Etwa weil es inzwischen in der westlichen Welt zu einem reinen Konsumfest wurde und das Christkind längst von einem adipösen Best-Ager von Coca-Cola verdrängt wurde? Oder weil die Zahl 24 einfach schön ist und man im Winter sowieso nichts Besseres zu tun hat, als sich im warmen Haus den Magen bis zum Erbrechen vollzuschlagen?
Oder steckt noch mehr dahinter?
„Wenn du keine Ahnung hast, was du schreiben sollst, mach doch einfach eine Analyse der Weihnachtsgeschichte“, war die Antwort, die mir eine sehr genervte Person auf meine Frage, was ich denn schreiben solle, gab. Gefolgt von der Betitelung der Vergabe dieser Predigt an mich mit dem eloquenten Wort „doof“. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt den Tipp für denkbar nutzlos hielt, scheint er jetzt sehr hilfreich. Wie kann man besser den Grund für die heutige Relevanz des Weihnachtsfestes herausfinden als mit einer Analyse des Ereignisses?
Ein Stern taucht auf in Betlehem und verkündet aller Welt von der Geburt Jesu und alle Welt strömt hin, um dieses Kind zu sehen. Die streikenden drei Hirten und die heiligen drei Könige. Aber warum tun sie das? Das Essen kann sie nicht angelockt haben, denn das gab es nicht. Ein Stall ist nicht die exklusivste Location, die man sich als reicher Gelehrter aussuchen würde Und nur wegen der bloßen Verkündigung eines Retters bewegt auch noch niemand seinen Hintern. Was also motivierte die Hirten, sich auf den Weg zu machen und die drei weisen Männer sogar noch, Geschenke mitzubringen?
Die Antwort ist relativ simpel:
Hoffnung.
Der simple Glaube, dass so etwas Kleines und - ich bin sicher - ziemlich laut Schreiendes die Rettung aus dunklen Zeiten und sogar den Sieg über den Tod bedeuten könnte, trieb diese Leute an, sich dieses Kind anzusehen. Dieses kleine, verletzliche und hilflose Kind und nicht den erwachsenen, den Tod besiegenden Mann. Die Hoffnung auf eine Erlösung genügte den Leuten damals, um diesen Tag zu feiern.
Und auch heute sollten wir genau das aus der Weihnachtsgeschichte mitnehmen. Dass egal wie dunkel die Zeiten sind, Weihnachten uns immer daran erinnert, dass es Hoffnung gibt. Egal ob für Menschen in der Ukraine, im Gazastreifen, für Hunger leidende Flüchtlinge oder einfach Menschen, die besorgt sind über das Schicksal unseres Planeten. Und vielleicht kommt die Hoffnung nicht in Form eines großen „S“ auf dem Kostüm eines Mannes aus Stahl oder durch einen besonders hellen Stern, aber es wird sie immer geben. Und sollten wir das je vergessen, wird Weihnachten uns jedes Jahr wieder daran erinnern, wie wichtig Hoffnung zu jeder Zeit ist.
Also nehmt diese Botschaft mit in die Feiertage und verliert nie die Hoffnung, denn sie ist immer da. Egal ob ihr sie in der Kirche, am eigenen Weihnachtsbaum, in der Familie, in der bevorstehenden Ferienruhe oder einfach in der Tatsache seht, ein weiteres Jahr ohne Nervenzusammenbruch oder Burnout überlebt zu haben. Solange ihr euch dieser Hoffnung bewusst seid, kann - egal was noch kommt - gar nichts so schlimm sein.
In diesem Sinne wünsche ich euch frohe Weihnachten, ein frohes Fest und schöne Weihnachtsferien.
Und jetzt wird gesungen!
3. Advent, 17.12.2023, Matth.11,2-6, Jonakirche, Daniel Kaufmann
„Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.“ (Matthäus 11,2-6)
Liebe Gemeinde,
Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie sich nicht ärgern. Nicht an den Politikern, auch wenn das zurzeit schwerfällt. Nicht an der Aussetzung des Klima- und Transformationsfonds, auch wenn das das persönliche Portemonnaie belastet. Nicht an den Doppel- und Dreifachwumms, der zu einer rhetorischen Luftblase zu verkommen droht. Nicht an den immer gleichen Mechanismen von Gewalt und Gegengewalt, die viel Leid und wenig Freude in das menschliche Leben bringen. Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie sich nicht über ihren Nachbarn ärgern, der die Mülltonne immer falsch rausstellt, die Zweige seines Apfelbaumes über den Gartenzaun hängen lässt, die Pakete so gut wie nie für Sie annimmt, die Rechnung für den Schornsteinfeger und die reparierten Dachpfannen bei Ihren Doppelhaushälften merkwürdig unsymmetrisch abrechnet. Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie sich nicht über die Work-Life Balance der jungen Generation ärgern, nicht über Ihren Kollegen und Ihre Kollegin, die aus unerfindlichen und überhaupt nicht nachvollziehbaren Gründen mehr Anerkennung und Beachtung erfahren als Sie. Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie sich nicht über gestiegenen Strom- und Gaspreise, nicht über die Energiekonzerne und Profitinstitute, nicht über die wieder angepasste Mehrwertsteuer in der Gastronomie, nicht über die teureren Lebenshaltungskosten ärgern. Herzlichen Glückwunsch auch, wenn Sie sich nicht über die in Misskredit geratene „Fridays-For-Future“-Bewegung ärgern, nicht über Greta Thunberg, die ihre stärksten Momente offenbar schon hinter sich hat. Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie sich nicht über all die Moralisten und Besserwisser und die es schon immer gewusst haben ärgern, jene Zeitgenossen, die bei jedem Thema sichtbar machen, dass man es hätte anders sehen, kommen, machen, anpacken können, wenn man und frau auf Sie gehört hätte, aber Konjunktiv hin oder her, jetzt müsse man eben leben mit dem Schlamassel, den man sich selbst eingebrockt habe.
Herzlichen Glückwunsch auch, wenn Sie sich nicht über unsere Kirche ärgern, allen voran die Evangelische Kirche in Deutschland, die eine denkwürdige Performance und um es mit Herrn Koch aus Hessen zu sagen, eine brutalst mögliche Aufklärung aller dubiosen und komplexen Schuldzusammenhänge angekündigt hatte, um dann mit dem lapidaren Satz in die Öffentlichkeit zu gehen: „Ich bin mit mir im Reinen, aber ich trete zurück, weil der Druck und der Schaden auf Amt und Institution zu groß geworden ist.“ (Anette Kurschus bei Ihrem Rücktritt vom Posten der EKD-Ratsvorsitzenden am 20.11.2023)
Herzlichen Glückwunsch auch, wenn Sie sich nicht über unsere hiesige Düsseldorfer Kirche ärgern, die im Moment etliche Versuche macht, den Zentralismus und die komplette Steuerung von über 90.000 Menschen von einem allen anderen vorgeordneten Super-Presbyterium zu implantieren. Ein Vorhaben, das in unserer Gemeinde auf nicht allzu große Gegenliebe stößt, weil wir nach wie vor der Meinung sind, dass Kirche vor Ort und im direkten Austausch und Vernetzung im Quartier besser, weil dem Menschen näher, unterwegs ist. Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie an der im Glaubensbekenntnis bemühten „Gemeinschaft der Heiligen“ nicht irre werden, weil Sie wissen oder doch immer wieder ahnen, dass die „Heiligkeit“ im konkreten Alltag allein ein göttliches Prädikat ist und so gut wie nie auf menschliche Leistungen und Fähigkeiten beruht.
Herzlichen Glückwunsch schließlich, wenn Sie an dem Jesus von Nazareth nicht irre werden, der nun schon über gut 2000 Jahre entscheidende Impulse zu Leib und Leben gibt, allerdings und damit sind wir bei unserem heutigen Predigttext, in einer immer noch und immer wieder seltsam indirekt erscheinenden Lesart. Von Johannes, der zunächst im Knast sitzt und später von dem Despoten Herodes geköpft werden wird, stammt ja die berühmte und wichtige Frage: „Bist du der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?“ Da will einer Gewissheit haben, ob der verheißene Heils- und Glücksbringer jetzt gekommen ist oder nicht. Diese Frage dürfte ja auch schon so alt wie die Menschheitsgeschichte sein und findet sich so ziemlich in jeder Kultur und Religion in irgendeiner Weise wieder. Gibt es Hoffnung auf jemanden, der den Lauf der Geschichte in eine gute, besser in eine durchweg heilvolle Zukunft lenken wird? Oder muss man sich damit bescheiden, dass die vielgelobten und immer wieder proklamierten Stars und Sternchen bei näherem Zusehen recht schnell verblassen und verglühen. Johannes also will es wissen, vermutlich hat er dort im Knast und im Nachgang zu den zu erwartenden wenig erfreulichen Ereignissen mit Herodes und seiner blutrünstigen Familie Sehnsucht nach einer letzten guten und tröstlichen Nachricht und Wahrheit.
Und diese Nachricht kommt dann ja auch tatsächlich. Als ein merkwürdig verschlüsseltes Rätselwort: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt. Na bitte, möchte man da sagen, das ist doch mal was: Wo man hinsieht, besser genau dort, wo man das Elend mit Händen greifen kann, gibt es heilsame Veränderungen. Das wollen und sollen wir doch nicht geringschätzen. Und das klingt doch schon sehr wie das Begleitprogramm des kommenden Messias. Dessen Kommen doch genau mit diesen Wohltuenden Begleiterscheinungen erwartet wird. Wobei in dieser Aufzählung bei allem Guten und Erfreulichem irgendwie eine Bremse eingebaut zu sein scheint. Diese Aufzählung hat etwas merkwürdig Unbestimmtes. Gewiss, da findet sich Bemerkenswertes, Wunderbares, auch Sensationelles: Selbst Tote kommen zu neuem Leben, aber bei genauerem Nachdenken fällt einem auf, dass alles ein wenig unbestimmt und wie nach einem Allgemeinplatz klingt. Dazu passt, dass es sich rhetorisch fast um eine Art Anti-Klimax handelt: Nach den doch immerhin erwähnenswerten Heilungs- und Genesungsvorgängen endet diese Aufzählung mit dem lapidaren Hinweis, dass Armen das Evangelium verkündigt wird.
Am Ende steht offenbar das Hauptkriterium für die Frage, ob der erwartete kommt, nämlich: die Botschaft, die gute Nachricht, dass Gott sich den Armen, den Menschen auf der Schattenseite zuwendet. Nicht mehr nicht weniger. Schön und gut, möchte man da vielleicht nochmal sagen, dann haben wir es jetzt also schriftlich. Der, auf den wir warten, kommt und ist da, und mit ihm kommt und ist da auch das, was wir gemeinhin als Begleiterscheinung erwarten, allerdings nicht ganz so flächig und omnipräsent, sondern ehr in einer begrenzten und eingeschränkten Art und Weise: Nicht alle Blinden werden sehend, nicht alle Taube können wieder hören, nicht alle Lahme können wieder laufen, nicht allen… Und wohl wissend um diesen irgendwie zurückgenommen Modus und fast wie eine Entschuldigung dann eben folgerichtig: Herzlichen Glückwunsch, wenn du dich darüber nicht ärgerst. Wenn du da keinen Anstoß nimmst. Wenn diese Nachricht für dich nicht zu einem Fallholz wird. Wenn diese nur dann und wann aufscheinende heilvolle Wirklichkeit dich nicht irre macht.
Am Ende also der Glückwunsch an die, die sich nicht ärgern. Nicht über 2000 Jahre, in der dieses Kommen des Messias nun verkündigt wird, aber nach wie vor aussteht, jedenfalls in dieser für alle unübersehbaren eindrucksvollen Art und Weise. Herzlichen Glückwünsch an die, die sich nicht ärgern: über unsere Kirche und ihre momentane Schwäche und Pomadigkeit und ihrer Suche nach einer gewichtigen und ernstzunehmenden Haltung im Konzert der gesellschaftlichen Problemstellungen. Nicht über unsere recht zaghaften Versuche, in dieser Welt der großen Worte und Lügen den letzten Trost im Leben und Sterben ins Gespräch zu bringen. Ärgern Sie sich bitten auch nicht allzu sehr über das, was sicher auch in unserer Gemeinde unvollkommen, verbesserungswürdig erscheint. Da gibt es einiges, um nicht zu sagen vieles, was auf Ihren Beitrag, Ihre Korrektur, Ihr Mittun und Voranbringen wartet. Werden Sie also bitte nicht müde, selbst Hand anzulegen, selbst aktiv zu werden, selbst Ihren Beitrag einzubringen: Beim Fahrdienst, beim Lektorendienst, beim nachbarschaftlichen Miteinander, beim Singen, beim Fahrrad Reparieren, beim Beten, beim Gottesdienst Feiern, beim Schmücken, beim Essen Zubereiten .
Bitte bringen Sie sich ein und: Ärgern Sie sich nicht zu lange darüber, dass das Reich Gottes noch nicht in seiner vollen Strahlkraft sichtbar, spürbar, erlebbar ist. Sondern lassen Sie uns gerade deswegen neu, wieder neu jenes alte Evangelium, die gute Nachricht von der Nähe Gottes bei seinen Menschen verkündigen, weitersagen und...“leben“. Und gemeinsam suchen und finden, was dem Nächsten dient, guttut und aufhilft.
Lassen Sie uns der alten Advents-Botschaft neu Vertrauen schenken, trotz allem anderen was dagegen zu sprechen scheint.
Hanns Dieter Hüsch: Dezemberpsalm (bitte klicken)
Jesus kommt. Alles wird gut. Auch das, was noch nicht gut ist. Auch das, was noch gut werden muss. Auch das, was alles andere als gut ist. Herzlichen Glückwunsch, wer diesen Jesus, der alles gut macht, den Weg bereitet, mit vorbereitet, dass er einziehen kann, dass er Einfluss und Geltung bekommt in Stadt und Land, dort wo wir sind und wohnen und leben. Jesus kommt. Alles wird gut.
Amen
2.Advent, 10.12.2023, Stadtkirche, Offenbarung 3, 7 - 13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Advent - 10.XII.2023
Offenbarung 3,7-13
Liebe Gemeinde!
Die Offenbarung des Johannes - die „Apokalypse“ also - wird immer aktueller.
Allerdings nicht nur wegen des großen und adventlichen Endzeit-Gefühls, das in unsern Tagen über allen Dingen liegt, sondern gerade auch in ihren weniger spektakulären Zügen. Was Jesu Lieblingsjünger auf der sichelförmigen Insel seiner Gefangenschaft, Patmos zwischen Himmel, Fels und Meeresbrandung erblickte und aufzeichnete, hat neben der Weltuntergangs- auch eine Welthoffnungsbotschaft. Das letzte Buch der Bibel – das Buch von den Nöten, den Kämpfen und Katastrophen, die das Ende der Geschichte einläuten – ist ja gerahmt von lauter Trost: Die sieben Seelsorgebriefe am Anfang und das universalste, größte, unvorstellbarste happy end der Menschheit … die Verheißung der Gottesstadt, in der keine Tränen mehr fließen und das Heil, … der Heiland, … der heilige Gott nicht mehr unsichtbar, sondern anschauliche, greifbare, bleibende Gegenwart sein werden.
Die furchterregenden und die furchtvertreibenden Wahrheiten gehören nun einmal zwangsläufig zusammen. Wenn einer nur eine von beiden Wahrheiten verkündet, ist er entweder ein sadistischer oder ein naiver Lügner:
Das zeigen uns die Bücher sämtlicher Propheten in der Bibel, die immer beides enthalten, in denen die Forschung aber immer alles zergliedert und zerschnitten hat, weil sie die Gerichtsboten zwanghaft von den Tröstern zu unterscheiden müssen meinte. So hat die Wissenschaft der akademischen Theologie als vermeintlich „echte“ Propheten nur lauter depressive oder aggressive Drohpropagandisten beschert und ihnen ein paar säuselnde Seelenschmeichler gegenübergestellt, deren Weichspüler die harten Brocken der totalen Verwerfungsprediger nachträglich abmildern sollte.
Doch damit hat die sog. Wissenschaft nur bewiesen, wie wenig sie Gott und die Menschen kennt. Bei beiden gibt es das Positive und das Negative niemals in Reinkultur! … Schärfe und Milde, Strenge und Gnade, Leidenschaft der Gerechtigkeit, Leidenschaft der Versöhnung, Warnen und Helfen gehören zusammen, und wer sie im Himmel oder auf Erden trennt, schafft eine fiktive und verzerrte Welt aus abstrakten Ideen ohne Anspruch an und auf die Wirklichkeit.
Deshalb können, nein müssen wir die von so viel Beunruhigendem durchzogene prophetische Schrift des Neuen Testaments - die Apokalypse - von den Ermutigungssendschreiben an die kleinasiatischen Gemeinden an ihrem Anfang (Kap.2f) und von der strahlenden Vision des ewigen Lebens aller Völker und Stämme bei Gott an ihrem Schluß (Kap.21f) her verstehen: Der Horror der Welt wird so durchlässig für Liebe und Licht aus der Ewigkeit. Schweres wird von Trost und Hoffnung erleichtert. Vorzeichen und Wehen der Endzeit machen dann nicht nur bang, sondern sie bereiten uns vor für die Auflösung dessen, was vergehen und das Hervortreten dessen, was bleiben soll. ———
Vor Horrorhintergrund und einem Horizont, der dennoch leuchtet, liegt heute also das besonders tröstliche Schreiben vor uns, das Johannes, der Gefangene des Kaisers Domitian, der bald für seinen Glauben hingerichtet werden sollte, an die Gemeinde von Philadelphia richten sollte.
Es ist ein Brief, reich an Bestärkung, … aber doch auch nicht ohne kritische Punkte.
Er beginnt im Zeichen der Offenheit, die Jesus schenkt: Jesus – der Schlüssel- und Siegelbewahrer, den das königliche Haus Davids auch historisch hatte (vgl.Jes.22, 22!) – ist es, der aus Welt und Geschichte eine erschlossene Wirklichkeit macht, eine durchlässige und zugängliche Wirklichkeit, die seine Gemeinde nicht in dumpfer Engigkeit einsperrt, sondern sie befreit, so dass sie aus Menschen besteht, die Sinn und Sicherheit nicht selber auftun müssen und die darum auch nichts Ausschließendes mehr, nichts „Exklusives“ zu haben brauchen.
Die unwiderrufliche Öffnung der Welt zum zukünftigen Reich Gottes hin ist ja durch Jesus geschehen – das ist der tiefste Sinn von Apokalypse“, von „Offenbarung“ –, und das endgültige Versiegeln wird ebenfalls durch Ihn geschehen, wenn für immer aus der Wirklichkeit verschwindet, was in Gottes Gegenwart nicht existieren kann.
In solcher Offenheit leben zu dürfen, ist entlastend; es nötigt aber auch zum Verzicht auf unsre eigenen Ansprüche, wenn wir nicht selbst in allem stets die letzte Entscheidung, das endgültige Urteil zu fällen haben.
Die Tatsache, dass Jesus allein die Schlüsselfigur der Welt ist, bedeutet mit anderen Worten, dass wir andern uns nicht mit totalen Beschlüssen zu befassen haben, sondern mit einer bloß teilweisen Erkenntnis und Gewissheit begnügen müssen … Und so sind wir wieder bei dem, was in der Offenheit unvermeidlich ist: Dass nicht glasklar, sondern fließend ist, was wir sind, was wir sollen und können. …….
In und um Philadelphia gab es darum - wie beinah überall in der Geschichte der Kirche - einen Streit, wer denn die echte Gemeinde, … die wahre Versammlung der Gläubigen, … buchstäblich: Wer die wirkliche „Synagoge“ sei. Dieser christliche Synagogenstreit lehrt uns ein Zwiefaches. Er entstand, weil die Kirche eben keine exklusive, keine reine, … man könnte auch sagen: keine „saubere“ Sache ist. Und er besteht und wird bestehen bleiben, weil die Kirche niemals nur sie selber, niemals nur säuberlich „für sich“ ist!
Am Anfang der Kirche stehen ja Solche, die nicht allein „Synagoge“, sondern noch etwas dazu sind, etwas darüber hinaus, etwas Weiteres, ein undefiniertes Extra und Plus, ein uneingrenzbares „Alle“: Synagoge Jesu eben, … Juden und zugleich Christen, Heiden aus allen Völkern und dabei Hausgenossen des erwählten Israel.
Dieses Sowohl-als-Auch, das sofort Solche auf den Plan rief, die behaupteten, man dürfe nicht mischen und könne nicht verbinden, man habe zu unterscheiden und bedürfe der „Reinkultur“, … dieses Sowohl-als-Auch hat uns in den letzten beiden Monaten von der Wurzel her wieder eingeholt. Seit dem Ausbruch des unvorstellbar perversen Hasses der Hamas auf Israel ist uns das Sowohl-als-Auch wieder unentwirrbar vor Augen gestellt: Wir sind Kirche aus dem Schoß der Synagoge und können doch als die Gemeinde aller Nationen und Zungen niemals und nirgends ausschließlich auf einer Seite stehen. Nichts darf uns trennen von Israel; nichts darf unsere geschwisterliche Gemeinschaft mit allen Menschen ausschließen. …
Ich will das Zeichen unserer auf Leben und Tod geltenden Verbundenheit mit dem Volk Gottes weiter an unserer Kirche hochhalten … und will damit doch nicht die Tränen, das Trauma und die Toten des anderen Volks, der muslimischen und eben auch der christlichen Palästinenser missachten: Am Samstag vor einer Woche, als der Adventsgottesdienst unserer KiTa gefeiert wurde, zu dem auch viele türkische und arabische Eltern kommen, habe ich die Fahne Israels abgehängt, weil sich keine Gelegenheit geboten hätte, zu erklären, dass unser „Für-Sein“ kein „Gegen-Sein“ bedeutet.
Aber auch hier stimmt ja, dass das rein Positive und das rein Negative in Wahrheit nicht begegnen, weil unser „Pro“ immer auch eine Seite des „Contra“ hat und unser Tun immer auch ein Lassen bedeutet, so dass alles, was wir an der Seite der Einen versuchen, uns ins Gegenüber zu anderen bringt, auch wenn der konkrete Gegensatz nicht immer bedeutet, dass man logisch-kategorisch und also abstrakt die Gegenseite darstellt. ——
Vielleicht spüren wir durch den kleinen Philadelphier-Brief hindurch also in aller Bestärkung, die der ohnmächtige gefangene Apostel seinen Brüdern und Schwestern zuspricht, was es auf sich hat mit der Welt und mit uns: Dass da nichts Absolutes ist, … nichts eindeutig Vollkommenes, … nichts Unanfechtbares, sondern immer nur das, was der andere große Apostel (vgl.1.Kor.13) das „Stückwerk“ nannte … den „dunklen Spiegel“, … das bleibende Rätsel.
Und vielleicht ahnen wir dann auch, weshalb die Abfolge der Ermutigungs- und Trostschreiben, die die Offenbarung eröffnen, und der Anfechtungs- und leidvollen Prüfungs- und Untergangsvisionen, die ihnen folgen, nicht so verkehrt … schon gar nicht nur negativ ist.
… Wir sind alle so weit vom Unumstößlichen, wir sind alle so sehr ins Vorläufige und Vorübergehende verstrickt, dass die Tatsache der Vergänglichkeit und des Endes nichts bloß Bedrohliches hat, sondern auch eine Hoffnung und Aussicht freilegt:
Das Allermeiste hier wird nun einmal verpulvert, abgenutzt, verschlissen, verschossen, ausgekippt und abgebrannt sein.
Darum wäre es sinn- und hoffnungslos, wenn wir uns mit Allem beladen und belasten wollten. … Auch das ist ja so ein weltfremder und unmenschlicher Anspruch, dass wir die gesamte Herausforderung der Welt, dass wir alle Fragen des Daseins, alle Bedrängnisse der Menschheit, alle Sorgen des eigenen Lebens schultern und bewältigen müssten, … sie alle selbständig zu einem guten Ende bringen und überall schließlich im Recht zu sein hätten.
Genau das ist es doch, was die Menschen im Anfang von Gott getrennt hat: Der Impuls, für alles unabhängig von Ihm die Verantwortung - und die Ehre! - zu übernehmen.
Doch da spricht der alte Brief, der uns in der immer aktuelleren Offenbarung von Weltende und Weltrettung begegnet, eine ganz andere, … eine leichtere, lösende, gnädige Sprache.
… Er sagt eben nicht: Ihr Jünger und Jüngerinnen Jesu, … Ihr Christen in der weiten Welt, … Ihr Philadelphier, … oder Ihr Europäer, … oder Ihr Evangelischen, … oder Ihr Kaiserswerther, … Ihr seid für alle Katastrophen und Krisen, für alle Dilemmata und Verhängnisse, für allen Fluch und allen Segen allein zuständig.
… Wir sind es zwar mehr, als uns lieb sein mag. Aber gleichzeitig auch weniger, als wir uns einbilden. Denn dass wir einerseits verstörend feig und faul sind und andererseits anmaßend größenwahnsinnig, das ist überall mit Händen zu greifen
Gewiss: Wir zerstören die Erde. Gewiss:
Wir müssen sie bewahren.
Aber dass hier nicht „Ganz oder gar nicht“ hilft, sondern ein Weniger an Hybris und ein Mehr an Demut und Gottvertrauen, das vergessen wir ständig.
Und da kommt nun der leichte Trostbrief vor der schweren Untergangsprophetie. Und sagt eben nicht: „Halte alles! Bewahre das Ganze! … Meistere Leben und Tod! … Verhindere die Apokalypse! Erringe das Paradies!“, sondern er sagt ruhig und beruhigend:
„Halte, was Du hast!“
Halte, was Du hast! … Es mag viel sein oder wenig. Halte es! Es mag etwas ganz Entscheidendes und kann auch nur ein Hauch, eine Kleinigkeit, ein Tröpfchen sein. Aber weil Du nicht etwa Alles, sondern nur genau das, was Du hast, auch tatsächlich einsetzen und durchtragen und heimbringen kannst, darum ist das Deine Aufgabe und zugleich der gültige Maßstab Deines Lebens … also Deine „Krone“.
Wenn Dir innerlich und äußerlich Reichliches zu Gebote steht, dann missachte, missbrauche und vernachlässige es nicht, sondern nimm es wahr!
Und wenn Deine Möglichkeiten und Gaben anders bemessen sind, dann sind sie das, was man bei Dir suchen wird und was Du bewähren kannst.
Frag’ Dich also, was Du hast. … Nicht, was Du gerne hättest, wärest, könntest. …Sondern was Dir nah und an Dir wahr ist. Und das lass Dir nicht mindern! Lass es Dir in Widrigkeit und in Müdigkeit nicht nehmen! … Du kannst nicht alles besitzen oder beherrschen. Aber das Deinige, … das gib nicht auf, sondern halt’ es fest und mach’ Dich daran fest in Zeit und Endzeit bis zur Ewigkeit.
- Du hast Hoffnung? – Bewahre sie!
- Du spürst Neugier? – Erhalte Dir das!
- Dich treiben Fragen und Zweifel an? – Nutz’ sie als das Deine!
- Bei Dir reicht es für Andere? – Da liegt Dein Wesentliches!
- Nichts kann auf Dauer Deine Freude abwürgen? – Dann ist sie Deine Krone!
- Noch immer hast Du Glauben? – Halt fest, was Du haben darfst!
- Du liebst, … trotz allem? – Niemand soll Dir’s nehmen!
Mit dieser Ermutigung und Bestärkung in den mancherlei Gaben, die nicht allen in gleichem Maß, aber jedem zu eigener treuer Entfaltung anvertraut sind, kann man leben ohne Überheblichkeit und ohne, dass das Gewicht des Leben- und Leisten-Müssens uns erdrückt. ——
Was daran adventlich ist?
– Dass mitten vorm großen, apokalyptisch dunklen Hintergrund einer zentnerschweren Weltsorge etwas so Kleines, fast Leichtes uns zugesprochen wird! Dass trotz der Abgründe, die sich vor der Menschheit auftun und der Heimsuchungen, die bevorstehen werden, uns nichts Gigantisches, Herkuleisches, Übermenschliches aufgezwungen wird, sondern das, was wir an Gutem mitten im Schlechten können, … das, was wir an Entwicklung und Frucht mitten im Winter allgemeinen Missvergnügens erwarten können.
Das ist ja Advent: Dass die Möglichkeit eines Anfangs alle Vorzeichen des Endes überstrahlt!
Dass die Verheißung eines einzigen Kindes das Verhängnis aller Sterblichen entkräftet. Dass Licht in der Nacht strahlt, … dass Blumen im Schnee blühen, … dass erhobene Häupter auf den Schall der Gerichtsposaune antworten (vgl. Lk.21, 28).
Das ist Advent: Endzeit, in der es beginnt. ———
Und der Philadelphier-Brief des Johannes macht in einem wundervollen letzten Verheißungsbild deutlich, dass wir heute nicht schon vom Fertigen und Festen, vom völlig Eindeutigen und bereits Unverrückbaren ausgehen, sondern noch im Wanken und Wackeln, in Hinfälligkeit und Instabilität leben müssen.
… Viel zu starr und viel zu stolz haben wir uns ja immer die ersten Christen oder die großen Christen oder die echten Christen oder die wahren Christen oder die ernsten Christen oder die besseren Christen als ungerührte, ja unanfechtbare Denkmäler gedacht. … Viel zu selbstverständlich reden wir von der vermeintlichen Unerschütterlichkeit und der fundamentalen Beharrungskraft des Glaubens und malen uns die Apostel oder Luther und die Reformatoren wie lauter Bronzestandbilder vor Augen.
Doch der Philadelphier-Brief sagt uns, dass wir hier nie und nimmer ein solches Selbstbild als Säulen pflegen sollen, … mag der Islam noch so auf Säulen bestehen.
Unser Wunsch soll nicht lauten „säulig“ zu sein, sondern selig zu werden!
Letzte Festigkeit steht also erst noch aus.
Wir erwarten sie mitsamt der hin- und hergerissenen, erschütterlichen und erschütterten Welt.
Wenn das Ewige kommt, dann werden auch wir nichts Unsicheres mehr erleiden und erleben. Dann sollen auch wir zu Pfeilern im Tempel unseres Gottes werden, die den Namen Gottes, den Namen Jerusalems, den neuen Namen des Herrn stolz und sichtbar hochhalten und tragen dürfen wie der letzte Grund.
Doch bis dahin: Was immer oder wie wenig wir auch an Glauben haben, … wie wenig und was immer wir wohl an Hoffnung haben, … was wir an Liebe und am Geliebtsein haben, das sollen wir halten.
… Dass niemand es uns nimmt.
… Und Gott uns stärkt.
… Bis alle durch die offene Tür in Seine Gegenwart, ins Bleibende gelangt sind.
Amen.
1. Advent, 03.12.2023, "Macht hoch die Tür...", Jonakirche, Daniel Kaufmann
"Macht hoch die Tür, die Tor macht weit…" - Türpredigt zum 1. Advent
1. Im Advent geht es um Türen. Das ist selbst bei dem letzten, konfessions- und glaubenslosen Zeitgenossen angekommen: Jetzt geht es darum, Türen zu öffnen. 24 Stück sind das nach einhelliger Meinung. 4x mit Licht und Erleuchtungen an den 4 Sonntagen unterbrochen. Denn hinter den Türen gibt es jede Menge zu entdecken: Parfums, kleine alkoholische Muntermacher, Lieblingsaccessoire zu Pferden, Fußball, variantenreiche Schokoladen-Kreationen, Überraschungseier, Säckcheninhalte, Handyzubehör, Lieblingsspielzeuge für Kinder und Erwachsene, Plätzchen, Kunst- und Schmuckobjekte, im Grunde genommen alles, was sich unsere mehr oder weniger einfallsreiche Konsumindustrie so einfallen lässt und in immer neuen Anläufen jedes Jahr auch als letzten Schrei verkauft. Dabei werden die Dimensionen der Kalender jedes Jahr ein bisschen unförmiger, dreidimensionaler, wuchtiger, voluminöser und teurer. 24 mal sollen wir die Türen öffnen und dabei sollen uns die Augen übergehen, die Ohren, am besten alle Sinne überrascht werden, das Herz berührt und erwärmt werden. Dabei sollen wir vorbereitet und eingestimmt werden auf das größte aller Geschenke und Gaben, dass mit dem 24. Dezember verbunden ist und im deutschen Durchschnitt so zwischen 250 -300 € gekostet haben wird. (Dieses Jahr soll es ja etwas weniger „teuer“ werden, also so um die 200 € vermutlich) Dann wird sich definitiv zeigen, ob das Vorgeplänkel und die Vorbereitung auf diesen wirklich großen Coup sich gelohnt hat, ob der Volltreffer, das Glückpaket, die Erfüllung des Herzenswunsches gelungen ist oder haarscharf am Ziel vorbeigeflattert ist. Ob ein strahlendes Lächeln für einen Moment alles Glück dieser Erde widerspiegeln wird, oder wir doch auf eine unergründliche weise enttäuscht, nicht ganz zufrieden und auch ein bisschen leer und verstimmt zurückbleiben. Und wir diesem irgendwie geheimnis- und spannungsvollen Ritual des Türöffnens in Zukunft misstrauischer und mit mehr Vorbehalten begegnen werden.
2. Heute geht es darum, Türen zu öffnen, und da könnte endlich mal mit einer gewissen Berechtigung sagen: Da habt ihr Kirchen jetzt aber ein Thema, das selbst den konfessionslosen und glaubenslosen Zeitgenossen etwas sagt. Denn dieses Türenöffnen bildet in gewisser Hinsicht ja den Grundbeat, den Grundrhythmus des Lebens ab. Von Anfang bis zum Ende unseres Daseins sind wir mit Türen öffnen und Türen schließen beschäftigt. Ganz am Anfang steht die Tür zum Leben, durch die wir bei der Geburt ins Dasein eintreten. Mit diesem ersten Türöffner einher ist in unserer DNA verankert eine unbändige Neugier, alles, was nicht Niet- und Nagelfest ist, zu untersuchen, das Geheimnis der Dinge, der Schränke, der Wohnungen, des Hauses zu ergründen. Und dazu gehören jede Menge Türen, ab und zu kommt auch ein Schlüssel dazu, der einen verborgenen Kontext erschließt. Und dafür sorgt, dass es nicht langweilig wird. Später mit der Tür zum Kindergarten, zur Schule, zur Uni, zum Beruf verlagert sich dieses Türschließen auf eine mehr bildliche, metaphorische Ebene. Nach den massiven oder leichten Eisen- und Holztüren geht es vermehrt um Inhalte, um Wissen, um Erfahrung und um Zusammenhänge, die wir erschließen, die sich uns öffnen, zu denen wir Zugang bekommen sollen. Das gelingt mal mehr, mal weniger, offenbar ist und wird diese Art der Lebensgestaltung nach wie vor divers bleiben. Aber spätestens mit dem Erwachsenenalter geht es dann wieder um noch größere und wichtigere Türen, allen voran geht es um die Tür eines anderen Menschen, der mit einem verbunden ist, den man liebt, der sich einem zuwendet und für den man unendlich wichtig wird, so wichtig, dass man eine längere und größere Gemeinsamkeit vereinbart. Und in der Mitte des Lebens, heutzutage vermutlich schon viel früher, stellt sich die Erkenntnis ein, dass im Grunde alles im Leben nach dem Türprinzip angeordnet ist. Ein Computerfachmann/Fachfrau hat das mal so zusammengefasst: Alles ist auf 1 oder 0 programmiert. Entweder geht eine Tür auf oder zu. Diese Einsen und Nullen kann man recht kompliziert und variantenreich kombinieren, so oft und intensiv, dass unser ganzes Leben auf diesen Geheimcode programmiert werden kann, wenn's gut läuft eine KI (Künstliche Intelligenz) das Leben entsprechend überschaubar, leichter, verständlicher und bequemer macht. Am letzten Wochenende ist mir durch den Kopf gegangen, dass auch eine der deutschen Lieblingsbeschäftigungen, der Fußball, einiges zum Thema Tür und Tor bereithält. Schalke hat 4:0 gewonnen, Düsseldorf sogar 5:0 und die deutsche U-17 Nationalmannschaft ist sogar Weltmeister geworden. Jedenfalls ist das Fußballspiel ganz wesentlich von dem Gedanken begleitet, dass ein Tor offen oder auch mal wie verbrettert ist. Und schließlich geht es ganz am Ende unseres Daseins nochmals um eine letzte große Herausforderung, wenn wir vor der Frage stehen, ob sich nach unserem Tod noch eine weitere Tür des Lebens öffnen wird: Die Tür zur Ewigkeit, einem neuen Leben/Dasein in einer zuvor völlig unbekannten Dimension und Sphäre. Ich begleite zur Zeit einen Mann, der nur noch den Kopf und sonst nichts mehr bewegen kann, auf seiner letzten Etappe und wir haben gemeinsam nach etwas gesucht, was diese Zeit aushaltbar und ertragbar machen kann. Und da sind wir auf diesen Gedanken mit der „Tür“ gestoßen: Wenn unsere Zeit hier auf Erden abläuft, schließt sich eine Tür, dafür geht eine andere, die zur Gegenwart Gottes auf. Und seitdem begrüßt mich dieser Mann mit dem Satz: „Daniel, ich bin der Tür zu Gott ein Stück näher gekommen…“ Kurzum: Das Türthema begleitet unser Leben wie unser Atem als ein stetes und dauerhaftes Momentum und Begleiter. Selbst wenn es den Advent mit seinen 24 Türen nicht geben würde, man käme an diesen Lebenstüren in unterschiedlicher Diktion nicht vorbei.
3. Heute geht es darum, Türen zu öffnen, Der Adventskalender markiert das, die Lebenserfahrung unterstützt das, und jetzt meinen und bringen und legen auch alle Lieder, Texte und Gedanken zum ersten Advent dieses Türthema ans Herz. Macht hoch die Tür, singen wir. Macht die Türen auf, macht die Herzen weit singen die Kinder. Und der Psalm und der Predigttext des heutigen Sonntags wiederholt und erinnert das: Macht die Türen und die Tore in der Welt weit. Damit der König der Ehren einziehe. Damit der Herr dieser Welt einziehen kann in unser Herz, in unser Denken und Fühlen, in unseren Alltag und Beruf, in unsere Beziehungen und Feste, in unsere Freude und in unserem Leid. „Komm o mein Heiland Jesu Christ, mein's Herzenstür dir offen ist“, heißt es in der letzten Strophe des berühmten Adventsliedes: „Macht hoch die Tür…“ Diese Herzenstür verdient noch einmal etwas mehr Aufmerksamkeit. Es ist nämlich eine besondere Tür, eine Tür, die der Maler William Hunt ein besonderes Bild gewidmet hat. Es findet sich hier vorne bei uns auf dem Programm. Diese Tür ist ein bisschen zugewuchert, ein bisschen versteckt hinter dem einen oder anderen Gestrüpp. Es ist eine Tür, zu der es eine ganz besondere Geschichte oder Anekdote gibt. Hunt rief nach Fertigstellung des Bildes alle seine Freunde zusammen und bat sie, dieses Bild sehr kritisch zu betrachten. Ihm ging es darum, zu sehen, ob sie irgendetwas Ungewöhnliches an diesem Bild entdeckten. Alles schauten sich nun das Werk sehr intensiv an. Und entdeckten: Eine Jesusgestalt, mit Licht, die vor einer Tür stellt. So weit so gut und eindeutig. Doch niemand fand daran etwas, was ihnen besonders ungewöhnlich vorkam. Alle bewunderten es sehr. Schöne Farbe, schönes Licht, berührende Stimmung. Das wars dann aber auch. Hunt war darüber ein wenig enttäuscht. Er drängte einige Freunde dazu, sich das Bild noch etwas genauer anzuschauen, und bat sie erneut um eine Rückmeldung. Schließlich kam ein sehr junger Künstler zu ihm und sagte: Herr Hunt, ich glaube, es gibt in diesem Bild wirklich etwas Außergewöhnliches, was nach einer Erklärung verlangt. Sie haben vergessen, einen Türgriff oder ein Schloss an die Tür zu malen.“ „Mein Freund“, entgegnete daraufhin Hunt, „Sie haben das Besondere dieses Bildes erfasst: Wenn Christus an die Tür deines Hauses anklopft, dann kann sie nur von innen geöffnet werden.“ Die wichtigste Tür, von der heute Morgen am 1. Advent also die Rede ist, ist die Herzenstür. Die ist nicht nur durch Gestrüpp versteckt oder verdeckt, die geht vor allem nur von innen auf. Und das meint doch: Sie wird und kann und soll von uns selbst geöffnet werden. Damit unser Leben gut wird und bleibt, damit der Frieden Gottes, der Segen in unser Leben einziehen und seine wohltuenden Wirkungen entfalten kann.
Adventszeit ist die Zeit der Türen, die sich öffnen, geöffnet werden und die wir selber öffnen. „Komm o mein Heiland Jesus Christ, mein's Herzenstür dir offen ist.“ Der Heiland also soll einziehen in unser Denken und Fühlen, in unsere Worte und Taten. Der alles heil macht – da hat er eine Menge zu tun, möchte man da vielleicht einwenden. Das ist ja sozusagen der schwerste Job zur Zeit: Gegen alle Kaputtmacher und Zerstörungen des Lebens und der Würde, gegen die himmelschreiende Ungerechtigkeit, wo man auch hinsieht, gegen die kritischen und auf des Messers Schneide stehenden, völlig aus dem Gleichgewicht geratenen Schräglagen der Weltgeschichte soll der Heiland tätig werden. Was hat er im Gepäck, um genau das zu erreichen? Im Gepäck hat er drei heilende Mittel und Gaben, nämlich: Gnade, Freundlichkeit und den Heiligen Geist.
„Ach zieh mit deiner Gnade ein;
dein Freundlichkeit auch uns erschein.
Dein Heilger Geist uns führ und leit
den Weg zur ewgen Seligkeit.“
Es gibt keinen Frieden auf der Welt ohne Barmherzigkeit und Gnade. Mit Auge um Auge, Zahn um Zahn schafft man bestenfalls ein Patt zwischen feindlichen Parteien. Aber für Frieden braucht es mehr, da muss das Leben, jedes Leben auf dieser Erde als wertvoll und würdig und schützenswert verstanden werden. Da muss man sich von den Kategorien „die da“ und „wir hier“, die Guten und die Schlechten, die immer Recht haben und die immer falsch liegen, verabschieden. Da braucht es eine andere Werteskala als Gut und Böse, da braucht es etwas, was alle Menschen gleichermaßen betrifft und umschließt: Gnade/Charis (griechisches Wort, das man auch mit „Geschenk“ übersetzen kann). Unser aller Leben ist vor allem und immer wieder ein Geschenk, ein schützenswertes und beachtungswürdiges Geschenk, singen wir in diesem Adventslied von dem Heiland, der uns seine Gnade bringt. Und dann müssen und dürfen wir uns infizieren, anstecken lassen von der Freundlichkeit Gottes. Von dem vertrauensbildenden Lächeln, das uns im Segen zugesprochen wird, soll und kann auch Licht und Wärme auf den nächsten missliebigen, nervigen, unverständlich erscheinenden Nächsten fallen. Und dann brauchen wir den Heiligen Geist als Kompass durch alles Dickicht. Bei allen Rückschlägen und Unvollkommenheiten. Wo es aus den unterschiedlichsten Gründen nicht klappt bei dem Miteinander, bei dem Klimawandel, bei der Energiekrise, bei der Gesundheitskrise, bei der Flüchtlingskrise, bei unseren Bemühungen um Frieden.
Liebe Schwestern und Brüder, heute geht es darum, Türen zu öffnen. Türen vom Adventskalender. Türen, die mit Lebenserfahrungen zu tun haben. Und die Herzenstür für den König der Ehre, für jene Größe, die Gewicht und Einfluss auf unser Leben bekommen soll und will, auf den Heiland, der Gnade, Freundlichkeit und den Heiligen Geist als Kompass mitbringt und uns für den Alltag empfiehlt.
Gott möge uns helfen und Segnen, wenn wir die Adventtürchen, die Türen zum Nächsten und unserer Herzenstür neu öffnen. Amen.
(Quelle: wikipedia)
1.Advent, 03.12.2023, Stadtkirche, Psalm 24, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent - 3.XII.2023
Psalm 24
Liebe Gemeinde!
Zu den der Menschheit an sich heiligen Orte gehören von jeher Türen und Schwellen.
Weil jede Tür räumlich und sachlich eine echte Geistesgabe ermöglicht: Unterscheidungsvermögen. … Eben draußen, jetzt drinnen. Gerade noch im Hellen, nun im Dämmer-licht. Hier schutzlos, dort geborgen. Auf der einen Seite Öffentlichkeit und Welt, auf der anderen das Innenleben, die Seele, das Private. Türen sind materiell greifbare Differenzierungs- und Ordnungskategorien. Was profan ist und schmutzig und was vor fremden Einflüssen und Blicken bewahrt wird, das trennt die Tür.
Sie hat darum einen eigenen Charakter als Altar: Bei den heidnischen Römern der Sitz des in beide Bereiche und Richtungen, hinein und hinaus blickenden Gottes Janus. Und auf der Schwelle wurden aufgrund ihrer nicht ungefährdet zu überschreitenden magischen Abgrenzungskraft Opfer gebracht. Die Bibel weiß von einem ehrgeizigen und größenwahnsinnigen Bauunternehmer, der die vorzeiten von Josua verfluchte Stadt Jericho wiederaufbauen wollte – “Make Jericho great again” – und dafür bei der Grundsteinlegung seinen ältesten und beim Setzen der Tore seinen jüngsten Sohn verlor (vgl.1.Könige 16, 34), … und man wird die dunkle Ahnung nicht los, er könne sie nach kanaanäischer Sitte geopfert haben, weil er etwas besänftigen wollte, was die Erfahrung bestätigt: Wenn man unbelehrbar das Tor zur Vergangenheit aufstößt, weckt man furchtbare Geister, die so oder so nach unseren Kindern greifen.
Türen sind also geheimnisvoll von beiden Seiten: Was hinter ihnen liegt, ist das eine Faszinierende. Das andere ist, wie man sich vor ihnen fühlt. In der Spannung des Einlassbegehrenden. In der Unsicherheit dessen, der sich gemustert weiß. … Jeder, der hofft, dass sich ihm hinter der verschlossenen Pforte ein Wunderreich eröffnet, kennt im Nachtleben den Adrenalinschub vorm Türsteher. Im legendären Techno-, Exzess- und Orgien-Club „Berghain“ in Berlin gab es einen besonders als unbestechlich gefürchteten Aufmerksamen mit dem biederen Nachnamen Marquardt (… keine Verwandtschaft).
Aber als allsehend und allwissend und ob der untrüglichen Eingeweihtheit in alle Lebenslagen und Lebenslügen dem lieben Gott sehr ähnlich galten zu allen Zeiten schon die Pariser Concierges, und die Portiers im alten Wien und Berlin übten über ihre Herrschaften eine diskret absolutistische Tyrannis durch’s Durchschauen aus. … Die Tür zu hüten, entscheidet oft genug also die Machtfrage.
Deshalb gibt es Türrituale. Black rod, der zeremonielle Pförtner der Houses of Parliament muss zwischen Ober- und Unterhaus dreimal mit dem Heroldsstab an die ihm vor der Nase zugeschlagene Tür klopfen, ehe die Abgeordneten sich hinüber zu den Lords bitten lassen.
Zur Eröffnung eines Heiliges Jahres hat selbst der Papst an die sonst vermauerten portæ sacræ der vier römischen Papstbasiliken mit einem goldenen Hammer zu pochen, um den Durchgang für sich und alle Pilger zu erwirken.
Und in Köln, wo sie ihn offenkundig doch herbeisehnen, ziert man sich selbst vor Prinz Karneval und seinem Gefolge, und fragt rhetorisch bei jedem Neuankömmling der Tollität „Solle mer’n rinlosse?“
In der Kapuzinergruft schließlich werden auch die Habsburger in ihren Särgen erst aufgenommen, wenn sie das Türexamen der Toten bestanden haben, die sich als arme, sterbliche Sünder ausrufen lassen müssen, nachdem alle hohen Würdentitel und klingenden Namen kein Schloss und keinen Riegel bewegen konnten.
Tor und Pforte gemahnen uns also an die ehrfurchtgebietenden, schaudererregenden, allesentscheidenden Passagen des Lebens. Deshalb gibt es in der jüdischen Welt auch keine Tür, an deren Pfosten nicht eine Kapsel mit dem Wort des lebendigen Gottes angebracht ist: Wer immer von wo immer wie auch immer nach irgendwo - außer dem Lokus - geht, streift Gottes Weisung und Gebot in der Mesusa, führt die Hand zum Mund und bekennt sich allerwegen zum HERRN, dem Einen Gott Israels (vgl. 5.Mose 6,9). ————
Und nun machen wir uns nichts vor: Wir, … alle, … wir insgesamt stehen vor einer Tür.
Nicht am Kinderkalender der Adventszeit.
Nicht weil der Türhütermonat Januar uns bevorsteht.
Sondern weil die Menschheit ein Zeitalter durchschritten hat und nun an seine Grenze gestoßen ist, … weil die Menschheit an der Schwelle einer neuen Ära steht.
… Und ich weiß nicht und Du weißt nicht, was hinter der Tür liegt.
Es könnte eine jener Türen sein, die eigentlich nur im Film oder Traum des Horrors begegnen: Eine Tür mit halber Schwelle … öffnet man sie, stürzt man dahinter in einen Abgrund aus Finsternis.
Siebzigtausend Leute, von Alaska bis Feuerland, aus den hängenden Gärten der Himalayasattel bis zu den kenternden Inselparadiesen der Südsee angereist, sind in Dubai bei der 28. Klimakonferenz versammel:. Sie sind der Hammer, mit dem black rod und der Papst, mit dem die Narren und die gekrönten Häupter der Menschheit an die Tür der Zukunft schlagen.
… Sie wird sich auftun.
… Müssen.
… Und dann?
Was dann, das sagt uns der Psalm, den Gottes Geist für diesen ersten Tag eines neuen Kirchenjahres unter solchen Vorzeichen vor uns aufgeschlagen hat: Er ist eine Torliturgie, ein Türexamen, ein Passageritus aus der ältesten Zeit des heiligen Volkes in Davids und Salomos Reich am Tempel des HERRN in Jerusalem.
Diese Liturgie des Übergangs aus dem vertraut Gewöhnlichen, aus dem Bereich des gewissenlos Weltlichen, des Säkularen hinein in eine andere Gegenwart, … eine Gegenwart, in der es zählt, … hinein in die Gegenwart Gottes, das feiert heute die ganze Welt, ohne es zu wissen.
Und als hätten die Chöre der Priester und Leviten vor fast dreitausend Jahren ihren Einlasshymnus der pilgernden Gemeinde nur für die Menschheit von heute singen sollen, ist das erste Wort, das überm Tor am Heiligtum erklingt, die erschütternde und entscheidende Präambel, die jeder Mensch, der in dieser Welt handelt und hofft, zur Maxime seines Wollens und Tuns machen muss:
„Die Erde ist des HERRN und was darinnen ist; der Erdkreis und die darauf wohnen.
Denn Er hat ihn über den Meeren gegründet und über den Wassern bereitet.“
… Was ihr getan habt einem dieser Seiner geringsten Würmer oder Einzeller, … einer dieser Seiner bedrohtesten Pflanzenarten, … einem unter diesen, Seinen seltensten Elementen, Stoffen und Erden, … das habt ihr Ihm getan (vgl. Matth.25,40)!
Das ist die Überschrift über dem Zugang zu Gott: Er ist der Gott des Kosmos, der Herr nicht nur der Geister und der unsichtbaren Welt, sondern genauso der Schöpfer und darum Erhalter … und wenn es sein soll auch der Erlöser der materiellen Natur. Er ist der Gott des Fleisches und des Staubes, des Atems in den Lebewesen und aller leblosen oder uns in ihrem Schweigen und Schweben entgehenden irdischen Wunder vom Weltraum bis zur Tiefsee.
Die Priester und Leviten, die den Psalm Davids in Jerusalem feierlich den Einziehenden entgegensangen, konnten nicht ahnen, dass „Die Erde ist des HERRN“ bedeuten könnte, dass Er selber einmal irdisch werden würde.
… Sie hätten geschwiegen, wenn ihnen aufgegangen wäre, dass in diesem einfachen Bekenntnissatz die ungeheure Möglichkeit des Advent sich andeutet: Dass Gott einmal zu Seiner Erde kommen und für Seine Erde einmal leiden würde, dass Er Sein Blut für die ganze Schöpfung vergießen würde, dass Er den Tod aller Dinge abwenden und einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen müsste (vgl.Jes,65,17; 2.Petr.3,13; Offenb.21,1) durch Seine Fleischwerdung und durch Sein Sterben.
… Die Priester und Leviten hätten geschwiegen, wenn dieses Unvorstellbare, … dieses Unausdenkbare, … dieses Unerfindliche ihnen bei ihrer Liturgie am Tempeltor in den Sinn gekommen wäre. Und sie wären in den Staub gesunken vor einer solchen Herrlichkeit und Schrecklichkeit und Wirklichkeit Seiner Herrschaft und Liebe.
… Und wir? Die wir hier an einem ersten Advent im Schatten des Weltsterbens an einer so wichtigen Schwelle stehen und wissen, wie Gott liebt, leidet, ringt, kämpft und siegt für alles, was wir sehen und alles, was wir nicht mehr sehen können oder noch nie sehen
konnten.
Und wir?
Knien wir uns in den Staub?
Werfen wir uns Asche aufs Haupt?
Zittern wir, was hinter der Tür ist, die uns von der Zukunft der Erde des HERRN trennt? ——
Unser Advent ist ein buchstäblich fauler Zauber – eine Beschwörung unserer Bequemlichkeit und Trägheit und Dickfelligkeit und Begriffsstutzigkeit und Kaltschnäuzigkeit – , wenn wir nicht begreifen, dass es Buße bedeutet, sich vor Gottes Tür zu wissen oder Ihn vor unserer Tür zu wähnen!
… Natürlich. Auch an dieser Stelle haben wir’s uns jetzt ein Menschenalter lang leicht gemacht: „Wir müssen – noch dazu um Gottes willen?! - dochnichts tun“, so haben wir den Glauben buchstäblich verfaulen und vergammeln lassen. … Wenn Er zu uns kommen will, dann kommt Er schon. Wenn Er was von der Erde will und auch wenn Er etwas für die Erde wollen sollte, dann ist Gott doch schon groß und unabhängig, … so wie wir. … Lass Ihn gern kommen. … Aber was geht das uns an? … Sollen wir etwa aufstehen, wie früher, wenn der Lehrer durch die Tür kam? …………
Mehr noch sollen wir!
Bedenken wir: Der Chor aus Jerusalem singt in der Tempelliturgie ein Eintrittsexame! Der Eintritt dorthin, wo man auf Gott hoffen, wo man Seine Nähe suchen darf, er sieht vor, dass wir uns prüfen, … dass wir in uns gehen und dann dort nicht bleiben, sondern uns bekehren, d.h. ändern und so leben, dass man unserm Leben anmerkt, wie wir nicht an Gott vorbei oder vor Ihm weglaufen, sondern auf Ihn zu.
Ja, auch Hoffnung auf Gottes Nähe und Bereitschaft für Ihn sind lebensverändernd! Nicht bloß Wunder, sondern schon ihre Erwartung gibt dem Dasein eine grundlegende Wende! Nicht nur, wenn Gott uns ganz gegenwärtig ist, sondern schon die dunkle Regung des Gedankens, Gott sei nicht völlig ausgeschlossen, macht uns zu Menschen mit klareren, reineren, weiteren Zielen.
Und dass wir diese Veränderung antreten, dass wir uns von der träg-trüben Gottlosigkeit zur Gottesoffenheit wandeln, ist ebenso ein Schritt auf dem Weg zum Advent, wie alles, was Gott Seinerseits in der prophetischen Ankündigung, der himmlischen Verkündigung, der geistlichen Empfängnis, der leiblichen Geburt, der menschlichen Existenzweise und Dienstbereitschaft Jesu getan hat, bis bei Seinem Einzug in Jerusalem Seine endgültige Hingabe und darin Sein ewiges Recht an den durch Ihn Erlösten unumkehrbar in Kraft traten.
Darum ist es so wichtig, dass der Psalm, dessen adventlicher Schluss uns ja tief vertraut ist, uns heute in seinem gesamten Zusammenhang vor Augen geführt wird. Es ist – wenn wir uns im Kirchenjahr und in der Weltgeschichte an einer Epochenscheide wissen – eben nicht damit getan, dass wir uns den kommenden Herrn vor den Türen der Welt vorstellen und Ihn herbeisehnen dürfen, sondern wir können und wir sollen uns ebenfalls auf den Durchgang vor uns einstellen: Wenn Gott nicht mehr ausgeschlossen ist, dann sind wir auch nicht mehr ein-geschlossen, sondern auf dem Weg auf den Berg des HERRN und an Seine heilige Stätte.
Und dann müssen Hände, Herz, Geist und Sprache in und an uns durchlässig für die Gotteserwartung werden, … sie müssen tun, bezeugen und besiegeln, dass wir die Erde Gottes jetzt und Sein kommendes Reich als Gaben Seiner Gnade und Raum Seines Rechts ehren und hüten und heiligen wollen.
So wird der Advent wieder das, was wir lange nicht mehr in ihm sahen:
Ein wechselseitiges Geschehen, ein Aufeinanderzugehen, ein Zueinanderstreben, ein Abstandüberwinden und Trennungaufheben von beiden Seiten … Gottes und der Menschen.
Der Zug der Gemeinde hinauf nach Jerusalem und hinein in den Tempel, den Ort der Gegenwart Gottes ist ebenso adventlich, wie der Einzug Gottes an dieser Stelle – zu Salomos Zeiten in der Wolke der Herrlichkeit (vgl.1.Könige 8,10f), zu Zeiten des Kaisers Tiberius auf einem erbärmlichen Esel – und so adventlich wie Gottes Einzug auch in unsere Gegenwart mit ihren schrecklichen Bedrängnissen und der am meisten bedrängenden Gottesvergessenheit.
Wenn wir aber nun endlich anfangen, unseren Anteil am Advent wahrzumachen, indem wir lernen, demütig und solidarisch, schonend und teilend zu leben, … mit Händen, die nicht zerstören, … mit Herzen, die nicht bloß begehren, … mit Mündern, die die Wahrheit nicht verbiegen und mit einer Moral, die die Sache der Gerechtigkeit nicht vergewaltigt, … wenn wir also das Türexamen am Eingangstor zur Gotteswirklichkeit bestehen werden, dann dürfen wir aus vollem Herzen und aus voller Kraft auch den letzten Teil des Psalms beten und leben: Den Hoffnungsschrei, nein, den Jubelruf, dass umgekehrt Gott tatsächlich auch in unsere Wirklichkeit kommt. ——
Ja, wir stehen vor der Tür: Die eine Zeit vergeht. … Wir müssen uns ändern, … müssen Buße tun, damit der Durchgang zu einer neuen Zeit uns nicht in unser Verderben stößt.
… Aber wir stehen nicht alleine auf dieser Schwelle.
Auf der anderen Seite herrscht nicht das Grauen des Untergangs in das Nichts.
So bang uns auch sein mag, im Elend dieser Zeit:
Die Tore in der Welt, … das Tor der Welt als solcher, … das Tor der Zukunft wird nicht nur von uns aus bedient! Nein, … es öffnet sich von beiden Seiten!
Und Er steht schon davor und klopfet an (vgl. Offenb.3,20)!
Darum sollten wir Ihm wirklich nun entgegengehen … unsere Bußzeit des Advent führt uns ja Seinem Freudenadvent geradewegs in die Arme.
Gehen wir der Tür entgegen, indem wir wirklich unseren Lebenswandel ändern; opfern wir nicht unsere Kinder, sondern unsere Gewohnheiten und beglaubigen wir die Schöpfungs- und Erlösungstatsache, dass die Erde des HERRN ist!
So also geht auf den Berg des HERRN, fragt nach Ihm, sucht sein Antlitz, macht die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!
… Geht!
… Komm!
… „O Heiland, ……. reiß (vgl. EG 7)!“
Amen.
Ewigkeitssonntag, 26.11.2023, Stadtkirche, Kantate BWV 106 und Offenbarung 22,20, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 26.XI.2023
„Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ (BWV 106 - sog. „Actus tragicus“) - Offenbarung 22,20
Liebe Gemeinde!
Seit ausdrücklich die Ewigkeit zum letzten Mal über einem Sonntag stand, ist nun ein Jahr, ein „Kirchenjahr“ vergangen.
Ein Jahr: Eine bestimmte, messbare Größe aus unseren Begriffen und Einheiten für das, was wir „Zeit“ nennen, … Einheiten und Begriffe, die am ehesten planetarisch, an der Bahn und Drehung der Erde um die Sonne und um ihre eigene Achse zu bestimmen sind. Von dort gewinnen wir die Einheiten der Monate und Tage, so wie der Schöpfungsbericht es schon einsetzt: „Gott sprach: Es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da scheiden Tag und Nacht. Sie seien Zeichen für Zeiten, Tage und Jahre“ (1.Mose1,14). Und von Gottes Ruhe nach dem Ersten in der Zeit Vollbrachten, vom Sabbattag her gewinnt die ganze un- und anti-religiöse Welt bis heute den Rhythmus der Woche.
12 Monate Zeit also, … 52 Wochen, … genau 371 Tage sind vergangen, seit wir zuletzt Ewigkeits-Sonntag gefeiert haben. Und von dieser Zeit, der rätselhaft Selbstverständlichen gilt, was Augustinus in nüchternster Wahrhaftigkeit formuliert hat: „Was ist also Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“[i]
Wir wissen nicht, was die Zeit ist.
Aber eines wissen Viele von uns heute. … Das vergangene Jahr, … ein Monat darin, … ein einziger Tag, … ja ein Sekundenbruchteil hat es sie gelehrt: Das Vergehen oder die Ausdehnung oder das kontinuierliche Bestehen der Zeit erschließt sich uns nicht bewusst. Aber wenn sie endet, dann zerreißt es unsere Gedankenlosigkeit! Der Moment, in dem das aufhört, was wir die Lebenszeit nennen, teilt unser Denken und Fühlen, unser Wahrnehmen und Verstehen in ein kristallklares Vorher und Danach.
Von den Jahren und Jahrzehnten, die uns verbanden, können wir nicht näher sagen, wie wir sie als solche, wie wir sie als „Zeit“ erlebt haben. Die Sekunde aber, die uns trennt, schafft scharf und deutlich eine Tatsache, die alles bestimmt, weil sie alles verändert.
Die Zeit wird für uns also am direktesten spürbar, sie wird sachlich fassbar und teilbar und wirksam durch eine Abwesenheit. Nicht angehäufte Zeit, nicht Zeit im Überfluss, sondern ihr Verlust macht sie kostbar.
… Zeit ist demnach keine Größe und sie hat keinen Wert an sich … und wenn sie noch so planetarisch, noch so kosmisch, noch so wissenschaftlich exakt bestimmt wäre. Zeit ist wirklich wertvoll erst dadurch, dass wir sie mit anderen teilen dürfen. … Zutiefst also, … zuerst und zuletzt ist Zeit eine menschliche, eine zwischenmenschliche, eine soziale Kategorie.
Die Felsen und Gesteine dieser Erde - die Geologie - , … die für uns gar nicht mehr vorstellbaren Kreisläufe einer vom Menschen unberührten Natur - die Biologie -, … das Knospen, Aufleuchten und Verblühen von Sternbildern und Himmelskörpern - die Astronomie -, und die takt- und gesetzgebenden Prozesse der Chemie und der Physik in alledem entfalten sich zwar und verlaufen in Jahrmillionen-Einheiten. … Doch diese Zeiträume berühren uns nicht. … Sie sind abstrakt.
Erst das kleine, vorübergehende, hinfällige Menschlein, das am Fuß der uralten Berge und im Licht der wiederkehrenden Konstellationen am Firmament und unter all den zyklischen Figuren des „Stirb und Werde“ sein einzigartiges, unwiederholbares, ganz persönliches Dasein fristet, … erst das siebzig- oder achtzig- oder gar neunzigjährige Menschenleben macht also, dass die Zeit real wird und teuer und wundervoll.
Das hat sich an allen von uns wiederholt, für die das letzte Kirchenjahr aus lauter gewöhnlichen Tagen ein ganz herausragendes Datum gebracht hat, … ein Todesdatum. Seit diesem Tag spüren wir, dass nicht die bloße allgemeine Dauer, sondern der bestimmte einzelne Mensch, … ein Mensch, um den wir heute trauern, für uns eine wirkliche Maß- und Sinneinheit des Daseins bedeutet.
Zeit ist Miteinander.
Das ist eine ganz zentrale Wahrheit: Zeit ist Miteinander.
Um diese Wahrheit in ihrer Tragweite ermessen zu können, müssen wir uns von Gott, vom biblisch bezeugten Gott erzählen lassen und davon wie Er es mit der Zeit hält.
Obwohl heute „Ewigkeitssonntag“ ist, müssen wir dabei aber als Erstes festhalten, dass der wahre, der lebendige Gott, Der, Den wir anbeten, weil Er die Geschichte Israels zu Seiner Geschichte und in Jesus Christus die Menschheit zu Seiner Natur gemacht hat, … Den wir also anbeten, weil Er uns in der Geschichte und in unserem eigenen Wesen nahekommt … wir müssen festhalten, dass dieser unser Gott nicht etwa nur der Ewige ist, … ein Wesen oberhalb und außerhalb der Zeit, wie der Gott der Philosophen.
… Nein. Gerade, wo Er der Ewige genannt wird, zeigt sich, dass Er Gemeinschaft mit denen sucht und stiftet und schenkt, die in der Zeit leben:
Zum ersten Mal wird Er „der ewige Gott“ genannt, als sein völlig einsamer erster Anhänger Abraham ein zwischenmenschliches Bündnis schließt: Als Abraham und der König Abimelech einander Frieden und Gemeinschaft schworen, da „rief Abraham den Namen des HERRN, des ewigen Gottes an“ (1.Mose21,33). Und bei Mose – wo Er am Ende von dessen Leben wieder als ewiger Gott begegnet – heißt es „Zuflucht ist bei dem alten Gott und unter den ewigen Armen“ (5.Mose 33,27): Gerade der Ewige ist also Schutz und Ziel der Sterblichen, weshalb wir im Psalm des Mose, den wir auf dem Friedhof sprechen, bekennen, dass Er, Der von Ewigkeit zu Ewigkeit ist die Sterbenden geradezu zärtlich zu sich ruft „Kommt wieder, Menschenkinder“ (vgl. Ps.90,2f)! Bei Jesaja dann wird in diesem Geist die abstrakte Ewigkeit tatsächlich in den elementar menschlichen Zusammenhang des Familiären gezogen: „Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von Ewigkeit her dein Name“ (Jes.63,16); und gekrönt wird diese innigste Verbindung des Überzeitlichen mit den Gegebenheiten der menschlichen Lebenszeit schließlich in der Weihnachtsverheißung des Propheten Micha (5,1f): Aus „Bethlehem …… soll mir der kommen, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist, … (wenn) die geboren hat, die gebären soll“.
Die Ewigkeit Gottes verhindert also nicht, dass Er der Gott des Miteinanders – des Miteinanders unter den Menschen und des Miteinanders zwischen Sich und den Menschen – ist.
Genau wie Jahrhundertmillionen und Sekundenmyriarden wird nämlich auch Gott erst wirklich und greifbar durch das Miteinander in der Zeit, … durch Erfahrungen des Zusammenhangs und der Zusammengehörigkeit von Ewigem und Sterblichen.
Zeit an sich ist demnach eine leere Vorstellung.
Und Gott an sich ist eine leere Behauptung.
Beide sind nur wirklich und wirksam in ihrer Gestalt als lebendiges Miteinander.
Von daher aber verstehen wir vielleicht auch richtig, was Sünde und Tod sind: Sie negieren jeweils das Entscheidende, … das Miteinander.
Der Tod zerreißt das Miteinander, in dem wir leben.
Die Sünde zerreißt das Miteinander, durch das und für das wir leben. ——————
… Und da kommt nun Der, Der unser einziger Trost im Leben und im Sterben ist, ins Spiel: Jesus, Der das Miteinander in Person ist.
Jesus, Der die Zeit erfüllt, indem Er den Ewigen in sie brachte.
Jesus, der die Sünde entmachtet hat, weil Er die Menschheit zurück zu Gott zieht.
Jesus, in dessen einzigartigem Tod der ganze Tod, … aller Tod am Leben scheiterte.
Jesus, in Dem Gott vom Menschen unzertrennlich ist.
Jesus, in Dem der immer-seiende und immer-bleibende Gott Geburt und Sterben erlebte, ohne dass das eine da erst die Anwesenheit und das andere schließlich die Abwesenheit brachte, weil die unlösliche Verbindung durch beides durchhielt, die unlösliche Verbindung Dessen, was im Ursprung war – des Wortes, das im Anfang war (vgl. Joh.1,1) – mit Dem, was unendlich bleiben wird – dem Wort Gottes, das da bleibt in Ewigkeit (vgl. Jes.40,8).
Sterbliches Geborenwerden und der Tod der Sterblichen: In Jesus sind sie nicht bloß die Eckdaten der Lebenszeit, sondern Sein Anfang erfüllt alle Zeit mit dem entscheidenden Miteinander und Sein Ausgang durchbricht die Grenze, um allem Miteinander die Endlosigkeit zu eröffnen. ———
Das also ist die „beste Zeit“, die Bachs Kantate besingt[ii]: Das in Jesus uns erreichende, durch nichts je endgültig aufzulösende Miteinander von Gott und Mensch, von Gegenwart und Ewigkeit, in dem wir leben … und in dem wir auch sterben.
An das Sterben darum zu denken, … an die alte Bestimmung[iii] zu denken, dass wir hier nicht Zeit an sich und auch nicht endlos Zeit haben, sondern bloß einstweilen begrenzte Dauer, die nur geteilt auch wertvoll ist, macht klug: So sahen wir am Anfang.
Denn nur, wenn wir in der endlichen Zeit schon das Geschenk zu schätzen vermögen, das in Gestalt lebendiger Verbundenheit von Verschiedenem – allem voran von Irdischem und Himmlischen – besteht, … nur dann können wir unser Haus bestellen – also versöhnt leben – und uns am Schluss auch Gott befehlen – also erlöst sterben –.
Tragisch ist dieser Akt des Glaubens also nicht, … dieser Akt unseres Glaubens: Jenes Glaubens, der über die Zeit hinausweist, gerade wenn uns ein Todestag in diesem Jahr gezeigt hat, wie wir durch unsere Verluste zu verstehen lernen, was wirklich unvergänglich ist.
Wenn der Tod eines geliebten Menschen seine teilende Wirkung entfaltet und das Davor vom Danach so schmerzlich unterscheidet, dann erfahren wir Christen ja eben nicht bloß dass Zeit wahrhaftig nur als eine Form von Gemeinschaft zu bestimmen ist, sondern dann geht uns tatsächlich fast unmittelbar und ohne dass wir es in Worte fassen könnten Gott auf, … dann geht uns Gott plötzlich ganz unmittelbar an:
Er, Der in Seiner Dreieinigkeit unlösliche Verbindung ist, Er kann und wird ja nicht zulassen, dass wir einander mit der Zeit und aus der Zeit verlieren. Gott kann nicht zulassen, dass wir endgültig von Abwesenheit bestimmt werden, dass Trennung und Vereinsamung das sind, was uns „schlußendlich“ - wie es so trostlos heißt - erwartet.
… Gott ist doch Gemeinschaft. Gemeinschaft auch mit uns zeitlichen, mit uns vergänglichen Menschen. Und darum will Er die Vergänglichkeit, die uns täuschenderweise das Wesen aller Zeit auszumachen scheint, durch deren tatsächliches Wesen - die Gemeinschaftlichkeit - überwinden.
Die Zeit der Abschiede, die Zeit als Scheidung geht also tatsächlich ihrem Ende entgegen, um das zu erreichen, um das durchzusetzen, was Gott selber war und ist und bleibt: Endloses Zusammensein.
Aus dieser doppelten Zielrichtung nun – dass das Zerbrechen vergeht und das Verbinden kommt, … dass die Spaltung aufhören und die Heilung bleiben soll, … dass das Leiden an der Sterblichkeit sich verflüchtigen wird, um die Freude des Lebens zu verewigen – … aus dieser doppelten Zielrichtung erklärt sich auch das christliche Doppelverhältnis zur Zeit: Es ist Bejahen ihres unaufhaltsamen Verfließens und gleichzeitig Vertrauen auf unerschütterliche Dauer.
Kurz ist die Spanne, die für das Erste bleibt; grenzenlos ist die Hoffnung auf das Andere.
Die Traurigen unter uns, … die Leidtragenden, … die Hinterbliebenen, … diejenigen, die sich nach Frieden sehnen in den Tagen brutaler Gewalt, … diejenigen, die an jeder Zukunft zweifeln oder verzweifeln in unserm Zeitalter unaufhaltsam wirkender Weltvernichtung: … Sie alle sollen das biblische Zeugnis von der Kürze und vom Verfliegen der Zeit hören, … die Verheißung, dass das Jetzige nicht bleibt.
Doch noch wichtiger ist die andere Botschaft: … Dass schon jetzt das Ewige begonnen hat. … Dass es nicht mehr fern und nicht mehr weit ist, sondern dass es in dem großen Wort vom „Heute im Paradies sein“ (vgl. Lk.23, 43) schon die offene Tür, schon die Verbindung mit dem gibt, was Gottes Wesen ist und was uns darum von allen Seiten umfängt und also auch bevorsteht und erwartet: Das Miteinander, … das ewige und damit also das kommende Leben. ——
Allen denen, die in diesem Jahr einen Todestag und seither das Fehlen des Miteianders und darum die Hoffnung darauf erfahren haben, will ich - „schlußendlich“ - nur ein ganz einfaches Wort dazu sagen.
Es ist das Wort, das unserer diesseitigen, rein physikalisch von der Zeit denkenden Zeit am schwersten … und am rettendsten zu hören ist.
Und weil es so schwer zu hören ist, ist es immer auch der schwerste Augenblick für mich auf dem Friedhof.
Ich könnte das Wort mit geschlossenen Augen ohne allen Zweifel, ohne jedes Zögern sprechen, … weil ich aber doch hinsehen will, weil ich doch sehenden Auges und darum eben auch überprüfbar und ansprechbar und also fraglich bleiben will für die, die mir dabei wiederum ins Gesicht blicken können, …. darum weiß ich genau, in welche Tiefen des Nichthören- und Nichtverstehen- und Nichtfassen- und Nichternstnehmen-Könnens ich oft dabei schaue und auf welche traurige Fremdheit ich stoße. …
… Das ist der eigentliche actus tragius, der mit dem Glauben bei unsern christlichen Beerdigungen verbunden ist, … dass das einfache liturgische Wort so schwer zu sagen und zu hören fällt, das in seiner Wahrheit und Klarheit doch so unvergleichlich, so einzigartig tröstet.
„Wir befehlen unseren Verstorbenen der Gnade Gottes und legen seinen Leib in Gottes Acker – Erde zur Erde, Asche zur Asche, Staub zum Staube – in der Hoffnung der Auferstehung zum ewigen Leben durch Christus Jesus, unsern Herrn.“ …………
Das ist das allesentscheidende Wort, in dem das Vergängliche und das, was war und kommt zueinander finden.
Die Hoffnung der Auferstehung zum ewigen Leben: Sie verknüpft die Zeit als Miteinander mit Gott als Miteinander in größter Einfachheit.
… Darauf warten wir, darauf trauen wir.
… Dass ist gewisslich wahr.
Und wenn es uns noch so schwer fällt, es so einfach zu sagen, zu hören, zu glauben.
Das ist die Erfüllung der Zeit, das ist die beste Zeit: Dass alles im Miteinander bestehen soll, weil Jesus Christus das Miteinander ebenso geschichtlich wie ewig verkörpert und dieses unser Ziel darum wirklich und ganz nahe ist.
Es ist gewisslich wahr.
Und wir brauchen und können nichts tun, als in dieser Gegenwart und Zukunft des Ewigen einfach einzustimmen: Amen, ja komm Herr Jesu!
Komm mit Deiner Fülle in die Zeit! Komm mit dem Leben Gottes in unseren Tod!
Komm mit Deiner Ewigkeit jetzt zu uns!
Amen.
[i] Augustinus, Confessiones – Bekenntnisse, Elftes Buch (14,17), lat. und dt, Eingel., übers. u. erläutert von Joseph Bernhart, München 41980, S.629.
[ii] Die beiden nächsten Abschnitte fassen die Sätze der Bach-Kantate zusammen, die in Teilen im Gottesdienst erklang.
[iii] In Anlehnung an die heute sinnvollerweise gebrauchte, weil weitaus weniger antijudaistisch stereotyp missverständliche Übersetzung der Stelle in Jesus Sirach 14,17 auf die sich Bachs Text vom „alten Bund: Mensch, du musst sterben“ bezieht: „Es gilt der ewige Beschluss: Du musst sterben“. Jesus Sirach kommt hier dem Prediger Salomo nahe in seiner das ewige Leben betreffenden Skepsis, die zu einer hedonistischen Schlußfolgerung – „Carpe diem!“ – führt.
Ewigkeitssonntag, 26.11.2023, Dan. 12,1-3, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Schwestern und Brüder,
der heutige Sonntag ist der letzte Sonntag in diesem Kirchenjahr. Mit ihm schließt ein Jahr ab, das für viele persönlich schwierige und traurige Zeiten gebracht hat, Abschiede und Trennungen, Verluste, die schmerzen. Mancher Tod mag wie eine Erlösung gekommen sein. Aber mancher kam viel zu früh. Und alle führen sie Dunkelheit mit sich. Wie mit dem Tod umgehen, wohin mit der Trauer, mit der Erfahrung von Ohnmacht angesichts des Todes eines lieben Menschen? Ja, und nicht nur angesichts des Todes uns nahestehender Menschen, sondern auch – gerade in diesem Jahr - angesichts des vielfachen gewaltsamen und unzeitigen Todes in Israel, im Gazastreifen, in der Ukraine? Haben Tod und Gewalt das Heft des Handelns in der Hand? Ist das die „Zeitenwende“, die im Februar 2022 im Bundestag konstatiert wurde?
Ich bin in diesem Jahr dankbar dafür, dass der heutige Sonntag drei Namen hat, uns unter drei Vorzeichen einlädt, über das Leben und den Tod und unsere Zeit nachzudenken: Totensonntag, Ewigkeitssonntag und Sonntag vom Jüngsten Gericht. Es gibt nämlich keine einfache Antwort auf die uns bedrängenden Fragen, sei es im persönlichen Leben und Erleben oder mit Blick auf die gesellschaftliche und weltpolitische Lage.
Totensonntag – Ewigkeitssonntag – Sonntag vom Jüngsten Gericht.
Der Predigttext, der für heute vorgeschlagen ist, nimmt uns für diesen Drei-Schritt an die Hand. Ein Text aus dem Ersten Testament, aus dem Buch des Sehers Daniel, das eine große Nähe hat zu dem Buch der Offenbarung des Johannes.
Ich lese Dan.12,1-3 aus einer jüdischen Übersetzung:
„Und in dieser Zeit wird auftreten Michael, der große Engelfürst, der für dein Volk dasteht. Und es wird eine Zeit der Not sein, wie es sie nicht gab, seit es Völker gibt, bis zu jener Zeit. In jener Zeit wird dein Volk gerettet werden, alle, die ins Buch eingetragen gefunden werden.
Und viele, die im Erdboden schlafen, werden erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schande, zu ewigem Abscheu.
Aber die Verständigen werden glänzen wie der Glanz des Himmels, und die, welche viele zur Gerechtigkeit führten, wie die Sterne, immer und ewig.“
Das Buch Daniel markiert für die jüdische Religion in gewisser Hinsicht eine Zeitenwende. Bis dahin war der Glaube Israels rein diesseitsbezogen. Israels Gott war ein Gott der Lebenden; darin unterschied sich die jüdische Religion fundamental von der ägyptischen Religion, für die der Glaube an ein Leben nach dem Tod bestimmend war. Als Beispiel für diese Diesseitigkeit mag der folgende Vers aus Jes. 38,18f stehen: „Die Toten loben dich nicht, und der Tod rühmt dich nicht, die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Treue, sondern allein, die da leben, loben dich so wie ich heute.“
Man stand mit Gott in der Zeitspanne zwischen Geburt und Tod in Beziehung; wenn man starb, versammelte man sich im Totenreich, in der Scheol, ein Reich ewigen Schweigens.
Im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung änderte sich dieser Glaube, er weitete sich. Israel erkannte: Gott ist größer. Er umfasst nicht nur Himmel und Erde, nicht nur die Lebenden stehen zu ihm in Beziehung, sondern auch die Verstorbenen, sein Wille ist verbindlich für alle Zeit. Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit, Lebende und Verstorbene – alles ist vor ihm gegenwärtig.
Wenn nun das Leben nicht einfach mit dem Tod aus ist, sondern wenn Gott und sein Wille über den Tod hinaus Geltung haben, dann hat das Folgen für das Leben vor dem Tod und nach dem Tod.
Diese Glaubensweitung erfolgte im 2. Jahrhundert v.u.Z. in einer Zeit großer Not für das jüdische Volk. Damals herrschte in der Levante Antiochos IV. Epiphanes. Dieser Machthaber will dem jüdischen Volk seine griechisch geprägte Denkweise aufzwingen. Er greift die frommen Jüdinnen und Juden im Herz ihres Glaubens an. Er betritt als Nichtjude den Tempel in Jerusalem. Und er treibt es noch ärger: Er weiht den Tempel dem griechischen Gott Zeus Olympios. Und er verbietet bei Todesstrafe die Beschneidung. Für viele Jüdinnen und Juden ist das Verrat an dem einen Gott Israels. Sie wehren sich, ein Aufstand bricht aus. Die Folge ist voraussehbar: viele Tote. Das Ende vom Lied: Tote und Fragen.
Gibt es keine Hoffnung auf ein Leben und Glauben in Freiheit, ohne Angst vor Gewalt? Was ist mit denen, die treu zu ihrem Glauben an den Gott Israels gestanden und dafür mit ihrem Leben bezahlt haben: zählt ihre Treue für Gott nicht? Ist ihr Tod umsonst? Viele sind verzweifelt, andere enttäuscht. Es sieht aus, als ob Gott alles kalt lässt.
Habe ich über die Zeit damals bei Daniel oder über unsere Zeit gesprochen?
Liebe Gemeinde, mich hat die Aktualität unseres Predigttextes wirklich elektrisiert. Es ist so: mein Glaube wird durch die gegenwärtigen Ereignisse – sei es in der Ukraine, sei es in Israel – und durch die ganzen Begleiterscheinungen weltweit – auf den Straßen, in den Medien, auf den politischen Foren - durchgeschüttelt. Bis dahin für mich unbezweifelbare Richtigkeiten wie die Slogans „Nie wieder Krieg“ und „Frieden schaffen ohne Waffen“ – sie haben sich für mich in Worthülsen ohne Überzeugungskraft verwandelt. Das schiere Ausmaß an Gewalt und Hass, an Lüge und Intrige, macht mich ratlos und ohnmächtig. So viele Tote, so viel Leiden auf allen Seiten und kein Ende in Sicht. Was soll werden? Es sind so wenige, die bei Verstand sind und das Sagen haben, die ein Gewissen haben und Menschlichkeit zeigen und dann auf entsprechende Resonanz stoßen.
„Es wird eine Zeit der Not sein, wie es sie nicht gab, seit es Völker gibt, bis zu jener Zeit.“
Daniels Gegenwartsanalyse könnte treffender nicht sein.
Gewaltherrschaft, Diktaturen, Propaganda, Hass und Lüge: sie haben immer Tote zur Folge, sie gehen über Leichen, wenn ihnen die Menschen nicht willfährig sind, sondern sich widersetzen. Eine Zeit der Not.
In diese Situation hinein spricht der Seher Daniel sein Zukunftswort. Er sieht weit hinaus, sieht, dass diese Zeit an ihr Ende kommt. Er setzt ein großes „Aber“ dagegen in Gestalt von Hoffnungsbildern, die den Blick weiten helfen, aus der Angststarre herausführen, der Verzweiflung Einhalt gebieten.
Die Zeit der Not, es ist nicht eine Zeit, in der Gott abwesend ist. Es ist vielmehr die Zeit, in der er sich neu als derjenige erweist, der sein Volk in die Freiheit führt, wie es bei Jesaja heißt: „Ich will heben und tragen und erretten.“ (Jes.46,4), Gott als Streiter für sein Volk. „In dieser Zeit wird auftreten Michael, der große Engelfürst, der für dein Volk dasteht.“ Daniel nimmt hier die in seiner Zeit gewachsene Vorstellung auf, dass jedes Volk einen Engel hat, der für es eintritt vor Gott und der es gegen Angreifer verteidigt. Die Konflikte sind niemals nur rein zwischenmenschlicher Art, sondern betreffen die ganze Wirklichkeit im Himmel wie auf Erden. Es ist ein Trostbild, das Daniel zeichnet: der Engelfürst Michael steht an Israels Seite. Der Seher Johannes hat dieses Trostbild knapp dreihundert Jahre später erweitert: da ist Michael der Streiter an der Seite all derer, die in der Nachfolge Jesu Verfolgung und Unterdrückung durch den römischen Staat erleiden. Woraus sich dann die Vorstellung entwickelte, dass jeder Mensch in seiner individuellen Not von seinem Schutzengel begleitet wird – „Ich will heben und tragen und erretten.“ Mögen Engel dich geleiten, heißt es in den Liedern der Totenmesse.
Das zweite Trost- und Hoffnungsbild ist das Vertrauen darauf, im Buch eingetragen zu sein, im Buch des Lebens. Eingetragen mit allem, was das Leben ausgemacht hat, alles Lieben und alles Leiden, alles Tun und Lassen, nichts fällt bei Gott unter den Tisch. Nach dem Tod herrscht nicht das große Schweigen, sondern alles kommt im Licht Gottes zur Sprache. Die furchtbare Not seines Volkes vor Augen kann Daniel nicht anders, als dieses Zur-Sprache-bringen im klaren Schwarz-Weiß-Schema aufzuzeigen: die einen, die Opfer der Gewalt, erwachen zum ewigen Leben, die anderen, die Gewalttäter, zur ewigen Schande. Am Ende steht das Gericht. Ich kann nach den Bildern, die im letzten Jahr aus Butscha kamen und in diesem Jahr aus Israel, aus den von der Hamas heimgesuchten Kibbuzim nur zu gut verstehen, dass Menschen in ihrer Verzweiflung Trost suchen in dem Gedanken, dass die Täter, die Mörder dafür bestraft werden, wenigstens am Ende der Zeit.
Ich glaube aber, dass Gottes Gedanken da andere sind als unsere, sein Gericht beurteilt sicher alles Tun und Lassen, alle Guttaten und alles böse Tun und auch alle Versäumnisse. Alles kommt zur Sprache, was in seinem Buch steht. Alles kommt ans Licht. Und dann, das ist meine Hoffnung, wird er zurechtbringen, zurechtweisen, heilen, was wir Menschen verbockt haben, wissentlich und unwissentlich. Sein Licht wird alles Dunkle hellmachen, seine Liebe alles heilmachen, läutern, verwandeln. Kein Mensch kommt an diesem Prozess am Ende der Zeiten, im Moment des Sterbens, des Todes, vorbei. Ein heilsamer und bestimmt auch in mancher Hinsicht schmerzhafter Prozess. Das kennen wir ja schon in diesem Leben: Selbsterkenntnis kann weh tun. Natürlich sollten wir es Gott durch unser Tun und Lassen in diesem Leben damit nicht unnötig schwer machen. Er hat uns diese Zeit geschenkt, um seinem Wesen gemäß zu leben und zu wirken:
Und sein Wesen ist Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Güte und Wahrheit. Diese göttlichen Werte hochzuhalten und ihnen nachzuleben, darauf kommt es an. So kann jeder Mensch zu einem Hoffnungszeichen in dieser notvollen Zeit und Welt werden, Orientierung schenken in den Sprachgewittern voller Hass und Lüge, die die Gehirne und Herzen der Menschen fluten und immer mehr Leid und Tod bringen. Lebendige Hoffnungszeichen über unseren leiblichen Tod hinaus können wir werden, die daran erinnern, dass es sich lohnt, auf die Liebe zu setzen und nicht auf den Hass, der Gerechtigkeit zu dienen und nicht die eigenen Interessen durchzudrücken, auf Ausgleich und Freundlichkeit zu setzen und allen Gutes zu gönnen. Das ist das, was wir tun können, das meint der Seher Daniel, wenn er schreibt:
„Aber die Verständigen werden glänzen wie der Glanz des Himmels, und die, welche viele zur Gerechtigkeit führten, wie die Sterne, immer und ewig.“
Das zeigen uns auch alle diejenigen, an deren Gräber wir in diesen Tagen stehen und die wir schmerzlich vermissen. In unseren Erinnerungen leuchten sie wie helle Sterne in der Dunkelheit aller Trauer gerade da auf, wo sie uns in ihrer Lebenszeit Liebe und Güte erwiesen haben; und wo sie uns Beispiele gegeben haben, wie wir selbst Liebe und Güte leben können.
„Aber die Verständigen werden glänzen wie der Glanz des Himmels, und die, welche viele zur Gerechtigkeit führten, wie die Sterne, immer und ewig.“
Mögen uns immer wieder solche Sternenlichter am Himmel der Erinnerungen aufleuchten und uns in der Dunkelheit unserer Traurigkeit trösten.
Amen.
22.So. n. Trin., 05.11.2023, Stadtkirche, 1.Johannes 2, 12 - 14, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 22.n.Trin. – 5XI.2023
1.Johannes 2, 12-14
Ein Zettel:
Liebe Kinder, Ich habe euch Kindern geschrieben;
ich schreibe euch, denn ihr habt den Vater erkannt.
dass euch die Sünden vergeben sind
um seines Namens willen.
Ich schreibe euch Vätern; Ich habe euch Vätern geschrieben;
denn ihr habt den erkannt, denn ihr habt den erkannt,
der von Anfang an ist. der von Anfang an ist.
Ich schreibe euch Ich habe euch jungen Männern
jungen Männern; geschrieben; denn ihr seid stark,
denn ihr habt den Bösen überwunden. und das Wort Gottes bleibt in euch,
und ihr habt den Bösen überwunden.
(1.Johannes 2,12f) (1.Johannes 2,14)
Liebe Gemeinde!
Ausgerechnet in den grausamen Auflösungserscheinungen dieser Zeit, in der die Welt, die wir kennen, zerfällt und die Werte, deren Sicherheit wir zu teilen meinten, verfallen und alles Plan- und Lenkbare dem unbeherrschbaren Zucken und Wetterleuchten des Zufalls weicht, … ausgerechnet in diesem Pandämonium und Wirrwarr fliegt uns ein rätselhaftes Zettelchen zu:
Ein Zettelchen, das wie eine Stilübung wirkt, als habe ein Dichter mit Thema und Variation gespielt.
Oder als sei einer in einer Nervenheilanstalt eingesperrt und müsse sich was von der Seele schreiben und finde den genauen Ausdruck nicht.
Oder womöglich ist es nur ein roher Entwurf, eine Notiz dessen, was auf die eine oder andere Weise formuliert werden müsste.
Wie ein klassisch strenges Schema oder wie eine kranke Qual oder wie einen kreativen Versuch kann man diese kuriosen drei Verse aus dem 1. Johannesbrief ja wirklich lesen: Sie äffen einander so auffällig nach, … sie entsprechen einander so identisch/nicht-identisch wie Körper und Schatten, … sie spielen so unlogisch mit einer Wiederholung, die keinen direkt erkennbaren Gedankenfortschritt bringt, dass man das Zettelchen beiseitelegen möchte.
… Uns beschäftigt Schwereres und Schlimmeres als so ein Stückchen Schmierpapier oder eine solche unausgereifte Gedankenzelle, die ein gemütskranker Robert Schumann, ein zwischen Wahnsinn und Prophetie schwankender Hölderlin zu Papier gebracht haben könnten. …….
Hören wir lieber den kompromisslos klaren und inzwischen mutig zu nennenden Worten Robert Habecks zu[i], dessen Videoansprache aus der letzten Woche die FAZ, die einem grünen Wirtschaftsministers keine reflexhaften Jubelovationen schuldet, rhetorisch und moralisch in eine Reihe mit der „I have a dream“-Rede von Martin Luther King stellte[ii].
Oder lesen wir die reizvolle, spielerische Dankesrede von Salman Rushdie bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels … das Märchen vom „Mann, der den Frieden als Preis erhielt“[iii].
Oder versuchen wir selber, unsere widersprüchlichen und ambivalenten Gedanken zu ordnen, in einer Zeit, in der jeder Mensch, der biblische Muttermilch getrunken hat, um Israel physisch leidet wie um einen geliebten Angehörigen in Todesgefahr … und in der gleichzeitig jeder Mensch, der biblisches Schwarzbrot kaut, fast erstickt an der Härte, an der Schuld, die Israels Überlebenskampf begleiten.
Warum soll uns der beinah sinnlos erscheinende Briefabschnitt beschäftigen, der heute hereingeflattert kam: … Zeugnis einer Monomanie … oder einer beginnenden Demenz … oder eines poetischen Verdichtungsverfahrens, das uns nichts sagt? …….
… Gut möglich, dass die Frage schon die Antwort enthält:
Ja, der kleine da-capo-Abschnitt im Brief des Apostels und Evangelisten Johannes ist tatsächlich kunstvoll geformt wie Poesie, die ja auch von Motiven klanglicher Wiederkehr und vom bildlichen Umkreisen lebt. Der Apostel, der hier den 3 Lebensaltern - Kindheit, Jugend, Reife - eine Art konzentriertesten Vermächtnisses seiner lebenslangen Jüngerschaft und Verkündigung schreibt, hat sich künstlerisch gemüht. Das Motiv, das am meisten aufhorchen lässt und die beinah gleichlautenden Kurzsätze am klarsten gliedert, ist die zeitliche Form des entscheidenden Verbs: γράφω, γράφω, γράφω / ἔγραψα, ἔγραψα, ἔγραψα … „ich schreibe, schreibe, schreibe / und schrieb, schrieb, schrieb“.
Hier zieht tatsächlich einer das Fazit.
Einer, der sich immer noch im Hier und Jetzt, im Präsens weiß, dessen Heute aber mit seinem Gestern so stimmig, so übereinstimmend verknüpft ist, dass die gestrige und die gegenwärtige Botschaft zu einem reinen Zusammen-klang verschmelzen, zu völliger Harmonie.
Wenn Welt uns also chaotisch, misstönend, dissonant im Ohr liegt mit ihrem Pandämonium von Hassgebrüll und Hilfeschreien, von Blutgeheul und Opfertränen, von Waffenlärm und Friedhofsklage, … ist’s dann nicht gerade wunderbar, ein Briefchen von Jesu liebstem Freund zu empfangen, das nicht schärfsten Wahrnehmungsschmerz auslöst, sondern trotz allem, was uns verstören kann, uns hören lässt, was stimmt?!
Dass es stimmt, wie es von Anfang an, seit der Fleischwerdung des Wortes und der Offenbarung des Vaters in ihm und der Erhöhung des Gekreuzigten in die Einheit mit Gott stimmte: Es gibt in Jesus Christus Vergebung aller Schuld und Sieg über alles Böse!
Das stimmt, und Johannes hat es in seinem schönen, gefällig variierten, in sich aber bruchlos geschlossenen Lied vom Immergültigen schlicht und unvergesslich ausgedrückt: Ich schreibe und ich schrieb, dass ihr Kleinen und Jungen und Alten leben könnt, … wirklich leben könnt in der Kraft der Erkenntnis und der Wirklichkeit Gottes durch Sein Wort.
Tatsächlich also ist’s ein Kleinod, dieses kleine Gedicht des Evangelisten, dessen überirdisch großer Hymnus anfängt (Joh.1,1): „Im Anfang war das Wort.“
… Er schrieb’s und schreibt’s. Und wie wir’s hörten, dürfen wir’s hören, abermals und abermals, immer, immer wieder. Denn es stimmt. ——
Und auch das stimmt, dass hier eine Monomanie, eine völlige und ausschließliche Leidenschaft für ein einziges Kernthema vorherrscht: Johannes, der Zeuge und Dolmetscher der Selbstoffenbarung Jesu als des höchsten Botschafters und reinsten Beispiels des göttlichen Liebesgebotes (vgl. Joh.3,16 / 13,1+34f / 15,9f / 17,23 u.a.) ist von nichts anderem erfüllt, bewegt und überfließend, als dass sich die vollbrachte göttliche Liebe im Geliebt-Sein und Lieben-Können der Menschen ausbreite.
Von dieser tiefsten, höchsten Erfahrung der Übereinstimmung – der völligen Einheit das Vaters und des Sohnes, der völligen Einigkeit der Gemeinschaft Jesu und der Seinen in der Welt (vgl.Joh.17, 21!) – ist alles gefärbt und getönt, was Johannes sagt. … Nichts als diese Harmonie spricht aus seinem Ansatz, das gleiche Einfache gleich zweifach zu sagen:
Dass alle, alle als Kinder mit dem Vater versöhnt sind, … dass alle, alle als erwachsene Menschen im göttlichen Ursprung gegründet sind … und dass sie alle in den Zerrissenheiten der je eigenen Entwicklung den spaltenden Feind, den Bösen doch durch ihren Frieden mit Gott und untereinander überwunden haben.
Sein Grundthema menschlichen Gleichklangs mit Gott in sämtlichen Lagen des Lebens entfaltet Johannes aber nicht zufällig zwiefach.
Im Gegenteil: Die Form wird hier zum Träger des Inhalts. Das im Präsens Gesagte haftet in dem, was in der Vergangenheitsform gesagt wurde. Im jetzt Gegenwärtigen spiegelt sich das früher Festgehaltene. Das Eine und das Andere ergeben im sie verbindenden Zusammenlaut das Ganze.
Diese bestärkende und bestätigende Doppelungsfigur ist dabei keinesfalls eine Erfindung des Johannes, sondern eins der ehrwürdigsten und charakteristischsten Gesetze des gehobenen, des schönen Sprechens, der Dichtung, des Gesanges, des Gebetes in der hebräischen Sprache. Sie liebt, ja sie atmet solche Wiederholungen. Das Stilmittel heißt Parallelimus membrorum - Gleichführung der Glieder also - und wird überall, im Kleinen wie im Großen gebraucht, um einen Gedanken, eine Aussage, eine Erkenntnis auf zwei Beine zu stellen. Um unter Tausenden nur ein tief vertrautes Beispiel zu wählen, erinnern wir uns an Psalm 103:
„Lobe den HERRN meine Seele und was in mir ist Seinen heiligen Namen;
// lobe den HERRN meine Seele und vergiß nicht, was Er dir Gutes getan hat. …¶
Der dir alle deine Sünden vergibt
// und heilet alle deine Gebrechen. …¶
Barmherzig und gnädig ist der HERR,
// geduldig und von großer Güte. …¶
Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden
// und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat.
So hoch der Himmel ist über der Erde, läßt Er Seine Gnade walten über denen, die Ihn fürchten,
// und so ferne der Morgen ist vom Abend lässt er unsere Übertretungen von uns sein. …¶
Lobet den HERRN, alle Seine Heerscharen, Seine Diener, die ihr Seinen Willen tut!
// Lobet den HERRN alle Seine Werke an allen Orten Seiner Herrschaft! ¶“
Die überall begegnende, ganz biblische Neigung zum Sagen und Wiederholen ist ihrerseits aber doch wohl eine Gestalt der Menschenfreundlichkeit des Wortes Gottes. Nicht nur, weil doppelt besser hält, sondern weil der Mensch ein paarig angelegtes Wesen ist: Seine rechte und seine linke Hand füllt Gott mit Seinen Gnaden, … die eine wie die andere Herzkammer durchspült der Strom Seiner Mitteilung, … in beiden Hälften des Hirns flammt die Leuchtschrift der Geistesblitze, … wird der eine seiner Füße von der Weisung des Heils auf den Weg des Friedens gelenkt, so auch der andere, Schritt für Schritt.
Gott spricht uns ganzheitlich an und darum zwiefach.
Nun mag die Welt für uns zu wirr und undurchdringlich sein in ihrer Überlagerung von Bedrohlichem und Schreckensnachrichten, die wir darum nicht mehr an uns kommen lassen und zu Herzen nehmen wollen. … Doch diese Verwirrung durch das multiple, pluriforme, polyzentrische Unheil wird gerade von der einfach zweimal gesagten Heilsbotschaft in ihrer konzentrierten Kürze mehr als aufgewogen. Das eine Anliegen des Johannes – dass Mensch und Gott nicht in ihrer Feindschaft, sondern in ihrer Einheit verwirklicht sind, …. dieses eine Anliegen wird auf dem zweiteiligen Zettelchen greifbar: Zwei sind eins!
Nicht mehr, nicht weniger. ———
Kämen wir also noch zum dritten möglichen Einwand gegen die magere kleine Notiz, die uns heute hier auf der Kanzel liegt. Dieser Einwand ist wirklich „der Letzte“ im umgangssprachlichen Sinn, aber auch ihn greifen wir auf. In der boshaft als fahrig zu deutenden Art dieses repetitiven Gestammels könnte sich schließlich ja die Hilflosigkeit eines Entwurfes zeigen, der nicht vom Fleck kommt. … Womöglich hat er schlicht den roten Faden verloren, wenn er sich so unmittelbar wiederholt, der tatterige Apostel? … Womöglich fällt dem Johannes einfach nicht mehr ein, worauf er hinauswollte? Ist das also bloß senile Gedankenführung … oder vielmehr der Verlust der Gedankenbeherrschung? Ist das ein neutestamentliches Präludium des bitteren Endes, das so viele von uns heut erwartet, … ein antikes Zeugnis der Demenz?
… Warum in aller Welt denn nicht? Wenn das Wort Fleisch wurde und in Brot und Wein und Geist und Glaube auch in Fleisch und Blut der Seinen übergeht, wer sagt uns dann, dass der Logos Gottes nicht auch in’s Reich der Vergesslichen, in die Bruderschaft und Schwesternschaft der langsam nicht mehr Orientierten hineinreichen könne? Wer sagt uns, dass der Logos Gottes - Sein Licht und Seine Wahrheit – nicht gerade auch ins Dunkel und die Rätselhaftigkeit des Alters einkehren kann? Wer sagt, dass das Land Alzheimer nicht ebenso den Stall, die Krippe und die Windeln des menschgewordenen Gottes bietet, wie das Reich der wonnigen Kindheit?
Gott ist – trotz seines brutal verkürzten irdischen Lebens vor der Auferstehung – nicht exklusiv nur Säugling oder Jüngling geworden, sondern genauso in die Wirklichkeit des langzeiterkrankten, des querschnittsgelähmten, des multimorbiden Menschenkindes gekommen, in die Qual der ALS-, der locked-in- und Wachkoma-Patientin und in das Dämmerlicht der Greisin und des Greises an ihrem Lebensabend.
Den Kindern, den jungen Leuten und den patriarchalen Jahrgängen schreibt der Apostel ja ganz ausdrücklich und bewusst sein sprödes, nicht weiter mehr zu reduzierendes Extrakt des Evangeliums. Gleichzeitig also wendet er sich an die putzmunteren, die kraftstrotzenden und die verantwortungsgebeutelten Lebensphasen.
… Und selber ist er einer der Ältesten, ein vielfach geprüfter Augen- und Ohren- und Leidens- und Glaubenszeuge dessen, was am Anfang war, des Wunders, das in einem Wort, in einem Namen zusammenzufassen ist. „Fragst du, wer der ist?“ (vgl. EG 362) … „Ein Wörtlein“ …. „Das Wort sie sollen lassen stahn“ …….
Wie alt er ist, der Zeuge, der Märtyrer Johannes am Ende seines jahrzehntelangen Dienstes für „Jesus Christus, den Herrn Zebaoth“ (ebd.) … durch Predigt und Mission, durch Verurteilung und Verbannung, durch apokalyptische und evangelistische und epistolarische Schreibarbeit. … Alt ist er und müde.
… Und tatsächlich! Die kirchliche Tradition weiß von ihm, dass er wahrhaftig den Faden verlor, die herrlichen, geheimnisvollen und hymnischen Möglichkeiten seines lebenslangen Werbens für Jesus Christus einbüßte und am Ende bloß einfältig und monoton wieder und wieder und wieder das Gleiche ausrief, wie wir es bei vielen Menschen erleben, deren Geist die Bedingungen und Konventionen unserer Ratio hinter sich gelassen hat.
Zuletzt soll er altersschwach auf einer Liege unter die Gläubigen von Ephesus hineingetragen und bestaunt worden sein wie ein Relikt, .., ein Relikt aus dem Morgenrot der Erlösung, das unermüdlich – mechanisch? inspiriert? - immer nur den einen Satz wiederholte: „Meine teuren Kinder, liebt euch untereinander!“[iv]
Irgendwann bevor es so weit war, hat er den kleinen Zettel für uns verfasst, … das schlicht wirkende und dabei so unüberbietbare Lied vom Bleibenden, … das zweiteilige Bild der zu Einem versöhnten Wirklichkeit: Wenn wir Gott kennen und Ihm verbunden sind und aus Seiner Vergebung leben, dann werden wir den Bösen überwinden. Dann wird alles gut sein.
Und das stimmt.
Das ist das Ganze.
Nichts anderes und gar nichts mehr brauchen wir im Verfall und im Zerfall und im Zufall dieser Zeit.
Nur dieses, … kurz, … eindringlich, … immer und ewig gültig. ——
Darum gebe Gott, dass wir das - und nur das - halten und behalten, was immer sonst wir auch vergessen und aufgeben werden.
Gott mache in solchem einfachen Glauben unser Ende wie unsern Anfang, … Er mache in Seiner Gnade aus diesem Glauben unsere Schwäche wie unsere Kraft.
Er lasse uns hellwach und todmüde bei diesem Einen bleiben. Von Kindesbeinen bis ins Alter: Ihn zu erkennen und in Ihm den Frieden zu haben, der das Leben ist.
Amen.
[i] https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Videos/2023-some/231101-israel-und-antisemitismus/video.html
[ii] So Jürgen Kaube unter der Überschrift „Kein Mitgefühl mit den Tätern“ in der FAZ vom 02.11.2023 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/robert-habeck-warum-seine-videobotschaft-neue-massstaebe-setzt-19286643.html
[iii] https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/2020-2029/salman-rushdie
[iv] Diese im Galater-Kommentar des Hieronymus bezeugte Erinnerung an den altersschwachen Lieblingsjünger ist im katholischen Stundenbuch sogar die sechste der liturgischen Lesungen zur Matutin am Tag des Evangelisten, dem 27.Dezember … sie hat also offizielle Dignität als Gegenstand der Meditation. Der entsprechende Passus lautet im Original (zitiert nach Breviarium Romanum ex decreto SS.Conciliii Tridentini restitutum usw.– Pars Hiemalis, Regensburg 1954, S.352): „Beatus Joannes Evangelista … nec posset in plura vocem verba contexere; nihil aliud per singulas solebat proferre collectas, nisi hoc: Filioli, diligite alterutrum.“ Und als es den Hörenden schlicht zu viel wurde, beharrte er trotzdem darauf: „Tandem discipuli et fratres, qui aderant, tædio affecti quod eadem semper audirent, dixerunt: Magister, quare semper hoc loqueris? Qui respondit Joanne sententiam: Quia præceptum Domini est; et, si solum fiat, sufficit.”
Reformationstag, 31.10.2023, Stadtkirche, Matthäus 5, 1 - 12, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reformationstag[i] - 31.X.2023
Matthäus 5, 1-12
Liebe Gemeinde!
Zwei Buchstaben will ich heute abklopfen ……., nicht mehr als nur zwei Buchstaben: Aber solche, die es schwer haben und wirklich nicht in die Zeit passen.
Unsere Zeit war sich vor Kurzem noch sicher, sie sei eine Zeit „post“: „Postmodern“ nannte sie sich ja mit Vorliebe vor einem Vierteljahrhundert, denn der Postkommunismus war doch eingetreten und die westliche Welt dachte postnational und die glitzernden Möglichkeiten der Digitalisierung ließen postindustrielle Wirtschaftsmodelle ahnen und man stellte sich auf eine vielleicht sogar postmaterialistische Kultur ein, in der vieles virtuell und manches auch einfach überflüssig werden würde.
Der große Traum von all diesem befreienden Danach ist geplatzt. Übriggeblieben ist dabei eigentlich bloß eine posttraumatische Zeit, die viele Schocks und viel Vergiftung ihrer Vergangenheit erst jetzt bemerkt und von therapeutisch bis brachial auf jeden Fall loswerden will. Manches von diesem Abschütteln und Abtun der Vergangenheit(en) schmückt sich zwar noch mit der einst verheißungsvollen Vorsilbe – besonders der „Postkolonialismus“ und die post-patriarchale Welt der unzähligen Rollen-, Geschlechts- und Lebensentwürfe –, aber im Wesentlichen ist alles Alte und Gewesene so in Acht und Bann getan, dass man seiner kaum noch bewusst gedenkt, ihm nichts dankt und dieses alles – die Welt, aus der wir kommen, die Wurzeln, die uns tragen – schlicht mit Schweigen und von Jahr zu Jahr zunehmender Ignoranz dem Orkus überantwortet.
Wenn irgendetwas uns Heutige noch ausmacht, dann jedenfalls nicht das, was früher war – wir sehen uns nicht mehr als „post“! –, sondern etwas, das wir so tief abgestoßen, so vergraben haben, dass es völlig unter uns und unserer Würde ist: Wir sind weit darüber…. Wir sind also „meta“: „Willkommen im Metaversum.“ … Das ist die Welt, in der nichts wirklich Gewesenes mehr gilt und in der nichts als das Künstliche noch intelligent sein wird.
Wir spüren vielleicht, dass wir selbst dann also nur noch leer und unbefestigt sein können: Kein Woher, kein Wozu macht in der Welt über der wirklichen Geschichte und den menschlichen Grenzen dann ja noch den Menschen aus: Vielmehr wird er zur eindimensionalen Fläche, in der sich nichts ansammeln kann und nichts entsteht, weil sie bloß wie ein Bildschirm wiedergeben kann, was eine andere Instanz codiert und transmittiert. ——
Und da komme ich, … nein, da kommt dieser Tag, der auf einen kleinen Abendgottesdienst zusammengeschrumpft ist, mit den zwei Buchstaben daher, die ein ganzes provokantes Programm enthalten: Es handelt sich um die Vorsilbe, die den Ereignissen vor fünfhundert Jahren und den nach diesen Ereignissen benannten Kirchen ihre eigentliche Prägung gibt … auch wenn das kaum noch bedacht und noch seltener bejaht wird. Ich rede vom „R“ und vom „E“ – nicht als Bezeichnung der bummeligsten und reizlosesten Form der Fortbewegung, sondern als der klaren Absichtsvorgabe der wahrhaftig dynamischen Bewegung zur Wiederherstellung der Kirche vor fünfhundert Jahren.
Re-Formation sollte es sein: Eine Wieder-Formung, eine Wiederannäherung, eine Wiederherstellung, eine Wiederinstandsetzung der Kirche und ihres liturgischen und praktischen Lebens, ihres gemeinschaftlichen Ethos und v.a. ihres biblisch fundierten, christozentrischen und aus Herzens- und Gewissensfreiheit angenommenen Glaubens und Bekenntnisses.
Es sollte wieder gewollt und wieder gelebt, wieder verstanden und wieder gefeiert werden, was Gott in aller Frische und allem Ernst nicht nur einst, sondern immer zu sagen, zu verheißen, zu gebieten hat in Seinem Wort, das lebendig und scharf ist (vgl. Heb.4,12) und gnädig und menschennah (vgl.5.Mose 30,14), ja, das selber für uns Mensch geworden ist (vgl. Joh1,14). Und das Hören aufs Wort, das Hängen am Wort, das Trauen aufs teuerwerte Wort (vgl. 1.Tim1,15), das Festmachen daran, das Trotzen darauf und das Leben und Sterben in die Ewigkeit dieses Gotteswortes, dieses Jesus Christus hinein (vgl. Jes.40,8) … das sollte wieder tragender Grund und heilige Mitte, sakramentale Fülle und eschatologisches Ziel des Lebens der Kirche sein.
Die Idee, dass seit 1517 die Kirche andauernd beliebig anders gestaltet, ständig zeitgemäß, immer auf der nächsten Aufholjagd hinter Trend und Wahn her sein müsse, … dieses Zerrbild, dass mit Luther und Melanchthon, mit Bucer, Zwingli und Calvin ein unaufhaltsamer Neuerungsimperativ das Wesen des Protestantismus ausmache, ist ein fataler Irrtum.
Denn die zwei Buchstaben - „E“ und „R“ - funktionieren auch auf Deutsch: Eine ER-Neuerung ist nicht das Gleiche wie zwanghafte „Neuerungs“-Sucht. Er-Halten, Er-Holen, Er-Innern, Er-Klären und Er-Kennen bedeuten sämtlich eine Rückbeziehung, eine Re-Flektion. Sie haben alle mit der gemeinsamen Vorsilbe von Re-Formation und Re-Ligion zu tun: Rückbindung und Rückbesinnung sind es also, was wir heute feiern – nicht aus gewohnheitsseliger Nostalgie oder ewiggestrigem Traditionalismus, sondern weil niemand einen anderen Grund legen kann und darf, außer dem, der gelegt ist: Jesus Christus (1.Kor.3,11)!
Und damit sind wir nun wirklich am Grund, am Ursprung angekommen.
… Der uns heute ganz nah ist.
Es ist der heutige Predigttext, den wir bereits miteinander rezitiert haben, weil er kein bloßer Text, sondern eine Komposition ist – eine bewusst eindringliche Schöpfung fürs Gehör, fürs Gehirn und fürs Gefühl – … und das obendrein nach Art einer Deklaration, einer feierlich-öffentlichen Bekräftigung.
Dieser zu Sprache gewordene Akt, in dem sich eine Lebensgemeinschaft und deren Lebensform konstituieren, ist im doppelten Sinne Grund und Ursprung dessen, was wir heute feiern: Die Seligpreisungen sind seit mehr als einem Jahrtausend das Evangelium des Allerheiligentages, als dessen Vorabendfeier der Reformationstag historisch entstand und inhaltlich zu verstehen ist. Seit mehr als dreißig Generationen werden die Seligpreisungen also wirklich verstanden als Grund und Ursprung der „Gemeinschaft der Heiligen“, … der einen und ewigen Kirche, als deren lebendige Glieder hier und heute wir uns bekennen (vgl. Heidelberger Katechismus Fr.54 [EG S.1339]!).
Und zugleich sind die Seligpreisungen der unüberhörbar betonte und unvergesslich geformte Anfangsakkord der Botschaft Jesu im Neuen Testament, die biblische, die christologische Gründungsurkunde aller Jüngerschaft, allen evangeliumsgemäßen, allen evangelischen Lebens also.
Mit diesen drei mal drei Rufen der Ermutigung, des Zuspruchs, des Trostes, der klaren Maßstäbe, die in einem zehnten Jubelruf - dem Ruf des Himmelreiches - gipfeln, haben Jesus selbst und dann der Evangelist Matthäus und dann die Kirche, als sie das Neue Testament abschließend ordnete, eine ergreifende Parallele und bestärkende Echo-szene zum Ursprung des Volkes Israel und zu seinem Bund mit Gott geschaffen: Die Zehn Weisungen vom Sinai werden in ihrer prägnanten und universalen Gültigkeit ebenso prägnant und strahlend gespiegelt in den insgesamt zehn Lockrufen und Leitsätzen des nahegekommenen Himmelreiches, die auf dem Berg in Galiläa ergingen. ——
Wie aber ist die absichtliche und notwendige Parallele von Torah und Bergpredigt zu verstehen?
Die Zehn Worte der Heiligkeit, gegeben in Galiläa durch Christus, entsprechen den Zehn Worten der Gerechtigkeit, vermittelt durch Mose auf Sinai fundamental: Beide - Seligpreisungen und Dekalog - setzen von Gott her die Reflexe und Instinkte des Brutalismus und Egoismus außer Kraft, damit aber auch die Erfahrungen und Reaktionen der gottlosen, der widergöttlichen Menschennatur.
Das Menschentier ans sich will alles selber sehen, selber für sich sorgen, nach eigenem Gutdünken zum eigenen Nutzen handeln, es will sich selbst behaupten und verteidigen, es will seine eigenen Regeln und Ausnahmen davon bestimmen und es will nicht mehr oder weniger als das Eigene seiner Wünsche und Bedürfnisse durchsetzen.
Doch gegen die fixe Idee vom eigenen Urteil in Fragen von Gut und Böse stehen im Dekalog der heilige Name Gottes als Maßstab und in den Seligpreisungen die Reinheit des Herzens als Voraussetzung aller Erkenntnis.
Gegen die ängstliche Selbstsucht stehen der Segen der passiven Sabbatheiligung und die gepriesene Fähigkeit zum geistlichen Hunger nach der Gerechtigkeit Gottes.
Gegen die Beschränkung auf das Meinige heißt es am Sinai, dass uns der Neid seelisch mehr schadet, als materielle Güter uns je nützen können, und auf dem Berg hat der Herr die Menschen gerufen, sich selbst notfalls zu verlieren, wenn die Gerechtigkeit auf dem Spiel steht.
Gegen die Hybris der autonomen Gewalt steht auf den von Gott beschriebenen steinernen Tafeln die Einbindung jedes Menschen in eine väterliche und mütterliche Ordnung und die Lehre der Friedfertigen.
Gegen die Rache stehen das Tötungsverbot und die Seligpreisung der Opfer, die Leid tragen müssen und können.
Gegen die ungezügelte Ökonomie der Begierde und Befriedigung stehen der Schutz der Ehe und die Ethik der Barmherzigkeit.
Gegen die Schamlosigkeit der teuflischen Lügentendenz richtet sich das Verbot des falschen Zeugnisses und wirkt die Verheißung unserer Gemeinschaft mit dem Geschick der Propheten und aller anderen Wahrheitszeugen.
Gegen all unsere Verführbarkeit stärken das Bilderverbot und der Jubelruf über die unvorstellbare Erwartung des Himmelreichs, die wir uns nicht verdienen müssen, die uns aber auch niemand nehmen kann.
Gegen die menschliche Perversion, alles wie selbstverständlich bloß auf sich zu beziehen, richtet sich das Raubverbot und der Glückwunsch an die Sanftmütigen, die Demütigen, die sich nicht zwanghaft stets an erster oder zweiter Stelle wähnen, weil sie in gelassener Niedrigkeit die Nähe und Treue des wirklichen Segens erfahren.
Und allen Götzendienst – am Ich, an der Macht, an der Angst – macht das strahlende Erste Gebot überflüssig: Dass Er, der Lebendige unser Gott ist, Der Israel und allen Versklavten Freiheit eröffnet. … Wer braucht da noch die vielen, die fremden, die selbstgemachten Götzen oder die Selbstvergötzung? - „Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich“! ——
Das ist die Magna Charta, das Grundrecht, die Lebensordnung im Bund mit Gott, die am Sinai und in der Bergpredigt der Welt verkündet werden.
Dieses Gottesrecht, diese Heiligkeitsethik sind nun aber wahrhaftig weder unerfüllbar und abstrakt, noch Ausdruck einer übersteigerten, elitären Werkgerechtigkeit – wie ein höchst problematisches, geradezu verhängnisvolles Interpretationsmuster der Reformatoren es zu verstehen gab –, sondern sie sind lebensfördernd, ja lebensnotwendig!
… Das zeigt der Blick auf unsere Zeit schmerzhaft direkt:
Wenn wir die Gebote Gottes, wenn wir die in seiner Nachfolge uns aufgetragene heilige und heilende Gerechtigkeit der Königsherrschaft Jesu Christi nicht üben, dann vergeht die Kirche und mit ihr die Welt in den Kämpfen, in den sadistischen Strudeln der Sünde, die so urwüchsig und allgegenwärtig gerade einen Dammbruch nach dem andern anrichten und wie eine Sintflut aus Kriegen, Naturzerstörung, sozialer Triebtäterei und unkontrollierbaren Katastrophen unsere Gegenwart durcheinanderwirbeln.
Wir müssen und wir dürfen also wirklich wieder zurück … zurück, zurück zum Wort, zum Gebot und zur Verheißung Gottes!
Das ist die Re-Formation, die Wieder-Herstellung, die Er-Neuerung, die damals gewollt und heute geboten ist und die nie abgeschlossen, nie beendet sein wird.
Revitalisierung der Ethik aus dem Glauben, Reorientierung unseres gesamten Lebens, Rekonvaleszenz für die bedrohten Abwehrkräfte der Menschlichkeit, Rehabilitierung der Heiligung, Rekonstruktion des konturlosen Christentums, Resozialisierung im Zeitalter der individualistischen Atomisierung: Das ist das Wesen des Reformationstags, wenn wir ihn auf dem Grund der Lehre Christi und aus dem Heiligen Gründungsgeist seiner Bergpredigt für die, die ihm nachfolgen wollen, verstehen und begehen.
Und darum – weil wir diesen Bund vom Sinai, diesen Bund der Seligpreisungen erneuern und wieder bekräftigen dürfen und sollten – , schlage ich vor, dass wir an diesem Reformationstag die sinnvolle Sitte der Methodisten aufgreifen:
Deren Gründer, John Wesley sah vor, dass alle Getauften einmal im Jahr in feierlicher Gemeinschaft ihren Bund des Glaubens mit Gott neuerlich bestätigen, ihn reaffirmieren sollten.
…….
Wer von uns das als den Weg und die Sendung seines evangelischen Glaubens innerhalb der heiligen christlichen Kirche erkennt und sich dabei den überlieferten Worten der methodistischen Glaubenserneuerung[ii] anschließen kann, den bitte ich, mit mir am Fest unserer Rückbindung an Gottes Wort in Jesus Christus diese – mit Reflektion – zu sprechen:
Ich gehöre nicht mehr mir, sondern dir.
Stelle mich, wohin du willst.
Geselle mich, zu wem du willst.
Lass mich wirken, lass mich dulden.
Brauche mich für dich, oder stelle mich für dich beiseite.
Erhöhe mich für dich, erniedrige mich für dich.
Lass mich erfüllt sein, lass mich leer sein.
Lass mich alles haben, lass mich nichts haben.
In freier Entscheidung und von ganzem Herzen überlasse ich alles deinem Willen und Wohlgefallen.
Herrlicher und erhabener Gott,
Vater, Sohn und Heiliger Geist:
Du bist mein, und ich bin dein.
So soll es sein.
Bestätige im Himmel den Bund,
den ich jetzt auf Erden erneuert habe.
Amen.
[i] Die Überschrift vom „Bundeserneuerungsfest“ spielt auf eine in Deutschland seit dem 19.Jhdt. beliebte, aber nie endgültig belgebare Hypothese in der alttestamentlichen Wissenschaft an. Viele Forscher waren überzeugt, ganz unterschiedlichen alttestamentlichen Texten als sinnigsten und schlüssigsten Sitz im Leben ein „Bundeserneuerungsfest“ der altisraelitischen Kultusgemeinde zuordnen zu sollen … für das leider biblische Beweise fehlen. Dass die Hypothese einem echten menschlichen Bedürfnis und einer liturgischen Leerstelle entspricht, zeigen die unterschiedliche, aber fest etablierten und teilweise ehrwürdigen Riten, die es zumal in den Kirchen gibt, die feierliche Taufgedächtnisse, Jubiläen von Weihen, Ordinationen, Konfirmationen und andere Feste der Vergewisserung und Bekräftigung eines Bekenntnisses oder einer Beauftragung hervorgebracht hat. Eines davon wird im Laufe der Predigt noch zur Geltung kommen.
[ii] https://emk-gottesdienst.org/besondere-zeiten/2023/01/04/bundeserneuerung/
21.Sonntag n.Trinitatis, 29.10.2023, Stadtkirche, 1.Mose 13, 1 -1 2, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 21.n.Trin. - 29.X.2023
1.Mose 13, 1 - 12
Liebe Gemeinde!
Was steht uns noch bevor in diesem mörderischen 2023? In diesem Jahr, in dem Grauen auf Grauen folgt, …Grauen mit Grauen beantwortet wird. …
Was kommt noch? …
Nur zweierlei wissen wir gewiss: Der Jüngste Tag kommt bald, … und der Messias …….
Denn beides bringen uns die letzten Wochen dieses Jahres noch: Den Ewigkeitssonntag und das Weihnachtsfest.
… Und beide braucht die Welt so sehr: Das Gericht …, … das Heil.
Das Böse wütet; das Unheil ist beherrschend.
… Es ist keine Floskel mehr, kein Spiel mit staubigen alten Worten, wenn wir tatsächlich sagen müssen: Das Ende und die Erlösung sind unsre ganze Hoffnung.
Würde alles nur weiter so gehen - so sehr das Gewohnheitstier in uns sich das auch wünscht -, würde Grauen immer weiter auf Grauen folgen, wäre die Menschheit verloren.
Das ist älteste christliche Verkündigung. Es ist die täuferische Johannesstimme am Anfang des Neuen Testaments – „Tut Buße vor dem kommenden Zorn!“ (vgl. Matth.3) –, und es ist die prophetische Johannesstimme an seinem Schluss, in der Apokalypse: „Amen! Komm’, … komm’ doch endlich, Herr Jesus!“ (Offenb.22, 20)
Ohne den Richter, der da kommt, … ohne den Heiland, der da kommt, sind wir alle verloren.
Und nun sind sie uns beide so nah, … noch in diesem Jahr: Der Sonntag vom Endgericht und der Sonntag der Heiligen Nacht, in der der Erlöser kommen wird.
Aber wie lang sind diese vier, diese acht Wochen auch noch!
So lang wie die zwei, die dreieinhalb Jahrtausende seit wir warten. Seit die Kinder Abrahams warten auf den Messias; seit die Juden- und die Heidenchristen warten auf die Wiederkehr des Herrn, dessen Weltgericht in der Krippe anfing, am Kreuz vollstreckt wurde und an dem Tag bestätigt wird, wenn die einen nach links und die andern nach rechts gehen … je nachdem, ob sie einfach und ohne Einschränkung lieben konnten oder ob sie nur nach ihren eigenen, besonderen Vorstellungen vom Guten leben und lieben wollten (vgl. Matth.25). ——
Wir warten obwohl und wir warten, weil die Erde zittert … zittert vor Empörung über den Terror, zittert unter dem horrenden Beschuss der Gegenwehr….
Unter Abrahams Füßen zittert sie.
Die Erde zittert unter den Füßen Abrahams auf dem ersten seiner vielen Umwege zum Verheißenen, auf dem ersten der vielen Rückwege dieses Erzvaters und seiner unzähligen späteren Nachkommen aus dem Land Ägypten, … unter Abrahams Füßen in der Richtung des späteren Exodus zittert die Erde.
Der Weg führt ihn ja durch den Gaza-Streifen, den der Bericht in unserm Predigttext „das Südland“ nennt. Durch die unvorstellbaren Bilder der trost- und ausweglosen Not, die die Gefangenen und Eingekesselten erleiden.
Abraham – der Tag Jesu vorhersah und sich freute (vgl. Joh.8,56!) – … Abraham mag wohl auch die Tage von Gaza in 2023 vorhergesehen haben. … Und gezittert.
… Unter seinen Füßen mag er die Tunnel gespürt haben, in denen die Auslöschung seiner Kinder, der Kinder Israel geplant wurde wie einst am Wannsee in Berlin. Er mag die Beklemmung und Todesangst seiner Nachkommen aus den unterirdischen Gängen und Verstecken heraufsteigen gespürt haben: Der Geiseln der Hamas, die da seit drei Wochen im Reich des Todes Faustpfänder der Mörder sind.
Wer will es ausschließen, dass Abraham damals schon mit Segens- und mit Todesahnungen jenen Weg ging?
Wer will es ausschließen, dass er zitterte, weil er auch den Hass und die Gnadenlosigkeit spürte, die seinen anderen Nachkommen, denen von Ismael, den arabischen Opfern des Würgegriffs und der Tücke der Hamas zum Verhängnis werden würde?
Wer kann es ausschließen, dass er heute zittert, in der Herrlichkeit, … und in seinem Schoß zittert der arme Lazarus (vgl. Lk.16, 23) und alle, die dorthin gelangt sind, zittern mit …
Und Rahel weint um ihre Kinder (vgl. Jer. 31,15 / Matth.2,18) – deren Schicksal sie ja auch zu Lebzeiten nicht verfolgen konnte –, und Maria, die Tochter Zions und Trösterin im Leid aller Menschen zittert mit, wenn so viele Kinder, so viele Menschenkinder das Grauen erleben, das sie als fliehende Mutter und Zeugin von Golgatha in ihren Knochen, in ihrem Leib und ihrer Seele in Ewigkeit nicht abschütteln kann. …….
Zittern und Zagen wie in der Endzeit, … Zittern und Zagen wie heute …, Zittern und Zagen womöglich auch schon in der Frühzeit, als der Vater der Gläubigen, der Vater der unruhigen Suche nach dem verheißenen Erbteil der Ruhe, die noch vorhanden ist dem Volk Gottes (vgl. Hebr. 4,9 [+11,8ff]), aufbrach.
Auch auf dem weiteren Weg Abrahams hinauf zum Altar zwischen Bethel und Ai führt die Strecke durch Orte, die heute schrecklich sind:
… Wohl denkbar, dass auch da sein Schritt zögert und zittert, wo einst mehr als dreitausend Jahre später hunderte junge Leute nach einer heißen Nacht unbeschwerten Tanzes kalt massakriert wurden. Denkbar, dass Abraham stockte in der Gegend von Dörfern, wo man in diesem Monat des Jahres 2023 Eltern unter den irren Blicken der Kinder geschlachtet und geschändet hat und tapfere Friedensaktivisten verstümmelte und verschleppte; …. Denkbar, dass Abraham bebte in den Gebieten, in denen man Kleine, deren Urgroßeltern in Auschwitz vergast und verbrannt wurden, in ihren eigenen Kinderbettchen anzündete und ferne Familien durch einen Anruf, eine Nachricht in den sozialen Medien zu Augenzeugen in Echtzeit machte, wie die Großmutter in ihren eigenen vier Wänden gefoltert, gequält und bestialisch ermordet wurde.
… O, das Zittern Abrahams!
… O, die Angst, das Bangen Sarahs!
… O, die Schauder, die jedem kommen, der heute im Geist den Weg durch Gaza und die Wüste Negev nachvollzieht: Durch den am dichtesten besiedelten und grauenvoll ausweglosen Streifen des palästinensischen Leidens und durch die Kibbutzim, in denen die israelischen, die jüdischen, die biblisch-en Hoffnungsträume vom sicheren Überleben und von der Möglichkeit, die eigene Zukunft mit der Versöhnung mit anderen zu verbinden, blutrünstig durch die Hamas vernichtet werden sollten.
…. Zittern und Zagen vor dem Gericht. … Und vorm Heil. Die uns beide bevorstehen. ——
Aber vielleicht zittert Abraham auch gar nicht.
Vielleicht erkennt er bloß etwas auf dem Weg in die Zukunft. Erkennt etwas … nüchtern und enttäuscht vielleicht, aber auch realistisch. …
… Vielleicht erkennt er auch im Blick auf das Furchtbare, das sich leibhaftig vor unseren, nicht seinen Augen abspielt, realistisch nüchtern und gläubig enttäuscht schlicht das, was der biblische Bericht von den engzusammengehörigen Bluts- und Schicksalsverwandten Abram und Lot[i] ganz nüchtern festhält: „Das Land konnte es nicht ertragen, dass sie beieinander wohnten.“
Was für ein sonderbarer Weg in die Verheißung ist das: Ein Weg, der eben nicht glatt wie in der Legende und mühelos wie in der Phantasie verläuft, sondern an dessen Beginn schon Konflikt steht, … Konflikt, so wie Albert Schweitzer alles natürliche Dasein beschrieb und die Bibel auch die Geschichte des Glaubens, der Verheißung und des Heils: Was in dieser Welt existiert und seinen Ort sucht, seine Bestimmung, sein Ziel, das ist alles „Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“.
Wenn aber auch nur eine dieser Lebensäußerungen verneint wird, …. wenn einer der Lebenshirten der Herde des andern ihre grüne Aue, ihr frisches Wasser verwehrt, wenn nur einer aus der einen Herde Mangel für die Herde des anderen Hirten herbeiführt, dann ist die Stunde des Richtens gekommen, … die Stunde, in der die Richtungen sich ändern müssen.
Denn das ist das Gericht: Dass Wege, die unversöhnlich sind, auseinandergehen und Bahnen klar getrennt werden, die sich im parallelen Verlauf nur gegenseitig Hindernisse bereiten. …
Im Fall von Abram und Lot – der beiden ersten Siedler, die auf Gottes Geheiß hin in das durchaus bewohnte, durchaus konfliktträchtige Land der Kanaaniter und Perisiter zogen – ist dieses ernüchternde, dieses menschlich enttäuschende, aber auch lebenskluge Gericht zum ersten Mal vollzogen worden: Richtungen, die sich nicht vereinbaren lassen, müssen so gelenkt werden, dass sie einen Abstand voneinander gewinnen, der ihrem jeweiligen Verlauf Freiheit gewährt.
Trennung, Scheidung, Teilung sind also Zugeständnisse an das, was die Reformatoren den „alten Adam“, den in der unerlösten Welt vorfindlichen Menschen nannten, der von Natur aus nicht – wie wir’s im Evangelium hörten (vgl. Matth.5,38ff) – die linke Wange darbieten kann und wird, wenn er auf die rechte schon geschlagen wurde.
Nun leben wir in Tagen, in denen die schreckliche Not dieses alten, dieses realen Adam vor aller Augen steht: Zeiten, in denen das passive Erdulden und wehrlose Hinnehmen von Unrecht und Gewalt Dritten nicht gepredigt werden kann, ohne dass die Predigenden, die nicht zur Praxis ihrer eigenen Predigt gezwungen werden, sich schuldig machten. … 2023 ist wahrhaftig kein Jahr der Bergpredigt, sondern ein Jahr des Gerichtes. ———
Nun ist aber also der erste Landkonflikt der Bibel, das erste Gericht über Wege und Ziele, die unvereinbar sind, durch und durch von der großen menschlichen Nüchternheit geprägt, die Abraham nach seiner Wanderung nordwärts durch den Gazastreifen überkam: Wenn denn das Land das Zusammenwohnen nicht verträgt, weil die Menschen es nicht vertragen, dann hilft’s nur, dass sich die Wege teilen – zur Linken der eine, der andere zur Rechten.
Diese Realpolitik aber setzt voraus, dass es eine Wahl zwischen rechts und links gibt (vgl. Jona 4,11). Da Israel indes keine Wahl hat, zu verschwinden und seine Zelte jenseits des Horizontes aufzuschlagen - weil die Welt ihm mehr als zweitausend Jahre lang bewiesen hat, dass es nirgends sonst Schutz und Heimat finden kann –, müssen wir die großmütige und zugleich gelassen-resignative Geste Abrahams bei der Weideteilung mit seinem Neffen Lot ohne Zweifel heute als einen Wink verstehen, dass sich - realpolitisch gesprochen - schon in der Weisheit der stocknüchternen Erzvätergeschichte so etwas wie der Segen einer Zwei-Staaten-Lösung andeutet.
Der angesichts der Greuel von Gaza zitternde Abraham steht uns daher nun als der seufzende Vater einer verzichtbereiten, einer nachgebenden und sich begnügenden Verheißungstreue vor Augen: Er wird das Verheißene nicht durch seinen festgehaltenen Anspruch darauf, sondern durch seine heilige Haltung des Hergebens erlangen.
Möge dieser Geist des Vaters heute nicht das durch tödliche Bedrohung herausgeforderte Volk seiner Kinder verlassen! ——
Mehr als so zu beten – mit letztem Ernst, mit dem Ernst der letzten Zeit! –, können wir in diesen Tagen für Israel, das Volk der Verheißung nicht tun. ——
Uns bleibt nun aber nur noch Eines in unserm Warten auf das große heilbringende Richten und das richtige Heilen der Welt.
Als Abraham zwischen Bethel und Ai stand und Lot zur Linken oder zur Rechten wählen ließ, streifte sein Blick auch die Bergzüge südlich seines Standortes. Dort auf dem Gebirge lag vor ihm die Stadt Salem, deren geheimnisvollen Priester Melchisedek Abraham bald kennen lernen würde, als der ihn mit Brot und Wein und Segen versah (vgl. 1.Mose14,18f).
Und dorthin – in die Stadt von Brot und Wein, in der einst der Sohn Abrahams (vgl. Mtth.1,1) für mich und für Dich gekreuzigt wurde, der in der Bergpredigt den Gewalt- und Besitz- und Rechtsverzicht des Urvaters Israels uns bis zur Feindesliebe aufgetragen hat, wie er sie für die ganze Menschheit übte – … dorthin, nach Salem, nach Jerusalem müssen wir jetzt noch blicken!
Denn da entscheidet sich unser Rechts oder Links.
Die Kinder Abrahams erwarten ja alle das Gericht und die Vollendung: Juden wie Christen, … aber auch die Muslime.
Nun sind die Kinder der Verheißung, Abrahams Nachkommen durch Isaak und Jakob - das jüdische Volk - und die Kinder Abrahams durch Ismael - muslimische und christliche Araber - in einem grauenvollen Albtraum verstrickt.
Und was können wir da jetzt tun?
Wie können wir rechts oder links wählen?
- Unmöglich können wir Israel, das mit fürchterlicher Gewalt ums nackte Überleben kämpft, verurteilen oder verlassen.
- Unmöglich aber auch, dass wir die, die begeistert den Mord an so vielen Unschuldigen in Israel feierten und die nun selber zu Opfern der grausamen Reaktion auf die grausame Aktion werden, vergessen oder verleugnen.
Wir können die Liebe zu Israel und das Mitleid mit den Menschen von Gaza also nicht in einer Alternative fassen!
Wir können unter den Augen Abrahams – des Zitterenden und Enttäuschten, des Mitleidenden und Opfernden – nur nach Jerusalem schauen, wo Der liebte und litt, wo Der starb und auferweckt wurde, Der von Jerusalem aus zu Gott zurückkehrte, um einst zu dieser Welt zurückzukehren und allen Völkern der Erde endlich den Frieden zu bringen.
Wie am Anfang des Evangeliums können wir mit Simeon und Hanna nur auf den Trost Israels (vgl. Lk.2,25) und die Erlösung Jerusalems (vgl. Lk.2,38) warten, und wie am Schluß des Evangeliums (vgl. Lk.24,53) können wir Dem, Der allein Richter und Heiland sein wird, nur nach- und also Seiner Zukunft entgegenschauen und dann „mit großer Freude nach Jerusalem zurückkehren“.
Nicht rechts oder links, sondern die Verheißung wählen wir: Dass seit grauer Vorzeit dort im Gebirge Juda eine Stadt liegt - und auch im Himmel ist (vgl. Offb. 21!) - , die „Frieden“ heißt und ist, und in der man zusammenkommen soll (vgl. Ps.122,3), weil der HERR in ihr ist (vgl.Ps.46,6)!
Amen.
[i] Die im biblischen Text an dieser Stelle noch defektive Schreibweise des Namens ist im Gesamt der Predigt überwiegend zugunsten der vertrauten Langform (die dann ja „Vater der Barmherzigkeit“ und nicht mehr „erhabener Vater“ bedeutet) zurückgestellt worden: An dieser Stelle aber geht es sozusagen um den „historischen“ Ursprung der Überlieferung, weshalb hier die textgemäße Namensform Verwendung findet.
20.S.n.Tr., 22.10.2023, Predigtmeditationen "Mystikerinnen", Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
"Mystikerinnen in Vergangenheit und Gegenwart – Ermutigung und Inspiration für uns heute“
Meditation Teil 1
Liebe Schwestern und Brüder, gestern haben wir hier den Mirjamsonntag nachgefeiert – mit Begegnung, Austausch und einem Gottesdienst. Das Thema in diesem Jahr lautete „Visionärinnen gestern und heute“.
Ein spannendes, wenn auch nicht leichtes Thema, dem wir uns in unserem ökumenischen Weltgebetstagsteam gestellt haben. Visionärinnen, Frauen mit Visionen, Frauen, die Visionen haben. Allein schon das Wort „Vision“ löst bei manchen Unbehagen aus. Helmut Schmidt, der nüchtern-pragmatische Hanseat, empfahl Menschen mit Visionen den Aufenthalt in der Psychiatrie. Vielleicht lag das auch an seinen protestantischen Genen. Gerade in den Kirchen der Reformation tut man sich bis heute schwer mit Visionärinnen und Visionären und verortet sie lieber in der katholischen Kirche: wie Hildegard von Bingen, Theresa von Avila, Mechthild von Magdeburg.
Dabei gibt es in der Bibel gar nicht wenige Erzählungen, Berichte von Visionen; allerdings sind es dort Männer, die Visionen haben, die Propheten wie Jesaja, Hesekiel und Daniel in der hebräischen Bibel und die Apostel Paulus und Petrus und der Seher Johannes in der griechischen Bibel. Sie schauen Dinge, die das physische Auge gar nicht sehen kann.
Sie haben weder Cannabis konsumiert, noch sind sie auf einem LSD-Trip oder haben zu tief ins Glas geschaut. Auslöser ihrer Visionen ist vielmehr der Geist Gottes, der Ruach Elohim. Petrus zitiert den Propheten Joel, um das Geschehen am Pfingsttag den irritierten Jerusalemer Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln, und der Apostel Paulus beschreibt das Wirken des Geistes in seinem Brief an die Korinther.
Hören wir die Lesungen aus Joel und dem 1.Korintherbrief: Lesung Joel 3,1-3a und 1.Kor.12,6-11
Schola „Schaue hindurch“
1.Schaue hindurch, was immer du siehst,
schaue hindurch mit deinem Herzensauge.
2.Lausche hindurch, was immer du hörst,
lausche hindurch mit deinem Herzensohr.
Meditation Teil 2
Hindurchschauen und hindurch hören, mit dem Herzensauge und dem Herzensohr wahrnehmen, was uns begegnet. Was der Geist uns schauen lässt, lässt sich nicht digitalisiert festhalten. Es geht vielmehr um die „Festplatte“ unseres Herzens. In ihm soll gespeichert und weiterverarbeitet werden, was wahrgenommen wurde.
Menschen, die vom Geist Gottes berührt werden, sich haben berühren lassen, das sind die Mystikerinnen und Mystiker. Sie sind Menschen, die nicht einfach etwas über Gott gelernt haben, sondern sie haben Gott erfahren, haben mit ihm eine Erfahrung gemacht, haben ihn erlebt – als Kraft und Wirklichkeit, die sie auf ganz unterschiedliche Weise berührt und inspiriert hat. Prophetinnen und Propheten sind alle Mystikerinnen und Mystiker. Sie sagen nicht die Zukunft voraus, sondern sie schauen und hören hindurch, der Geist Gottes macht sie hellsichtig für die Konsequenzen, die sich aus dem gegenwärtigen Tun und Lassen ergeben.
Visionärinnen und Visionäre sind keine Spinnerinnen und Phantasten, sondern ihnen leuchten Bilder auf, die Hoffnung vermitteln wollen. Die ermutigen wollen, sich den Herausforderungen der Zeit zu stellen, Widerstand zu leisten, wo es um des Lebens willen nötig ist und keine Schwierigkeiten zu scheuen. Die ermutigen wollen, umzukehren, einen besseren Weg einzuschlagen, einen Weg, der dem Lebenswillen Gottes für seine ganze Schöpfung entspricht. Dabei sind sie selbstverständlich an die Vorstellungswelten ihrer Zeit gebunden. Die klassischen Fortbewegungsmittel der biblischen Zeiten waren Pferd und Wagen – und so sieht ein Hesekiel Gottes Thronwagen aus Jerusalem fortrollen und dem Seher Johannes erscheinen Reiter mit Schwertern und Lanzen.
Was allen Mystikerinnen und Mystikern durch die Zeiten gemeinsam ist: sie sind Menschen, die nicht nur mit beiden Beinen auf der Erde stehen, sie sind nicht nur Kinder der Erde, sondern auch Kinder Gottes. Sie haben einen Draht nach oben. Sie wissen: das Leben ist oft schwer, er verlangt einem oft viel ab. Erschöpfung droht. Wie gut, dass man da seinen seelischen Akku immer wieder aufladen kann – an der Quelle des Lebens, die Gott ist; dass man sich ausruhen kann - in Gottes Liebe.
Schola „Höre den Herzschlag des Himmels“
„Höre den Herzschlag des Himmels klingen in deinem Herzen. Spüre den Herzschlag der Erde pochen in deinem Sein.“
Meditation Teil 3
Es sind gerade Frauen gewesen, die im Mittelalter eigene lebendige Erfahrungen mit Gott gemacht haben. Ihr Glaube war nicht darauf beschränkt, die von der Kirche verkündeten Dogmen und Lehren nachzusprechen. Sie fielen in mancherlei Hinsicht aus der Rolle, die Frauen damals zugewiesen war: sie schwiegen nicht, sondern ergriffen das Wort, sie beugten sich nicht unter die Vorherrschaft des Mannes, sondern sie bewegten sich frei und aufrecht auf ihren eigenen Wegen. Dazu brauchte es damals sehr viel Mut. In vielen Ländern und Regionen braucht es das heute leider immer noch.
Ich denke, es war die Sehnsucht nach einem selbständigen, eigenverantwortlichen Leben, die diese Frauen dazu brachte, in sich hineinzuhören und sie ermutigte, sich von Gott im Innern berühren zu lassen. Mehr auf ihn zu hören als auf die Reden der Kirchenmänner ihrer Zeit. Und Mut brauchten sie dazu, denn die offizielle Kirche witterte überall den Angriff teuflischer Mächte. Die Inquisition war immer auf dem Sprung, gerade wenn Frauen es wagten, ihre Stimme in Sachen Glauben zu erheben. Wer von seinen visionären Erlebnissen erzählte oder gar deutlich machte, was in der Kirche nicht dem Willen Gottes entsprach, der stand immer schon mit einem Bein auf dem Scheiterhaufen. Männer und vor allen Dingen auch Frauen. Vor allen Dingen Frauen aus dem Kreis der Beginen, jener mittelalterlichen Lebensform, wo Frauen in Gemeinschaften zusammenlebten und -arbeiteten ohne männlichen Vormund – unverheiratet und auch nicht unter einer geistlichen männlichen Vormundschaft, wie es damals Nonnen in ihren Ordensgemeinschaften waren.
Mutig und konfliktbereit mussten Mystikerinnen immer sein, ob Begine, Ordensfrau oder Witwen aus dem Adel; genannt seien Clara von Assisi, Hildegard von Bingen, Elisabeth von Thüringen, Birgitta von Schweden, Mechthild von Magdeburg, Juliane von Norwich. Alle machten sie Erfahrungen mit Gott, erlebten seine Nähe, die ihnen Kraft und Mut gab, ihren ganz eigenen Lebensweg zu gehen, mit Konventionen zu brechen, prophetisch-kritisch die Stimme zu erheben und in neuer, bis dahin unerhörter Weise von Gott zu sprechen – auch da nicht losgelöst von den Sprachbildern ihrer Zeit.
Das Mittelalter war die Zeit der Troubadoure, der Minnesänger, die nicht nur mit ihren Liedern das höfische Leben prägten, sondern über die Bänkelsänger auch die Landbevölkerung. Die Troubadoure besangen die Liebe zu einer schönen Dame, eine Liebe, die unerfüllbar blieb.
Die Mystikerinnen, allen voran Mechthild von Magdeburg, besangen in ihren Dichtungen die Liebe zwischen Gott und der Seele, oder zwischen Jesus und der Seele. Eine Liebe, die sich für die Mystikerinnen erfüllte. In seiner Liebe, das war ihre Erkenntnis, ist Gott der nahe, seine Sehnsucht nach dem Menschen ist genauso groß wie die Sehnsucht des Menschen nach ihm.
Es ist interessant, dass in späteren Jahrhunderten Männer, Mystiker die Gedanken und Sprachbilder der Gottesminne aufnahmen und an die Überlegungen der mittelalterlichen Mystikerinnen anknüpften. Zum Beispiel Johann Scheffler, geb. 1624 in Breslau, der 1653 zur katholischen Kirche übertrat und unter dem Namen Angelus Silesius großen Einfluss auf die Lyrik und christliche Mystik im 17.Jahrhundert hatte. Dass wahre Mystik konfessionell nicht gebunden ist, das zeigt sich an einem seiner bedeutendsten Lieder, welches in unserem Gesangbuch unter der Nummer 400 zu finden ist und dessen 7.Strophe uns hier immer vor Augen ist – Gottesminne pur: „Ich will dich lieben, meine Krone, ich will dich lieben, meinen Gott, ich will dich lieben sonder Lohne auch in der allergrößten Not; ich will dich lieben, schönstes Licht, bis mir das Herze bricht.“
Neu von Gott gesprochen, das hat auch Juliane von Norwich, deren Texte Jean Janzen in dem Lied „Mothering God“ verarbeitet hat und das die Schola nun zum Klingen bringt.
Schola „Mothering God“
1.Gott, du bist wie eine Mutter.
Du hast mich geboren ins Licht der Welt.
Jedem Geschöpf gibst du den Atem.
Du bist mein Regen, mein Wind, meine Sonne.
2.Christus, du bist wie eine Mutter; du bist mir ähnlich.
Du nährst mich mit deinem Licht.
Du Brot des Lebens, du Saft und Kraft für meine Liebe.
Du gibst alles für meinen Frieden.
3.Heilige Geistkraft, du Mutter, du kümmerst dich um mich.
Du hältst mich fest in deinen Armen,
dass ich im Glauben Wurzeln schlage und wachse,
blühe und Gewissheit habe.
(Text: Jean Janzen, nach Texten der Juliane von Norwich 1343 – 1416)
Meditation Teil 4
Um Gottes Liebe und Zuwendung geht es den Mystikerinnen, um die Erfahrung seiner Nähe – und damit auch um die Erfahrung von Verbundensein und Einssein: Du in mir und ich in dir. So hat es auch Gerhard Tersteegen in seinem Lied „Gott ist gegenwärtig“ formuliert. Lukas lässt in seiner Apostelgeschichte den Apostel Paulus auf dem Areopag in Athen diesen zutiefst mystischen Satz sagen: „In ihm leben, weben und sind wir.“ Ein Satz übrigens, der auf einen nichtchristlicher Mystiker zurückgeht. Wahre Mystik ist auch nicht religionsgebunden. Der Geist Gottes weht nämlich, wo er will, nicht nur in christlichen Kontexten. Er sucht und fördert die Verbindung und das Einssein und Einswerden alles Geschaffenen mit seinem Schöpfer. Er sucht auch heute noch Menschen, die offen sind für ihn, die sich berühren lassen – in ihren Herzen, in ihrer Seele. Die bereit sind, von innen her ihr ganzes Leben neu auszurichten.
Ein Weg, berührbarer zu werden, ist, mit offenen Augen und Ohren die Schöpfung wahrzunehmen, sich für diese Begegnung Zeit und Ruhe zu nehmen (ohne Handy in der Hand, ohne Lautsprecherknöpfe in den Ohren). Einfach allein zu sein mit Gott in seiner Schöpfung, die nichts anderes als seine erste Offenbarung ist, seine erste Anrede an uns.
Ein beredtes und berührendes Zeugnis von solch mystischer Erfahrung findet sich in der Autobiographie der weltbekannten Verhaltensforscherin Jane Goodall, die eine der Visionärinnen war, mit der wir uns gestern beschäftigt haben.
Hören wir, was sie erlebt hat.
Es muss eine Stunde gedauert haben, bis das Zentrum des Gewitters nach Süden abzog und der Regen endlich nachließ. Um halb fünf kamen die Schimpansen herabgeklettert, und wir wanderten durch das triefnasse, tropfende Grün zum Berghang zurück. … Ich postierte mich an einer Stelle, von der aus ich zuschauen konnte, wie sie ihre letzte Tagesmahlzeit genossen. Der See unten in der Tiefe war noch immer dunkel und aufgewühlt, und da, wo sich die Wellen brachen, trug er weiße Schaumkronen; schwarze Regenwolken hingen im Süden. Gegen Norden war der Himmel schon klar, und nur ein paar graue Wolkenfetzen waren noch zu sehen. Der Anblick war atemberaubend schön. …In ehrfürchtiges Staunen über die Schönheit um mich herum versunken, muss ich in einen gesteigerten Bewusstseinszustand geraten sein. Es ist schwer – wenn nicht gar unmöglich - , den Augenblick der Wahrheit, den ich plötzlich erlebte, mit Worten zu beschreiben. Selbst die Mystiker finden keine Worte für die kurzen Momente spiritueller Verzückung. So kam es mir vor, als ich mir hinterher das Erlebnis noch einmal zu vergegenwärtigen versuchte: Mein Ich war nicht mehr da; die Schimpansen und ich, Erde, Bäume und Himmel schienen miteinander zu verschmelzen und eins zu werden mit der geistigen Kraft des Lebens selbst. Die Luft war erfüllt von einer Symphonie von Vogelstimmen, vom Abendgesang der gefiederten Schar. Ich nahm neue Klänge in ihrer Musik wahr. … Noch nie waren mir Form und Farbe der einzelnen Blätter so intensiv bewusst geworden. … Auch die Düfte waren deutlich zu unterscheiden: gärende, überreife Früchte; wasserdurchtränkte Erde … Der aromatische Duft junger zerdrückter Blätter war fast überwältigend stark. … Mir waren keine Engel erschienen oder andere himmlische Wesen, wie sie die Visionen großer Mystiker auszeichnen, aber dennoch glaube ich, dass es sich um eine wahre mystische Erfahrung gehandelt hat. …
Später, als ich an meinem kleinen Feuer saß und mir eine Mahlzeit zubereitete, war ich immer noch von Staunen über mein Erlebnis erfüllt. Ja, dachte ich, es gibt viele Fenster, durch die wir Menschen auf unserer Suche nach einem Sinn in der Welt hinausblicken können. Die Fenster, die die westliche Wissenschaft aufgeschlagen hat und deren Scheiben von einer Abfolge brillanter Köpfe blank geputzt worden sind. … Durch ein solches wissenschaftliches Fenster hatte ich gelernt, die Schimpansen zu beobachten. Über 25 Jahre lang habe ich mich bemüht, mir durch sorgfältige Aufzeichnungen und kritische Analysen Stück für Stück ein Bild ihres komplexen Sozialverhaltens zu machen und ihre Denkweise zu verstehen. … Aber es gibt noch andere Fenster, durch die wir Menschen unsere Umwelt betrachten können, Fenster, hinter denen die Mystiker und Heiligen des Ostens und die Begründer der großen Weltreligionen nach dem Sinn und Zweck unseres Erdenlebens suchten, in dieser Welt voll wundersamer Schönheit, voll Dunkelheit und Hässlichkeit. Diese Meister gaben sich der Kontemplation über die Wahrheit hin, die sie nicht nur mit ihrem Geist erfassten, sondern auch mit Herz und Seele. … An jenem Nachmittag war es so gewesen, als hätte eine unsichtbare Hand einen Vorhang beiseite gezogen, so dass ich für den Bruchteil eines Augenblicks durch ein solches Fenster schauen konnte. Durch einen blitzartigen „Ausblick“ hatte ich Zeitlosigkeit und stille Verzückung kennengelernt und eine Wahrheit gespürt, von der die akademische Wissenschaft nur ein winziger Splitter ist. Und ich wusste, dass mir diese Offenbarung mein Leben lang im tiefsten Innern erhalten bleiben würde, auch wenn ich sie nur unvollkommen in Erinnerung behielt, eine Kraftquelle, aus der ich schöpfen konnte, wenn das Leben mir einmal hart, grausam und ausweglos erschien.
Aus: Jane Goodall, Grund unserer Hoffnung. Autobiographie; 1999; S.222-226 i.A.
Jane Goodall ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass alle mystischen Erfahrungen und Gottesbegegnungen nicht Selbstzweck sind, sondern als Geschenk und Gabe begriffen und ergriffen werden wollen, die uns beauftragen, in die Welt hinein tätig zu werden, Nöte nicht nur zu sehen, sondern zu wenden und mit am Reich Gottes zu bauen und zu arbeiten – ohne Scheu, geduldig, gelassen und unbeirrt.
Amen.
16.So.n.Trin., 24.09.2023, Stadtkirche, Hebräer 10, 35f..39, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 16.n.Trin. - 24.IX.2023
Hebräer 10, 35 -39
Liebe Gemeinde!
Wer eine kräftige Holzkiste hat – so ’ne derbe alte Box fürs Schuhputzzeug, vielleicht auch eine schwere Kiste, in der man mit Stroh dazwischen, wie früher, ein Dutzend Flaschen Burgunder- oder Moselwein transportieren kann –, … wer also so ein richtiges Podest für den Einsatz direkt hinter Marbel Arch, in Speaker’s corner hat, der soll es nutzen: Draufsteigen, sich sammeln und räuspern oder einfach drauflos wettern. Mal ungefiltert vom Leder zieh’n! … Klartext, keine Schnörkel; Schnabel wie gewachsen, ohne Blatt vorm Mund: Das wäre dann gebetet! … Gott einmal die Meinung geigen. Alles ungeschminkt rauslassen. Sich keinen Zwang antun, weder für klug gelten wollen, noch das Missverstanden-Werden fürchten. … Das wäre Beten! Die ganze Liste der Fragen, den Frust, das Brennende und das eigentlich Unaussprechliche ausspucken, … keinen Besinnungsaufsatz verfassen, kein künstliches Gesumms und Geseier, sondern einfach ins Unreine gesprochene Unmittelbarkeit: Das hieße Gebet!
Schonungslose Direktheit.
… Bei John Henry Newman, dem anglikanischen Pfarrer, der zum verschrobensten und doch auch modernsten katholischen Kardinal wurde, den England je gehabt hat, ist diese Möglichkeit eines unmittelbaren, offenen Austauschs in seinem Wahlspruch immerhin dezent angedeutet: „cor ad cor loquitur“. „Das Herz spricht zum Herzen“: So erfuhr Newman die existentielle Kommunikation zwischen den Glaubenden und Gott. Eine ähnliche Gesprächsnähe bei Mose klingt noch deutlich handfester: „Der HERR aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet“ (2.Mose33,11). Und bei Hiob gar, da nimmt der Redewechsel zwischen Gott und Mensch schlicht die Form eines Boxkampfes an: „Siehe, ich bin zum Rechtsstreit gerüstet; … rufe, dann will ich dir antworten, oder ich will reden, dann antworte du mir!“ (Hiob13,18+22)
Rückhaltlose, hierarchiefreie Aussprache also. Was ein wenig wie der Seminarbetrieb der 60er Jahre anmutet, ist in Wirklichkeit ein Fundament, auf dem wir stehen … und mit dem wir gerade große Teile unserer Welt untergehen sehen.
In der griechischen Antike hieß diese Offenheit fürs Wort und im Wort: „Parrhesie“[i] – „Das Wort für alle; das Reden über alles“. In der athenischen Demokratie bedeutete die „Parrhesie“ das Recht jedes Vollbürgers auf Wortmeldung und Meinungsäußerung in der Ekklesia, der politischen Versammlung; in der Rhetorik bezeichnete „Parrhesie“ das Stilmittel der Offenherzigkeit und gewagten Zuspitzung; in der Komödie erlaubte sie die Schonungslosigkeit; in der Philosophie der Stoiker führte die „Parrhesie“ zur seelischen Schmerzlosigkeit durch Gewöhnung an unverblümte Kritik. Das Sprechen über alles, das allgemeine Recht aufs Wort ist also ein Grundpfeiler jener Freiheit – jener Rede- und Denk-, jener Gewissens- und politischen Freiheit, auf der das Abendland beruht.
Und dass es im Hyde Park in Speaker’s corner immer weniger kleine Trittleitern mit großen Oratoren gibt, ist kein Gewinn für eine Welt, in der die Wahrheit schwindet und mit ihr die Freiheit, weil das Lügen so wohlfeil geworden ist, seit man den Anderen beim Reden nicht mehr ins Gesicht blicken muss.
Trolle in ihren Fabriken, Hassende in ihrem Netz, Faktengaukler in ihren parallelen Universen können zwar alles Mögliche und Unmögliche behaupten, aber die „Parrhesie“ – die Rede, die es mit dem freien Fragen und Wagen und dem ehrlichen Sagen und Ertragen der Wahrheit vor dem offenen Forum aller versucht – … die „Parrhesie“ schmilzt wie die Polkappen dahin, während Fluten von trüber, fauler, verderbnisträchtiger Wortbrühe anschwellen und es immer unmöglicher werden lassen, dass das Herz zum Herzen, dass Menschen miteinander und mit Gott offen, unverstellt und ungeschützt reden können. ———
…. Hat er sich nicht im Predigttext vertan?, werden Sie sich inzwischen fragen. … Wie kommen wir auf die Redefreiheit, wenn es sich doch nach dem Gehörten aus dem Hebräerbrief um geduldige Zuversicht handeln müsste?
Das liegt daran, dass im Griechischen des Neuen Testaments der grundlegende und gewaltig produktive παρρησία-Begriff eine weitere, entscheidende Wandlung durchlaufen hat: Immer wieder hören wir, dass Jesus und nach ihm die Apostel öffentlich in „παρρησία“ sprechen, lehren, predigen (vgl. z.B. Mark.8,32; Joh.11,14 [im Evangelium dieses Sonntags!]; Apg.2,29; 4,13 u.ö.). Sie kennen keine Menschenfurcht, sondern ergreifen freimütig vor allen Hörenden das Wort; sie nehmen sich das Recht - und haben es! -, alles zu sagen, was zu sagen ist. Und in dieser angstfreien, öffentlichen, ungeschützten Vollmacht zur Botschaft und zum Gehört-Werden sind sie sie selber, wachsen sie über sich selbst hinaus und erfahren und bezeugen sie die reine Verbundenheit, die völlige Vereinigung mit Gott.
Aus diesem Grund – weil sie frei sind für das und frei werden durch das Wort – nimmt der politische Kommunikations-Begriff der παρρησία im Neuen Testament bei Jesus, dem Logos und bei seinen Aposteln die Bedeutung des vollkommensten „Vertrauens“ in sich auf: Wer in der Freiheit zum Wort der Wahrheit lebt, lebt in wahrhaftiger Freiheit, selbst da, wo Zwang und Lüge sich immer noch breitmachen.
Christen sind Reich-Gottes-Leute durch die Gabe, ja durch das Recht der „Parrhesie“: Sie können und sollen in allen Dingen und vor aller Welt mit Gott kommunizieren, Ihn beim Wort nehmen, Ihn ins Gespräch bringen, Ihn klipp und klar wissen lassen, was sie bewegt, ihr Herz vor Ihm ausschütten und darauf zählen, dass ihre Stimme Gehör findet, dass sie mitreden dürfen in Seiner heiligen Sache der Bewahrung, der Erlösung, der Heilung der Welt.
Und darum schreibt der Apostel im Hebräerbrief eben wörtlich von der „παρρησία“, dass wir sie nicht schleifen lassen und vernachlässigen, dass wir sie nicht geringschätzen oder aufgeben sollen. Kloppt eure Redefreiheit, euer Recht auf Mitsprache, euer garantiertes Ernstgenommen-Werden nicht einfach in die Tonne, sondern mischt weiter mit, … bleibt weiter an Gott, der Euch Rede und Antwort stehen wird, … verstummt und verbittert nicht, sondern haltet an am Gebet, … seid beharrlich und hofft und lasst nicht locker, … verschafft der christlichen Stimme des Gewissens und der Versöhnung hartnäckig und freimütig immer weiter Gehör in irdischen und himmlischen Ohren! ——
Das war schon am Anfang der Christenheit erkennbar mühsam und ist es heute wieder.
Wie viele mögen damals aufgegeben haben, – … wie viele tun es heute!
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, eine Sprache zu sprechen, die der Welt fremd ist.
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, eine Sache zu verteidigen, die wenig gilt.
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, Einen zum Hören zu bringen, Den man nicht sieht.
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, die Liebe, den Frieden, den Himmel zu predigen, wenn der Mensch doch die Hölle, den Krieg und den Hass viel klarer wählt und also auch will.
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, den einen Gekreuzigten, der lebt, den vielen Sterblichen vorzuordnen, die noch kreuzigen können.
Dass es nicht lohnt und nicht sinnvoll ist, festzuhalten in Bekenntnis und Erwartung an etwas, das erkennbar nicht da ist und das auch nicht unmittelbar verspricht zu erscheinen.
Das alles haben Menschen stets empfunden. Mal peinigend als Anfechtung. Mal achselzuckend als entleerte, bedeutungslose Überreste vergangener Wahrheiten. ………… ——
Was es aber für eine Verheißung hat, was für einen Sinn, … welche Horizonte sich öffnen und welche herrlichen Überraschungen sich zeigen werden, wo man nicht einfach aufhört, von Gott zu reden und Seinen Willen zu tun und auf Sein Reich zu warten, das alles geht verloren, es versickert einfach, wenn die Christen verstummen und ihr Vertrauen, ihr freimütiges Verlangen, ihr unverblümtes wirklich Wissen-, Sehen- und Erleben-Wollen, dass Gott Wort hält, nicht mehr hören lassen.
So wahr Gott also doch hört, sollen auch wir von uns hören lassen!
Gott wirkt ja nur taub, wenn wir vor Ihm stumm werden und Ihn verschweigen.
Wenn wir unsere Erinnerungen an Ihn nicht äußern - auch als Mahnung! - , wenn von unserer Hoffnung auf Ihn nichts mehr verlautet - und sei es als Klage! -, dann hat die Welt ihre Ruhe und die Lüge beherrscht das Feld. So wie heute an jeder Ecke. So wie heute in Politik und Kommerz, in der Banalität der Unterhaltung und der Brutalität der Auseinandersetzungen der Menschen.
Reden wir darum – vertrauensvoll, ausdauernd, hemmungslos – von Gott und mit Gott!
Steigen wir auf die Kiste oder die Trittleiter und machen wir den Mund auf!
Es lohnt sich! ——
In meiner Speaker’s corner hier will ich Ihm heute nur eines – in der „Parrhesie“, die mir (wie uns allen!) das Recht dazu gibt und in diesem Recht auch die Zuversicht, nicht ins Leere zu reden – entgegenhalten … mit leeren Händen, wie wir’s eben gesungen haben (EG 382):
Gott, ich höre das Evangelium, … das wunderbare Evangelium (Joh.11) dieses 16.Sonntags nach Trinitatis, der ein herbstliches Osterfest ist, weil man in der kommenden Woche den Erzengel Michael, den Kämpfer gegen alle Todesmächte und Todesbündnisse und Todestriebe feiert.
Ich höre das Evangelium und ich weiß, dass Du Lazarus auferweckt hast und ich glaube wie Martha, dass ein Tag kommt, an dem alle endgültig auferstehen und leben werden, die heute sterben und leiden und den Tod einatmen und sich den Tod einfangen und mit dem Tod spielen und mit dem Tod liebäugeln und dem Tod unterworfen und ausgeliefert sind.
– Evangelium: Ja!
– Michaels und aller himmlischen Heerscharen und irdischen Lebensgeister Kampf gegen den Tod: Ja!
– Auferweckung: Ja!
Aber wo bist Du dazwischen?
Wo bist Du jetzt gerade, während kein Krieg der Engel gegen Satan und die Hölle, sondern Kriege der Menschen gegen die Menschen stattfinden?
Wo bist Du in diesem Augenblick, in dem auf den Schlachtfeldern der Ukraine gerade jetzt Menschen zerrissen werden?
Wo bist Du gerade jetzt im Alltagselend der Hungernden, der Kranken, der Ausgelaugten, die schweigen, weil sie nichts von Deinem Hören wissen oder glauben?
Wo bist Du, wenn Du so gebraucht wirst?
… „Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.“
Das ist’s, was mich umtreibt, weshalb ich rüttele und Krawall schlage und meinen Glauben und meine Hoffnung in ihrer Bedrohung trotzdem nicht einfach aufgeben und wegwerfen kann, sondern hinter Dir her und vermutlich mitten in Dein weites, zerrissenes Herz hinein schreie.
Wo bist Du?
… Wo warst Du, als sie Dich nach Bethanien riefen, wo Du erst eintriffst, nachdem Dein Freund schon den vierten Tag im Grab liegt?
… Was hast Du in den drei Tagen gemacht, in denen sie auf Dich warten mussten?
… In den drei Tagen Deiner Verborgenheit, den drei Tagen Deiner Entzogenheit, den drei Tagen Deines Fehlens? … … …
Ach, … diese drei Tage! … … …
Herr, ich weiß ja, was Du gemacht hast in den drei Tagen, in denen Du nicht zu sehen, zu hören, zu greifen und halten warst!!! … … …
… Wir wissen’s ja alle! Und wenn wir zu Dir schreien, dann geht’s uns in unserm Fragen und Zweifeln, in unserm schonungslosen Nicht-locker-Lassen nur noch viel klarer auf: Du, nach dem wir laut und ohne Filter verlangen … Du bist in den drei Tagen bei den Toten gewesen, … bei Lazarus, Deinem Freund, … bei dem, der gerade in diesem Augenblick in der Ukraine getroffen worden ist, … bei denen, um die wir weinen und trauern.
Die drei Tage, in denen wir frustriert und qualvoll beunruhigt und hoffentlich wenigstens in reiner „Parrhesie“ – in Ehrlichkeit, Offenheit, dringender Anhänglichkeit – auf Dich warten: Das sind die Tage, die Dich ganz und total und für immer mit denen verbunden und vereinigt haben, die uns auf der Seele liegen. … … …
Diese drei Tage sind auch jetzt und werden sein, bis ans Ende der Zeit.
Und dann werden wir Dich alle sehen und erleben.
Und werden alle leben mit Dir! ——
Was für einen Lohn unser Mit-Dir-Reden, was für einen Lohn diese Freiheit des Denkens und Sprechens, des Zweifelns und Hoffens auf Dich nun doch wirklich hat!
Tatsächlich: Was für einen Lohn das Vertrauen hat!
Amen.
[i] Eine bündige Übersicht über die Bedeutungsgeschichte des Begriffs bietet Hans-Christoph Hahn unter: https://jochenteuffel.com/2019/11/05/hans-christoph-hahn-uber-freimut-und-zuversicht-im-neuen-testament-da-die-verwirklichung-der-redefreiheit-bisweilen-auf-widerstande-stosst-erklart-sich-unerschrockenheit-freimutigkeit-als-weiterer-bed/
15.So.n.Trin., 17.09.2023, Stadtkirche, 1.Mose 15, 1 - 6, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 17.IX.2023 - 15.n.Trin.
1.Mose 15, 1-6
Liebe Gemeinde!
Ein älterer Mann - wohnungslos -, … enttäuscht, aber noch nicht mutlos, … mit verschwiegenen Hoffnungen und müden Augen blickt zum Himmel empor. —
Nacht für Nacht wiederholt sich das weltweit.
In der zerstörten libyschen Stadt Darna - übrigens in der Nachbarschaft von Kyrene, wo der Mann herstammte, der das Kreuz Christi nach Golgatha trug -… in der libyschen Stadt Darna, die vor einer Woche einen Klimakarfreitag erleiden musste, sitzen solche verwaisten, verwitweten Männer, die überlebt haben und nicht wissen, wozu, und starren in die Dunkelheit überm Meer. Auf den Straßen von New York blicken hunderte Augenpaare aus den Gesichtern der mittelamerikanischen Migranten, die in Hoffnung wie Abraham ausgewandert sind und in Obdachlosigkeit landeten, perspektivlos in die Nacht, die vor lauter Neon keine Sterne zeigt. Und dreieinhalb Kilometer von uns entfernt, auf dem Nordfriedhof, auf den abends die Leute mit den unförmigen Plastiktüten zotteln, weil sie in den schicken Mausoleen für die Toten übernachten werden, da richten sich in den Stunden unseres bürgerlichen Schlafes auch viele Blicke durch die Äste der Baumkronen zwischen den selbstgedrehten Zigaretten nach oben und fragen: „Wie weiter? Oder war’s das?“ … Und in den schwarz-verdunkelten Stunden der Ukraine und in der erstickenden Enge der Lampedusa-Lager auch: Lauter abrahamische, … abrahämische, … abraheimliche Blicke nach Gott. ——
Ein müdegewanderter Mann - wohnungslos -, … elend enttäuscht, aber noch nicht vollends mutlos, … mit verstummenden Wünschen und alten Augen blickt ins Schwarze empor. …
… Mehr nicht.
Aber es ist die Sternstunde: Der Welt. …
… Es ist die Stunde, in der unsere Seligkeit anfängt.
Weil ein heimatloser Mann - zukunftsleer -, frierend ernüchtert und kinder-, wenn auch nicht gottlos, mit enttäuschten Erwartungen, aber noch ungeschlossenen Augen vor den Himmel tritt.
„Ich gehe dahin …“. Darna versunken. Lampedusa, New York, Europa nicht mehr aufnahmefähig. Unser schönes Düsseldorf, marmorglänzend bis in die Totentempel seiner Penner.
„Ich gehe dahin …“, stellt der Nachtmensch Abraham fest. Und mit etwas wie bitterer Ironie fügt der nichtsesshafte Jäger der verbogenen Verheißung, der Nomade ohne Immobilien hinzu: „Und mein Knecht wird mein Haus besitzen“ …?!
… Willkommen in der versunkenen Stadt.
… Richtet euch ein auf dem Times Square: Wir bieten Festbeleuchtung.
… Familien Henkel und Poensgen, Heynen und Grillo bitten - in unser aller Namen! -, in ihren Gruften noch Schlafplätze auszuwählen.
Ein bitterwahres Theaterstück von Lebenswegen ohne Ziel und Zukunft.
Das Drama unserer Erde. ———
Doch worin besteht denn nun die alle irdische Düsternis durchbrechende Sternstunde, die seit dreitausendsiebenhundert Jahren leuchtet und leuchtet und leuchtet und tröstet und hell macht und retten kann?
…. In der herzergreifend schlichten Ahnung, die Matthias Claudius seiner simplen Sternseherin Lise[i] in den Mund legt? – „Ich sehe oft um Mitternacht, / Wenn ich mein Werk getan / Und niemand mehr im Hause wacht, / Die Stern' am Himmel an. …Dann saget, unterm Himmels-zelt, / Mein Herz mir in der Brust: / "Es gibt noch Bess'res in der Welt /Als all ihr Schmerz und Lust."“?
… Oder hat Abrahams astronomische Meditation nur das Schiller’sche Gefühl „Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen“[ii] entfacht und befördert es bis heute?
Was ist da geschehen, in dieser von den Nazis so vergewaltigten „hohen Nacht der klaren Sterne“[iii]?
… Etwas, das bei Paulus (vgl.Rö.4,3ff; Gal.3,6ff) und bei Luther zur Erkenntnis und Verkündigung der Grundlage und Grundhaltung des Christentums geführt hat: In der Sternstunde Abrahams ist der Glaube gleichzeitig als des Menschen Tat aller Taten und als Gottes Gabe aller Gaben aufgeleuchtet. —
Warum ist der Glaube eine Tat?
Weil er nicht irgendein Kleinbeigeben, irgend ein Einknicken, Abnicken, Annehmen oder bloßes Zustimmen ist.
Glauben ist nicht Vermuten, sondern wirklicher Mut. - Der Mut, nicht nur das Unsichtbare, das Unbewiesene, das Verheißene, das, was jenseits aller Griffe und Begriffe des Menschen ist, ernst zu nehmen, sondern dabei auch noch genau das auszuhalten: Dass es unbegreiflich ist, worauf man da vertraut, … rein gesprochenes und versprochenes Wort, … unbelegt, … nicht vorzeigbar und nicht ersichtlich.
Und als wäre das nicht schon genug – dass man die Bequemlichkeit und Sicherheit des Zweifels und der Verzweiflung aufgibt (denn beide legen sich uns ja so nah und liegen so klar zutage, dass man sich nach ihnen wirklich nicht strecken muss!) –, … als wäre also das Wagnis des ernsten und doch weder wissenschaftlich noch juristisch erhärtbaren Glaubens nicht genug, bedeutet der Glaube Abrahams obendrein auch noch, dass man das, was man fürchtet und verabscheut, das, was einem Angst und Schrecken einjagt, plötzlich lernen muss, positiv zu sehen.
Denn gerade diese Umkehrung aller Vorzeichen, diese Umwertung dessen, was er weiß und fühlt, wird Abraham in der Stunde unter den Sternen ja zugemutet.
Abram aus Ur in Chaldäa ist doch ausgewandert aus dem astrologischen Weltbild seiner Herkunft: Der alte Orient wusste sich ja völlig abhängig von den Himmelskörpern. Man spürte im lebensregelnden Monats-Rhythmus des Weiblichen die Magie der Mondgöttin; man lebte überwältigt und ausgeliefert an die Blendung und Allmacht des zum Wachstum nötigen und doch so oft auch tödlichen Gottes des Sonnenballs; man las die Orakel, die Schiedssprüche und Zwänge, die die Sterne ans Firmament schrieben, wo Zeit und Schicksale bis ins Einzelne gelenkt und determiniert wurden!
Schrecklich ist es, unter dem Himmel der Alten zu stehen: Fremde Mächte, unentrinnbare Gesetze und überirdische Willkür herrschen da. Wer diesen Himmel über sich weiß, muss zittern und in den Staub sinken! …
Und Abraham, der dieses furchteinflößende Welt- und Himmelsbild der kosmischen Religion hinter sich gelassen hat, weil ein Gott ohne Leuchtkörper und Erscheinungsbild ihn noch unsicherer als später die Magier und sternkundigen Bethlehems-Pilger, die immerhin einem Kometen folgen konnten, einfach in die weglose Weite gerufen hat, … Abraham soll nun ausgerechnet zu jenem Überwachungsnetz am Himmel sehen und Vertrauen fassen?!
Da oben funkelt ein Heer von tausendundeinem gekränkten Dämonen, vor denen sich alle anderen Chaldäer demütig neigen; da oben spotten unzählige Geheimzeichen jeder Zählung und Entschlüsselung, weshalb man ihnen ohnmächtig Opfer schuldet; da oben herrschen sichtbar die Gewalten, denen der Flüchtling des verborgenen Gottes sich sinnlos entzogen zu haben hoffte.
Und jetzt soll er hinschauen?!
Und soll nicht die Angst, die ihn da unwillkürlich heiß und kalt überläuft, ausbrechen lassen, sondern in dem, was er mit grauenhaftem Bangen zurückließ, soll er seelenruhig die Zukunft schauen, … seine Zukunft und die Zukunft all jener zahllosen Kinder, die sein Glaube hervorbringen wird?!
Die Sterne keine Götter mehr, sondern seine Kinder?!
Was für eine Zumutung!
Und was für ein Mut, wenn einer diese Zumutung annimmt!
Stellen wir uns einmal selber unter die Mächte und Mysterien, denen wir ausgeliefert sind:
Die unheimlichen und die offensichtlichen Geister, die uns die Luft abschnüren, … oft deshalb, weil wir - die Zauberlehrlinge - sie riefen, aufweckten und beherrschen zu können meinten. Jene abgründige Zerstörungskraft, die ein Film uns im Westen und Putins Finger im Osten uns gerade wieder zu fürchten lehren! … Die unkontrollierbar entfesselten, bösen Folgen unserer guten Zeiten in der Erfindung, Erzeugung und Ausnutzung des materiellen Fortschritts. … Die zwischen Staunen und Terror schwankende Erfahrung, dass wir Maschinen gebastelt haben, die zwar nur rechnen und durchmischen können, deren Gründlichkeit dabei aber über unser Vermögen so eiskalt erhaben ist, dass wir sie als „intelligent“ empfinden und ihr künstliches Wiederkäuen und Hochwürgen als eine womöglich endgültige Absage an das göttlich und menschlich Schöpferische erleben. … Lauter uns überlegene Gebilde, unzählige zweideutige Vorzeichen und aus der Ratio ausgerissene Gefahren schweben da über unseren Tagen und Nächten.
Wenn wir aber mit zu Abrahams Samen zählen, zu den unzähligen Erben der Verheißung, die sein Vertrauensmut geboren hat, dann ruft sein ruhiger Blick zu den Sternen, der ihn nicht verzweifeln, sondern glauben ließ, auch uns zu:
„Seht klar hin auf das, wovor Euch mit endzeitlicher Wucht graut … und dann fürchtet euch nicht, nehmt nichts anderes mehr wahr als die Zukunft. Seht klar hin auf das, was Untergang, Fluch und Ende zu bedeuten scheint, … und erkennt die Verheißung des Lebens eurer Kinder. Denn nur, wenn ihr so auf die rohen Kräfte und bedrohlichen Mächte hinschaut und nicht in Illusionen ausweicht, dürft und werdet ihr die unglaubliche Glaubensgabe tatsächlicher Zukunft empfangen.“
Denn das ist Glaube ja: Die Gottesgabe, …Seine Gnadengabe, dass Menschen trotz allem, was über ihnen schwebt, erkennen dürfen, wer, wie und wo die Zukunft ist.
… Gott ist die Zukunft.
… Nur Gott!
Und das ist ja das Unbegreifliche schlechthin.
Abraham hatte verinnerlicht, die Zukunft werde beschlossen und verhängt durch die Sterne.
Wir haben verinnerlicht, dass die chaotischen und differenzierten Prozesse, die wir begonnen haben und die sich unerbittlich entfalten, die Zukunft unweigerlich und unabänderlich bestimmen werden.
Glauben aber bedeutet den Mut und die Gnade, in solchen Gewissheiten, solchen astrologischen oder kausalen Determinationen, in solchem abergläubischen oder atheistischen Fatalismus nicht gefangen zu bleiben, sondern sich ruhig auf das einzulassen, was ausgeschlossen scheint, es sei denn, wir würden unvoreingenommen zukunftsoffen wie die Kinder (vgl. Matth.18,3).
Der abrahamitische Erzväter- und Kinderglaube ist darum aber nicht Naivität, sondern das Geschenk einer Zuversicht, die frei ist von der Sklaverei des ererbten Vorurteils, frei vom Zwang des Nichts-Anderes-Erwarten-Könnens als das Verhängnis.
Der alte Mann - dreitausendsiebenhundert Jahre alt -, der in nüchternem Mut, … in der Offenheit unerfüllter Hoffnung, … mit scharfen Frage nach dem, was kommt, aber auch in der Freiheit, sich vor nichts dabei zu fürchten, emporblickt, zieht auch unsere Zuversicht, unsere Fragen, unsere Lebensaussichten mit in die Höhe:
Und siehe, da sind nicht beherrschende Sterne oder eherne Gesetze.
Sondern die lebendige Zukunft aller Menschen, … die göttliche Gerechtigkeit, die der Zuversichtsmut Abrahams für sie alle eröffnet, … das unwiderrufliche Recht auf Leben, das denen zugesagt wird, die mit Abraham, nach, durch und wie Abraham frei auf Gott blicken.
In der Sternstunde Abrahams erfüllt sich also nichts, aber alles öffnet sich.
Und solche Offenheit zur Zukunft Gottes hin ist die Gerechtigkeit des Glaubens, seine Tragfähigkeit und Belastbarkeit in Angst, in Schuld und in Geduld.
Es ist kein Zufall, dass diese furchtlose Offenheit des alten Mannes Abraham für Gott in einer zweiten Sternstunde des Zukunftsmutes, in einer zweiten Gründungsstunde unserer Berufung zum Glauben wiederkehrt.
Da hat sie weibliche Gestalt.
Ein junges Mädchen - ehelos und ohne Bevormundung -, … unschuldig und darum nicht mit Angst vertraut, … überrascht, aber mit klarem Blick wird in ihrer Niedrigkeit vom Himmel angesehen und angerufen.
Und sie erfasst, dass da die Abrahamsstunde, die Stunde, in der wir nichts fürchten, sondern Gott als die Zukunft kennenlernen sollen, schlägt.
Wir haben ihren Lobgesang am Anfang gebetet und werden ihn am Ende noch einmal singend aufgreifen. Sie, die Tochter Abrahams und Mutter des Zukünftigen jubelt mit Abrahams Samen und in Abrahams Namen: „Es geschehe, wie Du gesagt hast … wie du geredet hast zu unseren Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit!“ (vgl. Lk.1,38+55)
Das ist Glaube! „Fiat! Lass mich voll und ganz Deine Zukunft sein, Gott, und sei Du ganz und gar die unsrige … was immer auch kommt!“ ——
Dieses vollständige Eingehen auf und Aufgehen in Gottes Zukunftszusage, das wir Glauben nennen, ist aber nun tatsächlich die Sternstunde der Welt.
Sie leuchtet und leuchtet und leuchtet und tröstet und macht hell und kann retten.
Herr, ermutige und stärke auch uns den Glauben, die wir mit Abraham und Maria auf Dich trauen in Jesus Christus. Stärke diesen Glauben in uns gerade auch für die Hoffnungslosen von Darna und im Atlasgebirge, für die auf der Flucht und im Krieg, für die Unsichtbaren und Vergessenen, die doch alle Deine Abrahamskinder sind: Schenke ihnen das Lebens- und das Zukunftsrecht bei Dir, die - wie Paulus am Schluss seiner Abrahamsmeditation (Rö.4,24f) sagt - allen „zugerechnet werden sollen, wenn wir glauben an den, der unsern Herrn Jesus Christus auferweckt hat von den Toten, welcher ist um unserer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Rechtfertigung willen auferweckt“!
Amen
[i] Dieses populäre volkstümliche Gedicht von Claudius wird hier zitiert nach: Matthias Claudius’ Werke, chronolog. geordnet usw. usw. hgg. v. Georg Behrmann, Leipzig (o.J. – ca. 1880), wo es im Hauptteil vergessen wurde und sich daher eigens im Vorwort findet auf S. LXXVI.
[ii] Aus der Ode „An die Freude“, in: Friedrich v. Schiller, Sämtliche Werke (Lizenzausgabe WBG) Darmstadt 19878, Bd.I: Gedichte. Dramen I, S.133.
[iii] Ein Nachweis des Nazi-Weihnachtsliedes erübrigt sich. Möge es vergessen werden.
12.So. n. Trin., 27.08.2023, Stadtkirche, Jesaja 29, 17 - 24, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 12.n.Trin. - 27.VIII.2023
Jesaja 29, 17 - 24
Liebe Gemeinde!
Wenn die Mörder vom Himmel fallen, ist noch lange nicht Frieden.
Und wenn die Tyrannen einmal stürzen, wenn die Putschisten sich verdrücken, wenn der Blutrausch abebbt und der Konsumrausch schal wird, wenn der rücksichtslose Ur-Reflex der Selbstsucht in seiner nutzlosen Lächerlichkeit erscheint, dann ist die Welt noch immer nicht geheilt.
Und wenn die Nazis als entnazifiziert gelten und die Putinisten entstalinisiert und die Republikaner enttrumpt und die Kader Chinas entmaoisiert sein werden, dann ist noch immer nicht die Harmonie von Recht und Wahrheit zurückgekehrt und das Zerstörte steht noch nicht wieder in Blüte und das Verdorbene ist noch nicht wieder richtig gewachsen und das Böse noch nicht morsch genug geworden, um als Kompost und Humus die endgültige Ernte des Reiches Gottes geweckt, genährt und zur Reife gebracht zu haben. —
… Wann aber wird es denn so weit sein?
… Wann wird das Heil dasein?
Diese Frage ist das entscheidende Lebenszeichen des Glaubens. Das forsche Stillstellen der elementaren Erlösungssehnsucht in der geschaffenen Welt dagegen ist höchstes Erstickungsrisiko: Wer eine allzu feste Antwort hat, blockiert die Atemwege des Glaubens, die doch erst durch Schreien und das nötige Luftholen durchlässig und weit genug gemacht werden, um am Leben zu bleiben.
Wir wollen also die lebensnotwendige Frage nach dem Ziel der Hoffnung nie abwürgen durch die voreilige, verhärtete Lüge, es sei doch alles gut und schön.
Es ist nicht gut und schön auf Erden. Das Leben ist nicht hell und heil. Alle Wirklichkeit schreit nach Veränderung, Verbesserung, Verwandlung.
Was aber tun, wenn wir nicht über das Patentrezept verfügen, wenn wir den Schnuller nicht haben, durch die das „Weinen in der Welt“ von dem Else Lasker-Schüler spricht, zur Ruhe gebracht werden könnte?
„Es ist ein Weinen in der Welt, / als ob der liebe Gott gestorben wär, /und der bleierne Schatten, der niederfällt, / lastet grabesschwer“, so fängt Else Lasker-Schülers Gedicht „Weltende“[i] an. …
……. „Weltende“: Kein wirklich abwegiger Titel in unseren Tagen.
Aber auch vor hundertzwanzig Jahren, als das unterschwellige Unbehagen in der sog. „Kultur“ allmählich zu Bewusstsein drängte[ii], nicht weithergeholt. Und auch vor zweitausend Jahren durchaus der Nerv der Zeit, als am Jordan der Täufer und in Galiläa der Rabbi der Fischer und Zöllner zur Umkehr angesichts des nahegekommenen Reiches Gottes mahnten. Und in den Tagen des Jesaja, als die Erste der großen, nimmersatt erobernden und kolonialisierenden Weltmächte - Assur - die Weltordnung mit Gewalt durcheinanderwirbelte, erlebten die Zeitgenossen die Brüchigkeit und Auflösung des bekannten Daseins genauso.
Es war permanent ein Weinen in der Welt, und ist ein Weinen und bleibt ein Weinen. … Und viel, viel Schlimmeres. …….
Doch was nun?
– Jetzt Panik? – Oder Resignation? – Oder der allgemeine zynische Nihilismus? ……. ——
Erstaunlich ist, … ganz erstaunlich ist, was uns der ewigjunge alte Glaube – dessen Puls und Atem Ungeduld und Hoffnung ist und Spannung – lehrt. … Uns, die entweder gar nicht mehr hoffen und harren wollen, weil wir das entsprechende Narrentum satthaben und lieber hoffnungslos unsre Zeit aus vollen Zügen einfach zuendeleben, oder die immer bitterer hadern, dass wir eben nichts, nichts Hoffnungsvolles mehr merken können und hören dürfen.
Der alte, ewigjunge Glaube, der uns heute hier zusammenführt, stellt uns vor einen Menschen, … den selben Menschen, der mitten im Gebiet der Zehn Städte – wo Heidentum und Judentum, der hedonistische Fatalismus also und die trotzige Erlösungshoffnung sich begegnen und mischen – seinen Weg durch die Welt zog (vgl. Mk7,31)[iii].
Und dieser Mensch im Mischmasch von irdischen und himmlischen Erwartungen will auch uns berühren mit seinem innersten Wesen, wie damals in Galiläa den Taubstummen.
Er legt seinen Finger auch an unser Ohr und auf unsere Zunge.
Und er gebietet dem zynischen Ungläubigen und dem sehnsüchtigen Lösungssucher in uns: „Hephata! … Tu’ dich auf!“
… Wieso? … ’s gibt doch nix zu hören, nix zu sehen, nix zu sagen.
„Öffne dich trotzdem! Hephata!“
… Will ich aber nicht. Soll mir alles vom Leib bleiben. Nicht rankommen: Die
aussichtslose, trostlose Welt da, … mit dem Gewein und dem Gestöhn und dem Geschrei, das man lieber gar nicht hören will, selbst wenn man ja vielleicht könnte.
Doch Er sagt Sein klares, strenges, geduldiges, heilendes, wunderbar erlösendes, … Sein schöpferisches „Hephata!“.
– Und wir hören.
Was? … Was denn nun? ….
… Endlich einmal darf ich’s sagen. Sonst mache ich ja den gewohnten Bogen um zu viel Naturtheologie: Die alten Götterbäume Donars und Wotans, die Fruchtbarkeitskulte des Baal, die Anbetung der kosmischen Kräfte und der Gewalt der Elemente sind seit bald viertausend Jahren ja ein Hindernis gegen die immer unmittelbar naheliegende und doch immer auch irgendwie als Verlegenheits- und Ersatzlösung wirkende Naturfrömmigkeit.
Doch heute sagt der alte Jesaja uns das junge Wort: Lasst doch den Wald erst einmal wachsen. In eurer großen, drängenden, bangen Sorge um das Weltende und die Sinnlosigkeit, in eurer feurigen, waldbrandbeschleunigten Nervosität, ob Gottes Reich und jede Zukunft nicht längst abgeblasen sei und jede Hoffnung euch verkohlt, sollt ihr jetzt einmal innehalten, … lauschen, … euch öffnen, … und abwarten.
Ist das denn aber nicht der Wahnsinn? Brennt denn nicht überall von Kanada bis Griechenland, vom Amazonas bis zu den kanarischen Inseln der Wald lichterloh? Müssen wir das nicht als das röteste aller roten Alarmsignale erkennen, das uns zwingt, alles dran zu setzen, dass gelöscht wird und nicht weitere Verbrennung geschieht? Hat nicht die germanische Edda Recht, wenn sie in grauer Vorzeit die Klimakatastrophe von heute zu beunken scheint: „Alle Wesen müssen die Weltstatt räumen. / Schwarz wird die Sonne, die Erde sinkt ins Meer, / vom Himmel schwinden die heiteren Sterne. / Glutwirbel umwühlen den allnäh-renden Weltbaum, / Die heiße Lohe beleckt den Himmel.“[iv] …….
Und ausgerechnet jetzt, da sich die alt-heidnischen selbsterfüllenden Prophezeiungen vor unsern Augen bestätigen, … ausgerechnet jetzt, im Wagner’schen Weltenbrand kommt der Erste der großen Schriftpropheten Israels, die sonst so unerbittlich gegen den Naturglauben wettern, daher wie Joseph von Eichendorff?
Ausgerechnet jetzt sollen wir andächtig und seelenruhig den Wald wachsen lassen: „Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden“??!!!
Ist es dazu nicht zu spät? Können wir wirklich noch wie unsere Vorfahren, als die große - für sie auch herzlich lebensnotwendige - Rodung Europas beinah abgeschlossen war, unsere Zuflucht wieder zum Wald nehmen? Können wir wie die romantische Generation, wie die industrialisierungsmüden Menschen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch einmal aus gerührter, überwältigter Seele auf die „Täler weit und Höhen“ blicken[v], die „Ruh über allen Gipfeln, in allen Wipfeln“[vi] unser mattgehofftes Gemüt durchschauern lassen und dann kosmosselig wie eben der unübertroffene, herzensfromme Eichendorff die Hände falten und den Trost der Welt erfahren, der mit dem „ewigen Morgenrot / den stillen Wald durchfunkelt“[vii]?
Müssen wir nicht handeln, … aktivistische Aktion betreiben? Können wir’s auch nur in unsern kühnsten Träumen uns wirklich noch leisten, zu meditieren wie die großen Naturlyriker oder die weltflüchtigen Aussteiger aller Arten?
Wer so fragt, meint auch die Aktion nicht ernst.
Wer so fragt, hat nicht wirklich Hoffnung, sondern nur Hummeln im Hintern oder Hysterie im Hirn.
Aktion ohne Kontemplation ist Unfug.
Kurzschlusshandlungen ohne den langen Atem des gläubigen Gebets und des Gottvertrauens als Zukunftsvertrauens können mittelfristig nur wie Brandbeschleuniger wirken, weil sie die Energie der Herzen und das explosive Pulverfass der Angst so ver-schleudern, dass alles irgendwann grässlich verpuffen muss.
Wenn wir nicht den Wald wachsen ließen, … wenn wir nicht das unmerkliche Aufbrechen auch noch der verbrannten Böden leise sich vollziehen ließen, … wenn das neue, grüne Mischgehölz, wo Kyrill und der Borkenkäfer die Monokulturen unserer Heimat vernichtet haben, uns nicht einfach einmal die Hände falten und danken hieße, … wenn wir nicht heute pflanzten, was erst die Enkel an widerstandsfähigeren Arten brauchen werden als Schatten- und Entgiftungsquell, … wenn wir nicht das neue Landschaftsbild der fremden Windräder über den vertrauten Mittelgebirgszügen, überm herben Schwarzwald, überm lachenden Allgäu, … ja, wenn wir nicht sogar ein neues Landschaftsbild von Windrädern im romantischen Caspar-David- Friedrich-Gebirge als Erfüllung des paradiesischen Auftrags, die Schöpfung zu hegen und zu pflegen (vgl. 1.Mose 2,15), zu betrachten lernen, … dann gute Nacht!
Aber natürlich nicht wegen der Windräder, die scheußlich störend sind und bleiben, sondern wegen des Waldes. Wegen dieses Wunders, das mir letzten Sonntag wieder einmal vor Augen stand: Das Schulungswochenende mit unsern Teamern im Bergischen Land bedeutet reichlich Leben reichlich in Verbindung mit Gott, … aber keinen sonntäglichen Gottesdienst im mir unentbehrlichen Sinn. Da wurde ich auf meiner Weckrunde zu den einzelnen Holzhäusern voller verpennter Jugendlicher stiller Zeuge, wie in der Früh ein junger Mann aus dem Iran auf einer Bank unter den Bäumen saß und über die für ihn wohl fremden, weiten, blaugrün verschwimmenden Waldkämme unverwandt und - wer weiß? - vielleicht auf seine Weise betend in den Sonnenaufgang blickte.
Und die ganze Frömmigkeit und Dankbarkeit meiner hessischen Kindertage, in denen es Winterwälder und Brombeerpflücken im Unterholz und den schrillen Schrei des Habichts über den mittäglich schweigenden Föhren und das Erlebnis von Quellen und Bächen mitten im Tannendunkel und Pilzesuchen, Schwarzwildfährten und Hirschruf im Oktobernebel, Einsiedlerhöfe am Rand des Lichtung und Märchenvolk unter jeder Wurzel gab, … alles war wieder da, weil ein anderer Mensch schlicht auf Gottes herrlich hingebreitete Schöpfung blickte. Und die Volkslieder klangen wieder und ich hörte – doch wohl, weil einer mir „Hephata!“ geboten hatte – Jesaja im Text von heute sagen: „Was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein vor dem Heiligen Israels …“
Es war einer der Augenblicke, die hell und heil über der bedrohten, zerfallenden und doch taufrisch geweckten Welt stehen können. Und auch wenn wir’s täglich und nächtlich spüren, wie ein Weinen in der Welt ist, gilt auch das andere Dichterwort, das Wort, das der spätromantische Robert Browning dem angelsächsischen Volksmund vermacht hat: „God’s in His heaven - / All’s right with the world.“[viii]
Ja, es ist ein Weinen in der Welt, … aber Gott ist auch im Himmel!
Wäre das nicht so, dann gäbe es keine wirkliche Hoffnung.
Wäre nicht Gott im Himmel, dann würden der Mensch und seine künstliche Intelligenz und seiner eingefleischten Unbelehrbarkeit auf Erden nur rettungslos sein.
Aber Der im Himmel ist, macht immer noch, dass neues Leben entsteht und altes sich des Lebensrechtes und des Lebensrufes alles jungen Neugeschaffenen erinnert: „Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände - ihre Kinder - in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.“
Dieser rettende Blick für das nachwachsende Leben, diese Bekehrung der Vernichtungstrunkenen und Untergangsbesoffenen zum Willen des Schöpfers, Der ein Neues schaffen will – jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?! (Jes.43,19) –, das ist die tiefe Hoffnung, die in jedem Keim der Erde, in jedem Halm, in jedem Blatt, in allen Gewächsen, allen Wildnissen und allen Pflanzungen, in allen Bäumen, Hainen und Wäldern heranwächst.
Wer etwas davon auch in unseren Tagen sieht, wer es, weil sein Herz und Geist berührt und aufgetan worden sind – „Hephata!“ – spürt und andächtig wahrnimmt, dass die Natur mitten in ihrem Verderben immer noch den Segen und den Plan und das Heil und die siegreiche Durchsetzung Gottes beweist, der kann heute nur tun, was Israeliten und Juden und Christen niemals taten:
… Er kann sich nur vor den Bäumen des Waldes verneigen und ihnen sagen: Eure Predigt hören wir und euer Zeugnis sehen wir. … Und wir warten mit Euch, dass Ihr wachst und Gottes Reich sich gegen unsre Armut an Hoffnung und gegen unsre Tyrannei und Resignation behauptet!
Der Garten Gottes einst und künftig, … die Erde, in der das Weizenkorn wächst und nicht alleine bleibt, … die Berge der Welt, auf denen der Weinstock wurzelt (vgl. Ps.80,10ff), dessen Reben auch wir sind (vgl. Joh.15,5), … die Gemeinde der Gerechten, die grünen wie ein Palmbaum und wachsen sollen wie eine Zeder auf dem Libanon (vgl. Ps.92,13), … sie lassen uns das Geheimnis der Hoffnung erkennen, die in der Welt ist, weil Gott ihr Herr und ihr Vollender bleibt.
Und darum darf ich’s heute sagen, was sonst so kitschig und so falsch klingt … mit den Worten eines Trostbuches, das einmal Unzählige getröstet und zur Barmherzigkeit und Hoffnung gegen das gierige Blut-und-Boden-Heidentum gerufen hat:
„Ewig singen die Wälder.“[ix] … Von der Hoffnung, die in der Welt ist. … Sie heißt Gott.
Amen.
[i] Else Lasker-Schüler, Sämtliche Gedichte, hgg. v. Friedhelm Kemp, München 19915, S.88.
[ii] Vgl. Sigmund Freuds gleichnamige Arbeit von 1930.
[iii] Markus 7, 31 – 37 ist das Evangelium des 12.Sonntags nach Trinitatis.
[iv] Die Edda. Die ältere und jüngere Edda und die mythischen Erzählungen der Skalda. Übers. u. mit Erläuterungen begleitet von Karl Simrock, (Nachdr: Essen 1986, S.14).
[v] Joseph von Eichendorff, „Abschied“, in: Ders., Werke - Bd.I: Gedichte. Versepen. Dramen. Autobiographisches, hgg. v. Jost Perfahl u. Ansgar Hillach, München 1970, S. 67.
[vi] Johann Wolfgang von Goethe, „Wandrers Nachtlied,“, in: Goethes Gedichte in zeitlicher Folge, hgg. v. Heinz Nicolai, Frankfurt/M 19907, S.236.
[vii] J. v. Eichendorff, „Der Einsiedler“, aaO, S.279.
[viii] Aus Robert Brownings Versepos „Pippa Passes“ von 1841. Am leichtesten zugänglich unter https://romantic-circles.org/editions/poets/texts/theyears.html
[ix] Dieser Bauernroman des norwegischen Dichters Trygve Gulbransen ist eines der am meisten verkauften Bücher in der ersten Hälfte des kranken 20.Jahrhunderts gewesen … und auf seine Weise bleibt er m.E. lesenswert.
11.S.n.Tr., 20.08.2023, Thom.Ev. 2,1-4, Stadt- u. Jonakirche, Ulrike Heimann
Thema: „Suchen - Finden – Erschrecken – Staunen: der Weg des Glaubens“ (Thom.Ev. 2,1-4)
Liebe Gemeinde,
vor drei Wochen hatte ich im Antoniushaus der Suitbertusgemeinde für die kfd einen Abend zum Thema „Trinität“ gestaltet; dieses Thema hatten sich die Frauen gewünscht und erhofften sich einen Erkenntnis- und Glaubensgewinn zu dieser zentralen Lehre der Christenheit. Schließlich bekennen wir uns in jedem Gottesdienst ja zum Dreieinigen Gott – von der Eröffnung „Im Namen des Vaters …“ bis hin zum Schlusssegen. Wir saßen in einer großen Runde beieinander; und zwei der Frauen hatten sogar ihre Männer mitgebracht.
Und eigentlich von Beginn an zeigte sich: für die meisten gab es einen Widerspruch zwischen dem, was man aufgrund der kirchlichen Lehre glauben soll – und dem, was man selbst glauben konnte. Und damit stand die Unsicherheit im Raum: glaubt man dann überhaupt noch; hat man noch den richtigen Glauben?
Die gängigen Erklärungen aus dem Katechismus konnten keine und keinen überzeugen.
Es gab ein sehr lebhaftes und intensives Gespräch, in dem allen deutlich wurde: den Glauben hat man nicht, sondern der Glaube ist ein Weg, auf dem jede und jeder seine Erfahrungen macht mit Gott. Ein Weg, der mit dem ersten Schritt beginnt – für die meisten in der Kindheit – und der erst mit dem letzten Atemzug zu Ende ist.
Für alle ist es einsichtig, dass sich ein Mensch auf seinem Lebensweg entwickelt und verändert. Dass sich das genauso auch mit dem Glauben verhält, das zu hören, was für einige eine Überraschung. Ist der Glaube nicht eine feste Größe?
Nun ist der Glaube nicht um seiner selbst willen da, sondern er ist Gottes Geschenk, um das Leben besser zu meistern.
Wenn der Glaube sich auf das konkrete Leben in dieser Welt einlässt, dann verändert er sich; das tut ja schon unser Körper im Laufe der Jahre, ohne dass wir irgendetwas daran ändern können. Alles Lebendige wächst und verändert sich; und sollte es uns nicht darauf ankommen, dass unser Glaube lebendig ist und bleibt?
Der Apostel Paulus schreibt im 1.Korintherbrief: „Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.“ – Für den Glauben gilt das gleiche: der Kinderglaube muss sich im Laufe des Lebens verändern, muss erwachsen werden. Das kann er aber nur, wenn er genügend Nahrung und Anregung bekommt; sonst droht eine lebensgefährliche spirituelle Magersucht.
Mir ist das während meines Vikariats deutlich geworden: damit der Glaube mir wirklich Lebenshilfe sein kann in diesem Leben mit seinen Anforderungen, muss ich ihn verknüpfen mit allen Erkenntnissen, die ich aus der Beschäftigung mit dem, was dieses Leben ausmacht, wie es geworden ist, gewinnen kann. Denn der Glaube ist um des Lebens willen da.
Das hört sich nun recht einfach an, ist es aber gar nicht. Jedenfalls ist es für mich nicht einfach gewesen, die Vorstellung vom festen Glauben, den man hat, loszulassen und sich auf den Weg zu machen, um aufgrund eigener Erfahrungen und Erkenntnisse den Glauben neu auszusprechen. Zuviel stand erst einmal dagegen. Vor allen Dingen die Tatsache, dass die ganzen alten Bekenntnisse als unverrückbare Grundlage christlichen Glaubens gelten – quasi göttliche Würde besitzen – und dass die eigene Erfahrung – Glaubens- und Lebenserfahrung – eigentlich nichts zählt. Wer über den christlichen Glauben spricht und dabei „Ich“ sagt, seine Einsichten und Erkenntnisse ohne Deckung von hohen Autoritäten wie den Kirchenvätern, Martin Luther oder Karl Barth von der Kanzel oder in der Gemeinde mitteilt, der riskiert, einen Ketzerhut verpasst zu bekommen.
Der Weg zu einem lebendigen Glauben ist kein Spaziergang. Ich habe im Thomas-Evangelium einen kleinen Abschnitt gefunden, der die Anstrengungen, die mit diesem Weg verbunden sind, sehr schön deutlich macht. Das Thomasevangelium ist etwa zur Zeit des Matthäus-Evangeliums entstanden, zwischen 70 und 80 n.Chr. Es ist eine unverbundene Sammlung von Jesusworten, kurzen Szenen, die in einem Jesuswort gipfeln und Dialogen. Nicht wenige Jesus-Worte, die in der Bibel stehen, sind auch im Thomas-Evangelium zu finden. Andere, die sich in der Bibel nicht finden, wären es wert, dort zu erscheinen; denn die Wahrheit, die aus ihnen spricht, ist offensichtlich. Das Thomas-Evangelium wurde in vollständiger Fassung in koptischer Sprache erst 1945 bei Nag Hammadi gefunden. Zitate aus diesem Evangelium gab es in verschiedenen altkirchlichen Schriften. Das Thomas-Evangelium war also in der Frühzeit der Christenheit recht bekannt. In dem Abschnitt, auf den ich mich hier beziehen möchte, heißt es:
Jesus sagt: „Wer sucht, soll so lange weitersuchen, bis er findet. Wenn er aber findet, wird er erschrocken sein. Wenn er erschrocken ist, wird er staunen. Und er wird König sein über die unsichtbare Welt.“
Es ist der Suchweg des Glaubens, der hier kurz und knapp in drei bzw. vier Schritten nachgezeichnet wird.
„Wer sucht, soll so lange weitersuchen, bis er findet.“
Dieser erste Schritt wird auch in einem anderen Jesus-Wort aus dem Matthäusevangelium angesagt: Suchet, so werdet ihr finden. In diesem Wort aus dem Thomasevangelium kommt deutlicher zum Ausdruck, dass die Suche nach Einsichten und Erkenntnissen, die zum Leben und Glauben helfen, eine langwierige Sache ist, die Hartnäckigkeit und Beständigkeit verlangt. Der Glaubensweg ist ein Weg, an dem man „dranbleiben“ muss, auf dem man immer wieder neu nach Nahrung für Geist und Seele suchen muss – neugierig, wach und interessiert.
„Wenn er aber findet, wird er erschrocken sein.“
Genau diese Erfahrung habe ich gemacht, als ich ermutigt durch gute Begegnungen mit meinen Vikarskolleginnen und –kollegen anfing, geistig-geistliches Neuland zu betreten. Es ist für mich im Wesentlichen die Auseinandersetzung mit zwei Themenfeldern gewesen, die mich zunächst in eine fundamentale Verunsicherung geführt hat: mit der feministischen Theologie und der tiefenpsychologischen Exegese, der ich vornehmlich in den Büchern von Eugen Drewermann begegnete. Was ich da zu lesen und zu denken bekam, hatte ich vorher noch nie gehört, ja stellte das meiste von dem, was ich bis dahin meinte, an Glauben und christlicher Lehre verstanden zu haben, radikal in Frage.
Ein Beispiel: es war bis dahin für mich fraglos klar, dass Jesus für mich gestorben war, dass er sein Blut vergossen hatte, damit Gott mir meine Sünde vergeben kann. Doch nun erkannte ich: der Sündenbock, auf den alles abgeladen wird (in biblischer Diktion: das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg trägt) ist eine menschliche „Erfindung“, die seit Urzeiten dazu dient, die menschliche Unversöhnlichkeit abzureagieren. Einzelnen Personen oder Minderheiten wurde aufgelegt, was die anderen nicht mit sich abmachen wollten: sich ihrem Versagen, ihrer Schuld, ihren Ängsten und ihrer Ohnmacht zu stellen. Alles wurde auf die Anderen projiziert, ihnen wurde die Schuld gegeben an allem Negativen; alles Üble wurde ihnen aufgeladen, um mit ihnen aus der Welt geschafft zu werden, indem man sie umbrachte. Das „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinweg trägt“ – da hat es seinen Platz. Jesus ist so zum ultimativen Sündenbock des heillosen und religiös verwirrten Menschen geworden, der einen grausamen Tod sterben muss – vorgeblich, damit es mit seinem Tod Schluss ist mit dem Sündenbock-Unwesen (siehe Hebräerbrief). Aber dem war und ist nicht so.
Dass gerade die Christenheit die Juden als Sündenböcke in schrecklichster Weise verfolgt und missbraucht hat, das hat ohne Frage auch damit zu tun, dass das Opferdenken in der Kirche allgegenwärtig war und ist – in der Messe der römisch-katholischen Kirche und in den Liedern, besonders den Passionsliedern unseres evangelischen Gesangbuchs.
Als mir das aufging, fühlte ich mich zunächst einmal so, als wäre mir der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Ähnlich ist es mir mit vielen anderen bis dahin für mich fraglosen Glaubenswahrheiten gegangen. Und ich habe mich damals gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, sich all diesen Gedanken und Erkenntnissen lieber gar nicht erst ausgesetzt zu haben. War ich ein theologischer Zauberlehrling, der in seinen Erkenntnissen untergehen würde?
„Wenn er erschrocken ist, wird er staunen.“
Ja, es war ein existentielles Erschrecken, das ich damals erlebt habe. Und es dauerte erst einmal an, fast zwei Jahre. Ich hatte in dieser Zeit nicht Gott verloren, aber das meiste von dem, was ich meinte, über ihn zu wissen und über Jesus, all das, was meine Glaubensgrundlagen bis dahin waren, die ganzen vollmundigen Bekenntnisse der Christenheit.
Ich fing neu an, meinen Glauben zu buchstabieren – weniger göttlich, mehr menschlich. Denn in der Phase des Erschreckens, in dieser Glaubenskrise, hatte ich einen neuen Bezug zur Menschlichkeit, zum Menschen, zu mir selbst gefunden. Und ich entdeckte neu die Menschlichkeit Jesu und die Einfachheit und Klarheit seiner Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes.
Was hatte Jesus von Schuld und Vergebung gelehrt? Nichts über Opfer, sondern einfach die Hinwendung zu Gott und zu seinem Mitmenschen: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Ganz schlicht und einfach.
Was war Jesus das Wichtigste und Höchste? Die Gottes- und Menschenliebe, die sogar die Feinde einschließt.
Was war Jesu Richtschnur für alle Ethik? Die goldene Regel: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!“
Das eigene Wohlergehen steht nicht im Widerspruch zur Nächstenliebe, die eben kein Opfer ist.
Ganz neu entdeckte ich, dass Jesus nicht nur von Gott als gnädigem Gott sprach, sondern als grund-gutem, als gütigem Gott, der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse, über Gerechte und Ungerechte – einfach weil er allen Leben gönnt. In ganz neuer Weise kam mir so Gott nahe, einfach und klar – und darin einzigartig. Über seine Güte und Liebe habe ich neu staunen gelernt. Seitdem steht für mich fest: der Glaube an Gott hat nichts damit zu tun, dass ich bestimmte Glaubenssätze für wahr halte, sondern dass ich ein Grundvertrauen habe, geborgen und geliebt zu sein, dass ich mit allem, was ich denken und fühlen, aufgehoben bin in Gottes Lebensfülle.
„Und er wird König sein über die unsichtbare Welt.“
Dieser vierte Satz hört sich zunächst einmal geheimnisvoll an, ist es aber nicht, wenn man ihn richtig versteht.
Die unsichtbare Welt ist die ganze Schöpfungswirklichkeit. Von dieser Wirklichkeit können wir Menschen nur begrenzt etwas wahrnehmen, einfach, weil wir Menschen sind. Und darüber hinaus zeigt sich jedem Menschen diese Wirklichkeit anders. Jeder macht seine eigenen Erfahrungen im Leben, nimmt Dinge auf unverwechselbare Weise wahr.
König zu sein über diese ganze Schöpfungswirklichkeit, das heißt, offen zu sein für alles, was es in ihr an Erkenntnissen gibt. In allem, was dem Frieden, der Gerechtigkeit und dem Leben dient, den einen Geist Gottes wirken zu sehen. Dankbar zu sein für die Buntheit und Vielfalt des Lebens. Wir brauchen keine Angst zu haben vor dem Fremden, sondern dürfen neugierig und gespannt darauf sein, etwas von den Lebenserfahrungen anderer Menschen in anderen Kulturen, mit anderer Religion zu erfahren, von ihnen zu lernen. Auch sie haben Erfahrungen mit dem einen Gott gemacht, dem Schöpfer Himmels und der Erden. Gott ist ihnen nahegekommen, wie er uns nahegekommen ist. Jedem auf seine Art, nach seinem Vermögen. Alle solche Gotteserfahrungen sind ein Schatz, in dem Gott sich uns zur Verfügung stellt, damit unser Leben und Glauben an Tiefe zunimmt und wir reifen.
Um König zu sein über die unsichtbare Welt brauchen wir keine Raumfahrtprogramme und nicht viel Geld. Wir brauchen nur den Mut, uns selbst zu riskieren, indem wir uns vom Geist Gottes in geistig-geistliches Neuland hinausrufen lassen, immer wieder neu suchen und fragen, das Erschrecken nicht fürchten und das Staunen wieder lernen. Gott möchte uns dazu dienen – in jedem Gottesdienst.
Amen.
10.S.n.Tr., 13.08.2023, "Stefan Zweig", Jonakirche, Daniel Kaufmann
„Mögen sie
die Morgenröte noch sehen
nach der langen Nacht.
Ich, allzu Ungeduldiger,
gehe ihnen voraus.“
(Stefan Zweig, 22.2. 1942 in seinem Abschiedsbrief an die Freunde)
Literarischer Abendgottesdienst in 6 Abschnitten
1.Der Dichter
Mit Stefan Zweig treffen wir auf einen der meistgelesenen, erfolgreichsten Schriftsteller und Autoren deutscher Sprache, dessen Werke zudem in über 30 anderen Sprachen übersetzt worden sind. Von Haus aus waren er und sein älterer Bruder Alfred ausgesprochen gut ausgestattet und versorgt: sein Vater erfolgreicher jüdischer Textil-Unternehmer, der es zu einem ganz erklecklichen Wohlstand gebracht hat, die Mutter italienischer Herkunft und aus einer gut betuchten Bankerfamilie, selbstbewusst und standesbewusst. Die Familie legt Wert auf Bildung, die Kinder haben also u.a. auch Sprachen zu lernen. Bei Stefan Zweig sind das: Italienisch, Französisch, Englisch, Deutsch und Latein. Diese Vielsprachigkeit öffnet und ebnet ihm zweifelsohne den Weg in eine literarische Laufbahn. Er kann praktisch ohne Probleme in Paris, Rom, London, Berlin mit den dortigen Intellektuellen und Liebhabern der Sprache parlieren, sich austauschen und auf den neuesten Stand halten.
Bis dahin allerdings ist es noch ein dorniger Weg. Die Schule mit ihrem recht schematischen Lernprogramm bietet ihm, wie er schreibt, sozusagen nichts außer mehr oder weniger abgesessene Zeit. Der Sportunterricht besteht in jenen Tagen aus erstaunlich wenigen Bewegungen und hauptsächlich disziplinarischen Ordnungsübungen. Mädchen werden separat von den Jungens unterrichtet. Im Schwimmbad gibt es da eine klare Trennwand, die akribisch von den Sittenhütern der Moral überwacht wird. Es war, wie Stefan Zweig in „Die Welt von gestern“ schreibt, das Jahrhundert der Sicherheiten. Die Frauen waren eingeschnürt in ein Anstandskorsett, in dem man wenig Luft bekam und sich ohne Riechsalz und Ohnmachtsanfälle so gut wie gar nicht bewegen konnte. Die Männer waren eingepackt mit Kragen, die hochgeschlossen rund um den Hals würgten. Erwachsen wird man in jenen Tagen erst sehr spät, Zweig schreibt, es galt schon als Sensation, wenn einer mit Anfang 40 ein leitendes Amt in Staat oder Gesellschaft einnahm. Richtig ernst genommen würde man erst mit 50 Jahren aufwärts – ideale Bedingungen für die Babyboomer heutiger Tage, möchte man da etwas ironisch vermerken.
In jenen Tagen sind diese Aussichten für junge Menschen nicht ganz so rosig. Das Einzige, was die Jungens und ihr Interesse anzieht, ist die Kultur, die Literatur und das Theater. All das findet außerhalb der Schule statt, zieht mit den Brettern, die die Welt bedeuten, aber viel Aufmerksamkeit auf sich. Die Jungens sind hier immer auf der Höhe, wissen, wann welches Stück mit welchen SchauspielerInnen besetzt ist, jagen und holen sich Autogramme und saugen den Klatsch der Wiener Presse wie ein Schwamm auf. Auch eigene Dichtung und Verse werden auf diese Weise angeregt. Ein Klassenkamerad, ein Jahrhundert-talent, Hugo von Hofmannsthal, spornt alle zu eigenen kreativen Worten an. Da sich abzeichnet, dass der ältere Bruder Alfred die Fabrik des Vaters weiterführt, ist für Stefan der Weg zu einer Laufbahn, in welchem Fachgebiet auch immer, frei. Einzige Bedingung und Forderung der Familie: ein Doktortitel, das ist sich eine Familie in jenen gehobenen Kreisen Wiens schuldig.
Also schreibt sich Stefan Zweig für das Studium der Philosophie in Wien, später in Berlin ein. „Selbstverständlich dachte ich nicht daran, in Berlin zu studieren. Ich habe dort die Universität ebenso wie in Wien nur zweimal im Verlauf eines Semesters aufgesucht, einmal, um die Vorlesung zu inskribieren und das zweite Mal, um mir ihren vorgeblichen Besuch testieren zu lassen.“ (S. Zweig: Die Welt von Gestern, Fünf Bände in Kassette, Band 5, 156, München, Anacondaverlag, 2021) Das macht er acht Semester lang und meldet sich dann zur Promotion an. Ansonsten widmet er sich der Sprache, kleinen Artikeln in renommierten Zeitungen u. a. in der neuen Freien Presse Wiens (Feuilleton), und den Versen, auch ein erster Gedichtband ist bald auf dem Markt: „Silberne Saiten“ 1901. Wie er später schreibt, kein Glanzstück, aber ein respektabler erster Versuch. Auch die Promotion gelingt ihm recht gut, zumal der Professor seine doch schon recht ansehnlichen öffentlichen Essays und Ausführungen sehr wohlwollend zur Kenntnis genommen hat und also bei der Prüfung recht gnädige Fragen stellt, kurzum: Die von der Familie gesteckten Ziele sind erreicht, er hat freie Hand für das, was er auch immer tun will. Aus diesen silbernen Saiten, einem Büchlein noch ohne große Meisterschaft, eine Kostprobe, ein bemerkenswerter Text, der das Buch eröffnet, ein Text, der schon in frühen Jahren den Tod als eine große, unbezwingbare Macht des Lebens beschreibt. (S.Zweig: Silberne Saiten, Gedichte, Fischerverlag, Frankfurt1982, S. 14f)
„Das Lebenslied.
Und jedes Lebensmal, das ich gefühlt,
hat in mir dunkle Klänge aufgewühlt.
Und doch, das eine will mir nie gelingen,
Mein Schicksal in ein Lebenslied zu zwingen,
was mir die Welt in Tag und Nacht gegeben,
in einen reinen Einklang zu verweben.
Ein irres Schiff, allein auf fremdem Meer,
schwankt meine Seele steuerlos einher
Und sucht und sucht und findet dennoch nie
den eig'nen Wiederklang der Weltenharmonie.
Und langsam wird sie ihrer Irrfahrt müd.
Sie weiß: Nur einer ist's, der löst ihr Lied,
der fügt die Trauer, Glück und jeden Drang
in einen tiefen, ewig gleichen Sang.
Nur durch den Tod, der jede Wunde stillt,
wird meiner Seele Wunschgebet erfüllt.
Denn einst, wenn müd mein Lebensstern versinkt,
mit matten Lichtern nur der Tag noch winkt,
da werd' ich sein Erlösungswort verspüren,
er wird mir segnend an die Seele rühren.
Und in mir atmet plötzlich heil'ge Ruh.
Mein Herz verstummt Er lächelt mild mir zu.
Und hebt den Bogen und die Saiten zittern
wie Erntepracht vor drohenden Gewittern,
Und beben, beugen sich – und singen schon
den ersten, sehnsuchtsweichen Silberton.
Wie eine scheue Knospe, die erblüht,
reift aus dem ersten Klang ein süßes Lied.
Da wird mein tiefstes Sehnen plötzlich Wort,
Mein Lebenslied ein einziger Accord.
Und Leid und Freude, Nacht und Sonnenglanz
umfassen sich in reiner Consonanz.
Und in die Tiefen, die noch keiner fand,
greift seine wunderstarke Meisterhand.
Und was nur dumpfer Wesenstrieb gewesen,
weiß er zu lichter Klarheit zu erlösen.
Und wilder wird sein Lied Wie heißes Blut
so rot und voll strömt seiner Töne Flut
und braust dahin, wie schaumgekrönte Wellen,
die trotzig an der eig'nen Kraft zerschellen,
Ein toller Sang lustlechzender Mänaden
ertost es laut in jauchzenden Kascaden.
Und wilder wird der Töne Bacchanal
und wächst zur ungeahnten Sinnesqual.
Und wird ein Schrei, der schrill zum Himmel gellt –
– Dann wirrt der wilde Strom und stirbt und fällt.
Ein Schluchzen noch, das müde sich entringt.
Das Lied verstummt, der matte Bogen sinkt.
Und meine Seele zittert von den Saiten
Zu sphärenklangdurchbebten Ewigkeiten.“
2.Der Pazifist
Finanziell unabhängig, gut ausgestattet, mit Doktortitel und etlichen Publikationen in der Tasche, geben ihm gute Freunde zwei wertvolle und hilfreiche Tipps: Erstens empfehlen sie ihm zu reisen. Das bildet und weitet den Horizont. Das nötige Kleingeld ist vorhanden, also reist Zweig. Es geht nach Paris, Brüssel, Rom und Berlin. Es geht nach Indien und Amerika und diese Reisen verschaffen ihm viele neue Eindrücke über Menschen und Kultur und bescheren ihm dann vor allem: viele wertvolle internationale Kontakte, die ihm in späteren Jahren noch sehr helfen werden. Unter anderem lernt er einige große Dichter und Denker kennen, so auch Emile Verhaeren, einen belgischen Dichter, der in Französisch schreibt. Und hier greift der zweite wichtige Tipp: Er geht gewissermaßen auch nochmal in die Schule, die Lebensschule könnte man sagen, genauer die Sprachschule: Er übersetzt die großen Dichtungen des schon berühmten Dichters ins Deutsche und schärft dabei vor allem seine eigene Sprache. Gerade weil man beim Übersetzen nicht einfach jedes Wort nur 1:1 transferieren kann, sondern den Sinn und Gehalt im Blick haben muss und dann gegebenenfalls auch noch das Versmaß und den Reim, sind das sehr hilfreiche Übungen zur Erweiterung des eigenen Wortschatzes und der eigenen Ausdrucksfähigkeit. In späteren Jahren spürt man dieses akribische und sensible Arbeiten an seinen eigenen Texten.
Im Grunde ist Stefan Zweig also gut auf eine angesehene und renommierte Karriere als Schriftsteller vorbereitet, da ändert der Ausbruch des 1. Weltkrieges alles. Nach den ersten Hallelujagesängen und euphorischen Kriegs-, vor allem Siegeshymnen stellt sich alsbald eine radikale Ernüchterung ein. Zweig arbeitet in einem Kriegsarchiv und im Auftrag der Propaganda, die die Kampfmoral hochhalten bzw. befeuern soll. Im Rahmen seiner Tätigkeit, einer Berichterstattung von der Front, überzeugen ihn die Begegnung mit einem Lazarettzug und die katastrophalen und verrohten Verhältnisse in den Schützengräben alsbald davon, dass dieser Krieg in einem absoluten Desaster enden wird. In ihm jedenfalls rumort die Frage, welchen konstruktiven Beitrag denn eigentlich die Dichter und Denker in Zeiten des Krieges leisten können. Die Waffen segnen? Bildzeitungsartikel schreiben? Einen wegweisenden Impuls erhält er bei einem Besuch in der Schweiz. Hier trifft er Romain Rolland, einen französischen Dichter, Schriftsteller (Literaturnobelpreis 1915) und einen der wenigen Friedensaktivisten jener Tage. Der ist im Auftrag und bei dem Roten Kreuz tätig, im Lazarett und verbindet die Verwundeten, Verstümmelten, die Opfer des Krieges. Das hinterlässt bei Zweig einen bleibenden Eindruck: Er schließt sich den pazifistischen Denkern an. Gewalt ist keine Lösung zur Befriedung eines Konfliktes. Er beginnt mit einem Bühnenwerk, das genau diesem Thema gewidmet ist:
„Jeremias“ (Text ist digital gut erreichbar unter: Zweig, Stefan (projekt-gutenberg.org) heißt es und orientiert sich an der biblischen Vorlage. Erstaunlicherweise muss er da gar nicht viel umschreiben: Im Grunde muss er den Text nur in passende Verse gießen. Denn das Jahr 589 vor Christus zeigt gewisse Parallelen zur Gegenwart (sc. den 1. Weltkrieg):
Der König von Juda, Zedekia, schmiedet ein Bündnis mit Ägypten, um sich von der Herrschaft des Nebukadnezars, des Königs von Babylon zu befreien.
Alles jauchzt und schreit begeistert angesichts der neu gewonnenen Stärke. Aber nicht allzu lang. Nebukadnezar schlägt zurück, Ägypten gibt klein bei bzw. wird militärisch besiegt und bald steht Nebukadnezar vor den Toren Jerusalems. Jeremias, der Prophet, der von Anfang an von diesem Aufstand abgeraten hat, versucht den König von einer friedlichen Lösung zu überzeugen: Besser jetzt klein beigeben als ein ganzes Volk zu verderben. Der König lehnt ab. Nach ca. 18monatiger Belagerung bricht der Widerstand zusammen, Zedekias Kinder werden umgebracht, er selbst geblendet, die Eliten abgeführt, das Volk, am Boden zerstört, erkennt, dass der Prophet Recht behalten hat. Ein Klage- und Bußgesang hebt an. Zweig schreibt dieses Werk wohl über dri Jahre, 1917 ist es fertig und auf den Markt gebracht und hat überwältigenden Erfolg. Es trifft wohl einen Nerv der Zeitgenossen, die sich nach drei Jahren Krieg nichts mehr wünschen als Frieden. In kurzer Zeit sind 20 000 Exemplare verkauft und das Stück wird auf die Bühne gebracht. Spätestens wenn die Anzahl der Leichen für die Gedenktafeln zu viele werden und wenn die traumatisierten, verstümmelten, deformierten Körper und Seelen sichtbar für alle das zivile Leben erreichen, setzen die Überlegungen für den Frieden ein. Das dürfte auch heute so sein. Zweig hat diese Beobachtung/Erkenntnis in zahlreichen anderen Erzählungen aufgenommen. Besonders eindrücklich in der Novelle „Der Zwang“. Zweig, Stefan (projekt-gutenberg.org), von der wir hier eine kurze Zusammenfassung hören:
„Der junge deutsche Maler Ferdinand R. aus M. hat sich in einem Dorf über dem Zürichsee eine kleine Wohnung gemietet und ein Atelier eingerichtet und lebt dort mit seiner Frau. Der tiefe Frieden erweist sich als trügerisch. Er erhält per Post in seinem Haus einen Stellungsbefehl aus Deutschland. Seine Ehefrau Paula redet ihm ein, er müsse dem Befehl nicht nachkommen, denn er sei ein freier Mann in einem freien Land. Kanonenfutter für den weiteren Krieg gegen Frankreich sei aus der Schweiz nicht zu haben. Ferdinand aber bekommt keine Ruhe mehr. Sein Gewissen meldet sich. Die Pflicht ruft ihn. Das Vaterland braucht ihn. Gewalt kann nur durch Gewalt beendet werden. Gehorsam macht er sich auf den Weg in sein Heimatland. An der Staatsgrenze aber hat der Maler eine erschütternde Begegnung mit schwer verwundeten französischen Soldaten. Vor dem Übertritt über die Grenze besinnt er sich und kehrt zurück zu seiner Frau Paula.“ Wenn der Preis für den Krieg in die Höhe schnellt und die Folgen genug Leben verstümmelt und vernichtet hat, steigen die Chancen der Pazifisten und Friedensbewegten – eine bittere Lehre und Wahrheit.“
3.Der Europäer
Nach dem ersten Weltkrieg beginnt das erfolgreichste Jahrzehnt im Leben Stefan Zweigs. Sein Bühnenstück „Jeremias“ hat voll eingeschlagen. Seine Botschaft vom Frieden trifft überall auf offene Ohren. Ein großes, teilweise auch demütiges Aufatmen beginnt. Die Menschen sind froh, dass sie mit dem Leben davongekommen sind. Und sie saugen begierig auf, was die Dichter und Denker ihnen an Nahrung für den Alltag zu lesen geben. Auch und vor allem Stefan Zweigs Novellen haben Erfolg. Der Inselverlag (mit dem Gründer Anton Knippenberg) wird sein Hausverlag. Auch privat tut sich etwas: Er lässt sich in Salzburg nieder. Er wohnt im Paschinger Schlössl am Kapuzinerberg. Zu Beginn des Jahres 1920 heiratet er Friderike von Winternitz, eine frühe Verehrerin seiner Dichtkunst. Sie bringt zwei Mädchen aus einer ersten Ehe mit in die Beziehung, mit denen Zweig allerdings nur bedingt gut zurechtkommt. Da Friderike recht tolerant, besser leidensfähig, ist, hält diese Beziehung einiges aus und währt immerhin auch knapp 15 Jahre.
In Salzburg besuchte ihn die geistige Elite Europas. Dichter, Maler, Musiker, Denker, alle geben sich bei Zweig ein Stelldichein (u.a. auch Hesse, Rilke). Und Zweig lässt sich von der Idee anstecken, dass Europa geistig geeint werden kann. Unter anderem durch die Kultur schaffenden Dichter und Denker, die sich international von West bis Ost vernetzen und gegenseitig Anregungen geben und eine Humanität befördern, die einen weiteren Krieg unmöglich machen soll/wird. Zweig ist so u.a. auch in Russland unterwegs, Maxim Gorki ist ein aufmerksamer Leser seiner Bücher und Essays. Das verbindet.
Zweig ist auf dem Gipfel seines Schaffens angekommen: Er hat eine geradezu geniale Beobachtungsgabe. Und vermag Konflikte und Spannungen des Lebens so in Worte zu fassen, dass diese Worte beim Lesen geradezu zu einem lebendigen Film werden. Ich bin da im Urlaub mehrmals in seine bildhafte Welt getaucht. Dazu ist Zweig ein messerscharfer Chronist der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse seiner Zeit. In seinem Spätwerk „Die Welt von gestern“ (Angaben, siehe oben) etwa beschreibt er Atmosphäre und Besonderheiten der zwanziger Jahre, die merkwürdigerweise oder zufälligerweise eine Reihe von Parallelen zu unserer Gegenwart aufweisen. Einer bis dahin nie erlebten Inflation mit verheerenden Folgen korrespondiert ein Aufbruch in zahlreichen Bereichen der gut bürgerlichen Gesellschaft. Wir hören eine Passage aus S. Zweig: Die Welt von gestern, München 2021, Seite 397-401:
„Eine ganz neue Jugend glaubte nicht mehr an ihre Eltern, den Politikern, den Lehrern; jede Verordnung, jede Proklamation des Staates wurde mit misstrauischem Blick gelesen. Mit einem Ruck emanzipierte sich die Nachkriegsgeneration brutal von allem bisher Gültigen und wandte jedweder Tradition den Rücken zu, entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, weg von alten Vergangenheiten und mit einem Schwung in die Zukunft.
Eine vollkommen neue Welt, eine ganz andere Ordnung sollte auf jedem Gebiete des Lebens mit ihr beginnen; und selbstverständlich begann alles mit wilden Übertreibungen. Wer oder was nicht gleichaltrig war, galt als erledigt. Statt wie vordem mit ihren Eltern zu reisen, zogen elfjährige, zwölfjährige Kinder in organisierten und sexuell gründlich instruierten Scharen als Wandervögel durch das Land bis nach Italien und an die Nordsee. In den Schulen wurden nach russischem Vorbild Schülerräte eingesetzt, welche die Lehrer überwachten, der Lehrplan umgestoßen, denn die Kinder sollten und wollten bloß lernen, was ihnen gefiel. Gegen jede gültige Form wurde aus bloßer Lust an der Revolte revoltiert, sogar gegen den Willen der Natur, gegen die ewige Polarität der Geschlechter. Die Mädchen ließen sich die Haare schneiden und zwar so kurz, dass man sie in ihren Bubiköpfen von Burschen nicht unterscheiden konnte, die jungen Männer wiederum rasierten sich die Bärte, um mädchenhafter zu erscheinen, Homosexualität und Lesbierinnentum wurde nicht aus innerem Trieb, sondern als Protest gegen die althergebrachten, die legalen, die normalen Liebesformen große Mode. Jede Ausdrucksform des Daseins bemühte sich, radikal und revolutionär aufzutrumpfen, selbstverständlich auch die Kunst. Die neue Malerei erklärte alles, was Rembrandt, Holbein und Velasquez geschaffen, für abgetan und begann die wildesten kubistischen und surrealistischen Experimente. Überall wurde das verständliche Element verfemt, die Melodie in der Musik, die Ähnlichkeit im Porträt, die Fasslichkeit der Sprache. Die Artikel „der die das“ wurden ausgeschaltet, der Satzbau auf den Kopf gestellt, man schrieb steil und kess im Telegrammstil, mit hitzigen Interjektionen, außerdem wurde jede Literatur, die nicht aktivistisch war, das heißt nicht politisch theoretisierte, auf den Müllhaufen geworfen. Die Musik suchte starrsinnig eine neue Tonalität und spaltete die Takte, die Architektur drehte die Häuser von innen nach außen, im Tanz verschwand der Walzer vor kubanischen und negroiden Figuren, die Mode erfand mit starker Betonung der Nacktheit immer andere Absurditäten, im Theater spielte man Hamlet im Frack und versuchte explosive Dramatik. Auf allen Gebieten begann eine Epoche wildesten Experimentierens, die alles Gewesene, Gewordene, Geleistete mit einem einzigen hitzigen Sprung überholen wollte; je jünger einer war, je weniger er gelernt hatte, desto willkommener war er durch seine Unverbundenheit mit jeder Tradition – endlich tobte sich die große Rache der Jugend gegen unsere Elternwelt triumphierend aus. Aber inmitten dieses wüsten Karnevals bot mir nichts ein tragikomischeres Schauspiel als zu sehen, wie viele Intellektuelle der älteren Generation in der panischen Angst, überholt zu werden und als unaktuell zu gelten, sich verzweifelt rasch eine künstliche Wildheit anschminkten und auch den offenkundigsten Abwegen täppisch hinkenden Schritts nachzuschleichen suchten.
Biedere, brave, graubärtige Akademieprofessoren übermalten ihre einstigen, jetzt unverkäuflich gewordenen Stillleben mit symbolischen Würfeln und Kuben, weil die jungen Direktoren alle andern Bilder als zu klassizistisch aus den Galerien räumten und ins Depot stellten. Schriftsteller, die jahrzehntelang ein rundes, klares Deutsch geschrieben, zerhackten folgsam ihre Sätze und exzedierten in Aktivismus; behäbige preußische Geheimräte dozierten auf dem Katheder Karl Marx, alte Hofballerinen tanzten dreiviertelnackt mit gestellten Verrenkungen die Appassionata Beethovens und Schönbergs Verklärte Nacht. Überall lief das Alter verstört der letzten Mode nach; es gab plötzlich nur den einen Ehrgeiz, „jung“ zu sein und hinter der gestern noch aktuellen eine noch aktuellere, noch radikalere und noch nie dagewesene Richtung prompt zu erfinden…
Welch eine wilde, anarchische, unwahrscheinliche Zeit, jene Jahre, da mit dem schwindenden Wert des Geldes alle anderen Werte in Österreich und Deutschland ins Rutschen kamen! Eine Epoche begeisterter Ekstase und wüster Schwindelei, eine einmalige Mischung von Ungeduld und Fanatismus. Alles, was extravagant und unkontrollierbar war, erlebte goldene Zeiten: Theosophie, Okkultismus, Spiritismus, Somnambulismus, Anthroposophie, Handleserei, Grafologie, indische Yogilehren und paracelsischer Mystizismus. Alles, was äußerste Spannungen über die bisher bekannten hinaus versprach, jede Form des Rauschgifts, Morphium, Kokain und Heroin, fand reißenden Absatz, in den Theaterstücken bildeten Inzest und Vatermord, in der Politik Kommunismus oder Faschismus die einzig erwünschte extreme Thematik; unbedingt verfemt hingegen war jede Form der Normalität und der Mäßigung. Aber ich möchte sie nicht missen, diese chaotische Zeit, nicht aus meinem eigenen Leben, nicht aus der Entwicklung der Kunst. Wie jede geistige Revolution im ersten Anschwung orgiastisch vorstoßend, hat sie die Luft vom Stickig-Traditionellen reingefegt, die Spannungen vieler Jahre entladen, und wertvolle Anregungen sind trotz allem von ihren verwegenen Experimenten zurückgeblieben. So sehr uns ihre Übertriebenheiten befremdeten, wir fühlten doch kein Recht, sie zu tadeln und hochmütig abzulehnen, denn im Grunde versuchte diese neue Jugend gutzumachen – wenn auch zu hitzig, zu ungeduldig – was unsere Generation durch Vorsicht und Abseitigkeit versäumt. Im Innersten war ihr Instinkt richtig, dass die Nachkriegszeit anders sein müsse als die des Vorkriegs; und eine neue Zeit, eine bessere Welt – hatten wir Älteren sie nicht ebenso gewollt…?“
4.Der „Mystiker“
Zweigs Texte, Geschichten und Erzählungen kreisen durchweg um die besonderen Momente und Konstellationen des Daseins. Eine schicksalhafte Begegnung zweier Menschen im Casino. Eine kurze Schlussnotiz aus einem Testament. Die unsterbliche Liebe eines Menschen mit Handicap.
Ein Arzt, der den entscheidenden Moment bei der Hilfe für einen geliebten Menschen verpasst, ein alternder Vater, der in einem überaus klaren Moment im Urlaub verbittert feststellen muss, dass er diese Welt mit ihren Eitelkeiten nicht mehr versteht. In und bei allen diesen Augenblicken wird etwas von dem Geheimnisvollen des Daseins sichtbar. Da blitzt fast so eine Art Mystik durch. Ein Stück Transzendenz. Ein geradezu göttlicher Impuls, der für eine überraschende Wendung, ein eindrückliches Erlebnis, eine letzte Weisheit, eine lehrreiche Erkenntnis sorgt. Zweig war nicht besonders gläubig, und soweit ich sehe, keiner dogmatischen Tradition besonders zugeneigt. Er war da vielmehr immer sehr skeptisch, weil im Grund genommen mit jedem Glauben ein gewisser Dogmatismus, mit jeder Rechthaberei fast immer Fanatismus und Unfrieden einhergeht. So steht Zweig auch einem Johannes Calvin oder einen Martin Luther eher distanziert gegenüber, weil die bei aller genialen Schaffenskraft doch menschlich einiges zu wünschen übriglassen. Bei Calvin ist das etwa die Idee, in Genf eine christlich kontrollierte Gottesstadt zu schaffen. Das ließ nicht sehr viel Spielraum für Toleranz und Andersdenkende und führt bekanntlich dazu, dass etwa ein recht unschuldiger Denker wie Servet auf dem Scheiterhaufen brennen musste. (sehr lesenswert dazu: S. Zweig: Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt, Projekt Gutenberg)
Von Luther wissen wir, dass er gerade in den letzten Jahren ziemlich cholerisch und wütend unterwegs war und seine Ausfälle gegenüber Juden, Muslimen, Hexen, Behinderten sind alles andere als ein Ruhmesblatt. Zweig waren diese Eiferer und Weltveränderer gerade in ihrer apodiktischen Form höchst suspekt. Er sympathisierte mit den feinen Geistern wie dem Humanisten Erasmus (hier sehr inspirierend: S. Zweig: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam, Projekt Gutenberg) oder dem Menschenfreund Castellio (s.o), die zur Durchsetzung ihrer Ziele auf jegliche Gewalt verzichteten und sich aus der Hitze der aufgeheizten Debatten zurückzogen. Zweig tut sich mit allzu dynamischen Vertretern der Institution Kirche also schwer. Sie sind ihm zu laut, zu einseitig, zu drängerisch, zu ungeduldig, zu intolerant. Nichtsdestotrotz hat er ein untrügliches Gespür dafür, dass es im Leben zuweilen auch um letzte Gewissheiten und letzte Überzeugungen geht. Für mich das herausragendste Zeugnis dieser Art stammt aus den „Sternstunden der Menschheit“. Es ist die Erzählung von G.F. Händels Auferstehung, genauer: der Moment, in dem der „Messias“ eines der großartigsten Oratorien der Weltgeschichte entsteht.
„Händel war“, so schreibt es Zweig, „in einer Art Schaffenskrise. Nach einem Schlaganfall hatte er sich mühsam wieder ins Leben zurückgekämpft, aber die genialen Einfälle und kreativen Ideen wollten sich nicht mehr einstellen. Schon drohte ihm das Schicksal eines erloschenen musikalischen Vulkans, von allen Seiten nur Leere und Scheitern. Da kommt das Libretto von Jennens, dem Dichter, der ihm auch den Text zu Saul und Israel in Ägypten geschrieben hat, auf den Tisch. „The Messiah“ stand auf der ersten Seite…
„Er schlug das Titelblatt um und begann zu lesen. Beim ersten Wort fuhr er auf. „Comfort ye“, so begann der geschriebene Text. Sei getrost! Wie ein Zauber war es, dieses Wort – nein, nicht Wort: Antwort war es, göttlich gegeben, Engelsruf aus verhangenen Himmeln in sein verzagendes Her. „Comfort ye“ – wie dies klang, wie es aufrüttelte innen die verschüchterte Seele, schaffendes, erschaffendes Wort. Und schon, kaum gelesen, kaum durchfühlt, hörte Händel es als Musik, in Tönen schwebend, rufen, rauschend, singend. O Glück, die Pforten waren aufgetan, er führte, er hörte wieder in Musik! Die Hände bebten ihm, wie er nun Blatt um Blatt wandte. Ja, er war aufgerufen, angerufen, jedes Wort griff in ihn ein mit unwiderstehlicher Macht. So spricht der Herr, war dies nicht ihm gesagt, und ihm allein, war dies nicht dieselbe Hand, die ihn zu Boden geschlagen, die ihn nun selig aufhob von der Erde? …. Ihm war es gesagt, nur ihm allein, dieses „Ruf aus dein Wort mit Macht, oh, ausrufen, dies, ausrufen mit der Gewalt der dröhnenden Posaunen, des brausenden Chors, mit dem Donner der Orgel, das noch einmal wie am ersten Tag das Wort, der heilige Logos, die Menschen erwecke, sie alle, die andern, die noch verzweifelt im Dunkel gingen, denn wahrlich, noch deckt Dunkel die Erde, noch wissen sie nicht um die Seligkeit der Erlösung, die ihm in dieser Stunde geschehen. Und kaum gelesen, schon brauste er ihm auf, vollgeformt, der Dankruf, wonderful, „counsellor“, „the mighty God“, der mächtige Gott, ja, so ihn preisen, den Wundervollen, der Rat wusste und Tat, ihn der den Frieden gab den verstörten Herzen! … Wie da nicht danken, wie nicht aufjauchzen und jubeln mit tausend Stimmen in der einen und eigenen, wie nicht singen und lobpreisen: „Glory to God!“ Händel beugte sein Haupt über die Blätter wie unter großem Sturm. Alle Müdigkeit war dahin. So hatte er nie seine Kraft gefühlt, noch nie sich ähnlich durchströmt empfunden von aller Lust des Schöpfertums. Und immer wieder wie Güsse von warmem, lösendem Licht strömten die Worte über ihn, jedes in sein Herz gezielt, beschwörend, befreiend! „Rejoice“, Freue dich – wie dieser Chorgesang herrlich aufriss, unwillkürlich hob er das Haupt und die Arme spannten sich weit. Er ist der wahre Helfer – ja, dies wollte er bezeugen, wie nie es ein Irdischer getan, aufheben wollte er sein Zeugnis wie eine leuchtende Tafel über die Welt. Nur der viel gelitten, weiß um die Freude, nur der Geprüfte ahnt die letzte Güte der Begnadigung, sein ist es, vor den Menschen zu zeugen von der Auferstehung um des erlebten Todes willen. ….“Lift up your heads“. Erhebt eure Häupter wie das tönend nun aus ihm drang, großer Befehl der Verkündigung! Und plötzlich erschauerte er, denn da stand, von des armen Jennens Hand geschrieben: „The Lord gave the word“. Der Atem stockte ihm. Hier war Wahrheit gesagt durch einen zufälligen Menschenmund: Der Herr hatte ihm das Wort gesandt, von oben war es an ihn ergangen. Von ihm kam das Wort, von ihm kam der Klang, von ihm die Gnade! Zu ihm zurück muss es gehen, zu ihm aufgehoben werden von der Flut des Herzens, ihm lobzusingen, war jedes Schaffenden Lust und Pflicht. ….“Halleluja! Halleluja! Halleluja!“
Ja, alle Stimmen dieser Erde darin zusammenfassen, die hellen und die dunklen, die beharrende des Mannes, die nachgiebige der Frau, sie füllen und steigern und wandeln, sie binden und lösen im rhythmischen Chore, sie aufsteigen lassen und niedersteigen die Jakobsleiter der Töne, sie beschwichtigen mit dem süßen Strick der Geigen, sie anfeuern mit dem scharfen Stoß der Fanfaren, sie brausen lassen im Donner der Orgel: Halleluja! Halleluja! Halleluja aus diesem Wort, aus diesem Dank einen Jubel schaffen, der von dieser Erde zurückdröhnte bis zum Schöpfer des Alls!“ (S. Zweig, Gesammelte Werke, München 2022, Anacondaverlag, 661-665)
5.Der Jude
Heute, an diesem Tag (13.8.2023) ist der Israelsonntag angesiedelt, jener Tag, an dem die rheinische Kirche insbesondere und gesondert einige Gedanken zu dem Verhältnis von Christen und Juden in Erinnerung bringt. Auch bei Stefan Zweig gibt es ein jüdisches Vermächtnis. Er und seine Familie sind dem liberalen Judentum zuzuordnen. Wichtiger als die nationale oder Volkszugehörigkeit war den Zweigs allerdings die Zugehörigkeit zur abendländisch-christlichen Kultur. Aus früheren Jugendjahren sind eine Reihe Gespräche und Treffen von Stefan Zweig mit Theodor Herzl, dem Haupt-Begründer des politischen Zionismus, überliefert. (S. Zweig: Die Welt von Gestern, Anacondaverlag, München 2021, 141-154) Diese Gespräche hatten sich im Zusammenhang der Arbeit bei der „Neuen Freien Presse“ dessen Feuilltonteil Herzl leitete, ergeben. Während Herzl ein glühender Vertreter und Bewerber der Idee von einem jüdischen Staat war, konnte sich Zweig für diese Variante wenig erwärmen. Die Jüdische Nation verwirklicht sich am besten als globale Kulturnation, nicht aber in Form eines eigenen Staatswesens, so Zweig. Ähnlich argumentierten die großen deutschen Dichter um 1800, als Napoleon halb Europa in Atem hielt und klar war, dass es mit deutscher nationaler Größe nichts werden wird. Auch dort der Gedankengang einer globalen Kulturnation, die sich segensreich auf alle Völker auswirkt.
Also politisch konnte und wollte Stefan Zweig lange Zeit nichts zu seinen jüdischen Wurzeln sagen, wurde dann aber Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre sehr unsanft durch den aufstrebenden NS-Staat unter Adolf Hitler geweckt. Wie empfindlich die Nazis jede erdenkliche Kritik zu ersticken trachteten, hat Zweig erlebt, als seine Novelle „Brennendes Geheimnis“ (1911 geschrieben) verfilmt und just in jenen Tagen in die Kinos kommen sollte, als der Reichstag 1933 brannte. Der Film wurde zügig abgesetzt, obwohl es darin überhaupt nicht um den Reichstag, auch nicht ansatzweise um Politik, sondern um eine mehr oder weniger problematische unerfüllte Liebesgeschichte zwischen einem etwas luftigen Baron und einer verheirateten Frau und ihrem zwölfjährigen Sohn ging. (S. Zweig: Die Welt von gestern, Anacondaverlag, München, 485) Die Nazis wollten eben auch jeden Hauch einer Anspielung auf etwaige politische Verdächtigungen oder Machenschaften zuvorkommen. Ernsthaft und bedrückender war indes ein von der Geheimpolizei unter dem Vorwand, Zweig hätte in seinem Haus Waffen versteckt, durchgeführte Durchsuchung seiner Räumlichkeiten. Natürlich fanden sie nichts, Zweig indes, sensibel für die Zeichen der Zeit, spürte in diesem übergriffigen Akt die Vorboten weiterer noch schlimmerer Zugriffe und beschloss recht schnell und adhoc, Österreich zu verlassen. Es ging Richtung England ins Exil, ohne seine Frau und deren beiden Töchter, die lieber in Österreich bleiben wollten. Allein seine Sekretärin Charlotte Altmann folgte ihm. Mag sein, dass diese neuerliche Wendung in seinem Leben auch für die endgültige Trennung von seiner Frau verantwortlich war, ab jetzt fühlte er den heißen Atem der Nazis mehr oder weniger überall in nächster Nähe.
Als der zweite Weltkrieg ausbrach, galt er auch in England, das seine Bücher gerne las und ihn als Schriftsteller achtete, als „feindlicher Gast“. So heiratete er 1939 seine Sekretärin und beschloss, Europa zu verlassen. Es ging zunächst in die USA und anschließend nach Brasilien, jenem Land, das gleichermaßen von seinen Werken begeistert Visum und Asyl bot. Hier ließ er sich in Petropolis nieder, einem nahe Rio gelegenen Luftkurort und zugleich „Künstlerkolonie“. Und hier entstanden auch seine beiden letzten großen Werke: Die „Schachnovelle“, die sicher biographisch motiviert die Traumata eines diktatorischen Systems meisterhaft in eine Erzählung bannt und das große sehr lesenswerte Werk: „Die Welt von Gestern“, in dem er sein Leben mit den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen der letzten 50 Jahre zusammenfasste und kommentierte. Darin gibt es auch einen Abschnitt zu der Frage, was es mit den Juden, mit Hiob, mit jener Warum-Frage auf sich hat, die das jüdische Volk wie kein Zweites mit sich herumträgt und in immer neuen Wendungen verarbeitet hat. (S. Zweig: Die Welt von gestern, Anacondaverlag, München, 562- 564)
„Aber das Tragischste in der jüdischen Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts war, dass die sie erlitten keinen Sinn mehr in ihr finden konnten und keine Schuld. All die Ausgetriebenen der mittelalterlichen Zeiten, ihre Urväter und Ahnen, sie hatten zumindest gewusst, wofür sie litten: für ihren Glauben, für ihr Gesetz. Sie besaßen noch als Talisman der Seele, was diese von heute längst verloren, das unverbrüchliche Vertrauen in ihren Gott. Sie lebten und litten in dem stolzen Wahn, als auserlesenes Volk vom Schöpfer der Welt und der Menschen bestimmt zu sein für besonderes Schicksal und besondere Sendung, und das verheißende Wort der Bibel war ihnen Gebot und Gesetz. Wenn man sie auf den Brandstoß warf, pressten sie die ihnen heilige Schrift an die Brust und spürten durch diese innere Feurigkeit nicht so glühend die mörderischen Flammen. Wenn man sie über die Länder jagte, blieb ihnen noch eine letzte Heimat, ihre Heimat in Gott, aus der keine irdische Macht, kein Kaiser, kein König, keine Inquisition sie vertreiben konnte.
Solange die Religion sie zusammenschloss, waren sie noch eine Gemeinschaft und darum eine Kraft; wenn man sie ausstieß und verjagte, so büßten sie für die Schuld, sich bewusst selbst abgesondert zu haben durch ihre Religion, durch ihre Gebräuche von den anderen Völkern der Erde. Die Juden des zwanzigsten Jahrhunderts aber waren längst keine Gemeinschaft mehr. Sie hatten keinen gemeinsamen Glauben, sie empfanden ihr Judesein eher als Last denn als Stolz und waren sich keiner Sendung bewusst. Abseits lebten sie von den Geboten ihrer einstmals heiligen Bücher, und sie wollten die alte, die gemeinsame Sprache nicht mehr. Sich einzuleben, sich einzugliedern in die Völker um sie, sich aufzulösen ins Allgemeine, war ihr immer ungeduldigeres Streben, um nur Frieden zu haben vor aller Verfolgung, Rast auf der ewigen Flucht. So verstanden die einen die andern nicht mehr, eingeschmolzen wie sie waren in die andern Völker. Franzosen, Deutsche, Engländer, Russen längst mehr als Juden. Jetzt erst, da man sie alle zusammenwarf und wie Schmutz auf den Straßen zusammenkehrte, die Bankdirektoren aus ihren Berliner Palais und die Synagogendiener aus den orthodoxen Gemeinden, die Pariser Philosophieprofessoren und die rumänischen Droschkenkutscher, die Leichenwäscher und Nobelpreisträger, die Konzertsängerinnen und die Klageweiber der Begräbnisse, die Schriftsteller und die Branntweinbrenner, die Besitzenden und die Besitzlosen, die Großen und die Kleinen, die Frommen und die Aufgeklärten, die Wucherer und die Weisen, die Zionisten und die Assimilierten, die Aschkenasi und die Sephardim, die Gerechten und die Ungerechten, und hinter ihnen noch die verstörte Schar derer, die längst dem Fluche entflüchtet zu sein glauben, die Getauften und die Gemischten – jetzt erst zwang man den Juden zum ersten Mal seit Hunderten Jahren wieder eine Gemeinsamkeit auf, die sie längst nicht mehr empfunden, die seit Ägypten immer wiederkehrende Gemeinsamkeit der Austreibung. Aber warum dies Schicksal ihnen und immer wieder ihnen allein? Was war der Grund, was der Sinn, was das Ziel dieser sinnlosen Verfolgung? Man trieb sie aus den Ländern und gab ihnen kein Land. Man sagte: Lebt nicht mit uns, aber man sagte ihnen nicht, wo sie leben sollten. Man gab ihnen die Schuld und verweigerte ihnen jedes Mittel, sie zu sühnen. Und so starrten sie sich an auf der Flucht mit brennenden Augen – warum ich? Warum du? Warum ich mit dir, den ich nicht kenne, dessen Sprache ich nicht verstehe, dessen Denkweise ich nicht fasse, mit dem mich nichts verbindet? Warum wir alle? Und keiner wusste Antwort. Selbst Siegmund Freud, das klarste Ingenium dieser Zeit, mit dem ich oft in jenen Tagen sprach, wusste keinen Weg, keinen Sinn in diesem Widersinn. Aber vielleicht ist es gerade des Judentums letzter Sinn, durch seine rätselhaft überdauernde Existenz Hiobs ewige Frage an Gott immer wieder zu wiederholen, damit sie nicht völlig vergessen werde auf Erden.“
6.Der Humanist
Letzte Zufluchtsort Petropolis. Der zunächst als Diktator, später als Präsident gewählte Getulio Vargas, ein begeisterter Fan von Zweigs Werken, gewährt ihm unbeschränktes Aufenthaltsrecht und Asyl in Brasilien, jenem Land, dem Zweig aus Dankbarkeit, möglicherweise auch aus echter Begeisterung, ein eigenes Buch gewidmet hat, in dem er es als Sehnsuchtsort und Zukunftsland beschrieb. Das entsprach mit etwas Abstand gesehen, nicht ganz der politischen Wirklichkeit, wohl aber einem inneren Bedürfnis von Stefan Zweig: Endlich an einem Ort, an dem ihm die Schergen der Nazis nicht mehr oder sollte man besser sagen: noch nicht erreichen konnten. Denn die Nachrichten in jenen Tagen sind bedrückender als je zuvor. Paris ist besetzt, halb Europa von den Nazis schon erobert, dazu hat Japan den USA den Krieg erklärt, Pearl Harbour macht deutlich, dass dieser Krieg noch lange nicht zu Ende gehen wird. Eine Reihe von deutschen U-Booten versenken vor den Hafenstädten Brasiliens diverse Transport- und Passagierschiffe. Für Stefan Zweig zieht sich die Schlinge immer weiter zu.
Er bringt jedenfalls nicht mehr die Kraft auf (wie noch im und nach dem ersten Weltkrieg und bis weit in die dreißiger Jahre hinein), sich noch einmal gegen den Untergang zu stemmen. Seine Hoffnung, dass die Dichter, Denker, Humanisten, Gutgläubigen dieser Welt die Barbarei aufhalten oder gar überwinden könnten, schwindet ihm. Er sieht keinen letzten Anker für sich und sein Leben mehr, der Freitod scheint ihm die logischste und sinnvollste Variante zu sein. Und so nimmt er sich am 23. Februar 1942 mit einer Überdosis Veronal das Leben. Sein letztes literarisches Vermächtnis ist ein Gedicht, das seinen Gemütszustand in diesen Tagen gut wiedergibt. (Stefan Zweig: Silberne Saiten, Fischerverlag,Frankfurt1982, 270)
„Linder schwebt der Stunden Reigen
Über schon ergrautem Haar,
Denn erst an des Bechers Neige
Wird der Grund, der gold’ne klar.
Vorgefühl des nahen Nachtens
Es verstört nicht – es entschwert!
Reine Lust des Weltbetrachtens
Kennt nur, wer nichts mehr begehrt,
Nicht mehr fragt, was er erreichte,
Nicht mehr klagt, was er gemißt,
Und dem Altern nur der leichte
Anfang seines Abschieds ist.
Niemals glänzt der Ausblick freier
Als im Glast des Scheidelichts,
Nie liebt man das Leben treuer
Als im Schatten des Verzichts.“
Der Schierlingsbecher ist ihm bereitet, er sieht sich in einem folgerichtigen Abschied von der Welt gestellt und beschließt, diesen letzten Akt der Verzweiflung zu vollziehen. Seine Lebensgefährtin Charlotte Altmann folgt ihm unmittelbar. Der an seiner Zeit, genauer: an der Brutalität seiner österreichischen und deutschen Landsleute zerbrochene Emigrant fühlte sich endlich „entschwert“. Seinen Freunden ruft er diese letzten Zeilen zu: „Ehe ich aus freiem Willen und mit klaren Sinnen aus dem Leben scheide, drängt es mich eine letzte Pflicht zu erfüllen: diesem wundervollen Lande Brasilien innig zu danken, das mir und meiner Arbeit so gute und gastliche Rast gegeben. Mit jedem Tage habe ich dies Land mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet. Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschließen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen: Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus. Stefan Zweig Petropolis 22. II 1942 (zitiert nach: Abschiedsbrief Stefan Zweigs – Wikisource)
Die Öffentlichkeit ist erschüttert, die Dichterkollegen sind bestürzt, teilweise auch mit großem Unverständnis unterwegs, später relativiert sich so mancher moralischer Schnellschuss. Das Leben ist weit mehr als ein auskömmliches Essen und Trinken, ein Dach überm Kopf, ein Bankkonto für die finanzielle Sicherheit. Das Leben ist mehr als ein paradiesische Naturumfeld/Luftkurort mit üppigem Sonnenschein und ausreichend Regen. Das Leben ist mehr als Briefkorrespondenz, Anerkennung, Erfolg, Lobpreisungen und Auszeichnungen. Das Leben ist im letzten Grunde Zugehörigkeit. Die findet man als Humanist und Agnostiker im fremden Land nur schwer oder gar nicht. Und das ist vielleicht die eigentliche Tragik dieses Todes: Dass da kein Halt, kein Anker, keine Bezugsgröße da ist, mit der man die schwierigen Zeiten überleben kann. Diese Zugehörigkeit ist und bleibt ein Geschenk, ein Geschenk, das man hoffentlich und immer wieder aber im Vertrauen auf den findet, der uns in seinen Händen hält, auch und gerade dann wenn wir sonst keinen Halt mehr finden. Deshalb und darum jetzt ein Lied, das an diesen letzten Halt erinnert:
Jonasingers: I almost let go
1.I almost let go Ich hätte fast losgelassen
I felt like I just Ich hatte den Zugriff auf das
couldn´t take life anymore. Leben irgendwie verloren.
My problems hat me bound Meine Probleme banden mich
Depression weighed me down Depressionen drückten mich
But God held me close, Aber Gott hielt mich fest
so I wouldn´t let go. So wurde ich nicht losgelassen
God´s mercy kept me Gottes Gnade hielt mich
So I wouldn´t let go. (2x) so wurde ich nicht losgelassen
Refr.So I´m here today So bin ich heute hier
because God kept me weil Gott mich hält
I´m alive today Ich bin lebendig
Only because of his grace allein auf Grund seiner Gnade
Oh, he kept me. Oh, er hält mich
God kept me. He kept me Gott hält mich. Er hält mich
so I wouldn´t let go. Deshalb lasse ich nicht mehr los.
- I almost gave up. Ich hätte fast losgelassen
I was right at the edge Ich war nah dran an einem
of a break- through Zusammenbruch,
but couldn´t see. Ich konnte nichts mehr sehen
The devil really had me Der Teufel hatte mich im Griff
But Jesus came aber Jesus kam
and grabbed me und ergriff mich
And he held me close, und hielt mich ganz fest
so I wouldn´t let go. Deshalb ließ ich nicht mehr los
God´s mercy kept me Gottes Gnade hält mich
so I wouldn´ t let go. Darum lasse ich nicht mehr los
Refr.So I´m here today… So bin ich heute hier
Refr.So I´m here today So bin ich heute hier
because God kept me weil Gott mich hält
I´m alive today Ich bin lebendig
Only because of his grace allein auf Grund seiner Gnade
Oh, he kept me. Oh, er hält mich
God kept me. He kept me (3x) Gott hält micht Er hält mich
…so I wouldn´t let go. Deshalb lasse ich nicht mehr
P.S. Wesentliche Erkenntnisse zu S. Zweig Leben und Werk insgesamt habe ich entnommen von: Oliver Matuschek: Stefan Zweig. Drei Leben. Eine Biographie, Fischerverlag, Frankfurt, 2018,4. Auflage.
10.So.n.Trin. ("Israelsonntag"), 13.08.2023, Stadtkirche, 5.Mose 4, 5 - 20, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 10.n.Trin („Israelsonntag“) - 13.VIII.2023
5.Mose 4, 5 – 20
Liebe Gemeinde!
5.Mose - „Deutero-Nomium“ - ist schon dem theologischen Namen nach das erste Rebranding, also der erste Versuch, eine ehrwürdig etablierte, aber irgendwie als abgenutzt und angestaubt geltende Marke zu verjüngen.
Wir kennen die Masche und auch die Not sehr gut.
Und auch wenn es in aller Regel trotz aller Berater-Poesie nicht annähernd so verjüngend und aufregend und verheißungsvoll ist wie behauptet, sich ein neues Logo, einen neuen Claim, ein neues Image zu basteln – wenn man immer schon einen Vogel hatte und plötzlich alles durchkreuzt, wird ja das Anliegen dadurch nicht klarer –, so schustern und schneidern wir doch alle unverdrossen mit bei den Kleiderwechseln und den Facelifts und den Anpassungsstrategien, die die Welt zu verlangen scheint. Ob bei der Kaiserswerther Diakonie oder der Recke-Stiftung in unserer Nachbarschaft: Kampagnen, neue Logos, neues „Wir-Gefühl“, neue Wahrnehmung mit einem poppigen Bild und knackigen Slogan zu lancieren, sind eben auch für uns der aus dem Aufmerksamkeitsdefizit herrührende letzte Schrei.
So dass „Kirche 2.0 oder 3.0“ wie das entsprechende Aufrüsten der Muttergottes zu „Maria 2.0“ uns kaum noch befremden.
… Und wenn doch, … wenn so ein hinterwäldlerisches Urviech wie ich immer noch meint, eine sich selber treue Kirche genüge und an der einen reinen Magd gebe es genug zu lieben, man müsse also nicht alles pimpen und peppen und durch Quadratur hoch Zwei irgendwie marktgängiger machen, … nun, dann kommt ausgerechnet die alte Bibel und macht es uns vor! Denn ihre Grundlage, ihr Urtext ist ja genau das: Ein Kern, der aus sich heraus erneuert wird. Ein Corpus, das sich in geschichtlich und geistlich gewandelter Gestalt wiederholt und darin auch erholt. Eine Wirklichkeit und Wahrheit, die bleiben, indem sie immer wieder anders gesagt, gehört, geschrieben, gelesen, gedeutet, geglaubt und gelebt werden.
Nicht nur, dass die Schriftlesung – in der wir das griechische Zeugnis des aramäisch sprechenden Jesus auf Deutsch hörten – uns heute gelehrt hat, wie das Neue Testament, der Neue Bund keinen anderen Gehalt, Sinn und Segen hat als der ewig ursprüngliche Bund, das ewig ursprüngliche Testament, das uns in der Hebräischen Schrift begegnet (vgl. Matth5, 17-20). … Nein, schon dieser erste Bund, dieses immer fälschlich so genannte „Alte“ Testament ist ein stetes Sich-Erneuern, Aktualisieren und Gegenwärtig-Erweisen des einen Wortes und Willens Gottes in allen Generationen und Situationen des Bundesvolkes und der Gemeinde.
Die Gabe der Torah am Sinai, diese noch in der überlebensfeindlichen Wüste vor der langen Wanderung gegebene Lebensordnung für ein sesshaftes Israel wird im 5.Buch Mose, am Ende der Zerreißprobe dieses vierzigjährigen „Noch nicht“, kurz vor der Erfüllung der Hoffnung auf Freiheit und Frieden also neu formuliert: Torah 2.0.
Und immer wieder vollzieht sich dann in den Taten und Entscheidungen der Richter, in den großen Verfassungen und trotz des anarchischen Verfalls der Königszeit, in den penetranten und pointierten Mahnungen und Lockungen der Propheten, in der feierlichen Bundeserneuerung unter König Josia (vgl. 2.Könige 22-23,3) und auch nach der Katastrophe des Exils noch im Buß- und Bekenntnisakt unter Esra die Erneuerung des Bundes in, mit und für Israel: Ein immer, immer wieder neues Testament: … Torah 3.0, … 4.0, … 5.0, … 6.0.
… Torah – Bund der Ordnung und Verheißung, Gesetz der Gerechtigkeit und Heilig-keit – in unveralteter, immer neuer Gültigkeit und Gegenwärtigkeit; Torah in Ewigkeit. ——
Das ist doch ein erbaulicher Grund-Satz am Israel-Sonntag.
Neuer, neuer, immer neuer ist der Bund und bleibt’s auch. …
Allerdings ist die ideal in unsere Zeit der Updates und Makeovers passende ständige Selbstaktualisierung der Botschaft Gottes in ihrer Forderung wie in ihrer Zusage nur die eine Seite dessen, worum es hier geht.
Neben der unbeirrten Hartnäckigkeit, in der Gott an Seiner Erwählung und am entsprechenden Lebensentwurf für die Seinen festhält, gibt es ja noch die andere Seite.
Zum „Neuer, neuer, immer neuer“, für das Gott garantiert, indem Er die Offenbarung Seines Willens durch Seinen Geist und Seine Zeugen stets lebendig hält, gehört, dass jede Zeit und jeder Mensch durch die jeweils gegenwärtige Botschaft zu einer je eigenen, je heutigen Reaktion gefordert ist. Wenn Gott Sein „Neuer, neuer, neuer“ im mit Israel geschlossenen und durch Jesus Christus allen offenstehenden Bund also immer durchhält, dann sind wir Menschen gefragt, ihm mit „Treuer, treuer, immer treuer“ zu entsprechen.
Der alte Bund also bleibt immer neu.
… Aber wäre der Mensch ihm jemals treu? …
Es gäbe Schreckliches darauf zu antworten. Schreckliches aus jeder Epoche der Vergangenheit, Schreckliches auch aus jeder Facette unserer Gegenwart.
Wie sehr wir untreu sind und wie wir alles veruntreuen, ist gar nicht aufzuzählen:
Unsre Seelen veruntreuen wir, lassen sie verhunzen, verhungern und verkümmern in der stofflichen Scheinwelt, die uns durch Reichtum unzufrieden macht.
Die Natur veruntreuen wir scham- und restlos mit einer Unersättlichkeit, die verrät, dass nicht Schöpfung, sondern Vernichtung die verborgene Triebfeder jenes Menschheitsegoismus ist, der sich für unabhängig von allen anderen Geschöpfen wähnt.
Die Schönheit veruntreuen wir, indem wir sie maschinell errechnen lassen; die Freiheit veruntreuen wir, indem wir den allgemeinsten Nenner unserer Gattung zu einem Individualprinzip verkrümmen; die Wahrheit veruntreuen wir in dem Augenblick, in dem wir das Maul aufmachen oder den Computer hochfahren. Usw., usw., usw.
„Neuer, neuer, neuer“? „Treuer, treuer, treuer“? – … Ach, von wegen: Bescheuer-, bescheuer-, immer bescheuerter!
Doch heute, am Israelsonntag, an dem uns der Anfang der zweiten Torah begegnet, die aktualisierte Verpflichtung, der erneuerte Bund, den Mose am Jordanufer zum Schluss seines Wüsten- und Lebensweges noch einmal für Israel auftat, … heute am Israelsonntag soll nur eine unserer zahllosen Untreuen uns bewegen.
…. Da aber muss man kurz Luft holen. Aus gutem, …. vielmehr abgründigem Grund haben wir uns nunmehr fünfzig Jahre lang gescheut, in der Kirche die tödliche alte Sprechweise zu wiederholen, … die tödliche biblische - also innerjüdische - Sprechweise zu wiederholen, in der Israel und die Untreue in einem Atemzug genannt werden.
Gewiss bei den Propheten reimt sich Israel auf Sünde besser noch als „treu“ sich auf „neu“ reimt.
Aber die mörderische Brutalität, in der die Kirche zweier Jahrtausende Gott und Israel keine Erneuerung und beiden Seiten keine Treue mehr zugestand, sondern sich zum selbsternannten Vollstrecker eines wortbrüchigen Gottes machte, dessen Bundesschwüre angeblich alle durch die Untreue Israels hinfällig gemacht worden waren, … diese abgrundtiefe Brutalität der Kirche ist und bleibt trotz alles Umkehrens und -denkens ihr unverwischbarer Schandfleck. ——
Indes: Israel bleibt eben nicht unverändert das passive, ausgestoßene, ghettoisierte, entrechtete, bis an die Enden der Erde zerstreute und im Dritten Reich dann durch Deportation gesammelte Volk der Schoah.
… Neu und neuer, … tatsächlich erneuert: Das ist ja das ungeheuerliche Weltgeschehen, das der Hybris der deutschen „Endlösung“ folgte.
… Gerade kein Ende, sondern ein neuer Anfang! ———
Das aber – dass es kein endgültiges Ende gibt! – ist der Grund, weshalb ich heute, mit leiser Stimme zum ersten Mal in meinem Dienst bewusst in einem Atemzug von Israel und Untreue sprechen werde:
Israel – ich rede vom neuen Staat, aber leider auch von den ultrareligiösen Kräften, die dort eine Pseudo-Vergangenheit, einen alten Bund erzwingen wollen, der ganz und gar scheußlich wäre – … Israel heute also wirkt wieder (wie so regelmäßig) als ein Brennspiegel menschheitlicher Geschicke und geschichtlicher Strömungen im Kampf von Geist und Ungeist.
Denn was die Menschheit insgesamt in unserer Zeit betreibt und wodurch sie sich selber zutiefst bedroht, das gibt sich besorgniserregend grell und heroisch umkämpft gerade in Israel zu erkennen: Das Veruntreuen des Rechtes.
Moses hat Israel damals, noch östlich des Jordan bei der Erneuerung der Sinai-Torah und der Wiederholung der Zehn Gebote so angesprochen: „Haltet und tut diese Gebote und Rechte. Denn darin zeigt sich den Völkern eure Weisheit und euer Verstand. Wenn sie alle diese Gebote hören werden, dann müssen sie sagen: Was für weise und verständige Leite sind das, ein herrliches Volk!“
Die Beachtung des göttlichen Gesetzes, die Verallgemeinerungsfähigkeit des Geistes der Torah und ihrer Moral und Weisheit und also die menschheitliche Allgemeinheit, die Universalität dieser Rechtsordnung, die sich allen Völkern erschließt, weil sie sich auf alle Völker erstreckt, sind Israel also aufgetragen.
Dass das Leben aller Menschen Schutz verdient, dass sie vor Eingriffen in ihre Beziehungen geschützt werden müssen, dass geistige und materielle Güter - Eigentum und Wahrheit - schutzwürdig sind, weil Gott, Der aus der Knechtschaft in Ägypten führt, der Garant von Freiheit, … weil Gott, Der den Sabbat gestiftet hat, der Garant des Friedens ist: Das ist der Katalog der Grundgesetze und Grundrechte, die in den Zehn Geboten die niemals alte, immer neue Torah ergeben, von der kein noch so kleiner Buchstabe, kein Tüttelchen abgeschafft werden, sondern bis Himmel und Erde vergehen stets besser und reicher mit Leben erfüllt werden soll (vgl. Matth.5,18).
Ohne nun in die Einzelheiten des augenblicklichen politischen und juristischen Dramas in Israel zu gehen, lässt sich mit den feierlichen Worten des Mose festhalten: Wenn in Israel Rechte beschränkt, wenn sie begrenzt und zurückgenommen werden, wenn die Achtung vor der Unantastbarkeit der weltlich, aber auch göttlich geschützten allgemeinen Grundrechtsordnung wankt und Willkür zugelassen werden soll, wenn Frauen und die arabische Bevölkerung eingeschüchtert werden und Christen gewaltsam bedroht, dann schreit das zum Himmel. Dann veruntreut Israel das Recht.
… Nur dass wir uns nicht etwa erheben! Nur dass wir nicht etwa meinen, wir seien treuer, … bei uns sei das Recht besser geschützt. Die ekelhafte Rückabwicklung des Rechtes, das allen gebührt, zu Sonder- und Gruppenrechten von Mehrheiten oder von Radikalen oder von Bestechlichen oder von Brutalen, findet auch bei uns Anhang und Anklang.
Genau darum aber gilt Jesu Wort (Matth.5,20) nur umso dringlicher: „Besser muss unsere Gerechtigkeit werden!“
Unser Vorsatz dabei muss nun aber sein, in der Rechtsordnung in dieser Welt die Nähe Gottes zu erkennen und zu bekennen, … die Nähe Des Unsichtbaren, Der gegenwärtig ist in Allem und in Allen und Dem gerade darum kein Einzelbild, kein Einzelzug, keine Einbildung und Eingrenzung, keine Bevorzugung unserer eigenen Art, keine Vergötzung unserer eigenen beschränkten Vorstellungen entspricht: Denn ihr habt keine Gestalt gesehen an dem Tag, da der HERR mit euch redete aus dem Feuer .
Ja, diesem unendlich großen Gott gibt nur die Ehrfurcht vor dem Allgemeinsten und Konkretesten, vor dem Abstraktesten und dem Lebendigsten die Ehre: Die Ehrfurcht, die bekennt, dass ER der HERR über alle ist, Der alle übertrifft, aber daher auch alle umfasst, alle verbindet, alle beruft, alle begnadet, alle berechtigt und alle erlöst!
Dieses Recht, das allen gilt, diese Gerechtigkeit Gottes, die Sein Recht allen zuspricht, immer wieder neu zu ehren und zu üben, zu heiligen und zu verteidigen, ist die Sendung Israels und der Kirche in der Welt.
Denn – so sagt es ein ganz herrliches und tagespolitisch auch ganz widerständiges Wort aus Psalm 99(4) in Luthers Übersetzung – „Im Reiche dieses Königs hat man das Recht lieb“!
Und deshalb können wir heute nicht schließen, ohne einige Liebhaber des Rechtes zu nennen und uns innerlich - und wo nötig auch äußerlich - an ihre Seite zu stellen, um die Erneuerung und Stärkung des Rechtes gegen alle Angriffe und Aushöhlungen als Gebot Gottes an unsere Zeit zu erfassen.
Denken wir an den Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz, Pinchas Goldschmidt, der diese Woche die zunehmende Aggression gegen Christen und christliche Einrichtungen in Israel verurteilt hat! Im Reiche dieses Königs hat man das Recht lieb!
Denken wir auch den Staatspräsidenten Israels, Jizchak Herzog, der am Mittwoch in Haifa ostentativ das Kloster „Stelle maris“ besucht hat, das in den vergangenen Wochen wiederholt von gewaltbereiten Ultraorthodoxen umzingelt und angegriffen wurde. Was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk!
Am allermeisten aber will ich uns heute mit Shikma Bressler geistig verbinden, einer renommierten Teilchenphysikerin und Mutter von fünf Töchtern, die am Fuß des Karmel lebt.
Shikma Bressler ist die junge und gewinnende Gallionsfigur der Bewegung von vielen hunderttausend Israelis, die sich mit der Schwächung und Brechung des Rechtes durch die geplante Justizreform nicht abfinden und so kraftvoll gegen einen Weg Israels in Nationalismus, Ideologie und Autokratie protestieren.
Eigentlich ist sie ausgelastet mit Forschungen, die den großen Geheimnissen der Physik gelten und mit den Sorgen und dem Glück aller Mütter in dieser zerbrechlichen Phase der Weltgeschichte. Aber in der Verteidigung des Rechtes hat sie nach ihren eigenen Worten bei den Massen, die mit ihr nach Jerusalem marschiert sind, „die Schönheit auf dem Gesicht Israels gesehen“[i].
Es ist jene Schönheit, die der Abglanz des unsichtbaren Gottes ist, Der ein heiliges Gesetz und strahlendes Recht für alle aufrichtet, dass die Heiden erleuchtet und zum Preis Seines Volkes Israel dient (vgl. Lk.2,32).
Dieses Recht und diese Schönheit stellt uns der Israelsonntag neu, immer wieder neu vor Augen, damit sie auch uns zu neuem, reinem Tun und Hoffen bewegen.
Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt dein ganzes Leben lang.
Amen.
[i] Vgl. das ausführliche Interview mit Shikma Bressler unter https://www.timesofisrael.com/what-matters-now-to-arrested-activist-shikma-bressler-saving-israel/
9.S.n.Tr., 06.08.2023, Predigtreihe zu Krisentexten der Bibel: "Glaubenskrise", Stadt- und Jonakirche, Daniel Kaufmann
Der Glaube ist in der Krise. Vielleicht sollte ich präziser sagen: Der Glaube, wie er in den beiden großen Volkskirchen in Deutschland vermittelt wird, ist in der Krise, auf dem Rückzug und versteht sich überhaupt nicht mehr von selbst. Wir werden immer größer, was die Ausgaben angeht. Wir werden immer kleiner, was die Mitgliederzahl angeht. Deutschlandweit sind wir evangelischerseits um 380 000 Mitglieder geschrumpft, katholischerseits um 520 000 Mitglieder. Das klingt relativ besser, ist aber nur ein schwacher Trost. Jedes Jahr eine Stadt wie Köln weniger Protestanten und Katholiken…
Pressetechnisch und in der Öffentlichkeitsarbeit sind die Katholiken übrigens nach wie vor ganz vorne dran. Selbst bei einem so problematischen Thema wie dem Missbrauch. Die Beauftragte der Bundesregierung Kerstin Claus, selbst Missbrauchsopfer eines evangelischen Pfarrers, der rechtlich nicht verfolgt, sondern lediglich versetzt wurde, hat in einer Aufsehen erregenden Pressemitteilung in dieser Woche (RP vom 1. August,D1) die zentrale und auch finanziell klar geordnete und gegliederte Aufarbeitungspraxis der katholischen Kirche als vorbildlich gelobt. Während die evangelische Kirche über die EKD und ihren 20 Landeskirchen lediglich regionale oder lokale Lösungen anvisiert und pauschale finanzielle Ersatzleistung von höchstens 5000 € hinbekommt, hat die hierarchisch und straff organisierte katholische Kirche ein auch finanziell sehr differenziertes Entschädigungsprogramm entworfen. Claus wörtlich: „Derzeit gibt es…keine andere institutionelle Struktur, die in Ansätzen das erreicht hat, was für Betroffene in der katholischen Kirche möglich wurde.“ Dazu passt sehr gut, dass der Papst beim Weltjugendtag in Lissabon sich demonstrativ auf die Seite der Opfer gestellt hat. Das ist doch mal ein Statement! Der Papst ist gegen den Missbrauch! Ähnliches gibt es in Bezug auf den Segnungsgottesdienst von Monsignore Herbert Ullmann für „sich liebende Menschen“ in Mettmann zu vermelden. Er wurde anonym von einem Gemeindeglied an höchster Stelle denunziert und institutionell abgemahnt (Düsseldorf Anzeiger KW 31, Titelseite). Der Papst hingegen hat gestern auf dem Weltjugendtag in Lissabon in einem luftigen Open-Air-Pavillon mehrfach darauf hingewiesen, dass die Katholische Kirche keine verschlossenen Türen hätte, sondern vielmehr offen für alle Menschen sei, die hier Zuflucht und Heimat suchen. Das ist doch mal ein Statement! Herzlichen Glückwunsch, möchte man da am liebsten etwas zynisch anfügen, wenn das Thema nicht so ernst und die Materie selbst große Sensibilität und Empathie bräuchte.
Aber statt großem Lamentieren über die Gewichtung von Lob und Tadel der Kirchen in der Presse an dieser Stelle ein paar konkrete Hinweise aus unserer gemeindlichen Arbeit: Wir sind durch die Initiative der Landeskirche und des Kirchenkreises zumindest bei der Prävention und Verhinderung von Missbrauch seit gut zwei Jahren gut vorangekommen. Alle Pfarrer haben eine mindestens achtstündige Fortbildung erhalten, die Presbyteriumsmitglieder folgen derzeit. Unser Jugendausschuss hat darüber hinaus auf Initiative unserer drei noch recht jugendlichen PresbyterInnen ein Verfahren bzw. ein Schutzkonzept erarbeitet, das Sie auch auf unserer Webseite (praktisch-glaube.de, Bildung, Jugendarbeit, Schutzkonzept) in allen Einzelheiten mit Vertrauensperson, Verfahrensabläufen studieren können. Seit zwei Jahren gehen wir dieses Thema auch offensiv bei Fortbildungen mit unseren jugendlichen Teamern vor jeder Freizeit durch.
Zurück zur Glaubenskrise: Wir haben immer weniger Geld und immer mehr Austritte. Die Mitgliedszahlen der ev. Kirche im Rheinland, speziell im Kirchenkreis Düsseldorf gehen dramatisch zurück, 4 Prozent letztes Jahr, macht ca. 4000 Austritte in 2022. In den letzten 40 Jahren hat sich die Mitgliedszahl der evangelischen Christen in Düsseldorf halbiert: Von ca. 180.000 auf jetzt etwas über 90.000. (Unsere Gemeindegliederzahlen in Kaiserswerth sind u.a. auch wegen der immer neu erschlossenen Baugebiete einigermaßen konstant geblieben: zurzeit ca. 5400 Gemeindeglieder.)
Dazu kommt, dass die Kirchensteuereinnahmen einbrechen werden. So hören wir es von höchster Stelle. Deshalb muss allenthalten gespart werden, am besten schon ab sofort und jetzt. Außerdem will die Landeskirche bis 2035 mit ihren Gebäuden (hier zunächst Kirchen, Gemeindezentren, Pfarrhäuser und Dienstwohnungen) klimaneutral werden. Der Gebäudestand ist nicht auf dem neuesten Stand, sondern bedarf der Renovierung, Überarbeitung. Investitionsstau nur bei den im engeren Sinn kirchlichen Gebäuden in Düsseldorf geschätzt 150 -200 Millionen Euro. Der Kirchenkreis schafft aber, bestenfalls 3-4 Millionen im Jahr für die Ertüchtigung von Immobilien auszugeben. Das heißt, ¾ der Gebäude werden mittelfristig nicht mehr zu halten sein. Eine in Auftrag gegebene Prioritätenliste wird bis Anfang 2026 festhalten, welche Immobilien aufgegeben werden müssen.
Ebenfalls bis 2035 soll Düsseldorf eine Gemeinde werden. Hier der Text dazu von der Frühjahrssynode am 12./13.Mai diesen Jahres „Wir wollen die Vielfalt des evangelischen Gemeindelebens und des Wirkens an kirchlichen wie an nicht-kirchlichen Orten unserer Stadt unterstützten und schützen. Dazu streben wir eine Körperschaft als ein starkes und handlungsfähiges organisatorische Dach an. Sie stellt sicher:
- eine geregelte Beteiligung aller, die sich im Gemeindeleben und in den Diensten engagieren,
- transparente Verfahrenswege und Entscheidungsstrukturen,
- eine gemeinsame Steuerung von Personal, Finanzen und Immobilien,
-ökologische, finanzielle und soziale Nachhaltigkeit.
Sie macht die Vielfalt und das Gemeinsame evangelischen Glaubens und Lebens in Verkündigung, Seelsorge, Diakonie und Bildung in der Stadt und ihren Quartieren präsent.“ So der KSV auf der Frühjahrssynode Mitte Mai des Jahres. Heißt im Klartext: Auflösung der klassischen parochialen Strukturen wie wir sie jetzt in den 17 Kirchengemeinden noch haben. Aufgabe von Flächenarbeit vor Ort. Stattdessen funktionale Serviceleistungen, die zentral gesteuert und vergeben werden mit mehr oder weniger lockerem Kontakt zur Ortsgemeinde. (Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter, wenn man sieht, dass die weltlichen, kommunalen Strukturen und Überlegungen praktisch genau das Gegenteil anstreben, wenn sie die Quartiersarbeit, die Kontakte und die Vernetzung vor Ort neu und verstärkt in den Blick nehmen!)
Liebe Schwestern und Brüder, Sie werden verstehen, dass wir hier in Kaiserswerth nicht nur verwundert, sondern auch verärgert und mit dieser Entwicklung überhaupt nicht einverstanden sind. Wir sind jedenfalls der Überzeugung, dass der Kontakt und die Vernetzung vor Ort für unsere spirituelle Gemeinschaft ganz herausragende Bedeutung hat. Und an dem gerade neu erschienenen Gemeindebrief können sie hoffentlich auch ablesen, dass wir nicht nachlassen, Angebote, Kreise, Veranstaltungen und Treffen „von der Wiege bis zur Bahre“ anzubieten. Das wollen und werden wir auch in Zukunft unter welchen Bedingungen auch immer anstreben!
Jetzt könnte man vielleicht nicht ganz zu Unrecht sagen, diese „Glaubenskrise“ sei doch vor allem eine Krise der Institution Volkskirche, der persönliche Glaube, mein persönlicher Glaube sei davon nur sehr mittelbar betroffen. Dass dem nicht so ist, hat sich mir ebenfalls auf der Frühjahrssynode, einer Jugendsynode, also mit Beteiligung vieler junger Menschen, gezeigt. Eine wesentliche Frage ging nämlich dahin, ob es den christlichen Glauben nicht auch ohne Bezug auf Jesus Christus geben soll, darf und muss. Schließlich würden in unseren Institutionen zahlreiche Mitarbeiter beschäftigt (auf die wir auch angewiesen sind, weil es auf dem Arbeitsmarkt keine anderen gibt), die von Tuten und Blasen, schon gar nicht von Kirche und Glauben ansatzweise berührt worden seien. Denen sei die Engführung auf die Person Jesus Christus nicht zuzumuten, die würden aber immerhin eine Werteorientierung (10 Gebote) und Humanität (Nächstenliebe) als Grundeinstellung mitbringen. Mag sein, so die Argumentation, dass der Bezug auf Jesus Christus mal von Bedeutung gewesen sei, jetzt hätten alle verstanden, worauf es im Kern ankommt, und insofern sei dieser „spezielle Kirchensprech“ (Jesus Christus) nicht mehr nötig. Gerade die anderen Religionen, z.B. auch die Muslime, stört dieser Bezug auf Jesus Christus und der Aussage: „Er war Gottes Sohn!“ ja ganz besonders. Und da könnte man also ganz viel Ärger und Verdruss vermeiden, wenn man diesen Bezug weglässt.
Der Glaube ist in der Krise, sagte ich, jetzt und in diesem Fall und speziell auch der Glaube an Jesus Christus. Das ist nicht ganz neu. Alle Evangelien der Bibel wissen davon, dass sich jederzeit und bei jeder Gelegenheit der Zweifel meldet. Bevor Jesus öffentlich auftritt, bekommt er von dem Durcheinanderbringer und Versucher in der Wüste drei markante Fragen vorgelegt: Er soll Steine zu Brot machen, von den Zinnen des Tempels springen und den Herrn des Geldes und Reichtums anbeten. Im Angebot und gefragt ist: ein Heilsbringer, ein Show- und Eventmanager für den Nervenkitzel. Gefragt ist eine imponierende Persönlichkeit, die über unbegrenzte Macht und Geld verfügt, denn Geld regiert die Welt. Jesus lehnt alle drei Angebote ab: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Munde Gottes kommt.“ „Du sollst Gott dem Herrn nicht versuchen, du sollst ihn allein anbeten und ihm allein dienen.“ Und das macht Jesus dann auch. Gott dienen. In Wort und Tat.
Obwohl die Stimmen nicht verstummen, die ihn immer wieder aufs Glatteis führen wollen. Das Thema Wunder bleibt durch die Bank ambivalent, weil die Menge hier eine PR-Maschine wittert, wenn einer 5000 Menschen satt machen kann, dann ist er doch ein „Brotkönig“ (Johannes 6). Wenn einer Menschen Heilung bringt, dann ist das doch ein Wundertäter gehobener Klasse, der für etliche gehobene Erregungszustände sorgen kann. Wenn einer wirklich Macht hat, dann hat das doch Potential für Umsturz und Befreiung von den verhassten Römern. Auch die Jünger, die engsten Freunde Jesu, sind von dem Gedanken fasziniert, dass mit Jesus jetzt mal so richtig und durchgreifend und demonstrativ jedem vor Augen geführt wird, dass Gott im Regiment sitzt und machtvoll alles lenkt. Gerne auch mit drastischen Methoden, wenn es gar nicht anders geht: also mit Feuer vom Himmel, Vernichtung der Andersdenkenden, notfalls auch mit Schwert und Gewalt. (Lukas 9,54) Wer hier kleckert und zögert, kommt zu nichts.
Jesus allerdings hat hier durchweg anderes im Sinn: Das Reich Gottes kommt unscheinbar (zum folgenden vgl. Matthäus 13), wächst wie ein Senfkorn, fängt extrem klein an und wird dann erst groß. Das Reich Gottes ist vermischt wie das Unkraut mit dem Weizen, wer hier zu früh jätet, vernichtet auch die gute Ernte. Das Reich Gottes kann gesucht und gefunden werden wie eine kostbare Perle, erweist sich als großer Schatz, kommt unverhofft und in der Regel ganz anders als erwartet: zu den Kindern, zu den Zöllnern und Sündern, zu denen an den Hecken und Zäunen.
Das Reich Gottes macht die ersten zu letzten und die letzten (Mt. 20,1-16) zu ersten und gibt allen, was zum Leben nötig ist. (Mt. 6,33-34) Und wenn ein Wunder geschieht, wenn Kranke heil und gesund werden, wenn Lahme gehen, Blinde sehen, Aussätzige rein werden, dann verdankt sich das weniger einem medizinischen Kniff oder Trick, dann hat das damit zu tun, dass ein Mensch sein Leben im Angesicht Gottes neu sortiert und verstehen lernt, dass ein Leben in Ordnung mit Gott und den Nächsten kommt. So etwa in der markanten Geschichte von dem Gelähmten und seinen vier Freunden(Markus 2,1-12), die ein Dach aufgraben, um ihren kranken Freund vor die Füße Jesu zu legen. Da erfolgt erst der Los- und Freispruch: „Dir sind deine Sünden vergeben!“ und dann die Heilung: „Steh auf, nimm dein Bett und geh!“ Wenn das Leben eines Menschen wieder in friedliche Bahnen kommt, dann bei Jesus immer ganzheitlich mit Körper, Seele und Geist!
Zu den schwierigen und schmerzlichen Lektionen gehörte vermutlich schon damals, dass das Reich Gottes nicht ohne Leid und tiefsten Krisen zu haben war und ist. Es ist nicht von dieser Welt, wie Jesus es dem Pilatus beim Verhör eindrücklich signalisiert (Johannes 18,36). Gerade darum ist es aber auch im Leiden und über den Tod hinaus wirksam und wirkmächtig. Und bewahrheitet sich, wenn alle Lichter ausgehen und niemand mehr einen Pfifferling darauf gibt. Bis auf den heutigen Tag bleibt der Ostermorgen die schlechthin skandalöse und alle menschlichen Erwartungen überholende Neuigkeit der Weltgeschichte. Der Totgesagte lebt und ist auferstanden.
Diese Neuigkeit hat es immerhin durch 2000 Jahre menschlicher Wirren und Verirrungen gerade auch in der Kirche geschafft. Allerdings nicht, ohne ganz erheblich Schaden zu leiden: Den ersten provokanten Rückfragen konnte man noch eine Reihe von glaubwürdigen Augenzeugen präsentieren, ganz zuvorderst Jesus sich selbst dem Thomas (Johannes 20,24-31), der den Fingertest machen möchte und dem sich Jesus in aller Leiblichkeit zeigt. Andere direkte Nachfragen wurden mit dem Hinweis auf das leere Grab beantwortet: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden!“ (Lukas 24,5). Auch diese Zeugen wurden schnell weniger, nach zwei Generationen spätestens war damit Schluss. An die Stelle der Augenzeugen traten die, die mit Worten bezeugten, was geschehen war. Diese Worte waren vielfältiger und angreifbarer, neben vielem Einleuchtenden trat auch mancherlei Ausgeschmücktes. Die apokryphen Schriften haben da etliche Anekdoten parat, u.a. auch das sogenannte Thomasevangelium bei den Kindheitsgeschichten Jesu. Da soll Jesus etwa aus gekneteten Tonvögeln am Sabbat lebendig fliegende Vögel gemacht haben. Sicher auch ein gut gemeinter Text, der etwas deutlich machen will, allein die Väter und Mütter des Glaubens spürten, dass es eines Kanons bedarf, einer Richtschnur, eine begrenzte Anzahl von Büchern mit seriösen Aussagen und glaubwürdigen Erzählungen und Worten.
Und so kam es über vier Jahrhunderte in einem mühsamen Klärungsprozess zu unserer heutigen Bibel, die dann auch in alle großen Metropolen des damaligen christlichen Verbreitungsgebietes Anerkennung fand. Die schriftlich fixierten Worte waren indes und für längere Zeit nur wenigen Auserwählten, die sich eine handschriftlich gefertigte Abschrift leisten konnten, vorbehalten. Die Reformation hat hier gute Arbeit geleistet und die Schriften mit dem Buchdruck Gutenbergs möglichst vielen zugänglich gemacht.
Damit setzte ein neues Studieren und Forschen an den Erzählungen und Worten der Schrift ein. Die Aufklärung sorgte für einen neuen Schub und Nachfragen, der bis in unsere Tage anhält. Kern ist nach wie vor, ob sein kann, was bisher jedenfalls im wissenschaftlich vorbereiteten Versuch nicht ein zweites Mal gelungen ist: Einen Toten zum Leben bringen. So werden bis in unsere Tage hinein die Rufe nicht leiser, dass das Grab nicht leer, sondern genauso voll gewesen sei wie bei allen anderen Gestorbenen auch (so vor knapp 15 Jahren (2008) Gerd Lüdemann, Göttinger Theologieprofessor). Andere Versuche waren und sind eher sprachlicher oder theologischer Natur: Jesus sei ins „Kerygma“, in die Verkündigung auferstanden (Rudolf Bultmann), er sei so lebendig, wie jemand lebendig ist, von dem man ständig neu oder immer wieder erzählt. Er sei im Geiste seiner Anhänger präsent, die würden dafür sorgen, dass sein Andenken weiter gepflegt würde. Wieder andere behaupten, er sei gar nicht so richtig gestorben, sondern scheintot vom Kreuz abgenommen und dann heimlich in östliche Sphären verbracht worden. Und starb dann dort auch mit Familie alt und lebenssatt. Diese These war mir zu Beginn meines Theologiestudiums 1984 begegnet (Holger Kersten: Jesus lebte in Indien), ich hielt sie allerdings inzwischen für überholt, wurde aber eines Besseren belehrt: Der Historiker Johannes Fried hat 2019 mit ähnlichen Argumenten wie damals nahtlos an diese Überlegungen angeknüpft.-
„Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendsten unter allen Menschen. Nun aber ist Christus auferweckt von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind. (1. Korinther 15,19-20) Und damit verbunden ist die unerhört exklusive Verheißung auf ein Leben jenseits unserer Zeit und Raumvorstellungen, eine Verbindung zum Ewigen, zur Ewigkeit, zur Immerzeit, zu dem Grund und Ziel allen Seins und Werdens, zu dem lebendigen Gott. Unüberholt und nach wie vor punktgenau bekennt es der Heidelberger Katechismus in Frage 1: „Was ist dein einziger Trost im Leben und Sterben…Dass ich mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre. Er hat mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst; und er bewahrt mich so, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen, ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss. Darum macht er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens gewiss und von Herzen willig und bereit, ihm forthin zu leben.“
Dieses Bekenntnis fußt auf die vielfach bezeugten Texte des neuen Testamentes, unter anderem auch auf den schon in der Schriftlesung vernommenen großartigen Gedicht aus Römer 8, 28 f. : „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ Hier findet sich in gedrängter Form alles, was die Zuversicht und Gewissheit unseres christlichen Glaubens ausmacht. Es gibt eine letzte tragende Verbindung, es gibt eine ultimative, unzerstörbare Zugehörigkeit, es gibt eine alle Katastrophen und Niederlagen überdauernde Beziehung zu der Liebe Gottes, die in Jesus Christus Gestalt geworden, sichtbar geworden, erfahrbar geworden ist. Und die in seinem Leben, Sterben und Auferstehen ihren Grund hat. Mit dieser Hoffnung, mit dieser Zuversicht und Gewissheit fängt alles an und beflügelt uns als Christen, dann auch von der Liebe Christi zu erzählen. Gerade wenn der Glaube kriselt.
Auf der Frühjahrs-Kreissynode haben wir uns zumindest in einer Kleingruppe darauf geeinigt, dass es nicht nur darum geht, mehr Demokratie, mehr Humanismus und mehr Nächstenliebe zu wagen. Sondern dass es vornehmlich darum gehen sollte, mehr Jesus zu wagen. Mehr von dem zu erzählen, der im Leben und Sterben letzten Halt gibt. Mehr von dem zu erzählen, der den Stein am Ostermorgen ins Rollen gebracht hat. In den letzten Tagen haben meine Frau und ich dazu vergleichsweise oft Gelegenheit gehabt: Beim Abschied von einem schwer von Krebs gezeichneten Endfünfziger. Bei dem Abschied von einem, der mit knapp 60 keinen anderen Ausweg als den Freitod sah. Bei einem kleinen Menschenkind, das in der 19. Woche nicht mehr lebensfähig war. Bei Menschen weit über 80 und über 90 Jahren, die friedlich eingeschlafen sind und von einer Krankheit erlöst wurden.
Es gibt sicher noch viele andere Situationen und Gelegenheiten, wo wir als Christen von dem erzählen können, der den Stein ins Rollen gebracht hat. Im Grunde genommen immer dann, wenn es um Hoffnung und Zuversicht und Trost und Hilfe bei welchen Herausforderungen des Lebens auch immer geht.
Ostern macht den Unterschied. Der Stein ist an die Seite gerollt worden und diese frohmachende Botschaft gilt es immer neu zu sagen. Mehr Jesus wagen, das heißt auch: Wieder Kontakt bekommen zu jenen Jesus-Erzählungen und Narrativen, die immer mehr verloren gehen. Wie wäre es z.B. wenn Sie das Lukasevangelium mal wieder komplett durchlesen. 24 Kapitel. Dauert gar nicht so lange. In drei Stunden ist man durch. Sagen die Statistiker. Oder die Bergpredigt lesen, Matthäus 5-7, 3 Kapitel, schafft man mit Pausen in einer Stunde. Oder die Gleichnisse vom Reich Gottes, 1 Kapitel, Matthäus 13, schafft man in 20 Minuten.
Mehr Jesus wagen, mehr von dem in die Debatte einbringen, was Jesus zum Thema Krieg und Frieden (Mt.5,43-48), was er zum Thema Gerechtigkeit (Mt. 6,33) und Verteilung der Finanzmittel („Jeder Tag hat seine Sorge“ (Mt. 6,34) und was er zu einem angemessenen Umgang mit dem, was uns anvertraut ist, u.a. auch der Schöpfung/Klima (Mt. 6, 25-32) gesagt hat.
„Der Glaube ist wie ein Vogel, der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist.“ (R. Tagore) Der Stein vom Grab ist weggerollt, es gibt nichts, was uns von Gottes Liebe trennen kann: Keine Wirtschafts- keine Finanz-, keine Flüchtlingskrise, kein Beziehungs-, Lebens- und auch keine Glaubenskrise. Und es gibt jede Menge Grund, neu von der Zuversicht, der Hoffnung und der Gewissheit zu erzählen, die Zeit und Ewigkeit umspannt.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.
8.S.n.Tr., 30.07.2023, Predigtreihe zu Krisentexten der Bibel: "Lebenskrise", Stadt- und Jonakirche, Ute Kaufmann
- Von der Schönheit des Alters -
Guten Morgen, liebe Geschwister im Herrn!
Wie geht es Ihnen heute Morgen?
Geht gut!
Geht nicht?
Geht so?....
Heute jedenfalls geht es weiter mit den „Krisen“! Unser diesjähriges Sommerthema in unserer Gemeinde.
Nach den ersten Krisentagen mit Herrn Pfarrer Marquardt zu Wirtschafts-, Finanz- und Flüchtlingskrise und der „Beziehungskrise“ meines Mannes, geht es heute um „Lebenskrisen“ – und die haben meist etwas mit dem Älterwerden zu tun, worauf in Liedern, Gebeten und Texten heute der Fokus liegt.
„Von der Schönheit des Alters“ ist dieser Gottesdienst überschrieben. Das könnte vielleicht gleich zu Missverständnissen Anlass geben: „Von der Schönheit des Alters“: Geht es darum, im Alter „schön“ zu bleiben? Oder darum, dass die letzte Lebensspanne „schön“ sein kann? Die letzte Lebensspanne: Wann beginnt sie eigentlich? Ist man schon alt, wenn man sich nicht mehr traut, Skateboard zu fahren? Dann müsste ich mich bald dazuzählen. Ist man alt, wenn man graue Haare bekommt? Oder erst, wenn man in Rente geht? 65 oder 66 oder 67 Jahre als staatlich verordnete Altersgrenze? Ist man alt, wenn man nicht mehr arbeiten kann? Ist man alt, wenn es soweit ist, dass die Pfarrerin/der Pfarrer am Geburtstag zu Besuch kommt?
Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Das Alter beginnt, wo die Freude aufhört.“
Wenn man nicht mehr in der Lage ist, etwas schön zu finden und sich zu freuen, ist man alt. Endgültig.
In diese Krise kann man allerdings schon sehr früh kommen, wie der kleine Witz von Anthony de Mallo humorvoll beschreibt:
Zwei kleine Jungen unterhielten sich. Fragte einer den anderen: „Wie alt bist du?“ „Ich bin fünf. Wie alt bist du?“ „Weiß ich nicht.“ „Du weißt nicht, wie alt du bist?“ „Nee.“ „Machen dir die Frauen zu schaffen?“ „Nee.“ „Dann biste vier.“
Also, ein bisschen Zeit haben wir noch, uns viel zu freuen. Uns allen einen gesegneten Gottesdienst!
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Seligpreisungen eines alten Menschen
Selig, die Verständnis zeigen
Für meinen stolpernden Fuß
und meine lahme Hand.
Selig, die begreifen,
dass mein Ohr sich anstrengen muss,
um alles aufzunehmen,
was man zu mir spricht.
Selig, die zu wissen scheinen,
dass mein Auge trüb
und meine Gedanken träge geworden sind.
Selig, die mit freundlichem Lachen verweilen,
um mit mir zu plaudern.
Selig, die niemals sagen:
„Diese Geschichte haben Sie mir
heute schon zweimal erzählt.“
Selig, die es verstehen,
Erinnerungen an frühere Zeiten
In mir wachzurufen.
Selig, die mich erfahren lassen,
dass ich geliebt, geachtet
und nicht allein gelassen bin.
Selig, die in ihrer Güte die Tage erleichtern,
die mir noch bleiben
auf dem Weg in die ewige Heimat.
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Herbsttag
Herr: Es ist Zeit.
Der Sommer war sehr groß.
Leg deine Schatten
auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren
lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
Gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin
und jagedie letzte Süße
in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus,
baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist,
wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen,
lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen
hin und her
unruhig wandern,
wenn die Blätter treiben.
Dieses Gedicht von Rainer Maria Rilke erzählt von den Schönheiten des Herbstes: Die letzten Früchte werden reif, überreif, schwer und süß. Ich besitze noch genügend Kraft, hat noch eine Menge Lebensmöglichkeiten, kann noch selbst das tun, was zu tun ist.
Ich genieße die Langsamkeit, die sich in meinem Leben ausbreitet, genieße jeden anbrechenden Morgen, die Ruhe, die ich mir erlauben darf, vielleicht erlauben muss. Mir vielleicht erlauben muss… Ich stelle mir das Alter nicht nur als sanftes Dahingleiten vor. Auch der Prediger in der Bibel sieht das Alter durchaus kritisch und verschweigt nicht die beschwerliche Seite. Wir hören aus dem Buch des Predigers Salomo, das 12. Kapitel, die Verse 1-7 (einmal Übersetzung von M. Luther, einmal Übersetzung der Guten Nachricht)
Lesung Prediger 12,1-7 (nach Martin Luther)
Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre nahen, da du wirst sagen: »Sie gefallen mir nicht«; ehe die Sonne und das Licht, der Mond und die Sterne finster werden und die Wolken wiederkommen nach dem Regen, – zur Zeit, wenn die Hüter des Hauses zittern und die Starken sich krümmen und müßig stehen die Müllerinnen, weil es so wenige geworden sind, wenn finster werden, die durch die Fenster sehen, wenn die Türen an der Gasse sich schließen, dass die Stimme der Mühle leise wird und sie sich hebt, wie wenn ein Vogel singt, und alle Töchter des Gesanges sich neigen; wenn man vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege, wenn der Mandelbaum blüht und die Heuschrecke sich belädt und die Kaper aufbricht; denn der Mensch fährt dahin, wo er ewig bleibt, und die Klageleute gehen umher auf der Gasse; – ehe der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht und der Eimer zerschellt an der Quelle und das Rad zerbrochen in den Brunnen fällt. Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.
Lesung Prediger 12, 1-7 in der Übersetzung der „Guten Nachricht“
Denk an deinen Schöpfer, solange du noch jung bist, ehe die schlechten Tage kommen und die Jahre, die dir nicht gefallen werden. Dann verdunkeln sich dir Sonne, Mond und Sterne, und nach jedem Regen kommen wieder neue Wolken. Dann werden deine Arme, die dich beschützt haben, zittern, und deine Beine, die dich getragen haben, werden schwach.
Die Zähne fallen dir aus, einer nach dem anderen; Deine Augen werden trüb und deine Ohren taub. Deine Stimme wird dünn und zittrig. Das Steigen fällt dir schwer, und bei jedem Schritt läufst du in Gefahr zu stürzen.
Draußen blüht der Mandelbaum, die Heuschrecke frisst sich voll, und die Kaperfrucht bricht auf, aber dich trägt man zu deiner letzten Wohnung. Auf der Straße stimmt man die Totenklage für dich an.
Genieße deine Leben, bevor es zu Ende geht, wie eine silberne Schnur zerreißt oder eine goldene Schale zerbricht, wie ein Krug an der Quelle in Scherben geht oder das Schöpfrad zerbrochen in den Brunnen stürzt.
Dann kehrt der Leib zur Erde zurück, aus der er entstanden ist, und der Lebensgeist geht zu Gott, der ihn gegeben hat.
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Lied: „Ich lebe zwischen Herbst und Winter“ (Text: U. Tietze)
(Melodie EG 330: O dass ich tausend Zungen hätte):
1. Ich lebe zwischen Herbst und Winter,
sah oft der Jahreszeiten Lauf,
spür noch den Herbst, doch schnell verrinnt er,
und niemand hält den Winter auf.
Mein Weg war leicht und schwer und weit,
nun kommt die letzte Jahreszeit.
2. Schon viele Lebensblätter fielen,
manch lieber Mensch ist nicht mehr da.
Was ist erreicht von meinen Zielen?
Ich sag zu meinem Leben „Ja“.
Oft spürte ich des Schöpfers Hand,
er blieb mir liebend zugewandt.
3. Manch altes Lied ist längst verklungen,
doch tief in mir klingt mancher Ton.
So vieles an Erinnerungen!
Und manche scheint mir wie ein Lohn.
Mal hat das Leben mich gekränkt,
doch immer wieder reich beschenkt.
4. Gott hat mich liebevoll begleitet;
Zerstörerisch blieb Menschenwahn.
Längst ist mein Blick nun schon geweitet:
Nur Liebe führt auf guter Bahn.
Gott ist die Liebe – das ist wahr.
Sie trägt uns, wenn auch unsichtbar.
5. Ich lebe zwischen Herbst und Winter,
es endet einmal meine Zeit.
Nun naht die Kälte, doch dahinter
steht Gott mit seiner Ewigkeit.
Ich gehe langsam auf ihn zu –
in Liebe auf das große Du.
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Ansprache: Von der Schönheit des Alters
„Es ist etwas Schreckliches passiert!“ – verzweifelt schaut eine unserer Ladies in die Frauenrunde. „Was denn?“ fragen alle anteilnehmend. „Ich bin 60 geworden!“
„Deutsche haben Angst vor dem Alter“ ist schon seit längerem in etlichen Zeitschriften zu lesen. Laut einer repräsentativen Studie freuten sich nur 4 % der Deutschen auf das Alter.
Das heißt, so scheint mir, wir sollten uns mit offenen Augen dem Problem stellen. Wann beginnt Altwerden eigentlich? Rein biologisch betrachtet spätestens mit 20 Jahren. Aber das meine ich natürlich nicht. Überspringen wir die frühe Lebensmitte und beginnen wir mit dem anrüchigen 50-er Jahren, in denen bei den meisten die erste Alterskrise als sogenannte Midlifecrisis einsetzt. Zwar halten sich die körperlichen Anzeichen des Älterwerdens bei den meisten von uns mit 50+ noch sehr im Rahmen: Es zwickt mal hier, mal dort, besonders natürlich in den Knien – oder wir „haben Rücken“, das Treppensteigen fällt ein wenig schwerer, ohne Lesebrille geht nichts mehr; stundenlanges Durchschlafen wird seltener; eine durchzechte Nacht rächt sich tagelang. Die Figur ist nicht mehr die, sie sie einmal gewesen war; der Blick morgens in den Spiegel fällt kritischer aus, und es passiert eher selten, dass uns Frauen die sprichwörtlichen Bauarbeiter noch hinterherpfeifen…
Aber im Großen und Ganzen können die meisten der 50+ler so tun, als sei „zum Altwerden immer noch Zeit“ (nach einem italienischen Sprichwort) und weit von uns entfernt. Da wird mit Yoga und Pilates der Körper bestenfalls stabilisiert und die Jugend aufgefrischt, mit Haut straffenden Cremen nachjustiert und die Kleidergrößen angepasst. Über die kleinen Zipperleins wird gerne hinweggewitzelt :“Wie alt sind sie eigentlich, Frau Königstein?“ fragt der Schönheitschirurg seine neue Patientin. „Ich gehe auf die vierzig zu.“ „Aus welcher Richtung?“ Oder: „Die Schmerzen in Ihrem linken Bein sind altersbedingt“, sagt der Arzt zum Patienten. Entgegnet der Patient entrüstet: „Das kann nicht sein. Mein rechtes Bein ist genauso als und tut nicht weh!“
Jedoch: Wenn wir uns der 60 nähern, wird das Verleugnen der Beschwerden und des Älterwerdens schwieriger. Wenige Wochen nach meinem 60. Geburtstag musste ich einsehen, dass sich meine Sehfähigkeit weiter eingeschränkt hat und ich gerade beim Autofahren nicht mehr den Durchblick bzw. die Weitsicht auf die Schilder hatte. Die Augenärztin zuckte mich den Schultern: Das wäre in meinem Alter normal, und verschrieb mir eine Gleitsichtbrille. Auf den Schock hin musste ich mir beim Bäcker erst mal ein großes Stück Stachelbeerbaiser genehmigen, groß genug für meine Augen! Ein halbes Jahr später bekam ich die erste Einladung zum Seniorentanztee Ü 60. Nun, im Blick auf die 70-80-jährigen kam ich mir jung vor und wirbelte über die Tanzfläche. Nach dem dritten Schlager aber geriet ich schon aus der Puste und mir wurde leicht schwindelig, was mir früher nie passiert wäre; ich gab aber nicht auf und versuchte beim Boogie-Woogie noch tiefer in die Knie zu gehen als mein 80-jähriger Tanzpartner…da schoss die „Hexe“! Und ich musste meine Tanzkapriolen beim Arzt auf der Liege beenden. Na großartig!
„Man ist so jung, wie man sich fühlt“, heißt es im Volksmund, und ich fühlte mich plötzlich alt. Paul Baltes, einer der führenden Altersforscher des 20. Jahrhunderts, teilte das menschliche Leben in vier sogenannte „Lebensalter“ ein: Das dritte von vieren ist dasjenige der 60 – bis 80- Jährigen. Das ist die Phase also, in der es mir persönlich zwar immer noch vergleichsweise gut geht, aber kein Weg daran vorbeiführt, zur Kenntnis zu nehmen, dass mein Körper nicht mehr der ist, der er einmal war. Also habe ich mir angewöhnt, mehr auf seine (des Körpers) stummen Signale zu achten: Wenn er müde wird, versuche ich ihm eine Pause zu verschaffen; den Lendenwirbeln mute ich gar nicht erst zu, länger als 20 Minuten zu stehen; dem Rücken sich richtig zu bücken. Ich versuche, Ärger zu vermeiden und gelassener über die Schuhe der Jungens zu steigen, ohne sie gleich an die Seite zu räumen. Auf ausgedehnten Schlaf verzichte ich nur in extremen Ausnahmefällen, was glücklicherweise nicht schwerfällt, weil ich natürlich längst aus dem Alter heraus bin, in dem mich die Angst umtrieb, irgendetwas zu verpassen.
Obwohl die beschriebenen Veränderungen alle Teil eines ganz und gar natürlichen Prozesses sind, dem man ja auch seine freundlichen Seiten abgewinnen kann, ist es den meisten Menschen doch irgendwie peinlich, zugeben zu müssen, dass der Lack ab ist und man nicht mehr so kann wie früher; zugeben zu müssen, dass Altersflecken keine Sommersprossen sind und nun zum neuen Outfit gehören. Es verdrießt uns, zum „alten Eisen“ gezählt zu werden, wenn wir eine Einladung zum Seniorennachmittag erhalten. Denn alt sind ja immer nur die Anderen. Wir fürchten uns davor, anderen zur Last zu fallen, pflegebedürftig oder gar dement zu werden. Unsere Selbstständigkeit und Selbstbestimmung zu verlieren, finden wir ganz schlimm.
Schon der 60. Geburtstag treibt einigen den Angstschweiß auf die Stirn – wie der Dame aus dem Frauenkreis, die ich anfangs erwähnte: Schrecklich! Das ist das Ende!! Jetzt kommt nichts mehr! No Sex, No Drugs, No Rock´n Roll!... Alt werden wollen wir alle, aber als sein ist schwer. „Alt sein ist nichts für Feiglinge“, hat Hildegard Knef schon gesagt. Lieber hören wir, wie ich mit knapp 64 Jahren: „Was?! Das hätte ich aber nicht gedacht! Also älter als Mitte 50 hätte ich Sie jetzt nicht geschätzt!“. Uihuhi! Da kann man auch schwer ins Fettnäpfchen treten! Zugegeben sind die 60-80-Jährigen nicht mehr die 60-80-Jährigen unserer Großmütter- und Vätergeneration. Und wir nennen uns „die neuen 50-Jährigen“, die „im Hühnerstall Motorrad fahren“. Aber trotz unseres dynamisch-jugendlichen Auftretens bleiben, ja sind wir so alt wie wir sind, und nicht alle kriegen mit 80 Jahren noch so einen sportlichen Auftritt auf der Bühne hin wie Mick Jagger unlängst im TV.
Dass ich nicht mehr 30 bin (auch wenn ich so aussehe!), merke ich zunehmend auch an gewissen Gedächtnislücken. Wie oft passiert es mir im Alltag, dass mir Menschen begegnen, die ich eigentlich gut kenne: „Guten Tag, Frau….?!“ Und der Name ist weg! Wie peinlich! Wir haben gelernt, solche Erinnerungsschwächen als Defizit anzusehen und alles, was mit Alter verbunden ist, irgendwie als Mangelerscheinung. Ich denke, eine Ursache dafür ist die Bewertung des Alters: Es wird eben immer noch sehr häufig gemessen an Werten wie Jugendlichkeit und Leistungsfähigkeit. Alt sein gilt als etwas, was man leider nicht vermeiden kann - auch wenn man das Rentenalter hochsetzt, Collagendrops schluckt und jeden Morgen Kopfstand macht.
Ein anderer Grund für die negative Bewertung des Alters ist: Wenn ein Mensch immer wieder einmal etwas vergisst oder wenn er langsamer zu Fuß ist, wird dies auf den ganzen Menschen übertragen. Man hält ihn für vergesslich und insgesamt für langsam. So hat man ein bestimmtes Bild von einem Menschen, das der alte Mensch dann oft selber übernimmt. Er hält sich dann auch für langsam und vergesslich. Obwohl für jedes Alter doch gilt: in der Ruhe liegt die Kraft!!! Doch allgemein und sowieso ist das Ansehen „Langlebiger Artikel“ in unserer „Wegwerfgesellschaft“ gering. Diese Einschätzung wird eben auch auf das Altern, auf alte Menschen übertragen.
Ein Bonner Arzt, der Neurophysiologe Detlef Linke, versteht die Veränderungen im Alter hingegen positiv. Sie werden von ihm nicht als Abbauprozesse verstanden. Er sieht in ihnen Bündelungs- und Zuspitzungsprozesse, die das Einmalige der Person im Alter in besonderer Weise zum Tragen kommen lassen. Alterungsvorgänge werden demnach als Zuspitzung auf den Wesenskern verstanden. Es geht nicht mehr um die Abrufbarkeit einer Fülle von Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern um eine Bündelung der der Person eigen gewordenen Möglichkeiten, um die im guten Sinn mögliche „Vereinheitlichung“ des Menschen. – Eine alte Dame konzentrierte ihr freundliches Wesen, ihre Hilfsbereitschaft nun ganz auf ihre Mitbewohner, besann sich auf das, was sie konnte – kochte für das ganze Altersheim Lieblingsgerichte….
Der Maler Kandinsky, der als Vater der abstrakten Kunst gilt, hat die Fähigkeit, abstrakt zu arbeiten, als ein Produkt seiner Alterungsprozesse erlebt, die ihn zwangen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und dieses Wesentliche darzustellen. Dass so viele Menschen so alt wie heute werden, gab es in der ganzen Menschheitsgeschichte noch nicht. Die Alterspyramide steht schon länger auf dem Kopf. Allein deshalb ist es schon notwendig, sich mit den Begleiterscheinungen des Alters zu beschäftigen, sie ernst zu nehmen und zu verstehen. Nur so kann die Aufgabe, die vor uns liegt, erfüllt werden.
Unsere und die kommenden Generationen haben dafür zu sorgen, dass das Alter gut gelebt werden kann, ohne dass jedoch die junge Generation, die inzwischen in Unterzahl ist, unter der Last, „alles allein am Laufen zu halten“, zusammenkracht. Darum gilt es, nicht aus dem Blick zu verlieren, dass die Erfahrungen und Erkenntnisse älterer Menschen für die Welt wichtig sind und bleiben.
Mir geht schon die ganze Zeit der Song von Udo Jürgens nicht aus dem Kopf. Sie kennen ihn alle: „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an. Mit 66 Jahren, da hat man Spaß daran. Mit 66 Jahren, da kommt man erst in Schuss. Mit 66 Jahren …. ist noch lange nicht Schluss!“ Das ist eine Hymne, die vor Lebensenergie strotzt, die das Alter als einen neuen Gestaltungsraum annimmt.
Davon erzählt auch Lukas (Lukas 2, 25-39) in seinem Evangelium ganz am Anfang. Da hören wir von zwei alten Menschen: Sie heißen Hanna und Simeon und spielen eine wichtige Rolle in der Kindheitsgeschichte Jeus. Sie werden uns immer wieder daran erinnern, was Gott mit alten Menschen vorhat, denn die älteren Menschen sind „Gottesebenbilder“. Gott offenbart sich in diesem Bibeltext, zugespitzt formuliert, als ein Gott der Alten. Hanna und Simeon sind tagtäglich im Tempel. Sie beten. Doch das bleibt nicht ihre einzige Aufgabe. Sie sind alt, aber sie sehen über das mit den Augen Sichtbare hinaus. „Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht“. So formulierte Marie Luise Kaschnitz ihre Alterserfahrung. Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht.
Hanna und Simeon, sie sehen anders, sie sehen das Wesentliche! Von beiden wird gesagt, dass sie sich in der Nähe des Tempels aufhalten. Simeon wird als ein gottesfürchtiger Mann beschrieben, auf dem der Geist Gottes ruht. (Lukas 2,25) Er wartet auf den Trost Israels. Durch den Heiligen Geist weiß er, dass er nicht sterben wird, bevor er den, den er erwartet, gesehen hat.
Hanna wird als hochbetagte Prophetin bezeichnet, deren Lebensinhalt der Dienst an Gott war. Sie ist eine Tochter Phanuels, aus dem Stamm Asser. Über diesen Stamm sprach Mose folgenden Segen: „Von Eisen und Erz sei der Riegel deiner Tore; dein Alter sei wie deine Jugend!“ (Dtn. 33,25b.) Der Schluss liegt nahe, dass es kein Zufall ist, dass Hanna aus dem Stamm Asser stammt. Scheinbar zeichnet dieser Stamm sich dadurch aus, dass seine Alten in besonderer Weise von Gott befähigt werden, zukunftsweisend Aufgaben zu erfüllen. Das Alter der Hanna ist unbekannt. Man kann es lediglich schätzen. Manche vermuten, dass sie 84 Jahre alt war, ein sehr hohes Alter für damalige Zeit.
Beide alten Menschen nehmen die Aufgabe wahr, den Eltern Maria und Josef und der Öffentlichkeit im Umfeld des Tempels die Sendung und die Bestimmung des neugeborenen Kindes Jesus zu bezeugen. Beide sind sie mit dem Geist Gottes gesegnet. Ihre Fähigkeiten, weiter zu sehen als Andere, sehen sie als ihre von Gott gegebene Aufgabe, diese für Andere einzusetzen – gerade auch in ihrem Alter. Aus dem Dasein der beiden Alten, die im Gebet, in der Offenheit also zur Transzendenz leben, ist ein neuer Bezug zu Gott erwachsen! Sie reden prophetisch deutend. Ihre Fähigkeit, weiter zu sehen, formt sich in Worte, die wegweisend sind für Andere. Sie sind es, die die Ereignisse der Zeit deuten und den Heiland vor der Welt bezeugen. (Lukas 2,38)
Die Gabe der Prophetie, die sich an diesen beiden Alten zeigt, speist sich unter anderem aus der Möglichkeit gerade auch alter Menschen, Visionen und Träume zu haben (Joel 3,1-3) Alte und Junge, Frauen und Männer werden bei dieser rückhaltlosen Selbstoffenbarung Gottes gleichgestellt. Visionen, prophetische Fähigkeiten und Träume werden dem Menschen als Gabe Gottes zuteil, die Träumen aber werden besonders alten Menschen zugeordnet. Von Gott gegeben beziehen sie sich, ähnlich den Visionen, auf das Entwerfen von Zukunft: „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an….“
Diejenigen, die selbst nur noch wenig irdische Zukunft vor sich haben, haben Träume und Visionen für eine Zukunft der Alten und der Jungen. So weist die in den alten Menschen angebrochene Freiheit und Unabhängigkeit über ihre eigene Zukunft hinaus auf die den Tod übergreifende Zukunft Gottes mit dem Menschen, die in unsere Gegenwart hineinscheint. Hanna lobt Gott und Simon jubelt: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben den Heiland gesehen!“ (Lukas 2,25-39)
Unabhängig von prophetisch-visionären Gaben steckt für mich in diesem Satz auch: Was kann man im Alter nicht alles noch sehen! Wenn man die Augen nicht verschließt. Wenn man in gewisser Weise offen ist, neugierig bliebt und das in den Blick nimmt, was täglich noch gelingt, wofür man dankbar sein kann, was einen erheitert und erfreut, statt darauf zu schauen, was nicht mehr geht. Statt zu beklagen, dass Vertrautes verschwindet, vieles sich schnell verändert und mir immer mehr unverständlich ist. Hanna und Simeon, zwei alte Menschen, sie sehen anders, weiter, genauer. Und doch sind sie Menschen, die der Welt noch nicht enthoben sind. Die Einschränkungen des Alters plagen auch sie. Diese Welt hat sie nicht mehr vollständig in den Krallen. Sie schauen schon ein wenig weiter, hin zu Gottes Welt.
Nun, sicher haben nicht alle Menschen von Gott den Auftrag wie Hanna und Simeon, den Heiland der Welt zu erkennen und ihn öffentlich vor der Welt zu proklamieren. Ja, und trotzdem haben alte Menschen in unserer Zeit viele Aufgaben. Allein dadurch schon, dass sie die lebendigen Wurzeln unserer Gegenwart sind. Von ihnen können wir vielleicht kein Computerwissen erfragen, aber Antworten über Leben und Tod können sie uns geben. In der Bibel wird – wie wir in der Lesung aus dem Buch des Predigers (s.o.) gehört haben – das Alter durchaus kritisch gesehen – die Sehkraft der Augen, das Hörvermögen der Ohren und die Beweglichkeit der Gliedmaßen lassen nach.
Genauso aber ist in der Bibel davon die Rede, dass Alte wie die Jungen sind, dass „wenn sie alt sind, sie dennoch erblühen“ (Psalm 92,14). Alexander von Humboldt hat das so gesagt: „Ich finde das Alter nicht arm an Freuden, aber Farben und Quellen dieser Freuden sind anders.“ Und auch, was als „schön“ definiert wird, sieht dann anders aus, orientiert sich nicht mehr an straffer Haut, vollem Haar und Leistung. Martin Luther hat das so auf den Punkt gebracht, als er sagte „Gott handelt an uns wie ein Holzschnitzer. Anfangs hat er einen glatten Block vor sich. Indem er von dem Holz wegnimmt, fördert er das Bild, das ihm vorschwebt. So muss Gott viel von uns wegnehmen und schnitzen, bis wir dem Bild entsprechen, das er haben will.“
Die Schönheit des Alters sehen, das heißt also: das Bildnis, das Gesamtkunstwerk erkennen, das Gott aus seinem Menschen macht. Da sind Falten und Runzeln keine Katastrophe mehr, sondern Linien, lebendige Jahresringe, die Gott in unsere Gesichter zeichnet. Da sind Enttäuschungen und Leid keine Schicksalslaunen, die sinnlos unsere Lebenskraft verbrauchen, sondern Begegnungen mit Gott, in denen er seine Spuren in unsere Seele eingräbt und unseren Charakter formt. Da sind Erfahrungen, von denen wir – je älter, je mehr – zu erzählen wissen, keine alten Kamellen, sondern ein Stück der Geschichte Gottes, die er durch unser Dasein erzählt. (Daran sollen auch die Ringe im Baumstamm und das Gedicht von Rilke erinnern:
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge zieh‘n.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
Das Alter, liebe Geschwister, kann also eine gute Zeit sein, eine besondere auch, weil man sich Zeit für Gott nimmt. Zum guten Schluss dazu noch eine kleine Geschichte: Eine ältere, schwer MS-kranke Frau, die ich vor Jahren begleitet habe, sagte mir kurz vor ihrem Sterben, als sie nichts mehr tun konnte, dass sie unter diesem Zustand nicht leiden würde. Denn sie hätte eine wichtige Aufgabe: Solange sie könne, würde sie für die Welt und die Menschen beten. Das war ihre Aufgabe bis zu ihrem Tod, - die sie auch erfüllt hat.
Jeder Mensch hat Lebensaufgaben bis zum Tod. Vielleicht kann man sie dann entdecken, wenn man das Alter so wie Marie Luise Kaschnitz versteht. Für sie bedeutet Alter nicht das Ende, vielmehr vergleicht sie es mit einem Balkon, von dem man aus weiter und genauer sieht. So lassen sich die vielleicht klein erscheinenden, aber wichtigen Lebensaufgaben erkennen. Erkennen aber auch, was es heißt, über das hinauszusehen, was ich als alter Mensch noch leisten sollte, müsste, könnte…
Um mit Astrid Lindgren zu sprechen: Ich darf als alter Mensch auch einfach nur dasitzen und vor mich hinschauen, meine Hände in den Schoß legen, mich ganz Gott anvertrauen, der meinen Wert, meine „Verwertbarkeit“ nicht von meiner Größe, meinen Taten, meinen Stärken abhängig macht, sondern von seiner Liebe und Barmherzigkeit. Und die machen uns schön, egal wie alt wir sind.
Amen.
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Liebeslied für einen alten Menschen, Text: U. Tietze
(Melodie EG 255: O dass doch bald dein Feuer brennte)
1. Gezeichnet von so vielen Jahre,
an Falten reich ist dein Gesicht,
das, eingerahmt von weißen Haaren,
ganz ohne Worte zu mir spricht.
2. Durch das, was hinter dir liegt, haben
unzählige der Runzeln sich
in deine Haut tief eingegraben.
Wenn ich dich sehe, denke ich:
3. Nach schwerem Los noch Freundlichkeiten,
die schenkst du mir ganz unbeirrt.
Ich hoffe, dass für lange Zeiten
dein Weg mich noch begleiten wird.
4. Wie schön bist du, seid oft ihr Alten!
Erfahrung legte sich hinein
in deine Haut mit ihren Falten.
Das Leben selbst grub sich dort ein.
5. Oft höre ich von allen Seiten,
dass nur die Jugend Schönheit hat.
Und doch: nur Oberflächlichkeiten
sind ohne Furchen, bleiben glatt.
6. Dort, wo das Leben, wo Erfahrung
sich ins Gesicht, ins Äußre gräbt,
mag es geschehn, dass ihr auch Nahrung
des Wissens an die Jungen gebt.
7. Ich weiß nicht, wieviel an Gewittern,
an Stürmen mir beschieden ist.
Doch niemals möchte ich verbittern,
will freundlich bleiben, wie du´s bist.
7.S.n.Tr., 23.07.2023, 1.Kö.17,1-6, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
jeder Sommer hat so seinen Hit in den Radioprogrammen. Ich erinnere mich noch gut an den von 1975, damals ein Ohrwurm. Rudi Carell war der Sänger und im Refrain hieß es: „Wann wird’s mal endlich wieder Sommer, ein Sommer, wie er früher einmal war? Ja, mit Sonnenschein von Juni bis September und nicht so nass und so sibirisch, wie im letzten Jahr.“
Ein Sommerhit, den so in den letzten 10-15 Jahren sicher kein Textschreiber mehr erdacht hätte; waren die Sommer doch im Schnitt alle viel zu warm und vor allen Dingen viel zu trocken. Wie sehr genießen wir mittlerweile Temperaturen um 20 Grad und freuen uns über jeden Regenguss, sofern er nicht als Starkregen daherkommt. Um Trockenheit und fehlenden Regen geht es auch in der Geschichte, die der Predigt am heutigen Sonntag zugrunde liegt. Genaugenommen ist es der erste Teil einer Geschichte aus dem 1.Könige; über den zweiten Teil werde ich am 27. August zu sprechen kommen. Seit der Überarbeitung der Perikopenordnung 2018 ist sie endlich für würdig erachtet worden, alle sechs Jahre als Predigttext der Gemeinde vorgestellt zu werden.
„Da sprach Elia, der Tischbiter, aus Tischbe in Gilead, zu Ahab: „So wahr der Herr, der Gott Israels, lebt, in dessen Dienst ich stehe, es wird in diesen Jahren weder Tau noch Regen fallen, ich sage es denn!“ Und es erging an ihn das Wort des Herrn: „Geh weg von hier und wende dich nach Osten! Verbirg dich am Bach Krit, der zum Jordan fließt. Und du sollst aus dem Bach trinken, und ich habe den Raben geboten, dass sie dich dort versorgen sollen.“ Und er tat nach dem Wort des Herrn; er ging hin und setzte sich nieder am Bach Krit, der zum Jordan fließt. Und die Raben brachten ihm Brot am Morgen und Fleisch am Abend, und er trank aus dem Bach.“
Ich kenne keine andere Bibelstelle, wo so bildhaft von einem Bach die Rede ist wie hier im ersten Buch der Könige. Da sitzt einer am Ufer des Bachs, nicht bloß eine Stunde lang; sondern über viele Tage, Wochen sitzt er da an seinem Bach und hält sich verborgen. Aber es ist hier keine Idylle, weder Urlaub noch Kinderspiel. Elia, der Prophet, hatte Schwieriges hinter sich. Er hatte gesehen, welche bedenkliche Entwicklung das Nordreich Israel genommen hatte. Wie das Königshaus in seinem Bemühen, sich den religiösen Gepflogenheiten der Nachbarvölker anzupassen, den Glauben Israels immer stärker verfälschte und in Frage stellte. Baal und Aschera wurden Altäre errichtet. Adonai, der Gott Israels, war nur noch einer unter vielen. All das geschah vor den Augen des ganzen Volkes. Jeder musste und konnte es sehen. Vielleicht war auch eine ganze Reihe mit dieser Entwicklung nicht einverstanden. Aber – keiner sagte etwas; nur einer tat den Mund auf: Elia. Er sagte König Ahab als Folge dessen Handelns eine schlechte Botschaft ins Gesicht: „Es wird kein Regen kommen, nicht in diesem Jahr und auch nicht in den folgenden.“
Ja, es braucht Mut und Kraft, den Mund aufzumachen, ehrlich und offen zu sagen, was Sache ist, ehrlich und offen die Folgen von Ereignissen, von politischem Handeln zu benennen. Wer eine schlechte Botschaft bringt, der muss damit rechnen, dafür abgelehnt zu werden. Das ist so bis heute. Welche/r Politiker/in in unserem Land traut sich - gerade wo Wahlen anstehen und die stehen ja immer irgendwo an in den Ländern, in den Kommunen – welche/r Politiker/in traut sich da, die Wahrheit zu sagen zum Beispiel hinsichtlich der Finanzierbarkeit unseres Gesundheitssystems oder was die Globalisierung und Digitalisierung für das Wohlstandsgefüge in unserer Gesellschaft bedeutet oder welche Schritte eigentlich zu unternehmen wären, um die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels wenigstens noch abzumildern. Eigentlich ist es für alle, die ein bisschen nachdenken können, mit Händen zu greifen, dass nicht weiter alles, was machbar ist, mehr möglich ist, und zwar nicht nur, weil wir es uns das finanziell nicht mehr leisten können, sondern weil die Erde es sich nicht mehr leisten kann.
Es ist leicht, die Universalität der Menschenrechte zu erklären. Aber aus dieser Anerkenntnis folgt doch auch, dass jeder Mensch das gleiche Anrecht auf ein gutes Leben hat, dass die begrenzten Ressourcen der Erde für alle in gleichem Maße zur Verfügung stehen. Das will lieber keine/r laut sagen. Ich habe noch von niemandem gehört, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse weltweit nicht heißen wird, dass es allen so gut gehen wird, wie uns hier in Deutschland jetzt, sondern eher, dass wir unsere Ansprüche deutlich zurückschrauben müssen. Aber wer traut sich, das zu sagen? Er muss befürchten, vom Wähler abgestraft zu werden. Dabei müsste er nur mit dem Verlust seines Abgeordnetenmandates rechnen, nicht, wie Elia, dass ihn tödlicher Hass treffen kann, weil die Menschen so seine Botschaft töten wollen – wobei die Ermordung des Politikers und Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019 zeigt, dass es in unserer Gesellschaft auch schon richtig gefährlich sein kann, einfach für Menschlichkeit einzustehen.
Elia war mutig gewesen und hatte dem König ins Angesicht gesprochen, aber dann wollte Gott selbst, dass er sich versteckte. „Verbirg dich!“, sagte der Herr. Mich berührt es, dass auch dem mutigen Menschen sein Versteck gewährt wird. Auch der Prophet braucht nicht immer mutig vor des Königs Angesicht zu stehen. Es gibt eine Zeit, da darf, da soll er sich zurückziehen, zurück in sein Versteck - am Bach Krit. Man kann sich das wie ein Bild vorstellen: dieser erschöpfte Prophet am Ufer des Baches, der Prophet in der Einsamkeit und Stille. Es ist ein Bild für jeden Menschen, der sich erschöpft bergen, sich verbergen will. Nun weiß ich nicht, ob der Bach Krit so ein lebendiger Bach ist wie zum Beispiel die Bäche in den Alpen, wenn sie über die Wiesen und Almen sprudeln. Die Maler in späteren christlichen Zeiten haben gerne eine Schlucht gezeichnet, wenn sie uns Elia in seinem Versteck zeigen wollten. Da saß er erschöpft da und es floss der Bach. Und die Raben kamen und versorgten ihn - am Morgen mit Brot, am Abend mit Fleisch. So wurde Elia zum Vater der Einsiedler.
Wer in den satten Zeiten der Kirche genug hatte von der Welt mit ihren Königen, wer nur noch geistliche Dürre über die Stätten der Welt kommen sah, der zog aus in die Wildnis, fort in die Einsamkeit; er kehrte der Welt den Rücken. Antonius von Padua war wohl nicht der erste und Nikolaus von Flüe nicht der letzte. Wo immer ein Mensch in die Einsamkeit floh, da meinte er, dem Weg des Elia zu folgen. Doch ganz richtig haben sie damit Elia und seine „Auszeit“ nicht nachgebildet. Denn sein Rückzug – das werden wir noch hören am 27.August – war nur ein Intermezzo, eine Auszeit eben und keine Endstation. Ja, manchmal ist das das Einzige, was hilft, was guttut, wenn Erschöpfung sich breit macht in allem Tun und Schaffen, allem Planen und Organisieren: sich eine Auszeit nehmen, ja, sich von Gott „in Urlaub“ schicken zu lassen. So fremd ist er uns nicht, der erschöpfte Prophet. Wer in der Welt wirkt, kennt doch die Zeiten, da er ausspannen möchte, hinaus aus der Anspannung der täglichen Anforderungen. Einmal ganz sich bergen, weg von den stechenden oder skeptischen Blicken, fort vom Lärm der Welt, hinein in die Stille, dort, wohin Gott mich führt. Ja, vielen ist der Ruf vertraut, auch wenn die Stimme nur leise klingt: „Verbirg dich!“
Ich weiß, es gibt auch Menschen, die haben einen solchen Ort nicht selbst gesucht. Und doch hat Gott sie in die Stille, in die Einsamkeit geführt. Sie denken zurück an frühere Zeiten und sind dabei froh um jeden Boten, der die Stille bricht. Nicht jeder möchte Elia sein. Ja, wir wissen nicht einmal, ob Elia selbst so glücklich war in seinem Versteck, in das Gott ihn führte. Darüber schweigt die Bibel. Elia ging den Weg, auf den Gott ihn rief. Der Mensch am Bach. Elia ist kein ausgelassenes Kind, das am Wasser spielt, vielleicht kleine Wasserräder aus Holzstöcken und Baumrindenstücken bastelt. Ein Mensch, gezeichnet und erschöpft, stillt seinen Durst mit Wasser, das der Bach ihm bringt. „Aus dem Bach kannst du trinken.“ Elia sieht Dürre kommen, doch Gott hat ihn zu einem Bach geführt, aus dem er trinken kann. Es ist kein Brunnen, keine Zisterne, kein Vorrat an Wasser, den er messen könnte. Das Wasser kommt, er weiß nicht, woher, und was er nicht trinkt, fließt fort und ist nicht zurückzuholen. So gibt der Prophet sich ganz der täglichen Güte Gottes hin. Er selbst hat keine Macht über den Ursprung des Wassers; er kann es nur kommen lassen. Und er kann es nicht für schlechtere Zeiten zurückhalten; er muss es ziehen lassen. So lebt er denn jeden Tag von dem Wasser, das Gott ihm Tag für Tag schickt. Tiefer könnte der Mensch im Versteck nicht erfahren, was es heißt, aus Gottes Hand zu leben. Und es kommen die Raben am Morgen und am Abend. Wie im Märchen bringen sie dem Menschen in seiner Einsamkeit sein Essen: Brot und Fleisch. Sie kommen vom Himmel, sind Boten des himmlischen Vaters, und sie bringen so viel, wie der geborgene Mensch braucht, mehr bringen sie nicht; Vorräte lassen sich nicht sammeln. Sein tägliches Brot wird dem Menschen in seine Stille gebracht und auch sein tägliches Fleisch. Und in der Stille vertraut der Mensch darauf, dass Gott ihm wirklich jeden Tag das Nötige schenkt - durch seine Raben, durch seinen Bach.
Es ist schon wahr: viele von uns kennen die Sehnsucht nach einem Versteck, nach einem Ort, wo die tägliche Welt zum Schweigen kommt. Aber verstehen wir uns auch auf die Zeichen solcher Orte? Nehmen wir die Raben wahr, und vermögen wir, mit dem Bach zu leben? Es ist kein Idyll, der Prophet am Bach Krit. Es ist ein Mensch, den Gott in die Einsamkeit führt, ein Mensch, der lernt, es sich mit dem genügen zu lassen, was Gott ihm jeden Tag schenkt. Nun will ich nicht verschweigen, dass die Tage des Propheten am Bache Krit gezählt waren. Auch das Versteck war der Welt nicht völlig entzogen. Nicht, dass die Menschen den Propheten dort entdeckt hätten. Aber die Dürre, der fehlende Regen ließ auch die Quelle des Bachs versiegen. Die Zeit der Stille, die Wochen der Einsamkeit gingen zu Ende. Und Elia musste wieder hinaus in die trockene Welt, er musste zu den hungernden, leidenden Menschen, um ihnen Hilfe zu bringen.
Nein, Einsamkeit und Stille sind kein Idyll, der Rückzug kein Selbstzweck, er begründet kein Leben in einer heilen Parallelwelt. Es kommt die Zeit, da trocknen die Bäche aus, dann muss ich hinaus, zurück in die Welt. Hoffentlich habe ich bis dahin gelernt, dass Gott mir schicken wird, was ich brauche. Dass ich wesentlich von seiner Güte lebe. Und dass ich mich nicht trennen kann von dem Geschick der anderen Menschen in der Welt, dass ihr Durst, ihr Hunger auch meiner ist. Dass es Leben und Zukunft nur für uns alle gemeinsam gibt. Hoffentlich habe ich bis dahin die Lektion am Bach verstanden.
Amen.
7.S.n.Tr., 23.07.2023, Predigtreihe zu Krisentexten der Bibel: "Beziehungskrise", Stadt- und Jonakirche, Daniel Kaufmann
Predigt zum Thema „Beziehungskrise“ um 9.45 Uhr in der Stadtkirche und um 11 Uhr in der Jonakirche
„Als Gott den Mann erschaffen hatte, stellte er fest, dass er das meiste gängige Material verbraucht hatte. Es gab keine leichter verfügbaren Zutaten mehr, woraus er die Frau hätte bilden konnte. So dachte Gott länger als üblich nach. Dann nahm er die Rundheit des Mondes, die Biegsamkeit einer Weinranke, das Zittern des Grases, die Zartheit des Schilfs und das Blühen der Blumen, die Leichtigkeit der Blätter und die Heiterkeit der Sonnenstrahlen, die Tränen der Wolken und die Flüchtigkeit des Windes, die Furchtsamkeit eines Hasen und die Eitelkeit eines Pfaues, die Weichheit einer Vogelbrust und die Härte eines Diamanten, die Süße des Honigs und die Grausamkeit eines Tigers, das Brennen des Feuers und die Kälte tiefen Schnees, die Geschwätzigkeit einer Elster und das Singen einer Nachtigall, die Falschheit einer Schlange und die Verlässlichkeit einer Löwin.
Gott vermischte alle diese Elemente, schuf daraus die Frau und gab sie dem Mann. Nach einer Woche kam der Mann wieder und sagte: „Herr, das Wesen, das du mir gegeben hast, macht mir keine Freude. Sie redet ununterbrochen und quält mich so sehr, dass ich gar keine Ruhe mehr habe. Sie besteht darauf, dass ich mich ihr ständig widme, und so gehen meine Stunden dahin. Sie regt sich über jede Kleinigkeit auf und führt ein müßiges Leben. Ich will sie dir zurückgeben, denn ich kann nicht mit ihr leben.“ Gott war einverstanden und nahm sie zurück.
Nach einer Woche kam der Mann wieder zu Gott und sagte: „Herr, mein Leben ist leer, seit ich dir die Frau zurückgegeben habe. Ich muss ständig an sie denken – wie sie tanzte und sang, wie sie mich aus den Augenwinkeln ansah, wie sie mit mir redete und sich an mich schmiegte. Sie sah so schön aus, und es war so gut, sie zu berühren. Ich hörte sie so gerne lachen. Bitte, gib sie mir doch zurück.“ Gott war einverstanden und gab sie ihm wieder.
Aber drei Tage später kam der Mann erneut zu Gott und sagte: „Herr, ich verstehe es einfach nicht – ich kann es nicht erklären, aber nach all meinen Erfahrungen mit der Frau bin ich doch zu dem Ergebnis gekommen, dass sie mir mehr Ungelegenheiten als Freude macht. Ich bitte dich daher, nimm sie doch wieder zurück! Ich kann nicht mit ihr leben!“
Und Gott antwortete: „Du kannst aber auch nicht ohne sie leben!“ Und er wandte dem Mann den Rücken zu und setzte seine Arbeit fort.
Der Mann aber rief verzweifelt: „Was soll ich tun? Ich kann nicht mit ihr leben, aber ohne sie geht es auch nicht! Das kann ja heiter weiter!“
Und es wurde heiter. Mal mehr, mal weniger.
Überwiegend heiter wurde es beim miteinander Reden und Lachen, beim lustige Geschichten Erzählen, beim Flirten, beim Necken, beim Tanzen, beim Umarmen, beim Küssen, beim Schmusen, beim Party feiern, beim Urlaub machen, beim Freunde besuchen, beim gemeinsame Zeit Verbringen.
Weniger heiter wurde es bei der Diskussion, wer welche Rolle übernehmen soll. Wer für Kochen, Wäsche, Ordnung im Haus zuständig ist. Weniger heiter wurde es in der Tretmühle des Alltäglichen, wenn Arbeit, Beruf, Kinder wenig Zeit für Gemeinsamkeit ließen.
Weniger heiter wurde es: Wenn es um das angeblich vorwiegend männliche Organisationstalent und die vorgeblich hauptsächlich weibliche Intuition ging. Wenn es um das erste und letzte Wort bei einer Entscheidung ging. Wenn es ums Rechthaben ging. Weniger heiter wurde es, wenn Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentfaltung neu ausgelotet werden mussten. Wenn der eine zu viel und der andere zu wenig oder umgekehrt: die eine zu viel und die andere zu wenig zum Zuge kam bei der Verteilung von Anerkennung, Lob und Wertschätzung.
Weniger heiter wurde es, wenn man sich wenig oder gar nichts zu sagen hatte, sich anschwieg oder einfach nur wortlos aneinander vorbeilebte. Wenn die Eifersucht sich meldete. Wenn der Umgang mit Geld schwierig wurde.
Und dann gab es ja auch noch die Zeiten, in denen es weder mehr noch weniger heiter zuging, sondern einfach nur gut war, dass man sich gegenseitig hatte, um den Alltag zu bestehen, um die Herausforderung des Lebens zu meistern, um gemeinsam stark zu sein. Um gemeinsam den Sinn des Lebens zu finden. Um gemeinsam glücklich zu werden. Um gemeinsam ein Stück Himmel auf Erden zu erleben.
Um das größte Geschenk Gottes zu entdecken: Die Liebe, die der Ursprung und das Ziel allen Lebens ist. Und die Gott in jedem von uns hineingelegt hat. Und die in jedem von uns einzigartig, wunderbar, unverwechselbar sichtbar werden kann und will.
Als Adam seine Eva im Paradies entdeckte, war sein Glück vollkommen: „Hasot!“ heißt es da im Hebräischen und auf Deutsch: „Die ist es und sonst keine!“ Und in diesem Ausruf kommt zusammen: Entdeckerfreude, Erstaunen, Glückseligkeit und Zufriedenheit.
Wir sind auf ein Gegenüber hin geschaffen. Auf ein Du hin angelegt. Und diese magische Polarität hat geradezu göttliche Qualitäten. Sie gehört zu dem Schönsten, Besten, Erfüllendsten, was es auf dieser Erde gibt.
Wie man im Anschluss an diese leicht modifizierte indische Legende* zum Miteinander der Geschlechter erkennen kann, ist diese Liebe von Anfang an nicht ohne Wermutstropfen, ohne Irritationen und Schräglagen der unterschiedlichsten Sorte zu haben. So wird es ja auch in der Bibel an zahlreichen Stellen berichtet. Gleich nach den paradiesischen Zuständen kommt die Geschichte mit der verbotenen Frucht und damit verbunden die Ausweisung aus dem himmlischen Urstand. Eva muss unter Schmerzen die Kinder gebären, Adam muss unter Schweiß und Frust das Feld bestellen. Damit nicht genug.
Das erste Brüderpaar sorgt für familiären Stress und Streit, für Mord und Totschlag: Kain bringt Abel um. (Gen. 4) Die Kinder erweisen sich von Anfang an nicht nur als Segen, sondern auch als Ernstfall des Lebens, insbesondere der Beziehung zwischen Mann und Frau. Sie werden lang ersehnt und erwünscht, aber wenn sie dann da sind, kann man sicher sein, dass so manche schlaflose Nacht und Sorge dazukommt. Weil das Thema Lieblingssohn und Lieblingstochter, Rangfolge der Geschwister, besondere Begabungen und Schwächen, Erbfolge und Fortsetzung der Dynastie, Schönheit und Ansehnlichkeit, Können und Geschick, Talent und Begabung die Runde machen. Besonders die Brüderpaare machen das Familienleben zu einer echten Herausforderung: nach Kain und Abel sind es Isaak und Ismael, Jakob und Esau, Josef und seine elf Brüder, bei denen es nur haarscharf an Krieg und Terror vorbeigeht. Der Familienfrieden ist jedes Mal nachhaltig gestört und die Eltern, das Liebespaar, Vater und Mutter haben alle Hände voll zu tun, um das Schlimmste abzuwenden. Neben den Kindern meldet sich der alltägliche Trott und damit die Frage, ob und wie eine Liebesbeziehung den immer gleichen Ablauf, die sich ähnelnden Rituale, das Normale des Lebens aushält bzw. bewältigen kann. Auch hier nehmen die biblischen Geschichten kein Blatt vor den Mund. Mehrmals wird von speziellen Vorlieben berichtet, die erst die Partnerwahl und dann den Familienalltag ungut beeinflussen.
In Zeiten der Vielehe leuchtet unmittelbar ein, dass spätestens bei der Prioritätensetzung von Lieblingsfrau, Haupt- und Nebenfrau es über kurz oder lang zu Problemen kommt. Bei Jakob etwa wird von einem ziemlich bizarren Wettbewerb der zwei Haupt -und Nebenfrauen um das erstgeborene Kind bzw. Sohn berichtet, ein Wettbewerb, bei dem der Stammvater keine durchweg gute Figur macht, sondern mehr oder weniger als Spielball von insgesamt 4Frauen, die zumindest ihre häusliche Position und Machtstellung mit Hilfe der Kinder festzurren wollen. (vgl. Genesis 29-30)
Schwierigkeiten gibt es auch in Zeiten der Monogamie, wie man bei dem ansonsten hoch gelobten König David erfährt. Seine Frau Michal findet es durchweg peinlich, wie ausgelassen und offensichtlich auch wenig bekleidet er vor allem Volk zu einer Parade erscheint. (2. Samuel 6,12-16) Man fühlt sich sogleich an britischen Verhältnisse erinnert: Prinz Harry und seine exzessiven Auftritte, bei denen das Königshaus „not amused“ ist. Dazu kommt ein mehr als schäbiger Seitensprung mit Folgen (2. Samuel 11), die Geschichte, bei der dem David die Augen übergehen. Die nackt badende Bathseba regt nicht nur seine Phantasie, sondern auch seine Lust auf Abwechslung an. Er geht mit der Frau des Uria fremd und, um die Folgen des Techtelmechtels, eine sich ankündigende Schwangerschaft, zu verbergen, lässt er den verdienten Frontkämpfer in einem Himmelfahrtskommando sterben und damit aus dem Weg räumen.
Diese Geschichte lässt durchblicken, dass es mit der Treue zwischen Mann und Frau und hier speziell vom Mann - „Me Too“ - lässt grüßen, schon in Alten Zeiten nicht zum Besten bestellt ist und das 6. Gebot: „Du sollst nicht ehebrechen!“ (Ex. 20,14) kein überflüssiger Hinweis ist, sondern einen Rahmen setzt, der zuweilen und zu Recht erinnert werden muss und soll.
Auch andere sexuelle Orientierungen als die von Mann und Frau machen Probleme: Die LGBTQ+ – Bewegung ist sich einigermaßen sicher, dass in der Bibel bei den alternativen Lebensgemeinschaftsformen vor allem misslungene oder problematische Gesichtspunkte zu Wort kommen. Dieser Eindruck ist, zumindest was die Homosexualität angeht, nicht ganz falsch. Sie ist, wenn sie thematisiert wird, wie etwa in der Geschichte von Sodom und Gomorra (Genesis 19), mit Gewalt, übergriffigen Sexpraktiken und hemmungsloser, verantwortungsloser Lust und Missbrauch verbunden und wird entsprechend negativ gezeichnet. Nicht zuletzt deshalb wird Sodom und Gomorra ja auch vernichtet. Ob David und Jonathan in jüngeren Jahren ein gleichgeschlechtlich liebendes Pärchen abgegeben haben, bleibt eine offene Frage. Hier wird in der Regel ja auf den berühmten Satz abgehoben: „Deine Liebe ist mir wundersamer als Frauenliebe.“(2. Samuel 1,26) Um da mehr herauszulesen oder zu bekommen, müsste man die beiden noch mal direkt befragen. Geht aber aus bekannten Gründen nicht. In späteren Zeiten seines Lebens ist David eindeutig heterosexuell orientiert gewesen.
Die Liebe zwischen zwei Menschen ist also mannigfachen Versuchungen und Fragestellungen ausgesetzt und die Beziehungskrise, das gespannte und alles andere als friedliche Miteinander zweier Menschen keine Selbstverständlichkeit. Aber trotz all dieser offensichtlichen Mängel, Schräglagen, auch Katastrophen und absoluten „No Goes“, gibt es durch die ganze Bibel hindurch einen geradezu unerschütterlichen Glauben, dass das liebende Miteinander zweier Menschen zu dem Schönsten und Besten und Erstrebenswerten gehört, was das Leben auf dieser Erde zu bieten hat. „Du bist das Gegenüber, nach dem ich mich sehne, die ideale Partnerin, der Partner, mit dem ich alles Glück dieser Erde erleben kann.“ Bei Adam und Eva klingt diese Gipfelaussage an und in vielen kleinen Nebenbemerkungen wird dieses Glück gefeiert. Auch dazu gibt die Bibel reichlich Einblicke und Beispiele.
„Isaak gewann Rebbekka lieb“ (Genesis 24,67) ist eine der ersten großartigen Liebeserklärungen der Weltgeschichte, die dann in vielen Variationen bis zu den atemberaubenden Szenen auf der Titanic wiederholt worden ist. Wenn der Jakob für seine Rahel 7 lange Jahre schuftet und diese 7 Jahre wie im Flug vergehen, wenn ihm diese 7 Jahre vor kommen wie 7 Tage, weil er sie so lieb hat, (Genesis 29,20) ahnen wir etwas von dem Zauber, der mit der Liebe in unser Leben kommt. Wenn es im erotischsten Buch der Bibel, dem Hohen Lied, heißt: „Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich…(Hohes Lied 8,6), dann bekommt man eine Ahnung von der Tiefe und der Größe und der Einmaligkeit und Besonderheit, die mit der Liebe verbunden zweier Menschen verbunden ist.
Diese Hochschätzung findet auch im Neuen Testament eine facettenreiche Fortsetzung: Josef verlässt seine Maria nicht, obwohl das Kind, das Jesuskind wohlgemerkt, definitiv nicht von ihm ist, wie die Evangelisten nicht müde zu betonen werden.(Matthäus 1,20/Lukas 1,34) Und dieses Miteinander hat auch später Bestand, egal ob man da römisch-katholisch mehrere ältere Geschwister Jesu annimmt, oder gemeinsam Kinder von Josef und Maria. Von dauerhafter Beziehung ist auch bei Petrus die Rede: Seine Schwiegermutter hat einen extra Eintrag in die Erzählungen des Evangeliums gefunden (Markus 1,31-32), Jesus kümmert sich um sie, und das wohl doch auch, weil sie mit Petrus und seiner Frau zu dem unmittelbaren nächsten Partnerinnen Jesu gehörte. Umso erstaunlicher, dass Petrus später und bis heute für das Zölibat herhalten musste. In der Apostelgeschichte hören wir von dem überaus gastfreundlichen Paar Aquila und Priscilla (Apostelgeschichte 18,1f), die dem Apostel Paulus Unterkunft und Verpflegung in Korinth gewähren und die vermutlich zu den Gründungsmitgliedern der zuweilen etwas chaotischen korinthischen Gemeinde gehörten. Und von Paulus selbst, der als Junggeselle, als Single durch die damalige Weltgeschichte unterwegs war, gibt es zum Miteinander der Menschen dieses wunderbare Gedicht, das wir bereits zum Eingang des Gottesdienstes miteinander gesprochen haben:
„Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Sie hört niemals auf. (1. Korinther 13)
Mag sein, dass man bei so vielen schwerwiegenden Attributen, die es zur Liebe gibt, leicht an Überforderung denkt, so wird hier doch unüberhörbar deutlich, welche gewaltige Kraft, Dynamik, Besonderheit in der Liebe steckt.
Und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Apostel damit an ein geradezu göttliches Phänomen erinnern will, ja dass wir bei der Liebe, bei dem intimsten und bedingungslosesten Miteinander zweier Menschen, Gott ganz nahekommen. So wie es in dem berühmten Johanneswort anklingt, das ja auch nicht selten bei Hochzeiten zitiert wird: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Johannes 4,16)
Mit der Liebe bekommen wir Zugang, genauer: einen direkten, sinnlich erlebbaren Zugang zu Gott. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Mag sein, dass wir das in der späteren Kirchen- und Theologiegeschichte etliches vernebelt, moralisch abgewertet oder sogar verteufelt haben. Besonders negativ hat hier ja der ansonsten hoch geschätzte Augustinus gewirkt. Wohl in Anbetracht seines ehemaligen Lotterlebens als Playboy und Lebemann hat er in der Theologie die Sexualität mit dem Gedanken der Erbsünde verbunden. Damit war dieses Terrain für ziemlich viele Jahre mehr als vergiftet. In der Bibel selbst ist von Leibfeindlichkeit oder einem vor allem geistlichen oder spirituellen Charakter der Ehe bzw. des menschlichen Miteinanders nicht die Rede. Das in jeder Hinsicht ganzheitliche Miteinander zweier Menschen wird vielmehr und geradezu sakramental geadelt: Bei Paulus findet sich etwa im Epheserbrief, Kapitel 5,25 die Aufforderung an die Männer: „Liebt eure Frauen, wie auch Christus die Gemeinde geliebt hat und hat sich selbst für sie dahingegeben…“
Ich denke, der Satz stimmt auch umgekehrt: „Ihr Frauen, liebt eure Männer, wie auch Christus die Gemeinde geliebt hat und hat sich selbst für sie dahingegeben…“ Die Männer sollen ihre Frauen und die Frauen ihre Männer lieben wie sich selbst. Und ihren Leib für den anderen geben… Wenn man hier genauer hinhört und die Wort nachklingen lässt, merkt man: Das ist die Sprache des Abendmahles, das sind die Worte, die wir auch von den Einsetzungsworten her kennen. Darin liegt eine große Hochschätzung dessen, was das Miteinander ausmacht bzw. ausmachen kann. In der römisch-katholischen Trau-Liturgie ist und wird festgehalten, dass dieses Sakrament sich die Partner gegenseitig spenden. Bei der sonstigen Fixierung auf den Priester ist das eine erstaunliche und bemerkenswerte Einsicht. Wir alle können bei diesem Miteinander an dem dem Mysterium, dem Sakrament, dem Geheimnis Gottes teilnehmen, das in Jesus seinen Ursprung hat. Diese Art der Hingabe ist ein alltagstaugliches Sakrament, das wir in unseren Beziehungen zu einem geliebten Menschen in vollem Bewusstsein selbst vollziehen und verantworten. (Was ich hier vorwiegend in Bezug auf Lebensgemeinschaften zweier Menschen ausgeführt und entwickelt habe, lässt sich und sollte auch für andere Liebesbeziehungen, wie sie im diakonischen Bereich anklingen und in der täglichen Nächstenliebe anzutreffen sind, Berücksichtigung und Anwendung finden)
Auf dem Miteinander zweier Menschen liegt die Verheißung von Gottes Segen und des irdischen Glücks und einer Verbindung, die selbst den Tod überwinden kann. Weil Gott sich zu diesem Miteinander bekennt, weil er selbst es will und unterstützt und es uns nicht nur gönnt, sondern auch alles dazu beitragen möchte, dass es gelingt.
Ein letztes: Das Miteinander zweier Menschen ist von einer bedingungslosen Entscheidung zu einem Du begleitet, von einer unglaublichen Leidenschaft und Tiefe beglaubigt und soll sich im Alltag und den Zerreißproben des Lebens bewähren. „Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem anderen wie auch Gott euch vergeben hat in Christus“, heißt es in Epheser 4,32. „Liebende leben von der Vergebung“, lautet der Titel eines Büchleins von Manfred Hausmann und das gilt besonders und immer wieder im Alltag: Wenn es aus den unterschiedlichsten Gründen und Motiven zu Störung, Missverständnissen, Unzufriedenheiten, Schwierigkeiten kommt, will und kann die Vergebung einen zu jenem Zauber des Anfangs zurückbringen, der aller Liebe zugrunde liegt und den Beziehungskrisen eine heilsame Lösung bescheren: „Du bist der, du bist die, auf die, auf den ich immer gewartet habe, ein Gottesgeschenk, ein Gruß aus der Ewigkeit, mit Dir zusammen kann und werde ich ein Stück Himmel auf Erden erleben.“
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre uns Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.
*: Legende in kürzer Form in: „Goldmedaille am siebten Tag“ Neue Geschichten für junge Leute, ausgewählt von Hanns Baumeister, Seite 15, Gütersloh 1993.
5.So. n. Trinitatis, 09.07.2023, Predigtreihe zu Krisentexten der Bibel III: Wirtschaftskrise (Jes.54,2 / Gal.4, 26), Stadt- und Jonakirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 5.n.Trin. - 9.VII.2023
Jesaja 54,2 / Galater 4,26
Liebe Gemeinde!
„Nicht vom Brot allein“, so lautet das Urteil im Verfahren Materialismus v. Menschheit.
… Wieso Urteil? Wieso Verfahren?
Weil wir uns heute ein drittes Mal einer Krise stellen müssen und wollen, … einer „Krise“, in der das Wort „Kritik“ ja auch immer schon steckt: Echte Infragestellung und schonungslose Beurteilung.
In der heutigen Verhandlung nun werden wir unter dem Gesichtspunkt des Wirtschaftlichen kritisch geprüft und bewertet, … kritisch aus biblischer Sicht, die uns den Blick Gottes nahebringt und ihn sogar einzuüben gestattet.
… Nun mag man da zurecht einwenden, dass wirtschaftlicher Sachverstand weder dem lieben Gott noch seinen Geschworenen besonders reichlich in die Wiege gelegt sei:
Der liebe Gott hat eine kleine Werkstatt betrieben, und Seine Tische, Bänke und Boote wird Er am liebsten unter freiem Himmel auf dem Hinterhof gehobelt, geleimt und verfugt, mit Nägeln so krumm wie denen, die schließlich Seine Hände durchstießen, verbunden und dann in Nazareth selbst auf Seinen Schultern ausgeliefert haben, … vielleicht dass Er dann noch ab und zu etwas von Seinem Handwerk in Kapernaum angeboten haben mag. Was also versteht Der von Wirtschaft?
… Oder so ein Dutzend Genezareth-Fahrer, die Netze flicken und Barsche ausnehmen konnten?
… Oder so ein Talmud-Gelehrter wie Saulus, der zwar erstaunlicherweise die Zeltmacher-Kunst ausübte, aber eigentlich doch nur Schrift und Geist, Gerechtigkeit und Gnade verknüpfen konnte und sich um Lohn in diesem Leben sowieso nicht scherte?
… Der Einzige, der was verstand, war Matthäus, der Zöllner: Der hatte bei den römischen Besatzern das Prozent-Rechnen gelernt und wie Aufrunden geht und wie hoch ein Profit sein muss, der nicht für die Mächtigen als Auftraggeber reicht, sondern daneben auch noch für die Gewitzten, die das Geschäft ausführen. …….
----- Kommt Ihr uns also ja nicht mit biblischen Impulsen zur Wirtschaft!, werden uns die Kinder dieser Welt sagen, die – einerlei ob sie in Düsseldorf oder in Doha, in Peking oder Pittsburgh leben – alle gleichlautend auf jene Kinder-Grundfrage reagieren werden, auf die man früher mit „die Natur“ oder „die Kirche“ geantwortet hätte: „Kinder, wer ist eure Mutter?“ – „Die Wirtschaft“, lautet die Antwort. – Setzen! Bestanden! —
Davon aber versteht der biblische Mensch nun tatsächlich nichts. Ihm ist vom Apostel Paulus, der selber Zelte webte, das wunderbare Jesaja-Wort ausgelegt worden (Jes. 54,2): „Mache den Raum deines Zeltes weit und breite aus die Decken deiner Wohnstatt; spare nicht! Spann deine Seile lang und stecke deine Pflöcke fest!“, denn von diesem Wort her hat der Apostel alle Heiden gelehrt, dass sie eine Mutter haben, die nicht plant und abmisst und zählt, sondern großzügig, weitherzig und einladend ist: „Das Jerusalem, das droben ist, das ist die Freie; das ist unsre Mutter!“ (Gal.4,26). So überbordend mütterlich, so ohne jede Einsparung, so groß-seelig, wie die Großzügigkeit im Englischen heißt (“magnanimity“), ist die Welt, in die die Gläubigen gehören! ———
Weshalb aber geht es so biedermeierlich familiär zu, wenn wir doch heute von der Wirtschaft reden sollen und vielleicht einen kräftigen Schuss Kapitalismus-Kritik erwartet hätten, für die die Kirche eine gewisse Zuständigkeit haben dürfte?
… Gerade das jedoch erweist sich bei näherem Zusehen als Gerücht: Anti-Kapitalismus ist keine Besonderheit des Christentums, sondern - wieder sind wir bei der DNA! - die Substanz des alten Abendlandes … des alten Morgenlandes übrigens auch. So ätzend, wie sich Aristoteles über die Geldwirtschaft geäußert hat, die er für eine Perversion hielt, bei der das Wohlleben wie eine Krankheit die Kraft zum guten Leben überwuchert und verdrängt[i], so vernichtend hat die gesamte Kirche die Kapitalwirtschaft verurteilt … ob durch Thomas von Aquin oder die Reformatoren, unter denen gerade Luther durch die kreditgebenden und zinsnehmenden Fugger auf die abscheuliche Abhängigkeit sowohl geistlicher wie weltlicher Verantwortlicher von der Droge Geld stieß und die toxische Vermischung des Finanziellen mit dem Spirituellen polemisch geißelte.
Und dass der mephistophelische Pakt des Menschen mit dem Gold, „an dem alles hängt, zu dem alles drängt“, auch in Kolonialismus und Industrialisierung seine ebenso vernichtende wie erfinderische und fortschrittlich zündende Energie entfachte und daher von Christenmenschen immer wieder durch ihre sozial-diakonische Feuerwehr gegen die Welt- und Menschenverbrennung des Mammon bekämpft werden musste, ist nicht zuletzt Kaiserswerther Lokalgeschichte.
Das ausschließlich auf Schaffung und Steigerung von Gewinn angelegte Handeln trifft also nicht nur in der Christenheit auf eingefleischten Widerspruch, sondern überall, wo der Geist sich mit der Versuchung und Herausforderung des Materialismus konfrontiert sieht.
Dennoch haben die Christen ein spezifisches Wort in dieser Sache mitzureden, … ein in der Tat ursprünglich familiäres Wort, so dass die, die gemeinsam einen himmlischen Vater anrufen und sich bei der einladenden Herbergsmutter Zion-Jerusalem-Kirche im immer geräumigeren Schutzmantel-Zelt willkommen wissen, vielleicht gerade doch berufen sind, sich zur Ökonomie zu äußern!
Denn „Oikonomia“ bedeutet buchstäblich ja das Recht des Hauses, das Gesetz der familiären Lebensgemeinschaft. Im Neuen Testament empfängt der auch als „haushalterische Verwaltung“ verstehbare Ausdruck (vgl. z.B. Lk. 16,2) dann aber immer stärker einen tief theologischen Sinn: Er verschiebt sich zur wunderreichen Planung und Umsetzung des Schöpfungs-, Versöhnungs- und Vollendungswerkes des dreieinigen Gottes (vgl. z.B. Eph.1,10; 3,2; Kol.1,25).
Oikonomia bezeichnet also immer andächtiger die Weisheit der innergöttlichen Anordnung, Ausrichtung und Austeilung des Heils, bis schließlich in der kirchlichen Dogmatik und Systematik von der „ökonomischen Trinität“ gesprochen wird … jenem Haushaltsplan, der den ganzen Gnaden- und Liebesreichtum, der in der Gottheit Gottes liegt, durch die gemeinsamen Kasse des Schöpfungs- und Erlösungssegens verteilt, die Gott väterlich angelegt hat, die Er christologisch verausgabt und die Er geistlich fruchtbar macht.
„Ökonomie“ ist in der christlichen Tradition und Denkweise also das Wort für das Heilsgeschehen; „Ökonomie“ ist das Mysterium des Guten an der Welt, des Guten für die Welt und des Guten in der Welt, das sich der göttlichen Haushaltung und Lebenserhaltung verdankt. —
Eine durch und durch helle und heilige, eine liebreiche und lebensstiftende, eine begeisternde geistliche Wahrheit ist also für den Glauben im Begriff der Ökonomie verdichtet: Es geht darum, dass der Vater im Himmel, der Adam und Eva zu Paradiesmenschen schuf, sie als sie unstet und flüchtig wurden nicht verließ, sondern die verlorengegangenen Heimatlosen in Seiner Stadt Jerusalem und in der Mutter Kirche auf ihrem geschichtlichen Weg sammelt und versorgt, damit die Lebensfülle Seines Hauses und das Recht als Seine Familie ihnen nicht für immer verwehrt bleiben muss.
Es geht also darum – wenn wir bei unserer Predigtreihe bleiben wollen –, dass die Klima- und Diesseitigkeitskrise und die Flüchtlings- und Vergänglichkeitskrise durch Gottes Ökonomie behoben und geheilt werden! ——
Wenn wir ausgerechnet vor diesem Hintergrund – dem Hintergrund des heilsökonomischen Gotteswortes „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe: …. Dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung“ (Jer.29,11) – also von Wirtschaftskrise sprechen müssen, dann ahnt man wohl, weshalb das ein Christen und Christinnen besonders herausforderndes Thema ist.
In dieser Welt soll auch menschliches Wirken, Schaffen, Arbeiten und Handeln dem theologischen Ziel dienen, die Familie Gottes so zu versorgen, dass sie leben und endlich wieder aus der Trennung, der Entfremdung, der Entwurzelung - kurz: der Sünde - zu Ihm heimkehren kann, wo sie nicht nur Zeit, sondern Zukunft haben wird.
Dieses Ziel bedeutet aber zugleich, dass alle Tätigkeit und alle Erzeugnisse des Menschen, dass alle Technik, alle Kunst und alle Wissenschaft in ihren reinen Produkten tatsächlich keinen Wert an sich darstellen:
Nicht, was man durch sie hat, sondern wozu sie dienen, … nicht, dass sie Besitz werden, sondern dass sie Nutzen stiften können, ist also der Wertmaßstab aller Aktivitäten und Einsätze, aller Hervorbringungen und Errungenschaften, die wir zusammenfassend „Wirtschaft“ nennen. … Wobei auch im Deutschen auf den durchscheinenden Wortsinn zu achten ist: Die „Wirtschaft“ ist Bewirtungsdienst, … ist Beherbergung, Versorgung, ist Pflege von Gästen, die einkehren, um weiterzuziehen. …….
Und da setzt die christliche Allergie und Antipathie gegen den Materialismus ein:
Denn seit die ersten groben Götzenbilder geformt wurden, seit aus der Zunft der Silberschmiede von Ephesus (vgl.Apg.19,24ff) all die großen und grotesken Genies und Scharlatanen der irdischen Stoffverarbeitung sich entwickelten, haben ihre Bilder und Gegenstände, ihre Erfindungen, Maschinen und Gadgets – für die wir als Nutzgegenstände so froh und dankbar sein können! – immer den Ruf gepflegt: Wir sind mehr als Mittel, … wir sind Ziele!
… Und waren es doch nie!
Die vielen Dinge und Durchbrüche, die hilfreichen Instrumente, die erstaunlichen Erleichterungserfindungen der Welt haben neben ihrem Nutzen immer auch den Irrtum geschürt, durch sie werde Dauer und Harmonie in die Flüchtigkeit gebracht:
… Sie müssten sein, man müsse sie haben, um selbst sein zu können, um selbst das Sein zu haben, sagten und sagen die Dinge.
… „In mir“, säuselt die Materie, „bestehen Ursprung und Sinn!“
… Oder mit der Selbstüberbietung und -ablösung des Materialismus in der maschinell geschaffenen Virtualität tue sich nun endlich die wahre und störungsfreie Endgültigkeit auf, wie wir heute zu schlucken gekitzelt werden. …
Nichts von alledem stimmt!
Am wenigsten natürlich die fatale Täuschung der bisherigen Wirtschaftsmuster, die, um das gewohnte Bild und Gefühl der Gegenwart zu strecken und auszupolstern, die Zukunftsfähigkeit des Irdischen immer mehr beschnitten und gekürzt haben.
Doch auch wenn alles auf der Welt nachhaltig zugehen würde – was ja schlicht bedeutet, jetzt Weniger für mehr Morgen zu nutzen – , wären wir noch immer nicht am Ziel, sondern weiterhin Durchreisende, die nicht gekommen sind, um zu bleiben und die hier auch nichts finden können, was länger hält als die siebzig, wenn’s hoch kommt achtzig Jahren, in denen wir die Zeit nach zeitlichem Nutzen auskaufen können (vgl. Kol.4,5).
Sich hier auf Erden Schätze zu sammeln (vgl. Matth.6,19), ist jene verzweifelte Diesseitsvertröstung, die das Evangelium so stocknüchtern zerstreut, wenn es dem reichen Jewgeni P. und dem reichen Donald T. - und ohne Zweifel auch dem ausreichend reichen Jonas M. - die eine Frage stellt: „Wenn diese Nacht deine Seele von dir gefordert wird, … wem wird dann gehören, was du angehäuft hast?“ (vgl. Lk.12,20) ———
Darum - im Verfahren Menschheit v. Materialismus - ist Gottes Wirtschaftsberatung seit nunmehr drei Jahrtausenden an der außergerichtlichen Einigung gelegen, die der Apostel Paulus den wahrlich weltgewandten Korinthern als ökonomischen Leitfaden ins Stammbuch schrieb … und die heute noch viel weltfremder unter uns klingt, als sie damals schon auf die hedonistischen und anspruchsvollen Griechen wirkte:
„Die Zeit ist kurz. Fortan sollen die, … die kaufen, kaufen, als behielten sie nicht, und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht“ (1.Kor.6,30f). … ——
Kann man aber im Ernst so weltflüchtig, so unabhängig von den materiellen Bedürfnissen und Bedingungen des Lebens zu existieren versuchen?
…. Niemals kann man von den Bedürfnissen und Bedingungen der anderen, der Mitmenschen, der Mitgeschöpfe absehen, die zusammen die „Ökologie“ (- die Logik, den Sinn im Haus des Lebens -) und die „Ökonomie“ (- das Recht im Haus des Lebens -) begründen: Alles, was mit uns lebt und stirbt, braucht auch das Stoffliche dieser Welt.
… Aber uns Menschen ist die Weite aufgetragen, die über das, was da zu hüten und zu teilen ist, hinausgeht: Nicht vom Brot allein lebt alles schließlich, … sondern es lebt von Gott, durch Ihn und zu Ihm!
Und diese Weite und Freiheit des Lebens, das nicht an den Dingen, an den Verhältnissen, an Zeit und Immanenz haftet, sondern die Fülle des Heils erfahren soll, das mehr als alles andere ist, … diese Weite ist die wirkliche Berufung und das wirkliche Ziel unsres Lebens, Tuns und Leidens.
Diese Weite aber wird nicht beschafft und nicht gesichert durch unsere Sorge und Arbeit, durch unsere Wirtschaft, unsern Wohlstand.
Diese freie Weite tut sich dort auf und stellt sich da ein, wo wir das Eine, das nottut (vgl. Lk.10,42)[ii], empfangen: Gott.
So dass wir wieder schließen müssen mit den Worten Hans von Lehndorffs, der sich für sein Leben wünschte (EG 428, 4):
„Mach ein leichtes Zelt daraus, / das uns deckt kaum bis zum Morgen.
Denn wer sicher wohnt, vergisst, / dass er auf dem Weg noch ist.“
Und so gilt nun in allen unseren Krisen auf dem Weg zu dieser Freiheit, … zu diesem Weniger, das Mehr ist, … zu diesem Nichts-Behalten, das die Fülle sein wird: „Mache den Raum deines Zeltes weit und breite aus die Decken deiner Wohnstatt; spare nicht!“ …
… Am allerwenigsten aber dürfen wir sparen an Vertrauen in Gott!
Er will, Er wird mit uns sein: In allen Krisen, allen Fluchten mit Seinen Heilsgedanken.
Denn das gute Werk, das Er mit der Welt und den Menschen angefangen hat, das wird Er auch vollenden (vgl. Phil.1,6) – so dass wir in Seiner und unserer Ökonomie und Seiner und unserer Ökologie mit allen Menschen gemeinsam zu Dem, Der unsere Zuflucht ist für und für (vgl. Ps.90,1), beten dürfen (Ps.90,15ff):
„Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagtest,
nachdem wir so lange Unglück leiden.
Zeige deinen Knechten deine Werke
und deine Herrlichkeit ihren Kindern.
Und der HERR, unser Gott, sei uns freundlich / und fördere das Werk unserer Hände.
Ja, das Werk unserer Hände wollest du fördern!“
Amen.
[i] Auf dem Gottesdienstblatt war ein Auszug (1257b -1258a) aus dem 9.Kapitel im 1.Buch der „Politik“ des Aristoteles abgedruckt, der an kritischer Destruktion der Kapitalwirtschaft auch im Vergleich zu ideologischen Positionen des sog. „Kommunismus“ nichts zu wünschen übrig läßt. Das hochinteressante und -brisante Kapitel 9 der aristotelischen „Politika“ lohnt eine Lektüre und ist leicht zugänglich auf der open-access-Seite: https://www.projekt-gutenberg.org/aristote/politik/chap002.html
[ii] Das Evangelium Lukas 10,38-42, das von Martha und Maria – der Aktion und der Kontemplation – spricht und zwischen ihnen unterscheidet, war die Schriftlesung des Gottesdienstes.
4.So.n.Trin., 02.07.2023, Predigtreihe zu Krisentexten der Bibel II: "Flüchtlingskrise" (1.Timotheus 6,11a), Stadt- und Jonakirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jonakirche 3.n.Trin. – 2.VII.2023
Predigtreihe Krisentexte der Bibel II: Flüchtlingskrise (1.Tim.6, 11a)
Liebe Gemeinde!
Wer meint, Flüchtlinge seien die, die von außen kommen, … wer in ihnen zuerst und zu-letzt also nur die „Ausländer“ sieht, kann kein Christ sein.
So kurz und klar.
Weil Christ-Sein bedeutet, das Flüchtling-Sein in sich zu tragen.
Weil die DNA des Christentums eine DNA der Heimatlosigkeit ist.
Man kann das zu Beginn biologisch simpel verstehen: Nicht nur bei mir fließt, wenn ich mich in den Finger schneide, Flüchtlingsblut. Alle, die baltische oder pommersche, hugenottische oder Salzburger Vorfahren haben, alle, deren Herkunft sich der Armutsmigration aus Schlesien und Masuren ins Ruhrgebiet oder den Auswanderungswellen der Pfälzer und Rheinhessen an die Wolga als Kolonisten und dann dem Martyrium der Russlanddeutschen unter Stalin verdankt, sind lebendige Zeugen eines typisch evangelischen Vertreibungs- und Zwangsverpflanzungsschicksals. Flüchtlingserbe haben wir in Mark und Bein.
Und die notgedrungenen, weltumspannenden Wanderschaften der Glaubenden sind ja noch viel breiter gefächert: Mal flohen sie vor der Gewalt der Geschichte an sich – wie die großen, in der Zeit stehengebliebenen und dennoch so beweglichen Friedenskirchen aus der Wurzel der Wiedertäufer, die Mennoniten und Amischen und Hutterer und Quaker –; mal wurden sie von den Feinden des Christentums gewaltsam verjagt, wie die orientalischen Christen unserer Tage, wie die armenischen und hellenischen Christen im völkermörderischen Staat der Jungtürken; mal haben Verfolgung, Erdrückung und Zermürbung sie einfach fortgeschoben, wie die zu Hunderttausenden laut und leise weichenden Versprengten aus den Krisen- und Bürgerkriegsgebieten und den kommunistischen oder islamistischen Diktaturen der Erde.
Christen ohne festen Ort: Das ist eine Konstante der Geschichte.
Doch auch wo die ganz und gar ortsfesten, sesshaften, kulturbildenden Phasen der Kirchengeschichte herrschten, ist die Pflege der Pilger, der Obdachlosen, der fahrenden Leute, der Opfer aller Art stets die natürliche Aufgabe der Getauften gewesen, die sich schon in der ersten apostolischen Generation gegenseitig Unterschlupf boten und die es sich zur Ehre rechneten, die Wanderprediger und die Untergetauchten, die verbannten und die entflohenen Sendboten und Gemeinden des Gekreuzigten zu beherbergen. Diese Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft für Bedrängte und Verfolgte ist nicht nur im innersten Mark des Christentums verankert, sondern auch sein Markenzeichen nach außen.
Fremdenfeindliches Christentum ist - wo, wann und wie auch immer es begegnet - krankes Christentum. Nur offene Türen und Arme und Kassen der Jünger und Jüngerinnen Jesu sind intakt. Verschlossen sind sie todgeweiht.
Dafür sollten uns Menschen vor Augen stehen wie Mathilda Wrede, „Engel der Gefangenen“ und Helferin der Flüchtlinge im finnischen Bürgerkrieg[i], … Menschen wie Werenfried von Straaten, der niederländische „Speckpater“, der so unermüdlich für die ostdeutschen Heimatvertriebenen eintrat, … Menschen wie Mussie Zerai, der Priester äthiopischer Herkunft, der in der Schweiz und Italien so heilig couragiert für die Rettung der Migranten auf dem Mittelmeer eintritt, das er bei Tausenden in den Lagern von Lampedusa und weit ins Land hinein den Ehrennamen „Father Moses“ trägt[ii], … Menschen wie die vielen Pfarrerinnen, Pfarrer und Gemeindeglieder, die in den Gebieten des widerlich wachsenden blau-braunen Sumpfes schlicht un-beirrt dafür einstehen, dass wo immer einst Kirchen des Nazareners gebaut wurden die Mühseligen und Beladenen (vgl.Matth.11,28) auf Herzen, Hände und Haltungen stoßen, die keine Alternative zu seiner jüdischen, seiner samariterlichen Nächstenliebe kennen!
Solcher urchristliche Dienst an den Flüchtlingen, dieses Amt als Anlaufstelle und Anwälte für Menschen, die ihr Leben retten müssen und Freiheit und Frieden suchen, ist in unserer Gemeinde seit den Tagen, als Waltraut v. Seidel und Wilfried Dinger für die Spätaussiedler sorgten, … seit den Tagen der enormen Kraftanstrengung von 2015 und den Folgejahren für unsre syrischen, iranischen, afghanischen, somalischen und nordafrikanischen Freundinnen und Freunde, bis zum hingebungsvollen, nun bald 500 Tage währenden Einsatz für die geflüchteten Ukrainerinnen und ihre Familien hier mitten unter uns lebendig, wesentlich und selbstverständlich.
Weil es innerstes Mark und deutlichste Markierung des Glaubens an Jenen ist, Der Selbst in Ägypten im Flüchtlingslager hauste, Der auch später nicht hatte, wohin Er Sein Haupt hätte legen können (vgl. Lk.9,58), Der das letzte Abend- und Henkersmahl Seines Lebens in einem Obdachlosen zur Verfügung gestellten Gemach feierte und für Den dann auch noch ein Grab geliehen werden musste, weil Er nicht mal dieses Fleckchen Erde besaß.
… Doch gerade dies geliehene Grab ist der Ursprung der christlichen Offenheit: Es wurde ja tatsächlich nicht für die Ewigkeit gebraucht, weil Er, Dem es nicht gehörte, es genauso zurückgab, wie Er einst alle Ansprüche auf und Bedürfnisse nach Gräbern auf dieser Welt auflösen wird. Wenn dann das letzte bisschen Boden, das jedes Menschenkind für sich nötig hat, wieder frei geworden ist, dann fängt das Himmelreich an: Das Reich ohne festen Ort, das Reich, in dem das wandernde Gottesvolk zuhause sein wird ohne Eigentum, … allein aus Gnaden im Haus des Vaters, Der für alle eine Wohnung hat (vgl. Joh.14, 2). ———
Diese an der Armut und Obdachlosigkeit Jesu gebildete Haltung, die das Exodus- und Exils-Volk Israel notgedrungen tatsächlich sehr viel konsequenter durchgehalten hat als die immer wieder niedergelassen und ethnisch-national umgeformte Kirche, ist das eine Motiv der christlichen Solidarität mit den Menschen der Landstraße, mit den Opfern der Armut, der Träume und der Schlepper.
Das andere ist ein womöglich noch Erstaunlicheres als die Tatsache, dass die Bibel allen, die ihr folgen, aufträgt, ein Schlüsselamt für die Heimatlosen an den Toren der Gesellschaft zu übernehmen. … Ich hatte es weder wirklich vor Augen noch im Ohr.
… Doch nun kann ich es nicht mehr ausblenden: Die fixe Idee, dass der Glaube so etwas Unerschütterliches, etwas Trotziges habe, das jedes Nachgeben, Ausweichen und Zurückziehen verbiete, hat sich irgendwie in meinem Vorurteil eingenistet, … vielleicht wegen des schönen Taufspruchs unseres Sohnes „Wer glaubt, der flieht nicht“ (Jes.28,16). Dieses wunderbare Prophetenwort von der Festigkeit, das bei Jesaja vor der schon vor Jahrtausenden populären Kurzschlusshandlung eines Bündnisses mit dem Tod warnt, darf aber nicht zu einer menschenverachtenden Haltung der Realitätsverdrängung führen. Der Glaube darf nicht zu den gleichen Trugschlüssen kommen wie die Gauleiter und Kommandanten, die 1944/45 in Ostpreußen und Schlesien angesichts des Unaufhaltsamen der Bevölkerung dennoch die Flucht untersagten.
Im Gegenteil:
Im Neuen Testament fällt es geradezu verunsichernd auf, dass der Fluchtinstinkt nicht gebremst, sondern bestärkt wird! Christen sollen ihre Pferdenaturen nicht verleugnen … sie sollen Fluchttiere sein!
Nicht nur, dass am Anfang des Neuen Testaments - gleich nach der Huldigung des neugeborenen Königs durch die wandernden Weisen - die Rettung dieses Bettelkindes durch den Fluchtgehorsam Josephs steht, sondern auch am Schluss wird des gleichen Wunders noch einmal in himmlischer Verklärung gedacht: „Es erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Kröne von zwölf Sternen. …Und sie gebar einen Sohn, einen Knaben, der alle Völker weiden sollte mit eisernem Stabe. Und ihr Kind wurde entrückt zu Gott und seinem Thron. Und die Frau entfloh in die Wüste, wo sie einen Ort hatte, bereitet von Gott …“ (Offb.12).
Zwischen diesen beiden Josephs- und Maria-Fluchten, die das gesamte Evangelium von Jesus umrahmen, finden sich dann aber auch erstaunliche Imperative und Ankündigungen Jesu selber: „Wenn sie euch aber in einer Stadt verfolgen, so flieht in eine andere!“, mahnt er seine Jüngerschaft (Matth.10,23), und von der grauenhaften Verwüstung, die den Treuen in der Endzeit droht, sagt der Herr (Matth24,16ff): „Wer das liest, der merke auf! Alsdann fliehe in die Berge, wer in Judäa ist, und wer auf dem Dach ist, der steige nicht hinunter, etwas aus seinem Hause zu holen, und wer auf dem Feld ist, der kehre nicht zurück, seinen Mantel zu holen. … Bittet aber, dass eure Flucht nicht geschehe im Winter oder am Sabbat!“
Und eben diese Fluchtreflexe der Gemeinde schildert Christus im schönsten aller Glaubenstrost- und Sicherheitsgleichnisse ausdrücklich als nötig und natürlich: „Wenn der gute Hirte seine Schafe mit Namen ruft und sie hinausführt, folgen sie ihm; … einem Fremden aber folgen sie nicht nach und fliehen vor ihm“, stellt er fest (Joh.10,3ff).
Wie zur Bestätigung aber, dass Christen wirklch nicht verbohrt, vernagelt und gelähmt sein sollen, sondern zwischen sich und dem Übel, zwischen sich und der Gefahr, zwischen dem Bösen und sich Abstand schaffen sollen, begegnet uns eine Fluchtaufforderung auch beim Apostel Paulus: „Du Gottesmensch, fliehe das!“ ermahnt der alte Völkermissionar den jungen Timotheus (1.Tim.6,11) … und meint dabei das Geld und die Gier, die es erzeugt.
Dass wir also nicht die Tapferen und Unanfechtbaren, die Unverwundbaren oder Unerschrockenen spielen, sondern das Weite suchen sollen – wirklich das Weite: die grenzenlose Liebe und das uneingeschränkte Heil Gottes! – , das ist eine neutestamentliche Ethik der Flucht und der Flüchtlinge, die mir so gar nicht vor Augen stand!
… Die alte Kirche, die Gottsucher und Einsiedler, die Asketen und Asketinnen in der ägyptischen Wüste und alle Menschen, deren geistliche Berufung sie immer wieder aus den Konventionen und Grenzen des gewöhnlich-weltlichen Daseins riss, haben das besser verstanden und befolgt.
… Für uns stand ihnen gegenüber allerdings immer der Verdacht der Weltflucht im Raum, der Vorwurf des Sich-aus-der-Verantwortung-Stehlens, die ein gutbürgerlicher, mündiger Mensch nun einmal auch als seine politische Berufung betrachtet.
… Dass wir als sesshafte, dem Gemeinwohl verpflichtete Menschen uns nicht einfach entziehen können, dass wir uns nicht auf und davon machen dürfen in Krisen und Konflikten, ist dabei ja gar nicht strittig. … Doch die neutestamentliche Ethik, die Flucht als denkbar und möglich betrachtet, ist eben wirklich eine Aufforderung, doch das Undenkbare auch zu denken: Dass nicht alles bleiben wird, wie und wo es war, und dass auch wahrhaftig nicht alle Menschen da bleiben, wo und so bleiben, wie sie sind!
Alles auf dieser Welt – alle Verhältnisse und Gewohnheiten, alle Gestalten und Bewohner, alle Ordnungen und alles Chaos der Erde – … alles ist tatsächlich in Bewegung, sagt uns das Flucht- und Flüchtigkeitsmotiv. Alles geht vorüber, und wer sich bloß festhält am Bestehenden, der bleibt zurück.
„Ein Tag, der sagt dem andern,
mein Leben sei ein Wandern
zur großen Ewigkeit.
O Ewigkeit, so schöne,
mein Herz an dich gewöhne,
mein Heim ist nicht in dieser Zeit!“
singen wir mit Tersteegens Worten in einem unserer schönsten … und zugleich ungeschöntesten Lieder (EG 481).
Der Pfeil, von dem der junge afghanisch-iranische Mahdi Hashemi in seinem Flucht-Gedicht spricht, kann nicht zurückkehren zum Bogen[iii]. ……. ———
Das ist eine Wahrheit, die uns erschütternd und zugleich unwidersprochen aufgehen muss:
Es ist unsere Welt eine Welt voller Aufbruch und unsere Geschichte eine Geschichte voller Abschiede und Neuanfänge; das Leben, das wir hier erfahren, ist unstet und flüchtig von Adam her (vgl.1.Mose 4,12).
Alle Flüchtlinge sind nur die unmissverständlich anschaulich gemachte Gestalt einer Wirklichkeit, die jeden Menschen betrifft.
Jeder Flüchtling, der uns begegnet, ist nur fortgeschritten, ist bloß schon weiter geführt worden auf einem Weg, den wir alle gehen müssen.
Und darum, Gottesmensch, … fliehe! Oder wie ein Christus-Wort im apokryphen Thomas-Evangelium (Logion 42) lautet: „Werdet Vorübergehende!“[iv] ——
Klingt das in unseren Gewohnheitsmenschen-Ohren ominös?
Jagt uns die Aussicht, dass auch wir nicht die Maden im Speck bleiben, sondern Ausziehende werden, Schrecken ein? …
Oder ahnen wir - bei aller latenten Bedrohung - nicht auch, worauf das Fluchtbuch Bibel[v] uns zu vertrauen lehrt (Ps.56,9): „HERR, zähle die Tage meiner Flucht, sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du zählst sie!“
Gott lässt uns nicht dahinfliehen, Er lässt niemanden einfach so ziehen und vergehen, denn Er ist seit Seine Kinder in Ägypten unterdrückt wurden ein Gott des Aus- und Einzugs geworden. … Ein Gott, Der mitwandert. … Ein Gott, Der in die Fremde geht und ins Exil.
Und in Jesus Christus ist Er selber von Bethlehem bis Golgatha obdach- und heimatlos geworden, Bettler unter Bettlern, Flüchtling unter allen Flüchtlingen und Flüchtigen.
Das aber ist der unendliche Trost unseres Glaubens gerade für die auf harten Wegen und in der ausweglosen Diaspora: Unser Gott, der Gott Israels, der Wanderer im Elend der Menschenstraßen, Jesus von Nazareth geht mit.
… Und in jedem Einzelnen der einhunderttausend Migranten, die in der vergangenen Woche allein auf den Straßen von New York obdachlos waren[vi], … in jedem Kind und jedem Erwachsenen auf den schrecklichen Todesfahrten übers Mittelmeer, … in jedem unserer allmählich hier heimisch werdenden Brüder und Schwestern aus dem Iran, aus Syrien, aus der Ukraine begegnet uns Gott selbst, Der Mit-Flüchtling aller, Dessen DNA der Heimatlosigkeit hier und des Daheim-Seins im Himmel (vgl. Phil.3,20!) wir Menschen - ob sesshaft, ob entwurzelt - sämtlich teilen.
… Wer in den Flüchtlingen also zuerst und zuletzt nur die „Ausländer“ sieht und nicht den „Gott-mit-uns“, der kann kein Christ sein!
Das ist die Flüchtlings-Krise … das Gericht, das in den Flüchtlingen über uns kommt.
… Wer Ihn aber erkennt, weiß weshalb Gertrud von le Fort ausgerechnet von der trostlos er-scheinenden Flucht sagt:
„Steine, nichts als Steine. / – Was blitzte da? / Weine Volk, o weine: / Gott ist sehr nah!“[vii]
Der Psalm aber bekennt von Ihm, Der den Flüchtlingen nahe ist (Ps.68,5f):
„Macht Bahn dem, der durch die Wüste einherfährt;
er heißt HERR! Freuet euch vor ihm!
Ein Vater der Waisen und ein Helfer der Witwen
ist Gott in seiner heiligen Wohnung,
ein Gott, der die Einsamen nach Hause bringt,
der die Gefangenen herausführt, dass es ihnen wohlgehe.“
Amen.
[i] Vgl. Ingeborg Sick, Mathilda Wrede. Ein Engel der Gefangenen, Stuttgart 193012.
[ii] Vgl. zu Pater Zerai https://www.kath.ch/newsd/luzerner-ehrendoktor-in-den-augen-der-fluechtlinge-begegnet-uns-gott/
[iii] Auf dem Gottesdienstblatt fanden sich u.a. Gedichte junger Geflüchteter von der bemerkens- und empfehlenswerten Homepage https://thepoetryproject.de/category/gedichte/. Ein Gedicht von Mahdi Hashemi (Ghazni / Afghanistan, aufgewachsen in Iran) dort lautet:
WIE EIN PFEIL
Einen Monat lang ging die Reise,
die keine Reise war,
sondern ein Schrecken,
in das Land der Hoffnung.
Jetzt warte ich auf ein Papier,
das vielleicht Bitterkeit enthält und Trauer.
Und fühle mich wie ein Pfeil.
Verschossen.
Der zurückkehren soll
zu seinem Bogen.
[iv] Siehe: Synopsis Quattuor Evangeliorum, ed. K.Aland, Stuttgart 197810, S. 522.
[v] Vgl. Johann Hinrich Claussen, Das Buch der Flucht. Die Bibel in 40 Stationen, München 2018.
[vi] Vgl. https://www.nytimes.com/2023/06/28/nyregion/nyc-homeless-shelter-population.html
[vii] Gertrud von le Fort, Abschied der Ausgetriebenen, in: Dies., Gedichte, Wiesbaden 1958, S.47. Auch dieses Gedicht war mir weiteren Auszügen aus von le Forts Zyklus „Die Vertriebenen“ auf dem Gottesdienstblatt abgedruckt.
3.S.n.Tr., 25.06.2023, Predigtreihe zu biblischen Krisentexten.I: Klimakrise, Stadt- und Jonakirche, Jeremia 14, 1 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jonakirche 3.n.Trin. – 25.VI.2023
Predigtreihe Krisentexte der Bibel I: Klimakrise - Jeremia 14, 1 - 9
Liebe Gemeinde!
Kρίσις - Krise - heißt auf Griechisch „Scheidung“ … – „Entscheidung“, … „Urteil“ … – „Gerichtsurteil“. —
Und in diesen Begriffen wäre nach biblischem Sprachgebrauch und Denkansatz dann auch schon die ganze Predigtreihe enthalten. Wenn wir heute das Gefühl, die Stimmung, die Überzeugung haben, dass wir in lauter Krisen stecken, dann heißt das im Klartext: Es ist eine Zeit, in der wirklich Entscheidungen fallen, … wir stehen im Gericht, wir empfangen unser Urteil.
… Und das wäre dann auch schon die politische Analyse: Unsre Gegenwart ist Vollstreckung der Konsequenzen unserer Taten; … trotz aller Leugnung, allen Abstreitens sitzen wir bereits im Vollzug der Folgen unsres menschlichen Handelns. Es passiert gerade das logisch Angemessene; es geschieht und vollzieht sich gerade das unerbittliche Recht. … Wir sind die Ursache, die Krisen die Wirkung. ——
Das ist grob und simpel. … Und allzu wahr.
Niemand kann sich noch zieren und in gespielter Überraschung „Huch, Agathe, die Puppe kotzt!“ rufen, wenn die an sich so robuste Welt derzeit brüchig wird.
Wer immer von uns heute noch genauso lebt wie vor zehn Jahren, lebt maßlos.
Wer immer noch so viel von den begrenzten Stoffen dieser Schöpfung und den entfesselten Kräften des Irdischen nutzt, verzehrt und verbraucht wie vor zehn Jahren, hat entschieden, dass das Einmaleins für ihn nicht gilt.
… Die Wahrheit dürfte dabei sein, dass das bei beinah allen von uns zutrifft. Denn wenn wir „Verzicht“ hören, wittern wir sofort Verlust und Bedrohung: So bemitleidenswert abhängig haben wir uns vom Materiellen gemacht. … Während in der antiken Philosophie, der christlichen Tradition, der alteuropäischen Zivilisation und der fernöstlichen Weisheit immer und überall der Verzicht als die Disziplin gilt, die dem Menschen Freiheit und Selbstbestimmung eröffnet, weil sie ihn aus der Steuerung durch die Begierden löst und zur Beherrschung seiner selbst befähigt, ist unsere primitive Konsumwelt wieder auf das Niveau jener Befriedigungslosigkeit gesunken, vor der es schon dem König Salomo grauste, der sagt (Sprüche 30,15f):
„Der Blutegel hat zwei Töchter, die heißen: »Gib her, gib her!« Drei sind nicht zu sättigen, und vier sagen nie: Es ist genug: Das Totenreich, der unfruchtbare Schoß, die Erde, die nicht des Wassers satt wird, und das Feuer, das nie spricht: Es ist genug!“
… Wir ruhe-, ziel- und haltlosen Menschen sind wie Blutsauger oder wie das Schattenreich, in dem sich nichts berührt, … wir sind wie der unlöschbare Durst des Wüstenstaubes und ein unaufhaltsamer Feuerfraß: Das also ist eine dreitausend Jahre alte Diagnose der Krisen, die wir entfachen. … Schlicht weil wir nicht einzusehen und zu begreifen vermögen: „Es ist genug“.
Und ein drittes Mal könnte man sagen: Damit ist die Predigtreihe zu den äußerlichen Krisen, in die Maßlosigkeit, Unersättlichkeit, Rücksichtslosigkeit und Ehrgeiz uns reißen, beendet, eh sie begann. Solange die Menschheit sich nicht aus der Gefangenschaft ihres kruden Materialismus löst, so lange wird sie in der Krise, im Gericht stehen, weil sie so endlos schlingt, schluckt und verfeuert. ———
Doch Predigten und christliche Programme und kirchlich-politische Einlassungen, die es genau dabei bewenden lassen in der Krise – nämlich erneuerbare Energien, verändertes Konsumverhalten, nachhaltige Wirtschaftsmodelle und ökosensible Transformationen der Gesellschaft zu fordern und zu verkündigen – … genau diese viel zu kurz gegriffenen Analysen und Folgerungen in unserer Kirche stürzen mich - und vielleicht nicht nur mich?! - in die Krise: Diese völlig richtigen und nötigen Positionen und Programme können und müssen nämlich die Öffentlichkeit und die Parteien, müssen die Wissenschaft und die Industrie vertreten und durchsetzen.
… Die Kirche aber hat eine noch wichtigere, jedoch ungleich fremdere Warnung auszurichten.
Hören wir den Klimabericht von der Wende des 7. zum 6.Jahrhunderts vor Christi Geburt:
Jeremia 14, 1 – 9
Juda verschmachtet, weil seine Lebensgrundlage erschöpft ist, weil sein Kreislauf zusammengebrochen ist: Der schlichte und existentielle Segen nämlich, der den Stämmen Israels vorgelegt wurde, ehe sie das Land der Verheißung betraten. Mose hatte ihnen damals vom HERRN auszurichten (5.Mose 28,1+12):
„Wenn du nun der Stimme des HERRN, deines Gottes gehorchen wirst, dass du hältst und tust alle seine Gebote …, (dann) wird der HERR dir seinen guten Schatz auftun, den Himmel, dass er deinem Land Regen gebe zur rechten Zeit und dass er segne alle Werke deiner Hände.“
Hätte man seinerzeit also einen Menschen in Israel oder in Jeremias Tagen einen in Juda gefragt, woher der Klimawandel komme und was das Gleichgewicht der Natur so störe, hätten die, die von der Gemeinde des HERRN waren, ohne Zögern geantwortet: „Es sind die Menschen“. Die Menschen und ihre Maßstäbe wahren die Ordnung Gottes in der Natur oder sie lösen dort Unheil und Verderben aus.
Denn auch diesen Zusammenhang hat Mose vor seinem Tod dem Volk vorgelegt (5.Mose 28, 15+23):
„Wenn du nicht gehorchen wirst der Stimme des HERRN, deines Gottes, … wird der Himmel über deinem Haupt ehern werden und die Erde unter dir eisern. Statt des Regens für dein Land wird der HERR Staub und Asche vom Himmel auf dich geben, bis du vertilgt bist.“
Und das wäre die Botschaft - die ferne, fremd-befremdliche Botschaft, die lächerlich vorwissenschaftliche, die unerträglich konsequente, eindeutige Botschaft - die die Kirche auszurichten hat. Eine Botschaft, vor der diese Kirche seit langem ausweicht, indem sie sie primitiv antijudaistisch zur vermeintlich überwundenen - dann gern „alttestamentarisch“ genannten - Theologie der Rache erklärt. … Dabei ist der erschütternde Grundsatz, der das in reinster Kausalität ausspricht, „neutestamentarisch“, … sogar untypischer- und darum offenbar schlicht unausweichlicherweise ein Satz des Paulus (Gal.6,7): „Irret euch nicht! Gott läßt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten.“
Das Entscheidende an diesem Aufweis von menschlichem Handeln und seinen Folgen ist aber dasjenige, was eben nur die Kirche verstehen, vermitteln und dann mit Mühe aushalten kann.
Es geht nicht bloß um das „Wenn-Dann“-Verhältnis, das jeder seriöse Bericht zur Lage des Planeten Erde und zu den auf ihm wirkenden Dynamiken menschlichen und nicht-menschlichen Ursprungs benennen kann, sondern es geht darum, wer uns in diesem großen und feinen Ganzen begegnet: Der Stifter aller Wirklichkeit, Dessen Weisheit das Geheimnis des Lebens eröffnet.
Gott selbst ist es, Der den Kosmos und die Materie so weise geordnet hat, dass inmitten des Universums auf einem nebensächlichen kleinen Himmelskörper das Wunder bestehen kann, das wir die Erde nennen,
… das Wunder, das wir die Erde nennen, auf der die Mischungen und Maße, die Entwicklungen und Katastrophen des Anorganischen und des Organischen ein Paradies und einen wilden Acker für Adam und Eva entstehen ließen,
… für Adam und Eva, deren zerstreute Kinder doch nie so verschieden, nie so verlassen waren, dass sie nicht alle am selben Leben teilhätten, das Gott ihnen - und nur ihnen - schenkte:
… Leben, das mehr als materiell ist … Leben des unsichtbaren heiligen Eben-bildes, … Leben stärker und freier und verheißungsvoller als der Stoff … Leben, das ewig währen soll, wenn es mit Dem geteilt wird, Der es schuf und Der’s dann selbst annahm bis in den Tod und Der es dann in der Auferstehung erneuert hat.
Das Wunder, das wir die Erde nennen, ist der Raum des Menschengeschlechtes und der Raum des Menschensohnes.
Die Erde ist also der Raum des Gott-mit-uns-Lebens, … Raum des Alten, Raum des Neuen Testaments:
Die Erde ist das Reich des Immanuel. … „IMMANU-EL“: Gott mit uns.
– Auf Hebräisch lautet das Gegenteil: „EIN-LANU-EL“. … „Wir haben keinen Gott.“
… Und so wenig das irgendjemand verstehen wird, der nicht glaubt: … In dieser Alternative begegnet uns der Klimawandel.
Die größte Krise nämlich, in der wir als Menschheit schweben, ist die Entscheidung für oder gegen Gott: Immanu- oder Ein-lanu-El? …
Seit Jahrhunderten formiert sich die Bewegung, die den gottfreien Raum auf Erden fordert, die die Gottes-Ferne als den wahren Horizont der Freiheit entwirft und selber die Gottes-Entfernung aus unseren Systemen und Maßstäben, aus unserm Denken und Leben immer vehementer fordert. Und diese anschwellende Bewegung, die das Säkulare - also das Zeitlich-Weltliche - als alleinigen Bezugsrahmen des Menschseins in der Materie abstecken will, hat Land gewonnen. … Den Himmel aber hat sie verloren: Jene Weite, die dem Menschen gerade nicht seine Einsamkeit - die ihn trostlos oder größenwahnsinnig macht -, sondern seine Einbettung zeigt, sein Einbezogen-Sein in das Leben Gottes in Zeit und Raum … und Ewigkeit.
Doch der allein-lebende Mensch, dieser bloß vom Materiellen lebende Mensch, dieser nur in der Zeit das Leben suchende Mensch, … dieser Mensch, der keinen Gott braucht, anerkennt und liebt, … dieser seit ein-, zweihundert Jahren die jüngere Zeitgeschichte dominierende Menschenentwurf, der stellt nun fest, dass die Erde vergiftet, ausgelaugt, abgebrannt und so schonungslos verwurstet ist, dass ihm - dem Menschen ohne Ewigkeit! - auch kaum noch Zeit bleibt.
…Zufall? …….
Nein!
Hier liegt der Auftrag, die Berufung der Kirche: Wir müssen die Ewigkeit wieder ernst nehmen und ernst machen als den Horizont, der die Gier und Bedürfnisse, die Ansprüche und Hoffnungen und auch die Selbstsucht und Verzweiflung der Menschen von der Fixierung auf die kurze Zeit, den begrenzten Raum, die weise bemessenen Ressourcen der Erde entlastet!
Ein solcher Satz und Ansatz gilt in der heutigen evangelischen Kirche geradezu als peinlich. Es ist aber das Wahre und Eigentliche! … Zu lange haben wir - aus Angst vor Heinrich Heines „altem Entsagungslied, dem Eiapopeia vom Himmel“[i] - das mitgemacht, was man zurecht neuerdings die „Diesseitsvertröstung“[ii] nennt:
Wir haben uns selbst und andere im Diesseits gefangen! Und wundern uns nun, wenn die, die keine fröhliche Erwartung des kommenden Himmelreichs mehr erfahren, so restlos diesseitig leben müssen, dass sie verbrannte Erde hinterlassen.
Wir wundern uns, dass eine rein säkulare Kultur scheitert, weil sie die unstillbare Sehnsucht des Menschen nach Erfüllung mit dem begrenzten Stoff der sichtbaren Welt bedient.
Wir wundern uns, dass die, die nach dem Sterben nichts als den Tod erwarten müssen, das Leben für sich ausquetschen bis nur eine leere Hülle bleibt, weil sie in ihm nicht das Samenkorn sehen können, dass hier, in der Zeit langsam trocknen und untergepflügt werden und ruhen muss, damit es erntereif treiben kann, was in ihm angelegt ist (vgl. Joh.12,24).
Die Menschheit ist nach biblisch-christlichem Glauben nicht nur materiell - somatisch -, sondern auch psychisch geschaffen - vom Geist beseelt -, um mit Gott leben zu können auf Erden wie im Himmel.
Und darum werden wir dem Leben der Erde nur gerecht, wenn wir es als den Eingang, den Vorhof zum ewigen Leben sehen und führen. Das Irdische muss nicht ausgenutzt, nicht ausgepresst, nicht bis zum letzten Krümel und Tropfen verbraucht werden: Gott hat es hier so geordnet, dass wir das Materielle in Treue bewahren und in Weisheit loslassen können, damit wir durch Verzicht auf das Vorübergehende die Freiheit für das Bleibende gewinnen.
Wenn wir diese wichtigste Lehre des Glaubens nicht wieder zu Herzen nehmen – egal, wer mit den Augen darüber rollt, dass der Glauben an mehr als das Verschwindende immer noch andauert – … wenn wir also nicht anfangen, die Welt zu schonen, weil sie nicht das Bleibende ist, dann werden wir Menschen ihre Vernichtung und ihr Vergehen nur umso eher beschleunigen. ——
Nun kann ich mir gut und lebhaft viele, sehr viele Menschen vorstellen, denen diese Antwort auf die Klimakrise - das Burn-out-Syndrom der von der Menschheit verdinglichten und ausgeschlachteten Natur - nicht konkret genug, nicht politisch oder praktisch genug ist.
Dennoch scheint mir gewiss, dass dem Versagen des Materialismus und dem Versiegen der Materie seelisch begegnet und vorgebeugt werden muss, indem das Menschliche von seinem Schmarotzen am Stofflichen entwöhnt und zurück zu seiner Berufung des Mit-Gott-Seins gebracht wird.
Doch etwas steht mir noch klarer vor Augen, seit ich bei Jeremia wieder die Katastrophe der schrecklichen Dürre in den letzten Jahrzehnten vor Jerusalems Untergang geschildert hörte[iii].
Jeremia nimmt nämlich im Verderben der Schöpfung, das der Götzendienst der Menschen verursacht, eine noch viel abgründigere Krise wahr … die Krise, die nur wir verhindern können: Die Krise Gottes, Der mit uns sein will und Den die Menschen in ihrem Materialismus und ihrem materialistischen Scheitern entsetzen …, Dem sie das Dasein bei ihnen in der Welt nehmen, … Den sie aussetzen, weil sie - die nie etwas geschaffen haben - Ihn als Schöpfer absetzen, … weil sie, die nichts erhalten wollten, mit der lebendigen Kreatur den Gott des Lebens durch ihren Verbrauch bis zum Ende ersetzen und so zersetzen.
Von dieser Krise geben die beiden vielleicht düstersten Sätze der Bibel vor dem Karfreitag uns eine Ahnung:
„HERR, Du bist der Trost Israels und sein Nothelfer. Warum stellst du dich, als wärest du ein Fremdling im Lande und ein Wanderer, der nur über Nacht bleibt? Warum stellst du dich wie einer, der verzagt ist, und wie ein Held, der nicht helfen kann?
Du bist ja doch unter uns, HERR, und wir heißen nach deinem Namen; verlass uns nicht!“
… Darum geht uns die Klimakrise an!
Weil sie eine Gotteskrise ist, die uns zurückruft zum Glauben an den IMMANUEL, an den Gott, Der das Leben alles dessen ist, was lebt, und Der uns Menschen ruft, heil durch diese Welt in Sein Leben, in Sein Heil zu kommen.
Doch das können wir nur, wenn wir die Welt nicht zerstört haben.
Und so müssen wir wieder zum Glauben an Gott finden, … nicht bloß um selber gerettet zu werden, sondern damit die Welt gerettet wird und Gott nicht verzagt, nicht vorübergeht, nicht in der Fremdheit verschwindet, sondern bei Sich und bei uns und bei allen bleibt: Als IMMANUEL!
Amen.
[i] Die politische Religionskritik der Vormärz-Welt, der vorkommunistischen und frühmarxistischen „48-er“ des 19.Jahrhunderts und der inzwischen ebenso historisch gewordenen „68-er“ des 20.Jahrhunderts ist klassisch wirkungsvoll verdichtet im ersten Caput von Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“ (in: Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, hgg. v. Klaus Briegleb, München, 1971, Bd. IV, S.577), wo das kleine Harfenmädchen mit seiner steinerweichenden Schmonzette, in der das (Liebes-)Glück erst im Jenseits zu erwarten ist, den revolutionär empfindenden Heine zum Schwur hinreißt: „Ein neues Lied, ein besseres Lied, / O Freunde, will ich euch dichten! Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten“ (aaO, S.578). Das tragische und katastrophale Scheitern dieser immanenten Welterneuerungs-, -verbesserungs- und -vollendungs-Ideen ist in der jüngsten Geschichte wohl zur Genüge demonstriert worden. Das religionskritische Aufgeben der Botschaft vom eschatologisch-ewigen Leben muss also dringlich seinerseits einer kritischen Revision in Glaube und Praxis der Kirche unterzogen werden.
[ii] Der immens hilf- und aufschlussreiche Begriff begegnet bei Johannes Röser, „Zeige deine Wunde! Buchbesprechung zu Jan-Heiner Tücks »CRUX«“ in: Christ in der Gegenwart 24/2023, S. 7.
[iii] Um einen Eindruck von der für diesen Zeitraum einschlägigen Klimaforschung zu gewinnen, ist der open-access Beitrag hilfreich: Adam W. Schneider & Selim F. Adali, Further evidence for a “Late Assyrian dry phase” in the Near East during the mid-to-late seventh century B.C.?, in: IRAQ , Volume 78 , December 2016 , pp. 159 – 174 (https://www.cambridge.org/core/journals/iraq/article/further-evidence-for-a-late-assyrian-dry-phase-in-the-near-east-during-the-midtolate-seventh-century-bc/56FF46859728FAEC51C8CC70131AD2EF)
1.n.Trin., 11.06.2023, 1.Johannes 4, 13 - 21, Stadtkirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.n.Trin. - 11.VI.2023
1.Johannes 4, 13 - 21
Liebe Gemeinde!
Vielleicht hilft’s an der Nahtstelle zweier Generationen zu stehen, um zu ahnen, was passiert, wenn das Kirchenjahr, das eigentlich die Erwartung Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und die Geburt Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und die Taufe Dessen, der zu Ostern auferweckt wurde und das Fasten und das Wirken und die Passion Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde, und die Kreuzigung Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und den Tod Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und Seine Auferweckung an Ostern und dann das neue Leben Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und die Himmelfahrt Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde und die Ausgießung des Geistes des Vaters und Dessen, Der zu Ostern auferweckt wurde, feiert …. vielleicht also hilft’s an einer Nahtstelle des Lebens zu stehen - etwa, weil die Kinder groß und selbständig werden - , um zu ahnen, was passiert, wenn alles das gefeiert ist … und das Kirchenjahr jetzt weiter geht:
Jesus, Der bisher das Ziel und die Wirklichkeit und die Mitte und der Verlust und der Gewinn und die Hoffnung und die Fülle alles dessen war, was die Gemeinde gehört, meditiert, angebetet, gefeiert und verkündigt hat, … Jesus rückt zur Seite.
Er hat den Seinen alles gegeben, sie alles gelehrt, ihnen alles gewährt.
Und jetzt macht Er den Platz frei. Wie das uns Eltern - und solchen Kontrollfreaks wie mir, die sich da ganz besonders sträuben, ganz besonders - nötig ist, zu lernen: Hände und Füße weg von Zündschlüssel, Gas und Kupplung, … Beifahrer werden, … andern überlassen, was die nun können werden!
Das Christus-Halbjahr, das seit Trinitatis hinter uns liegt, glich ja dem Kochkurs und den Theoriestunden in der Fahrschule: Ab jetzt aber steht Jesus nicht mehr unmittelbar am Herd, ab jetzt sitzt Er nicht mehr allein am Steuer. Ab jetzt wird Sein Dienst unser Dienst und Seine Reise auf dem Weg zu Gott wird zur Ausrichtung unseres Lebens.
Es ist die Zeit der Staffelübergabe, es ist die Erfahrung des Übergangs vom Lehrer auf die Schüler, vom Meister aus Nazareth an seine Jünger und Jüngerinnen überall bis an der Welt Ende. …
Was für ein Segen, dass Er dennoch neu und unveränderlich bei uns ist alle Tage (vgl. Matth.28,20)!
Was für ein Abenteuer aber auch, dass Er zu uns sagt: „Gehet hin und machet …“ …….
Denn nun ist es ganz unverkennbar tatsächlich an uns, die Sendung des Gottessohnes – eine Sendung zum Dienst und Zeugnis für alle und in tiefstes Leid und nur wundersame Errettung für das Ich – unsrerseits zu üben, … obwohl keine Verheißung unsere Ankunft vorbereitete, unsere Geburt die Zeitrechnung nicht erneuert, unsere Weisheit nicht himmlisch und unser Tun kein Wunder ist, obwohl wir nicht erlösend leiden können und noch alle nicht auferweckt sind und das Reich Gottes noch keinen von uns völlig umgibt und unser kleiner Geist allenfalls für uns selber und die Nächsten reicht, aber nicht die ganze Welt inspirieren und erneuern kann!
… Wir alle sind beileibe ja nicht Jesus!
… Und dennoch gibt Er uns jetzt auf, wie Er zu werden! …….
Dieser seltsame Gedanke, dass unser Glaube uns jesusförmig macht und unser Dienst und Dasein nun jesusmäßig werden sollen, ist zwiespältig … genauso wie das Nachrücken und Übernehmen es bei den Heranwachsenden sind: Es schmeichelt und es lähmt zugleich. … Das soll jetzt wahr sein? … Das sollen wir können? … So ernst werden wir jetzt genommen? … Damit lässt man uns jetzt freie Hand? …
Und wie bei der Fahrstunde dürften die wackligen Knie, die überforderte Verwirrtheit zunächst wohl überwiegen. Es ist doch unvorstellbar, dass alles, was von Advent bis Trinitatis geschah, nun von Juni bis Dezember weitergehen soll, … aber nicht mit Jesus allein im Blick, sondern mit Jesus in uns am Werk!
Ja, das ist unglaublich!
Es kann einen durchschütteln und es kann einen aufrichten; es kann machen, dass man einknicken möchte oder über sich hinauswächst. Es will uns verändern und es könnte uns verstocken. Auf alle Fälle aber will es geschehen!
– Was? – Die Bewährungsprobe des Christentums. Die Probe, in der wir heute - weiß Gott! - alle stehen und in der wir uns werden bewähren müssen - und können! -, wie wohl seit einem ganzen Menschenalter nicht mehr.
Die Probe heute, in der die Christen davon werden leben und zeugen müssen, dass die Liebe Christi sie dringt (vgl.2.Kor.5,14) besteht in der schlichten, … schrecklichen, … seligen Tatsache, dass es in allen Krisen und Katastrophen dieser Zeit tatsächlich nur eine grundlegende, grenzenlose, universale und zugleich kindliche Hilfe geben kann: Dass wir eben in der Liebe bleiben! …….
… Ja, lacht und spottet nur! Höhnt und bedauert die simplifizierenden, gutmenschlichen, treuherzigen, … meinetwegen auch: treudoofen, unterkomplexen, idealistisch-naiven Christen! ... Amüsiert Euch oder verachtet sie, wenn sie singend, verkündigend, politisierend und in alledem auch noch voll Sendungsbewusstseins und mit wenig differenzierter Empörung, Leidenschaft und Utopie einen Kirchentag feiern oder in geistlichen Gemeinschaften oder in diakonischen und ökologischen und nachbarschaftlichen Netzwerken das Gute wollen und vollbringen, obwohl die großen Linien, die tiefen Nöte für den distanzierten Blick dadurch nicht verschoben oder behoben werden.
Es gibt viel zu belächeln und viel zu beklagen an den teils verbohrten und teils bloß oberflächlichen Ausprägungen des Glaubens und Lebens derer, die bekennen, dass Jesus Gottes Sohn ist. Es gilt vieles besser und ernsthafter zu versuchen, als es in den Sprechblasen oder den ausgewaschenen Riten der evangelischen und der katholischen Frömmigkeit zu Sprache und Gestalt kommt, … doch wo immer das brennende Glauben und drängende Handeln der Christen von der Liebe für andere, von der Liebe zu den Menschen zeugt, da ist Der – und sei’s verborgen, sei’s verschwiegen, sei’s in der Erniedrigung ins ganz Einfache, ganz Schwache, die Er immer gewählt hat –, Der selbst die Liebe ist.
Das ist das A und das O des ganzen Christentums: Dass wir an dieser Waffe und dieser Wehrlosigkeit festhalten, … dass wir diese Einfalt und dieses Wunder niemals aufgeben, … dass wir in dieser Mystik und dieser Selbstverständlichkeit wurzeln: Gott ist Liebe! ——
Es gibt so viele andere Kräfte und Dynamik, es gibt so viel steilere Thesen und stärkere Programme und erst recht gibt es so viel blinden Zorn und brutalen Widerspruch dagegen, dass die Liebe überhaupt etwas könne und sei. Es gibt so gebieterische Logik und so abgebrühten Zynismus in der Maske der Vernunft, es gibt so blendende Sachzwänge und so erschütternde Erfahrungswerte, die alle in Abrede stellen, ja, die längst philosophisch und politisch und praktisch bewiesen haben, dass die Liebe nichts Konkretes, nichts Schlüssiges, nichts Kompatibles ist in der Welt der herrschenden Kräfte, der sinnigen Mechanismen und der natürlichen Gesetze der sogenannten Realität.
… Und wir sehen es ja selber. In unserm Hinterkopf und jeder Schlagzeile dröhnt es: Die Liebe ist machtlos und sinnlos; die Liebe verändert nichts und lässt sich verarschen; die Liebe baut auf Sentiment und verrät, dass sie nur unsere Wünsche zum Vater hat und dass sie scheitert, wo immer sie auf Tatsachen trifft, dass sie nicht kalkulieren und nicht analysieren kann, dass sie für kleine Kinder und alte Leute, aber nicht für kluge Köpfe und starke Positionen taugt und dass sie deshalb allem unterliegt und alles verliert und alle enttäuscht.
Doch der Apostel, der bei der Liebe war, als sie die Ihren bis ans Ende liebte (vgl. Joh.13,1), … der Apostel, der nach der Fußwaschung - dem demütigsten Dienst der Liebe - bei Tisch, als die Liebe sich in Fleisch und Blut an andere verschenkte, an der Brust dieser Liebe lag (vgl. Joh13,23), … der Apostel, der es mit den zehn andern hörte, als die Liebe ihr Testament machte: „Ein neu Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebet; wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habet. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habet“ (Joh.13,34f), … der Apostel, der unter
dem Kreuz stand, als der Liebe der Todesstoß in ihr Herz versetzt wurde und Blut und Wasser aus ihrer Seite herausgingen, und der es bezeugt, damit auch wir glauben (vgl. Joh.19,34f; 1.Joh.5,6ff), … der Apostel, der uns heute unmittelbar anspricht, weil die aus dem Grab auferweckte Liebe gesagt hat: „Wenn ich will, dass er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an?“ (vgl.Joh.21,22ff), … der Apostel, der alles in der Liebe gefunden und nichts als die Liebe bezeugt und der Welt nur das Gebot, zu lieben gepredigt hat und dessen allerletzte Grüße einem gelten, der durch Sorge für die Brüder - „zumal die fremden“! - noch einmal die bedingungslose Liebe bezeugt (vgl. 3.Joh.V.5), … dieser Apostel der Liebe hat einfache Fragen an uns:
- Seht Ihr diese abgründige Verlorenheit in den grausamen Augen von Putin? …
- Seht Ihr das Kälteste, was es auf der brodelnden Erde noch gibt, in der Todesfratze Prigoschins, der banalen Bosheit Kim Jong-Uns, der mörderischen Selbsterhaltung, die von Teheran über Kabul und von Khartum bis Sanaa die Schurken und die Gegen-Schurken erfüllt? …
- Seht Ihr, wie sie aber auch in allen Demokratien plötzlich das Doppelte verspielt haben, das sie einst trug: Die Geltung von Wahrheit und Recht? …
- Seht Ihr die furchtbaren Tragödien, die aus den schönen menschlichen Geistesgaben geworden sind in der Welt, die in Rauch ersticken muss, um das Feuer ernst zu nehmen, mit dem sie spielt, … die das Wasser, von dem man lebt, als Waffe missbraucht, … die immer noch lahm ist vom Luxus, während der Mangel an schlichter Arbeitskraft sie schon in Not bringt? …
- Seht Ihr, wie der Kontinent der Menschenrechte und des schlechten Gewissens sich auch in seinen liberalen und linken und freiheitlichen Überzeugungen versteckt, verteidigt und verliert gegenüber denen, die kein Recht, keine Freiheit, kein Leben haben? …
- Seht Ihr, wie rasch Ihr selber in Eurer Rationalität und Eurer roten und grünen und bunten und blassen Moral zu einem Rattenstamm werdet, der sein Territorium, sein Labyrinth gegen die hungrigen Artgenossen meint verteidigen zu müssen und zu können? …
Wenn Ihr irgendetwas davon seht, wenn Ihr nicht zu viel Angst habt vorm Hingucken auf die Welt, … dann seht Ihr das, wovor man sich fürchtet: Dass die Bosheit und Gewalt, dass die Lüge, Gemeinheit und Gier, dass die Zerstörung aller Menschen und Dinge aus dem Inneren kommen, aus der einen Wurzel, die alles vergiftet und zersetzt: Aus der Angst!
Angst ist die Plage der Welt.
Angst ist das Ende der Bereitschaft zum Leben.
Angst ist der vorweggenommene Pakt mit der Sünde und mit dem Tod.
… Und sie ist überall.
… Überall. …
Nur nicht in der Liebe!
… Furcht ist nicht in der Liebe!
Wenn Ihr in der Liebe bleibt, dann bleibt ja Gott in Euch und dann bleibt Ihr in Gott!
Und das ist das ganze Jesus-Geheimnis. Das ist der Jesus-Weg, … das ist die Jesus-Tat, der Jesus-Frieden, die Jesus-Kraft:
Geliebt-Sein und Lieben.
Und darin müssen und können wir sein wie Er!
Denn das hat uns jeder Tag und jeder Schritt in der Jesus-Zeit des Kirchenjahres gezeigt: Eine Liebe, die überwältigend und unbezwingbar ist.
Alles, was wir da gefeiert haben, … alles, was wir da gehört und aufgenommen und angenommen haben im Wort, im Brot und Wein, im Blut am Kreuz, im Wasser und im Geist der Taufe … das alles ist ja die vollkommene Liebe, die alle Furcht austreibt.
Also hat Gott die Welt geliebt, dass Er Seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben (Joh.3,16)!
– Wenn wir das hören und glauben, dann wird es tatsächlich auch unser Leben! ——
… Natürlich weiß ich dann immer noch nicht, wie der Krieg und Horror in der Ukraine beendet werden kann und beendet werden mag. … Aber dass es durch Gottes Liebe und nicht durch Hass oder Rache der Menschen geschehen wird, ist gewiss … und das nimmt uns die letzte Furcht! Und zeigt uns, dass wir über kurz oder lang, früher oder später lieben werden, wo wir jetzt nur Verzweiflung und Wut erfahren. … Lieben wir darum schon jetzt!
Und natürlich weiß ich auch nicht, wie die entsetzlichen Fragen der immer enger werdenden Welt, der immer schlimmer werdenden Weltuntergänge durch heimtückisches Fernhalten oder fahrlässiges Einladen derer auf der Flucht und Suche sich lösen lassen könnten. … Doch dass Gottes Liebe allen diesen unseren Brüdern und Schwestern genauso gilt und sie genauso umfasst und retten wird, wie uns … das ist am Ende stärker als alle damit verbundene Furcht. … Lieben wir darum!
Lieben wir, wie wir geliebt sind!
Werden wir jesusförmig in Glaube, Hoffnung und Liebe, von Tag zu Tag mehr, von Schritt zu Schritt in aller Ratlosigkeit gewisser!
Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt! … Das ist das, was kommt in diesem halben Jahr, das vor uns liegt. —
Die katholische Tradition lehrt uns übrigens, dass wir in dieser Zeit keineswegs ohne Jesus oder fern von Ihm sein müssen: Sie feiert am kommenden Freitag das Fest des heiligen, glühenden, liebenden Herzens Jesu[i]!
Und dieses Fest hört nicht auf: Es ist das Festgeheimnis aller unserer Tage, die uns allesamt Jesus näherbringen, Ihm ähnlicher machen und uns schließlich endgültig erkennen lassen werden, dass wir in Ihm bleiben und Er in uns.
Im schönsten Herz-Jesu-Lied heißt es dazu:
Nimm mein Herz, o mein höchstes Gut,
Und leg es hin, wo dein Herz ruht,
Da ist's wohl aufgehoben;
Da geht's mit dir, gleich als zum Tanz,
Da lobt es deines Hauses Glanz
Und kann's doch nicht g'nug loben.
Hier setzt sich's, hier gefällt's ihm wohl,
Hier freut sich's, dass es bleiben soll.
Erfüll, Herr, meinen Willen!
Und weil mein Herz dein Herze liebt,
So lass auch, wie dein Recht es gibt,
Dein Herz mein Herze stillen.
Das Lied ist von Paul Gerhardt[ii].
Darum können wir alle guten Gewissens sagen:
Amen.
[i] Die treibende Kraft bei der Verbreitung der Verehrung des Herzens Jesu - wie sie seit Jahrhunderten geübt worden war - in Gestalt eines eigenen Kultes und Festes war die burgundische Nonne Marguerite-Marie Alacoque (1647-1690), in deren Berufungsvision sich der herrliche Auftrage Christi findet: „Je veux te faire lire dans le livre de vie où se trouve la science d’amour“ – „Ich will, dass du im Buch des Lebens liest, wo die Wissenschaft der Liebe zu finden ist“ (zitiert nach: E. Glotin, La Science d’amour selon sainte Marguerite-Marie, [ohne Seitenangaben: S.1], Paray-le-Monial, 1990).
[ii] Strophe 7 von „O Herz des Königs aller Welt“ aus den „Passions-Salven“ (Paul Gerhardt, „Wach auf, mein Herz und singe“: Gesamtausgabe seiner Lieder und Gedichte, hgg. v. Eberhard von Cranach-Sichart, Wuppertal und Kassel, 1982 [Nachdruck der Ausgabe München, 1957], S.62).
03.06.2023, Einführung von Jenny Müller, Stadtkirche, Jenny Müller
- Einführung ins Presbyteramt von Jenny Müller -
Liebe Gemeinde,
heute möchte ich mich Ihnen/Euch gerne vorstellen: ich heiße Jenny Müller, geboren 1997 in Düsseldorf. Nach meiner Ausbildung bei der ARD und anschließendem Studium der Wirtschaftspädagogik und evangelischer Religion arbeite ich heute als Aufnahmeleiterin für den Westdeutschen Rundfunk. Von der Taufe, über die Konfirmation und dem anschließenden, aufregenden TeamerInnen-Dasein bot mir unsere Gemeinde stets eine offene Tür, in der mich hörende Herzen und gebende Hände empfingen. Nun darf ich freudig verkünden, dass ich neben der KonfirmandInnen- und TeamerInnen-Arbeit, auch als Presbyterin für Sie/Euch tätig werden darf! Anbei einige Gedanken, die mich in meinem Leben und Glauben begleiten und wichtig sind:
Ich glaub' an eine Welt…
Ich glaube an eine Welt, die jeden Tag ein Stückchen besser werden kann-
und mit besser meine ich nicht höher schneller weiter.
Ich glaub' an eine Welt, in der wir geben können, was uns gegeben ist.
Ich glaube an eine Welt, in der wir wertschätzen-
also Werte schätzen. Werte Schätze sind.
Ich glaube an eine Welt in der „Mut“ für Mich Und eine Tat steht.
Ich glaube an eine Welt, in der jede*r von uns Liebe in sich trägt,
auch wenn die manchmal in der Dunkelheit verschwindet.
Doch ich glaub‘ noch mehr:
Ich glaub‘, dass das Leben ein Geschenk ist, welches ewiglich voll Licht von DIR ist.
Und ich glaub‘, dass DU uns bewegst- zu Taten, Worten und zu uns selbst hin.
Ich glaub‘, dass wir frei sind, frei durch DICH und zur Verantwortung berufen.
Ich glaub‘, dass wir DICH erleben werden, weil DU in uns lebst.
Ich glaub‘, dass die Erde sich nicht nur um sich selbst dreht,
weil wir uns durch DICH drehen.
Und wir glauben, wir glauben an DICH.
Und so erheben wir unsere Tassen- auf DICH und eine bessere Welt,
an die wir glauben möchten, bis der Vorhang fällt.
Und so wollen wir unser Bestes geben,
denn DU hast uns DEINEN Geist gegeben und wir,
wir haben ihn empfangen (vgl. 1.Kor 2, 12).
Wir sind also ein Team.
DU bist unsere Verteidigung, wenn wir stürmen.
DU bist das Licht, wenn wir lieben.
DU bist der Zuhörer, wenn wir nichts sagen.
DU bist unser Mut, wenn wir Angst haben.
Und wir, wir sind DEIN Einspruch in dieser manchmal doch so kalten Welt,
DEINE VerfechterInnen des Guten unterm Himmels-Zelt,
DEIN Zeichen der Liebe,
DEINE RetterInnen vor Dieben,
DEINE Kinder auf Erden,
DEINE Hoffnung des Werdens,
DEIN „Mitten im Leben“,
das Ergebnis DEINES Gebens,
weil DU in uns bebst.
Und so gib uns hin und wieder ein kluges Wort,
einen klugen Rat, den wir umsetzen können in die Tat.
Oder gib uns die Weisheit, mit dem Alter und der Zeit,
so dass wir andern Leuten Trost sein können in der Dunkelheit,
oder gib uns die Liebe zu heilen, alle Verwundeten zu gesunden
oder aber eben die Kraft, die kleine Wunder schafft.
Gott hat uns den Geist gegeben und wir haben ihn empfangen (vgl. 1.Kor 2, 12).
Und es sind verschiedene Gaben, eine jede auf ihre Art-
doch es ist ein Geist.
Und es sind verschiedene Ämter-
ob PfarrerIn, ob TeamerIn, ob PresbyterIn, ob GeberIn-
aber es ist ein Herr.
Und es sind verschiedenen Kräfte-
ob Trost, ob Mut, ob Hoffnung, ob Glaube-
aber es ist ein Gott, der da wirkt, alles in allen (vgl. 1.Kor 12, 4-6).
Und so gehen wir jetzt raus in diese große Welt,
auf, dass sie durch uns ein bisschen heller wird,
ein kleines Wunder ab und zu vom Himmel fällt,
auf, dass wir Liebe geben, Hoffnung sprühen
und uns Glaube zur Seite steht (vgl. 1.Kor 13, 13).
Und so glauben wir an diese bessere Welt-
bis der Vorhang fällt.
Mit herzlichem Gruß, Jenny Müller
Pfingstsonntag, 28.05.2023, 1.Korinther 2, 12 - 16, Stadtkirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Pfingstsonntag - 28.V.2023
1.Korinther 2, 12 - 16
Liebe Gemeinde!
Paulus reimt sich auf Pech: … Immer daneben. Nie ganz dabei.
… Er lebte wohl schon in Jerusalem als der Messias da auftrat, ausrastete, still wurde, Passa feierte und vor der Mauer am Kreuz überraschend schnell starb. In jenen Stunden damals hat Saulus aus Tarsus mit seinen Mitschülern den Sabbat vorbereitet und gefeiert und nach dem Vorabend und dem Tag der Ruhe am dritten Tag wieder die Schrift und ihre mündliche Auslegung zu studieren und zu diskutieren begonnen.
Er konnte nicht ahnen, dass gerade in diesen Stunden, einen oder anderthalb Kilometer entfernt das Reich des Todes durchbrochen worden und der vorweggenommene Sieg Gottes über den letzten Feind geschehen war, der ewige Sabbat, der kommt, sich also bestätigte.
Und in den Wochen danach. zwischen Passa und Schavout, dem Wochenfest war Saulus zwar auch nah dran, aber vom Wunder des Auferstandenen, Der in diesen Tagen bei den Seinen war, sie in Jerusalem, Emmaus, Galiläa und auf dem Ölberg überraschte, überwältigte, versammelte, berührte, beflügelte, segnete und zurückließ, war er wiederum nicht bewegt.
Und darum hat er auch das Feuerwerk verpasst, das am Wochenfest, dem Tag der Pfingsten, im Obergemach der galiläischen Jesus-Jünger zündete und sich dann in einer unerhörten Explosion von Sprachfarben und Geistsprühen und funkelnden Einsichten und brennenden Herzen und flammendem Glauben und erleuchteten Seelen auf den Plätzen der heiligen Stadt entlud.
Immer war Paulus nah dran und doch nicht persönlich beteiligt!
Passion verpasst, Ostern versäumt, Pfingsten nicht mitgekriegt: Das ist der Mensch, dem wir die Weltmission verdanken, der Gründervater der Kirchen aller Länder und Zeitzonen. … Der Mensch, der bei den Zeichen und Wundern der Christusgeschichte fehlte.
… Unsere Feste wurden uns also erschlossen durch einen, der sie nicht mitfeierte. … Die Kirche wurde begonnen von einem außerhalb der Kirche Stehenden. … Christus in aller Welt ist als Erstes bezeugt worden von einem zutiefst Christusfremden.
Man kann darüber lachen.
… Oder die Absicht und den Sinn ermessen.
Wenn die Botschaft, die wir das Evangelium nennen, nur und ausschließlich eine Angelegenheit von Augenzeugen wäre - so viele Augenzeugen uns bei den Aposteln und Evangelisten auch begegnen -, dann wäre sie schlicht und ergreifend und in jedem Sinn und mit allen Folgen eben rein historisch. … Gewiss kämpfen auch heute noch viele fromme Köpfe dafür - ich gerne auch -, die Zuverlässigkeit und Echtheit dessen, was das Neue Testament berichtet, gegen die Unterstellung derer zu verteidigen, die darin nur Lüge oder Phantasie am Werk sehen. Aber wenn alles am geschichtlichen Urteil läge, wenn der Glaube an Jesus Christus wahrer oder wackliger würde, je mehr der Wissenschaft ihr Geschäft der Mutmaßung über Wahrscheinlichkeit, der Rekonstruktion von Faktischem, der Einordnung in die Evidenz gelingt, desto unsinniger würde der Glaube: Wenn alle, denen die großen archäologischen Entdeckungen bekannt sind, einen sichereren Glauben haben dürften, als die, die ohne Kenntnis der theoretischen und praktischen Durchbrüche und Abbrüche der westlichen historischen Kritik blieben, dann hätte die Wissenschaft eine so alberne Form des Buchstaben- oder Tatsachenglaubens erzeugt, dass die Schlange sich in den Schwanz bisse. Wissenschaft würde zur Magd des Glaubens … oder der Glaube zum Mündel der Wissenschaft. Beide sind aber - zum Glück - frei.
… Nicht zuletzt dank des Paulus: Der nicht dabei war. Nicht sah und hörte, nicht fasste und griff, nicht aß und trank, nicht spürte und erlebte, was den anderen Apostel vergönnt war. Und doch und so gerade der Erste wie wir wurde:
Denn auch wir glauben ja nicht, weil wir dabei gewesen wären. Wir glauben nicht einmal wegen dessen, was Maria dem Lukas erzählt oder mit Johannes geteilt haben wird - so sehr ich Maria auch liebe, an Lukas hänge, Johannes verehre! -, und auch nicht dessentwegen, was ein Matthäus oder Petrus oder dessen Schüler Markus an unmittelbar oder mittelbar Erlebtem überlieferten, sondern das, was uns an Glauben widerfährt, ist von eigener und einziger Direktheit im Heute.
Es wurzelt nicht im „Es war einmal“ der Märchen und auch nicht im wissenschaftsgläubigen „Wie es eigentlich gewesen“ und es kann sich nicht einmal vergewissern und festhalten an dem, was wir als Kinder gelernt oder gestern noch für überzeugend gehalten haben.
Glaube ist nämlich Manna, … ist tägliches Brot. Vorräte nützen nichts. Es braucht den Regen vom Himmel und die Bereitschaft zum Sammeln heute. … Und damit auch die wiederkehrende Erfahrung des Nicht-Festhalten-Könnens, … des Hungerns, … des Leer-Seins und also der neuen, … ständigen, … jetzigen Angewiesenheit auf Gott selbst.
Glauben heißt, Gott nötig zu haben und von diesem unendlichen Bedürfnis - wohlgemerkt also nicht von einer vermeintlich endgültigen Erfüllung dieses Bedürfnisses! - zu leben.
Und genau da unterscheiden sich die Geister. Der Weltgeist ist der Geist der Bedürfnisbefriedigung. Alles, was in der Natur und in der Geschichte dieser Welt geschieht, dient letztlich diesem einen Zweck: Verlangen, Hunger, Wünsche zu stillen. Das ist der Beweggrund sämtlicher Instinkte genauso wie das Motiv der künstlichen Anstachelung, Erzeugung und Sättigung von Sehnsüchten nach Produkten und Erlebnissen. Die volle Mutterbrust und der geniale Werbungs- und Warenkreislauf der Wirtschaft sind in ihrer Mechanik von der gleichen schlichten Logik erfüllt: Wollen und Bekommen. Denn das gesäugte Kind in seiner Unschuld tappt in die gleiche Falle wie der befriedigte Mensch nach dem Kaufrausch, nach dem Erwerbszwang seiner Besitzwut: Beide bilden sich immer wieder ein, sie seien am Ziel ihrer Jagd.
Der Glaube aber – der doch mit dem Ursprung und Ziel aller Dinge, mit Gott in Berührung, in Verbindung kommt! – … ausgerechnet der Glaube wird sich niemals weismachen, dass er am Ziel sei. Denn Glaube bedeutet, dem unendlichen Gott, der ewigen, grenzen-, schranken- und maßlosen Wirklichkeit Gottes, der anfangs- und grundlosen Liebe Gottes, der alles Verstehen und alle Vernunft übersteigenden Herrlichkeit Gottes, der unerforschlichen und unüberwindlichen Weisheit Gottes, ja, der universalen, schöpferischen, jenseitigen, allseitigen, alleinzigen und alleinigen Gottheit Gottes zu begegnen … und darum zu erfahren, dass jeder Gedanke, man wisse und habe es jetzt, ein Aberglaube sein muss … und dass alle Neugier und Offenheit, alle Demut und zugleich alle vollkommene Unersättlichkeit des reinen, freudigen Staunens das gewisseste Bekenntnis und das schönste Lob Dessen sind, Der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt (vgl. Eph.3,20).
Darum gilt das Dabei- oder Nicht-dabei-gewesen-Sein gar nichts. Gott zu vertrauen, ergibt sich nicht aus Gewesenem; Gott zu vertrauen, Ihm sich zu überlassen, zu Ihm zu gehören, das ist Gegenwart, … reine, pure, pulsierende, atmende, jetzige Gegenwart!
… Gewiss: Gott ist der Ewige … vor aller Zeit, unwandelbar lebendig für immer.
Und seit der Himmelfahrt wissen wir, dass Jesus die Zukunft ist, .., unsere Zukunft und die Zukunft der ganzen Welt, die sich vorbereitet, bis er wiederkehrt und wir ihn sehen werden und alle Zungen bekennen werden, dass er der Herr ist (vgl. Phil.2,11).
… Aber der Moment gerade jetzt, diese Sekunde, in der wir dem Ewigen gehören als die Gemeinde des Kommenden, … dieser reine Augenblick der Gnade, dieses Hier und Heute unsres Heils, dieser Atemzug, in dem wir in Kehle, Lungen, Herz und Sinn und Leib und Seele spüren, dass es Pfingsten ist, dass wir nicht alleine hier sind, sondern dass Gott in uns und bei uns und um uns und über uns ist … das ist der Heilige Geist!
Sein Wesen ist Gegenwart.
Sein Geschenk ist die Gegenwart.
Seine Wirkung ist Gegenwärtig-Sein.
Sein Wunder ist das Gegenwärtig-Machen.
Und Seine Verheißung ist genau diese, Seine unvergängliche Gegenwart ins uns und unsere gegenwärtige, unzerstörbare Eingliederung in die Ewigkeit. ——
Diese Kraft der Gottesgegenwart, diese Gabe der Gegenwart Gottes ist es, die Paulus, den Zu-Spät-Gekommenen, den Nie-Dabei-Gewesenen, den an Pfingsten Fehlenden so unabhängig, so selbstbewusst weil Gott-vertraut, so frei von Minderwertigkeit, weil so erfüllt von des Geistes Unmittelbarkeit macht.
Er - kein Zeuge! - redet mit Worten, die der Geist lehrt.
Er - der persönlich, physisch, sinnlich konsequent und lückenlos abwesend war - wagt doch zu sagen: „Wir haben Christi Sinn“!
– Das aber ist entweder eine unerträgliche Hybris, ein Hochmut, wie er für alle möglichen esoterischen Medien und Hell- oder Geisterseher, für selbstbesoffene Pressesprecher und Großmäuler und Lügenpropheten und Propagandapopulisten typisch wäre – „Ich bin die Stimme des Echten! Ich habe die alternativen Fakten! Ich bin die künstliche und damit haushoch, ja himmelhoch! überlegene Intelligenz!“ –, … und dann wäre alles christliche Sprechen, Verkündigen, Zeugnisgeben, Predigen, Mitteilen, Missionieren eine überdrehte, angemaßte, total subjektive und willkürliche Form des Wahrheitsmissbrauchs ……… oder … Gibt es überhaupt ein Oder?
… Kann jemand, der nicht in unserem Sinn faktisch, stichhaltig, objektiv, nachprüfbar, empirisch, historisch Fachmensch und Kundiger ist, eine Meinung, eine Erkenntnis, eine Wahrheit kommunizieren? …
Das ist die Pfingstfrage!
Sie zeigt uns wie heiß, … wie brandgefährlich, … wie knisternd spannend - am Rande des geradezu höllischen Läuterungsfeuers! - es ist, dass wir seit dem Wochenfest-Tag von Jerusalem, als die Botschaft zum allerersten Mal übersetzt und übertragen wurde in Herzen und Sprachen und Leben und Länder, die alle völlig voneinander verschieden waren, weitergeben und weiterglauben, was das Evangelium ist.
… Wie können wir es glauben?
… Wie kannst Du mir glauben, wenn ich sage: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“?
Wie können Eltern mir glauben, wenn ich in diesem Namen ihr Kind als Gottes Kind in den Leib Christi aufnehme und mit den Paten gemeinsam seine Zukunft auf die Eingießung des Geistes Gottes im Bad der Wiedergeburt und Erneuerung (vgl. Tit.3,3) baue?
Wie kannst Du Dir selber glauben, wenn Du sagst: „Ich glaube“?
Wie kann es noch Christen geben nach zweimal tausend Jahren?
Wie kann das alles leben und glühen, wie kann es atmen und leuchten, wie kann es fruchtbar und frisch (vgl. Ps.92,15), wie kann es unerschöpft und köstlich und saftig und ein lebenserquickender Neuanfang sein, wenn dieser uralte Glaube in uns sprudelt und zündet, wenn er fließt und aufflammt, wenn er entsteht und wächst, obwohl wir alle nicht dabei gewesen sind? …….
Weil nichts Gewesenes am Glauben ist! Nichts Abgeschlossenes! Nichts, das fertig wäre und vorbei! …
Natürlich! … Der natürliche Mensch, der Mensch mit menschlicher Weisheit, der Mensch, der von A bis Z buchstabiert, der von roh bis gar kocht, der von Zeugung bis Sterben zu existieren meint, der Mensch des starren Systems, der früher von später unterscheidet, der „vergangen“ mit „noch nicht erschienen“ vergleicht und überzeugt ist, dass nur das, was er selber fertigbringt und rund macht oder in seine räumlichen und zeitlichen Dimensionen einsortiert kriegt, überhaupt Gestalt und Wesen habe, … dieser Mensch will Gott auch von Anfang bis Ende beurteilt, ausgemessen, untersucht und einsortiert haben. Das nennt er „bewiesen“.
Aber wir feiern heute ein Fest, das allen Atheisten das Herz höherschlagen lässt: Wir feiern, dass Gott nichts Gewesenes und nichts Bewiesenes und nichts Gemessenes und nichts Gemachtes und nichts Gelungenes und nichts Vorzeigbares ist.
Denn tatsächlich: Gott war nie!
Er IST einfach „nur“ Gegenwart!
– Wir sollen Ihn nachweisen oder vorweisen! Aber Er ist nicht außen, sondern in einem jeden von uns und zwar nicht angereichert wie Gift, abgesetzt wie Kalk, verdichtet wie Fett, die man ausschwemmen, abschaben, rausschneiden könnte, sondern als der Atem und der Funke, die unser Leben sind und nicht fest zu machen, nicht fest zu halten, … sondern jetzt!, momentan!, nun!, da! … der allesentscheidende Teil dessen, was wir sind und was alles ist!
– Man möchte Ihn klar erfragen und herauskristallisieren, doch nichts ließe sich so präparieren, dass Sich Gott dabei dabei herausstellte oder übrigbliebe: Er, Der doch schlicht der All-Gegenwärtige ist.
Diese unfassbare - buchstäblich unumfassbare, uneingrenzbare, unumgängliche – Wahrheit, dass Gott nirgends fehlt und nirgends aufhört, dass Er nicht ausgegrenzt werden kann oder vergeht, sondern dass Er hier ist, bei uns ist, in uns ist, weil Er überall ist und alles in Ihm: Das ist das ungeheuerliche Wunder Seines Geistes!
Dieses Wunder kann kein Mensch beurteilen, feststellen, nachvollziehen … außer denen, die dieses Wunder selber sind, nämlich – wie Paulus es mit so ungeheuerlicher Selbstverständlichkeit von den Getauften, den Glaubenden, den Staunenden sagt – „geistliche Menschen“!!!
Geistliche Menschen, … Menschen nach Pfingsten, … Menschen überall und endlos viele und immer neue und niemals Fertige, denen im Heiligen Geist gegeben wird, was schon Paulus erfuhr: Dass man nicht zu spät kommen kann und darum auch nicht zu kurz, … weil wir selbst und gegenwärtig von Dem erfüllt werden, woran wir glauben!
Gott ist in uns und wir sind in Ihm!
In Abwandlung des allzu sehr auf Weihnachten festgelegten Verses[i] aus dem „Cherubinischen Wandersmann“ des Angelus Silesius muss uns heute darum lauten:
Wär’ Christus auch an jedem andern Ort
und nicht in Dir,
- so wäre er längst fort.
Wird er vom Geist jedoch in dir gebor’n
so lebst Du jetzt
und ewig unverlor’n.
Diese Empfängnis des Geistes und durch den Geist, Den wir aus Gott empfangen haben, die ist das Pfingstgeheimnis, nein die Pfingstoffenbarung, die macht, dass wir wissen, was uns von Gott geschenkt ist:
Er selbst.
Alles.
Amen.
… Komm’ ……. (EG 126)
[i] Im „Ersten Buch der Geistreichen Sinn- und Schluß-Reimen“ heißt die Nr. 61 unter der Überschrift „Jn dir muß GOtt gebohren werden“: „Wird Christus tausendmahl zu Bethlehem gebohrn / Und nicht in dir; du bleibst noch Ewiglich verlohrn“. Das Thema der geistlichen Vergegenwärtigung wird in den Nummern 62f dann auch auf Kreuz und Auferstehung übertragen: Nr. 62 „Das aͤussre hilfft dich nicht.“: „Das Kreutz zu Golgatha kann dich nicht von dem boͤsen / Wo es nicht auch in dir wird auffgericht / erloͤsen.“ & Nr.63 „Steh selbst von Todten auff“ : „Jch sag / es hilfft dich nicht / daß Christus aufferstanden / Wo du noch ligen bleibst in Suͤnd und todesbanden.“ (vgl. Angelus Silesius [Johannes Scheffler], Cherubinischer Wandersmann, Krit. Ausgabe, hgg. v. Louise Gnädinger, Stuttgart 1985, S.36).
Exaudi, 21.05.2023, 1.Samuel 3, 1 - 10, Stadtkirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Exaudi - 21.V.2023
1.Samuel 3, 1 -10
Liebe Gemeinde!
Wir stehen gerade mitten in den zehn unheimlichsten Tagen, die unser Kirchenjahr außerhalb der Passionszeit kennt: … Die Erde ist seit Donnerstag christusverlassen; … der Himmel bleibt vor Pfingsten geistverschlossen. ….
Zehn Tage ohne unmittelbar heilsgeschichtlichen Gedächtnis-Inhalt also. Zeit der Latenz, zusammengesetzt aus der Zahl der sieben Entwicklungs-Tage der Schöpfung und der drei geheimnisvollen Tage der Erlösung von Karfreitag bis Ostern. Zehn Tage, in denen alles oder nichts geschehen kann …….
Vielleicht können wir diese sonderbare Zeit der sich stauenden Zukunft, … vielleicht müssen wir diese Zeit des Zukunftsstaus sogar ganz unmittelbar auf den gegenwärtigen Moment der Weltgeschichte übertragen: Die Entwicklung der Schöpfung oder die Verfinsterung des Schöpfertodes - das Mysterium Gottes, das in beidem, in Macht und Ohnmacht sich ahnen lässt -, halten sich gerade noch die Waage. Die nächsten Schritte können zur Rettung des Ursprünglichen ebenso wie zu seinem irdisch nurmehr unaufhaltsamen Untergang führen.
… Das klingt reichlich pathetisch.
… Aber vor nicht langer Zeit sind Menschen in gewöhnlichen kleinen Tälern unserer näheren Heimat ertrunken so wie jetzt in Italien. In der Schweiz brechen die Berge auseinander, in den Bergen schmelzen die Gletscher, in der Ebene vertrocknen trotzdem seit ein paar Jahren die Ernten und in den Wäldern von den würzigen Pinien und Korkeichen bis zu den Krüppelkiefern und Birken der Tundra wüten von Frühjahr bis Herbst Feuer und atmen die tauenden Böden des Nordens Gas aus.
Wenn wir noch zehn Jahre haben sollten, dann sind es jene Jahre, in denen entweder die Verlassenheit von allen guten Geistern oder eine geschichtswendende Geistausgießung endgültig geschehen und bestätigt werden.
Da trifft es sich gut, dass wir an diesem Sonntag dazwischen - zwischen Abschied und Anfang - tatsächlich eine Ruh- und Weckgeschichte hören, … jedoch keine Traum- oder Albtraumgeschichte.
Noch besser aber passt die Überschrift über dieser Geschichte: Es ist eine Überschrift, von der ich seit einiger Zeit denke, dass sie - von den meisten Menschen unerkannt - als Titel über unsern Lebzeiten steht. Und wenn wir es einmal wirklich wahrnehmen, wie unsere Tage überschrieben sind, dann überkommen uns vielleicht Furcht und Zittern, oder - wer weiß? - vielleicht auch Entschlussfreudigkeit und seelisch Klarheit. Von den Tagen Elis jedenfalls galt: „Zu der Zeit war der HERRN Wort selten und es gab kaum noch Offenbarung“.
Bei Martin Buber und Franz Rosenzweig lautet diese Zeitansage: „In jenen Tagen war Anrede von IHM kostbar geworden, keine Schauung brach durch“. … Und dann mit einer so alarmierenden Spitzenstellung des Temporaladverbs, dass es mir den Rücken runterläuft: „Noch nicht erloschen war die Leuchte Gottes“.
Das also ist der Name dieser Zeit: Zeit des Noch-nicht-Erloschenen.
Und in ihr ruhen sie.
… Zumindest der alte Mann. Eli. Man kann und muss ihm nicht böse sein: Elis Augen haben viel vom Überfluss der Welt gesehen, haben auch treu über der Bundeslade gewacht, in der im Heiligtum von Silo das lenkende Wort Gottes verwahrt liegt; Elis Augen sind auch angestrengt, weil er immer wieder eins von ihnen zugedrückt hat, wenn seine Söhne in der Anspruchs- und Selbstbedienungsmentalität der Generation, die nichts anfangen musste, weil sie alles übernehmen konnte, sich am priesterlichen Dienst bereicherten und obendrein noch sexuelle Ausbeutung übten: Klerikaler Machtmissbrauch der ersten Stunde (vgl. 1.Sam.2,12ff; bes.22) . Eli, der Ordentliche, … Eli, der brave Patriarch mit der Vetternwirtschaft, … Eli, der ganz gewöhnliche Egoist und Pragmatist, der die guten, die halbherzigen und die skandalösen Züge seines Wesens nach lebenslanger Gewohnheit nun nicht mehr ändern wird. …Eli macht Nickerchen.
Jedenfalls liegt er still. Vielleicht im Schlummer. Vielleicht in der Schlaflosigkeit des Alters. Oder beim Versuch, den Kummer und die Gewissensbisse, die ihn beschleichen mögen, durch gleichmäßig ruhigen Atem zu betäuben. … Eli, der das Leben mehr recht als schlecht schon fast bewältigt hat und jetzt ein bisschen Yoga, ein bisschen Selbstmitleid und ganz viel Blindheit gebrauchen kann, um sich nicht mehr allzu sehr den Kopf zu zerbrechen über den vielen Ärger. …Und im Heiligtum liegt sowieso ja der Junge.
Es ist verlockend platt und es liegt erschreckend nah, das Bild des hingestreckten alten Priesters aus der Zeit vor Israels Königtum mit Bildern von hier und heute zu überblenden.
Eli hat Züge, die ich im Spiegel sehe und in der U-Bahn und in der Kirche und im schwerfälligen Betrieb des Betriebes, den wir unsere Wirtschaft, unsere Politik und Verwaltung und Kultur nennen. Überall haben sich solche wie ich und die noch Älteren breit gemacht: Rechtschaffen zumeist und auch rechtschaffen stolz und rechtschaffen müde oder mürrisch. Was die eigenen Aufgaben und das eigene Lebenswerk betrifft, baut sich das Selbstbewusstsein als starke Mauer gegen allzu viel Nachdenklichkeit auf:
„War schon alles recht. Kann niemand was sagen. Und dass man hier und da den eigenen oder wenigstens den Vorteil seiner Kinder auf selbstverständliche Weise geschützt hat, … tun das nicht alle? Und dass man jetzt noch seine Ruhe haben will und was noch vom Leben zu haben sein mag, ist ein Recht des Alters und der Natur!
… Gut, dass die ziemlich eingestaubte Bundeslade, die ziemlich unbeachteten Worte und Forderungen Gottes, … diese wirklich weit heruntergebrannte, noch nicht völlig verloschene Leuchte nicht mehr unser Problem sind! … Niemand richtet sich nach Gott? Niemand sucht Seinen Willen und hält Sein Gebot? Die „Schauungen“ schaffen trotz ihrer visionären Deutlichkeit keinen Durchbruch mehr durch das Polster der Naivität und Ignoranz? Die Menschen leben geist- und gottlos offenkundig viel lieber als gebunden an Scheu vor dem Himmel und Ehrfurcht vor einander? – Ach, da sollen sich nun andere Gedanken machen! Soll doch der Junge, der da bei der Lade schläft, sich in Zukunft drum kümmern, dass sie Lampe brennt, das Wort vernommen und der Wille Gottes getan wird.“ ——
Das ist eine Karikatur … zweifellos. Und wie alle Karikaturen vergröbert sie die Wirklichkeit, um ihr auf einfache Weise das Überwirkliche, das schmerzhaft Wirkliche abzugewinnen. Boshaft ist das vielleicht und grob fahrlässig in der Verallgemeinerung der Generationenrollen: Hie der unsympathisch selbstsüchtige Alte, der nach seinem fast gelebten Leben auf alle bleibenden Lebensfragen pfeift, … da der junge Mensch, dem nichts bleibt, als die Versäumnisse und Schuldigkeiten der Vorgänger abzutragen.
Wir kennen diese Karikatur und kennen auch ihre Wirklichkeit und Überwirklichkeit.
Wir wissen nicht nur von den aufdringlich pathetischen Weltschmerzen der Jugend, die sich zukunftslos fühlt und von uns Gestrigen um ihr Morgen betrogen. … Sie haben übrigens Recht, … grausam Recht sogar!
Wir wissen und erleben auch, dass immer mehr begabte und berufene junge Köpfe und Herzen aufgeben: Sie fahren zur Immatrikulation an die Universität und kommen heim ohne sich eingeschrieben zu haben, einfach weil die Schar der Gleichaltrigen mit oder ohne Hoffnung und Ehrgeiz ihnen vor Augen führte: Wir haben alle nichts mehr zu hoffen; es ist in der Welt zu spät geworden für einen neuen Anfang und einen besseren Weg.
Wir wissen darum wahrhaftig auch vom massenhaften Zynismus, den wir fast alle mitmachen, weil er uns in Fleisch und Blut zu sitzen scheint und uns einfach nichts an unserm Leben ändern lässt, obwohl das für genau unser eigenes Fleisch und Blut - in der Gestalt der Kinder und Kindeskinder - nicht bloß Ohrfeige und Hohn bedeutet, sondern Hunger und Tod.
Wir wissen es wirklich gut: Es drängt, und die allermeisten machen sich’s weiter bequem wie der Greis, der schlecht hört, kaum sieht und keine Störung an sich heranlässt.
Diese Karikaturen also kennen wir … und sind wir … und haben wir satt!
Doch die Wirklichkeit des Eli – selbst wenn wir ihn noch so karikierend zeichnen als alten weißen Mann, der sich nicht kümmern mag um geistlichen und weltlichen Dreck und weltliche und geistliche Sünde, die er denen nach ihm hinterlässt … die Wirklichkeit des Eli ist an einer Stelle so weit von uns und allen unseren Wirklichkeiten entfernt, dass es genau hier unendlich ernst wird.
Er wird gerüttelt von dem Jungen aus dem Tempel und murmelt was von erster Bürgerpflicht, von Ruhe: „Geh schlafen, Samuel!“.
… Und wie in Gethsemane ein zweiter Versuch des Tiefbeunruhigten an der Lagerstatt der Teilnahmslosigkeit. – „Geh schlafen, Samuel!“ …
Und dann das dritte Mal. … Und genau da ist der Unterschied zu uns!
In der Ruhestörung und Ratlosigkeit des jungen Samuel zuckt durch das müde Herz und Hirn des alten Eli plötzlich die Möglichkeit Gottes! … Sollte Gott wohl zu dem Knaben sprechen? Sollte Gott also vielleicht hinter der Unruhe des jungen Menschen stehen? Sollte Gott sich im Schweigen der verlöschenden Zeit ohne Empfänglichkeit für die Offenbarung auf diesem Weg durch den Mund der jungen Kinder und Säuglinge (vgl. Ps.8,3) Gehör schaffen wollen? …….
Eli muss schließlich mit Gott rechnen!
… Und nun lautet die Frage an uns: Tun wir das auch noch? …….
… Wenn das auch bei uns so wäre, … wenn das auch bei uns wieder so würde, dann wäre die Zeit, in der das Wort so wenig gehört und die Wahrheit so selten befolgt wird, die Zeit, in der das Licht so schwach nur noch leuchtet, tatsächlich eine Zeit zwischen Verlassen-Sein und Erfüllt-Werden wie sie in diesen zehn Tagen für uns Christen unverkennbar herrscht und in diesen zehn Jahren in der Welt entscheidend sein wird.
… Rechnen wir mit Gott?! Geht es uns auf, dass in den Sorgen, im Klamauk, in der nervtötenden wie der besorgniserregenden Panik, im aufgescheuchten Suchen, im sendungsbewussten Forschen und Fordern der jungen Menschen Gott Seinen Anspruch auf Welt, Zeit und Zukunft geltend macht?!
Sind wir also bereit, uns als Christen, die dem Vergessen der Offenbarung, dem Verleugnen des Gebotes Gottes und dem Verdunkeln Seiner Herrlichkeit nicht länger duldsam zusehen oder dabei wegsehen können, uns wachrütteln zu lassen von denen, die Ihn vernehmen?
Das ist nicht die Frage irgendeiner politischen Protest- oder Parteibewegung; es ist nicht die Frage eines gewöhnlichen Generationenkonfliktes oder eines bestimmten weltanschaulichen Lagers. Es ist die Frage, die zu jeder Zeit zwischen der Himmelfahrt des Herrn und der Veränderungs- und Erneuerungs-Mission Seines Heiligen Geistes an alle, die im Bund mit Gott und in der Nachfolge Jesu stehen, gerichtet wird:
- Seid Ihr bereit für Seine Kraft zur Ausrichtung der Umkehrbotschaft und für den Anbruch Seines Reiches?
- Seid Ihr bereit, die Welt nicht beim Alten zu lassen, sondern sie in die Zukunft des Kommenden führen zu lassen durch Seinen Geist, Der Kinder und Greise erfüllen will?
- Seid Ihr bereit, nicht mehr zu schlafen, sondern wach zu werden dafür, dass Seine kostbare Anrede wieder gilt und die Schauungen, die Er schickt, die perspektivlose Finsternis auf Erden endlich strahlend durchbrechen?
- Seid Ihr bereit, dass - wie es der Pfingstprophet Joel verheißt - nicht in irrationaler Dunkelheit, sondern im hellen Licht des Geistes eure Söhne und Töchter weissagen, eure Alten Träume haben und eure Jünglinge Gesichte sehen werden (vgl. Joel3,1) und dass keiner dann dem andern befiehlt „Träum weiter!“ oder „Schlaf endlich ein!“, sondern sie gemeinsam der Erfüllung des Verheißenen, der Verwirklichung ihrer Visionen dienen wollen?!
- Seid Ihr bereit, dass es in dieser dunklen, abnehmenden, drängenden Zeit Pfingsten wird und dass Erweckung kommt und Umkehr geschieht und nicht die Gewohnheit des alten Menschen, sondern das Wunder des von Gott erretteten und erneuerten Menschen die Welt prägt?
- Seid Ihr bereit, dass Gott ruft, auch zu hören und Ihm dann willig zu folgen, damit Ihr mit der gesamten Schöpfung frei werdet – so, wie wir’s eben sangen (vgl. EG 392)?!
- Seid Ihr bereit, ein Samuel zu werden, eine Maria von Nazareth, die dem rufenden Gottesgeist antworten (1.Sam.3,10 / Lk.1,38): „Rede, HERR, denn Dein Knecht hört! Ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie Du gesagt hast“?! ——
…………
Wenn wir dazu bereit sind, dann wird diese leere Zeit, diese Stillstandszeit, in der sich Geistausgießung und Erweckung oder das Verschlafen des letzten Rufes und dann das Ende ankündigen können, eine Zeit voller Segen und Sinn!
Wenn wir nur wie Eli damit rechnen, dass Gott die ruft, die nach uns kommen!
Wenn wir nur wie Eli die lebendige Berufung der nächsten Generation, ihre Berufung zum Leben erkennen und uns mit ihnen zum Hören und zum Heilen, zum Helfen und zum Hoffen bereithalten, dann werden sie keinesfalls die letzte Generation sein, sondern eine samuelische und marianische Generation der Wegbereitung für wirkliche Zukunft und neues Leben.
Und dann gilt, was in der Fortsetzung der Gottesrede an den hörenden Knaben Samuel im Zusammenhang einer Drohung gesagt wird, und was zum alles entscheidenden Inhalt wird, wenn wir es jetzt - vor Pfingsten - im Verheißungszusammenhang für die bedrohte Welt hören dürfen.
Gott spricht: „Ich will es anfangen und vollenden“ (1.Sam.3,12)!
Ja, Du Belebender und Vollendender, der Du - wie Samuels Mutter betete - zu den Toten hinabführt und wieder herauf (vgl. 1.Sam.2,6):
Du sendest aus Deinen Odem, so werden sie geschaffen,
und Du machst neu die Gestalt der Erde.
Komm, Heiliger Geist, erfüll die Herzen Deiner Gläubigen
und entzünde in ihnen das Feuer Deiner göttlichen Liebe![i]
Amen.
[i] Die alte, gesamtkirchliche Pfingst-Antiphon hier in der Fassung des Bayrischen EG 693.6.
Rogate, 14.05.2023, Stadtkirche, 1.Timotheus 2, 1 - 6, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Rogate - 14.V.2023
1.Timotheus 2, 1-6
Liebe Gemeinde!
Was Jesus gemeint hat, als er uns Salz nannte (vgl. Matth.5,13), wird immer deutlicher: Es soll nicht zu viele Christen geben. Eine Welt aus lauter Christen wäre sonst zwangsläufig versalzen! Die Streuung, nicht die Häufung macht die Wirkung aus. Und wenn’s auch nur eine Handvoll wäre: Ist sie gut und stark, dann durchdringt und verändert sie alles, was durchs Salz vorm Verderben und Vergehen bewahrt wird.
Darum – obwohl ich geschworen hatte, so oft wie möglich laut auszurufen, wie furchtbar eine Welt nach dem Verschwinden des Christentums sein würde! – muss ich heute sagen: Es kommt nicht auf die Christentums-Masse oder Christentums-Dichte an, sondern auf die Klarheit des Christentums. Christen, die wissen, was sie wollen und sollen, ändern alles.
Und darum gilt: Je seltener sie waren, je seltener sie werden, desto mehr liebe ich die Christen!
… Da sitzen sie am Anfang in irgendwelchen Löchern, unterhalb der römischen Kanalisation, geduckt zwischen den Grabfächern der Katakomben, eingebuchtet in Hausarrest oder bei peinlichen Verhören oder in der Verbannung. Der Mitarbeiter des Paulus, Clemens, der im Philipperbrief direkt vor dem berühmten „Freuet euch in dem Herrn allewege“ (Phil,4,4) genannt wird und der später als Bischof von Rom dritter Nachfolger des Petrus wurde[i], hat seine letzten Jahre der Überlieferung nach in einem Bergwerk auf der Krim verbracht[ii]. Dort und überall sonst, wo diese lächerlichen kleinen Radikalinskis der Liebe eines fremden Gottes und eines Gekreuzigten auftauchten, haben solche Witzfiguren der Geschichte sich eingebildet, ihre jüdischen und doch-nicht-jüdischen Beschwörungen und Gesänge lenkten das Reich!? Sie meinten tatsächlich, ihre versöhnlichen Gedanken und ihre unverbesserliche Hoffnungsdummheit spielten eine Rolle dabei, wie die Welt läuft?!
… So ein mit Zwangsarbeit und Hungerrationen gefolterter Apostelschüler und Gemeindehirte am Ende der Welt, am rauhen Fels des Schwarzen Meeres wie dieser Clemens von Rom wird an den Völkerapostel Paulus zurückgedacht und sich eingebildet haben, wenn er jetzt den Kaiser Trajan vor seinen Gott bringe, so wie Paulus und auch Petrus seinerzeit ihren Richter und Henker, den Kaiser Nero, dann werde das etwas an der Gewalt dieser Imperatoren und am Verlauf der Ereignisse für Heiden, Juden und Christen in der Antike beeinflussen!?
… Völlig machtlos, völlig entwürdigt, völlig übersehen und ohne jede Bedeutung haben diese restlos passiven Opfer der Geschichte sich dennoch eingebildet, sie nähmen aktiv daran teil: Dabei hing in Wirklichkeit doch alles von der Verdauung der Kaiser, den Intrigen ihres Senats, vom fiskalischen Eifer der Prokuratoren, von den militärischen Erfolgen des Heeres und von der Schwäche oder Korruption aller Barbaren ab. …
… Was ein altgewordener Paulusschüler Timotheus in Ephesus oder ein Grubensklave Clemens bei Sewastopol in ihrer Freizeit und ihren eucharistischen Feiern zwischen Schmerz und Sterben taten, machte da wahrhaftig nichts aus. …….
Nur dass diese verrückten, hartnäckig an der Weltgeschichte mitstrickenden Häftlinge und Judengenossen aller Länder und Lumpenproletarier im priesterlichen Dienst und Heiligen der Schlachthöfe allen Ernstes daran festhielten, sie - ausgerechnet sie: die Nebenfiguren einer religiösen Eintagsbewegung!?- seien so etwas wie der Thronrat des Himmels, das Kollegium des lieben oder des donnernden Gottes vom Zion, dem auf Golgatha seine Seifenblase doch eindeutig zerstochen worden war.
… Sie aber glaubten’s!
Sie spürten’s!
Sie wussten’s!
Da auf Golgatha und in seinem Schatten im Gartengrab war die Weltgeschichte – die Geschichte Judas und Roms, die Geschichte ganz Asiens, Afrikas und Europas, die Geschichte auch jener weiten und weiteren Erdteile, die niemand von ihnen jenseits der bekannten Meere auch nur ahnte – entschieden worden.
Kreuz und Auferweckung lautete die Entscheidung:
Wenn und was auch immer alles untergehen und sterben muss … Gott will, dass alle Menschen gerettet werden!
Dieser atemberaubende Satz, der alles sagt, was das Christentum zu sagen hat, findet sich in dieser schnörkellosen Beiläufigkeit tatsächlich im klarsten Klartext hier, im 1.Brief des das ganze römische Imperium durchwandernden Paulus, der bald ein Märtyrer der römischen Justiz werden wird, an die Nachwelt in Gestalt des jungen Timotheus.
… Ausgerechnet die Anfänge der Märtyrerkirche werden also zur Voraussetzung der universalen Botschaft der Christen!
… Ausgerechnet das, was die Apostel und ihre Nachfolger an Leiden durch das Weltreich erfahren mussten, machte sie zum Sprachrohr der Versöhnung der Menschheit!
… Weil sie vergingen, wurde in ihnen die Hoffnung für alle geweckt!
Das ist das Salz-Geheimnis unseres Glaubens: Gerade in seiner Auflösung setzt er sein grenzenloses Potential an Rettung frei! ——
Nun gibt das uns in aller Seelenruhe allmählich vor uns hin schwindenden Christen heute keinen Anlass, uns ohne Weiteres als die Fortsetzung der weltbejahenden und welterhaltenden, blutig Verfolgten von damals zu betrachten. Aber umgekehrt – auch wenn unsre schlimmsten Feinde der eigene Kleinmut, die selbstbetriebene Unkenntlichmachung und die ölige Idee von der maßgeschneidert subjektiven Zivilreligion für alle sind – … umgekehrt also haben wir nicht das Recht, auch nur ein Fünkchen weniger für die gesamte Menschheit zu hoffen, für die Geschichte zu bangen und zu beten und uns als Fürsprecher und Anwälte für alle berufen zu fühlen als die alte Kirche einst.
Unser Glaube nämlich – ein Glaube, der von der ersten Stunde des Hirtenfelds und Engelsliedes an den Menschen allen ein Wohlgefallen zusagt – … unser Glaube ist Einbindung ins ganz Große!
Unser Glaube atmet das „Siehe, es ist sehr gut!“ aus, das überm gesamten geschaffenen Kosmos strahlt; unser Glaube atmet den Schmerz ein, den die Absonderung der Menschen von Ihm Gott in Eden und überall zufügt; unser Glaube hat den langen Atem der ewigen Geduld und Vergebungsbereitschaft des mit Israel verbündeten Gottes, Der die Väter begleitet, die Könige geleitet, die Propheten bereitet und die Strafe des Exils geteilt hat; unser Glaube stößt die Seufzer und die Lockrufe Gottes aus, Der Sich einfach mit keinem Verlorenen zufrieden geben kann, sondern wirkt und wartet und wartet und wirkt, bis schließlich und endlich alle Seine Söhne und Töchter heimkehren zu Ihm.
Diese Einbindung in die göttliche Liebe und Sorge, dieses Einbezogen-Werden in die göttlichen Hoffnungs- und Erwartungshorizonte für die Welt ist die politische, die öffentliche, gesellschaftliche und soziale Mission der Kirche.
… So weit, so einvernehmlich in weiten Kreisen des Protestantismus, der sich den Weltgestaltungs- und Einmischungsauftrag, der sich seine ethische Verpflichtung aufs Gemeinwohl und seine Partizipation an der öffentlichen Verantwortung in partisanenhaftem Eifer auf die Fahnen geschrieben hat.
Doch verblasst ist dabei, dass die ursprüngliche und ureigene Gestalt der parteiischen Mitwirkung der Kirche an der Verwandlung und Erlösung der Welt nach Gottes Gebot und Verheißung durch … das Gebet geschehen soll!
… Durch das Gebet, das gerade kein Instrument der menschlichen und darum begrenzten und ausschnitthaften Weisheit ist, sondern ein Einreihen und Einstimmen, ja, ein Unterordnen und Aufgehen in der Weisheit und im Willen Gottes!
Wo statt des Gebetes die Meinung der Christen zum Mittel und Maßstab erhoben wird - wir erleben es andauernd -, da herrscht zwangsläufig das, was man den „Partikularismus“, das Regime der Teilchen, die Politik der Gruppen, die Selbstbehauptung von einzelnen Untergliederungen des großen Ganzen nennen muss.
Unsere Einsichten und Überzeugungen weichen selbstverständlich ja nun einmal voneinander ab: Ehrlichen Herzens hoffen und betreiben die einen Dieses, die anderen Jenes für das höhere Gute. … Und bösen, trotzigen Herzens stoßen sich die Bestrebungen der Menschheit erst recht hart im Raum. …….
Wenn wir es also allein auf unsere Pläne und Ziele gründen, wird das Projekt dieser Welt immer aus Kooperation und Kompromiss, Kompromiss und Konflikt, Konflikt und Krieg, Krieg und Kompromiss, Kompromiss und Kooperation und Konflikt bestehen. …
Wenn aber nun einmal ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen ist, dann bedeutet diese erste und letzte Einheit, dass trotz aller notwendigen und wirklichen Unterschiede die Menschheit tatsächlich in einem Umfassenden wurzelt und von dem Einenden umfasst werden wird.
Diese ursprüngliche und endgültige Verbundenheit, von der die verfolgten Christen im Angesicht ihrer Quäler durchdrungen waren und die die gespaltene Kirche auch heute noch trotz ihrer Teilung bezeugen muss und die der gegenwärtigen Feier des Pluralismus nicht entgegensteht, sondern den Raum der Versöhnung eröffnet, … diese ursprüngliche und endgültige Verbundenheit ereignet sich vorweg in der Gestalt des Gebetes, … des Gebetes, wie es Christus und seine Apostel lehren und üben.
Es ist Gebet für die Feinde … das ungeheuerliche, große „VATER, VERGIB IHNEN!“ (vgl. Lk.23,34)
Es ist Gebet für die, die auf der Gegenseite stehen und vertreten, was wir selber verneinen, und behaupten, was wir unsererseits bestreiten, und hoffen, was wir fürchten, und hassen, was wir lieben und wollen, was wir verhindern müssen, und verlangen, was wir verabscheuen.
Dieses Gebet der Christen, die nicht ihre Vorstellungen und Wünsche für sich formulieren, sondern die buchstäblich „außer sich“ beten, deren Bitten und Hoffnung buchstäblich das „Jenseits“ betreffen - das, was nicht vom eigenen Horizont abgegrenzt wird -, … dieses Gebet der Christen ist tatsächlich die vollständige Teilnahme an Gottes grenzenlosem und allumfassendem, an Gottes überweltlichem und versöhnendem Handeln: Weil es sich nicht beschränken, nicht vereinnahmen oder festlegen lässt: Christen sollen nicht um ihre Sache, nicht nach ihrem Gutdünken, nicht gemäß dem eigenen Standpunkt beten.
Ihr Gebet wird darum letztlich nichts anderes sein wollen, als alle und alles, überall und immer nur vor Gott zu bringen und Seinem Willen, Seiner Gerechtigkeit, Seiner Barmherzigkeit anheimzustellen. Es wird immer zuerst und am weitesten und offensten lauten: „GEHEILIGT WERDE DEIN NAME! DEIN REICH KOMME! DEIN WILLE GESCHEHE!“
Das ist der Grund und Ursprung des uns so devot, so befremdlich staatsfromm anmutenden Gebets für die Obrigkeit, zu dem Paulus, der baldige Blutzeuge Timotheus und die nachrückende Generation auffordert: … Nicht, weil das Christentum sich als Stütze der Gewalten, als Erfüllungsgehilfe aller Mächtigen, als Speichellecker der Fürsten, der Zaren, der Juntas und der Diktatoren oder heute als Schleppenträger des Zeitgeistes anbietet. … Das alles hat es viel zu oft schon getan und tut es in seiner widerlichsten, seelenmörderischsten Form noch immer in Gestalt des perversen russischen Patriarchen und Klerus.
… Aber das ist der billige Fusel aller Religion, ja überhaupt aller Weltanschauung: Sich zu berauschen am süßen Gesöff von Macht, von Protektion, Erfolg, Sieg …
Das Salz-Geheimnis dagegen hat gerade die umgekehrte Wirkung: Scharf und ernüchternd ist es, wenn wir begreifen, dass wir nicht beten, um uns zu verbünden mit denen, die uns groß machen, sondern dass wir Bitten, Gebet, Fürbitte, …. ja, sogar Danksagung einsetzen und hingeben auch für die, die alles auflösen, was uns am Herzen liegt.
Darum wissen wir – gerade im Bund mit dem Gott, Der will, dass allen Menschen geholfen werde – wirklich nicht, was wir persönlich bitten sollen (vgl. Rö.8,26).
Das Salz-Geheimnis liegt ja im Gebet des Paulus und des Timotheus für Nero.
Es findet sich Gebet des Clemens in der Verbannung für Trajan, der ihn vernichten ließ.
Es durchzieht das Gebet der Märtyrer und der kleinen, armen, ohnmächtigen Leute, die zu Zeiten der Tyrannen oder der Gnadenlosen oder der völlig Desinteressierten oder der ungebremst Sadistischen nicht aufhören konnten, sich an Gott zu wenden und Ihm alles anzuver-trauen … nicht nach ihrem Dafürhalten und Haben-Wollen, sondern im Vertrauen darauf, dass Gott weiter weiß und sieht und reicht und schlichtet und richtet und rettet, als unsere Vorstellungen je gehen könnten, und dass darum alle Welt- ob Freund, ob Feind! - vor Ihn gebracht werden muss.
Wenn - so wie auf Golgatha oder beim Martyrium des Stephanus (vgl. Apg.7,60) - die Opfer also für die Täter beten, … und wenn wir uns vergegenwärtigen, wie unendlich viele Vergessene und Vernachlässigte gebetet haben und beten „VERGIB UNS UNSERE SCHULD, WIE AUCH WIR VERGEBEN UNSERN SCHULDIGERN“, … und wenn wir die Ratlosigkeit und auch die Wortlosigkeit empfinden, die unser Beten heute verhüllen (…sollen wir beten, dass eine gigantische Entscheidungsschlacht den Krieg gegen die Ukraine beendet? … sollen wir beten, dass diese oder jene Politik und Partei sich hier oder dort durchsetzt? … sollen wir den Sturz Erdoǧans und Netanjahus erflehen? … und welchen konkreten Ausgang wollen wir - abgesehen von Waffenstillstand - für das Metzeln im Jemen und Sudan wünschen? … und wem gilt unsere Fürbitte für die Verantwortlichen in China? … und wie sieht unser Gebet für Taiwan aus? … und welche Dreistigkeit oder Genauigkeit, welche Vorgaben oder fixe Ideen enthalten unsere Gebete für unsere Kinder, unsere Pläne, unsere Anliegen?) … wenn wir also die Beunruhigung und das Zerrissene spüren, die in der Welt aufbrechen und die uns zum Beten bringen, dann merken wir tatsächlich, dass ein ruhiges und stilles Leben nur möglich sein kann, wenn nicht wir alles vorentscheiden, festlegen, beeinflussen und mit unserem Senf garnieren, sondern es schlicht Gott anheimstellen: Alle Menschen, die Könige, alle Obrigkeit, alle Ordnung und Unordnung, alles Widrige und Erschreckende, alles Ungelöste und Unauflösbare.
Wir können es alles vor Gott bringen. Oft nur so, wie eine Pfarrerin am Ende ihres Lebens es mir vergangene Woche sagte: Ich habe keine Worte mehr und ich weiß kaum noch Namen. Aber mir begegnen die Gesichter und das ist mein Gebet.
Das ist unser Gebet: Die Welt, so wie sie da liegt oder da tobt, so wie sie sich auftürmt, wie sie zu verschwinden droht, wie sie sich ausbreitet, vor Gott bringen.
Für diese ganze Welt hat Christus sich selbst zur Erlösung gegeben.
Und an dieser Erlösung der Welt, an dieser Herrschaft Gottes über sie und für sie nehmen wir teil, indem wir ohne Anmaßung, ohne Täuschung - als die, die nicht wissen, was sie beten sollen - auf sie alle weisen und sagen:
„Sie sind die Deinen, Vater! Lass deinen Willen an ihnen, an allen geschehen. Und lass uns alle endlich diese Ruhe, diese Stille erfahren, die im Leben aus Dir, mit Dir und bei Dir besteht!“
Amen.
[i] Theodor Fliedner rühmt in seinem „Kurzen evangelischen Märtyrer-Buch für alle Tage des Jahres“ (2.Theil, Kaiserswerth am Rhein, o.J. [wohl: 1864 – vgl. Vorwort zu Theil 1], S. 1159 -1161) die „Glaubensfrische und Liebesinnigkeit“ des „gotterleuchteten“ frühchristlichen Theologen und Briefeschreibers, dessen Epistel an die Korinther aus den 90er Jahren des 1.Jahrhunderts n. Chr. zu den ältesten Quellen der Dogmatik und Ämterstruktur der Kirche gehört. In seiner typischerweise etwas hölzernen Diktion sagt Fliedner von diesem Korinther-Brief des Clemens Romanus, er „athmet Himmlischgesinntheit“ (aaO, S.1161).
[ii] Die Überlieferung von Clemens‘ Martytrium auf der Krim ist nicht zeitgenössisch, aber dennoch alt.
Konfirmation, 07.05.2023 (Kantate), Mutterhauskirche Kaiserswerth, 1.Samuel 16,7, Jonas Marquardt
Predigt Konfirmation - Mutterhauskirche 7.V.2023
1.Samuel 16,7
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Mit weniger als zwanzig Stunden Verspätung seid Ihr jetzt dran.
… Gestern hätte ich nicht darüber sprechen wollen, weil es mich zu sehr abgelenkt hätte; aber heute, wenn wir zurückblicken auf einen Tag, der schon vergangen ist, und vorausblicken in Euer Leben, das wir noch nicht kennen können, könnten wir ja Verbindungen suchen. …….
Gestern ist da einer zusammen mit seiner Frau gekrönt worden in der Westminster Abbey, und heute sitzen fünfzehn Menschen hier in der Mutterhauskirche, und es scheint äußerlich fast keine Gemeinsamkeit zwischen dem feierlichen, ein bisschen steifen, ein wenig auch lächerlichen, auf jeden Fall aber vollendet traditionsreichen Spektakel dort und unserem nüchternen, unglamourösen Jugendgottesdienst hier zu geben: Ihr seid zwar pünktlich hier eingetroffen, aber niemand von Euch fuhr eine achtspännige Kutsche und auf der Straße hat man Euch weder beklatscht noch ausgebuht. Ihr seid zwar wirklich anständig gekleidet, aber ich erkenne nirgends weißen Hermelin-Pelz und die Diademe fehlen. Wir haben lebendige und fröhlich-schmissige Musik, aber kein Wörtchen davon ist in Gälisch oder sonst einer keltischen Sprache. … Ihr sitzt auf keinem Steinbrocken unterm Stuhlboden, … Ihr habt keine Schwerter und Szepter zu jonglieren, … Ihr möchtet höchstens an den Stufen des Altars nicht stolpern, müsst Euch aber um rutschende Kronen keine allzu großen Sorgen machen, … und wenn Ihr nachher fertig seid, wird es - vermutlich - keine farbenfrohe Darbietung der Luftwaffe zu Euren Ehren über Einbrungen oder Kalkum geben. …
Das scheinen mir die auffallendsten Unterschiede.
Doch wenn wir dies Drum und Dran mal weglassen, – das, was in London kameratauglich war und hier jetzt nicht passiert, weil die BBC halt so mit der gestrigen Einsegnung beschäftigt war –, dann wird es allmählich schon weniger grundverschieden, was sich hier und da er-eignet hat, ereignen wird. Wenn einer nichts sehen könnte und die vielen sehenswerten äußeren Details ihn also schlicht nicht beschäftigten, weil er so jemand ist, der sich einfach immer nur stur auf das Wesentliche konzentriert, dann fällt es schon schwerer, trennscharf zu unterscheiden. Dort im Glanz und hier im Licht des familiären und vertrauten Gemeindelebens stehen Menschen vor Gott, weil sie in das Kommende nicht ohne Ihn und Sein Segens-Versprechen gehen wollen.
Es sind Menschen hier wie dort. Ob man Konfirmand oder König ist, das läuft auf genau das selbe hinaus. So hat der kleine Junge, der am Eingang bei der gestrigen Krönung die ersten Worte des Gottesdienstes sprach, ja wahrhaftig deutlich gemacht: „Als Kinder des Reiches Gottes heißen wir Euch willkommen im Namen des Königs der Könige“[i], war die Begrüßung für den alten Knaben aus dem Hause Windsor und es könnte auch die Begrüßung für Euch sein.
Durch sie wird klar, wie blind Gott auf Seine Weise ist. … Natürlich nimmt Er Euch und uns und alles wahr. Aber es ist eben völlig unmöglich, Ihn zu blenden. Ihm etwas vorzugaukeln, Ihn - wie es heute heißt – „influencen“ zu wollen, ist sinnlos. Auf das, was wir vorspielen und darstellen, achtet Gott genauso viel wie der Blinde auf den Bildschirm. Und das ist die eigentliche Verbindung zwischen dem jetzigen und dem gestrigen Londoner Segensgottesdienst.
Wenn die Krönung eines Königs – so wie es in Zukunft vielleicht zu befürchten ist, weshalb wir für das gestrige Ereignis wirklich als Zeitzeugen dankbar sein können! –…wenn die Krönung eines Königs einst nicht mehr in einem Gottesdienst, sondern bloß auf einer Bühne oder Leinwand oder in einer Arena stattfinden sollte, dann müsste man den ganzen Zinnober dabei ernstnehmen, weil dahinter mehr nicht wäre. So etwas gibt es als Konfirmationsersatz schon ziemlich lange. Es heißt „Jugendweihe“[ii] und spielt sich in Dorfgemeinschaftshäusern, Stadthallen, Aulen oder Kneipen ab. Da sind junge Leute wie ihr; sie sind schick (oder was sie dafür halten), nervös, gelangweilt, hungrig oder ziemlich k.o., weil es am Vorabend lang war. Dann gibt’s geschwollene Reden und Tamtam von Erwachsenwerden und Träume-Verfolgen und Verantwortung usw., und danach Cash und raus. Alles, so wie es Euch auch hier vielleicht vorkommen mag, wenn Ihr oder ich oder wir jeweils heute gerade einen doofen Tag haben. … Und das war’s. … Ach nein: Fotos noch von den Klamotten und Frisuren, die später als peinlich gelten werden. … Und das war’s!
… Was hier dagegen anders ist? … Der Blinde hier, Der die Frisuren und die Figuren und die Show und die Scham überhaupt nicht sieht. Wenn Der dabei ist – so wie gestern in Westminster und gestern auch hier in der Mutterhauskirche und gestern auch bei den Beerdigungen in der Ukraine und gestern auch bei den mit der Todesstrafe bedrohten, geheimen christlichen Bibelstunden in Nordkorea und im Iran und gestern auch bei den Sabbatgottesdiensten im wackligen Land Israel – wenn der große Blinde dabei ist, Der alles sieht, nur nicht unsere Außen- und Angeberseiten, dann ist alles anders! Dann ist nämlich alles entweder schön und feierlich oder Schnickschnack und TicToc - und man kann das eine oder das andere gernhaben -, aber wichtig ist dann in Wahrheit nur noch das Dabeisein dieses Einen, Der eine Krönung nicht von einer Konfirmation unterscheiden kann!
Das liegt an Seiner eigenen Königsgeschichte. Die erste Krönung die Er, Gott selber angestoßen hat, vollzog sich auf einem Bauerngehöft im Dörfchen Bethlehem. Dort wurde unter lauter gangstermäßig aufgepumpten Brüdern, die alle das Zeug zum Clanhäuptling gehabt hätten, ausgerechnet der Kleinste von ihnen ausgewählt. Ihn wollte Gott zum König machen, obwohl er höchstens eine halbe Portion war. …Weshalb? Auf diese von den verdatterten Anwesenden kommende Frage, die alle den tollsten Hecht im Karpfenteich bei dieser Jugendweihe und Siegerehrung von Bethlehem ausgezeichnet sehen wollten, antwortete der Prophet Samuel mit dem Hinweis auf Gottes Sehschwäche (1.Samuel 16,7) … oder Gottes Sehstärke?
„Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der HERR aber sieht das Herz an!“
Und von dieser verblüffenden Salbung Davids, der in den Augen der Menschen nicht das war, was der Schulhof einen „Ehrenmann“ nennt, dafür aber ein Mensch nach Gottes Herzen … von dieser verblüffend unspektakulären Salbung auf dem Hinterhof leitet sich das Ritual der Westminster Abbey mit dem alten Charles genauso ab, wie das, was wir hier tun.
Aus dem Stamm des kleinen David kamen nach ihm ja alle Könige in Gottes Volk. Auch der, dessen Namen Ihr seit der Taufe tragt und den Ihr eben weiter tragen zu wollen versprochen habt: Jesus, in Bethlehem genauso im Bauerndunst geboren wie sein Vorfahr David darin gesalbt wurde. In diesem Jesus aber ist Gott selber erschienen, und zwar so, dass man Ihn mit dem normalen Blick nicht erkennen würde.
… Man kann in einem Säugling im Trog und in einem Mann, der am Kreuz stirbt, schließlich ans sich nichts anderes erkennen als Armut und Leid.
Aber der Glaube sieht in dieser Armut und diesem Leid - weil er tiefer in Gott hineinsehen darf - genau das Umgekehrte: Den Reichtum der Liebe Gottes, Der Schweres und Schlimmstes mit uns teilte, um auch Sein Schönstes mit uns zu teilen, … Sein Leben!
Wenn Ihr das innerlich ahnt, wenn Ihr das anfangt zu erfassen – dass nicht die leicht erkennbaren ersten, äußeren Eindrücke zählen, sondern das, was sich verbirgt und nur dem Vertrauen zeigt – , dann seid Ihr Christen!
Und dann ist das, was Euch gleich gesagt und getan wird, tatsächlich die selbe Krönung und Salbung und Segnung wie die, bei der gestern die ganze Welt zugeguckt hat.
Auch da war nämlich nicht der Pomp und Spuk das Herz der Sache, sondern die Botschaft, dass ein ganz anderer König jetzt in den Geschichten und Verhältnissen und Aufgaben und Hoffnung der beiden Menschen, die man sah, wichtig werden will.
Jesus, der Christus - der Gesalbte, der Euch zu Christen und Christinnen macht.
Der Euch Seinen Geist und Seine Liebe mitteilt, damit Ihr sie weitergebt: Nicht nur an andere, die auffallen oder gefallen, sondern an alle, die sie innerlich nötig haben.
Lernt und übt Ihr also, was auch Euch guttut: Nicht vor die Menschen und die Welt zu gucken, wie reine Zuschauer, sondern dahinter.
Ihr werdet da nämlich die Anwesenheit Gottes in allen Dingen, in allen Menschen, in aller Wahrheit und in Eurem Leben finden! Und dann werdet Ihr merken, dass alles viel hoffnungsvoller und lohnender ist, als der oberflächliche Blick es meint.
Alles an dieser Welt ist verheißungsvoll. Alles an Eurem Leben ist sinnvoll.
… Vielleicht nicht von hier und heute aus mit bloßem Auge betrachtet.
Aber wenn Ihr dahinterkommt, dass Gott in allem auf Euch wartet, dass Er da sein wird und dass Ihr bei Ihm Euch selbst mit allem, was in Euch ist, verstanden und aufgehoben wissen sollt, dann wird Euer Weg als Christen und Christinnen voller Segen sein!
Und gerade das, was man nicht einfach sehen kann, wird dann aus dem Glauben, aus dem Vertrauen hervorgehen: Schweres, das überstanden und Böses, das machtlos wird, … Hilfe, die Euch begegnet und Wunder, die Ihr erfahrt, … Größeres, als Ihr Euch vorgenommen habt und Kleineres, das besser war als die riesigen Wünsche.
Bei der Krönung gestern fand der unsichtbare Augenblick der eigentlichen Salbung mit dem Öl aus der Grabeskirche in Jerusalem hinter einem Schirm statt, der das schützte, was Blicke ohnehin nicht erfassen können.
Aber auf diesem bestickten Schirm stand der Satz einer unglaublich fröhlichen, eigenwilligen Christin des mittelalterlichen England, … der Satz der Julian of Norwich[iii]:
„All shall be well and alle manner of thing shall be well.
Alles wird gut werden und alle Arten von Ereignissen werden gut werden!“
Und hinter diesem Satz findet sich Euer ganzes Leben als Christen.
Bei Eurer Konfirmation ist also wahrhaftig ganz viel dahinter!
Und nun seht es … nicht mit Augen, sondern mit mehr: Mit Eurem Glauben!
Amen.
[i] „Your Majesty, as children of the kingdom of God we welcome you in the name of the King of kings” lautet dieses neu in die Liturgie eingefügte Element auf S.20 in: The Coronation Service https://www.royal.uk/sites/default/files/documents/2023-05/The%20Coronation%20Order%20of%20Service.pdf
[ii] Die als lieblos und verletzend empfundene kritische Behandlung der Jugendweihe hat bei Gottesdienstbesuchern Widerspruch hervorgerufen. Solcher Widerspruch ist sinnvoll, wie umgekehrt eine klare und scharfe Kritik an der bewusst antikirchlich konzipierten Form der Jugendweihe, die zur Bestreitung und Ersetzung der etablierten Kasualie dienen sollte, m.E. nötig und legitim ist und bleibt. Dass in einer immer aggressiver werdenden öffentlichen Zurückdrängung von Christentum und Kirche die Kontroverse – früher: „Apologetik“ – eine zentrale Funktion unserer Diskurse ist, dürfte einleuchten. Wo die Entwicklungen gesellschaftlicher und privater Rituale u.ä. ihren programmatischen Transzendenzverlust betreiben, wird unser Widerspruch als Kirche nach meiner Hoffnung ebenso programmatisch sein.
[iii] Zum sog. „Anointing Screen“ vgl. die ausführliche Darstellung: https://www.royal.uk/news-and-activity/2023-04-29/the-anointing-screen. Zu Julians (ca. 1342 – 1416) entsprechender Überzeugung, dass Gott alles gute machen werde, vgl. ihre XIII. Offenbarung, in der dieses Leitmotiv begegnet, in: The Showings of Julian of Norwich: Authoritative Text. Contexts: Criticism, ed. Denise N. Baker, (A Norton Critical Edition) New York/ London, 2005, S.39 – 56; vgl. Besonders: “I may make alle thyng wele. And I can make alle thyng wele. And I shalle make alle thyng wele. And I wylle make alle thyng wele. And thou shalt se thy selfe that alle maner of thyng shall be wele” (S.43).
Konfirmationen, 06.05.2023, Mutterhauskirche Kaiserswerth, 1.Samuel 16,7, Jonas Marquardt
Predigt Konfirmation - Mutterhauskirche 6.V.2023
1.Samuel 16,7
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Manche Sätze hören schnell auf.
Der hier zum Beispiel: „Ihr seid echt.“
… Und da war schon der Punkt.
Wenn der Satz länger und wahr hätte werden sollen, dann wäre man vermutlich gar nicht mehr zu einem Punkt gekommen, sondern bei der Beschreibung, was an Euch in diesem Jahr insgesamt 62 Menschenkindern, die zu Gott gehören wollen, alles wirklich und charakteristisch und ausgeprägt und bemerkenswert ist, hätte ich Endlos-Ketten bauen müssen: Von „echt abenteuerlich“ bis zu „echt zackig“.
Und weil jeder Einzelne von Euch sehr, sehr viel mehr als bloß eine typische Eigenschaft hat und Ihr es fertig kriegt, sogar total gegensätzliche Züge in ein und dem selben Menschen zu vereinbaren – von „echt anstrengend“ bis „echt zauberhaft“ oder von „echt anarchisch“ bis zu „echt zielstrebig“ –, hätte ich wirklich das ganze Alphabet der Menschlichkeit durchbuchstabieren können, nur um aufzuzählen, was Ihr alles seid und was Ihr alles wollt und könnt und lernt und sollt und werdet.
Aber nicht bloß, um Zeit und Buchstaben zu sparen, fiel der Satz so kurz aus, … ohne Drum und Dran, … ohne Näherbestimmung und Feintuning. Sondern weil in diesem abrupt ins Ziel führenden Satz – „Ihr seid echt!“ – die drei wichtigsten Größen zusammenstehen, die es diesseits von Gott geben kann:
1. Als Erstes Ihr selbst nämlich, mit denen das kleine sprachliche Ur-Atom („Ihr seid echt“) anfängt. Ihr seid Typen und Charaktere, … individuelle Unikate und ganze Menschen. Kurzum: Jeder von Euch ist eine Person. Da trifft sich’s gut, dass Ihr echten Personen Euch gerade zu einem persönlichen Gott bekannt habt! Gott ist auch keine Wiederholung und kein Allgemeinbegriff. sondern Er ist genauso eine Person wie Ihr, Der will und macht und liebt und spricht und sich treu sein muss wie jede Person. Gott ist so persönlich, dass Er Mensch geworden ist. Jesus.
2. Und zweitens findet sich in dem Sätzchen „Ihr seid echt“ etwas, über das wir sehr wenig nachdenken, obwohl die Denker darüber sehr viel grübeln: Die Existenzweise, die wir „das Sein“ Zu sein heißt jedenfalls, dass wir da sind und nicht nicht da sind. Was ja auch ginge. Wir kommen also vor in Zeit und Raum, aber auch im eigenen und fremden Denken und Fühlen kommen wir vor und sind nicht einfach wegzudenken, wegzuwischen, wegzudiskutieren. In uns steckt und zeigt sich Wirklichkeit und nicht bloß theoretisch Mögliches. Das ist zwar ein bisschen deep, aber es heißt zumindest, dass wir teilnehmen an dem, was ist. Und auch das rückt uns in Verbindung mit Gott, von dem wir glauben, dass Er zwar alles Mögliche kann, uns aber in der Wirklichkeit begegnet: Indem Sein Heiliger Geist die Welt mit Leben erfüllt und sogar noch mehr Leben schenkt, als es Zeit geben wird. … Oh boy …..!
3. Drittens schließlich hält der kleine Satz ein Werturteil fest: „Ihr seid echt!“, d.h. Ihr seid nicht verkehrt, Ihr seid nicht falsch, nicht fake, sondern - wartet’s ab! - Ihr seid „wahr“! Und das ist nicht nur schön zu wissen – dass Ihr nicht wie Kopien oder Betrug wirkt –, sondern das ist jetzt auch tatsächlich wichtig, dass Ihr wahre Menschen und also Menschen der Wahrheit seid. Denn uns allen ist ja leider klar - obwohl es so verwirrend ist -, dass wir mehr Lügen, mehr Tricks und Täuschungen erleben, als uns lieb sein kann. Wenn aber Ihr wenigstens schon mal wirklich und wahrhaftig, wenn Ihr ehrlich und echt seid, dann hilft das Gott und der Welt tatsächlich weiter. Denn Gott selber ist die Wahrheit, und mit Ihm können nur echte Menschen wie Ihr sich verbinden. Keine Menschen, die unecht sind, … eingebildet, nachgemacht … oder künstlich.
Und das ist nun wirklich ein Stichwort dieser verrückten Zeit, in der Ihr jung und - Gott sei Dank! - alles in allem ja oft auch so fröhlich, unbeschwert und lebenshungrig seid.
In dieser Zeit also ist vieles wirklich schlimm – ohne dass wir davon heute ausgerechnet reden müssen. Und gleichzeitig ist in dieser Zeit so vieles unwirklich … und das ist auch schlimm!
Aber Ihr scheint mir genau das – die ganze Albernheit und den ganzen Albtraum der auf echt gemachten, aber eigentlich völlig unwahren Dinge, die man hören, sehen, mitteilen, weitersagen und auch erleben kann – als den großen Blödsinn erkennen zu wollen, der dahintersteckt.
Ich sage das deshalb, weil mir aufgefallen ist, dass unter den beliebtesten Bibelversen, die Ihr Euch ausgesucht habt, einer der am häufigsten Gewählte ist. …Und es ist nicht der Vers, der von dem redet, was einem Menschen durch den Glauben alles möglich wird (Mk.9,23), und auch nicht derjenige, der von den Schutzengeln spricht (Ps.91,11), unter deren Geleit Ihr in Eure Zukunft gehen sollt: Obwohl diese beiden und alle Eure anderen Konfirmationssprüche mich wirklich haben nachdenken und für Euch beten lassen.
Insgesamt am häufigsten habt Ihr Euch dieses Jahr aber den Vers ausgesucht, mit dem Samuel der Prophet begründete, weshalb Gott als zukünftigen König und Gesalbten für das Volk Israel keinen Kraftprotz und keinen Schönling und keinen nerdigen Alleswisser, sondern einen kleinen Bauernburschen auserwählt hatte, der überhaupt nichts Besonderes darstellte. Nachdem er diesen jungen Schafhirten David gesalbt und damit berufen hatte, erklärte Samuel:
„Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der HERR aber sieht das Herz an“ (1.Sam.16,7).
Mit diesem Satz ist festzuhalten: Das, was wirklich an Euch und an anderen wichtig ist, das, was einen Menschen und ein Leben vor dem Unsinn des Immer-nur-so-Tun-als-ob bewahrt, das kann und muss man weder sehen noch zeigen. Der ganze Kram, den wir vorführen und mit dem wir uns darstellen, mag nötig oder auch bloß Schwachsinn sein. Auf alle Fälle betrifft er in unserem Leben aber nicht das, worauf Verlass ist und was wir Menschen brauchen.
Das alles erkennt und weiß wirklich niemand so gut wie Gott. Seine Erkenntnis nimmt Euch nämlich so wahr, wie Ihr eben seid: Was wunderbar an Euch ist und was Schutz braucht, sieht Gott. Er stärkt Euch im Guten, und niemals lässt Er Eure Fehler Seine Liebe zu Euch überwiegen.
Und wenn es irgendwo und irgendwann nötig sein wird, dann erneuert Gott Euch auch … nicht äußerlich sichtbar, was bei Euch noch lang nicht nötig sein kann (wobei Ihr heute ja beinah wie restauriert und funkelnagelneu lackiert ausseht) und was bei fast jedem, der’s versucht, lächerlich sinnlos ist. Nein, Gott erneuert an Euch das, was nur Er sieht: Eure Gedanken, Eure Energie, Eure Neugierde, Eure Fragen, Eure Hoffnung, Euren Glauben.
Er tut das, indem Er selber - Gott selber! - in Euch wirkt und in Euch wohnt.
Ihr habt ja unser wöchentliches Gebet zum Anfang des Unterrichts noch im Ohr: „Erfülle unsere Herzen mit Deinem Heiligen Geist!“ Dieses Erfülltwerden mit Freude an der Welt, mit Zuversicht fürs eigene Leben, mit Zuneigung zu den Menschen und mit dem Bewusst-sein, - völlig egal, was andere sehen und sagen - von Gott bejaht zu sein, das ist die Grundlage des Lebens als Christen, des Christ-Bleibens und auch der Erneuerung, wenn der Glaube und das Vertrauen einmal in die Krise kommen.
… Dass es solche Krisen - verschärfte, verrückte und verflixte Krisen - gibt, das muss man Euch Jugendlichen von heute nicht sagen! Aber dass ich Euch sagen darf und kann, dass die Krisen vergehen, während Gott bleibt und dass darum nicht das, was wir erkennen können, sondern das, was von Gott kommt und zu Ihm führt, das Allesentscheidende ist, das ist ein riesiges Glück! … Und heute wird es nicht nur gesagt, sondern auch getan:
Dass Gott Euch Seinen Segen schenkt, das geschieht ja nun gleich im Anschluss nach der Predigt. Gott schenkt Euch Seinen Segen, der alles, was schädlich ist, fernhält, der alles, was künstlich ist, überflüssig macht und der Euch heute und erneut und erneut und erneut die Kraft geben wird, zu glauben und zu bekennen, dass es wahr ist:
Gott meint wirklich Euch!
Ihr gehört wirklich Ihm!
Das ist keine Einbildung, keine Täuschung, nichts Vorgemachtes.
Sondern es ist das A und das O. Vom „echten Anfang“ bis zum „echten Ziel“ des Lebens und der Welt. Und natürlich dann auch darüber hinaus.
Denn dass Ihr in der Zeit der künstlichen Intelligenzen und der künstlichen Bilder und der künstlichen Lügen und der künstlichen Wahrheiten ganz einfach die beiden kurzen Sätze zusammenhaltet und für sie einsteht – „Ihr seid echt“ und „Gott ist echt!“ – das ist das, was zählt und Euch tragen wird.
Und wenn nun Ihr echten Menschen und der echte Gott zusammenfindet und -haltet, weil Ihr Euch zu Ihm bekennt und Er Euch segnet, dann wird aus den beiden kurzen Sätzen noch ein dritter:
Wenn Ihr echten Menschen und der echte Gott zusammengehört, dann gilt das ewig.
… Echt!
Amen.
Jubilate, 30.04.2023, Stadtkirche, Johannes 16,16 - 23a, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Jubilate – 30.IV.2023
Johannes 16, 16 - 23a
Liebe Gemeinde!
Wenn das ein Text für „Jubilate!“ – den großen Sonntag des Oster-Jauchzens ist –, dann will man sich einen Text für den gar nicht bekannten Sonntag „Plorate!“ / „Heult doch!“ wohl lieber nicht vorstellen …….
Andererseits ist allein die Nüchternheit schon wieder wunderbar, mit der unsere Tradition das an sich so entlastende Jubeln nicht aus der Wirklichkeit der Welt heraushält, sondern auch den auferstehungsfröhlichen Gemeinden Fragen, Missverständnisse, Geduld und Anspannung zumutet: Jubelt, ihr Lieben, … jubelt, lasst hören, wie glücklich die Taten Gottes machen und wie sie Kräfte der Hoffnung freisetzen, aber vergesst nicht, dass es immer noch ein besonderer Tag - und kein Alltag! - ist, wenn der Glaube einmal nur nach Herzenslust tiriliert, und dass es daneben und mittendarin noch ganz viel Seufzen und Maulen, ganz viele Tränen und Lügen, ganz markerschütternde Urschreie und das ganz nervtötende Geratter der Ernte- und der Kriegsmaschinen gibt, die die Bäckereien und die Krematorien der Erde im Gebrauch halten. Jubelt, ja!, aber nicht so, als wolltet ihr die Weltgeräusche übertönen! Noch geht es auch um die Lasten und die Laster des irdischen Lebens. Noch sind auch an „Jubilate“ die Untertöne des Leidens und der Trauer nicht verstummt.
Und darum ist es seit Langem regelmäßiger Brauch, dass schon in der Osterzeit wieder die Abschiedsreden Jesu, seine leise und intime Meditation der Trennungen und Trübsal und des Trostes aufgeschlagen werden.
Ostern bringt uns nämlich nicht die Täuschung, dass es das Schwere und die Schmerzen gar nicht mehr gäbe, … sondern Ostern bringt uns den Trost, dass sie überwunden werden – so wahr Jesus lebt! ———
Doch für den Augenblick verlassen wir den Jerusalemer Saal des Letzten Abendmahles, wo Jesus sich losreißt von denen, die ihn fest in ihrem Horizont verankert glaubten und sich nicht vorstellen konnten, sein Weg werde anders, … erstaunlicher, … paradoxer, … erschütternder weitergehen als so ein menschlicher Erfolgsgedanke nun einmal aussieht. Für einen Augenblick – für jene „kleine Weile“, von der Jesus hier wiederholt redet und die uns in diesem Jahr schon einmal, am fröhlichen Passionssonntag „Lætare“ begegnete – … für einen Augenblick also verlassen wir die Abschiedsszene und gehen …. ja, wohin?
– Wir gehen in ein weites Feld, das wir nur selten erforschen. Dabei ist dieses unbekannte - in Wahrheit aber völlig vertraute Gebiet - der größte Teil und Raum des Lebens Jesu: Es sind die Zeiten und die Kleinigkeiten, von denen die Evangelien schweigen.
Bei bekannten und hörbaren englischen Liedermachern und Kirchenmusikern ist in den letzten Jahren ein vermehrtes Gespür für das, was sie „the unsung Jesus“ nennen[i], erwacht … ein Gefühl dafür, dass alles das an seinem Menschenalltag, was wir nicht erfahren und worüber wir folglich auch nicht nachdenken oder singen, uns Jesus gerade nahebringen würde, ihn in unserer Wirklichkeit, der er entschwindet, wieder gegenwärtig werden ließe.
… Und bei aller Zurückhaltung gegen allzu lebhafte Phantasie und allzu freihändige Legendenbildung ist doch nicht zu übersehen, dass unser Bekenntnis zur Menschwerdung Gottes diese übersehenen, unspektakulären, gewöhnlichen und bescheidenen Seiten des realen Jesus, des konkreten Jesus, des stinknormalen Jesus in der Provinz und im Trott des Mitmachens, Durchkommens und Überlebens der Menschheit auch als Momente der Wahrheit umschließt. Dass Jesus an den selbstverständlichen und doch so existentiellen Vollzügen eines leiblichen Geschöpfes teilhatte, … dass er wuchs, sich entwickelte, sich ernähren und erholen musste, … dass er sich ausprobieren und auskurieren musste wie wir, … dass er Humor und sein Frühstück mit Menschen teilte, … dass er fror, staunte, überreagierte, sich langweilte, sich wiederholte, sich zuweilen versteckte und dann wieder gar nicht abzulenken war, wenn etwas seine Neugier fesselte … alles das muss man sich schon denken können, wenn man nicht plappern, sondern glauben und anbeten will, was das heißt (Joh1.14): „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns!“
Doch ich will jetzt gar nicht einfach drauf los solche Sittengemälde entwerfen und über alles Mögliche spekulieren, sondern mit dem Verdruss der verständnislosen Jünger bei Jesu rätselhaften Abschiedsreden im Ohr nur ein dort überraschend anklingendes Thema erwägen: Wann und wie erlebte der, von dessen Zeugung wir Einzigartiges, von dessen Geburt wir dagegen nur Gewöhnliches erfahren, dieses Urdatum des Lebens, diesen tatsächlich eigentlich nur mit dem Tod zu vergleichenden Grenzdurchbruch?
Es wird in der beengten Armut seiner ägyptischen Flüchtlingslager-Kindheit gewesen sein, wo niemand etwas verbergen und nichts von einem Menschen allein erfahren werden kann. Was unseren klinisch entfremdeten Zeiten - und man muss in vielen Fällen sagen: zum Glück der Betroffenen! - völlig unvorstellbar wäre, war in der Vergangenheit die selbstverständlichste, allgegenwärtigste Konfrontation der Öffentlichkeit mit dem Privatesten, der Kleinen mit dem Großen, der Menschheit mit den Mächten, denen sie sich verdankt und ausgeliefert bleibt: Liebe, Geburt, Lust, Gewalt, Lebendigsein und Sterbenmüssen trugen sich meist vor aller Augen, mindestens aber vor aller Ohren zu.
Es bedarf also keiner in irgendeiner Weise aufdringlichen, anrüchigen Phantasie, um sich zu vergewissern, dass der kleine Junge, der in Bethlehem gerade eben so einem Massaker entkommen war, schon in seiner unbewussten Kindheit erfuhr, wie das Leben beginnt: Durch die Kraft und den Schmerz einer gebärenden Frau, durch die haarsträubende und zugleich heilige Leidensbereitschaft, durch die das eine Leben einem anderen den Weg eröffnet.
In Nazareth wird es nicht anders gewesen sein, als er heranwuchs und dann so lange sein einfaches Handwerk übte: Die Wehmütter, wie sie von Haus zu Haus eilten; der lebensnotwendige Zusammenhalt unter älteren und jüngeren Nachbarinnen und Verwandten; das noch in der Zimmermannswerkstatt unüberhörbar sich emporschraubende Stöhnen und Jammern einer Niederkunft irgendwo im Ort … und dann entweder das alle Welt immer aufs Neue elektrisierende Geschrei eines Neugeborenen oder die schrille Totenklage, die so häufig nach den Torturen einer Geburt anzustimmen war.
Jesus wird mit alle dem ganz natürlich vertraut gewesen sein.
Wenn wir aber das kirchliche Bekenntnis durchdenken, das in ihm nicht nur den Menschen, dem nichts Menschliches fremd sein konnte, sondern den inkarnierten Logos verehrt, … das eingemenschte Schöpfungswort, … die Weisheit Gottes, von der die Lesung sprach (Sprüche Salomos 8, 22-36), die sich freiwillig unter die Menschen eingereiht hat, um ihnen Willen und Wirklichkeit Gottes unmittelbar nahe zu bringen, … wenn wir in Jesus, der als Mann in Nazareth zumindest indirekt bezeugen konnte, was eine Geburt bedeutet, auch Den erkennen, Der die Menschen als Mann und Frau erschuf und sie segnete, dass sie fruchtbar würden und sich vermehrten, dann erkennen wir vielleicht allmählich einen tiefen Zusammenhang: Die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes macht auch an dieser Stelle Ernst!
… Die spätestens seit dem Verlust der Unschuld schwere Last des Lebenschenkens (vgl. 1.Mose 3,16) sollte kein nur den Frauen auferlegtes und auch kein rein menschliches Schicksal bleiben, sondern die unlösbare Verbindung zwischen dem Herrlichsten - dem Leben! - und dem Härtesten - dem Leiden! - hat Jesus wie alles Unsrige zu seiner Sache gemacht.
Sein Leiden, das uns das Leben eröffnet, ist also sein Eintauchen in die weltweite Erfahrung der werdenden Mütter. Die Stadien seiner Passion sind buchstäblich seine Wehen. Und in der überwältigenden Grenzerfahrung des Todes bereitet sich jene ungeheure Sprengung der Grenzen vor, die in der Auferweckung das vorläufige Wunder jeder menschlichen Geburt endgültig vollendet. —
Das ist ohne Zweifel eine ungewohnte Sicht auf beides: Das innerweltlich so landläufige Geschehen des Geborenwerdens ebenso wie das einzigartige, Zeit und Raum übersteigende Wunder der Auferweckung. Und doch ist es der Grund, weshalb es ein Jubilate-Ansatz ist, das Weinen und Klagen und die Traurigkeit nicht zu übertönen, nicht auszublenden. ——
Damit aber sind wir wieder zurück im Obergemach, wo sie das Abendmahl hielten und wo Jesu Todeswehen anfingen: Was kommt, wissen und verstehen die Jünger nicht.
Was kommt, wissen und verstehen auch wir heute nicht.
… Was auf uns zukommt. Was auf die Welt zukommt. …
Bis vor wenigen Jahren lief es wie geschmiert … außer, dass es schon lange giftig und gefährlich und lebensbedrohlich war, wie unser Dasein lief, … aber wir konnten, nein: wir wollten es übersehen.
Und nun ist es nicht mehr zu übersehen.
Nun hört man überall Abschiedsreden. Die Welt, die wir kannten, … die Sicherheit, die wir zu haben meinten, … die Schmetterlinge und Vögel, … die Jahreszeiten und alle Wahrscheinlichkeiten, auf die man setzen konnte, … die Rechte und die Zukunft, die wir beanspruchten: Sie alle sind dahin. Die Unschuld ist verloren, weil wir es wieder einmal nur für uns machen wollten: Nicht der Schöpfer, nicht der andere Teil der Menschheit, nicht die Kreatur sollte uns aufhalten. Wir selbst wollten die Gewissheit des Guten wie des Bösen besitzen. ….. Nur dass nicht alles gut war, was wir dafür hielten, und dass wir unser Bewusstsein für das Böse - unser Gewissen - völlig unterdrückt haben.
Und so fangen tatsächlich die Wehen an: Die ganze Schöpfung stöhnt in ängstlichem Harren (vgl. Rö.8,19). Eine Zeit ist gekommen, die manchen viel zu unaufhaltsam auszugehen scheint, so dass sie sich zu den letzten Menschen erklären und die morgigen Menschen damit auch nur enterben, … eine Zeit, die andern gar nicht verkürzt genug sein kann, weil sie das aufgestaute Riesen-Potential an Katastrophen so sorgenvoll betrachten. Eine Zeit, die so oder so einem kleinen Augenblick verglichen werden muss – eine letzte Chance?, eine total unmittelbare Gefahr? – … ein kleiner Augenblick jedenfalls, der seltsam surreal, seltsam gebannt, seltsam unbewegt über uns schwebt und in uns stockt.
Wir wissen nicht, was das bedeutet: … Vergeht bald alles in unwiderruflichem Abschied? … Oder kehrt nicht endlich alles wieder zurück in seine uns noch so unverrückbar anmutenden, aber inzwischen erschütterten Fugen und Formen?
In welchem Augenblick der Weltgeschichte stehen wir denn? Was bringt die Stunde, die kommt? …….
Wenn wir Jesus vertrauen, dann hören wir heute eine erste Antwort auf diese Frage: Eure Beunruhigung, eure Verunsicherung, eure Traurigkeit ist richtiger und notwendiger, als die an den Fragen und Sorgen und Schmerzen unbeteiligte Fröhlichkeit, die es auch in der Welt gibt.
Wenn ihr die Gefahr, in der alles schwebt, spürt, … wenn ihr jetzt traurig seid, weil das, was sich auflöst und was noch kritischer werden wird, euch umtreibt, … dann habt ihr es heute gewiss schwerer als die, die sich immer noch gedankenlos freuen, als läge kein Abschied in der Luft, als feiere „Jubilate“ einfach nur den Leichtsinn.
Doch wir hören auch noch eine zweite Antwort auf die unsichere und unruhige Frage unseres Herzens, was der Augenblick bedeute. Die zweite Antwort ist die Antwort, die nur Der uns geben kann, Der sich freiwillig und also auch schutzlos, dabei aber doch in der Vollmacht des Schöpfers und also nicht hoffnungslos in alle, wirklich alle Gefahren des Menschseins begab.
Diese Antwort ist es, die die beklemmenden Schmerzen von heute – die nicht unsere ganz persönlichen sein müssen, sondern die Schmerzen der gesamten Menschheit und Kreatur einschließen … – in einen völlig neuen Horizont rückt.
„In welcher Lage sind wir? Was wird von diesem Augenblick bleiben, … was würde der nächste Augenblick bringen, wenn er je käme?“
Jesus antwortet darauf: „Nach der Geburt sehen wir uns wieder.“ ——
Dieses unvorstellbare Versprechen eines Wiedersehens nach der Geburt im Angesicht der Not und Trübsal des gegenwärtigen großen Abschieds ist ein einzigartiges Geschenk Jesu, des menschgewordenen Gotteswortes in der Schöpfung wie in der Kreuzigung, … in der Natur wie in der Passion: Das Geschenk, dass Leiden sich in Leben verwandelt!
Es lag immer schon am Ziel jeder Schwangerschaft, auch wenn es nicht immer erreicht wurde.
Nun aber, durch den Tod und die Auferweckung Jesu Christi ist es zum Ziel aller Erfahrungen, zum Ziel sämtlicher Traurigkeiten und Schmerzen, zum Ziel jedes Lebens gemacht worden: „Wir sehen uns wieder nach der Geburt!“
Denn es ist seit der Menschwerdung Gottes, die in Seiner eigenen Leidensgeschichte zur Neugeburt der Menschheit führen sollte, alles, was Zeit und Leid und auf jeder andere Weise Geschichte ist, als Geburtsvorgang offenbar geworden.
Der Apostel Paulus sagt darum ganz ausdrücklich von den Leiden dieser Zeit, dass die ganze Schöpfung bis zu dem kommenden Augenblick seufzt und in den Wehen liegt (vgl.Rö.8,19+22).
Die Wirklichkeit, die wir erfahren, die Zeit, die uns bleibt, das Elend, dem wir so viele und so vieles ausgeliefert sehen, ist also - wenn wir uns an Jesu Antworten halten - kein Grund zur Verzweiflung, sondern zum Durchhalten: Die Welt, die Menschheit drängt in allen diesen Nöten einem österlichen Geburtsmoment entgegen, von dem Jesus noch vor seiner Passion so einfach und zum Jubeln schön gesagt hat:
„Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist.“
Es ist das Werden, es ist das Auferstehen, es ist das neue Leben, das die Dinge jetzt so eng und drangvoll macht.
Wie bei jeder Geburt wissen wir nicht, wie lange, wie dramatisch, wie gefährlich es noch werden mag. Aber bei dieser Geburt der neuen Kreatur ist das eine Versprechen, das Versprechen Christi gewiss: „Ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und Eure Freude soll niemand von euch nehmen.“
– Und darum: „Jubilate!“
Amen.
[i] Der bedeutende Liedermacher aus dem Worship-Bereich, Graham Kendrick, hat den Begriff programmatisch geprägt (vgl.: https://www.google.com/search?q=the+unsung+jesus&rlz=1C1GCEA_enDE866DE866&oq=the+unsung+jesus&aqs=chrome..69i57j69i60.5190j0j15&sourceid=chrome&ie=UTF-8#fpstate=ive&vld=cid:f6e350a2,vid:hksKWyQ-Jhg), aber er begegnet ebenso bei John Bell, der inspirierende zeitgenössische liturgische und Liedkompositionen schafft (vgl. dazu: https://network.crcna.org/topic/worship/general-worship/unsung-jesus).
Miserikordias Domini, 23.04.2023, 1. Petrus 5, 1 - 4, Stadtkirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Miserkordias Domini - 23.IV.2023
1.Petrus 5, 1 - 4
Liebe Gemeinde!
Eigentlich bin ich hin- und hergerissen von solchen Abschnitten der neutestamentlichen Episteln, in denen Fragen der Gemeindeordnung und Ämterstruktur, in denen Fragen der Verfassung und Leitung der Kirche in apostolischer und nachapostolischer Zeit behandelt werden. …
Sind derartige Erörterungen der eigenen Gestalt nicht bloß Beispiele für das, was uns kollektiv verdirbt: Die dauerhafte Selbstbeschäftigung? Überall - vom Einzelnen bis zu den großen staatlichen Gemeinschaften - scheint der wichtigste Gegenstand ja immer nur im Hervorheben der eigenen Bedürfnisse und eigenen Bedeutung und im Verbreiten des eigenen Bildes zu bestehen! Außer „mir“ - allenfalls „uns“ - gibt es nichts entfernt vergleichbar Wichtiges.
Ob Minderheit oder Weltmacht: Immer fixiert man sich auf … sich.
Wenn dann auch noch die Kirche Nabelschau betreibt, wenn sie meditiert und theologisiert, was sie selber darstellt, … ist dann nicht ihre ekelerregende Überflüssigkeit bewiesen: Ein System, das um sich selber kreist; ein Konstrukt, dem es um Selbsterhalt geht; eine geschlossene Gesellschaft, die sich selbst in Verliebtheit und Verteidigung mehr als genügt? …….
Dass diese perverse Gestalt der Autonomie – „Mein Daseinsgrund und mein Gesetz bin ich allein“ – auch in kirchlicher Fassung existiert, skandalöse Schlagzeilen macht und eine anti-kirchliche Reaktion hervorgerufen hat, die die katholische wie evangelische Landschaft in eine gigantische Gletscherschmelze verwandelt, lässt sich nicht leugnen.
… Doch gerade die schonungslose Infragestellung des Daseins der Kirche zwingt sie nun einmal, nach sich selber zu fragen: Wenn die Austrittswelle, … wenn die weitgehend schmerzlose Auflösung der Verbundenheit mit dem Glauben und der Verwurzelung in ihm, … wenn die vielen, zu Recht zornigen Brüche mit einer unbelehrbar missbräuchlich scheinenden katholischen Hierarchie, … wenn die beflissene Anpassung der evangelischen Kirche an den a-religiösen, zeitgeistigen Mainstream, den sie wie hypnotisiert fördert und der sie jetzt schon davonspült, … wenn sich diese Entwicklungen weiterhin fortsetzen sollten, dann wird es in allzu naher Zukunft nichts mehr geben, wonach man fragen müsste, wenn man von der „Kirche“ hört.
… Diese „Zeitenwende“ aber, dieser Wandel in Klima- und Kulturgeschichte der Menschheit, wäre ein Abbruch, den man sich nicht vorstellen mag. Und darum ist es – bei allem Vorbehalt gegen die Selbstbespiegelung, bei allem Befremden, das Fragen nach dem Amtsverständnis und der Funktion kirchlicher Autorität bei uns auslösen – nötig und heilsam, dass der heutige Hirtensonntag uns diese Gegenstände nicht erspart!
Solange es eine Kirche geben wird und soll, solange wird man in ihr nicht nur auf spontane Erleuchtungen, charismatische Verkündigung und unmittelbare innere Bewegungen zu achten haben, sondern auch auf den gegebenen und bleibenden Dienst, durch den die Gegenwart des Auferweckten und die Gaben des Geistes äußerlich gefasst und gesammelt werden, um nicht einfach zu verwehen und sich zu verlieren.
Fassung und Sammlung sind also die Funktion, die die Kirche erfüllen muss: Zusammenhalt und Verbindung.
Dass das die Aufgabe des Kelches ist und nicht sein Inhalt, … dass es die Rolle des Rahmens oder der Bühne samt Vorhang ist und nicht das Bild oder das Stück selber, … das ist deutlich.
Die Kirche ist nicht das Licht, sondern sein Docht; sie ist nicht das Feuer, sondern der Kamin; sie ist nicht die Helligkeit, sondern die Öffnung in der Wand, durch das diese dringt.
Docht und Herd und Fenster an sich sind sinnlos, wenn nicht an ihnen, in ihnen und durch sie ein Anderes seine Wirkung entfaltet. … Und doch sind sie unverzichtbar, wenn es nicht dunkel und kalt und der Mensch kein Geschöpf der Finsternis sein soll.
Nun hat Jesus uns allerdings gewarnt (Joh.9,4): „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.“
Darum sage ich wieder, was ich letzte Woche schon sagte und vielleicht vor allem anderen immer weiter sagen werde, so lange wir noch die Kirche haben: „Eine Welt und ein Leben, die nicht durch den Glauben an Jesus Christus erleuchtet wären, … eine Gesellschaft, einen Alltag, in denen Seine Liebe nicht gegenwärtig und Sein Reich nicht unsere Hoffnung wäre, … das kann und das will ich mir nicht vorstellen! Es wäre zum Fürchten. Es wäre die Hölle.“
Ich sage das nicht aus Schwarzseherei.
… Im Gegenteil. … Wegen der Hellsichtigkeit, wegen des Glanzes, die da strömen, wo Jesus Christus unter uns wahr- und ernstgenommen und angebetet wird und durch unsern Dienst auch Andere das rettende, verwandelnde und lebenspendende Licht erfahren können, das in Ihm strahlt.
Dieses Auffangen und Weiterleiten des Lichtes, dieses Fassen und Sammeln, Zusammenhalten und Verbinden ist das Wesen der Kirche. Es sind Funktionen des Hütens, des Behütens und Beschirmens: Von Strahlen, die verbunden stärker wirken als zerstreut, … von Lebewesen, die gemeinsam sicherer sind als versprengt, … von Menschen, die gesammelt mehr teilen können als in ihrer Vereinzelung.
Die Kirche sammelt und hütet das Licht und die Lebenden. Darin hat sie ihr Amt, darin gründen ihre Ämter. ——
Hatten wir zunächst also den Verdacht, dass Selbstreflektion oder Meditation der Ämter der christlichen Gemeinschaft reine Selbstbespiegelung darstellt, müssen wir hier nun das Gegenteil erkennen: Wenn der Zweck der Glaubensgemeinschaft, die Jesus gegründet hat, ist, das Licht zu anderen zu lenken, dann dient alle sachgemäße Reflektion, alles sinnvolle Spiegeln in der Kirche nur diesem Weiterleiten, dieser Lichtführung zu denen, die sich in den eigenen Schatten vergraben oder die die Dunkelheit von Schuld und Unrecht blind gemacht hat.
Wo sie nicht so leitet, verliert die Kirche ihren Auftrag.
Wo sie in sich verharrt und um sich selber kreist, ist sie ein Mond geworden, den keine Sonne mehr erleuchten wird, weil er sich aus der vorgegebenen Bahn um den großen anderen Körper - die Erde, die Menschheit - herum gelöst hat und also nicht mehr zum Abglanz des wahren Lichtes für alle dienen kann.
Leiterin und Lenkerin für das Licht von Gott und die Lichtsuchenden der Erde muss sie sein. … Darüber hinaus, rein an sich ist sie nichts. Bedeutungslos. Überflüssig. Man soll die Kirche vergessen und verlassen, wenn sie nicht mehr Menschen zu Gott versammelt und umgekehrt das, was von Gott kommt, nicht mehr zu den Menschen fließen lässt. ——
Wenn jemand also ein Amt in der Kirche hat, wenn Du in ihr Kräfte, Zeit und Gaben einsetzt, dann gibt es eine ganz schlichte Theologie der mit den Aposteln begonnenen Dienstordnung: Wer sich dabei dient, dient nicht! Was an unserm Tun aber anderen gilt, das gilt!
Das klingt natürlich doppelt ungewohnt in unseren Ohren: Man soll das finden, was einem selber guttut, heißt es all-, überall. Und deshalb darf’s nicht darum gehen, den Maßstab seiner Zufriedenheit bei anderen zu suchen, sondern ganz allein und ausschließlich bei sich.
Darum muss aber die in der Kirche gültige Verdrehung unserer geläufigen Vorstellungen von Selbstfindung, Selbstverwirklichung und Selbstbestätigung auch als ebenso klare Warnung verstanden werden, wie sie eine schlichte Theologie begründet. Die Warnung lautet: Wer bei sich selbst anfangen will, wird mit der Kirche nichts wirklich anfangen können. Wer sich selbst sucht, kann sich hier nicht finden.
… Er möge drum nicht traurig sein. Die womöglich spannende Reise in eine Welt, die sich ganz um dich als ihren Mittelpunkt herum kristallisiert, bieten viele an. Die womöglich ziellose Fahrt in das verheißene Land, das Du selber bist, wird heute fast an jeder Straßenecke beworben. Dagegen aber ist die fraglich gewordene und in Frage gestellte Kirche ein Zeichen des Widerspruchs.
Und so sind es die Aufgaben und Rollen in ihr, ihre Funktionen und Ämter auch.
Es geht in ihnen tatsächlich um eine selbstlose, uneigennützige Blickverlagerung. Man nennt solches Sehen nach anderen Menschen, solches Achten auf ihre Lage, ihre Wege und ihre Sicherheit in der Kirche schon immer ein „Hinschauen“, ein „Nachgucken“, ob die anderen genug Licht haben, ob sie Segen erfahren, ob ihr Tisch gedeckt ist und ihr Becher voll eingeschenkt, ob ihnen Gutes und Barmherzigkeit begegnen und sie das Zu-hause kennen, in dem sie bleiben dürfen[i], … ob also die Gnade Gottes sie erfüllt.
… Nachgucken, Hinschauen: Auf Griechisch heißt das „episkopein“[ii]. Tatsächlich steckt der „Episkopat“ darin … das Bischofsamt. Aber in diesem Wort für das Achtgeben, das Petrus in seiner Ämterlehre neben dem uns vertrauteren Begriff der „Presbyter“ benutzt – der Ehrenname der „Ältesten“, die Lebenserfahrung und Herzensweisheit haben –, … in diesem Titel für die, die Rücksicht und Klugheit für Viele üben, hört das griechische Ohr ein ganz besonderes Wortfeld: „Skopein“ heißt nämlich „Sorgen“ in allen seinen Facetten: Für-Sorge und Ver-Sorgen, Vor-Sorgen und Nach-Sorgen, Sorgfalt, Sorgpflicht und Sorgsamkeit - das Können, Sollen und Mögen der Sorgenden - schwingen alle darin mit.
… Und wir heute haben dafür ein Wort, in dem die ganze Sehnsucht und Misere unserer Gesellschaft, die sich vor Erfolgssucht und Selbstsucht - was austauschbare Worte sind - nicht ausreichend umeinander kümmern mag: Wir nennen das, was Kern, Sinn und Spitze aller kirchlichen Ämter ausmacht: „Pflege“, … neuerdings auch weltsprachlich: „care“.
Alle, die Menschen pflegen – kleine Menschen und junge Menschen, Menschen mit Leiden oder Gebrechen, Menschen, denen Kräfte oder Freiheit geschwunden sind, Menschen, die abhängig leben müssen und Menschen, die schließlich sämtlich einmal sterben – … alle also, die sich um Menschen sorgen und auf sie achten, die ihnen beistehen, die sie stützen, … alle, die die Körper und die Seelen anderer Menschen ernstnehmen und auch auf schweren und trüben Wegen behüten und begleiten, stehen im Hüteamt, im Hirtenamt, im Sorgeamt … im Wächter- und im Achtungsamt der Kirche, … im „Episkopat“, dem Bischofsamt!
Das ist keine evangelische Schnodderigkeit, die die Ämterlehre des Neuen Testaments antiautoritär und mit der Floskel vom allgemeinen Priestertum einfach für unverbindlich erklärt.
Im Gegenteil: Es ist ganz und gar verbindlich - biblisch und altkirchlich und weltkirchlich verbindlich -, dass die Glieder der Kirche sich niemanden so anvertrauen und unterordnen wie denen, die jenes Hirtenamt teilen, tragen und leben, das im Zeugnis der Leiden Christi seinen Grund und seine Begründung hat.
Christus ist der Nackte und Hungrige geworden, der nach uns bettelt.
Christus ist der Verlassene und Verfolgte geworden, der uns braucht.
Christus ist der Verletzte und Verwundete, dessen Qual wir lindern müssen.
Er ist der Kranke und der Sterbende, in dessen geduldiger und treuer Pflege wir Gott den Dienst aller Dienste erweisen.
Christus ist das arme Kind und Er ist der lästige Mensch, Er ist der Verlierer dieser Weltordnung und das Opfer der sogenannten Zivilisation geworden.
Darum ermahnt uns der erste Jünger als der Zeuge der Leiden Christi, dass alle, die genug echte Menschen- und Lebenserfahrung haben, um „Presbyter“ genannt zu werden, die Gemeinde als Vorbilder weiden sollen … wobei „Vorbild“ schlicht bedeutet: Wie einen Entwurf, wie eine Einübung, wie ein kleines Modell des zum Leiden bereiten Jesus Christus. Aus freiem Willen also und von Herzensgrund. … Im Bewusstsein, dass die, die hilflos sind und bei denen Hilfe vielleicht sogar sinnlos erscheinen mag, genau die sind, in deren Schar sich der leidende Christus eingereiht hat.
Wer Gott in Christus dienen will, der kann es nur in denen tun, denen sonst nicht gedient wird.
Im ganz Kleinen. Und mit ganzem Ernst. ——
Dann aber ist es schon wieder ganz richtig und in Ordnung, dass die Kirche von unserer Welt in Frage gestellt wird.
Wenn die höchsten Ämter und die höchste Autorität in der Kirche, wenn ihr Bischofs-, also ihr Sorge-Auftrag nicht nur im Dienst der Seelsorge, nicht nur im Ausrichten des Evangeliums und dem erbauenden, tröstenden, heilenden Einsatz der Sakramente bestehen, sondern genauso im buchstäblich christustypisch Wirken von Kindergärtnerinnen und Krankenpflegern, von Obdachlosenfürsorgern und Streiterinnen für Menschenrechte, von Entwicklungshilfe und Palliativmedizin, … dann ist es wirklich nur naheliegend, dass diese Kirche befremdet.
Eine Welt, in der die Selbstsorge mehr wiegt als die Fürsorge, … eine Welt, die sich mehr für das Beenden schwierigen Lebens einsetzt als dafür, es mit jenen zu teilen und auszuhalten, die es erleiden, … eine Welt, die sich nicht kümmert um die Kümmerer, … die die verachtet, die auf andere achten, … die Geduld und Hingabe an der Seite von Menschen zur billigen Nebensache verkommen lässt, ... eine Welt, die den Wert der helfenden Hände geringschätzt und viel mehr die bewundert, die gut festhalten, was sie in Händen haben, … eine solche Welt wie unsere muss anti-kirchlich sein.
Der Christus-Typus, der in allen Ämtern der Kirche Maßstab und Auftrag ist, ist ja das Gegenbild der großen Selbstbehauptung, die diese Welt formt und feiert! ——
Dass wir in der Kirche am Christus-Typus, an der Sorge für andere Menschen in schrecklicher Weise auch scheitern und schuldig werden, ist unbestritten. …
Aber es ist dennoch das hellste Licht und die herrlichste Krone, die es für das menschliche Geschlecht geben kann, dass es in seiner Mitte immer schon und immer noch und immer weiter solche gibt, die in Menschlichkeit und Christusnachfolge sammeln, verbinden und zusammenhalten, was anderen not- und guttut!
… Warum sie das tun?
Weil sie sich selbst nicht suchen müssen. Weil sie wissen, dass sie gar nicht verloren gehen können. Weil sie ja unter der Hut des großen Erzhirten stehen, der zwar hilflos wie die Hilflosesten wurde und mit allen Leidenden alles litt und leidet, … und Der doch gerade dadurch zum Gründer der Gemeinschaft wurde, die allen hilft um Seinetwillen … und die vollendet sein wird, wenn allen geholfen ist.
Dann erscheint Er in Herrlichkeit.
Der, Der Seine Kirche für Andere sorgen lässt, weil Er für sie gesorgt hat, … Er, der gute Hirte, der mit dem Vater eins ist (vgl. Joh10,11+30).
Amen.
[i] Am „Sonntag des Guten Hirten“ (Miserikordias Domini) ist Psalm 23 ein wirkliches Leitmotiv der Liturgie, wie er es rezeptionsästhetisch ja auch im innerbiblischen Gebrauch des Bildes schon ist, das immer wiederkehrt und variiert wird … nicht zuletzt in Jesu Hirtenrede in Johannes 10, dem Evangelium dieses Sonntags.
[ii] Über die Verwendung und ämtertheologische Festigung des Lexems ἐπι-σκοπεῖν wäre eine interessante Untersuchung anzustellen. Mindestens so ergiebig wären Überlegungen zum Begriff des τυπός (Typos= „Vorbild“), der eine so wichtige hermeneutische Kategorie in der biblischen Literatur darstellt. Beide Vokabeln lassen ahnen, wie viel mehr in der Ämter-Theologie zur Debatte steht als reine organisatorische oder Verwaltungsfragen der Kirche. Ihre Ämter sind – eschatologisch begrenzte – Erscheinungen ihrer Mission und Dessen, Der sie sendet und durch sie wirkt.
Ostersonntag, 09.04.2023, Stadtkirche, 1. Korinther 15, 1 - 11, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Tag der Auferstehung des Herrn - 9.IV.2023
1.Korinther 15, 1- 11
Liebe Gemeinde!
Wenn nicht das Weinen irgendwann heute Nacht sinnlos geworden wäre, würde ich jetzt statt Ostereiern - die mir sowieso noch nie jemand richtig erklären konnte! - schön schwere, leicht birnenförmige, oben frühlingshaft sprießende und vor allem saftige Osterzwiebeln verteilen.
Denn wenn es nicht solch ein Unfug wäre, uns alle an einem österlichen Morgen gleich in Tränen aufgelöst und schniefend zu erleben, dann würde es sich heut wirklich dringend nahelegen, eine solche Zwiebel einmal Schicht um Schicht zu entmanteln.
… Auch auf die Gefahr hin, dass mancher die Nase rümpft über diesen derben Geruch, der einer offenen Garküche für Tagediebe und Seeleute in der Nähe des korinthischen Hafenvorortes Kenchreä (vgl.Apg.18,18) zu entstammen scheint, wo Paulus bei der Diakonisse Phoebe ein- und ausging (vgl.Rö.16,1): Phoebe von Kenchreä, die da die Vielen bemuttert haben wird, die von den Christen hörten, dass man bei ihnen in den Gottesdiensten tägliches Brot und Brot vom Himmel und Wein der Freude kostenlos bekommt.
Zwiebelschälen wie bei Phoebe also, die die Armen speist und ihre Gaben mit Gebeten und dem Evangelium würzt. Paulus wird es vielleicht gesehen haben, wenn die Diakonisse Phoebe von der Mitternachtsmission für die Hafenhuren und die entlaufenen Sklaven und die andern vaterlandslosen Gesellen und zwielichtigen Gestalten ihre Eintöpfe machte, und vielleicht hat er selbst kräftig zugelangt in ihrer Kirchenkaschemme in Kenchreä, ehe er wieder ins eigentliche Korinth hochlief, wo die Betuchten und Duftenden unter den Christus-Neugierigen der Metropole den komischen Apostel erwarteten, der für ihren Geschmack vielleicht ein bisschen zu sehr nach orientalischem Zwiebelatem roch.
Jedenfalls hat Paulus mit den Korinthern heute eine Zwiebel zu schälen, … die ja eine ganz besondere Gemeinde sind, … so „vielschichtig“.
Aber was ist nun des Paulus Problem? - Zwei Dinge.
Das Erste wie bei uns: Wo wir doch auch so vielschichtig sind. Wir sind ja nicht einfach nur eine Schale und ein Kern, sondern jeder von uns besteht aus ganz unterschiedlichen Rinden und Sphären und Hüllen. Wir legen uns Rollen zu und Meinungen umgeben unser Inneres; um uns wachsen im Laufe des Lebens Lagen und Ringe der Erfahrung - manche hauchzart, manche wie Leder -, die uns schützen und die wir bestimmt nicht vor jedermann entblättern. Unsere eigenen Erkenntnisse und Vorurteile, unsere Zweifel ummanteln den Seelenkern immer dichter, und wir lassen uns da nur unter größtem Widerstand schälen.
… Das ist bei beinah allen Menschen so. … Und also zunächst nicht weiter schlimm.
… Wenn nicht das Zweite dazu kommt, das für Paulus bei seinen Korinthern das größere Problem war: Der Hochmut derer nämlich, die meinen, das, was sie sich da an Polstern oder Schutzhäuten oder sonstigen undurchdringlichen Schichten auf ihrem Gemüt, ihrem Geist, ihrem Verstandesorgan – sei’s Hirn, sei’s Herz - haben wachsen lassen, das versetze sie in den Stand der Sicherheit, der Gewissheit, der unanfechtbaren Erkenntnis.
… Natürlich nichts gegen die Klugen! Nichts gegen die Weisen (vgl. allerdings 1.Kor.1,18ff)! Nichts gegen die, die ihre gutsitzenden, festgewachsenen Haltungen und Überzeugungen haben!
… Aber wenn es Ostern auf dieser Erde werden konnte, … wenn die festesten Ringe des Saturn und der Hölle sich lösen ließen, wenn die undurchdringliche Schicht, die das hauchfeine Sterblichsein vom großen Totsein da drunter trennte, … wenn das Grab aufplatzen und einen ganz eingewickelten, festverschnürten Leichnam wieder loslassen konnte, dann könnte doch auch bei uns - an sich lebendigen - Menschen sich in den erstarrten und verkrusteten Umschließungen unserer Menschlichkeit etwas häuten, etwas lösen?!
Da war Paulus allerdings bei den Korinthern an die falschen Adressaten geraten.
Sie waren nicht gewillt, sich ihre schönen engen Denkmuster und Verständniskategorien, die sich den eigenen Lebensgewohnheiten ja auch so organisch anschmiegten, aufbrechen zu lassen. Von diesen zähen Vorurteilen aber hatten sie im Blick auf das Evangelium des Paulus ebenfalls zwei, die ihnen besonders im Weg standen. Das eine war die gebildete Voraussetzung des gesamten späteren Griechentums: „Hauptsache der Geist! … Der Rest ist Beiwerk.“
Und die andere Überzeugung, die bei den Korinthern - diesen temperamentvollen, polyglotten Großstädtern - saß wie eine zweite Epidermis: Es gibt nichts, was es bei uns nicht gibt.
Aus beiden Grundsätzen folgte für die Korinther aber ungefähr genau das, was auch bei uns die festeste Schicht um unser Weltbild ist: Sterben ist leiblich. Und wir haben noch nie einen gesehen, der von den Toten auferstand.
…. „Dr. Hegel, übernehmen Sie!“
„… Na schön.
- These: Tod betrifft erkennbar den Körper.
- Antithese: Es ist nicht bekannt, dass es dazu eine uns glaubwürdig scheinende Ausnahme gäbe.
- Synthese: Aber unser Geist, der kann doch was! Also ist Auferstehung eine Sache in unserm Kopf, … und dann können wir ja wohl sagen: Bei uns läuft’s!“
Das war die korinthische Sondertheologie: …Ob unten am Hafen, in der Suppenküche bei Phoebe, wo die knurrenden Mägen und der schmatzende Lebenshunger der Armen hinströmten, das ist nicht so sicher, … aber oben in der Stadt, bei denen, die besonders gern den ätherisch-ästhetischen Apostel Apollos hörten, der - huch! - so gebildet sprach, weil er ja aus Alexandrien stammte - der Sorbonne + Silicon Valley der Antike (vgl. Apg.18,24;19,1; 1.Kor.1,12;3,5;4,6) -, da steht es fest: „Auferstehung ist geistig und so vollzieht sie sich mental an uns schon jetzt!“ (©Apollon) …..
Das ist ein Stöckchen, über das so ein Apostel erst einmal springen muss.
…Nun war Paulus viel zu klug – auch wenn er nicht aus der alexandrinisch-hellenistischen Kaderschmiede stammte, sondern ganz traditionell in Jerusalem studiert hatte –, um in dieser Sache Plattitüden zu verbreiten.
Das ganze, völlig unerschöpfliche 15.Kapitel des 1.Korintherbriefes – und einen längeren Diskurs hat Paulus nur der Frage nach der Hoffnung des christuskritischen Teils von Israel gewidmet (vgl. Rö.9-11)! – entfaltet seine feinsinnige und unzweifelhafte und gerade deshalb viele unserer Fragen offenlassende Gewissheit, dass die Auferweckung aus dem Tod die Mitte und die Substanz und die Dynamik und das unbegrenzbare Potential des Evangeliums ist!
Einen Nachweis der Folgerichtigkeit und Schlüssigkeit des Auferweckungsglaubens führt er darin aber genauso wenig wie er sich etwa in Erklärungen versucht, wie das Unbegreifliche begriffen werden könne.
Auferweckung ist DIE Wundertat Gottes schlechthin, und weder der, der sie verstanden haben will, noch jener, der sie sich als innere Erfahrung zuschreibt, wird Gott jemals dadurch gerecht, dass er beansprucht, dieses unvergleichliche Tun Gottes überprüft, für physikalisch und /oder intellektuell solide befunden zu haben und es darum auch persönlich bei sich zulassen zu können.
Wie Paulus stattdessen ansetzt, hat mit den Schalen und den Schälungen zu tun.
Man könnte es auch die Methode nennen: „Wie wäre es, wenn wir einmal nicht dem Geheimnis der Gnade Gottes auf den Grund gehen wollten, sondern fragen, was wohl in uns der Punkt ist, der nicht weiter entfaltet werden kann, … der Punkt, an dem es gut ist?!“ —
Den Weg zu diesem Punkt, an dem alles bei uns ansetzt und mit dem dann alles einst eben auch seine Bewandtnis haben wird, geht Paulus zwiefach am Beginn des großen Auferstehungskapitels. … Schicht für Schicht.
Und wir gehen beide Durchgänge jetzt auch kurz nach, … in umgekehrter Reihenfolge.
…Paulus scheut sich nämlich nicht, auch die eigene Entblätterung vorzuführen (vgl.1.Kor.15, 8-10).
Das dürfte die Korinther besonders interessiert haben, denn von diesem Apostel gab es ja zahlreiche, pikante, provozierende Gerüchte. Ihn „vielschichtig“ zu nennen, wäre geradezu untertrieben: So viel wussten die Korinther, die das allerdings faszinierend gefunden haben dürften, weil es ihrem eigenen Selbstbild des Extraordinären immerhin schmeichelte.
Und so deckt Paulus also auf:
- Ja, ich, der weltreisende Pionier des Evangeliums bin ein Nachzügler.
- Ja, ich, der globale Apostel verdiene diesen Titel - den Titel eines Amtes, in das Jesus die Zwölfe berief, zu denen ich nicht zählte - streng genommen gar nicht.
- Ja, ich, der unermüdliche Gemeindegründer habe als ein Gemeindezerstörer angefangen, … es ist alles wahr!
- Ja, ich, der erfinderische, zähe, volldampf-fahrende Einzelgänger, der gegen unermessliche Widerstände die Mission unter den Heiden ganz allein betrieben hat, bin innerlich eigentlich so hilflos und unfähig wie ein lebensunfähiger Embryo.
… Aber egal, welche Seite aller dieser Widersprüche, egal welche Schicht meiner Leistung und meiner Selbstkorrekturen ihr da abzieht, egal, was auch immer man an meinen vielen unregelmäßigen Entscheidungen und meinen eingefleischten Eigenarten noch runterpellt, bis ich ganz blank bin: Glaubt mir, wenn ihr bis auf die innerste Zelle gestoßen seid … ihr findet dort keinen stringenten Leitfaden, kein selbstverständlich nachzuvollziehendes Muster, … ihr findet da schlicht … Gnade! … Nicht mich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist, kann man da in der Mitte aufdecken. … Durch diese Gnade Gottes bin ich, was ich bin! ——
Und wenn ihr nun neben dem Boten auch die Botschaft einmal bis in ihr Inneres freizulegen versucht (vgl. 1.Kor.15, 5-7), dann werdet ihr Schale um Schale, Lage um Lage ebenfalls wieder durchdringen, tiefer, tiefer durch die akkumulierten Zeugen, die Überzeugten und ihre lebendigen Überzeugungen:
- Die Erfahrung aller Apostel umschließt das Evangelium wie eine durchsichtige Membran - auch die lebendige Ostererfahrung des dem Paulus so reichlich unsympathischen Jakobus –
- dann die kräftige Schicht der Begegnung von fünfhundert Gläubigen auf einmal in der Urgemeinde von Jerusalem mit dem Auferweckten;
- darunter die einzelnen Gewebelagen, durch die die galiläische Jüngerschar nach dem Riss des Todes aller wieder mit ihrem lebendigen Meister zusammenwachsen durften;
- und schließlich die empfindliche, wie aus reinster Seide gewobene Haut, die auf der rohen Wunde des Kephas - des Petrus, der ihn verleugnet hatte - mit der Auferweckung der Herrn auch seine Heilung wurde;
- … zuletzt aber treffen wir im Allerinnersten - wie wir wissen und eben hörten (vgl. Lk.24, 1-12), auch wenn Paulus es offenbar nicht zu berühren wagt - auf die allerfeinste Schicht: Die Keimzelle des unaussprechlichen Osterglücks der Frauen, die als Erste erfuhren, dass der Lebendige nicht bei den Toten gesucht werden kann, weil er auferstanden ist (vgl.Lk.24,5f). ———
Das ist die Zwiebel, die wir heute alle schälen können, Lage um Lage, Schicht um Schicht.
Obwohl das Weinen irgendwann in dieser Nacht überflüssig geworden ist, können einem dabei die Augen wahrhaftig tränen! … Und übergehen, wenn wir so bis in das Herz des Ganzen vorgedrungen sind.
Was aber finden wir dann dort? … Nun, nicht die Erklärung, die den Korinthern den für sie - wie für uns ja auch so oft! - unvorstellbaren Vorgang der Auferweckung Jesu von den Toten nach ihren Voraussetzungen plausibel machte.
… Das Wie eines Wunders - wenn es denn mehr als ein geistiger Vorgang sein sollte -, ist ja aber auch tatsächlich niemals des Pudels Kern. Die bloße Näherbestimmung - „Wie?“ - würde den Glauben ihrerseits auch überhaupt nicht tragen. Sie würde nur das Wissen bedienen, das dann doch sagt: „Aber für uns Korinther ist es ein intellektueller Vorgang, ein Symbol, eine philosophische Kategorie, die unser Weltbild erweitert … mögen die Hafenchristen, die Plebs der Phoebe in Kenchreä es auch noch so primitiv-naiv materialistisch auffassen.“
Nicht das erklärte „Wie“ liegt also im Herzen der Osterbotschaft.
Sondern das, was auch im Zentrum der ganz persönlichen Betrachtung des Paulus über den Paulus sich fand – und sich bei jedem andern Menschen ebenfalls finden würde, wenn er sich ehrlich, nüchtern und unvoreingenommen auf Herz und Nieren prüft. Trotz aller meiner Bemühungen und Leistungen und auch trotz meiner Riesenirrtümer und Verkehrtheit, muss ich doch bekennen: Nicht ich habe mich aufgeweckt. Nicht ich habe geschafft, dass ich lebe und wieder leben und immer noch leben darf. Gottes Gnade ist es, die das für mich getan hat!
Und das ist auch der innerste Lebenskern und das trostreiche Herz der Osterbotschaft: Gott hat das getan … für mich und für Dich! Dass wir leben und weiterleben dürfen und dass wir leben werden!
CHRISTUS IST FÜR UNSRE SÜNDEN GESTORBEN, BEGRABEN UND AUFERWECKT WORDEN NACH DER SCHRIFT.
In diesem einen Satz ist die Gnade aller Zeiten:
Es war - nach der Schrift - VON ANFANG AN G N A D E .
Es ist es IN DER GEGENWÄRTIGEN, GESCHICHTLICHEN ZEIT der Welt geschehen aus reiner G N A D E .
Und es ist für unsere Sünden geschehen – damit wir also IN ZUKUNFT UND AUCH IN EWIGKEIT durch diese G N A D E leben dürfen.
Das ist die Mitte.
So predigen wir. So habt ihr geglaubt.
Das ist das Zentrum.
Dadurch werden wir selig, wenn wir’s so festhalten wie es uns verkündigt ist, … es sei denn, dass wir’s umsonst geglaubt hätten.
Wenn wir nach der Erklärung des Wunders aller Wunder fragen, wenn wir der Gnade also partout auf den Grund kommen wollen, dann stoßen wir an diesem Grund auf … das Wunder Gnade!
Wo alle Schichten weg sind, … alle engeren und weiteren Begleitumstände abgeschält, da ist sie das reine Innenleben unseres Glaubens.
Und ganz genauso … nein, wohl noch viel mehr auch seine Kraft im Sterben und über den Tod hinaus.
Heute vor 78 Jahren wurde Dietrich Bonhoeffer für diesen Glauben hingerichtet.
Für ihn war das der Anfang des Lebens[i].
Er hat noch viel knapper und verdichteter als wir bisher in einem Predigtentwurf zu 1.Korinther 15 das alles, was das Tiefste und Entscheidende ist, im beinah atemlosen Telegrammstil so festgehalten:
„Christus der Auferstandene allein der Beweis, weil in ihm Gott an uns handelt, weil alles an Christus für uns ist und für uns geschieht. Seine Liebe, Vergebung, Gerechtigkeit, Auferstehung – für uns! Ist Christus mit Leib und Seele auferstanden, so hat Gott das für uns getan, Tod für uns zerbrochen, unser Leib und Seele der Auferstehung teilhaftig. Lebt Christus, so leben die Toten. Denn Christus für uns lebendig und tot. Auferstehung Christi kein Problem.“[ii]
Amen.
[i] Vgl. zu Bonhoeffers letzten überlieferten Worten „Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens“: Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer – Theologe. Christ. Zeitgenosse, München 1967, S. 1037.
[ii] Dietrich Bonhoeffer, Illegale Theologenausbildung: Finkenwalde 1935-1937, hgg.v. O.Dudzus, J.Henkys u.a., (DBW Bd. XIV, Gütersloh, 1996 – S.356): stenographische Mitschrift eines Predigtentwurfs nach vorangehender Besprechung zu 1.Korinther 15,12-19 im 1.Kurs in Zingst und Finkenwalde von April bis Oktober 1935.
Karfreitag, 07.04.2023, 2.Kor.5,17-20, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
Karfreitag – Ostern: diese Feiertage sind auf unserem Kalender deutlich hintereinander gesetzt. Und wir haben uns daran gewöhnt, dass jeder Tag für sich betrachtet und bedacht wird. Karfreitag – da geht es eben traurig zu, keine Blumen auf dem Altar, sogar die Glocken schweigen. Wie könnte es auch anders sein, erinnern wir uns doch an den Kreuzestod Jesu. Ostern – da feiern wir das Leben, singen fröhliche Lieder; denn der Tod hatte Jesus nicht halten können.
Aber eigentlich ist diese Aufreihung der Feiertag nur eine Notlösung. Geboren aus dem Drang, die Schrift erfüllt zu sehen. Im Tiefsten geht es immer um ein Fest. Karfreitag, das leuchtet sofort ein, gibt ohne Ostern überhaupt keinen Anlass, etwas zu feiern. Aber Ostern ohne die Erinnerung an Leid und Tod wäre nur ein beliebiges Frühlingsfest. Karfreitag und Ostern – sie gehören zusammen wie die zwei Seiten einer Medaille. In den Erzählungen der Evangelien können wir davon einiges finden, wenn es bei Matthäus heißt, dass sich im Augenblick des Todes Jesu die Gräber vieler Heiliger öffneten und der Vorhang im Tempel mitten entzweiriss. Osterzeichen am Karfreitag. Und umgekehrt auch: bei Johannes spielen die Wundmale eine ganz wichtige Rolle bei der Begegnung des Auferstandenen mit seinen Jüngern. Karfreitagszeichen am Ostertag.
Karfreitag und Ostern, der Aufstand des Lebens gegen den Tod, neues Leben im Angesicht des Todes. Weil beides untrennbar zusammengehört, hat es Sinn, den Karfreitag, nein, nicht zu feiern, aber ihn auszuhalten und sich mit dem, was da in der Bibel erzählt wird, auseinanderzusetzen. Was also ist an jenem Freitag vor fast 2000 Jahren geschehen?
Da fanden vor den Toren Jerusalems auf einem dafür schon berüchtigten Platz – der Schädelstätte / Golgatha – drei Hinrichtungen statt. Zwei der Verurteilten waren wohl bewaffnete Widerstandskämpfer, die die römische Besatzungsmacht mit Terroranschlägen herausgefordert hatten. Konnte man bei diesen beiden noch die Hinrichtung als berechtigte Strafe betrachten, so sah das bei dem dritten Delinquenten ganz anders aus. Jesus von Nazareth hatte sich wirklich nichts zuschulden kommen lassen, was diesen grausamen Foltertod am Kreuz hätte nach sich ziehen können. Er war Opfer eines Justizmordes.
Verstört und entsetzt waren seine Anhänger. Wie passte das schreckliche Ende zu seinem Leben, zu seiner Botschaft von der Liebe und Güte Gottes, auf die er sich doch auch verlassen hatte? War das Kreuz nicht nur sein persönliches Ende, sondern auch die Verneinung alles dessen, wofür er mit einem Leben gestanden hatte? Doch Gottes Geist, Erfahrungen und Begegnungen unterschiedlichster Art in der folgenden Zeit ließen die Gewissheit in ihnen wachsen: die Botschaft Jesu war nicht tot zu kriegen, sie war Botschaft des Lebens; und auch er selbst war nicht von Gott verflucht, sondern er blieb Gottes Kind, Gottes Sohn auch über den leiblichen Tod hinaus, von Gott aufgehoben in neues Leben. Die Botschaft von Ostern öffnete ihnen die Zukunft.
Gleichzeitig ließ sie die „Warum-Frage“ nicht los, die ja auch heute die Menschen angesichts von Leid und Tod umtreibt: warum musste Jesus leiden und am Kreuz sterben? Im Neuen Testament finden sich die unterschiedlichsten Antworten, die die Jünger und Jüngerinnen Jesu auf diese für sie so bedrängende Frage gefunden haben. Antworten, die dem schrecklichen Tod einen Sinn geben sollen. Eine Antwort lautet: am Kreuz ist der Sohn Gottes für unsere Sünden gestorben.
Eine andere: mit seinem Blut hat Jesus das Lösegeld bezahlt und uns von der Herrschaft des Todes freigekauft. Wieder eine andere: Jesus ist freiwillig in den Tod gegangen, um die Wahrheit seiner Botschaft mit seinem Blut zu bezeugen und zu besiegeln. Und eine weitere: Gott wollte, dass Jesus stirbt, um uns so zu erlösen. Antworten, die wir Menschen heute kaum noch nachvollziehen können, die uns verstören.
Die für mich wichtigste Entdeckung der Jüngerinnen und Jünger Jesu im Zusammenhang mit seinem Tod am Kreuz ist diese: Gott ist dagewesen; er hat sein Schreien gehört, er ist seinen Tod mitgestorben, hat ihn durchgetragen in neues Leben. Während für den Apostel Paulus Jesus durch die Auferstehung zum Sohn Gottes, zum Christus, wurde und als solcher erkannt werden konnte, lässt der Evangelist Markus den römischen Hauptmann beim Anblick des gekreuzigten toten Jesus bekennen: „Dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.“ Gott – präsent im leidenden und sterbenden Jesus. Diesen Gedanken haben die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu dann weitergedacht, angetrieben vom Geist Jesu, vom Geist Gottes. Gott ist präsent, wo immer Menschen leiden. Gott hat nicht nur Mitleid, ihm tun Leidende nicht einfach leid, sondern da besteht eine tiefe Verbundenheit, eine Sympathie, ein Mitleiden Gottes in den Leidenden, der nicht das Leiden, den Tod will, sondern das Leben. Nicht der gewaltsame Tod am Kreuz begründet das Heil, sondern Gottes Leben schaffendes Handeln.
Darauf verweist uns der Predigttext. Er steht im 2.Korintherbrief im 5.Kapitel. Ich lese die Verse 17 bis 20.
„Wenn jemand zu Christus gehört, gehört er schon zur neuen Schöpfung. Das Alte ist vergangen, etwas Neues ist im Entstehen. Das alles kommt von Gott. Durch Christus hat er uns mit sich versöhnt. Er hat uns sogar den Dienst übertragen, die Versöhnung zu verkünden. Ja, in Christus war Gott selbst am Werk, um die Welt mit sich zu versöhnen. Er hat den Menschen ihre Verfehlungen nicht angerechnet. Und uns hat er sein Wort anvertraut, das Versöhnung schenkt. So bitten wir im Auftrag von Christus: Lasst euch mit Gott versöhnen!“
Versöhnung – das ist die Antwort Gottes, seine Reaktion auf die Gewaltverfallenheit der Menschen. Gott möchte eine neue Welt, neue Menschen, einen neuen Anfang mit uns. „In Christus war Gott selbst am Werk, um die Welt mit sich zu versöhnen.“
Und diesen neuen Anfang kann auch der Tod nicht auslöschen. Das ist am Christus Jesus offenbar geworden. Zwischen Gott und Mensch ist alles in Ordnung, weil Gott den Menschen in seine Arme geschlossen hat. Weil er nicht anders kann, weil das sein Wesen ist. Doch damit ist das Werk der Versöhnung nicht erledigt. Der Mensch muss diese Tat Gottes auch annehmen: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Versöhnt sein mit Gott, das heißt gerade auch versöhnt sein mit sich selbst. Sich selbst ansehen können, wie Gott einen sieht – mit allen Schattenseiten, mit all dem, was uns selbst mit uns über Kreuz sein lässt, auch mit allem Versagen, aller Schuld. Versöhnung heißt, hinsehen, annehmen und sich von Gott annehmen lassen, damit er uns neues Leben, neue Möglichkeiten eröffnet, in Zukunft anders mit uns selbst und dann auch mit unseren Mitmenschen umgehen zu können. Was die Christen in den letzten Jahrhunderten allerdings sträflich übersehen haben, ist, dass Versöhnung nicht eine Sache zwischen Gott und Mensch allein ist. Die Hinwendung Gottes, seine Liebe und Güte gilt der ganzen Schöpfung, dem ganzen Kosmos. Und er will Leben für alle und alles.
Um mit Gott und der ganzen Schöpfung in den Osterjubel einstimmen zu können, ist es nötig, dass wir all das Leid, das wir Menschen durch unser Tun und Lassen, durch unsere Bosheit oder unser Wegsehen, durch unsere Gier oder unsere Angst zu verlieren, in den Blick nehmen, all das Leiden, das wir anderen zufügen, unseren Mitmenschen, unseren Mitgeschöpfen, unserer Mutter Erde. Es werden täglich neue Kreuze errichtet – wir Menschen verursachen Leid und Tod, vergreifen uns an Gottes Schöpfung.
Der Maler Roland Peter Litzenburger hat dieses Leiden in seinen Bildern ausgedrückt. Es sind Bilder von der Kreuzigung des Lebens, der Fauna und der Flora – gemalt vor einem halben Jahrhundert.
Und Michael Jackson hat über das Leiden der Erde einen Song geschrieben – einen echten Klagepsalm, nicht nur nach dem Text, den sie im Original und mit einer Übersetzung am Eingang erhalten haben, sondern auch in der musikalischen Ausgestaltung – ein aufrüttelnder Klageschrei im Bewusstsein, in all das Leid verstrickt zu sein. „What about us!“ Was ist mit uns, was ist mit uns Menschen, mit jedem einzelnen, jeder einzelnen los?“ Der „Earth Song“ – für mich passt er einfach zu diesem Karfreitag.
„What about us?“ Was ist mit uns los? Ja, wir sind falsch abgebogen. Erklärungen gibt es viele, aber sie bringen uns alle nicht weiter. Es läuft auf Tod hinaus, wenn wir so weitermachen wie bisher. Was lässt uns innehalten und einen anderen, einen heilvollen Weg finden – für uns und die ganze Schöpfung?
Es ist das Bewusstwerden, dass diese Erde nicht einfach ein Ding ist, eine Sache, ein Planet in der Unendlichkeit des Universums, ja das nichts, was ist, für sich alleine ist, sondern dass in allem Gott gegenwärtig ist – im Guten wie im Bösen, in der Schönheit des Regenbogens wie im mit Müll bedeckten Strand am Ufer des Meeres.
Und wie im Christus Jesus damals auf Golgatha, so leidet Gott heute mit und in allen seinen Geschöpfen. Er leidet nicht nur an dem, was wir der Erde und ihren Geschöpfen Böses antun, er leidet auch an unserem Nichtstun, unserer Gleichgültigkeit. Und er bittet die Menschen: „Lasst euch versöhnen mit euren Mitgeschöpfen, mit der Erde. Behandelt sie wie Geschwister, denn meine Liebe und Güte gilt ihnen wie euch. Kommt ihnen, kommt mir zu Hilfe. Steht auf, ein neues Leben wartet auf euch, auf die ganze Erde. Alles und alle haben Anteil daran. Alles Geschaffene hat Anteil an meiner Herrlichkeit.“
Das Kreuz kann so ein Zeichen der Versöhnung sein: Gott ist zu uns herabgekommen, auf uns zugegangen; und wir suchen als mit Gott und uns selbst Versöhnte den Weg zu unseren Mitmenschen, zu unseren Mitgeschöpfen. Versöhnung braucht Mut und Wahrheit und - mit Blick auf die Schöpfung und ihre Leiden - die Bereitschaft vor allen Dingen der im Wohlstand lebenden Menschen, viele Selbstverständlichkeiten und liebgewordene Gewohnheiten daraufhin zu befragen, ob sich die Erde all das leisten kann, wenn alle Geschöpfe auf ihr noch eine lebenswerte Zukunft haben sollen. Versöhnung braucht die Bereitschaft, es sich genügen zu lassen, nicht Herr über, sondern Teil der Schöpfung zu sein.
Versöhnte Menschen – das braucht die Welt im Kleinen wie im Großen. Denn sie schaffen Bahn für Gemeinschaft, Gerechtigkeit und Frieden – in ihrer Nachbarschaft, in ihren Gesellschaften, in ihren Lebensräumen. Mit Gott versöhnte Menschen geben Gottes Frieden weiter mitten in einer von Leid und Ungerechtigkeit, von Gewalt und Tod gezeichneten Welt. Der Blick auf all die Kreuze menschlicher Grausamkeit, Gier und Gleichgültigkeit lässt sie nicht verzweifeln, denn: „Das Alte ist vergangen, etwas Neues ist im Entstehen. Das alles kommt von Gott. Durch Christus hat er uns mit sich versöhnt.“ Und so sind wir schon heute eingeladen, als diejenigen, die in Christus Teil haben an der neuen Schöpfung, das Leben, Auferstehung zu feiern und zu leben.
Amen
Karfreitag, 07.04.2023, Stadtkirche, Kolosser 1, 13 - 20, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag - 7.IV.2023
Kolosser 1, 13 -20
Liebe Gemeinde!
Stiller Tag: Tanz- und Festlos. … Nach dem Gesetz.
… Was wirklich nicht mehr angemessen ist, wenn weniger als die Hälfte der Menschen einen Glauben teilen, der heute die Stille sucht. … Eine Stille, die sicherlich nicht durch ein Gesetz kommen kann und nicht durch Freudenverbote entsteht.
… Eine Stille ist das vielmehr, die ungeachtet allen Lärms eintritt. Mitten im Artilleriebeschuss, mitten im Pandämonium von Gefecht und Bombardierung kann diese Stille entstehen: Sirenen, Alarm, Schreien, Befehle, Hilferufe, Kreischen von Maschinen- und Brüllen von Körperteilen … doch diese Stille zerschneidet es
… Die Geräusche brechen gar nicht einmal ab und doch herrscht unumkehrbare Stille.
… Das passiert immer, wenn eins der Kinder Gottes seinen Geist aufgibt.
Der Herzton, das leise, regelmäßige oder abgehackte, stoßweise Atmen der Gotteskinder ist für Ihn die wirkliche Musik der geschaffenen Welt. Wenn in dieser unendlichen Symphonie, die schwillt und rauscht und lobt und trägt, seit Er „Es werde!“ rief, … wenn in dieser uns verschwimmenden, Ihm aber herrlich durchwobenen und harmonischen Melodie eine Stimme verstummt: Für Gott steht dann im Schweigen des Nichts alles still.
Das Chaos an sich ist nämlich lautlos. „Tohu und Bohu“ ist die Totenstille, die im Nichts herrscht, weil das Nichts nichts zu sagen hat. Weil im Nichts kein Wort und keine Antwort waren, ehe Der, Der das Wort ist, es sprach … Sich sprach und jener Laut das Leben weckte. Wenn also ein von Gott ins Leben Gerufener nicht mehr atmet – ist doch der Atem der Geist, der Hauch –, … dann dröhnt wieder das Schweigen, gegen das der Lebendige anschuf. Dann durchdringt diese leblose, tonlose, loblose blasphemische Stille alles andere. … Jedes Mal, wenn das Leben in einem Kind Gottes zum Verstummen gebracht wird: jedes Mal, wenn das Licht, das in allem Beatmeten und Beseelten leuchtet, verfinstert wird. ——
Mehr als vierhundert Tage aber sind nun allein schon in unserer östlichen Nähe solche heulenden, donnernden Tage der furchtbaren Stille für Gottes Gehör, Tage der Vernachtung, der Vernichtung für Gottes Gesicht und Gefühl gewesen.
… Es kann also nicht sein, dass uns heute besonders still zumute ist!
Wir haben im Lärm – nicht etwa im Lärm des Krieges oder der Katastrophen, sondern wie-der einmal im dumpfen Blubbern unseres Alltagsschmatzens und -schwätzens – schlicht allzu gern die Stille überhört: Das Verlöschen von Leben, den Abbruch von Puls- und Herzton bei so vielen Menschen, das abrupte Schweigen ihrer eben noch lustigen, bekümmerten, beruhigenden oder verzweifelten Stimmen …….
Es kann aber schlicht keines Gesetzes bedürfen und es vermag kein Zwang zu gewährleisten, dass wir dessen nun heute, in der Ruhe des Karfreitags gewahr würden. ….. ———
Wo immer uns heute aber dennoch die Fürsorge für Mutter und Kind, … der Durst … und dann die jäh aufbäumende Vollendung des Mannes von Golgatha (vgl. Joh.19, 26+28+30) an das verdrängte Schweigen in dieser Welt heranführen, … schon da geschieht tatsächlich Sein Werk! Sein Sterben und Verstummen machen uns hellhörig für das Verstummen und Sterben der Seinen! Sein Karfreitag zieht uns in die Stille der leidenden Schöpfung. ——
KOLOSSER 1, 13 – 20
……. Wie irritiert müssen wir indes sein, wenn wir ausgerechnet in diesem geistlich und auch ethisch notwendigen Verstummen eben plötzlich einen fernen Klang, … ein Lied, einen Hymnus wahrnahmen!?
… Kann das wahr sein?
… An dem Tag, an dem die bürgerliche Gesellschaft immer noch die Vergnügungsstätten und Diskotheken und Fußballstadien schließt, wird ausgerechnet bei den Christen ein erhebendes Lied des Jubels angestimmt?
– Kann das denn sein? …….
In allen Jahren und Jahrzehnten, an die ich mich zurückerinnere, war das noch nie so! Noch nie klang es in unseren Kirchen hymnisch oder hochgestimmt an diesem Tag. … Allenfalls die durchdringende Klage der ergreifendsten Gattung unserer Kirchenmusik - der Vertonungen der Leidensgeschichte, der Passionsoratorien - konnte die Stille des Karfreitags düster oder andächtig noch eindringlicher vertiefen. Die große Generalpause nach dem „Es ist vollbracht“ in Bachs Johannes-Passion hallte unwiderrufen durch unsern höchsten, ernstesten Feiertag … selbst wenn die Musik sich wieder sammelte und ihren Schmerz fortsetzte. —
Doch heute, der Neuordnung der Predigtexte folgend, dringt aus der Frühzeit ein festlicher Rhythmus, ein inbrünstiger Sprechgesang, die starke, wiegende Melodie eines kultischen Schreittanzes durch die beinahe zwei Jahrtausende stiller Karfreitage, … Tage, an denen in Morgen- und Abendland die heilige Liturgie der Danksagung - der Eucharistie - , die sonst das Maß aller Zeit ist, schweigt.
Die allererste Kirche nämlich singt!
… Das Urchristentum Kleinasiens, in dem die jüdische und heidnische philosophische Hochkultur einander durchdringen, hat uns einen klangvollen Schatz des Lobpreises auf den ewigen Sohn Gottes aufbewahrt, der strahlt und schwingt und uns mit seinen Schallwellen in eine wachsende Kreisbewegung, in eine ausströmende Umlaufbahn trägt, die sich konzentrisch um das Kreuz und die Kirche und den Erdkreis und die Himmelsphären legen und schließlich die kristallene, verblauende, infinite Tiefe von Raum und Zeit in weiteren und weiteren Echos auskosten lässt.
Die allererste Kirche, die so winzig war wie die Flaumfeder, die ein Sperling am Tempel der Diana von Ephesus verloren hat, … die allererste Kirche, die so verloren war, wie ein jüdisches Waisenkind auf einem der Sklavenmärkte der vielgötterigen Siegerwelt, … die allererste Kirche, die so besiegt war, dass nach dem Mann aus Nazareth auch schon der Zebedäussohn Jakobus hingerichtet worden war[i] und nun der einsame Heidenapostel Paulus als Gefangener in einer Zelle saß und sein Todesurteil erwartete[ii], … diese hilflos bedrängte, hoffnungslos unbedeutende kleine Gemeinschaft des Gekreuzigten: Sie sang so sicher und so große Bögen, … sie sang so geistreich und ihre Stimme war so hell und so voll der Poesie der Erde, … sie sang mit solcher Natürlichkeit und Weisheit, … sie sang so erleuchtet und zugleich so selbstverständlich, dass in ihren herrlichen Hymnen ihr vielleicht größter Brautschatz bis auf uns gekommen ist.
Denn die Liebe der allerersten Kirche zu ihrem Herrn ist es ja, die wir heute hier, an diesem stillen Tag plötzlich aufbrechen hörten. ….
Eine unvorstellbare Gewissheit schwingt da in der Poesie der Verfolgten, in der geistlichen Improvisation einer jüdischen Sekte, die heidnische Sklaven die Freiheit der Kinder Gottes lehrte: Diese vernachlässigenswerte Minderheit ohne jeden Beweis ihrer Herkunft oder Zukunft vertraut schlicht unerschütterlich darauf, dass ihr Herr der Ursprung des Universums und das Wunder des Kosmos ist!
In Ihm findet sie die Garantie nicht nur für ihre Bewahrung, sondern für die Harmonie aller Dinge!
Ihn betrachtet und bejubelt sie als den Meister und das Meisterwerk, von denen allen Dingen, Wesen und Wirklichkeiten Form und Gehalt zukommen.
Ihn verehrt und verherrlicht sie als unverrückbaren Fix- und unübertrefflichen Zielpunkt der Zeit, als Urquelle aller Materie und zugleich deren belebende Metamorphose:
Durch Ihn ist das Weltall entworfen und zu Ihm entwickelt es sich hin.
Dieser Jesus von Nazareth, genannt: der Christus, den Einige in der ersten Generation noch selber auf Du und Du gekannt hatten - bis sie Ihn verleugneten! -, ist auf eine packende und doch auch wie selbstverständlich für sich sprechende Weise Gottes Mittel und Gottes Zweck im großen Ganzen.
In Ihm wirkt sich die ursprüngliche Freude Gottes an allem Geschaffenen aus, durch Ihn bleibt Gottes Treue zu allen Wesen und zu allem geistig Gegebenen für immer wirksam.
In Jesus, dem Geliebten erscheint das Urbild, das sich in unzähligen Gestalten der Schöpfung ausbildet: Um ihrer selbst willen von ihrem Schöpfer Geliebte, Berufene und Verteidigte.
Und was so an Jesus zu sehen ist, das gilt universal: Gott ist mit seiner Schöpfung unlöslich verbunden. Gott kann dem Gegenstand, dem Gegenüber Seiner unendlichen Liebe darum auch kein Ende bereiten. Was von Anfang an Sein Wille war, hat in Ihm auch Ewigkeit.
Und darum ist neben dem Lebens-Durchbruch in der Schöpfung auch der Durchbruch durch den Tod vom Ursprung her mit Christus, dem Erstgeborenen verbunden: Ur-Beginn und Auferweckungs-Beginn; alles, was vor dem Tod und alles, was nach dem Tod lebendig ist, fängt mit Ihm an.
Diese fundamentale und universale Erfahrung, die aus der Bindung an Jesus fließt – die Erfahrung der alles begründenden und alles bezwingenden Gottesbeziehung, die uns in Ihm zugänglich wird – hat die kleine, schwache, ungesicherte Kirche des Anfangs zu einer kreativ inspirierten Dichtung und Deutung der Welt als christusförmig, der Geschichte als christusführend und allen Lebens bis zum Tod und über den Tod hinaus als eines einzigen Zu Christus-Findens gebracht.
Und es war ihr ernst damit, weil es Jesus Christus so ernst war und bleibt … für alle, für alles!
Das aber macht den kosmischen Christushymnus der Kolosser zum tiefsten Grund der heutigen Stille. Weil er besingt, was alles im Karfreitagsschweigen verstummt:
Alles Leben – von der Anemone bis zur Zeder, vom stummen Reich der Tiefsee bis zu sprühenden Galaxien in größter Ferne, vom Menschen neben mir bis zur unsichtbarsten Mikrobe –… alles Leben ist in Christus, ist Teil von Ihm, … und wie Er Anteil nimmt an allem Daseins, so auch an allem Vergehen.
Was auf Erden verunziert, verunstaltet, verunmöglicht wird, … was man quält, was man ausrottet, was wir Stunde für Stunde verdrängen, verlieren, vernichten in der Schöpfung, … was an Menschen versucht und verbrochen und versäumt wird - das ist alles Karfreitag.
Der Krieg ist Karfreitag.
Genozid ist Karfreitag.
Der Hunger ist Karfreitag.
Vergewaltigung ist Karfreitag.
Abtreibung ist Karfreitag.
Vertreibung ist Karfreitag.
Landraub ist Karfreitag.
Waldbrand ist Karfreitag.
Giftwolken sind Karfreitag.
Dürre und Flut sind Karfreitag.
Das winter- und das bienenlose Jahr ist Karfreitag.
Der Wahnsinn von Saporischschja, das russische, nord-koreanische, iranische Spiel mit der Bombe und die gesamte Weltzerstörungskunst der Menschen sind Karfreitag.
Jeder Tag unserer noch verbleibenden Zeit ist also ein stiller Tag vor Gott.
An jedem Tag wird Gottes Werk misshandelt, Gottes Recht gebrochen, Gottes Reich und Königsherrschaft mit einem Spottvers am Kreuz über der Welt verhöhnt.
An jedem Tag schneidet es Gott ins Fleisch, raubt es Ihm die Kräfte, treibt es Ihm die Tränen, füllt es Ihn mit Galle, wenn Er Sein schönes Gewand - die Schöpfung - von den Quälern verspielen und verscherbeln sieht (vgl. Joh.19,24), … wenn Er Seine Mutter den Waisenkindern der Welt überläßt und Seine Liebsten und Freunde mit brechendem Herzen erlebt (vgl. Joh.19,26f), … wenn Er Seine brüllende, brennende Sehnsucht mit dem Sadismus derjenigen verschärft erfährt (vgl. Joh.19,28f), für die Er doch leidet, blutet und stirbt. ——
Jeder unserer Tage und viele unserer Taten sind also eigentlich von der Stille des Karfreitag umgeben, durchdrungen und begraben, … auch wenn wir noch so geflissentlich Radau dabei machen, … auch wenn wir noch so geschäftig klappern im Weltgetriebe, … auch wenn wir noch so gemütlich vor uns hin pfeifen oder genüsslich über die Schädelstätte tanzen: … Das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung, das Haupt des Leibes wird doch geschunden, ausgeweidet, abgestochen, umgebracht um uns herum und von uns mit. …….
Stiller Tag.
Schockstarr voll aller Schrecken.
Stillstand im Schlimmen.
Stilleben unserer Eitelkeit, unserer Gier und Grausamkeit.
Und dennoch … … … …
… Was uns heute - endlich wieder! - geschieht, ist mehr als alle Stille, alles Verstummen die eigentliche Wahrheit dieses Tages, an dem jeder Krach, der geschlagen wird, und alles Geschrei und Weinen zuletzt doch nichts zu sagen haben.
Was uns heute geschieht – dass wir in die Schockstarre der Schuld und das Schweigen des Todes hinein die Kirche singen hören! –, das ist das Wesentliche des Karfreitag.
Denn gerade der Karfreitag setzt dem Schweigen ein Ende!
Wäre nur die Schöpfung dem Verderben ausgeliefert und nicht auch der Schöpfer: … Es wäre vorüber! …
Nähme allein das Werk Schaden und träfe es nicht auch den Meister: … Es wäre vorbei! …
Stürzte sich bloß der Mensch in das Unglück und den Abgrund und träfe er dort nicht auf die Gemeinschaft mit dem Menschgewordenen: … Es wäre die unendliche Nacht, die unzerreißbare Stille, die unumkehrbare Verlorenheit der Hölle! …
Doch nun hat Der, in Dem alle Fülle … - ALLE FÜLLE! - wohnt, das Unglaubliche getan: Er hat Seine Erfülltheit in die Leere getragen!
Er hat das Nichts mit Sich - dem All! - durchdrungen!
Er hat den Tod durch Sein dahingegebenes Leben unterwandert, übertroffen, verdrängt und gesprengt!
Er hat tatsächlich durch Sein Blut am Kreuz Frieden gemacht.
Und davon singt die Kirche ihren Hymnus – … diesen kosmischen Hymnus, der kein Frühlingslied und kein orphischer Gesang von den Elementen ist, sondern der Jubel der vollkommenen Erlösung, das Preislied auf die weltweite und vollständige Versöhnung dadurch, dass der Lebendige dem Tod das Recht bestritten hat, die letzte Entscheidung zu fällen.
Weil Jesus Christus sich entschieden hat, den Tod anzunehmen, kann der Tod keine absolute Macht mehr beanspruchen. Die Freiheit des Lebendigen und Seine Freiwilligkeit im Sterben haben die Gewalt der Endlichkeit gesprengt.
Jetzt herrschen Zukunft und Hoffnung (vgl.Jer.29,11)!
Und darum – diese Worte sollten wir im Katstrophenstrudel und Konfliktsturm der Gegenwart sehr bewusst hören! – … und darum sind das Ende des Krieges und die Bewahrung der untergehenden Schöpfung und die Aussichten aller Lebenden, aller Wesen entschieden!
Denn „es ist vollbracht“ (vgl.Joh.19,30)!
Christus ist unser Frieden (vgl. Eph.2,14)!
Die Welt ist mit Gott versöhnt (vgl. 2.Kor.5,19)!
… Das ist kein stiller Tag!
… Es ist der Tag, die Fülle der Gnade zu besingen, mit der Gott uns aus der Finsternis in das Reich Seines geliebten Sohnes versetzt hat, in dem wir - und alle Welt! - die Erlösung haben, nämlich die Vergebung der Sünden und den Frieden durch Sein Blut am Kreuz!
Amen.
[i] Vgl. Apostelgeschichte 12, 2.
[ii] In einer herrlichen Auslegung des Kolosserbriefes, mit der Friedrich von Bodelschwingh 1936 einen impliziten Kommentar zur Barmer Theologischen Erklärung vorlegte, thematisiert er die schon vor hundert Jahren umstrittene Urheberschaft des Paulus unter feinfühligen Hinweisen auf die Veränderungen, die gerade in einem Alters- und Gefangenschaftsbrief erwartbar sind: „Aber dann erlebt Paulus immer wieder, wie das Geheimnis Gottes, das ganz dunkel scheint, doch ganz hell wird. Er kann nicht arbeiten, aber er kann denken. Er kann nicht predigen, aber er kann beten. Er kann seine Fesseln nicht lösen, aber als ein Mensch Gottes, der auch für das Schwerste danken darf, ist er fei. Darum ist der alte Paulus von unerhörter Jugendlichkeit. Darum atmet der Gefangene Christi in der Luft herrlicher Freiheit. Von hier aus wundere ich mich nicht, daß die Fragestellungen und Gedanken in diesem Brief etwas anders sind, als sie in den aus der Freiheit und aus voller Arbeit geschriebenen Briefen an die Galater, die Römer und Korinther klingen. Ich wundere mich nicht darüber, daß der alte gefangene Mann, über dem das Geheimnis Gottes ist, mehr als früher seine Blicke richtet auf das Geheimnis und die Fülle des Christus. In der Haft ist diese große Seele still geworden. Sie hat gelernt, daß das Handeln Gottes nicht in den kurzen Wellen verläuft, die an der Oberfläche unserer kleinen Lebens- und Arbeitsgeschichte sichtbar werden. Von der kurzatmigen Betrachtung der Kirchengeschichte, in die wir immer so leicht verfallen, ist er gründlich frei geworden. In der heiligen ὑπομονἡ (Geduld), in dem Drunterbleiben unter der Last, und in der lebendigen Hoffnung, die ihn, allen Hemmungen der Gegenwart zum Trotz, erfüllt, atmet er in dem langen, ruhigen Rhythmus göttlicher Geschichte. So redet er zu seiner Gemeinde und zu uns von dem Geheimnis und der Fülle Christi in der Heilsgeschichte“ (Friedrich von Bodelschwingh, Das Geheimnis und die Fülle Christi in der Heilsgeschichte nach dem Kolosserbrief, Bethel 1936, S. 5f).
Gründonnerstag, 06.04.2023, Stadtkirche, Lukas 22, 39 - 46, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Gründonnerstag- 6.IV.2023
Lukas 22, 39-46
Liebe Gemeinde!
Was ist los? – Immer wieder behaupte ich doch, man solle die Bibel am liebsten das Buch „Fürchte-dich-nicht“ nennen ….. – und dann bricht sie derart in sich zusammen?!
….. Statt des fundamentalen Trostes, statt der grundlegenden Ermutigung, die wir in ihr suchen, lässt sie uns an diesem kritischen Abend völlig im Stich! Wenige Stunden vorm schwärzesten Tag im Kirchenjahr, zu einem Zeitpunkt, an dem wir Christen - wenn überhaupt - zur Feier des Heiligen Abendmahles kommen, um dadurch gestärkt und angesichts der morgigen Erschütterung vergewissert zu werden, stürzt die mühsam aufrechterhaltene Fassade ein: Jesu letzter Weg ist kein Vorgang - kein Vorangehen -, bei dem man vertrauensvoll nachfolgen könnte, …gewiss, dass sein Geleit unser Schutz sein werde.
….. Das Gegenteil zeigt sich heute in bestürzender Nacktheit.
Es ist wie immer, wenn Vorbilder oder Autoritätsfiguren entmythologisiert werden: Der vermeintliche Saubermann erweist sich als heimlicher Schmutzfink; der gefeierte Held ist in Wahrheit ein notorischer Versager; die tadellosen Mustermenschen verstecken ihre Webfehler offenbar nur geschickter als die, denen man die Risse, Narben und Nähte sofort ansieht. Doch wenn irgendwann die Defizite nicht mehr zu vertuschen sind und die Skandale ruchbar werden, dann ist die Enttäuschung umso größer! … Auch hier war also kein Verlass!
… Auch Du, mein Herr Jesus – … Du „Menschensohn in seiner Herrlichkeit“ (Matth.25,31), … Du uranfängliches, ewiges „Wort, das bei Gott war“ (Joh.1,1) –, bist also schlicht ein Schisser?! …
Um diese Frage geht es tatsächlich, wenn man die auf das Abendmahl folgende Szene am Ölberg beim Evangelisten Lukas verfolgt.
Was Lukas vom Leidensdruck und Gebetskampf Christi im nächtlichen Hain erzählt, in dem noch heute knorrige Bäume stehen, die uns - wenn wir die Sprache der Pflanzen nur besser verstünden - berichten könnten, wie es eigentlich gewesen, … das ist einer der umstrittensten Züge der Passion.
Lukas berichtet nämlich von einer so schwachen Stunde des Herrn, dass es mehr als erstaunlich erscheint, ausgerechnet beim einzigen Heiden unter allen Zeugen des Neuen Testaments so schonungslos die Hinfälligkeit des Erlösers aufgedeckt zu sehen. Griechische Götter leiden nicht - jedenfalls nicht physisch -, und wenn griechische Halbgötter Prüfungen und Qualen ausstehen müssen, dann erweisen sie sich als Heroen.
Der griechisch-sprechende Arzt Lukas aber weiß, dass der Mann aus Nazareth, dessen armselige Geburt im Viehtrog ebenfalls nur er überliefert hat, kein mythischer Held ist. Was immer Rudolf Bultmann sich unter der Entmythologisierung vorstellte, haben die biblischen Autoren jedenfalls längst vor ihm schon ähnlich begonnen und besorgt: … Projektionen des Idealen, symbolische Überdehnungen und Überschreitungen des Realen schienen ihnen im Blick auf denjenigen, in dessen Fleisch und Blut sie auf Gott stießen, nicht hilfreich. … Ein Kind mit Zauberkräften, ein körperloser Himmelsbewohner, ein die Materie nur transparent durchströmender Geist[i] - wie apokryphe Lehren und Legenden sie aus Jesus formten -, sind den vier biblischen Evangelisten durchweg fremd. … Jesus isst und weint und zürnt und schläft nach ihrem Zeugnis wie alle Sterblichen, er dürstet, spuckt und streichelt, er nimmt in Tempel und Synagoge am Kultus teil wie jeder andre vom Weibe geborene Mensch auch.
Jesus ist echt. … Er bedeutet nicht … er ist!
– Diesen Grundsatz sollten wir uns merken.
Lukas, der Arzt allerdings hat diese Realität, diese Menschenwirklichkeit, diese physische Greif- und darum auch Angreifbarkeit Jesu im Heulen und Zähneklappern an der Schwelle zwischen Gründonnerstag und Karfreitag - zwischen letztem Festmahl und letztem Atemzug Jesu - in zwei Versen so ungeschönt benannt, dass es schon den frühesten Kopisten des Neuen Testaments anstößig schien, seine Worte und die von ihnen beschriebene Wirklichkeit zu überliefern.
In einem besonders bedeutenden und berühmten Codex – dem Sinaiticus, der auf romanhafte Weise im Katharinenkloster entdeckt wurde und die älteste vollständige Abschrift des Neuen Testaments darstellt – sind die fragliche Vers enthalten, wurde aber von einer späteren Hand vorsichtshalber gestrichen und dann erst von dritter Seite wieder eingetragen[ii].
Worum es geht? – Zwei Begriffe, die im Neuen Testament einzig hier stehen: „Schweiß“ und „Agonie“.
Beide dieser schonungslos körperlichen Phänomene hat Lukas als Wesen und Wirkung der grauenhaften Angst Jesu vor den Schmerzen des Todes benutzt. … Und gerade den griechischen Gläubigen und Theologen schienen das dann doch zu drastische Vorstellungen im Blick auf den geistgesalbten und verklärten Herrn. Es sind eher die westlichen und afrikanischen Kirchenväter, deren Predigten und Auslegungen auf die Verse vom fieberhaften Angstanfall, vom klatschnassen Schüttelfrost der Panik Jesu zu sprechen kommen[iii].
Unverkennbar unerfunden jedenfalls, viel zu echt, um fiktiv zu sein sind diese Details aus Gethsemane. Sie schildern einen wahren Menschen. … So echt, dass der einzige bewusst christlich erzogene römische Kaiser, der später geradezu missionarisch diesen christlichen Kinderglauben ablehnen und im 4. Jahrhundert ein Wiederaufleben des Heidentums herbeizwingen sollte - Julian Apostata - genüsslich den peinlichen Nervenzusammenbruch Christi vor seiner Verhaftung zitierte[iv]. Kaiser Julian protegierte die Verehrung der glühenden Sonne selbst … nicht aber die eines Schwächling, der triefend in der Nacht des eigenen Untergangs auf dem Boden lag und erst von Engeln halbwegs wiederaufgerichtet werden musste.
… Und in der Tat: Auch der Zug, dass Jesus nicht völlig autonom und siegesgewiss zur Passion schritt, sondern Beistand brauchte, erwies sich für die Christen als peinlich: Ein Retter, der auf Engel angewiesen ist, deren Macht er doch so himmelhoch überragt (vgl. Heb.1,4ff) … ist das in seiner Menschenwirklichkeit nicht allzu absurd? …….
Die beiden Verse, in denen der psychosomatische Kollaps des Herrn nach seinem letzten Abendmahl begegnet, sind also wirklich unerfindlich. Noch in unserm neuen Lektionar stehen sie in doppelten Klammern: Man muss nicht über sie predigen – zu unsicher und zu verunsichernd sind diese Sätze … und für heutiges Empfinden natürlich auch zu fromm und legendenhaft mit ihrem Schutzengel-Mythos.
Dabei sind sie aber doch gerade das Gegenteil: Reine Entmythologisierung, reines Zeugnis der radikalen Menschwerdung Jesu. Reine Botschaft seiner Wirklichkeit.
Sie wollen nicht davon überzeugen, was Jesus bedeuten könnte, sondern sie zeigen, dass er wahr ist! ——
Und mit dieser Botschaft sind diese beiden Verse tatsächlich so etwas, wie die Untermauerung und Verdeutlichung des Sakramentes selber, dessen Einsetzung ihnen am Gründonnerstag unmittelbar voranging.
Jesus, der echte Mensch ist kein bloßes Zeichen, kein an sich bedeutungsloser Verweis. Sondern er selber ist die Wirklichkeit und Gegenwart, um die es geht: Wer ihn sieht, der sieht Den, Der ihn gesandt hat (vgl.Joh.12,45).
In Jesus ist Der präsent - real präsent -, Der ohne Übertragungen und ohne Übertreibungen das Leben ist, … Der die Fülle ist, … Der das Ganze, das Original, die Schöpfung, das Universale ist, … das Alpha, das Omega, … der Grund und sämtliche Entfaltung, … der Ruf und jede Antwort, … das Atom und die Unendlichkeit, … die Mitte und die Fläche, … der Ausgangspunkt und die wiederholungslose Weite, … das Korn und das Brot, die Traube, der Wein, … … … das Wort und das Leben!
Wenn alle diese umfassenden, kosmisch-immanenten und geistig transzendenten Inklusions-Versuche aber auch nur einen fernen Begriff von dem eröffnen, was die Inkarnation, was die Menschwerdung des einzigen Gottes im eingeborenen Sohn bedeutet, dann versteht sich, dass zu dem, was sie umfasst und umfängt, auch das unglaubliche Potential unserer eigenen Erfahrungen des Menschseins gehört.
… Dann ist in Jesus also ebenso präsent - real präsent! - die überschwengliche Seligkeit und der totale Horror, die Menschen erleben können:
In Jesus ist dann alles Lachen und Weinen, … alles Glück und alles Leid, … das Schweben und Stürzen, … die Leichtigkeit und das Verschüttetsein, … die himmelweite Liebe und die abgrundtiefe Angst, die in uns glühen und hausen, … das aberwitzige, widersprüchliche, farbensprühende und totgefrorene Mosaik der Emotionen, Regungen und Passivitäten der Menschenseele, ……. in Jesus ist dann alles das auch lebendig und wahr!
Wenn er tatsächlich Mensch geworden ist, dann gab es keinen Filter, der bestimmte Anteile des Menschseins bei ihm aussiebte: Was nicht heißt, dass er die Sünde - also die menschliche Ablehnung Gottes - in sich trägt, aber doch ohne jeden Zweifel erleidet er sämtliche ihrer Symptome, … alles, was sie in uns auslösen und erschweren, … alles, was sie bitter, sauer und giftig in uns machen kann.
Wichtig ist ja, dass nicht unsere Menschheit, unser Menschenleben an sich böse ist - wie die christliche Überlieferung so oft missverstanden wird –, sondern dass in uns auf der ganzen Linie eine permanente Reaktion auf das Böse herrscht, eine Reaktion gegen die Sünde, ein Abstoßungsversuch gegen das tödliche Virus der Gottfeindlichkeit, das sich in uns allen immer weiter auszubreiten versucht.
Genau aber diese Folgen unseres ständigen Dem-Gegengöttlichen-Ausgesetzseins hat Jesus getragen, erlitten und an Seinem eigenen Leibe bekämpft bis zum Durchbruch der Heilung.
… Wenn von Ihm also nur harmlose, harmonische oder symptomlose Zustände überliefert wären, wenn Er wie ein gleichbleibendes Plastinat, ein bewegungsloses Standbild lediglich das Ideal eines Menschen verkörperte, genau dann wäre Jesus für uns und unser Heil bedeutungslos.
… Was Er dagegen durchgemacht hat, das wird Er auch übertragen.
Was Er überstanden hat, das wird auch uns widerstandsfähiger machen.
Was immer Er an Mangel, an Schmerzen, Ärger und Angst erfuhr, das macht Ihn und durch Ihn auch uns kräftiger, sie zu überwinden.
Dass wir die Bibel das Buch „Fürchte-dich-nicht!“ nennen dürfen und dass wir aus ihr - aus dem Wort also - und aus dem Sakrament, das wir heute feiern, tatsächlich auch Arznei gegen die Furcht, Immunität gegen die Einschüchterung, Abwehrkräfte gegen die Todesangst gewinnen können, das liegt gerade daran, dass Jesus diese alle so leibhaftig und wirklich ausgestanden hat.
Seine Agonie und Sein wie Blut strömender Schweiß sind die realen Reaktionen in Ihm auf das, was uns von innen heraus zerstören würde: Die Gefahr, dass wir ohne Gott leben und folglich auch sterben würden, wenn es Jesu Leben und Sterben mit Gott nicht gäbe.
Der diagnostische Blick des Arztes Lukas hat genau diese Vorgänge festgehalten:
Die nächtliche Krise, in die Jesus mit Leib und Seele am Ölberg gerät, ist ein Fieber, das den Kampf um Seinen Körper und Sein Leben einläutet.
Wenn er von den weiteren Episoden dieser schrecklichen Krankheit, die die Sünde auslöst - dieser Krankheit zum Tode - verschont bliebe und darum den Kelch voll bitterer Medizin nicht bis zum letzten Zuge trinken müsste, dann könnte Er zwar davonkommen, aber Seinem Leib bliebe auch der schwerwiegende Prozess der Genesung fremd. … … … Seinem Leib, … das sind wir!
Wir, denen Er genau das heute schenkt: Sich. Sein Leben in Seiner psychosomatischen Wirklichkeit. Sein Leben, das durch die Angst und alle Schmerzen hindurchmusste. Sein Leben, das auf allen Stufen seiner organischen und seelischen Anfechtungen für jeden Menschen und jede Menschenerfahrung die Mittel zum Überleben, zur Heilung, zum vollen Heil ausgebildet hat.
Nur Er, Der unsre Angst bewältigt hat, kann unser Friede werden.
Nur Er, Der unsere Krankheit trug, kann uns gesund machen.
Nur Er, Der unsern Tod gestorben ist, kann uns das Leben schenken.
Nur Jesus, Der das nicht bedeutet, sondern Der das IST:
Opfer der grausam echten, aber auch real überwundenen Menschenangst vorm Sterben.
Dulder der schrecklich einsetzenden, aber auch endgültig besiegten Qualen der leiblichen Zersetzung.
Einziger Fall und nunmehr ewig Überlebender der unvorstellbaren, … aber auch nie mehr wiederkehrenden tatsächlichen Gottverlassenheit im Reich des Todes.
Jesus IST das.
Und das Abendmahl schenkt uns diese Wirklichkeit: Seinen Leib, Sein Leben, die wirklich heil, gesund und dadurch lebenspendend sind. ——
Darum wollen wir nun aber aufstehen und beten – wie Er es nach der Furcht- und Fieberkrise von Gethsemane den Seinen befohlen hat. Wir wollen aufstehen, beten, danksagen, Seinen Leib und Blut, Seine Wirklichkeit, Sein Leben selber empfangen und dann durch alles, was kommt, mit Ihm gehen … in den Tod, … und in die Auferstehung!
Amen.
[i] Legenden von Jesu kindlich-mirakulöser Anwendung der Schöpfervollmacht beim Spiel finden sich in den sog. Kindheitsevangelien (auch dem sog. Protevangelium des Jakobus), während andere heterodoxe Evangelien (die man früher allzu undifferenziert schlicht „gnostisch“ nannte) Jesus durchaus in mythischer, dualistischer und spiritualistischer Weise deuten.
[ii] Vgl. dazu: Hans Klein, Das Lukasevangelium (KEK I/3. 10.Aufl. - Göttingen 2006), S. 681, Anm. 10.
[iii] Vgl. dazu Joseph A. Fitzmyer, The Gospel according to Luke X – XXIV, (Anchor Bible Vol.28A) New York 1985, S. 1443, wo zu den lateinischen Belegstellen dieser Verse die Schriften von Justin Martyr, Irenäus, Hippolyt, Eusebius, Didymus dem Blinden und Hieronymus aufgezählt werden, während die großen griechischen Väter (aber auch Ambrosius), mit ihrer stärker spirituell ausgerichteten Anthropologie diese krass körperlichen Umstände im Rahmen der lukanischen Gethsemane-Perikope nicht zitieren.
[iv] T. Baarda, Luke 22:42-47a, The Emperor Julian as a Witness to the Text of Luke, in: Novum Testamentum 30, S. 289-296.
Palmarum, 02.04.2023, Stadtkirche, Johannes 12, 12 - 19, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Palmarum - 2.IV.2023
Johannes 12, 12-19
Liebe Gemeinde!
Mir ist, als müssten wir heute eine Münze über ihn werfen … über Jesus, den Nebensächlichen, … oder Jesus, den Lächerlichen, … oder Jesus, den Eigenbrötler. …….
Mir ist, als müssten wir eine Münze über ihn werfen, weil es so unentschieden offen ist, was er an diesem Palmsonntag will: Fällt die Münze mit dem Bild nach oben, nehmen wir ihn meinetwegen trotz der albernen Begleitumstände ernst; landet das Geldstück aber mit aufgedeckter Ziffer, dann können wir grinsen, es einstecken und weitergehen und lassen den gestörten Obdachlosen, der vielleicht auch noch ein bisschen beduselt ist, weiter spielen, er sei ein großer Macher, ein Boss, ein König. …….
… Machen wir uns jedenfalls … bei jedem Fall der Zufallsmünze nichts vor: Der Mensch auf dem Esel, den wir als die Attraktion dieses Tages zu sehen gewöhnt sind, fällt nicht wirklich auf im Getriebe des frühlingshaften Jerusalem, kurz vorm Passafest. Da sind viele heilige und viele unheilige Leute unterwegs, Fromme und Spinner, Menschen mit grellen Wahnvorstellungen und solche mit einer inbrünstigen Mission, rechte Israeliten, in denen kein Falsch ist (vgl. Joh.1,47) und durchgeknallte Neurotiker der Endzeitsehnsucht. Bettler wuseln zuhauf durch die Straßen, selbst die Stillen im Lande wimmeln verklärt zu den schönen Gottesdiensten in Zion (vgl. Ps.27,4c), und Parolen, Gerüchte und Wünsche erwachen mit dem Sonnenaufgang und erfüllen die Atmosphäre so durcheinander wie die vielen Leiber, bis es dunkel wird und die zahllosen Träume der schlafenden Massen kommen. … Da ist einer im schmutzigen galiläischen Handwerkerkittel auf einem alltäglichen Satteltier eigentlich gar kein Aufhebens wert.
Und tatsächlich: Ausgerechnet der Evangelist Johannes, der so viel Unvergleichliches von Jesus erfahren hat, als er an seiner Brust lag und in sein Herz hören durfte (vgl. Joh.13,13/ 21,24)) …ausgerechnet Johannes, der noch tiefer und klarer als die drei anderen Evangelisten die überirdische Erhöhung und Ewigkeit und Größe Jesu erkennen durfte, gibt uns eine Palmsonntagsschilderung, in der Jesus unverkennbar nicht die Hauptfigur ist. Er mag zwar die Mitte sein, aber an diesem Tag geht es in Wirklichkeit nicht um ihn, sondern um die Menge. Mit der fängt alles an; mit ihr hört alles auf[i]. Nur irgendwo dazwischen ist Jesus gerade noch zu entdecken: … Wie er entweder tut, was ihm von den Vielen treuherzig zugetraut wird … oder wie er unbekümmert und völlig isoliert gegen ein ins beliebig Allgemeine wuchernde Missverständnis protestiert.
Welche von beiden Rollen er aber mitten in der Dynamik der Masse einnimmt: Darüber - ist mir - müssen wir wohl die Münze werfen.
Zunächst scheint es ja sonderbar und wunderbar, wie selbstverständlich hier die Initiative von den Menschen ausgeht: Auf die Kunde von Jesu Kommen hin geraten sie in Bewegung. Weil er ihnen angekündigt, weil er ihnen verkündigt worden ist, machen sie seinen Weg und sich für ihn bereit! Das ist „Glaube, der aus dem Hören kommt“ (vgl. Rö.10,17), und diese Bereitschaft auf das bloße Wort von Christus hin, ihn selbständig einzuholen, ihm ausdrücklich Raum zu geben und ihn bewusst zu empfangen, unterstreicht welche Beteiligung, welch eine Aktivität im Verhältnis zu Gott auf Seiten der Menschen liegen kann: Johannes’ Schilderung lässt ja durchaus den Eindruck zu, dass Jesus den prophetisch vorgesehenen Esel nur deshalb auch ritt, weil die lebhafte Erwartung und das aufgeschlossene Drängen der Menge ihn dazu bewegte.
Ein Heiland zeigt sich da, der dem Heilswunsch bei den Menschen folgt, … ein Gott, Der die Gottesfrage der Welt freiwillig mit Sich Selbst beantwortet.
Das auslösende Motiv jedenfalls für den heutigen Palmsonntag ist nach diesem Verständnis bei uns zu suchen: Wenn wir Ihn wollen, kommt Gott! Wenn wir dazu bereit sind, wird die alte Heilsverheißung heute Wirklichkeit! Wenn wir – endlich! - das Reich Gottes suchen, erscheint sein König mitten unter uns!
… Paul Gerhardts schöner Vers „Ihr dürft euch nicht bemühen, / noch sorgen Tag und Nacht, / wie ihr ihn wollet ziehen / mit eures Armes Macht“ (EG 11,7) hat vielleicht doch allzu lange allzu tatenlose, willenlose, wunschlose, leblose Haltungen in der Gemeinde befördert. Es dürfte an der Zeit sein, wieder zu lernen und zu üben, dass Gott - wie Bonhoeffer es sagt (vgl. EG 813) - in der Tat „wartet und antwortet“ auf unser Beten und Tun.
Es dürfte an der Zeit sein - und ist es gerade heute! - zu erkennen, dass wir nicht in passiver Teilnahmslosigkeit verharren dürfen, als gingen uns Heil und Unheil, Leben und Tod, Zukunft oder Vernichtung schlicht nichts an. Im Gegenteil: Die Menge in Jerusalem, deren Sehnen und Harren den Messias auf die richtige Bahn brachte, deren Erwartung ihn zur Erfüllung trieb, deren Einsatz also durch seinen Einsatz beantwortet wurde, … diese ungestümen Sucher und Sänger und Palmsonntagsaktivisten dienen uns als Vorbild: Wenn uns das große und wahre Leben gleichgültig ist, weil Gott uns nicht interessiert und der Heilsplan des Schöpfers und Erlösers uns nicht juckt, dann wird nichts geschehen. Und wo nichts geschieht, sondern es bleibt, wie es ist, da geht es zuende. Unsere Rettung und die Rettung der Welt ereignen sich nur dann, wenn wir uns nach dem strecken, was da vorne ist (Phil.3,13) und zu Menschen werden, die der Kommende bewegt.
Palmsonntag ist demnach die Zeitansage für uns jetzt: Nur wenn wir es wollen, wird Der Sich auf den Weg machen, Der die Zukunft ist. Wenn wir aber bloß für uns, wenn wir also unzukünftig leben, dann bleibt tatsächlich auch aus, was wir erbitten, erhoffen, erkämpfen und erglauben sollen!
Darum aber lasst uns aufsehen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens (Heb.12,2)! … Wo man nicht aufs Vergehen setzt, da kommt Er, und wo man Ihn nicht aufgibt, da bricht Er auf! …….
Wenn also die Münze so herum fällt - die Hoffnungsseite nach oben -, … ja, dann will ich diesem König gerne dienen! Denn die Welt braucht Ihn so sehr: Den, auf Den die Hoffnung setzen kann! Den, Der Sich von den Hoffenden rufen lässt! Den, Der Selber die Antwort ist auf die Frage, ob noch Hoffnung sei?!
… Diesem König der Hoffenden will ich gehören, Ihn will ich herbeisehnen und -zwingen voll Zuversicht und Fröhlichkeit mit allen, die in Jerusalem und in Kiew, in Teheran und in Minsk, in Paris und in Odessa, in Washington und in Moskau, in Brüssel und in Luhansk, in Fatima und in Charkiw, in Sanaa und in Bakhmut den Frieden und die Versöhnung und das Leben und das Reich Gottes suchen!
Amen, … ja, komm Herr Jesus (Offenb.22,20)! ———
Doch was, wenn es ganz anders wäre, wenn die Münze durch Zufall das Gegenteil aufdecken sollte?
… Es könnte ja sein, dass die Menge, die da so frenetisch, ja fanatisch tobt und einen großen Auftritt, einen kraftvollen Auftritt herausfordert, eine ganz fürchterliche Macht beschwören will. Massen und Mengen sind ja Brutstätten und Resonanzräume ganz aberwitziger Phantasien: In der Meute fühlen sie sich stark, und als ihr eigenes Spiegelbild, als groteske Projektion der unzufriedenen Ohnmacht der vielen kleinen Leute putschen sie sich auf im Herbeigrölen eines Volkstribuns, eines starken Mannes. Palmsonntag könnte auch das Fest des losgelassenen Populismus sein. Sie skandieren: Her mit dem Helden! Heil! Heil! Heil! …
Das scheinen in den Groß- und Hauptstädten der Welt, in den aufgeklärten Gesellschaften nicht weniger als in den Diktaturen ja auch heute noch - oder heute wieder - sich sehr viele zu wünschen: Großmanns-Träume … Riesen-Rhetorik … Weltherrscher-Triumphe …
Wenn es nach den Massen ginge, dann würde der König womöglich so schlicht und dumpf, so selbst- und rachsüchtig, so brutal und skrupellos auftreten, wie Hinz und Kunz, wie Tom, Dick and Harry in ihren kühnsten Träumen es nur allzu gerne wären. … Und ob in Rom oder Peking, Brasília oder Pjöngjang, im Kreml oder der Knesset, ob durch freie Wahl oder durch erzwungene Knechtschaft: Die Stimme der Straße und das Gesetz der Einschüchterung bringen überall und immer wieder den schrecklichsten Anti-Gott und das verzerrteste Bild vom freien Menschen hervor: Den Tyrannen.
Dann aber wäre das, was die Leute herbeisehnen, … dann wäre die Gunst des Volkes unter Umständen etwas Gemeingefährliches. Und wir täten gewiss gut daran, jene, die Nerv und Nervenkitzel der Horden treffen, zu meiden.
Sollte es also eine Massenbewegung sein, die uns der Evangelist Johannes da zeigt, wo er die lautstarke Umtriebigkeit der zusammengewürfelten Festpilgerschar beschreibt, die sich in Jerusalem in Königslaune steigerte, dann vergessen wir das Spektakel am besten so schnell wie es aufflammte.
… Wenn da nicht, … ja, wenn da nicht der stumme Protest Jesu gegen die Großmannssucht und die Gewalteuphorie wäre, die die Menschheit so oft ergreifen, wenn sie nach Lösungen und Perspektiven für das Leben sucht.
„Hipp-Hipp-Hurra! … Take back control! … Lasst die KI das machen! … Rettet das Vater-land! … Hisst die Regenbogenfahne des Fortschritts! … Alle Macht für uns! … Nieder mit den Waffen der anderen! … Wir wollen alles - und zwar alleine!“, das ist so schnell, so scharf, so laut geschrien, wenn viele sich gegenseitig anfeuern. …
… Und vor tosendem Tumult sieht und hört man kaum jene kleine, graue Gegendemonstration, die da gegen die Strömung weist.
… Denn durch das große Gegröle, … durch die von ihrem eignen Chor berauschte Parade der Parolen hindurch zottelt ein lächerliches Bild:
Ein blasser Typ. … kein plakativ strotzender Publikumsmagnet.
Auf einem Esel.
Unscheinbar wie die Prosa dieser Erde.
Einsam.
Kein Spruch. Kein Versprechen.
Null Aura. … Es sei denn – wenn man ihn ganz aus der Nähe vielleicht doch wahrnähme –, dass man unterm irdisch-tierischen Dunst, den der Esel verbreitet, da noch einen Hauch von etwas anderem ahnte: Er war zwar erst kürzlich verschwenderisch kostbar gesalbt worden in Bethanien (vgl. Joh.12,3) - völlig unpassend bei einem solchen bescheidenen Allerwelts-Mann! - , aber es waren doch immer noch die gleichen Kleider, in denen er ebenfalls in Bethanien zuvor in der Tür eines Grabes gestanden hatte, aus dem bereits der unverwechselbare und unvergessliche Gestank des Todes hervorquoll (vgl. Joh.11,39).
Dieser nach Parfüm und Verwesung riechende Einzelne trottet auf seinem Esel nun aber geradewegs gegen die schaulustige und machtlüsterne Menschheit an. … Gezielt, bewusst und unverstanden zieht er – den sie an diesem Tag auf ihre Schultern gehoben hätten, um ihn hochleben zu lassen (so hoch, wie sie alle gerne immer wieder pokern und einander imponieren und dann auf jeden anderen herunterblicken würden) – … unverstanden, bewusst, gezielt also zieht er nicht zum Fest, sondern zur Fest-Nahme ein.
Er, der gegen sämtliche vitale Interessen der Machtmenschheit verstößt, hat für sich die via dolorosa gewählt: Die Schmerzensstraße, den Dornenpfad, die Sackgasse ins Grab.
Was für ein komisch-kauziger König er also sein will!
… König nicht des reißenden Lebenshungers, der die Welt in ihre Selbstzerfleischung stößt, sondern Häuptling und Vorhut der Sterbenden, … Kreuz-König, … erster und letzter Vertreter, Stellvertreter aller Verrotteten, Verlorenen, … aller, die „Lazarus“ und „Hiob“ und „Rahel“ und „Tochter Jephtas“ und „Opfer“ und „Anonyma“ und „Erde“ und „Staub“ und „Asche“[ii] heißen. …….
… O, was für ein König er auch dann sein will, wenn die Zahl, das Zeichen der Zahllosen oben liegt!
Ein König der wirklichen Mehrheit! … Ein König der stimmlosen und stummen Masse, eine König all derer, die den Palmsonntag nicht erleben - oder den morgigen Tag.
… Ein König tatsächlich für alle.
… Was für ein König!
… Wie sollten wir Ihn nicht auch so herum ernst nehmen, wenn es gar nicht an unserem Wollen und Laufen liegt (vgl.Rö.9,16), weil Er da auf seinem Esel reitet und dann zu Fuß, strauchelnd und entkräftet weitergehen wird und leiden und sterben für die, die nichts können, … nichts sind und nie mehr etwas werden werden?!
Soll Er nicht auch so mein König sein, … unser König, unser Herr?!
… So, wie wir es niemals wollen und wählen könnten.
… So wie nur Er es Sich vornehmen konnte, weil Er über alle Hoffnung hinaus einen Weg geht und ein Ziel hat: Sein Weg, den Er nicht für Sich geht, Sein Ziel, das Er nicht um Seiner Selbst willen sucht. Weil es Ihm gar nicht um Sich geht, … sondern um die Menge!
Weil Er für sie, … für alle Welt da ist und dahingeht. Und das Tiefste teilen wird.
… Und das Leben.
Weil Er der König Aller ist.
– Fürwahr: „Alle Welt läuft ihm nach!“
Ja, „wie köstlich riechen deine Salben – du König! Zieh doch auch uns dir nach … so wollen auch wir laufen!“ (vgl. Hohes Lied 1,3f)
Amen.
[i] Das gilt buchstäblich für die Perikope unseres Predigttextes, die sehr deutlich hervorhebt, dass hier nicht die Menge auf Jesus, sondern dieser umgekehrt auf die Menge reagiert, und die dann in der Feststellung seiner universalen Akklamation mündet.
[ii] Lazarus begegnet innerneutestamentlich kaum zufällig auch als der, der erst durch den Tod Linderung seines ungerechten Loses erfahren konnte (vgl. Lukas 16,19ff); der -nach menschlichem Ermessen völlig grundlos geprüfte - Hiob wiederum erscheint im Jakobsubrief (5,11) als Identifikationsgestalt der (Jerusalemer) Urgemeinde; das Geschick der unglücklichen Rahel, die prototypisch für die erschütternde Sterblichkeit der Mütter steht, beschäftigt die Bibel vielfach (vgl. 1.Mose35; Jeremia 31, 15f; Matth.2,18); Jephthahs Tochter als Opfer buchstäblich patriarchaler Gewalt (vgl. Richter 11,30ff) weist auf die „Anonymas“ voraus, die in allen Konflikten und Kriegen der Geschichte bis in unserer Gegenwart so Unerträgliches erleiden müssen.
Laetare, 19.03.2023, Stadtkirche, Jesaja 54, 7 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Lætare - 19.III.2023
Jesaja 54, 7-10
Liebe Gemeinde!
Wer durch Israel reist oder mit Hebräisch-sprechenden Menschen zu tun hat, wird an der Klagemauer oder in den Bars von Tel-Aviv eine Wendung sofort aufschnappen, weil sie allgegenwärtig hin- und herschallt, von allen uralten Mauern der Stadt Jerusalem als Echo verstärkt und mit charakteristischer Geste unterstrichen.
… Seit 3 Jahren gibt es für die, deren Textnachrichten mehr aus knalligen Bildern als komplizierten Worten bestehen, auch ein Emoji, das sofort als das jüdischste aller Handzeichen identifiziert wurde, obwohl es eigentlich ein italienisch-temperamentvolles „Ma che vuoi?“ … „Was willst du denn?“ wiedergeben sollte. … Alle mit Herz und Zunge hebräisch tickenden Zeit-genossen erkannten aber in den spitz zusammengepressten drei ersten Fingern die unmissverständliche und gleichwohl vieldeutige Veranschaulichung des Rufes „Rega!“.
… »Rega!« ist der ewige Refrain im Leben der heilsgeschichtlich und auch sonst ungeduldig wartenden Juden. Es heißt: „Mach mal halblang!“, „Augenblickchen!“, „‘n Sekunde wirst Du wohl noch haben!?“ »Rega!«: „Bleib ma’ locker! … Halt ma’ still! … Hör’ ma’ her! … Sachte mit die jungen Pferde!“ Aber genauso auch: „ …Na, komm schon! …Wird’s bald?! …Sofort! …Jetze“, wie der Berliner bollert.
»Rega!«, das ist also das Zeitwort schlechthin im jüdischen Leben. Der »Rega!« -Rhythmus ergibt die Achtelnoten, die unter allen längeren Atemzügen klopfen, das Motiv der pausenlosen Spannung und des steten Achtgebens, der Puls der quicklebendigen Geduld und der ewig unruhigen Dauerbereitschaft für das Kommende.
»Rega!«: „Ruhig Blut!“. — »Rega!«: „Ganz bald!“ …………
Diesen lebendigen Doppelsinn kann das Wörterbuch kaum hergeben. Dort finden wir רגע als „Augenblick; verschwindender Zeitmoment“ wiedergegeben[i]. Der Begriff bezeichnet also das flüchtige „Nun“, in dem alles Leben für unser Wahrnehmen besteht: Die Spanne, die da ist, bloß um zu vergehen; das Jetzige, das unaufhaltsam endet und doch allezeit fortwährt, weil wir nur diesen Atemzug, … dieses Blinken unserer Augenlider, … diesen, just während ich Luft hole sich ereignenden Schlag des Herzens haben. … Ein »Rega« und wieder ein »Rega«. … Nie mehr zugleich. … Die Sekunde des Atmens, die sich ankündigte und verflog, während ich sie noch begreifen und nennen wollte. …….
Wenn sie im Volk Gottes also immer und überall, existentiell hastig und doch auch zu-tiefst beschwichtigend »Rega!«, »Rega!«, »Rega!« skandieren, dann hören wir darin das Lebendigsein selbst. Es ist voller ausgreifender Bewegung und doch nur momentan; es wiederholt sich nie, sondern bringt immer nur winzige Punkte hervor, in denen ich lache oder leide, in denen ich Druck oder Jubel spüre, in denen es furchtbar oder selig um meinen Leib und meine Seele steht. …
Momentaufnahmen; Augenblickserscheinungen; Sekundensplitter: Der Stoff des Ganzen, die Fülle der Geschichte und doch nie mehr als ein Bruchteil, ein Körnchen, ein Brosame.
Diese seltsamen Atome, aus denen Denken und Hoffen, Erfahrung, Erinnerung und Entwürfe bestehen, begegnen uns heut, am fröhlichsten Sonntag der Leidenszeit indes nicht von ohngefähr: Steht diese Mitte des Wegs Jesu in seine Passion doch unter dem Motiv der kleinen Zelle und des spröden Keims, die sich auflösen müssen - Korn, tief im Ackerboden -, um im Vergehen aufzuhören und zugleich aufzubrechen in bleibende Frucht (vgl. Joh.12,24[ii]).
Dass es aber dieses Geheimnis gibt, … dass die berstend vollen, unruhigen Momente der Zeit nun gerade nicht für sich stehen und ihren abgeschlossenen Sinn haben, sondern noch in ganz anderer Weise bleiben und wiegen und gelten werden, … dieses Geheimnis, das in jedem Augenblick schlummert und asugerechnet im Vorübergehen, im Vergehen und Vergangen-Sein aufgeht: Davon spricht das unglaublich tröstliche Gotteswort bei Jesaja, das uns heute zufällt als Same im Acker unserer Zeit- und Lebensgeschichte.
»Rega!«, sagt Gott darin. „Momentchen!“ … „Sekunde!“ … „Ruhig Blut!“ … „Alsbald!“
»Rega!«. ……. ———
In seiner schwersten Stunde, in der die Jünger ein Verdauungsnickerchen nach dem Fest hätten machen wollen und Jesus doch das Geheimnis aller Zeiten lüftete, da hat auch er es gesagt: „Ein »Rega« noch (griechisch: μικρὸν – Mikron) und ihr werdet mich nicht mehr sehen; und abermals ein »Rega«, dann werdet ihr mich sehen. Da sprachen einige seiner Jünger: Was bedeutet das, was er zu uns sagt: »Rega« … »Rega« …?“ (Joh.16, 16f)
… Was bedeutet das, wenn Gott, Der Ewige den Augenblick beschwört?
… Was bedeutet das, wenn Jesus, der geboren wurde, als die Zeit erfüllt war (vgl. Gal.4,4), von winzigen Momenten redet, in denen so Unfassbares wie Sonnenfinsternis und Tod und Abstieg in die Hölle bevorstehen?
… Was um Himmels und der Hölle willen bedeutet das Zeitwort »Rega!«, wenn es Gott ist, Der es nutzt?
„Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen … habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, … spricht der HERR, dein Erlöser“: Da steht es zweimal bei Jesaja, im schönsten Trostbuch der Bibel.
Martin Buber und Franz Rosenzweig, der durch seine ALS-Erkrankung völlig reg- und sprachlos in der Passivität Gefesselte, haben diesen Satz unter wunderbarer Verschmelzung der hebräischen Vokabel »Rega« mit unserer Muttersprache so verdeutscht: „Eine kleine Regung lang / habe ich dich verlassen … Als der Groll überschwoll / verbarg ich mein Antlitz / eine Regung lang vor dir …“
Eine »Regung« lang: Ein Aufwallen und Abebben lang. Einmal tiefes Ein- und wieder Ausatmen. …….
So fühlt also Gott: So ungeheuer lebendig ist Sein Miterleben, … so echt, … so beteiligt und eingebunden in alles, was Seine Menschen machen und durchmachen, … so direkt bewegt, angestachelt und durchdrungen von allem Leid, das sie verursachen und durchleiden.
Jeden Moment also teilt Gott, … die scharfen Schmerzstiche, die endlos wirkenden Krisenerfahrungen, in denen etwas Zugespitztes oder ein akuter Ausbruch sich für die Betroffenen anfühlen wie eine reine, unabsehbare Ewigkeit des Erstickens, der Lähmung, der Aussichtslosigkeit. Es sind REGungen, die Gott aufwühlen und in Wallung bringen, in denen Er scharf Luft holt, in denen es in Ihm bohrt und zittert und wie übermächtig wird: … Er zuckt zurück, … es ergreift Ihn, … Er wird verletzt, … es stößt Ihn ab, wirft Ihn um, … es bringt Gott raus!
So erlebt Gott unser Leben mit, so geschieht es Gott in unserer Geschichte, so geschieht sie Ihm und so geschieht sie durch Ihn.
Doch weil Er eben kein unbewegter Gott, wie der der Philosophen ist, …weil Er ein Gott der REGungen und Rührungen ist, … ein Gott, Der nicht in Seiner Ewigkeit wie in Beton erstarrt, sondern überfließt, wenn sich die augenblicklichen, die vorübergehenden Schrecken, Enttäuschungen und Schmerzen Seiner Menschen auch in Ihm aufstauen, darum kann der lebendige und mitleidende, der zürnende und schmerzempfindliche Gott Israels diesen einzigartigen, seltsamen Widerspruch formulieren:
Ich, der Gott des ewigen Erbarmens - ICH, Der Ewige also - BIN in Deinen Augenblicken! Ich bin der Moment-Gott!
Ich bin jetzt Gott … nicht obwohl, sondern weil es sich gerade in dieser Sekunde, an diesem Tag, in dieser Zeit so gar nicht danach anfühlt! …
Er sagt damit ein Zweifaches: Ich bin nicht außerhalb Deiner Welt - Israel - Gott, … bin nicht außerhalb Deiner Erfahrungen, Leiden und Verlassenheit Gott, sondern darin, verborgen in Deinem Verlassen-Sein, berührt durch Dein Abstoßendes, auf Dich bezogen durch das, was uns trennt.
Nicht im Jenseits also bin ich Gott, sondern im Vergehenden!
Und gleichzeitig sagt dieses unerhörte Wort, in dem Gott selbst sich ins Vergängliche und Vergehende eingliedert, natürlich auch dieses: Die Katastrophen der Geschichte, die zementiert erscheinenden Leiden und Unglückserfahrungen unter uns Menschen … vergehen!
Dafür greift Gott in der Botschaft durch Jesaja, in der Zeit des als unumkehrbar empfundenen Endes Israels nicht zufällig zurück auf die enormste kosmische Katastrophe, von der die Bibel berichtet: Ausgerechnet die Sintflut, diese beinah totale Auslöschung des naturgeschichtlichen Lebensraumes der von Erde genommenen und auf die Erde gehörenden Menschen, dient als Veranschaulichung des »Rega«-Charakters, des Augenblickshaften sogar noch des im universalen Maßstab Allerschlimmsten.
Noahs Zeit war buchstäblich die Endzeit! … Und dennoch hören wir durch Jesaja: Auch die Endzeit ist bloß ein »Rega«! ———
Wie dieser Trost zu buchstabieren und zu hören ist, wenn man in Babylon im Exil schlicht-weg keine Zukunft mehr sehen kann, sondern nur dauerhaftes Nichts? … Schwer!
Und doch ist genau dieses irritierende Evangelium, dass die aussichtsloseste Tragödie und der finale Untergang bloß kurze Wimpernschläge sein sollen, in Babylon schon aufgeschrieben und mit den tatsächlich wider alle Erwartung nach Ablauf einer Generation heimkehrenden Juden in das heilige Land zurückgekommen und in die Heilige Schrift aufgenommen worden!
… Nichts an der Katastrophe, wie Jesajas restlos entmutigte und hoffnungslose Gemeinde sie erlebte, wird dadurch in Abrede gestellt.
… Aber die ungeheure Botschaft, dass Gottes „kleine Augenblicke“ das wirkliche Maß und auch der einzige Fortschritt der Zeit sind, bleibt.
Die Zeit steht nicht still!
Die Geschichte steht nicht fest!
Was immer uns endgültig scheint, ist doch bloß »Rega«!
Und wo immer etwas für uns unerreichbar oder ausgeschlossen ist, da heißt es »Rega«!
Der Druck vergeht. Die Lösung kommt.
Nichts dauert so lange, wie’s uns vorkommt, wenn wir drinstecken.
Nichts liegt so fern, dass es sich nicht überraschend und unverhofft einstellen könnte.
Und in allen diesen, währenddessen unverrückbar erscheinenden und dann doch so kurzfristig verwehenden Erfahrungen ist der Gott des Augenblicks, der Gott, Der in Schrecken, Zorn und Lebendigkeit den Moment mit Seinen Menschen teilt, dabei.
Tiefer kann und muss das Evangelium des Jesaja gar nicht bohren. Gerade dass hier ausgehalten wird, jede noch so tote Zeit, jede noch so leere und darum lähmende Sekunde des Stillstands, der Bedrohung und des Verhängnisses trotzdem noch mit Gott zu verbinden, ist ja die Kraft dieser Botschaft!
… Die Kraft, die heute bedeutet, die allgegenwärtige Endgültigkeit der aufziehenden Unheilswolken nicht als den Schatten des Todes anzustarren, sondern den Spalt des womöglich rasanten Durchbruchs neuen Lebens nicht zu übersehen.
Dass wir das in Gemeinschaft mit den Menschen, die Jesaja und Jesus durch die frohe Botschaft vom kurzen Augenblick trösteten, auch heute wagen dürfen, ist fast unheimlich!
Wer sind wir denn in unserer Sicherheit hier, dass wir vollmundig behaupten dürften, der zähe, festgefahrene Vernichtungskrieg in der Ukraine sei bloß so etwas wie ein Lidschlag? … Das siebzigjährige Dilemma des jüdischen und arabischen Zusammenlebens werde sich einst im Nu auflösen? … Unsere weltweit immer noch beinah vollständige Blockade zur Umkehr in Richtung ökologisch verantwortlichen Lebens werde sich bald als eine winzige Weile der Unvernunft erweisen? …
Wer sind wir, dass wir zu allen Schuld- und Schicksalsfragen, die die Welt bedrängen, sagen dürften: „Über ein kleines und abermals über ein kleines… “ - »Rega und Rega!«? …….
Nun, wenn wir aufrichtig sind und nicht oberflächlich ausblenden, was ist, dann sind auch wir Leute, die an der Abbruchkante stehen; ein Geschlecht, über dem die Sonne sinkt und eine Zeitgenossenschaft, in deren Stundenglas die letzten Körner Sand gerade zur Neige gehen.
Wir sind Leute, die ins Nichts schauen.
Wir sind - wenn wir uns nicht belügen - eine Welt, die tief versinkt in eigener Schuld und letzter Not. …….
Und darum verbietet sich’s nicht nur, dass wir Andern volltönend die prophetische Minutenpredigt, das heutige Evangelium vom wendenden Augenblick predigen, sondern wir können uns das kleine, allesentscheidende Trostwort nicht einmal selber sagen.
Auch wir sind ja nur Korn, das in den Acker, in den Tod gesät wird.
… Aber genau als solche Menschen, die an den Leiden teilhaben, ist uns auch der Anteil am Trost (vgl.2.Kor.1,7!) von Gott selber zugesagt[iii]. ——
Die ganze tiefe Sorge, die sich über unseren Tagen auftürmt, sie wird sich von Gott her - und nur von Gott her! - in einem Augenblick lösen, so wie das ungeheure Wolkendunkel, das einer der großen englischen Kirchenlieddichter, ein Zeitgenosse der Romantiker besang. William Cowper[iv] war selbst ein Mensch, den Schübe von Depression und furchtbare Verlorenheits- und Verdamnisängste mehrmals zu Suizidversuchen trieben. Doch in der lastenden Verfinsterung, die auch den Heiligen solche Todesangst einjagen kann, erkannte er in seinen hellen Stunden die zum Bersten vollen Speicher des göttlichen Segens, der nicht sintflutartige Auslöschung, sondern einen plötzlichen Durchbruch der Rettung über unseren Häuptern bringt.
In seinem letzten Lied: “God moves in a mysterious way / His wonders to perform”[v] heißt es in Anlehnung an die Noah-Erinnerung in der Trostpredigt des Jesaja:
“Ye fearful saints, fresh courage take;
the clouds ye so much dread
are big with mercy, and shall break
in blessings on your head.”
Verzagt doch nicht, ihr Heiligen:
Was euch da dunkel droht,
bricht bald; und wie aus Wolken strömt
euch Heil herab von Gott.
——
Und deshalb lassen wir nun alle Erregung, die uns in diesen Tagen umtreiben mag, … die ganze zornige Aufregung, die wir Menschen Gott zu allen Zeiten zumuten, … ja, schlicht sämtliche Regungen und Wirren und Panik der ganzen Erde – »Rega! Rega!« - in’s Leere laufen und hören nur noch Ihn selber.
Ein Wort hat Gott für uns, und mit diesem Wort wird alles gesagt und geheilt und gehalten.
Der nämlich, Der in jeder Augenblicksregung, in jedem vergehenden Moment unser Gott ist, ist Der, Der uns das Bleibende zusagt:
„Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen und doch soll meine Gnade nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.“
… Und das ist das andere Wort, das jeder, der in Israel reist oder lebt oder mit Israel glaubt, immer und überall hört und als ewig vernimmt: Shalom!
… Der Bund Seines Friedens!
Amen.
[i] Wilhelm Gesenius, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Nachdr. der 17.Aufl., Berlin u.a. 1962, S.745.
[ii] Wochenspruch des Sonntags Lætare.
[iii] 2.Korinther 1, 3 – 7 ist die Epistel an Lætare.
[iv] Ein glänzender Abschnitt zu Cowper aus John Julians‘ Dictionary of Hymnology (1907) ist zugänglich unter: https://hymnary.org/person/Cowper_W
[v] Text nach “Ancient & Modern: Hymns and Songs for Refreshing Worship”, London 2013, No. 647 (Übersetzung der 3.Strophe: J.M.).
Als Kostprobe dieses unerschöpflichen Liedes , das früher „Light out of Darkness“ überschrieben war, hier nur die letzte (6.) Strophe:
Blind unbelief is sure to err,
and scan his work in vain;
God is his own interpreter,
and he will make it plain.
Reminiszere, 05.03.2023, Stadtkirche, Markus 12, 1 - 12, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reminiscere - 5.III.2023
Markus 12, 1 -12
Liebe Gemeinde!
Das Blöde an der Bibel (so habe ich noch nie angefangen!) ist ja, dass sie so ernst ist und so oft mit ihrem Ernst Recht hat. … So oft, dass man an vielen Stellen schon gar nicht mehr nachprüfen muss, weil es sich doch von allein aufdrängt, dass kam, was kommen musste: Die halt-, maß- und rücksichtslose Menschheitsstufe vor der Sintflut (Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind geradezu fruchtbar aufschlussreich!) musste den von ihr heraufbeschworenen Untergang erleiden! … Die freiheitsuntauglichen Sklaverei-Nostalgiker, die Moses anführte, mussten vor Selbstmitleid in der Wüste sterben, weil sie die Geduld für den eigenverantwortlichen Neuanfang in Kanaan nicht mitbrachten. … Die konsumsüchtigen Götzendiener, die im Nordreich von Israel den gleichen Gierkult wie die gesamte Kultur Vorderasiens trieben, mussten unter den Assyrern schlicht dran glauben, denn dass Kraftmeierei siegt, war ja gerade die Botschaft ihres Baal. … Und die kritiklosen Immer-weiter-so-Priester und -Würdenträger in Jerusalem, an denen alle Propheten bis Jeremia sich mahnend und warnend abarbeiteten, mussten die Lehre des Exils durchlaufen, in der Glaube an Den Unsichtbaren und primitiver Erfolgszauber sich dauerhaft schieden. … Das angedrohte Ende musste einfach in jedem Fall eintreten. ——
Mit dieser bestürzend fatalistischen Erwartung gehen wir also allzu oft an die Bibel heran, als sei sie das Buch des göttlichen Pessimismus, … ein Dokument des ewigen nicht Besser-, sondern Schlechter-Wissens.
Ob in solcher Negativerwartung aber nicht viel mehr von unserer Denkfaulheit steckt, als von einem tatsächlichen Gesetz des Immer-so-kommen-Müssens? Ist es nicht gerade unsere menschliche Trägheit, die sich einredet, es sei sowieso nichts mehr zu ändern, es sei zu spät und zu aussichtlos, noch Umkehr und Hoffnung, noch Zukunft und Leben zu behaupten?
Ist aber nicht genau das auch die saublöde und selbstmörderische Bequemlichkeit, mit der wir heute den vielen drohenden Untergängen begegnen? … „Dumm, wie’s ist, und schlimm, wie’s kommen wird, … aber was sollen wir tun?“
Wenn das die Botschaft der Bibel wäre, dann sollten wir sie getrost auf ein oberes, hinteres Bücherbrett stecken, wo sie neben Arthur Schopenhauer und Oswald Spengler und allen anderen, die der Zuversicht nur mit Verneinung begegnen können, verstauben darf. Ihre Garantien der Totalzerstörung mögen die Zeugen Jehovas und Netflix unter sich aufteilen! Wir haben keine solche sichere Apokalypse im Programm. Im Gegenteil. Wir haben einen Gott, der spricht: „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung“ (Jer.29,11).
Und darum ist es gerade in der Horizontverfinsterung von heute, an einem Passionssonntag wie diesem umso wichtiger, dass wir die bittere und lahme Wette der Hoffnungslosen ablehnen: Lieber wollen wir enttäuschbar leben, als ohne jede Erwartung! „Lieber – wie man in der Neanderkirche unter dem Bildnis des großen Dichters lesen kann – … lieber sich zu Tode hoffen, als durch Unglauben verloren gehen!“[i] ——
Wenn aber das unsere christliche Grundvoraussetzung ist – dass es immer noch viel besser, viel gnädiger, viel überraschender kommen kann als geunkt! –, dann haben wir mit dem Gleichnis von den bösen Weingärtnern heute ein verrostetes, vergilbtes und vermoostes Stück der biblischen Überlieferung wirklich zu reinigen, wenn es wieder im Licht der Zuversicht soll glänzen können!
Denn was wie hässliche Rostflecken an der Erzählung Jesu aussieht, was sie so abgrundtief negativ wirken lässt, ist in Wirklichkeit Blut. …
Mit der Geschichte des Weinbergs spinnt Jesus ja ein uraltes Motiv der Propheten fort, die vielleicht schon in Erinnerung an den ersten Gruß, den die Kundschafter aus dem gelobten Land hinaus zu den Wandernden in der Wüste brachten (vgl. 4.Mose 13,23), Israel gerne mit einem herrlichen Weingarten verglichen:
„Ich hatte dich gepflanzt als einen edlen Weinstock, ein ganz echtes Gewächs“, hören wir Gott bei Jeremia (2,21) zu Seinem Volk sagen, und der Sänger Asaph im Psalm schwelgt in der Üppigkeit dieses auserwählten Weinstockes, den Gott hat einwurzeln lassen, bis das ganze Land davon erfüllt war (Vgl.Ps.80, 9ff). Und wie der Prophet Jesaja (5,1ff) von Gott, dem hingebungsvollen Winzer singt, der sich so viel Edles und Süßes von seinen liebevoll gehegten Reben erhoffte, das hörten wir gerade eben ja als Schriftlesung.
Dass nun in Garten und Weinberg allerdings nicht alles so gedeiht, wie es der Gärtner hofft, ist jedem vertraut, der die Radieschen von oben betrachtet.
… Aber gerade der Kreislauf der Natur und die Zyklen, in denen Misswuchs und verschwenderische Ernten einander ablösen, machen ein endgültiges Fazit, einen Schlussstrich unter die Geschichten des Wachsenden und Fruchtbringenden doch so unvernünftig und so unwahrscheinlich.
Und im Unterschied zu den prophetischen Bildreden, in denen Gott impulsiv die verhagelten oder mickrigen Ernten beklagt, auf die Er sich vergeblich freute, scheint in Jesu Gleichnis der Weinberg nun gerade nicht frustrierende Erträge zu bringen. Im Gegenteil: Das traditionelle biblische Bild für Gottes Eigentumsvolk Israel ist ja ausdrücklich der Gegenstand der Begierde seiner Pächter. Alle wollen ihn. Gerade um Israel nicht wieder hergeben zu müssen, fügen die Weingärtner den Abgesandten seines Herrn Schimpf und Schaden zu und sind sogar zu einem ultimativen Verbrechen bereit. …….
Das ist schlimm: Dieser ungerechte Kampf um das geliebte Israel, der zu immer verderblicheren Mitteln greift.
Es ist ein Kampf, wie er just in diesen Monaten tatsächlich im Staat Israel ausgetragen wird, wo die Kräfte, die Selbstbehauptung auf Kosten der biblischen Rechts- und Gerechtigkeitstradition vertreten, brutal um die Seele des jüdischen Volkes buhlen und Zehntausende dagegenhalten, die den Weinberg und mit ihm den Freudenwein, den Gott wollte, verloren sähen, wenn er nur mit den Tränen der Palästinenser gewässert würde.
Um Israel muss also gekämpft werden! Das sagt Jesu Gleichnis vom Ringen der verschiedenen Möchtegern-Weinbauern auch.
Und mit allen Kräften hat Jesus sich darum in diesen Streit geworfen.
… Doch die unselige Kirche hat in eben dem Gleichnis, in dem Jesu leidenschaftliche, seine passionierte Anteilnahme an seinem Volk deutlich wird, nur einen Satz zur Kenntnis genommen, … einen Satz, der mit einer Frage eingeleitet wird: „Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben.“ ……..
… Und da war die ausweglose Negativität bestätigt, die alles immer vom bösen Ende her versteht und keinerlei offenen Schluss duldet, keinen Spalt einer Öffnung zu einer anderen Entwicklung, zu einem neuen Weg oder einem neuen Leben sich vorstellt. … Es kam, wie’s kommen musste, … denn für gute Überraschungen gibt es keine Richtung im engstirnig und hartherzig festgelegten Einbahn- und Rutschbahn-Denken der Kirche, das immer nur zum Untergang führt: Der Herr des Weinbergs wird die bösen Weingärtner umbringen und andere an ihre Stelle setzen! …
Seither klebt das von Christen in Ost und West in der Fastenzeit und in der Karwoche wieder und wieder vergossene jüdische Blut am Weinberg-Gleichnis und hat es getrübt, entstellt, verdorben. Denn mit ihm wurde die Enterbungstheorie begründet, die beinah zwei Jahrtausende lang das Christentum beherrscht und verdorben hat: Am Schluss musste nach dieser Theorie das Schlechte stehen … für Israel.
… Am Ende musste es vorbei sein. …
Und war es doch nie!
… Die Sintflut etwa hat ja gezielt das Verderben, nicht aber das Leben insgesamt beseitigt.
… Und dann der Exodus: Dieser Aus- und Aufbruch unter Mose bleibt bis heute die stärkste Ermutigung aller, die an die Möglichkeit der Freiheit glauben und die Mühen der Befreiung wagen.
… Oder Baal: Baal hat trotz des zuletzt einsamen Widerstands des Elia gegen ihn seinen Platz heute nur noch in den vorderorientalisch-archäologischen Museen, während in den Synagogen und Kirchen in aller Welt der unsichtbare, leise, lebendige Gott Israels so wie einst mächtig und gnädig spricht und segnet.
… Und auch das große Finale des babylonischen Exils wurde in Wahrheit ja zur schöpferischen Sturm- und Drang-Zeit, in der die Torah Israels ihre bleibende Gestalt gewann und Prophetie und Messiashoffnung ihre Schwingen ausbreiteten, in deren Schatten wir Heutigen immer noch beim HERRN, dem Gott Israels Zuflucht suchen (vgl. Ruth3,12).
Ein Ende gibt es nämlich nicht.
Und das ist das unvergleichlich Wunderbare an der Bibel: Dass sie so offen ist und so oft mit ihrer Offenheit Recht hat. … So oft, dass man an vielen Stellen - besonders aber an der heutigen! - wirklich nicht auf seinem Vorurteil beharren darf, da es sich doch ganz anders fügt, wenn kommt, was nicht vorgezeichnet war, sondern sich der Langmut und Beweglichkeit, der Geduld und Überraschungsfülle Gottes verdankt!
Jesu Gleichnis von den Weingärtnern ist wahrhaftig ja nicht bloß eine Illustration des starren Verhängnisses, das Israel sich zugezogen hätte bis zu seiner endgültigen Verwerfung und Ersetzung. Im glatten Gegenteil. Wie der umstrittene und trotz allen Jubels unverstandene Christus da in seinen letzten, angespannten Tagen in Jerusalem ein Drama ums Recht an Israel entfaltet, … ein Drama mit einem reißenden Gefälle, das jeder Zeuge nach Kräften wird aufhalten wollen: Das ist geradezu existentiell packend!
… Wer Ohren hat, zu hören, der muss in heftigste innere Anteilnahme geraten: „Sie werden doch nicht…, sie dürfen doch nicht…, sie können doch nicht den Sohn misshandeln!“, so wühlt die Erzählung das Mitgefühl auf.
… Niemand, der Anspruch auf Gottes Israel erhebt – keine Priesterclique und keine andere prophetische, pharisäische, zelotische, asketische Bewegung – … niemand, dem Israel anvertraut und lieb und heilig ist, wird doch wohl zum Mörder werden am letzten Boten, am geliebten Sohn?! … Nicht einmal der römische Präfekt, die römische Besatzerjustiz, die römische Armee, die sich als zeitweilige Hüter und Nutznießer des Weinbergs Gottes dünken mögen, werden es ja wagen und vermögen, den gesandten Erben zu eliminieren!? …
… Jesu Stimme wird heiser und stockt, als seine Zuhörer im Tempel, unter den Schriftgelehrten, den Priestern, den Passapilgern und den Wachen diese rhetorische Frage, die mit so viel unmittelbarer Beschwörung in ihren Ohren zittert, unbeantwortet in der Luft hängen hören:
… Wird irgendjemand allen Ernstes den Sohn töten?
Es ist Todesangst, die da spricht. Rhetorisch und gleichwohl markerschütternd echt.
Es kann nicht geschehen, was so undenkbar ist!?
Das will, das muss Jesus bestätigt haben. …….
Doch es geschieht.
Die Römer wagen’s, weil sie den Vater nicht kennen; die ihnen als Tempel-Elite hörigen Sadduzäer wagen’s, weil sie den Sohn nicht anerkennen wollen.
Es geschieht, was nicht geschehen würde, … was nicht geschehen konnte, … was nicht geschehen durfte.
…………
Aber auch das, … auch das ist nicht das Ende.
Wenngleich alles wankt, woran Jesus sich festklammern wollte, …. wenngleich alle Stützen und Sicherheiten („Den Sohn werden sie doch schonen!?“) nicht standhalten, ist es doch nicht das Ende.
Weil eben das, was unmöglich ist - bei uns! -, geschieht.
Der aussortierte und verworfene, der pulverisierte und wieder zu Staub gewordene Stein wird zum Eckstein!
Es ist unmöglich.
Aber es trägt!
Das Ja erscheint im Nein (vgl. EG 94, 4)!
Der ermordete Sohn bleibt nicht im Tod.
Und Israel wird nicht und bleibt nicht verworfen.
… Das schreckliche Ende, … ausgerechnet dieses Ende ist nicht das Ende, sondern wird zum Anfang des niemals zuendegehenden Guten.
Das unvorstellbar Böse trägt ein noch viel unvorstellbareres Heil.
Und dieser Jesus, der solche Todesangst hatte und so hoffte, man werde mit ihm und nicht gegen ihn den Bund und das Eigentum Gottes erneuern, … der hat mit dem davonrollenden Felsen vor der Höhle, mit dem weggesprengten Grabstein, der seine Leiche verschließen sollte, ein so lebendiges und unumstößliches und herrliches, ein so freies, offenes und starkes Fundament gelegt, dass wir gar nicht begreifen können, was alles auf ihm ruht und durch ihn gehalten wird und von ihm erfasst und verbunden:
Sein Israel und seine Kirche,
seine Juden und seine Heiden,
seine Getauften, seine Gläubigen und seine Gottlosen,
seine armen, armen Pessimisten und seine sich fröhlich zu Tode hoffenden Optimisten, seine Ukrainer und seine Russen,
seine Palästinenser und seine Israelis,
seine Farsi- und seine Deutschsprechenden Kaiserswerther,
seine Lebendigen hier in der Passionszeit und seine durch sein Kreuz erretteten Gestorbenen in der Ewigkeit.
„Vom HERRN ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen!“
Es gibt kein Ende!
Amen.
[i] Vgl. zu diesem Wort des pestkranken dreißigjährigen Joachim Neander auf seinem Sterbelager: Helmut Ackermann, Joachim Neander - Sein Leben. Seine Lieder. Sein Tal, Düsseldorf 1997, S. 40.
Invokavit, 26.02.2023, Was ist uns heilig? - Misereor-Hungertuch, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
„Was ist uns heilig?“ – das Misereor Hungertuch 2023/2024 von Emeka Udemba
Liebe Gemeinde,
es ist wieder Passionszeit. Die Farbe der Paramente ist nicht mehr grün, sondern violett. Irgendwie läuft alles Kirchliche auf den Karfreitag zu. Das merkt man an den Texten, die an den kommenden Sonntagen offiziell vorgesehen sind – vom Wochenspruch bis zur Predigt; und auch die Lieder, die in den meisten Kirchen aus der Rubrik „Passionszeit“ angestimmt werden, kommen in Moll daher und nicht in Dur.
Passionszeit – Zeit, an das Leiden, die Passion Jesu zu denken, an seinen Weg nach Golgatha, ans Kreuz. Davon handeln alle Passionslieder in unserem Gesangbuch. „Herr, lehre uns, dein Leiden zu bedenken“. Ich möchte Sie in diesem Gottesdienst auf einen etwas anderen Passionsweg mitnehmen, unser Nachdenken und Bedenken neu justieren, und zwar so, dass es uns befähigt, in unserem Handeln umzukehren, im biblischen Sprachgebrauch: um Buße zu tun, wozu Jesus von Nazareth zu Beginn seines Wirkens alle aufrief: „Kehrt um und vertraut der Guten Nachricht (vom Heil und der Liebe Gottes).“
Jesus ging es ums Leben; er wollte Leben für alle, gerade auch für die am Rande; er wollte heiles, erfülltes, wahrhaftiges Leben für alle Menschen, denn das war Gottes Wille, davon war er überzeugt. Dafür hat er sich leidenschaftlich eingesetzt und alles Leiden in Kauf genommen. Das Leben der Gebeutelten, Ausgestoßenen, der Kleinen und Schwachen, das wir ihm heilig. In ihnen begegnete ihm Gott selbst, der Heilige, der ihm so nahe war und dem er so sehr vertraute, dass er ihn Vater nannte, unseren Vater im Himmel.
Was ist uns heilig? Wo kommt uns Gott heute nahe, wo sehen wir uns von ihm angerührt, angesprochen und herausgefordert, ihm zu antworten – durch unser Tun? Das Misereor Hungertuch von Emeka Udemba gibt unserem Nachdenken da vielfältige Anstöße. Es ist geradezu unheimlich aktuell – angefangen von seiner Farbgebung über die handwerkliche Herstellung, die verwendeten Materialien bis hin zu der figürlichen Darstellung. Die rote Farbe dominiert das Bild. Achtung! Gefahr! Wird dem Betrachter signalisiert. Schau genau hin! Es geht ums Leben! Es geht um dein Überleben! Es geht um das Überleben und Leben der ganzen Welt! Der Schöpfung mit all ihren Geschöpfen. „Die Erde brennt“ – so konnten wir es in einem der Schaufenster der Diakoniebuchhandlung ein paar Wochen lang lesen. Die Erde brennt, sie schwitzt, sie stöhnt. Diese und ähnliche Formulierungen sind mir in verschiedenen Büchern und Zeitschriften in den vergangenen Jahren begegnet. Und Emeka Udemba hat sie so auch dargestellt: mit vielen roten Wunden, verletzt und zerbrechlich. Viel zu warm hat auch dieses Jahr wieder begonnen. Und auch wenn es in den letzten Wochen immer wieder einmal geregnet hat: die tieferen Bereiche der Böden in Feld, Wald und Flur sind immer noch knochentrocken. Die Wasserspeicher, aus denen die Bäume trinken, sind noch lange nicht gefüllt; da müsste es zwei Monate lang ununterbrochen regnen – ein sanfter Landregen, damit der Boden die Feuchtigkeit aufnehmen kann, denn sonst drohen Überschwemmungen. Die Erde, unsere Erde – keine Sache, kein Gegenstand. Ein lebendiger Organismus, ein Gesamtkunstwerk des Lebens, des lebendigen Gottes. Die Erde stöhnt und schwitzt und brennt – und ihre Kinder stöhnen mit ihr.
(Das Misereor-Hungertuch 2023 „Was ist uns heilig?“ von Emeka Udemba © Misereor)
Lesung Rö.8,18-23
Helge Burggrabe „Höre den Herzschlag des Himmels“ CD
Helge Burggrabe wurde von einer Gedichtzeile von Rose Ausländer zu seinem Lied inspiriert, die lautet „Ich höre das Herz des Himmels pochen in meinem Herzen.“ Darin klingt das große Thema der Resonanz an, der Herzensbeziehung des Menschen mit der Schöpfung, deren Teil wir sind. In den Himmel zu lauschen, das hat uns unsere Religion, unsere Theologie gelehrt. Nicht so, auf den Herzschlag der Erde zu achten. Schöpfung und Schöpfer wurden sorgfältig auseinandergehalten; dem Schöpfer sollten wir dienen, die Schöpfung hatte uns Menschen zu dienen. Der Sündenfall der christlichen Lehre: ihre unheilige Anthropozentrik. Inkarnation wurde nur auf den Menschen bezogen: Gott wurde Mensch; richtig übersetzt muss es heißen: Gott wurde Fleisch. Gemeint ist letztlich: Gott ist in der Schöpfung präsent. In der ganzen Schöpfung. In allen ihren Teilen. Im Wasser, im Fels, in der Ähre, in der Feldmaus, im Menschen, in der Ameise …. Der Herzschlag des Himmels ist der Herzschlag der Erde ist der Herzschlag des Lebens. Hören wir ihn in uns? Dann müsste uns das hellhörig machen für das Seufzen und Stöhnen der Kreatur, der Mutter Erde.
Emeka Udemba hat sein Bild als Collage gestaltet aus vielen ausgerissenen Zeitungsschnipseln. Nachrichten, Infos, Fakten und Fakes – Schicht um Schicht aufeinander geklebt und großenteils übermalt. Nur einzelne Wortfetzen sind lesbar geblieben. Auch an ihnen wird deutlich, wie zerrissen die Erde ist, wie zerbrechlich das Leben. Und uns wird vor Augen gehalten, was die Ursachen solcher Zerrissenheit sind: Was kostet die Welt? … Mach was mit deinem Geld … Darf’s noch etwas mehr sein? … Wachstum … mehr Geld zum Beispiel … „Mich interessiert der Mensch“ können wir unten links lesen. Solange wir uns nur oder zu allererst um unsere Spezies sorgen, sägen wir weiter an dem Ast, auf dem wir sitzen. Rechts neben der Erdkugel steht „Mensch und Tier“ – ein Hoffnungszeichen. Überhaupt: auf der Erdkugel sind Wortfetzen zu entdecken, die Hoffnung wecken: Wandel … wo der Mensch sich wohlfühlt …. Bedürfnis Sinnhaftigkeit …. Neubeginn … vom Anfang. Das wäre schön: wir könnten den Uhrzeiger unserer Weltgeschichte zurückdrehen auf Anfang. Ein Reset – und alles ist wieder gut; die Fehler und Macken gelöscht. Alles auf Anfang. Doch das ist Illusion. Auf Anfang geht nicht, aber ein Neubeginn ist möglich: das will uns Gott schenken wie wir es zu Beginn zusammen gelesen haben: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist.“ Rein nicht im Sinne von unschuldig, sondern von geläutert – wir haben begriffen, wie falsch wir bisher über uns und von uns und von der Erde, der Schöpfung gedacht und so Zerstörung und Tod verbreitet haben. Umkehr und Neuanfang sind möglich und nötig – damit alle und alles leben kann. Umkehr, Veränderung, Wandel, Verwandlung – eine Bewegung von innen nach außen. Wandel – nicht Wachstum.
Was ist uns heilig? Als die christlichen Europäer seit dem 17. Jahrhundert Nordamerika entdeckten und eroberten und der Überzeugung waren, den Wilden die Segnungen der Zivilisation zu bringen, konnten die indigenen Völker es gar nicht glauben, dass diese Eindringlinge Menschen wie sie sein sollten. Konnten das Menschen, Geschöpfe des Großen Geistes sein, die so viel Tod und Zerstörung verbreiteten, die Erde schändeten und ihre Geschöpfe vernichteten – und das um des Geldes willen? Wo stehen wir heute? Was ist uns heilig? Der Häuptling der Duwamisch hat es in einem Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten im 19.Jahrhundert für sein Volk so formuliert: Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig! Die Erde ist unsere Mutter und jedes Geschöpf ist uns Bruder und Schwester. Könnten wir das auch so sagen und was heißt das dann für unser Handeln?
Lied „Die Erde ist des Herrn“ 1+2+4
„Verlier nicht die Geduld, inmitten aller Schuld ist Gott am Werke.“ Die Krisen, liebe Schwestern und Brüder, mit ihren Problemen und Nöten, sie zerren fürwahr an unseren Nerven und die Geduldsfäden sind bis zum Zerreißen gespannt. Die jungen Menschen der „Letzten Generation“ mit ihren aus einer ehrlichen und tiefen Verzweiflung geborenen Aktionen, die die meisten Zeitgenossen nur nervig finden. Ein grüner Bundeswirtschafts und Energiewende-Minister, der, statt sich um die Entbürokratisierung und Vereinfachung von Genehmigungen von Solar- und Wind-Parks zu kümmern, muss, um den Wirtschaftsstandort Deutschland irgendwie zu retten, ausgerechnet in Katar einen Diener machen für die Lieferung von Erdgas. Ich möchte nicht wissen, was das mit ihm gemacht hat.
Und unsere Gesellschaft? In der Samstagsausgabe der Rheinischen Post gibt es wie eh und je eine dicke Einlage „Reise und Welt“. Als gäbe es die Klimakrise nicht, werden Flugreisen und Kreuzfahrten angepriesen, mit Versuchen, diese Vergnügungen grün zu waschen oder schon makaber manchmal mit dem Hinweis, es könnte die letzte Chance sein, einen Eisbären in seinem natürlichen Lebensraum zu sehen. Ich muss gestehen, es fällt mir schwer, angesichts von so viel Ignoranz nicht die Geduld zu verlieren. Oft schon musste ich schwer an mich halten, wenn mir Mitmenschen von ihren Reiseplänen erzählten. „Verlier nicht die Geduld, inmitten aller Schuld ist Gott am Werke.“ Allerdings anders als sich mancher das erhofft.
Sehen wir noch einmal auf das Hungertuch. Da sehen wir die Unterarmpaare von zwei Personen. Beide sind mit der Erde befasst. Die Hände von oben scheinen sich von der zerbrechlich aussehenden Erde zu lösen. Die unteren Hände sehen so aus, als würden sie die Erde in Empfang nehmen. Behutsam, vorsichtig gehen beide Seiten mit der Erde um. Ein kreativer Wechsel von Geben und Nehmen, von Halten, ohne Festzuhalten, von Freigeben ohne Preiszugeben. „Die Erde ist des Herrn, geliehen ist der Stern, auf dem wir leben.“ So hieß es in der ersten Strophe. Geliehen und uns anvertraut, damit wir im Sinne des Schöpfers selbst ans Werk gehen. Da, wo wir uns zurücknehmen und dem Leben aller, der Schöpfung, deren Teil wir sind, dienen – da ist Gott selber in und durch uns am Werke. Keiner von uns kann allein durch sein noch so gutes Tun die Erde retten, die Klimakatastrophe abwenden, aber jeder kann, indem er sich ehrlich bemüht, nicht zu schaden, nicht zu verletzen – seinen Mitmenschen nicht, aber auch seine Mitgeschöpfe nicht, nicht die Mutter Erde – jede kann so Gott durch sich wirken lassen. „Denn der durch Jesus Christ ein Mensch geworden ist, bleibt unsre Stärke.“ Er bleibt es in uns und durch uns, so wie Jesus es uns vorgelebt hat. Es liegt tatsächlich an jedem einzelnen, Gott in der Welt und gegen alle Krisen stark zu machen.
In den Interviews, die in der letzten Woche anlässlich des Jahrestages des russischen Angriffs auf die Ukraine zu sehen und zu hören waren, fiel mir immer wieder auf, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer, gefragt, ob sie nicht langsam sehr erschöpft seien vom Krieg und seinen Kollateralschäden, zwar nicht leugneten, wie schwer für sie das Leben geworden ist, aber größer als die Erschöpfung, das war bei allen die Hoffnung, die Hoffnung auf eine neue Zeit in einer neuen Ukraine, die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit und Frieden. Dafür würde sich jede Anstrengung, jede Entbehrung jetzt lohnen, dafür würden sie kämpfen, jede und jeder an seinem Platz mit seinen Möglichkeiten. Leidenschaftlich für das Leben eintreten, an der Hoffnung festhalten – so ist auch Jesus seinen Weg gegangen. Und wir als seine Nachfolgerinnen und Nachfolger sollen uns in dieser Passionszeit darüber klar werden: „Was ist uns heilig? Was ist uns wichtig? Wofür treten wir leidenschaftlich ein? Worauf hoffen wir – für uns und für unsere Erde?“
Lied „Es kommt die Zeit“
Invokavit, 26.02.2023, Stadtkirche, Hiob 2,10 & Telemanns Kantate: "Seele, lerne dich erkennen", Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Invokavit - 26.II.2023
(Hiob 2, 1-13 [2,10!]) / Telemann: „Seele, lerne dich erkennen“ (TWV 1:1258)
Liebe Gemeinde!
„So will ich dich mit Freuden küssen, / du Herold der Vollkommenheit“, haben wir gerade in der Arie gehört, … erst wiegend und dann mit einer erstaunlich lebhaften, kunstfertigen Deklamation, friedlich also und sehr freudig. …
Matthäus Arnold Wilckens, der dichtende Jurist, Bücherliebhaber und aufgeklärte Menschenfreund, der die Texte von Telemanns „Harmonischen Gottesdienst“-Kantaten verfasste, muss sich genau wie der Komponist selber sicher zunächst überwunden haben, ehe sie dieses graziöse Willkommenslied schufen, mit dem die kleine erkenntniskritische Kantate beinah überraschend endet. Dass ein gebildeter Literaturförderer aus dem rationalistischen Hamburger Bürgertum die Grenzen des menschlichen Verstandes und Verstehens besingt, ist an sich erst einmal ja nur nüchtern: Trotz der Freude des 18.Jahrhunderts an Aufbruch und Aufstieg der Vernunft, musste ein denkender Mensch ja durchaus erfassen, dass dem Witz und der Weisheit unseres Geistes Grenzen gesetzt bleiben.
Das schwache Vögelein des Rezitativs, das sich schlicht nicht in jede Höhe schwingen kann, ist ein eindringliches Bild für die endliche Reichweite aller Gedankenflüge.
… Egal, wie flügge der mündige Mensch sich auch fühlen mag: Die weiseste Selbsterkenntnis besteht schon immer und immer noch in der Einsicht, dass wir weniger erfassen können, als wir wollen und uns mit mehr Nicht-Wissen bescheiden müssen, als wir je begreifen werden.
Wenn wir uns wirklich zu erkennen lernen, wie es der Titel unserer Kantate und die Losung der Aufklärung im Geist des antiken Delphi von jeder Menschenseele fordern, dann führen alle Wege uns in Wirklichkeit immer wieder zu Sokrates:
Wahre Weisheit ist Nicht-Wissen.
……. Dass aber der ganze Philosophenchor – das Hamburgische Bildungsbürgertum, die delphische Apollo-Gemeinde und die platonische Sokrates-Jüngerschaft in Athen – … dass sie alle, weil der menschliche Geist endlich ist, so derart fröhlich und gelöst singen sollten, was wir eben hörten, das bleibt trotzdem befremdlich! „So will ich dich mit Freuden küssen, / du Herold der Vollkommenheit“ ……. diese heitere Begrüßung gilt ja tatsächlich niemand anderem als ausgerechnet dem Tod, … dem befreienden Beender unserer Endlichkeit.
… Und ich kann es nicht mitsingen. …
Christen als Christen sollten es sich überhaupt schwer überlegen, ob sie tatsächlich solch eine Versöhnung mit dem Tod eingehen können: Wie reimt sich das nämlich mit den sechs Wochen, die heute beginnen? Es sind ja nicht Tage der Feier, sondern es ist Passionszeit, die jetzt anfängt, … Zeit, in der die äußerste Bitterkeit von Leid und Sterben uns begegnen wird, und zwar nicht um harmlos auf uns zu wirken, sondern um die Härte zu unterstreichen, die der unsterbliche Gott für unsere Befreiung vom Tod durchstehen musste.
Ich will den Tod also nicht küssen. Ihm nicht danken. Ihn am liebsten gar nicht zur Kenntnis nehmen müssen, … weder als Grenze, noch als Entlastung für die Begrenztheit meiner Seele und meines Verstandes …….
Es ist ein solches Elend mit dem Tod!
Für mich allerdings nicht wegen der Endlichkeit, die er - je nach Sichtweise - so dramatisch vollendet oder so glücklich überwindet, sondern weil der Tod seit dem Garten Eden nie alleine war: Tod an sich gibt es nicht. Er ist ja aufgetaucht im Schlepptau oder als der Parasit von anderen Plagen: Der Schuld nämlich und dem unschuldig wirkenden Bösen[i]. Und er kam in ihrem Gefolge auch nicht allein über Adam und Eva, sondern mit seinen Spießgesellen und Handlangern, seinen Kindern und Untergebenen, die die Drecksarbeit machen, die der Tod in seiner Leichenstarre alleine gar nicht hinbekäme: Das Sterben und das Töten haben den Tod von Anfang an begleitet, … bei Kain und Abel schon.
Wer aber so wie der Tod im Dunst- und Dienstkreis der Sünde und des Teufels entsteht und eine ausbeuterische Symbiose mit dem Schmerz und dem Mord eingehen muss, um sich durchzusetzen, den kann und will ich wirklich nicht grüßen, nicht küssen, und nicht kennen.
… Das ist doch klar, oder?
Das können Sie doch auch verstehen, Herr Wilckens und Herr Telemann? Das ist doch ganz menschlich und zivil, Frau Wagenknecht, Frau Käßmann[ii]?
……. Doch da bricht meine ganze nette, müde, realitätsfremde Naivität in sich zusammen.
Wer so privilegiert ist wie ich, dass er den Zeitgenossen der barocken Kirchenmusik einen Vorwurf draus drehen kann, dass sie auf Schritt und Tritt reine Vernunft und nacktes Verrecken miteinander unter den gleichen Hutrand und in’s selbe Herz kriegen mussten, … wer so unbeleckt vom Grauen wie ich die frommen (und freidenkenden) Generationen vor uns tadeln kann, weil sie das Lebensgefühl wachsender Aufklärung mit der ständigen Verfinsterung unaufhaltsam früher Sterblichkeit vereinbaren mussten, … wer so selbstgenügsam wie ein gefütterter Goldfisch durchs dicke Panzerglas seiner kleinen Weltkugel glotzt und denen, die draußen sind, wo das Schönste und das Schrecklichste freilaufen, erklären will, man solle an das Schlimme doch bitteschön! keinen gewöhnungsbereiten Gedanken verschwenden, der ist nicht echt und darum auch nicht ernst zu nehmen.
… Echt ist nämlich eine Welt, in der niemand seine Seele dauerhaft von der schuldverstrickten und schuldbesetzten Grausamkeit fernhalten kann, die im Tod aufbricht.
Dass es eine unvermeidliche Berührung durch die Endlichkeit und dann ein unaufhaltsames Ergriffenwerden vom Sterben für uns alle geben wird, können wir nun wirklich nicht mehr verdrängen: Lebenserfahrung und Menschenkenntnis, Realitätssinn und natürlicher Instinkt haben uns das immer sagen wollen. Jetzt aber hat es ein anderer besorgt, ein Bastard, der aus der perversen Ménage-à-trois von Teufel, Sünde und Tod hervorgegangen ist: Der Krieg.
Wenn jemand heute noch sagt - so wie ich es eben vom Tod erklärt habe -: „Damit möge man mich bitteschön nicht konfrontieren! Davon will ich nichts wissen! Schon daran zu denken, heißt die Schutzhülle zu durchbrechen und kontaminiert zu werden… Also: Nie wieder Krieg und keine Kompromisse, und Basta! und Ruhe im Karton!“, … wenn also jemand sagt: „Ich gebe keine Hand dem Krieg! Ich halte mich raus! Das ist so ernst, das geht mich nichts an!“, dann ist das nicht echt. Sondern auf die brutalste, zynischste Weise unehrlich - sprich: voller Lügen und ohne Ehre - und finster dumm. ———
„Seele, lerne dich erkennen!“, so forderte uns die heutige Kantate auf.
Das ist aber eben wirklich kein heiteres Mantra aus dem Griechenlandurlaub. Schon der Apollo-Tempel von Delphi, an dessen Tor diese Mahnung, das berühmte »Γνῶθι σεαυτόν« stand, war kein Heiligtum der makellosen Schönheit oder des harmonischen Musenspiels: Der heidnische Gott Apollon trägt den Namen des Zerstörens, und genauso wie die Künste der Poesie und Heilung beherrschte er auch das Vernichten durch Pest und Gemetzel[iii]. Da ist es nur naheliegend, dass er in der Schrift, in der Offenbarung des Johannes (9,11) nicht als der Schönste auf dem Olymp begegnet, sondern unter seinem verfremdeten Namen - „Apollyon“ - für griechische Ohren noch klarer als der „Verderber“: Apollyon nennt der Seher-Apostel dort ganz bewusst den Engel des Abgrunds! …
Das also ist in heidnischer wie in biblischer Perspektive, in ehrlich menschlicher Sicht also die Wahrheit: Schönheit und Schrecken, der göttergleiche Jüngling und der Gebieter der Finsternis, Inspiration und Perversion, Heldenmut und Mörderschuld sind nicht himmelweit entfernt voneinander, sondern zwei Möglichkeiten, ja zwei Wahrheiten der gleichen Gestalt, einer einzigen Kreatur. … Der Mensch ist dieses von Bösem und Gutem gezeichnete, von Liebe wie Hass getriebene, zur Heiligkeit wie zum Verbrechen fähige Wesen. Der Mensch ist das von der Sünde bis zur Seligkeit greifende Geschöpf, das zwischen Opfer und Frevel, Ebenmaß und Exzess alle Widersprüche in seiner Natur vorfindet, wenn … ja, wenn es sich selbst erkennt. ———
Der echte Mensch, der, der einmal im strahlenden Glanz vor uns steht und uns ohne alle schwarze Magie, nur seinem eigenen Wesen gemäß auch wieder als abstoßendes Raubtier begegnen kann, … der echte Mensch, der Täter und unschuldiger Leidtragender im Krieg ist, … der als gejagtes Tier den Tod panisch fürchtet und als demütig geläuterter Geist den Tod fröhlich willkommen heißt, … der Mensch, der Gottes Zorn und Gottes Liebe so bis zum Äußersten erregt und sie beide sich so ungeheuerlich in einem, zugleich herrlichen wie fürchterlichen Geschehen auswirken lässt: dem Christusgeschehen!, … dieser echte Mensch, der nicht eindeutig so und nicht eindeutig so ist, steht heute in seiner Zweipoligkeit vor uns. … am Sonntag Invokavit, an dem Karnevalsfreude und Kreuzesschmerz, Sünde und Erlösung also sich treffen.
In Jesus sehen wir des Menschen äußerstes Todesleiden; bei Telemann hören wir seinen innersten Frieden mit dem Tod.
Wir sehen die Passion schrecklich tief und in zahllosen Männern, Frauen und Kindern sich wiederholen im Krieg unserer Tage, und wir erblicken im gleichen Krieg bei Menschen wie Dir und mir die teuflischste Gewalt.
Wir sehen Unvereinbares in einer Welt. Wir wollen’s nicht an uns heranlassen und können uns wahrhaftig doch auch nicht rauswinden. Wir müssen wahrnehmen, was man nicht wahrhaben will, und müssen uns zu erkennen versuchen, uns Menschen, die doch nur immer rätselhafter werden, je ehrlicher man sie, … je ehrlicher man sich betrachtet.
Das Bild lässt sich also nicht vereinheitlichen: Widersprüchliches bleibt. Zerrissenes und Verkantetes. Weil das Einfache, das Vereinfachte, das, was für uns einfach zu fassen und zu ertragen wäre, nicht das Echte ist.
Dort, wo kein Gegensatz, keine Spannung mehr wäre, dort finge das Märchen an oder der Mythos, in denen die Dinge sauber geschieden werden können und alle Algebra aufgeht, alles Um-die-Ecke-Denken letztlich Klarheit eröffnet.
Doch gerade eine solche mythische, ideale Welt, die sich im Innersten erschließt und uns emotional beruhigt oder rational befriedigt, eröffnet unsere Bibel nicht … und unser Glaube daher ebenso wenig.
Wie zur Probe auf dieses Exempel soll heute eigentlich das mythischstes und zugleich völlig klärungslose Buch der Bibel aufgeschlagen werden: Wir sollten eigentlich hören und predigen aus jenem Buch, in dem nichts real, aber alles echt ist, … jenes Buch, das sich als Märchen aus Tausendundeiner Nacht zu erkennen gibt – es spielt nicht in der wahren Welt von Israel, sondern im Wunder- und Horrorland Uz (Hiob 1,1) – und das doch mehr von unserer wirklichen Menschen-Tragik beschreibt, als viele Reportagen oder Dokumentationen.
Es ist das Buch ohne Auflösung, trotz seines vermeintlichen „Happy Ends“: Das Buch Hiob.
In der Dichtung vom Schmerzensmann Hiob, der schlimmere und verwirrrendere Gottes- und Leidenserfahrungen machen musste, als alle anderen Sterblichen – schlimmer noch als Jakob, der doch so grimmig mit Gott kämpfte (vgl. 1.Mose32,25ff), … schlimmer noch als Mose, den der HERR, Der Sich ihm am Dornbusch gerade erst offenbart hatte, beinah tückisch überfiel (vgl. 2.Mose 4,24), … schlimmer noch als König Saul, den ein unerklärlich böser Geist vom HERRN plagte (vgl.1.Sam.16,14) und schlimmer auch als Paulus, den der Engel Satans trotz des Apostels Flehen immer wieder mit Fäusten zurichten durfte (vgl.2.Kor.12,7ff) – … in der Dichtung von Hiob, der schlimmer als diese alle die Nachtseiten, die ungeklärten Widersprüche und Ambivalenzen auf Erden und im Himmel erfahren sollte, ohne dass das Märchen ihm ein Simsalabim! der Erkenntnis, eine Epiphanie des Begreifens einräumt, … in der Dichtung von Hiob steht ein Satz, der nicht einfach löst, aber am Echten festhält.
Der für uns alle sinnlos leidende Hiob, dessen Passion nur die unheimliche Seite menschlicher Erfahrungen spiegelt und zu keiner persönlichen Versöhnung führt, der sagt also einen Satz, der Satan, der den Menschen am fernsten steht, und zugleich Hiobs Nächste besiegt und der auch unser sämtliches Bescheid- und Besserwissen über Leben und Tod, Sinn und Unsinn zunichtemacht.
Hiob sagt … oder schreit … oder stöhnt flüsternd (Hiob2,10):
„Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“
Und das ist Glaube, wenn er am echtesten ist.
… Nicht die Erklärung für alles. … Nicht die Systematik, die es uns leicht macht, allem, was wir erleben, erfahren und erleiden, seinen stimmigen Ort im Koordinatensystem unseres Verstandes zuzuweisen.
Sondern umfassender: Es ist Gutes, … unendlich Gutes, das uns begegnet; und es gibt Böses, unerklärlich Böses auch.
Das sehen wir nicht zuletzt in diesem Krieg, in dem man das echte Grauen des Menschen nun nicht mehr ausblenden kann, aber in dem auch die echte Hoffnung auf des Menschen Freiheit sich mit Händen greifen lässt. …
… Gutes ist das und unheimlich Böses.
Beides aber verbindet uns auf eine Weise, die sich nicht beweisen lässt, und in einer Tiefe, die sich nicht ausschöpfen lässt, mit dem Gott, von Dem das Gute kommt und Der auch das Böse, das Leiden, die Passion nicht scheut, sondern wo Er sie uns Menschen zuteilwerden lässt, gerade sie auch mit uns teilt … bis zum Letzten!
An Ihm festzuhalten … in den Grenzen, die unserem Verstehen dabei gesetzt sind, ist Weisheit und Erkenntnis: Jene Erkenntnis und Weisheit, die zuletzt nichts weiß, weil sie nichts wissen kann und auch nicht muss, … weil sie nicht hier und heute, sondern erst dereinst im Kommenden vollendet werden soll.
… Man nennt sie Glauben.
Echten Glauben.
Amen.
[i] Am Sonntag Invokavit steht die alttestamentliche Schriftlesung vom Sündenfalls (1.Mose 3, 1-19) spürbar immer im Raum.
[ii] Mit-Urheberin und eine der Erstunterzeichnerinnen eines - aus meiner Sicht - problematischen Manifests, das dazu aufruft, der Ukraine aktive Hilfe zur Selbstverteidigung im von Russland begonnenen Krieg zu verweigern, das ich an dieser Stelle nicht verlinken mag, weil es überall frei zugänglich ist.
[iii] Zur zwiespältigen und geheimnisvollen Göttergestalt Apollos vgl. immer noch: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Der Glaube der Hellenen, 1.Band, (Darmstadt 19552), bes. S. 318ff. Die Ableitung seines Namens vom Verb απόλλυμι (apollumi =„zerstören“) ist dabei nur eine von zahlreichen möglichen Etymologien.
12.02.2023, Karnevalsgottesdienst, Mutterhauskirche, Peter Krogull
Büttenreden-Predigt am 12.2.2023, Mutterhauskirche Kaiserswert, Pfarrer Peter Krogull
„Die 10 Karnevalsgebote“
Liebes Narrenvolk im Mutterhaus,
diese jecken Töne sind ein Ohrenschmaus!
Sie künden davon, dass nun wieder richtig Karneval ist!
Die Pandemie, sie hat sich endlich ver…treiben lassen.
Drei lange Jahre ohne normalen Karneval,
diese Zeit war für uns Narren eine Qual.
Wir sind ein wenig aus der Feier-Übung gekommen.
Doch dieser Herausforderung wird sich nun angenommen.
Denn ihr bekommt nun eine Fortbildung für die 5. Jahreszeit.
Damit sind wir am Rosenmontag wieder bereit!
Ich halte sie hier in meiner Pfote:
Die zehn Düsseldorfer Karnevalsgebote!
Wo ich sie herhab, wollt ihr wissen?
Gott legte sie mir nachts unter mein Ruhekissen.
Er erschien mir im Traum auf dem Grafenberg
und sagte zu mir: „Hör mal zu, du Zwerg!
Ich mache mir etwas Sorgen um eure Stadt.
Die Stimmung ist trübe, die Leute sind platt.
Und anstatt die himmlische Freude zu loben,
wird in der Kirche der moralische Zeigefinger erhoben!
Gönnt euch davon mal eine Pause
und macht diesen Karneval zu einer richtigen Sause!
Hier sind 10 Tipps. Mit denen wird das klappen.
Ich bin jetzt raus, mach`s gut, du Lappen!“
Vermutlich seid ihr nun gespannt wie die Flitzebögen.
Ihr fragt euch: Werden wir sie mögen?
Diese 10 Gebote für die jecke Zeit?
Genug gewartet, es ist soweit:
Gebot Nummer eins ist das Gebot der Stunde.
Ich rufe es laut in unsere lustige Runde:
Humor ist, wenn man trotzdem lacht!
Dem Krisengeheul wird der Garaus gemacht.
Denn besonders in den schlimmen Tagen
brauchen wir die Karnevalswagen,
den Umzug und die Lebenslust.
Die helfen uns doch durch den Frust!
Darum sollt ihr Karneval nicht mehr verschieben.
Es wird doch immer Krieg getrieben.
Setzt mit dem Rosenmontag lieber ein Zeichen für Frieden!
So wie im letzten Jahr die Stadt mit Dom im Düsseldorfer Süden.
So lautet das Gebot Nummero Zwei,
von da geht es schnell zu Gebot Nummer Drei:
Karneval heißt: über sich selber lachen können.
Den anderen eine Pointe auf eigene Kosten gönnen!
Wichtig ist dieser Hinweis in unserer Zeit heute.
Da gibt es viel zu viele beleidigte Leute.
Mit heiligem Ernst streitet man in jeder Diskussion.
Du hast Dreadlocks! Hilfe! Approbiation!
Böse Boomer hier, Klima-Chaoten dort!
Der Karneval schiebt diese dummen Schubladen fort.
Den heiligen Ernst sperrt er für ein paar Tage ein.
Ich glaube, das findet selbst Jesus fein.
An doofen Zuschreibungen hat er sich nicht groß gestört.
Vielleicht fühlte sich Jesus sogar als „Fresser und Weinsäufer“ geehrt!
Coolness und Gelassenheit kann man vom Nazarener lernen
und sich vom Glauben an die eigene Wichtigkeit etwas entfernen.
Denn als man Jesus in Nazareth einmal herausfordern wollte,
dieser nur gelangweilt mit seinen Augen rollte
und sagte den Hatern ganz entspannt:
„Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterland.“
Sich auch mal abfinden mit den eigenen Grenzen.
Das Leistungsdruck-Rattenrennen einfach mal schwänzen!
Ihr findet, dass ich Jesus hier etwas überinterpretier?
Dann lest doch selber Lukas 4!
Wo wir schon bei der Bibel sind,
komme ich mal zu Mose geschwind.
Seit Wochen steht der als Pappfigur auf dem Rathausplatz.
In seiner Hand eine Tafel mit folgendem Satz:
„Das 11. Gebot: Du sollst deinen Kirchentag selber bezahlen!“
Aus den Augen des Papp-Mose kommen wütende Strahlen.
Der Düsseldorfer Aufklärungsdienst hat sich das ausgedacht.
Damit wird jetzt gegen den Evangelischen Kirchentag Politik gemacht.
Fair enough, man darf gerne den Kirchentag kritisieren
und seine Finanzierung sollte man auch inspizieren.
Aber bitte nicht so populistisch wie der DA das tut,
mit einem Mose als Gottesmann der Wut!
Das entspricht doch einem ganz alten Klischee:
„Die hebräische Bibel mit dem zornigen Gott.“ Ojemine!
Man darf gerne den Glauben durch den Satire-Kakao ziehen.
Aber alte, gefährliche Vorurteile sollte man dabei besser fliehen!
Gerade von Humanisten und Aufklärern sollte man erwarten dürfen, dass sie geistig nicht aus solch trüben Quellen schlürfen.
Der arme Voltaire fragt sich rotierend in seinem Grab,
wer dem Aufklärungsdienst zu seinem Namen die Erlaubnis gab.
Zusammengefasst, das vierte Gebot:
„Ad fontes“ tut auch im Karneval Not.
Vergiss nicht die christlichen Wurzeln der närrischen Zeit!
So bleibst du ein wenig vor Sinnlosigkeit gefeit.
„Erst vier Gebote, diese Predigt dauert aber lange!“
Wer so denkt, dem sei nun nicht bange!
Sie gehen ganz schnell, Gebot fünf bis neun,
die Kurzangebundenen wird das erfreun.
Das 5. Gebot stand in der Rheinischen Post.
Für Freunde des Küssens keine leichte Kost.
„Bitte nicht bützen in geschlossenen Räumen!“
So ein Gebot ließe ich mir nicht erträumen.
Gebot Nummer 6 handelt auch vom Bützen.
Es soll vor Übergriffigkeiten schützen.
Vor dem Bützen um Erlaubnis fragen!
Einverständnis ist wichtig in allen Lebenslagen.
Passend dazu beantwortet Gebot Nummer Sieben
die Frage „Wie soll man an Karneval körperlich lieben?“
Das weiß sogar die Stadt am Dom:
An Karneval Sex nur mit Kondom!
Und weil schon manch einer an Aschermittwoch mit schlechtem Gewissen und Kater aufgewacht,
heißt es nun klipp und klar in Gebot Nummer Acht:
Trinke an Karneval mit Genuss und mit Verstand!
Auch ohne Alkohol geht die Stimmung außer Rand und Band.
Gebot Nummer neun, das heißt nun ganz schnelle:
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Kamelle!
Es sind doch genug für alle da.
(Außerdem schmecken manche wie vom letzten Jahr…)
So kommen wir schlussendlich zu Gebot Nummer 10:
Lasst bitte den Büttenredner nicht im Regen stehen!
Bedenkt ihn am Ende mit Applaus und Geschmeide,
gerne auch mit Gold und mit kostbarer Seide!
Nein, Spaß! Das brauch ich alles nicht.
Mir reicht ein Lächeln in eurem Gesicht.
Und dass ihr am Ende laut ruft in diesem Bau
ein kräftiges, dreifaches Düsseldorf Helau!....
Sexagesimae, 12.02.2023, Stadtkirche, Jesaja 55, 8- 12a, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 12.II.2023 - Sexagesimæ
Jesaja 55, 8 -12a
Liebe Gemeinde!
Heut steht der Weihnachtsstern nicht mehr am Himmel und auch das Kreuz ragt noch nicht auf.
… Heut steht der rote Halbmond über Dir, Herr Jesus.
Und viele gehen weg, … wie damals, als in Lissabon die Erde bebte und die Glaubensfundamente eines ganzen Kontinents erschütterte.
Das ist ein Vierteljahrtausend her.
Seitdem ist so vieles morsch geworden: Verfallen und zusammengebrochen, hat man es eingerissen und zerstört; Menschheit und Geschichte, Mächte und Gewalten haben unabsehbar umgepflügt und abgeschafft und fortgeschleudert.
… Viel steht nicht mehr am alten Platz.
Und über den Trümmern sehen wir zum roten Halbmond auf und hoffen, dass auch die, die unterm Kreuz und andern Schildern kamen, um zu helfen, etwas getan haben, das ein klein wenig von der namenlosen Last erleichterte, das ein winziges bisschen Trost und Beistand geben, ein paar Wunden verbinden, einen Hauch von Zukunft aufleben lassen konnte. …….
Doch viele gehen weg. Aus den zerbrochenen Landschaften. Aus den Ruinen der Menschheit, der Menschlichkeit, des Glaubens. Verlassener Leerstand; ungenutzte Räume; unbewohnbare Heimaten: Da, wo es bebte. Da, wo sie schießen. Da, wo der Hunger und Durst … oder das Feuer … oder die Flut den Rückzug erzwingen.
Viele lassen es sein.
Aber, Herr, … noch lasse ich meine, … noch lassen wir unsere in Deiner Hand:
… Vor wenigen Wochen war sie noch eine weiche Kinderhand, die die Hirten andächtig und sachkundig in ihre Pranken nahmen, weil sie wissen, was so ein Lämmchen bei aller Wackeligkeit schon an Willen und Zappelkraft hat. Und in ein paar Wochen wird die gleiche kleine Babyfaust eine starrgekrampfte Spreizhand sein, von einem Nagel zerrissen, der die Knochen auseinanderdrückt.
… Ich weiß nicht, ob es heut schwerer ist, die Kinderhand oder die Hand des Gekreuzigten zu fassen. Bei beiden fragt es sich, ob das sein muss: Ob nicht das kleine Händchen in der Wärme der Windeln in seiner Krippe bleiben sollte; ob man die kalte Hand nicht einfach in Totenruhe lassen muss.
…. Aber weil wir Dich nicht loslassen, weil wir nicht einfach weggehen mögen, wie ja auch Petrus nicht wegging, als Du es ihm angeboten hast, sondern Dich und sich für uns alle fragte: „Herr, wohin sollen wir gehen …?“ (Joh.6,68), darum lassen wir Deine Hand und Dich und das, was aus dieser Hand kommt und in ihr liegt und durch sie bewirkt wird, nicht einfach los und liegen.
… Wie Jakob, der Dich auch nicht ziehen ließ, als Du in der Finsternis am Ufer gewartet hast und er nur hätte rüberwinken müssen und Dir sagen, Du gehörtest da drüben hin, in’s Jenseits, … doch stattdessen schlug er sich mit Dir hier herum, in der lausigen, angsteinflößenden Kälte der ersten Morgenstunden, der leeren Anfangsstunden am Fluss Jabbok (vgl.1.Mose32,25ff).
……. Wir wollen also nicht nur Händchen halten, Herr!
…. Denn eigentlich wurden diese Woche ja gerade alle Hände gebraucht, … auch die ohne Werkzeug, ohne Erfahrung, auch die nackten und die zitternden. Aber wir haben wieder mal nur zusehen können. Andere sind aufgebrochen, die Leute von den Hilfswerken, den technischen und diakonischen und militärischen Rettungsdiensten, während unsere Hände halt hier und da eine Spende losschicken oder eine Träne wegwischen konnten, wenn wieder ein totes Kind oder ein geretteter Mensch irgendwo aus dem grauenerregenden Elend auftauchte.
Unsere Hand in Deiner Hand, Jesus, - in der Kinderhand, der Totenhand, der Heilandshand -, sie liegt da, weil Du durch den Propheten Jesaja (49,15f) einmal der Stadt Jerusalem, auf die wir ja auch bauen, gesagt hast: „Kann auch eine Frau Ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. Siehe, in die Hände habe ich Dich gezeichnet.“
Mit unserer Hand klammern wir uns an Deine, weil es früher in der Lutherbibel - auch bei Jesaja (45,11) - hieß (und unsre Kinderschwestern und Kinderlehrerinnen bei den Kaiserswerther Diakonissen liebten diesen Vers): „So spricht der HERR, der Heilige in Israel und ihr Meister: Fraget mich um das Zukünftige; weiset meine Kinder und das Werk meiner Hände zu mir!“
Darum liegen wir Dir jetzt in den Händen und in den Ohren, Jesus, Du Herr und Meister, HERR Zebaoth, Du heiliger, starker, unsterblicher Gott mit der Babyhand und den Wundmalen, die Deinen Griff zertrümmert und Dein Fleisch zerfetzt haben.
… Komm mit, wir nehmen Dich ja an der Hand und wir sagen Dir im Gehen, was wir auf dem Herzen haben, so wie Du es in Galiläa auf den Straßen und Feldern und an den Ufern so gern getan hast: Wir sagen Dir, lieber Herr Jesus, wir sagen Dir, Allmächtiger, wir sagen Dir, Du Geist des Trostes, ……. dass unsere Gedanken nicht Deine Gedanken sind!
So viel tiefer die Erde ist als der Himmel - und Du kennst sie von beiden Seiten, kennst sie beide von Innen! - …. so viel niedriger und unheimlicher und bedrohter und erschütterter die Erde ist als der Himmel, so sind’s auch unsere Gedanken!
Wir denken, dass es schwer, ja immer schwerer, allmählich wohl gar zu schwer wird, Gedanken wie die Deinen uns auch nur vorzustellen.
Gewiss, wir spüren es ja an Deiner Hand - menschlich, verletzt, geöffnet -, dass Du die Liebe bist. Du wärest sonst ohne Hände geblieben, ganz unpraktisch, theoretisch, abstrakt.
… Andere Götter können das: Allah wird ohne Hand und Fuß gedacht. Zeus hat Hörner, Huf und Krallen, je nach Bedarf. Der Gott der Philosophen ist einer, den’s nicht juckt und der sowieso neben den Denkern nicht handelnd eingreifen darf.
… Wir merken also schon, HERR, wie Deine Hand die Welt tragen und nicht zerquetschen will, wie sie bergen und nicht zerbrechen will, wie sie trösten und nicht töten will, ……. aber wir denken, dass es gut wäre, sie wäre nicht so eine schwache Hand, die die Hirten getätschelt und die Römer zertrümmert haben.
Denn unsere Gedanken, die sind so:
Die Grausamkeit und der Horror der bebenden Erde, der Schuttberge, der Verzweifelten, die sowieso schon arm, schon Flüchtlinge, schon Vergessene und Verlassene waren …
– Warum?
Der Terror des Kämpfens und Mordens, der Folter und der Verschleppungen in Luhansk, in Kramatorsk, in Charkiw und Donezk …
– Warum?
Das Hungerleid im Jemen …
– Warum?
Die gefesselte Freiheit im Iran …
– Warum?
Die haltlose Vernichtung dessen, was das Leben aller Lebendigen ermöglicht …
– Warum?
… Was hast Du für Gedanken, Du Gott mit der verletzten Hand?
… Wenn Du das Heft in die Hand nehmen würdest, … wenn Du zu den Grausamkeiten der Menschen eine Faust machtest und mit ihr gern auch mal dreinschlügest, … wenn Du den Verdacht zerstreuen wolltest, Du habest Deine Hände bei jedem Unglück und allem Unerklärlichen im Spiel, … wenn Du - zur Not - die Hände einfach erheben würdest und denen, die Angst vor Dir haben oder Dir Böses zutrauen und nachsagen, zeigen könntest, dass Du an solchem allen unschuldig bist, … wenn Du also irgendwie handgreiflich oder handfest reagieren würdest, dann wären wir auf eine vielleicht unreife Weise ruhiger.
Dann hätten wir Dich zu dem gemacht, der durch seine Allmacht oder seine Sturheit so oder so der Schuldige für uns sein sollte.
Und wie die Vielen könnten wir weg gehen. Und Dir im Versuch zu verschwinden über die Schulter noch sagen, dass das grundlose Leid und der quälende Tod der Zehntausende durch das Erdbeben in dieser Woche und dass die erdrückende Heimsuchung durch den Krieg gegen die Ukraine und dass die ermüdende Pandemie hinter uns und die lähmend wirkende Unausweichlichkeit der Katastrophe vor uns, die wir alle selber befeuern und anheizen, zusammen wirklich zeigen, wie sehr unsere Gedanken nicht Deine Gedanken sind … und darum möchten wir jetzt gar nicht mehr denken.
Und Du sagst kein einziges Wort. …
Aber Du lässt unsere Hand nun auch nicht einfach fahren.
Denn Du willst ja gar nicht fort. Wir haben Dich zu den Stätten des Erdbebens gezerrt und sind mit Dir durch die zerbombten Orte mit den Massengräbern und den Folterkellern gezogen und haben die vom gelegten Feuer brennenden und die brandgerodeten Landstriche gesehen, die auf der Südhabkugel liegen, aber uns allen die Luft abpressen, und haben unsern Luxuslebensstandard gestreift, der auf der Nordhalbkugel gepflegt wird, aber die gesamte Erde gnadenlos auslaugt, …. und Du bist an unserer Hand mitgegangen zu den jammervollsten, bittersten, bösesten irdischen Orten, die gegen Dich sprechen.
Und was sprichst Du? …
– Kein einziges Wort, das wir hören.
Denn Dein Wort ist nicht luftig-leicht, hoch-fern, abstrakt erhaben irgendwo über der ganzen flackernden, schwelenden, rauchenden Asche dieser Erde und ihrer Trümmer, … sondern hineingefallen. Du hast es runterkommen lassen wie Regen und Schnee, die auf den Glutnestern und an den Brennpunkten der Wirklichkeit zu verdunsten scheinen.
Aber dadurch sind sie alle Deiner Hand vertraut: Du weißt, wie sich die Flucht nach Ägypten anfühlt, wenn man als Kleinkind auf den Müllbergen von Kairo essbaren Abfall kratzt; Du legst Deine erfahrene Hand auf die Wunden aller Menschen, die uns von ferne Kummer machen; bei jedem Vater, der die aus den Trümmern ragende Hand seiner toten Tochter trotz Frost und Schnee nicht loslassen kann, bist Du wieder bei Jaïrus und Dein Wort „Talitha kumi!“ (vgl. Mk.5,41) ist auch da; bei jeder der Heulenden und Klagenden, der sie eine Leiche vor die Füße legen, bist Du wieder am Tor des Städtchens Naïn, und ganz nah am Boden, wo sie sich die Haare raufen und Staub auf ihr Kopftuch werfen, da liegt schon längst Dein Wort „Weine nicht“ und rieselt mit dem Dreck aller Schmerzen verborgen auf die gequälten Seelen (vgl. Lk.7,13); und wo das Unrecht Menschen knebelt, wo die iranische Jugend hingerichtet oder Alexej Nawalny langsam mund- und mausetot gemacht wird, da ist Dein Wort aus Gethsemane bei ihnen, wo Du gegriffen und abgeführt worden bist, aber Dich nicht dem Willen der Schergen unterworfen, sondern dem Vater, unserem Vater in die Arme geworfen hast „……. wie Du willst!“ (vgl. Matth.26,39).
Und noch am Ende, wenn die Erde bebt und die Felsen zerreißen (vgl. Matth.27,51), bist Du da, bist wieder auf Golgatha und teilst Deine letzten Worte mit uns: „Vater!“ (Lk23,46) … „Warum?“ (Mk.15,34) … „Vollbracht!“ (Joh.19,30)
Dein Wort ist wirklich überall: Im Schmutz und im Schlamm, im Schutt und im Giftmüll, in der verwesenden Fäulnis und dem unheimlichen Reich der Erde, die die Toten aufnimmt und zu zersetzen scheint, … Dein Wort: „Ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe“ (Jes.43, 6).
Darum lässt Du unsere Hand nicht los, wenn wir Dich vor die Wirklichkeit zerren und Dich da anklagen lassen wollen. Deine Hand ist längst ja Teil dieser Wirklichkeit: Nicht leichthin zaubernd, sondern verwickelt in Windeln und in eine Krippe gelegt; nicht überirdisch drüber weggehend, sondern durchdrungen von der Passion für die Welt.
Wo immer wir Dich angesichts von Leid und Grausen nach Deinen Gedanken fragen wollen, hast Du sie Dir schon gemacht. … Und in das Wort gefasst, das sich in allem, was uns niederdrückt, noch tiefer niedergeschlagen hat und noch weiter eingedrungen ist, wie Regen und Schnee wenn sie unsichtbar werden, weil ihr Wirken beginnt.
… Es ist das eine Wort, das im Himmel genauso wahr ist und hilft wie auf Erden; … und auf Erden und unter der Erde in der Hölle, die wir an beiden Stellen machen und fürchten, ebenso hilft und wahr bleibt – … das Wort, das Dein Name ist: „ICH bin da – und ICH werde da sein“ (vgl. 2.Mose 3,14).
Das ist Dein Name und unser Trost.
Das ist Deine Wirkungsweise und dadurch alle Hoffnung.
Das ist’s, wo wir herkommen; das ist’s, was jetzt hält; das ist’s, was die Zukunft sein wird: Dein Wort des Daseins in der Welt, Deine Welt des Daseins im Wort, … Dein Dasein allein, das uns überall begegnet und dem wir alle entgegenwachsen und -leben und -sterben.
Dadurch, dass Du so tief in ihr bist, ist diese Welt nicht leer: Dadurch, dass Du da bist und bleibst.
Und darum bleibt unsere Hand in Deiner, Du Gott der Welt am Anfang wie am Ende.
… Wir geben sie Dir wieder, unsere Hände.
Es gibt eine Legende, die uns das lehrt[i]. ----- An sich sind wir Evangelischen ja nicht gut mit Legenden: Immer ist da ein Hammer, der in unseren frommen Ausschmückungen geschwungen wird, oder ein fliegendes Tintenfass oder Hacke, Spaten und Apfelbaum.
Aber eine Legende gibt es, in der das Herz und die Hoffnung und der Glaube ganz leer, ganz hinfällig werden … und die Hände doch nicht.
Die junge, nicht sehr liebliche Julie von Hausmann aus Kurland hatte die Liebe gefunden: Einen Missionar, der sie in Übersee, in seinem Einsatz heiraten wollte. Getragen von Freude schlug sich die Braut aus dem Baltikum bis nach Afrika durch. Als sie voll Bangen, weil niemand sie am Dampfer abgeholt hatte, schließlich an der Missionsstation, wo Hochzeit gefeiert werden sollte, eintraf, führte man sie an’s frische Grab ihres Bräutigams.
… Da waren mit der Liebe doch wohl auch ihre Zuversicht und ihr Vertrauen gestorben.
… Viele gehen ja weg, wenn so vieles vergeht.
Julie Hausmann aber - so wird erzählt - setzte sich am selben Abend, als alles vorbei und nichts mehr zu retten war, als der Glaube am Ende, im Tiefsten erschüttert, blind und gebrochen war, hin und schrieb, was wir jetzt singen (EG 376):
„So nimm denn meine Hände …….“
[i] Als Quelle zur (wandernden) Brautfahrt-Legende hinter EG 376 findet sich in der Literatur: „Seminartradition Heinrich Vogels an der Kirchl. Hochschule Berlin“, in: Waltraut Ingeborg Sauer-Geppert, „So nimm denn meine Hände …“ - Kleine Beiträge und Miszellen zur Hymnologie, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 27 (1983), S.213 Anm.18.
Septuagesimae, 05.02.2023, Stadtkirche, Matthäus 9, 9 -13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Septuagesimæ – 5.II.2023
Matthäus 9, 9 -13
Liebe Gemeinde!
Pandemie Ade! – … Reden wir also von Gottes Krankheiten. …
… Demnächst, in den sieben Wochen des Gottesleids werden wir sowieso vermehrt von Seiner Herzinsuffizienz hören, … von Gottes ungewöhnlich weichem Herzen, von dem es beim Propheten Jeremia (31,20) in Verbindung mit Gottes angegriffenen Nerven heißt, dass das Reich Israel, das Er zärtlich Seinen Sohn Ephraim nennt, Ihn zwar fast zum Ausrasten bringt, … aber dann „bricht mir mein Herz, dass ich mich seiner erbarmen muss, spricht der HERR“.
… Und wie so viele Mütter und Väter, die in den Konflikten mit ihren halbstarken und ganz sturen Kindern manchmal mürbe werden und deshalb völlig überreagieren und nicht weiter wissen und ihre eigenen Argumente und Drohungen nicht mehr sortieren und anwenden können, … wie so viele Väter und Mütter, die wirklich Vernünftiges sehen und wollen und sich plötzlich im Ringen mit den jugendlichen Weigerungen und Eigenheiten bei der eigenen Irrationalität ertappen, … wie so viele kluge, liebevolle, erfahrene Menschen, die feststellen müssen, dass Erfahrung und Liebe und Weisheit nicht von Hand zu Hand weitergereicht werden können, sondern in jedem Herzen eigens erst wurzeln und wachsen müssen, … na ja, wie so viele von uns eben merkt Gott dass am Ende die ganze Klarheit und Wahrheit nix sind, und man manchmal einfach nur heulen könnte, weil einem das Herz im Zorn davongaloppiert ist und nun stolpern und auch mal stoppen muss.
Diese Arhythmie, dieses Aussetzen des göttlichen Herzens, wenn Er brennendes Seitenstechen hat vor Mitgefühl und Zärtlichkeit gegenüber den Menschen, das kann man bei Gott wahrhaftig im Endstadium feststellen: Auf Golgatha, wo das heilige Herz Jesu den ganz großen Durchbruch erleidet und stillsteht vor Liebe.
… Aber das Krankheitsbild des Herzens, das statt zu schlagen - zuzuschlagen - lieber bricht, das ist eine Diagnose, die man bei Gott von Anfang an stellen kann.
Der Fachbegriff für diese kardiologische Schwäche lautet bei Gott und Mensch: „Barmherzigkeit“.
… Und Gottes Umgang mit Seiner Grunderkrankung, mit der Pathologie in Seinem innersten Grund ist ganz anders, als alles was wir in den letzten Jahren geübt haben: Gott will anstecken, Er will uns möglichst alle infizieren mit der Barmherzigkeit, die Ihn plagt und doch gleichzeitig so stark macht, dass Sein Herz im Stillstand nicht dauerhaft erlöschen konnte, sondern am dritten Tag wieder begann, Leben und Liebe in Seinem ganzen Leib -in uns also! - zu verströmen. ——
Heute nun, 44 Tage nach Weihnachten, siebzig Tage vor Ostern und zwanzig Tage ehe ein ganzes Kriegsjahr hinter der Ukraine liegt, sind wir Zeugen einer der typischen Übertragungen, durch die Gott mitten unter den Geburts- und Sterbe- und Hoffnungs- und Leiderfahrungen der Menschen Seinen eigenen inneren Zustand verbreitet. In der Sprache der Gläubigen nennt man diese Infektionen - mit einem immer blasser werdenden Begriff - „Berufungen“.
Die Berufung, die wir heute hörten, der Barmherzigkeitsausbruch, mit dem Jesus in das Leben des Matthäus eingriff, ist völlig spröde. Gar nichts erfahren wir dabei von einer inneren Ergriffenheit oder einer plötzlichen Erleuchtung oder einer unvermuteten Erkenntnis.
… Wenn ich noch altmodischer reden soll und darf als üblich, würde ich es als die keuscheste, die am wenigsten exhibitionistische oder voyeuristische, die am wenigsten sensationslüsterne oder gefühlige Schilderung des größten denkbaren Glückfalls in einem Menschenleben bezeichnen: Kein einziges Sterbens- oder Lebenswörtchen dessen, der da gefunden und gerufen wurde, und auch keine noch so geheimnisvolle Verheißung des Berufenden, der den Fischern am Genezareth immerhin noch in Aussicht gestellt hatte, sie zu Menschen-, statt zu Barsch- und Karpfenfischern zu machen (vgl. Matth.4,19).
… Kein Gedankenspiel, keine Antwort, keine emotionale Reaktion, sondern einfach nur einer, der kleinkariert war wie Du und ich und plötzlich Teil des Größten wird … des Evangeliums von Gottes Barmherzigkeit, die diese Welt rettet.
Man möchte es ja so gern durchleuchten und erklären und runterbrechen - wie es heute immer heißt - und dann in mundgerechten oder kundenfreundlichen oder zeitgenössischen Einzelteilen begreifen.
… Doch da lauern lauter dumme Fallen: Weil es zu einfach wäre, zu sagen, dass der Zöllner da eben so furchtbar verachtet war wie die Ordnungsamtsmitarbeiterinnen heute beim Knöllchenverteilen oder die immer übersehenen Putzmänner, denen man 50 Cent auf‘s Schüsselchen legen soll, und dass es dann fast weltverbessernd-lebensverändernd ist, wenn jemand die Ungern-Gesehenen, die Parias wahr- und ernstnimmt. … Das stimmt natürlich voll und ganz, … aber dazu braucht die Welt nun wirklich nicht das Evangelium, sondern bloß eine halb-sportliche, halb-aggressive Erinnerung daran, dass die fette und hässliche Selbstgerechtigkeit, die bei den Reichen und Schönen, bei den Jungen und Erfolgsabhängigen so enorm wuchert, eine Eiterbeule am Charakter ist, die man nur eine Zeitlang mit einem schönen Muskel verwechseln kann: Irgendwann platzt die feiste Arroganz auf und dann stinkt ihr Träger so, dass er sich schnell und gründlich verlassen sehen wird.
Aber neben der sozialen Erklärung als Einbindung eines Außenseiters führt auch eine psychologische Einfühlung nicht zum Kern dessen, was Matthäus geschah. … Sicher, da hat jemand vom Nehmen gelebt, von einer Selbstbedienung, die haarscharf vielleicht noch legal, aber vermutlich weit entfernt von jeder Moral war. Dieses uns sehr vertraute Lebensmodell - heute überwiegend eher schon Lebensideal -, dass man sich getrost bereichern darf, wenn man Verantwortung oder Risiko übernimmt (man denke an die obszönen Gewinne, die gerade in unserer Zeit der Knappheit, der Teuerung und Not verzeichnet werden!) … dieses Lebensmodell des materialistischen Egoismus ist natürlich eigentlich ein Sterbensmodell. – Wir wissen’s doch: „Besitzen“ ist kein wirklich aktives Verb, sondern eine Form des Passivs. Wer besitzt, wird immer auch besessen. Und umgangssprachlich lässt es sich ganz flapsig auf den Punkt bringen: Etwas bloß zu haben, das gibt mir nichts. – Glück gehört mir ja nie: Es muss mir zufallen. Glück kann ich nicht machen: Weil es eine Gabe ist. … Und darum ist es zwar völlig richtig, dass Matthäus buchstäblich erlöst wurde, als er sein Amt, seine Steuerlisten, seine schwarzen Listen mit den Überschüssen für die eigene Tasche, sein Gehortetes und seine doppelte Sklaverei im Dienste Roms und Mammons gegen das ungesicherte Leben eintauschte. …Aber davon können uns der Buddha oder Bruce Chatwin genauso gut erzählen, auf ihre Weise auch Florence Nightingale oder Marlene Engelhorn, die österreichische Millionenerbin, die eine massive Erbschaftssteuer fordert, was Matthäus seinerzeit sicher hellhörig gemacht hätte …….
Was aber dem Matthäus geschah, ist nicht einfach mit dem Glückserlebnis der Integration und Akzeptanz oder der Befreiungserfahrung echten Konsumverzichts zu erklären. Seine Berufung durch Jesus eignet sich nicht als lehrreich-erbauliche Beispielgeschichte für das, was wir an anderen oder zu unserer eigenen Besserung tun sollten.
… Sondern es geht um das, was Jesus tut und welche Konsequenzen das hat!
… Und weil es eben nicht die Emanzipations- oder die Rehabilitationsgeschichte des Steuereintreibers ist, darum ist sie so spröde und so keusch: Denn dieser Mangel an allem, was uns interessieren und berühren und erregen könnte, … genau diese absolut unterkühlte Sachlichkeit, ohne den Tratsch- und Gossipfaktor einer Vorher-Nachher-Story aus den Medien wiegt uns ja in unbeteiligter Sicherheit.
Weil uns keine Andeutung erreicht, was da geschah, und weil wir nicht einmal eine kleine Moral daraus ziehen sollen – so à la „Denkt dran: Im Finanzamt sitzen auch nur Menschen!“, … „Stellt euch vor, ihr würdet wirklich mal aus eurer satten Bequemlichkeit aufbrechen und den Lebensstil wechseln!“ … –, darum bohrt diese rätselhafte Pointe von einer Berufung ohne Grund und öffentliche Beichte sich nur umso tiefer in unsern dicken Schädel:
… Kommt Jesus einfach so daher …….
Kommt daher, so kurz und knapp an Worten …….
Und trotz dieser Kargheit geschieht etwas Unwiderstehliches …….
Dieses Unwiderstehliche, das der ordentliche Matthäus - der beste Rechner, beste Schreiber, der von Amts wegen Angepassteste und Systematischste unter den späteren Zwölfen - weder wollte noch aufhalten konnte: Ist das nicht eine irrationale Gefahr, eine unkalkulierbare, elementare, erst analytisch und dann taktisch nicht zu beherrschende Dynamik? …
Doch. Genau das.
Trotz aller Bändigungs- und Entschärfungsversuche: Es gibt zu allen Zeiten die Erfahrung, dass Jesus nicht abgewehrt werden kann.
… Natürlich hat jede Epoche, jede Gesellschaft, jeder Einzelne bestimmte Gegenmittel, … manchmal heftige Abstoßungsreaktionen, … manchmal schier undurchdringlich wirkende Schutzmechanismen. Die Glaubensverdunstung, die Kirchenallergie, die Religionsmüdigkeit, … die gesunde Skepsis, die unnatürlich nährstoffarme Diät des Virtuellen, die schadstoffgefilterte Vermeidung von Wirklichkeitskontakt in unsern Tagen scheinen ja eine Herdenimmunität herbeizuführen gegen die Ausbrüche dessen, was den Matthäus gepackt hat.
Und doch ist die Botschaft seiner Berufung zu jeder Zeit buchstäblich „virulent“: Es kann geschehen - ausnahmslos jedem Menschen! -, dass es ihn oder sie erwischt, dass Jesu Leben, Jesu Lebensleidenschaft und Jesu Leidensleben unwiderstehlich überspringen und in einem anderen Menschen, in Matthäus, in dir oder mir sich auswirken!!!
… Und dann ...?
Dann finden Menschen sich da, wo die Anderen, die Nichtbetroffene, die Unbeteiligten einen Sicherheitsabstand wahren. … Ob diese Anderen die von Jesus Angesteckten dabei nun „Sünder“ oder „Schwachköpfe“ oder „Kranke“ nennen, das macht keinen Unterschied: Auch Matthäus, den man lange Jahre als Zöllner gemieden hatte, wurde ja noch am Abend seiner Berufung erneut gemieden … bloß nicht mehr so isoliert, sondern als Teil einer Gemeinschaft von Unberührbaren, einer Patientenkolonie abseits vom Alltag der zum Überleben Fitten, wo Zöllner, Sünder und andere Unerwünschte in der Gesellschaft Jesu leben und Sein Leben teilen.
Die Berufung war also für Matthäus keine Spontanheilung, kein therapeutischer Durchbruch - wie wir es kurschlüssig zu deuten neigen -, sondern im Gegenteil ein soziales Stigma, eine Behinderung für die konventionell respektierte Existenz, ein Ausschluss.
Aber – und das ist der Unterschied, … der Unterschied, den ich mir und jedem anderen nur von Herzen wünschen kann!!! – aber Matthäus erlebte seither, dass er nicht mehr durch Opfer und unter Opfern würde leben müssen. Nicht mehr durch Opfer würde er leben – sprich: Nicht mehr durch sein eigenes Vermögen, wie auch immer das erworben und geartet war –, sondern durch seine Schwäche, … seine Herzschwäche: Durch seine Bereitschaft, von Gott eben geliebt zu werden und diese Menschenliebe Gottes menschlich zu teilen!
Die Barmherzigkeit Gottes ist es, die die Menschenopfer – also alles, was Menschen opfern können: Selbstopfer, fremde Opfer, materielle Opfer, intellektuelle Opfer, kriminelle Opfer – nicht will! Gott, der Barmherzige, Der auf alles ein Recht hat, will doch nichts annehmen, sondern Selber geben, Sich Selber geben!
Und gerade so – als der Barmherzige, als Der selbst keine Überlegenheit Durchsetzende, sondern Verlustbereite – ist Gott der wahre und der einzige Arzt der todkranken Menschheit, die einander immerfort aus dem eigenen Leben ausschließt[i], entweder indem sie Zölle erhebt, wo sie Macht dazu hat, oder umgekehrt den Zöllner sofort ausstößt, sobald er ohnmächtig geworden ist.
In diesem Elend, das wir an der kleinen Gestalt des Matthäus ebenso wie an den großen Mächten der Geschichte erkennen müssen, … in diesem Elend, dass im Miteinander von gewöhnlichen Menschen keine Seligkeit außer der „Feindseligkeit“ herrschen zu können scheint, da ist die eine Hoffnung Derjenige, Dem das das Herz bricht.
Gott ist als Mitleidender, als das Mitleid schlechthin der Heilende, der Heiland.
Dieser eine Satz – der Satz, dass Gottes Krankheit, Seine Geduld (also Sein Patient-Sein) aus Liebe unsere Genesung, unsere ewige Zukunft ist! – … dieser eine Satz ist der Tod der alten Mächte und der Beginn des wirklichen Lebens.
„Gott ist als Mitleidender unser Heiland, Seine schmerzhafte, offene innere Wunde - Seine Barmherzigkeit - ist unsere Rettung!“
… Ja, dieser Satz, diese Wahrheit ist bedrohlich für die Logik und die Gesetze, für die Funktion und Ordnung unserer in Krankheit und Gesundheit, in Stärke und Schwäche, in Vermögende und Opfer, in Hilflose und Selbstherrliche eingeteilten Welt.
… Ja, man ahnt, dass wer immer von diesem Satz erwischt wird, wer immer diesen Satz in sein Herz und Wesen, Sein Denken und Handeln dringen und sich dort viral ausbreiten spürt, sich verzweifelt wehren mag … oder aber für immer angesteckt wird. … Berufen.
… Berufen, ganz ohne große Worte, ohne große Wunder, mit dem Arzt, Der den Schmerz kennt, mit dem Retter, Der das Leid teilt, selber zu teilen, … mit Ihm zu helfen, … mit Ihm zu tragen, … mit Ihm zu dulden, … mit Ihm zu sterben … und mit Ihm zu leben!
… Es kann uns alle erwischen …….
Gott sei Dank!
Amen.
[i] Der Anklang von „Sund“ (= Abgrund, Trennung) in „Sünde“ ist und bleibt ein unglaublich beredter Wink unserer Sprache: Das permanente Scheiden – „Meins, nicht Deins!“ – macht zwischen Menschen und Gott und Menschen untereinander das Wesen der Trennung, der Abkehr, des Abbruchs aus, die nur Gottes Barmherzigkeit - Seine Bereitschaft, Selbst Abgründiges zu teilen und zu dulden - überwindet.
Letzter So.n.Epiphanias., 29.01.2023, Mt 17,1-9, Mutterhauskirche, Dr. Katrin Stückrath
Sonntag, liebe Gemeinde, ist ein besonderer Tag.
Es ist ruhiger auf der Straße, man kann nicht einkaufen, man hat keine Termine, man muss ihn selber gestalten. Oft ist der Sonntag ein Familientag. Die Zeit scheint an ihm anders zu verlaufen als sonst. Die Erwachsenen lieben ihn: Endlich Zeit und Ruhe! Die Jugendlichen mögen ihn meist nicht so: Zu viel Zeit, zu wenig los, komischer Tag.
Ja, das ist so: Mit dem Sonntag muss man etwas anfangen, um ihn zu genießen. Der österreichische Schriftsteller Peter Rosegger schrieb: „Gib der Seele einen Sonntag und dem Sonntag eine Seele.“ Er meint also, dieser Tag könne unserer Seele gut tun. So steht es übrigens auch in unserem Grundgesetz: „Der Sonntag ist ein Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“. Steht da so drin in Artikel 139! Unser deutsches Grundgesetz, der höchste Rechtstext, spricht von Seele und weiß auch, man muss etwas für sie tun, sie „erheben“. Ja, Erhebung haben wir oft nötig, vor allem im Winter, wenn alles so grau erscheint und die Kälte weh tut. Und mehr weh tut noch Inneres: Kummer, Sorgen, Angst, Trauer. Darüber muss sich die Seele ab und zu erheben.
Was tut Jesus an einem Sonntag? Es ist eigentlich ein Sabbat, natürlich, denn Jesus ist ja Jude. Kurze Erklärung: Als Jesus am Sonntag auferstand, legten die Christen den Sabbat, den Tag der Arbeitsruhe, auf den Sonntag. So wurde der jüdische Sabbat unser Sonntag, einen Tag versetzt aber inhaltlich ähnlich. Was tat Jesus an einem Sabbat? Davon erzählt ein Bibeltext, den ich frei widergebe, denn er ist so voller Details, die ich nicht alle erklären kann. Sie können ihn später nachlesen in Matthäus 17, Anfang des Kapitels.
Also: Jesus nimmt drei Jünger mit sich auf einen hohen Berg. Er geht nicht in die Synagoge zum Gottesdienst an diesem Sabbat, sondern auf einen Berg, das ist schon mal bemerkenswert. Warum an diesen besonderen Ort?
Die Tage zuvor, so erzählt es Matthäus, war Jesus mit seinen Jüngern in der Gegend der römischen Küstenstadt Caesarea Philippi gewesen. Das war DIE Hafenstadt, wo alle römischen Schiffe ankamen, wo es große Garnisonen gab. Caesarea Philippi – die „Kaiserstadt“ war der Ort, von dem aus die Römer das Land beherrschten. Kein Wunder, dass bei der Gruppe um Jesus die Machtfrage im Raum stand: Wer ist dieser Jesus im Vergleich zum Kaiser in Rom?
Die Jüngerinnen und Jünger waren jetzt schon einige Zeit mit Jesus unterwegs. Sie hatten Tolles erlebt: Heilungen von kranken Menschen, mitreißende Worte von Jesus, sie waren willkommen geheißen worden in vielen Häusern. Aber – da gab es eben noch die Fremdherrschaft der Römer und die Frage, ob das, was sie mit Jesus erlebten, nur eine schöne Auszeit war? Oder könnte mit Jesus eine völlig neue Zeit der Gerechtigkeit und des Friedens einziehen? – dann müsste er stärker sein als die Römer.
Jesus hatte das gespürt und sie gefragt: „Für wen halten die Leute den Menschensohn?“ Jesus sprach von sich selbst nämlich als Menschensohn. Das ist einerseits sehr bescheiden, man könnte auch „Mensch“ oder „Menschenkind“ sagen. Das ist andererseits überhaupt nicht bescheiden, denn die alten Propheten sprachen vom Menschensohn und meinten damit das ganze Volk Gottes, ganz Israel oder auch die Menschlichkeit schlechthin. Auf jeden Fall: Petrus antwortet und sagt: „Ich halte dich für den Messias, den gesalbten König von Gott!“ Und Matthäus erzählt, dass Jesus das gut fand.
Aber dann fängt Jesus an, den Jüngerinnen und Jüngern zu erklären, was für ein Messias er ist: Nämlich ein besonderer, einer der vieles erleiden muss, getötet wird und auferstehen wird. Das findet Petrus gar nicht gut. Es gibt richtig Ärger zwischen Petrus und Jesus deswegen. Und wohl deshalb nimmt Jesus ihn und Jakobus und Johannes, (die das mit dem Leiden und dem Dienen auch nicht verstehen können, so erzählt es eine andere Geschichte) er nimmt die drei am Sabbat mit auf den hohen Berg. Sie müssen etwas kapieren.
Und das ist, was die drei Jünger sehen: Auf dem Berg erscheint Jesus ganz anders, von Licht durchschienen. Und er bekommt zwei Gesprächspartner: Mose und Elia erscheinen und reden mit Jesus. Petrus findet es erst super und meint: Hier bleiben wir für immer! In dem Augenblickwirft eine Wolke ihren Schatten auf sie und sie hören eine Stimme aus der Wolke: Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe, auf den sollt ihr hören. Das ist dann endgültig zu viel für die Jünger. Sie bekommen große Angst und fallen auf den Boden. Wie tot liegen sie da. Mit dem Gesicht auf der Erde, wird erzählt.
Aber dann macht Jesus etwas: Er geht zu ihnen, fasst sie an und sagt: „Aufersteht und fürchtet euch nicht.“ Ja, die Wörter, die hier benutzt werden, sind die gleichen, mit der die Auferstehung von Jesus erzählt wird. Der Engel sagt zu den Frauen am Grab: Fürchtet euch nicht, er ist auferstanden. Die drei, Petrus, Jakobus und Johannes erleben hier die Auferstehung vorweg. Auf dem Berg an dem Sabbat, dürfen sie einen Blick in die Ewigkeit werfen, in Gottes Reich. Sie sollen verstehen, welche Kraft da am Werk ist. Jesus wird nicht einfach leiden und sterben. Gottes Macht ist größer als der Tod. Er wird wieder aufstehen. Er ist wirklich der Sohn Gottes. Aber das ist nichts Exklusives. Sohn Gottes ist das ganze Volk Israel. Was heißt das dann?
Ich stelle mir vor, dass Petrus still war, als sie vom Berg hinunter steigen. Wie es in dem Kopf von Petrus arbeitet. Er versucht das Erfahrene zu verarbeiten: „Jesus ist der Sohn Gottes. Er wird am Ende auferstehen, hat er gesagt. Aber wir alle sind eigentlich Söhne und Töchter Gottes. Logisch, deshalb bin ich auch eben von den Toten auferstanden. Es passt alles zusammen. Jesus ist der Sohn Gottes und wie er uns hier auf den Berg mitgenommen hat, so wird er uns immer weiter mitnehmen, auch nach Jerusalem, aber auch nach seinem Tod darüber hinaus.“
Als sie so vom Berg heruntergehen, wird Petrus klar, dass Jesus das alles ist: Menschensohn und Messias und Sohn Gottes. Es sind verschiedene Wörter, aber allen gemeinsam ist: Gott ist am Werk für sein Volk. Er ist in diesem Jesus, um den Menschen Hoffnung zu geben. Jesus gibt Sicherheit gegen Angst, Mut gegen Gewalt, Gerechtigkeit gegen Unrecht.
Ich stelle mir vor, dass Petrus Jesus noch etwas gefragt hat: „Woher hast du das alles, was du geben kannst? Wieso bist du so stark?“ Und ich stelle mir vor, dass Jesus geantwortet hat: „Mose und Elia haben doch mit mir geredet.“ Bei Mose und Elia gibt es Parallelen zu Jesus: Mose hatte auch Angst, aber Gott hat ihn am Dornbusch beauftragt, sein Volk, die Kinder Israels aus Ägypten zu befreien. Mose hat es geschafft, das war das Ende der Sklaverei. Und Elia war der Prophet, der für Gott gekämpft hat und am Ende nicht gestorben ist. Er ist in einem Wagen zum Himmel gefahren. Mose und Elia haben Jesus Mut gemacht.
Liebe Gemeinde, ich komme noch einmal auf den Anfang zurück, auf den Sonntag. „Gib der Seele einen Sonntag und dem Sonntag eine Seele.“ Lassen Sie uns den Sonntag als eine besondere Chance wahrnehmen. Ihn als besondere Zeit wahrnehmen. Man kann an einen besonderen Ort gehen. Es kann ein Berg sein oder auch eine Kirche. Wichtig ist: Mose und Elia reden mit einem. Hier in der Kirche ist das ganz einfach: Denn Mose haben wir in den 5 Büchern Mose und Elia steht ebenfalls in der Bibel und alle Prophetenbücher ebenfalls. Wir können Mose und die Propheten mit uns reden lassen durch die Lesung im Gottesdienst. Oder wir lesen selber in der Bibel. Oder wir lesen einen anderen guten Text oder schauen ein gutes Video.
Wir gucken aber nicht so ein Tictoc-Video, wo man denkt: Mist, ich bin nicht richtig, ich müsste anders sein. Nein, wir suchen Ratgeber und Freunde wie Mose und Elia, Menschen, oder Texte oder etwas, das Mut gibt. Mut gegen die Hoffnungslosigkeit und die Resignation und die Traurigkeit. Mut gegen die Gewalt, die in der Welt im Spiel ist. Mut gegen die Ausbeutung, die Sklaverei.
Lassen wir Mose und die Propheten mit uns reden, damit wir merken: Gott hat ganz andere Ziele mit der Welt. Er wirkt in ihr durch Menschen wie Jesus. Er lässt sein Volk, er lässt die Menschheit nicht allein. Er taucht alles in anderes Licht.
Ja, liebe Gemeinde, das zu erfahren ist möglich an einem Sonntag. Was an einem Sonntag alles passieren kann! Wir blicken auf einmal in Gottes Zeit, in seine Welt. Nicht alles, was uns bedrückt, ist damit vorbei. Aber es kann in einem neuen Licht erscheinen. Gottes Liebe kann spürbar werden. Und wir kriegen neuen Mut. Das kann an einem Sonntag alles passieren!
Letzter Sonntag nach Epiphanias, 29.01.2023, Stadtkirche, Kantatengottesdienst mit Telemanns "Ihr Völker, hört!" (TWV 1:921) / Matthäus 17, 1 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Letzer S.n.Epiphan. - 29.I.2023
Matthäus 17, 1-9 & Kantate G.Ph. Telemann, „Ihr Völker, hört“ (TWV 1:921)
Liebe Gemeinde!
Wenn Ludwig Wittgenstein - der große Denker der klaren Logik und der eher unklaren Menschensprache - Recht hat, dann ist unser Gottesdienst heute, mit all seinem Drum und Dran heller Unfug. Nicht das oder vielmehr „Der“, Der uns hier versammelt, fällt unter das harte Urteil des Philosophen, aber sehr wohl alles, was wir hier bisher getan haben. Denn Wittgenstein hat einen Satz geprägt, der paradoxerweise zum geflügelten Wort wurde, obwohl er die Reichweite aller Worte drastisch stutzt: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.[i]“
… Dieses völlig zu Tode wiederholte und doch unerschöpflich treffende Zitat aus Wittgensteins Werk sagt uns heute unverblümt zweierlei: Die Theologie ist verrückt und Telemann ist verrückt. … Weil beide nicht schweigen können, weil sie auf je ihre Weise formulieren und hörbarmachen wollen, was logisch - also mit dem Logos, mit der verstehbaren Mitteilung - gar nicht auszudrücken ist:
Theologie, Liturgie und Kirchenmusik kreisen schließlich alle um das Unaussprechliche, … sie kreisen alle um ein Geheimnis, ein Schweigen, das völlig undurchdringlich wäre, wenn nicht aus dem Abgrund des Mysteriums und vom Gipfel jenseitiger Ferne ausgerechnet der göttliche Logos selber gekommen wäre, um sich in Menschenmündern mitzuteilen und sich schließlich in einem Menschenkind - rätselhaft und greifbar zugleich - zu offenbaren.
Seither, seit Abrahams Berufung, seit Moses Begegnung auf dem Sinai, seit Elias und Jesajas und Hesekiels beinah leibhaftigen Berührungen durch Den, Der sie sandte, reden Menschen in Menschenwendungen nicht nur über, sondern aus Gottes Fülle. Und an Weihnachten kam der, von dem sein Apostel sagt: Wir alle - wir Verkündiger Jesu Christi - haben Gnade um Gnade aus der fleischgewordenen Fülle dieses Wortes genommen (vgl. Joh.1,16). ——
Wenn nun aber der Apostel und Evangelist Johannes, der in der Ostkirche immer nur mit dem Finger auf den Lippen und dem Engel am Ohr als der größte Schweigende und Lauschende abgebildet wird, sich an Wittgensteins Prinzip gehalten hätte, gäbe es keine christliche Theologie, Liturgie und Musik: … Das kann man so verkürzt und ohne Matthäus, Markus und Lukas zu nahe zu treten, sagen. Es gäbe also weniger Verrückte, die das unendlich Unbegreifliche und unnahbar Gegenwärtige begrüßen, beschreiben und besingen wollen, das uns in Jesus aus Gott entgegenströmt.
Vielleicht wäre es ja auch ganz gut, wenn sich die Sprüche und die Widersprüche des Glaubens langsam wieder in’s Verschwiegene und dann ins Schweigen zurückzögen. … Die Mehrheit unserer Zeitgenossen fände es erkennbar sinnvoll oder zumindest gleichgültig, wenn das Christentum einfach gar nicht mehr dazwischenfunkte: Angefangen beim blöden Glockenläuten über den unverständlichen, aus der Zeit gefallenen Klangteppich altmodischer Floskeln, barocker Musikmotive und sonstiger feierlicher Versatzstücke, bis hin zu den Polit-Parolen und moralischen Einlassungen der Kirchen-Gremien … wie Wenigen würde das wohl fehlen?! … Es gäbe eben noch mehr TikTok, noch mehr Twitter, noch mehr Spotify, wenn die Lautsprecher, die Chöre und der Lobpreis der Christen endlich Ruhe gäben!
Doch noch etwas anderes würde ausfallen, wenn die Christen ihre Kommunikationskanäle, ihre Lieder und Predigten, ihre Bete- und Bekenntnisversuche, ihre Sprache und ihre Stimme stummschalteten. Was man am wenigsten vermuten würde - so verrückt ist es! -, und gleichzeitig das Allerbeste würde ausfallen, wenn das Schweigen der Christen einträte: … Das Licht!
… Sehr weit muss man ja in der Bibel nicht vordringen, sehr tief muss man nicht forschen, um auf die fundamentale Behauptung zu stoßen, dass schon die Initialzündung, die kreative Energie, von der alles Organische im Universum unmittelbar abhängig ist, keinen bloß physikalisch-materiellen, sondern einen logischen Funken brauchte. Das Licht kommt aus dem Wort!
Die auch in atheistischen Modellen grundlegende Kraft bei der Entstehung der Welt ist nach dem biblischen Zeugnis tatsächlich das ursprünglichste WORT GOTTES: „ES WERDE LICHT“ (1.Mose1,3).
… Wenn Gott Sich also äußert, wenn Er Sich mitteilt, entsteht Helligkeit!
Das ist ein Grund-Satz, aus dem viele, viele, … vielleicht alle weiteren Sprechversuche und Aussagen des Glaubens entspringen:
Die Sprache Gottes ist erleuchtend. Und darum ist das Sprechen, das Ihm antwortet, ist das Echo, das Seinen Ruf aufgreift, notwendigerweise auch Rede vom Licht.
Dass das natürlich verrückt ist, dass es unmöglich und unleistbar, aber mehr noch nötig und unverzichtbar ist, kann man schnell erkennen: Wenn unsere Worte verdunkeln würden, wenn unsere Sprache nicht dem Einsehbaren, sondern dem Schatten dienen wollte, dann wäre alles Reden ein Instrument der Lüge.
… Dass es das sein kann, erleben wir immer häufiger: Wir stehen ja mitten in einem Wandel der Kommunikation, die statt zu erhellen und aufzuklären immer öfter vernebelt. Diese Dunkelkunst der Unwahrheit, diese schwarze Magie des Behauptens, des Verzeichnens und Verschwörens hat eine Epoche der Unklarheit, des Verschwommenen und Verzerrten hervorgebracht. Was man von der Welt wissen und wahrnehmen kann, seit so viel Zwielichtiges und Nebulöses von menschlichen Lippen und vom menschlichen Tippen verbreitet wird, ist getrübt. Klare Perspektiven verlaufen wie Tinte auf Löschpapier. Undurchschaubar verschmutzen Interessen und Absichten die Ansichten, die man gewinnen will. … Welt-Anschauung wird ein dreckiges Geschäft.
Doch Gott lob! gibt es noch die Unverdrossenen, die das Verrückte tun, mit dem Georg Philipp Telemann uns heute erfreut hat. Es kommt in seiner Epiphanias-Kantate – obwohl ihre Bezeichnung spontan so sehr an die verdammt martialische „Internationale“ erinnert („Völker, hört die Signale!“) – gar nicht mit Pauken und Trompeten daher, sondern luftig und flötenleicht, … das hellauf Verrückte unseres Glaubens mit seinem unmöglichen Imperativ: „Ihr Völker, hört … das Licht!“[ii]
Angesichts der dunklen Zeiten heute und der Schwarzmalerei, die auch einen objektiven Blick auf unsre Gegenwart prägen kann, muss man eigentlich laut lachen und sie lieben … diese Christen, diese heiter fühlenden Barockmenschen im Zeitalter der Aufklärung: Obwohl jeder weiß, dass das nicht möglich ist, versuchen sie, tatsächlich das Licht zu beschreiben und hoffen, optische Phänomene akustisch zu spiegeln und zu nutzen!
Es haben sich schon ganz andere Dichter die Zähne dran ausgebissen, mit Worten Farben zu schildern, die man doch sehen muss; schon ganz andere Musiker haben’s versucht, mit Klängen die Sonne zu vergegenwärtigen[iii], die ganz unbeschreiblich ist, weil auch das sonnenhafte Auge[iv] sie selber doch nicht fassen kann.
Aber ein Mensch wie Telemann - der Leuchtende und zugleich Unaufdringliche - lässt es sich trotzdem nicht nehmen, eine ganze Kantate, die die verschiedenen Schimmer und Strahlen und Herrlichkeiten, den Glanz und die Glut und die Klarheit Gottes in den Augen des Glaubens zum Thema hat, aus Tönen zu weben. … Obwohl es niemals gelingen kann, die Transparenz und Allgegenwart, den spektrale Farbenreichtum und die physikalische Notwendigkeit des Lichtes nachzuahmen, das schier alles erfasst und aus der allgemeinen Unsichtbarkeit zur Kenntlichkeit bringt, versuchen der Glaube Telemanns und der Glaube der Theologie genau das immer und immer und immer wieder. … Obwohl wir nicht davon reden können, können wir nämlich wirklich noch weniger davon schweigen: Wir müssen das Licht besingen und beschreiben!
Jeder Klang und Gedanke im Christentum wollen ja erhellen!
Seele und Zunge, Geist und Mund sind von Gottes Klarheit nun einmal entzündet und also vollziehen sie in den Wellen ihres Schalls das Strahlenmuster der Erleuchtung nach, so gut sie nur irgend können.
Wenn es demnach so etwas wie ein gültiges Merkmal der christlichen Rede, der Botschaft des Christentums gibt, dann ist es die einfache Unterscheidung: Wo sie verdüstert, ist sie nicht recht! … Wo man an den unzulänglichen oder den ungewohnten, wo man an den allzu gewohnten und darum vielleicht langweilig wirkenden Äußerungen des Glaubens und der Gläubigen keinen Funken, keinen Glanz wahrnimmt, … wo sie gar nichts ausstrahlen, da sind sie verkehrt!
Wo es bloß um Angst oder Schuld geht, … wo du, der Mensch, dich in den Schatten gestellt siehst oder nur deine dunklen Seiten und Sorgen begegnen, da geht’s nicht um das Wunder, dass Worte es tatsächlich Licht werden lassen und in den Herzen die Hoffnung hell machen können!
Zeugen der Finsternis, Nebelwerfer, Schattenflüsterer, dunkle Propheten und Sänger, die ihre Hymnen nur an die Nacht[v] richten können, gibt es so viele.
Wenn es aber auch weiterhin Menschen geben soll, die von Jesus Christus durchdrungen und durchströmt sind, dann muss man es an ihrer Helligkeit trotz allen Dunkels spüren.
Das ist nämlich die Botschaft, die wir auch an diesem letzten Sonntag nach Epiphanias, ja gerade an ihm hören: Die Finsternis vergeht und das wahre Licht scheint jetzt (1.Joh.2,8)!
Mit dem adventlichen Warten auf den Aufgang der kommenden Sonne, mit dem weihnachtlichen Geheimnis, dass das Licht der Welt in die Welt gekommen ist, in einer winzigen Flamme der Liebe, die aber gerade deshalb von der Finsternis weder begriffen, noch ergriffen werden konnte (vgl. Joh.1,5!), und mit dem Epiphanias-Ereignis, dass die Lichtsuchenden aus Morgenland es zeigen, wie alle Menschen überall angestrahlt und angezogen und erleuchtet werden können ……. mit diesen lichtreichen liturgischen und seelischen Erfahrungen der vergangenen zwei Monate stehen wir jetzt an einem Scheideweg:
Kranz und Kerzen und Baum und Lichter und Stern haben ihre Zeit gehabt. Sie entschwinden den Blicken: Viel von unserm Weihnachtswachs und unsern Kerzenstümpfen bringt man in diesen Wochen tatsächlich an einen der finstersten nicht „Brenn“punkte, sondern Verbrannt-Punkte dieser Erde, damit die Menschen im Kriegselend der Ukraine wenigstens ein erbärmliches Anflackern gegen die schwarze Kälte spüren.
… Und so scheint es, als solle mit dem Ausklang der Epiphaniaszeit nun überall das Graue und Triste, die bleiche Furcht vor dunkler Zukunft anbrechen.
Doch jedes Wort und jeder Klang bei uns, lauten und leuchten anders!
Gewiss: Es ist saudüster auf Erden und das Schrecklichste, was uns drohen könnte, wäre ein letzter, finaler Blitz, den Menschen zünden können, um dadurch eine unvorstellbare Nacht auszulösen. Und noch dazu wird es nach dem Karnevalsflimmern in wenigen Wochen in unsern Lebensgewohnheiten, in unserer Liturgie und Predigt rasch wieder gedämpft und ernst, leise und nach Innen gekehrt zugehen.
Aber wir sollen uns nicht täuschen lassen und wir sollen auch nicht enttäuschen!
… Auch, nein gerade die Wirklichkeit, … auch, nein gerade der Alltag, … auch, nein gerade das Leid und die Trübsal sind nicht mehr lichtlos, sind nie mehr lichtlos. Über ihnen allen und in ihnen und durch sie hindurch strahlt tatsächlich ein Glanz, der nicht verlöschen wird, … der ewig ist und war und bleibt.
… Wir nehmen ihn nicht immer wahr. Und können das auch nicht.
… Nicht immer können die Völker „das Licht hören“.
Aber alle unsere Gottesdienste und Gebete, alle unsere Gedanken und Gewohnheiten müssen und werden auf die eine oder andere Weise erhellt, illuminiert und durchglänzt sein von Dem, bei Dem auch die Nacht leuchtet wie der Tag und Finsternis wie das Licht ist (vgl. Ps.139,12).
An diesem Glanz, an dieser Verklärung – die kein Weichzeichnen, sondern ein Scharfstellen ein Fokussieren auf die Quelle des Lichtes und des Leben ist – … an diesem Glanze, an dieser Verklärung sollen wir heute unsere Augen und unsere Worte, unsern Geist und unsern Glauben aufladen:
Damit wir – wie wir’s gleich nüchtern und ernüchternd hören werden – nicht den Fehler machen, zu denken, wir dürften schon ganz abgeklärt in reinem Glanz aufgehen und müssten nicht mehr weiter durch Trübsal und Alltag und Wirklichkeit ziehen.
… Wir werden weiter ziehen.
… Aber wir werden dabei nicht schweigen, von Dem, Der eigentlich alles Reden und Begreifen, alle Erkenntnis und Einsicht übersteigt … und uns dennoch vor Augen stehen wird und heller bleibt als alles andere, bis wir selbst ganz und gar zu Seinem Licht kommen dürfen in der Auferstehung der Toten: Jesus allein!
Denn das ist das Evangelium (Matth.17, 1-9):
Jesus nahm mit sich Petrus und Jakobus und Johannes, dessen Bruder, und führte sie allein auf einen hohen Berg.
Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.
Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia; die redeten mit ihm.
Petrus aber antwortete und sprach zu Jesus: Herr, hier ist gut sein! Willst du, so will ich hier drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine.
Als er noch so redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!
Als das die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und fürchteten sich sehr.
Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht!
Als sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein.
Und als sie vom Berge hinabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: Ihr sollt von dieser Erscheinung niemandem sagen, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist.
Amen.
[i] Dies der finale Satz (No.7) in Wittgensteins bahnbrechendem „Tractatus logico-philosophicus“ (Ludwig Wittgenstein Werkausgabe Band I: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916 u.a., [neu durchgesehen v. Joachim Schulte], Frankfurt/M 19907, S. 85). – Das aporetische Motiv des Schweigens ist in der exakten Mitte der Telemann-Kantate Nr.921 in einem reichentfalteten Rezitativ inhaltlich wie musikalisch überraschend motivgebend: Nach einer ungewöhnlichen Pause konstatiert die Solostimme dort „Doch welche Stille! Ist schon das Lobgeschrei, ist schon der Jubelton vorbei?“
[ii] Mit diesem programmatisch rezitierten Imperativ – der das performative Paradox der biblischen Materialisierung durch’s Wort nachvollzieht – beginnt die Kantate TWV 1:921 leuchtend unmittelbar: „Ihr Völker, hört wie Gott aufs Neue spricht: Es werde Licht!“
[iii] Neben vielen anderen musikgeschichtlichen Beispielen der photonen (griechisch Phōs = Licht) Phonetik (griechisch Phonē = Stimme) ist an das Gustav Mahler intensiv poetisch wie musikalisch beschäftigende „Urlicht“ zu denken, das er immer wieder und weiter aus „Des Knaben Wunderhorn“ auch symphonisch-vokal bearbeitet hat.
[iv] „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt es nie erblicken; / Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt uns Göttliches entzücken?“: Der berühmte aphoristische Vers Goethes begründet nicht nur seine Farbenlehre, sondern seine poeto-mythologische Kosmos-Hermeneutik insgesamt (zitiert nach: Goethes Gedichte in zeitlicher Folge, hgg. v. Heinz Nicolai, Frankfurt/M 19907, S. 556).
[v] Bei aller Liebe zur Romantik: Novalis‘ epochale „Hymnen an die Nacht“ sind ohne das aufgeklärte, das heiter-helle Gegengewicht des christlichen Zeugnisses in seiner biblischen, barocken und (meinetwegen) auch rationalistischen Gestalt nicht heilsam denk- und deutbar.
3.Sonntag n. Epiphanias, 22.01.2023, Stadtkirche, Römer 1, 13-17, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.So.n.Epiphan. – 22.I.2023
Römer 1, 13-17
Liebe Gemeinde!
… Mir hier auf der Kanzel fehle der Zweifel, höre ich häufig. Und wo man keinen Zweifel spürt, da sei das Gegenteil - das, was wir „Glauben“ nennen - eben grade nicht glaubhaft: Um glaubhaft etwas vom Glauben zu erzählen, müsse man die Frage, die Ferne, den Widerstand spüren. … Nicht Leichtigkeit. … Nicht eine Selbstverständlichkeit, die niemand teilen kann. … Nicht das Einfache, das in Wahrheit doch so kompliziert sei. … Kompliziert wie die Predigten, hier auf der Kanzel. ……. ——
Das alles ist so.
Wo wir uns selbst oder einander vormachen, es sei einfach in dieser Welt an die Liebe zu glauben, die Gott und Mensch ist, … es sei einfach, in dieser Welt, 2023 ein Gefühl für die Ewigkeit zu haben, die Mensch und Gott gemeinsam haben können, … es sei einfach, in dieser Welt, 2023 angesichts der menschlichen und materiellen Sackgassen aus einer an sich unglaublichen Liebe und einer für alle unfassbaren Ewigkeit hier und jetzt Freude und Hoffnung zu schöpfen, … wo wir uns selber oder einander vormachen, das sei einfach, da ist es ganz kompliziert. Glaube nicht weniger als Zweifel. Sie sind ganz kompliziert, in ihrer jeweiligen Einfachheit: Wenn wir nichts vom Guten wahrnehmen, ist es schreck-lich. Und wenn wir nichts vom Schrecklichen wahrnehmen, ist es nicht gut. …….
… Was also?
Einfach kompliziert bleiben … und kompliziert einfach sein, werden wir müssen. Um des Zweifels genau wie um des Glaubens willen. Damit sie den nötigen Raum in dieser Welt behalten: In einer Welt nämlich, in der es keinen Glauben, nur Zweifel gäbe, möchte wahrscheinlich nicht nur ich nicht wirklich leben: Es wäre die Welt der Verzweifelten. Aber in dieser Welt zu leben, ohne dass Zweifel den Glauben bewegten, aufwühlten und provozierten, kann ich mir auch nicht vorstellen: Es wäre eine Welt der Blinden, Tauben und Stummen, … es wäre das Grab.
Zweifeln wir also! Glauben wir! Und leben wir weiter, gewiegt und geweckt von diesen beiden Kräften, die uns vor geistigem Terror und seelischer Lähmung bewahren.
… Nur eines wünsche ich ganz bewusst ganz fern von mir … und niemand anderem an den Hals: Die Scham, die beides manchmal begleitet.
Es gibt ein Gefühl – und die Kirche hat verderblich lang daran gearbeitet, es zu streuen –, als sei es Menschen vorzuwerfen oder als seien Menschen in der Bringschuld, wenn sie nicht glauben können, wenn ihnen Ohren für die fremde Botschaft, wenn ihnen Vertrauen in die fern-nahe Liebe und der Kinder-Mut zu bestätigungsloser Gewissheit fehlen.
Dass das Schwachsinn ist, … brutaler Schwachsinn, wird heute vermutlich allen klar sein: Sich auf Gott einzulassen, ist keine menschliche Verpflichtung, sondern reine Menschenfreiheit. … Wir Christen würden sagen: Sich auf Gott einlassen zu dürfen, ist eine einzige unverdiente, abenteuerliche und unverschämte Gnade.
Wer’s nicht kann, wer’s nicht erlebt, wem’s nicht passiert, steht wahrlich nicht in der Kritik!
Doch wem’s widerfährt, wer’s darf oder muss, wen es allmählich oder schlagartig überkommt – das grund- und ziellose Sichersein der Gottverbundenen –, der darf sich auch nicht schämen oder rechtfertigen müssen. Denn so wie es immer banal wird, wenn sich Zweifel oder Glaube selbst erklären sollen, genauso ist es immer bitter, wenn sie sich selber unterdrücken und an die Leine legen müssen. Weder Christentum noch Atheismus verdienen es, geheuchelt zu werden. … Sie brauchen frische Luft und freien Lauf. —
… Und deshalb ging er nach Rom!
Man muss sich das einmal vorstellen: Ein ursprünglich vermutlich ziemlich blasser Torah-Student aus einer der Jerusalemer Akademien für pharisäische Schriftgelehrte. Er hatte fern von Israel, im heimatlichen Tarsus die Sehnsucht der Diaspora nach dem Mittelpunkt der Bibel und ihrer Heilsgeschichte von Kindesbeinen an geteilt. … Und war dann dort, wo der Himmel die Erde berührt. Wo man sein muss, wenn die Auferstehung der Toten anfängt. Wo man bleiben kann, wenn in den Tagen des Messias das Reich der Gerechtigkeit beginnt und alle Völker dorthin, zum Zion strömen werden.
Damit das so werden möge, wollte er die Verwirrten zurück auf den schmalen Weg bringen. Er wusste, dass es nicht mit einem Handwerker aus Galiläa und ein paar prophetischen Zeichen, ein paar prophetischen Predigten getan sein würde, … schon gar nicht wenn das Ende so schmählich war, … eine skandalös-satirische Hinrichtung des „Königs aller Juden“ durch römische Henker. Deshalb zog er nach Damaskus hinauf, um die Verwirrten, die Verlaufenen und Verirrten, die sich selber dort ausgerechnet als die Gemeinde „des Weges“ bezeichneten (vgl. Apg.9,2) vorm Straucheln und Scheitern zu bewahren – … so wie wir es eben gerade mit gut pharisäischen Worten, ganz im Geist des Saulus gesungen haben: „Erleuchte, die da sind verblend’t, / bring her, die sich von uns getrennt; versammle, die zerstreuet gehen, / mach feste, die im Zweifel stehn.“ (EG 72,5)
… Was aber dann geschah - vor den Toren von Damaskus -, das feiert die Kirche am kommenden Mittwoch, am 25.Januar, genau einen Monat nach Weihnachten: Denn die Berufung des Saulus zum Apostel war in der Tat auch eine Geburtsstunde - er selbst sagt einmal ja tatsächlich im Rückblick auf das Damaskus-Ereignis, dass der auferweckte Christus da mit seinem überirdischen Glanz wie in einem Brutkasten aus einem abgetriebenen Foetus, aus einer ungewollten oder lebensunfähigen Totgeburt einen Anfang gemacht hat (vgl. 1.Kor.15,8) … wenn auch eine kleinen und geringen, … einen, der zurecht „Paulus“, „Knirps“ heißt .
So jedenfalls kann der Glaube auch über einen Menschen kommen: Unter schauderhaft widrigen, völlig destruktiven, urknall-chaotisch-kreativen Verhältnissen.
Für Paulus, der das Undenkbare einsehen musste, … dessen Sicht vor lauter Licht erlosch, … der sich in den Armen derer fand, gegen die er die Hand erhoben hatte, … und der nun Dem nachfolgte, Den er nicht weiter verfolgen konnte, … für Paulus ist seine Berufung, seine Bekehrung, dieser absurde Kopfstand seiner sämtlichen Ansichten ein Schock: Falsches wird Wahrheit. Bekämpftes wird Segen, … das Abgelehnte mutiert zum Liebsten, … das Ausgeschlossene zeigt sich als Tür und das unzweifelhaft Feststehende tanzt aus der Reihe und durchkreuzt und durchquert sein Leben und dreht ihn auf und um, und sein Anti-Christ wird sein Christus und Jerusalem wird so groß, ja so heidenweltweit, so global, dass der Vogel, der mit Leib und Seele sein Nest doch in der Stadt Davids hatte, plötzlich ausschwärmt und überall landen kann – auf der arabischen Halbinsel war er (vgl. Gal.1,17), in Galatien in Sichtweite des Kaukasus, auf dem Peloponnes und auf Malta, in türkischen, griechischen und italienischen Gefilden, … wer weiß: vielleicht sogar in Katalonien[i] … überall für Christus, mit Christus, durch Christus.
Und überall als einer, der sich so total korrigiert hatte, der sich so relativiert und demontiert hatte, der sich so radikal überholt und widerlegt und re-orientiert hatte, dass der Gedanke an die Schärfe und lawinenartige Wucht seiner Zweifel und die unlösbare Nabelschnur, die seinen neuen Glauben mit dem Alten verband, das ihm zugleich sicher und fraglich, zugleich vertraut und verkehrt, zugleich als klar und als dunkel erschien, uns eigentlich völlig überfordert!
… Wie kann ein Mensch solche Zweifel zulassen an allem, was für ihn fest- und wofür er selber einstand? … Wie kann ein Mensch solche Gelassenheit und Zustimmung verkörpern, wenn eben solche Erdstöße und Orkanwirbel den Rahmen und das Bild seiner Welt weggefegt haben?
Paulus, den wir als den Apostel des Glaubens mit ganz großem „G“, als Garanten des reformatorischen „sola fide“ kennen, ist also in seiner eigenen Geschichte der Kronzeuge eines schlechthin umstürzenden Zweifels. Ihm war es nötig - und möglich! -, auf einmal alles aus der entgegengesetzten Richtung und in einem neuen Licht zu sehen. … Über wie viel von seinem Schatten der Erblindete dabei springen musste! … Wie viel Unheimliches ihm dabei offenbart wurde und wie viel Klares ihm verschwamm, das können wir Gewohnheitschristen uns genauso wenig vorstellen wie die Gewohnheits-Atheisten und überhaupt sämtliche Gewohnheitstiere!
Paulus ist damit also bestimmt ebenso als der Schutzpatron der Zweifelnden und Umdenkenden - der aus der Umkehr Denkenden - zu betrachten, wie als der Inbegriff des standhaft Überzeugten! ———
Wenn wir uns da an die Verbissenheit der Lügner und der Leugner erinnern, die uns umgeben und die wir selber sind, wird Paulus umso bemerkenswerter: Jeder von uns weiß, was nicht mehr moralisch vertretbar ist. Jeder von uns weiß, was wir - bei Androhung der Todesstrafe für Dritte - aufgeben und ändern müssten an unserm makabren Wohlstand und verzehrenden Verhalten. Jeder von uns sieht ernste und wichtige Ideale - den Pazifismus etwa - von einer Wende der Zeiten infrage gestellt werden… Stürzen wir darum indes zu Boden und kehren wir um? … Bekehren wir uns je?
Und wenn es uns graust, zu erkennen wie kaltblütig die Industrie seit Jahrzehnten gewusst hat, wie viele ihrer Erzeugnisse und Verfahren einen Fortschritt vor allen andern betrieben - den Fortschritt der Zerstörung! - und wie ihre verlockendsten Produkte in Wahrheit eine unbeliebte Nachfrage steigerten - die Nachfrage nach Särgen! -, da kann man vor dem Mann, der alle seine hehren und heiligen Prinzipien loslassen und sich mit dem Gegenteil seiner bisherigen Rolle identifizieren konnte, nur in die Knie gehen! Auch er hatte etwas zu verlieren: Nämlich sich selber und seine Würde!
… Denn seien wir ehrlich: Wie nennen wir einen, der es schafft, fundamental und konsequent neu anzusetzen im Sinn einer umstrittenen Vorhut, einer exzentrischen Minderheit? … Na, wie? – Spinner! … Und als was gilt uns einer, der das Anerkannte verlässt und in eine unerprobte, unüberprüfbare Vision vertraut? … Na eben! – Als Bekloppter!
… Paulus anders zu sehen und zu nennen, würde ihm nicht gerecht. Was er tat und was er aufgab, wie er es wagte und was er verlor, das war so unvorhergesehen, so jenseits und außerhalb aller Gewohnheit und Wahrscheinlichkeit und so konträr zu allen seinen eigenen Mustern und Maßstäben, dass Drumrum-Reden nicht hilft: Niemand konnte von dem eifrigen Aufklärer der christlichen Lüge, der ein ebenso eifriger Verkünder der christlichen Wahrheit wurde, hören, lesen oder reden ohne ihn für lächerlich bloßgestellt und jeder Seriosität, ja jeder Selbstachtung beraubt zu halten. …
… Und das ist nun der, der bei allen seinen weltbekannten Zweifeln nichts unternimmt, um seinen Rollenwechsel, seine neue Position, seine scheinbar völlig labile Persönlichkeit zu rechtfertigen oder zu begründen!
Stattdessen schreibt er, der kleine Jerusalemer Wendehals nach Rom – also in’s Hauptquartier der strammen Selbstgewissheit einer traditionsvernarrten Soldatenkultur – jenen Satz, der jeden Dünkel und jede Selbstdarstellung wie eine schmierig schillernde Seifenblase platzen lässt: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht!“
Mag es mich noch so verunsichert und umgekrempelt haben - das Evangelium -, … mag es mich noch so unbekümmert idiotisch, mag es mich noch so sehr als lächerlichen Von-vorn-Anfänger und Bei-Null-Beginner dastehen lassen: … Geht’s denn um mich?
… Geht’s denn etwas nicht um Gott? Um das, was Er zu sagen hat und was Er tut?!
Und macht das, was Gott tut, nicht aus allem, was wir uns zu tun einbildeten oder getan zu haben unterstanden, etwas zu guter Letzt Nicht-Entscheidendes?
Nicht das, was wir festgestellt und festgelegt haben, muss und wird ja bleiben!
Nicht das, was uns gelegen kommt oder gelungen ist, wird und muss zuletzt entscheiden!
Bleibend Wichtiges und echte Zukunft findet sich eben doch nicht in dem, was wir können und machen, in dem, was wir meinen und behaupten, in dem, was wir haben und verteidigen, weil das alles - wie wir - vergeht: Entweder in siebzig, achtzig Jahren, wenn es jenes Ganze ist, das wir waren, oder in Jahrmillionen, wenn es die Kerne sind, die wir spalten.
Gottes Kraft, wahres Leben mit Dauer und Zukunft zu schaffen, ist wirklich weder auf unsern Vorschuss und unsere Vorleistung noch auf unsere Bestätigung oder unsere Beglaubigung angewiesen.
Gottes Kraft allein schafft, rettet und heilt die Welt und uns alle für immer! … Anders, besser, tiefer, höher, weiser, großzügiger, überraschender, herrlicher … und menschlicher, als wir es uns jemals einfallen ließen.
Das ist Sein Recht und Seine Gerechtigkeit.
… Und nur die entscheiden und bleiben! Und nur wer denen vertraut, bleibt und wird leben!
… Wer sich deshalb aber von seinen eigenen Grundsätzen und Zweifeln lösen lässt und an ihrer Stelle sich ohne alle Peinlichkeit schlicht - und ganz! - auf Gott verlässt, den preist Paulus selig!
Gib’s auf, dich um dich und was du weißt und denkst und bist und hast und fühlst und willst und bringst zu drehen!
Gib Gott, Dessen Wahrheit, Wirklichkeit und Zukunft nicht von dir entschieden werden, weil Er Sich umgekehrt längst schon wirklich für deine Zukunft in der Wahrheit entschieden hat, die Ehre, indem du Ihm glaubst!
Und schäme dich nicht, dass du zu leben weder besser weißt noch anders beweisen kannst, als einfach durch dieses Vertrauen auf das Evangelium von Jesus Christus, der dich und alles retten kann! ——
…. Und da fehlt mir nun wirklich der Zweifel, da fehlt mir der Abstand, es hier beim „Vielleicht“, beim „Wer weiß?“, beim „Womöglich“ zu belassen, um das Gesicht zu wahren, wenn das alles nichts wäre.
Dann wäre nämlich wirklich alles nichts.
Und dann ist sowieso nichts zu verlieren.
Wie also sollte man sich schämen, statt des Nichts das Alles anzunehmen, das Alles zu akzeptieren, das das Evangelium verspricht?
Und das hat Paulus der römischen Soldatenkultur und der Unkultur aller Welt ja tatsächlich gebracht und gezeigt, was ein römischer Hauptmann für uns alle bekannte (vgl. Matth.8,8)[ii]: Wir sind nicht wert, dass Gott zu uns kommt, … aber wenn wir Ihn lassen, … wenn wir Ihn sprechen lassen, dann wird die Welt heil!
Wir sind also frei, zu glauben. Und dadurch zu leben!
Und darum - wie Paulus - : „Schämt euch nicht!“
Amen.
[i] Die geplante Missionsreise des Apostels nach Spanien (vgl. Rö.15, 24) ist ein bleibendes Ratespiel der Forschung: Hat er? Hat er nicht? Warten wir ab, wie es gewesen ist, wenn wir dort sind, wo wir’s wissen werden.
[ii] Evangelium des 3.Sonntags nach Epiphanias.
2.Sonntag nach Epiphanias, 15.01.2023, Stadtkirche, Johannes 2, 1 - 11, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.S.n.Epiphan. - 15.I.2023
Johannes 2, 1-11
Liebe Gemeinde!
Manche werden wissen - was nicht wichtig ist -, dass die hiesigen Predigten, wenn ich sie ins Internet einstelle, eine Überschrift abkriegen. In aller Regel kurzfristig, beim Speichern, und spontan als eine Art rückblickender Kurzfassung der Kernaussage.
Bei der heutigen Predigt ging es anders. Sie wird die rätselhafte Überschrift tragen „Tegel in Kana“.
… Damit kann man nichts anfangen, denn die Ineinssetzung zweier geographischer Angaben ist einfach nur unsinnig. Tegel ist ein ehemals dörflicher Vorort nordwestlich von Berlin, wo das Anwesen und der Friedhof der Familie von Humboldt etwas Weltoffenes und wissenschaftlich Freigeistiges mit märkisch-bescheidener Verträumtheit verbanden; und über das Dorf Kana in Galiläa streiten die Gelehrten und die Pilger und die Bevölkerung seit Jahrhunderten, denn mindestens zwei Siedlungen im Umkreis von Nazareth beanspruchen, Schauplatz des ersten Wunders Jesu zu sein.
Was soll also die Verbindung eines Fleckens in der brandenburgischen Streusandbüchse mit einem Weiler in Israels nördlichem Hügelland?
… Zunächst einmal vielleicht nicht mehr als dies: Uns zu zeigen, dass Jesus die Welt verändert hat.
Seit Er auf dieser Erde wandelte, sind Seine Spuren, ist der Eindruck Seiner Wirklichkeit bis in die Erdkunde eingewandert. Ob historisch zu Recht oder „nur“ aus einer inneren Überzeugung von Menschen heraus: Es gibt unzählige Stellen und Punkte auf dem Globus, an denen sich eine damalige, eine später gelebte, eine heute geglaubte Verbindung mit Jesus Christus niederschlägt. … Er hat nicht nur Geschichte, sondern auch Geographie geschrieben.
Wir hier, in Kaiserswerth leben auch an einem Jesus-Ort, einem Ort, der seine Entwicklung und Rolle schlicht der Tatsache verdankt, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde und keine Generation seither ohne vielfältige Bezüge zu Ihm existierte, handelte und Ihm diente, indem sie in Fleisch und Stein, in Ethik und Architektur die Welt zu Seinem Gedächtnis veränderte.
… Doch warum „Kana und Tegel“?
Welches lebendige, weltverändernde Jesus-Bild symbolisieren diese beiden Dörfer?
Dazu muss man einen dritten geographischen Raum betreten, einen Raum, den wir alle viel lieber längst wieder am Rand unseres Gesichtskreises verschwimmen ließen. Doch wir müssen weiter hinschauen. Dort tobt die Geschichte auch des neuen Jahrs 2023: Die Geschichte nicht nur der schleichenden Gewalt gegen das Leben auf Erden, mit der wir uns abgefunden haben, sondern auch die Geschichte der mörderischen Heimtücke von Menschen gegen Menschen, die Geschichte eines irrwitzigen Hasses gegen völlig Unschuldige, die Geschichte der finstersten Brutalität im hellsten Tageslicht, … eine Geschichte des Wahnsinns und der Sünde, mit der wir uns aber ebenfalls abzufinden drohen, wenn man merkt, wie die Ukraine in unseren Nachrichten und Gedanken allmählich in den Hintergrund rückt.
Doch immerhin ist das niederträchtige Verachten und Verwüsten menschlichen Lebens so schmerzhaft gegenwärtig, dass ich in dieser Woche an Kana nicht wie sonst denken konnte:
Jedes Mal wenn ich versucht habe, mir das harmlos-schöne Hochzeitsfest vorzustellen, mit dem das hohe Evangelium des Johannes beginnt, war es anders als sonst. Nicht die ausgelassenen jüdischen Hochzeiten mit Schmaus und Tanz, die ich als Kind erleben konnte, … nicht die lebensfrohen Bilder, die Brueghel von Bauernhochzeiten mit Jesus als Gast gemalt hat, … nicht die schönen feierlichen Kirchenbilder, auf denen Maria als Fürsprecherin und der Kellermeister als vorweggenommener Liturg des Abendmahls erscheint.
Nein, dieses Jahr stehen mir plötzlich wieder Hochzeitsbilder in schwarz-weiß vor Augen: Die Bilder der jungen Großeltern und ihrer Geschwister und Gleichaltrigen. … Liebespaare, gewiss, … auch schöne Paare, schöne Brautkleider, … hier und da sogar schöne Brautsträuße. Aber die Bräutigame auf diesen Bildern tragen etwas, das den Ernst auch auf den Zügen ihrer Bräute erklärt. Sie stehen in Uniform da.
… Und zwei schreckliche Kreuze stechen auf diesen Hochzeitsbildern ins Auge: Die Hakenkreuze der Sünde auf allen Abzeichen … und die unsichtbaren Kreuze, die in der Rückschau über den bald Gefallenen und den blutjungen Witwen aufzutauchen scheinen.
Hochzeitsfest der Todeskandidaten. Brautwalzer der bald wieder durch letzte Gewalt Getrennten: Wenn man dieses Bild vor Augen hat, versteht man noch viel besser, wieso Maria, die Mutter der Freude für den Wein sorgt. „Sollen sie doch tanzen dürfen und sich freuen, die armen Menschenkinder, deren Lebens- und Liebesfeste so im Schatten des nahen Todes stehen. Jede Stunde, jeder Tropfen Glück sei ihnen gegönnt.“ …….
Natürlich ist auf der Hochzeit, bei der diese mütterlichen Gefühle den Menschen schlicht etwas von der Leichtigkeit des Seins gönnen, noch nicht die große, entscheidende Stunde des Menschensohnes gekommen, … die Stunde von Golgatha, die Stunde, in der der Tod besiegt wird, die Stunde des Ostermorgen, in der das wirkliche Leben gefeiert werden soll.
Es ist noch nicht Jesu wirkliches Wunder, wenn er - durch seine Mutter bewegt - eine schwerelose Nacht der Fröhlichkeit ermöglicht.
Aber eine jüdische Hochzeit ist immer eine trotzige Feier der Zukunft gewesen, selbst wenn die Pogromreiter am Rand des Dorfes standen, selbst wenn die Hakenkreuzfahnen und die „Judenfrei“-Schilder überall wie giftige Pilze sprossen.
… Heiliger Marc Chagall!, Du weißt es, dass dennoch immer irgendwo eine Braut und ein Bräutigam über der brennenden Welt schweben. … Und Jesus taucht seinen Pinsel in Chagalls Tuschkasten und malt mit Wasserfarbe den buntesten, fröhlichsten Reigen, den ein Bordeaux oder Montepulciano oder ein süßer Karmelwein überhaupt anstoßen können: … Wie sie tanzen, … wie die Kapelle spielt, … wie das ewig tröstliche Wort des Propheten Jeremia (33,11), das bei jeder jüdischen Hochzeit endlos gesungen wird, sich wieder einmal erfüllt: „Trotz der Verwüstung Jerusalems soll man dennoch wieder hören den Jubel der Freude und Wonne, die Stimme des Bräutigams und der Braut …“ … Das ganze Stetl, das ganze Ghetto singt und schluchzt und wirbelt – „L’chaim: Zum Leben!“ – im Takt der Messias-Hoffnung auf die Erlösung zu, die ein weiteres Paar, ein neues Haus in Israel um einen Schritt näher-bringt. …….
Doch nun sind wir in Witebsk, in Weißrussland gelandet und suchen eigentlich ja nach Kana und Tegel: ´
Kana, das Dorf der Unbeschwerten, in dem Maria die gut jüdische Aufgabe der Hochzeitsvermittlung übernimmt, indem sie für Jesu vorösterlichen Wunderanfang[i] sorgt, … ein Wunderanfang, der einer kleinen Festgemeinde einen Vorgeschmack der ewigen Seligkeit schenkt durch die schlichte Erfahrung: Alle sind da … und nichts fehlt … und siehe, alles ist sehr gut! ——
Auf dieses selige Hochzeitsfest gehen wir ja alle zu: Besonders wieder seit am 27.November 2022 das Kirchenjahr neu anfing und wir es währen des ganzen Advent singen konnten „Macht euch bereit / zu der Hochzeit! / Ihr müsset ihm entgegengehn!“ (EG 147,1)
Christ-Sein bedeutet, diese Hochzeitseinladung zu haben. Unsere Tage sind die Vorbereitung dafür, … die Zeit, sich zu freuen, sich auf das einzustellen, was in der Gegenwart der Liebe die richtige Gabe und der schönste Schmuck sein wird, und in die gelöste innere Bereitschaft zum Mitfeiern des Festes zu finden, das nicht enden soll.
Das ist die Zukunftsdimension des biblischen Hochzeitsbildes: Wir alle erkennen uns darin als Gäste in spe … und das wortwörtlich: Wir sind die zur Hoffnung Gebetenen, wir sind die nach und nach eintreffende Tischgesellschaft der Zuversicht.
Das ist Kana. ———
Was aber ist dann nur mit Tegel?
… Tegel ist die Todeszelle. Es erinnert uns – die Eingeladenen des Lammes, das im himmlischen Jerusalem goldene und silberne und diamantene und edelsteinfarbene Hochzeit mit der Menschheit feiern wird, … Jaspis-Hochzeit, Saphir-Hochzeit, Chalzedon-Hochzeit, Smaragd-Hochzeit, Sardonyx-Hochzeit bis zur Amethyst-Hochzeit in der spektakulären Farbenpracht und Licht- und Liebesfülle, von der in der Bibel ganz am Schluss die Offenbarung (21,19ff) spricht – … Tegel erinnert uns, die Eingeladenen des Lammes, an die Kreuze, die über den Häuptern von Braut und Bräutigam hier in unserer Gegenwart erscheinen.
Die Zukunft, die hier entsteht, die Hoffnungen, die hier genährt werden, die Träume und Pläne des Lebens, die wir hier feiern und - um im Kana-Bild zu bleiben - erwartungsfroh begießen: Sie stehen alle unter dem Vorbehalt, unter dem unsere Großeltern heirateten, unter dem sämtliche Liebesgeschichten und Lebensentwürfe der heutigen Ukraine sich entfalten und der auch über den menschlichen Schicksalen der russischen Soldaten und überhaupt aller unserer Mitmenschen waltet. Es ist der Vorbehalt, dass Jesu erstes Wunder nicht sein letztes ist:
In Kana schenkte er Freude für einen Augenblick und eine überschaubare Schar.
Für deren Augen in diesem Moment, für diese Augenzeugen offenbarte Jesus in Kana seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn.
Doch ein größeres, ein noch nicht erschienenes, ein unvollendetes Wunder steht noch aus. Am Schluss des Johannesevangeliums (20,30f) deutet der Verfasser es ja an, wenn er - nach etlichen Osterberichten - schreibt: „Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.“
Dass wir das Leben haben: Das ist das Ziel der Taten, Wunder und Zeichen, das ist das Ziel der Menschwerdung, Kreuzigung und Auferstehung Jesu.
Das Leben zu haben: Genau das aber ist auch die Hoffnung und Verheißung, die Kana, den Ort der hochzeitlichen Lebensfreude, mit Tegel, der Todeszelle verbindet.
Dass Tegel diese Todeszelle ist, dass es eindringlich vor Augen steht, wenn wir Liebe im Schatten des Verlustes und menschliche Bindungen, über denen die gewaltsame Trennung schwebt, betrachten, das liegt für uns natürlich an der Gestalt und Geschichte Dietrich Bonhoeffers, der im Tegeler Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis anderthalb Jahre lang eingesperrt war, bis man ihn ins Reichssicherheitshauptamt, das Gestapogefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße verlegte, von wo er schließlich zur Hinrichtung in Flossenbürg abtransportiert wurde.
Die junge Maria von Wedemeyer und ihr Verlobter, Dietrich Bonhoeffer stehen vielen Menschen vermutlich vor Augen als ein solches Paar, deren Miteinander gar nicht betrachtet werden kann, ohne dass über ihnen oder in ihrem Rücken sich schon das Dunkel zusammenbraut – zusammen-„braut“! -, das ihre Leben überschatten und zerstören würde.
Wenn wir auf sie blicken, auf zwei Menschen, die zusammen sein wollten und denen es nicht vergönnt war, … denn erkennen wir in ihnen die jungen und nicht mehr so jungen ukrainischen Männer und Frauen, ja, die sämtlichen Menschen, deren Beziehungs- und Vertrauensgeflecht zerrissen worden ist und die das einfach Alltagsleben, das gewöhnliche Glück und das Glück der Gewohnheit überhaupt nicht mehr finden können, von dem das Paar in Kana vielleicht geträumt hat.
Wir erkennen in den Hochzeitern von damals die Bedrohten und Todgeweihten von heute, … die Menschheit, die nicht weiß, was morgen sein wird, … unsere Kinder und Kindeskinder, die befürchten, dass nach ihnen nichts und niemand mehr gesegnet und gewöhnlich wird leben können auf diesem von einer einzigen Spezies so entwerteten und dem Schöpfer entwendeten Planeten. …
Aber weil wir Tegel in Kana finden, Kiew in Kana, Soledar in Kana, Bakhmut in Kana, … darum soll uns auch das andere Wasserzeichen immer wieder durchscheinen durch alle Bilder, die wir vor Augen haben. Es stehen ja nicht nur die unsichtbaren Kreuze über den Häuptern der Sterblichen, die morgen oder in diesem Jahr oder doch erst in vielen, vielen Jahrzehnten sterben werden.
Sondern überall, wo Kana ist – wo mitten im Tanz das Malheur, mitten im Glück die Tragik, mitten im Leben das Ende gegenwärtig bleibt –, da ist auch jener Gast von Kana zugegen!
… Und Seine Mutter bittet Ihn um Hilfe und sie weist uns auf Ihn hin.
Und dann erkennen wir, dass Jesus das Wasserzeichen der gesamten Welt ist: Wo immer uns das Glück ausgeht, wo uns der Wein ausgeht, die Luft ausgeht, die Zeit ausgeht, da müssen wir das Bild der Welt, da müssen wir die Lage und die Frage unseres Lebens vor das Licht Seiner Herrlichkeit halten.
… Denn dann wird es wie das geheimnisvolle Wasserzeichen sichtbar werden, dass Er da ist. Um Wunder zu tun. … Die kleinen, die wir kaum bemerken: Freude des Alltags. Zeit wie immer.
Aber auch die großen, die wir kaum für möglich halten. Die Wunder, die zum letzten und endgültigen Wunder führen, wenn aus dem Wasserzeichen die klare Offenbarung wird, die Gegenwart Jesu in Seinem Reich, an Seinem Tisch, bei Seinem Mahl, … der Kelch des Heils (vgl. Ps.116,13), in den Er voll einschenkt und mit dem Er Gutes und Barmherzigkeit uns alle erquicken lässt in Seinem Hause, in dem wir bleiben werden immerdar (vgl. Ps.23), weil jede Frau und jeder Mann und jedes Kind dort das Leben haben werden in Seinem Namen (vgl. Joh.21,31)!
Das ist das Ziel des ersten Wunders in Kana.
Und davon hat der in Tegel gefangene Bonhoeffer gezehrt und gelebt, und aus der Prinz-Albrecht-Straße hat er davon geschrieben und gesungen, so wie wir jetzt davon singen wollen (EG 65):
„Von guten Mächten treu und still umgeben, / behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben / und mit euch gehen in ein neues Jahr.
…….“
Amen.
[i] Der barocke Choral von Heinrich Arnold Stockfleth „Wunderanfang, herrlich’s Ende, / wo die wunderweisen Hände / Gottes führen ein und aus …“ steht heute nicht mehr im Stammteil des EG.
Altjahrsabend, 31.12.2022, Stadtkirche, Römer 8,31b-39, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2022
Römer 8, 31b-39
Liebe Gemeinde!
Unverkennbar sind wir hier bei einer Beerdigung: Psalm 121 und Römer 8 machen es unüberhörbar, dass wir hier als endliche Menschen, als Kinder von Sterblichen, die die Sterblichkeit weitergeben, etwas Letztes feiern, … das Letzte, das trägt, … das zuletzt Tragende.
Vielleicht hätte man vorm Beerdigungscharakter des Altjahresabends ausdrücklich warnen sollen.
Womöglich müsste an den Stufen zu unserer Kirche – nein: zu jeder Kirche! – inzwischen eigentlich eine sog. „Trigger-Warnung“ angebracht werden: Ein Warnhinweis, dass man nicht näherkommen und sich auf die Inhalte hier nicht einlassen kann, ohne aus Schuld und Tragik zusammengesetzten, verstörenden, belastenden, schmerzhaften, ja furchterregenden Botschaften, Erfahrungen und Tatsachen gegenüberzustehen. Was an vielen Universitätsseminaren den Lernenden nicht mehr zugemutet werden kann, was viele Bildungs- und Informationsträger nur noch schonend durch Filter und Schleier durchsickern lassen - man nennt es: „die Wirklichkeit“ -, das hat in der Kirche nun einmal Platz zu haben! Wenn nicht, dann müssen wir die Kirchen schließen. Wenn es hier nicht um das Leben geht, das niemals ohne Salz und Eisen besteht, in dem wir also immer auch Hartes und Brennendes finden, das genauso von der Nacht wie vom Tag gegliedert wird, … wenn wir hier also nicht ein einigermaßen ungeschöntes Bild von den Verhältnissen kommunizieren, wenn wir hier nicht von der Klarheit über uns ausgehen - die nicht gleichbedeutend mit Glanz ist! - und nicht zu dieser Klarheit zurückfinden, dann täte man wirklich besser dran, die Kirchen zu vergessen und sich mit aller Kraft darauf zu konzentrieren, seine Illusionen zu pflegen.
Diese Illusionen, die anfangen, eine ganze Epoche zu lähmen: Die Illusion, unser Leben könne, nein müsse planbar sein, ungefährlich und ungefährdet und alles, was überraschend bleibt, solle von dritter Seite ab- oder aufgefangen, entschärft und sanft verträglich gemacht werden. Und die Illusion, wenn man Veränderungen und Zwänge, wenn man Dynamik und Druck, wenn man Schäden und Sterben ignoriere, dann habe man eine positive Tat getan, habe Sicherheit erlangt und seine Ruhe verdient. …….
Zugegeben: Diese zutiefst entfremdete, abgründig abgehobene Weltsicht einer in Watte gepackten und dennoch über Erbsen unter den Matratzen klagenden Verwöhntheit wirkt im Kaiserswerther Komfortstandard besonders abstoßend, wo die Heiz- und Lebenshaltungskosten bestimmt nicht die grimmige Herausforderung bieten, die sie andernorts darstellen – gehen wir nur einmal zu den Tafeln und fragen unsere hungrigen, ratlosen Mitmenschen! –, aber eine Tendenz, uns für das zu schade zu sein, was für die meisten Menschen weltweit noch paradiesisch wäre, lässt sich vielerorts schwer leugnen und ist überall zynisch.
Wer also findet, es gäbe ein Recht auf das Bequeme, der sollte jedenfalls in keine Kirche kommen, die ihre Ursprünge um eine Krippe herum, einen behauenen Steintrog hat, der die ganze Härte der Natur und das Drama verweigerter Solidarität veranschaulicht.
Wer denkt, die Misere der Menschheit liege außerhalb seines Radius, weil seine Aufgaben, seine private Vorsorge, seine unbestreitbaren Privilegien ihn da nicht zum Beteiligten werden ließen, der soll die Kirchen meiden, in denen der Leib eines Menschen sich darstellt, der gar nicht erst geboren worden wäre, wenn er nicht als Gabe und Brot für die anderen - als Opfer - hätte greifbar und angreifbar werden wollen.
Wer bei seinem Glück zu bleiben hofft, Schlimmes und Schmerzen bisher geschickt vermieden zu haben, der sollte tatsächlich niemals dort einkehren, wo das Kreuz steht und daran erinnert, dass Gott Selbst keine Spazierfahrt auf die Erde unternahm, sondern einen Leidensweg und eine Höllenfahrt antrat, um nirgends abseits zu bleiben, wo seine Kinder sein könnten …
… Wer also das Silvester des Kriegs- und Kummerjahres 2022 mit Sausen und Brausen feiern, wer’s krachen und schäumen lassen will, der hat sich auf dieser Beerdigung hier vertan.
… Hier werden Tote beweint.
Hier steht das Jahr, dessen letzte Atemzüge wir gerade verspüren, in seiner nackten Wahrheit vor uns: … Dieses Jahr, in dem tatsächlich nicht nur unter den Menschen und im Reich der Natur - als seien sie zweierlei?! - sich große Unglücke ereignet haben, sondern auch im Reich der Geister, das uns biblisch vertraut sein könnte unterm Sprachgewand der „Engel, Mächte und Gewalten“ … also der beherrschenden und um Einfluss ringenden Kräfte, die geistig bewusst wie unterbewusst, allemal aber kollektiv auf die Menschheit wirken und sie bewegen.
In dem, was stofflich ist, ist vieles verbrannt und vieles davongespült worden in diesem Jahr, und es sind schwelende und schwellende Katastrophen gewesen, die weder gedämpft noch gedämmt auch weiter Not, Leid und Grauen auslösen werden. Wir klagen also um das zerstörte Land und Leben auf diesem kleinen Globus, um die vernichteten Ernten, die ausgerotteten Schönheiten, den verdorrten Schöpfungssegen eines bitteren Jahres. ——
Unter den Menschen sind neben den Todesfügungen, die uns als Einzelne und als Familien trafen, auch Gestalten der geschichtlichen Gemeinschaft unwiderruflich in die Vergangenheit versetzt worden: Mit besonderer Verpflichtung gilt es, an Michail Gorbatschow zu erinnern; mit besonderer Zuneigung werden manche von uns das Sterben und das Grabgeleit der britischen Königin in ihrem Gedächtnis als ein Datum verbuchen, das unserer Gegenwart etwas Unwiederbringliches nahm; mit besonderer Verbundenheit im Gemeinsamen wie im Unterscheidenden werden wir auch des vor wenigen Stunden - wie er selber glaubte - vor seinen Richter und Erlöser, in das Haus des Vaters gerufenen emeritierten Papstes aus Deutschland gedenken. Ehe wir aber weiter aufzählen, welche Stimmen in der Musik künftig schweigen, welche Farben man in der Mode so nie wieder mischen wird, welche Kunst auf dem Rasen nunmehr endgültig Legende wurde, bleiben wir in unserer kleinen Stadt, bei unserer Gemeinde, deren Altpfarrer, Achim Engels nun auch am Ende dieses Jahres glaubend das Ziel seiner Tage erreichen durfte. Sein Zeugnis und sein Gebet sind im Leben vieler unter uns bleibend wirksam geworden. Zu Recht trauern wir also um unsere Toten, denn gerade Dankbarkeit ermisst ja jeweils den Verlust. ——
Doch das Dritte, das uns heute bewegt, … das Schrecklichste ist nicht der Schmerz um alles, was uns in der Kreatur und unter den Menschen mit der Vergangenheit verband und mit der Zukunft verbinden wollte, sondern der Schmerz um das, was im Geistigen, mit verheerenden Folgen für alle Lebensbereiche vernichtet worden ist: Es ist eine Illusion gewesen, … eine Täuschung oder auch ein Traum. … Jeder Blick nach Äthiopien oder in den Jemen hätte uns schon vor Jahr und Tag erschüttern und verändern müssen! Doch nun ist es den meisten von uns erst in diesem beinah erloschenen Jahr widerfahren: Wir haben den Frieden sterben sehen!
Und der tote Frieden – der schon faul war, solange wir ihn mit Blindheit erkauften und auf Kosten anderer Menschen als unerprobte heroisch-rhetorische Figur zu unserm Wahlspruch erklärten - … der tote Frieden des Jahres 2022 ist eine der tiefsten Zäsuren unserer Zeit.
Nicht, weil er uns naiv aussehen lässt, … nicht, weil er unsere harmlose oder vielleicht auch verlogene Wirklichkeitsverdrehung auffliegen lässt, nach der der Fortschritt oder der Markt oder die Demokratie idiotensichere Garanten des Guten seien, … nicht, weil er uns unsere ernstgemeinten Ideale und unsere mühsam gelernten Lektionen zerstört, … nicht, weil er uns aus unserem Spiegelbild eine schreckliche Frage entgegenzischt: „Erkennst Du eigentlich den Menschen wieder?“ …….
Nicht aus allen diesen tatsächlich schwerwiegenden Gründen ist der Tod des Friedens der schlimmste Zug unsrer Zeit, sondern schlicht, weil er so viel himmelschreiendes, Gott und die Menschheit anklagendes Blutvergießen, so viel Brutalität und so viele Wunden am Fleisch und in den Seelen von Millionen bedeutet … und weil er bei uns zu einer Herzensverhärtung zu führen droht, die unvorstellbar ist! … Wie ruhig wir sind, … wie unbeteiligt, weil ratlos, … wie gewöhnungsbereit wir uns zeigen, … wie wenig Zorn, wie wenig Stärke, wie wenig Beten und Hoffen sich in uns regen, … wie klein und gleichgültig unser Geist sich in einer Prüfung wie dieser enthüllt.
Der Frieden ist ermordet worden … und wir machen dumpf weiter.
Und dann die Freiheit: Die nächste Geist-konkrete Wirklichkeit unter den „Engeln, Mächten und Gewalten“, die uns - die Völker der Erde, die Stämme des Menschengeschlechtes – beatmen, beleben und begleiten. Die Freiheit hat die Schwindsucht: Hier und da treibt sie grell-geschminkte Blüten, die wie gespenstische Frühlingsboten am leblosen Holz wirken, aber an wie vielen Orten der Welt wird sie geknüppelt, gefangen und geschändet. Und der Kampf des iranischen Volkes, der Schrei der afghanischen Frauen, das Flackern in China, die lautstarke Sorge in Israel, das erzwungene Schweigen in Nord-Korea, Myanmar, Russland … es ist zum Haareraufen und zum Heulen. ——
… Ich sagte ja, wir sind hier auf einer Totenwache, bei einer Beerdigung.
Und so soll nun das Jahr enden?!
… Das ist keine Frage.
Es scheint eine Tatsache zu sein.
… Die Frage jedoch, die bleibt, ist die Frage des Paulus. Jene Frage, die im Römerbrief seinen schönsten Hymnus - schöner noch als das Hohe Lied der Liebe - auslöst. Denn sein Hymnus auf’s Vertrauen, sein Hohes Lied des Glaubens trägt nicht nur als Überschrift, sondern als durchgängiges Grundmotiv die Frage vor: „Kann uns das scheiden von der Liebe Gottes?“
Mit dieser Frage gehen wir Christen an jedes Sterbebett und auf jede Beerdigung, … und auf jeden Geburtstag, zu allen Hochzeiten, an unsre Arbeit, in unsre Mühen, an unser Scheitern und zu unseren hässlichen oder heiligen Erfolgen auch. Es ist tatsächlich eine ganz echte Frage, wenn wir uns der Wirklichkeit stellen, … wenn wir das Hohe und Tiefe, das Feine und Schwere, die Fülle und die Leere unseres Lebens und des Lebens in der Welt betrachten: „Kann uns das - das alles, oder irgendetwas davon - scheiden von der Liebe Gottes?“ …
Wir fragen aber nicht nur für uns, sondern so wie der Apostel, der nach Rom schrieb, an eine Gemeinde, die gerade eine katastrophale Vertreibung und zaghafte Rückkehr in die Mauern des Zentralortes der Welt erlebt hatte[i]: Wir fragen uns global, weltwirklich.
Kann uns das Kritische und Katastrophale der Geschichte in der Zeit scheiden von der Liebe, die in Christus Jesus ist und bleibt?
Sind die Toten von Butscha aus Seiner Liebe, die für sie starb, herausgefallen?
Sind die Hungernden in Syrien, im Süd-Sudan und auf Madagaskar von Dem getrennt, Der in Ägypten von Almosen oder Tagelöhner-Verdienst lebte und in Samaria um Wasser bettelte?
Sind die Geplagten und Entwurzelten, die Traumatisierten und Bibbernden in der Ukraine nun etwa in eine Wirklichkeit geraten, die Den, Der Licht in die Dunkelheit, Heilung ins Elend, Hoffnung zu den Verlorenen brachte, ausschließt?
Sind die Welt voller Unheil und die Zeit voll Verhängnis also Gründe dafür, zu glauben, dass es kein Heil und keine Erlösung geben könne und werde? Sind sie Gründe dafür, zu glauben, Christus sei nicht gekreuzigt worden und nicht auferstanden?
… Oder: … Im Gegenteil?!
Ist nicht gerade der Blick auf die Wirklichkeit, der Blick auf die Bitterkeit, der Blick auf die Opfer, der Blick auf uns und auf alle der Ort, an dem unser Glaube das ist, was zuletzt einzig und alleine tragen kann?
Unser Glaube ist buchstäblich dieses Letzte, weil er das Einzige ist, das ganz in die Wirklichkeit – die furchtbar schlimme, die erdrückend traurige Wirklichkeit – gehört, ohne in ihr aufzugehen!
Unser Glaube, der in genau dieser Wirklichkeit fußt, geht über sie hinaus!
Das ist der Grund, weshalb wir eine Beerdigung am Ende des Jahres feiern, die um Mitternacht zu etwas ganz anderem führt: Noch nichts ist von 2023 festzustellen, … außer, dass im kommenden Jahr der Lebendigen alles möglich ist.
Das Alte - Leben und Tod - werden wir verlassen und mit der gesamten Welt in ein Neues gehen: Tod und Leben, so wie sie noch nie waren.
Weil nichts uns von der Liebe Gottes scheiden kann.
Und darin ist unser Glaube vielleicht am besten mit etwas ganz Gegenständlichem zu vergleichen, das eine junge Frau aus Butscha, Daryna Gladun, in einem Brief aus dem Herbst dieses Jahres beschreibt[ii].
Bei ihrer Flucht aus der sich abzeichnenden Hölle konnte sie wenig mitnehmen. Als Flüchtling quer durch Europa und darüber hinaus hat sie dagegen manches empfangen und erworben und es ohne innere Beteiligung wieder losgelassen und abgegeben.
Nur die Schuhe! Die unscheinbaren, nunmehr abgetretenen Schuhe aus Butscha, nach denen niemand sie mehr fragt: „Meine ganze Odyssee hat sich in diesen Schuhen zugetragen. In ihnen habe ich mein Zuhause verlassen, in ihnen werde ich nach Hause zurückkehren.“ ——
Gebe Gott uns die Gnade, dass wir das heute und zu aller Zeit genauso auch von unserem Glauben sagen können:
„In diesem Glauben haben wir angefangen.
Dieser Glaube trägt uns durch die Welt.
In ihm gehen wir zu Beerdigungen und zu Neuanfängen, in ihm durchqueren wir Hohes und Tiefes, von ihm getragen erleben wir die Engel, die Mächte und Gewalten … suchen nach dem Frieden, zittern um die Freiheit, hoffen für die ganze Kreatur.
Allein dank dieses Glaubens kommen wir aus der Vergangenheit, ziehen durch die Gegenwart und streben in die Zukunft.
Und in diesem Glauben werden wir auch nach Hause zurückkehren.
Weil nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn! Dessen bin ich gewiss.“
Amen.
[i] Das Datum des sog. „Claudius-Ediktes“, das eine Vertreibung der Juden – und folglich auch der judenchristlichen römischen Urgemeinde – anordnete, ist in der Forschung nicht vollends gesichert. Wahrscheinlich bleibt die Ansetzung und Durchführung des Ediktes im Jahr 49 n.Chr. Betroffen waren mithin mehr oder weniger alle Adressaten des Römerbriefes, der eine Gemeinschaft anspricht, die sich erst wenige Jahre lang wieder zaghaft zusammenfand, nachdem das Vertreibungs-Edikt nicht mehr durchgesetzt wurde.
[ii] Der Brief der jungen Ukrainerin, der in der FAZ veröffentlicht wurde, findet sich unter: https://weiterschreiben.jetzt/weiter-schreiben-ukraine-briefe/ukraine-test/aber-nach-den-schuhen-fragt-keiner-brief-1/
Christvesper, 24.12.2022, Matth.2,1-12, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Als Jesus geboren war in Bethlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem und sprachen: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen im Morgenland und sind gekommen, ihn anzubeten. Als das der König Herodes hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem, und er ließ zusammenkommen alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes und erforschte von ihnen, wo der Christus geboren werden sollte. Und sie sagten ihm: In Bethlehem in Judäa; denn so steht geschrieben durch den Propheten (Micha 5,1): »Und du, Bethlehem im jüdischen Lande, bist keineswegs die kleinste unter den Städten in Juda; denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volk Israel weiden soll.« Da rief Herodes die Weisen heimlich zu sich und erkundete genau von ihnen, wann der Stern erschienen wäre, und schickte sie nach Bethlehem und sprach: Zieht hin und forscht fleißig nach dem Kindlein; und wenn ihr's findet, so sagt mir's wieder, dass auch ich komme und es anbete. Als sie nun den König gehört hatten, zogen sie hin. Und siehe, der Stern, den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war. Als sie den Stern sahen, wurden sie hocherfreut und gingen in das Haus und fanden das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe. Und Gott befahl ihnen im Traum, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren; und sie zogen auf einem andern Weg wieder in ihr Land. (Matth.2, 1-12)
Liebe Schwestern und Brüder,
die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland kennen Sie bestimmt alle. In den meisten Krippenspielen tauchen sie auf als Besucher an der Krippe und knien dann oft in trauter Eintracht neben den Hirten. An der Krippe ist es so, wie an Heiligabend in unseren Wohnzimmern: die ganze Sippschaft kommt zusammen, das große Familientreffen unter dem Weihnachtsbaum. So erzählt es die Tradition.
Bemerkenswert ist nun, dass es sie in der Bibel so gar nicht gibt. Die Bibel überliefert uns vielmehr zwei sehr unterschiedliche Weihnachtserzählungen: mit der einen – von dem Evangelisten Lukas – fängt bei uns immer Weihnachten/Heilig Abend an; mit der anderen – von dem Evangelisten Matthäus – endet die Weihnachtszeit, enden die 10 Heiligen Nächte am 6.Januar, an Epiphanias. Als Evangeliumslesung wird am 6.Januar der eben vorgelesene Abschnitt aus dem Matthäusevangelium vorgetragen. Doch er ist es wert, einmal am Heiligabend einer deutlich größeren HörerInnenschaft zu Ohren zu kommen.
Vielleicht ist Ihnen gerade bei der Verlesung aufgefallen, dass die Heiligen Drei Könige weder heilig noch drei noch Könige sind. Matthäus erzählt einfach von einer unbestimmten Zahl von Magiern oder Weisen, deren Herkunft vage mit „Morgenland“ angegeben wird. Namen werden nicht genannt und auch keine Angaben zu ihren Fortbewegungsmitteln (Kamel, Pferd, Elefant) gemacht. Das Handlungsgerüst der Geschichte in der Bibel ist sehr dürftig und lässt bei genauem Hinsehen viele Fragen offen. Nun begegnen uns in der Bibel immer wieder Texte, Geschichten, in denen nicht alles genau erklärt wird, die vieles offen lassen für die Hörer und Hörerinnen. Und vielleicht sind manchmal ja gerade die Stellen, die etwas nicht erzählen, besonders interessant. In einer jüdischen Auslegungstradition heißt es: Die Buchstaben der Bibel sind das schwarze Feuer, und die Zwischenräume zwischen den Buchstaben sind das weiße Feuer – das, was nicht ausdrücklich im Text steht, aber woran sich unsere Phantasie, unser eigenes Nachdenken und unsere eigenen Erfahrungen entzünden. Wenn ich sie nun zu meinem Gang durch die Weihnachtsgeschichte des Matthäus mitnehme, werden es unterschiedliche Gedanken zu unterschiedlichen Stellen sein, die Ihre Erfahrungen und Phantasie entzünden, und die sie vielleicht in die Weihnachtstage dieses Jahres aus diesem Gottesdienst mitnehmen.
Die Geschichte des Matthäus beginnt ziemlich abrupt damit, dass Magier aus dem Morgenland nach Jerusalem kommen und nach dem neugeborenen König der Juden fragen, weil sie angeblich seinen Stern gesehen haben. Wie die Magier dazu kommen, in Judäa zu erscheinen, erzählt Matthäus nicht. Möglicherweise waren sie Astronomen, die sich beruflich mit dem Sternenhimmel befassten, sodass ihnen ein neuer Stern, eine neue Sternenkonstellation am Himmel aufgefallen sein könnte. Aber warum sie das auf die Idee bringt, dass dieses Himmelsereignis die Geburt eines neuen jüdischen Königs anzeigt, dazu gibt es keinen Hinweis. Und warum sollten sie sich für ihn interessieren? Und dann wollen sie ihn auch noch anbeten – wo sie doch gar nicht jüdischen Glaubens sind. Die Geschichte sagt uns auch nicht, was sie sich von diesem neuen König erwarten. Dass die Hirten in der Weihnachtsgeschichte des Lukas zur Krippe eilen, das ist deutlich einleuchtender: Sie erwarteten den Messias, den Retter ihres Volkes, der endlich das jüdische Volk befreien sollte, was ihnen der Engel ja auch eindeutig so verkündigte. Die Geschichte von Matthäus erzählt uns dagegen, dass es offenbar auch andere Gründe gibt, sich zur Krippe aufzumachen und nach dem Kind zu suchen – und dass es nicht einmal nötig ist, zu begründen, warum. Aus allem kann sich die Suche nach dem Kind entwickeln. Bei den Magiern/Weisen ist es die naturwissenschaftliche Beobachtung des nächtlichen Himmels – ihr Beruf -, der am Anfang steht. Die Sterne waren für sie etwas Selbstverständliches, Alltägliches, sich mit ihnen zu beschäftigen, verschaffte ihnen ihren Lebensunterhalt. Und diese Sterne werden plötzlich durchsichtig für etwas Größeres, was dahintersteht. Die Weisen haben erkannt, dass die bekannten Dinge nicht nur das sein müssen, was sie sind, sondern auch auf eine andere Wirklichkeit, auf eine göttliche Wirklichkeit hindeuten können. Sie haben sich getraut, das ernst zu nehmen und dem zu folgen – auch wenn sie vermutlich nicht wussten, was sie denn eigentlich genau suchten. Ihre Informationen waren ja wirklich äußerst dürftig. Unter den damaligen Umständen muss es ein ziemliches Wagnis gewesen sein, einfach mal loszuziehen auf eine weite und beschwerliche Reise, ohne das Ziel genau zu kennen.
Matthäus erzählt die Suche nach dem Kind als einen Aufbruch ins Ungewisse. Um loszugehen, muss man nicht wissen, wo der Weg genau verläuft und wo man fündig werden wird. Es reicht das Gefühl zu haben: da gibt es etwas, das ich finden möchte, etwas, was ich noch gar nicht genau benennen und beschreiben kann, aber was da ist, eine Sehnsucht im Herzen. Bei einer solchen Suche sind Umwege und Irrwege sehr wahrscheinlich. Die Magier landen ja auch prompt am falschen Ort. Sie haben sich anscheinend das nach menschlicher Logik und Vernunft Nächstliegende überlegt: Königskinder werden in Palästen geboren, Paläste stehen in Hauptstädten – also auf nach Jerusalem. Vor diesem Irrtum bewahrt sie auch der Stern nicht; anders als wir das von Krippenspielen kennen, zog er ihnen nämlich nicht auf ihrem Weg voran. Sie hatten den Stern nur zu Hause, in ihrer Heimat am Himmel gesehen. Doch dieser Umweg ist für die Magier in zweierlei Hinsicht wichtig. Als praktische Hilfe, denn in Jerusalem bekommen sie genauere Informationen über das Kind und man nennt ihnen auch den Zielort: Bethlehem. Und außerdem erkennen sie, dass man mit menschlicher Logik zwar weiterkommt, dass aber die göttliche Logik eine andere sein kann: nicht in der Hauptstadt, im Palast, wird der König geboren, sondern in dem kleinen Ort Bethlehem, abseits der großen Gebäude und wichtigen Geschäfte. Die Geschichte des Matthäus erzählt wiederum nicht, was die Magier sich bei dieser Auskunft „Bethlehem“ gedacht haben. Entscheidend jedoch ist, dass sie dieser Auskunft geglaubt haben und ihr gefolgt sind – auch wenn es ihrer ursprünglichen Logik zuwiderlief.
Als sie in Jerusalem nach dem neugeborenen König fragen, kommt dieses auch dem König Herodes persönlich zu Ohren. Seine Reaktion wird beschrieben: Er erschrickt. Soweit noch verständlich: Herodes sieht seine Machtposition bedroht durch einen neugeborenen König, der zudem in den heiligen Schriften seines Volkes schon lange angesagt ist. Aber warum erschrickt „ganz Jerusalem mit ihm“? Das Volk, gerade die armen und kleinen Leute, leiden doch unter Herodes und der römischen Besatzung. Das Volk wartet doch auf den Messias, auf einen König, der Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden bringt. Ich denke, die Menschen spüren, dass der neue König nicht einfach dort weitermacht, wo der alte König aufgehört hat. Sie spüren, dass mit ihm etwas Neues anbricht und aufbricht, das die alte Ordnung in Frage stellt. Auch wenn man sich das Neue wünscht, löst es zunächst ganz oft Erschrecken aus. Das Alte mag gar nicht gut sein, schon gar nicht für die da unten, aber viele in den oberen und mittleren Etagen, die sich in Jerusalem eine Wohnung leisten konnten, die haben doch auch nicht so schlecht darunter gelebt, konnten sich arrangieren mit der Herrschaft des Alten. Und selbst für viele in den kleinen Orten wie Bethlehem galt: das Alte, selbst wenn es schlecht ist, das kennt man wenigstens, man weiß, wo man dran ist. Weihnachten, die Geburt des Königs abseits der Hauptstadt, bedeutet den Anbruch einer neuen Zeit, einer neuen Ordnung. Die alten Herrschaftsverhältnisse stehen zur Disposition. Das lässt erschrecken.
Auch die Hirten sind vor dem Engel und seiner guten Nachricht erschrocken – und gingen dennoch los. Vor etwas Neuem zu erschrecken, muss nicht lähmen – muss nicht heißen, dass man das Neue nicht will. Über den Schreck hinweg kann man dem Neuen entgegengehen – aber man kann sich dem auch entziehen, wie die Jerusalemer es in der Geschichte tun. Herodes versucht dabei, mit List die alte Ordnung zu behaupten. Er lässt zunächst die Theologen und Gelehrten seines Volkes erkunden, wo nach den Schriften der König geboren werden soll. Sie finden heraus: in Bethlehem; so steht es beim Propheten Micha, wie wir vorhin in der Lesung gehört haben. Im Gegensatz zu den Magiern ist für sie die Frage offenbar nur eine theoretische, die mit einer schlichten Antwort beendet ist. Sie fragen nicht, warum Herodes dies wissen will, und sie brechen nicht selbst auf, um das Kind, den neugeborenen König in Bethlehem zu suchen. Sie haben recht mit ihrer Antwort – und verpassen doch das, was den Magiern vergönnt ist: sich selbst aufzumachen und zu suchen, zu fragen – statt sich mit klaren und richtigen Antworten zufrieden zu geben. Die Geschichte stellt uns hier ganz nüchtern die zwei Möglichkeiten vor Augen, wie man mit Fragen nach Glauben und Leben umgehen kann. Herodes macht die Magier ohne ihr Wissen zu seinen Verbündeten, indem er sie heimlich zu sich kommen lässt und dann nach Bethlehem schickt. Die Magier scheinen naiv, gehen ihm ins Netz – und machen sich auf Richtung Bethlehem. Aber als sie der Weisung des Herodes folgen, übernimmt plötzlich ein anderer die Führung – der Stern. Jetzt zieht er vor ihnen her. Der Stern, der Himmel gibt Orientierung in dem Moment, wo es kritisch wird. Wo es nicht nur um den richtigen Ort geht, sondern um ein Macht- und Intrigenspiel, das auf Leben und Tod geht.
Die Suche der Magier aufgrund von edlen Motiven ist nicht davor gefeit, von dem Bösen für seine Zwecke missbraucht zu werden. Die Geschichte erzählt nicht von einer heilen Welt, in der die Suche nach dem Kind, nach dem neuen Leben glatt und selbstverständlich verläuft. Das Böse, verkörpert in Herodes, stellt sich nicht nur gegen die „Guten“, sondern missbraucht sie auch noch. Aber die Geschichte erzählt auch, dass gerade in dieser Situation der Stern, der erst nur am Horizont erschien, vorausgeht und zur Begleitung und Orientierung wird und sie ihr Ziel erreichen lässt: sie finden das Kind und sind „hoch erfreut“. Gerade weil der Text so sparsam ist mit Emotionen, fällt diese Reaktion der Magier besonders auf: die Reise hat sich gelohnt, trotz der nur vagen Vorstellungen und der Umwege, trotz aller Schwierigkeiten und Belastungen unterwegs sind wir am Ziel! Ich denke, es ist kein Zufall, dass der Text dies als zweite Gefühlsregung nach dem „Erschrecken“ des Herodes und der Jerusalemer Gesellschaft beschreibt. Offenbar gehört beides zusammen: das Erschrecken, solange man dem Alten verhaftet ist, und die jubelnde Freude, wenn man – das Alte loslassend und sich auf den Weg machend - das Kind, den neuen Anfang, das neue Leben vor Augen hat.
Der letzte Satz erzählt wiederum eher nüchtern, dass Gott die Magier im Traum anweist, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren. Am Ende läuft die List des Bösen ins Leere. Es ist tröstlich, dass Gott letztlich stärker ist als das Böse. Und wieder glauben die Magier auf Verdacht hin – Träume sind für sie nicht Schäume. Sie folgen dieser eher vagen und leisen Stimme mehr als dem ausdrücklichen Befehl des weltlichen Herrschers. So kehren sie auf einem anderen Weg in ihre Heimatländer zurück. Sie selbst sind dabei auch andere geworden als die, die einstmals losgezogen sind. Die Geschichte von der Suche nach dem neugeborenen Kind, nach dem Neuen Anfang, dem Neuen Leben, ist nicht damit zu Ende, dass man es findet und anbetet.
Das Leben geht weiter, aber wir gehen als Verwandelte weiter. Neue Wege sind nötig – auch heute, auch für uns, äußerlich und innerlich. Und das nicht nur einmal im Leben, sondern immer wieder. Gut, dass es jedes Jahr Weihnachten gibt, um uns daran zu erinnern.
Amen.
2.Christfest, 26.12.2022, Stadtkirche, Matthäus 1, 1 - 17, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Weihnachtstag - 26.XII.2022
Matthäus 1, 1-17
Liebe Gemeinde!
Jesus und Miss Sophie: Beide haben Gäste an ihrem Fest, die nicht da sind … und doch anwesend.
Sir Toby, Admiral von Schneider, Mr.Pommeroy und Mr.Winterbottom mögen noch vor wenigen Jahren in persona die Menü- und die Getränkefolge mit ihrer Gastgeberin geteilt haben. Ihre Abwesenheit weckt jenen Schmerz, den gerade an Weihnachten jede Lücke in unsern Familien, jeder Stuhl, der am Tisch künftig unbesetzt bleiben wird, mit sich bringt.
Der englische König sprach gestern für alle Trauernden, wenn er auch diese Seite unseres hellen und heiteren Festes berührte: Obwohl wir es wissen, dass irgendwann der Erste und irgendwann auch der Letzte aus der Vertrautheit unserer geteilten Gewohnheiten und Rituale sich verabschieden muss, ist es schwer, bitter schwer, die Lieder zu singen, die nicht mehr so vielstimmig wie früher gelingen, … die Post zu sortieren, ohne wieder - wie in jedem Jahr - auf die liebgewonnene Handschrift zu stoßen, … die Rezepte zu kochen, den Schmuck zu benutzen, den Rhythmus zu befolgen, die alle unlöslich mit einem verbunden waren, der nun nicht mehr die Speisen, die Freuden und das Licht der Sterblichen teilt.
Ein Zug der Wehmut, manchmal auch der wachsenden Verlassenheit ist gerade auch in die nur scheinbar ungetrübtesten Feiertage des kirchlichen und des bürgerlichen Kalenders unlösbar hineinverwebt.
Denn jedes Fest, das wir begehen, lebt und vertieft ja ein Miteinander, das im Augenblick seiner Ereignung schon zu jenem „Weißt du noch?“ von morgen wird, das uns daran gemahnt, wer wir sind, wo wir herkommen und was uns verbindet.
Alle Freude schafft Erinnerung, bis der Tod uns scheidet … und wird dann zu Schmerz, … bis schließlich aus der schmerzlichen Erinnerung sich wieder eine Freude herauskristallisiert, die nun auch der Tod nicht mehr zerstören kann.
Ein Fest, von dem wir unsere Trauer ausschließen, ein Fest, zu dem die toten Gäste nicht willkommen wären, wäre ein unkluges und ein unmenschliches Beginnen. Wo wir sind, sollen auch die sein, die nicht mehr hier sind. … Bis wir dahinkommen, wo sie sind.
Mit Ahnenkult oder Schauerromantik hat es also gar nichts zu tun, wenn die alten Weihnachtsbräuche oft noch Spuren des größeren Kreises an sich tragen, bei dem die Gestrigen nicht totgeschwiegen werden, sondern ihren Platz in unserer Mitte behalten und in unsern Jubel, unser Gespräch, unser Gebet auch Stimmen einbezogen bleiben, die zwar unser leibliches Ohr nicht mehr vernimmt, ohne die wir aber doch nur wie eine Orgel ohne Pedal, wie eine Antwort ohne Frage klingen würden.
Damit nie jemand auf die Idee käme - auf die natürlich inzwischen alle Welt gekommen ist! -, dass das Fest der Geburt des Erlösers der Menschen bloß ein harmloses, sprich: hirnloses Gelage sei, hat die Kirche von Anfang an dem 1.Tag des Christfestes einen zweiten beigesellt, der seit jeher den Blick der Weihnachtschristen um die entscheidende Dimension erweiterte: Was auf dieser Erde in der Zeit gefeiert wird, das ist nicht zu denken, nicht zu verstehen und … eben auch nicht zu feiern ohne die, die nicht mehr auf Erden, sondern im Himmel, in der Gottes-Gegenwart also sind.
Darum ist der Zweite Weihnachtstag in seinem Proprium, in seinem eigentlichen Gepräge der Festtag des ersten Zeugen Jesu Christi, durch den die heilige christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen zu einer menschlichen Verbindung auf zwei Ebenen wurde: Der irdischen ist mit dem ersten Märtyrer Stephanus für immer auch die himmlische Gemeinde an die Seite gestellt. Und so erinnert uns dieser zweite Feiertag, der Stephanus-Tag stets daran: Es gibt uns nicht nur „hier“ ohne: „Da“; … es gibt uns nicht nur in der Zeit, sondern ebenso auch in der Ewigkeit, … es gibt uns nicht nur zeitlich lebend, sondern wir sind immer auch schon dem Leben voraus, im bleibenden „Jetzt“. ———
Mit diesen Vorüberlegungen zur Vergangenheit vor dem Heute und zur Ewigkeit jenseits des Heute sind wir nun vielleicht in der angemessenen Verfassung, um bewusst die große Schar an der Pforte des Neuen Testaments zu empfangen, … die nicht leiblich, aber geistlich gegenwärtigen Ehrengäste, mit deren Reigen Matthäus das Evangelium von Jesus Christus anhebt.
Diese Aufzählung sonorer, durch ihre Aura der Sakralität und des Aristokratischen ehrfurcht-gebietender Namen wird meistens als ein vernachlässigenswertes Kuriosum übergangen, mit dem der doch etwas zu schriftgelehrte Matthäus im Hopplahopp den engmaschigen Anschluss des Neuen an das Alte Testament belegen wollte. Man sieht eine Art hochkonzentrierter Summe der Heilsgeschichte in seinem genealogischen Abriss – was ja wahrlich aller Ehren wert bleibt! –, oder eine historisierende Fleißarbeit, die Jesus seinen Kontext in der realen Chronologie verschaffen soll. ——
Andere – so gewiss auch die, die den Stammbaum Jesu neu zu Ehren als Predigttext gebracht haben – freuen sich an den delikaten Webfehlern im gleichmäßigen Geflecht der Generationenfolge, wo nicht immer nur das monotone Leiern zu berichten ist: Einer wurde geboren, freite ein Weib, zeugte einen Sohn und dann „legt er sich“ - nach Matthias Claudius - „zu den Vätern nieder und kömmt so nimmer wieder“. Auffallend häufig sind ja die Unregelmäßigkeiten, die durch die starken Vorfahrinnen Jesu in das rechtschaffen-biedere Muster seiner Herkunft eingetragen werden: Fremde, verfemte, freie Frauen – Tamar (vgl. 1.Mose38), Rahab (vgl. Josua 2 und 6,22ff) und Ruth - , die nicht als namenloses Anhängsel irgendwelcher Patriarchen, sondern als die Schmiedinnen ihres eigenen Schicksals leben und handeln, haben ihrem Nachfahren gewiss ein Erbe der Autonomie in die Krippe gelegt: Wer solche Stammmütter hat wie Jesus, der kommt schon als gewagtes Vertrauen und vergebene Sünde zur Welt. ——
Wieder ein anderer Blick auf die scheinbar so monotone und insgesamt doch extrem männerlastige Liste der zeugenden Vorväter hat hinter dem allgemein sexuellen Vorgang ein tiefes Prinzip freigelegt[i], das die reine Fortpflanzungs-Biologie völlig verblassen lässt: Mit dem Doppelausdruck, der das ganze Neue Testament an der Spitze dieser Aufzählung doch wohl programmatisch eröffnet – „Βίβλος γενέσεως“ (Biblos geneseos) = „Buch der Zeugungen / Buch der Entstehungen“ – klingt ja schon in unseren Ohren das Buch „Genesis“ an, das exakt diesen Ausdruck zweimal als Zusammenfassung der Schöpfungs- und Urgeschichte verwendet (vgl. 1.Mose 2,4; 5,1): Die „Zeugungen des Himmels und der Erde“ und die „Zeugungen Adams“ - so werden die Erschaffung des Kosmos und die Anfänge des Menschengeschlechtes da genannt.
… Wer aber nur einen Augenblick über diese biblischen Ursprungsüberlieferungen nachdenkt, dem fällt auf, dass da überall – im Bericht über die Schöpfung, in der Urgeschichte der Menschheit und im Stammbaum Jesu – nun gerade nicht rein naturhafte, rein biologische Vorgänge geschildert werden, die gerne Charles Darwin zu überlassen sind, sondern dass es da um Gottes unentbehrliches, um Gottes völlig entscheidendes Wirken in und unter allen diesen Prozessen geht. Genauso wenig wie die Bibel in der Genesis nämlich die fruchtbare Produktivität und Variationsfreude von Mutter Natur feiert, genauso wenig feiert sie im Matthäusevangelium die Manneskraft und den Geschlechtsverkehr an sich. Vielmehr geht es am Anfang des Alten wie des Neuen Testaments unter der Überschrift des „Βίβλος γενέσεως“ jeweils darum, wie in den scheinbar selbstverständlichen Grundlagen und Entwicklungen des Lebens immer und überall Gott am Werk ist: Nichts – und sei es noch so gewöhnlich, noch so „natürlich“, triebhaft, elementar – … nichts geschieht ohne das weckende und lenkende, ohne das schöpferische und segnende Tun Gottes.
Auf diese Weise – nicht durch sexuelle Begattung, sondern durch segnende Begleitung – ist die Gotteskindschaft demnach tatsächlich der gesamten Wirklichkeit als Ur-Prinzip eingeschrieben.
Und die Geburt Jesu aus der langen Folge der Segnungen Gottes in der Geschichte Seines Volkes Israel ordnet sich in den großen Zusammenhang einer Welt ein, die ganz von Gott erfüllt ist, sich Ihm verdankt und in allen ihren Entwicklungen Ihm folgt und zustrebt. ———
Diese Linie des israelitischen Schöpfungsglaubens als Glaubens an den Segen Gottes, … diese Linie der Segensgeschichte Israels erklärt dann aber auch, wieso das Neue Testament mit einer biologischen Abstammungstafel anfängt, die Jesu Geburt gar nicht biologisch vorbereitet, da sie ja auf Joseph hinausläuft, der auch im Stammbaum selbst nicht als der in unserem Sinne „genetische“ Vater des Christus bezeichnet wird: Jesus gehört in die generationen- und Genetik-übergreifende Kette des Segens, Er ist eingebettet in die gottgewirkte Geschichte, die den Kosmos und Israel durchzieht und verbindet, … Segen hat Ihn vorbereitet, Segen gab Ihm Dasein, Segen ist Sein Leben.
Die ehrwürdige Schar der Erzväter, der frühesten Generationen Israels in Kanaan, schließlich die anfänglich stolze, dann gedemütigte, erneut aber auf Hoffnung gerettete und sehnsüchtig harrende Dynastie des Hauses Davids verkörpert also am Eingang des Neuen Testaments das, was der Hebräerbrief (11; vgl.12,1) „die Wolke der Zeugen“ nennt: Von Anfang an, durch alle Vergangenheit, die Ihm voranging, ist Jesus umfangen von denen, die Segen erben, teilen, weitergeben. Sie umgeben Ihn wie unsere unsichtbaren, aber uns tief vertraut zugehörigen Weihnachtsgäste uns umgeben: Mit einer wartenden Zuversicht und einer bleibenden Liebe, die vor unserm Leben begann und die der Tod nicht zu zerschneiden vermag.
Und damit sind sie letztlich allesamt - wie Stephanus - Zeugen der Gotteskraft, die am Anfang der Genesis (1,2) und am Ende des Evangeliums (vgl. Lk24,49 /Joh.20,22) als der Heilige Geist in Erscheinung tritt.
Der lebenspendende Geist Gottes, Der durch alle Räume der Schöpfung und die Zeiten aller Geschichte weht, ist in jeder Generation, in jeder Geburt, in jedem Geschehen gegenwärtig, um Jesus den Weg zu bereiten, um Ihn zu empfangen und auch um zu sichern, dass es nach Jesu Weg in’s Fleisch, in’s Grab, in’s Leben in Gottes Gegenwart weiter geht … weiter geht in weiteren Zeugen, … weiter geht auch in uns!
Und so ist der Geist Gottes, Der in den Vorfahren wirkt, Der Sich in ihnen bezeugt und sie zu Jesu Zeugen macht, nach Pfingsten Der, Der in uns Anwesenden allen genauso wie in den nicht gegenwärtigen Gästen die Verbindung mit Jesus und untereinander herstellt, stärkt und segnet.
Damit aber ist das Leben Jesu, Der aus dem Geist Gottes gezeugt ist, nicht nur in die Schöpfungs-, Israels- und Weihnachtsgeschichte als Seiner Herkunft eingebunden, sondern ebenso auch in die Pfingst- und Kirchen- und Weltgeschichte, als deren Fortsetzung, und es erstreckt sich ein einziger, unverbrüchlicher Lebens- und Segenszusammenhang nicht nur durch die dreimal zweimal-sieben Geschlechter des Stammbaums, sondern vom Uranfang bis zum Fernziel: Alles ist Jesu Leben und alle, die nicht mehr oder noch nicht da sind, sind doch in und bei Ihm – mit-gesegnet - anwesend! ——
… Diese ununterbrochen und ununterbrechbar durchgängige Linie des Heils ist wunderbar tröstlich, … ist in ihrer natürlichen wie symbolischen Einfachheit vollkommen schön, und sie scheint die Geschichte der Welt so glatt zu machen, …. so glatt, dass wir in unserer verzerrten, aufgelösten, zerreißenden Gegenwart eine derart sichere Fortentwicklung kaum mehr für denkbar und glaubhaft halten können. …….
Doch auch Matthäus kannte kein bruchlos geschmeidiges, widerstandsloses Abspulen der Geschichte. Sein wunderbar gegliedertes Triptychon aus vierzehn Geschlechtern der Vorbereitung und Erwartung bis zum Messias David, dann vierzehn Geschlechtern auf dem Thron und im Reiche Davids und zuletzt vierzehn Geschlechtern unterm Gericht und in der existentiellen Erwartung dessen, in dem alles verheißene Heil sich doch noch erfüllen werde, ist schief.
… Es besteht nicht symmetrisch aus zweiundvierzig Gliedern, sondern einem weniger.
Das liegt an der tiefen Krise des babylonischen Exils, als Davids Stern erlosch, als alle Zusagen Gottes zusammengebrochen schienen, als das Land verloren und das Volk gescheitert war, … als - kurzum - die Zukunft beendet sein musste, weil die Verbannung in Babel den Schlussstrich und Todesstreich herbeigeführt hatte.
Diese Krise im Weltuntergangsmaßstab begegnet als einziges historisches Ereignis in der Aufzählung der Namen, die wir als Segensträger und Jesus-Zeugen verstanden haben … und sie begegnet gleich zweimal, … so tief teilend, so einschneidend war sie.
Die Wirklichkeit also durchbricht das allzu schöne, allzu glatte Schema der Heilsgeschichte auch im Buch der Zeugungen - der Zeugen - Jesu, so wie unsere Erfahrungen der weltgeschichtlichen Gegenwart es auch tun.
Doch der Einbruch des Unheils zerstört nur das Schema, nicht aber die innere Wahrheit des unwiderruflichen und unumkehrbaren Wirkens Gottes auf das Leben hin, … das Leben Jesu und das Leben aller!
In der Reihe derer, die Jesus vorbereiten und empfangen, fehlt also – was Matthäus unmöglich entgangen sein kann – unterbrochen durch das Exil, ein Name, … aber kein Glied: Jesus - so zeigt es der Evangelist - hat Zeugen, Er hat Angehörige, die zwar nicht aufgezählt sind, aber darum doch nicht in Nichts aufgelöst, doch nicht spurlos verschwunden.
Die, die nicht da sind, sind Ihm doch gegenwärtig.
Die, die wir nicht finden, sind doch für Ihn nicht verloren.
Für Jesus, Der aus dem Segen, aus dem Geist des Vaters gezeugt wurde, gilt nämlich weihnachtlich der eine, trotz aller Anfechtungen einfache Satz:
Er, Der unmittelbar aus Gottes Leben kommt, ist Der, Dem alle leben, … hier und da, … die Anwesenden und die in Seiner Gegenwart! —
Und so ist Weihnachten das Lebens-Fest der gesamten Menschheit; Hier, in der Zeit und dort in der Gegenwart!
Amen.
[i] Das Verdienst, spröde-scheinende biblische Texte – wie etwa alles Genealogische – sensibel, aufmerksam und theologisch fruchtbar eng zu lesen („close reading“) kommt unbestreitbar der Tradition der holländischen Exegese zu, die sich auf den großen reformierten Theologen Kornelis Heiko Miskotte (1894 – 1976) zurückführen läßt. Aus seiner Schule hat besonders Frans H. Breukelman den biblischen Wirklichkeits- und Geschichtsbegriff aus dem Denken und den sprachlichen Formen der Hebräischen Bibel erhoben. Breukelmans mehrbändige „Bijbelse Theologie“ beginnt nicht zuletzt mit grundlegenden Untersuchungen des hebräischen Wortstammes und der Denkfigur, die im Griechischen als „Βίβλος γενέσεως“ übersetzt wird. Breukelman plädiert bei diesem hermeneutisch entscheidenden Terminus, der geschichtsphilosophisch als ein hebräisches Äquivalent zum Konzept von „history“ betrachtet werden kann, asl angemessene Wiedergabe schließlich für das schöne niederländische Wort „verwekkingen“ (also: Weckungen, Auf-Erweckungen?!), das in unserem Horizont die natur- und stammesgeschichtlichen Entwicklungsschübe aus der Dynamik des Segens von vorherein österlich färbt; vgl. F.H.Breukelman, Bijbelse Theologie, Deel I,2 תולדות - De Theologie van het Boek Genesis. Het eerstelingschap van Israël temidden van de voelkeren op de aarde als thema van „het boek van de verwekkingen van Adam, de mens“, Kampen 1992, S. 24.
1.Christfest, 25.12.2022, Stadtkirche, Kolosser 2,3.6-10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Tag der Geburt des Herrn - 25.XII.2022
Kolosser 2,3.6-10
Liebe Gemeinde!
Sonntag und Weihnachten – in dieser Reihenfolge: Das Leben, das den Tod besiegt, ist heute geboren worden! … Mehr Wirklichkeit und mehr Verheißung kann in einem Satz nicht zusammenkommen. Ein größeres Fest lässt sich nicht feiern als an diesem Tag, an dem Beginn und Vollendung gemeinsam begangen werden wollen.
Die Geburtsgrotte in Bethlehem ist ja schlicht der Eingang zum 11 Kilometer, 33 Jahre und eine Lebens-, Leidens- und Todesgeschichte entfernten Felsengrab von Jerusalem, in dem eine neue, … eine Geburt für die Ewigkeit geschah. Ohne den seit Pfingsten allwöchentlich begangenen Tag der Auferstehungsfeier wäre unser heutiges irdisch-historisches Geburtsfest Christi gewiss niemals in die christliche Liturgie aufgenommen worden. Und daher dürfen wir Weihnachten heute endlich einmal wieder so feiern, wie es ursprünglich gemeint war: Als österlich durchglühtes Fest der Inkarnation, … als den Tag, von dem an es dem Fleisch – also der physischen, organischen, konkreten Menschennatur, die Jesus von Maria annahm – bestimmt war, zu jenem unverweslichen Leib zu werden, der die persönliche Wirklichkeit des Auferstandenen ist. ———
Allerdings ist gerade diese Verbindung zwischen dem obdachlosen Säugling in Bethlehem -also einem Allerwelts-Migrantenkind, das heute ebenso aus der Nähe von Aleppo stammen könnte oder aus Bachmut, aus dem Jemen oder der mittelamerikanischen Tristesse, aus der sie nach Norden strömen - … die Verbindung also zwischen dem bedrohten kleinen Wurm, das zwischen Hypothermie und Hunger in Bethlehem zur Welt kam und dem, den die Forschung gern den „Christus des Glaubens“ nennt, ist eine geradezu peinliche.
… Denn dass ein menschlicher Organismus – also ein reines Beispiel stammesgeschichtlich-biologischer Evolution und Adaption des homo sapiens an das heterogene Ökosystem der Erde – in irgendeiner Beziehung zu einer transzendentalen Existenzform stehen könne, das scheint nicht erst heute unbegreiflich.
Zwar werden die inzwischen die Mehrheit darstellenden Nicht-Christen weiter so tun, als sei-en die Fragen, die die moderne Naturwissenschaft hier stellt und die Zweifel, die ein geschlossen materialistisches System hier anmeldet, nun mit sofortiger Wirkung das endgültige Ende des lächerlich voraufgeklärten, des „mythischen“ christlichen Bekenntnisses.
… Doch wie wenig wissen die, die ihren heutigen Horizont für universal halten, tatsächlich vom hohen Alter und der langen Tradition ihrer eigenen Zweifel!
Es brauchte nicht die verengte Wahrnehmung einer auf reine Sinneseindrücke beschränkten Weltsicht, um zwischen dem Geborenen und Gekreuzigten und Dem, Den wir heute als den Lebendigen bekennen, einen tiefen, unüberbrückbaren Graben zu ziehen: Seit dem Sonntag, den wir Ostern nennen, ist es eine ständige, schon in Athen zu Paulus’ Zeiten (vgl. Apg17). von reinem Hohn gekennzeichnete Ablehnung des Zusammenhangs zwischen der körperlichen und der spirituellen Gestalt Christi, die das Evangelium weckt.
Heute, weil alles auf’s Physische reduziert ist; damals, weil nur das Metaphysische zählte.
Wo die Moderne nur Greif- und Messbares anerkennt, verneinte die Antike gerade dieses, denn philosophisch gültig schien den körperskeptischen Alten einzig das geistige Reich der Ideen, wohingegen uns geistfernen Naturalisten nur das wissenschaftlich Eingegrenzte dingfest vorkommt.
Doch beide Ansichten sind wirklichkeitsferne Reduktionen.
Der Marxist, der lehrt, dass Leben einzig im angemessenen Stillen der physischen Bedürfnisse bestehe, ist genauso ein halber Mensch wie der Buddhist, der hofft, dem Kreislauf des Brauchens, Begehrens und Befriedigens zu entkommen, um endlich zur Freiheit zu gelangen. Im Menschen ist vielmehr beides angelegt: Das stoffliche und das geistige Angewiesensein, … der nackte Hunger und die seelische Aufnahmebereitschaft.
Die Menschenwürde ist es, dass er vom Brot lebt und vom Wort!
Und damit treten wir zur Krippe, in der beides liegt: Das Wort Gottes und das Brot des Lebens … und zwar ungetrennt und unvermischt im Körper eines kleinen Kindes.
Denn das ist das Dritte, was die Weisheit und die Kritik der philosophischen wie der wissenschaftlichen Schulen der Menschen übertrifft: Nicht Weizenmehl findet sich da und nicht die Zeichenfolge der Buchstaben und Laute und doch Der, Der uns an Leib und Seele mit Sich Selbst erfüllen kann.
Was für ein seltsames Wunder, das zugleich die uralte und die allerjüngste Weltanschauung der Menschen herausfordert. „Zu primitiv!“, ärgern sich die Alten: „Der sublime Gottesgeist als reales Menschenkind?“ – „Zu spekulativ!“, ärgern sich die Modernen: „In einem realen Menschen den abstrakten Gott zu sehen?“
Doch die Gemeinde, die da so paradox von zwei Seiten die Größe ihres einen, versöhnenden Mittelpunkts bestätigt sieht, kann sich daran nur freuen: Zerreißt es auch der Rest der Menschen lieber, um in der je eigenen, ihnen geheuren Hälfte der Wirklichkeit ungestört zu verharren, so ist das Geheimnis des Christus-Ganzen, der Ganzheit in Christus doch zu herrlich, um es bestreiten und zerstören zu lassen.
Die Zeit der Pandemie hat es uns ebenso gezeigt, wie jetzt die Kriegszeit, wieviel Unheil in der säuberlichen Zergliederung und Zerstückelung unserer Wirklichkeit liegt: Wo man nur die Gesundheit des Leibes schützte, kam der Mensch seelisch zu kurz; wo man nur die Reinheit seines Gewissens retten will, opfert man dem pazifistischen Seelenheil das Leben anderer Menschen.
Es müssen um des fleischgewordenen Wortes willen immer beide Seiten in der christlichen Gemeinde zusammenkommen, um das weihnachtliche und österliche Wunder zusammen zu halten: Dass das Kind, das die schmutzstarrenden Hirten mit ihren reinen Herzen und ihrer Ziegenmilch beschenkten, zugleich der König ist, den die durch ihn erleuchteten Weisen für seinen Leidensweg und Siegeszug mit Gold, Weihrauch und Myrrhe ausrüsteten.
Leib und Seele, das Unmittelbare und das Reflektierte, Gefühl und Gedanke sind durch die Inkarnation, die zur Auferstehung führt – die Geburt, die Ostern bringt – schlicht und ungeschieden und unverbrüchlich verbunden. ———
An der Sollbruchstelle, die das eine vom anderen separieren will, hat indes schon Paulus sich abgemüht.
Er konnte nicht zulassen, dass bereits die ersten Taufanwärter für sich eine fundamentale Unterscheidung trafen: Den vergeistigten Christus – das jenseitige Ideal eines Übermenschen, den sie mal mehr jüdisch als den perfekten Frommen und Gerechten, mal mehr griechisch als den leidenschaftslosen Philosophen in der Sphäre der reinen Theorie, der vollkommenen Wahrheitsschau deuteten … –, den wollten sie gerne als ihr Über-Ich, als ihr Maskottchen, als ihren Avatar, ihren virtuellen Stellvertreter akzeptieren. In die Nachfolge dieses rein spirituellen Idols gliederten sie sich je nach Schule oder Sekte schon in den allerersten Gemeinden gerne ein.
… Dass aber diesem früh entwickelten Christusbild in der Wirklichkeit der vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Heilsereignisse eben gerade kein Bild, keine Projektionsfläche, sondern ein echter Mensch entspricht, das blendeten viele von Anfang an lieber aus.
„Lasset uns Christus machen nach unserem Bild“, lautete ihr instinktiver Vorsatz.
Doch gerade dieser Versuch läuft dem Weihnachtswunder und dem Osterziel genau zuwider: Gott, Der den Menschen nach Seinem Bilde schuf, hat damit die Gottähnlichkeit jenem Geschöpf eingestiftet, zu dem Er selbst zu werden bereit war. Dass das Geschöpf aber auch das wieder besser zu können glaubt, … dass es Gott nicht gar so menschlich, sondern viel lieber den Menschen in Christus nach eigenem Gusto noch göttlicher machen würde, das ist die alte Sünde im neuen Gewand des neuen Glaubens.
Der rein himmlische, transzendente Christus, den sich die Menschen gerne denken und ausmalen, … der Gott, der als Mensch nach den Vorstellungen der Menschen etwas weniger Mensch und dafür etwas stärker Gott sein sollte: Ist das nicht schon wieder das goldene Kalb?
Alle die vom Menschenwahn geschaffenen Christusse – der entrückte byzantinische Herrscher-Christus, … der auf russischen Ikonen abgebildete „Zar aller Zaren“, dessen götzendienerischer Patriarch heute wieder im Kriegsrat des Kreml thront, … der arisch antibiblische Christus unserer Großeltern, … das allgemein moralische und korrekte, von jedem freiwillig erlittenen Schmerz, aber auch jeder richtenden Autorität unüberbrückbar weit entfernte, woke Weichei der heutigen a-theologischen Kirche … sie alle sind törichte Abgötter, geformt nach den Trends und Theorien, den Moden und Marotten ihrer jeweiligen Zeit.
Doch das Kind in der Krippe von Bethlehem, der kleine jüdische Knabe, der am achten Tag als Sohn von obdachlosen Reisenden beschnitten wurde, der dann als Fremdling in Ägypten zusah, wie die Eltern sich durchschlugen, der in der galiläischen Heimat die stillen Jahrzehnte seiner Alltäglichkeit verbrachte, der drei Jahre des harten Wanderprediger und Wunderheilerlebens bestand und dann in weniger als fünf Tagen vom Liebling zum Sündenbock der Stadt Gottes wurde, der Märtyrer, den man auspeitschte, folterte und langsam zu Tode quälte, der Gleiche, lebenslichtleuchtend als Auferweckter mit berührbaren Wundmalen an Händen und Füßen, der segnende Kyrios, der in die universale Gegenwart Gottes aufgenommen worden ist, der weihnachtlich-österlich - als Fleisch aus Maria und ewiges Wort Gottes - im Heiligen Geist jetzt hier unter uns Gegenwärtige, Der ist in alledem nicht das, was jedermann aus Ihm machen mag, … Er ist und bleibt stattdessen einfach und ganz Er selber.
Und auch wenn die Philosophen und die Materialisten das nicht zugeben können, dass Jesus der wahre Mensch bleibt und dass es sich in Bethlehem und auf Golgatha und im Gartengrab genauso wahrhaftig ganz um Gott handelt, so gilt doch das Beharren des Paulus, dass gerade und nur so alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis – der Sophia und der Gnosis im Griechischen, der sapientia und scientia auf Latein – in Ihm verbunden sind:
… Dass es bei diesen Reichtümern, bei dieser psychosomatischen Erfahrungsfülle um nichts Theoretisches, Abstraktes, Ideales gehen kann, das wird jedem klar sein, der je wirklich einen neugeborenen, einen leidenden und sterbenden Menschen oder im Vorgriff einen erlösten, einen losgelassenen, einen seligen Menschen wahrnehmen konnte.
Die wirklich nötige Erkenntnis, was das Elend und was das Glück der Menschen ist, … die wirklich notwendige Wissenschaft, die das Eine zu mindern und das Andere zu fördern hilft, … die wahrhaft menschenwürdige und menschenfreundliche Anschauung und Praxis, die am weihnachtlichen Anfang Jesu und an Seinem österlichen Ziel ihre Maßstäbe und Motive des Ernstnehmens der Liebe zu allem Leben und der Hoffnung für jeden Sterblichen gewinnen, die sind eben tatsächlich nie und nimmer so klar, so echt und so tief zu begreifen wie dort, wo Jesus Christus uns Glaubende prägt.
Jesu Leben ist die Schule allen Lebens.
Jesu Leben ist die Therapie für alles Leid.
Jesu Leben ist die Verarbeitung und Bewältigung aller menschlichen Schuld.
Jesu Leben ist das Verheißungspotential des gesamten Menschengeschlechtes, in dem die Seinen wurzeln, gründen und leben.
Andere Faktoren können neben dieser Fülle nicht wirklich ins Gewicht fallen: Die jeweils zu verschiedenen Zeiten verschiedenen Brennpunkte und Hauptschauplätze der wunderbaren und erschreckenden Macht des menschlichen Forschens und der menschengemachten Technik kommen an die Dichte und an die Universalität, an das Existentielle und an das Konkrete des lebendigen Leibes Jesu nicht heran. Er umfasst alle. Verbindet sie. Erhält und heilt sie, durchströmt und löst sie von allen Lasten, Fesseln und Gewalten.
In Seiner Menschheit und Gottheit ist allen alles gegeben, was Leib und Seele in Zeit und Ewigkeit brauchen.
Das verbindet uns an diesem sonntäglichen Weihnachtsfest in einer Zeit der weltweiten Passion restlos untereinander.
In unser Vertrauen auf den Menschengewordenen und Auferweckten schließen wir darum unverbrüchlich gerade die ein, die in diesem Augenblick unterm Krieg, unter der Kälte, unter den Verheerungen, die wir an der Natur verüben, so bitter leiden müssen, ebenso wie die, deren Dasein von starrem Unrecht, ständigem Mangel, steigender Aussichtlosigkeit seit Jahr und Tag ausgepresst wird.
Die Fülle Gottes, die leiblich in Jesus verkörpert und greifbar bleibt, ist grenzenlos: Ihre immanente Wirklichkeit in der uns verwandten und zugänglichen Menschengestalt ist unerschöpflich und allumfassend. Wo sie noch nicht spürbar verwirklicht ist, wird sie es werden. Wo sie noch nicht ungehindert wirken kann, wird es nicht dabei bleiben. Wo sie nur teilweise begegnen kann, werden ihre Ansätze und Bruchstücke sich zum großen Ganzen fügen.
Am heutigen Weihnachtssonntag nehmen wir darum für Ost und West und Nord und Süd, im Namen der Feiernden wie im Namen der Klagenden, … nehmen wir Wenigen hier für alle in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stellvertretend Teil an einer Vollkommenheit, die ohne Abbrüche, ohne Leerstellen sein wird.
Und darum wollen wir hier im Westen mit Worten des Ostens das besingen, was alle Erkenntnis noch übersteigt, was der mängellose Reichtum und die vollständige Wirklichkeit des zur Erlösung geborenen Lebens ist, … mit Worten des unvergleichlichen ostkirchlichen Hymnendichters Romanos, genannt „der Melode“[i]:
„Bethlehem öffnete Eden, / kommt hierher, lasst uns schauen!
Wir haben den Überfluss im Verborgenen gefunden; / kommt hierher, lasst uns empfangen
die Gaben des Paradieses im Inneren der Höhle!
Dort zeigte sich die nicht bewässerte Wurzel, die die Vergebung hervorsprießen ließ.
Dort fand sich der nichtgegrabene Brunnen,
aus dem einst David zu trinken begehrte.
Dort stillte die Jungfrau, da sie ein Kind gebar,
sogleich den Durst von Adam und David.
Deshalb lasst uns dorthin eilen, wo geboren ward
ein kleines Kind, der urewige Gott!“
Amen.
[i] Zitiert nach: Maria H. Duffner, Romanos der Melode: „…denn für uns wurde geboren ein kleines Kind, der urewige Gott“. Gedanken zu einem alten griechischen Weihnachtshymnus, Gersau 2001, S.17.
1.Advent, 27.11.2022, Stadtkirche, Offenbarung 3,14 - 22, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent - 27.XI.2022
Offenbarung 3, 14-22
Liebe Gemeinde!
„Beglänzt von seinem Lichte, / hält euch kein Dunkel mehr …“ (EG 16,4)
… Kein Dunkel hält dich mehr, Kiew! Keine Dunkelheit mehr über dir, Cherson! Keine Verdunkelung in den Dörfern und Städten ohne Strom und ohne Wärme zwischen Lwiw, Odessa und Charkiw!
„Beglänzt von seinem Lichte, / hält euch kein Dunkel mehr …“ ——
Jerusalem hat die Tore weit gemacht, als der König der Ehre einzog!
… „Kein Dunkel mehr“.
Rom allerdings hat das andere Tor geöffnet, das sog. „Schaftor“ (Neh.3,1), durch das Gottes Lamm zur Kreuzigung gezerrt und draußen vor der Stadt begraben wurde. Doch auch diese letzte Tür, die Tür ohne Griffe oder Innenriegel – die Grabestür, die außen von Soldaten unter Verschluss gehalten wurde – hat nicht geschlossen! Sie wurde aufgesprengt.
… „Hält euch kein Dunkel mehr …“! ——
Warum ist es dann aber so dunkel in der Welt?
Woher das Dunkel in diesem November eines europäischen Kriegsjahres, in diesem ersten Adventsgottesdienst einer Notzeit auf Erden, die sich lang zusammengebraut hat in den Schatten, die man gerne übersah und die nun wirklich vor aller Augen als große Finsternis steht?
Wie kann es solche Dunkelheit geben, … da wir gerade doch vom Licht des kommenden Friedens für die Ukraine berührt wurde, … da wir gerade doch vom Leuchten des sanftmütigen Helfers auf dem Esel vor Jerusalem erfasst waren, … ja, da wir gerade doch vom Osterlicht des offenen, leeren Grabes her die Todesnacht im Morgenrot vergehen sahen?!
Wie kann es noch so dunkel sein, wenn es doch über Kiew und Jerusalem und über dem Totenacker leuchtet?
Nun, das steht in dem Brief: In dem Brief, den der treue Zeuge geschrieben hat, dessen Name „Amen“ heißt und der also mit seinem ganzen Dasein das beglaubigt, was man wirklich nicht glauben will. Der Zeuge schreibt einen Brief, dessen Annahme die Adressaten wohl verweigern würden. Deshalb bringt der Bote diesen Brief auch nicht zu Händen der Angeschriebenen und der Beschriebenen, sondern er lässt sich den Empfang der Botschaft bestätigen durch den guten Geist, der auch die stumpfesten Botschaftsverweigerer und Anti-Zeugen doch nicht verlässt. Der Engel der Gemeinde nimmt entgegen, was der treue und wahrhaftige Zeuge geschrieben hat, mit dem die Schöpfung Gottes anfing und dessen Wort daher die Wirklichkeit von Anfang bis Ende aufklärt. Der Engel, der die Gemeinde – die entgeistert wäre, wenn sie sich sähe – nicht verlässt, akzeptiert die Sendung des Gesandten an die Gesammelten.
Der Brief, der aufklärt, wodurch das Dunkel trotz des Lichtes blieb, ist also angenommen.
Die Offenbarung des Johannes ist das Verzeichnis aller dieser unverlorenen Einschreiben der Wahrheit. Und so umfasst die Bibel die Liste der Adressaten der Adventsschreiben Gottes, die zu Händen der Seele Seiner Gemeinden gehen, auch wenn der Verstand und Stolz und Eigensinn der Gemeinden steif und fest behauptet, die Angesprochenen seien unter dieser Adresse unbekannt. Aber die Seele der Gemeinde, ihr Engel hat’s quittiert. Es ist eingetroffen, was Gott durch den wahren Zeugen ausrichtet. Es steht da schwarz auf weiß: Der Engel der Gemeinde von Laodizea, dem das letzte der sieben Sendschreiben der geheimen Offenbarung gilt, hat es nicht abgelehnt, nicht unterdrückt, nicht in den Reißwolf gegeben. Der Brief an die Laodizeer ist erhalten[i].
… Ihre Postleitzahl ist 40489. Und die angrenzenden Bezirke.
Denn Laodizea – ob wir’s wollen oder nicht, und ohne irgendeine vermeintlich unparteiische Anklagehaltung – … Laodizea ist hier; Laodizea sind wir: Gleichgültig, sorglos und vollkommen in Illusionen verstrickt.
Man kann es natürlich auch netter sagen, weshalb wir diesen apokalyptischen Liebesbrief zusammen mit den wohlhabenden, zufriedenen und doch so radikal sich selber täuschenden Laodizeern empfangen, … diesen Brief, in dem das zu Recht verpönte Erziehungsprinzip des weisen Salomo – „Wer seinen Sohn lieb hat, der züchtigt ihn“ (Sprüche 13,24b) – zu unserer Empörung auch auf uns reife und mündige Christenmenschen angewendet wird: „Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich“, heißt es in dem pädagogisch fragwürdigen, aber fraglos ernsthaft emotionalen Brief Gottes an uns, … die bürgerliche Mitte?!
Man kann es netter sagen, weshalb wir in der Krise nun auch noch eine blaue Epistel vom Himmel, einen Mahnbrief also erhalten, obwohl wir doch das ganze Malheur der Zeit weder allein verursacht haben noch bewältigen können.
Warum?
Weil Gott, der Treue und Wahrhaftige sich Sorgen macht über unsere emotionale Störung! Gott rüttelt an uns, die wir so ungerührte, so bornierte Leute sind, die mit ihrem vermeintlichen Überfluss die völlige Leere verdecken, die in ihnen herrscht.
…. Das Leben der Welt, die Zukunft der Kinder, die Hoffnung des Heils, die Wahrheit des Wortes … alles wankt und bröckelt, alles schmilzt und verweht uns ja. Aber das historisch tatsächlich erdbebenerprobte Laodizea[ii] schüttelt die Katastrophen immer wieder ab und vertraut darauf, dass es über einen derartigen Wohlstand verfügt, dass das Leben vor Ort schon weitergehen wird.
Und tatsächlich: Es geht weiter. Der Ort, der zu den illustren Städten Kleinasiens zählt, berühmt durch die dort gewalkte und gewebte schwarze Wolle, schafft es durch Kommerz und Technik und Eitelkeit sich lange gegen eine unruhige Erde und eine stürmische Zeit zu behaupten.
…. Und das christliche Laodizea einst dort und heute hier ist gar nicht mal verstohlen froh, dass man so sicher da- oder zumindest wieder aufsteht: Die Infrastruktur und das Geschäft sind auch für die Getauften die ersten und die wichtigsten Garantien. Obwohl der Vordere Orient tektonisch wackelt, obwohl die Pax romana, die Friedensordnung des Welt-reichs merklich brüchig wird, obwohl das Leben der meisten in der Menschenmasse physisch wie psychisch fragwürdiger und fragwürdiger wird, sagen wir Laodizeer doch: „Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts!“, weil unser Lebensstandard ja nur angegriffen, aber noch nicht verloren ist und alle unsere Gewohnheiten zwar auslaufen müssen, aber noch vorwärtstaumeln, wie der Läufer, der nach der Ziellinie nicht abrupt stillstehen kann, sondern torkelt bis er kollabiert. … Wir haben alles noch und geben es auch nicht auf: Das Öl, das Gas, das Wasser, das Geld, den Luxus und das Brot, um die uns viele beneiden. … Uns geht’s doch noch „Gold“, sagen wir Laodizeer. „Wie hoch ist schließlich - glücklicherweise - auch wenn’s an’s Klagen geht unser Niveau noch immer!“
Und genau diese Betäubungs- und Verdrängungskunst von Laodizea, diese irgendwo zwischen Blindheit und Bosheit, Wahnsinn und Primitivität schaukelnde Unfähigkeit, die Wahrheit und den Weg, den sie erfordert, einzusehen, bereitet Gott Kummer und Zorn im Blick auf uns, … einen Zorn und einen Kummer, die im furchtbarsten, drastischsten Bild gipfeln, das überhaupt in den Gemeindebriefen, den Seelensendschreiben der Offenbarung begegnet: Es ist das Bild vom Ausspucken. … Buchstäblich sogar noch ein grässlicherer Vorgang.
Die emotionale Störung, die seelische Selbstverstümmelung, die weder wirkliche Angstschauder noch glühende Zuversicht zulässt, sondern bloß geschmacklosen Gleichmut, … dieser morbus laodicensis, … dieses unter uns chronische Wohlstandssyndrom: „Was geht’s uns schon an, wie’s andern geht, wenn’s uns noch so geht?!“ … die sind für Gott zum Kotzen!
Für Gott, Der Sich der ganzen Welt zum Lebensmittel Brot, … Der Sich der ganzen Welt zum Lebensbrot gegeben hat, ist es ganz einfach ungenießbar, wie gleichgültig und realitätsfremd und selbstgenügsam solche wie wir sind: Solche Lauigkeit, so dumpfe Egalität zwischen Hassen oder Lieben, zwischen Jubeln oder Zittern, kann Gott nicht aushalten, … für Ihn ist sie völlig unbekömmlich, … sie schadet Ihm im Innersten.
Das ist die schreckliche, die wermutbittere Wahrheit über die teilnahmslose und also leidenschaftslose und in beidem doppelt glaubenslose Weltanschauung, die in Laodizea-Düsseldorf auch Christen hegen: Sie dreht Gott den Magen um, … Er bricht, … zerbricht an ihr beinah.
Und darum fleht Er in Seinem Brief an uns, dass wir von der wertlosen Materie, die unser Wertmaßstab ist, zum wirklich Wertvollen kommen!
Dass wir uns lösen vom nackten Egoismus, den wir unter all unserm Stoff doch nicht bedecken können, und reinen Neuanfang in den weißen Kleidern der Ungezählten wagen, die miteinander das Mahl des Lammes, der Gemeinschaft aus allen Nationen, Stämmen, Völkern und Sprachen feiern (vgl. Offenb.7,13).
Gott bittet uns - der Heiland bittet die Verblendungskranken! -, sich behandeln zu lassen, sich die Augen auftun zu lassen, sich das Herz im Sehen, Hören und Fühlen aufgehen zu lassen und nicht mehr zu so tun, … nicht mehr so zu handeln, … nicht mehr so zu sündigen, als reichten für uns die Mittel und die Medizinen noch.
Das ist die Drohung und die Züchtigung, die Gottes Liebe zu uns aus Sorge um uns und um die Dunkelheit, in der wir verharren und die wir verbreiten, verhängt: Er will, dass wir sehen!
… Genau das heißt nämlich Umkehr: Einsehen! Die Augen nicht mehr willkürlich verschließen. Nicht mehr ausblenden, was wir sind: „Elend, jämmerlich, arm, blind und bloß!“ …….
Dass diese Botschaft noch immer nach Laodizea gesandt werden muss - nun unter der Postleitzahl 40489 -, das liegt daran, dass sie wirklich ja eine Botschaft für den zweiten, den nachdenklichen, den einsichtigen, den bußfertigen Blick ist: Vordergründig - wir sagten es uns gerade noch selbst - sind wir ja sicher und abgesichert, sind wir reich und umsichtig und eingedeckt.
… Aber mit der Tiefe und der Weite, aus der das Sendschreiben dieser Himmelsbotschaft uns sieht, erscheint unsere Sicherheit als die Illusion, die sie ist: Sind wir es nämlich nur für uns, so sind wir es gar nicht! … Sind wir gut dran, während andere es böse haben, dann ist auf der ganzen Erde in Wahrheit nichts Gutes! Fällt uns alles zu, was anderen fehlt, dann gibt es nur Verlierer! Hoffen und planen wir, nur uns selber zu retten, dann sind wir verdammt! … ———
Und darum muss die sorglose Stadt Laodizea, die sorg-, lieb- und gottlose Stadt, in die wir gehören, nun tatsächlich Ohren empfangen, um das alles Entscheidende zu hören und Augen für das Wesentliche, die ihr hoffentlich noch aufgehen. … Damit sie sieht und hört, damit sie fasst und glaubt und sucht und findet, was der zornige und an unserer Verstockung, unserer Einbildung leidende Gott tut.
Suche Gott, Laodizea!
Suche Gott, Düsseldorf!
Kaiserswerth, suche Gott!
Zion, empfange Ihn!
… Wie? … Wie???
– Erschütternd einfach: Werde inne, dass Er dir fehlt! Dass nichts zählt und nichts hält ohne Ihn! Dass es kein Licht und keine Wärme gibt ohne Ihn! Dass man nirgends innerlich satt werden und niemals echten Frieden haben kann ohne Ihn! … Dass Jerusalem Ihn braucht, auch wenn Er, … nein, gerade weil Er nur auf einem Esel kommt. … Dass Rom Ihn braucht und Moskau, dass Kiew Ihn braucht und Teheran, dass jedes Land, jede Stadt, jedes Dorf, jedes Haus Ihn braucht in Seinem Dasein für alle, in Seinem Hunger nach uns, … Seinem Hunger danach, uns Liebe und Leben zu gewähren, die unbegrenzt sind!
Wir sind doch in Wirklichkeit so elend, jämmerlich, so arm und blind und bloß, wenn wir meinen, wir könnten und würden leben ohne Gott!
Wir müssen doch endlich wirklich spüren und bekennen, dass wir Ihn nötiger haben als alles, was oberflächlich glänzt und vorübergehend schützt und uns trügerisch befriedigt.
… Wenn wir das aber jetzt merken … in dieser grimmigen, törichten, düsteren Zeit, die „Advent“ heißt und „Advent“ ist – Wartezeit, Hoffnungszeit, Sehnsuchtszeit, Zeit, deren Spannung vorm kostbaren Ziel unermesslich wird – … wenn wir das also jetzt merken, wie Gott unserer Menschheit und Welt, wie Gott unserm Ort und unserem Leben fehlt, dann wird es uns unwillkürlich doch heiß und kalt zugleich, wenn wir nun hören, was der zornige und an unserer Verstockung, unserer Einbildung leidende Gott tut.
… Er steht vor der Tür!
Er pocht und Er pocht … wie unser eigenes Herz!
Er will zu uns kommen, will mit uns leben, will uns alle bei sich haben … trotz unserer laodizeischen Lauigkeit!
Hört Ihr’s?
Er selber, der treue Zeuge, der Amen heißt, der Anfang der Schöpfung Gottes klopft bei uns an!
…………
EG 1: „Macht hoch, die Tür …“
[i] Ein gewisses Spiel mit dem schweren Sendschreiben ergibt sich, wenn man an dieser Stelle die altkirchlich beginnende Jagd nach einem Laodizeer-Brief berücksichtigt, der in Kolosser 4,16 erwähnt wird, aber nicht im Neuen Testament enthalten ist. Der verlorene Paulusbrief wird durch das schwierige Sendschreiben nach Laodizea in der Offenbarung (als einziges enthält es gar kein Lob für die Gemeinde!) zwar nicht wettgemacht, aber immerhin gibt uns das Schreiben in Offenbarung 3,14-22 wahrlich mehr als genug zu denken!
[ii] Erste grundlegende Informationen zur Stadt am Lykos finden sich in: Neues Testament und Antike Kultur, hgg. v. K. Erlemann, K. L. Noethlichs u.a., Bd.2: Familie – Gesellschaft – Wirtschaft, Neukirchen/Vluyn 2005, S. 175f.
Ewigkeitssonntag, 20.11.2022, Stadtkirche, Psalm 16,11, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 20.XI.2022
Psalm 16, 11
Liebe Gemeinde!
Das Kirchenjahr endet stets mit einer Fuge, die zwei Themen in unterschiedlicher Weise verschmilzt: Da ist das gewaltige Thema der Ewigkeit, die in einem alten Choral als „Donnerwort“ besungen wird[i]; und da ist das leise, wehmütig klagende Thema unserer Trauer um die Toten, die uns die letzte Zeit genommen hat.
Das künftige Ende der ganzen Welt und der einzelne Schmerz im Schicksal aller Sterblichen werden also im letzten Akt unserer alljährlichen Liturgie verbunden. Mal tönt die apokalyptische Posaune, mal entrückt uns der Chor der Seligen beinah ins Jenseits, und dann wieder vernimmt man nur das traurig gedämpfte Läuten der Friedhofsglocken und die Monotonie der Erde, die die Hinterbliebenen durch den schweren Nebel ihrer Verlassenheit kaum erreicht.
Eine Fülle des Überwältigenden und eine erstickende Leere, … etwas ganz Universales und etwas völlig Individuelles fließen da also ineinander in den Motiven der allgemeinen und ausnahmslosen Vergänglichkeit und des rein persönlichen, des privaten Verlustes.
Und so ist es kein Zufall, wenn die Gemeinde eines jeden letzten Sonntags immer wieder etwas Zwiespältiges erlebt: Der eine Blick weist voraus in die Öffnung der Zukunft nach der Zeit; der andere Blick geht zurück zu dem, was nun in den Gräbern, für uns also in der Vergangenheit ruht.
Was aber verbindet diese beiden gegensätzlichen Blick- und Denkrichtungen? Was verknüpft die leidtragende Erinnerung mit der Hoffnung, die ihr Haupt erhebt? ……..
In der Liturgie ist es etwas ganz Bescheidenes. Sowohl in der Gottesdienstordnung des Ewigkeitssonntags als auch in den Texten, die für die Feier des Totensonntags vorgesehen sind, begegnet ein gemeinsamer Bestandteil: Das einzige Identische, das die beiden so unter-schiedlichen Feiern verbindet, ist bloß der Hallelujavers, der nach den jeweiligen Schriftle-sungen seinen Ort hat[ii].
… Diesen Vers aber, der die Todtraurigen genauso wie die Zukunftshungrigen im Lob Gottes vereinen will, … den sollten wir uns anschauen: Es ist der letzte Satz von Psalm 16, des ersten Psalms, in dem uns in der biblischen Gebetssammlung überhaupt eine Hoffnung über den Tod hinaus begegnet, … heißt es da doch:
„Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich;
auch mein Leib wird sicher liegen.
Denn du wirst meine Seele nicht der Unterwelt überlassen
und nicht gestatten, dass dein Treuer die Verwesung schaut.“
Und dann folgt der Hallelujavers für die Bedrückten wie für die Gespannten unter uns:
„Halleluja!
Du, HERR, tust mir kund den Weg zum Leben:
Vor Dir ist Freude die Fülle
und Wonne zu Deiner Rechten ewiglich.
Halleluja!“
Ein Wegweiserwort also, ein Spruch auf der Wanderschaft, ein Versprechen des Ankommens. Solche Ermutigungen auf der Landstraße, solche Lieder der Wallfahrt, solche Verse, die sich die Pilger oder die Flüchtlinge oder die Nomaden oder die Treibenden oder die Verirrten oder die Atemlosen oder die Gipfelstürmer oder die Dauerläufer oder die im Kreis umher Tappenden auf ihrem Gewaltmarsch, ihrer Durststrecke vorsagen, schlicht um nicht aufzugeben, … die dürfen nicht schwer sein. … Und sie sind es auch nicht!
Sie sind Wegzehrung und Kraftration, Labsal und Lockruf; sie sind hochkonzentrierte, aufbauende Stärkung für Leib und Seele, für den Mut und den Glauben.
… Vielleicht erscheinen sie uns deshalb aber auch zu einfach.
Wir meinen womöglich, in einer so furchtbaren Zeit wie heute oder in einem so tiefen Tal der Tränen wie dem unseren, müsste es weltanschaulich anspruchsvoller oder therapeutisch sensibler zugehen: Nicht ein so schlichtes Wort für den Weg hätten wir vielleicht gern, sondern eine pointierte Botschaft an die Generationen, die fürchten, die letzten zu sein, oder einen motivierenden Gedanken, der für mich ganz subjektiv zur Bewältigung meiner Traurigkeit führt. …….
… Was aber, wenn der Untergang der Welt in Krieg, Gewalt und schreiender Ungerechtigkeit und die verstörende Trübung aller unserer Grundgefühle in Kopf und Herz nicht dagegen, sondern dafür sprechen, dass uns nur noch die direkteste Einfachheit helfen kann?
… Keine zeitgemäßen Losungen, keine maßgeschneiderten Ansätze; nicht „Der Trost für 2022“ oder „Das positive Mantra nur für Dich“, sondern der herbe Klang einer Wahrheit, deren schlackenlos reduzierter, nicht weiter formbarer Kern unverändert durch die Jahrtausende überliefert wurde und uns jetzt unmittelbar angeht: Es ist die Wahrheit für Hinterbliebene genauso wie für Vorreiter. … Es ist die Wahrheit, die alle schon immer in ihrer lakonischen Nüchternheit einzigartig berührt hat. Es ist die Wahrheit: Wir sind noch nicht im Leben. …….
– „Aber das Leben, … das Überleben ist doch so schrecklich bedroht“, entgegnen uns die, die als Zeitgenossen ernstnehmen, was für eine Endzeit uns heute schlägt.
– „Aber das Leben, das Leben wie’s war ist doch längst vorbei“, entgegnen die andern, denen ein Abschied das Weiterleben schier unvorstellbar macht.
Doch der kleine Hallelujavers, der nichts bestreitet und nichts erklärt, der weder nach rechts noch nach links weicht, sondern in seiner verdichteten Form uns alle einfach weiterweist, … der kleine Hallelujavers lehrt uns sagen und dann denken und vielleicht auch verstehen und schließlich sogar glauben, dass wir tatsächlich noch nicht im Leben sind, sondern dass jeder Mensch noch unterwegs ist: Die einen holen Luft und essen und trinken und schlafen und probieren und schaffen und sündigen und machen irgendwie weiter; die andern sind ganz still, haben vielleicht die Hände gefaltet, liegen in der Erde und werden wieder zu Staub oder sind durch das Feuer wieder zu Asche geworden.
So ist das, sagt der Hallelujavers. Es ist schrecklich und manchmal verstörend; oft ist es aber auch gewöhnlich und man spürt es kaum. Doch ob so oder so: Ihr sollt wissen, ihr sollt darauf vertrauen, sagt der Hallelujavers, dass die einen wie die andern nicht zurückbleiben und auch nicht zuvorkommen. Sondern hier wie da, auf der Erde in der Zeit und auch da, wo das Zeitzählen aufgehört hat, geht der Weg weiter. Der Weg, den der HERR uns allen gemeinsam kundtut, … der wirkliche Weg, … der Weg zum wahren Leben. ——
– Pfui, hört man da einwenden. Wollt ihr wirklich immer noch den Leuten erklären, dass es eine andere Realität gebe als die messbare und von uns beherrschte Immanenz?! Wollt ihr immer noch den Leuten weismachen, es käme etwas danach, etwas Besseres, Schöneres, Echteres?
… Nein. Das will ich gar nicht.
… Mich würde es letztlich schon überfordern und endgültig aus der Fassung bringen, wenn ich auch nur meinen eigenen Kindern erklären sollte, dass das, was viele Menschen hier erleiden, tatsächlich das Leben sei. Wenn ich erklären sollte, dass das, was man zur Zeit erlebt und das, was sich abzeichnet, die endgültige und unveränderliche Wirklichkeit darstellt, wäre ich mit meinem Latein und meiner Logik sehr schnell nämlich am Ende. Wenn ich ernsthaft vermitteln müsste, dass die Schrecken dieses Daseins endgültig sind und alle Schuld der Menschheit unverzeihlich ist und unverziehen bleibt und dass alles Sterben das letzte Wort bedeutet, dann würde ich mein Lebtag lieber schweigen wie ein Grab, als irgendetwas von alledem als gesicherte, gültige und bleibende Erkenntnis zu vertreten, die man nicht für die Schule, sondern für’s sogenannte „Leben“ gewinnen soll.
… Weil es aber ja so ist, … weil wir in einem Zustand existieren, der für viele ein Albtraum ist und für andere eine Illusion, darum bin ich von ganzem Herzen dankbar, nicht berufen zu sein, diese trostlosen Verhältnisse eins-zu-eins festzuhalten und weiterzugeben, sondern zwischen Erinnerung und Hoffnung einen Hallelujavers weiterzutragen, der sagt: „Der HERR tut mir kund den Weg zum Leben.“
Diese fortdauernde, diese weitergehende Offenbarung Gottes ist es, die das, was noch nicht erschienen, aber verheißen ist, unter uns wachhält. Die Botschaft vom kommenden Leben verdankt sich also keiner alten, längst überwundenen Vertröstung- oder Verdummungsstrategie der Christen, sondern sie ist Gottes akut unabgeschlossenes Schöpfungs- und Erlösungswerk.
Gott sucht noch immer nach und Er führt noch immer auf Wegen, die allen Seinen Kindern und Geschöpfen wirklich und bleibend das Leben eröffnen werden.
Es ist noch nicht abgeschlossen oder vorüber, was mit Seinem „Es werde Licht“-Ruf begann und durch das „Siehe, es ist sehr gut!“-Urteil bekräftigt wurde.
Es ist immer noch der große Exodus aus dem Nichts in das Sein, aus der Gefangenschaft in die Freiheit; es zieht immer noch das Volk, das im Finstern wandelt, durch die Nacht dem Licht entgegen. Und Er ist immer noch unterwegs, der überall die Verstockten und Verstoßenen, die Kranken und die Hoffnungslosen, die Tauben, die Lahmen, die Blinden, die Verlorenen und die Sterbenden ruft: „Folge mir nach!“
Noch immer geht Er voran, auf dem Weg zum Leben, auf dem Er selber das ganz große, das ganz schwere, das ganz erdrückende Kreuz getragen hat.
Er geht durch die Feindschaft aller Zeiten und durch die Leiden jeder Generation. Er geht auf dem Kreuzweg der irdischen Geschichte an keinem einzigen Menschen vorbei, sondern sammelt uns sämtlich in Seiner Nachfolge. Er will, dass Du Dich ihm anschließt, und Er ruft unsere Liebsten genauso wie unsere Feinde und alle uns Unbekannten. „Kommt, ich erkunde den Weg zum Leben vor Euch her“, ruft Er den Menschen unserer hasskranken, pessimismusvergifteten, in tatenlos apathischem Weltschmerz versackten Gegenwart zu.
„Kommt: Auch Euren Weg zum Leben finde ich, und darum schließt Euch mir an unter Schmerzen, in der Erschöpfung, im Sterben“, hat Er unsere Toten gerufen.
Und so zieht Er als unser aller Kundschafter voran, bahnbrechend und unaufhaltsam selbst durch den Tod. Er zieht voran, weil Er der Weg ist und die Wahrheit des Weges und das Ziel des Weges: Das Leben (vgl. Joh.14,6)! ———
Doch weil Er voranzieht, weil Er selbst erprobt und aushält, erleidet und zurücklegt, was der Weg durch die Zeit und die Welt bedeutet, darum ist uns nicht alles an Ihm klar. Er geht ja vor und wir können Ihm noch nicht ins Gesicht blicken. Wir können noch nicht alles aus Seinen Zügen lesen, was wir an Antworten suchen; wir können Sein Bild, nach dem wir geschaffen sind, noch nicht entschlüsseln und so unsere eigenen Rätsel aufklären.
Wir müssen vertrauen, dass Sein Weg tatsächlich jeden Menschen, die Geborenen und die Gestorbenen schließlich zum Leben führt und dass wir – wenn es erreicht ist und wir Ihm von Angesicht zu Angesicht begegnen – tatsächlich Freude die Fülle und Wonne vor Ihm finden und unter Seinen Augen teilen werden. ——
Wir können und wir dürfen also nur vertrauen auf den Inhalt des Hallelujaverses, der am Sonntag der ewigen Zukunft und beim Gedenken an die Verstorbenen so unendlich Großes in so eindrücklicher Kürze verspricht.
… Wir müssen vertrauen; wir können nicht wissen, dass das wahre Leben uns erst noch bevorsteht.
… Und doch ist dieses Nicht-Wissen, diese Nicht-Kenntnis, dieses schlichte Sich-Einlassen und Festhalten am uralten Bekenntnis ungleich lebenströstlicher schon hier und heute als aller Vorzug für den Zweifel und alles Zögern vor dem Glauben:
Wie sollten wir unsere Kinder in diese Welt, die vor ihnen liegt, schicken und wie sollten wir unsere Toten verabschieden, wenn sie diese Welt wieder verlassen, ohne das Vertrauen auf den Lebensweg und das Lebensziel des kleinen Hallelujaverses?!
Welche Zuversicht, welche Bereitschaft zu gutem Tun und guter Hoffnung, welche Stärkung in schwerer Not und letzter Notwendigkeit gäbe es, wenn wir nicht auf den Weg Gottes setzten, der unserer Tränen in Freude und alles Unheil der Welt in himmlischen Jubel verwandeln wird?! ——
… Und selbst wer keine Nachkommen mehr in die Zukunft entlassen und keine beklagten Toten mehr in dieser Zeit zurücklassen muss, hat doch die Verantwortung und die Wahl für ein Geschöpf, das ohne das Zutrauen zu Gottes Ziel die Orientierung schwer halten und also eine menschlich-fröhliche Haltung schwer bewahren wird: Das ist die Seele – Deine Seele! –, die die Alten früher bei der Empfängnis wie beim Scheiden aus der Welt im Bild eines kleinen Kindes darstellten.
Lassen wir also doch auch die eigene Seele nicht ohne den Trost und ohne die Wegweisung des heutigen Hallelujaverses durch die Zeit ziehen!
Geben wir der eigenen Seele doch Teil an der Kraft und Ermutigung, die in der Nachfolge Jesu aus dem Glauben an Gottes Weg zum Leben fließen.
Stimmen wir in unserer Trauer wie in unserer Hoffnung also ein in das Lob Gottes, das sie beide verbindet, weil es über beide hinaus auf das herrlich Kommende und ewig Bleibende weist!
„Halleluja!
Du, HERR, tust mir kund den Weg zum Leben:
Vor Dir ist Freude die Fülle
und Wonne zu Deiner Rechten ewiglich.
Halleluja!“
Amen.
[i] Der berühmte Choral „O Ewigkeit, du Donnerwort“ von Johann Rist stand im alten EG unter Nr. 324 bezeichnenderweise in unmittelbarer Nachbarschaft (Nr. 325) zu einer bewussten Kontrafaktur, die ein halbes Jahrhundert jünger und ganz anders gestimmt war: „O Ewigkeit, du Freudenwort“ von Kaspar Heunisch. Schon hier zeigt sich die gegensätzliche Dynamik dessen, was am letzten Sonntag des Kirchenjahres unter dem gemeinsamen Nenner des „Eschatologischen“, also der „letzten Dinge“ betrachtet und verkündigt werden muss.
[ii] Im neuen Perikopenbuch (Lektionar) von 2018 findet sich der gemeinsame Hallelujavers beider Gottesdienstformulare auf den Seiten 533 für den Ewigkeitssonntag und 539 für den (dort auch so bezeichneten) „Totensonntag“.
Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 06.11.2022, Stadtkirche, Lukas 17, 20 - 24, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Drittletzter So. - 6.XI.2022
Lukas 17,20-24
Liebe Gemeinde!
Eine der hübscheren Eigenarten unseres Kirchen-Jargons ist seine ausgeprägte Vorliebe für das Rund. Alles ist bei uns ein Kreis: Der Bibelkreis, der Jugendkreis, der Flötenkreis, der Gesprächskreis, der Bastelkreis und der Besuchsdienstkreis, der 3.Welt-, der Männer- und der Frauen-Kreis; ja, unsere Kirche selbst sieht sich ein wenig wie Platon den Urmenschen … als ursprüngliche Kugelgestalt[i], die in der Kreissynode am nächsten Wochenende wieder vollständig - rund und schön - zusammenkommt.
Doch weshalb ist die christliche Sprechweise so hartnäckig einfallslos auf den Zirkel abonniert, wenn sie etwas benennen will, dass in anderen Organisationsformen eher eine „Grupe“, ein „Komitee“, ein „Team“ oder meinetwegen ein „Rat“, ein „Treff“, ein „Trupp“ genannt würde?
… Reine Gedankenlosigkeit wird es vielleicht ja nicht gewesen sein, dass nach den von frühen Verboten und späteren Zwängen geformten christlichen Vergesellschaftungsmustern nicht etwa der lose Geheimbund und auch nicht die streng hierarchische Gliederung einer von oben nach unten verfassten Struktur übriggeblieben sind, sondern alles in die archimedische Konstante drängte, in der Umfang und Durchmesser ein unveränderliches Verhältnis haben: Die berühmte Zahl „Pi“. Ein Kreis jedoch wird gar nicht grundlegend durch die Zahl „Pi“ bestimmt, sondern noch einfacher: Durch seinen Mittelpunkt. Nur wo ein solcher ist, entsteht auch ein Kreis. Wenn der Zirkel an verschiedenen Stellen haftet und der Bogen von mehrfachen Punkten aus geschlagen wird, ergeben sich blasenartige, wolkige oder pockige Formen. Es sieht aus wie Froschlaich oder Erbsensuppe. Es ist alles Mögliche drin. Aber es ist kein Kreis.
Nur der Mittelpunkt also bestimmt den Kreis! ————
Das wollen wir uns merken, wenn wir jetzt ins Durcheinander, in das Chaos hören, das da entflammt, wo Menschen über das Ende der Zeit nachdenken.
Bei der Zeit scheint es sich ja umgekehrt zur Geometrie des Kreises zu verhalten: In der Zeit, die zwar aus lauter „Zeitpunkten“ besteht, sind doch alle diese Tupfer gleich wichtig oder unwichtig, weil sie alle bloß die Linie fortsetzen, den Zeitstrahl schlicht verlängern. Von allesentscheidender Bedeutung auf dieser Achse sind lediglich zwei Punkte, die gerade nicht von einer Mitte ausgehen: Der Anfang und das Ende eines Einzellebens oder auch der Universalgeschichte. Erst wenn man diese beiden hat, kann man nachträglich eine Mitte dazwischen ausrechnen.
… Und darum – weil man bei der Zeit nie genau weiß, wo man ist – ist die Frage nach ihr eine so aufreibende. Wenn wir noch ganz lange vor uns sähen, hätten wir vielleicht in Vielem die Ruhe weg. Wenn wir aber befürchten müssen, dass das Finale, das Zeichen des Endes ganz direkt bevorsteht, dann kommt Hektik auf, … Panik vor dem Schlusspunkt. Und dann fragen die Leute sich oder die Sterne oder die Wissenschaft oder das Bauchgefühl oder ein Medium oder die Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie viel noch bleibt und woran man erkennen kann, dass es alsbald aus sein wird. „Herr Doktor, wie lange noch?“ … „Greta Thunberg, schlägt es schon Zwölf?“ … „António Guterres, ist’s nicht zu spät?“ … „Väterchen Vladimir, wir drücken auf den großen, letzten Knopf, не так?!“ ——
Ach, wenn man doch nur die Zeit und ihre Punkte besser bestimmen könnte und dann zur Mitte und zur Klarheit fände!!! – Doch das konnten wir noch nie!
Und darum ist das Rätseln über die Zeichen der Zeit, über ihren Restbestand und ihr irgendwann unumgänglich plötzliches Abbrechen seit Jahrtausenden lebendig.
Zu Jesu Erdenzeit zuckte und schwirrte es also auch durch die Gemüter: „Endet nicht bald die Römerherrschaft? Steht nicht das Zeitalter des Messias bevor? Wird die Macht des uns täglich bedrohenden Todes endlich vergehen? Sind wir vielleicht die Zeugen des Durchbruchs der neuen Welt der Erlösten?“ … so trieb es das Volk in Galiläa, Samarien und Judäa, in Kapernaum, in Bethanien und Jerusalem um. „Wann wird’s geschehen? Ist jetzt nicht der Augenblick? Hat sich nicht alles zusammengezogen, um gewaltig, verheerend … und herrlich aufzuplatzen und das zu offenbaren, was Gott endgültig schafft?“
Diese Naherwartung, diese atemlose und bis in die Haarwurzeln elektrisierende Spannung, die Menschen wirklich hin- und herreißt, sie aus letzter Apathie zu höchster Antizipationsfreude katapultiert, sie Verzweiflung und Triumph fast gleichzeitig kosten lässt, je nachdem, ob man gerade die Schaden- oder Gnadenzeichen der Zeit verspürt, ist eine wellenförmige Begleiterscheinung des christlichen Glaubens durch die Jahrhunderte geblieben: Da sich die Ansage des Endes der erbarmungslosen Welt der Sünde und die Verheißung des kommenden Reiches Gottes im Herzen des Neuen Testaments finden, gab es immer wieder Zeiten, Generationen und Gemeinschaften in der Kirche, die geprägt waren von dieser Zukunft. Manche spekulierten auf das Ende, andere fürchteten es unmittelbar; etliche suchten es zu beschleunigen, einige wollten es durch Buße aufhalten; viele dachten wenig darüber nach und schauderten, wenn eine Katastrophe, ein Bruch in der Zeit ihnen plötzlich wieder nahebrachte, dass wir in garantiert instabilen Wirklichkeiten leben, die darin alle gleich und sicher sind, dass sie vergehen werden, und weil niemand unser Morgen kennt, muss jeder damit rechnen, dass alles bleibt, wie’s war, bis es einst unversehens völlig anders … oder bis gar nichts mehr kommt.
Wir heute stehen auch in einer - zuletzt gar politisch festgestellten - Wende der Zeiten. Die Welt mit ihrem immer noch gewaltigen Potential an Lust (vgl. 1.Joh.2,17) und ihrem noch größeren Arsenal an Schmerz welkt und verwandelt sich vor unseren Augen:
Mag sein, dass sie im Inferno, mag sein, dass sie in großem Metzeln, mag sein, dass sie in zermürbendem Verfall und Auszehren auf’s Ende zusteuert, … mag aber ebenso auch sein, dass sie sich fängt, dass Besinnung, Vernunft und Innovationsgeist, dass Menschlichkeit und der berechtigte Lebenshunger der Jungen und der Armen gerade in den qualvollen Wehen von heute eine Epoche gebären, die eine anders geordnete, anders funktionierende, anders geteilte Welt mit Zukunft sein wird.
Wir könnten wohl zu finsterer Untergangsstimmung genauso neigen wie zu radikalem, ja (zumindest technisch-)revolutionärem Hoffnungskampf.
… Und tatsächlich: Die einen resignieren schon: Was zynisch ist! … Die anderen blockieren: Was ebenso zynisch ist! … Viele ignorieren: Was unheilvoll und sinnlos im Quadrat ist! … Und viele schwanken: Hierhin oder dorthin? … Sollen wir Vorräte für den Atomkrieg bunkern? … Oder sollen wir in Haus und Garage, in aller Gewohnheit und aller Bewegtheit auf grüne Zukunft setzen? … Letze Kräfte vorm Verhängnis mobilisieren oder in der Dynamik der gekommenen Stunde „Auf zum Wagnis“? ————
„Sie werden zu euch sagen: Siehe, da! oder: Siehe, hier!
Geht nicht hin und lauft nicht hinterher!“
Wenn wir nur für uns wären, wenn wir einfach nur rätseln und uns den Kopf blutig kratzen müssten, wo wir in der Zeit stehen – vor einem Umschwung und Neubeginn? oder vor dem letzten ungerührten Wimpernschlag, der Armageddon bringt? –, dann müssten wir jetzt wirklich fliehen, … hierhin oder dorthin: In die flatternde Aktion – und natürlich müssen wir (verdammt noch mal!) handeln! – … oder in die totenstarre Passivität – und natürlich müssen wir (so wahr uns Gott helfe!) auch bereit dazu werden, Verluste und Leiden anzunehmen.
Wenn das aber - so oder so - unsere einzige Wahl wäre, um der Orientierungslosigkeit dieser Zeit und der Spannungsentladung dieser Welt zu entkommen, wenn wir also im rüttelnden und schüttelnden Wirrwarr des Heute herrenlose Teilchen, zentrifugale Partikel wären, die es entweder in’s eine oder in’s gegenteilige Extrem schleudert und drückt …, nun, dann wäre Jesus Christus eine Illusion: Es gäbe ihn nicht. … Wenn wir heute haltlos wären, hätte es ihn nie gegeben.
……. Denken wir aber an das sonderbare, so fraglos als selbstverständlich abgenutzte Bild vom Kreis und seinem Mittelpunkt!
Egal, wodurch es aufkam, egal, wer es zu einer festen Vokabel in der Sprache Kanaans, dem Jargon der Kirche machte: Das Bild vom Kreis sagt uns unüberhörbar: „Ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten und Apostel geredet haben (vgl. Lk.24,25)!
Christus ist der Mittelpunkt, und darum kann es keine Fliehkräfte geben, die euch in die Extreme jagen, die euch aus dem Kraftfeld und der Umlaufbahn des lebendigen Erlösers reißen oder euch anders chaotisch zerstreuen!
Jesus Christus ist die Mitte des Kreises aus Menschen und Zeiten, zu dem auch ihr gehört.
Jesus Christus ist die unverrückbare Mitte, die jeden und alles zusammenhält.
Jesus Christus ist der eine, unentbehrliche, unersetzliche, aber auch wirklich unverrückbare Punkt, der der Gesamtheit aller Ereignisse und Veränderungen, aller Aufschwünge und Abschiede ihre sinnvolle Ausdehnung und ihre vollendete Gestalt gibt.
Jesus Christus ist das Zentrum, aus dem Raum und Zeit ihren Verlauf herleiten und durch das sie unlösliche, gleichbleibende, ewig konstante Verbindung behalten. ———
……. Doch Jesus geht noch einen Schritt weiter!!! Einen unglaublichen Schritt!!!
Und das nicht etwa seinen Jüngern gegenüber, denen er versichert, dass der große und endgültige Tag der Vollendung nicht versäumt werden kann: Ohne jeden Zweifel sollen sie ihn sehen und erleben – den Tag, an dem der Menschensohn das Ziel der Menschengeschichte bringt durch sein endgültiges Erscheinen vom Himmel her. Dieser Tag, an dem die Mitte den ganzen Kreis erleuchten und durchdringen wird, … dieser Tag, den die Jünger und alle Menschen gleichzeitig erfahren werden, ist der Tag, auf den auch wir noch warten. … Amen: Möge es bald sein!
Jesus aber geht noch einen Schritt weiter … und zwar gegenüber den Pharisäern, den treuen, messianisch erwartungsvollen, vor ihm jedoch zurückhaltenden Trägern des echten Glaubens Israels. Ihnen sagt Jesus zu, dass ihre verzehrende Hoffnung auf die Verheißung, ihre Sehnsucht nach der Gegenwart Gottes, ihre Bitte, alle Not zu überwinden und ihre Vorfreude drauf, alle Herrlichkeit zu erlangen tatsächlich in der Mitte schon fest, schon sicher gegeben und realisiert sind, … dass das Reich und der Messias und der Frieden und das Leben schon „da“ sind. In der Mitte des Kreises, … die ja für alle, die in den Kreis der Welt und ihrer Wirklichkeit gehören, auch die eigene Mitte ist!
„In Eurer Mitte ist es da!“, sagt Jesus den zwischen ungeduldiger Heils-Eile und banger Furcht-Flucht hin- und hergerissenen Pharisäern.
… Manche übersetzen: „In Eurem Innern ist es.“
Den Pharisäern sagt Jesus das. Und also uns!
Das Reich Gottes – alles, was wir hoffen, erwarten und erbitten können, die Freiheit und Seligkeit, der Frieden und das wahre Ziel, die höher sind als alle Vernunft: Sie liegen in uns!!! ———
Wenn wir das hören und bedenken, wenn es uns im Wort Jesu begegnet und durch Seinen Geist in uns aufgeht, wenn der Geist uns diese Wahrheit in unserem Innersten tatsächlich enthüllt, … dann steht die Zeit still. Die Konflikte zwischen Eifer und Panik, zwischen Zweifel am Ganzen und Bereitschaft zu Allem verlieren ihre tödlichen Zug- und Schubkräfte.
… Nicht weil uns die Welt nicht mehr anginge. Nicht weil die Probleme, Schrecken und drängenden Forderungen unserer Tage – die amerikanischen Zwischenwahlen heute, die Klimakonferenz in Ägypten, die bevorstehende Schlacht um Cherson – gegenstandslos würden. Sondern weil sich die Mitte, die alles hält und deren Halt und Harmonie nichts jemals endgültig entgleiten wird, dann auch in unserer kreisenden Bewegung, in unserem und in allem noch so zerrissenen Leben bemerkbar macht.
… Tief unter dem wogenden Hin und Her ist das Reich da.
… Reich ist der Frieden in dieser Tiefe.
Und doch ist diese Tiefe nicht fern.
Wir müssen sie nur nicht in weiter Entfernung, an den Rändern der Zeit, in den Verwerfungsfalten der Materie oder in den Zufällen der zurückliegenden und sich immer noch ver- und entwickelnden Ereignisse suchen.
Wir brauchen gerade nur gerade zu sein.
… Ruhend.
… Mit gefalteten Flügeln … nicht mehr treibend im Sturm und rudernd auf der Oberfläche. Einfach nur zentriert, … kon-zentriert aus der Mitte, die dem gesamten Weltkreis und dem Zeit-Raum aller Geschichte jenen Zusammenhalt einstiftet, der nicht vergehen soll.
Unser Leben im Kreis aller anderen ist gegründet.
Wir sind in uns selbst gehalten vom Erhalter.
Nicht außerhalb, nicht jenseits, sondern hier in Dir und mir ist der Vollender vollkommen da.
Sein Reich, das kommt, ist da.
Wohl denen, die dieser Frieden innen erfüllt und von allen äußeren Seiten umfasst, … dieser Frieden, der in uns und allem anderen der Grund ist und die Ewigkeit.
Amen.
[i] Das „dritte“ oder mannweibliche Ursprungsgeschlecht des Menschen bedingt seine Kugelgestalt im Mythos des platonischen Dialogs „Symposion“ (189c – Platon, Sämtliche Werke - Griechisch und Deutsch nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, hgg. v. K.Hülser, Bd. IV, Frankfurt/M – Leipzig, 1991, S.99).
20.Sonntag n. Trinitatis, 30.10.2022, Stadtkirche, Hohelied 8,6b+7, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 20.n.Trin. - 30.X.2022
Hohes Lied 8, 6b+7
Liebe Gemeinde!
Was ich niemals gutheiße, niemals ertrage, niemals teile, … hier und heute muss ich’s ausnahmsweise tun: … Hallowe’en betrachten. Die furchteinflößende Dunkelheit, die dem Endzeitmonat November vorausgeht, … Totentanz, … Geisterstunde, … Fest der ruhelosen Seelen, die dem Gericht unterliegen. ——
…… Nicht, dass ich Lust am Karneval des Grauens oder am Rausch der Verdammnis hätte. Es ist niemals ein Spaß, das Reich des Zwielichts zu betreten und freiwillig die Qual der Unerlöstheit nachzuempfinden. Und es ist niemals ungefährlich, die uns - Gott sei Dank! - meist verborgene Welt des Bösen, die Abgründe aller Verbündeten des Todes, die dämonische Sphäre der beabsichtigten Totalvernichtung des Guten aufzustören. … Es ist und bleibt höllisch ungut, mit der Hölle Allotria zu treiben.
Doch wenn es morgen überall von Polter- und Foltergeistern wimmeln wird, wenn Verwesung als Schminke und Seelenpein als Kostüm erscheinen, wenn die ungreifbaren Boten eines letzten Schreckens, eines letzten Feindes als Gäste und Tanzpartner durch Straßen und Häuser ziehen, dann wird diese gespenstische Party des Todes und der Verdammnis so erschüt-ernd und ernüchternd nah an der Wahrheit sein, dass einen tatsächlich nur das Grauen packen könnte. Oder das verzweifelte Mitleid eines Menschen, der weiß, dass der Abwehrzauber, den das Angstfest darstellt, nicht wirkt und auch nicht verbirgt, dass auf dem Maskenball, der „Hallowe’en 2022“ heißt, tatsächlich Sünde, Tod und Teufel mit-mischen, den Reigen anführen und unerkannt um uns herum immer rasender wirbeln.
… Alle die lächerlichen Unterwelt- und Spukgestalten sind ja in die Wirklichkeit hinein aus den Friedhöfen der Vergangenheit aufgestanden: Der mörderische Hass, der die Menschheit kannibalisch bis zur Selbstzerfleischung macht, … die giftmischende Lüge, die lieber auf den Sensenmann ihren Toast ausbringt als auf die spielverderbende Vernunft, … die apokalyptischen Vampire, die durch den besessenen homo sapiens der Natur das Blut aussaugen, bis sie röchelnd sterben muss und die letzte Sonne den letzten Menschen zeigt, dass sie nicht nur fremdes, sondern das eigene Leben bis zum letzten Tropfen ausgezehrt haben.
»Das Ende aller Dinge«, »die endgültige Schuld und Verlorenheit« steht also als Motto über dem Hallowe’en-Geschehen am Ende der Pandemie, in den Anfängen irrer Kriegseskalation und auf dem Scheitelpunkt der Umweltvernichtung. ———
Doch auf der Kanzel ist nicht der zynische Prediger Salomo aufgeschlagen, der dürr und trocken wie ein Totenkopf nur „Alles ist eitel und Haschen nach Wind“ zischt, sondern der junge, verliebte, an die Schönheit und Lust sich verlierende Salomo, … der Sänger des Hohen Liedes.
Wir sollen also wohl zu Hallowe’en doch nicht den danse macabre der Generation „Weltuntergang“ oder der vorigen Generationen – meiner Generation und der sattgesogenen Nachkriegsgeneration, die alles im Überfluss hatten und verschleudern – tanzen, sondern den heute so befremdlichen Tanz der Lebensfreude und der unschuldig hingerissenen Daseinsbejahung.
Wir sollen statt des Jammerns und Heulens der armen Seelen die Liebeslyrik der jungen Körper, die einander gehören und genießen und so neues Leben zeugen, als die Melodie des Glaubens in der Katastrophe dieses Jahres anstimmen.
Obwohl es also so viele Vorzeichen des Untergangs gibt, sollen wir Hirn und Herz dem paradiesischen Anfang und dem Paradies als dem endgültigen Ziel zuwenden.
Nicht Hallowe’en also, sondern die wirklich christlichen Feste, die das schöpferische Geschenk des Lebens, das rettende Gericht der Liebe über die Menschheit und das herrliche Zukunftsversprechen Gottes begehen, … die sollen wir heute feiern.
– Welche das sind? – Weihnachten. Karfreitag. Ostern. Und sie alle zusammen ergeben als das Fest der fleischgewordenen Liebe, die Sünde und Tod besiegt, das große bevorstehende Fest: … Den Jüngsten Tag – den Tag der Erlösung, der alles zurechtbringt und die Welt zum Reich Gottes hin vollendet. ——
Weshalb wir das feiern sollen, obwohl es doch so düster und drückend über uns liegt und sich in aller Welt so tödlich zusammenbraut wie beim koreanischen Hallowe’en gestern?
– Weil die ganze Bibel - und das heißt alle alten und neuen, alle erfüllten und offenen, alle geschehenen und alle verheißenen Worte und Taten Gottes – in dieser einen Wirklichkeit zusammengefasst werden können, die wir eben noch besungen haben (EG 401): Sie alle zusammen – das Vergangene, das Gegenwärtige und das ewig Bleibende – bezeugen die „Liebe“, ……. die Liebe, die uns erkoren und geboren hat, die für uns gestritten und gelitten hat, die für uns starb und uns erwarb, die uns an sich bindet und überwindet, die uns das Beten und Stellvertreten schenkt und die uns auferwecken und ewig zu sich ziehen wird.
Dieses Rühmen und Feiern, dieses sich Festmachen und Festhalten an der Liebe Gottes ist das Herz unseres Glaubens. … Nicht sein Gefühl, sondern seine Philosophie, weil das Herz für die Bibel nicht der Sitz des Sentimentalen, sondern die Schaltstelle von Gehorsam und Denken, von Wille und Verstehen ist.
Das Herz unseres Glaubens besteht also im Wahrnehmen, … im strengen Sinne des „Für-wahr-Nehmens“ der Liebe Gottes. ———
… O Pardon! – Das ist aber doch kitschig. Kitschig und naiv. Genauso stellen sich die Millionen, die am Glauben nichts finden können, seine ewig gleiche Leier und Harmlosigkeit vor. Glaube ist kuhäugige und wiederkäuende Dämlichkeit, die nicht mitkriegt, was ist, sondern unablässig an etwas mümmelt, das längst welk wurde und das die meisten schon wer weiß wie gründlich ausgeschieden haben. … Liebe … das ist doch Schnee und Stroh von gestern. Längst geschmolzen und verbrannt. Es gibt sie doch gar nicht in einer Welt, die überwiegend von Gewalt und Gewinn, von Kalkulation und Kampf geprägt wird und günstigstenfalls von unserer Technik und Logik verbessert. Die daneben noch immer nicht erledigten Reste der Liebe haben wir familiär gezähmt oder sexuell freigegeben, … haben sie als eine Begleiterscheinung der Kindheit eingestuft, vergleichbar den Milchzähnen, oder als eine senile Wunschvorstellung, wenn die sechzig, siebzig Jahre der stolzen, erfolgshungrigen Eigenverantwortung und Hochleistung nachlassen und der erfolgloser werdende Machermensch einen Pflegeroboter braucht. Liebe hat keinen Platz in unseren Vorstellungen. Und in dem, was um uns herum geschieht, wird sie ständig, … ständig sogar noch immer stärker widerlegt.
… Aber wiederum: Pardon! Ist denn die Bibel wirklich naiv?
… Die Bibel, die beginnt mit dem Misslingen der paradiesischen Grundlagen, die Gott legte? Ist die Bibel harmlos, die das Unhaltbare an den gewaltigen Errungenschaften und Zerstörungen des Menschengeschlechtes - so peinlich für den Herrn der Welt! - schonungslos thematisiert?
Ist nicht die Bibel die Urkunde, in der von der Bosheit und Härte des Menschenherzens so unschmeichelhafte Kostproben gegeben werden und so zermürbende Zeugnisse sich häufen? Enthält nicht die Bibel die beißende Klage von der schauerlichen Liebesunfähigkeit und Liebesverachtung unserer Spezies? …. Die Bibel ist doch gerade nicht der Groschenroman, der alles erstickt unter der klebrigen Vanillesoße falscher Gefühligkeit. Denn die Botschaft der Bibel feiert die Liebe ja gerade nicht als die simple Antwort auf alle Fragen und die automatische Lösung aller Probleme. … Sondern sie schildert die Liebe als den Widerstand, den unsere menschliche Wirksamkeit und Wirklichkeit hervorruft: Den Widerstand Gottes.
Weit entfernt davon, dass die Bibel eine kleine Heile-Welt-Musik wäre oder ein Trostpflaster für alte Tanten, deren klappriges Nervenkostüm diesen wärmenden Wickel braucht, … weit entfernt auch von dem, was man ihr am längsten schon anhängt: Legalisiertes Cannabis zu sein, das beim Konsum so schöne Dinge simuliert und dabei doch nur schleichend und lähmend verblödet … weit entfernt also von allem menschlichen Liebesschmu, ist die Bibel zuallererst das Dokument des Kampfes, den Gott gegen das Böse und gegen die Gleichgültigkeit gegenüber dem Guten führt. Sie ist das Dokument eines Kampfes, in dem Gottes Waffe die Liebe ist.
Weil schon die Sintflut bewiesen hat, dass Zorn nur vernichtet, nicht aber rettet, ist die Geschichte dieser Erde - die Geschichte, die seither unter dem Bundeszeichen der verschonenden und langmütigen Liebe Gottes steht, von dem die Schriftlesung heute berichtete (vgl.1.Mose 8) - tatsächlich die ständige Abfolge der Gegenreaktionen Gottes auf die Unbelehrbarkeit und Unbekehrbarkeit der harten Menschenherzen. Gott setzt gegen das, was wir tun, was wir lassen, was wir verbrechen und verweigern, was wir durchsetzen und was wir zerstören, bei aller strengen und ernsten Warnung vor den Folgen unserer Rücksichts- und Ehrfurchtlosigkeit doch immer weiter, immer tiefer Seine Liebe ein. Er hat geschworen, dass der Bund Seines Friedens nicht hinfallen soll, … der Bund, den Er zuerst Noah zusagte und den Jesaja dann ausgerechnet im Strafgericht in Babel doch nur als eine einzige Liebeserklärung (vgl.54,10) schildern konnte, … den Bund, den Gott endgültig besiegelt und universal bekräftigt hat gerade da, wo die Gewissen- und Sinnlosigkeit restlos herrschte, als Pontius Pilatus Einen kreuzigen ließ, den er angeblich nicht einmal für schuldig befand.
Gott hat geliebt, wo niemand liebte.
Gott liebte, als reiner Hass sich auf Ihn richtete.
Gottes Liebe ließ sich töten, aber sie ließ sich nicht besiegen.
Gottes Liebe starb, um stärker als zuvor und umfassender noch aufzuerstehen! –
Das ist die Weltbejahung und die Lebensfreude, die wir gerade auch in unserer verfinsterten Zeit, in der dämonische und satanische Gefahren die Zukunft radikal in Frage stellen, feiern sollen. Wir sind ja eben die Zeugen einer Liebe, die nicht harmlos, sondern wehrlos … und gerade darin der Gewaltwelt überlegen ist.
In ihrer Verweigerung des Hasses ist sie dem Hass unendlich, ja uneinholbar weit voraus.
Sie hat das Ende, das er bringen will, an dem er zündelt, mit dem er droht und das er tatsächlich riskiert, schon hinter sich.
Der Hass will die Liebe Gottes zu Seinen Geschöpfen groß und klein, zu Erde und Menschheit auslöschen. Doch die göttliche Liebe, die Seine Feinde wie Seine Kinder umfängt, ja, die Seine Feinde als Seine Kinder betrifft, ist genau das nicht: Sie ist nicht endlich! … Sie kann nicht unter- oder ausgehen, sie kann nicht weggerissen oder aufgelöst werden.
… Sie ist so völlig, sie gilt so gänzlich, sie bleibt so unverbrüchlich, weil sie nicht altern kann, da sie ewig ist, … durch alle Jahrtausende und ihre Wechselfälle, durch alle Katastrophen und Rebellionen, durch alles Unheil und durch alle Abnutzungskriege hindurch bleibt die Liebe, die ohne Verfall ist, weil sie Gott ist, vital.
Und darum endet das Buch von der ganz natürlichen jungen Liebe – die schöne Sammlung der unverkrampften, erotischen Liebeslieder Salomos und Sulamiths – mit den Versen, die zwar wie der Schwur und die Beschwörung zweier Menschenherzen klingen, aber doch zeigen, dass es hier noch höher und noch tiefer, noch weiter und noch wundervoller geht, als unter uns:
Was bei uns vom Herzenklopfen zum Hochzeithalten und zum Honigmond führt, … was Vertrauen und Vertragen und Vergeben stärkt, … was in geteilten Lebensjahren und gemeinsamem Lebensabend und individuellem Lebensende bei uns dann schließlich nach der Zunahme und Reifung auch die Vergänglichkeit der Liebe bringt – nämlich, dass sie die Liebe sterblicher Menschen ist, die darum auch sterben muss – das wird hier nicht beschrieben.
Nicht die Leidenschaft von Menschen, die flackert und nicht die Treue von Menschen, die halten kann und soll, bis der Tod sie scheidet, wird am Ende des Hohen Liedes besungen.
Sondern die Liebe, deren Stärke es mit der Finalität von Tod und Totenreich aufnehmen kann.
Die Liebe, die durch keine Wasser und keine Flut - durch keine Sünde und keine Gewalt der Vernichtung - vernichtet werden kann.
Die Liebe Gottes wird in diesen wenigen Worten des Hohen Liedes besungen.
Sie beendet die Geisterfahrt dieser Welt in den Tod. Denn sie ist der Welt zuvorgekommen, indem sie aus dem Tod das Leben hervorbrachte.
Im Ernst müssen wir also auch in noch so schwerer und sorgenvoller Zeit nie ein Fest der Angst vorm Tod, vor der Qual der Unerlösten oder der Wiederkehr des Vergangen-Geglaubten im Geist bewegen.
Was uns allein bewegen soll, ist die Liebe, … stark wie der Tod. Siegreich für alle!
… Jesus also, von dem es heißt: „Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, würde man ihn verachten?“
… Würde man ihn verachten?
… Ihn, der nicht nur in Nazareth, sondern bei seinem Vater alles aufgab, … der nicht daran festhielt, Gott gleich zu sein, sondern sich erniedrigte in Knechtsgestalt bis zum Tod am Kreuz, … ihn, den der Vater darum auch erhöht hat und ihm den Namen gab, der über alle Namen ist, damit im Namen Jesu sich beugen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind und alle Zungen bekennen, dass Jesus der Herr ist zur Ehre Gottes, des Vaters (vgl. Phil 2, 6-11)?!
Ihn, der alles aufgab, verachten? … Stark wie der Tod. Sieger für alle.
… Niemals!
Sondern lieben!
Amen.
15. Sonntag nach Trinitatis, 25.09.2022, Stadtkirche, Galater 5, 25 - 6, 10 , Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 15.n.Trin. - 25.IX.2022
Galater 5,25 - 6,10
Liebe Gemeinde!
Was passiert, wenn Menschen aus einem Modus – einer Art zu denken, zu leben und sich zu verhalten – in einen anderen Modus fallen, das ist in Galatien geradezu lehrbuchmäßig zu besichtigen. Doch bei diesem abrupten, überraschenden Wechsel der Galatergemeinde von einer Rahmenordnung ihres praktischen und geistigen Daseins in eine andere, geht es nicht um eine historische oder soziologische Studie. Es geht darum, was unserer Welt, was uns als Zeitgenossen gerade insgesamt geschieht: Das Umschalten vom Geist aufs Fleisch, die Ausrichtung aller Maßstäbe nicht mehr in Annäherung an gottgemäße, sondern an gegengöttliche Ideale. Dieses Umschalten findet heute statt. Es ist das Zeichen unserer Zeit: Wie einst die Galater verfallen wir Menschen der Gegenwart aus einer erstaunlichen Freiheitserfahrung in erstaunliche Zwangsumstände, … aus einer geringgeschätzten Friedfertigkeit in eine hochgefährliche Roheit der Gewalt.
Der Moduswechsel, der dieser Welt gerade widerfährt, ist also wahrhaftig schlaf- und atemberaubend, … aber gewiss nicht beispiellos: Schauen wir also nach Galatien.
Galatien war der Wilde Westen des alten Ostens. Es war zivilisationsjunges Pionier- und Migrationsgelände. Auf der anatolischen Hochebene, die offen wie die Prärie liegt, hatten wandernde, kriegslüstern-abenteuerliche Keltenstämme auf ihren Beutezügen und Fluchtwegen sich seit zwei-, dreihundert Jahren zusammengefunden: Diese „Gallier“ Vorderasiens, die „Galater“ standen also nicht in der altgriechischen oder in der neu weltmächtig-römischen Ökumene der Kulturen, sondern sie waren und blieben Barbaren. Ihre einstweilige Integration in den hellenisierten Vorderen Orient war eine strategische Option und keine Zähmung. Mehr als die geistige Weltausstrahlung Athens imponierte ihnen jedenfalls die militärische Dominanz Roms.
……. Ausgerechnet unter diesen grobschlächtigen Stämmen der Galatern Missionserfolge erzielt zu haben, war für Paulus also eine bemerkenswerte Erfahrung.
… Doch seine Erfolgserfahrung sollte nicht von Dauer sein.
Die verlockende Mission des Heidenapostels, der den keltisch-kämpferischen Galatern das Ende aller Gehorsams-, aller Unterordnungskultur brachte und ihnen die Liebe Dessen eröffnete, Der für uns alle den letzten, bittersten Zwang - den Tod - getragen und durch Seine Freiwilligkeit dabei diesen Zwang schließlich aufgelöst hat … – diese Mission des Paulus elektrisierte die Galater nur eine Zeitlang.
Bald spürten sie, dass die Großzügigkeit der göttlichen Liebe und die Weite des göttlich-globalen Gnadengeistes eine überraschende Unsicherheit bedeutete:
In der Eigenverantwortung eines geliebten Menschen zu stehen, ist anstrengender, als fremde Befehle auszuführen.
Wen Gott frei auf die Botschaft Seiner Liebe antworten lässt, der wird stärker herausgefordert als jene, die aus irgendeiner Nötigung etwas müssen.
Der Geist Gottes will in einer persönlich-lebendigen Wechselwirkung mit den Glaubenden stehen, während bloß Unterworfene sich ja gedankenlos wie Gegenstände durch den Willen eines Anderen von außen bewegen lassen können.
Die eigene geistliche Beteiligung, diese Freiheit und Selbständigkeit des Lebens in Beziehung auf den Geist, wurde den Galatern daher rasch mühsam.
Sie fielen zurück … nicht in eine angeblich blinde jüdische Gesetzlichkeit, die aller tiefentschlossenen Frömmigkeit des eigenwilligen Volkes Israel wirklich fremd ist, sondern in die Bequemlichkeit ausführender Organe: „Gib uns eine Moral; gib uns Normen; gib uns einen Kodex, einen Drill, eine Marschordnung“ … so mag es in den einzeln zügellosen und deshalb als Gemeinschaft besonders dressurwilligen Galatern geklungen haben. „Häuptling befiehl, wir folgen!“ …
Die ersten keltischen Clanangehörigen, die in Galatien Christen geworden waren und im Christentum das Regelwerk und die Erkennungszeichen vermissten, die z.B. die Beschneidung in der jüdischen Gemeinde darstellte (vgl. Gal.5, 3ff), wollten also lieber Kommandoklarheit als die Last der getauften Mündigkeit.
„Zur Freiheit hat Christus uns doch befreit“, rief ein entsetzter Paulus ihnen da in seinem Brief (5,1) zu: Warum drängt ihr euch denn nach Abhängigkeit? Warum wollt ihr wieder nur stupide nach Vorschrift leben und nicht inspiriert, nicht unbefangen, als Menschen, die sich im Glauben als Gottes Kinder erfahren, die Er nicht bevormundet, sondern zu Einsicht und eigenem, geistgelenktem Urteil bevollmächtigt?!
Warum?
… Weil der Modus der Unterwerfung, der Modus der Unselbständigkeit, der Modus des Mitmachens so viel einfacher ist. Als Massenmensch, … als Mensch im Sog des Vorgegebenen, … als Mensch, der nicht viel denken muss, da bist Du einfach Fleisch. Fleisch ist ein anderes Wort für „Ich“. … Und gerade die Unselbständigen, die reibungslos Konformen sind trotz ihrer Ununterscheidbarkeit lauter „Iche“: „Ich will nur durchkommen. Ich will nicht abschmieren. Ich will für mich wenigstens auch mein bissl Platz an der Sonne und Ruhe in Frieden und Preis für Fleiß genießen. Ich störe sonst keinen und also soll mich auch keiner stören. Ich und mein Fleisch: Wir bleiben im Rahmen, wir nehmen, was wir kriegen und uns zusteht … und gut ist’s.“
… Der Geist dagegen: Der Geist stört das Ich. Der Geist ist ja die Liebe.
Der Geist verbindet und versöhnt … und schon hat die liebe Seele keine Ruhe mehr.
Der Geist macht - weil er Gnade ist - gnädig … und schon ist im Denken und Fühlen alles kompliziert aufgeweicht, das gerade noch so quadratisch, eckig, ordentlich war.
Der Geist bricht aus der Gewohnheit, … der Geist spricht für die Unerwünschten, … der Geist traut der Hoffnung, … der Geist hält die Tür auf, … der Geist schließt das Herz auf, … der Geist öffnet uns die Augen, … der Geist bewegt die Erde, … der Geist wirbelt den Staub und stößt die Gewissheiten um, … der Geist braust im Neuen …
… Der Geist redet anders, … der Geist weiß es anders, … der Geist macht es anders …
… Der Geist heilt die Herzgelähmten, … der Geist leert die Gefängnisse der Gewohnheit, … der Geist verteidigt die längst Abgeurteilten, … der Geist befreit die Unterdrückten, … der Geist weckt die Kinder, … der Geist spürt das Abenteuer, … der Geist kennt die Braut (vgl. Offenb.22,17!) und lädt die ganze Welt unangekündigt und unsortiert zur Hochzeit …
… Der Geist ist das Leben im Sturm, … der Geist ist das Menschliche, das entflammt, … der Geist ist die Sehnsucht nach Allen in Allem. ———
Und darum wollen die Galater den Geist nicht mehr spüren müssen. Sie wollen ja nur selber gerettet und gesichert sein, aber doch nicht noch das ganze Leid der Erde mitbewegen, bis es nachlässt und überall alles gut wird.
Es selber gut haben, … gut sein.
Nicht mehr. Nicht weniger.
Das pure Fleisch.
Dagegen der irrwitzige Geist heißt: Sich kümmern. Wenn ein anderer Mensch kämpfen muss, … dann sich nicht feine raushalten, sondern darauf einlassen: Auf Schmerzen, die man selber gar nicht hat oder haben könnte. Auf Trauer, die einen nicht im Leisesten betrifft. Auf Schuld und Tragik, die man sonst im weitesten Abstand umgeht.
Solche Geduld mit den Problemen anderer, solche Sanftmut bei den Verfehlungen, bei den Fehlschlägen im Leben fremder Leute: Das ist nichts für uns Galater! Da kümmern wir uns doch besser um die eigene Bilanz, die eigenen, ja auch nicht immer einfachen Belange. Her mit den knallharten Spielregeln und weg mit dem ganzen weicheierigen Mitleids-Kram! ——
Dieses wiederholte Hin und Her, dieses Pendel, das immer wieder vor und zurückschwingt zwischen der empathischen Nächstenliebe, der offenen Gemeinschaftsfähigkeit, die der Heilige Geist bewirkt, und dem natürlichen Instinkt, sich auf den unbarmherzigsten Egoismus zurückzuziehen, … diese Verschiebungen dessen, was wir den Modus nannten, die sind wahrlich nicht bloß eine Anfangsverunsicherung aus den Tagen der ersten christlichen Mission.
Die Bereitschaft zum Ergreifen und Ertragen der Last der anderen – und nichts sonst verbirgt sich ja im Geheimnis des in uns gegenwärtigen Geistes Gottes – war nie selbstverständlich … auch im sogenannten „christlichen“ Abendland nicht, das man vom keltischen Westen bis zur galatischen Hochebene sich erstrecken sehen mag.
Die Natur des Menschen - sein Fleisch - hat stets gegen die unnatürliche, die übernatürliche Herzlichkeit und Menschlichkeit des Heiligen Geistes rebelliert: Die „Anderen“ waren immer die geborenen Feinde, unwillkommene Eindringlinge, unliebsame Rivalen. Das Eigene schien uns immer größer, weil ja schließlich der Fingerhut, den man sich dicht vor Augen hält, die höchsten Gipfel des Kaukasus, des Taurusgebirges oder der Alpen verdecken kann.
Aber jene mehr als natürliche, jene übernatürliche Gemeinschaft, die der Geist begründet hat, seit Maria durch Ihn den wahren Menschen zu empfangen bereit war und seit der Sohn der Maria in der Taufe dann selber durch den Geist Seinen göttlichen Vater erfuhr … diese Gemeinschaft, die der Geist zwischen Gott und der Menschheit immer schon schenkt und in Jesus besiegelt hat, … diese Gemeinschaft, die wir die Kirche nennen und in der nicht das fleischliche Einzel-„Ich“, sondern das geistliche Band, das uns alle zu einem in lebendiger Liebe verbundenen Leib macht, …diese Christusgemeinschaft, diese Gemeinschaft der Christen hat im ganz Großen und im ganz Kleinen auf ganz andere Weise den Samen der menschlichen Zukunft gesät, als die Einzelkämpfer, die nur Zwietracht auf’s Feld bringen.
Denn bei allem, was man Schlechtes über die Folgen des Christentums, seiner Willfährigkeit, Blindheit und Taubheit sagen kann, stimmt dennoch, dass in der ganzen Welt kein vergleichbares Ideal gepredigt, geglaubt und geübt wird, wie das Gesetz Christi, das Liebe fordert, weil es Liebe voraussetzt (vgl.Gal.5,14).
Diese Liebe aber – praktiziert im Weltmaßstab und im Privatleben von Abertausenden, die vor uns und um uns herum getauft sind und den Geist der Menschenfreundlichkeit, der Sanftmut und der Wohltätigkeit empfangen haben und durch sich wirken lassen –: Sie ist in Gefahr! … Der Modus geht verloren:
Der christliche und der aus dem Christentum gespeiste, säkularisierte Modus der Geduld, der Güte und Gnade, der geistliche Modus auch im politischen Gewand der Grundrechte eines jeden, der Gleichstellung aller, der Großzügigkeit gegen die „Anderen“ … er ist in akuter Gefahr: Wie die Wälder im Feuer, wie das Eis in der Schmelze, wie die Hoffnung im Unwetter des Hasses, so verschwindet das, was die Gemeinde Jesu Christi in die Welt zu säen und zu pflanzen hatte.
Doch mehr denn je gilt, dass wir uns nicht irren dürfen, weil Gott sich nicht spotten lässt:
Was der Mensch sät, das wird auch seine Ernte werden.
Wenn die geistlose Ideologie, dass man sich um fremde Lasten drücken könne, sich um fremdes Leid nicht scheren müsse und nur die eigenen Belange kultivieren dürfe, weiter um sich greift, dann droht noch Schrecklicheres, als das jetzt schon erkennbare Unheil der rein weltlichen, rein fleischlichen Epoche, in der wir uns finden.
Schon jetzt dreht sich der materialistische Mensch - der Mensch ohne Geist - nur um sich selbst: Die eigene Wirkung, das eigene Wohlergehen sind die alleinigen Motive des großen Geistlosen, des kleinen Herzlosen unserer Tage.
Und was der Einzelne in der einsamen Eitelkeit seines Daseins als Ersatz für die Liebe und als Mittel gegen das Mitgefühl einsetzt, das wird im grausamen Klimawandel der nationalen und der internationalen Verhältnisse in weit furchtbarerem Maße angeheizt:
„Alles für uns, nichts für die anderen!“
„Groß sind nur wir! Möge jede Erscheinung daneben verschwinden … buchstäblich!“
Diese krankhaften Haltungen, die als Spitze des Eisbergs in einem Krieg gipfeln, der uns das Entsetzen und das Fasten und Beten lehren muss, … diese krankhaften Haltungen des „Ich ohne die Anderen“ würden das Ende der Menschheit bedeuten, wenn sie weiter ungebremst um sich griffen.
Der Wechsel vom Versöhnungs- und Verständigungsmodus, der seit 70 Jahren in den Vereinten Nationen trotz aller Konflikte ein Maßstab war, zum Modus der Verneinung und Vernichtung würde weltweit bedeuten, was schon in Galatien drohte, als sie den Heiligen Geist zugunsten des Eigensinns verschmähten:
„Wer auf sein Fleisch sät, der wird vom Fleisch das Verderben ernten.“
…….
Doch so endet die letzte Predigt vor dem Erntedanksonntag nächste Woche nicht!
Trotz aller Bedrohung, trotz aller Warnung von Galatien damals bis nach Italien, wo man heute die Wahl hat, … von Moskau bis Peking: Wir leben in jener Welt, in der Jesus Christus durch den Heiligen Geist empfangen wurde – das ist das wichtigste politische, soziale und physische Geschehen aller Zeiten! –; und damit leben wir in jener Welt, in der allen Menschen die Gnade eröffnet ist, durch den Glauben an Jesus und durch die Gabe des Geistes statt der Zukunftslosigkeit des Fleisches das bleibende Leben zu erfassen.
Noch haben wir Zeit.
Noch können wir Gutes tun, … Gutes hoffen, … Gutes bewegen, … Gutes erbitten, … Gutes gönnen und Gutes ernten.
Säen wir darum auf den Geist … und warten getrost auf das Erntdedankfest, das kommt!
Amen.
13.Son. n. Trin., 11.09.2022, Stadtkirche, 500 Jahre "September-Testament", Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 11.IX.2022 – 13.n.Trin.
500 Jahre „September-Testament“[i]
Liebe Gemeinde!
Was wollen wir hier wirklich feiern?
… Dass Gott durch ein Buch zu uns spricht?
… Dass Er die jahrtausendlang für den Menschen überlebensnotwendige Übung des genauen Hinhörens und dann den menschheitsgeschichtlichen Meilenstein der entlastenden Erfindung von Schriftzeichen nutze? Dass Er die erstaunliche Aleph-Betisierung der jüdischen Gelehr-ten, die in der Bronzezeit bei aller Bescheidenheit doch herrliche Techniken der Aufzeichnung und der Lektüre beherrschten, einsetzte, um weiter auf den erstaunlichen Wegen des Transports und der Speicherung der Heiligen Schriften Israels, ihrer Übersetzung in’s Griechische der edelschönen Wahrheit und dann ihrer verpflichtenden Anerkennung durch die Kirche, die sie für Europa verwestlicht, also lateinisch gemacht hat, schließlich mittelbar auch uns, die kaum noch lesekundigen Emoji-Stenographen am Ende des Abendlandes zu erreichen?
… Wollen wir feiern, dass Gott diese Heils- und Mediengeschichte so feinmechanisch abgestimmt hat, dass der Durchbruch zur Wortvervielfältigung durch bewegliche Bleibuchstaben und die historische Tiefenbohrung hinunter bis zu den Quellen just dann zusammentrafen, als ein alerter, dickschädeliger, seelenempfindlicher, verdammnisfürchtender und gnadendurstiger Eigenbrötler sich so aus der Schar der beruhigt Halbwissenden herauskatapultiert hatte, dass man ihn zur Deeskalation ein bisschen wegsperren musste, um in der Luftkur mitten im Thüringer Wald den ganzen öffentlichen, päpstlichen, kaiserlichen, humanistischen, reformatorischen Blut- und Wutdruck in den Griff zu kriegen?!
… Wollen wir also feiern, dass Buchdruck, Renaissance und Reichstagsärger dazu führten, dass die gesamte Offenbarungs-, Überlieferungs- und Übersetzungsgeschichte der Bibel in dem knappen Jahr von Luthers unfreiwilliger Sicherheitsverwahrung und Reha auf der Wartburg einen so idealen Kulminationspunkt erreichte?
… Und dass in diesem unwahrscheinlichen „Zufall“ so viel in der hebräisch-griechisch-lateinischen Bibel angestaute Energie auf den Überdruck, unter dem Luther stand, reagierte, dass alles sich in einem deutschen Urknall entlud, als das Jahrtausendwerk heiliger Altsprachlichkeit in nur 11 Wochen zu einem deutschen Neu-Bestseller wurde … zumindest in seinem damals, über den Jahreswechsel 1521/22 wie in Trance übersetzten und seit dem Frühjahr im Akkord auf zwei oder drei Wittenbeger Druckerpressen entstandenen neutestamentlichen Teil?! …….
Wollen wir wirklich diese Seite der medialen Geschichte feiern … und dann natürlich das Genie, das vor einem halben Jahrtausend in 80 Tagen die Welt endgültig bewegte, weil da-mals - „Boom!“ - die schönste, dynamischste, poetischste, emotionalste Übersetzung entstand, auf die wir stolz, stolzer, am stolzesten sind, weil sie mit Bachischer Musik und Klopstock’schen Rhythmen und Goethe’scher Lebendigkeit und Nietzscheanischem Pathos und Dibelius’scher Bürgerlichkeit bis heute in unserm Denken, Reden und Sein fortwirkt???!!!
……. Ich dachte, ich wollte.
Aber das ist eine dumme und betriebsblinde Sicht dessen, was die „Luther-Bibel“ - gerade zu 2017 noch einmal schön restauriert - bedeutet und bedeuten kann.
Die erhabene oder - schlimmer noch - die selbstverständliche Feier des O-Tons unserer „Luther-Bibel“, die so fruchtbar in sämtlichen Schichten unserer Glaubens- und Kulturvergangenheit gewirkt hat, wird durch solche Verklärung nur musealer.
Wir machen uns viel vor, wenn wir tatsächlich nicht zugeben, dass diese wundervolle, packende, berührende und inspirierende Sprachleistung Luthers heute nichts anderes ist als die sogenannten tausendjährigen Eier der chinesischen Küche: Wer dran gewöhnt ist, schwört drauf und liebt diesen einzigartigen Geschmack, den die Zeit hervorbringt, … wer’s aber nicht kennt, ist befremdet.
Nun spricht gar nichts dagegen – im Gegenteil: Alles spricht dafür! –, dass man neugierig gemacht und auch auf ungewohnten Geschmack gebracht werden kann.
Aber das Ziel dabei sollte nicht sein, dass wir die Grundlagen für den Deutschunterricht oder den Oratorienführer oder ein verständiges Geschichtsbewusstsein gewinnen und diese verwechseln mit einem theologischen Sinn.
… Einen besonderen theologischen Sinn als Text hat die sog. Luther-Bibel – an der neben Martin Luther zahlreiche und noch vertrauenswürdigere Köpfe als nur der seinige mitgewirkt haben – nicht!
Im Gegenteil: Luther hat mit seinem starken, für ihn und seine Zeit unvermeidlichen Eigensinn auch wirklichen Unsinn in die Bibel, besonders auch ins Neue Testament hineingetragen: Dass er alles, was ihm Evangelium zu sein schien, eigentlich nur an den Briefen des Paulus maß, … dass er sich - wie es in der Darstellung „welches die edelsten und rechten Bücher des Neuen Testaments seien“ heißt - lieber einen taten-, als einen wortlosen Jesus vorstellen wollte, … dass er schließlich ganze Bestandteile des neutestamentlichen Kanons in seiner Anordnung nach hinten verdrängte und nicht mehr richtig mitzählte, weil ihm diese Schriften zu praktisch oder zu prophetisch (und damit in beiden Fällen letztlich wohl: „zu jüdisch“!) vorkamen, … das ist ein so dreister und größenwahnsinniger Entschluss, dass es mir eigentlich vor solcher Hybris graut.
… Wie dankbar müssen wir nicht sein, dass es die praktische Botschaft der Bibel – die heutige Epistel, dass Gott die Liebe ist (1.Joh4,7ff) – gibt und dass diese universale und rettende Tatsache gerade in den Taten, den Speisungen, Heilungen und Tröstungen Jesu und in seinem Opfer für alle ohne Theorie greifbar, wahr und nachahmungsfordernd geworden ist! ——
Wenn wir also heute das „Septembertestament“ feiern, dann nicht um seiner geschichtlichen, literarischen oder auch ästhetischen Qualität willen und erst recht nicht, um Luther damit indirekt neben Homer und Shakespeare, neben Ernst Jandl und Friederike Mayröcker als gigantischen Sprachschöpfer auf einen Denkmalsockel zu stellen.
Er war Erzeuger und Hebamme, er war streuender Sporenpilz und gärende Hefe unserer Sprache und damit auch vieler unserer schönsten Lieder und zutiefst-vertrauten Seelenschätze, … daran besteht kein Zweifel.
Aber damit war er doch nur Schnitzer oder Schneider: Er hat eine Form, einen Schnitt, ein Gewand für die Bibel sauer erarbeitet oder begnadet spontan hingeworfen.
Der Inhalt aber ist etwas Anderes!
Doch der – der Inhalt! – ist es, den wir auch heute, bei der Erinnerung an eine große Übersetzungsleistung feiern wollen.
Um diesen Inhalt geht es ja auch jedes Mal, wenn uns eine Motette, ein Choral, eine Predigt eine Anspielung, eine rhetorische Figur, eine Erinnerung mit der urwüchsigen Kraft, der schwebenden Aura, dem spürbaren Puls oder auch nur dem leisen Nachklang der luther’schen Sprache berühren. Immer geht es eigentlich um das, was Luther nun tatsächlich selber nicht geschaffen und nicht geleistet, sondern in der Ergriffenheit der Übersetzungsfreu-de bezeugt hat: Es geht um DAS WUNDER, DASS GOTT SPRICHT.
Dass Gott nicht schweigt, ist ein – nein, wenn wir dem Schöpfungsbericht trauen, ist es das ursprüngliche und grundlegende – Wunder Gottes.
Gott könnte ja im Geheimnis, das Er ist und bleibt, verhüllt existieren.
Er könnte stumm über oder jenseits aller menschlichen Wahrnehmung verborgen bleiben.
Das Werk Seiner Hände könnte ahnungslos und taub für Ihn, ungerufen, ohne jede Kontaktaufnahme, ohne jedes Angesprochen-Werden in völligem Abgeschnitten-Sein seine Bahnen ziehen.
Dass Gott – die ewige Weisheit, die aus jeder Idee, jedem Gedanken sofort Wirklichkeit machen kann – schon für die Entstehung des Kosmos nicht tonlose Gesten oder geräuschlose innere Prozesse, sondern vernehmbare Äußerungen verwendet, ist ein Schlüssel zu Seinem Herzen:
Gott will Sich mitteilen, statt Sich für Sich Selbst zu behalten.
Gott legt der Welt nicht Seinen nackten Willen, sondern das Mittel zur Verständigung zugrunde und darum auch Verstehbarkeit.
Gott hüllt Sich nicht in Rätsel, die hingenommen werden müssen; Er erzwingt nicht die schaudernde Anbetung, die das versiegelte Mysterium verlangt, sondern Er setzt bereits den Anfang aller Dinge auf dem Weg der Kommunikation.
Gott öffnet Sich, statt Sich verschlossen zu geben.
Er atmet aus, so dass andere aus Seiner Lebendigkeit schöpfen können.
Er spricht und also weckt Er Hören und Denken, weckt Worte, weckt Gehorsam, Gegenrede und Gewissen, … weckt uns als Seine Antwort! ——
Diese unglaubliche Tatsache, dass wir es in der Bibel und durch die Bibel mit einem redenden, mit einem Sich äußernden, mit einem Sich auf den Menschen beziehenden Gott zu tun haben, ist das, was wirklich jeden Tag und jeden Augenblick vor Gott zu einem Fest macht:
Gott spricht uns an! Wir sind die Adressaten dessen, was Gott bewegt!
Wie uns das auszeichnet! Wie uns das aus der trüben, brütenden Verlassenheit, aus dem Vakuum eines nicht wörtlich gemeinten, eines bloß sachlich gegebenen Daseins herauslockt in eine Aufmerksamkeit und eine Erfahrung, die in und unter, über und hinter allem nicht die bleierne Sinnlosigkeit, sondern eine Nachricht, eine Botschaft, einen Sinn suchen … und finden darf: … Durch Anstrengung, durch Zweifel, durch Missverständnisse hindurch, gewiss … aber doch einen ausdrücklichen, weil ausgesprochenen und also auch verständlichen Sinn!
… Den guten Sinn, der in allem liegt und einst wieder auch aus allem sprechen wird: »Eu-Angelion« …Gottes sinn- und heilvolle Selbstmitteilung! ——
Dass Gott im Wort und im Verb Sich Selbst also zu uns hin auf den Weg macht, das ist nun tatsächlich noch viel mehr als die Geschichte einer einmal diktierten Offenbarung, eines einmal geschriebenen Textes, eines einmal gedruckten Buches, einer einmal geglückten Übersetzung.
Dass Gott redet, statt zu schweigen, … dass Er offenes Buch, weil offenes Wort ist, … dass Er eben buchstäblich Offen-Barung und nicht Abschließung wählt, … dass Er Sich also durch Überraschung und nicht durch Gewohnheit oder stummes Geheimnis kundtut, … das ist es, was tatsächlich alle, die Ohren haben zu hören und einen Mund, der fragen kann oder weitersagen, der Echo und Fortsetzung sein darf und soll, inspirieren muss!
Spricht Gott, wie sollten Menschen dann das Maul halten?
Hat Gott Seinem Wesen nach stets neue Nachricht für uns, wie sollten wir dann Sprach- und Teilnahmslose oder bloße Wiederholer sein oder bleiben wollen?
Das Wort Gottes macht Menschenworte locker, … lässt Menschenrede sprießen, blühen, Ernte werden und neue Saat, … macht Menschen also Lust zu sagen und zu singen, zu üben und zu versuchen, was sie noch nie vernommen, nie gesehen, nie festgehalten, nie ausgesprochen haben. ———
Die elf Wochen, in denen das Evangelium in Luther auf der kalten Wartburg so perlend und so dampfend sprudelte und wie erwärmtes Edelmetall sich zu schönster Zier und Kleinod formen ließ, diese fruchtbare, experimentelle, enthusiastische Phase der sprachlichen Freiheiten, der Neuprägungen und Eingebungen ist also kein Endpunkt, und das Septembertestament darf kein Aggregatzustand des Neuen Testamentes oder der Bibel sein, der noch ein halbes Jahrtausend später, ausgekühlt und mit allem Grünspan, allem Staub der Geschichtlichkeit nun hinter Panzerglas, im Schummerlicht einer Vitrine konserviert werden müsste.
Solche Schätze, die bloß eine Beute für die Altertumsdiebe und ein Fraß für den Rost wären, hat Jesus Christus eben nicht bringen wollen.
Vielmehr spricht Christus jede Zeit und jeden Menschen lebendig an, weil Er das Wort und Leben selber ist.
Darum ist aber das eigentliche Fest, zu dem Luther uns einlädt und sein eigentlicher Geniestreich – also das Zeichen seiner wirklichen Freiheit in der Geistesgegenwart des von Ewigkeit her und also auch heute und also auch in Ewigkeit redenden Gottes – nicht das Ergebnis jener Übersetzung, die Luther gelungen ist, sondern ihre Absicht.
Gottes Sprechen so zu fassen, ihm so zu dienen und ihm so auf die Sprünge zu helfen, dass es die berühmten Alltagsmenschen, die zeitgebundenen, konkreten Gestalten, die einfachen Leute mit dem echt existentiellen Horizont genau ihres Lebens erreicht, an die Luther im berühmten „Sendbrief vom Dolmetschen“ dachte – „die Mutter im Hause, die Kinder auf den Gassen, der gemeine Mann auf dem Markt“: Das ist der wirkliche Freibrief und das dringliche Erneuerungsmotiv aller Bibelarbeit, aller Verkündigung, aller sprachlichen Übersetzung und aller praktischen Übertragung des hier und jetzt wahren Wortes in das Leben jetzt und hier.
… Dass die sorgenden und die spielenden und die handelnden Menschen heute, … die, deren Alltag von Hektik beherrscht wird, … und die, deren Bestimmung das Lernen ist, … und schließlich auch die, deren Augenmerk geradezu areligiös auf dem rein Materiellen liegt, … dass diese alle spüren müssen, dass Gott sie anspricht: Das ist die Verheißung, die durch Luthers Übersetzung weht!
Es ist eine Verheißung, die keine sprachliche Form bevorzugt. Sie setzt weder ausschließlich einen vermeintlich „modernen“ Klang, noch irgendeine klassische geronnene Sprachgestalt ins Recht. Sie nutzt und sie verflüssigt, sie belebt und sie entfaltet alle sprachlichen Mittel und Zustände durch ihre eigene, aktuelle Erschließungskraft eben als Verheißung, … als Verheißung nämlich, dass alle Menschen spüren sollen und dürfen, wie Gott unmittelbar an ihr Ohr und ihr Herz drängt, dass Er in ihnen wahrgenommen und dann angenommen, also geglaubt werden will: Das ist das Eine, um das allein es geht!
Es kann durch hohe, hehre Feierlichkeit oder mit ganz unaufdringlicher Beiläufigkeit geschehen, dass Gottes Sprechen Gehör findet. Es wird sich in tausend tradierten und in ebenso vielen spontanen Formen ereignen, dass Gott Menschen erreicht.
Er spricht ja alle Sprachen; Er wählt für jede Frau, für jedes Kind und jeden Mann die Worte, die sie zu wecken und zu rufen vermögen und die ihre Antwort in Sprache, Tat oder einfacher Liebe auslösen werden.
Dass Luthers unbekümmert schnelle, lebensnahe, unverbildete, phantasievoll und zugleich organisch kreative Übersetzung das meinte und dass ihr das gelang – ja, immer noch gelingt! -, genauso wie es anderen Übersetzungen, Vertonungen, Auslegungen, Aneignungen, Fortschreibungen und direkten Erleuchtungen gelingt, Gott hörbar und verständlich und Menschen ansprechbar und verständig zu machen: Das feiern wir heute und jeden Tag, den wir mit dem redenden Gott, mit Seinem Wort in unserer Welt und Zeit verbringen dürfen.
Denn Seine Worte sind die Wahrheit und sie haben in sich das ewige Leben (vgl. Joh. 6,68 und 17,17)!
Amen.
[i] Auf einem Gottesdienstblatt war ein entscheidender Passus aus der Darlegung „wilchs die rechten vnd Edlisten bucher des newen testaments sind“, die Luther der NT-Ausgabe vom September 1522 nebst der Vorrede angefügt hatte, abgedruckt. Den Zitaten aus dem „Sendbrief vom Dolmetschen“ und der Bezugnahme auf die Vorreden zu einzelnen biblischen Büchern in dieser Predigt liegt Bd.6 der sog. „Münchner“ Luther-Ausgabe zugrunde: „Bibelübersetzung. Schriftauslegung. Predigt“ (Martin Luther - Ausgewählte Werke, hgg. v. H.H.Borchert und G.Merz, München, 19583).
12. So. n. Trin., 04.09.2022, Stadtkirche, Apostelgeschichte 9, 1 - 19, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 12.n.Trin. - 4.IX.2022
Apostelgeschichte 9
Liebe Gemeinde!
Ein schönes Lied haben wir da eben gesungen (EG 256) … aus Tagen, als es noch möglich schien, eine globale Hoffnung ausdrücklich im Namen des Christentums zu hegen: Damals – als es schon schrecklich viel koloniale Gewalt und Unterdrückung gab, Versklavung und Ausbeutung, die von der europäischen und amerikanischen Christenheit ausgingen – … damals haben sie in Württemberg bei Albert Knapp genauso wie im Wuppertal oder im Ravensberger Land und überall, wo es Erweckungen und Missionsgeist gab, immer noch geglüht in der Vorfreude darauf, dass alle Völker den Herrn Jesus in der Einfalt als ihren göttlichen Freund, in der Not als ihren sicheren Befreier und im Tod als ihren gnädigen Erlöser erkennen und dadurch unendlich glücklich, ja selig werden sollten.
Da war echte Jesusliebe genauso lebendig wie echte Menschenliebe. Die Welt schien den Frommen damals wirklich wie ein Heer von ziellos Irrenden, das zusammen den langen Weg durch die Wüste antreten werde, wenn nur ein Paar Kundschafter, die das Zeichen von Golgatha kannten, es ermutigten, sich in die dort weit ausgebreiteten Arme der Barmherzigkeit zu flüchten und dann an der Hand des auferweckten Gekreuzigten zur ewigen Heimat zu ziehen.
Das war der Traum von der allüberall lockenden, tröstenden, liebenden, hoffenden, leidenden und dann im Himmel schließlich triumphierenden Kirche aus allen Stämmen, Sprachen und Völkern. …
Das war der Traum.
……. Zerrissen und kaputtgegangen wie alle Träume, wenn die Realität sie entfärbt und entweiht. Die Kirchen haben sich vor viele Karren spannen lassen; … zu manchen Völkern haben unsere christlichen Missionare nicht nur Heil, sondern Hölle getragen, … andere haben sie kulturell und psychologisch gespalten in vermeintlich unterlegene und vermeintlich überlegene Bestandteile, … wieder andere haben sie vor Ausbeutung und inneren Orientierungskrisen nicht ausreichend schützen können.
Die begeisterte Reich-Gottes-Arbeit, das Versöhnungswerk der Menschheitssammlung, um den Thron des Lammes ist für viele Heutige von finsterer Unterwerfung und brutaler Zwangsvereinheitlichung nicht mehr zu unterscheiden.
Von Anfang an sind Christen zwar in alle Himmelsrichtungen ausgezogen, um die unterschiedslose Liebe Gottes zur Fülle der Völker zu tragen, aber neben unglaublichem Segen ist dabei tatsächlich auch viel Zwietracht und Missbrauch entstanden. So dass der Traum von der allen geltenden, jeden umfassenden Gemeinschaft heute zwar noch in vielerlei säkularisierter Gestalt begegnet – Globalisierung, Weltmarkt, schrankenlose Virtualität, klassenlose Gesellschaft, Demokratisierung aller Nationen, Schutz der fächerartigsten Vielfalt – und doch unendliche Verlegenheit herrscht, wie das gehen könne: Eigene Ideale zu verbreiten, gilt als Imperialismus; fremde Inhalte zu übernehmen, wird geschmäht als enterbende Aneignung. Die Menschheit sieht sich ratlos an und kommt auch da, wo sie nicht von der Spaltung lebt, über das Trennende nicht hinweg, vertieft die Gräben sogar wieder immer mehr und wundert sich, dass Angst, Hass und Grausamkeit so unverändert aus dem Abgrund steigen.
…. Dass bald das einzig wirklich alle Verbindende der entfesselte Sturm der Vernichtung dieser Erde sein könnte, ist eine bittere Bilanz der misslungenen christlichen und antichristlichen, der religiösen, kommunistischen, kapitalistischen und technologischen Träume von der Menschheitseinung. ———
Warum also noch die alten Lieder von der Ausbreitung der Frohen Botschaft in Nord und Süd und Ost und West singen?
Warum den alten Traum noch feiern mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen, durch den gerade so viele verschiedene Vertreter der Menschheit bei der Vollversammlung in Karlsruhe zusammenkommen, die alle aus der einen Taufe in den Tod und in die Auferstehung leben und die das eine Ziel des irdischen Friedens hier und des himmlischen Friedens einst in der kommenden Welt teilen? Warum - um alles in der Welt - also immer noch ein missionarisches Herz und eine missionarische, welteinladende, welt-liebende Haltung bewahren, die Jesus bei allen und alle in Jesus zu erfahren wünscht? …….
Aus Nostalgie und Naivität?
Aus pietistischer Pietät oder schlichter dogmatischer Phantasielosigkeit?
Nein!
Denn das Neue Testament ist auf keinen Fall ein simpler Leitfaden für harmlose Verbrüderungsschwärmer oder leichtgläubige Allversöhnungsspinner. Die Bewegung des Neuen Testaments ist kein Weltbeglückungszwang europäischer Eroberer und seine missionarische Parole lautet auch nicht: Geht hin und verbreitet Woodstock-Stimmung, haltet Händchen, tanzt, kifft und erklärt in Stuhlkreisen, bei Sit-ins oder im Sandalenschweiß einer Kirchentagsmasse, warum man sich basisdemokratisch emanzipativ und inklusiv benehmen soll.
Die Mission im Neuen Testament fängt nämlich gar nicht als das Schneeballsystem einer sich siegreich ausbreitenden apostolischen Sendung an. Das Neue Testament kennt keinen solchen schönen Traum.
… Vielmehr beginnt’s mit dem Albtraum!
Die Weltbewegung, die wir Kirche nennen, geht los mit einer schrecklich düsteren film-noir-Szene: Ein zynischer Agent mit Plänen für einen großen Schauprozess - Saulus aus Tarsus - bewegt sich auf Damaskus zu. Viele aus dem verfeindeten Lager sollen ausgehoben werden. Es kann schmutzig enden, … kann auch auf Massenmord hinauslaufen.
So ist es auf der Straße nach Damaskus. Heute auch noch. … Oder auf den Pisten, die in die verbliebene Wildnis des Amazonas führen: Da müssen auch nicht nur Bäume und Tiere dran glauben. … Oder auf den Panzerspuren, die aus Russland Richtung Westen pflügen. Oder auf den Gefangenentransporten in China, den Schlepperrouten aus Afrika, den Drogen-Highways, von Süd- über Mittelamerika bis zum Klemensplatz. … So ist es, wo immer Menschen sich sicher genug fühlen, um anderen schadlos zu schaden. Jeder Menschengruppe, erst recht jeder Opposition drohen heimliches Unheil oder offene Inszenierungen der Verfolgung an unzähligen Orten der Erde: Man treibt die mit den abweichenden Anschauungen, Sitten oder Maßstäben zusammen, man pfercht sie ein, erzieht sie um, hungert sie aus und macht sie kalt … überall … rundherum, wo immer die Macht dafür reicht und das Recht dagegen zu schwach ist. … Menschen sind Bestien, deren Opfer Menschen sind. … So ist das, mit der Menschheit!
… Sage also niemand, die blauäugigen Christen machten es sich leicht mit dem Traum von der netten Wandlung zum Guten. Sage niemand, die christliche Mission, die Menschen im größtmöglichen Maßstab vor einander - und das heißt: vor sich selber! - retten und sie in den Heilsbereich Gottes, in das universale Asyl Seiner Liebe rufen will, verkenne die Wirklichkeit!
Das Gegenteil ist der Fall: Die christliche Umkehrbewegung fängt mit einem zum Äußersten entschlossenen Gesinnungsmörder an … „Saulus schnaubte mit Drohen und Morden“! So hart, so ungeschönt.
Was aber mit einem derart ausgeprägten Anti-Helden und dessen brandgefährlicher Aggression losgeht, das taugt nie und nimmer für ein schlichtes Drehbuch ansteckender Wohlfühlübungen durch große Gurus.
In seiner Apostelgeschichte will Lukas indes auch gar nicht die großartigen Pioniere der ersten Stunde verklären. Solche Propaganda führt nur zu dem, was man in Düsseldorf von der Naziverehrung für deren Pseudomärtyrer Schlageter kannte oder in den Lügenkult des Lenin-Mausoleum, während die echten - also niemals tadellosen - Bewährungshelfer der Menschheit – man denke denkbar an den gestern zu Grabe getragene Michail Gorbatschow! – kaum jemals reine Bewunderung erfahren, weil alles, was an ihnen glänzt, eben auch Schatten wirft.
Lukas will also nicht erzählen, wie der rabiate Ideologe Saulus zum leuchtenden Genie der Christentums-Werbung wurde.
Seine unwahrscheinliche und unheimliche Ouvertüre der Kirchengeschichte mit einem Finsterling, wie sie die Weltgeschichte serienmäßig und verhängnisvoll bevölkern, hat einen anderen Brennpunkt. Und auf Den sollen wir unsere Augen richten … auch wenn sie uns - ähnlich wie bei Saulus - den Dienst versagen und nicht aushalten können, was sich mitten über den leidvollen und schuldreichen Ereignissen unserer Tage zeigt.
Lukas will - und er kann! - erzählen von einem Licht, das nicht nur Alltagsgrau und Trübung unserer so gar nicht traumhaften Welt wirklich heller, wirklich schöner machen kann.
Lukas kann und will darüber hinaus vor allem aber erzählen von einem Licht, das die tiefste Finsternis zerreißt, … gerade jene Finsternis, die heute über der Welt lastet wie im Vorschöpfungschaos (vgl. 1.Mose1,2).
Es gibt ein Licht, das über den Mördern und ihren Opfern strahlt.
Es gibt Glanz und Wärme, die alle Verantwortung und alle Verantwortungslosigkeit, alle Schuld und alle Destruktion, deren der Mensch fähig ist, durchdringen, bis der tiefschwarze Kern, bis die abgründigste Nachtseite unseres Da- und Soseins nicht mehr lichtlos bleiben.
Es gibt eine Helligkeit, die alle Schatten des Todes aufklärt.
Es gibt eine Sonne, die den ganzen Kosmos und noch die Antimaterie darin nicht im Bann jener Kraft lässt, die alles kollabieren macht, sondern die Leben weckt und Funken schlägt in der kältesten, fühllosesten, erloschensten Peripherie, weit, weit, weit, … unendlich weit von der Mitte, in der die Dinge stabil und harmonisch erscheinen.
Es gibt jenes Urlicht, jenes ewige Licht, dessen Klarheit und Milde, dessen strömender Segen und stoffwechselnde Heilkraft alles erleuchten und umschmelzen und unumkehrbar ansehnlich und glanzvoll machen können.
Es gibt dieses Licht der Welt, die doch so dunkel scheint.
Von diesem Licht erzählt uns Lukas. Die Augen des sterbenden Simeon sahen es - und gingen über -, als er ein kleines Kind im Tempel auf die Arme nahm (vgl.Lk2,30ff). Da drückte Simeon Den ans Herz, Der sprach: „Es werde Licht!“.
Und dieses Licht reinster, unverlöschlicher Liebe zu allen, die verloren gehen oder schon verloren sind, … dieser ansteckende Glanz leuchtender Herrlichkeit für die Armen, die Hoffnungslosen, die Ausgeblendeten, … dieses Morgenrot tatsächlicher Gerechtigkeit, unanfechtbarer Freiheit und bleibenden Lebens war Tag und Nacht, dreißig Jahre lang auf dieser Erde.
Dann kreuzigte man das Licht.
Aber so wenig wie wir je einen Sonnenstrahl fangen können, so wenig konnte das wahre Licht von der finsteren Gewalt der Sünde und der Sünder festgehalten oder gar ausgeschaltet werden. Das Licht brach durch die Nacht, die es erstickte. Und dann erleuchtete das endgültig aufgegangene Licht ununterdrückbar die sichtbare und die unsichtbare Welt, bis die Finsternis des Weltalls zum hellen Himmel wurde, erfüllt von dieser lebendigen und lebensweckenden Kraft, von der Lukas uns zu Weihnachten ebenso erzählt wie zu Ostern und zu Pfingsten, dem Tag, als das Licht in so vielen Menschen gleichzeitig aufflammte.
Lichtergeschichte ist die Apostelgeschichte des Lukas darum genauso wie sein Evangelium: Aber eben eine Lichtergeschichte, die nicht von strahlenden Helden oder glanzvollen Meistern unter den Schriftgelehrten, den Jüngerinnen und Jüngern oder den Aposteln erzählt, sondern von Menschen - teils aufgeklärten, teils wirklich undurchsichtigen -, denen der Glanz des einen, endgültigen, ewigen Lichtes erschienen ist und die es wegen seiner überwältigenden Herrlichkeit schlicht reflektieren mussten.
Lichtergeschichte ist also die Apostelgeschichte, …. oder wir könnten auch sagen: Der einleuchtendere Name für dieses Werk wäre eben doch Jesus-Spiegel oder Christus-Reflektion. Die Geschichte, wie der Glanz von Jesu Liebe und Lebendigkeit sich auf den Zügen von Menschen zeigte, ja, wie er in Menschen zündete und sie transparent für ihn machte! ——
Darum kommt nun auch jener Saulus, von dessen tödlichen Absichten und rettendem Sturz, von dessen Tücke, Hilflosigkeit und Rehabilitation im Kreis seiner Opfer wir doch heute im Predigttext hörten, in der Predigt kaum vor.
Wir kennen ihn als evangelische Christen ja gut genug: Unser einsam leuchtender Fixstern, dessen ganz individuell gefasste Rechtfertigungslehre es in den reformatorischen Köpfen zu einer jahrhundertelangen Verzögerung bracht, bis aus der von Paulus vermeintlich beantworteten Frage „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ die Unruhe wurde: „Und wie kriegen Andere einen gnädigen Gott? Wie erfahren Alle von der Gnade Gottes?“
Ausgerechnet die evangelischen Paulusschüler waren wirkliche Nachzügler im Begreifen, dass Christentum Mission bedeutet.
Das aber ändert sich heute vielleicht deshalb wieder, weil wir das Unaufgebbare, das Unverzichtbare an der Hoffnung für alle empfinden, die nicht vom Frieden des Einzelnen mit seinem Gott in den Hintergrund verdrängt werden darf!
Die Lichtergeschichte, die den verfinsterten Saulus tatsächlich leiblich sehunfähig machte, bis ihm mit der Taufe aus verachteten Händen die Erleuchtung geschenkt wurde, dass man Jesus nicht verfolgen, nicht überwinden, nicht ausschalten kann, weil man überall Ihn finden wird, wo man auch hinschaut, … weil man, sobald man einen Menschen erkennt, gerade auch die Liebe Jesu zu diesem Menschen erkennt … und weil man von dieser Liebe, diesem Licht, diesem Jesus eben selbst auch durchdrungen wird, wenn man die Welt auch nur irgendwie oder sogar insgesamt wahrnimmt ……. diese Lichtergeschichte ist die entscheidende Botschaft für uns hier und jetzt.
… Sie ist die Mission, die uns Hoffnungsverlierer, uns Glaubensverabschieder, uns Schwarzseher und Weltaufgeber, uns Zeugen radikaler und restloser Zukunftsdunkelheit treffen und entzünden muss und wird … wie das für die Lichtdurchflutung und Weltaufhellung auserwählte Werkzeug Paulus.
Auch uns – das ist die Hoffnung und die Wahrheit dieser Tage – auch uns nämlich wird es nicht möglich sein, Jesus zu dämpfen, … wie trüb wir auch tun mögen.
Auch uns, in diesen Tagen wird durch Ihn das widerfahren, was der Prophet in der Schriftlesung (Jes.29,18ff) uns verheißen hat:
„Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches
und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen,
und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN
und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.
Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen
und mit den Spöttern aus sein,
und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten.“
Das ist die globale Hoffnung.
Das ist Jesu Lichtgeschichte für Alle!
Amen.
11.So. n. Trin., 28.08.2022, Stadtkirche, 2.Samuel 12, 1 - 15, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 11.S.n.Trin. - 28.VIII.2022
2.Sam.12 i.A.
Liebe Gemeinde!
Gleichniserzähler sind vorsichtige Kämpfer. Ihre Waffe kann ganz harmlos wirken, wie irgendein alltägliches Werkzeug. Aber wer eine Gleichnisgeschichte richtig auffasst, merkt – wenn er selbst nämlich nicht stumpf ist –, dass es sich dabei um eine geschliffene Pointe handelt, um eine Spitze, die trifft. Aus einer gewöhnlichen Begebenheit wird durch eine rechte Gleichniserzählung der geschärfte Blick für die Wahrheit.
Nun bin ich kein begnadeter Gleichniserzähler wie es viele Rabbiner von der Antike bis heute waren, die Banales zu schildern und darin Heiliges zu veranschaulichen wussten; ich bin auch kein Weiser wie der Dichter Lessing, der mit seiner Fassung des Drei-Ringe-Gleichnisses die Menschheit vor eine unlösbare Schiedsaufgabe in Sachen Religionsstreit gestellt hat; auch bin ich kein Parabeldichter, dessen politischer Widerstand sich wie bei Bertold Brecht in Kurzgeschichten reiner Unauffälligkeit kleidet, um unbemerkt an aller Zensur vorbeizukommen und dann in’s Schwarze zu treffen; am allerwenigsten bin ich natürlich ein Prophet Nathan oder Jesaja oder Jeremia … oder ein Rabbi und Zimmermann aus Nazareth, der das Reich Gottes auf dem Acker, bei der Bauernhochzeit und in galiläischen Kleinstadtgeschichten für alle Welt fassbar gemacht hat.
Wenn ich ein Gleichnis erzählen wollte, würde es hinken und sich in einem unnatürlich auf-gesetzten Kostüm sofort verraten.
… Meine Geschichte von den bequemen Leuten, die es gern warm haben wollten und sich deshalb von einem entfernten Ort das Feuer an den Ofen tragen ließen ohne zu fragen, aus welchem Inferno die Flamme wohl stammte und ob der Wärmebote nicht vielleicht unterwegs versehentlich oder voll tückischer Absicht alle Nachbarhäuser lichterlohn in Brand stecke, … mein Gleichnis von den Toren, die an frostigen Tagen dennoch 22 Grad haben wollten und dadurch unwillkürlich an einem höllischen Feuer mitschürten, das ihnen selbst das Feld und den Wald verwüstete, … das würde jeder sofort gelangweilt durchschaut und vergessen haben: So töricht wie in dieser Geschichte sind die Menschen doch nicht …….
Und darum – weil kein Gleichnis, das ich spinnen könnte, uns wohl helfen würde – … darum stehen wir in Jerusalem. Dem Ort, der vor Gott alle Orte vertritt und alle Menschen verbindet. Wir stehen in Jerusalem.
Wo man tuschelt. Weil alle wissen, dass Macht - sogar die Macht der Guten! - Menschen zerstört: Die reine Möglichkeit von etwas wird in den Händen der Mächtigen, denen nichts und niemand sich in den Weg stellt, zu seiner Wahrscheinlichkeit, nein: zu seiner Verwirklichung. Wenn ein Machtmensch etwas Begehrenswertes sieht, dann muss er sich nicht verzehren danach, … nicht davon träumen, … sich in den Träumen nicht ausmalen, wie es wohl wäre … Nein: Er reißt es an sich. Ein Stück Land. Einen Schatz. Eine Schönheit. Wie der König David jene betörende Bathseba, die er im Bade beobachtet hatte (vgl.2.Sam.11). Der Bauernbub aus Bethlehem, der auf den einsamen Triften mit seinen Schafen vermutlich noch manchmal hungerte, … der Bandenführer in der Wüste, der für seine Schar betteln oder stehlen musste (vgl.1.Sam.21; 25; 27,9), er konnte auf dem Söller seines Königshauses in Jerusalem jeden Appetit stillen: Also musste Uria, der Soldat, der Mann der Bathseba meuchlings sterben, weil David sie wollte.
… Das ist das heillose Unrecht, ja, der Fluch der Macht: Zu können, was man will! – Und das ist ja auch der Fluch unseres kranken Denkens geworden, dass wir sagen: Was man nur will, das kann man auch!
In Jerusalem brodelt die Stadt, weil es sich so gerade nicht leben lässt: Unbeschränktes Wollen, unbegrenztes Können sind nicht Freiheit, sondern Verdammnis. Ein Mensch, der kriegt, was immer er verlangt, wird zum Unmenschen. Ein Volk, das einem Wahn von Allmacht unterliegt, ist von Innen dem Unaufhaltsamen ausgeliefert. ——
Was aber begrenzt den Menschen?
Welches Gleichnis findet sich für die Schranke, die es braucht, um uns vor dem totalen, dem absoluten, dem losgelösten Menschenspleen, dem Übermenschen, dem Menschengötzen zu bewahren?
… Ist es die Bindekraft des Gesetzes, für die Franz Kafka so einprägsame surreale Gedankenbilder gefunden hat?
Oder kann der Mensch nur durch Angst im Zaum gehalten werden …, womit wir bei Luthers altem Vergleich wären, der im Menschen ein störrisches Lasttier sah, dass entweder von Gott oder vom Teufel geritten werden muss. —
… Was nimmt dem Menschen die schreckliche Allmöglichkeit, die ihn verdirbt?
… Wir stehen in Jerusalem, in Davids Kreml.
Wir hören Nathan vor der Tür zum Thronsaal schwer atmen: Er, der Prophet, dem der König gerne sein Ohr lieh, hatte vor Kurzem noch die unbeschränkte Heilszusage Gottes für das Haus Davids auszurichten. Gott versprach dem Nachkommen Davids: „Ich will sein Vater sein und er soll mein Sohn sein“, so dass das Königtum des Knaben aus Bethlehem in Ewigkeit bestehen wird (vgl. 2.Sam.7, 14-16). … Solche Verheißung im Superlativ – ein Versprechen, das dreihundert Jahre später bei Jesaja so zentral werden sollte, dass wir noch heute keine Adventszeit, kein Weihnachtsfest erleben, in denen nicht die unerschütterliche Hoffnung auf den Davidssohn als Garantie des Heils begegnet – … solche Verheißung im Superlativ, die Nathan überbracht hatte, muss ja wahrhaftig wie eine toxisch-tyrannische Überdosis auf den großen König gewirkt haben. … Grenzenloses Heil hat Gott an ihn geknüpft, grenzenlose Hoffnung. Kein Wunder, wenn seine Hybris in’s Gewissenlose schoss.
… Zu große Gaben Gottes an einen bloßen kleinen Menschen aus dem kleinen Bethlehem Ephrata! … Zu viel göttlicher Vertrauensvorschuss in’s Menschliche. … Gott zu sehr auf Menschenwegen!
… Nun also muss Er donnern wie Kollege Zeus, damit der Zwergenkönig sich gebührend fürchtet und demütigt! Nathan muss jetzt den Menschen also stutzen, den Gott wohl doch zu sehr erhöht hat, dem Gott wohl doch zu weit entgegenkam! Der Mensch muss seine Grenze am Übermenschlichen finden; er muss scheitern an der überragenden Größe Gottes! …
Wir stehen mit Nathan auf der Schwelle, Aug’ in Aug’ mit der Hybris der Menschenmacht.
Welches Gleichnis wird er finden? – „Gedenk’, dass Du nichts bist als eine Blume des Feldes, die heute blüht und sprosst, morgen aber welkt und verdorrt! Gott ist Dein Töpfer, du irdenes Gefäß, der Dich auch wieder zerschlagen kann! Er kann Dich löschen wie die Schrift an der Wand, … Er kann Dich wechseln wie ein Gewand, … kann Dich und alle Bewohner der Erde dahinsterben lassen wie die Mücken. Mensch!, - König! - Geschöpf! - Dich begrenzt der Tod!“ …….
Wir stehen hinter Nathan, der jetzt Blut, Blitz und Feuer aufbieten muss, Grimm und Panik.
Er muss dem ohnmächtigen Beherrscher von Saporischschja, dem Möchtegern-Gott, der so schrecklich über das Gedeihen und Verderben anderer gebietet, die unüberschreitbare rote Linie aufzeigen und ihn vernichtend in die Schranken weisen. Es muss eine Strafrede werden, von der man über Jahrtausende noch sprechen wird, weil sie so gebieterisch überwältigend war. …
… Doch Gott hat die Zukunft keinem Demosthenes und keinem Cato, keinem großen Rhetoriker oder Rabulisten auf der Rednertribüne, keinem geifernden Robespierre, auch keinem Garibaldi oder Spurgeon oder Lenin oder Roosevelt - oder wie die gewandtesten Überredungs-, Verführungs- und Begeisterungskünstler der Welt sonst noch heißen - überlassen!
… Stattdessen spricht Gott durch Gleichniserzähler, … vorsichtige Kämpfer, die im Einfachsten das Entscheidende berühren.
… Als Nathan nämlich endlich anhebt – jene Rede, die den Hochmut, die Anarchie, die Sünde des von Gott erwählten Menschen endgültig begrenzen soll! –, … da erzählt er von einer ganz gewöhnlichen kleinen Familie, … von sentimentaler Tier- und Kinderliebe, … und von der Störung dieses trivialen Idylls, in dem ein Armer neben seinen Kindern auch sein Schäfchen hätschelt, durch die dreiste Anspruchshaltung eines geizigen Wohlstandsbürgers. … Es hätte die Moralpredigt, … das reformatorische Fanal, … der weltwendende Basta!-Appell schlechthin werden müssen ……. und was wurde es?
– Ein seifenoperettenhaftes Nachbarschaftstheater!
Das soll den Titan, der glaubt, er dürfe alles, weil er alles kann, die Mores lehren? – Die Hinterhofgeschichte vom zärtlichen Zusammenleben von Mensch und Tier, das scheitert weil ein gefühlloser Grobian verächtlich darin eingreift? Eine solche Schmonzette, ein solches Herz-Schmerz-Rührstück soll es richten?
… O Gott! … Wie gutgläubig Du bist! … Wie sehr Du - „lieber“ Gott - im Ernst an die Liebe zu glauben scheinst?! Kannst Du denn keine gewaltigeren Argumente aufhäufen, um den Menschen zu bekehren, der sich an allem vergreift, der alles verdirbt, der alles vernichtet? Kannst Du nicht, … musst Du nicht - Gott - Deinen Zorn aufbieten, Dein Gericht und alle Verdammnis, statt an’s Gefühl, an’s Mitgefühl, an’s Mitmensch-Sein zu appellieren? …….
Doch auch wenn unsere, in diesen Tagen der Weltuntergangsdrohung beinah unerträgliche Spannung hier, an Nathans Seite so lächerlich entweicht wie die heiße Luft aus einem aufgeblasenen Ballon: Die biblische Überlieferung von der Strafe und Bekehrung des heiligen Königs David, der so ein erbärmlicher Sünder vor dem HERRN war, gewährt uns nicht die Flucht in den Gotteszorn, zu dem wir uns so gern als letzter Projektion versteigen, oder die Hoffnung darauf, dass eine jupiterhafte Gegenreaktion die unbotmäßigen Geschöpfe schon zerschmettern werde.
Gott, der im Gleichnis von dem verletzten weichen Menschenherzen an’s Gemüt greift, nicht aber zur Gewalt, … dieser Gott Abrahams und Davids und Jesu ist eben von altersher, seit Erschaffung der Erde ein Gott auf Menschenwegen.
Er verlässt sich nicht auf den Schrecken, den Er erregen kann – und doch wissen wir, dass Er schrecklich ist (vgl. Hebr.10,31!) –, sondern Er geht den Weg der Verlorenen seit dem Sündenfall so mit, dass Er sich an das Vertrauen wendet – Abraham! –, … dass Er Seine Leidenschaft für die Menschenkinder in ihrem Mitgefühl sucht – David, dank Nathans! –, … und dass Er schließlich die gesamte Menschennot, den Menschheitsschmerz, das Welt- und Höllengrauen nicht atomisiert, sondern annimmt, mitträgt, austrinkt, ausbadet, durchleidet und durchstirbt.
Gott ist so auf den Weg an’s Herz geeicht, … Er ist so hingebungsvoll entschlossen, nicht über Leichen zu gehen, sondern zu den Sterblichen, den Sterbenden, ja schließlich auch den Toten, dass die ganze biblische Heilsgeschichte ein einziges Gleichnis des göttlichen Machtverzichtes ist.
Immer ärmer wird unser Gott, immer schwächer, Der doch anfänglich eine Sintflut und einen Schwefelregen einsetzte, Der Unwetter, Verheerung und Plagen über die Sklaventreiber Ägyptens kommen ließ und noch in Sauls Tagen, kurz vor Davids Herrschaft einen Schrecken auf Israels Feinde, die Philister fallen machte (vgl.1.Sam.14,15!).
In der Nathansstrafpredigt aber ist das Ende der Rachezüge Gottes greifbar geworden: Er verändert Seinen erwählten und verirrten Knecht und König David nicht mehr durch Einwirkung auf dessen Furchtinstinkte, sondern dadurch, dass Davids Herz in Mitleid schmilzt: Er spürt das Leid des Armen, dem das Lämmchen genommen wurde. … Er fühlt!
… Und als dieses Gefühl nun David zu einem Racheschwur hinreißt – „Der Mann ist ein Kind des Todes, der solches Unrecht tat!“ –, da bricht der heiße Vergeltungsdrang unter dem einfachen Wort zusammen, das alle Verbundenheit der Welt enthält:
„Der Mann ist ein Kind des Todes!“, empörte sich der König, dem die Macht vergehen sollte.
„Du bist der Mann“, entgegnet der Prophet.
… Und da ist die Macht, die Allmachtsphantasie, das Übermachtgehabe gebrochen.
David hat untrüglich gespürt, was ein Anderer – und sei’s auch nur im Gleichnis! – erlitten hat. Und er hat erfahren, dass er in nichts von diesem Anderen und seinem Schmerz verschieden ist. Er nahm am Verlust des armen Lämmchenvaters teil. Und so erfuhr er, dass die bittere Sterblichkeit, die dem Unschuldigen so viel Schmerz bereitete, als man seinen Liebling nahm, nicht nur eine Strafe sein kann, die allein dem Schuldigen droht.
Der Schmerz des Verlustes, den er so tief mitfühlte, hat David verändert.
Und die Schuld, die aus ihm - der der Richter sein wollte - einfach einen „Mann“, einen Mitmenschen machte - „Du bist der Mann!“ -, hat David verändert.
… Die Lehre also vom allseits geteilten Leid der vielen Kinder des Todes, zu denen alsbald sein eigenes Kind von Bathesba gehören sollte und in späterer Zeit einmal auch der Davidssohn, der das einziggeliebte Kind Gottes sein würde … diese Lehre vom allseits geteilten Leid der Kinder des Todes, die doch Gottes Kinder sind: Sie ist es, die den David veränderte; sie ist es, die den Menschen begrenzt!
Unser Mitmensch begrenzt uns!
Die Liebe zu ihm begrenzt uns!
Das Leiden mit ihm, … das Leiden um ihn, … das Leiden für ihn, begrenzt uns! ——
Das ist die Hilfe, die das schlichte, anrührende Gleichnis Nathans auch unserer Zeit bietet, in der die Hybris, die Großmachtsucht, der Allmachtswahn ein solch abgründiges Verderben bereiten: Kampf, Gewalt und Kräftemessen bis auf den Tod sind - Gott sei’s geklagt! - zwar vorerst wieder unumgänglich geworden, als seien wir in den Tagen der Sintflut oder der primitiven Eroberungszüge bei der Landnahme und Wanderung der Völker des Altertums.
Doch der Weg zu Gottes Zielen geht nicht über diese längst absurd gewordenen Verirrungen.
Den Weg Gottes geht nur, wer fühlt, was die Menschen fühlen, was ihnen fehlt, woran sie kranken, wodurch sie leiden, womit ihnen geholfen werden kann.
Wenn unsere Herzen das spüren und wir so leben, dann werden wir selber zu Gleichnissen: Zu Gleichnissen Gottes, in Dessen Ebenbild wir erschaffen sind und von Dem es in der Stunde Seiner höchsten Liebe nicht hieß – „Da, der Allmächtige!“, sondern „Sehet, welch ein Mensch!“ (vgl. Joh19,5).
Amen.
Israelsonntag, 21.08.2022, Matth.5,17-20, Mutterhauskirche, Dr. Katrin Stückrath
Amen, liebe Gemeinde!
Jetzt wundern Sie sich vielleicht und denken: Wieso fängt die Pfarrerin eine Predigt mit Amen an? Das kommt doch normalerweise am Schluss! Ist die Predigt jetzt schon zu Ende?
Nein, liebe Gemeinde. Ich beginne nur meine Predigt heute mit dem Amen. Genau wie Jesus es tut in dem Abschnitt, über den ich heute erzählen will. Er beginnt mit Amen und leitet über zu einem Teil der Bergpredigt, wo Jesus einige der 10 Gebote und andere Gebote auslegt.
Er gibt dieser Auslegung eine Überschrift, die lautet:
17Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.
Hier erklärt Jesus seine Mission. Ich bin nicht der, der die Heiligen Schriften auflöst. Man kann hier auch „zerstören“ übersetzen. Zum Wegwerfen seiner Tradition ist Jesus nicht angetreten. Stattdessen: Er ist gekommen, um zu erfüllen. Das soll wohl bedeuten, dass er sich daran hält, was im Gesetz und in den Propheten geschrieben steht. Er zeigt sich als ein normaler Jude, der als Jugendlicher lernt, in den Heiligen Schriften zu lesen, sie auch vorzulesen im Synagogengottesdienst. Der Bar Mizwa feiert ähnlich wie die Konfirmation und damit ein „Sohn des Gesetzes“ – das heißt Bar Mizwa, wird.
Jesus ist nicht gekommen, um das Gesetz zu zerstören, sondern um es zu erfüllen. Darin steckt mindestens noch ein zweiter Sinn: In der hebräischen Bibel – wir kennen sie als Altes Testament - stecken viele Verheißungen Gottes. Vielleicht will Jesus auch andeuten, dass er diese Verheißungen der Liebe Gottes, der guten Zukunft, des Friedens, verkörpert. „Erfüllen“ heißt hier mehr als „befolgen“, es heißt auch „zur Fülle bringen“.
Soweit also zu unserer Überschrift des zweiten Teils der Bergpredigt (zu lesen bei Matthäus im 5, Kapitel ab Vers 17). Dann legt Jesus los:
18 Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.
Auch wenn Jesus es sagt, ist es uns etwas fremd, dass das Amen das erste Wort ist und nicht das letzte Wort. Im Judentum zur Zeit Jesu wurde das „Amen“ meistens als Antwort benutzt. Wenn jemand einen anderen Gott loben hörte, antwortete er mit Amen und stimmte so in den Lobpreis Gottes ein. Genauso machen wir es eigentlich bis heute im Gottesdienst. Ich spreche ein Gebet - und die Gemeinde antwortet mit Amen. So sollte es sein. Wenn die Pfarrerin im Gottesdienst die einzige ist, die immer das Amen spricht, ist das eigentlich nicht richtig. Ich habe in der Ausbildung noch gelernt: „Das Amen gehört der Gemeinde.“ Denn wörtlich ist „Amen“ eine Bestätigung. Es bedeutet: „Ja, wahr ist es.“ Da merken Sie, dass das Amen der Gemeinde gehört, sonst würde sich die Pfarrerin nur selbst bestätigen. Nach dem Motto: „Recht habe ich.“ Ob ich recht habe, ob Sie das bestätigen möchten, das liegt bei Ihnen.
Andere Bedeutungen, die beim „Amen“ auch noch mitschwingen sind: „Verlässlich ist es und treu.“
Und das will Jesus hier auch sagen: Die Verheißungen Gottes, die niedergeschrieben sind im Gesetz und in den Propheten, sie sind treu und ich bin ihnen auch treu. Ich löse sie nicht auf. Ich erfülle sie. 18 Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.
Liebe Gemeinde, jetzt halte ich mich einmal mit dem Kleinsten auf: Für „kleinster Buchstabe“ steht im griechischen Text: Jota – das kann einem auch im Deutschen begegnen, es bedeutet „Etwas sehr Kleines bzw. Geringes, in Anlehnung daran, dass der Buchstabe Jod das kleinste Schriftzeichen des hebräischen Alphabets ist.“ Das Jota, der Buchstabe joder i ist im Hebräischen nur ein Häkchen. Und weil die Hebräer lieben, alles in Parallelismen zu sagen, fügt Jesus zu dem Jota noch hinzu: „und kein Häkchen“.
Hier wurde ich neugierig, wie der alte Luther selbst diese Stelle übersetzt hat und schaute in die Lutherbibel von 1536. Da steht: „Denn ich sage euch wahrlich (so hat Luther das Amen übersetzt mit wahrlich) bis das himel und erden zurgehe, wird nicht zurgehen der kleinest buchstab noch ein tüttel vom gesetz, bis das es alles geschehe.“ Das Wort Tüttel für Häkchen kannte ich noch nicht, fand ich süß.
So jetzt wende ich mich aber wieder dem Großen zu. Also, das ganze jüdische Gesetz soll gehalten werden, solange die Erde besteht. Jetzt kommt der zweite unseres Predigttextes. Da spricht Jesus vom Himmelreich. Das ist etwas schwer zu fassen. Einerseits sagt Jesus, es kommt. Andererseits ist es auch schon da. Und zwar mit seiner Person. Wo Jesus ist, da ist schon Himmelreich könnte man sagen. Und wo 2 oder 3 Menschen in seinem Namen versammelt sind, da kann auch Himmelreich sein. Jesus sagt:
19Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.
Das heißt: Wer ein Gebot des Alten Testaments auflöst, soll keinen Ruhm bekommen. Sondern wer sie tut und lehrt.
Wenn ich mal so überlege, was wir lehren von den Geboten des Alten Testaments, so fallen mir und Ihnen wahrscheinlich auch, zuerst die 10 Gebote ein. Die muss jeder Konfirmand / jede Konfirmandin bis heute lernen. Und sie sind so etwas wie eine Zusammenfassung der allerwichtigsten Gebote. Ja, die 10 Gebote lehrt unsere evangelische Kirche bis heute.
Aber was ist mit den anderen Geboten? 613 Gebote zählt das Alte Testament insgesamt. Da sind auch viele, die gelten für uns nicht mehr: Speisegebote, Festtagsgebote, Opfergebote, Sklavengebote, Ehegebote. Dürfen wir die einfach auflösen oder laufen wir Gefahr, am Ende die Kleinsten im Himmelreich genannt zu werden?
Wir geraten hier mitten in die wichtigste Diskussion der ersten Christen darüber, was für sie gelten sollte. Die einen sagten: „Jesus hat sich immer an alle Gebote gehalten, wir sollten das auch tun.“ Die anderen sagten: „Jesus selber hat aber auch gesagt: ‚Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst. Das ist das ganze Gesetz und die Propheten.‘ Das heißt doch wohl, wenn die Liebe unser Maßstab ist, können wir nichts falsch machen, auch wenn wir nicht die Speisegebote halten und anderes.“
Sie dürfen raten, welche Gruppe sich irgendwann durchgesetzt hat. Richtig, die zweite. Wir Evangelischen sagen: „Wir halten uns nicht wörtlich an alle Gebote der Bibel, aber wir legen sie im Geist von Jesus, im Geist der Liebe aus. In diesem Sinne gelten sie immer noch für uns, dass wir sie lesen, bedenken und so versuchen in unser Leben zu übertragen.“
Jetzt kommt der letzte Satz in unserem Predigttext, der zugleich der steilste Satz ist:
20Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.
Ui ui ui - eben liefen wir noch Gefahr, die Kleinsten im Himmelreich zu werden und jetzt kommen wir gar nicht hinein? Was oder wen kritisiert Jesus da? Er hat ganz viel mit Schriftgelehrten und Pharisäern diskutiert. Das war kein Streit, das war ganz normale Auseinandersetzung damals. Es ist deshalb schwierig, dass Luther oft übersetzt hat: Die Schriftgelehrten wollten Jesus versuchen. Als ob sie ihn in Versuchung führen wollten. Nein, sie wollten ihm einfach eine interessante Frage stellen, ihn auch ein bisschen herausfordern, wie das unter den Schulen der Rabbiner üblich war. Also die Schriftgelehrten und Pharisäer sind die Gesprächspartner von Jesus. Sie standen voll auf der Seite des jüdischen Gesetzes. Gerade die Pharisäer versuchten, die Gebote Gottes voll und ganz in ihrem Alltag unter zu bringen, sie wirklich zu befolgen.
Jesus aber legt den Maßstab noch höher, wenn Sie die Bergpredigt ganz lesen, dann merken sie das. Er nimmt die Gebote und radikalisiert sie noch. Ich glaube, dass soll heißen, dass wir uns nie mit einem Gesetz zufrieden geben sollen. Wir sollten immer fragen: Können wir noch mehr tun? Reicht es, keinen Menschen zu töten? Oder müssen wir nicht auch dafür sorgen, dass er leben kann, und zwar so gut leben wie wir? Reicht es, keine Ehe zu brechen oder sollen wir nicht auch mit allen anderen Beziehungen sorgsam und vorsichtig umgehen? Reicht es nicht zu stehlen, oder sollten wir nicht auch in unserer globalen Wirtschaft darauf achten, dass niemand ausgebeutet wird? Sie merken, mit dem Gebot alleine ist es nicht getan. Ich glaube, das will Jesus uns hier sagen.
Dieser letzte Satz von Jesus: 20Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. - wurde natürlich gerne missverstanden. Nach dem Motto: Natürlich sind wir besser als die Juden, schon weil wir ja an Jesus glauben.
Der liebe alte Luther, der die Bibel so schön übersetzt hat, war gar nicht lieb zu den Juden seiner Zeit. Er hetzte gegen sie. In seiner Bibel von 1536 schrieb er zu diesem Bibelvers, von dem ich gerade spreche, eine Bemerkung an den Rand: „Der Phariseer fromigkeit stehet allein in eusserliche wercken un schein, Christus aber fodert des hertzen fromigkeit.“
Hier wirft Luther den Pharisäern vor, dass sie sich nur formal an das Gesetz halten und auch nur zum Schein. Sie seien also Heuchler. Christus aber fordere des Herzens Frömmigkeit. Hier arbeitet sich Luther eigentlich an der Kirche seiner Zeit ab. Er predigte ja immer wieder: Es geht nicht um Werke wie Fasten um sich Gottes Gnade zu verdienen, es geht eigentlich nicht darum, die Gebote zu befolgen, sondern auf den Glauben kommt es an. „Innerlichkeit“ sagt Luther hier.
Im Prinzip wirft Luther in seiner Randbemerkung die Pharisäer mit den Anhängern des Papstes in einen Topf. Und das machten viele in seiner Zeit und die Juden wurden sehr bedrängt, beschimpft als solche, die nur Werke tun, aber keinen Glauben haben. Das geschah viele Jahrhunderte lang. Und als die Nazis 1938 Synagogen anzündeten und Tora-Rollen verbrannten, sagten sich viele Evangelische: Das ist ja nur das jüdische Gesetz, was da brennt, das gilt ja für uns nicht mehr.
Ein schrecklicher Fehler. Denn das jüdische Gesetz ist eben die Tora, es sind die 5 Bücher Mose. Wenn wir das zerstörten, hätten wir keine Schöpfungsgeschichte mehr, keine Arche Noah, keine Abraham und Sarah, keinen Jakob und keinen Josef, kein Volk, das mit Mose entdeckt, dass Gott die große Befreiungskraft ist. Ja, ich kann sagen, ich liebe das jüdische Gesetz, die Tora, und in großen Teilen halte ich mich daran. Ich liebe auch unser Neues Testament. Aber genau wie Jesus kann ich mir einen Glauben ohne das Alte Testament nicht vorstellen. Sonst wüsste ich gar nicht genau, wie dieser Gott ist, den Jesus Vater nennt. Sonst würde mir so vieles fehlen. Nein, lasst uns kein Jota, kein Häkchen, kein Tüpfelchen und keinen Tüttel von der Tora wegnehmen. Sie sollen alle bestehen, gelesen werden, ausgelegt, diskutiert, aktualisiert und dann im Geist der Liebe befolgt werden.
Was darf die Gemeinde jetzt sagen?
Genau: Amen.
9. S. n. Trin., 14.08.2022, Stadtkirche, Matthäus 13, 44-46, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 9.n.Trin. - 14.VIII.2022
Matthäus 13, 44-46
Liebe Gemeinde!
Jesus hat mich predigen hören, letzte Woche: Das steht ja sowieso fest. … Er hat also gehört, wie hier einer das wichtig und richtig scheinende Evangelium des Anti-Materialismus zu formulieren versuchte. … Und weil Er Jesus ist und weil Er die Überraschung über alle Überraschungen ist, weil Er die Freiheit des Geistes besitzt und die völlige Wahrheit offenbart, die all mein Versuchen und Begreifen übersteigt, darum setzt Er heute die Predigt von vor einer Woche außer Kraft.
„Der Materialismus wird Euch retten“, ruft Er heute. „Predige Du also mal gefälligst das!“, sagt Er!!? …
… Und ich sehe es.
Ich sehe, wie das, was die Welt unter unseren Händen und vor unseren Augen im Zeitraffer zerstört, gleichzeitig der Hebel unserer Hoffnung ist: Wenn diese nach den jüngsten Einschränkungen wieder so hemmungslos verzehrende Lust auf’s Genießen und Auskosten nicht wäre, wenn die Menschheit also die Lektion gelernt hätte, was sie sich alles abschminken muss – sie hat sie aber erkennbar nicht gelernt! –, dann würde vermutlich jedes Band zwischen der brennenden Erde und dem brandstiftenden Menschen zerreißen.
Wenn wir nicht alle wieder das Gefühl hätten, wie es uns hinauszieht zu den Flecken, die für uns etwas jeweils Paradiesisches haben, wenn wir also das notwendige Ende unserer vernichtenden Reisewut beherzigen könnten, dann würden allzu viele von uns wohl auch das letzte Interesse am Erhalten und Bewahren dieser Erde verlieren.
Wenn wir wirklich aufhörten, selber Abwechslung und Freude, Befriedigung und Wertvolles in diesem Dasein zu verlangen und zu suchen, dann liefe die sich ergebende Schonung der ausgelaugten Welt vermutlich auf ihre ungerührte Preisgabe hinaus. …….
Die abstoßende Logik des „Wenn ich’s nicht haben kann, soll’s auch niemand sonst haben!“ beschreibt also nicht bloß den Zynismus des egoistischen Menschen, sondern sie weist uns zugleich auf das Versteck seiner Moral hin: Gepackt bei seinen eigenen Wünschen kann der Mensch Gutes bewirken, das über den eigenen Appetit weit hinausgeht. —
Wenn die Menschheit etwas will, dann wird sie auch etwas dafür tun: Diese ernüchternde, aber auch erhebende Erkenntnis ist weder neu, noch originell. Wir verdanken sie Jesus genauso wenig wie Buddha; sie ist in allen Schichten unserer Erfahrung und unseres Verhaltens aufzuspüren.
Wenn wir heute aber eine solche Lethargie, eine solche Lähmung feststellen müssen, zu retten, was sich in der vergifteten, in der ausgeweideten und überstrapazierten Natur noch retten lässt, dann stoßen wir tatsächlich auf ein noch tieferes Problem als die ohnehin schon abgrundtiefen Probleme des ökologischen Kollapses. Die Menschen scheinen den ganz egoistischen, man könnte auch sagen den „ganz natürlichen“ Willen verloren zu haben, weiterhin Glück und Gutes zu erfahren. Denn so töricht, so verblendet, zu meinen, für ihr Glück und ihr Vergnügen werde der verschwindende Rest an Lebensraum und Lebenswert noch ausreichen, … so verblendet, so töricht können Millionen Menschen der westlichen Welt ja nicht im Ernst sein. Jeder muss inzwischen doch erkennen, dass sich die Dinge so rasend und grausam zum Schrecklichen verändern, dass wir selbst uns jetzt wirklich noch schneller ändern müssen … um des Guten willen, um unseres eigenen Wohles und Wohlstands willen!
Wo dieser ganz eigensüchtige, lebenserhaltende Reflex aber ausbleibt, da ist etwas im Argen. Da ist der Arge am Werk, um es in der gegenwärtig nicht unangemessen apokalyptischen Sprache der Bibel zu sagen: Das Ende des menschlichen Lebens- und Überlebenswillens, das uns in der hoffnungs- und taten- und also auch widerstandslosen Apathie der jüngsten Zeit aus leeren Augen wie aus einem Totenschädel entgegenstiert, ist satanisch!
Wir müssten mit so vielem aufhören, einfach nur, um mit allem weitermachen zu können!
… Warum bewegt uns das nicht? … Wieso bewegen wir uns nicht?? ——
Psychologen, Zeithistoriker und andere Fachleute - vielleicht sogar Politiker?! - werden ihre eigenen Antworten auf das Rätsel der abgestumpften Katastrophengenossen haben.
Ich bin bloß ein Pfarrer, dem Jesus nachsichtig, aber auch voller Kritik beim Predigen zuhört und der seinerseits nichts anderes als Jesus hören will. Und so ist meine Antwort klar zu finden: Warum wir so teilnahmslos bleiben, wenn das Leben in höchster Gefahr ist, … das muss damit zusammenhängen, dass wir den Lebenssinn, dass wir das Gespür für’s wirkliche Leben verloren haben. Dieses wirkliche Leben aber, das wir nicht mehr ahnen und darum auch nicht erreichen, nicht erhalten wollen, … das ist buchstäblich der verborgene Schatz, die in der Tiefe schlummernde Perle, nach denen Jesus uns voller materialistischer Jagd- und Sammelleidenschaft zu suchen auffordert.
Das versteckte wirkliche Leben, das unvorstellbar reiche und beglückende Leben, dessen Glanz und Schönheit uns überhaupt nicht mehr losließe, wenn wir’s nur entdeckten, … es ist von uns zwar ungehoben und unbemerkt, aber dennoch ist es kein Geheimnis.
Wozu sind wir denn geschaffen? Was ist denn unser Ziel?
… Wir sind dazu geschaffen, in Gottes Gegenwart zu existieren; wir sind ursprünglich und endgültig dazu bestimmt gewesen, die Fülle zu empfangen, die Gott mit allen Seinen guten und schönen Werken in sorgenlosem, sabbatlichem Segen teilen will (vgl.1.Mose 1,27-2,4!). Die dem ganzen Kosmos und in ihm darum auch dem Menschen angemessene Existenzform ist die paradiesische Harmonie, von der die Bibel auf ihren ersten (vgl.1.Mose1f) … und auf ihren letzten Seiten (vgl. Offenb.22, 1-5) blühend, leuchtend und heilend-heilig erfüllt ist. In dieser universalen und vollkommenen Fülle Gottes zu existieren und also nicht in Zwängen und Mängeln nach einem möglichst fetten Knochen, einer hoffentlich noch länger nicht ausgetrockneten Pfütze zu suchen, während andere schlicht darben und lechzend sterben müssen, das war und das bleibt die wahre Berufung der Nachkommen Adams und Evas.
Wenn wir es weniger von der ökologischen Seite des Paradieses her betrachten – wobei die Bibel wohlgemerkt mit solcher ökologischen Schöpfungslehre anhebt! –, wenn wir also die nicht-nur-sichtbare Seite der Vollkommenheit und des Heils bedenken, dann führt schon der natürliche Anfang der biblischen Offenbarung zum Himmelreich, also über die greifbare Natur hinaus, in die geistliche Herrlichkeit der Gottesgemeinschaft.
… Ob also materiell oder spirituell gesehen: Der Satz, der an anderen Orten und zu anderen Zeiten der elementarste Inhalt der christlichen Botschaft war und ist, ist bei uns so verschüttet, aber immer noch auch so kostbar wie ein unvorstellbarer Schatz. Der Satz: Wir Menschen sollen in der Vollendung des Lebens wieder zu Gott kommen und für immer bei Ihm sein. Wir Menschen sind bestimmt für’s Himmelreich.
Generationen vor uns war dieser eine - erste und letzte - Grundsatz des Glaubens ein unersetzlicher, aber gottlob auch in langen Jahrhunderten unverlierbarer Schatz. Dieser Satz machte reich in der Not und füllte in der Welt ungesättigte Herzen mit überirdischem Glanz. Aus diesem Schatz – dass uns das Himmelreich als unverlierbares Eigentum und Erbe erwartet – ließ sich das nehmen, womit die Mittellosen nicht mehr mittellos und die Unvermögenden nicht mehr kraftlos waren. Mit dem Himmelreich als ihrem Schatz haben sich Sklaven als Königskinder gewusst und Tagelöhner spürten, dass alle Herrlichkeit der Welt nichts wiegt im Vergleich zu dem Wert, den Gott ihnen - den armen Schluckern - zumisst. Den reichen Überfluss des Himmel-Reiches haben zahllose Geschlechter in ihren Gedanken und Anschauungen, in ihren Schöpfungen und Visionen, in ihren Seelenbilder und ihrem Herzenstrost gesehen, gekostet und geteilt. Sie konnten leben „als die Traurigen, aber allezeit fröhlich, als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben“ (2.Kor.6,10)! … Sie konnten leben, weil sie den Himmel hatten! … Und sterben auch!
Das „vorgesteckte Ziel, der Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus“, von dem die heutige Epistel (Eph.3,14) spricht, war tatsächlich der Grundstock ganzer goldener Epochen und ihrer Blüte, und war auch der Notgroschen, der Millionen im Elend vor dem gänzlichen Verkümmern bewahrte.
Das Himmelreich blieb Inbegriff des eigenen Lebenszieles und erzeugte zugleich die überwältigende Spannung im Herzen des vertrauten Hoffnungs- und Glaubenssystems.
Das Himmelreich! Die reinste Fülle, der flutendste Schimmer, der satteste Frieden, die lockendste Weite, das Schnurren und Jubeln der Seele, das tiefste Behagen ermüdeter Glieder, die trauteste Nähe, der bunteste Reigen, das tränenloseste Lieben, das mitfühlendste Haben, die heiligste Intimität, das unergründlichste Bedürfnisloswerden, das berauschendste Geistesleben, die nüchternste Übereinstimmung mit dem Ganzen.
Das Himmelreich! Wenn wir es in seiner Glorie betrachten, wie lieb und kostbar macht es uns dann nicht alles, was wir hier kennen, haben, gefährden und verlieren.
Das Himmelreich ist die Summe und Essenz aller nur denkbaren irdischen Vorgeschmäcker, es wird die Realisierung aller unserer biographischen Präludien sein, in ihm wird alles bewahrt und erneuert, wird alles geklärt und gewährt sein, was hier angedeutet, abgebrochen, unerfüllbar oder verdorben war.
Wie lässt also das Himmelreich nicht jenes sonderbare Wunderwort erstrahlen, das wir heute am liebsten auf alle Gegen- und Zustände, auf alle Erzeugnisse und Ziele der materiellen Prozesse unserer Welt anwenden: „Nachhaltig“. … So wie alles sein soll, gerade jetzt, auf dem Gipfel der Verbrauchs- und Vernichtungsorgien der Menschheit. Nachhaltig, unerschöpflich, ewig-neu, bleibend klar, zerstörungsfrei, wieder- und wieder- und wiederholbar ohne physische Abnutzung, ohne psychische Enttäuschung.
… „Nachhaltig“, … bleibendes Gut, … von unentwertbarer Herrlichkeit, … frisch noch nach aller Zeit: Genau das ist ja das Himmelreich, der Schatz, die Perle, die uns versprochen sind … und wir projizieren es auf Mandelmilch und Biosprit, auf Stromerzeugung und Verpackungskünste!
… Eigentlich aber müssten wir da doch merken, dass niemand wirklich so klar und sachlich von den Schönheiten der Erde, von Genuss und Köstlichkeit des Natürlichen, vom Reichtum der Welt schwärmen kann, wie solche, die nicht das Hiesige mit dem Himmel verwechseln, sondern denen die Erde schon die Lust auf’s Ewige und die Freude daran weckt! ——
Dass in unserer Kirche dieser Schatz - die Botschaft vom ewigen Leben - so gründlich veruntreut, so vergessen worden ist, dass wir uns dieses höchste Gut, dieses Pfand der zeitlichen und der überzeitlichen Seligkeit so haben aus der Hand nehmen lassen, bis schließlich ganz verschüttet war, was Gottes höchste Gabe ist, … das ist ein blöder und ein böser Jammer!
Aber es ist nicht zu spät, den Acker der biblischen Verkündigung und der kirchlichen Lehre – das eine der Mutterboden, das andere zum Teil die Steine darin – uns wieder zu anzueignen, wenn uns der Schatz darin deutlich wird. Es ist nicht zu spät, sich anstelle von wertlosen Imitationen und billigem Kram die unvergleichliche echte Perle des Glaubens zu leisten.
Wir müssen und wir können tatsächlich Jesu wunderbar materialistischen Appel an unser Wollen und Begehren hören: Wenn Ihr das Leben und seine Schönheiten, wenn Ihr die Werke Gottes und die Freude, die sie schenken, liebt, … dann lasst Euch das Himmelreich nicht nehmen!
Und wenn Ihr das Himmelreich, wenn Ihr die ewige Aussicht, Gottes Gaben zu teilen, … die Aussicht, ohne Schuld und ohne Schranken für immer vollstes Leben in und um Euch zu spüren, … wenn Ihr diesen einzigartigen Schatz, der Euch gehören kann, entdeckt habt, dann werdet Ihr das Richtige tun!
Dann gebt Ihr alles andere leicht her, weil Euch ja doch nichts fehlen wird.
Dann könnt Ihr sparen, weil Ihr wisst, dass Ihr auf Dauer verlustfrei bleibt.
Und so muss Euer Drang nach viel zu vielem Euch nicht mehr quälen, wenn gar nichts Euch entgeht, und Eure zerstörerische Gier kann verlöschen, weil der Genuss der Güte Gottes unendlich währen wird!
Die Verheißung, ja der Vorgeschmack des ewigen Lebens – so lang verpönt als Trostplacebo der Hungerkünstler, als aggressive Weltverachtung der Glücksunfähigen und als asketisch-unzufriedene Lebensverneinung für chronisch Zukurzgekommene – … die Verheißung und der Vorgeschmack des ewigen Lebens offenbaren sich also als die praktische Gestalt ganz materieller Vernunft und Notwendigkeit für heute!
Verzicht um der Zukunft willen, … Entsagung, die rettet, … ein Fasten, eine Keuschheit, ein Warten auf Erfüllung, das bloß dem Leben dient: Alles das, was sich heute konkret und nachhaltig als Lebenshaltung und Existenzform für die Menschheit aufdrängt, ist längst vorgebildet in der Nachfolge Dessen, Der uns aufruft, mit unserer Lust am Leben ernst zu machen und darum alles auf Sein Reich zu setzen.
Weil das also unser Antrieb sein darf, ja sein muss – dass wir gar nicht genug von der Herrlichkeit und Freude der Geschöpfe Gottes kriegen können, … dass wir immer mehr, ja grenzenlos viel vom Paradies, das Er uns geschenkt hat, entdecken wollen, … dass wir Zeit in Fülle von Ihm begehren und ein Miteinander-Teilen ohne Einschränkung und ohne Abschied erleben wollen – … weil alles das nicht nur unser Wunsch ist, sondern mehr noch Seine Zusage, darum müssen die Himmelreichs-Leute, darum müssen die Christenmenschen in dieser Gegenwart den Lebensmut und die Hoffnung für das Leben aufrecht halten.
Wenn viel zu viele andere offensichtlich nicht mehr sehen können, worauf noch zu hoffen wäre, wenn sie nicht mehr wissen, wie sich die Freude des Lebendigseins anfühlt und wie urgewaltig der Drang nach echtem, tiefem, weitem, langem, reichem Leben-Dürfen wirkt, dann müssen und können wir als die Gemeinde Jesu nur aus Seinem Vollen vorleben:
Dass es sich wahrhaftig lohnt, die Zukunft sehen zu wollen.
Und dass wir dabei nicht nur überleben, sondern sogar ewig leben sollen.
Weil dieser Schatz im Acker verborgen ist, der allen gehören wird, die nach ihm verlangen.
Diese Perle, die wertvoller ist als alles andere.
Leben aus dem Gnadenreichtum Jesu Christi … das Leben im Himmelreich.
Amen.
8.n.Trinitatis, 07.08.2022, Stadt- und Jonakirche, Markus 12, 41 - 44, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth und Jonakirche 7.VIII.2022 - 8.n.Trin.
Markus 12, 41 – 44
Liebe Gemeinde!
Auf der Central Line der Londoner U-Bahn, gerade wenn man die Haltestelle St.Paul’s in östlicher Fahrtrichtung verlassen hat, kommt eine bemerkenswerte Kurve. Die Bahn liegt ziemlich schräg auf den Gleisen und sie quietscht dabei ungeheuerlich. Der Grund dieser seit hundertzwanzig Jahren störend auffälligen Streckenführung ist tatsächlich bemerkenswert: Als man 1899 die Tunnel grub, war an dieser Stelle keine gerade Linie zu ziehen, weil dort die tiefen Tresore der Bank of England liegen, die zur vorletzten Jahrhundertwende noch bis unter die Decke mit Goldbarren gefüllt waren. Das Pfund Sterling war ja damals - wie auch die Reichsmark - gedeckte Währung: Hinter jedem Stück Papier lag greifbar der verbriefte Wert.
Heute sind die unterirdischen Gewölbe auch der Bank of England keine Schatzkammern mehr; wie so vieles in unseren Tagen einer hohlen Welt und Währung ist auch vom soliden Wohlstand nur noch virtuell auszugehen. … Bloß das beinah ohrenbetäubende Quietschen hat sich erhalten. Wer in die finanziell aufgepumpte City fährt, dem dröhnt immer noch der Schädel an der Stelle, wo einst konkret war, was heute spekulativ ist. ———
Dieses Quietschen, dieses Getöse, das das Gold hervorruft, hat Jesu letzte Tage in Jerusalem durchzogen. Am „Gottes-Kasten“ – ein sonderbar leer gewordenes Wort, oder? – … am „Gotteskasten“ klingelte nicht nur der Münzwurf, sondern reiche Gaben wurden buchstäblich ausposaunt – bei satten Spenden stießen die Leviten tatsächlich lautstark in’s Horn –; …ganz zu schweigen vom aufgedonnerten Spektakel, das die „großen Hansen“ - wie Luther die Eliten gerne nannte - auch selber zu machen pflegten, wenn sie ihre nicht wirklich schmerzhaften Opfer in den Almosenbehälter legten, der Liturgie und Diakonie, soziale und kulturelle Dienste des Tempels speisen sollte.
Geld und Gackern also; Geben … nicht so sehr für den Tisch des HERRN, sondern für den Tusch der Leute; Tun … für’s Tamtam. Das sind uralte, offenbar eingefleischte Bedürfnisse des Menschen: Wenn er etwas hat, das ihn auszeichnet, dann hält der Mensch es trotz aller Vorsicht und Vernunft selten ganz verborgen und wenn er sich von etwas trennt, das ihm viel bedeutet, dann muss man’s wenigstens bemerken.
Das Wesen und der Weg des Menschlichen quietschen halt vernehmlich, wenn es um den Besitz geht.
Diese Aufmerksamkeitswirtschaft, diese Ökonomie der Beachtung - von der Antike bis heute unverändert am Markt - muss für Jesus verstörend fremd gewesen sein: In Ihm, Der so gar kein Gewese und Gehabe machte, ist ja der Eigentümer der Erde zur Welt gekommen; der Inhaber der Wirklichkeit wurde in Ihm ein Kind der Landstraße, der Herr der Herrlichkeit ein Bettler, der auf dem Müllplatz enden würde. Wie muss es in Seinen Ohren geklungen haben, wenn Menschen sich großtaten, weil ihnen dieser oder jener Teil des geschaffenen Kosmos vermeintlich „gehörte“. Wie muss es Ihn gequält haben, wenn sie quietschten - die Erdensöhne -, weil sie vom Irdischen, aus dem sie stammten, etwas abgaben, das sie sich angeeignet hatten. Dieses schrille Geräusch, das entsteht, wenn Fleisch und Blut in ehrfürchtigem Bogen das Gold umrundet: Es muss Den, Der beides gleichermaßen aus Nichts hervorgebracht hat, noch stärker irritiert haben, als die Fahrgäste jener scharfe Ton in der Schleife rings um das gesicherte Depot der alten Kapitalkapitole. —
Menschen - also atmender Staub - machen viel Lärm um den nicht einmal belebten Staub des Edelmetalls. Das schnitt dem Herrn des Lebens gewiss in’s Herz, als Er damals in den Tod für die Welt ging, um sie aus der Versklavung unter alles Irdische zu befreien.
… Und es wird Ihn heute nicht minder quälen, nein, mehr wird es Ihn foltern und peinigen, dass der Kult des Stoffes, der Dienst und die Verehrung der Materie so gnadenlos fortgesetzt worden sind, seit Er für die Freiheit davon sterben ging, … bis jetzt die Neige aller Schätze erreicht ist, das Ende der Rohstoffe, das Versiegen der wirklich für den Menschen geschaffenen und der von ihm vergeudeten Güter der Natur. ——
Jesu Meditation am Gotteskasten - wo der Gottes- und der Götzendienst so unvermeidlich und doch auch so zwielichtig miteinander verschmelzen - ist ein Teil seiner Passionsgeschichte, der unverändert weitergeht[i]: Wie Er jetzt leiden muss, wie es Ihn um Frieden und Verständnis bringen muss, zu sehen, dass immer noch die sich durchsetzen, die laut und stark Anspruch auf Vieles erheben und dass immer noch in Ansehen steht, wer Dinge hortet, über Stoff gebietet, sich die Erde und das Irdische zunutze macht.
Was ist nur mit Dem, in Dessen Kraft der Erlöser empfangen wurde (vgl. Lk1,35) und gesalbt ist (vgl. Lk.4,18)? Was ist mit dem geistlichen Wesen Gottes (vgl. Joh.4,24), Der seine Menschen nicht zu Dienern und Instrumenten von Stein, Holz oder Erz machen, sondern sie in Freiheit vollenden will? … Die entsetzte Frage des Paulus erhebt sich heute als die fassungslose Frage Jesu nach zweitausend Jahren über der Christenheit, die den Materialismus inbrünstiger als die Heiden jemals pflegt: „Im Geiste habt ihr angefangen; wollt ihr’s denn nun im Fleisch vollenden?“ (Gal.3,3)
… Seid Ihr immer noch nicht in der Lage, die tödlichen Mechanismen und Muster Eures Materialverschleißes, Eurer Stoffvergötzung, Eurer Verbrauchsgier zu überwinden? …
Den Kopf in die Hand gestützt sitzt Jesus am Gotteskasten und sieht uns an: Der Todgeweihte, der für uns alle den Tod besiegt hat, voller Traurigkeit darüber, dass wir vom Tod und allem Tödlichen nicht lassen wollen. ———
Als wir vor zwei Wochen mit der Central Line nach St.Paul’s fuhren, ging es allerdings weniger um die Bank of England, als um eine fiktive, arme alte Frau, die sich schon in meiner Kindheit und dann auch in derjenigen meiner Kinder in unser Herz geschlichen hat: Im kitschigen Musikfilm zu Mary Poppins - der strengen Nanny mit dem Herzen voll urmenschlicher Anarchie - sitzt auf den Stufen von St. Paul’s diese verarmte Alte, die wie so viele Rentner auch heute ohne Nebenverdienst nicht überleben könnte: Sie verkauft dort Brotkrümel für zwei Pennies die Tüte, mit denen man die Tauben füttern kann. Und für die Krumen dieser Alten würden die Zöglinge Mary Poppins’ ihr Taschengeld viel lieber ausgeben, als es auf die Bank hinter der Kathedrale zu bringen und festverzinst anzulegen, wie ihr tumber Vater es sich wünscht.
Das unglaublich schmalzige Lied zu dieser Szene hat uns als Kinder allerdings gelehrt, dass die barocken Heiligen und Apostel auf dem Sims rund um die Kuppel von St. Paul’s lächeln müssen, jedes Mal, wenn ein Mensch zwei Pennies für die Alte hat, zwei Pennies für Krümchen für die Vögel unter dem Himmel … und damit schlicht Herz zeigt.
… Und das kommt nun direkt aus dem Evangelium! Zwei Pennies, … zwei Scherflein, zusammen ein Heller, die sind es, die Jesus, den zu Tode Betrübten in den Tagen seiner Passion wieder lächeln ließen.
Warum? ……. ———
Reden wir von dem, was man „Es“ nennt. Sigmund Freud hat davon geredet[ii].
Er sah etwas im „Es“, das ganz stark, ganz machtvoll in uns ist. Dem „Es“ gehorchen wir unbewusst. Es hält uns am Leben, … aber auch an der Leine. Es treibt uns als Trieb und es steuert uns mehr noch als der zu Erkenntnis und Absicht geformte Wille. Das „Es“ ist nahezu beherrschend. Kein Wunder, dass es in der Populärkultur zum Horror schlechthin geworden ist: Stephen King und die Verfilmungen seines Thrillers haben Generationen das Fürchten vor dem „Es“ gelehrt, ohne dass es beschreibbar, greifbar, bewältigt wurde. Das uns im tiefen Inneren beherrschende „Es“ verfolgt uns also auch von außen und bedroht uns je schrecklicher, desto grotesker es komisch wirkt.
… Was aber ist „Es“ denn? ——
Wenn man wieder einmal im englischen Sprachraum war, dann ist die Rückkehr in unsere Muttersprache eine etwas unheimliche Begegnung. Die herzlich höflichen und doch so unnahbaren, die unverbindlich, indirekten Engländer mit ihrer charmant gewinnenden und trotzdem nie zu überbrückenden Distanz sprechen einen ja sonderbarer Weise viel unmittelbarer an, als wir hierzulande.
Sie fragen: „Wie bist du?“ „Wie sind Sie?“, wo wir zu formulieren pflegen: „Wie geht es Dir?“, „Wie geht es Ihnen?“ …
Und auch bei Unangenehmem fragen ausgerechnet die Engländer überraschend unverblümt: „Was ist die Sache?“, “What’s the matter“, während wir auch da den Umweg nehmen: „Was hast Du denn?“, im Klartext also: „Was ist es, das Du da gegen mich oder gegen etwas anderes hast?“ …….
Bei uns, die wir fragen, wie’s geht oder wie’s ist oder was man hat, da geht „Es“ also … oder „Es“ ist … oder wir haben „etwas“, haben ein „Es“ auf dem Herzen. Überraschend konsequent schiebt unsere Sprache tatsächlich immer ein „Es“ ein, wo es eigentlich ganz unumwunden um die 2. Person gehen könnte.
Das ist vielleicht sehr deutsch. Nicht pragmatisch - „Sprich von Dir!“ -, sondern philosophisch feiner, differenzierter: Wir sind ja kaum nur wir selbst, ganz mit uns eins, sondern von Vielem zugleich bestimmt, beherrscht, getrieben. Glücklich, wer da direkt beim „Du“ zu landen glaubt (wie die englische Sprache mit dem vermeintlich fehlenden „Siezen“ es zu vermögen scheint). … Wir hingegen ahnen immer noch, dass auch ganz andere Mächte und Gewalten, andere Einflüsse, Kräfte, Zwänge, Zügel und einschüchternde Ansprüche an uns zerren, uns binden, festlegen und gängeln. Wir sprechen einander darum lieber mit „Sie“ an, im Plural (!) der vielen Geister und Dämonen, … in der komplexen und bedrohlichen Symbiose zumindest des Ich und des „Es“.
Nun wäre es albern und kurzsichtig, das „Es“, das uns da innerlich mitbestimmt und von allen Seiten so haarsträubend wie im Thriller bestürmt, nur im Reichtum, in den Lockungen und Drohungen der Materie und des irdisch Stofflichen zu suchen.
Aber heute, mit Jesus am Gotteskasten sollten wir den enormen Anteil bedenken, den Güter und Besitz, Wohlstand und das Sicherheitsversprechen der Dinge am uns beherrschenden Elend haben.
Die unersättliche Gier nach Materiellem, das Getöne, das wir darum machen und die schreckliche, unmoralische Angst vor jeder Gestalt materiellen Verlustes sind schon sehr große Teile jenes „Es“, um das es uns zu gehen scheint, wenn wir fragen, wie „es“ uns heute geht und wie „es“ weitergehen soll. …….
Wir sehen’s doch, wie „es“ weitergehen wird, jetzt, wo alles brennt und schmilzt und sich verflüchtigt, bis es unter unseren Füßen so leer ist und so schaurig hallt wie die modrigen Katakomben unter der ehrwürdigsten Bank, die man immer noch aus alter götzendienerischer Ehrfurcht schonend umkreist.
… Wir werden vieles verlieren.
… Und wir werden wohl dran tun, viel mehr noch aufzugeben. Ohne Gequietsche, ohne Fanfaren oder Geheul.
Wir werden ärmer werden, bis wir äußerlich so arm sind wie unser Inneres. Die Sicherheit des Goldes, die Ruhe des betäubenden Besitzes, die ganze psychosoziale Unerreichbarkeit, hinter der wir uns verschanzen, obwohl sie aus Vergänglichem gebaut ist, das gerade verdampft … alles das wird nicht bleiben, wie es war. Mag sein, dass es nicht verschwindet, aber sein Wert und was es vermag, nimmt ab. ——
……. Vielleicht aber ahnen wir, wenn wir den sonderbaren Bogen um das verschwundene Gold, das es längst nicht mehr gibt, ein letztes Mal schnaufend und schnarrend und ächzend und zähneklappernd gemacht haben, dass es gar nicht so schlimm ist, hinauf auf die Stufen vor dem Haus Gottes zu klettern … und wie die Alte mit den Krumen geworden zu sein, über die die Apostel und Heiligen lächeln.
… Vielleicht - wer weiß? - werden wir sogar ohne Weltuntergangsängste wie die wunderbare, glaubensstarke und Gott selber stärkende Witwe, die auch noch ihre beiden finalen Scherflein, … das letzte Stück vom „Es“, die letzten alten Garantien und Gewohnheiten abgeworfen hat.
Sie hatte gar nichts mehr, kein „Etwas“, kein „Es“, das sie noch aufhielt.
Sie wurde ein einfaches Ich, nein, … noch viel schöner: Sie wurde für Jesus das „Du“, das Ihn wieder aufrichtete und also auch uns arme, noch nicht freie Menschen lieben ließ, … lieben bis in den Tod. —
Die Frau ohne alles, ohne jedes Dies und Das, ohne unser ganzes „Es“ hat einfach nur ihr Leben in den Gotteskasten gelegt. … Der dadurch so viel voller, so viel reicher, so viel lebendig-kostbarer für Jesus wurde als durch alle Münzen und Wertgegenstände jemals insgesamt. ——
Ein anderes Ziel als dieses allmählich nun fällige, irgendwann dann auch mögliche Ablegen von Allem wäre in diesen Zeiten nun aber auch für uns zu wenig, zu billig, … Zeiten, in denen so viel Angst und so viel Sorgen sich erheben.
Nicht aus Realitätsverleugnung, nicht aus Leichtsinn können auch wir jetzt nur noch darauf zielen, unsere Sicherheit und unsere Sorge, unsere Angst und unsere Habe endlich abzuwerfen.
… Nicht aus Leichtsinn, nicht aus Realitätsverleugnung, sondern weil das allein bleibt: Dass wir einfach unser Leben - ohne Sorge, ohne Sicherheit - Gott ganz überlassen und uns in Seinen Kasten, uns in Seine Hände legen.
Nicht also: „Wie geht es uns? Wie geht’s der Welt?“, sondern bloß noch: „Wie gehen wir nun? Wie geht jetzt die Welt?“
– Zugrunde?
… Nein! Zu Gott! ——
Wenn wir so glauben und so antworten werden, dann ist alles gewonnen!
„Wie gehst Du, Welt?“ – „Zu Gott!“
„Wie geht das Leben?“ – „Zu Gott!“
„Wie gehen wir?“ – „Zu Gott!“
Amen.
[i] Vielleicht ist so die Verlegung des bisher an Okuli zu predigenden Evangeliums auf den 8.Sonntag nach Trinitatis zu erklären.
[ii] Gebündelt natürlich in „Das Ich und das Es“ (1923), in: Sigmund Freud Studienausgabe (hgg. v. A. Mitscherlich u.a., Frankfurt/M 2000) Bd. III: „Psychologie des Unbewußten“, S. 273-330.
6.S.n.Tr., 24.07.2022, Jes.43,1-5 u. Röm.6,3-4, Stadt- u. Jonakirche, Daniel Kaufmann
Wer oder was gehört eigentlich zu wem oder was?
Adam gehört zu Eva,
Kain gehört zu Abel,
Asterix gehört zu Obelix,
Romeo gehört zu Julia.
Der gute Hirte gehört zu den Schafen,
zu den schwarzen und weißen und auch zu denen,
die ab und an Reißaus nehmen.
Es heißt sogar, dass der gute Hirte
für diese widerspenstigen Exemplare
eine ganz besondere Vorliebe hat.
Die Sonne gehört zum Sommer,
der Schnee gehört zum Winter.
Das Klima gehört zu den Themen,
die uns viel mehr beschäftigen sollten.
Die Waldbrände und die Hitzewelle gehören zum Klimawandel.
Die Erde gehört uns allen -
das war wenigstens mal die Grundidee,
die dann bis in unsere Tage hinein
zunehmend auf den Hund gekommen ist.
Das Kind in der Krippe gehört zu Weihnachten,
der Auferstandene Christus gehört zu Ostern,
der Heilige Geist gehört zu Pfingsten,
die 95 Thesen gehören zu Martin Luther.
Das Nachdenken über eine lebendige,
den Menschen zugewandte Kirche gehört uns allen,
und wie wir zurzeit bei Bürgerbefragung,
öffentlichen Verlautbarungen
und Dystopien über die Kirche von morgen sehen,
sind wir da keinesfalls am Ende,
sondern bestenfalls am Anfang eines Nachdenkprozesses.
Freude gehört zum Fest des Lebens,
Trauer gehört zum Abschied des Lebens,
Urlaub gehört zu den schönsten Zeiten des Jahres
Arbeit gehört zu den anstrengendsten Tätigkeiten,
Homeschooling gehört zu den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie,
auch wenn der Ertrag dürftig
und die Auswirkungen schädlich fürs Lernen sind.
Analoger Unterricht ist durch nichts zu ersetzen.
Fußballfans gehören in die Stadien,
die Toten Hosen gehören zu Düsseldorf,
Musik gehört in den Gottesdienst,
die Orgel gehört zum Singen in der Kirche.
Ab und an geht es auch mit Flügel, E-Piano und Schlagzeug,
warum eigentlich nicht öfter?
Brot gehört zum Wein,
das Kreuz in der Kirche gehört auf den Altar,
an die Wand oder kann auch schon mal fehlen.
Aber dafür muss man dann schon ziemlich reformiert sein.
Mann gehört zur Frau,
und Frau gehört zum Mann,
überwiegend jedenfalls,
das heißt, rein quantitativ, also statistisch,
qualitativ ist da inzwischen ja höchste Vorsicht geboten,
gestern war Christopfer Street Day in Berlin,
da wurde einmal mehr klar,
dass Statistik als Argument immer etwas wackelig ist.
Liebe gehört zu einer intensiven Beziehung,
Hass gehört zum Streit,
Krieg gehört zu den Autokraten und Diktatoren dieser Welt.
Tendenz steigend und vorhersehbarer
als noch vor einem halben Jahr
Wahrheit gehört zum Wein, in vino veritas, heißt es,
die Weisheit gehört zum Alter,
kann auch schon mit 20 Jahren anfangen oder aufhören,
je nachdem, wie´s läuft.
Oder die Weisheit bleibt ganz aus,
dann ist etwas schiefgegangen
bei dem langen Abnutzungskampf des Lebens.
Kinder gehören zu den Eltern,
Eltern gehören zu den Kindern,
Opa und Oma gehören zur Familie,
vor allem aber auch zu den Enkeln und Enkelinnen.
Wir alle gehören zu der großen Menschheitsfamilie,
dachten wir wenigsten bis vor kurzem noch,
und vielleicht ist das ja auch der eigentliche Schmerz,
wenn wir jeden Tag neu
die Nachrichten von Mord und Totschlag weltweit hören.
Unsere Daten gehören uns vor allem selbst,
es sei denn, wir verkaufen sie an einen großen Konzern.
Oder der CIA, FSB oder ein anderer Geheimdienst
braucht die, um die Welt zu retten
oder die Menschheit zu beglücken.
Oder um einfach mehr Profit zu machen.
Der Krieg gehört vor allem abgeschafft und beendet,
der Frieden sollte uns allen gehören,
schafft es aber oft nur bis vor unsere Haustür.
Und selbst da nicht durchgehend und dauernd.
Die Gemeinschaft gehört zu dem Wichtigstem,
was wir als Menschen sind und haben,
auch wenn so manche Selbstoptimierung
echte Teilhabe verhindert oder doch einschränkt.
Mein Bauch gehört mir,
heißt es neuerdings wieder etwas lauter,
zu Recht oder zu Unrecht,
darüber gibt es zumindest in den USA
wieder heftigere Auseinandersetzungen.
Wir gehören uns selbst,
sind selbstbestimmt, überwiegend,
sind, wenn irgend möglich, autonom,
handeln und leben nach eigenen Gesetzen,
bemühen uns jedenfalls darum
oder peilen das als hohes Ideal an.
Zu wem oder was gehören wir?
Die heutige Lesung aus dem Jesajabuch hält fest:
Wir gehören zu Gott.
„Fürchte dich nicht,
denn ich habe dich erlöst,
ich habe dich bei deinem Namen gerufen,
du gehörst zu mir."*
Ruft der Prophet Jesaja ziemlich vollmundig seinen Zuhörern zu.
Die hatten sich schon fast damit abgefunden,
dass sie vor allem denen gehören,
die mächtig sind, die was zu sagen haben,
die das Geld und das Land besitzen,
die Geschichte schreiben,
die verantwortlich Politik machen,
die die stärkeren Waffen haben, kurzum:
die gewählt oder selbst ernannt
oder aus eigenem Gutdünken
autokratisch oder diktatorisch
besonderen Einfluss und Geltung für sich reklamierten.
Und die damit weitestgehend Zustimmung
oder zumindest keine nennenswerte Gegenwehr erhielten.
Die Babylonier galten jedenfalls nicht
als allzu zimperlich bei ihren Raub und Eroberungszügen
durch die damalige Welt.
Neben der kriegerischen blutigen Auseinandersetzung
gehörten auch Deportationen und die Entwurzelung der Oberschicht
zu den Standardmaßnahmen, wenn dann auch schon mal die eine oder andere tolerante gnädige Großmacht-Geste durchschimmerte.
Und sie für damalige Verhältnisse als geradezu tolerant, fast schon human und friedlich galten, weil sie nicht alles komplett niederbrannten und ausmerzten,
was ansatzweise nach Widerstand aussah.
Angst und Schrecken gehörte schon immer zum Arsenal derer,
die unterdrückten und knechteten.
Deshalb und genau darum also die sehr steile
und auch mutige Einlassung des Propheten:
„Fürchte dich nicht! Du gehörst zu Gott!"
Egal, wer da sonst noch Besitzanspruch auf dein Leben anmeldet oder durchzusetzen versucht. Und mehr noch:
„Ich habe dich erlöst, sagt dieser Mitgehgott,
ich bin dein Goel (hebräisches Wort an dieser Stelle),
ich bin der Loskäufer,
ich halte dich frei und kaufe dich los",*
egal in welcher Abhängigkeit und Zwangslage
du auch gekommen sein magst.
Ich zahle jeden Preis für dich.
„Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld,
Kusch und Seba an deiner statt."*
Geradezu absurd übersteigert wird hier festgezurrt, welchen Wert das Volk Gottes und alle, die dazugehören bei Gott hat.
Wir gehören uns nicht selbst,
wir sind, weil Gott uns gewollt hat,
dich und mich,
jeden einzigartig und einmalig.
Und weil dieser Mitgehgott uns hält und erhält.
Und diese Zugehörigkeit ist unverbrüchlich und dauerhaft
und währt im Leben und im Sterben.
So jedenfalls hören wir es
in dem zu diesem Text korrespondierenden Wort
aus dem neuen Testament, aus dem Römerbrief, Kapitel 6**:
„Wisst ihr nicht, dass alle,
die wir auf Christus Jesus getauft sind,
die sind in seinen Tod getauft?
So sind wir ja mit ihm begraben
durch die Taufe in den Tod,
auf dass, wie Christus auferweckt ist
von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters,
so auch wir in einem neuen Leben wandeln."
Mit der Taufe sind wir untrennbar verbunden
mit der Geschichte des Jesus von Nazareth.
Durch die Taufe sind wir mit Christus begraben und auferweckt
und haben Anteil an dem Leben, das nie mehr vergeht.
Martin Luther hat diese Zugehörigkeit
einmal bildhaft und sehr drastisch beschrieben:
„Durch die Taufe wird der alte Adam ersäuft
und der neue Adam ins Leben gezogen."
Das Untertauchen des Täuflings zeigt,
dass wir durchaus von der Abwärts- und Todesspirale des Lebens
etwas wissen und immer wieder auch spüren.
Das Auftauchen des Täuflings macht sichtbar,
dass wir uns aufwärts dem Leben zuwenden,
einem Leben, das bei und in Gott verwurzelt ist
und das nie mehr vergeht.
Die Taufe markiert und hält fest:
Wir gehören zu dem Gott,
der uns vom Tod zum Leben bringen kann und will und wird.
Wir gehören zu dem Gott,
der Himmel und Erde gemacht hat,
der Bund und Treue hält für immer
und der nie fallen lässt das Werk seiner Hände,
sondern dieses Werk seiner Hände
im Leben und im Sterben und also auch dann,
wenn sonst nichts mehr hält,
Halt gibt.
Im Holländischen heißt Taufen „Dopen".
Ich mag diesen Ausdruck sehr.
Es ist das einzige Dopen,
dass keine schädlichen Nebenwirkungen
und Suchtfolgen hat.
Wir sind durch die Taufe mit „dem Leben gedopt",
das Gott schenkt.
Und das ist in einer Zeit,
in der reichlich, um nicht zu sagen:
alles und vieles ins Rutschen gekommen ist,
die Ungewissheiten und Fraglichkeiten überproportional steigen
und die lang erarbeiteten Sicherheiten abhandenkommen,
eine wirklich gute Nachricht.
„Keiner von uns lebt für sich allein,
und keiner von uns stirbt für sich allein.
Leben wir, so leben wir dem Herrn,
sterben wir so sterben wir dem Herrn.
Darum, egal ob wir leben oder sterben,
wir gehören zu dem Herrn,
dem Ursprung und Ziel allen Lebens,
dem Herrn über Zeit und Ewigkeit,
dem lebendigen Gott." (Römer 14, 7+8)
Diese Zugehörigkeit bekennen wir zu Beginn des Lebens,
wenn ein Kind getauft wird,
diese Zugehörigkeit bekennen wir beim Abschied eines Menschen,
wenn wir - wie Michelangelo es sagt - die Räume wechseln
und unser irdisches Zuhause mit der himmlischen Heimat tauschen.
Und diese Zugehörigkeit werden wir nicht müde,
für die Zeit zwischen Geburt und Tod zu erinnern,
wenn uns alle Nase lang
andere Zugehörigkeits- und Besitzansprüche begegnen.
Wenn es heißt:
„Ich habe Euer Leib und Leben in der Hand.
Euren Wohlstand, Eure Energieversorgung,
Eure Gaslieferungen, Eure Gesundheit,
Eure Nahrungsmittelzufuhr, Euer Sicherheitsbedürfnis, Eure Zukunft."
Gegen diese angemaßten Besitzansprüche
werden wir heute Morgen erinnert:
Wir sind Gottes. Wir gehören zu Gott.
Und wir gehören zu der Geschichte,
die Gott mit uns Menschen schreibt.
Die in der Ewigkeit verwurzelt ist
und zu dieser Ewigkeit zurückführt.
Die von dem großen Ja Gottes begleitet wird.
Trotz und mit allem, was dagegen spricht.
Und deshalb und darum, so der Apostel,
lasst uns von diesem großen Ja zum Leben etwas weitergeben.
Lasst andere etwas davon spüren und teilhaben,
zu wem wir im Leben und Sterben gehören.
Macht es wie Martin und Luther:
Pflanzt einen Apfelbaum.
Da gibt es zurzeit inzwischen auch eine ziemlich populäre,
recht erfolgreiche Variante zu: Ecosia, die Suchmaschine, bei der man nach etwa 40 Suchanfragen jeweils einen Baum auf den Weg bringt. Zur Zeit sind das weltweit ca. 154 Millionen. Ziel dieser Suchmaschine sind mindestens 1 Milliarde Bäume.
Oder, wem das mit der Suchmaschine zu technisch ist:
Lasst Euch neu von Jesu Wort aus der Bergpredigt inspirieren:
„Stellt euer Licht nicht unter den Scheffel."
So etwas auch Marianne Williamson***,
vorübergehend, (demokratische) Präsidentschaftsanwärterin in den USA 2020, bekennende Christin.
Duckt euch nicht von morgens bis abends weg.
Überwindet die Angst,
dass ihr nicht perfekt oder ungenügend seid.
Dass andere brillanter, großartiger, talentierter sind
oder alles besser können.
Zieht euch nicht in die Nischen zurück,
die man euch überlässt,
aber aus denen so gut wie nie
etwas Entscheidendes und Bedeutendes hervorkommt.
Kirche ist mehr als Aufarbeitungsinstitut für Missbrauchsfälle.
Kirche ist mehr als Statistikamt für Ausgetretene.
Kirche ist mehr als Bürgerbefragung,
wer was noch gerne als Sahnehäubchen und Zuckerstückchen
zum allgemeinen Unterhaltungs- und Eventkalender dazu haben möchte.
Wir sind dazu bestimmt, zu leuchten, sagt Jesus.
Wir sind geboren worden,
um den Glanz Gott, der in uns ist, sichtbar zu machen.
Also mischt euch ein in die zentralen Fragen
der Weltgeschichte und des Lebens.
Sagt, wie die Liebe, das Vertrauen und die christliche Hoffnung einer Gesellschaft Halt geben, voranbringen,
wie sie das Zusammenleben fördern und befördern,
wie sie dem gelingenden Miteinander dienen und gut tun.
Ihr gehört zu Gott.
Durch die Taufe ist eure Geschichte
untrennbar mit der Geschichte Jesu verbunden.
Und in seinem Geist seid ihr dazu aufgerufen,
Salz der Erde und Licht der Welt zu sein.
Und wo das noch nicht voll umfänglich und ausreichend gelingt,
faltet die Hände und bittet Gott um Beistand, Kraft und neue Ideen.
Bittet, so wird euch gegeben,
suchet so werdet ihr finden,
klopfet an so wird euch aufgetan.
Und der Friede Gottes, der höher ist
als alle menschliche Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus,
unserem Herrn.
Pfarrer Daniel Kaufmann
*Jesaja 43,1-5:
1 Und nun spricht der HERR,
der dich geschaffen hat, Jakob,
und dich gemacht hat, Israel:
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst;
ich habe dich bei deinem Namen gerufen;
du bist mein!
2 Wenn du durch Wasser gehst,
will ich bei dir sein,
und wenn du durch Ströme gehst,
sollen sie dich nicht ersäufen.
Wenn du ins Feuer gehst,
wirst du nicht brennen,
und die Flamme wird dich nicht versengen.
3 Denn ich bin der HERR, dein Gott,
der Heilige Israels, dein Heiland.
Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld,
Kusch und Seba an deiner statt.
4 Weil du teuer bist in meinen Augen
und herrlich und weil ich dich lieb habe,
gebe ich Menschen an deiner statt
und Völker für dein Leben.
5 So fürchte dich nun nicht,
denn ich bin bei dir.
**Römer 6,3-4:
3 Wisst ihr nicht, dass alle,
die wir auf Christus Jesus getauft sind,
die sind in seinen Tod getauft?
4 So sind wir ja mit ihm begraben
durch die Taufe in den Tod,
auf dass, wie Christus auferweckt ist von den Toten
durch die Herrlichkeit des Vaters,
so auch wir in einem neuen Leben wandeln."
*** Bestimmt, um zu leuchten
„Unsere tiefgreifendste Angst ist nicht,
dass wir ungenügend sind,
unsere tiefgreifendste Angst ist,
über das Messbare hinaus kraftvoll zu sein.
Es ist unser Licht,
nicht unsere Dunkelheit,
die uns am meisten Angst macht.
Wir fragen uns, wer ich bin,
mich brillant, großartig,
talentiert, phantastisch zu nennen?
Aber wer bist Du,
Dich nicht so zu nennen?
Du bist ein Kind Gottes.
Dich selbst klein zu halten,
dient nicht der Welt.
Es ist nichts Erleuchtetes daran,
sich so klein zu machen,
dass andere um Dich herum
sich nicht unsicher fühlen.
Wir sind alle bestimmt, zu leuchten,
wie es die Kinder tun.
Wir sind geboren worden,
um den Glanz Gottes,
der in uns ist, zu manifestieren.
Er ist nicht nur in einigen von uns,
er ist in jedem einzelnen.
Und wenn wir unser Licht erscheinen lassen,
geben wir anderen Menschen die Erlaubnis,
dasselbe zu tun.
Wenn wir von unserer eigenen Angst befreit sind,
befreit unsere Gegenwart automatisch andere."
Marianne Williamson
2.So.n.Trin., 26.06.2022, Stadtkirche, Jona 3, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.n.Trin. - 26.VI.2022
Jona 3, 1-10
Liebe Gemeinde!
Jona, der nicht wollte, aber musste: Er könnte sowieso der Patron unserer Zeit sein.
Wir hätten ja alle miteinander sehr gern noch weiter so getan, als gäbe es niemals eine Begrenzung unserer Freiheiten, sondern nur deren weltweites Ausufern. Wir hätten durchaus weiter träumen mögen, dass das Gute immer nur zum noch Besseren und nie zum Bösen führen könne. Wir hätten wirklich nichts dagegen gehabt, wenn unser naives Märchen, dass die Menschheit durch ihre eigene Kunst und Weisheit Hass und Leid und Endlichkeit überwinden kann, in die Worte mündet „Und wenn sie nicht gestorben sind …“
Wir wollten lange nichts ändern am Denken, Dichten und Trachten unserer menschlichen Herzen. … Genau wie Jona und genau wie dessen brave Eltern, … genau wie das Geschlecht in den Tagen des Kaisers Tiberius, unter dem - eigentlich absichtslos, wie aus Versehen - Gott ermordet wurde, … und genau wie unsere stolzen Ururgroßeltern in den glänzenden Tagen der beiden Vettern Wilhelm II. und Nikolaus II., die leider in einen Weltkrieg gerieten, dem dann noch ein Weltkrieg folgte und heute - immer noch oder schon wieder oder doch die ganze Zeit - eine Welt voll Krieg und Seuche und Hunger wie in den Tagen des hochverehrten evangelischen Kriegshelden Gustav Adolf oder in den Tagen des lebenslustigen Boccaccio oder in den Tagen des frommen Kaisers Justinian oder in den Tagen des nimmersatten Nebukadnezar oder in den Tagen der Sintflut. …….
Ach, wir wollten es immer anders. Wir meinten es immer gut. Es kam nur immer so gegenteilig aus. Es ging halt immer so gegen unsere Natur, die wir hätten ändern müssen, dass wir es lieber laufen liefen, und so ging es schief. … Weil wir eigentlich doch nicht wollten, sondern nachher immer nur mussten.
Für dieses Geschlecht, das wir sind – die Unwilligen, denen der Wille fehlt, … die Vermeintlichen, die sich nie gemeint meinen, … die Lieber-zu-Späten, weil man nur die Vorschnellen bei ihren Fehlern sieht, während das Scheitern der Zögernden ja im Untergang untergeht –, … für dieses tatenlose, keine Verantwortung übernehmende und allenfalls bloß Bedenken tragende Geschlecht, das wir sind, ist die kleine Geschichte des Jona die größte.
Nicht wegen seines salto mortale ins Meer, bei dem er kopfüber - die anständigste Tat seiner Flucht in die Sonne! - dem Tod in den Rachen sprang, um die restliche Mannschaft zu retten, sondern wegen seiner Demütigung in Ninive.
Denn was dem Mahner wider Willen, dem lustlosen Rufer und entschlossenen Nicht-Propheten da widerfuhr, das war das, was auch wir so gar nicht gern hätten: Es war der Erfolg, den wir fürchten. Es war das Gelingen, vor dem wir kneifen. Es war der Neuanfang, den wir alle zu den Akten gelegt haben.
Schlimmer als das Verschlungenwerden vom Ungeheuer war ja das Ausgespucktwerden in einer anderen Welt und neuen Zeit für den Jona. … Weil die Niniviten tatsächlich taten, was ihm so unheimlich war: Sie folgten dem Wort, das er floh. Sie glaubten die Botschaft, von der er schweigen wollte. Sie beschlossen zu leben, wie es ihm undenkbar schien. Sie kehrten um, wo er sich abgekehrt hatte.
Viele Propheten in der Bibel kennen das Leid, Recht zu behalten: Jeremia etwa hat wie kein Zweiter erleiden müssen, dass sich seine leidenschaftlich warnende Drohpredigt als wahr erwies. Und auch Johannes der Täufer, dessen Feiertag vorgestern war, hat die Botschaft vom kommenden Zorn und das Wort von der Axt, die den Bäumen schon an die Wurzel gelegt ist (vgl. Matth.3,10), am eigenen Leib erfahren. So wie Jesus das Gericht über die Sünde, von dem seine Verkündigung - wie in der heutigen Lesung (Lk.14,15-24) - wahrhaftig auch durchzogen ist, ganz und gar in eigener Person erlitten und gebüßt hat.
Kein anderer Prophet außer Jona aber hat es als ein solches Unglück erlebt, dass sein Rettungsruf beherzigt und seine Wegweisung befolgt wurde. Kein anderer Prophet wurde von seinen Hörern dadurch bloßgestellt, dass sie ihm vertrauten, während er selbst nicht teilen mochte, was er ausrichtete.
Ninive kehrte um und Jona kehrte sich wiederum ab von dem Gott, Der zur Gnade ruft.
Er hatte Gott aus Zweifel nicht folgen wollen. … Und als andere es taten, verzweifelte er wirklich an Ihm. Setzte sich schmollend unter den Strauch über der Welt, sah verächtlich herab auf die Zivilisation, der er einen Ausweg aus dem Verderben gewiesen hatte, und wollte dass es vorbeigeht, dass es endet, dass es aufhört.
Jona, der Gottes-, der Gerichts- und erst recht der Gnadenflüchtling … Jona will nicht zum Zeugen des Lebens werden. Wenn, dann Tod. … Und doch muss er. ———
Doch jetzt: Butter bei den Walfisch! --- Worum geht es hier konkret? … Wie übersetzen wir das Wunder von Ninive in die Weltkrisenzeit von heute?
Ein naheliegender Versuch müsste es sein, auf unsere verstockte Weigerung zur praktischen Umkehr zu blicken. Seit genau fünfzig Jahren – seit dem legendären Club-of-Rome-Bericht, der unter volkswirtschaftlichen, techniktheoretischen, naturwissenschaftlichen und kulturphilosophischen Gesichtspunkten der freien industrialisierten Welt die „Grenzen des Wachstums“ vor Augen stellte – ist der Ruf zu ökonomischer und ökologischer Umkehr und Erneuerung im Generalbass der Weltmelodie nie verstummt, … aber auch nie gehört worden.
Seit den achtziger Jahren haben dann die Kirchen, teilweise in schier monomanischer Konzentration den konziliaren Prozess für „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ in den Rang eines zentralen Glaubensartikels erhoben, der das Nord-Süd-Gefälle der Weltwirtschaft und die Kapitalismuskritik, das Bemühen um Nachhaltigkeit und teilweise utopische, immer identitärer funktionierende Gerechtigkeitsideologien in den Mittelpunkt rückte.
Befreiungs- und Friedens- und Frauen- und Freitagsbewegungen haben nachdrückliche, provokante, berechtigte Forderungen in jeden Winkel der Privatwelt wie der Gesellschaft getragen, so dass wer Ohren hat zu hören, hätte hören können, bis ihm die Ohren gellten.
Wie wenig aber sich bewegt hat, wie träge nicht nur die anderen, sondern Du und ich selbst sind, obwohl es immer unbestreitbarer wurde, dass die Forderung aller Propheten - jene Forderung, die elegische Dichter genauso wie philosophische Harlekine theoretisch populär machten[i] - praktisch überlebensnotwendig geworden ist: „Du musst dein Leben ändern!“ …, wie wenig sich bewegt hat, wie träge wir sind, das könnte der Anreiz sein, heute nach Ninive zu blicken und alle die wichtigen, lästigen, endgültigen Reiz- und Rettungsthemen unserer Zeit noch einmal mit Wucht und Pathos zu beschwören:
Jetzt endlich, nach fünfzig Jahren müssen wir den manischen Konsum bremsen und das Nichtverbrauchen von Materie als heiliges Gebot der Ehrfurcht und Dankbarkeit achten; jetzt endlich muss der räuberische Mensch seine Schuld an allen Mitgeschöpfen durch ein Hüte-Amt als Pfleger und Heiler der zerstörten Natur sühnen; jetzt endlich müssen die Lügen und Rechtsbrüche der Gattung, die sich auf Wort und Vernunft gründet, benannt und beendet werden, indem ein langsames und langes Zeitalter des Genügens und der Rücksicht den Rausch der brutalen Zukunftsverbrennung durch’s Verheizen der organischen Vergangenheitsspeicher entgiftet. Jetzt muss endlich die überdehnte und überdrehte und überforderte Herrschaft der Anspruchsdenkenden aufhören und eine Bewegung radikal solidarischer Gemeinschaftsleute eintreten.
… So könnte man ohne jeden Zweifel und mit jedem Recht die erschütternde Volksbewegung aktualisiert predigen, die in Ninive kurz vor der Stadtmitte begann: Eine Tagereise weit war Jona in’s Gewimmel der dreimal so weit sich erstreckenden Stadt vorgedrungen, als die Menschen dort mit der Metamorphose, mit der Transformation, mit der Erneuerung an Haupt und Gliedern, mit der fastenden Revitalisierung degenerierter Menschen und Tiere begannen.
… Im Dreitage-Schema, das die Ausmaße Ninives beschreibt, hören wir natürlich den Abstieg in das Reich des Todes anklingen, der die drei Tage zwischen Karfreitag und Ostern ausmachte. Am ersten Tag also, der der letzte war, am Todestag des Karfreitag ging in Ninive die Umkehr los, die dann über den König und alle Kreaturen in ihr die Stadt zur Auferstehung, die Stadt zur Gnade neuen Lebens führte.
… Das könnten wir mit Fug und Recht in dieser Karfreitagsepoche der Weltgeschichte also aktualisieren: Der Klimawandel ist da, die tödlichen Dürren und tödlichen Fluten, der tödliche Hunger und der tödliche Meeresanstieg sind allesamt schon Realität. Das Mikroreich der Krankheitserreger gärt, die Bäume brennen, die Erde bebt und im Osten blitzt die Makromöglichkeit totaler Weltauslöschung im Atomkrieg fahl auf. …Willkommen im Reich des Todes!
In dieser globalen Topographie der Sünde und des Sicherheitsverlustes ist es gewiss eine Glaubenstat, wenn trotz alles frustrierenden Nihilismus nun zu politischen, ökologischen und sozialen Paradigmenwechseln aufgerufen, … ja, aufgeschrien wird! Die Menschheit im Inferno, die Menschheit nahe am Nabel der Stadt Ninive muss hören, dass es trotz der Zeiger, die nach Mitternacht stehen, die Botschaft vom dritten Tag gibt (vgl. Hosea6,2), die Botschaft dessen, der drei Tage und drei Nächte im Leib des Seeungeheuers verschlungen war (vgl. Jona2,1), die Botschaft von ihm, der am dritten Tage nach der Schrift auferstanden ist (vgl. 1.Kor.15,4), … und dass diese Botschaft auch heute gilt und Widerstandskraft, Hoffnung und Perspektive schenkt. – Und so wird ja bestimmt viel gepredigt heute, … politisch, ökologisch, sozial.
… Aber im Namen der Niniviten geschieht das nicht mit letztem Recht! Denn so unzweifelhaft viel biblische Prophetie harsche Sozialkritik enthält und sich parteiisch im Namen Gottes gegen Korruption, gegen Ausbeutung und Vermögensungleichheit, schlicht gegen jede Bedrohung des Rechts und Lebens der Schwachen durch Eliten und Machthaber richtet, so verblüffend ist das Buch Jona im Blick auf die Botschaft, die der Prophet dem heidnischen Volk in der Weltstadt Ninive ausrichten sollte. Jona, der erste Apostel an die Völker der Welt, der erste Gesandte, der nicht das erwählte kleine Israel, sondern eine antike Großmacht außerhalb des heilsgeschichtlichen Rahmens ansprechen sollte, empfing keine ethische Weisung oder politische Forderung.
Das Wort des HERRN, das zweimal an ihn erging[ii], war nur von grandioser Einfachheit: „Sage Ninive, … sag’ der Menschheit, … sag’ der Welt: Ihre Bosheit ist vor mich gekommen.“
Also: Sag’ der Welt: Ich sehe!
Sag’ den Menschen: Sie stehen vor Mir!
Und darum sag’ allen: Es ist nicht alles gut!
……. Mehr nicht! Den Untergang nach vierzig Tagen hat Jona der Wirkung halber dazuerfunden oder seine Hörer haben sich den entsprechenden Reim auf seine Verkündigung gemacht. Von Gott aber kam nur das: „Ich sehe euch vor Mir mit allem, was nicht gut ist!“ … Nur dies erschütternde und zugleich trotz allem so tröstliche Echo des Ursprungs, als alles gut war mit allen Geschöpfen, die Der gemacht hat, Der im Anfang nicht Dunkelheit, sondern Licht rief.
Nur das!
Dass alles und alle mit ihrem Recht und Unrecht, mit ihrem Segen und ihrer Schuld vor Gott stehen. Bemerkt. Begleitet. Berufen. Verantwortlich. —————
Denken wir darüber nach.
Wie wenig ist das: Der eine Satz, der die Wirklichkeit mit Gott verbindet. Der also auch das Böse und Traurige und Grausame nicht einfach gottlos lässt. ——
Kein Forderungskatalog. Kein Rettungsplan. Kein Programm.
Und trotzdem der Satz, von dem wir glauben dürfen, dass er wichtiger ist als jeder andere.
Denn dieser Satz – genauso schmucklos und unerklärt, wie bei Jona – fehlt der Welt.
Dieser Satz, der sie in einen Atemzug mit Gott bringt.
Ohne Schlussfolgerungen und - wohlgemerkt! - auch ohne Drohung. Einfach nur dieses unerschütterliche: „Du stehst vor Gott!“
Längst haben wir erprobt und herausgefunden, dass alle anderen Sätze, mit denen man diesen als zu karg, zu stark oder zu leer empfundenen Satz widerlegen oder überbieten wollte, nur Trostlosigkeit und Horror erzeugt haben.
Als es hieß: „Du stehst als Gott“, da wurde nicht weit von Ninive Babel errichtet: Die Welt der menschlichen Hybris, deren Bauplan noch den Gedankengebäuden der Gegenwart zugrunde liegt.
Und als daraus die verzweifelte Verneinung wurde: „Du stehst ohne Gott!“, da begann das wirklich Moderne unserer Gegenwart: Die Welt der Einsamen, die sich unbeachtet wähnte und nicht merkte, wie sie alle Selbstachtung und alle Achtung vor anderen verlor, als sie Den ausblendete, Der auf jeden achtet.
Dass wir vor Gott stehen, ist gleichzeitig die Quelle alles Aufrichtenden wie Aufrichtigen.
Dass wir vor Gott stehen, legt ersten Grund und setzt letzte Verantwortung.
Dass wir vor Gott stehen, gewährt uns höchste Auszeichnung und trägt uns höchste Pflichten auf.
Dass wir nicht in Zufälligkeit entstanden und nicht in Sinnlosigkeit vergehen, sondern dass unser Werden sich vor Gottes Angesicht vollzieht und dass Alles von Gott Angesehene und Vorgesehene durch Seine Vorsehung teilhat an Seiner Ewigkeit: Das sagt der eine Satz von der Wirklichkeit, die in ihrer Verderbnis ebenso vor Gott ist wie in ihrer ursprünglichen Reinheit.
In Ninive hat die Botschaft, dass Gott ist und sieht, alles Leben gerettet. ————
Denken wir darüber nach.
Diese Botschaft rettet auch heute.
Gott sieht die Welt. Und als die Welt in Ninive ihre Augen aufschlug und Seinen Bick erwiderte, da fand sie Gnade.
……. Vielleicht wollen wir nicht so einfach, so schlicht denken, reden und glauben.
Aber um Ninives willen, um des Überlebens der Menschheit willen müssen wir.
… Zu Zeugen des Lebens werden. Zu Zeugen Gottes!
Amen.
[i] Rilkes ästhetizistisches Credo von 1908 - „Du musst dein Leben ändern“ -, mit dem sein Gedicht „Archaïscher Torso Apollos“ endet, wurde von Peter Sloterdijk in seinem gleichnamigen Buch von 2012 in den Kontext der (philosophischen) Lebensstil und -kunst-Fragen der Krise unserer Zivilisation gestellt. Beide, das poetische wie das polemische Manifest haben den jeweiligen Zeitgeist mit dem prophetischen Pathos, das sich im Lebensänderungs-Appell verdichtet, popularisiert.
[ii] Der Inhalt der dem Jona aufgetragenen Gottesbotschaft wird tatsächlich nur in Jona 1,2 zitiert! Es gehört zu den humoresken Doppeldeutigkeiten, an denen das Buch Jona reich ist, dass die scheinbar stilechte Untergangsbotschaft, die man mit einer prophetischen Sendung unwillkürlich assoziiert, eben nicht als direkte Gottesrede begegnet. Das Spiel mit diesem Missverständnis, als sei Prophetie zwangsläufig und ausschließlich Drohung, setzt der Text also bewusst ein. Und steigert damit noch die Gnade Gottes, um Dessen eigene Umkehrbereitschaft es ja vor allem in diesem Buch geht. Das „Übel, das er ihnen angekündigt hatte“ (3,10) und das Gott gereut, hat ja innerhalb des Textes ein offenes Subjekt: Offenbar tut Gott ja leid, was Jona angekündigt hat. Gott kehrt also stellvertretend für den auf Zweifel und Unheil versessenen Propheten um. Das ist reine Christologie!
Trinitatis, 12.06.2022, Stadtkirche, Römer 11,33-36, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Trinitatis - 12.VI.2022
Römer 11, 33-36
Liebe Gemeinde!
Sherlock Holmes und Miss Marple, Pater Brown und Kommissar Maigret, Emil Tischbein und Kurt Wallander - von den Schimanskis, den Lindholms oder Odenthals, den Batics und Leitmayrs, den Ballaufs und Schenks, den Thiels und Professoren Boerne ganz zu schweigen - … diese Detektive und Inspektoren sind langfristig ohne jeden Zweifel sämtlich gut für den Blutdruck: Zwar muss man Schock und Spannung, muss Hängen und Würgen aushalten und ein bisschen Gänsehaut, ein wenig Zittern und stockenden Atem ertragen, aber wenn der Buchdeckel zugeklappt, der Abspann vorübergeflimmert ist, dann ist die Sache geritzt. Der Fall findet seine Lösung. Das beruhigt die Nerven schließlich mehr, als der ganze Krimikitzel sie bewegt hat. Und darum schläft Deutschland am heiligen Sonntagabend so gern auf dem Tatortsofa ein.
… Mord und Mystery machen uns Spießer zufrieden, weil sie am Ende ordentlich geklärt werden. … Und Ordnung muss nun mal sein. Lösungen müssen her. Klarheit soll herrschen. Der Müll wird sortiert und jedes Rätsel mit Geduld und Spucke eingespeichelt, bis es der widerstandslose Brei ist, mit dem wir am besten fertigwerden. Mag also auch die Schale rauh sein: Im Kern erwarten wir immer nur Weichheit.
… Wo kämen wir auch hin, wenn die Dinge hart und unrund blieben, wenn sie ihren Stachel, ihre unnachgiebige Verschlossenheit nicht schließlich doch aufgäben? … Was wäre das für eine Welt, in der die Nüsse sich nicht knacken lassen, in der das Unverständliche nicht vernebelt und das Erschütternde nicht kleingeredet, wegretuschiert oder den Dummen überlassen wird, die nicht kapieren, dass man sich seine Wirklichkeit aussuchen kann, wenn man nur ein bisschen gewieft ist?!
Machen wir’s uns also weiter gemütlich. Alles andere ist schließlich nervenaufreibender als jeder Krimi es sein könnte!
……. Unlösbare Fragen, nicht aufzuklärende Fälle? … Eijeijei.
Wo Schwierigkeiten unlösbar sind, bieten sich ja doch nur drei Möglichkeiten: Endloser Kampf, unversöhnte Kapitulation oder demütige Unterwerfung. Alle drei dieser schrecklich nach der militärischen Wirklichkeit unserer Tage klingenden Optionen sind aber erkennbar bitter.
Wenn die Ukrainer bis zum Untergang kämpfen müssten, wäre es genauso tödlich wie ein vergeltungsträchtiges Besiegt-Werden; und ein hingenommener Waffenstillstand, dem die Fremdherrschaft eines barbarischen Tyrannen folgte, wäre ebenfalls katastrophal. ——
Gibt es also keine Alternative, als bloß die leichte Schulter oder die tragische Ergebung in’s Verhängnis, wenn es um die Sackgasse geht, in die die Welt oft führt?
Zunächst müssen wir uns wohl daran gewöhnen, dass wir tatsächlich in einer Klemme sitzen:
Da machen die einen sich die letzten sonnigen Tage - schließlich könnte es nächstes Jahr sogar wieder Zinsen geben!!! -, eh die Zerstörung der Welt mit Wucht losgeht, noch einmal dekadent nett, während die andern längst betrogen und entwurzelt im gestaffelten Verderben stecken. … Aber etwas Verzicht auf exotische Cocktails am Pool oder ein paar agile Gerettete, die vor dem Tsunami vorübergehend nochmal Boden unter die Füße kriegten, die sind ja nun weder so noch so die Lösung. … Keine Lösung also, nur Komplexität. …….
Oder in der anderen Frage, der augenblicklich akuteren, die uns bewegen muss: Pazifismus ist keine Lösung im Angesicht real-radikaler Aggression, und die dringend nötigen Waffenlieferungen sind keine Lösung für die Gemeinde dessen, der in der Bergpredigt die Friedfertigen seligpreist. Wer also selig werden will auf dem Weg der Friedensethik, wird blutig schuldig, weil er lebensnotwendige Hilfe verweigert, und wer schuldig wird auf dem Weg der konkret gebotenen Verantwortung, der kann nicht die Seligkeit der wehrlosen Kinder Gottes erwarten. Die politische Tatenlosigkeit und Verzögerungstaktik aber versündigt sich sowohl am Gebot wie am Evangelium. … Keine Lösung also, nur Komplexität! …….
… Und kein Bienzle und kein Bond, die mit ihrem untrüglichen Gespür das Verworrene auseinanderpflücken bis alle Enden glatt sind und sich die unumstößliche Auflösung zeigt. ——
Ein solches frustrierendes Lebensproblem hatte nun auch Paulus: Seit Damaskus, seit der von Saulus verfolgte tote Betrüger von Golgatha ihm als die lebendige Wahrheit vom Himmel her in die Quere gekommen war, konnte der Weg des Paulus nicht mehr logisch verlaufen. Sein neues Ziel war für seine alten Lehrer die schlimmste Verirrung; was er erreichen wollte, sahen fast alle seiner Genossen als reine Zerstörung an; die er zum Heil rufen wollte - seine geliebten Blutsverwandten und Glaubensbrüder - argwöhnten seinen völligen Abfall. Paulus, der leidenschaftliche Pharisäer, der Frömmste der Frommen erschien denen, die er retten wollte, als Verderber, und denen, für die er warb, war er unheimlich. Die Jünger des gerechten und wunderwirkenden Jesus von Nazareth zweifelten an ihm, und die anderen Schüler des weisen und gerechten Lehrers Gamaliel in Jerusalem verzweifelten an ihm. …
… Wer sollte den Knoten lösen? … Wer sollte das Rätsel entwirren?
Den Heiden bot er das Heil Israels an, das viele gar nicht suchten, und den Juden konnte er ihren Messias nicht vermitteln, obwohl der ihn doch gefunden hatte.
Komplexer, irritierender, frustrierender geht es auch in unserem Leben und Denken nicht zu;
widersprüchlicher stehen Wollen und Vollbringen, Problembewusstsein und Lösungsmöglichkeiten auch bei uns nicht in Spannung zueinander. ——
Eigentlich schlägt in solchen vertrackten Situationen ja tatsächlich meistens die Stunde der Vereinfachung. Wenn die widerstreitenden Argumente, die gleichwertigen Gesichtspunkte, die unversöhnlich diametralen Prinzipien sich einfach nicht in ein harmonisches Gefüge bringen lassen wollen, dann fällt halt eins hinten runter.
Wir kennen das ungeschriebene Gesetz ja zur Genüge: Der Markt von heute oder der Mensch von morgen; eine Mehrheit der Stimmen oder die Stimme der Wahrheit; die rasche Zufriedenheit oder das nur langsam zu gewinnende Gleichgewicht … Man kann nicht beides haben – was also soll’s? Eins geben wir auf.
Paulus aber tut genau das nicht.
Der Heidenapostel gibt die Juden nicht auf. Der unterschiedslose Wohltäter vieler Völker hält dennoch am Heilsvorsprung des einen Volkes fest. Der Missionar, der die weltweite Kirche der späteren Antisemiten anstieß, wird doch nicht müde die umgekehrte, positive Diskriminierung zu bezeugen: „Das Evangelium gilt den Juden zuerst, (und) dann auch den Griechen“ (Rö1,16)!
Paulus, konsequent, messerscharf, haltungsstark und völlig unabhängig wie vielleicht kein zweiter unter den Botschaftern Jesu Christi, ist am entschiedensten vor allem anderen kein Mann des Entweder-Oder!
Unsere primitive, weil aus der Frustration geborene Logik eines „Wenn nicht links herum, dann eben rechts“, ist eben ganz und gar nicht das Denkmuster des Verkündigers der Rechtfertigung allein aus Glauben.
… Fängt also mit Paulus schon die Wischi-Waschi-Verlegenheit der Kirche an?
Diese haarsträubende Spezialität besonders der evangelischen Sprechblasen- und Nebelkerzen-Produzenten, die’s nie wagen, etwas rundheraus zu behaupten und zu vertreten, sondern immer im Kompromiss baden und also die Meinungen Dritter, die Gefühle Anderer, die denkbaren Hindernisse so sehr betonen, dass jede klare Kontur verschwimmt und man nur das scheußliche Gefühl bekommt, alles Gesagte sei Soße und alles Geschriebene Schaum?
Ist Paulus also verantwortlich dafür, dass wir im unverbindlichen und darum offenbar auch völlig unnötigen Sowohl-als-auch für ein bisschen Krieg und ein bisschen Frieden, ein bisschen assistierten Suizid und ein bisschen Lebensschutz, ein bisschen Bibel und ein bisschen Koran, ein bisschen schwäbische Frömmigkeit und ein bisschen Frankfurter Kritische Theorie und praktischen Atheismus stehen? … ——
Wenn wir so fragen, fehlt es uns in erster Linie nicht an Klarheit, sondern an geistlicher Tiefe.
Dass viele unserer eigenen und viele der öffentlich amtskirchlichen Positionen unklar, unentschlossen, quälend dialektisch und also unbefriedigend sein mögen, wo sie’s nicht sein müssten, lassen wir dahingestellt sein.
… Denn mit Paulus und seiner Weigerung, die Heilshoffnung der Juden zu opfern, um die Universalität seines Christuszeugnisses zu unterstreichen, betreten wir ein anderes Gebiet, als das der menschlichen Exklusivitäts-Logik.
Mit Paulus, der kein Entweder-Oder predigen kann, stehen wir vor dem wirklichen Gott, Der mehr ist, als alle unsere Vereinfachungen! —
Das Wesen des lebendigen Gottes ist eben nicht jene Einfalt, mit der wir einen Fall für abgeschlossen, eine Frage für geklärt halten.
So sind, so denken, reden und handeln wir Menschen. Unsere Person, unser Verstand, unser Fassungsvermögen und unser Einsatz sind von Natur aus einfach: Das bin immer nur ich Einer, der da lebt und reflektiert, der da kommuniziert oder agiert. Es ist nie mehr als nur das eine Ich allein.
Doch gerade so ist der Gott, von Dem, durch Den und zu Dem alle Dinge sind, nicht: Er ist in Sich das tiefe und das weite „Und“; Er ist die hohe und die innige Vereinigung, die wir niemals erreichen können, weil das Verbindende, das Versöhnen, der Zusammenhalten an unserer Vereinzelung scheitern muss.
Wir können nur erkennen, was zeitlich ist. Gott indes ist nicht einmal an die Ewigkeit gebunden.
Wir können nur begreifen, was unsere Sinne berührt. Gott dagegen bedarf keiner Organe, denn in Ihm sind die Wirklichkeit und die Möglichkeit, das Materielle und das Geistige selbst inbegriffen.
Wir vermögen nicht mehr wahrzunehmen und nichts anderes zu bewirken, als was uns ursprünglich zugänglich ist. Gott jedoch, weil Er selber die Offenheit ist, Der sich alles verdankt, in Der nichts ausgeschlossen sein kann und bei Der alles sein Ziel findet, … Gott übersteigt und Gott verknüpft das Vergängliche, das Noch-nicht-Seiende und die zeitliche, räumliche Schrankenlosigkeit in einer unlöslichen, unerforschlichen und unendlichen Gemeinsamkeit des für alle Geschöpfe Unzähligen und für den Schöpfer Unzertrennlichen.
… Dass Gottes Wesen also den Einen, die Vielen und darin Alles umfängt, …
… dass Er Beginn, Dauer und Vollendung zugleich gewährt, …
… dass in Ihm Wort und Fleisch und Geist der Selbe sind, …
… dass Er in sich die unverbrüchliche Identität von Geber, Gabe und Geben ist, …
… dass Gott nicht als Gott allein, sondern als Mensch erkannt werden will, und dass Er diesen Bund nicht nur als wundersames Ereignis, sondern in ewiger Wirklichkeit beschließt, vollzieht und bezeugt, …
… dass Gott also nicht einfach, sondern komplex, unglaublich, ununterscheidbar und dennoch nicht versteinert ist, … nicht versteinert, sondern bewegt von Liebe, erfüllt von Liebe, getrieben von Liebe, souverän in der Liebe, leidend aus Liebe, sterbend aus Liebe - unsterblicher Liebe! -, … dass Gott so viel mehr, so viel mehr, so viel mehr ist, als unsereiner - unser „Einer“! - jemals auch nur ahnen, nur vermuten, nur träumen kann, das ist der Grund weshalb Paulus nicht in schlichter Exklusivität denken, sprechen oder hoffen kann. —
Es ist – wenn wir es mit dem heiligen Gott, dem Gott des Liebesbundes, dem Gott des Himmels, der Erde und der Tiefe zu tun haben – … es ist unmöglich und unsinnig und unverzeihlich, wenn wir abschließend oder ausschließend von Gott oder zu Ihm sprechen wollten!
Das verbieten Demut und Weisheit gleichermaßen!
Die Torheit und der Stolz des Menschen, die ihn immer wieder verleiten zu behaupten, er sehe, wisse, urteile und vollziehe die Wahrheit, … die müssen stumm werden in heiliger Ehrfurcht und brennendem Verlangen und niemals zu erschöpfender Liebe, wenn er Gott zu spüren, zu vertrauen, zu erwarten beginnt.
Ein Mensch, der - so wie Paulus - existentiell erfährt, dass schon der irdische Sinn unserer Erfahrungen und Probleme sich nicht in simple Eindeutigkeit, in platte Basta!-Sprüche fassen lässt, der gibt nicht etwa seinen Verstand auf, sondern erweist ihm überhaupt erst Ehre, wenn er vor Gott und von Gott nicht in dummdreister Vereinfachung spricht.
Es ist also keine Feier der Irrationalität, sondern die erleuchteteste Einsicht, wenn ein Mensch, der denken und unterscheiden kann, das Unbegreifliche Gottes, die Unerforschbarkeit Seines Geheimnisses bekennt!
Wer die Welt als Sonntagabendkrimi, als kleine Denksportübung für Hobby-Spürnasen, als Unterhaltungsformat mit garantiert publikumsfreundlicher Pointe betrachtet, der hat nichts, gar nichts auch nur von Ferne von Dem erfasst, Der unser Gott ist.
Alles an Ihm ist wunderbar und unerklärlich. Seine Liebe zu uns und Seine Schöpfung haben keinen Grund, … kein Ende.
Sein Zorn, Sein Richten, Sein Zubereiten und Zurechtbringen gehen über unser sämtliches Fassungsvermögen, und Seine Gnade reicht tiefer, weiter, als die abstraktesten Formeln des menschlichen Geistes.
Niemand hat es je auch nur in abgeleiteter Annäherung streifen können, wie überwältigend die Wirklichkeit Gottes ist und niemand könnte sich je einbilden, sich auch nur einen Schatten dessen angeeignet zu haben, was Gott vermag, worüber Er gebietet und was Er schenkt.
Gott zu begegnen, heißt darum nicht, die Lösung zu finden, sondern die Unendlichkeit.
Gott zu erkennen, heißt nicht zu wissen, wie es endet und warum, sondern anzubeten, dass es ist und war und bleiben wird, wie Er es wollte, … wie Er es will.
Gott also, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, der Heilige, der Starke, der Unsterbliche, ist nicht die Erklärung, sondern das Geheimnis, … nicht die Begründung, sondern die Vertiefung, … nicht das fehlende Puzzlestück, sondern die immer schon und noch nie dagewesene Vielzahl aller Einzelheiten.
… Der Dreieinige, der nicht dieser, dies und das ist, … sondern Alles – Der ist kein Fall, den man löst, keine Komplexität, gegen die man rebellieren oder vor der man kapitulieren müsste.
Der dreieinige Gott ist schlicht die höher als alle unsere Vernunft und weiter als unser Wissen - und Wünschen! - reichende Wahrheit, die wir anbeten!
O welch eine Tiefe des Reichtums, beides der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!
Ihm sei Ehre in Ewigkeit!
Amen.
Pfingstsonntag, 05.06.2022, Stadtkirche, 200.Jubiläum des Amtsantrittes von Theodor Fliedner in Kaiserswerth, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Pfingstsonntag - 5.VI.2022
200 Jahre seit Theodor Fliedners Amtsantritt in Kaiserswerth[i]
Liebe Gemeinde!
In allem, was geschieht, stoßen wir auf den Geist.
… Kann man so sprechen in Tagen des Krieges und der Katastrophe??
… Man muss: Wenn wir die Welt als unerreichbar oder verschlossen für Gottes Geist sähen, dann wäre das Licht verloschen, dann ginge das Wasser des Tohuwabohu über alles und verschlänge, was noch bleibt von der Welt und ihrer Zeit im Sog des Chaos. Doch schon über dem ersten Tohuwabohu schwebte der schöpferisch brütende Geist (vgl.1.Mose1,2) und über den Wirbeln des Weltendes wird er genauso seine bergenden Schwingen breiten. In allem also, was geschieht, stoßen wir auf den Geist. Das ist gewiss.
… Ob aber alle Geschichte darum auch geistvoll auf uns wirkt, das darf man fragen.
… Oft werden wir auf den rohen Stoff der Welt – früher nannte man es „das Fleisch“, heute nennt man es „das Materielle“ – als stärksten Trieb und sichtbarstes Ergebnis dessen stoßen, was man Geschichte nennt. Das ist dann der rationalistische Blick, der beobachten kann und gut ist im Zählen und Erklären, der aber nicht wahrzunehmen vermag, was unerklärlich bleibt und nur erzählt werden will … oder staunend anerkannt … oder gläubig angebetet.
*******
Wenn man nun aber – weil wir zweihundert Jahre zählen, seit die Geschichte begann, die aus der verlassenen und zum Verschwinden verurteilten evangelischen Kirchengemeinde, die heute wir sind, etwas Unerhörtes und Unvergessliches machte – … wenn man nun aber auf die Zeit und Gestalt zurückblickt, die aus einer abgewirtschafteten Winkelsekte am Niederrhein ein prägendes Kraftfeld der Menschenliebe gemacht hat, … dann entdeckt man zunächst nichts vom Geist, sondern erschreckt.
… Man erschreckt sich, wie unvorstellbar spröde, wie zwanghaft, wie neurotisch und lächerlich der junge Th. Fliedner, der Anfang 1822 hier, in dieser Kirche in sein Amt eingeführt wurde, tatsächlich war.
Er war ein typisches Kind jenes Jahrhunderts, in das er gerade nicht mehr gehörte: In den allerersten Tagen des 19.Jahrhunderts geboren, war es doch geprägt vom Geist der Aufklärungszeit. Die heiligste Dreieinigkeit, der er diente, hieß nicht Vater, Sohn und Geist, sondern Vernunft, Tugend und Zivilisation. Er war ein rationalistischer Moralist, wie viele seiner Lehrer und Amtsbrüder unter den Geistlichen damals, die der Argwohn gegen jeden Überschwang an Glaube, Hoffnung und Liebe in die engen, nüchternen, phantasielosen Bahnen eines volkserzieherischen Selbstverständnisses zwang. Man verbesserte den Ackerbau und die Tischmanieren, man bildete sich und andere im redlichen Geist bürgerlichen Gewerbefleißes und nichtrevolutionärer Sittlichkeit und man strebte nach Form und Inhalt dessen, was als Kultur betrachtet wurde: Maß und Selbstkontrolle des Denkens und Fühlens, durch die das menschliche Los positiv vor allzu extremen Erfahrungen und Reaktionen geschützt werden sollte.
Wer diesen jungen Kandidaten der Gottesgelehrtheit, diesen pedantischen Hauslehrer und pathetischen Neu-Pfarrer Theodor Fliedner vor Augen hat, wer sein quälendes „Selbstprüfungsbuch“ durchblättert[ii], in dem er sich peinlich akkurat benotet, wenn er nach eigenem Eindruck anständig, salbungsvoll und diszipliniert genug war, … wer also denjenigen, dem wir die besondere Geschichte unserer Gemeinde verdanken, zunächst kennenlernt, dem wird alles, … außer pfingstlich zumute sein: Da ist so gar nichts schrankenlos Beschwingtes, nichts, das frei atmet oder ausstrahlt, nichts von energischem Aufbruch oder spontaner Leidenschaft. Nur ein konventioneller, ziemlich von sich selbst bewegter kleiner Kulturprotestant, der sich ab und zu hohle Phrasen leistet – wenn er bei seiner Ordination am Altar das Vorbild und den Geist des verstorbenen Vaters um Segen anruft und ihm Nachahmung schwört[iii] – und der ansonsten - wie jeder Gutmensch heute - sich selber als missionarisches Vorbild des Richtigen sieht und darum nichts ernster nehmen kann als sich selbst.
Diese kleinkarierte und doch gernegroße Eigenschaft derer, die verkrampft an ihrer Selbstverbesserung arbeiten, müsste uns ziemlich vertraut sein:
Wie sehr die Beschäftigung mit den eigenen Leistungen und Bildern, den eigenen Blutwerten und Fußabdrücken, der eigenen Beliebtheit und Beispielhaftigkeit von links bis rechts, von öko bis turbokapitalistisch unser Leben bestimmt, ist deutlich.
Bei Theodor Fliedner könnte man die ständige Selbstbeschau und Selbstbewertung, die ständige Selbstkritik und Selbstkorrektur durchaus als eine Gestalt des Heiligungsstrebens[iv], der strengen ethischen Selbstzucht bewerten, die so typisch für das reformierte Erbe war. Solche Gesetzlichkeit ist noch einmal verstärkt aus der Verbindung von evangelischem Bekenntnis und rationalistischem Menschenbild als Mischprodukt zwischen aufgeklärtem Optimismus und negativer Katechismus-Pädagogik hervorgegangen. Aber wenn der eben 22-jährige Fliedner in schlechtem Schiller-Stil schreibt: „So kehre, du heilige Ordnung, Tochter des Himmels, mit deiner Schwester Ueberlegung, kehre wieder in mein Herz und mein Haus ein!“[v], und wenn eine intensive Reflektion seines Amtes und seiner Vorsätze in dem Vorsatz gipfelt „Jesus Christus sei mein Vorbild, und der edle Paulus mein zweites Muster“[vi], dann wird deutlich, was in der Frühzeit, als er vor zweihundert Jahren hier ankam, Fliedners Mangel war: Er glaubte an nichts so sehr, wie an die Moral. Er wollte gut werden; und wer gut werden will, will irgendwann der Beste sein[vii]. Und dann kann man wirklich nur ein Apostel der Moral - der eigenen Moral wohlgemerkt! - werden und niemals der Apostel eines Anderen, dessen Liebe auch allen anderen gilt - besonders aber denen, die gerade nicht gut, sondern schlecht sind, … meistens ja, weil sie es schlecht und nicht gut haben.
Fliedner, der unreife Rationalist, der unsichere junge Moralapostel musste also ein Pfingsten erleben, das seine Beschäftigung mit der eigenen Rolle und dem eigenen Ruf verglühen ließ und eine andere Liebe in ihm entzünden sollte, die hier in Kaiserswerth zum Leuchtfeuer der Nächstenliebe werden sollte ….. eine Liebe, die nicht dem eigenen Gutsein, sondern dem Geliebtwerden entstammte.
Und wie Gott unseren Fliedner diese Liebe hat erfahren lassen, das ist ein pfingstliches Wunder, weil es in seiner Mischung von Materie und Geist, von Geld und Glauben so kurios war.
Es war die Jagd nach dem bitter nötigen Materiellen, die in Fliedners Biographie das Feuer der Liebe entzünden sollte. Die Evangelische Kirchengemeinde Kaiserswerth war ja pleite - eine Erfahrung der Anfänge also, die uns für die Zukunft nur heitere Gelassenheit nahelegt. Fliedner musste sie finanziell retten. Und schätze sich durchaus - erbsenzählend und korinthenkackend - richtig ein: Rechnen konnte er, und seine Gabe als Bettler war eine Gottesgnade. Vor der großen Kollektenreise, die ihn in seinem zweiten Amtsjahr nach Holland und nach England führen sollte, schrieb er doch tatsächlich in ungewohnt selbstbewusster Tonlage an seine Mutter und Geschwister: „So denke ich denn, wenn der Herr mich geleitet, stark genug zu sein, um die englischen Kassen zu sprengen“[viii]!
Erbsenzählender, panzerknackender Moralapostel auf Fundraising-Tour: Das war die Ausgangslage des Pfingstwunders im Leben Theodor Fliedners.
Zunächst bestand es für den jungen Mann in der gleichen Urerfahrung wie einst bei der Jerusalemer Apostelschar: Die überwältigende Vielfalt der Menschheit kann einen gemeinsamen Nenner bekommen, und wer in der bunten Menge nicht nur die Variationen, sondern das Thema vernimmt, wer nicht bloß das Unterscheidende, sondern das Einende verspürt, der wächst über das Eigene hinaus und wird vom Unvertrauten ergriffen und vom Neuen angesteckt, … ja, er wird bereichert von dem, was nicht Seines ist.
Das ist Fliedner ganz buchstäblich widerfahren: Der skrupulöse Beobachter seiner selbst, der so ängstlich auf die eigene Entwicklung und Wirkung konzentriert war, wurde von der Großzügigkeit, die ihm aus ganz ungewohnten Bereichen entgegenkam, nachhaltig überrascht.
Dass seine eigentlich ja so anonyme Bittstellerei für die völlig namenlose, unbekannte Zwerggemeinde Kaiserswerth im Ausland ein solches Gehör fand, dass solche Hilfsbereitschaft mobilisiert werden und schlichtes Mitgefühl zu so konkreter Solidarität führen konnte, hat Fliedner zweifellos auf dem ihm vertrauten Feld des Ethischen zutiefst ermutigt.
Wie in Holland die unterschiedlichsten Konfessionen und Glaubensgemeinschaften sich von ihm ansprechen und in die Pflicht nehmen ließen, brachte sein durchaus beschränktes Welt-bild in heilsame Unruhe und fröhliches Durcheinander: Da waren Calvinisten und Lutheraner bereit zu tätiger Hilfe; französische und niederländische Gemeinden empfingen ihn; es gab Pfeffersäcke und kleine Dienstmädchen, die jeweils ungeheuer großzügig waren; er ging bei Herrnhuter Gemeinschaftsleuten – „Muckern und Mystikern“, wie er sie vor Kurzem noch genannte hätte – und bei Mennoniten, die er als sektiererische „Wiedertäufer“ angesehen hätte, aus und ein. Doch nicht nur das: Auch römisch-, ja sogar griechisch-katholische Christen in Amsterdam und Rotterdam nahmen Anteil an seiner Mission und unterstützen ihn … Zu seinen orthodoxen Wohltätern in Amsterdam zählte etwa – es sei uns in dieser Zeit eine besondere Pflicht, ihn zu erwähnen! – der reiche russische Baron Stroganoff[ix]!
… Und dann waren da noch die Juden! Neben hugenottischem und holländischem Geld, neben dem anrüchigen Profit aus den Kontoren des Kolonialismus und den Beiträgen aus strikt friedensethischen Gemeinschaften wie den Mennoniten sind auch Spenden sephardischer Kaufleute aus Holland und aus London bald darauf dann auch eine Zuwendung aus dem Vermögen der Rothschilds in die Rettung dieser, unserer Gemeinde geflossen! Und wie Fliedner in der britischen Metropole die Hocharistokratie - er lernte beim Betteln auch die spätere Queen Victoria als Fünfjährige kennen - abklapperte und daneben auch die politischen Kreise, die aktiv gegen die Sklaverei etwa kämpften und aus quakerischem und methodistischem Geist sich in vielen sozialreformerischen Pionierprojekten versuchten, das ist eine atemberaubende Pfingstgeschichte von wegbrechenden Trennungen und aufbrechenden Verbindungen unter denen, die nach Christi Namen heißen oder nach dem Volk Israel, die nach Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit streben und auf so vielerlei Wegen zu gleicher Zeit doch alle von Seinem Heiligen Geist geleitet werden!
Fliedners starker, wohl vor allen Dingen jugendlicher Selbstbezug musste durch solche horizonterweiternden Erfahrungen mit unterschiedlichen Konfessionen, Kulturen und Nationen ohnehin erhebliche Veränderungen, musste Auffächerungen und Vertiefungen erfahren: Wer die Anderen kennenlernt, der kann nicht mehr wie zuvor nur bei sich selber bleiben, … er muss lernen , dass die eigene Haltung, Meinung und Bedeutung ein ziemlich nebensächliches, jedenfalls kein entscheidendes Element der Heilspläne und der Heilsgedanken Gottes sind. …….
Das moralische Streben nach der eigenen Heiligung – etwas, das für den sittenstrengen, und unnachgiebig gewissenhaften späteren Gründer und Verbreiter der Diakonissenschwesternschaft trotzdem ein Leben lang wichtig blieb – das moralische Streben nach der eigenen Heiligung, das für Fliedner vor seiner Reise zu den Nachbarvölkern zentral gewesen war, trat allerdings nicht nur vor dem Erlebnis der vielen, vielen anderen rechtschaffenen, mitfühlenden und einsatzwilligen Menschen, denen er begegnete, zurück.
Er traf auf seinen Reisen noch auf einen anderen. Eher noch: Ein anderer traf ihn[x]!
Bei den mancherlei Kirchen und Frömmigkeitsformen, die er kennenlernte, geschah es Theodor Fliedner, dass er immer mehr aus dem Blick verlor, was er selber tat, und immer klarer sehen musste, was Christus tut. Er war aus Kaiserswerth abgereist, wo er gut sein wollte und er stieß unter den anderen Christen darauf, dass es nicht mehr um dieses eigene Gute ging: Die Gütergemeinschaft – in Jerusalem einst Folge der Ausgießung des Geistes Gottes – lehrte Fliedner in umgekehrter Reihenfolge auf die Quelle alles Guten, aller Güte und Gerechtigkeit, aller Gnade und Liebe, aller Wahrheit und allen Segens zu schauen.
Um es kurz zu sagen: Der Mann, der die Ethik –- das Gutsein - für sich verstanden zu haben meinte, erfuhr, dass sie einzig aus dem Evangelium - der Guten Nachricht Gottes - stammen kann! … Nicht, was wir tun, sondern was Gott getan hat, tut und tun wird, ist also die Rettung!
Diese Erfahrung - noch kürzer gesagt: dieser Glaube an die Rechtfertigung durch Christus - wurde Fliedner erst durch seine lebendigen und leibhaftigen Begegnungen mit der Menschheit geschenkt. Nicht das Sehen auf sich, nicht das Kreisen um die eignen Aufgaben und Möglichkeiten, sondern die Berührung durch die Not, die andere leiden und lindern, und die Liebe, die andere zu und von Christus haben, … erst diese Erkenntnis dessen, was außerhalb des eigenen Lebens und ohne das eigene Zutun geschieht, machte Fliedner zu einem Menschen, der seinen Glauben nicht bloß rational, sondern existentiell erfuhr und ihn dann als Liebe weltweit weitergeben konnte. ——
Er hat diese Reise, die ihm unter den Völkern die absolute Angewiesenheit auf Jesus Christus zeigte, als eine Reise zu einem lebendigen, persönlichen Erlösungsglauben empfunden. Sie machte aus dem mit sich selbst beschäftigten, in sich selbst befangenen jungen Mann einen Jünger des auferweckten Jesus Christus mitten in der Welt.
Sie war sein Pfingsten.
*******
So wie es unser Pfingsten sein wird, zu erfahren, dass wir nicht alleine sind!
Und dass es also nicht darauf ankommt, uns ständig zu verbessern, um irgendwann unübertroffen und einsam gut zu sein, sondern darauf kommt es an, dass wir getroffen werden von der Gnade Jesu Christi, der gerade dann und dort zu uns Menschen allen drängt, weil und wo es schlecht um uns steht!
Wenn wir das wie Fliedner begreifen, dass wir mitsamt dieser ganzen Welt nichts so dringend nötig haben, wie die in Christus wirklich rettende Liebe Gottes, die im Heiligen Geist auch nach uns persönlich greift und die auch unsere bittere Zeit verändern und unsere zerfallende Welt heilen kann, dann werden auch wir tatsächlich Pfingsten feiern!
Nicht unsere Güte, sondern die Güte Gottes wird uns dann ja erfüllen!
Und nicht menschliche Kraft und Gerechtigkeit wird dann unser Maß und Ziel sein, sondern diese überschwängliche Hilfe Gottes!
Sie, nur sie ist es, die die Welt braucht: Russland braucht sie genauso wie die Ukraine, die römische und die evangelische Kirche brauchen sie, um Zukunft zu haben, die Frommen brauchen sie und die Zweifler, die hilflos Verunsicherten und die gedankenlos Übersicheren unter den Religiösen und den Atheisten brauchen sie, … schlicht sämtliche Sünder und alle, die reines Herzens sind!
Wir brauchen Gott: Vater, Sohn und Heiligen Geist!!! ——
Auf der Suche nach dem Materiellen fand Fliedner zu diesem Glauben.
Möge uns das Gleiche widerfahren heute, da das materialistische Zeitalter, das Zeitalter der Gier, der Gewalt und des rein stofflichen, rein weltlichen Gewinns enden muss.
… Möge es uns also wirklich trotz allem noch gewährt werden, in allem, was geschieht, auf den Geist zu stoßen!
Mit den Worten Israels: Mögen wir den Frieden Gottes und Seien Güte wie in der Höhe, so auch auf Erden sehen, … bald und in unseren Tagen[xi].
Komm, Heiliger Geist!
Amen.
[i] Als Grundlage sowohl der biographischen als auch der geistlichen Wahrnehmung Fliedners in dieser Predigt dienen die beiden großen Lebensbilder: Die erste Biographie, die Fliedners Sohn Georg verfasste: „Theodor Flieder - Durch Gottes Gnade Erneuerer des apostolischen Diakonissenamtes in der Evangelischen Kirche. Sein Leben und Wirken. I.Band“ (Kaiserswerth a. Rh., 1908), sowie; Martin Gerhardt, Theodor Fliedner. Ein Lebensbild. Erster Band, Düsseldorf-Kaiserswerth, 1933.
[ii] Breite Auszüge bietet Georg Fliedner, aaO, S.87ff.
[iii] Vgl. Gerhardt, S.93.
[iv] Bei Gerhardt wird die moralistische Fassung des Heiligungsstrebens besonders kritisch eingeordnet, vgl. S.95ff.
[v] Georg Fliedner, aaO, S.88.
[vi] Gerhardt, aaO, S.99.
[vii] Überraschend scharf ordnet Georg Flieder die frühen rationalistisch-moralistischen Anschauungen seines Vaters ein: „Er wollte sich selbst erlösen; Gott sollte dabei nur ein wenig helfen“ (aaO, S.103).
[viii] Georg Fliedner, aaO, S.138.
[ix] Gerhardt, aaO, S. 118. Die zahllosen, farbigen Einzelheiten, die Gerhardt ab S. 114 als Eindrücke von der Kollektenreise, in sehr genauer Aufzählung der verschiedensten Unterstützer bietet, sind ein wirklich pfingstliches Gemälde multikultureller, pluralistischer Gemeinsamkeit avant la lettre.
[x] Diesen entscheidenden Umschwung analysiert Gerhardt ausführlich, vgl. aaO, S,125ff. Besonders zu beachten ist das resümierende, spätere Selbstzeugnis Fliedners, der im Blick auf die erste Kollektenreise festhält: „… daß ich nicht länger zweifeln konnte, mein bisheriger Glaube sei noch nicht der rechte gewesen, und der Glaube an Christus als unsern Herrn und Gott, an die Wiedergeburt durch die Erneuerung des heiligen Geistes in lebendiger, gründlicher Buße mir vor allen Dinge nottue, ehe ich andern Christus predigen könnte als göttliche Kraft und göttliche Weisheit“ (aaO, S.137).
[xi] Diese Grundbitte des „Oseh Schalom bimromav“ kommt in der Sabbatliturgie ebenso vor wie im Kaddisch.
Rogate, 22.05.2022, Ps.65,3, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text: „Gott, du erhörst Gebet; darum kommt alles Fleisch zu dir." (Ps.65,3)
Liebe Schwestern und Brüder,
wenn man nach einem „roten Faden" sucht, einem Marker, der allen Religionen und Konfessionen eignet, dann ist es das Gebet. Das Gebet ist das Kennzeichen eines gläubigen Menschen und ist es seit Anbeginn der Menschheit. Schon auf den Höhlengemälden der Eiszeit finden sich menschliche Gestalten in Orantenhaltung.
Seitdem ich mich mit den religiösen Vorstellungen der Menschen in anderen Kulturen und anderen Zeiten beschäftige, staune ich immer wieder, wieviel Ähnlichkeiten es da gibt - mit unserer christlichen Tradition und untereinander.
Gewiss, es gibt auch Unterschiede. Gerade auch beim Gebet - und das nicht nur in der Körperhaltung, sondern auch in der Anrede: der Jude spricht Jahwe/Adonaj an, die Christin betet „unser Vater", wie es Jesus beispielhaft vorgebetet hat. Der Hindu sucht hinter den vielen Gestalten seiner Götter das eine Sein, das er Brahma nennt. Der Moslem spricht zu Allah. Der Buddhist betrachtet das Nichtfassbare des ganz Anderen. Wie sollen wir mit dieser Vielfalt, diesen so unterschiedlichen Sprachbildern von Gott umgehen?
Als christliche Abendländer sind wir gewohnt, zu bewerten, falsche von richtigen Anreden an Gott zu trennen. Nicht wenige stellen sich vor, das Gebet eines Christen höre Gott, während das Gebet irgendeines indigenen Stammes zu irgendeinem Gott nicht zum wirklichen Gott gelangt. Bei den Magandscha, einem afrikanischen Stamm, betet die Priesterin: „Höre, du, o Mpambu, sende uns Regen", und der versammelte Stamm antwortet mit leisem Klatschen und in singendem Ton: „Höre, o Mpambu."
Soll ich nun annehmen, dass dieser Ruf, dieses Gebet, buchstäblich ins Nichts geht, weil es den Regengott Mpambu „nicht gibt"? Oder hört und sieht da nicht doch einer die Rufe und Bitten der Menschen? Wird es nicht der eine Gott sein, der jedem Menschen auf dieser runden Erde nahe ist und der jede Stimme hört und sie immer gehört hat? Oder wird er, der eine, wirkliche, ewige Gott, sein Ohr - um es mal ganz menschlich zu umschreiben - verschließen, weil er nicht mit seinem korrekten Namen angeredet wird? Was besagen denn überhaupt die Namen, mit denen wir Menschen Gott benennen? Haben da nicht die Muslime mit ihrer Tradition recht, wenn sie sagen, Gott habe hundert Namen, neunundneunzig kann der Mensch nennen, den hundertsten aber, der seine eigentliche Wesenheit und Wahrheit ausdrückt, wisse allein das Kamel, das aber spreche ihn nicht aus?
„Gott, du erhörst Gebet; darum kommt alles Fleisch zu dir."
El heißt es da in der hebräischen Bibel - El oder Elohim ~ Gott, Gottheit. Die Bezeichnung die ganz offen ist. Es steht nicht JHWH, nicht der Name, mit dem sich Gott Israel offenbart hat. Als wenn der Psalmist hier eine Tür des Verstehens öffnet: „Gott, du erhörst Gebet. Wir Israeliten, wir sprechen dich an mit JHWH, dieser Name ist uns heilig, so heilig, dass wir ihn nicht aussprechen und stattdessen Adonaj, „Herr" lesen. Die anderen aus den Völkern, sie rufen dich mit den Namen, mit denen du dich ihnen offenbart hast. Aber der Adressat der Gebete, das bist immer Du, der Eine Gott."
Diese fundamentale Einsicht es Beters des 65.Psalms stünde uns allen gut an. Unsere abendländische Bildung hat uns diese demütige Haltung eher ausgetrieben. Auch ich bin noch damit groß geworden, dass es Hochreligionen gibt und primitive Religionen wie Naturreligionen. Was für eine Arroganz steckt hinter solcher Wertung. Den Vers aus dem 65.Psalm, den haben wir eher so formuliert: „Dreieiniger Gott, du erhörst unsere Gebete; darum ist es für alle wichtig, unseren Glauben, unsere Vorstellungen von dir zu übernehmen."
Nach zweitausend Jahren christlicher Geschichte ist eine grundlegende Wandlung des christlichen Nachdenkens gefordert, vor der noch viele zurückschrecken. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an das erste religionsübergreifende Friedensgebet in Assisi, zu dem Papst Johannes Paul II. im Oktober 1986 Vertreter aller Religionen eingeladen hatte. Gerade aus den protestantischen Kirchen, aus evangelikalen und fundamentalistischen Kreisen kam viel Kritik und Ablehnung: man könnte doch nicht gemeinsam beten, unser Gott sei doch ein ganz anderer als der Gott der Muslime oder Hindus. Hier würden Grenzen verwischt, die doch unbedingt eingehalten werden müssten, denn nur im Namen Jesu könne man Gott in Wahrheit anbeten. An dieser Stelle sind die Bemühungen des Heiligen Geistes in der katholischen Kirche seit dem 2.Vatikanum deutlich erfolgreicher gewesen als in den Kirchen der Reformation. Und das trotz der sonst so konservativen Päpste und Kurienkleriker.
Die Bibel selbst lädt uns ein, uns als Christen, als Christen der Reformation neu zu positionieren, weiter, offener, demütiger und befreiter über unseren Glauben und über den Glauben der Menschen anderer Religionen zu denken.
Die biblische Urgeschichte erzählt, nach der großen Flut, in der von der Menschheit nur acht Personen in einer Arche gerettet worden seien, die Urvorfahren der Menschheit, habe Gott sie angesprochen mit den Worten: „Ich verbinde mich heute mit euch, mit euren Nachkommen und allen lebendigen Wesen der Erde. Meinen Schutz und meinen Segen gewähre ich euch allen. Nie mehr soll das Leben in den Wassern der Flut versinken. Als Zeichen dafür setze ich meinen Bogen in die Wolken als Bild für den festen Zusammenhalt zwischen der Erde und mir." (Gen.9)
Der Noah-Bund mit dem Bundeszeichen des Regenbogens ist der erste, der grundlegende Bund, von dem die Bibel spricht - und der gilt allen Menschen und Tieren, der gilt der ganzen Erde, der ganzen Schöpfung. Gott stellt sich vor als helfender, schützender, sprechender und hörender Gott nicht nur für die Religionen, die ihren Ursprung in der Bibel haben, sondern für alle Menschen.
So von Gott und seiner Schöpfung zu denken, ist heute wichtiger als jemals zuvor, in der globalisierten Gegenwart geradezu not-wendig: dass wir aus dem engen Raum unseres Anspruchs auf die alleinige Wahrheit heraustreten und eine liebende Achtung gewinnen für die Stimmen, die uns aus anderen Welten des Glaubens und des inneren Nachdenkens in der Geschichte der Menschheit und in anderen Räumen unserer Erde erreichen. Ich bin überzeugt: wo immer ernsthaft nach Gott gefragt wird und wo auf diese Frage nach Gott die Antwort Gottes gehört wurde, hat sich der Eine Gott offenbart. Wie es in den Psalmen immer wieder heißt: Gott erhört das Gebet des Gerechten, des Menschen, der ihn ernsthaft sucht und anruft. Und er hört das Schreien der Elenden, aller Menschen in Not. Ohne Unterschied, egal welcher Religion oder Kultur sie angehören.
Ich bin überzeugt, dass Gott immer gegenwärtig war, in den Höhlen der Steinzeitmenschen, in deren Wänden in Löchern oder Nischen Figuren standen, die ihnen die göttliche Gegenwart begreifbar machten. Immer und überall, wo irgendwelche Chiffren für Gott an die Wände gemalt wurden. Die Menschen mögen sich Gott so seltsam, so unmittelbar handgreiflich, so menschlich vorgestellt haben wie sie wollten, sie hatten es immer mit dem wirklichen, dem Einen Gott zu tun. Mit wem sonst?
Ob Gott den Menschen nahe ist, entscheidet sich nicht an ihren primitiven oder intellektuell reifen Vorstellungen. Wo immer Menschen Gott anrufen - sei es als Ahnengott, als Tiergott, vor einer Steinfigur oder in meditativer Versenkung - ihr Gebet ist ein Gebet zu Gott. Immer ist Gott hinter den Bildern, auch hinter den Wortbildern. Er ist keines davon, er ist dahinter. Immer sind die Bilder nur Zeichen für Gott. Wo Gott als Regengott eines indigenen Stammes in Afrika angerufen wird, hört der wirkliche, der Eine Gott. Wer sonst?
Gott, man lobt dich in der Stille zu Zion,
und dir hält man Gelübde.
Du erhörst Gebet; darum kommt alles Fleisch zu dir.
Erhöre uns nach der wunderbaren Gerechtigkeit,
Gott, unser Heil, der du bist die Zuversicht aller auf Erden und fern am Meer,
der du die Berge gründest in deiner Kraft und gerüstet bist mit Macht;
der du stillst das Brausen des Meeres, das Brausen seiner Wellen und das Toben der Völker,
dass sich entsetzen, die an den Enden wohnen, vor deinen Zeichen.
Du machst fröhlich, was da lebet im Osten wie im Westen.
(Ps.65,1-3.6-9)
Brahma, dir huldige ich.
Du hast die Welt erschaffen und erhältst sie.
Du wirst sie einst auflösen und in dich zurückziehen.
Unermesslicher, du hast die Welt gemessen.
Du willst nichts und erfüllst doch unsere Bitten
Unsichtbarer, du bist die Ursache der sichtbaren Welt.
Du wohnst in unserem Herzen und bist doch weit entfernt.
Du leidest mit uns und bist doch vom Leid unberührt.
Du bist überall und doch zeitlos.
Du bist allwissend, doch niemand kennt dich.
Du bist über allem, und keiner regiert dich.
Du bist allein, doch lebst du in allem Geschaffenen.
Die Pfade zur Erlösung unterscheiden sich wie die Gedanken der Menschen,
aber alle führen zu dir, wie die Arme des Ganges in dasselbe Meer münden.
(Gebet eines Hindu, 4.Jh.)
Der du vor allem Anfang warst,
der du nichts als Licht bist, mächtig und zart.
Viel wirst du besungen,
doch niemand kann dich beschreiben.
Nicht zu schauen bist du, strahlend in deinem Glanz.
Du nahmst das Dunkel von unseren Augen.
Du sandtest dein heiliges Licht über die Welt hin,
du ertöntest mächtig in der Stille dieses Lichts.
König der Welt, weithin schauender Geber des Lichts,
gib den Völkern das Glück deiner Heiligkeit,
dass geschlossene Augen beginnen zu schauen.
Sende Leben. Sende das Licht. Sende die Liebe.
(Orphischer Hymnus, 700 v.Chr., Griechenland)
Ewige Einheit,
die in Stille für uns singt,
leite meine Schritte mit Kraft und Weisheit.
Möge ich die Lehren verstehen, wenn ich gehe,
möge ich den Zweck aller Dinge ehren.
Hilf mir, alles mit Achtung zu berühren,
immer von dem zu sprechen,
was hinter meinen Augen liegt.
Lass mich beobachten, nicht urteilen.
Möge ich keinen Schaden verursachen
und Musik und Schönheit zurücklassen, wenn ich gehe.
Und wenn ich in das Ewige zurückkehre,
möge sich der Kreis schließen.
(Ritueller Gesang der Aborigines, Australien)
Möge der Gott,
der „unser Vater" für die Christen ist,
JHWH für die Juden,
Allah für die Muslime,
Ahura Mazda für die Zarathustrier,
Aarhat für die Jainas,
Buddha für die Buddhisten,
Brahma für die Hindus,
möge dieses allmächtige und allwissende Wesen,
das wir alle als Gott anerkennen,
uns Menschen den Frieden geben
und unsere Herzen brüderlich (geschwisterlich) vereinen.
(Vivekananda, 1863-1902; Hindu)
Rogate, 22.05.2022, Kantatengottesdienst zu TVWV 1:1746 "Victoria!, mein Jesus ist erstanden", Stadtkirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Rogate - 22.05.2022
Kantatengottesdienst „Victoria!, mein Jesus ist erstanden“ (TVWV 1:1746) & Apostelgeschichte 1,2f
Liebe Gemeinde!
Wer ins Neue Testament hineinhört, wird jedes Mal von einem quasi-musikalischen Geistes- und Glücksblitz überwältigt: Da meint man, Karfreitag sei der letzte Takt und letzte Ton. … Doch, nein: Das blutgefrierende, atemabschnürende Schweigen des Entsetzens und des Sterbens wird von einem unvermuteten, darum aber nur umso strahlenderen Wiedereinsatz durchbrochen: Osterjubel, Auferstehungsfreude, Triumphklänge … so, wie wir sie gerade hörten!
Das eigentliche Ende des Liedes, das die Evangelien singen, der tatsächliche Schlussakkord ist ein anderer. Er folgt erst in dieser Woche mit der Himmelfahrt: Das letzte Mal, dass Jesu Stimme erklang, die finalen Brusttöne seines lebendigen Herzens, sein letzter Lebenslaut. … Danach ……. nun, dazu kommen wir später. ——
Wenn wir uns also gründen auf das Wort, das Jesus Christus heißt (vgl.Joh.1), wenn wir einen Glauben haben, der aus dem Hören kommt (vgl.Rö.10,14-17), dann kann man nur staunen über die akustische Wirkung der Frohen Botschaft, über die unermessliche Fortsetzung, Variation und motivische Fruchtbarkeit, die ein kleiner Grundstock an Gehörtem etwa in der christlichen Musik hervorgebracht hat. Georg Philipp Telemann, unser heutiger Komponist – tatsächlich der produktivste Urheber geistlicher Vokalmusik in unserer Kirche – ist ein gutes Beispiel: Er alleine hat mehr ganze Kantaten geschrieben, als einzelne Sätze von Jesus von Nazareth überliefert sind. Ein ganz geringer Bestand an gesprochenen Worten hat also unendliche Vertonungen, Nachdichtungen, Meditationen, künstlerische Bearbeitungen, Aktualisierungen, Vergegenwärtigungen, freie Inspirationen und Assoziationen durch alle Zeitalter geweckt. Anders gesagt: Zwei Jahrtausende sind inzwischen durchwebt vom Klang und Nachklang einer einzigen Stimme, eines kleinen mündlichen Themas, das in unzähligen Abwandlungen, Brechungen, Spiegelungen und Verstärkungen sämtliche Epochen anregt und in Schwingung versetzt. Jesus ist – obwohl wir Karfreitag für das Ende hielten und den Abbruch durch die Himmelfahrt nicht vorhersahen – die hörbarste Stimme der Menschheit, er ist der Grundton der Weltmusik und Himmelsklänge geblieben … die heutige Basskantate lässt uns etwas hinkend sagen: Der Generalbass, auf dem das Konzert der Wirklichkeit, wie wir sie erleben, fußt, ist Jesus.
… Dabei waren es nur 3 Jahre seiner Verkündigung, seiner Lehre in Vollmacht, seines natürlichen Gleichnisreichtums, seiner heilenden Seelsorge, seiner prophetischen Offenbarung und geistvollen Schriftdeutung, die seine Jünger und alle, die ihn hören konnten, so erfüllten.
… Drei Jahre, in denen der Wanderprediger aus Nazareth auftrat, reichten, dass Menschen ihn liebten!
… Und nicht mehr als vierzig Tage waren es, vierzig Tage, in denen sie ihn wieder sahen und neu hörten, vierzig Tage bis zur Himmelfahrt, in denen daraus Glaube wurde.
Mehr ist das Christentum nicht, als die theologische und ethische, die musikalische und menschliche Echowirkung von drei Jahre Liebe und vierzig glaubensgründenden Tagen!
… Eine Luftnummer also. Ein flüchtiger Hauch bloß, ein mikroskopisch kleiner Wirbel inmitten des Strömens und Rauschens der unendlich vielstimmigen Weltgeschichte.
… Als Außenstehender muss man sich wahrhaftig fragen, wie es kommt, dass ein so nichtiger Anlass, ein so leicht zu überhörender und rasch verwehender Luftzug wie die wenigen Worte und Taten eines Einzelnen, der drei Jahre lang von sich reden macht und vierzig Tage lang das endgültige Schweigen durchbricht, solche Wirkung haben können? Wie kann man zu Telemanns Zeiten, wie kann man in unseren Tagen derart lebhaft „Victoria!“ rufen oder - wie mindestens drei andere Osterkantaten Telemanns beginnen - „Triumph!“ oder gleich „Victoria! Triumph! Victoria!“, wie der Eingang einer letzten österlichen Kantate des selben Meisters anhebt[i] … wie kann man so voller Freude und Überlegenheit reagieren, wie kann man sich so unanfechtbar, so getrost fühlen angesichts derart bescheidener Ursache?
So wenige Worte, so wenige Taten! Was können die uns noch bedeuten? Warum singen wir immer noch davon? Weshalb sind sie nicht längst im großen Lärm und im noch größeren Verstummen der Zeit verflogen? …
Sind es kleine Wunder und Zufälle, Launen der Geschichte, kuriose Kausalitätsketten, die gegen alle Wahrscheinlichkeit für die Durchsetzung eines untergangsbedrohten Stücks der Vergangenheit sorgen, weshalb es uns in Hochstimmung versetzt, wenn wir solche unerfindlichen Vorgänge nachzeichnen?
… Ein solches Staunen kann uns angesichts der Überlieferung der Telemann’schen Musik zum Beispiel tatsächlich überkommen. Die unermessliche Fülle seines bis heute längst nicht erschlossenen Nachlasses hat eine Gänsehaut-Geschichte, seit sein Enkel zahllose Manuskripte des Großvaters nach Riga mitnahm. Aus der dem Untergang geweihten baltischen Welt führten teilweise vertraute Namen diese Schätze im 19.Jahrhundert nach Berlin, an die Sing-Akademie. Dort gingen sie im Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit so vielem anderen verloren. Vor zwanzig Jahren aber, als niemand mehr an ihre Fortexistenz glaubte, wurden sie völlig überraschend wiederentdeckt und konnten schließlich dem Preußischen Kulturbesitz zugeführt zu werden. Ein halbes Jahrhundert lang aber waren sie rätselhaft erhalten geblieben ausgerechnet in … Kiew[ii]!
Doch solche Wechselfälle der Geschichte sind es nicht, die dem Inhalt der Jahre vor und des Monats nach Ostern ihre unermessliche Bedeutung verleihen. Es sind einzig die begrenzten, aber unwiderruflichen Taten, die wenigen, leichten und doch unvergänglichen Worte Jesu, die alle späteren Zeiten durchdringen: Dass er Hunger bekämpfte und Krankheit, dass er Isolation aufsprengte und Verstoßene in sein Herz schloss, dass er Gott in der Wirklichkeit und den Tod als vergänglich zeigte, … das begründet die Liebe zu ihm, die nie wieder verlosch.
Und was er sagte - nach Ostern, als das Ende des Endes anfing - das ist die Quelle und der Stoff des Glaubens, der bis hier und heute in unsere Gegenwart und weiter noch und weiter reicht.
Wenn wir heute also, am Ende der diesjährigen vierzig Tage nach der Auferstehung, am Ende der vierzig Tage, die aus Liebe Glauben machten, in unserer Zeit des Hassens, Zweifelns und Verzweifelns wissen wollen, was uns Heutigen die Sicherheit und Zuversicht einer „Victoria!“-singenden Seele geben könnte, dann sollten auch wir wieder - in aller Bereitschaft uns vom Geringfügigen überraschen zu lassen – die wenigen, unglaublich kostbaren Worte Jesu hören, die überhaupt nur zwischen Ostern und Himmelfahrt überliefert sind.
Sie kristallisieren sich um nicht einmal zehn Motive herum.
Das stärkste ist sein Gruß, seine Zusage: „Frieden!“ (vgl. Lk.24,36; Joh 20,21+26;). Der, an Dem der Tod scheiterte, bringt trotz dieses allesentscheidenden Konflikts zwischen dem Beendiger und Vernichter aller Existenz und der Kraft des Lebens kein anderes Versprechen, keine wichtigere persönliche und politische Verheißung als dieses: „Frieden!“ – Das „Victoria“ des Glaubens ist also nicht Siegesgeschrei der Entscheidungsschlacht, sondern die Gewissheit, dass das letzte Wort der Frieden haben wird.
Das andere, was Jesus nach dem Abstieg in das Reich des Todes hören lässt, ist: „Fürchtet euch nicht!“ (Matth.28,10) – Wer österlich „Victoria“ ruft, besingt also nicht die Vernichtung des Feindes, sondern die Freiheit von aller Furcht vor ihm.
Als Nächstes dann spricht der Auferstandene Jesus in vielen Wendungen eine einfache, endlose Weisung aus: „Geht!“ – Geht nach Galiläa (vgl. Matth.28,10), zu meinen Brüdern (vgl. Joh.20,17), in alle Welt (vgl. Matth.28,19). – Der Sieg von Ostern ist also nicht im Stillstand - weder der Waffen noch der Uhren -, sondern in der Bewegung, im Fortschritt, im Weitergehen und -geben des Lebens zu suchen.
Ein weiteres Wort nun finden wir in Jesu Mund nach dem Wunder des dritten Tages, … etwas, das wir mit ewigem Leben und Himmelreich und allem, was wir sonst „Jenseits“ nennen, auf keinen Fall verbinden, auch wenn in unserer Wirklichkeit alles danach schreit, … mehr als nach allem anderen: Es ist das Essen (vgl. Lk24,41; Joh.21,5; vgl. dazu Mk.14,25!). Jesus will, ja Er muss gemeinsam mit den Jüngern wieder Nahrung verzehren, die den Hunger nimmt, um zu zeigen, dass Er auch auf der anderen Seite des Grabes ein Mensch unter Menschen und keine Erscheinung ist. – Die lebensbejahend-weltliche Barockmusik Telemanns ist da ein richtiges Signal, dass die Auferstehung nicht „ab von’s Weltliche“, sondern in die kreatürliche Gemeinschaft mit all dem begrenzten Leben, das doch nur leben will[iii], führt.
Der nächste unerschöpfliche Wink des nicht mehr Sterblichen in den Tagen seines Umgangs mit den Sterblichen ist die wiederholte Erinnerung, dass das Leiden und überwundene Grauen seiner Folter und Hinrichtung nicht einfach zynischer Willkür entstammten. Jesus legt nämlich nach Ostern ebenso wie vorher die Tora und die Propheten aus (vgl. Lk24,25-27 + 44-48), um aufzudecken, dass Gott einen Plan hat und trotz allen Anscheins Nichts endgültig der Sinnlosigkeit überlässt. – Diese Trophäe, diese Beute des Ostersieges ist vielleicht gerade heute die Entscheidende: Sieg bedeutet für uns, gegen die Diktatur des Destruktiven zu kämpfen und festzuhalten, dass wir - auch in der gegenwärtigen Welt! - echten Sinn für möglich und trotz aller Lüge zuletzt für wahr halten!
Und dann ist da der Dreiklang in Jesu Worten während seiner letzten Erdentage, der sofort ahnen lässt, weshalb in der irdischen Geschichte niemals zuende gehen wird, was diese wenigen Äußerungen an Echo, Aufschwung und Jubel hervorrufen: Jesus spricht in den vierzig Tagen vom Bleiben Seiner Jünger (vgl. Joh.21,22f) und Seinem Bleiben bei ihnen (vgl. Matth.28,20); Er spricht von der Kraft, die Er hat (vgl. Matth.28,19) und von der Kraft aus der Höhe, die Er ihnen senden und schenken will (vgl. Lk.24,49; Apg.1,5+8; Joh.20,22) und schließlich spricht Er von der Mission, die in Seinem Namen, im Glauben an Seine Gegenwart, ohne Ihn zu schauen (vgl. Joh.21,29) und unter Seinem Segen alles Geschehen durchziehen wird, bis alle Welt die Weisung Gottes (vgl.Matth.28,20) und Vergebung der Sünden (vgl. Lk.24,47; Joh.20,23) und das heißt freien, eigenen, wahren Zugang zu Gott gefunden hat (vgl. Joh.20,17). – Wenn das Rezitativ der Telemann’schen „Victoria“-Kantate also vom Auferweckten singt „Er triumphiert, daß ich dereinst soll triumphieren“, dann ist damit die universale Erlösung, Versöhnung und Verbindung zwischen der verlorenen Menschheit, die kraft- und ziellos vergehen muss und dem bleibenden, belebenden Gott gemeint. Es wäre also irreführend, in der Solokantate bloß die Feier pietistischer privater Erlösungsfreude zu finden: Ihr Sänger ist Stellvertreter sämtlicher Menschen. ———
In den vierzig Tagen zwischen Ostern und Himmelfahrt hat Jesus also mit spärlichen Worten und in einfachster Klarheit die Perspektiven aller Lebenswege und Zeitalter, die noch kommen sollten, aufgezeigt:
Der Frieden, der alle Angst hinter sich lässt, wird durch alle Veränderungen hindurch die gesamte Kreatur aus der Vergeblichkeit lösen und in den universalen Bund mit Gott endlich einbeziehen.
Oder wie es bei Lukas (Apg.1,2f) heißt: Nach seiner Auferstehung gab Jesus „den Aposteln, die er erwählt hatte, durch den Heiligen Geist Weisung. Er zeigte sich ihnen nach seinem Leiden durch viele Beweise als der Lebendige und ließ sich sehen unter ihnen vierzig Tage lang und redete mit ihnen vom Reich Gottes.“ ——
Drei Jahre Verkündigung und Rettungswunder, die tiefe Liebe hervorriefen, und vierzig Tage voll schlichter, erleuchtender Offenbarung der göttlichen Ziele für die Todbefreiung des Lebens insgesamt, die bei seinen Jüngern den Glauben begründeten, haben nun-mehr also genügt, um zwei Jahrtausenden Hoffnung zu geben.
… Nichts anderes ist ja die Rede vom Reich Gottes, als diese unendlich tiefe, starke, zähe Hoffnung, die sich aus der Liebe zum Menschgewordenen und aus dem Glauben an den Auferstandenen speist. ——
… Natürlich werden und natürlich müssen Außenstehende da seufzen oder sogar höhnen: „Was für eine Luftnummer!“ …….
… Aber sind wir nicht alle in den vergangenen Wochen zu Außenstehenden geworden, … zu Menschen, die außer sich sein sollten, … zu Christen, die neben sich stehen müssten, wenn wir nur ein wenig in unsere Zeit hören, die so grausame Ereignisse und so brutale Erfordernisse demonstriert?! …….
… Mit der Welt im Reinen, selbstgewiss oder gar siegessicher kann im Ernst doch niemand von uns sein, wenn wir die wirklichen Tragödien und die tragische Wirklichkeit des brutalen Krieges, der menschlichen Niedertracht, der gefährlichen Ratgeber und der ebenso gefährlichen Ratlosigkeit unserer Tage bedenken. …….
… Wenn uns so aber alles Rechthaben auf der Zunge verwelkt und alles Bescheidwissen sich in unserm Denken verflüchtigt, … weht es uns denn nicht gerade dann unwiderleglich an: Bessere Worte, gesegnetere Weisung, eine seligere Verheißung kann unsere Zeit gar nicht treffen, als diejenige, die der Auferstandene uns mit seinen wenigen Worten hinterlassen hat als Er auffuhr, um das Reich Seines Vaters vom Himmel aus der Welt endgültig nahezubringen?!!!
… Dass Frieden werden wird, der alle Angst hinter sich lässt, … dass durch alle Veränderungen hindurch die gesamte Kreatur aus der Vergeblichkeit gelöst und endlich in den universalen Bund mit Gott einbezogen werden soll, … das ist doch das Einzige, das uns überhaupt noch zu atmen hilft.
Und mehr verlangt ja niemand unter allem Lebendigen jetzt und in Ewigkeit, als nur dass Gott uns Seinen Geist, den Hauch und das Wort Seines Mundes, von dem und durch das wir leben, nicht entziehe!
Dass Er aber weht und belebt, dass Gott Seinen Geist sendet und dass Sein Reich kommt, indem Jesus wiederkehren und alles zurecht bringen wird … genau das ist es, was uns aufatmen lässt seit das Leben, das wir am Karfreitag beendet sahen, sich nach Ostern wieder regt, voll Atemluft der Ewigkeit.
Wo uns der nun aber streift - Atem Dessen, Dem der Atem im Tod stillstand - , wo wir Luft schöpfen dürfen mit allem, was Odem hat, um für immer auf- und durch- und weiter zu atmen, …da antwortet alles in uns wohl mit ganzem Recht auf die „Luftnummer“ des Evangeliums bei jedem Ein- und Ausatmen: „Victoria! … Leben!“
Amen.
[i] Zu Telemanns (erhaltenen) Kantaten vgl. Werner Menke, Thematisches Verzeichnis der Vokalwerke von Georg Philipp Telemann, Bd. I: Cantaten zum gottesdienstlichen Gebrauch, Frankfurt/M 1982, hier: S.214f.
[ii] Vgl. dazu: Siegbert Rampe, Georg Philipp Telemann und seine Zeit, Laaber 2017, S. 308f.
[iii] So Albert Schweitzer berühmte Formulierung für das Kernmotiv seiner Ethik.
Kantate, 15.05.2022, Stadt- und Jonakirche, Lukas 19,37 - 40, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona Kantate - 15.V.2022
Lukas 19,37-40
Liebe Gemeinde!
Am vergangenen Wochenende, bei den Konfirmationen habe ich noch einmal wirkliche Zuversicht aufgebracht und aus Überzeugung den Jugendlichen, die an der Schwelle des Lebens stehen, Mut zu machen versucht. Als Christinnen und Christen haben sie einen Glauben bestätigt und sollen ihn künftig weiter erfahren, der wirklich die - einzig - „Gute“ Nachricht ist und dessen tragende Kraft, dessen kraftspendende Verheißung sich auch in Widrigkeiten bewähren und im Schweren erweisen wird. Dessen bin ich gewiss.
Aber ebenso gewiss bin ich dessen, dass wir dem christlichen Glauben und dem Evangelium, auf dem er ruht, lange schon nicht mehr gerecht werden, wenn wir ihn nur zur Motivationsenergie erklären. Die Botschaft, von der wir leben, ist keine der vielen optimistischen Illusionen, keiner der zahlreichen Positivitäts-Tricks, mit denen sich das Publikum heute abspeisen lässt und selbst betäubt. Die unreife Haltung, die um sich greift, dass Menschen sich weismachen, Leben sei ein Produkt in Frischhaltefolie, das dauerhaft glatt und im Geschmack gleichbleibend allergiefreundlich sein werde, … diese Haltung verwöhnter Kinder darf nicht noch mit billigen christlichen Parolen unterfüttert werden.
Das Leben ist nicht nur nett und lecker, sondern auch hart und bitter.
Und wer sich an reine Schonkost gewöhnt hat und meint, aus solcher Bequemlichkeit einen Anspruch ableiten zu dürfen, die Welt müsse ihm regelmäßig und ausschließlich servieren, was er gernhat, ist auf dem Holzweg. In den Enttäuschungen, die da unweigerlich eintreten, und in den tatsächlich schockierten Reaktionen auf die Realität, die nicht wunschgemäß ist, wird nun aber immer wieder angst- und vorwurfsvoll gefragt, ob Gott denn nicht der Garant des Gelingens sei und ob das Glück denn also nicht als Garantiefall eingeklagt werden könne? … Was anderes, als eine solche Rundum-Sorglos-Versicherung solle denn bitte Segen sein? ——
Und darum will ich, wenn es nicht um die Jugendlichen geht – deren Leben wir Erwachsenen und Älteren schon mit einer Dreistigkeit belastet haben, die unverzeihlich ist – in absehbarer Zeit nun nicht mehr nur von der berechtigten Zuversicht, sondern vom ungeschminkten Realismus des Glaubens sprechen.
Unser Glaube fängt an mit der nüchternen Erkenntnis: Die Menschheit lebt in der Welt, die sie aus Gottes Schöpfung gemacht hat. Es war ein Garten, geschützt durch Gott. Der Mensch hat daraus die Bühne seines eigenen Willens gemacht. Das freie Können und Lassen wurde so durch menschliche Wahl zu menschlichem Müssen - im Guten wie im Bösen. Weil der Mensch sich entschied für den Verzicht auf Gottes Schutz.
Und in dieser Welt, in der der Mensch aus Abneigung gegen jede Bevormundung allein seine Verantwortung tragen wollte, muss er seine Entscheidung nun leben: Der Mensch, der Adam und Eva heißt und die ganze Menschheit umfasst, auch wenn wir Individualisten das nicht werden wahrhaben wollen, bis es uns auf die schmerzhafteste Weise dämmern wird …, aus Abneigung gegen jede Bevormundung hat der Mensch also wirklich zu tragen.
…Viel zu tragen: Folgen hat er zu tragen. Lasten, die ungleich verteilt sind. Risiken, die sich nicht in individueller Betrachtungsweise, sondern nur in der Bilanz des großen Ganzen zeigen. Der Mensch hat zu tragen und zu ertragen, dass die Freiheit, die er sich nahm, nur ein Teilchen ist, das mit so vielem Anderen in Widerspruch gerät, das in den von Gott gegebenen Gesetzen blieb: Himmel und Erde, Stoff und Geist, Wasser und Land, Tier und Pflanze, Tod und Leben. Sie alle folgen dem alten und klaren Gesetz von Ursache und Wirkung. Nur der Mensch in seiner Freiheit meinte, für ihn gelte nicht, dass man erntet, was man sät, … dass wo Licht ist, auch Schatten sein muss, … dass vor Gott nichts bleibt und nichts verjährt, … dass zum Geborenwerden das Sterbenmüssen gehört und zum Lachen das Weinen, zur Höhe der Fall und zum Haben der Verlust. Dass alles also Echowirkung hat.
… Der Mensch: Die Ausnahme.
Der Mensch: Ein freier Einzelner, ein spontaner Solist, eine Stimme nur für sich, in eigener Sache und niemals Ausführender im Werk eines anderen!
Darum ist der Mensch, der weitere Zusammenhänge leugnet und vergisst, der sich so gern als uneingeschränkt empfindet und nur die eigenen Zielen auf eigene Weise verfolgt, so verwundert, so verstimmt, wenn er spürt, dass er einer unter Vielen sein muss und dass sich das Leben eben doch nicht nach seinem Taktstock, seiner Pfeife richtet, sondern aus der Harmonie und Spannung, aus der „Sym-Phonie“ - dem Zusammenklingen - und der „Dis-Sonanz“ - der Unterbrechung der Stimmigkeit - des großen Gesamtkörpers besteht. Er wollte ganz allein das eigentliche Organum[i], die große Orgel also sein - der Mensch! - und ist doch bloß … eine Pfeife! ————
Warum aber nun dieser lange Umweg über Schöpfung und Sündenfall, über die menschliche Freude am Solo ohne Chor und Orchester und den Hauch und Atem Gottes, der dennoch alles durchweht und endlich in allem zum wohltönende Vollklang kommen wird?
Weil wir heute vom Jesus-Chor hören.
… Sonst sind die Zwölf seine Schar, sein Gefolge, sein Freundeskreis. Manchmal sind es auch nur Einzelstimmen, wenn Petrus mit seinem Bass groß von seiner Treue zum Meister tönt (vgl. Lk.22,33), oder Jakobus und Johannes jeweils mit krähendem Tenor beanspruchen, Stimmführer zu sein (vgl.Mk.10,35). … Oft schwätzen, noch öfter schweigen die Jünger.
Dabei kann doch, wo zehn jüdische Männer zusammen sind, der Gesang nie weit weg sein. Beten und Singen sind in Israel eines. Und jeder zwölfjährige Knabe muss wahrhaftig weder erst das Lesen noch den Text der Heiligen Schrift lernen, um in der Synagoge als mündig aufgenommen zu werden, sondern er erwirbt die religiöse Reife, indem er die Melodie eines bestimmten Abschnitts der Torah auswendiggelernt und vorgesungen hat.
Wer glaubt, wer bekennt, wer die Schrift beherrscht und nach dem Wort lebt, der ist in der Welt Jesu wie im heutigen Judentum also ein singender Mensch.
Und der Klangteppich des frommen Lebens ist so dichtgewirkt, dass manche Melodiefetzen, manche Tonfolgen eine so feststehende Bedeutung haben, dass sie von Hoffnung oder Buße, von Jubel oder Trauer zeugen auch ohne Worte. In späteren Zeiten haben die Wunderrabbiner und mystischen Gebetslehrer des chassidischen Judentums jeder seine typische Summweise, seine charakteristische Versenkungsmelodie, die nicht auf Worte, sondern endlos auf sinnfreie Silben – oijoijoij, daidaidai – wiederholt werden und so auf Flügeln des Gesanges die Seele rein, ohne allen Gedankenwust zu Gott führen. Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ sind ein Nachklang der heiligen Tonleitern und Himmelsvokale, auf denen sich die jüdische Frömmigkeit über die dunkle Welt erhebt.
Und das christlich-musikalische Erbe der festen Psalmtöne, der gesungenen Stundengebete, der bestimmten liturgischen Weise für jeden großen Text, ist die uns ganz nahe Erinnerung daran, dass Gottes Leute keine Monotonie und kein brütendes Verstummen kennen, sondern ihr Vertrauen und ihre Sehnsucht, ihre Bitten und ihren Gehorsam stets hörbar, erfüllt vom lebendig-bewegten Atem des Geistes miteinander und der ganzen Schöpfung teilen.
Das verdammte Corona-Schweigen der beiden letzten Jahre ist also nicht nur ein kultureller Verlust, sondern eine geistliche Erkrankung geworden, denn wenn die Gemeinde nicht mehr auf die Weise Gottes eingestimmt und nicht mehr vom Grundton des Glaubens bestimmt wird und wenn sie ihr Bekenntnis nicht mehr vernehmlich anstimmt und wenn ihr atmendes Miteinander also gar nicht mehr stimmt, dann ist der Sündenfall, in dem jeder nur für sich ist, zwischen uns wieder eingetreten.
Darum ist es so zum Aufmerken und Hinhorchen, dass wir heute zu Ohrenzeugen werden, wie aus Jesu Jüngern ein Chor wurde!
Sie singen - wie gesagt - erstaunlich wenig in seiner Gegenwart, obwohl doch der Psalmbeter in dem schönen Hochzeitspsalm (45,1), der immer schon auf die Verbindung des Messias mit seiner erwählten Gemeinde gedeutet wurde, sagt: „Mein Herz dichtet ein feines Lied, einem König will ich es singen“!
Die einzige Gelegenheit also, bei der Jesu Jünger nun endlich wirklich sein Lied anstimmen, … die einzige Singwoche ihrer Zeit mit dem Heiland ist … seine letzte!
Die Jünger stimmen unter freiem Himmel ihren hellen, überwältigenden Jubel am Palmsonntag an, und am Gründonnerstag singen sie im Obergemach in Jerusalem die Hallelpsalmen (Pss.113-118) der Passaliturgie (vgl. Matth.26,30), ehe sie in die Nacht von Gethsemane und in das große, furchtbare Karfreitags-Verstummen aufbrechen.
Zweimal nur singen sie sich also die Seele aus dem Leib, zweimal nur lassen sie in ekstatischer Erhebung ihrem Gefühl für Ihn, ihrer Zuversicht, ihrer Inspiration durch den Geist, der sie durchflutet, freien Lauf: Bei seinem Einzug singen sie die Erlösungshymne des 118.Psalms, den wir während der Osterzeit immer wieder anstimmen – „Gelobt sei, der da kommt im Namen des HERRN!“ – verbunden mit dem weihnachtlichen Gloria: „Friede im Himmel, Gloria in Excelsis!“, und mit den Worten des gleichen 118.Psalms endet ihre Feier des Abendmahls in der Stunde seiner Agonie und ihres Verrates.
Der Chor, den Jesus geweckt hat, das Lied seiner Jünger ist mithin - ohne dass sie es ahnten - Gesang im Zeichen des Unheils, es ist Singen im Angesicht des Todes.
Und darin ist es der bleibende Maßstab für unser eigenes Dasein als singende Kirche: Die Musik der Kirche, die Melodie des Glaubens ist keine Tonspur für das Selbstverständliche, sondern sie erhebt sich da, wo man sie nicht erwartet und wo sie nicht einmal einordnen lässt.
… Nicht dass wir unsere Schlager also in heiteren Zeiten dudeln, nicht dass wir Marsch- oder sonstige Begleitmusik für das geordnete Leben liefern, nicht dass wir Feierliches nur steigern, Festliches hübsch verzieren, Fröhliches noch anheizen ist der Sinn unseres wahrnehmbaren Miteinanders, sondern dass wir uns aus der Vereinzelung, der solistischen Beschränkung auf eigene Befindlichkeiten lösen und unsere Stimme erheben, wenn es am unwahrscheinlichsten ist und man es am wenigsten vermutet.
Dass Jesu Jünger erst da zu Sängern werden, wo Er selbst bald den letzten Atemzug tun wird, ist dafür ein eindringlicher Beweis! Dass Jesu Jünger ahnungslos also gerade dann herrlich hörbar werden, als Er beinah schon zum Verstummen gebracht wird, ist wirklich ein unmissverständlicher Wink:
Wer sich nur in eigener Sache äußert, wer nur das aufgreift und ventiliert, was ohnehin schon in der Luft liegt ist, gehört nicht in den Chor Jesu. Diejenigen unter uns, die nur jaulen, wenn ihnen etwas wehtut, … die nur pfeifen, wenn sie eine Glückssträhne empfinden, … die man nur von den eigenen Sorgen und Erfolgen tönen hört, … von deren Lippen nur das Rühmen des eigenen Namens und das Beklagen des eigenen Geschicks fließt, … die sollen schweigen in der Gemeinde: Ihre Stimme, die nur von sich selbst und für sich selber spricht, wird sich niemals in den Jubel oder die Klagelieder der Kinder Israels, in das Gloria der Jünger Jesu, in die Liturgie der heiligen christlichen Kirche einfügen lassen!
… Nur wer vor der seltsamen Erkenntnis nicht zurückschreckt, dass die ersten Nachfolger Jesu erst in der Karwoche zu seinen vernehmlichen Zeugen, zu seinem willkommenen Chor wurden – „Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien!“ –, nur also, wer das Singen als das wissentliche oder unwillkürliche Stärken und Trösten Anderer im Leid versteht, kann mitsingen in der Gemeinde Jesu Christi!
Was man im politischen Bereich als Utopie gerne einmal durchspielte – wie wäre es z.B., wenn heute niemand an der Wahlurne seine Stimme nur für sich abgegeben dürfte, sondern jeder die eigene Stimme einlegen müsste für einen anderen Menschen und dessen Anliegen?! – … was also im politischen Bereich unvorstellbar ist, das soll uns im geistlichen Bereich je länger desto lieber und leichter, desto bewusster und bewegender werden: Unser Lied und Lob, unser Halleluja und unser Kyrie-Ruf, unsere Zukunftshymnen und Sterbechoräle sind nicht die Äußerungen unserer persönlichen Befindlichkeit, sondern sie dienen viel größeren Zwecken, … sie dienen Anderen und darin dienen sei dem Herrn, … denn sie sind wortwörtlich Liturgie, also „Dienst!“ ———
Die in der Karwoche singende Jüngerschar, die Lieder, die - auch wenn ihre Sänger vor und in Jerusalem es nicht ahnten - das Kreuz leichter tragen, den Schmerz gefasster durchhalten, das Sterben zuversichtlicher dulden ließen, … diese älteste und einzige Musik, die Menschen in den Evangelien anstimmen, hat daher aber auch gerade mit unserer Zeit zu tun!
Dass es eine Zeit ist, in der die gewohnten und die frivolen, die leichtfertigen und die harmlosen Lieder und Lebensweisen uns plötzlich nicht mehr geheuer sind, in der uns das unbedachte Trallala vergeht und die Stille einer tiefen Sorge, bald dann wohl aber auch wieder das dumpfe Alltagsrauschen der Gewohnheit sich unaufhaltsam ausbreitet, … dass es eine solche ernste Zeit ist, bedeutet nicht, dass wir als die Kirche Jesu Christi nun unsere Gesangbücher schließen oder die ohnehin schon viel zu kurz und unvertraut gewordene Liturgie einstellen sollten.
Im Gegenteil:
Singen ist unser Amt im Angesicht des Schreckens, der verstummen lassen will!
Lob ist unsere Weise, wenn die Welt sich fürchterlich gibt!
Gott zu preisen und zu verherrlichen mit Seiner ganzen Schöpfung, ist und bleibt der Sinn unseres Lebens und Atmens bis zum Schluss.
Je realistischer wir die Welt sehen, desto klarer zeigen uns die singenden Jünger in Jesu letzten Lebenstagen: Wir sollen unsere Zeit in Trost und Zuversicht verwandeln bis zuletzt.
Gott sollen wir singen solange wir leben.
Nichts als Sein Lied soll auf unseren Lippen sein.
… Denn dann stimmen wir ein in das, was immer neu ist in unserer alten, grausamen Realität der durch den Menschen so unglücklich gewordenen Welt der Einzelgänger: Das Lied der Gemeinde des Mose und des Lammes[ii], … die Melodie des Chores der Ewigkeit, … das Halleluja aller Zungen, das nie verklingt.
Amen.
[i] Wer dabei an Francis Bacons Grundlagenwerk „Novum organum scientiarum“ denken muss, mit dem 1620 in England der Paradigmenwechsel von der religiös-philosophischen Weltsicht zur technisch-empiristischen Weltbeherrschung eingeläutet wurde, liegt nicht falsch.
[ii] Schriftlesung an Kantate ist Offenbarung 15, 2- 4: ... Zugleich das Ziel aller unserer Zeit.
Jubilate - Konfirmation, 08.05.2022, Mutterhauskirche, Philipper 4,7, Jonas Marquardt
Predigt Konfirmation - Jubilate 8.V.2022
Philipper 4,7
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Dass das heutige Datum, das nun immer mit Eurem eigenen Leben verbunden sein wird, ein weltgeschichtlicher Tag ist, wisst Ihr vermutlich: Vor 77 Jahren endete am 8.Mai der 2.Welt-krieg, der so furchtbar war, dass viele, die das damals erlebten und die zum Teil ja heute noch unter uns sind, das große, feierliche Versprechen taten „Nie wieder!“
Und Ihr wisst auch, dass wir spätestens seit 74 Tagen erleben, wie die menschliche Absicht „Nie wieder“ sich in Luft auflöst, und wie man deshalb das schlimme Gefühl hat: „Schon wieder!“
… Doch diese beiden schmerzlichen Seufzer: „Nie wieder!“ und „Schon wieder!“ können nun nicht wirklich den einzigen Rahmen abgeben für Euren ganz persönlichen 8.Mai, an dem Ihr noch etwas anderes erlebt und selber in Gang setzt, als die wichtige und zur Zeit so ausweglos erscheinende Geschichte der kriegführenden und friedesuchenden Menschheit.
Wozu Ihr heute mit Eurem Glaubensbekenntnis und Eurer Entscheidung, in der Nach-folge Jesu Christi leben zu wollen, beitragt, das hat genauso viel mit einem „Noch nie“ und einem „Schon immer“ zu tun, wie mit dem „Nie und schon wieder!“
Das „Noch nie“ seid Ihr.
Ihr zwölf – was für eine besonders gute Zahl! – seid heute die welt-geschichtliche Premiere: So’ne wie Euch hatte Jesus noch nie im Gefolge. Zwar dürfen wir sicher sein, dass es in der Gemeinschaft der Kirche schon alle möglichen und auch fast alle unmöglichen Gestalten gegeben hat – Heilige und Eilige und Langweilige, Begabte, Begeisterte und Bekloppte – aber Ihr wart bisher noch nicht mit von der Partie als mündige Mitglieder der Kirche. So ist Eure Konfirmation, Euer eigenständiger Einstieg in die größte Glaubensgemeinschaft der Welt-geschichte also doch ein weltgeschichtlicher Tag ohne dass wir in die Vergangenheit zurück-blicken müssen.
Und auf der anderen Seite, obwohl so Vieles uns in den letzten Jahren so überrumpelt und überfordert hat, obwohl so Vieles in den Zeiten, die wir jetzt miteinander verbracht haben, unerhört und wirklich nicht zum Angewöhnen war, ist doch auch ein herrliches, tiefes und weites „Schon immer“ spürbar gewesen, … jedenfalls hoffe ich, dass Ihr es auch gemerkt habt: Wenn wir von Gott hören und bewegt werden, wenn wir mit Psalmworten zu Ihm beten, und in den biblischen Geschichten, die Lukas festgehalten hat, teilnehmen am packenden Leben Jesu, das in der Krippe anfing, am Kreuz zu enden schien und dann durch Ostern und die Himmelfahrt unendlich wurde, … dann merken wir, dass wir eine Wahrheit kennenlernen, eine Kraft empfangen und in eine Liebe einbezogen sind, die schon immer da waren: Von Anbeginn der Zeit.
Ihr noch nie Gewesenen und der immer schon wirkliche und wahre Gott trefft also an diesem Tag und dieser Stunde ein Abkommen: Ihr bleibt für Gott einzigartig und unwie-derholbar und Er wiederum bindet Euch ein in Seine Ewigkeit.
Jeder Augenblick Eures Lebens und die ganze Unvergänglichkeit Gottes finden hier also zueinander: Was noch nie war und vergleichbar nie wird, geht in das Unendliche ein.
Das klingt jetzt ein bisschen nach Quantenphysik. Irre kompliziert, theoretisch und an-spruchsvoll. … Habt Ihr das verdient? Dass da an einem Sonntag etwas so Anstrengen-des an Eure Tür klopft?
… Beruhigt Euch! Erstens habt Ihr morgen – wenn Ihr wollt und Eure Lehrer keine Spielver-derber sind – schulfrei. Und zweitens habt Ihr bis ans Ende aller Tage, nein sogar unendlich Gelegenheit, zu erleben, was man eben nur mit Gott erleben kann.
Drittens aber will ich versuchen, es Euch noch etwas einfacher zu sagen, … obwohl ich das am schlechtesten kann, weil ich nicht hellsehe.
… Ich weiß ja nicht, was kommt.
… Ich weiß nicht, was aus Euch wird.
… Weiß nicht, was auf Euch wartet.
Dass ich Euch nur Gutes wünsche, dass ich mit Euch am liebsten Eure Träume in Erfüllung gehen sähe und dass es mich froh machte - wie alle Eure Eltern, Eure Angehörigen und Freunde -, wenn Ihr nur noch sorgenfreie Zeiten, lösbare Probleme oder wundervolle Erfin-dungen, Durchbrüche und Rettungen vor Euch hättet, das ist klar.
… Aber auch wenn die Nüsse, die Ihr knacken und die Nöte, die Ihr bestehen müsst, nicht harmlos, sondern hart sein sollten, auch wenn Ihr tatsächlich weiter Mist erlebt, wie in den beiden letzten Jahren, und den Dreck, den man Euch hinterlässt, irgendwie bereinigen müsst: Mein Kopf und mein Herz sind trotzdem voller Zuversicht für Euch!
Weil Ihr nichts von alledem alleine, nichts nur mit eigener Genialität oder Verbissenheit be-wältigen müsst. Heute verbindet und verbündet sich mit Euch der klügste Ratgeber und stärkste Helfer, der treuste Beschützer und unermüdlichste Begleiter, sen es überhaupt gibt: Der die Welt geschaffen hat und die Menschen liebt, Der den Tod besiegen konnte und Der Euren Weg zum bleibenden Ziel lenken wird, Den habt Ihr an Eurer Seite, … Den habt Ihr auf Eurer Seite!
Auch wenn keiner von uns also weiß, was kommt: Er wird da sein, wie Er’s immer war.
Und auch wenn keiner von uns weiß, was aus Euch wird - weil das ja zu dem gehört, was noch nie war -, so wird doch nichts von alledem ohne Gott geschehen.
Und auch wenn weder Ihr noch wir wissen könnt, was auf Euch wartet, so ist doch das Eine sicher: Es wird Gottes Gegenwart bei Euch nicht unterbrechen und Euer Bleiben bei Ihm nicht verhindern. ———
Das war jetzt nicht die Sprache der komplizierten Philosophie oder sonst einer kom-plexen Wissenschaft, sondern die Sprache des einfachen Glaubens.
Aber lasst Euch niemals weismachen, das Eine davon schlösse das Andere aus.
Wie nun die Naturwissenschaft, wie die Technik zu Euren Lebzeiten, vielleicht durch Euern Beitrag, hoffentlich zu Eurem Nutzen sich noch entwickeln mögen, wie sie das Leben auf Erden zu schützen und zu verbessern helfen werden, das wollen wir zuversichtlich abwarten. Ich will Euch in diesen Tagen, in denen es auf der Erde so schrecklich zugeht, während wir sahen und hörten, dass im Weltraum bei der SpaceX-Mission die amerikanischen, die west-europäischen und die russischen Kosmonauten friedlich zusammenarbeiteten, nur noch rasch vom Mond erzählen:
Das Erste nämlich, was Menschen nach der Mondlandung dort in ihrer Raumkapsel ver-zehrten, sollte uns zu denken geben: Der Astronaut Buzz Aldrin hatte von seiner Kirchen-gemeinde nämlich einen kleinen Kelch mitbekommen. Und nach der Landung der Apollo 11 auf dem Mond, nahm er das Brot, füllte aus einem kleinen Fläschchen Wein in den Kelch und feierte mit Neil Armstrong zusammen das Abendmahl[i]. Dazu las er die Worte des Johannes-evangeliums (15,5): „Jesus Christus spricht: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“ … Jesus Christus in Brot und Wein auf dem Mond!
Und der achte Mensch, der jemals seinen Fuß auf den Mond setzte - also so weit entfernt von allem, was wir kennen und beherrschen, wie’s einem von uns bisher überhaupt möglich war -, der Raumfahrer James Irwin hat es noch schlichter erlebt. Er versuchte die Apparatur eines bei seinem Mondspaziergang vorgesehen Experiments in Betrieb zu setzen und scheiterte wiederholt. Weil er von Kindheit an einen christlichen Glauben hatte - auch wenn dieser Glaube in der Zwischenzeit etwas angestaubt war - , fing er unwillkürlich an zu beten, dass sein Vorhaben doch noch gelingen möge. Und da spürte er Gottes Nähe plötzlich so leibhaftig - 384.400 km jenseits der Erde! -, dass er sich umdrehte, weil er sicher meinte, Jesus stünde hinter seiner Schulter[ii]. Jesus Christus – überall, gestern, heute und Ewigkeit. Nur dass es – wie James Irwin, der Astronaut, der sich ihm auf dem Mond so nahe wusste, später wieder und wieder predigte – … nur dass es „viel wichtiger ist, dass dieser Jesus Christus wirklich die Erde betreten hat, als dass der Mensch jemals den Mond betrat“.
Diesem Jesus Christus vertrauen wir darum Eure Zukunft und die Zukunft der ganzen Welt an: Das Leiden des Krieges, das wir nie wieder wollten und vom dem wir für die Menschheit wünschen und beten, dass es bald vorbei sein möge.
Ihm vertrauen wir genauso aber auch das an, was bei Ihm von Anfang an verheißen und entschieden ist: Den Frieden.
Und Euch vertrauen wir Ihm an mit den Worten, die über diesem Tag und Eurem Weg stehen, die alles Hören auf sein Wort beschließen und uns Allen Hoffnung für immer eröffnen:
Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der bewahre Eure Herzen und Sinn in Christus Jesus, unserm Herrn – von nun an bis in Ewigkeit!
Amen.
[i] https://www.youtube.com/watch?v=rwovIEmyFt0
[ii] https://www.godreports.com/2011/03/encounter-with-jesus-on-the-moon-left-astronaut-changed/
Konfirmation 07.05.2022, Mutterhauskirche, Hebräer 13,20f, Jonas Marquardt
Predigt Konfirmation - 7.V.2022
Hebräer 13,20f – Lehrtext des Tages in den Herrnhuter Losungen
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Wir müssen heute, an Eurem Feiertag gar nicht erst drumherum reden: Eure Kindheit und Jugend sind verrückt. … Ich sage nicht, dass Ihr es seid …, sondern die Zeit.
… Und das ist - im dritten Satz der Predigt! - schon ein gigantisches und ehrliches Kompliment: Obwohl die Welt spinnt, seid Ihr kein bisschen durchgeknallter, als man mit dreizehn, vierzehn sein soll.
Man hat Euch eingesperrt, und Ihr seid innerlich trotz allem wunderbar lebendig geblieben. Man prophezeit Euch Nöte, und Ihr habt das Lachen nicht verlernt. Man brockt Euch Dinge ein, versalzt Eure Suppe, legt Euch in jeder Richtung Steine in den Weg und zieht die Daumenschrauben an … und Ihr habt trotzdem Humor und Träume, „worked hard“ und „played hard“ und schafft es unnachahmlich echt, Kleinigkeiten tragisch und Katastrophen leicht zu nehmen.
Und nun ist auch noch Krieg und man möchte die Luft anhalten. … Ihr aber wachst in Eure Zukunft, verblüfft und entwaffnet Eure Eltern, holt ein und überholt, die vor Euch waren und gebt das Menschliche und Helle nicht auf, sondern tragt Euer zunehmendes Teil dazu bei!
Euretwegen würde Jesus eine weitere Seligpreisung finden wollen, … vielleicht so etwas wie: „Selig sind, die eine kranke Welt erleben, denn sie werden die Heilung, sie werden das Heil suchen!“
Das soll nun aber auch schon genug von den ernsten Umständen unserer Tage, genug vom Donnergrollen im Hintergrund Eurer bewussten Anfänge als Christenmenschen sein.
Wir sind ja nicht hier, um unsere Sorgen, sondern Euren Segen zu teilen!
… Wobei, eine Frage müsst Ihr mir noch gestatten: Eine für mich therapeutische Frage, mit der ich mein eigenes Einmal-vierzehn-Gewesen-Sein allmählich aufarbeite. Abgesehen von saurem Regen und Waldsterben, radioaktiven Wolken aus Tschernobyl und Ozonloch aus der Spraydose - oder wie die Weltuntergangsszenarien damals alle hießen -, lag ein wirklicher Schatten auf meinen jungen Jahren. Immer habe ich mich gefragt, warum die Mathelehrer so ungerührt (und ich hatte - ungelogen - einen mit einem Glasauge!) solche schwierigen Aufgaben, solche Problemstellungen anschleppten?
– Mittlerweile dämmert es mir: Sie kamen mit ihren vertrackten Fragen, … weil es eine Lösung gibt!
… Es könnte sinnvoll sein, sich das zu merken: Während ich mir die Haare raufte, … während ich so frustriert war, dass ich vor lauter Algebra-Depression mein Zimmer kaum aufräumen, vor ständigen Kurvendiskussionen und nichtlinearen Funktionen selten pünktlich sein und vor ständiger Sinnkrise angesichts von Sinnus und Unsinnus und Kosinnus kaum noch an meine menschenwürdige Zukunft glauben konnte, hatten alle diese quälenden, für mich Hirn- und Herzmuskelkater erzeugenden Übungen einen Grund, … sie waren Rätsel mit einer klaren Lösung!
… Und so ist es viel, viel öfter, als wir denken!
Euch sage ich das aus besonderer Überzeugung, weil Ihr mir - ohne es zu ahnen - zwei Jahre lang höchstpersönlich gezeigt, ja verkörpert habt, dass wir zwar längst nicht alles erkennen, dass es aber deshalb trotzdem vollständig vor uns steht, auch wenn wir daran rumrätseln müssen.
Was ich meine, ist: In Eurer Gegenwart fühlte ich mich immer erinnert an Neil Armstrong. … Kennt Ihr nicht mehr? Der war auch so ein Himmelskörper-Typ wie Ihr: … Schließlich seid Ihr mein erster Jahrgang ausnahmslos mondgesichtiger Konfis.
… Das ist jetzt nicht beleidigend gemeint!
Ich mobbe nicht Eure Gesichtsform, die mir bei Euch ja in sechzig Varianten begegnete, genauso wie Eure sechzig verschiedenen Charaktere und Wesen, Eure sechzig Seelen, wie wir in der Kirche sagen, die in jeder Hinsicht einzigartig und von Gott unwiederholbar erschaffen sind, und die Gott mit Seiner Liebe erfüllen und erlösen wollte, um sich in alle Ewigkeit an und mit Euch zu freuen.
… Eure Mondgesichter verdanktet Ihr einfach den Masken!
Beinah zwei Jahre lang habe ich immer nur zunehmenden Mond gesehen, und außer in Bad Berleburg fast nie das ganze Leuchten Eurer Angesichter! Immer nur die halbe Ausstrahlung.
Aber ein alter Dichter, der vielleicht das schönste Abendlied von allen geschrieben hat, war mein Trost. Er hat im Blick auf halbversteckte Gesichter und auf unerkannte Lösungen und auf beinah schon aufgegebene Hoffnung für’s Ganze geschrieben:
„Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht sehn.“
(Matthias Claudius- EG 482)
Der alte Mondsänger hat völlig recht! Bloß weil wir es im Augenblick nicht mit den Augen erblicken, ist etwas noch lange nicht unvollständig oder ohne passende Ergänzung, ohne Aussicht auf das heile Ganze. Wie bei den unlösbar scheinenden Klassenarbeiten, wie bei den riesigen Fragen unserer verrückten Zeit, wie bei den Überraschungen, den Enttäuschungen und den motivierenden Herausforderungen Eurer Zukunft gilt immer, dass wir nicht alles sofort und auch nicht alles auf Erden erfassen und vollenden können, aber dass es immer die noch unsichtbare, die unentdeckte und trotzdem doch vorhandene Hälfte gibt, die aus einem Bruchstück etwas Vollkommenes macht.
Diese Gewissheit, dass auch die dünne Mondsichel in Wirklichkeit ein ganzer Himmelskörper ist, diese Gewissheit, dass Teile und Splitter und sogar Trümmer nicht nur Zerfallendes - wie wir es wahrnehmen - , sondern von Gott Zusammengehaltenes sind, dieses Vertrauen ist das, was Ihr am meisten braucht in der verrückten Zeit Eurer Jugend!
Dieses Vertrauen darauf, dass es in der Welt mehr Wahrheit und mehr Segen gibt, als man meinen möchte, heißt Glauben. … Den haben wir alle nötig, und darum wird er auch durch alle Jahre, die Eurer verrückten Jugend folgen, wichtig bleiben:
- Dass Ihr Euch nicht irre machen lasst am Sinn Eures persönlichen Daseins;
- dass Ihr Euch nicht ausreden lasst, dass es mehr Hoffnung gibt, als Gründe zu verzagen;
- dass Ihr Euch den Glanz verliebter Mondnächte und langer Sommertage nicht verderben lasst, auch wenn Ihr davor und danach mitten im Alltag lebt;
- dass Ihr Euch nicht nehmen lasst, vieles anders und besser zu machen als Eure manchmal unerleuchteten und teilweise auch ungerechten Vorgänger auf dieser Welt;
- dass Ihr Euch nicht schrecken lasst, … weder vom deutlich Erkennbaren, noch vom Unbekannten und auch nicht von dem, was heute noch verborgen sein und morgen erschütternd klar werden mag;
- dass Ihr Euch immer erinnert, dass wir getrost über all unser begrenztes Wissen lachen und an unserm vielen Nichtwissen dennoch nicht verzweifeln sollen,
weil wir ja nicht die Sonne sind, die alles hell macht, sondern zur Erde und ihrem Licht- und Schattenspiel gehören, in dem manches völlig offenbar wird und anderes ein Geheimnis bleibt.
Diesen Glauben, der so viel Mut machen kann – Mut, den Ihr braucht, weil die Menschheit ihn braucht – …, diesen Glauben, der so viel Gutes sehen und auch ungesehen ahnen lässt, den werdet Ihr gleich bestätigen.
Es ist der Glaube an den Gott, Den der heutige Lehrtext den „Gott des Friedens“ nennt.
Dass unser Gott der Gott des Friedens ist, liegt aber wieder – falls Ihr noch beleidigt seid, weil ich Euch Mondgesicht genannt habe – an dem, was wir nur halb einsehen und doch ganz annehmen können:
Unser Gott ist Der, Der zusammenhält, was wir nicht auf einmal zusammenbringen: Er hält im Großen Himmel und Erde - also das Geistige und das Materielle - zusammen; Er hält im Kleinen Körper und Seele - also das Materielle und das Geistige - zusammen. Er hält Nähe und Ferne - den Raum! - und Gestern und Morgen - die Zeit! - zusammen. Er verbindet und versöhnt, was wir als Gegensatz oder Widerspruch empfinden!
Das ist in dieser verrückten Zeit unglaublich wichtig: Dass es Euch Christen geben wird, die sich nicht immer nur in Lager spalten lassen werden; die sich nicht auf’s Hassen festlegen oder zum Lügen verbiegen; die es aushalten können, nicht über alles selbst zu verfügen und trotzdem gelassen und getrost zu sein.
Dieser Gott des Friedens mache Euch in Eurem Glauben und Euerm Handeln genau darin tüchtig! Damit für Euch und durch Euch wieder Zeiten kommen, die nicht so verrückt, nicht so gefährlich, nicht so unklar sind! Sondern uns das Gute an dieser herrlichen Welt, das Gute für alle Menschen finden und teilen lassen.
Und dann führe Gott Euch so durch die aufregenden und die gewöhnlichen Zeiten Eures Lebens, dass Ihr schließlich dahin kommt, wo das, was wie der Mond ist - die halben Sachen, das Unvollständige … - einmal aufhört. Und wo wir alle erkennen wer-den, dass Der, Den wir im Menschen Jesus Christus unsern Lehrer, unsern Meister, unsern Freund und Heiland nennen, wenn wir Ihn ganz sehen können, wirklich Gott ist: Der Gott des Friedens, … Euer Gott, …. Der Euch segnet in Zeit und Ewigkeit!
Amen.
Miserikordias Domini, 01.05.2022, Stadtkirche, Johannes 21, 15 - 19, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Miserikordias Domini - 1.V.2022
Johannes 21, 15-19
Liebe Gemeinde!
Nach der Auferstehung ist alles vorbei? …….
– Das wäre das größte denkbare Missverständnis.
Nach der Auferstehung ist nichts vorbei? …….
– Das ist der Ernstfall dessen, was wir als Ostern feiern.
… Nach der Auferstehung - wenn alles anders, aber alles eben auch anders da ist - wird erst einmal der Puls genommen. Da schlagen Herzen. Da geht der Atem ein und aus. Da sammelt und verflüchtigt sich die Lebendigkeit und sammelt sich wieder, da sind und bleiben Menschen Menschen.
Wir sollten uns das klar machen: Wenn ein Puls schlägt, wenn ein Mensch mit seinem erschreckten Luftschnappen und seinem entspannten Auspusten, wenn ein Mensch mit seinem Ge- und Misslingen, seinem Einsehen und seinen Versehen, mit seinen schwachen und starken Schwächen und seinen starken und schwachen Stärken im lebendigen Wechselstrom des Wirklichseins vor uns steht, … dann könnte es sich um eine Begegnung im Licht der Auferstehung handeln.
Ganz bestimmt nicht österlich sind dagegen unsere permanenten Begegnungen mit Menschen ohne solche natürlichen Widersprüche: Menschen, deren Interessen, deren Zuneigungen und Hoffnungen nicht geteilt sind und darum hin und her gehen, sondern konsequent und konzentriert nur um sich selbst kreisen. Menschen, die durch Materie beruhigt und durch Moral beunruhigt werden, weshalb sie die eine häufen und auf die andere verzichten. Menschen, die das Worte Güte mit einem „r“ am Ende buchstabieren. Menschen, die so besonders harmonisch wirken, weil ihr ausgeprägtester Zug die Gleichgültigkeit ist. Solche Menschen üben das Totsein, …virtuos. Und darum sind sie unösterlich. Auferstehung als wirklich menschliche Erfahrung bleibt ihnen vollkommen fremd.
Anders als dem ersten armen Jünger. Dem glühend begeisterten, eiskalt von der Angst erwischten, nachtschwarz verzweifelten, puterrot von Scham übergossenen Petrus. Der hatte in wenigen Tagen so viele Zustände der Seele, so viel Aufschwung und Enttäuschung, so viel Ehrlichkeit und Selbstbetrug, so viel Eifer, so viel Scheitern durchlaufen, dass es kaum auszudenken ist. Die Wechselbäder zwischen Gewissheit und Nihilismus, die nicht zu verwindende Spannung zwischen Treue bis zum Tod und Lüge für sein sinnloses Leben sind in der Brust des Fischers aus Kapernaum wie in einem Reaktor eingekesselt. Petrus droht die Kernschmelze. … Darum hat er unbewusst aufs Abschalten gedrängt. … Ist im Abklingbecken des Sees Tiberias, um dort das, was ihn zerreißen muss, in den langsamen Strom des Alltäglichen zu tauchen, bis es irgendwann abkühlt und aufhört: Dann wird jene plötzlich unterbrochene extreme Energie, die Jesus war, ausgebrannt haben. Und als menschliches Wrack, als ein Tschernobyl, in dem einst eine Hoffnung, eine Hingabe an die Herrlichkeit loderte, die nun für immer eingesargt bleiben wird, will Petrus selbst zuende-, ja zugrundgehen. Wie der Herr! … Der noch einmal aufflackerte, als die verwirrten Frauen ihn nachglühen sahen, als sie behauptet hatten, er leuchte heller denn je und werde nie mehr verlöschen. … Dabei war er doch verpufft! Und Petrus hatte selber, noch vor der letzten Verfinsterung die Verbindung zu ihm gekappt, als er an dem verfluchten Feuer im Hof des Hohenpriesters stand und Jesus nicht gekannt haben wollte. Was für eine unaufhaltsame Kettenreaktion, was für eine Spaltung im Seelenkern! …..
……. Und da steht Er!
Es durchzuckt Petrus bis ins Mark. Es läuft wie der Blitz durch ihn durch. Es zündet wieder … und es brennt! …, weil Auferstehung eben nicht alles unter sich begräbt und das Vergangene durch die Auferstehung eben nicht vergangen ist, sondern weil alles wieder gegenwärtig wird. … Das hat Thomas am Leib des Herrn erfahren wollen. … Und Petrus muss es am eigenen Leib erfahren: Dass der Auferstandene kein anderer, sondern der Gleiche ist. … Den er, Petrus verleugnet hatte.
Für die Dauer eines Frühstücks konnte der erste Jünger damals in der Morgenstunde am heimischen See sich noch einbilden, das Gewesene sei nun das Vergessene. Glücklich wie ein Kind am ersten Ferientag, das alle Erinnerungen an die Schule ausradiert hat, stürzte er sich ins funkelnde Wasser, dem Herrn entgegen, der im Sonnenaufgang am Ufer stand (vgl.Joh.21,4-7). … „Juhu! Alles neu, endlos frei…“
… Dabei hätte er doch eigentlich rasch merken müssen, dass hier das wirkliche und das ganze Leben wiederkehrte: Der Herr, der aus dem Reich des Todes kam, hatte die Fischer ja begrüßt mit dem unnachahmlich herzhaft-konkreten Ruf: „Kinder, habt ihr nichts zu essen?“ – So spricht weder ein Gespenst, noch ein ins Ätherische Entrückter, ein Idee-Gewordener. So spricht der Lebendige. Der jeden Atemzug teilt und Der ewige Zukunft hat und Der dabei Derselbe ist, Der Er war: Der Österliche hat also auch Vergangenheit, denn in Ihm verbinden sich die Ewigkeit mit der Geschichte; in Ihm berührt das Gestern das Grenzenlose.
… Nichts ist vorbei.
… Und wie durchrieselt es da den Petrus, in dem sich alles anfühlte, als werde der Schmerz seiner Schuld, als werde seine Scham noch ewig tödlich weiterstrahlen, auch wenn Jesu lebendige Wärme längst verlosch! … Es geht ihm durch und durch, dass mit der unfassbaren, der unendlichen Kraft des Auferstehungslebens nun doch auch das bisher schon gelebte Leben, das erlittene Leid, die verschuldete Schuld, die vertanen Taten wieder durchpulst und durchströmt werden von der Gegenwart Jesu. … Nichts ist vorbei. …
… Konnte das größte Wunder der Welt denn nicht auch den tiefsten Schnitt mit sich bringen? Konnte mit dem, was der Endlichkeit ergreifend folgte, nicht doch auch alles Vorherige endgültig abgelegt sein?
…Warum auf das Gewesene zurückkommen? Warum die alten Wunden aufreißen? Warum nicht radikal anders anfangen: Alle Verbindungen durchtrennen und jeden Zusammenhang mit Früherem sprengen? … ———
Wenn wir ehrlich sind, wissen wir die Antwort:
Wenn wir die Vergangenheit verscharren, hoffend, im Grab werde sie schweigen, dann heult sie zur Geisterstunde unüberhörbar … und alle Stunden, die noch folgen, bleiben Mitternacht! Wenn wir unsere Fehler und Schmerzen, unser Gewissen und unsere Gemeinheit einfach abspalten und meinen, dann verlören sie sich schon, dann verfolgen sie uns erst richtig, wachsen und verformen sich in jeder Nervenbahn und jedem Bett eines Gedankenflusses, bis wir von den toxischen Altlasten vergiftet sind und nichts mehr gedeihen kann. Wir können Schuld und Erfahrungen nicht verleugnen, wie Petrus Jesus verleugnete. Wir können es nicht dabei belassen, dass das letzte Wort, wenn wir auf unsere Überzeugungen und Entscheidungen angesprochen werden, wie Petrus nachts im Hof, seine Antwort bleibt: „Ich bin’s nicht“ (vgl.Joh.18,17+25).
… Gefragt, wer wir sind und waren, was wir taten, was wir wollen, müssen wir den herrlichen Namen Gottes als unsere eigene Antwort auf die Frage nach unserm Persönlichsten zu nennen lernen: „Ich bin’s“ (vgl. 2.Mose 3,14 / Joh.18,5)! ———
Was die Verdrängung, was die Leugnung der Vergangenheit für katastrophale Folgen hat, was unterbliebene Wahrhaftigkeit und unterbliebene Haftung im Blick auf die Vergangenheit bedeuten, das zeigt uns die Welt in diesen Tag schrecklich deutlich.
Je mehr ich lese[i] und meine Unkenntnis ein wenig korrigiere, desto klarer wird mir, dass wir Zeugen eines riesigen Gespensterkrieges werden: Die Wiederkehr der verdrängten unglaublichen Verbrechen des sowjetischen Russland, die Wiederkehr der entmenschlichenden Brutalität des Kommunismus, die Wiederkehr des Stalin’sche Völkermords an den Ukrainern sind mindestens so treibende Kräfte im gegenwärtigen Albtraum wie die Phantomschmerzen eines zerbrochenen Imperiums oder die Pläne und Fehler, die die Nato zu verantworten hat. … Quälgeister von vor hundert Jahren gehen um. Untote Mörder morden; verleugnetes Blutvergießen fordert Blutzoll. Das Nie-Bekannte drängt ins Scheinwerferlicht. Die tückisch geleugnete Gewalt von vorgestern vergegenwärtigt sich rücksichtlos im Heute.
Darum muss das Evangelium – das Evangelium! – enden, wie es endet: Indem es nichts in der Vergangenheit begraben sein lässt!
… Das nämlich ist keine Drohung. Kein unnötiges Festbeißen an dem, was niemand mehr wissen will oder zu bekennen bräuchte. Sondern umgekehrt: Es ist Befreiung. Lösung vom Fluch, den nur lebendiges Ansprechen und Angesprochen-Werden brechen kann.
Nur dies eben – dass nach der Auferstehung tatsächlich nichts einfach vorbei ist – , … nur dies macht’s möglich, dass schließlich alles wirklich gerichtet, alles wirklich geheilt, alles wirklich gerettet werden kann: Vergangenes, Jetziges und die ganze Zukunft! ——
Wie diese Rettung aussieht, das hat Petrus erlebt, als die plötzliche Gegenwart des Auferstandenen in ihm wieder alle Erinnerungen und Gefühle, alle widerstreitenden Kräfte wie in einem gewaltigen Reaktor in Umlauf setzte.
Am liebsten wäre er vermutlich wieder geflohen, als sein von ihm verlassener, umgekehrt ihm aber in Tod und neuem Leben treugebliebener Herr ihn nach dem Frühstück beiseite nahm.
Doch dieses Mal konnte er sich nicht entziehen. Dieses Mal sollte Petrus - wieder an einem Kohlenfeuer wie in jenem schrecklichen Hof in der Karfreitagsnacht - durch den innersten und unauslöschlichen Glutkern der Verbundenheit mit Jesus transformiert werden.
Er sollte sich weder in Notlagen noch im Glückstaumel je wieder abschneiden von Jesus, sondern die Glut zulassen, die seine Vergangenheit und seine Zukunft, seine negativen und seine positiven Pole verschmelzen würde.
Und es ist ganz einfach.
Keine Vorwürfe.
Kein Verhör.
Keine Methode.
Jesus fragt Petrus gar nichts Theoretisches.
Kein: „Siehst Du’s ein? -… Bereust Du? … Versprichst Du Änderung, gelobst Du Besserung?“
– … Sondern einfach ins Zentrum. Da, wo das Herz schlägt:
„Hast Du mich lieb?“
Eine Frage, die, wenn sie beantwortet wird, über zwei Menschen Auskunft gibt. Eine Frage, die das Ich und das Du klärt.
Eine Frage, der Petrus, der Jesus-Verleugner, der dabei sich selbst verleugnet hatte, nicht ausweichen kann, obwohl sie Scham weckt über das Vergangene.
„Hast du mich lieb?“
Eine Frage, der Petrus, der für sich den toten Jesus unter seinem Alltag begraben wollte, nicht ausweichen kann, weil sie so trivial oder so pathetisch, auf alle Fälle aber so emotional ist, dass sie das Alltägliche verdunsten macht.
„Hast du mich lieb?“
Eine Frage, der Petrus, der sich scheut und schämt, doch schon beim ersten, beim zweiten, auch beim dritten Mal nicht anders als ehrlich antworten kann.
Sein Versagen – scheinbar völliger Widerspruch zur Liebe, die man sich gern heroisch, opferbereit, grenzenlos hingabefähig denkt – sein Versagen hat nichts geändert an der unauflöslichen Verbindung mit Jesus: … Sein „Ich bin’s nicht“, sein „Ich liebe nicht“ war die Lüge. Nicht seine Antwort vor dem Auferstandenen!
Und genauso wenig wie das, was da war, kann das, was ihm gerade noch am geheuersten wäre – dieser Versuch, nun ein Leben der Vergangenheitsverdrängung zu führen – ihn von Jesus trennen. Mit dem, was war, wird auch was ist und wird, immer mit Jesus verbunden sein.
… Auch nach Jesu eigener Vorstellung. Denn Er nimmt Petrus mit dem, was hinter ihm, wie mit dem, was vor ihm liegt, in die größte Gemeinsamkeit auf, die sich denken lässt: Der gute Hirt, der Auferstandene will, dass der gefallene und weggelaufene Petrus sein Mithirte wird.
„Weide andere! Leite meine Menschen! Sorge für die Kirche!“ ———
Nun müsste nach der unsystematischen, untheoretischen, aber zutiefst therapeutischen Frage, ob Petrus sich trotz aller Widersprüche denn angesichts des Geschehenen wie des Gegenwärtigen und des Kommenden einfach ein Herz fassen und die Liebe wahrhaben will, etwas Praktisches folgen:
… Wenn hier das Hirtenamt allgemein oder das besondere Petrusamt, wenn hier die Verantwortung eines Bischofs für die Herde oder eines Erzapostels für die künftigen Generationen im Mittelpunkt stünde, dann müsste man jetzt Anweisungen zur Leitungsdisziplin erwarten.
Doch das Einzige, was Jesus dem Petrus, der liebt – der wieder liebt und weiter liebt und in Wahrheit auch immer geliebt hat – mitgibt, ist kein Führungsauftrag, sondern die Aussicht des Geführt-Werdens, … bis ins Alter, bis in die Widersprüche der unselbständig werdenden Hilfsbedürftigkeit eines gebrechlichen Hirten.
Immer wieder also Unaufgelöstes, Gegensätzliches und Unerwartetes.
So wie das Leben.
Und das Sterben.
Und das Auferstehen.
Die Liebe, die das alles zusammenhält, hat nämlich weder eine Theorie, noch eine festumrissene Praxis. Was sie ist und tut, das ist schlicht, sich zu verzehren nach und immer wieder neu entzünden zu lassen von Jesus.
Sie ist die Reaktion, die nie zuendegehende Reaktion darauf, dass dieser Jesu war und ist und bleibt, weil Vergangenheit und Tod Ihn nicht überwältigen und auch die fernste Ewigkeit Ihn nicht entrücken wird.
Dieser Jesus lebt.
Das ist alles, was wir mit Petrus zusammen erfahren.
Und alles, was wir brauchen. ———
Sagen wir es einmal so nüchtern wie es auch damals war, als Petrus das erste Frühstück mit dem Auferstandenen geteilt hatte und als Verheißung für seine Liebe bloß erfuhr, welchen Todes er sterben würde:
Wir, die wir zu Zeugen des bleibenden Grauens einer nicht-vergangenen Vergangenheit werden, … wir wissen nicht, was die Zukunft auf dieser Erde noch sein mag. Wir wissen nicht, ob nicht – Gott behüte! – die Menschheit in diesem Jahr ein letztes Mal Ostern gefeiert haben könnte. Wir wissen nicht, was dem Ende nahe ist. Und wissen nicht, was noch kommen könnte.
Aber wenn die Auferstehung bedeutet, dass nichts vorbei ist, … wenn die Auferstehung bedeutet, dass auch wir den Auferstandenen lieben dürfen - trotz allem! - … und wenn dieser Auferstandene auch uns im Leben und im Tod österlich nahe war und ist und sein wird, dann endet mit seiner Frage an Petrus und an uns, das Fragen.
… Lieben wir Ihn?
… Dann ist das die Auferstehung. Und das Leben!
Amen.
[i] Pflichtlektüre bei Interesse: Anne Applebaum, Red Famine: Stalin’s War on Ukraine (London [Penguin UK], 2018).
Ostersonntag, 17.04.2022, Stadtkirche, Markus 16, 1 - 8, Jonas Marquardt
Predigt[i] Kaiserswerth Tag der Auferstehung des Herrn - 17.IV.2022
Markus 16, 1-8
Liebe Gemeinde!
Ostern, … wo man endlich das Passions- und kriegswochenlang aufgestaute, spontane, erst glucksende, dann lautstarke, befreite, für immer ungezwungene Lachen der Erlösten (vgl. Ps.126,2!) anstimmen will, ……. Ostern: … Und nun just Markus!
… Der Evangelist Markus - sparsam wie ein Schwabe, ernst wie ein Westfale, wortkarg wie ein Mecklenburger –, der in seiner staubigen Nüchternheit bloß drei Verse eines rätselhaft spröden Osterberichtes braucht, um die Welt zu beschreiben, die jetzt endet.
…Und nicht einmal das macht er mit großem theologischem Pathos oder investigativen Schock-Methoden. Nichts haut er uns um die Ohren, durch nichts erzwingt er unsere Selbsterkenntnis, nirgends stößt er Nasen drauf. Überhaupt streicht er aus der trockenen, unterkühlten österlichen Skizze seines Evangeliums alles Sensationelle: Kein Erdbeben (vgl. Matth.28,2) keinen Blitz (vgl. Matth.28,3), keinen menschlichen Marathon zum Tatort (vgl. Joh.20,4), keinen himmlischen Kraftakt (vgl. Matth.28,2) schildert er. Aber dennoch geraten in seinem unvergleichlich lakonischen Protokoll dessen, was das umstürzendste Ereignis der Menschheitsgeschichte ist und bleibt, die Pfeiler unseres Daseins, das Gerüst unserer Welt ins Wanken! … Weil sie plötzlich, ohne weiteren Kommentar, unbemerkt einfach gegenstandslos werden.
Welche es sind? – Das Rechnen mit der Zeit, … das Geld, … die Sorgen.
Diese drei Faktoren, diese drei Umstände, die das Tun der drei Frauen formen, ehe sie die Auferweckung erfahren, schildert Markus so selbstverständlich wie sie uns sonst ja auch er-scheinen:
Erst, so berichtet er, musste der Sabbat vorüber sein, d.h. die akribische Kalkulation und Einteilung der vergehenden Zeit musste man exakt eingehalten haben, bevor die Begegnung mit dem Wunder anfangen sollte, das die Vergänglichkeit außer Kraft setzen würde.
Dann streift ausgerechnet dieses Evangelium von Ostern ganz beiläufig die prosaischste Bedingung unseres Lebens und alles dessen, was folgt: Vor Sonnenaufgang noch waren nämlich die Frauen schon beim Krämer gewesen, waren Trauernde zu Kundinnen geworden, haben klingende Münzen die Hände gewechselt. Es wurde also ver- und gekauft, ehe die Begegnung mit dem Gut stattfinden konnte, das mit Gold nicht aufzuwiegen wäre.
Und drittens, so weiß es Markus ganz nüchtern und natürlich, … drittens waren die Magdalena, die Mutter des Jakobus - damit vermutlich die Tante Jesu - und die Frau mit dem schönen Namen des Friedens, Salome tief von Sorgen beunruhigt: „Wie lässt sich das Quadrat entzirkeln? Wer rollt den Stein vom Grab?“, so plagten sie sich kurz bevor ihnen das gesagt werden konnte, was alle Plage, Angst und Sorge ein für allemal absurd machen würde. ——
Das also sind die drei Schicksalsmächte, an denen für uns alles zu liegen scheint, die am Morgen der Auferstehung jeden Grund, jedes Gewicht und jeden Ernst einbüßen müssen: Frau Sorge, „die graue, verschleierte Frau“ - wie der Dichter[ii] sie nennt -, der ungerechte Mammon und die unerbittliche Parze „Zeit“.
…Und hinter und über diesen Dreien steht natürlich eigentlich der ewig gleiche Beherrscher und Zerstörer aller Dinge: Der Tod. …
Doch plötzlich sind sie alle nicht mehr ausschlaggebend: Die Uhr und das Portemonnaie und die Panik.
Plötzlich sind sie vorbei ……..
Vielleicht muss man es nach Art dieses irritierenden Dreiklangs sagen, um endlich wieder einmal zu hören, was die viel zu gewohnte, aber auch viel zu wenig bedachte Botschaft dieses Morgens vom besiegten Tod ist.
Dass Ostern dem Tod die Macht genommen hat, das behauptet man nicht nur zeit unseres Lebens, sondern seit Jahrtausenden.
… Trotzdem aber ist nach unserer Erfahrung der Tod so schrecklich real, so kräftig und munter, so ungebremst vital und aktiv, so täuschend lebensecht unterwegs, dass alles, alles immer noch ihm zu dienen bereit scheint: Alles, was Menschen tun, was sie schaffen, woran sie sich klammern, wodurch sie Glück erhoffen, … alles zahlt ein auf’s Konto des per Klima, Krieg und Krise expandierenden Todes.
Dass der Tod entmachtet sei, glauben wir darum kaum.
… Doch wieviel kritischer, wieviel skeptischer noch reagierten wir wohl, wenn wir dem sarkastisch wirkenden, aber wahrhaftig keine Witze machenden Markus Gehör schenkten: Hintergründig entlarvt er mit seinen neutralen Erwähnungen des ungeduldig abgepassten Sabbatendes, des endlich wieder alltäglichen Geschäftsbetriebes und des nur allzu verständlichen Pessimismus der Frauen, die keine Steinmetze sind, wie schlecht wir uns in eine Osterwelt hineinfinden würden, wenn wir es überhaupt je versuchen wollten. Denn das alles sind Dinge, die wir uns ja nicht nehmen lassen würden: Zeiteinteilen, Geldhorten, Pläneschmieden, … das geben wird doch nicht ernsthaft auf! Das kann ja wohl niemand verlangen! Zeit ist schließlich Geld. Geld ist Sicherheit. Und Vorsorge für Sicherheit beizeiten ist Weisheit!
… Markus beliebt demnach zu scherzen?!
… O nein! – Bewahre! – Markus, der westfälische Schwabe aus Mecklenburg scherzt nie!
… Er ist bloß - vielleicht - ein ganz subtiler Satiriker! Denn bei wiederholtem Nachdenken über seine unkomische Osterminiatur beschleicht uns allmählich der ungemütliche Verdacht, es könnte unser Auferstehungsglaube womöglich nicht an der ungebrochenen Vorherrschaft des Todes scheitern, sondern an unsrer Unfähigkeit und Unwilligkeit, unsern Todesglauben und dessen praktischen Auswirkungen auf unser Leben aufzugeben.
Was, wenn wir alle wie die drei Frauen, denen der Bote des Auferstandenen begegnet ist, … denen er den Ort zeigte, an dem sich kein Gekreuzigter und Begrabener mehr findet, … denen er eine Wegweisung gab ins Leben, in dem sie Jesus von Nazareth selber lebendig und wirklich sehen werden, … was also, wenn wir wie diese drei Frauen einfach zu überfordert wären, den Tod vergangen sein zu lassen? Ihr Zittern, ihr Entsetzen kann man wahrhaftig ja verstehen, wenn sie plötzlich endlos ohne alles das weiterleben sollen, was noch am frühen Sonntagmorgen für sie völlig normal (wenn auch tragisch), vollkommen gewohnt (wenn auch jammervoll), tief vertraut (wenn auch herzzerreißend) war.
Wenn all die Orientierung, die Schutzmaßnahmen, die eigenen Anstrengungen, die sie eben noch kannten, plötzlich gar nicht mehr zur neuen Wirklichkeit passen?
Wenn ihr Zeitsystem –„Wird sein / ist und / war“ – gar nichts mehr sinnvoll einordnet, weil der Vergangene nicht hinter ihnen, sondern vor ihnen zu finden sein soll?
Wenn ihr Erspartes ihnen nichts mehr verschaffen kann, weil man jetzt immer einfach nehmen soll, ohne vorher irgendetwas zu geben?
Wenn die Gedanken, die man sich macht - auch die verrücktesten, auch die vernünftigsten -, nur noch Quatsch sind, weil alles auf einmal nur noch Wunder ist und bleibt?
Kann man in einer solchen Welt ohne Maß, ohne Leistung, ohne Logik klarkommen?
… Magdalena, los sprich! Tante Marie, was meinst du? Salome, verstumm’ doch nicht bloß!
Doch sie sagten niemand etwas, denn sie fürchteten sich. ……. ————
Tja. …………
Und doch sind wir heute hier!
Die Osterbotschaft, selbst in ihrer stocknüchternen Markus-Form ist zwar total verwirrend, ist schwindelerregend, macht einen benommen und wackelig, so dass man sich wie an einem verfrühten Pfingsttag schon am Morgen beinah beschwipst fühlt und nicht weiß, ob man nicht besser wirklich noch einmal zurück in die Federn oder hinter die Grabfelsen gehen und den Rausch ausschlafen und erst wieder wach werden sollte, wenn man zuverlässig sagen kann, was die Stunde geschlagen hat und wieviel Geld wir brauchen und noch haben und was wir wohl anstellen können, um einigermaßen unbeschadet durch die argen, trüben Zeiten zu kommen, die nun einmal herrschen …
Dieses Ostern, diese Auferweckung, diese ganze andere, ganze neue, ganze freie Wirklichkeit ohne den guten alten Tod und die gute alte Zeit und die gute alte Materie und die gute alte Vernunft, … das ist zu viel, … zu kraus, … zu irre!
Lieber stillhalten. Schweigend fliehen vor dem leeren Grab. …..
Und doch sind wir heute hier!
… Und auch wenn er immer noch so aus dem etwas faden, etwas humorlosen Gesicht guckt, als könne er kein Wässerchen trüben und gehe zum Lachen in das Tal Gehinnom, wo in Jerusalem bekanntlich der Eingang zur Unterwelt ist, dämmert es uns endlich vielleicht doch, dass der Evangelist Markus und sein Evangelium einen schier unergründlichen, einen nie dagewesenen, … einen Ur-Witz haben, an den kein Komiker und auch kein Philosoph der Weltgeschichte je herankam und -kommt. Der Evangelist Markus hat nämlich diesen Mutter-Witz, nein: Vater-Witz, Sohn-Witz, Heiliger-Geist-Witz, dass er wirklich als Erster etwas weitergegeben hat, das alle Welt völlig überfordert, … das niemand sonst zu sagen oder festzuhalten wagte, weil es so unglaublich, so aberwitzig ist, dass jeder, der es ahnt, lieber den Schnabel hält, als dazustehen wie ein Idiot.
Doch eben das macht dem Markus gar nichts. Trotz seines nachweislichen, extrem sachlichen Verständnisses für die völlige Unverständlichkeit als die eigentliche Pointe des ganzen Evangeliums – eine Pointe, die Markus immer wieder vorbereitet, weil alle großen Wunder und Taten Jesu bei ihm von einem strengen Schweigegebot gefolgt werden – … trotz seines Bewusstseins also, dass niemand jemals angemessen in Worte und Verständnis fassen kann, was Gott in Jesus und an Ihm getan hat, hat Markus daraus eine unspektakuläre und nicht-spekulative kleine Schrift gemacht. So dass alle Welt es schwarz auf weiß hat, dass keine der immer noch ernstgenommenen Kategorien und auch kein kategorischer Ernst mehr letzte Gültigkeit besitzt. … Und wenn man es auch noch so schwer begreifen kann, … wenn es auch noch so verunsichernd ist, dass nichts mehr die Menschheit total verunsichern kann - was für ein irrwitziger Gag! -, so hat Markus es doch in seiner überhaupt nicht reißerischen Art schlicht notiert:
Auch wenn das Uhrwerk der Welt weiter tickt, … auch wenn die Leute rechnen und raffen und auch wenn sie schließlich klüger sein wollen, als der Zufall oder die Fügung, so ist das alles trotzdem ein Abarbeiten an Phänomenen und ein Kalkulieren mit Größen, die passé sind! Denn der Garant der Zeit - die Endlichkeit! - und das Motiv aller Geschäfte - die Verlustangst! - und der Motor unserer Weisheit - die Abwehr von Todesgefahren! - …: Sie alle haben keinen Bürgen mehr. Der Tod kann nicht mehr vorgaukeln, nur jetzt dies’ Leben sei der Güter höchstes und jede Sorge, jede Schweinerei sei’s wert! … Irrtum! … Die Wirklichkeit ist eine völlig andere geworden! … Und deshalb sind wir doch heute hier ……. ————
Aber noch immer hör’ ich kein Lachen, seh’ noch nicht einmal ein leises Schmunzeln.
Noch immer die rat- und hilflosen, schockierten, leeren Gesichter der beiden Marias und der Salome, … die Gesichter von Nadeshda und Ljuba, die Gesichter von Natalja und Nastassja, von Oksana, Sofija[iii] und Darja, die so voller Schmerzen und gefrorener Tränen sind, die so Furchtbares gesehen haben und so ergebnislos suchen, was das Leben wieder hell machen könnte.
… Und dann weiß ja auch ich es: Die nächsten Wochen werden das Totenfeld der Ukraine so schrecklich umpflügen bei der gottlosen „Oster-Offensive“, die bevorsteht, … so viele mehr werden dort weiter viel zu früh gesät werden verweslich (vgl.1.Kor.15,42), … so furchtbare Zeiten kündigen sich überall auf Erden - auch dank unserer eigenen Trägheit und Unbelehrbarkeit! - an, … so schwarz ist die Zukunft, so groß sind die kommenden Nöte, so schwer wird das Leben: Also schweigen, wie die drei Frauen?! Zurück zur bleiernen Zeit, zum Blutgeld, zu den schlaf- und verstandraubenden Sorgen?! …………
– … Markus?
… Er verzieht keine Miene.
… Immer noch so streng, so karg und so ernst wie wir ihn kennen. Wie unser Leben in dieser Zeit. Wie unsere Pflicht, mit dem Leben, mit der Zeit und der Welt - soweit sie uns Menschen und unserer Verantwortung überlassen sind - gewissenhaft und gerecht und klug umzugehen.
Aber Markus hat dennoch das Evangelium verfasst! … Obwohl es über unser Verständnis und unsere Verantwortlichkeit weit hinausgeht, dass Gott da allen Mächten die Macht genommen, alle Vernichtung vernichtet, alles Unheil geheilt, alles Endgültige umgekehrt und alles Schreckliche gut gemacht hat.
Der sterbenslangweilige, leichenbittere, todernste Evangelist Markus hat’s einfach nicht dabei lassen können, dass wir Frauen und Männer und Kinder so wenig verstehen und aussprechen können von dem, was die letzte, die größte und bleibende Wahrheit, … vor allem aber die fröhlichste Wahrheit ist: Dass mit dem Leben und dem Tod nicht nur wir Menschen alleine befasst, behaftet und belastet sind.
Dass außerhalb und jenseits unseres ernsten Verantwortungsbereiches, in dem wir immer noch damit rechnen müssen, wie Vieles und wie Viele dem entmachteten Tod an-hängen und verfallen, Gott ein Neues geschaffen hat, als Er Jesus auferweckte mitten in der Welt!
Das ist so unendlich wunderbar, … so viel höher, so viel tiefer, so viel ernster, aber auch so viel heiterer als alles, was wir sonst sehen, sagen und suchen könnten, dass es viel-leicht wirklich nur ein so völlig nüchterner Zeitgenosse wie Markus schaffen konnte, das festzuhalten.
Ihm war es nicht zu irre, zu idiotisch, zu lächerlich.
Sondern ernst!
Und das ist es.
So ernst wie die Welt.
Und genau deshalb braucht es den stoischen Mut des Markus, es weiterzusagen: Nicht trotz des Krieges und Sterbens in der Ukraine, sondern wegen dieses Krieges! Nicht trotz der drohenden Zerstörung noch weit größerer Länder und Lebensräume, sondern wegen dieser Gefahr. Nicht trotz des Leidens, das der Tod noch immer entfacht, son-dern genau deswegen!
Die Zeit des Todes - also auch unsere Zeit - vergeht nämlich. Und sein Geschäft und alle, die mit ihm Profit machen, werden schließlich doch bankrottgehen wie Russland. Wie tiefbesorgt auch immer uns die Wirklichkeit darum also noch macht: Nicht, was wir vorhersehen, sondern die Überraschung durch Gott ist doch das einzig Sichere an dieser Welt.
Weshalb das anhaltende Schweigen der drei Frauen und das Chaos unserer Gegenwart und der Rest unseres Lebens alles zusammen nur eine einzige Zeitlupe ist, in der es sich kaum merklich vorbereitet und ankündigt, wozu das alles endlich werden soll:
Überhaupt kein Scherz, keine Satire, sondern der leise, lösende, lebenspendende Witz im Sinne von Geistesblitz, den Markus als Erster weitergesagt hat - weshalb wir heute hier sind -, und über den wir lachen werden als die Erlösten bis in Ewigkeit:
„Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden. Er ist nicht hier! Geht und ihr werdet ihn sehen, wie er gesagt hat!“
Kein Scherz also. … Aber zum Lachen!
Amen.
[i] Die Predigt mutet zu, dreimal in die Ratlosigkeit und den Zweifel zu führen, so wie jede der drei ersten Zeuginnen des Ostertages schließlich in das geriet, was wir hochtrabend eine „Aporie“ nennen … was aber schlicht beschreibt, dass wir nicht verstehen, fassen und glauben können, wovon der Evangelist dennoch schreibt und was in unserer Begegnung mit dem Evangelium dennoch geschieht und sich selber durchsetzt: Die Gegenwart Jesu Christi, des Auferweckten.
[ii] So beginnt das titelgebende Gedicht, das Hermann Sudermann 1887 seinen Eltern zur Silberhochzeit widmete und seinem Roman „Frau Sorge“ voranstellte.
[iii] Dass so viele der Namen, deren Trägerinnen auf der Flucht aus der Ukraine jetzt unter uns Aufnahme finden sollen, eine ganze Predigt im Kern enthalten – „Hoffnung“ und „Liebe“, die „Weihnachtliche“, die „Österliche“, „die Gastfreundliche“, die „Weisheit (Gottes)“ bedeuten die ersten sechs hier willkürlich aufgegriffenen Namen – , ist eine sprechende Botschaft davon, wie sehr das Christentum getroffen und gefordert ist, einer Katastrophe in seinen eigenen Reihen mit Widerstand und Klarheit zu begegnen, die immerhin von einem „Kirchenoberhaupt“, dem Pseudo-Patriarachen von Moskau salbungsvoll und mörderisch unterstützt wird. Die Nüchternheit des Markus ist eine existentielle Tugend gerade auch wo Glaube und Politik sich berühren!
Osternacht, 16./17.04.2022, Joh.20,19-21, Stadtkirche, Dr. Sascha Flüchter
Die Predigt in der Osternacht 2022 in der Stadtkirche Kaiserswerth kann man auf der Webseite von Dr. Sascha Flüchter nachlesen.
Karfreitag, 15.04.2022, Stadtkirche, Lukas 23, 32 - 49, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag - 15.IV.2022
Lukas 23, 32-49
Liebe Gemeinde!
Heute auf Golgatha haben wir nur einen Wunsch: Dass hier, in diesem furchtbaren Geschehen, in dieser Zeit des Furchtbaren nicht bloß ein weiterer brutaler Mord hinzukommt.
Wir haben heute auf Golgatha die tiefe, widersinnige erscheinende, aber von der Kirche seit Jahrtausenden genährte Hoffnung, dass aus dem Schrecken dieses Tages, der am Mittag schon zur Nacht wird, ein neuer Morgen dämmert; dass aus den Wunden, die wir sehen, Heilung wächst; dass aus den Tränen Lieder werden und dass der Welt im wartenden Grab unseres Gekreuzigten eine Geburt bevorsteht.
Auf Golgatha soll heute Gutes werden, denn Schlimmes gibt es schon so viel. —
Diese Hoffnung auf die Hinrichtungsstätte, diese Wünsche der Welt an einen wehrlosen Märtyrer, dieser Traum, der sich an einen Verfluchten klammert, sind das Geheimnis des Glaubens. Wenn wir sie nicht mehr teilten, dann hätte der Übeltäter, der neben Jesus litt und der ihn lästerte, den Nerv für immer getroffen: Jesus, der Hilflose wäre das Schlussbild einer makaber dünnen Biographie aus der Antike. Man müsste sie ernüchtert und verbittert zusammenrollen und in den Ofen werfen. … Geplatzte Illusion. Sinnloses Experiment. Allerweltsirrtum!
… Wenn Golgatha Golgatha bleibt, dann liegt das Finale der Weltgeschichte hinter uns. Dann ist Tod das Ziel und Mord der Weg. …………
Wenn aber das Evangelium Recht hat, … diese Nachricht, die Markus, dann Matthäus, Johannes und schließlich auch Lukas, der Heide aus dem Erleben und den Predigten derer schöpften, die den Karfreitag nicht aushalten konnten, dann aber Ostern fassen sollten und schließlich noch fünfzig Tage bis Pfingsten brauchten, um aus der Sprachlosigkeit in’s Wort zurück zu finden, … wenn also das Evangelium Recht hat, dass wir das Leben Jesu nicht wegwerfen müssen, weil es nicht weggeworfen blieb, dann ist es nicht vergebens, dass wir heute hier um Golgatha versammelt sind, … dass wir der Vollstreckung eines Todesurteils beiwohnen und dass wir uns in jeder Hinsicht so verhalten, wie man sich eigentlich nicht verhalten darf und doch gerade in diesem entsetzlichen Jahr seit mehr als fünfzig Tagen verhält: Als tatenlose Zuschauer des Tötens.
Wenn das Evangelium Recht hat, ist es nicht vergebens, sondern es wird uns Vergebung bringen, dass wir nach Golgatha schauen! ——
Es ist nicht vergebens, … aber auch nicht umsonst!
Diesen Gedanken, dass wir nun tatsächlich nicht ohne begründete Hoffnung dem Todeskampf und Sterben Jesu folgen werden, dass wir das aber auch nicht auf’s Geratewohl, dass wir es nicht einfach ohne alle Voraussetzungen tun können, … diesen Gedanken wollen wir weiter entfalten.
Die ersten Zeugen wussten nicht, was auf Golgatha anderes als sinnloses Sterben zu er-warten sein sollte.
Einige von ihnen wickelten dieses zynische Schauspiel als bezahlte Kräfte immer wieder ab oder waren durch ihren Dienst dazu gezwungen. Manche trieb die sadistische Erregung, die leider allzu viele kennen, sich an extremen Schmerzen zu weiden, die, wenn wir sie an anderen sehen, ja nicht in uns wüten. Andere wieder waren aus religiöser Enttäuschung zugegen beim letzten Akt im Drama des schiffbrüchigen Messias.
Und ganz Wenige dort auf Golgatha sind aus hilfloser, bedingungsloser Liebe den grauenvollen Gang mitgegangen bis zum grauenvollen Ziel.
Die meisten Freunde Jesu allerdings, weil sie weder Mörder noch Zyniker noch Helden waren, blieben fern. Sie wollten das Scheitern, sie konnten die Ohnmacht nicht hautnah ertragen.
Von ihnen aber, die damals so ohne Haltung und ohne Hoffnung waren, ist in den Predigten und Evangelien, die sie nach Pfingsten trotz ihres tragischen Versagens weitersagen durften, die Botschaft ausgegangen - und bis zu uns gedrungen -, dass der am Kreuz Sterbende schon dort begonnen hat, Heil und Leben zu schenken!
Daher ist für uns aber statt der hoffnungslosen Verzweiflung das Evangelium selber zu unserer Voraussetzung für’s Dabeisein, zu unserem Zugang zu Golgatha geworden.
… Das bedeutet allerdings, dass wir - wenn wir vom Positiven des Kreuzestodes gehört haben - unsere eigene Negativität ausbluten lassen müssen, um aufnahmefähig zu sein für das, was da strömt; es bedeutet, dass die, die am Kreuz das Gute von Jesus erhoffen dürfen, an seinem Fuß dem Bösen in sich den finalen Abschied zu geben haben.
In der Sprache der Alten heißt das, dass Allen, die nicht ahnungslos, sondern durch das Evangelium eingeweiht den Karfreitag feiern, keine neutrale, sondern eine beteiligte Rolle dabei zufällt: Wem schon gesagt ist, was da geschieht, dem bleibt nur die Wahl, dort mit zu quälen oder mitzuleiden, dort mit zu töten oder mitgekreuzigt zu werden.
Wenn der Tod Jesu das Heil ist, auf das wir hoffen, wenn er die Rettung ist, die wir wünschen, dann führt uns nur ein Mitsterben zum Miterben, … nur Mit-Vergehen führt zum Mit-Erstehen, … nur Selbst-Aufgeben zu wahrem Neu-Leben. ——
Hart, aber wahr.
Wir selbst müssen dort am Kreuz Jesu für uns den Tod finden, um die daraus wachsende Zukunft zu gewinnen: So hat es der Lehrer des Lukas - der Völkerapostel Paulus - immer wieder eingeschärft (vgl. z.B. Rö.6,3f; Gal.6,14; 2.Kor.4,10f; Kol.3,3f; 2.Tim.2,11).
Was diese alte, uns von Natur aus höchst unwillkommene Botschaft bedeutet, will ich nicht als abstrakte Wahrheit stehen lassen. … Also muss ich es persönlich sagen.
Mein erstes denkwürdiges Kulturerlebnis als Kind war zugleich die erste Gelegenheit, bei der meine Mutter mir sagte, dass sie sich meiner schäme: Wir waren erst vor knapp drei Monaten in England angekommen, als unsere neue Nachbarin, eine herzensheitere Methodistin aus Wales, wo die Leute ein wenig sind wie in dem kitschigen Lied - „wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus“ (vgl. EG 663) - …als unsere liebenswürdige Nachbarin uns zwei Karten für die Liverpooler Philharmonie schenkte. Da mein Vater natürlich eine Sitzung hatte, durfte ich als achtjähriger Ältester mit und war geschmeichelt. Das Programm, das ein unbekannter Lockenschopf namens Simon Rattle dirigierte, war mir durch den Konzertführer schmackhaft gemacht worden: Ich freute mich auf Musik, die einen Giftzwerg und einen Ochsen schildern würde und das große Tor einer Stadt, deren Name - Kiev - mir da zum ersten Mal begegnete, ganz besonders aber auf einen Hexenofen, der auf Hühnerfüßen grotesk daher fahren sollte. Märchenhaft, majestätisch, bunt: So lernte ich durch Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ große Orchestermusik kennen. ….. Und sprach zwischen meiner Mutter und der milden Waliserin neben mir in das Schweigen vor dem Beifall einen meiner ersten englischen Sätze nachdrücklich laut aus: „I hate the Russians“ - Ich hasse die Russen! ….. Das hatte mir trotz aller traumatischen Leidenserfahrungen, trotz Plünderung, Vergewaltigung, Kindermord und Vertreibung niemand aus meiner Verwandtschaft in dieser Form, so nackt und so heillos je vorgesagt. … Das war ich: Ein Kind, in dem erzähltes Grauen und aufgewühlte Gefühle die Bremse gelöst hatten. Ein Mensch, aus dem auch angesichts des Schönen dieser Welt, unter dem Eindruck des Edlen und ja auch Erhebenden, das wir als Kultur kennen, die Menschenwirklichkeit des Bösen sprach, … des Bösen, das nicht persönlich und nicht rational, weder verstanden, noch kontrollierbar, keinesfalls geplant und keinesfalls provoziert doch schlicht und einfach da ist und sich Ausdruck verschafft. …………
Dieses Böse im Menschen, dieses Böse in der Welt, … wer es wahrnimmt, wer es in sich findet oder kennt, der kann es nach Golgatha nur mitbringen, um es dort enden zu lassen, … um es dort mit an das Kreuz zu heften, an dem aus Unrecht Recht, aus Sünde Segen wird, aus einem Verbrechen ein Verheilen und ein endloser Anfang.
Das ist zwar, seit es das Evangelium und die Paulusbriefe gibt keine neue Erkenntnis: Dass Jesu Sterben ein inklusives, ein umfassendes Sterben ist, so wie sein Leben eine Einladung ist, die das Leben aller, die das Leben der ganzen Welt in sich einlassen und aufnehmen will.
Aber wir sind vor dieser Form der grenzenlosen Vergemeinschaftung scheu geworden.
„Bringt Eure Schuld, Eure Fehler, Eure Schande und Erbärmlichkeit, Eure Finsternis, Euer Schlechtes, Euer Verderben … bringt sie, damit sie hier ein Ende finden, damit sie den Tod erleiden!“: Das ist ein Ruf, der uns mehr abschreckt, als dass er uns anzieht.
… Haben wir denn etwa so viel Verwerfliches an uns? … Und wenn Ja, wäre es denn dann nicht immer noch nur unsere Angelegenheit?
… Nun: Blicken wir uns um!
Hat die Menschheit etwa bewältigt, hat sie entschärft, was in ihr schwelt und immer wieder ausbrechen kann? Haben Fortschritt und Ethik, haben Optimismus und Naivität, haben Wunschdenken und Flucht in das Reich der unbeschränkten Verbindungen, das sich als Netz der Menschenfressertrolle herausstellt, mehr Güte als Gier geweckt, haben sie in den nunmehr langen Jahren unsrer Bequemlichkeit mehr Frieden gebracht und weniger Wahnsinn?
Der Hass ist doch so urgewaltig und so giftig ausgebrochen, er beweist so tödlich seine Macht und Ansteckungskraft, er hat die rohe Gewalt von der Leine gelassen und dadurch auch den brutalsten Selbstschutzinstinkt, er hat Stumpfes und Einschneidendes in der Psyche der Massen aufgedeckt, dass es zum Erbarmen ist. Wie scharf müssen wir alle unsere eigene Blindheit und Verstrickung angesichts einer Realität erkennen, die wir für undenkbar erklärten; wie deutlich wird auch unser verderblich-verdorbenes Wesen als solche, die sich vormachten, das Böse sei nicht mehr da und die nun alles tun würden, nur um es sich selbst vom Leib zu halten! Dass es aber nicht nur dort, sondern auch hier ist, dass es nicht nur plötzlich von Außen droht, sondern sich genauso tückisch auch in unserem Inneren versteckt und ausbreitet, das wollen wir auch jetzt nicht gerne wahrhaben.
Es ist aber so.
Ich mache es kurz. Zu Beginn des Krieges vor sechs Wochen schämte ich mich, als ich im Werk eines großen ukrainischen Schriftstellers - Jurij Andruchowytsch - vor Jahren geschriebene, klare Vorwegnahmen des heutigen Mordens las[i]. Dann erfassten mich Mitleid und Bewunderung, als vor vier Wochen der über sechzigjährige Autor in einem Interview beschrieb, warum er sich nicht in Sicherheit bringt, sondern in der Verteidigung der Freiheit etwas Größeres als seinen eigenen Lebenswunsch erblickt[ii]. Zuletzt aber hat mich Verzweiflung gepackt, als der gleiche hellsichtige, mutige, aufrechte Dichter jüngst über alle Russen mit einem so abgründigen Hass schrieb, dass es zum Fürchten war[iii].
… Das achtjährige Kind und der kluge Intellektuelle, die beide nichts Verworfenes an sich haben mögen – … und aus beiden spricht unerwartet, aber noch unmissverständlicher der blanke Hass! —
Wenn wir diesen Keim und diese Wurzel, diesen Quell und diese Flut, diesen Funken und diesen Brand des Bösen, wenn wir diese Verachtung und diese Selbstgerechtigkeit, diese Angst und diese Grausamkeit, diesen fehlerhaften Zufall und dieses mörderisch programmierte System des Menschen, wenn wir diesen Hass, der die Sünde ist (vgl.1.Joh.2,11), da wo wir ihn erleben, wo wir ihm erliegen, wo wir ihn erleiden, nicht am Kreuz Jesu Christi kreuzigen lassen, dann haben die Menschen keine Zukunft.
Damit die gefährliche, gefährdete Menschheit also Zukunft finde, muss das alles auf Golgatha sterben.
Wenn wir aber mit dem Evangelium schon im Ohr heute hier sind, … wenn wir wissen, dass es hier nicht um ein beliebiges Beispiel oder die traurige Fortsetzung und Feier der Macht des Bösen geht, sondern um dessen Überwindung, dann kann unsere Hoffnung, Tat und Bitte nur sein, dass wir unsere eigene, uns selbst vielleicht verborgene, genauso aber auch die zum Himmel schreiende sichtbare Misere des Bösen hier wirklich enden sehen. …….
Halten wir also ganz bewusst still, decken wir unsere Herzen auf, verstecken wir die uns winzig klein oder furchtbar groß erscheinenden Anteile an Härte, Kälte und Verderbnis darin nicht, sondern überlassen sie Dem, Der dort am Kreuz hängt.
Wie ein Magnet zieht Er die Splitter und die Brocken an sich.
Und wenn wir sie diese Verbindung mit dem Unschuldigen, dem Gütigen, dem Heiligen eingehen lassen, wenn wir Jesus unsere Sünde und Verlorenheit und die der ganzen Welt tragen lassen, dann bejahen wir, dass dort wirklich geschieht, was wir uns heute auf Golgatha wünschen!
Das unmenschliche Unwesen in uns und allen anderen erhält auf Golgatha den Gnadenstoß!
Und die Verheißungen, die Zusagen des an und für uns Sterbenden gehen in Erfüllung:
Dort am Kreuz geschieht die Vergebung aller uns bewussten und aller unbewussten Schuld!
Dort tut sich der Himmel auf, der Himmel voller Verbrecher, denen solche Vergebung gilt!
Und alle und alles sind wir nicht dem Verderben, sondern den Händen Gottes anbefohlen!
*******
Und so können wir auf Golgatha heute keine Wünsche mehr haben.
Nur Dank in Ewigkeit!
Amen.
[i] So endet z.B. die deutsche Übersetzung des 1993 (!) im Original erschienen Romans „Moscoviada“ von Andruchowytsch, der eine umgekehrte Göttliche Komödie im Moskau der post-sowjetischen (?) Ära schildert und folglich in der Hölle kulminiert, wo die Gespenster der kommunistischen Gewaltherrschaft von der Wiederrichtung des zerfallenen Imperiums träumen, mit den Sätzen eines Autoren-Nachwortes von 2006: „[Die imperialen Gespenster] sind viel standhafter, lebendiger, mithin überhaupt keine Gespenster. Bewaffnet mit einer Gaspipeline verfolgt Schwarzstrumpf seinen superambitionierten Plan weiter. Ich hoffe, daß er auch diesmal keine Beute macht“ (Juri Andruchowytsch, Moscoviada, Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr, Frankfurt/M 2006, S.223).
[ii] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/als-partisan-gegen-putin-interview-mit-juri-andruchowytsch-17844089.html
[iii] Vgl. den „Aufschrei“ von J. Andruchowytsch am 08.04.2022 in der FAZ, dessen Überschrift „Alles, was wir sehen, zeugt von Entmenschlichung“ die Richtung einer totalen und undifferenzierten Verallgemeinerung in seinem nunmehrigen Feindbild zu erkennen gibt: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/butscha-war-kein-zufall-plan-zur-vernichtung-der-ukraine-17942535/russlands-bevoelkerung-hat-17942610.htmlgl. Dass fatale, existentielle Bedrohung solche extreme Verrohung als (unvermeidliche?) Konsequenz des Schocks und der Todesangst bedingt, belegt das wirkliche, tragische Verhängnis des Bösen.
Gründonnerstag, 14.04.2022, Stadtkirche, 1.Korinther 10,16f; Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Gründonnerstag - 14.IV.2022
1.Korinther 10, 16f
Liebe Gemeinde!
Irgendwann war der, den wir mit seinem griechischen Namen den „Kleinen“ nennen und der auf Hebräisch „der Gefragte“ oder „der Frager“ hieß - Saul, genannt Paulus also - tatsächlich ein kleiner Fragender. Wie alle Jüngsten in Israel wird es ihm eine Zeitlang beim Passafest zugefallen sein, die Frage zu stellen: „Was unterscheidet diese Nacht - die Nacht des Passamahles - eigentlich von allen anderen Nächten?“ — Woraufhin die Alten am Tisch mit den ungesäuerten Broten und den Kelchen voller Wein ihre lange, gesungene, ausgeschmückte und mitreißende Antwort gaben, indem sie erzählten und rühmten, dass Gott Seinem Volk in dieser Nacht die Freiheit geschenkt hat.
Es sind unauslöschliche Kindheitserinnerungen jedes jüdischen Menschen, egal ob er in Nazareth oder im kleinasiatischen Tarsus, in Czernowitz in der Bukowina oder im bedeutenden aufklärerischen jüdischen Stadtteil von Lemberg geboren wurde: Alle diese Kinder haben nie vergessen können, wie die Alten mit leuchtendem Gesicht, mit echten Tränen der unmittelbaren Ergriffenheit, vor allem aber mit einer unvergleichlich ansteckenden Freude berichteten, was Gott getan hat: Vor tausend Jahren, vor zwei-, vor dreitausend Jahren so, als sei es heute geschehen! ———
Liest man das 10.Kapitel des 1.Korintherbriefes, in dem Paulus ausführlich die Erfahrungen der Generation des Exodus aus Ägypten meditiert, dann merkt man auch bei ihm diese direkte Erfahrung: Obwohl er in Korinth fast ausschließlich an Heidenchristen schreibt, die keinerlei persönliche Verbundenheit mit dem Wunder der Befreiung und den komplizierten Verlockungen der Freiheit auf dem Weg durch die Wüste verspürten, so wird doch unmissverständlich deutlich, dass der Apostel hier erzählt und summt und staunt und innerlich mitgeht wie damals, als in seinen Kindertagen der Vater, der Großvater, die rabbinischen Lehrer dem kleinen Saul nahebrachten, dass die Heilstaten Gottes keine Vergangenheitsform haben, sondern im Hier und Heute ihm ganz direkt gelten und zugutekommen.
Fast schweift er ab, indem er eine rabbinische Predigt darüber hält, wie die befreiten Sklaven aus Ägypten unter der Wolke und beim Durchzug durch das Meer getauft wurden und die geistliche Speise des Manna teilten und den Trank aus dem geistlichen Felsen, der Christus ist, genossen und wie sie das zu einem einzigen geheiligten Körper machte, zu einem Vorbild - und natürlich auch einem warnenden Beispiel - für die Gemeinde, an die er jetzt schreibt. —
Die Korinther werden sich die Augen gerieben haben bei dieser Übertragung der höchstpersönlichen jüdischen Grunderfahrung auf die griechische und kosmopolitische Versammlung, in der die Epistel des Paulus verlesen werden sollte. Ihre Vorfahren hatten vor Troja gelegen, waren einst Untertanen des Krösus in Lydien oder des Minos auf Kreta oder zogen mit den Seevölkern des östlichen Mittelmeeres auf den Odysseen der Vorzeit über das Wasser. … Ägypten und die Sklaverei, das Passa Israels und das lebendige Gedächtnis, das den Juden alle Epochen zur Gleichzeit machte, weil ihr Gott - der „ICH WERDE SEIN, DER ICH SEIN WERDE“ - immer und überall gegenwärtig ist, … das betraf doch sie nicht?!?
… Und doch hat Paulus, aus dem der kleine Saul mit den seligen Passaerinnerungen an das Essen, das Trinken, das Beten, Singen und Lachen an der erleuchteten Tafel der freien Kinder Gottes spricht, es mit ihnen geteilt. Es war seine, ihm tief eingestiftete Erfahrung der Gegenwart des rettenden Gottes an jedem Ort, in jedem Augenblick … und er teilte sie mit den Unbeteiligten, den ziemlich Gleichgültigen, den eigentlich geradezu Abwehrenden.
Bedenken wir das für einen kurzen Augenblick: Solche Horizontverschmelzung, solches Teilen von Erfahrungen, die den einen in Fleisch und Blut, ja tiefer noch als existentielle DNA in’s Seelische eingeschrieben sind, mit gänzlich außenstehenden Menschen, … solches Teilen ist immer eine Herausforderung. Was hier das Persönlichste ist, wirkt dort völlig abstrakt. Was mir das Kostbarste bedeutet, lässt jemand anderen voll-kommen kalt.
Wir haben es nach dem Krieg im eigenen Land erfahren:
Die einen - die Vertriebenen - war durchdrungen von Gefühlen des Grauens und der Sehnsucht, von Erfahrungen von Rettungen und Schmerzen, die den Einheimischen nicht nur einerlei, sondern oft auch überflüssig und lästig waren. Und dieses kalte Befremden angesichts des Innenlebens derer von Anderswo hat sich seitdem fort- und fortgesetzt: Was die Fremden im Schrein ihres Herzens hüteten, was den Geflohenen, den Wanderern, den Gastarbeitern, den Verjagten, den Kriegsopfern das einzige Licht auf ihrem Weg und die Quelle aller Hoffnungen ist, das interessiert die Sesshaften, die Zufriedenen keinen Deut.
Solches Nebeneinander aber endet am Tisch des Herrn!
… Das ist die Botschaft des Abendmahles. … Das ist seine Kraft und Verheißung.
Ja, es ist die Wirkung dieses Sakraments: Es stellt alle in eine gemeinsame, unzertrennliche Gegenwart.
Wer zum Abendmahl kommt und dort die Gaben empfängt, die nicht nur den Leib, sondern mehr noch die Seele ernähren und erhalten, den lassen die Erfahrungen des Exodus, … die Erfahrungen, die mit dem Exodus aus Ägypten beginnen, nicht mehr kalt: Wer nämlich an den Tisch des lebendigen Herrn tritt, wer dort die Speise isst und den Kelch trinkt, die nicht nur Brot und Wein sind, der ist bereit, nicht nur an seinem Ort und seiner Zeit zu haften.
Wer in die Gemeinschaft jenes Blutes und Leibes eintritt, die sich bei der Feier des Passamahles auftut, das durch Jesus zum Herrenmahl erweitert worden ist, der geht dort „gelöst“ hin, … der hat seine Wurzeln im Hier und Jetzt gelöst, … der hat sich befreien lassen von den Bindungen der gegenwärtig sichtbaren Welt, … der ist bereit, aus dem Rahmen des Vertrauten entlassen und auf den Weg der Freiheit, auf den Weg in jene Welt gebracht zu werden, die wir noch nicht als Heimat bewohnen, zu der wir aber unterwegs sind.
Wer also das Sakrament empfängt, verlässt seine eigenen Bedingungen und Umstände und ist willens sie einzutauschen gegen eine neue, eine unbedingte Wirklichkeit.
Er stimmt - mit anderen Worten - der Horizontverschmelzung zu: Das Bekannte und das Unbekannte, … seine Wirklichkeit und fremde Wirklichkeit, … das Alte und das Neue sollen ihn nun also gemeinsam betreffen und berühren.
Das ist das grundlegende Geheimnis, das Mysterium jener Feier, die Israel und die Kirche beim Passa und bei der Eucharistie als „Mahl-Zeit“ feiern, obwohl wir sie besser eigentlich doch die „Mahl-Ewigkeit“ nennen sollten!
… Was unterscheidet also diese Nacht des Gedächtnisses an die Wunder des HERRN von allen anderen Nächten und Tagen? — Dass in dieser Nacht das Gedächtnis nicht allein des Wunders gedenkt, also nicht bloß Erinnerung ist, … sondern dass das feiernde Gedenken das Wunder hier und jetzt wirkt: Wo der betende Dank und das dankende Gebet des Glaubens als das aktive Gedächtnis der Gemeinschaft Gewesenes hier in den Horizont des Augenblicks rücken, da entspricht der überall und überzeitlich wirkliche Gott diesem Geschehen. Der erzählenden Danksagung und dem liturgischen Segen der Feiernden entspricht Gott mit Seinem herrlichen „Jetzt!“, Seinem schöpferischen „Hier!“, das keine Er-Innerung, sondern eine Er-Äußerung, keine Vergeistigung, sondern eine Verwirklichung bedeutet.
Was der vollkommene Glaube als Tat und Gegebenheit im Mahl also annimmt und feiert, das vergegenwärtigt Gott!
Wie es also der kleine Saul einst erlebte, dass die Zeit durchsichtig, ja dass sie nichtig wurde und der rauschende Weg durch das Rote Meer, der Weg aus dem Land der Toten ans Ufer der Zukunft tatsächlich von ihm selbst erfahren, … nein, gegangen, … ja gelaufen wurde … so hat er es auch den Korinthern weitergegeben: Der Glaube an das Heil erinnert sich nicht bloß, sondern darf es erleben, dass das nur scheinbare Gestern sonnenklar im Heute durchscheint, … dass im transparenten Moment die Anwesenheit alles Bisherigen sich zeigt, … dass die Schatten langer historischer Zeit verschwinden, wenn die vergangenheitslose und auch nicht zukünftige, sondern ewige Wirklichkeit Gottes erstrahlt und sich unmissverständlich manifestiert … bis Damals und Jetzt im Kern verschmolzen eins werden.
Diese köstliche, mystische, aber eben nicht mentale, sondern reale Erfahrung hat Paulus den Korinthern in den fundamentalen Sätzen vermittelt, dass jener Kelch, über den in der Feier ihrer Gemeinde die liturgischen Segensworte gesprochen werden und jenes Brot, das nach dem von Christus selbst befohlenen Brauch gebrochen wird, die tatsächliche Gemeinschaft, also die gemeinsame, tatsächliche Teilhabe an Leib und Leben Jesu Christi bedeuten: Wo die danksagende, liturgisch handelnde und erzählend zeugende Gemeinde das zu Christi Gedächtnis tut, trennt kein Abstand, kein garstiger Graben mehr von Ihm, denn da ist Er lebendig, leiblich, wirklich. … Unsere Zeit, dieser heutige Abend hört auf, nur uns zu gehören, nur unser Lebensrahmen zu sein: Christus macht diesen Abend, macht unsere Zeit, unsere Gemeinschaft, ja unsere eigenen Leiber zum Raum Seiner Gegenwart! Wer Ihn empfängt, tritt aus den bisherigen Bindungen und wird frei, indem er nun Christus gehört … mit Leib und Leben!
Wenn wir also gleich das gebrochene Brot, die Gemeinschaft des wahren Leibes, der aktuellen Präsenz Jesu Christi empfangen, dann werden wir aus den einzelnen, einander gegenseitig begrenzenden Teilen, die wir jeweils sind, verwandelt in den Einen, Der wirklich alle Zeit erfüllt und umfasst, Der wirklich alle sekundenschnell vergehenden Augenblicke der menschlichen Geschichte durchdringt und zum bleibenden Leben, zur Ewigkeit macht: Wir werden ein Leib, … Sein Leib!
Wer das Abendmahl teilt, nimmt darum auch Teil an allem anderen:
Wer das Abendmahl teilt, lebt in Galiläa. Steht auf dem Berg. Schläft im Sturm. Sitzt durstig am samarischen Brunnen. Wandert durch Judäa. Berührt die Widerlichen. Liebt die Sünder. Duldet den Hass. Brennt für das Haus Gottes. Fürchtet die Pein. Bittet, dass Gottes Wille geschehe. Hält dem Kuss still. Schweigt zur Anklage. Spürt die Dornen. Trägt sein Kreuz. Erfährt den Schmerz. Erleidet die Gottverlassenheit. Schreit in der Sonnenfinsternis. Stirbt verwundet und versinkt im Grab. Wird vom Reich des Todes umfangen. Wird reißend gerissen, wird rettend gerettet aus der Vernichtung. Lebt in einem neuen Leben unter den Menschen. Gehört an die Seite Gottes. Ist droben und doch bis ans Ende der Welt der Menschheit verbunden.
Wer das Abendmahl teilt, nimmt Teil an allem.
Auch in jener Richtung, die uns ein Rückwärts zu sein scheint:
Feiert das Passa Israels wie der kleine Knabe in Tarsus; wie der Mann mit den zwölf Begleitern im Obergemach von Jerusalem; wie das Kind im Haus der Maria, wo sie das ungesäuerte Brot in dem Ofen gebacken hat, an den womöglich der Engel trat, um ihr zu verkünden, dass sie das wahre Brot des Lebens zur Welt bringen werde.
Wer das Abendmahl feiert, nimmt Teil an allem:
Darf - auch wenn er Heide ist - das Wunder der Rettung besingen. Darf in Israels Jubel und Lied auf dem sicheren Land einstimmen. Darf den ungeheuerlichen Wunderweg durch die Mauern des Meeres betreten. Darf aufstehen und entkommen aus der bitteren Sklaverei. Darf hinter der Tür, die vom Blut des Lammes gezeichnet ist, dem Tod entgehen. Darf am Abend des Aufbruchs das Wenige, das not ist, nehmen und danken und alles andere verlassen.
Wer das Abendmahl teilt, nimmt Teil an allem.
Auch in jene anderen Richtungen, die uns umgeben oder nach vorne zu weisen scheinen:
Wenn wir das Mahl der Befreiung, der Rettung, der Erlösung in Gottes Gegenwart feiern, dann sind wir verbunden auch mit denen, die ab morgen das Passa halten. In Uman in der Ukraine, wo am Grab des Rabbi Nachman von Brazlav, der so besonders fröhliche und ekstatische Jünger hat, das Tauchbad der Synagoge als Luftschutzraum dient, sind nur noch wenige Fromme übrig, aber auch sie werden dann die Erlösungsfreude des Passa spüren … und wir mit ihnen.
Und im einst goldenen Odessa, wo das jüdische Leben vor den Katastrophen des 20. und 21.Jahrhunderts von südländischem Übermut geprägt war, werden sie morgen singen, beten und die Psalmen derer erklingen lassen, die Gott aus der Not geführt und unter Seinen starken Schutz gestellt hat. Nehmen wir auch daran, an unserem stillsten Feiertag in ehrfürchtiger Verbundenheit teil!
Ob nun Selenskyj, der jüdische Präsident der Ukraine das Passa feiern würde, wenn er könnte, das wissen wir zwar nicht … aber wir wollen doch auch für ihn die Taten Gottes und Seinen Weg zum Leben betrachten und begehen! …….
Und dann wollen wir unser Abendmahl für die zahllosen Brüder und Schwester gemeinsam begehen, … wollen, was wir empfangen, im Geist teilen mit ihnen, deren Gründonnerstag und Ostern nächste Woche zu feiern wären, wenn sie nur könnten.
Wir wollen also das Abendmahl halten und Christus in Wahrheit und Wirklichkeit in unser Leben aufnehmen stellvertretend für die Getauften in Mariupol, wo es kein Brot, keinen Wein und auch kein Wasser mehr gibt und wo die Kelche und Kommunionlöffel und Ikonen der Kirchen im Schutt verloren und verdorben sind und die Straßen Friedhöfe geworden.
Wir wollen mit den Gemeinden von Kiew und Charkiw und Mykolajiw, mit den tapferen und den verwirrten Soldaten beider Seiten, mit all den geschundenen Menschen, mit den traumatisierten Kindern, den heroischen Müttern, den schockierten Alten, mit den Verletzten und Hungernden und Leidenden allen gemeinsam das Abendmahl halten: Weil doch wir, die Vielen, ein Leib sind, weil wir alle an einem Brot teilhaben!
Denn der Kelch des Segens, den wir segnen, ist die Gemeinschaft des Blutes Christi.
Und das Brot, das wir brechen, ist die Gemeinschaft des Leibes Christi.
So soll Gottes Volk, so soll Seine Kirche zusammengebracht werden von den Enden der Erde in Seinem Reich[i]!
Amen.
[i] Schlussdoxologie des ältesten christlichen Gebets zum Brotbrechen bei der Eucharistie in der sog. Didache (Apostellehre) 9,4 (Schriften des Urchristentums II – Didache (Apostellehre). Barnabasbrief. Zweiter Klemensbrief. Diognetbrief., Eingeleitet, hgg, übertragen u. erkl. V. K.Wengst, Darmstadt 1984, S.81).
Palmarum, 10.04.2022, Jubelkonfirmation, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Erinnerungen: Aufbruch - woher wir kommen
Gen.12,1-5
Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und bin dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abram aus, wie der HERR zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran zog. So nahm Abram Sarai, seine Frau, und Lot, seines Bruders Sohn, mit aller ihrer Habe, die sie gewonnen hatten, und die Leute, die sie erworben hatten in Haran, und zogen aus, um ins Land Kanaan zu reisen.
Meditation
Aufbruch mit 75. Nicht wohlverdienter Ruhestand, beschaulicher Feierabend. Nein, Aufbruch. Abram bricht auf.
Wer aufbricht, losgeht, lässt auch los. Abram und natürlich auch Sara und alle, die mit ihnen aufbrechen, brechen ihre Zelte ab. Buchstäblich und im übertragenen Sinn: da brechen auch Beziehungen ab, Bindungen gehen verloren. Aus den Augen, aus dem Sinn - dieses Sprichwort trifft es ziemlich gut. Aufbrechen hat auch mit Abschiednehmen zu tun - und der ist oft schmerzlich. Aber es gehört zu unserem Leben, aufzubrechen, immer wieder; immer wieder ins Unbekannte zu ziehen. Mir sind Menschen begegnet, die vor allen Dingen aus beruflichen Gründen mehr als 15-mal ihren Wohnort gewechselt haben. Für andere hieß es, drei oder viermal eine neue berufliche Tätigkeit erlernen und dann ausüben zu müssen. Und besonders diejenigen unter uns, deren Konfirmation schon 70 oder mehr Jahre zurückliegt, die kennen auch den erzwungenen Aufbruch, die Flucht vor Krieg und den heranrückenden Feinden. Die Ereignisse in der Ukraine, die Bilder von fliehenden Menschen, Frauen, Kindern, alten Menschen, sie haben bei vielen die alten Albträume wachgerufen.
Wir alle bringen Erinnerungen mit - heute, hier in diesen Gottesdienst. Erinnerungen an sehr unterschiedliche Zeiten und Erfahrungen. Sie haben uns alle geprägt. Wer den Krieg erlebt hat, der sieht die Welt einfach anders als ein Mensch, der bisher das unverdiente Glück gehabt hat, immer im Frieden gelebt zu haben. Wer das Glück hatte oder noch hat, seinen Lebensweg mit einem geliebten Menschen an der Seite zu gehen, dessen Schritt ist leichter als der Schritt eines anderen, dessen Beziehung zerbrochen ist oder viel zu früh endete.
Doch egal - wie unterschiedlich uns alle das Leben geprägt hat - welche Wege wir bislang zurückgelegt haben - eines verbindet uns: jede und jeder hat mit seinem ersten Atemzug das Ja Gottes eingeatmet. Wir sind Kinder seiner Liebe.
Das macht die Taufe sinnenfällig.
Gott selbst hat uns an den Start des Lebens gestellt und uns zum Aufbruch in diese Welt animiert. Leben heißt aufbrechen, losgehen, wandern, immer wieder auch zurücklassen, loslassen, verlassen. Mit 5, mit 10, mit 14, mit 18, mit 30 oder auch mit 75 Jahren wie Abram. Es hört nie auf. Solange wir leben. Da ist immer dieser Ruf, dieses große Ja Gottes, der will, dass wir diese Welt gestalten und bewahren, der uns dazu gesegnet hat und immer noch und immer wieder neu darauf hofft, dass wir füreinander zum Segen werden - allen Widrigkeiten und Schrecknissen der Zeit zum Trotz.
Erinnerungen: Aufbruch - wo wir stehen
Matth.4,18-22
Als nun Jesus am Galiläischen Meer entlangging, sah er zwei Brüder, Simon, der Petrus genannt wird, und Andreas, seinen Bruder; die warfen ihre Netze ins Meer; denn sie waren Fischer. Und er sprach zu ihnen: Folgt mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen! Sogleich verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach. Und als er von dort weiterging, sah er zwei andere Brüder, Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, seinen Bruder, im Boot mit ihrem Vater Zebedäus, wie sie ihre Netze flickten. Und er rief sie. Sogleich verließen sie das Boot und ihren Vater und folgten ihm nach.
Mk.8,34-36
Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird's erhalten. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden?
Meditation
Im Zentrum der Konfirmation steht seit den Tagen der Reformation die Bestätigung des Taufversprechens, das einst Eltern und Paten für das Kind abgelegt haben: die nun selbst gegebene Antwort auf das Ja Gottes. Ja, ich will mit dir, Gott, meinen Lebensweg gehen, ich will wachsen im Glauben, im Vertrauen, in der Hoffnung und in der Liebe. Ich will Erfahrungen machen mit dir und versuchen, die Welt mit deinen Augen zu sehen, den Menschen so zu begegnen, wie du es dir gedacht hast und wie Jesus es beispielhaft gelebt hat.
Die Konfirmation - ein Ruf in die Nachfolge. Ich weiß nicht, wie Sie damals ihre Konfirmation erlebt haben. Ein besonderer Tag war es sicher für alle. Das Konfirmationskleid, bei den meisten wohl schwarz oder dunkelblau, der erste Anzug für die Jungen, auch in dunkler Farbe. Der feierliche Einzug in die Kirche. Die Urkunde mit dem Konfirmationsspruch. Wir konnten uns, wenn wir wollten, diesen Spruch selbst aussuchen. Das war damals 1972 etwas ganz Neues in der Gemeinde. Ein Satz aus der Bibel, der einen durchs Leben begleiten sollte. Und für sehr viele hat er das tatsächlich getan. Ein Wort der Ermutigung. Diejenigen unter uns, die 1952 oder auch 1962 konfirmiert worden sind, die konnten eine solche Ermutigung oft sehr gut brauchen. Denn damals hieß es für viele nach Ostern, aufzubrechen und in die Lehre zu gehen. Das war dann schon zu meiner Zeit anders. Und doch brauchen wir Menschen bis heute solche Worte der Ermutigung. Denn der Lebensweg mit Gott zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er leicht ist. Der Ruf in die Nachfolge mag am Anfang wie ein großes Abenteuer für die Jünger gewesen sein, raus aus dem Alltagstrott, Neues erleben, hören und sehen, sich nicht mehr die Nächte um die Ohren schlagen auf dem See, um am Morgen nur ein paar kümmerliche Fische im Netz zu haben und dann tagsüber die Netze zu flicken. Ja, es war schon spannend, die Welt und die Menschen mit den Augen Gottes zu sehen, aber da gab es auch unangenehme, anstrengende, nervige Zeitgenossen, Jesus, mit denen können wir es einfach nicht und die können es mit uns ja auch nicht. Lass uns da lieber aus dem Spiel. Hat er aber nicht. Er hatte es von Anfang an gewusst: wer die Welt, die Menschen, das Leben mit den Augen Gottes sieht, der sieht auch das Dunkle, die Schatten und die vielen Verstrickungen in Schuld und Leid; der kann sich nicht da raushalten, weil Gott auch da anwesend ist und uns gerade da braucht und hineinruft, damit wir Licht in die Dunkelheiten bringen und helfen, die Verstrickungen zu lösen, indem wir Vergebung und Versöhnung in den Streit und in die Konflikte bringen. Das Zeichen der Nachfolge ist das Kreuz: die Vertikale verbindet uns mit Gott und die Horizontale mit unseren Mitmenschen, mit den Freuden und Leiden, mit den Nöten und Konflikten dieser Welt. Jede Zeit hat ihr Kreuz. Jesus hat uns jedenfalls nicht nur zugemutet, sondern uns auch zugetraut, dass wir unser Kreuz tragen können, nicht als Einzelkämpfer und -kämpferinnen, sondern in der Gemeinschaft und mit ihm im Geist verbunden und so vergebend und versöhnend zum Segen werden in der Welt.
Erinnerungen: Aufbruch - wohin wir gehen
Joh.21,15-18
Als sie nun das Mahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieber, als mich diese haben? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Lämmer! Spricht er zum zweiten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! Spricht er zum dritten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst.
Meditation
Aufbruch - wohin wir gehen. Ja, wohin gehen wir? Als Christen, als Kirche, als Gesellschaft? Seit März 2020, seit Corona, ist das für uns alle nicht mehr so eindeutig und erst recht nicht seit dem 24.Februar dieses Jahres, seit dem Angriffskrieg Putins auf die Ukraine, der im Tiefsten ein Angriff auf unsere fundamentalen Werte ist, auf eine demokratische, freiheitliche und rechtsstaatliche Ordnung, die die Menschenrechte respektiert, Konflikte gewaltfrei angeht und das Selbstbestimmungsrecht jedes Volkes achtet. Dafür steht für mich das Grundgesetz und ich fühlte mich gerade als Christin und Bürgerin unserer Demokratie in Erinnerung an die Schrecknisse des Dritten Reiches und an seine ungeheuren Verbrechen verpflichtet, mit aller Entschiedenheit für den Frieden einzutreten, Frieden zu schaffen ohne Waffen. Die großen Friedensdemos Anfang der 80er Jahre, Abrüstung statt Nachrüstung - irgendwie schienen mir die Ereignisse des Jahres 1989, die zum Mauerfall und zur Wiedervereinigung führten, auch Zeichen dafür zu sein, dass diese Friedensstrategie einfach richtig ist. Zumindest in Europa waren wir doch nun von Freunden umzingelt und sicher. Ich bin noch dabei, mir darüber klar zu werden, was dann schiefgelaufen ist - in unseren Kirchen und in unserer Gesellschaft im Inneren und dann nach außen, dass wir heute da stehen, wo wir stehen - mit Querdenkern und Impfverweigerern, mit Hasspredigern und Rechtsradikalen in den Parlamenten, mit unglaublich vielen Autokraten und Diktatoren weltweit. Und dann ist da noch der Klimawandel, der eigentlich unsere ganze Aufmerksamkeit und Kraft beansprucht. Was Not tut: schonungsloses Hinsehen, ernsthaftes Reflektieren verbunden mit dem Bekennen von Fehlern und Versäumnissen auf allen Ebenen, nicht nur in den Parlamenten und Parteizentralen, sondern auch in den Gemeinden und Kirchen, in den Familien und am Arbeitsplatz. Ehrlichkeit, Offenheit und Transparenz sind unerlässlich. Und die Bereitschaft, für unsere Werte zu streiten. Lassen wir nicht zu, dass diejenigen Recht behalten, die behaupten, wir würden Freiheit und Demokratie nur so lange schätzen, solange unser Wohlstand nicht gefährdet ist.
Wohin also gehen wir? Auf jeden Fall nehmen wir uns mit und müssen uns den Folgen unserer Versäumnisse wie unserer Taten stellen. Aber sie sollen nicht unseren Weg in die Zukunft bestimmen, denn der, der uns auf den Weg schickt, trägt uns nichts nach. Er will immer wieder den Neuanfang schenken - denn er braucht uns in dieser seiner Welt. Er braucht uns in zweifacher Rolle: als Hirten, die sich gerade um die Schwachen kümmern, aber auch entschlossen allen Raubtieren und Räubern entgegentreten. Und er braucht uns als eine Art Leithammel, die Teil der Herde sind, denen auch immer wieder der Durchblick und Überblick abhandenkommt, und die auf den einen guten Hirten angewiesen sind, die sich von ihm rufen und senden lassen - auf Wege, die sie sich selbst gewiss nicht aussuchen würden - auf unbequeme, anstrengende und ja auch gefährliche Wege - mitten hinein in die Konflikte dieser Zeit und Welt, um seinen Willen nach Recht und Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Güte mit unserem Reden und Tun zu bezeugen. Was mir trotz allem Mut und Zuversicht gibt: diese Welt mit all ihrer Schönheit wie mit ihrer Gefährdung ist Gottes geliebte Welt. Er wird sie nicht aus seinen Händen lassen und uns auch nicht.
(Pfarrerin Ulrike Heimann - Konfirmationsjubiläum 10.4.2022)
Palmarum, 10.04.2022, Stadtkirche, Johannes 17, 1 - 8, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Palmarum - 10.IV.2022
Johannes 17, 1-8
Liebe Gemeinde!
Ein bitterer Gedanke zuvor: Wie gut, dass uns die Ordnung der Predigttexte in diesem Jahr die Meditation der Hochstimmung, des „Hosianna!“ erspart. Es wäre uns ja doch gegangen wie denen, die Trauergefühle bei der Hochzeit haben oder fasten müssen beim Fest-mahl, wenn es heute ein Palmsonntag der ausgelassenen Art hätte werden sollen. Wie die jüdische Exilsgemeinde an den Wassern zu Babel, die ihre Harfen in die Weiden hängten, hätten wir den Kloß im Hals gespürt: „Sie hießen uns singen und in unserem Heulen fröhlich sein“ (Ps.137,3), seufzen die Beter des großen Klageliedes Psalm 137, das unversehens zum wildesten Rachegebet der Bibel wird. – Wobei natürlich klar ist, dass wir weder zu Schmerz noch Rachegefühlen in irgendeiner persönlichen Weise die leiseste Berechtigung haben, wenn wir an die tatsächlichen Angegriffenen und Opfer des Krieges gegen die Ukraine denken: Die Menschen von Kramatorsk, Borodjanka und Butscha.
Aber als die Gemeinde des wehrlosen Königs ohne Gewalt kann es uns nur den Seelenfrieden rauben und das Herz zerreißen, wenn wir zu Zeugen solcher barbarischer Niedertracht, solcher schändlichen Verbrechen werden, wie sie derzeit geschehen … und immer geschahen, müssen wir sogleich hinzufügen. Das Elend des Mordens, die menschliche Grausamkeit und die Hilflosigkeit, wenn man außerhalb des realen Albtraums seinen Sinnen nicht trauen mag, obwohl es Menschen wie Du und ich sind, die da zu bestialischen Jägern und bestialisch Gejagten werden, … alle diese überwältigenden und lähmenden Eindrücke der letzten Woche lassen jede Fröhlichkeit über den Einzug Jesu ersticken.
Man möchte sich wie die Chöre am Anfang der Matthäuspassion gegenseitig zur Klage aufrufen oder wie der schreckliche, stumme Leichenzug, der in Pasolinis Verfilmung des Matthäusevangelium gehetzt einen noch Lebenden zum Sterben begleitet, der Ankunft des zum Leiden Bestimmten wortlos anschließen.
Denn jedes Herz muss heute ja fühlen: Da kommt noch Einer, den der Abgrund erwartet. Da zieht noch Einer in sein Verhängnis.
… Armer, unschuldiger Herr Jesus, auf dessen Weg zum Galgen die Blumenkinder von Jerusalem Blatt und Blüten streuen! … Der Sommer der Liebe, die Macht der Blumen, die ganze schöne Hippieatmosphäre der vollgedröhnten Massen und der kuscheligen kollektiven Harmonie, die am Palmsonntag sonst so oft greifbar wird, … das alles ist dieses Jahr wirklich in Rauch aufgegangen, in den schlammigen Spuren der Panzer zermalmt, im Lärm des Dauerbeschusses radikal abgewürgt worden. Es ist keine Zeit des großen, wogenden Hallo, wenn die Welt Abschied nimmt von der zerfetzten Illusion des Friedens und vom Traum, ein Kontinent habe seine letzten gegenseitigen Opfer gefordert und werde künftig nur noch in gemeinsamer Trauer an allen Gräbern stehen.
Armer, unschuldiger Herr Jesus! Du kommst in das uralte Grausen: Die Menschen, die du trösten und erlösen sollst, … sie sterben nicht bloß, … nein, sie töten!
Töten einander.
Töten Dich. ——
Es gibt also für uns unbeteiligte Passanten und bis vor Kurzem noch genüssliche Gruselgaffer wirklich nichts zu Begrüßen und zu Beklatschen an diesem Tag der öffentlichen Erscheinung Jesu vor der Welt. Es gibt – wenn wir in die Welt schauen, in die Jesus aus der Abgeschiedenheit von Galiläa auf dem kleinen Esel unter den Augen des römischen Imperiums nun hineinreitet – nur Grausamkeit vor unseren Augen: Die Grausamkeit von Babyn Jar und Srebrenica, die Grausamkeit von Butscha und von Golgatha. Die Grausamkeit von Orten, Zeiten, Menschen, die wir alle kennen könnten.
„Kehre um!“, möchte man in einer seltsamen Parodie des Rufes, mit dem Johannes der Täufer und Jesus die Erlösungsbereitschaft vor Kurzem erst zündeten, ihn darum warnen: „Kehre um! Zu nahe kommst Du dem Reich der Hölle, wenn Du ungebremst in die Wirklichkeit der Weltgeschichte trottest. Kehre um in’s Reich der Märchen, der frommen Wünsche, der naiven Hoffnung. Kehre um nach Galiläa, zu den hinterwäldlerischen Träumern. Segne die Kinder da, streichle die Kranken. Erzähl den Armen hungerstillende Legenden vom Brot und lass ein paar Leute lächeln.
… Aber meide die Vertreter der Politik und der Religion. Ihren Lügen bist Du nicht gewachsen. Ihre Brutalität ist so abgründig, … was willst Du mit Deinem alten prophetischen Herzenswunsch nach Frieden, was willst Du mit Deiner harmlosen Unerfahrenheit der Gottessohnschaft unter den Monstren und Maschinen der Mächtigen bewirken? Du wirst pulverisiert werden. Und es wird lächerlich und schmerzlich enden. Aussichtlos.“
Aber auch wenn wir ihn warnen könnten, auch wenn wir uns dem König aus Nazareth vor den Toren Jerusalems in den Weg stellten oder zu Füßen würfen, … er wird weiterreiten. Er wird nicht abdrehen und dankend heimkehren an den Genezareth, wo es Stürme gibt, aber auf Häfen, wo sie manchmal gefährlich höhnisch sind, aber oft genug auch voll einfältigem, ehrlichem Dank, wem ein kleines Mädchen vom Totenbett aufersteht (vgl. Matth.9,26) oder ein Taubstummer zu hören und zu reden anfangen darf (vgl. Mk.7,37).
Er will unbedingt durch Jerusalem hindurch, das er von Palmsonntag bis Karfreitag einmal wie die Sonne von Ost nach West durchquert, um nach Golgatha zu kommen. Dort will er hin!... Zur Schädelstätte. In jene Landschaften von der baltischen Küste über Polen, Weißrussland und die Ukraine bis in die rumänischen Karpaten, die ein Historiker schon 2010 zusammenfasste unter dem Titel „Blutgegend“, bloodlands[i]. Er will nach Butscha, er will nach Kramatorsk. Er will dorthin, wo Schmerz und Horror dieser Welt auf ihn warten!
… Weshalb? – Die einzigartige Antwort darauf gibt das Gebet, das bei Johannes zwischen Jesu vermächtnishaften Schlussreden und seinem Todesleiden steht. Dieses gebetete Testament, das zwischen Abschied und Agonie den Kipppunkt der Passionsgeschichte, den Umschlag von Tat und Lehre zu Leid und Tod bedeutet, … dieses unerschöpflich reiche, tiefe, glühende und heilende Gebet nennt die Kirche von altersher Jesu „hohepriesterliches Gebet“. Es ist die Liturgie, die aus allem Geschehenen und Folgenden den zentralen, den letzten, bleibenden, ewigen Gottesdienst der Weltgeschichte macht, den allesentscheidenden Dienst Gottes an den Menschen.
Und in diesem hohepriesterlichen Dienst, in diesem von Gott selbst geleisteten und gelebten und durchlittenen Dienen geht es um das Allereinfachste: Dass das Licht Licht nur ist, wenn es im Dunkeln leuchtet. Dass Klarheit nur erscheint, wo sie das Unklare von innen heraus verwandelt. Dass das Heil nur dann also Heil ist, wenn es am Unheilen, am Zerstörten und Zerstörerischen sein Werk vollbringt. Dass Hoheit und Herrlichkeit des heiligen und heilenden Gottes sich nirgends so zeigen, wie dort wo sie sich freiwillig erniedrigen und in den Schatten stellen lassen.
Gott im Himmel ist angemessen und stimmig, aber weder sicht- noch greifbar. Erst auf der Erde und in der Hölle fällt auf wie unersetzlich und notwendig Gott wirklich ist; erst in der Tiefe wird der Höchste also vom Herrn zum Heiland.
Man könnte es noch drastischer, dann schon beinah gotteslästerlich ausdrücken: Glück lässt Gott verblassen. … So leben wir bisher. Und solche, die so leben, brauchen keinen Gott.
… Aber in der Nacht des Leidens, wo kein Stern, kein Funke sonst mehr die totale Finsternis durchdringt … da tritt spürbar, sichtbar, unzweifelhaft hervor, wie sehr Gott gebraucht wird!
Außer Ihm ist nichts, wenn die Vernichtung einsetzt.
Das aber ist die Wirklichkeit, die den meisten Menschen bleibt: Nichts … oder Gott!
Und darum können wir nur in die Knie gehen, können nur den tiefsten Grund der Nacht, können nur den Abgrund des Leidens küssen, in den wir den Menschen auf dem Esel so entschlossen reiten, in den wir den Mann in Gethsemane sich so schonungslos werfen sehen:
Es zieht Ihn ja nicht um Seiner Selbst willen dahin, sondern damit die Verlassenen und Verlorenen, damit die Leidenden und Sterbenden dort ganz unten, ganz am Ende, ganz im Aus die Herrlichkeit erfahren, … Licht, … Heil.
„Vater, die Stunde ist gekommen: verherrliche deinen Sohn!“
… Dieser feierlich klingende Satz, der wirkt wie von einem Motivationscoach oder wie der Startschuss einer Siegerehrung, bedeutet in Wirklichkeit also den hohepriesterlichen Dienst schlechthin: „Schicke mich, dass ich in die Dunkelheit gehe; sende mich in’s Nichts; entlass mich, Vater, in die fernste Tiefe. … Denn dort sind die, die das brauchen, was Du mir gegeben hast: Das Leben!“
Nichts anderes treibt und bewegt ja den Sohn Gottes, Dessen Herrlichkeit nicht herrscherlicher Pomp, sondern demütiger Dienst ist. Er, Der ohne Gott nicht ist und nichts wäre, gibt allen weiter, was Er selbst vom Vater empfängt: Vollkommene Liebe, die nicht ablösbar und nicht zu verlieren ist, … ganz gleich, wie sehr der Geliebte angefochten, angegriffen, ja vernichtet wird.
Diese selbst in der Schande unzerstörbare Herrlichkeit, diese selbst in der Trennung nicht zu zerbrechende Zugehörigkeit, dieses selbst im Tod unverlierbare Leben, … dieses alles, das Jesus von, in und mit Gott hat, trägt Er vom heutigen Palmsonntag an unter die Menschen, … die Menschen, die es nötig…, … die es schreiend nötig …, … die es himmelschreiend nötig …, … die es höllisch nötig haben! …
Er trägt es zu den Massen.
Er trägt es auf das Fest.
Er trägt es in die Stunde der Panik und des Kontrollverlustes.
Er trägt es vor’s Gericht, vor das Forum der Lüge, vor die Öffentlichkeit des Hasses.
Er trägt es in’s Gefängnis.
Er trägt es in den Folterkeller.
Er trägt es auf den Todesmarsch.
Er trägt es in die letzten Augenblicke des Erstickens.
Er trägt es durch den Exitus.
In’s Reich des Todes.
„Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir, mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war!“
Was da geschieht, auf diesem sturen Eselsritt, auf diesem unbeirrten Höllenritt, ist wirklich nur für eine solche gedämpfte, … ja, eine schweigende Palmsonntags-Gemeinde, wie wir es in diesem Jahr sind, von ferne zu ahnen: Die Ewigkeit fährt da in der Gestalt der Gnade unseres Herrn Jesu Christi und der Liebe Gottes und Ihrer Beider Gemeinschaft im Heiligen Geist (vgl. 2.Kor13,13) dorthin, wo niemand sie jemals gedacht hätte. Die Ewigkeit fährt nicht nur in die Endlichkeit - was ja schon gar nicht zu denken ist - , sondern dahin, wo das Ende ist. Die Ewigkeit der Liebe, der Verbundenheit, des Lebens dringt in das endgültige, perspektivlose Nichts hinein.
Wo alles aus ist, wird alles wahr.
Wo es vorbei ist, erfüllt es sich.
Wo nichts mehr folgt, beginnt das Leben.
Das Leben, das im Anfang war.
Das Leben, das der Anfang ist.
Das bezeugt uns der heutige Palmsonntag, den wir auf dem ausweglosen Fluchtbahnhof von Kramatorsk münden sehen, auf dem Abstellgleis aller Hoffnung, im Sackbahnhof der Menschlichkeit. …….
———
Vater, gib, dass diese Worte nicht leichtfertig, nicht wie Formeln oder Beschwichtigungen von den Lippen gehen!
Vater, gib, dass wir begreifen, was wir da glauben!
Vater, gib, dass es uns nicht dumpf beruhigt, sondern hellauf erschüttert, wenn uns das ungemilderte Ungeheuerliche Deiner Botschaft trifft:
Dass der Weg des Sohnes zu den Menschen, die Gott gehören und die Er diesem Sohn anvertraut hat, wirklich auf den Bahnsteig führt, wo die blutigen Rucksäcke und die zerfetzten Kuscheltiere und die anderen quälenden Hinterlassenschaften der Kinder aus der östlichen Ukraine, aus dem Donezker Oblast verstreut liegen … jener Kinder, die einfach nur mit ihren Müttern in eine Richtung fliehen wollten, in der sie Zukunft haben würden. …
Nun sind diese Kinder nicht mehr auf Erden, um Jesus in den Orten unserer Landkarten zu empfangen. Sie begrüßen ihn nicht mehr hier mit den anderen Kindern von Jerusalem, den anderen Menschenkindern zu Beginn der Karwoche.
Ihr Karfreitag war schon vorgestern.
Aber der Sohn, dem Gott Macht gegeben hat über alle Menschen – die Macht, das ewige Leben zu schenken! –, Der ist nicht umsonst, sondern gerade ihretwegen auf dem kleinen Esel zum großen Kreuz von Golgatha geritten.
Zu dem Kreuz, das von überall auf der ganzen Erdoberfläche und auch aus allen unteririschen Tiefen als Richtungsweiser den Weg zu Gott zeigt: Auf Jesu Spur durch’s Leid zur Freude, durch Tod zum Leben.
Und so kehrt sich der stille Palmsonntag, an dem uns das Jubeln nicht über die Lippen kommen und das ausgelassene Wedeln mit grünen Frühlingszweigen nicht gelingen will, tatsächlich um.
Es ist ja nicht so, als müssten wir Ihn begrüßen, Der da in die Stadt reitet.
Denn Er ist’s, Der wirklich begrüßt, Der tatsächlich empfängt, Der in Wirklichkeit will-kommen heißt: Alle Welt. … Alle, die aus der Welt mussten.
Die Toten. Im Leben.
Die Menschheit. Bei Gott.
… Können wir solche Herrlichkeit fassen?
„Vater, die Stunde ist gekommen.
Verherrliche Deinen Sohn!“
Amen.
[i] Zum Heulen aktuell: Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, (dt.) München 2011.
Judika, 03.04.2022, Stadtkirche, Markus 10, 35 - 45, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Judika - 3.IV.2022
Markus 10,35-45
Liebe Gemeinde!
Zwei Männer, bei denen selbst die Sitzordnung Motive ihrer Konkurrenzsucht bietet: … Wie lächerlich! …….
Wenn das Gespräch der beiden Fischersöhne vom Genezareth mit dem Hauptmann ihrer Freischärler-Bande hundert Jahre später stattgefunden hätte, … wenn sie also wie viele junge Männer um das Jahr 132 n.Chr. beim Aufstand und beim Kampf zur Befreiung ihrer judäischen Heimat von einem übermächtigen Feind als patriotische Partisanen aktiv gewesen wären, dann hätte die Christenheit ein gefundenes Fressen gehabt. Die beiden jungen Rebellen, die mit Simon bar Kochba, den sie damals für den Messias hielten, gegen Rom gekämpft hätten, wären von den Christen in den schwärzesten Farben gemalt worden: „Seht ihr, was der Kern der messianischen Hoffnung ist? - Unverhohlene Machtgelüste! Weltherrschaftsphantasien! Eine rein innerweltliche Diktatur!“ … So hätte die Kirche in ihrem antjudaistischen Wahn gehetzt und verleumdet, wenn eine Quelle aus dem letzten Aufflammen der nationalen Freiheitsbewegung Israels vor dem zweitausendjährigen Exil berichtet hätte, wie zwei seiner Getreuen den Anführer bar Kochba um die Ehrenplätze zu seiner Rechten und zu seiner Linken baten, sobald seine Herrschaft gefestigt sein würde. Verächtlich und voller Vorurteil wären solche Hoffnungen auf aktive Teilhabe an der neuen Friedensordnung unter dem Banner Gottes von den Christen als Verschwörungspolitik des Weltjudentums karikiert worden und hätten den Vorwand geliefert, an dem es in der Passionszeit nie fehlte: Pogrome als Ventil für die Begegnung mit überforderndem Leiden.
Nun sind es keine jüdischen Widerständler, keine Zeloten, sondern die Zebedäiden, die beiden sogenannten „Donnersöhne“ (vgl. Mk.3,17) aus Jesu engstem Kreis, die gerne als seine Ratgeber und Statthalter, als Vize-Messias auf den Thronen neben ihm beweisen wollen, wem sie dienen und wessen Herrschaft sie mit jeder Faser ihres Daseins am liebsten in Ewigkeit vertreten wollen.
Und weil es nicht jüdische Untergrundkrieger, sondern genauso jüdische Fürstreiter des Christus sind, Apostel seines Reiches, darum hat die Kirche sich nicht einfach von ihnen abwenden können und ihren brennenden Ehrgeiz, ihre karrierebewusste Bewerbung als Stellvertreter des Gesalbten nicht annähernd so scharf verurteilt, wie sie es unter anderem Vorzeichen sicher getan hätte. —
… Das müssen wir daher nachholen.
Kirche und Macht: Das ist die Geschichte eines scheußlichen Skandals. Die Geschichte der Ausrottung der Philosophenschule von Alexandrien und ihrer großen heidnischen Lehrerin, Hypatia durch den christlichen Mob[i]. Die Geschichte der Wahl zwischen Taufe und Tod für viele Völker und Kulturen bis in die Neuzeit. Die Geschichte der heiligen Kriege unter dem Kreuz und der gesegneten Waffen bis hin zu Hitlers Schutzstaffel. Die Geschichte einer Religion, die sich zur Überlegenheit in aller Welt berufen fühlte und die ihre Altäre in Rom als Throne menschlicher Stellvertreter Gottes, ihre Throne in deutschen Territorien dagegen als Altäre eines protestantischen Obrigkeitskultes betrachtete.
Kirche und Macht: Das ist der scheußliche Skandal, den heute Putin und Kirill verkörpern. Waffen als liturgisches Gerät. Geweihte Gewalt. Blutrituale im Namen des Sohnes, der sich auf Golgatha als letztes Opfer, stellvertretend für die Vielen hingab.
Wie gotteslästerlich die Passionszeit des Jahres 2022 wirklich ist[ii], wird klar, wenn wir uns die Verstrickung des Moskauer Patriarchates in die Brutalität des russischen Regimes anschauen. Diese Perversion eines Christentums, das nicht aufschreit, sondern den Krieg gutheißt, ist aber nur eine späte Sumpfblüte an einer Wucherung, die im Laufe der Kirchengeschichte furchtbar ins Kraut geschossen ist. Klerus und Theologie haben Wurzeln in unendlich vielen Verbrechenskloaken getrieben und genährt, wo sie Fäulnis und Verwesung hervorbrachten … und immer wieder meinten sie dabei, direkt neben dem Sitz Christi zu entspringen. ….. Pfui, Teufel!!! —
Der überloyale Ehrgeiz der beiden Apostelbrüder hat aber noch eine andere Seite.
Ihre forsche Geltungslust, ihr Drang, Hingabefähigkeit zu beweisen und den Ruhm einer echten Vertrauensstellung dafür zu erringen, ist kein leeres Gehabe geblieben. Der ihnen unbekannte, ja unvorstellbare Kelch: … Die beiden tranken ihn! Jakobus sollte der Erste der Zwölfe werden, der nur zehn, elf Jahre nach dem Meister ebenfalls schon das Martyrium erlitt (vgl. Apg. 12). Und sein Bruder, Johannes, der Lieblingsjünger wurde zum einsamen letzten Zeugen der Auferweckung. Zu Beginn und am Ende der pfingstlichen Zeit der Apostel haben die beiden brennenden Eiferer tatsächlich also ihr je eigenes Leiden tragen müssen, das ihnen viel mehr Ehre einbrachte, als irgendein Amt oder Rang es sonst getan hätten. Ihre Gedenkorte umfassen das Abendland und predigen heute allen Europäern, dass man bis an die Grenze gehen kann und muss – bis nach Santiago de Compostela zu Jakobus oder über seine Gefängnisinsel Patmos hinaus, bis ins türkische Ephesus, wo Johannes starb –, wenn man ein Gespür für die Weite, für die Ausdauer, ja die Endlosigkeit der Geduld, … des Glaubens und des Duldens bekommen will, zu denen Jesu Nachfolger und Nachahmer berufen sind.
Die Kirche also und die Ohnmacht: Das ist die helle Seite, das ist der Segen der christlichen Geschichte!
… Es hat nicht nur Unterdrückung und Ausbeutung im Namen des Erlösers gegeben, sondern eine unauslöschliche Spur der Befreiung, der Selbstlosigkeit und des Trostes, der stärker ist als der Tod, begleitet das Evangelium durch die Zeitalter, … und je schwerer die Nöte, je dunkler die Nächte, desto ergreifender ist das, was die Jünger Jesu darin im Leben und im Sterben für ein Zeugnis ablegten!
Es ist die Geschichte der großen Liebe, die in Laurentius, dem Diakon, keinen kostbareren Schatz der Kirche als die Armen kannte. Es ist die Geschichte des Friedens, die in Martin von Tours und den Mennoniten und den Versöhnten von Taizé bis heute gegen alle Kämpfer den Schutz des Gebetes ausspannt. Es ist die Geschichte des grenzenlosen Mitleids, das sich in den Söhnen und Töchtern der Bettelorden, in der unterschiedslosen Krankenpflege der Klöster und in der weiblichen Weltfürsorge unserer Kaiserswerther Diakonissentradition verwirklicht. Es ist die Geschichte der leidenden Kinder Gottes, die von den Katakomben bis zum Gulag, von der Sklaverei Roms über diejenige der East India und Royal African Company bis auf die Baumwollplantagen der Südstaaten und unter der offenen oder versteckten Apartheid der Kolonien ein unendliches menschliches Elend nur ertrugen durch ihr Vertrauen auf’s ewige Leben im Himmel, den Jesus, der Schmerzensmann mit den Genossen seiner Qualen teilen wird. Es ist die Geschichte der ungezählten Millionen, die in Verfolgung treublieben bis heute, und die standhielten und standhalten, weil die Freude des Glaubens in ihren Herzen den Schmerz in ihren Gliedern überwiegt.
Die Kirche und die Ohnmacht: Das ist die Geschichte der Taufe und des Kelches, die die Gemeinde des Menschensohnes, der bei den Kleinen, bei den Knechten als einer der Ihren war und ist und bleibt, mit ihm teilt … es ist die Passionsgeschichte der Welt, die Leidenschaftsgeschichte des Himmelreiches.
… Und es ist die Geschichte Dessen, zu Dessen Rechter und zu dessen Linker in der Herrlichkeit zu sitzen überhaupt niemandem zugeteilt werden kann, da ja auch der Ehrenplatz in der Mitte immer noch frei ist!
… Jesus, der Menschensohn sitzt ja nicht auf einem Thron und hält nicht Hof. …
Zwar haben es gerade die alten Kirchen des Ostens, die orientalischen und byzantinischen Kirchen der syrischen und griechischen und kaukasischen und slawischen Traditionen sich gerne vorgestellt, wie der Kyrios, der Pantokrator thront. Und das Volk Gottes dort im Osten hat vor Jahrhunderten beinah demokratisch abgestimmt - indem es auf sein Herz hörte -, wer denn wohl neben dem Herrscher aller Herren den gebührenden Platz einnehme: Eine ganz reine, ganz mütterliche Ratgeberin und ein ganz klarer, ganz auf das Kommende konzentrierter Sachwalter des Gottesreiches sind unfehlbar neben Christus anzutreffen, wann immer ein Mensch in eine orthodoxe Kirche kommt, um das Mysterium der Rettung des Kosmos zu feiern und anzubeten[iii]. Die Jungfrau und Gottesmutter und der Vorläufer des Herrn, der zur Buße und Erneuerung der Welt rufende Täufer sind in unablässiger Sorge für die arme Menschheit und in nimmermüder Fürbitte für die Sünder die Begleiter des Menschgewordenen, die ausdauernden Assistenten des Erlösers.
Doch gerade die von so viel Heimsuchung erschütterten Kirchen des Morgenlandes und die gefährdeten, vom Krieg nun so zerrissenen Kirchen der Orthodoxie sind heute unsere unfreiwilligen Zeugen dafür, dass die schöne Szene des gemeinschaftlichen Eintretens für die Rettungsbedürftigen, die den Vorboten, die Mutter und den Sohn in einem ewig weihnachtlichen Zur-Welt-Bringen des Heils verbindet, kein ungestörter himmlischer Thronrat ist, sondern blutiger, staubiger Ernst.
… Die drei Plätze in der Herrlichkeit sind bloße Symbole; die Wirklichkeit ist chaotisch irdisch, … ein Kelch voller Wermut, … ein Blutbad.
… Und mitten darin und darunter die Drei!
Die Mutter Gottes sitzt im Luftschutzkeller von Charkiw, eingeschlagen in ihr altes Tuch.
Der große, heilige Bereiter der Wege des Herrn, Johannes mit seinem struppigen Bart und lumpigen Aufzug fällt im Dämmerlicht der umfunktionierten U-Bahn-Schächte von Kherson unter den anderen Vogelscheuchen der Obdachlosigkeit in der eigenen Heimat kaum auf, wo auch er die neue Zeit erwartet.
Und der Menschensohn, der nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um sein Leben einzusetzen, kauert in Mariupol unterm Beschuss, und ein fast teilnahmsloses Kind lehnt sich an die Schulter, die einst das Kreuz schleppte, und spürt ein Zittern in dem Arm, der die Welt geschaffen hat, und merkt in diesem schwachen Fleisch und Blut das Mitleid mit seiner traumatischen Angst. Und dann schleicht der Menschensohn aus den kalten, unterirdischen Kammern des Todes vor Tagesanbruch durch die Trümmer der belagerten Stadt und geht in die lichtlose Klinik, wo die Kinder nicht einmal auf Heu und auf Stroh in einer Krippe liegen, und dann herzt Er sie und legt die Hände auf sie und segnet sie, die in so unsägliches Leid hineingeboren werden, gerade so wie Er’s tat ehe die Söhne des Zebedäus nach den Ehrenplätzen fragten (vgl.Mk.10,13ff).
Und dann steht die neben Ihm, die Ihn einst wie ein Brandscheit aus dem Feuer des herodianischen Kindermordes rettete (vgl. Sacharja 3,2), als sie mit Ihm nach Ägypten floh, … und Mutter und Sohn schauen sich an aus Augen, die alles Leid der ganzen Welt gesehen haben, und so sehr sie einander den Himmel gönnten, so einig sind sie sich, dass es noch nicht Zeit dafür ist.
Und auch wenn Er so müde ist wie damals, als sie Ihn mit der Last des Menschengeschlechtes beluden und nach Golgatha schleiften, geht dieser Diener aller Diener weiter, so wie Er seit Jahrtausenden gegangen ist: Er kehrt ein auf den eiskalten Höhen in Afghanistan, wo der Hunger schon herrscht, bei den Menschen, deren Fleisch ist wie Gras, das abends welkt und verdorrt (Ps.90,6).
Und im Jemen, wo so lange schon die gleiche, namenlose Grausamkeit wütet, die uns in der Ukraine so schockiert, oder in den Zeltlagern der syrischen Flüchtlinge, die seit sieben Jahren im Niemandsland vegetieren, da haust der Täufer wie der wahnsinnig wirkende Prophet Hesekiel, starr vom Leid, ernährt von verschwindend winzigen Essensrationen, die vor den Augen der Leute auf Menschenkot gebacken werden, wie es in der Bibel heißt (vgl. Hes.4,9-12!).
Und Maria breitet ihren löchrigen Schleier über die Leichen auf den Straßen von Bucha, wo die Russen beim Abzug gestern Ladungen von ukrainischen Kindern vor den Panzern herfahren ließen, um durch die Körper dieser Kleinsten „geschützt“ zu sein[iv]. ——
So sehen die Plätze aus, die der leidende Knecht Gottes mit seinen nächsten Getreuen teilt, die verstehen und ertragen müssen, dass er nicht mächtig, sondern in letzter Ohnmacht, nicht als Herrscher, sondern als geschändetes Opfer der wahre Heiland am offenen Herzen der Welt ist.
Es mag wie dunkle, wie morbide Poesie klingen, von der heiligen Jungfrau im Granathagel nun auch von Odessa zu hören, vom Vorboten des jüngsten Tages im Dunkel des möglichen innerchristlichen Völkermords in der äthiopischen Provinz Tigray, von Jesus in den Lagern für die Uiguren oder in den Strafkolonien für die Dissidenten des neu-alten Russland. …….
Es ist aber keine schwarze Poesie.
Es ist die fiktionslose Wahrheit dessen, der diese verdammte Welt, in der die Herrscher ihre Völker niederhalten und ihnen Gewalt antun, nicht aufgibt, sondern sie voller Mitleid heimsucht und sie schließlich auch heimholen wird, wenn endlich sein Leben ihnen allen bis zum letzten Blutstropen zugeflossen und zugutegekommen ist. …….
Diese fiktionslose Wahrheit habe ich durch die nüchternste Frau meines Lebens zu erkennen gelernt: Meine vollkommen unpoetische Urgroßmutter, die wegen des letzten Krieges um viele, viele Mitglieder aus vier Generationen ihrer Familie zu trauern hatte: Ihren Vater, ihre Schwester, ihren Sohn, Neffen, Nichten, Enkelkinder. Und um ihren Mann, den die Russen an dem Januartag, als sie in Hinterpommern ankamen, erschossen. Der Winter war frosthart, kein Mann war mehr im Dorf; ein Neffe meiner Urgroßmutter, ein Halbwaise aus Ostpreußen, den man in Hinterpommern sicher geglaubt hatte, schleifte die Leiche seines Onkels wenigstens zurück auf den Hof, und bedeckte sie auf dem Mist mit gefrorenem Stroh.
Nun vertrieben die Russen in diesem neumärkischen Teil Hinterpommerns die Besiegten nicht sofort, sondern versklavten sie. Als es taute, ragten die Beine meines Urgroßvaters aus dem Dung: Das war das Letzte, was die Urgroßmutter auf ihrem Hof, in ihrer Heimat vor Augen hatte. Beerdigen durfte man nicht. …….
In meiner Kindheit blickte sie manchmal in einer unerklärlichen Ausdruckslosigkeit aus dem Fenster. … Ich wusste, wohin.
… Und ich spürte, dass sie genau dann den Platz an Jesu Seite hatte. Sich leise an Ihn lehnte. Weil sie wusste, dass ihr Erlöser lebt[v], der Sein Leben als Lösegeld von allen diesen Erfahrungen des Leidens und der Schuld für alle eingesetzt hat. ——
So ist es an Jesu Seite: Schwer, aber voll endgültiger Verheißung.
Es ist der Platz, den heute die siebenjährige Katja[vi] im umkämpften Kiew hat. Und die überlebenden Alten in Odessa, deren Lebensabend die Schrecken ihrer Kindheit wachwerden lässt. Und die Schriftstellerin[vii] und der Student, die aus allen Träumen gerissen worden sind und jetzt brutalste Wirklichkeit erfahren[viii].
Sie alle sind auf den Plätzen zur Rechten und zur Linken!
Und zwischen ihnen allen ist Er, … der herzliebste Jesu, ohne Den niemand, gar niemand ist, weil Er Sein Leben mit ihren verbindet, bis sie, … bis wir alle erlöst sein werden.
Amen.
(EG 81, 1 + 4 – 7 + 11)
[i] Dass der vehement antisemitische und brutale Patriarch Kyrill von Alexandrien, dessen Einfluss auf den frauenfeindlichen, antiwissenschaftlichen Mönchsmob, der die neuplatonische Philosophin Hypatia im März 415 oder 416 lynchte, nicht nur ein Kirchenvater des orthodoxen christologischen Bekenntnisses ist, sondern auch ein Namenspatron des heutigen Moskauer Patriarchen, lässt etwas von der tragischen Ambivalenz unseres christlichen Erbes grell aufscheinen.
[ii] Den vierzig Tagen der Buße und Erneuerung der Fastenzeit entsprechen am Sonntag Judika 2022 schon 39 Tage der irrsinnigen, unerträglichen Aggressionsorgie des Krieges Russlands gegen die Ukraine!
[iii] Die sog. „Deesis“ (d.h. Bittszene) gehört zum Bildprogramm der orthodoxen Ikonostasen und ist ein aus der Kirche des Ostens im Mittelalter in die westliche Kunst eingewandertes Motiv. Zu seiner Entstehung heißt es im Handbuch der Ikonenkunst - Bd. I, hgg. v. B. Rothemund, München 19853, S.287: „URSPRUNG: Orientalische Marienlegenden (so »Gang Mariens durch die Qualen«), die besagen, daß die Gottesmutter beim Jüngsten Gericht, zusammen mit Johannes dem Täufer, den Weltenrichter um Gnade bitten werde.“
[iv] Vgl. https://www.theguardian.com/world/2022/apr/02/ukrainian-children-used-as-human-shields-near-kyiv-say-witness-reports.
[v] Bezug auf die alttestamentliche Schriftlesung des Sonntags Judika aus Hiob 19, 19-27.
[vi] Vgl. das eindrucksvolle Langgedicht „To Katya, aged seven, in a bomb shelter in Kyiv“ des nigerianischen Schriftstellers Ben Okri, in dem er die Hoffnung der Welt für ein ukrainisches Mädchen ergreifend formuliert, das am 02.04.2022 im Guardian veröffentlicht wurde: https://www.theguardian.com/commentisfree/2022/apr/02/ben-okri-ukraine-poem-to-katya-aged-seven-in-a-bomb-shelter-in-kyiv.
[vii] Vgl. das „Tagebuch aus Mariupol: Und dann wird es still. Totenstill“ von Nadezhda Sukhorukova, das in Auszügen in der FAZ vom 26.03.2022 (u.a.) veröffentlicht wurde (https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/tagebuch-aus-mariupol-und-dann-wird-es-still-totenstill-17909099.html) , sowie den Beitrag von Natal’ya Vorozhbit über ihre Flucht: https://www.theguardian.com/stage/2022/mar/30/natalya-vorozhbit-diary-of-a-playwright-fleeing-ukraine-bad-roads.
[viii] Vgl. zum Beispiel den Beitrag mit Bildern des Photographen Alexander Chekmenev, der im New York Times Magazine unter dem Titel: „Citizens of Kyiv“ erschien und derzeit im Netz zugänglich ist unter: https://www.nytimes.com/interactive/2022/03/18/magazine/ukraine-war-kyiv.html.
Laetare, 27.03.2022, Stadtkirche, 2.Korinther 1, 3 - 7, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Lætare - 27.III.2022
2.Korinther 1, 3 - 7
Liebe Gemeinde!
Trost gibt es nicht als Büchsenmilch: Reichlich gesüßt auf Vorrat haltbar. …
Trost gibt es nur, wo Traurigkeit herrscht. … Frisch. Gepresst aus Säure und Bitterkeit.
Darum ist es auch kein Wunder, dass die gehaltvollsten Trost-Abschnitte in den Episteln des Paulus sich ausgerechnet im konfliktreichen 2.Korintherbrief finden. Diesen Brief hat die Wissenschaft in ihrer Auflösungswut in verschiedene unabhängige Schreiben aufgeteilt, von denen eines in der Forschung den Namen „Tränenbrief“ erhalten hat (vgl.2.Kor.2,4). Die Zersplitterung des Briefes ist sicherlich unnötig, … der enge Zusammenklang von viel Enttäuschung, Schmerz und Sorge in den Erfahrungen des Apostels und seiner schwierigsten Gemeinde mit einer reichen Trosterfahrung dagegen ist völlig naheliegend.
Nur Leid macht trostempfänglich; nur Tränen spülen den Staub des Gewohnten von den seelischen Geschmacksnerven und lassen sie kosten, was wirklich gnädig guttut.
Trost fließt also nur, wo vorher etwas Anderes, ja Entgegengesetztes sich Bahn gebrochen hat.
Vielleicht ist auch deshalb der Bei- und Nachgeschmack so schal und bitter, den die effektive Mitleidlosigkeit unserer Politik jüngst und wiederholt vor Augen führt. Dass der Präsident eines dem Verderben ausgelieferten Volkes zum Bundestag spricht … und man daraufhin die Geburtstage von Abgeordneten bedenkt und die Bundes-Kommission „Kleine Forscher“ besetzt, ist für Satire zu gnadenlos.
… Und dass trotz aller Beteuerungen des Mitgefühls in Wirklichkeit unsere Wirtschaft und unser Wohlstand das Einzige sind, was geschützt wird, während wir das Leben anderer keines Opfers für wert erachten, ist so wenig neu, wie es dennoch immer wieder, in unseren seltenen Momenten der Wahrnehmung eisig entsetzt. Trostlos, … ohne allen Trost ist es, wenn Schreckliches solch tiefen Spuren in die Gegenwart gräbt, und dann nichts an wirklicher Teilnahme und Verbundenheit, nichts an wirklich schmerzendem Wagnis jenseits unserer allerengsten Umgebung dadurch in Bewegung kommt, … weil die Angst alles blockiert.
Nun empfinde ich es wirklich, dass das das Amt der Verkündigung nicht das Geschäft der Politikschelte im Nebenerwerb betreiben soll. Und dass alle Verantwortlichen in Gemeinwesen und Gesellschaft vom Ausbruch der staatlich-russischen Zerstörungswut vor ungeheure Probleme gestellt werden, ist mir mehr als deutlich. Aber es ist eine Kritik, die gar nicht nur der Politik, sondern uns allen gelten muss, wenn nach vier Wochen abgründiger Grausamkeit im Krieg gegen die Ukraine der Eindruck sich festigt, dass bei aller - wunderbaren! - Hilfsbereitschaft hierzulande, die wirkliche Lehre aus dieser Katastrophe sich nicht durchsetzen kann: Die Lehre, die der Apostel Paulus an einer anderen Stelle seines Briefwechsels mit den Korinthern in die täuschend schlichte Sentenz kleidet: „Ich suche nicht meinen Nutzen, sondern den Nutzen aller, damit sie gerettet werden. Nehmt mich zum Vorbild, wie ich Christus zum Vorbild nehme.“ (1.Kor.10,33+11,1).
Den Nutzen Aller suchen.
In der Nachahmung Christi.
Die Beschränkung auf die eigene Rettung oder Sicherheit aufgeben.
… Gemeinschaft als Lebensmaßstab!
… Wenn nicht einmal das Ermorden der Kinder und das Anzünden des Hauses unseres Nachbarn an unserer eigenen grundsätzlichen Begrenzung auf private Maßstäbe etwas zu ändern vermag, dann geht es nicht um Politikschelte, sondern um das Schlagen an jede Brust - voran die eigene - auf der Suche nach einem Herzen.
Wo kein Mitleid, da kein Trost.
Sollte es wirklich nach vier Wochen Barbarei vor unseren Augen so sein, dass unsereins zu Ostern ausschließlich wieder sorgt für die Skiferien im Kunstschnee oder den Badeurlaub im Massengrab Mittelmeer, dann hilft auch der Sonntag Lætare - der Sonntag des Zwischenhochs im Leidensdruck - nichts. Dann gilt statt rosafarbenem Lætare[i] nur finsteres Levitenlesen!
Wir müssen die Katastrophen dieses Zeitalters - Krankheit, Krieg und Klima - uns zur Neuausrichtung unseres gesamten Lebens auf den Nutzen Aller und die Nachahmung Jesu treiben lassen, … sonst gehen wir in der Wüste zugrunde wie es dem Volk drohte, von dem wir in Leviticus lesen (vgl. bes. 3.Mose 26!). … Nur, dass es keine vierzig Jahre mehr sein werden ……. ———
Doch wenn das möglich ist, wovon der Apostel des einen großen Leibes Jesu Christi spricht – des Leibes, in dem keine Spaltung sein soll, weil alle Glieder in gleicher Weise füreinander sorgen sollen, so dass wenn ein Glied leidet, alle Glieder mitleiden und wenn ein Glied geehrt wird, sich alle Glieder mitfreuen sollen (1.Kor.12,25f) – … wenn das möglich ist, wovon der Apostel solcher körperschaftlichen Organisation und Anatomie der Menschengemeinschaft Gottes spricht, dann finden wir ausgerechnet in diesen Zeiten der schwersten Prüfung auch den Ansatz stärkster Hoffnung.
Denn wir sind nun einmal herausgerissen worden aus der Täuschung, alles werde schon glatt und gut gehen. Wir sind schonungslos schmerzhaft aus aller dummen Harmlosigkeit herauskatapultiert worden und sehen die Gefahr und Gefährdung des Menschen, … jedes Menschen, … aller Menschen klar vor Augen. Die Illusion, unsere Verdrängungsmanöver ließen uns sicher um fremde Not herumlavieren und wir könnten uns das Leid anderer vom Leib halten, ist vorüber. Entweder wir Menschen beginnen in echter Gemeinschaft zu leben … oder wir sterben miteinander.
In dieser ernsten Entscheidungsstunde der Geschichte schlägt darum aber unüberhörbar die Stunde des Christentums.
Das Christentum der zwölf Jünger und der galiläischen Frauen, das Christentum des Paulus und Barnabas und Timotheus, das zu den winzigen, versprengten Diasporagemeinden aus Juden und Griechen, aus Sklaven und Freien, aus männlichen und weiblichen Heiligen und Sündern in der römischen Diversitätsnorm führte, hatte ja von Anfang an einen größenwahnsinnigen - aber wie wir jetzt erkennen und bekennen müssen, auch rettenden! - Grundsatz: … Es meinte immer schon „ALLE“!!!
Allesamt sieht das Christentum die Menschen als Sünder (vgl.Rö.3,23) und bekennt gerade deshalb, dass allen Menschen geholfen werden solle (vgl.1.Tim.2,4).
Allen Menschen ist ja die heilsame Gnade Gottes erschienen (vgl.Titus 2,11) und drum sollen auch ausnahmslos alle Völker aller Welt in Jesu Namen gelehrt und getauft werden (vgl.Matth.28,19), weil alle, die an ihn glauben, gerettet werden (vgl. Joh3,16) und alle Zungen im Himmel und auf Erden einst bekennen müssen, dass er der Herr ist zur Ehre Gottes, des Vaters (vgl.Phil.2,11).
Und so wird schließlich alles, was Odem hat (vgl.Ps.150,6) Den anbeten und schauen, Der Alles in Allem sein wird (vgl.1.Kor.15, 28)!
… Alle, alle, alle, alle! …
Dieser im Anfang belächelte, auf manchen Strecken furchtbar missbrauchte und heute gedankenlos fallengelassene universale Anspruch des Christentums, dass Gott niemandem fern sei (vgl.Apg.17,27) und dass alles in seiner ganzen Problematik bloß und aufgedeckt vor Ihm ist (vgl.Hebr.4,13) und dass daher Er und Er allein tatsächlich alles in der verfallenden Welt wieder neu machen wird (vgl.Offenb.21,5), …dieser universale Anspruch des Christentums ist wahrhaftig das Gebot und die Verheißung der Stunde!
Die Einzelwege sind vorüber.
Das Denken bloß an sich ist gescheitert.
Der Kampf um’s Eigene ist aussichtlos geworden.
Wir können nur noch das Ganze zu Herzen nehmen und für jeden glauben, hoffen und lieben … oder wir geben jene Abschiedsvorstellung der töricht Todgeweihten, die Jesaja und Paulus in den anscheinend unseren Zeitgenossen abgelauschten, hedonistischen Zynismus kleideten: „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“ (Jes22,13/1.Kor.15,32).
Für andere also zu leben, für andere zu leiden, für andere stark zu sein und für andere sich hinzugeben, für andere Trost zu erfahren und für andere das Ziel des Daseins und seinen Sinn zu suchen und zu bewahren, ist die Übung, die Jesus vor- und Paulus nachgelebt hat, um die Gemeinschaft der neuen Menschheit, der Menschheit, die bei Trost ist, zu gründen und zu stärken.
Dahinter steckt keine Naivität. Beide - Jesus wie Paulus - haben giftigste Aggression erfahren, Unrecht erlitten und sind zu Opfern tödlicher Widersacher geworden.
Aber der Meister wie der Schüler, der Herr wie sein Apostel haben nur diesen Weg der umfassenden Stellvertretung, der Einbindung auch der Ablehnenden, der Sorge für die Feinde, der beharrlichen Bereitschaft zur Versöhnung, ja der überindividuellen Verschmelzung mit Gegenspielern, Gegenkräften und allen Gegnern insgesamt gekannt und uns geboten.
……. Im Ernst? … Im Ernst einer Zeit, die von Krieg und endgültiger Gewalt verdunkelt wird?
—— Genau in diesem Ernst!
Denn die Leiden Christi, die bis zum heutigen Tag reichlich über seine Nachfolger kommen in allen Bedrängnissen der Welt, sind gerade auch die Quelle des Trostes, der noch viel reichlicher darin entsteht.
Das ist ja das eigentliche Wunder der Passion Jesu Christi und des Passions-Gedächtnisses, das wir derzeit sechs Wochen lang begehen: Die Erfahrung bitterster Brutalität und furchtbarster Ohnmacht hat in der Urgemeinde von Jerusalem und den christlichen Gründungen des Paulus eine Gemeinschaft der Solidarität und nicht der Vergeltung hervorgebracht. Die Schar, die auf den Verachteten und Verwundeten, auf den Gekreuzigten und Getöteten getauft wurde, ist zu einer Bewegung der Liebe und des Lebens geworden. Die Anhänger des Opfers einer pervertierten Justiz haben erst recht an die Gerechtigkeit zu glauben gelernt. Die Kirche des besiegten Nazareners hat sich dem weltgeschichtlichen Kampf für eine Welt ohne Sieger und Besiegte je länger, desto mehr verschrieben. ——
Können alle solche Schritte der Nachfolge, können diese trostreichen Etappen und Erfahrungen, diese Errungenschaften und Erkenntnisse, dass Leiderleben nicht zu einer Leidensspirale, sondern zur Erlösung von Leid führen will, nun etwa durch das menschenverachtende Leid unserer Gegenwart ausgelöscht werden? —— Genau das kann und darf nicht sein!
……. Ohne irgendeins der gegenwärtigen Geschehnisse mit heilsgeschichtlicher Bedeutung aufzuladen, müssen wir uns doch an einen der allerersten, allerältesten Zusammenhänge erinnern, in denen in der Bibel Hader und Verrat, Gemeinheit, Hass, gewissenlose Täuschung und nackte Gewalt gegenüber Wehrlosen begegnen: Brüder sind es da, die über einen aus ihrer Mitte herfallen und ihn für ein paar Silberlinge verkaufen; Brüder, die einen, der ihnen nahestand, auslöschen und vergessen machen wollen, bloß weil er ihnen fremd erschien. Das Martyrium des Joseph, erst in seinem engen Schacht, dann deportiert nach Ägypten, als Heimatloser aufgestiegen, doch trotz seiner Tüchtigkeit nie wirklich in der Welt der Nilkultur integriert, sondern nur ein bei der Hungerabwehr hilfreicher Fremdkörper, … dieser Josephs-Roman führt bekanntlich zur Rettung vor dem furchtbaren Hungertod, als der ukrainische, … nein, der Delta-Weizen Ägyptens ausblieb. Die hinterhältigen Brüder werden ausgerechnet von ihrem Opfer gerettet! Und die ganze Dramatik des menschlichen Denkens und göttlichen Lenkens in dieser Schuld- und Wende-Geschichte wird in einem winzigen Satz zusammengepresst: „Ihr gedachtet es böse zu machen, Gott aber gedachte es gut zu machen!“ (1.Mose50,20)
Das ist der Satz, auf dem alles ruht, was wir glauben und was uns in Bedrängnis und Geduld zum Trost wird: Gott macht auch aus dem Leiden das Heil der Welt. Gott wendet sogar Sünde so, dass sie Segen bewirkt. Gott ist immer schon und wird ewig bleiben der Wiedergutmacher des von Menschenbosheit Verdorbenen.
Der Überfall Russlands sollte seine Gegner spalten. Er scheint sie in mancher Hinsicht enger verbunden zu haben. Das Grausen sollte die Überfallenen das Fürchten lehren. Sie lernten, die Freiheit noch mehr zu lieben. Die wieder so eng gezogenen Grenzen Europas haben sich vor den Flüchtlingen nicht verschlossen, sondern geweitet. Die reale Bedrohung der Auslöschung allen Lebens muss den Wandel zur Bewahrung des Lebens nun umso dringlicher beschleunigen, solange es noch „heute“ heißt (vgl.Hebr.3,13)! ———
Solche Hoffnung zu haben, die der ganzen Welt gilt, die insgesamt am Abgrund steht, … das ist der Trost, der nur durch die Erfahrung der heutigen Leiden geweckt werden kann.
Da wir wahrhaftig nicht mehr ohne Leid, … ohne Mitleid auch nur einen einzigen kurzen Blick in unsere Zeit tun können, … darum geht’s nun wirklich um den Trost, der nicht uns, sondern Allen gilt!
Wenn wir ihn empfangen, spüren, festhalten dürfen – so wie Maria am vorgestrigen Tag der Verkündigung des Herrn den Erlöser aller Menschen empfing – … wenn wir diesen Trost also haben sollten und wachsen sehen, dann in jener allumfassenden, nie mehr zu leugnenden oder zu lassenden Gemeinschaft Aller.
Denn wer am Leiden teilhat, hat auch am Trost teil! ———
Und darum: Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes!
Gelobt sei der Sohn, dessen Passionsleiden aus dem Bösen das Gute für die gesamte Welt gemacht hat!
Gelobt sei der Geist, den uns der Vater und der Sohn als Tröster senden![ii]
Amen.
[i] Das neue Evangelische Gottesdienstbuch sieht tatsächlich als liturgische Farbe des Sonntags in der Mitte der Passionszeit Rosa vor.
[ii] Nach der Predigt wurde gesungen: EG 133, 6 – 9. Gott sei Dank auch dafür, dass wir die Choräle des Barock, aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges noch immer in unseren Gesangbüchern haben! … Was würden wir nur singen, wenn die Leiden und der Trost der Väter uns nicht solche Worte liehen?!
Okuli, 20.03.2022, Stadtkirche, 1.Könige 19, 1 - 13a, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Okuli - 20.III.2022
1.Könige 19, 1-13a
Liebe Gemeinde!
Mord ist nicht mein Hobby.
Aber…….
Irgendwann habe ich zwar aufgehört, es mir noch ausdrücklich zu merken, doch seit dem 24.Februar dürfte wohl immer noch kein Tag vergangen sein, an dem mir nicht jemand - ein liebenswerter Mensch, ein bürgerlicher Zeitgenosse, eine vollendete Dame - gesagt hat, es müsse einfach einen gewaltsamen Tod geben: Ein Geheimdienst oder ein zweiter Stauffenberg oder - Sapperlot nochmal! - ein letzter zurechnungsfähiger Berater müsse doch den Wahnsinn des Krieges abkürzen, indem er das Leben des Kriegstreibers im Kreml beendet.
… Vielleicht war auch ich es, der das gesagt oder hervorgerufen hat.
… Das Gefühl, das unerträgliche Morden durch einen erträglichen Mord beenden zu wollen, ist mir nicht fremd.
… Irgendwo in Rumänien läuft tatsächlich sogar einer rum, der es mir erspart hat, selbst ein Mörder zu werden. Mit 20 Jahren hatte mich im Herbst der Freiheit 1989 die Wut über den tyrannischen Schlächter Ceauşescu so gepackt, dass ich mit einem anderen Pfarrerssohn im Theologiestudium davon phantasierte, in Bukarest eine Schillerballade mit Dolch im Gewande oder Pistole im Anorak auszuführen. … Weil es die letzten Tage des Advent waren und wir das Brandenburger Tor noch aufgehen sehen wollten, verschoben wir die Verschwörung auf nach Weihnachten, … wie Pfarrerssöhne eben sind. … Ein anderer kam unserm unreifen Schwachsinn im Ernst zuvor.
Aber Gott weiß, was ich damals dachte. ———
Der verzweifelte Zorn über die moralische Verkommenheit und die selbstzerstörerische Verblendung von Menschen hat auch den Propheten Elia gerüttelt. Er sah sich einer er-drückenden Übermacht von Zeitgenossen gegenüber, die aufgepeitscht waren vom Kult nackter Kraftvergötzung: Der Pseudo-Gott Baal, der das Potenzgehabe und Brunftspektakel der Wildbahn verkörpert, hatte Israel ergriffen. Man feierte wie im Rausch, dass im Reich der Natur angeblich immer der Stärkere gewinnt und sich dann grenzenlos ausbreitet und vermehrt, wuchernd fruchtbar wird. Dieser Baals-Dienst ist die interkulturellste Form der Amoral: Gier, Trieb und Sieg sind seine Motive, und seine Gemeinde ist bis heute in allen Völkern zahlreich.
Als Elia zur Zeit der großen Hungersnot aber auf dem Karmel erlebte, dass trotz der Urgewalten des Baalismus der Befreier Israels, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, Der ein Gott des Rechtes und der Gerechtigkeit ist, Sich gegenüber dem Götzen der Genusssucht als lebendig, hörend, wundertätig erwies, da riss es ihn hin zu unkontrollierter Rache an den Anhängern der „Wer-wächst-hat-Recht“-Weltanschauung. Elias Leiden an der rechtverdrängenden Triebreligion Baals entlud sich in seinen verdrängten Rachetrieben, als er die Propheten Baals nach dem Gottesurteil auf dem Karmel schlicht schlachtete (vgl.1.Könige 18). …….
Doch auf das deutsche Wort Mord ist das seelische Echo immer der gleichlautende französische Klang („mort“): Wer Mord begeht, der weckt seinen eigenen Tod, so dass er keinen Frieden mehr findet.
Elia fühlt wie das Morden ihn dem Tod geweiht hat. Er kann nicht weiterleben. Will sterben.
Gott aber führt den blutschuldigen Menschen, den das Töten lebensmüde gemacht hat, in die Wüste, in’s Reich des Fastens und der Reinigung, in dem der selbstmörderisch gewordene Mörder noch „einen langen Weg vor sich hat“.
…Das ist der Weg der Schuld.
… Der Weg, für den uns niemand bereitmachen kann, außer Gott.
Und wir müssen gut und tapfer hinhören, wenn wir mit dem schuldigen Gottesmann Elia die vierzig Tage und Nächte in die Wüste hin zum Horeb wandern, wo der verzehrende Gott der Befreiung und der Gerechtigkeit einst dem Mose im Dornbusch erschienen war (vgl.2.Mose3,1).
… Denn dieser Weg der Schuld liegt auch vor uns. Nicht nur, weil wir als Sünder zur Welt kommen und die Sünde unser Erbteil ist wie Atmen und Geliebtseinwollen.
Wir sind schlicht auch schuldig, blutschuldig, weil die Geschichte des Menschengeschlechtes uns dazu macht. … Spätestens seit dem 24.Februar können wir das nicht mehr vergessen! Spätestens seit dem Tag, von dem an wir alle immer wieder einen suchen, der den Mörder ermorden könnte, um uns uns unschuldiger fühlen zu lassen.
Doch das quälend Unzweifelhafte ist nun einmal geschehen: Vor aller Energieabhängigkeit und aller Furcht vor Eskalationen sind wir sämtlich schlicht zu Zeugen eines Verbrechens an der Ukraine geworden, das uns als Mitwisser am Vergießen von Menschenblut schuldig macht. … Und würden wir eingreifen in den Krieg, würden wir schuldig als Mittäter. … Schuldig - oder: Schuldig! ———
Es sind darum keine Spekulationen - und waren es tatsächlich auch nie! -, wenn wir die erschütternde Botschaft der Bibel hören, die von einem Menschen berichtet, der an fremder Lust zum Bösen ebenso wie an seiner eigenen Last des Bösen verzweifelt, und wenn wir dann spüren, dass mit diesem unschuldig-schuldigen, lebensverwirkenden, zum Tod resignierten Menschen wir gemeint sind!
… Richtig erschüttern aber muss es uns, wenn wir dann hören, dass Gott diesen Menschen in der Vermischung von gutem Wollen und böser Schuld eben nicht liegen und verrecken lässt, sondern ihn auf einem Weg - sagen wir’s ruhig! - … auf einem Weg der „Läuterung“ begleitet!
Was aber ist es, das den von einem Engel gestärkten, durch Brot und Krug am Leben erhaltenen Elia am Gottesberg erwartet?
Was ist es, das auch uns, vor aller Schuld schon schuldig Verwickelte jenseits des langen Weges vor uns durch diese drückend-schwere Zeit erwartet?
– Die Stille.
Es ist eine Höhle da, wo Gott die Müden und Entsetzten, die Traurigen und Verwirrten, die Untätigen und die Blutigen unter Seine Hand stellt. Und dann schlägt die Hand nicht, in die Elia sich da schmiegt, und sie presst auch nicht und macht keinen kurzen Prozess und zermalmt den verlorenen Menschen nicht einfach wieder zu Staub, wie wir die Mücke, sondern dann kommt Gott nach dem Schrecken, durch den der Mensch gewandert ist, nach dem Durst und der Ratlosigkeit und der Reue und der Ermattung … und offenbart Sich! ——
Dass es eine solche Offenbarung, ein schützendes Dasein Gottes für den Elia, für den Menschen in seinem Zweispalt und seiner Not gibt, allein das ist ja schon Grund zu tiefstem Aufatmen und stärkster Hoffnung in den bedrückenden, erstickenden Ereignissen unserer Tage! Dass wir selber und auch dass wir stellvertretend für die mutigen und sterbensmatten, für die kämpfenden und für die zerbrochenen Menschen zwischen dem Donbass und Lemberg Gott entgegen ziehen, Der die ausgelieferten Opfer und ihre Mörder in der Person des Propheten Elia gleichzeitig unter den Schatten Seiner Flügel sammelt, das ist das Evangelium vom Horeb!
Dieses Evangelium für die Sünder heißt, dass Gott ihnen in Seiner Gegenwart und an Seiner Hand den Jüngsten Tag bereitet, … den Tag, an dem das ganze Höllenspektakel der zurückliegenden Tage noch einmal an ihnen vorübergeht: „In deinem Aufwallen wenden alle unsere Tage“, übersetzen Rosenzweig und Buber den berühmten Vers (9) aus dem 90.Psalm, „wir lassen unsere Jahre wie einen Seufzer vergehen“.
… Ja, da wird es alles noch einmal seufzen und stöhnen und aufwallen, wenn der Sturm und das Beben und das Feuer, die wir Menschen entfachten, an uns vorüberheulen. Mit allen erlebten und erlittenen Gewalten, mit allem Unheil, das die Welt zittern machte und allem Toben des Zerstörerischen werden wir wie bei jeder Therapie und Lossprechung, bei jedem Aufarbeiten und Bewältigen noch einmal konfrontiert: Und werden erkennen müssen, … werden erkennen dürfen, dass diese scheinbar letzten Erfahrungen, diese das Leben und die Geschichte endgültig wendenden Katastrophen und Gefahren nicht das Werk und nicht das Wort sind, an denen sich tatsächlich alles entscheidet.
Der HERR war nicht im Winde.
Der HERR war nicht im Erdbeben.
Der HERR war nicht im Feuer. ————
Wo aber war der HERR?
Wo ist Er in den Erschütterungen und Grausamkeiten und Vernichtungen dieser Tage des Zornes, der Rache und des Untergangs? …
Treten wir – wir!, in unserer ohnehin ja so harmlosen Zuschauerrolle! – doch noch einen Schritt weiter zurück und geben uns Rechenschaft, wo wir die Spuren unseres Glaubens, ja, wo wir unsere Glaubensgewissheiten finden, wenn Pulver und Dampf, Geschrei und Pandämonium jeder akuten Katastrophe sich wieder gelegt haben?
… Von den Schlachten und Schlächtern finden wir, wenn ihre Sturmstunde, ihr augenblickliches Beben-Machen vergangen sind, alsbald nichts mehr!
– Es hat in der südlichen Ukraine schon einmal einen scheußlichen Krieg gegeben, … Menschenmetzgern, Seuchenleid. Aber wer von uns könnte Näheres über Zusammenhang, Hergang und Wendepunkte des Krimkrieges vor 170 Jahren sagen? … Nur eines wissen wir noch - gerade wir in Kaiserswerth -, wenn von diesem ersten Krieg mit industriellen Massenwaffen, mit menschenverachtenden Belagerungen an der Schwarzmeerküste und gewaltigem Tötungsaufwand die Rede ist: Dass da nachts, zwischen den stöhnenden Sterbenden eine Frau durch die widerlichen Lazarette gegangen ist, die eine Lampe trug. Und das Licht ihres Lämpchens, die Hand auf der Stirn der Versehrten im Fieberdelir, das bisschen Wasser oder Jodtinktur in den grässlichen Wunden: Die sehen und spüren wir noch, während Menschikow, Totleben und Raglan, ihre Siege und Finten, ihr Heldentum und ihre Schande längst verblasst sind. Das in Kaiserswerth entzündete Nachtlicht von Florence Nightingale – das leuchtet! —
– Oder das Pappschild der Marina Owsjannikowa: Die wenigen Sekunden Menschenmut, die da im Staatsfernsehen Russlands aufblitzten, als sie den handgeschriebenen Schrei ihres Gewissens, das keinen Krieg und keine Lüge mehr decken konnte, hochhielt, waren eine Sternstunde der Wahrheit, der Freiheit und der Würde. Ein Pappdeckel und wenige flüchtige gekritzelte Worte genügten, um das unvergängliche Pathos des „Die Wahrheit wird euch freimachen“ (Joh.8,32b) vor aller Welt zu vergegenwärtigen! —
– Oder die ergebnislose, aber schlicht beschämend beherzte Geste der gefährlichen Reise der drei Staatsoberhäupter Polens, Sloweniens und Tschechiens, die ins bedrängte Kiew fuhren, um an der Seite der kämpfenden ukrainischen Verantwortlichen einfach leibhaftig auszuharren wie Hiobs drei Freunde, ehe sie begannen, den Dulder zu beschwätzen und zu vertrösten.
– Oder die eindrückliche Predigt[i] von Vater Ioann Burdin, einem Dorfpopen im russischen Karabanovo, der vor vierzehn Tagen, am orthodoxen Sonntag der Vergebung ganz biblisch-schlicht den Gläubigen erklärte, dass wir Christen nicht müßig danebenstehen dürfen, wenn menschliches Blut vergossen wird. Er wurde als einer der Ersten nach der neuen russischen Gesetzgebung wegen Diskreditierung der Armee zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, und Schlimmeres droht ihm. Aber er hat bewiesen, dass auch in der russischen Kirche wahrlich noch Knie übrig sind, die sich nicht vor Baal gebeugt haben und Münder, die ihn nicht küssten (vgl.1.Könige19,18)!
Wo also ist der HERR?
Im stillen, sanften Sausen – oder wie wiederum Buber und Rosenzweig übersetzen: „In der Stimme verschwebenden Schweigens.“
Gott ist mitten in den Turbulenzen und dem Chaos, in den Strudeln und der Sündflut der Zeit, … aber eben nicht da, wo die Kriegstreiber ihren Lärm machen und auch nicht im entfesselten Wüten derer, die die Verbrechen der Menschheit anstacheln oder deuten, sondern in den kaum vernehmlichen Stimmen, die im dunklen Bunker beten und trösten, die nach dem Angriff ihre Nachbarn vorsichtig beim Namen rufen, die heimlich bei Nacht das bisschen Buchweizen und Wasser in’s Theater von Mariupol zu den Zusammengepferchten brachten, die in den Trümmern tragen, im Hunger teilen und im Hagel einfach standhalten bis zuletzt.
In diesen leisen, unhörbaren, nicht die Welt verändernden, aber den Himmel erfüllenden Silben und Gesten der Treue, der Liebe, der Hoffnung, in diesem verschwebenden Schweigen, das das Ewige noch in der Implosion alles Irdischen bezeugt und aus dem Krachen der Hölle in den Frieden der kommenden Welt übersetzt, da ist der HERR!
Denn – ein Satz, den ich nie sagen zu müssen erwartete – denn alles, … auch der Krieg wird vor Gott und von Ihm entschieden. Er hat auch das, was Menschen heute erleiden, schon entschieden: Nicht im Tosen, nicht im Zittern, nicht in der Glut: … In der Stille ist ER … auch jetzt, bei diesem Atemzug – für uns einer von unzähligen, für Unzählige der letzte! ——
Nun mögen und können wir, die Zuschauer es nicht vorschnell beurteilen, dass es diese Stille mitten im Auge des Wirbels gibt.
Aber bei Elia am Horeb werden wir ihre Zeugen.
Und darum kann man nur bitten, dass auch wir immer einen Tropfen Trost-Öl in unsrer Lampe, einen Fetzen Pappe, groß genug für die Wahrheit, Standhaftigkeit in Trübsal und ein lauteres Herz für Gottes unvergängliche Maßstäbe haben mögen!
Damit uns der jüngste Tag, der Tag heute nicht anders und nirgends sonst antrifft, als mit Elia im Schweigen, das uns Gottes Gegenwart zeigt … die Gegenwart Dessen, Der hier und bei den Leidenden, den Schuldigen, den Sterbenden, den Lebenden jenen Frieden schafft und hält, der höher ist als alle Vernunft (vgl.Phil.4,7).
Amen.
Reminiszere, 13.03.2022, Stadtkirche, Matthäus 26,35-46, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reminiszere - 13.III.2022
Matthäus 26,36 - 46
Liebe Gemeinde!
Die Wehen von Gethsemane leiten die Geburt einer neuen Welt ein.
Sie wäre nicht wirklich geworden, wenn das Verständliche, das Unerträgliche dort nicht geschehen wäre: In Gethsemane stieß der Erlöser der Welt an seine Grenzen, der Herr verlor dort die Beherrschung.
Das könnte also das Neue sein, das da in der Nacht von Angst und Tränen - und wie Lukas ergänzt: spontaner Blutung dessen, der in diesen Wehen lag (vgl.Lk.22,44) - entstand.
Eine Welt, in der Gott aufgeben will. Eine Welt, die es vielleicht nicht wert ist, dass man ihre Schmerzen bis zur Neige erleidet. … Eine Welt, die nicht zu retten sein könnte. …….
Denn genau darum geht es, und wir dürfen keine Gewöhnung, kein Wissen um das Ende vom Lied uns abstumpfen lassen für die unerhörte Spannung von Gethsemane. Dort macht ja nicht nur ein ohnehin schon ausgemergelter, strapazierter Hungerkünstler und Wanderprediger aus Galiläa schlapp; dort fordert ja nicht nur die Natur mit ihrem Angstreflex und Fluchtinstinkt ihren Tribut von einem Menschen unter höchstem Druck, sondern dort hängt’s in der Schwebe, ob nicht gleich Gottes Plan zusammenbricht. ……
Wenn uns die Botschaft der Kirche nämlich irgendetwas sagt, wenn uns das Bekenntnis, zu dem sie kam, auch nur im Ansatz verpflichtet, dann müssen wir gerade in der Passionszeit die eine entscheidende Grundlage dessen, was Christentum bedeutet, vor Augen haben: Christentum bedeutet, in dem Mann aus Nazareth nicht nur den Kumpel zu sehen, … den Typen, in dem wir uns wiederfinden, … den Menschen, der Mut macht, weil er so echt ist, … den Lehrer, der so kluge Dinge sagt, … den Meister, der so große Dinge tut, … den Helden, der so sagenhafte Vorbildqualitäten bündelt, … sondern Christentum bedeutet, in dem unscheinbaren, unbekannten, hinfälligen und angefochtenen, versuchten, verstörten, ausgelieferten, misshandelten, wehrlosen, rettungslosen Leidenden GOTT zu sehen!
… Wenn das aber wahr ist, dann ist in dem Hain Gethsemane etwas geschehen, das Himmel und Erde und die Zeitalter und Abgründe des Kosmos in ein unbekanntes Licht taucht.
… Denn so offen hat sich noch keine lenkende Kraft, keine bestimmende Macht, kein Schicksal, keine Notwendigkeit, kein Zufall in die Karten gucken lassen. Alle anderen Gewalten leben vom Geheimnis, das sie umgibt. Nur der lebendige Gott, von Dem und zu Dem alle Dinge sind, macht keinen Hehl aus dieser Stunde auf des Messers Schneide.
Die Jünger verschliefen zwar seine Agonie, aber das Zeugnis der Evangelisten breitet sie vor der ganzen Welt aus: Was erst die Tagebücher eines Dag Hammerskjöld oder einer Mutter Teresa der entsetzten Nachwelt aufdeckten - das fast unglaubliche Privaterleben schwindelerregender Zweifel -, …was man erst aus nachgelassenen Aufzeichnungen in dieser schockierenden Blöße erfahren sollte - wie trostlos die Anfechtung einer Therese von Lisieux oder eines Jochen Klepper waren -, das gehört im Neuen Testament zum Kern der Offenbarung: Ohnmacht der Allmacht, … Bruchgefahr des Heils, … Not Gottes!
In einer solchen Welt lebten die Heiden nicht: Ihre Götter waren launisch, willkürlich und herrisch. Aber die Sterblichen konnten sie nicht zum Weinen bringen.
In einer solchen Welt leben auch die säkularen Zeitgenossen nicht, deren Instanzen vielleicht Naturgesetz, Kausalität oder Thermodynamik heißen oder völlig ungesteuerte Spiele des Beiläufigen sind. Auch hier gibt es nichts und niemandem, dem der Mensch wehtun könnte.
Der biblische Passionsbericht dagegen lässt uns das buchstäblich peinliche, das schmerzende und schändliche Schauspiel sehen, wie unsere Schuld und unser Schrecken Gott demütigen, Gott zermürben und in’s Scheitern treiben.
Da liegt der fleischgewordene Logos, der reale Sinn der ganzen Schöpfung ganz er-schöpft am Boden. Es bricht ihm Herz und Genick, das drückende Gewicht seiner Liebe zu den Sündern tragen zu müssen. So weit hat es die Menschheit, die keine Gnade will, gebracht, dass der Allmächtige und Gnädige meint, nicht mehr weiter zu können.
… Dies Tragödie erkennen natürlich nur jene, die bei der Frage nach Christus nicht bloß den Menschen sehen, in dem sich etwas von Gott zeigt. Für eine solche Einwohnungs-Christologie, der zufolge in dem Menschen Jesus von Nazareth sich Gott besonders intensiv bemerkbar macht, ist der mentale Breakdown von Gethsemane fast zwangsläufig: Dass es dem braven Kerl, der vor drei Jahren noch ein Schreinergeselle war wie du und ich, einfach zu viel werden musste, die undankbare Stelle eines gern verdrängten, ja, am liebsten abgeschafften Gottes zu vertreten, kann jeder verstehen. Das Heulen unter den Ölbäumen, als alle anderen nach dem Festmahl ihr Verdauungsnickerchen halten, ist bloß das sprichwörtliche „arme Tier“, das in dem überforderten Menschen rebelliert. …
Aber so kann die Christologie der Menschwerdung Gottes, die ernstnimmt, dass Gott nicht unter Vorbehalt, sondern bis zur letzten Konsequenz in die Wirklichkeit von Menschenkind und Menschenkörper, Menschenlos und Menschenleid eingegangen ist, es nicht erklären.
Sie steht vielmehr vor der ganzen Wucht der Tatsache, dass Gott, der Sohn von elementarer Panik geschüttelt wird, nicht aushalten zu können, was er um Gottes, des Vaters willen doch als nötig erkennt: Mensch in der unmenschlichen Entmenschlichung, die Menschen Menschen zufügen können, zu bleiben, … das Bild Gottes also auch in Qual und Mord und Hölle nicht auslöschen zu lassen. ———
Warum dieser Umweg über die hohe, die orthodoxe Christologie, die mit den uralten, längst vergangenen Konzilien von Nicäa und Chalzedon verbunden ist, bei denen die sog. „Väter“ um die zwei Naturen in Christus und deren Verhältnis zueinander stritten, … warum dieser Umweg über die hohe Christologie, um sich doch nur dem Tiefpunkt eines zerrissenen Gottmenschen zu nähern, der in der einsamen Nacht von Gethsemane den wahnsinnig erscheinenden und Wahnsinn auslösenden inneren Monolog erleidet zwischen dem, der den Kelch nicht trinken will und Dem, Dessen Wille dennoch geschehen soll?
… Weil es anders gedeutet nur eine leere, trostlose, gewaltsame und wie alle Gewalt letztlich brutal nihilistische Geschichte wäre, wenn hier einer, der etwas Schreckliches muss, bei der Unterwerfung belauscht und geschildert würde.
…Hier wird aber kein Mensch dem blinden Befehl eines unerbittlichen Gottes geopfert. Und wir werden hier auch nicht Zeugen davon, wie die völlig natürliche Todesfurcht einer Kreatur schließlich durch gehorsame Selbstaufopferung überwunden wird.
Sondern hier erfasst uns die Ahnung, dass Gottes Bei-uns-Sein und Für-uns-Sein Ihm – Gott selbst! – Unerträgliches zufügt und abverlangt.
Gott wird vom Leid, das Er nicht will und das Ihn erdrückt, zerrissen: Das zeigt Gethsemane.
… Gott weiß nicht, wie lange Er die Schrecken aushalten kann:
… Wie lange kann Er den Durst in Mariupol aushalten und das Frieren in den Kellern?
… Gott wird mürbe im Grauen der Belagerungen, wo Er in Müttern und in Neugeborenen und kleinen Kindern Passionszeit leidet, die mit dem ersten Atemzug beginnt, und Er schwitzt Blut und Wasser in all den Seelen, die als Mörder und als Opfer um Kiew und in Kiew sich gegenseitig verderben sollen.
… Vom Säurebad der vielen Lügen, die im Krieg alles durchtränken, schwinden Gott die Sinne … Er will den Kelch nicht trinken müssen!
… Und wenn Er sich nach den Freunden umsieht, den Verbündeten, die doch so forsch an Seiner Seite zu sein vorgaben, dann Wehe!, Wehe! über Gott, den Verlassenen.
… Und Wehe!, Wehe! über Gott, den Mutterseeleneinsamen, Der in den Burschen in der russischen Uniform so ausgesetzt und so verraten irgendwo auf dunklen Straßen im brenzligen Vorgefühl des nahen Verhängnisses in die Hosen scheißen könnte und heim zur Mama will.
… Und überhaupt: Die tausend schönen Bilder Seiner lieben Mutter - die Ikonen, die „Freude aller Leidenden“ oder „Lindere meinen Kummer“ heißen - und die nun in den Kirchen, Klöstern und Häusern der Ukraine durch Christen missachtet, verbrannt und zertrümmert werden!
… Und die Sonnenblumen, die bis zum Horizont auf den Feldern stehen sollten, damit die Armen Öl haben, und der gelbe Weizen unterm blauen Himmel, das Brot des nächsten Winters, in dem nun so viele Menschen weltweit werden hungern müssen, … es dreht Gott den Magen um, Der doch an diesem Abend von Gethsemane Selbst Seinen Leib als Brot dahingegeben hat, damit die Welt an Seinem Tisch satt werde! …….,
Aber das Schwerste, das für uns Menschen eigentlich Unvorstellbare an der Gethsemane-Spannung, die Gott unter dem Druck der Menschheit erleidet, ist das, wovon der Wochenspruch (Röm.5,8) redet: Dass Gott nicht anders kann, als die Sünder … zu lieben?!
Gethsemane, das ist der Ort, an dem der traurigste Kuss der Welt gegeben und empfangen wird: „Siehe, er ist da, der mich verrät“
… Was für eine Bitterkeit Gott in der Liebe erfährt!
Und was für eine Liebe in dieser Bitterkeit!
Judas wird gleich mit dem Kuss, der alles besiegelt. zwei Worte sagen, die alles umfassen: Er wird Jesus mit dem Gruß grüßen, den der Engel Maria bei der Verkündigung entbot: „Freue Dich!“ (Χαῖρε! Matth.26,49 vgl. Lk.1,28!), und er wird ihn nennen „Rabbi!“, wie Maria Magdalena beim Wiedererkennen am Ostermorgen (Matth.26,49 vgl. Joh.20,16). … Anfang und Vollendung in der bitteren Liebe des Sünders, der bitteren Liebe zum Sünder!
Das macht Gethsemane so unerträglich: Dass der leidende Gott-und-Mensch da nicht einfach auf und davon kann, sich aus der Affäre ziehen, sich emporschwingen zu den Regionen ungerührter Erhabenheit über der Misere aller dieser Dinge.
Nein, Er bleibt der Gefangene Seiner schmerzhaften Liebe zu den Sündern, den Verrätern, Häschern, Folterern, den Kommandeuren und Prokuratoren und Agitatoren, die Ihn kreuzigen lassen.
Er bleibt, weil der Wille zur Liebe Ihn bindet.
Nicht sein menschlicher Wunsch und Wille, das aussichtlose, grauenerregend schmerzhafte Elend nicht weiter aushalten zu müssen, sondern dieser Wille letzter, endgültiger, langmütiger Liebe wird Jesus im Garten der Ohnmacht und Agonie, in der Schicksalsgemeinschaft mit den umzingelten Todgeweihten und verzweifelten Freiheitssuchenden unserer Tage ausharren und für immer ihr Genosse im Leiden bleiben lassen.
Und er wird dabei das tun, was man heute kaum hörbar aussprechen mag: Sein Leiden aus Liebe auch denen zugutekommen lassen, die des Hasses sind und gehasst werden.
Jesus zieht sich vom Schauplatz der Geschichte - Gethsemane - nicht zurück … auch um Putins willen.
Wenn Er diesen aufgäbe, … wenn Er den Pilatus damals aufgegeben hätte, … wenn Er den Judas aufgegeben hätte, der mit Ihm für alle Zeiten den Tag des letzten inneren Kampfes und des Todes teilen wird, … wenn Er die Sünder aufgäbe, dann wäre Er eben ein Mensch an der Grenze der Zumutungen, an der Grenze aller Belastbarkeit, ein Mensch an der Grenze des Nichts, der da endlich zunichtewird.
Aber wenn wir auf Ihn schauen, in seinem Kampf mit der Last aller Welt und der Schuld des ganzen Menschengeschlechts und der Angst aller Sterblichen und der Trüb-sal aller Verlassenen unter dem Himmel, … dann sehen wir Ihn unter den Menschen für die Menschen leiden, … unter ALLEN und für ALLE! ———
Und hinter dem Jammerbild des beinah an Seiner Liebe zu den Lieblosen zerbrechenden Gottes ahnen wir aus der Tiefe der Vorzeit jenes geheimnisumwitterte Vorzeichen aufragen, von dem unsere heutige Lesung (4.Mose 21, 4-9) sprach.
Die Israeliten wurden von den durch sie selbst heraufbeschworenen Angriffen der Schlangen in der Wüste geheilt, indem sie ihren Blick fest ausgerechnet auf eine eherne Schlange richten sollten:
Von denen, deren Biss den Tod brachte, sollte durch einen beruhigten Blick das Leben kommen.
Von dorther, wo das Gift war, musste auch die Heilung stammen. …
Da, wo wir nur den Hass erkennen, muss demnach auch die Liebe zu finden sein.
Wo wir nichts als das Böse entdecken, ist auch die Güte zu suchen.
Wo wir den Feind ausmachen, wartet der künftig mit uns Versöhnte.
Diese völlig verwandelte Wirklichkeit, in der die Quelle des Horrors zum Ursprung des Heils wird, verdankt ihre Entstehung aber eben wirklich Gethsemane.
Dort zeigt sich, wie bitter das Leid ist, das Gott in Jesus erträgt bis zum Ende, um nicht Seine Liebe zu denen zu verraten und zu verlassen, die Ihm feind sind.
Nur aus diesem bitteren Leiden kann darum aber auch die Versöhnung kommen.
Der die Schrecken aushielt - einmal, noch einmal, ein drittes Mal -, Der will ja, dass die Schrecklichen schließlich Gesegnete werden.
Er entzieht sich ihrer Grausamkeit nicht, weil Er nur so ihre Grausamkeit einst ihnen wird entziehen können durch Seine Vergebung.
Er lässt Sich zu ihrem Opfer machen, opfert Sich ihnen, damit Er das Opfer zu ihrer Versöhnung werden kann. ——
Nicht menschlicher, sondern göttlicher Wille ist das! ——
Wenn wir aber nach Gethsemane blicken, dann sehen wir dort in der Dunkelheit und hören im Stöhnen dieser Nacht die schwachen Umrisse und die fast noch erstickte Andeutung, was dieses Leiden aus Liebe schaffen wird:
… Dass die selbe Welt, die uns heute so finster erscheint, den Glanz des schönsten Lichtes widerspiegeln wird.
… Dass dort, wo wir bloß ausweglose Not sehen, sich Zukunft auftun kann.
… Dass der blanke Hass beigelegt werden und dass Frieden sich zeigen soll auf den verzerrten Zügen und in den verletzten Seelen so vieler Menschen.
Wir wollen – weil Gott es in Gethsemane darauf schließlich angelegt hat, indem Er sich nicht entzog – daran glauben.
Und wollen beten, dass unser Glaube nicht von der Angst des schwachen Fleisches, sondern von der Willigkeit des Geistes Gottes zu lieben geprägt sei.
Und dass dieser Wille geschehe!
Amen.
Invokavit, 06.03.2022, Stadtkirche, 2.Korinther 6, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Invokavit - 6.III.2022
2.Korinther 6, 1-10
Liebe Gemeinde!
Die Hand zittert beim Schreiben, der Kopf beim Denken, die Stimme beim Sprechen, das Herz beim Hören. … Wenn wir das herrliche Evangelium von Jesus Christus in so höllischer Zeit fassen und weitergeben sollen, greifen zwei Kräfte gleichzeitig nach uns: Eine Freude, die kein Mund aussprechen kann und ein unbeschreiblicher Kummer, … Frieden und Krieg also, … Gnade und Verzweiflung. ——
Wie wollen wir im Angesicht der Kolonnen und Belagerungen von Mariupol, Kherson, Charkiw und Kiew, des Beschusses und der Gewalt, der Fliehenden und der Eingekesselten, der Zu-allem-Entschlossenen und der Unschuldig-Verdammten das himmlische Rettungswort Gottes mit der Grausamkeit auf Erden verbinden können?
Wie wollen wir den feiern, dessen Leidenszeit das Leid der Zeit vergehen und ewige Leichtigkeit des Seins schaffen soll?
Wie wollen wir solchen seligen Glauben bekennen, wenn wir so verfluchte Dinge erleben wie die Auferstehung des totgesagten Völkerkampfes in Europa und das Spiel mit aller Tage Abend?
……. Es stimmt doch nicht zusammen. Es sperrt sich doch. Man bleibt doch hängen in den unlösbar verwirrten Widersprüchen von Heil und Unheil.
……. So klamüsert der systematische Buchhalter in unserem Kopf: Entgegengesetzte Vorzeichen heben sich nach seiner Rechengewohnheit auf. Was nicht auf einen Nenner zu bringen ist, bleibt ohne Verbindung. Und also ohne sinnvollen Bezug. Und irgendwann entscheidet sich der brave Rechnungsprüfer, der die unverständliche Wirklichkeit bilanzieren will, dass es einen dummen Rechtschreibfehler gegeben haben muss: In dieser Welt kann es keine Rubrik geben, die „Zeichen und Wunder“ heißt, … der letzte Buchstabe muss in Wahrheit ein kleines „n“ sein. Nur „Zeichen und Wunden“ kann man aufzählen. … So ist Passionszeit! Der Kreuzweg der Ukraine. Die Via dolorosa der armen Soldaten und der armen Zivilisten. Das Golgatha der menschlichen Geschichte. … Zeichen und Wunden. Ohne Lösung, ohne Sinn. …….
Und ausgerechnet an einem solchen Satanssonntag, an dem uns sogar in Wochenspruch (1.Joh.3,8b) und Schriftlesung (Hiob 2) nur diabolische Konflikte begegnen, treffen wir auf den komplizierten Apostel Paulus, der seiner vielfach gespaltenen, tief misstrauischen Gemeinde in Korinth auf dem Höhepunkt von Wirren und Zerwürfnissen eine sonderbare Ansage macht. Er zitiert aus dem einzigartig beflügelnden Buch des Trostpropheten Jesaja, der nach der Höllenfahrt Israels in der babylonischen Gefangenschaft die Heilswende der Geschichte, das Ende des Exils ausrief. Und nichts als diesen Ruf der Erlösung bekräftigt Paulus mitten in der Zerreißprobe von Korinth:
„Siehe, jetzt ist die angenehme Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils“!?
Es stimmt doch nicht zusammen. Es sperrt sich doch. …….
Doch gerade darum sind wir hier!
Zum Brunnen kommt man nicht ohne Durst.
Das Licht der Lampe erkennt man erst im Dunkeln.
Und das reine Glück des physischen Organismus spüren wir am gesunden Körperteil selten so direkt wie da, wo erst eine Verletzung heilen muss.
Wir sind hier, weil auf Erden nichts zusammenstimmt und alles sich sperrt.
Immer wieder durchlöchert die Wirklichkeit unsere Fröhlichkeit.
Immer wieder aber wirft sich auch das todesmutige Evangelium gegen den Aufmarsch der Verzweiflung.
Genau dieser Kampf der beiden Kräfte, genau diese Unruhe und Zerrissenheit, diese Spannung und Widersprüchlichkeit ist ja die schlichte Bestätigung dafür, dass das Pendel noch hin- und hergeht, dass das Morgenrot noch auf die Dunkelheit folgt und das Blut noch weiter aus der einen wie der anderen Herzkammer in seine Bahnen strömt, um Wohl und Weh zu sichern und zu wehren.
Wenn wir meinten, das Evangelium nur im Garten Eden predigen, hören oder glauben zu können und nicht in den Kerkern und Katakomben, den Lagern und Bunkern der Erde, dann wären wir so weit entfernt von allem, was in der Geschichte Israels und der Kirche grundlegende Erfahrung ist, dass wir wohl gar keine Hoffnung auf Zugang und Verständnis hegen sollten.
Es ist unendlich mehr Offenbarung, mehr Wahrheit, mehr Theologie, mehr Frömmigkeit im Versteck, auf dem Krankenbett und im Knast, auf der Flucht, in der Not und durch Leiden begriffen und geformt worden, als in Muße bei Sonnenschein nach einer guten Mahlzeit.
Darum ist der heute zu betrachtende Abschnitt aus dem 2.Korintherbrief in Wirklichkeit ein Wink des Himmels an die erschütterten Zeitgenossen, die wir sind, wenn in ihm ausgerechnet die Überschrift von der angenehmen Zeit und dem Tag des Heils eine aufwühlende Aufzählung einleitet, für die es einen nüchternen technischen Fachbegriff gibt. Solche Listen von Leidenserfahrungen, solche Zusammenfassungen von erlittenen Zumutungen und Bitterkeiten bei Paulus nennt man „Peristasenkataloge“: Übersichten der Peristasen, wörtlich: der äußeren „Umstände“, die nun einmal bei keiner - und sei’s noch so innerlichen – Erfahrung und Entwicklung ausgeblendet werden können.
Die stoischen Philosophen hatten mit derartigen Schilderungen begonnen, weil sie ihre Haltung des Gleichmuts und der Unanfechtbarkeit gerade dadurch werbewirksam verkauften, dass sie demonstrierten, wie völlig wurscht ihnen alle Umstände des Leibes und des Lebens waren. … Doch was bei den Stoikern das Staunen über ihre heldenhafte und beneidenswerte Ungerührtheit hervorrief, wenn sie bewiesen, dass Hitze und Kälte, Hunger und Durst, Schmach oder Ehre, Beliebtheit oder Einsamkeit sie schlicht nicht juckten, das bedrohte beim Apostel unter den Griechen eigentlich den Kern seiner Botschaft. Er hatte doch - wie im berühmten Abschnitt unmittelbar vor der heutigen Aufzählung seiner Leiden - der Menschheit zu verkünden, dass jedermann in Christus eine neue Kreatur werden dürfe, weil das Alte vergangen ist und siehe!, alles neu geworden (vgl. 2.Kor.5,17).
… Wie konnte es da sein, dass dieser Botschafter einer geheilten Welt ein Kranker, dass der Rufer in die endgültige Befreiung ein politischer Gefangener, dass der Gesandte des Erlösers ein hilfloser Gequälter sein sollte? Nichts stimmte da doch zusammen bei diesen unlösbar verwirrten Widersprüchen von Heil und Unheil!
Doch gerade darin unterscheiden sich Lüge, Autosuggestion und religiöse Ideologie vom echten Evangelium: Die menschlichen Mätzchen wollen uns weismachen, die Wirklichkeit sei irrelevant und wer nur richtig glaube, werde auch richtig gesund, …wer hoffe, werde unfehlbar belohnt, …wer sich habe taufen lassen, sei der Sterblichkeit entronnen. Solchen schwachen Blödsinn haben schon die Korinther allzu gern glauben wollen.
Die Macht des Evangeliums aber ist es, dass sie der Wirklichkeit und ihrer Widrigkeit nicht durch Wegzaubern oder Schönreden oder sonstige Täuschungen entgeht, sondern standhält: Als das Wort vom Kreuz unter Kreuzen, … als die Treue eines Leidenden zu sämtlichen Leidenden, … als der Sieg der Gnade in einer Passion, die alle Opfer in sich einschließt und verbindet.
„Mächtig nicht in Machern und Gewinnern, sondern in den Schwachen“ (vgl.2.Kor12,9), so wurde es dem Paulus offenbart und so hat er es selbst erlebt, verkörpert und erlitten: Nicht als Verschonter, sondern als Gezeichneter, … nicht als Überlegener, sondern als Betroffener, … nicht als Beobachter, sondern als „Mithelfer“, als Mitleidender, Mitgefangener und Mitgehangener des gekreuzigten Jesus von Nazareth.
Seine Bedrängnisse, Nöte, Ängste, seine Bestrafungen durch Stockschläge, Verhaftung und Lynchjustiz, seine Anstrengungen, Erschöpfungen und Entbehrungen, seine große menschliche Selbstüberwindung und die Bewährungen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe in alledem, haben nicht widerlegt, sondern bewahrheitet, dass er in der Nachfolge dessen lebte, wirkte und litt, der die Leidtragenden und Verfolgten seligpries (vgl. Matth.5, 4+10). ——
Was wir dem Buddhismus mit Interesse und Lernbereitschaft abnehmen, … wofür wir als Galionsfiguren Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi, Alexander Solschenizyn oder Mutter Teresa gelten lassen, nur um es dadurch in kultureller oder historischer Distanz zu uns selbst zu halten, … das wird uns von Paulus, ja vom gesamten Neuen Testament in Wahrheit als unser ureigenstes, nächstes, verdrängtestes und vergessenstes christliches Fundament bezeugt:
Dass Leid und Mitleid viel mehr lösen, ja erlösen, als bloße Macht es jemals könnte!
Diese grundlegende kreuzestheologische, christusgebundene Offenbarung, dass Gott nicht den Weg der überlegenen Gewalt, sondern der tiefsten Teilnahme gegangen ist und uns zur Nachfolge darauf ruft, darf gewiss nicht im Sinne der Leidverklärung gedeutet werden - schon gar nicht mit der furchtbaren Lage der kämpfenden Ukraine vor unsern Augen und ihrem heldenhaften Mut, versinnbildlicht in diesem Judas Makkabäus von einem Präsidenten, … im Übrigen aber genauso wenig wenn wir an die Hilf- und Ahnungslosigkeit der russischen Truppen denken, die nichts als heimwehkrank-verunsichertes Kanonenfutter sein können, wie die meisten Soldaten der Welt. Es geht nicht um die Verherrlichung von Schmerzen oder die Bejahung der Machtlosigkeit um ihrer selbst willen, es geht nicht um eine paradoxe Umkehrung der landläufigen Logik, durch die Schwäche zur eigentlichen Stärke und Unterliegen zu einer Form des Triumphes umgewidmet würde! Leid bleibt schrecklich, Unrecht bleibt grausam, das Erdulden von Pein und das Ertragen von Brutalität bleiben empörende Brüche mit dem Schöpfungssegen, der auf allem Leben liegen soll! …
Aber Gottes Gnade und Gottes Gerechtigkeit, Gottes Heil und Gottes Ziel bleiben alle auch genau das, was sie sind - der sichere, letzte Sinn aller Dinge! - … gleichgültig ob wir uns ihnen unter leichten oder schweren Umständen anvertrauen und überlassen. —
Allerdings wird Gottes Macht, die Welt zu retten, von den Mächten und dem Vermögen, die wir aufbieten und einsetzen, fast immer entstellt, überschattet, ausgeblendet und verunstaltet.
… Während in unserem Leiden und unserem Mitleid tatsächlich viel mehr von der alle Traurigkeit und alles Böse überwindenden Uferlosigkeit der Liebe zu erfahren ist, die als Einziges Bestand haben wird, wenn der Hass, die Sünde und der Tod längst vergingen.
Weil also nun das, was Menschen aus Welt und Leben machen können - und das Leben und die Welt aus ihnen - nicht das Letzte ist, sondern weil das bleiben wird, was aus der Ohnmacht kommt, darum hat Paulus in den Spannungen der schwierigen und verletzenden Umstände seiner Existenz - in seinen „Peristasten“ also - eine so widersprüchlich erscheinende Gewissheit und Ruhe behalten. … Nicht weil er stoisch unerreichbar und unberührbar war, sondern weil ihn über das Augenblickliche und Verschwindende hinaus schon die Erwartung des Unverlierbaren trug: Er spürte etwas, das ihn trotz aller Verleumdung getrost, trotz aller Einsamkeit geborgen, trotz tödlicher Gefahr sicher, trotz echter Agonie lebendig, trotz Katastrophen im Gleichgewicht hielt. … Er spürte und ihn trug die unvergängliche Gnade Gottes, von der er seinen schwierigen, verfeindeten, zerrissenen Korinthern und auch seinen erschreckten, verunsicherten, ohnmächtigen Kaiserswerthern wünscht, sie möge ihnen nicht vergeblich zuteilgeworden sein.
„Amen“, so möchte man schließen.
Aber heute gehen der Blick und die Zusage der Gnade noch weiter, als nur bis zu unserer Vergewisserung, dass es nicht umsonst und nicht folgenlos ist, dass wir die ungefärbte Liebe und Kraft Gottes und mit diesen die Waffen der Gerechtigkeit empfangen haben.
Diese Liebe, diese Kraft, dieser Schutz sind nicht für uns allein bestimmt und gelten wahrlich nicht bloß im Zwiespalt zwischen Freude und Kummer, Glaube und Verzweiflung bei uns.
Viel, viel weiter ist ihr Rahmen. ……. ———
An diesem Sonntag Invokavit vor fünfhundert Jahren kehrte Luther aus der Sicherheit der Wartburg zurück auf die Wittenberger Schlosskirchenkanzel, weil die radikalen Kräfte der Frühreformation eine unerträglich gefährliche, eine aggressive und destruktive Bewegung verursacht hatten, die in Gewalt und Selbstzerfleischung der Christen in Volk, Kirche und Obrigkeit hätte enden können,
Die erste Predigt, die er damals zur Beruhigung der lebensgefährlich aufrührerischen Spannungen hielt und nach der die Predigtreihe der folgenden ersten Fastenwoche die „Invokavitpredigten“ genannt werden sollte, beginnt mit den erschütternden Worten:
„Wir seind allsampt zu dem tod gefodert / und wirt keyner wird für den andern sterben. Sonder ein yglicher in eygner person für sich mit dem todt kempffen. In die oren künden wir woll schreyen. Aber ein yeglicher müß für sich selbst geschickt sein in d’ zeyt des tods / ich würd denn nit bey dir sein / noch du bey mir.“[i] …….
Dieser natürlich seelsorgliche, gleichwohl aber extreme Individualismus der frühen Neuzeit jedoch vergeht in diesen Tagen vor unseren Augen.
Die Katastrophe der Ukraine zeigt es uns vielleicht krasser als jede andere Warnung unserer Zeit, dass niemand je für sich alleine zum Tod gefordert ist, sondern wir alle - menschheitlich! – nur das Miteinander unseres Lebens, unserer Schuld, unseres Sterbens und der Gnade Gottes erwarten können und erfahren sollen.
Sind wir also trotz unserer quälenden, ungerechtfertigten Zuschauerrolle dabei mit den Menschen zwischen Lwiw und Tschernihiw, zwischen Odessa, der Krim und Luhansk wirklich Teile jenes unlöslichen Miteinanders, dann müssen wir die Spannung zwischen den Kräften in der Welt auch wirklich in unzerstörbarer Gemeinschaft mit ihnen erleben:
Wenn sie auch Krieg führen müssen, werden wir doch ihren Frieden vorbereiten;
wenn sie auch Gewalt erleiden und verüben müssen, dürfen wir doch an Versöhnung glauben;
wenn sie auch auf der Flucht sein müssen, sollen wir doch ihr Zuhause sein;
wenn sie auch geopfert werden, verheißt unser Glaube doch, dass ihnen bestimmt ist, zu leben, … ohne Feindschaft, ohne Leid und ohne Ende!
Denn nicht nur von uns, sondern – obwohl es nicht zusammenstimmt und doch um Christi willen gilt und ewig gelten wird! – ebenso von ihnen, den Brüdern und Schwestern im Leid dieser Zeit ist trotz allen Kummers die Freude gesagt, die kein Mund ohne Zittern aussprechen kann:
„Als die Sterbenden, … und siehe, sie leben!“
Amen.
[i] „Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert, und keiner wird für den anderen sterben, sondern jeder in eigener Person für sich mit dem Tod kämpfen. In die Ohren können wir wohl schreien, aber ein jeder muss für sich selbst geschickt sein in der Zeit des Todes: Ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei mir.“ (Zitat nach: Luthers Werke [Bonner Ausgabe], Bd.7: Predigten, hgg. v. E. Hirsch, Berlin 1962, S. 363)
Sexagesimae, 20.02.2022, Stadtkirche, Hebräer 4,12f, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Sexagesimæ - 20.II.2022
Hebräer 4,12f
Liebe Gemeinde!
Sturm, Krieg und Seuche: Die Reiter der Endzeit scheinen sich warm zu laufen.
Und auch wenn man die Übererregung, die absurde Empfindlichkeit und übertriebene Ängstlichkeit unserer Tage großzügig abzieht, liegt doch viel Bedrohliches in der Luft, immer neue Schatten, die sich auf’s Gemüt legen, das ja am liebsten einfach wieder stinknormale Gewohnheiten pflegen würde und sich im Alltag schlicht auskennen.
Die Welt ist uns wirklich in mancher Hinsicht fremd geworden, und mit dem selben Argwohn, mit dem so viele von uns etwas Fremdem in der eigenen vertrauten Welt begegnen, begegnen wir nun eben der einst vertrauten Welt, die sich uns plötzlich so fremd zeigt. …
Aber vielleicht ist es ja auch eine Täuschung gewesen, wenn wir bisher glaubten, wir kennten unser Leben und wüssten in der Welt Bescheid. Vielleicht waren wir blind, taub und lahm, wenn wir die Geißeln der Erde - Unglück, Gewalt und Krankheit - für bloße biblische Bilder oder übriggebliebene Fremdkörper auf dem Rückzug aus einer heilen Wirklichkeit hielten.
Vielleicht sind wir gerade dabei, nicht in einem Albtraum zu versinken, sondern aus einer Benebelung zu erwachen und nüchtern zu werden. Wirklichkeiten zu erkennen. Tatsachen zu begegnen. Wahrheit zuzulassen. …….
Das wäre natürlich mehr als überraschend, wenn ausgerechnet in der ungeduldigen Weltlage, die nur überwinden will, was ist, und wiederhaben, was war, die Wahrheit eine Chance hätte.
Es sieht ja nach dem völligen Gegenteil aus: Weil man die Wirklichkeit wirklich nicht mehr aushalten möchte, flüchtet man sich in die Unwirklichkeit, die Irrealität, die Irrationalität.
Zieht sich zurück in ein Labyrinth der Verschwörungen, das der inneren Verwirrung äußerlich entspricht, greift als von Innen geschwächte Großmacht die leichte Beute seiner noch schwächeren Nachbarn an oder verblendet und verblödet sich und die Öffentlichkeit wie das winterkalte Regime von Peking und das Olympische Komitee mit den Spielen der auf Eis gelegten Menschenrechte. Die Lüge ist die Muse unserer Zeit. Brot und Lüge … mehr scheinen wir nicht zu wollen. …….
Und ausgerechnet da soll die Wahrheit noch eine Chance haben? Ausgerechnet im Netz und in der Schlinge der weltweiten Ignoranz soll sich die Wahrheit nicht heillos verheddern? …
Durch welchen Schutz, mit welchen Mitteln sollte ihr das gelingen, wenn Fakten und Vernunft, wenn Erfahrung, Logik und Forschung, wenn Ämter öffentlicher Verantwortung und alle Lebensdeutung durch die Tradition sämtlich nicht mehr ernst genommen werden? …
Als Christen kann es für uns nur eine Antwort geben: Die Wahrheit setzt sich gewiss nicht mit Gewalt durch, sie will ihre Geltung keinesfalls erzwingen und nutzt auch nicht die armseligen Vorteile, die die Durchschaubarkeit und Ungereimtheit der Lüge ihr bieten.
Die Wahrheit ist wie die Liebe, ja wie Gott selbst in den Schwachen mächtig (vgl. 2.Kor.12,9): Ihr einziges Mittel ist tatsächlich kein eiserner Schlag, kein raffinierter Kniff und keine besondere Technik, sondern schlicht ein Hauch … und obendrein auch noch das gleiche Mittel wie es die Lüge ebenso einsetzt: Es ist das Wort.
Dabei sind Worte - trotz allen Missbrauchs als Waffe - zunächst ja tatsächlich nur arme Dinger. Ganz wehrlos ist das Wort. Es muss bloß zwanzigmal in schlechter Nachbarschaft begegnen und schon hat es alle eigenen Merkmale eingebüßt: Das bürokratische Fremdwort „Inzidenz“, das ehrenwerte Fremdwort „vulnerabel“, …wer könnte die beiden je wieder hören ohne an die gegenwärtige Pandemie zu denken und die von ihr getönten Ausdrücke instinktiv als belastet abzulehnen?
Worte sind wirklich weder unwiderstehliche Mittel noch unwiderlegliche Gründe. Sie können verkehrt und vergewaltigt, verbraucht und verdorben werden. Und dann bleiben sie Gespenster aus toten Buchstaben, verfluchte Zeugen eines bösen Geistes: „Der Führer“, „die Maid“ und „das Volkstum“ sind solche sprachlichen Ruinen, in denen nichts Lebendiges je wieder gedeihen wird.
Worte sind also schwach und zweifelhaft. Ein Gegenstand mutet uns handhabbarer und echter und also in gewissem Sinne auch vertrauenswürdig an als reine Laute. Die Bezeichnung ist mehrdeutig; das Ding dagegen halten wir für eindeutig. Und ohnehin gilt: Schnell ist etwas gesagt; getan wird’s langsamer.
… Wie ungeschickt und unklug daher, dass das Christentum keine Macht und keinen Beweis kennt, dass es nichts annimmt und sich auf nichts gründet, außer dem Wort!
Wie wäre es doch einfach und eindrücklich, wenn die Tatsachen und die Verhältnisse, der Lauf der Zeit und der Stoff der Welt untrüglich für die Botschaft sprächen, die unser Glaube ist. … Ja, wie viel direkter und kompakter wäre überhaupt das, was wir „Glauben“ nennen, wenn es sich eben keiner Botschaft, keinem Evangelium, sondern einem Sachverhalt, ja einer Sache, einem Eu-Pragma[i], einer Eu-Praxis, … irgendetwas „Pragmatischem“ verdankte?!
Dass wir uns das immer wieder wünschen, kann man bei uns dauernd hören und sehen: Wie viel lieber reden wir doch von der „Sache Jesu“, als von seiner Verkündigung, … wie viel eher neigen wir dazu, die gute Praxis der Kirche für glaubwürdig zu deklarieren, als ihre gute Nachricht. Doch wo das Christentum zur Sache, zur Herrschaftsform, zum politischen Aktivismus, zu einer Moral oder einer Interessenvertretung wird - sei’s der Abtreibungsgegner, sei’s der Regenbogenlobby (für beide habe ich meine Sympathien) -, da hört es auf zu leben und wird reine, missbräuchliche Funktion: Es wird zur Ideologie der byzantinischen Kaiser, zum Handlanger der Kolonialmächte, zum Strippenzieher von Kriegs- oder Friedensparteien, zur Öko-Clique, zur verdummenden Folklore nord- und südamerikanischer Populisten.
Die Kirche muss beim Wort bleiben, wenn sie die Kirche und nicht Partei oder Sekte sein will! Sie muss beim wehrlosen Wort und beim meditierenden Hören, ob sie es verstehen kann oder missversteht, bleiben und sich nicht auf Machenschaften einlassen: Maria hat das gute Teil erwählt, die sich zu des Herrn Füßen setzte und hörte seine Rede (vgl. Lk.10,42+39)!
Konstantinopel und das Empire nämlich, der international solidarische Sozialismus und das Kaleidoskop der diversen Identitäten, die um sich selber kreisen, der Köder des Wohlstandsevangeliums in den Favelas und der wütende Pseudopatriotismus einer weißen Minderheit oder wie die Sachen sonst noch heißen mögen, die in der Kirche das Wort ersetzen, sind alles Eintagsfliegen, Mücken im Sumpf und Motten bei Nacht, bestenfalls Schmetterlinge, die für kurze Zeit brummen, summen und schillern. Dann sind sie vorbei. Himmel und Erde nämlich werden unweigerlich vergehen – aber Jesu Worte nicht (vgl. Mk.13,31 / Matth.24,35 / Lk.21,33).
Das wehrlose Wort bleibt. In Ewigkeit (vgl. Jes.40,8). ——
Also reden wir von diesem Wort, das der Ursprung und Kern nicht nur des Lebens der Kirche, sondern der gesamten Welt ist.
Denn das behauptet die Bibel ja wirklich: Dass das Universum, seine Gründe und Gestalt, seine Ratio und Realität zuallererst Wirkungen und Vergegenständlichungen des Wortes sind. Der Kosmos ist nicht nur eine Summe und ein Produkt von ungelenkten Energien, sondern in seiner gewaltigen Kraft und riesigen Fülle ist er eine absichtliche Mitteilung.
Der Kosmos will also nicht stumm angestaunt, abergläubisch vergötzt oder gelangweilt als reiner Zufall abgetan werden, … sondern verstanden!
Der Kosmos und alles, was in ihm zu entdecken und zu entschlüsseln ist, ist klar ansprechend und nicht nur dumpf überwältigend, weil ihn ihm Gott uns anspricht.
Diese Verbindung aber bleibt fundamental: Wenn wir Welt und Leben nicht als Sprache Gottes verstehen wollen, sind wir entweder verlassen in einer Sinnlosigkeit ohnegleichen oder müssen uns verführen lassen, selbst allem seinen Sinn einzustiften und ihm unsere Deutung, unser Siegel aufzuprägen.
Diese beiden tödlichen Möglichkeiten - die Wirklichkeit ist nihilistisch oder die Welt muss Menschendiktat unterworfen werden - bleiben, wo wir das Wunder des göttlichen Wortes, das Geschenk des Logos, der „logischen“, ja dia-logischen Schöpfung vergessen oder verleugnen.
Alles hängt wirklich am Wort und ohne dasselbe ist nichts gemacht (vgl.Joh1,3!). ——
Doch die biblische, die jüdische und christliche Faszination durch das Wort geht weiter, als dass sie nur die Ahnung einer Sprache wäre, die uns Wunder erschließt, wenn wir endlich das Lied in allen Dingen singen hörten[ii].
Das Wort dringt nämlich aktiv zu uns: In der Torah ist es das Licht auf allen Wegen Israels (vgl.Ps.119,105), … ja, es kommt dem jüdischen Menschen noch näher in seinem alltäglichen, allstündlichen, allgegenwärtigen Tun der Bundesgebote: Es ist das Wort da ganze nahe bei ihm in seinem Mund und in seinem Herzen (vgl.5.Mose30,14)! ———
Und so wird das wehrlose Wort Fleisch (vgl.Joh 1,14!).
Das ist das Urwunder und die Urgnade, die echte Beunruhigung und bleibende Beglückung des Christentums: Nicht von Gottes übernatürlicher Allgewalt und nicht von Seiner abstrakten Grenzenlosigkeit wird das gesagt, sondern von Gottes verstehbarem und verständlichem Wort! Das, was ohnehin als die Kommunikation Gottes auf uns zielt und zu uns drängt, wird in Jesu Menschwerdung unseresgleichen. Wir sind seither nicht mehr nur die Angesprochenen Gottes und auch nicht nur Zeichen im System Seiner großen Selbstmitteilung, die ja alle Dinge umfasst, sondern wenn das Wort Fleisch wurde - also zu dem Stoff, der wir sind -, dann sind wir Menschen das eigentliche Sprachbett der Gottesbotschaft geworden, sind selber Satzteile des Evangeli-ums, Wortverwandte der Wahrheit.
Und darum kann das Wort, das wie wir ist, auf Dauer keine Unklarheit, nichts Verschleiertes, Verstecktes, Verschwiegenes, keine Lüge in Sachen Gott und Mensch zulassen.
Das wehrlose und doch weltbewegende Wort, das Fleisch wurde, bringt die menschliche Wahrheit ans Licht. Da wird das Wort, das alles trägt und sich zu meines-, mich zu seinesgleichen machte, persönlich. Wenn Gottes Schöpferruf trotz aller Widerstände, ja Widersprüche tatsächlich zur Menschennatur werden wollte, dann wird genau dadurch diese Menschennatur schöpferisch zur Gotteswahrheit gerufen. Und das heißt - ganz persönlich -, dass Gott, Der in Seinem Wesen verständlich ist und versteht, auch mich verstehen will!
Und das ist buchstäblich unheimlich. … Mir gefällt es doch, unverstanden zu sein: Als Vierzehnjährige erleben die meisten von uns ja bewusst und absichtlich das Unverstandensein. Später dann verdecken oder verdrängen wir, was immer noch tatsächlich unverständlich in jedem Menschen bleibt, und bilden uns ein, wir wären uns unserer selbst bewusst oder könnten mit etwas Hilfe uns selber klären und erklären.
… Nun muss man aber nicht erst die Menschen beim Sterben erleben, um zu erkennen, dass kaum einer sein eigenes Rätsel, seine Schuld und Schulden, seine Enttäuschungen und seine tiefe Angst bewältigt. Wir sind bei aller Zurechnungsfähigkeit und Reife immer auch unzugängliche und unsichere Wesen, die sich lieber einbilden, ein anderer zu sein, als dass sie sich eingestehen, wer sie selber wirklich sind.
Und nun kommt das Wort, das alle Dinge in’s Dasein ruft und das die Menschheit als seine eigene Art angenommen und also mit unbezweifelbarem Sinn erfüllt hat, mir so ganz und gar nahe, zwischen meiner Schädeldecke und meinen Blutgefäßen, in den Nervenbahnen und den elementaren Bedürfnissen meines Menschseins, … da kommt mir nun also das Grundwort und Sinnwort Gottes so nahe, dass es auch mich an Leib und Sinnen mit seinem Sinn durchdringen und durchleuchten kann, ja, dass es mich erkennen lässt, dass ich erkannt bin (vgl. 1.Kor.13,12).
… Und das ist unheimlich. Da endet nämlich alles Geheime!
Gott, der Offenbarer der Wahrheit macht auch mich offenbar: Meine Geheimnisse, die kaum ein Mensch teilt, meine widersprüchlichen Schwächen, die ich so geschickt gegeneinander ausspiele – dass meine Konfliktvermeidung meinen Jähzorn bändigt, dass die Bequemlichkeit in mir den eitlen Übereifer dämpft, dass meine Bescheidenheitsmarotte meinen Hochmut schmeichelhaft ummantelt –… alle meine unausdenklichen und unausgleichlichen Eigenheiten, Blößen und Täuschungen erfasst, erschließt und erkennt die göttliche Weisheit und Wahrheit Spur um Spur, Zug für Zug, Wort für Wort in meinem unerforschten Inneren! ——
In diesem lebendigen und wunderkräftigen und kritisch-scharfen Werk des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, die das Wort in Schöpfung, Fleischwerdung und Zurechtweisung sprechen, sind und senden, findet sich nun aber der heutige Predigttext (Hebräer 4,12f):
„Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.
Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen.“
Und daraus wächst die Hoffnung, dass tatsächlich die Wahrheit siegt: Nicht ohne Schmerzen und Scheidung, weil Gott bis zu jedem von uns persönlich vordringen muss, um auch in uns unsern nicht haltbaren Unsinn und unsre unsinnigen Haltungen zu richten und zurechtzubringen.
Aber da wir wissen, dass wir vor Seinem Geist nicht fliehen können (vgl.Ps.139,7) und Sein Wort wahrhaftig tut, was Ihm gefällt und wozu Er es sendet (vgl.Jes.55,11[iii]) können wir auch angesichts der Schwierigkeiten, die uns die Wahrheit in einer Welt voll menschlicher Verwirrung, menschlicher Verfehlung und menschlichen Leidens bereitet, an denen wir jeder von uns beteiligt sind, in Wahrheit zuletzt nur fragen wie der Erste der Jünger (Joh.6,68):
„Herr, wohin sollen wir denn gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“
… Und wenn sie auch noch so scharf, noch so eindringlich, noch so unwidersprechlich sind, so sind es doch die Worte, ohne die wir nicht wären, … von und mit denen wir aber leben werden: So wahr der Mensch nicht vom Brot allein existieren kann, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht (vgl. Matth.4,4)!
Amen.
[i] Anstelle der Guten Nachricht (griechisch: Eu-Angellion) wäre ja auch eine Gute Sache (Eu-Pragma) eine werbewirksame Größe. Auch kirchlicherseits wird die Suche nach „best practice“-Beispielen als Anreiz und Motivation des Gemeindeaufbaus schließlich bewusst gefördert.
[ii] Vgl. Joseph von Eichendorffs Gedicht „Wünschelrute“:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
[iii] Alttestamentliche Lesung des „Wort-Gottes-Sonntages“ Sexagesimæ (Jesaja 55,6-12).
4.So.v.d.Passionsz., 06.02.2022, Matth.14,22-33, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Schwestern und Brüder,
der Predigttext für den 4.Sonntag vor der Passionszeit steht im Matthäusevangelium, Kapitel 14,22-33.
„Kurz nachdem die 5000 gemeinsam gegessen hatten, forderte Jesus die Jünger auf, in das Boot zu steigen und ihm ans andere Ufer vorauszufahren, bis er die Volksmenge verabschiedet habe. Und er verabschiedete die Volksmenge und stieg auf einen Berg, um allein zu sein beim Beten. Als es Abend geworden war, war er dort ganz für sich allein. Das Boot war schon viele hundert Meter vom Ufer entfernt und kämpfte mit den Wellen. Der Wind stand ihm entgegen. In der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen. Er ging über den See. Die Jünger sahen, wie er auf dem Wasser lief, und erschraken und meinten, er sei ein Gespenst. Und sie schrien vor Angst. Jesus sprach sie sofort an und sagte: „Seid mutig, ich bin es. Fürchtet euch nicht!" Petrus antwortete ihm: „Jesus, wenn du es bist, dann sag mir, dass ich über das Wasser zu dir kommen soll." Er antwortete: „Komm." Petrus stieg aus dem Boot aus und lief über das Wasser, um zu Jesus zu gelangen. Als er den starken Wind wahrnahm, bekam er Angst und begann zu versinken. Er schrie: „Jesus, rette mich!" Jesus streckte sofort seine Hand aus und ergriff ihn und sagte: „Du mit deinem geringen Vertrauen! Warum zweifelst du?" Als sie dann ins Boot gestiegen waren, legte sich der Wind. Die im Boot aber fielen vor Jesus nieder und sagten: „Du bist wirklich Gottes Sohn!"
Als ich den für diesen Sonntag vorgeschlagenen Predigttext vor einiger Zeit las, dachte ich als erstes: wunderbar, das sind Worte, die sind genau die richtigen für diese Zeit, für Menschen, die seit fast zwei Jahren durch das Auf und Ab einer Pandemie gehen, deren Lebensboot gründlich durchgeschüttelt wird, Worte für unsere Kirchen und Gemeinden, die mit allerlei Gegenwind kämpfen müssen - Missbrauchsskandal, Kirchenaustritte, Umstrukturierungen und Finanzsorgen - und denen das rettende Ufer noch in weiter Ferne zu liegen scheint. Dann kam die Nachricht vom Tod des Autors und Filmregisseurs Herbert Achternbusch und ich erinnerte mich sofort an seinen Film „Das Gespenst", der 1982 einen enormen Skandal ausgelöst hatte. Das Gespenst, das war nämlich Jesus, der karikaturmäßig daherkam. In einer Szene lief er über das Wasser eines bayrischen Sees. Ich konnte mit diesem Film gar nichts anfangen, fand ihn einfach geschmacklos. Mir fiel auch die Karikatur ein, die sie auf dem Gottesdienstblatt finden: der kleine Jesus steht auf dem Wasser des Badezubers und Mutter Maria wird ärgerlich: Sei brav, bade jetzt! Ja, es stimmt: der Textabschnitt aus dem Matthäusevangelium, der kann ganz schön missverstanden werden, gerade heute in unserer ach so aufgeklärten Zeit.
Darum bin ich froh, ihn gemeinsam mit einem wirklich kompetenten Gast zu betrachten und ihn so zu uns sprechen zu lassen, wie er gemeint war: als Ermutigung und Aufforderung, Gott zu vertrauen, auch wenn alles gegen einen steht.
Ich begrüße Salome, die zu dem Kreis der Judenchristen gehörte, die etwa um 80 n.Chr. Erinnerungen an Jesus, sein Leben und Wirken zusammengetragen und schriftlich festgehalten haben, damit die gute, die frohmachende Botschaft, die er gebracht hat, auch die Menschen ferner Zeiten noch erreicht. Als Matthäusevangelium sind ihre Erinnerungen uns bekannt. Herzlich willkommen in der Mutterhauskirche, Salome.
Danke für die Einladung. Ich freue mich auf unser Gespräch.
Wenn ich diese Karikatur betrachte und an so manche Jesus-Bibel-Filme denke, die ich in den USA gesehen habe, dann wundere ich mich doch sehr, welch schlichten Gemütes die angeblich so fortschrittlichen Menschen des 21.Jahrhunderts sind. Das hätten wir uns damals nicht vorgestellt, dass man unsere Erzählungen von Jesus so missverstehen kann.
Er war doch kein Zauberer und auch kein Trickser.
Die Gesetze von Dichte und Schwerkraft galten für ihn
wie für jeden von uns und von euch.
Mir ist das schon klar, dass Jesus nicht über den See Genezareth gelaufen ist; und ich glaube auch nicht, dass er mittels irgendeiner Zauberei 5000 Menschen mit 5 Broten und 2 Fischen satt bekommen hat. Aber ich weiß auch, dass es bis heute viele Christen gibt, die diese Wundergeschichten wörtlich verstehen. Sie glauben, dass Jesus sich genau darin als Sohn Gottes erweist, dass er etwas kann, was sonst keiner vermag. An Jesus zu glauben, bedeutet für sie, alles für wahr zu halten, was von ihm in den Evangelien steht. Also auch alle Wunder, die er vollbracht hat.
Wenn wir das damals in unserem Redaktionskreis geahnt hätten, dass die Menschen späterer Zeiten unsere Wunder-Geschichten für Reportagen halten und die Erzählungen unseres Evangeliums für eine Biografie ...
... dann hättet ihr es anders geschrieben?
Ich denke, nein; vielleicht hätten wir ein klärendes Nachwort angehängt. Aber etwas anderes hätten wir nicht schreiben können. Keiner von uns ist Jesus persönlich begegnet.
Mehr als 50 Jahre waren vergangen, seit er durch Galiläa gewandert war. Die wenigsten von uns haben Geschichten von ihm von Augenzeugen gehört. Wir haben Jesus nicht gekannt, aber wir haben mit ihm etwas erlebt, erfahren -
und diese Erfahrungen haben wir in den Geschichten und Erzählungen des Evangeliums festgehalten.
Das musst du näher erklären: um welche Erfahrungen ging es, die dann in Wundererzählungen wie die von der Speisung der 5000 oder vom Seewandel verpackt wurden?
Da ist nichts verpackt worden, sondern wir haben uns damals bemüht, so verständlich wie möglich über unsere Erfahrungen mit Jesus zu berichten. Deshalb haben wir die Symbolsprache gewählt, die eigentlich jeder Mensch verstehen kann. Ging es uns doch um Themen, mit denen jeder Mensch in seinem Leben konfrontiert wird - in jeder Zeit, an jedem Ort.
Ich verstehe. Die Erzählungen in eurem Evangelium müssen symbolisch verstanden werden, nicht als Tatsachenberichte. Und in ihrer Symbolik geht es um Themen, die für jeden von uns wichtig sind.
Genau.
Wenn ich die Erzählung vom Seewandel betrachte, da geht es um Angst und darum, wie man mit dieser Angst umgeht, umgehen kann.
Ja, darum geht es in dem ganzen 14.Kapitel. Eigentlich ist es schade, dass ihr in euren Gottesdiensten immer nur so kleine
Abschnitte als Predigttexte habt und sie damit ziemlich aus dem Zusammenhang reißt und so Entscheidendes oft gar nicht mitbekommt. Es geht nämlich nicht nur um die Angst, umzukommen und zu ertrinken, sondern auch um die Angst, zu kurz zu kommen. Die beiden Urängste des Menschen, die einfach nicht verschwinden wollen, mit denen wir uns immer wieder herumschlagen müssen.
Die Angst zu kurz zu kommen, das ist das Thema in der Erzählung von der Speisung der 5000. Die Angst, dass es nicht reicht für alle - „nur" fünf Brote und zwei Fische, wie soll das für so viele hungrige Mäuler reichen? Schick sie weg, da soll jeder für sich selbst sorgen, das war die Lösung, die den Jüngern einfiel. Sie hatten Angst um ihren Proviant, Angst, zu kurz zu kommen. So sind wir Menschen - frei nach dem Motto: wenn jeder an sich denkt, dann ist an alle gedacht.
Aber die Angst, dass es nicht reicht für alle, die bleibt an einem kleben.
Und genau da haben Menschen erlebt, dass Jesus einen anderen Lösungsvorschlag gemacht hat, wie dieser Angst zu begegnen sei und wie sie überwunden werden kann.
Er hat sie ermutigt, zu teilen, einfach auszuteilen, was da ist - im Vertrauen auf Gott, den Geber aller Gaben und den Erhalter des Lebens. Und: es hat nicht nur für alle gereicht,
es blieben sogar noch 12 Körbe voller Brotstücke übrig.
Die Bereitschaft, auszuteilen und so die Angst, zu kurz zu kommen, zu überwinden, das ist das Wunder - dazu hat Jesus den Anstoß gegeben. Und das kann er heute immer noch.
Das können wir immer noch und immer wieder erleben.
Im Vertrauen auf Gott - die Angst überwinden. In der Geschichte vom Seewandel ist das nun doch ein bisschen komplizierter mit der Angst. Die Angst umzukommen, zu scheitern. Ich muss sagen, das ist ein eindrückliches Bild, das uns da vor Augen gemalt wird.
Das Meer - Inbegriff der Gefahr, schon in der hebräischen Bibel. So wie im Psalm 107, wo auch von Sturm und Wellen die Rede ist, von der Angst derer, die im Boot, im Schiff sitzen. Der See Genezareth ist der kleine, aber nicht minder bedrohliche Bruder des Meeres. Das aufgewühlte Wasser - ein Bild für Lebensgefahr, für Todesangst.
Bei uns gibt es dafür auch viele Sprachbilder: mir steht das Wasser bis zu Hals, ich ertrinke in Arbeit, einer Firma droht der Untergang. Und auch das Bild vom Gegenwind gehört dazu, der einem ins Gesicht bläst und der uns am Weiterkommen hindert, einem die Luft zum Atmen nimmt.
Und dann noch die Dunkelheit der Nacht, die die Orientierung schwer macht. Man sieht das Ufer nicht. Man weiß nicht, wo man ist. Alles steigert die Angst.
Wir hatten vorhin die Erzählung aus dem Markusevangelium gehört. Bei Markus ist das Setting etwas anders: da sind die Jünger nicht allein im Boot, sondern Jesus fährt mit ihnen über den See. Er schläft seelenruhig, während die Jünger voller Panik sind. In eurem Evangelium hat er sich allein auf einen Berg zum Beten zurückgezogen.
Sich in die Stille und Einsamkeit zurückzuziehen, um mit Gott ins Gespräch zu kommen, um vor ihm seine Gedanken zu sortieren, das war für Jesus entscheidend. So ging er mit seiner Angst um, so hat er sie immer wieder überwunden. Denn natürlich kannte auch er Angst. Auch Angst vor dem Tod.
Davon schreibt ihr ja auch in diesem 14.Kapitel; als Jesus hört, dass Johannes der Täufer hingerichtet worden ist, da verlässt er unverzüglich den Machtbereich von König Herodes und zieht sich zurück, was ihm dann aber nicht gelingt, weil er immer wieder von den Leuten angesprochen und um Rat und Hilfe gebeten wird.
Aber ohne Punkt und Komma für andere da sein, das konnte auch Jesus nicht. Er musste immer wieder seinen geistlichen Akku aufladen - in der Einsamkeit und in der Stille die Nähe Gottes spüren - in der Tiefe seines Herzens, seiner Seele. Der Berg als Ort symbolisiert solche Einkehr bei sich und bei Gott.
Und weil Jesus sich die Zeit dieser Begegnung mit Gott genommen hatte, sich der Nähe Gottes neu bewusst geworden ist, konnte er seine Angst überwinden und seinen Weg getrost weitergehen.
Über das Meer, über das Wasser der Angst. Die Gefahr war immer noch da, es war immer noch dunkel, Nacht, es stürmte. Aber er wusste in seinem Innersten, dass auch diese stürmische Nacht zu Ende gehen würde, dass es einen neuen Morgen gibt. So war es seit Anbeginn der Schöpfung: da wurde aus Abend und Morgen der neue Tag Gottes. Darauf hat er einfach vertraut. Auf Gottes Kraft. Aber genau das ist für uns oft schrecklich schwer: einfach zu vertrauen.
Glauben lernen heißt vertrauen lernen. Das macht diese Erzählung eindrücklich klar. Gerade an der Gestalt des Petrus. Aber bevor es um Petrus geht, habe ich doch noch eine Frage: warum habt ihr geschrieben, dass die Jünger Jesus nicht erkennen, ihn für ein Gespenst halten und nun erst recht in Panik geraten? Da kommt der Retter, und die Angst nimmt überhand.
Aber ist das nicht eine sehr menschliche Erfahrung?
Gerade das, was einem helfen würde, macht die Angst noch größer - ein bis dahin unbekanntes Zugehen auf oder Umgehen mit einem Problem, das sprengt die Vorstellungen und die eigenen Erfahrungen. Feuerwehren und Rettungskräfte erleben das immer wieder bei ihren Einsätzen.
Mit Angst so umzugehen wie Jesus - das macht den Jüngern Angst. Sein Vertrauen in Gott, das macht ihre Angst paradoxerweise noch größer.
Vertrauen heißt, sich in Gott fallen zu lassen. Um im Bild zu bleiben: nur der, der bereit ist, sich in Gott fallen zu lassen, der geht im Meer der Angst nicht unter, sondern der kann über das Wasser gehen.
„Seid mutig; ich bin's. Fürchtet euch nicht!"
So ähnlich hat es schon Josua gehört, da stand er an den Wassern des Jordan und das Volk Israel hatte große Angst vor dem, was da und wer da jenseits, am anderen Ufer in Kanaan auf sie warten würde. „Sei mutig und unverzagt,
lass dich nicht grauen und fürchte dich nicht;
denn ich, dein Gott, bin mit dir auf allen deinen Wegen."
Ja, glauben heißt, sich immer wieder seiner Angst zu stellen und sie im Vertrauen auf Gott zu überwinden. Immer wieder das Wunder zu erleben, dass das Wasser trägt, dass es weitergeht in einen neuen Morgen, an ein neues Ufer.
Petrus hat das versucht. Interessant, wie ihr ihn da in Szene gesetzt habt. Wie er die doch relative Sicherheit im Boot aufgibt, mit einem Satz über die Reling springt und auf Jesus zuläuft. Die Angst kann eben jeder überwinden, nicht nur Jesus. Das Vertrauen auf Gott, auf den „Ich bin für dich da" ist jedem so möglich wie Jesus.
So ist es, und Jesus ist für uns derjenige, der zu diesem Vertrauen die Brücke baut. Er steht für Gott, er hilft uns, Gott zu vertrauen. Jesus - „Gott hilft". Er zeigt uns, dass Gott ganz nah bei uns ist, in unserem Innersten.
Aber weit kommt Petrus ja nicht. Nach ein paar Schritten ist es vorbei mit dem festen Glauben und er beginnt zu versinken.
Statt auf Jesus zu sehen, sieht er die Wellen, hört er den Wind heulen, nimmt die Dunkelheit wahr, die Gefahr. Und die gibt es ja. Der Blick auf Jesus zaubert das ja nicht weg. Das Vertrauen in Gott macht die Welt erst einmal nicht zu einer angenehmeren Welt, aber es verwandelt den, der zu vertrauen wagt. Es weist der Angst, den Sorgen einen Platz zu -
hinter der Hoffnung, hinter der Zuversicht, hinter der Liebe. Aber solches Vertrauen, solchen Glauben hat man nicht,
sondern der will gelebt werden - Schritt für Schritt.
Immer wieder neu. Will immer wieder neu erbeten werden.
Dieser Ruf „Jesus, rette mich! Jesus, hilf mir!" und dann Jesus, der ihn fest an der Hand ergreift und über dem Wasser hält mit seinem leicht bekümmerten „Du mit deinem kleinen Vertrauen, warum zweifelst du?", der erinnert mich an den Ruf des Vaters eines kranken Kindes im Markusevangelium: „Ich glaube, ich will ja vertrauen, hilf meinem Nicht-Glauben, meinem Zweifeln." So sind wir Menschen wohl gestrickt. Aus dieser Nummer kommen wir kaum heraus. Auch ein Petrus nicht. Mein Trost: Gott weiß das. Er hat uns so erschaffen.
Gott weiß es und er hilft uns; er bewahrt uns vor dem Untergehen. Davon erzählt schon die Geschichte von Jona in der hebräischen Bibel: da kommt die Rettung durch den großen Fisch. Gott hilft uns; auf ganz unterschiedliche Weise werden wir im Versinken gehalten, vor dem Fall ins Nichts bewahrt,
aus dem Sumpf der Trauer und der Hoffnungslosigkeit gezogen, bekommen wir festen Boden unter die Füße.
Und immer geht es um Vertrauen, dass wir unser ganzes Vertrauen auf Gott setzen. Alles auf diese eine Karte Vertrauen.
So wie Jesus das gemacht hat. Selbst noch am Kreuz.
Als er allen Grund hatte, an Gott zu zweifeln:
„Warum hast du mich verlassen?"
Um sich zuletzt in Gottes Arme fallen zu lassen:
„In deine Hände befehle ich meinen Geist."
Und alle Evangelien sind sich darin einig:
Er hatte recht mit seinem Vertrauen.
Er ist nicht ins Nichts gefallen im Tod,
sondern in ein neues Leben gezogen worden.
Diese Erzählung vom Seewandel, da dämmert schon der Ostermorgen. Das Boot auf dem See ist unterwegs zum „anderen Ufer" - die Panik der Jünger legt sich, als Jesus mit Petrus ins Boot steigt. Er teilt ihren Weg und ermöglicht es ihnen so, wie er den Zweifel in Schach zu halten und Vertrauen zu wagen.
Gott zu vertrauen wie Jesus, wie Jesus zu glauben.
Sich darauf einzulassen, zu leben wie er,
alles auf die Karte Vertrauen zu setzen,
dazu will uns eure Erzählung Mut machen.
Ja, sie will einladen, selbst die Erfahrungen zu machen, die Jesus gemacht hat und die viele, die ihm nachgefolgt sind,
durch die Jahrtausende gemacht haben: die Stürme der Zeit,
die unterschiedlichsten Abgründe und Dunkelheiten können bewältigt werden; wir werden im letzten gehalten und ans andere Ufer gezogen, geleitet und begleitet - auch durch unsere eigenen Zweifel.
Danke, Salome, dass du dir die Zeit genommen hast, mit mir dieses Gespräch zu führen. Dadurch ist mir dieser Text neu lebendig und wichtig geworden.
Letzter Sonntag nach Epiphanias, 30.01.2022, Stadt- und Mutterhauskirche, 2.Mose 34, 29 - 35, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Letzter n. Epiphanias - 30.I.2022
2.Mose 34, 29-35
Liebe Gemeinde!
Das Lied, das wir eben gesungen haben (EG 70), hat einen Zwilling (EG 147). Philipp Nicolai schrieb beide Lieder in der absoluten Verfinsterung der ihn umgebenden Welt- und Seelenlandschaft durch einen Pestausbruch in seiner Gemeinde Unna. Und wir singen diese Lieder jeweils am Beginn und Ende der dunkelsten Zeiten: Im November „Wachet auf, ruft uns die Stimme“, mit seiner Aufforderung „Wohlauf, die Lampen nehmt!“ und in den grautrüben Winterwochen des Januar und Februar das funkelnde „Wie schön leuchtet der Morgenstern“. Weil zwischen Ewigkeitssonntag und dem Abschluss der vierzig Tage nach Christi Geburt in unsere irdische Nacht das Licht aus der Höhe als adventlicher und weihnachtlicher und epiphanischer Glanz dringt, … gerade dann, wenn wir es am meisten brauchen, wenn wir am lichthungrigsten sind.
Nun aber endet diese Lichterzeit. Die immer noch ohnmächtige Sonne muss die kargen, leeren Monate, die an Septuagesimæ beginnen werden, während der Passionswochen allein zu durchwärmen und zu erhellen versuchen. Während die Tage sich unfühlbar verlängen, schwindet das Leuchten dann zusehends aus den Gottesdiensten der Kirche. Und wenn der Frühling endlich da ist und die Nacht einen Augenblick kürzer als das Tageslicht dauern wird, dann tritt die Sonnenfinsternis auf Golgatha ein. …
Wir merken also: Die Erleuchtung, von der wir wirklich leben, die unser Wachstum und Gedeihen, unsere Photosynthese – wörtlich also: unsere Licht-Verknüpfung - ermöglicht, ist nicht einfach mit den Strahlungs- und Wärmequellen des materiellen Kosmos gleichzusetzen.
In der Dunkelheit kann uns das wahre Licht leuchten und in der Helligkeit kann’s uns verlöschen.
… Es muss also einen Glanz geben, der außerhalb des uns vertrauten Wechsels und der Vergänglichkeit ist: Alles andere Licht wurde ja ursprünglich nur erschaffen, um mit seinem Erstrahlen und Schwinden die Zeit danach zu teilen, um „Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre zu geben“ (1.Mose1,14). Das Licht jedoch, das die Heilige Nacht erhellt, das am Karfreitag ein schwarzes Loch der Leere in die Wirklichkeit reißt, um am Ostermorgen für immer zu entflammen, hat gerade keinen solchen Rhythmus der Wiederkehr, sondern ist Licht ohne Schatten und Schwund. Unveränderliches Licht also! Helligkeit ohne Zu- oder Abnahme! Klarheit, die nicht mehr getrübt werden kann!
… Welche gnädige Aussicht für Augen, die sich im Zwielicht müde gespäht haben, ob es überhaupt Einleuchtendes und Aufklärendes geben kann, oder ob wie in einer Welt leben, die dem Dunklen verfallen ist. ……. ——
Was würde ich wohl sagen, wenn ich nur Sonne, Mond und Sterne kennte? Was müsste man schließen, wenn das klarste Licht, das uns vor Augen stünde, der Blitz von Hiroshima wäre und das Leuchten, das unser Herz erwärmt, weil es das innere Leben daheim durchfließt, aus der Leuchtdiode stammt, die zwischen Infrarot und Ultraviolett auch eine dem Menschenauge sichtbare Skala von kalt bis warm umfasst? Was wäre unsere Aussicht, wenn bloß die Sonne hinterm Smog der Megacities und das unablässige elektronische Flimmern und Flirren, zu dem unser Geist mutiert und unsere Denkprozesse gemacht worden sind, für uns die Quellen aller Erleuchtung wären? …
Ich wäre vermutlich einer der Dunkelmänner, die in diesem finsteren Weltall, in dem die Galaxien wie Sternschnuppen und Feuerwerk kurz aufglimmen und sich dann in Schwärze auflösen, keine Lichtung sähe. Nur ein von Nacht zu Nacht treibendes Beinah-Nichts.
… Dass die Schneeglöckchen jetzt schon im Januar erscheinen, ist ja kein Hoffnungsschimmer, sondern eine groteske Fata Morgana der kommenden Glut. Und dass niemand von uns mehr die nächtliche Finsterfurcht aushalten muss, weil unsere Handies leuchten können wie einst nur das Weltwunder von Pharos, das ist ein Fortschritt, der dem Vandalismus ähnelt: Der Trost der Nacht - den’s ja auch gibt - wird plattgemacht vom toten Grelllicht unseres Dauerquatschens.
… Es ist nicht wirklich hell auf dieser Erde.
Etwas von der tiefen Trübung der Welt ist letzte Woche, am 27.Januar so greifbar geworden wie die sprichwörtliche ägyptische Finsternis. Da stand eine siebenundachtzigjährige alte Frau vor den Vertretern unseres Landes und sprach mit einem toten Kind. Inge Auerbacher, das „badische Mädel“ aus New York rief mit einem Pathos, das unser Bundestag sonst nicht mehr kennt, nach der siebenjährigen Ruth Abraham[i]. Im Schatten des Todes in Theresienstadt hatten die beiden jüdischen Kinder einander versprochen, sich gegenseitig zu besuchen, wenn die Nacht des Holocaust vergangen sein würde. Aber die kleine Ruth wurde in Auschwitz ermordet. Und die Überlebende konnte nach acht Jahrzehnten in Ruths Heimatstadt Berlin nur in die Luft nach ihrer Freundin rufen: „Ruth, ich bin da, dich zu besuchen!“ – Wem da nicht, wie dem israelischen Parlamentspräsidenten, die Tränen kommen, der ist kein Mensch. ———
Mose aber leuchtet.
Mose leuchtet. Seit dreieinhalb Jahrtausenden – durch alle Apokalypsen bis Auschwitz, durch allen Alltag und alle Abnutzung, alle Verschmutzung und alle Vernichtung der Welt leuchtet Moses Antlitz, seit er Gott begegnete in Seiner Gnade.
Vielen ist es aufgefallen: Den Israeliten, deren Augen sich vor Kurzem noch vernarrt hatten in jenen faulen Glanz, der bis heute das blendendste von allen Irrlichtern ist - Goldgefunkel -, das von Horn bis Hoden den Börsenstier so attraktiv macht. Um ihren Goldbullen hatten sie eben noch getanzt, der ja auch uns gezeigt wird, wenn die Börse ihre Kurse schön aufwärtskrümmt. … Und nun kam ein Licht, das den Schimmer des Edelmetalls zu Schatten machte.
… „Gold, statt Gott“: Das Experiment wurde durch den bloßen Augenschein, durch die schlichte Ausstrahlung dessen, der den Unterschied begriffen hatte, entlarvt.
… Gold, statt Gott: Das war der Anfang. Und jede Generation seither arbeitet weiter im Weltlabor der lächerlichen Vertauschungen und Ersetzungen:
Gewalt statt Gott.
Gehorsam statt Gott.
Geilheit statt Gott.
Genuss statt Gott.
Gewinn statt Gott.
Gesundheit statt Gott.
Gefühl statt Gott.
Geltung statt Gott.
Glitzer statt Gott.
Gier statt Gott.
Gold statt Gott. …….
Es dreht sich immer im selben Kreis; der Reigen um die Kälber reißt nie ab.
Doch Mose leuchtet. …
Er wollte das gar nicht. Die Verfinsterung hatte ihn ergriffen, als er vom Sinai, aus Gottes Gegenwart kam und fand wie seine frisch Befreiten sich dem dümmsten Dienst von allen ergaben: Der Knechtschaft im Bann des eigenen Besitzes. Wie sie umschwärmten und ehrfürchtig sich bückten vor dem, was sie selbst an den Ohren, an den Hand- und Fußgelenken als Schmuckreifen getragen hatten, wo es doch schon deutlich genug nach Fesseln ausgesehen hatte. … Und nun vertrauten sie sich dem an, das sie selbst geformt, ja zum Schmelzen gebracht hatten!
Torheit des Menschen! Der sein Können an den Dingen auslässt - und den Menschen - und sich daran berauscht: Ich kann Hartes weich machen und Lebendiges zur Leiche! Ich, der Mensch, mit meiner Technik.
Ich, statt Gott!
Da wollte Moses reinschlagen. Wie die Bundestafeln mit den heiligen, helfenden Worten Gottes, so zerschlug er auch den toten Popanz des menschlichen Ichkultes und ließ die Israeliten saufen, wovon sie besoffen waren: Den Staubstoff ihrer eigenen Fähigkeiten (vgl. 2.Mose 32,19f!).
Und Gott wollte dieses Volk nicht weiter mehr begleiten. Er wollte sie unter Moses, des Verfinsterten Leitung weiter ziehen lassen, aber ohne Seinen eigenen Beistand. …….
Warum es anders kam? Durch ein Miteinander von Angesicht zu Angesicht. In ihrer gemeinsamen Not, ihrem geteilten Leid mit dem halsstarrigen Volk „redete der HERR mit Mose wie ein Mann mit seinem Freunde redet“ (2.Mose 33,11)! Und da gelang es dem Mose, Gott zu bewegen, dass Er doch Sein Angesicht vorangehen ließ (vgl.2.Mose 33,15) auf dem weiteren Weg Israels in die Zukunft. Obwohl Moses größter Wunsch dabei, sich völlig sattsehen zu dürfen an Gott – Männer reden auch mit ihren Freunden eher Seite an Seite, als Aug in Aug –, nicht in Erfüllung gehen sollte, hat Gott dennoch Sein Wesen vor Mose völlig aufgedeckt. Er hat Mose Seine Gnade wissen lassen: Den herrlichen Namen „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich“ (2.Mose33,19); diesen herrlichen Namen „HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetaten, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied“ (2.Mose34,6f).
Diese unauslöschliche Begegnung zwischen Gott dem HERRN und seinem Freund Mose, als beide zugleich dem Schatten begegnen, den Menschen auf sich und die, die sie noch erleben können, werfen und dann daneben die unendliche Gnade betrachten, die die Schatten vergehen machen und alles in ihr Licht tauchen wird, … diese unauslöschliche Begegnung hat Mose verwandelt: Er ist erhellt. Das ewige Licht, das ihm im Namen Gottes aufgegangen ist, das Licht, das nicht steigt und nicht versinkt, sondern war und ist und bleibt, „reflektiert“ … strahlt ab und strahlt weiter, wo immer es hingefallen ist.
Es ist die Ausstrahlung, die Aaron und Israel in ihrem eignen Schuldbewusstsein überwältigt.
Dass Gott trotz aller Sünde nicht als Auslöschender, sondern als Strahlender begegnet: Das ist das Evangelium.
Wer es hört - wirklich hört! - , der hört auf ein Mensch der Dunkelheit zu sein. Gnade macht erleichterte Erleuchtete. Gnade macht die gnädig Angesehenen zu Ausstrahlenden. Sie schenkt ihre Schönheit den mit ihr Beschenkten.
Das Gottvertrauen der Vertrauten Gottes hat auf dem Antlitz des Mose zu zünden angefangen und es ist auf menschlichen Zügen weitergespiegelt worden, … hat im Blick ansonsten unscheinbarer Menschen gelegen, wo andere es auffingen, … ist in den elendesten Leidensnächten der Menschheit die Öllampe gewesen, die Gefolterte und Verlassene und Sterbende für das Kommen des Bräutigams zur Mitternacht bereitete, und kann auch heute noch erkannt und nie wieder vergessen werden, wenn man in ein Gesicht schaut, in dem Gottes Gnade ihr wundervolles Ebenbild zum Leuchten brachte. ———
Hier endet die eigentliche Predigt über den Text.
Das Weitere – wie Mose das heilbringende Leuchten, den Nachglanz und Vorschein der Gegenwart Gottes, bei Dem er immer wieder sein durfte, dem Alltag anpasste, der ja auch vollzogen sein will und nicht von ausschließlicher Anbetung und Erhebung geflutet werden kann, und dann das lustige Missverständnis, das aus einer Fehlübersetzung der glänzenden Haut des Mose seine Glanzhörner machte, die Michelangelo in Marmor verewigt hat und die allzu viele andere Künstler in antisemitischer Bockshornigkeit karikierten …– alle diese weiteren kleinen Leuchtstreifen und Nebelkerzen, die die menschliche Interpretation und Spekulation erzeugt, sollen uns jetzt nicht ferner beschäftigen.
Dass Gottes Gnade so herrlich ist, dass ein von ihr erfüllter Augenblick die Ansichten und das Aussehen dessen verwandelt, der ihn genoss, lässt sich schlicht nicht angemessen in Worten wiedergeben. Vielmehr findet sich hier der Übertritt der ansonsten so wenig photographische Beweise - wörtlich: „lichtgeschriebene“ Beweise - liefernden Bibel auf das Feld des Optischen.
Das Leuchten, das Israel auf Moses Zügen sah, ist ein sichtbarer Gotteserweis gewesen[ii] und seither auf anderen Gesichtern geblieben.
Ich meine das nicht rhetorisch. Ich rede phänomenologisch … von der Epiphanie, der Erscheinung der Liebe Gottes im Ausdruck, in der Ausstrahlung von Menschen, die Ihn ihrerseits lieben, denen Er nahe ist, die - womöglich sogar unbewusst - die Gefäße Seiner Gnade sind, die aus ihnen leuchtet.
Verallgemeinern lässt sich da nichts: Es ist keine besondere Milde oder typische Süße in den Zügen der „Gott-Strahlenden“, wie die orthodoxe Kirche sie vielleicht nennen würde. Sie sind nicht alle aus einem Tuschkasten entworfen, gleich harmlos, blasiert, naiv und nazarenisch. Aber es gibt ganz verschiedene Gesichter, aus denen es aufblitzt: Hier lacht mich Gottes Güte an, hier wärmt Seine Geduld das Herz, hier zündet der Funken unerschöpflicher
Liebe!
Und dann gibt es auf dieser Erde fast nichts Besseres, als dass Menschen mit einem solchen Leuchten uns grüßen oder uns pflegen, uns zuhören oder uns trösten, uns lieben oder uns schlicht über den Weg laufen, in flüchtigem Erkennen und Einvernehmen, in der stärkenden Gemeinschaft eines einzigen Augenblicks, bis man sich einst dann wirklich wiedersieht, wo das Licht seinen Ursprung hat und alle, die von ihm erleuchtet sind, ihre Zukunft.
Fast nichts Besseres als solches Aufleuchten Gottes in, aus und durch Menschen gibt es. … Nur den einen: Gott im Menschen, das Licht im Fleisch. Jesus Christus.
Heute, am Ende der Lichterzeit feiert die Kirche seine Verklärung.
Dass Jesus urherrlich ist und unendliche Klarheit bringt, haben seine Jünger mit bloßem Auge damals sehen können. Als auch Mose bei ihm war und Elia (vgl. Matth.17 par.)
Und wenn wir ihn anbeten, von ihm hören und singen, ihn selbst im Mahl empfangen, auf seinen Wegen gehen, sein Wort halten, seine Liebe teilen, … wenn wir mit ihm leben, dann sehen wir es auch: Die Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi (vgl. 2.Kor 4,7 = heutige Epistel).
Dieses Angesicht leuchte über uns allen und sei uns gnädig!
Der Herr erhebe dies Angesicht auf uns und gebe uns Frieden (vgl. 4.Mose 6,24f)!
Amen.
[i] Vgl. https://www.tagesspiegel.de/berlin/bitte-einer-holocaust-ueberlebenden-wer-hat-ein-bild-von-ruth-nelly-abraham/12134722.html
[ii] Im Hintergrund der Predigt steht der letzte vor dem Holocaust verfasste Exodus-Kommentar eines gelehrten Rabbiners in deutscher Sprache. Benno Jacobs Auslegung, die er 1940 abschloss, aber bis 1943 laufend ergänzte, führt in (bewusster?!) Parallele zum Episteltext des letzten Sonntags nach Epiphanias zu einer beinahe christologischen Aufladung der Gestalt des Mose: „Sie (scil. die Israeliten) sollen die Herrlichkeit Gottes, und zwar auf Moses Angesicht sehen“ (Benno Jacob, Das Buch Exodus, hgg, im Auftrag des Leo Baeck Institutes von Shlomo Mayer, Stuttgart 1997, S. 990).
3.n.Epiphanias, 23.01.2022, Stadtkirche, Matthäus 8, 5-13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.n. Epiphanias - 23.I.2022
Matthäus 8, 5 -13
Liebe Gemeinde!
Diese berühmte Geschichte führt uns ein drittes Mal auf seinem Lebensweg Jesus und die Fremden vor Augen. Als Kind fiel ihm die Weisheit und Wissenschaft der Heidenwelt zu Füßen in Gestalt der Himmelskundigen aus dem Osten, die ihn gesucht und angebetet haben: Ohne innerweltlichen Grund, ohne immanente Kausalität, sondern aus einer höheren und tieferen Wahrheit heraus, die keine sogenannte Ursachen braucht, um Jenes zu erkennen, das sich in den Einzelheiten der Welt verzerrt und verstreut zeigt, im Kind unter dem Stern aber ganz offenbarte. Diese Pietät der Ausländer ist dem kleinen jüdischen Jungen Jesus also in die Wiege gelegt worden.
Die zweite Erfahrung der Fremde für Jesus war seine Flucht. Er wurde zum Migrantenkind in jener stolzen Nil-Kultur unten im Süden, die für Jakobs Nachkommen ein jahrtausendelanges Trauma darstellt. Da muss die Angst vor den Anderen, vor ihrer Mehrheitsmacht und vor den uralten Konflikten zwischen der eigenen und der fremden Überlieferung für den kleinen Kerl spürbar geworden sein. Er lernte zu sprechen, aber auf der Straße verstand man ihn nicht, und seine Mutter hielt seine Hand so fest, wenn jemand von den Ägyptern in seine Nähe kam, als fürchte sie die Kinderfreundlichkeit der Leute. Die Ausländerfremdheit hat der Säugling Jesus also mit der Sorge in der Muttermilch eingesogen.
Und dann der dritte Ausländer. Man möchte am liebsten wissen, ob es einen Augenblick des Auskostens bei Jesus gab, einen Sonnenstrahl des Genießens: Kommt der Mensch in Uniform, der gestiefelte römische Centurio und sagt zu ihm, dem barfüßigen Zimmermann aus Nazareth: „Kyrios!“ … Ob es einmal über Jesu Züge gehuscht ist: Das kaum verkneifbare Lächeln darüber, wie kurios das ist? … Der Militärmensch und der kleine Wunderjude?! Der gedrillte Verteidiger der westlichen Weltmacht und der ungelernte heimliche Sohn Gottes?! Gönnten wir’s ihm, wenn er es denn empfunden haben sollte: Den absurden Humor dieser Begegnung, als er die Hoffnung und Hilfsbedürftigkeit der Fremden, der Gott-Fremden erfuhr!
Spätere Christen jedenfalls haben es gar nicht übersehen können, wie hintergründig das war, dass da ganz früh schon die aufgedonnerte und darin tatsächlich ja auch erfolgreiche Autorität der westlichen Zivilisation vor dem, den sie kreuzigen würde, ein Bittsteller war! Die Macht der Erde, das Gesetz der Gewalt hat sich Jesus ausliefern müssen, noch ehe er mehr getan hatte, als einige brutale Haut-, Muskel- und Gemütskrankheiten zu heilen (vgl. Matth.4,24+8,1ff), die Armen, die Sanften und die Traurigen selig zu preisen und die Menschen insgesamt zu strenger Einfachheit und Heiligkeit zu rufen (vgl. Matth5-7). … Gesundheit, Glück und Reinheit werden ein paar Galiläern zuteil, und schon stößt Rom an die Grenzen seiner unermesslichen Tat- und Formkraft: Daran haben viele denken müssen, die sich in den Katakomben verbargen, in den schrecklichen Bergwerken am Schwarzen Meer als Christen in endloser Zwangsarbeit wiederfanden oder in den Arenen eingekreist von Gladiatoren zusammenhielten. Der römische Hauptmann von Kapernaum hatte ihnen den Trost erwiesen, zu zeigen, wer der Sieger über Rom und seine Herrschaft, wer der Sieger über all die unterdrückerische, lähmende Gewalt des Todes ist. ———
Und trotzdem ist auch etwas Sonderbares in dieser tröstlichen Unterordnung des Zwingherrn unter den Besiegten. Es ist etwas Sonderbares in dieser so ungeheuer notwendigen Demut des Soldaten vor dem Zivilisten, des Heiden vor dem Juden, die aus den tiefen Worten spricht, die die Gläubigen in jeder Messe auf sich persönlich anwenden und die auch wir uns wahrhaftig zu eigen machen sollten, um wieder geerdet, eingemenscht und sünderehrlich zu sein: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort so wird meine Seele gesund“[i].
Das Sonderbare, ja Irritierende an diesem Inbegriff des Glaubenbekennens fällt uns dann auf, wenn wir darin nicht nur die bescheidene, ehrlich selbstkritische Einschätzung der eigenen Verdienste sehen, sondern auf die Begründung achten, die der Hauptmann für sein blindes Vertrauen findet.
… Denn der Soldat bleibt Soldat. Auch seine Demut wächst auf dem Grund eines markigen Hochmutes. Und das Gefühl, das mich bei der Predigtmeditation beschlichen hat, dass ich wirklich nicht über einen Militär predigen mag in Tagen, in denen solche Kriegsgefahr in Osteuropa herrscht, wie wir sie uns - mit vielem andern in jüngster Zeit - wirklich nicht mehr hätten vorstellen können, … dieses Gefühl innerer Abwehr gegen den zwar knieenden, aber sich selbst dennoch nicht ernsthaft verneinenden Offiziers ist machtvoll. Was ihn da bei der rührenden Bitte für seinen kranken Knecht (wissen wir aber, wie er ihn kujonierte, … wie er also in Wahrheit seine Arbeitskraft und nicht sein Anrecht zu leben bewahren wollte?) … was den Hauptmann bei seiner rührenden Bitte für den kranken Knecht motiviert ist … Kadavergehorsam!
„Auch ich bin ein Mensch der Hierarchie! Auch ich versteh’ mich auf Kommandos und blindlings ausgeführte Befehle! Auch ich weiß, wie pariert wird, wenn nur der richtige Vorgesetzte einmal gut brüllt!“: Diese Logik des Kasernenhofes hat ihn so zuversichtlich gemacht, dass der Kyrios Jesus, dieser Rabbi aus den Dörfern, der unerklärlicherweise der Oberbefehlshaber in der verworrenen Geister- und Dämonentruppe des Vorderen Orients ist, etwas ausrichten kann. …….
… Und es wird einem schlecht!
Was für ein plumper, stupider, unverfrorener Rückschluss von sich auf andere! Eigentlich verbietet es sich, das ernst zu nehmen: Die dreiste Anwendung des beschränkten eigenen Weltbildes auf die unvergleichliche Neuigkeit, die mit Gottes Realität in Jesus, die mit der Fleischwerdung des Schöpferwortes mitten in der Weltgeschichte eingekehrt ist. Wie kann ein Mensch es wagen, die simplen Mechanismen, in denen er befangen ist und sich wichtig vorkommt, auf den Heiland, auf den Höchsten zu übertragen.
Wenn wir das vor dem Hintergrund unserer Geschichte hören – aus Osten, Süd und West kommend nun also auch im Norden angelangt – … wenn wir diese bornierte „Befehl-ist-Befehl“-Logik hören, muss es uns bei der Erinnerung an die in der letzten Woche zum achtzigsten Mal sich jährende Wannsee-Konferenz schlicht grauen!
Weil ein Handlanger der Macht weiß, dass das System des amoralischen, blinden Gehorsams auch Unmögliches möglich macht, ist die Einsicht in’s Funktionieren der Befehlsketten-Maschinerie doch wohl noch lange kein Argument dafür, Heil und Heilung könnten ebenso gut wie Unheil und Tod in diesen Bahnen laufen!
Dass der Kommandant von Kapernaum Jesus mit dieser spezifischen Legionärserfahrung tief bewegt haben sollte, ist darum hoffentlich, … nein: sicherlich ein Missverständnis!
Die Heidenkirche, die zwar zunächst zu den Opfern der römischen Unterdrückungspolitik gehörte, sich später aber gerne als urrömisch sah und gab, … die Heidenkirche hat es gerade auch in ihrer protestantischen Spielart am liebsten so verstanden, als habe Jesus vor lauter Rührung angesichts des braven Soldaten und seines Zutrauens gar nicht gewusst, wohin. In heidenchristlichen Ohren klang es immer, als habe Jesus damals gestaunt: „Einen so tiefen, echten, wahren Glauben habe ich noch nie erlebt wie ausgerechnet bei diesem Fremden!“ Und damit war ja ausgemacht, dass die Lateiner und Germanen, die Landser und die Leute wie du und ich viel redlicher in ihrem urigen Gottvertrauen sein müssen, als die Juden und die Judenchristen, bei denen es von Anfang an unerhört war, dass einer, dem bloß „Geh hin!“ oder „Komm her!“ oder „Tu das!“ gesagt wurde, sofort parierte. Das Volk der Bibel hat immer schon gefragt und widersprochen, hat immer schon seine Freiheit zu Wider-rede und Irrtum, zu trotzigem Eigensinn und martyriumswilligem Widerstand behauptet. Frage und Gegenfrage, Befehl und Achselzucken sind jüdische Grundmuster der Reaktion.
Dass Jesus das militärische Konformitätsschema der jüdischen Lust an der Kritik vor-ziehen solle, ist eine Einbildung Europas.
Er hat es so auch nicht gesagt, als der Hauptmann ihm erklärte, dass sein felsenfestes Jesus-Vertrauen auf der eisernen Disziplin seiner Kohorte beruhe.
„Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden!“, war seine Entgegnung. … Das Werturteil, das wir darin zu hören gewohnt sind, gibt es nicht: Es ist Jesu Begegnung mit dem Glaubensweg und der Glaubensweise eines Fremden, eines Menschen, dessen Horizont und Vorstellungen, dessen Lebensumstände und geistige Veranlagung ganz anders sind als alles, was es in Galiläa und Judäa damals gab.
Doch indem Jesus auch diese eigene Prägung eines ihm ganz fremden Menschen als dessen spirituelle Bereitschaft anerkennt, … indem Jesus auch die eigentlich haarsträubende, hinkende Analogie zwischen Leutnant und Heiland als eine Form des Glaubens würdigt, setzt er Weihnachten fort!
Hatte es bis zum Erscheinen des Sohnes Gottes im Fleisch vom Schöpfer zu Recht geheißen, dass wir kein Bild des Unsichtbaren haben, keine Vergleiche zwischen dem Überweltlichen und den Innerweltlichen ziehen sollten und in philosophischer und theologischer Suche nach dem lebendigen Gott keine Analogie zwischen dem Ewigen und Endlichem annehmen dürften, hat sich das mit der Geburt des menschgewordenen Erlösers radikal verändert: Der uns begegnet, wenn wir Jesus suchen und finden, ist uns nicht total fremd, er ist nicht absolut anders und unerreichbar für unsere fehlerhaften, versuchsweisen Verständnisbemühungen[ii].
Seit Gott Mensch wurde, dürfen - ja müssen!!! - Menschen menschlich über Ihn zu denken und zu reden versuchen; seit Gott Mensch wurde, ist nichts Menschliches mehr prinzipiell unvereinbar mit Ihm oder unvorstellbar als Behelf beim Suchen, als Brücke zur Annäherung, als Bild des Geliebten.
Und wenn eine Charge beim Kommiss der Römer plötzlich weich wird, … wenn so ein bärbeißiger uniformierter Haudegen, den es in seiner Garnison in Galiläa ins Grübeln bringt, dass sein Bursche, sein Adjutant über’n Deister gehen und nie wieder Heimaturlaub kriegen soll, anfängt sich zu schneuzen, … wenn so eine olle Rumpelnatur im Waffenrock plötzlich das menschliche Rühren kriegt, dann ist das nichts anderes als die naive Neugier der Hirten von Bethlehem und der kosmische Tiefsinn der naturfrommen Sterndeuter aus Morgenland: Es ist das Menschenwesen, das sich dem lieben Gott, dem großen Gott, dem heiligen Gott, dem ewigen Gott nicht entziehen kann … und sich vor Ihm auch nicht verstecken muss.
Es ist einer der vielen Wege, die von Osten und von Westen, vom Norden und vom Süden ganz unterschiedliche Verläufe nehmen, um ganz verschiedene Menschen ihre Pilgerfahrt zu Gott, dem Ziel aller Welt vollziehen zu lassen.
So öffnet sich mit dem Hauptmann von Kapernaum im Matthäusevangelium die Weite, in die es im Taufbefehl schließlich großartig münden wird: In aller Welt (vgl.Matth.28,18ff) sind Menschen, die aus allen Himmelsrichtungen zusammenkommen und auf ihren je unvergleichlichen Glaubenswegen zu Abraham, Isaak und Jakob geführt werden, in den Bund, den Gott geschlossen hat, um darin Raum für zahllose Glaubende und Gerechtfertigte zu schaffen, die wie der Sand am Meer und die Sterne am Himmel sein sollen. ———
Das Modewort von der Toleranz, das immer wieder zwischen halbherziger Duldung und leidenschaftslosem Unernst schwankt, beschreibt das nicht annähernd, was durch Jesus an Weitherzigkeit und Gleichzeitigkeit, an Verbundenheit der Verschiedenen und an Einigkeit der Andersartigen aufgetan ist.
Wer hört, wie er den römischen Soldaten in seiner kulturellen Fremdheit und persönlichen Eigenart als einen Glaubenden begrüßt, den muss eigentlich Geschwisterheimweh und Menschheitsliebe packen, wenn er ein Reich-Gottes-Herz hat.
So seltsam uns andere Menschen berühren mögen, so unvertraut und unheimlich uns ihre schönsten Bilder, ihre innigsten Träume, ihre ehrlichste Hoffnung auch erscheinen mögen, so befremdet wir vor ihrer Art und ihren Taten vielleicht auch stehen: Denken wir daran, dass so unendlich viele berufen und willkommen sind im Himmelreich! ——
„Es geht kein Mensch über die Erde, den Gott nicht liebt“, hat dazu der alte Vater Bodelschwingh in Bethel gesagt[iii].
Und darum führt kein Weg über die Erde, den Gott nicht endlich zu sich lenken wird. ——
In keinem Menschen also und in keinem Glaubensweg mehr das ausschließlich Fremde zu sehen: Das ist der beste Schritt, den wir auf’s Ziel hin setzen können.
Daher will ich heute – in der tiefen, vor allem Wissen tragenden Gewissheit, dass Jesus Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben überall und immerdar ist – die Predigt mit einem Blick nach Osten und einem Wort aus dem Westen schließen.
Gestern, als es dort Mitternacht wurde ist in Vietnam ein Mensch der Frömmigkeit und des Friedens gestorben, der buddhistische Mönch Thích Nhȃ́t Hạnh, dessen Lehre von der Achtsamkeit und dessen Botschaft davon, wie man Leid und Glück nie trennen kann und wie das Leben rein im Augenblick ein Engagement für Großes und für Viele nicht ausschließt, Menschen überall bewegt hat.
Ich selber verstehe nichts vom Buddhismus. Er bleibt mir fremd.
Aber Martin Luther King hat Thích Nhȃ́t Hạnh einen Apostel genannt[iv]. …….
Und da höre und sehe ich meinen Herrn zwischen ihnen beiden – dem Mönch fern aus dem Osten und dem kämpferischen Prediger aus dem Westen –, … und ich weiß, wie das, was er diesen beiden genau wie dem Hauptmann einst im Süden sagte, uns heute morgen hier im Norden auch gesagt ist:
Dir geschehe, wie du geglaubt hast! ——
Herr, bring uns alle an das Ziel, an das wir glauben!
Bring uns zu Dir!
Amen.
[i] Zu diesem Teil der eucharistischen Liturgie vgl. Birgit Jeggle-Merz / Walter Kirchschläger / Jörg Müller, Kapitel: Einladung zur Kommunion, in: dies. (Hgg.), Leib Christi empfangen, werden und leben. Die Liturgie mit biblischen Augen betrachtet (Luzerner Biblisch-Liturgischer Kommentar zum Ordo Missae 3), Stuttgart 2016, 119- 131.
[ii] Auch hier vollzieht sich für mich eine Abkehr von identitätsstiftenden protestantischen Positionen. Die Bestreitung der Analogie als sinnvollen Mittels und hilfreicher Methode des menschlichen Nach-Denkens über Gott hat in den dreißiger Jahren noch einmal geradezu bekenntnishafte kontroverstheologische Bedeutung gewonnen. Der (innerprotestantische) Streit, der letztlich aber v.a. das Gesamt der katholischen, aristotelisch-thomistischen fundamentaltheologischen Tradition verwarf, ist dokumentiert in dem Sammelband, der Karl Barths und der Seinen Ablehnung der natürlichen Theologie etwa Emil Brunners bündelt: „Dialektische Theologie“ in Scheidung und Bewährung 1933.1936. Aufsätze, Gutachten und Erklärungen, hgg. v. Walther Fürst, (Theolog. Bücherei, Bd.34), München 1966. So sehr die Perversion der völkischen Pseudo-Theologie und aller naturalistischer Kurzschlüsse in der Theologie abzulehnen bleibt, so eindeutig ist die Verwerfung des Analogieschlusses als hermeneutischen Verfahrens eine ideologische Selbstverhinderung der fides quaerens intellectum, … also des Verstehen suchenden Glaubens. Um auf Barth mit Barth zu antworten: Verwerfung der Analogie im theologischen, philosophischen und interreligiösen Gespräch? – „Nein!“
[iii] Vgl. dazu Manfred Hellmann, „Es geht kein Mensch über die Erde, den Gott nicht liebt“. Das Leben Friedrich von Bodelschwinghs d.Ä., Holzgerlingen 2010.
[iv] https://plumvillage.org/letter-from-dr-martin-luther-king-jr-nominating-thich-nhat-hanh-for-the-nobel-peace-prize-in-1967/
16.01.2022, 2.So. n. Epiphanias, Stadtkirche, 1.Korinther 2, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 16.I.2022 - 2.n.Epiphanias
1.Korinther 2,1-10
Liebe Gemeinde!
Die ersten rechten Auftritte, bei denen ich dem Publikum so etwas wie eine Moral oder eine Anti-Moral in die Ohren zu vermelden hatte, habe ich in einer sonderbaren Rolle bestritten. Ich trug ein selbstgebasteltes Joch mit zwei Blecheimern und plärrte - damit die Schultheater- Zuschauer in der Kleinstadt es auch gleich begriffen, wer ich da im fernen China sei und was ich anzubieten habe - „Kauft Wasser! Kauft Wasser!“. Es war der mir nicht allzu sympathische Wasserträger Wang, im Stück über den „guten Menschen von Sezuan“ des mir nicht allzu sympathischen Dichters Bertolt Brecht, den ich da verkörpern sollte. Herrn Wang fiel die Aufgabe zu, drei Göttern bei der Suche nach einem menschlichen Menschen zu helfen, einem Menschen, dessen Haltung und Handeln den Fortbestand der großen Stadt Sezuan rechtfertigen könnten. … Der Wasserträger selbst war dieser Gerechte jedoch nicht. Herr Wang war zwar einfach und unvoreingenommen, aber aus Armut bar jeder Moral.
Zwei weitere seiner Züge jedoch verbinden mich mit ihm bis heute: Er wartete - ohne besonders fromm zu sein, vielleicht aus Neugier - auf den Besuch der Götter. So möchte ich auch bleiben: Jetzt am Jahresanfang, in der Lebensmitte, in einer endzeitlich-ernsten Epoche. Die Gotteserwartung, die Bereitschaft, jederzeit das Dasein und das Hier-Sein Gottes als wichtigstes Tagesereignis, als allesentscheidende Zukunftsperspektive zu sehen, will ich bewahren dürfen.
Doch die andere Gewohnheit, die der Brecht’sche Antiheld und der Pfarrer hier vorne teilen, will ich abzulegen üben: Der Wasserträger verkaufte seine lebensnotwendige Ware in Bechern, die größer aussahen als ihr Hohlmaß wirklich war. Man schien bei ihm mehr zu erhalten, als man wirklich bekam. … Den Trick aber kennen alle, die predigen, alle, die in der Verkündigung, im Dienst der Gottesbeschreibung und Evangeliumswerbung stehen. Die Aufmachung soll ansehnlich scheinen, soll Dimensionen haben, die etwas darstellen, soll medial, statt medioker wirken, soll die „Kundschaft“, die „Verbraucher“, die Durstigen befriedigen noch ehe auch nur ein Quäntchen „intus“ ist.
Und so wird der Gottesbecher, das Fass der Glaubensbrause, der versilberte Kübel des irgendwie feierlichen, letztlich aber läppischen Schaumweins bei den Lebensfesten, die Karaffe zum Dekantieren zeitgemäßen Jahrgangsjargons zu den vermeintlich gesellschaftlichen Themen immer schicker und marktgängiger, während der Inhalt nicht zunimmt.
… Dass der Inhalt immer mehr werden müsse, dass es die üblichen Steigerungsgelüste, das alte Wachstumsträumen auch in Sachen christlicher Botschaft geben müsse, will damit gar nicht gesagt sein. Und doch sollten wir, … doch will ich nun wirklich wieder ehrlich werden, was die Verkündigung anbelangt.
Zu lange ist so getan worden, als wandle sich die Substanz des Bekenntnisses unseres Glaubens mit den Bedürfnissen unserer Gegenwart. Zu lange haben wir mitgespielt beim Täuschungsmanöver, als nähme die Verkündigung immer so zu und immer jene Färbung an, dass gerade die Kategorien unseres Geschmackes und Gefallens damit bedient würden.
Doch diese reine Maßlosigkeit, dieses immer allen Angemessen-Sein-Wollen ist unser Betrug, ist unser Spiel, als servierten wir mehr, als wir eigentlich zu vergeben haben.
Wenn Menschen selber eine Marke schaffen, wenn wir selbst ein Modell entwerfen, dann geht das natürlich so zu: Dann wird gefragt und geforscht, worauf die Leute Lust haben, was Mode ist und reizvoll wirkt, woran man sich längst übersättigt hat und wodurch nun ein neuer Appetit geweckt werden könnte. Das alles macht man, wenn man Einlegegurken, Computerspiele oder populäre Religion verkaufen will. Dann kommt etwas weniger Dill, etwas agileres 3-D oder eine harmlosere Wohlfühlsprache zum Einsatz.
So haben auch nicht erst die schamlosen Ultrakapitalisten des Internet, die jede, jede, jede innerste Regung der Menschheit zu kommerzialisieren verstehen, es gehandhabt, sondern seit es Kultur gibt, macht der Markt, macht das menschliche Miteinander sich anheischig, jedem das Richtige zu bieten:
Olympier kriegen sportliche Götter; die Germanen schufen sich um ein gemütliches Herdfeuer schnaufende und saufende Überirdische, der riesige indische Subkontinent hat die bunteste, fruchtbarste Vielfalt göttergleicher Wesen, die denkbar ist, und wir Heutigen haben eine Entgötterung ausgerufen, die unserem Ideal der Unverbindlichkeit gerecht wird: Nicht, was Gott sich unter einem Menschen denkt, sondern was ein Mensch an Gott noch für akzeptabel hält, ist zum Maß theologischer Aussagen gemacht.
Alles findet also einen Gott nach Maß.
Und wenn die Masse, die Menge oder die Macht des Göttlichen mal nicht passen, wenn’s für die einen nicht reaktionär und für die anderen nicht poltisch-korrekt genug ist, wird eben nachgemessen: Soll jedes auf sein Lieblingsformat kommen, … light, öko oder ultra. Kein Problem. …….
Doch damit muss - für mich jedenfalls - Schluss sein. Kein Panschen und kein Pfuschen, kein Aufbauschen und kein Verdünnen mehr.
… Und das nicht, weil ich auf meine alten Tage nun so aggressiv konservativ werde oder solch eine Umkehr zur altehrwürdigen Tradition vollziehen mag. … Das alles sicher auch. … Aber Auslöser des ehrlichen, des enttäuschenden Maßhaltens in einer hemmungslos der Menschheit den Bauch pinselnden welt-anschaulichen Ranschmeiße an die momentane Konjunktur ist ein Anderer: Den hätten sie damals gern als pikant und mysteriös erlebt. Sie hätten wirklich applaudiert, wenn er ihnen nur Gänsehaut bereitet und ihre Emotionen geknetet hätte. Man konnte gefeiert werden, damals, für eingängige Publikumserfolge ebenso wie für die rücksichtlose, überwältigende Sprengung des normalen Horizontes. Hauptsache spektakulär und nervenaufreibend oder ölig angenehm. Hauptsache die Sache hat Reiz!
Und er … floppte.
Kein Zauberer, der das leicht erregbare, phantasievolle, abwechslungswütige Publikum beherrschte, das sich nach der harten Maloche in den Docks und in der heimwehkranken provisorischen Lebensweise, wie sie alle Hafenstädte hervorbringen, doch so nach Ergriffenheit und Entrückung sehnte. … Er war nun mal spröde. Und obwohl sein Kernsatz - dass die Welt in der Erneuerung und der Tod vergangen sei! - … obwohl sein Kernsatz so zum Träumen, zum Aufstehen, zum Abschütteln der Schmerzen und zum Aufstieg ins Jauchzen taugte, konnte man sich durch ihn keinen Augenblick in Trance, in eine Realität der Wunscherfüllung oder einen Taumel der Selbsterhöhung versetzt finden.
Die Korinther, deren Herz berührt und deren Fleisch getauft worden war, waren so enttäuscht von ihrem Apostel Paulus. … Gewiss, er brachte ihnen Gott nahe.
… G O T T!
… Den, Den kein Augen sehen und kein Ohr hören kann; Der sich unsichtbar macht vor Mose, um ihn nicht zu überwältigen (vgl. die heutige Lesung: 2Mose 33,18-23!); Dessen Herrlichkeit unanschaulich und unergründlich ist. Diesen Gott brachte Paulus den Korinthern, den Sklaven und den Geschäftemachern, den suchenden Tagelöhnern und den rastlosen Luxusweibchen, den wirklich geistlich Hungernden und den einfach nur Unterhaltungssüchtigen. Diesen Gott brachte Paulus tatsächlich. Und doch machte er niemanden zittern, weder durch Furcht noch durch Ekstase. Alles, was er sagte, belief sich - auch da, wo es eine ungeheure Befreiung, eine spürbare Lösung aus der Unsicherheit, echte Antwort, unumstößliche Hoffnung brachte - doch immer wieder auf das Eine:
Der Sinn des Lebens findet sich in einem Ermordeten!
An einem Galgen hat das Himmelreich begonnen!
Allein der Gekreuzigte, allein Jesus Christus!
Das war die ganze Weisheit, die ganze Erleuchtung, die ganze Offenbarung, die dieser unbedeutende Jude aus der Provinz Kilikien in ihren großen Umschlagplatz, in ihre Metropole der Vielfalt, der kulturellen und ethnischen Diversität brachte: Die Geschichte von Einem, der nicht gewonnen hatte, sondern kampf- und wehr- und ehrlos von der politischen Weltmacht umgebracht worden war?!
… Das sollte das Geheimnis der Erlösung sein?! … Daran sollte sich entscheiden und darin sollte sich finden, was der gehetzten und prekären Spannung einer Welt voller Gegensätze und Fliehkräfte Verheißung geben konnte?!
Das Hin- und Hergerissen-Sein der Korinther, die im Evangelium einer Kraft begegneten, die sich nicht leugnen ließ, obwohl sie keinerlei schlüssige Erklärung dafür finden konnten, hat Paulus über Jahre verfolgt.
Andere Kulte der Antike waren viel lebens- und erlebnisnäher. Man konnte pharmazeutisch, autosuggestiv und sexuell befeuert ganz andere Zustände erleben. Man konnte ganz andere soziale und spirituelle Energien entfesseln, und auch im Namen des Jesus von Nazareth gab es ganz andere Hypnotiseure und Therapeuten, glänzende Volksredner und Idole der hobbyphilosophischen Liebhaberei.
Aber Paulus hat - bis auf seltene Ausnahmen der Verzweiflung (vgl.2.Kor.12,1-13) - nicht mehr als das ernüchternde Wort vom Kreuz verkündet: Dass Gott selber da lieber das menschliche Sterben erlitt, als den Wahnsinn des gottlosen Lebens zu teilen. Dass Gott sich lieber klein, niedrig und hilflos, dass er sich leidend, schwach und bezwungen eher sehen ließ, als in die Lüge der Selbstherrlichkeit und Allmacht dieser vergänglichen Welt eingebunden zu werden. Dass Gott in solcher Ohnmacht mehr Recht und in diesem Tod mehr Zukunft aufgedeckt hat, als alle anderen Mächte und Gewalten der Erde in ihren sämtlichen Triumphen und bestrickenden Illusionen es jemals würden. ——
So wenig und so viel hat Paulus nur gepredigt.
Und man konnte ihm ansehen, an seiner ganzen Gestalt konnte man es geradezu ablesen, dass da nicht ein Effekt gehascht wurde, der Mitleid hervorrufen und dann in Staunen umschlagen würde, wenn aus dem irreführend geringen Einstieg schließlich doch noch - „Simsalabim!“ - ein mit „Oh!“ und „Ah!“ gewürdigter Überraschungsknaller wurde. Dieser erkennbar kranke Prediger (vgl. 2.Kor.10,10:12,7!) blieb befremdlich bescheiden, und auch, was er von Ostern und von der himmlischen Gegenwart des Herrn Jesus zu sagen hatte, was er von der Herrschaft dieses Herrn Jesus zu sagen hatte, was er von der Hoffnung auf diesen Herrn Jesus zu sagen hatte, was er vom Wiederkommen seines Herrn Jesus und von dessen Gericht zu sagen hatte, was er von der Vollendung aller Dinge und dem endgültigen Sieg dieses Herrn Jesus, der Gott alles in allem machen würde, zu sagen hatte, … das alles betraf immer noch und ewig weiter Jesus Christus, den Gekreuzigten.
Das alles löste sich also nicht in Wohlgefallen auf oder schäumte über in einen gewaltigen Akt explosiver Erleuchtung. Die Herrlichkeit des Herrn Jesus hatte Paulus vor Damaskus blind gemacht (vgl. Apg.9; 22;26). Und als er wieder sehen konnte, da wusste er, dass im Gekreuzigten das Heil lag und dass das Licht, das ihn geblendet hatte, nur der nachzitternde Schatten jener Liebe war, die sich auf Golgatha geoffenbart hat[i].
Nichts Größeres als das also! ——
… Und wenn das den Korinthern nicht reicht? An Erklärung und Logik? An emotionaler Bandbreite und praktischer Anwendbarkeit? Wenn sie es gerne mehr auf sich bezogen wüssten, lieber von den persönlichen Folgen, am besten gleich vom eigenen Vorteil durch diese Botschaft etwas hörten, … was dann?
Dann bleibt es trotzdem im Geheimnis verborgen, dass die Weisheit Gottes nicht übernatürlich, nicht metaphysisch, nicht schockierend und auch sonst nicht dynamisch zündend, funkensprühend, glutvoll die Wirklichkeit umschmilzt oder sensationell transformiert, sondern in die Unerkennbarkeit gehüllt bleibt, die wir Beherrscher und zu-gleich Diener dieser Welt nicht erkennen können, die uns Kindern dieser Zeit unbegreiflich bleibt.
Und darum - so habe ich mir’s vorgenommen - will und werde auch ich nicht mehr den vergeblichen, den vermessen törichten Versuch fortsetzen, dieses Geheimnis Gottes zu erklären und die Weisheit Gottes zu verknüpfen und zu verrechnen mit dem Wenigen, das wir erfassen und verstehen können.
Es wäre der Wasserträgertrick eines Gefäßes, das mehr andeutet, als es aufnehmen kann.
Zwar würde ich vielleicht auch heute noch gerne Herrn Wang spielen, das treuherzige Schlitzohr, der’s eigentlich gut meint, aber halt hier und da ein wenig flunkern und die Wirklichkeit seinen Möglichkeiten unverdrossen nachempfinden muss, so dass sie beide zueinander passen.
Ich könnte so tun, als wären die großen Löcher in der Zuverlässigkeit unserer Erkenntnis mit gutem Willen und Moral zu stopfen. Ich könnte so tun, als passe auf die abgründigen Schlaglöcher in der Landschaft dieser Welt immer ganz kommod ein Deckel des forschen Gutmenschentums. Ich könnte, ja ich würde gern auch vorgeben, dass es überhaupt keine Schwierigkeiten gibt, keine Krisen, keine Klima- und Coronanöte, denen wir nicht mit der hausgemachten Floskel- und Behauptungskiste irgendeiner politischen, ökonomischen, humanistischen Ideologie zu Leibe rücken sollten, bis durch Impfen und erneuerbare Energien und treulich gegenderter Sprache alles in Glück und Sonnenschein sich auflöst.
Doch ich halte es für richtig, das mir nicht und auch anderen nicht weiszumachen.
Ich halte es für richtig, nichts zu wissen, als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten.
Dass er aber und wie er aber die Antwort auf alle unsere Fragen ist, … wie und dass er die Überwindung des Verderbens, … die Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben, … die Rettung der Verlorenen, … die einzige Hoffnung der Menschen aller Zeiten ist und bleibt, … das kann nicht mit überredenden Worten der Weisheit demonstriert und durchgesetzt werden.
Es ist nämlich dem Erweis des Geistes und der Kraft vorbehalten!
Und darum so sehr ich die guten Menschen, die wir sind, sein können und sein sollen, schätze, so glaube ich doch nicht, dass sich das Schicksal unserer Zeit von Menschenseite alleine wenden und klären lassen wird.
Bertolt Brechts Stück vom guten Menschen von Sezuan, das Stück von der Suche nach einer rettungsfähigen und lebenswürdigen Menschheit endet mit dem in meinen Ohren verzweifelten Appell:
„Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach:
[Die Menschen] selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis‘ dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß!
Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!“[ii]
Das Stück jedoch, in dem wir stehen, wird nicht so einsam nur vom gottverlassenen Menschen geschrieben und hängt auch nicht allein von ihm als Held oder als Versager ab.
Sondern – auch wenn uns das ganz und gar bescheiden, leise, still und wartend machen will – … sondern von diesem Stück, dessen Auflösung wir allein nicht finden können, weil sie sich am Geheimnis des Gekreuzigten entscheidet, heißt es:
Gott offenbart es schließlich durch den Geist; denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen Gottes.
Und darum steht unser Glaube wirklich nicht auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft!
Amen.
[i] Die im Werk von Karl-Heinz Menke immer wieder begegnende und meditierte Wendung von der „gekreuzigten Liebe“ ist eine entscheidende Verdichtung dieses Glaubenssatzes. Vgl. z.B. durchgängig: Karl-Heinz Menke, Das unterscheidend Christliche. Beiträge zur Bestimmung seiner Einzigkeit, Regensburg 2015.
[ii] Bertolt Brecht, Gesammelte Werke 4 (Stücke 4), hgg. Vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit m. Elisabeth Hauptmann, Frankfurt/M 1967, S.1607.
02.01.2022, 1.S.n.d.Christfest, Joh.6,37, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text: Joh.6,37 (Jahreslosung 2022)
Liebe Gemeinde,
„Botschaft in Bildern", so heißt das neueste Buch von Gerd Theißen, das ich in der Adventszeit mit großem Vergnügen und Gewinn gelesen habe. In diesem gar nicht dicken Buch beschreibt Theißen sehr eindrücklich, wie sehr die biblische Botschaft mit Bildern verbunden ist, die die Menschen über alle Religionsgrenzen hinweg anspricht, weil es Bilder sind, die den Menschen kollektiv ins Herz und in die Seele geschrieben sind. Er ist damit sehr nahe bei der Erkenntnis Carl Gustav Jungs, der einmal gesagt hat, die einzige Fremdsprache, die alle Menschen lernen müssten, sei die Sprache der Symbole/der Bilder, weil diese ihnen zeigen könnte, wer sie sind im Zusammenspiel mit allen anderen Menschen und als Geschöpfe der Erde und des Himmels.
Jesus hat das wohl schon 1900 Jahre vor C.G.Jung so gesehen, weshalb er das, was ihm besonders wichtig war, in Bildergeschichten erzählte: das Gleichnis vom verlorenen Sohn oder vom verlorenen Schaf, das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter oder von den Arbeitern im Weinberg. Geschichten und Bilder, die über Kultur- und Religionsgrenzen hinweg verstanden werden können.
Sehr nahe bei den Wort-Bildern sind die Bilder in der darstellenden Kunst - Gemälde und auch Plastiken. Auch sie malen uns Geschichten vor Augen und helfen uns so, uns einzufühlen und zu verstehen, was der Künstler uns durch sie mitteilen will.
Mit zwei Bildern will ich Ihnen darum heute morgen die Jahreslosung für 2022 näherbringen.
Die Jahreslosung selbst ist gänzlich bildlos, ohne Substantiv oder Adjektiv. Ein Vers aus dem Johannesevangelium:
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Doch auch für dieses Jahr haben verschiedene Künstler/innen versucht, sie ins Bild zu setzen. Diese Aufgabe war sicher in der Vergangenheit oft einfacher. Aber sehen wir, was ihnen da eingefallen ist, in der Auseinandersetzung mit dem Vers aus Johannes 6: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Das erste Bild finden Sie auf dem Gottesdienstprogramm (Quelle: Verlag Am Birnbach). (siehe pdf-download)
Eine offene Tür, die den Weg freigibt in einen Raum, der erfüllt ist von einem hellen warmen gelben Licht - ganz im Kontrast zu der Wand mit der Tür, die in einem kühlen Blau gehalten ist. In diesem lichterfüllten Raum stehen in der Mitte auf einer angedeuteten Tischplatte ein Laib Brot und ein gläserner Becher mit je nach Betrachtung Rotwein oder rotem Traubensaft. Wie an einer Halskette hängend schwingt ein filigranes goldfarbenes Kreuz mit einem Schlüsselbart am unteren Ende des vertikalen Balkens nach links und gibt damit den Durchgang durch die Tür frei. Das Licht aus dem Raum fällt auf den Fußboden und zeichnet einen einladenden Weg, auf den der Vers der Jahreslosung geschrieben steht: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Der Künstler oder die Künstlerin - ich habe den Namen im Prospekt leider nicht gefunden - hat sich von der Bildlosigkeit des Verses nicht irritieren lassen. Vielmehr hat sie oder er sich inspirieren lassen von der Tatsache, dass es sich um einen Vers aus dem Johannesevangelium handelt und zwar aus der sogenannten Brotrede. Das sehr lange 6. Kapitel beginnt mit der Erzählung von der Speisung der 5000, die bei den Menschen eine solche Begeisterung auslöst, dass sie Jesus sofort zum König ausrufen wollen. Das wiederum steht Jesus völlig fern; ihm geht es eben nicht um weltliche Herrschaft, sondern um ein Leben, das sich am Willen Gottes orientiert. Doch er hat es schwer, sich verständlich zu machen; es folgt eine lange Rede, in deren Zentrum das erste der sog. „Ich-bin-Worte" steht: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten."(Joh.6,35) Und es fällt auch der Satz „Wer mein Fleisch isst und trinkt mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm." (6,56) Worte, die an das Abendmahl erinnern - darum auch der gläserne Kelch und das Brot auf dem Bild. Und auch die Tür erinnert an eines der „Ich-bin-Worte": „Ich bin die Tür, wer durch mich hineingeht, der wird glücklich werden und wird ein und ausgehen und erfüllt und sinnvoll leben." Und der Lichtstrahl auf dem Fußboden weist auf ein weiteres Ich-bin-Wort: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben."
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Dieser Jesus ist uns wichtig: die offene Tür, die bedingungslose Annahme. Daran lassen wir uns gerne am Beginn dieses Jahres erinnern. Zu ihm können wir kommen mit allem, was uns auf dem Herzen liegt. Mit allem, was uns gelungen ist und mit allem, was uns misslungen ist. Die Tür steht offen, jede und jeder kann hineingehen und auch wieder hinausgehen; da läuft man nicht Gefahr, auf einmal festzusitzen. Jesus respektiert unseren Wunsch nach Freiheit. Mit ihm kann jeder und jede ihren eigenen Lebensweg finden und gehen. Brot und Wein sind Wegzehrung und Stärkung.
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Was irgendwie nicht so ganz ins Bild passt: es ist das wie ein Uhrpendel schwingende Kreuz, das Kreuz als Schlüssel - auch zum rechten Verständnis der Jahreslosung. Um dem auf die Spur zu kommen, schauen wir uns einmal das zweite Bild an:
Im Zentrum eine Gestalt im warmen gelben Licht mit offenen, einladenden Armen: Jesus Christus. Und im Vordergrund, uns den Rücken zukehrend, kleine und große Gestalten, die die Einladung offensichtlich annehmen und zu Jesus hinlaufen. Eine bunt gemischte Schar. Mich erinnert dieses Bild an ein anderes Jesus-Wort aus dem Matthäusevangelium: „Kommt her zu mir all, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken." Und auch an eine andere Begebenheit, wo Mütter mit ihren Kindern zu Jesus kamen, um diese von ihm segnen zu lassen. Wo die Jünger sie abwiesen und sich Jesus erst energisch dagegen verwehren musste: Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, weist sie nicht ab.
Dieses Bild verweist uns darauf, dass Jesus gerade damit immer wieder angeeckt ist: dass er alle, wirklich alle, die zu ihm kommen wollten, an sich herangelassen hat:
die Mühseligen und Beladenen, die moralisch Anrüchigen, die Sünderinnen und Sünder, die Außenseiter und Fremden, die, mit denen die Anständigen, die Frommen, die Tüchtigen nichts zu tun haben wollten.
Genau dieses Verhalten brachte ihm Ablehnung, Abweisung ein. Mit jemandem, der sich in solch schlechte Gesellschaft begab, mit dem wollten die Frommen und Anständigen nichts zu tun haben. Die Tischgemeinschaften, die Jesus praktizierte, die Einladung ins Haus des Zachäus z.B., die führten dazu, dass viele nicht zu ihm hineingehen wollten. Er entsprach damit einfach nicht ihren Vorstellungen, wie ein Mensch Gottes zu sein und sich zu verhalten hatte.
„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Ja, Jesus weist keinen ab, aber wer kommt zu ihm? Wer will zu ihm kommen, wenn er sich in schlechter Gesellschaft befindet, sich mit Leuten einlässt, die mehr als zweifelhafte Existenzen sind?
Und heute - da ist es doch auch angebracht, sich ehrlich zu machen: wer kommt denn noch zu ihm? Viele Menschen kehren der Kirche jedenfalls den Rücken. Da sind nicht nur finanzielle Erwägungen ausschlaggebend, sondern oft auch enttäuschte Erwartungen. Was bedeutet das für uns als Gemeinde? Was müssen wir ändern? Mit diesen Fragen hat sich tatsächlich schon die frühe Kirche befasst, die ersten Christen. Und wie es das Johannesevangelium schreibt, schon Jesus selbst. In eben jenem 6. Kapitel, in dem die Jahreslosung steht. Da können wir lesen, dass schon Jesus die Menschen in Scharen davongelaufen sind. Wie konnte es dazu kommen? Bei Jesus liegen doch ganz gewiss nicht die Versäumnisse vor, die man uns, seiner Kirche, oft zu Recht nachsagt: Versäumnisse an Achtsamkeit, an Glaubwürdigkeit, an Toleranz, an einer zeitgemäßen Verkündigungspraxis ...
Auch Jesus hat Erwartungen enttäuscht: für die einen hatte er den falschen Umgang, den sie ihm nicht verzeihen konnten.
Für andere wiederum war er nicht politisch genug, rief er nicht entschlossen zum Widerstand gegen die römische Besatzung auf. Für andere war sein Lebenswandel anstößig: er feierte offensichtlich gerne, konnte das Leben genießen - Fresser und Weinsäufer schimpften sie ihn. Selbst seine engsten Angehörigen irritierte er, sie hielten ihn für geistesgestört, hatten Angst, der er die ganze Familie in Misskredit bringen könnte. Und sogar seine Jünger konnten es nicht begreifen, warum er nicht seine Wunderkräfte zielgerichteter einsetzte gegen seine Neider und Widersacher - „Lass doch Feuer vom Himmel regnen und sie verbrennen!".
Nur sehr wenige haben ihn zu seinen Lebzeiten verstanden: dass er kein Zauberkönig sein wollte, kein Messias, der es richtet, sondern eben ein Mensch nach dem Willen Gottes, der nach seiner Weisung fragt - immer im Gleichmaß Gottesliebe und Nächstenliebe übt und genau darin seine Erfüllung findet. Ein Mensch mit weitem Herzen und weit geöffneten Armen. Der sich einladen lässt und selber einlädt, der das Brot, das ihn ernährt, teilt und weitergibt; der ausgießt, was ihm Lebenskraft und Hoffnung schenkt, den Wein der Gottesfreude. Der Geborgenheit gibt, ohne einzuengen, dessen Tür offen ist, der uns kommen und gehen lässt, der sich über unsere Zuneigung und Liebe freut und sich nicht darüber mokiert, wenn wir uns nicht jeden Tag bei ihm melden. Der uns niemals aus seiner Liebe fallen lässt - wie er es von Gott gelernt und übernommen hat; dessen Arme immer offen sind - selbst noch am Kreuz. „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen."
Das ist die tröstliche Verheißung, die in der Jahreslosung liegt. Und daneben, eher darin verborgen die ermutigende Bitte an uns, es ihm, dem Christus Jesus doch gleich zu tun:
„Wer zu euch kommt, den weist um meinetwillen und um Gottes willen nicht ab.
Wer eure Liebe braucht und eure Hilfe, eure Zuwendung und euren Beistand, den weist um meinetwillen und um Gottes willen nicht ab.
Lasst euch nicht beirren von Ablehnung und Feindschaft; wer nach dem Willen Gottes fragt, findet nicht überall Beifall.
Erfolg ist kein Name Gottes, aber Barmherzigkeit, Güte, Geduld, Freundlichkeit und Klarheit.
Zeigt doch dieses ganze Jahr über, dass ihr die Botschaft von Weihnachten begriffen habt, dass ihr nicht nur Gottes Kinder heißt, sondern es auch seid - Töchter und Söhne Gottes - wie ich ein Sohn Gottes bin. Gemeinsam sind wir berufen, daran zu arbeiten, das Antlitz der Erde zu erneuern, für Gerechtigkeit und Frieden einzutreten und die Schöpfung zu bewahren."
Gebe Gott, dass wir diese Berufung nicht aus den Augen und aus dem Sinn verlieren.
„Christus Jesus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen. Und wer zu euch kommt, den weist um meinetwillen und um Gottes willen nicht ab."
Amen.
Altjahresabend 2021, Stadtkirche, Johannes 8,31f, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2021
Johannes 8,31f
Liebe Gemeinde!
Was nun endet, war ein Jahr der Schrecken, … Schrecken beinah apokalyptischen Ausmaßes: Feuer wütete weltweit, … sogar die Frostböden Sibiriens standen in Flammen. Fluten zur Sommerzeit haben in unserer unmittelbaren Heimat Zerstörung und Tod gebracht. Der Hunger hat himmelschreiendes Leid im Jemen geweckt, das dort den Krieg begleitet und ihm in Afghanistan nun ungehindert folgen wird. Und was die Krankheit vermag, ist allerorten die Morgen- und die Abendlitanei. Dass auf Erden die Verzweiflung wächst, dass die Menschheit in Umwälzung gerät, dass die Meere Gräber und die Wälder Mauern werden und manche zum Mars wollen, um dem irdischen Elend zu entrinnen, fügt sich zu einem Bild, dessen Züge von Breughel’scher Unübersichtlichkeit bei größer Klarheit sind: „Der Triumph des Todes“ ist keine finstere Vision des 16.Jahrhunderts, sondern die Überschrift über das, was wir als gebundene Chronik der Menschheit im 2021.Jahr nach Christi Geburt heute Abend abschließen werden. …
So bitter das klingt und so bunt und hell wiederum viele Blätter und Blüten gewesen sein mögen, die wir trotz alledem in unseren eigenen Erinnerungen an dieses Jahr einlegen und aufbewahren werden, … so wenig fällt es eigentlich doch aus dem Rahmen unserer Erwartungen. So lange ich denken kann, sehe ich uns alle voller Sorgen.
Wir Deutschen - und wir Evangelischen nun in ganz besonderer Weise! - waren lange vorm Zusammenschrumpfen der Welt in der Globalisierung ja immer schon für Sorgen im planetaren Maßstab zuständig: … Der Frieden! … Die Gerechtigkeit! … Die Natur! … Die Zukunft der Erde!
Philosophischere Verantwortung, wichtigeres Wesen zur Weltgenesung kann es nicht geben. … Und nichts davon ist Nebensache!
Aber kann all unser Sorgen - Betonung auf „unser“ Sorgen - die Hauptsache ersetzen?
Wissen wir indes überhaupt, was die Hauptsache ist?
… Oder haben wir gerade das vielleicht vergessen? …
Denn eins haben wir vernachlässigt unter all den großen Themen, die eines Hegel oder Marx würdig wären und aller anderer, die alles erklären und vollenden zu müssen meinen, … eines unter all den großen Themen hat niemand bebrütet, der das Welten-Ei des Kolumbus begackerte.
Das Entscheidende berührt hat nur der Erzfeigling dieser Erde, und als er merkte, was die Befassung mit diesem Thema bedeuten würde, ließ er es wie eine heiße Kartoffel fallen.
… Genug aber der lächerlichen Vergleiche bei etwas, das uns wirklich angeht wie unser tägliches Brot: Die ungestellte Frage, das unbestellte Feld ist … die Wahrheit.
Um die Wahrheit haben wir uns in den vergangenen Jahrzehnten wenig Sorgen gemacht. Unsere Systeme waren ja scheinbar intakt. Was Dinge bedeuten, war klar. Und wie man zu den Fakten eine Meinung findet, ergab sich aus Anschauungen, die durch Argumente und Logik geformt und verändert wurden. Dass wir dabei trotzdem ideologische Gegensätze kannten und teilweise bitter parteiische Konflikte, ließ die wahrhaftig entgegengesetzten Wege zur Wahrheit spüren. Aber dass man zur Wahrheit kommen müsse - und sie nicht schon habe - und dass man sich schließlich bei ihr treffen werde - dass sie also verbinde und nicht trenne -, das immerhin schien längere Zeit allgemein denkbar. … Dass ohne Chancen für alle Menschen, ohne den Blick über das bloß eigene Bedürfen und Besitzen hinaus kein sinnvoller, kein zuträglicher Weg in die Zukunft möglich werde - und nichts anderes als Wege zur Zukunft sind menschliches Denken und Handeln selbst in ihren schlichtesten Formen -, das war der vermutete Mittel- und Haltepunkt unserer unterschiedlichsten Ansätze.
Vermittlung der Unterschiede bis zur objektiven Stimmigkeit, Ausgleich geistiger Gegensätze im letztlich Sachlichen, Verbindung des Einzelnen zu Großem: So dachte man sich wohl - naiv - die Wirkung der Wahrheit.
Doch das war vielleicht immer schon eine Illusion und ist heute, beim Siegeszug des blanken Subjektivismus endgültig vorbei: Wahrheit ist, was mir gefällt, nicht das, was allen gilt. Wahrheit hat jene Bedeutung, die ich ihr beilege, nicht eine Überzeugungskraft, der ich mich und notfalls auch meinen Willen beuge. Darum wird sie nurmehr behauptet und nicht bewiesen. Auf diese Weise ist Wahrheit eine den Fall ab- und die gegenteilige Auffassung ausschließende Größe, und längst nicht mehr etwas, das Aufschluss über meine Fehler bietet und mir mehr erschließt als mein Vorurteil erfasste. Solche Wahrheit verpflichtet mich nicht, sondern ich eigne sie mir an, sie dient meinen Zwecken. …….
Wenn wir es aber dabei belassen - bei dieser ungeheuerlichen Gleichsetzung zwischen Gefühl und Wahrheit, zwischen Meinung und Wahrheit, zwischen Lüge und Wahrheit - dann ist das Ende des Christentums besiegelt.
Denn der Kern unseres Glaubens ist es doch eben, ganz persönlich zwischen der Wahrheit und mir zu unterscheiden: Ein anderer ist die Wahrheit, nicht ich! Und darum kann das Ziel nicht sein, dass ich die Wahrheit besitze, sondern dass ich ihr treu bin.
Das liegt aber daran, dass wir nicht loskommen von dem, den Pilatus, der Wahrheitsfeigling schnell von einer populistischen Stimmung wegbrüllen ließ (vgl. Joh18,28-38). Wie da ein Mensch stand und selber nicht seinen Wahrheitswahn herausschrie, sondern stillschwieg, obwohl das unglaubliche, beneidenswerte Wort von ihm im Umlauf war, dass er selber die Wahrheit sei (vgl.Joh14,8), das brachte Pilatus aus der Fassung. Wieso machte dieser wahre Mensch nicht einen Triumph aus seiner Botschaft und Haltung, wie wir anderen das mit unseren Schnapsideen und Einbildungen unternehmen? Wieso war dieser Sendbote des größten Anspruchs so seltsam unmissionarisch, so gar nicht militant? Musste er denn nicht im herrischen Bewusstsein, dass er und er allein die Weisheit und das Gute kenne, jeden anderen mit Verachtung strafen und mit Vernichtung bedrohen, wie gewöhnliche Leute in ihrer Unsicherheit vor den eigenen Grundsätzen es immer wieder tun? Wieso war dieser Eingeweihte in alle Geheimnis-se, dieser Bringer bleibender Erleuchtung - das alles hatte man schließlich über ihn und von ihm gehört - so souverän passiv, statt panisch aggressiv? … Es scheint nicht weit her zu sein mit solcher Wahrheit, muss Pilatus geschlossen haben. Was soll sie denn eigentlich sein, wenn sie einen nicht zu fragloser Selbstsicherheit und knallharter Überlegenheit führt? … Wenn man sie fesseln kann, … abführen, … töten? …….
Was solche Wahrheit, die nicht auf ihrem Recht besteht, die nicht auf Durchsetzung getrimmt ist, vermag? – Sie kann uns frei machen.
Die, die meinen, sie müssten immer Recht haben und behalten, … die die meinen, sie könnten das ihres Erachtens Richtige erzwingen und durchsetzen, sind ja Sklaven. Sklaven jener Sorte, die uns heute anonym umgeben, … Sklaven wie wir.
… Wem sie, wem wir als Treiber unterworfen sind? – Einem Gangsterpaar wie Bonnie und Clyde, nur grausamer. Einem Moloch-Duo, das Blut saugt, Leben frisst und keine Gnade kennt: Maxi und Ego heißen sie. Das Ich und sein Erfolg. Die wollen Recht haben. Sich behaupten. Gewinnen. Das Ich und sein Erfolg wollen herrschen.
Und wir kuschen. Schalten Vernunft, Augenmaß und Anstand aus, um das Himmelfahrtskommando der Egomanie, des Größenwahns eines kleinen Mannes, einer kleinen Frau zu exekutieren.
Dabei entsteht die lebensgefährlich lügenhafte Täuschung, die wir das Projekt unseres Lebens nennen: Wirklichkeit verdrängen, Mitbewerber ausschließen, Belohnungsmechanismen des Selbst blindlings bedienen und immer mehr steigern, und dabei unausstehlich, … unglücklich, … unmenschlich werden bis zur Vollendung.
Das ist die Sklaverei, von der wir befreit werden können! Nicht jedoch auf dem Weg, den wir verfolgen. Der hoffnungslos falsche Weg zur Freiheit, den wir immer noch grimmig behaupten, besteht im Zerstören von Bindungen.
Je mehr wir Beschränkungen abwerfen … je mehr wir fordern … je mehr wir erwarten … je mehr wir werden, haben und sein können, desto unbegrenzter scheinen wir uns.
Dass gerade dieser Wahn in die Schrecken unserer Zeit führt – weil eine Welt, aus der jeder mehr entnehmen als zurückgeben will, der Auslöschung verfallen ist, weil das Kollektiv von ungezügelten Einzelinteressen grenzenlosen Konflikt schürt, und weil die unfassbare Torheit der Sterblichkeitsleugnung viel zu viel an der menschlichen Natur nur noch künstlich zulässt – … dass alle unsre Ansprüche an das Dasein also es immer mehr aushöhlen und untergraben, dämmert den meisten allmählich.
Darum sehen wir ja die Freiheiten schwinden.
Einerseits bringen Vernunft und Rücksicht Beschränkungen hervor, die vor Kurzem noch unvorstellbar waren, auf der anderen Seite führen Angst und Geiz zu immer engeren Kreisen, in denen wir uns noch sicher fühlen, während außerhalb unserer Isolationsblasen eine Welt wartet, vor der man sich lieber verbarrikadiert. Dagegen aber helfen die verzweifelten Manipulationen an der Wahrheit, die wir zuhauf erleben, rein gar nichts. Zu behaupten, ja zu glauben, dass es eine Krankheit oder Krise nicht gebe oder dass die nüchtern nötigen Maßnahmen in Wirklichkeit verborgenen Zwecken dienten, ist ein Beispiel dafür, wie die willkürliche Ermächtigung über die Wahrheit Menschen in erstickend tiefe Lügen einspinnt.
Was aber führte zur Befreiung? … Wenn nun ich oder ein anderer die Wahrheit nach seiner Lesart und Überzeugung propagierte? Wenn man aus Fakten Monstranzen macht … also Schau- und Vorzeigeinstrumente?
… Auf Tatsachen, die in der Monstranz präsentiert werden, reagieren allzu viele ja inzwischen mit Gegendemonstrationen, und Fakten kontert man mit Alternativen.
Es könnte daher sein, dass es kein Rückzug aus der Debatte und kein Aufgeben der vernünftigen Diskussion und ihrer kostbaren Frucht - der rechtsstaatlichen Demokratie - ist, wenn wir Christen uns auf eine andere Weise in den unversöhnlichen Streit der Wahrheit und der Anti-Wahrheit begeben.
Indem wir nämlich - nicht zur Abwechslung, sondern in demütigem Ernst! - nicht behaupten, wir hätten die Wahrheit. Indem wir nicht uns selbst zu Hütern des wissenschaftlich oder rational Richtigen aufschwingen - so sehr Ratio und Wissenschaft uns lieb und teuer sein müssen -, sondern etwas anderes vermitteln: Dass wir zutiefst getrost leben können ohne absolute Ansprüche an unser Erkenntnis- und Unterscheidungsvermögen, weil wir die letzte Wahrheit nicht beherrschen, sondern verehren.
Die letzte, die bleibende Wahrheit nämlich besteht vor aller Zeit und in wirklicher Unbegrenztheit nicht in einer Formel, einem System oder auch nur einem Modell: Die Wahrheit, die uns befreit von allen unseren Sorgen, Lügen und Begierden besteht in der Schöpfung, der Rettung und der Heilung der Welt durch Gott. Oder noch klarer ausgedrückt: Nur aus und in Gottes Liebe zu dieser trudelnden, selbstzerfleischenden, von Menschen bedrohten und Menschen bedrohenden Welt … nur aus und in Gottes Liebe kann es damit richtig werden.
Wer das auch in diesem Jahr und im nächsten, wer das in unserer Zeit erkennen darf: Dass die Welt nicht verloren ist und auch nicht verloren geht, der kann Freiheit finden.
Weil sich das, was bei Gott Zukunft hat, wirklich nicht allein auf mich und meinen Gebrauch, mein Gutdünken beschränken lässt! Wenn diese erschreckend unerklärliche Welt, die sich scheinbar immer weiter weg von aller Kontrolle und Selbstkontrolle entfernt, nicht herrenlos ist, obwohl sie eben nicht mir ausschließlich dient - und ich ihr nicht -, dann muss ich weder für den Sinn aller Dinge bürgen noch allein ihre Rettung betreiben, noch weniger aber muss ich dann die Gelegenheit des Daseins so nutzen und beherrschen, als sei es darin alles zu finden. In Wahrheit ist alles weiter als mein Radius, eigenwilliger und gleichberechtigter als unsere illusionäre Idee von der menschlichen Solomacht und in Segen wie Entsetzen so unbezwinglich für jeden von uns, dass wir wirklich nur in der Freiheit existieren können, nicht selbst über Welt und Wahrheit zu gebieten.
Nicht, weil wir keine Verantwortung trügen.
Sondern weil wir die Anmaßung nicht fortführen, die den menschlichen Geist alles ausschlachten und sich nirgends begrenzen lässt.
Wir sind begrenzt. Das Jahresende zeigt es uns anschaulich.
Aber das ist nicht unser Verhängnis, sondern unsere Verschonung: Dass wir die großen Belange der Welt nicht alleine schultern und die Zukunft nicht bloß aus dem begrenzten Stoff der Zeit schaffen und die bleibende Wahrheit nicht aus eigener Macht behaupten müssen.
Sondern glauben dürfen, dass das alles in Jesus Christus liegt und nicht in uns.
Darum gehen wir frei von uns, frei vom Alten, frei von allem auf das Neue zu – durch den, der allein Weg und Wahrheit und Leben ist: Jesus Christus.
Amen.
Heiligabend, Christvesper, Micha 5,1-4a, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
„Kommt, lasst uns gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat."
So haben wir es gerade wieder gehört, liebe Gemeinde, aus dem Evangelium des Lukas.
Lasst uns gehen nach Bethlehem. Bethlehem, heute eine kleine Stadt im palästinensischen Autonomiegebiet im Westjordanland. Damals, vor 2000 Jahren, ein Dorf in der röm. Provinz Judäa. Bethlehem - in unseren christlichen Ohren ein Signalwort, das uns sofort an Weihnachten denken lässt. Bethlehem, der Ort, an dem Jesus geboren wurde. In vielen Weihnachtsliedern so besungen: „Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein", gedichtet von Friedrich von Spee, 17. Jahrhundert, bis „In einer Höhle zu Bethlehem", getextet von Klaus Berg, vertont von Oskar Gottlieb Blarr, 20. Jahrhundert. Die Erzählungen der beiden Evangelisten Lukas und Matthäus lassen Jesus beide in Bethlehem geboren werden, auch wenn sie sich sonst erheblich voneinander unterscheiden. Bethlehem - ein geographischer Ort auf, den es „gibt", der real ist, in unserer Wirklichkeit mit ihrer Geschichte festzumachen.
Aber Bethlehem ist mehr. Es ist ein Symbol. Ein Symbol der Verheißung und der Hoffnung, ein Ort, in dem der Himmel die Erde berührt. Ein Symbol für eine Welt, die anders ist als die Welt heute, aber eine Welt, die eben keine Utopie ist, sondern schon da, nicht in Vollendung, sondern im Anfang - wie es uns die Engel jedes Jahr verkünden: Euch ist heute der Heiland geboren - in Bethlehem.
Die Liturgiereform von 2017 hat uns in diesem Jahr für den Heiligen Abend einen neuen Predigttext beschert, der uns zu einem weihnachtlichen Nachdenken über Bethlehem einlädt - jenseits der Hirten- und Stallromantik, in die das Weihnachtsevangelium des Lukas oft abzugleiten droht. Eben mit viel mehr Bezug zu dieser unserer Welt und Realität. Er steht im Buch des Propheten Micha im 5.Kapitel; ich lese die Verse 1 bis 4a in der Übersetzung der Basis-Bibel.
„Du aber, Bethlehem Efrata, bist zu klein, um zu den Landstädten Judas zu zählen. Doch aus deiner Mitte soll einer kommen, der Herrscher sein wird in Israel. Seine Wurzeln reichen zurück bis in die Urzeit, seine Herkunft steht von Anfang an fest. Darum wird die Not nur so lange anhalten, bis eine Frau das Kind zur Welt gebracht hat. Dann wird der Rest seiner Geschwister heimkehren zu den Menschen in Israel. Er wird auftreten und sein Volk weiden. Dazu gibt ihm Adonaj die Kraft und die Macht. Sie liegt in dem Namen Adonajs, seines Gottes. Dann wird man wieder sicher im Land wohnen können. Denn seine Macht reicht bis zum Rand der Welt. Er wird sich für den Frieden stark machen."
Als diese Verse geschrieben wurden, da sah es düster aus für Israel, für Juda. Die Babylonier hatten Jerusalem zerstört und die Oberschicht ins Exil verschleppt. Das Nordreich Israel war schon Jahrzehnte vorher von den Assyrern ausradiert worden. Was macht man, wenn die Gegenwart so hoffnungslos ist? Wie soll man da Zuversicht aufbringen für die Zukunft? Menschen in einer solchen Lage retten sich vielfach in die Verklärung der Vergangenheit: früher war alles besser. Man träumt von der alten Größe und Stärke.
Das tut Micha hier allerdings nicht. Denn er weiß nur zu genau, dass die Vergangenheit nicht nur gut war, nicht in Juda, nicht in Israel. Seit den Zeiten von König David war die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter auseinandergegangen, Ungerechtigkeit und Unrecht hatten um sich gegriffen, Korruption und Unfähigkeit der Davididen hatten beide Reiche ruiniert und dazu eine schier ausweglose außenpolitische Lage zwischen rivalisierenden Großreichen, denen man entweder als Vasall dienen durfte oder die einen als Truppenaufmarschgelände auf ihren Eroberungszügen missbrauchten. Nein, auf das Haus Davids will Micha nicht mehr setzen. Mit den Davididen ist er durch. Da muss etwas Neues kommen - und doch muss dieses Neue die wirklich großen, guten, alten Träume und Hoffnungen umschließen, die Sehnsucht nach Recht und Gerechtigkeit, nach einem sicheren Leben, wo jeder von seiner Hände Arbeit leben kann, wo die Felder nicht von den durchziehenden Heeren feindlicher Reiche zertrampelt werden, die Viehherden nicht geraubt, wo man einfach sicher und im Frieden wohnen kann. Das sind weiß Gott uralte Sehnsüchte und Hoffnungen und sie sind lebendig bis in unsere Tage. Ist es uns eigentlich bewusst, wie unglaublich privilegiert wir hier sind in Deutschland, dass wir seit 76 Jahren im Frieden leben können? Wo zeigen wir da eine entsprechende Dankbarkeit gegenüber Gott und all den Menschen, die dieses Glück nicht mit uns teilen?
Wie gesagt: auf die Dynastie der Davididen kann und will Micha nicht mehr für die Zukunft bauen; überhaupt auf die Mächtigen, die Großen, die Klugen will er nicht mehr setzen, denen sind die kleinen Leute, die am Rande leben und um ihr Überleben tagein tagaus kämpfen, letztlich egal. Die haben den Bund, der am Sinai geschlossen wurde zwischen Israel und Gott, längst vergessen. Sie haben verdrängt, dass Gott ein Herz hat für die Armen und Kleinen, für die Fremden, Witwen und Waisen. Dass es ihm zuerst und zuletzt um Gerechtigkeit geht, um Gemeinschaftsgerechtigkeit, darum, dass jeder Mensch ein Leben in Würde führen kann.
Und dafür steht als reales Symbol Bethlehem.
Bethlehem, nicht Jerusalem, nicht die Hauptstadt mit dem Zion, dem Tempelberg, sondern das kleine Kaff Bethlehem.
Was hat ihn dazu gebracht? Nun: Bethlehem Efrata spielt auf Gottes Weg mit seinem Volk eine stetige Rolle. Bethlehem ~ das Haus des Brotes. Jener Ort, an dem Rahel über der Geburt ihres Sohnes stirbt; sie nennt ihn „Ben-Oni", Sohn meines Unglücks, der Vater Jakob gibt ihm den Namen „Ben-Jamin", Sohn des Glücks. Bethlehem, der Ort in dem die Ausländerin Ruth ihr Auskommen, einen Lebenspartner und eine Heimat findet; Bethlehem, der Ort, auf dessen Feldern David die Schafe seines Vaters hütete und wo er als jüngster und kleinster seiner Brüder zum König gesalbt wurde, wo der Prophet Samuel die Weisheit formulierte: „Der Mensch sieht, was vor Augen ist, aber Gott sieht das Herz an." (1.Sam.16,7)
Bereits in diesen Worten klingt jener Sichtwechsel an, der viel später die Geburt des Gott gemäßen und gefälligen Retters eben nicht in der „Hauptstadt" mit ihren Palästen, Villen und dem Tempel, sondern auf dem Land und in einer Krippe liegend erzählen lässt.
„Du aber, Bethlehem Efrata, bist zu klein, um zu den Landstädten Judas zu zählen. Doch aus deiner Mitte soll einer kommen, der Herrscher sein wird in Israel. Seine Wurzeln reichen zurück bis in die Urzeit, seine Herkunft steht von Anfang an fest." Das heißt doch: er wird ein Mensch sein nach dem Herzen Gottes, ein Mensch, der Gottes Leidenschaft für das Leben teilt, der sein Tun ausrichten wird am Tun Gottes, dessen Name Barmherzigkeit, Güte und Geduld ist und der gerade den Kleinen und Schwachen in Liebe zugewandt ist.
„Er wird auftreten und sein Volk weiden." Er wird eben nicht wie alle anderen Herrscher von oben nach unten herunter-willküren, nicht mit harter Hand durchgreifen, sondern sich an Gottes Herrschaftsstil orientieren, an dem Hirten Israels. Er wird Israel, ja im Tiefsten alle Menschen - denn Israel steht biblisch immer als pars pro toto, als das eine Volk für alle Völker - weiden, d.h. für sie Sorge tragen wie ein guter Hirte für seine Schafe, für die weißen genauso wie für die schwarzen, für die starken wie für die schwachen, für die folgsamen genauso wie für die verbockten. „Dazu gibt ihm Adonaj die Kraft und die Macht." Und auch die Geduld und Ausdauer. „Dann wird man wieder sicher im Land wohnen können." Und genau da liegt der schmerzliche Stachel bloß vor uns: wann ist dann? Eines ist doch offensichtlich: die Erfüllung dieser Vision von gerechter Herrschaft, von Frieden und sicherem Wohnen steht noch aus. Dieser eine ist noch nicht geboren, der Messias, auf den Israel immer noch sehnsüchtig wartet. Das ist offensichtlich, das wird uns jeden Tag in den Nachrichten vor Augen gestellt. In wie vielen Bildern ziehen da Leid und Unrecht, Verzweiflung und Hilflosigkeit, himmelschreiende Ungerechtigkeit und abgrundtiefer Hass an uns vorbei - soviel, dass wir es kaum noch ertragen können und vielfach abstumpfen und verdrängen. Die Weltgeschichte - eine Via Dolorosa; schon immer und auch im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Auch da hat das Elend nicht aufgehört. Auch die Geburt Jesu ist in dem Sinne nicht die eine Geburt gewesen, von der Micha schreibt, dass mit dem Erscheinen dieses Einen aller Not ein Ende gesetzt wird, dass man dann wieder sicher im Lande wohnen kann. Als Lukas und Matthäus ihre Evangelien schrieben, da lag Jerusalem in Trümmern, waren die Kinder Israels zu hunderttausenden gefallen, ermordet, versklavt oder in alle Welt zerstreut. Was brachte sie - trotzdem! - dazu, diesen Text aus Micha auf Jesus von Nazareth zu beziehen, ihn als Messias zu sehen, obwohl er offensichtlich nicht der erhoffte Messias Israels war, nicht sein konnte angesichts seines Scheiterns am Kreuz?
Um was ging es ihnen, als sie das kleine Bethlehem zum Geburtsort des Jesus von Nazareth machten - wobei Nazareth ein ebenso unbedeutendes Nest in Galiläa war?
Meine Antwort: weil sie in der Begegnung mit diesem Jesus eine neue Sichtweise gelernt haben wie gut 500 Jahre vor ihnen Micha angesichts des Scheiterns seines Volkes Israel. Scheitern, Leid und Tod sind in unseren Augen reine Zeichen für Misserfolg. Wer Erfolg haben will, darf sich nicht an Menschen orientieren, die davon gezeichnet sind. Und was will man mit einem Gott, der einen gerade vor Scheitern, Leid und Tod nicht bewahrt? So, liebe Gemeinde, sieht die Welt - auf die Geschichte, auf Bethlehem. Sie sieht, was vor Augen ist. Aber Micha, Matthäus und Lukas haben sich sozusagen die Brille Gottes aufgesetzt, mit seinen Augen gesehen - auf die Geschichte, auf Bethlehem, auf Jesus von Nazareth. Und sie haben erkannt: das Kleine ist das Große, das Unbedeutende das Bedeutsame, im Scheitern liegt Heil, im Tod ist Leben. „Er wird auftreten und sein Volk weiden. Dazu gibt ihm Adonaj die Kraft und die Macht. Sie liegt in dem Namen Adonajs, seines Gottes." Und dieser Name heißt „Ich bin für euch da - und ich bin barmherzig, gnädig, langmütig, reich an Güte und Treue." Mit diesen Worten umschreibt Gott selbst seinen biblischen Gottesnamen JHWH am Berg Sinai beim Bundesschluss mit Israel (Ex.34,6)
Und wo immer Menschen Barmherzigkeit erfahren, wo man ihnen aus der Not hilft, wo man geduldig mit ihren Schwächen umgeht, wo sie erleben, dass sie eine neue Chance erhalten, wenn sie sich verrannt haben, wenn sie Fehler gemacht, Schuld auf sich geladen haben - immer da ist Gott am Werk in Gestalt einer seiner Hirtinnen und Hirten, die seine Liebe zu den Kleinen und Schwachen teilen. Immer da berührt der Himmel die Erde, immer da ist das Reich Gottes gegenwärtig, immer da ist Bethlehem - dieses Haus des Brotes, werden die Hungrigen satt, die Traurigen getröstet, die Einsamen und an den Rand Gedrängten in die Mitte geholt.
Bethlehem ist real-politisch bis heute nicht zum Friedenssymbol geworden und - wenn wir ehrlich sind - das Kind in der Krippe in Bethlehems Stall ist erwachsen geworden als Jesus von Nazareth nicht zur erfolgreichsten Gestalt der Weltgeschichte geworden. Aber unzählige Menschen haben durch die Jahrhunderte den Mann aus Nazareth als Begleiter und Beschützer in Erfolg und Misserfolg, in Glück und Verzweiflung, in Krankheit und Todesnot erfahren, erlebt - seine so andere Macht und Kraft, die aus dem Namen Gottes erwächst.
„Kommt, lasst uns gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist und die Gott uns kund gemacht hat."
Bethlehem, der Kraftort für alle Kraftlosen, für alle Verzweifelten, für alle am Rande.
Bethlehem, viel mehr als ein Flecken auf der Landkarte Palästinas.
Bethlehem, ein Ort der Hoffnung für unsere Welt, für Gottes geliebte Welt, wo Himmel und Erde sich verbinden, wo das Kleine das Große wird und das Große eine Chance hat, sich wahrhaft menschlich zu zeigen.
Rudolf Otto Wiemer gibt uns mit seinem Gedicht eine Wegbeschreibung an die Hand, wie wir nachhaltig und klimaneutral diesen Ort erreichen können:
Sage, wo ist Bethlehem?
Sage, wo ist Bethlehem?
Wo die Krippe? Wo der Stall?
Musst nur gehen, musst nur sehen -
Bethlehem ist überall.
Sage, wo ist Bethlehem?
Komm doch mit, ich zeig es dir!
Musst nur gehen, musst nur sehen -
Bethlehem ist jetzt und hier.
Sage, wo ist Bethlehem?
Liegt es tausend Jahre weit?
Musst nur gehen, musst nur sehen -
Bethlehem ist jederzeit.
Sage, wo ist Bethlehem?
Wo die Krippe, wo der Stall?
Musst nur gehen, musst nur sehen -
Bethlehem ist überall.
Also: Lasst uns nun gehen nach Bethlehem - heute - morgen und jeden Tag im neuen Jahr Weihnachten erleben.
Amen.
1.Christfest, 25.12.2021, Stadtkirche, 1.Johannes 3,1f, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Christtag 2021
1.Johannes 3,1-2
Liebe Gemeinde!
Was wäre, wenn wir Weihnachten immer verkehrt herum betrachten? … Selbst beim besten Willen, es so zu verstehen und zu feiern wie die Bibel es uns nahelegt? Was, wenn wir immer das Fernrohr falsch herum gehalten haben, so dass wir gar nicht das eigentliche Ereignis in der Ferne vor Augen hatten, sondern stets nur unsere direkte Umgebung, aber verfremdet, weil wir sie durch eine verkleinernde Linse wahrnehmen? —
Was das heißen soll? Nun, alle unsere Weihnachtsgedanken kreisen ja immer um Bethlehem, um die Geburt dort, um die Freude dort, um das herrliche Erlebnis eines neuen Menschenkindes, das mitten in den damals wirklich jämmerlichen Verhältnissen eine solche Helligkeit und Zuversicht, solche neue Begeisterung und solche spontane Liebe geweckt hat, dass wir immer noch davon ergriffen werden und immer noch Glaube, Glück und Zuversicht sich daran entzünden, …obwohl es so lange her und weit entfernt geschah, dass dieses Kind geboren wurde.
Nun stimmt ja, dass zweitausend Jahre ein ungeheuer großer Abstand zu diesem Morgen sind und dass die geographische Lage des jüdischen Landes uns wirklich entlegen scheint. Und darum schrauben wir das Fernrohr unserer Lieder und unserer Stimmung immer wieder so, dass das Damalige und Dortige uns irgendwie nahegeht.
Dennoch aber haben wir das Wunder der Weihnacht damit vielleicht immer am falschen Ende gesucht. Denn was wir hören und sehen, wenn wir nach Bethlehem blicken und lauschen, ist ja die geschichtliche, die weltliche, die uns zugängliche, …uns mehr oder weniger verständliche Seite der Geburt des Sohnes Gottes. Er kommt zu uns und bringt uns eine Gottesnähe, eine Gottesgnade, eine Gottesgegenwart, die ohne Weihnachten niemals möglich geworden wäre.
… Gott ein Menschenkind! Das ist das uns beinah kribbelig machende, immer wieder aufwühlende, manchmal auch überfordernde und beunruhigende Ergebnis unseres Blickes nach Bethlehem, unserer Weihnachtsperspektive zurück in Raum und Zeit an den Punkt, an dem alles begann, was wir als den christlichen Glauben kennen und bekennen.
Doch eins muss man sich eingestehen, wenn man Christi Geburt auf diese Weise betrachtet: Es ist immer noch ein Blickwinkel, es ist immer noch eine Sichtweise, die ganz und gar an unserer Welt haftet … und dabei in der Tat etwas völlig Unvergleichliches entdeckt: Gott mit uns. …
Wenn wir allerdings - obwohl es uns wirklich schwerfällt und gegen alle unsere Gewohnheiten geht - ausnahmsweise einmal das Fernrohr des Herzens umdrehen und nicht auf Erden das Ereignis suchen, das wir an diesem Fest feiern, dann könnte uns noch ganz anders schwummerig werden. Wenn wir einmal nämlich in die größte Ferne blicken, aus der der unsichtbare und unendliche Gott herangezoomt und erkennbar wird durch die Fleischwerdung des Wortes, dann müssten wir uns tatsächlich die Augen reiben und uns eben noch mehr, … noch viel mehr wundern, als wenn wir auf Ihn unter uns stoßen.
… Denn dort, in der Wirklichkeit, die kein Auge je gesehen und kein Ohr gehört hat, in dem Reich, in das nicht nur unsere Wissenschaft und Spekulation nicht hinreichen, sondern das nicht einmal unsere Wünsche wirklich erschwingen, … in der Gegenwart Gottes nicht für uns, sondern da, wo Er bei Sich ist und wir folglich die große Einheit und Alleinheit Gottes erwarten, die wir uns weder vorstellen können noch sollen, … dort in der nicht fleischlichen und nicht stofflichen und nicht fassbaren und nicht zu beschreibenden Transzendenz stößt das Auge, das wirklich einmal wagt, in das zu schauen, was dem Menschen unzugänglich ist, auf die allerunerwarteteste Überraschung. Da bei Gott sind - wenn nicht alles täuscht – anscheinend menschliche Wesen. Da bei Gott wimmelt es von solchen wie uns. Da bei Gott - kann das sein? spielt uns das Fernrohr auch keinen optischen Streich? - da bei Gott stoßen wir in unendlicher Entfernung und außerhalb aller Zeit auf unser eigenes, lachendes, unbeschwertes, aber auch unverkennbares Gesicht!
Meinten wir eben noch, Weihnachten heiße und zeige eindeutig und ausschließlich „Gott mit uns“, so führt der umgekehrte Blick, der nicht nur den irdischen, sondern auch den überirdischen Pol der Verbindung zwischen Schöpfer und Geschöpf betrachtet, zu der ergänzenden Einsicht: „Und wir mit Ihm“!
Die Menschwerdung Gottes, die Geburt Jesu Christi ist nicht nur die unumkehrbare Ankunft des Höchsten in der Wirklichkeit der Sterblichen, sondern ebenso auch der Beginn der Eigliederung der Menschheit in der Wirklichkeit Gottes.
Der unter den Menschen wenig willkommene Kommende macht denen bei sich Raum, die keinen Raum für Ihn hatten.
Der die Menschheit im Kind Jesus annimmt, nimmt sie auch auf.
Der vermenschte Gott - wie man im Barock bei uns gern sagte - vergöttlicht den Menschen … wie es die Väter der Kirche früh und schockierend frei schon nannten, und wie man es in der Orthodoxie bis heute zu bekennen nicht aufgehört hat.
Diese Umkehrung unserer Perspektive, die so konsequent nur auf die Welt schaut und nicht auf das, was über sie hinausgeht, ist allerdings unentbehrlich, will man wirklich die Tiefe und Höhe, die Weite und Breite dessen ermessen, was geschieht, als die fein säuberlichen Trennungen und Unterscheidungen, die Aufgliederungen in Gattungen und die Begrenzungen des Zutritts überschritten und aufgehoben wurden, mit denen man bis dato zwischen Himmel und Erde alles klar in Oben und Unten, Diesseits und Jenseits, in’s Reich der Menschennatur und das Reich Gottes aufgespalten hatte.
Was unvorstellbar war, weil es das Unvereinbare verband, … was unbegreiflich war, weil es das Unwahrscheinliche schlicht vollzog, … was unerhört war, weil es das Gefälle kippte und die Gefahr der Verwechslung riskierte, … was unwiderruflich war, weil es kein Zurück in die Vergangenheit gibt, … das alles also geschah in der verwirrenden und befreienden Grenzüberschreitung, die wir Weihnachten nennen: Es erschien im Fleisch, der von Rechts wegen nicht hätte geboren werden können, weil Er ewig ist, und Es gefiel Ihm, durch diesen Eingang uns völlig beschränkte Menschen am eigenen Leben die Unendlichkeit erfahren zu lassen, die uns weder zusteht, noch offen. So furchtlos wie Gott sich in die Vulnerabilität - die menschliche Verletzlichkeit - fallen ließ, so ohne jede Engigkeit lässt Er Menschen teilhaben an Seiner Vollkommenheit. Ein natürlicher, sterblicher Lebensanfang in Bethlehem löste endloses übernatürliches Leben aus. …….
Man könnte dieses Spiel mit den Paradoxien, die Zug für Zug unser Denken weiten und unsere geistige Undurchlässigkeit aufbrechen, weiter und weiter spielen.
Es hat vor allem die frühe Kirche und ihre großen Prediger entzückt, in solchen Aufsehen- und Kopfschütteln-erregenden Gewagtheiten, in solchen unheimlichen Antithesen und verblüffenden Pointen aus den Brettern, die wir vorm Kopf haben, eine Krippe für den überraschungsreichen Gott der Bibel, der frei von allem Zwang unserer Logik des Entweder-Oder ist, zuzubereiten.
Doch der allerabenteuerlichste Satz des christlichen Bekenntnisses, … die Botschaft, die man unter allen Umständen nur mit echter Bereitschaft zum Umsturz unserer selbstverständlichen Kategorien hören kann, … die Botschaft, die unser Selbstverständnis von den Füßen auf den Kopf stellt und uns zumutet, ganz andere zu werden, als wir zu sein glaubten, … diese völlige Verdrehung aller theologischen Tatsachen – Gott ist Gott! Mensch ist Mensch! - und dogmatischen Grundsätze – „Der Mensch darf nicht Gott sein wollen!“ - steht mitten in der Bibel.
Wir haben sie eben gehört (Joh1,1 – 14!).
Johannes, der Apostel der Fleischwerdung des Wortes, der Menschwerdung Gottes hat sie in seinem Liebesbrief formuliert: Das Wunder der göttlichen Liebe besteht nicht nur darin, dass G o t t M e n s c h e n k i n d wird, sondern als dessen Folge ebenso darin, dass der M e n s c h G o t t e s k i n d wird!
Er wird unser Art- und Todesgenosse. Und wir kommen in den Genuss Seiner Weise ewigen Lebens!
Das ist – wohlgemerkt! - kein geistreicher Aphorismus, kein raffiniertes Aperçus, kein stilvolles Bonmot und auch keine der sonstigen Blüten griechischer Philosophie und Rhetorik, die in der Sprache und Denkwelt der Alten Kirche ein solches Feuerwerk schillernder Geistesblitze entzünden, sondern den Satz, dass wir Menschen Gottes Kinder werden, ja sind – Kinder Dessen, Der selber Kind einer menschlichen Mutter wurde – … diesen Satz hat der junge Fischer aus der Zebedäiden-Sippe vom Genezareth spät in seinem Leben irgendwann einmal geschrieben.
Die alte Kirche wusste zu berichten, dass dieser Lieblingsjünger Jesu in seinem Greisenalter eine - sagen wir: fokussierte – Demenz erreichte, eine Beschränkung seines Wortschatzes und stetige Wiederholung seiner Äußerungen, die sich schließlich auf den einen Satz beliefen: „Kindlein, liebet einander!“
Die höchste Theologie des Neuen Testaments – der Prolog des Johannesevangeliums, der das Mysterium der Inkarnation, die Einfleischung des Logos, das Geschöpflich-Werden des schöpferischen Wortes Gottes besingt – diese höchste theologische Verdichtung von Weih-nachten, in deren Verlauf es tatsächlich auch schon heißt „Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden“ (Joh1,12), mündet in eine altersweise Einfalt der Liebe.
Das Bindeglied zwischen dem mystischen Aufschwung und dem ethischen Aus-klang aber ist die Gewissheit der Gotteskindschaft.
Das muss sich dem Johannes, der Jesus selber erlebt hatte, sogar bei seinem Tod zugegen war, aufgedrängt und eingeprägt haben: Dass die Bindung an Jesus uns wesentlich, ja wesenhaft verändert. Johannes selber hat unter dem Kreuz konkret erfahren, dass Jesus „versöhnt“ … uns zu Söhnen - und Töchtern - macht, als der Gottessohn, den wir zu Weihnachten immer wieder auch als Mariensohn besingen, die Adoption einleitete, die aus Johannes das Kind der Mutter Jesu und aus Maria die Mutter des Jüngers machte: „Weib, siehe, das ist dein Sohn!“ und „Siehe, das ist deine Mutter!“ (Joh19,26f)
Aus diesem Augenblick, der den Johannes in eine neue, lebensbestimmende und lebenverbindende Beziehung versetzte, ergab sich für ihn vielleicht allmählich der Gedanke des Undenkbaren: Wenn Jesus die Mutter mit uns teilt, dann ist es wirklich Ernst, dass er wie wir sein will und uns wie sich sieht. Wenn er seine menschliche Zugehörigkeit so inklusiv erweitert, dass wir sein dürfen, was wir biologisch nicht sind - Kinder seiner Mutter -, dann ist das keine familiäre, sondern eine theologische Verbundenheit an der Wurzel!
Der Sohn dieser Mutter, der mit dem Vater eins ist (Joh10,30), ist tatsächlich das Zeichen und die Wirklichkeit der Vereinigung der Unvereinbaren. Er ist das Sakrament der Einheit: Zwischen sich und uns. Zwischen verwandt und verfeindet. Zwischen Todverfallenheit und ewiger Lebensberufung. Zwischen Menschheit und Gottheit. Jesus ist das Tatwort, das uns verbindet, versöhnt und vereint: Menschliches Fleisch und Blut mit Gottes Leben und Licht.
Wo wir mit diesem Jesus Gemeinschaft haben, da sind wir tatsächlich auch Kinder Gottes, die Ihm so nahestehen und so lieb sind, so ähnlich sein können und so unlöslich zu Ihm gehören wie das Wort, das im Anfang war, bei Gott. ——
Wir merken: Das Fernrohr ist uns längst aus der Hand gesunken. Der Blick in eine Welt jenseits der uns Vertrauten – obwohl wir ihn versuchen müssen, wenn wir nicht in der Sackgasse des 19.Jahrhunderts stecken bleiben wollen, das diese Welt für alles und den Menschen darum für den einzigen Herrscher hielt – der Blick in die Wirklichkeit Gottes hat uns doch zurückgeführt zu einer menschlichen Mutter und ihrem Kind, das so verbindend ist, das solche Einheit auftut und selber stiftet.
Aber auch dieses Weihnachtsbild aus unserer unmittelbaren Menschennähe zeigt uns, was Gott ausmacht:
Wir mögen immer wieder gottlos sein wollen – Er aber niemals menschenlos!
Er will Kinder ohne Zahl, … Menschen, die Ihn Vater und Mutter nennen und darum versöhnt leben können.
Das ist also Gottes Weihnachtsgeschenk an Sich selbst, Der die Menschen so liebt, dass Er sie zu den Seinen macht, … vielen Menschen noch verborgen und fremd, aber doch unwiderruflich zum Offenbarwerden bestimmt!
……. Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget, dass wir Gottes Kinder heißen sollen; und es auch sind! Darum kennt uns die Welt nicht; denn sie kennt ihn nicht.
Meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder; und es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, dass wir ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.
Amen.
Christmette, 24.12.2021, Stadtkirche, Hirten-Weihnacht (Lukas 2,18), Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christmette 2021
Hirtenweihnacht (Lukas 2,18)
Liebe Gemeinde!
Heiligabend und Hirtenvolk gehören zusammen wie Roastbeef und Remoulade, wie Hering und Rote Beete im Salat oder Gin und Tonic im Glas. Eins ohne das andere ist unvollständig. Und wer das eine mag, wird das andere nicht verachten.
Hirtenvolk und Heiligabend.
Was genau sie verbindet? … Na ja, sie waren halt schon immer zusammen. Die alten Maler liebten sie, weil man nach so viel engelhafter Schönheit und neugeborener Süße eben auch mal Stoppeln, Schiet und Schielen auf den Fratzen der Viehknechte darstellen wollte, und die Krippenschnitzer konnten aus einem widerborstigen Stück Lindenholz oder Zirbelkiefer herrlich kantige Vierschröter und Lumpenkasper rausholen, die weder glatt noch ebenmäßig sein mussten, sondern ganz knorrig bleiben durften.
Schaftreiber und der Weihnachtsstall durchziehen die Folklore und Romantik, die Nachdichtungen und die Meditation der Geburt von Bethlehem. Kein Krippenspiel und keine naive Kinderzeichnung ohne sie. Und die Frühmesse von Weihnachten, die wir jetzt eigentlich feiern, heißt im katholischen Brauchtum bis heute das „Hirtenamt“.
Was genau aber die halbnomadischen Tagelöhner von den Schafhürden dabei eigentlich bedeuten, was genau diese letzten umherziehenden Viehhirten symbolisieren, deren ungesicherte Lebensweise an die Ursprünge Israels zurückerinnert, als Abraham, Isaak und Jakob auch im Rhythmus des Weidewechsels durch das fremde Land der Verheißung zogen, … das ist allerdings gar nicht sofort eindeutig zu benennen.
Fragt man eine jüngere evangelische Theologin, wird sie vielleicht von allen Unterdrückten und Verdrängten sprechen, die in den Außenseitern an der Krippe aus dem Schatten treten: Die Hirt:innen bereiten den Weg des Genderns vor.
Fragt man einen Vertreter des Fremdenverkehrs in den Salzburger Alpen oder dem Böhmerwald, dann sieht er in Jesu ersten Besuchern die besten Werbeträger für jene urwüchsige Gastfreundschaft, die aus all den treuherzigen Hirtenliedern spricht, die uns eine Weihnacht im verschneiten Gebirge so anheimelnd vorkommen lassen.
Fragt man einen Impfgegner, wird er vermutlich von den robusten Anpassung- und Überlebenstechniken der freien Wildbahn sprechen und in den zivilisationsfernen Naturburschen solche erkennen, die sich dem römischen Staat und seiner Zwangsraison trotzig entzogen.
Fragt man eine Kleinbäuerin auf Madagaskar, die der Dürre und der Hungersnot nichts mehr entgegenzusetzen weiß, mögen die ärmsten Erstgeladenen Gottes nicht nur eine soziale oder politische Hoffnung für sie verkörpern, sondern vielleicht auch den geistlichen Trost, dass das Kind Gottes vor allen anderen den Hoffnungslosen nahe sein will.
Die einfachen, wahrhaftig ungehobelten, ein wenig auch unberechenbaren Gesellen, die am Segen der Seßhaftigkeit keinen Anteil hatten, den Israels Patriarchen doch alle erwarteten, während Israels Messias ihn selbst nicht genoss, … diese obdachlosen und streunenden Knechte scheinen sich also für allerlei Deutungen und Spiegelungen zu eignen: Verkitschung und Ideologisierung nehmen sie in ihre Umarmung und machen revolutionäre Proletarier oder sentimentale Einfaltspinsel aus ihnen. … Hauptsache, das Hirtenvolk ist irgendwie da eingeordnet, wo man sie von heute aus im Blick behalten und für die jeweils eigenen Bedürfnissen nutzen kann. Aus den Hirten macht die Christenheit also so etwas wie eine Herde, die man hier- oder dorthin treibt, so wie es in die Tagesordnung der Gegenwart gerade passt. Mal rührend, mal aufrührerisch. Immer aber so, dass man selbst den Hirten zeigt, wo’s langgeht.
Doch wenn sie wirklich die Ersterwählten, die Unabhängigen, die Aufrichtigen und die Gerechten und all das andere sind, das man in ihnen sehen zu können glaubt, dann sollten wir vielleicht einmal aufhören, die Hirten in eine bestimmte Schablone unseres Weltbildes zu pressen, die dann aus ihnen Bannerträger des gemütvollen 19. oder des divers-inklusiven 21.Jahrhunderts stanzt. ———
Bedenken wir, dass sie das älteste unblutige Werk der Menschheit tun. Nach den Jägern kamen die Hüter. Die nicht-mehr-wilden Tiere zu weiden und zu versorgen, den Schritt von der Tötung zur Aufzucht zu gehen, die Weitsicht der Lenker der Schutzbefohlenen zu üben, … alle diese zivilisatorischen Fortschritte hingen am Hirtenamt. Und es führt tatsächlich eine unmittelbare Linie von den urzeitlichen Hirtenhäuptlingen der frühen nomadischen Menschenclans erst zum altorientalischen und dann zum klassisch-antiken Verständnis des Königtums. Die Mächtigen der Erde sahen sich gern und gaben sich gern als die Hirten der Völker. Noch dem Kaiser Augustus war es willkommen, sich als solcher titulieren zu lassen. Und schon die Propheten Israels, die das buchstäbliche Hirtenkönigtum des Hüteknaben David aus Bethlehem vor Augen hatten, griffen die Herrscher scharf an, die sie als schlechte Hirten sahen, so dass man kaum entscheiden kann, wer giftiger gegen die Pseudo-Hirten polemisierte: Jeremia (23) oder Hesekiel, mit dem berühmten Ausbruch (34,2+10): „Wehe den Hirten, die sich selber weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? … So spricht der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern.“
Biblische Hirtengestalten sind aber nun von solchen eindrücklichen Sprach- und Sinnbildern schlicht nicht abzulösen.
Wo die Bibel von den Hirten redet, die Israels Urväter waren, die seine Könige sein sollten und deren Maßstab der HERR selber ist, Der die Seinen auf einer grünen Aue weidet und zum frischen Wasser führt und Dessen Stecken und Stab trösten wie sonst nichts auf Erden (vgl. Ps.23), … wo die Bibel also von Hirten redet, da sind nicht irgendwelche Tölpel oder Alm-Öhis oder kernige Bu’am gemeint, sondern da geht es um den Inbegriff echter Verantwortung.
Die Hirten Bethlehems – so abgehängt und abgehalftert sie ohne Zweifel auch waren – rufen den ursprünglichsten Auftrag und Adel der Menschheit in’s Gedächtnis: Die Fürsorge für das Lebendige.
Mit den Hirten sind also die Ersten, die Christus auf Erden empfangen – und die er empfängt – Menschen, die selbst in eigener Armut und Demut nicht nur für sich selber sorgen, sondern für etwas, das ihnen anvertraut ist. ——
Doch das biblische Symbol des Hirten geht noch über diese Ebene des verantwortungsvollen Menschseins hinaus: Wenn man sich in die Denkweise und Bildwelt der Bibel versetzt, dann könnte einen sogar der Gedanke beschleichen, dass auf dem Feld in der nächtlichen Gemarkung von Bethlehem unten bei den Hürden und oben in der Höhe ein Dialog unter Gleichen stattfindet. Denn tatsächlich weisen innerbiblisch und nachbiblisch jüdische und christliche Überlieferungen darauf, dass man im vertrauten Alltag der Viehhüter nicht nur das Urbild königlicher Verantwortung, sondern auch den geheimnisvoll lebensnahen Auftrag der Engel verdeutlicht empfand. Die Engel, die des Einzelnen Bewahrer aber auch die Wächter und Lenker ganzer Völker sind, nehmen die Aufgabe der Hut und Führung ihrer Schutzbefohlenen ganz ähnlich wahr wie ein guter Hirte es tut: Sie wachen über den Weg und wehren Gefahren ab, sie schützen vor Fehltritt und Fall und achten auf den Zusammenhalt aller. Ihr Dienst an denen in ihrer Obhut ist leise, unmerklich und vor der Wahrnehmung der Beschützten beinah ganz verborgen. Kein Schaf spürt auf der Weide, wie im Hintergrund der Hirte wacht. Kein Mensch merkt seinen Engel ihn beschützen. Doch gerade dieses Verschwinden in einer Wolke der Selbstverständlichkeit ist es, was die Menschenhüter und die Tierhirten tief verbindet.
Und auf den Weiden in der Weihnacht rufen die himmlischen Wächter und Hüter ihren irdischen Brüdern zu, dass ihnen Großes und Gutes widerfahren ist: Ihnen, … die im Verborgenen sorgen, die sich mit einer Verantwortung tragen, nach der viel zu selten gefragt wird, die achtgeben auf andere und selber nicht geachtet werden, … ihnen, den dienenden Geistern, den helfenden Händen, den pflegenden Kräften, den unentbehrlichen Übersehenen ist heute der Heiland geboren.
Was aber das Hocherfreulichste an der Ankunft des Heilandes ist, das ist nicht, dass er die Hirten von der Härte ihres Daseins erlöst. Sie werden nach der Nacht an seiner Krippe vielmehr wieder umkehren, Gott preisen und loben und dann bei Tag und Nacht, in Frost und Hitze, sommers wie winters weiter die Lämmchen auf die Welt zu bringen helfen, die Mutterschafe schonend leiten, Angriffe abwenden, schmutzige Handgriffe leisten; sie werden weiter in der Bescheidenheit und Unbequemlichkeit ihres Wächteramtes, ihres Hirtendienstes da sein für eine Herde, die das nicht danken könnte, selbst wenn sie wollte; und dann werden sie eines Tages wettergegerbt und gichtig nicht mehr ausziehen können mit den andern, sondern liegen bleiben und aushauchen oder einer von ihnen stürzt ab, wenn er nach dem verlorenen Schaf klettert oder sie werden - wenn sie in der Weihnacht erst Hirtenbuben waren - von den Römern am Ende des jüdischen Aufstands gemetzelt werden, als trügen sie Dolche im Gewand, obwohl es zeitlebens nur Hirtenstäbe oder - David zu Ehren - kleine Schleudern waren.
Sie werden also nicht aufhören, Hirten zu sein.
Niedrig und gewiss auch ausgegrenzt. Selten im Licht. Meistens im Zwielicht.
… Und die großen Völkerhirten werden weit über die Zeit der Weihnachtshirten hinaus weiter das tun, was Hesekiel (34,3f) schon so leidenschaftlich an ihnen tadelte: „Ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Ge-mästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete holt ihr nicht zurück und das Verlorene sucht ihr nicht …“
… „Mietlinge“ wird das Kind in der Krippe diese verantwortungslosen, diese nur auf sich selbst und ihren Vorteil, ihre Sicherheit bedachten Menschenvernachlässiger nennen.
Doch allein das, genau das ist das Heil, das den Hirten von Bethlehem widerfahren ist!
Genau das und das allein ist die große Freude, die allem Volk widerfahren kann und soll: Zu hören, zu glauben und an sich selbst zu erfahren, dass das Kind in der Krippe geboren wurde, nicht um zu einem jener Pseudo-Hirten zu werden, die viel von sich geben und wenig wirklich übernehmen, sondern dass dieses Kind in der Krippe ein ebenso treuer, ja noch treuerer Hirte geworden ist, als die Schäfer von Bethlehem und die himmlischen Sänger.
Der große Hirte der Schafe - wie der Hebräerbrief (13,20) das Kind Jesus nennen wird - hat wie die Hüter auf dem Felde bei den Hürden mit der Fürsorge und Verantwortung, die das Menschen- und Engelamt ist, Ernst gemacht und macht es noch! Er trägt unbemerkt und unbedankt Sorge für alle. Er wendet das allgemeine und unausweichlich Unheil ab, in das der vereinzelte Mensch gerät, dem aber auch die ganze Herde der Menschen entgegenstrebt, weil sie dem falschesten aller Hirten vertraut – dem Tod, der sie in seinem Reich weidet (vgl.Ps.49,15). Er nimmt es mit den Feinden auf, die seine Herde gar nicht bemerkt – der unerkannten Sünde und dem selbstverständlichen Egoismus –, und er verteidigt sie gegen ihren Pakt mit dem Bösen und gegen die Finsternis mit dem eigenen Leben. Und das alles tut er übersehen von den allermeisten Menschen, unbemerkt wie die Schutz- und Hüteengel es sind und sogar sein wollen.
… Er ist da und es liegt alles an ihm, aber die Seinen nehmen ihn nicht wahr, sondern halten sich selbst für die Leithammel der Welt.
Aber in der Nacht der Viehhirten und der himmlischen Hirten und des neugeborenen Hirten in Bethlehem, da ist dennoch ein Pakt geschlossen worden: Die, die helfen wollen und werden, sind einander da begegnet. Die, die Verantwortung für andere zu übernehmen bereit sind, haben sich dort gefunden. Die, die ganz ohne große Gesten und eitlen Anspruch einfach das Amt des Auf-andere-Achtens untereinander teilen, haben da aneinander Freude gefunden, … Freude für immer. ——
Ein ganz klein wenig haben die letzten harten Jahre, die bitteren Zeiten der Krankheit und Krise es die Menschheit vielleicht sogar gelehrt, die unscheinbaren Hirten und Helfer, die Pflegenden, die Hüter und Wächter der Angewiesenen zu sehen und zu ehren, ihnen Dank abzustatten und ihren Dienst zu feiern in einer Welt, die den Selbstlosen und Hilfsbereiten bisher nur mit höhnischer Verachtung für solche Dummheit gegenübertrat.
Dass wir alle ohne einen Hüter im finsteren Tal dem Unglück ausgeliefert und im Angesicht unserer Feinde Hunger, Durst und Qual preisgegeben wären, hat sich vielleicht auch den bockigsten Einzelkämpfern mitgeteilt.
Wenn wir heute abend jedenfalls wieder mit den Schäfern an die Krippe getreten sind und nach dem Wort der himmlischen Herdenlenker dort den kleinen Hirtenjungen gefunden haben, der das Lamm Gottes ist und der sein Leben lässt für seine Schafe, dann widerfährt sie auch uns: Die große Freude, von der ein altes Lied, ein Lied für die stille Stunde am Bettchen eines Kleinkinds singt!
„Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin
über meinen guten Hirten, der mich wohl weiß zu bewirten,
der mich liebet, der mich kennt und bei meinem Namen nennt.“ [i]
… Das Kleinkind als der große Fürst der Engel und Hüter aller Herden auf Erden und im Himmel! …
Und alle vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten.
Amen.
Christvesper, 24.12.2021, Stadtkirche, Micha 5, 1 - 4a, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christvesper 2021
Micha 5,1-4a
Liebe Gemeinde!
Was ist die Geburt?
… Diese Weihnachtsfrage ist weniger dumm als sie zunächst klingt.
Was ist die Geburt? – Für manche werdende Mütter ist sie das stunden-, zuweilen tagelange Urereignis der Wehen, die so gewaltig sein können, dass die Gebärende dabei beinah mehr Erfahrungen mit dem Tod als mit dem Leben macht. Doch das ist das höchst aktive Erleiden, die höchst energische Passivität des Gebärens, … nicht die Geburt.
Für andre – die eigentümlich zweck- und tatenlosen Väter etwa, die bloß bangen und den Müttern mittelbar Mut machen oder deren Not notdürftig teilen können – … für andre mag es sich zuspitzen auf den Augenblick des Durchbruchs, in dem tatsächlich das bisher umschlossene Geheimnis sich aus dem Mutterleib löst und ein erstes Stückchen Schädel oder Steiß in die Welt hinausdringt. Doch mit diesen Minuten – in denen die Presswehen wie im Zeitraffer alles beschleunigen, aber gelegentlich auch quälende Stillstände sich in’s Endlose dehnen – … mit diesen Minuten endet nur die Phase, die medizinisch einen höchst biblischen Namen trägt, der am heutigen kirchlichen Gedenktag für Adam und Eva die ganze Urgeschichte unserer Wirklichkeit zusammenfasst: Die Austreibungsphase ist das, … aber beileibe nicht das Ganze der Geburt.
Denn mit der Drehung des Kindes und seinem dann oft so raschen glücklichen Verlassen des Geburtskanals geht der Exodus ja weiter: … Was wäre schließlich die sichtbare Ankunft ohne den ersten hörbaren Laut des Luftholens und Schreiens?
Und was wäre dieses in Fleisch und Atem - also Geist - wahrhaftig dasein ohne das Blut der Freiheit, wenn die Nabelschnur durchtrennt und aus einem lebendigen Ganzen wirklich zwei Wesen werden?
Und was wäre alles dies ohne das seelische Finden des neuen Menschen und der alten?
Und was wäre das große, erfüllende Gefühl ohne den alsbald einsetzenden, rein leiblichen Hunger und die Plagen, die mit dem Säugen und Trinken und Vertragen und Wieder-Loswerden der Nahrung einhergehen?
… Was von alledem ist die Geburt? Nichts und alles zugleich.
Hören Menschen eigentlich überhaupt jemals auf, geboren zu werden? Geht das plötzliche In-der-Welt-Sein mit allen ihren Gefahren, ihren Wundern und ihren Wiederholungen irgendwann in ein abgeschlossenes Fertig-in-der-Welt-Sein über? Wenn aber ja, wann endet dann dieses Fertig-Sein und beginnt das Nicht-mehr-lange-Haben-in-der-Welt? Fließen also die lebenslangen Nachwehen der Geburt und die Vorboten unseres ebenso lebenslangen Sterbens nicht tatsächlich ineinander? … Ist dann aber nicht alles, was wir erleben, Teil des großen Prozesses, den wir Geburt nennen, … ohne eingrenzen zu können, wo er endet?
Wir immer Sterblichen sind zugleich auch immer Geburtliche: So sehr wir auf’s Ende hin leben, so unablösbar sind wir zugleich vom Anfang. …
Zugegeben: Das ist Spekulation. Wissenschaftlich ist es nicht, den Menschen so von der Geburt her, so post-natal zu definieren, … obwohl manches in der Psychologie auf eine tiefe Gegenwart unserer allerfrühesten Erlebnisse deutet und die medizinische Statistik neben der in diesem Jahre so viel bemühten Mortalität auch die Natalität als Größe bemisst und immerhin eine bedeutende Philosophin, die das Böse in seiner Banalität erkundete - Hannah Arendt - die Geburtlichkeit des Menschen als sein entscheidendes Merkmal nicht zu banal fand[i], … so sind wir dennoch mit der Entscheidung, die Geburt für unbegrenzbar wichtig zu halten, auf ziemlich eigenartigen Wegen. …….
Aber es sind Wege, die nach Bethlehem führen.
Der erste Prophet nämlich, der in dem judäischen Dorf, aus dem König David stammte, etwas bleibend Wichtiges, ja die entscheidende Keimzelle der Heilsgeschichte sah, war der Prophet Micha. Er war ein Bauer, der weit westlich von Bethlehem, in Richtung der Mittelmeerküste zuhause war. Für die bescheidene Heimat der Davididen hatte er darum allerdings Sinn, während er ihre Hauptstadt, Jerusalem, als eine Metropole der Ausbeutung durch die Aristokraten und der Selbstbestätigung eitler Tempel-Eliten betrachtete.
Der Flecken Bethlehem dagegen, das Kleine-Leute-Kuddelmuddel aus fensterlosen, im Herbst und Winter schrecklich verräucherten Häusern, gammeligen Tennen und Schuppen, Viehunterständen und je nach Witterung und Wind Staub oder Schlamm auf allen freien Flächen, … dieses gottverlassene Nest brachte in dem Gottesmann des 8.Jahrhunderts vor Christi Geburt eine Saite zum Schwingen: So wie das Königtum dort 8 Generationen zuvor mit einem rotzigen Hirtenknaben angefangen hatte, so konnte die menschliche, menschennahe, humane, d.h. erdverbundene, gerechtigkeitsstiftende Herrschaft Gottes für das Volk der Armen im Lande anheben. … Nicht so gernegroß wie Jerusalem und Davids Nachkommen sich inzwischen gaben, sondern eben im Maßstab von Bethlehem Ephrata: Klein unter den Städten in Juda, aber von ursprünglicher und urwüchsiger Lebendigkeit erfüllt, … nicht zerfressen von Machthunger und zerfallender Menschlichkeit. ——
In diesem Blick des Micha auf den Ursprungsort einer Gott angemessenen Herrschaft, einer von Gott bewegten und erfüllten, einer aus Gott schöpfenden und von Ihm gespeisten Herrschaft, die den Schutz- und Wehrlosen zu Recht und Frieden und den Geplagten und Verschreckten zu Heil und Freuden verhilft, begegnet nun aber eine bemerkenswerte Formulierung. Von dem, in dem Gott für die Not der Menschen Verantwortung übernehmen wird, sagt Micha: Seine Herkunft ist vorzeitlich ewig, doch sein Ziel in der Zeit wird er erreichen, wenn die Gebärende geboren hat.
Damit aber hat Micha als Allererster versucht, die beiden für uns so widersprüchlichen Kategorien der Ewigkeit und der Geburt in einem einzigartigen Gedanken zu verbinden. Und der Eindruck, den sein Zusammenfügen eines zeitlosen Ursprungs mit einem die Weltgeschichte unbegrenzt prägenden Geburtsvorgang ergibt, ist tatsächlich viel nachhaltiger, als es der Bauernprophet aus Juda ahnen konnte, der vermutlich ja nur eine Umschreibung dafür suchte, dass der wirklich erwählte Herrscher über Gottes Volk von altersher vorherbestimmt ist. … Neben dieser weihnachtlichen Verheißung, dass Gott den Retter der Menschheit einst bewusst und gezielt in’s Leben rufen wird, hat Micha doch - beinah unabsichtlich - die Ahnung in Worte gefasst, dass mit solcher Erwartung des Messias eigentlich die gesamte Wirklichkeit der Welt als eine von Urzeit her gewollte Geburt zu begreifen sei:
Alles, was im Kosmos geschieht, alle Evolutionen und Komplikationen, alle Stadien und Bedrohungen der Schöpfung, alle Phasen der Entwicklung und Gestaltung von Natur und Geschichte sind also die Geburt oder die Hervorbringung, die Gott dem Universum bestimmt hat, … sie alle zusammen sind jener „Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her“. In diesem umfassenden, ursprungshaften Sinn ist unsere gesamte Lebenserfahrung „natal“, … „geburtlich“ oder eben auch „weihnachtlich“: Weil Gott der Welt das Werden, weil Er der Geschichte die Entwicklung eingestiftet hat und dem Glauben ein Kind!
Alles ist also Wachstum auf Gottes Zukunft hin, alles ist ein allmähliches Heranreifen der Lebensfähigkeit und Lebensfülle.
Zeit - wie wir sie kennen - ist Verheißung. ——
….. Doch kann man das wirklich sagen?
In einer Epoche so quälenden Stillstands und so bitterer Bedrohung wie unserer global kranken Gegenwart?
Kann man - auch wenn Weihnachten ist - so zuversichtlich tun, obwohl so viel schwerer Schatten über der Zukunft des Planeten liegt und so viel Bedrückung, so viel Angst sich im Gewebe aller Seelen unserer Zeitgenossen eingenistet hat?
Müssten wir nicht von Siechtum und Seuche, von Schmelzen und Schwund sprechen, statt von einem geschichtslangen Ausbilden und Austragen neuer Schöpfung, die Gott vollenden wird auf die Zeit, dass die, welche gebären soll, geboren hat?
Ist das nicht Bethlehems-Kitsch, weihnachtliches Süßholzraspeln, das der krassen pandemischen und ökologischen Krise dieser Tage nicht an die Wurzel geht, sondern bloß künstlichen Schnee - das Betäubungsmittel unserer Zeit - leise rieseln lässt? …….
Unsere Bibel antwortet mit Nein auf diese Fragen.
Denn sie enthält wenige andere Ab-schnitte, die so unmittelbar grausam, ja schonungslos brutal gewirkt haben, wie die herrliche Prophezeiung von der Geburt, die die Weltgeschichte schreibt und von der Geschichte, die sich als Geburt vollzieht.
Als Leser oder Hörer der Bibel möchte man Micha ja in den Arm fallen, möchte ihm den Mund zuhalten, da man weiß, dass ausgerechnet seine Verheißung vom unscheinbaren Bethlehem, in dem sich die Geburtshoffnung aller Welt verdichten wird, nach Jahrhunderten als exakt lokalisierte Anstiftung zum Kindermord in den Ohren des Herodes wirken wird (vgl. Matth.2,5f). „Sag es nicht!“, möchte man ihm zurufen. „Feind hört mit!“
Doch im gleichen Augenblick - in diesem Moment also! – fällt man sich selbst ins Wort! ....... Wenn die Verheißung, dass diese Welt heil werden kann, dass der Tod in dieser Welt also sterben und wirklich endgültig ungefährdetes Leben geboren werden soll, nicht mitten hinein in die Tragik unserer Wirklichkeit zielte … wozu wäre sie dann wohl gut? Wenn das unglaublich tröstliche Wort, dass alles ein Anfang ist und nichts zuende, nur Kitsch und keine Katastrophen auslöste, dann wüssten wir sofort, dass es nicht wahr, sondern erfunden ist, weil es nicht in diese Welt gehört.
Mit der furchtbaren Realität, die durch das Hoffnungswort von lebenslanger, ja weltgeschichtslanger Geburtlichkeit aufgestachelt wird - die Realität frühzeitigen, sinnlosen, gewaltsamen Sterbens - … mit dieser Reaktion auf ein Vertrauen, das dem Werden mehr Potential als dem Vergehen beimisst, beweist sich ja geradezu, dass die Todesmächte zittern, es könnte mit ihnen wirklich vorbeisein, … es könnte sich alles umkehren und statt des Endes werde der Ursprung das letzte Wort bekommen, … statt der Verneinung könnte sich die Bejahung durchsetzen, …statt des unweigerlichen Sterbenmüssens könnte das Prinzip des Geborenseins triumphieren.
So schrecklich es wahrhaftig ist, dass Micha dem Herodes mit seiner Ankündigung den Fingerzeig zum Weihnachtsort in dieser Welt gegeben hat, den Herodes dann zum Ort eines Massenmordes machte, … so entscheidend ist doch, dass genau solche krisenhaften Berührungen mit dem Verderben, solche schmerzlichen, tief verstörenden Phänomene des pressenden Wehs, der abgeschnürten Luft oder gellenden Geschreis aus tiefster Not auch zur Geburt gehören. Bis die geboren hat, die gebären soll, geht es immer wieder zwischen Jauchzen und Horror, zwischen Geschluchz und Ekstase hin und her.
Das wirkliche Weihnachten und unser aller Wirklichkeit als Weihnachten ist kein Idyll, sondern die Entfaltung des Ur-Dramas zwischen dem Dasein und dem Nichts. Dabei setzt sich schließlich das Leben durch im Sohn Davids, der endlich wieder im erbärmlich mickrigen Bethlehem und nicht im allzu sicheren Jerusalem, unter grausamen Umständen das Licht der Welt erblickte.
Genau weil diese Welt aber eben kein ungefährdetes Leben kennt, vollzieht sich die Entstehung der Erlösung, die Geburt des Heilands, der alle Leiden dieser Zeit aushalten wird, um Zeiten ohne Leid hervorzubringen, so umgeben von Schwerem, Schatten und Sterben: Allen, die dort im Schmutz ersticken, in der Unterdrückung verstummen, in der Sorge ertrinken, vom Leid gepackt oder vom Bösen überwältigt werden, ist heute der Heiland geboren in jenem kleinen Bethlehem, wo Schlichtes und Schreckliches die Wirklichkeit ausmachen.
Weihnachten in Bethlehem ist also tatsächlich nur österlich zu verstehen: Als der Sieg des Schwachen, als Triumph des Mitleidens, als Durchbruch und Ausgang aus allem Elend, aller Engigkeit und allem Erdrückenden dieser Welt.
Was also ist die Geburt? – Ostern.
Und Weihnachten ist sichtbar, greifbar, singbar, sagbar, fühlbar und glaubhaft jener Ausgang und Anfang, der von Ewigkeit her gewesen ist und unter uns in dieser Nacht Gestalt annahm, um uns alle mitzureißen durch die Wehen der Welt bis zum Durchbruch der neuen Schöpfung, die an dieser Krippe hier beginnt.
Amen.
2.Advent, 05.12.2021, Stadtkirche, Jesaja 63,15 - 64,3, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Advent - 5.XII.2021
Jesaja 63,15 - 64,3
Liebe Gemeinde!
Was tun in der Stille?
……. Das ist keine stimmungsvolle Frage, die das Gemüt ins leise Leuchten der Kerzen oder den lautlosen Tanz der Schneeflocken versetzen will. Es geht nicht um die Besinnlichkeit, die wir einander so häufig in diesen Tagen wünschen mögen. Es geht auch nicht um die eher beklemmende Ahnung, dass uns ein neuer Lockdown, mindestens aber sehr reduzierte Möglichkeiten an den Festtagen erwarten dürften.
Es geht um die wirkliche, die schreckliche Stille, … um das Schweigen.
… Gottes.
Wenn Gott sich in sein Schweigen hüllt, so tief wie der Schlittenfahrer im alten Russland in seinen Pelz. Wenn Gott sich in sein Schweigen hüllt, so tief wie das Verstummen nach dem Löschen der Lichter: Wenn hinterm Vorhang sich der Staub wieder auf der Bühne sammelt und im Orchestergraben; wenn in der leeren Kirche der letzte Rauch der Kerzen verweht ist und niemand mehr betet oder singt. Wenn Gott sich in sein Schweigen hüllt, so tief wie in der Nacht nach dem Ende aller Gottesdienste, nach dem Aussterben der Kultur. Wenn Gott sich in sein Schweigen hüllt, so tief wie die Ertrunkenen in die Dunkelheit der See.
Was tun in dieser Stille? …….
Viele sind wie unsere ein wenig dummen Hunde. Wenn jemand draußen vor der Tür zu hören ist, schlagen sie ausdauernd an. Hält sich derjenige auf der Schwelle allerdings still - obwohl die Hundenasen ihn vermutlich immer noch wittern -, dann ebbt die Aufregung rasch ab. Ein durch die Tür unsichtbarer Gast, der keinen Laut von sich gibt, hört für die Hunde auf zu existieren.
… Das ist die häufigste Reaktion auf Gott.
Weil wir Ihn nicht sehen und weil Er uns oft auch nicht auf anderen Wegen der Wahrnehmung nahekommt, löst Er sich für uns auf. Gott gibt es nicht, sagen wir dann. Gott ist tot. Gott war immer nur eine Erfindung. Ihr merkt doch, dass da niemand ist.
Aber Er hat doch geklingelt, sagen manche. Ganz laut hat Er gerufen. Es klang wie Donner von Posaunen auf einem feurigen Berg (vgl.2.Mose19,16), als Er den Menschen eine Richtschnur, eine erste Hilfe gab, Zehn Worte, durch die sie gut zu leben lernen konnten. Gott hat sich doch bemerkbar gemacht. Er hat doch scharf und deutlich und auch zärtlich wie ein Freund Einlass gesucht und Israel hat Ihn in seiner Mitte aufgenommen und dann ging das Haus kaputt, in dem Er Wohnung genommen hatte und Er wurde obdachlos mit Seinem Volk und später kam Er selbst an viele Türen, aber es gab bloß einen Stall und dann gab’s ein paar freundliche Häuser und viel Taubheit und wenig Willkommen und eine Grabkammer gab es, aber kein Verweilen und seitdem ein Laufen von Haus zu Haus, von Tür zu Tür und eigentlich gibt’s keine Tür, an der nicht schon Gott stünde, keine Klingel, keinen Klopfer, die Er nicht schon versucht hätte (vgl. Offenb.3,20); Er ist der Klinkenputzer der ganzen Welt, Der jedes Portal und jede Hintertür nutzen würde, wenn man Ihn reinließe, …aber mit Gewalt zerbricht Er nirgends ein Tor, Er stellt keinen Fuß rein, da wo man Ihm nur mit vorgelegter Kette misstrauisch so einen schmalen Spalt einräumt, weil Betteln und Hausieren verboten sind; und dass Er einst wie ein Dieb in der Nacht kommen wird, das hat Er zwar angekündigt (vgl.Matth.24,43), aber noch kann man Ihn einfach aussperren und weil Er ja nicht ständig Rabatz machen kann, sondern irgendwann auch heiser wird und den Schnabel hält und nur noch hofft, dass irgendwer Ihn doch nicht einfach da draußen vergisst, sondern Ihn hineinbittet und sich freut, dass Er eine halbe Ewigkeit lang auf der Fußmatte stand und nicht müde wurde, zu warten, … ja darum steht Er eben immer noch da, aber man hat sich an den Wartenden gewöhnt, niemand sieht Ihn, wenn die Menschen den Eingang nehmen oder den Ausgang, sie kommen und gehen an Ihm vorbei und Er ist still geworden, stumm und unsichtbar und sie sagen hinter ihren sicheren Türen, dass da nie jemand war, denn wie sie Ihn streifen, wenn sie in das Haus des Lebens treten und wie sie Ihn streifen, wenn sie es wieder verlassen müssen, das merken sie nicht: Gott ist für sie nicht da.
Das ist die Summe des kritischen, aufgeklärten, autonomen, mündigen Denkens.
Aber ist es zwingend?
Ist die inzwischen zum alten Hut, zur staubigen Selbstverständlichkeit gewordene Überzeugung, dass niemand draußen vor der Tür der sogenannten Wirklichkeit warte oder von außerhalb der sogenannten Welt zu erwarten sei, … ist diese unglaublich beschränkte Binnenperspektive der Erdbewohner zwingend?
Nicht zwingender, als wenn unsere Hunde sich wieder ins Körbchen trollen, um weiter zu schnarchen, weil nach dem im nächsten Augenblick vergessenen Schellen niemand mit der Tür in’s Haus fiel. …
Was aber könnten wir denn sonst tun in der Stille? …….
… Das alte Buch Jesaja lesen. Es hat eine unglaubliche Tonfolge. Es fängt laut an und stark. Der erste Jesaja, der im Tempel selber von den Seraphim, den Wächterengeln Gottes zum Rufer-Beruf tauglich gemacht wird (vgl.Jes.6) kündet Gericht und verheißt Heil mit der Stimme einer Glocke. Klarheit weht durch die ersten 40 Kapitel.
Dann fallen der Tempel und alles, was fest war, und der zweite Jesaja, der im babylonischen Exil ein Tröster werden soll, lässt sich hören mit der Reinheit einer Weidenflöte und der perlenden Ruhe einer Harfe, die sie an den Wasserbächen von Babel eigentlich in die Bäume gehängt hatten (vgl,Ps.137,2). Er singt von der Einzigkeit Gottes und Seiner Ewigkeit und vom Heil und Licht, das Gott durch Leid und Liebe für Israel schließlich schaffen wird.
Und nach diesem süßen Evangelium im zweiten Teil der Rolle des Propheten Jesaja gibt es noch einen dritten Teil. In dem weder die Klarheit noch die Tröstlichkeit der beiden früheren Propheten den Klang bestimmen. Die Motive im dritten Jesaja sind kürzer und variieren mehr, denn die Zeit dieses dritten Propheten ist zwiespältig: In ihr gibt es wieder ein sehr bescheidenes Leben in Israel und sogar einen lächerlich hinfälligen kleinen Tempel, aber es gibt auch noch die vielen Verunsicherten, die Gottes Weg nicht erkennen können und lieber freiwillig in der Verbannung geblieben sind. Hoffnung und Mahnung, Visionen und Frustrationen klingen daher am Ende des größten Prophetenbuches unharmonisch durcheinander.
… Und in die Pausen zwischen den unverbunden wirkenden Themen hinein dröhnt das Schweigen: … Ist Gott wirklich noch da? Kann Er in der Tat und mit der Tat überhaupt noch helfen? Oder doch nicht? …….
Es sind also keine Fragen, keine Themen unserer Gegenwart, wenn es darum geht, ob Gott vernehmlich oder verklungen ist.
Der Dreiklang der Jesajas – vom Grund- und Glockenton der Gewissheit über das zartere Schwingen des Trosttones hin zum Abbruch solcher erkennbaren Melodien – zeigt uns, dass die Wahrnehmung Gottes immer bedroht, von altersher nie selbstverständlich und auch in der Vergangenheit eine verschwindende war.
Gott ist immer schon von der Blindheit und Taubheit, von der Angst und der Lustlosigkeit des Menschengeschlechtes in Frage gestellt worden.
Aber nicht immer schon ließ die Menschheit sich darüber so beschwichtigen wie heute. Gottesferne und Gottlosigkeit wurden nicht immer schon mit Achselzucken und dem Griff zur Fernbedienung oder zu einem anderen unserer Ersatzapparate für den Abwesenden beantwortet.
Es galt nicht immer schon, dass Gott, wenn wir Ihn nicht wahrnehmen können, dann eben nicht Gott ist.
Ganz umgekehrt geradezu: Beim letzten Jesaja, beim Propheten aus der Unklarheit, beim Propheten, der den Nebel und das Verstummen sich ausbreiten spürt, wird der ungewisse Gott, der Gott, Den man so schlecht fassen, so wenig nur ahnen, so erschütternd schwach nur erkennen kann, gerade bei Seinem Gott-Sein gepackt!
… Nicht, dass Er nicht Gott wäre, ist für Jesaja die Erklärung für die Erfahrung der Ferne Gottes.
Vielmehr begegnet Jesaja dem entrückten, dem undeutlichen, verborgenen, entzogenen Gott, … dem Gott hinter der Tür, dem Gott außerhalb des Gesichtsfeldes und aller Hörweite der verlassenen Menschen mit einem unerwarteten, mutigen, ergreifend übergriffigen, angreifenden Schrei:
Sei endlich Gott!, heißt es da.
Wir können Dich doch nicht zu Gott machen!
Wir können das nicht tun, und auch kein Segen und kein Glauben Abrahams können uns Dich erfahren und darin dann getrost sein lassen.
Wenn Du, Gott, nicht mit Macht und Eifer, … wenn Du nicht mit einem Wagnis und einem Wunder, … wenn Du nicht mit ungeahnter und uns unzugänglicher Entschiedenheit Deinen Weg zu uns, Deinen Heilsweg bahnst, dann bleiben wir ohne Dich!
Wenn Du nicht Dein Gottesziel verfolgst, … wenn Du nicht Deine Gottespläne in unsere Wirklichkeit trägst, … wenn Du nicht aus dem Himmel auf die Erde fährst, … wenn Du den Sprung nicht springst, … wenn Du die Ferne nicht entfernst, … wenn Du nicht jenseits des Jenseits gelangst, … wenn Deine Vollkommenheit nicht ins Verkommende kommt, … wenn Du nicht hinunter und nicht hineindrängst: Wer sollte Dich wohl zu nötigen wissen?
Wie können wir die Tür öffnen, wenn Du sie nicht sprengst?
Wie können wir durchlässig werden, wenn Du nicht mitreißt und zerreißt, was Dich aussperren möchte?
Wie können wir Dich aufnehmen, wenn Du uns und die Welt nicht aufbrichst?
Wie können wir Dich eintreten lassen, wenn Du nicht eintrittst … die Mauern und Riegel und Schutzwälle und Gitter, die diese Welt gottlos halten wollen?
… Unsere Gottlosigkeit kannst nur Du überwinden, weil nur Du Gott bist!!! ——
Das ist der eigentliche Ton des von uns als so tragisch und so resignativ missverstandenen Klagegebetes des orientierungslosen, schwankenden, angefochtenen Volkes zwischen Verzweiflung und Vertrauen, dem Jesaja seine Stimme leiht.
Der bleierne Himmel ihrer Zeit ist genauso wie der leere, sinnlose, verheißungsarme Horizont unserer Tage nur von dieser Seite, nur von Innen her so trüb und grau und so verlassen.
Weil wir uns wie die Hunde im Körbchen verkriechen. Weil wir unserem Nicht-Sehen und Nicht-Hören zutrauen, dass es uns die ganze Wahrheit zeige.
… Wenn aber die Wahrheit draußen ist, auf der Seite, auf die unsre sinnliche Wahrnehmung nicht hinüberreicht, dann ist wahrhaftig nicht gesagt, dass wir gottlos und vergessen hier, im Inneren der Welt leben.
Denn das, worum der Prophet das klagende Volk bitten lässt, dessen verstocktes Herz Gott nicht fürchten, also schlicht nichts von Ihm merken kann, ein Volk, das keine Ahnung von Ihm hat und also geworden ist wie solche, über die Er niemals herrschte und wie Leute, über die Sein Name nie genannt wurde, … worum der Prophet also dieses Volk bitten lässt, ist doch gerade, dass es eine Wahrheit erfahren will, die es nicht wahrnimmt, eine Wahrheit, die Gott wahrmachen und sie dann für wahr nehmen lassen muss!
Das Durchbrechen der Begrenztheit, das Durchstoßen der Definitionen, der endlichen Abriegelungen und Abfertigungen, durch die wir ausschließen, was in Wirklichkeit nur außerhalb unseres Fassungsvermögens und unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle ist: Darum bittet der Prophet im Namen derer, die er ausgerechnet mitten in ihrer Gottlosigkeit von Gott als Vater sprechen lässt.
… Und seine Bitte, dass der Vater im Himmel den Himmel verlassen, dass der König der Herrlichkeit die Herrlichkeit aufgeben und in die Hilflosigkeit fahren möge: Sie ist erfüllt worden!
Die Berge, die dabei verbrannt und geschmolzen sind, sind die Olympe der von den Menschen gemachten Götter. Kein Parnass, kein Capitol, kein Gipfel der Selbsterhöhung der Sterblichen, keine Spitzenleistung irdischer Phantasie, kein Höhepunkt philosophischen Aufschwungs bleibt bestehen neben der spektakulären Selbsterniedrigung Gottes.
Alles verdampft, was Menschen sich an Gewaltigem und Unübertrefflichem denken, … es verflüchtigt sich alles im Angesicht des einzigartigen Wunders, dass Gott tatsächlich Sein Reich verlassen hat und in geschichtlicher Zufälligkeit, irdischer Hilflosigkeit, ja sterblichem Ausgeliefertsein ein Menschenkind wurde, Fleisch, Not und Tod annahm und herabfuhr durch alle Grenzen zwischen Unsichtbarkeit und Sichtbarem, zwischen Vollkommenheit und Schwäche, zwischen dem Jenseitigem und unserer Seite, zwischen Ewigkeit und Zeit, zwischen Himmel und Erde.
Gott hat alle Riegel, die das ausschließen, die Ihn ausschließen gesprengt, alle Tore aufgestoßen, alle Türen durchschritten von der abstraktesten Idealität der Transzendenz durch die Pforte des Lebens in Marien Schoß hinein in die Realität unseres Daseins bis hinunter in das Reich des Todes, dessen Schranken Ihn auch nicht halten konnten.
Alle Türe, alle Tore, alle Grenzen, alles hat Er aufgeschlossen.
Den Himmel verlassen.
Ist erschienen unter uns.
… Wir können Ihn nicht sehen?
Nicht hören? …
… Was sollen wir tun, in dieser Stille?
Feiern, was kein Ohr gehört und kein Auge gesehen hat: Gott selbst …. in Jesus Christus: Ganz und wahr und wirklich!
Der so wohltut denen, die auf Ihn harren!
Amen.
1.Advent, 28.11.2021, Stadtkirche, Jeremia 23, 5 - 8, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent - 28.XI.2021
Jeremia 23, 5 - 8
Liebe Gemeinde!
In mancher Hinsicht führt die Adventszeit uns in die Irre.
Sie ist - trotz der Pandemie, oder vielleicht auch gerade deswegen - für uns oft ja eine einzige hemmungslose Feier der Gewohnheiten, der Rituale und des altvertrauten Liebgewonnenen. Im Advent muss es wieder so sein wie’s früher war, … es soll klingen, duften, schmecken und sich anfühlen wie immer.
Doch ausgerechnet das - das Versprechen unveränderter Wiederholung - kann man bei Gott nicht finden. Gott ist nur deshalb der „alte Gott“ mit den „ewigen Armen“ (vgl.5.Mose33,27), weil Er so radikal das ist, was Er im Anfang war: Schöpferisch.
Wer Gott als die Garantie von gestern betrachtet, wer Gott als den letzten Zeugen einer Vergangenheit, die sich heute kaum noch durchsetzen kann, sieht, der ist Heide oder Atheist. Denn die einen wie die anderen kennen die Götter, die sie machen oder verwerfen.
… Nur die Gemeinde des biblischen Gottes hat es mit Einem zu tun, Der nicht feststeht und der ewig Gleiche wäre (obwohl Er der selbe bleibt!), sondern von Zeitalter zu Zeitalter, von Mensch zu Mensch, von Tag zu Tag ein Neuer ist (nicht ein Anderer!), der Herr der Gegenwart und in jedem Augenblick der alleinige Ursprung aller Zukunft. Dieser lebendige Gott, Der sich dem Mose als der „Ich werde sein, Der Ich sein werde“ geoffenbart hat (vgl 2.Mose3,14), ist kein Fertiggott, keine Wahrheit-wie-sie-immer-war, kein alter Bekannter der Väter, sondern … ein ungeborenes Kind, eine Erwartung, ein Besuch aus der Zukunft.
… Das ist ja immerhin unmissverständlich das eigentliche Adventsgeheimnis, der wahre Zauber dieser Zeit vor dem kommenden Fest: Es ist alles im Werden, alles in der Entstehung; nichts ist schon da, aber allem dürfen wir entgegensehen.
Advent bedeutet also für die, die ihn christlich feiern, den bewusst, ja notwendig ungewohnten Gedanken an einen unvollendeten Gott und eine Gotteswirklichkeit, die sich erst entwickelt[i].
Nun mag man das vielleicht für einen durchaus modernen, für einen zeitgenössischen Gedanken halten, der einer Welt, die alle Festlegungen abstreift, entgegenkommt. Doch die Tatsache, dass Gottes Geschichte uns nicht als abgeschlossenes Werk vorliegt, sondern als eine unvollendete Symphonie, ist in der ganzen Bibel bezeugt, die sich damit - entgegen unseren Vorurteilen, aber entsprechend unserer Erfahrung - als ein Buch ohne Nachwort, ja als ein einziges Vorwort zum richtigen Leben, zur kommenden Menschheit, zur Erlösung der Welt zu erkennen gibt. Zukunftsmusik: Das ist die Bibel. Eine Ouvertüre.
… Wie aufregend aber und wie ungewiss es wirklich ist, wenn man nicht weiß, was kommt, nicht vorhersieht, was sich entwickelt, nicht ahnt, wie es weitergeht, das sollte bei aller Freude an der Offenheit nicht unterschlagen werden: Die jüngste Vergangenheit hat ja auch das bewiesen.
Und an diesem ersten Advent des zweiten Jahres unserer Ungewissheit tritt uns in der scheinbar uralten Prophetie des Jeremia eine beinah schockierende Neuigkeit entgegen: Schon in den letzten Zuckungen der Welt von Juda, die doch immerhin auf die beiden heilsgeschichtlich erwählten Könige David und Salomo zurückging, als man am Hof und Tempel von Jerusalem geradezu von der Überlieferung hypnotisiert so tat, als müsse die Zukunft die Fortsetzung der Vergangenheit sein, wagte Jeremia einen denkwürdigen Angriff auf das ererbte Glaubensgut.
… Er warf - um es nicht einmal übertrieben zu formulieren - das Credo auf den Schrotthaufen der Geschichte. Das, worauf sich Israels Gedächtnis gründete, das Urdatum der Erlösung erklärte Jeremia für ein befristetes Bekenntnis, das irgendwann einmal auch der Vergessenheit anheimfallen könnte, weil es von Gott selbst überholt werden wird.
Statt auf den Exodus zurückzublicken, mit dem die Geschichte des Volkes Israel begann, würde man einst auf die Heimholung Israels aus der Zerstreuung als auf das größte Wunder und den klarsten Gottesbeweis schauen. So prophezeite Jeremia: „Es wird die Zeit kommen, da man sagen wird: So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.“
Diese Theologie der Zukunft belächelte man in Juda müde und zynisch: Das wusste doch jeder, dass das Brudervolk im Norden, Israel verloren war, weil einer der hungrigen Nachbarn - Assur - es schlicht verschluckt hatte, weshalb man ja eben in Juda, der Südhälfte des einstigen Davidsreiches gelernt hatte, sich mit den Großmächten zu verbünden. Und so lange man mit Ägypten eine vorteilhafte Allianz hatte, würde Babylon niemals anzugreifen wagen, und man hatte ja auch noch Jerusalem und den salomonischen Tempel, die so viel Verheißung darstellten und die im Süden wegen ihrer Greifbarkeit noch viel wichtiger waren als die Bindung an das Mose-Gesetz, und man würde sich immer nur in’s Gedächtnis rufen müssen, wie der HERR die Israeliten aus Ägyptenland geführt hatte, um getrost feststellen zu dürfen, dass das schon das Ziel der Geschichte und man selber ihre Krönung war und alles nun bleiben würde wie bisher.
Diese Seifenblase falscher Sicherheit zerplatzte noch in den Tagen des Jeremia.
Er selber wurde in den Strudel der irren Politik, die Jerusalem zum Affen Ägyptens und zum Opfer Babylons machte, hineingerissen und alle seine spöttischen Feinde in Juda, die nichts Neues in der Welt erwarteten, schüttelte Nebukadnezar wie Fallobst in seine Deportationskörbe.
Da war auch im südlichen Teil des alten Israel die Heilsgeschichte vorbei.
„Siehe, ich mache alles neu.“ (Offenb.21,5) …….
Dass Jeremia, der Untergangsprophet, der selbst in der Krise des Volkes Gottes unterging, es allerdings mitten in der ablaufenden Zeit für möglich hielt, über alle zurückliegenden Erfahrungen mit Gott vorauszublicken auf eine völlig unwahrscheinlich anmutende Zukunft, das sollte uns zu denken geben!
Erstens muss uns der ungeheure Mut, sich nicht zu klammern an die Überlieferung, sondern die Hoffnung auf gänzlich unbekanntes Neues zu lenken, im Blick auf das „Neue“ Testament daran erinnern, dass es das wirklich gibt und geben darf: Eine Offenbarung Gottes, die nicht einfach bruchlos fortsetzt, was schon war, sondern Ungeahntes, Unvorhersehbares, Nie-Dagewesenes enthüllt. … Wir sind wohl doch zu kleinmütig, wenn wir in Jesus Christus nur die Fülle und Erfüllung des Alten Testamentes sehen wollen, wenn Gott doch - wie Jeremia es verkündete - tatsächlich durch neue Beweise seiner Kraft und Herrlichkeit über die höchsten Glaubenssätze von ehedem hinausgeht.
Wenn das aber in Israel in alt- und neutestamentlicher Zeit wahr ist – dass Gott ganz neue Seiten aufschlagen und die Vergangenheit verblassen lassen will! – …, wenn die Bibel sich selber also umblättert und auf das weist, was nicht schon in ihr steht, sondern erst noch kommen soll: Dann muss - gerade wegen ihrer Bibelliebe - die Kirche zweitens die selbe Beweglichkeit aufbringen, wie Jeremia sie - vergebens - von den Judäern seiner Tage verlangte. ———
Der Advent, die Zeit der schamlos-schönen Nostalgie und Gewohnheitspflege ist also in Wirklichkeit dazu da, dass wir ins völlig Experimentelle, ins Fremde und Freie hinausdenken und uns wie Jeremia wagen eine Zeit und Weise Gottes zu denken, neben denen das uns Vertraute in den Hintergrund treten könnte! …….
Bei der tastenden Frage, wohin die neuen Wege Gottes womöglich weisen könnten, muss ich unwillkürlich an meine Urgroßmutter zurückdenken, die das Wort des Jeremia, dass einst die Heimkehr der Israeliten ihren Auszug aus der Sklaverei als Rettungswunder verdrängen werde, ganz persönlich nahm: Ihre Salzburger Vorfahren waren - wie das Volk der Bibel, bloß freiwillig, mit dem Willen zur Freiheit - ins Exil gezogen, um in Ostpreußen als Lutheraner eben Glaubensfreiheit zu finden. Meine Urgroßmutter kniete sich darum noch 250 Jahre später morgens an ihr Bett, um Gott aus lauterem Herzen zu danken, dass er den Doctor Luther gesendet habe, „um die Kirche aus der babylonischen Gefangenschaft des Papstes zu befreien“.
… Ich denke, diese Feier einer kirchen-, ja heilsgeschichtlichen Gottestat in der Reformation hat inzwischen aber in den Hintergrund zu treten, um der Hoffnung zu weichen, dass wir uns einst zu dem Gott bekennen werden, Der die Kirche um der Wahrheit willen nicht nur gespalten, sondern in der Wahrheit versöhnt hat.
Damit die Spaltung, die unsre Gegenwart vergiftet, überwunden werden kann, wird man wohl auch andere Vergangenheiten, denen ich dankbar verpflichtet bin, in Vergessenheit geraten lassen müssen: Die tiefe, persönliche Frömmigkeit, die uns der Pietismus geschenkt hat und der ich selbst so viel verdanke, ist kein reines Glück mehr, seit man sogar in der Zeitung lesen kann, wohin ihr Erbe führt[ii]: Dass jede fromme Seele ihre eigene Erleuchtung und Bekehrung, ihre persönliche Überzeugung von und Bindung an die Wahrheit erfahren soll, schlägt seit langem gerade in den ehemals pietistischen Landstrichen Württembergs und Sachsens um in eine Abneigung gegen allgemeinen Konsens und gegen die Anerkennung übergreifender Wissenschafts- und Wertmaßstäbe. Dass der Vorrang der individuellen, der direkten Gottesnähe aber bei den längst weltlichen Urenkeln der Frommen in eine Verweigerung gegen Impfungen führt, weil man schließlich doch sein eigener Experte ist, zeigt wie der Segen der Erweckungszeit vergangen ist und wie wir hoffen müssen, einst nicht mehr von Gott zu sprechen, Der sich jedem Einzelnen subjektiv zu offenbaren vermag, sondern davon wie Er auch in rationaler Objektivität Gläubigen und Ungläubigen zugleich Zugang zu Sinn und Hilfe schenkt.
Auf diesem Feld aber - der Gemeinsamkeit von Menschen, die glauben und solchen ohne Glauben - wird uns die zweite Adventszeit der Pandemie, die das Bisherige verschwinden macht und die Welt radikal verändert, ohnehin in Erinnerung bleiben: Beginnt mit ihr doch ein neues Kirchenjahr, in dessen Verlauf die Zahl der Christen in unserem Land zum ersten Mal nur noch eine Minderheit der Bevölkerung ergeben könnte.
Wir werden in Zukunft also nicht mehr nur von dem Gott sprechen können, Dessen Wort und Wesen vielen von uns durch Kindergottesdienst und Schule, durch Konfirmation und Kultur bekannt sind und Der in der Taufe schon den Anfang unseres Lebens, in Gottesdienst und Abendmahl aber dessen Rhythmus oder Wendepunkte geprägt und mit Sich selbst erfüllt hat.
Wir werden also nicht mehr sagen: „So wahr der HERR lebt, Den wir kennen“, sondern wir werden sprechen von dem lebendigen Gott, Den wenige nur ahnen, dem immer weniger mit Vertrauen und immer mehr mit Skepsis begegnet wird. Wir werden Gott immer weniger voraussetzen und immer seltener als klaren Fall bezeichnen können. Immer häufiger werden wir nichts mehr nennen, nichts mehr zeigen können, das allgemein als Seine Handschrift oder Seine Wegweisung gilt.
Öfter und öfter werden wir dagegen erleben, dass nicht nur die fröhlichen oder kämpferischen oder teilnahmslosen Atheisten, Agnostiker oder Unreligiösen, sondern wir alle nichts Altes, Einfaches, Immergrünes von Dem wissen, glauben oder hoffen, Der alles leben lässt und liebt und letztlich fügt, und dass wir darum alle in eine Zukunft gehen müssen, die voller Unbekanntem, … voll des Fremden, … nur noch offen ist.
… Da wird es dann aber nicht an uns Christen sein, so zu tun, als wäre alles in der Unklarheit uns klar, … als beantworte der alte Katechismus alle Fragen, die noch nie gestellt werden mussten, … als stünde in den Schriften, was auch nicht in den Sternen steht, weil es eine Zukunft ist, die von der labilen, unvernünftigen, eigenwilligen, sprunghaften und herzlosen Natur des Menschen abhängt. …….
Wir wissen alle nicht, was kommt.
Wir spüren aber alle: Es wird das Alte nicht sein, die Wiederkehr der vorigen Zeiten, die Fortsetzung des längst schon Vorgezeichneten.
… Sondern Zukunft wird es sein. … Echte. Unerforschte, undurchdringliche, unheimliche Zukunft. ———
Seit vorgestern scheint die Zukunft für die nächste absehbare Zeit eine neue Abkürzung, eine Formel zu haben, mit der man sie bezeichnen, aber kein bisschen einordnen oder einfacher machen kann: Das kleine O des griechischen Alphabets, das Omikron.
Dieser kleine, kurze Buchstabe, mit dem eine neue Variante des Virus benannt wird, das unsere Gegenwart so sehr verändert, reicht schon, um die reine Unvorhersehbarkeit dessen, was uns bevorsteht, zu umschreiben.
… Aber gerade in dieser Qualität des für uns völlig Unbekannten, findet sich ja die ursprüngliche, die wahre Gestalt des Advent!
In ihm bereiten wir uns vor auf Den, Der uns nicht aus der Vergangenheit nach- oder angeht, sondern mit Seiner Zukunft, Seinem Reich bevorsteht und entgegenkommt: Sein Wachstum und Seine Entwicklung erwartet die christliche Gemeinde mit der Bereitschaft für das Neue, die jede solche Erwartungszeit erfordert, … wie jede werdende Mutter, jede Familie, die ein neues Wesen und damit eine ganz und gar veränderte, ungewisse, aber ohne jeden Zweifel durch das noch unbekannte Kind bereicherte und bestimmte Zukunft vor sich sieht.
Dass dieser Sproß, diese Zukunft Gottes sich entwickelt und erwachen wird, das ist der verborgene Sinn auch dieser Adventszeit in der Krise.
… Und das glauben wir nun allerdings: Mit Ihm, der Gottes kommende Zeit, Gottes Ewigkeit bringt, da wächst nichts Nebensächliches heran und endlich auch nichts Vorübergehendes mehr, nichts, das einst gewesen und vergessen sein wird. Mit Ihm und durch Ihn kommt das, was die vielen einander fremden, von einander entfernten Lebensgefühle und Denkweisen, die Zweifels- und die Glaubenswege der unterschiedlichsten Menschen verbinden und vereinigen wird.
Denn Er heißt „Der HERR ist unsere Gerechtigkeit“, … unser aller Lebensrecht und unsere weltweite, gemeinsame Lebensgrundlage.
Mit Ihm kommt also das Omega, das große O, das Ziel aller offenen, ungewissen Zukunft.
Mit Ihm kommt das neue Licht. Das, was bleibt.
Hosianna[iii]!
Amen.
[i] Vgl. dazu das Karl Barth interpretierende Werk des in diesem Jahr verstorbenen großen Theologen Eberhard Jüngel, Gottes Sein ist im Werden, Tübingen 19763).
[ii] Vgl. den Artikel von Reinhard Bingener „Ist der deutschsprachige Raum eine Hochburg der Impfgegner?“ in der FAZ vom 22.11.2021.
[iii] Das Palmsonntagsevangelium (das zum 1.Advent konstitutiv dazugehört!) vom Einzug des unkenntlichen, verwirrenden Verweigerers aller Macht und Repräsentation, der doch der Kyrios ist, steht als die beste Veranschaulichung, dass die Zukunft anders kommt, als wir Menschen es antizipieren, und doch das Heil bedeutet, über allem, was wir in diesen Wochen und dieser Zeit zu hören und zu glauben haben.
Ewigkeitssonntag / Gedenktag der Entschlafenen, 21.11.2021, Stadtkirche, 5.Mose 34, 1 - 8, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 21.XI.2021
5.Mose 34, 1-8
Liebe Gemeinde!
Sterben, das sei der Tiefpunkt denken wir. …Weil es uns tatsächlich – uns, die Hinterbliebenen, uns, die Lebenden! – in einem finsteren Tal, manchmal in einem Abgrund der Trauer zurücklässt: Gebeugter, bedrückter und niedergeschlagener als da unten in der Dunkelheit nach dem Abschied, … niedergeschlagener, bestürzter und lahmgelegter als da unten in der plötzlichen Stille des Endes, … lahmgelegter, versunkener und untergegangener als da, wo uns einer gestorben ist, können wir vielleicht gar nicht sein. … Denen, die weiter leben, ist das Sterben ein Tiefpunkt.
Wie aber ist es für die, die sterben?
… Wir können nicht verallgemeinern.
Aber eben auch nicht von uns, den Lebenden auf die schließen, die schon hinter sich haben, was noch vor uns liegt.
Und da hören wir von Mose, dem Mann Gottes, dem, der „Gottes Freund“ genannt wird (vgl.2.Mose33,11), dass sein Sterben ganz anders gewesen sein muss, als unser Bild des Abstiegs und Niedergangs und des Tiefpunktes es nahelegt.
Mose, dessen Leben nach dem großen Aufbruch des Exodus ein einziges Wandern im Kreis wurde – vierzig Jahre Wüste, die ihn doch nicht zum Einzug in Kanaan gelangen ließen – … dieser Mose mit der unerfüllten Lebensgeschichte, mit dem unabgeschlossenen Abenteuer wurde von Gott am Schluss nicht hinunter und hinaus geführt, in die Tiefe des Vergessens, sondern das Ende des Mose ist wie der Ausgang Jesu mit einer ganz besonderen Richtungsangabe verbunden: Der Vermittler des ersten Bundes mit Gott ist wie der Mittler des erneuerten Bundes zu seinem Tod hinaufgezogen (vgl. 5.Mose32, 50; Mk10,32f)!
Sie beide – der, der in der Bibel Gottes Freund heißt und der, der Gottes Sohn ist – … sie beide sind dem Tod nicht als Erniedrigung der Sterbenden begegnet, sondern haben durch ihn schließlich Erhöhung erfahren.
Dabei wissen wir, dass der Sohn, der ans Kreuz erhöht wurde, schreckliche Qualen litt.
Der Freund aber – der, den die christliche Theologie als Bringer des Gesetzes und Symbol einer angeblichen Gerechtigkeit durch Strafe missverstanden hat – Mose also starb hoch erhoben über das Labyrinth des Lebens, auf dem Gipfel, auf dem das Kleine klein, das Große groß erscheint[i] und man nicht mehr aus der Mitte der Not, die uns verwickelt, sondern aus der Weite der Freiheit, die uns verheißen ist, das Ganze schaut.
Mose starb einen schönen Tod.
Auch an einem Tag, an dem wir den Schmerz, den das Sterben zufügt, nicht vergessen können, begegnet uns also heute eine andere Seite der Endlichkeit. Sie ist nicht nur der Bergrücken, auf dem wir endgültig absteigen.
Unsere Lebensbewegung kann uns - im Gegenteil - auch erheben und zum höchsten Punkt emporführen.
Das Beispiel des Mose aber mag uns gerade in diese Blickrichtung lenken.
Mose, dem die Formung, ja die Bildung einer chaotischen Menschenmenge - das eben noch versklavte Israel - zufiel, die als Losgelassene keine Bindung, keine Verantwortung tragen wollten, sondern ihren Träumen und Bedürfnissen folgen, … Mose steht vor uns als der Übervater schlechthin. Sein ganzes Leben ist der energischen und frustrierenden Erziehung eines zur Unabhängigkeit drängenden, lernenden, eigensinnigen Volkes gewidmet. Er lenkt sie und will sie einbinden in die Gebote, an denen sie zur Mündigkeit, zur Partnerschaft mit Gott heranwachsen sollen, und sie - wie alle Lebensanfänger - sind stur in ihrem Beharren bloß auf äußerlicher Geschwindigkeit beim Erreichen ihrer Ziele und können dem Wachstum nicht Zeit lassen. Wie sehr es aber an Moses Nerven zehrt und wie furchtbar das gegenseitige Leiden Israels an seinem Pädagogen (vgl.Gal3,24) und Moses an seinen halsstarrigen Anbefohlenen ist, davon erzählen die Wutausbrüche und Missverständnisse, die vom Sinai an vierzig Jahre lang auf den Wegen und Umwegen eintreten, die Gottes Freund und Gottes Volk dann nehmen mussten, um der Selbständigkeit und der Verwirklichung eines eigenen Lebens im gelobten Land näher zu kommen.
Doch Mose soll das Ziel nicht sehen. Er soll nicht ernten, was er in den heißen, stürmischen Wüstenzeiten mit Tränen zu säen versucht hat. Mose soll wie die ganze Generation der Unreifen, die der Autonomie noch nicht gewachsen waren, die im zuverlässigen Halten eines eigenen Gesetzes besteht, nicht erleben, wie die Vision, der er diente, zur Realität wird. ——
Ob solche Erfahrungen dessen, was nicht erreichbar war, was offenbleiben wird, nicht aber zu jedem Sterben gehören?
… Wem ist schon vergönnt, die Vollendung zu schauen?
Ist das aber ein Grund dafür, dass wir das Enden ohne Vollendung - das menschliche Sterben also - als einen solchen Abbruch, ja einen Absturz erleben?
…. Gewiss: Für Vieles, das man sich und den Seinen noch wünschte, ist es nach dem Tode zu spät und es lässt sich nicht klar- und richtigstellen, was noch unbewältigt blieb.
Aber wenn wir hier Vollkommenheit erführen, … was für einen Kampf, welchen Widerstand müsste dann nicht das Ende des Lebens auslösen?
Umgäbe uns hier tatsächlich das gelobte Land, wäre der unumgängliche Abschied von der Welt ja noch viel katastrophaler; und ginge alles in Erfüllung, was wir begehren, wie sollten wir jemals die Freiheit gewinnen, die Welt und die Menschen, wie wir sie kennen, loszulassen?
Dass zum Aufgehen aller Pläne und zum Reifen aller Hoffnungen eine Grenze gezogen bleibt, die wir nicht überschreiten werden, ist für uns, die wir siebzig oder achtzig oder inzwischen auch neunzig Jahre in der Zeit haben, eher ein Glück als ein Unheil. Wie sollten wir denn jemals klug werden können beim Gedanken daran, dass wir sterben müssen - wie es im einzigen Psalm (90) heißt, der Mose zugeschrieben wird -, wenn uns der Tod das Reich der Herrlichkeit verlieren machte?! ——
Der schöne Tod des Mose lehrt uns statt der unerfüllbaren Illusion vollkommenen Lebens eine andere, … die wirkliche Weisheit: Sie erreicht, wer nicht fürchtet, dass die Zeitlichkeit nur abschüssig ist und Niedergang bringt. Die wirkliche Weisheit - die nichts mit scharfem Verstand oder tiefsinniger Philosophie zu tun hat - erreicht, wer sich allmählich oder auch nur endlich zum Schluss seiner Tage führen lässt, wohin er nicht wollte (vgl. Joh21,18), wo aber gut sein ist. … Dahin führt Gott. Es ist der Weg empor auf den Berg, den Weg des Hinauswachsens über sich selber.
Denn auch das ist für unser eigenes Ende einst nötig: Dass wir mit der Zeit nicht nur lernen, das perfekte Leben nicht herbeizwingen zu wollen - Kanaan also nicht vor der Frist zu stürmen -, sondern dass wir uns allmählich an die Begrenzung heranführen lassen von Dem, Der uns dabei nicht vergisst, nicht verstößt und nicht verlässt, sondern - im Gegenteil - wie Seinen Freund Mose näher zu Sich heran, heraus aus dem Gedränge, hinauf auf den Berg führt.
Und dort oben – vielleicht ist das der intimste Augenblick, den unsere spröde, weise Bibel überhaupt schildert – dort oben auf dem Berg Nebo, gegenüber von Jericho da geschieht etwas erschütternd Schönes, etwas von dem man eigentlich auch heute nur mit gedämpfter Stimme und ganz sachte sprechen kann. Gott zeigt uns da, von dieser letzten Höhe aus die Welt: „Der HERR zeigte Mose das ganze Land: Gilead bis nach Dan und das ganze Land Naphtali und das Land Ephraim und Manasse und das ganze Land Juda bis an das Meer im Westen und das Südland und die Gegend am Jordan, die Ebene von Jericho, der Palmenstadt bis nach Zoar.“
Was also zeigt Gott da auf dem Berg?
Dem Mose zeigt er das Land, das für andere zu erreichen seine Mission und selbst nicht zu betreten sein Schicksal war. Gott zeigt dem Mose also Seine Treue: Dass Er Wort hält, auch wenn die Erfüllung Seiner Zusage nicht so geschieht, wie wir wohl wünschen.
Gott zeigt dem Mose, was diesem zeit seines Lebens vorgeschwebt sein muss: Die Wahrheit, an die er glaubte, die Hoffnung, die kein Trug war. Doch Er zeigt dem Mose auch, dass man diese Wahrheit gar nicht besitzen und die Hoffnung nicht mit eigenen Händen greifen muss. Stattdessen weitet Gott den Blick dafür, dass jede Seiner Verheißungen viel größer ist, als sie sich einem Einzelnen von uns je zeigen könnten.
Und indem Er den Mose sehen lässt, was dieser nicht selber erleben würde, führt Er ihn über seine Grenzen hinaus. … Mose selbst hätte vom ganzen schönen Lande Israel ja auch nur einen Fleck besitzen oder bewohnen können, wenn er hineingelangt wäre, und am Ende wäre ihm nicht mehr geblieben als der Vater des Glaubens, Abraham besaß: Eine Grabkammer.
Wenn er nun aber von Dan bis in das Südland, vom Jordan bis zum Mittelmeer blicken darf, dann entfaltet sich vor ihm, was weit über seine eigenen Möglichkeiten sowohl zu hoffen als auch zu haben hinausgeht. … Mose, da oben im Land Naphtali - wenn’s später einmal Galiläa heißen wird -, da wird einer heranwachsen und in Gilead am Jordan wird der Heilige Geist ihn als Gottes lieben Sohn offenbaren, der wird auf den Bergen von Dan predigen und in den Dörfern heilen, der wird im Land Ephraim und Manasse wandern, der wird im Südland, noch tiefer als Zoar dem Teufel widerstehen und in Jericho mit den Sündern essen und dann wird er im Herzen des Landes Juda sterben, erhöht wie du, aber sein Tod wird furchtbar sein und doch der Durchbruch für die ganze Welt. Denn durch den Tod dieses Einen, - erhöht an’s Kreuz - wird für alle, die davon hören und es glauben, sich zeigen, was Du, Mose hier auf dem Berg Nebo siehst: Dass es weiter geht!
Das ist die wunderbare Einsicht, die der Blick vom letzten Gipfel des Lebens eröffnet: Dass es weiter geht, … über mein eigenes, begrenztes Leben hinaus!
Wer das erfährt, dem tut sich die große Weisheit auf, in deren Licht - und sei’s ein Sonnenuntergang! - das eigene und alles Leben neu leuchtet.
Dass es weitergeht, das ist - wo Gott uns dafür die Augen öffnet - der Beginn aller Ethik. Weil Ethik doch nichts anderes bedeutet, als zu erkennen, dass mein eigenes Leben weder der Rahmen noch die Begrenzung des Guten und des Richtigen sein kann. Es muss weit über meine eigenen Möglichkeiten und auch über meine Zeit hinaus das geben und das gelten, es muss das erhalten bleiben und bestehen, was man sich selber wünschen und worin man selber den Wert des Daseins finden kann.
Dieser Blick vom Nebo, über die eigenen Grenzen hinaus, ist in der Menschheit noch nie so nötig gewesen wie heute. Wir alle müssen ja wahrlich hoffen, nicht zu jenen zu gehören, die dem Sterben als einem trostlosen Abstieg entgegensehen und darum alles mit sich in den Abgrund reißen möchten. Vielmehr sollen wir beten und schaffen, dass wir Schritt für Schritt jene höhere Erkenntnis erlangen, die uns das Leben im Land der Zukunft zeigt, das wir zwar nicht mehr teilen werden und dessen Aussichten doch unser Trost sein können. Blicken wir dorthin, wo sie nach uns ihre Zeit zubringen werden, um selbst getrost das Zeitliche zu segnen. Es wäre der schöne Tod des Mose, wenn wir das zuversichtlich tun dürften.
Dass es weitergeht, das ist - wo Gott uns dafür die Augen öffnet - aber nicht nur im Blick auf die Nächstenliebe, sondern auch im Blick auf uns selber eine Quelle der Vergewisserung. Dass unsere Perspektive zwar nicht endlos weit reicht, trifft zu, aber dass unser Tun und unsere Wirkung weiter als nur bis an die Grenze unserer Gegenwart führen, ist noch klarer. Wir leben immer auch über den Rand des Gegenwärtigen hinaus, weil wir die Zukunft für uns und andere in unserm heutigen Leben anlegen, einbeziehen und mitdenken. Diese verpflichtende, zugleich aber tröstende Dimension, dass uns heute auch schon das Morgen berührt, hat Dietrich Bonhoeffer bewogen, nachdem sein Todesurteil unausweichlich zu werden schien, im Gefängnis ein Gedicht über den Tod des Mose[ii] zu schreiben, das durch-sichtig ist für seine eigene, begrenzte Lebenserwartung, die doch nicht verzweifelt. Bonhoeffer legt Mose darin die Bitte um das Geschenk des Todes „auf steilem Berge“ in den Mund … „das Sterben, über dessen ernste Grenzen / schon die Fanale neuer Zeiten glänzen“. Diese Trostdimension, dass auch meine vergehende Existenz mit ihren Folgen in die Zukunft eingebunden ist, bleibt die zweite Botschaft, durch die der Blick über mein Ende hinaus ein gesegneter werden kann.
Der dritte und letzte und eigentliche Segen der Botschaft, dass es weitergeht - wo Gott uns auch für ihn die Augen öffnet -, ist nun aber schlicht der Punkt an dem Moses schöner Tod zum Evangelium wird.
Es ist die schlichte und doch die Welt, in der der Tod ein Tiefpunkt sein soll, überwindende Wahrheit, dass unser Sterben nicht ohne Gott geschieht, ja, dass im Gegenteil Gott solchen Anteil daran nimmt, dass es dadurch zum Gipfel werden kann.
Mose starb nach dem Wort des HERRN, heißt es an dieser Stelle in der Bibel, ……. in ihrer Muttersprache aber ist eine noch berührendere wörtliche Aussage enthalten: Mose starb „nach dem Mund Gottes“, könnte man lesen. Er, der Übervater wurde von Gott wie ein kleines Kind geküsst[iii], um über die Grenze dieser Zeit hinüber und hinauf in Gottes Wirklichkeit treten zu dürfen.
Sein Grab bereitete ihm Gott selber, … doch so wie die Bibel es formuliert, sollen wir dieses unauffindbare Grab nicht als Ort auf Erden denken. … Es liegt damit anders[iv]:
Weil es weitergeht, wenn einer von uns nach dem Wort des HERRN sterben wird, … wenn er den Gute-Nacht-Kuss empfängt, der der Atem der Lebendigkeit, der Anfang des Endlosen ist, … weil es weitergeht, wenn wir bei Gott in das Leben der kommenden Geschlechter blicken, … wenn wir bei Gott die Zukunft finden, die unser Leben durchzog, … wenn wir bei Ihm die kommende, nie vergehende Wirklichkeit jenseits aller Grenzen betreten dürfen, in die Er uns ruft, führt und schließlich aufnimmt.
Rätselhaft, aber unendlich tröstlich ist also dieser schöne Tod des Mose auf dem Berg.
Er zeigt uns unsere Grenzen, lehrt uns wahre Weisheit und schenkt uns den Trost im eigenen Leben und Sterben, dass es weitergeht.
… „Herr, nun lässest du deinen Diener im Frieden fahren, wie du gesagt hast“ (Lk2,28)!
Amen.
[i] Vgl. das Lied von Marie Schmalenbach „Brich herein, heller Schein“: EG 572,4.
[ii] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung (DBW 8, hgg. v. Chr.Gremmels, E. und R.Bethge, I.Tödt, Gütersloh 1998, S.590-598).
[iii] So deutet die jüdische Auslegung den Ausdruck „al-Pi“ = „nach dem Munde von/ gemäß dem Wort von“ auch gerne.
[iv] Dass Mose auch für das Neue Testament nicht einfach zu den Vergangenen und Toten zu zählen ist, ergibt sich aus seiner Gegenwart bei Jesu Verklärung gemeinsam mit dem in Himmel entrückten Propheten Elia (vgl.2.Könige 2,11): Mk9,4 und Parallelstellen.
Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 14.11.2021, Stadtkirche, 2.Korinther 5, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Vorl.So. - 14.IX.2021
2.Korinther 5, 1-10
Liebe Gemeinde!
Viele von uns sind in diesem Jahr, in diesen Jahren müder als wir uns je erinnern können.
Der Stillstand und die Spannung, die Regeln und die Rätselhaftigkeit in der Pandemie haben mehr Energie gekostet als der abwechslungsreichste Alltag. Dass hier und dort die Ungeduld zunimmt und das Gefühl sich Bahn bricht, wie schön eine Flucht aus alledem sein müsste, wie wohltuend das Reisen war und wie gerne man eigentlich gleich in ein anderes Leben hinüberwechselte, indem man zurückkehrt in das versunkene Land der Normalität oder vorauseilt in eine neue Welt ohne den Druck der jüngsten Monate, … alle diese Ermüdungserscheinungen kann man wahrhaftig erklären, wenn man sie nicht sogar teilt: Nach einer langen Phase der Hochzufriedenheit mit unserer Gegenwart, nach einer langen Phase der totalen Fixierung auf das, was für Christen doch nur zeitlich und vergänglich ist, sind wir plötzlich alle an die Grenze gestoßen, die dem Irdischen gesetzt bleibt: Es hat keine Dauer, es steht nie fest und es bleibt uns die versprochene Sicherheit stets schuldig.
… So ist das Leben. So muss es auch sein. Wer es nicht in seiner Bewegung, in seiner Veränderlichkeit und Offenheit aushielte, der hätte nie am Dasein teilgenommen und nie von der Wirklichkeit gekostet. Denn unwandelbar sind nur die abgeschlossene Vergangenheit und die flachen Bilder. Vorwärtsziehende Zeit und vielseitige Körper unterliegen dem Wandel, … man kann auch sagen: Blühen erst durch ihre Verwandlung wirklich auf! ———
Darf man aber deshalb nicht auch müde sein?
Ist das von der gegenwartsversessenen Welt erzwungene Bekenntnis zum doch nie ewigen „Hier und Jetzt“ nicht irgendwann einmal schal und fad?
Ist es nicht an der Zeit, dass wir das alte Heimwehlied (EG 517), das wir eben noch einmal gesungen haben und das nie wieder in einem Gesangbuch stehen wird, in uns nachklingen lassen?!
… Wir sind bestimmt nicht nur für das geschaffen, das wir kennen. Wir gehören ohne jeden Zweifel nicht bloß in das, was hier besteht und untergeht.
Menschsein heißt – wenn wir das biblische Von-Gott-her-Kommen und Zu-Gott-unterwegs-Sein der Menschen ernstnehmen –, neben dem irdischen auch den überirdischen, neben dem geschichtlichen auch den ewigen Zusammenhang des eigenen Daseins zu spüren und also manchmal zwischen den Zeiten, den Welten und Wirklichkeiten hin- und hergerissen zu sein.
Die meisten von uns waren es lange nicht. Wir waren eingerichtet im Vertrauten. Über das Hiesige ging unser Horizont nicht hinaus.
Es wäre albern zu behaupten, dass sich daran in den vergangenen Monaten allzu viel geändert habe. Es bestand dazu auch wenig Anlass: Wir haben Planungsunsicherheit und Lebensverunsicherung erfahren, … aber das, was die meisten Menschen vor und neben uns erleiden, ist uns immer noch fern. Das tagtägliche „Heute rot und morgen tot“ der Sterblichen, das Bewusstsein, wie sehr man mitten im Leben im Tode ist (vgl. EG 518), ist uns immer noch eigentlich fremd.
Und doch hat sich etwas gewandelt an unserem selbstverständlichen In-dieser-Welt-Leben.
Beides - die Welt und das Leben - verstehen sich ganz und gar nicht mehr von selber. Mindestens eine Wand ist herausgebrochen worden aus dem Gebäude, das wir zu bewohnen glaubten: Hinten, rechts und links sind geblieben, was sie waren … aber die Fassade ist weg, nach vorne ist alles ganz offen.
Und das ist unheimlich. Denn so ungeschützt war unser Lebensgefühl bisher nie. Wir hatten Mauern und Dämme gegen die Not, einen hübschen Vorgarten und Hecken und Zäune, die das Drohende von unserer Schwelle fernhielten.
Nun aber ist es da. Kommt auf die schmucken, schicken, schalldichten Lebensräume zu, in denen es uns gut ging, und muss uns noch nicht mal mehr die Tür weisen: Ohne Wand zur Zukunft sehen wir auch so, dass wir davon müssen. Irgendwann einmal. Schleichend. Oder bald. Im Strudel der sterbenden Natur oder dank einer stummen Gefahr, virenklein, aber weltweit.
Und da hören wir mit dem ein ganz klein wenig geschärften Ohr unserer Tage das leise Geräusch. Das daherstreicht wie das Lied der Grillen in der Sommernacht, wie das rascheln-de Schlaflied im Novemberlaub. … Seufzer sind es. … Leise, kaum hörbare Seufzer. Es summt in allen Kirchen und Klöstern der Erde, in Kapellen und auf Friedhöfen, aus allen Gefängnissen und Spitälern seufzt es, es erfüllte die vielen, vielen Gebäuden, deren Grundmauern unter den heutigen Straßen liegen und deren Wände nurmehr Luft sind, aber auch in alten Häusern, die noch stehen, kann man es hören. … Wie sie da einmal, wenn sie erschöpft waren, zu den Türen blickten, aus den kleinen Fenstern, auf die wenigen Bilder, die meistens von der anderen Wirklichkeit durchglüht waren, und wie ihnen die Worte des müdesten Menschen der Welt auf die Lippen stiegen, der ganz alleine den ganzen Erdkreis aus der Traurigkeit ins Glück, aus der Nacht in die Helligkeit, aus dem Totentanz in die Schar der Sieger holen wollen: Wie unzählige Menschen haben nicht mit den Worten des Paulus danach geseufzt und sich danach gesehnt, mit der Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet zu werden, damit irgendwann einmal das große Frieren und die vielen Schmerzen und die tiefe Sorge und die aussichtlose Müdigkeit von ihnen genommen werden und sie sich endlich, endlich nicht mehr in der Fremde, sondern zuhause fühlen können.
… Wie viele Menschen in den chaotischen und instabilen Verhältnissen dieser irdischen Welt haben nicht irgendwann einmal diese Sehnsucht empfunden, endlich an den fernen, schönen Ort kommen zu dürfen, wo man nicht mehr zu jeder Stunde Hiobsbotschaften oder das Sausen der Sense befürchten muss, sondern in Sicherheit sein würde. … Wie viele Menschen hat dieses Heimweh nach der Ewigkeit nicht irgendwann einmal gepackt, so dass sie wirklich bereit waren, die armselige und mühselige Wartewelt zu verlassen und in die Heimat zu ziehen, wo man nie wieder vertrieben wird, wo die Glocken nicht mit jeder Geburt auch einen Leichenzug einläuten und das Lieben und das Leben etwas anderes sein werden als ein einziges Abschiednehmen. … Wie vielen Menschen ist es nicht ein unglaublicher Trost gewesen, dass sie hier nicht für immer bleiben, sondern endlich – wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen sein wird – an einer nicht dem Vorübergehen, sondern dem Bleiben geweihten Stätte einkehren werden. ———
Das ist keine kranke Haltung! Es ist nicht Weltflucht, nicht Lebensmüdigkeit oder -untüchtigkeit, wenn Menschen es nicht mehr lange aushalten, sich nicht mehr dauerhaft arrangieren, es nicht weiter mit ansehen können, wie ihr Dasein zerstört und ihr Herz zerrissen wird.
Wer heute noch auf das Jenseitsheimweh unserer Vorgänger im Glauben herabblickt und es für eine irgendwie schwächliche, irgendwie simple Haltung erklärt, die man nicht ernstnehmen könne, der ist ein so arroganter Wohlstandsmensch, ein so sattgefressener Materialist, dass er sich derart bitteren Zynismus leisten kann: Die Sehnsucht nach einem Leben ohne ständige Not, ohne weitere Leiden, ohne unstillbare Trauer ist eine Wirklichkeit, vor der wir im Blick in die Vergangenheit wie in die Gegenwart deutlich mehr Respekt haben müssen, wenn es um die Menschlichkeit nicht geschehen sein soll!
Dass Friederike Fliedner bleich und tonlos schluchzend durch das Haus nebenan gewandert ist, wenn wieder eines ihrer Kinder gestorben und draußen auf dem schmalen Friedhof hinter der Klemensbrücke unter einem immergrünen Kranz in die Erde gebettet worden war, und dass sie dann mit dem missionsmüden Apostel gemeinsam begehrte, „den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn“, das ist nicht besser und nicht schlechter zu verstehen als die furchtbare Notlage aller, die gelockt und geködert werden von der Hoffnung auf ein weniger trostloses Dasein, und die dann verführt und missbraucht ihre Lust auf Lebensglück bezahlen in der sinnlosen Sackgasse der weißrussischen Wälder oder dem Schwebezustand an einem Ziel, das doch kein Himmelreich ist.
Wir sollen also – wenn er uns selber denn wirklich immer noch fremd und unzugänglich wäre – lernen den Wunsch zu verstehen, der Menschen bewegt, das alte Leben zu verlassen und in’s neue freudig gehen zu wollen.
Wir sollen verstehen, dass das ein inniger und ehrlicher, ein ernsthafter und echter Wunsch sein kann. ——
Und dann sollen wir uns in der Gegenwart und Geisteshaltung des Apostels einfinden: Der so hundemüde und so heimatlos war, wie man es sich kaum vorstellen kann. Der gesehen und geschafft hatte - auf seinen rastlosen Reisen für das Reich Gottes -, was man nur erreichen kann, und dem Widrigeres widerfahren war, als man sich ausmalen mag.
Und obwohl es ihn mächtig zieht in die verheißene Zukunft, in der man nicht mehr bloß und leer dastehen muss, sondern eingehüllt wird in Lebenskraft und Menschenwürde, in den Glanz und die Wärme des großen, von Gott gehaltenen Versprechens … obwohl Paulus sich also wahrhaftig mit so viel Recht dem Himmel entgegenfreut, wo das Sterbliche verschlungen wird von dem Leben, überlässt er sich selbst und andere doch nicht nur dem Wunsch nach dem Ziel, sondern setzt seinen Weg und unsere Wege fort unter einem wichtigen Zeichen:
Paulus erinnert sich selbst und alle, die ihr Lebensweg und Lebenswerk - wie ihn - endlich auch lebensmüde gemacht hat, nämlich daran, dass es in allem, was wir schaffen und allem, was unbewältigt bleibt, nicht nur um unsere eigene Bilanz, nicht nur um das Wohl und das Weh, die wir empfinden, geht.
Es gibt über unsere Zufriedenheit und unsere Sehnsucht hinaus noch eine ganz andere Wirklichkeit: Es gibt in alledem – dem gelungen Geleisteten und dem schmerzhaft Fehlenden unserer Existenz – nämlich einen tieferen Sinn. Dieser Lebenssinn, der so unergründlich, aber auch so entscheidend ist, dass unsere höchste Anstrengung ihn zwar nicht sichern, aber unsere höchste Erschöpfung ihn auch nicht aushöhlen kann, … dieser LEBENSSINN beruht darin, dass alles und alle, jeder Mensch und jeder seiner Tage zuletzt CHRISTUS GEHÖREN!
Alles, was geschieht, führt zu ihm!
Alles, was wir erreichten und alles, was wir verloren, mündet und findet sich nicht in unserem derzeitigen Dasein hier, sondern in der endgültigen Begegnung und Bergung und Geborgenheit bei Christus.
Das Leben in seiner Not und Unbehaustheit fließt ebenso wie das Leben in seiner lohnenden Herausforderung und Gestalt auf diese bleibende Christusgemeinschaft zu.
Nichts geht daran vorbei.
Alles wird dort, in der Gegenwart Christi, zur Klarheit und Richtigkeit kommen, zur Offenheit des Verschlossenen und zur Verständlichkeit des Verhüllten.
Und aus diesem Grund – weil nichts im Vergehenden bleiben, sondern alles Vergängliche in diese Dauer eingebracht werden soll – … aus diesem Grund führt das Ermatten der Lebensgeister und das Abnehmen der Lebenskräfte und die Bedrohung der Lebensperspektiven Paulus nicht etwas zu Resignation und Verzweiflung:
… Alles einfach liegen zu lassen oder gar wegzuwerfen, wäre nur dann denkbar, wenn dann alles vorbei wäre. … Weil aber alles, was Menschen trifft und betrifft, Gott angeht und endlich bei Gott in das große Schauen, Staunen und Bleiben, das wir Ewigkeit nennen, eingehen wird, darum kann es sich nicht darum handeln, kurzen Prozess zu machen oder Lebensläufe abzubrechen, Lebenswege abzukürzen, wenn sie mühsam, bitter, unsicher werden.
Schließlich wird sich ja alles in Gottes Fülle einfügen, was wir hier getan, auch was wir gelitten, sogar, was wir verschuldet haben.
Wer davon also etwas aufgibt, wer auf Erfahrung - sei sie gut, sei sie schlecht - verzichtet, der mindert das, was einmal in die kommende Welt gehören und dort seine endgültige - dem Guten, dem Schlechten, dem Gesamten des Lebens entsprechende - Gestalt gewinnen soll.
Ungelebtes Leben ist also Raubbau an der Ewigkeit.
Unterlassenes Leben, vorzeitig abgebrochenes Leben, willkürlich verhindertes Leben ist alles Leben, das der großen Offenbarung, das dem Sieg des Lebens über den Tod einst fehlen wird, obwohl es auch dort hingehört hätte. ———
Heute, am Volkstrauertag steht uns die Menge der vor der Zeit abgebrochenen Lebensgebäude, steht uns die Trümmerlandschaft vor Augen, die aus Millionen von unfertigen, sinnlos zerstörten Biographien besteht. Millionen von Menschen konnten Gott keine satten Erfahrungen, nichts Zuende-Gelebtes bringen, sondern nur Fragmente, nur Ansätze von Erlebtem und vertane Möglichkeiten.
Um diese Last Gottes – das viele Leid, das zu Ihm strömt, weil es nicht am Leben bleiben durfte – nicht zu vermehren, hat aber Paulus sich vorgenommen und uns vorgelebt, dass trotz allen Seufzens und trotz aller Hioberfahrungen das Weiterleben gesucht und gewagt werden soll. … Es wird seinen Sinn schon noch entfalten. Es wird an jenem Richterstuhl Christi, an jenem Thron des Zurechtbringens sich zeigen, wie Gott geehrt und wie Gott gedient werden kann mit dem, was noch an Kraft, an Zeit, an Willen und an Neugier bleibt.
Dieser Trost aus dem Vertrauen, dass uns der Lebenssinn nicht hier aufgehen muss, sondern dort geschenkt werden soll, hat Paulus zum Dienst und Durchhalten verholfen und wird uns ähnliches gewähren.
Wie müde wir auch sein mögen und wie schwer es auch fallen mag, uns der Ungewissheit der Zukunft zu stellen: Wir dürfen und wir können leben in solchem Blick auf unser Ziel bei Christus … und weil wir’s dürfen und können, darum sollen wir’s auch.
Denn Christus, der Lebendige ist Grund und Sinn all unseres Erlebens: Hier in der Ferne und einst, wenn wir daheim bei ihm sein werden.
Darum – im Glauben hier, wie im Schauen dort – gilt: Leben wir, so leben wir dem Herrn. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. …Denn wir leben oder sterben: Wir sind des Herrn! (Rö14,8)
Amen.
Reformationstag, 31.10.2021, Gal.5 1-6, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Schwestern und Brüder,
heute ist der Gedenktag an die Reformation. Vor vier Jahren wurde der 500.Jahrestag fast ein ganzes Jahr lang in der evangelischen Kirche befeiert und erinnert. 500 Jahre Thesenanschlag an die Schlosskirche zu Wittenberg, der Aufschlag für das mutige Auftreten des Dr. Martin Luther, der uns Evangelischen die Freiheit unseres Glaubens erstritten hat gegen den Widerstand der Kirchenoberen seiner Zeit. So das zugegeben etwas verkürzte Verständnis dessen, was da vor 504 Jahren begann, der Gründungsmythos des Protestantismus. Das alles beherrschende Grundthema der Reformation war und ist jedenfalls die Freiheit, die Martin Luther in seinen frühen Hauptschriften immer wieder zur Sprache brachte und auf die sich bis in unser Jahrhundert die Evangelische Kirche immer wieder bezieht, so in dem Impulspapier „Kirche der Freiheit" der EKD von 2006. Doch so wie es im Fußball heißt „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel", so heißt es auch für unsere Kirche „Nach der Reformation ist vor der Reformation" - die Freiheit hat man nicht, sondern sie will erstritten, verteidigt, gelebt werden. Ein hoch aktuelles gesellschaftspolitisches Thema in diesen Corona-Zeiten, aber eben auch ein dringendes Thema für unsere Kirche. Um was geht es da, wenn wir von Freiheit sprechen - als Christenmenschen mit Blick auf unseren Glauben?
Es trifft sich da sehr gut, dass der Predigttext für den heutigen Reformationstag einer, wenn nicht sogar der zentrale biblische Text zum Thema christliche Freiheit ist. Paulus hat ihn an die Gemeinden in Galatien geschrieben. Ich lese ihn in einer Übersetzung, die eine Zusammenschau von Lutherbibel, Zürcher Bibel und der Bibel in gerechter Sprache ist.
„Für die Freiheit hat uns Christus frei gemacht; steht also aufrecht und lasst euch nicht wieder unter ein Joch der Sklaverei bringen!
Gebt acht - ich, Paulus, sage euch: wenn ihr euch beschneiden lasst, wird Christus euch nichts nützen. Noch einmal bin ich Zeuge für jeden Mann, der sich beschneiden lässt, dass es seine Pflicht und Schuldigkeit ist, die ganze Thora zu tun. Ihr seid von Christus losgelöst, die ihr durch die Gesetzesordnung ins Recht gesetzt werden wollt, ihr seid herausgefallen aus der geschenkten Gnade.
Denn unser Warten und Hoffen auf Gerechtigkeit und Zurecht-Bringen steht im Zeichen der Geistkraft und des Vertrauens.
Denn im Christus Jesus vermag weder Beschneidung noch Vorhaut etwas, sondern der Glaube, der sich durch Liebe wirksam erweist."
Zur Freiheit befreit - für die Freiheit freigemacht.
Die Freiheit als Geschenk und Aufgabe.
Darum geht es Paulus.
Es ist die Freiheit der Kinder Gottes, die keine trennenden Unterschiede zwischen den Menschen kennt und alle Menschen vor Gottes Angesicht stehen und von Gott willkommen geheißen weiß, in seine verwandelnde, heilende Liebe einbezogen.
Diese Erkenntnis hat ihm Christus gebracht - als Geschenk und Aufgabe zugleich. In der Apostelgeschichte erzählt Lukas davon, dass es Paulus wie ein Blitz vom Himmel traf, der Anruf von oben, der ihn gänzlich umgeworfen hat - alle seine bisherigen Glaubensüberzeugungen gerieten ins Wanken. Sein Eifer für Gott - alles auf einmal in Frage gestellt. Stattdessen erfuhr er in seiner plötzlichen Schwäche und Hilflosigkeit - Liebe und Zuwendung von Menschen, denen er Verrat am jüdischen Glauben vorgeworfen hatte. Liebe und Güte im Namen Gottes, im Namen des Christus Jesus Gemeinschaft und Heilung. Diese unglaubliche Erfahrung stand am Anfang als Geschenk des Himmels und daraus folgte dann die Aufgabe, die eigenen Vorstellungen kritisch zu hinterfragen, Abschied zu nehmen von überkommenen Überzeugungen und Traditionen, sich freizumachen von Vorurteilen und Glaubenssätzen und Neues zu denken über Gott und die Welt, Gedanken, die vormals für ihn schier undenkbar waren, geradezu mit einem Tabu belegt.. Die Apostelgeschichte schweigt leider über diese Phase im Leben des Paulus; es sind aber wahrscheinlich einige Jahre gewesen, in denen er in judenchristlichen Hausgemeinden in der Diaspora im Austausch mit anderen stand. Ein für ihn anstrengender Glaubens-Weg, denn alte Glaubensüberzeugungen loszulassen ist nicht leicht, ist mit Verunsicherung und seelischen Schmerzen verbunden.
„Für die Freiheit hat uns Christus frei gemacht."
Aber am Ende stand die Erkenntnis der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, der verwandelte Blick auf die Wirklichkeit: nicht mehr Juden und Griechen, nicht mehr Sklaven und Freie, nicht mehr Männer und Frauen, sondern alles Kinder Gottes, alle einer im Christus. Befreiung vom Schubladendenken, vom genüsslichen und zugleich schrecklichen Drang und Zwang einzuteilen in Gute und Böse, in Reine und Unreine, in vor Gott Gerechte und von ihm Verworfene. Befreiung zur umfassenden Menschlichkeit - Geschenk und Aufgabe.
„Für die Freiheit hat uns Christus frei gemacht."
Hatte Paulus zuvor seinen Glauben ganz und gar an die Überlieferungen seines Volkes, an die jüdischen Traditionen und die Thora gebunden, die ihm fraglos vorgaben, was er zu denken und zu glauben hatte, - völlig losgelöst davon, wann diese entstanden waren und welche Lebensumstände und Verhältnisse damals herrschten - so sah er sich jetzt herausgefordert, seine Umwelt, seine Mitmenschen wahrzunehmen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sich und seine Vorstellungen mit ihnen ins Gespräch zu bringen. Glaube und Denken mussten so dem Heute, der Wirklichkeit standhalten.
Das ist die anstrengende Seite der Freiheit, die Aufgabe, die angenommen und durchgehalten werden muss.
Die Freiheit, zu der Christus befreit, ist kein Geschenk, das ungeteilten Beifall findet. Der goldene Käfig der Traditionen und dessen, was schon immer so war, schon immer geglaubt wurde, verspricht mehr Sicherheit und oft auch weniger Konflikte mit den lieben Mitmenschen und ist deshalb sehr verführerisch. Deshalb sofort die Mahnung „Steht also aufrecht und lasst euch nicht wieder unter ein Joch der Sklaverei bringen!"
Steht aufrecht, vertraut darauf, dass ihr Gottes Kinder seid, nicht aufgrund eurer Herkunft und Zugehörigkeit zu einem Volk, nicht aufgrund eines Ritus - im Text: die Beschneidung -, sondern einfach, weil ihr darauf vertraut, was euch der Geist des Christus zu glauben und zu denken eingibt.
Liebe Gemeinde, die Freiheit des Christus als Geschenk und Aufgabe anzunehmen und wahrzunehmen, darum geht es auch für uns heute. Sich darüber klar zu werden, darüber nachzudenken, dazu ist der Reformationstag eigentlich da. Wo haben wir Befreiung zur Freiheit im Glauben erfahren? Wie steht es mit unserer Standfestigkeit, unserem aufrechten Gang? Vor welchen Jochen müssen wir uns hüten? Welche Gedanken sind heute befreiend, welche Begegnungen hilfreich und weiterführend?
In seinem Schreiben an die Galater gibt uns Paulus zwei wichtige Stichworte für unsere Überlegungen an die Hand.
1. Macht euch klar, worauf ihr eigentlich hofft.
2. Und vergesst bei allem Denken und Glauben nicht, der Liebe Hand und Fuß zu geben.
Im Positionspapier der Kirchenleitung der EKiR, das im August unter dem Titel „E.K.I.R. 2030 - Wir gestalten „evangelisch rheinisch" zukunftsfähig" veröffentlicht wurde und in dem es vor allem um die strukturellen, personellen und finanziellen Probleme auf allen Ebenen unserer Landeskirche geht und über Glaubensfragen so gut wie gar nichts zu lesen ist (als gäbe es da keinen Gesprächs- und Handlungsbedarf), heißt es immerhin im letzten Kapitel unter der Überschrift „Kommunikation: wie wir motivieren": „.... Um die Hoffnung zu stärken braucht es geistliche Zurüstung, eine Zielgewissheit, ein zukunftsorientiertes Selbstverständnis, eine Haltung innerer Freiheit.
Was heißt es, protestantisch im 21. Jahrhundert zu sein?
Was heißt es für uns konkret, Christus nachzufolgen?
Und wieso ist das für unsere Mitmenschen, unsere Gesellschaft, unsere Welt relevant?
Als Protestant*innen haben wir eine „transformative Spiritualität", die wir sowohl im Blick auf uns selbst, auf unsere Kirche, als auch mit Blick auf die Welt neu entfalten sollten."
Ich möchte an dieser Stelle einmal einen Aufschlag machen und ein Beispiel für solch „transformative Spiritualität" geben. Sie ist nicht am Schreibtisch entstanden, sondern mir über viele Jahre zugewachsen - in der Begegnung mit ganz unterschiedlichen Menschen, in beglückenden wie auch in schmerzvollen Erlebnissen, in Erfolg und Misslingen, in immer größerer Achtsamkeit und Empathie gegenüber unserer Mitwelt mit all ihren Geschöpfen. Und natürlich haben auch Bücher eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Aber entscheidend war, dass ich den Mut bekommen habe, von meinem Glauben zu sprechen, mich nicht hinter der Tradition, den Bekenntnissen und den theologischen „Kirchenvätern" zu verstecken, sondern selber zu entscheiden, was ich glaube, in welchen biblischen Texten mich der Geist Gottes anspricht. Ich habe es als befreiendes Geschenk des Christus erlebt, zu erkennen, dass Gott sich in allen Religionen und Konfessionen auf unterschiedliche Weise offenbart, weil er von all seinen Kindern in allen Zeiten, in allen Kulturen, Religionen und Konfessionen erkannt werden will und alle einladen will, seinem Willen gemäß zu leben. Überall, wo Liebe, Barmherzigkeit und Mitgefühl gelehrt werden, ist er mit seinem Geist, ist der Christus am Werk. Deshalb ist jede Religion, die darauf basiert, wertvoll. Ich bin bei meiner Beschäftigung mit fremden Religionen und ihren Zeugnissen in jeder Religion Texten begegnet, von denen ich einfach nur sagen kann, dass sie denselben Geist atmen, den ich an vielen Stellen - längst nicht an allen - in der Bibel finde. Über das Fremde ist mir vieles an der eigenen Religion klarer geworden.
Gott liebt die Welt, er liebt seine ganze Schöpfung, er liebt alle seine Kinder. Und bis auf diesen Tag sucht er immer wieder den Kontakt zu seinen Menschenkindern, um sie für sein Projekt zu gewinnen, die Bewahrung und Verwandlung dieser Erde in eine Welt, in der Gerechtigkeit und Frieden herrschen und Güte und Mitgefühl das Handeln der Menschen bestimmen. Jesus nannte diese Welt „das Reich Gottes". Für mich ist die Ökumene der Religionen das zentrale Gebot unserer Zeit - mit allen Menschen guten Willens zusammenzukommen, voneinander zu lernen und miteinander zu beten und zu arbeiten am Projekt „Reich Gottes" - ganz profan ausgedrückt: zusammenzustehen im Kampf gegen die Klimakatastrophe, für das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten im Bewusstsein unserer gemeinsamen Verantwortung vor Gott und allen Mitgeschöpfen.
Und genauso wichtig ist es, mit den Naturwissenschaftler*innen ins Gespräch zu kommen. Gott hat uns mit der Vernunft und mit dem Bestreben ausgestattet, die Welt, in der wir leben, zu verstehen - ihre Zusammenhänge, ihre Ordnungen. Da sind der Vernunft keine Glaubensgrenzen gesetzt. Die Grenzen liegen in der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit selbst, was kein Grund zum Verzweifeln ist, denn genau so sind wir von Gott gewollt und geliebt. Ich finde es höchst bemerkenswert, dass gerade die Naturwissenschaftler wie Astrophysiker, Biologen und Paläontologen über ihre Forschungen nicht nur Erkenntnisse gewinnen, von denen sie nie genau wissen, ob sie nicht schon bald überholt sein werden, sondern immer wieder zum Staunen kommen angesichts der phantastischen Ordnungen und Abläufe im Universum - im Großen wie im Kleinen. Ein Staunen, das eine unmittelbare Berührung mit Glauben hat, mit der Haltung eines demütigen, ehrfürchtigen Vertrauens gegenüber einer Macht, die unfassbar ist und die unser Leben auf dieser Erde ermöglicht.
Als Kirche, als Christen können wir von den Wissenschaftlern etwas sehr Wichtiges lernen: wie diese bereit sind, alte Erkenntnisse durch neue Erfahrungen - Experimente - zu revidieren und fortzuentwickeln, so sollten wir bereit sein, alte Bekenntnisse durch neue Erfahrungen, durch neue Begegnungen zu transzendieren, unser Verständnis von Gott und Welt zu vertiefen und unseren Glauben neu auszusprechen. Denn Gott ist immer größer, unfassbar.
Wenn wir allerdings glauben, nur im christlichen Bekenntnis, in unserer Religion, gar nur in unserer Konfession ein richtiges Verständnis von Gott und Welt zu haben, dass er sich nur uns in seiner ganzen Wahrheit offenbart hat, dann haben wir unsere Freiheit verspielt und sind unter einem Joch der Sklaverei gelandet. Religiöser Konfessionalismus versklavt uns wie der Nationalismus, beide engen unser Denken, Fühlen und Handeln ein und verhindern, dass wir uns als Mitmenschen über alle Grenzen hinweg begegnen. Da heißt es wirklich: aufrecht und fest zu stehen.
Protestantisch im 21. Jahrhundert zu sein, das heißt für mich, bereit sein, einfach Mensch unter Menschen zu sein, mit aller Kreatur verbunden, mit Jesus im Herzen und mit Gott unterwegs durch seine Welt in unserer Zeit, so wie es der Prophet Micha schon seinen Zeitgenossen ins Gewissen schrieb: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Gott von dir erwartet: nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott." (Micha 6,8)
Gott geht weiter in seine Zukunft. Bleiben wir nicht stehen.
Amen.
Lied „Wir glauben: Gott ist in der Welt"
Reformationstag, 31.10.2021, Stadtkirche, Galater 5, 1 - 6, Jonas Marquardt
Predigt Reformationstag 2021
Galater 5, 1 - 6
Liebe Gemeinde!
Man sieht weit in die Runde, wenn man da oben auf der Burg am Erker steht: Unter den Mauern die Wipfel der Bäume, und ihr finsterer Baldachin breitet sich rundherum aus wie ein Spinnennetz, in dem die Landschaft sich verfangen hat. Den kleinen Saumpfad den steilen Felsen hinauf verbirgt das Dach aus Laub- und Nadelkronen, und der Ort unten am Fuß, wo die Landgräfin Elisabeth erst die Armen verpflegte und dann selbst die Armut auslöffeln musste, als der Schwager sie verjagt hatte und sie nur noch von den Seligpreisungen satt werden konnte, den sieht man von der Höhe vor lauter Bäumen nicht. So dicht ist der Wald.
… In dem weiter nach Westen die Germanen hausten, wo die Felsen des Wesersandes und die von den Römern gefürchteten Urforste den Kämpfern Unterschlupf und Rückzug boten, die sich nicht hinter den Schutzwall der Zivilisation verlocken ließen.
Der Wald, in den es alle treibt, die es nicht geordnet, sondern wild lieben. Der Sherwood-Wald bei Nottingham, wo die Gesellen des Umverteilers Robin Hood ihre dreisten, kindlichen, utopischen Träume vom Nehmen und Geben nach Not und Bedarf auslebten. Der rauhe Gebirgswald der Cevennen, in dem jahrhundertelang der evangelische Widerstand gegen den Glaubenszwang und schließlich die französische Résistance gegen die deutschen Besatzer ihr uneinnehmbares Revier hatten. Der Hambacherforst, in dem die jungen Leute auf den Bäumen sich gegen die ausgeweidete, verbrannte Erde von morgen stemmen.
… Der Wald, der Deutschen liebster Aufenthalt.
Warum ausgerechnet am Reformationstag davon reden? Weil da die deutschen Befindlichkeiten so schön zusammenkommen? Weil seit Hermann dem Cherusker das vermeintliche Freiheitsgefühl der Deutschen sich so besonders in ihren Wäldern spiegelt, in denen sie sich alle gern wie das Wildvögelein fühlen … „und niemand kann mich zwingen“[i]?! Und weil das an den alsbald Vogelfreien erinnert, der sich in Worms vor einen Thron und eine Garde stellte und vom einen nicht einschüchtern und von der andern nicht haschen ließ?!
… Genau.
… Wir Deutschen und unsere natürlichen Freiheitshelden!? Wir Deutschen, die in der Kneipe oder im Gleichschritt so unbeschwert „Faria-, Fariaho!“ singen … vom lustigen Leben derer, deren liebster Aufenthalt der Wald war, weil sie dort nicht gleich verhöhnt und verjagt und in ein Lager gesteckt wurden[ii]. Wir Deutschen, die sich die Freiheit immer so erhaben und urig zugleich denken … ein Leben, in dem getan und gelassen wird, was man will, … ein Leben, in dem jeder sein eigener Herr, jede die Meisterin ihres Geschickes ist. Juhu! Freiheit, die ich meine[iii]! … Freiheit, das schönste Wort, das die Reformation der längst nicht mehr an Christus-Gnade-Glaube interessierten Gegenwart hinterlassen hat.
Freiheit, die in der ungepflegt verwilderten evangelischen Lesart unserer Tage bedeutet, jeder ist sein eigener Papst und seine eigene Gemeinde, jede Meinung ist ein Bekenntnis, jedes Gefühl ist gleich heilig und alle Dinge sind gleich gültig denen, die sich selbst die herrliche Freiheit nehmen, sich um nichts zu scheren und vor allem selbst ungeschoren zu bleiben. …….
Doch diese Gestalt der Freiheit – eine Freiheit, die etwas rein Individuelles und Egoistisches ist, weil sie darin besteht, den einzelnen Menschen nur sich selbst zu überlassen – hat nichts mit dem zu tun, was die Reformatoren, allen voran Luther im Christuszeugnis des Paulus entdeckten.
Um aber zu verstehen, wie jene Freiheit beschaffen wäre, von der die evangelische Erkenntnis Christi geformt ist, müssen wir noch einmal in die Wälder. Weit nach Osten. Wo sich gerade etwas Furchtbares vollzieht in unseren Tagen. Ein Lump von einem Diktator zieht dort die Verzweifelten der Welt zusammen. Er lockt sie aus allen Ecken, verspricht ihnen, sie auf die Straße zu ihrem Glück zu bringen, treibt sie weiter auf einem Weg, der sie vermeintlich ins Paradies bringt und dann lässt er sie in die Wälder laufen. Da soll es anfangen … das Reich der Wunscherfüllung.
… Doch da hocken sie nun, die Flüchtlinge, die Lukaschenko ohne jedes Gewissen nutzt, um mit der wilden Aussaat von Menschenleben irgendwo Unruhe und Spaltung zu streuen, wo immer so ein Mensch von ihm hingeworfen wird.
Nun geht es heute nicht um die Anklage gegen diesen grausamen Missbrauch von Not und Hoffnung. Es geht nicht um den Appell, dass man die solcherart Missbrauchten und Betrogenen nicht erfrieren oder im Schlamm der weißrussischen und polnischen Wälder verderben lassen kann. Wer meint, man könne das verantworten, wird wohl nicht hier sitzen.
Worum es heute aber geht ist schlicht die unglaubliche, für uns völlig unvorstellbare Tatsache, dass es Menschen geben muss … entsetzlich viele Menschen, denen das Leben sonst überhaupt nichts zu bieten vermag, so dass sie sich tatsächlich so radikal von jeder anderen Aussicht abgeschnitten fühlen, dass ihnen nur noch die Auslieferung an das perfide Spiel eines Menschenfeindes bleibt.
Ob das höllisch verzweifelt, sträflich naiv oder wahnsinnig töricht ist, … auch das wollen wir weder ergründen, noch beurteilen.
Nur das eine ist zu verstehen nötig: Die Flüchtlinge in den Wäldern des Ostens, die da in dünner Kleidung und völliger Ahnungslosigkeit zwischen allen Grenzen und moralischen Kategorien ins Land von Niemand geraten sind, … sie stellen uns auf einzigartige Weise vor, was passiert ist, als die Menschheit durch Paulus zu Christus gerufen wurde:
Die Rettungslosen kamen, weil sie von der Rettung hörten.
Die Verlorenen horchten auf, als es hieß, gerade sie würden gesucht.
Die heillos Verdorbenen waren am ehesten bei dem, der ein Heiland aller sein sollte.
Die, denen nichts half, die nichts hielt, denen nichts heilig sein konnte, … sie wollten glauben, dass tatsächlich ein Erlöser gekommen sei.
Die Freiheit, in der diese Menschen kamen, um sich taufen und sammeln zu lassen, um an Leib und Seele aus hoffnungslosen Geschöpfen zu neuer Kreatur zu werden, … diese Freiheit, die das Merkmal der Christen werden sollte, war also tatsächlich die Freiheit von jeder anderen Möglichkeit. Sie kamen, weil es das Einzige war, was ihnen offenstand. Sie kamen, weil nur dieser eine Jesus Christus ihrem Leben eine Aussicht und ihrem Leiden ein Ende bereiten konnte. Sie kamen, weil sie ohne jede weitere Verbindung zu Sinn und Sicherheit waren. … „Solus Christus“! Niemand außer Christus machte Anspruch auf ihr Herz oder ihre Hand. Sie waren bindungs- und besitzlos, … schutz- und darum zuletzt auch sorglos. … Vogelfrei.
Das Bild solcher Armut und solchen Mangels an allem, worauf man sich ausruhen und verlassen könnte, war aber nicht nur typisch für die ersten Gemeinden, sondern es wiederholte sich zur Reformationszeit: Die Sicherheiten, die religiös und sozial das Mittelalter bestimmt hatten, waren zerbrochen. Eine Krise - eine Glaubwürdigkeitskrise - hatte ausgehöhlt, was man zuvor für verlässlich und tragend gehalten hatte. Der Gnadenschatz der Kirche war wertlos geworden, weil die immer offensichtlichere Zweideutigkeit, dass die Sakramente und Tröstungen Gottes nicht als Gaben der Güte, sondern als Geschäfte der Gier vermittelt wurden, die Menschheit mittellos gemacht hatte. Keine wirkliche, keine wirksame Hilfe schien weit und breit mehr aufzutreiben. Alles hatte sich in einer Inflation vermeintlicher Wundermittel als letztlich leer erwiesen.
Frei von Hoffnung, frei von Verpflichtung, frei von Erwartung, frei von Bindung … verunsichert bis zur Orientierungslosigkeit so standen die Zeugen der Kirchenkrise da. … Vogelfreie, die aus den alten, zum Nistplatz der Fledermäuse und Gespenster gewordenen Kirchen davontrieben und kaum etwas mitnahmen, weil nichts mehr sie verband mit dem, was sich da zu Beginn des 16.Jahrhunderts auflöste.
Doch das war kein Betriebsunfall, ebenso wie die erbärmliche Mittellosigkeit des Urchristentums kein dummer Zufall war. Die Verlorenheit, das Freisein von allem, was einen hält und was man darum gerne selber behält, war vielmehr die Voraussetzung dafür, dass überhaupt eine christliche Kirche und in ihr später eine evangelische Konfession entstanden! Zu solcher Freiheit von allem anderen hatte Christus sie befreit, zu einem solchen Mangel an Festlegung sie gelöst, zu einer solchen inneren Unbestimmtheit sie bestimmt.
Das Problem der Kirche war darum niemals – und ist es auch heute nicht –, wenn sie Sicherheit einbüßt oder an Selbstwertgefühl verliert.
Im Gegenteil: Wenn anderes wieder ebenso wichtig wird wie das nackte Angewiesensein auf Gott, … dann fängt die Bedrohung der christlichen Gemeinde an! … Wo sie außer Gott nichts hat, da lebt sie sola gratia. Wenn sie aber mit den großen Verbindungen anfängt, wenn sie den freien, nackten Glauben mit den Tributen an die öffentliche Meinung oder mit der Einordnung in etwas Vorgegebenes verknüpft, dann wird die von aller Verhaftung an wen oder was auch immer befreite Kirche „fällig“, … hinfällig bis zum Sündenfall. Dann fängt sie nämlich an, das Reich Christi und die weltliche Herrschaft miteinander zu verkuppeln. Dann macht sie aus der Liebe eine Sache der praktischen Vernunft. Dann bietet sie den Altar dem Thron an und lässt sich dafür bezahlen, dass sie sich an Weltbilder und Weltmächte bindet. Dann wendet sie sich nicht mehr an die, die nichts haben, nichts wissen, nichts glauben, sondern nur noch an die, die das Richtige mitbringen und kennen und bekennen.
Dass die Kirche immer wieder aus der obdachlosen, aber auch unabhängigen Freiheit von allem sich zurückwendet zur engen Eingliederung in ihre Zeit und deren Ansprüche, … dass es die Kirche immer wieder aus dem autonomen Nicht-dazu-Gehören zum gesellschaftlichen Vorneweg-Marschieren zieht, … dass die Kirche sich nie traut, im eigenen bloßen Glauben ohne die Betätigung und damit auch Bestätigung auf allen möglichen Feldern des Zeitgeistes zu bleiben, das bezahlt sie von Anfang an mit der Unmöglichkeit, zwei Verpflichtungen gleichzeitig zu erfüllen: Entweder sie „wartet im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen“, oder sie muss alles leisten, was sie selber fordert.
Das bedeutet aber, dass man alle politischen Programme durchziehen, jeden vehement beschworenen Fortschritt selber umsetzen und alle Vorschläge zu lebensweltlicher Praxis mustergültig in der Welt praktizieren muss. Die Kirche muss dann die bessere Partei und die tüchtigere Agentur, die weisere Wirtschaftsprüfungs-, die cleverere Politikberatungs- und die innovativere Technikgesellschaft sein.
Das alles - und eine Behörde, eine Bank, ein Thinktank, eine Influencerin - will sie ja auch tatsächlich sein.
Aber so wie, wer sich beschneiden lässt, dann auch das gesamte Gesetz Israels halten muss, so muss, wer mit einem dieser Projekte beginnt, es auch vollständig durchführen. Und kann dabei nur unfrei werden. In lauterer Absicht, aber mit schrecklichen Folgen. Denn dann kann es uns nicht mehr allein darum gehen, dass wir Christus in Glauben und Liebe anhängen – was die Freiheit derer ist, die nicht in andere Bindungen, Rücksichten und Erwartungen gleichzeitig verstrickt sind –, sondern dann müssen wir retten, was zu retten, und bauen, was zu bauen, und formen, was zu formen, und machen, was zu machen ist.
Nun kann keiner von uns bezweifeln, wie verzweifelt viel die Menschheit und jeder Einzelne in ihr in unseren Tagen ändern, ablegen, aufgeben, umstellen und beitragen muss, damit das Leben der ganzen Welt nicht bald erstickt.
Aber fragen wir uns doch nur das eine: Wird die Welt in Glasgow gerettet werden? Wird die Zukunft entschieden mit dem heutigen 31.Oktober, an dem die Konferenz beginnt, von der tatsächlich so viel abhängt[iv]? …
So müsste es sein, wenn wir den Fakten folgen und die Prognosen der Wissenschaft sehen.
Aber diese nüchterne Erkenntnis ergibt noch keine Quelle, die die Menschheit heute mit der Verheißung des Lebens, mit der Kraft ungebrochener Hoffnung, mit dem Geist der bußfertigen und aufbruchbereiten Umkehr und Erneuerung erfüllen könnte.
Leer steht die Menschheit da und ohne eine eigene Aussicht auf Zukunft und Überleben. Vogelfrei, unabgesichert, ausgeliefert an das eigene Geschick, losgelöst von allem, was sonst bei Trost und Sinnen hält.
Im Wald steht sie … auch wenn der Wald bald vertrocknet und abgebrannt sein mag.
… Wie die, die ins Niemandsland geworfen werden, weil sie keinen Rückhalt und keine Aussicht haben.
Doch genau darum ist heute Reformationstag!
Weil wieder – wie in den Tagen des Anfangs und den Tagen des großen Umbruchs – eine Zeit beginnt, der Nichts weiter gegeben ist, als solus Christus: Christus, der Einzige und seine Gnade allein.
An nichts anderem liegt das, was kommt.
Wir bringen’s nicht mit. Wir können’s nicht einmal sehen: So tief im Schatten liegt der Saumpfad zum Überleben den steilen Felsen hinauf. Jeder Schritt in dieser unheimlichen Dunkelheit kann Sturz bedeuten. Jede Nacht in diesem unwirtlichen Gewucher der Krisen, der Katastrophen und der Schuld, in dem die Menschheit sich wiederfindet wie die ausgesetzten Flüchtlinge in den Wäldern, wird gefährlich sein.
Aber – so sagt es uns dieser Tag, so ruft es uns der Galaterbrief zu, der Luther aus so vielen Bindungen in die glaubende Offenheit für Christus befreit hat – … aber über dem steilen Pfad und nach der dunklen Nacht werdet ihr Christus finden: Nicht wie eine Burg aus massiven Steinen, nicht wie das Wunscherfüllungswunder, das ihr euch träumt.
Aber Christus, das Leben selber steht euch bevor! Wenn nichts anderes mehr Ersatz und Sicherheit bietet, dann schenkt Er euch Menschen das Ende aller Knechtschaft und die Freiheit, zu der ihr befreit werdet, wenn der faule Frieden und die Ungerechtigkeit des Bisherigen vergehen.
Nur Christus, nur Seine Liebe wird Euer Schutz sein. … Doch dafür kann man alles verlieren und aufgeben. Weil Er allein stehen bleibt.
Zur Freiheit hat uns Christus befreit. So steht nun fest!
Amen.
[i] Aus dem durch den Wandervogel verbreiteten Volkslied „Es saß ein klein, wild Vögelein“ (vgl. „Bruder Singer“, div. Auflagen - Kassel, S.144).
[ii] Das um jede (immer schon durch den Antiziganismus der romantischen Projektionen konterkarierte) Unschuld gebrachte Lied vom „Zigeunerleben“, aus dem dieser Refrain stammt, ist heute nurmehr als belastende historische Quelle zu werten.
[iii] Auch Max von Schenkendorfs Lied aus den Befreiungskriegen thematisiert in der 2.Strophe nicht zufällig den Wald: „Auch bei grünen Bäumen in dem luftgen Wald, unter Blütenträumen ist dein Aufenthalt“ („Bruder Singer, S. 205). Der „Topos“ des Waldes ist erkennbar die deutsche „U-Topie“ schlechthin.
[iv] Beginn der „26th UN Climate Change Conference of the Parties“ in Glasgow.
21.S.n.Tr., 24.10.2021, Mt.10,34-39, Stadtkirche + Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text/Thema: Mt.10,34-39 „Vom Verlieren und Finden"
Liebe Gemeinde,
heute geht es ums Verlieren und Finden, ums Abreißen von Beziehung und um neue Beheimatung. Dazu möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Die Protagonistin heißt Charlotte. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.
Charlotte ist Mitte 40. Sie hat eigentlich alles, was sie sich nach dem Abitur so erträumt hat: einen interessanten Beruf, den sie mit Erfolg ausübt, sie ist verheiratet, hat zwei Kinder, die ihr und ihrem Mann deutlich mehr Freude als Kummer bereiten, ein Haus mit Garten, das in 5 Jahren abbezahlt sein wird. Eigentlich gehört sie zu den Gewinnertypen, den Erfolgsmenschen. Aber irgendetwas nagte an ihr. Seit Monaten liegt sie nachts stundenlang wach, die Gedanken fahren Karussell. Morgens steigt sie wie gerädert aus dem Bett. Ist tagsüber oft müde und gereizt. Du bist in der Midlifecrisis, stellte ihr Mann vor ein paar Wochen fest. Was hältst du davon, mal richtig auszuspannen, raus aus dem Beruf, raus aus dem Alltag mit der Familie, ganz bei dir zu sein? Er hatte im letzten gemeinsamen Sommerurlaub das Buch von Hape Kerkeling gelesen „Ich bin dann mal weg", in dem dieser von seinem Burnout und seiner Pilgerreise auf dem Jakobsweg erzählt. Das hatte ihn schwer beeindruckt. Ich weiß ja, dass Wandern mit Rucksack nicht gerade deine Sache ist, aber mal alleine unterwegs seine Gedanken sortieren, das wäre sicher gut für dich - und am Ende auch für uns alle. Sie wusste, dass er recht hatte. Und dann kam ihr ein Zufall zu Hilfe: ihre Freundin rief an und erzählte ihr, dass sie sich unglücklicherweise den Fuß gebrochen hätte und so leider nicht ihre Reise nach Israel antreten könnte. Sie hatte Charlotte unlängst davon erzählt: eine Pilgerreise 4 Wochen durchs Heilige Land. In 4 Tagen sollte es losgehen. Sag mal, Henrike, hörte sich Charlotte zu ihrer eigenen Überraschung sagen, kann ich nicht für dich fliegen?
Und so wandert sie eine Woche später mit einer kleinen Pilgergruppe am Ufer des Sees Genezareth entlang. Immer wieder bleibt sie stehen, schaut über das glitzernde Wasser. Geschichten aus der Bibel fallen ihr ein: wie Jesus dort seine Jünger „eingesammelt" hat, einfache Fischer wie Petrus und Andreas, die hier mit ihren Familien in harter Arbeit ihr Brot verdient hatten. „Und sie ließen alles zurück und folgten Jesus nach ..." heißt es dazu in den Evangelien. Charlotte überlegt: Wie fanden das wohl die zurückgelassenen Familien? Sie setzt sich etwas abseits auf einen großen Stein. Ihre Gedanken wandern nach Deutschland, zu ihrer Familie. Eine große Familie, mit Geschwistern und Eltern, Tanten und Onkeln, Cousinen und Cousins. Man ist sich sehr verbunden. Einmal im Jahr trifft man sich zum Familientag. Die Zugehörigkeit gibt Geborgenheit. Aber Charlotte empfindet es oft auch als erdrückend. So viele Erwartungen der anderen; sie selbst geht dabei verloren. Was wäre, wenn (und ihr Herz pocht schneller bei diesem verbotenen Gedanken), was wäre, wenn sie, wie die Jünger, alles zurücklassen würde: die Erwartungen, die Verpflichtungen, die Schuldgefühle ... ? Könnte sie das, alles so ablegen, hinter sich lassen? Wäre sie dann frei?
Abends versammelt sich die Pilgergruppe am Seeufer. Der mitreisende Pfarrer liest aus der Bibel, aus dem Matthäusevangelium Kapitel 10, aus einer Rede von Jesus:
„Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert, oder wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert. Wer das Leben findet, wird es verlieren, wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es finden."
Charlotte zuckt bei diesen harten Bibelworten zusammen. Ihr Jesusbild war bis dahin ein völlig anderes. Vor ihrem inneren Auge taucht die Grafik aus dem Konfirmandenunterricht auf von Otto Pankok: Jesus zerbricht ein Gewehr, das Schwert der Neuzeit. Selig sind die Friedfertigen, die Friedensstifter. Und dann „Wer zum Schwert greift, der kommt durchs Schwert um". Hatte Jesus nicht zu Petrus gesagt „Stecke dein Schwert ein", als dieser ihn im Garten Gethsemane verteidigen wollte? Und jetzt auf einmal bringt Jesus nicht den Frieden, sondern das Schwert. Charlotte spürt, dass sie dabei ist, an der Oberfläche des Textes zu bleiben. Sie spürt: da geht es um eine tiefere Wahrheit, für die Jesus eingestanden ist. Es ging ihm nicht um Frieden, Freude, Eierkuchen, sondern um richtiges Leben. Und um den Einsatz dafür.
Nicht Harmonie und Wohlgefühl, sondern Auseinandersetzung und Streiten. Nicht blutiger Kampf auf Leben und Tod, aber doch ernsthaftes Streiten und Ringen um ein Leben, das diesen Namen verdient, um das, was lebenswert ist, was mir wichtig ist - und was für mich und meine Mitwelt lebenswichtig ist.
Nachdem alle eine Weile schweigend dagesessen haben und jede/r ihren/seinen Gedanken Raum gegeben hat, liest der Pfarrer den Text noch einmal vor und versucht dann, ihn der Gruppe näherzubringen. Er erklärt, dass Matthäus hier die schmerzlichen Erfahrungen der ersten Christinnen und Christen hat einfließen lassen. Sie wurden damals noch gar nicht Christen genannt, sondern waren Juden, die durch das, was der Rabbi Jesus von Nazareth ihnen erzählt und vorgelebt hat, zu einem neuen Weg, einer neuen Lebensweise aufgebrochen waren. Sie gingen einfach anders, als es traditionell üblich war, mit ihren Mitmenschen um. Sie hatten ein anderes Bild von Gott in ihrem Herzen als das, was ihnen von den Priestern und Schriftgelehrten gepredigt wurde. Dieser neue Weg war ein Ablösungsprozess von der Mutterreligion und das führte zu Zerwürfnissen innerhalb der Familie Judentum. Und dazu kamen die Auseinandersetzungen mit der Gewalt, mit der die Römer alle im Land überzogen. Nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Römer kam es zum totalen Zerwürfnis in der jüdischen Familie. Die Anhänger des neuen Weges hatten sich nämlich nicht am bewaffneten Widerstand gegen die römische Besatzung beteiligt, erzählt der Pfarrer, sie hatten es abgelehnt zum Schwert zu greifen, so wie es ihnen Jesus gepredigt hatte. Dafür wurden sie nun aus der Gemeinschaft der Juden ausgeschlossen, erfuhren sie von ihren jüdischen Geschwistern Ablehnung und Hass. Ein Riss, der oft quer durch Familien ging. Viele verloren so buchstäblich ihre Familie, ihre bisherigen Lebensbezüge. Aber sie machten auch die andere Erfahrung: sie konnten ganz neue Beziehungsbande knüpfen. Zu Menschen, die von ihrer kulturellen, nationalen und auch religiösen Herkunft her ihnen eigentlich ganz fernstanden; zu Menschen, die sie als fromme Juden als unrein gemieden hätten. Aber auf dem Weg, den ihnen der Rabbi Jesus vorgelebt hatte, waren sie ihnen unvoreingenommen begegnet, haben sie sich auf Augenhöhe kennengelernt. Männer und Frauen, Sklaven und Herren - auf einer Ebene; Römer und Griechen und Juden nebeneinander in den neu entstehenden Gemeinden, in einer neuen Familie Gottes. Das gab's noch nie! Deine Feinde werden deine Hausgenossen sein. Feindesliebe, Nächstenliebe über alle Grenzen hinweg. Die Anhänger des neuen Weges, des Weges in der Nachfolge Jesu, die haben nicht nur etwas verloren, sondern auch ganz viel Neues und Lebendiges gefunden. Sie sind ihren Weg gegangen, haben jeweils ihr Kreuz getragen, haben verloren, was ihnen einmal lieb und wert war, und haben Neues gefunden, das, was sie als richtig und wahr für sich erkannt hatten.
Verlieren und finden, denkt Charlotte, das Problem ist nur: man weiß vorher nie, was man finden wird, wenn man gerade dabei ist, alles zu verlieren.
Drei Tage später lernt die Pilgergruppe in Bethlehem Faten kennen, eine palästinensische Christin. Sie lauschen gebannt ihrer bewegenden Geschichte. Fatens Bruder war in den Unruhen der Intifada ums Leben gekommen. Sie erzählt: „Auf beiden Seiten, auf der israelischen und auf der palästinensischen, gibt es immer noch zu viel Wut, Hass und Vergeltung. Das muss aufhören", sagt sie. „Die Gewalt muss ein Ende haben. Einer muss anfangen. Die Feindesliebe, die Jesus uns gelehrt hat und die er gelebt hat: Hier gilt sie." Charlotte hängt an ihren Lippen. So hat sie noch nie über die Feindesliebe nachgedacht: Dem Feind, der den eigenen Bruder erschossen hat, die Hand reichen. Trotz aller schlimmen und leidvollen Erfahrungen klingt die Palästinenserin hoffnungsfroh: „Wir werden immer mehr. Auf beiden Seiten wächst die Zahl derjenigen, die bereit sind zum Vertrauen." „Was sagt Ihre Familie dazu?", will Charlotte wissen. Faten seufzt leise auf: „Viele aus meiner Familie beschimpfen mich als Verräterin. Für sie bin ich gestorben." Charlotte bohrt weiter: „Das heißt, Sie haben alles verloren? Ihren Bruder, der ums Leben kam und Ihre Familie, weil sie Sie ablehnt. Wie halten Sie das durch?"
„Ich glaube einfach, dass es richtig ist, was ich tue und denke", ist Fatens schlichte Antwort. „Ich glaube, dass Gott es so will. Jesus hat genau so geredet und gelebt." Für eine kleine Ewigkeit herrscht tiefes Schweigen. Dann sagt sie noch. „Frieden gibt es nur, wenn man bereit ist, zu vergeben und loszulassen. Wenn man bereit ist, zu verlieren. Dann gewinnt das Leben."
Charlotte liegt an diesem Abend noch lange wach in ihrem Bett im Hotel. Die Worte von Faten gehen ihr nicht aus dem Sinn. Frieden gibt es nur, wenn man bereit ist, zu vergeben und loszulassen. Ja, loslassen, das ist die Aktivität hinter dem Verlieren. Das muss man wollen und können: loslassen. Loslassen, nicht krampfhaft festhalten; die Hände öffnen. Kann ich das? Will ich das? Wie steht es da mit ihr? Mit ihrer Lebensplanung, ihrem Beruf, ihrer Familie? Ja, denkt sie, das ist es wohl, was mir in den letzten Monaten so viel Druck gemacht hat: immer alles im Griff haben zu müssen, es allen recht zu machen, stark und nett zu sein. Was könnte das bringen, hier die Hände zu öffnen, loszulassen, zuzugeben, dass man ganz tief innen eine Sehnsucht hat nach einem ganz anderen Leben ... Dass man nicht mehr funktionieren will, sondern eben leben ... Wie ihre Familie darauf reagieren würde ... ihre Arbeitskollegen ...? Ihr Arbeitgeber ...? Die Klimakrise, sie erfordert doch eigentlich genau das: dass man loslässt - die Ansprüche an das Leben, dass man bereit ist, zu verlieren, was bisher Lebensstandard war. Wenn man bereit ist, zu verlieren, dann gewinnt das Leben. - Diese Worte von Faten haben sich in Charlottes Gehirn gebrannt. Wenn man bereit ist, zu verlieren, dann gewinnt das Leben. Nicht das Ich gewinnt, sondern das Leben. Das Wir der Schöpfung. Das Leben, zu dem ich gehöre, und meine Angehörigen, und meine Freunde, alle Menschen und alle Geschöpfe. Alle zusammen die Familie Gottes. Ein tiefer Frieden erfüllt sie und lässt sie bald darauf in einen erholsamen Schlaf sinken.
Voll von neuen Eindrücken und Begegnungen sitzt Charlotte 3 Wochen später im Flugzeug auf dem Weg zurück in die Heimat. Während die Maschine abhebt, steigt für sie am Horizont eine neue tiefe Hoffnung auf. Sie hatte sich auf den Weg gemacht, um bei sich anzukommen, sich zu finden. Dabei war erst einmal das Gegenteil passiert: Alles wurde in Frage gestellt. Aber sie hatte dann doch noch etwas gefunden. So ganz kann sie es noch nicht in Worte fassen. Es sind neue Empfindsamkeiten dem Leben gegenüber. Sie hat gelernt, sich im Augenblick zu verlieren, um die Fülle einer Begegnung zu erfahren. Sie hat das Gefühl, dazuzugehören, Anteil zu haben an etwas Großem und Schönem, was im Entstehen ist, was aufwachsen will - trotz allem Leiden und aller Gewalt, trotz aller Ungerechtigkeit - was sich durchkämpft durch jedes einzelne Menschenherz. Sie fühlt sich gefunden. Gott hat sie gefunden. Das Leben hat sie zurückgeholt. Sie ahnt: „Gewinnen ist gar nicht so wichtig. Vielleicht ist es nicht einmal die Gesundheit, die mir zu einem guten Leben verhilft. Wenn ich einfach loslasse, was ich bisher so krampfhaft festgehalten habe, mal sehen, was das Leben mir bringt." Und dann kamen ihr wieder die Worte von Faten in den Sinn: „Wenn man bereit ist, zu verlieren, dann gewinnt das Leben."
Liebe Gemeinde, lassen wir uns anstecken von dieser Neugier und Offenheit, von diesem Gottvertrauen. Von dem Mut, loszulassen. Und lassen wir uns überraschen von dem, was Gott, was das Leben für uns bereithält. Amen.
(Literatur: Faten Mukarker, Leben zwischen Grenzen. Karlsruhe 1998)
Konfirmationen, 26.09.2021, Mutterhauskirche, Epheser 1,18, Jonas Marquardt
Predigt Konfirmation Mutterhauskirche 26.IX.2021
Epheser 1,18
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Gemeinde!
Ich stelle mir mal ein schlechtes Zeugnis aus … und sogar ohne mich zu schämen:
Wenn’s nach mir ginge, würde ich das, was Ihr im Unterricht gelernt habt, nicht zu stark bewerten. Es wird vielleicht so irgendwie im befriedigenden Bereich gelegen haben … wegen der Pandemie, die das Ganze im späteren Winter dann viel zu lange doch eingeschränkt hat, sagen wir mal: 3 -. Besser war’s eher nicht.
Um aber ganz klar zu sein: An Euch liegt‘s nicht, dass ich feststelle, dass Ihr beim Kennenlernen des christlichen Bekenntnisses, beim Lesen des Lukasevangeliums, beim Verstehen, wer Gott ist und wie Er sich in Jesus Christus zeigt, bloß mittelprächtig viel mitgekriegt habt. … Es liegt daran, dass man sich etwas anderes gar nicht vorstellen kann, und dass ich das auch nicht wollen würde: Wenn Ihr alles begriffen hättet, wenn Ihr Jesus Christus und den Heiligen Geist nicht mehr bei den spannendsten Fragen des Lebens, sondern unter den bekannten Antworten einsortieren würdet, wenn Ihr abschließend feststellt, dass Ihr in Sachen Glauben Bescheid wisst - wenn Ihr also glatt „1“ stündet -, dann würde ich verzweifeln. … Denn dann wäret Ihr fertig. Und etwas Schlimmeres gibt es nicht!
Leute, die mit Gott fertig sind, die den Glauben abhaken können, die alles wissen, was wir anderen nur suchen und worum wir beten, … solche Leute sind das Gift der Welt.
Das gilt ehrlichgesagt für alle, die fertig sind: Wer nichts Neues mehr erwartet, wer alles kennt und in allem Routine hat, muss am Steuer einschlafen oder von seiner eigenen Langeweile aufgefressen werden. Die Fertigen sind beinah schon tot. Die alles kennen oder können, sind die, denen nichts mehr begegnen kann.
Man muss sie von Herzen bedauern und man darf sich wünschen, dass man niemals selber ein Mensch wird, der so viel hinter sich und so wenig vor sich hat, wie die, die alles beherrschen.
Seid darum mit dem, was Ihr vielleicht gelernt und begriffen habt, genauso zufrieden wie mit dem, was Ihr überhaupt nicht verstehen oder behalten konntet!
Nur dass Ihr mit beidem nicht einfach „durch“ seid, würde ich Euch von Herzen wünschen: Was man weiß, das weiß man nie genau genug. Und was man noch erfahren kann, das wird einem schließlich immer noch mehr zu fassen und zu versuchen geben in diesem Leben.
Gut also, wenn es Lücken gibt. Durch sie kommt das zukünftige Wissen. Durch die Maschen im Netzt kommen die Fragen, wie eigentlich alles zusammenhält. Durch die unerklärten Dinge entstehen sämtliche Entdeckungen und wächst der Glaube.
Gut also, wenn Ihr in Nichts perfekt seid!
…… Dass kann man Euch heute umso besser sagen, als Ihr ja noch nie so nah dran wart am Zustand der Vollkommenheit: Ihr seid schön anzusehen und werdet groß gefeiert; Ihr seid der Mittelpunkt dieses Tages und steht dabei so klar erkennbar an der Schwelle noch viel spannenderer Tage und Jahre, in denen Ihr immer sicherer und selbständiger, mutiger und mündiger werden dürft … was könnte Euch da nun denn eigentlich fehlen? Wonach könntet Ihr Hunger haben, was könntet Ihr brauchen?
— Wir müssen nicht ausführlich antworten.
Sicher würde Euch – trotz aller Geschenke, die gleich noch auf Euch niederprasseln könnten – genügend einfallen. Sinnvolles und Irres.
Aber die einfachste Antwort ist schlicht, dass Euch der morgige Tag fehlt.
Er war noch nicht da und niemand kann ihn Euch heute schon schenken.
Aber wenn er nicht käme … was wäre das heute dann für ein Fest? Wie würdet Ihr feiern und Geschenke auspacken und Euch Reden anhören können und vielleicht gar selbst bei Tisch eine eigene Rede halten, wenn morgen nicht mehr käme?
Merkt Ihr: Wenn man sich auch in noch so vielen Dingen sicher sein könnte, wenn man bei noch so vielem sagen könnte: Ich hab’s, ich kann’s, ich bin’s, … es hat alles gar keinen Sinn und keinen Wert mehr, wenn das Sein, das Können und das Genießen nicht weitergehen.
Der morgige Tag fehlt dem heutigen. Oder umgekehrt: Von morgen her gewinnt heute seine Bedeutung, seine alltägliche ebenso wie seine besondere Bedeutung.
Das könnt Ihr an Eurem Konfirmationstag später in der Erinnerung besonders gut festmachen: Äußerlich, weil es ein Tag war, an dem sich vieles ereignet haben wird, das in die Zukunft reicht und aus dem die Zukunft sich ableiten muss. Es ist schließlich ja ein Wahltag, ein Tag, der Weichen stellt, die sich praktisch und bleibend in dem, was kommt, auswirken werden. Aber das gilt nicht nur im öffentlichen Bereich der Politik, sondern auch im Blick auf Euer persönliches Leben: Ihr wählt heute auch. Oder Ihr bestätigt, dass Eure Wahl sich gefestigt hat und gültig ist.
Ihr wählt Gott!
Was das heißt? – Dass Ihr eine bestimmte Partei, ein Programm, eine Linie übernehmt, wird es nicht bedeuten. Gott ist die Freiheit, das wisst Ihr. Und Er ist die Liebe, die nichts anderes fordert, als dass Ihr immer weiter lernt, Gott und die Menschen zu lieben von ganzem Herzen und mit allen Euren Kräften – von 3- heute bis 2+ mit * einst.
Auf welche Wege Euch das genau bringt, ist damit aber immer noch offen. Weil ja weder Ihr noch das Leben heute schon fertig sein sollt.
Aber nur wer Gott wählt, wählt auch wirklich das, worum es jeden Tag und allen Menschen eigentlich geht. Wer Gott wählt, wählt die Hoffnung.
Hoffnung ist etwas, an dem man merkt, wann man aufhört ein Kind zu sein: Kinder nehmen alles erst einmal als selbstverständlich an, … dass nichts selbstverständlich ist, fangt Ihr dagegen längst an zu begreifen. Weil für sie jedoch alles wirklich selbstverständlich ist, werden Kinder einfach nur sauer, wenn etwas kaputt geht oder fehlt oder nicht eintritt, wie sie es sich felsenfest vorgestellt haben. Was sie nicht - oder nicht mehr - ganz wie von selbst haben und vorfinden, das wollen Kinder einfach. Ihr Wollen ist die einzige Brücke zwischen dem, was nicht da ist und dem, was aber da sein soll.
Da seid Ihr schon ganz anders … eben gar keine Kinder mehr. Dass das reine Wollen, das reine Quengeln und Bocken, das reine Fordern und Herbeitrotzen nichts bringt … an guten Tagen wisst Ihr es!
Aber ohne ein Wünschen, ohne ein Vertrauen darauf, dass es Brücken zwischen heute und morgen gibt, Brücken zwischen dem, was nicht mehr oder noch nicht ist, und dem was doch sein oder kommen soll, … ohne eine solche Hoffnung, dass das Leben weitergeht und sich ändert, kann man nicht existieren.
Hoffnung ist es, weshalb Ihr heute feiert und gefeiert werdet: Das wunderbare, wenn auch gar nicht in klare Pläne gefasste Vertrauen darauf, dass Ihr mit vierzehn, fünfzehn Jahren noch so dermaßen viel vor Euch habt, das erst noch kommt und werden wird.
Und daran merkt man, dass Ihr keine Kinder mehr seid: Eure Entwicklung, Eure Zukunft, Eure Chancen und Aussichten und Lebenswege, die wollt Ihr nicht (nicht immer jedenfalls!) durch Maulen oder Motzen herbeizwingen, sondern Ihr wisst, dass man dafür Zeit und Geduld und Spucke braucht, dass man sich anstrengen und einsetzen muss und dass es um Warten und Aushalten, um Versuche der Vernunft und die Bereitschaft zum Lernen und Ändern geht, die dann das, was werden kann, möglich machen. Da geht es Euch wie einem Land, das wählen darf und wie der gesamten Menschheit, die nicht mehr durch kindisches „Alles-Wollen“ in die Zukunft kommen wird.
Nur dass Ihr einen unglaublichen Vorteil habt! Euer Blick nach vorne, die Brücke, die vor Euch liegt, … ja, die vielleicht gerade erst gebaut, zu der heute der tragendste Pfeiler gesetzt wird … ist sicher! Ihr müsst in diese Zukunft nicht ängstlich gehen, nicht mutlos oder festgebissen in das, was war, … Ihr könnt fröhlich gehen und trotz allen Ernstes heiter und fest und frei. Weil Ihr Euch gleich hinknieen werdet, um zu zeigen, wem Ihr vertraut. Diese Geste bedeutet ja nicht, dass Ihr nicht danach aufstehen und aus eigener Kraft vorankommen werdet. Aber wer sich vor Gott hinkniet und damit bekennt: DU bist der HERR meines Lebens, DU bist der HERR der Welt, DU bist der HERR der Zukunft … was für einen guten Mut, was für ein Vertrauen darf ein solcher Mensch haben!
Ihr wisst nämlich und zeigt es mit dieser Geste, dass Jesus gekommen ist, um Euch solches Vertrauen zu schenken:
Er wurde geboren, damit Ihr dem Leben, Eurem Menschenleben vertraut.
Er hat gelitten und er starb sogar, damit Ihr sicher wisst, dass auch das Schlimmste nicht das Ende bedeutet für die, die Gott lieben.
Und er ist auferstanden, damit Euer Herz und Euer ganzes Lebensgefühl voller Zukunft, voller Hoffnung sein kann.
Dieses Vertrauen, dieser Trost, diese Hoffnung sind der Sinn der Konfirmation. Wenn das nicht befriedigend, wenn das nicht hochzufriedenstellend, wenn das nicht der Frieden selbst ist, dann weiß ich gar nichts!
Und wenn Ihr das auch wisst, dann wisst Ihr das Wichtigste und wählt das Beste!
Weil Gott die Augen Eures Herzens erleuchtet hat und Ihr erkennt, zu welcher Hoffnung Ihr durch Ihn berufen seid.
Glückwunsch!
Amen
Konfirmationen, 25.09.2021, Mutterhauskirche, Epheser 1,18, Jonas Marquardt
Predigt Konfirmation Mutterhauskirche 25.IX.2021
Epheser 1,18
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Gemeinde!
Noch ein Augenblick und Ihr seid dran – mit Eurer Konfirmation!
… Das ist übrigens ein ziemlich schöner deutscher Ausdruck, dass wir eine kurze Zeit nicht nur ein „Handumdrehen“ nennen oder bloß sagen „Eine Sekunde noch“ (was sowieso immer gelogen ist!), sondern dass wir vom „Augenblick“ sprechen. Wie lange man sich etwas anguckt, ist nämlich nicht nach der Uhr zu messen. Manchmal ist so ein Draufschauen ganz kurz … einige von Euch haben so die Zehn Gebote oder einen Psalm oder etwas anderes gelernt: Hinsehen, inneren Screenshot machen und gespeichert.
Und manchmal kann man etwas noch so lange anstarren, ohne mit der Wimper zu zucken und es bleibt trotzdem sehenswert und voller Entdeckungen.
Augenblicke sind also sehr unterschiedlich. Und manche von Euren älteren Verwandten, die sich heute zurück an ihre eigene Konfirmation erinnern, werden Euch sagen, dass ihnen das ganze Leben gar nicht so wahnsinnig lang vorkommt, aber es Augenblicke darin gab, die wie festgefroren oder eingegraben sind: Wunderbare Momente, … aber auch furchtbare Schockerlebnisse. Manches, das ganz kurz war, bleibt so lebendig und entscheidend, dass Jahre nichts ändern an der Wichtigkeit eines solchen Augenblicks.
Auf Euch kommt das auch zu. Die Tage, in denen Ihr erlebt, was der andere schöne altmodische Ausdruck bedeutet: „Schöne Augen machen“. Wenn man sich nicht satt sehen kann.
Oder wenn man plötzlich das erkennt, was die Lösung einer schweren Aufgabe, einer furchtbaren Frage war. Oder wenn das Leben insgesamt so rundum herrlich ist, dass man wie ein rastloser Irrer (Goethes Faust nämlich) plötzlich zu einer bestimmten Situation sagen könnte: „Verweile doch, du bist so schön“.
… Aber es kommen auch Augenblicke, die Ihr lieber vergessen würdet. Wenn etwas nicht mehr zurückzudrehen ist. Wenn etwas wehtut, das in diesem Leben nicht mehr heilen kann.
… Und sehr, sehr viele andere Augenblicke und Sehenswürdigkeiten und Einsichten und Ansichten und Absichten und Aussichten kommen auf Euch zu, bei denen Ihr die Übersicht gewinnen oder verlieren werdet und Eure eigene Sicht der Dinge sich formt und festigt.
Ihr werdet ja sehen.
… Werdet Ihr wirklich. Weil Ihr in einer Zeit heranwachst, die so viel mehr Visuelles bietet und verbindet als jemals denkbar war. Das muss ich Euch nicht erklären, das könnt Ihr mir viel besser beibringen. Blitzschnell, weltweit, durch und durch kann man alles sehen und sehen lassen. Nichts bleibt verborgen. Alles steht allen vor Augen. – Stimmt’s? ——
Natürlich nicht.
Habt Ihr je ein Bild von morgen gesehen? – Trotz aller Sciencefiction: Noch nie! Es waren nur Entwürfe, Ahnungen. Aber nie konnte man erkennen, was wirklich um die Ecke des nächsten Tages, der nächsten Zeit wartet. Das hat die ganze Welt in den vergangenen Jahren – für Euch so wichtigen Jahren! – ja kapieren müssen. Von der Zukunft haben wir trotz allem kein Bild! …. Wann könnte man das nun aber so ehrlich und drängend festhalten wie am Vorabend einer so offenen und spannenden Wahl?!
Ein bisschen ist uns aber obendrein - Ihr habt’s an mir gemerkt - in dieser maskierten Zeit auch noch das Bild von anderen Menschen abhandengekommen: Viele schwarze Kacheln, viele halbe Gesichter, viel weniger Neues als sonst … jedenfalls in echten Begegnungen. Das wird sich hoffentlich wieder ändern. Ihr werdet Unbekannte und Unbekanntes kennenlernen und über die Menschen und Euch selbst dadurch viel mehr erfahren, als wenn man nur immer auch sich guckt oder bloß auf Vertrautes stößt.
Aber wieder stellen wir fest: So unglaublich viel uns auch im Netz und auf der Netzhaut vorschwebt … wir sind längst nicht die Sorte Hellseher, denen wirklich alles klar wäre.
Geheimnisse und Unerkennbares bleiben jede Menge.
Und wenn Ihr daran geht, diese blinden Flecken aufzufüllen, wenn Ihr das, was man noch nie klargekriegt hat, klärt – und ich fürchte, Ihr werdet ziemlich vieles, was einigermaßen trüb ist, heller und besser machen müssen auf dieser Erde –, dann wäre es ganz gut, wenn Euch von diesem Tag, an dem Ihr zu Gott „Ja!“ gesagt habt und Er zu Euch „Amen!“, ein Bild vor Augen stünde. … Das Bild, das niemand hier machen kann – und auch nicht soll.
Erinnert Ihr Euch? Von Gott soll man sich kein Bild machen, so lautet das 2.Gebot. Das ist - wie auch die anderen Gebote Gottes - in erster Linie kein Verbot, sondern eine Verschonung: Ein sinnloser Kampf, ein blödsinniger Krampf wird ausgeschlossen durch die Erinnerung daran, dass es keine Kunst und keine Technik auf der Erde gibt, die an Gott rankommen. Man kann noch so angestrengt alles filmen, alles zoomen, alles knipsen: Kein Close-up und kein Weitwinkel, kein Filter und keine andere unserer Aufzeichnungsmöglichkeiten können uns zeigen, dass Gott bei Eurem Fest hier ist und es wird sich auch nichts entwickeln lassen, was dann eines Tages beweisen würde, dass Gott hier oder da oder überall anwesend war oder bleibt. Das ist sicher.
Und doch wünsche ich Euch, … bitte ich Euch, dass Ihr das Bild von Gott in Erinnerung haltet, um gut durch’s Leben zu kommen und in der Welt das Nötige und Wichtige tun zu können, das auf Euch wartet. Das Bild, das keiner machen kann.
Das aber eben auch niemand machen muss.
Weil Gott es Euch schenkt. Heute, gleich in einem Augenblick, … für alle Tage.
Er nimmt dabei nichts an Euren Augen vor. Dahin, wo Gott sein Bild nun projiziert, reicht unser Blick sowieso nicht.
Gott speichert es heute nämlich anders in Euch. Ihr müsst dafür gar nichts Besonderes unternehmen oder leisten.
Ihr wisst ja, dass Ihr hier nicht einmal viel aufsagen oder vorturnen müsst.
Ihr sollt nur gesegnet werden. Und in diesem Segen, den man auch nicht aufzeichnen oder festhalten kann, da senkt sich das Bild ein, auf das Ihr Euer Leben lang zurückkommen sollt, … das sich Euch plötzlich zeigen wird, wenn Ihr gar nicht dran denkt, das immer noch von sich aus leuchtet, auch wo kein Licht ist und das Euch einzigartig helfen wird, … wo Ihr meint, Ihr hättet alles im Blick, genauso wie da, wo Ihr meinst, es gäbe nichts mehr zu erwarten.
Gott legt in Euer Leben heute den Segen der Hoffnung.
… Hoffnung … das heißt mit noch so einem schönen deutschen Wort: Zuversicht.
Vielleicht hört Ihr daran, dass Ihr immer etwas, … nein: Jemanden haben werdet, zu Dem Ihr sehen, auf Den Ihr erwartungs- und vertrauensvoll blicken dürft, Der Euch etwas von sich zeigen und geben wird, das Euch weiterbringt.
Die Zuversicht, der Blick, der nicht in’s Leere geht, sondern Wege und Ziele zeigt, wird Euch im Segen eingepflanzt. Das bedeutet logischerweise, dass Ihr als Gesegnete sicher Zeiten ohne klare Wegvorstellung und ohne erkennbares Ziel erleben werdet. Das werden Zeiten sein, in denen Ihr total beschäftigt seid und darum nicht weiterdenkt, als nur das zu schaffen, was gerade nötig ist. Es können auch Zeiten sein, in denen Ihr Euch ganz leer fühlt oder allein oder gelähmt. Es können weltweite Pandemiezeiten oder Eure persönlichen Olympiaden sein – und manchmal fällt beides ja sogar zusammen.
Aber in solchen Zeiten - und in allen anderen auch! - wird unversehens das, worauf es sich zu sehen lohnt, erscheinen: Die unglaubliche Liebe, die Gott zu einem Menschen werden ließ und die jeden Menschen umfasst. Die unglaubliche Liebe, die Gott in Jesus mitten in sämtliche Extreme, auch extreme Leiden des menschlichen Lebens brachte, um in jeder Situation bei den Menschen zu sein. Die unglaubliche Liebe, die keinen Menschen als etwas, das vorbeigehen und verschwinden kann, betrachtet, sondern jedem, der das will die Ewigkeit auftut, um für immer Gutes und Barmherzigkeit zu erfahren.
Diese unglaubliche Liebe, die in Jesus Christus geboren wurde, litt und starb und auferstand, um bei uns allen zu bleiben und uns alle zu sich zu ziehen: Die legt Gott heute in Eurem Leben fest an, weil Ihr sie begehrt und bejaht, weil Ihr sie bestätigt („konfirmiert“!) und annehmt.
Und sie wird sich in unzähligen, unerwarteten, unbeschreiblichen Bildern zeigen … dann, wenn Ihr sie braucht.
Das ist es, was Ihr mitnehmen solltet in’s Leben: Die Gewissheit, dass alles, was kommt und alles, was Ihr machen und werden könnt, so etwas wie ein Rahmen ist, in dem das Bild erscheint, wenn es nötig sein wird: Dass Ihr geliebte Menschen seid, die Gott niemals zu lieben aufhören wird.
Ihr werdet es sehen.
Jedes Mal neu.
Immer anders.
Auch wenn Ihr es kaum glauben und selber nicht suchen könnt.
Denn es ist kein Bild, das von uns Menschen hergestellt werden muss.
Gott wird Euch erleuchten, bis in die Tiefen Eures Herzens. So dass Ihr erkennen könnt, zu welcher Hoffnung Ihr berufen seid – von heute an, in jedem Augenblick und in alle Ewigkeit!
Amen.
16.S.n.Tr., 19.09.2021, Dan.5, Mutterhauskirche, Heimann&Höh
Text/Thema: Das Mene Tekel in unserer Zeit (Dan.5)
(Dialogpredigt von Pfarrerin Ulrike Heimann und der Studentin der Theologie Mareile Höh)
Liebe Schwestern und Brüder,
kennen Sie die Geschichte, die im 5.Kapitel des Danielbuches erzählt wird? Wenn auch nicht im Original, so ist sie Ihnen vielleicht in der Dichtung von Heinrich Heine schon begegnet. Und weil diese deutlich kürzer ist als das Kapitel 5 und ihr außerdem viel besser zu folgen ist, bringen wir sie hier zu Gehör - als etwas anderen Einstieg in eine Predigt:
„Belsazar"
Die Mitternacht zog näher schon;
In stummer Ruh lag Babylon.
Nur oben in des Königs Schloss,
da flackert's, da lärmt des Königs Tross.
Dort oben in dem Königssaal
Belsazar hielt sein Königsmahl.
Die Knechte saßen in schimmernden Reihn
Und leerten die Becher mit funkelndem Wein.
Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht;
So klang es dem störrischen Könige recht.
Des Königs Wangen leuchten Glut;
Im Wein erwuchs ihm kecker Mut.
Und blindlings reißt der Mut ihn fort,
und er lästert die Gottheit mit sündigem Wort.
Und er brüstet sich frech und er lästert wild;
Die Knechtenschar ihm Beifall brüllt.
Der König rief mit stolzem Blick;
Der Diener eilt und kehrt zurück.
Er trug viel gülden Gerät auf dem Haupt;
Das war aus dem Tempel Jehovas geraubt.
Und der König ergriff mit frevler Hand
Einen heiligen Becher, gefüllt bis zum Rand.
Und er leert ihn hastig bis auf den Grund
Und rufet laut mit schäumendem Mund:
Jehovah, dir künd ich auf ewig Hohn -
Ich bin der König von Babylon!
Doch kaum das grause Wort verklang.
Dem König ward's heimlich im Busen bang.
Das gellende Lachen verstummte zumal;
Es wurde leichenstill im Saal.
Und sieh! Und sieh! An weißer Wand
Da kam's hervor wie Menschenhand
Und schrieb und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand.
Der König stieren Blicks da saß,
mit schlotternden Knien und totenblass.
Die Knechtenschar saß kalt durchgraut
Und saß gar still, gab keinen Laut.
Die Magier kamen, doch keiner verstand
Zu deuten die Flammenschrift an der Wand.
Belsazar ward aber in selbiger Nacht
Von seinen Knechten umgebracht.
Soweit die Dichtung zu Daniel 5 von Heinrich Heine. Liebe Schwestern und Brüder, ich würde ihn, wenn ich könnte, schrecklich gerne fragen, warum er die entscheidenden Verse der biblischen Erzählung nicht mit in sein Gedicht aufgenommen hat. „Die Magier kamen, doch keiner verstand / zu deuten die Flammenschrift an der Wand." So weit stimmt es. Aber es kam ja dann doch einer, nämlich Daniel, und der konnte die Schrift lesen und deuten - ähnlich wie Josef die Träume des Pharao schildern und deuten konnte. Daniel, der schon Belsazars Vater, dem König Nebukadnezar, unerschrocken Rede und Antwort gestanden hat, tritt so auch vor Belsazar hin.
(Mareile) „O König, der höchste Gott hat deinem Vater Nebukadnezar Königreich, Macht, Ehre und Herrlichkeit gegeben. Und um solcher Macht willen, die ihm gegeben war, fürchteten und scheuten sich vor ihm alle Völker, Nationen und Sprachen. Er tötete, wen er wollte; er ließ leben, wen er wollte; er erhöhte, wen er wollte; er demütigte, wen er wollte. Als sich aber sein Herz überhob und er stolz und hochmütig wurde, da wurde er vom königlichen Thron gestoßen und verlor seine Ehre und wurde verstoßen aus der Gemeinschaft der Menschen ... bis er lernte, dass der höchste Gott Gewalt hat über die Königreiche der Menschen und sie gibt, wem er will. Aber du, Belsazar, sein Sohn, hast dein Herz nicht gedemütigt, obwohl du das alles wusstest, sondern hast dich gegen den Herrn des Himmels erhoben. ... Darum wurde von ihm diese Hand gesandt und diese Schrift geschrieben. So aber lautet die Schrift, die dort geschrieben steht: Mene mene tekel u-parsin. Und sie bedeutet dies: mene, das ist, Gott hat dein Königtum gezählt. Tekel, das ist, man hat dich auf der Waage gewogen und zu leicht befunden. Peres, das ist, dein Reich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben."
(Ulrike) Eine hoch spannende Geschichte. Auch wenn sie sich teilweise so anhört wie ein Märchen aus Tausend und einer Nacht. Es ist eine Geschichte, die uns einen Spiegel vorhält, in dem wir uns und unsere Zeit wiederfinden können - mit unseren Problemen, unseren politischen und gesellschaftlichen Nöten und Fragen. Sie will uns zum Nachdenken bringen und - gut prophetisch - zum Umdenken und Umkehren.
Mene mene tekel - gezählt, gewogen und zu leicht befunden.
Mareile, bei unserem ersten Gespräch über diesen Text Daniel 5 hast Du sehr deutlich gesehen: es geht hier nicht nur um den einen König, um den einen Verantwortlichen, um Belsazar, sondern um eine ganze Gesellschaft - in der Geschichte repräsentiert durch die Höflinge und Knechte. Das hat Heinrich Heine glasklar gesehen:
Es klirrten die Becher, es jauchzten die Knecht;
So klang es dem störrischen Könige recht.
Und weiter:
Und er brüstet sich frech und er lästert wild;
Die Knechtenschar ihm Beifall brüllt.
Es gibt das Bonmot: Jede Gesellschaft, jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.
(Mareile:) Es scheint mir als wollte diese Geschichte uns den Spiegel vorhalten: Belsazar, der Herrschende, der abhängig von der Gunst seiner Gesellschaft ist, erkennt erst in dem Moment seinen Fehler, in dem das Unsichtbare durch die schreibende Hand sichtbar wird. Sein Handeln wird buchstäblich angekreidet. Das Unsichtbare, das Belsazar in Trunkenheit und angespornt von seiner Gesellschaft leichtfertig herausfordert, lässt ihn durch das Sichtbar-Werden seine volle Macht spüren.
Ich weiß nicht, wie es Dir, wie es Ihnen, liebe Gemeinde, ergeht, aber für mich tut sich hier eine erschreckende Parallele auf. Wie Belsazar fordern auch wir immer wieder leichtfertig das Unsichtbare heraus, obwohl uns doch bewusst ist, dass es erheblichen Einfluss auf uns nehmen kann. Ich denke hierbei konkret an die Klimakrise. Eine Krise, die nicht tagtäglich in vollem Ausmaß bei uns zu spüren ist, die lange ignoriert wurde.
(Ulrike:) Stimmt genau, ignoriert vom Volk, von den meisten von uns und von den politisch Verantwortlichen, die ja bis heute vor allem die Sorge umtreibt, ob sie als Verkünder schlechter Botschaft wie weniger Fleischkonsum und weniger Individualverkehr wiedergewählt werden.
(Mareile:) Dabei wäre beides absolut nötig: Die Politikerinnen und Politiker müssen den Mut haben, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu einem nachhaltigen Gebrauch der Ressourcen gesetzlich festzuschreiben. Und wir als Wahlvolk müssten aufhören, nur an das individuelle Wohlergehen zu denken. Wir müssten unsere Ansprüche zurückschrauben, unseren Lebensstil verändern. Die Ressourcen unserer Erde sind begrenzt und müssen für alle reichen, nicht nur für uns Europäer, sondern für alle Menschen weltweit und für alle anderen Lebewesen.
(Ulrike:) Und nicht nur für meine Generation, sondern auch für Deine und für die Kinder, die heute und morgen geboren werden. Wir haben da eine große Verantwortung. Bisher sind wir dieser Verantwortung nicht gerecht geworden. Uns ging es ja gut. Die Katastrophen ereigneten sich weit weg, in Afrika, in Asien.
Es ist verrückt, aber irgendwie bin ich fast froh, dass die meist unsichtbare Klimakrise jetzt bei uns sichtbar geworden ist.
(Mareile:) Die zerstörerischen Wetterphänomene, der Starkregen in diesem Juli bei uns, oder auch die verheerenden Waldbrände in Südeuropa und der Türkei - das ist jetzt so sichtbar geworden, dass wir es nicht mehr ignorieren können.
(Ulrike:) Der Weltklimarat hat im August geradezu beschwörend an die politisch Verantwortlichen appelliert, wirklich alles zu tun, um das Ruder noch herumzureißen und den Anstieg der Erderwärmung unter 2 Grad zu halten - es sind nicht mehr fünf Minuten, sondern 5 Sekunden vor Zwölf.
(Mareile:) Die Dringlichkeit sichtbar gemacht haben aber nicht nur Großbrände und verheerende Hurrikans. Am 20. August 2018 verweigerte ein 15-jähriges Mädchen in Schweden den Schulbesuch, um stattdessen vor dem schwedischen Parlament für ein Umdenken in der Klimapolitik zu demonstrieren. Sie alle werden ihren Namen kennen: Greta Thunberg bewegte mit ihrem Einsatz weltweit SchülerInnen und StudentInnen dazu, für das Klima und somit auch für unsere Zukunft auf dieser Erde auf die Straße zu gehen. Sie alle kreideten das Nicht-Handeln der Politik an wie niemand sonst zuvor.
(Ulrike:) Dabei haben Wissenschaftler des Club of Rome schon vor fast 50 Jahren die Gefahren beschrieben, die unser westlicher konsumverliebter Lebensstil für das Leben auf der Erde nach sich zieht. „Die Grenzen des Wachstums" hieß ihr Bericht. Kein Politiker hat sich beeindrucken lassen, und das Wahlvolk hat immer denjenigen Beifall und Stimme geschenkt, die Wirtschaftswachstum versprochen haben.
(Mareile:) Greta Thunberg hat für mich fast so eine Rolle wie der Prophet Daniel. Sie und die Fridays-for-Future Bewegung haben erneut das laut gemacht, was vor 50 Jahren schon bekannt war. Aber aufgrund ihres Alters zählen sie nicht. Ihr Alter macht sie als Wählergruppe uninteressant. Sie sind lautstarke Unmündige. Vielleicht gerade deswegen haben sie als solche die Problematik umso klarer erkannt. Als Außenseiter haben sie sich in die politische Debatte eingebracht. Außenseiter wie auch viele Propheten des Alten Testamentes es waren. So auch Daniel. Ihre Botschaft ist so wie die der Propheten: Nicht gewünscht, aber eindringlich: Mene mene tekel -Die Zeit unseres Planeten und unseres Lebens auf diesem ist gezählt.
(Ulrike:) Für Belsazar heißt es: mene mene tekel gezählt, gewogen, zu leicht befunden. Er hat sich an Gott versündigt, hat Gott gelästert, wie es im Text heißt. Und nun ist es für ihn aus und vorbei. Und das Urteil vollstrecken ironischer Weise diejenigen, die eben noch mitgegrölt und mitgefeiert und ihm Beifall geklatscht haben.
(Mareile:) Belsazar hat sich an Gott versündigt. Irgendwie tun die Menschen unserer Tage das ja auch. Er hat uns diese Erde anvertraut, um sie als Lebensraum für alle Geschöpfe zu erhalten. Aber wie wir mit ihr umgehen, sie ausbeuten, ihre Lebensgesetze mit Füßen treten - das ist für mich wie Gotteslästerung.
(Ulrike:) So sehe ich das auch. Gott ist die Lebenskraft in allem. Wer das Leben und die Lebensordnungen stört und zerstört, der versündigt sich am Schöpfer, an Gott.
Mene mene tekel - ich muss immer öfter daran denken, wo wir da heute stehen, ob der homo sapiens mit seinem Tun gewogen, gezählt und zu leicht befunden ist; ob seine Tage auf dieser Erde bereits gezählt sind, weil seine Taten einfach für die Erde mit all ihren anderen Geschöpfen unerträglich geworden sind. Er ist nämlich nicht weise - sapiens - gewesen, sondern dumm und selbstsüchtig.
(Mareile:) Du denkst an die Kipp-Punkte, nicht wahr? Ob die schon im Gang sind - das Abschmelzen der Polkappen, das Auftauen der Permafrostböden, das Versiegen des Golfstroms im Atlantik. Die Folgen wären unvorstellbar, würden menschliches Leben, wie wir es kennen, unmöglich machen.
(Ulrike) Genau. Ich habe deshalb auch lange Zeit einen Bogen um diese Erzählung von Daniel gemacht. Mene mene tekel - gezählt, gewogen und zu leicht befunden. Chance vertan. Das war für mich viel zu düster. Aber inzwischen habe ich einen neuen Zugang zu diesem 5.Kapitel entdeckt - nämlich den Abschnitt, den Heinrich Heine in seinem Gedicht übergangen hat. Für ihn war Belsazar die wichtige Figur. Aber für Daniel ist es jemand anderes: nämlich Nebukadnezar, der Vater von Belsazar.
(Mareile:) Aber Nebukadnezar, das ist doch für die Juden der Bösewicht schlechthin. Nebukadnezar hat Jerusalem erobert, den Tempel zerstört und viele Juden ins Exil verschleppt.
(Ulrike:) Ja, das stimmt. Und das verschweigt Daniel auch nicht. Nebukadnezar war ein größenwahnsinniger Tyrann, der große Schuld auf sich geladen hat. Und der damit buchstäblich im Dreck gelandet ist, ausgestoßen und aller Macht verlustig gegangen. Aber dann, so erzählt Daniel die Geschichte weiter, ist er umgekehrt, hat er erkannt, dass nicht er, sondern Gott der Herr des Lebens ist. Ist er aus seinem Wahn, der Herr zu sein, aufgewacht und ist umgekehrt - hin zu Gott; und das heißt auch: er konnte so der Verantwortung, die er als Herrscher hatte, gerecht werden. Und man hat ihn wieder als König akzeptiert.
Auch von einem total verkehrten Weg kann man umkehren, das erzählt hier Daniel. Und damit macht er uns Mut. Auch wenn wir schon mitten in der Katastrophe sitzen - wie viele Menschen im Ahrtal es ja erlebt haben und heute noch erleben - wir können lernen und umkehren, wir können uns neu einfinden im Gewebe des Lebens auf dieser Erde - als Teil des Ganzen, der eine besondere Verantwortung für das Ganze hat.
(Mareile:): Noch haben wir die Wahl: Sind wir Belsazar oder Nebukadnezar? Lernen wir? Kehren wir um? Oder sind wir weiter verschwenderisch? Und wird uns das zum Verhängnis werden? Vielleicht braucht es nicht nur einen Wandel von außen, sondern auch einen Wandel von innen. Einen Wandel, der unsere Haltung und unser Denken verändert. Auch die Theologie. Einen Wandel hin zu einer Theologie, die weniger über den Menschen allein und seinen Bezug zu Gott spricht, sondern viel stärker die Gemeinschaft der Schöpfung wahrnimmt und auslegt. Eine Theologie, die den Menschen in den Kreis der Geschöpfe zurücktreten lässt und ihn als einen von vielen betrachtet. Eine Theologie, die den Menschen haftbar für sein Handeln macht, weil es eben nicht länger nur um ihn geht.
(Ulrike:) Daniel steht hier in einer Reihe mit den Propheten bis hin zu Jesus. Die haben immer wieder gemahnt und betont: Gott hat nicht Gefallen am Tod der Gottlosen, sondern ihm ist es darum zu tun, dass die Menschen umkehren und leben.
(Mareile:) Belsazar oder Nebukadnezar. Lernen wir? Kehren wir um? Wir können wählen.
15.So.n.Trinitatis, 12.09.2021, Stadtkirche, Lukas 17,5f, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 15.n.Trin. - 12.IX.2021
Lukas 17, 5f
Liebe Gemeinde!
Als Jesus acht Jahre alt war oder neun – zu jung, um als Sohn der Gebote, als Bar Mitzwah schon nach Jerusalem zu pilgern, noch ganz das Kind der frischen Luft von Galiläa, in dem die frühkindlichen Erinnerungen an’s ägyptische Flüchtlingslager verblassten – … als Jesus also neun oder acht Jahre alt war, kopierten fleißige Schreiber in Italien gerade eines der größten Werke der Weltliteratur. Es wird wohl nicht bis an den See Genezareth gedrungen sein, dass damals Ovids „Metamorphosen“ das Publikum erreichten, die phantastischen, hellsichtigen und tiefsinnigen, aber auch schlicht entzückenden und packenden Verwandlungsgeschichten des großen lateinischen Dichters, in denen die Geographie und die Botanik und die Himmelskörper, das Gesicht und die Lebendigkeit dieses Kosmos also persönlich, göttlich, dämonisch geschildert und entfaltet werden.
Die „Metamorphosen“ – wenn man sie heute wieder läse – würden jeden erschüttern, der durch diese Mythen darauf stößt, dass jedes Irdische seine Geschichte hat, Glück und Leiden und alles, was zwischen den hellen und den dunklen Losen des Daseins liegt und sie verbindet. Nichts an der Natur ist Gegenstand oder Objekt für Ovid und den Schatz der Welt-Sagen und der Menschen-Reime darauf, … alles ist beseelt.
Das wird das Kind Jesus von Nazareth nicht gelesen haben.
Aber es muss in seiner Kindheit Tage gegeben haben, an denen ihm die Lilien auf dem Feld und die Vögel unter dem Himmel auffielen; Tage, an denen er bei den Fischern unterhalb der Höhen durch den Dunst das lebendige Gewimmel in den morgendlich eingeholten Netzen sah und beobachtete, wie Kraut und Unkraut auf den Feldern in buntem Durcheinander wächst. Er muss das jahreszeitliche Wunder des kleinen Senfkorns und der großen Staude bemerkt haben und die Sonne, die über alledem gnädig auf- und untergeht und den Regen, der das alles tränkt und den Wind, der bläst, wo er will; das unbeschwerte Tschilpen der Sperlinge, die nicht aus Gottes Hand fallen und das unbemerkte Reifen der Weintrauben am Stock und das unverdiente Glück der Weizenernte müssen ihn berührt haben und er hat die Knospen am Feigenbaum und den Schutzinstinkt der Glucke wahrgenommen[i].
… Er war gewiss kein Romantiker und kein Dichter nach unseren Maßstäben, aber ein Gotteskind und ein Kind vom Land und seine Augen waren geöffnet. … Gewiss hätte er Ovid, dem großen heidnischen Seelenfreund der Geschöpfe daher seinen kindlichen Segen gegeben.
Und wenn er Maulbeeren naschte – verschwenderisch köstlich und verwirrend blutig – dann mag er von irgendwoher vielleicht die in der Antike beheimatete und womöglich auch verbreitete Maulbeerensage aufgeschnappt haben, die Ovid in seinen Metamorphosen verewigt. Wir kennen sie in Gestalt der Tragödie von Romeo und Julia. Bei Ovid ist es die Geschichte des babylonischen Liebespaares Pyramus und Thisbe[ii]: Diese unzertrennlichen, von den eige-nen Eltern aber verfolgten Liebenden waren heimlich verabredet. Allerdings wurde Thisbe, die früher am Ort des Stelldicheins eintraf, von einer Löwin erschreckt, die nach ihrer Jagd an die Quelle unterm Maulbeerbaum strebte, an dem sich das Paar hatte treffen wollen. Da floh das Mädchen vor Entsetzen, verlor unterwegs indes seinen Schleier, den die Löwin mit dem noch blutigen Maul zerfetzte. Als wenig später Pyramus eintraf und den verschmierten Stoffrest vorfand, schloss er auf ein grausiges Unglück und stürzte sich derart verzweifelt in das eigene Schwert, dass sein spritzendes Blut die weißen Maulbeeren dunkel färbte. Die alsbald wiederkehrende Thisbe fand nur noch den Sterbenden, und von wildem Schmerz gepackt durchbohrte auch sie den eigenen Leib mit seinem Schwert. Seitdem – so wollten es die Unsterblichen – erinnert die Trauerfarbe der ehedem hellen Maulbeeren an das Unglück und den Doppeltod der Liebenden.
Nichts Menschliches ist den Bäumen fremd.
An den Tragödien unter den Menschen leidet auch deren stumme Zeugin … das Reich der Natur. Das ist Ovids Sicht der Dinge.
Warum aber auf diesem Umweg über den dramatischen Mythos den Zugang zu unserm schlichten, kurzen Predigttext suchen?
Weil die Prägnanz des Satzes Jesu täuschen kann. Wer ohne Denkmühen einfach bloß eine Faustregel aus der Sentenz macht, dass Glaube einen Maulbeerbaum versetzen könnte, der kommt zu fürchterlich verkehrten Folgerungen.
Sollte Jesus, als die Jünger – die Jünger! Seine Augenzeugen! Seine Vertrauten! Seine direktesten Schüler und Nachahmer! – … sollte Jesus also, als die Jünger um Glaubenshilfe baten, wirklich nur so eine barsche Abfuhr, so einen gehämmerten Wenn-dann-Satz für sie übrig gehabt haben?
Undenkbar ist das nicht. Dass Jesus undurchdringlich und abweisend, dass er erhaben und wie alle rechten Propheten unwirsch und zornig reden, antworten, abfertigen konnte, müssen wir endlich wieder lernen! Jesus ist die Macht Gottes, er ist das Wort, das Gott zu sagen hat, in, gegen und trotz aller anderen Worte.
Es ist nicht auszuschließen, dass er eine dringliche, lebensnotwendige Bitte auf so kategorische und damit letztlich unerfüllbare Weise beschieden hat. Jedenfalls hat die protestantische Welt über Jahrhunderte gemeint, Jesus rede von der Gerechtigkeit mit bewusst und absichtlich überspitztem Ernst, so dass in der Bergpredigt - nach Luther - nur das Scheitern sichtbar würde, in das die Forderung Gottes uns ohne das Evangelium von der Rechtfertigung aus Gnaden treiben muss.
Inzwischen ist eine solche Auslegung, die dem Menschen nichts Ethisches zutraut und alles allein dem Glauben zuweist, nicht mehr zu verantworten: Wir wissen nach dem Scheitern der christlichen, der protestantischen Ethik im 20.Jahrhundert, dass wir das, woran wir gescheitert sind - die Ethik -, üben müssen, um das, worauf wir hoffen können, glauben zu dürfen: Dass die Gerechtigkeit Gottes unser Unrecht nicht gegen uns hält, sondern dennoch grundlos für uns einsteht. ——
Wenn allerdings gegen Schluss des Evangeliums die Not des Glaubens, der Wunsch, doch leichter, ehrlicher, „mehr“ glauben zu können, laut wird, dann scheint es mir nicht denkbar, dass Jesus hier nur einen unerreichbaren Maßstab benennen sollte, an dem alle menschlichen Versuche, ihn anzuwenden, zuschanden werden müssen.
Noch weniger aber kann ich glauben, dass Jesus das Glauben als einen schlichten Trick, also als wortwörtliche Aushebelung aller Schwierigkeiten und alles Schweren beschreiben sollte. …….
Zum Glück jedoch zeigt der Blick, mit dem wir die Welt und Zeit Jesu, die auch die Zeit und Welt Ovids gewesen sind, eben umfassten, dass unsere Mühe mit der Wortwörtlichkeit, unser Problem des buchstäblichen Verständnisses damals nicht herrschten. Die Wirklichkeit und ihre Gegenstände, die Welt, die Natur, das Sichtbare sprachen zu den Kindern jener Tage eine reichere, vielfältigere Sprache als unser auf Fakten verkürztes Begreifen ahnen kann.
Wie immer man das aber beschreiben wollte, was die Weltanschauung des römischen Dichters und des Heilands aus Israel gemeinsam als ihren Horizont haben können – ein Gespür für die Symbolik der Realität, ein lebendiges Fassungsvermögen, das Inneres und Äußeres einander spiegeln und erhellen sieht –, … auf alle Fälle können wir gewiss sein, dass Jesus den Maulbeerbaum auf dem Meer nicht als physikalisch naturwissenschaftliches, sondern als ein Wunder des Geistes in Aussicht gestellt hat.
Darum dürfen wir fragen und suchen, welches Zeichen Jesus seinen zaghaften Jüngern damals und heute mit dem Bäumeverpflanzen des Glaubens gegeben haben könnte: Dass die bloße Macht zum reinen Bergeversetzen nämlich sinn- und segenslos sein würde, das hat ja schon Paulus erklärt in seinem Rückgriff auf Jesu Wort von der Landschaftsneuordnung derer, die den Weg Christi gehen wollen. „Und hätte ich allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts“, hält der Apostel fest (1.Kor.13,2).
Das Ziel des Glaubens ist also nicht in seiner Wirkung zu suchen, sondern durch Glauben und Lieben wird dem Menschen das Ziel seines Wirkens bestimmt!
Und wiederum: Was wir im Glauben versetzen, bewegen, bewirken können, ist wirklich ein Wunder.
Aber nicht umgekehrt: Der Glaube beweist sich dadurch, dass er über die Wirklichkeit hinauswill.
Jesu Antwort als die Jünger ihn fragten, ob er ihnen das Geheimnis des Glaubens klarer und seine Wirkung stärker machen könne, sollen wir also nicht einfältig verstehen.
Er hat ihnen nicht gesagt, dass ihr Glaube sich im Unmöglichen bestätigen würde, sondern dass dem Glauben nichts unmöglich ist. Und das ist der wirkliche Unterschied.
Wunder an sich sind sinnlos.
Nur für den Glauben können sie sinnvoll werden. Weil er sie nicht um ihrer selbst willen und auch nicht alleine will und würdigt, sondern weil sie seine völlige Bindung an und gänzliche Einwilligung in die Liebe zu Gott und zum Nächsten ausprägen.
Wenn es für Menschen gut und Gott wohlgefällig ist, dann kann sich der Glaube nichts nicht erlauben. Wenn es vor Gott wohlgefällig und auch den Menschen ein Wohlgefallen ist, dann kann der Glaube sich nichts nicht zumuten. Wenn sich die Gottesgüte und die Menschenliebe in etwas zeigen, dann gibt es nichts, was nicht glaubensmöglich wäre. —
Diese Botschaft finden wir im Wort vom Maulbeerbaum … wenn wir sie suchen: Weil wir wissen, dass Jesus nicht die Kraft des Sinnlosen, sondern die Kraft der Sorglosen bestätigt hat (vgl. das Evangelium des 15.Sonntags n. Trinitatis: Matthäus 6, 25 – 34!).
Für uns bedeutet diese Botschaft darum, dass wir jenen Baum, in dem die Alten die Tragik der Liebe und Lieblosigkeit unter den Menschen, die Tragik der Panischen und der Verzweifelten, die Tragik von Pyramus und Thisbe sahen, im Licht des Glaubens betrachten sollen.
Wenn der Maulbeerbaum im Zeitalter Ovids ein Symbol der furchtbaren Mitleidenschaft der Kreatur war, ein Symbol der durch das Menschenlos gefärbten Lose der Natur, dann sagt Jesu Wort der Welt zu, dass der Glaube sich auch diesem Verhängnis nicht entziehen wird.
Freilich: Der Maulbeerbaum ist ein zähes, unendlich tiefwurzelndes und kaum von der Stelle zu bewegendes Gewächs. Die sagenhafte Erstreckung seiner Wurzeln hinab in die untersten Schichten verdeutlicht, wie enorm die Aufgabe ist, seinen Ort zu verändern, seine blutgefärbten, mit Bitterkeit getränkten Wachstumsbedingungen zu verändern. Eigentlich kann man ihn nicht von der Stelle rücken. Wo dieser Baum sich findet, den das missglückte Menschenleben nach dem Mythos zu einem zwar köstlichen, aber auch schmerzlichen Denkmal des Unheils gemacht hat, da lässt sich nichts mehr verändern. Da ist über Jahrtausende – denn so alt wird die Maulbeere tatsächlich – kein Wandel, kein Neuanfang, kein Verrücken des Unabänderlichen denkbar.
Botanisch wirklich nicht. Politisch auch nicht. Altes Unheil kann man nicht ausgraben. Es verseucht die Welt fort und fort. Es hat sich im Boden verteilt und steigt in jedem neuen Schößling aus der alten Wurzel wieder auf. Maulbeere für Maulbeere, Frühling für Frühling, Geschlecht für Geschlecht das alte Lied: Schuld und Tod, Tod und Schuld. Eingegraben, unausrottbar.
Aber der Glaube … glaubt das nicht. Der Glaube kann den Misswuchs von Jahrtausenden und das tiefste Leid nicht als unbeweglich und unumstößlich sehen. Der Glaube erblickt in den ältesten Wipfeln, den überreifsten Früchten und den verholztesten Fasern keine Zeichen der Unumkehrbarkeit, sondern das Gewebe, das Ovid so schillernd spann, als Jesus ein Kind war: Den Stoff der Metamorphosen.
Alles kann sich ändern.
Alles kann man anders setzen und versetzen.
Alles kann um- und ausgegraben und hinaus auf’s Meer getragen werden, wo einst das Leben anfing und wo Gott die Sünde schließlich abladen wird (vgl. Micha7,19!) und wo die Tiefen ohne Grund einander das reine Lob ihres Schöpfers zurufen (vgl. Psalm 42,8), Dessen Geist über den Wassern schwebt und das neue Sein, eine neue Wirklichkeit rufen und festmachen wird. ——
Diese Botschaft von der Metamorphose, an die der Glaube glaubt, von der Verwandlung, die er der Wirklichkeit zutraut, von der uralten Last, die zu verrücken er sich nicht scheut, von der Erneuerung, die er für möglich hält und an der er teilhat … diese Botschaft bedeutet nicht die Überforderung, dass Glaubende Wundertäter sein müssen.
Sie bedeutet aber, dass Glaubende der Wirklichkeit wie dem Wunder ohne Sorge und voller Vertrauen in beide begegnen werden.
Denn die Wirklichkeit wie das Wunder sind Wege Gottes, Der sein Reich herbeiführt (vgl. Matth.6,33).
Wer das glaubt, dem reicht das für alles!
Amen.
[i] Die Zusammenfassung der Naturwahrnehmung Jesu bezieht sich auf folgende Bibelstellen: Matth.6, 28 / Matth.6,24 / Lk.5, 4 +10 / Matth.13,30 / Mk.4,31 / Matth.5, 45 / Joh.3,8 / Matth.10,29 / Joh.15,4 / Mk.4,26-29 / Matth.24, 32 / Matth.23, 37 u.v.m.
[ii] Metamorphosen, IV, 55-161.
14.So.n.Trinitatis, 05.09.2021, Stadtkirche, 1. Thessalonicher 5,14 - 24, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 14.n.Trin. - 5.IX.2021
1.Thessalonicher 5, 14 -24
Liebe Gemeinde!
Der erste Thessalonicherbrief - ältestes Stück des Neuen Testaments - sollte eigentlich auch der letzte sein. Und nach dem Markusevangelium - dem ersten seiner Art - hätte kein weite-res mehr folgen sollen. Wie auch die Steinigung des Stephanus (Apg7) und der Tod des Jüngers Jakobus, den Herodes Agrippa hinrichten ließ (Apg12), im Jahrzehnt nach Ostern die finalen christlichen Todesfälle hätten bleiben sollen.
Denn – darin sind die frömmsten und die kritischsten Leser des Neuen Testaments ausnahmsweise einig – … denn die Zeugen Jesu Christi, den der Tod nicht halten konnte, haben das Ende der Welt erwartet, haben es bald erwartet, waren voller Naherwartung des Reiches Gottes.
Darüber lachen die kritischen Leser heute: Weil zweitausend Jahre nichts Nahes sind.
Und die auf ihre Weise noch viel kritischeren Frommen sind ebenfalls fröhlich, weil sie wissen, dass tausend Jahre wie ein Tag sind (vgl. Ps.90,4) und Gottes Reich daher sehr, sehr nahe ist, auch wenn es nach Ostern noch eine ganze Arbeitswoche Gottes brauchen sollte, bis Seine Todfeinde - die Lebensfeinde sind - endgültig besiegt sein werden.
Die spannende Frage aber – für die Erwartungsvollen wie für die Belustigten – ist, was eine solche Gemeinde der Naherwartung, solch eine Weltuntergangssekte denn während der fortdauernden Zeit hervorbringt? … Zerfall? … Lähmung? … Nichts? …
Die noch spannendere Antwort aber lautet: Moral.
Nun mag Moral gewöhnlich eher nach Langeweile klingen. Oder den Reiz eines Museums ausstrahlen, die Überraschung einer Rentnerpartei.
Dcoh eine Gemeinschaft, die entsteht, weil sie das Ende der Welt vorhersieht: … Deren Moral müsste uns Heutige wahrhaftig interessieren!
Denn auch wenn es nur eine Minderheit sein dürfte, die die heutigen Vorzeichen des Kommenden als die Wehen des Gottesreiches begreift, und auch wenn es selbst noch in den U-Bahnen, die zu U-Booten werden und in den Hightech-Zonen, die von mittelalterlichem Elend umbrandet sind, immer noch viele gibt, die an sich keine Veränderung verspüren wollen, … so ahnen wir doch zumeist, dass die Tage nicht nur des Sommers, sondern der Leichtigkeit weit fortgeschritten sind und der Welt Hartes bevorsteht. —
Dann kann man aber nur staunen, was im ersten Brieflein zu lesen ist, den ein Apostel schrieb, der es so eilig hatte, vor ihrem Ende die Welt noch mit der großen, frohen Schlußbotschaft zu erfüllen.
Diese Ur-Kunde des christlichen Daseins ist nämlich an keiner einzigen Stelle das, was wir klassisch „apokalyptisch“ nennen würden: Sie schürt keine Angst und achtet keine Drohung, sie lebt nicht vom Verneinen und malt keine Bilder der Zerstörung. Der kleine Brief an eine kleine Gemeinde, die das große Finale erwartet, ist aber auch ohne die Arroganz der Erwählten, ohne das Schwelgen in Rache und Vernichtungsphantasien und ohne jeden Beiklang der Schadenfreude oder Gewaltverherrlichung, die sonst so oft die Untergangspropheten motivieren.
Es ist ein Brief voll Bejahung und menschlichen Wohlwollens, ein Zeugnis der Zuversicht und der Neugierde auf das Leben, ein Brief der Hoffnung und des Gleichgewichts.
Gewiss, man spürt in diesem Schreiben nach Thessalonich, dass Paulus ganz unmittelbar den Anbruch der Endzeit erwartet und dass die Zwischenzeit ihn überraschte, weil tatsächlich auch unter den Getauften allererste, unerwartete Todesfälle auftraten (vgl.1.Thess.4,13ff), mit denen in diesen letzten Tagen niemand mehr gerechnet hatte: Doch keine Spur der Sorge, des Misstrauens, der Verunsicherung trübt die Haltung des Apostels, aus der doch seine Verhaltensratschläge, seine Grundlegung der christlichen Moral hervorgehen.
Da wird weder zum Verkriechen geraten noch werden Durchhalte-Parolen angestimmt, so wie es die großen Verschwörungstheoretiker treiben, die mit immer schrecklicheren Szenarien oder immer wüsteren Vorhersagen eines baldigen, plötzlichen Paukenschlags die Glut des Fanatismus ihrer Anhänger schüren müssen.
Im ersten Paulusbrief wird stattdessen die einzig sinn- und verheißungsvolle Haltung gelebt: Gut, wenn die Vollendung der Geschichte kommt, … geht sie aber noch weiter, dann werden wir das Beste daraus machen, indem wir nicht die Kräfte des Verfalls und der Zerstörung stärken, sondern nach Kräften alles suchen und stützen, was heilsam ist.
Dieser Grundsatz, diese positive Einstellung zu einem vergehenden Kosmos, diese Ethik des gänzlichen Beteiligtseins auch am Endlichen ist das wichtigste Merkmal der Naherwartungsmoral des Christentums: Christen beschleunigen keinen Untergang, sondern - so viel an ihnen liegt - halten sie ihn auf[i]!
Darum fängt der praktische Abschnitt des Urbriefes der Kirche auch mit dem nötigen Motiv an: Weist die Nachlässigen zurecht! … Wobei es vielleicht nicht überflüssig ist zu sagen, dass alle ethischen Ermahnungen des Apostels nur sinnvoll sind, wenn man sie am Spiegel einübt und nicht auf der Tribüne der Besserwisser und Klugscheißer!
Weist also die Nachlässigen zurecht!
Ach, wie wir die kennen: Die sagen, dass es keinen Sinn hat und nicht lohnt, sich noch zu kümmern, noch umzukehren oder anders anzufangen, nachdem es doch schon so gründlich schief läuft auf der Welt oder im eigenen Leben. Das sind die faulen Säcke, die ganz besonders schlau klingen, weil ihre Behauptungen „Zu spät! Zu schwer! Zu teuer!“ immer so berechnet, so durchdacht wirken. Weist sie zurecht, die bloß ihre Trägheit und ihre Geistlosigkeit hinter der Miene der besorgten und betrübten Resignation verbergen. Sagt ihnen, dass genau wegen des unzweifelhaften Endes aller Dinge jetzt bloß noch das zählt, was nicht noch mehr entmutigt, sondern trösten kann, was den Schwachen hilft und etwas von der großen Geduld ahnen lässt, die uns noch dieses Jahr, dieses Jahrzehnt, dieses Jahrhundert schenkt, eh wir dem A und Ω begegnen werden, dem Ursprung und dem Ziel.
… Das Ende kommt rasant, und darum gehört die Zeit eben nicht mehr dem Überflüssigen und Üblen, dem man sich überlässt oder unterliegen kann, wenn alles sich träg und schwammig ausdehnt wie schmelzender Käse. Das Ende kommt und gerade darum muss ein frischer Wind gehen, wenn wir füreinander und für jedermann noch das Gute erreichen wollen, das man in der sich überschlagenden Zeit mit Begeisterung und Einsatz erwischen muss.
Nicht abgestumpft, sondern lebendig macht also das eilige Verstreichen der jetzigen, bald letzten und dann unwiederbringlichen Gelegenheit, Gutes zu bewirken!
… Nicht abgestumpft, sondern lebendig macht also das urchristliche und immer-christliche Bewusstsein dafür, dass wir nicht in den langweiligen Zyklen des antiken Denkens existieren, das weder Anfang noch Ende der Wirklichkeit annahm und daher auch weder Eingriff noch Änderung darin bedachte. Das Christentum, das Anfang und Ende feiert, weil sie ihm beide von Gott gezeigt und in Jesus sogar menschlich nahegekommen sind, … das Christentum also glaubt, dass der Mensch furchtbar eingreifen kann – und im Namen des Christentums ist das auch geschehen! –, … aber das Christentum glaubt ebenso und noch viel ursprünglicher, dass neben all seinem Greifen und Vergreifen, dem Menschen auch die wunderbare Gnade der Veränderung gegeben ist.
… Und darum weckt die Endlichkeit in uns Christen gerade keinen Fatalismus, sondern die lebhafte und optimistische Änderung des Denkens und Handelns, des Wollens und Wesens:
„Kehrt um, denn das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen!“ Mit diesem Ruf hat alles begonnen und er wird nicht schwächer, bis alles vollbracht ist.
… Umkehr ist möglich!
Man kann sich ändern!
Die Wirklichkeit ist nicht unwandelbar und das Böse nicht unaufhaltsam!
Das sind die Gewissheiten, die aus unserem Glauben eben kein starres System, sondern dessen Gegenteil machen: Er-Lösung!
Und als die, die erlöst sind von der schrecklichen Idee eines ewig feststehenden, unbeweglichen und unverrückbaren Verhängnisses, haben die Christen tatsächlich eine so hoffnungsvolle Haltung zur Zeit und zum Leben entwickelt, dass schon im ersten Brief, der von ihnen zeugt, ein unglaubliches Eintauchen und Sich-Tummeln im Temporären, im Vorübergehenden beschrieben wird.
Statt sich abseits zu halten oder außerhalb der Zeit, weist der Apostel seine Thessalonicher mit ausgebreiteten Händen ja in den Schoß der Zeit und flößt ihnen Neugierde und Vertrauen ein. Die Zeit stört nicht angesichts des Ewigen, sondern sie ist ein Mittel, eine Hilfe, ein Instrument, um die Melodie der Gottesnähe an jedem Tag zu spielen, zu hören, zu vertiefen:
Alle Zeit kann Fröhlichkeit sein.
Alle Zeit kann Beten heißen.
Alle Dinge können Dankbarkeit wecken und steigern.
Dieses ungebrochene Verhältnis zum Hier und Jetzt, dieses bei allem Vorbehalt gegen das, was nicht bleiben wird, aufgeschlossene Teilhaben am Leben im Präsens, in der Gegenwart, beruht für den Apostel und die christliche Gemeinde dabei natürlich auf der Allgegenwart Gottes in jedem Moment, in allen Bruchstücken und Bewegungen der Zeit … beruht also auf dem Heiligen Geist. Weil Er in der Welt, weil Er in den Jüngern, in den Getauften, in jedem von uns also Seine Anwesenheit, Seine eigene Präsenz in unserem Präsens festgemacht hat, gibt es nichts zu fürchten und nichts zu fliehen! Offenheit für genau diese aktuelle Wirklichkeit des Geistes spricht aus der Ermutigung, den Geist nicht auszulöschen und der Ermahnung die prophetische Rede nicht zu verachten: Man geht nicht zu weit, in diesen beiden Sätzen wirkliche Berührung auch mit dem Zeitgeist bestärkt zu sehen und die politische Dimension eines der Welt zugewandten, zeitgenössischen Glaubens unterstrichen.
Dass es wirklich nichts gibt, vor dem sich Christinnen und Christen abwenden sollen – auch wenn etwas noch so zeitbedingt und immanent wäre – schärft der Apostel seinen ersten Lesern mit dem vielleicht liberalsten, freigeistig-weitherzigsten Satz in allen seinen Briefen ein: „Prüft aber alles, und das Gute behaltet!“
Dieses furchtlose Interesse an allen Erscheinungen und Strömungen in dieser Welt, ist das fundamentalste Prinzip der christlichen Moral: Es gibt keine Frage, die wir uns nicht gemeinsam mit allen anderen Menschen stellen müssen, und es gibt keine Antworten, die wir nicht alle miteinander teilen sollten. Es gibt keine Tabus, und darum gibt’s auch keine Entschuldigungen für einen ignoranten, weltfremden Glauben. Aus keiner Diskussion können Christen sich, als wären sie unbetroffen oder unbetreffbar, heraushalten und kein Vorschlag zur Güte, kein Weg für die Wahrheit, keine Lösung für die Nöte der Welt können uns gleichgültig sein.
Gerade weil diese Welt vergeht, ist sie so einmalig kostbar, dass alles Gute in ihr und mit ihr gesucht und alles Böse gemieden werden muss.
Gerade weil diese Welt eben wahrlich nicht alles und nicht ewig ist, sondern ein Gewordenes, das einst gewesen sein wird, wenn Gottes Reich endgültig durch die Grenzen der Zeit hereinbricht, … gerade darum hängen wir nicht an ihr, als müssten wir sie beschlagnahmen, verteidigen und besitzen, sondern wir haben die Freiheit, die Welt, die ein Geschöpf wie wir selber ist, zu begleiten … so treu wie nur möglich, so gut wie es geht und so weit wie wir können.
Das ist die Moral der dem Ende aller Dinge innerlich so nahen, aber der Welt deshalb nicht abhandengekommenen ersten Christen: Eine Ethik des unabhängigen In-der-Welt-Seins als Für-die-Welt-Sein. ———
Gewiss blieb etlichen der Nachfolger des großen Weltapostels Paulus in Verfolgung und Bedrohung nur ein Weg des Rückzugs, eine fern vom Toben der Dinge ganz auf Gott gerichtete Einübung in die kommende Welt; aber schon die frühesten Generationen und erst recht ihre Nachfolger haben zur Gestaltung der Welt und zur Verantwortung für sie unermesslich beigetragen.
Weil sie wussten – und damit schließt die ethische Passage des ersten christlichen Briefes – dass wir aus Geist und Seele und Leib bestehen … einem Wahrheits-, einem Gottes- und einem Welt-Organ. Darum sind wir Christen wie auf Gott und die Wahrheit - um wirklich Menschen zu sein - auch auf die Welt angewiesen und die Welt auf uns.
In dieser Verbundenheit mit der vergehenden Schöpfung aber wird Gott uns untadelig – der Welt weder überlegen, noch von ihr abhängig – erhalten bis zum Kommen Jesu Christi, dem Ziel aller Dinge.
Nach allem aber, was der erste Thessalonicherbrief uns ethisch lehrt, ist diese Gewissheit gerade nicht die Lizenz, die heutigen und morgigen Katastrophen und Krisen als gleichgültig oder als Überforderungen abzutun und wie viel zu viele unserer Welt- und Zeitgenossen an Zeit und Welt vorbei zu leben.
Nein: Hinein!
In die Anfechtungen und Sorgen. In die Hoffnungen und Aufgaben.
… Hinein und hindurch!
Weil wir nicht gezwungen, sondern gesandt sind, treu und ohne Scheu teilzunehmen an allem, was droht, was hilft, … was kommt.
Leben, handeln und hoffen wir doch nie allein … was immer die Lage, wie nah oder fern auch immer ihre Klärung und Wendung sein mag.
Denn der absolute Grundsatz, das wahre Fundament, die eigentliche und unüberbietbare Verheißung echter christlicher Ethik, echt christlicher Moral liegt in dem Satz, der uns und alles, heute und bis zum Ende schlicht trägt:
„Treu ist der, der euch ruft; er wird’s auch tun.“
Gott ist also unsere Moral. Seine Treue, die uns alles Misstrauen in die Welt nimmt und stattdessen Vertrauen schafft.
Am Anfang der Kirchen-, in der Mitte aller Krisen- und Katastrophengeschichte bis einst zum Ziel der Zeit:
„Treu ist der, der euch ruft; er wird’s auch tun!“
Amen.
[i] In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass im 2.Thessalonicherbrief, den die Forschung zumindest für ein sehr spätes Stück des Neuen Testaments hält (weil im 2.Kapitel das Ausbleiben der Wiederkunft Christi, die sog. „Parusieverzögerung“ thematisiert wird), an einer viel umrätselten und tatsächlich sehr spannenden Stelle von jemandem die Rede ist, der das Ende aufhält (2.Thess.2,6): Ob dieses Aufhalten an dieser Stelle positiv verstanden wird (und Christus selbst derjenige ist, der den Zorn Gottes noch zurückhält) oder ob es negativ gesehen wird (und also der Anti-Christ die Vollendung zu verschleppen trachtet), ist nicht eindeutig. Vom 1.Thessalonicherbrief her ist jedenfalls das Verhindern von apokalyptischen Entladungen durchaus auf der Linie der christlichen Ethik und Hoffnung zu sehen!
13.S.n.Tr., 29.08.2021, Die sieben "Ich-bin"-Worte Jesu, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text/Thema: Die sieben „Ich-Bin-Worte" des johanneischen Jesus als Weg-Worte für seine Nachfolger*innen
Auf einen Weg möchte ich Sie, liebe Schwestern und Brüder, heute morgen mitnehmen, auf einen Weg, der uns vermitteln kann, was der Sinn unseres Lebens ist. Als Wegweiser dienen uns dabei die sieben „Ich-Bin-Worte" aus dem Johannesevangelium. Der Evangelist hat sie Jesus in den Mund gelegt, weil nur er sie so aussprechen konnte, dass sie Worte des Lebens blieben, Weg-Worte für alle Menschen bis heute - ermutigend und verheißungsvoll, Worte, um das Reich Gottes Gestalt werden zu lassen. In diesen Worten meldet sich nämlich der kosmische Christus zu Wort, dem Jesus von Nazareth wie kaum ein anderer seither nicht nur seine Stimme, sondern sein ganzes Leben zur Verfügung gestellt hat. Deshalb ist es auch angemessen, die sieben „Ich-Bin-Worte" einzuleiten mit „der Christus Jesus spricht". In sieben Bildern beschreibt Johannes, wer Jesus ist und was aus den Menschen wird oder werden soll, die ihren Weg mit ihm gehen. Sieben Bilder, die wir mit dem Herzen betrachten wollen.
Das erste Bild ist das Licht. Christus Jesus spricht: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben." (Joh.8,12) Wer mir nachfolgt, das heißt: wer meinen Glauben teilt, wer wie ich aus dem Vertrauen in Gottes Liebe lebt, der hat das Licht des Lebens, in dem leuchtet dasselbe Licht, das mein Sein und Wesen leuchten lässt. Dem entspricht das Wort, das Matthäus von Jesus in der Bergpredigt überliefert: „Ihr seid das Licht der Welt." (Mt.5,14)
Der Christus Jesus spricht uns also die erstaunliche Berufung zu, wir seien selbst zu Lichtern der Welt bestimmt. Er lenkt damit unseren Blick nach innen: dorthin, wo sich zwischen Gott und unserer Seele entscheidet, wer wir selbst sind und immer mehr werden sollen.
Dass er dieses große Wort zugleich über sich selbst und uns Menschen sagt, ist entscheidend, denn er sagt damit: Ihr lebt nicht in einer nachtschwarzen Welt. Da ist Licht. Gott ist Licht. Er ist es, der alles am Anfang schuf. In mir leuchtet dieses Licht. Ich bringe es. Ich zeige es. Ich stehe dafür ein.
Lasst dieses Licht, das in euch genauso ist wie in mir, nun auch aus euch heraus in die Welt scheinen. Macht die alltäglichen Finsternisse, die sich immer wieder auftun in eurem Leben und im Leben eurer Mitmenschen, heller. Jede Nacht endet in einem neuen Morgen, so ist es seit dem ersten Tag der Schöpfung.
Da eröffnet sich ein freier Blick in die Zukunft. Nicht wir haben das Licht angezündet und hüten es, sondern der, der am Anfang gesagt hat: Es werde Licht.
Ich bin das Licht der Welt, solange ich in der Welt bin, sagte der Christus Jesus. Und wir sind es mit ihm und sollen es sein, solange wir in der Welt sind. Und dann - sind wir wieder vereint - bei Gott, der das Licht ist.
(Lied/Musik)
Brot des Lebens werden - das zweite Bild-Wort. Johannes lässt es den Christus Jesus auf der Höhe des Golan sprechen. 5000 Menschen sind zuvor von ihm gespeist worden. Sie spüren: dieser Jesus könnte auch ihren großen Hunger stillen, ihren Lebens-Hunger, ihren Hunger nach Lebenssinn. Und so hören sie es vom Christus Jesus: „Müht euch nicht um Speise, die vergänglich ist, sondern um Speise, die da bleibt zum ewigen Leben. ...Mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. Gottes Brot kommt vom Himmel und gibt der Welt das Leben. Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern. Wer zu mir kommt, den werde ich nicht vom Tisch weisen." (Joh.6,27.32f.35.37)
Brot vom Himmel für das Leben der Welt.
Brot von Gott - ausgeteilt unter die Menschen, Brot für alle.
Brot des Lebens - Worte des Lebens - empfangen von Gott, weitergegeben vom Christus Jesus mit Herzen, Mund und Händen. Und nun - sind wir dran: wir alle, die wir Wort und Brot des Lebens empfangen haben, sollen es weitergeben. Oder haben wir etwa nichts mehr zu sagen in einer Welt, wo Menschen an ihrer und anderer Menschen Sprachlosigkeit zugrunde gehen? Haben wir nichts mehr mit-zu-teilen? Wächst kein Brot mehr in uns? In wem Christus, der das Universum erfüllt, lebendig ist, dem wächst das Brot zu, das die nächsten Hände brauchen. Er oder sie wird im Weitergeben wie Jesus selbst zu Brot des Lebens.
Der Weinstock und die Reben. Am Abend vor seiner Verhaftung spricht der Christus Jesus von dem lebendigen, schöpferischen Geist, den er senden will, und sagt: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht." (Joh.15,5) Er meint damit: Fragt ihr euch, was bei eurem Leben und all eurer Bemühung am Ende herauskommt? Ein Ertrag sollte es doch wohl sein: Frucht. Dann aber muss der Saft und die Kraft irgendwo herkommen, aus dem die Reben ihre Früchte ziehen. Ich bin der Weinstock. Was ist es denn, das ich euch gebe? Es ist Geist - Geist aus Gott. Alles Lebendige kommt aus ihm und von ihm, denn er ist die Kraft in allen Dingen und die bewegende Energie in allem, was lebt. Gottes Geist ist der Anfang alles Neuen, das auf dieser Erde geschieht, und der Anfang der Zuversicht auch in unserer Zeit, wenn es immer schwerer wird, nicht den Mut zu verlieren. Ja, dieses Vertrauen, diesen Glauben hat uns der Christus Jesus gelehrt: es kann gegen alle Erfahrung und gegen jeden Augenschein etwas Neues, Reifendes eintreten, weil Gott mit seinem Geist, weil der kosmische Christus mit seiner Kraft in uns und unter uns am Werk ist.
Die geistige Welt ist offen. Nimm also die Kraft an, die dir entgegenkommt. Sie verändert dich und wird dich am Ende staunen lassen, was dir möglich ist, welche Früchte sie durch dich bringt. Bleib am Weinstock, mach dich fest in demselben Vertrauen, das den Christus Jesus erfüllte und feiere das Fest, von dem Jesus wie von einer Hochzeit spricht. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben, vielmehr: ihr seid Wein." Schenken wir unseren Glauben aus wie den Wein auf einem Fest.
(Lied/Musik)
Wenn Angst uns erfasst, dann halten sich Menschen seit Jahrtausenden am 23.Psalm fest: Der Herr ist mein Hirte.
So ist es kein Zufall, dass Johannes den Christus Jesus die Worte sagen lässt: „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte setzt sein Leben ein für die Schafe." (Joh.10,11)
Nein, mit einem Schaf wollen wir nun gerade nicht verglichen werden, dass gehorsam und unselbständig hinter seinem Hirten herläuft. Allenfalls in Notlagen, da ist es schon ganz schön, wenn man wie aus einem Gestrüpp herausgeholt wird, verteidigt wird, wenn andere über einen herfallen, auf den richtigen Weg gebracht wird, wenn man die Orientierung verloren hat. Dann hat man nichts gegen das Behütetwerden, dann lässt man sich gerne vom Stecken und Stab des Hirten leiten, dann folgt man sogar seinem Rufen. Aber sonst ...
Doch keine Angst, es ist das Bild vom Hirten, das unsere Aufmerksamkeit haben möchte. So sehr Jesus uns hier als guter Hirte vorgestellt wird, so will er doch nicht der einzige gute Hirte in dieser Welt sein. Auch hier ergeht an uns die Anrede: seid ihr die Hirten, gute Hirten. Kümmert euch um alle Mitmenschen, die sich in diesen verwirrenden Zeiten verrannt und verlaufen haben. Geht ihnen nach und sucht sie. Verbindet ihre Wunden und bringt sie in die Gemeinschaft zurück, ertragt sie, auch wenn es manchmal schwer ist. Auch für sie lässt Gott, der große Hirte unseres Lebens, das frische Wasser quellen und grünes Gras sprießen. Seid euren Menschengeschwistern gute Hirten, behütet die Schwachen und setzt euer Leben ein für ein gutes Miteinander. Widersteht allen, denen es nur um ihren eigenen Profit, um ihren Erfolg zu tun ist. Ein guter Hirte sein, das bedeutet, bedroht und zugleich beschützend zu leben. Wie der Christus Jesus. Doch so bringen wir Gott zu den Menschen, sind wir Ebenbilder des großen Hirten und Hüter des Lebens.
Ein fünftes Wort-Bild, mit dem der Christus Jesus zugleich über Gott, über sich selbst und über das Dasein des Menschen spricht, lautet: „Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er glücklich werden und wird ein und aus gehen und erfülltes Leben haben." (Joh.10,9)
Wer durch mich zu den Menschen geht, der kommt im Frieden, ein Botschafter der Güte und Freundlichkeit Gottes. Wer in meinem Namen kommt, der nimmt Lasten ab und legt niemanden in Ketten, denn ich bringe die Freiheit. Ich bin die Tür. Der Christus Jesus sagt mit diesem Bild: Das Leben ist keine Sackgasse und auch kein Gefängnis, sondern ein offener Raum zu einem gemeinsamen Leben und grenzenlosem Begegnen. Es ist ein offener Weg in die Freiheit. Die Zukunft ist keine dunkle Wand, gegen die man anrennt und die einen scheitern und verzweifeln lässt, sondern eine Tür. Ich bin die Tür. Und immer dort, wo sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere. Christus ist die Tür und führt durch die Türen.
Und auch hier sollen wir es hören: Seid auch ihr Türen.
Versperrt euch nicht. Lasst ein, was kommen will.
Tretet heraus aus euren Vorstellungen und Ansichten
und begegnet dem, was vorbeikommt. Lernt Neues kennen, lernt Fremdes kennen. Lasst euch überraschen;
entdeckt den Christus, der in allem gegenwärtig ist.
(Lied/Musik)
Das sechste Ich-Bin-Wort spricht Jesus am Grab seines Freundes Lazarus: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer mir vertraut, der wird leben, auch wenn er jetzt stirbt, und wer lebt und mir vertraut, wird in Ewigkeit nicht sterben." (Joh.11,25f)
Das Leben, das uns von Gott geschenkt ist, das ist nicht begrenzt von Zeit und Raum. Geboren werden und Sterben gehören zu uns als Kinder der Erde. Aber wir sind nicht nur Kinder der Erde, sondern auch Söhne und Töchter Gottes, geboren aus Geist. Und als solche gehören wir mit unserer ganzen Existenz zur Fülle des göttlichen Lebens, ist unsere Zeit von Gottes Ewigkeit umschlossen. An Jesus kann uns das deutlich werden. Ich bin die Auferstehung und das Leben. Vertraue mir, sieh Leben und Sterben mit meinen Augen an, dann siehst du: Sterben ist Übergang von einem Leben in ein anderes, ist Heimgang zu unserem himmlischen Vater. Gott ist das Leben und Gott ist Geist. Und wir sind Geist von ihm und leben mit Christus in ihm als Geschöpfe und Kinder seiner Liebe. Wer nur Sterben und Tod sieht, der sieht nur den kleineren Teil der Wirklichkeit, des großen Ganzen, das Gott ist. Die Welt ist tiefer und geheimnisvoller, als der meint, der nur das große Totenfeld sieht. Der Geist Gottes schafft neues Leben ohne Unterlass. Wir gehen durch diese Welt und „üben" Auferstehung mitten im Leben, sehen zu, immer christusförmiger zu werden, immer mehr wie Söhne und Töchter Gottes zu leben. So nehmen wir Teil an der neuen Schöpfung schon hier und jetzt und werden den ganzen Christus anziehen, eintauchen in das neue Leben im Augenblick unseres Todes.
Das letzte Ich-Bin-Wort lässt Johannes Jesus am Abend vor seiner Verhaftung sagen: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben." (Joh.14,6) Jesus weiß, dass sein Abschied von dieser Erde bevorsteht, dass sein Weg in dieser Zeit zu Ende ist und er zum Vater heimgeht. Davon spricht er zu seinen Jüngern. Seid nicht bedrückt, wenn geschieht, was geschehen muss. Ihr kennt euren Weg, denn ihr kennt meinen Weg. Doch die Jünger stehen ratlos da und einer antwortet: wir wissen nicht, wohin du gehst. Wie sollen wir den Weg wissen? Da antwortet Jesus: Ich bin der Weg. Wenn du mein Reden und Handeln, mein Leben nicht aus den Augen und aus dem Sinn verlierst, wenn ich dir so gegenwärtig bleibe in deinem Herzen, dann wirst du wissen, welchen Weg du gehen musst. Und dann wirst du auch herausfinden, was für dich wichtig ist und zählt, dann wirst du dich nicht täuschen lassen, nicht blenden lassen von Ruhm, Reichtum und Macht. Dann wirst du ein Gespür dafür haben, was wahr ist und richtig und gut. Dann wirst du Anteil haben wie ich an dem Leben, das Gott ist. Unser Weg ist zunehmendes Leben: ein Weg der Wandlung in ein immer lebendigeres Abbild von Gott.
Was also ist der Sinn unseres Lebens? Wohin geht die Reise?
Liebe Schwestern und Brüder, wir alle werden nicht weniger sein als das, was der Christus Jesus über sich selbst sagt:
Wir - das Licht. Wir - das Brot. Wir - der Wein.
Wir - die Hirten. Wir - die Tür. Wir - die Auferstehenden. Wir - der Weg. Und dabei finden wir Wahrheit und Leben. Wir finden den Sinn unseres Daseins: die Wandlung in das Bild, das Gott von uns hat.
Selbst wenn nur eines der sieben Wortbilder uns im Herzen berührt, sind wir eingeladen, mit diesem Wort unseren Weg zu gehen. So kann in uns das Vertrauen und die Zuversicht wachsen, dass die Zukunft offen ist und dass Gott mit uns unterwegs ist, schöpferisch und befreiend in Zeit und Ewigkeit.
Amen.
13.Sonntag nach Trinitatis, 29.08.2021, Stadt- und Jonakirche, 1.Mose 4, 1 - 16a, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth und Jona 13.n.Trin. - 29.VIII.2021
1.Mose 4, 1-16a
Liebe Gemeinde!
Vielleicht musste die Bibel um Abels willen geschrieben werden.
Vielleicht musste Israel erwählt werden und durch die Jahrtausende gehen, damit Abel nicht vergessen wird.
Vielleicht ist Jesus Christus Mensch geworden wegen Abels Tod.
Vielleicht sind wir alle getauft nur für Abel, weil sein Blut schreit. ——
So sonderbar dieser Gedanke einer Welt- und Heilsgeschichte im Namen eines einzigen Menschen auch klingen mag … es ist nichts biblischer als eine solche Verdichtung aller Dinge auf einem einzigen Nenner. In Gottes Gegenwart tragen Menschen Namen und nicht Ziffern. In Gottes Gegenwart kann man und will man nicht zählen, weil jede Einzelheit und jeder Einzelne zum Ganzen gehören. Nicht, ob viele fehlen, sondern wenn überhaupt einer fehlt, zerreißt es den Heilsplan Gottes, der nicht in Mengen, sondern in Vollkommenheit besteht.
… Und darum ist nach der Tragödie der Menschen, die ein Leben ohne Gott, aber mit dem Tod wählten, die Tragödie Kains, der den Tod zu seiner Tat und nicht zu seinem Verhängnis machte, in Wahrheit die Tragödie Gottes. Das Ende der paradiesischen Nähe zwischen Schöpfer und Geschöpf hatte zwar bedeutet, dass der Mensch auf eigene Faust leben wollte und musste, … sterbend aber wäre er nicht ausgesetzt, nicht abgeschnitten geblieben in dem Reich seiner Alleinherrschaft, in dem er sich gegen die Gegenwart Gottes ausgedehnt hatte. Sterbend hätte er Gottes sein können.
Der erste Mensch aber, der sterblich geboren wurde, Kain, nahm nicht nur sein Leben in die Hand, sondern machte sie auch zur Faust des Tötens. Ein Mensch also, der sich Leben und Tod anmaßt, … den hat Gott doppelt verloren.
Wenn weder in der Endlichkeit, noch im Enden mehr Raum für Gott bleibt, … dann ist es tragisch, ausweglos, verloren.
Und so musste Gott, seit Kain den Abel erschlug, Wege gehen, die Er im Paradies nicht vorgesehen hatte. Gott musste schon zur Welt, als es den Menschen dorthin zog. Gott musste mit in’s Leidensland, als es dem Menschen im Friedensgarten zu geschützt war. Und endlich dann musste Gott sich in Mord und Totschlag verwickeln lassen, … beinah unmittelbar. Unangekündigt. Ohne Vorbereitung. Weil die Freiheit, die der Mensch sich um den Preis des Sterbenmüssens nahm - seine Freiheit zum Tode -, sofort umschlug in die Freiheit zum Töten.
Da also, als Abel starb – Abel, dessen Opfer dem HERRN wohl gefallen hatte – da fiel die Entscheidung für Gott, zum Opfer für die Opfer zu werden.
Nur so herum können wir das Rätsel der göttlichen Wahl, das Rätsel der Entscheidung, mit dem einen Opfer sich zu verbinden und die Gabe eines Anderen nicht zu wollen, ein wenig ergründen.
Gottes Wahl ist Gottes Vorsehung, so sagen wir und sträuben uns gegen eine Prädestination, die dem Menschen keinen Spielraum ließe. … Wenn aber wirklich Gott die Gabe und die Last der Vorsehung trägt, wenn Er sieht, was ein Mensch vor Ihm wählen wird, dann sind Gottes Entscheidungen, Seine Öffnung oder Sein Verstummen nicht Zwänge, sondern Reaktionen, … nicht Ursachen, sondern Wirkungen. ——
Das zu denken, das zu verstehen, sind wir nicht gewohnt.
Doch der Unsinn, ja Wahnsinn des faulen Denkens, dass Gott alles entscheide und der Mensch nichts, geht eben wirklich schon bei den ersten Irdischen nicht auf. Weder Adam und Eva vor der Welt, noch Kain und Abel in der Welt hätten ihre Geschichten gehabt, wenn sie nur ausführten, was Gottes Vorgabe war!
… Alles, wovon die Bibel berichtet, … alles, was wir selber erleben, ist demnach nicht das Abwickeln oder Aufrollen des Schnürchens, an dem Gott die Dinge zieht oder zappeln lässt, sondern es ist die erschütternde Treue Dessen, Der den von Ihm abgewandten Menschen trotz allem nicht sich selber überlässt.
Die Weltgeschichte und -wirklichkeit zeigen, wie der treue Gott dem unfolgsamen Menschen folgt.
In der Stunde des ersten Gottesdienstes auf Erden haben sich daher alle späteren Gottesdienste bis zu diesem heutigen entschieden. Gott hat sich dem zweifachen blutigen Opfer nicht entziehen können … nicht, weil das geschlachtete Lamm Ihn gnädig stimmte, sondern weil Er dem bald geschlachteten Hirten treu blieb. Seitdem ist Gott auf der Opferseite … nicht als der Fordernde, sondern als Der, Der teilnimmt am Leid, das sich im Opfer spiegelt, Der Sich Selbst ausliefert der Gewalt, die am Opfer entladen wird und Der schließlich tatsächlich den Tod zu Seiner Sache macht, um die religiösen, aber ebenso die politischen, um alle menschlichen und alle unmenschlichen Opfer der Weltgeschichte zu beenden.
Das tut der Gott, Der dem Kain noch vor dem Urverbrechen ein letztes Mal die Freiheit zeigt: „Kain – Du kannst den Kopf hoch und frei tragen … ohne Sünde! Wenn Du aber der Gewalt nicht widerstehst – der Gewalt von Sünde und Schuld – … wie soll es vor der Tür, wie soll es in der Welt, wie soll es in der Zukunft aller Menschen weitergehen?“
……. Wir wissen, wie es weiterging. Brudermord. Bis heute. Sünde und Gewalt in jeder Form, an jeder Tür, an jeder Ecke, in allen Bereichen.
Erschüttert, zerrissen, gequält erfahren wir in unserer unmittelbaren Gegenwart, dass die göttliche Warnung vor der Sünde und die göttliche Hoffnung, Kain werde sich und sie beherrschen, in den Wind geschlagen werden … und zwar von uns allen, bei beinah jedem Schritt, an beinah jeder Schwelle.
So nah wie uns die Folgen der menschlichen Bosheit nun vor die Tür, ja unter die Haut gekrochen sind, haben wir sie dabei vielleicht lange nicht gespürt: Aber dass alles, was wir anfassen, zuschanden wird, dass unser Verstand für einfachste Erkenntnis nicht ausreicht und unser Mitgefühl auf dem Weg zwischen Herz und Hand erlahmt, das können wir nicht mehr leugnen oder der falschen Erbsündenlehre des einflussreichen und wahrhaftig pessimistischen Kirchenvaters Augustin in die Schuhe schieben, dessen Gedenktag gestern war.
Auf katastrophale Weise scheint sich das dunkelste Bild von der Menschheit in unseren Tagen zu erfüllen. Die Völker, die sich für fortschrittlich und rechtsgebunden hielten, zermürben sich in aggressiver Verrohung und Verblödung und verlieren jede Glaubwürdigkeit in einer Welt, die vor der Vernichtung steht. Die Armut und die Not unzähliger Millionen wachsen und treiben in immer aussichtslosere Unfreiheit in völliger wirtschaftlicher Abhängigkeit oder unter religiösem Vorzeichen.
Und die Diktaturen und das Chaos formen eine Menschheit nach ihrem Bild.
Abels Blut schreit und schreit. Es tränkt die vergiftete Erde, die sonst völlig vertrocknete, es fließt in die Meere der Badeurlauber und der in den Tod Flüchtenden, es liegt schwer in der Luft, … schwer wie Zukunft.
Aber – und wenn es auch kein rein erbaulicher Trost ist, so ist es doch die eine Wahrheit, die nicht mit den Lügengebäuden zusammenbricht, die gerade einstürzen – aber: Das Blut Abels ist das Blut dessen, zu dem sich Gott bekannt hat. Ihn hat Gott gnädig angesehen, weil Er in Abel das künftige Opfer erkannte und weil der Weg, den Gott wegen Abel gehen würde, der einzige Weg ist, auf dem Abel und Kain Rettung finden können.
Dieser Weg Gottes fing also an mit einem Mord, den Gott verhindern wollte, … aber Kain weigerte sich.
Dieser Weg Gottes vollzog sich dann in letzter Tiefe schließlich an einem Kreuz, an dem Gott wissend den Mord erlitt, den die Menschheit in sich trägt und den Gott auf sich zog, um ganz und gar der Gott der Opfer zu sein, Der keine Opfer mehr will und sie alle beenden wird.
Denn dieser Weg Gottes vom Feld, auf dem ein Bruder keinen Hüter hatte, ist durch einen Hirten, der allen Bruder wurde, ein Wunderweg geworden. Nicht tötend - wie die Menschen -, sondern getötet hat Gott durch das Blut des ewigen Bundes den großen Hirten der Schafe von den Toten ausgeführt, wie es im Hebräerbrief heißt (13,20).
Und das ist die Feier jedes Gottesdienstes, das ist das österlich Geheimnis, das wir Christen bekennen und dem wir an jedem Auferstehungstag entgegengehen: Dass Gott in Jesus Christus ein zweiter Abel wird, um den ersten Abel und alle, alle seine Schwestern und Brüder aus der Gewalt des Todes, aus dem sinnlosen, endlosen Unrecht, aus der Verlorenheit zu befreien.
Nichts anderes also feiern wir, wann immer wir Gottesdienst halten, als die Fortsetzung des ersten aller Gottesdienste, des Gottesdienstes von Kain und Abel.
Unsere Fortsetzung im Namen Jesu Christi ist zugleich aber eine Umkehrung.
Sie bringt nicht die Spaltung der Menschheitsfamilie in Täter und Opfer hervor, sondern sie hebt sie auf.
Denn dass Gott in seinem Sohn Jesus Christus nicht nur die Seite und die Hand der Opfer ergreift, das wissen wir, seit Er den Fluch, den Kain auf sich geladen hatte, sofort abwandelte, um nicht ein Gott von jener Art zu sein, von der die Religionskritiker sagen würden, Kain habe diesen Gott nach seinem Bilde schaffen können.
– Nein, auch der Mörder, den Gott so eindringlich zur Freiheit von der Sünde gerufen hatte, macht aus Gott keinen Sklaven der Rache.
Vielmehr überwindet Gott die Sünde, indem er den Sünder vor ihr und vor sich selber schützt.
Das Zeichen, das Er dem Kain auf die Stirn setzt, um ihn vor der Rache, die dem Bösen unweigerlich folgt, zu bewahren, ist ja kein Zeichen der Aussonderung eines Verworfenen, sondern der Eingliederung eines Verlorenen in das Reich einer Hoffnung, die nicht zuschanden werden lässt.
Kain, der Mörder trägt auf seiner Stirn – unsichtbar also für ihn selbst, aber erkennbar für alle Welt – das Zeichen des Gottes seines Bruders, das Zeichen des Gottes seines Opfers. So fängt Gott an, das Werk der Verbindung und der Versöhnung zwischen den Menschen zu vollbringen: Indem er den Täter mit den Folgen seiner Tat verbindet, ohne ihn den Tatenfolgen auszuliefern. Die Tatfolgen in letzter Konsequenz nämlich, die übernimmt Gott selber, wo Er zur Vergebung der Schuld und zum Durchbrechen des Todes das Kreuz des Opfers, das das Kreuz der Sünde ist, erleidet.
Und so wird – nach übereinstimmender kirchlicher Anschauung durch die Jahrhunderte[i] – Kain, der Inbegriff des bewusst ja Gottlosen, bezeichnet mit dem Kreuz, dem Inbegriff des Evangeliums! ——
Wenn wir das verstehen, dann können wir anfangen zu ahnen, was in der Welt wirklich geschieht und was wirklich die Zeichen dieser Zeit sind: Dass Gott auf dem Flughafen von Kabul sitzt und mit den Verzweifelten bangt, … dass Er das heulende Elend der ungerechten, unentschuldbaren Verlassenheit und der zerbrochenen Zukunftshoffnung Unzähliger trägt, … dass Er sie im Leben und im Sterben nicht verlässt, weil jedes dieser Menschenkinder Abel ist, um dessentwillen die Bibel geschrieben und der Heiland geboren und die Sünde besiegt und der Tod vernichtet werden musste: Das ahnen wir Christen alle.
Und dass Gott zugleich jeden von uns nach Abel fragt – nach dem verleugneten, verstoßenen, vergessenen, dahingegebenen Abel – und dass Er uns Christen mit einer Dringlichkeit fragt, die aus der Dringlichkeit des Liebesgebotes hervorgeht, das niemandem so vertraut und so entscheidend ist wie für uns, das wissen wir ebenfalls.
…. Und auch, dass wir mit den Worten Kains oder mit einem Schweigen antworten, das noch schlimmer ist. …….
Aber dass Gott, … Abels Gott, … der gekreuzigte Gott, … dass unser Gott also überall auf der Erde die Täter, die Mörder, die Kaltschnäuzigen, die Lahmherzigen, die Böswilligen, die Eigenmächtigen, die Unbekümmerten, die Neidischen, die Machthungrigen, die Geldgierigen, die Gewissenlosen, die Gottesfeinde sucht und ihnen das Kreuz – unvorstellbar für sie, für uns aber unbestreitbar – auf die Stirn setzt, damit auch ihnen die Gnade, die den Gnadenlosen bevorsteht, widerfährt: Das ist die einzige, das ist aber auch die ganze Hoffnung dieser Erde. —
In meiner Konfirmationsbibel – immer im Gebrauch, bis mir das Schriftbild zuletzt zu klein geworden ist – fehlen seit einigen Jahren die ersten Seiten.
So beginnt sie nun mit den Worten: „…. der ihn fände. So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN.“
… Wer von uns aber weiß, was Kain mitträgt und was ihn bewahrt vor jedem, der ihn fände, der weiß auch, dass auch über unserer Zeit, über unserem Leben, das uns doch hinweg zu drängen scheint vom Angesicht des HERRN, der Frieden leuchtet, dem Kain und seine Kinder unstet und flüchtig für immer entgegengehen.
Auch wenn es so zerrissen anfängt, wie meine Bibel … wie jede Bibel:
Abel ist Gottes und Kain trägt Sein Zeichen.
Sei also gegrüßt, heiliges Kreuz: Unsere Hoffnung, unser Frieden[ii]!
Amen.
[i] Die Tradition, das Kreuzzeichen im Kainsmal zu sehen, beruht auf der alten Verbindung unserer Bibelstelle mit Hesekiel 9,4 und Offenbarung 7,3.
[ii] Vgl. den gregorianischen Hymnus: „Salve, crux sancta, salve mundi gloriosa, / vera spes nostra, vera ferens gaudia, / signum salutis, salus in periculis, / vitale lignum vitam portans omnium.” “Sei gegrüßt, heiliges Kreuz! Sei gegrüßt, du herrliche – für uns die wahre – Hoffnung der Welt! / Aufbewahrungsort der wahren Freude, Zeichen des Heils, der Rettung in Gefahren, / lebendiges Holz, das allen das Leben trägt.“
11.nach Trinitatis, 15.08.2021, Stadtkirche, Epheser 2, 4 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 11.n.Trin. - 15.VIII.2021
Epheser 2, 4 - 10
Liebe Gemeinde!
Wer jetzt noch Christ ist, muss Gründe haben.
Gewohnheit oder Langeweile können nicht mehr zählen, seit uns allen klar ist, dass die Zeit davonläuft. Nicht lange mehr und man wird sich fragen, ob die Zeit vielleicht sogar schon ausgeht, wie das Wasser weltweit auszugehen beginnt und Korn und Reis und Sommer und Winter und Luft und Leben.
Wenn aber nicht mehr viel bleibt von allem, was nötig ist, dann sollte für den christlichen Glauben gelten, was für alle andern unserer Lebensvollzüge auch gilt: Lassen wir, was überflüssig ist! Geben wir auf, was entbehrlich wäre! Verzichten wir auf das, was lange schon verzichtbar ist! Schluss mit dem Selbstverständlichen! Nur noch das Entscheidende sollte bestehen! —
… Wer jetzt noch Christ ist. …
Muss sich ehrlichen Herzens fragen, ob zu dem Wenigen, das man beibehalten wird, ausgerechnet das bisschen Christlichkeit gehören soll, … die Floskeln, die Muster, die Ahnungen, die Erinnerungen, Vorurteile und Automatismen, die unsern Sonntag, unser Weihnachten, unsere Ethik, unsern Geschmack, unsere Entrüstung, unsere Konventionen, unsern mühsam behaupteten gesellschaftlichen Überbau ergeben.
Wenn so vieles nun wird enden müssen: Warum noch das erhalten, was doch oft so trocken, so sperrig, so blass, so unklar bleibt?
Angenommen wir wären tatsächlich vor der größten Weichenstellung der Menschheit angekommen – einem Nadelöhr, durch das kein reiches, Wohlstand träge mitschaukelndes Kamel je kommen wird, sondern nur noch die bis auf die Knochen entblößte nackte Menschennot – … angenommen wir wären tatsächlich an der engen Pforte angekommen, durch die kaum etwas vom Unsrigen mehr gehen wird: Wer von uns packt das Christentum in’s Fluchtgepäck? … Das Kreuz, das so schwer ist, … die Worte, die so groß sind, … die Verheißungen, die so ungreifbar bleiben, … die Liebesgemeinschaft, die den Einzelnen so hindern wird, seine eigne Haut zu retten.
Wer würde das Christentum ergreifen, wenn er zur Auswahl des Lebensunentbehrlichsten gerufen wird? ……. ———
Schon lange gibt’s die sogenannten Senfkornbibeln. Winzige Drucke der Heiligen Schrift, die in mancher Jackentasche alle Wege der Siegerländer Wanderarbeiter, der schwäbischen Aus-wanderer um die Jahrhundertwende, der Gefangenen in den Lagern der Diktaturen mitgemacht haben. Senfkornbibeln fanden sich in Schützengräben und KZs, in Verstecken und auf Trecks. Senfkornbibeln haben im Feld und in der Zelle, im Bunker und im Lazarett getröstet und den Lebensfunken angefacht. Aber sie sind auch zuhauf von Aufsehern zerrissen, in die Latrine geworfen, genüsslich verbrannt worden.
Der Großvater meiner Frau konnte seine treu gelesene Senfkornbibel bis in die sowjetische Kriegsgefangenschaft retten. Bis nach Sibirien hat er sie gehütet.
Dann wurde sie ihm bei der Durchsuchung genommen.
Dann hat er sie beim Holzfällen zwischen den abertausenden Stämmen unter dem „Raboti! Raboti!“-Geschrei der Aufseher verloren.
Dann fiel sie in den Schlamm, der nach einem endlosen sibirischen Winter alles verschluckt. Und heute, nach hundert Jahren, von denen sie sechs im Lager, im Müll, im Matsch des Gulag verbracht hat, ist sie meiner Schwägerin und meinem Schwager ein teures Zeugnis.
Für mich aber bezeugt diese immer wieder verlorene und immer wieder unerklärlich aufgetauchte kleine Bibel mit dem Namenszug dessen auf der Innenseite, der sie bei aller Treue nicht selbst bewahren konnte, die Antwort auf meine Frage: Ob wir das Christentum bewusst zum Lebenswichtigsten zählen oder uns vielleicht inzwischen eingestehen, dass wir persönlich es nicht mehr als eiserne Ration für die letzte Zeit betrachten würden, das ist zwar für uns selber, nicht aber für die Botschaft von Jesus Christus entscheidend.
Die christliche Botschaft, ihre Wahrheit und also die Wirklichkeit Jesu Christi: Die muss und die kann niemand von uns behaupten und aufrechterhalten, niemand von uns kann und niemand von uns wird das retten, was das Christentum ist und will.
Genauso wie der fromme Gefangene in Sibirien es erleben musste, dass seine entschlossene Anhänglichkeit an die kleine Bibel doch nicht reichte, um sie festzuhalten, werden wir feststellen müssen, dass es in der Zeit, die bleibt, nicht um unser Durchhalten gehen wird.
… Natürlich liegt es mir nahe, mir ein trotziges „Jetzt erst recht“ vorzustellen, wenn neben die vergleichsweise kleinen Anfechtungen durch die immer noch herrschende Pandemie und Pandemiepolitik nun die Infragestellungen aller unserer Übungen und Bräuche tritt, weil die Welt sich binnen Kurzem radikal ändern muss. Natürlich neige nicht nur ich zu einer Reaktion des „Bei uns bleibt’s beim Alten!“, „Wir geben nicht auf, was wir übernommen haben“, „Ihr werdet sehen: Wir halten durch!“ … und wie der protestantische Bekennermut, der in Wahrheit nur Werkgerechtigkeit ist, sich sonst noch gefällt.
Bestimmt werden wir auch noch lange bei dem zu bleiben versuchen, was uns vertraut und heilig ist und worauf wir uns gründen; … schließlich redet ja auch alle Welt mitten in der größten Umwälzung aller Dinge von nichts anderem als von eigenen Identitäten.
Aber das alles ist - außer für’s Selbstgefühl - nicht entscheidend. Nicht für’s Christentum, nicht für die Welt.
Entscheidend ist vielmehr, dass wir damit aufhören, von uns her und auf uns hin zu denken.
Entscheidend ist, dass wir der furchtbaren Einbildung den Abschied geben, dass es immer wieder nur an uns läge, die Welt zu lenken.
Unsere Weltlenkung, unsere menschliche Selbstbezogenheit, unser menschheitliches Selbstvertrauen, wir allein könnten die Welt aus den Angeln heben, … haben sich erfüllt! …….
Und nun ist die Stunde da, dass wir es hören, was Gott alledem entgegensetzt: Sich selber nämlich!
Gott setzt der Menschheit, die sich allein regieren, reformieren und retten will und dabei doch immer weiter in den Schlamm des auftauenden Sibirien, in die Ödnis der abgeholzten Wälder, in die Brutalität des Materialismus rutscht und überhaupt nicht halten kann, eine gewaltige, eine übermenschliche, eine vor- und nachmenschliche Macht entgegen, die unseren Hochmut entlarvt, entmachtet und entlässt: Seine Gnade!
Gottes Gnade ist die Rettung und nicht unsere Macht und Möglichkeiten!
Das ist ein so einfacher Satz, dass wir ihn nicht hören. Weil es ein Satz mit Überschallqualität ist, ein Satz, der alles, was wir kennen und verstehen, übertrifft. Gnade ist nämlich ein anderes Wort für die souveräne Unabhängigkeit Gottes. Gnade bedeutet, dass es nicht auf das ankommt, was die Menschen vermögen – und auch nicht auf das, was die Menschen verbrechen. ———
Und damit sind wir beim Gnadenhymnus des Epheserbriefes, den der heutige Demutssonntag, ein Sonntag am Ende der Zeit anstimmt, als wäre es zum ersten Mal:
Gott – so singt es der Apostel für uns alle – Gott ist so gnädig, Seine Liebe ist so groß, dass Er alles begonnen und alles vollendet hat, ohne auf den hochmütigen Selbstzerstörer namens Mensch zu warten!
Gott hat in Liebe begonnen und aus Barmherzigkeit vollbracht, was der verrückte Mensch, das Lebewesen, das das Leben nicht erschaffen, aber doch eigenhändig zerstören kann, sich anmaßt.
Gott hat alles von Anfang bis Ende getan, ohne Tat und Untat, ohne Werk oder Zerstörung des Menschen zum Maßstab zu machen, der sich doch immer wieder – im Guten, im Bösen – gerade so verstehen will.
Gott hat vor aller Zeit schon das Ewige sichergestellt … den ewigen Weg der überschwänglichen Gnade, die in Christus Jesus den ungeborenen und den toten, den gar nicht lebendigen und den gar nicht mehr tragbaren Menschen mit durch alle Stadien des Daseins und der Geschichte, der Prähistorie und der Apokalypse in das wirkliche Leben bringt.
Gott hat den todverfallenen, den sinnlos auf den Tod versessenen Menschen untödlich gemacht, hat ihn ent-todet, ihn dem Leben verbunden, ins Leben gelenkt, noch ehe der Mensch in irgendeine, in seine falsche Lieblingsrichtung laufen konnte.
Das alles hat der liebende Gott gemacht, weil für Ihn der Mensch Christus, weil Christus der Mensch für Ihn ist. Weil Er Christus vor allem und über alles liebt – den Menschen Christus! –, darum hat Gott nichts anderes als die Christuswirklichkeit und -wahrheit bestätigt vor jeder menschlichen und tödlichen Verneinung.
Das bedeutet die Gnade: Dass der massenvernichtungs- und weltzerstörungsfähige Mensch nicht herrschen kann!
Dessen Hochmut widersteht Gott nämlich mit einer Gnade, die der erste Urknall und der letzte Endpunkt aller Dinge ist. Die Gnade, die Jesus Christus ist, hat den Lauf der Menschheit entschieden vor deren erstem Schritt! ————
… Das ist aber Wahnsinn!, schreit da der Mensch auf!
Das entmündigt uns und das entschuldigt uns, das nimmt uns ja die Verantwortung und macht uns verantwortungslos. Jetzt, wo wir endlich erkennen, dass wir die Welt vernichten, könnten wir sie doch endlich auch retten, wenn da nicht die Verurteilung zur Gnade wäre, die uns so ohnmächtig macht! Jetzt, wo wir dem Unheil unserer Wege Heilswege entgegensetzen werden, … jetzt, wo wir dem Zerstörungswerk unseres Geistes ein unvergleichliches Werk der Wiedergewinnung der verlorenen Welt entgegenstellen, soll alles auch ohne uns gehen? Jetzt, wo wir am apokalyptischen Abgrund überhaupt erst merken, dass wir göttliche Allmacht besitzen, sollen wir sie nicht mehr nutzen dürfen? Jetzt, wo das Ende bevorsteht, sollen wir gar nicht mehr neu anfangen? …….
Doch der Gnadenhymnus des Apostels am Demutssonntag will nicht verstummen:
Natürlich sollt ihr anfangen! Natürlich werdet ihr umkehren! Um alles in der Natur willen werdet ihr heilende Kräfte entfalten und um alles dessen willen, was lebt, werdet ihr euch gegen den Tod wehren. Aber in der Gnade der Demütigen, in der Demut der Gnade wird das geschehen: Die Kraft eurer guten Werke ist ebenso in Christus schon gegeben und gesichert wie das Scheitern all eures bösen Tuns! ——
Das ist die Überschallwahrheit, die Wirklichkeit, die sich jenseits unserer Wahrnehmungsschwelle öffnet: Dass die sichere Zukunft alles Guten und das sichere Scheitern alles Bösen in Jesus Christus wirklich und wahr sind, und wir weder verderben noch retten können, was in ihm unwiderruflich und unumkehrbar ist!
… Wir sind es nicht, die da zu rühmen, wir sind es nicht, die da die Verdammten sind. Denn alles, was in der Welt und ihrer Geschichte und alles, was in unserem Leben und seinen Wechselfällen geschieht, ist unsere kollektive und individuelle, ist historische und biographische Teilnahme am Leben und Sterben, … ist Mitvollzug des Sterbens und Lebens Jesu Christi!
Wir sind mit ihm tot.
Wir sind mit ihm auferweckt.
Wir sind mit ihm in den Himmel aufgenommen – so wie die katholische Kirche es heute beispielhaft an seiner Mutter Maria verdeutlich sieht und feiert.
Wir – die „Mit-Menschen“, … die Mitmenschen Jesu.
Wenn diese Botschaft des Mit-Leidens und Mit-Lebens, des Mit-Wirkens und des Mit-Teilens in aller Herrschaft und Herrlichkeit, das Christentum ist, … wenn diese Botschaft von einer Gnade, über die nicht die Hochmütigen verfügen, sondern die die Mitgift der Demütigen wird, die annehmen können, was sie nicht verdient haben, das Christentum ist, … dann lautet sie übersetzt in die Erfahrungen unserer jüngsten Zeit: Der Sündentod des Klimawandels ist etwas, das wir ebenso mit Christus erleiden wie die österliche Wende von der Vernichtung zur Bewahrung des Lebens. Beidem – dem Schrecklichen wie der Erlösung – sind wir nicht alleine ausgeliefert, der Vollzug von beidem ist keine reinmenschliche Angelegenheit.
Diese Schuld und jene Gnade treffen uns jeweils in vollständiger Verbundenheit mit Christus.
Die Verdammnis, die wir auf uns laden und von der unsere Zeit heute geprägt ist, werden wir darum ebensowenig ohne Christus bewältigen können und müssen, wie die erhoffte Zukunft, zu der sich das Los der Menschheit wenden wird, allein als unser Werk erfahren werden soll.
Wenn wir demütig genug sind, das zu begreifen, dann haben wir auch begriffen, wie Gnade uns unsere eigenen Werke und deren Folgen nimmt und uns zu dem Werk und seinen Folgen führt, die Gott in Christus begonnen und vollbracht hat.
Wir können nichts retten.
Weil wir gerettet sind.
Darum gibt es auch keinen anderen Grund für unser Christentum, als es Grund gibt für die Welt und ihre Hoffnung. Christus ist beides, … nur Er!
Wer heute noch Christ ist und Christ bleibt, der ist wie die Senfkornbibel, die verloren wurde, aber nicht verloren blieb: Ein Zeichen für Den, Dem wir verdanken, was wir selbst nicht vermögen.
Wer heute noch Christ ist, in der Zeit, die noch bleibt, ist das Ewige: Er ist Christi … geschaffen, gefunden und lebendig aus Gnade!
Amen.
7.So.n.Trinitatis, 18.07.2021, Stadt- und Jonakirche, Johannes 6, 1 - 15, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jonakirche 7.n.Trin. - 18.VII.2021
Johannes 6, 1- 15
Liebe Gemeinde!
Wie mich die Christen rühren! Ihre Schlichtheit, ihre Menschlichkeit, ihre Genügsamkeit!
Pharao Cheops hat sich ein Grabmal für viereinhalb Jahrtausende geschaffen. Alexander hat Einfluss vom Nil bis zum Indus geübt, Qin Shiuang die große chinesische Mauer begonnen, Hannibal Elephanten über die Alpen geführt. Dschingis Khan war Beherrscher des größten zusammenhängenden Weltreichs; Johann III. Sobieski besiegte zu unser aller Glück bei der Schlacht am Kahlenberg im Wirbel von 80 000 Hufen die Türken vor Wien; Andrew Carnegie hat mit 90% seines Vermögens als einer der reichsten Menschen der Geschichte mehr Wohltätigkeit geübt als je ein anderer; Richard Branson, Jeff Bezos und Elon Musk spielen Halbtagsausflug in die Schwerelosigkeit!
… Zu welch großen Taten, Zielen und Wirkungen Menschen fähig sind.
… Und wir Christen wissen und feiern nach zweitausend Jahren noch, dass Jesus Brot nahm und die Leute bei ihm satt wurden!
Das ist wirklich kein ironischer, kein irgendwie ausgenzwinkernder Ton, sondern aufrichtiges und bewegtes Staunen.
Unter so vielen tatsächlichen und legendarischen Husarenstücken und Glanzleistungen, unter so viel gigantischem und verschrobenem Heldentum in eigener Sache bewahrt die größte Glaubensgemeinschaft der Welt in ihrem Herzen als eine der heiligsten ihrer Erinnerungen nicht mehr als: „Unser Herr nahm Brot, er gab es anderen und es war niemand da, der nicht satt wurde.“
Diese Unmittelbarkeit, diese bescheiden irdische Verständlichkeit ist aber vermutlich nicht nur das Geheimnis des Christentums, sondern zugleich auch die wahre Offenbarung Christi.
Denn darin besteht ja Seine Sendung bis zum jüngsten Tag: Dass Jesus Christus nicht die Antwort auf Sonderfragen und nicht die Lösung von Luxusproblemen bringt, sondern dass Er der Schlüssel und das Mittel, ja, dass Er die Gabe des Lebens selber ist.
Schnickschnack und Tiefsinn, raffinierte Besonderheit und rätselhafte Überwältigung besorgt sich die Menschheit in jeder Sekunde selbst: Von den frühesten Kulten bis zum spätestens Kapitalismus, vom rohen Tauschhandel bis zum abstraktesten Denken geht es immer auch um die Ersetzung des einfachen Erlebens und Erleidens aller Sterblichen durch etwas, das die gewöhnliche Menschensituation übertrifft, indem es Neuigkeit, Höherwert, Erkenntnisplus und also ein von hier und jetzt aus gesehen Jenseitiges verspricht.
Nur Jesus bringt das, worum Er uns bitten lehrt: Das alltägliche Brot, das bisschen grobe Speise, von dem man einfach nur lebt.
… Als Programm ist das lächerlich. Als Philosophie banal. Als Tat vollkommen gewöhnlich.
Doch in dieser, unter allen Weltanschauungen und Weltbewegungen anspruchslosen Einfachheit ist Er wirklich zu erkennen als die wahre Ausnahme, als die göttliche Einzigartigkeit: Das Besondere macht sich nämlich allgegenwärtig mit seinen Sensationen. Das Allgemeine dagegen bleibt so ohne Beachtung, dass es unsichtbar wirkt.
Und während jeder Quacksalber uns Lebensqualität und alles Quecksilber uns irgendeine angereicherte Lebensveränderung verspricht, ist doch weit und breit nur dieser Jesus Christus gekommen, der so entwaffnend fragt: „Wie kriegt man Euch satt? Habt Ihr denn Brot? Gibt’s genug Leben für Euch alle?“ ——
Das aber ist doch keine ernstzunehmende Frage! Sondern etwas, das allenfalls in die Antike gehört oder in eine Welt, die heute jedenfalls nicht die unsere ist. Wir leben schließlich unter Verhältnissen, in denen geschlachtet und geerntet, gebacken und gekocht wird für die Abfalltonne und die Müllentsorgung.
Brot ist wertlos unter uns geworden. … Für viele. … Nicht alle.
… Wertlos wie das Leben selbst.
Denn auch das schätzen wir vor glattem Überfluss und verlängerter Haltbarkeit und anscheinend grenzenloser Verfügbarkeit eigentlich nicht mehr. … Nur Leben? Nicht ein „Er-Leben“, nicht irgendeine Steigerungsform, nichts Außergewöhnliches ……. sondern tatsächlich nur „Leben“ … das ist eigentlich zu wenig, um uns wach zu machen oder wenigstens ein Verlangen in uns zu wecken. … Leben, das ist noch nicht das, was wir erwarten, sondern bloß die Grundlage, die Voraussetzung dessen, was wir eigentlich haben und erfahren wollen.
Leben suchen wir nicht.
… Bis es fehlt. Bis wir nicht mehr genügend finden, um uns satt zu machen. Bis wir wie die Hungrigen irgendwo auf der Flur stehen und merken, dass das Einfachste und Alltäglichste das ist, woran alles hängt und was uns niemand ersetzen kann. ——
Genau dieses tiefe – nicht „symbolische“, sondern gerade ganz konkrete, ganz wirkliche – Verständnis für das Brotwunder dürfen wir bei den Zeugen des Neuen Testaments annehmen. Weil sie, anders als wir, wussten wie es ist, am Abend nichts gegessen zu haben oder zum Ende des Winters keine Vorräte mehr zu besitzen, weil sie Missernte und Teuerung, ausbeuterische Zölle und ungleiches Recht aus eigener Anschauung kannten, darum wussten sie um beides viel besser als wir: Um Brot zum Leben und um das Leben, das wie Brot ist.
Nicht alle waren sie gewiss regelmäßig Hungerleider; nicht alle lebten sie von der Hand in den Mund, denn der Genezareth ernährte seine Leute schon, und auch in Jerusalem waren es erst die Witwen in der Urgemeinde, die regelrecht unversorgt darbten. Aber ihnen allen war doch vertraut, was wir gerade erst wieder begreifen: Was selbstverständlich scheint, ist in Wahrheit ein Wunder.
Wer das nicht wieder zu fassen und wer dafür nicht wieder zu danken und wer darum nicht wieder das Allereinfachste lernt, der wird Jesus Christus und mit Ihm das Leben nicht finden.
Und darum ist der Sinn der im Neuen Testament in jedem einzelnen Evangelium – also ähnlich zentral wie der Bericht von der Passion und Auferweckung Jesu – überlieferten Speisung der Fünftausend nicht im pseudowissenschaftlichen Fragen nach übernatürlichen Möglichkeiten der Stoffvermehrung und auch nicht in einer pseudopolitischen Moral des Teilens zu suchen, sondern in der unglaublich schlichten Tatsache, dass wir Jesus in Seinem Tun erkennen und darin finden sollen, was Er auch uns zu geben hat.
Jesus Christus offenbart sich durch die Fürsorge für die Männer- und dann die mindestens ebenso großen Frauen- und Kindermassen der Tausenden Hungriger als Der, Der gibt, was wir uns nicht nehmen können – woher denn? –, und Der jeden Menschen dadurch erhält, dass Er das Eine den Vielen und das selbe Allen gibt: Das lebendige Brot, … sich.
Doch dieses Wunder Seiner Lebensteilung, dieses Wunder, dass Seine Rettung reicht für alle, die bei Ihm sind und auf Ihn warten, ist kein Zauber, keine übernatürliche und damit für uns vielleicht schon wieder packende Rezeptur des Exotischen und Großen, sondern es sind Zutaten aus Kinderhand, es sind die Mittel, die ein ganz Kleiner hat, durch die sich Jesus hier als das einfachste und nötigste Geschenk der Welt erweist. Er ist selber durch Seine eigene Kindschaft – Gottes Sohn: Ein Menschenkind! – ein Teil dieser Welt geworden, Der in echter Menschenkindlichkeit eben nichts anderes sieht, sagt und hergibt als das, was nötig ist: Brot, wenn sie hungern. Trost, wenn sie weinen. Liebe, wenn der Hass herrschen will. Licht, wenn Finsternis und Blindheit walten. Sein Leben, wenn alles andere überall nur noch Tod bringt.
Diese bestürzende, in sich fraglose Sicherheit, mit der Jesus eingreift, obwohl er doch weiß, dass nach der Logik des Philippus und der Lebenserfahrenen und Geschäftstüchtigen und der Rationalisten nichts zu machen ist – Philippus hat mit seiner praktischen Gegenrechnung ja auch gleich die Formel zur Hand, die den Versuch von Hilfe und Hoffnung unsinnig macht …. – die bestürzende Zweifellosigkeit, mit der Jesus erfasst und mit der Jesus anpackt, was notwendig ist, kommt nur aus dem Herzen eines Kindes, mit dem Gott ist, weil es
gar nicht abzählen kann, sondern reinsten Überfluss verspürt.
Doch gerade das ist nicht Naivität oder die noch schlimmere Dummheit, als die es uns erscheinen mag!
Die viel sträflichere Dummheit, die Naivität der Sünde, die jetzt über die Menschheit mit aller Macht hereinzubrechen beginnt, ist die kalkulierte Wahnidee, wir Menschen wüssten um den Preis und Wert des Lebens und seiner Möglichkeiten.
… Es zeigt sich ja, dass wir es nicht im Geringsten einschätzen können, was wirklich nötig und was bleibend gut ist. Wir haben keinen Schimmer davon, wo denn das Brot der Zukunft, wo das am morgigen Tag Nötige, wo die unentbehrliche Kraft für den Wandel auch nur eines Jahrzehnts oder wo gar die Sicherheit in der Lebensspanne der nächsten Generation herkommen solle.
Nichts wissen wir, die doch so sauber rechnen können. Nichts schaffen wir, die doch so gern verbrauchen. Nichts haben wir, um es denen zu reichen, die schrecklich schlichten, echten, tödlichen Hunger einfach nur nach dem Leben, dem Am-Leben-Bleiben, dem Weiterleben haben! ——
… Wenn nun nach der schrecklichen Wasserflut tatsächlich eine Flut der Hilfsbereitschaft, eine Flut der Menschlichkeit durch ein erschrockenes Land strömen würde, dann wäre das ein Zeichen und ein Segen, aber ein Gegenbeweis gegen die ratlose Torheit unserer Fehleinschätzungen und unseres Versagens bei dem, was wirklich für das Leben not- und allen Lebendigen guttut, wäre es noch lange nicht.
Doch keine Hilfe sonst, ja keine andere Rettung kann uns in dieser Welt und Zeit begegnen, als die unmittelbar direkte, die nicht den Umweg über die berechnende Vernunft sucht - fast immer führt die ja zu einsichtsvoller Resignation -, sondern die aus einem vollen Herzen schöpft, dem fest steht: Hunger braucht Brot, … Not braucht Linderung, … Schuld braucht Gnade, … der Mensch braucht Gott. ——
Denn das ist ja die eigentliche, ungeheuerliche Erkenntnis aus dem schlichtesten, aber eben auch unbegrenzten Tun Jesu, Der im Herzen der Gemeinde – nicht symbolisch, sondern wirklich und im Brot selber – lebt als der hungerstillende Brotbrechende.
Ihn braucht die Menschheit! Ihn braucht die Welt! Weil sie selbst – so voller Menschen, voller Brot sie auch sein mag – es nicht schafft, das einfach Notwendige zu geben wie’s gebraucht wird.
Wir alle brauchen dringend existentiell und eben darum ganz und gar einfach die Gabe Gottes, die Jesus heißt und unser Leben erhält.
Nach Ihm zu hungern und von Ihm gespeist zu werden, ist kein Mangel und kein Luxus, sondern die Grundtatsache und das Grundmittel unseres Lebens.
Denn Er ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll, durch den erfüllt wird, was Jesaja (55, 1-4) ankündigt: „Wohlan alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und eßt! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch! Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? … Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen, euch die beständigen Gnaden Davids zu geben. Siehe, ich habe ihn den Völkern zum Zeugen bestellt, zum Fürsten für sie und zum Gebieter.“
Wir alle brauchen Ihn, um zu leben!
Mögen es nicht nur die Katastrophen und die Untergänge sein, die uns das zeigen.
Möge es die einfache Schlichtheit und Genügsamkeit der Christen sein, die uns begegnen und die wir selber werden sollen. Die geben und teilen, je nachdem es andere nötig haben, die das Brot brechen und die Mahlzeiten halten mit Freude und lauterem Herzen (vgl.Apg.2,45f), weil sie wissen: Wir alle leben von Gott, Der unseren Brot- und Lebens-hunger stillt mit dem wahren Brot, dem echten Leben … mit Jesus Christus!
Mich rührt diese schlichte, unergründliche Wahrheit, die sich uns schenkt, weil wir sie brauchen.
Es rührt mich, auch wenn Alexander weiter herrschte, Carnegie mehr gab und unsere Milliardäre höher aufsteigen; es rührt mich tiefer als ich sagen kann, dass wir erfüllt und gespeist und gerettet werden durch Den, zu Dem wir jetzt kommen, einfach weil Er fünf schrotige Gerstenlaibe und die zwei Fische eines Kindes austeilte und uns damit jetzt und hier sagt:
„Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. … Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen. Wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit.“ (Joh.6, 35+51)
Amen.
6.So.n.Trinitatis, 11.07.2021, Stadt- und Mutterhauskirche, Matthäus 28,16 - 20, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth und Mutterhaus 6.n.Trin. - 11.VII.2021
Matthäus 28, 16-20
Liebe Gemeinde!
Diese Worte schweben über uns allen.
Allen, die wir getauft sind, wurden sie auf den Kopf zugesagt.
Als Missionsbefehl umspannen sie die Geographie und durchziehen die Geschichte dieser Welt.
Und durch seine Auffahrt in die Herrlichkeit entfaltet diese Zusage Christi eine buchstäblich universale Dynamik, die Zeit und Raum des Kosmos unendlich übertrifft.
Kinderkopf und Globus und Weltall erschließen also wie konzentrischen Kreise die Ziel- und Reichweite von Tauf- und Missionsbefehls und der vorangestellten Proklamation der Herrschaft Jesu Christi. … Und das alles in fünf kurzen Versen, die uns so überraschungslos vertraut zu sein scheinen.
Wenn wir uns aber die persönliche, die physikalische und die ewige Dimension vergegenwärtigen, in die diese Worte vorstoßen, wird klar, wie konzentriert, aufgeladen, energiereich das Potential des berühmten „Matthäi am Letzten“-Passus wirklich ist: Er mag zwar den Abschluss des ersten Evangeliums darstellen, aber in Wahrheit ist er die Keimzelle einer Entwicklung, die über das Ufer aller menschlicher Horizonte tritt.
Denn nicht nur für einzelne Lebensgeschichten, nicht nur für Kirchen- und Weltgeschichte strömt aus dieser Quelle eine unaufhaltsame Kraft, sondern für den Heilsprozess der gesamten Wirklichkeit. Die Formel, die Alchemie und Physik, Philosophie und Forschung von den Anfängen her suchen, … die Formel, die Einstein als Gleichung und Teilhard de Chardin als Omega-Punkt auf ihre Weise bestimmten: Hier hat sie ihr biblisches Gegen-, besser vielleicht Urstück. Hier findet sich nämlich etwas, das alles zusammenhält und gleichzeitig zu einer immer lebendigeren Ausdehnung führt. Hier findet sich das Wachstums- und Verknüpfungsprinzip, das sinn- und das segenstiftende Motiv der christlich betrachteten und geliebten Welt.
Das Erste, was darum festzuhalten ist, wenn wir am heutigen Sonntag der Taufe den Taufbefehl meditieren, ist die Erinnerung, dass wir unsere Taufe missverstehen, wenn wir sie bloß persönlich auffassen oder autobiographisch. Natürlich ist es ein Datum unseres Lebenslaufes, ein Eintrag in unsern Stammbüchern und ein erstes individuelles Rampenlicht für uns als Vertreter einer Menschheit, die an die eigene Existenz nur glaubt, wenn sie sich photographiert weiß, dass wir einst getauft wurden. Aber dennoch passiert etwas bei dieser Eingliederung in das Volk Gottes, wenn wir in Seinen Bund eintreten und einverleibt werden in den lebendigen Christus, der „als Gemeinde existiert“ (Bonhoeffer)[i], … etwas, das unser Einzelleben in eine viel umfassendere Perspektive rückt:
Gern nehmen wir die Taufe an als Segen für uns selbst. … In Wirklichkeit aber soll unsere Taufe noch viel mehr ein Segen für andere, ein Segen für alle sein!
Denn ihre Verheißung und Kraft sind es doch, dass sie eine Gemeinschaft der Lernenden – nichts anderes bedeutet „Jünger“ ja – schafft, die durch alle Zeiten hindurch kontinuierlich die Lehre Jesu üben, halten und anwenden werden.
Getaufte sind also Schüler und Nachfolger, Lehrlinge und Gesellen derer, die in dieser Welt das Evangelium und seine Lebensweise praktizieren und weitergeben. Getaufte sind also berufen das zu sein, was man heute in Sachen Wissen und Fähigkeiten „Multiplikatoren“, „Vermehrer“, Ausbreiter nennt.
… Wo einem von uns seine Taufe demnach bewusst ist und er sie bejahen kann, da geht weiter, was „Matthäi am Letzten“ befohlen wird: Jesus Christus gewinnt Einfluss, und aus einer individuellen Lebensgeschichte wird ein Teil der Weltgeschichte Dessen, Der in den Himmel aufgefahren ist, um diese Erde keiner Fremdherrschaft und auch keiner Anarchie zu überlassen, sondern sie im Reich Gottes zu vollenden. ———
Diese Sicht der Taufe fällt uns zugegebenermaßen immer schwerer.
Wir sind ja froh und zufrieden, wenn Eltern ihre Kinder oder junge Menschen ihre eigene Zukunft durch die Taufe einem sinnvollen Leben ein Schrittchen nähergebracht sehen.
… Dass darüber hinaus die ganze Welt ihrem Sinn näherkommt oder besser wird, weil jemand unter uns getauft worden ist:
… Wer wagt es wohl, daran zu denken?
— Die Zeiten, da das Private so politisch war, sind doch vorbei, und es herrscht Einvernehmen, dass Entscheidungen und Überzeugungen wie die Taufe und das zu ihr führende Bekenntnis und die aus ihr folgende Lebenshaltung höchst privat zu sein und auch zu bleiben haben.
Aber das ist eben der geradezu unsinnige Trugschluss, den wir an diesem Sonntag wirklich vermeiden sollten: Die völlige Verflechtung, die im Taufbefehl am Schluss des ersten Evangeliums den einzelnen Christen und die Gesamtheit aller Menschen unlöslich verknüpft, … diese dreiste, aber auch zündende Verquickung jeder persönlichen Berufung zur Jüngerschaft mit der Machtfrage auf Erden, ist doch wohl das Politische am Evangelium schlechthin.
Nicht umsonst ist der Taufbefehl zugleich ja auch der Missionsbefehl, bei dem es tatsächlich um den gleichen Grundsatz geht: Wem gestehen wir Autorität zu … über uns selber wie über alle Dinge? Wessen Anspruch auf Vertrauen und Gehör gilt also … für mich und für die Menschheit? Wem ist alle Gewalt im Himmel und auf Erden zuzutrauen? Von wem soll darum abhängen, was endgültig mit der uns anbefohlenen Welt geschieht und auch in jener Welt, die wir nie in den menschlichen Griff bekommen werden? …….
… Wenn wir uns mit der Taufe persönlich dazu bekennen, dass die Antwort „Jesus Christus“ lautet, dann sollen und können wir der Frage nicht ausweichen, inwiefern wir seine Herrschaft für uns als Einzelne zwar bejahen, sie aber nicht als konkreten, als echten, als praktischen und damit eben als politischen Anspruch auf die ganze Wirklichkeit begreifen?
Paulus bringt in unserer heutigen Epistel (Römer 6,3-11) die Dringlichkeit der Tauffrage – dass wir durch die Taufe nämlich eine verbindliche Wahl der für uns geltenden Lebensordnung treffen – doch unüberhörbar in Kategorien eines echten Herrschaftswechsels[ii] vor: Sünde und Gerechtigkeit – Leben nur für sich oder Leben, das dem anderen zugewandt ist – sind die zwei realitätsbestimmenden Mächte, zwischen deren Sphären sich jeder Mensch unweigerlich verorten muss. … Eingliederung in den einen dieser Machtbereiche und Widerstand gegen den anderen stellen daher eine radikale Wahl dar, … radikaler als dass sie so oberflächlich, experimentell, launisch oder unernst geschehen dürfte, wie wir nun einmal allzu oft sind!
Darum jedoch ist die Wahl des Menschen auch auf allerernsteste Weise vollzogen und von Gott bestätigt worden: Beides in Jesu vollständiger, radikaler Bereitschaft, für die Gerechtigkeit zu leben und zu sterben – und damit die Sünde für alle, die Jesus zum Herrn haben, zu entmachten!
Wer sich durch seine Taufe also dem Tod Christi anschließt, der wählt ausdrücklich die endgültige Entmachtung der Sünde und die unwiderrufliche Befreiung zur Gerechtigkeit.
Jede Taufe ist also eine Abstimmung, eine Wahl, die mit über die Weltpolitik und die Weltgeschichte entscheidet. ———
So weit, so klar … auch wenn es uns längst nicht immer klar ist, die wir eher ein Kinderfest oder eine kleine Segensversicherung in der Taufe erkennen: Dass es sich dabei aber wirklich um Parteiergreifen für das Leben handelt und um den Eintritt in die Gesellschaft der Freunde Jesu, die jedem Menschen Wohl wollen, … nun das bleibt selbst im einfachsten Taufbegriff unterschwellig noch spürbar. ——
Das eigentliche Problem allerdings haben wir ja auch gar nicht mit dem Inhalt dieses Befehls, sondern mit seinem Radius! … Vor der großen, großen Weite, vor dem offenen Horizont Dessen, Der die ganze Schöpfung und jedes Geschöpf in Seiner Herrschaft versöhnen, heilen und verbinden will, rutscht uns das Herz in die Hose!
„Gehet hin in alle Welt …, machet zu Jüngern alle Völker“ – das ist eine Aussendung, der sich die reisefreudigste und globalisierteste Kultur alle Zeiten reflexhaft entzieht.
……. Und zwar nicht ohne schreckliche Gründe!
Die Gräber der einheimischen Kinder, die die kanadischen Waisenhäuser und Umerziehungsschulen umgeben, die ausgeplünderten Landstriche und ausgelöschten Kulturen der ehemaligen europäischen Kolonien auf allen anderen Kontinenten, das Erbe und die Altlasten so vieler abendländischer „Zivilisationsprojekte“, die nichts als hemmungslose Barbarei bedeuteten, haben den allermeisten Christen des 21.Jahrhunderts eine Lähmung beschert: Christentum, das nach außen getragen wird, … die Bewegung einer frohen Botschaft, die zur Mitte der Welt drängt, … der geschichtliche und menschliche, der politische Auftrag einer Liebe, die keine Begrenzung kennt … sie alle sind madig geworden, verdorben, entstellt und unglaubwürdig.
… Eher beschränken wir uns auf den Privatgebrauch dessen, was wir unter der Lehre und der Verheißung Jesu Christi verstehen, als sie noch einmal mit jener Überheblichkeit und jenem Missbrauch öffentlich unter die Menschen zu bringen, die die Mission in der Vergangenheit begleitet haben müssen. …….
Doch auch wenn das moralisch scheint: Ist es die richtige Lehre aus einer verkehrten Lage?
Ist Untätigkeit wirklich eine bessere Reue als Umkehr?
Macht künftiges Unterlassen des Gebotenen weniger schuldig als das Geschehen von Verbotenem? …….
Wenn wir nüchtern in die Gegenwart schauen und uns nicht der erkennbar unsinnigen Logik überlassen, es sei sinnlos, aus Fehlern lernen zu sollen, dann kommen wir nicht umhin, festzustellen, dass die Schuld der Vergangenheit uns doch erst recht zu besserer Nachfolge Dessen verpflichtet, Dem allein wir die Menschheit guten Gewissens anvertrauen können!
Denn dass die Mächte und Gewalten, die jenseits der christlichen Versuche und des christlichen Versagens einflussreich und herrschend sind, die Entwicklung dieser Welt gewiss zu einem guten Ziel treiben werden, ist doch nicht anzunehmen. Sie alle haben, wo sie sich zu erkennen geben, doch eigene Ziele: Sie dienen der Durchsetzung einer Idee oder einer Gruppe, sie verfolgen einen Gewinn oder einen Vorteil, sie suchen gierig oder versteckt nach Macht, und sie haben alle miteinander einen Feind: Die Endlichkeit, die gegen alle zugleich arbeitet, weil Rechte und Linke, Demokraten und Diktatoren, Kapitalisten und Kommunisten sämtlich sterblich sind … und was sie leisten können, das wollen sie darum auch noch erleben. Viel weiter als an sich selbst und den Genuss des eigenen Rechtes zu Lebzeiten hat darum noch selten, vielleicht nie ein Machtmensch und Mach-Mensch wirklich gedacht!
… Sollte sich das jetzt ändern, weil heute eine Generation lebt, die zwingend über den eigenen Zeitrahmen hinaus wird denken und urteilen und sorgen müssen, dann können wir das nur aus vollem Herzen begrüßen. Auf alle Fälle würde es uns nämlich näher an Den bringen, von Dem wir glauben, dass Er allein tatsächlich immer für alle, für jeden einzeln und zu jeder Zeit für alle miteinander in grenzenloser Weitsicht da sein kann, … helfend, tröstend, mitleidend, rettend, als Sieger.
Jesus Christus hat als Einziger von allen, die die Menschheit je führen, beglücken oder ins Paradies versetzen wollten, keine persönlichen, keine privaten Ziele mehr, … „sondern nur noch politische“: Er muss dem Leben nichts mehr für sich abringen - Er gab es schließlich freiwillig hin -, und Er hat vom Tode nichts mehr zu fürchten - schließlich hat Gott durch Ihn den Tod um allen Gewinn gebracht -, so dass tatsächlich gilt: Jesus Christus ist alle Gewalt, … alle Herrschaft, … alle Verantwortung gegeben!
… Er muss sie nicht mehr ergreifen oder behaupten. Er verfolgt sie nicht mehr für Sich, sondern teilt sie frei mit allen, die zusammen mit Ihm üben wollen, für alle zu sein. Das ist es, was die Taufenden in Seinem Namen lehren und die Getauften als Glieder Seines Leibes lernen sollen: Das Sein für die Welt, das Sorgen für die anderen, das Eingehen und Aufgehen des eigenen Lebens in keiner individuellen Absicht außer der Liebe.
„Das lehret sie halten! … Das neue Gebot, das eine Gebot: Liebe!“ (vgl. Joh15,12)
In diesem ganz und gar evangeliumsgemäßen, in diesem ganz und gar jesuanischen Sinn kann man also festhalten: Der Taufbefehl, der Missionsbefehl ist tatsächlich das Politische schlechthin, er ist endgültige Übernahme und Beteiligung an den Anliegen, Hoffnungen und gerechten Zielen der Gesamtgesellschaft aller Menschenkinder.
Der missionarische Taufbefehl, die Einladung an alle, das Leben in Christus zu verwirklichen, ist Weltpolitik in ewiger Perspektive!
Und darum stehen diese Worte wirklich über uns allen: Sie sind das Versprechen, das Karl Barth seinem Freund Eduard Thurneysen am Abend vor seinem Tod gab: „Es wird regiert“[iii].
Sie sind das Programm, das die Kirche und alle ihre getauften Glieder tatsächlich weit und breit und ernst und offen in der ganzen Menschheit ausrufen sollen: „Suchet zuerst das Reich Gottes, so wird euch alles zufallen“ (Matth.6,33).
Und schließlich gipfeln diese Worte, mit denen jeder von uns auf den Weg zu Gott und auf den Weg in die Welt gerufen worden ist, in der allergrößten, in der allerersten und allerletzten Wahrheit.
Denn sie führen zu einem letzten Verb, das in den Sprachen der Bibel sonst oft fehlt, weil es auf Hebräisch und Griechisch meistens näher durch gesprochene Äußerungen oder Zeugnisse der Tat bestimmt wird.
Das letzte Verb am Schluss des Matthäus ist aber ausdrücklich das Gottesverb, … das politische – also die Welt ordnende, die Geschichte lenkende und die Zukunft eröffnende – Verb: „Ich bin!“
„Ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung der Welt.“
So beginnt die Herrschaft Jesu Christi über uns allen: „Ich bin bei Euch.“
Dieser Satz ist der einzige Satz, der alle drei Zeiten – das Gewordene, das Gegenwärtige und das Gewünschte – umfasst, … der also das Gesamte der Wirklichkeit durchdringt und niemals an die Grenze seines Sinnes stoßen wird. ——
In diesen Satz hinein sind wir getauft.
Diesen Satz wollen wir für die Menschheit hinaus in die Welt bringen.
Und durch diesen Satz werden wir einst das Ziel unseres Lebens und unserer Welt finden.
… Durch diesen Satz, in dem Jesus Christus alle Gewalt und alle Welt und alle Zeit verbindet; durch diesen Satz, in dem Jesus Christus uns und alle von allen Seiten umgibt: „ICH BIN bei Euch“.
Amen.
[i] Vgl. dazu ausführlich: Dietrich Bonhoeffer, Das Wesen der Kirche (Vorlesungsmitschrift, Sommersemester 1932), in: Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW 11), Ökumene, Universität, Pfarramt 1931-1932, hhg. v. E.Amelung und C.Strohm, Gütersloh 1994, bes. S.271ff.
[ii] Hier ist immer noch hilfreich: Ernst Käsemann, Paulinische Perspektiven, Tübingen 19933, darin bes. „Zur paulinischen Anthropologie“ (hier: S. 9-60) und: „Rechtfertigung und Heilsgeschichte im Römerbrief“ (S. 108-139).
[iii] Vgl. Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf – Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 19864, S.515.
5. Sonntag n.Trinitatis, 04.07.2021, Stadt- und Mutterhauskirche, 1.Korinther 1, 18 - 25, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth und Mutterhaus 5.n.Trin. - 4.VII.2021
1.Korinther 1, 18 - 25
Liebe Gemeinde!
Was ist das „Wort vom Kreuz“?
Es ist das Wort, das all unser Reden überführt. … Würden wir es hören und aushalten, dann würden wir viel weniger tönen.
Denn unser Reden ist Müll: „Tönendes Erz und klingende Schelle“, „Stückwerk“… also Trümmer, Hack und Geröll nennt Paulus unser Gequatsche später im ersten Korintherbrief (13,1).
… Warum wir so leer klingen?
Ich frage es mich in diesen Tagen besonders von den Sterbebetten und von den Särgen her. Und habe mir heute, am Beginn eines Sommers, in dem man auf Teufel komm raus reisen wird, um dann im Herbst womöglich wieder ganz und gar eingeschlossen zu sein, vorgenommen, auch schonungslos frei heraus zu sprechen. … In ein paar Wochen kann ja dann wieder alles zurückgenommen sein, wenn die Begegnungen wieder ausbleiben und der Austausch wieder gemieden wird.
Ich will also offen reden über das nicht-offene Gerede, das ich an mir selbst bemerke:
Da ist diese gedankenlose, leichtfertige Art zu sprechen, die ich mir angewöhnt habe, weil sie unsere Umgangssprache sein zu sollen scheint! Verständigung täuscht sie vor … ohne Sinn. Und Worte nutzt sie, die um die Wirklichkeit einen großen Bogen machen. Die Stimmbänder bewegt man dabei, damit bloß alles stumm bleibt. …….
Was ich meine? Es geht beim ersten Satz los, beim völlig entleerten Gruß: „Geht’s gut?“, der heute noch umfassender sinnlos, geradezu unendlich uneigentlich geworden ist, seit er vorzugsweise „Alles gut?“ lautet?
Wer hat diesen Wahnsinn eigentlich zuerst zu fragen gewagt?
In einer Welt, in der keiner, den wir sprechen, je schuld- und sorgenlos sein kann, aber jeder, den wir sprechen, zum Tode verurteilt ist?!
Wer hat diese Gemeinheit eingeführt, dass wir einander nichts anderes als das glatte Lügen aufnötigen, wenn wir uns eben erst treffen? Niemals ist alles gut!
Der Volksmund weiß genau, was die Seelsorge als vermeintliches Geheimnis wahrt: Unter jedem D-ach ist ein Ach! Jeder Glanz und alles Glatte, denen wir so jämmerlich nachhelfen, übertünchen die Schatten und Risse, die das Leben begleiten, seit das Kind runzlig wie ein Greis aus dem Mutterschoß kam, mit den Lachfalten und Tränensäcken im neugeborenen Gesicht, die sein zu Heiterkeit und Trauer führendes Los einst reichlich fordern wird.
Dass unser Dasein etwas ist, das keinesfalls makellos und vollendet, sondern verletzlich und mangelhaft sein wird, weiß, wer einen Säugling sieht: Schöpfungsschön, doch schrecklich schutzlos; duftend rein, aber natürlich unsauber; ein ganzer Mensch, dabei aber von so nackter Notwendigkeit gezeichnet, dass er sie nie selber stillen kann.
Warum erwarten wir also, dass wir uns begegnen sollten im Zeichen des „Alles gut?“?
Und warum fällt uns als einziger Trost, wenn die Härten des Menschseins doch einmal zur Sprache drängen, immer wieder nur eine Abwandlung der seit jeher unwahren Behauptung ein: „Es wird schon wieder gut werden“?
Und warum trennen wir uns mit dem blödsinnigen und heillos überfordernden, völlig unmöglichen Befehl: „Na denn, mach’s gut!“?
Diese Fixierung auf’s Gelingen - wider besseres Wissen - in einem Leben, das so anders als nur heil und harmlos ist, … diese besessene Festlegung auf’s Gutmachen ist tatsächlich eine viel bösere Verdrehung der Tatsachen als das, was im Augenblick vielleicht wie ein „Schlechtmachen“ des Menschlichen klingt.
Das Schlimmste an der herbeigeredeten Allgegenwart dessen, was verdammt noch mal gut zu sein hat!, ist seine schleichende Wirkung. Es sickert in’s Unterbewusstsein ein, wenn jeder Gruß und jedes Beieinander in der Umklammerung durch Positives erfolgen und Traurigkeit und Scheitern weder in das Gespräch einfließen noch nach seinem Abschluss weitergehen dürfen.
Wenn alles Reden nur auf gut Glück gereimt wird, dann kann es nie ernst werden.
Und so haben die nichts zu sagen, deren Tage hart oder leer sind. Ihnen bleibt nur der Zweifel an einer schönen Spiegelwelt, die niemals auf das Üble reflektiert, das in ihr nicht zu Wort kommen darf, sondern verschwiegen wird. In solchem Zweifel aber, … an wem soll man da nun verzagen? … An denen, die doch bloß Gutes zu sagen wissen? … O nein, der Fehler muss bei mir liegen, wenn ich dabei nicht mitreden kann! … Ich allein unter allen diesen Ungetrübten weiche ab vom Brauch und von der Norm. Ich bin schlecht, wenn’s mir schlecht geht. Denn alle Welt fragt mich doch nur nach dem gewohnten Guten …….
Diese unbedachte und darum unmenschliche Oberflächlichkeit – Hauptsache der Schein bleibt strahlend – ist aber mehr als nur rhetorisches Blendwerk. Im Gegenteil: Es ist ganz fest verabredet unter uns, dass wir dem Trug das letzte Wort lassen. Alles muss uns guttun, alles muss gefallen, alles soll gehen, alles erfreuen, was wir auch denken, tun und dichten. Das Bittere und Zerbrochene, das Vergebliche und Unheilbare sind für uns keine akzeptablen, ja oft nicht einmal mehr auch nur denkbare Möglichkeiten. Arbeit soll der Selbstverwirklichung dienen und menschliche Bindung uns erfüllen, Pflicht wird Stolz und Belastung wird Kraft in uns wecken, sogar das Ehrenamt hat den Zweck, unser eignes Gleichgewicht zu stabilisieren, und wie immer wir Zeit und Fähigkeiten aufwenden, immer soll es uns zur Bestätigung oder Vertiefung unserer Möglichkeiten dienen.
Was vergebens geschieht oder sich schlicht erschöpft, was kein Wohlgefühl weckt und keinen Fortschritt erzielt, was eben unvermeidlich ist und schmerzlich wird, das hat keinen Ort in unseren Erwartungen und unserem Lebensentwurf, es ist nicht vorgesehen und soll nicht sein.
… Dann war’s halt nicht der richtige Beruf oder die falsche Frau, dann muss man seine Kondition eben steigern oder sein Steckenpferd umsatteln, wenn es irgendwann alles nicht mehr so schön und gut ist, wie wir es voraussetzen.
Das ist es, was Paulus das Griechische und das Jüdische nennt: Der hohe Anspruch der Israeliten an die eigene moralische Integrität und der hohe Anspruch der hellenistischen Heiden an das Ideal der Welt im Allgemeinen: Gut und schön, … gut und schön hat’s zu sein … das Ich und das All, vorzeigbar beides, als vollkommen erwiesen und erprobt durch weises wissenschaftliches Urteil und zuverlässige Demonstration des eigenen Ethos. ———
Was mich nun aber so beunruhigt, dass ich derart einfach und erschrocken gegen den fatalen Trugschluss solcher positiven Suggestion und persönlicher Besserungsmotivation unter den Menschen predige, das ist die Ahnung, wie tief auch ich darein verstrickt, wie ganz auch ich gefangen bin in einem Entwurf des Lebens, der zweifellos angenehm, ja sogar erbaulich ist … aber nicht wahr! Auch ich als Christ, als Prediger, als Seelsorger sehe meine Aufgabe doch längst im guten Zureden, im turbo-optimistischen Beschönigen, im primitiven Appell an die leichtgläubige Selbsttäuschung, alles gelinge, wenn man’s nur vertrauensvoll – voll Selbstvertrauens wohlgemerkt! – angeht und zuversichtlich bleibt.
… Dazu ist das Evangelium unter meiner Hand und in meinem Mund verkommen: Zu einem spottbilligen, weil ungedeckten Blankoscheck, dass schon nichts schief gehen wird, weil unser Mantra nun einmal lautet „Geht’s gut? – Und wo nicht, dann mach’ es endlich gut!“
Wer mich und wohl die meisten anderen, die auf den Kanzeln stehen, reden hört, der vernimmt vermutlich – verzerrt und verstärkt durch die Stimme der Zeit – die Botschaft vom gelingenden Leben, von Glück aus Segen, vom Heil als heiler „Heile-Gänschen“- Welt. ——
O heiliger Paulus und Petrus, deren Gedenktag (29.06.) an ihr Leid und ihre Todesqualen in der vergangenen Woche wir nicht begangen haben, … o heiliger Peter und Paul und alle ihr anderen Märtyrer Christi: Was für unwürdige und verächtliche, was für hasenfüßige und zugleich doch leichtsinnige Nachfolger ihr bloß an uns habt, die wir der Welt weis-machen wollen, alles werde wie geschmiert in Butter sein, wenn wir nur das Quentchen positiver Energie nutzen, das in unserer naiven Harmlosigkeit steckt!
Wie können wir eigentlich so fahrlässig tun? Wie können wir so arglistig täuschen?
Wissen wir denn nicht, erleben wir’s denn nicht, dass guter Glaube und gute Hoffnung alles andere sind als Garantien der Reibungslosigkeit?
Und wissen wir’s denn nicht, erleben wir’s denn nicht immer wieder, wie tief enttäuscht das Leben diejenigen zurücklässt, die von uns hörten, es werde alles gut, weil der liebe Gott so ein guter Mann ist und wir auch so gute Leute und dass darum so unwiderstehlich gute Laune herrschen muss, wo man als gute Christen die Ziele der Gutmenschen verficht und dass das Gute seinen guten Grund darin hat, dass wir in gutem Glauben uns nichts anderes mehr vorstellen wollen und darum auch nichts anderes wahr ist?!!!
Wenn aber doch die Träume platzen? Wenn das, was du dir versprachst, nicht auch deshalb schon eintritt, weil du es so gern so gut hättest? …………
Wenn also das Netzt leer bleibt, … einfach kein Fang, kein Fisch, kein Funken Hoffnung (Lukas 5, 1 -11: Evangelium des 5.Sonntags nach Trinitatis).
… Was bewirkt dann der ganze faule Griechenzauber vom Guten, Wahren, Schönen? Und wie wäre da noch das große jüdische Elend aufzubieten, das Elend einer herrlichen Gerechtigkeit, die weit über die erschöpfte Kraft geht?
O ja, die Weisheit und Moral, die Theorie und auch die Praxis, die ganze Wirklichkeit des Menschenlebens schreit geradezu, schreit danach, dass wir aufhören mit dem Selbstbetrug, aufhören mit der Irreführung des Guten und des Richtigen, durch die wir es schon richten werden.
Nein!
Nicht durch die Parolen und auch nicht durch die Enttäuschungen des Positiven rettet Gott, sondern durch das Negative schlechthin, durch die denkbar radikalste Enttäuschung:
… Durch das Wort vom Kreuz!
Es sagt nicht mehr und nicht weniger, als dass Gott selber – Der alles gut geschaffen hat und allen alles Gute gönnt, weil Er der Geber aller guten Gaben ist und Seine Güte währt in Ewigkeit – … dass Gott selber also Sich nicht zu gut dafür war, selbst in das Schlechteste zu gehen: Gott ist in die Schwäche gekommen, um uns von der zerstörerischen Täuschung unserer vermeintlichen Allmacht zum Guten zu befreien.
Gott ist in Finsternis und Not, in äußerste Anfechtung, in körperliche Qualen und seelische Nacht gegangen, um uns zu bewahren vor dem Irrtum, nur dort wo Helligkeit herrscht, könne man von Leben sprechen. … Auch in Verdunkelung, in trüber Zeit und schweren Stunden verläuft das Dasein doch nicht außerhalb der Liebe oder jenseits der Nähe Gottes … auch wenn wir das glauben machen!
Das Kreuz ist also die buchstäblich verzweifelte Abwehr Gottes gegen die furchtbare Exklusivität, die wir den Glücklichen gewähren, wenn wir vom allgegenwärtigen Leid in der Erfahrung der Menschheit absehen.
Gott schließt die Unglücklichen, die Hilflosen, die Gescheiterten, die Schuldigen, die Bitteren, die Müden, die Kraftlosen und Kranken, die Unterlegenen und Verlassenen, … Gott schließt die Sterbenden und Toten, Gott schließt die Verdammten nicht aus, sondern ein, indem Er kein anderes Geschick, keine andere Wirklichkeit als ihre für Sich gewählt hat!
Das ist die Botschaft des Wortes vom Kreuz: Törichte Predigt und Ärgernis für uns alle! … Aber ganz bestimmt kein Schlechtmachen der wirklichen Erfahrungen von Menschen unter den Kreuzen, die sie tragen!
Und so überführt dieses Wort vom Kreuz all unser Reden. Indem es - anders als wir - die Wahrheit ausspricht und jene anspricht, die gekreuzigt werden, die sterben, die man begräbt, die ins Reich des Todes geraten.
Es sagt ihnen, was wir nicht sagen, … sagt uns, was wir nicht hören.
Es sagt nicht: „Mach’s gut!“ Sondern einfach: „Ich bin hier!“
Und ist darin so viel weiser als die Menschen sind und so viel stärker!
Und ausgerechnet jetzt, in der vermeintlich unbeschwerten Sommerzeit, in der uns so nach Leichtem ist, steht es da.
Ganz töricht, ganz unbequem, ganz schlicht.
Gern hätten wir andere Zeichen, gern nähmen wir anderes mit in unseren Alltag und unsere Ferien.
Aber alle Klugen und Schriftgelehrten und alle Weisen dieser Welt können niemals so viel Wahrheit mit bloß zwei Strichen sagen:
Gott und wir.
Untrennbar verbunden.
In Glück und Schrecken.
Leben und Tod.
Zeit und Ewigkeit.
Das Wort vom Kreuz.
Das ist alles.
Amen.
3. So.n.Tr., 20.06.2021, Ps.36,38, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Schwestern und Brüder,
was hält eigentlich unser Leben zusammen?
Was hält unser Leben zusammen, damit es nicht auseinanderstiebt wie ein Haufen loser Blätter und Gräser, in die der Wind hineinfährt?
Ein Buch wird gebunden, damit die einzelnen Seiten nicht durcheinandergeraten. Ungebunden fände niemand den Zusammenhang. Das Durcheinander ergäbe keinen Sinn. Darum wird ein Buch gebunden. Die einzelnen Seiten bekommen ihren Ort zugewiesen. Sie werden gehalten durch den Buchrücken. Und so wird es lesbar, kann es uns seine Geschichte erzählen, regt es uns an, uns mit dieser in Beziehung zu setzen - auf der Suche nach neuen Anregungen für unser eigenes Lebensskript.
Was nun hält die einzelnen Seiten unseres Lebens zusammen? Ein Leben ist wie ein Buch. Ein Leben, das von nichts zusammengehalten wird, fällt auseinander, wird zusammenhangslos. Was also stiftet Zusammenhang in unserem Leben?
In meinem Berufsleben habe ich Einblicke in ungezählte Biografien bekommen. Die meisten Lebensbücher zeigten liebevoll ausgeschmückte erste Seiten, manche hatten einen prächtigen Buchdeckel. In nicht wenigen fand ich direkt vorneweg ein Inhaltsverzeichnis - das offensichtlich den Lebensweg im Voraus beschrieb und wo Inhalt und Seitenangaben schon bald auseinanderfielen. Da ist es wirklich mit dem Lebensbuch ganz anders als mit Lehrbüchern, in denen die Inhaltsverzeichnisse den Leser, die Leserin sicher auf dem Lehrpfad der Erkenntnisse halten. Wo man sich durchhangeln kann und dann sicher ankommt - in der neuen Erkenntnis. Doch mit dem Lebensbuch verhält es sich so eben nicht.
Und eigentlich wissen wir das ja alle: das Leben verläuft nicht nach Plan. Da mögen Eltern noch so viel Gutes im Sinn haben: das Leben ihrer Kinder folgt keinem noch so überlegten Inhaltsverzeichnis; allenfalls allgemeine Kapitelüberschriften sind sinnvoll: Kindheit - Jugendzeit - Pubertät - Erwachsensein; schon allein, wie umfangreich die einzelnen Kapitel sein werden, steht in den Sternen; und die Corona-Pandemie hat uns neu gelehrt, dass alles ganz anders werden kann.
Das betrifft unser aller Lebensbücher: keiner weiß, wie viele Seiten ihm zur Verfügung stehen werden, keiner weiß, ob es ihm oder ihr immer Freude macht, eine neue Seite in Angriff zu nahmen; keiner, keine weiß, wie viele Zeilen ausgestrichen werden - nicht nur von einem selbst, weil man erkannt hat, da ist etwas schief gelaufen, da wollte ich doch gar nicht hin - sondern auch von anderen, vom Schicksal, von gesellschaftlichen Umbrüchen, von verrückten Zufälligkeiten.
Nicht von ungefähr setzen sich spätestens in der Ausbildung, im Studium Schnellhefter gegenüber Heften und Kladden durch. Da lassen sich immer wieder Blätter dazwischen sortieren oder umsortieren. So ist es mit unserem Lebensgefühl ja oft auch: Flexibilität ist gefragt; aber seien wir ehrlich: solch ein Schnellhefter ist weder sicher noch schön. Nein, eine unverbindliche Sammlung von Blättern mit einzelnen Episoden, mal mehr, mal weniger gelungen - das kann es doch nicht sein mit unserem Leben.
Was also hält unser Leben zusammen, was gibt ihm den Rahmen, was umschließt unser Leben in seinem Auf und Ab, Hin und Her, in all seiner Zufälligkeit?
Vielleicht gibt das Bild auf dem Gottesdienstblatt eine Antwort.
Das Bild und sein Titel „Unter dem Schatten deiner Flügel". Ein Bild, das ich in einer Zeitschrift fand, die mir jemand mal aus Israel mitgebracht hat.
(ulrike.heimann)
Betrachten wir den Hintergrund des Bildes.
Bevor alles begann, am Anfang, so erzählt es die Bibel im 1.Kapitel, war schwarze Nacht.
Am Anfang von Raum und Zeit war Finsternis und Leere.
Und immer wieder gibt es Zeiten in unserem Leben, wo die Nacht uns bedroht und wir in Finsternis zu versinken drohen. Schwarz beherrscht den Bildhintergrund, wenn auch der Mond aufgezogen ist.
Aber aus diesem nächtlichen Hintergrund löst sich eine helle Frauengestalt. Sie schaut auf das Dorf, die Stadt, deren Häuser sich eng aneinanderschmiegen, als wollten sie Schutz suchen vor der dunklen Nacht.
In den Armen der Frau finden sie Schutz. Ihr Auge wacht über den menschlichen Behausungen. Aber mehr noch als ihr Auge fallen ihre Hände auf. In ihnen ist die Stadt geborgen. Solange diese Hände da sind, wir niemand herausfallen und verlorengehen. Die Hände, sie verweisen auf eine Umarmung, auf eine zärtliche, behutsame Umarmung voller Liebe und Fürsorge, sie erzählen von Halt, aber nicht von Festhalten.
Es ist ein Bild von Gott.
Ein Gesangbuchvers fällt mir ein, wo von Gottes Mutterhänden die Rede ist: „Mit Mutterhänden leitet er die Seinen stetig hin und her ..."
Gott: ein Er mit Mutterhänden! Da sieht man, wie wenig unsere Sprache taugt, das Geheimnis Gottes auszudrücken, es korrekt zu formulieren. Aber so wenig Gott Mann oder Frau ist, auch nicht Quere oder Trans, so sehr verbinden sich in ihm Männliches und Weibliches.
Die Mutterhände Gottes tragen unser Leben, wenn es gelingendes Leben sein soll. Schon im Jerusalem des Jesaja - vor über 2500 Jahren -, in dieser Stadt, die von mächtigen Feinden in den Staub getreten war, wusste man, dass Trost nur von Einem kommt: von dem Gott, der tröstet, wie eine Mutter ihre Kinder tröstet.
„Denn, so spricht der Herr, ...: Ihre Kinder sollen auf den Armen getragen werden und auf den Knien wird man sie liebkosen. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet." (Jes.66,12f.)
Nach allem, was an Schrecklichem geschah und noch geschieht, das ist die Botschaft Jesajas, ist und bleibt Gott derjenige, der seine Stadt und sein Volk nicht aus den Händen gleiten und fallen lässt, sondern der das Zerbrochene und Wankende zusammenhält, ihm Halt schenkt, es auffängt und unterfängt.
Ja, wir dürfen in der bergenden Frauengestalt dieses Bildes Gott selber am Werk sehen. Auch die Form dieser Gestalt, das Dreieck, ist ein Hinweis auf Gott, auf die göttliche Vollkommenheit. Heilig, heilig, heilig - dreimal rufen es die Engel bei Jesajas Berufung aus, dass dieser Gott ein Heil stiftender Gott ist.
In der Dreiecksgestalt dieser Frau offenbart sich also das heilige, das Heil schaffende Handeln Gottes, der sein Volk nicht fallen lässt, sondern durch Tage und Nächte der Geschichte, der Zeit trägt: „Siehe", so sagt es der Psalmist, „der Hüter Israels schläft und schlummert nicht ... dass dich des Tages die Sonne nicht steche, noch der Mond des Nachts." (Ps.121,4ff).
Aber der eigentliche Schlüssel zu diesem Bild ist eine uralte jüdische Legende. Sie geht zurück auf das Jahr 70 unserer Zeitrechnung, auf das Jahr also, in dem die Römer Jerusalem eroberten, den Tempel in Flammen aufgehen ließen und die jüdische Bevölkerung aus dem Land verbannten. Israel verlor damals das Zentrum seines Glaubens und den Mittelpunkt seiner bisherigen Existenz. In diesem entscheidenden Moment der Geschichte - so erzählt es die Legende - erhob sich die göttliche Schechina, Gottes Glanz und Herrlichkeit, löste sich von seinem geschichtlichen Ort und begleitete das niedergeschlagene Volk ins Exil.
Mit anderen Worten: Gott geht mit. Gott scheidet sich nicht von seinem Volk, sondern lässt seinen Glanz noch in der Fremde, im „Elend" wie es das Althochdeutsche Wort sagt, leuchten. Er - oder sollen wir sagen: sie - sammelt das Volk in seiner Zerstreuung „wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel" (Mt.23,37). Wohlgemerkt: die Küken des Huhns sind Nestflüchter, gerade aus dem Ei geschlüpft, erobern sie sich ihre Umwelt. Bei Gefahr haben sie kein festes Nest, in das sie sich zurückziehen können, sondern ihr Schutz ist die stets in ihrer Nähe wachsam weilende Mutter, die Henne, unter deren Flügel sie sich bei Gefahr flüchten. Das Bild von der Henne und den Küken, die unter ihren Flügeln Schutz suchen ist darum nicht nur ein Bild für die Beziehung Gottes zum Volk Israel in der Zerstreuung nach der Zerstörung Jerusalems, sondern auch ein Bild für die Beziehung Gottes zu allen seinen Menschenkindern, deren Lebenswege sie in die Weite führen, in der immer wieder Gefahren lauern - und wo Gott selber dann ihr Schutzort ist. So bekennt es der Beter des Psalms mit dankbarem Staunen: „Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben." (Ps.36,38)
Leben in der Zerstreuung, in der Diaspora, das ist ja keineswegs nur das Thema Israels gewesen. Es ist in doppeltem Sinn ein menschliches Thema und damit auch unseres.
Zunächst in geographischer Hinsicht.
Die geschlossenen Lebensräume haben sich aufgelöst. Gerade in den letzten 20 Jahren haben viele Menschen ihre Heimat verloren; noch nie seit dem 2.Weltkrieg gab es so viele Flüchtlinge auf der Welt. Unzählige sind zudem als Wanderarbeiter und Saisonhilfskräfte überall und nirgends zu Hause. Und auch in unserer mobilen Gesellschaft pendeln Hunderttausende freitags abends nach Hause, um am Sonntag Abend oder Montag in aller Frühe ihre Familien wieder zu verlassen und zur Arbeit zu fahren. Corona hat - das ist zu befürchten - hier nur für eine kurze Atempause gesorgt. Dass ein Mensch mit 40 Jahren schon 6-10 mal seinen Wohnort gewechselt hat, ist heute fast normal. Wir laufen bei so vielem „Umtopfen" dabei Gefahr, unsere Wurzeln zu verlieren, herauszufallen aus dem Halt gebenden Gefüge einer Gemeinschaft. Den Zusammenhang, den roten Faden unseres Lebens zu verlieren.
Wir leben aber auch in der Zerstreuung in einem geistigen Sinn. Als ob wir nicht schon genug zerstreut wären, suchen wir auch noch die Zerstreuung - in der Freizeit, im Urlaub. Nicht nur, dass wir unsere Mitte nicht finden, wir suchen sie erst gar nicht, weil wir es bei uns und mit uns allein nicht aushalten. Das Leben wird immer unkonzentrierter und damit kurzatmiger, unruhiger. Die Unruhe stresst und ist ungesund. Dummerweise aber ist die Angst vor der Ruhe und dem Alleinsein mit sich selbst bei vielen so groß, dass sie weiterrennen, bis ihr Körper in Streik tritt: Herzinfarkt, Depression, Burnout.
Das Leben in der Zerstreuung ist zur Krankheit unserer Zeit geworden. Es ist ein Leben, das kein Zentrum mehr hat, sondern im bunten Allerlei aufgeht. Es büßt seine Gestalt ein und zerfällt, zerfleddert in zufällige Einzelteile, ein Haufen Seiten, wie aus einer Mappe herausgerutscht und irgendwie zusammengeschoben. Oder im anderen Bild: wie eine Schar Küken, die neugierig und orientierungslos hin und her rennen und die ganz sicher aufgeschmissen wären, wenn es da nicht die Henne gäbe, unter deren Flügel sie bei Bedarf jederzeit Schutz und Ruhe finden.
„Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben."
In Gottes Gegenwart, da, wo er uns gegenwärtig ist, wo wir uns an ihn erinnern wie in einem Gottesdienst, aber auch wo wir mit ihm das Gespräch suchen im Gebet, zu Hause wie auch beim Spazierengehen in der Natur, da können wir uns sammeln - wir als einzelne, die wir dem Schicksal der Zerstreuung preisgegeben sind. Wir als Gemeinschaft - in der Familie, in den Lebensgemeinschaften, in der Gemeinde - die wir immer bedroht sind vom Zerbrechen der Gemeinschaft, von Konflikten und Auseinandersetzungen, von Destruktivität und Schuld.
Wie wichtig ist es, diesen Schatten- und Ruheplatz zu kennen. Gewiss, für uns heute sind die Strahlen der Sonne oder des Mondes die kleinsten Probleme, die uns zu schaffen machen - obwohl: mit dem Klimawandel könnte die Sonnenstrahlung auch in unseren Breiten zum echten Problem werden. Doch anderes sticht uns dafür um so mehr, reizt uns, plagt uns, und lässt uns auseinanderlaufen. Da läuft jeder dann heiß im Rennen um seinen Lebenserfolg oder verzehrt sich in seinem Engagement für eine bessere Welt.
Wir brauchen die Besinnung und Erinnerung an den Ort, wo Schatten ist. Wo wir ausruhen können, Atem schöpfen. Unter dem Schatten seiner Flügel wollen wir uns sammeln. Und zu uns finden. Uns berühren lassen von den mütterlichen und väterlichen, von den liebevollen Händen Gottes.
Ein letztes zu dem Bild: Es führt ein Weg hinein in die Stadt Gottes. Die Tür steht offen. Zu Gott können wir immer kommen - und wir können auch immer wieder hinaus in unser Leben, wie Küken ja auch immer wieder unter den Flügeln der Henne hervorkommen und munter und neugierig ihre Umgebung erkunden. Gott ist zugänglich und er eröffnet uns Wege ins Leben - immer wieder. Er gibt Halt und Schutz und gewährt Freiheit. Er hält zusammen, was uns aus den Händen fällt und hat versprochen bei uns zu sein, bis er einmal alles vollenden wird, alles zu einem guten, heilvollen Ziel bringen wird.
Darum: gehen wir getrost hinaus in unseren Lebensalltag und beginnen ihn vielleicht jeden Morgen mit einem kleinen Gebet, wie es in Psalm 17 steht: „Behüte mich, Gott, wie einen Augapfel im Auge und beschirme mich unter dem Schatten deiner Flügel." (Ps.17,8)
Amen.
3.So.n.Trinitatis, 20.06.2021, Stadtkirche, Lukas 15, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.n.Trin. - 20.VI.2021
Lukas 15, 1 - 10
Liebe Gemeinde!
Falls – nachdem seriöse Quellen das immer mehr thematisieren – die mir unvorstellbare Sichtung von unbekannten Flugobjekten sich irgendwie bestätigen sollte, … und falls die mir absolut zweifelhaft erscheinende Konfrontation mit Lebensformen jenseits unseres Planten (aber diesseits des Reiches Gottes) tatsächlich das nächste Kapitel unserer jüngsten Chronik von Überraschungen sein sollte, … und falls die naturwissenschaftlich sehr überzeugend nachzurechnende Unmöglichkeit, dass organisches Leben die unfassbaren Entfernungen zwischen Galaxien dieses Universums überwinden könnte, bedeutet, dass immerhin die Ankunft von und der Austausch mit künstlicher Intelligenz aus anderen Zonen des Weltraums bevor-stehen könnten … falls, kurzum, eines Tages etwas Menschliches an die Aliens zu vermitteln wäre: Es müssten Jesu Gleichnisse vom Verlorenen sein. … Darauf sollten wir uns vorsichtshalber schon verständigen!
Denn diese – die schönsten, Jesus-typischsten, einfachsten, unvergesslichsten Geschichten der Welt – … diese zwei Einzeiler und ein kleiner Schelmen- und Liebesroman sind miteinander das, was die Menschheit ausmacht:
Die beiden winzigen, mit ostasiatischer Reduktion hingetuschten Skizzen: „Ein Schäfer gibt sein Tier nicht auf“ und „Eine Frau fegt ihr Glück frei“. Die klassische „Alles zerronnen, alles gewonnen“-Rührgeschichte vom dämlichen Sohn für weiche Herzen, die sich kein gerechtes, sondern ein happy end wünschen.
Drei unendlich schlichte Motive. Nichts Schnulziges, … erdig. Sturheit des Almbauern, dem das Vieh so viel wiegt wie das eigene Leben. Grimmiges Reinemachen der Putzfrau, die abhängig ist von dem bisschen, das ihr gehört. Finanzielle Blasphemie des Alten, der sträfliche Untreue als Verluste abschreibt, wenn es doch um sein schwaches Herz geht.
Lauter gewöhnliche, ein wenig einseitige Menschen, die nicht locker, sondern von Eifer, Not und Liebe beherrscht sind. Sie müssen jeweils die eine zwingende Aufgabe bewältigen. … Ohne das fehlende Tier, ohne die nötige Münze, ohne den unersetzlichen Sohn geht ihre Geschichte nicht weiter: Nicht für sie und nicht für den, der sie als Gleichnisse verwendet.
Aber über das kleine geschilderte Einzelschicksal hinaus sind’s eigentlich nun wirklich banale Kurzgeschichten, nicht mal geeignet für die Rubrik „Vermischtes“ im Lokalteil des Posemuckler Tagblattes: „Ausreißer wieder da“, „Lohn des Staubsaugens“, „Trotz Absturz: Weiche Landung“. …….
Wieso sollten diese trivialen Begebenheiten, eingebettet im Herzen des Lukasevangeliums, des „Kleine-Leute-Evangeliums“, der Beispielsammlung für die Sonntagsschule irgendeinen weltliterarischen Rang behaupten können? Haben Johann Peter Hebel auf Alemannisch und Bertold Brecht auf kommunistisch und Stan Laurel und Oliver Hardy auf Leinwand nicht anrührendere und moralischere und befriedigendere Sittengemälde davon geschaffen, wie Übel in Freude mündet? Weshalb sollte man ausgerechnet die Schaf- und Groschen- und Rumtreiber-Geschichten Jesu zum Mond, zum Mars oder hinter die Milchstraße schießen, um Kunde von der Menschheit zu geben?
Was hebt diese Rettungs-Miniaturen denn gegenüber viel anspruchsvolleren Werken der menschlichen Dichtkunst hervor?
Dass sie nicht vom Menschen handeln. Dass ihr kleines, unscheinbares Drama keine Selbstauskunft über den Menschen gibt und was er tragisch an sich findet oder Heroisches von sich glaubt. —
Aber genau das verstehen die meisten Menschen nicht.
Eigentlich erzählt Jesus seine Gleichnisse von den Rettungen darum auch nicht den Zuhörern auf der Straße oder in der Kirche. Sie sind vielmehr für die bestimmt, die in den Geschichten selbst als deren fröhliche Versteher vorkommen: Die Engel!
Tatsächlich: Jesus selber gibt uns den Hinweis, dass die Adressaten seiner wunderbaren kleinen Wieder-gut-Erzählungen nicht unter den Irdischen, sondern den Überirdischen, für uns darum auch: unter den „Außer-Irdischen“ zu suchen sind. Im Himmel, bei den Engeln Gottes wird man sich freuen über einen, der Buße tut, der sich nicht weiter verliert, der sich auf den Gott der Suche einlässt, der sich einlässt auf den Finde-Gott, Dem ohne die verlorenen kleinen Einzelnen so viel fehlt.
Die zweimalige Hervorhebung, dass die Fröhlichkeit, in die die beiden schlichten Gleichnisse münden, eine himmlische Fröhlichkeit, … die Freude der Engel feiert, … diese Hervorhebung muss man ernst nehmen! Denn sie stößt uns ja geradezu darauf, dass unser eigenes Echo auf das Schaf im Pferch und das Geklimper des Groschens unterm Besen nicht das eigentliche Ziel des Berichteten sind.
Rein menschlich betrachtet sind die Wendungen der Kurzgeschichten unspektakulär: Viech taucht auf und Geld war nicht weg. Wow!
Aber das liegt daran, dass wir nicht erkennen wollen, wie wir darin vorkommen … und um wen es wirklich geht
Uns selbst sehen wir ja in keinem Verhältnis zum gesuchten Tier, zum verlorenen Gegenstand. Weil das nicht unser Selbstbild wäre. … Gewiss: „Verlassen“ fühlen wir uns manchmal sehr, vielleicht auch „betrogen“ und „vergessen“. Dass man uns in die Irre geleitet hat, dass wir ganz unfair in eine Klemme gebracht oder in eine Ecke gestellt wurden, das sind Einschätzungen, die wir kennen. Dass es eine bittere Ironie, ja eine Sauerei des Lebens ist, dass ausgerechnet wir so im Abseits, so unterm Teppich, so wenig beachtet, so übergangen sind: Das alles kennen wir … zu Recht genauso wie zu Unrecht.
Aber was wir nicht an uns erkennen, was wir nicht sehen können, ist echte Verlorenheit.
Verlorenheit, die etwas anderes ist als die Gemeinheit der anderen oder die Ungunst der Umstände, … der „Verhältnisse“, wie wir so gerne sagen.
Verlorenheit ist etwas, für das es keine äußere Ursache gibt. Verlorenheit hat keinen klaren, schuldfähigen Grund in unserm Willen oder unserer Absicht. Verloren: Das ist man einfach. … Das Schaf ließ es ja nicht draufankommen. Das Geldstück schlug die schiefe Bahn nicht selber ein. Verloren zu sein, heißt selbst nicht zu wissen oder zu wollen, wie es geschah und auch keinem andern die Schuld in die Schuhe schieben zu können. …
… Darum sind wir aber auch so selten in der Lage, Verlorenheit zuzugeben. Weil wir meistens ja angeblich genau wissen, wer uns was getan hat und wann uns was zu Unrecht begegnet ist.
Solche Erklärungen für ganz Vieles, solche Anklagen in beliebige Richtung (Hauptsache eben eine Erklärung!), solches Bescheidwissen, solche Kontrolle über das Leben, sind unentbehrlich. … Weit, weit erträglicher, als das Rätsel der Verlorenheit zu verspüren!
Doch das Rätsel wird in Jesu Gleichnissen nur noch größer.
Denn – und das können tatsächlich nur die Engel verstehen! – die Leidtragenden in den beiden alltäglichen Szenen sind ja jeweils die Sucher nach den Verlorenen: Der aufgewühlte Hirte, der wie getrieben, unbedingt und um jeden Preis das todgeweihte Einzeltier da draußen in der lebensfeindlichen Wüste finden muss, … die verzweifelte Frau, die buchstäblich das Unterste nach oben kehrt, weil für sie so unglaublich viel an dem Silbergroschen liegt. Diese beiden hektisch rackernden Leute, die gegen die aufsteigende Panik anarbeiten sind die Brennpunkte der Gleichnisse. Sie sind Gott. Der sich buchstäblich „zur Minna macht“. Der einen Tunnelblick kriegt, wenn da noch was retten ist. Der mit weichen Knien und feuchten Händen Dauerlauf durch die Steppe macht und im Staub einer schmutzig-dunklen Behausung hin und her tastet, immer wieder in’s Leere greifend.
Gott ist das: Dieses unerklärlich unwürdige Doppelportrait, in dem sich Züge der Unachtsamkeit und Schusseligkeit mit Zügen der Hilflosigkeit und der nackten Angst mischen: Was ist denn, wenn das, was da so atemlos gesucht wird, sich nicht finden lässt? …….
Was für ein unerfindliches Gottesbild! Was für ein unglaublicher Bruch mit allen Vorstellungen der Überlegenheit dessen, „der alles sieht“ … und weiß … und kann?!!
Und ausgerechnet so will Jesus den Engeln ihren Gott zeigen!
Ausgerechnet so sollen sie - die blitzschnellen gefiederten Boten - ihren Herrn sehen und ernstnehmen: Wie Er flattert, wenn ein Menschlein bockt und ein Sterbliches Ihm aus der Reihe fällt, Ihm von der Kette rutscht!
Und ausgerechnet so sollen wir den Außerirdischen, den Nicht-Menschen irgendwo da droben und da draußen - wenn’s denn jemals nötig würde - den ewigen Gott des Universums nahebringen: In seiner hilflosen Angewiesenheit auf die rätselhaft Verlorenen, die wir Menschen sind. Ein Gott, für Den Verlorene selber ein unerträglicher Verlust wären. Ein Gott, Der suchen muss, bis Er das Verlorene findet! ————
Das verstehen wir Menschen meistens tatsächlich nicht: Dass unsere, von uns so gezielt und anhaltend verdrängte Verlorenheit Gott derart tief betrifft, dass Er sich in allen Galaxien Seiner Herrschaft als Derjenige zu erkennen gibt, Der darunter leidet und dagegen angeht, bis das Unerklärliche des menschlichen Zustands, das Aussichtlose des Menschheitsloses gewendet ist und nichts Verlorenes mehr bleibt. ———
… Wir verstehen das nicht. Und heute werden wir es auch nicht erklären können, und morgen auch nicht.
… Aber vielleicht ist heute der Tag, dass wir anfangen sollten, es wie die Engel aufzufassen: In reiner, grenzenloser Freude.
Denn wie Gott sich da von Seinem Sohn schildern lässt, wie Er es vor den Himmlischen aufdecken lässt, dass Er verliert, wenn wir verloren sind, das ist der eigentliche, geheimnisvolle, unergründliche Grund unseres Glaubens. Dieses zweite Rätsel, das in seiner unfassbaren Tiefe unsere Verlorenheit sogar noch übertrifft, heißt „GNADE“.
Ein Wort – ungebräuchlich, altbacken, nicht unmittelbar anschaulich –, das wir trotz all seiner theologischen Deutung (oder vielleicht gerade deswegen?) nie wirklich verstehen werden. Weil es nicht erklärlich ist, nicht schlüssig, logisch, folgerichtig. Sondern ein einziges, echtes, unendliches Mysterium: Das Mysterium, das Gott die Engel wissen lassen will … und natürlich alle, die es nicht zerreden und zerreiben, sondern sich einfach ohne sonstige Sicherheit darauf verlassen.
… Das aber sind unter den Menschen meistens nicht die Theologen oder die Frommen, auch nicht die Theoretiker oder die Rationalisten.
Wen das Wort von der Gnade mit der gleichen unwiderstehlichen Freude erfüllt wie die Engel, das sind die Sünder! Engel und Sünder erheben keinen messerscharfen, besserwisserischen Einspruch gegen den Unsinn der Gnade. Sie beten sie einfach nur an: Unter heißen Tränen die einen, in endlosen, herrlichen Chören reinen Jubels die andern.
Darum wird die Luft für den systematischen Ansatz der reflektierten Theologie auch ganz dünn, wenn es um Gottes Gnade geht. Gründlich reflektierte, denkerisch abgesicherte Zugänge zur unverantwortlich erscheinenden, halsbrecherischen Suche des Hirten nach dem verlaufenen Schaf, ordentliche Erklärungen, warum Gott selber Staub aufwirbeln muss, um einen zurückzugewinnen, der selbst auch nur Staub ist, scheitern.
Gnade ist ein außer-, ja, ein unordentliches Geschehen. Sie stellt nicht einfach ohne Weiteres bloß Ordnung wieder her, sondern sie riskiert alle Grundsätze, um das Unerwartete … einen glücklichen Fund, eine unwahrscheinliche Rettung zu schaffen.
Darum sind es eben auch nicht die ordentlichen Theologien – trotz des reformatorischen sola gratia-Prinzips – , in deren Mittelpunkt wirklich nichts als die Gnade steht, sondern es sind irreguläre, freie, ungelenkte Glaubensbewegungen, die die Gnade, an der man im Himmel solche Freude hat, als unverhoffte Erfahrung, als überwältigendes Ereignis feiern.
Ein Beispiel unter vielen für die wirklich nicht zivilisierten, sondern unbändigen, ja rohen und wilden Verhältnisse, in denen die Gnadenbotschaft ihre Rettungsmacht entfaltet, ist das Leben des Dichters des größten Gnaden-Liedes aller Sprachen und aller Konfessionen, … des einfachen, aber schlicht herzensechten Lobgesangs auf die staunen- und kopfschüttelnerregende Gnade, … “Amazing Grace”!
John Newton (1725-1807)[i] war ein ausgekochter Grobian, der alles das darstellte, was Europa neuerdings aus seiner Geschichte und Erinnerung auslöschen möchte: Obwohl er selber zeitweilig in Ostafrika das Schicksal eines versklavten Matrosen der englischen Marine erlitt, blieb Newton nach seiner Befreiung lange und absolut gewissenlos am transatlantischen Sklavenhandel beteiligt. Erst ein verheerender Sturm, der sein Schiff um Haaresbreit auf den Meeresgrund gerissen hätte, weckte in ihm das Gefühl völlig unverdienter Verschonung. Da bekehrte er - der hemmungslose Gotteslästerer – sich zu einem erschütterten lebendigen Glauben an Gottes voraussetzungsloses Eingreifen zu seiner Rettung, von dem sein heute weltweit verbreitetes Lied singt.
Und trotzdem sollte es noch Jahre dauern, bis der persönliche Zeuge der Gnade den gnadenlosen Sklavenhandel, von dem er lebte, endlich aufgab und dann als Prediger zu einem der entschiedensten Kämpfer gegen dieses menschenunwürdige Verbrechen der Sklaverei in Europa und Amerika wurde.
Würden wir diese dunklen Wirklichkeiten unserer westlichen Geschichte allerdings einfach verdrängen und unsere bleibende Verbindung damit streichen, wie es die Geschichtssäuberungen heute verlangen, würden wir bloß das eine erreichen: Dass wir tatsächlich und absichtsvoll nie mehr etwas von Gnade erführen. Weil wir bei der wohlfeilen Täuschung blieben, uns selbständige und aufgeklärte Menschen ohne Schuld und Vergangenheit beträfe die Verlorenheit schlicht nicht. …….
… Und dann könnten nur noch die Engel – und einst vielleicht die Außerirdischen – begreifen, wie es wirklich um die Menschheit steht: Dass sie ohne Gnade nicht wäre. Weil ihre Verlorenheit von Einem allein gewendet wird: Dem Gott aller Gnade. Von Dem man im Weltall und im Himmelreich fragen muss (Micha7,18)[ii]:
„Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade!“
AMAZING GRACE[iii]!
Amen.
[i] Vgl. zu Newtons Biographie die Beiträge unter https://hymnary.org/person/Newton_John.
[ii] Alttestamentliche Schriftlesung des 3.Sonntags nach Trinitatis.
[iii] Als Versuch einer (um die bekannte 6 Strophe, die sich zuerst in Harriert Beecher-Stowes „Onkel Toms Hütte“ findet, erweiterte) deutschen Übertragung war auf dem Gottesdienstblatt folgende Fassung abgedruckt:
„Mein Herz vor Gnade fröhlich wird,
wenn ich von Gnade hör.
Denn früher war auch ich verirrt,
doch schließlich fand mich Er.
Erst weckte Gnade Angst in mir,
die sie mir später nahm.
So wurde Gnade meine Zier,
als ich zum Glauben kam.
Der Lebensweg war krumm und hart,
viel Not stand ich schon aus,
und doch hat Gnade mich bewahrt
und bringt mich auch nachhaus.
Denn Gott hat Gutes zugesagt,
sich mir zum Schutz erklärt.
Und ich hab’ zu vertrau’n gewagt
solang mein Leben währt.
Wenn aber Leben mir und Mut
in diesem Fleisch vergehn,
und sich der Schleier ganz auftut
werd’ ich die Gnade sehn.
Und sind zehntausend Jahre dann
im hellsten Glanz vorbei:
Was man von Gnade singen kann,
bleibt wie im Anfang neu.“
(Übersetzung; Jonas Marquardt)
2.So.n.Trin., 13.06.2021, Stadtkirche, 1.Korinther 14, 1 - 25, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.n.Trin. - 13.VI.2021
1.Korinther 14, 1-25
Arme Gemeinde!
Christen. Toben. Brechen in vulkanischer Brunft aus. Schleudern ihre Emotionen mit den Pfeilen spitzer Schreie zum Himmel oder wecken durch die Trommeln tiefer Brusttöne das Gewissen der Zuhörer.
Christen. Zittern. Schwanken wenn der Geist sie packt: Erhobene Arme, ausgebreitete Hände sind die Saiteninstrumente, über die der elektrische Strom aus der Höhe fährt, und er zupft sie mit Macht und sie zucken und tanzen, taumeln, hecheln, kollabieren, schweißgebadet erstarrt.
Christen. Transzendieren. Wie ein Delirium, wie ein Rausch, der sie entrückt, flammt die göttliche Liebe in ihnen auf, so dass für das eigene Bewusstsein kein Halten mehr ist. Eine so gewaltige Gegenwart ergreift sie, dass das Unterbewusste, alle Wünsche, alle Unbefangenheit, der ganze Strom der Natur und des gesamten Kosmos sie durchdringen und sie nicht mehr getrennte Einzelne bleiben, sondern zum Sammelbecken werden, in dem die Fülle des Heils schäumt und alles mitreißt. …….
Christen. Ratten eines eingebildeten bunten Pfeifers, der sie nasführt. Anfällig für Massensuggestion. Irrational steuerbar in Trance. Armselig, unsicher. Flüchtlinge vor dem messerscharfen Strahl der Vernunft, der die unreflektierte Anziehungskraft des Gruppengefühls durchtrennen würde und sie mit ihrem jeweiligen Minderwertigkeitsmakel allein zurücklässt.
Christen. Ekstatiker. Narren der neuen Welt, die Maske und Kostüm des Diesseits nicht mehr krampfhaft festhalten, sondern schutzlos, absichtslos, erschütternd aufgebrochen sind, so dass keine Mördergrube mehr in ihrem Herzen bleibt, sondern das Innerste angstfrei bloßgelegt ist.
Christen. Hysteriker. Überforderte einer Wirklichkeit, die zersprengt, was immer Menschen an Machtmitteln haben, um schlau aus dem chaotischen Leben zu werden und sich vor der Gefährlichkeit in und um uns abzuschirmen. Darum die vielen Übersprungshandlungen, die Vorwegnahme eines Tages, der unwahrscheinlich bleibt, … die Tränen und Kräfte, die ausgelöst werden von Ursachen außerhalb.
Christen. Betrunkene seit Pfingsten. Lallen. Tappen in unfertige Worte hinein, fallen aus dem sprachlichen Rahmen, wälzen sich im dunklen Mutterboden der Verständigung, wo die Saat des Unaussprechlichen reift. Zerreißen versehentlich die Amtssprache dieser Welt. Zeugen im Rausch den Nachwuchs einer zukünftigen wörtlichen Wahrheit. Machen Spektakel und Krakeel. Murmeln und sterben mit Fetzen auf den Lippen, die geheimnisvoll bleiben: Silben der Engel, Lautmalerei eines Reiches, das kommt.
Liebe Gemeinde!
Das sind doch nicht die Christen, oder? Das ist doch entweder nur Marquardt’scher Wahnwitz oder irgendeine Spur urchristlicher, genauer noch: korinthischer Überspanntheit, die auf gar keine, … gar keine Weise in Verbindung mit uns stehen kann.
Christen. Kritische Masse der Nachdenklichkeit. Selbstbewusst im Unterscheiden der Geister. Von keiner Tradition oder Autorität gehindert am Bilden persönlicher Urteile. Misstrauisch gegenüber Lenkung, am allermeisten gegenüber allem Enthusiasmus der Unerwachsenen. Skepsis und Wissenschaft filtern die allzu offensichtliche Manipulation aus den Formen und Inhalten, denen man in der kirchlichen Praxis begegnet. Ziel ist die vernünftige Diskussion der möglichen Relevanz alter und der nötigen Entwicklung neuer ethischer und sozialer Orientierung.
Christen. Demonstranten der verantwortlichen Besorgnis. Mit oder ohne religiöse Verbrämung sind sie zuverlässig aktiv, wo es um weltliche Belange des Guten geht. Manchmal streitbar. Manchmal auch – geradezu untypisch bei ihrer programmatischen Reserviertheit gegenüber allem Pathos – ideologisch. Dann teilen sie Schlagworte und Parolen gerne mit denen, die andren Geistes Kind sind. Aber als Zeitgenossen, als tolerante Verfechter der Meinungs-, Menschen- und Manierenvielfalt sprechen sie die Sprache des Tages, weil das demokratische Breitenwirkung verspricht.
Christen. Dolmetscher einer entfernten Ebene der Welt für den nahen Horizont. Kein Überstülpen großer, ausgeleierter Worthülsen über die bekannten Probleme des Daseins, sondern ergebnisoffene Beratung, um persönliche Lösungen in eigenen Begriffen zu finden, die das sonst allzu Befremdliche sinnvoll zu thematisieren helfen.
Christen. Erben furchtbarer kultureller Lasten – grandioser, aber staubig gewordener Sprachmonumente und nicht mehr zu erschließender Gedankengebäude –, die sich zurücknehmen, um menschennah und einladend in die Rahmenbedingungen des Alltags einen Ausschnitt einzufügen, der eine zusätzliche Perspektive andeutet. Ausflüge in die Höhe aber, oder Verwandlungen geerdeter Gegebenheiten in Licht: Solche Risiken verlorener Bodenhaftung meiden sie. Ihr Stoff ist das Bekannte, das heutige Hier, wo Tore nicht aus Perlen und Straßen nicht aus Gold bestehen, sondern aus guter Absicht und nachvollziehbarer Meinung: Anstöße zu eigenen Erörterungen. ——
Von welcher rein völkerkundlich erfassten Gattung sind die Christen denn nun aber?
Warm- oder Kaltblüter? Segler im Himmelhochjauchzen oder Latscher auf dem Boden der Tatsachen?
Biblischer gefragt: Bedeutet Christensein eher, getragen zu werden von freier spiritueller Inspiration oder doch mehr getrieben vom strengen prophetischen Soll?
Was ist die vornehmliche Aufgabenstellung und Aussageform unseres Glaubens: Loben oder Lehren? Anbetung des ewigen Gottes oder Dienst an der geschaffenen Welt? ——
… Wenn man doch nicht so fragen müsste! … Muss man denn so fragen?
In Korinth war es nötig! Korinth – eine Gemeinde, die im zweiten Jahrzehnt nach Jesu Auferstehung entstand! – … Korinth ist schon von allem Umkippen der christlichen Freiheit und aller Unausgewogenheit der göttlichen Geistesgaben in den Menschen bedroht: Erlösung ist in Korinth schon zur Feier des eigenen Glücks geworden! Endzeitliches Heil und Auferstehung der Toten sind zu Erfahrungen verkommen, die man persönlich erleben und souverän reproduzieren und genussvoll konsumieren möchte, weil sie nicht mehr Ausdruck des kommenden Gottesreiches, sondern Wohlfühl-Vorrechte der Gläubigen sind.
Die stürmischen, sozial völlig schmerzfreien Getauften von Korinth, die sich ungeniert bloß selber schmeichelten und immer weiter steigerten in ihrem Dusel, dass sie der lästigen Moral und der alten Wirklichkeit und dem ordinären Sterben als Glieder am Leib Christi enthoben und damit etwas Gott-weiß-wie-Besonderes seien, … diese schon damals wie in allen heutigen Megakirchen des Wohlstandsevangeliums und allen evangelikalen oder orthodoxen Zirkeln des exklusiven Wahrheitsanspruchs genauso widerlichen Egoisten-Christen haben Paulus erbost. … Ihretwegen hat er so schroff und scharf zwischen dem charismatischen Vielfarbenspektrum und der rationalen Eindeutigkeit unterschieden:
Wenn es drauf ankommt, dann soll die Gemeinde Jesu Christi nicht Feuerwerk, sondern Leuchtschrift sein; sie soll nicht paradiesvogelartig trillern und schillern, sondern klar scheiden zwischen offenbarer Wahrheit und selbstverliebter Täuschung. Einfache Verständlichkeit und nicht überschwängliches Allerlei sind erforderlich, um das Leben und die Wirkung der Gemeinde sachlich zu ordnen. Kein Theater, sondern die Realität ist ja die Bühne des gläubigen Lebens. ———
Diese strenge Entscheidung für bloße Botschaft, statt Begleitmusik, ist allerdings nicht als letztinstanzliches Urteil, als wahhabitische Fatwa oder calvinistische Kirchenzucht zu verstehen, mit der Paulus – der Sendbote der Freiheit eines Christenmenschen schlechthin! – die Kirche in ein puritanisches Korsett zwängt.
Jeder Mensch in der Mitte des dritten nachösterlichen, nachpfingstlichen Jahrzehnts weiß schließlich, wie die Gemeinde angefangen hat, … jeder hat es auf die eine oder andere Weise auch selbst erlebt:
Der Geist Gottes gießt flammende Erweckung in klamme Herzen und weckt Herzensergießung, wo alles blockiert.
Gottes Heiliger Geist ist ein Geist der zügellosen, der entfesselnden Gedankenfreiheit, ein Geist des freizügigen Empfindungsreichtums, ein Geist des mannhaften und mütterlichen und kindlichen Vertrauen-Stiftens, der bedenkenlosen Mitteilungsfreude, der unkontrollierten Impulsivität, die nicht schweigen und nicht abmessen und nicht zurückhalten will, weil sie das Herz auf die Zunge spült, die Seele in den Augenblick rückt und sich stau- und wehrlos verströmen muss vor Zuneigung und Liebe zu Gott und allen.
Der Geist hebt jede Grenze auf und fasst zusammen, was sich weder im Raum noch im Reim je verband.
Wo der Geist spricht und betet, da wird neue Welt erschaffen und Ewigkeit in jeder Silbe wahr.
Deshalb sind es unerhörte Sprachen, zukünftige Namen, einmalige Offenbarungswunder, wenn Menschen in Begeisterung hingerissen lautmalerisch die Gegenwart Gottes bezeugen und mit hinfälligem Hauch und Atem der Sterblichkeit Ruhm, Preis und Ehre des Allerhöchsten aufrichten.
Die Zungenrede, das absichtslose Erklingen des Jubels und der Anbetung in den Körpern, die der Heilige Geist wie Seine Windspiele berührt, wie Seine Tonpfeifen erfüllt, ist in der frühen Kirche eine – verglichen mit der Botschaft vom Sieg über den Tod nicht einmal besonders umwerfende – Begleiterscheinung der Missionsdurchbrüche gewesen.
Auch Paulus erlebte und verbreitete diese zweckfreie, diese allein in sich stimmige, auf nichts weiter verweisende Kommunikation zwischen den Gläubigen und Gott.
Aber dass die Zweckfreiheit kein Zweck an sich ist und die Unwillkürlichkeit den guten Willen als solchen nicht überflüssig macht, das rief seine Warnung gegen die Verselbständigung des Unverstehbaren hervor.
Der tief- und darum auch scharfsinnig geschulte Pharisäerschüler, der er war, der schriftgelehrte Diskussionsteilnehmer, der jahrelang das Erfassen und Wiedergeben des Sinnes einer biblischen Aussage geübt hatte, rief also die Korinther zur Ordnung, obwohl ihm die Erfahrung der Geistes-Ekstase nicht fremd war. Doch wo das mühelose Sich-Überlassen an die Regungen des Geistes zum bequemen Ersatz wird für die prophetische Konzentration darauf, dass Gott verstanden und Sein Wille befolgt werde, … da pocht Paulus auf die Pflicht anstelle der Kür.
Nicht das Glaubensvergnügen, sondern die Glaubensgerechtigkeit ist ja das, was er mit der Menschheit zu teilen hat: Dass Gott uns alle zu einem Leben aus dieser Gerechtigkeit ruft und dass das jeden Bereich unseres Daseins in das Licht Seiner Wahrheit rückt, damit sich der hohe Maßstab, unter dem Gott uns als Jesu Glieder gnädig sieht, in unserer Wirklichkeit auch praktisch bestätigt, … das bedarf einer klar wegweisenden Wortstruktur mehr als aller Emphase des Gefühls. „Denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung …“, sagt der Apostel dazu zusammenfassend (14,33).
Mit diesem Vorrang dessen, was Paulus das prophetische - also das aufklärende - Reden nennt, ist jedoch kein Verbot der Ausdruckssuche unserer Seelen, unseres Schönheitssinnes, unserer Glücksfähigkeit, unseres nichtsprachlichen Glaubenserlebens gemeint.
Ein Christentum, das nur im Kopf hauste, ohne das Gemüt zu erreichen, ist genauso verkürzt und entstellt wie der Kitsch ohne Kern, der Rausch ohne Räson, die sich ergeben, wenn die rationale Vermittlung des Evangeliums zugunsten seiner bräsigen Feier unterbleibt.
Zu allen Zeiten hat das Leben des Glaubens beides miteinander erfordert: Nüchternheit und Überschwang; spontanes, gleichsam elektrisierendes Überspringen ebenso wie kritische Überzeugungs- und Übersetzungsarbeit; aufwühlende Ergriffenheit neben andauernder Reflexionsleistung. Stets rieben sich der nötige Bändigungsanspruch und die nötige Unbekümmertheit, mit der Amt und Charisma, Wissenschaft und Frömmigkeit, Institution und Individuum in der christlichen Kirche aufeinanderstoßen. Und darum gab’s zu allen Zeiten Verhältnisse wie in Korinth und solche wie in Genf: Exaltierte Anarchie gegenüber humorlos stirnrunzelnder Gottesfurcht. Und auf beiden Seiten standen Heilige und Reformatoren, auf beiden Seiten Inspirierte und Verrückte.
Dass dabei eines Tages eine der beiden Seite der einen Kirche – das betonierte Kirchenamt gegen den beschwipsten Kirchentag, die Surfer auf der Lobpreiswelle gegen die Kader der Politfunktionäre – einen endgültigen Gewinn verbuchen könnte, wäre die größte anzunehmende Katastrophe.
… Denn die Fliehkräfte sind zugleich ja die Lebendigkeit des Ganzen, und dass sie in Spannung, Reibung und Ringen miteinander bleiben, führt zum einzig wirklich wesentlichen Zug der Kirche, zu ihrem Lebensgrund: Dass sie nach der Liebe strebt!
Und weil es bei diesem Dritten, Größten immer bleiben wird – beim Herzen, das wichtiger ist als Hirn und als Hurra! – darum schließen wir mit einem Zeugen für die Liebe, dessen Wort durchaus zu dem seines rabbinischen Geistesbruders Paulus gehört … einem Wort des Rabbi Pinchas (Schapiro) von Kore(t)z in Galizien (1726-1790).
Überliefert hat es uns Martin Buber, dessen Todestag heute (13.06.1965) ist, … Martin Buber, der neben die strenge Orthodoxie des Judentums so bleibend die enthusiastisch-charismatische, ja geradezu korinthische Stimme der chassidischen Ekstatiker gestellt hat.
„Rabbi Pinchas pflegte zu sagen: »Ich fürchte stets, ich könnte mehr klug als fromm sein«. Und dann fügte er hinzu:
»Fromm sein ist mir lieber als klug sein; aber lieber als fromm und klug sein ist mir gut sein.«“[i]
Amen.
1.So.n.Trin., 06.06.2021, Stadtkirche, Jona 1 und 2 i.A., Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.n.Trin. 6.VI.2021
Jona 1 + 2 i.A.
Liebe Gemeinde!
Wenn man heißt wie ich, und wenn man das Drehbuch spätestens seit dem Kindergottesdienst kennt, … dann will man anders sein!
Dass man Gott nicht einfach davonlaufen kann, dass es nicht möglich ist, Ihn abzuschütteln, Ihn auszuklammern oder zu vergessen, das ist eine Gewissheit für die Jonas dieser Welt, die nicht ganz zufällig so heißen. … Seinerzeit habe ich es natürlich auch einmal versucht. Es war - Gott Lob! - nicht möglich.
Und seitdem versuche ich es – um eine altbekannte Geschichte nicht unnötig zu wiederholen – mit dem Gegenteil: Ihm stillzuhalten, Der Seinen Weg sowie-so mit mir und mit jedem Menschen geht … geradeaus oder auf riesigen Umwegen, rückwärts, im Looping, durch Sprünge, durch Stürze und Fälle, durch Heidenlärm und Katastrophen, durch Wunder und durch stete Tropfen.
Gott geht alle unsere Wege, weil kein Weg nicht Sein Weg sein wird.
Darum versuche ich, nicht auszureißen … auch wenn es einem Ungeduldigen, der immer schon zu ahnen und oft dann auch zu fürchten meint, was logisch folgt, schwerfällt. … Dennoch ein Leben im Versuch, nichts vorwegzunehmen und nichts zu vermeiden. Sondern die Stärke zu finden, die uns im Stillesein und Hoffen versprochen ist (vgl. Jes30,15). Ein Leben, das nach dem Wort eines der Lehrer der großen Schule der französischen Frömmigkeit das „Sakrament des Augenblicks“[i] in Ehrfurcht begeht: Nur gerade jetzt vollständig auf Gottes Führung zu vertrauen, nur gerade im Moment nichts anderes zu wollen, als Gott will. Nicht große Pläne schmieden, nicht die Zukunft bis in ihr letztes Derivat beleihen, nicht durch dreisten Sprung in die schillernde Seifenblase des Spekulativen das versäumen, was vor dem Dickebackenmachen und Aufpusten - und Zerplatzen! - ganz schlicht noch zu tun und abzuwarten bleibt. ……. So könnte Jonas die Geschichte Jonas abkürzend erledigen:
Dranbleiben, Mutfassen, Aushalten, statt nach Spanien zu fahren (denn tatsächlich schifft der Fluchtprophet sich ja in Richtung Tarsis ein … was mindestens in Richtung Balearen weist und vielleicht noch über Gibraltar hinaus). Oder gleich lieber Samuel sein: „Rede, HERR, denn dein Knecht hört“ (1.Sam.3,10) oder Jesaja: „Hier bin ich, HERR, sende mich!“ (Jes.6,8)
Auf jeden Fall aus Jonas Fall lernen, dass unsere eigensinnigen Ausweichmanöver und unsere illusionären Kreuzfahrten dem Lieferservice Gottes die Tour nicht vermasseln: Er bringt unsere Sendung, unsere Mission schon dahin, wo sie ankommen sollte, und ebenso zuverlässig dirigiert Er auch uns schließlich in die Richtung, wo unsre Bestimmung liegt. … Und wenn wir dabei die Welt kennenlernen oder die Unterwelt, … nun: Reisen bildet! ——
Die eigentliche Schwierigkeit ist allerdings ja gar nicht das Abenteuer, sondern das Ziel!
Denn am Ziel, in der furchterregend großen Stadt Ninive … da liegt die Überforderung, da wartet die Enttäuschung. Nicht dass dieser Moloch, dieses frühe Zivilisationszentrum logischerweise auch ein Sammelbecken des Lasters, der Brutalität, des Mangels und der Süchte ist, dessen betörendes Glitzern und erstickende Slums einem provinziellen Judäer die Sprache verschlagen können, führt allerdings zur furchtbaren Ernüchterung des Bußpredigers wider Willen. Das Sträuben und die Verbitterung, die Jona beim Gelingen seiner Mission zum Scheitern verurteilen, haben eine andere Wurzel. Ihm ist das Ziel zuwider, zu dem ihn Gott geführt hat: … Die Gnade. ——
Und weil das wohl kein paradoxer Einzelfall ist, fangen wir noch einmal von vorne an. Nicht mit einer Deutung der Jonageschichte, die unsere einzelnen zögerlichen oder zuversichtlichen Hin-und-Weg-Geschichten auf der Lebensreise zu Gottes Halt und Hafen betrachtet, sondern so als spiegele sich in Jona, dem Einzelnen die gemeinschaftliche Ausrichtung unserer Menschheitsmission.
So hat man in Israel das Seeleutegarn mit dem märchenhaften Unterwasserton schon früh verstanden: Nicht als etwas nach Art der Odyssee oder einer haarsträubenden Münchhausen-Anekdote, sondern als Allegorie der Sendung, der Sturheit, der Schiffbrüche, der Totenreichs- und Auferstehungserfahrungen ganz Israels. … Sie sollten als Seine Zeugen in eine Richtung ziehen, die Gott ihnen wies, und strebten so oft und so fatal in eine andere. Sie versanken in den Strudeln ihres Sträubens und hatten wahrhaftig den Abgrund vor Augen: So sehr, dass das Gebet aus dem Bauch des Ungeheuers bloß wie der 151.Psalm, wie ein zusätzliches Blatt aus dem Gebetbuch des auserwählten Volkes klingt – ein Gebet der selbstgewählten Entfernung von Gott und des gottgewählten Nichtversinkens. Auf solchen Umwegen ist Israel in seinem Zeugendient immer wieder – wie der symbolische Ausreißer und Wegtaucher Jona – dort gelandet, wo es zu seinem Stutzen, ja Entsetzen Heiden erreichte und erweichte.
… Die Erfolge aber, die Israel erzielte, die ethische und religiöse Ausstrahlungskraft, die es in der Antike schon erlangte und die durch die Gemeinde Jesu Christi die ganze Welt mit der Umkehrmöglichkeit der Taufe, mit dem Proselytenglauben, den wir Christentum nennen, durchdrang, haben das jüdische Volk indessen - wie den Propheten Jona - nicht froh werden lassen. Vor allem, weil die Heiden, die durch Israels Zeugnis in den Kulturraum der Zehn Gebote und des priesterlichen Schöpfungsglaubens, der mosaischen Freiheitsverheißung und der prophetischen Weltvollendungshoffnung auf der Grundlage der Tora eintraten, so unnachgiebig niederträchtig mit den lebendigen Boten Gottes in ihrer Mitte verfuhren. …
Aber Israel wurde des erfolgreich unter die Völker gebrachten Segens auch deshalb nicht froh, weil es wirklich so etwas wie eine Enttäuschung durch die Gnade gibt.
Die Großzügigkeit, die die Ersten wie die Letzten behandelt und Verspätung wie Pünktlichkeit belohnt, … die erhabene Güte, die nichts Kleinliches und also auch nichts Logisches kennt, weil vor ihrem Maßstab alles begrenzte Irdische schlicht die selbe Himmelweite der Liebe verdient, … diese unvergleichlichen Züge Gottes, Der gut macht, was böse gedacht und eigentlich nicht zu retten war, stören aber nicht nur das Gerechtigkeitsempfinden in Israel.
Dass Gottes Ernst nicht von jener Qualität ist, die wir so gerne „todernst“ nennen, und dass Gottes Willen nicht per Dekret exekutiert, sondern durch eine phantastische Unterwanderung auch dann als erfüllt angerechnet wird, wenn Er selber es ist, Der Wollen und Vollbringen in den Menschen (vgl.Phil2,13!) wirkt, das irritiert die natürliche Buchhaltung ständig: Gottes Lieblinge sind gar nicht die Besten und Seine Verächter müssen Seinem Ruhm genauso dienen wie Seine Schmeichler. …… wo kommt man da bloß hin, wenn alles so gegen jede Zwangsläufigkeit auch über’s Gegenteil und nicht bloß prinzipiell erreicht wird???
Ist es da nicht besser, sich dem Chaos Gottes, Der alles immer umkehrt und aus Schuld Vergebung, aus Tod Leben macht, zu entziehen und sich wie Jona nach Mallorca abzusetzen?
… Genau das tut die Menschheit, tun wir. Wir setzen uns ab und werden es auch weiter tun. Die sinnlosen Fluchten über jedes Wochenende und auch die erholsamen Tarsisreisen weg von Gott und Welt nach Spanien oder in die Südsee, die Tauchreisen in die Unschuld des unverdorbenen Landlebens im tiefen Frankreich oder in die herrlichen Gegenwelten der Festspiele, der Kulturhauptstädte und der schweigenden Mauern der guten alten schönen Tage von Aranjuez, die Über’n-Teich-Ausflüge zum Bummeln nach New York und die billigen Kolonien am algigen Meer, wo man Ninive direkt hinterm Strand übersieht … alle unsere Jonageschichten des Nicht-Wollens und Nicht-Hörens, alle Geschichten unseres Anders-Meinens-als-Gott, unseres kläglichen Eigensinns: Sie gehen endlos weiter!
Gott wollte Ninive - die große Welt - retten. Wir dagegen sind bereit für Ninives Untergang.
Denn das ist doch unsere Lebenshaltung tatsächlich, wenn wir sie einmal ohne Selbstbetrug ansehen: Ein Lebensstil der Todgeweihten. … Lass es krachen. Lass es scheitern. Lass sie veröden und verröcheln - die Erde und die Kreatur. Warum sollten wir es sein, die da Buße und Umkehr predigen? Warum sollten wir das Himmelfahrtskommando zur Rettung Ninives unternehmen, wenn wir doch in entgegengesetzter Richtung noch eine letzte Kreuzfahrt antreten könnten?
… Kreuz- oder Himmelfahrt: Flucht in den Abgrund oder Umkehr zur Gnade – das ist die Alternative, die uns winkt.
Wer sich – wie wir, die erkennen, was zur Umkehr diente und das Gegenteil versuchen – … wer sich gegen die Rettung Ninives, gegen die Umkehr der verkehrten Lebensrichtung entscheidet, entscheidet sich gegen die Gnade.
Das ist inzwischen meine klare Beobachtung. Seit ich denken kann, liegt über unserer Welt ausschließlich der Schatten der völligen Vernichtung, die allgemein als unabwendbar gepredigt wurde: Der Blick aus unserem Klassenzimmer in der Oberstufe – weil wir buchstäblich die höchste Etage des Gymnasiums erklommen hatten – ging über waldige Höhen, die von algebraischem oder grammatischem Kummer durchaus ablenken konnten. Aber getrübt wurde er von der unzweideutigen Erkenntnis: Alles das wird sterben, denn der saure Regen und das Zerreißen des Ozonschildes machen dem Leben den Garaus noch ehe der Kalte Krieg uns das Schullektüre-Schicksal der „letzten Kinder von Schewenborn“ beschert[ii]. So oder so: Ninive ist todgeweiht.
… Was also soll’s? … Die einen von uns wurden trübe Weltuntergangspropagandisten, die Mehrheit nutze die Gelegenheit der Endzeit, sorglos so zu handeln, dass jede mögliche und möglichst längst überflüssige Umweltsauereienselbstverständlichkeit auch zu ihrem Lebensstil wurde. Unser Verbrauch wuchs weiter, genauso wie unser „Was schert’s denn mich? Soll ich etwa nach Ninive gehen und mich lächerlich machen?“ …….
Weil wir Angst hatten, weil wir Angst haben vor der Gnade! Der Gnade, die den Umkehrenden bevorsteht.
Diese Durchbrechung aller garantierten Untergangsprophetie, diese Störung unserer Gewöhnung an das Privileg der letzten Generation von Sicheren hat die reiche Welt, für die es eben gerade noch gut gehen wird, zu regelrechten Umkehrleugnern gemacht: Zu teuer, zu unwahrscheinlich, zu sinnlos, dass die gewaltige und darum träge Strömung auf den Abgrund zu und dann der tiefe Sog des Endes sich wenden lassen sollten.
Doch Christus hat längst das abschließende – vielmehr das alles aufreißende – Wort über unsern Umkehrunglauben, über unsere Gnadenangst gesprochen: „Dies Geschlecht ist ein böses Geschlecht; es fordert ein Zeichen, aber es wird ihm kein Zeichen gegeben werden, als nur das Zeichen des Jona!“ (Lk.11,29 u.a.)
Und eben das Zeichen des Jona ist ja nun wahrhaftig in seiner herausfordernden Unberechenbarkeit drastisch und aufwühlend für alle Generationen gegeben:
Der tiefste Punkt ist nicht das Ende! – Gott fischt uns aus der trübsten Flut, aus Todestiefen noch, um uns zu Zeugen Seiner Gnade zu machen. —
Und darum führt auch ihre Flucht vor der Verantwortung die Menschen, die Gott retten will, nur mitten in sie hinein: Die Ankunft am östlichen Ziel seiner Reise westwärts ist neben der Rettung durch die Kreatur der Unterwelt die zweite spektakuläre Außerkraftsetzung alles Pessimismus durch die zeichenhafte Jonageschichte. —
Die dritte Kraft des Jonazeichens ist aber zeigt sich darin, dass der Bote der Gnade selbst nicht wird glauben können, dass wirklich wird, was ihm doch unmöglich schien: Buße in Ninive, … Besinnung, Einsicht und Besserung einer Zivilisation auf dem Kurs der hoffnungslosen Selbstzerstörung. Jona, der Gerettete kann nicht fassen, wie unfassbar Gott die unverbesserlichen, eingefleischten und verstockten Sünder retten kann. —
Genau so aber, und nicht anders ist Gottes Gnade, … das Zeichen des Jona: Sie rettet grundlos, sie wendet wirklich und sie gilt umfassend. ———
Diese Lehre trifft aber nun auch uns, die wir im Unterbewussten allzu ungerührt voraussetzen, dass sich am Lauf dieser Welt, an ihren stürmisch sich steigernden Krisen nichts mehr ändern lasse und wir folglich auch nichts unternehmen könnten.
Zur lebhaften Enttäuschung aller todsicheren Unheilsprognosen, zur Erschütterung aller zementierten Tat- und Traumlosigkeit der erst ignoranten und dann resignierten Mehrheit ist uns das Zeichen des Jona gegeben, das zeigt:
Nicht der Untergang, sondern die Gnade steht fest!
Alles kann und darf gehofft werden, weil allen und allem ja Umkehr möglich ist!
Nur an der Wahrheit, ja an der Gewissheit dieser unglaublichen Gnade, dass alles zu retten ist, sollen wir nicht zweifeln. —
Das ist das Sakrament des Augenblicks, der unserer Generation gegeben ist: Dass wir die Stunde, in der wir stehen und in die wir gesandt sind, nutzen, um anders als Jona zu wirken:
Mit der Rettung vor Augen, … bereit, alles Verhängnis sich in Veränderung wandeln zu sehen, … eine Veränderung, die die verblüffende Gnade des großzügigsten Gottes gegen allen Fatalismus der Welt ermöglicht.
„Die sich halten an das Nichtige, verlassen ihre Gnade …“, so hat es Jona am Tiefpunkt seines Weges erkannt.
Wir aber, das Geschlecht, das diesen Augenblick, diese politisch, wirtschaftlich, technisch und ökologisch weltwendenden Jahre erlebt, sollen umgekehrt, sollen aus der Umkehr leben: Das Nichtige verlassen und uns halten an die Gnade!
Amen.
[i] Jean-Pierre de Caussade spricht vom „Sakrament des gegenwärtigen Augenblicks“ in seiner berühmten Anleitung zur Überlassung an den Willen Gottes („L’Abandon à la providence divine“), die auf Deutsch am besten greifbar ist als: Jean-Pierre de Caussade, Hingabe an Gottes Vorsehung (Licht vom Licht - Eine Sammlung geistlicher Texte Neue Folge VII), hgg, v. X. von Hornstein und M.Roesle, Einsiedeln-Zürich-Köln, 1956.
[ii] Auch das war eine Form der Pädagogik der Angst, dass man Gudrun Pausewangs (Anti-)Atomkriegs-Kinderbuch (sic!) von 1983 – „Die letzten Kinder von Schewenborn oder ……. sieht so unsere Zukunft aus?“ mit einem Todernst lesen ließ, der das Fragezeichen des Titels programmatisch entkräftete.
Pfingsten - 23.05.2021, Stadtkirche, 1.Mose 11, 1 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Pfingsten - 23.V.2021
1.Mose 11, 1-9
Liebe Gemeinde!
Pfingsten ist kein Familienfest … so viel dürfte feststehen.
Ein Familienfest kann es aber auch gar nicht sein, weil es das Ende der naturgeschichtlichen Ära, das Ende der biologischen Erbteilung und der evolutionären Auffächerung bringt, für die wir die zoologischen und botanischen und ideologischen Begriffe der Reiche, Stämme, Klassen, Ordnungen, Familien und Gattungen kennen.
… Bis Pfingsten konnte man alles einsortieren in verschiedene Stammbäume und Schichten, in die Abfolge der beherrschenden und aussterbenden Spezies, in die krankhaft schematische Buchhaltung der Rassetheorien und der Kulturdarwinisten, deren Pyramiden von den primitiven Naturvölkern bis auf den Zenit der Zivilisation führen, wo der höchste Gipfel die erhobene eigene Nasenspitze ist, über die hinaus man in solcher Höhe gar nichts mehr erkennen kann: Dieses Modell eines sich nach oben verjüngenden Körpers ist typisch für unser westliches Weltgefühl, das immer auf Kampf um Führung, auf Auslese und Aufstieg drängt und von der Illusion einer uneinholbaren Überlegenheit derer „ganz oben“ angetrieben wird. Ironischerweise treffen sich allerdings die abgehobenen Perspektiven der selbstempfundenen „Top“-Leute mit dem Weltgefühl der dumpfsten Alt-Germanen in ihrer Beschränktheit: Man kennt und anerkennt nichts als sich selbst.
Eine solche Fixierung auf das Eigene, eine so ausschließliche Verteidigung der tatsächlich oder vermeintlich erreichten Höhe ist aber das radikale Gegenteil der Bewegungen Gottes.
Gott ist in sich und in aller Geschichte ein Ausschwärmen, … ein Ausschwärmen aus der Erhabenheit in die Tiefe, … aus dem, das alles übertrifft, in das, was nahe der Vernichtung ist, … aus der Einzigkeit in ein Gemeinsames:
Gott, der Vater … das ist die Geschichte des reinen Lichtes, das den Stoff erweckt.
Gott, der Sohn … das ist die Erniedrigung des Göttlichen, Der Sich in die Menschenwirklichkeit hinein entäußert.
Gott, der Heilige Geist, … das ist die Kraft aus der Höhe, die ausgegossen wird über alles Fleisch.
Immer hinab, immer hinunter, immer zu anderen, immer in die Fremde: Das ist der Weg Gottes in die Schöpfung, der Weg Gottes in der Liebe bis zum Tod, der Weg Gottes zur Einwohnung in Herz und Mund und Tat und Leben der Seinen.
Gottes Weg ist also pfingstliches Ausströmen von Anfang an.
Und darum findet sich am Beginn der Bibel schon ein Ereignis, das sich zunächst nicht einfach deuten lässt.
… Eine große Weite liegt da um die Menschheit ausgebreitet … die Ebene von Schin’ar. Was sich dort aber entfaltet, ist so etwas wie eine ur-amerikanische Saga: Die „vom Osten Aufgebrochenen“ – von daher, wo das Paradies, die verlorene alte Welt lag – sind westwärts gezogen und die unendliche Landschaft des nördlichen Irak lädt die Siedler – sämtlich Nachkommen der Besatzung der Arche – dazu ein, etwas Gigantisches zu unternehmen: Einen kolossalen Skyscraper in der Wüste zu errichten, einen Leuchtturm der erfolgreichen Gattung des homo sapiens, dem technisch unbegrenzte Möglichkeiten zueigen scheinen. …
Der große Trek nach Westen und der Traum von der übermenschlichen Freiheit zu allem scheinen indes zu scheitern. Der Wolkenkratzer von Shenzhen, dessen 300 Meter hohe Konstruktion letzte Woche in’s Schwanken geriet und für Panik in der Millionenstadt sorgte, erinnert uns daran, dass Höhe und Hybris, dass Wagnis und Wackeln noch immer eine gemeinsame Maßeinheit darstellen.
… Und doch ist wohl verkehrt, das, was im später so genannten „Babel“ geschah, allzu selbstverständlich als ein Strafgericht misszuverstehen: Der bloße Klötzchenturmzerstörer, der nicht ansehen will, wie die Kleinen Großes anpeilen, ist Gott ja gewiss nicht.
Keinesfalls um Höhenneid geht es also in der Höhe über Babels Turm.
Eher um eine Pädagogik der Zerstreuung, … eine Erziehung also dazu, sich nicht verbissen auf einen einzigen Standpunkt zu konzentrieren, sich nicht für alle Zeiten unveränderlich in dieser Welt einrichten zu wollen, sondern buchstäblich das Weite zu suchen, … die Weite zu suchen, die in unterschiedlichen, vielleicht entlegenen, gewiss auch gegenteiligen Blick-, Denk- und Lebensrichtungen auf den Menschen wartet.
In Babel, wo die frühlingsjunge Menschheit sich schon in einem riesigen tschernobylesken Betonsarg ein Monument dessen, was sie erreichen kann, errichten wollte, hat Gott sie gnädig und großzügig verflüssigt, so dass sie ausströmen konnte, … hat Gott ihre Wege und Wirklichkeiten, ihre Worte und Wendungen durch Seinen schöpferischen Erfindergeist vervielfältigt und im Prisma der unterschiedenen Sprachen, die in verschiedene Richtungen deuten, die Ansichten des Lebens unendlich vermehrt.
Dass in Babel der letzte Akt des Vorspiels der biblischen Urgeschichte vor der weiten Weltgeschichte nicht in Rache, sondern in Reichtum mündete, das haben sogar die meisten Kirchenväter schon so gesehen[i].
Denn die DNA des Christentums ist nun einmal die DNA von Babel. Der Geist, aus dem die Kirche gezeugt wird und Leben empfängt, ist der multilinguale Dichter und Dolmetscher, der mehrstimmige Souffleur und Sänger, dessen Inspiration in jedem Menschenwort, in jeder Menschenstimme erklingen kann.
Gott hat der Menschenwelt – als sie Höhe erstrebte – Weite eröffnet.
Er hat in Babel, als die erste Horde dazu reif war, ihren selbstgebauten Sprungturm genutzt, um Seine Menschen auf Seinen eigenen Weg der Kondeszendenz, des Hinabstrebens und Eintauchens in die Niedrigkeit zu senden.
Wahrhaftig von Babel an gilt - verborgen zunächst - der kategorische Imperativ Jesu Christi: „Gehet hin in alle Welt … und siehe ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende!“ (Mk.16,15 + Matth.28,20) ——
Diese Deutung, die in der Sprachvermehrung einen Auftrag Gottes zur Verbreitung, Vertiefung, Erweiterung der Reflektion und Kommunikation innerhalb der Menschheit erfasst, ist christlicherseits natürlich eine Erkenntnis von Pfingsten her. Allerdings vertritt schon die biblische Erzählung Israels eine unvergleichlich pfingstliche Perspektive: Anders als das Abendland, das bis in die (Pseudo-, … also „Lügen“-)Wissenschaft des 19.Jahrhunderts Gründe suchte, den vermeintlich messerscharf zu trennenden Rassen nicht nur qualitative Verschiedenheit, sondern essentielle Ungleichheit zuzuschreiben – so dass man nach dem Vorbild Carl Hagenbecks Menschen aus Afrika, aber auch das Volk der Sami aus Nord-skandinavien im Zoo ausstellte! –, hat das Alte Testament mit seinen Völkertafeln ebenso wie mit dem Bericht von Babel die ursprünglich wurzelhafte Einheit aller Kindeskinder der Ureltern betont. Dass irgendein Volk, eine Kultur, ein Phänotyp innerhalb der sprach-fähigen Hominiden nicht zu den Menschen zu zählen sei, verbietet die Bibel: Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal einer; sie alle sind Adam, … sie waren alle in Babel (vgl. Rö3,22; 5,18; 1.Kor.15,22; Offenb.7,9).
Gegen diese Weite des biblischen Universalhumanismus ist es unser Germanenerbe, die Welt eben aufzuteilen wie unsere Vorfahren hinter ihren Palisadenzäunen: „Unser Volk ist Midgard und was außerhalb liegt ist Utgard“[ii].
Mission der Menschen Jesu Christi aber ist es, wie in Babel geschehen, die Wacht- und Wohntürme, in denen man sich verschanzt, die Wälle und Zäune, durch die man sich schützt, die Grenzen, die man zwischen sich zieht und das Nicht-Verstehen-Können, auf dem man sich ausruht, nicht als endgültig, sondern als überwindbar zu betrachten: Wo man beim Turmbau gemeinsame Sache machen konnte, kann man es auch beim Brückenbau; wo man seinen Größenwahn verdenkmälern konnte, kann man umgekehrt auch die Weite seines Denkens vergrößern.
Das also ist die christliche Berufung: Babel nicht rückgängig, sondern fruchtbar zu machen, … nicht eine uniforme Menschheit wieder auf dem Bauplatz ihrer geballten Größe, sondern an den Schnittstellen ihrer zahllosen geteilten Erfahrungen zu versammeln und so eine Gemeinschaft derer zu werden, die alle Sprachen für einander übersetzen, ohne den Zwang, die Mutter- und Zeichensprachen, die Bildsprachen und die Sprachspiele der Welt dabei zu vereinheitlichen.
Es ist daher auch der Stolz der alten Kirche nach Pfingsten gewesen, dass in ihr in Erfüllung ging, was unser Choral ersehnt:
„O, dass ich tausend Zungen hätte / und einen tausendfachen Mund,
so stimmt ich damit um die Wette / vom allertiefsten Herzensgrund
ein Loblied nach dem andern an, / von dem, was Gott an mir getan“
(Johann Mentzer, 1704 - EG 330)!
Die geistgetriebene Botschaft von Christus hat nämlich buchstäblich Zungen gelöst und Zeichen geschaffen, durch die viele Völker und Kulturen in Wort und Schrift zu eigenem Ausdruck kamen!
Und weil diese Bewegung der pfingstlichen Mission älter und besser und verheißungsvoller ist als aller eurozentrische Kolonialismus, ist es keinesfalls akademisch, sondern echte Pfingstfeier, wenn wir uns erinnern, dass alle Liturgie und Theologie der Christenheit, der wir uns hier und jetzt verdanken, vielsprachig war. Fünf Sprachwelten[iii] haben im ersten halben Jahrtausend das geprägt, was wir als Grundlagen unserer Bekenntnisse und Gottesdienstfeiern und damit letztlich unseres christlichen Selbstverständnisses kennen: Die semitisch-syrische Urkirche, in der Jesu aramäische Muttersprache das biblische Erbe direkt fortführte; die griechische Geistsprache, in der der Glaube zur philosophischen Mündigkeit reifte; die Ordnungs- und Verwaltungssprache des westlichen Mittelmeeres und Nordafrikas, das Latein der knappen Klarheit von Untergrund- und Amtskirche; die koptischen und äthiopischen Dialekte des altchristlichen Ostafrika, in denen das Evangelium und seine Handschriften auf einem Nährboden wurzeln, der bis in älteste pharaonische Vorzeit zurückreicht; und schließlich noch die kleinen Sprachen des eurasischen Gebirges - das Armenische und Georgische -, die wenn nicht ihre ganze Gestalt, so doch allemal ihr Schriftalphabet dem frühen Dienst der Christianisierung verdanken.
So fremd- und mehrsprachig – syrisch-hellenistisch-römisch-amharisch-kaukasisch – ist das missionarische Pfingstwunder, das sich in allen unseren eigenen Äußerungen weiter entfaltet.
Es trieb und es treibt weiter die herrlichsten Blüten, … es pfingstete und pfingstet in der kirchenslawischen Sprachschöpfung ebenso wie in der kostbaren Bibelsprache Luthers, die bis heute ein Kraftwerk ist, aber genauso, wenn uns vertraute Choräle in der südafrikanischen Klicksprache Xhosa erklingen – vor zwei Jahren noch bei einem ökumenischen Besuch in unserem Gemeindehaus – oder wir hier in unserer Stadtkirche immer mehr auch zu Übersetzern werden dürfen, die den Weg der Frohen Botschaft zurück in eine Sprache aus der geographischen Nähe zu Babel – in’s Farsi – erleben. ——
Gott sprach und spricht hinein in alle Sprachen und durch sie alle hindurch.
Er hat sie werden lassen, um in ihnen allen die Wahrheit, die größer als jede einzelne mögliche Formulierung ist, zu verbreiten und um die Liebe mitzuteilen, die über jedes unserer Worte und auch alle davon zusammen hinausgeht, weil diese Liebe, dieser Jesus selber DAS Wort ist, das im Anfang war und Fleisch wurde, um von den Menschen geistig und sinnlich, im Sagen und im Sakrament aufgenommen zu werden.
Der von Babel ausgehende und in Jerusalem am fünfzigsten Tag nach Ostern zusammen-, aber nicht ineinanderfließende Strom der Sprachen und der Stimmen aller Völker ist aber deshalb kein blutleer-abstraktes, linguistisches Phänomen, weil unsere Gegenwart genau danach schreit.
In ihr scheint ja ein aufwallendes Medium alle Menschen zu umschließen und mit sich zu führen: Wir kennen diesen Ausfluss des menschlichen Geistes, in dem wir alle mitschwimmen, und nennen ihn sozial und erwarten von ihm – weil er überall hinreicht – weltweite Kommunikation.
… Wie pfingstlich das wohl wäre?!
… In Wirklichkeit aber hat der Fluss aller Daten nicht jene Verbreitung von Licht und jene Verbundenheit in der Wahrheit gebracht, die man erhoffen musste, sondern ein erbittertes Gegeneinander der einzelnen Tropfen des Ozeans, die sich zu lauter kleinen Wirbeln und dann zu Stürmen zusammenbrau-en, bei denen sich ein Tosen erhebt, das in die einzige Sprache übersetzt wird, die heute allgemeinverständlich scheint: Die Sprache des Hasses, in der alles durcheinander tönt.
Pfingsten aber ist das Gegenteil, und heute feiern wir es: Nicht das Fest einer einzigen Gegen-sprache gegen alle anderen, … keine weitere jener Wahrheiten, die nur für mich gelten und in Richtung aller anderer bloß Lüge sein wollen.
Pfingsten ist die wunderbare, endlose Bewegung Gottes zu, durch und in allen Menschen. Es ist die Bewegung, die der globalen Sprache der Verneinung die unglaublich vielen Sprachen der Liebe entgegenhält: Ein Fest also nicht der Familie oder anderer Gestalten von Gemeinschaft, die Blut brauchen. Sondern das Fest der Fremden, die jeder in der eigenen Sprache verstehen, dass Gott gegenwärtig und ewig die Liebe ist.
… Und dazu braucht es nichts, als was heute über die Welt kommt: Gottes Geist!
Amen.
[i] Eine (beinah erschöpfende) Übersicht über die patristische, mittelalterliche und neuzeitliche Interpretation der Turmbauüberlieferung bietet das fünfbändige opus magnum von Arno Borst: Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, (Originalausgabe 1957ff) Nachdruck: München 1995. Dass in der Epoche der Väter die „Sprachverwirrung“ tatsächlich überraschend überwiegend auch positiv gedeutet wird, liegt an der (triumphalistischen? universalistischen?) antiken Sicht auf die Kirche, in der die Oikumene – der ganze Erdkreis in seiner Pluriformität – sich spirituell und eschatologisch verbunden findet. Man sollte diese Freude an der menschheitlichen Weltkirche keinesfalls vorschnell als christlichen Hegemonieanspruch abtun. Was wäre denn eine Alternative? Nationalkirchen? Eine exklusiv den zufällig historisch irreversibel christianisierten Kulturräumen vorbehaltene Idee der universitas christiana? Eine alle Entwicklungen, alle Inklusion ab- und ausschließende Zementierung eines missionsgeschichtlich kontingenten status quo? Der universale Horizont der Bibel und die universale Mission des Evangeliums bieten für derlei Inkonsistenzen keinen Anhaltspunkt. „The happy few“ sind theologisch gesprochen immer zu wenig!
[ii] Borst, a.a.O. Bd. II/1: Ausbau – S. 441 (mit Zitat aus Wilhelm Grönbech, Kultur und Religion der Germanen). Die germanische Selbstreferentialität fasst Borst (ebd.), heutige Engigkeit entlarvend zusammen: „Das Universale gehörte zum Fremden, es stand nicht hoch im Kurs, selbst wenn man es kannte.“
[iii] Diese fünf Sprachwelten und ihre antiken handschriftlichen Corpora sind es, die in der philologischen Arbeit am Neuen Testament zusammengenommen die Grundlagen jeder Textkritik ergeben. Aus ihrem Vergleich speist sich der wissenschaftlich objektive Blick auf die primären schriftlichen Quellen des neutestamentlichen Zeugnisses.
Exaudi, 16.05.2021, "Jesus", Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Predigtthema: „Jesus von Nazareth und der kosmische Christus - eine Herausforderung für unseren tradierten Glauben"
Liebe Gemeinde,
am Donnerstag haben wir den Himmelfahrtstag gefeiert, sozusagen Jesus verabschiedet, Adieu gesagt. Und am nächsten Sonntag, an Pfingsten, heißen wir den Geist Gottes willkommen. Die Tage dazwischen, sie geben Raum zum Nachdenken - zum Nachdenken über unseren Glauben, über unsere Vorstellungen von Gott, von Jesus. Darüber etwas zu sagen, das ist nämlich gar nicht einfach, wenn es nicht naiv-banal daherkommen soll, sondern so, dass wir uns mit den Menschen unserer Zeit darüber ernsthaft austauschen können, mit Menschen anderer Religionen und aus anderen kulturellen Traditionen, und vor allen Dingen mit Menschen, deren Weltbild ein gänzlich anderes ist als das Weltbild der Bibel und auch das Weltbild aller christlichen Dogmen und die darum meistens den Eindruck haben: Glauben und Vernunft/Wissenschaft, die stehen diametral einander gegenüber, entweder ich glaube - oder ich gebrauche meinen Verstand.
Zum Nachdenken und selber denken möchte ich Sie anreizen. An vielen Punkten könnte man damit anfangen. Ich habe mich entschieden, medias in res zu gehen; und die Mitte unseres Glaubens als Christen ist unser Bekenntnis zu Jesus Christus.
Jesus Christus - dass das so selbstverständlich klingt wie ein Doppelname (wie Hans Peter oder Eva Marie), verweist schon auf das erste Problem. Denn Christus ist ein Titel - sofern er die griechische Übersetzung des hebräischen
Meschiach ist. Der Messias ~ der Gesalbte. Paulus schreibt darum in seinen Briefen sehr häufig von „Christus Jesus" ~ der Messias/Gesalbte Jesus, was erheblich sinnvoller ist. Die Evangelien erzählen, dass Jesus seine Jünger gefragt habe, für wen die Leute ihn so halten würden - für Elia oder einen anderen Propheten, so die Antwort (Mk.8,27ff); und für wen haltet ihr mich, fragt Jesus weiter und Petrus antwortet: du bist der Christus. Du bist der Messias. Eine Antwort, auf die Jesus recht gespalten reagiert. Schließlich verbanden die Juden damals - und verbinden es bis heute - mit dem Messias/Christus ganz bestimmte machtpolitische Erwartungen, nämlich die Aufrichtung eines endzeitlichen Reiches Israel verbunden mit der Befreiung von jeder Fremdherrschaft und einer gerechten Gesellschaftsordnung, beides zusammen den messianischen Schalom. Davon war, als die Evangelisten ihre Evangelien schrieben, natürlich nichts zu sehen, bis heute nicht, was jüdische Theologen sehr deutlich in den Dialog-Gesprächen über Jesus feststellen. Für einen Martin Buber, einen Pinchas Lapide oder Schalom Ben Chorin ist Jesus von Nazareth ein Prophet, ein Bruder, ein außerordentlicher, bedeutender Jude - aber nicht der endzeitliche Messias/Christus. Ein Menschsohn, aber kein metaphysisch gedachter, exklusiver Gottessohn. Da sind sich Juden und Muslime ganz einig. Als Jude gehört Jesus selbstverständlich zu Israel, und Israel als Kollektiv wird in der hebräischen Bibel Sohn Gottes genannt bzw. alle Juden Gottes Kinder. Gott wird im Bildwort zum Vater oder auch zur Mutter.
Es sind Menschen gewesen, jüdische Männer zuerst wie Saulus von Tarsus, meist in der griechischen Geisteswelt bewanderte und gebildete Männer schon gegen Ende des 1.Jahrhunderts großenteils Nichtjuden wie die frühen Kirchenväter, deren Gedanken und Überlegungen, wer dieser Jesus von Nazareth denn sei, oft gänzlich unjüdisch beantworteten, mit Anleihen aus anderen Religionen und Kulten, wie sie im römischen Reich damals anzutreffen waren. Und eine der populärsten Vorstellungen damals war die Vorstellung von Gottmenschen oder Halbgöttern. Sie hatten einen Gott als Vater und eine menschliche Mutter; sie hatten eine besondere Geburt und übernatürliche Fähigkeiten, die sie meist zum Wohl der Menschen, denen sie begegneten, einsetzten (z.B. Heilkräfte); man glaubte, sie seien von Gott gesandt, um bestimmte Aufgaben zu erfüllen; nach ihrer irdischen Lebenszeit würden sie im Himmel bei den Göttern aufgenommen. Gräber gab es darum für sie nicht. Einer der bekanntesten Göttersöhne war Herakles, der Sohn des Zeus.
In einer religiösen Vorstellungswelt dieser Art entwickelte sich das theologische Nachdenken über Jesus, wurden die Bekenntnisse der ersten Jahrhunderte formuliert. Und natürlich gab es die unterschiedlichsten Stimmen und Vorstellungen, gab es heftige Konflikte nicht nur auf der intellektuellen Ebene, sondern ganz reale Machkämpfe zwischen theologischen Schulen; man verdammte sich gegenseitig und gelegentlich prügelte man sich um die Wahrheit. Brisant wurde es aber erst so richtig, als Kaiser Konstantin das Christentum für sich entdeckte als neu aufstrebende Religion, die er für seine Zwecke gut brauchen und formen konnte. Unter seiner Aufsicht verabschiedete das Konzil von Nicäa 325 die Lehre, dass der Sohn Jesus Christus wesensgleich mit dem Vater sei, eine ausgesprochen umstrittene Entscheidung. Der Streit ging jedenfalls weiter und führte auf dem Konzil von Konstantinopel 381 zu einem Bekenntnis, das wir bis heute in unserem Gesangbuch stehen haben, das Nicaeno-Constantinopolitanum. Das „Ergebnis" kurz zusammengefasst heißt: Jesus Christus ist der eingeborene Sohn Gottes, aus dem Vater vor aller Zeit geboren. In den folgenden 300 Jahren wurden immer neue, für uns heutige Menschen kaum noch nachvollziehbare Überlegungen zu Jesus formuliert. Der Mensch Jesus trat immer mehr zurück, die Spekulationen über den göttlichen Christus wurden - mit Verlaub - immer abstruser. Die Formel „wahrer Mensch und wahrer Gott" ist genau das: eine Lehr-Formel, eher mit zwei e als mit h. Jesus von Nazareth würde staunen, was man über ihn so sagt und er würde sich kopfschüttelnd abwenden. Denn er war und blieb Jude und er glaubte an die Einzigkeit Gottes: „Höre, Israel, Adonaj ist unser Gott, Adonaj ist einer. Und du sollst Adonaj, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft." (Dtn.6,4f) Jesus wird dieses Bekenntnis jeden Tag seines Lebens gesprochen haben. Er ist ein Rabbi gewesen, ein Lehrer, Prediger und Heiler, den Menschen, gerade den Armen und Außenseitern zugewandt, ein Mensch nach dem Herzen Gottes, so wie es der Prophet Micha formuliert hat: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und was Adonaj von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig mitgehen mit deinem Gott." (6,8) Jesus - ein Mensch nach dem Herzen Gottes. Ein Mensch, dessen Menschlichkeit bis heute Menschen inspiriert hat, ihr eigenes Menschsein verantwortlich zu leben. Jesus von Nazareth - mein Bruder, mein Freund, unser Bruder, unser Freund. Liebe Gemeinde, die ganzen christologischen Lehrsätze/Dogmen/Bekenntnisse, die sind für meinen Glauben nicht mehr von Bedeutung. Ich kann sie stehen lassen als Zeugnisse einer vergangenen Zeit, über die die geistigen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen hinweggegangen sind. Ein buddhistisches Gleichnis mag da eine Verständnishilfe sein. Buddha hat es erzählt, um seine Jünger gerade auch in ihrer geistlichen Entwicklung „auf dem Weg" zu halten: Meine Lehre sei euch wie ein Floß, mit dem ihr einen Fluss überqueren könnt, der euch behindert, euren Weg weiterzugehen. Wenn ihr den Fluss überquert habt, dann lasst das Floß am Ufer liegen. Es macht keinen Sinn, es weiterzutragen, es ist sogar hinderlich, wenn sich vor eurem Weg ein Gebirge auftut.
Die alten christologischen Bekenntnisse, sie helfen uns heutigen nicht mehr, ja, sie sind sogar hinderlich angesichts des Gebirges, das sich vor uns erhebt, angesichts der drängenden Fragen und Probleme unserer Zeit: die drohende Klimakatastrophe, die ungelösten sozialen Verwerfungen nicht nur in unserer Gesellschaft, sondern weltweit, der wieder aufbrechende Nationalismus - Hand in Hand mit Rassismus, Antisemitismus und Hass auf alles Fremde. Und mitten drin die religiösen Gemeinschaften, die von fundamentalistischen Strömungen erschüttert werden. Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung - das muss ein globales Projekt aller werden, oder es ist ein zum Scheitern verurteilter Traum des Ökumenischen Rates der Kirchen.
Auch die Religionsgemeinschaften sind da gefordert. Solange aber jede nur sich selber im Besitz der Wahrheit sieht, sind sie eher Hindernisse als Beförderer auf dem Weg des Friedens und der Verständigung. Das gilt auch für das Christentum. Da braucht es tatsächlich einen Wandel, geradezu eine Umkehr und Bekehrung, was vielen als Verrat an ihrem Glauben vorkommt. Doch das ist nicht so. Denn schon die biblischen Schriften eröffnen unterschiedliche Sichtweisen, zeigen spirituelle Wege zu einem anderen Verständnis unseres Glaubens auf als den traditionell dogmatischen oder gar biblizistisch-fundamentalistischen Weg. Und genau da kommt der Christus ins Spiel.
In seinen Briefen spricht der Apostel Paulus von einem Christus, der ganz anders daherkommt, als der Messias/Christus; ein Christus, der zunächst auch gar keine Verbindung mehr zu Jesus von Nazareth hat, für den sich Paulus, wie er selbst schreibt, auch gar nicht weiter interessiert; leider. Ich bin mir ziemlich sicher, wenn Paulus sich mehr für den Menschen Jesus und für seine Botschaft vom Reich Gottes interessiert hätte, dann hätte das dem Werden der christlichen Religion deutlich besser getan, dann wäre sie viel mehr geerdet gewesen. Aber Paulus, ein gesetzesfrommer Jude und zugleich ein im griechischen Geist gebildeter Intellektueller, hatte eine andere Denkrichtung, eine mystisch-spirituelle, wenn er sich mit dem Christus beschäftigte. Der Christus war für ihn letztlich die einzige Realität und Wirklichkeit. Alles gelingende Leben, jeder Mensch, sofern er sich der göttlichen Liebe und Güte öffnete, hatte Anteil an Christus. „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir." (Gal.2,20) schreibt Paulus. Der Christus verkörpert die verbindende Lebens- und Geisteskraft Gottes und der Wirklichkeit. Er ist das Leben in jedem Geschöpf und im ganzen Kosmos. Auch bei Johannes finden sich solche Gedanken im Hohepriesterlichen Gebet: „Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein ... auf dass sie eins seien, wie wir eins sind." (Joh.17,21f)
In der Lesung haben wir vorhin einen Hymnus gehört, den Paulus wohl schon vorgefunden hat und in seinem Brief an die Gemeinde in Ephesus zitiert. Einen Text, der für mich zu den schönsten und weitherzigsten der griechischen Bibel überhaupt gehört, einen Text, der absolut dialogfähig ist gegenüber den Vorstellungen und Gedanken anderer Religionen. Er ist es wert, noch einmal zu Gehör gebracht zu werden: „Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater, von dem jedes Geschlecht im Himmel und auf Erden seinen Namen hat, dass er euch Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, gestärkt zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne. Und ihr seid in der Liebe eingewurzelt und gegründet, damit ihr mit allen Heiligen begreifen könnt, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist, auch die Liebe Christi erkennen könnt, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet, bis ihr die ganze Fülle Gottes erlangt habt." (Eph.3,14-19) Der kosmische Christus, die wirkmächtige universale Kraft Gottes, die in jedem aufstrahlen will.
Sie ist in Jesus von Nazareth aufgestrahlt in ganz besonderer Weise, für uns Christen im Christus Jesus. Doch wie jedes Geschlecht im Himmel wie auf Erden von dem einen Vater, dem einen Gott seinen Namen hat, so hat sich ihnen die wirkmächtige universale Kraft Gottes unter anderen Namen erschlossen - z.B. (in den Upanishaden) den Hindus als Brahman, dem universalen Bewusstsein und absoluten Einen, das identisch ist mit dem individuellen Selbst, dem Atman. Es galt da nur, zu begreifen, dass jedes Einzelwesen Teil des Absoluten ist, aus ihm seine Lebenskraft bezieht und das Absolute unsichtbar in sich trägt. Eine Vorstellung, die gänzlich auf ein anthropomorphes Gottes-Bild verzichtet.
Der mystisch-kosmische Christus mit seiner universalen Anschluss- und Dialogfähigkeit und der Jude Jesus von Nazareth mit seiner Menschlichkeit und Zugewandtheit, mit seinem Eintreten für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, mit seiner Liebe und Güte angesichts der Gebrochenheit des menschlichen Lebens - die sind für mich Wegweisung und Hilfe angesichts des Gebirges an Problemen, die sich vor mir, ja vor der Menschheit auftürmen. So ausgerüstet können wir hoffentlich begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe des Lebens ist, unsere Grenzen und Möglichkeiten erkennen, um auf dieser wunderbaren Erde mit allen Lebewesen gut zusammenzuleben.
Amen.
Exaudi, 16.05.2021, Stadtkirche, Johannes 7,37 - 39, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Exaudi - 16.V.2021
Johannes 7,37-39
Liebe Gemeinde!
Wenn ich jetzt – als trüge ich einen weißen Kittel – von einer lästigen Blockade rede, die gelöst werden muss, von einem schädlichen Verschluss, der durchlässig werden soll, dann wildere ich nicht auf dem Feld der Massage- oder Diätkundigen. Ich bleibe im nüchtern schwarzen Talar derer, die Leib und Seele zuerst und zuletzt nicht als Gegenstände unserer therapeutischen Methoden oder Trainingsprogramme sehen, sondern als Gottes Schöpfung und Gottes Sorge.
Und dennoch kommt es selten so zur Tuchfühlung mit dem körperlichen und emotionalen Befinden der Gemeinde Gottes wie heute, an diesem Sonntag des Entzugs.
Denn dass Ostern und Himmelfahrt – diese für uns Heutigen wegen ihrer körperlichen Aspekte vermeintlich so unglaublichen Ereignisse – auch eine psychosomatische Wirkung auf die Glaubenden in sich schließen, ist selbstverständlich. Mit der Auferstehung Jesu begann auch eine Heilung der von Trauer und Schuld vergifteten Jünger und Nachfolgerinnen. Die seit Karfreitag nicht mehr schlafen und nicht mehr essen konnten, die von Apathie und Panik Gequälten, deren Blutdruck und Herzfrequenz furchtbare Symptome einer kollektiven Krisis bezeugten, … diese in brütende, womöglich fiebrige Bedrückung oder nervöse Unruhe versetzten Glieder einer Gemeinschaft, die tatsächlich das Bild des ihnen allen gemeinsamen Leibes unmittelbar bestätigt haben müssen, werden auf das österliche Wunder ebenfalls physisch reagiert haben: Nach dem Schock der ersten Begegnungen und Berichte wird’s zum Nachlassen der Lähmung und Appetitlosigkeit gekommen sein, sie werden wieder ohne die Angst vor Albträumen und ohne Herzrasen und Luftnot vielleicht sogar durchgeschlafen haben, sie konnten wieder sehen und hören, sie konnten fühlen und angehen, was vor wenigen Tagen noch unwirklich erschienen war. … Aus bleichen, vernachlässigten, gebrochenen wirkenden Trauernden wurden wiederhegestellte, leib-seelisch belastbare Leute. … Vielleicht haben sich die Falten um Marias Mund und die Ringe unter den Augen des Johannes nie mehr ganz verloren und sind dem Petrus keine dunklen Strähnen mehr nachgewachsen, wo sein Bart weiß geworden und sein Haar ergraut war, aber es leuchtete doch wieder in den erloschenen Gesichtern, die vor innerer Erschöpfung eisigen Hände und Füße wurden wieder durchblutet, der Puls fand wieder in seinen beharrlichen Gang ohne Aussetzer zurück.
… Ostern hat sie genesen lassen, … diese ersten unverhofft vom Todeskeim befallenen Zellen am großen Leib des gekreuzigten und auferweckten Jesus Christus. Ihr Leben, ihre Gesundheit strömten ihnen buchstäblich aus der nahen, heilenden Begegnung mit der körperlichen Gegenwart des Auferstandenen zu: Es war wie eine Symbiose, wie der gemeinsame Haushalt von Lebewesen, die eine Nahrungsquelle, einen Stoffwechsel, einen Bewegungsapparat, einen einzigen Kreislauf miteinander teilen.
… Und dann die Himmelfahrt!
Unterbrochen diese direkte Wärmezufuhr zu ihren Herzen, wann immer sie ihn sahen. Vorbei die herrliche Erfahrung, dass alles schmeckte, wenn er es mit ihnen teilte und sie den Hunger erst merkten, wenn er schon das Brot brach, um es ihnen zu reichen. Vergangen der überwältigende Frieden, den der Atem seiner Lebendigkeit ihnen bis in’s Unterbewusste zuströmte. Durchschnitten die organische Verbindung mit dem ewigen Leben.
Es war sicherlich und ohne Lächerlichkeit wie Entzug.
Das Wichtigste floss nicht mehr: Die durch Ostern wieder verflüssigte Lebenskraft, die sie erfüllte, die Stärkung, die sie mit allen Sinnen genossen, das blut- und wundenstillende Schmerzmittel, das allen Verletzungen und aller Traumatisierung seine lindernde, abwehrmächtige Wirkung entgegensetzte. Plötzlich war alles versiegt.
……. Das ist wahnsinnig, so zu reden, oder? Es rückt die Wirkung des Glaubens doch in einen Zusammenhang, den wir seit Marx tunlichst vermeiden wollten und angesichts der nicht nur in den USA grassierenden Betäubungs- und Aufputschmittel-Krise wirklich nicht bestätigen dürfen: Religion als Opium, Glaube als Droge, Jesus als Ecstasy???
… Was aber wäre das Gegenteil?
Nicht mehr zu bekennen, wie gut Jesus tut?
Nicht mehr von der Heilkraft seiner Nähe zu sprechen?
Nicht mehr zu beten und zu erfahren, wie man mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben von ihm allein getröstet, erhalten und erquickt wird? …….
Auch wenn es uns schwerfallen muss, in einer Welt, die von lauter Ersatzerfahrungen, von lauter künstlichen Beflügelungen und chemischen Verheißungen, ja Wundern widerhallt, müssen doch auch wir Christen von der psychosomatischen, der zuweilen lapidaren, zuweilen rauschhaften, der manchmal ausbleibenden und der manchmal spontanen Kraft des Heils sprechen, das wir ihm an Geist und Gliedern verdanken.
Jesus ist tatsächlich die Quelle der Gesundheit und ein Sommerregen der Erleichterung in der Wüste der Not; Jesus ist die Tiefe, aus der alles Lebendige seinen jeweiligen Segen schöpft und das Meer, in das jedes Einzelnen und das All schließlich strömen. Ja, er ist das Lebens- und das Heilmittel, das alle Welt braucht.
… Und die Gefahr, dass man ihn mit Muntermachern oder synthetischen Energiespendern, mit Dämpfern oder hormonellen Zusatzspritzen verwechseln könnte, liegt wirklich nur in unserer zeitbedingten, entfremdeten Ahnungslosigkeit im Blick auf das, was wirklich nötig ist. Denn an keiner Stelle des Evangeliums wird Jesu Notwendigkeit mit dem künstlichen, märchenhaften Gebräu verglichen, das in den Phantasien der Menschheit überirdische Ergebnisse verspricht, … sei’s als Zaubertrank, sei’s als Anabolika. Stattdessen mit den wirklich unentbehrlichen Mitteln zum Leben: Brot, … Wasser!
Wenn aber den Jüngern durch die Himmelfahrt des Herrn nicht irgendein Vitaminpräparat oder eine halluzinogene Ablenkungspille entzogen wurde, sondern das tägliche Brot und das Wasser des Lebens, dann ahnt man, wie es um sie gestanden haben muss in diesen Tagen danach. Sie spürten das, was Millionen Menschen in unserer Gegenwart erleben und was noch viel mehr von uns bevorsteht: Die Lebensgrundlage verschwindet. Es ist absehbar, dass es zum Durchkommen nicht mehr reicht. Dürre, Ebbe, Ende. ——
Letzten Sonntag waren wir endlich wieder bei meinen Schwiegereltern, im Garten. Der Blick in zwei Wiesentäler vor den bis vor Kurzem noch bewaldeten Höhen des Bergischen Landes und das Rauschen des Baches im Grund unter dem strahlenden Frühlingshimmel … es war alles, wie immer. Als ich allerdings vom Bett meines Schwiegervaters zurück in den Garten kam, waren sie merkwürdig einsilbig. Es hatte am Hang gegenüber, dort wo früher der Waldrand war, an diesem heiteren Sonntag Rogate, der ursprünglich den Bittprozessionen durch die Flur diente, gewaltig gekracht: Eine uralte Buche im jungen Laub war ohne Ankündigung schlicht in sich zusammengebrochen. Weil es seit langem so trocken ist.
Auch das ist ein Entzug. Den Talsperren fehlt immer häufiger der Regen. Den alten Wasserläufen in der Landschaft und den unterirdischen Adern des Lebens gehen die Reserven aus. Wo einst an jedem Bach ein kleines Hammerwerk, eine Schleiferei, eine Papiermühle stand und Wasserkraft die Webstühle antrieb, wo in den Wäldern die westdeutsche Frühindustrie wuchs, da verrinnt die erste Ursache des Wohlstands: Nicht, weil der Fortschritt sie überflüssig gemacht hat - das sowieso -, sondern weil der Fortschritt dem Leben buchstäblich das Wasser abgräbt. ———
An diesem Entzugssonntag also, an dem die Jünger das Brot und das Wasser des Lebens verloren haben und unsere Welt sich im physischen wie im übertragenen, geistlichen Sinn vor den gleichen Mangel gestellt sieht, hören wir wie Jesus allen, die das Vertrocknen, die geistliche Dürre, das seelischen und leibliche Verschmachten fürchten müssen, das Ende der Blockade ankündigt: Die Ströme, die versiegt erscheinen, die lebensspendende Quelle, die verstopft ist, der gnädige Regen (vgl. Hes.34,26!), der wie in Elias Tagen erwartet wird, aber ausbleibt … sie alle verspricht Jesus ja!
Er hat die Verheißung der sprudelnden Hilfe gegen die Verödung der Welt und die Verlederung der Herzen, gegen die Abzehrung der Hoffnung und die Staubtrockenheit der Menschen in Jerusalem beim Laubhüttenfest angekündigt, … sicherlich nicht zufällig, da gerade bei diesem Fest das eindringliche Ritual des Wasserschöpfens gefeiert wurde[i], bei dem die Priester unter dem Gesang der Leviten und dem Jubel der Gemeinde das einfachste und klarste aller Opfer darbrachten: Frisch aus dem Teich Siloah geschöpftes Wasser wurde im Schein der Morgensonne an der Altar gegossen. Gott, der Quelle des Lebens wurde das gespendet, wovon das Leben lebt, … so dass der Tropfen zurück in den Ozean floss, … so dass der bis in die innersten Kammern der Erde geströmte Überfluss des Heils beim Ausgießen der Krüge zurücklief in die uferlose Ewigkeit von Gottes Gegenwart.
Was für ein schlichtes, sinnenfälliges, geradezu vollkommenes Symbol: Das Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind (vgl.Ps.46,5), das Brünnlein Gottes, das Wasser die Fülle hat (vgl.Ps.65.10), veranschaulicht in seiner Rückkehr zum Ursprung den Kreislauf dieser Welt: Das Entspringen aus der überbordenden Güte Gottes und das Münden in ihr. Es ist die ruhende Bewegung, es ist das Bleibende in der Verausgabung, das C.F.Meyer an den drei Schalen des „Römischen Brunnens“ beobachtet:
„Und jede nimmt und gibt zugleich, / und strömt und ruht.“
Und gegen alle die berechtigte, existentielle Angst, die seine Jünger einst und heute ergreift, … gegen die Angst, dass der Strom des Lebens spirituell wie ökologisch zu versiegen drohe und wir hoffnungslos auf dem Trockenen sitzen und schlicht verkümmern werden, setzt Jesus ein einziges schlichtes Wort: „Er fließt doch auch durch euch!“
Das war den Jüngern weder vor noch nach Ostern verständlich: Ihre Abhängigkeit von Jesus – eine Abhängigkeit so elementar wie die körperliche Angewiesenheit auf Nahrung und Flüssigkeit – machte es ihnen undenkbar, dass die Fähigkeit, Leben zu wecken und zu erhalten, … die Fähigkeit Trost zu spenden und zu teilen, … die Fähigkeit, Segen zu verströmen – anderswo als in Jesus allein zu suchen sein könne.
Es bedurfte einer weiteren Erfahrung, einer buchstäblichen Urerfahrung wie sie zuvor vielleicht nur die Schöpfung und die Auferstehung dargestellt hatten, um den Jüngern auf Entzug die unglaubliche Wirklichkeit zu eröffnen, von der Jesus beim Laubhüttenfest gesprochen hatte: „Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden, wie die Schrift sagt, Ströme lebendigen Wassers fließen!“
Sich selbst hatten sie doch immer als dürstendes Land, unfruchtbar wie die Steppe erfahren; schrundig, rissig, steinern. Doch das sollte nicht so bleiben! Ihr schrecklicher Durst nach ihm wurde in einer Weise gestillt, die sie nicht vorhergesehen hatten: Er selbst vergoss sich in sie hinein, in ihre angsthämmernden Köpfe, in ihre nach vierzig Tagen wieder welken, verschrumpelten, kleingläubigen Herzen, in die über Nacht saft- und kraftlos gewordenen Worte, Gebete und Lieder, die sie mit ihm verbanden, in ihre spröden Hände und Taten.
Tatsächlich: Die Kraft aus der Höhe, das Leben Jesu in der erquickenden Flut des Geistes brach in Sturzbächen in ihnen hervor und machte sie zu seinen Kanälen, die in alle Himmelsrichtungen flossen wie die vier Ströme des Paradieses. …
Das war Pfingsten!
Und es fließt bis zu uns, seit die Generation der ersten geisterfüllten Zeugen anfing, in alle Welt zu gehen und alle Völker zu Jüngern zu machen und sie zu taufen. Denn nichts anderes beweist und bewirkt die Taufe ja jedes Mal auf’s Neue: Dass allem Durst, unter dem wir leiden, aller Erschöpfung, die in dieser Welt droht, aller Panik vor dem, was kommt oder dem, was fehlt, ein Gegenmittel gegeben ist. Und diese unerschöpfliche Wirklichkeit des Geistes Gottes ist auch in unser eigenes Leben, in unser leibliches und geistliches Dasein ausgegossen! … Näher als Masseur und Motivationstrainer, näher als jede andere Bewegung oder Berührung uns je kommen könnten! ——
Gewiss ist das nun allerdings eine Stelle, an der wir beinah alle eine schwerwiegende Blockade haben:
Der Lebensgeist, der uns als Getaufte erfüllt, die überströmende schöpferische Erneuerungs- und Wachstumsgnade, die Gott so reichlich in unser Denken und Handeln einfließen lassen will: … Wir halten sie unterdrückt, … sie brechen allzu selten nur hervor.
Weil wir sie wasserdicht verstopfen hinter den Mauern von Skepsis und Sorge.
Weil unsere felsenfeste Gewöhnung an Hoffnungslosigkeit sie versickern machen will.
Weil es keine Ventile hinüber in das, was wir als die Realität empfinden, gibt und weil uns scheint, im sogenannten Alltag finde man keine Becken, die das Ausströmen der Kraft des Glaubens auffangen und keine Mühlen mehr, die durch diesen Strom sinnvoll angetrieben werden könnten.
Doch das sind Dämme, die bröckeln müssen und bröckeln werden.
Die Welt kann sich diese Blockade, die wir Getauften in uns selber zulassen, nicht mehr leisten!
Der Geist Gottes, der in unser eigenes konkretes Leben mit der Taufe gekommen ist, will und muss lebendig weiterfließen! Wir sollen und wir können ihn nicht aufhalten, wenn wir sehen, in welche verzweifelte innere und äußere Unfruchtbarkeit, in welche Austrocknungs- und Mangelkatastrophen die ganze Welt mehr und mehr gerät.
Nicht, als könnten wir alleine das alles ändern, aufhalten und umkehren.
Wohl aber so, dass wir den Durchbrüchen der neuen Wind- und Wasserkraft, die Pfingsten schenkt, nicht unsere blockierende Unbeweglichkeit, unsere staubige und stauende Starre entgegensetzen!
Denn die Schrift sagt es ja: Lebendiges Wasser wird auch von unserem Leib fließen, weil Gott Seinen Geist auf alles Fleisch ausgegossen hat!
Komm also, Schöpfer Geist: Fließe Du, dass wir das Schöpfen beginnen – und selber überfließen in der Wüste, die auf’s Leben wartet!
Amen.
[i] Vgl. dazu die ausführliche Beschreibung bei Shmuel Safrai, Die Wallfahrt im Zeitalter des Zweiten Tempels, Neukirchen-Vluyn 1981, S.243-248.
Kantate, 02.05.2021, Stadtkirche, Lukas 19,37-40, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Kantate - 2.V.2021
Lukas 19, 37 - 40
Liebe Gemeinde!
Kann man das wirklich: Von der schönsten Zeit des Jahres singen (EG 319), … über Lieder predigen, … über die Verbindung von Gesang und Glauben nachdenken in einer Zeit wie der unsrigen?
Ist das nicht ein Hohn?
Sollten wir nicht eher – so wie die schrecklichen vierzehn Monate es uns gelehrt haben – schweigen und denen danken, die noch singen dürfen, noch singen können, ansonsten aber lauschen in die Welt, der die wirkliche und nahe und klingende Menschenstimme unheimlich, ja ein Gegenstand der Angst geworden ist? – Wer allzu lustig atmet, beschwört für uns ja die Sterblichkeit herauf …….
…. Ob man dann nicht aber wirklich etwas hört, wenn wir alle schweigen? …
Ob man – wenn die Tränen in Israel getrocknet sind, wo man vorgestern in Windeseile die Toten vom Meron bestatten musste, ehe es Sabbat wurde und wo vielleicht gerade jetzt, am ersten Tag der Woche Beerdigungen nachgeholt werden, weil die Körper der Erdrückten nicht alle rechtzeitig identifiziert und freigegeben werden konnten – … ob man es also in Jerusalem hören könnte, wenn einmal kein Muezzin ruft, keine Kirche läutet, keine ultraorthodoxe Lernstube lebhaft durcheinander psalmodiert und auch die Totenklage verstummt: … Ob man die Steine schreien hören könnte? …
Ob sie nicht auch tonlos, aber zitternd schreien in ganz Indien zwischen den Scheiterhaufen der zahllosen Corona-Toten? Klagen nicht die Wände, trauern nicht die Türme von Delhi bis Hyderabad? Singt der Wind um die uralten Wüstenburgen und die Lehmhütten des Jemen nicht nur noch Leichenlieder? Weint nicht der Christus aus Stahlbeton hoch über Rio de Janeiro?
Und müssten nicht die Stacheldrahtzäune und die Hafenmauern heulen auf beiden Seiten des Mittelmeeres, wo so viele Menschen zugrunde gehen, weil sie ertrinken oder in Libyen in der Hölle der Lager oder in Griechenland in einer höllischen Lage festgehalten werden?
Müssten nicht überall auf Erden die behauenen und die rohen Steine, müssten nicht sogar Zement und Kunststoff trostlos zum Himmel schreien in einer Zeit, die genau weiß, dass ihre hartnäckige Bequemlichkeit allen heutigen Kindern Kriege um Trinkwasser, Atemluft und Seelenfrieden bescheren wird?
Ja, die Brocken und die Bauten, die Instrumente und Hinterlassenschaften der Menschheit müssten schreien …, wenn wir sie denn hören, wenn wir sie denn beachten würden.
Und wir hätten das Maul zu halten!
So ist es doch eher … an diesem Sonntag Kantate. Eher Verstummen oder Brüllen … Alles eher, als weiter die harmlosen Weisen trällern, die übrig bleiben werden, wenn das letzte klassische Kulturprogramm abgeschafft und der letzte störende Akkord jener Musik verweht ist, die man nicht mehr spielen soll, weil sie von weißen Männern geschrieben wurde.
Singstreik. … Liedfasten. … Harmonieverzicht. … Schweigesymphonie. ————
Doch er lässt uns nicht!
Die Pharisäer, die ehrlichen Herzens vorsichtig sind und keinen Lärm, keinen Tumult erregen wollen, … die Pharisäer machen: „Psssscccchhht! Keinen Anstoß erregen! Schön still sein! Weise doch diese naiven, … diese provokanten Jünger, die du da hast, zurecht, dass sie brav und leise und am besten nur privat das feiern, was sie zum Feiern zu haben glauben!“
Genau so hört man auch von ehrlichen Herzens Verantwortlichen in der Kirche unserer Tage:
„Haltet euch ruhig! Wenn man in den Nachtclubs keine Party machen darf, dann sollten auch wir nicht feiern! Pscht!“
Aber er lässt uns nicht!
Er, der Einzige, der weiß, was da gespielt wird.
Seine Jünger – von denen es nur an dieser einen Stelle ausdrücklich heißt, dass sie ein Chor waren, dass sie gemeinsam sangen – seine Jünger wissen nicht, was bevorsteht. Sie denken, es sei Ostern – Erhöhung, Triumph, Herrschaftsbeginn und Thronbesteigung im Zeichen der Unvergänglichkeit – … seine Jünger also singen im Irrtum, singen aus einem Missverständnis, aus Leichtgläubigkeit, … Übereifer, … singen aus Phantasiegründen.
… Doch dass sie singen und was sie singen, ist viel nötiger und wahrer, als sie es je selber hätten ahnen können.
Dazu gibt uns der Evangelist Lukas einen wunderbaren Wink, … dieser Lukas, für den als einzigen Nichtjuden unter den Evangelisten das betende Singen und gesungene Gebet in Israel etwas Besonderes, etwas so Beflügelndes gewesen sein muss, dass er sein Evangelium mit drei Gesängen, drei hymnischen Psalmen beginnen lässt, die bis heute die Musik des kirchlichen Tagesrhythmus bestimmen: Die Tagesouvertüre ist der Lobgesang des Zacharias - das Benedictus (Lk.1, 68-79) -, der Ausklang der langsamen und stürmischen Sätze eines jeden Tages findet sich im Magnifikat - dem Lobgesang Mariens (Lk.1,46-55) - und der ruhige Schlussakkord vor dem Eingang in die Stille des Schlafes ist das kurze Lied des sterbenszufriedenen Erlebens: Simeons „Herr, nun lässest du deinen Diener im Frieden fahren …“ (Lk.2, 29-32).
Lukas also, mit seiner staunenden, heidenchristlichen Theologie biblischer Musik gibt uns einen Wink, warum die singenden Jünger am Palmsonntag so richtig liegen mit ihrem falsch intonierten, unpassenden Lied. Sie greifen nämlich – ohne es zu wissen – den wirkungsvollsten Chor auf, den das Neue Testament kennt: Ihr Jubel ist der Spiegelkanon des Weihnachtsjubels am Himmel über den nächtlichen Hirtenfeldern von Bethlehem (vgl.Lk.2,14).
Sangen damals die himmlischen Heerscharen „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden!“, so singen in der morgendlichen Menschenmenge vor den Mauern Jerusalems die Jünger Jesu: „Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!“
Nach den beiden Begrüßungsfanfaren – „Euch ist heute der Heiland geboren!“ / „Gelobt sei, der da kommt, der König im Namen des Herrn!“ – … unterscheiden sich die kurzen Salut-Chöre, die sich so exakt entsprechen und doch nicht identisch sind, nur durch ein Wort:
Als Jesus zur Welt kam, sang der Himmel vom Frieden auf Erden.
Als Jesu letzte Woche auf Erden begann, sang es auf der Straße vom himmlischen Frieden.
Was dieser auffallende und doch rätselhafte Unterschied zu sagen hat?
– Dass wir völlig verkehrt liegen, wenn wir in unseren geistlichen Gesängen, in den Liedern und der Musik des Glaubens bloße Reflexe, bloße Echos der Weltlage suchen wollen.
Was von den prophetischen Worten und von der Weisheit, was von der Ethik und der Lebensdeutung der Bibel erwartet werden soll, ist Rede an die Gegenwart und Sprache für das Jetzt.
Aber im Jubel und im Lobgesang, in den anbetenden und visionären Variationen der Menschenzunge, die Gottes Ruhm und Gottes Barmherzigkeit in Dur und Moll, laut und leise an- und ausrufen, die improvisieren und meditieren, was Gott im Menschen zum Schwingen bringt, … in diesem Überfließen von menschlicher Seele und menschlicher Stimme in Gottes empfängliche Ohren, da kann und soll die Lage der Dinge, da soll und kann der Zwang der Gegenwart nicht diktieren, was wie und auf welche Weise geäußert wird. Im Hymnus und im Heulen, im Schweben und im Schrei funkt nicht bloß der Moment sein SOS und klatscht auch nicht nur die Fangemeinde des Tages ihren Applaus.
Es geht um mehr als die augenblickliche Realität und es geht freier zu, wenn es um das geht, was man im Sprechen nicht sagen und doch ohne Worte nicht ausdrücken kann.
In der Musik – von der man früher annahm, dass ihre physikalischen Gesetze das eigentliche Muster des Kosmos abbilden – … in der Musik geht es um mehr als das Einzelne, es geht um’s Ganze, weil alle Ebenen hier miteinander kommunizieren: Das Geistige und das Stoffliche, … Stimmung also und Stimme, … das Intellektuelle und das Intuitive, … der flüchtige Hauch und das mathematische Prinzip.
Deshalb singt das Lied von Bethlehem vom Frieden auf Erden … obwohl wenig später von den gleichen Fluren und Feldern als Schauplatz eines sadistischen Verbrechens die Rede sein wird: Wo Engel eben noch ihr Gloria und Pax sangen, erfüllt sich nach dem Kindermord des Herodes das Schriftwort: „In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen …“ (vgl. Matth2,18)!
Die Freude einer Kindsgeburt, die auf die Erde Frieden bringt und die Trostlosigkeit der Weltverbrechen des menschlichen Geschlechts: Logisch sind es einander ausschließende Gegensätze.
Im Klang des Lebens, in der Musik der Bibel aber bringt das eine das andere nicht automatisch zum Verstummen.
Ebensowenig wie es nur Missklang war, als die Jünger so ausgelassen vom Frieden im Himmel genau in jener Woche sangen, in der die Sonne sich verfinsterte, weil der geliebte Sohn des Höchsten am Kreuz den Todesstoß empfing.
Diese Reibung zwischen dem, was ist und dem, was klingt, spricht weder gegen das eine noch das andere: Nur dass es biblisch eben nicht darum geht, in Ton, Lied und Musik die Welt noch einmal abzubilden, sondern ebenso gut auch ihr Gegenteil, ihre Fortsetzung, ihre Offenheit, ihre Ober- und Untertöne, ihre Tiefe, ihre Hoffnung, ihre Harmonie, ihren Grundton vernehmlich zu machen.
Die Welt ist nach biblischem Glauben ja durch das gesprochene Wort entstanden; durch das gesungene wird sie darum in ihrem Potential, in ihren Möglichkeiten noch über das Vorhandene hinaus entfaltet!
Aus diesem Grund erschöpfen die großen Lieder des Glaubens, die Klänge der Seele und die Melodien der Kirche sich nicht: Weil sie auf keine Situation beschränkt sind. Weil sie den Überschuss freisetzen, der jeder Zeit voraus bleibt. Weil sie gewöhnlichen Menschen wie Dir und mir das Loblied der himmlischen Heerscharen auf die Lippen legen; weil sie im Alltag den Ton der Vollendung anschlagen dürfen; weil Leidende im Singen Erlöste werden; weil Zweifelnde in der Erhebung einer Melodie eine Weite erfassen können, die jedes andere Teilnehmen übersteigt.
„Ach so“, werden da natürlich die Aufgeklärten sagen. „Wenigstens gibt er es selber zu: Gesang ist also doch nur Flucht oder Autosuggestion. Es ist nur Hyperventilation zu starken Texten oder Betäubung durch einen manipulativen Rhythmus, der das Rationale überblendet und den Verstand zugunsten des Mitreißenden außer Kraft setzt.“
Doch da kommen wieder die schreienden Steine in’s Spiel:
Warum hat Jesus denn das Lied seiner Jünger, ihre gelöste, ekstatische Freude, die sich steigerte von den Sprechchören des Palmsonntags hinauf in die gesungene Weise, in die Freiheit und Schönheit, die alle Rede übertrifft … warum hat Jesus diesen Ausbruch einer tatsächlich nicht bloß rationalen, sondern emotionalen Mitteilung nicht etwa nur nachsichtig geduldet, sondern ultimativ gefordert, indem er festhielt, dass man entweder von den Seinen oder von den Steinen etwas würde hören müssen?
Warum gibt Jesus diesem Lied von Ehre und Frieden seinen ausdrücklichen Segen, obwohl er doch auf dem Weg in Schmach und Todesschmerzen war?
Weil – das stumme, starre, tote Bild der Steine beweist es doch! – … weil Jesus dem seligen Singen der Seinen den Vorzug vor aller zementierten Statik gibt!
Nicht die Wand, sondern der Wandel, … nicht das Feste, sondern das Festliche, … nicht das Bestehende, sondern das Entstehende, … nicht das Mauermassiv, sondern der Melodiebogen, … nicht der Lehm, sondern der Ton, …, nicht das Leid, sondern das Lied weisen Ihm den Weg, der da unter dem ahnungslosen Jubel seiner Jünger in die Passion reitet.
Lieber und angemessener ist es ihm also unter den Klängen einer Zukunftsmusik, die über den gegebenen Zeit-und-Raum-Rahmen hinausweist, als im sinnlosen Schweigen der Fakten seine Mission zu vollenden.
Die Jünger sangen am Palmsonntag faktisch das Verkehrte; aber weil sie es dem Richtigen sangen, war es wahrer als sie wussten.
Hätten sie ihre Stimmen bloß dem geliehen, was gerade als sicher gelten musste, hätten sie Tatsachen verewigt, die vergehen würden, … und wäre stumm geblieben, was gegen alle Wahrscheinlichkeit doch werden sollte. ——
Ob wir also in einer Zeit wie der unsrigen von der schönsten Zeit des Jahres singen, … über Lieder predigen, … über die Verbindung von Gesang und Glauben nachdenken können, das ist keine neue Frage.
Ihre Antwort aber steht auch nicht unter dem Vorbehalt, dass wir derzeit weder singen sollen, noch etwas zu singen wüssten.
… Wir können es nie wissen! … Und wir können unser Singen, unser Gotteslob, unseren Glaubensjubel, unsere Herzen, unsere Seelen, unsere Stimmen nie davon abhängig machen.
Denn auch wenn wir nie wissen können, was wir singen und beten sollen, steht all unser Beten und Singen bloß unter dem einen Vorbehalt (Rö.8,26): „Dass der Geist unserer Schwachheit aufhilft. Denn wir wissen nicht, was wir beten (und singen) sollen, wie sich’s gebührt; der Geist selbst aber vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.“
Wenn wir also singen und beten, dann mag es Karfreitag sein oder Palmsonntag. Die jeweilige Zeit wird uns nicht fesseln, und wir werden sie auch nicht aufheben.
… Im Lied aber und im Lob wird daraus doch Pfingsten!
– Komm, Heiliger Geist, und erneuere das Angesicht der Erde!
Amen.
25.04.2021, Jubilate, Apg.17,(16-21)22-34, Stadtkirche, Ulrike Heimann
Liebe Schwestern und Brüder,
der Predigttext für den heutigen Sonntag Jubilate ist für mich einer der interessantesten und bedenkenswertesten Abschnitte aus der griechischen Bibel, ein Text mit hoher Aktualität.
Wir hören jetzt die Verse 16 bis 34 aus dem 17.Kapitel der Apostelgeschichte.
„Während aber Paulus in Athen auf sie (sc. Silas und Timotheus) wartete, ergrimmte sein Geist in ihm, als er sah, dass die Stadt voller Götzenbilder war. Und er sprach zu den Juden und den Gottesfürchtigen in der Synagoge und auf dem Markt täglich zu denen, die gerade anwesend waren. Einige Philosophen aber, Epikureer und Stoiker, stritten sich mit ihm. Und einige von ihnen sprachen: „Was will dieser Schwätzer sagen?" Andere aber: „Es sieht so aus, als wolle er fremde Götter verkündigen." - denn er verkündete Jesus und die Auferstehung.
Sie nahmen ihn aber mit und führten ihn zum Areopag und sagten: „Können wir erfahren, was diese von dir verkündete neue Lehre ist? Denn du bringst einige befremdliche Dinge zu unseren Ohren. Wir wollen nun erfahren, wie es sich damit verhält." Alle Athener nämlich und auch die Fremden, die bei ihnen wohnten, hatten nichts anderes im Sinn, als etwas Neues zu bereden oder zu hören.
Paulus aber stellte sich mitten auf den Areopag hin und sagte: „Ihr Athener, ich sehe, dass ihr in jeder Beziehung sehr fromm, sehr religiös seid. Denn als ich umherging (durch die Stadt) und eure Heiligtümer betrachtete, da fand ich einen Altar, auf dem geschrieben stand: dem unbekannten Gott. Was ihr nun unwissend verehrt, das verkünde ich euch. Der Gott, der die Welt und alles darin gemacht hat, dieser Herr des Himmels und der Erde wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind und er lässt sich nicht von Menschenhänden bedienen wie einer, der etwas nötig hat, da er doch jedem Leben und Odem und alles gibt. Er machte aus einem einzigen das ganze Menschengeschlecht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen, und er hat festgesetzt, wie lange sie bestehen und in welchen Grenzen sie wohnen sollen, damit sie Gott suchen sollen, ob sie ihn wohl fühlen und finden könnten; und er ist ja auch wirklich nicht fern einem jeden von uns. Denn in ihm leben und bewegen und sind wir; wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben: Denn wir sind auch seines Geschlechts. Da wir nun von Gottes Geschlecht sind, dürfen wir nicht meinen, die Gottheit sei gleich den goldenen, silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht. Zwar hat Gott über die Zeit der Unwissenheit hinweggesehen; nun aber gebietet er den Menschen, dass sie in jeder Beziehung umkehren sollen. Denn er hat einen Tag festgesetzt, an dem er den Erdkreis richten will mit Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat, und hat jedermann den Glauben angeboten, indem er ihn von den Toten auferweckt hat."
Als sie von der Auferstehung der Toten hörten, fingen die einen an, spöttisch zu lachen, die anderen aber sprachen: „Wir wollen dich ein andermal darüber weiter hören."
So ging Paulus aus ihrer Mitte. Einige Männer aber schlossen sich ihm an und wurden gläubig; unter ihnen war auch Dionysios, einer aus dem Rat, und eine Frau mit Namen Damaris und andere mit ihnen."
Lukas berichtet uns von einem Aufenthalt des Apostels Paulus in Athen. Ob er sich so abgespielt hat, ist höchst zweifelhaft, aber das spielt letztlich nicht die entscheidende Rolle. Denn Lukas geht es bei dieser Schilderung darum zu zeigen, dass der christliche Glaube keine primitive Sache ist, die allenfalls für Sklaven und arme Leute interessant ist, sondern dass er einer Begegnung mit dem Geist und den Erkenntnissen der damaligen Zeit gewachsen ist. Und auch wenn zu seiner Zeit die politische Machtzentrale Rom war - das Zentrum des klassischen, antiken Geistes war immer noch Athen.
Athen - die Stadt des Sokrates und Platons, des Aristoteles und des Pythagoras und vieler anderer weltbekannter Philosophen und Naturwissenschaftler. Und anders als heute, wo man um der touristischen Attraktionen willen nach Athen reist, fuhr man damals dorthin, um sich geistig auseinanderzusetzen.
Sehen wir uns einmal genauer an, wie diese Auseinandersetzung für Paulus aussieht.
Erster Schritt: Er kommt an, sieht sich um und - ärgert sich. „Sein Geist ergrimmte in ihm, als er sah, dass die Stadt voller Götzenbilder war."
Doch er ist so klug, diesen Ärger nicht zu zeigen, sondern ihn positiv als Energieträger für seine Sache zu nutzen. Er schimpft nicht herum, sondern geht konstruktiv auf die Leute zu. Sowohl zu seinen Glaubensgenossen, zu den Juden und Gottesfürchtigen in die Synagoge, als auch zu den Menschen auf dem Markt. Das erstere mag für ihn eher ein „Heimspiel" gewesen sein, das zweite war eine Herausforderung der besonderen Art und ungleich schwerer. Ob er mit der Verkündigung des Evangeliums in der Synagoge Erfolg gehabt hat, davon erzählt Lukas nichts; denn sein ganzes Interesse gilt dem Auftritt des Paulus draußen auf dem Markt. Wie ergeht es ihm mit seiner Botschaft im rauhen Wind der Öffentlichkeit? Wie verkauft er sich auf dem freien Markt der Anschauungen?
Seine Gesprächspartner sind jedenfalls nicht zu unterschätzen Lukas nennt zwei philosophische Gruppierungen: die Epikureer und die Stoiker. Ich will hier stark verkürzt umreißen, für welche Inhalte und Gedanken diese beiden Richtungen stehen.
Die Epikureer sind diejenigen, denen Glück und Genuss über alles geht: „Es kommt darauf an, das Leben zu genießen", so könnte ihr Glaubenssatz lauten.
Die Stoiker zeichnen sich durch Gelassenheit, die sprichwörtliche „stoische Ruhe" aus: „Lass dich durch nichts erschüttern; nichts ist es wert, dass du darüber aus dem Gleichmaß deiner Gefühle und Empfindungen fällst. Denn nichts geschieht zufällig, alles ist notwendig so, wie es ist", das wäre etwa ihr Bekenntnis.
Ganz offensichtlich ist es Paulus jedenfalls gelungen, die Gelehrten von Athen in eine Auseinandersetzung mit seiner Botschaft hineinzuziehen, was ja die positive Bedeutung von Streiten ist. Katastrophal wäre es gewesen, wenn man ihn einfach links liegen gelassen hätte. Zwischen Ablehnung und Interesse pendelt die Meinung, aber kalt lässt das, was Paulus zu sagen hat, keinen und so lädt man ihn ein, auf dem Areopag seine „neue Lehre" zu präsentieren, ein geistesgeschichtlich bedeutsamer Ort, an dem schon Sokrates in den Ring gestiegen war, um seine Ansichten zu vertreten. Eine große Chance für Paulus. Hinsichtlich der öffentlichen Bedeutung war das etwa so, als würde er von Anne Will zum Einzelgespräch eingeladen.
So steht Paulus nun auf dem Areopag und hält eine in vielerlei Hinsicht bedenkenswerte Rede.
Das erste, was auffällt: er legt nicht einfach mit einem Bekenntnis zu Jesus los, sondern er sucht eine positive Anknüpfung an die Glaubens- und Lebenswelt seiner Zuhörerschaft. Er würdigt ihre Bemühung um Sinnfindung: „Ihr Athener, ich sehe, dass ihr in jeder Beziehung sehr fromm, sehr religiös seid." Kein Wort von seiner Missbilligung des Götzenkultes, keine abfällige Bemerkung über die allgegenwärtigen Götterbilder, sondern der Hinweis auf den „Altar des unbekannten Gottes" und die Erläuterung: diesen Gott, den ihr ja schon verehrt, den möchte ich euch bekannt machen.
Und dann entfaltet er eine Schöpfungstheologie, der sicher die allermeisten seiner Zuhörer damals wie heute sehr gut folgen konnten und können. Ja, Paulus zeigt auf, wie groß die Gemeinsamkeiten im Denken über die Beziehung von Gott und Welt, von Gott und Mensch sind. Dieses Gemeinsame gipfelt in den beiden Sätzen, die in der Lutherbibel sogar fettgedruckt sind als besonders wichtige Aussagen des christlichen Glaubens - nur dass sie nicht genuin christlicher Herkunft sind, sondern vom stoischen Philosophen Seneca stammen: „Er ist ja auch wirklich nicht fern einem jeden von uns. Denn in ihm leben und bewegen und sind wir - wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechtes."
Das ist die gemeinsame Basis in der Begegnung unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Ansichten und zwar damals wie heute. Es geht bei allem um das Wohl und Heil des Menschen, der als solcher geadelt ist durch eine unvergleichliche Beziehung zu Gott. Von daher verbietet sich jede Herabwürdigung des anderen aufgrund seiner Religion, seiner weltanschaulichen Überzeugung.
Es ist spannend zu verfolgen, wie Paulus nun zu seiner eigentlichen Botschaft kommt, wie er das entschiedene Ja Gottes zu uns im Evangelium präsentiert und gleichzeitig deutlich macht, dass es kein beliebiges Ja ist, dass es unsere Entscheidung herausruft.
Dass Gott nichts zu tun hat mit den Götterbildern, damit wird er bei den aufgeklärten Geistern in Athen nur Zustimmung gefunden haben; die Statuen waren auch für sie allenfalls Platzhalter für das göttliche Wesen, dem sie ihre Verehrung zeigten.
Doch der nächste Gedanke wird für sie schon schwerer nachzuvollziehen gewesen sein: die Rede von der Umkehr. War das Leben nicht eine fortlaufende Weiterentwicklung, entfaltete sich der menschliche Geist und alle Erkenntnisse nicht immer weiter? Wieso dann Umkehr?
Und dann die Vorstellung von einem Gericht, sich verantworten müssen für das, was man getan hat, für das, was man durch seine Gedanken und Überzeugungen im Guten wie im Bösen angerichtet hat! Lief nicht alles, was war und ist und was sein wird, nach einem großen Plan, der in die Welt eingeschrieben ist? Und ist nicht alles so besehen auf jeden Fall richtig, was geschieht? So werden die Stoiker gedacht haben.
Und wer soll da als Richter auftreten - ein Mann, der von den Toten auferweckt wurde? Einfach lächerlich, diese Idee. Mit dem Tod ist alles aus, der Mensch löst sich unwiderruflich auf in seine Atome, sowohl was seinen Leib als auch was seine Seele angeht. Das war die Überzeugung der Epikureer.
Es ist nicht nur einfach die Botschaft von der Auferstehung der Toten, die den Widerstand der Zuhörer hervorruft, sondern verbunden mit dieser Botschaft die Frage nach der Verantwortlichkeit des Menschen für sein Tun und Lassen, für sein Denken und Planen.
Die Reaktion der Zuhörer: die einen machen sich lustig, die anderen wollen ein anderes Mal mehr von Paulus hören. Er hat in ihnen etwas angestoßen, doch darüber müssen sie sich nun selbst klar werden.
Unter dem Strich, so konstatiert Lukas, sind es einige wenige Personen gewesen, die Paulus letztlich für das Evangelium gewonnen hat - keine Massenbekehrung, noch nicht einmal eine Gemeindegründung wie in Korinth, Philippi oder Ephesus. Und doch - das Evangelium findet seinen Weg in die Herzen auch von Gebildeten und in ihrer Gesellschaft ein-flussreichen Menschen wie dem Ratsherrn Dionysius und der Damaris und kann durch sie weiterwirken. Deshalb hat sich die Reise/Mission des Paulus gelohnt - auch wenn Athen ein hartes Pflaster gewesen ist.
Was, liebe Gemeinde, können wir nun mitnehmen aus diesem Text an Ermutigung für uns und unsere Auseinandersetzung mit allen Geistesströmungen und religiösen Anschauungen, denen wir, wenn wir nur wie Paulus hineingehen in „unser" Athen, auf Schritt und Tritt begegnen?
1. Dass wir hinsehen und hinhören, was die anderen denken und empfinden, dass wir uns informieren und für sie interessieren. Ohne das ist keine fruchtbare Auseinandersetzung möglich.
2. Dass wir eine offene Auseinandersetzung akzeptieren ohne Standortvorteil, dass wir bejahen, uns mit unserem Glauben auf den Straßen und Plätzen, eben auf dem Markt behaupten zu müssen.
3. Dass wir den anderen nicht mit Ärger oder von oben herab begegnen, sondern dass wir positive Ansätze suchen für unser Gespräch, die Ernsthaftigkeit ihrer Fragen und ihrer Suche nach Wahrheit und Leben anerkennen und würdigen.
4. Dass wir das uns Gemeinsame und Verbindende als erstes sehen. Vor allen Dingen dürfen wir keinem die Nähe Gottes absprechen. In jedem Menschen den Sohn/die Tochter Gottes zu sehen, das ist in der Tat „christlich", dem Beispiel Jesu angemessen. Nicht die Exklusivität, sondern die Inklusivität, die zusammenführende Kraft ist das Zeichen des christlichen Glaubens. Vieles auch in anderen Anschauungen und Religionen ist wahr und gut und richtig, das können wir ohne Angst
vor Profilverlust anerkennen.
5. Und last, but not least: wir dürfen keine Scheu haben, auch die Punkte unseres Glaubens anzusprechen, die für unsere Gesprächspartner schwer verdaulich sind - wobei es natürlich auch da wichtig ist, wie das geschieht. Die Art, wie etwas angesprochen wird, darf die Sache nicht zusätzlich erschweren. Zu diesen unaufgebbaren Glaubensinhalten gehört die Anerkenntnis unserer Verantwortlichkeit für unser Denken, Tun und Lassen in dieser Welt und vor Gottes Angesicht, die Frage nach ethischen Werten und nach Grenzen, die uns gesetzt sind. In der Nachfolge Jesu sind wir aufgefordert, zu allererst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit zu trachten, wie es in der Bergpredigt heißt, und die ist ausgerichtet auf Gemeinschaftsgerechtigkeit, Solidarität und Barmherzigkeit im Umgang miteinander. Und dazu gehört das Bekenntnis unserer Hoffnung auf todüberwindendes Leben, das für uns verbunden ist mit dem Bekenntnis zu dem gekreuzigten Jesus von Nazareth, der durch Gottes Macht der Erstling der neuen Schöpfung geworden ist.
Wagen wir uns also frisch, fromm, fröhlich und getrost hinaus auf den Markt der Weltanschauungen und Religionen und bieten wir den Menschen an, was Gott durch uns anbieten möchte.
Amen.
Tag des Evangelisten Markus, 25.04.2021, Mutterhauskirche, Jesaja 52, 7 -10, Jonas Marquardt
Predigt Mutterhauskirche (Jubilate) Tag des Evangelisten Markus[i] - 24.IV.2021
Jesaja 52, 7-10
Liebe Gemeinde!
Der Trostprophet Jesaja hat in der Bibel als Erster den Begriff des Evangeliums geprägt: Als Zeuge einer Zeit, in der Juda seine eigene Geschichte als unabhängiges, zeitweise glänzendes kleines Reich zwischen der Wüste und dem Meer hinter sich hatte und in den breiten Strom der Weltgeschichte gerissen worden war, fiel es diesem Propheten zu, den Blick der entwurzelten Kinder Israel vom früher Vertrauten zu lösen und zum Vertrauen auf Kommendes zu lenken. Dafür aber gebrauchte er zu wiederholten Malen einen Wortstamm für das verheißungsvoll Neue, der in der griechischen Übersetzung mit „Evangelium, evangelisieren, Evangelisten“ wiedergegeben wird (vgl. Jes40,9; 52,7; 60,6; 61,1) – im babylonischen Exil!
Wenn wir also fragen, was „Evangelium“ sein sollte, dann lernen wir an diesem Ursprung: Evangelium ist Zukunftsmusik in der Krise, Aufbruchshoffnung für die Gelähmten, Lebensermutigung gegen die Resignation. Und Jesaja ist der Erste, der das buchstabiert hat.
Doch das erste Buch dieses Namens und dieses Inhalts hat ein anderer geschrieben. … Ohne Vorbilder – außer der Erfahrung des Jesaja, dass die, die sich von Gott verlassen sehen, unendlich auf eine gute Nachricht warten. Ohne Vorbilder hat der erste Evangelist geschrieben: Ein Werk, für das es noch keine Gattung gab, für das es keine Vorlage gab, keine Form, weil es nur von seinem Inhalt getragen sein würde … und dieser Inhalt wiederum sprengt jede vorgegebene Form: Dass in einer menschlichen Lebensgeschichte ein solches Wunder stecken sollte wie das Reich Gottes selbst, dass in einer menschlichen Todesgeschichte ein solches Wunder stecken sollte wie der Sieg über den Tod, ... dafür gab es keine logischen, wiedererkennbaren Stilmittel. Wer das beschreiben wollte, dass der große Gott in einem kleinen Menschen begegnen und ein Leben nach dem Tod sich durch eine Hinrichtung als wahr erweisen würde, … wer das beschreiben wollte, der musste Unendliches – buchstäblich: Ewiges! – wagen, ohne andere Methoden als die Allergewöhnlichsten zu haben: Eine Biographie, einen Lebensbericht konnte er verfassen, wie die antiken Autoren das so häufig für die großen Männer ihres Zeitalters versuchten, … doch in einer so missverständlichen Gattung war nun nicht von einem Helden zu berichten, sondern von einem Geheimnis, nicht große Taten galt es zu schildern, sondern arme Leiden, nicht das ferne Vorbild war zu zeigen, sondern die nackte Gegenwart Gottes. …….
Wer sollte so etwas wagen – ohne theologische Kniffe, ohne poetische Freiheit, ohne mythologischen Schwulst – … wer sollte in historischer Prosa, in der Sprache weltlichen Alltags das Portrait Gottes fassen?
Furcht und Zittern musste den ankommen, der diese verrückte Aufgabe, unendliche Freude in der traurigen Endlichkeit, „Evangelium“ also als Zeitgeschichte aufzudecken, vor sich sah.
Die Kirche hat darum gut gewählt, wenn sie dem ersten der Evangelisten, wenn sie Markus als sein Symbol aus den himmlischen Kreaturen, die seit der Berufungsvision des Propheten Hesekiel (1,10) die direktesten Zeugen Gottes verkörpern, den Löwen zuteilte. Weil Markus genau das erfuhr, was der Löwe auslöst: Ehrfürchtigen Schock. Überwältigende Atemlosigkeit vor einem majestätischen Wunder, das uns zwischen Andacht und Panik in der Waage hält und in erstarrtes Rasen, stummes Schreien, allerlebendigsten Herzstillstand versetzt.
So hat Markus Jesus gesehen: Staunend, bis zur Selbstvergessenheit.
Darum hat er aber auch kein abgerundetes, ausgefeiltes, durchkomponiertes Werk aus dem verwunderten Blick auf diesen königlichen Sklaven, diesen besiegten Befreier, diesen gescheiterten Messias, diesen unauflösbar rätselhaften Offenbarer Jesus Christus machen können, sondern ein Werk ohne Anfang und ohne Schlusspunkt geschrieben, ein Werk, das unvermittelt anfängt und unvermittelt abbricht. Statt Weihnachtsgeschichte nur: „Und es begab sich zu der Zeit, dass Jeus aus Nazareth in Galiläa kam“ (1,9) …, statt Osterbericht bloß: „Und sie sagten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich“ (16,8)[ii].
Und zwischen diesen losen Enden, die der Pionier des Evangeliums nicht kunstvoll zu gestalten, ja nicht einmal sinnvoll zu verbinden wusste ……. zwischen diesen Bruchstücken einer von Menschen nicht zu bändigenden, nicht zu ordnenden, nicht zu beherrschenden Unmittelbarkeit steht bei Markus einfach nur Jesus da.
Nicht also, was Markus geschrieben hat, sondern was Jesus ist, ist „das Evangelium“.
Darum durchzieht den ersten Bericht von der allesentscheidenden Frohen Botschaft auch ein so sonderbares Motiv: Ein Schweigegebot (vgl.1,44; 3,12; 5,43; 7,36;8,26+30!; 9,9; 11,33!), das Jesus gleichzeitig mit seinen wunderbaren Heilungen und Rettungen den Erlösten und ihren Zeugen einschärft, und eine Spur immer getrübterer Missverständnisse, Aggressionen und Blockaden gerade auch bei denen, die Jesus nahestehen (3,21; 4,12; 4,40; 6,5; 7,18; 8,17f; 9,19+32; 10,14+32; 11,18; 12,34).
Diese unentwirrbare Schwierigkeit, Jesus zu erkennen – die in der Forschung „das Messiasgeheimnis“ des Markus genannt wird – verdeutlicht auf ihre Weise, dass hier etwas beschrieben wird, das sich vom Schreiber nicht erklären lässt, … dass etwas berichtet wird, das auch der Berichterstatter nicht deuten kann. Es wirkt also unabhängig von dem, der es wiederzugeben versucht.
Dem Markus ist demnach offenkundig während er es noch verfasst bewusst, dass er das Evangelium nicht selber hervorbringen kann. Wenn das, was er aufzeichnet, trotz der Furcht vor dem Wunder, trotz des Zitterns vor der Wahrheit, die es durchziehen, dennoch spricht, dann weil es sich selber auslegt: Weil Jesus das Evangelium ist! ———
Dieser zögernde, selbst zweifelnde und selbstzweifelnde Dienst, den Markus damit verrichtet, fügt sich in das schemenhafte Bild, das wir gewinnen, wenn wir das ganze Neue Testament nach diesem ersten, unbeholfenen, unsicheren Freudenboten durchsuchen[iii].
Da wird uns von einem jungen Mann aus Jerusalem berichtet – Johannes, mit dem lateinischen Beinamen „Markus“ –, dessen Mutter Maria ein Haus besaß, in dem die anfängliche christliche Gemeinde einen Zufluchtsort, ja wohl sogar eine der allerersten Hauskirchen einrichten durfte: Es ist die Tür, an die der Apostel Petrus klopfte, als er wunderbar aus dem Kerker des Herodes befreit worden war (vgl.Apg.12,12).
Das aber war eine Schicksalsnacht der ganzen Urgemeinde, denn dass der Erste der Jünger nicht einfach spurlos in einem Verlies verschwand, sondern dass die ungeheure Rettungskraft des Herrn unübersehbar an ihm wirksam wurde, das setzte einen solchen Mut-Schub, eine solchen Aufbruch zur Freude des Weitersagens frei, dass sie zum Auslöser der ersten christlichen Missionsreise wurden! … Und wer war als Gehilfe dabei? – Der Sohn aus gutem Hause, Johannes, mit dem Beinamen Markus diente auf dieser ersten Missionsreise als Gehilfe des Saulus, nun Paulus und des Barnabas (vgl. Apg.12,25;13,5). Er war also in seiner Person ein leibhaftiges Bindeglied zwischen Petrus, dem Apostel für die Juden und Paulus, dem Apostel der Völker.
Dabei wird es sein Vetter Barnabas (vgl. Kol.4,10), der Levit aus Zypern gewesen sein, der den Jüngling als zwar schüchternen, aber doch brennenden Jerusalemer Christusboten in die Weite des Erdkreises mitnahm.
Johannes, genannt Markus hatte allerdings Heimweh. Nach der ersten Wanderschaft - und Seefahrt - der christlichen Verkündiger, die von Syrien bis Zypern führte, trennte der junge Mann sich von den Missionaren, weil es ihn zurück nach Jerusalem zog. Paulus zürnte ihm deswegen (vgl. Apg.15,37f), und es dauerte bis in die letzten Jahre des Apostels der Heiden bis wir von einer Versöhnung zwischen ihnen hören (vgl.Kol.4,10). Damals war Markus wohl in Rom, bei Paulus, dem gefangenen Sendboten Christi; und da auch Petrus aus seiner Gefangenschaft in der Welthauptstadt, die für ihn „Babylon“ hieß, in seiner Epistel von „seinem Sohn Markus“ grüßt (1.Petr.5,13), scheint es am Ende der neutestamentlichen Missionsgeschichte wie an deren Anfang wieder der selbe - wenngleich leicht zu übersehende - Mensch zu sein, der zwischen Petrus und Paulus, den beiden Säulen der ersten Christenheit der vermittelnde Vertraute war[iv].
Nach dieser biblisch dokumentierten Zeit, als die beiden Apostel in Rom schon das Martyrium erlitten hatten, geht der Weg des Markus weiter im Reich der Erinnerungen und der Legenden, in denen die Kirche seines Wirkens gedachte. Er soll der Vater der koptischen Kirche in Ägypten geworden sein, der erste Bischof des großen Patriarchats von Alexandrien.
Und seine Gebeine sollen heute durch Piraterie in Venedig und auf der Bodenseeinsel Reichenau durch Raub ruhen[v], an glänzenden Mittel- und Knotenpunkten der europäischen Kultur also.
Weltbewegend kirchengeschichtlich scheint demnach sein Leben und sein Nachleben, ein Pionier des Evangeliums, ein Pilgervater der Mission, ein Patriarch der Glaubensüberlieferung. Markus – also doch: „Der Löwe“!? Gggrrrrrhhhh! ……..
Aber was ist mit seinem Heimweh nach Jerusalem als es ihn in die Welt verschlug!
Was mit seiner Schüchternheit, seiner Unsicherheit als junger Mensch der zweiten Generation, der nicht Augen-, sondern Ohrenzeuge und also unselbständiger Berichterstatter, Evangelist auf den Schultern der Apostel war und bis zuletzt eigentlich nicht wusste, wie das gehen soll – von Jesus Zeugnis abzulegen – und woher das kommt, was ihn zeitlebens vom Haus seiner Mutter an bis in das himmlische Vaterhaus antrieb! …….. —
Auch an Markus selbst werden ja alle Versuche, Geschichte als die Schicksale und Taten großer Menschen zu begreifen, hinfällig. Es bleibt etwas zu Reserviertes an ihm, eine Eigenschaft der Nebenfigur, eine Eignung für den Hintergrund.
Doch das ist nicht von Ungefähr: Es gibt im Neuen Testament nämlich noch einen weiteren Hinweis auf Markus[vi]! Er hat an dem, was man einen zentralen Tatort der Heilsgeschichte nennen muss, wohl eine Spur hinterlassen: Was er dort verlor, war … seine Würde.
Es gibt nämlich (nur) in seinem Evangelium die völlig rätselhafte Notiz, dass in Gethsemane, in den chaotischen Viertelstunden zwischen Christi Verlassenheit in Todesangst und dann seiner turbulenten Verhaftung ein Jüngling, der ihm nachfolgte, bekleidet bloß mit einem Leinentuch über der nackten Haut im Handgemenge willkürlich mitverhaftet werden sollte und sich den Schergen nur entziehen konnte, indem er das Tuch in ihren Händen ließ und floh (14,51f).
Wie sollte aber das Aufblitzen dieser sonderbaren Nebenhandlung anders zu erklären sein, als durch die persönliche Verwicklung des Markus in das hochnotpeinliche kleine Zwischenspiel … vielmehr seine persönliche Entblößung?!
… Er war also doch dabei. Versteckt, wie manche andere, … jedoch mit der Neugier eines jungen Menschen, der hoffen und verzweifeln kann wie später im Leben kaum noch. … Aber dann ging es drunter und drüber. Und die ganze Faszination, die ganze Gänsehaut und Spannung des großen Erlebnisses wich der demütigenden Erfahrung, dabei eine so erbärmliche Figur gemacht zu haben.
Die Beinah-Nähe zum zentralen Geschehen des Evangeliums wurde für Markus zur Erfahrung der eigenen Blöße.
Und das macht ihn aus!
Markus, der Unsichere, der Zauderer und schutzlos in die Nacht Stürzende, … Markus, der aus dem zitterigen Staunen nicht rauskommt ist der Evangelist, der das Evangelium nötig hat.
Nicht Johannes – Theologe, Lieblingsjünger, Mystiker.
Nicht Lukas – sanfter ärztlicher Mitfühlender mit den Bescheidenen und Stummen.
Nicht Matthäus – schriftgelehrter Meister christlicher Ethik.
… Sie alle haben die Botschaft von Jesus Christus für ihre jeweiligen Gemeinden auf den Punkt zu bringen vermocht.
Markus dagegen hatte nur die lebenslange Erinnerung an Verwirrung und Verlegenheit … eine nie nachlassende Erschütterung über die Tatsache, dass trotz all seines eigenen Versagens durch Furcht und Halbherzigkeit und Missverständnis die Gestalt Jesu für ihn nicht im Dunklen jener Nacht verschwamm, sondern Licht und Leben, Kraft und Klarheit ausstrahlte.
Er war ja so wenig ein Glaubensheld wie er ein Schreibkünstler war. Er blieb angewiesen darauf, jene Botschaft zu empfangen, die er als Erster versuchte auszurichten: Dass Gottes Gegenwart, Gottes Zukunft ihm galten, der Reißaus nahm und aus eigener Kraft nie eine wirklich letzte Gewissheit zustande brachte.
Doch gerade diese Zerrissenheit des Markus, diese Spannung zwischen dem Feuer einer elektrisierenden Botschaft und der Dämpfung durch die eigenen Widerstände lässt ihn als biblischen Menschen schlechthin vor uns erscheinen.
Denn dieser Johannes Markus, der nachfolgt und flieht, der sich in der Stunde der Anfechtung tapfer geben will und doch bloßgestellt wird, der eifrig aufbricht und begossen umkehrt ist ein echter Sohn seiner Heimatstadt Jerusalem, ein echter Israelit: Keine vollkommenen Auserwählten hat Gott da in seiner ersten Umgebung, in seinem ersten Bund.
… Und darum konnte auch der erste Zeuge des anderen, des für alle Völker erweiterten Bundes kein Ideal ohne Fehl und Tadel sein, sondern nur einer, der wie Jerusalem, wie Israel das wirklich braucht, was in ihrer Geschichte immer und immer wieder wirklich auch geschieht: Offenbarung und Schuld und Vergebung, Wunder und Weitergehen, … so, dass man nur ehrfürchtig staunen kann vor dem überwältigenden Entgegenkommen des Himmels, der Israel und seiner Blöße so tröstlich begegnet.
Zurecht hat darum die Kirche seit mehr als tausend Jahren am Markustag, dem letzten möglichen Osterdatum des Kalenders die Evangeliums-Botschaft des Jesaja lesen und auslegen lassen[vii] … das Evangelium vom neuen Anfang, das Markus aus Jerusalem deshalb in Zypern, in Rom, in Ägypten und überall weitersagen musste, weil es für ihn selbst so rettend war:
„Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße des Freudenboten, der da Frieden verkündigt, Gutes predigt, Heil verkündigt, der da sagt zu Zion: Dein Gott ist König. Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und jubeln miteinander; denn sie werden's mit ihren Augen sehen, wenn der HERR nach Zion zurückkehrt. Seid fröhlich und jubelt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der HERR hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst. Der HERR hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.“
Amen.
[i] Die Berücksichtigung der Festtage der Apostel (und der Apostelin der Apostel am 22.Juli) im revidierten Perikopenbuch in Teil II: Weitere Feste und Gedenktage gibt im Gedenkjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ Anlass zu dankbarer Reflektion. Ohne diese Monat für Monat individuell zu meditierenden Gestalten ist nicht nur die „Wolke der Zeugen“ (Hebr.11) liturgisch ein Abstraktum, sondern schlimmer noch:
Ein auf christologische, reformationsgeschichtliche und wenige säkulare Gedenktage reduziertes Kirchenjahr ist de facto „judenrein“, während das Gedächtnis der neutestamentlichen Überlieferungsträger uns wieder und wieder zurück in die biblische Welt des Evangeliums und den jüdischen Glauben, das jüdische Verstehen der ursprünglichen Christuszeugen führt.
Eine Einordnung des Markusevangeliums (und seines Autors / Tradenten) in diesen judenchristlichen Rahmen ist in der Forschung nicht zentral, aber z.B. in dem anregenden Entwurf John Bowmans, The Gospel of Mark: The new Jewish Christian Passover Haggadah. Leiden (NL) 1965, zu finden.
[ii] Dass das Markusevangelium einen sekundären Schluss empfangen hat, um das Rätsel seines Endes in 16,8 zu mildern, ist der Theologie seit Jahrhunderten bewusst. Die Entscheidung der alten Kirche, dem Mk. eine synoptische Bündelung verschiedener österlicher Traditionen und Zeugnisse hinzuzufügen, kann als frühe Form der Predigtarbeit am Text des Evangeliums gewertet werden.
[iii] Natürlich nimmt die historisch-kritische Methode keinen dieser innerneutestamentlichen Bezüge als belastbare Auskunft an. Wie man allerdings ein derart enges, assoziationsreiches Verweisgeflecht wie es eine kanonische Lektüre der Schrift auf der Suche nach Markus-Spuren ergibt, ungenutzt lassen kann, ist ein eigenes „Markus-Geheimnis“! Dass hier durch die Andeutungen und Querverbindungen ein verblüffend plastisches, sozio-psychologisch plausibles Gesamtbild entsteht, ist schlechterdings doch unübersehbar – es sei denn: Markus 4,12!
[iv] Uralt ist die wohl auf das 1.Jahrhundert zurückgehende Überlieferung, die in Markus den schriftlichen Bewahrer des mündlichen Missionszeugnisses des Petrus sieht und ihn damit an die Spitze aller Modelle tradierter Autorität rückt. Dieser Zusammenhang wird greifbar bei Papias von Hierapolis in der ersten Hälfte des 2. nachchristlichen Jahrhunderts, vgl. Schriften des Urchristentums – Dritter Teil: Papiasfragmente / Hirt des Hermas, Eingeleitet, herausgegeben, übertragen und erläutert von U. J. Körtner und M. Leutzsch, Darmstadt 1998, - bes. Fragment 3 (überliefert bei Euseb von Cäsarea), aaO. S. 53.
[v] Vgl. dazu die instruktive Edition mittelalterlicher Legenden und Predigten: W. Berschin und Th. Klüppel, Der Evangelist Markus auf der Reichenau, (Reichenauer Texte und Bilder 4), Sigmaringen 1994.
[vi] Die Identifizierung des ungenannten Jünglings von Markus 14, 51f mit dem Verfasser des Evangeliums selbst ist ein traditionsreicher Topos in vielen Jahrhunderten der Auslegungs- und Predigtliteratur. Sie lässt sich nicht beweisen. Und noch weniger abweisen.
[vii] Jesaja 52,7 begegnet als Antiphon bei beinah allen Apostelfesten, aber dass der Text am Fest des Hl.Markus bereits vor 1000 Jahren Schriftlesung gewesen sein dürfte, geht aus einem Passus der ersten Predigt auf den heiligen Markus des Reichenauer Abtes Bern - vermutlich aus dem 5.Jahrzehnt des 11.Jahrhunderts - hervor: Ediert in „Der Evangelist Markus auf der Reichenau“ (vgl. Anm. v), S.73.
Misericordias Domini, 18.04.2012, Stadtkirche, Hesekiel 34 (in Auswahl), Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Misericordias Domini - 18.IV.2021
Hesekiel 34 i.A.
Liebe Gemeinde!
Es ist Halleluja-Zeit im Kirchenjahr, … auch wenn uns mehr nach Stöhnen sein mag und vielen Menschen nach noch weit Ernsterem: Das Gedenken an die Verstorbenen der gegenwärtigen Pandemie, das der Bundespräsident für den heutigen Tag angesetzt hat, erinnert uns daran, dass nicht nur unsere Gewohnheiten und Geduld derzeit auf die Probe gestellt werden, sondern dass vielmehr weite Teile der Menschheit – hier und allerorten, Junge und Alte, Arme und Reiche, Freie und Unterdrückte – existentiellen Schrecken begegnen: Krankheit, Schmerz, Not, Sorge, Einsamkeit, Sterben.
Es ist Halleluja-Zeit, und es sind bittere Monate.
Die Auferstehung leuchtet und gleichzeitig wird der Tod weltweit spürbar.
Solche Osterwochen voller Licht und voller Schatten, voll Jubels und voller Wehklage schärfen unseren Blick dafür, dass es nichts Einseitiges, nichts Harmloses gibt, wenn wir im Glauben der Wirklichkeit, wenn wir der Wirklichkeit im Glauben begegnen.
Gottes Botschaft an die Welt, Gottes Gegenwart im Wort haben stets etwas von einem Röntgenstrahl, von einem Licht, das die Dinge transparent werden lässt und im Undurchdringlichen das dahinter Verborgene, im Staub die Perle, im Fleisch das Gerippe sichtbar macht.
… Natürlich macht wirkliches Osterlicht, dass wir den Tod erkennen, der in und hinter allem unserm Halleluja anwesend ist: Wir würden ja nicht mehr die Auferstehung feiern, wenn kein Leid und Geschrei, kein Schmerz, keine Tränen mehr wären, … denn dann wäre das Reich Gottes vollendet.
So aber, in dem „Noch nicht“, das unsere Wirklichkeit bezeichnet, müssen wir bereit sein für den zweiten Blick, für die aufdeckende und beunruhigende, die durchdringende Wirkung einer Sichtweise, die unter der Oberfläche wahrnimmt, was zwar übersehen werden, aber bei Licht betrachtet nicht geleugnet werden kann. ——
Der zweite Blick heute gilt einem Urbild der Geborgenheit … oder was wir dafür halten.
Vermutlich ist ja immer noch kein Psalm so vertraut, keine Metapher so geläufig, kein Bild so unauslöschlich im kollektiven Unterbewussten lebendig wie das Hirtenmotiv des 23.Psalms: Dass jemand auf uns achtet, dass wir uns also nicht unbemerkt verlaufen und verlieren können, weil wir geführt, gesucht, schließlich sogar getragen werden und darum auch auf den dunkelsten, abgründigsten Abschnitten des Lebensweges ein Stecken und Stab an unserer Seite beruhigende Klopfzeichen in der Tränenschlucht und stützenden Schutz vorm Abstürzen bieten, … diesen Inbegriff eines vielleicht belächelten, gewöhnlich versteckten Urvertrauens, auf das im Ernstfall aber instinktiv zurückgegriffen wird, weil es einen so elementaren Vitaltrost verströmt, … diesen Archetyp dessen, was biblischer Glaube sich unter Gott vorstellt, will und soll niemand missen.
Aber doch müssen wir auch durch dieses schöne Bild auf seinen Grund schauen, auf das, woran es haftet. … Gerade jetzt, in Zeiten schmerzlicher Verunsicherung und des Gefühls eines verwirrenden Ausgeliefertseins.
Denn die Verheißung eines Hüters der Ausgesetzten, eines Verteidigers der Wehrlosen und eines Sammlers der Verirrten ist nicht bloß das Bild und Gebet gewordene Geborgenheitsverlangen des Menschengeschlechts, sondern es ist eine drastische Kampfansage Gottes.
Dass sich im Guten Hirten tatsächlich nicht nur ein pastorales Idyll, sondern ein Konflikt und eine Parteinahme verkörpert, deckt das heutige Wort aus dem Propheten Hesekiel auf: Zu unserer Überraschung erinnert es uns nämlich daran, dass der ganze biblische Reichtum an Hirten-Theologie auf einem politischen Schlachtfeld gewachsen ist, das hier offen vor uns liegt.
Vielleicht aber sollte uns das nicht ganz so sehr erstaunen. Taucht man ein wenig tiefer in die politische Ideengeschichte der Menschheit, steht am Anfang aller Ordnungen und Zivilisationen, in denen wir wurzeln, ja nichts anderes als der Übergang vom Wilden Mann zum Herdenhüter. Aus der Jagd als Lebensgrundlage wird die Zucht als Fundament des Menschenlebens. Der Speerwerfer und Fallensteller fängt an, den Hirtenstab zu führen und die Schutzbefohlenen zu zählen, die unter seiner stumpfen Abwehrwaffe in die Sicherheit der behüteten Gemeinschaft, in den Stall ziehen.
Das Hirtenamt ist also der Ursprung, der aus Horden Gesellschaften macht. Und bis in die Tage der Bibel war der Hüter darum nicht Inbegriff der naturnahen Feld-, Wald- und Wiesenromantik, die wir mit ihm verbinden mögen, sondern Erzgestalt und Erzgestalter des Sozialen: Ehe es Könige gab - so verrät uns auch die Abfolge der biblischen Epochen - bekleidete der Hirte die Rolle des Verantwortlichen.
Wie hochpolitisch also jede Rede vom Hirten ist, verrät der Ursprung des Herrschaftszeichens schlechthin … des Szepters: In ihm lebt der Hirtenstab fort noch Jahrtausende nach den Tagen Abrahams.
Wie hochgefährlich politisch jede Rede vom Hirten ist, verrät uns die naheliegendste Veranschaulichung seines Rechts und seiner Pflicht: Der Hirt ist „Führer“.
Wenn es demnach um den Guten Hirten und andere biblische Hirtenbilder, Hirtenämter geht, dann stellt sich die Führer-Frage.
… Und wie explosiv, wie existentiell die ist, das sollten wir wissen. ——
Hesekiels Zeit war eine Zeit akuten Politik-Versagens: Hatten die letzten Herrscher Judas allzu lange geglaubt, sie könnten mit völliger Selbstüberschätzung und windigen Bündnissen der Großmacht Babylon trotzen, so zahlte Hesekiel selber den Preis für diese Illusion. Er gehörte zu jener Oberschicht an Hof und Tempel in Jerusalem - wo er aus priesterlichem Geschlecht stammte -, die als Erste in die Verbannung nach Babel geriet, … etliche Jahrzehnte ehe Jerusalem und Juda tatsächlich vollständig vernichtet wurden.
Doch die neue Elite, die die ersten Deportierten ersetzte, unterschied sich in nichts von ihren Vorgängern: Macht und Vermögen wollen … Macht und Vermögen. Verantwortung bemisst sich leicht nach dem Vorteil, den sie bringt; wenn sie kostet, verliert sie an Glanz. Und die menschliche Kurzsichtigkeit, die eine rasche Befriedigung einer langsamen Sicherheit vorzieht, verdarb die Würdenträger in den letzten Tagen vor dem Untergang wie sie es immer wieder tut. Den damaligen Hirten in Adel und Klerus, in Heer und Beamtenschaft, die allesamt nur selber ungeschoren zu bleiben hofften und sich nicht scheuten mit am Fell zu zerren, das den Wehrlosen über die Ohren gezogen wurde, gilt die Gerichtsrede, die wir heute hörten!
„Wehe den Hirten, die sich selber weiden! Ich will an die Hirten!“, spricht der Gott der HERR.
Diese Kampfansage ist es, die wir immer hören müssen, wenn sich uns das beschauliche Bild aus der Kinderbibel als eine Mischung aus Lüneburger Heide und orientalischem Kitsch aufdrängt. Psalm 23 und die berühmten anderen Schäferstunden – „Er weidet seine Herde wie ein Hirte, Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen“ (Jesaja 40,11 / Jer.31,10) – … alle diese weltvergessen sonnig scheinenden Bilder, sind nicht Balsam für’s Gemüt, sondern ungemütliche Hoffnungsfanfaren, die bei Jesaja, Jeremia und Hesekiel aus den exakt gleichen Jahren, den Jahren der völligen Katastrophe unter Nebukadnezar, dem Bezwinger des Vorderen Orients, dem Sieger vom Euphrat bis zum Nil, dem neuen Weltordner ohne einen Platz für Israels Gott und dessen Volk stammen.
Das Hirtenmotiv der Bibel ist der Hall eines Halleluja über den Ruinen des Tempels, über geräumten Schlachtfeldern auf den Bergen Judas, eines Halleluja über Totengebein.
Es ist ein Ruf gegen das Versagen der Verantwortlichen. Ein Ruf, der dem Scheitern der Menschenmacht ein anderes Wirken und Wollen, eine andere Zielsetzung entgegenhält.
Das Hirtenmotiv stellt die Führerfrage, indem es alle Führer in Frage stellt. ——
… Und auch Jesus hat seinen Hesekiel gelesen und gelernt.
Wenn Jesus sich sechshundert Jahre später mit den Worten des von den Mächtigen verratenen und enttäuschten Propheten Hesekiel als der Hirte vorstellt, der die Seinen nicht opfert, sondern ihnen selbst aufopferungsvoll nachgeht in ihre Verlorenheit, ihre Verletzlichkeit, ihre Verlassenheit, dann ist das jedenfalls genau wie jene Verheißung der Hirten-Hoffnung in den Tagen des Exils kein stummer Trost für seine kleine Herde, sondern kündigt einen wirklichen, einen auch politischen Anspruch an:
Dass Hilfe gegen die Hilflosigkeit der Menschen kommt.
Dass eine Beherrschung der Menschenherrschaft ebenso wie der Menschenanarchie kommt.
Dass trotz des menschlichen Unheils den Menschen Heilung widerfahren wird.
Dass trotz der Irrwege, gegen die Menschenmacht nichts ausrichtet, die Menschen nicht machtlos in ihre Irrtümer verwickelt bleiben müssen.
Dass inmitten der Fehlleitungen und Irreführungen, inmitten des Ausnutzens und Aussitzens ein Pfad zu neuen Ufern an frischem Wasser gebahnt und ein Durchschreiten des Todschattentales eröffnet ist. ——
Das ist eine politische Botschaft, die keine Politik ist. Jedenfalls nicht in jenem engen Sinn, in dem sie uns gewöhnlich begegnet: …Als Kunst des Menschenmöglichen, deren Ausführende allzu menschlich und deren Zuschauer und Ratgeber - zumal auf den Kanzeln - allzu moralisch sind.
Politisches ist immer doppelt begrenzt: Durch das zu viele Schlechte, das zu den Menschen gehört, und das zu viele Gute, das die Menschen sich dennoch einbilden.
Doch gerade dadurch werden ja aus Hirten immer wieder nutzlose Wächter, fliehende Mietlinge oder gar schuldige Räuber, die nicht helfen, nicht wehren und nicht schonen.
… Gewiss, es gibt die anderen wahrhaftig auch: Menschen, die heilen und helfen, heben und tragen, wo immer die Not es erfordert und die Pflicht es verlangt.
Wenn wir heute an die Toten dieser Monate denken, dann steht uns zugleich die quälende Verantwortung vor Augen, die so viele Menschen tatsächlich ja treu und aufopferungsvoll an vielen Orten tragen – in den Krankenhäusern und Heimen, den Schulen und Kindergärten, den Behörden und Diensten.
Doch ist dieser Tag nicht auf den Blick in unsere Nähe und über unser Land zu beschränken:
Weltweit ist die Verlassenheit der Menschen, das Ausgeliefertsein an Gefahren, das Preisgegebenwerden durch die, die Macht haben und nicht zum Guten anwenden, nicht weniger himmelschreiend als in Hesekiels und Jesu und allen Tagen seither.
Doch darum ist auch das Hirtenheil, das nicht von der Politik und nicht von der Wissenschaft, nicht von der Medizin und auch von keiner anderen menschlichen Kunst oder Fähigkeit zu hoffen ist, nicht weniger notwendig als es immer war und bleiben wird.
Denn der Schrei der Herde, der Schrei der Menschheit insgesamt bleibt der Schrei jenes anderen Hirtenpsalms 80:
„Du Hirte, Israels, höre, der du Josef hütest wie Schafe.
Erscheine, der du thronst über den Cherubim vor Ephraim, Benjamin und Manasse. Erwecke dein Kraft und komm uns zu Hilfe!
Gott, tröste uns wieder und lass leuchten dein Antlitz, so genesen wir!“
In diesem Schrei ist das Sterben zu hören … wie es nach dem „Halleluja“ ruft!
Beides zusammen aber ruft jene Antwort hervor, die mehr tröstet und mehr bewirkt als alles menschenmögliche Vermögen.
Denn nichts wird größer sein, als das, was Hesekiel angesagt und Jesus bekräftigt hat, und wozu wir uns mit dem 23.Psalm immer wieder, weiter, wunderbar bekennen:
„Ich selbst will meine Schafe weiden, spricht Gott der HERR.
Ich will das Verlorene wieder suchen
und das Verirrte zurückbringen
und das Verwundete verbinden
und das Schwache stärken
und was fett und stark ist behüten,
ich will sie weiden, wie es recht ist.“
– Der ist mein Hirte!
Amen.
Ostersonntag, 04.04.2021, Stadtkirche, 2.Mose 14 i. A. + 15,20f, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ostersonntag - 4.IV.2021
2.Mose14 i.A. + 15,20f
Liebe Gemeinde!
Ostern am Meer. … Heute erleben wir, was so viele sich gerade dieses Jahr wünschten.
… Nicht alle indes: Israel hätte das Schilfmeer lieber nie gesehen.
… Den allermeisten Flüchtlingen geht es so, denn die ostpreußischen Toten auf dem Grund des Frischen Haffs und die Pommern auf dem Grund der Ostsee, die Nordafrikaner, Syrer, Afghanen, die es nicht über’s Mittelmeer schafften oder zuletzt sogar am Ärmelkanal scheiterten, die Rohingya, die im Golf von Bengalen ertranken, … sie alle erinnern uns daran, dass das Meer ein Massengrab ist.
… Also ein Osterort wie jeder Friedhof.
… Ostern am Meer.
Nur dass auf unseren Friedhöfen auch die liegen, die nicht gekreuzigt und nicht verfolgt wurden, deren Sterben auch nicht immer grausam oder panisch war, sondern so wie bei den Alten, die zu ihren Vätern versammelt wurden. An sie dachte Israel als es durch die Wüste zog und sich zurücksehnte nach den Gräbern Ägyptens. … Es waren zwar nicht jene großen Nekropolen, an denen sie als Sklaven gebaut hatten und es war auch nicht die Höhle Machpela in Kanaan (vgl.1.Mose23,17ff; 25,9; 49,31), in der Sarah und Abraham, Isaak, Rebekka und Lea bestattet waren und wohin sie den Sarkophag des Stammvaters Jakob trugen, der seinen Leichnam auf keinen Fall in Ägypten hatte zurückgelassen wissen wollen, … und doch war man auch als Fronarbeiter im Nildelta wenigstens im trockenen Sand verscharrt worden und nicht von der grauenerregenden Untiefe des Meeres verschlungen. … Nur kein Tod in den Wellen, nur kein Versinken in der Flut! …
Aber Gott führt Wege, die sich niemand aussucht, … schrecklich hinunter, herrlich hinauf, wie drei österliche Lieder des Alten Testaments es schildern, in denen überall die Tiefenangst Israels, der Horror vor dem Bodenlosen anklingt, das mit dem Tod verbunden wurde: Hanna, die kein Leben weitergeben konnte und doch Mutter wird, Hiskia, der König, der vom Totenbett noch einmal aufstehen durfte und Jona, der Prophet, der tatsächlich dem Albtraum der Unterwasserwelt ausgeliefert war … alle drei beschreiben den Sog der Tiefe (vgl.1.Sam2,6 /Jesaja39,10/Jona 2,4ff), der für die Nachkommen der Exodus-Generation der Inbegriff grässlicher Unentrinnbarkeit bleiben sollte. … Atemnot in der Todestiefe, sich türmende und alsbald herabstürzende Wogen: Diese Urangstschwelle der Vorfahren, die am Ufer gestanden hatten und dann hindurchmussten, saß den Nachkommen auf der Brust.
Der Tod: Das Meer. ———
Ob auch auf Golgatha, wo er doch zu ihren Häupten am Kreuz hing, eine der Frauen, die seinen Todeskampf mitansahen, die alten, archetypischen Ertrinkens-Ängste mitlitt?
Fast alle Frauen auf Golgatha hießen ja Miriam - Maria - nach jener ersten Zeugin des Todesweges in’s Leben, die einst beim Exodus am Meer gestanden und aus Ur-Angst ein Ur-Ostern hatte werden sehen. ———
Miriam, die Prophetin ist die erste menschliche Stimme, die sich am jenseitigen Ufer hören ließ. Nicht nur das. Miriam ist nach Erkenntnis der Forschung überhaupt die erste Stimme, die wir in der Bibel hören, … die älteste, die ursprünglichste Trägerin biblischer Überlieferung, denn das Lied, das sie zur Pauke im Reigen anstimmte – ein so winziges und archaisches Fragment es auch ist – dürfte der Atomkern, der Kristallisationspunkt aller weiteren Erinnerungen, Traditionen und Schriften Israels sein.
Mit dem Lied dieser Frau, dem Lied der Erlösten fängt die Geschichte der Bibel und also die Geschichte des Glaubens an. Sie ist Rettungsgeschichte, … wir können heute nicht anders sagen, als: Sie ist österlich durch und durch.
Ob das aber den Namensschwestern der jubelnden Miriam am Meer durch den Kopf ging, während sie erleben mussten, wie der, den sie für Israels Hoffnung und endgültigen Befreier hielten, oben am Mast des Kreuzes Schiffbruch erlitt und von der Flut seiner Schmerzen in die unterseeischen Kammern des Todes gerissen wurde? …….
Ob irgendeine von ihnen - den Marien auf Golgatha - an die Maria vom Schilfmeer dachte?
… Wie sollten sie wohl nicht an das Wunder von damals gedacht haben?
Immerhin hatten sie alle doch noch am Abend vor Golgatha das Passa gefeiert, also genau das Aufbrechen wie im Flug in der Nacht des Todesengels, das Laufen ums Leben, das jähe Bremsen am Wasser, wo der Exodus zur Sackgasse wurde, und dann das unglaubliche, unvergessliche – gestern abend in Jerusalem und allen jüdischen Häusern für dieses Jahr ein letztes Mal besungene – Wunder des Hindurchkommens, des Gerettetwerdens aus der Flut.
Sie hatten das Passa, sie hatten Miriam im Herzen … und sahen die Hoffnung Israels sterben.
Was haben sie da empfunden? … Dass ihr Name ein Hohn sei? Dass sie Rahel statt Miriam, die Klagende, nicht die Lobende sein sollten? ……..
Oder hat eine von ihnen - vielleicht Maria, die Mutter? - auch in dieser herzzerreißend aussichtslosen Stunde noch an Tamburin und Tanz als Mitte und Auslöser aller Zeugnisse über den Gott Israels denken können?
… Aber selbst mit dem biblischen Bericht von der Wunderrettung im Ohr … da am Kreuz starb der Falsche.
Das Wunder vom Schilfmeer, aus dem der Optimismus der ganzen Bibel, die ungeheure, sture Lebens- und Überlebenskraft Israels, die nicht kleinzukriegende Heils- und Hoffnungshartnäckigkeit des Volkes Gottes herrührt, gründet doch auf dem Tod der Richtigen, … der Ägypter, der rösserreitenden Zwingherren und Häscher, die im Strudel nach dem Wunder hilflos wie die Fliegen ersoffen. …….
(Mit Kippah:) Halt! So einfach ist es nicht! Die Freude am jenseitigen Rand des Schilfmeeres, die Freude am rettenden Ufer, der Taumel der Erlösten, die wie die Träumenden … den Mund voller Lachens … sich im Kreis drehen und unter Miriams Taktgebung die erste Ode an die Freiheit singen, … sie sind nicht erfüllt vom Rausch der verdienten Rache!
Das ist ein Trugschluss, ein Zerrbild.
Und selbst wenn Menschen- oder Engelszungen es behaupteten, dass da die rohe Erleichterung der Vergeltung die eben noch Beschwerten beschwingt, … wir haben ein Zeugnis, das schwerer wiegt! Würde sich bei den Geretteten nur das Luft machen – liebloser Triumph über die Feinde – , dann wären es wahrhaftig bloß tönendes Erz und klingende Schelle (vgl.1.Kor.13,1), leeres Plärren der Lieder, die Gott nicht hören mag (vgl.Amos5,23).
Aber Rabbi Schmuel ben Nachman sagt im Namen Rabbi Jonathans, was Rabbi Jochanan an anderer Stelle sagt, dass der Gott Israels es nämlich den Dienstengeln seiner himmlischen Heerscharen voller Trauer verboten hat, in Jubel auszubrechen, als Pharao und sein Ge-folge zugrunde gingen:
„Das Werk meiner Hände ertrinkt im Meer
und ihr wollt vor mir das Lied anstimmen?“[i]
In Gottes Gegenwart kann man das Sterben nicht feiern!
So schlicht steht es im Talmud.
… „Der Tod der Richtigen“? In solch primitiver Vergröberung, in solcher dualistischen Moral des Stammtisches, solcher duellierenden Logik des Western löst sich die Wahrheit zwischen Tätern und Opfern, Schuldigen und Unschuldigen in der Heilsgeschichte Gottes nicht auf. ———
… Gleichwohl aber singt Miriam! Gleichwohl tanzen die nicht-ertrunkenen und nicht-gefassten und nicht-geschändeten und nicht-verwitweten Frauen am Gestade der Freiheit den Reigen, mit dem die Bibel und alles, was aus ihr jemals folgen soll, beginnt.
Doch wie nüchtern ihr Lied ist! Anders als das im Text des Buches Exodus heute vorangestellte Lied des Mose (vgl.2.Mose,15, 1-18): Da haben wir einen Hymnus, der wie alle Poesie Gefühle und Stimmungen erregt, voller Schauder, Erhabenheit und Ekstase.
… Dagegen das Ur-Lied: Rein und schmucklos. Ehrfürchtiges Tatsachenbekenntnis.
„Der HERR ist hoch erhaben. ER hat Ross und Reiter ins Meer gestürzt.“
Das ist die Botschaft.
Keine Deutung.
Keine emotionalen Werte.
Kein seelisches Spiegeln der menschlichen Beteiligung.
Bloß objektiver Gottesruhm. ———
Eine wunderbare, tiefe Betrachtung dieses völlig zurückgenommenen, ganz auf seine Kunde, gar nicht auf seine Kunst konzentrierten Liedes, verbindet seine spröde Sachlichkeit mit einem rabbinischen Prinzip, das man meditieren muss[ii]:
- Alle Wirkungen sehnen sich zurück nach ihrer Ursache.
- Kein Ereignis will etwas anderes, als seinen Auslöser zu bestätigen und zu verherrlichen.
Wenn Miriam auf diese Weise ihre Stimme erhebt – als eine Folge, die notwendig und ausschließlich zurück zur Ursache führt –, dann singt sie von Gottes Tat bloß mit dem einen Ziel, Ihn zu erheben. Andere Motive scheiden aus.
Botin Gottes. Miriam, die Prophetin. Mehr nicht. Nicht Rache-Priesterin, nicht Tanz-Mariechen, weder Kassandra, noch Jean d’Arc. … Nur Miriam, die Prophetin, durch die es sich mitteilt, dass nichts fest bleibt, was Menschen in ihrem Hochmut oder ihrer Verzweiflung für fest halten, … weil nur Gott bleibt, Er allein.
Miriam, Seine Botin. Mehr nicht … und darin als reine Folge der Einen Ursache: Alles.
(Ohne Kippah:) Und damit stehen wir wieder unter dem Kreuz.
Nein, nicht mehr nur dort.
Sondern am jenseitigen Ufer des Schiffbruchs von Golgatha. Am Strand der neuen Welt Gottes, die beginnt, wo das Grab hinter den Botinnen liegt:
… Miriam, Maria, die Mutter. … Maria, der Mutter Schwester. … Maria aus Magdala.
Sie alle wussten als Töchter Israels, als Nachkommen der Tanzenden vom rettenden Ufer, dass in Gottes Gegenwart kein Tod der Tod der Richtigen sein kann, und keine Tat Gottes die falsche Tat sein wird …
Aber wenn der Tod nicht richtig und Gott nicht falsch sein kann, dann muss die Tat aller Taten Gottes darin bestehen, dass durch einen Tod, der ganz falsch ist, sich die ganze Richtigkeit, die Gerechtigkeit Gottes offenbart.
Dann muss es eine endgültige Befreiung aus der Sklaverei des Todes geben, die ohne das Verderben Pharaos, ohne den Untergang ganzer Völker und Kulturen gelingt.
Dann muss der kommende Exodus ein Wunder werden, bei dessen Vollendung Gott kein Leid mehr tragen wird um das Werk Seiner Hände.
Das Ziel muss also ein Ziel frei vom Tod sein, um Gottes Tränen um alle, die sterben mussten, zu stillen. ——
… Ob eine von ihnen das schon am Tag des Todesurteils und der Hinrichtung ahnte?
– Es ist ja durchaus die Frage, was alle Theologie, was aller Glaube uns nutzen mag, wenn unser Liebstes stirbt und unsre Welt zerbricht. Ob wir dann etwas andres wünschen als bloß ein sandiges Grab in Ägypten, wo es wenigstens vorbei wäre und kein Gang in die Tiefe, kein Weg unter Wasser mehr droht? Vielleicht ist es so, dass jeder von uns vor dem direktesten Durchbruch der Rettung die schwärzeste Stunde, den grausigen Abgrund erlebt, ohne zu ahnen, dass die Wasser sich teilen werden und wir stille sein dürfen?!
Vielleicht hat aber wenigstens die Mutter, die eine reine Botin wie Miriam war, auch unter dem Kreuz gehofft:
Ihr musste ja seit dem ersten Augenblick bewusst sein, dass sie eine Folge und ihr Kind die Ursache war. Und dass dieses Kind darum, wenn es sterben sollte – so sehr sie gebangt hat – doch nicht einfach so falsch wie wir alle sterben würde … und damit das Leid Gottes, der selbst Pharao beklagte, unendlich vergrößern. Dass mit ihrem Kind, wenn es untergehen sollte, ein Auszug beginnen würde, wie am Schilfmeer, … ein Auszug aus dem Elend, aus der Gefangenschaft, ein Auszug mitten hindurch durch alles, was das Leben vernichtet, nur dass dieses Mal die Wogen nicht wie Mauern stehen, sondern die Mauern, die Grabnischen und die Steine davor wie Wasser davonfließen und verdampfen werden.
Sie wird die Miriam-Worte, diese unnachahmlich trockenen Worte am brausenden Meer vielleicht im Herzen getragen haben: „Der HERR ist hoch erhaben …“
… So hoch erhaben, dass alles, was uns zu verschlingen droht, die ganze bodenlose Untiefe, die wir fürchten, vor der wir zittern, einfach zu tief ist, um den Hocherhabenen hinunterzureißen?!
Wer aber würde dann versinken in seinem Untergang? Nicht die Ursache des Lebens.
Sondern das, was dem Leben seine Ursache, seinen Ursinn abstreitet.
Wer würde versinken im Grab dessen, der das Meer teilte? … Kein Sterblicher.
… Sondern der Tod, der seine Herrschaft auf seinem hohen Ross so sicher wähnt. ——
Maria und die Worte der Miriam: Ur-Kunde unseres Glaubens.
Dass der HERR so hoch erhaben ist, dass die Todestiefe Ihn nicht halten konnte.
„Wär’ Er nicht erstanden, so wär’ die Welt vergangen …
… Seit dass Er erstanden ist ……:
Halleluja! Halleluja! Halleluja!“
Amen
[i] Dieser Spruch wird im Talmud zweimal überliefert in Synhedrin 39b (Der Babylonische Talmud, übersetzt v. Lazarus Goldschmidt, Bd. VIII, Frankfurt/M 1996, S. 615) und als Ausspruch Rabbi Jochanans in Megilla 10b, (aaO, Bd. IV, S. 40).
[ii] Höchste Anregung verdankt die Predigt an dieser Stelle der eindringlichen, knappen Auslegung des (Mose- und) Miriam-Liedes unter der Überschrift „A Song of Longing“ durch Rabbi Norman Lamm, die in einem digital zugänglichen Typoskript von 1967 vorliegt, das unbedingt lesenswert ist:
https://archives.yu.edu/gsdl/collect/lammserm/index/assoc/HASH01bb/92cfbd25.dir/doc.pdf
Karfreitag, 02.04.2021, Stadtkirche, Jesaja 52,13-15 + 53, 1-12, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag - 2.IV.2021
Jesaja 52,13-15+53,1-12
Liebe Gemeinde!
Nehmen wir es als Lied der Jünger … diesen vielleicht rätselhaftesten, undurchdringlichsten und zugleich offenbarungsmächtigsten Abschnitt aus dem Buch Jesaja.
Nehmen wir es als Lied der Jünger, denn gewiss werden wir das Geheimnis nicht lüften, ob hinter dem unauslöschlichen Bild des Gefolterten, den alle seiner Qual überließen – alle, außer Gott! –, nicht eine Gestalt steht, die Jesaja in den Reihen der nach Babylon deportierten Judäer sah. Die Schilderung dieses Sadismus, das Protokoll einer Misshandlung, die zu kollektiver Mittäterschaft führt, weil Mitgefühl für Mitwisser schlicht zu unerträglich wäre, klingt erschütternd wirklichkeitsnah. Man ahnt an jedem Karfreitag, wie eine Gemeinschaft von Bedrohten, von Wehrlosen, von Stigmatisierten unter den Entbehrungen des Todesmarsches ins Exil sich von dem Ärmsten abwendet, über dem die geballte Entladung der feindlichen Aggression niedergeht: Dieser Eine wird seinem grauenvollen Schicksal überlassen, damit die anderen für dieses Mal der Peitsche und dem Prügel, dem Blutdurst und der Mordlust entkommen. Das könnte Jesaja überall zwischen Jerusalem und Babel beobachtet haben. Er könnte es in den zweieinhalb Jahrtausenden seither beinah ununterbrochen bestätigt haben sehen, wie es geht, wenn der Bestie ein Opfer überlassen wird, in der Hoffnung, dass andere dadurch verschont bleiben. Es ist das mythische Motiv vom Mädchen, das dem Drachen bestimmt wird, um die Stadt und ihre anderen Bewohner zu retten. … Es ist die Selbstverteidigung der Verlorenen.
Doch wir wollten es ja als Lied der Jünger nehmen …
Gewiss, Jesaja könnte es auch als ergreifende Enthüllung empfangen haben, mit der er seine Leidensgenossen im Gericht durch die unterm Gegenteil verborgene Macht der Ohnmacht, die sie litten, durch die Aufdeckung des hinter dem Sinnlosen wartenden Sinn tröstete: Euer Leid, Euer Opfer, Eure Strafe wird für die nach Euch Kommenden, wird für Viele einst Segen entfalten. Ihr seid zu Trägern des Mysteriums der Stellvertretung bestimmt, die ein erneuertes Israel und eine Welt der Versöhnten zu bereiten hilft. … Es ist die Kraft des Vertrauens auf die göttliche Weltlenkung, die selbst durch den Holocaust hindurch das religiöse Judentum überleben ließ.
Aber immer noch: Wir wollten es als Lied der Jünger nehmen …
Natürlich ist auch das tiefste Geheimnis in der Prophetie vom Gottesknecht angelegt: Das Wunder messianischer Weissagung, die enthüllt, was in der unerforschlichen Weisheit Gottes an Heilsgedanken angelegt ist, die Finsternis in Licht und nächtliches Weinen in Freude verwandeln (vgl.Ps.30,6), indem sie Dunkelheit und Verzweiflung von Innen heraus ausschöpfen und für immer durchbrechen. Natürlich ist die jesaja’sche Passionsprophetie auch adventliche Erlösungsverheißung, geistgewirkte Offenheit für das unerhörte Auf- und Einleuchten des in gekreuzigter Verborgenheit Kommenden. … Es ist Christuspredigt des Alten Testaments.
Doch – ein letztes Mal – wir wollten es als Lied der Jünger nehmen.
Weil unsere Bibel uns diese Verständnishilfe, diese Leseanweisung gibt, indem alle Evangelisten und Apostel, alle Zeugen des Neuen Testaments aus keiner anderen Quelle der hebräischen Bibel so viel schöpfen wie aus diesem grauenvoll schwarzen, trostreich dämmernden, frohbotschaftlich glühenden Gottesknechtslied.
Überall – und oft genug aus seinem eigenen Mund – hören wir, wie die geheimnisvolle Gestalt des rettenden Leidenden in den Bildern und Beschreibungen aufscheint, die zum Zeugnis von Jesu Tat und Schmerz, seiner Aktion, seiner Passion dienen: Das duldende Lamm Gottes (vgl. z.B. Joh.1,29; 1.Petr.1,19); der Löser, der die Verschuldung Fremder mit seiner eigenen Person als Sühnegeld begleicht (vgl. z.B. Mk.10,45); der Sklave, dessen drakonische Bestrafung befreiendes Heil für andere bedeutet (vgl. z.B. Phil.2,7).
In allen diesen Anspielungen und Fortsetzungen, in allen diesen Nachklängen und Bekräftigungen lebt und erfüllt sich, was Jesaja geschaut und bewahrt hat.
Aber wo immer Matthäus, Markus, Lukas, Johannes, Paulus, Petrus und der Autor des Hebräerbriefes die Worte Jesajas variieren oder zitieren, wo immer die mündliche Predigt der Apostel und die Liturgie des Urchristentums das Lied vom unbekannten Erlöser mit dem Namen verbanden, der ihnen dabei auf dem Herzen lag und von den Lippen floss, da haben diese Jünger die von ihnen als Christuslied verstandene Offenbarung aus der babylonischen Gefangenschaft eben auch zu ihrem Lied gemacht.
Sie griffen es nicht nur auf und gaben es nicht nur weiter, weil es von Ihm, dem rätselhaften Opfer sprach, in dem sie Jesus erkannten und durch das sie Jesu Weg besser zu verstehen lernten, sondern auch weil im überlieferten Text des Propheten überdeutlich das „Wir“ vorkommt.
Niemand kann ja dieses, nach bibelkundlicher Zählung vierte und letzte Gottesknechtslied lesen oder hören, ohne geradezu drauf gestoßen zu werden, dass es nicht nur das Leiden des verkannten Gerechten meditiert, sondern auch dessen Zeugen zu Wort kommen lässt.
Der Chor der griechischen Tragödie, die reflektierende, betende, bekennende Stimme der Zuschauerversammlung, der Gemeinde, die in Bachs Passionen zur einzelnen Anima, zu einzelnen Seele verdichtet wird, ist eingeflochten in die Betrachtung des Martyriums des Allerverachtetesten.
… Und dennoch … oder darum haben die tatsächlichen Zeugen des Karfreitag und alle, die flohen, um nicht seine Zeugen zu werden, diesen großen, bitteren Ausschnitt eines auch für sie schon antiken Dramas als ihren Horizont gewählt, vor den gestellt sie nun im Rückblick erfassen und schildern konnten, was da unter Pilatus zu Jerusalem in den Tagen des Passafestes 33 geschehen war:
… Sie haben versagt!
Das grauenvolle Ereignis – das sie zwar weder hätten aufhalten noch hindern können oder dürfen – erging wohl als Verurteilung eines Unschuldigen, aber mit den Worten des Propheten gestehen die Jünger, gestehen die Urchristen ein, dass sie sich dadurch gerichtet wissen. Ihre dumpfe Teilnahms- und Verständnislosigkeit, ihre kalte, hartleibige Ignoranz, ihre Vor- und Falschurteile: Für alles das gibt der alte Jesaja den jungen Christen die Worte.
Und wenn sie nur einen der für alle späteren Zeiten karfreitäglichen Grundtöne irgendwo in ihren Evangelien oder Episteln anschlagen – „Er lud auf sich unsre Schmerzen“, „Er gab sein Leben als Schuldopfer, er gab’s in den Tod“ –, da klingt nicht nur den Christen damals, sondern da klingt in allen Ohren aller Zeiten auch der andere dröhnende, dringende Schlag, des „Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte“, „Wir hielten ihn für den, der von Gott geschlagen und gemartert wäre“ ….
Seit das Gottesknechtslied anfing zur Gemeinde Jesu Christi zu sprechen, hat es sie das Elend seines bitteren Todes nie mehr als Affäre sehen lassen, aus der sie sich hätten ziehen können.
Sie wussten es … und beim Propheten bestätigte es sich mit der Wucht eines uralten, plötzlich entzifferten Spruches, dass sie Beteiligte, Verwickelte, Belastete und Überführte dabei waren.
Weil es kein Lied nur von ihm, sondern auch von ihnen war. Ein Lied der Jünger, so mussten sie einsehen. Ein Lied von ihrer Schuld und dem, was sie Ihm antat. ———
… Und nun nehmen wir es nicht mehr als Lied der Jünger, der frühen Kirche.
… Nun nehmen wir es als unser Lied. …….
Wir können das kaum.
Zu tief sind wir eingenistet hinter den Wällen, die unser geschichtliches Denken und Verstehen, unsere wissenschaftliche Methode aufgeworfen haben.
Das Gottesknechtslied des Jesaja liegt auf der Karte unserer Welt, auf dem Zeitstrahl unseres historischen Bewusstseins in unendlich weiter Entfernung.
Früher, in den Worten Gotthold Ephraim Lessings hieß es, ein „garstiger Graben“ trenne uns von der biblischen Wirklichkeit[i]. Heute wissen wir, dass es ein Sicherheitsabstand ist, eine Schutzanlage, eine Gefahrenabwehr.
Was in Babylon geschah oder auf Golgatha oder in den Herzen und Gottesdiensten der alten Kirche, das kann uns nicht berühren, … und wenn ja, dann nicht betreffen … und wenn doch, dann nicht persönlich, nicht tief, nicht so, dass es uns bleibend zeichnet.
Doch gerade so stehen wir, wo Jesaja stand. Wo die Jünger standen …, vielmehr: wo sie wichen.
… Denn genau das ist ja die Tragödie und die Wahrheit, die das Lied des Propheten, das Lied der Jünger, das Lied der Christen heute so erschütternd eindringlich besingt: Niemand will ihn sehen!
Er ist zu entstellt.
Zu schauderhaft in seiner eiternden, röchelnden, zuckenden Erbärmlichkeit, die wenn nicht nach Anklage, dann doch immerhin nach Konfrontation riecht, nach einem Blick auf’s uns so glänzend verhüllte nackte Menschenlos.
Es wäre zu schmerzlich, wenn wir uns dem aussetzten, … geübt im Wegschauen, im Verdrängen, im kaltschnäuzigen Leugnen, wie wir nun einmal sind.
Unsere Mund-, Nasenmasken mögen neu sein. – Unsere Augenbinden, unsere Herzpanzer sind es nicht!
Dass wir vor den welken Kümmerlichkeiten, den ungeschminkten, ungeschmückten Anatomien, vor den hilflosen Wesen, deren Kadaver beim Schinder landen, ausweichen, empfinden wir als Menschenrecht:
Wozu sollten wir das ewig gleiche - uns selbst aber nicht drohende - Biafra-, Sahel-, Jemen-Elend wahrnehmen?
Wozu die Finsternis und Leere, den Sog und Zerfall betrachten, die aus den Augen derer starren, die nutzlos, süchtig, überflüssig ein Dasein fristen, für das die Menschheit millionenfach keine Verwendbarkeit sieht?
Wozu sollen wir Schuld, Angst, Schmerzen beachten, wenn wir sie doch professionell an den Rand unseres Gesichtsfeldes verlagert haben, wo die Dienste, die Kliniken, die Heime und Helfer sie entweder beheben oder - freiwillig, versteht sich - durch Beenden allen anderen ersparen?
Weg mit diesem allen. Es ist nichts, das uns gefallen hätte. ———
O Jesus, wie sind wir verirrt!
O Jesus, der du alle Krankheit und Schmerzen, alle Sünde und Strafe trägst, … o Jesus, der du die Hiflosigkeit, die in unserer Bosheit steckt, und das Leid, das in unserer Kälte verdichtet ist, am eigenen Leib aushältst, … o Jesus, dessen Not und Hässlichkeit die meinen sind, … o Jesus, den wir für abgeschrieben und erledigt, für überholt und sinnlos, für Vergangenheit, Dichtung oder Projektion erklären, den wir für nichts achten, … o Jesus, dessen Geschick uns so wenig angeht, wie das deiner Brüder und Schwestern, … o Jesus, lass uns dich sehen, dich erkennen, dich heute in deiner Marter erkennen, damit wir dich wiedererkennen können, wenn die Völker – und die Jünger, die Kirche, wir selber! – in Staunen versetzt werden, wenn Licht und Fülle dich umgeben, weil Gottes Plan gelungen ist!
O Jesus, den wir auf der Schlachtbank und im Grab der Gottlosen nicht deshalb sehen sollen, weil es nicht mehr zu sehen gäbe, sondern weil die Plagen und das Gericht, die du leidest, die Wirklichkeit deiner Mühe im Lande der Lebendigen und die Unschuld deines Sterbens Tatsachen sind, die Gott in etwas wendet, das alle Tatsachen, alle Wirklichkeit, alles, was wir kennen oder verdrängen, verwandelt und heilt.
Gott geht ja nicht an dem vorbei, an dem wir vorbei gehen; Er übersieht nicht, was wir übersehen; Er verlässt nicht, die wir verlassen; Er fehlt nicht, wo wir fehlen.
Weil aber Gott teilnimmt an dem, was wir verleugnen, öffnet sich eine andere Wirklichkeit … womöglich eine, die wir ebenso leugnen:
Vielleicht können unsere Augen und Köpfe, die das Unheil nicht wahrhaben wollen, auch das Heil nicht wahrnehmen.
Vielleicht sind wir, weil das erschreckend Hässliche uns abstößt, auch nicht frei, dem vollkommen Herrlichen zu begegnen.
Vielleicht würden die, die nur Krankheit bemerkten, die Gesundheit nie erfahren und die nur Lüge wussten nie in der Wahrheit leben können. …
… Vielleicht …, nein: Wahrscheinlich …, nein: Bestimmt gäbe es kein Licht für uns Blinde, kein Leben für uns tödlich Todgeweihte, keine Gerechtigkeit für uns verlogene Verlorene, keine Zukunft für uns Menschen, die den Gottesknecht verachten, wenn das Lied von ihm wirklich nur das Lied des Propheten Jesaja oder das Lied der Jünger, das Lied der Kirche von einst oder auch unser Lied, das Lied heutiger Christen und Christinnen wäre. …….
… Das alles ist es aber nicht.
Es ist weder zu erklären noch zu verstehen, wenn wir es bloß als solches nähmen.
Das Lied vom leidenden Gerechten, der unsere Schmerzen auf sich lud und unsere Krankheit trug, der unsere Missetat gebüßt, für uns gebetet und schließlich sein Leben für uns gegeben hat, um uns zu heilen und ins Licht zu holen, das ihm, dem Erhöhten zuteil wurde … dieses Lied ist das Lied Gottes!
Darum ist es das undurchdringlichste, rätselhafteste, offenbarungsmächtigste Lied aller Zeiten: Weil es wahr ist.
Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde?
Gebe Gott, dass es heute, dass es jetzt mehr werden! Dass Er heute mehr von uns gewinnt. Dass mehr von uns durch Ihn Gerechtigkeit, Wahrheit und Erlösung finden!
Und dass wir auf Sein Leid und Lied mit unserem Lied, unserer Liebe antworten.
Amen.
[i] Zu Lessings epochemachender Abstands-Metapher, die den Grundsatz ausführt, dass für aufgeklärtes Denken „zufällige Geschichtswahrheiten den Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie“ bieten können, gehören allerdings auch die beiden folgenden Sätze: „Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe. Kann mir jemand hinüber helfen, der thu es, ich bitte ihn, ich beschwöre ihn. Er verdient einen Gotteslohn an mir.“ Hier zitiert nach: Gotthold Ephraim Lessing Werke, Bd VI, Donaueschingen 1822, S.348 und 351.
Gründonnerstag, 01.04.2021, Stadtkirche, Johannes 13, 1-15,34f, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Gründonnerstag - 1.IV.2021
Johannes 13, 1-15.34f
Liebe Gemeinde!
Fangen wir hart an … in dieser neurotisch-empfindlichen und planlosen Zeit:
Die evangelische Kirche ist dement. … Sie hat das „Gedächtnis“ verloren.
… Dabei hat der Herr es doch gestiftet, damit es die Seinen orientiere, damit es sie begleite und ihnen in Fleisch und Blut übergehe als helfende, ordnende, steuernde Anwesenheit, als die zuverlässige Quelle aller menschlichen, täglichen, auch unbewussten Entscheidungen, Übungen und Wiederholungen, die das Leben fordert und die gelingen, wenn die tiefe Kraft strömt, die uns in der Fülle der Erfahrungen und Begegnungen des Daseins etwas wiedererkennen und dann richtig wählen lässt, die uns also sicher und souverän macht.
Dazu ist das Gedächtnis da: Der Speicher des Lebens, in dem Vergangenheit zum Augen-blick wird und Perspektiven noch bis an’s Ende unserer Tage schenkt.
„Er hat ein Gedächtnis gestiftet seiner Wunder, der gnädige und barmherzige HERR!“ (Ps.111,4). So beten wir an jedem Gründonnerstag mit dem unvergesslich sinnstiftenden Psalmwort.
Das Gedächtnis, … das erlösende Geheimnis der Erinnerung, des Gedenkens, von dem die hebräische Bibel und die jüdischen Geschwister in allen ihren geistigen, praktischen, rituellen Vollzügen leben. Das Gedächtnis, … die memoria, über deren intellektuelle und emotionale Aufklärungskraft der Kirchenvater Augustinus mit unvergleichlicher Schärfe und Staunen und Andacht so fruchtbar meditiert hat, dass Philosophie, Psychologie und Theologie bis heute daraus schöpfen. Das Gedächtnis, … der Seelenhort der Individualität, den wir heute weniger füllen und häufiger technisch auslagern und doch so existentiell vermissen, wenn er im Laufe langen Lebens abnimmt und sich auflöst. …….
Das gestiftete, das lebenswichtige Gedächtnis der Kirche ist das Abendmahl: Kein anderes Organ, kein anderes Medium vermag dem Körper der Kirche und allen ihren Gliedern das zu schenken, was in Brot und Wein eben nicht bloß Gehör und Gehirn – also die kognitiven Kanäle – erreicht, sondern das Gemüt, die Geschmacksnerven und den Gleichgewichtssinn von Leib und Geist erfasst … das vegetative System also, die Kreatürlichkeit des Menschen schlechthin.
Wo wir das Abendmahl feiern, ist das Leben Jesu Christi - des Hauptes - dem ganzen Körper am gegenwärtigsten, weil beides - Seele und Sinne - berührt und durch die Gedächtnisgegenwart, die Geistesgegenwart im Fleisch vom Heil erfüllt werden. ——
… Und dieses Wunder aktiver Durchblutung und pulsierender Christuswirklichkeit in uns Christen vergisst unsere Kirche je länger, desto folgenreicher.
Die Schusseligkeit, das Nicht-Wahrhabenwollen, dass man Wichtiges nicht mehr richtig wiederfindet und der daraus folgende Trotz, dass man es ohnehin nur selten wirklich brauchte, sind lange schon uns vertraute Erscheinungen des evangelischen Abendmahls(un)verständnisses:
Es fing an mit der Reformation, die das Gedächtnis nicht verlieren, sondern von der Bevormundung der als alt Empfundenen befreien wollte. Doch bei dieser Emanzipation geschah, was wir in unserer Gegenwart akut beobachten können: Wenn Gemeinsames - auch aus notwendigen Gründen - aufgegeben wird, folgt die Zersplitterung in vielfache Einzelsichtweisen. Wie dabei aber das kollektive Gedächtnis in lauter mehr oder minder private Ausschnitte, Vorlieben und Korrekturen zerfällt, kann man an den Abendmahlsstreitigkeiten und nach deren Abflauen an der zunehmenden Abendmahlsdämmerung in den protestantischen Konfessionen beobachten. Erst noch in persönlicher, dann bloß in konventioneller Pietät gepflegt, ist das Abendmahl mit der Zeit für die mündige Christenheit unverständlich, … befremdlich, … entbehrlich, … gleichgültig geworden.
Ihr Gedächtnis und ihr Mund merken es nicht mehr, wie leer sie allmählich sind, … wie unbelebt, wie abgestorben.
In den Monaten seit dem vergangenen Gründonnerstag ist mir nur hier und da noch ein Aufflackern der Erinnerung an das, was man nicht mehr regelmäßig zu feiern wusste, begegnet. Gewiss … wann immer wir es hier in der Kirche erleben durften, dass wir trotz aller Abgewöhnung das Gedächtnis Jesu Christi im Abendmahl ganz frisch an Leib und Geist erfahren konnten, da war eine so gesammelte, so greifbar ergriffene Dankbarkeit, wie sie zu erwarten ist, wenn die verschütteten Gestalten wiederkehren, wenn aus dem Vergessenen plötzlich wieder direkte Wirklichkeit wird.
… Aber hat die evangelische Kirche gemeinsam und vernehmlich nach der Feier des Sakraments verlangt?
Gab es Hunger bei uns zulande nach jener Gegenwart Gottes, des Sohnes, die nicht vermittelt, nicht medial, sondern unmittelbar Gemeinschaft seines Leibes und Blutes (vgl.1.Kor10,16) in unserer direkten Leiblichkeit ist? ——
Dabei hätte gerade unsere Kirche – der das priesterliche Tun Jesu in der Danksagung, der „Eucharistie“ bei der Einsetzung des Passaritus zu seinem Gedächtnis unheimlich ist – einen genuin protestantischen Grund, das Abendmahl ernst zu nehmen, wann immer wir den Bericht des Johannes von der Fußwaschung hören.
Diese Fußwaschung, die nicht das Abendmahl, sondern seine konkrete, unmissverständliche Darstellung und Begründung ist, … diese Fußwaschung ist eine so typisch prophetische Zeichenhandlung, wie sie Jesus mit dieser Tragweite ein einziges Mal vollzogen hat.
Keine andere Tat sonst zeigt uns jedenfalls das prophetische Amt Jesu - das die reformatorische Theologie besonders liebte - so sprechend und einleuchtend, so einprägsam und elementar wie dieser einfache Ausdruck der zu jedem Dienst und jeder Demut bereiten Liebe.
Die Propheten Israels vollzogen solche Taten, solche von ihnen selber ausgeübten und erlittenen lebendigen Symbole als allgemeinverständliche, sinnenfällige Vorwegnahmen und Unter-streichungen, als Illustrationen und physische Vergegenständlichungen ihrer Botschaft oft.
Hoseas ganzes Leben und Wesen etwa war von symbolischen Handlungen zerfleischt (vgl. Hos1+3): Ihm wurde wiederholt aufgegeben eine Prostituierte heiraten, um die Drastik der gestörten Bundesbeziehung zwischen Gott und Seinem Volk zu demonstrieren, und die Kinder dieser Ehe versinnbildlichten nach Herkunft und Namen die Spannungen zwischen Liebe und Verrat noch biographischer. Hesekiel wiederum – der priesterliche Mystiker unter den Propheten – wurde zu überspannten, exzessiven Zwangshandlungen getrieben, die in psychosomatischen Tabubrüchen die traumatischen Folgen der Abwendung von Gott konkretisierten (vgl. Hes.3f+24,15ff). Jeremias persönliche Passionsgeschichte wurde von teils öffentlichen, teils verborgenen Inszenierungen unterstrichen (vgl. Jer13+19), die ihn als leibhaftiges Zeichen dessen auswiesen, was er weissagte, … z.B. wenn er die Drohung von Frohn und Exil durch das absurde Herumtragen eines Joches vor den Augen der Tempelgemeinde unübersehbar machen sollte.
Solche Sprache der Tatsachen, der lebenden Bilder, der persönlichen Verschmelzung mit der eigenen Verkündigung gebrauchten die Propheten, um ihre Sendung zu beglaubigen.
Solche klare Sprache überraschend eindeutiger Tatsachen spricht auch die Fußwaschung, in der Jesus zu seinem eigenen Propheten wird, dessen Auftrag mit seinem Auftritt einswird.
Jesus ist – so zeigt es die Zeichenhandlung vor dem Beginn des Passmahles – die Hingabe.
Jesus ist durch seinen Todes- und Erhöhungsweg zum Vater persongewordener Dienst, er ist personifizierte Wohltat.
Weil er es ist, der die Seinen reinigt. Weil er es ist, der durch sein Zuvorkommen den Seinen reichlich Anteil gibt an dem, was er für sie tun will.
Weil er bewusst seinen Weg wählt und keinen Widerspruch dagegen duldet.
Dass diese bewusste Wahl sich gerade in der Fußwaschung unverkennbar ausdrückt, zeigt nicht zuletzt der Widerstand, den Petrus sofort erhebt.
Die typische Sklavenaufgabe, die Jesus sich mit solcher majestätischen Selbstverständlichkeit aneignet, indem er sich halb entkleidet und das Handtuch wie eine Schürze um seine Hüften knotet, war nämlich schlicht ein praktizierter Skandal: Nach rabbinischem Recht durfte man von einem jüdischen Sklaven einen derart entwürdigenden Dienst nicht in Anspruch nehmen.
Was Jesus also demonstriert ist seine unzweideutige, eigene Entscheidung zu vollständiger Demütigung und völliger Erniedrigung, … einer Demütigung, deren Zweck darin zu finden ist, dass sie anderen so unmittelbar zugutekommt wie er sie vollzieht. ——
… Dieses sich selbst auslegende Zeichen also empfindet Petrus sofort mit der Empfindlichkeit eines evangelischen Theologen, der bestimmte Standards menschlicher Selbstbestimmung nicht unterschreiten lässt. Er sträubt sich gegen eine Geste, die eine so vollständige Selbsthingabe bezeichnet.
Doch eben die Totalität, die Wirklichkeit dessen, was Jesus aus freien Stücken leisten will, spricht aus der schlichten Symbolhandlung, die Johannes unter die grandiose Überschrift setzt: „Wie er die Seinen geliebt hatte, die in der Welt waren, so liebte er sie bis ans Ende.“
Eine Tat vorbehaltloser Liebe also wird mit dieser Deutung eingeleitet, und die so gedeutete Liebe, die sich im Tisch- und Sklavendienst realisiert, ist ihrerseits volle und gültige Interpretation dessen, was in der Passafeier, im Abendmahl besiegelt und im Anschluss daran durch die Ereignisse der Nacht von Gethsemane und des Morgens auf dem Steinpflaster von Gabbata und dann bis zum bitteren Ende des Tages auf Golgatha vollzogen wird.
Jesu reiner Dienst an den Jüngern erschließt auf der Tat-Ebene die Bedeutung des feierlichen Mahles, das seinerseits in Fleisch und Blut den Sinn des Leidens und Sterbens Jesu vermittelt. ———
Alle drei Ebenen des Gedächtnisses sind also organisch verknüpft: Was einst geschah, wie es in Erinnerung bleibt und was das Gedenken daran bewirkt.
Was geschah? – Jesu Blutvergießen und Lebenshingabe am Kreuz.
Wie es uns in Erinnerung bleibt? – Durch die Zeichenhandlung der Fußwaschung als frei gewählte, radikale Entscheidung Jesu, die Seinen hingebungsvoll bis ins Letzte, … ins Leid, … in den Tod zu lieben.
Was solche Erinnerung, solches Gedenken auslöst? – Die tatsächliche, lebendige Vermittlung des Leibes und Lebens, die Jesus aus Liebe einsetzt, auch an uns jetzt, in unserer Gegenwart, damit sie durch das Abendmahl in unserm Leib und unserm Leben wirksam seien.
Uns begegnen also Vergangenheit, Vergegenwärtigung und künftige Verlebendigung im Abendmahl, … Ereignis, Sinn und Segen.
Vollkommener und vollständiger können wir nicht mit Jesus, kann er nicht mit uns verbunden sein, als indem wir leibhaftig in seine Entscheidung, seinen Willen einbezogen werden, sich selbst als das Leben für andere einzusetzen, darzubringen, dahinzugeben.
Welch’ eine Liebe! Welche überwältigende Konsequenz! Worte können nicht beschreiben, Bilder nicht wiedergeben, Musik nicht ausdrücken, dass diese damalige und einmalige Bereitschaft Jesu uns zu helfen, uns zu erfüllen, unser Leben, unsere Hoffnung, unser Heil zu sein, hier und heute gültig und wirklich ist.
Man kann es nur erfahren, nur „schmecken und sehen“, wie der Psalm (Ps.34,9) es mit den beiden intensivsten biblischen Ausdrücken für Wahrnehmungen sagt, die die Sinne dem Sitz der Erkenntnis vermitteln.
Jesu Liebe durch den Empfang seines Lebens in Brot und Wein tatsächlich zu er„leben“ – unser anderes deutsche Wort für Erfahrungen ist ja noch stärker –, bleibt die Möglichkeit, durch die Christinnen und Christen, durch die die Kirche bei Trost sein kann, die Möglichkeit in planloser und schmerzlicher Zeit das Gedächtnis, das Orientierung und Sicherheit gibt, nicht zu verlieren. ——
Es ist ein Jammer, dass wir das Abendmahl nur zu wenigen feiern können, dass wir aus Vor- und Rücksicht vielleicht länger noch verständlichen Verzicht darauf üben müssen.
Aber an uns sollte es nicht liegen. Als die bis zum Ende, als die final Geliebten wollen auch wir lieben, … ihn und einander, in gegenwärtiger Wirklichkeit.
Denn das ist das alt-neue Gebot an die, die von Jesus leben: Lieben.
Doch es speist sich nicht aus Theorien oder Imperativen, sondern daraus, dass er uns zuerst geliebt hat (1.Joh4,19)!
Das empfangen und erfahren wir im Abendmahl, das durch die radikale Zeichenhandlung der restlos sich einsetzenden Liebe gedeutet wird und uns den Gekreuzigten lebendig schenkt.
So erfüllt sich tatsächlich der uralte Vers – Bernhard von Clairvaux zugeschrieben – der das Thema unserer Tage - Abstand oder Präsenz – vorwegnimmt:
Iesu dulcis memoria,
dans vera cordis gaudia:
sed super mel et omnia,
eius dulcis præsentia.
Jesu wunderbares Gedächtnis
gibt dem Herzen wahre Freude,
aber über Honig und alles andere weit hinaus
geht seine köstliche Gegenwart.
Amen.
Palmsonntag, 28.03.2021, Stadtkirche, Hebräer 11,1 - 2.12, 1 - 3, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Palmarum - 28.III.2021
Hebräer 11,1-2 & 12,1-3
Liebe Gemeinde!
Wozu braucht die Welt Zeugen?
– Heute zum Blenden. Als Publikum. Als Beliebtheitsfunktion: Je mehr Menschen etwas gesehen haben, desto schöner muss es sein. Und wenn viele es schön fanden, dann bestätigen die Vielen nicht nur das schön Gefundene, sondern ihr eigenes Schönfinden. Das Angesehene wirkt sich durch die Sichtbarkeit seiner Zuschauer nicht nur auf deren Ansichten aus, sondern steigert zugleich ihr eigenes Ansehen, weil sie das allseits Anerkannte eben auch erkennen und nicht blind für das sind, was so sehenswert ist. Durch dieses Spiel des Spiegelns und Widerspiegelns, das etwas Gesehenes immer mehr vergrößert und sichtbarer macht, werden schottische Briefträger zu Berühmtheiten über Nacht, wenn TikTok ein uriges Seemannslied zum Welterfolg hochschaukelt. Nathan Evans, dem das vor zwei Monaten widerfuhr, hat es wahrscheinlich sogar verdient, dass seine Begabung zur Beliebtheit führte[i].
Doch das Sehen und Gesehen-Werden, das Sehen auf Gesehenes und das Ansehen der Sichtbaren ist dem geradewegs entgegengesetzt, was als die beste biblische Bestimmung des Glaubens gelten muss: Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht und feste Zuversicht dessen, was man hofft.
Wenn doch etwas nicht sichtbar ist, wie soll man dann darauf achten? Wenn etwas nicht schon im Glanz der Sensation strahlt, warum soll man es dann schätzen? …….
Merke: Der Glaube ist unsinnig eigensinnig. Er nutzt nicht die Schneeball-Funktion, die etwas immer größer macht, je man dran kleben bleibt. Stattdessen bedient sich der Glaube solcher Gesetzmäßigkeiten, die dem Entstehen von Popularität gewöhnlich todsicher widersprechen: Ungreifbar, entzogen, abseitig, abstoßend, unansehnlich, unsichtbar … so soll sein Gegenstand doch sein, wenn er sich denn gründet auf das, was man nicht sieht und festmacht am Nicht-Vorhandenen. …
Aber kann das überhaupt sein? Kann der christliche Glaube so gegen alle Logik und Mechanik des Aufmerksamkeitsmanagements verstoßen?
Heute ist dafür der Entscheidungstag. Denn heute sind Erfolg und Glaube ganz kurz ganz synchron: Eine schaulustige Menschenmenge hat ihn ausfindig gemacht – und er hat ja zugegebenermaßen mit dem symbolischen Eselsritt über den roten Teppich ein sehenswertes Spektakel inszeniert! – , und siehe da, die Beifallchöre, die enthusiastischen Zeugen von Jesu TikTok-Augenblick machen daraus das, was mit einem ganz von ferne noch an das ursprüngliche Griechisch erinnernden Überschwangsausdruck ein „Hype“ genannt wird.
Palmsonntag, der Einzug in Jerusalem unter den frenetischen Fangesängen ist Jesu Hyper-Erfolg. Ganz kurz ganz oben; ganz kurz ein öffentlicher Darling. … Der verglüht wie alle Sterne.
Die Welle, die am ersten Tag der Karwoche aufbrandet und deren „Hosianna!“-Tosen durch die Jahrhunderte bis zu uns dringt, ist natürlich ein Ereignis, auf dem man gerne weitersurfte:
Der gut angekommene, der gefeierte, der gehypte Jesus ist etwas, das wir bei vielen Gelegenheiten als Motivation empfinden, und auf jeder unserer Konfifreizeiten, bei jedem Kirchentag, bei jeder Evangelisation, bei jeder liturgischen Prozession, in allen Mega-Churches wird es nachgespielt: Jesus Christus, Top of the Pops, Influencer einer weltweit wachsenden community, strahlender Pantokrator … Gottkönig von Byzanz.
… Auch mir werden dabei regelmäßig die Knie weich, wenn ich ihn mir in seiner herrscher-lichen Herrlichkeit vorstelle. Auch ich glaube, dass wir dem Tag entgegengehen, von dem das älteste Lied der Christen spricht[ii]: Wenn alle Knie im Himmel und auch Erden und unter der Erde sich ihm beugen und jede Zunge bekennen wird, dass Jesus Christus der Kyrios ist zur Ehre Gottes, des Vaters (vgl.Phil.2,11)! ———
Aber genau dafür haben wir keine Zeugen! Es gibt in der Christenheit keinen Palmsonntags-Glauben … und wo es ihn gab oder geben sollte, da ist es reiner und tödlicher Irrglaube!
Nicht jenen publikumswirksamen Augenblick der Beliebtheit haben uns die Apostel ja als Grund des Glaubens überliefert, und ihre Missionspredigt war nicht: „Wir haben ihn auf dem Gipfel der Popularität erlebt …“
Ihre Predigt war vielmehr die Predigt vom Kreuz … und dort hat ihn nur einer gesehen, der in seinem eigenen Schmerz auch noch die leidende Mutter, die mater dolorosa als Aufgabe und Halt empfing (vgl. Joh.19,26f), … die andern Zehn aber sahen und bezeugten nichts, weil sie es nicht ertrugen.
Und doch kommt von daher der Glaube, die Zuversicht auf das, was man nur hoffen kann und das Nichtzweifeln an dem, was man weder beobachtet und erkannt noch ausgehalten hat. ———
Das ist die Eigenheit und das Rätsel, aber auch der Sinn und das Wunder des christlichen - biblisch begründeten - Glaubens: Er lebt von Zeugen des Ungesehenen; er lebt von der Festigkeit dessen, was nicht greifbar ist; er lebt von der Sicherheit des Nichtbewiesenen, … von der Tragfähigkeit des Versprochenen, … von der Nähe des Kommenden und vom Bleiben Dessen, Der sein wird, der Er sein wird (vgl.2.Mose3,14).
Und dafür – für das, was wird, … für Den, Der kommt, … für die Wirklichkeit, die alles Wirkliche überholt und für „die Welt, die unsichtbar sich um uns weitet“ (EG 65,6) – …für das alles haben wir eine Wolke von Zeugen, wie der Hebräerbrief sie in seinem ganzen herrlichen 11.Kapitel schildert: Zeugen, die der unbekannte Gott mehr birgt und schützt als die vertraute Heimat, … Zeugen, die ein Volk, das noch gar nicht existiert, in die endlose Gefahr und Freiheit der Weltgeschichte führen, … Zeugen, die kämpfen und opfern für das, was sein soll und gegen das, was ist, … Zeugen, die mitten in der härtesten, machtvollsten, prächtigsten Realität etwas noch Besseres noch ernster nehmen, als alles, was es schon gibt, was sie noch haben, was sie einst verlieren. ——
Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert ….
Was aber beschwert uns denn … oder – weil die Aufforderung, es der Wolke von Zeugen nachzutun, weitergeht: „lasst uns ablegen alles, was uns beschwert und die Sünde, die uns umstrickt“ – was ist denn die Sünde?
Offenbar das Vertrauen allein auf das Sichtbare und eine Zuversicht, die nur am Vorhandenen festgemacht wird.
… Aber genau das trifft uns ja bis in jede Faser! Das sind wir doch durch und durch: Menschen, die es gewohnt sind, nein, die es gelernt haben, … mehr noch, die es erforscht und studiert haben, dass man dem kritischen Blick, der wissenschaftlichen Durchleuchtung, dem streng auf das Materielle, das Messbare konzentrierten Sichtweise den Vorzug vor allem allzu Windigen, vor Hirn-, Luft- und Wortgespinsten gibt. Man muss zeigen - also nachweisen und vorrechnen - können, worum es geht, was man draufhat, wieviel man wert ist. Was sich nicht darstellen, was sich nicht sehen lassen kann, ist für uns nichts. ———
Doch was hatte der, der an Palmsonntag populär war, wohl vorzuweisen?
… Geliehener Esel, gestundete Zeit.
Abgelaufen das Schuhwerk, abgewetzt der Rock. Ausgestreuter Same des Wortes, das im Verborgenen unsichtbar wachsen muss und zu gleichen Teilen zertreten wird, davongetragen und verdorrt. Er hatte kein Empfehlungsschreiben von Dem, Der ihn gesandt hatte. Er besaß weniger als die wilden Tiere, die Nester und Gruben ihr Zuhause nennen. Er ließ sich einladen, und feierte das abendliche Finale seines Lebens in einem nur für diese Stunde ihm überlassenen Saal. Ein Einziger aus seiner Mannschaft hat in dieser Bettelwoche von Jerusalem, in der eine arme Frau ihn mit ihrem Scherflein beeindrucken würde, überhaupt etwas verdient, … dreißig Silberlinge.
Am Todestag schließlich musste man ihm sogar das Letzte und Endgültige noch borgen: Geliehener Esel, gestundete Zeit, geborgtes Grab. …….
Palmsonntagsglaube? Eine reine Fiktion. Schneller abgeebbt als jeder Hype von heute.
Wenn wir unser Vertrauen auf den setzen, der einen Tag lang die Gunst der Menschen genoss, dem einen Tag lang eine Kampagne gelang, die für werbende Hochstimmung gut war, dann sind wir leichtgläubiger und dümmer und betrogener, als alle algorithmisch und sozial-medial Verführten von heute. ——
Es sollte etwas anderes sein und bis zu dieser Stunde bleiben, das Glauben an den stummen Todeskandidaten begründet, den die Massen benutzten, um ihren eingebildeten, frustrierten, projizierten, missbräuchlichen Jubel über ihm auszukippen:
Nicht, wie er gewann, sondern wie er verlieren konnte.
Nicht, wie er besaß, sondern wie er verschenkte.
Nicht, wie er ein Hoch herbeiführte, sondern wie er in die Tiefe voranging.
Das, was er aus den Jahren in Galiläa, zwischen Jordan und Genezareth, was er von den Wanderungen bis in die phönizischen Küstengegenden und durch das unheimliche Samarien mitbrachte, das, was er in der Wüste und auf dem Berg Tabor erfahren hatte, war alles nicht sichtbar, war alles nicht greifbar, war alles nichts wert.
Doch es trägt den Glauben.
Weil er lieber gefastet und gedürstet hatte, als teuflisch satt und froh zu werden.
Weil er überall den Schuldnern und den Schuldigen genommen hatte, was sie erstickte … und es selber trug.
Weil er Not nie mied und die Verlorenen, die Nichtse, die unstillbaren Nehmer fand.
Weil er die Gier und den Geiz bezwang, als wären sie machtlos, indem in seiner Gegenwart plötzlich Brot gebrochen und nicht vor andern Hungrigen versteckt wurde.
Weil er mit den jämmerlichen Reichen, die so gefangen sind, trotzdem von der Hoffnung sprach, Gutes zu tun.
Weil er mit den Verworfenen, die in den eigenen Augen und denen der Welt gezeichnet sind, das reine Garnichts, das seine bloße Nähe war, bis zur Verausgabung teilte.
Weil er mit leeren Händen Herzen füllte.
Weil er ohne jede Kunst und alles Werkzeug Zerbrochene heilte und Leben aufbaute.
Und weil er das Böse so an sich rütteln und reißen ließ, dass alle Dämonen, alle Quälgeister, alle Feinde der Menschen, die doch immer nur greifen und besitzen wollen, Reißaus nahmen, wo ihnen die für sie schreckliche Macht seiner selbstlosen Liebe widerstand. … Selbst der Tod, den er erfuhr wie kein zweiter Sterblicher, konnte genau wie der Sturmwind vor seinem schutz- und furchtlosen schlichten Dasein, wo alles sonst alle verlässt, nicht bestehen.
Als solcher – arm bis auf die Knochen, wehrlos bis in den Grund, mittellos in allen seinen Wundern – als solcher hat er sich dem Widerspruch zwischen sich und allen anderen Maßstäben und Mächten ausgeliefert.
Und entgegen allen Devisen, die uns an den Erfolg der Tüchtigsten, das Recht der Starken, die Bedeutung der Blender glauben machen wollen – gegen alle Palmsonntags-Populär-Theologie – , ist Jesus im Verzicht auf das alles, im Aufgeben aller seiner Ansprüche auf Macht und Herrlichkeit und Ruhm und Ehre zum Anfänger und Vollender des Glaubens geworden.
Weil man eben nur darum an ihn glauben konnte und kann … was doch so viel mehr ist, als ihn zu beklatschen oder anzuhimmeln. Man kann das Hoffnungweckende an Jesus gerade nur in seiner Verborgenheit und Versenkung in Leid und Dunkel fassen, darum weil kein Menschenleben nur Palmsonntagshöhe hält, sondern Gethsemane- und Golgathaabgründe nirgends erspart bleiben.
In denen aber gibt es nichts mehr als ihn.
Nur dieser Jesus, der in einer Woche vom Gipfel bis zur Hölle gestürzt wurde, kann alles, was als Glaube anfängt, da noch bewahrheiten und vollenden. —
Und dass er das tut, das haben die, die ihn selbst am Kreuz nicht anzusehen vermochten, erlebt und bezeugt: Dass die Wirklichkeit Gottes nicht messbar ist, sondern unermesslich. … Eine Woche nach Palmsonntag zeigte es sich.
Dass nichts, das einmal bleiben wird, bezahlbar ist, weil es alles nur den einen Preis hat: Dass Gott sich aus freier Gnade mit dem Bleibenden verbindet. … Eine Woche nach Palmsonntag zeigte es sich.
Und dass wir darum nichts von eines Menschen und nichts von Gottes Zukunft vorhersehen oder bestimmen können, sondern wenn irgendetwas, dann Hoffnung ohne jede Bedingung vor uns liegt. Eine Woche nach Palmsonntag … ————
Legen wir also alles ab, was uns in dieser undurchsichtigen, trüben, verworrenen Zeit beschwert. Lösen wir uns von den Bindungen an das, was wir zu beherrschen meinen, das in Wahrheit nur uns beherrscht.
Wir können nichts Besseres tun, als aufzusehen zu Jesus. Und da, wo er ganz und gar verschwindet, uns verloren geht, aufhört – noch in dieser Woche –, … da beginnt das Zeugnis von dem, den wir nicht sehen und doch liebhaben und mit dem wir uns in unaussprechlicher Freude freuen werden am Ziel (vgl.1.Petr.1,8f), wenn er erhöht ist und alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben (vgl.Joh3,15) und jede Zunge bekennt: Kyrios ist Jesus Christus (vgl.Phil.2,11)!
Amen.
[i] Hier der (nach der Kritik der click-’n-like-Sitten und -Sehgewohnheiten schön paradoxe!) link zum „viralen“ Wellerman-Shanty (mit Nathan Evans, aber hier natürlich ganz hochkulturell verpackt): https://www.youtube.com/watch?v=LpaDQB1xDyQ
Unzählige weitere Versionen im Internet und auf den Plattformen belegen den weltweit getroffenen Nerv, den das Lied vom Warten in der Ära eines globalen Festsitzens berührt hat.
[ii] Der sog. „Christus-Hymnus“ (Phil 2,6-11) mit seinem – auch ethisch verstandenen – Motiv von der Selbstentäußerung (Kenosis) des präexistenten Christus in die Sklavengestalt des Hingerichteten, dem seine österlich-eschatologische Erhöhung folgt, ist von altersher die Epistel des Palmsonntag und eine der zentralen Quellen aller christologischen Bekenntnisse und Glaubenssätze.
Judika, 21.03.2021, Stadtkirche, Hiob 19, 19 - 27, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Judika 21.III.2021
Hiob 19, 19-27
Liebe Gemeinde!
Wissen und Glauben. … Lea und Rahel.
… Wie Jakob sollten wir sie beide heiraten.
Auch wenn die eine Schwester uns anders anzieht als die andere, sind beide doch dem Menschenleben treue und unentbehrliche Partnerinnen.
Natürlich sind sie nicht einmütig.
Das Wissen bleibt beim Bekannten. Der Glaube traut sich ins Abenteuer.
Die eine glaubt also die Gretchenfrage ihrem herben Wesen gemäß negativ beantworten zu müssen: „Weißt Du von Gott?“ – Nein!
Die andere Schwester - Schwester Glaube, die Liebliche - weiß das Gegenteil zu sagen, wenn man an ihr Wesen appelliert: „Glaubst Du an Gott?“ – Ja.
Ihre Kinder aber – diese abgesicherten und unabgesicherten Antworten, die sie hervorbringen – geben beide Schwestern auch der anderen in Pflege, so dass die Frucht von Wissen und Glauben bei der anderen jeweils lernen zu zweifeln, zu hoffen, zu wachsen und aufrecht zu sein ohne Erstarrung.
Wo dieses Dreieck von Jakob, Lea und Rahel, von Menschsein und Ratio und Fides, dieses Dreieck des Menschen mit seiner Kritik und seinem Vertrauen ausgewogen bleiben kann, da ist gesegnetes Leben. … Doch solcher Haus-, Hirn- und Herzsegen ist nicht unerschütterlich: Er kann von Außen wie von Innen angegriffen und gestört werden, und dann leiden sie alle an einander, um einander und ohne einander.
Die Spaltungen, das Misstrauen, die Enttäuschungen, die Entfremdung, die wir aus allen unseren angefochtenen Verbindungen kennen, können das Zusammenleben und die Zukunft des Ich und seiner beiden Hälften zu einem Martyrium, einer Passion machen.
Millionen solcher Leidensgeschichten – zwischenmenschlicher und innerseelischer Kreuzwege – gibt es. Darum sind die sechs Wochen, in denen wir alljährlich nicht das Strahlende, sondern die Schatten des Lebens betrachten, allenfalls zu kurz, keineswegs zu viel: Die Wahrheit zeigt sich jedenfalls häufiger in den getrübten, den gebrochenen Erfahrungen, als in den retouchierten, gefärbten Reklamen voller makelloser Harmonie, die wir heute so gern an der Stelle unseres eigentlichen Gesichts und unserer eigentlichen Geschichte aushängen.
Der große Erzmärtyrer der menschlichen Zerrissenheit, dessen schmerzhafte Lebens-, Sinn- und Glaubenskrise Jahrtausende lang akut geblieben ist, weil nichts Erbauliches, keine fromme Entschärfung sie je abstumpfen konnte, ist Hiob.
Hiob ist der Mensch, dem das lebenserhaltende Bündnis zwischen Wissen und Glauben – man könnte auch sagen: das Band zwischen Erfahrung, Empirie und heiler oder heilungsfähiger Deutung des Erfahrenen– gewaltsam zerrissen worden ist.
Hiobs gewaltige Folter, die alle Züge des stellvertretenden, des uns einschließenden Leidens hat, ist jedem von uns – wenn auch selten in solcher Wucht – vertraut: Alles, was ist, widerspricht allem, was sein sollte. Das Erleben zeugt gegen jede Verständlichkeit. Heillose Willkür raubt dem Dasein alle Zeichenhaftigkeit. Stumm, unentschlüsselt, widersinnig tobt sich die Wirklichkeit am Menschen aus. ————
Doch ehe wir Hiob ganz und gar zum Inbegriff der Unbegreiflichkeit machen, die so viele denkende Zeitgenossen erkennen und so viele Leidensgenossen der Unrechtsexzesse, der Armutsspiralen, der zynischen Hochrisikoökonomie unserer Tage erleiden, … ehe wir Hiob also allzu gut zu verstehen meinen in seiner Verständnislosigkeit angesichts der eigenen Realität, müssen wir seinen berühmtesten Schrei zunächst allerdings ernsthaft anhören.
Denn die Leidensekstase, die wir mit Hiob verbinden, wird nicht übertönt, wird nicht überstrahlt von einem großen Licht, von einer Klimax, die das Dunkle sprengt und eine allerletzte Tröstlichkeit über alledem zu entdecken vermag.
Hiobs bohrendster Schmerz ist ja nicht etwa nur das, was wir mit ihm verbinden: Dass er vor lauter Schicksalsschlägen den Glauben verlieren musste. Das zwar bestimmt, … doch Hiobs Pein ist schrecklicher. …
Sein Glaube ist vergangen. Nur ist sein Wissen nicht gleichzeitig gelöscht worden.
Hiob hat die eine, aber nicht die andere der notwendigen Lebenshilfen verloren.
Und da zeigt sich, dass die Möglichkeit des nackten Begreifens ohne die Möglichkeit zu vertrauen noch abgründiger ist …….
Leider also hat der innige Ton, mit dem der erlösende Auferstehungsteil von Händels Messias beginnt – jene aufsteigende, blühende Quarte, die viele im Ohr haben, wenn sie lesen „Ich weiß, … dass mein Erlöser lebet“ – uns Hiobs Anklage nur österlich zu verstehen gelehrt.
Doch es ist kein österliches Wort.
Es ist ein Karfreitagsschrei.
Der völlig um Haut und Haare gebrachte, von allem Stoff des Menschseins entblößte, der bis auf die Knochen wundzerriebene Hiob, dem seine vermeintlichen Freunde weismachen wollen, dass mit rechten Dingen zugehe, was in Wahrheit nur sinnlos ist, würgt am schlimmsten aller Rätsel: Nicht, an Gott nicht glauben zu können, … sondern von Gott überzeugt zu sein … Ihn aber nicht im Entferntesten zu verstehen.
Hiob ist eben nicht mit der Möglichkeit Gottes fertig – wie die allermeisten derer, die heute nicht „glauben“ können, es sind –, sondern er zerbricht an der Unmöglichkeit, seines gegebenen Gottesbewusstseins froh werden zu können. Hiob kann – zu seiner Qual – nicht ausschließen, ja, er kann nicht einmal leugnen, dass Gott wirklich ist, aber er findet nichts vor, das dieses Bewusstsein, dieses Wissen zu einem fröhlichen machte. ——
Wohl denen – so möchte man angesichts dieser Wendung ausrufen! –, die Gott einfach hinter sich haben, für die Er erledigt ist! Sie werden vielleicht einmal Heimweh oder den Wunsch nach einer Phantasie empfinden, aber ihnen ist klar, dass sie dabei Unsinnigem, Unwirklichem nachhängen.
Wie viel schwerer haben es dagegen die, die das wirkliche Unsinnige erblicken und Gott dennoch vor sich haben! Dieses tragische Bewusstsein – »Gott ist, … Gott ist…, aber Er ist „fremd“… « – … dieses tragische Bewusstsein Gottes ist der furchtbare Zustand Hiobs, der der getrosten Gewissheit entgegengesetzt ist, die wir im „Ich weiß, dass meine Erlöser lebt“ zu hören meinen.
Es ist also vor allem anderen schneidende, verzweifelte Anklage, dieses „Ich weiß doch, dass Du lebst! Und darum graut’s mir abgründig davor, dass Du nicht ein Phantom, sondern ein absolutes Mysterium bist! Du kannst mich sehen, Du kannst mich hören, Du kannst mich fassen, … und ich kann gerade das alles nicht! Du lebst und ich sterbe! Du bist und ich vergehe! Du bist Gott – das weiß ich – … und dieses Wissen soll so sinnlos sein?!“ ——
Christen dürfen nicht so tun, als überrasche dieser Schrei sie. Der, nach dem wir heißen, hat genau das gleiche erlitten: Sich „von Gott verlassen“ fühlen, kann nur der, der von Gott weiß.
Und wenn Christen wirklich nicht zur Kenntnis nähmen, dass Christus Hiobs Not und Hiob das Leiden Christi geteilt hat, dann sind da doch in unserem 21.Jahrhundert keine Schlupfwinkel mehr, in denen sich noch eine Frömmigkeit vor der Wahrheit verstecken könnte, die kein angefochtenes Gottesbewusstsein davongetragen hätte.
Die Verdrängungsbereitschaft des Christentums ist zwar erstaunlich und sein selektives Mitleid ebenso, das man wahlweise den Heiden, den Häretikern, den Ungläubigen, den Ungetauften, denen mit der falschen Konfession, denen von minderer Herkunft, den sog. unzivilisierten Wilden oder den Aufgeklärten, den Atheisten und Agnostikern entzogen hat.
Aber im 20. Jahrhundert ist die eine, uranfängliche Mitleidslosigkeit und Schuldverschiebung des Christentums so apokalyptisch entfesselt worden, dass alle, die heute leben, es entweder als die Geschichte ihrer Schuld und ihres möglichen Scheidebriefs von jedwedem zukunftsfähigen Glauben und Wissen erkennen, oder aber nie mehr in das Kraftfeld Gottes, in die Anziehungs- und Abstoßungskräfte geraten werden, die das Zentrum, der Urquell, das schwarze Loch ausüben, das alles freisetzt, bindet und wiederum in sich zurückholen wird: Das Giftgas von Auschwitz war auch die Schuldentladung der Christen.
Hiobs Schrei und die Verlassenheit der Klagelieder und die Entwurzelung, von der noch in unserer Mitte Rose Ausländers Leben gezeichnet war, … diese an Gott adressierten Verzweiflungsvorwürfe sind seitdem entweder ein Grundmotiv aller christlichen Selbsterkenntnis oder sie sind das Verdammungsurteil derer, die die Tragik Gottes nicht wahrhaben wollen. —
… Dass Gott, der Erlöser lebt und dass wir dennoch sind, wie wir sind und die Welt ist, wie sie ist: Das ist also entweder der Widerspruch, den wir mit Hiob erleben müssen – koste es uns auch die intellektuelle Gottesidee oder die seelische Glaubensgewissheit … – oder es ist unsere Verwerfung. ———
Warum aber geben wir dann nicht auf? Warum geben wir nicht einer von beiden oder gleich Lea und Rahel, Ratio und Fides den Abschied? Wieso noch am Gedanken Gottes festhalten, wenn Vertrauen auf Ihn so unsinnig geworden ist? Weshalb noch einen Glauben pflegen, der nicht mehr tatsächlich begründet werden kann? …….
Auf einen wagemutigen Versuch, diese endgültig existentielle Frage anzugehen, weist das Buch Hiob uns spektakulär deutlich hin, … doch die wenigsten Ausleger wollen dem Wink folgen.
Hiobs Passion beginnt ja mit einem verunsichernden, nein, einem perversen Skandal: Einer Wette im Himmel.
Satan, der Vernichter aller Freiheit und Klarheit, pokert um das menschliche Gleichgewicht mit Gott. „Wenn Du Hiob die scheinbaren Gottesbeweise seines Glückes nimmst, wird er Dir absagen“, fordert er Gott heraus. Und treibt das sadistische Spiel auf die Spitze, als er zuletzt unterstellt: Welche Verluste Hiob schließlich auch immer erduldet haben mag – es gilt: „Haut für Haut“. Wenn Gott „sein Gebein und Fleisch antastet“, dann werde Hiob Ihm ohne Zweifel endgültig absagen (vgl. Hi2,4f).
Dieser endgültige Zustand aber ist in unserem heutigen Abschnitt erreicht: „Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon“, zitiert der Geschundene den zynischen Herausforderer seines bedrohten Glaubens und des Wissens.
— Doch Satan – das Prinzip der Verwirrung – hat sich verkalkuliert: Er meinte, mit Gott zu wetten, … doch mit Hiob hat er dabei nicht gerechnet!
Gewiss: Hiob ist am Ende, … aber zu seiner eigenen Verzweiflung eben nicht mit Gott.
… Er sagt nicht ab, wählt nicht den billigen Trugschluss des Atheismus, zerfällt nicht in die haltlosen Einzelteile des Nihilismus, der immer aus Kränkung, Gleichgültigkeit, Sentimentalität und moralischer Trägheit besteht, sondern Hiob stöhnt: „Ich weiß dennoch, dass Du bist, Gott!“
Und plötzlich gilt die Wette, die der Verneiner mit dem unbedingt zu Verneinenden – mit Gott – inszeniert hatte, … plötzlich gilt die Wette nicht mehr. Die Marionette, die Projektionsfläche des Negativen spielt nicht mit, sagt nicht das einfache, naheliegende, endgültige Nein! Hiob reagiert, als sei das schlicht über ihn hinweg ausgemachte Glücks-, vielmehr: Unglücksspiel, bei dem Gott der Verlierer sein sollte, gegen ihn gerichtet.
… Und so ist es ja auch! Gott sollte vorgeführt werden, aber Hiob würden die Verluste treffen: Kinder, Sicherheit und Segen, Genüge, Vertrauen und Sinn … alles sollte, beinah alles wurde ihm entrissen.
Und Hiob begreift: Der gegen Gott gewettet hat, hat gegen mich gewettet. Wenn Gott verlöre, bin auch ich verloren. … Ist alles, … sind alle verloren.
Man kann das das Tragische am bleibenden Gottesbewusstsein, am bleibenden Wissen um Gott in allen Katastrophen Hiobs und der Welt nennen.
… Man kann es das Tragische nennen.
Aber das ist so passiv.
… Man kann es nämlich auch das „Trotzige“ am Wissen um Gott bei Hiob und heute und zu allen angefochtenen und furchtbaren Zeiten dazwischen nennen: Das trotzige Wissen, dass mit Gott alles auf dem Spiel steht.
Und dass wir aus diesem Bewusstsein heraus – auch wenn Vertrauen und Gewissheit je und je aussetzen, undenkbar scheinen, sich verlieren, auch wenn der Glaube also angegriffen und verdrängt wird – doch an der Wette teilhaben, die Satan am Sieg, die das Böse am Sieg, die die Sinnlosigkeit am Sieg, die die Gewalt am Sieg, die Hitler am Sieg hindert.
Wenn wir Gott absagen, hat Er verloren. Haben wir verloren. Hat der Verkehrte, … der Verkehrer gewonnen.
Und darum bleiben wir Christen von heute in Hiobs Wette gegen die Sinnlosigkeit Partei. Wir bleiben Partei in der Wette gegen die Möglichkeit des Wissens und des Glaubens, dass Gott ist und dass unser Vertrauen eine große Verheißung hat (vgl. Heb. 10,35).
Wir bleiben Partei. Im Trotzen darauf, dass unsere Erfahrungen endlich mit unseren Überzeugungen versöhnt werden: Dass wir – wonach auch unsere Herzen in unserer Brust sich sehnen – Ihn sehen werden. Und dass wir dann erkennen und bekennen können, dass der Erlöser lebt!
Amen.
Laetare, 14.03.2021, Stadtkirche, Johannes 12,20 - 24, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Lætare – 14.III.2021
Johannes 12, 20-24
Liebe Gemeinde!
Die Engländer sagen es in ihrer pragmatischen Unbekümmertheit direkt: “Seeing is believing” – „Nur Sehen heißt Glauben“.
Die Griechen sind ein wenig vornehmer, aber grundsätzlich haben auch sie gesunde Augen im Kopf und deren Sinn für Schönheit, Proportion und nachvollziehbare Verhältnisse, die sich eins vom anderen ableiten lassen, hat sie zu Meistern der Kunst und Philosophie gemacht. Das größte philosophische Kunstgebilde der Griechen hat seinen Namen sogar von der Sehfähigkeit: Die Ideenlehre Platons, die davon ausgeht, dass jede sinnlich oder intellektuell wahrnehmbare Erscheinung in den Gegenständen und Phänomenen, die wir kennen, nur einen Abglanz ihres an sich noch viel vollkommeneren geistigen Urbildes bietet.
Diese Ideenlehre setzt also eine ideale Wirklichkeit voraus, zu der die uns umgebenden Abbilder stufenweise emporführen können. Denken und Erkennen sind damit nicht vom Schauen zu lösen. Und daher kommt unser Wort „Idee“ vom griechischen Wort für das Sehen.
Es ist das selbe Wort, das die griechischsprachigen Pilger beim Passafest nutzten, als die den Apostel Philippus baten: „Gib uns eine Idee von Jesus! Wir wollen ihn »ideen«!“
Diese Festgäste waren bestimmt keine Bildungsreisenden aus dem heidnischen Hellas. Viel eher dürften sie jüdische Pilger aus der Diaspora gewesen sein, wo sich seit fast dreihundert Jahren eine jüdisch-griechische Kultur entwickelt hatte, die die Bibel und das griechische Erbe von Homer bis Pythagoras und Platon zu einer Synthese führte, die später für die Kirche fundamental werden sollte.
Vielleicht waren die Bittsteller, die Philippus ansprachen, sogar Festteilnehmer aus Alexandrien, dem Bildungszentrum der ganzen Welt, wo zu Jesu Zeiten der größte Torah-Philosoph der hellenistischen Ära lebte und lehrte, Philo, der Weise.
… Aus dem Mund eines solchen oder aus dem Mund seiner Schüler und Leser wird die Frage nach einem Blick auf Jesus aber sofort zu mehr als einer bloß schaulustigen Erkundigung nach landestypischen baulichen oder menschlichen Sehenswürdigkeiten.
Wenn ein griechisch denkender Israelit, ein Diaspora-Jude, der Ausschau hält nach den Abbildern der an sich unsichtbaren Wahrheit sich unter den Anhängern des Mannes aus Nazareth einen sucht, dessen griechischer Name - Philippus - ihm ein wenig Verständnis für die Idee der Ideen verspricht, dann spricht mehr als die Jagd nach selfie-würdigen exotischen Motiven aus dem Mund des Fragenden.
Er hat gehört, was die Jerusalemer Gerüchteküche dem galiläischen Prediger nachsagt.
Und das Sucherherz des Wahrheitspilgers setzt einen Augenblick lang aus: … Wie, wenn es so wäre? Wie, wenn man hier auf der Straße auf „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ (Kol.1,15) mit eigenen Augen sollte stoßen können? Wie, wenn tatsächlich auf dem Angesicht dieses Jesus Christus „Erleuchtung zu Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes“ zu finden wäre (2.Kor.4,6)? ——
Ehrlichgesagt: Und ich bin auch einer von diesen Griechen!
… Natürlich wäre es mir lieb, wenn meine Schulzeit im Kreis der orthodoxen jüdischen Freunde und die reformierte Prägung meiner Jugend mir reichen könnten: Wenn das Denken in biblischen Geschichten, das Befolgen der biblischen Weisung, das nüchterne Halten am Wort im Leben und im Sterben mir die Seligkeit derer gäben, die nicht sehen und doch glauben (vgl. Joh.20,29).
Doch spätestens das, was vor einem Jahr und einem Tag losging – dass man nicht mehr unter Menschen sein sollte, dass man nur indirekten Kontakt haben und die Begegnung von Angesicht zu Angesicht nur künstlich, aber nicht nach der Natur suchen sollte – … spätestens diese Erfahrung hat mir jede Illusion genommen: Ich brauche Blickkontakt. Mit meinen eigenen Augen – und nicht durch die Hilfsmittel, die so reichlich und so erstaunlich sind – mit meinen eigenen Augen muss ich sehen, …“seeing is believing”, … mehr noch: “seeing is living”.
Nicht, als könne man in der Finsternis, in der Versenkung, in der Erblindung nicht leben und Gott schauen. Als schwer Kurzsichtiger vertraue ich darauf.
Aber solange die Augen und das Tageslicht es zulassen, solange ist das Sehen eine ganz unentbehrliche Quelle der Erkenntnis.
… Was ich von meiner Gemeinde weiß, das weiß ich doch nur zur Hälfte durch das Wort und durch die Worte: Die andere Hälfte zeigt sich, wenn man einander beim Abendmahl ins Gesicht schaut oder bei jeder anderen Begegnung, die nicht achtlos ist.
… Darum bin ich auch so maskenmüde. Nicht, als wäre nicht zu verstehen, wie sie schützen. Nicht, als läge es am Schwerer-Atmen oder an der beschlagenen Brille. Der Masken bei den anderen bin ich müde, weil das halbe nicht das ganze Bild ist, und der ausdrückliche Abglanz Gottes, der jedes Menschenantlitz auszeichnet, in seiner Bruchstückhaftigkeit wie zum Schweigen gebracht ist. Seien Sie mir also nicht böse, wenn ich nicht mehr wie erwartet grüße: Ich blicke viel weniger hin, seit sich im kreuzförmigen Christuszeichen eines Gesichtes nur noch der Querbalken der Augenbrauen und nicht mehr das Längenmaß von der Stirn über die Nase und den Mund bis zum Kinn zeigt. …….
Herr, wir wollen Jesus sehen. … Ich möchte Jesus sehen.
… „Kyrie“ steht da im Evangelium: „Kyrie, wir wollen Jesus sehen!“
Das ist die Sehnsucht, die für manche von uns stärker ist als jede andere Verheißung:
„Lasst mich gehn, lasst mich gehn, / dass ich Jesum möge sehn“
sang der pommer’sche und Berliner Erweckungsprediger Gustav Knak, der bei der ersten großen Pandemie des 19.Jahrhunderts, der Cholera von 1831 Infizierte pflegte und Seelsorge leistete, als die rationalistischen Bürger sich aus dem Staub machten[i]. Auch das ein Beitrag zur jüdisch-christlichen Ideenlehre, zur Lehre der von der trüben Unhygiene vor unseren Augen bis hindurch zur reinen Gottesanschauung aufsteigenden Liebe. —
… Kyrie, wir wollen Jesus sehen!
Und ausgerechnet der Apostel Philippus muss das verstehen! Als er von Jesus selbst berufen wurde, da lief er zu seinem Freund Nathanael, um auch ihn Den finden zu lassen, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben. Nathanael aber glaubte nicht, dass aus Nazareth etwas Gutes kommen könne. „Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh es!“ (Joh.1,46)
Komm und sieh es! So fängt das Johannesevangelium an. Es ist also gar nicht so Sehsinn-feindlich, wie man immer denkt. Dem Nathanael verspricht Jesus sogar ausdrücklich: „Du wirst noch Größeres sehen. … Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn“ (1,50f)! —
Wieso dürfen dann aber die philosophischen Diasporapilger, die ahnen, dass sie in Jesus Gottes unmittelbar ansichtig werden könnten, so gar keinen Blick auf ihn werfen?
Wieso sind wir in der jetzigen Phase der Menschheitsgeschichte, die gerade wegen der Virtualität eine völlig ersatzvisuelle Kultur geworden ist, die die Welt nicht mehr in Zeichen oder Töne umsetzt, sondern nur noch in die Bilder, die von mikroskopisch kleinen oder von allgegenwärtig in die Handys der Weltbevölkerung integrierten oder von mit Autos, Drohnen, Satelliten vernetzten Kameras stammen, … wieso sind wir in der jetzigen digital-optischen Phase der Menschheit immer noch darauf angewiesen, Jesus nicht zu sehen, sondern der sichtbaren Begegnung mit ihm immer noch entgegen leben zu sollen?
… Kyrie, wir wollen Bilder! Kyrie, wir wollen eine der Gegenwart optisch nahegebrachte Idee von Jesus! … Kyrie! …….
Es gibt einen Grund, weshalb die griechisch-spekulative, die ästhetische Gottsuche von Jesus – dessen Verherrlichung ja so nahe ist – einstweilen jedenfalls verhindert wird.
Jesu Ablehnung der Visions-Bitte, die Philippus und der andere Apostel mit griechischem Namen - Andreas - vorbringen, wirkt zunächst ja verwunderlich untreffend.
… Was hat es mit dem typisch griechischen Stirb-und-werde-Motiv eigentlich auf sich, dass Jesus die Jünger und die Griechen und mich damit vertröstet, erst müsse die organische Auflösung eintreten, aus der dann biologisch neues Leben keimen und hervorwachsen wird?
Weist Jesus mit seiner Antwort wirklich bloß auf den zyklischen Lauf des Vergehens und Erstehens, der für das antike Denken in der Tat ja zentral war?
Will er die Idealisten, die die Idee von ihm, den einleuchtenden Eindruck suchen, um auf diesem Weg näher zur unsichtbaren Wirklichkeit Gottes zu gelangen, also nur abstrakter zu grübeln und zu verstehen lehren?
Nein.
Der Grund, weshalb sie ihn damals nicht staunend und anbetend betrachten sollten und weshalb es auch uns nicht zusteht, sein Bild jederzeit direkt zu uns zu „beamen“ oder auch nur virtuell herbei zu „skypen“, ist ein sozialer: Es geht – durchaus verbunden mit unseren Erfahrungen der letzten 12 Monate, aber noch viel umfassender – um die soziale Seite des Sehens.
In Entgegnung auf den Seh-Wunsch spricht Jesus von der Einsamkeit, die drohen würde, wenn er ihn sofort erfüllte: Ohne Todesschicksal und Begrabenwerden bliebe das Weizenkorn allein, ist Jesu Einwand.
… Das meint nun sicher nicht die grassierende Isolation derer, die ausschließlich auf die unerschöpfliche und doch unwirkliche Bildersintflut starren, die unsere Lebenszeit verschlingt. … Es ist viel unmittelbarer noch zu verstehen:
Wenn Jesus damals Halt gemacht hätte, um sich den Passapilgern zu zeigen und ihnen vordergründig den Anblick, meditierend dann den Einblick und in letzter Erleuchtung schließlich den Durchblick zu verschaffen, die sie bei der Versenkung in seine Erscheinung zweifellos gefunden hätten, dann wäre das Neue Testament mit einem wunderbaren, leibhaftigen Mandala zu Ende gegangen: Einige Glückliche hätten Aug in Aug mit Jesus die Wahrheit erkannt, sie wären in den tiefsten Frieden versetzt oder vollkommen verzückt worden, wenn sie an ihm das aufgedeckte Geheimnis der Gegenwart Gottes hätten wahrnehmen dürfen.
Und die anderen? … Die vor diesem Passa lebten, … die nach dieser Zeit erst kamen?
Das Weizenkorn Jesus wäre allein geblieben, wenn es nur von den im Jahr 33 aus dem hellenistischen Ägypten oder Kleinasien angereisten Festbesuchern gläubig geschaut worden wäre.
Zu viele hätten ihn nie gesehen, nie sehen können, wenn er damals nur der Andacht der Philosophen gedient hätte. Nie hätten ihn die Toten gesehen, wäre nicht auch er in die Erde gefallen, wo die ungezählten, unzähligen Menschenscharen wie Körner – tauber, wilder Weizensame, Staubkörner – untergepflügt und zu Erde wurden. Zu ihnen, in die Erblindung, in die alles zersetzende Nacht musste Jesus kommen, damit die erloschenen Augen, denen nie wieder vergönnt sein sollte, das Licht zu schauen, doch tatsächlich mit dem in die Finsternis gebetteten Korn zu einem neuen Tag emporwüchsen.
Und auch um der Ungeborenen willen, der kommenden Generationen, die ihm sonst niemals begegnen würden, konnte Jesus sich nicht dem Interesse jener kleinen Gruppe still wie ein lebendes Modell zur Verfügung stellen. Er musste sterben und sein neues, ewiges Leben aus der dunklen Unzugänglichkeit des Todes hervorbringen, um die Menschen der folgenden Jahrtausende nicht als der Damalige, sondern als der Immer-Seiende einst vor seinem Angesicht zu versammeln.
Das Bedürfnis nach dem eigenen visuellen Eindruck, das uns Menschen … das mir so zentral ist: Es hat einen zu kleinen Fokus. Es geht von einem einzigen Paar Augen aus, die Ausschau halten und sich gerne weiden würden.
Damals, bei den Griechen, wie heute gerät ja allzu schnell aus dem Blick, dass Jesus kein subjektives Aha-Erlebnis, keine persönliche Demonstration Gottes für die Nachdenklichen oder die Neugierigen darstellt, sondern dass seine Wirklichkeit die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sprengen muss, um nicht nur einigen, sondern allen leibhaftig, direkt, sichtbar, anschaulich, unzweifelhaft zu begegnen.
Darum reicht eben die Fleischwerdung des Wortes, die Inkarnation, die Geburt Jesu nicht aus.
Dieser wirkliche Mensch aus Fleisch und Blut, dieses Weizenkorn, das den Stoff für das Leben aller Lebendigen in sich trug, muss tatsächlich auch sterben, um ihn freizusetzen, um in endloser Fruchtbarkeit den zahllos Vielen zeitlos ewig gegenwärtig werden zu können. ——
Wenn damals also die Griechen leer ausgingen und der Grieche in mir, der seh-süchtige Zeitgenosse, der keine Masken und kein Warten leiden mag, sondern das ganze Bild sofort will, auch noch ein wenig wird glauben müssen, bis er zum Schauen kommt, ist doch diese Zeit nicht leer, als wäre der Bildschirm schwarz und tot.
Sondern es ist Wachstumszeit.
Zeit, in der der die Kraft des Lebens Jesu Christi sich weiter sammelt, um noch mehr Menschen zur Frucht zu werden, wenn wir alle das Sterben und Ausgestreut-Sein hinter uns haben und nicht mehr allein sind, sondern gemeinsam leben und die Fülle dieses Lebens genießen werden.
Denn dann geschieht durch Jesus, das Weizenkorn was der Psalm (17,15) sagt:
„Ich will schauen dein Angesicht in Gerechtigkeit,
ich will satt werden, wenn ich erwache, an deinem Bilde.“
Amen.
[i] Vgl. Oskar Brüssau, Gustav Knak, in: Unsere Kirchenliederdichter. Bilder und Bildnisse aus der Geschichte des evangelischen Kirchenliedes, Bd. III Hamburg, o.J., S.145-160.
Okuli, 07.03.2021, Stadtkirche, Epheser 5, 1- 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Okuli - 7.III.2021
Epheser 5, 1 - 9
Liebe Gemeinde!
Was man – auch nach zwei Wochen der Passionszeit – vielleicht noch sinnvollerweise aufgeben sollte? Worauf konsequent zu verzichten uns also womöglich richtig guttäte?
– Sogenanntes „Christentum“.
Wenn wir das einmal wirklich aus unserem System kriegten, wenn es uns weder auf der Zunge, noch in der Einbildungskraft säße, wenn wir Hirnrinde und Hinterkopf einmal so ordentlich davon entschlackten, dass wir ohne labberige Rückstände wirklich an Geist, Seele und Herz „christentumsfrei“ würden, dann könnte das heilsamer sein, mehr verjüngen, tiefer reinigen als jede andere Fastenkur!
Denn wir wissen nicht mehr, was Christentum ist.
Unseres ist ein Fertigprodukt, püriert und dann pulverisiert, … ohne irgendeine Frische-Konsistenz, an der wir uns die Zähne ausbeißen müssten, ohne irgendeinen ursprünglichen Geschmack, der aus dem Brei hervorsticht, den wir sonst als Gewohnheit, Selbstverständlichkeit und bürgerlich-links-liberalen Konsens kennen.
… Hat das Christentum uns in letzter Zeit irgendwann gestochen wie der Hafer?
… Sind wir einer Ecke daran begegnet, die nicht schon glattgelutscht war?
… Konnten wir irgendwo, dampfend und streng riechen, dass da Christentum erhitzt und nicht bloß blumige Alltäglichkeit als beruhigender Wellness-Tee aufgegossen worden war?
Natürlich nicht.
In unserem allgemeinen Angebot, das entweder hyper-politisches Weltrettungs-Schaumschlagen oder mundgerechtes Zielgruppen-Häppchenschmieren kennt, begegnet uns nichts, was der harten Kost des Christseins ähnelt. Nichts, das man ausspucken würde, weil sein unverwechselbarer Eigengeschmack sich nicht nur so zum Naschen eignet; nichts also, das lebens-wichtig und lebenserhaltend, weil lebensverändernd wäre ……
Geben wir es also einmal auf.
Denn das Christentum ist der Menschheit nicht als Snack oder Beilage gegeben, nicht als Salatteller oder Dessert.
Erst wenn man einst echten Hunger nach dem bekommen sollte, was wirklich nährt, was Leib und Seele wirklich für immer zusammenhält, … erst dann kann man vielleicht ermessen, ob man sich an’s schwerverdauliche Christentum wagen soll, oder bei den Ersatzmitteln bleibt. ——
Das wirkliche Christentum ist uns fremd, weil wir als bewusste Bürger dieser Welt uns auf nichts mehr einlassen können, das über diese von uns bejahte und geteilte Welt hinausgeht. … Wir müssten also wirklich einmal auf alles, was wir „intus“ hatten, verzichten, … müssten den Magen ganz leer haben, um uns unvorbelastet zurück an den Anfang zu versetzen, als das Christentum zum ersten Mal in seiner Fremdheit befremdete.
Und heute ist dazu wunderbar Gelegenheit. ……. —— Szenenwechsel, also:
Ein riesiger Knotenpunkt menschlicher Kontakte aus allen Himmelsrichtungen; eine gigantische Zentraladresse der Wunsch- und Sorgenindustrie; eine verführerische Werbung für sexuelle, materielle, individuelle Befriedigungsangebote, … miterbaut vom reichsten Menschen aller Zeiten, … angegriffen von einem wahnhaft auf Prominenz fixierten Einzelnen, dessen spektakulärer Griff nach dem Ruhm gelingt und gleichzeitig scheitert, weil ausgerechnet in der Tatnacht seines weltweit Aufmerksamkeit provozierenden Attentats der faszinierendste, erfolgreichste Einzelne der Geschichte geboren wird: … Was da klingt wie eine billige Parodie auf die globale Such- und Anerkennungsmaschinerie, die zwischen Zuckerberg und Gates den Trumps und Breiviks unserer Tage auf dem unregulierten Markt der Ego-Eitelkeit ihre Speichelecker und Nachahmer beschert und nebenbei nicht bezifferbare Massen an Zeit und Sehnsucht der Menschheit verschlingt … das verdankt sich nicht meiner bemühten Konstruktion einer symbolischen Karikatur, sondern der verblüffenden Beständigkeit der Menschen:
Das Weltwunder mit geradezu pornographischer Anziehungskraft war der berühmte Diana- oder Artemistempel von Ephesus mit dem Bild der vielbrüstigen Patronin der Jagd nach allem Begehrenswerten; Krösus hatte ihr Heiligtum einst mitfinanziert, und als der krankhaft nach sensationeller Unsterblichkeit gierende Herostratos in Ephesus einen Brand stiftete, dessen Flammen eins der sieben großen Wahrzeichen der Antike zerstörten, griff die mächtige Schutzherrin des Artemisions bloß deshalb nicht ein, weil sie in jener Nacht verheißungsvoll einer Geburt beiwohnte, die die Globalgeschichte prägen sollte: Alexander der Große kam zur Welt in der selben Stunde, als in Ephesus der Dianatempel ein Raub des Feuers wurde.
Man erbaute ihn neu. Man stellte das Kultbild der kämpferischen Nährmutter aller Lebensgier wieder her.
Alexander verband die Zivilisationen des Mittelmeers und Asiens in einer kulturellen und ökonomischen Riesentat. Und seither würzen wir mit dem Geschmack der Exotik unsere Speisen, treiben Austausch mit Geist und Glitzer der fernsten Reiche und Reichtümer, saugen reizvoll billige Genüsse auf allen Wegen an und breiten aus, was immer sich anbietet, um die eigene Stellung in der Welt noch flächendeckender zu machen.
Man widerspreche mir – weil’s zu platt-provokant klingt –, wenn ich als Heutiger eine große, spiegelnde Wiedererkennbarkeit im alten Ephesus erblicke.
Der wiederaufgebaute, global vernetzte, weltwundergigantische, multifunktionale, lustbetonte, gierbefriedigende, individuelle Vorhaben programmatisch durch jeweils einen eigenen Brustzugang am großen Gesamtbild begünstigende Weisheits- und Jagdkomplex der Artemis, der Diana von Ephesus hat eine unheimliche Ähnlichkeit mit der Wunderwelt von heute: Alle pirschen nach Erfüllung, jeder hofft auf seine Beute als ein Schnäppchen, und so viele unserer auch sind, kreisen wir alle doch um die gleichen Quellen innerweltlicher Sucht nach Haben.
Und an eine kleine Gruppe im direkten Dunstkreis dieser Kultur, die – wie wir heute wissen – fähig sein sollte, Jahrtausende zu überdauern, richtet sich der Apostel Paulus.
Erst mündlich. Da löste er durch das, was er lehrte und was man in Ephesus „den neuen Weg“ nannte (vgl.Apg.19,23) den berühmten Aufstand der Silberschmiede aus, die kostbare Souvenirs der Wallfahrtsstätte der Dianagemeinde herstellten und nach den Worten ihres Anführers Demetrius „großen Gewinn von diesem Gewerbe“ hatten (vgl.19,25).
Die Predigt des Paulus wurde also vom Kult der Göttin, die in ihrer Üppigkeit jedes Tierchen sein Plaisierchen hoffen ließ, als tiefe Bedrohung begriffen und mit dem Schlachtruf von der Größe der Diana von Ephesus (vgl.19,28+34) bitter bekämpft[i].
So gering und nichtig aber die damalige Herausforderung des Größe-Gier-und-Geilheit-Kultes, der von Kleinasien aus den Weltkreis erfüllte (vgl.19,27), auch war … so gründlich fordert doch die damalige Christenheit von Ephesus uns heraus, in denen mehr Diana und Demetrius als Paulus und Christus stecken dürfte.
Denn Diana und Demetrius: Das ist die Erde, das Greif- und Zählbare, die Ernte, der satte Überschuss.
Und Paulus und Christus? – Das ist die Gabe, das Opfer, die sich in lieblichen Geruch auflösen.
Das eine, das Ephesus-Prinzip ist der Wunsch nach gegenständlichem, realem Ertrag.
Das andere, der „neue Weg“ ist die Bereitschaft zu reiner Hingabe und Verlust.
Nach der einen Logik – dem Geschäftsmodell des Demetrius – sind die selbstgemachten Götterbilder die materielle Verdienstgrundlage ihrer Schöpfer.
Nach der anderen Logik hat der Schöpfer Sein Bild dem Menschen eingeprägt und der Mensch soll diesem geistigen Vorbild nachfolgen, es nachahmen, ihm ähnlich werden, schließlich „gleichen“ (vgl.1.Mose1,26f).
In Ephesus machen Menschen menschenähnliche Götter.
In Christus dagegen wird der Mensch durch Gott vergöttlicht! ————
Diese seltsame, uns völlig abhandengekommene Überzeugung, dass wir nicht dazu da sind, alles zu vermenschlichen, sondern umgekehrt, dass wir selbst nach dem Wesen Gottes gebildet und geformt werden sollen, stört, … ja, muss uns stören, wenn wir sie an uns heranlassen.
Denn die zunächst sympathisch klingende Humanisierungsidee hat uns eine Welt beschert, in der alles nur einem Geschöpf dient, das seine Bedürfnisse und Ziele wie eine Schlinge um jede andere Erscheinungsform des Lebens wirft und ihnen Freiheit und Luft abschnürt. Ob diese brutale Menschenförmigkeit, die wir von der Welt verlangen, aber besser wird, wenn wir nun auch noch die Maschine und ihre Intelligenz nach menschlichem Muster entwickeln, sei dahingestellt. … Das Heiligtum der menschlichen Wunschbefriedigung wird als antiker Artemistempel oder als wirtschaftliche Ideologie oder als virtuelle Parallelschöpfung jedenfalls immer weiter seine Anhänger sammeln und binden.
Und echtes Christentum wird sich davon unterscheiden: Weil – in der harten Sprache, die uns nicht mehr bekömmlich scheint, aber Brot des ewigen Lebens ist – alle, die nur beschäftigt sind mit der unmittelbaren Jagd nach ihrer eigenen Zufriedenheit zum Frieden nie finden werden: Unzucht, Unreinheit, Habsucht sind dabei die antiken Bezeichnungen für die ganz und gar nicht überholten, sondern höchst akuten Triebe unseres auf den je eigenen physischen und psychischen Bedarf fixierten Heißhungers.
Diese – uns vermeintlich „natürlich“ anmutende – Selbstbezogenheit menschlichen Denkens und Wollens, menschlichen Fühlens und Handelns zerbricht nun das Christentum tatsächlich!
Wenn wir aber dagegen halten, dass das doch unnatürlich sei und jedes irdische Geschöpf in jedem denkbaren Sinn auf organischem Weg das Fressen, die Vermehrung und die Selbstsicherung betreiben müsse, dann kommen wir dem unglaublichen, vergessenen Geschmack und Gehalt des Christentums tatsächlich nur umso näher.
Es mutet der Kreatur, die wir sind, nämlich einen Vorgeschmack des Übernatürlichen zu.
Es sagt uns: Ahmt Gott nach, Der Sich nicht festhält, sondern verschenkt.
Ahmt Gott nach, Den keiner begreifen oder gar antasten konnte, und Der Sich doch zerbrechen ließ für die Vielen.
Ahmt Gott nach, Der nicht der Gegenstand, sondern die Quelle der menschlichen Liebe sein will. ———
Sonderbarer Fastenkur-Geschmack!
Leben gewinnen aus dem Aufgeben.
Leben finden durch Loslassen.
Schmecken und sehen, wie freundlich der Herr ist und uns machen will, indem wir nicht einnehmen, was wir gern hätten, sondern es ausstrahlen.
… Indem wir leben wie das Licht.
Denn das ist die Eigentümlichkeit des Christentums, die mit nichts sonst zu vergleichen ist: Wo unser Wesen und unsere Existenz an christlicher Substanz zunehmen, da wird ein Mensch an Körper und Seele nicht dichter, sondern durchlässiger. Je mehr wir nämlich wirklich als die geliebten Kinder leben, je mehr wir Christus wirklich aufnehmen in Wort und Werk, Gedanke und Tat, desto weniger verfestigt sich das zu starrer Gewohnheit, sondern geschieht als die Weitergabe von Energie, geschieht als das Weiterleiten seiner Wärme, geschieht als das Reflektieren seiner unendlichen Herrlichkeit ist: Die Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit Christi machen es völlig überflüssig, ja undenkbar, dass wir mit letztem Ernst die Ziele und Objekte, die Gegenstände und den Besitz dieser Welt raffen, horten und halten, auf die in Ephesus am vielversprechenden Bild der Göttin alle gierten.
Das Herz Gottes ist eben ganz anders als die Brust der Diana: Man wird daran nicht satt. Wer dort auf den Geschmack der Liebe kommt und Licht tankt, wird sie weder verdauen noch sich aneignen, denn er findet den Frieden nicht durch Verzehr dieser Gaben, sondern durch ihr Weitergeben.
Der lebenserhaltende Urgeschmack des Christentums ist uns also darum so fremd, weil wir an der falschen Stelle danach suchen: Im eigenen Mund und Bauch und Leben.
Doch – und darin liegen seine Härte und sein Heil, sein Stachel und sein Segen – das Christentum erhält nur die am Leben, denen es genau darum nicht mehr geht.
Nicht wer die Frucht des Lichtes hat, sondern wer sie verschenkt, empfängt ja das Erbteil im Reich Christi und Gottes. ——
Wenn wir also wirklich einmal alles verlernten und verlören, was wir vom Christentum durchgekaut und behalten hatten, … wenn wir also wirklich einmal fragen müssten „Was bringt mir das Christentum überhaupt?“, dann wären wir damit bei der Antwort:
Christentum bringt uns nichts, sondern es nimmt.
Bis wir von nichts mehr leben, außer Gott.
Amen.
[i] Zur Auseinandersetzung zwischen Christentum und Dianakult(ur) als ökonomisch konträren Entwürfen vgl. auch den monographischen Artikel „Asia“ von Paul Treblico, in: The Book of Acts in its First Century Setting, Vol.2: Graeco-roman Setting, edited by David W.J.Gill and Conrad Gempf, Grand Rapids 1994, S.291-362: Der Artemistempel ist als „the biggest bank in Asia“ zu betrachten (aaO, S.325: Zitat von Robert Broughton).
„… Paul was preaching the gospel at the central bastion of a strong and expansionist cult. We should see the clash between Artemis and Christian preaching as a confrontation between two expansionist religions” (aaO, S.336).
Invokavit, 21.02.2021, Joh.13,21-30, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
„Jesus und Judas und die Überlieferung"
Liebe Schwestern und Brüder,
die Neuordnung der Lesungs- und Predigttexte vor 3 Jahren hat uns für den heutigen 1.Sonntag der Passionszeit einen Abschnitt aus dem Johannesevangelium beschert, der bisher nie vorkam. Ein schwieriger und rätselhafter Text, der keine eindeutige Erklärung zulässt, uns vielmehr herausfordert, unseren eigenen Standpunkt in der Beziehung zu Jesus kritisch zu hinterfragen.
Ich lese uns nun den Text aus Johannes 13,21-30. Es ist die Geschichte einer Beziehung.
„Als Jesus das gesagt hatte, wurde er erregt im Geist und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich überliefern/ausliefern/verraten.
Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ihnen wurde bange, von wem er wohl redete.
Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tisch lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb.
Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete.
Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist's?
Jesus antwortete: Der ist's, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er nahm den Bissen, tauchte ihn ein und gab ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot.
Und als der den Bissen nahm, fuhr der Satan in ihn. Da sprach Jesus zu ihm: Was du tust, das tue bald!
Aber niemand am Tisch wusste, wozu er ihm das sagte.
Einige meinten, weil Judas den Beutel hatte, spräche Jesus zu ihm: Kaufe, was wir zum Fest nötig haben!, oder dass er den Armen etwas geben sollte.
Als er nun den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht."
Jesus und Judas: die Zuschreibungen, die seit 2000 Jahren diesen beiden Gestalten zukommen, können nicht gegensätzlicher sein. Heiland - Verräter, Sohn Gottes - Sohn des Teufels. Und wie Jesus alle positiven Aussagen auf sich zog, so hängte man Judas alles nur erdenklich Negative an, nicht erst in späteren Zeiten, sondern schon in den Evangelien: er, der die Gemeinschaftskasse der wandernden Jüngerschar in seiner Obhut hatte, wird im Johannesevangelium als Dieb gebranntmarkt, in den anderen Evangelien als geldgierig, als jemand, der Jesus verrät und dafür 30 Silberlinge kassiert; und als Gipfel der Schändlichkeit der sprichwörtlich gewordene Judaskuss.
Besonders verhängnisvoll sollte sich die sprachliche Nähe von Judas und Jude auswirken: der christliche Antisemitismus warf den Juden bald kollektiv Geldgier, verräterischen Charakter und als Höhepunkt die Schuld am Tod des Gottessohnes Jesus vor. Dass Jesus Jude war und blieb bis zum Tod am Kreuz, ja, dass der Titel eines Sohnes Gottes aus der griechisch-römischen und ägyptischen Kultur und Religion Jesus angeheftet worden war, um ihn der heidnischen Welt vermitteln zu können - das wurde verdrängt.
Und immer wieder bis heute wird der Antisemitismus befördert, wenn Jahr für Jahr die Passionszeit im kirchlichen Kalender begangen wird und die Erzählungen aus den Evangelien dem Kirchenvolk vorgetragen und gepredigt werden, als wären sie historisch korrekte Berichte. Doch das sind sie nicht. Sie sind Erzählungen, in die jeder Evangelist seine Deutungen eingetragen hat und das mit dem Blick auf eine jeweils sehr andere Leserschaft. Das Johannesevangelium fällt - nicht nur was die Passionsgeschichte angeht - besonders aus dem Rahmen, den die synoptischen Evangelien abgeben. Das liegt an dem Evangelisten, dem es darum geht, die Jesusgeschichte als kosmisches Ereignis darzustellen. Jesus ist für ihn eine Gestalt, die nicht von dieser Welt ist, die sozusagen nur auf Besuch ist und eine Aufgabe zu erfüllen hat, um sich dann zu verabschieden und dorthin zurückzukehren, woher er gekommen ist. Das wird schon in den ersten Sätzen des Johannesevangeliums deutlich: „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort ... und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit ..." Und das zeigt sich auch in den Kapiteln der Passionsgeschichte, die mit dem 13.Kapitel beginnt, zuerst mit der Erzählung von der Fußwaschung, eine Geschichte, die nur von Johannes überliefert wird; während sich in den anderen Evangelien Jesus mit dem letzten Abendmahl von seinen Jüngern verabschiedet und ihnen darin sein Vermächtnis hinterlässt, so ist es bei Johannes die Geste der Fußwaschung, die geradezu zum Vermächtnis Jesu an seine Jünger und Jüngerinnen wird - mit fast sakramentalen Zügen: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe." (Joh.13,15) „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe." (Joh.13,34)
Das Vermächtnis Jesu: Freundschaft und Liebe auf Augenhöhe. Das ist das eine, das andere ist der Auftrag, den Jesus zu erfüllen hat: den Sieg über die Mächte der Finsternis und des Todes zu erringen. Es geht um den entscheidenden kosmischen Kampf zwischen „Gott und Welt". Die Rolle, die Judas Iskariot dabei zugeschrieben wird, schwankt bis heute in der Geschichte der Auslegung zwischen den Extremen von „Verteufelung" und „Seligpreisung". Als Beispiel für Letzteres mag hier Walter Jens angeführt sein: „Ohne Judas kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Erfüllung des Heilsplans. Keine Kirche ohne diesen Mann; keine Überlieferung ohne diesen Überlieferer."
Sehen wir uns den Text aus dem Johannesevangelium vor diesem doppelten Hintergrund einmal genauer an.
Die Szene, die Johannes da wachruft, führt uns in einen großen Raum, in dem Jesus mit seinen Jüngern zu Abend isst. Wohlgemerkt, es ist nicht das Passahmahl, wie es die anderen Evangelien erzählen. Während die Jünger wohl ganz locker zu Tisch liegen, sich unterhalten, wie man das ja so macht in größerer Runde, ist Jesus angespannt, „erregt im Geist"; ihm war seit einiger Zeit klar, so heißt es zu Beginn des 13.Kapitels, dass das kommende Passahfest für ihn zur Stunde der Entscheidung werden wird. Sein Auftrag, seine Mission wird sich sehr bald erfüllen „Es ist vollbracht!" so wird er es bald allen bekannt geben. Und auch das weiß er: bevor er die Welt verlässt und zum Vater heimgeht (Joh.13,1), wird die letzte Wegstrecke ihm alles abverlangen. Kein Wunder also, dass „Jesus erregt ist im Geist": der Countdown läuft ... und er läuft nicht nur für ihn: „Ich habe euch etwas zu sagen: einer von euch wird mich ausliefern/überliefern." Auch noch in der neuesten Revision der Lutherbibel steht leider an dieser Stelle immer noch das Verb „verraten". Dabei ist das griechische Wort paradidomi mit „überliefern" zu übersetzen, in der lateinischen Bibel steht das Wort „tradere" ~ „Tradition" - das, was einem überliefert ist. Der Inhalt, der überliefert wird, wird dadurch natürlich auch „ausgeliefert" - der Deutung, der Praxis, dem Verständnis der folgenden Generationen. Da kommt ein Prozess in Gang. Einer von euch wird mich überliefern/ausliefern - meine Botschaft, ich selbst gerate in einen Prozess. Während das Wort „Verrat" einfach nur moralische Verwerflichkeit beinhaltet, es einen schändlichen Verräter und ein hilfloses Opfer dazu braucht, steckt in „überliefern/ausliefern" etwas ganz anderes, nämlich Einwilligung und Hingabe an eine Entwicklung, in einen Prozess.
Und diesen Prozess kann Jesus nicht aufhalten, er muss da durch. Ja, er setzt ihn sogar selbst in Gang. Auf die Frage von einem seiner Jünger, wer es denn sei, der ihn überliefert, antwortet er: „Der ist's, dem ich den Bissen eintauche und gebe." Im Vers 27 zeigt sich dann die ungeheure Zerreißprobe, vor der sich der Evangelist Johannes sah: auf der einen Seite seine Überzeugung, sein fester Glaube, dass Jesus der Christus, der Sohn Gottes ist, der in allem der Herr der Geschichte und auch seines Geschickes ist, dem niemand das Leben nehmen kann, es sei denn, er gebe es selber hin; der Christus Jesus, der, wie im Philipperhymnus besungen, seinen Weg in der himmlischen Welt begann, herabstieg auf die Erde, in seine irdische Existenz, um danach wieder in die himmlische Herrlichkeit aufzusteigen, ein Christus, dessen Herrlichkeit selbst am Kreuz aufstrahlte. Und auf der anderen Seite: das Wissen um die reale Kreuzigung des Jesus von Nazareth, das Wissen, wie schrecklich dieser Foltertod für einen Menschen war, das Wissen um die wohl in den christlichen Gemeinden weit verbreiteten Erzählungen, wie Jesus am Kreuz geschrien hat, dass er in einer Nacht- und Nebelaktion verhaftet worden war, dass es da einen Verräter in den eigenen Reihen gegeben haben muss und dass seine Jünger ihn alle miteinander im Stich gelassen hatten. Erzählungen, die in den anderen Evangelien ihren viel deutlicheren Nachhall gefunden haben.
Wie soll er also beides zusammenbringen? Er bedient sich des Judas, des „Überlieferers", der in der Überlieferung der ersten Christenheit fast einhellig die Rolle des Verräters zugeschrieben bekommen hatte. Aber Johannes war seinerseits ja überzeugt, dass ein Mensch mit seiner Bosheit Jesus überhaupt nicht schaden konnte, dass Jesus für Menschen unangreifbar war (so erzählt er es auch von der Gefangennahme Jesu, dass die Soldaten ihn nicht ergreifen konnten, sondern allein vor seinem „Ich bin's" vor Schreck umfielen und erst als er sich selbst zur Gefangennahme anbot, ihren Auftrag erfüllen konnten). Allerdings steht Jesus ja jetzt vor der letzten Runde des kosmischen Kampfes Gut gegen Böse, Licht gegen Finsternis, der Christus und Sohn Gottes gegen die satanischen Mächte. Und so heißt es: „Nach dem Bissen fuhr Satan in ihn. ... Und als er den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht."
Ein verhängnisvoller Text, der eine schlimme Wirkungsgeschichte, ausgelöst hat: die buchstäbliche Verteufelung des Judas als Verräter Jesu und daran anschließend die Verteufelung der Juden als Mörder des Gottessohnes. Da wurde aus der Überlieferung/Auslieferung des einen, die Auslieferung eines ganzen Volkes durch die Zeiten an mörderische Gewalt, eine furchtbare „Traditionsgeschichte", die mit Auschwitz lange nicht an ihr Ende gekommen ist, wie der Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9.Oktober 2019 bewiesen hat.
Liebe Gemeinde, Jesus hatte 12 Jünger - und als es darauf ankam, da haben ihn alle im Stich gelassen, haben ihn alle verraten, verleugnet. Was sich im Einzelnen abgespielt hat in den letzten Tagen vor der Kreuzigung, das wissen wir nicht. Die Überlieferungen darüber sind teilweise widersprüchlich und geprägt von Erfahrungen sehr unterschiedlicher christlicher Gemeinden im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, Einzelne biblische Gestalten, gerade auch die Jünger, wurden zu willkommenen Projektionsträgern, die gebraucht wurden, um die Gemeinden in Verfolgungssituationen bei der Stange zu halten. Dem Glauben abzuschwören, um dem Tod zu entgehen, das hieß nichts anderes, als Jesus zu verraten, es Judas gleich zu machen, der Jesus verriet und ihn dem Tod auslieferte. Wer wollte schon ein Judas sein?
Wie gesagt: wir wissen nicht, was an den Geschichten um Judas wahr ist und was nicht; es ist viel spekuliert worden über die Motive des Judas. Es bleiben Spekulationen.
Eine davon fußt auf der Überlieferung des Matthäus. Als einziger schreibt er, dass Judas, nachdem das Urteil über Jesus gefällt worden ist, zu den Hohenpriestern geht voller Reue über das, was er da angerichtet hat und den „Handel" rückgängig machen will; aber vergeblich. In seiner Verzweiflung geht er dann hin und hängt sich auf. Der Verräter und Selbstmörder - bei Dante in der „Göttlichen Komödie" landet er damit in der untersten Hölle, geschieht ihm recht.
Wie anders steht Simon Petrus da, der Jesus ja auch verraten hat, dessen Reue vom auferstandenen Jesus aber angenommen wurde und der so Vergebung und Neuanfang erfuhr. Von einer entsprechenden Begegnung des Auferstandenen mit Judas erzählt die Bibel nichts.
Einen mittelalterlichen Steinmetz hat das Schicksal des Judas aber nicht losgelassen und er hat eine wunderbare Überlieferung aus dem Geist Jesu in Stein gemeißelt.
In der Kathedrale Sainte Marie-Madeleine in Vézelay in Burgund findet sich ein Säulenkapitell mit einer einzigartigen und beeindruckenden Darstellung, die aus zwei Szenen besteht. Auf der linken Seite ist Judas zu sehen. Verzweifelt, hilf- und wehrlos hängt er an einem Baum, die Zunge, mit der er den Verrat geübt hat, hängt ihm aus dem Mund. Er hat sich - ausweglos verstrickt in seine Schuld - selbst den Tod gegeben.
Auf der anderen Seite des Kapitells sieht man, wie jemand den toten Judas vom Baum genommen, von seinen Verstrickungen befreit und auf seine Schultern gelegt hat. Nun trägt er ihn - wie ein Hirte das verlorene oder verletzte Schaf - und bringt ihn nach Hause. Kein Zweifel, der Hirte ist der auferstandene Christus. Christus, der den toten Judas aufnimmt, ihn heimholt und annimmt und ihm einen Neuanfang schenkt. Was für eine revolutionäre, mutige und wahrhaft von Jesu Geist getränkte Überlieferung, wahrhaftes Evangelium von der Barmherzigkeit und Güte Gottes, der Jesus sich bis in den Tod verpflichtet fühlte. Sollte er, der dem Schächer am Kreuz einen Platz im Paradies verhieß, dieses seinem Jünger Judas nicht auch ermöglicht haben? Der Steinmetz war jedenfalls davon fest überzeugt - mochten die Theologen und Frommen seiner Zeit es auch anders sehen.
Und wir heute? Wie und mit welchen Geschichten „überliefern" wir Jesus? Tragen wir seinen Geist der Barmherzigkeit und Güte weiter - oder liefern wir ihn aus, verraten wir ihn mit unserer Unbarmherzigkeit und Lieblosigkeit gegenüber denen, die er immer als seine geringsten Schwestern und Brüder bezeichnete, mit denen er sich identifizierte?
Darüber einmal nachzudenken, das könnte sich lohnen in den kommenden Wochen der Passionszeit.
Amen.
Invokavit, 21.02.2021, Stadtkirche, Johannes 13,21-20 (Thematischer Gottesdienst: "Das Jüdische Wiegenlied"), Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Invokavit 21.II.2021
1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland - Gottesdienstliche Musik: „Das jüdische Wiegenlied“[i]
Johannes 13, 21-30
Liebe Gemeinde!
Als die Passion Jesu anfing – in der Nacht des Passamahles, bei dem er Dank sagte und das Brot und den Kelch einsetze, die der ganzen Welt das Leben schenken – … als die Passion Jesu anfing, war Jerusalem überfüllt: Ganz Israel und zahllose herbeigereiste Gäste aus der Diaspora saßen zusammen und feierten die Nacht der Befreiung. Es roch nach den vielen gebratenen Lämmern, es wehte der Geruch der Menschenmenge, ihrer gewöhnlichen Anstrengung und ihrer festlich gereinigten und gesalbten Körper durch die alte heilige Stadt, Murmeln, Lachen, feierlicher Gesang und von abertausend Stimmen verstärkte Gebete hallten über die Dächer, auf denen man in der Abendluft saß, hallten durch die Gassen und von den hohen Plattformen und Zinnen des Tempels: Überall Lichter, Lieder, Lebensfreude.
Und irgendwo dazwischen, in den Polstern der festlichen Passamähler, in Gastzimmern oder den Säulengängen, wo die Pilger übernachten würden, … irgendwo dazwischen war es wie es immer ist, seit Menschengedenken: Mütter hatten ihre Kleinen auf dem Arm, legten das vertraute Kopftuch wie den Vorhang und Schirm eines Heiligtums um müde Köpfchen und Glieder und wiegten ihre Kinder an der Brust in den Schlaf, geschützt, geborgen, eingehüllt in die Sicherheit, die jener Puls und jene Stimme geben, die das Dunkel heimat-friedlich machen.
So sind Kinder immer in die Stille geführt worden, die das neugierige, welthungrige, schutzbedürftige Wachstum braucht: Immer haben Eltern, haben die Alten einen Rhythmus, ein hörbares Geheimnis des nahen Friedens gefunden, der sich in Tönen, Silben, Atemzügen ankündigt, die das Heute zur Ruhe und das Morgen herbeibringen.
In Höhlen und Bunkern, auf endlosen Zügen und in tödlichen Lagern, im Reich der Gewohnheit und in den Verstecken der Todesangst: Das sanfte Lied, das dem neuen Leben jetzt eine Pause und damit Kraft für seine Zukunft schafft, begleitet Menschenkinder unter den unglaublichsten Umständen.
Wiegenlieder erklangen also auch am Gründonnerstag in der berstend vollen, festlich glühenden und summenden Heiligen Stadt: Wahrscheinlich sangen die meisten Mütter ihren Kindern dabei das Lied vom kleinen Lämmchen („Chad gadja“), das noch heute in der uralten aramäischen Muttersprache Jesu am Schluss der Passafeiern endlos, endlos, drollig-traurig, voller volksliedhafter Wiederholungen gesungen wird.
Früher in Nazareth hat Maria das Lamm Gottes zu diesem Lied eingewiegt; in der Nacht, in der seine Schlachtung bevorstand, wiegten andere jüdische Mütter ihre Jüngsten damit … und ahnten nicht, dass diese Neugeborenen den Untergang Jerusalems unter Titus würden erleiden und deren Enkel die endgültige Säuberung des gelobten Landes vom auserwählten Volk und den Anfang des endlosen Exils würden dulden müssen und dass aus denen, die damals auf die Wanderschaft durch das römische Reich und den Orient gejagt wurden, nach siebzig Generationen die Männer, Frauen und Kinder von Auschwitz, Sobibor, Majdanek und Treblinka werden sollten.
Das Wiegenlied der Mütter von Jerusalem, in der Nacht, da Jesus verraten ward, trug und tröstete weiter durch Jahrtausende und ihre Leiden, … und erstickte beinah endgültig erst im Gas, wo sie immer noch die Kleinsten in das Kopftuch gehüllt an der trockenen Brust hielten und ihnen leise oder verzweifelt gellend vorsummten, bis es vorbei war. ———
Von der Feier der Befreiung in Jerusalem bis zur Finsternis von Auschwitz haben also die Wiegenlieder das Volk Israel – wie alle anderen Völker auch – begleitet und trotz unvorstellbarer Leiden immer wieder eine Generation heranwachsen lassen, die überlebte, was die Alten ertragen hatten und weitertrug, was die Alten vorgelebt hatten. ——
Wir aber müssen erschrecken, dass ein Bindeglied zwischen dem Einschlafen der kleinen Passafeiernden damals und dem Auslöschen der späteren Kinder Israels – Gott sei’s geklagt!!! – aus dem Evangelium stammt, ja, aus diesem Bericht vom Anfang der Passion. ———
Ich liebe den Evangelisten Johannes.
Sein Platz am Herzen Jesu ist der Mittelpunkt der Welt.
Doch gerade dieser Herz-Jesu-Evangelist, den ich so liebe, hat mit dem Evangelisten der Gnade - Lukas - das Furchtbare gemeinsam, dass sie beide den Anfang von Jesu Passion in einer schrecklich einfachen Formel zusammenfassen, einer Verbindung, die tödlich werden sollte: „Judas und Satan“ werden von ihnen dabei in einem Atemzug genannt.
… Und wie man es auch dreht und wendet: Die insgesamt drei Verse (Lk.22,3/Joh.13,2+27), in denen der Jünger Judas, der zum Werkzeug eines Heilsplanes wurde, dem wir den Sieg über den Tod verdanken, mit dem Fürsten, dem Prinzip des Bösen verkuppelt wird, haben Jahrtausende verdunkelt.
Dass im vierten Evangelium der ausführliche Bericht darüber, wie Jesus, Johannes und Judas den Verrat, die „Auslieferung“ zur Passion besprechen – das gleiche Wort bedeutet sonst bei den Aposteln übrigens immer die „Überlieferung“, die Tradition –, … dass im vierten Evangelium also der Bericht vom Beginn der Passionstradition mit dem leises Horrorgrauen erregenden Satz schließt „Und es war Nacht“, ist allzu wirksam geworden.
Die rauschende Passanacht der Wiegenlieder über Jerusalem brachte für das Volk Israel durch die Christen eine Finsternis, die jene ägyptische, von der man beim Festmahl gesungen hatte, weit übertraf.
Seither hörten die nichtjüdischen Gläubigen dessen, der damals überliefert wurde und Leid und Tod auf sich nahm, um Tod und Leid zu überwinden, nicht mehr den schönen, prinzlichen Klang des Namens „Juda“ (Ps.60,9).
Sie hörten nicht mehr, wie der alte Name des Jakobssohnes den Löwenmut des Stammvaters (vgl.1.Mose 49,9) mit der Königswürde des Südreiches verband, in dem David mit Jerusalem, mit Zion auf den judäischen Bergen das Urbild der himmlischen Stadt schuf (vgl.Ps.48,12).
Und es half auch nicht, dass der Name Judas unter den Aposteln zweimal vertreten ist und sein anderer Träger – Judas Thaddäus – ein ganz geheimnisvoller und von manchen ganz besonders geliebter Heiliger der Kirche war[ii].
Und es half auch nicht, dass das, was da in der Nacht der Überlieferung, in der Nacht des Passionsanfang geschah, sich auf ausdrückliches Geheiß des Herrn vollzog: „Was du tust, das tue bald“, sagte Jesus … am gleichen Abend, als er mit dem Befehl „Solches tut zu meinem Gedächtnis“ die wirklichkeitstiftendste Wortwirkung aller Zeiten einsetzte.
Und auch das half nichts, dass sich im Bekenntnis des Glaubens, wenn es heißt „gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes“ in der unmittelbaren Fortsetzung dessen, was mit der Passnacht begann, etwas Atemberaubendes andeutet: Wenn der getötete Jesus in das Reich des Todes, in die Unterwelt – die „Hölle“, wie es früher an dieser Stelle hieß – geriet, wen sollte er da als ersten getroffen, mit wem sollte sein Weg sich also am direktesten wieder gekreuzt und verbunden haben, wenn nicht mit dem, der am gleichen Tag, nur wenig vor ihm (vgl.Matth.27,5) ebenfalls gestorben und in die Gottverlassenheit der Hölle gestürzt war?
Aber nichts von alledem – nicht, dass Jesus selbst aus dem Hause Juda (vgl.Heb.7,5) hervorgegangen ist und sein eigener Bruder Judas hieß (vgl.Mk.6,3), noch die Aufforderung des Herrn, noch die letzten Geheimnisse, dass nur Judas beim Abendmahl den Bissen eingetauchten Brotes von Jesus selbst erhielt und nur Judas am Abend des Karfreitag noch da sein würde, wo Jesus war –, … nichts von alledem hat den unglaublichen, erschütternden Satz entschärft: „Und als er den Bissen nahm, fuhr der Satan in ihn“.
Die Christen behielten nur dies: Wer ist in Judas, … dem „Juden“? Satan. Und wo ist Satan? Im „Juden“, … in Judas.
Und nähten es dem jüdischen Volk schwefelgelb auf die Brust.
Stempelten das todbringende „J“ in ihre Papiere.
Plünderten und mordeten durch die Passionszeiten der Jahrhunderte.
Machten die Träume der kleinen Kinder aus dem Volk Gottes zu Albträumen, machten die Wiegenlieder ihrer Mütter darum zu Klagepsalmen …. oder Hymnen des Widerstands, zu therapeutischer Poesie, zu Quellen dessen, was wir heute „Resilienz“, Überlebensfähigkeit, Zukunftstrotz nennen – wie das Wiegenlied für die Verbannten in Babylon, das wir eben aus Jesaja hörten (Jes.49,14–23).
… Oder Wiegenlieder wie das klassische Lied der verwitweten Mutter Zion, die dem kleinen Jüdele im polnischen Ghetto von den Süßigkeiten des gelobten Landes singt; Wiegenlieder wie die ergreifenden Gedichte eines Mädchens aus der Bukowina, das nie Mutter werden sollte und doch in einfachster Form zwischen Eichendorff, Heine und ihrem Vetter Paul Celan den Abgrund eines persönlichen zweitausendjährigen Weltschmerzes besingt, um still werden zu können. ———
Warum wir aber heute noch von den Schrecken und den Kräften reden, die Israel nicht erst seit Jesu Leiden, aber verstärkt durch Jesu Kirche erfuhr? Warum wir das nicht dem Vergehen und Vergessen überantworten, in einer Zeit, die ihren eigenen Verwickelungen und ihren eigenen Wahnsinn kennt und weder Rat noch Erkenntnis aus Vergangenem erhofft? …….
Weil eine Welt ohne Gedächtnis, eine Welt ohne den Trostspeicher und die Bewältigungskunst, die in Wiegenliedern und im Passionsgedenken, im Ausdruck des Verstörenden wie im Beschwören das Tröstlichen liegen, nicht auf Dauer zur Ruhe kommen kann.
Betäuben und Verdrängen – der ganze Schwindel des Erinnerungsverzichtes – lassen die unbehandelten Schmerzen zu seelischen (und nicht nur seelischen) Geschwüren werden, die durch ihre Verkapselung gefährlich bleiben.
Aber wie jedes Drüberreden, wie das Beten, wie das Bekennen, genauso erfüllen echte Schlaflieder das, was ihr Name verspricht: Nicht Flucht in’s Wegdämmern wollen sie sein, sondern die Möglichkeit zur wirklichen Erneuerung durch Nennen und Aussprechen, durch Loslassen und Neubeginn.
Darum sind die alten Wiegenlieder – ehe die La-Le-Lu-Welle der vergangenheitsleugnenden Nachkriegsjahre anbrach – gar nicht nur mondbeschienene Harmlosigkeiten, sondern einfache, beiläufige, darin manchmal auch beinah schockierend ungeschönte Wirklichkeitsbewältigungen.
Sie färben nicht.
Sie legen keinen Schleier über das Ganze dieser Welt.
Indem sie Kinder an der Schwelle des tiefsten Kräftesammelns auf das tatsächliche Leben vorbereiten, machen sie ihnen gerade nichts vor.
„Der Vater ist im Krieg, die Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt“ auf die Melodie von „Schlaf, Kindchen schlaf“: … Das ist ein Grundton der nüchternen Wahrheit, die an vielen Wiegen gesungen wurde, und auch in der eigentlichen Schlafliedfassung aus dem „Wunderhorn“[iii] begegneten die beißenden Hunde und der Tod des Lämmchens noch zu Menschengedenken.
„Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt …“[iv]: Als Kind selbst hat man bei diesen Zeilen vom plötzlichen Kindstod nicht so gezuckt, wie als Erwachsener an den Bettchen der eigenen Kinder.
Aber gerade die Weigerung zu Lügen, der Verzicht auf Illusionen machen den Sinn des Einschlafliedes aus: Nur Schlaf, der die Sorgen an seiner Schwelle wirklich noch einmal gewogen und dann abgelegt hat, ermöglicht Leben in der Welt und nicht im Traumland.
Aus diesem Grund nennt der evangelische Nachtchoral, dem das Wiegenlied entstammt, das auch wir als Eltern abends immer noch beten, den, der sonst kaum angesprochen wird, … den, den auch Johannes genannt hat.
… Nur dass das Wiegenlied Paul Gerhardts mit der Verbindung zwischen dem Teufel und dem armen Judas bricht und daran erinnert, dass das wirklich Böse, die echte Angst, die furchtbare Macht der Schuld und das Unheil, von dem die Welt leider voll ist, Jeden, … jedes einzige Menschenkind betreffen:
„Will Satan mich verschlingen, breit aus die Flügel beide, o Jesu!“ (EG 477,8)
In diesen Zeilen, die das Satanische, Zerstörerische, Grausame nicht als antijudaistisches Zerrbild, sondern als Teil unseres Menschseins, unseres innerlichen wie äußerlichen Bedrohtseins begreifen, wird ein wahrheitsgemäßer Blick auf die Wirklichkeit gewagt.
Genauso soll alle unsere Passionserinnerung, unsere Passionsfrömmigkeit auch sein! So dass sie auch Judas nicht als den Verbrecher, sondern den Gebrochenen, den Angefochtenen, den Verzweifelten sieht, der mit der Wegzehrung, die Jesus ihm auf die Zunge legte, ja mit einem eigenen Sendungswort in das unerklärliche, aber wirkliche Verhängnis der Verkehrtheit, der Sünde in allem Leben und Tun, in allem Leiden und Tod gehen muss.
Es ist schwer, diese ungeschönte Wahrheit auszuhalten, die die Wiegenlieder schon den Kleinsten zumuten: Dass nicht alles aus Wattewolken, sondern vieles aus Dornen und Rätseln besteht.
Aber wie das ehrliche, treue, durch die Stimme und den Puls der Liebe zuletzt beruhigende Lied für die Müden, so wirkt auch die Passionszeit, die jetzt beginnt: Sie zeigt die Welt, wie sie ist.
Sie erspart nichts.
Sie sagt, was Juden und Christen – schuldig und schuldlos – bis heute erleben: „Und es war Nacht.“
Aber indem das nicht vergessen wird, dient das Lied der dunklen Stunden gerade nicht der Finsternis, sondern dem Morgen, dem Tag des großen Wachwerdens und Aufstehens, der kommt.
Denn den Abend lang währet das Weinen, aber des Morgens ist Freude (Psalm 30,6)!
Amen.
Nach der Predigt, anstelle der Fürbitte
Schlaflied
Schlaf, der Tod hält uns umfangen,
Kleines Herz, ruh aus!
Was am Tag die Lippen sangen,
Schwebt noch um das Haus.
Bis die Hähne Morgen singen,
Ist die Nacht noch groß.
Manchem Stern noch mags gelingen
Und er löst sich los.
Leuchtend stürzt er sich hinunter,
Fern erlischt sein Schein.
Schlafe, morgen bist du munter
Und der Tod schläft ein.
(David Goldfeld, [1904 – 1942], 1940)[v]
[i] In diesem Gottesdienst im Rahmen des Themenschwerpunktes „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ sang Clementine Jesdinsky, begleitet von Susanne Hiekel folgende Stücke:
„Rozhinkes mit Mandlen“ von Abraham Goldfaden; „Schlaflied für mich“ und „Lied“ von Selma Meerbaum-Eisinger in den Vertonungen von Felicitas Kukuck; „Du Kind, zu dieser heil’gen Zeit“ von Jochen Klepper (Melodie: Volker Gwinner) – EG 50; „Awinu Malkeinu“ (traditionell synagogal).
[ii] Vgl.: St. Judas Thaddäus – der große Helfer in aussichtslosen Anliegen und gegen Depression und Verzweiflung, zusammengestellt von Sr. Michaela Hutt, Kisslegg-Immenried, 20103.
[iii] (…..) „Schlaf, Kindlein, schlaf / Christkindlein hat ein Schaf, / Ist selbst das liebe Gotteslamm, / Das um uns all zu Tode kam, / Schlaf, Kindlein, schlaf. … Schlaf, Kindlein, Schlaf, / Und blök nicht wie ein Schaf, / Sonst kömmt des Schäfers Hündelein / Und beißt mein böses Kindelein, / Schlaf, Kindlein, schlaf.“ (Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. Achim von Arnim und Clemens Brentano, Vollständige Ausgabe nach dem Text der Erstausgabe von 1806/1808. Mit enem Nachwort versehen von Willi A. Koch, Lizenzausgabe 1991, Darmstadt, S.828)
[iv] Aus Anton von Zuccalmaglios: „Die Blümelein, sie schlafen“, das wiederum seine Weise mit Fr. von Spees „Zu Bethlehem geboren“ teilt und den Blick auf die Wiegenlieder-Tradition des Weihnachtsfestkreises lenkt, die etwa im mittelalterliche Überlieferung gestaltenden Volkslied „Auf dem Berge, da wehet der Wind“ ebenfalls eine echte Konfrontation mit der gar nicht idyllischen Wirklichkeit vermittelt.
[v] Aus: Fäden ins Nichts gesponnen. Deutschsprachige Dichtung aus der Bukowina. Hgg.v. Klaus Werner, Frankfurt/M und Leipzig, 19983, S. 69.
Darstellung Jesu im Tempel, 02.02.2021, Stadtkirche, Lukas 2, 22-40, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Darstellung des Herrn - 2.II.2021
Lukas 2, 22-40
Liebe Gemeinde!
Eine ganz regelrechte „Quarantäne“ haben wir seit Weihnachten nun hinter uns: Vierzig Tage, fast anderthalb Monde, die vergingen, seit die westliche Christenheit die Geburt des Herrn feierte. … Und nun, nachdem unter mehr als trüben winterlichen Verhältnissen ein Neuntel eines Sonnenjahres verstrichen ist, … nun will auch Jerusalem endlich feiern!
Denn darum geht es beim heutigen, erst vor Kurzem in’s evangelische Kirchenjahr zurückgekehrten Fest[i]: Die christliche Gemeinde von Jerusalem, die sich immerhin als Mutter der Kirche fühlen durfte, tat sich schwer, dass das Urereignis in jedem Jahr des Herrn außerhalb ihrer Mauern, 10 Kilometer Richtung Süden seinen festen, feierlichen, hochheiligen Ort hatte.
Weil aber an der Lokalisierung von Weihnachten in der Kirche über der Bethlehemer Grotte weder zu zweifeln noch zu rütteln war, konnte die Mutterkirche im Heiligen Land von Glück sagen, dass die Geburt eines Kindes, erst recht eines männlichen Erstgeborenen nach biblischem Gesetz tatsächlich noch Handlungen im Herzen Israels vorsah: Die Darbringung einer Dank- und Reinigungsgabe am Heiligtum für die aus dem Wochenbett kommende Mutter und die Auslösung des ersten Sohnes am Tempel, der nach uralter Überlieferung von Rechts wegen als Eigentum Gottes zu betrachten war.
Neugeborenes und Wöchnerin sollten also zusammen die Pilgerfahrt nach Jerusalem antreten, so dass die außerordentlichen, völlig kreatürlichen und doch auch tief persönlichen Erfahrungen von Wehen und Geborensein, Mutterschaft und Kindheit ihren Ort nicht nur im Einzelleben, sondern im geheiligten Raum der Gemeinschaft erhielten.
Und weil die Jungfrau und ihr Sohn diesen Weg zu Gott wie alle jüdischen Mütter und Kinder gingen, konnte der Patriarch von Jerusalem im 4.Jahrhundert mit Fug und Recht den Tag am Schluss der Weihnachtsquarantäne, den Tag, mit dem Weihnachten einmal durch das ganze menschliche System hindurchgegangen ist, als hohes Fest auf Zion einsetzen: Mit einer Lichterprozession von den Toren der Jerusalemer Stadtmauer durch die Straßen und in alle ihre Kirchen: Christus – das Licht zu erleuchten die Heiden und zum Preis des Volkes Israel – Christus kehrt zu seiner Darbringung und zur Reinigung Mariens zum ersten Mal im Kreislauf eines Jahres in der Stadt Gottes ein. Christus kommt an’s Ziel: Das war die sinnenfällige Botschaft, mit der die christliche Gemeinde der spätrömischen Jahrhunderte das Fackeln- und Kerzenfest, das man im Rheinland als „Lichtmess“ kennt, in Jerusalem beging. Christus kommt an’s Ziel, schon als Säugling, noch vor allen Taten und Leiden, noch vor Flucht und Verborgenheit, noch vor Wanderschaft und Offenbarung.
Christus kehrt heim zu seinem Vater, in Dessen Haus er sein muss. ——
Eine solche Zionszentrierung unseres Kirchenjahres und unserer Liturgie ist uns heute reichlich fremd; doch bleibt es nötig, uns zu erinnern, dass nichts an unserem Glauben und auch keines unserer Feste unter nördlichem Himmel oder in abstrakter Entfernung zu halb märchenhaften, poetischen Orten der Vorzeit begonnen hat, sondern mitten drin, in echter, auch räumlicher Vertrautheit mit und Kontinuität zu den biblischen Ereignissen.
Wir können also der etwas pikierten Jerusalemer Glucke und Mutter der Kompanie nur dankbar sein, dass auch sie etwas vom Glanz und von der Volksfestfreude der Heilandsgeburt haben wollte, die nach Bethlehem gehörte. Denn diese Ortstradition der Heiligen Stadt schenkt uns – 1700 Jahre später und in wahrlich gewandelten Verhältnissen – die Nachweihnacht dieses Abends. Und mit ihr die Bestätigung, dass Christus tatsächlich und konkret an sein Ziel, … dass er zum Vater und gerade damit und dort auch in die Herzen und sogar die Arme der Menschen kommt.
Zunächst ist die Bewegung vierzig Tage nach Weihnachten nicht anders als jene am vierzigsten nachösterlichen Tag. Darbringung und Himmelfahrt weisen und führen in die selbe Richtung: Christus muss – wie er es zwölfjährig selber gesagt hat – sein in dem, was seines Vaters ist (vgl. Lk2,49). Er gehört in das Heiligtum, in die Heimat, in das himmlische Reich Gottes!
Christus und der Vater: Unmöglich, sie voneinander-, unmöglich sie auseinander zu halten. Wo der eine ist, gehört auch der andere hin. Ihr Daseinsraum, ihre Existenzweise zeigen sich bei der Darbringung des neugeborenen Kindes und der Auffahrt des aus dem Reich der Toten wiedergeborenen Mannes als identisch.
Alle Wege Jesu sind Jerusalems- und also Himmelswege: Wege zur Einkehr in Gottes Gegenwart, … Wege zur Einheit mit Gott.
Doch gerade der erste dieser Gotteswege Jesu, der erste dieser Heimkehrwege des Gotteskindes von Bethlehem zeigt uns – gottlob! – auch ganz leuchtend und wärmend, dass es nicht um Abstand, nicht um soziale Distanz, nicht um Geschiedenheit von uns Menschen geht, wenn der Sohn in das Leben des Vaters eingeht, sondern im Gegenteil:
In Jerusalem, im Haus Gottes steht doch die wartende Menschheit, ergraut vielleicht, viel-leicht kopfschüttelnd belächelt und für lebensuntauglich gehalten in ihrer Sehnsucht danach, dass Gott kommen und sie wieder jung machen möge wie ein Adler.
Über Simeon, den kurzatmigen Todeskandidaten und über Hanna, die schrullige Alte, über diese beiden Vertreter einer aus der Zeit gefallenen Erwartung, dass Gott wirklich und dass er sogar im eigenen Dasein wichtig sein könne, wird man gelächelt haben und sich an die Stirn getippt. Über ihre Einfalt, ihre greisenhafte Sturheit, ihre Demenz, die Dinge wahrnimmt – für „wahr“ nimmt –, die alle anderen weder sehen noch hören können.
… Die armen Altchen. Trottelig wieder geworden wie die Kinder. ———
Aber jeder, der jemals das Fest der Darbringung des Herrn gefeiert hat, … jeder, der wie die Kirche es seit Jahrhunderten tut und ich es jedem unter uns nur herzlich empfehlen kann, seinen Tag beschließt mit dem kurzen, herrlichen Lobgesang des Simeon, … jeder, der weiß, was diesen beiden unbeirrbaren Gotteserhoffern, Heilsherbeiwartern, lebensverlängernd Lebensverlangenden widerfahren ist, kann doch nur heute und immer wieder an die großen alten Wartenden denken und sagen (Ps.84,11): „Lieber will ich die Tür hüten in meines Gottes Haus, als wohnen in der Gottlosen Hütten.“
Denn ihre Erwartung ist in Erfüllung gegangen: Vor allen anderen Taten oder Leiden, vor aller Herrlichkeit und allen Schrecken seines ganzen Weges ist das neugeborene Jesulein einfach und unmittelbar ihnen geschickt worden, damit sie getröstet, damit sie gerüstet, damit sie im Frieden seien!
Herz, was willst Du mehr?
Seele, was suchst du wohl noch?
Mensch, was kannst Du anderes hoffen, als es diesen beiden widerfahren ist?
Den Heiland sehen und sterben. Sterben und den Heiland sehen: Nicht umsonst steht das am Anfang des Evangeliums. Nicht umsonst ist das das erste Geschenk, das das Kind aus der Krippe in die Welt bringt: Der alles andere übersteigende Friede des Herrn strahlt und strömt aus, seit die beiden Alten das kleine Kind auf Erden begrüßen und herzen durften.
Man muss nicht, … vielleicht sollte man auch gar nicht Theologie studiert oder des Pudels Kern oder den Code zum Entriegeln der großen Sinnmaschine des Universums gesucht haben, um das zu erfassen, was da geschieht: Ein Menschenleben ist erschienen, ein einfaches, echtes, gewöhnliches Menschenleben, und auch wenn es seine junge Mutter gewiss erschreckt haben muss, … sie wird nicht bloß hilflos zugesehen, nein, sie wird mit ihrem großen „Ja“ verstanden haben, warum dieses kleine, unscheinbare, welttröstende Menschenleben in zwei alte Arme gelegt werden musste: Dieses Menschenleben ist erschienen denen, die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes (vgl.Lk.1,79).
Und wer dieses Menschenleben empfängt, so wie sie – Maria – es empfangen hat, der kann nur noch singen wie sie, singen wie der selige alte Mann (vgl. Lk1,46ff + 2, 29ff):
„NUNC MAGNIFICAT[ii]
– Jetzt erhebt meine Seele den Herrn,
denn meine Augen haben den Heiland gesehen,
und er hat große Dinge an mir getan
und mich den Frieden finden lassen,
weil er die Niedrigen erhebt
und allen Völkern das Licht bringt,
weil er Abraham und Israel
und Simeon und Hanna
und alle Heiden und alle Müden,
alle Zweifler und alle Verzweifelten,
alle Kämpfenden und alle Wartenden,
alle Hoffenden und alle ohne Hoffnung
in diesem Kind, in diesem Menschenkind hält und erhellt
und niemand je wieder außerhalb dieses Lebens sterben,
niemand je wieder ohne dieses Menschenkind leben wird!“
Es ist so schlicht, es ist so einfach … dieses unendliche Geschenk der Darbringung des Herrn.
Man kann es verstehen, wenn man es bloß sieht, und man wird darüber hinaus nicht klüger, wenn man es auch noch so oft durchdenkt und durchdreht: Dieses Menschenleben, das da am Ort Gottes ist, dieses Menschenleben, das zu Gott gehört und das gerade darum in die ausgebreiteten Arme eines Fremden gelegt wird, ist das Ziel jedes Weges, ist der Sinn aller Dinge. ———
Die orthodoxe Kirche, die in der Tradition der Jerusalemer Anfänge das Fest dieses Tages als das „Fest der Begegnung“ zwischen dem Christuskind und der Menschheit feiert, wacht in ihrer Ikonentheologie eifersüchtig über das Mysterium der Fleischwerdung, das alles zudringliche Begreifen und plumpe Betasten übersteigt. Orthodoxen Christen ist darum vieles von unserer rührseligen und berührseligen Weise, uns Weihnachten zu nähern, verdächtig … läppisch, oberflächlich vielleicht. Einfach einen Stall, eine Landschaft nachzubauen, in denen wir uns die Geburt und Wirklichkeit Christi sizilianisch oder alpenländisch oder rheinisch vergegenwärtigen und einbilden, zu Weihnachten gehörten eben das Maskottchen unseres Lieblingssports oder die Mülllabfuhr unserer Stadtwerke dazu[iii] – wie es an traditionsreichen Krippen in Köln der Fall ist –, würde den Christen des Ostens und des Orients furchtbar widerstreben. Für sie ist es ganz unsinnig und unvorstellbar, ja lästerlich den fleischgewordenen Sohn des Vaters so unbekümmert einfach in Beschlag und Besitz zu nehmen, weshalb auf den Bildern, die sie kennen, eigentlich nur die Mutter – die Gottesmutter, wie es die Kirche in Ost und West seit dem 5. Jahrhundert bekennt[iv]! – das Kind hält und berührt.
Doch das heutige „Fest der Begegnung“ – bei dem auch wir jetzt keine malerische Krippe mehr vor Augen haben, sondern vor allem das reine Licht, das in diesen Tagen am Himmel nun wieder so eindeutig zunimmt und wächst – … das heutige Begegnungsfest also bringt allerdings die Ausnahme auf den Ikonen: Simeon, der das Menschenkind voller Gottesleben, das Gotteskind in seiner Menschenwirklichkeit im Haus des Vaters begrüßt, er darf es auch ehrfürchtig und selbst überschwänglich berührt halten. Er darf dies Kostbarkeit dieses Lebens, das Gottes ist, auf den Händen tragen. Und heißt darum: „Simeon, der Gottesempfänger“.
Denn er zeigt und verkörpert es für uns alle:
Christus, der da ist, wo sein Vater ist, kommt an’s Ziel!
Wenn wir ihn – den Glanz, den die Augen unseres Herzens auch da schauen, wo kein Weihnachtslicht mehr brennt – … wenn wir ihn mit den Augen der Seele, den Armen des Glaubens, der Empfänglichkeit unseres Herzens fassen, dann ist er wirklich angekommen: Christus bei Gott, Christus bei uns.
Christus, in dem die Verbindung besteht, … das Licht, das die Heiden heimführt nach Jerusalem, zum Preis Israels, in das Reich, in die Gegenwart, in das Leben des Vaters.
Amen.
[i] Zur Wiederaufnahme des Festes der „Darstellung Jesu im Tempel (Lichtmess)“ in das von der Liturgischen Konferenz der EKD 2018 herausgegebene Perikopenbuch (dazu aaO S. XXVf) heißt es auf den kommentierenden Seiten zwischen S. 568 und 569: „Im protestantischen Bereich ist der Gedenktag kaum verankert. Mit der jüngsten Perikopenrevision hat er allerdings auch im evangelischen Kirchenjahreskalender seine Funktion als Schwelle zwischen der weihnachtlich geprägten Epiphaniaszeit und die Kar- und Ostertage ankündigenden Vorpassionszeit zurückerhalten.“ AaO auch einiges zur liturgiegeschichtlichen Einordnung des Tages. Vgl. dazu außerdem: Karl-Heinrich Bieritz, Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart, München 19882, S.207ff.
[ii] Das „Magnificat“ - der Lobgesang Mariens - ist seit jeher der Vesper zugeordnet und das „Nunc dimittis“ - Simeons Lobgesang - der Komplet: Die Abend- und Nachtgebete der Kirche sind also zugleich Gebete aus dem Kindheitsevangelium und darum voller Lebensbejahung, zu der auch die Bejahung des Sterbens gehört, das dem Leben keinen endgültigen Abbruch mehr tun kann.
[iii] So zu sehen an den Krippen von St.Maria im Kapitol und des Doms zu Köln!
[iv] Dies einer der wichtigsten Beschlüsse des dritten ökumenischen Konzils der alten Kirche, das 431 in Ephesus zusammentrat und im Streit verschiedener Schulen der Schriftauslegung u.a. feststellte, dass Maria „Theotokos“ - „Gottesgebärerin“ - zu nennen sei, um die Konsequenz der vorhergegangenen Konzilien zur christologischen Zwei-Naturen-Lehre ausdrücklich zu benennen. Das III. ökumenische Konzil gehört zu denen, die auch in den Bekenntnissen der reformatorischen Kirchen allgemein anerkannt worden sind.
Letzter Sonntag nach Epiphanias, 31.01.2021, Stadtkirche, 2.Petrus 1,16 - 21, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Letzter n.Epiphanias 31.I.2021
2.Petrus 1, 16-21
Liebe Gemeinde!
Das Mutigste, was der neue amerikanische Präsident bisher getan hat, findet sich in seiner Ansprache zur Amtseinführung. Er hat den – nicht bloß von seinem gewissenlosen Vorgänger, sondern ebenso von der ganzen sich für postmodernen haltenden westlichen Welt verächtlich gemachten – Satz gewagt: „Es gibt Wahrheit – und es gibt Lügen!“[i]
Wer kann denn heute einen solchen Satz sagen, obwohl wir alle doch vom Verdacht vergiftet sind, dass jede Aussage und jede Perspektive, dass jedes Prinzip und jede Forschung nur als Ausdruck eines bestimmten Interesses, einer subjektiv motivierten Absicht zu deuten seien?!
„Es gibt Wahrheit – und es gibt Lügen!“
Wer kann denn heute einen solchen Satz sagen, obwohl wir umgekehrt alle von der vermeintlichen Toleranz beseelt sind, die jede Anschauung und jede Phantasie, jede Meinung und jeden Spleen als persönlich und darum auch persönlich gültig schützt, seit wir „Wahrnehmung“ statt Wahrheit als den menschlichen Maßstab nehmen?!
Die Wahrheit hat ausgedient. Das Denken hat sich von ihren und ähnlichen Diktaten befreit und dient – toleriert und gleichzeitig verdächtigt – keinen heiligeren Motiven als Neigungen und Interessen Einzelner. Größeres, Allgemeingültiges, Beständiges bekümmert und verpflichtet grundsätzlich niemanden mehr.
… Zum Glück beschreibt diese teils aggressive und teils progressive Gleichgültigkeit nicht alle gleich gültig. Es gibt immer noch die Wissenschaft und Medizin, die sich dem Anspruch reiner Objektivität verschreiben. Und es gibt Menschen in Politik, Wirtschaft und Justiz, in der Kunst und in der Kirche, die das vertreten, was allen gilt und frommt, und ebenso das, was alle zügelt und begrenzt, weil es nicht in’s Belieben gestellt ist, sondern übergeordnet und unantastbar bleibt, solange irgendjemand ein Gewissen, Augen im Kopf und einen demütigen, nüchternen Geist hat. … Doch dass die Annahme klarer Wahrheit im Gewaber der eigen-mächtigen Meinung und im Nebel gegenseitigen Misstrauens verschwimmt und so an Orientierungskraft verliert, ist leider kaum zu bestreiten.
… Daher muss man tatsächlich fragen, ob es denn überhaupt stimmt, dass es Wahrheit und dass es Lügen gibt? Bringt eine solche Ansage nun endlich eine Rückkehr zur Vernunft oder ist sie doch bloß eine Vereinfachung, die sich einen schlichten, sittlichen Anschein gibt?
… Ist an der Idee von Wahrheit überhaupt etwas Wahres dran?
… Oder lügt, wer von der Wahrheit redet?
… Und sagt die Wahrheit, wer behauptet, alles sei zuletzt doch wohl nur Lüge?
Diese Fragen – auch wenn sie uns schwindelig machen – müssen wir Christen uns immer wieder stellen. Damit wir eines nicht werden … oder sind … oder bleiben: Fertig. ——
Fertige Leute, die alle Antworten haben, denen klar ist, wo lang und wie’s geht, die im Besitz letzter Erkenntnis und unangefochtener Sicherheit sind, … fertige Leute sind tot oder tödlich. Und die Gefahr, dass ausgerechnet wir Christen – die Gemeinde des Auferweckten! – eine solche abschließende, todesstarre Gestalt unbeweglicher Gewissheit annehmen, ist immer wieder eingetreten. Die Versuchung ist ja auch groß, uns vollständiges, lückenloses Bescheidwissen einzubilden: Sind wir doch die einzige Religion, die Gottes Geburtsdatum kennt und darum auch gleich Gottes Buchhaltung mitmacht, indem sie die eigene Zeit praktischerweise einfach seit Seiner Geburt rechnet und auch sonst auf so vertraut erleuchtetem Fuß mit Gott steht, dass wir Ihn den „lieben“ nennen und Ihn, weil Er Mensch geworden ist so verniedlicht haben, dass Er gar kein Eigenleben mehr behält, sondern läuft, wie wir Ihn aufziehen und lässt, was wir Ihm nicht zutrauen. Wir Christen können vor lauter angeblicher Glaubensgewissheit durchaus dem Trugschluss erliegen, Gott sei eine bekannte Größe, ein erforschter Kontinent, ein gelöstes Rätsel, ein abgeschlossener Fall.
… Doch dadurch verpassen wir alles.
Weshalb es buchstäblich ein Geschenk Gottes ist, dass wir immer – wenn wir denn die Bibel ernstnehmen und nicht nur unsere Gewohnheit! – offenen Fragen begegnen und einer bleibenden Freiheit, sobald wir Israel und seine Bibel, sobald wir das Alte Testament und das jüdische Volk hören.
Die unendliche – buchstäblich: niemals beendete – Spannung, Hoffnung und Verheißung, die uns in den hebräischen Schriften und im lebendigen Judentum entgegentreten, bewahren eine hörende, fragende, suchende Christenheit vor der Trostlosigkeit der Fertigen. … Denn das ist Israel nie gewesen und will es und wird es in dieser Welt auch nicht werden: Ein Volk, dessen Werk erledigt, dessen Botschaft überbracht, dessen Wahrheit unangefochten geteilt und praktiziert würde.
Doch eben deshalb ist Israels Zeugnis und Vorbild für alle Zeiten auch so herausfordernd, so aufregend und beschämend, so befremdlich und so existentiell: Menschen, die mit Gott nie abgeschlossen haben, die nie etwas Geringeres als Seinen Willen suchten und dabei nie eine einheitliche, sondern stets eine vielfältige, konkrete, umstrittene Antwort übten auf die Frage, die die Philosophen auf den Zuschauerrängen und in den Hörsälen sich so lebensfern und ungefährlich stellen: „Was ist Wahrheit?“
Israel dagegen hat immer den Kopf hingehalten, um ergriffen und geistreich zu erforschen und kritisch und beharrlich zu insistieren, was der Wille Gottes sei und wie er sich – angefangen bei den unentbehrlichen Zehn Geboten – erfüllen lasse im Alltag der Welt.
Israel hat den Kopf hingehalten und nach Wegen der Freiheit, nach Wegen der Gerechtigkeit, nach Wegen der Ethik gesucht, weil das seine schrecklich herrliche Erwählung, sein tödlich heilsames Lebenswerk ist.
… Christen – zumal seit der Reformation – begnügten sich damit, Gottes Wort zu glauben.
Die Juden dagegen haben es beglaubigt. —————
Das alles sollten wir bedacht haben, wenn wir den geheimnisvoll wunderbaren Abschnitt aus dem 2.Petrusbrief betrachten, mit dem heute die Epiphanias-Zeit, die Zeit des weihnachtlichen Glücks zu Ende geht:
2. Petrus 1, 16 -21
„Wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln“, … wir sind keinen philosophischen Systemen oder Mythen gefolgt, als die Kraft und das Kommen Jesu Christi zum Wendepunkt unseres Lebens wurden: So hält es der Verfasser dieses Briefes fest, in dem manche einen ganz späten Nachzügler innerhalb des Neuen Testaments und andere den ersten Jünger und das Haupt der Apostel erkennen. So oder so aber – ob der Brief nun zu den ursprünglichsten oder den letzten Zeugnissen des Neuen Testaments gehört – … so oder so erstaunt es allerdings, worauf sich die Überzeugung gründet, dass Jesu Kraft und Kommen schlichtweg entscheidend sind.
Denn der Kristallisationspunkt, der Energieausbruch, durch den die Glaubensahnung der Jünger fest und ihre Messiashoffnung belastbar gemacht wurde, war die Verklärung Jesu auf dem Berg, bei der den neutestamentlichen Zeugen – so macht der 2.Petrusbrief es unmissverständlich klar – die zuverlässigste Beglaubigung zuteilwurde: Das Wort des Vaters, dass Jesus sein geliebter Sohn sei und das Licht der prophetischen Zeugen, die dabei aufstrahlten. Mose und Elia – so berichten es die Evangelien –, der Lehrer der Torah und der glühendste ihrer Deuter waren leibhaft zugegen in der Stunde, in der der Christus-Glaube, der christliche Glaube in Simon Petrus, in Jakobus und in Johannes aufflammte (vgl. Mk. 9,2-13 // Matth.17,1-13 // Lk.9,28-36)
Diese maßgeblich, diese prinzipielle Bindung des christlichen Glaubens an die beiden treuen Zeugen des Mose-Bundes, die Jesus bei seiner Verklärung das unauslöschliche Siegel ihres wechselseitigen, ihres dreiseitigen Einvernehmens – zwischen Gesetz, Propheten und Evangelium – verleihen, ist ein viel zu lange vergessener, verleugneter, verdrängter Grundsatz der Bibel: Nicht, was der erste Apostel oder letzte Zeuge des Neuen Testaments, … ja, überhaupt nicht das, was die christliche Überzeugung über ihn sagen würde, sondern das Licht Israels entscheidet, wen wir in Jesus Christus sehen!
Umso fester haben wir das prophetische Wort!, bekräftigt die heutige Epistel: Umso ernster nehmen wir das Vorbild und den Auftrag Israels, die in Jesus Christus kristallisiert, nein, gerade nicht, sondern …Fleisch geworden sind, … das Vorbild und den Auftrag, Gottes Willen, Gottes Gebot und Gerechtigkeit zu erfüllen und im Leben der Menschheit zu verwirklichen.
Das ist die Quelle der Autorität, auf die sich mit dem 2.Petrusbrief das Neue Testament abschließend beruft.
Das ist das wahre Licht, das Licht der Wahrheit, in dem die, die den Aposteln nachfolgen und nacheifern wollen, ihren Herrn erkennen und bekennen sollen: Die prophetische Predigt, die Mahnung, die Hoffnung, dass es zur weltweiten und endgültigen Aufrichtung des lebendigen und gelebten Bundes kommen wird, den Gott im Gesetz Seiner Gerechtigkeit mit Israel geschlossen und in Jesus Christus für alle Völker eröffnet hat. ————
Wenn wir das als den Maßstab, als das praktische Kriterium der Wahrheit begreifen, was ein Nathan und ein Elia, ein Jesaja und ein Jeremia zu sagen hatten, dann werden wir den Morgenstern, das Licht des Reiches Gottes aufgehen sehen!
Das ist das Ziel und Vermächtnis des Simon Petrus nach dem zweiten Brief, der seinen Namen trägt, und es ist ein Ruf zu Mut und Klarheit, wie sie uns selten zu Gebote stehen!
… Denn das prophetische Wort ist das Wort eines lästig unerbittlichen Rufes zu heiliger Ethik und sozialer Moral, … eines Rufes, getrieben vom Heiligen Geist in Gottes Auftrag:
Das prophetische Wort ist die Strafandrohung, die Nathan dem selbstgefälligen König David (vgl.2.Samuel 11+12) und Elia den wachstumsvergötzenden Baalsjüngern in Israel entgegenhielt (vgl. 1.Könige 17ff).
Das prophetische Wort ist die schonungslose Abrechnung des Amos mit den Gierigen und des Hosea mit den Verlogenen in der Gesellschaft.
Das prophetische Wort ist der Traum des Joel von der Freiheit des Geistes und die dem Jona persönlich widerfahrene Bloßstellung unserer Engigkeit.
Das prophetische Wort ist die Herausforderung der Gewalt durch den Glauben, die Jesaja predigte; die Vision vom waffenlosen Frieden, die Micha bewegte; es ist die als Pessimismus verhasste Weitsicht des Jeremia und es ist Hesekiels heilende Utopie von wirklicher Gottes-nähe im Irdischen.
Das prophetische Wort ist die scharfe Schonungslosigkeit Obadjas beim Blick in die Welt und die klagende Dünnhäutigkeit Habakuks; es ist der Zorn Nahums und die Angst des Zephanja.
Das prophetische Wort ist die Befreiungstheologie Haggais und die radikale Liebe zur Gottesherrschaft, die Sacharja erfüllte.
Das prophetische Wort ist schließlich die endzeitliche Bereitschaft zum Gehorsam, die Daniel lebte und die erschreckende, beflügelnde Erlösungsbereitschaft Maleachis. ———
Das prophetische Wort, das in der Dunkelheit den Morgen erhellt, der mit Jesus Christus für immer angebrochen ist, weist uns also tatsächlich zur Wahrheit!
Und zwar nicht zu einer Wahrheit, die man behauptet, mit der man argumentativ oder theoretisch Recht behält und die die Dinge nach unserem Gutdünken zähmt und ordnet, sondern das prophetische Wort, durch das Jesus Christus beglaubigt und wir erleuchtet werden, weist in praktische, gelebte, gehorsam und unendlich zuversichtlich geübte Einwilligung und Einbindung in den Bund und Willen Gottes; … und damit über alles Einzelinteresse hinaus auf das für alle für immer Gültige!
Es sagt und verpflichtet uns, dass die Wahrheit Gottes keine leere Figur der Rhetorik – aus eigener Auslegung und menschlichem Willen hervorgebracht – , sondern Form und In-halt unseres gesamten Daseins sei und dass es darum tatsächlich nicht angeht, zu verachten oder zu verschachteln, was wirklich geboten und gut ist: Das Leben, über das Gott gebietet, ehrfürchtig zu schützen; die Schöpfung, die Er mit uns teilt, endlich als Spiegel Seiner Herrlichkeit vor der Vergewaltigung zu verteidigen und echte, soziale, ökonomische Gerechtigkeit in der Welt herbeizuführen, weil nur eine Menschheit, die bereit ist zur Liebe, der gerechten Strafe Gottes entgehen kann.
Wenn wir dieses prophetische Wort festhalten und am dunklen Ort darauf achten, wird der Morgenstern nicht nur in unseren Herzen aufgehen, sondern für die ganze Welt nicht ewig auf sich warten lassen.
Das ist der Weg der Wahrheit, der Weg Jesu Christi, … dessen Jünger und dessen Kirche dem Licht, das Israel voranträgt und das sich in Jesus verleiblicht und verklärt hat, ehrfürchtig folgen.
Bedenken wir das, so erkennen wir, dass nicht nur ein Satz in der amerikanischen Politik der letzten Tage von wirklicher Leuchtkraft erfüllt war, sondern auch eine Gnade, die der deutschen Politik widerfahren ist, als am Mittwoch (27.Januar: Gedenktag der Shoah) in einem Raum des Bundestages der Schluss der Torah in die gerettete Sulzbacher Schriftrolle[ii] eingetragen wurden, die von den höchsten Vertretern dieses Staates gehalten wurde. —
Und wenn wir das Wort nicht nur mit der Hand, sondern mit dem Leben halten, dann werden wir in Wahrheit seine Jünger sein … nie fertig mit Gott, aber durch und für Ihn frei zum Leben in Ewigkeit (vgl.Joh8,31)!
Amen.
[i] „There is truth and there are lies”. Vgl. https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2021/01/20/inaugural-address-by-president-joseph-r-biden-jr/ (Aufgerufen am 30.01.2021)
[ii] https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/die-letzten-acht-buchstaben/ (Aufgerufen am 30.01.2021)
3.n.Epiphanias, 24.01.2021, Mt.25,34-46, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Schwestern und Brüder,
welche Überschriften die Historiker einmal dem gerade begonnenen Jahr 2021 geben werden, mit welchen Themen es in den Geschichtsbüchern auftauchen wird, das wissen wir heute noch nicht. Ob es das Jahr des Impfsieges über die erste Pandemie des 21.Jahrhunderts sein wird ... keine Ahnung. Aber es wäre schön, wenn es für uns zu einem Jahr der Barmherzigkeit wird - inspiriert von der Jahreslosung „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist." Barmherzigkeit, ein altes, aber keineswegs antiquiertes Wort, ein Wort voller Schätze, die verborgen sind und entdeckt werden wollen.
Ich möchte Sie heute auf eine solche Schatzsuche mitnehmen.
Sie kennen sicher alle die Redewendung von den „Sieben Werken der Barmherzigkeit". Der biblische Bezug findet sich im Matthäusevangelium im Gleichnis vom großen Weltgericht (Mt.25,34-46). In diesem Gleichnis macht Jesus deutlich: ob der Mensch seine Seele, seine Menschlichkeit rettet, das entscheidet sich daran, wie er sich gegenüber den Ärmsten der Armen, gegenüber denjenigen, die ganz unten sind, verhält, mit denen Jesus sich identifiziert: alles entscheidet sich daran, ob einer die Hungernden gespeist, den Durstigen zu trinken gegeben, die Nackten bekleidet, die Fremden aufgenommen, die Kranken und die Gefangenen besucht hat. Wer genau nachgehalten hat, wird festgestellt haben, dass das nur 6 Werke der Barmherzigkeit sind. Nun, die mittelalterliche Tradition hat mit Bezug auf das Buch Tobit (Tob.1,17-20) noch ein Werk hinzugefügt: die Toten bestatten - was gerade in Krisenzeiten wie während der großen Seuchenzüge der Pest, aber auch in Kriegs- und Nachkriegszeiten alles andere als selbstverständlich war, wo jeder nur an sich dachte, an seine Sicherheit, an sein Überleben. Es hat Bruderschaften und Orden gegeben, die sich gerade diesem Dienst der Barmherzigkeit gewidmet haben.
Bei manchen Beerdigungen, den sogenannten Sozialbeerdigungen, wo der Verstorbene mittellos ist, es oft keine Angehörigen gibt und auch keine Bekannten und Freunde und ich als Pfarrerin alleine hinter dem Sarg aus rohem Fichtenholz hergehe, da habe ich mir immer wieder gedacht: wir bräuchten sie dringend auch in unserer Zeit, solche Bruder- oder Schwesternschaften, Menschen, die wenigstens mit dem Geistlichen zusammen am Grab ein Vaterunser beten.
Die Hungernden speisen, den Durstigen zu trinken geben, die Nackten bekleiden, die Fremden aufnahmen, die Kranken besuchen, die Gefangenen besuchen, die Toten begraben - Werke der Barmherzigkeit.
Im 14.Jahrhundert wurden diesen 7 leiblichen Werken der Barmherzigkeit noch weitere 7 geistliche Werke der Barmherzigkeit an die Seite gestellt:
- Die Unwissenden lehren
- Die Zweifelnden beraten
- Die Trauernden trösten
- Die Sünder zurechtweisen
- Den Beleidigern gerne verzeihen
- Die Lästigen geduldig ertragen
- Für die Lebenden und Verstorbenen beten.
So wichtig die leiblichen Werke der Barmherzigkeit sind, so wichtig sind auch die geistlichen Werke, ja sie fordern uns sogar als Einzelne manchmal noch mehr heraus.
Schauen wir uns drei dieser geistlichen Werke einmal etwas näher an.
Die Unwissenden lehren:
Bildung, das ist viel mehr als sich Wissen aneignen, um ein Top-Abitur hinzulegen, um studieren zu können und dann Karriere zu machen.
Bildung, das meint Einsichten vermitteln, um die Welt zu verstehen, nicht nur mathematisch-naturwissenschaftlich, sondern als gemeinsame Heimat und Lebensgrundlage aller Lebewesen, heißt Einsicht bekommen, wie alles zusammenhängt, wie wir voneinander abhängig sind und einander brauchen, nicht nur um zu überleben, sondern auch um erfüllt zu leben. Bildung in diesem Sinn betrifft nicht nur den Geist, die kognitiven Fähigkeiten des Menschen, sondern auch sein Herz. Der Apostel Paulus sagt mit recht: Wenn ich alle Erkenntnisse hätte, alles Wissen der Welt und hätte keine Liebe, kein Herz - es würde mir nichts nützen. Ja, es kann mir und allen anderen dann sogar massiv schaden, wie wir spätestens seit der Zündung der ersten Atombombe 1945 wissen.
Die Unwissenden lehren: da geht es nicht nur um Schulpolitik, da sind nicht nur die Kinder im Blick, sondern Menschen aller Altersstufen. Wir haben nie „ausgelernt" und das ist eigentlich wunderbar. Wir können immer noch etwas Neues erfahren, unsere Welt immer besser verstehen lernen, nicht nur biologische und physikalische Zusammenhänge, sondern auch die Hoffnungen und Sehnsüchte der Menschen anderer Religionen und Kulturen, ihre Einsichten, die sie in ihren heiligen Schriften und religiösen Traditionen festgehalten haben - Gottes geliebte Kinder wie wir.
Bildung heute hat vor allen Dingen die Aufgabe, den Menschen Wertschätzung anderen Kulturen gegenüber zu vermitteln, die Liebe zur Schöpfung, zur Natur und all ihren Geschöpfen, die demütige Einsicht in unsere Grenzen, die Bereitschaft, es sich in diesen Grenzen genügen zu lassen - nicht als Zumutung, sondern als Zukunft eröffnenden Segen.
Instrumentalmusik
Die Sünder zurechtweisen:
Dieses vierte geistliche Werk der Barmherzigkeit klingt oberlehrerhaft. Oft haben Menschen gelitten unter den Zurechtweisungen der kirchlichen Oberlehrer. Noch im letzten Jahrhundert haben sie eher die Friedensfreunde zurechtgewiesen als die Kriegslüsternheit, eher die Streikenden als die Blutsauger. Tanz und Kinobesuche wurden zur Sünde erklärt, die Lektüre gesellschaftskritischer Bücher - aber nicht der Größenwahn und die Verschwendungssucht der Herrschenden, die Kolonisation und die Versklavung und Ausbeutung von Millionen Menschen. Da wurde in den Schlafzimmern geschnüffelt und die Menschen von ihrem Glück abgehalten.
Und doch gehört es zur prophetischen Aufgabe einer Kirche in der Nachfolge Jesu, dem Unrecht in den Weg zu treten - also die Blutsauger zurechtzuweisen, diejenigen, die meinen, alles in der Welt sei eine Ware zum Kaufen und Verkaufen, alles sei da, damit man es sich aneignen kann zum eigenen Vorteil und Gewinn: Wohnraum und Ackerflächen, Medikamente und Impfstoffe, Wasser und Urwälder, Tiere und Pflanzen, Mineralien und Rohstoffe - die Arbeitskraft der Menschen und selbst den Sand in der Sahara.
In der Bibel gibt es viele Geschichten von mutigen Propheten, die dem Unrecht im Namen Gottes entgegengetreten sind. Eine steht im 2.Buch Samuel.
König David begehrt Batseba, die Frau seines Feldherrn Uria. Er will sie unbedingt für sich haben und sorgt dafür, dass Uria aus einer Schlacht nicht lebend nach Hause kommt. „Dem Herrn aber missfiel, was David getan hatte", heißt es in Kapitel 11, Vers 27. Gott sendet den Propheten Natan zu David, und der erzählt ihm - wenn auch verschleiert - die Geschichte seiner eigenen Untat. Er erzählt von zwei Männern, einem reichen und einem armen. Der Reiche hatte viele Schafe und Rinder, der Arme nur ein einziges kleines Lamm, das er liebte und nährte. Zum Reichen kam ein Gast, dem er ein Mahl bereiten wollte. Er brachte es aber nicht über sich, von seinen eigenen Schafen und Rindern eines für das Festmahl zu schlachten, sondern er nahm sich das Lamm des Armen. Als er das hört, wird König David zornig und ruft: „Der Mann, der das getan hat, verdient den Tod!" Da antwortet Natan: „Du selbst bist der Mann!"
Seine Sünde ist für den König selbst zunächst nicht erkennbar. Macht scheint sich alles erlauben zu können, ohne dass sie zur Rechenschaft gezogen wird. Macht hat selten ein Unrechtsbewusstsein.
Das ist heute nicht anders. Ein Beispiel: unter den Superreichen hat ein Wettkampf darum begonnen, wer die längste und teuerste Yacht besitzt. Um die 800 Millionen Euro ist schon für ein einziges Boot ausgegeben worden: edles Teakholz, Tapeten aus Reptilienhaut, Liegen aus weißem Kalbsleder, vergoldete Armaturen, Luxuskabinen, 2 Hubschrauberlandeplätze. Auch hier wird munter das Lamm des kleinen Mannes und der kleinen Frau gestohlen, wird das Brot der Armen für den eigenen Luxus verschwendet. Und das Schlimmste: das ungeheure Unrecht wird als Unrecht nicht erkannt. Es maskiert sich als Recht: Es ist doch mein Geld, das habe ich doch verdient und kann damit machen, was ich will - werden Leute wie sie sagen. Diese Menschen handeln damit nicht gegen ihr Gewissen; sie haben kein Gewissen. Es ist ihnen verloren gegangen, begraben unter ihren eigenen Interessen. Das Gewissen orientiert sich nämlich am Interesse der Gemeinschaft.
Liebe Gemeinde, das, was sich bei den Superreichen so klar erkennen lässt, das betrifft aber grundsätzlich auch die Armen und natürlich auch uns Mittelständler. Auch wir laufen permanent Gefahr, unsere eigenen Interessen über die der anderen zu stellen: das jüngste Beispiel - die Impfdosen gegen Covid-19. Da können wir hören: warum gibt es für uns Deutsche nicht viel mehr Impfdosen; schließlich haben doch Deutsche das Mittel erfunden, also haben wir das erste Anrecht. Und ähnlich heißt es anderswo: America first, Britain first. Da ist es bitter nötig, dass Propheten ihre Stimme erheben - seien es Politiker oder Geistliche, Gewerkschafter oder Studentinnen, Wissenschaftler oder Mediziner, dass Menschen ihre Stimme im Namen der Menschheit, im Namen Gottes erheben und zurechtweisen: „Was hast du, Mensch, das du nicht empfangen hättest?" (1.Kor.4,7) Was du hast, das gehört nicht dir, sondern es ist dir geliehen, anvertraut, damit du es einsetzt für das Leben, für alle. Was hast du, was nicht allen anvertraut ist als Gabe des Schöpfers, als Gabe des Lebens? Der Segen liegt nicht auf dem Ich, sondern auf dem Wir. Mir geht es nur gut, wenn es dir gut geht, wenn es uns gut geht. Legen wir alle miteinander und jede und jeder für sich immer wieder unsere Gewissen frei, frei vom Schutt der vielen Ich und Mein und erleben das befreiende Glück von Wir und Unser, können so Verbundenheit und Gemeinschaft erleben, was uns helfen wird, viel besser mit allen Krisen und Gefährdungen, denen unser Leben nun einmal auf dieser Welt ausgesetzt ist, umzugehen und sie zu bestehen.
Instrumentalmusik
Für die Lebenden und Verstorbenen beten:
Das siebte geistliche Werk der Barmherzigkeit kann leicht missverstanden werden. Es geht nicht darum, dass hier ein gutes Werk getan wird, dass zum Beispiel für Kranke gebetet wird, damit sie gesund werden oder für Verstorbene, dass sie in den Himmel kommen. Wobei ich zugestehen will, dass viele das genauso denken und entsprechend tun.
Für mich hat sich da ein anderes Verständnis aufgetan.
Für andere beten: wenn ich für andere bete, dann heißt das erst einmal, dass ich vor Gott an sie denke, dass ich mit Gott über sie ins Gespräch komme. Mit „unserem" barmherzigen Vater. Ihm kann ich den oder die andere ans Herz legen - mit allen Hoffnungen, die ich für sie oder ihn und auch für mich und damit für uns habe. Vor ihm kann ich auch die Verletzungen benennen, die ich durch den anderen erfahren habe oder die ich ihm zugefügt habe. Geborgen an seinem Herzen kann ich die Verknotungen unserer gemeinsamen Geschichte ansehen und auflösen, auch wenn das oft schmerzliche Erkenntnisse über einen selbst zutage bringt; auf jeden Fall können so neue Einsichten und ein neues Verständnis auch für den anderen Menschen gewonnen werden. So kann sich ein neuer Zugang zu dem anderen auftun, auf jeden Fall aber ein entspannterer Umgang mit ihm - und mit mir selbst.
Und das betrifft auch noch die Verstorbenen. Sie sind ja nicht aus unserem Leben verschwunden. Sie gehören weiter zu uns, zu unserer Geschichte. Sie begleiten uns, ob uns das bewusst ist oder nicht.
Wer für die Verstorbenen betet, der betet immer auch für sich. Auf jeden Fall bringt er sie mit sich ins Gespräch mit Gott. Es tut einfach gut, vor Gott über die gemeinsame Geschichte nachzudenken. In Gottes Gegenwart noch einmal dankbar alles zu erinnern, was gut war. Aber auch das zu benennen und anzusehen, was nicht gut war, wo der andere einem etwas schuldig geblieben ist oder wo man selbst etwas versäumt hat. Wer das vor dem barmherzigen Gott tut, wer sein Herz vor dem Herzen Gottes ausschüttet, nicht nur einmal, sondern immer wieder, manchmal über ein paar Jahre, der kommt heraus aus Bitterkeit und Vorwürfen, der kann alles dem barmherzigen Vater in die Hände legen - im Wissen darum, dass nicht nur der oder die andere auf seine Barmherzigkeit angewiesen ist, sondern auch man selbst - und im Vertrauen darauf, dass Gott auch noch über das Grab hinaus Vergebung und Versöhnung, gegenseitiges Verständnis stiften kann, dass die Bitterkeit aus dem eigenen Herzen weicht und Platz macht für Wehmut und Liebe. Sie können darauf vertrauen: Gott ist auch ein hervorragender Psychotherapeut, ein Heiland der Seele.
Für die Lebenden und Verstorbenen beten, das ist ein geistliches Werk der Barmherzigkeit, das nicht nur dem anderen, sondern immer auch einem selbst zugutekommt.
Probieren Sie es aus. Suchen Sie das Gespräch mit Gott, dem barmherzigen Vater. Bei diesem Psychotherapeuten gibt es keine langen Wartelisten bis zur ersten Sprechstunde. Er ist jederzeit erreichbar.
Amen.
2.n.Epiphanias, 17.01.2021, Jahreslosung, Jonakirche, Daniel Kaufmann
„Seid barmherzig wie euer Vater barmherzig ist" oder: Der kürzeste und der längste Umweg zu Gott
Der kürzeste Weg zu Gott ist der Umweg über den Nächsten.
Der Königsweg zu Gott ist der Weg über den, der meine Hilfe braucht. Es mag andere, außergewöhnlichere Wege für spirituelle Erkenntnisse geben: Ein Gipfelerlebnis bei einer abenteuerlichen Tour auf dem Berg. Eine asketische Einkehr- und Besinnungswoche in einem abgelegenen Kloster. Eine überraschende Wende in einer Krankengeschichte. Eine außergewöhnliche Begegnung mit einem Menschen, die alles verändert. Im Alltag, in den altbewährten Abläufen, wo alles mehr oder weniger gewohnt seinen Gang geht, ist der kürzeste Weg zu Gott der Umweg über den Nächsten. Paradebeispiel dafür ist die Geschichte, die Jesus vom barmherzigen Samariter erzählt. (Lukas 10,25-37) Der unter die Räuber geraten ist. Und der nicht mehr weiter weiß und der nicht mehr weiter kann. Ihm zu helfen und unter die Arme zu greifen, so Jesus, ist nicht nur ein Gebot der Humanität, des Erbarmens und der Nächstenliebe, es ist zugleich der Schlüssel zu einem erfüllten und gelingenden Leben. Zu einem Leben, das von Gott herkommt und bei ihm ankommt. Diesem Menschen zu helfen, der mir vor die Füße gelegt wird, erschließt die Ewigkeit, das „ewige Leben". Öffnet die Dimension zu dem, was bleibt, egal, was sonst noch auf dieser Welt passiert. Wobei auch dieser Umweg über den Nächsten zu Gott und seine Gegenwart Tücken hat. Ein Priester und ein Kantor scheitern an der offensichtlichen Frage, was zu tun ist. Im ganz normalen Alltag kann der allgegenwärtige Prioritätenkatalog dafür sorgen, dass uns der Blick verstellt, verdeckt, vernebelt ist oder ganz abhanden kommt. Insofern ist das mit dem kürzesten Weg zu Gott so eine Sache. Also, jedenfalls auch nicht zum Nulltarif zu haben. Halten wir an dieser Stelle fest, dass auf dem barmherzigen Tun, dem Erbarmen mit dem, der uns aus welchem Grund und in welchem Zusammenhang auch immer nötig hat und braucht, ein großer Segen liegt.
Der kürzeste Weg zu Gott ist oft der Umweg über den Nächsten.
Der längste Weg zu Gott ist der Umweg über die Schweine.
Zugegeben: Ich würde es gerne etwas weniger drastisch sagen, aber Jesus ist hier ziemlich unverschnörkelt und direkt, wenn er die Geschichte vom barmherzigen Vater erzählt. (Lukas 15,11-24) Der längste Weg zu Gott ist der Umweg über die Schweine. Und das liegt weniger an den Schweinen selbst. Das sind ja durchweg intelligente und oft auch sehr ansehnliche Tierchen. Der längste Weg zu Gott ist der Umweg über die Schweine. Und das liegt daran, dass vor dem Hüten der Schweine noch eine Menge anderes kommt, um nicht zu sagen: Vor den Schweinen kommt in der Regel noch alles andere, was uns auf die eine oder andere Weise erstrebenswert erscheint: Die Maximal entdeckte und ausgelebte individuelle Freiheit. Endlich mal tun und lassen, was man immer schon tun und lassen wollte. Vor den Schweinen kommt der Traum von einem Leben als eine Aneinanderreihung von Höhepunkten und Events, von Leistungen, die Anerkennung finden und möglichst auch bejubelt werden. Vor den Schweinen kommt das Kalkül, dass das Leben ein überwiegend von Erfolg, Wachstum und Fortschritt erlebter Prozess sein könnte. Bei dem es kontinuierlich immer höher, immer weiter geht. Vor den Schweinen kommt das Leben als ein Ein- und Abtauchen in all die Freuden und Vergnügungen, die normalerweise unerreichbar sind oder nur wenigen Privilegierten offenstehen. Das Leben auf der Sonnenseite des Lebens ist aller Ehren wert, allein: Es währt meist nicht ewig. Oft reicht es noch nicht mal für die Rente. Oft auch noch nicht mal bis kurz vor die Rente. Meistens gibt es schon vorher empfindliche Störungen. Weil eine Wirtschaftskrise alles ändert. Weil das Klima die Lebensgrundlagen bedroht. Weil ein Virus und seine Mutanten nicht so ohne weiteres in den Griff zu bekommen ist. Vielleicht klappt es mit der Sonnenseite des Lebens auch deshalb nicht durchgehend, weil Gesundheit, Liebe und Freundschaft letzten Endes nichts Verfügbares sind.
Allerdings kann es sich hinziehen, bis nichts mehr so geht wie geplant. Und das Hüten der Schweine ist dann lediglich der Endpunkt eines länger währenden Prozesses. Dieser Nullpunkt indes ist verbunden mit einer fundamentalen und wichtigen Erkenntnis. Die lautet überraschender Weise nicht: „Das Leben ist ohne Pflichten, Lasten, Verantwortlichkeiten nicht zu haben." Auch nicht: „Eine wesentliche Herausforderung für Tiefgang im Leben ist der Umgang mit den Pleiten, Pech und Pannen." Auch nicht: „Freiheit gibt es nur in Bindung."
Die eigentliche und wesentliche Erkenntnis bei den Schweinen ist: „Wenn es schattig, dunkel und kalt wird, brauchst du eine Hand, die dir entgegengestreckt wird. Die dich auch dann noch hält. Die dich in die Arme nimmt und zu dir sagt: Willkommen zu Hause." Im Letzten leben wir von der Barmherzigkeit Gottes, der wie ein Vater, der wie eine Mutter uns letzten Schutz und Halt gibt. Wir leben von seinem Erbarmen und von sonst nichts. Ohne diese Zuwendung gibt es keinen ersten und keinen letzten Atemzug. Und ohne diese Zuwendung gibt es auch kein Leben zwischen dem ersten und letzten Atemzug. Aber mit dieser Barmherzigkeit Gottes, die das Innerste, den Kern der Liebe Gottes zu uns Menschen beschreibt, ist alles anders. Selbst das Leben bei und mit den Schweinen.
Der kürzeste Weg zu Gott ist der Umweg über den Nächsten.
Der längste Weg zu Gott ist der Umweg über die Schweine.
„Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist." (Lukas 6,36)
So lautet die diesjährige Losung für das Jahr 2021. Es geht darin um die Barmherzigkeit Gottes, die uns geschenkt wird. Wie bei der Geschichte vom verlorenen Sohn/vom barmherzigen Vater.
Es geht um die Barmherzigkeit, die wir weitergeben. Wie bei der Geschichte vom barmherzigen Samariter.
Mit meiner Kollegin hatte ich Ende letzten Jahres einen sehr konstruktiven Disput über die Frage, welche biblische Geschichte für diese Jahreslosung Pate gestanden hat: Die „vom barmherzigen Samariter" oder die „vom barmherzigen Vater". Geht es bei dem Wort „Barmherzigkeit" um lateinisch: „misericordia", zu deutsch: ein Herz für die Elenden haben? Oder geht es bei dem Wort „Barmherzigkeit" um hebräisch: „rächäm", den Mutterschoß, das umsichtige und umfassende, bedingungslose Annehmen eines Schutzbedürftigen wie das eigene Kind?
Ich glaube, recht besehen, geht es in dieser Jahreslosung für 2021 um beides: Es geht um Gottes Barmherzigkeit, die nicht zu Ende ist sondern jeden Morgen neu. Und es geht um unsere Barmherzigkeit, die von dieser göttlichen Barmherzigkeit angesteckt wird und sie dann weitergibt. Die ein Herz für die Elenden hat. Es geht um einen mehr oder weniger kurzen oder langen Umweg zu dem, der alles Leben in seinen Händen hält und es täglich neu geben will. Es geht um das Leben, das von der geschenkten Barmherzigkeit Gottes ausgeht und diese Barmherzigkeit anderen weitergibt. Unser Leben ist eingebettet zwischen diesen beiden Polen. Wir sind in diesem Jahr eingeladen, das Thema Barmherzigkeit zu bedenken, dass den barmherzigen Vater und den barmherzigen Samariter gleichermaßen im Blick hat.
Ich möchte schließen mit einigen Neujahrswünsche, die in der österreichischen Dorfkirche in Lech zu finden sind:
„Immer dann, wenn die Liebe nicht ganz reicht,
wünsche ich Dir Großherzigkeit.
Immer dann, wenn Du verständlicherweise
auf Revanche sinnst,
wünsche ich Dir Mut zum Verzeihen.
Immer dann, wenn sich bei Dir das Misstrauen rührt,
wünsche ich Dir einen Vorschuss an Vertrauen.
Immer dann, wenn Du mehr haben willst,
wünsche ich Dir die Sorglosigkeit der Vögel des Himmels.
Immer dann,
wenn Du Dich über die Dummheit anderer ärgerst,
wünsche ich Dir ein herzhaftes Lachen.
Immer dann, wenn Dir der Kragen platzt,
wünsche ich Dir tiefes Durchatmen.
Immer dann, wenn Du gerade aufgeben willst,
wünsche ich Dir Kraft zum nächsten Schritt.
Immer dann,
wenn Du Dich von Gott und der Welt verlassen fühlst,
wünsche ich Dir eine unverhoffte Begegnung,
ein Klingeln an der Haustür.
Immer dann, wenn Gott für Dich weit weg scheint,
wünsche ich Dir Seine spürbare Nähe."
Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.
Amen.
2.n.Epiphanias, 17.01.2021, Stadtkirche, Johannes 2, 1 -11, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.n.Epiphan. - 17.I.2021
Johannes 2, 1-11
Liebe Gemeinde!
Die gähnende Leere meines Kalenders an den planbaren fröhlichen Terminen, die ihn gewöhnlich spätestens ab Januar zu füllen beginnen, lässt es mich besonders spüren: Wie packend und schön es ist, dass das Johannesevangelium so früh von Jesu erstem Zeichen erzählt!
… Kaum hat ein Jahr begonnen, das vorerst tauffrei und hochzeitslos zu werden droht, kaum hat ein Jahr begonnen, in dem man das Feiern, das Singen, die Gemeinschaft nur noch als Erinnerungen zu teilen fürchtet, da geschieht tatsächlich das erste Wunder Jesu: Seine Gemeinde ist an seiner Seite miteingeladen zur Hochzeit.
…Und weil nun 2021 mit all seinen schwierigen Umständen herrscht, wird der Ausflug nach Kana zu einem bahnbrechenden, tiefen Erlebnis. Was sonst immer nur eine belächelte Anekdote war vom dusseligen Barkeeper, der die Partystimmung nicht ordentlich befeuern kann und von der lästigen Mutter, die ihren Sohn deshalb Partytricks machen lässt, das wird in diesem einsamen, frustrierenden Winter unsres Missvergnügens zu einem strahlenden Lichtblick.
Denn das ist ja der große Segen des Kirchenjahres und seiner immer wiederkehrenden biblischen Begegnungen: Wir ändern uns, während die Evangelien und Episteln, die Torah und die Propheten bleiben, was sie waren. Aber durch unsere Veränderungen werden wir dichter an sie herangeführt oder von ihnen entfremdet; was uns einmal wie kalter Kaffee selber kalt lässt, wird ein anderes Mal – weil wir es gerade nötig haben, weil wir es plötzlich schmecken und genießen können – so herzerwärmend und fährt so in die Glieder wie guter Wein, … wie der beste Wein!
Und in der grauen Menschenleere, die sich über diese Tage legt, in der unheimlichen Entkoppelung, die nicht nur Länder und Kontinente wieder auseinanderreißt – gerade weil sie in Mund-zu-Mund-Beatmung verbunden waren – , sondern die auch den Abstand zu den Nachbarn, zur eigenen Familie plötzlich interkontinental macht, … in dieser Zeit der schmerzhaften Vereinzelung wird die Wohltat des heutigen, des ganzen Evangeliums umso deutlicher: Mit Jesus kommt das Hochzeitliche, der Geist der Freude, die gemeinsame Feier der Verbundenheit zu uns allen.
Ziel und Zweck des Christentums ist die ungetrübte Teilnahme aller Gäste am Hochzeitsmahl der Liebe. ——
… Was ist das aber für ein Ziel?, fragen die verkniffenen Züge unseres eigenen Glaubens … und die kirchenfeindlichen Tendenzen der Gegenwart erst recht. Was soll das für ein Zweck, für ein Sinn von Religion sein: Gibt’s denn keine ernsthafteren Anliegen in einer zerrissenen und erschütterten, in einer hungernden und dürstenden Welt als das völlig Überflüssige solcher Festlichkeit? …….
Man soll dieser Frage nicht ausweichen. Das Johannesevangelium mit seiner absichtsvollen Zählung der wunderbaren Taten Jesu tut das schließlich auch nicht. Vielmehr hebt die Liste der Beglaubigungszeichen und wirksamen Selbsterweise des fleischgewordenen Wortes durch die Stellung an der Spitze das hochzeitliche Wunder von Kana ja geradezu unübersehbar hervor, das am dritten Tag von allen durch Johannes berichteten Ereignissen geschieht: „Am dritten Tage“ … dem Tag der Tage, dem österlichen, endgültigen Tag des Heiles!
Dem Evangelisten Johannes war es also offenkundig nicht zu läppisch, dass die schöpferische Kraft Gottes, die in Jesus unter uns erschienen ist, damit wir wirklich in dieser Welt, in diesem Leben Gnade um Gnade von ihr nähmen, Feiernden ihr Glück nicht verdirbt.
Und wem das peinlich ist, dass Jesu oberste Priorität, dass Jesu Prinzip und erste Amtshandlung einen Luxus darstellen und nicht etwa den Ruf zur Umkehr, die strenge Mahnung zu Dienst und Arbeit oder eine Zucht und Lehre der asketischen Entsagung, der wird von Johannes am Schluss des Reigens, der in Kana festlich eröffnet wurde, noch viel schockierender belehrt. Am Ziel seines Weges sitzt Jesus vor den Toren Jerusalems noch einmal bei einem Fest. Da hat Martha in Bethanien ihm ein Mahl bereitet mit einem einzigartigen Ehrengast: Lazarus, ihrem Bruder, der gerade von den Toten auferweckt worden ist. Und Maria gießt dem Retter, dem Todesüberwinder kostbares, duftendes Nardenöl auf die Füße, um sie zu salben. Dem protestierenden Judas aber, der die dreihundert Silbergroschen, die solche Kosmetik kostete – immerhin zehnmal so viel, wie Jesu eigenes Leben wert war – lieber den Armen gegeben hätte, … dem Judas also antwortet Jesus mit dem berühmten: „Arme habt ihr allezeit bei euch; mich aber habt ihr nicht allezeit“ (Joh12,8).
Am Schluss wie am Anfang der Wirksamkeit Jesu steht also etwas, das nach den Maßstäben der Moral und Nützlichkeit in kein pädagogisches Programm und in keinen Maßnahmen-Katalog der Politik passt.
Zu Beginn und am Ziel des Evangeliums geht es um mehr als das, was im Leben vernünftig und verpflichtend ist: Es geht um das, was darüber hinausgeht. ——
In etwa diese Richtung bewegt sich derzeit tatsächlich auch die Debatte um das, was man zum Eigentlichen, gar zur Daseinsberechtigung des Glaubens in einer vollkommen durch-rationalisierten Gegenwart sagen könnte[i]. Dass Ethik und Hoffnung, dass mit einem Wort: Religion unentbehrlich sei, um das Leben zu bewältigen, ist schließlich unter den alltäglichen Umständen unseres Lebens nicht glaubhaft zu machen: Denn was weckt schon Opferbereitschaft oder Liebe oder Erwartung in uns, die wir es so sinnlos gut haben, dass wir noch immer nicht wirklich fürchten, dafür verantwortlich gemacht zu werden, wenn es unseren eigenen Kindern und unzähligen andern nie mehr so gut gehen wird?
Das Leben funktioniert ohne Religion aber nicht nur im egoistisch-materialistischen Modus des Alltags, sondern auch die harten Proben bewältigen die allermeisten von uns ohne Trost aus der Ewigkeit, durch Verdrängen ihres möglichen Sinns.
Braucht man dann also keine Religion? Ist das Versickern des Christentums in der teilnahmslosen Gleichgültigkeit demnach kein Warnzeichen für die Welt? …….
… Warnung hin oder her; … das wird sich zeigen.
Wer aber nach dem direkten Nutzen des Glaubens, wer nach seiner Funktionslogik fragt, um sich darüber klar zu werden, was dafür sprechen mag, als Christ zu leben, sollte die Antwort wohl erwägen: Nichts spricht zwingend dafür!
Der Glaube an Gott ist kein unverzichtbarer Programmierschritt, ohne den das System dieser Wirklichkeit und unseres Lebens darin nicht funktioniert. … Man kann Gott und den Glauben an Ihn durchaus entbehren. Wie man alles Schöne, alles, was mehr ist als Gerät und Geschäft, alles, was freier macht und höher führt als die biologischen Selbsterhaltungstriebe natürlich nicht existentiell nötig hat und also auch nicht instinktiv und unwiderstehlich ergreift.
Und dennoch wissen wir alle, dass das, was zunächst entbehrlich, funktionslos, zweckfrei erscheint, das menschliche Leben paradiesisch und das heißt dem ursprünglichen Willen Gottes in der Schöpfung gemäß macht, … Schönheit und Freude.
Dabei geht es nicht um Luxus oder das entfremdete Etepetete-Gehabe verwöhnter Seelchen, sondern um das, was in unserem Grundbegriff vom Menschen – der „Menschenwürde“ – biblisch durchscheint.
Einen eigenen, abstrakten Begriff für Würde kennt die Bibel nämlich nicht, sondern um das auszudrücken, was das menschliche Wesen unantastbar macht, was zuinnerst in ihm ruht und in seiner Lebendigkeit ausstrahlt und wie ein Schutzsiegel über ihm steht, nutzt die hebräische Sprache ihr schönstes Wort von Gott: Das Wort für „Herrlichkeit“, dessen Bedeutung von „Gewicht“ bis „Glanz“, von „Autorität“ bis „Attraktivität“ alles verbindet, was unverwechselbar macht – כבוד („kawod“). An solcher Herrlichkeit teilzuhaben, ist also die Bestimmung des Menschen (vgl. Ps8,7), der damit in der beständigen Glorie und unaussprechlichen Bedeutsamkeit von Gottes eigenem Wesen gründet.
Menschenleben soll herrlich sein: Frei, leuchtend und – mit dem gewitzten Doppelsinn unserer Sprache, die Spaß und Ernst in diesem Wort unbekümmert verbindet – „glückselig“.
Um diese herrliche erste und letzte Verwirklichung des Menschseins geht es in der Religion, geht es im Glauben: Den Glanz des Guten als Gottes Gabe zu erfahren, dankbar zu feiern und liebend zu verströmen.
Darum ist der Hochzeitswein ein so echtes und gültiges Symbol dessen, was Jesus Christus an Überflüssigem, an sprudelnder Kostbarkeit und frei Verschenktem ohne weitere Zielsetzung und Zweckbindung in die Welt bringt: Wer es mit Jesus hält, wer ihm folgt, der findet nicht das, was er zu brauchen meint, sondern er trifft die reine Quelle unvorstellbarer Gnade.
Man kann darum alles bestimmt auch ohne Jesus tun und lassen, aber die Verheißung nicht-versiegender Freude, das unbedingte Zeichen, dass Gutes und Barmherzigkeit zu unserem vom Austrocknen und Leerlaufen bedrohten Leben gehören, eröffnen dem Christen-Dasein ein Glück, das über das gewöhnliche Maß weit hinausgeht.
Was ohne Jesus einfach nur der bequeme oder harte Menschen-Alltag ist, wird durch seine Gnade zum Fest des unnötigen, aber erhebenden Geschenks, dass jeder von uns durch Gott gewürdigt und in solcher Würde zu nichts instrumentalisiert wird, sondern an sich Wunderwerk der freien Gnade seines Schöpfers ist: Das ist die Botschaft des ersten Zeichens, die über unsere auf rationale Verhältnismäßigkeit geeichte Erfahrung hinausgeht und uns wie ein Überschuss, ein verschwenderischer Überschwang erscheint, der logisch nicht zu erklären ist. … Wozu schenkt Gott sabbatlichen Wein, wenn gegen den Durst doch Wasser in sechs Maßkrügen nach der Zahl der Arbeitstage reicht? „Wozu dient dieser Unrat“ (vgl. Matth.26,8)? …….
Doch die Tatsache, dass das Eröffnungswunder des Evangeliums, für das Maria sich als Fürsprecherin bei ihrem Sohn einsetzt, nicht Rettung aus tiefsten Leiden, sondern Bestätigung, ja sogar Mehrung der Daseinsfreude bedeutet, lässt sich nicht mit den Berechnungen unseres Planens und Wollens vereinbaren.
Gottes Überfluss ist der Anfang aller Dinge und darum auch der Anfang des Evangeliums. Und weil der Anfang, darum auch ihre Fortsetzung und ihr Ziel. Gott schenkt nichts nach dem Maß (vgl.Joh.3,34), sondern voll, gedrückt, gerüttelt und überfließend misst er uns Seine Barmherzigkeit zu (vgl.Lk.6,38).
Und wenn es den sparsamen Schwaben und philisterhaften Preußen, den nüchternen Norddeutschen und dem ganzen gewinnsüchtigen Germanien auch schrecklich naserümpfend zuwider ist: In diesen Tagen, die neben dem Chaos der angelsächsischen Staaten auch die Erinnerung an die alte Erbfeindschaft beleben, die vor 150 Jahren die Schmach Frankreichs zur Grundlage des Deutschen Reiches machte, so können wir die Hochzeit zu Kana und die joie de vivre, die Lebenslust, zu der sie uns befreit, eigentlich nur französisch begreifen und leben.
Der fröhlich beschwingte, das Heil schamlos genießende Geist des Glaubens, den das Wunder hervorruft, bei dem Jesus zum allerersten Mal seine Herrlichkeit und damit die Herrlichkeit seiner Gäste, die zum Hochzeitsmahl des Lammes berufen sind (vgl. Offenb.19,9), offenbarte, drückt sich am schönsten in einem französischen Kirchenlied aus[ii].
Dort heißt es:
„Wie sollte, Herr, – nachdem der Weinstock sich ja so verbreitet –
auf Erden je der Wein der Freude fehlen?
Uns Pilgern in dem Neuen Bund ist Durst nach besserm Wein gegeben,
der unsre Hoffnung ganz erfüllt.
In dein Volk der Messias-Sehnsucht ist Jesus ja gekommen,
um sich als Licht zu zeigen.
Und siehe da! Das erste Zeichen: Maria glaubt ganz fest an jenen bessern Wein,
den nur der eingeborne Sohn ausschenkt.
So sehen wir in Kana, wo Wasser sich in Wein verwandelt,
der Glauben bei den Zeugen wachsen.
Und alle, die dem Meister folgen, werden vom bessren Wein noch kosten,
weil er beim Hochzeitsfest des Lichts versprochen ist.“
„Joie de vivre“ - das also soll unsere Jesus-Losung sein in diesem Jahr: Freude am reinen Überfluss der Gnade, die „auch noch in tiefer Nacht Menschenleben herrlich macht“ (vgl.EG 428,5)!
Amen.
[i] Zum Teil dürfte die gegenwärtig auch in den Feuilletons auftauchende Debatte auf Peter Sloterdijks neues Buch zurückgehen: Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie, Berlin 2020. Nicht immer lohnend, aber niemals langweilig.
[ii] Jour de noces en Galiée (Worte: Claude Bernard / Weise: Michel Wackenheim / dt. Übersetzung der Strophen: J.M.)
Jour de noces en Galilée,
Jour de noces,
Jour de noces en Galilée,
Jésus Christ est l’Invité !
Jour de fête pour nos coeurs,
Jour de fête,
Jour de fête pour nos coeurs,
Il partage son bonheur ! (bis)
1
Sur la terre avec ses vignes déployées,
Seigneur Dieu, le vin des joies peut-il manquer ?
Pèlerins de la nouvelle Alliance,
Nous avons soif du vin meilleur
Qui comblera notre espérance.
2
Dans ton Peuple à la recherche du Messie,
Jésus vient manifester qu’il est la Vie.
Le voici pour le premier des signes !
Marie croit ferme au vin meilleur
Que donnera ton Fils unique.
3
À Cana où l’eau puisée se change en vin,
Nous voyons la foi grandir chez les témoins ;
Appelés sur le chemin du Maître,
Ils goûteront le vin meilleur
Promis aux noces de lumière.
(Quelle: https://www.chantonseneglise.fr/voir-texte/1429)
Altjahresabend, 31.12.2020, Stadtkirche, Jesus Sirach 1, (18) 22, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahresabend 2020
Jesus Sirach 1, 18 (Vulgata: 22)
Liebe Gemeinde!
… Sollen wir Bilanz ziehen?
Oder ist das nicht das Tagesgeschäft seit Monaten schon, dass wir dieses schön mit der doppelten 20 so symmetrisch, so parallel geordnet daherkommende Jahr vermaledeien und verwerfen, weil es in Wahrheit nun gar nicht einzuordnen, gar nicht ebenmäßig, sondern unrund und chaotisch und voller Brüche ist?! ….
Doch, wir ziehen Bilanz: Viel zu danken. Viel zu lernen. Viel zu hoffen. Viel zu üben. Viel zu verbessern und viel zu vergessen.
– Nur das Eine nicht, das nottut: „Was Er dir Gutes getan hat“ (Ps.103, 2)! ——
Das Jahr, das jetzt leiser, als es seit Jahrzehnten üblich war, Vergangenheit wird, hat niemanden ungerührt lassen können. Der Alltag wurde 2020 zu etwas Köstlichem. Und Selbstverständliches hörte auf verachtet zu sein. Globales durchdrang den eigenen Lebensraum, wie es für Weltbürger, die keine Höhlenmenschen mehr sind, sein muss. Angst und Unverstand, Tapferkeit und Wissenschaft begegneten einander und ihr Ringen dehnte sich aus der öffentlichen Arena bis in jeden einzelnen Zug unseres Denkens und Handelns. Und wir wuchsen über Gewohnheiten hinaus und versagten in einfachsten Herausforderungen. Medizin und Menschlichkeit, nackte Sorge, ungeahnte Langeweile, turbulente Spannung bestimmten in ihrem Durcheinander die Schlagzeilen und die Stundenpläne. Wirkliches oder dessen Ersatz, die Not mit der Nähe, die heiligen Urerfahrungen von Berührung und Gesang: Alles kam auf den Prüfstand, und wenn wir nicht demütig daraus lernen, wovon der Mensch lebt und was ihn zum Menschen macht und weshalb er keine Maschine ist und werden darf, dann käme ebenso eine Zivilisationsfinsternis, wie wenn nach dem Impfen nur der geile Reigen der Hemmungslosigkeit anbräche, den die Soziologen für die wilden Zwanzigerjahren vorhersagen. —
Über dem allen aber wurde die ernsteste Mahnung, die jede Stunde von Neujahr bis Silvester predigt, vielen von uns ungewollt bewusst: Zeitlich sind wir und darum steht nichts fest; sterblich sind wir und also nie sicher. —
Ob aber das Unvorhersehbare und Ungewisse dieser Tage ein Vorbote großer Verdunkelung oder der Aufbruch zu einer vorsichtigeren Weise des In-der-Welt-Seins war, können wir nicht sagen, … gebannt wie wir sind an den jeweiligen Augenblick, der je und je so unterschiedliche Folgen freisetzen kann. ——
Doch gerade bei diesem Eingeständnis, dass die Zeichen der gegenwärtigen Zeit bei aller Eindrücklichkeit keine Eindeutigkeit ergeben, kann uns eine der großen Konstanten der Geistesgeschichte des Glaubens zur Eröffnung klarer Perspektiven werden.
Ich meine ein biblisches, ein jüdisches und christliches Prinzip, das so uralt und so verdrängt ist, dass seine Vergessenheit es beinah schon wieder frisch macht: Es ist der unvordenkliche Grundsatz, dass unsre Erkenntnis und damit aller Sinn, dass sämtliche gültige Wahrheit und jedwede Anwendung unseres Intellektes anhebt und hinzielt auf die Gottesfurcht.
… Da zucken wir. … Und grinsen. „Gottesfurcht“ ist keine geläufige Vokabel des 21.Jahr-hunderts und war es schon seit dem 18. nicht mehr.
Und wenn tatsächlich die logische und technische Vernunft, die wir experimentell entgrenzen und verfeinern, wenn tatsächlich der materielle und der virtuelle Kosmos, die wir entwerfen und gestalten und verschmelzen, unter das Vorzeichen oder in die Perspektive der „Gottesfurcht“ gerückt werden sollen, dann klingt das für die wenigsten von uns noch nach der großen abendländischen Tradition, die von Aristoteles bis Anselm, von Thomas über Erasmus bis zu Kant das Denken ja nicht etwa theologisch unterdrückt, sondern christlich universalisiert und humanisiert hat, … sondern für die allermeisten von uns ist „Gottesfurcht“ eher gleichbedeutend mit der Rückständigkeit, die das Stichwort Scharia hervorruft.
Wie um alles in der Welt sollte also ein so ungeschmeidiger, archaisch-absoluter Begriff wie ausgerechnet „Gottesfurcht“ uns in der komplexen Pluralität und Zufälligkeit unserer Krisen weiterhelfen? Wie viele Fliegen soll die eine Klatsche denn zu unserer Beruhigung treffen?
Doch es war – entgegen landläufiger Meinung – nie naiv, wenn die Frommen Israels und der Kirche in der Gottesfurcht das erste Motiv und das letzte Kriterium unseres Selbst- und Weltbewusstseins fanden.
Es war vielmehr immer schon der alles-entscheidende Vorbehalt vor dem katastrophalen Irrtum, der Mensch sei alles, … einem Irrtum, der entweder in die Hybris, in den Größenwahn führte, als wäre Gott vom Menschen erledigt oder aber zur Resignation, zur Verzweiflung, dass der Mensch von Gott verlassen sei.
„Gottesfurcht“ ist also ein rettendes Korrektiv, das aus der Isolation befreit. Weder Angst, die ja immer tiefer in die Einsamkeit treibt, wie unsere Viren- und also Menschen- und letztlich Lebensfurcht es beweist, noch die Sklavenmentalität, die Nietzsche am Christentum verabscheute, sind das, was im Glauben seit jeher wegweisender Maßstab war.
Eher sollten wir darin das sinnenscharfe Bewusstsein sehen, uns an einer Intention beteiligen zu können, statt uns reiner Willkür auszuliefern.
Wer das aber spürt – dass er selbst als Geschöpf im Entwurf aller Dinge nicht Objekt, sondern Teilhaber ist –, dem gehen Werte und Wunder auf, die sich nicht im Materiellen erschöpfen.
Die Tiefe und Weite des Wirklichen erwachen ja für den, der auf seinem Feld nicht nur zum Täter oder Opfer, sondern zum Zeugen berufen ist.
Wo wir aber eines größeren Forums innewerden, dessen Urteil nicht allein unserem augenblicklichen Nutzen und Lustgewinn gilt, da erfassen wir das Gewissen nicht mehr bloß als überflüssigen Blinddarm oder nutzlose Wolfskralle, sondern als Antenne für die Richtung, die unser eigener Beitrag zum Ganzen nehmen soll.
Und so formt die Einsicht, dass wir nicht Urheber des Alls und auch nicht seine Tyrannen sein können, uns viel mehr zu mündigen Wesen als die vermeintliche Unabhängigkeit gottloser Erfahrung es vermag.
Weit davon entfernt, den Menschen zu knechten, befreit die Gottesfurcht ihn also zur respektvollen Aufmerksamkeit für das Gefüge des Lebens und zur zuversichtlichen Einbindung und Entfaltung seines persönlichen Scherfleins in das Kunstwerk der sinnreich geschaffenen Gesamtheit.
… Wollten wir sie also mit unseren Worten beschreiben – die alte Ehrfurcht, die der biblische Glaube immer schon als Grundhaltung und Erkenntnisziel gelehrt hat –, dann müssten wir von ethischer Lebensbejahung oder empathischer Weltverantwortung sprechen, die geborgen sind in einer unverbrüchlichen Gottesbindung. ——
Was aber trägt eine solche Meditation über die jahrtausendelange Überlieferung, die in der Einordnung unter Gottes Willen nicht Beklemmung, sondern Befreiung erfährt, denn noch aus in der Lage, in der wir heute sind?
Sind das nicht doch veraltete Schablonen und unbrauchbare Versatzstücke mitten im schrillen Schwirren von Inzidenzzahlen und im großen Schweigen des Abstandserlebens? Gehört die Gottesfurcht nicht irgendwo in das Archiv der frühen Menschheitsmuster, die heute nicht mehr tragbar sind?
— Salomo, der König vor dreitausend Jahren, als Israel plötzlich selbstbewusst aus dem Schatten der ägyptischen und mesopotamischen Mächte trat, hat der Gottesfurcht doch diese sprichwörtliche Rolle zugewiesen: „Aller Weisheit Anfang“ sei sie, sagte Salomo (vgl. Sprüche 1,7; 9,10; Ps.111,10); … was aber, wenn man so fortgeschritten ist wie wir, wenn der Ausgangspunkt der menschlichen Erforschung der Welt in grauer Vorzeit verloren liegt? … Was ist „die Furcht des HERRN“ denn dann?
„»Corona«, … die »Krönung« also, die höchste Auszeichnung aller Verstehensbemühungen des Menschen, das ist die Gottesfurcht bis zum heutigen Tag“, sagt ein anderer Weiser in Israel: Jesus, Sohn des Sirach, dessen philosophisches Trostbuch aus der Epoche stammt, in der Europa aus dem Geist der Griechen und den Sitten der Römer zu etwas zusammenwuchs, das dem fruchtbaren alten Orient an Kultur ebenbürtig werden sollte.
Die Ehrfurcht vor Gott, die fundamentale Achtung vor der Gabe und der Grenze, die den Menschen im Glauben begegnen, sind für Jesus Sirach auch vor dem Hintergrund hellenistischen Denkens nicht roher Ausgangsstoff, sondern schönste Besiegelung des Geistes.
Insofern ist es eine glückliche Fügung, dass mich der heutige Abend zu diesem uns fremden, für uns apokryphen Buch geführt hat.
Ich wollte das Wort, das in 2020 alles beherrschte, nicht einfach wiederholen und damit stehen lassen, als sei dieses Jahr nun plötzlich doch eindeutig.
Auf der Suche nach der biblischen Verwendung der lateinischen Vokabel blieb ich dann aber dort hängen, wo ich nicht heimisch bin: In den Büchern, die die Reformatoren verwarfen, weil sie zu ihrer Zeit nicht auf Hebräisch bekannt waren und deutlich jünger als alle anderen Schriften des Alten Testaments sind. Inzwischen sind in Qumran und andernorts große Teile des Urtextes von Jesus Sirach entdeckt worden, und da ich ohnehin eine Verpflichtung diesem Buch gegenüber spüre, weil einer meiner Urgroßväter wegen seines hartnäckigen Zitierens des jüdischen Weisheitslehrers aus dem öffentlichen Dienst des 3.Reiches entfernt wurde, habe ich mich am Beginn von Jesus Sirach festgelesen, in einem herrlichen Hymnus auf die Gottesfurcht, die Weisheit – also segensreiche Lebensethik – ist.
Und siehe da: In der lateinischen Bibel findet sich im 22.Vers des 1.Kapitels der einprägsame Vierwortsatz: „CORONA SAPIENTIÆ TIMOR DOMINI“ – „Krone aller Erfahrung und Wissenschaft ist der Respekt vor dem Herrn.“ Im Griechischen aber folgt (nach dortiger Zählung in Vers 18) die Bestimmung, dass diese Krönung aller Theorie und Praxis ὑγίειαν ἰάσεως, (unsere zentralen Themen des Jahres: Hygiene und Pflege!) d.h. „gesunde Heilung“ hervorbringt.
… Und das glaube ich auch!
Was wir brauchen – jetzt, am Schluss des europäischen Doppeljahrtausends, das zu Jesus Sirachs Zeiten heraufdämmerte –, ist genau diese, der Welt trotz allem vertrauende und das sterbliche Leben achtende, aber nicht vergötzende Einwilligung in die Weisheit des Schöpfers und Vollenders.
Wenn wir unsere Gründung in Seinem großen Werk, unsern Halt an Seiner allesumfassenden Wirklichkeit bewahren, dann entgehen wir den Gefahren der ängstlichen Einseitigkeiten und versöhnen, was wir sonst verabsolutieren: Gesundheit des Leibes und der Seele; die Ansprüche von Bedürftigen wie Befähigten; das Recht auf Schonung neben dem Recht auf freie Entfaltung; die Bereitschaft zu leben ebenso wie die notwendige Bereitschaft zum Sterben. In der „Gottesfurcht“, in der Beugung vor und der Einbettung in Gottes Welt- und Himmelsherrschaft schwinden die ausschließlichen Betonungen, mit denen wir – wie in diesem Jahr scheinbar so zwangsläufig – immer nur einen Akzent setzen und uns nur einem Anliegen widmen können, …. nicht, weil wir durch die Gottesfurcht plötzlich so viel mehr oder gar alles selber vermöchten, sondern weil wir uns einbezogen wissen in die unendliche, die gerechte, die gnädige Gesamtliebe Gottes.
Und wenn wir diese Krone der Weisheit erlangen, dass wir unser Leben und Erleben und alles Lebendige und Erlebte als Winke und Werke aus Gottes Hand verstehen, dann kommen wir zu der gesündesten, der nötigsten und heilsamsten Erkenntnis, die unsere ganze Gegenwart am meisten braucht: Wo Gott der Schöpfer und der Herr, ja der Heiland Seiner Schöpfung ist, da ist unser einziger geschichtlicher Auftrag in der Welt nicht jenes pulverisierende Verschleißen, das wir „Machen“ nennen, sondern das sorgfältige Hüten und Heilen des Gemachten; nicht als Hersteller, sondern als Wiederhersteller nehmen wir Christen Teil an Gottes Plan; nicht die Erfindung, sondern die Heilung der Welt ist die Aufgabe, vor die Zeit und Zukunft uns in der Furcht Gottes stellen.
So bringt sie nämlich Frieden und Gesundung. Das, was alle hoffen und was sie alle haben sollen.
Das vergessen wir gerade am Ende dieses schrecklichen Jahres nicht: Was Er uns Gutes getan hat und tut. Und wie wir nicht in Menschen-, Krankheits- oder Todesangst schweben müssen, sondern in Gottesfurcht leben dürfen.
„Benedices coronæ anni benignitatis tuæ“ sagt es ein Psalm (Vulgata:64,11) mit dem Wort, das uns so bis zum Überdruss verfolgt hat und das doch so viele andere Inhalte, so viel Verheißung und Hoffnung freisetzen kann: „Du krönst das Jahr mit Deinem Gut!“ (Ps.65,11)
Wünschen wir und suchen wir das für uns, für die Menschen, für alle Welt im kommenden Jahr: Die Krone der Weisheit, die uns heilt – DOMINI TIMOR SAPIENTIÆ CORONA!
Amen
1.Christtag, 25.12.2020, Stadtkirche, Jesaja 52, 7 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Christfest - 25.XII.2020
Jesaja 52, 7-10
Liebe Gemeinde!
Weihnachten der Unsichtbaren: Das ist 2020 wahrhaftig.
Nicht im sozialkritischen oder im Märchen-Ton……. , obwohl es immer bitter richtig ist, dass wir wie Oscar Wildes glücklicher Prinz uns die Augen öffnen lassen für das massenweise unbeachtete, das übersehene, in Hintergrund und Tiefe, jenseits der Nachrichten verdrängte Leid und Elend dieser Erde: Gerade alle Unsichtbaren, ungern Gesehenen, von denen voller Absicht abgesehen wird, sollten uns Christen, wenn Gott uns Sein Licht aufgehen lässt, ja am meisten vor Augen stehen.
… Sonst wäre das obdachlose Kind aus dem Himmel umsonst in der unverschlossenen Höhle geboren worden, um die sperrangelweite Tür zum Vater zu werden.
… Wenn wir nicht wissen, dass Weihnachten die Einladung an alle ohne Ansehen ist, dann läuft es in’s Leere, in’s hirn- und herzlos Unsinnige.
Doch 2020 ist ein Weihnachten der Unsichtbaren in einer weiteren Hinsicht. Es wird gefeiert in einer Welt, die belagert und durchdrungen wird von etwas, das wir nicht sehen: Weil unsere Augen zu grob, zu ungeeignet sind, um es zu erfassen.
Ohne dass wir es wahrnehmen oder erkennen könnten, ist aber trotzdem das zackenreiche Virus zum ungekrönten Beherrscher der Weltlage bei der diesjährigen Weihnacht geworden. Und die Unsichtbarkeit verleitet wie alles, was unsere Begriffe übersteigt, zu Furcht und Zweifel. … Trotzdem aber sollte es bereits einem Kind von sieben Jahren bekannt sein, wie hilflos unsere Sinnesorgane ja tatsächlich bleiben, wie klein der Ausschnitt dessen, was wir wirklich mitkriegen und aus eigener Erfahrung bestätigen können, ist und wie tausendfältig, vielschichtig, ungezählt die Elemente und Geheimnisse der Wirklichkeit sein müssen, die sich uns entziehen! … Das müsste das Jahr, in dem Weihnachten im Schatten des Unsichtbaren liegt, uns lehren.
Und dann müsste es uns – wenn wir die Grenzen der Empirie, der Beobachtung und Anschaulichkeit verspüren – leichter, sogar leicht werden, vor der Grenzenlosigkeit zu stehen. …
Da stehen wir nämlich wirklich. Wir vor ihr, … die Grenzenlosigkeit vor uns.
Denn wir stehen vor Gott.
… Das ist ja Weihnachten: Die Grenzenlosigkeit, die alles Verstehen übersteigt (vgl.Phil4,7), ist in den winzigen Ausschnitt eines einzigen Wesens gekommen. Die unendliche Gesamtheit beginnt endlich – „endlich“ im doppelten Sinn – irdisch zu leben! —
Eigentlich müsste so etwas völlig unbegreiflich, völlig unfassbar sein, wenn wir die Botschaft von der Sichtbarkeit des Geistes, von der Geburt des Ewigen, von der Individualität des Universalen angesichts jenes kleinen Kindes von Bethlehem hören.
Das sprengt doch alles Denkvermögen, obwohl Menschenaugen das schmatzende oder greinende oder schlummernde Körperchen voller Verletzlichkeit wahrhaftig anschauen können, und eine Mutterbrust kann das Mäulchen füttern und eine Hirtenhand kann die runzligen Neugeborenenärmchen streicheln und der Mund eines Weisen kann schweigen und den kleinen Fuß vorsichtig, vorsichtig küssen. … Aber dass in diesem Geschöpf der Schöpfer, in diesem rohen Organismus die ewige Weisheit, in dieser winzigen Wirkung die alleinige Ursache des Alls zu treffen sei – wie soll das jemals nachvollziehbar werden? … Wer könnte das jemals einsehen? ———
… Weihnachten der Unsichtbaren.
– Doch es gibt Hilfe, es gibt Hinweise und Hinwege, es gibt Hinworte und Hinführung zu dem, was unsere Augen nicht sehen, unsere Sinne nicht aufgreifen, unsere Gedanken nicht verarbeiten können.
Und von dieser Hilfeleistung lebt Weihnachten. Dank dieser Hilfestellung wurde es überhaupt auch nur Weihnachten, und nur durch ein ähnliches Auf-die-Sprünge-Helfen hat sich die Weihnachtswahrheit trotz ihrer Un„wahrschein“lichkeit durchgesetzt.
Von diesen Helfern also, die das nahebringen und weitersagen, die das verkündigen und deuten, die zum Hören, zum Einsehen und schließlich nicht nur zum Verstehen, sondern – was noch wichtiger ist – zum Glauben helfen, muss jetzt also die Rede sein.
Sie sind die Unsichtbaren, deren Weihnachten wir immer feiern und nicht nur in diesem Jahr: Es sind die Boten, deren Füße auf den Bergen lieblich sind, es sind die Wächter, deren laute Stimmen den Jubel der Erlösung erklingen lassen.
Nur dass wir sie nicht erblicken, nicht erkennen können. Unsere Antennen für sie sind zu schwach, unser Radar ist nicht dafür ausgerüstet, sie zu erfassen. Zwar umgeben und durchstrahlen sie uns, sie berühren und sie elektrisieren uns genau wie alle anderen Wellen und Teilchen, Kräfte und Ströme, Impulse und Felder, die den ungesehenen Kosmos ausmachen, … aber ihre unmerkliche Bewegung – so „lieblich“ sie auch ist – , und ihre nicht einzuordnen Stimmen – so „laut“ sie auch sind – lassen uns staunend, skeptisch, zweifelnd zurück.
Zu den Engeln fällt uns nichts ein: Zu den Engeln, den unsichtbaren Boten und Verkündern, ohne die Weihnachten und Christentum, ohne die Ostern und die Kirche nicht wären. Wir haben keine Vorstellung von ihnen.
Ihr Auftauchen und ihre Ausbreitung, die Übertragunsgwege, auf denen sie in Menschen Glauben entzünden und Hoffnung anstecken und dann die Wirkung, durch die sie aus Einzelnen Unzählige machen, die es ebenfalls in sich tragen und weitergeben werden – die Freu-de, den Frieden, das Gute, das Heil – , …. diese Inspirationsketten, die sich von der Heiligen Nacht her durch die gesamte Menschheit verbreitet haben und immer wieder neue, persönliche, leib-seelische Schicksalsgemeinschaft mit dem menschgewordenen Gott hervorrufen, bis eine weltweite Herden-Kommunität, die wir die Kirche nennen, entstand … für dieses ganze Geschehen sind unsere bloßen Augen von Natur aus mindestens so blind wie für die Erfassung der viralen Vorgänge, die dieses Jahr so prägen. ——
… Mein blinder Fleck sind die Engel jedenfalls seit Jahrzehnten, und wäre nicht das gesundheitliche Drama von 2020 mit dem Predigttext aus dem Propheten Jesaja zusammengetroffen, ginge mir womöglich immer noch nicht auf, wie verblendet ich da bin … beinah so willkürlich ignorant wie jene, die das Virus nicht selber festmachen können und es darum als Mythos betrachten.
Doch die Freudenboten, die nicht schwerfällig über die geröllreichen Hügel Judas oder gar die Trümmer Jerusalems steigen müssen, sondern leichtfüßig, ja schwebend überm Hirtenfeld den unendlichen Gloria-Gesang anstimmen, der seither nicht mehr verstummt, diese Evangeliumssänger und Herolde des Trostes und der Erlösung Jerusalems und aller Welt sind es wirklich wert, dass sie wie bei Jesaja zum Gegenstand unserer fröhlichen Betrachtung an diesem Weihnachtsmorgen werden:
Wir mögen keine Vorstellungen von ihnen formen können; sie werden den geflügelten Götterboten Griechenlands und den gefiederten ägyptischen und babylonischen Halbwesen, die bei uns ihr Bild prägen, so unähnlich sein wie ihr krankheitserregendes Gegenstück in Wahrheit keiner Krone gleicht, … doch alle diese Schwierigkeiten, sie uns zu vergegenwärtigen, können und sollen uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie wirklich und wirksam sind, so heilvoll wie die anderen Unsichtbaren unheilvoll, und dass wir letztlich ihretwegen versammelt und durch sie bewegt sind, weil wir es schließlich ihnen, der Menge der himmlischen Heerscharen verdanken, dass die frohe Kunde von Bethlehem bis hier und jetzt ihre lebensverändernde, stärkende, frohmachende, erlösende Wirkung entfaltet.
Gabriel, der Maria die Empfängnis verkündet (vgl.Lk.1,26ff), und der namenlose Engel, der sie dem Joseph erklärt (vgl.Matth.1,20ff), sind für die Jungfrau der erste Freudenbote des Weihnachtswunders und für ihren Verlobten der erste Wunderbote zögerlicher Erlösungsfreude.
… Weihnachten der Unsichtbaren!
Doch wie dann dem Joseph vor und nach der Geburt des Immanuel immer wieder ein Engel das je Nötige und Richtige, die je neue Weisung und Hoffnung trotz aller Schatten und Schrecken mit tragender Gewissheit nahebringt (vgl.Matth.1,24ff; 2,13ff. 19ff), das ist das erste individuelle Motiv, die erste Einzelstimme, die sich aus dem himmlischen Weihnachtschor über den dunklen Landschaften der verstörten, der erwählten, der beglückten Hirten Bethlehems löst.
……. Und seither bereiten, säumen und deuten Engel den Weg des Weihnachtskindes: Dienen ihm im Hunger (vgl.Mk.1,12), trösten ihn im Leid (vgl.Lk.22,43), öffnen sein Grab (vgl.Matth.28,2), verkündigen seine herrliche Auferstehung (vgl.Joh.20,12ff), bezeugen seine Himmelfahrt und Wiederkunft (vgl.Apf.1,10f), lenken und stärken seine Jünger (vgl.Apg.10,3; 12,7ff), schützen, lehren und bewachen das Wachstum der Gemeinden (vgl.Offenb.2f) und warten auf jedes Zeichen, dass sie einen der Kleinen, die zu Jesus gehören, verteidigen und schirmen oder endlich zu Gott heimtragen sollen (vgl.Matth.18,10; Ps.91,11f).
Dass die Weihnachtslieder und -bilder durch und durch auch Bilder und Lieder der Engel sind – Lieder über die heimlichen und doch unüberhörbaren Zeugen und Gesandten, Bilder der unanschaulichen und doch unbezwinglichen Helfer und guten Mächte der Christusbotschaft und der christlichen Gemeinde –, das ist für jeden, der nicht mehr zu den schnöden Engel-Leugnern zählen mag, mehr als schmückendes Beiwerk. Um es in der Sprache dieses Jahres und im Geist des Propheten Jesaja, der die Boten der guten Nachricht so überschwänglich rühmt, zu sagen: Die Engel sind als treibende Kräfte jederzeit so zur Stelle, sie sind als die dynamischen Beweger, die das Geschehen des Weihnachtsevangeliums in Gang und voran bringen, so zentral, dass man in ihnen erkennen muss, was wir in den letzten Monaten endlich in den pflegenden und helfenden, den erziehenden und sorgenden Berufsgruppen erkannt haben … die wirklich „Relevanten“, d.h. wörtlich die, die wirklich „hochheben“ und „erhöhen“, was zählt.
Und was dieses Überragend, alles Aufwiegende, dieses Allein-Wichtige auf Erden ist, das sagen uns Jesaja und Lukas in den Grundworten ihrer Engels-Kunde: Trost und Erlösung, große Freude, die Ehre Gottes, Frieden der Welt und den Menschen ein Wohlgefallen!
Das ist vor allem anderen und zu allen Zeiten wirklich relevant: Wer davon ergriffen ist, wer von den Engeln, die diesen Frieden, dieses Heil und Gute verkündigen, mit ihrer wundervollen, auf landläufige Weise unsichtbaren, aber nichtsdestotrotz unendlich wirksamen Freude über Jesus, den Christus angesteckt wurde, der hat auch in diesem trüben, bedrückenden, lähmenden Jahr das beste Gegenmittel gegen alle Leiden gefunden, den echtesten Inhalt in aller Leere, die unvergänglichste Gabe für alle menschlichen Entbehrungen und Mängel.
Wo sich die Weihnachtsbotschaft der Engel verbreitet, verbreitet sich genau das, was wir Menschen sämtlich brauchen: Zuversicht, dass nichts unheilbar zerbrochen, nichts unrettbar zerstört sein wird. Hoffnung, dass die Einsamkeit der Vielen und die Feindschaft durch die wahre göttliche Menschlichkeit überwunden werden soll. Glaube daran, dass unsere Zweifel und unsere Schuld schließlich doch von Gottes Nähe widerlegt und durch seine barmherzig-endlose Gerechtigkeit getilgt werden. … Und eine Liebe, die mit einem weiteren, einem tieferen, einem höheren Sinn als alle unsere anderen Wahrnehmungen schließlich tatsächlich beherzigt und begreift, dass in dem kleinen Kind in der Krippe in Davids Stadt alle gemeint und alle verbunden, alle erwählt und alle versöhnt sind! ——
Diese wunderreiche Zusage, dieses Evangelium bringen die unsichtbar gegenwärtigen Freudenboten Zions, die Heerscharen des HERRn in jedes Land, an jeden Ort, zu jedem Menschenkind auch heute.
Und so verborgen und geheimnisvoll das uns immer noch scheinen mag, hat doch Jesaja das letzte Wort: „Aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes.“
Auf Hebräisch wörtlich: „Alle Enden der Welt sehen den »Jesus« unseres Gottes“!
Amen.
2. Christtag, 26.12.2020, Jonakirche, Daniel Kaufmann
Predigt-Paraphrase zu Lukas 2,1-20 am zweiten Weihnachtstag
Es begab sich aber zu der Zeit, als ein Gebot weltweit die Runde macht, dass alle Abstand halten sollte. Zu viel Nähe, so die, die das Sagen hatten, sei nicht nur von übel, sondern gefährlich, im schlimmsten Fall sogar tödlich und vor allem: unverantwortlich. Jeder Kontakt sei im Grunde schon einer zu viel. Mit den Familienangehörigen, das könnte eventuell noch gut gehen. Alles andere würde aber die Zahlen in unermessliche Höhe schnellen lassen. Und da sei der Inzidenzwert, der R-Wert, der R 7 Wert, der Ct-Wert und all die anderen exponentiellen oder doch eher wellenförmigen Bewegungen ja nur einige Indikatoren. Man denke bitte auch an die überfüllten Intensivstationen und die Bilder aus aller Herren Ländern, die unerträgliche Situation einer „Triage“ und die Überforderungen des Pflegepersonals. Und neuerdings auch noch die Mutationsmeldungen, B 1.1.7, mit ungeahnten Folgen. Kurzum: Es reihte sich ein Horrorszenarium an das nächste, wenn nicht dem Gebot Folge geleistet werde, das ausführlich und detailliert in dem Infektionsschutzverordnungsgesetz angeführt, begründet, hinterlegt und mit geradezu erdrückender Faktenlage der Exekutive an die Hand gegeben wurde. Schuld und Auslöser dieser Einsicht war kein Kaiser, kein Monarch, kein Autokrat und kein Möchtegerndiktator. Schuld war ein kleines, sehr ansehnliches, zugleich aber brandgefährliches Virus namens Covid 19 Sars-cov.2. Es hatte sich - keiner weiß es so ganz genau – im fernen Osten auf den Weg in alle Welt gemacht, hinterher wollte es keiner gewesen sein, egal: Es war dann auf jeden Fall da, und versetzte alle, die es in geballter und gehäufter Weise traf, in Angst und Schrecken, vornehmlich auch jene, die schon mehr als 700 Monde zu und abnehmen gesehen hatten. Und dann vor allem die sogenannten Risikogruppen, zu denen sich viele mal mehr mal weniger zugehörig fühlten.
Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa. Wenn man der kirchlichen Tradition folgen darf, schon etwas älter und damit ein geradezu klassischer Risikopatient, zusammen mit Maria, blutjung, seinem anvertrauten Weibe. Mit dem nötigen Abstand zu Josef (150 cm), wie die kirchliche, vornehmlich die katholische Tradition vehement und mit immer neuer Überzeugung verkündete. Also, Josef war mit Maria unterwegs, soviel war und ist klar, aber da sei definitiv nichts zwischen den beiden gelaufen, auch wenn Maria trotzdem oder gerade deswegen schwanger war, aber das ist eine Geschichte vor Covid 19. Und genau genommen haben sich da außer Matthäus, der Evangelist, und Lukas, der Evangelist, auch die neutestamentlichen Autoren weniger ums Detail bemüht. Der Apostel Paulus etwa, der sonst gerade auch bei den evangelischen Christen für allerlei dogmatische Programmatik herhalten muss, äußert sich da sehr sparsam und geradezu uninteressiert: Eine junge Frau bekommt ein Kind (Galater 4,4), das wars. Aber sei´s drum. Maria also, blutjung schwanger und Josef, alt, sagen wir es etwas netter: in gesetztem Alter und jedenfalls mit züchtigem Abstand, waren also unterwegs nach Bethlehem, zu ihren Geburtsort. Um auch dort einmal mehr Abstand zu halten, soviel war klar, denn Reisen in Risikogebiete, das verstand sich von selbst, das ging nur unter strengen Auflagen. Ganz zu schweigen von späteren Verpflichtungen zu Schnelltest und Quarantäne, falls da irgendetwas positiv anschlagen sollte. Die beiden hatten alles, was geboten war, mit dabei, den Mundschutz sowieso, für alle Fälle aber auch FFP 2 und FFP 3 Masken nebst Desinfektionssprays und einigen Arzneimitteln, sollte es zu ungeplanter Atemnot oder gar Atem-Stillstand kommen.
Und es kam die Zeit, dass Maria gebären sollte, aber es war da kein Raum in der Herberge. Man ist geneigt zu sagen, ein Beherbergungsverbot machte es unmöglich irgendwo unterzukommen. Aber so war es nun doch nicht. Es lag nicht an den Einschränkungen und Hygienevorschriften, die es der Gastronomie allenthalben schwer machte, in der gewohnten Weise ihr Geld zu verdienen. Die Lokalitäten und Hotels waren schlichtweg voll, zu voll, viele Menschen waren heilfroh, ein Dach überm Kopf zu haben und trotz aller sonstigen Vorschriften ein wenig gesellige Wärme zu verspüren. Und dieser besondere Abend im Winter erschien ihnen wie die große, wenn auch mühsam abgetrotzte Erlaubnis, wenigstens für ein bis zwei Tage dem inzwischen trist gewordenen Alltag als Soloheld auf dem heimischen Sofa zu entkommen. Dafür waren sie auch bereit, etwaige Strafzahlungen in Kauf zu nehmen, notfalls auch 250 € pro Nase. Aber angesichts der breiten Gesamtbewegung und der schieren Menge schien es so, als wäre man an diesem Abend vor ordnungspolitischen Maßnahmen oder gar polizeilichen Eingriffen einigermaßen sicher. Die Zimmer waren also schlichtweg ausgebucht und so musste sich unser jung-altes Pärchen eine andere luftigere Bleibe suchen, zwischen Ochs und Esel, Heu und Stroh. Das war zweifelsohne gesünder. Das Ansteckungsrisiko war hier ja so gut wie ausgeschlossen. Von den Tieren ging ja keinerlei Gefahr aus, und der Durchzug im Stall sorgte für so viel Frischluft, dass eine Aerosol- oder Virenübertragung im Prinzip nicht stattfinden konnte. Angesichts der bescheidenen, vielleicht sollte man besser sagen: ärmlichen und erbärmlichen Verhältnisse waren auch keine anderen Störungen zu erwarten. Ein Jubellied auf das Neugeborene war weder von dem alternden Vater noch von der erschöpften Mutter zu befürchten, auch andere Beileidskundgebungen würden komplett ausfallen, hatte doch jeder schon genug an seinem eigenen Päckchen oder Elend zu tragen. Wenn alles mit rechten Dingen zuging, versteht sich, war also eine ruhige Niederkunft zu gewärtigen. Wenn nicht - wie so oft in diesen Zeiten - irgendein digitaler Shitstorm alles durcheinanderbringen würde. Oder andere unbehauste und heimatlose Gesellen, die wegen der Kälte, der Sehnsucht nach Wärme und Heimat kein Auge zukriegten, noch für die eine oder andere Überraschung gut wären. Und genau von solchen etwas heruntergekommen Figuren muss an dieser Stelle nun tatsächlich und wie auf Bestellung geredet werden.
Es waren Hirten auf den Feldern von Bethlehem, die hüteten des nachts ihre Herde. Sie hatten zwar auch schon von Corona gehört, aber da sie ständig draußen waren, nur den Himmel als Dach überm Kopf hatten, und sie auch sonst wenig bis gar nicht am gesellschaftlichen Leben teilnahmen, juckte sie die allgemeine Aufregung um Aha-Regeln und Infektionsgeschehen wenig. Dafür plagte sie etliches Sorgen um das täglich Brot und dem Auskommen zum Leben. Davon allerdings wussten sie reichlich zu erzählen. Denn obwohl sie bei leidlicher Gesundheit waren, hatte es sie wirtschaftlich voll erwischt. Die Rezession hatte ihre Auftragslage drastisch verschlechtert, eine mittelfristige Perspektive hatten sie schon länger aufgegeben. Rettungsschirm hin oder her, sie gehörten eben nicht zu der bevorzugten oder allzu systemrelevanten Berufsgruppen. Und während sie also so vor sich hin sinnierten, das Leid, die Sorgen und die Mängel des kleinen Mannes und der mittellosen Frau beklagten, erschien ein Engel, ein Bote aus den himmlischen Sphären mit einer wundersamen Botschaft auf den Lippen:
„Fürchtet euch nicht!“, sagte er. Angst ist kein Konzept, bei dem man glücklich werden kann. Sorgen ernähren einen nicht, sondern bringen einen nur früher ins Grab. Das alles aber könnt ihr getrost hinter euch lassen, denn es gibt Grund zur Freude, denn: „Euch ist heute der Heiland geboren.“ Diese Ansage verfehlte ihre Wirkung nicht. „Fürchtet euch nicht!“, hatte der Engel gesagt. Wusste er eigentlich, wovon er da sprach, das war doch das einzig Sichere in diesen Tagen, die Furcht, die immer mehr Raum und Zeit einnahm, die die Beziehungen und allem Leben dieses ungute Vorzeichen verschaffte. Aber darauf war Verlass: „Wenn wir nicht so und so tun, dann befürchte ich noch Schlimmeres“, “…dann verlieren wir die Kontrolle“, „… dann lassen sich die Zahlen nicht mehr in den Griff kriegen“, „…dann lässt sich im Grunde gar nicht mehr gescheit und schon gar nicht normal leben“. Die Hirten, eigentlich alle, auch die Hochbetagten, waren auf einmal hellwach und hörten die Worte des himmlischen Boten. Und der war noch nicht fertig:
„Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ Gott ist nicht mehr auf Abstand, ließ der Engel verlauten, weder 150cm noch 200 cm. Er ist und kommt euch nah in dem Kind in der Krippe. Will Wohnung nehmen bei und in euch, hautnah, so dicht es irgend geht, will er in Kontakt zu euch kommen. Und das habt zum Zeichen: Keiner von euch muss mehr einsam und allein leben und ohne Hoffnung sterben. Mit dem Kind in der Krippe hat diese selbst verordnete oder erzwungene Isolation ein Ende. Und auch die Furcht vor was auch immer kann getrost ein Ende finden. Zieht los und seht selbst, was da geschehen ist. Schon wollte der eine oder andere Hirte sein berühmtes „Aber“ in Stellung bringen, allein dazu war keine Gelegenheit und Zeit. Denn in Null-Komma-Nichts hatte sich zu dem einen Engel ein ganzer Chor gesellt, und die sangen - Aerosolgefahr hin oder her - einen gewaltigen Choral zur Ehre Gottes. Und das brachte vorübergehend alles zum Verstummen. Selbst die sonst nie um einen Gedanken verlegenen Bedenkenträger, selbst die immer noch etwas von Vernunft, selbst wahrgenommener und für andere stellvertretend übernommene Verantwortung redeten, selbst die zur Besonnenheit und immer neuen Geduld mahnten, kamen einen Moment aus dem Tritt. Und hörten ergriffen auf jene Worte, die im Leben und im Sterben Halt verhießen und denen man sich anvertrauen konnte ohne, mit, trotz der Angst, die in diesen Tagen ja nie ganz weg zu diskutieren war. Und wie ein zugleich österliches Erdbeben und pfingstliches Brausen durchfuhr es alle, die da zusammengekommen waren, und führte und geleitete sie auf wundersam leichte und beschwingte Weise hin zu dem Stall, wo alles sich zu einem großen Ganzen zusammenfügen sollte.
Und als sie hinkamen, sahen sie das Kind in der Krippe. Und weil sie es inzwischen gewohnt waren, Abstand zu halten, traten sie einzeln ein in den Stall. Sie nahmen sich Zeit. Keiner drängelte. Keiner meinte an diesem Abend: „Wer zuerst kommt, malt zuerst“. Es war vielmehr so, dass eine große, stabile Ruhe alle ergriffen hatte, so, als gehörte ihnen dieser Abend, nur ihnen allein. Und da kam es dann auf die paar Minuten Warten auch nicht mehr an. Die Hirten also nahmen sich alle Zeit der Welt. Sie waren komplett entschleunigt und im wahrsten Sinne des Wortes „auf Null“ gebracht. Und in dieser geradezu meditativen Grundstimmung wechselten sie sich ab, um das Kind zu betrachten. Und das war auch für das heilige Paar, für den betagten älteren Josef und für die wunderschöne jungfräuliche Maria ungemein ergreifend und ermutigend. Die Hirten traten einzeln ein. Und sie sahen in diesem Kind in der Krippe die Liebe Gottes, den Ursprung und das Ziel allen Lebens. Und mehr als mit dem Verstand erreichte es ihr Herz, so dass sie, jeder auf seine Weise, nach dem Besuch im Stall und wie die Engel auf den Feldern, Aerosol hin oder her, anfingen, Gott zu preisen und zu danken. Für diese Wohltat. Für diese übergroße Wohltat. Für diese Rettung aus aller Angst und Not. Für die Befreiung von aller Furcht. Für diesen Trost im Leben und im Sterben. Für dieses Vertrauen zum Dasein, das ihnen neu geschenkt worden war. Und sie beschlossen, diese Erfahrung mit anderen zu teilen. Mit allen Menschen, die das Leben neu als Geschenk ihres Schöpfers be- und ergreifen wollten. Und sie nahmen sich vor, nicht müde zu werden, und davon zu erzählen: Wie Gott in ihr Leben kam und es gut machte. So gut, dass sie mit allem anderen getrost weiterleben konnten.
Maria aber, seltsam angerührt von diesem Geschehen, bewegte alles in ihrem Herzen. Weil man nur mit dem Herzen gut sieht. Weil man mit den Augen des Herzens alle Chancen hat zu gesunden, heil zu werden und heil zu bleiben. „Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen; und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen. O dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen.“ Paul Gerhard. „Den aller Welt Kreis nie beschloss der liegt in Marien Schoss, er ist ein Kindlein worden klein, der alle Ding erhält allein.“ So Martin Luther. „Die ihr arm seid und elende, kommt herbei, füllet frei eures Glaubens Hände. Hier sind alle guten Gaben und das Gold, da ihr sollt euer Herz mit laben.“ Nochmal Paul Gerhard. Und Jochen Klepper fasst es so zusammen: „Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und Schuld, doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld, bekränzt von seinem Licht hält euch kein Dunkel mehr. Von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.“ Wenn das nicht Evangelium, gute Nachricht, frohe Botschaft genug ist, dachte Maria, und ergänzte für sich: aber es ist ja genug frohe Botschaft. Für mich und für alle, die es hören und in ihrem Herzen bewegen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere menschliche Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus unserem Herrn. Amen.
3. Advent, 13.12.2020, Lk.1,68-79, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
„Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils“ – jubelnd bricht dieser Lobgesang aus dem Mund des Zacharias heraus. Während das Lied der Maria, das Magnificat, ein sehr klares und verständliches Loblied ist, so ist das Lied, das Zacharias anstimmt, eher schwer verständlich, mit vielen Wendungen und Anspielungen auf die Geschichte Israels und der biblischen Tradition gespickt. Es ist halt das Loblied eines Theologen und Priesters, und da sind die Sätze eben manchmal sehr lang und sehr verschachtelt. Aber immerhin, Zacharias singt und lobt.
Und wenn man sich hineinarbeitet in seinen verschachtelten Lobgesang, dann lässt sich überraschend Neues feststellen, passend zur Erzählung, mit der Lukas sein Evangelium beginnt. Da geht es um gleich zwei Geburten, die angesagt werden, die Geburt von Johannes dem Täufer und die Geburt von Jesus. Über ihre Mütter sind beide miteinander verwandt. Beide werden von dem Engel Gabriel angesagt, beide Kinder sind Gotteskinder, sofern der Engel ihren Namen nennt, sie von Gott her ihre Lebensberufung haben: Johannes ~ Gott ist gnädig; Jesus ~ Gott ist Rettung und Hilfe.
Aber während der Besuch des Engels bei Maria überraschend unproblematisch abläuft, so verhält es sich bei Zacharias deutlich anders. Zacharias ist ein Priester am Tempel in Jerusalem. Er ist verheiratet mit Elisabeth und von beiden heißt es, dass sie gerecht und untadelig in ihrem Lebenswandel vor Gott waren. Allerdings war ihre Ehe kinderlos und beide mittlerweile im fortgeschrittenen Alter. Mit diesen wenigen Angaben schlägt Lukas einen großen Bogen an den Anfang der Heilsgeschichte. Denn genau dasselbe wird im 1.Buch Mose von Abraham und Sara erzählt: dass sie gerecht und untadelig in ihrem Lebenswandel waren (Gen.17,1) und keine Nachkommen hatten.
Für die Menschen in der Antike war es immer klar, dass Kinderlosigkeit an der Unfruchtbarkeit der Frau lag; und so erzählt es auch Lukas von Elisabeth. Aber so ganz hat er daran wohl selbst nicht geglaubt, denn es ist Zacharias, der von dem Engel besucht und ins Gebet genommen wird. Als Zacharias wieder einmal seinen priesterlichen Dienst im Tempel in Jerusalem versah, wurde er durch das Los bestimmt, im Allerheiligsten das Rauchopfer darzubringen, im Gebet also vor Gott zu treten und Fürbitte für das Volk zu tun, das währenddessen auf dem Platz vor dem Tempel wartete, um nach dem Rauchopfer den Segen Gottes vom Priester zugesprochen zu bekommen. All das war Zacharias bekannt, die Gebete, das Räuchern, die Gesten, die theologischen Begründungen und Vorstellungen von der Gegenwart Gottes, darüber hatte er alles gelesen und viel nachgedacht, alles war ihm vertraut. So meinte er zumindest.
Aber dann kam auf einmal das große Erschrecken. Da stand auf einmal der Engel da, stiegen nicht länger seine Worte am Altar einseitig hinauf zu Gott, sondern sprach Gott durch den Engel zu ihm, waren Gott und Glaube nicht mehr Lehre und Bekenntnis, sondern Erfahrung und Erlebnis – und das erschütterte ihn genauso wie viele andere, die ähnlich von Gott berührt worden sind, durch die Jahrtausende. Zum Beispiel Blaise Pascal, der französische Philosoph und Theologe. Nach seinem Tod fand ein Bediensteter zufällig einen schmalen Pergamentstreifen, den Pascal sich in das Futter seines Rockes eingenäht hatte. Darauf hatte er eine mystische Erfahrung festgehalten, die ihn wohl nicht mehr losgelassen hatte. Er schreibt:
„Jahr der Gnade 1654 Montag, den 23. November,
Tag des heiligen Klemens,
Papst und Märtyrer, und anderer im Martyrologium.
Vorabend des Tages des heiligen Chrysostomos,
Märtyrer, und anderer.
Seit ungefähr abends zehneinhalb bis ungefähr
eine halbe Stunde nach Mitternacht
Feuer Gott Abrahams, Gott Isaaks,
Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten.
Gewissheit, Gewissheit,
Empfinden: Freude, Friede.
Der Gott Jesu Christi.“
Berührt werden von Gott, eine Erfahrung mit Gott machen, mit seiner Heiligkeit, seiner Gegenwart – Mose am brennenden Dornbusch, Elia in der Höhle am Berg Horeb, die Propheten Jesaja und Jeremia, Zacharias im Tempel, Maria in Nazareth – zuerst ist immer Erschrecken, weshalb den von Gott Angesprochenen und Angerührten als erstes zugerufen wird „Fürchte dich nicht!“
Keine dieser Begegnungen lässt die Betroffenen so zurück, wie sie vorher waren. Eine Begegnung mit Gott hat immer erneuernde, schöpferische, verwandelnde Folgen für die Menschen. Darum erzählt die Bibel Geschichten, in denen Menschen nach solch einer Gottesbegegnung aufbrechen, Altes hinter sich lassen und sich neuen Zielen zuwenden – wie Abraham und Mose, wie die Propheten, die aus ihrer alten beruflichen Existenz aussteigen und als Sprachrohr Gottes weiterleben; oder Geschichten, in denen die Geburt eines Kindes angesagt wird, Inbegriff des Neuen, das in die Welt hineingeboren werden soll – Isaak für Abraham und Sara, Simson, der Nasiräer und Richter in der Frühzeit Israels und nun Johannes für Zacharias und Elisabeth und Jesus für Maria und Josef. Mit den Kindern soll Neues kommen; mit ihnen setzt sich nicht einfach das Alte fort, sie treten nicht die Nachfolge ihrer Erzeuger an, sie sind im tiefsten Sinne nicht die Kinder ihrer Eltern, sondern Kinder des Vaters im Himmel. Deshalb erhalten sie von ihm auch ihre Namen; neue Namen, die zeigen, dass Gott neue Wege mit seinen Menschenkindern gehen will.
Und so hört Zacharias, dass sein Sohn Johannes heißen soll. Und tatsächlich wird an diesem Namen gleich erkennbar, dass Neues in die Welt kommt, gerade auch in die Welt, für die Zacharias steht: in die Welt der jüdischen Religion. Zacharias steht vor uns als einer, der als Priester korrekt und zuverlässig vor Gott seine Pflichten zu erfüllen bemüht war, der alle Gebote befolgte – aber der darin selbst keine Erfüllung fand, der das Leben an sich vorbeiziehen sah, es nicht weitergeben konnte. Und da verheißt der Engel das Kind und das soll Johannes heißen: Gott ist gnädig. Da geht es um ein ganz neues Verständnis Gottes: Gott ist nicht der Herr im Himmel, dem gegenüber der Mensch sich seine Existenzberechtigung verdienen muss mit religiösen Übungen und Ritualen und mit der strikten Befolgung von Geboten; sondern er wendet sich von sich aus den Menschen zu, umfängt sie in ihren Nöten und befreit sie aus ihren Ängsten – aus lauter Güte und Liebe, aus lauter Barmherzigkeit. Das allerdings kann Zacharias nicht so einfach glauben. Zu fest ist er eingeschlossen in seine Glaubensvorstellungen von Gott, in seine Theologie und Religion. Zu lange ist er Priester am Tempel, hängt seine Existenz doch auch an den traditionellen Glaubensformen und -inhalten.
Liebe Gemeinde, ich kann ihn gut verstehen, den Zacharias; und gleichzeitig weiß ich auch, dass sich das Neue, das Leben nicht aufhalten lässt, dass das Kind geboren werden wird und muss, damit es gut weitergehen kann. In der Erzählung des Lukas verhängt Gabriel über Zacharias das Verstummen bis zur Geburt des Kindes mit der Begründung, weil Zacharias an der Erfüllung der Verheißung zweifelt. Doch im Tiefsten geht es nicht um eine „Bestrafung für den Unglauben“, sondern darum, dass Zacharias Zeit geschenkt wird, sich in das Neue hineinzufinden – wie jede Frau die Zeit der Schwangerschaft ja auch braucht, um sich und ihr Leben neu aufzustellen. Salopp gesagt: Zacharias, dieser professionelle Prediger, soll nun einmal den Mund halten und in sich gehen, schweigen und hören, wahrnehmen, wie das Leben sich entfaltet und entwickelt, worauf es ankommt im Verhältnis zwischen Gott und Mensch, wie Gott es sich mit uns und mit ihm gedacht hat. Die neuen Einsichten müssen wachsen können; der Abschied vom vertrauten Denken ist nicht leicht, ist oft schmerzhaft und braucht Zeit, seine Zeit.
Aber, und das ist das Tröstliche an der Erzählung des Lukas: es sind nicht nur die jungen Menschen, die für das Neue offen sind, Gott schreibt seine Geschichte auch mit den Menschen im letzten Lebensdrittel weiter, für das neue Leben und für neue Lebenseinsichten, für neue Glaubenseinsichten ist es nie zu spät – jedenfalls nicht von Gott her. Es geht nicht bergab mit uns, sondern einfach weiter unter dem offenen Himmel. Advent – da kommt noch etwas zu uns, auf uns zu, da gibt es noch neue Herausforderungen von Gott her. Zacharias verstummt, geht in sich, schweigt, denkt nach, denkt Neues, nimmt Abschied von seinem alten Gottesbild, wo man Gott dient mit der Erfüllung von Geboten und der Einhaltung von Ritualen. Und nach 9 Monaten ist es dann auch für ihn soweit: als sein Sohn geboren wird, da bestätigt er: das Kind soll Johannes heißen, Gott ist gnädig. Seine Freunde und Priesterkollegen sind darüber total irritiert: So heißt doch keiner in der Familie, so sieht doch keiner von uns die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Aber Zacharias bleibt dabei, und er kann wieder sprechen: „Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils.“
Das neue Lied gerät noch etwas holprig, da sind noch viele alte Vorstellungen drin verwoben – da ist noch die Rede von Feinden, da ist Gott noch der Gott für uns und gegen die anderen, aber es ist auch schwer, eine so lange religiöse Tradition hinter sich zu lassen, 2000 Jahre Glaubensgeschichte sind schwer zu verwandeln. Aber den entscheidenden Schritt, den ist Zacharias gegangen: das Heil kommt nicht aus der Erfüllung der Gebote, geht nicht vom Menschen aus, sondern Gott besucht uns, Gott kommt zu uns – und er kommt voller Barmherzigkeit und Güte, schafft den Neuanfang durch Vergebung. Gott kommt nicht erst dann, wenn wir hier alles in Ordnung gebracht haben, sondern sein Licht geht auf über denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes. Gott kommt in unsere oft so schreckliche und notvolle Welt, so wie sie ist, um mit uns einen Weg in die Zukunft zu finden, uns zu ermutigen und zu stärken, um unsere Füße auf den Weg des Friedens zu richten.
Zacharias jubelt und freut sich. Gott hat auch mit ihm noch etwas Neues vor. Da kommt noch etwas, für das es sich zu leben lohnt. „Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet eine Macht des Heils“.
Amen.
1.Advent, 29.11.2020, Stadtkirche, Sacharja 9, 9+10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 29.XI.2020 – 1.Advent
Sacharja 9, 9 + 10
Liebe Gemeinde!
Vielleicht begreifen wir an diesem 1.Advent viel eher und viel besser, was wir da in Gottes Wort, in den Liedern der Kirche und im eigenen Herzen zu hören kriegen, wenn unsere Zeitrechnung alljährlich immer wieder negativ, im Minus sozusagen beginnt – vor Christi Geburt – und wir also noch gar nichts auf der „Haben“-, sondern alles auf der „Werden“-Seite sehen: Es ist einfach noch nicht so weit, wie wir es gerne hätten. Wir irren uns, wenn wir uns nur eine stets zunehmende Summe vortäuschen … „Noch ’n Jahr, und noch ’n Jahr, und noch eins.“ Ein reines Wachstumsspiel, bloße Akkumulation zu feiern, wäre zu simpel wenn die Kirche Jahreswechsel hat, und darum schaltet jeder 1.Advent die Uhren und Kalender zu unserm Glück wieder auf ein viel früheres Stadium zurück.
„Kehret um!“ heißt dann, dass wir inne werden sollen, dass es nie zu spät und nie vorbei ist, dass es nie zu lange dauert, sondern dass wir – wenn wir auf Christus hoffen und warten wollen – noch vor dem Beginn stehen, auch wenn’s uns längst nach Abpfiff erscheint.
Alles liegt vor uns, wenn wir nur bereit sind, die Zeit gegen den Strich vergehen zu lassen, unsere Uhr und mit ihr unser Leben zurück zu stellen und nicht vom Erreichten, sondern vom Anfangen zu leben. ——
Bloß funktioniert unsere ganze Natur nicht so.
Blutige Anfänger sind das Verächtlichste, was wir uns denken können, und selbst sind wir froh um jeden Bereich, in dem wir irgendwann Erfahrung haben und niemand uns mehr etwas vormachen kann. Denn was sind schon die jungen Hüpfer, die sich noch Schwachheiten einbilden, gegen so ein altes Schlachtross, das alles schon erlebt hat und mit allem auch schon fertig geworden ist?! Wie gut, wenn wir uns nicht mehr Hoffnungen machen müssen, sondern auf Leistungen zurückblicken können! Wie gut, wenn nicht das Morgenrot, sondern unsere Verdienste unser Dasein vergolden!
… Und so setzt sie sich immer wieder durch, von Generation zu Generation, in beinah jedem Lebenslauf, bis auch unsereiner sattelfest und unerreichbar für störende Regungen zu ihr gehört: Die Kultur der alten Männer. ——
Ehe nun aber Einspruch erhoben wird, wie hier die Frauen ausgeschlossen oder die Alten diskriminiert werden, will ich sagen – so modern wie beinah nie! –, dass wir in einer Epoche leben, in der jeder sich als irgendetwas identifizieren darf und soll, und dass darum nach reiflicher Selbstbeschau auch ich mich identifiziere … und zwar – wenn ich ehrlich sein soll –, als das Schlimmste, was noch rumläuft: Ein angehender alter, weißer Mann.
Meine unaussterbende Art ist besonders heimtückisch: Hat sie doch immer schon deutlich mehr als das halbe Leben hinter sich und dennoch mangelt es ihr nie an Nachwuchs; immer ist sie erdrückend voller Gestern und beherrscht dennoch jedes Morgen. … ——
Doch nun kommt der Advent und sagt und zeigt mir, dass mein selbstbewusster Anspruch keinen Zuwachs durch Jahresvermehrung, sondern glatte Abzüge erhält, wenn wir nicht immer auf uns selbst zurück, sondern von vorne auf das Heil blicken: „O, ihr alten weißen Männer!“, sagt mir und den anderen Bescheid- und Besserwissern das Wort, das Lied, das Herz, in denen der Advent sich ankündigt. „Trotz Eurer permanenten Dominanz, trotz Eures Festgewachsen-Seins auf den Stühlen der Macht und Eures Bestandsschutzes, mit dem ihr euch selbst und euren Brüdern Denkmäler spendiert und eure Brüder und - wer weiß? - am Ende noch euch selbst begnadigt, trotz eurer Weisheit, Zahlkraft und Netzwerke, trotz eurer erstickend klebrigen Rechthaberei … ihr seid am Ende, wenn ihr nicht zum Anfang gehört! Seht euch doch um! Wer reitet euch voran? Wem jubelt ihr zu? Wer ist eure Galions-figur?“
… In meinem Fall ist das entlarvend klar mit einem Kindheitsmuster zu illustrieren: Im gleichen Alter von acht, neun Jahren winkten nachweislich meine Großmutter ganz frenetisch dem Kaiser, mein Onkel fanatisch dem Führer und ich … Johannes Paul II. zu, der in unserer Nebenstraße im erzbischöflichen Palais von Liverpool übernachten sollte.
… Eine befremdliche Reihe, ohne Zweifel, … aber noch der Beste von ihnen nur ein alter Mann in einem Auto.
Und es wäre auch nicht besser gewesen, wenn die Bejubelten Madonna, Margot Honecker oder Mata Hari gewesen wären: Jede Gestalt des Personenkultes, der sinnlosen Bewunderung eines Menschen und massenhaften Identifikation mit einem großen Phänomen ist ja doch immer nur die Eingliederung in eine Kohorte, die ihre eigene Zeit feiert und am liebsten auf Kosten des Wandels und der Zukunft festhielte.
„O, ihr alten Männer und Frauen!“, sagen also das Herz, das Lied, die Botschaft, die uns heute vielleicht endlich den Advent erfassen lassen. „Kehrt um! Reitet nicht im Tross dessen, was war … und wenn es noch so sehr zu euch gehört, wenn’s noch so schön, noch so blendend, noch so verführerisch war und euch und euer Selbstgefühl bis heute trägt. Dreht euch einmal so um, dass ihr nicht mitten in der Strömung eurer Zeit, sondern dagegen steht. … Da lernt ihr einen kennen, der ist seit über fünfundzwanzig Jahrhunderten jünger als ihr und eure sämtlichen Idole, der ist kleiner als alle eure großen Vor- und Selbstbilder, der ist sanfter als jede der machtvollen Erscheinungen, an die sich die Massen hängen. Da, … seht ihr ihn? Den, der seit Urzeiten jünger ist als das, was gestern war[i]? Seht ihr den, der vor Generationen auch schon mehr Zukunft bedeutete als jeder andere Fortschrittsbote? … Könnt ihr ihn wirklich nicht erkennen? Seid ihr so völlig auf die alte Logik fixiert, dass ihr wirklich nicht fassen könnt, wie viel früher eure Zukunft sich zeigte als eure Vergangenheit? Seid ihr so starr, dass ihr immer noch nicht begreifen wollt, dass das Neue sich eher ankündigte als das, was es überholen wird?“ ——
…. Das sind ernste, nicht nur absichtlich verwickelt gestellte Fragen.
Doch in diesem Jahr müssten wir wirklich allmählich erkennen, worauf sie zielen. Die Realität – eine vieltausendjährige Realität – der Großmannssucht, der Weltbeherrschungsphantasie, die Realität von Kulturen, die sich selber über alles andere stellen und die dabei völlig den Blick für die Breite und Tiefe, den Blick für den Widerspruch und das Spiegelbild und den Unterton und die Zusammenhänge in der Wirklichkeit bekämpfen und verlieren, …. diese Realität ist widerlich allgegenwärtig. … Und nach all diesen Jahrtausenden muss sie weg!
Die Kultur der kranken Größe, die – man muss es verneinend sagen! – Un-Kultur der Brutalität, die Unkultur der Durchsetzung, die Antikultur der Lüge, die Gegenkultur des höhnisch kalten Gewalt-Gefälles, das die Gewissenlosen oben und die Hilflosen unten lässt, … sie müssen weg!
Das aber ist leider ja unsere augenblickliche Zeitgeschichte: Ein fürchterliches Aufbäumen, ein sagenhaftes Auftürmen von längst veraltetem, zutiefst der Vergangenheit verhaftetem Männer-, Macht- und Macherwahn: Da spielt einer den Zaren, ein anderer den Sultan, wieder andere wollen das heilige Polen, die slawische Sendung, den unbändigen Stolz der Magyaren oder das Empire über allen Ozeanen aus dem Grab der Geschichte zerren; ein einzigartiges Despotensystem knechtet unliebsame Völker und Religionen und bereitet vor unseren Augen – fast widerspruchslos – ein Weltreich der totalitären, wirtschaftlich übermächtigen Diktatur; wo bisher die Idee der Freiheit ihre Fackel hob, reckt sich die Gier nach gelenktem Denken und nährt sich von Vorurteil und Falschheit, und die Nachahmer solcher Macht der geistigen Unreife verbrennen den Amazonas und plündern mitleidlos jeden Staat in Afrika, den sie beherrschen und dann wie ausgesaugte Eierschalen wegwerfen können, wo der Terrorismus schon bereitsteht, um den Müll der großen Männermächte zu recyceln und lauter liegengelassene kleine Ohnmächtige zu Mördern um des Himmelreiches willen zu machen. —
Düster ist dieses Bild des 21.Jahrhunderts, und was Wetter und Wolken darüber buchstäblich zusammenbrauen, vertieft die Schatten umso mehr, bis die Welt umnachtet wirkt.
Doch es ist ganz und gar keine Weltflucht, kein Rückwärtsweichen, wenn wir diese angestaute globale Machtmisere, die Jahrhunderte, Jahrtausende hervorgebracht haben, hinter uns lassen und uns an den Anfang stellen, an einen Punkt, der vor dem allen liegt und doch den einzigen Durchgang zu einer Zukunft aller Menschen dieser Erde eröffnet.
Dort hat das biblische Volk Israel die Machtphase, diese Pubertät, die noch Greise jahrtausendelang nicht überwinden sollten, hinter sich lassen müssen. Die große Davidszeit, als Jerusalem das Zentrum eines Mitspielers auf der Weltbühne zwischen dem Pharaonenreich am Nil und den Stadtstaaten des Zweistromlandes darstellte, war nach der salomonischen Glanz- und Sättigungsepoche schnell verdampft. Expansion und militärisches Gewicht, wie David sie zeitweilig behaupten konnte, verloren sich im Anbruch jener Zeit[ii], die eine Großmacht nach der anderen aufflammen und ausglühen sah und die bis heute das Beispiel abgibt, nach dem Staaten streben: „Hegemonie“, Vorrangs-Herrschaft über andere ist das seit der Eisenzeit bis in die digitale Ära reichende Leitbild der Gernegroßen.
Doch Gottes Israel war ausgeschieden aus diesem Wettkampf.
Es erlitt ihn vielmehr als Opfer zwischen den Fronten.
Israel – auch Ephraim genannt – ging dabei unter.
Juda auch.
Unter gingen jedoch genauso ihre Eroberer: Assur und Babylon - und zwar bald. Denn das ist das Gesetz jener Kultur der Stärke, von der der Advent uns lockend, liebend lösen will: Sie ist als Kult der Macht eine Kette der Machtkämpfe und Machtübergänge, eine Kette also der Untergänge.
Und als die großen Zivilisationen sich zu erheben begannen, deren Nachwirkungen bis heute unsere Gegenwart ausmachen – die hellenistische, die zur römischen, die zur westlichen werden sollte, und die persische, die lange später mit anderen zur muslimischen und endlich zur antiwestlichen werden sollte –, als diese Zivilisationen von Athen, von Sparta, von Persepolis entstanden[iii], da trat Sacharja in Jerusalem – der lächerlich hinfälligen, notdürftig wieder zusammengeflickten Stadt des gedemütigten Gottes, der die Seinen dennoch heimbringt – vor die traumatisierten, eingeschüchterten, vom Glück der unverhofften Heimkehr überwältigten Menschen der Nachexils-Generation.
… Und sagte nichts Großes mehr! Entfachte keine Trugbilder von alter Macht. Wollte Jerusalem und Israel und ihren Gott nicht wieder stark machen. Sondern begann den Advent!
Das aber war die jüngste Stunde, die vielversprechendste, die die alte Welt einst kennen- und verstehen und lieben lernen soll.
Als damals Sacharja den unübertroffenen Jubelruf – „Tochter Zion, freue dich!“ – anstimmte, da öffnete sich nämlich unsere Zukunft … vor zweieinhalb Jahrtausenden die Zukunft, die wir vor uns haben, wenn wir nicht ins Nichts laufen!
Nicht Erdrückung, sondern Befreiung wird sich einst durchsetzen.
Nicht durch’s Besiegen kommt’s zum Frieden, sondern das Frieden-Durchhalten wird zum Sieg kommen.
Nicht Tötungs-, sondern Tröstungskraft wird bleibend Eindruck in der Menschheit schaffen und sie wandeln.
Die wehrlose Liebe erlöst die lieblosen Werwölfe.
Im Zeichen des Schwachen erkennen und verbinden sich alle, die sich unter der Standarte der Stärke zerstörten.
Das ist es, was in Sacharjas gesungenem Aufruf zum Advent für immer angekündigt und durch Jesu Einzug in Jerusalem für immer bestätigt worden ist: Die Welt der Machtmenschen ist die Welt, die vergeht.
Und es kommt die Welt, die im Zeichen des Esels steht: Des Esels, der Geduld und lasttragende Ausdauer verkörpert, der anders als die Schlachtrösser nie Tod, sondern bei uns zu Lande hin und her zur Mühle nur Brot trägt. Des Esels, auf den der barmherzige Samariter das Opfer der Räuber legte; des Esels, von dem es im geheimnisvollen Jakobssegen am Beginn der Bibel über Issachar heißt (1.Mose 49,14f): „Er ist ein knochiger Esel … und er sah die Ruhe, dass sie gut ist, und das Land, das es lieblich ist; da hat er seine Schulter geneigt, zu tragen, und ist ein fronpflichtiger Knecht geworden.“
– In diesem Eselssegen aber erkennen wir Den, Der selbst – weil der Frieden so nötig und so gut ist – auf Seine Schulter das schwere Kreuz nahm und in Knechtsgestalt den Weg der Wehrlosigkeit, den Todesweg zur Auferstehung, zu Ostern gegangen ist.
Dein König kommt auf einem Esel, Zion, ein Gerechter und ein Helfer, arm und in der reinsten Demut!
Das ist die Zukunft, die vor allem, was war und was ist, durch den Adventspropheten verheißen wurde!
Wenn wir uns dieses Jahr so weit zurückrufen lassen, bis an den Anfang, … so weit hinter alle Geschichte, hinter die furchtbare Gegenwart, die wir und unsere Unkultur verschuldet haben, … wenn wir so wirklich umkehren bis an den Adventsanfang zurück, für den es wahrhaftig höchste, letzte Zeit ist: Dann möge unsere Adventsumkehr uns bereit machen für sein Bevorstehen, für sein endliches Eintreffen, für den jüngsten aller Tage, den Tag des Königs auf dem Esel, den Tag der Freude für die Tochter Zion!
Amen.
[i] Die Umkehr der zeitlichen Reihen- und Rangfolge ist das Erste, was das Evangelium durch die Leitgestalt des Advent – Johannes den Täufer – uns lehrt: „Nach mir kommt, der vor mir war“ (Joh.1,30) ist die zentrale, alles umkehrende Erkenntnisordnung, die wir lernen müssen, wenn wir wirklich Christus, dem Alpha und Omega, begegnen wollen
[ii] Zu denken wäre – auch in der neuerdings zurecht eingenommen multifokalen Perspektive einer nicht mehr allein auf Europa und Vorderasien zentrierten Geschichtsschreibung – an das, was Karl Jaspers in seinem Werk „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ vor siebzig Jahren als die „Achsenzeit“ herausgearbeitet hat: Ein Paradigma, das trotz aller Modifikationen immer noch eine bemerkenswert globale Sicht auf eine Phase im letzten Jahrtausend vor Christi Geburt bietet, die eine bis heute fast unmittelbare Wirkungsgeschichte entfaltet.
[iii] Die Fortsetzung dieser Entwicklung wird kenntnisreich und atemberaubend vermittelt durch Tom Holland, In the Shadow of the Sword – The Battle für Global Empire and the End of the Ancient World, London 2012 (der deutsche Titel „Im Schatten des Schwertes. Mohammed und die Entstehung des arabischen Weltreichs“, Stuttgart, 2012 ist bei weitem zu reißerisch!).
Ewigkeitssonntag, 22.11.2020, Stadtkirche, Hebräer 4, 9-11a, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 22.XI.2020
Hebräer 4, 9-11a
Liebe Gemeinde!
Wie hat dieses Jahr – das für die Kirche heut endet – uns zugesetzt!
Krankheit und Lüge haben die Welt in ihren Würgegriff genommen, bis einen Schwindel und Grausen packte. Chaos und Wahn, Furcht und Ansteckung: Alles vermischt sich in staubi-ger Unklarheit.
Und der letzte Feind, der tatsächlich alle Wirklichkeit in Staub und Asche legt, war auch am Werk: Der grimme Schnitter von Bergamo, der Tod in der Tiefe, den so viele auf der Flucht leiden, … das Sterben, das in unser Haus, in unsere Herzen griff und uns Geliebte nahm.
… Wie hat dies Jahr uns wehgetan!
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Kaiserswerth von oben bietet ein schönes, aber seltsames Bild: Eingefasst von einem Raster rasender, rauschender Lärmlinien – B 8, A 57, A 44, A 52, A 524 – und begrenzt von zwei ungleichen Geräuschwirbeln, die zu Wasser auf dem Rhein und in der Luft überm Flughafen den steten Bewegungspegel aufrecht halten, den unsere Welt braucht, liegt unser mittelalterliches Städtchen da: Dass in diesem Kessel aus Krach dennoch die Gässchen und die Kirchen, die Heime und Schulen, die Krankenhäuser und die traditionsreichen Einrichtungen der Diakonie etwas von der Geduld und Treue der göttlichen Liebe beheimaten, ist wirklich erstaunlich.
Aber es kommt nicht von ungefähr. Ein Blick auf’s Satellitenbild oder die Filmaufnahmen, die kleine Drohnen heute machen, verdeutlicht ein unerwartetes Herzstück des Ortes in seiner heutigen Gestalt. Da sind weder der Markt, noch Klemensplatz und -viertel das Zentrum zwischen Schlosspark und Kaiserpfalz, sondern die Mitte von Kaiserswerth birgt das Gegenteil der lauten Tragikomödie all unseres Laufens und Kaufens und Schnaufens. Und an der Mauer dieses völlig verschenkten Areals, auf dem man so wunderbar einen Supermarkt, einen Modetempel, einen repräsentativen Büro- und Kanzlei- und Praxiskomplex hinsetzen könnte, … an der Mauer, da steht es: „Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes. So lasset uns nun Fleiß tun, hineinzukommen zu dieser Ruhe.“ ———
Ein seltsamer Ort muss das sein, in dem tatsächlich die erste Adresse am Platz denen gelassen wird, die nichts mehr brauchen und nichts mehr geben, weil sie alles entbehren können, … weil sie alles haben.
Gewiss: Es war nicht immer so, dass Kaiserswerth im Kern seine Verstorbenen vom Leben umgeben ließ. Angefangen hat der Friedhof dort mit den Gräbern der Evangelischen, die außerhalb der Reichsstadt zu beerdigen waren. Doch mit den Diakonissen, deren Gottesacker den kleinen protestantischen Begräbnisplatz so stark erweiterte, trat die besondere Lage ein, dass nunmehr zwischen dem historischen und dem diakonischen Kaiserswerth, zwischen Altstadt und Anstalt das Feld der Toten zum Bindeglied wurde. Und seit dann auch die katholische Gemeinde ihre Verstorbenen auf den Flächen beiderseits des Schwesternfriedhofs bestattete, ist vollends der seltene Fall eingetreten, dass ein lebendiger Ortskern im Innersten von so vielfältigen letzten Ruhestätten zusammengehalten wird.
Wie wichtig aber ist es, dass auf diese buchstäblich unumgängliche Weise jeder Mensch bei uns darauf gestoßen wird – in den Turbulenzen ebenso wie im Einerlei des Alltags –, dass kein Weg, den wir gehen, kein Geschäft, das uns fesselt, kein Schmerz, der uns quält, keine Angst, die uns treibt, kein Wahnsinn, der uns mitreißt, das letzte Wort haben!
Auch in einem Jahr mit einem solchen Sog, auch in einer Zeit, die für Einzelne oder für Viele überwältigend wirkt, zeigt der Kaiserswerther Stadt- und Straßenplan uns unmissverständlich, dass alles, was uns bewegt und aufwühlt, wie das große Drumherum ist, in dessen Mitte sich für Gottes Volk eine noch größere Ruhe findet.
Was aber ist die Ruhe, die alle unsere vielen, angestrengten und ernstgenommenen Wege wie die Umlaufbahnen eines Mondes oder die staubigen, eisigen Ringe des Saturn umkreisen?
Was ist die Ruhe, die wir heute, am Tag des Totengedenkens und der Ewigkeitshoffnung in der Mitte unseres Daseins wahrnehmen?
Sollte das der Tod sein?
Ist das die Botschaft: Dass wir uns trösten lassen oder hüten sollen, weil all unsre donnernde Geschwindigkeit doch letztlich irgendwann an dem großen Halteschild nicht vorbeikommt und dann Stillstand herrschen wird, wo es eben noch so zielstrebig oder ziellos zuging?
Ist also etwa die Friedhofsruhe, die Grabesruhe, die man bei gesetzlicher Strafe nicht stören darf, der Mittelpunkt unseres Glaubens und unserer Hoffnung?
Ist das Evangelium tatsächlich eine Lebenshilfe, die sich aus dem Befristet-Sein von Glück und Unglück speist und die wie das alte Wienerlied und die anderen Leierkastenweisen des Fatalismus bloß darauf verweist, dass einen irgendwann gar nix mehr stört und gar nix mehr juckt, weil am End is’ alles gleich g’hobelt[i]?! …….
Gewiss nicht!
Unser Glaube tröstet uns nicht mit dem Ende und vertröstet auch nicht auf die reinweiße Leidens- und Leidenschafts- und Leblosigkeit, in der die Stoiker und die Buddhisten das Ziel erkennen, das Nachlassen und Verlassen, das Lösen und Auflösen, dem einst das tiefe Nichts folgen soll.
Solche Ruhe, die im Schwinden und Schweigen mündet, ist nicht das Herzstück, das wir an diesem Ort auf unseren gewöhnlichen Wegen stets berühren.
Denn der Satz aus dem Hebräerbrief, der an der Mauer des Schwesternfriedhofs zu lesen ist, enthält auch im Griechischen ein Fremdwort, ein Wort, das alle abstrakten Vorstellungen von einem entwesentlichten Nirwana, einem inhaltslosen Nirgendwo undenkbar macht.
Es heißt dort nämlich, dass Gottes Volk einen „SABBATISMOS“ erwarten darf, … einen Tag nicht des „Vorbei“, sondern der „Vollendung“, eine Zeit nicht der Verdünnung, sondern der Verdichtung dessen, was durch Gott selber wirklich ist, weil Gott es gewollt und geschaffen hat!
Der SABBAT, das ist ja nicht die Minderung, sondern die letzte Steigerung dessen, was Gottes Lebensentwurf umfasst.
Der SABBAT, so wie er die Schöpfung krönt und den geschichtlichen Zeitrhythmus gliedert, verheißt und verkörpert nicht ein Minimum oder gar einen Negativposten an Seinskraft, sondern nimmt deren ungestörte positive Entfaltung vorweg: Alle Anfechtung der Selbstmitteilung, die Gott in der Wirklichkeit freisetzt, … alles, was die freie Schönheit des Leben-Dürfens angreift, … alles, was die Fülle, die in Gottes Menschen-Ebenbild Gestalt gewinnt, einschränkt und auslaugt, … alles, was dem ewigen Weiterschwingen des „Siehe, sehr gut!“ (vgl. 1. Mose 1,31) Fesseln anlegt oder den Atem abschnürt … alles das, was gegen das Leben spricht, widerlegt der biblische Ruhetag, der der Gipfel der Schöpfung und ihr Herzstück, ihr Angelpunkt, ihre Mitte ist.
… Es ist eine Lust, nicht eine Last, zu leben: Das ist die allwöchentliche Botschaft des Tags ohne Quälerei, der Stunden ohne Hast, der liturgischen Gottesnähe ohne alles Gefühl von Schuld und Sorgen.
Wer in dieser Zusage – dass solche Sabbatfreude, solche sabbatliche Seligkeit uns bevorsteht – die Botschaft an der Friedhofsmauer mitten in unserem Dasein erkennt, der wird dadurch keinesfalls lebensmüde oder todessehnsüchtig, den packen keine nihilistischen Anwandlungen und den verlangt nicht nach der Vernichtung, sondern der entdeckt, dass tatsächlich mitten im Getriebe, unter allen Gewalten und Geräuschen, die uns lenken und ablenken wollen, eine kräftigere Kraft, eine wirklichere Wirklichkeit, ein lebendigeres Leben sich nicht verdrängen lassen: Der Frieden, der sich in der Gottesruhe findet und der kein jenseitiges Geheimnis, sondern der Ur-Sinn und Ur-Segen der gesamten geschaffenen Wirklichkeit ist.
SABBAT, das war ja schon das Ziel der ersten Woche dieser Welt und wurde nie verschoben auf ein noch nicht verwirklichtes Stadium der Möglichkeiten. ——
Und doch – jetzt zeigt sich, was das Christentum des Hebräerbriefes als österliche Glaubenserfahrung vom vorösterlichen Hoffen Moses und der Propheten unterscheidet – und doch … obwohl der Sabbat, obwohl die Gottesruhe ganz innerweltlich, ganz lebenswirklich, ganz schöpfungsbejahend gestiftet ist, stellt das Sterben dazu keinen Widerspruch dar.
Wer aus der guten Welt Gottes, aus der irdischen Lebenszeit, mit ihrem sabbatlichen Werk- und Ruherhythmus herausgestorben ist, der versäumt deshalb nicht seine Teil-habe an der Fülle des göttlichen Friedenszieles, sondern der nimmt nun völlig unbedingt, völlig ungestaffelt und restlos unvermittelt Teil an der höchsten Friedensfreude, Lebenstiefe, Segensweite Gottes!
Der Tod kann uns nach Christi Auferstehung vom Sinn der Welt und vom Sinn des Lebens nicht nur nicht fernhalten oder trennen, sondern im Gegenteil: Er ist so entmachtet, dass er ganz und gar dem höchsten, dem letzten Lebenszweck dienen muss.
Der Tod, der nach dem Bruch der ursprünglichen Schöpfungsharmonie den gottfernsten aller Zustände bedeutete, ist durch Jesu Christi Kreuz und Auferweckung um seine begrenzende, seine definierende, seine scheidenden Macht gebracht worden.
Gott hat dem Tod seinen Anspruch als die Außenseite einer auf’s Leben zielenden Schöpfung genommen.
Der Tod ist nicht mehr in der Lage, seine Macht als die Ausnahme von Gottes „Siehe, es ist sehr gut!“ zu beanspruchen.
Gott ist in den Tod hinein- und durch ihn hindurchgezogen. Gott hat ihn verwandelt, Er hat den Tod – wenn man so will – verlegt vom Rand und Ende weg: Wie in den Straßen unserer Stadt liegt der Tod seit Ostern in der Mitte, zwischen Leben und Leben, zwi-schen Licht und Licht, zwischen schöpferischem und ewigem Segen.
Was der Tod jetzt noch bedeutet, ist nicht mehr das Abbrechen, sondern das unwiderrufliche Anbrechen der Freude bei Gott; er nimmt nicht mehr den Frieden, sondern er schenkt ihn; er kann uns vom Schönsten am geschöpflichen Leben – und das ist: Geschöpf des selbst lebendigen Gottes zu sein! – nicht mehr abschneiden, sondern mit ihm endet nun der wechselhafte Abschnitt aller wachsenden Entfaltung unserer Gottesnähe und beginnt der für immer reife Zustand ihrer Dauer. ———
Wer diese Botschaft des Hebräerbriefes, dieses Versprechen, dass wir unwiderruflich zur Feier des Sabbats Gottes kommen werden, kennt und glaubt, wer in ihr die Mitte aller anderen Erfahrungen findet, dessen Leben ändert sich nun allerdings gewiss auch vor dem Sterben und im Sterben selbst.
Davon zeugt der Bericht vom Leben und vom Tod der jungen Römerin Cäcilie[ii], der so verbreitet und so wirkungsvoll war, dass auch die evangelische Kirche das Gedächtnis dieser Märtyrerin nicht gänzlich aufgegeben hat, und weil heute ihr Tag im kirchlichen Namenskalender ist, wollen wir den entscheidenden Satz darin noch bedenken.
Cäcilie ist tatsächlich erst durch ein Missverständnis zur Patronin und Muse der Orgelklänge und der Kirchenmusik geworden. In Wirklichkeit war sie eine Heilige nicht des vernehmlich Klingenden, sondern des alle Klänge übertönenden Gesanges der Seelenruhe, der herrlich und sabbatlich jubelnden Heiterkeit des Herzens: Wie so viele andere der von der Befreiung durch Christus ergriffenen Menschen der frühen Kirche hatte auch Cäcilie keinen Sinn mehr für die Statusfragen und Rollenbilder einer rein materiell ausgerichteten Ehe. Ihre zunächst erzwungene Verbindung führte sie stattdessen so, dass sie vor ihrem Mann und schließlich auch mit ihm ein von allen konventionellen Erwartungen gelöstes, ganz auf die Gottesbindung konzentriertes Miteinander suchte.
Diese Freiheit für Gott, für das Wesentliche begann für Cäcilie schon bei der Hochzeit und vollendete sich in ihrem Sterben als Glaubenszeugin. Schon als die pompöse Kultmusik, mit der standesgemäße Vermählungen römischer Patrizier öffentlich gemacht wurden, anhob, so heißt es jedenfalls in der Überlieferung, da hat – unterm klingenden Erz und tönenden Schellen der Lärmgeräte: „cantantibus organis“ – Cäcilie in ihrem Herzen alleine Gott – „soli Domino“ – gesungen, … die Heilige der inneren Musik, die dieses sonderbare Jahr uns ja auch zu kennen und teilen gelehrt hat.
Solche unerschütterliche Ruhe – innerlich bei Gott zu sein und nicht die störenden Nebengeräusche, sondern den ewig tragenden Grundton der Welt zu hören und anzustimmen – solche unerschütterliche Ruhe ist den Menschen Gottes gegeben.
Die Sabbatruhe, die ewige Ruhe, die mitten in unserem Leben liegt, da wo wir jetzt und für immer Gott glauben, auf Ihn hoffen und Ihn lieben dürfen!
… Auch in diesem Jahr, das so wehgetan hat, steht diese Ruhe dem Volk Gottes ja wahrhaftig offen. … So lasst uns nun bemüht sein, in diese Ruhe einzugehen!
Amen.
[i] Vgl. das sog. „Hobellied“ von Ferdinand Raimund, in dessen erster Strophe es heißt: „Das Schicksal setzt den Hobel an und hobelt alle gleich“.
[ii] In Ermangelung gut greifbarer Literatur zur Gestalt der Märtyrerin Caecilie und der Überlieferung ihrer Passio sei auf den differenzierten und seriösen Wikipedia-Eintrag verwiesen, der die Belege aus dem Text der Passio bietet: https://de.wikipedia.org/wiki/C%C3%A4cilia_von_Rom (aufgerufen am 21.11.2020).
Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 08.11.2020, Stadtkirche, 1.Thessalonicher 5, 1 - 6, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Drittletzter Sonntag - 8.XI.2020
1.Thessalonicher 5, 1 – 6
Liebe Gemeinde!
Mit dem ersten Brief des Paulus an die Thessalonicher beginnt 17 Jahre nach der Auferstehung Jesu Christi das Neue Testament, beginnt die Gemeinde Jesu Christi, … die Kirche, … unser eigenes heutiges Dasein als Christen.
Es ist ein fröhlicher kleiner Brief, ziemlich persönlich, spontan, lebensklug, unsystematisch, warm.
Und wenn man an den Rhabarber denkt, mit dem Zusammenschlüsse heutzutage anfangen – Diskussionen und Abstimmungsverfahren und Protokolle und Präliminarien und dann Statuten und Satzungen und Strategiepapiere –, oder wenn wir an das Tamtam denken, mit dem gegenwärtig Bewegungen losgehen – Aufrufe und Aufmärsche und Aufsehen und virale Wellen und Postings und Hashtags und dann Mobs und Demos und Kampagnen –, … dann wundert man sich und kann sich am Heiligen Geist nur freuen, dass die allergrößte Bewegung und umfassendste Versammlung in der gesamten Menschheitsgeschichte – die heilige christliche Kirche – mit einer derart unaufgeregten, beiläufigen Selbstverständlichkeit ans Tageslicht der Geschichte tritt.
An diesem 1.Thessalonicherbrief lässt sich wirklich das Senfkorngleichnis (vgl.Mk4,31f par.) bestätigen. Ein noch unspektakulärerer Anfang ist kaum vorstellbar, so einfach ist das organische Geschehen, das sich da entfaltet: Einige Menschen, in die durch den Zugvogel Paulus der Same der Heilsbotschaft aus dem jüdischen Land, vom Sohn Davids gefallen ist, sind auf dem Boden der europäischen Mittelmeerküste zusammengewachsen, in ihrem Gemeindekern schlägt das Evangelium Wurzeln und wird weiter streuen und nach Jahrhunderten, Jahrtausenden ist diese erstmals in Thessaloniki bezeugte kleinblättrige Pflanzung der Stamm für aktuell zweieinhalb Milliarden Triebe.
Dann muss sich aber der Bauplan für das gewaltige Wachstumswunder in den frühesten Spuren dieses Phänomens nachweisen lassen?! Eine technische Analyse muss in der DNA der Urzelle das Material isolieren können, aus dem alles Weitere hervorgehen konnte?!
— Nun, das mag in biologischer Hinsicht ein nachvollziehbarer Zugang sein. Doch in theologischer Hinsicht führt größere Bescheidenheit zu umso größerem Staunen. Denn dass im 1.Thessalonicherbrief keineswegs alles enthalten ist, was schließlich zur Entfaltung des Neuen Testaments, der kirchlichen Überlieferung, der zweifelnden und glaubenden Bewegung des Christentums und seiner globalen Fruchtbarkeit bis heute führen würde, … das ist gerade kein Mangel, sondern die Stärke unseres Ursprungs.
Der älteste Paulusbrief redet nicht vom Kreuz Christi und enthält keine Rechtfertigungslehre, er polemisiert nicht gegen Gegner und ordnet weder Liturgie noch Ämter, er beschreibt keine Sakramente und beweist nichts aus der Schrift. Er bezeigt bloß unmittelbar Verbundenheit – wie jedes gelegentliche Gespräch – und klärt eine dringend gestellte Frage auf.
… Die aber hat es in sich! In Thessaloniki waren die ersten Christen nicht darauf vorbereitet gewesen, dass es noch Leid und Sterben geben könne, nachdem vor gerade einmal anderthalb Jahrzehnten doch der Tod besiegt worden war. …….
Doch es gab sie.
Der Triumph von Ostern ist in nichts der Abschluss.
Sondern er ist Erstling einer Ernte, die bis zur vollen Reife noch lange wachsen wird (vgl.1.Kor15,20).
Und darum ist die alles entscheidende Kraft, die die Entwicklung der Bibel und der Kirche und des Christentums eröffnete, nicht als die lückenlose Vollständigkeit einer Grundlage, die alles Künftige vorprogrammiert, zu suchen, sondern gerade im Mut zur Lücke.
Das Geheimnis unseres Glaubens von den Tagen des Völkerapostels an bis heute ist es doch, dass er in die Weite wachsen und sich verbreiten kann, dass er Halt findet und emporrankt, wo auch immer ein Spalt, ein Fleckchen Erde, ein wenig Abfall sich zeigt, gerade genug, um einem zähen Schössling erste Entfaltung zu ermöglichen: Das kann dann auf den Hügeln Galiläas, in den Gassen Jerusalems, entlang der Handelswege bis zur Pracht von Damaskus, in den Häfen Griechenlands oder unter den Straßen von Rom sein, ebenso aber auch in der Wüste Ägyptens oder an der ganzen Küste Nordafrikas und in den kaukasischen Bergwelten.
Überall fand es einen anderen Boden und andere Bedingungen – das Pflänzchen des Christusglaubens –, aber es hat sich allüberall eingesenkt und seither auf der ganzen Welt inkulturiert.
Weil es lichtwärts wächst.
Das ist sein ganzes Geheimnis! ———
Was im ersten Moment wie ein öder Allgemeinplatz und dann wie eine esoterische Stereotype klingt, ist doch nur die eigentlich befreiende Botschaft, die der erste Thessalonicherbrief in seiner Licht-Theologie entwickelt.
„Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis“ bedeutet ja schlicht, dass Christen keinerlei Verborgenheit, keine Ummantelung, keine Schutz- und Schlupfwinkel brauchen, sondern sorglos in’s Blaue, in’s Freie, in die Offenheit wachsen können. … Natürlich wissen wir trotzdem auch von christlicher Geheimnistuerei, vom Festklammern in irgendwelchen Nischen, vom Eingraben in vermeintlich geschützten Stellungen und vom Genügen an allerhand Schattenplätzen, in denen nichts Helles, sondern ziemlich Obskures im Namen der Kirche wuchert.
… Aber das ändert nichts daran, dass der Anfang und das Ziel allen Gemeinde- und Glaubenswachstums in der unbegrenzt leuchtenden, durchsichtigen Klarheit liegt, die Gott rief – „Es werde Licht“ (1.Mose1,3) – und die Er ist – „Ich bin das Licht“ (Joh8,12) – und die wir bei Ihm finden werden – „denn die Herrlichkeit des Herrn erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm!“ (Offenb21,23).
Und darum wachsen wir Christen und wächst die Gemeinde Jesu Christi, seine Kirche einfach still und stark dem Licht entgegen: Durch Nacht und Nebel, Angst und Druck, Durst und Fieber hindurch zum Tag, der kein Ende hat, an dem nichts mehr im Schweigen der Gefängnisse und Gräber verborgen, nichts mehr von der Lüge unterschlagen, unterdrückt und ausgeblendet, nichts mehr hässlich wie die Sünde sein wird.
Dieses Wachsen in den Tag Gottes hinein, dieses Bereitsein dafür, dass es hell und frei und gerecht, … dass es wunderbar zugehen wird, wenn alle Schatten endlich fliehen, ist der Grund dafür, dass Christen nicht verschlafen, sondern gespannt und aufgeweckt sein sollen: Nicht aus Angst, sondern wegen der Vorfreude darauf, dass es Licht werde!
Solche Freude an Transparenz und Aufklärung, solche – sprechen wir mal ausnahmsweise mit Goethe! – „Sonnenhaftigkeit“[i] im Gemüt und in der Haltung von Christen, die sich vor keinem Kommenden scheuen, ist also die Botschaft des fröhlichen ersten Thessalonicherbriefs, der so vieles ungesagt lässt.
Der Mut zur Lücke, das Wagnis, nicht in der Sorge, nicht im Klein-mut, sondern in der Öffnung zu immer mehr innerer und äußerer Helligkeit zu existieren, lässt unseren Glauben – geschichtlich wie persönlich – schließlich auch die Rätsel der Dunkelheiten überstehen, die genauso wenig wie alles andere schon vorgezeichnet und damit abgeschlossen sind, aber wahrhaftig auch nicht ständig auf- und nachgezählt werden müssen!
Der Apostel Paulus begegnet der Anfechtung und Herausforderung und Bekämpfung und vermeintlichen Widerlegung des christlichen Glaubens durch die andauernde Wirklichkeit des Todes in der Welt ja eben nicht mit einem systematisch lückenlosen Gegenentwurf.
Als Lösung des Fragekatalogs der Geschichte ist das Christentum nicht zu gebrauchen. Denn in Wahrheit ist es ja das Warten und das Wachsen auf die weltweite Klarheit hin und nicht etwa selber schon das endgültige Licht.
Darum lässt auch das erste, was wir als Christen buchstäblich schriftlich haben, alles offen:
Von den Zeiten und Stunden – von den Problemen und Schmerzen, den Reibungsverlusten und der Ausdauer – ist es nicht nötig euch zu schreiben.
… Das ist die ursprünglichste Auskunft darüber, wie wir mit dem Ungeklärten und Unerklärlichen des Daseins umgehen sollen: Nicht verlogen, als wären wir schlauer im Vergleich zu anderen Menschen, … bloß gelassen!
Auch für Menschen, die mit Jesus Christus leben und die Ihn erwarten, hat die Welt nun einmal keinen auf die Minute fixierten Fahrplan und läuft die Zukunft nicht getaktet nach minutiösem Drehbuch, so dass man Einzelnes sicher vorhersagen und Entwicklungen irrtumsfrei berechnen könnte.
Aber gerade diese Erfahrung, die das Jahr 2020 uns allen so existentiell nahegebracht hat und täglich noch näher bringt, stellt uns noch einmal vor die Alternative des Anfangs:
Brauchen wir die Enge und Sicherheit, die in der Abschottung von allem Lebendigen und Unberechenbaren – in der Finsternis also – herrschen, oder bleiben wir zum zunehmenden Himmelslicht des Reiches Gottes gewendet, das uns auf seiner Bahn vieles bringt und zeigt, von dem wir uns unter Tage, in der Schutzhöhle der Zukunftsverängstigten nichts träumen ließen?! …….
In dieser Grundfrage – Starre oder Offenheit? hartverschlossener Kern oder verletzliches Hinauswagen ins Wachsende? – zeigt sich, dass die Botschaft Jesu Christi die Welt, die wir kennen, nicht festigt, sondern im Gegenteil deren Festgelegtes verunsichert, … zeigt sich also, dass uns mit dem Evangelium tatsächlich nicht Bestätigung, sondern Überraschung verkündet wird, und dass das Neue Testament, das aus dem harmlosen kleinen Thessalonicherbrief wachsen sollte, nicht Garantie, sondern Anarchie in unsere Perspektiven bringt! …….
An nichts aber wird diese Tendenz zum Unvorhergesehenen, zum unplanbar unserm Zugriff Entzogenen in der christlichen Erwartung so deutlich wie an jenem eigentümlich unbürgerlichen Bild, das in den Evangelien, den Briefen und der Offenbarung[ii] übereinstimmend als beste Illustration des unabwendbaren Eingreifens Gottes in die Statik der weltlichen Verhältnisse begegnet. Die Welt ist nicht dagegen abzusichern, dass Gott nach Seinem Belieben in sie fasst und das Ihre an Sich nimmt. … Nichts kann die Welt vor Ihm sicher machen. … Denn Er kommt „wie ein Dieb in der Nacht“! ——
Dieses mehr als gewagte, dieses kriminelle Bild hätte niemand erfunden und dem Heiligen des Höchsten in den Mund gelegt (vgl.Matth24,43par.)! Wir dürfen darum gewiss sein, dass wir Jesus selbst vernehmen, wenn wir von Seiner Zukunft, Seiner Wiederkehr als einem ungebetenen nächtlichen Überfall hören.
Doch der springende Punkt dieser bildlichen Redeweise ist nicht die Drohung, die bis heute allen gut, indes völlig nutzlos verbarrikadierten Wohlhabenden den Schweiß auf die Stirn treibt, sondern dass diese Metapher Funken aus ihrer sonnenhaften Witzigkeit schlägt: Der da nämlich kommt und die Welt überrumpeln wird, ist doch der Herr!
Wie und wo aber sollte der Herr aller Dinge, ihr Schöpfer und Eigentümer ein „Dieb“ sein können, … wie und wo außer in der geist- und sinnlosen Angst derer, die nicht begriffen haben, was sich und wer wem gehört?!
— Der Dieb, der da kommt, ist Der, der es nicht einmal „wie einen Raub behielt, Gott gleich zu sein“, sondern alles dahingab (vgl.Phil2,6; Rö8,32). Der Dieb, der da kommt und die Nacht für die Ungläubigen so unheimlich macht, ist kein anderer als der helle Morgenstern (vgl.2.Petr1,19), der Aufgang aus der Höhe (vgl.Lk1,78), das Licht, das alle Menschen erleuchtet (vgl.Joh1,9). Dieser Ruhestörer und Verbrecher, der aus dem Nichts auftaucht, ist der plötzliche Richter, Der Seinen Überfluss an Gerechtigkeit mit unwiderstehlicher Vollmacht gegen unsern Mangel tauscht und so einen Ausgleich schafft (vgl.2.Kor8,9ff), der zwar alle berechenbaren Werte wertlos macht und die eben noch Reichen mithin leer ausgehen lässt, aber die Hungrigen füllt er dafür wahrlich und ewig mit Gütern (vgl.Lk1,53)!
Dieser Coup – zugleich Staats- wie Geniestreich – ist das Licht, das der Welt blüht und die nüchtern nicht zu datierende, aber täglich frisch zu erwartende Hoffnung, die allem bevorsteht.
In ihrem Licht ist das Christentum bis heute immer in die Zeit hineingewachsen, dem hellen Tag entgegen.
Und niemand hat die unbedingte christliche Offenheit für das große Ziel, dem alles lichtwärts zustrebt, so ausgesprochen, so ausgeseufzt und -gejubelt wie die kleine Therese von Lisieux, die 1897 auf ihrem wahrhaftig quälenden Sterbelager, auf dem sie immer wieder in die Nacht des Zweifels und den Abgrund des Nihilismus getaucht wurde[iii], immer wieder sagte:
„Ich fürchte den Dieb nicht. Ich sehe ihn von ferne, und ich hüte mich zu schreien: Haltet den Dieb! Im Gegenteil, ich rufe ihn und sage: Hierher bitte, hierher bitte!“[iv]
Denn sie wusste wie der Apostel, dass wir Kinder des verstohlen, aber unaufhaltsam kommenden Lichtes und Tages sind.
Auf den hin ist aber und bleibt alles offen: Denn wenn er einbricht, bricht er an!
Wohl denen, die das nicht als das Ende fürchten, sondern darin den Anfang erkennen!
Amen.
[i] Vgl. Goethes Gedicht: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt es nie erblicken; / Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt uns Göttliches entzücken?“, in: Goethes Gedichte in zeitlicher Folge, hgg v. H.Nicolai, Frankfurt/M 19907, S. 556.
[ii] Da neben der gemeinsamen Überlieferung, die sich in Matth24,43 ‖ Lk 2,39 / 1.Thess 5, 2 + 4 / 2.Petr.3,10 und Offenb.3,3 + 16,15 findet, auch das (koptische) Thomasevangelium das Logion vom Dieb in der Nacht kennt (vgl. ThomEv (Logion 21) in: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung – I.Bd.: Evangelien, hgg.v. W.Schneemelcher, Tübingen 19875, S. 102) ist dessen gewiss nicht erfindliche, dafür aber ununterdrückbare Eigenheit mit umso größerer Sicherheit als „historisch“ zu betrachten. Interessant ist, dass sich im Umkreis dieses Logions im ThomEv auch das Senfkorngleichnis findet (Logion 20) und kurz davor ein weiterer Gedanke, der sich mit der Predigtintention berührt, obwohl deren Anmerkungen erst nachträglich erarbeitet wurden: „Die Jünger sagten zu Jesus: Sage uns, wie unser Ende sein wird. Jesus sagte: Da ihr entdeckt habt den Anfang, warum sucht ihr das Ende? Denn da, wo der Anfang ist, wird auch das Ende sein. Selig, wer sich an den Anfang (im Anfang) halten wird, und er wird das Ende erkennen, und er wird den Tod nicht schmecken“ (Logion 18, aaO, S.101).
[iii] Vgl. dazu: Jean-Francois Sixt, Licht in der Nacht: Die (18) letzten Monate im Leben der Therese von Lisieux. Mit einem Vorwort für die deutsche Ausgabe von Ulrich Dobhan, Würzburg 1997.
[iv] Hier zitiert nach: Therese von Lisieux, Ihm kann ich alles sagen – Gebete der Liebe. Mit einer Einführung von Waltraud Herbstrith, München u.a. 19984, S.97.
3.letzt. S. d. Kirchenjahres, 08.11.2020, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
„Mahatma Gandhi - ein Botschafter für Frieden und Versöhnung"
Liebe Gemeinde,
der November ist ein eher unbeliebter Monat: dunkel, nass-kalt und dann noch behaftet mit vielen traurigen Feiertagen, mit der Erinnerung an Verlust, an Tod und Trauer. Und in diesem Jahr dann auch noch Corona! Eine zu unseren Lebzeiten so noch nie erlebte Erfahrung, die wir mit der ganzen Menschheit teilen. Ja, es ist viel Dunkelheit da, aber es gibt keinen Grund, sich ihr zu ergeben. Denn da gibt es auch Licht, mehr als wir manchmal vermuten. Seit Gott sein Schöpferwort „Es werde Licht!" gesprochen hat, ist auch die Finsternis nicht mehr finster. Allerdings liegt es seitdem auch an uns Menschen, dem göttlich initiierten Licht Nahrung zu geben, zu brennen für das Leben, das Gott geschenkt hat. „Lasst euer Licht leuchten vor den Leuten", hat Jesus seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern zugerufen, „zeigt durch eure Worte und Taten, mit eurem Leben, dass ihr Kinder des Vaters im Himmel seid." Und da schätze ich gerade die Gedenk- und Feiertage des November sehr, denn sie fordern mich geradezu auf, über den eigenen Tellerrand hinauszusehen, wahrzunehmen, wo Lichter leuchten, darüber nachzudenken, was man selber tun kann, welche Veränderungen nötig sind, um es auf dieser Welt heller werden zu lassen.
Heute beginnt die ökumenische Friedensdekade. Sie erinnert uns daran, dass die tiefste Dunkelheit vom Menschen ausgeht, von seiner Gewaltverhaftetheit. Und sie fordert uns auf, vor der Gewalt, vor Hass und Unterdrückung nicht zurückzuweichen, sondern den Kampf für den Frieden aufzunehmen - gewaltfrei, aber entschlossen und mit einem langen Atem. Wir sind in diesem Kampf nicht allein, sondern wir sind verbunden mit Menschen durch die Zeiten und aus den unterschiedlichsten Kulturen und Religionen. Was uns verbindet, dass ist die Erkenntnis, Geschwister zu sein, Kinder Gottes, Kinder der Sehnsucht des Lebens nach sich selber, wie es Khalil Gibran so wunderbar formuliert hat.
Wie sehr wir einander nahe sind, das überrascht auch mich noch immer wieder und hat mich dankbar und demütig gemacht. Nicht die Religion ist entscheidend, sondern die wahrhaftige, ehrliche Suche nach dem, was Gottes Wille ist. Nicht der Christ ist der Mensch nach dem Herzen Gottes, sondern der, der seinen Willen tut - völlig unabhängig, in welcher religiösen Tradition er wurzelt.
Ich möchte Sie heute an einer meiner überraschenden Entdeckungen teilhaben lassen und Sie mit einigen Gedanken Mahatma Gandhis bekannt machen, diesen Propheten und Botschafter des Friedens und der Gewaltlosigkeit, diesen wahrhaften Nachfolger des Jesus von Nazareth. Jede und jeder wird seinen Namen kennen, wird wahrscheinlich auch ein Bild vor seinem inneren Auge haben, von einem kleinen, freundlichen Herrn mit kahlem Kopf und gekleidet, nein gewickelt in ein weißes Baumwolltuch, das er selbst gesponnen und gewebt hat. Und die meisten werden wissen, dass es seinem Einsatz zu verdanken war, dass Großbritannien 1947 Indien in die Unabhängigkeit entlassen musste und dass Gandhi das Schicksal Martin Luther Kings geteilt hat, dass er 1948 von einem religiösen Fanatiker ermordet wurde. Im Folgenden soll Mahatma Gandhi, die „Große Seele", selbst zu Wort kommen. Seinen Aussagen werden immer wieder biblische Texte gegenübergestellt.
1.Für mich ist Wahrheit das Grundprinzip, das viele andere Prinzipien in sich schließt. Diese Wahrheit ist nicht nur Wahrhaftigkeit im Reden, sondern auch Wahrhaftigkeit im Denken, und nicht nur die relative Wahrheit unseres Begriffs, sondern die absolute Wahrheit, das ewige Prinzip, das heißt Gott. Es gibt unzählige Definitionen von Gott, weil seine Manifestationen unzählige sind. Sie überwältigen mich in Bewunderung und Ehrfurcht und betäuben mich für einen Augenblick. Doch ich bete Gott nur als Wahrheit an. Ich habe ihn noch nicht gefunden, aber ich suche ihn. (AB S.13)
Joh.4,23-24
Aber die Stunde kommt und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. Gott ist Geist, und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten.
2.Bei meiner Suche nach der Wahrheit wächst in mir die Erkenntnis, dass Wahrheit alles andere umfasst. Sie ist nicht in Ahimsa (~ Gewaltlosigkeit), sondern Ahimsa ist in ihr. Das, was wir mit reinem Herzen und Verstand erkennen, ist in diesem Moment die Wahrheit... Es geht hier nicht darum, Herz und Verstand voneinander zu trennen. Aber oft genug ist es schwierig zu entscheiden, was Ahimsa ist. ... Wir müssen ein Leben in Ahimsa inmitten einer Welt voll Himsa (~ Gewalt) leben, und das ist nur möglich, wenn wir an der Wahrheit festhalten. So leite ich Ahimsa aus der Wahrheit her. Aus der Wahrheit gehen Liebe, Zärtlichkeit und Demut hervor. Ein Verehrer der Wahrheit muss demütig bis in den Staub sein. (SL S.144)
Mt.11,28-29
Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele.
3.Liebe und Wahrheit sind wie zwei Seiten einer Münze, beide sind äußerst schwierig umzusetzen, und beide sind die einzigen Werte, für die es sich zu leben lohnt. Ein Mensch kann nicht wahrhaftig sein, wenn er nicht alle Geschöpfe Gottes liebt; Wahrheit und Liebe sind darum das vollkommene Opfer. So bete ich darum, dass wir beide, du und ich, dies in vollem Umfang erkennen mögen. (SL S.474)
2.Joh.3
Gnade wird mit uns sein, Erbarmen und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, dem Sohn des Vaters, in Wahrheit und Liebe.
4.Wir dürfen andere nicht für etwas töten, das wir als wahr und rein ansehen. Wir sollten bereit sein, für die Wahrheit zu sterben, und, wenn es soweit ist, unser Leben dafür geben und die Wahrheit mit unserem Blut besiegeln. Aus meiner Sicht ist dies die Kernbotschaft aller Religionen. (SL S.362f)
5.Wörtlich bedeutet Ahimsa Nicht-Töten. Für mich aber enthält es einen ganzen Kosmos an Bedeutungen... Ahimsa meint in Wirklichkeit, dass du niemanden kränken sollst, dass du keinem lieblosen Gedanken in dir Raum geben sollst, auch nicht gegenüber einem anderen, der sich vielleicht als dein Feind betrachtet. Beachte, wie vorsichtig ich diesen Gedanken formuliert habe. Ich sage nicht „wen du als deinen Feind betrachtest", sondern „wer sich als dein Feind betrachtet". Für den, der die Lehre von Ahimsa befolgt, gibt es keinen Platz für Feinde; er verneint die Existenz eines Feindes. Doch es gibt Menschen, die sich als seine Feinde betrachten, und daran kann er nichts ändern. So steht fest, dass wir keinem bösen Gedanken in uns Raum geben dürfen, auch nicht im Hinblick auf einen solchen Menschen. (VT, S.129f)
Mt.5,21-22
Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemanden tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein; und wer zu seinem Bruder sagt: Du Dummkopf!, soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein; wer aber zu ihm sagt: Du Narr!, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein.
6.Es ist keine Gewaltlosigkeit, wenn wir nur die lieben, die uns lieben. Gewaltlosigkeit ist es, wenn wir die lieben, die uns hassen. Ich weiß, wie schwer es ist, dieses große Gesetz der Liebe zu befolgen. Aber sind nicht alle großen und guten Dinge schwierig? Den Hassenden zu lieben ist das Schwierigste überhaupt. Doch durch die Gnade Gottes lässt sich selbst diese äußerst schwierige Aufgabe leicht erfüllen, wenn wir es nur wollen. (VT, S.155)
Mt.5,43-48
Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!
7.Es gibt keine Ruhe ohne Sturm; es gibt keinen Frieden ohne Unfrieden. Unfrieden ist Teil des Friedens. Davon müssen wir ausgehen. Das Leben ist ein ständiger Kampf gegen inneren und äußeren Unfrieden. Darum ist es nötig, Frieden zu schaffen inmitten allen Unfriedens. (SL, S.489)
8.Gott ist keine Person außerhalb unserer selbst oder des Universums. Er durchdringt alles, ist allwissend und allmächtig. Er braucht keine Anbetung oder Bittgebete. Weil er allen Wesen innewohnt, hört er alles und kennt unsere tiefsten Gedanken. Er wohnt in unseren Herzen und ist uns näher als die Haut unter unseren Fingernägeln. (VT, S.101)
Apg.17,24-28a
Der Gott, der die Welt erschaffen hat und alles in ihr, er, der Herr über Himmel und Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind. Er lässt sich auch nicht von Menschenhänden dienen, als ob er etwas brauche, er, der allen das Leben, den Atem und alles gibt. Er hat aus einem einzigen Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen, damit es die ganze Erde bewohne. Er hat für sie bestimmte Zeiten und die Grenzen ihrer Wohnsitze festgesetzt. Sie sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten; denn keinem von uns ist er fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir; wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seinem Geschlecht.
9.Langjährige Beobachtungen und Erfahrungen haben mich zu dem Schluss gebracht, dass 1. Alle Religionen wahr sind; 2. Alle Religionen bestimmte Irrtümer in sich bergen; 3. Mir alle Religionen genauso lieb sind wie mein eigener Hinduismus - so wie einem alle menschlichen Wesen genau so lieb sein sollten wie die eigenen nahen Angehörigen. Meine Ehrfurcht vor anderen Glaubensrichtungen ist genauso groß wie vor meinem eigenen Glauben; darum stellt sich die Frage der Konversion erst gar nicht. Das Ziel brüderlichen Lebens sollte sein, einem Hindu zu helfen, ein besserer Hindu zu werden, einem Moslem, ein besserer Moslem zu werden, und einem Christen, ein besserer Christ zu werden. (VT, S.269)
10.Ich glaube an die grundlegende Wahrheit aller großen Weltreligionen. Ich glaube, dass sie alle gottgegeben sind und dass sie zum Nutzen derer sind, denen sie offenbart wurden. Und ich glaube, wenn wir nur alle in der Lage wären, die heiligen Schriften der verschiedenen Religionen aus dem Blickwinkel derer zu lesen, die der jeweiligen Religion angehören, dann würden wir entdecken, dass sie in ihrem tiefsten Grund alle eins sind und einander ergänzen. (VT, S.264)
11.Ich halte es für falsch, Sicherheiten in dieser Welt zu erwarten, wo alles außer Gott, der die Wahrheit ist, ungewiss ist. Alles, was mit und um uns erscheint und geschieht, ist unsicher, flüchtig. Aber dahinter ist als Sicherheit ein höchstes Wesen verborgen. Und wer gesegnet ist, der vermag einen Schimmer dieser Sicherheit zu erhaschen und den Karren seines Daseins daran zu hängen. Die Suche nach dieser Wahrheit ist das höchste Gut des Lebens. (AB, S.217)
Nicht wahr, liebe Schwestern und Brüder, was wir da gehört haben, das hat es wirklich in sich. Wie ist das möglich, mögen Sie sich fragen, dass ein Hindu so nah dran ist an dem, was Jesus 1900 Jahre vor ihm gesagt hat? Wie ist es möglich, dass ein Mensch ganz anderer Kultur und Angehöriger einer anderen Religion offensichtlich mehr von Jesus verstanden hat, als Heerscharen frommer Christen durch die Jahrhunderte? Wie ist das möglich, dass ein Hindu ein Mensch in der Nachfolge Jesu ist; denn es gilt, was Jesus selbst gesagt hat: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, an ihrem Lebenszeugnis. Und da hat sich Mahatma Gandhi wirklich als Bruder Jesu im Geist erwiesen.
Mich ermutigen die Zeugnisse Mahatma Gandhis ungemein - gerade in diesen Zeiten. Sie bezeugen mir, dass Gott nichts unversucht lässt, seinen Friedenswillen unter seine Menschenkinder zu bringen. Keine Religion lässt er dabei außen vor. Sein Geist weht nicht nur unter Christen, sondern auch unter Hindus und Buddhisten, unter Muslimen und Juden, unter Taoisten und Animisten; er lässt sich vernehmen in Tempeln und Pagoden, in Moscheen und Synagogen, in Kirchen und Bethäusern, auf Kultplätzen der Indigenen und in schamanistischen Hütten. Wir können ihn finden in allen Heiligen Schriften, wenn wir sie nur richtig und das heißt vor allen Dingen mit demütigem und staunendem Herzen und mit wachem Interesse und Verstand lesen und das, was lebensfördernd, dem Frieden und der Gemeinschaft aller Menschen dienlich ist in den Texten freilegen, immer unterscheiden zwischen Menschenwort und dem göttlichen Anruf dahinter.
Einer, der auch ähnlich überrascht und fasziniert von der Nähe und Verwandtschaft zwischen der Botschaft von Mahatma Gandhi und Jesus von Nazareth war, war Dietrich Bonhoeffer. Erst in diesem Jahr wurde ein Brief bekannt, den er an Gandhi 1934 geschrieben hat, in dem er sein Interesse bekundete, Gandhi in seinem Aschram in Indien zu besuchen. Gandhi antwortet ihm darauf in einem Brief: „ ...Im Blick auf Ihren Wunsch, an meinem alltäglichen Leben teilzunehmen, möchte ich Ihnen sagen, dass Sie sich bei mir aufhalten können, wenn ich nicht im Gefängnis bin und an einem festen Ort verweile, wenn Sie kommen. Andernfalls, wenn ich auf Reisen bin oder im Gefängnis, müssen Sie sich mit dem Aufenthalt in oder bei einer der Einrichtungen begnügen, die unter meiner Aufsicht geführt werden. Wenn Sie in einer dieser Einrichtungen, an die ich denke, wohnen mögen und von der einfachen vegetarischen Kost leben können, die diese Einrichtungen Ihnen bieten können, brauchen Sie für Verpflegung und Unterkunft nichts zu zahlen. ...." Als ich das las, musste ich sofort an eine Begebenheit denken, von der Johannes in seinem Evangelium erzählt. Da sprechen einige Griechen Philippus, einen der Jünger Jesu an und bitten ihn, ihnen den Kontakt zu Jesus zu ermöglichen. Jesus antwortet daraufhin mit dem Hinweis, dass das jetzt nicht günstig ist, da er unmittelbar davor steht, in sein Leiden zu gehen (Joh.12,20-24). Jesus wie Gandhi lernt man kennen, wenn man ihren Weg, ihr Leben teilt.
Dietrich Bonhoeffer hat die Reise nach Indien nicht angetreten, er hat statt dessen seinen eigenen Aschram in Finkenwalde gegründet, das Predigerseminar der Bekennenden Kirche, sein Eintritt in den Widerstand gegen die Nazi-Diktatur, der Beginn seines Weges im Kampf gegen das Unrecht und im Kampf für den Frieden; er ist seinen Weg in der Nachfolge Jesu und irgendwie auch den Weg Mahatma Gandhis gegangen - jeder eben an dem Ort, an den ihn Gott gestellt hat.
Liebe Schwestern und Brüder, es wird bestimmt im nächsten Jahr noch weitere Gottesdienste geben, in denen ich Ihnen zeigen möchte, mit wie vielen Menschen guten Willens wir gemeinsam unterwegs sind, wenn wir uns um Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung bemühen. Das zu erkennen ist so wundervoll und tröstlich, so ermutigend in diesen Zeiten.
AS : Hg. Martin Kämpchen, Mahatma Gandhi.
Der Atem der Seele. Über Gottesliebe und Gebet
Patmos Verlag 2006
AB : M.K.Gandhi, Eine Autobiographie oder Die Geschichte
meiner Experimente mit der Wahrheit.
Verlag Hinder + Deelmann 2009
VT : The Selected Works of Mahatma Gandhi. Volume Six. The Voice of Truth
Ahmedabad 1968
SL : The Selected Works of Mahatma Gandhi. Volume Five. Selected Letters.
Ahmedabad 1968
19.S.n.Tr., 18.10.2020, Eph.4 22-32, StK + Jonakirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
kennen Sie das auch? Da steht man vor dem offenen Kleiderschrank und sucht nach dem passenden Outfit. Der Schrank ist voll, aber mit jeder Minute wächst die Verzweiflung, die Hektik. Irgendwie passt nichts, passt nichts zusammen: die Farbe der Bluse nicht zum Rock, der Schnitt des Shirts nicht zur Hose, und der Druck auf dem Sweater ist von vorgestern. Auf dem Bett wächst der Berg der anprobierten Teile und der Uhrzeiger bewegt sich unerbittlich weiter.
Nein, sich zu kleiden ist heutzutage schwerer denn je, weil die Auswahl beides ist: zu groß und nie genug. Und immer wieder der kritische Blick in den Spiegel, die bange Frage „Geht das so?"
Eigentlich müsste sie lauten „Bin ich das?"
Kann sie bejaht werden, wird Kleidung zur zweiten Haut, die Körper und Persönlichkeit in einer harmonischen Gesamterscheinung zur Geltung bringt. Aber oft begegnen wir Menschen, die eher ver-kleidet sind, als ge- und be-kleidet. Sich Einkleiden ist ein Vorgang, der alles andere als unerheblich ist. Es geht um Identitätsarbeit, die zu leisten ist und die eben auch schief gehen kann. Unser Predigttext knüpft daran an. In ihm geht es um das Ausziehen und Anziehen und darum, was einem steht.
Ich lese uns aus dem Epheserbrief aus dem 4.Kapitel die Verse 22 - 32.
„Ihr wisst, dass ihr nicht so weiterleben könnt, wie ihr früher gelebt habt. Legt den alten Menschen ab, der sich von seinen selbstsüchtigen Wünschen verlocken lässt. Sie sind trügerisch und bringen ihm nur den Tod. Lasst eure Gesinnung vom Geist Gottes erneuern! Zieht den neuen Menschen an, den Gott nach seinem Bild geschaffen hat und der so lebt, wie Gott es haben will - in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.
Hört also auf zu lügen und betrügt einander nicht; denn wir alle sind Glieder am Leib Christi. Versündigt euch nicht, wenn ihr in Zorn geratet, und versöhnt euch wieder miteinander, bevor die Sonne untergeht. Sonst bekommt der Teufel Macht über euch. Wer vom Diebstahl gelebt hat, der muss jetzt damit aufhören. Er soll seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit verdienen und zusehen, dass er auch noch etwas für die Armen übrig hat. Lasst kein giftiges Wort über eure Lippen kommen. Seht lieber zu, dass ihr für die anderen in jeder Lage das rechte Wort habt, das ihnen weiterhilft. Beleidigt nicht durch euer Verhalten den Heiligen Geist, den Gott euch gegeben hat. Denn er bürgt euch dafür, dass Gott zu seiner Zeit eure Rettung vollenden wird. Weg also mit aller Verbitterung, mit Aufbrausen, Zorn und jeglicher Art von Beleidigung! Schreit einander nicht an. Legt jede feindselige Gesinnung ab. Seid gütig und barmherzig zueinander und vergebt euren Mitmenschen, so wie Gott euch durch Christus vergeben hat."
Dieser Text führt uns weit zurück in die Anfänge der Kirche. Er lässt uns erahnen, was das damals für die Menschen im römischen Reich bedeutet hat, sich taufen zu lassen und so in die christliche Gemeinde aufgenommen zu werden. Es war anders als heute keine Normalität, sondern etwas Außerordentliches - man gehörte nicht mehr zum Mainstream, sondern war Außenseiter.
Der Epheserbrief richtet sich an Menschen, die von dem Apostel Paulus für den Glauben an Jesus Christus gewonnen worden sind. Die Begeisterung des Anfangs ist offensichtlich verflogen. Die ethischen Ansprüche, denen man selber einmal gerecht werden wollte, weil sie einen überzeugt hatten, werden immer mehr als Last empfunden. Die Werte zu leben, die in den eben verlesenen Versen genannt werden, das ist anstrengend. Die Toga war leicht auszuziehen und das Taufkleid leicht anzuziehen - aber das Leben in diesem neuen Kleid, das überforderte offensichtlich.
Den alten Menschen ablegen und den neuen anziehen; hier geht es um etwas anderes, als dem Heidentum, den alten Göttern und Bräuchen abzusagen und sich taufen zu lassen. Der Alte Mensch ist nicht der Heide und der Neue Mensch der Christ.
Dann wären wir ja fein raus; dann könnten wir den Text zur Seite legen. Als Christen von Anfang an wären wir nicht mehr gemeint, wir könnten so bleiben, wie wir sind.
Doch damit liegt man falsch. Mit der Taufe, bei den meisten von uns bei der Kindertaufe, hat man eben nicht den alten Menschen aus- und den neuen Menschen angezogen. Der alte und der neue Mensch - sie meinen verschiedene Möglichkeiten des Menschseins, die sich uns beständig anbieten und für die wir uns immer wieder neu entscheiden, die wir aktiv ergreifen müssen.
Paulus beschreibt den alten Menschen als programmiert von der Angst, zu kurz zu kommen, mit allen negativen, destruktiven Konsequenzen.
Diesen alten Menschen vergleicht er mit einem Kleidungsstück. Damit sagt er, dass ich mit ihm nicht identisch bin. Mein eigentliches Selbst, mein wahres Ich hat damit nichts zu tun. Der alte Mensch, das ist das Ego - alle kennen das Wort Egoismus, das die rücksichtslose Durchsetzung eigener Interessen bezeichnet. Dieses Ego trage ich an mir, aber es gehört nicht essenziell zu mir. Eine erstaunliche Aussage, die Paulus da macht.
Man muss schon weit gehen, mindestens bis zu den Mystikern, bis man in der christlichen Kirche wieder hört, dass es in jedem Menschen einen Kern gibt, einen Raum, in dem nur Gott wohnt und in dem das Bild, das dieser sich von jedem Menschen gemacht hat, aufbewahrt und geschützt wird.
Der Kern des Menschen, das eigentliche Selbst, Gottes Ebenbild in uns, sein lebendiger Atem, das ist die Urbedeutung des Wortes Seele. Das Ego ist nur Drumherum. Das bin nicht wirklich Ich. Dazu kann und muss ich auf Distanz gehen. Auf die alten Programmierungen wie
- Wenn du bedroht wirst, wehr dich ohne Rücksicht!
- Du kannst dir nicht erlauben, fair zu sein, sonst ziehst du den Kürzeren!
- Du bist allein auf dich gestellt; sieh zu, wie du durchkommst.
- Du bist nur wert, was du leistest.
- Du darfst keine Schwäche zeigen.
Ich denke, jeder kennt seine eigene Programmierung. Und es ist dieses falsche Programm, das uns und unser Zusammenleben so oft zerstört.
Doch das Evangelium, die frohe Botschaft, die uns Paulus zuruft, lautet: Auf diesen alten Menschen seid ihr nicht festgelegt. All die selbstzerstörenden und lebenszerstörenden Äußerungen, sie sind nicht allmächtig oder gar unabänderlich. „Ihr könnt auch anders, ganz anders!" „Wendet nach außen, was tief in euch längst da ist: zieht den neuen Menschen an. Werdet der Mensch, als den Gott euch gedacht hat von Anfang an. Verändert euer Denken und Handeln. Lebt so, wie Gott es haben will," schreibt Paulus, „in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit."
Das ist die Freiheit eines Christenmenschen: wir haben die Wahl, bekommen eine Alternative geschenkt.
Die Frage ist: Nehmen wir das Geschenk an?
Wer sich taufen, sich konfirmieren lässt, sagt eigentlich: Ja, ich nehme dieses Geschenk an - mit all den Folgen, die sich daraus für mich ergeben.
In einer Parallelüberlieferung zu unserem Text im Kolosserbrief heißt es: „Ihr habt den alten Menschen ausgezogen und den neuen Menschen angezogen, der erneuert wird nach dem Ebenbild dessen, der ihn geschaffen hat." (Kol.3,9b.10)
Hier wird ausdrücklich von diesem Bild Gottes gesprochen, das mein wahres Selbst, den Kern meiner Person ausmacht. Von diesem Bild her geschieht das Neu-Werden, das neue Bewusst-Sein, welches das neue Sein nach sich zieht. Damit ein Mensch in einer konkreten Entscheidungssituation Freiheit, Freiraum hat, sich für Gerechtigkeit, Liebe, Wahrheit, Versöhnung, Ehrlichkeit bewusst zu entscheiden. Damit wir uns in diesem Sinne als Menschen Gottes ein neues Outfit leisten und darin eine gute Figur machen und als christliche Gemeinde darin auch anziehend wirken.
Genau so sind die Aufforderungen in unserem Predigttext gemeint:
Hört auf zu lügen und betrügt einander nicht.
Unterscheidet euch darin z.B. von vielen Politikern heutzutage, die nur sagen, was Wahlerfolg verspricht.
Versündigt euch nicht, wenn ihr in Zorn geratet.
Seid gütig und barmherzig zueinander und vergebt euren Mitmenschen, so wie Gott euch durch Christus vergeben hat.
Gerade die Bereitschaft und Fähigkeit zu vergeben zeichnet den neuen Menschen aus. Dem anderen zu vergeben - und auch sich selbst, wenn man an seinen eigenen Maßstäben gescheitert ist. Sich selbst zu vergeben ist oft ganz schön schwer.
„Ihr könnt auch anders, ganz anders!"
Der Dichter Ödön von Horvath hat ein Bonmot formuliert, das genau hier hinpasst. Einer seiner Protagonisten sagt da: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu." Dieser Satz hat Udo Lindenberg zu einem ganzen Song inspiriert „Ganz anders". Ich bin ehrlich gesagt nun wirklich kein Fan der Musik von Udo Lindenberg, aber der Text dieses Songs, der ist klasse.
„Oh ja, Udo ist im Haus,
oh ja, hör zu, ich sage
Eigentlich bin ich ganz anders
Ich komme nur viel zu selten dazu
Du machst hier grad mit einem Bekanntschaft
Den ich genauso wenig kenne wie du.
Ich hab so viele Termine
In der Disco, vor Gericht und bei der Bank
Da schick ich einfach meine Vize-Egos
Und das wahre Ich bleibt lieber im Schrank.
Ich bin gar nicht der Typ
Den jeder in mir sieht
Und das wird ich euch bei Zeiten
Auch alles noch beweisen.
Eigentlich bin ich ganz anders
Ich komme nur viel zu selten dazu
Du machst hier grad mit einem Bekanntschaft,
den ich genauso wenig kenne wie du.
Du hast bestimmt ein falsches Bild von mir
Sowas wie n echten Kujau
Es tut mir leid, da kann ich nix dafür
Denn mein eigentliches Ich ist im Urlaub.
Ich bin gar nicht der Typ
Den jeder in mir sieht
Und das werd ich euch bei Zeiten
Auch alles noch beweisen.
Eigentlich bin ich ganz anders
Ich komme nur viel zu selten dazu
Du machst hier grad mit einem Bekanntschaft,
den ich genauso wenig kenne wie du.
Eigentlich sind wir ganz anders
Wir kommen nur viel zu selten dazu
Du machst hier grad mit Leuten Bekanntschaft
Die wir genauso wenig kennen wie du."
In der Tat, diesen Text hätte ich Udo Lindenberg nicht zugetraut.
Bin ich die, als die mich die anderen sehen, ja, als die ich mich selber sehe? Bin ich das? Bist du das?
Oder sind wir verkleidet und nicht als die Menschen erkennbar, als die Gott uns geschaffen und in Christus zu leben berufen hat?
Menschen, die sich nicht darum bemühen müssen, begehrenswert zu sein und erfolgreich, weil sie doch geliebt und wertgeschätzt sind von ihrem Schöpfer. Die es sich leisten können, barmherzig und großzügig zu sein, weil ihnen der „Kleiderschrank" ihres himmlischen Vaters zur Verfügung steht, und die angesagtesten und chicesten Modelle sind Großmut, Barmherzigkeit und Freundlichkeit.
„Eigentlich sind wir ganz anders
Wir kommen nur viel zu selten dazu."
Das nimmt uns auch miteinander als Gemeinde in den Blick.
Wir sind und können auch ganz anders als wir oft nach außen sind. Wir können über unseren Schatten springen, auf andere zugehen, anderen Raum geben, ihre Begabungen und Vorstellungen von Gemeinde, von Glauben und Leben, mit einzubringen. Zeigen wir es doch einmal! Überraschen die anderen und vor allen Dingen auch uns selbst.
Eigentlich sind wir ganz anders - haben längst das Kleid des neuen Menschen, kreiert in himmlischer Werkstatt.
Lassen wir es doch nicht im Kleiderschrank hängen.
Machen wir vielmehr dem Designer die Freude, seine tollen und so abwechslungsvollen Modelle im Alltag getragen zu sehen.
Amen.
18.So.n.Trin., 11.10.2020, Stadtkirche, 5.Mose 30,11-14, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 18.n.Trin. - 11.10.2020
5.Mose 30,11-14
Liebe Gemeinde!
Der Abstand – diese hygienisch-praktische, aber eben auch tief seelische Erfahrung der letzten Monate – hat eine theologische Dimension:
Als Israel – das Volk, in das Gott selbst sich immer deutlicher hineinwob mit Seinen Verheißungen an Abraham, Seiner Torah durch Mose, Seinen Gottesdiensten unter Aaron, Seinen Ämtern für David und Salomo, Seinen Symbolen bei den Propheten, Seiner Gegenwart in Ritus, Recht und Alltag – … als Israel, das Volk der praktischen Gottesnähe nach Babylon verschlagen wurde, da erfuhr es einen solchen Abstandsschock, dass es beinah um seine Existenz kam. Wenn man den Tempel nicht mehr betreten, die Gebote, die am gelobten Land und am geordneten Leben hingen, nicht mehr ausüben, die Gegenwart des Heils am auserwählten Ort und in der geheiligten Art nicht mehr wie selbstverständlich spüren konnte, … was blieb da noch?
Gottes Nähe war entzogen. Der eigene Körper – dessen Waschung und Nahrung und Tätigkeit durch das Gesetz selber zu einem Medium der Gottesverbundenheit geworden war – … der eigene Körper wurde ohne die Torah zu einem sinnlosen, toten Kontaktorgan: Nicht mehr essen und arbeiten und ruhen und leben zu können, wie es die Gebote über Reinheit und Unreinheit vorsahen, hieß sinnlos zu vegetieren, da keine Begegnung mit dem Heiligen, keine heiligenden Berührungen mehr möglich waren.
Die Gottesferne, die für Israel außerhalb des Heiligen Landes herrschte, war die schrecklichste Form des Abstands, die sich nur denken lässt. Keine Wiederannäherung schien vorstellbar. Keine Normalität konnte man sich je wieder erträumen. Denn das, was Israel da in seiner fürchterlichen Quarantäne an den Flüssen Babylons durchlitt, erfuhr man zunächst ja nicht als Prozess der Eindämmung eines Übels, sondern als den endgültigen Schnitt, als Strafe, die für immer vom heilen Leben trennen würde.
Vielleicht – manche Forscher behaupten es so – … vielleicht war es aber wirklich da, in diesem Albtraum von Abstand, von unüberbrückbarer Distanz, den wir das „babylonische Exil“ nennen, dass die tiefste, tröstlichste Flamme der göttlichen Liebe im Herzen Israels zündete!
Denn gerade bei denen, die den Abstandsschock erlebten – bei Jeremia, der nach dem Fall Jerusalems in die Nacht Ägyptens verschleppt wurde (vgl.43), bei Hesekiel, der die Deportation nach Babylon erlebte, beim Tröster Jesaja, der in der Kontaktsperre einer gottesdienstlosen Generation fern vom Zion wirkte – … bei ihnen allen erwacht ein Vertrauen, das das Unmögliche zu glauben wagt: Dass Gott abstandslos ist; dass Sein Bund und Seine Treue nicht bloß an bestimmten Punkten haften, sondern sich überall vergegenwärtigen können.
Diese Erfahrung, dass auch Verschleppung keine Trennung, dass Fremde keine Entfremdung, dass Isolation keine Verlassenheit bringt, ist ein Meilenstein jener Entwicklung Israels, von der der romantische Dichter Novalis gesprochen haben könnte bei seiner Feststellung „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg!“[i]
Jeremia drückt die erstaunliche Gewissheit, dass Gott sich nirgends ausschließen lässt, in dem Satz aus: „Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?“ (23,23), der nichts anderes bedeutet als die rhetorische Frage: Bin ich denn nur ein Gott der Heimat und nicht auch ein Gott der Fremde, ein Gott des Exils?
Da aber Israels Glaube nichts Virtuelles an sich hat, keine Abstraktion des bloß Vermeintlichen, des rein Theoretischen, darum nimmt auch der von Seiner Stätte auf dem Zion entwurzelte und durch Nebukadnezars Vernichtungsfeldzug obdachlos gewordene Gott im Augenblick der Tempelzerstörung eine neue Herbergssuche auf … und der Ort, den Er dann einnehmen wird, ist der Ort des Neuen Bundes, von dem die Exilspropheten zu sprechen lernen: „Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein“ (Jer.31,33).
Das Herz, das innere Allerheiligste, das jeder Mensch in sich trägt, ist die Stelle, an der der Gott Israels Seine Allgegenwart erweist. Hier kann kein äußerer Feind und Feldzug Ihm den Ort streitig machen. Hier findet Er eine Bundeslade, die von Dritten niemals gestohlen werden kann, weil selbst Gefangenen und Sklaven, weil Flüchtlingen und Wanderern, weil Heimatlosen und Bettlern das Herz nicht entrissen werden kann.
Im Herzen bleibt Gott nahe. Hat Gott in einem Herzen Einlass gefunden, hört aller Abstand zu Ihm auf.
Das ist der Neue Bund, der sich in Israels Geschichte vollzieht: Der Gott einer heiligen Heimat wird der Gott aller heiligen Herzen.
Genau diese Entwicklung aber bereitet sich tatsächlich in den 5 Büchern der Torah, den 5 Büchern Moses selber vor. Jedem Bibelleser ist zu allen Zeiten schon aufgefallen, dass das Gesetz vom Sinai doppelt überliefert ist: Was von den Zehn Geboten im 20.Kapitel des Buches Exodus an an Gesetzen und Bestimmungen im 2., 3. und 4.Buch Mose folgt, das wird in verdichteter Form – wieder mit der Voranstellung der Zehn Gebote – im 5.Buch Mose wiederholt.
Schon vor Christi Geburt nannte man dieses letzte Buch der Torah auf Griechisch darum bei den Juden der Diaspora „Deuteronomium“, also „Das Zweite Gesetz“. … Kein anderes, sondern ein neuerlich eindringlich einprägsam gesammeltes Werk, das die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, und den Glauben, der sich im Leben nach dem Gesetz äußert, veranschaulicht.
Das Deuteronomium, also die zweite Gestalt, in der die Torah vom Sinai in der Bibel vorliegt, gipfelt nun aber in der kleinen, herzergreifenden Absage an allen Abstand zwischen Gott und Seinen Menschen, den wir heute hörten:
Es ist nicht hoch und fern, was dir gesagt ist, Mensch, und was der HERR von dir fordert (vgl. Micha 6,8), … du musst auch nicht gen Himmel fahren oder mit Flügeln der Morgenröte an’s äußerste Meer oder dich bei den Toten betten, um es zu begreifen (vgl.Ps.139,8f), sondern Gottes Wort und Wille sind dir gegenwärtig, bleiben dir nah, wachsen dir ans Herz, gehen dir in Fleisch und Blut über, bis aus dieser unlöslichen Symbiose zwischen Israels Gott und Israels Innerstem ein neues Herz geworden ist (vgl. Hesekiel 36,26), ein neuer Mensch, … das fleischgewordene Wort! ———
Das alles nun ist wirklich und wahrhaftig der Bund Gottes – der erste und der neue – mit Israel, … und es ist in einer Welt, die immer noch vom Hass auf dieses Israel Gottes (vgl. Galater 6,16) entstellt wird, … es ist in einer Welt, die immer noch an den Stammtischen, in den Parlamenten und auf den Straßen sogar der freien, christlich geprägten Völker eine Welt der Antisemiten ist, eine erschütternde Mahnung, dass wir diesen biblischen Weg, den Gott in die Herzkammer Israels nimmt, ausgerechnet heute hören, …am fröhlichsten der hochheiligen Tage der Synagoge.
Nach dem grässlichen Ereignis von Hamburg, das letzte Woche das Laubhüttenfest überschattet hat, ist gestern abend der Feiertag der Torahfreude, des Gesetzesjubels – Simchat Torah – gekommen, und in den Synagogen in aller Welt nehmen sie wörtlich und machen sie wirklich, was unser Predigttext uns versichert: „Das Wort ist ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust!“
Sie tun es gerade in diesen Stunden: Überall nehmen alte und junge Juden freudetrunken die herrlich geschmückten Schriftrollen in den Arm, küssen sie andächtig überschwänglich und drücken sie so sehr an das Herz wie die Liebste, wie den Augenstern … und dann tanzen sie, tanzen selig und tanzen wild, taumeln beglückt und beflügelt daher, drehen sich mit der Torah am Herzen im Kreis, denn sie ist ihnen so nah, … sie ist ihnen so lieb, … sie ist ihnen das Kostbarste innerlich und äußerlich, das sie haben.
Und der Reigen der seligen Geister, die an der Brust das Feuer der Torah spüren und die es entzückt, dass Gott sich uns so unmittelbar, so ohne jeden Abstand, so innig schenkt … er ist eine Frage an uns, … an das christliche Herz!
Die Simchat-Torah-Glückseligkeit angesichts der Nähe des göttlichen Wortes, das uns Herz und Mund und Tat und Leben[ii] füllt, stellt eine ganz einfache Frage, ... eine Frage, derer ich mich nicht mehr schäme.
Es gab Jahre, da war es mir peinlich oder zumindest eine Irritation, dass von mir – oft im höflichsten Ton (dem nämlich, den man selbst nicht zu hören kriegt) – gesagt wurde: „Schade, dass er wohl doch ein Pietist ist“.
Die Bezeichnung ist dabei schnuppe.
……. Die Sache aber ist es nicht!
Denn wenn ich an die selbstvergessene, hingebungsvolle Erfülltheit denke, die ich als Kind bei der Simchat-Torah-feiernden Gemeinde meiner Schulkameraden erlebt habe, dann blutet mir das Herz vor der Frage, die sich uns da stellt: „Simon, des Johannes Sohn, hast du mich lieb?“ (Joh.21,15ff).
Haben wir ihn lieb, der uns so nahe ist?
Haben wir ihn lieb, der nicht vom Himmel geholt werden muss, weil er selber ja kam, … weil er selber ja kam – das fleischgewordene Wort der Nähe ohne Abstand – , … der selbst also kam, um in unserem Mund und in unserem Herzen im Brot und im Wort die unverlierbarste Nähe einzunehmen und unser Tun und Leben ganz zu prägen?
Wissen wir, was das heißt? – Dass dieser Jesus, dieses Wort Gottes, diese Wahrheit, die von Anfang an gewesen ist, auch zu uns keinen Abstand, sondern dichteste Unmittelbarkeit gewählt hat?! Dass er von uns nicht um- und abständlich theoretisiert, sondern schlicht ins uns aufgenommen und heimisch werden will?
… Wissen wir – die so krampfhaft unsere Abwehr aus komplexen Reflektionen und kritischen Reserven errichten – was solche entwaffnende Schlichtheit bedeutet?
– Eben nicht, dass eine Idee, die wir skeptisch geprüft und distanziert erwogen haben, irgendwann in den Fundus unserer Überzeugungen eingehen darf, wo wir sie immer noch auf den Abstand jederzeit wieder veränderlicher Einstellungen halten, sondern dass der Gott von Israels neuem Bund in’s Herz will: Wo man sich nicht zimperlich und spröde wie unsere bindungsunfähige Objektivität gibt, sondern wie ein Mensch, der sich nicht endlos ziert und entzieht, sondern sich öffnet und dann tatsächlich …liebt.
Damit haben die Pietisten aller Zeiten und Färbungen – und es hat sie immer gegeben (wenn auch unter verschiedenen Namen) und es wird sie immer geben! – … damit nun haben die Pietisten, die Frommen tatsächlich einfach recht: Wer erst Himmel und Hölle durchkämmen muss, um logische Gründe dafür oder sachliche Gründe dagegen zu finden, der wird nie auftun, wo einer vor der Herzenstür steht und klopft (vgl.Offenb.3,20)!
Darum sprich nicht: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun!
Der Heiland will das Herz, so sagen es die Frommen ( – und die Weisheit! [vgl. Sprüche Salomos 23,26]). Und ihn lieben, ist wahrlich mehr als alles andere (vgl. Mk12,33), denn die Liebe zu ihm erfüllt das Gesetz (vgl. Rö13,10), wie er selbst es ja sagt (Joh14,15): „Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten!“ – und seine Gebote sind nicht schwer (vgl.1.Joh5,3).
So nah ist Jesus, das Wort Gottes.
So einfach.
……. Und so zu lieben! ———
Viele Fromme, die man nicht Pietisten, sondern Orthodoxe nennt, haben ausgehend von der Herzensnähe des Wortes, die uns in Deuteronomium begegnet, ihr ganzes Leben tatsächlich auf ein einziges Wort ausgerichtet, auf das Herzensgebet des immer und endlos wiederholten Namens „Jesus!“, der sie tröstet, ihr Tun bestimmt und ihr Ziel vorwegnimmt.
Viele andere Fromme haben in einfachster Offenheit für das biblische Wort Gottes einen Liebesdienst geübt – hier in so vielen Diakonissenherzen! – oder haben in Mission und Gemeindeleben und Ökumene die ganze Wahrheit der Menschennähe Gottes und eines von Gott erfüllten Herzens einfach und tragend bewiesen und beweisen sie überall immer noch!
Es gibt unzählige solcher einfachen Wege, die die Liebe zum nahen Wort Gottes uns führt.
Keiner ist besser als ein anderer, wenn sie nur aus einem reinen Herzen hervorgehen, das das Wort Gottes hört, bewegt und tut.
Und wenn wir vom schlichten Hängen an Gottes Wort gleich mit einem Lied von Dora Rappard singen werden – der Tochter des ersten evangelischen Bischofs von Jerusalem, die in ihrer Kindheit echte Simchat-Torah-Freude am Fuß des Zionsberges erlebt haben wird –, dann wollen wir daran denken, dass tatsächlich nichts hoch, nichts tief, nichts weit, nichts schwer sein kann, das einfach aus der uralten Erfahrung Israels lebt:
„Es ist das Wort ganz nahe bei dir!“
Amen.
[i] „Die Phantasie setzt die künftige Welt entweder in die Höhe oder in die Tiefe oder in der Metempsychose zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht ins uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. – Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheint es uns freilich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos, aber wie ganz anders wird es uns dünken, wenn diese Verfinsterung vorbei und der Schattenkörper hingweggerückt ist. Wir werden mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt.“ Novalis (d.i. Fr.v.Hardenberg), Blütenstaub [16], in: Novalis – Werke in einem Band, Ausgewählt und eingeleitet v. H.-D. Dahnke, Berlin(Ost) und Weimar, 19894, S. 279f.
[ii] Vgl. J.S. Bachs Kantate BWV 147!
Konfirmation (Erntedank), 04.10.2020, Mutterhauskirche, Psalm 73,1+23, Jonas Marquardt
Predigt Mutterhauskirche Konfirmation 4.X.2020
Psalm 73, 1 + 23
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Reden wir an Eurem Glücks- und Segenstag doch mal vom Pech; … vom Pech, das an manchen Leuten oder Dingen, an manchen Zahlen oder Vögeln einfach klebt: Der Rabe wird seit den Tagen der Sintflut bloß noch mit Unglück verknüpft; Freitag, der Dreizehnte wird misstrauisch betrachtet, ob er nun einen Lockdown bringt oder nicht; und wenn irgendjemand eine bahnbrechende Maschine konstruieren wollte, würde er den Protoptypen – wovon auch immer – wohl „Titanic“ nennen? …
Wieso allerdings von solchem Aberglauben reden, wenn’s heute doch um Glauben geht?
Wieso von schlechten Vorzeichen sprechen, wenn Ihr heute Euer Leben doch unter das beste nur denkbare stellt, indem Ihr es Gott überlasst?
… Weil wir Evangelischen stets Spielverderber sein müssen, die nur bloß keine ungetrübte Laune aufkommen lassen können, sondern gleich immer das Bittere und Bedenkliche vor Augen setzen und daran arbeiten wollen?
Nein. Über’s Traurige lohnt sich’s tatsächlich nur vom Trost her zu reden, und so viele ungute Ahnungen kann in Wirklichkeit nur ertragen, wer eine gute Nachricht dagegen zu setzen weiß.
Darin ist die menschliche Natur eigentlich sogar sehr gnädig eingerichtet, was Ihr auch im Rückblick auf den heutigen Tag noch merken werdet: Was uns zur Zeit einschränkt und was wir mit Unbehagen, mit Sorge erlebt haben in den vergangenen Monaten, die das Leben so verschwommen, so beklommen machten, … alles das werdet Ihr, wenn Ihr später einmal die heutigen Fotos seht, auf denen Ihr Euch so stolz und schön und zugleich so versteckt begegnet, gar nicht mehr direkt im Gedächtnis wieder finden.
Ich merke, wie dieses feine Sieben, das der Erinnerung das Schöne so hell wie weißes Mehl zuführt und die hässlich-stacheligen Lagen darum verwehen macht, schon einsetzt: Die ganze Sorge, die ich um Euch hatte, als der Konfirmandenunterricht plötzlich abbrach, … als der Frühlingstag, den wir miteinander feiern wollten, aus dem Kalender einfach gelöscht wurde, als wäre in die Zeit ein Loch gerissen, … als man sich lange nicht sah und die Ungewissheit, wie und ob und wann einen echten Juckreiz unter dem Gips auslöste, in dem der Abstand alle stillgelegte, … diese ganze Irritation und Komplikation, die wir in Wirklichkeit bisher zumeist ja mehr als glimpflich überstanden haben: Das alles wird kleiner und dünner und blasser und leiser, und stattdessen treten die Erfahrungen, die dann eben zu machen waren, hell und warm hervor. … Statt im Saal kamen wir eben im Garten zusammen. Anstelle von Stühlen saßen wir halt im Gras. Und wo wir selbst nicht singen konnten, sangen uns dafür die Vögel – und ab und zu die Hunde – die ewige Melodie des großen Gotteslobes.
Es war – in allem Unheimlichen und in aller Unklarheit – alles plötzlich ein wenig einfacher geworden. Wir sind dem Wanderprediger, der unser Herr ist, der die Leute auf dem Feld zusammenrief und ihnen unter freiem Himmel Essen und Hoffnung und Vergebung und Heilung und Wahrheit und Leben schenkte, unverhofft näher gekommen.
Und seinem Jünger Franz von Assisi, an den die evangelischen Christen gestern und die katholischen heute denken, sind wir da unter den Bäumen und in der völligen Ahnungslosigkeit, wie alles wohl weitergeht, ein bisschen ähnlicher geworden: … Trotz Kummer unbekümmert, trotz Fragen fröhlich, trotz Mist prächtig gelaunt.
Denn – alte Erntedank-Weisheit! – viel Gutes gedeiht tatsächlich nur auf dem Mist!
Und darum wollte ich über das Pech reden, über das, was man sich nicht wünschen und nicht aussuchen würde.
Man soll sich danach bestimmt nicht drängeln! … Und den Eindruck habe ich von Euch zum Glück durchaus, dass Ihr lästig von angenehm und anstrengend von lau und Hausaufgaben von Zusatzaufgaben, die bloß Sternchen bringen, gesund und eindeutig unterscheiden könnt.
Doch noch gesünder ist, dass Ihr erlebt habt, wie auch harte Zeiten zarte Seiten zum Schwingen bringen: Oder hättet Ihr gedacht, woran und worauf man sich alles freuen kann, wenn es nicht eine Zeitlang unmöglich gewesen wäre … und an manchen Stellen auch noch bleibt?
Ein Pech kann sich als eine Pause zeigen; ein Reinfall kann reinigen; ein Nachteil, der uns zum Nachdenken führt, kann uns weit voranbringen.
Darum lasst uns nicht nur negativ über das Negative urteilen.
Und lasst uns dabei ganz vorne anfangen, … bei einem unscheinbaren, kleinen, benachteiligten Negativum, mit dem so vieles beginnt. Ich spreche vom Buchstaben „N“, den ich – entweder weil ich ein Narr oder ein Neuverliebter bin – ganz frisch für mich entdeckt habe.
Das „N“ hat’s bei uns schwer. Es kann nichts Gutes sagen. Mit ihm kommt das „Nein“! Der „Neid“. Die „Not“. Das „Nackte“. Die „Null“. Mit dem „N“ wird’s „Nacht“, mit dem „N“ wird’s „November“. Mit dem „N“ heißt’s schließlich: „Nie“! Das arme „N“ ist wahrhaftig ja schon buchstäblich der Auslöser des „Negativen“. Und es führt den schrecklichsten ersten und letzten Angriff auf Gott, den Schöpfer aller Dinge, indem es einfach frech und verzweifelt trostlos etwas buchstabiert, das doch eigentlich ausgeschlossen ist: Das „Nichts“. …….
Aber zugleich ist es das Schönste alle Zeichen, denn es führt uns in seiner schlichten Form einen tödlichen Trugschluss und eine unerledigte Hoffnung vor Augen.
Erst will es uns weismachen, dass die Enttäuschung, dass das Pech ganz ausnahmslos seien:
So hoch wie’s geht, so tief geht’s auch.
Auf diesen beiden Bahnen ist der Buchstabe, der hinauf- und hinuntergeschrieben wird, ganz nüchtern, vielleicht sogar zynisch. Und wäre er damit fertig – ein Aufstrich, ein Abstrich –, dann wüsste man, was er zu sagen hat: „Wie gewonnen, so zerronnen“.
Aber dieser Buchstabe, mit dem sie andernorts die Christen, die „Nazarener“ als Freiwild kennzeichnen, erzählt eine andere Geschichte von einer anderen Freiheit.
Wenn Ihr beides – hoffentlich bewusst, hoffentlich gelassen, hoffentlich zu Eurem Heil! – erlebt habt …, dass Euch ist, als würdet Ihr der siebten Wolke zuschweben oder den Himalaya des menschenmöglichen Erfolges bezwingen, wenn Euch also schwindelig von der Höhenluft des Glücks zumute war … und wenn Ihr dann auch verstanden habt, dass es wohl sinnvoll wäre, nicht immer in der dünnen Atmosphäre solcher Gipfelerfahrungen zu bleiben, sondern auch wieder den Boden der Tatsachen und irgendwann sogar den Schoß der Erde zu erreichen, weil Bruder Tod – wie Franz von Assisi ihn nennt – dem vielen Auf und Ab mit seiner Ruhe folgen soll … wenn Ihr das erlebt habt, dann schlägt die Stunde unseres ganz und gar nicht negativen, sondern überwältigend positiven, hoffnungsfrohen Buchstabens, der uns (selbst im Tod) nicht einfach zurück an den Ausgangspunkt und hinab in die Niederungen bringt.
… Er hat ja noch eine Linie, dieser kleine Buch-Stab, … noch einen Federstrich.
Und wenn wir den noch bedenken und beherzigen, wenn wir den noch verfolgen, dann sind wir bei allem, was uns das Schlechte doch noch als Weg zum Segen, die Nacht als den Anfang des Tages, das Unglück als die Vorform des Glücks erkennen lässt.
Wenn wir den dritten Ansatz des übersehenen und missachteten Buchstaben „N“ beherzigen, wenn wir den noch begreifen, dann erkennen wir den Weg der Christen in Wahrheit.
Wenn wir den noch begreifen, dann erkennen wir das „Dennoch“!
Das „Dennoch“, das Gottes Leute in Israel und in der Kirche immer und immer gesagt haben und sagen werden.
Es kann ein ganz trotziges und rotziges Wort sein, so ein „Dennoch“! Es kann heißen, dass wir uns wie ein Jakob, ein Hiob, eine Magdalena nicht abspeisen lassen mit Weniger als dem ganzen Segen, der vollen Gerechtigkeit, dem reinen Heil. Hartnäckig brechen solche Menschen, die das „Dennoch“ einklagen, durch alle Widerstände hindurch und verlangen, ja erstreiten, dass Gott sie nicht am Boden lässt, sondern erhebt und froh macht und frei.
Es kann auch ein ganz mutiges Wort sein – so ein gläubiges „Dennoch!“ – , ein Licht, das durch die Nebelnächte der eigenen Tränen oder fremden Leids leuchtet und hinüber führt, wie Mose die Israeliten in die Zukunft oder der Gedanke an den Vater den verlorenen Sohn nach Hause.
Es kann ein Wort der Gelassenheit oder umgekehrt auch ein Wort des Triumphes sein, wenn jemand da, wo allen alles schlecht scheint, vom Negativen nicht bloß negativ redet, sondern ein „Dennoch“ sagt, ein „Es geht auch anders – nämlich: weiter, …. nämlich: besser, … nämlich: zu Gott hin“.
Es kann so vieles sein: Das Wörtchen „Dennoch“, das den Weg eröffnet, der in meinem neuen Lieblingsbuchstaben das endgültige Hinauf, die Aufwärtsbewegung, das letzte Aufstehen aus Trägheit und Tod bezeichnet und uns zeigt, dass wir nicht im Niedergang, sondern im Aufgang, nicht im Tiefen, sondern im Freien unser Ziel haben. ———
Es kann so vieles sein, das Wörtchen „Dennoch“!
Euch aber wünsche ich vor allem anderen, dass es Euer Wort wird und bleibt!
Darum sagt Euch dies „Dennoch“: Gegen allen Zweifel und gegen alle Gewöhnung.
Sagt Euch dies „Dennoch“: Wenn Ihr Sorgen habt und genauso wenn Ihr mal selbstzufrieden werdet.
Sagt im Negativen „Dennoch“ und sagt’s im Positiven auch.
Sagt es auf der Lebens-Höhe und an ihrem Gegenteil; sagt’s in Glück und Leid!
Denn auf dem schönen Buchstaben „N“, der gleich doppelt darin vorkommt, werdet Ihr schließlich ja in die neue Welt hinauf geführt, in die Nähe, ja, in die Gegenwart Gottes, Der es hört und Der es wahrmacht, was Ihr jetzt konfirmiert, also bekennt (Ps.73,23):
„Dennoch bleibe ich stets an Dir, HERR, denn Du hältst mich bei meiner rechten Hand, Du leitest mich nach Deinem Rat und nimmst mich am Ende zu Ehren an!“
AmeN!
Konfirmation, 03.10.2020, Mutterhauskirche, Psalm 73, 1+ 23, Jonas Marquardt
Predigt Mutterhauskirche Konfirmation 3.X.2020
Psalm 73, 1 + 23
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Eigentlich dachte ich inzwischen, es höre vielleicht nie auf … und das war ein schöner Gedanke: Mit Euch hätte ich durchaus alt werden können, nachdem wir Euer eigentliches Haltbarkeitsdatum im Frühjahr, als Ihr frisch und rosig und bereit wart, sang- und klanglos überschritten hatten und uns ab Ende Mai dann im Gras draußen wiedersahen und Ihr da in der Sonne wie Fallobst immer länger vor Euch hinreiftet und immer älter wurdet und inzwischen alle irgendwo auf dem Weg zur 15 seid und es Herbst geworden ist und man an diesem Wochenende einen Doppelfeiertag begeht, der das, was uns die Geschichte und die Natur an guten Gaben schenken, feiert, … und noch immer seid Ihr meine ewigen Konfirmandinnen und Konfirmanden … und die Zeit steht still, nur dass Ihr wieder Schule habt, … aber das stört Eure tiefinnere Gelassenheit auch nicht so furchtbar … und demnächst kommt Weihnachten und dann ist das unglaubliche und ja auch scheußlich Jahre 2020 irgendwann vorbei … und noch immer sitzt Ihr da an der frischen Luft im Gemeindegarten und schneit vielleicht ein wenig ein, falls man nochmals downgelocked wird, …und vielleicht muss man Euch dann neue Masken umbinden, weil die Mode sich ja ändert und die Jungs sich demnächst mal die Backen schaben wollen und die Mädchen auch den unteren Teil des Gesichtes schminken, und der wunderbar vertraute, dauerhafte Jahrgang, der 2018 anfing und mit dem das ewige Jetzt, der verweilende Augenblick erreicht zu sein scheint, ist immer noch da, … nur ein bisschen eingewachsen in jenem versunkenen Paradies, in dem Ihr an der Luft trocknet und konserviert werdet … und die Kleinen, die ein Jahr nach Euch angefangen haben, werden eingesegnet und Ihr bleibt immer noch wie schrumpelnden Apfelringe da und nichts ändert sich, und nachdem man Euch einmal aus der gewöhnlichen Spur der Beschleunigung und der Entwicklung und der Fortbewegung rausgebracht hat, bleibt Ihr unabänderlich stillgestellt, homegeschooled und ortsgebunden, … und es hört nie auf. ————
Von wegen! Natürlich hört es auf.
Weil alles vorübergeht. Weil nichts jemals bleibt, wie es war. Und weil ja gerade dieses Tag-der-deutschen-Einheit-&-Erntedank-Wochenende uns historisch und biologisch zeigt, dass jeder Traum und jeder Alptraum endet und dass alle Frühlinge erntereif werden und dass Ihr ab jetzt eben keine Konfirmandinnen und Konfirmanden mehr seid, sondern Ex-, … Gewesene!
Denn natürlich habt auch Ihr Euch verändert in der unvermutet langsamen Zeit, die hinter uns liegt und die Euch Erfahrungen gebracht hat, die wir nicht vorhersehen konnten und nun nicht mehr rückgängig machen.
Unser Leben ist unplanbar: Das nennt man seine Geschichtlichkeit.
Unser Leben ist unaufhaltsam: Das ist seine Endlichkeit.
Unser Leben ist überraschend und es ist bedroht; es ist tief und doch leicht; es schlägt Purzelbäume und es kann sich stauen; unser Leben nimmt sich Freiheiten und es bedarf der Pflichten; still und unbewusst strömt es dahin und plötzlich wird’s getroffen und schlagartig nehmen wir es wahr.
Unser Leben hat keinen Bestand, und was kommt, wissen wir alle nicht.
Nur dass Ihr, die Herbstkonfirmanden 2020 mehr an Erfahrungen im Großen und im Kleinen habt, als jeder andere Jahrgang seit 70 Jahren, das wissen wir: Euch hat sich – ohne Schaden, aber doch auch ohne Zweifel – gezeigt, dass nichts sicherer ist als das Ungewisse und dass kein noch so gewöhnlicher Mensch ohne die gesamte Menschheit existiert.
Und so sitzt Ihr also nun hier. In einer Zeit, die man vielfach eine „Krisenzeit“ nennt. … Und was tut Ihr?
Ihr entscheidet Euch bewusst und mit einer halbjährigen zusätzlichen Bedenkzeit, dass Ihr Euch zur verfolgtesten Religion weltweit (denn das ist das Christentum!) bekennen wollt und Ihr tut es - als G8ler - näher am Abitur als an der Grundschule.
Das ist bemerkenswert. … Und es lässt mich eine sprachliche Verwirrung aufklären, die sich angesichts des Fremdwortes für Eure heutige Tat immer häufiger einschleicht.
Ihr seid keine Konformaten, sondern Konfirmanden. Konform zu sein oder gemacht zu werden, ist etwas Verheerendes. Es bedeutet Masse zu werden: Gleich schön, gleich stark,
gleich gültig wie ein reproduziertes Heer von Avataren oder Clonen oder Memes.
Versprecht Euch, so etwas nicht zu werden, nicht zu wollen!
Wenn Ihr heute einen Glauben bestätigt, der mit seiner Botschaft von Gott, Der in Christus Mensch wird, mit seiner Botschaft von einer Liebe, die unsere Schuld auslöscht und einem Leben, das den Tod vernichtet, nicht für alle Welt selbstverständlich ist, dann bedeutet das doch gerade, dass Ihr eine andere Wirklichkeit und einen anderen Maßstab behauptet, als sehr viele andere Menschen.
Aber nachdem wir gerade vom Leben insgesamt sahen, dass es erstens anders kommt und zweitens als man denkt, scheint mir, Ihr seid gerade dann am besten für’s Leben gerüstet, wenn auch Ihr anders seid, nicht konform. … Sondern konfirm!
„Firm“ heißt fest. Befestigt, nicht zementiert; nicht aus Beton und doch unerschütterlich!
Wenn Ihr so seid – und wer immer Euch da im Garten hockend beim Gespräch, bei der Bibellektüre, beim Beten gesehen hat, als sei das Alles das Gewöhnlichste von der Welt, der kann es nur glauben – wenn Ihr also firm seid, dann könnt Ihr getrost und fröhlich leben!
Denn nur die innerlich Festen, die, die eine Haltung und einen Halt haben, die nicht immer gleich flatterig werden und sich nicht dauernd fragen, ob sie gut oder sehr gut oder die Besten waren oder ob sie etwa scheitern, … nur solche firmen Leute können die Brise und den Wind, der kommt, den Sturm, der drohen mag, unerschüttert bestehen.
Warum? Weil sie das „N“ kennen, das schönste Zeichen unseres Alphabets. Es ist nämlich der beste Wegweiser durch das Leben, … das Leben, das für feste Menschen drei Richtungen hat:
Leben strebt empor. Pflanzen wachsen, Krabbelnde richten sich auf, Vierzehnjährige – wenn sie nicht durch Bequemlichkeit versaut sind – wollen weit hinausschießen über das, was bisher für den Gipfel gehalten wurde. Recht so! Man kann nicht immer nur niedergehalten werden. Sucht senkrecht nach oben! Lasst Euch von der Sonne helfen, spürt den Kitzel hohen Anspruchs, nehmt andere mit auf Wege ans Licht …denn alleine überragend sein zu wollen, heißt der erste Baum zu sein, den’s fällt.
Aber seid nach allem, was das letzte halbe Jahr uns lehrte, nicht naiv: Erinnert Euch, dass die Dinge und Ihr mit ihnen irgendwann an ihre Grenze stoßen. Und so habt die Würde und die Reife auch den zweiten Teil des Lebens – den Herbst, wenn Ihr so wollt – genauso mutig und dankbar und gespannt zu erfahren: Dass man vom Berg auch wieder herunter zu steigen hat, dass Höhe nur einen Blick für Niedriges bedeutet und dass wir endlich werden müssen, was wir waren … Menschen, die vor vielen Jahren miteinander im Gras saßen und die genauso verdorren müssen wie damals der Rasen.
Doch dann, Ihr Lieben!, … dann kommt das, was uns fest macht und so unglaublich frei und so unendlich zuversichtlich! Dann kommt der dritte Strich des N, der zeigt, dass es nicht nur um Auf- und Abschwung, um Mehren und Mindern, um Top und Tiefe geht, sondern dass wir Christen, die man auch „Nazarener“ nennt – besonders da, wo sie verfolgt werden –, ganz, ganz anders, unerwartet, unerklärlich, unerschrocken, unerschütterlich glauben, lieben und hoffen dürfen.
Kein Mensch, der dem lebendigen Gott gehört, kann nämlich so weit unten, so abgestürzt, so reingefallen sein, dass dort im Abgrund der letzte Punkt für ihn wäre.
Nein (fängt mit „N“ an!)! Niemals (fängt mit „N“ an!)! Neu wird alles werden (fängt mit „N“ an und hört damit auf!)!
Es gibt für die, die auf Jesus Christus getauft sind, eine Perspektive, die sich immer und überall in einem einzigen Wörtchen ausdrücken lässt, einem Wort, das Luther – so wie er es gerne tat – ab und zu in die Bibel eingefügt hat, auch wenn es zunächst gar nicht da stand. Nicht immer hat Luther in seinen Einfügungen Recht gehabt, aber wenn er das Wörtchen „Dennoch“ wählt, dann trifft er ins Schwarze, trifft in die Wirklichkeit, trifft hoffentlich auch in Euer Herz!
„Dennoch“ zu sagen, heißt die Freiheit zu kennen, die nicht nur Wachstum und Welken, sondern auch die dritte Dimension umfasst: Dass Gott mitten in allem Guten und Bösen und allem Schönem wie Schlechtem zum Trotz wirklich ist und Wunder tut, … noch und noch, neu und neu!
Dass es nie so anders und nie so furchtbar, aber auch nie so langweilig und nie so alltäglich zugehen wird in Eurem Leben, dass Ihr nicht sagen könntet „Dennoch bleibe ich stets an Dir, Gott!“: Das ist mein größter, tiefster Wunsch für Euch.
Sagt Euch dies „Dennoch“: Gegen allen Zweifel und gegen alle Gewöhnung.
Sagt Euch dies „Dennoch“: Wenn Ihr Sorgen habt und genauso wenn Ihr mal selbstzufrieden werdet.
Sagt in der Krise „Dennoch“ und sagt‘s wenn Ihr feiert … und manchmal ist das ja zur gleichen Zeit.
Sagt es oben und unten, sagt’s in Glück und Leid.
Denn auf dem schönen Buchstaben „N“, der gleich doppelt darin vorkommt, werdet Ihr schließlich ja in die neue Welt hinauf geführt, in die Nähe, ja, in die Gegenwart Gottes, Der es hört und Der es wahrmacht, was Ihr jetzt konfirmiert, also bekennt (Ps.73,23):
„Dennoch bleibe ich stets an Dir, HERR, denn Du hältst mich bei meiner rechten Hand, Du leitest mich nach Deinem Rat und nimmst mich am Ende zu Ehren an!“
AmeN!
15.So.n.Trin., 20.09.2020, Stadtkirche, 1.Mose 2, 4 - 25, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 15.n.Trin. - 20.IX.2020
1.Mose 2, 4 - 25
Liebe Gemeinde!
Erst ist der Staub: Das ist der Mensch.
Dann ist der Garten: Das ist die Welt.
Dann ist der Auftrag: Das ist der Bund.
Dann endet die Einsamkeit von Menschenfleisch und -bein: Das ist die Liebe. ——
Und aus diesen vier Quellen, die reicher und tiefer sind als Pischon und Gihon, als Euphrat und Tigris strömt alles, was die Schöpfung und Geschichte Gottes und seiner Erde ausmacht:
Mensch und Welt und Bund und Liebe sind Ursprung und Ziel der geschaffenen, uns heute noch vertrauten Wirklichkeit. Zusammen ergeben sie das, was Gott wollte.
… Und es ist die wunderbarste Sicht auf unseren Planeten, die man je gehört hat und die man jemals hören wird.
Selbst wenn wir die frohe Botschaft von Jesus Christus, der liebt bis in den Tod und aus dem Tod heraus liebt, nicht hätten: Schon der Schöpfungsbericht Israels würde uns erkennen lassen, dass Gott der Gott des Evangeliums ist. Denn auf den Eröffnungsseiten der Bibel und der Welt erscheint etwas, das kein Volk, keine Kultur, kein einzelner Mensch sonst kennt: Eine Welt ohne Angst.
Den anderen Religionen und Mythologien der Menschheit ist die Natur dunkles Geheimnis: Überwältigende Gewalt, die sich in den Schrecken vieler Gottheiten, den Kämpfen vieler Mächte, den Forderungen vieler Gebieter ahnen lässt, aber umgeben von Rätseln und durchdrungen von Feindschaft.
Ein Garten, in dem das nackte Tier auf zwei Beinen nicht das schwächste Glied, sondern der geistige Bezugspunkt aller Kreaturen ist, weil es jedes Wesen ansprechen, weil es jedes Wesen durch Nennung aus der Unheimlichkeit befreien und in den Kreis des Urvertrauens ein-gliedern darf, … ein Garten, in dem der Mensch nicht Jäger, nicht Gejagter, sondern Rufer und Entdecker sein darf, bis er zuletzt sogar sich selbst im anderen finden und Liebe fühlen darf … ein solches Bild der Welt ist einzigartig fromm und schön!
Die Titanenkämpfe und phantastischen Zeugungen, die listigen Patente und tragischen Fabeln, denen der unsichere Stamm der Menschenkinder auf halbem Weg zwischen Himmel und Hölle sonst seine Zwitterstellung neben Bestien und Dämonen verdankt, trüben die Harmonie des biblischen Schöpfungsglaubens nicht im mindesten.
Statt der Gärung und Spannung, die andere Mutmaßungen dem Menschenwesen einschreiben, schildert die Überlieferung des Glaubens einen Ursprung unseres Geschlechtes, der Solidarität – „Von Staub bist du genommen“ – und Verantwortung – „Bebaue und Bewahre!“ – mit dem selbstverständlichsten Frieden verbindet: „Sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau und schämten sich nicht.“———
Auf dieser Stufe abgeklärter, balancierter, ganzheitlicher Kosmologie, in der Mensch und Schöpfung als durch das Wort Verbündete koexistieren, beginnt also das Zeugnis, dem wir Christen verpflichtet sind nachzuleben. —
Wenn das klar ist, dann verstehen wir, warum die gegenwärtige Stunde der Welt eine unvergleichliche Schicksalswende des Christentums ankündigt. …
Vielleicht muss man es aber noch einmal klarer sagen: Das, was in unserer Zeit geschieht und was so viele von uns als nervtötendes Thema der Grünschnäbel beiseite wischen oder als emotionale Politisierung von Kirche, Schule und Gesellschaft abwürgen wollen, um zur sog. „Vernunft“ zurückzukehren, … das bezieht seine Bedeutung für uns Christen nicht aus irgendeiner Ideologie, einem Zeitgeist, einem Trend, sondern aus der Grundlage unseres Glaubens!
Wenn wir erkennen müssen, dass die ersten Seiten der Bibel vor unseren Augen und durch unser Zutun und unser Unterlassen ausradiert werden, dann stehen wir nicht vor Nebenfragen, sondern wir hören den Zünder, der das Zentrum sprengen und uns (wenn überhaupt) zu Zeugen einer rauchenden Ruine, einer klaffenden Leere, eines monströsen Kraters machen wird.
Der Garten Gottes, das Werk der ersten Liebe wird abgeholzt und verbrannt.
Der Mensch verrät seine Berufung.
Es geht zu Ende mit der Schöpfung des Beginns.
„Und siehe, es wird sehr leer …….“ ———
Aber so darf man doch nicht predigen! So etwas will kein Mensch hören!
…… Ich weiß.
… Ich ja auch nicht.
Doch erstaunlicherweise warnt die Bibel seit den Tagen des Elija, und dann seit den Tagen des Amos, des Jeremia, des Johannes und schließlich auch des Mannes aus Nazareth … erstaunlicherweise warnt die Bibel stets und ständig nur vor der Hellseherei und nicht vorm Schwarzmalen! Die Hellseher, die Beschwörer und bezahlten Optimisten sind zu allen Zeiten die Priester Baals gewesen, die verzapften, was man gern hört, weil’s das Gewissen betäubt und den Schlaf befördert. Solche Ohrenbläser der Entwarnung, solche Pillendreher des „Nur-halb-so wild“ waren immer die Lieblinge der Gemeinde. Sie haben goldene Kälber und saftstrotzende Götzen und Götzinnen propagiert; sie haben in Frieden gelullt und Kompromisse gesegnet; sie haben den Kult der praktischen Notwendigkeit und der Göttin der Vernunft gefördert und wacker gegen alle Schwärmer der Umkehr und Erneuerung gekämpft; sie haben sich mit jeder Großmacht und jeder Schlüsselindustrie in’s Bett gelegt und die Anrufung des armen Sankt Florian derart zur Weltreligion pervertiert, dass ihr Gebet um die eigene Verschonung und die Katastrophe im Haus der Fremden ganze Kontinente verbindet; und so strahlen sie bis heute im milden Heiligenschein derer, die großzügig Bequemlichkeiten zugestehen, während die Unruhestifter Gottes in einem fahlen Zwielicht erscheinen, als neideten sie andern bloß deren Komfort, wollten Wohlstand willkürlich vernichten und unschuldige Sektlaunen mürrisch verderben.
Indes: Popularität und Wahrheit sind zweierlei Maßstäbe, und die eine kann süß den Tod bringen, während die andere trotz ihrer Bitterkeit zur Rettung dient.
Gehen wir also nicht dem Geschmack auf den Leim, den eine Botschaft haben mag, sondern suchen wir ihren Gehalt … und wenn er noch so schwerverdaulich wäre.
Jene, die uns heute die Ruhe rauben mit den nüchtern wissenschaftlichen, aber auch mit den parteiisch leidenschaftlichen Warnungen, dass die Rückabwicklung der schönen Schöpfung Gottes sich rasend beschleunigt, sie sprechen die Sprache der wahren, der ungeliebten Propheten. Mit dem ungeliebtesten und radikalsten der Boten Gottes kann man die weltliche Predigt von der ökologischen Passion durchaus als eine Abwandlung jenes „Wortes vom Kreuz“ verstehen, das „denen, die verloren werden, eine Torheit ist“ (vgl.1.Kor.1,18).
Und so muss man den Widerhall dessen, was jede Zeitung, jeder Forschungsbericht, jeder Gang übers Feld und jeder Weg durch den Wald uns nahebringen, leider Gottes in jenes helle, heile Bild der Welt ohne Angst zurückverfolgen, mit dem unser Glaube beginnt:
Diese erstaunliche Harmonie, in der der Mensch aus Staub und die von ihm angesprochene Kreatur dem großen „Es werde!“ klingende Antwort gaben, ist zerrissen.
In den unvorstellbaren Bränden, die den wasserreichen Wald, aus dem wir alle unseren Atem schöpfen, verkohlen lassen, … in den ungebremsten Fluten, die vor Trockenheit dürstende Landstriche plötzlich ersäufen, … im fernen Zerstörungswerk, das das ewige Eis aufbricht, … in den Knochenlandschaften, die auf dem Meeresboden erstarren, wo vor Kurzem noch ungesehene Farbvielfalt blühte, … in allen diesen Folgen des menschlichen Vernichtungsfeldzugs gegen die anderen Gestalten seiner eigenen Geschöpflichkeit leidet Gott!
Das ist keine Naturreligion und keine romantische Häresie – obwohl man sich gewiss fragen kann, was die Eichendorffs Amazoniens und die Caspar David Friedrichs der pazifischen Inselwelt jetzt für Schmerzenswerke schaffen mögen.
Dass aber Gott wirklich mit jeder der unzähligen Arten an Lebewesen, die wir auslöschen und in jedem der unwiederbringlich verlorenen Lebensräume, die wir verwüstet haben, einen Schmerz erleidet, der zurückreicht bis in jene Anfänge, als Er weckte, was jetzt stirbt, das kann jeder ermessen, den der Geist der Schöpfungsgeschichte je berührte.
Die Freude Gottes an Seinem Werk, … die Großzügigkeit, in der Er uns Menschen die Freiheit gab, tatsächlich heimisch und zum Hüter in einer Welt zu werden, die sich nicht uns verdankt, … das Vertrauen, das Gott in Augenmaß und Gehorsam Seines Ebenbildes setzte, das in Eden doch so spürbar nicht die Macht, sondern die Liebe suchte … alle diese Frühlingsgefühle und Freiheiten der neuen Welt sind uns in schrecklicher Eindeutigkeit inzwischen zum Opfer gefallen.
… Tatsächlich wiederholt sich in der Schändung der Natur, ohne die wir doch nicht leben könnten, das Ereignis von Golgatha, wo der Lebendige selbst der blinden Brutalität des Menschen ausgeliefert war, der zerstört, was ihn erhält. ———
Wozu dann aber noch die Geschichte von Eden lesen und hören und in den herrlich unschuldigen Liedern von Neander (EG 504) und Spitta (EG 510) besingen, wenn wir doch nur ihren verzerrten, panischen Nachhall in den furchtbaren Statistiken und ausweglosen Sackgassen unserer Gegenwart aufschnappen und uns eingestehen müssen, dass wir trotz knallharter Erfahrung immer noch bloß butterweiche Antworten auf den Zusammenbruch des so kunstvoll auf einander abgestimmten Systems der ganzen Schöpfung haben?!
Wozu an Gottes Eden erinnert werden, wenn wir bloß das von uns selbst versalzene Sodom bewohnen?
– Weil wir Christen sind!
Wir sind die, die dort, wo andern die letzte Schwäche und die tiefste Nacht begegnen, die stärkste Kraft erkennen und den hellsten Mut schöpfen sollen.
Wenn uns tatsächlich die Erzählung vom Anfang aller Dinge heute als ein Karfreitagsbericht anmutet und wenn wir in Eden anstelle des Baumes der Erkenntnis und des Lebens das Kreuz erblicken, das Kreuz der geschändeten und gemarterten und verlassenen Kreatur …, dann kann dieser schmerzhafte, aber uns ja nicht fremde Anblick uns nicht entmutigen, sondern nur wecken und wappnen!
So wie Gott durch die Schöpfung die Schönheit der Welt und die Sorge für sie und die Liebe zu ihr mit dem Menschen geteilt hat, so ist auch das Leid der Welt geteiltes Leid, … geteilt mit Dem, Der ausgerechnet als der Gekreuzigte gerade nicht zum Besiegten, sondern zum Befreier wurde. Die Kreuzigung löste ja nicht die endgültige Auslöschung des göttlichen Lebens, sondern schließlich die Überwindung des menschlichen Todes aus.
… Doch nur wer die Augen vor der Passion nicht verschließt, kann erfahren, was Ostern bedeutet.
In gleicher Weise müssen wir heute also schonungslos die Schuld und den Schrecken, die Ursache und den selbstzerstörerischen Wahnsinn der Schöpfungsvernichtung betrachten und bekennen, wenn wir als Christen zu Zeugen dessen werden wollen, was stärker als die Todesmächte in der Menschheit ist.
Ohne die klare Erkenntnis des Unheils, das wir verüben, dringen wir keinesfalls durch zur rettenden Erlösung von dem Bösen, das uns treibt.
Wenn wir also weiter leugnen, was der Mensch aus Staub der Welt antut, die unter seiner Obhut doch gedeihen soll, … wenn wir das weiter leugnen und verdrängen, dass wir allen Kreaturen und unserm eignen Fleisch und Blut ein Golgatha bereiten, dann ist das, was wir nicht einsehen, das Ende.
Verschließen wir aber unsere Augen nicht mehr vor der Passionsgeschichte, die sich heute ereignet, dann setzt die Einsicht in die Wahrheit Hoffnung für Eden frei:
Sehen wir das Kreuz, so sehen wir das Heil.
Gestehen wir unsere Schuld, beginnt der Weg der heilenden Gnade.
Kehren wir um, dann werden wir leben (vgl. Hesekiel 18,32 / EG 589). ——
… Nicht als sei dann ein märchenhaftes „Sesam-öffne-dich“ zurück zum mythologischen Ursprung gefunden.
Aber das, was Eden war, ist ja trotz allem noch gar nicht unwiderruflich vergangen:
Der Staub – der Mensch! – , … der Garten – die Welt! – , … unser Auftrag – der Bund! – und die Hoffnung, nicht allein zu sein – die Hoffnung der Liebe! – … sie alle reichen doch in’s Hier und Heute; sie sind die Quellen, zu denen wir zurückkehren müssen als zu dem Strom, der von Eden ausgeht.
Die Schöpfung geht darin weiter.
Wenn wir sie so fortleben wollen, wie Gott sie schuf, ist alles noch da: Wir müssen die Kreaturen, ihre Kostbarkeit und ihr Leid nur in Worte fassen und nennen, wir müssen an ihrem Kreuz nur unser Fleisch und Bein erkennen, damit das wunderbare Werk Gottes aus dem Schatten des Todes in das Licht Seiner Zukunft reicht:
Wo Mensch und Welt verbunden sind und keine Angst sie quält.
Wo wir mit Recht zu Gott wieder sprechen dürfen wie die Braut des Hohen Liedes (4,16c): „Mein Freund komme in seinen Garten!“
Amen.
13.So.n.Trin., 06.09.2020, Stadtkirche, Apostelgeschichte 6, 1 - 7, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 13.n.Trin. - 6.IX.2020
Apostelgeschichte 6, 1 – 7
Liebe Gemeinde!
Wer glaubt, die Deutschen seien Vereinsmeier und G’schaftlhuber, die zu allem eine Uniform und Hierarchie bräuchten, kennt den weltweiten christlichen Erfindungsreichtum nicht, wenn’s um die Schaffung von Wichtigkeitsbestätigung geht. Die Stufen und Verästelungen der kirchlichen Ämtervielfalt sind eine Wissenschaft für sich. Ob das die Metropoliten und Erzpriester, die Archi- und Subdiakone, die Akolyten der Orthodoxie oder die Weih- und Suffraganbischöfe und Pfarrvikare und Pastoralreferenten der katholischen Kirche sind: Überall kann man einen herrlichen Artenreichtum seltener Vögel beobachten.
Falls wir uns aber selbst mal wieder für unverdächtig halten sollten, so sind die süddeutschen Dekanate und Prälaturen, die hannöver‘schen Sprengel, die preußischen Generalsuperintendenturen, die Konsistorialräte und die Präsides nur ein willkürlicher Auszug aus der freien Wildbahn und dem hohen Tierleben der evangelischen Kirche. Und wer - wie ich - angelsächselt, weiß dass der Schlussstein aller Pyramiden kirchlicher Gewalt und Herrlichkeit ein umstrittener Ort ist, der entweder den Flower- oder den Church-coffee-ladies gebührt – wobei ganz anglikanische Gemeinden auch noch die Damen berücksichtigen müssen, die die schönen Kniekissen sticken, ausbessern und an den einzig bestimmungsgemäßen Platz in der Bank zurücksortieren.
Das Amt macht den Christenmenschen. … So könnte man frotzeln.
Oder die Apostelgeschichte lesen.
Und feststellen, dass es gar nicht so lächerlich, sondern entscheidend ist, dass die Kirche genau das kennt und seit dem Ursprung, von dem heute die Rede ist, auch weitergibt: Ihre Ämter. ———
Ein wenig sind wir vielleicht ja doch alle Kinder der 68er oder einfach unbedarfte Rheinländer, wenn wir immer wieder meinen, es ginge auch ohne den organisationssoziologischen Ballast echter Ämter. … Ein bisschen Klüngel, ein bisschen „Schaumermal“, ein bisschen Anarchie und ein bisschen kreatives Chaos müssten die Sache eigentlich doch auch wuppen.
Aber just so laissez-faire ruckelt sich das menschliche Leben meistens doch nicht zurecht. Und das eigentliche kreative Chaos, aus dem die ganze Welt stammt – jener unbeschreibliche, ungeformte und unstrukturierte Ur- und Allzustand des noch Ungewordenen, den die Bibel als das „Tohuwabohu“ des Anfangs beschreibt – lehrt uns etwas ganz Erstaunliches über die kirchlichen Ämter.
Denn dieses malmende und kreisende Chaos, in dem alles nichts und nichts etwas war, wurde eben nicht sich selbst überlassen, sondern über und in ihm schwebte und durch alle seine Fluktuationen und Wirbel hindurch schimmerte der Geist Gottes (vgl.1.Mose 1,2).
Dieser Geist Gottes aber ist – manche mögen’s bedauern – kein kiffender, mühelos entspannter, halluzinatorischer Rauschzustand, in dem alles möglich wird, sondern der Geist Gottes ist die wirkende, die werkende, ja, die technische Kraft der Gestaltung, der Bildung, der Formung, der Schöpfung der Wirklichkeit.
Gottes Geist ist die Tat-Kraft, die aus Dingen Wesen, aus Versuchen Bleibendes, aus Ungefährem Klarheit, ja, die aus Wirrem Wahres macht.
Gottes Geist also ist in höchstem Maße praktisch, tatkräftig, eigentlich müsste man sogar sagen: Gerade Gottes Geist bringt die handwerkliche Verwirklichung des Wortes „Es werde“ zustande. Der Geist, der über der Tiefe des Abgrunds brütet und allem seine gewollte Struktur gibt; der Geist, der „künstlich und fein uns bereitet.“
Warum das wichtig ist im Blick auf die Ämter? Weil sich diese praktische Fähig- und Fertigkeit, durch die Gottes Geist sich zeigt und die er verleiht, bei der ersten Beauftragungen, der ersten Geistübertragung, von der die Bibel spricht, erneut bestätigt. Da heißt es im zweiten Buch Mose (31,2f / 35,30f): „Der HERR sprach: Siehe, ich habe mit Namen berufen Bezalel … und habe ihn erfüllt mit dem Geist Gottes, mit Weisheit und Verstand und Erkenntnis und mit aller Geschicklichkeit …“; doch was war dieser Bezalel, der erste Empfänger eines Pfingstgeschenkes, der erste feierlich Begabte und Begeisterte: War er ein glühender Prediger, ein eifriger Richter, ein tugendreicher Heiliger oder Herrscher? … Nein, er war Handwerker, war der Architekt und Bauleiter der Stiftshütte, des ersten provisorischen Gotteshauses auf dieser Erde.
Der Geist Gottes ist also der Geist der Kunstfertigkeit und der schöpferischen Materialbearbeitung; er weckt den Kulturkeim in der menschlichen Natur und führt die Hand, die aus einem ungeschlachten Rohstoff – Erz, Stein oder Holz – etwas Schönes schafft. Gottes schöpferischer Geist, der im Anfang die chaotische Natur geordnet hat, treibt also auch die Kultur, die Zivilisation hervor, die aus dem rohen Zustand der Menschheit den schönheitswilligen und -fähigen, den absichtsvoll die Welt gestaltenden Menschen macht.
Und setzen wir diese Linie fort – vom strukturierenden zum zivilisierenden Werk, das Gottes Geist hervorbringt – so setzen wir auch die alte Linie fort, die vom Wahren zum Schönen zum Guten führt.
Und kommen damit zum dritten Chaos, das dem Tohuwabohu-Chaos der Kreatur und dem unbearbeiteten Zustand der stofflichen Welt folgt: Es ist das ganze brodelnde und blubbernde und ungefüge Durcheinandergären im Menscheninneren. Da, wo die Bedürfnisse und die Nöte, die Angst und die Begierden jedes Menschen ihr eigenes „Tohuwabohu“ ergeben und die Welt im Kleinen nach dem Geist Gottes schreit, der auch sie sicher werden lässt und schön macht. ——
Gewiss: Das ist nun allerdings eine weite Anreise gewesen – vom kosmischen Urzustand über die Anfänge der Kultur –, um bei der Unordnung und Unzufriedenheit, bei der Unübersichtlichkeit und dem Durcheinander der Urgemeinde in Jerusalem zu landen. Dort hatte nach Pfingsten ja tatsächlich so etwas wie eine neue Kreatur begonnen. Massen, die von einer starken Anziehung, einer geheimnisvollen Urkraft bewegt und in erstmalige Zusammensetzungen gebracht worden waren: Die Treuen aus Galiläa und die in Jerusalem schon von Christus selbst Bewegten und die auswärtigen, die fremden Menschen, die nach der Geistausgießung am Wochenfest nicht nach Partien, Medien und Elam, nicht nach Mesopotamien und Kappadozien, nicht nach Phrygien und Pamphylien (vgl. Apg,2,9ff) oder wohin sonst auch immer zurückgekehrt waren, sondern die blieben, weil das Wunder der damals im Feuer geborenen und sich langsam abzeichnenden Gemeinschaft der auf den Gekreuzigten und Auferstandenen Getauften sie nicht mehr in ihre alten Leben zurückfinden ließ. Die Menschheit schien umgeschmolzen werden zu sollen; eine nie dagewesene Verbundenheit versprach, sich im versöhnten, verbrüderten, vergeschwisterten Miteinander der Jesus-Jüngerschaft herauszukristallisieren.
Dass ein solcher Transformationsprozess, eine solche Metamorphose der bisher einander fliehenden Kräfte Israels und der anderen Kulturen der Welt nun aber chaotische Züge trägt, dass es Reibung und Funkenflug zwischen diesen und jenen, dass es Zusammenstöße und schmerzhafte Reaktionen gibt, wenn derart unverbundene Elemente einen stabile Aggregatzustand suchen, ist wenig überraschend.
Die judenchristliche Urgemeinde, in die noch gar keine wirklichen Heiden wie später in Korinth und Philippi, in Ephesus und Rom gehörten, sondern nur Judenchristen aus der Provinz, aus den Parteien der Davidsstadt und aus den vielen Diasporasiedlungen Israels, wo auch Nicht-Juden sich dem Gesetzesbund vom Sinai anschlossen, … diese judenchristliche Urgemeinde schien implodieren zu sollen. Hunger, Neid und Misstrauen stauten sich in ihr an.
Und die schwächsten Glieder – die nicht-einheimischen Witwen, die in der Stadt Jerusalem zunächst keine Fürsprecher hatten – waren der Auslöser einer bedrohlichen Krisenreaktion: Ihr wirkliches Leid wäre beinah der Zündfunke geworden, dessen Explosion die Kirche atomisiert hätte, noch ehe sie ein belastbares Gebilde hatte werden können.
Vor dem Ernst dieser Lage versteht man daher vielleicht, dass die ersten Jünger Jesu etwas Gewagtes und doch darin gerade Angemessenes taten:
Für sie war die Lösung des Problems der Unvereinbarkeit so drängend, dass sie ihr eigenes Unvermögen dazu eingestehen mussten. Sie konnten und wollten das Wort Gottes weitergeben, aber wie man die Unzusammenhaltbaren an einen Tisch bringen könne, entzog sich ihrer Weisheit. Und darum baten die ursprünglichen Jünger des Herrn um einen neuen Beweis des Geistes und der Kraft … und überließen die Realisierung dieser Suche nach Menschen „voller Geist und Weisheit“ dem Votum der Gemeinde selber. ———
Das nun ist also der Ursprung des ersten im Neuen Testament geschilderten Amtsverständnisses: Es geht in der Unübersichtlichkeit und im Gedränge des zwischen- und des innermenschlichen Lebens mit seiner sozialen Not, seinen körperlichen Belastungen, seinen politischen und privaten Unrechtserfahrungen um die Kunst des Richtigmachens. Der schöpferische Geist der Genesis, der auch der Schön-Geist in aller menschlichen Kultur ist, will als der gute Geist der Nächstenliebe konkret, praktisch, feinfühlig, unbestechlich dem Recht des Menschen und seinen Ansprüchen zur Geltung und zur Wirklichkeit verhelfen.
Das ist das tätig wirksame Diakonen-Amt, das Dienst-Amt göttlicher Weltgestaltung, durch das der Heilige Geist nach der Ordnung der Welt und ihrer Ästhetik auch ihre Ethik hervorbringt.
Tatsächlich kommt dieser geistgewirkte Dreiklang des Guten, Wahren und Schönen, der auch die griechische Philosophie erfüllt, in der kirchlichen Wahl und Beauftragung von sieben hellenistisch erzogenen Juden – das verraten uns ja ihre Namen: Stephanus, Philippus, Prochorus, Nikanor, Timon, Parmenas und Nikolaus – … tatsächlich kommt dieser Dreiklang des Wahren, des Schönen, des Guten in der Geburtsstunde der kirchlichen Ämter, der Geburtsstunde der Diakonie zur vollen Entfaltung.
Die Kirche Jesu Christi ist das Organ, durch das der Heilige Geist seine direkte und tatkräftige Kunst und Fähigkeit einsetzen will, Leere und Mangel mit seinen Gaben zu füllen, Sinnloses in Sinnvolles umzuwandeln und Zerstörerisches zu Konstruktivem zu machen.
Die Ämter, die der Heilige Geist in der Kirche ausprägt und die nach dem Wunsch der Apostel aus der Mitte der Gemeinde besetzt werden sollen, indem die Apostel selbst durch Handauflegung wie Jesus es bei den Kindern tat (vgl.Mk10,16) die Gottesbindung der Berufenen bekräftigen, sind praktischer Natur und sollen wirksam sein.
Durch ihre im Heiligen Geist ausgeübten Ämter dient die Kirche nämlich dann dem Schöpfungs-, dem Erlösungs- und dem Vollendungswerk Gottes, wenn die Ämter den großen Drei-klang befördern:
Alles, wodurch Menschen im kreatürlichen Leben gesegnet werden, … alles, was die irdische Schöpfung kultiviert und den von Gott geordneten weltlichen Lebensraum verschönt, … alles, was der Not und dem Leiden auch nur eines einzigen Menschen abhilft, … alles das ist ein Werkzeug des Geistes Gottes und seiner Weisheit.
Wenn die Berufenen und Begabten, die Lebens- und die Seelenkünstler, die Handwerker der Nächstenliebe und die Bauarbeiter der besseren Welt im Auftrag des Geistes sein Werk als ihr Amt umsetzen, dann treten sie in die Nachfolge, in die apostolisch gewollte und gesegnete Sukzession der sieben Diakone von Jerusalem, die das Chaos der Frühzeit durch ihren Dienst an den Menschen zu gedeihlichem Gemeindewachstum wandelten.
Und ob solche apostolischen Nachfolger in den Ämtern des weltbewegenden Geistes dann Kissen aufschütteln oder Mauern niederreißen, ob sie den Hungrigen bei den Tafeln Speise oder in den Künsten Trost und Gotteslob zukommen lassen, ob sie in der Sterbebegleitung oder im Kindergottesdienst das Heil von Anfang bis Ende des Daseins vergegenwärtigen, ob sie in der Gemeinde die Kasse oder den Keller ordentlich halten, ob sie Fenster oder Seelen putzen, ob sie Blumengestecke arrangieren oder den bunten Strauß der Ökumene liebevoll versammeln: Wenn diese vielen Ämter nur durch den einen Geist den Menschen allen zugutekommen, die doch ohne das Schöne, das Wahre, das Gute nicht leben können, … nun, dann kann es gar nicht genug Ämter in der Gemeinde Jesu Christi geben, Ämter, die ihm durch den Geist Ehre machen, … Ehren-Ämter für Gott im Dienst an den Seinen!
Wer also noch kein Amt hat, der bitte den Heiligen Geist darum!
Damit wir bald eine Gemeinde des allgemeinen Priestertums und des ebenso allgemeinen Diakonats sein möchten!
Amen.
12.So.n.Trin., 30.08.2020, Stadt- und Jonakirche, 1.Korinther 3,9-17, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 12.n.Trin. - 30.VIII.2020
1.Korinther 3, 9 – 17
Liebe Gemeinde!
Bei einem Bauunglück in den Tagen Jesu wurden an der sudöstlichen Stadtmauer Jerusalems achtzehn Menschen getötet. Ein Turm an der Teichanlage von Siloah – vielleicht der Pfeiler eines Aquädukts – stürzte ein und begrub dabei womöglich fast zwanzig Arbeiter unter sich, womöglich aber auch nur zufällige Passanten oder Straßenvolk.
Die Zeitgenossen damals beschäftigte eine andere Sensationsmeldung aber gerade noch mehr – ein Massaker in Jesu Heimat –, und sie eilten auf der Suche nach Erklärungen so sinnloser Katastrophen zu ihm (vgl.Lk.13,1-5).
Ohne Erfolg: … Eine einfache Erklärung, eine glatte Auflösung des uralten „Warum“-Rätsels verweigerte Jesus ihnen schlicht. Vielmehr wies er bei der Frage, wie man denn ein Blutbad an Unschuldigen verstehen solle, auf den blutigen Un- und Zufall auf der Baustelle von Siloah. Und wenn man genau zuhört, ist es damals sogar Jesus selbst, der damit angesichts so schauerlicher Nachrichten die Sinn-Frage stellt, nur um sie zu für absurd zu erklären: „Meint ihr, dass die Opfer schuldiger waren als andere? Ich sage euch: Nein. Wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle so umkommen.“ ———
Das ist die schwärzeste Botschaft des Neuen Testaments.
So schonungslos klar und trostlos konsequent kennen wir Jesus am liebsten nicht. Er soll uns doch - bitte schön! - beruhigen, und wenn die Menschheit ihn auch anstrengt, so soll er schließlich doch seufzen und sagen: „Geh’ hin, dein Glaube hat dir geholfen“. Er soll am Ende der täglichen Schreckensnachrichten aus aller Welt das Betthupferl des irgendwie Versöhnlichen vermitteln. Wenn wir nämlich überhaupt noch auf Jesu Stimme achten, dann weil wir ihn beschwichtigen hören wollen: „Alles wird gut!“ …….
Nun. Die Wahrheit ist: Niemand kann uns sagen „Alles wird gut“.
… Niemand, als Jesus allein. Er sagt es auch tatsächlich. Er sagt es, weil er es ist, … er ist das gute Ende aller Dinge, weil er das Alpha und das Omega ist, … der, der da ist, der da war und der da kommt (vgl.Offb.1,8).
Aber – und das schreit danach, dass wir es endlich auch wieder wahrnehmen! – … aber Jesu Versprechen, dass es endlich gut mit allem Bösen werden und recht nach allem Unrecht zugehen wird, ist uns nicht zur Beruhigung, sondern zur Beunruhigung gesagt.
Denn der große, schwere, kranke Widerspruch zwischen „Es wird alles gut“ und „Es ist alles gut“ … den müssen wir wieder als den Ort unserer Wirklichkeit und als die Aufgabe unserer Bewährung erkennen.
Es ist nämlich gar nicht alles gut. Im Gegenteil: Die Welt ist es nicht und wir in ihr sind’s nicht. Die Weltwirklichkeit, in der wir alle miteinander leben, ist vielmehr mit etwas zu vergleichen, das wie der Turmsturz von Siloah ein symbolisches Unglück voller Hinweise auf uns alle sein könnte: Beirut.
Beirut, wo die Mächte einen faulen Burgfrieden im Interesse der eigenen Ungestörtheit einhalten, bei dem keine Gerechtigkeit für die Vielen herrscht und man sich nicht fragt, welche Vernichtungskräfte unbekümmert und ungeschützt mitten unter den Leuten vor sich hin gammeln.
… Und sich schließlich wundert, wenn die ungehindert schleichende Gefahr hochgeht.
Das giftige Düngemittel, das wir seit langer Zeit sorglos herumliegen lassen, ist die fahrlässige Meinung, es müsse keine Wahrheit geben[i].
Den Wahrheitsverzicht konnte man in den letzten zwanzig, dreißig Jahren tatsächlich in der Welt ausstreuen und dabei den Eindruck erwecken, alles gedeihe nun besser: Wenn es keine absolute Wahrheit gibt, dann muss man sich auch nicht um sie streiten. Wenn niemand auf die Wahrheit aufpasst, niemand sie sucht, gibt es auch keine Konflikte mehr darum. Jeder kann seinen eignen Willen hegen, die Welt nach eigenem Gutdünken umgraben, das Leben ganz nach eigenem Belieben behandeln, benutzen, verbrauchen. Die Gleichgültigkeit gegenüber Wahrheitsfragen ist das beste Mittel gewesen, um in jüngster Vergangenheit wenigstens im Westen keine schmerzhaften Unannehmlichkeiten vom Zaun zu brechen. So haben wir unseren kleinen Libanon gezüchtet, in dem allem Anderen das Interesse vorgeordnet ist, dass man bloß nicht streitet, sondern die Dinge so lässt, wie jeder Einzelne sie gern hätte.
Bis es knallt.
Die Explosion ist geschehen. Die Explosion der Wahrheitsschlamperei, von der wir noch benommen, ja betäubt sind.
… „Kann das sein?“, fragen wir uns. „Kann das sein, dass in einer durchsichtig gewordenen Welt, in der alle alles von allen wissen, sehen und erfahren können, alles undurchsichtig geworden ist?
Kann das sein, dass tatsächlich die Lüge das stärkste Mittel in Demokratien wird, die eben noch für Freiheit und Vernunft standen?
Kann das sein, dass trotz der vollständigen Informationsmöglichkeiten der Technik die reine, schamlose Unwahrheit siegt?
Kann das sein, dass man vor aller Augen Giftanschläge begehen und es nicht gewesen sein kann?
Kann das sein, dass man mit der Kirche der Heiligen Weisheit in Istanbul machen kann, was man will und es die heilige Weisheit der Kirche in aller Welt kaum anficht?
Kann das sein, dass die Menschheit ihre unlösbar schicksalhafte Gemeinsamkeit so deutlich wie nie vor Augen sieht und mit einem blinden Trotz der Vereinzelung reagiert?
Kann das sein, dass Verschwörungswahn und Selbstmitleid mit dem kritischen Dringen auf Denk- und Redefreiheit so trübe Mischungen, so unverantwortliche Quengelwettbewerbe eingehen?
… Kann so viel Lüge, so viel nackte Provokation des einfachen Menschenverstandes, kann so viel Unsinn, so viel Denkfaulheit und geistige Selbstbeschränkung wirklich vorherrschen, wo einst Kant und Hegel den Geist, Alexander von Humboldt und Max Weber das Handeln, Carl von Ossietzky und Marion Gräfin Dönhoff die Meinungsbildung aufgeklärt, erhellt und unabhängig gemacht haben?“ ————
Damit nun niemand einwenden möge, wie billig es ist, nur auf die Lügen, die Märchen und Halbfalschheiten der Masse und ihrer Rattenfänger und aller anderen Gegenweltler zu zeigen, muss der Finger aber selbstverständlich auch auf uns selbst gerichtet werden.
Wenn wir nämlich nicht Buße tun, werden wir genauso wie die Achtzehn von Siloah auf dem Schrottplatz unserer pseudochristlichen Erfindungen und unter dem Schutt unserer morschen kirchlichen Lügengebäude begraben werden. ……. ———
…. Schon recht gehört.
Hier wird gelogen! Hier gibt es Fake Theology. Hier kann man dem nicht trauen, was man doch von allen Seiten und in schönster Harmonie hört:
Eine der großen, gefährlichen Täuschungen unserer Tage ist die schillernde Illusion von der Gesundheit, die über alles sonstige gehe.
Das sagen mir Eltern bei jedem Taufgespräch, dass sie sich nichts anderes für ihr Kind wünschen, weil doch Gesundheit die Hauptsache sei; und da ich genauso beschränkt und von Natur aus geistlos bin, widerspreche ich nicht, denn instinktiv denke ich gar nicht anders und habe im Übrigen gut reden. Also das Pseudoevangelium von der Kindes- und der Volks- und Systemgesundheit, das in den letzten Monaten eine solche überragende, ausschließliche Rolle gewonnen hat: Alles andere ist zweitrangig. Sola sanitas! Seelsorge, Verkündigung, Gotteslob und Unterweisung sind Nebensache. ……. Hauptsache nicht krank!
Natürlich weiß ich, was gemeint ist. Natürlich soll nicht dem roulettespielenden Leichtsinn, dem Egoismus oder der unsolidarischen Arroganz derer, die sich nicht berührt sehen, das Wort geredet werden. Und trotzdem gilt: „Gesund ist nicht alles“! … Welcher Hohn ist ein solcher Satz in den Ohren derer, die’s nie waren oder nie mehr werden. Welche Irrlehre, wenn gerade die Kirche dessen, der sich zu den Kranken und nicht den Gesunden gesandt weiß (vgl.Mk2,17), sich hinter solch einem Schlagwort völlig falscher Priorität versammelt und zusieht, wie Menschen mit Krankheit dadurch plötzlich auf der anderen Seite landen, wo das real ist, was der törichte Anspruch des Vorrangs der Gesundheit ausschließen will.
Vor die Wahl gestellt, würde ich meine Kinder und wen ich liebe jedenfalls nicht vor allem physisch gesund sehen wollen, … sondern in Ewigkeit selig. ———
Doch es gibt noch eine fatalere Kirchen- und Kanzellüge.
Weitverbreitet.
Populär bis zum Populismus. Das ist die wahnwitzige Halbfettbutterwerbungs-Banalität des „So wie du bist“.
Überall schwappt es einem kirchlich entgegen: So wie du bist, bist du recht. Gott kann sich dich gar nichts anders vorstellen, als gerade so wie du bist – …. der arme Einfältige! Dein Du-Sein ist überhaupt der Clou. Bleib so. Nichts muss sich ändern. Alles ist in Butter – wenn’s auch nur Margarine wäre. Denn du bist „okay“. Und natürlich ich auch[ii]. So wie ich bin.
… Das indes soll das Evangelium sein?! Phantasiefreie, alternativlose Bestätigung des Ist-Zustandes.
… Wer so Politik machen wollte, müsste von Rechts wegen schon bangen, ob eine so zu-kunftsvergessene Parole nicht alle Merkmale geistlos lähmender Langeweile erfüllte.
Dem aber, der das Himmelreich mit dem Ruf „Tut Buße!“ nahegebracht (vgl.Mk1,15) und ausgerufen hat „Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden; was wollte ich lieber, als dass es schon brennte!“ (Lk12,49), … dem kann man in einer solchen Haltung der Selbstzufriedenheit wahrlich nicht begegnen! Er ist gekommen, damit die Welt brandneu und der Mensch von den alten Fehlern und Zuständen frei werden kann! Er hat den Grund gelegt zu jener Verwandlung aller Dinge, die wir das Reich Gottes nennen. Mit ihm hat begonnen, was als die Ewigkeit einst alles Wirre und alles Wüste, allen Horror und allen Hass beseitigen und bleibendes, blühendes Leben schaffen wird: Wie irre wären wir da doch, wenn wir glaubten, er wolle an uns das zementieren, was ist! Nein! Er ändert uns!
… Und wir ändern uns, wenn wir in seine Nachfolge, in seine Nähe kommen und mit ihm dem Anbruch der endgültigen Erneuerung der Wirklichkeit entgegenleben.
Diese Wirklichkeit, auf die wir vertrauen und an der wir mitwirken sollen, wenn wir die Angst und die Engigkeit des Menschen, der wir bisher waren, hinter uns lassen und unser Herz und unsere Hoffnung erweitern, bis sie Raum für die neue Welt Gottes bieten[iii], … diese Wirklichkeit, die auf Jesus beruht als ihrem einzigen Grund und die darum alles andere verändert, sie ist jene Wahrheit, die wir in der Kirche am liebsten ummodeln zu einer billigen Beruhigungsbotschaft.
Doch so kann man nicht auf dem Grund bauen, der in Christus gelegt ist.
Wenn wir die fundamentale Gewissheit, dass die Liebe Christi nicht vergeht und dass niemand uns jemals von ihr scheiden kann (vgl.Rö8,35ff), missverstehen als die Ewigkeitsgarantie unseres Egoismus, unserer Gewohnheiten, unserer Eitelkeit und Feigheit, dann wird eine unhaltbare Fehlkonstruktion aus dem Glauben.
In Jesus Christus ist Gottes Liebe uns zugewendet nicht, weil wir so sind, wie wir sind, sondern trotzdem. Und sie haftet nicht an unserm jetzigen, sondern sie befreit unser zukünftiges Wesen.
Nicht die Brüchigkeit des Rohres, nicht die Unsauberkeit des Dochtes (vgl. Jes.42,3a), von denen der Wochenspruch redet, sind es, die Gott erhalten will, sondern was immer an uns einknickt, soll begradigt, was rußt und die Welt verdunkelt, soll gereinigt werden, damit es hell und heil sein kann.
Und darum ist – noch so eine (und für heute die letzte) zu benennende und zu beseitigende Unwahrheit unserer Verkündigung – … darum ist das Verschweigen des göttlichen Feuers keine Wohltat, sondern eine Unterlassung durch uns zeitgenössische Prediger.
Dass es ein Feuer gibt, in dem viele unserer Eigenschaften und Unarten, in dem unsere Verstockung und unsere Gewissenlosigkeit schmelzen müssen, unterschlagen wir heute grundsätzlich: Zu sehr fürchten wir, der alte Schwefelgeruch, mit dem man früher die Hölle heiß machte, könne eine moderne Gemeinde verschnupfen.
Doch um den feurigen Pfuhl geht es gar nicht, sondern um eine Energie, die unerlässlich ist, um alles, was wir verbauen und verhindern, zum Tanzen zu bringen und umzugestalten. Es ist das Feuer, durch das hindurch wir gerettet werden können.
Eine Hitze, von der die Bibel sagt, hier, in dieser feurigen Glut brenne die Flamme des HERRN (Hohes Lied 8,6): Diese Hitze, Glut und Flamme ist die Liebe.
Die Liebe Gottes, die verzehrt, was an uns falsch und böse ist. Die uns nicht lässt, wie wir eben gerade sind. Die uns nicht kalt lässt. Sondern ansteckt mit einer Kraft, die immer schon feurig erschien: Der Kraft des Heiligen Geistes, der uns zu Gottes Tempel, Gottes eigenem Aufenthalt umgestaltet.
Wenn wir uns also endlich wieder auf die Wahrheit einlassen, dass wir anders werden müssen, wenn wir Gott gehören wollen, dann wird sie uns verändern!
Nicht ohne Schmerzen, nicht ohne Prozesse des Verlustes und Verlassens.
Aber so, dass schließlich auch unser Leben aufbaut auf dem Grund der großen, heilsamen und endgültigen Veränderung, die Jesus Christus bringt: Das Ende der menschlichen Selbstsucht und das Wachstum in der versöhnenden, gerechten, rechtfertigenden Liebe.
Alles andere – ein Leben nach der Melodie „Ich will so bleiben wie ich bin“, ein Leben ohne Wahrheitssuche, eine Gottesbindung ohne das Feuer Seiner uns umschmelzenden Liebe – … alles andere ist der Turmbau von Siloah.
Es wird einstürzen und uns unter sich begraben.
Aber wir dürfen anders, frei und neu werden, weil nicht wir bleiben, wie und was wir sind, sondern bloß der Grund, auf dem wir selbst und Gottes Reich für immer feststehen werden: Jesus Christus!
Amen.
[i] So schwer es meiner Generation auch fallen mag: Der vor zwanzig, dreißig Jahren in den „postmodernen“ Diskursen gefeierte Abschied von starren Wahrheitskonzepten zugunsten der dekonstruktiven Sinngebungspotentiale endlos produktiver, autonomer Deutungen zeigt jetzt seine fatale Seite. Sinn, Konsens und Objektivität – die Kategorien, von denen die Postmoderne sich löste – sind abgelöst worden. Vom Wahn restlos subjektiver Weltformeln und einer pathologisch kommunikations- und kompromissverweigernden Wirrnis der selbstermächtigten Erkenntnisse.
[ii] Man muss die gedanken- und geistlosen Lieder nicht zitieren, die mit solchen Botschaften der bedingungslos unkritischen Stabilisierung eines persönlichen, psychischen und gesellschaftlichen Status-quo erfolgreich sind, den der Heiland und Erlöser der Menschen doch gerade verwandeln will. Der alte Paul Gerhardt mit seinem „An mir und meinem Leben / ist nichts auf dieser Erd …“ (vgl. EG 351,3) wirkt da ungleich dynamischer und in seiner Entwicklungstoleranz offener als die Opioide, die wir so harmlos verabreichen!
[iii] Karl Barths taufrisch wirkender Vortrag – „Die neue Welt in der Bibel“ – von vor über hundert Jahren verdient es, immer wieder gelesen zu werden – und in Auszügen zitiert: „Wer ist Gott? Der himmlische Vater! Ja, recht. Aber der himmlische Vater auch auf der Erde, und auf der Erde wirklich der himmlische Vater! Der das Leben nicht will spalten lassen in ˶Diesseits̏ und ˶Jenseits̏! Der es nicht dem Tod überlassen will, uns von Sünde und Leid frei zu machen! Der uns segnen will, nicht mit Kirchenkräften, sondern mit Lebenskräften! Der in Christus sein Wort hat Fleisch werden lassen! Der die Ewigkeit für die Zeit und wahrhaftig schon in der Zeit hat anbrechen lassen – denn was wäre das für eine Ewigkeit, die erst ˶nachheȑ käme! Der nicht irgend etwas im Sinn hat, sondern die Aufrichtung einer neuen Welt!“ (K.Barth, Die neue Welt in der Bibel, in: ders., Das Wort Gottes und die Theologie – Gesammelte Vorträge, München 1924, S.31.
Israelsonntag, 10.So.n.Trin., 16.08.2020, Stadtkirche, Römer 11,25-32, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 10.n.Trin. - 16.VIII.202
Römer 11, 25-32
Liebe Gemeinde!
Von Mysterien redet man als heutiger evangelischer Christ eher nicht: Geheimnisse lüften wir ja, Rätsel lösen wir, Probleme nennen wir „Herausforderungen“, Rückschläge nennen wir … „Herausforderungen“, … Unerklärliches und Unglückliches und sogar Schreckliches nennen wir … – na eben! – „Herausforderungen“, und in dieser permanenten Herausforderung unserer mentalen und technischen Fähigkeiten, die immer schärfer schließen und schneller schießen und genauer ansetzen müssen, wird die Wirklichkeit zwar nicht weniger sprung- oder rätselhaft, als sie es immer schon war, doch wir bauen sie ab: Schreckliches wird erklärt (… und tut immer noch weh), Unheil kann man berechnen (… und es ist trotzdem auch weiter das Ende so vieler Dinge), Tiefes und Böses wird entmythologisiert (… und es verdunkelt die aufgeklärte Welt dennoch wie eh und je) ……. wir können so viel und ändern damit so wenig! … Oder ist irgendjemandem kühler geworden seit wir genau wissen, wie wir die Welt erhitzen?
Nur die Mysterien, die schaffen wir ab, indem wir rationale Scheinlösungen, technische Ersatzwunder, algorithmische Pseudoangebote erzeugen, wenn das Leben uns herausfordert.
… Worauf aber Hoffnung ruhen soll, wie man sich mit Schuld belädt und damit ohne Lüge leben kann, was den Tod überwindet und wo wir einmal sein dürfen, wenn nichts mehr ist: Diese Grundfragen der armen, zähen, entschlossenen und doch ohnmächtigen Menschheit … die laufen vor lauter illusionären Lösungen ins Leere. —
Dagegen Paulus, der wagemutige und geistesgegenwärtige Pionier, dem wir es verdanken, dass es weltweites und nicht nur bibelländisches Christentum gibt, … Paulus bekannte und Paulus verkündete auf seiner Mission ohne die Anmaßung, sie erklären zu können, überall „Mysterien“ … und er nannte sie auch so. Das Mysterium der Sünde und das Mysterium des Heils – an denen wir rettungslos scheitern müssten, wenn wir sie als unseren Denksport betrachteten –, … das Mysterium des Kreuzes und das Mysterium der Auferweckung – Not-Wendiges, auf das kein menschliches Genie verfallen wäre –, … das Mysterium des Gnadenwillens Gottes und Seiner Gnadenwege: Sie alle hat Paulus den Menschen mitgeteilt. … „Gelöst“ aber hat er keines von ihnen.
Denn das ist ja ihr Wesen, dass wir in ihnen dem begegnen, das unsere Horizonte übersteigt und uns dennoch nicht bedroht, sondern aus dem Staunen in den Frieden führt, der sich auftut, wo man nicht über allen Dingen steht, sondern vertrauensvoll in ihrer Mitte oder an ihrem Rand, jedenfalls aber als ein Teil des unermesslichen Ganzen ruht. ——
Das heutige Mysterium aber bleibt beunruhigend.
Jedenfalls für uns.
Es heißt Israel.
Nichts Beunruhigendes hat Israels Zukunft: Über dieses „Geheimnis“ – griechisch eben: „mysterion“ – hat Paulus schon vor zweitausend Jahren die Gemeinde in der heidnischen Welthauptstadt aufgeklärt. Israels Zukunft ist in keiner Weise ungewiss oder verborgen.
Wo Gottes Liebe den Anfang bezeichnet – bei Seinem erwählten Volk ebenso wie bei der Erschaffung Seiner ganzen Welt, da der Kosmos und Israel sich ja wie das Rad und die Nabe vom Ursprung her in einer gemeinsamen Form und Bewegung befinden – … wo Gottes Liebe also den Anfang bezeichnet, da ist das Ziel unzweifelhaft genau diese Liebe.
Das können und sollen wir heute im Blick auf die kritische Situation in Nahen Osten ebenso wie auf die krisen-, ja katastrophenhafte Lage der Erde und des Lebens auf ihr festhalten:
Gott hat alle eingeschlossen in das Rätsel, in die Symptome und Folgen des Ungehorsams, damit Er sich aller erbarme! ——
Doch was dazwischen geschieht, was sich in Israels langer und erst recht, was sich in Israels jüngster Vergangenheit ereignet hat, das ist so unverständlich wie es unverzeihlich ist, wenn wir von denen reden, die das geliebte Volk Gottes haben leiden lassen. Und was sich in der derzeitigen Geschichte der gesamten Schöpfung zuträgt, fällt unter das gleiche Urteil: Unverzeihlich und unverständlich. … Aber niemals – auch nicht in der Nacht der Vernichtung – ist es ein Grund, an der Berufung und den Gaben Gottes, an Seiner Kraft, die allein Entstehung und Vollendung bewirkt, zu verzweifeln. ——
Welche Rolle jedoch wir – die Zeitgenossen des eben noch preisgegebenen Israel und der gesamten verratenen Kreatur – spielen, das lässt sich einfach nicht erklären, weil darin die Gefahr des Verstehens und im Verstehen die Täuschung der Nachvollziehbarkeit läge.
Wer aber tatsächlich nachvollziehbar (!) darstellen und damit rechtfertigen würde, was die Christen an Israel getan haben oder der moderne Mensch an der Natur, der würde sich in Schuld und Lüge verstricken müssen, weil es unmöglich ist begreifbar zu machen, dass eine Kirche, die den Römerbrief kannte, Pogrome und Endlösungen der Judenfrage stillschweigend oder gar beteiligt ertrug, … genauso wie es unbegreiflich ist, dass eine Menschheit, die Vernunft und Wissenschaft besitzt, dem Brandopfer, dem Holocaust, zu dem alles Lebendige wird, nicht Einhalt gebietet. —
Es ist diese schreckliche, aber unzweifelhafte Rätselhaftigkeit, es ist das Geheimnis, dass wir nicht verstehen können, was wir doch selber tun und was durch uns selbst geschieht, die in unseren Tagen das Mysterium Israel ausmacht – vielmehr als das Rätsel des Ungehorsams, des nicht-christlichen Glaubens der jüdischen Gemeinde.
Weil’s aber Wahnsinn und Frevel wäre, wenn ich jetzt Logik, wenn ich Erkenntnis, wenn ich Verständliches predigen würde in Anbetracht dessen, was wir nicht begründen und nicht beschönigen, was wir nicht entschärfen und nicht bewältigen können, … darum nimmt die Meditation des mysteriösen Weges, auf dem Gott die volle Zahl der Menschen retten und triumphierende Barmherzigkeit durchsetzen wird, nun eine andere Richtung.
… Barock, rokokohaft wendet sich der Blick.
… Nach oben, wo man vor drei Jahrhunderten die Decke sich plötzlich einfach von den Gebäuden lösen ließ, wo man das Gebilde von Menschenhand, die Bauwerke der menschlichen Kunst nicht mehr selbstgenügsam abschließen, nicht mehr krönen wollte: Der Rahmen über dem, was die Menschen errichten, verschwindet in jener von uns als verspielt, ja verkitscht empfundenen Zeit. Und Wolken und Engel, Sphären und Sonnen, unendliche Offenheit und wimmelnde Weite tun sich auf, wo früher die Rippen des Gewölbes und der Schlußstein die Zielstrebigkeit und das Fertigwerden der Bau-meister bewiesen.
Unter diesen dachlosen, diesen endlosen, unter diesen unabschließbaren Überwelten des Barock bin ich Freund strenger Romanik und trockener Backsteingotik in den letzten Wochen also mit verrenktem Hals, mit protestantischem Zweifel, orientierungslosem Glotzen … und schließlich immer leichter und luftiger werdender Freude daher spaziert.
Und ob ich nun skeptisch und überlegen in Oberammergau oder in der Wieskirche, im Kloster Ettal oder auf der Birnau, in Meersburg in der Schlosskapelle oder in jener auf der Mainau den Kopf in den Nacken legte oder ob es sonstwo in Dorf- und Abteikirchen zwischen Bayern und der Schweiz war: Immer verlor sich der Blick in der selben, für einen evangelischen Pfarrer befremdlichen Aussicht.
Doch mit der Zeit hat dieser Sog, den da die naiven Lüftelmaler und die raffinierten Rokokokünstler nach oben ins herrlich Endlose und endlos Herrliche erzeugen, etwas in mir gelöst.
Denn die, die dort immer und überall im Herzen der rauschenden Himmelswelt aufsteigt, die auf Wolken oder einfach nur im Lichtglanz alle Schwere hinter sich lässt und uns die immer wunderbarere Freiheit der sichtbar erscheinenden Gottesnähe zu spüren hilft, … wie schwer hatte sie sich doch getan.
Sie ist die Tochter Zion, sie ist die jüdische Mutter.
Das junge Mädchen, das kaum begreifen kann, was Gott mit ihr gemeinsam anfängt.
Sie ist es, in der sich alles Heilige verkörpert, was Israel liebt: Die Prinzessin Sabbat, die in jeder Synagoge und jedem jüdischen Haus umworben und empfangen wird wie eine Braut, die paradiesische Unschuld und Heiterkeit mit sich bringt, weil mit ihr die Weisheit, die Geisttaube, der Hauch der Gottesnähe wenigstens für einen Tag von sieben verbunden ist.
… Aber wie ist ihr das Lachen so schnell vergangen.
Ein Schwert ging durch ihr Herz, als sie ihr Kind schon am achten Tag wieder in einen viel größeren Rahmen als den ihrer Mutterträume gehoben sah (vgl. Lk2,35).
Und sie hütete die Hoffnung ebenso wie die Angst, die das Kind in ihr weckte (vgl. Lk2,51).
Und sie schützte ihn, als er hilflos war, nur um zu erleben, wie er sie schon mit zwölf Jahren ein erstes Mal vergaß und verließ (vgl. Lk2,49).
Wer kann der Tochter Zion, wer kann der jüdischen Mutter verdenken, dass ihr Jesus ihr Kummer machte?
Und wer kann ihr nachfühlen, was sie empfand, als er dann schlicht aus dem Vertrauten, das sie ihm sein wollte, aufbrach und ein Leben führte, das fremd und unerhört, das frei, aber auch feindselig wurde?
Er trennte sich von ihr und wollte statt ihrer Andere in seiner Umgebung haben: Denn alle, die das Wort seines Vaters hören und den Willen dieses Vaters tun, sollten jetzt seine Mutter und sein Bruder sein (vgl. Mk3,35//Lk8,21).
Und die jüdische Witwe, von der die traurigen Wiegenlieder in den Ghettos so voll waren, die Mutter, deren Sohn auf und davon zog und sie nicht mehr brauchte, scheinbar auch nicht mehr kannte und ehrte … wie bitter wurde es ihr, dass es ihr Fleisch und Blut war, das sich da so gegen sie zu wenden schien.
… Es ist das Mysterium Israels verdichtet in einer einzigen Menschengestalt.
Der Konflikt, die Enttäuschung, die Entfremdung, die diese Mutter durchlitt, als ihr geliebter Sohn sich von ihr abwandte und allen anderen zu …, die sind auf die Jahrhunderte verteilt genau die Ursache dessen, was Paulus die „Verstockung“ Israels nennt. Die Erfahrung, dass das Evangelium Feindschaft bringt, ja, dass – in Jesu Worten – „des Menschen Feinde seine eigenen Hausgenossen sein werden“ (Matth10,36) hat sich in Israel geradezu bestätigen müssen: Er gehört doch ihnen, sie haben ihn hervorgebracht, ihr Erbe und ihre Verheißung wachsen heran und strahlen hervor in ihm, doch er bricht so ohne Umschweif aus der Gemeinsamkeit aus, dass sie wirklich bitterste Wut und herbste Zweifel packen können … und kaltes Grauen.
… Bis er den schrecklichen Weg geht, den Israel nur allzu gut kennt, den es vor ihm und nach ihm immer schon, immer wieder so grauenvoll trostlos und hilflos ziehen musste.
Da sind sie wieder beisammen.
Da steht die Tochter Zion unter dem Kreuz und leidet, leidet, leidet alles, was er leidet.
Da ist es wieder: Das Mysterium Israel. Sie sind in aller Trennung und allem Zwiespalt, in die seine unendlich weite Liebe sie stürzt – eine Liebe, deren Weite ja gerade uns gilt!, die gerade uns rettet! – … sie sind in alledem doch eins.
Um unseretwillen geschieht das!
Um unseretwillen geschieht, was der jüdischen Mutter und ihrem geliebten Sohn, dem geliebten Sohn Gottes, widerfährt.
Ich will euch dieses Geheimnis nicht verhehlen, so hat es der Apostel gesagt. ——
Und auch das Geheimnis, das Mysterium nicht, das die süddeutschen Freskenmaler in allen ihren wunderbar offenen Kirchenhimmeln zeigen und das die katholische Kirche gestern ohne biblischen Beleg, aber mit aller biblischen Hoffnung als „Mariä Himmelfahrt“ gefeiert hat:
Die jüdische Mutter, der Schoß, aus dem er stammt, das Volk, zu dem er gehört: Ihr Platz ist in Ewigkeit ganz und gar bei ihm!
… Wie könnte es anders sein?!
Wie könnte seine Mutter nicht bei Christus in seiner Herrlichkeit den Platz haben?!
Wie könnte ganz Israel nicht gerettet werden?!
Nicht stellen und erst recht nicht auflösen lässt sich diese rhetorische Frage, sondern nur anbeten als das Mysterium Gottes, Der Sich aller erbarmt!
Amen.
9.S.n.Tr., 09.08.2020, Jer.1 4-10, StK+MhK, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
der Lesungs- und Predigttext, der für den heutigen Gottesdienst vorgeschlagen ist, der hat es in sich und vor allen Dingen: er trifft mitten hinein in unsere Zeit. Die 2500 Jahre, die uns von dem Autor bzw. Protagonisten Jeremia trennen, fallen da kaum ins Gewicht. Vielmehr zeigt die Geschichte, die mit der Gestalt Jeremias lebendig und anschaulich wird, verblüffende Parallelen zum Zeitgeschehen heute auf.
Damit wir nicht den Überblick verlieren, möchte ich die Gedanken, die mir dazu gekommen sind, jeweils unter ein Stichwort stellen:
Was ist Prophetie?
Um was geht es, wenn wir von Prophetie sprechen, was ist damit gemeint und was gerade auch nicht?
Es ist nicht gemeint, dass die Zukunft vorhergesagt wird, dass angekündigt wird, was sich genau ereignen wird.
Prophetie ist keine Wahrsagerei.
Prophetie zeigt vielmehr auf, was möglich ist unter schonungsloser Betrachtung dessen, was ist und aufgrund des Bewusstseins, dass es eigentlich - vor Gott, vor dem Gewissen - immer um ein gutes Leben auf dieser Erde gehen soll.
In diesem Sinne gibt es nicht nur in den abrahamitischen Religionen Prophetie, sondern auch in den anderen. Denn in den Gesellschaften aller Zeiten gab und gibt es Krisen, die dazu auffordern, sich Klarheit zu verschaffen darüber, auf welchem Weg man sich befindet - woher man kommt, wo man steht - und wohin es geht oder gehen sollte, weil das besser wäre.
Und damit wären wir bei der Frage
Was ist ein Prophet / eine Prophetin?
In der Bibel finden sich eine ganze Reihe, deren Namen uns bekannt sind, in der Mehrzahl Männer, aber es gab auch Frauen wie die Prophetin Hulda.
Prophet oder Prophetin ist kein Ausbildungsberuf, den man sich aussucht. Die Existenz als Prophet ist im wahrsten Sinne des Wortes „Berufung". Gott ruft; er ruft an - offensichtlich auch viele Personen, die mit Religion intensive Berührung haben, Priesterkinder wie eben Jeremia, aber auch aus völlig kultfernem Leben (Amos war ein Schafzüchter). Aber immer ist es ein Ruf heraus: heraus aus dem Alltag, heraus aus dem sozialen Umfeld, heraus aus jeder Sicherheit und Bequemlichkeit. Ein Prophet war Außenseiter. Er war gerade nicht auf einem „Selbstverwirklichungstrip", er wollte nicht Prophet sein, sondern er musste es sein. Er vertrat nicht seine Sache, sondern Gottes Sache. Und weil das immer zu einem Zeitpunkt war, wo Gefahr im Anmarsch war, etwas, womit die meisten Zeitgenossen nicht gerne konfrontiert werden, war das nicht mit Wertschätzung, sondern mit Aggression und Abwehr verbunden. Viele namenlos gebliebene Propheten haben ihren Dienst mit ihrer Gesundheit und gar mit ihrem Leben bezahlt. Auch die Lebensgeschichte von Jeremia als Prophet ist in großen Teilen eine Leidensgeschichte.
Prophet zu sein, das war nicht erstrebenswert. Unheil anzusagen, sozusagen den Teufel an die Wand zu malen - nein Danke. Zumal ja andere Propheten oft genau das Gegenteil sagten und dafür gefeiert wurden, Geld und einflussreiche Positionen am Königshof erhielten. Und wer Recht hatte mit seiner Ansage, was die Zukunft wirklich bringen würde, das wusste ja keiner mit Sicherheit. Erst die ferne Zukunft würde zeigen, wessen Rede „Wort Gottes" war und wer seine eigenen Gedanken und Interessen verkündet hatte und so ein Lügenprophet war.
Erst viele Jahrzehnte nach seinem Tod - Jeremia wurde von seinen Landsleuten nach der endgültigen Zerstörung Jerusalems und des Tempels auf deren Flucht vor den Babyloniern nach Ägypten verschleppt und ist dort irgendwann gestorben - erinnerten sich seine Volksgenossen an ihn und seine Reden und hatten die Größe, die Schuld und das Versagen der geistlichen und politischen Führung Judas zu erkennen und zu bekennen, indem sie mit der Aufnahme des Jeremiabuches in die Heilige Schrift Israels sich selbst ein Mahnmal setzten: nur wer sich erinnert, begeht die gleichen Fehler nicht noch einmal. Und genauso wie Lukas die Geburtsgeschichte von Jesus - nach dessen erst einmal offensichtlichem Scheitern am Kreuz - seinem Evangelium vorgeschaltet hat, um so zu zeigen, dass Jesus von Anfang an Sohn Gottes war, so erzählt der Redakteur zu Beginn des Jeremiabuches von der Berufung des Propheten, mit der er deutlich macht, dass Jeremia es war, der seinerzeit das Wort Gottes ausgerichtet hat.
Was zeichnete Jeremia als „echten Propheten" aus?
„Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker." (V.5)
Wir können an den weiteren Versen ablesen, was einen „echten" Propheten auszeichnet, welche menschlichen (geistige und seelische) Qualitäten gerade Jeremia mitbringt:
„Ich aber sprach: Ach, Herr, Ewiger, ich tauge nicht zu predigen, denn ich bin zu jung." Jeremia will sich hier nicht vor der Aufgabe drücken, aber ihm kommen mit recht Selbstzweifel, ob er der Sache gewachsen ist. Ob man ihn denn hören wird, auf ihn hören wird - so ohne Lebenserfahrung. Er ist bei seiner Berufung 23 Jahre alt. Diese Selbstzweifel äußerte auch Mose, als ihn der Ruf Gottes zum Pharao nach Ägypten schickte: Ich kann doch nicht reden, ich stottere. Wie soll das gehen?
Doch genau das zeichnet den echten Propheten aus: er weiß um seine Schwächen, er ist nicht der große Macher. Er ist fähig zur Selbstkritik, unerlässlich, wenn einer glaubwürdig kritikfähig gegenüber anderen und seiner Umwelt sein will.
Und so lautet die Antwort Gottes: „Sage nicht, ich bin zu jung, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und alles predigen, was ich dir gebiete." Es geht nicht um dich, sondern um meine Sache, sagt Gott. Und weil er um all die Widerstände und allen Hass, den Jeremia wie jeder Prophet, jede Prophetin auf sich ziehen wird, weiß, versichert er ihn seiner bleibenden Gegenwart; er kann ihm die Unannehmlichkeiten, das Leiden nicht ersparen, aber er wird bei ihm sein: „Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der Herr."
Und noch eine Qualität wird in dieser Berufungsgeschichte sichtbar. Sie ist im 9.Vers zu finden - verborgen hinter einer eher befremdlichen, mysteriösen Aussage: „Und der Herr streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund."
Wie soll man das verstehen, ohne ins Phantastische zu entschwinden?
Offensichtlich hat Jeremia eine tiefe Erfahrung gemacht mit Gott. Er ist berührt worden von Gott. Ein außergewöhnliches Erlebnis, aber - davon bin ich überzeugt - doch keine einmalige, einzigartige Sache.
Ich frage mich, ob nicht bei jedem Menschen das Leben mit solchen Berührungen beginnt. Es gibt dafür ein ungewöhnliches, aber wunderschönes Wort: „Seinsfühlung". Mit dem Sein, dem Leben, mit Gott in Fühlung kommen. Ein alter Meditationslehrer (Graf Dürckheim) hat das so beschrieben: Es sind die selbstvergessenen Momente in unserer Kindheit, in denen uns solche Berührungen zuerst begegnen, uns mitgegeben werden - im selbstvergessenen Spielen im Sand, der einem durch die Finger rinnt, oder beim Betrachten einer Blume oder eines krabbelnden Insektes. Da wurden wir berührt von einer Freude, die nicht aus uns selbst stammte, waren raum- und zeitlos geborgen, fühlten uns eins mit uns und der Welt. Entscheidend ist, wie wir solche Erfahrungen deuten. Als kindische Träumereien, die man, um erwachsen zu werden und um als erwachsen zu gelten, ablegen muss. Oder als wertvolle Erfahrungen, die wir weiter einüben und pflegen sollten, denn sie sind wie Türen in eine Welt und Wirklichkeit voller Leben und Mitgefühl. Jeremia jedenfalls hatte wohl diese „Seinsfühlung" gepflegt, war empfänglich geblieben für den Anruf des Lebens, den Anruf Gottes.
Wie sehr gerade Jeremia sich allem verbunden wusste, das spiegelt sich auch im letzten Vers wider: „Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche..." Er ist gerade nicht nur der Prophet für Israel, für das Königreich Juda. Gott geht es nie nur um eine „besondere" Gruppe, sondern um alle seine Menschenkinder. Alles Tun oder auch Lassen hat Folgen nicht nur vor Ort, sondern weltweit, für alle. Dieser moderne Gedanke - hier ist er schon zu finden.
Der Inhalt der Botschaft - damals und heute
Dass die Existenz als Prophet wenig mit Lust, aber viel mit Last zu tun hat, das macht die göttliche „Dienstanweisung" deutlich: „Du sollst ausreißen und einreißen, zerstören und verderben und bauen und pflanzen." Immerhin, das Ziel ist etwas Heilvolles, Positives - bauen und pflanzen - aber der Weg dahin voller Gewalt und Zerstörung, voller Unheil. Und das wiegt zunächst einmal viel schwerer und trägt dem Boten keinen Beifall, sondern Ablehnung ein.
Liebe Gemeinde, was hat das nun mit uns heute zu tun? Haben wir nicht andere Probleme zu bewältigen als die Menschen in Juda vor 2500 Jahren? Sind das nicht heute Corona und Klimawandel, Flüchtlingskrise und populistische bis faschistische Egomanen in immer mehr Regierungen weltweit? Und gibt es sie überhaupt noch: Propheten oder Prophetinnen im Jahr 2020, wo doch gerade hier in Europa die Kirchen immer mehr an Mitgliedern und an Bedeutung verlieren?
Nun, ich denke, dass das Interesse Gottes an seiner Schöpfung nach wie vor da ist; dass er allerdings auch mit der Zeit geht und nach immer neuen Wegen sucht, die Menschheit an ihre Aufgabe zu erinnern, Bewahrer und Pfleger der Erde zu sein, sie als Lebensraum aller Kreaturen zu erhalten. Und so wird er auch wissen, dass es nicht mehr reicht, nur religiöse Menschen anzusprechen, sondern auch Menschen, die in anderen Bereichen des Geistes unterwegs sind. Zum Beispiel in der Medizin und in der Biologie, in der Physik und der Meteorologie. Nicht nur die Geisteswissenschaften, auch die Naturwissenschaften haben selbstverständlich eine Verbindung zum Geist Gottes. Und so sind es in unseren Tagen eben oft „Fachleute" aus den Wissenschaften, die die Funktion von Propheten übernommen haben - in Sachen Corona die Virologen zum Beispiel. Und sie erleben dabei wie Jeremia seinerzeit, dass Beifall und hasserfüllte Ablehnung dicht beieinander liegen. Sie können nur sagen, was sie vor ihrem Wissen und Gewissen verantworten können; wie die Zukunft wirklich aussieht, wissen sie nicht.
Und dann fällt mir natürlich Greta Thunberg ein, die als 14jährige Schülerin ganz einfach und ganz allein angefangen hat, gegen die drohende Klimakatastrophe zu protestieren - aus ihrer Verantwortung als Mensch heraus, in tiefer „Seinsfühlung" mit aller Kreatur. Die in der UNO in New York den Regierenden ins Gewissen geredet hat. Und natürlich: wenn wir diese Erde bewahren wollen, sie als Wohnstatt für die kommenden Generationen erhalten wollen, dann muss zunächst vieles ausgerissen und eingerissen werden, nämlich unsere derzeitige Weltwirtschaftsordnung, die alles dem Wachstum und der Gewinnmaximierung unterordnet. Und natürlich wird das nicht ohne Verwerfungen von sich gehen. Und wie die Zukunft dann aussieht, das weiß ja keiner. Und darum macht diese Veränderung so große Angst. Und deshalb stoßen Greta Thunberg und alle „Fridays for future"-Aktivisten auch auf so viel Hass, Häme und Unglauben. „Ich will, dass ihr in Panik geratet" - aber doch nur, damit es am Ende gut wird, damit weiter auf Erden gebaut und gepflanzt werden kann, damit Kultur und Natur versöhnt miteinander für die Menschen aller Völker und für alle Kreaturen auf dieser Erde Lebensmöglichkeiten bereithalten.
Was spricht eigentlich dagegen, dass wir gerade mit dem Wissen der prophetischen Texte unserer Bibel die „Fridays for Future"-Bewegung als Gottes Anruf an die Menschen in unserer Gesellschaft, ja weltweit verstehen und ihren Mahnungen und Aufrufen, ihrem Drängen nach Umkehr („Buße") folgen? Wenn wir in uns hineinhören, dann werden wir die Klarheit gewinnen, welchen Weg wir einschlagen müssen, und dann werden wir den Zuspruch hören: „Fürchte dich nicht vor den ganzen Schwierigkeiten, die dieser neue Weg mit sich bringt; denn ich bin mit dir und will dich erretten, spricht der Herr."
Von CD eingespielt:
„Lass deinen Mund stille sein, dann spricht dein Herz.
Lass dein Herz stille sein, dann spricht Gott."
Text: koptische Tradition; Musik: Helge Burggrabe HAGIOS
Pfingstsonntag, 31.05.2020, 2.Tim.,1,7, Jonakirche, Daniel Kaufmann
„Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Timotheus 1,7)
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.
Wir Deutschen sind in den letzten 80 Jahren 4 x Weltmeister im Fußball gewesen. Das ist schon was, aber nichts im Vergleich zu einer Weltmeisterschaft, in der wir Deutsche als absoluter Serien- und Abonnement-Weltmeister gelten. Die Disziplin, um die es dabei geht, ist nicht olympisch und findet sich auch sonst in keinem Guinessbuch der Rekorde. Allerdings ist sie im Bewusstsein aller Deutschen verankert. Und in allen anderen Ländern ist sie zu einem stehenden Begriff geworden.
Die Rede ist von der „Deutschen Angst“, die „German Angst“ hat sich weltweit als Markenzeichen durchgesetzt. Sie bezeichnet eine Denkweise, die dem Leben und seinen Herausforderungen mit einer großen Portion Skepsis und mit sehr viel Vorsicht begegnet. Und dem Wissen, dass alle Sicherheiten sich als trügerisch erweisen könnten und von jetzt auf gleich in Frage stehen können. Diese „German Angst“ ist oder soll doch zumindest etwas zutiefst Deutsches sein, wie man an kompetenter Stelle nachlesen kann. Sie verdankt sich der Katastrophenerfahrung des zweiten Weltkrieges und der Stunde Null danach, in der nichts sicher und gewiss war und niemand sich auch nur ansatzweise ein halbwegs positives Bild von der Zukunft machen konnte. Diese „German Angst“ ist uns nun schon 75 Jahre ein treuer und keineswegs langweiliger Begleiter. Denn sie verändert ihr Gesicht ständig und immer so, dass sie den Stoff für neue, ernstzunehmende und getrübte Wahrnehmungen bereithält.
Einer, der es genauer wissen wollte, ein gewisser Frank Biess, hat diesem Phänomen sogar ein ganzes Buch gewidmet: „Republik der Angst“ heißt das über 600 Seiten starke Buch, dass die politische und gesellschaftliche Geschichte der BRD auf der Folie dieser ganz besonderen Gemütsverfassung beschreibt. Die darin markierten Angstzyklen beginnen mit der Angst vor Vergeltung nach dem Krieg, direkt gefolgt von der Sorge, dass alle noch vorhandenen jungen Männer mehr oder weniger unfreiwillig in die Fremdenlegion rekrutiert würden. Es folgte die Angst vor einer weiteren katastrophalen militärischen Auseinandersetzung zu Zeiten des Kalten Krieges. Dann meldete sich Ende der 50-iger Jahre verstärkt die Angst vor Arbeitslosigkeit, dann kam die Angst vor einem autoritären Staat in den 60-iger Jahren. Die unzufriedene Jugend, die 68-iger gingen unter anderem deshalb auf die Straßen. Dann kam der Terror von Links durch die RAF. Die Sorge vor einem Atombombenkrieg ist mir noch von meiner eigenen Zeit bei der Bundeswehr Anfang der 80-iger Jahre in guter Erinnerung. Zeitgleich fürchtete man den Kollaps der Natur, der Club of Rome hatte schon länger durchblicken lassen, dass unser Wirtschaften ruinös für die Ressourcen dieser Erde ist. Dann kam zu Anfang des neuen Jahrtausends die zunehmende Angst vor dem Terror fundamentalistischer Islamisten. Dann die Angst vor dem Euro, vor dem Verlust des Ersparten in der Finanzkrise, schließlich die Angst vor den Flüchtlingen aus aller Welt, begleitet von der Angst der Wut- und Sorgenbürger mit und ohne rechten Hintergründen. Letztes Jahr wünschte sich Greta Thunberg, dass die Menschen angesichts der Klimakatastrophe in Panik geraten mögen. Zumindest Letzteres ist in den letzten Monaten eingetreten, wenn auch nicht wegen den verheerenden Veränderungen beim Klima, sondern wegen Corona.
Diese Fähigkeit, sämtliche Phänomene des Lebens mit Verlust, gestörtem Genuss, verkürzten oder auch verdorbenem Spaß, Lebensgefahr, Haar in der Suppe und apokalyptischen Weltuntergangsszenarien zu verbinden ist allerdings kein rein deutsches Phänomen. Es findet sich in den Grunderzählungen der Menschheit weltweit wieder. Die Bestsellerautorin und Philosophin Martha Nussbaum hat in einem vielbeachteten Buch („Königreich der Angst“) diese Angst in den zutiefst beunruhigenden Ausgeliefert- und Angewiesenheitserfahrungen aller Menschen in der frühen Kindheit ausgemacht. Jedes Baby erlebt sich in den ersten Tagen, Wochen und Monaten des Lebens als extrem hilflos, ausgeliefert und angewiesen auf Hilfe von außen. Damit verbunden ist das Grundgefühl der Verlorenheit und Abhängigkeit von Dingen oder Menschen, die man nicht beeinflussen oder kontrollieren kann. Diese „Traumata“ der frühen Kindheit gehören zu den Grunderfahrungen des Lebens, die von den Menschen auf sehr unterschiedliche Weise bewältigt, kompensiert und verarbeitet werden. Möglich also, dass wir Deutschen mit unserer „German Angst“ nicht ganz so exklusiv sind wie zuweilen behauptet. Die Intensität, mit der wir Deutschen diesem Phänomen immer wieder Raum geben, scheint indes doch nicht nur vom Himmel gefallen zu sein.
Heute, am Pfingstfest, wird eine Geschichte erzählt und zu Gehör gebracht, die dieser Angst, hoffentlich auch der „German Angst“ grundsätzlich und sehr rigoros zu Leibe rückt. „Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Schreibt der Apostel Paulus in seinem 2. Brief an Timotheus, Kapitel 1, Vers 7. Wenn Pfingsten einen Ehrenplatz im Festkalender der Kirchen verdient, dann weil es in einer ungemein zupackenden Weise der Angst und Furcht den Kampf ansagt. Und die Menschen an das erinnert, was gegen diese Angst und diese Furcht Abhilfe schaffen kann.
Der Heilige Geist ist hier Gold wert, hören wir. Konkret sind es 3 Eigenschaften des Heiligen Geistes, die helfen. 1. Der Heilige Geist ist ein Geist der Kraft. Im Griechischen steht das Wort „Dynamis“, das wir auch aus dem eingedeutschten Wort „Dynamik“ kennen. Gemeint ist jene Kraft, die dem Leben Ziel und Richtung, Energie und Ausdauer, im wahrsten Sinne des Wortes Power gibt. Diese „Dynamis“ spielt in der Pfingstgeschichte eine entscheidende Rolle. Die ersten Jünger hatten zunächst alles dicht gemacht, sich verschanzt hinter Schloss und Riegel. Es gab so eine Art Lockdown in Jerusalem. Und dann kam eben jener Geist der Kraft, der alles veränderte. Es folgten energische Schritte in die Öffentlichkeit. Zunächst noch auf Abstand, dann aber in einer Urgewalt, die ihresgleichen sucht. Nicht nur, dass da 3000 Menschen im wahrsten Sinne des Wortes begeistert waren, sich taufen ließen und ernsthaft beschlossen, ein neues Leben zu beginnen. Diese Kraft des Heiligen Geistes machte aus zögerlichen und zweifelnden Durchschnittsbürgern und Bedenkenträgern eine schlagfertige, unerschrockene Gruppe von Menschen, die nichts und niemanden fürchteten. „Wir müssen Gott mehr gehorchen als den Menschen“, sagten sie denen, die den Ton angaben und die meinten, mit Gefängnis, Folter und Drohungen Einfluss nehmen zu müssen. Dieses Konzept, sich auch gegen Unterdrückung und Einschüchterungsversuche gleich welcher Art zur Wehr zu setzen, bildete geradezu den Auftakt für eine beispiellose Verbreitung des Evangeliums rund um das ganze Mittelmeer. Und wenn man der einen oder anderen legendären Erzählung glauben darf auch bis nach Indien.
Es ist nicht so, dass die Apostel überall und jederzeit mit offenen Armen empfangen wurden. Die Listen von Repressalien und Zwangsmaßnahmen etwa bei einem Apostel Paulus sind beträchtlich und nicht ohne. Im 2. Kor. 11, 23ff. listet er auf: 5 mal 40 Streiche weniger einen bekommen, dreimal mit Ruten geschlagen, einmal gesteinigt, dreimal Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht auf dem offenen Meer getrieben, ausgeliefert der Gefahr unter Räuber, missgünstigen Zeitgenossen, Wutbürgern, falschen und heuchlerischen Geschwistern, bedroht durch Hunger Durst, Frost und Kälte. Aber das alles hat Paulus und die anderen Apostel nicht davon abgehalten, das Evangelium, die frohe Botschaft von dem heruntergekommenen Gott in die ganze damalige Welt zu bringen. Und die Gewissheit und Zuversicht im Leben und Sterben allem Volk zu verkündigen. Diese von Gottes Geist erfüllten Männer und Frauen sind nicht müde geworden, bevor nicht auch Kaiserswerth und Lohausen erreicht wurde. Zugegebener Weise über den Umweg der iroschottischen Mönche - unsere Vorväter und Vormütter waren wohl keine ganz leichten Zuhörer - aber dann eben doch noch mit bleibenden und bis heute anhaltenden Wirkungen.
Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft. Und der Liebe, und damit bin ich bei einem zweiten Punkt: 2. Das beste und wirkungsvollste Gegenmittel gegen die Angst ist die Liebe Man kann zwar nicht allein von Luft und Liebe leben, aber ohne Luft geht’s auch nicht und ohne Liebe ist man lebendig tot. Die ersten Christen waren ein Herz und eine Seele (Apg. 4,32). Sie waren verbunden durch die Agape, die Liebe, die sie im Gottesdienst feierten und im Alltag der Welt lebten. Sie entdeckten in diesem Miteinander die Kraft des Lebens. Diese Agape, diese Liebe hat Erstaunliches bewegt. Die ersten Christen konnten sich plötzlich und ohne Wehmut von ihrem Besitz trennen. Die ansonsten immer wichtigen Statussymbole, Marken und beglaubigten Urkunden, Abzeichen, Orden und Belobigungsorgien spielten nicht mehr die erste Geige. In der Literatur ist diese grundsätzlich neue Haltung als „Liebeskommunismus“ eingegangen, mit der immer etwas tadelnden Nebenbemerkung, dass der schon bald am Ende war, genauer: bei der nächsten Inflation viele mittellose Gemeindeglieder zurückließ. Also, die erste Christengemeinschaft war da vermutlich noch etwas naiv unterwegs, hatte keine hartgesottenen Investmentbanker und schlitzohrigen Börsenspekulanten, die über welche Kanäle auch immer den Besitzstand zu mehren verstanden. Immerhin ließ sich die Urgemeinde auch von diesen äußeren materiellen Einschränkungen nicht davon abbringen, „Liebesmahle“ und Kommunion zu feiern: Das Gemeinsame, die Mitte, die sich in J.C. und seinem Geist mit Gott ergab. Festgeschrieben und im Gedächtnis blieb und bleibt aus dieser Zeit jedenfalls: Niemand ist eine Insel. Die Gemeinschaft ist nicht zur Dekoration da. Sie findet in der gelebten Liebe einen lebenswichtigen Ausdruck. Diese Agape-Gemeinschaft ist extrem systemrelevant - und durch keine wie auch immer geartete professionelle digitale und virtuelle Realität ersetzbar. Wir sind auf ein Du hin geschaffen. Und die Liebe ist der Kitt, die Verbindung, der Stoff, der die Angst, der jegliche Angst überwinden kann. Martha Nussbaum empfiehlt das in ihrem viel beachteten Buch „Königreich der Angst“ immer wieder. Die Liebe vermag am ehesten und am besten unsere Angst vor dem Ende von was auch immer zu überwinden. „Das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes.“ Heißt es bei Oscar Wilde. „Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes“, hält der Apostel Paulus fest. (Römer 8) Denn die Liebe verbindet uns mit dem Leben schlechthin.
Der Geist von Pfingsten ist ein Geist der Kraft, der Liebe und, ein letztes: 3. Der Geist von Pfingsten ist ein Geist der Besonnenheit Das dürfte ein wenig überraschen: zu den bewegenden und verbindenden beiden ersten Eigenschaften kommt zur Ergänzung der Trias eine griechisch-römische Tugend, die „Sophrosyne“, lateinisch „modestia“, zu Deutsch: die Besonnenheit oder die Gelassenheit dazu. Jene Fähigkeit, die ja besonders unserer Bundeskanzlerin zugesprochen wird. Diese Besonnenheit ist nicht der Motor, auch nicht der klimatische Höhepunkt dieser Dreiheit, sondern markiert eher das Moment, das alles beieinander und aufeinander bezogen hält. Die Besonnenheit sorgt dafür, dass es einen respektablen Mittelweg zwischen Leisetreterei und Elefant im Porzellanladen gibt. Die ersten Christen haben das Evangelium nicht mit der Dampfhammermethode und nicht mit KO-Schlägen und auch nicht mit säuselnden und einschläfernden Narkotika verkündigt. Sondern in einem überzeugenden Maße mitreißend, ansteckend, so dass Pfingsten alle Menschen erreichen und sozusagen zu einer „Pandemie des Lebens“ werden konnte.
Von dieser pfingstlichen „Pandemie des Lebens“ brauchen wir zurzeit eine große Portion. Es braucht das Vertrauen in das Leben: Dass wir auch jenseits vom Lock und Shutdown leben können. Dass es jetzt nicht um „Rechthaben“ und „Alles richtig gemacht“ geht. Nicht um den Klassenprimus bei der Krisenbewältigung und die Goldmedaille bei der Corona- Olympiade. Die Versuchung ist groß und viele Gespräche haben hier auch eine entsprechende Schlagseite. Aber wenn diese Gesellschaft sich nicht in Grabenkrämpfe rechts, links und in der Mitte der alles beherrschenden Richtigkeiten verausgaben will, muss sie den Gemeinsinn in pfingstlicher Gemeinschaft neu einüben. Mit einer Besonnenheit, die das richtige Maß zwischen den durch allerlei Zweifel verminten Fakten, Fakes und Zahlenspielereien findet. Mit der Liebe, die im Nächsten wie bei der Geschichte vom barmherzigen Samariter den besten Umweg auf dem Weg zu einem tragfähigen Miteinander und damit auch zu Gott sieht. Und mit der Kraft, die ganz am Anfang von allem das Leben in Gang setzte und die mit ihrer schöpferischen Urgewalt auch unser Leben Stabilität und Dauer zu verleihen mag.
Möge Gott uns seinen Geist reichlich und in großer Fülle geben, den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit, der der Furcht und aller Angst eine Grenze setzt und dem Vertrauen ins Leben Raum gibt. Amen.
Fürbitten-Gebet
Barmherziger Gott
In unsere Welt voller Sorgen und Furcht Sende deinen Geist der Kraft und der Zuversicht
In unsere zerissene Welt voller Streit und Hass Sende deinen Geist der Liebe und des Vertrauens
In unsere Welt der übersteigerten Einseitigkeiten Sende deinen Geist der Besonnenheit und des Maßes
In unsere Welt der Rechthaberei Sende deinen Geist der Versöhnung
In unsere Welt der mutlosen Richtigkeiten Sende deinen Geist der mutigen Wahrheiten
In unsere Welt der Angst vor dem Unbekannten Sende deinen Geist der Gewissheit auf Leben
In unsere Welt der Verunsicherten und Zweifelnden Sende deinen Geist des Glaubens und der Verlässlichkeiten
In unsere Welt der halbguten Konfliktlösungen Sende deinen Geist der Weisheit und Einsicht
In unsere Welt des zu kurz Kommens und des Mangels Sende deinen Geist, der allen Menschen Leben in Fülle gibt
In unsere Welt der Verteilungsungerechtigkeiten Sende deinen Geist, der jedem das zum Leben Notwendige gibt
In unsere Welt der zahlreichen Fragwürdigkeiten Sende deinen Geist der gut belegten Eindeutigkeiten
In unsere Welt der unübersichtlichen Entscheidungsfindungen Lass uns deinem Geist vertrauen, der uns hoffnungslos zuversichtlich macht
In unsere Welt der Sprachlosigkeit Sende deinen Geist des Gebetes, der uns mit deinem Sohn sagen lässt: Vater unser im Himmel
Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.
Rogate, 17.05.2020, Luk.18,1-8, Jonakirche, Daniel Kaufmann
Liebe Gemeinde,
Wann sind Sie Gott zum letzten Mal so richtig auf die Nerven gegangen?
Wann haben Sie zum letzten Mal mit Gott um ihr Leben gefeilscht?
Wann haben Sie zum letzten Mal mit Gott einen „Deal" gemacht:
Wenn Du mich hier heile rauskommen lässt...
Wenn ich die Klinik gesund verlassen kann...
Wenn mein Sohn/meine Tochter seinen/ihren Abschluss schafft...
Wenn ich mit dem Partner, der Partnerin so richtig glücklich werde...
Wenn Fortuna nicht absteigt und Schalke Meister wird...
Wenn ich durch die Bank zufrieden mit dem Leben bin...
Wenn das mit Mathe und Latein in der Schule klappt...
Wenn der Coronavirus uns endlich zufrieden lässt..
Wann haben Sie zum letzten Mal Gott die Pistole auf die Brust gesetzt, sozusagen ein Ultimatum gestellt?
Geht doch gar nicht, wenden Sie möglicherweise ein.
So redet man nicht mit Gott.
In der hohen Schule des Gebets gibt es ja mehrere Kapitel:
Und richtig, das erste heißt vermutlich:
Sag Gott alles, was Du auf dem Herzen hast.
Trage ihm alle Deine Wünsche vor.
Und hoffe darauf, dass die Gebete in Erfüllung gehen.
Dass Gott Deine Wunschliste abarbeitet.
Dass das eintrifft, was für Dich vorteilhaft, lebensnotwendig und wichtig ist.
Und wenn es anders kommt, dann bist Du gut beraten
mit dem zweiten Kapitel zum Thema Beten.
Dann bist Du schon bei den Anweisungen für Fortgeschrittene.
Die beginnen mit dem Satz:
„Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.2
„Der Mensch denkt, Gott lenkt."
„Gott tut nichts anderes als fügen, fügen, fügen."
„Gott weiß, was wir bedürfen, noch bevor wir ihn bitten.
Haltet Gott also keine Vorträge."
„Wir können nichts erzwingen. Nicht einen Atemzug."
Wer hier bei den fortgeschrittenen Betern vorankommen will, schließe sich dem Gebet Jesu, dem Vater Unser, an.
Darin heißt es ziemlich am Anfang:
„Dein Wille geschehe."
Nicht mehr nicht weniger.
Das kann gut oder schlecht für Dich ausgehen.
Das heißt:
Für den fortgeschrittenen Beter geht es immer gut aus.
Also so, wie Gott es für einen vorgesehen hat, ist es doch gut.
Für den Ungeübten bleibt allerdings nach wie vor ein Unbehagen:
Warum soll der Verlust, der Tod, der Schmerz, die Krise, die Auszeit, der Shutdown etwas Gutes sein? Damit kann man sich vielleicht arrangieren, abfinden, drauf einstellen: Aber gut und richtig finden, dazu gehört doch wohl noch etwas Anderes.
Wer in dieser Gebetsschule, Kapitel 1 und 2 noch nicht die Segel gestrichen hat, für den gibt es noch ein weiteres, ein drittes Kapitel. Das findet man weiter hinten, jenseits von den Hinweisen für Anfänger und Fortgeschrittene, schon fast im Anhang. Also dort, wo viele gar nicht mehr hinkommen. Weil Kapitel 1 und 2 sich mehr oder weniger bewährt haben. Oder einen mehr oder weniger enttäuscht zurückgelassen haben. Jesus selbst bringt uns an diesem Morgen dieses dritte Kapitel aus der Gebetsschule nah. Ich lese aus dem Lukasevangelium, Kapitel 18, die Verse 1-8:
„Jesus sagte ihnen aber ein Gleichnis darüber, dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollten, und sprach: Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher! Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue, will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage.
Und Jesus sagte: Hört, was der ungerechte Richter sagt! Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er's bei ihnen lange hinziehen? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze."
Egal, was man zum Beten sonst noch sagen kann: Diese Geschichte von der Witwe hält unüberhörbar fest, dass das nervende Gebet, dass Gott auf dem Wecker geht, dass Gott in den Ohren liegt, dass ihm immer wieder und immer neu vorhält, was hier auf Erden geändert werden muss und soll, nicht ohne Erfolg bleiben wird. Das Gebet, das nicht müde wird, sondern sich in endlosen Schleifen mit immer denselben Anliegen an Gott wendet, bewegt Gottes Arme. Das Gebet, das sich nicht frustrieren lässt, dass fast schon ein wenig gewaltsam und fast schon unanständig intensiv ist, wird gute Wirkungen und Folgen erzielen. Diese Art zu beten mag in heutiger Zeit aus der Mode gekommen zu sein. Möglicherweise auch, weil wir kirchlich immer auf den Fortgeschrittenenmodus aus Kapitel 2 beharren. Und diesen nach Anfänger scheinenden „Schreimodus" für einen Rückschritt halten. So unverschämt Gott um Erfüllung seiner Wünsche zu bitten, ist was für Kinder, für die Naiven, für die, die noch nicht durch das Leben und seinen Tiefen eines Besseren belehrt sind. Für uns reklamieren wir lieber die Gebetschule höherer Ordnung.
„Als mein Gebet immer andächtiger und innerlicher wurde, da hatte ich immer weniger und weniger zu sagen. Zuletzt wurde ich ganz still. Ich wurde, was womöglich noch ein größerer Gegensatz zum Reden ist, ich wurde ein Hörer. Ich meinte erst, Beten sei Rede. Ich lernte aber, dass Beten nicht bloß Schweigen ist, sondern Hören. So ist es. Beten heißt nicht, sich selber reden hören. Beten heißt: Still werden und still sein und warten, bis der Betende Gott hört." So Sören Kierkegaard, der bekannte Philosoph und sehr ernsthafte gläubige Christ in einer seiner bekannten Bonmots zum Thema Beten.
Begleitet ist und wird diese Ergebung in den Willen Gottes von einer Reihe von ziemlich einleuchtenden Argumenten. Wer zu aufdringlich, wer zu fordernd ist, läuft ja auch in menschlichen Beziehungen oft ins Leere. Warum sollte das bei Gott anders sein? Wer viel, um nicht zu sagen, zu viel erwartet, kann auch maximal enttäuscht werden. Dann lieber kleine Brötchen backen und sich darauf einstellen, dass es nicht so kommt wie erhofft. Man riskiert auf diese Weise auch keine Enttäuschung. Wenn das Gebet mehr im Allgemeinen, im Ungefähren bleibt, dann bleibt immer etwas übrig, was einen zufriedenstellt und mit dem man dann auch leben kann. Der Beter erspart sich auf diese Weise eine Menge Frust. Solche und ähnliche Argumente mögen menschlich nachvollziehbar sein. Auch die biblische Tradition weiß davon und erinnert in mehreren Texten daran. Erstaunlich oft und anders aber erzählt die Bibel Geschichten wie die von der Witwe aus dem Lukasevangelium, Kapitel 18. Diese Witwe ist nämlich keine Eintagsfliege. Sie hat viele und prominente Vorgänger. In der Geschichte der Glaubensmütter und Väter hat diese Art zu beten geradezu einen Ehrenplatz.
So hören wir schon bei Abraham, dass er mit Gott feilschte, als es um den Untergang Sodoms und Gomorras ging. „Herr, wenn noch 50 Gerechte, wenn noch 45, wenn noch 40, wenn noch 30, wenn noch 20 wenn noch 10..." Immer wieder hakt Abraham, der Vater des Glaubens, nach. „Gott, es könnte doch so sein, dass es da noch immerhin 10 Gerechte in Sodom gibt, willst du um dieser 10 willen die Stadt nicht verschonen?" „Ja, ich will", sagt Gott, „Wenn es diese 10 Menschen da gibt, dann will ich es so machen, wie du es erflehst." (Genesis 18) Dummerweise oder besser erschreckenderweise gibt es selbst diese 10 Gerechten nicht. Das zieht zweifelsfrei andere Überlegungen nach sich, stellt aber die Verhandlungsbereitschaft Gottes nicht in Frage. Gott lässt sich von Abraham wie bei einem orientalischen Basar nach und nach erweichen, runterhandeln, gnädiger stimmen, zu einer veränderten Haltung bewegen.
Ähnliches wird von Mose berichtet. Der hat alles Mögliche im Kopf, nur nicht die Anführerschaft über ein mehr oder weniger halsstarriges Volk und den Auszug in ein gelobtes Land, das weit weg liegt. Und so trägt er sämtliche Einwände vor, die gegen den Auftrag Gottes sprechen. (Exodus 3-4) „Was soll ich sagen? Ich weiß doch noch nicht mal deinen Namen." „Ich heiße Jahwe, „Ich bin für dich da" ist mein Name." „Wie sollen die mir glauben? Ohne sichtbares Zeichen?" fragt Mose. Und Gott antwortet: „Mach aus dem Stab eine Schlange. Und lass deine Hand aussätzig und wieder gesund werden. Das wird seinen Eindruck nicht verfehlen." „Wie sollen die Ägypter auf mich hören und das Volk ziehen lassen, ohne Autoritätsbeweis?" „Mach aus dem Nilwasser Blut." „Ich habe eine schwere Zunge. Ich stottere." „Dann nimm Aaron, deinen Bruder als Sprachrohr. Er wird mit dir vor den Pharao ziehen." Auch hier sehr berührend, wie geduldig und langmütig Gott jeden dieser Einwände erhört. Und Mose endlich das tut, was Gott ihm aufträgt.
Oder man denke an den Jakob, der ein Sturkopf sondergleichen war. Der sich selbst und seinen Möglichkeiten, vor allem seiner Schlauheit und Verschlagenheit eine Menge zutraute. Und damit ja auch lange Zeit durchkam. Bis ihm in einer denkwürdigen Nacht am Jabbok (Genesis 33) eine merkwürdige, gottgleiche Gestalt begegnet und zu einem Ringkampf auf Leben und Tod auffordert. Und Jakob nimmt diesen Kampf an, er spürt, hier hat er es nicht mit irgendjemand, sondern mit Gott selbst zu tun. Eigentlich hat er keine Chance, diesen ungleichen Kampf zu gewinnen. Aber er setzt alles auf eine Karte, klammert sich mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht an diese Gestalt und fleht um den Segen Gottes, ohne den sein weiteres Leben für ihn nicht denkbar ist. Und diesen Segen bekommt er dann auch. Inklusive und als Erinnerung an dieses Ringen dauerhafte Schmerzen im und am Hüftgelenk.
Oder man erinnere sich an die Hannah (1. Samuel 1), die unbedingt ein Kind will und keine Gelegenheit auslässt, diesen Wunsch Gott vorzutragen. Sie macht so ziemlich alle Kränkungen, Enttäuschungen und Frustrationen durch, die einem im Zusammenhang eines nicht erfüllten Kinderwunsches begleiten können. Aber sie lässt nicht locker. Und dann erlebt sie, dass Gott sie, besser: ihren Kinderwunsch, erhört. Und nennt dieses Kind „Gott hat mich erhört" - Samuel. Das Leben dieses Samuel wird damit zu einem Dauerhinweis auf den Gott, der sich durch ausdauerndes, geduldiges, intensives und drängerisches, vielleicht auch unverschämtes Gebet erweichen lässt und erhört.
Oder man nehme schließlich den Hiob, der sein Herz Gott ausschüttete. Der nicht locker ließ. Der sich nicht durch den Verlust von Vermögen und Besitz, nicht durch Katastrophen, die ihm Knechte und Kinder nahm, nicht durch die bitteren Kommentare von seiner Frau, nicht durch die gutgemeinten, aber irgendwie unpassenden Ratschläge seiner Freunde davon abhalten lässt, von Gott selbst zu erfahren, was und warum und wieso gerade er dies alles erleiden, ertragen und aushalten muss. Dieser Hiob wird in allem Irrewerden nicht an Gott irre, sondern erwartet von ihm allein letzte Gewissheiten. Und findet sie dann auch. Hiob 19,25ff. sagt er: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt und als der letzte wird er sich über meinen Staub erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder."
„Betet ohne Unterlass!" , hören wir in dem 1. Thessalonicherbrief (5,17) „Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist", heißt es im Jakobusbrief (5,16). Beter bewegen Gottes Arme. Bete also beharrlich. Geduldig. Ausdauernd. Betet euch um Kopf um Kragen. „Betet, als ob alles Arbeiten nichts nutzt und arbeitet, als ob alles Beten nichts nutzt!" Empfiehlt der Reformator Martin Luther. Und Philipp Melanchthon schreibt:
„Das weiß ich, sooft ich mit Ernst gebetet habe, bin ich gewiss erhört worden und habe mehr erlangt, als ich erbetet habe. Unser Herrgott hat wohl bisweilen gewartet, aber letztlich dennoch erhört. Wirf dein Anliegen auf den Herrn, der wird dich versorgen. Ach, wer das Werfen gut lernen würde, der würde erfahren, dass es gewiss so ist. Wer dieses Werfen nicht lernt, der bleibt ein verworfener, unterworfener, umgeworfener Mensch."
Liebe Gemeinde, lassen Sie uns dieses „Alles auf Gott Werfen" neu einüben. Unser Herrgott wartet wohl bisweilen, erhört aber dann doch. Die Themen solchen intensiven Betens sind indes vielschichtig und bunt wie das Leben selbst. Es geht dabei um das Anliegen einer Witwe, das Überleben der Gerechten wie bei Abraham. Es geht dabei um die Sorgen und Zweifel wie bei Mose. Es geht dabei um die große Sehnsucht nach Segen wie bei Jakob. Es geht um Kinder wie bei Hannah. Und es geht um die Frage, wie man das Leid bewältigen kann wie bei Hiob. Es geht um die ganz großen Themen des Daseins, aber auch um die Kleinigkeiten des Alltags. Es geht dann z.B. auch um die „Verdauung" wie bei Thomas Morus oder die „Liebenswürdigkeit" wie bei Teresa von Avila.(siehe Anhang mit den Gebeten von T. Morus und Teresa von Avila, die auch im Gottesdienst zur Sprache kamen) Es geht in und bei allem Beten darum, die Arme Gottes zum Heil dieser Welt und uns Menschen zu bewegen.
„Ein Rabbiner durchquerte ein Dorf, ging in den Wald, und dort, am Fuß eines Baumes, immer desselben, betete er. Und Gott hörte ihn. Auch sein Sohn durchquerte immer dasselbe Dorf. Er wusste nicht mehr, wo der Baum war, so betete er am Fuß irgendeines Baumes, und Gott hörte ihn. Sein Enkel wusste weder, wo der Baum, noch wo der Wald war. Er ging zum Beten ins Dorf. Und Gott hörte ihn. Sein Urenkel wusste weder, wo der Baum war noch der Wald noch selbst das Dorf. Aber er kannte noch das Gebet. So betete er in seinem Haus. Und Gott hörte ihn. Sein Ururenkel kannte weder den Baum noch den Wald noch das Dorf noch die Worte des Gebets. Er kannte aber noch die Geschichte vom Beten. Er erzählte sie seinen Kindern. Und Gott hörte ihn."
„Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft
noch seine Güte von mir wendet." (Psalm 66)
heißt es im Wochenspruch.
Gott verwirft dein Gebet nicht.
Weder das mit noch ohne Worte. Gott sei Dank. Amen.
Schenke mir eine gute Verdauung
Schenke mir eine gute Verdauung, Herr,
und auch etwas zum Verdauen.
Schenke mir Gesundheit des Leibes,
mit dem nötigen Sinn dafür,
ihn möglichst gut zu erhalten.
Schenke mir eine heilige Seele, Herr,
die das im Auge behält, was gut ist und rein,
damit sie im Anblick der Sünde nicht erschrecke,
sondern das Mittel finde,
die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.
Schenke mir eine Seele,
der die Langeweile fremd ist,
die kein Murren kennt und kein Seufzen und Klagen,
und lasse nicht zu, dass ich mir allzu viel Sorgen mache,
um dieses sich breit machende Etwas,
das sich „Ich" nennt.
Herr, schenke mir Sinn für Humor,
gib mir die Gnade, einen Scherz zu verstehen,
damit ich ein wenig Glück kenne im Leben
und andere davon mitteile.
(Thomas Morus, 1478-1535)
Erhalte mich liebenswert
O Herr, du weißt besser als ich,
dass ich von Tag zu Tag älter und eines Tages alt sein werde.
Bewahre mich vor der Einbildung,
bei jeder Gelegenheit und zu jedem Thema etwas sagen zu müssen.
Erlöse mich von der großen Leidenschaft,
die Angelegenheiten anderer ordnen zu wollen.
Lehre mich, nachdenklich, aber nicht grüblerisch,
hilfreich, aber nicht diktatorisch zu sein.
Bei meiner ungeheuren Ansammlung von Weisheit
erscheint es mir ja schade, sie nicht ständig weiterzugeben -
aber du verstehst, Herr, dass ich mir ein paar Freunde erhalten möchte.
Bewahre mich vor der Aufzählung endloser Einzelheiten
und verleihe mir Schwingen, zur Pointe zu gelangen.
Lehre mich schweigen über meine Krankheiten und Beschwerden.
Sie nehmen zu - und die Lust, sie zu beschreiben, wächst von Jahr zu Jahr.
Ich wage nicht, die Gabe zu erflehen,
mir Leidensberichte anderer mit Freude anzuhören,
aber lehre mich, sie geduldig zu ertragen.
Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass ich mich irren kann.
Erhalte mich so liebenswert wie möglich.
Ich möchte kein Heiliger sein - mit ihnen lebt es sich so schwer - ,
aber ein alter Griesgram ist das Krönungswerk des Teufels.
Lehre mich, an anderen Menschen unerwartete Talente zu entdecken,
und verleihe mir, o Herr, die schöne Gabe es ihnen auch zu sagen.
(Theresa von Avila 1515-1582)
Kantate, 10.05.2020, Matth.6,24-35, Jonakirche, Daniel Kaufmann
Lesung auf dem Matthäusevangelium, Kapitel 6, Vers 25-34: Vom Schätze sammeln und Sorgen
„Jesus sagt: Sorget nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Speise und er Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt? Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: Sollte er das nicht viel mehr für euch tun? Habt ihr so wenig Vertrauen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Mit solchen Fragen plagen sich Menschen, die Gott nicht kennen. Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all das braucht. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.“
Die Geschichte vom Flickschuster
In der Hauptstadt seines Landes lebte ein guter und gerechter König. Oft verkleidete er sich und ging unerkannt durch die Straßen, um zu erfahren, wie es um sein Volk stand. Eines Abends geht er vor die Tore der Stadt. Er sieht aus einer Hütte einen Lichtschein fallen und erkennt durch das Fenster: Ein Mann sitzt allein an seinem zur Mahlzeit bereiteten Tisch und ist gerade dabei, den Lobpreis zu Gott über das Mahl zu singen. Als er geendet hat, klopft der König an der Tür: „Darf ein Gast eintreten?“ „Gerne“, sagt der Mann, „komm, halte mit, mein Mahl reicht für uns beide!“ Während des Mahles sprechen die beiden über dieses und jenes. Der König – unerkannt – fragt: „Wovon lebst du? Was ist dein Gewerbe?“ „Ich bin Flickschuster“, antwortete der Mann. „Jeden Morgen gehe ich mit meinem Handwerkskasten durch die Stadt und die Leute bringen mir ihre Schuhe zum Flicken auf die Straße“. Der König: „Und was wird morgen sein, wenn du keine Arbeit bekommst?“ „Morgen?“, sagte der Flickschuster, „Morgen? Gott sei gepriesen Tag um Tag!“
Als der Flickschuster am anderen Tag in die Stadt geht, sieht er überall angeschlagen: Befehl des Königs! In dieser Woche ist auf den Straßen meiner Stadt jede Flickschusterei verboten! Sonderbar, denkt der Schuster. Was doch die Könige für seltsame Einfälle haben! Nun, dann werde ich heute Wasser tragen; Wasser brauchen die Leute jeden Tag. Am Abend hatte er so viel verdient, dass es für beide zur Mahlzeit reichte. Der König, wieder zu Gast, sagt: „Ich hatte schon Sorge um dich, als ich die Anschläge des Königs las. Wie hast Du dennoch Geld verdienen können?“ Der Schuster erzählt von seiner Idee Wasser für jedermann zu holen und zu tragen, der ihn dafür entlohnen konnte. Der König: „Und was wird morgen sein, wenn du keine Arbeit findest?“ „Morgen? Gott sei gepriesen Tag um Tag!“
Als der Schuster am anderen Tag in die Stadt geht, um wieder Wasser zu tragen, kommen ihm Herolde entgegen, die rufen: „Befehl des Königs! Wassertragen dürfen nur solche, die eine Erlaubnis des Königs haben!“ Sonderbar, denkt der Schuster, was doch die Könige für seltsame Einfälle haben. Nun, dann werde ich Holz zerkleinern und in die Häuser bringen. Er holte seine Axt und am Abend hatte er so viel verdient, dass das Mahl für beide bereitet war. Und wieder fragte der König: „Und was wird morgen sein, wenn du keine Arbeit findest?“ „Morgen? Gott sei gepriesen Tag um Tag!“
Am anderen Morgen kam dem Flickschuster in der Stadt ein Trupp Soldaten entgegen. Der Hauptmann sagte: „Du hast eine Axt. Du musst heute im Palasthof des Königs Wache stehen. Hier hast du ein Schwert, lass deine Axt zu Hause!“ Nun musste der Flickschuster den ganzen Tag Wache stehen und verdiente keinen Pfennig. Abends ging er zu seinem Krämer und sagte: „Heute habe ich nichts verdienen können. Aber ich habe heute Abend einen Gast. Ich gebe Dir das Schwert…“ – er zog es aus der Scheide – „…als Pfand! Gib mir, was ich für das Mahl brauche.“ Als er nach Hause kam, ging er zuerst in seine Werkstatt und fertigte ein Holzschwert, das genau in die Scheide passte. Der König wunderte sich, dass auch an diesem Abend wieder das Mahl bereitet war. Der Schuster erzählte alles und zeigte dem König verschmitzt das Holzschwert. „Und was wird morgen sein, wenn der Hauptmann die Schwerter inspiziert?“ „Morgen? Gott sei gepriesen Tag um Tag!“
Als der Schuster am anderen Morgen den Palasthof betritt, kommt ihm der Hauptmann entgegen, an der Hand einen gefesselten Gefangenen: „Das ist ein Mörder. Du sollst ihn hinrichten!“ „Das kann ich nicht“, rief der Schuster voll Schrecken aus. „Ich kann keinen Menschen töten!“ „Doch, du musst es! Es ist Befehl des Königs!“ Inzwischen hatte sich der Palasthof mit vielen Neugierigen gefüllt, die die Hinrichtung eines Mörders sehen wollten. Der Schuster schaute in die Augen des Gefangenen. Ist das ein Mörder? Dann warf er sich auf die Knie und mit lauter Stimme, so dass alle ihn beten hörten, rief er: „Gott, du König des Himmels und der Erde: wenn dieser Mensch ein Mörder ist und ich ihn hinrichten soll, dann mache, dass mein Schwert aus Stahl in der Sonne blitzt! Wenn aber dieser Mensch kein Mörder ist, dann mache, dass mein Schwert aus Holz ist!“
Alle Menschen schauten atemlos zu ihm hin. Er zog das Schwert, hielt es hoch – und siehe: es war aus Holz. Gewaltiger Jubel brach aus. In diesem Augenblick kam der König von der Freitreppe seines Palastes, ging geradewegs auf den Flickschuster zu, gab sich zu erkennen, umarmte ihn und sagte: „Von heute an sollst du mein Ratgeber sein!“
(Verfasser unbekannt)
„Gesegnet ist der Mann, der sich auf den HERRN verlässt und dessen Zuversicht der HERR ist. Der ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt, der seine Wurzeln zum Bach hin streckt. Denn obgleich die Hitze kommt, fürchtet er sich doch nicht, sondern seine Blätter bleiben grün; und er sorgt sich nicht, wenn ein dürres Jahr kommt, sondern bringt ohne Aufhören Früchte.“
( Jeremia 17:7-8)
Liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde,
es tut gut, Sie an diesem Sonntag Abend wieder hier in der Jonakirche „analog“, „dreidimensional“ und sichtbar „physisch“ zu sehen. Und ich freue mich sehr und bin Gott sehr dankbar, dass er uns diese gemeinsame Zeit schenkt. In den letzten Wochen der „Quarantäne“ bin ich immer wieder an der gerade gelesenen Geschichte vom Flickschuster hängen geblieben. Diese Geschichte liest sich durchweg wie ein Kommentar zu dem, was uns zur Zeit alles umtreibt. Da ist zunächst dieser „merkwürdige“ König. Er ist gut und gerecht, heißt es, dazu kümmert er sich mit Herz und Verstand um seine Untertanen. Und doch sind die Anweisungen, die er von Tag zu Tag verlautbaren lässt, höchst sonderbar: Die Flickschusterei wird verboten. Wasser dürfen nur die tragen, die eine Erlaubnis dazu haben. Das Wache-Stehen muss ohne Entgelt abgeleistet werden. Und schlussendlich soll der Flickschuster als verlängerter Arm des Gesetzes dienen und ein Todesurteil vollstrecken. Die Einschränkungen, Vorschriften und Anordnungen sind alle mehr oder weniger nachvollziehbar, die Wissenschaftlichkeit und die Rationalität des Befohlenen aber durchweg unterschiedlich einsichtig. Insofern gibt es bezüglich des Königs und seiner Maßnahmen eine Reihe berechtigter Fragestellungen. Unter anderem, nach welchem Gusto dem einen die Lebensgrundlagen entzogen werden und dem anderen noch ein Sahnehäubchen und Belohnung gewährt wird. Warum ganze Geschäftszweige systemrelevant und andere entbehrlich sind und insofern auch genauso gut auf Eis gelegt werden können. Bemerkenswerter als diese offensichtlichen Schieflagen bei der Gerechtigkeitsdebatte ist das Reaktions- und Handlungsmuster des Flickschusters. Der ist mitnichten und zu keiner Zeit bereit, den Kopf in den Sand zu stecken, klein beizugeben und sich in sein Schicksal zu ergeben, zu resignieren oder die Hände in den Schoss zu legen. Seine Unerschütterlichkeit hat geradezu ein biblisches Format. „Gott sei gepriesen Tag um Tag“ ist seine Überschrift zum Leben. Das ist ein Motto, wie es sich etwa auch in dem gerade gehörten Abschnitt aus der Bergpredigt bei Jesus findet: „Sorget nichts… Sorget nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Speise und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.
Dieser Text aus der Bergpredigt wird oft als blauäugiger Sandalen-Hippieverschnitt abgetan. Oder, wenn ´s hoch komm, als Möchtegernkonzept eines an der Realität komplett vorbei gehenden Sehnsuchtsglaubens. Andere wie Ministerpräsident Otto von Bismarck und in seinem Gefolge der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt haben ihre Sicht der Dinge etwas nüchterner formuliert: „Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen“, kann man da lesen. Die Bergpredigt taugt nicht für die politischen Fragestellungen und nur selten für die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen des Alltags.
Wobei die derzeitige Lage und Befindlichkeit unseres Landes sehr wohl und insbesondere und vermutlich wie nie zuvor Menschen braucht, die sich in den täglich wechselnden Gegebenheiten nicht nur einfinden, sondern sie – wie es in der Bergpredigt anklingt- mitgestalten und verändern, die in einem hohen Maße erfinderisch, kreativ, vielseitig und flexibel sind und auch bei den merkwürdigsten Wendungen und Vorgaben ihr Gottvertrauen, ihren Optimismus, ihre positive Einstellung zum Leben, ihr Gespür für das, was nötig ist, nicht verlieren. Es braucht in diesen Tagen Menschen mit Flickschustermentalität - der Name ist vielleicht doch nicht ganz zufällig so gewählt. „Nomen est omen“, sagt der Lateiner, der Name, besser die Berufsbezeichnung „Flickschuster“ bürgt geradezu für die Fähigkeit, das eigene Denken und Handeln an die jeweiligen Herausforderungen anzupassen, flexibel zu sein für das, was Not tut.
Und diese Fähigkeit wird gerade auch dann und dort gebraucht, wo der Tod das Regiment führt und unausweichlich alles zu beherrschen scheint. Da gilt es, das Vertrauen auf das Leben aufrecht zu erhalten und gegebenenfalls und nicht zuletzt auch sein unerschütterliches Festhalten an den Gott des Lebens in die Waagschale werfen. Das Gottesurteil mit dem Holzschwert mag als Schildbürgerstreich mit Augenzwinkern und Bauernschläue daherkommen, es macht doch sehr eindrücklich und markant deutlich, dass es spätestens bei der Frage um Leben oder Tod nicht nur um Befehl und Gehorsam, Willkür oder Argumentation, Rationalität, Regeln und Paragraphen geht. Spätestens bei der Frage nach Leben oder Tod muss der Horizont weiter gespannt werden und das ist für uns Christen ohne Ostern und dem Gedanken vom Leben trotz und im Angesicht des Todes nicht denkbar.
In unserer Geschichte bringt der Flickschuster mit dem Gottesurteil die Dimension Gottes und der Ewigkeit ein und sorgt zugleich dafür, dass alles politische Denken und Handeln im Horizont Gottes zu stehen kommt. Dem Tod in seinem Allmachtsanspruch wird auf subtile Weise die Show gestohlen und der Zahn gezogen. Hier wird festgehalten, dass nicht wir, sondern ein anderer im Regiment sitzt. Dass diese Welt mit und ohne Corona nicht den Händen Gottes entgleitet. Dass die Botschaft von Ostern nicht nur ein Zuckerguss für übersättigte Wohlstandsbürger ist, nicht nur ein kultureller Zeitvertreib, der sich unter dem Stichwort „Systemrelevanz“ mehr oder weniger ins Gedächtnis bringen kann und soll.
Liebe Schwester und Brüder, bei aller digitaler auch von uns kirchlich betriebener geflissentlicher Betriebsamkeit nehme ich in diesen Tagen vermehrt die Frage mit, welchen Diesseitskult wir mit der beispiellosen Lebens-Rettungsaktion angesichts einer Pandemie eigentlich betreiben. Im Februar dieses Jahres haben wir in Deutschland noch ein Gesetz auf dem Weg gebracht, in dem verankert wurde, dass jeder Mensch in Deutschland ein Recht auf seinen eigenen Tod hat.
Die „Zeit-Online“ vom 26. Februar 2020 schreibt dazu: „Die Karlsruher Richter (Bundesverfassungsgericht) haben nicht nur ausdrücklich ein "Recht auf selbstbestimmtes Sterben" anerkannt, sie haben auch explizit hinzugefügt, dass dieses Recht die Freiheit einschließe, "sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen", und zwar unabhängig vom Alter, vom Gesundheitszustand, von besonderen Motiven oder irgendwelchen moralischen oder religiösen Erwägungen. "Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben", so formuliert das Gericht nicht ohne Pathos, sei ein, "wenngleich letzter Ausdruck von Würde". Und die Würde des Menschen, das steht ganz am Anfang des Grundgesetzes, ist unantastbar. Das Urteil vom Mittwoch ist ein Hochamt der Autonomie, Ausdruck einer Gesellschaft, die ganz auf das Individuum abstellt. Die Mehrheit der Bevölkerung ist entschieden für die Zulässigkeit der Sterbehilfe.“
Jetzt, gerade mal knapp 3 Monate später und einer Pandemie ohne Analogie darf um Himmels willen kein einziger mit und ohne Coronaverdacht so ohne weiteres die Augen schließen, sondern muss möglichst isoliert von Gott und der Welt darum kämpfen, dass er noch ein paar Stunden, Tage, Woche, Monate und vielleicht auch Jahre überlebt. Diese ungesunde Vergötzung des irdischen Lebens bedarf dringend einer Korrektur. Die Botschaft von Ostern lautet nicht: Das Grab ist voll, es gibt im Tod nichts zu hoffen, ohne Gesundheit geht alles den Bach runter. Die Botschaft von Ostern lautet: Das Grab ist leer. Der Totgesagte ist auferstanden. Wir werden ihm auf dem Weg ins Leben folgen, und zwar auch dann, wenn wir unseren letzten Atemzug tun und sterben.
Wir brauchen dringend diese unerschütterliche Zuversicht, die auch die ersten Christen in ihrem Glauben getragen hat. Seit Ostern ist der Tod verschlungen in den Sieg. „Tod wo ist dein Stachel, Hölle wo ist dein Sieg“ (1. Kor. 15,55) heißt es in den ersten urchristlichen Bekenntnissen und Gesängen. Dieser Zuversicht entstammt das Osterlachen und die Witze vom leeren Grab, das Josef von Arimathäa dem Jesus doch ohne allzu viel Sorgen zur Verfügung stellen kann. Mit dem augenzwinkernden Hinweis: Ist doch nur für ein Wochenende (3 Tage). Diese Zuversicht findet sich auch bei unserem Flickschuster wieder, der im Zweifel für das Leben eintritt.
Möge uns diese österliche Zuversicht und Gewissheit bei allen Paragraphen, Regeln, Gesetzen, Vorschriften und Empfehlungen, die uns in diesen Tagen erreichen, wie eine Überschrift, wie ein Motto und wie ein roter Faden begleiten und ermutigen. Einer, der dieser Zuversicht auf ganz eigene Weise Ausdruck gegeben hat, heißt Johnson Gnanabraranam, ein indischer Christ. Seine Worte wollen wir jetzt gemeinsam sprechen.
Glaubensbekenntnis (Johnson Gnanabraranam, Indien)
Der Glaube an Christus verwandelt nicht
mein einfaches Essen in Delikatessen,
aber er bringt mich dazu,
das wenige, das ich habe, mit den Armen zu teilen.
Der Glaube an Christus verwandelt nicht
meine einfache Hütte in einen Luxusbungalow,
aber er hilft mir, glücklich in meiner Hütte auszuhalten.
Der Glaube an Christus liefert meinem Kopf keinen Heiligenschein,
aber er hebt mich auf und reinigt mich,
wenn ich gefallen bin.
Der Glaube an Christus garantiert mir nicht,
dass ich hundert Jahre lebe,
aber er ermutigt mich, ein Leben zu führen,
das täglich nützlich ist für andere.
Der Glaube an Christus bringt mich jetzt nicht dahin,
wo die Engel leben, aber er bringt Christus in mein Herz.
Der Glaube an Christus macht mich nicht stolz, weil ich glauben kann,
sondern er macht mich demütig, seine Gnade zu empfangen.
Der Glaube an Christus bewahrt mich nicht vor dem Sterben,
aber er gibt mir die Gewissheit der Auferstehung und die Gemeinschaft mit allen Heiligen.
Herr, Jesus, ich danke dir, dass ich an dich glauben kann.
Stärke meinen Glauben.
Amen.
Reminiszere, 08.03.2020, Stadtkirche, Römer 5, 1 - 5, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reminiszere - 8.III.2020
Römer 5,1 – 5
Liebe Gemeinde!
Skeptisch macht die flotte Aufzählung christlicher Erfahrungen und ihrer Folgen schon. … Klingt sie doch ein bisschen nach Rezept oder Bastelanleitung:
„Man nehme Glauben und Friede, vermische mit Liebe und Geist, füge nach Belieben Trübsal hinzu, lasse es kräftig mit Geduld vermengt gehen und im Ofen des Leidens garen: Fertig ist der Napfkuchen der Hoffnung und der Herrlichkeit.“
„Kleben Sie auf die Grundplatte des Herzens eine dicke Schicht ausgegossener Liebe, drücken den Glauben kräftig an, härten das Ganze in Trübsal, legen dann – nachdem Sie mit Hoffnungsfirnis die Oberflächen versiegelt haben – den Zugang über die tragenden Seitenteile und der Sockel der Herrlichkeit ist stabil zusammengeleimt.“
Ob das wirklich so einfach geht, … der Reihe nach? Ob man solche allgemeinen Abfolgen psychischer Zustände und deren komplexe Ergebnisse wirklich so nach Laufzettel und Lehrbuch aufsetzen kann? … Uns bleibt der Zweifel angesichts eines derartigen Schemas. Ist das nicht allzu mechanisch, allzu formal? …….
Was ist es aber, das uns so misstrauisch gegen eine Botschaft macht, die ja nicht ein Akademiker für ein Preisgeld zusammengetüftelt oder irgendein Phantast um des Ruhmes willen ausgebrütet hat, sondern die im Brief eines der erprobtesten, hingebungsvollsten Glaubensmenschen der Geschichte steht … noch dazu in einem Brief an echte Leser, an konkrete Frauen und Männer, deren Erleben zu schmerzhaft war, um von Floskeln berührt zu werden?
Ist unsere Zurückhaltung darin, Glaubenserfahrungen Wirklichkeit mit Wirkungen und Folgen zuzutrauen, nicht wie die unbeteiligte Haltung eines Gesunden, der der Medizin nicht traut?
… Dass Honig heilt und Penicillin rettet, dass ein Kaiserschnitt nötig und eine Schädeltrepanation überhaupt möglich sein könne, … das alles scheint manchen Menschen höchst unwahrscheinlich, märchenhaft, nüchtern betrachtet wenig überzeugend.
… Sei’s drum. Wenn die Schürfwunde nicht eitert und die Blattern nicht mehr entstellen, wenn weder Mutter noch Kind sterben und der Patient lebt, dann sind die neunmalklugen Besserwissereien plötzlich nicht mehr gültig. Dann zeigt sich, dass es nicht an dem liegt, was wir uns leicht vorstellen können, sondern an dem, was im Schweren wirklich wirkt.
……. Wie der Glaube. Er ist eine so mächtige Hilfe, eine so wirksame Heilkraft, dass alle unsere theoretischen Vorbehalte und unsere kühle Distanz – so unbenommen und verständlich sie sind und bleiben – dennoch nicht die richtige Frage stellen. Die Frage ist nicht: Kann der Glaube helfen? Sondern: Kennst Du seine Hilfe?
So unbefriedigend es nämlich auch für Gespräche am Kamin oder Urteilsbildung in der Diskussion sein mag: Wir müssen erkennen, dass wir wo jeder mitredet und alle ihre Meinung haben, nicht der Wirklichkeit begegnen, von der Paulus den Römern schreibt. Vielmehr … und noch viel unangenehmer: Wir müssen erkennen, dass wahrscheinlich gerade wir den Schnabel und die Luft anhalten müssten, wenn es um das geht, was der Heilige Geist den Angefochtenen und Leidenden schenkt. Nicht das Geschwätz des Internet, das wir auch ohne Tastatur und Bildschirm fortsetzen, wenn wir immer schon erklären, was nicht stimmt und was wie sein müsste … nicht das Geschwätz der Ahnungslosen hilft uns weiter zur Wahrheit: Wenn nämlich – wie Jesus es im Blick auf seine eigene Hilfe sagt (Mk.2,17//Lk5,31) – die Starken und Gesunden keines Arztes bedürfen, dann sollten sie sich auch nicht anmaßen, dessen Kunst und Kuren zu beurteilen. Sondern schweigen und hören, was die Schwachen, die Patienten – wörtlich: die „Geduldigen“ – zu sagen haben. So erfahren Verwöhnte und Verschonte wie wir es sind mehr als ihre bloßen Vorstellungen es ihnen je vermittelt hätten. ———
Dafür ist der Römerbrief aber ein besonders geeignetes Erkenntnis-Instrument.
Als echter Brief überliefert er uns nicht nur die Stimme seines Verfassers, sondern den Ton und Inhalt eines wirklichen Austausches. Was Paulus schrieb, schrieb er doch bewusst vor dem Horizont der Erfahrungen seiner Adressaten. ……. Und die waren wie aus den Schlagzeilen unserer unruhigen, hasserfüllten Tage geformt: Wer den Römerbrief als Erstes las, hatte persönlich intoleranten - rassistischen – Menschenhass, Fluchtschicksale und die Gleichgültigkeit einer frühen Globalgesellschaft erlebt.
Etwa sechs Jahre vor der Abfassung dieses letzten und größten der Gemeindebriefe des Paulus waren aus der Hauptstadt des Weltreiches sämtliche Juden vertrieben worden, weil Kaiser Claudius, der eine Politik altrömischer Tradition verfolgte, sie als Bedrohung der Identität des Reichs und seiner Bürger ansah[i]. Auslöser der Judenvertreibung war die Unruhe, die ein gewisser „Chrestos“ unter den jüdischen Stadtrömern ausgelöst hatte. Ob es sich bei diesem Chrestos bereits um die Nachricht von dem Mann aus Nazareth handelte, ist ungewiss; sicher dagegen ist, dass mit der Synagogengemeinde auch die allerfrühesten Anhänger Jesu Christi in der Stadt am Tiber zu Flüchtlingen wurden.
Einige Spuren ihrer erzwungenen Migration durchziehen das Neue Testament.
Besonders auffallend immer wieder der Weg des judenchristlichen Ehepaares Prisca und Aquila[ii]. Ihr Zeltmacherhandwerk und alles, was an Gerätschaft und Geschäft dazu gehört, verloren sie, als sie im Jahr 49 n.Chr. aus Rom weggejagt wurden. Bei der Ankunft im griechischen Korinth waren sie mittellos, doch weder die leibhaftige Not noch die quälenden inneren Sorgen brachen ihren Glaubensmut: In Korinth verband sie die Freiheit derer, die nichts mehr zu verlieren haben, und der Fleiß derer, deren Gewinn nicht auf Erden zu suchen ist, mit ihrem Glaubens- und Zunftgenossen Paulus. Zusammen arbeiteten sie sich durch die bittere geteilte Armut und die gemeinsame herrliche Freude des Missionarsdaseins und sammelten erst in Korinth, danach hinter der griechisch-türkischen Grenze in Vorderasien, in Ephesus zusammen mit dem Apostel Menschen zur weltweiten Kirche Jesu Christi. In Ephesus riskierten sie beide – Prisca, die tonangebende Frau und ihr wohl weniger bedeutender Mann – ihr Leben für den inhaftierten Paulus (vgl.Rö16,4), leiteten die Gemeinde nach dessen Abreise weiter und waren weder durch Heimatlosigkeit noch durch Bedrängnis, weder durch gemeindlichen Zwist noch persönliche Erschöpfung zu entmutigen. Die Liebe Gottes war aus-gegossen in ihre Herzen durch den Heiligen Geist, so dass weder Trübsal noch Angst noch Verfolgung noch Hunger noch Blöße noch Gefahr noch Schwert (vgl.Rö8,35) sie klein-kriegten.
Prisca und Aquila lebten ihren Glauben und ihr Glaube lebte in ihnen … unter ökonomischen, sozialen und psychischen Umständen, die uns unvorstellbar erscheinen müssen: Doch gerade an sie – die am Briefschluß eigens genannt werden (vgl.Rö16,3f!) – richtet sich der Römerbrief, denn sie waren nach dem Tod des judenfeindlichen Kaisers Claudius wieder in die Hauptstadt zurückgekehrt. Ihre Trübsal hatte ja tatsächlich Geduld in ihnen gewirkt, die sich als Hoffnung in unmittelbarer Not bewährte. Gewiss: Sie waren Treibgut der Geschichte, Ohnmächtige im Gewoge der politischen Entwicklungen, und wenn sie noch länger lebten nach des Claudius Tod, dann wurden sie Zeugen und vermutlich auch Opfer der Epoche Neros, des nächsten Christenverfolgers an der Spitze des Weltreiches. Aber wie so viele damals und später … und heute: Prisca und Aquila hatten Frieden mit Gott durch ihren Herrn Jesus Christus.
Diese Worte des Apostels sprachen in den Ohren seiner römischen Geschwister nichts Theoretisches, sondern ihre allerunmittelbarsten Erfahrungen aus: So mächtig ist die Wirkung des Zugangs zur Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, den der Glaube öffnet, dass Menschen dadurch wirklich Linderung aller Schmerzen zuströmt und eine Kraftquelle, ein Heilmittel, eine Stärkung, denen nichts sonst gleichkommt.
Wer es – wie die Gemeinde des Römerbriefes – am eigenen Leib erfahren hat, für den bezeugen die Ausführungen des Apostels die grundlegendste Tatsache der Welt.
Wer dagegen – wie wir – aus sicherem Abstand ungläubig rätselt, wie der Friede des Glaubens an den Katastrophen des Lebens nicht scheitern soll, sondern über sie hinaus in Gottes kommendes Reich tragen, der wird am heutigen Tag der Fürbitte für die verfolgten Christen zumindest ganz bescheiden gemacht. Denn wenn wir uns umschauen – rückwärts in die Vergangenheit und seitwärts zu unseren Mitchristen heute, – dann wird klar, dass unsere vermeintliche Weisheit Stückwerk und unser Erkennen Stückwerk sind (vgl. 1.Kor13,9):
Millionen von Christen bezeugen es in drückendem Elend und aussichtslosen Lagen, dass ihre Hoffnung durch Leiden nicht etwa vernichtet, sondern verdichtet wird und dass Druck sie als Christen nicht bricht, sondern festigt. ——
Wenn der Blick an diesem Sonntag Reminiszere in das zweite Mutterland der Christen gelenkt wird, nach Syrien[iii], wo der Völkerapostel vor Damaskus zu seinem globalen Dienst berufen wurde und die Nachfolger Jesu in Antiochien zum ersten Mal den Christennamen erhielten (vgl.Apg.11,26), auf den wir eben noch einen Menschen getauft haben, … wenn wir heute also nach Syrien blicken, wo anfing, was die Kirche in aller Welt werden sollte, dann begegnen uns in unserer Gegenwart ganz ähnliche Bestätigungen der Paulusworte von der Trübsal, in der Hoffnung wächst, die nicht zuschanden werden lässt:
Von 23 Millionen syrischer Staatsbürgern sind 11 Millionen entwurzelt, traumatisiert und geflohen.
An der Wiege unseres Glaubens herrscht flächendeckend tiefste, brutale Verstörtheit. Die ältesten Kirchen der Erde hat der IS gesprengt, die ältesten urchristlichen Gemeinschaften, die in Jesu Muttersprache zweitausend Jahre ununterbrochen weitergebetet haben, wie er sie lehrte, hat der Krieg in alle vier Winde getragen.
… Und doch: Wo immer man auf sie treffen mag – die chaldäischen und assyrischen Christen, die byzantinischen und melkitischen, die armenischen und arabischen Getauften – ob in den Trümmern der Kirchen und Klöster Syriens oder im Exil von der Türkei bis Kanada, von Detroit bis Gütersloh (weil weltweit nirgends so viele Menschen die aramäische Sprache Jesu sprechen, wie in diesen beiden Städten) – … wo immer man also auf die Glaubensgeschwister des Paulus, der Prisca und des Aquila trifft, wird man auf allen ihren Fluchtrouten und Wegen des Martyriums einen Verlust kaum antreffen: Was sie auch aufgeben und zurücklassen mussten, ihren Glauben haben sie nicht verloren! In den Ruinen Syriens bauen sie architektonisch tatsächlich das alte Erbe, das auch unsere Wurzel ist, mühsam und behelfsmäßig wieder auf, obwohl ihre Zahl grauenvoll gemindert wurde; in der Raubtieratmosphäre des Bürgerkriegs und der wiedererstarkten Zwangsherrschaft Assads reiben sie sich auf, um Diakonie und Bildungsarbeit der Kirche nicht auslöschen zu lassen; und auch in den womöglich dauerhaften Exilen und Asylen, in die es die Nachkommen der ursprünglichen Christenheit verschlagen hat, feiern sie Liturgie und Eucharistie, bauen die Gemeinde und sind fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal und halten an am Gebet (Rö.12,12).
Denn das vermag der Glaube:
Er hält am Leben. Er heilt fürchterliche Verletzungen. Er richtet Gequälte auf. Er bringt Entkräftete zu sich und auf die Beine. Er nimmt Schmerzen und schenkt Antrieb. Er entgiftet die Erinnerung und entbindet Energie. Er nährt das Herz und schützt die angegriffene Seele. Er löscht das entflammte Rachegefühl und tränkt die welkenden Empfindungen mit Mut.
Der Glaube, durch den wir gerecht geworden sind, beugt den Mord- und Selbstmord-gefahren vor, denen Menschen in akuter Not begegnen, weil er unverstellte Sichtweisen auf das eröffnet, was die Trübung, die in aller Trübsal herrscht, sonst verschleiert.
Und so verwandelt der Glaube negative Erlebnisse in die Grundlegung von Besserung. Glaube transformiert Übel in Überwindbares und setzt Erwartungen frei, die bis in den Himmel beflügeln.
Glaube ist tatsächliche Rettung durch die Widerstandskraft herrlicher Hoffnung, deren Lebendigkeit sich nicht mit dem Lauf der Zeit abnutzt, sondern wächst, weil sie von der Zukunft erfüllt ist.
Glaube ist die Zugabe, ohne die Leben bloß stofflicher Verschleiß und Verbrennung wäre. Wenn aber die schöpferische Liebe des ewigen Gottes in Herzen ausgegossen wird, dann wachsen Menschen auf Ihn hin, was immer ihnen auch sonst widerfährt.
Und so versetzt Glaube Berge, macht Kleine groß und Schwache stark, strahlt in der Finsternis, schafft freie Menschen hinter Gefängnismauern, versetzt Opfer der Welt auf den Thron der Geschichte und öffnet die Ewigkeit für vergessene und vergehende Sterbliche. ——
Diese Botschaft von den wirklichen Möglichkeiten, von der möglichen Wirklichkeit, die gläubige Christen in Trübsal, Geduld, Bewährung und Hoffnung erfahren haben und immer wieder erfahren, steht heute so vor uns, wie sie vor den ersten verfolgten Christen stand und ihren gegenwärtigen Leidensgenossen.
Dass ihre Frage dabei nicht unsere Frage ist – „Wie sollte solche Wirkung des Glaubens denkbar sein?“ – hat seinen letzten Grund aber nicht in denen selber, die es erfahren, sondern in Christus: Christus hat die Möglichkeiten des Glaubens zur unumstößlichen Tatsache gemacht, als er nicht für einige wenige, sondern für uns alle, für jeden einzigen Menschen den Tod an- und vorweggenommen hat, um allen Gerechtigkeit und Frieden zu eröffnen.
Denn das ist Fakt, dass Christus zu der Zeit, da wir noch schwach waren, für uns Gottlose gestorben ist (Rö5,6 – Wochenspruche an Reminiszere)!
Und darum müssen – und werden! – auch wir nicht immer weiter nur fragen, ob denn das alles möglich sei, was Christen im Glauben widerfährt.
… Auch unsere starke Stunde kommt, … die Stunde, in der wir es erleben werden.
Amen.
[i] In bündiger Form fasst die Diskussion zum sog. Edikt des Claudius zusammen: Bernd Kollmann, Einführung in die neutestamentliche Zeitgeschichte, Darmstadt 2006, S.99f.
[ii] Prisc(ill)a und Aquila begegnen in Apostelgeschichte 18 sowie den Grußlisten Römer 16 und 1.Korinther 16, außerdem in 2.Timotheus 4,19. Sie faszinieren, weil sie ein nicht-paulinisches Judenchristentum belegen, das intensiv mit der paulinischen Heidenmission kooperierte. Ihre Bedeutung für das Urchristentum verliert sich zwar weitgehend im Unklaren der spärlichen Quellenlage, aber eine originär judenchristlich-stadtrömische Tradition wird durch die beiden immerhin greifbar. Weitere – naheliegende – Spekulationen, wie die zuerst von Adolf von Harnack vertretene These, Prisca können die ungenannte Verfasserin des Hebräerbriefes sein, bleiben reizvoll, wenn auch nicht beweisbar.
[iii] Vgl. zum Folgenden auch die empfehlenswerte Handreichung: Fürbitte für bedrängte und verfolgte Christen – Sonntag Reminiszere 8.März 2020. Im Fokus: Syrien, hgg.v. EKD Hannover, Oktober 2019, die im Netz zugänglich ist unter: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/reminiszere_2020_syrien.pdf
Invokavit, 01.03.2020, Stadtkirche, 1.Mose 3, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Invokavit - 1.III.2020
1.Mose 3
Liebe Gemeinde!
Jetzt fängt die lange Nachdenklichkeit der sechs Wochen an. … Eine Nachdenklichkeit, die das Leben anders betrachtet, als es üblich geworden ist.
Unser Passions-Nachdenken fragt nicht: Was wollen wir aus unserem Leben machen?
– Es fragt: Was haben wir gemacht?
Unser Passions-Nachdenken fragt nicht: Was ist das Geheimnis des Gelingens?
– Es fragt: Was ist das Geheimnis des Leidens?
Unser Passions-Nachdenken fragt nicht: Wodurch bin ich einzigartig?
– Es fragt: Worin bin ich wie alle? ——
Und auch in den dunkelsten Stunden der Nachdenklichkeit, wenn – ganz ohne Panik, ohne Quarantäne – man plötzlich stumm mit sich und seinem Tod und Leben alleine ist und das Versteckte sieht, das Verleugnete, das Verschwiegene, das Verwerfliche, das Schmerzliche, das Unabwendbare, das Endgültige, ……. gerade in dieser dunklen Klarheit der Erkenntnis lehrt uns die Passions-Nachdenklichkeit, dass die letzte Frage nicht die alte Frage ist: „Warum ich?“, sondern eine ganz andere, ganz neue … : „Warum Christus?“
… Warum steht plötzlich Christus vor mir, wenn ich mich in Frage stellen muss?
… Warum dreht sich nicht alles bloß um mich, wenn es hart auf hart kommt und Selbstbetrug nicht mehr weiter hilft …, warum hängt Christus mit drin in den verworrenen und verfänglichen Schattenseiten unseres Lebens?
Warum sind wir in der Einsamkeit, in die uns alle einmal Krankheit und Alter, Schuld oder Schicksal, Leiden und Tod stoßen werden, in Wahrheit nicht alleine, sondern in seiner Nähe? …….
… Dies ist doch keine heile Welt mehr?! Wir haben doch jede Form von Unschuld längst verloren?! Wir sind – nach dem erklärten Willen der Mehrheit unserer Mitmenschen – ja in einem Universum ohne Gott angekommen, und die Unendlichkeit ist für unsere Wahrnehmung bis auf den kleinen Globus und die paar Jahrzehnte, die jeder von uns darauf verbringt, wegrationalisiert worden.
Hier ist also nicht das Paradies, sondern höchstens das geopolitische Reich des homo sapiens … und seine epochale Welteroberung und Weltgestaltung scheint schief gehen zu wollen. Wie um alles in dieser nackten, kleinen Welt ist dann aber Christus immer noch da?
Wenn der Märchenpark, den sie Eden nannten – der Park der sprechenden Tiere und des blühenden Lebens und der lebendigen Gottesgegenwart – doch geschlossen ist …., wieso ist Gott dann nicht in jener jenseitigen Unwirklichkeit geblieben, die Seine Feinde Ihm allenfalls noch einräumen, sondern in der lausigen Realität einer Welt von Idlib, Lesbos, Libyen, … wieso ist Gott in unserer Welt von Golgatha anzutreffen? …….
War denn da nicht ein Schnitt?
Hatte sich nicht eine Grenze geschlossen, als die Menschen zu Übertretern im schönen Garten Gottes wurden und ihren Exodus, ihren Exitus antraten dahin, wo man den Acker schwitzend bestellt und die Kinder mühsam und qualvoll geboren, nicht aber im Schlaf von sicherer Hand geschaffen werden?
Was verstehen wir bloß falsch an der großen, dramatischen Geschichte vom Sündenfall, die doch immer als der kosmische Bruch, als Scheitern der Schöpfung und Scheidung von Schöpfer und Geschöpf, als radikaler Sturz in die Gottferne gedeutet wurde?
Wie kommt es, dass die Bibel mit dieser Ab- und Ausschlussgeschichte allererst anfängt?
Ist der Gott, Der uns in die nunmehr vertraute Welt menschlichen Lebens, Liebens, Leidens geschickt hat, vielleicht ein Gott, bei Dem Ende Anfang ist und Strafe Gnade und Fluch Segen? ……. ——
So wird es wohl sein.
Denn die tiefe Verderbnis, die wir in der Erzählung von der Lust am verbotenen Baum zu sehen gewöhnt sind, ist eben nicht so radikal, dass ihr die Hölle folgte, sondern vielmehr die gesamte, bis heute fortdauernde biblische Heilsgeschichte! ———
Wenn ich also die Karten auf den Tisch legen sollte, müsste ich sagen, dass die urprotestantische Erbsündenlehre, die in der Konkordienformel – der letzten lutherischen Bekenntnisschrift – ungewöhnlicherweise durch den Rückgriff auf ein Lied begründet wird (das Lied, das wir eben gesungen haben[i]), mir verkehrt gefasst zu sein scheint; … ich müsste also sagen, dass ich nicht mehr evangelisch bin im Sinne jener beiden Grundüberzeugungen, die einst die Reformation mit auslösten und die das Zeitalter ihres Durchbruchs und ihrer Festigung in der Konkordienformel definitiv abschließen. Diese radikale Lehre, die ich nicht mehr teile, ist die Überzeugung von der völligen und ausnahmslosen Verdorbenheit der menschlichen Natur. Und die dazu gehörende Überzeugung vom versklavten menschlichen Willen, der von sich aus nie und nichts Freies vermag.
Diese beiden fundamentalen Lehren Luthers hat die evangelische Kirche in ihrem zeitgeistigen Freiheitsrummel beim Reformationsjubiläum zwar nach Kräften unter den Teppich gekehrt – aber die Tatsache ist nicht zu leugnen, dass die Angst vor der Werkgerechtigkeit vor fünfhundert Jahren dazu führte, dass man ein völlig entmachtetes Menschenbild als das geringere Übel dem fleißigen Verdienenkönnen der Gnade vorzog.
Der Mensch ist durch seine erste und letzte Entscheidung in Eden demnach so kaputt gegangen, dass er überhaupt nichts Gutes, wirklich rein gar nichts Gutes mehr ist und hat und kann: Das wäre also echte und konsequente evangelische Meinung. …….
Doch von einer solchen totalen Form der Erbsündenlehre spricht die einzige Autorität in dieser Sache gerade nicht: Die Bibel macht vielmehr vom Augenblick der fatalen Entscheidung gegen Gottes Warnung an deutlich, dass die sich mühende Menschheit in der unparadiesischen Welt immer wieder vor die selbe Wahl gestellt wird, vor der Adam und Eva standen.
Darum erzählen wir unseren Kindern ja deren Urerfahrung, darum vererben wir ihnen diese Sündengeschichte: Nicht, weil sie rettungslose verdorben wären, sondern umgekehrt, damit sie gerettet werden, indem sie in ihrer schicksalhaften Adam-und-Eva-Stunde nicht ahnungslos wiederholen, was ihr Vater und ihre Mutter, der Mensch und die Lebendige einst taten.
„Zweifelt nicht an Gott!“, das ist die Ur- und Erblehre, die sich aus dem Sündenfall der Erzeltern ergibt. „Gottes Warnungen und Seine Weisungen, was Gott gebietet ebenso wie das, was Er untersagt, Seine Hilfe, aber auch Seine Härte dienen Eurem Leben!“
… Wenn Ihr das bezweifelt, liebe Kinder Adams und Evas, wenn Ihr also nicht das Erbe des Vertrauens antretet, das auf dem Grund des Fehlers derer, die vor Euch waren, erwächst, dann wird Eure Zukunft düster und Euer Leben nur bedroht sein.
Wenn Ihr Euch so wie die Voreltern lieber vor Gottes Weisheit als vor der Euren verschließt, dann seht zu, wohin das führt: Immer und immer wieder führt die ungezügelte Lust an den Möglichkeiten, die uns Menschen ja doch so reichlich geblieben sind, in Fernen und in Tiefen, in denen der Mensch nicht Gott, sondern sich verliert.
… Doch wer den Menschen dann sucht, wenn er sich wieder neu verloren hat, wenn er wieder einen Garten verwüstet, einen Frieden gebrochen, ein Glück zertrampelt, einem Segen misstraut, einen Schutz verweigert hat … wer den Menschen noch sucht, wenn er Jahrtausende lang das Törichte geliebt und das Heilige verlacht hat, … wer den Menschen noch sucht, auch wenn der seinen treusten Hüter und geduldigsten Lehrer von Generation zu Generation verleumdet und verleugnet: Das ist Gott selber.
Er, Dessen angebotene Freiheit – schließlich war im Paradies ja bis auf eine einzige Vor- und Rücksicht alles erlaubt! – … Gott, Dessen Freiheitsangebot dem Menschen zu gering schien, verwirft trotz alledem nicht die ewig eigenwilligen, trotzigen Nachkommen des ersten Paares.
Nein, Er unterzieht sich der gleichen Versuchungen wie sie, so hörten wir es in Epistel (Hebräer 4, 14-16) und Evangelium (Matthäus 4, 1-11): Er lernt den Biss des Hungers, das Bohren der Zweifel, das Frieren der Angst am eigenen Menschenleib kennen, … Er trägt Versuchung, Anfechtung und Leid bis zum Ende.
… Was für einen Gott wir also haben! Einen Gott, Der nicht fallen lässt, wo wir fallen, und nicht in Sicherheit bleibt, wo uns die Unsicherheit umgibt; einen Gott, Der, wo wir kein Recht mehr haben, sondern bloß noch sündigen, sich selber „zur Sünde macht“ – so sagt es Paulus –, damit wir in Ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Ihm gilt (vgl.2.Kor5,21)!
Unser Gott ist Der, Der, wenn wir sterben müssen, nicht alleine leben will und also in den Tod geht!
Der Fluch, der den Betrüger und die Betrogenen, der Fluch, der Frau und Mann, Arbeit und Nahrung, Geburt und Sterben verknüpft …. er verbindet seither noch etwas: Gott nämlich und die Menschen. Denn nicht alleine sollten wir darunter sein, sondern auch der Fluch der Schmerzen und Mühsal, ja sogar noch der Fluch des Todes sollte uns mit Gott vereinen (vgl. Gal 3,13)! ——
Umso schaler, umso bitterer ist es darum, wenn wir auf die vergangene Woche zurückblicken. Aber auch konsequent ist das, was nun offen vor uns liegt.
„Sollte Gott wirklich gesagt haben: IcH Werde sein, der icH sein werde (vgl. 2.Mose 3,14)? Sollte Er wirklich dazusein versprochen haben? Zuverlässig? Immer?“ …….
… Nein, das können Ihm die Adams und Evas von heute nicht mehr abnehmen. Sie trauen Ihm nicht mehr. Trauen Ihm das nicht zu!
Sie erinnern sich zwar noch gut, dass Gott schon zur ersten Mutter aller, die da leben, gesagt hat „Ihr werdet des Todes sterben“. Dass Er aber auch gesagt hat, dass wer an Ihn glaubt, leben werde, ob er gleich stürbe (Joh11,25), das ist vergessen. Dass Gott gesagt hat, dass wer Seinem Weg folgt, nicht in der Finsternis wandeln, sondern das Licht des Lebens haben soll (vgl. Joh8,12), das ist unglaubwürdig geworden. Dass Gott geschworen hat: „Ich will sie aus dem Totenreich erlösen und vom Tode erretten. Tod, ich will dir ein Gift sein; Totenreich, ich will dir eine Pest sein; Rache kenne ich nicht mehr“ … dass Gott das in den Tagen Hoseas (13,14) versprochen und am dritten Tag nach Seiner eigenen tödlichen Passion zu erfüllen begonnen hat, das ist scheinbar völlig unbekannt geblieben.
Wie einst an jenem Tag in Eden so ist nunmehr für uns Heutige entschieden worden: Lieber soll der Mensch sich selbst den Tod pflücken, als sich auf Gott zu verlassen.
… Im Vergleich zur brutal bequemen Todsicherheit des Todes ist Gott zu unsicher!
… Besser der eigene Tod, als das Leben eines fremd gewordenen Gottes!
Das Bundesverfassungsgericht hat Adam und Eva jedenfalls freigesprochen: Das Recht, die eigenen - und seien’s tödliche!?! - Erfahrungen zu machen, geht über alles andere.
Und gewiss ist es nicht an uns Christen, irgendeinem Menschen dieses Recht auf die eigenen Entscheidungen und Erfahrungen abzusprechen.
Aber wir können die Hände zu Gott erheben und die Stimme vor der Welt, um dreier Anliegen willen:
Da sind erstens die – Millionen sind es und werden es bleiben! –, die niemals das gleiche Recht erfahren werden, auf das nun hierzulande Anspruch besteht: Das Recht, Schmerzen, Leid und Angst ganz selbstverständlich zu meiden. Das mag zwar vielen wie ein herrliches Recht, wie die letzte Freiheit erscheinen: Aber es trennt jene, die dieses Freiheitsrecht besitzen, von allen Menschen, die vor uns waren und von den meisten, die mit uns leben und auch nach uns kommen.
Gewiss: Rechthaben scheidet immer von denen, die Unrecht haben oder erleiden müssen. Aber dieses Recht, über den eigenen Tod so zu verfügen wie über den Anspruch auf ein Kind und den Termin seiner Geburt, … dieses Recht, unser Dasein rein als eigenes Erzeugnis hervorzubringen und dann auch wieder abzustoßen, scheidet uns nicht nur von der Masse der Menschheit, die ein Leben annehmen und schließlich auch wieder verlieren, das sie nicht sich selber verdanken, sondern dieses Recht scheidet uns auch von unserer ersten und unserer letzten, unserer tiefsten und menschlichsten Erfahrung. Der Mensch – auch der um Gut und Böse weiß! – ist nicht wie Gott geworden, aus dem gleichen Grund, aus dem Gott Mensch wurde: Weil Menschlichkeit – seit Adam ohne Eva unvollständig war – Angewiesensein und Hilfsbedürftigkeit bedeutet.
… Kommen wir zur Welt, so empfängt uns Hilfe, ohne die wir nicht sein könnten. Verlassen wir wiederum die Welt, so auch dann immer noch als Unbeholfene und Angewiesene … aber gerade darin eben auch als Nicht-Maschinen, als solche, die nicht alles alleine können und machen müssen, als solche, denen eine Hilfe gemacht ist (vgl.1.Mose 2,18!).
Wer nun aber in Zukunft noch leiden und Hilfe brauchen wird, der ist selber dafür verantwortlich zu machen. … Wer leidet und andere sein Leid erleben lässt, ist künftig schuldig. …
Das Recht, keine Hilfe zu brauchen, bedeutet also das Recht, mit der Menschheit zu brechen … gerade auch der eigenen, die doch seit dem Paradies und trotz seiner Verschlossenheit nicht zum Misstrauen, sondern zum Vertrauen bestimmt war.
Und das ist der dritte Bruch und Fall, der uns widerfährt, wo man sich alleine den Tod als Lösung für die Lebenslast verspricht: Wir erlösen uns zur Unerlöstheit. Denn den Erlöser, Der im schrecklich schweren Letzten treu ist, weil Er voranging, um uns auch im Sterben mit Seiner Hilfe zu umfangen, wo wir sie am meisten brauchen, Den finden wir nicht, wenn wir den Tod suchen.
Der Tod ist nämlich kein Mittel Gottes.
Bei Ihm ist Ende ja Anfang.
… Wo Er in Dunkelheit und Fremde verstößt, da führt Er die Seinen in Wahrheit durch die Welt nachhause, … und wo Er uns von Staub genommen hat, der wieder zum Staub zurückkehrt, da ist Er ja auch zum Erlöser geworden, Der sich als Letzter über dem Staub erheben wird, um uns Ihn sehen zu lassen (vgl. Hiob19,25).
Als Christ möchte ich darum lieber mit Gott in der Welt, als ohne Ihn im Paradies sein.
Und lieber sterbe ich, wenn Er’s gebietet, als einen freien Tod ohne Gott zu suchen.
… Denn Seine Güte ist besser als Leben (vgl. Ps.63,4)! ——
……. Das aber reicht für diese Zeit der Nachdenklichkeit, die uns durch’s Leben und durch’s Sterben mit Christus führt.
Amen.
[i] „Durch Adams Fall ist ganz verderbt menschlich Natur und Wesen“ (vormals: EKG 243) des Nürnberger Ratsschreibers Lazarus Spengler (1479-1534), auf das in der 1.Epitome der Konkordienformel („Von der Erbsünde“) wie auf einen Schriftbeweis verwiesen wird: Wir glauben, lehren und bekennen, daß die Erbsünde nicht sei eine schlichte, sondern so tiefe Verderbung menschlicher Natur, daß nichts gesundes oder unverderbt an Leib, Seel des Menschen, seinen innerlichen und äußerlichen Kräften geblieben, sondern wie die Kirche singet: „Durch Adams Fall ist ganz verderbet menschlich Natur und Wesen.“ (BSLK, 11.Aufl., Göttingen 1992, S.772)
Estomihi, 23.02.2020, "Halleluja und Helau", Mutterhauskirche, Peter Krogull
Büttenreden-Predigt 2020, Pfr. Peter Krogull
Halleluja und Helau,
Gott schuf uns als Mann und Frau!
In diesem Thema sind wir mittendrin,
nun kommen wir zu seinem biblischen Sinn.
Da fangen wir am besten am Anfang an,
als Gott schuf den Prototyp von Frau und Mann.
Adam und Eva, ihr kennt die beiden,
die konnten sich im Garten Eden ziemlich gut leiden.
Sie chillten nackig unterm Baum.
Das Leben war für sie ein Traum.
Zwischen die beiden passte kein Feigenblatt!
Lange Zeit ging alles glatt.
Das lag daran, dass Sie eines Fleisches waren.
Denn Eva kam mit Haut und Haaren
aus des Adams Rippe raus.
Für diese Stelle kriegt die Bibel nur selten Applaus.
Denn das klingt auf deutsch als sei die Frau nur ein Nebenprodukt.
Im hebräischen Original ist es etwas anders abgedruckt:
Da ist die Rede nicht von Rippe, sondern von Seite,
Die Frau als bessere Hälfte, dem Manne zum Geleite.
Eindeutiger ist zum Glück der erste Schöpfungsbericht.
Genesis eins bringt in das Geschlechterdunkel Licht:
Da heißt es klipp und klar und ganz genau:
Gott schuf den Menschen als Mann und Frau.
Beide sind sie Gottes Bilde!
Dieser Satz, der stimmt mich milde,
wenn ich an andere Stellen der Bibel denke,
bei denen ich mir manchmal das Gehirn ausrenke.
Ich denke da im Neuen Testament an den Epheserbrief.
Der verbreitet einen streng patriachalischen Mief:
„Das Weib sei dem Manne Untertan!"
Lieber Epheser, da hast du dich vertan!
Lies mal lieber das erste Testament!
Oder hast du da im Reli-Unterricht gepennt?
Da ist nicht nur die Rede von der Schöpfung als Frau und Mann,
sondern auch von dem, was die Frau so alles kann.
Stellvertretend möchte ich da die Miriam nennen.
Ich vermute mal, dass alle hier sie kennen
und wissen, wie Moses Schwester stand ihre Frau
bei der eindrucksvollen Schilfmeer-Überquerungsschau.
Wo vielen Männern noch schlotterten vor Angst die Knie,
da dachte sich Mirjam: Jetzt oder Nie!
Sie nahm eine Siegestrommel in ihre Hände
und sang laut: Danke Gott, für diese erfrischende Wellenwende!
Wie ein Ultra-Fan im Stadion
gab Mirjam an den Sieges-Ton.
Eine starke Frau! Die wird in der Bibel nicht verkannt,
sondern ganz eindeutig „Prophetin" genannt.
Wenn es schon im alten Testament eine Prophetin gibt,
warum ist die Frau als Priesterin in manchen Konfessionen unbeliebt?
Ich finde, es ist langsam an der Zeit,
dass man ziehe den Kreis der Geistlichen weit.
In alle kirchlichen Ämter gehören Frauen.
Selig die Kirchen, die sich das trauen!
Maria 2.0 küsst die katholische Kirche wach.
Hoffentlich werden da bald die Kardinäle schwach.
Doch will ich als Evangele heute nicht nur auf andere gucken.
Frauen im Protestantismus? Auch dieses Thema tut mich jucken!
Da sehe ich nämlich nicht alles rosarot.
Zwar sind viele Frauen als Pfarrerinnen in Lohn und Brot...
...doch magerer wird es, schaut man auf die Kirchenkreisspitzen,
weil da im Rheinland nur 9 Frauen, aber 28 Männer sitzen.
Und dürftiger noch, jetzt haltet euch fest,
wird es beim Landeskirchen-Test!
Denn noch nie gab es im rheinischen Lande,
eine Frau als Präses! Das ist zwar keine Schande,
aber im kommenden Jahr gibt es wieder eine Wahl,
vielleicht kriegt dann ja mal eine Frau die höchste Stimmenzahl.
Ich sage das nicht, weil ich hier dastehen will als der mega-emanzipierte Mann und auch nicht weil ich meine, dass eine Frau das grundsätzlich besser kann...
aber eine Frau an der Spitze wäre ein Spiegel der kirchlichen Realität, weil ohne Frauen in der Kirche gar nichts geht.
Da denke ich besonders an das Amt der Ehre,
dort geht auseinander die Geschlechterschere.
Weil viel mehr Frauen sich ehrenamtlich engagieren,
ohne sie würde die Kirche noch mehr Mitglieder verlieren.
Im Feld der Seelsorge, beispielsweise,
sind Männer im Ehrenamt auffällig leise.
Im aktuellen Kurs, den ich gerade begleite,
stehen 13 Frauen und 3 Männer Seite an Seite.
Diese Quote ist beim Ehrenamt ziemlich normal.
Trotzdem ist sie mir nicht egal,
denn Gott hat auch den Männern geistliche Gaben gegeben,
darum sollten auch wir unsere Popos bewegen...
...und in den Gemeinden helfen, wo Not ist am Mann.
Weil Seelsorge auch ein Mann gut kann.
Die Anmeldezeit für den kommenden Kurs ist noch nicht vorbei!
Vielleicht denkt ja heute ein Mann: Ich bin so frei!
Falls bei Erwin oder bei Kurt heute Interesse entsteht,
erzähle ich denen gerne nach dem Gottesdienst wie die Ausbildung geht.
Wichtig ist mir noch ein letzter Gedanke:
Zwischen die Geschlechter gehört keine Schranke.
Männer und Frauen und alle dazwischen:
Vielleicht können Geschlechter sich ja auch vermischen?
Eine abschließende Antwort auf diese Frage habe ich nicht:
Doch sage ich dazu heute im Karnevalslicht:
Jeder Jeck ist anders und das ist O.K.,
Der Ehre Gottes tut die Vielfalt nicht weh.
Im Gegenteil: Gott hat alle Menschen lieb.
Hetero, Homo oder Trans: Bei ihm fällt keiner durch das Sieb.
Ihm liegen alle Geschöpfe am Herzen.
Nur Intoleranz und Hass bereitet ihm Schmerzen.
Doch nun genug der vielen Worte,
Lasst uns jetzt singen an diesem Orte.
Schunkeln ist meinetwegen auch o.k.,
nur tue sich dabei bitte niemand weh!
Vorher komm ich nun zum Ende,
ohne eine überraschende Wende,
Nicht mit Helau, nicht mit Alaaf,
sondern so richtig evangelisch brav.
Mit einem einzigen knappen Wort:
Immer das Beste an diesem Ort.
Jeder Predigt gibt es den Rahmen.
Ihr wisst was ich meine, drum sag ich nun: Amen.
Septuagesimae, 09.02.2020, Stadtkirche, Matthäus 20, 1 - 16, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Septuagesimæ – 9.II.2020
Matthäus 20, 1-16
Liebe Gemeinde!
Wie vieles auch in dieser Woche an den Grundfesten des demokratischen Konsenses durcheinandergerüttelt worden ist – etwa, dass man in einem echten Prozess Zeugen und Beweismittel zu berücksichtigen hat und dass man die Wahl seiner Verbündeten über das eigene Gewählt-Werden stellen sollte, weil es in der Politik nicht um Macht allein, sondern um Verantwortung geht – …. wie vieles dieser Tage, da man Ministerpräsident für eine halbe Woche sein kann, also auch durcheinandergerät, so gibt es doch immer noch eine philosophisch-politische Grundfrage, die der Pausenhof und der Stammtisch genauso gut und eindeutig beantworten zu können meinen wie etwa die Schule des Aristoteles: „Was ist Gerechtigkeit?“
… Obwohl eine differenzierte Definition kaum jemandem zur Verfügung stehen wird: Die allermeisten Menschen sind sicher unbefangen bereit, in Sachen Gerechtigkeit ihrem Bauch zu vertrauen, ihrem Instinkt oder wie immer man das rein intuitive Empfinden nennen wollte, das ja schon kleine Kinder zu empörter Anzeige und Anklage befähigt, wenn sie voll Selbstverständlichkeit protestieren: „Das ist nicht fair“. – Rückfrage: „Was wäre denn fair?“ – „Jedenfalls nicht, wenn der andere gewinnt.“
Wem das nun zu naiv, zu wenig ernsthaft klingt, der möge die Politik und die Wissenschaft, die Steuerexperten, die Wirtschaftsweisen, … nicht zuletzt die Rechtsgelehrten befragen. Er wird die selbe Schwierigkeit antreffen: Dass nämlich, was immer man jeweils im Brustton der Überzeugung als „Gerechtigkeit“ schildert, an zu viel Subjektivität – Parteilichkeit also – oder zu reiner Objektivität – Wirklichkeitsfremdheit – leidet und darum nicht herrschen wird. ——
Und doch bleibt die Frage nach der Gerechtigkeit die wichtigste Frage des Menschengeschlechtes: Grundlage seiner Verschiedenheit von allem, was bloße „Natur“ ist, Motor seiner Entwicklung und vor allem sein zentraler Auftrag, sein heiligstes Gebot von Gott: „Trachet zuerst nach Gottes Reich und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch alles andere zufallen“ (Matth. 6,33).
Wer die Gerechtigkeitsfrage aufgibt, wer das Recht gar nicht erst sucht, weil er erkannt hat, damit in eine unlösbare Aufgabe einzuwilligen, … wer sich also weigert, nach dem Heiligen Gral zu fahren, den zwar alle Menschen Gottes vielleicht noch nie in ihren Händen hielten, aber unablässig vor Augen hatten, … wer also kurzum darauf pfeift, dass es so viel Ungerechtigkeit gibt und doch zugleich die Überzeugung, wie anders es sein müsste: Der macht sich schuldig, ehe er sagen könnte, was Unschuld und Schuld seien.
Gerechtigkeit zu begehren, zu bestimmen und zu schaffen, bleibt der Silberstreifen am Horizont der Weltgeschichte, der verhindert, dass alles nur in Finsternis verläuft. ——
… Wo aber bleibt denn nun Gott?
Wenn Er Gerechtigkeit ist und Gerechtigkeit fordert, warum setzt Er sie dann nicht einfach autoritär um: Wieso sind so viele Seiner Gebote eigentlich nur Einschränkungen und Verhinderungen von Bösem und nicht klipp und klar Befehle des Rechts? Warum wird nicht unmissverständlich markiert, genau was genau wie genau wann genau von wem genau geleistet und gemacht werden muss? …….
Die Frage zu stellen, heißt sie zu beantworten: Weil eine Welt, in der das Gute auf Kommando erfolgt und Gerechtigkeit eine Vorschrift erfüllt, eine Diktatur wäre.
Wo Gerechtigkeit dem Zwang gehorcht, herrscht also Unrecht.
… Das ist die Schwierigkeit der Gerechtigkeit: Dass sie Freiheit und Freiwilligkeit erfordert, um sich nicht selbst zu verhindern.
Gerechtigkeit, die den Namen verdient und nicht mit Widerwillen oder hasserfüllt zustande kommt, hat eben nichts von einer eigehaltenen Regel an sich, dafür aber alles von einer guten Gabe. Sie ist nicht der physikalisch statische Zustand, dass jeder das Gleiche hat, wie jeder, … dass kein Gut, kein Ding, kein Recht in unterschiedlicher Weise verteilt werden könnte, weil alles unabänderlich festliegt, … dass jeder nur tun soll, was jeder tut und einer nur muss, was alle müssen.
Statt solcher Erstarrung muss Gerechtigkeit ein freies Spiel der Kräfte, ein Durch- und Füreinander der Schwächen und der Stärken sein, eine Bewegung, die das Leben trägt. … Nicht Eis, sondern Fluss.
Niemand hat das jemals lebendiger und besser und weiter weg von dürren Definitionen zu sagen vermocht, als der sozialkritischste aller Propheten, Amos, bei dem es heißt (5,24): „Es ströme das Recht wie Wasser und Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“.
So ist Gerechtigkeit: Nie festzuschreiben, immer im Strom des Lebens, ein Geschenk des Guten an die Wirklichkeit, … das Geschenk der Wirklichkeit des Guten. ———
Das war – wie jedermann bemerkt haben wird – der dritte Teil der Predigt, der „Was lernt uns das?“-Abschnitt, die zusammenfassende Anwendung.
… Bloß warum so früh?
Warum nicht schön erst erzählen, dann deuten, dann schlußfolgern?
Weil Jesus sein Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg so angelegt hat, dass es theoretisch nicht auf eine beruhigende, leicht fassbare Pointe, auf eine bündige Moral hinausläuft, sondern auf blanken Anstoß.
… Kein Mensch kann diese kleine Dichtung von einem ganz normalen Tag der Tagelöhner hören, ohne sich am Ende unwillkürlich mit zu ärgern.
Denn da kitzelt Jesus unser Stammtisch- und Schulhof-Bauchgefühl so stark, dass man wirklich gereizt reagieren muss: Es ist einfach nicht fair, die Knochenarbeit eines ganzen Tages nicht besser zu belohnen als das Stündchen Nachlese derer, die erst nach dem Ende der schrecklichen Hitze, die sie irgendwo im Schatten verdösen durften, noch ein bisschen rege waren! Es ist nicht fair, dass Schuften nicht mehr wiegen und bringen solle, als das Liegen auf der faulen Haut!
… Gewiss: Am Morgen, als alle noch Konkurrenten um den Tagesverdienst, um das tägliche Brot, das man erst am Abend bezahlen kann, waren, da hatten die einen Glück, weil der Ruf sie traf, und die anderen Pech, weil ihr Magen, je länger ihre Muße blieb, desto unheilvoller zu knurren begann. Bei Schichtbeginn haben die früh Geheuerten gefeixt und noch am Nachmittag sahen die Übriggebliebenen der Not entgegen. … Aber warum konnten die Verhältnisse nicht trotzdem objektiv gewahrt bleiben und alle dennoch satt werden …, nur die harten Arbeiter eben etwas satter?
… Wieso musste die übertriebene Großzügigkeit des Weinbergbesitzers die Zufriedenheit über einen an sich angemessenen Lohn verderben?
Wieso konnte das psychologische Gesetz nicht berücksichtigt werden, dass erst Vergleichsmöglichkeiten schrumpfen und nachdunkeln lassen, was uns eben noch reichlich und hell vorkam?
… Wieso erzählt Jesus ein so weltfremdes und der menschlichen Natur zuwiderlaufendes Geschehen überhaupt?
Wieso reizt er den Wutbürger in uns, der - je nachdem - in den Asozialen, den Leistungsschwachen, den Schmarotzern, denen, die nicht von Anfang an dabei waren, Verwöhnte, Bevorzugte oder schlicht „Schädlinge“ sieht … scheel, scheel, scheel??! …….
… Vierzig, fünfzig Tage nach Weihnachten – als wir alle ihn noch einfach lieben konnten – … das ist ja nur sechzig, siebzig Tage vor Golgatha: ……. Und man gewinnt beinah den Eindruck, als habe Jesus es darauf angelegt, möglichst provokant, möglichst unpopulär, möglichst verwirrend in alle menschlichen Maßstäbe und Muster hinein- und sich damit bewusst um Kopf und Kragen zu reden.
Pass auf, Du, Jesus!
Unser Stammtischgefühl, dass wir ja nicht ganz ahnungslos sein können, was richtig und was verkehrt, was angemessen und was unzumutbar ist, weil wir ja schließlich auch was von der Welt verstehen … unser Stammtischgefühl ist uns verdammt nochmal heilig! Da können Amos und Aristoteles uns viel erzählen von ihren schwammigen Gerechtigkeitstheorien – Gerechtigkeit „wie Wasser“ oder abstrakt wie eine Algebraformel als ausgleichende, distribuierende, Billigkeit herstellende Funktion: Das ist alles das Gewäsch solcher, die nie zusehen mussten, dass der Lohn ihrer harten Arbeit nicht von den Bedürfnissen irgendwelcher anderer geschmälert und ihre Zufriedenheit verdorben wird durch die billige Tour, auf die so viele sich ein schönes Leben machen.
Jesus, erzähl’ Deine verdrehte, unlogische, sinnlose Geschichte wem anders!
Sonst wundert uns nicht, was Dir in septuagesimæ Tagen blüht! ———
Das war der Mittelteil der Predigt, der das Problem herausarbeitet, das es zu verstehen, das es zu durchdringen gilt: Jesu zu allen Zeiten und also auch ursprünglich wahrhaftig anstößige Gleichberechtigung der Nachzügler mit denen, die einen Vorzug haben müssten … historisch gesprochen: Der Heiden mit den ersterwählten Juden; soziologisch aber immer auch schon eine Parteinahme für die Benachteiligten, für das Lumpenproletariat, für die Chancenlosen, die bei ihm in jeder Hinsicht das selbe Gewicht wie die Eifrigen und Glänzenden und Vollkommenen haben. ———
Wie aber soll denn nun der wirklich dritte Teil, das Fazit der Predigt über die fair bis üppig entlohnten Erntehelfer, in denen wir die Menschheit am Ziel ihrer Anstrengungen erkennen müssen, ausfallen?
Soll es bei der Überlegung zur Freiheit und zum Gabecharakter der Gerechtigkeit bleiben?
– Der Gedanke ist nicht neu. Johann Gottfried Seume hat in einem Gedicht über das Recht, in dem er die Gerechtigkeit als Bauwerk vorstellt, festgehalten:
„Die strenge Pflicht, die der Vertrag erzwingt, / bleibt ewig Grund zu dem Gebäude; /
doch Milde nur und Güte bringt /ins leere Haus den Harrenden die Freude.“[i]
Dass Gerechtigkeit nicht das Starre, sondern das ist, was über den reinen Buchstaben des Gesetzes hinausgeht, ein Überfluss, der das Formale des Rechtlichen übertrifft, das kann man also auch ohne das Evangelium erkennen und lernen.
Und dass die sture Rechthaberei unchristlich ist, die den weniger Beteiligten, den weniger Befähigten, den weniger Bemühten grundsätzlich auch immer nur proportional weniger von allem zuerkennt und gönnt, das ist ebenfalls eine alte und nichtsdestotrotz wahr Erkenntnis. Ja, tatsächlich: Jesus ist der Parteigänger der Armen gegen die Reichen; er hat mehr übrig für die, die weniger haben, sind und können; und er wurde nicht nur unter Pontius Pilatus gekreuzigt, sondern auch seit seiner Auferstehung wieder und wieder verworfen, weil das Evangelium die Weltanschauung der Wohlhabenden und Abgesicherten zum Einsturz freigibt.
Eine sozialkritische Betrachtung als Predigtschluss wäre also keine gewaltsame Fehldeutung; ein befreiungstheologisches Plädoyer zugunsten der übersehenen Massen, denen materiell wie geistlich mindestens das zusteht, was wir für uns beanspruchen, wäre keine abwegige Verirrung, sondern schriftgemäß, … obwohl der Applaus von der nächste Woche vielleicht schon zu erwartenden Thüringer Minderheitsregierung auch nicht gerade beruhigend wäre. ……. ——
Doch die eigentliche Botschaft des Gleichnisses, das wir etwa auf der Mitte zwischen dem Geburtsfest und dem Todestag Jesu hören, geht weder in einer Theorie noch einer Partei der Gerechtigkeit auf.
… Sondern in der Person Christi: Um Ihn geht es uns, wenn es um Gerechtigkeit geht.
Nicht philosophische und nicht politische Gründe sind es ja, die im Gleichnis die befremdlich großzügige und doch unanfechtbar berechtigte Haltung des Weinbergbesitzers bestimmen, sondern allein seine ureigenste Entscheidung. Er hätte zwar Zulagen und Abzüge ganz anders zumessen können, aber es hat ihm gefallen, dass alle das empfangen sollten, was als Lohn für ihre Mühe unzweifelhaft gerecht, … in den meisten Fällen aber zudem auch fraglos gnädig ist.
Ein reiner Überfluss an Güte zeigt sich also in der Gerechtigkeit des Dienstherrn.
Und das ganze Matthäusevangelium, das mit dem heiligen Gebot: „Suchet zuerst die Gerechtigkeit des Reiches Gottes“ anfängt, wird spätestens durch die antwortlose Frage „Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin?“ zur Botschaft von der Rechtfertigung.
Was wir suchen sollen, ist also nicht ein Programm oder ein Plan, die unsere Gerechtigkeit kodifizieren oder quantifizieren könnten, sondern Den sollen wir suchen, Der sie jedem nach Seinem Wohlwollen schenken kann.
Denn Ihm – so schließt ja das Matthäusevangelium – Ihm ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden (vgl. 28,18)
Und darum gilt von Ihm, dass Er Macht hat zu tun, was Er will, mit dem, was Sein ist.
Er ist also der Herr. Und Seine Güte ist der Maßstab Seines Rechtes.
Vor dieser unglaublichen Güte aber, die den Verlierern und Verlorenen den vollständigen Gewinn zumisst und den Gottlosen Gnade schenkt, … vor dieser unglaublichen Güte, die die Sünder rechtfertigt, müssen die Weisheit und der Anspruch unseres als bloßes Bauchgefühl eingebildeten Rechtsempfindens schweigen.
Da gilt nur (Dan9,18 = Wochenspruch an Septuagesimæ): „Wir vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf Deine große Barmherzigkeit.“
Dann allerdings muss all unser Besserwissen und Besserseinwollen auch wirklich enden.
Wenn aber unser Gefühl, unsere vermeintliche Intuition von dem, was recht und billig sein soll, von Gottes Barmherzigkeit so überholt wird, dann wird aus dieser Predigt, in der das Letzte das Erste war, das Erste das Letzte: Dann ist Barmherzigkeit die Gerechtigkeit der christlichen Gemeinde und alle unsere Ansprüche werden zu Vertrauen.
Und in diesem Vertrauen sollen wir gehen und sie suchen und üben und leben: Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, … die Gerechtigkeit Jesu Christi, die uns allen – Sündern und Gerechten, Reichen und Armen, Starken und Schwachen, den Früheren und den Nachgekommenen, jetzt und künftig – nach Seinem gnädigen Willen widerfahren soll. Die Gerechtigkeit, die Barmherzigkeit, die in Christus sind.
Amen.
[i] Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syrakus, 1.Abteilung, in: Ders., Gesammelte Schriften, hhg. v. J.P.Zimmermann, 2.Bd., Wiesbaden 1823, S.44.
Letzter So. nach Epiphanias / Darstellung des Herrn, 02.02.2020, Stadtkirche, "Wie schön leuchtet der Morgenstern" (Liedpredigt über EG 70), Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.II.2020 – Darstellung des Herrn
„Wie schön leuchtet der Morgenstern“ (EG 70)[i]
Liebe Gemeinde!
Philipp Nicolai[ii], dem wir mit die allerschönsten Choräle unserer evangelischen Kirche verdanken – das Brautlied vom Morgenstern und das Hochzeitslied „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (EG 147) – … Philipp Nicolai war unsympathisch, borniert und voll rechthaberischen Misstrauens.
Wenn man eine Ursache der unangenehmsten Nationaleigenschaften unseres Volkes suchen wollte – mit seiner Kleinkariertheit, seinem Nachbarschaftsbespitzelungszwang, seinem engen Konformismus –, dann stieße man wohl unweigerlich auf die geschichtlichen Einflüsse, die einen Menschen wie Philipp Nicolai und seine Brüder Jonas und Jeremias prägten: Sie waren die erste Generation geborener Protestanten; sie hatten keinen reformatorischen Aufbruch zur Freiheit mehr miterlebt, sondern wurden groß im Schatten der um ein Haar gescheiterten sächsisch-hessischen Sonderlehre mit ihren Katechismuswahrheiten von fürstlichen Gnaden; und selbst da, wo die lutherische Sache Verbündete wusste – in den freien Reichsstädten, in den Hanselandschaften längs der Ostsee, im alemannischen Raum Südwestdeutschlands und der Eidgenossenschaft und in Osteuropa bis weit in die ungarische Puszta – … selbst da, wo also nicht der alt böse Feind Land und Seelen beherrschte, sah man mit bitterer Missgunst und schrecklichem Verfolgungswahn lauter Feinde die reine Lehre bedrohen: Die Rotten der Täufer, der Schwärmer, der Sekten und das Monster der reformierten Lehre, die viel radikaler als das Luthertum die Ordnung und das Wesen der alten Zeit umkrempelte, bis eine frühe Form der Selbstverwaltung und der Mitbestimmung die calvinistischen Gemeinden zu Schmerztiegeln der Neuzeit machten.
Der brave Lutheraner Nicolai und die Seinen waren also umzingelt.
Und ihre Theologie gefror. Sie hüteten eisern den Barbestand der Wahrheit. Ihr Auftrag lautete, diesen Grundstock erbarmungslos zu schützen und potentielle Mitbewerber um den öffentlichen Kredit – also den Glauben der Menschen – ruchlos auszuschalten: Das Ergebnis war die Zeit der wahnhaften konfessionellen Vorverurteilungen und der innerprotestantischen Säuberungskriege, die in der Geschichte Europas zu Hexenjagden, Gesinnungsschnüffeleien, ideologischer Intoleranz und der Ausschaltung des jeweiligen geistigen Gegners führten, … Grundhaltungen wie wir sie heute so unverhüllt und massenhaft wieder erleben. —
Leider hat die Kirchenspaltung tatsächlich diese Kultur eines Bürgerkriegs aller gegen alle hervorgebracht, … diese Unkultur eines totalen Kampfes um die Wahrheit.
Weshalb Philipp Nicolai, wenn er heute zufällig als sein jüngeres Ego – als der Student der evangelischen Theologie in Erfurt und Wittenberg oder als verbissen kämpfender junger lutherischer Pfarrer in Herdecke oder im Kölner Untergrund, ja selbst noch als Erzieher seines künftigen Landesherrn, des Grafen Wilhelm Ernst von Waldeck – hätte hier sein sollen, sofort unter wildem Protest aus unseren Gottesdienst gestürmt wäre: Unser reformiertes Kirchlein hätte ihn an seine erklärten Erzfeinde – die Calvinisten in den Niederlanden und in der Pfalz – erinnert, und seine eigene musikalische Schöpfung, die Melodie des Morgenstern in der gewaltigen, herrlichen Fassung eines katholischen Künstlers (Max Reger) zu hören, so wie wir sie eben hörten, wäre ihm als eine an Gotteslästerung grenzende Folter erschienen. ……. ——
Das ist der Preis der auf dogmatische Wahrheit und den Anspruch eines absoluten Rechthabens fixierten Abwehrkonstellation der gespaltenen Kirche: … Den Glanz des Morgensternes und aller Schönheit des Himmels und der Erden, … die für sich selber sprechenden Erfahrungen der Liebe und des Geliebtwerdens, … die jedes Argument überbietende Logik des puren Vertrauens, … die schlichtweg unbeweisbare Urkraft der Hoffnung, … alles also, was die Seele empfangen und empfinden kann, auch wenn die Schulbücher und der offizielle Jargon der Theologie es nicht absegnen oder wiedergeben, ……., alles das kann ein Vertreter der als rein definierten Lehre einfach nicht wahrnehmen, darf es nicht anerkennen, vermag es nicht mitzuteilen. ……. ———
Doch dann kam der Tod.
… Philipp Nicolai war inzwischen wieder in Westfalen, als lutherischer Pfarrer von Unna, … in konfessionelle Grabenkämpfe verwickelt wie eh und je.
……. Indes: Die Gräber, die sich damals grauenhaft öffneten, sollten ihn verändern. Im Sommer 1597 brach in Unna die Pest aus, um erst zu Beginn des Jahres 1598 zu erlöschen. Während dieser ganzen Zeit unvorstellbarer Schrecken wohnte Nicolai im Pfarrhaus mitten auf dem Kirchhof, und unter seinen eigenen Fenstern begrub er auf dem Höhepunkt der wütenden Seuche Tag für Tag zwischen 20 und 30 Menschen.
Er roch auf Schritt und Tritt, wachend und schlafend ihre Verwesung; Sterbende und Trauernde waren seine ganze Gemeinde; Horror und Verzweiflung beherrschten die Wirklichkeit jener Monate. … Das Rechthaben aber, die aggressive Rechtgläubigkeit, das intolerante Wahrheitsmonopol: Sie wurden plötzlich nebensächlich.
… Und aus der Theologie eines Besserwissers wurde Theologie der Hoffnung. Aus Haarspalterei und dem auch uns vertrauten Korrektheitsterror, der genau abzirkelt, was gesagt oder gedacht werden darf, wurde die befreiende Weite der Zuversicht, wurde die Atmosphäre des Reiches Gottes, in dem nicht Kleinigkeiten entscheiden, sondern das Ganze versöhnt wird und willkommen ist.
Mitten in der radikalen Sterblichkeit jener Pestepidemie entstanden so in Philipp Nicolais seelsorglichem Trostbuch „Freudenspiegel des Ewigen Lebens“ die schönsten Zeugnisse eines unbeirrbaren biblischen Glaubens an das Leben und einer grenzenlosen persönlichen Lebensfreude.
Wer die beiden mitreißenden hochzeitlichen – also höchstfestlichen – Choräle, mit denen Advents-, Weihnachts- und Epiphaniaszeit bei uns Evangelischen gerahmt und erfüllt werden – das Wächter- und das Brautlied – , jemals wirklich gesungen und geteilt hat, der muss ja ahnen, dass es eine pulsierende Vitalität des Glaubens gibt, die anderen Gipfelerfahrungen der Ekstase in Nichts nachsteht: Seien es die Momente reinster Daseinsfülle im Sport, im Sieges- oder Freudentaumel, in der Entfesselung durch Lachen oder Lust oder im unmittelbaren Liebeserlebnis.
Solches nicht mehr steigerungsfähige Glück, das aus allem schöpft, was es an Farbe und Klang, Geschmack und Duft, was es an geistlichen Affekten und Emotionen aber auch an leiblicher Empfindung nur geben kann, besingt Nicolai in der ursprünglichen, ungeglätteten und überraschend sinnlichen Gestalt des Morgensternliedes geradezu schwelgerisch: In orientalischer Fülle – angelehnt an den biblischen Hochzeitspsalm 45 und das hemmungslose Hohe Lied der Liebe – werden die Zustände und Zutaten reinsten Liebesgenusses auf die Verbindung zu Christus übertragen.
… Da wird beschenkt und gezuckert, gejuchzt und geliebäugelt, da wird einverleibt und ausgetauscht, da tanzen sie und applaudieren einander, da sprühen Geschmeide äußerliche Funken und innerlich wiederholt sich die Schöpfung, bei der im Fleisch zweier Wesen doch nur ein gemeinsames Gerüst nachweisbar ist, die Rippe, die Adam mit Eva teilt[iii].
Es ist beinah unglaublich, welche Direktheit ein so strenger Kirchenmann sich erlaubt, wenn er ohne Scham und Geschlechtergrenzen seine eigene Person, die innere Anima, die Seele sich ganz natürlich nach der Nähe des geliebten Gottessohnes verzehren, an der innigen Partnerschaft mit ihm sich enthusiastisch freuen und in der völligen Vereinigung mit ihm sich wärmen und Leben schenken lässt[iv].
… Und alle diese ganz unmittelbaren, ganzheitlichen Erlebnisbilder klingen wie selbstverständlich: Weltlich-schön, ästhetisch, psychosomatisch ganz offen und eben kein bisschen sublimiert, kein bisschen hinter Hüsteln oder Umschreibungen verkappt.
Überdies gelingt Philipp Nicolai dabei aber auch noch das Kunststück, ausdrucksvolle, spontan wirkende Gefühlslyrik in symbolhafte Form zu gießen: Sieben (!) Strophen aus jeweils zwölf (!)nZeilen, die im Druckbild Kelche darstellen, aus denen tagtäglich das Leben strömt; und dieses als sakramentales Sinnbild Gedruckte dann wieder verlebendigt durch eine textgemäße Melodie, die lautmalerische Steigerungen erblühen lässt und zugleich atemkonforme sprachrhythmische Aufzählungen des vielen Guten und Schönen wiedergeben kann.
Ein Meisterwerk in Wort und Laut und Bild, das dennoch nur aus frischen Eingebungen zu bestehen scheint…. ——
Doch genug davon.
Die entscheidende Frage an diese sogenannte „Königin der Choräle“ ist eine andere: Nämlich, ob diese Blüte der Lebensfreude nicht eine Form von Weltflucht sei, … da sie doch unzweifelhaft die Seligkeit und die Fülle des Glücks beschreibt, die den Christen im Himmel erwartet?
Trifft hier nicht also der religionskritische Rundum-Vorwurf genau zu, dass der Glaube aufgrund seiner Ohnmacht und Sinnlosigkeit in der Gegenwart sich stets nur Vertröstungen schafft, … eine herbeigesehnte Gegenwelt, in die projiziert werden kann, was nun einmal konkret ausbleibt oder im Diesseits – warum auch immer – nicht gesucht werden soll? …….
—— Oder hat das Christentum vielleicht doch eine umgekehrte Logik, eine Linie, die seine Kritiker regelmäßig verwirrt, weil sie ihr nicht von innen heraus – im Fluss sozusagen – folgen, sondern nur auf den letzten, für die Kritiker anstößigen Etappen kurz vor der Mündung, an der alles gewaltig ins Ewige strömt, ihre Beobachtungsposten beziehen?
Gewiss: Der christliche Glaube ist die Botschaft vom ewigen Leben … trotz aller selbst-mörderischen Verleugnung seitens einer selbstzensierenden, sich selber säkularisierenden Theologie der Neuzeit.
Die christliche, die biblische Botschaft weist über alles, was sie zur Gegenwart unter den Bedingungen des Leidens, der Schuld und des Todes zu sagen hat, hinaus auf eine kommende Welt und auf ein neues Leben, das bleibt.
Ja, das Christentum ist also tatsächlich die Offenbarung, die Verkündigung und das Bekenntnis des der Wirklichkeit noch bevorstehenden Endes der Endlichkeit und des Durchbruchs der Ewigkeit durch alle Schranken, die uns heute noch von der Erkenntnis, der Nähe und der herrlichen Liebe Gottes trennen.
… Ja! Ja! … Tausendmal Ja!: Wir Christen sind Gläubige, die ihr Ziel und ihre Erfüllung jenseits der Grenzen suchen, in denen die landläufige Auffassung von Realität sich beschränkt.
Ja, wir erwarten, dass die Transzendenz – das Entzogene, das Unbekannte, das Unvergängliche der Gegenwart Gottes – sich als das Wesentliche zeigt, wenn alles andere sein derzeitiges, vorübergehendes Wesen einst verloren haben wird.
Ja, wir freuen uns und hoffen auf das, was das Himmelreich sein wird.
……. Aber doch nicht, weil wir die Welt verdrängten, das Leben geringschätzten, das Irdische verachteten!
—— Im Gegenteil! Im Gegenteil:
Die Bibel – das Buch des ewigen Lebens – fängt an mit der Erschaffung von Himmel und Erde, von Zeit und Raum und Materie!
Und das Zeugnis Israels ist ein geschichtliches, politisches, alltäglich-menschliches Zeugnis vom Leben nach Gottes Willen in den Gegebenheiten aller Welt!
Und das Herzstück unseres Glaubens ist die vollständig schutzlose, persönliche Beteiligung Gottes am Menschsein zwischen Geborenwerden und Sterbenmüssen!
Wie könnte denn wohl eine so welt- und lebensnahe Glaubensurkunde, wie könnte eine so intensive Verflechtung und Verpflichtung Gottes und der Erde, wie unser Credo sie bezeugt, zu Weltverleugnung oder einem Ausweichen vor der Realität führen? …
Genau umgekehrt ist es doch: Weil uns Christen die Schöpfung des Schöpfers heilig ist, weil wir die Wunder der Welt als Seine Werke und Gaben betrachten und weil wir das Leben im Fleisch, das Er mit uns gemeinsam hat, darum auch so lieben dürfen, weil Er Sich darin offenbart hat … darum sind wir wie Philipp Nicolai von einer unbändigen Zuversicht und Begeisterung für das Leben durchdrungen.
Und darum können wir sein Ende, seine Zerstörung und sein Verlöschen nicht ungerührt hinnehmen.
Zwar kann die Auslieferung an das, was das Leben vernichtet, wie bei Nicolai dazu führen, dass all unsere Selbstbeschäftigung endet, dass alle unsere Ansprüche an Wahrheit oder Recht oder Eigensinn sich auflösen und verdampfen, weil plötzlich ganz nebensächlich wird, was wir eben noch im verzerrten Maßstab wichtig nehmen zu müssen meinten.
Aber gerade dann tritt uns doch die herrliche und unvergängliche Gnade umso mehr und umso tröstlicher vor Augen, dass wir schon hier – in der Schönheit von Natur und Kunst und Geist und Liebe – Dinge empfangen haben, auf die wir kein Recht geltend machen könnten. Und dass Gott, Der das Leben so kostbar und so hinreißend gemacht hat – obwohl es so zerbrechlich und kurz nur ist –, eine noch weit größere Verheißung darin angelegt hat: Dass Er nämlich der Herr und Geber des Lebens bleibt und dass die Gemeinschaft mit Ihm darin – in der Liebe Seines von den Toten auferweckten Sohnes – auf Ewigkeit angelegt ist!
Davon singt Philipp Nicolai in der Pestzeit in Unna: Dass das arme Leben, das uns schon so herrliche Dinge erfahren lässt, wie sein Morgenstern-Lied sie ekstatisch und zugleich doch ganz natürlich schildert, … dass dieses arme Leben ein Vorbote und ein Vorgeschmack dessen ist, was alles sich tiefer noch zeigen, echter noch uns umgeben und endlos unsere Freude und Wonne sein soll.
Und genau das ist ja die Botschaft der heute endenden Weihnachtszeit (1.Joh1,2): „Das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist.“
Und weil es in dem Kind – winzig, zart, wirklich – erschienen ist, darum kann der alte Mann, der wir alle sind, … der Mensch, dessen Zeit unwiderruflich vergeht, so getrost sein, dass er im Blick auf dieses neugeborenen Leben, das er selbst schon sehen durfte, im Frieden sterben kann[v].
Weil Christus gnadenbringend erschienen ist und weil Seine Geburt nicht nur die dreißig Jahre, die ihr bis Golgatha folgen sollten, bringt, sondern dies: Ewiges Leben!
Amen.
[i] Im festlichen Gottesdienst zu „Lichtmess“ erklang die Choralphantasie „Wie schön leucht’t uns der Morgenstern“, Op.40 Nr.1 von Max Reger (1899), gespielt von Arno Ruus.
Ein Gottesdienstblatt bot die originale – im Internet leicht einsehbare – Fassung des Chorals von Philipp Nicolai.
[ii] Keine der Darstellungen Nicolais – seien sie erbaulich, seien sie wissenschaftlich – kann verschleiern, dass er in seinem anticalvinistischen und antikatholischen Furor eine überdurchschnittliche Aggression auch im Vergleich zu den grob-polemischen Sitten seines Zeitalters verbreitete. Wichtiges ist umfassend der Darstellung durch Martin Rößler zu entnehmen, der Philipp Nicolai in seinem Referenzwerk „Liedermacher im Gesangbuch – Liedgeschichte in Lebensbildern“, Stuttgart 2001, ein ausführliches Kapitel widmet (S.302-338). Selbst in der betulichen und hagiographischen Darstellung Philipp Nicolais von Wilhelm Nelle im alten Sammelwerk „Unsere Kirchenliederdichter – Bilder und Bildnisse aus der Geschichte des evangelischen Kirchenliedes. Bd. II,“ (2.Auflage, Hamburg - o.J. [vermutlich 1905]) heißt es nach der Schilderung der bitteren Ausfälle Nicolais gegen die Calvinisten: „Grausige Sprache eines theologischen Parteihasses!“ (aaO, S.25).
[iii] In der 3.Strophe heißt es bei Nicolai ursprünglich: „Vnd erfreuw mich / daß ich doch bleib / An deinem außerwehlten Leib / Ein lebendige Rippe“. In dieser besonders leidenschaftlichen Strophe achtet der sonst erkennbar geschulte Poet im Weiteren absichtlich nicht mehr auf Reime: Der Taumel innerer Verschmolzenheit macht solches äußere Regelwerk sinnlos.
[iv] Die 4. Strophe enthält bei Nicolai die Zeilen: „Nimm mich / freundtlich / Jn dein Arme / Daß ich warme / Werd von Gnaden“, die das bibelkundige Zeitalter des Dichters vermutlich an 1.Könige 1, 1ff erinnerten.
[v] Das Evangelium des Tages der Darstellung des Herrn (Lukas 2,22-35) steht im Hintergrund der gesamten Predigt.
3.So.n..Epiphanias, 26.01.2020, Stadtkirche, Apostelgeschichte 10,21 - 35, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.n.Epiphanias - 26.I.2020
Apostelgeschichte 10,21-35
In diesem Gottesdienst feierte der verehrte Amtsbruder, Vorgänger und Freund, Pastor Achim Engels mit der Gemeinde seinen 90. Geburtstag. Ihm ist die Predigt in dakkbarer Verbundenheit in der geteilten zweifachen Liebe zu Christus und Israel gewidmet.
Liebe Gemeinde!
Landschaft auf der Landkarte lässt sich leicht lesen: Norden und Süden sind klar, Meer und Land und Höhenunterschiede sind alle eindeutig markiert und man spaziert mühelos über die wissenschaftlich genaue Skizze dahin. … Leider nur ist die Orientierung im wirklichen Gelände ganz anders und auch das Bewältigen der auf den Meter genau erfassten Entfernungen wird zu etwas ganz anderem, wenn man’s nicht auf dem Atlas, sondern auf der Landstraße unternehmen soll.
Genauso wie mit dem Raum verhält es sich auch mit der Zeit: Der Kalender besteht aus lauter exakten, gleichen Einheiten, in denen wir säuberlich und logisch schlüssig alles unterbringen könnten, was ansteht und sich vollziehen soll. Selbst ein Schaltjahr ergänzt das System nur um eine weitere 24-stündige Größe, … weil die 5 Stunden 48 Minuten und 45 Sekunden, die eigentlich pro Kalenderjahr überschüssig wären und nicht in das geordnete Ganze passen wollen, eben zu unregelmäßig sind, um anders als gerundet von uns erlebt zu werden.
Wirklichkeit ist nämlich schwieriger zu fassen als Theorie. Darum ist sie mit ihren räumlichen Unebenheiten, mit ihren plastischen Hindernissen und Grenzen und ihren zeitlichen Dehnungen und Sprüngen und völligen Anomalien etwas ganz anderes als man bei reiner Außenbetrachtung meinen sollte:
Was könnte schon zwischen Helmstedt und Marienborn für ein Zauberbann liegen, dass die paar Kilometer zwischen beiden Orten mehr als bloß ein kleiner Spaziergang wären?
Was sollte zwischen Januar 1933 und Mai 1945 schon Exorbitantes haben geschehen können, dass kein Zeitabschnitt der Menschheitsgeschichte diesen hundertpaarunddreißig Monaten zu vergleichen wäre? ——
Ja, …., was unterscheidet stets vergleichbare Maß- und Kalendereinheiten in Raum und Zeit so sehr voneinander, dass ihre scheinbar neutrale Logik eigentlich zum Trug, zur Täuschung führt? … Es ist der Mensch. Der Mensch, der aus etlichen hundert Metern einen Graben macht, der unüberwindlich wird. Der Mensch, der nur wenige Sonnenjahre braucht, um eine so ungeheuerliche Finsternis zu verbreiten, wie sie eigentlich nicht von dieser Welt sein kann. ———
Zeit und Raum mögen klar und konstant sein und die Weisheit des Schöpfers bezeugen; der Mensch aber macht sein Chaos aus ihnen, … in den Tagen Noahs, … im 20.Jahrhundert, … in der Epoche, die wir gerade verschwommen vor uns zu ahnen beginnen.
Was aber macht Gott? …….
Es wäre einfach und unwürdig – unwürdig für Ihn wie für uns –, wenn Gott wie ein Zimmermädchen ständig bloß wieder Ordnung machte, wo wir Menschen das heillose, schreckliche Durcheinander anrichten, auf das wir uns so gut verstehen. Wenn Gott nur geradeböge, was wir krümmen, wenn Er nur zusammenstückte, was wir zerfleddern, wenn Er nur herrichtete, was wir zugrunde richten … – und Er tut das alles wahrhaftig und zuletzt ja doch! …. wenn aber Gott nun nur das Aufräumkommando hinter der Spur menschlicher Verwüstung wäre, dann wäre Er ein Knecht der Sünde und ein Handlanger des Bösen, indem er die Müllabfuhr der Welt darstellte.
Und darum hat Gott Menschen in den Bund mit Sich, hat Er Menschen in Seinen Dienst gerufen: Damit Er nicht alleine Derjenige wäre, Der gut macht, was andere böse meinten, Der aufhellt, was andere verdunkeln, Der säubert, was andere besudeln, … damit also nicht nur das Böse, sondern auch der Widerstand dagegen, damit also auch das Gute Menschengeschichte sei.
Seit Abraham nämlich ist es ein Gemeinschaftswerk zwischen Gott und den Seinen, die innere Nacht und die äußere Verwirrung der Menschheit zu beheben und zu heilen. Die Erwählten Gottes, das heilige Volk, das Er ruft, sind als Helfer und Heiler der von Zerstörung bedrohten Welt gewollt.
Wenn man die Mission Israels zusammenfassen sollte, wäre nämlich das ihre Grundlage: „Bringt die Welt durch Euer Recht zurecht! Setzt sie zusammen durch Euer Gesetz! Reinigt sie durch Eure Reinheit! Heilt sie durch Eure Heiligkeit!“
Und in alledem: „Helft dem helfenden Gott! Löst mit die Aufgaben des Erlösers! Ertragt, was Er trägt!“ ———
Wenn wir diesen hochnotwendigen Sinn der Berufung der Väter und des Volkes Israel vor Augen haben – dass sie im Chaos der Geschichte, in dem Menschen Zeit und Raum verderben und vernichten, Gerechtigkeit und Frieden, ausgehend von ihrem Land durch ihren Sabbat, ihre Feste, ihren Alltag bezeugen und verbreiten sollten –, dann wundert es uns weniger, dass kein Volk an so vielen Orten hat leben müssen und dass in der Weltgeschichte aus Licht und Dunkelheit die erhabensten und abgründigsten Momente jeweils Daten der Geschichte Israels sind: Die unglaubliche neue Freiheit, die Exodus und Sinai und Ostern beweisen und die unaussprechliche alte Bosheit, die sich am Karfreitag und bei den Kreuzzügen und in Auschwitz entblößt. ———
Diese Erinnerung daran, was Israels Auftrag ist, war nötig, um den Wendepunkt zu verstehen, an den der heutige Predigttext uns stellt. Der kleine Schritt, den Simon Petrus, der christusgläubige fromme Jude aus Galiläa über die Schwelle des judenfreundlichen römischen Hauptmanns Kornelius tat, war in etwa von der Größenordnung der historischen Fußbewegung Neil Armstrongs bei der Mondlandung: Gering für einen Einzelnen und doch eine folgenreichste Pionierleistung im Rahmen der Menschheitsgeschichte.
… Nicht nur darum ging es aber dabei, dass der vielleicht ja wirklich etwas provinzielle Gesichtskreis eines Fischers vom Genezareth erweitert wurde.
… Nicht nur um die Überwindung der religiös begründeten jüdischen Scheu vor den unappetitlichen Sitten der Heiden ging es.
Und auch nicht nur um die Ausbreitung des Evangeliums und das Wachstum der Kirche, die aus dem heilsgeschichtlichen Heimatboden Israels in die globale Fremde und Weite aller Völker und Nationen ausgreifen sollte.
Sondern durch das Zögern auf beiden Seiten – auf Seiten des Besatzungssoldaten mit seiner Sehnsucht nach Gott, wie auf Seiten des Hauptes der nachpfingstlichen Kirche, die ja wahrhaftig kein Hauptquartier hatte, sondern in der anrüchigen Gewöhnlichkeit einer Gerberwerkstatt in Joppe Unterschlupf fand – … durch das Zögern auf beiden Seiten also, die sich auf nichts wirklich Gemeinsames hätten verständigen können, brach Gott hindurch, um die Zahl derer zu mehren, die dem Schaden der Welt zuleibe rücken, indem sie in den heiligen Leib des Messias eingegliedert werden.
Anders gesagt: Durch das Zögern des judenchristlichen Apostels Petrus und die Befangenheit des proselytischen Heiden Kornelius brach Gott hindurch, um den jüdischen Auftrag, Bauleute des Reiches Gottes zu werden[i], unter alle Völker der Erde zu bringen.
Und diese Erweiterung der Gemeinschaft, die dem Chaos trotz und dem Leben dient, die dem Sinnlosen das Gute entgegenhält und in die endlosen Furchen der Todesmächte die Saat der Hoffnung ausbringt, … diese Erweiterung der Gemeinschaft, die Gottes Werk menschlich unter Menschen begleitet und bestärkt, ist ein Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte! ———
Man hätte ihn allerdings nie, … niemals so sehen dürfen, wie man ihn unerträglich und unverzeihlich lange sah: Als sei in Cäsarea das Evangelium und mit ihm die Erwählung von den Kindern Israels übergegangen in die Befehlsgewalt der römischen Weltmacht und der heidnischen Völker.
Kornelius empfing ja die tolldreiste Idee, er könne den Vertrauten des Gekreuzigten und Auferstandenen aus Nazareth in sein Haus einladen – das Haus eines aus dem Tätervolk!, das Haus eines Angehörigen der Mordarmee! – ausdrücklich mit dem Hinweis darauf, dass die Almosen, die er als römischer Hauptmann der jüdischen Bevölkerung zugewendet hatte, ihn zu dieser nie dagewesenen Kühnheit berechtigten. „Dein Gebet ist erhört worden und deiner Almosen ist gedacht worden vor Gott“: Das war der türöffnende Vorgang!
Und ist damit am Anfang der heidenchristlichen Zukunft genau die gleiche Formulierung, wie Dietrich Bonhoeffer sie wählte für das, was den Getauften nach dem selbstverschuldeten Ende der christlichen Ära noch übrig bleiben würde: „Beten und das Tun des Gerechten“[ii].
Der religiöse hebräische Ausdruck für das Almosengeben, ist nämlich doppeldeutig. Die Vokabel „Zedakah“ bedeutet im engeren Sinn wohltätige Spendenmittel, … im eigentlichen, weiten Sinn aber bezeichnet „Zedakah“ das Ideal und Ziel des jüdischen Lebens nach der Torah insgesamt: „Gerechtigkeit“!
Beten und Gerechtes tun: Das können, … dürfen, … SOLLEN auch die Heiden! Das ist die weltgeschichtliche Wendung, die uns am heutigen Tag bezeugt wird. ———
Doch diese Weltwende, die den Beginn der weltweiten Kirche und der menschheitlichen Ökumene als das Reich des Gottes Israels bezeichnet, ist ganz bestimmt nicht trügerisch auf der Landkarte zu lokalisieren oder auf dem Zeitstrahl der Kirchengeschichte als ein Fixpunkt einzutragen. …
… Es ist nicht damals in Raum und Zeit fertig geschehen und vollendet worden, dass die Mission Israels, Gott zu begleiten bei Seinem Rettungs- und Gerechtigkeitsweg für die sich um’s Heil bringende Welt, zur gemeinsamen Sache aller Menschen wurde.
… Es ist nicht in Cäsarea Maritima, zwischen Haifa und Tel Aviv an einem Tag in den vierziger Jahren des 1.Jahrhunderts nach Christi Geburt geschehen, dass Gott Seine Gemeinde endgültig um das Herzstück Israel herum zur universalen Kirche erweitert hätte.
… Es ist nicht damals und dort geschehen, weil es dort und damals zwar begann, aber seither so heftig fehlschlug, so übel verkannt, so kaltblütig verraten, … so himmelschreiend verleugnet wurde, dass man sich fragen muss, ob es überhaupt als historisches Faktum gelten darf, dass Juden und Heiden zusammengehören in der Gemeinde Jesu Christi??? …….
Können wir das wirklich beanspruchen? Können wir tatsächlich – wie Kornelius es konnte – die Apostel des Messias, die Propheten Israels bitten, sich zu uns zu gesellen und uns einzubinden in ihre heilige Gemeinschaft mit Gott? …….
Gestern hätte unsere Kirche nach der neu geordneten Gestalt des Kirchenjahres wieder den Tag der Berufung des Paulus zu feiern gehabt: Ein Tag, der uns die Fortsetzung des Durchbruchs im Haus des Kornelius – wo tatsächlich Gottes Heiliger Geist Menschen in römischer Uniform eingegossen wurde! – im riesigen Maßstab des Lebenswerkes des Völkerapostels vor Augen führt.
Doch wenn man im neuen Lektionar die letzte Lesung für diesen Gedenktag des großen Heidenmissionars und Lieblings der evangelischen Theologie vor Augen hat, dann heißt es dort: „Viele die die Ersten sind, werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein“ (Matth.19,30). … Und blättert man nach diesem unheimlichen Satz, der alle sichere Ordnung rückgängig macht und alle Gewissheiten aufhebt, nur eine Seite im Lektionar weiter, dann folgt auf den 25.Januar die Liturgie des 27.Januar, …. die Liturgie des offiziellen kirchlichen Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. … Dessen letzte Lesung aber endet mit den Worten (Lk22,62): „Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich“. …………
Wir dürfen also nicht so sicher sein, dass wir auf die Entstehung der wahren Kirche, die alle Völker mit dem Volk Gottes verbindet, als Vergangenheit zurückblicken.
Wenn wir vor Augen haben, was wir morgen als unsere jüngste Vergangenheit erkennen müssen, dann rückt die Kirche Jesu Christi, in der Petrus aus Kapernaum und Kornelius von der italischen Legion zusammengehören, in tiefe Schatten.
Oder aber … wenn wir es wagen wie der heidnische Hauptmann von damals, mehr zu erbitten, als wir verdient hätten, … oder aber die Kirche Jesu Christi, in der auch wir an der Mission Gottes zur Erlösung der Welt und zur Versöhnung der Menschen beteiligt werden, rückt in das Licht der Zukunft:
… Sind wir denn heute nun endlich, endlich bereit, allem Hass, der Menschen von Menschen trennt, abzuschwören?
… Sind wir bereit, endlich die mutlosen Vorurteile gegenüber den Anderen – den kulturell, religiös oder weltanschaulich Fremden – abzulegen und unser eigenes Leben als Wagnis zu beginnen, das auch sie in den Bund mit Gott einladen und auch ihren Platz darin freihalten will?
… Sind wir bereit, zwar nicht eine bessere Welt zu verkörpern – die wird Gott alleine schaffen, wenn Sein Tag kommt – …, aber eben doch eine andere Lebensweise in der Welt zu suchen, als die von Gier und Gewalt und Gewinn gezeichnete Gottlosigkeit?
… Sind wir bereit für’s „Beten und Tun des Gerechten“?
… Sind wir bereit, Gott zu fürchten und zu tun, was Ihm angenehm ist und aus allen Völkern der Menschheit – so wie Israel – zur wirklichen Gemeinschaft des lebendigen Gottes zusammen zu wachsen?
… Sind wir bereit, die heilige, christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen zu werden?
Dann möge Gott uns nicht als einzelne Personen ansehen, sondern als den einen Leib Seines geliebten Sohnes!
Dann wird in Raum und Zeit das Ewige anfangen, „das Heil, für das Er uns geschaffen hat“[iii]!
Amen.
[i] Vgl. dazu den Aufsatz von Franz Rosenzweig: Die Bauleute – Über das Gesetz (1923), in: Ders., Kleinere Schriften, Berlin (Jüdischer Buchverlag), 1937, S.106-121, in dem es vom umfassenden Ethos des Judentums heißt: „Damit aber ist jede Grenzlinie durchbrochen, die beiden Welten, die des jüdischen Verbotenen und die des erlaubten Unjüdischen fließen ineinander. Es gilt nun kein Nebeneinander von jüdischem und unjüdischem Tun mehr; hier wie dort umzäunt uns überlieferte Form, dort wie hier umblüht uns gewachsene Freiheit. Das Reich des Tubaren ist ein eines geworden“ (aaO, S.115).
Zum Motiv der Bauleute vgl. ebenso Zinzendorfs Lied „Wir wolln uns gerne wagen“ (EG 254)!
[ii] Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung – Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hgg. v. Chr. Gremmels u.a. (DBW Bd.8), Gütersloh 1998, aus den für Bonhoeffers Großneffen und Patenkind bestimmten „Gedanken zum Tauftag von Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge“: „Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein. Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen.“ (aaO, S.435)
[iii] Vgl. Dietrich Bonhoeffer, „Von guten Mächten treu und still umgeben“ (EG 65,2).
2.S.n.Epiphan., 19.01.2020, "Vertrauen wagen", Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Die Freundlichkeit und Liebe Gottes sei mit euch allen.
Ich heiße alle ganz herzlich willkommen zu diesem Gottesdienst am 2.S.n.Epiphanias, und schließe auch alle mit ein, die an den Übertragungsgeräten in den Häusern der Kaiserswerther Diakonie mit uns verbunden sind.
Dieser Gottesdienst hat heute eine ganz andere Gestalt als üblich. Ich lade Sie ein zu einer Reise, zu einer Glaubens-Reise. In der nächsten Stunde werde ich Sie mit Ihnen bislang unbekannten „Ländern" und „Landschaften" unseres christlichen Glaubens bekannt machen. Was Sie hören werden, wird sicher beides für Sie bereithalten: etwas, das interessant ist und fasziniert und etwas, das eher erschreckend ist.
Mir selbst sind beide Seiten begegnet, als ich vor über 30 Jahren diese Reise unternahm; sie stand nicht im Lehrplan der theologischen Fakultäten (da wird sie leider bis heute nicht angeboten).
Sie überhaupt anzutreten, war gar nicht so leicht. In gewissem Sinne gab es da auch ein Gleis Neundreiviertel (Harry Potter Fans kennen das); da muss man den Mut haben, durch eine Wand zu springen, um auf den Bahnsteig und so zum Zug zu gelangen, der einen auf diese Reise mitnimmt. Ja, es braucht den Mut, die eigenen Glaubenstraditionen in Frage zu stellen und einmal zur Seite zu legen, die verschiedenen Tabus, mit denen man im eigenen Glauben, in der eigenen Konfession und Religion „eingehegt" wurde, zu durchbrechen, es braucht den Mut, aus dem Boot „Evangelische Volkskirche" auszusteigen und über das Wasser zu gehen - dem Christus Jesus entgegen..
„Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.", so heißt es im Wochenspruch aus dem Johannesevangelium.
Darum geht es mir: ich möchte Ihnen an dieser Fülle, die sich mir erschlossen hat, Anteil geben. Nicht nur Gott ist größer, als wir uns das gemeinhin so vorstellen, auch Christus ist größer und darum ist es wichtig, dass auch unser Glaube wächst und größer wird. Denken wir nur an die Jahreslosung: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!" Ich hoffe, dass dieser Gottesdienst ihnen Mut macht, mehr Vertrauen zu wagen, tiefer und weiter zu glauben.
Das Gottesdienstprogramm will dabei zweierlei sein:
Einmal soll es Ihnen Orientierung geben, wo wir im Ablauf dieses Gottesdienstes sind, welche Lieder wir zusammen singen. Zum anderen habe ich Inhalte/Aussagen, die mir wichtig sind, festgehalten; so können Sie auch noch später einmal den angesprochenen Gedanken nachgehen und gerne auch mich daraufhin noch einmal ansprechen.
In der nächsten Stunde möchte ich Ihnen wichtige Stationen unseres Glaubens nahebringen, biblische Texte zu Gehör bringen und sie als Zeugnisse des Glaubens in ihrer Zeit und in ihrer Bedeutsamkeit heute würdigen. Dabei werden uns auch Glaubenszeugnisse anderer Menschen helfen.
Wir werden miteinander singen und beten und immer wieder auch Zeit finden, in uns hineinzuhören.
Lassen sie uns nun miteinander beginnen mit dem
Lied 165 „Gott ist gegenwärtig", die Strophen 1+2+4+5.
Gebet
Hier bin ich
Und suche Zutritt zu dir, weil ich deiner bedarf.
Doch wie könnte ich Zutritt zu dir suchen durch das,
was dich unmöglich erreichen kann?
Oder wie könnte ich klagen bei dir über meine Lage,
da sie dir nicht verborgen ist?
Oder wie könnte ich dir`s erklären mit meiner Rede,
da sie von dir kommt und auch zu dir geht?
Und wie könnten meine Hoffnungen scheitern,
da sie zu dir gekommen sind?
Und wie könnte meine Lage nicht gut sein,
da sie durch dich besteht und zu dir hin geht?
Mein Gott,
durch die Vielfalt der geschaffenen Zeichen
und den ständigen Wechsel der Phasen
habe ich gelernt,
dass es dein Wille ist,
dich mir kenntlich zu machen
in allem,
damit ich dich nirgendwo
nicht erkenne.
(Ibn Ata Allah)
Meditation A
Wir kommen von Weihnachten und Epiphanias her. Dieser Sonntag ist der 2.S.n.Epiphanias und die Epiphaniaszeit dauert noch bis zum 2.Februar. Bis Mariä Lichtmess leuchtet uns noch der Stern, möchte er uns Mut machen, unsere Reise anzutreten und fortzuführen.
Weihnachten, das ist ein guter Ausgangspunkt für unsere Glaubensreise. Das Fest der Geburt Jesu ist verbunden mit einer Geschichte, an der deutlich wird: der christliche Glaube war von Anfang an nichts Statisches, nichts Abgeschlossenes. Vielmehr bezog er seine Lebendigkeit aus seiner Wandlungsfähigkeit, aus seiner Fähigkeit, die Menschen, mit denen er es zu tun bekam, ernst zu nehmen mit ihren Hoffnungen, mit ihren Visionen und Bildern, mit ihren Traditionen und mit ihrer Welterfahrung, mit ihren Freuden wie mit ihren Leiden.
Die zentrale Gestalt im christlichen Glauben ist Jesus. Ohne Jesus kein Christentum. Jesus ist beides: eine Gestalt des Glaubens und eine historische Person.
Von den Umständen seiner Geburt wissen wir - nichts.
Damals gab es keine Standesämter.
Wahrscheinlich ist er in Nazareth geboren; dort lebte seine Herkunftsfamilie.
Doch als die Nachfolger und Nachfolgerinnen Jesu in den Jahrzehnten nach der Kreuzigung und nachdem ihnen Jesus bleibend als der Lebendige aufgeleuchtet war, als sie nun das, was sie von Jesus gehört und verstanden hatten, den Menschen außerhalb Judäas und Galiläas, also außerhalb ihres eigenen kulturellen und religiösen Umfeldes weitersagen wollten, da sahen sie sich genötigt, eine Geburtsgeschichte zu erzählen, die der Bedeutung, die Jesus für ihren Glauben hatte, gerecht würde. Ein wichtiger Mensch musste einfach eine besondere Herkunft haben.
So erzählt Lukas davon, dass Jesus in Bethlehem zur Welt kommt. Das war ihm deshalb wichtig, weil es die Verheißung gab, dass einmal ein Nachkomme aus dem Haus Davids kommen würde, der Israel aus seiner Knechtschaft befreit. Und David stammte aus Bethlehem. Mit Jesus ist der verheißene Retter geboren, das ist Lukas wichtig. Diese Botschaft verkündet deshalb ein Engel. Und die Rettung gilt vor allen Dingen den Menschen am Rand, den Geringsten; das war ja die Botschaft, die Jesus verkündigt hatte. Und deshalb erzählt Lukas, dass die Engel zuerst den Hirten auf den Feldern Bethlehems die Geburt des Retters verkünden. Hirten gehörten zu den Menschen, die ganz unten in der damaligen Gesellschaft standen.
Lukas wusste offensichtlich schon etwas von der „Freiheit eines Christenmenschen". Um die Botschaft Jesu seinem Freund Theophilus und dessen Umfeld möglichst verständlich zu machen, entdeckt der Arzt Lukas sein erzählerisches Talent und setzt es wirklich gekonnt ein - zur Freude der Menschen bis heute.
Ähnlich Matthäus, der sein Evangelium ja für einen ganz anderen Adressatenkreis schreibt und selbst anderer Herkunft ist als der Grieche Lukas. Die ganze Geschichte mit der Volkszählung: die hatte sich Lukas einfallen lassen, um Maria und Josef einen Grund zu liefern, von Nazareth nach Bethlehem zu gehen; außerdem konnte er so noch einmal die schlimme Lage des jüdischen Volkes unter römischer Besatzungsherrschaft vor Augen zu führen. Nichts davon finden wir bei Matthäus. Bei ihm bewohnen Maria und Josef ein Haus in Bethlehem, und dort kommt Jesus eben zur Welt. Matthäus lässt auch keine Engel auftreten und Hirten kommen auch nicht gelaufen. Matthäus hat ein ganz anderes Interesse: er will zeigen, dass die Botschaft Jesu nicht nur für das jüdische Volk von Bedeutung ist, sondern auch für die Menschen in anderen Ländern, anderer Kultur und Religion. Die Männer, die dem Neugeborenen ihre Huldigung entgegenbringen, sind deren Repräsentanten. Sie sind gerade keine Könige. Sie sind Suchende, die bereit sind, sich der unterschiedlichsten Quellen zu bedienen - seien es Sternkonstellationen oder die heiligen Schriften einer ihnen fremden Religion - um ihr Ziel zu erreichen. Am Ende seines Evangeliums lässt Matthäus den Auferstandenen genau daran anknüpfen. Da weist er seine Nachfolgerinnen und Nachfolger an, zu den Menschen aller Völker hinauszugehen, um die Botschaft von der Liebe Gottes zu verkünden.
Wirklich wunderbare, bedenkenswerte Erzählungen, die uns auch heute noch begreifen und spüren lassen, was diese beiden Feste - Weihnachten und Epiphanias - uns vermitteln wollen. Wobei es eben um beides geht: der Glaube ist eine Sache von Herz und Verstand.
Doch wenn wir uns umsehen, dann müssen wir feststellen: die Verbindung zu beiden ist äußerst bedroht:
zum Herzen durch den überbordenden Konsum gerade in der Weihnachtszeit
und zum Verstand durch die verhängnisvolle Unwissenheit, zu der die theologische Zunft leider maßgeblich beigetragen hat. Besonders dadurch, dass sie die biblischen Erzählungen nicht als solche gewürdigt hat, sondern zu historischen Fakten umgebogen hat, die „man eben glauben muss".
Für das Theologiestudium habe ich Griechisch und Hebräisch lernen müssen, um die Bibel in ihrer Originalsprache lesen zu können. Das ist auf jeden Fall sinnvoll.
Aber eine Sprache hat man dabei völlig außer Acht gelassen, die Symbolsprache, von der der Psychoanalytiker
Carl Gustav.Jung mit Recht gesagt hat, das sei die Sprache, die alle lernen sollten, weil sie die Sprache ist, in der sich die Seele des Menschen ausdrückt und mit der sich die Menschen über Kultur- und Religionsgrenzen hinweg austauschen und verbinden können. Diese Sprache habe ich mir dann selbst beigebracht und habe erlebt: C.G.Jung hat Recht. Denjenigen, die mit der Symbolsprache vertraut sind, erschließen sich viele biblische Texte erst in ihrem ganzen spirituellen Reichtum. Und darüber hinaus auch Texte aus den Heiligen Schriften anderer Religionen.
Die Symbolsprache ist in besonderer Weise die Sprache der Mystikerinnen und Mystiker aller Religionen und aller Zeiten. Sie ist wirklich universal und global. Ich bin tief davon überzeugt, dass es für die Menschheit von entscheidender Bedeutung sein wird, dass sich alle Religionen wieder auf diese Sprache besinnen. Sie müssen sie in ihren eigenen Kontexten neu kultivieren und mit ihr Brücken bauen von einer Religion zur anderen, von einer Kultur zur anderen, von einer Lebensweise zur anderen. Nur so können wir der um sich greifenden Kultur der Abgrenzung und des Hasses etwas Konstruktives und Positives entgegensetzen.
Der erste Lernschritt ist das Innehalten.
Man wird sich bewusst, wie oberflächlich man bisher vieles genommen hat, was in der Bibel zu lesen ist, mit welchem verkürzten Begriff von wahr und wirklich.
Und dann bittet man Gott um seinen Geist, dass er einem neue Zugänge eröffnet.
Lassen sie uns das jetzt zusammen tun, indem wir das Lied 382 miteinander singen „Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr"; nach jeder gesungenen Strophe hören wir ein Zwischenspiel der Orgel, das uns Gelegenheit zum eigenen Nachdenken gibt.
Meditation B
Glauben heißt unterwegs sein, nur so ist er lebendig.
Dabei gibt es zwei Reiserouten.
Auf beiden heißt es zu wandern.
Beide sind gleich wichtig.
Die eine Route führt uns ins Weite, die andere in die Tiefe.
Die eine verläuft außen, die andere im Innern.
Die eine heißt Mission, die andere Kontemplation.
Bei der Mission geht es allerdings entgegen dem landläufigen Verständnis nicht um Bekehrung zum christlichen Glauben, darum, möglichst viele „Heiden" zu taufen (es hat ja tatsächlich solch schlimme „Wettbewerbe" gegeben zwischen Missionsgesellschaften); nein, es geht um die Mission Gottes, der möchte, dass allen Menschen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen:
Der Wahrheit nämlich, dass wir alle zu der einen Menschheitsfamilie gehören,
dass wir untereinander Geschwister sind,
als Geschöpfe mit aller Kreatur verbunden,
gebildet aus Sternenstaub und lebendig durch Gottes Geist, Gottes Atem,
mit Gott verbunden in der Liebe und in der Barmherzigkeit.
Der ökumenische Rat der Kirchen formulierte 1983 auf der Vollversammlung in Vancouver den Missionsauftrag als Lernprozess so: „Geht hinaus und macht euch stark für Gerechtigkeit und Frieden und die Bewahrung der Schöpfung."
Das meint auch: verbindet euch in diesem Bemühen mit allen Menschen guten Willens, entdeckt, wo Menschen anderer Kultur und Religion, aber doch lebendig durch denselben Gottesgeist und so auch eure Geschwister, sich ebenfalls darum bemühen, dass es gerechter und friedlicher auf dieser Welt zugeht, die sich dafür einsetzen, dass die Menschheit ihre Heimat, diesen einzigartigen Planeten Erde nicht durch ihre Gier nach Macht und Geld zerstört.
Als in der Sylvesternacht das Affenhaus des Krefelder Zoos abbrannte, da löste das eine Welle der Betroffenheit und Trauer aus. Wie sehr müssten wir aber trauern um all die Tiere, die den verheerenden Bränden in Australien zum Opfer gefallen sind! Über 1 Milliarde lautete die Schätzung von Wissenschaftlern am 6.Januar; allein in der Provinz New South Wales starben über 8000 Koalabären. Und das Sterben in den Flammen geht weiter. Ja, Mutter Erde fiebert.
„Gott will nicht den Tod des Sünders, sondern dass er sich bekehre und umkehre von seinem falschen Weg." (vgl. Hes.18,23) Das ist die Mission Gottes: die Menschheit auf den richtigen Weg bringen. Und Gott zieht alle Register, um dieses Ziel zu erreichen, um das Überleben der Menschheit, ihr Zusammenleben miteinander und mit allen Geschöpfen zu befördern. Er zeigt die unterschiedlichsten Wege auf, in der Hoffnung, dass da schon für jede und jeden einer dabei ist, der für ihn oder für sie möglich und gangbar ist.
Mission so zu verstehen und diesen Weg nach außen zu gehen, hinaus und unter Menschen fremder Kultur und Religion ohne den Herrschaftsanspruch, meine Religion ist die einzig wahre, das setzt voraus, dass eben auch der Weg nach innen gegangen wird, der Weg der Kontemplation.
Der Apostel Paulus ist geradezu der Prototyp eines Reisenden in Sachen Glauben, der auf beiden Wegen unterwegs ist.
Er war bis zu seinem berühmten Erlebnis vor Damaskus ein jüdischer Fundamentalist und Eiferer, der für seinen Glauben über Leichen ging, mit klaren Grenzziehungen: hier das Volk Gottes und dort die Gojim, die Heiden. Und nur Israel kennt Gott, liebt seine Weisungen und wird von Gott geliebt.
Doch dann verändert sich für ihn vor Damaskus alles.
Lukas berichtet davon in der Apostelgeschichte. Seine Erzählung hat aber eine Lücke, eine Lücke von ein paar Jahren, nämlich zwischen dem Damaskus-Erlebnis und dem Beginn der Missionstätigkeit des Paulus. Ich denke, in dieser Zeit hat die geistliche Verwandlung des Saulus zum Paulus stattgefunden. Wir wissen es nicht, aber ich glaube, er wird sich noch einmal sehr intensiv und kritisch mit seinem bisherigen Glauben befasst haben; ganz sicher hat er ihn nicht einfach auf den Müll geworfen, das sieht man jedenfalls an seinen Briefen. Und er wird sich neu und mit weniger Abwehr, eher neugierig und interessiert mit den Religionen und Kulturen seiner Umwelt befasst haben. Auch das spürt man seinen Briefen ab. Auf jeden Fall ist sein Glaube tiefer und weiter geworden. Über Nacht passiert so etwas nicht. Das braucht Zeit. Aber dann war er soweit, seine Erkenntnisse mit anderen zu teilen, anderen mitzuteilen.
Gebet
Immerfort empfange ich mich aus deiner Hand, Gott.
Das ist meine Wahrheit und meine Freude.
Immerfort blickst du mich voll Liebe an,
und ich lebe aus deinem Blick.
Du mein Schöpfer und mein Heil.
Lehre mich in der Stille deiner Gegenwart
das Geheimnis zu verstehen, dass ich bin.
Und dass ich bin durch dich
und vor dir
und für dich.
(Romano Guardini)
Lied EG 379 „Gott wohnt in einem Lichte" 1-3+5
Meditation C
Im 1.Korintherbrief (4,1) schreibt Paulus: „So soll man uns betrachten: als Diener Christi und als Verwalter von Geheimnissen Gottes."
Ein Geheimnis, dass sich ihm erschlossen hat und so sein bisheriges Denken und Glauben auf den Kopf gestellt hat, benennt Paulus im Epheserbrief (3,3-7):
„Durch Offenbarung ist mir das Geheimnis kundgemacht worden, wie ich zuvor aufs Kürzeste geschrieben habe.
Daran könnt ihr, wenn ihr's lest,
meine Einsicht in das Geheimnis Christi erkennen.
Dies war in früheren Zeiten den Menschenkindern nicht kundgemacht,
wie es jetzt offenbart ist
seinen heiligen Aposteln und Propheten durch den Geist;
nämlich, dass die Heiden Miterben sind
und mit zu seinem Leib gehören
und Mitgenossen der Verheißung in Christus Jesus sind durch das Evangelium."
Zwei Dinge sind Paulus ganz neu klar geworden und das nicht, weil er so ein kluger Mann war. Paulus spricht hier nicht von Erkenntnissen, zu denen er gekommen ist, sondern von Offenbarung. Ihm ist eine Einsicht geschenkt worden, eine neue Sicht auf das Leben. „Durch Offenbarung ist mir das Geheimnis kundgemacht worden."
Wir sind durch eine jahrhundertelange Tradition dazu gebracht worden, uns vorzustellen, dass diese Offenbarung etwas ganz Besonderes war, die geheimnisvolle Stimme von Oben, die nur Paulus zuteil wurde. Doch das ist Unsinn.
Offenbarungen geschahen und geschehen immer wieder.
Auch heute noch und morgen auch.
Der Geist Gottes, auf den sich Paulus hier ja auch bezieht, war seit Anbeginn der Schöpfung unterwegs. Er suchte und sucht sich bis heute Menschen, denen er neue Einsichten vermitteln kann, denen er ein Licht aufgehen lassen kann.
Damit sie begreifen, wes Geistes Kinder sie sind.
Damit sie begreifen, worauf es ankommt, um im Frieden und Einklang mit allen Menschen guten Willens und mit allen Geschöpfen auf Erden zu leben.
Solange Gottes Geist über diese Erde weht, wird es Offenbarung geben. Allerdings: dieser Geist zwingt niemandem neue Einsichten auf. Er will eingeladen werden. „Komm, Heiliger Geist!", das ist einer der ältesten Gebetsrufe der Christenheit. „Komm, Heiliger Geist, und erneuere uns!"
Wie töricht, wenn die Kirchen, nicht nur viele Theologinnen und Theologen, sondern auch viele Männer und Frauen in den Gemeinden gerade im Gottesverständnis alles Neue abwehren mit Hinweis auf die Tradition.
Doch zurück zu Paulus. An zwei entscheidenden Punkten ist ihm ein neues Verständnis aufgeleuchtet.
Das erste ist das „Geheimnis Christi". Um was geht es da?
Nun, erst einmal muss ich hier eine entscheidende Korrektur an der Übersetzung auch der neuen Lutherbibel vornehmen, sonst ist das Geheimnis kein Geheimnis, sondern Irreführung.
Im griechischen Text heißt es nicht „das Geheimnis Christi", sondern „das Geheimnis des Christus". Und das macht einen riesigen Unterschied.
In unserer Umgangssprache in der Kirche haben wir uns daran gewöhnt, immer von Jesus Christus zu sprechen, so als wäre das ein Eigenname wie Karl Otto, Hans Christian oder Eva Maria. Und da, wo wir in der Bibel von Christus lesen, ergänzen wir automatisch: aha, hier geht es um Jesus.
Doch das ist falsch. Christus ist kein Name, sondern ein Titel. Im Aramäischen und Hebräischen steht dafür Messias. Der Messias aber ist eine Hoffnungsgestalt des Glaubens, er ist derjenige, der einmal, wenn er kommt, am Ende der Zeiten, Recht und Gerechtigkeit, Frieden und Heil durchsetzen wird.
Damals um die Zeitenwende herum, als es Vielen im römischen Reich elendig ging, war die Hoffnung unerhört lebendig, jetzt müsse doch dieser Messias, dieser Christus kommen. „Bist du es, der da kommen soll?", so lässt Johannes der Täufer aus dem Gefängnis heraus seine Anhänger Jesus fragen.
In den Briefen des Paulus findet sich häufig die Nennung „der Christus Jesus", wie in unserem Text ja auch. Das ist angemessen. Aber Paulus ist noch etwas ganz anderes aufgeleuchtet, der Geist Gottes hat ihm noch weiteres zu verstehen gegeben: nicht nur Israel, nicht nur die Juden hofften auf einen Retter, einen Messias. Paulus, der ja aus Tarsus kam und wohl immer schon viel gereist war, ein richtiger Kosmopolit der Antike, der wusste: überall im Reich hofften Menschen auf Rettung, gab es in den unterschiedlichsten Religionen und Kulturen solche Hoffnungsgestalten. Überall beteten die Menschen, dass da einer komme, der Recht und Gerechtigkeit, Frieden und Heil mit sich bringt. Paulus sah darin das Wirken des Heiligen Geistes. Und vor allen Dingen begriff er: der Christus-Messias, der kann nicht nur der Messias für Israel sein. Der muss viel größer sein. Der Christus ist der Christus der Welt, der Christus des Kosmos.
Im Kolosserbrief findet sich der wunderbare Satz „In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis." (2,3)
Der kosmische Christus ist größer und anders als Paulus bisher gedacht hat. Und was ihm auch aufgeht: das Heil, das er bringt, ist längst da, aber eben wie ein Schatz, der gehoben werden will. Wen erinnert dieser Satz nicht an das Gleichnis vom Schatz im Acker, das Jesus erzählte? Auf das Heben der Schätze der Weisheit und der Erkenntnis kommt es an. Der kosmische Christus ist kein kosmischer Supermann, sondern er braucht Menschen, die sich in Dienst nehmen lassen und sich die Mühe machen, neu zu werden in ihrem Denken und Verstehen, in ihrem Glauben und Handeln.
Und wie gehört Jesus nun dazu? Für Paulus ist Jesus derjenige, der ihm den Zugang zu diesem Christusverständnis geschenkt hat. Und vor allen Dingen ist Jesus für ihn derjenige, der dafür gesorgt hat, dass der Christus in seiner Größe nicht abgehoben über den Menschen und ihrer Realität schwebt, sondern dass er geerdet ist.
In Jesus ist dieser Christus Mensch geworden, ist hinabgestiegen in alle Tiefen menschlicher Existenz bis ans Kreuz und in den Tod. Die Christen in der Gemeinde des Johannes hatten sogar einen Hymnus, der diese Erdung besingt und feiert, den Johannes an den Anfang seines Evangeliums gesetzt hat: Das Wort wurde Fleisch. Der Christus wurde Fleisch.
Auf die Erdung kommt es an, und die erfahren wir, wenn wir den Weisungen Jesu folgen, ihm nachfolgen, ganz konkret mit Werken der Barmherzigkeit, erfüllt von Liebe und Demut; dann, so Paulus, haben wir Anteil an dem kosmischen Christus. So heißt es im Kolosserbrief weiter (2,6-10):
„Wie ihr nun angenommen habt den Herrn Christus Jesus,
so lebt auch in ihm, verwurzelt und gegründet in ihm
und fest im Glauben, wie ihr gelehrt worden seid,
und voller Dankbarkeit.
Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen und nicht Christus.
Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig
und ihr seid erfüllt durch ihn, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist."
Dieses „Geheimnis des Christus" ist letztendlich das Geheimnis der übergroßen Liebe Gottes. Es ist allen Mystikerinnen und Mystikern aller Zeiten und aller Religionen geoffenbart worden - von dem einen Geist Gottes in jeweils der Gestalt, wie sie es zu ihrer Zeit, in ihrer jeweiligen Kultur erkennen konnten.
Hören wir das Gebet von Husain Ibn Mansur Al-Haladsch:
Herr,
in meinem Herzen kreisen alle Gedanken um dich.
Anderes nicht spricht die Zunge, als meine Liebe zu dir.
Wenn ich nach Osten mich wende,
strahlst du im Osten mir auf,
wenn ich nach Westen mich wende,
stehst vor den Augen du mir,
wenn ich nach oben mich wende,
bist du noch höher als dies,
wenn ich nach unten mich wende,
bist du das „Überall hier".
Du bist, der allem den Ort gibt, aber du bist nicht sein Ort.
Du bist in allem das Ganze, doch nicht vergänglich wie wir.
Du bist mein Herz, mein Gewissen,
bist mein Gedanke, mein Geist.
Du bist der Rhythmus des Atmens,
du bist der Herzknoten mir.
Lied EG 400,1+4-7 „Ich will dich lieben, meine Stärke"
Das zweite Geheimnis, das Paulus vom Geist erschlossen wurde, betrifft die Beziehung des Juden Paulus zu seiner nichtjüdischen Umwelt, zu den sog. Heiden - ein schreckliches Wort. Nachdem er begriffen hatte, dass der Christus ja nicht nur eine Glaubenshoffnung für Israel und von Israel war, sondern dass er ein Bild für die weltumspannende Hoffnung aller Menschen war, eine Hoffnung, die ihnen derselbe Geist Gottes geschenkt hatte, verschwand für Paulus jede Berechtigung, die Menschheit in von Gott erwählte und von Gott nicht erwählte Menschen und Völker zu unterteilen. Alle sind Kinder des einen Vaters im Himmel. Alle sind Miterben und Mitgenossen der Verheißung in dem Christus Jesus durch das Evangelium, durch die Botschaft von der allen Menschen geltenden Liebe Gottes, durch die Botschaft vom Reich Gottes, das mitten unter uns Wirklichkeit werden will.
Orgelspiel
Meditation D
Was können wir aus all diesem für uns heute „mitnehmen"?
Wohin könnte uns der eine Heilige Geist auf unseren Glaubenswegen führen?
Es gibt nicht die eine Reiseroute für alle, sondern je eine für jeden und jede. Gott, der Christus gibt sich redlich Mühe, jedem etwas Gangbares anzubieten.
Sind wir bereit, uns der Mühe zu unterziehen, die Schätze der Weisheit und Erkenntnis, die in Christus verborgen sind, für uns und unsere Zeit zu heben?
Welche Grenzen müssen wir für uns einreißen, welche Tabus brechen, damit das Reich Gottes unter uns wachsen kann?
Das ist doch spannend. Darüber lohnt sich der Diskurs.
Wann fangen wir ihn an?
Mission und Kontemplation, die Glaubensreise nach außen und nach innen. Beide wollen angetreten werden. Von jeder und jedem einzelnen - und dann auch von uns zusammen.
Lied „Kommt, teilt das Leben"
Abkündigungen
Gebet
Dies ist an dich mein Gebet, Herr -
Triff, triff bis zur Wurzel des Mangels mein Herz.
Gib mir die Kraft, leicht meine Freuden und Sorgen zu tragen.
Gib mir die Kraft, meine Liebe fruchtbar im Dienste zu machen.
Gib mir die Kraft, die Armen nie zu verleugnen und meine Knie vor ungerechter Macht nicht zu beugen.
Gib mir die Kraft, meinen Geist über den täglichen Kleinkram zu heben.
Und gib mir die Kraft, meine Kraft deinem Willen hinzugeben in Liebe.
(Rabindranath Tagore)
VaterUnser
Segen
Orgelnachspiel
2.S.n.Weihnachten, 05.01.2020, Jahreslosung, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
als mir vor den Sommerferien im letzten Jahr zum ersten Mal die Jahreslosung für 2020 unter die Augen kam, war ich ziemlich enttäuscht. Nach der so klaren, kernigen Jahreslosung 2019 „Suche Frieden und jage ihm nach!" (Ps.34,15), die mich wirklich durch das ganze Jahr begleitet hat, immer wieder Ansporn und Wegweisung gegeben hat, jetzt dieser Hilferuf „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!" (Mk.9,24)
Ausgesucht hätte ich mir diesen Vers niemals. Und eigentlich war ich noch Anfang Dezember entschlossen, diese Jahreslosung links liegen zu lassen, sie auf keinen Fall um den Jahreswechsel herum als Predigttext zu nehmen. Eine Jahreslosung soll doch Wegweisung geben. Wie kann das ein sehr persönlicher Hilferuf leisten? Aber dann, ja, dann hat dieser Text in mir gearbeitet. Ein persönlicher Hilferuf eines Vaters wurde so zur Grundlage einer sehr persönlichen Auslegung und Predigt, die ich Ihnen im Folgenden zu bedenken gebe - und vielleicht ergeben sich für jede und jeden von Ihnen Anknüpfungspunkte wieder ganz persönlicher Art. Und ja, irgendwie ist es so: diese Jahreslosung ist - anders als ihre Vorgängerin - mehr eine Wegweisung nach innen als nach außen. Sie wendet sich mehr an den Einzelnen als an eine Gemeinschaft, sie ist mehr persönlich ausgerichtet als politisch, wobei das, was das Herz und den Verstand des einzelnen Menschen bewegt und verwandelt durchaus auch politisch von Bedeutung sein kann und will.
„Ich glaube, hilf meinem Unglauben!" Dieser Vers gehört zu einer Heilungsgeschichte, die uns der Evangelist Markus überliefert hat. Eine Heilungsgeschichte mit Hindernissen.
Da hören wir von einem Vater, der sein krankes Kind zu Jesus bringt. Auf dem Weg zu ihm begegnet er Jesu Jüngern, die sich anbieten, zu helfen; sind sie doch sozusagen bei Jesus in die Schule gegangen, haben erfolgreich ein Praktikum absolviert und wollen gerne helfen. Doch ihre Bemühungen bleiben ohne Erfolg. Nun setzt der Vater all seine Hoffnung auf Jesus. Jesus sieht ihn, hört sich seine Leidensgeschichte an und sagt: „Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt." Aber die Sache mit dem Glauben ist eben nicht so einfach. Für die Jünger nicht - warum wohl konnten sie das kranke Kind nicht heilen? - und für den Vater, der hier auch stellvertretend steht für alle diejenigen, die von Krankheiten betroffen sind und der auf diesen Satz Jesu, der beides ist, Zumutung und Verheißung, ausruft: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!"
Glaube - ein Wort, das leicht zu Missverständnissen führt.
Glaube kann verstanden werden im Sinne von „etwas für wahr halten". So haben die Menschen lange Zeit geglaubt, dass die Erde eine Scheibe ist.
Wer Glauben so versteht, der unterscheidet dann auch zwischen dem richtigen und dem falschen Glauben, zwischen Glauben und Unglaube oder Aberglaube. Da geht es darum, das richtige Bekenntnis zu haben, der richtigen Lehre zu folgen, die vorgegebenen Glaubenssätze und Dogmen für wahr zu halten.
Doch um einen so verstandenen Glauben geht es hier gar nicht. Es geht nicht darum, was ich glaube oder an wen ich glaube, sondern es geht darum, wem ich glaube, wem ich vertraue.
„Alles kann, wer glaubt", sagt Jesus zu dem Vater, der daraufhin ausruft: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben."
Ich möchte so übersetzen: „Wenn du nur Vertrauen hast, ist alles möglich." Und „Ich will ja vertrauen; hilf mir, mit meinen Zweifeln und Ängsten klar zu kommen."
Vielleicht wundern sie sich, dass ich nicht formuliert habe: „Hilf mir raus aus meinen Zweifeln und Ängsten."
Gewiss, das wäre ja das Allerbeste: wenn wir in einer schlimmen Situation feststecken, dann wollen wir da einfach nur raus. Hilf mir raus aus meiner Krankheit. Hilf mir raus aus meiner Ehekrise. Hilf uns raus aus all den politischen Sackgassen wie Brexit, Klimakrise und wie immer sich die ganzen Krisen heute präsentieren - Plastikmüll, nitratverseuchtes Grundwasser, Antibiotikaresistenzen u.s.w. All diese Krisen machen Angst vor dem, was da kommt, lassen einen Zweifeln an den eigenen Möglichkeiten.
Und doch will ich bei meiner Übersetzung von „Unglaube" bleiben: hilf mir, mit meinen Zweifeln und Ängsten klarzukommen. Ich erhoffe mir nämlich von Jesus, von Gott ein „nachhaltiges Wunder", keine Zauberei, sondern die Erfahrung, die der Apostel Paulus in vergleichbarer Situation gemacht hat, wo er zu hören bekam: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in der Schwachheit mächtig."
„Ich vertraue dir, Gott, hilf mir, mit meinen Zweifeln und Ängsten klar zu kommen."
Liebe Gemeinde, beim Nachdenken über die Jahreslosung ist mir ein Lied in den Sinn gekommen, das wirklich das passende Lied zur Jahreslosung ist. Es ist das Lied Nr.600 in unserem Gesangbuch. Besonders die ersten beiden Strophen sprechen verschiedene Aspekte von Zweifeln und Ängsten an und die Chancen, die uns das Vertrauen-können ermöglicht, um getroster und mutiger, um heil in die Zukunft zu gehen.
„Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor dich: wandle sie in Weite! Herr, erbarme dich!"
Die weiteste Reise, die meine Großmutter (Jahrgang1892) je unternommen hat, war die damals mehrtägige Fahrt mit Pferdewagen und Zug von Ukta in den Masuren ins Ruhrgebiet nach Herten. 1910 folgte sie so ihrem Mann, der als Steiger im Bergbau sich bessere Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten erhoffte als in der Landwirtschaft der Masuren. Sie ist in ihrem ganzen Leben nie geflogen, die Besuche zu ihren Kindern mit Entfernungen bis 80 Kilometern bewältigte sie mit Zug, Bus und Straßenbahn. Das war ihre Welt. Eng begrenzt in jeder Hinsicht, auch in ihren Ansichten. Ein Mensch aus dem vorletzten Jahrhundert.
Heute werden „miles and more" gesammelt, haben die Flughäfen in der Vorweihnachtszeit wieder Rekordzahlen an Passagieren gemeldet; ist von Flugscham noch wenig zu spüren. Die Welt ist zum Dorf geworden. Die Grenzen werden im Flugzeug gar nicht erst gesehen. Die Zoll- und Passformalitäten werden bei Abflug und Ankunft allenfalls als lästig wahrgenommen.
Doch das grenzenlose Reisen hat uns nicht von den Grenzen befreit, die unser Denken und Fühlen umschließen. Viele unserer Zeitgenossen sind bei genauer Betrachtung in ihrem Denken und Fühlen näher bei den Menschen des 18. Jahrhunderts als bei denen des 20. Jahrhunderts. Und daran haben weder Urlaubsreisen auf die Kanarischen Inseln noch ein Lehramtsstudium (wie man bei Herrn Höcke sieht) etwas ändern können. Und auch die Digitalisierung ist da machtlos.
Es ist gleichermaßen erstaunlich wie auch erschreckend, mit welcher Macht sich Nationalismus und Chauvinismus in der aktuellen Politik zurückgemeldet haben. Und mit ihnen Rassismus und Antisemitismus, und als wäre das nicht schlimm genug, als neue Zugabe die Islamphobie. Manchmal möchte man sich einfach wachschütteln und fragt sich, ob denn die Menschheit, gerade die in Europa, nichts gelernt hat aus der Geschichte des letzten Jahrhunderts. Und auch die Erkenntnisse der Wissenschaften scheinen bei allzu vielen nichts zu fruchten, dass nämlich die Menschheit eine ist, dass alle miteinander verwandt sind, dass es keine verschiedenen menschlichen Rassen gibt und dass unterschiedliches Aussehen in keiner Weise dazu berechtigt, auf bessere oder schlechtere geistige Fähigkeiten zu schließen.
Ja, und auch das ist wissenschaftlich längst bewiesen: es gibt nicht nur die heterosexuelle Liebe zwischen Mann und Frau, sondern auch die homosexuelle bzw. lesbische Liebe zwischen Mann und Mann und Frau und Frau. Sie gehören zur Natur des Menschseins. Der Einzelne kann daran ebenso wenig ändern wie an seiner Augenfarbe.
Liebe Gemeinde, an dieser Stelle mögen Sie nun einwenden, dass für Sie diese Fragen um die Homosexualität keine Probleme mehr machen. Aber gehe jeder und jede einmal in sich: wie würden Sie reagieren, wenn das eigene Kind, der Enkel Ihnen offenbart, er sei schwul oder sie liebe eine Frau?
Oder etwas anders: was würde es bei Ihnen auslösen, wenn ihre Tochter einen Afghanen kennen und lieben lernt, der muslimischen Glaubens ist?
„Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor dich; wandle sie in Weite, Herr, erbarme dich!"
„Ich möchte vertrauen, Gott, hilf mir, mit meinen Zweifeln und Ängsten klar zu kommen."
Das Private ist das Politische - und umgekehrt.
Es ist offenbar ein menschliches Kernproblem, dass jeder das Eigene sehr leicht für das einzig Richtige und Zulässige hält, vor allen Dingen dann, wenn er nur so seine Lebensweise und die damit verbundenen Privilegien meint retten, nur so seinen Wohlstand meint verteidigen zu können.
Und in genau so einer Situation befinden wir uns derzeit offensichtlich.
Dabei ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die wirklich großen Probleme dieses Jahrhunderts nur global zu lösen sind, dass sie die gemeinsamen Anstrengungen aller Menschen brauchen, um menschliches Leben auf diesem Planeten auch in Zukunft zu ermöglichen. Wir brauchen einander. Und zwar in unserer Unterschiedlichkeit. Die unterschiedlichen Lebensweisen, Kulturen und Religionen bergen einen Schatz an Erfahrungen und Erkenntnismöglichkeiten, auf den die Menschheit zurückgreifen kann, um die anstehenden Probleme zu lösen. Die gemeinsame Anstrengung braucht dabei eine gemeinsame Basis: die Anerkennung, dass jeder Mensch das gleiche Recht auf Leben hat und dass es selbstverständlich in einer Gesellschaft unterschiedliche Lebensformen und Lebensweisen geben kann.
„Meine ganze Ohnmacht, was mich beugt und lähmt bringe ich vor dich: wandle sie in Stärke! Herr, erbarme dich!"
Gerade diese Strophe ist ganz nah an der Jahreslosung, diesem Hilferuf eines Vaters, der mit seinem kranken Kind zu Jesus gekommen ist. Er ist mit seinem Latein am Ende und hofft verzweifelt auf Heilung für sein Kind und damit auch auf Befreiung von seinen Sorgen, die ihn geradezu auffressen. „Ich will ja vertrauen; hilf mir aus meinen Sorgen und Ängsten raus." Das ist sein Ruf. Markus erzählt, dass Jesus daraufhin dem bösen Geist, der den Jungen immer wieder fallen lässt - die Schilderungen lassen eigentlich nur den Schluss zu, dass das Kind an Epilepsie leidet - dass er dem bösen Geist befiehlt, er möge aus dem Kranken endgültig ausfahren; daraufhin erleidet das Kind erneut einen heftigen Anfall und liegt wie tot da; Jesus ergreift dann seine Hand und stellt den Jungen auf die eigenen Füße. Jesus konnte hier helfen, wo die Jünger vorher versagt hatten. Der Hilferuf des Vaters ist erhört worden.
Vielleicht haben wir das auch schon einmal erlebt: da wurde ein Mensch überraschend gesund oder ein Problem, das schier unlösbar schien, löste sich in Luft auf. Aber ist es geraten, darauf zu hoffen, auf ein Wunder? Ist das das Anliegen der Jahreslosung? Ist der Glaube, das Vertrauen in Gott nur dann etwas wert, wenn er Wunder wirkt?
Liebe Gemeinde, erlauben Sie, dass ich hier sehr persönlich werde. Im Frühjahr letzten Jahres befielen mich immer wieder Schmerzen. Vom unteren Rücken her strahlten sie ins rechte Bein aus. Der Orthopäde, der mich seit vielen Jahren kennt und immer wieder natürlich auch mit „Rücken" behandelt hat, tippte auf Probleme der Lendenwirbelsäule und behandelte mich entsprechend. Doch im Juni und Juli wurden die Schmerzen unerträglich, ließen mich wochenlang nachts kaum schlafen - und nichts half. Um es abzukürzen: seit September habe ich die Diagnose „Tarlov-Zysten" im kleinen Becken an S1 und S2. Eine sog. „seltene Krankheit". Therapeutisch helfen kann nur eine Operation. Aber es muss erst einmal ein Operateur gefunden werden; denn die OP ist mit nicht geringen Risiken verbunden. Und so bleibt mir zur Zeit nur, die Symptome zu bekämpfen - vor allen Dingen mit Schmerzmitteln. Und eben eine Neurochirurgin oder einen Neurochirurgen zu finden, der den Eingriff wagen würde.
„Ich glaube, hilf meinem Unglauben." Ich formuliere für mich so: „Gott, ich will dir vertrauen; hilf mir, die Ungewissheit auszuhalten, wie sich diese Krankheitsgeschichte entwickeln wird, lass mich mit der Angst klar kommen, die mir die Einnahme der ganzen Schmerzmittel macht, genauso mit der Angst, die mir eine OP machen wird; lass mich mit den Einschränkungen angemessen umgehen und ermutige mich, um Hilfe zu bitten." Gott, ich vertraue dir, hilf mir, mit meinen Zweifeln und Ängsten klar zu kommen.
(Natürlich hätte ich auch gegen ein kleines Wunder nichts einzuwenden.)
Sie haben alle beim Hereinkommen zweierlei bekommen: diese Karte mit der Jahreslosung. Sie zeigt ein Boot, das schwer gegen Wind und Wellen ankämpfen muss. Ein Bild für unser Leben, wo unser Lebens-Boot immer wieder in schwere See gerät, wo das, was auf uns einstürmt, uns Angst macht und uns daran zweifeln lässt, ob wir noch das rettende Ufer, den sicheren Hafen, unser Ziel erreichen. Doch wir können uns darauf verlassen: Gott sitzt mit uns im Boot, er schenkt Kraft und Hoffnung. Trotz aller Zweifel dürfen wir darauf vertrauen und uns an ihn wenden: „Ich vertraue dir, Gott, hilf mir, mit meinen Ängsten und Zweifeln klar zu kommen."
Und dazu haben sie dieses Blatt mit einem Text darauf erhalten - „Tatsache". Vielleicht haben Sie sich auch schon über diesen Text gewundert und sich gefragt, was es damit auf sich hat. Er ist ja nun wirklich nicht besonders geeignet, uns optimistisch in dieses neue Jahr gehen zu lassen, kommen doch da alle Bedenken und Sorgen zur Sprache, die uns schon im vergangenen Jahr niedergedrückt haben.
Stimmt. Von oben heruntergelesen ist das keine Ermutigung.
Aber er kann uns passend zu Beginn des neuen Jahres zu einem „Perspektivwechsel" verhelfen - zu einem wesentlich zukunftsfähigeren Blick auf uns, auf unser Leben, auf unsere Möglichkeiten, genauso wie auf unsere Grenzen, auf all das, was uns oft die Luft zum Atmen nehmen will - und zu einem Blick auf Gott, auf das, was Glauben heißt. Er kann uns helfen, ihn so zu verstehen und zu leben wie Jesus, der gesagt hat: „Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt. / Wenn du nur Vertrauen hast, ist alles möglich."
Um dahin zu kommen, müssen wir nur den Weg Jesu gehen: den Weg von unten her - von der Krippe bis hinauf in den Himmel. (den Text von unten nach oben lesen)
Amen.
Tatsache
Unser Glaube schenkt uns Hoffnung für die Welt.
Nein. Tatsache ist,
dass Gott hier nicht mehr wohnt.
Ich glaube nicht,
dass Freude möglich ist,
dass es sich in Gemeinschaft besser lebt,
dass wir einander radikal lieben sollen.
Die Wahrheit ist,
dass der Glaube kurz vor dem Aus steht.
Ich weigere mich zu glauben,
dass wir Teil von etwas sind, das über uns selbst hinaus reicht,
dass wir verändert wurden, um zu verändern.
Es ist doch ganz klar,
dass Armut zu übermächtig ist,
dass Rassismus nicht zu überwinden ist,
dass das Böse niemals zu besiegen sein wird.
Ich kann unmöglich glauben,
dass Dinge sich in Zukunft zum Besseren wenden.
Es wird sich herausstellen,
dass Gott nicht helfen kann,
und du liegst falsch, wenn du glaubst,
Gott kann.
Ich bin davon überzeugt:
Man kann Dinge nicht verändern.
Es wäre eine Lüge, würde ich sagen:
Gott kümmert sich!
(„Perspektivwechsel" - Messianische Akrobatik)
Altjahrsabend, 31.12.2019, Stadtkirche, Hebräer 13,8-9b, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2019
Hebräer 13. 8-9b
Liebe Gemeinde!
Als solle der Predigttext vom Silvesterabend des vergangenen Jahres bewiesen werden, hat die Neuordnung unseres Lektionars ihn auch heute wieder auf den Plan gesetzt.
„Jesus Christus – der Selbe“: So sollen wir es wieder meditieren.
Mit den gleichen Worten aus dem Hebräerbrief vor Augen sollen wir nach 365 Tagen die Gedanken vom letzten Altjahrsabend wiederholen. Und wenn wir sie auf ihre Ähnlichkeit, auf ihren Gleichlaut, ihre Identität mit dem Predigtversuch und den persönlichen Betrachtungen vom Ausklang des Jahres 2018 geprüft haben und feststellen, dass alles so blieb wie es war, dann könnten sich die Namensbotschaft – „Jesus Christus“ – und ihre Empfangsbestätigung – „fest im Herzen angekommen“ – verdoppelt als konstant, als beständig, als identisch gezeigt haben.
… Und wir hätten einen Weg – eine gewundene Spirale – gefunden, um uns aus dem eigentlichen Phänomen heraus zu halten, das wir heute abend geistlich und weltlich so deutlich vor Augen gestellt sehen: Das Phänomen der Zeit, des Wandels und des Vergehens.
Wenn wir immer die selben Gedanken und immer die gleichen Worte wiederholen und nie einen anderen Gegenstand und den identischen auch nie in einem anderen Licht betrachten, dann kann ein solches liturgisches Kreisen, dann kann das monotone Winden der Spule unseres Glaubens, dann kann das stete Wickeln des einen biblischen Fadens tatsächlich eine Gegenkraft zum Flug der rasenden Gegenwart darstellen.
… Und auch wenn das in vielen Ohren wie ein Clichée des überholten Christentums, das der Gegenwart nichts zu sagen habe, klingen mag oder wie eine Karikatur wirkt: Ich bin gar nicht so sicher, ob wir uns nicht dennoch genau darin finden und daran halten sollten, dass wir tatsächlich immer nur Einen zu hören und zu verkünden haben und dass wir das immer wieder und weiter so tun müssen, wie andere vor uns es ebenfalls schon taten. Denn diese schmelzende Schwundwelt braucht ja wohl nicht noch mehr Dampferregung durch heiße Luft und Verbrennungsenergie aus überhitzter Instantware, sondern würde den ruhenden Pol und die tiefe Gelassenheit schon erkennen, wenn wir wirklich treu und unabgelenkt nicht das Gehirn durch Kurzfristigkeit noch mehr erweichen, sondern das Herz durch echtes Ewiges stärken wollten.
Von mir aus darf die Liturgie das große Gleichmaß sein, das uns im Gleichgewicht hält, statt in den Schleudergang der piependen Sofortmedien zu beamen.
Von mir aus soll die Verkündigung der Kirche das Bleibende in der flüchtigen „Weder-gestern-noch-morgen-sondern-nur-mal-eben“-Halbherzigkeit unter Unentschlossenen festmachen.
Von mir aus – man ahnt es – darf’s gerne das Immerwährende, das „Wie-es-war-im-Anfang-jetzt-und-immerdar“ sein. Nicht umsonst liebe ich kein Wort der Schrift so sehr wie unser heutiges, das nun einmal im 1.Jahrhundert ebenso Halt und Hoffnung gab, wie es das auch am jüngsten Tag noch tun wird. …….
Aber ein museales Wort, ein Denkmal schöner Gestrigkeit, eine reine Erinnerung oder eine erinnerte Reinheit ist dieses Wort eben nicht, sondern die Quelle und der Speicher, der Ursprung und der Vorrat ewigen Lebens … und wo ewiges Leben ist, das ist auch immerwährender Anfang, dauernde Erneuerung, unverbrüchliche Gottes-Gegenwart.
Der Hebräerbriefsatz von Christus, dem Selben ist in Wirklichkeit also kein konservatives Prinzip – „Alles bleibt gefälligst, wie’s war!“ –, sondern mindestens eine solche Herausforderung wie der kleine Satz in den Medien der Kurzatmigkeit, der über Weihnachten zu einem so lächerlichen Skandälchen aufgebauscht wurde. Dort hatten junge Freitagsprotestierer den Satz, den vor ihnen jede einzige Generation seit den Enkeln Adams und Evas geteilt hätte, verbreitet: „Warum reden uns die Großeltern eigentlich immer noch jedes Jahr rein? Die sind doch eh bald nicht mehr dabei.“
… Diese mehr als schlichte Anwendung von Psalm 90 (12) – „HERR, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ – wird in unseren Tagen zu einer Beleidigung hochstilisiert von einer Menschheit, die allen Ernstes ihre Sterblichkeit vergessen und die Lehre ihres eigenes Alterns und die Demut, die sie vor den Türen weckt, durch die die einen kommen und die anderen gehen werden, als Angriff durch die ungeliebten Nachrücker verstehen will.
Doch was der junge Johann Sebastian Bach in seinem „Actus tragicus“ für alle Zeiten vertont hat, wird heute nicht weniger wahr, nur weil man es als persönliche Beleidigung begreift: „Es ist der alte Bund: Mensch, du mußt sterben!“
Nichts anderes sagt mein Lieblingssatz von Jesus Christus, Der der Selbe bleibt, mir heute abend doch auch: Er ja – Du nicht! Du bleibst nicht … und schon gar nicht der selbe. Deine Zeit und ihre Entwicklungen und Verwicklungen, Deine Zeit, ihre Möglichkeiten, ihr Vertun verringern sich ständig. Ein Silvester wie dieses, mit dem ein Jahrzehntenwechsel verbunden ist, wirst Du, Jonas Marquardt, wenn’s hoch kommt noch allenfalls dreimal erleben. Und wie neben Dir und mit Dir die Welt sich abnutzt und verbraucht wird, wie die Menschheit auf ihrer höchsten Stufe der Sicherheit und der Versorgung plötzlich auf die schrecklichste Entleerung blickt, die sie mitangerichtet hat, weil unersetzliche Güter und Gaben der Schöpfung verschwendet wurden und sich vor unseren Augen immer ungebremster verflüchtigen …, wie also alles geradezu davon schreit, dass wir bald eh nicht mehr dabei sein werden: Das kann man nicht abtun mit so törichtem Piquiertsein über die eigene Endlichkeit und die uns Vorübergehenden gebührende Verantwortung für Spätere und Späteres.
… Wen das stört, der darf nicht Silvester feiern und den Kalender wechseln.
Und er darf erst recht nicht den Hebräerbrief aufschlagen, der von Anfang bis Ende eine Urkunde derer ist, die zugunsten einer ganz anderen Zeit und Wirklichkeit in den Hintergrund der Geschichte traten:
Die ersten jüdischen Christen, die von der Tora und vom Tempel und von der Treue zum Gesetz erfüllt waren und ihr Glaube an den Messias, der aus Davids Haus geboren und in Davids Hauptstadt gekreuzigt wurde, sprechen im Hebräerbrief zu uns. Sie sprechen in ihrer allmählich verschwindenden Sprache, in der der Hohepriester und die heiligen Opfer Israels das Erhabenste und Wirklichste sind, das in Christus sich zeigt. Sie geben ihr Zeugnis weiter in einer Gestalt, die bald keine mehr Zukunft haben sollte unter den getauften Heiden … aber diese Welt im Übergang, diese Welt des Ausklangs und des unbekannten Neuanfangs hat uns das wunderbare Bekenntnis beschert, in das wir heute einstimmen sollen – auch wir wieder an einer Schwelle, hinter der sich die Welt von gestern allmählich zurückzieht und langsam eine Epoche hervordämmert, die wir alle nicht kennen. …….
Jesus bleibt sich als Christus treu gerade in den Verwandlungen der Welt, die Er zu retten kam, sagen uns die christlichen Hebräer, die bald wie Dinosaurier wirken sollten.
„Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“, hatte ja schon der größte unter den Propheten von Ihm gesagt, in einem Wort (Joh3,30), das in Kaiserswerth Weltgeschichte werden sollte.
Und in diesen Stunden eines endenden Jahrzehnts, dessen Terror, Flüchtlingsströme, Umweltunheil und dessen daraus sich speisende anschwellende Neigung zu Lüge, Hass und selbstmörderischer Irrationalität uns alle wie eine bedrohte Art erscheinen lassen, die in Stürme und Fluten, Brände und Finsternis geht wie andere veraltete Gattungen vor ihr, fängt das Wort von Dem, Der Er selber ist und bleiben wird, noch einmal ganz und gar neu zu leuchten an:
Jesus Christus, wie der Hebräerbrief ihn bekennt, ist Gottes Mensch, ist Gott im Menschen – denn dieser frühe Hebräerbrief wagt schon zu sagen, Er sei der Abglanz der Herrlichkeit Gottes und das Ebenbild Seines Wesens (vgl. Heb.1,3) – … Jesus Christus ist also der menschgewordene Gott!
Wenn nun aber Dieser Er Selbst bleibt in allem Wechsel, in allem Schatten und Licht, allem Glanz und aller Not der Zeiten und Äonen, … dann ist das tatsächlich die fundamentalste und existentiellste Hoffnung der Menschheit.
Jesus Christus war nämlich nicht nur gestern Mensch, sondern bleibt es heute und in Ewigkeit! Die Menschheit, die in Ihm ihre eigene Wahrheit erkennen kann, ist an Ihm und mit Ihm also unvergänglich!
Das ist die letzte – uns lange theoretische und plötzlich doch so praktische – Konsequenz des Geheimnisses der zwei Naturen in Jesus Christus, die auf dem Mosaik der Hagia Sophia und den östlichen Ikonen durch die beiden Augen, die beiden Gesichtshälften symbolisiert werden, die nicht zueinander passen wollen: Die eine Seite ist streng – „das grimme Auge“ nennt die Orthodoxie diese Pantokrator-Bilder deshalb – und die andere Seite lächelt menschlich-mild. Deckt man jeweils eine Hälfte dieses Gesichtes ab, wird das vollends deutlich – Majestät und Harmlosigkeit springen so zerteilt dann sofort in’s Auge –, aber es ist eben kein vollständiges Bild Jesu Christi mehr, es ist nicht mehr Seine ganze Wirklichkeit.
… Man kann Jesus, Der ewig ist, Seine Menschheit einfach nicht nehmen!
Er bleibt der Mensch, Der Er ist und war, … der Mensch vor Gott, … der Mensch, in Dem Gott der Menschheit einverleibt und darum grenzenlos verbunden ist!
Und das hat nun tatsächlich weltwendende, das hat endgültig rettende und heilstiftende Konsequenzen: Andere Glieder der Menschheit – beispielsweise wir – können und werden sich immer wieder eine Zeit lang gegen das Veralten und Scheiden wehren, werden es verdrängen oder übelnehmen, … aber einst werden wir gewesen sein, … so wie 2019 in 6 Stunden nie mehr sein, sondern nur noch Vergangenheit bleiben kann.
…Und was wird dann aus unserer Sorge für die Nächsten, aus unserer Hoffnung für die Nachkommen?
Wer von uns wird es überhaupt erleben, was in den beiden nächsten Jahrzehnten, die entscheidend werden dürften, von Menschen für das Menschenleben und das Leben insge-samt geleistet wird?
Was aber kümmert’s uns denn auch, was wird, wenn wir vergehen?
Wen von uns kann es denn schon berühren, ob in achtzig Jahren, wenn ein neues Jahrhundert beginnen soll, noch etwas blieb, wie es einst war? …….
… Wen?
– Ihn! Ihn, Der bei uns und unseren Kindern, unseren Enkeln sein wird bis an der Welt Ende (vgl. Matth.28,20)!
Ihn berührt es!
Er wird auch dann in dieser irdischen Wirklichkeit da- und gegenwärtig sein, wenn wir Heutigen die Zeit längst mit der Ewigkeit vertauschen durften.
Er wird weinen über Jerusalem – die geteilte oder ungeteilte Hauptstadt eines, … zweier Länder – und die dann kleinen Kinder segnen,
Er wird die Säugenden von morgen auf der immer gleichen Flucht beklagen und die nach Gerechtigkeit Dürstenden wird Er zu allen Zeiten seligpreisen,
Er wird auch einst noch die Blumen auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel verständnisvoll betrachten und wird das Unkraut neben dem Weizen wachsen lassen,
Er wird Seine Schafe an ihrer Stimme kennen und Seine Lämmer treulich weiden,
Er wird das Licht des 22.Jahrhunderts und das Heil der fernsten Generationen unseres kleinen Globus sein,
Er wird aber auch jenes Geschlecht am Ende, dem letzte Trübsal bevorsteht, nicht verlassen, und Er wird die Freudenboten, die das Reich und die Kraft und die Herr-lichkeit unseres Gottes und Seines Gesalbten endgültig auf Erden bringen, stärken und festmachen bis Er alles Seinem Vater übergeben kann. —
Dieser Jesus Christus ist die Zukunft der Menschheit und der Erde, weil Er Der bleibt, Der Er war: Gott und Mensch in unauflöslicher, niemals veraltender oder vergehender Einheit … ewig in der Zeit und eben in Seiner zeitlichen Menschlichkeit doch auch endgültig unvergänglich. ——
Und in Ihm, in Dem die Zukunft liegt, so wie alle Dinge mit Ihm begonnen haben, als die Welt durch Ihn geschaffen wurde (vgl. Heb.1,2!), … in Ihm finden wir Christen den Imperativ und die Zusage für das, was wir in der Zeit noch vor uns liegen sehen.
Weil Er Derjenige ist, Der im Anfang war und sein wird immerdar, ist auch von unseren vorübergehenden, irdischen, menschlichen Dingen nichts gleichgültig und nichts bloß zeitlich, sondern die Geschicke dieser Welt und die Geschichte ihrer Menschen sind dauerhafter und integraler Teil des buchstäblichen „Schicksals“ – also: des Auftrags und der Sendung – Jesu Christi.
Was immer wir – wie Zinzendorf es singt – also noch von „Grad zu Grad“, von Stufe zu Stufe, von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt in dieser Welt befördern und entwickeln können, was immer wir einsetzen und wagen, was immer uns noch zu versuchen und zu tun bleibt, nimmt seinerseits Teil an der Gegenwart Dessen, Der aktuell und akut allezeit das Leben der Lebenden teilt und nie mehr sterben wird.
Und Er wird die Fossilien, die derzeit die mächtigsten Männer dieser Welt zu sein glauben, und die Steinzeitfraktionen, die allzu viele Religionen verhärten, als der lebendige und junge Jesus Christus verwandeln und die alte Welt, die doch niemand zementieren kann, erneuern auf Sein Reich hin.
Und darum wollen auch wir in die Zukunft schauen und in ihr unerschrocken handeln:
Was wir tun, tun wir mit Ihm und für Ihn.
Was uns widerfährt, trifft uns bei Ihm und Ihn mit uns.
Wer wir im Leben sind und noch werden, verknüpft uns mit Ihm, Der als unseres-gleichen Er Selber bleibt von Geschlecht zu Geschlecht.
Er, der Anfang – Er, das Nun – Er alles, was uns erwartet.
Dieser Jesus Christus, Der gestern und heute und Der Selbe auch in Ewigkeit ist, ist wahrhaftig also die Überraschung und Verheißung unseres Lebens … wie Er auch dessen Dauer und Vollendung ist.
Und das wird nie alt, das bleibt unerhört.
Wie gut darum, ein neues Jahr mit Ihm anzufangen, … ein gutes neues Jahr, … ein Jahr nach Seiner Zeitrechnung: 366 Tage mit Ihm geteilten Lebens, … jenes Lebens, das ewig bleibt!
Amen.
2.Christtag, Stadtkirche, Matthäus 1, 18 - 25, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Christfest 2019
Matthäus 1,18 – 25
Liebe Gemeinde!
Es gibt in der jüdischen Welt einen Wunsch, der eigentlich unübersetzbar und unnachvollziehbar bleibt, wenn man nicht wenigstens ein paar tausend Jahre jüdischer Geschichte im Gepäck hat.
Bei jeder Hochzeit wird den Frischvermählten dieser Wunsch zugeprostet und frischgebackene Eltern hören ihn aus aller Mund: Er lautet im Jiddisch-Englischen, das meine Schulzeit begleitete: „Mazzel tov! May you live to shep naches from your children!“ – „Glückwunsch! Möget Ihr lang genug leben, um »Naches« von euren Kindern zu schöpfen!“
… Nur: Was ist „Naches“?
Das hebräische Wort dahinter – „Nachat“ – bedeutet Seelenruhe, inneren Frieden, innere Zufriedenheit. … Aber „Naches“ von den Kindern zu haben, ist eine völlig andere Art des Glücks als alles, was uns sonst befriedigt. Mit dem guten Gefühl eines konkreten Erfolges, eines verwirklichten Traumes, einer verbrieften Sicherheit ist „Naches“ nicht zu vergleichen.
… Also, was meint es denn dann? Erklär’s mir.
– Nu, sieh’ es doch so: „Naches“ von den Kindern hast Du, wenn es gut mit ihnen läuft, … wenn sie gut werden, … wenn mit ihnen Gutes geschieht.
– Wenn sie gute Schüler sind?
– Bitte …
– Wenn Sie promovieren?
– Ähhhh.
– Wenn Sie die Relativitätstheorie entdecken?
– Ach.
– Wenn Sie endlich auf der Liste für den Nobelpreis stehen?
– Mit Peter Handke? Für was?
– Ja, aber wann hast Du denn dann „Naches“?
– Gut, ich sag’s Dir: Wenn sie heiraten! „Naches“ von den Kindern schep’ ich, wenn sie heiraten.
– So?! Und was ist das dann, wie zeigt sich das? Was sagst Du ihnen dann?
– Dann sag ich ihnen, dass ich hoffe, sie werden leben bis sie „Naches“ von ihren Kindern scheppen. ——
Das also ist Naches: Dass es weiter und weiter geht; dass der Faden nicht reißt; dass die Generationen nicht abbrechen; dass der Segen nicht im Sand verläuft; dass die Verheissung nicht umsonst war, die Hoffnung nicht trog, das Erwartete nicht ausbleibt, dass das Kommende nicht nicht kommt und dass es auch mit den nächsten, den Nachkommen, dass es auch in Zukunft weiter geht mit dem Leben. ———
Mit einer solchen Kette der „Naches“-Erfahrungen geht nun aber das Neue Testament los.
Wer es aufschlägt – beispielweise an Weihnachten, weil er wissen will, wie das, was die Christen feiern, begonnen hat –, stößt auf eine unvergleichlich jüdische Konstruktion: Von Abraham, dem Erzvater angefangen reihen sich da vierzehn und weitere vierzehn und noch mal vierzehn Glieder einer ununterbrochenen Linie aneinander in einer Chronik, die aus einem einzigen Thema zu bestehen scheint: Der Fortpflanzung. Einen Außenseiter – zumal wenn er nicht-jüdisch ist und keinen Sinn für Geschichte hat – muss diese ausschließlich auf die Zeugung konzentrierte Sicht auf zahllose Menschenleben befremdlich berühren, … noch dazu, wenn er eine heilige Botschaft, eine Quelle der Offenbarung und Theologie erwartete. Statt geistlicher Inhalte eröffnet das Evangelium ihm nur den Blick auf höchst weltliche, natürliche Vorgänge: Ein Name, eine Kopulation, eine Geburt; ein Name, eine Kopulation, eine Geburt usw., usw.
… Und das soll die größte Religion aller Zeiten ausgelöst haben? So fängt die stärkste Erneuerungsbewegung der Weltgeschichte, … so fängt unter der Überschrift „Dies ist das Buch von der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“ die Kunde vom kommenden Reich Gottes an: „Abraham zeugte Isaak, Isaak zeugte Jakob, Jakob zeugte Juda und seine Brüder“ (Matth1,2)???
Für den zartbesaiteten, vergeistigten Sinnsucher, der Spiritualität als eine psychologische oder ideelle Dimension erwartet, ist der biologische Schock dieses Evangelienanfangs radikal. Für jeden Juden dagegen ist es eine Fundgrube von „Naches“: Ob sie ziellos wanderten oder brutal versklavt wurden, ob sie überraschende Blütezeiten, zähe Epochen der Dekadenz und des Verfalls durchlitten, ob sie den Nullpunkt der nationalen Aus-löschung oder die bleierne Zeit des Exils ertragen mussten, ob sie staubige Durststrecken überwanden oder die beim Channukah-Fest gefeierte Zeit des bescheidenen Wiederaufstiegs im Frieden des griechisch-römischen Schattens erlebten: Die vorigen Geschlechter haben keinen so nachhaltigen, keinen so schöpferischen und perspektivischen Segen erfahren wie die staunenswerte Tatsache, dass immer wieder – Pharao und Nebukadnezar und Haman und Alexander und Cäsar zum Trotz – Kinder gezeugt und geboren wurden und die Geschichte Gottes mitten in Irrtum und Gewalt der Welt weiterging.
Mit solchen Ohren gehört, mit solchen Augen betrachtet sind die Geschlechtsregister der Bibel lauter praktische Gottesbeweise von Abraham bis jenseits von Auschwitz: Nichts ist stärker als das, was allein durch „Abraham zeugte“, „Isaak zeugte“, „Jakob zeugte“ weitergeht! ———
… Womit wir beim armen Joseph wären: Nicht dem Jakobssohn mit dem schönen Mantel und der ägyptischen Gruben- und Auferstehungserfahrung, durch die der Same Abrahams überhaupt nur für die Zukunft der Verheißungen Gottes gerettet wurde. Heute sind wir beim anderen Joseph, dessen Vater im Stammbaum bei Matthäus tatsächlich auch Jakob heißt. Aber ob dieser Joseph ein Liebling seines Vaters war oder ein Liebling der Frauen, wie der Vorgänger gleichen Namens, wissen wir nicht.
Nichts wissen wir von ihm, außer dass bei ihm – nach etwa zwölfhundert Jahren – die Kette von „Naches“, von Glück und Zuversicht im Blick auf das Wunder der nächsten Generation der Segensträger reißt.
Die lange, stolze, dankbare Geschichte des Glaubens daran, dass es weitergeht und dass man als Sohn Abrahams selber auch zum Vater eines verheißenen Nachkommen werden darf, sie bricht bei Joseph ab, … kurz vor der Erfüllung: Der Verlobungsvertrag ist unterzeichnet, das durchaus sakramentale Verständnis der Ehe, in der sich die Bundestreue Gottes gegenüber Israel in jedem Brautpaar konkret verkörpert und in ihrer Sexualität zu greifbarem Segen und Fortsetzung der Verheißung führt, … dieses einzigartige, heilig-nüchterne Gefühl, das eine jüdische Hochzeit buchstäblich zum Gipfel jeder Biographie macht, hat Besitz von Joseph ergriffen. Der Zimmermann von Nazareth wird mit der Holdseligen nicht nur ein Haus gründen, sondern er wird bauen dürfen an jenem Gerüst aus Zeugungen, das die Welt beim Gründen und Errichten des Reiches Gottes zusammen- und stabil hält.
… Wie herrlich muss es gewesen sein, Joseph zu sein.
Noch ein paar Wochen, und sie werden ihm unter dem Baldachin der Hochzeiter „Naches“ wünschen und er wird für immer mit ihr, die schön ist wie die Rose von Saron und die Lilie des Feldes, die Wiesenblumen am Ufer des Genezareth ein Teil jenes Mysterium werden, dass Israel heißt, im dem nicht das heidnische Werden und Vergehen, sondern das ewige Zeugen und Gebären und Leben durch Gottes Segen sich vollzieht.
… Wie herrlich muss es gewesen sein, Joseph zu sein! ……. ———
Wie vernichtend.
… Kein „Naches“!
… Leben und Segen – aber nicht durch ihn!
… Fortgang der Heilsgeschichte, doch ohne dass sein Name im grünenden, sprossenden Buch des Lebens steht, wie es die Stammbäume Israels verkörpern.
Joseph, durch den die Geschichte nicht mehr ihren Verlauf nahm, weil sie bei ihm in eine Sackgasse geführt hatte.
Joseph, der vertrocknete Ast.
Joseph, einer von denen, die sie in Israel „die Verschnittenen“ nennen, die Eunuchen, … deren trostloses Verkümmern und Verblassen und Verschwinden aus den Chroniken, die doch voll Zukunft sind, nur durch den Propheten Jesaja aufgehalten wird, der in Gottes Auftrag verspricht, dass auch die Ausradierten, auf die niemand folgt, im Hause Gottes und in seinen Mauern ein Denkmal und einen Namen erhalten werden (vgl. Jes.56,5); … und wenn wir diesen letzte Trost, den Joseph womöglich hätte ahnen konnte, auf Hebräisch hören, … erst dann wissen wir, wie schlimm es um ihn stand: „Yad va-Shem“ verheißt Gott auf Hebräisch denen, die keine Nachkommen mehr haben werden. …….
„Yad va-Shem“ statt „Naches“. ——
Das ist die Situation, mit der das Neue Testament anfängt, die Situation, in der es zum ersten Mal Weihnachten wird.
Natürlich nur, wenn wir es überhaupt aushalten, das Neue Testament sprechen und es darin tatsächlich Weihnachten werden zu lassen.
Wenn die entscheidende Voraussetzung, die das Neue Testament über Jesus von Nazareth macht, uns als zu unwahrscheinlich erscheint, weil wir keinerlei Erfahrungsansatz dafür haben, … wenn wir also die Voraussetzung ablehnen, dass Jesus der Sohn Gottes ist, dann gibt es nichts, das an Joseph zu meditieren wäre.
Dann wäre der Beginn des Matthäusevangeliums entweder die Geschichte eines Eifersüchtigen, der sich halt doch nicht traute, das untreue Mädchen sitzen zu lassen, oder es wäre die Geschichte eines jungen Mannes, der nicht bis zur Hochzeit warten mochte.
Es wäre jedenfalls eine Geschichte ohne neue Botschaft. … Wie wir ja ohnehin ohne jegliche Erneuerung und Erweiterung unseres Geistes und unserer Gedanken und damit unseres Horizontes und unserer Wirklichkeit existieren müssten, wenn wir nur Dinge wahr- und ernstnähmen, für die es in unserer eigenen Erfahrung einen Ansatz gibt.
Die neue Geschichte des Joseph, für die wir keinen Vergleichswert in unserem Alltag und doch unfassbar viel Vergleichbares finden, ist die Geschichte einer Lebensenttäuschung, aus der trotzdem nicht nur für einen, sondern für uns alle Segen geworden ist. Zunächst muss man den Zweifel Josephs an der Jungfrau und seine Verzweiflung über Gott aber als das nehmen, was sie sind: Nicht nur menschliche Beziehungs-, Zweifels- und Konkurrenzgeschichten – als wären solche nicht oft schon existentiell tragisch und zerstörerisch genug! –, sondern eben wirkliche, furchtbare, hiob’sche Gottesgeschichten, … Erfahrungen, in denen Gott schmerzt und prüft!
…Dass Liebe enttäuscht werden kann und Vertrauen verraten, dass Hoffnungen sich zerschlagen, Träume platzen, dass Pläne schief gehen und das Leben dennoch weiter: Das kennen wir.
Bei Joseph aber ist es nicht nur die dumpfe Ahnung, der nagende Zweifel, die trotzige Wut, die das alles irgendwie auf Gott zurückführen, sondern Gott selber ist es, Der dem Joseph bestätigt: „ICH habe dich aus der uralten, bisherigen Ordnung genommen; ICH habe die Rechnung durchgestrichen, in der du Mich als Wirt stehen hattest, Der dir Hoffnung und Segen einschenken sollte, wie sie seit Abraham allen Vätern zuteilwurden. ICH habe dir die Prüfung auferlegt, aus einer langen Reihe tanzen zu müssen und alleine da zu stehen. So wie die Mutter meines Kindes ohne menschlichen Vater dazu bleiben sollte, so sollst Du – Sohn so vieler Väter – nach menschlicher Weise kein Kind haben … und doch Meinen Sohn benennen und erziehen. ICH bin es, Der dir das zumutet. – Warum? Weil die Welt, in der du lebst und das Leben, von dem du träumst, nicht so heil sind, wie es scheinen mag. Weil mitten in deinem Volk – Meinem Volk Israel! – und auch überall sonst neben den vielen Ketten und Linien des Segens, neben den vielen Verbindungen, die zwischen Mir und den Menschen, zwischen der Herkunft und der Zukunft des Lebens bestehen, so viele Brüche, Einbrüche und Abbrüche, so viele Gefährdungen, so viel Verdunkelung, so viel Zerstörung eintritt. Und irgendwo muss deshalb ICH dazwischentreten, muss eintreten in die Geschichte, in der Segen und Unheil, in der Verheißung und Gericht weiter und weiter wachsen. ICH muss mitten dorthinein … zwischen „Naches“ und „Yad va-Shem“, zwischen Himmel und Hölle des Menschseins. Und dich, Joseph, habe ICH gerufen, Mir Platz zu machen. Damit ICH der »Immanuel« werden kann.
Und so wirst Du kein Kind haben, das dich Vater nennt, sondern du sollst »Jesus«“ – also »Hilfe« – zu einem Kind sagen lernen!“ ———
Wie schwer muss es gewesen sein, Joseph zu sein!
… Wie herrlich aber auch: Den eigenen Platz Diesem zu lassen, Der dadurch die Hilfe der Welt, die Vergebung der Sünden, den Immanuel bringen würde!
– Joseph, was für „Naches“ hast Du wohl geschöpft aus dem Kind, das du benennen und be-gleiten, dass du beschützen und bewahren durftest!
Denn das ist doch eigentlich und im wahrsten Sinne „Naches“: Dass es weitergeht … viel weiter, als ein einzelnes Leben, eine einzelne Lebensgeschichte je reichen könnte.
Eine moderne Erläuterung des Hebräischen-Jiddischen Wunsches nach „Naches“ definiert dieses unübersetzbare Gefühl denn auch besonders gelungen als „Second-hand Freude“[i], als ein Glücklichsein also, das über das eigene persönlich zugehörige Können und das Selbst-Erreichte weit hinausreicht und den Segen, den man selber überhaupt erfahren kann, vertieft, ihn erweitert, … ja, in’s Unermessliche vergrößert dadurch, dass auch jener Segen, der für andere und durch andere kommen wird, dazuzählt.
Und eine andere heutige Beschreibung von Naches im amerikanisch-jiddischen Sprachraum klingt, als habe sie – obwohl das keineswegs der Fall sein kann – schlicht Josephs Aufgabe an Jesus klären wollen: „Naches is ……. the achievement of bringing up a mensch“[ii].
Dieses Glück, dass Joseph für uns alle einen Menschen – Den Menschen! – gepflegt, geliebt und erzogen hat, ist die dauerhafteste, weitreichendste „Second-hand-Freude“ der Welt: Es ist die Freude, die wir heute spüren, die wir feiern.
Es ist die Weihnachtsfreude!
Und darum – Du gestattest, Maria, Holdselige – … darum werden Dich, Joseph, seligpreisen alle Kindeskinder!
Amen.
[i] „Naches, from Hebrew נחת (naḥath) meaning contentment, usually refers to second-hand joy at see one's children or grandchildren succeed. It can also be used to describe the joy of helping someone else.“ (http://www.yiddishslangdictionary.com/word/331/naches
[ii] „Naches is more properly applied not to some fleeting public feat but to the achievement of bringing up a mensch.“ (https://www.thejc.com/judaism/jewish-words/naches-1.8111)
1.Christtag 2019, Stadtkirche, Titus 3, 4 - 7, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Christfest 2019
Titus 3, 4-7
Liebe Gemeinde!
Wie kommt ein Tauftext auf die Weihnachtskanzel?, so muss fragen, wer auch nur ein wenig weiß über das Verständnis und die Praxis der Aufnahme in den Bund Gottes mit denen, die Jesus Christus nachfolgen. Das Zeichen der Taufe, das die Zeitgenossen des Täufers als Vertiefung der rituellen Waschungen übten, wie die Torah sie kennt, um ihre Bereitschaft zu bezeugen, radikal zu Gott umzukehren, … dieses Reinigungsbad im Jordan war durch die Passion und Auferweckung Jesu ja zu etwas wiederum neu Entfaltetem geworden.
Nach dem Wunder des dritten Tages zeigte sich im Untertauchen und Emporgerissen werden der Taufhandlung ja, dass sie tatsächlich am Täufling genau besiegelte und in Kraft setzte, was Christus widerfahren war, mit dem die Getauften unlösliche Gemeinschaft empfangen: Untergang und Neuanfang, Sterben und Rettung aus dem Tod.
Und so spricht das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung auch heute noch die Sprache von Ostern und ist auch heute noch als Sakrament am vielsagendsten, wenn wir es in der Osternacht und unter dem Halleluja der Auferstehungsbotschaft feiern.
Warum ist dann aber der Tauftext aus dem Titusbrief seit vielen Jahrhunderten die Epistel des 1.Weihnachtstages, über die Luther vor einem halben Jahrtausend in der Früh-Christmeß ebenso predigte, wie es weltweit heute in allen katholischen Kirchen der Fall sein wird? —
Man könnte versucht sein, an die berühmteste Weihnachtstaufe der Welt- und Kirchengeschichte zu denken, die immerhin in unserer Nachbarschaft einen Gedächtnisort hat: Die Wittlaerer Kirche St.Remigius erinnert mit ihrem Patron an das Weihnachtsfest irgendwann zwischen 497 und 507, bei dem der Bischof Remigius von Reims den König der Westfranken, Chlodwig taufte.
Chlodwig, der den christlichen Glauben seiner Frau als Schwäche empfand, hatte die in Antike und Völkerwanderung übliche martialische Kraftprobe abgewartet: Wenn ein Gelübde, das dem christlichen Gott gemacht wurde, zum militärischen Sieg verhalf – und das tat es in Chlodwigs Ringen mit den Alamannen in der Schlacht von Zülpich –, dann konnte man offenkundig auch als König die Nachfolge des Gekreuzigten erwägen.
So aberwitzige diese Idee auch ist: Dass Chlodwig sich mitten in einer Zeit, in der die ihn umgebenden Stämme wenn überhaupt, dann die sog. arianische Verzerrung des Christentums übernahmen, in der eine Selbsterniedrigung Gottes durch echte Menschwerdung nicht denkbar schien, … dass Chlodwig sich also zur römischen Gestalt des Christentums und derem Beharren auf den beiden Naturen Christi – wahrer Gott und wahrer Mensch in einer Person! – bekannte, wurde durch die Weihnachtstaufe besonders deutlich. Dass das westliche Frankenreich seitdem als die „älteste Tochter der römischen Kirche“ gilt und dass in Westeuropa nicht die bequeme Abspaltung Christi von Gott, wie die Arianer sie lehrten, sondern die dynamische und anstrengende Denkübung lebendig blieb, Allmacht und Ohnmacht, Ewigkeit und Geburt, Schöpfer und Geschöpf, den stellvertretend Gekreuzigten und den Sieger über den Tod nicht auseinander-, sondern zusammenzuhalten, war eine wichtige Folge dieses ersten großen Missionsereignisses in Europa.
Dass wir hier – auch nach dem Ende der großen christlichen Epoche Europas – überhaupt Weihnachten feiern, ist nicht erklärlich ohne die Taufe eines barbarischen Kriegskönigs, der damals die Geburt eines Kindes beging, dessen Liebe und Leid sich stärker als alle fränkischen Waffen und allamanischen Rüstungen erweisen sollten. ——
Den kleinen Briefabschnitt aus dem Titusbrief hat der geschichtliche Wendepunkt der merowingische Königstaufe am 25.Dezember aber doch nicht auf unsere Kanzeln gebracht.
Vielmehr sind es genau zwei Wort, die hier das Weihnachtsevangelium verdichten wie in einem Diamanten. Es sind die Worte, die schon vor Jahrhunderten bei der Auswahl der Epistel für das Fest der Geburt des Herrn genauso wenig zu übergehen waren, wie heute … wobei sie – ehrlichgesagt – zum Mittelalter noch klarer und unmissverständlicher sprachen.
„Freundlichkeit“ und „Menschenliebe“ heißen die beiden Weihnachtsvokabeln bei Luther, und dass sie einen wundervollen Klang haben, in dem das Wichtigste von Gott zu spüren ist, kann niemand leugnen: Der HERR ist – so sagt es ja der endlose Cantus firmus der Gebete Israels – „freundlich und Seine Güte währet ewiglich“ (vgl. z.B. Ps.106 / 107 / 136 u.v.a.m.), denn so hat Er sich dem Mose offenbart: „Barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue …“ (vgl. 2.Mose 34,6).
Diese Neigung Gottes zum Menschen, zu Israel, dem erwählten Volk und zu allen, die den Namen des HERRN anrufen – und seien es die hundertundzwanzigtausend Idioten von Ninive – … diese Neigung Gottes zum Menschen ist Seine eigentliche DNA. Sie hat Ihn überhaupt zum Schöpfer werden lassen, Der den Menschen machte, den Er nicht gebraucht hätte. Die Freundlichkeit und Menschenliebe in Seiner ureigensten Substanz hat Gott alle Rückschläge, alles, womit Sein geliebter Mensch zurückschlug gegen die ursprüngliche Liebe aushalten lassen und Ihn wieder und wieder dazu gebracht, Seinem weichen Herzen nachzugeben, von dem Er durch die Propheten Jeremia (31,20) und Hosea (11,8) spricht. Seine unüberwindliche Freundlichkeit und Menschenliebe hat Gott immer wieder Zugeständnisse und Neuanfänge, Großzügigkeit und Nachsicht, vermeintliche … tatsächliche Inkonsequenz und Autoritätsverlust eingetragen … so sehr, dass patriarchale Machtmenschen wie ein Chlodwig diesem Gott der Weichheit und Milde misstrauten. … Aber was kann Er gegen Seine Natur, in die nun einmal Freundlichkeit und Menschenliebe eingeschrieben sind, wie die chemischen Sequenzen, die unsere Veranlagungen ausmachen?
Gott kann nicht aus Seinem Wesen!
… Bei Hosea hören wir Ihn sogar beinah neidisch auf den Menschen weisen, der so viel härter, so viel unzugänglicher und selbstbezogener sein kann, als der barmherzige und gnädige Gott. Gerade am heutigen Weihnachtstag hält man förmlich ganz scharf und ganz schockiert die Luft an, wenn der mitleidige HERR durch Hosea (11,9) sagt: „Ich will nicht tun nach meinem grimmigen Zorn, … denn ich bin Gott und nicht ein Mensch und bin der Heilige unter dir und will nicht kommen, zu verheeren“!?!
Wäre es demnach tatsächlich so furchtbar, wenn Gott Sein Wesen vermenschlichte? Sind wir so furchtbar, dass ein menschlicher Gott für andere Menschen eine Katastrophe wäre, wie es in diesem frustrierten Augenblick bei Hosea den Anschein hat? …….
Der Stachel sollte sitzen! Menschen in ihrer Unzuverlässigkeit, in ihrer Blindheit, ihrem Egoismus, Menschen in ihrer Gewissenlosigkeit und ihrem rücksichtslosen Götzendienst am eigenen Interesse sind tatsächlich weder Hilfe noch Heil. Die Welt der Menschen wäre rettungslos, wenn sie keinen Retter in ihrem göttlichen Liebhaber gefunden hätte. Menschen sind … unmenschlich.
Das ist die seltsame Erkenntnis, die nicht nur uns in unseren Tagen der nackten, programmatischen Engherzigkeit und Ichsucht auf der global politischen Menschheitsbühne ankommt, wenn uns die Menschenliebe in ihrer göttlichen Urform begegnet.
Schon Luther verfiel in seiner herrlichen, herzwärmenden Weihnachtspredigt zu Titus 3 in der Kirchenpostille auf die eigentlich beschämende Assoziation, dass er das Wort von der Menschenliebe, das ihn spürbar ergriff und erfüllte, durch eine unwahrscheinliche Erläuterung aus der griechischen Naturphilosophie illustrierte: „Also nennen die natürlichen Meister etliche Tiere »Menschenlieber« oder leutselig, als da sind die Hund, Pferd, Delphin. Denn dieselben Tiere haben natürliche Lust und Lieb zu den Menschen, tun sich auch zu ihnen und dienen ihnen gern, als hätten sie Vernunft und Verstand gegenüber dem Menschen.“[i]
Sollte man also wirklich eher bei den Kötern, Gäulen und Tümmlern als bei den Zweibeinern die anschaulichste Erklärung der Menschenliebe finden?
……. Gehen wir auf die griechischen Inseln, gehen wir in die Umerziehungslager in China, gehen wir in die nordkoreanische Hölle, in das Chaos von Haiti, in die Mördergruben des Terrors, in die korrupte Tristesse Venezuelas, in das geistige Vakuum des Weißen Hauses, in den Glutofen Australiens, in die zynische Gesellschaft der russischen, türkischen, syrischen Mächtigen, … gehen wir mit allen diesen Brennpunkten der allgemeinen Menschenfeindlichkeit der Menschheit vor Augen in unser eigenes träges, abwehrendes, dickfelliges, fühlloses Herz … und wir könnten tatsächlich auf unsere treuen Tiere verfallen, wenn wir echte Menschenfreundlichkeit suchten.
Oder wir wagen es, doch nach Bethlehem zu blicken.
Dort findet sich in seiner denkbar kleinsten, unscheinbarsten Gestalt das, was wir überall auf Erden vergeblich suchten könnten.
Dort findet sich Der, durch Dessen Dasein Menschlichkeit und Freundlichkeit eine Renaissance, ein Wiederaufleben erfahren, wann immer ein Mensch in dieses neugeborene und Neugeburt schenkende Wunder der unaustilgbaren Menschenliebe Gottes eintaucht. Wer sich auf diese Geburt von damals wieder einlässt, wer erfasst, welche DNA der Gnade und Barmherzigkeit sich da dem menschlichen Erbe von Adam her verbunden hat, wer sich dazu hinkniet, es sich über Haupt und Herz und Hände fließen lässt, wie dort das Beste Gottes zum Besten der Menschheit in unsere Gefäße, in unser Fleisch und Blut eingeflossen ist und wie das Beste Gottes von dort weiterströmt und uns alle – unverdient – mit dieser neuen Wirklichkeit tränkt und transformiert, … wer sich darauf taufen lässt, der wird tatsächlich durch den Heiligen Geist erneuert und wiedergeboren.
Denn das ist das Werk des Geistes – Der uns oft so abstrakt, manchmal beinah wesenlos zwischen den Personen des Vaters und des Sohnes zu verschwinden scheint, obwohl Er doch Ihre Einheit ist:
Der Geist ist es, Der die Beziehung trägt, die in Gottes Menschenfreundlichkeit so folgenreich wirkt.
Der Geist Gottes ist es, Der das Wunder in Gott vollbringt, dass Gottes Wesen und die menschliche Natur des Sohnes der Maria sich in einer geeinten, gemeinsamen Wirklichkeit verbinden.
Und der Geist Gottes ist es darum auch, Der diese neue Wirklichkeit in einem Menschen schaffen kann, der sich der Liebe zu und der Gemeinschaft mit dem Gott überlässt, Der Ihm in Jesus Christus begegnet.
Das ist in etwa die Lehre der allgemein anerkannten Trinitäts- und christologischen Dogmen, die Chlodwig, der Frankenkönig bei seiner weihnachtlichen Taufe an der Wende zum 6.Jahrhundert übernahm: Eine Lehre, in der die absolute Unterordnung und Fremdheit des Menschen vor und gegen Gott, wie die arianische Sekte sie lehrte – und wie die streng hierarchischen, patriarchalen Kriegerstämme der Goten, der Burgunden und Alamannen sie in ihr Menschen- und Gesellschaftsbild viel besser integrieren konnten – , nicht vertreten wurde. … Eine Lehre – so muss man im Blick auf das, was allzu oft nur als die Orthodoxie der kaiserlichen Religionspolitik Konstantins verleumdet wird, betonen –, die gerade auch in Gott auf Gemeinschaft statt Vorherrschaft, auf wechselseitige Liebe statt auf einseitigen Gehorsam beharrte.
Eine Lehre, die den Wortlaut von Titus 3, 4 in der damaligen Form ernstnahm und Ernst damit machte.
… Das war vorhin ja schon angeklungen, dass die Epistel dieses Morgens gerade im abendländischen Frühmittelalter sprachlich noch eindringlicher war als der griechische Urtext uns vermuten lassen könnte, der in unseren Ohren beinah bieder klingen könnte. … Das Wort, das der Apostel zur Beschreibung des Liebesgeheimnisses in Gott nutzt, heißt auf Griechisch natürlich „Philanthropie“ und erinnert uns vielleicht allzu schnell an gute Werke – die doch gerade keine Rolle spielen sollen! … „Philanthropen“, das sind Hamburger Pfeffersäcke, die an der Alster ein Paar Bänke stiften, das sind Wohltäter, die ihren unmoralischen Gewinn kompensieren oder ihr zwackendes Gewissen salvieren, indem sie auch für gefallene Mädchen oder für „die Kultur“ oder zur Not für die Ausrottung der Polio oder die Verbreitung des Elektroautos Teile ihres Vermögens einsetzen.
Alles schön und gut. Und nötig in Zeiten, in denen Ehrenamt und Allgemeinwohl zu lästigen Störfaktoren bei den eigentlichen Prioritäten herabsinken.
Doch solche Formen von wohltätiger Ersatzhandlung oder Herablassung auf die Ebene der unbedarften und benachteiligten Menschenmassen sind mit der Philanthropie Gottes gewiss nicht gemeint.
Viel dramatischer, konsequenter und revolutionärer ist nämlich in der Tat nicht der griechische Urtext, sondern seine lateinische Übersetzung.
Dort steht tatsächlich – skandalös und rettend von den Tagen des Paulus über die Tage Chlodwigs bis in unsere immer noch und immer weiter unmenschlichen Tage – nicht mehr und nicht weniger, als dass die „humanitas“ Gottes erschienen sei, … Gottes Humanität also unwiderruflich offenbar geworden ist.
……. Darum liegt dieser Briefabschnitt also heute vor uns!
… Weil nach der Schrecksekunde bei Hosea, als die Option für die Menschlichkeit Gott zu unmenschlich schien, die Menschenliebe doch gesiegt hat!
Er ist doch wirklich Mensch geworden und hat die wahre Humanität mit Sich auf die Welt gebracht und Er will uns alle vermenschen, wenn wir in der Taufe Seinen Geist der Freundlichkeit das Werk der Humanisierung wirken lassen.
Ob wir dahin aber als Krieger oder König oder Sünder oder Philanthrop, ob wir als Spötter, ob wir als Zweifler, als Kapitalist oder Nationalist oder Ninivit kommen …, die Taufe auf die Weihnachtswahrheit wird uns zu Menschen machen.
Denn die Freundlichkeit und humanitas Gottes ist erschienen und sie macht die Welt neu in der Hoffnung auf ewiges Leben!
Amen.
[i] Martin Luther, Epistel in der Früh-Christmeß, W.A. 10 I, 1, S. 98, zitiert nach: Martin Luther, Ausgewählte Werke [Münchner Ausgabe], Ergänzungsreihe 5.Bd, München 1960, S. 114.
Christmette 2019, Stadtkirche, "All bells in paradise" (John Rutter), Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christmette 2019
„All bells in Paradise“ (John .Rutter)
Liebe Gemeinde!
Glockenklang ist der Puls der Kirche und der Christenheit: Und da die Herzen höher schlagen und uns große Freude verkündigt wird in dieser Nacht, ist es nur natürlich, dass kein Geräusch so intensiv mit dem Heiligen Abend und den Stunden des Weihnachtsmorgens verbunden ist, wie die metallene Stimme der Glocken und Glöckchen, die von allen Türmen in die Winternacht den Jubel der Erlösung rufen, die hinter den Türen der guten Stuben das lang ersehnte Signal zur Bescherung klingeln und deren Nachhall in Schmuck und Kitsch und tausend Liedern es bestätigt, dass heute etwas Weltbewegendes, Feierliches und gleichzeitig Einladendes und Helles und Süßes in aller Welt zu vermelden ist.
… Weihnachten: Das ist das schönste Wort der Glockensprache und Geläute ist die beste Übersetzung des Gloria von Bethlehem, des Hirtenlobes, des Kindelwiegens und der anbetenden Ehrfurcht vorm Mysterium des Immanuel … Gott selbst in unserer Mitte.
Weihnachtsglocken sind das Evangelium von den Dächern (vgl. Matth.10,27), denn ihr Schall geht aus in alle Lande und ihr Reden bis an die Enden der Welt (vgl.Ps.19,5).
… Was also könnte wohl schöner und stimmiger sein, als diese Harmonie aus Erz und Herzblut, die seit unvordenklichen Jahren den Ton unseres Festes bestimmt und unglaubliche Stimmungswerte und Erinnerungskristallisationen in sich schließt und in den allermeisten europäischen Gemütern eine Schwingung auslöst, die einzigartig ist: „Ding-dong, merrily on high: Kling Glöckchen, klingelingeling, … and all the bells on earth shall ring / on Christmas day in the morning!“
……. Dabei ist der Klang, den Bruder Jakob nicht verschlafen und ein Christenmensch nicht ohne Rührung hören kann … chinesisch!
… Nicht aus der Welt der Bibel und nicht von den Chören der himmlischen Heerscharen stammt nämlich der in unseren Ohren so heilsschwangere Klang der Kirchenglocken, sondern in jedem Campanile und von jeder Kathedrale tönt die Erfindung des mythischen Gelben Kaisers, der im 3.Jahrtausend vor Christus mit 12 Glocken die natürliche Tonleiter nachgebildet und damit die erste Verquickung von kosmischer Ordnung und Kunst geschaffen haben soll.
Von diesen vorzeitlichen Anfängen im Reich der Mitte drang der kultische Gebrauch der klingenden Körper auf den Wegen des Buddhismus durch Ostasien und brachte die vielerlei gegossenen Schlaginstrumente hervor, die der Meditation und dem Gebet als Klangschale, Gong, Schelle und Glockenspiel auch heute noch in typisch fernöstlicher Manier durch physikalische Wellen eine ins Nichts mündende Schwebebewegung unterlegen.
Auf der Seidenstraße und den Wanderwegen der Erleuchteten, auf Kriegs- und Beutezügen der asiatischen Kulturen verbreitete sich das uns so essentiell kirchlich scheinende Schlagwerk, bis es die Steppen am Saum des fruchtbaren Halbmondes und damit die Tore der biblischen Welt erreichte. Dort, bei den Reitervölkern der iranischen Hochebene und bei den Ägyptern aber wurde es vor allem zur furchterregenden und alarmverbreitenden Begleitmusik der kavalleristischen Horden, die ihre Schlachtrösser mit schrill gellenden Glöckchen am Sattelzeug zäumten[i]. Wo immer es klingelte, da verbreiteten sich in biblischen Tagen Überfall und Schrecken. … Anders als warnend war das Gebimmel heransprengender Heere in Israel also nicht zu hören.
Ein unserem vergleichbares, spirituelles oder nostalgisches Verhältnis zum Läuten von Glocken konnte man sich in biblischer Zeit daher kaum denken.
Und so kommt es, dass das, was für uns die Titelmusik der Heilsgeschichte und der Ur-ton der gottesdienstlichen Versammlung ist, in der Bibel beinah ausschließlich als fremdes, ja, verstörendes Geräusch begegnet.
Während viele Kulte bereits um Christi Geburt die eindringliche Musik der ehernen Schall-kelche als heilige Klänge vernahmen, stießen sie Paulus als sinnfreies Geklapper ab: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle“ (1.Kor13,1). … Take that, Schiller[ii]!
Für die Generation des Neuen Testaments war es also tatsächlich eine gänzlich suspekte Geräuschkulisse leerer Klöppelei, was uns als Weihnachtsklang schlechthin vorschwebt.
Wer aber hat denn nun Recht, und was ist geschehen, dass aus dem, was die Apostel kaum kannten und nicht mochten, etwas so anders besetztes wurde?
Zunächst: Die biblischen Zeugen hatten natürlich Recht mit ihrer kritischen Distanz zu den Klingeltönen der Heiden.
Technische Schlaginstrumente sind im musikgeschichtlichen Sinn als Lärminstrumente zu fassen und ihre urtümlichste Funktion ist wohl in der ganzen Ge-schichte unserer Art die tief ängstliche und darin abergläubische Gefahrenabwehr. Wo Menschen großes Spektakel machen, wo sie rasseln und scheppern und sich mit Getöse bemerkbar machen, da wittert man an der Lautstärke ihrer Begleitmusik, wie unheimlich und wie gefahrvoll ihnen die stumme Welt erscheint. Sie hauen auf das Trommelfell und schlagen seit sie Metalle schmelzen das Blech, damit die bösen Geister und die brütenden Dämonen ihnen nicht zu nahe kommen, sondern Reißaus nehmen.
Glockentöne sind magisch aufgeladene Hilfeschreie des dem feindseligen Schweigen der Dinge ausgelieferten Geschöpfes mit der schwachen Stimme und den kurzen Armen.
Eine solche auf’s Abschrecken fixierte Klangerzeugung scheint eigentlich wirklich kein sehr sinnvoller Jingle zu sein, unter dem sich die große Freude, die allem Volke widerfahren soll, ankündigen ließe.
Dass die Kirche dennoch – und zwar beginnend bei den ägyptischen Mönchen in den Anfechtungen der Einsamkeit, die damit tatsächlich ihre Abwehr gegen die Teufel und Ungeister ausläuteten – den Glockenklang allmählich übernahm, dürfte auch pragmatische Gründe gehabt haben: Während es in den kleinen Bezirken der Klöster auf dem Athos heute noch teilweise ausreicht, mit Klanghölzern zu den Gebetszeiten zu rufen, war die Tragweite des Läuteschalls ein Motiv, das der christlichen Mission entsprach. Weithin hörbar sollte der Ruf der ehernen Münder tragen: „O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort“ (Jer22,29) – und so hat sich die uns tief vertraute Vielstimmigkeit über die ganze Landschaft Europas gelegt, mit der von Dorf zu Stadt, von Kirchturm zu Kapelle, von Tal zu Tal und Gipfel zu Gipfel das große Gespräch, das fortwährende konzertierende Einsetzen und Ausklingen der Glockenspiele unserer Welt uns umgibt, die immer wieder von Gott im Himmel und von uns auf Erden sprechen.
Weil man sie überall hören kann, haben die Glocken denn auch das Leben geordnet, hat das dreimalige Angelusläuten das Tagwerk, seine Unterbrechung und sein Ziel in jeder Werk-statt, jeder Küche und auf jedem Acker getaktet und auch unsere Kinder noch zum Reinkommen und Zubettgehen gemahnt.
Und mehr noch. Weil es so stetig hörbar ist, dass wir es gar nicht mehr wahrnehmen müssen, vermag das Geläute sogar zur Tonspur unseres Unterbewussten zu werden, die uns näher geht, als wir ahnen. Den ersten richtigen Zusammenbruch nach allem Leid der Vertreibung und tödlicher Verluste erlitt meine Großmutter erst als sie Jahre nach Kriegsende die aus ihrer pommer’schen Heimat zum Einschmelzen zwar abgeholten, aber dann doch nicht verwendeten Kirchenglocken in einer Gemeinde in Norddeutschland wieder läuten hörte: Mehr als alles andere sprechen die Glocken der Heimat anscheinend die Sprache des Seelischen und unserer Biographie. Denn sie begleiten uns so existentiell wie keine wechselnde Vorliebe für diese oder jene Melodie es so kontinuierlich und zu derart herausgehobenen Augenblicken täte. … Schließlich sitzen auch hier Menschen, denen die bescheidenen beiden barocken Blecheimer in unserem kleinen Glockenstuhl zur Taufe läuteten und zur Konfirmation, bei der Hochzeit und auch in den schwersten Stunden des Lebens.
Die Glocken sind – zumindest waren sie’s bis vor wenigen Jahren – tatsächlich treue Zeugen und Sinngeber unseres alltäglichen Daseins, … die Glocken sind – zumindest waren sie’s bis vor wenigen Jahren – einfach verlässliche Orientierungszeichen und Maßeinheit alles Irdischen.
Und ehrlichgesagt ist es das – gerade dieses Weltliche und Menschliche – , was die Glocken zu Weihnachtsklängen macht!
Alles nämlich, was das kultur- und religionsgeschichtlich Fremde an ihrer Herkunft ist, alles, was das psychologisch Zweideutige, das Zeitliche, das Profane, das Geschichtliche an ihrem Dienst ausmacht … alles, was gegen die ursprüngliche Eignung oder Auszeichnung dieses weltlichen Klangkörpers als Medium der göttlichen Botschaft spricht, … alles das spricht ja vielmehr gerade dafür, dass sie wie kein anderes Instrument die Weihnachtsbotschaft vermitteln können.
Denn das unergründliche Wunder der Inkarnation, des Einzugs Gottes in die Menschheit als Mitglied des großen globalen Chores aller Menschenstimmen bedeutet ja, dass kein anderes Mittel zur Vertonung der Menschlichkeit Gottes so passend sein könnte, wie der sämtlichen Kulturen und Kulten gemeinsame Laut, der mal in den tibetanischen Gebetsschellen und mal in hinduistischen Tempelglöckchen, mal bei heidnischen Feiern, dann wieder in säkularen Schulglocken oder politischem Sturmläuten auf dem ganzen Erdkreis erklingt und der biblisch eben doch auch in den Zimbeln des liturgischen Psalmengesangs in Jerusalem (vgl.Ps.150,5) und in den kleinen klingelnden Metallschellen und Granatäpfeln, die seit Moses Tagen den Saum des hohepriesterlichen Gewandes schmücken (vgl.2.Mose28,33ff), seinen Widerhall findet.
Dass es bis heute – mit der auffallenden Ausnahme des Islam, der die Glocken zu den Musikinstrumenten Satans erklärt – eine beinah universale religiöse Ökumene im Geläute gibt, ist schon ein wahrlich weihnachtliches Motiv, das den Heiland der ganzen Welt hörbar in allgemeiner Verständlichkeit veranschaulicht.
Und dass in jedem Läuten die durch Christi Geburt auf Erden und seine unerschütterliche Teilnahme an unserem Schicksal überwundene Angst nur noch mitschwingt in der Erinnerung an die urtümliche Abwehrfunktion des Läutelärms, gibt den Tönen der Glocken ihren gültigen Text: „Fürchtet euch nicht“.
Und dass die selben Klänge, die uns das Evangelium von der einmaligen Geburt des Erlösers bezeugen, auch unsere Geburten und Fortschritte, unsere Stadien auf dem Weg und unsern Heimgang öffentlich ausrufen, macht sinnenfällig, wie unlöslich die Verbindung zwischen Jesus Christus und den Seinen ist, die mit Weihnachten beginnt: Auf einen Ton gestimmt waltet Harmonie zwischen seinem und unserm Lebenslauf.
Das also ist Weihnachten im Klang unserer Glocken: Dass Gott in die Welt kommt und in ihre Geschichte, dass Gott in die Angst kommt und dass er mitten hineintritt auch in unser einzelnes Leben bis hin zum Ziel.
Das sagt jeder Klang von dort oben: „Weihnachten hier! Gott hier! Bei Dir hier!“ ——
Dass diese Bewegung, die unsere Glocken vergegenwärtigen und bestätigen, aber nur die eine Seite der großen Zusammengehörigkeit und Übereinstimmung ist, die diese Heilige Nacht einläutet, das hat uns der eben gehörte herrliche Glockenchor von John Rutter gezeigt, der die Dinge wunderbar auf den Kopf oder andersherum dreht, indem er sonderbarerweise das Paradies zum Ort des großen weihnachtlichen Glockenjubels macht.
… Was für ein Einfall! Im Paradies vergeht ja keine Zeit, weder muss dort geweckt werden, noch zum Feierabend gerufen, da schlägt niemandes Stunde mehr, es läuten keine Hochzeits-glocken, niemand muss erst geboren werden, keinem kann das Sterbeglöcklein gelten, es herrscht keine Furcht, die der Lärm bannen und keine Entfernung, die der Schall überbrücken müsste. Das Ticktack, mit dem die Glocken auf Erden das Kommen und Gehen der liturgischen wie der menschlichen Zeit begleiten und anzeigen, ist im ewigen Leben und der ewigen Gottesgegenwart ganz unnötig.
Und doch trifft Rutter das weihnachtliche Mysterium genau, wenn er uns das Paradies, das sie nicht braucht, als Ort schildert, an dem die Glocken voll und tönend, weit und herrlich schwingen und singen.
Denn eben nicht „ewigen und ernsten Dingen ist ihr metall’ner Mund geweiht“ – Sorry, Schiller! –, sondern dem Weltlied, dem Zeitklang, dem Geburtssalut, der Feiernacht, die just auf Erden, in der Zeit, im Heute, jetzt und hier zu hören sind.
Im Himmel wie auf Erden ist ja das der Dienst und Segen unseres Geläutes: Dass den irdischen Menschen dieses Augenblicks glockenhell in’s Ohr gesungen wird, was ihr Herz höherschlagen und den Puls stark machen will:
„Gott ist Dir nah! Gott ist hier da! Weihnacht!“
Amen.
[i] Ein Reflex dieses Schreckens der Reitervölker findet sich in Sacharja 14,20, wo für die Glöckchen am Zaumzeug der Rosse – der messianisch-pazifistischen Vision der Propheten Israels entsprechend – die bezeichnende Inschrift vorgesehen wird: „Heilig dem HERRN“. Diese Symbolik ist eine endzeitliche Umwertung alles Militärischen wie das „Schwerter-zu-Pflugscharen“-Motiv Jesajas und Michas.
[ii] Schillers berühmtes „Lied von der Glocke“ war auf dem Gottesdienstblatt mit dem Vers vertreten: „Nur ewigen und ernsten Dingen sei ihr metall’ner Mund geweiht“.
Christvesper 2019, Stadtkirche "Zu Bethlehem geboren" (Friedrich Spee), Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christvesper 2019
„HERTZ-OPFFER“
Zu Bethlehem geboren /ist uns Kindelein,
das hab ich auserkoren, / sein eigen will ich sein.
Eia, eia, sein eigen will ich sein.
In seine Lieb versenken / will ich mich ganz hinab;
mein Herz will ich ihm schenken / und alles, was ich hab.
Eia, eia, und alles, was ich hab.
O Kindelein, von Herzen / will ich dich lieben sehr
in Freuden und in Schmerzen, / je länger mehr und mehr.
Eia, eia, je länger mehr und mehr.
Dich wahren Gott ich finde / in meinem Fleisch und Blut;
darum ich fest mich binde / an dich, mein höchstes Gut.
Eia, eia, an dich, mein höchstes Gut.
Dazu dein Gnad mir gebe, / bitt ich aus Herzensgrund,
dass dir allein ich lebe / jetzt und zu aller Stund.
Eia, eia, jetzt und zu aller Stund.
Lass mich von dir nicht scheiden, / knüpf zu, knüpf zu das Band
der Liebe zwischen beiden, / nimm hin mein Herz zum Pfand.
Eia, eia, nimm hin mein Herz zum Pfand.
(„Geistliches Psälterlein“, Köln 1637 –
Friedrich von Spee [1591-1635])
Liebe Gemeinde!
Fangen wir unangenehm an: Ob jemand wohl vergessen worden ist von der Geschenkeliste, die viele von uns in den letzten Tagen geführt und – hoffentlich! - gewissenhaft abgearbeitet haben? … Ob uns also doch noch jemand einfällt oder begegnet, den wir übersehen haben? Für den nichts ausgewählt und eingewickelt wurde? …….
Das ist tatsächlich ja das Risiko der Zeit der Gaben.
Ein Risiko, das unsere Zeit sonst spielend zu vermeiden versteht: Schenken steht eigentlich doch in schreiendem Gegensatz zur Grundfigur, die menschliches Miteinander, staatliche Beziehungen, wirtschaftliche, wissenschaftliche Austauschbereitschaft und sogar den grünen Fortschritt neuerdings ordnen soll, … dem „Deal“. Die undiplomatische und unverblümte Aneignung des Deal-Denkens, das das vorherrschende Modell abgibt, um Menschen Kosten immer nur durch deren Nutzen einsichtig zu machen, ist ein ganz und gar unweihnachtliches Manöver und damit unchristlich: Wer, wie wir Christen die völlig einseitige Hingabe Gottes für das Wohl der Welt als Herzstück seines Glaubens kennt und darum ein Nachahmungsspiel des vielfachen Gabengebens als Brauch zur Feier der Geburt des Gebers aller guten Gaben übt, dem muss das penetrante Berechnen des höchsteigenen Gewinns ein fremdes Kriterium bleiben.
… Dass das Gute, das Nötige, das Richtige etwas kostet und damit doch nicht zu teuer wird, eben weil es recht und geboten und also gerecht ist: Das ist der unveränderliche christliche Vorbehalt gegen alle schnöde Kalkulation der Menschheit, die kriegen will, noch wenn sie gibt und haben will, noch wenn sie lässt.
… Am Ende zeichnet sich hinter diesem Vorbehalt ja auch nur ab, dass alle wirkliche Weisheit auf Erden nicht Gewinn oder Gewinner feiert, sondern um den Wert des Opfers weiß, und dass wir Christen die Gemeinde Dessen sind, Der nichts Geringeres als Sich selber dazu hergab.
… Doch das ist eine andere Predigt, zu einem noch wichtigeren Fest. ——
Heute ist Weihnachtsabend und es geht um den herrlich schönen Gabenreichtum, der uns etwas ahnen lassen will vom Überfluss, den Gott ohne Rücksicht auf Seinen Verlust für uns Menschen eingesetzt, ausgegeben, gratis – gnadenhalber also – verteilt hat, als Er sich nicht im Himmelstresor als Schatz verwahrte, sondern in irdischen Umlauf brachte als … „Schätzchen“.
Und wenn wir an dieser Stelle – Schatz und Schätzchen – zweimal zucken, weil die zuckerige Verniedlichung und die schamlos monetäre Metapher uns unangemessen vorkommen, dann haben wir immerhin in beidem das letzte Zeitalter gespürt, das solche Bilder noch hemmungslos und genussvoll zu nutzen verstand: Es war das Zeitalter des Barock, das so ungeniert Freude an Effekt und an Affekt, an Pracht und am Gefühl bekunden konnte.
Dieses uns fremde, suspekte, oft geradezu peinliche Zeitalter der Überwältigung und des Überschwangs, dem nichts ferner lag als die später so selbstverständliche penible Kosten-Nutzen-Kalkulation, hat Kaiserswerth nun aber seinen größten Sohn geschenkt. … Und mit ihm, dem Sohn des Amtmannes der alten Kaiserpfalz am Rhein feiern wir dieses Jahr die Nacht von Bethlehem.
Friedrich Spee von Langenfeld[i], der größte volkssprachliche Dichter, den die Gegenreformation hervorgebracht hat, setzt auf seine Weise die Kaiserswerther Tradition des Lernens von den Lutheranern fort: Hatte vor ihm Kaspar Ulenberg, der als lutherischer Pfarrerssohn geborene Priester an der Basilika St.Suitbertus die Wirkung der Choräle in der Muttersprache tatsächlich mit der Muttermilch aufgesogen und dann als Propagandainstrument gegen seinen evangelischen Kindheitsglauben das wichtigste katholische Gesangbuch in deutscher Sprache hinterlassen, so begegnet uns in unserem Landsmann Friedrich Spee ein natürlicher Seelsorger, dessen Menschenliebe derart in’s Auge springt, dass ein unverständliches und unverstandenes Singen für ihn gar nicht in Frage kommen konnte. Spee wollte Herzen bewegen, wollte bilden und beistehen, wollte trösten und stärken und musste daher so dichten, dass weder Gelehrsamkeit noch Muße, sondern nur Menschlichkeit Voraussetzung für das Verständnis seiner Lieder sein sollten.
Er selber erfuhr indes so viel Bitterkeit und Enttäuschung – vor allem weil seine Ordensoberen seinen Lieblingsplan untersagten, sich der berühmten Ostasienmission der Jesuiten anzuschließen und Indien und China, vielleicht sogar das verbotene Japan mit der Liebe Christi vertraut zu machen –, und noch mehr erfuhr er Brutalität und Unrecht, gegen die er einsam, gebeugt, aber leidenschaftlich kämpfte, als er den auch in seinem Orden geschürten frauenfeindlichen Sadismus entlarvte, der in den Beschuldigungen, Folterungen und Verbrennungen vermeintlicher Hexen gipfelte, die Spee in den Nächten ihrer Todesangst und auf dem grauen-erregenden Weg zu ihrem schuldlosen Martyrium begleiten musste.
Die Klarheit seiner mutigen öffentlichen Absage an Aberglaube und peinliche Gerichtsbarkeit erwies ihn als einen später z.B. von Leibniz selber gerühmten Vordenker der Aufklärung in Jurisprudenz und Psychologie, … einen Menschen, dessen reiner Glaube und noch reinere Liebe die Menschheit erhellt haben.
Als er mit nur 44 Jahren der Pest erlag, deren Opfer er eigenhändig gepflegt und im Sterben begleitet hatte, endete ein Leben, das weihnachtlich und barock im besten Sinne war: Ohne Vorbehalt und ohne Berechnung, verschwenderisch im Einsatz und im Opfer und von einer heute unerhörten Unmittelbarkeit des Mitgefühls, des Gerechtigkeitssinnes und der selbstvergessenen Bereitschaft, um Gottes willen am Menschlichen festzuhalten. … Ein Leben aus der Menschwerdung des gütigen, gebenden Gottes.
Und ein Leben, das davon barock zu singen vermochte: Direkt das Zentrum des Menschseins – Geist und Gemüt – ansprechend, mühelos liebevoll in einer Sprache, die das Berührtsein sucht und Emotion nicht scheut, in einer Sprache also, die Gott nicht entfernt, sondern Ihn auffindbar und nahbar macht, eine Sprache, die ihrerseits das Band zwischen beiden – Gott und Mensch, Groß und Klein – knüpft, das kluge Formeln und Floskeln sonst so oft zerstrapazieren.
So haben wir es jedenfalls eben mit Spees Worten, die zwei Jahre nach dem Tod des großen Kaiserswerthers im deutschsprachigen Jesuitengesangbuch „Geistliches Psälterlein“ erschienen, gesungen:
Ein Wiegenlied, eine kleine Nachtmeditation an der Krippe für Gott!
Doch so innig diese Worte zunächst wirken, die für uns vielleicht harmlos antiquiert klingen, wie das Schlaflied von den „Blümelein im Mondenschein“, das ihrer Weise im 19.Jahrhundert unterlegt wurde: Friedrich Spee hat kein Kinderlied geschrieben, auch wenn der Gott, Dem es gilt, zu Bethlehem ein Kindlein wurde.
Das Lied der Liebe, das die Christenheit erst kennenlernte, als der einsame Kämpfer für die heilige Menschlichkeit und gegen die Herrschaft des Hasses schon in seinem Pesttotengrab in Trier unter einer Ladung Kalk verschüttet lag, … dieses Lied der Liebe, das ein sterblicher Mensch seinem eben zur Welt gekommenen – und also ebenfalls dem Tod geweihten – Gotteskind singt, ist nicht nur anmutig und kosend, wie barocke Schäferspielerei es immer vorgibt.
… Nein, es ist viel, viel klarer und auch so mutig, wie man es von dem Mann, der als Einzelner die Hexenhysterie des 17.Jahrhunderts gegen alle weltlichen und kirchlichen Instanzen ablehnte, erwarten kann. Das Lied ist wie der Titel seiner gesammelten Dichtungen: Eine „Trutz-Nachtigall“, ein süßer Gesang, der sich gerade so in jede Herausforderung stellt.
Weil es die größte denkbare Reaktion auf Weihnachten, die natürlichste und problematischste und ernsteste und delikateste existentielle Reaktion, die es überhaupt unter Menschen auf Menschliches geben kann, zum Gegenstand hat.
Den Zeitgenossen verriet das schon seine Melodie, die hier im Rheinland spätestens im Dreißigjährigen Krieg durch die französischen Truppen und Söldner zu einem echten Schlager geworden war: Es handelte sich bei dem ungeheuer verbreiteten, derben Text von „Une petite feste“ nicht etwa um eine galante Prise französischer Erotik, sondern um reine Schlüpfrigkeit, ja eigentlich Pornographie. Gegrölt von besoffener Soldateska, Unzucht und Not-zucht der schmutzigen Phantasie im Elend der liebelosen Konfessionskriege Europas. … Doch für uns bedeutet – weil Pater Spee sie so umgewidmet hat – die gleiche, damals zotige Schmiege-Weise das Zarteste und Behüteteste, das es gibt: Das Einschlafen unserer Kinder in ihren Bettchen. … „Es rüttelt sich der Blütenbaum und säuselt wie im Traum“… So hat der junge Brahms, als er hier in Düsseldorf die Aufgaben der Nanny übernahm, die verunsicherten Schumann’schen Kinder zu Spees vormals schmutzigem Weihnachts-Lullaby in den Traum gewiegt. …….
Das Lied für das Kind von Bethlehem, das ein erwachsener, dem Ungeist seiner Zeit widerspenstig entgegentretender und darum schwergeprüfter Mann verfasste, dessen erste Erfahrungen an einer Weihnachtskrippe sich hier in Kaiserswerth begaben, … dieses Lied stellt sich mit seiner denkwürdigen Melodie und seinen schlichten Worten also der größten aller Fragen, der wir aus nüchternen und feigen Gründen weiter und weiter ausweichen, … nämlich: Trotz aller Zweideutigkeit, trotz allen Risikos, trotz aller Entwöhnung, trotz aller Verhärtung, trotz aller Kratzer auf unserem Selbstbild als beherrschte und bedürfnislose Rationalisten, die das alles längst hinter sich haben ……., können wir trotzdem noch lieben? …….
Wen Weihnachten so noch nicht gefragt hat, der war noch nie dabei.
Wer dem elementarsten Reflex noch nicht begegnet ist, den ein so unerklärlich vollkommenes und doch so unverkennbar hilfloses Geschöpf wie ein Neugeborenes auslöst – dem Reflex bedingungslos von selbst bejahter Zuneigung und Fürsorge –, der ist selbst noch nicht Mensch geworden.
Mensch wird man nur, wenn das Leben uns fragt, ob wir es mit allem Schmerz und allem Lächeln, mit seinen tausend Verletzlichkeiten und seinen abertausend Zufriedenheiten akzeptieren, übernehmen, verantworten und tragen wollen.
Tatsächlich fragt das Leben uns in jedem Kind und mit jedem Morgen, fragt uns durch jeden Lichtstrahl und bei jeder Wahrheit, fragt uns aus jedem Antlitz und hinter jedem Blitz und Hauch des Geistes, … das Leben fragt uns tatsächlich: „Liebst Du mich? Oder gehst Du vorüber und verrätst mich durch Verzicht, verrätst mich durch Verachtung?“ ————
Wer darin barocke Exaltiertheit wittert, liegt nicht falsch. Das Barock war in seiner Lebens-liebe hochgespannt, weil es so tief dem Tode ausgesetzt blieb, … so tief wie Friedrich Spee, der Tröster derer, die ein Todesurteil getroffen hatte, das sie zu Asche werden ließ, noch ehe sie brannten.
Aber diese exaltierte Lebensfrage – „Liebst oder verrätst Du mich?“ – ist immer noch und ohne Milderung die Weihnachtsfrage, die Gott uns in dem zu Bethlehem geborenen Kindlein, in unserem Fleisch und Blut also stellt – so gut, wie vor vierhundert Jahren. Und weiter weg als damals ist der Tod dem Leben, ist das Leid dem Glück, ist der Schrecken dem scheinbaren Frieden auch nicht. … Nur wir leisten uns die Illusion, von beidem weniger berührt werden zu können.
„Liebst Du mich? Oder weißt Du gar nicht, was das ist?“, fragt das höchste Gut, das wir in seiner verwundbarsten und verwunderlichsten Form in dem Kind von Bethlehem, in dem Kind finden, in dem Gott uns trifft.
Und in dieser Frage liegt alles, was es uns zu geben hat: Mehr als das geliebte Leben – das Leben, das von Gott ist, das Leben, das mit Gottes Leben unlöslich verbunden ist! – bringt es nicht … und könnte es ja auch gar nicht bringen!
Es liegt einfach da, in der Krippe, es liegt auf dem Schoß Mariens und fragt uns, ob wir es wollen?
„Wollt Ihr mich, das Leben? Wollte Ihr mich – die Liebe – haben, … die Liebe, die hier geboren wurde und einmal auch sterben wird, aber nicht enden, weil sie stärker ist als der Tod, weil sie die Auferstehung ist und das Leben“ (vgl.Joh.11,25)?! ———
„Wollt Ihr, … könnt Ihr mich lieben?“
Friedrich Spee hat geantwortet, und wir haben seine Antwort in seinem Lied auch auf der Zunge gehabt.
Wenn die Antwort aber von dort nur etwas weiter einsinkt, wenn sie uns etwas mehr unter die Haut und in’s Innere geht, dann … ja, dann fällt uns wohl ein, dass wir tat-sächlich glatt Einen vergessen hätten bei unseren vielen Geschenken und Gaben, mit denen wir das Leben und die Liebe heute feiern.
……. Er fragt uns heute in allem und durch alles, was wir hören und teilen, was wir glauben und genießen ja immer wieder nur nach Seinen eigenen guten Gaben: „Willst Du das Leben, das ich Dir heute bringe? … Liebst Du es?“
Und wenn wir antworten sollten, … wenn wir es denn wollten, … wenn wir es jetzt vielleicht tun, … dann verstehen wir die Überschrift, die Spee seinem Lied für das Kind, das uns zu Bethlehem geboren ist, gab.
Und dann wissen wir, dass auch Er – Den wir fast vergessen hätten – das passende, das einzig richtige Geschenk von uns erhält.
… Nur dass es kein Opfer ist, wenn ich Ihm das Herz und alles, was ich hab’ schenke, sondern das größte Glück, Ihm zu geben, was von Ihm ist, damit Er es für immer bewahren kann … diese „Gabe“ und mich, den Geber.
Und dann stimmt es mit uns.
Dann sind wir Menschen wie Er.
Amen.
[i] Immer noch eine glänzende Einführung in Spees Leben, Werk und Wirkungsgeschichte: Emmy Rosenfeld, Friedrich Spee von Langenfeld – Eine Stimme in der Wüste, Berlin 1958.
2.Advent, 08.12.2019, Stadtkirche, Lukas 21,25 - 33, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Advent - 8.XII.2019
Lukas 21,25 - 33
Liebe Gemeinde!
In seiner kirchlichen Gestalt hat der Advent einen Wackelkontakt.
Jedenfalls aus Sicht derer, die das Weihnachtsgeschäft konzentrierter in seiner „jinglebelligen“, „let-it-snowigen“, „last-christmasigen“ Spielart betreiben.
Für diese professionellen Weihnachtserzeuger ist die Ausrichtung des ganzen Unternehmens klar: Störungsfrei von Start bis Stille Nacht auf Stollen-, Stern- und Stallstimmung, denn dann klingen die Glöckchen und klimpern die Herzen und klingeln die Kassen. Schließlich ist diese Verlässlichkeit des Schönen und Glitzernden das Erfolgsgeheimnis der ganzen Weihnachtszeit: Es geht nur um Nettes und ganz bewusst nie um Probleme!
… Bloß die dumme Christenheit kriegt’s nicht hin, den Fokus scharf weihnachtlich zu stellen. Immer wenn man denkt, mehr „Macht hoch die Tür“-Schwung, mehr „Tochter Zion“-La-Ola gehe nicht und es weihnachte sogar in der kirchlichen Adventszeit ordentlich, verschwimmt das Bild: Statt Kerzenschein und Schneegefunkel reitet am ersten Advent ein magerer Kerl auf einem Esel durch’s Bild hinauf in eine sonnengrelle Stadt, … brüllt am dritten Advent ein Irrer im Fellschurz am Flussufer etwas über Umkehr und Gericht, … stört am vierten Advent ein Mädchen mit einem ganz sonderbaren Blick auf einen ganz sonderbaren Engel die Glühweinheiterkeit beim Baumbehängen und will etwas von Gottesgeburt – am besten noch in der eigenen Seele?! – loswerden; …. und vor allen diesen Bildverschiebungen und Überlagerungen kommt man in der Kirche im Advent begreiflicherweise gar nicht zum Eigentlichen: Von schöner Feiertags- und großzügiger Verwöhnlaune ist so gar nicht die Rede … und das nicht erst, seit die Kirche das Meckern über den Konsum entdeckt oder die Tränendrüse von „Brot für die Welt“ aktiviert hat, sondern schon seit mehr als einem Jahrtausend.
Weihnachten wird überhaupt nicht spürbar, wenn die Kirche den Advent immer so verwackelt. … Und am allerwenigsten am 2.Advent. Den überspringen wir also am besten gleich! …
Am zweiten Advent verwischt das idyllische Bild eines „feliz navidad“ nämlich vollends und wird überblendet von anderen Eindrücken: Kosmische Katastrophen-Szenarien, Bilder vom letzten Ende aller Dinge.
Man nennt solche Ergebung und Widerstandskraft verbindende geistliche Erwartung des Weltuntergangs „Apokalyptik“ und bezeichnet damit eine Haltung, die Jesus Christus und seine Apostel von den Propheten Israels nach dem babylonischen Exil übernommen haben.
Seit zweieinhalb Jahrtausenden also halten die Frommen in Juden- und Christentum nun Ausschau nach Warnungen oder ermutigenden Vorzeichen, die die endgültige Ablösung der alten und den Anfang der neuen Schöpfung Gottes bezeichnen könnten.
Dass der Übergang von der auseinanderfallenden, von der zerreißenden bisherigen Wirklichkeit zur Kommenden schreckliche Drangsal und bittere Bereinigung bedeuten dürfte und dennoch etwas unvorstellbar Vollkommenes dadurch hervorgebracht werden soll, ist den mit Abschied und Neubeginn vertrauten Erben Abrahams und Moses selbstverständlich. Und darum sind es selten oder nie Angst oder Sorge allein, die die biblischen Gemeinden in apokalyptische Spannung versetzen.
Stattdessen ist Apokalyptik – Erwartung des nahen Endes – ein Beharren auf Gottes Herrschaft trotz des geschichtlichen Chaos.
Apokalyptik ist Festhalten an wirklicher Zukunft in der Gegenwart reiner Negativität.
Apokalyptik ist Weitblick auch wenn’s finster wird auf Erden.
Apokalyptik ist der Kitzel des „morgen“, wenn aller Tage Abend sich senkt.
Apokalyptik ist Lebenserwartung im Angesicht der Todesmächte.
Und darum ist Apokalyptik der Mutterschoß des Christentums: Im Nährboden solcher unbedingten Hoffnung auf Gottes Zukunft wurzelte seine Ankunft in Christus. Christi Geburt ist ja nicht anderes als der Anfang des Endes, sie ist die Bestätigung, dass Gott die Welt zu sehr liebt, um sie bleiben zu lassen, wie sie ist! ——
Und trotzdem hat das apokalyptische Weltbild – also die große und unermüdete Erwartung des neuen Lebens nach dem Vergehenden – es oft so schwer gehabt. …
In aller Liebe zur alten Kirche: Ihre selbstverliebte Prächtigkeit und ihr byzantinisches Zeremoniell haben Alexandrien und Konstantinopel und Rom so satt gemacht, dass wenig vom Aufblick zur Zukunft unter ihren schweren Bischofskronen und ihren Gewölben, die schon den Himmel abbilden, lebt. Doch auch die Reformation ließ die Erwartung neuer Zeiten lieber von den Fürsten bekämpfen und von den Sekten heimlich weitertragen, als dass man gewagt hätte, die Ordnung dieser Welt ernsthaft unter Vorbehalt zu stellen. Um wieviel mehr nun hat dann aber die bürgerlich-aufgeklärte Kirche seitdem die Reich-Gottes-Erwartung der Urzeit belächelt und eben für … unaufgeklärt und unbürgerlich gehalten: Bei allem, was man erreicht hat und wissenschaftlich noch an Fortschritt erwarten darf … wozu denn wilde Dinge hoffen, wenn Fleiß und Technik und Warenverkehr und ein wenig Imperialismus doch die Welt schon so herrlich immer besser machen? Schließlich dann haben die Menschheitsträume, die zu Albträumen führten – die totalitäre Endzeiterzwingung des Kommunismus – der Apokalyptik völlig den Garaus gemacht.
Seither wissen wir, was über unserer Gegenwart steht, die allem Apokalyptischen entsagt hat, … – die Worte der (Dante’schen) Hölle nämlich: „Lasst alle Hoffnung fahren …….“ ——
Und so ist die Endzeiterwartung an ihr Ende gekommen. Das Forschen nach Zeichen, das Bitten um den versprochenen Tag, das Harren auf die Verheißung sind passé.
… Wenn ich sage, dass ich bei bestimmtem Lichteinfall, wenn die Alltagshelligkeit sich verändert oder der Himmel plötzlich blendend aufreißt oder ein Feuer hinterm Horizont zu glühen scheint, manchmal unwillkürlich den Kopf hebe und denke: „Etwa jetzt?“, dann darf sich jeder gern an die Stirn tippen und meinen seltsamen Vogel grüßen. ———
Und doch ist uns die Apokalypse in Wahrheit nicht fremd geworden: Das Brausen und Wogen des Meeres, das Wanken der Kräfte der Himmel, die Zeichen an Sonne und Mond, … sie sind inzwischen Tagesgeschehen und Zeitungsnachrichten oder sie finden sich in sämtlichen wissenschaftlichen Prognosen. …….
Mit welchem Recht haben wir dann aber die biblischen Endzeitprophezeiungen und die Lehre Jesu von den Dingen, die kommen sollen über die ganze Erde, als überholte Weltbilder ausrangiert? Weshalb belächeln wir die naive alte Vorstellung von einem Ziel der Zeiten und von den Schrecken, die das Finale bringen wird? … Etwa deshalb, weil wir im Gegensatz zu den rätselnden und furchtsamen Alten, die sich mit Spekulation über das Ungewisse und Unerklärliche der Zukunft behelfen mussten, so umfassend unterrichtet und informiert sind? Was für sie bange Mutmaßung war, darüber sind wir uns im Klaren?
……. Als ob! Die Apokalypse hinter der nächsten Wegbiegung, die uns in’s Gesicht starrt, das Weltende, das wir vorhersehen müssen, sind zwar täglicher Gegenstand von Forschung, von Konferenzen, Debatten, Demonstrationen und Gesetzgebung … und dennoch dringt dieses Wissen nicht in unser Bewusstsein vor. Es ist also offenkundig zweierlei, die Vorzeichen des Endes zu erkennen und sie zu beherzigen. Man kann am Ausgang der Zeiten leben und trotzdem so tun, als hätte man noch keinen Augenblick verloren. Man kann von Signalen des Jüngsten Tages umtost werden und dennoch so gewohnheitsblind, gewohnheitstaub, gewohnheitslahm sein, dass nichts am Alltag sich je ändern zu müssen scheint. …….
… Hat denn etwa irgendjemand von uns tatsächlich begriffen, dass nicht nur „die da oben“ oder jene anderen in der Mehrheit oder die Verhältnisse an sich, sondern wir höchstpersönlich es sind, die das Bersten des Kosmos und das Schmelzen der Elemente (vgl.2.Petrus3,10) beschleunigen und doch keiner hier wirklich etwas tut, um es aufzuhalten (vgl.2.Thess.2,6f)?
Die Apokalyptik wird also auch in ihrer größten Aktualität als alter Hut, als Aberglaube der Vergangenheit betrachtet.
Wenn sie aber irgendetwas nicht ist, dann eine überholte Ansicht der Antike!
Im Gegenteil: Die antike Philosophie und Wissenschaft hat sich bis heute tiefgreifend im Unterbewussten der Menschheit gegen alle Apokalyptik verschanzt!
Denn es ist ein Leitsatz der griechischen Naturphilosophie, dass der Kosmos weder Anfang noch Ende habe, oder dass er – wie Aristoteles lehrt[i] – eine ewige Bewegung darstelle.
Diese uralte, buchstäblich antike Idee also sitzt bis heute unverändert fest in unserer Hirnrinde: Die Wirklichkeit des Ganzen, das wir Welt nennen, ist unendlich. Darum geht sie uns nichts an, fällt sie nicht in unsere Verantwortung. … Deshalb müssen wir auch nicht um sie bangen. … Daher bleiben wir untätig auch dann, wenn die Zeichen der Zeit solche ihres Endes sind. ———
Wer aber hat denn nun tatsächlich eine überholte Wahrheit im Angebot? – Die sture Gleichgültigkeit derer, die das Ende nicht denken wollen, oder die gläubige Erfahrung, dass alle Dinge endlich sind, weil sie aus Nichts geschaffen wurden (vgl.Rö4,17!) und alleine auch zum Nichts zurückkehren (vgl.Ps.103,16), … dass sie darum aber auch alle unter dem Zeichen der Treue ihres Schöpfers stehen, in dessen Hand wie im Anfang auch Neuschöpfung und neues Leben in Ewigkeit liegen?
Wer also hat den alten Hut? – Der dumpfe „Es war schon immer so“-Dickschädel, der sich sicher wähnt und festkrallt in dem, was doch dem Untergang geweiht ist?
Oder die apokalyptische Erkenntnis, dass alles Stoffliche begrenzt ist und einst vergehen wird, die der denkende heutige Mensch in ihrer naturwissenschaftlichen Gestalt als Urknall-Theorie und Schwarze-Löcher-These und Entropie-Gesetz letztlich mit den biblischen Zeugen teilt? …
Ganz deutlich ist es doch wohl – wenn wir denken und glauben können –, dass wir in apokalyptischer Zeit leben, … in End- und Übergangszeit, in einer Zeit des Schreckens, in einer Zeit der Furcht und Erwartung der Dinge, die kommen sollen.
Dass das nicht heißt, die Welt aufzugeben, sondern mit allem, was endlich und sterblich ist, das Gemeinsame, das gemessene Maß und die gesetzte Begrenzung zu suchen und sie von keiner Seite willkürlich und selbstsüchtig zu überschreiten, versteht sich von selber für jeden, der weiß, dass das Gras verdorrt und die Blume verwelkt (vgl.Jes40,7f!) und zum Staub zurückkehrt, was aus Staub geworden ist (vgl.Prediger3,20): Die Dinge und ich, die wir zusammengehören als Vergängliche. ——
Doch nun ist unser Lehrer und Mahner vom Ende aller Dinge eben kein Untergangsprophet, sondern es ist auch - ja: gerade! - am Zweiten Advent, diesem endzeitlichen Sonntag der Vorbereitung und der Erwartung kein anderer als er, von dem wir zu Weihnachten im eingängigsten und populärsten aller Lieder die apokalyptische Strophe singen werden (vgl. EG 44,1): „Welt ging verloren! Christ ist geboren!“
Christus, der Kommende ist es doch, der uns lehrt, die Zeit des Endes zu sehen, … aber wie?! … Mit einem ganz und gar adventlichen Wackelkontakt, mit einem Verrutschen der Bilder und einem Überblenden von Eindrücken, auf die kein Mensch sonst je käme!
Wenn Christus nämlich von den Zeichen und Verschiebungen, den großen Wandlungen und Abbrüchen der anbrechenden letzten Zeit spricht, dann ruft er: „Seht doch auf! Jammert nicht, verzagt nicht, resigniert nicht! Erhebet eure Häupter! Streckt euch mit Leib und Seele also der nahen Zukunft entgegen, der Rettung, dem Heil der Erlösten!“
Wenn Christus, unsere Zukunft von der Vergänglichkeit spricht, dann sind es nicht Bilder aus Asche und tot verglühter Materie, sondern von frühlingsreif blühenden Bäumen erzählt er, die für alle Welt erkennbar den Sommer und Süßigkeit verheißen!
Predigt Christus also auch von den letzten Dingen, so nutzt er dazu doch gerade die Ersten und Ewigen: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht!“ Denn im Anfang war ja dieses Wort – ehe die Zeit des Himmels und der Erde kam und durch dasselbe alle Dinge gemacht wurden (vgl.Joh.1,3) –, und dieses Wort unseres Gottes bleibt ewiglich und wenn Er es aussendet, macht es neu die Gestalt der Erde (vgl.Jes40,8; Ps.104,30).
Christus also, wenn er vom Jüngsten Tag spricht, spricht von der schönsten Erwartung!
Er spricht vom Untergang, aber dabei blüht das Bleibende auf.
Er nennt das Ende, doch durch ihn wird’s zum Anfang.
Sogar die Schrecken verschweigt er nicht, und dennoch hören wir noch darin unsere Erlösung.
Christus, wenn er also apokalyptisch predigt, predigt das Reich Gottes.
Und dieses Durchbrechen aller Erwartung, dieses Überbieten des Horizontes, der sich uns aufzutun scheint, diese ungeheure Hoffnungsweite, in die Christus führt, ist das Beste am Advent: Mehr ist es als Weihnachten, mehr als der Blick auf die Geburt und den Beginn.
Es ist Aufblick zum Ewigen, zur endgültigen Erlösung, die sich uns wahrhaftig naht!
Der Aufblick zum kommenden Menschensohn, dessen verheißene Ankunft, die wir erwarten dürfen, doch der Grund ist, warum wir auch dieses Jahr noch einmal Weihnachten feiern werden: Der da einst geboren wurde, ist die bevorstehende Zukunft!
So geht der Kontakt nach beiden Seiten – zurück an den Anfang, voraus auf das Ziel –, den die Kirche in ihrem wunderbaren Advent, ihrem Warten und Eilen, ihrer Erinnerung und Hoffnung feiert.
Die Kirche freut sich auf’s Ende und gedenkt des Ursprungs, sie sieht Weihnachten und meint den jüngsten Tag, wenn sie ihr Haupt hebt und jubelt:
Amen, ja, komm, Herr Jesus! (Offenb.22,20)
[i] Dass die für das Abendland wirkungsgeschichtlich als die antike Autorität maßgebliche Anschauung des Aristoteles von der Ewigkeit des Kosmos eine frühere Denkschule der Schöpfung aus dem Nichts ablöste, wird zutreffend von Hellmut Flashar, Aristoteles – Lehrer des Abendlandes, München 2013, S. 268 festgehalten. Insofern ist die biblische, später christliche Anschauung einer creatio ex nihilo gewiss auch mit vorsokratischen und voraristotelischen Strömungen der Kosmologie verwandt. Doch das antike Erbe in der europäischen Geistesgeschichte ist mit dem Stachel, den Aristoteles‘ dezidiert antiapokalyptische Sicht darstellt, entscheidend charakterisiert.
1.Advent, 01.12.2019, Stadtkirche, Römer 13, 8 - 12, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent - 1.XII.2019
Römer 13, 8-12
Liebe Gemeinde!
Wenn ab heute wieder runtergezählt wird, jedes Mal wenn ein Türchen aufgepult oder ein Säckchen aufgeschnürt wurde, dann denkt kaum ein Mensch an die politische Seite des Tagezählens: Ein weiterer Kohlestrich auf der weißen Zellenwand; ein weiterer Trennungstag, den jemand abzieht, wenn er weit weg in’s Straflager denkt, wo ein Demokrat wegen Putin, ein Uigure wegen seiner Tradition, ein Kurde wegen seines Stolzes, ein Christ wegen seines Herrn sitzt; ein weiterer Schritt auf dem Weg zu jener Zukunft, auf die die Unterdrückten, die Gespannten, die Kämpfer, die Zornigen und die Verzweifelten Tag und Nacht warten.
Jedes Türchen sagt, dass es so Vieles gibt, das enden muss, weil seine Zeit schon lang, … zu lange währt.
Adventstage sind also nicht umsonst die nummeriertesten des Jahres. Sie könnten aber eigentlich mit ihrem fließenden Rhythmus – wenn man sie nicht nur als Stresszeit des Rausch- und Tauschgeschäftes verpulvert – doch eine solche Dynamik entfalten, dass man geradezu an den guten Ideen des Abendlandes wieder Geschmack gewinnen möchte: Entwicklung und Veränderung, Wandel und Fortschritt werden ja zu lebendigen, praktischen Erfahrungen, wenn man beim Tagestreichen so adventlich spürt, was das Zukünftige an positiven Erwartungen weckt.
Tage zählen, weil Zeit zu guten Zielen führt, ist also die eine Botschaft des Advent.
Seine andere ist politische Zuversicht, weil eben viele Dinge an das Ende ihrer Dauer kommen.
… Das eine vergeht, ein anderes dagegen kommt: Das ist - in aller Schlichtheit - schon eine wichtige Zeitansage, noch vor jeder geistlichen Botschaft. Alles, was in unserer Gegenwart erkennbar oder vermutlich oder beängstigenderweise ausläuft – die Ära einer Bundeskanzlerin, die historisch lange Regentschaft einer Königin, die Strukturen des bisherigen Europa, die Bündnisse der einstigen Weltordnung, das Zeitalter der fossilen Energieträger, der selbstverständliche Konsum, die gewohnte Mobilität, das vertraute Klima, die Atmosphäre jener christlichen Gewissheit, die alles überwölbt und unterfängt … – alles, was ausläuft und mit seinem Abschied von der Weltbühne Lücken reißt und Fragen aufwirft, räumt immer zugleich der Zukunft ein freies, weites Feld.
Wenn wir das gegen die Zukunftsgleichgültigkeit, die doch nur Verzagtheit ist, setzten und gegen die Zukunftssorgen, die zu immer aggressiverer Selbstbehauptung führen, dann würden wir als Christen aber etwas ganz Einfaches merken: Die Veränderungen und Abschiede, die Epochenwechsel und die rasanten Verwerfungen, die wir zur Zeit auf Erden so massiv empfinden, sind gerade nicht das Chaos an Auflösungserscheinungen, das manche daraus machen wollen, sondern Prozesse einer lebendigen Weltwirklichkeit, die nicht stillsteht, weil sie zukunftsträchtig ist.
Und – das ist der eigentlich springende Punkt dessen, was uns Paulus zu Beginn des neuen Kirchenjahres in die Kalender schreibt – … und diese Wandlungen unserer Zeit sind nicht eigengesetzlich oder zufällig, sondern sie stehen alle unter der Zulassung und Lenkung Gottes: Schließlich stammt der heutige Predigtabschnitt aus dem 13.Kapitel des Römerbriefes, der umstrittenen Urkunde aller politischen Theologie.
Mit dem ersten Imperativ aus Römer 13 – „Jederman sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt hat über ihn“ – hat man jahrhundertelang die fürchterlichen Folgen der luther’schen Zwei-Reiche-Lehre begründet: Evangelischer Untertanengeist als Ausdruck der in Thron und Altar einträchtig verkörperten beiden Schwerter Gottes.
Ebenso blindwütig aber hat man in jüngerer Zeit gegen das 13.Kapitel des Briefs in die Welthauptstadt gewettert, hat hinter allem, was nicht Fundamentalopposition war, staatstragende Ranschmeiße, systemkonforme Bürgerlichkeit gewittert und wollte kein realpolitisches Regiment je wieder stützen, sondern reine Revolution predigen.
… Heute dagegen, … heute stehen wir in Krisen, die bis an die Grundfesten der demokratischen Staatsordnung und des internationalen Vertrags- und Verträglichkeitswillens gehen und merken, wie wichtig es ist, dass Gottes Herrschaft nicht eine unweltliche oder utopische Jenseitigkeit bezeichnet, sondern dass die Apostel Jesu Christi, die unter den Machthabern ihrer Zeit tödlich litten, dennoch darauf vertrauten, dass der ganze weltliche Raum doch bloß ein Teilbereich des Gottesreiches ist.
Nicht neben der irdischen und somit politischen Realität und auch nicht gegen sie, sondern durch sie hindurch und über sie hinaus ist der Herr dieser Welt und ihrer Geschicke am Werk …. und Er ist kein anderer als der Vater Jesu Christi. Darum können weder noch Engel, noch Fürstentümer, noch Gewalten uns von der Liebe Gottes trennen (vgl. Rö8,38) und auch keine andere Kreatur: Alle und alles sind ja doch in der Hand und im Herzen dessen, der in Windeln von den Hirten begrüßt, auf dem Esel staubig gefeiert und am blutigen Kreuz verlassen wurde, um die Herrschaft Gottes aufzurichten.
Das ist die erste und letzte politische Theologie, die es für uns Christen geben kann: Die Welt regiert von einem Kind, … der König des Erdkreises erschienen in schlichtester Demut, … der Pantokrator erhöht im freiwilligen Tod für seine aufrührerischen Untertanen, … dieser in sämtlichen politischen Systemen beispiellose Herrscher führt doch in ihnen allen die Menschheit in sein kommendes Reich.
Wenn darum im politischen Kapitel Römer 13 die Mahnung ergeht, sich der jeweiligen politischen Ordnung nicht zu entziehen, sondern einzugliedern, dann begegnet uns darin keine unmündige Form der Anpassung oder des Opportunismus gegenüber den jeweils Mächtigen, sondern eine an Christi einzigartigem Beispiel geschulte, eine christologische Aktualisierung der Weltherrschaft Gottes. Wo immer Christen leben, welche Bedingungen auch immer ihnen gelten, sie können und sie sollen stets die Politik ihres Herrn befolgen, dessen Gebot und dessen Praxis eindeutig sind: Lieben!
Es gibt keine andere Pflicht, aber auch keine andere Freiheit – gleich unter welchem gesellschaftlichen Vorzeichen – als diesen kategorisch-königlichen Imperativ: „Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt.“ ———
Dieser scheinbar so idyllische Maßstab, den wir am ehesten auf eine kleine Schar wie die zwölf Jünger oder die Hausgemeinde der Lydia in Philippi anwenden mögen, ist nun aber die Ethik von Römer 13!
Die Liebe, die man niemandem schuldig bleiben soll, bezieht sich also auf die Nachfolger des Pilatus, die römischen Beamten, die in Gestalt des Anwaltes Tertullus (vgl. Apg.24,2ff) und der Statthalter Felix und Festus (vgl. Apg.24-26) den Anstoß zum behördlichen Vorgang von Anklage, Verhaftung, Berufung und endlicher Tötung des Paulus auf den Weg brachten. Die Liebe, die man niemandem schuldig bleiben soll, bezieht sich im Römerbrief auf den jüngst verstorbenen Kaiser Claudius, der Juden und Judenchristen in der Welthauptstadt bitter drang-saliert hatte; die Liebe bezieht sich auf Nero, den neuen Imperator … und bald der erste blu-tige Christenverfolger, und sie bezieht sich ebenso auf das zur Zeit der Abfassung des Römerbriefes drei- oder vierjährige Kind Domitian und den einjährigen Trajan, von denen Paulus nichts wissen konnte, die aber just in Rom heranwuchsen, der eine, um der Peiniger der Gemeinden in der Offenbarung des Johannes zu werden und der andere um schließlich der Befehlsgeber für das Martyrium des letzten, des Lieblingsjüngers zu sein. ———
Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Und sie allein ist die Erfüllung des Gesetzes.
Wem das so im historischen Gewand immer noch bloß wie eine Erbauungslegende erscheint, der möge bedenken, was die Geschichte der zweitausend Jahre seither ist: Ist sie doch nur der eine und noch nicht an’s Ende gekommene Adventskalender, der uns mit der Generation der Apostel verbindet.
Sie durften und mussten die Tage zählen ebenso wie auch wir es heute noch müssen.
An unserem Auftrag, an unserer Ethik der christusförmigen Liebe hat sich durch das Kommen und Gehen, durch die Verbrechen und den Untergang aller Neros aber nichts geändert.
Und also ist es vielleicht nicht unnütz, es tatsächlich – so schwer es auch fallen mag – einmal zu buchstabieren: Wo sie Claudius, Nero und Domitian lieben sollten, sollen wir den politischen Gegnern, den weltanschaulichen Gegnern, den – sagen wir’s ruhig! – Menschenfeinden von heute nichts anderes erweisen.
… Das ist empörend, finden wir? Unmöglich? Sinnlos? Weil die waschechten Diktatoren und die Möchtegern-Volksverhetzer, die Nationalisten und Rassisten, die Terroristen und die Putschisten von heute nicht irgendwelche römischen Kaiser im Lorbeerkranz, sondern propagandistische Schwätzer, ungebildete Geschichtsverdreher und ressentimentgeladene Verächter des klugen Kompromisses sind?
Weil wir einen Erdogan und einen Maduro, einen Xi Jinping und einen Orban, einen unzurechnungsfähigen Präsidenten oder eine Partei der Unzufriedenen und das ganze beunruhigende Panoptikum der sonstigen gegenwärtigen Politik einfach nicht „lieben“ können?
… Sondern? … Korrigieren? Ignorieren? Abservieren? … Oder parodieren, isolieren, diffamieren? …….
Wir können sie nicht lieben – obwohl die Liebe des Gesetzes Erfüllung ist – also müssen sie folglich … hassen??! ———
Denken wir nur daran, was in unserem eigenen Staat, in unserer insgesamt doch so günstigen und gelungenen Gesellschaftsform heute das größte und gefährlichste Problem geworden ist, … so gravierend, dass sich die Herbsttagung des Bundeskriminalamts in der vergangenen Woche der Bekämpfung dieses Verbrechens unserer Zeit widmete: Hasskriminalität.
Denn die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung. ——
Wenn wir Christen uns also aus der politischen Verantwortung stehlen wollen, weil Liebe uns in dieser Welt eine unzulängliche Kategorie erscheint, dann haben wir die Zeichen der Zeit gleich doppelt falsch gedeutet!
Einerseits haben wir verkannt, wie unmittelbar es uns trifft, dass nicht die Gier, nicht die Lüge, nicht die Selbstsucht – alles wahrhaftig ja Hauptsünden unseres Heute! –, sondern der Hass die Welt vergiftet, der doch das klare und eindeutige Gegenteil des Grundgebotes unserer Ethik ist. Zudem hat jeder, der die Liebe für zu harmlos, zu weich hält, um in der aggressiven Stimmung dieser Tage zu bestehen, nicht verstanden, dass Paulus die politische Berufung der Gemeinde eben nicht im Wegducken oder Säuseln sieht, sondern im Gegenteil in der offensiven Handhabung der Waffen des Lichtes!
Wir sollen die Kraft, die den Hass überwindet, einsetzen; wir sollen Angriff, nicht Rückzug durch die Liebe üben; wir sollen sie ausweiten auf Fremde, ja, auf Feinde und uns nicht etwa hinter die Linien zurückziehen, wo man sich sowieso verträgt und einig ist.
Die Liebe ist die entwaffnende Tat an den Hetzern und Misstrauischen. Sie ist Großmut gegenüber den Kleingeistern und Engen. Sie ist das Unerwartete, das die Verstockten durcheinanderbringt. Sie ist das Neue, das den am Alten Verbissenen das Maul offenstehen macht. Sie ist die Verunsicherung aller Bannerträger des Vorurteils. Sie ist die offene Herausforderung aller, die sich nur auf’s Aus- und Abschließen verstehen.
Liebe ist die Waffe gegen unsere eigene Angst. Sie ist die Heilung, wenn wir auch uns vom Hass anstecken lassen. Sie ist die uns selber wunderbare Gegenwart Christi in einer Wirklichkeit, die ihn rundweg leugnet und aussperrt.
Wer liebt, erschüttert Weltbilder. Wer liebt, bezeugt einen Mut, der stärker ist als jeder Kampf, weil er es wagt, den anderen nicht zu negieren, sondern zu bestätigen. Wer liebt, löscht niemanden aus, sondern weckt das Morgenrot der Verheißung.
Wer liebt, ist auf der Seite des Siegers.
Und das ist das Zweite, … das Entscheidende, das alle verkennen, die die Liebe für ungeeignet im Kampf um Wahrheit, um Gerechtigkeit und Frieden halten:
Die Weltgeschichte ist der Adventskalender Gottes.
Wir wissen nicht, wie viele Tage das Ziel noch entfernt ist. Wir wissen nicht, wie viele Türchen sich noch öffnen, wie viele Mauern fallen und Fesseln sich noch lösen müssen. Wir wissen nicht, wie viele Schlachten noch zu schlagen, wie viele Opfer noch zu bringen, wie viele Wunder noch zu erbitten und zu bezeugen sein mögen.
… Aber dass die Tage des Wartens gezählt sind – gezählt wie Haare auf unserem Haupt (vgl. Matth.10,30) und die Tränen in Gottes Krug (vgl. Ps.56,9) –, das ist gewiss, denn der König der Welt ist in die Krippe und auf dem Esel und aus dem Grab gekommen und sein Reich bricht seither endgültig und unaufhaltsam an!
Gezählte Tage: So lautet also die Botschaft des 1.Advent, mit dem ein neues Kirchenjahr anfängt.
Gezählte Tage nur noch.
Endliche Zeit.
Schwindende Sorgen.
Weichende Nebel.
Wachsendes Licht.
Denn die Nacht ist vorgerückt.
Und der Tag ist nahe herbeigekommen!
Amen.
Ewigkeitssonntag, 24.11.2019, Stadtkirche, Matthäus 25, 1 - 13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag 2019
Matthäus 25, 1 – 13
Liebe Gemeinde!
Wenn das Licht ausgeht, ist es schön. Der Tag war lang genug, die Müdigkeit darf übernehmen, das Buch kommt auf den Nachttisch, die letzte Nachricht ist geschrieben, das Gebet vorm Einschlafen beendet. Nun kommt die Ruhe. Wenn das Licht ausgeht. ——
Wenn das Licht ausgeht, ist es trostlos. Was täte man nicht, um es nicht einfach verlöschen zu lassen?! Natürlich brennt die Kerze irgendwann nieder. Natürlich müssen die Fluter abgeschaltet und die Bühne in Finsternis getaucht werden. Natürlich gehen irgendwann die Augen, aus denen das Sehen sich zurückzog, nicht mehr auf und das Letzte, was uns noch das innere Licht verrät, ist der stockende, unterbrochene, mühsam unregelmäßig aufgenommene Atem. Aber nach dem letzten Aufzucken ist es so eng, so verloren. Wenn das Licht ausgeht. ——
Das Licht darf nicht ausgehen. So schön die Eichendorff‘sche Nacht überm Waldrand ist und so schrecklich der grelle Lichthochdruck der rastlosen Megastädte: Eine Welt in der Finsternis ist ein Horror. … Noch immer gibt es Menschen – und auch unter denen, die wir in diesem Jahr zu Grabe getragen haben, waren viele –, die wissen, wie die Verdunkelung war, bei der kein Lichtstrahl nach außen dringen durfte, um der Auslöschung kein Ziel zu bieten. Noch immer gibt es Menschen, die die Nacht über Europa kennen.
Das Licht, das damals ausging, hat für immer gezeigt, welcher Schrecken in einem der - für mich! - grauenerregendsten Worte der Bibel liegt: „Gebt dem HERRN, eurem Gott, die Ehre, ehe es finster wird und ehe eure Füße sich an den dunklen Bergen stoßen und ihr auf das Licht wartet, während er es doch finster und dunkel machen wird.“
Diese bedrohliche Mahnung des Propheten Jeremia (13,16), bei der es einen schaudert, wird nun aber von dem, der selber das Licht der Welt ist, … von Jesus aufgegriffen (Joh12,35):
„Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht.“
Das Licht wird also ausgehen, sagt uns Jesus: „Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“ (Joh9,4). Ihr werdet die Dunkelheit erfahren, in der das Leben verschwindet. ——
Das ist der Erwartungshorizont, vor dem die Gemeinde Jesu Christi am Ewigkeitssonntag versammelt ist: Schatten und Eintrübung, Dämmer und Anbruch der schwarzen Stunden. So steht’s überm Horizont. …….
Dass das der Tod ist, dass es aber auch die lange Zeit und Weile ist, die zwischen dem Erscheinen des Lichtes unter uns und seinem Verglänzen liegt, dass das die Nebel sind, in denen sich unsere Zuversicht und Spannung verlieren und die Erschöpfung, in die das Sinnlose des Daseins uns tauchen kann, dass die Dunkelheit, die den Horizont bedeckt, aus allen Zuständen und Erfahrungen des Lebens sich verdichtet und wir dabei wie die Mädchen, deren Hochstimmung verflogen ist, allmählich leise und schließlich regungslos werden, weil das, was wir erwarteten, nicht kommt, … das ist die nüchterne und ja auch menschliche Botschaft des Gleichnisses von den zehn Jungfrauen in hochzeitlicher Vorfreude: Ja, sagt uns diese verständnisvolle Dichtung Jesu, … ja, es kommt anders als ihr denkt, und nein, es ist nicht anders zu erwarten, als dass ihr zwischendurch am eigenen Leib erfahrt, wie schwer das Leben ist und wie man nicht mehr kann, wie manches zu viel, zu hart, zu unabsehbar wird und man dann einstweilen auf der Strecke bleibt, weil es nur immer so öde weiter zu gehen scheint.
Die Eingeschlummerten des Gleichnisses sind also kein tadelndes Bild, sie stellen keinen Vorwurf dar. Sie sind lebensechte Verkörperungen unserer Natur, die sich verausgabt, ausbrennt und in den Schlaf sinken muss.
Doch damit ist die Nacht, die den Tag und sein Tun beendet, die die Anstrengungen und Erwartungen des Lebens erschöpft, die eigentlich Herausforderung, wenn wir den dunklen Rand der Zeit betrachten: Soll da denn wirklich alles runtergebrannt sein, wenn die Dunkelheit da ist? Arbeiten und - wichtiger noch! - leben wir bloß auf den Sonnenuntergang aller Tage zu, mit dem der letzte Funke unserer Reserven, der letzte zündende Strahl unseres Geistes, unserer Energie erlöschen wird?
Soll unser ganzes Fassungsvermögen sich also zeitgleich mit der Zeit verbraucht haben?
Oder gibt es etwas, das nicht angezapft, nicht einfach in Rauch aufgelöst sein wird, wenn das Zeitalter, in dem wir uns und alles verbrannten, endgültig zuende ist?
Wird noch Öl da sein?, so fragt das Gleichnis uns.
Oder habt ihr restlos verschleudert, was immer euch Wärme, Trost und Aussichten gab?
… Habt ihr also weiter als bis zum Einbruch der Nacht nie gedacht? …….
Wenn wir ehrlich sind: Selten.
Der Tag der Welt ist aufregend und aufreibend genug. Es fängt verheißungsvoll an, … wir alle glauben, auf dem Weg zum Tanz, zur freien Feier des Lebens zu sein. Doch manchmal wird’s lang. Zäh. Kraftraubend. Andere spüren es gar nicht; kommen unbeschwerter durch die Zeit; merken erst gegen Feierabend, dass es zur Neige geht und bald vorbei sein wird. Und dann wird einer nach dem anderen leiser, manchmal flackert noch einmal das Leben auf – Genossenes, Erhofftes, Verlorenes – , … aber schließlich schweigt alles.
Und wird dann noch Öl da sein? Oder bleibt es dunkel und kalt? …….
Die Frage, die wir viel zu selten nur noch stellen, solange die Flamme da ist, solange das Leben da ist.
Doch sogar die Zeitläufte der Gegenwart predigen es uns ja in unvermuteter Eindringlichkeit, was wir auf den Kanzeln und in den Herzen schon lange nicht mehr fragen:
Wird noch Öl da sein?
Oder was sonst könnte die Finsternis hell machen und das Erstarrte wieder in Fluss bringen?
… Ist denn wirklich keine Salbe in Gilead (vgl. Jeremia 8,22)?
… Müssen wir tatsächlich damit leben, dass am Ende der letzte Tropfen aufgezehrt ist und es nie wieder Licht wird? … ——
Ich persönlich frage es mich ja auch: Wie wird das Ende Deiner Vorräte Dich berühren? Was wird es bedeuten, wenn man nur noch eine Sparflamme, nur noch ganz Spärliches einzusetzen hat? Es war ja mal Überfluss da: Zeit und Zukunft und Kraft und Möglichkeiten und von allem viel und erneuerbar und lebendig. Und es soll ja - bitte schön! - auch brennen, lustig und hell, ... wie in dem alten Biedermeier-Gassenhauer „Freut euch des Lebens, / weil noch das Lämpchen glüht, / pflücket die Rose, / eh sie verblüht.“
… Aber wenn das Lämpchen …, wenn die Rose …, ……. dunkel, … welk, …….
Mehr haben wir doch nicht auf Lager.
Wer hätte denn über diesen Tag und diese Stunde X hinaus noch Licht, wenn es ausgeht?
… Und wir nichts, gar nichts mehr wirken können.
… Und nicht wissen, wo wir hingehen.
… Und unsere Füße sich an den dunklen Bergen stoßen und wir fallen, … fallen in das schwarze Nichts und verlöschen. ———
Und seht Ihr? – Darum brauchen wir mehr als alles andere auf dieser Welt den Herrn Jesus Christus, denn er – der „Christus“ heißt: „der Gesalbte“ –, von dem das Wort „Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein“ gilt (Ps.23,5), er hat das Öl, ja, er ist diese nie versiegende Lichtquelle, dieser Hoffnungsglanz und er speist jede Faser, die in ihn eintaucht, mit dem Feuer des ewigen Lebens.
Jesus Christus, der Erzähler unseres Gleichnisses von der Lebenserschöpfung, die für die Törichten mit dem Ende aller Dinge gleichbedeutend ist, über das man nicht hinausdenken kann, gegen die die Klugen aber doch noch einen unplanbaren, ja einen unwahrscheinlichen Überschuss an Aussichtsreichtum in Kauf nehmen, … Jesus Christus, der Erzähler der Erschöpfungsgeschichte unseres Lebens, der ist nämlich das unerschöpfliche Leben selber!
Er ist nicht nur der Bräutigam, auf den alles sich zu konzentrieren scheint beim Warten auf Godot, … nein, er ist auch schon die Weisheit dieser Wartenden, … er ist die nach jeder Berechnung unsinnige Reserve, die sie – als die Zeit vergangen war – mit in den tiefen Schlaf nahmen, … und er ist das helle mitternächtliche Aufleuchten der ausgebrannten Lämpchen selbst.
Jesus Christus ist die Quelle und das Geheimnis und das Ziel dieser Geschichte in einem!
Nicht hellere Köpfe, nicht raffiniertes Vorausdenken, das die Wahrscheinlichkeitsstatistik oder die mathematischen Unbekannten berücksichtigt hat, nicht clevere Vorratsspeicherung, nicht trainiertere und leistungsfähigere Frömmigkeit oder Theologie der Hoffnung steht am hochzeitlichen Ziel des Gleichnisses gerechtfertigt da, sondern da leuchtet nur überwältigend und himmlisch schön der Morgenglanz der Ewigkeit, die mit Jesus Christus echt geworden und eingezogen ist auf Erden.
Und nichts kann uns den Ewigkeitssonntag, der zugleich der Totensonntag, den Totensonntag, der der Ewigkeitssonntag ist, so klar und hell machen, so kostbar und so einfach, wie diese schlichte Erinnerung, dass Jesus Christus ewiges Leben ist und ewiges Leben hat.
Über die Vorräte der klugen Jungfrauen müssen wir uns gar nicht lange den Kopf zerbrechen: Ob wir sie uns hoffnungsvoller oder glaubensreicher oder bibeltreuer oder endzeitlicher als andere Menschen denken sollen, ist nicht entscheidend. Denn was wären schon meine Reserven oder Eure Hoffnung, was wären unsere - wie auch immer beschaffene - Voraussicht und Erwartung des Himmelreiches wohl im Vergleich mit der Tatsache, dass wir schließlich von alledem wirklich nichts sagen können, außer: In Jesus ist es angebrochen und wir dürfen es einst mit ihm teilen!
Das ist der sprudelnde Reichtum des kommenden Lichtes, wenn die Herrlichkeit des HERRN aufgeht und den Trauernden zu Zion Schmuck statt Asche und Freudenöl statt eines Trauerkleides geschaffen werden (vgl.Jes.60,1;61,3): Jesus Christus, der auferweckte Gekreuzigte, der Getötete, der lebt … Jesus Christus, an den wir glauben und den wir erwarten, schenkt ewiges Leben. ——
Wer das fassen kann – und wir haben es inzwischen so lange kaum noch gehört, haben’s entmythologisiert und hinterfragt und bezweifelt und unterdrückt und nicht mehr verstehen können und betreten verschwiegen, dass es unverschämt, beinah aufrüttelnd neu wirkt und nur noch unser fettes, lahmes Phlegma durchstoßen muss, um uns zu elektrisieren – wer das also fassen kann, dass uns allen wirkliches, bleibendes, ewiges Leben angeboten wird im Glauben an Jesus Christus: Was bräuchte der noch?
… Wie unsere Vorstellungen davon sind, was wir also in petto haben, welche Notration ein jeder von uns in der Stunde der Verdunkelung noch behauptet, in den grauen Zeiten, wenn wir ein Leben, das wir lieben, wegdämmern sehen oder vor uns selbst die Nacht liegt und das Licht verlöscht, … das ist nicht wichtig, das ist nicht jenes Öl, auf das es ankommt, um endlich strahlend zum Leben zu gehen.
Dass unsere Hoffnung nicht irgendwo auf Flaschen gezogen im Keller steht, um dann hervorgeholt zu werden, wenn sie uns mangelt, das ist wohl so.
Früher wollte ich es nicht verstehen, dass gerade die Alten immer wortkarger, immer verhaltener in ihrem Blick auf die Ewigkeit wurden, der sie doch viel näher waren als ich und nach der ich mich so voller Vorfreude sehnte: Weil mein Köcher noch so voller frischer - also kindlicher - Vorstellungen war, wie die goldenen Gassen sein und wie die Chöre klingen und wie das Lamm leuchten und die Engel uns empfangen und die Wiedersehensfreude uns aufwühlen würden, darum schien mir die Sparsamkeit der im Glauben still auf’s Schauen Wartenden spröde.
Langsam aber beginne ich zu verstehen: Mag sein, dass es genauso wird, wie es uns die geliebten barocken Choräle beschreiben; mag sein, dass es genauso wird, wie es die gotischen Bilder vom Paradies und seiner Seligkeit im Kreise Christi und seiner lieben Mutter schildern; mag sein, dass es schöner und pathetischer kommen wird, als alle Gospels und ganz Hollywood es je zu färben wagten, wenn wir alle endlich wieder zusammenkommen auf der anderen Seite des reißenden Jordan; mag sein, dass es mystischer wird, als alle Väter und Heiligen es je ahnten, die der lebenspendenden Anschauung des göttlichen Geheimnisses nachsannen; mag sein, dass es allen Kinder- und allen Kirchen- und auch noch allen kritischen Glauben verbindet und übertrifft, ……. im tiefsten Herzen jedenfalls freue ich mich immer noch wie ein Kind am Weihnachtsmorgen auf diese größte aller Erfahrungen und diese letzte Erfüllung aller Sehnsucht, und werde mich auf diese oder eine andere Weise bis zu jenem Augenblick freuen, da alles Wirklichkeit wird, was ich erwarte, … hoffe, … wünsche. …….
…. Es mag also alles sein, wie es sein mag, – aber nichts von alledem ist wichtig, außer diesem: Es wird sein!!!
Es wird ewiges Leben sein, wenn Jesus Christus wiederkommt, …wenn wir bei ihm sind.
Ewiges Leben wird sein, wenn die Dunkelheit ausgeht und das Licht kommt!
Ewiges Leben!
……. Und wen das freut, wem das guttut, wer das will: Dem wird das Öl nicht fehlen und er wird nicht draußen bleiben, auch wenn er selbst noch so leer und ausgebrannt wäre: Denn das Öl, das unsre Lichter leuchten lassen und in der Seele brennen und die Nacht hell machen wird, ist einfach dieser:
Jesus Christus, der Ewige, der lebt!
Jesus Christus, der jetzt in die Nacht hineinruft (Lk12,49): „Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden; was wollte ich lieber, als dass es schon brennte!“
Amen.
2.ltzt.S.d.Kj., 17.11.2019, Mutterhauskirche, 2.Kor 5,10, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
ich weiß nicht, wie es Ihnen mit der Vorstellung vom Jüngsten Gericht geht. Im Seniorenkreis habe ich im letzten Monat einmal nachgefragt, was den Anwesenden dazu so einfällt. Als erstes kam ganz spontan die Feststellung: „Wir Evangelischen haben das doch nicht." Das mit dem Jüngsten Gericht, das sei katholisch, so wie das Fegefeuer. Dass die Vorstellung vom Jüngsten Gericht in der Bibel vorkommt und wir auch als Evangelische ja im Apostolischen Glaubensbekenntnis davon sprechen, dass der in den Himmel aufgefahrene Jesus Christus „von dort wiederkommen wird zu richten die Lebenden und die Toten", wurde mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Es entspann sich jedenfalls ein interessantes Gespräch, in dessen Verlauf die unterschiedlichsten Fragen in den Raum gestellt wurden: Wann ist denn der Zeitpunkt da? Wann steht man vor dem Richter?
Wer kommt dann in den Himmel, wer in die Hölle? Ja, die ganz bösen Buben der Weltgeschichte, die mögen alle in die Hölle kommen; aber bei allen anderen, so eine der Anwesenden, da muss sich doch irgendetwas Gutes finden lassen, das sie auf die rettende Seite bringt. Und am Ende stand dann für alle fast die erleichternde Feststellung: Uns steht das Richten nicht zu. Im Staat mag es Richter geben, die eben aufgrund der Gesetze die Gesetzesverstöße ahnden, aber so grundsätzlich über den Menschen als ganzen zu richten, nein, das steht keinem Menschen zu. Soweit das Gespräch im Seniorenkreis.
Das Jüngste Gericht, eine Vorstellung, die sehr alt ist, älter als die Bibel. Schon die alten Ägypter hatten sich intensiv mit der Frage beschäftigt, was denn nach dem Tod mit dem einzelnen Menschen weiter geschehe? Ihre Gedanken und Überlegungen haben das biblische Nachdenken erheblich mitgeprägt. Was für die Ägypter unzweifelhaft feststand: das Leben und Tun eines jeden hat Folgen für seine Existenz nach dem Tod. Dass am Ende doch die Gerechtigkeit siegen muss, dass für alle das gleiche Recht gilt - wenn schon nicht auf Erden, so doch im Himmel - das war die Grundüberzeugung.
Sie sehen auf dem Gottesdienstprogramm einen Auszug aus dem ägyptischen Totenbuch. Dort ist die entscheidende Szene dargestellt: Der schakalköpfige Totengott Anubis führt den Verstorbenen zur Waage, wo sein Herz gewogen wird - gegen eine Feder der Maat, der Göttin der Wahrheit und Weisheit. Der ibisköpfige Gott Thot befragt den Verstorbenen zu seinem Tun und Lassen; es gibt Texte, in denen zum Beispiel auch eine Gans als Vertreterin der Kreatur befragt wird, ob sie von den Verstorbenen Gutes oder Schlechtes erfahren hätte; all das wird von Thot festgehalten. Und dann wird die Waage in Gang gesetzt. Und hoffentlich senkt sich die Schale mit dem Herz, hebt sich die Schale mit der Feder der Maat - ansonsten stürzt sich das bleckend neben der Waage sitzende Ungeheuer aus Löwe, Nilpferd und Krokodil auf den Toten und vernichtet ihn - der zweite endgültige Tod.
Für viele dieser Vorstellungen lassen sich Anklänge im Neuen Testament finden, nicht nur in der Apokalypse, der Offenbarung des Johannes, sondern auch in den Evangelien und selbst in den Briefen des Apostel Paulus. So heißt es im 2.Kor.5,10: „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeder empfange nach dem, was er getan hat im Leib, es sei gut oder böse." Und in der Evangeliumslesung haben wir es ja auch gehört, da erzählt Jesus ein Gleichnis, wo der Menschensohn zum Gericht erscheint und die Böcke von den Schafen trennt, die einen in den Himmel befördert und die anderen in die Verdammnis schickt.
Kaum eine Szene hat Künstler durch die Jahrhunderte mehr inspiriert als dieses „Jüngste Gericht". Geradezu überdimensional hat es Michelangelo in der Sixstinischen Kapelle über die gesamte Kopfwand gemalt. Auf dem Gottesdienstprogramm ist nur eine Planungsskizze des Meisters von der oberen Hälfte zu sehen, der Absturz der Verdammten fehlt.
Seit ich denken kann, habe ich gegen diese Vorstellung von ewiger Verdammnis innerlich rebelliert. Bis heute will und kann ich nicht „glauben", dass Gott ein solch unbarmherziger Richter sein soll, der irgendeines seiner Geschöpfe in die ewige Qual hinausstößt. Und von Jesus kann und will ich das schon gar nicht glauben. Offensichtlich hat es auch der Evangelist Johannes nicht geglaubt, lässt er Jesus doch sagen: „Ich richte niemand." (Joh.8,15)
Aber offensichtlich konnten und wollten unsere Vorväter im Glauben nicht auf das Bildwort des Richters verzichten. Das zu ignorieren, bringt nichts, denn es ist zu tief im Unbewussten aller Menschen, zumindest derer mit christlicher Prägung, eingebrannt. Aber genau das macht es um so nötiger, einen neuen Zugang, ein neues Verständnis zu suchen und aufzuzeigen, dass den Schrecken auflöst und dem Evangelium Raum gibt, der Botschaft von der vergebenden, neumachenden Liebe Gottes.
Ja, das traditionelle Bild Jesu Christi als Richter, das Bild vom Jüngsten Gericht halte ich für schief und dringend überholungsbedürftig. Alle Vorstellungen von Vergeltung und Rache sind menschlich, nur allzu menschlich gedacht. Es mag ja sein, dass wir als Menschen nicht gerne auf Rache- und Vergeltungsgedanken verzichten wollen. Aber dann dürfen wir sie nicht Gott und Jesus in die Schuhe schieben. Es mag ja sein, dass Menschen in besonderer Not und Bedrängnis sich daran klammern, dass irgendwann eine göttliche Instanz es ihren Peinigern heimzahlt, dass ihr Leid nicht unbeachtet und ungesühnt bleibt - aber auch hier gilt: „Ihr denkt, was menschlich ist, nicht was göttlich ist."
„Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi." Es fällt schwer, diesen Satz aus dem 2.Korintherbrief - übrigens der Wochenspruch - nicht als Drohwort zu hören; wobei es interessant ist, dass die Verantwortlichen der liturgischen Konferenz auf die zweite Satzhälfte verzichtet haben, die war ihnen wohl zu hart („auf dass ein jeder empfange nach dem, was er getan hat im Leib, es sei gut oder böse"). Vielen Menschen macht dieser Satz Angst. Es ist die Angst vor Bloßstellung, die mitschwingt. Die Angst, am Ende dazustehen - vor Gott und den Menschen - behaftet mit allem, was schief gelaufen ist im Leben, mit allen Versäumnissen und allen großen und kleinen Gemeinheiten, mit aller Schuld und allen Schwächen. So als würde man nackt mitten auf einem Stadionplatz stehen vom Flutlicht angestrahlt, den Blicken der anderen schutzlos ausgeliefert. Ein seelischer Albtraum ohnegleichen. Zu erwarten ist da nur: Verurteilung, Aburteilung. Verdammnis.
„Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi."
Allerdings - wir können dieses Wort auch anders verstehen. Auch gegen Paulus, der tatsächlich hier in seinem Brief an die Korinther seine sehr menschliche Vorstellung von der Vergeltung nach den Taten darlegt.
Der Schlüssel zu diesem anderen Verständnis, das für mich Evangelium verkündet, Frohbotschaft und nicht Drohbotschaft, ist ein doppelter.
Zunächst: was meint „wir müssen offenbar werden"? Eben nicht: bloßgestellt werden. Sondern da muss etwas aufgedeckt, erschlossen werden, muss sichtbar werden, was wesentlich ist. Alles, was an unserem Leben verzerrt, verbogen und unverständlich ist, alles, was wir bei der oft verzweifelten Suche nach Sinn und Glück uns selbst und anderen antun, wo wir uns selbst und andere verstümmeln und verletzen, wo wir Böses tun und getan haben, obwohl wir doch nur das Gute wollten - das wird sich uns einmal erschließen. Und da wo wir sehen und zum Verstehen kommen, wo wir zur Erkenntnis unserer selbst kommen im Guten wie im Bösen - da wird Vergebung und Neuanfang möglich. Da erfolgt kein Schuldspruch, sondern Freispruch.
Das - und das ist das zweite - garantiert der „Richter", wenn wir denn an diesem Wort aus dem Rechtswesen festhalten wollen. Auf dem Gottesdienstprogramm finden sie noch ein drittes Bild; es ist leider nicht deutlicher abzudrucken gewesen. Es handelt sich um die Abbildung einer großen vergoldeten Scheibe, die viele Jahrhunderte am Turm des Konstanzer Münsters hing. Sie zeigt den auf seinem himmlischen Thron zu Gericht sitzenden Christus, flankiert von zwei Engeln. Dieser Christus hält keine Waage in der Hand, und er kommt auch nicht so stürmisch und grimmig daher wie der Christus des Michelangelo. Er hält vielmehr eine Tafel in der Hand. Auf ihr stehen in Latein die Worte: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken." (Mt.11,28)
Der Richter ist der Messias Jesus, der Christus, der die Mühseligen und Beladenen, auch die Schuld-Beladenen, aufrichtet. Der sich darin mit Gott, den er unseren Vater nennt, einig weiß, von dem der Prophet Hesekiel hört: Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tod des Gottlosen und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? (Hes.18,23) Und wer wollte behaupten, dass das nicht in Ewigkeit so ist? Dass die Gelegenheit zur Umkehr nicht auch im Augenblick des Todes und darüber hinaus von Gott gegeben wird?
Jesus Christus richtet, indem er aufrichtet.
Er verurteilt nicht, er bringt zurecht.
Und da ist kein Leben so verkorkst, dass er es nicht zurechtbringen könnte. In der Tat, wir Menschen können durch unsere bösen Taten unsere Gottebenbildlichkeit schrecklich entstellen und verzerren. So schrecklich, dass wir manch einen Menschen gar nicht mehr als Menschen wahrnehmen können oder wollen, sondern nur noch als Bestie, als Teufel. Aber Jesu Christi Augen sehen klarer, sehen in jedem immer noch den Menschen so, wie ihn Gott gedacht und gemacht hat. Und als Heiland, der er ist, wird er auch die Wunden und Verletzungen, für die in dieser Welt und Zeit keine Heilung vorstellbar ist, zu guter Letzt heilen, Versöhnung ermöglichen, wo hier und heute nur Hass und Feindschaft herrschen.
Ich jedenfalls will daran festhalten: der Richter Jesus Christus ist der Zurechtbringer. Und deshalb können wir getrost und zuversichtlich unser Leben führen und gestalten, versöhnt sein damit, dass lange nicht alles Gold an uns ist, was glänzt, dass uns lange nicht alles gelingt, was wir uns vorgenommen haben, dass wir uns immer wieder selbst im Wege stehen und an anderen schuldig werden. All das wird nicht so bleiben. Sondern wir werden all das ablegen können im Licht Christi und werden dann die sein, als die uns Gott gedacht und gemeint hat.
Hören wir es noch einmal neu - als Evangelium für uns heute: „Wir müssen, nein: wir werden alle offenbar werden und erscheinen als die, die wir wesentlich von Gott her sind, vor dem Angesicht Christi, im Licht seiner Güte."
Amen.
3.ltzt.S.d.Kj., 10.11.2019, Mutterhauskirche, Jer.8,4-7, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
heute beginnt die ökumenische Friedensdekade 2019. In gewissem Sinn haben wir sie gestern schon eröffnet und zwar mit einem Fahrradkorso vom Klemensplatz zur Erinnerungsstätte auf der Kalkumer Schlossallee, die uns daran erinnert, dass dort ein Außenlager des KZ Buchenwald war, ein Bombenräumkommando, dessen Insassen in Düsseldorf und Umgebung eingesetzt wurden und von denen viele diese „Arbeit" mit ihrem Leben bezahlt haben. Wir haben dort einen Kranz niedergelegt und aus der gemeinsamen Erinnerung viel Kraft bezogen, unser Rückgrat gestärkt, um gemeinsam und jede und jeder für sich an dem Ort, wo er oder sie gerade ist, den Mund aufzumachen für die Stummen und an den Rand gedrängten, für alle, die ausgegrenzt werden und zu Nicht-zu-uns-Gehörigen erklärt werden von Menschen, die nichts gelernt haben aus der Geschichte und die sich nichts zu Herzen genommen haben von dem, was der Jude Jesus von Nazareth uns als Wegweisung gesagt und hinterlassen hat. Eingeladen hatte die ökumenische Flüchtlingshilfe, die selbst durch und durch ein lebendiges Zeichen für den Frieden ist: einmal in ihrem Einsatz für Flüchtlinge, in ihrem Bemühen, diese Menschen in unserer Gesellschaft zu beheimaten (das Wort finde ich viel besser als das Wort „integrieren", es zeigt mehr Wärme); zum anderen sind die, die sich in dieser Arbeit gefunden haben, dadurch selber beschenkt worden, haben erlebt, dass das Andere, das Fremde nicht trennen muss, sondern bereichern kann, dass es immer auf den einzelnen Menschen ankommt, auf seine Menschlichkeit und nicht auf seine Konfession, seine Religion, seine Nationalität, seine Herkunft, seine Hautfarbe.
Frieden ist möglich, wo sich Mensch und Mensch begegnen.
Frieden ist beides: Geschenk und Arbeit.
Frieden fordert uns heraus
Frieden fordert den ganzen Menschen - sein Denken, Reden und Handeln.
Frieden ist zwar nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.
Um Frieden geht es darum auch in dieser Predigt. Ich möchte mit ihnen darüber nachdenken, worauf es ankommt, damit uns dieses hohe Gut erhalten bleibt. Und dabei sollen uns Worte aus dem Buch des Propheten Jeremia an die Hand nehmen:
„So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?
Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, dass sie nicht umkehren wollen.
Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt.
Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen."
Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme? Das ist doch eigentlich selbstverständlich, möchte man sagen, und gar keine Frage wert. Aber dem Propheten Jeremia stellt sich das ganz anders dar, wenn er sein Volk in den Blick nimmt. Es scheint in keiner Weise aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt zu haben, auch aus den Fehlern des Nordreiches Israel, das mittlerweile seit 100 Jahren von der Landkarte verschwunden ist - innerlich ausgehöhlt aufgrund sozialer Verwerfungen und dann äußerlich dem Großmachtstreben der Assyrer zum Opfer gefallen. Doch das ist für das Volk und die Mächtigen und Einflussreichen im Volk Juda alles kein Grund, nachzudenken und umzukehren. Kein Grund, eigenes Fehlverhalten zu benennen und nach neuen Regeln im Miteinander zu suchen.
Keiner hält inne, keiner denkt nach, keinem tut irgendetwas leid, keiner sieht einen Grund, sich selbst zu ändern, sein Verhalten, sich selbst in Frage zu stellen mit dem, was ihm wichtig ist, worauf es für ihn im Leben ankommt. Die Großen und Einflussreichen nicht und auch nicht der kleine Mann, die kleine Frau auf der Straße.
Liebe Gemeinde, gibt uns das nicht zu denken?
Kennen wir das nicht auch?
Sind wir wirklich bereit, heute innezuhalten, nachzudenken, uns in Frage stellen zu lassen, eigenes Fehlverhalten einzugestehen und umzukehren?
Oder trifft es auch auf uns zu, was Jeremia Gott schon resigniert sagen hört: „Sie laufen alle ihren Lauf" ... sie machen einfach weiter, Augen zu und durch.
Denn dass es auch für uns heute Zeit ist, sich für das Recht des Herrn zu interessieren, das ist wohl unbestreitbar. Sind wir doch mitten drin in einer Krise - oder sind es gar mehrere? Auf jeden Fall ist sie oder sind sie nicht auf einmal aufgeploppt, sondern haben sie einen langen Vorlauf. Jedenfalls bei genauerem Hinsehen und Nachdenken.
Nehmen wir nur einmal die Klimakrise, die nicht nur mit dem Wetter zu tun hat, sondern grundlegend mit der Welt, in der und von der wir leben. Spätestens mit der Veröffentlichung des Berichts des Club of Rome zur Lage der Menschheit 1972, erschienen unter dem Titel „Die Grenzen des Wachstums" konnte es jeder mündige Bürger, jede mündige Bürgerin wissen: immer nur auf Wirtschaftswachstum zu setzen, ist einfach töricht; die Ressourcen der Erde sind endlich; sie vertragen nicht immer mehr Konsum. Spätestens seitdem ist klar: der vor allen Dingen von den Menschen in der westlichen Welt, in Nordamerika, Europa und Australien gepflegte Lebensstil ist für die Erde und damit auch für uns tödlich.
Doch der Weckruf der Wissenschaftler verhallte. Unsere Gesellschaften sprachen nicht „Was tun wir da eigentlich?" Sondern es wurde weitergemacht wie zuvor. Wir haben, um die Worte Jeremias zu nehmen, festgehalten am falschen Gottesdienst, wir haben blind den Götzen Wohlstand und Fortschritt vertraut. Und noch mehr. Unser Lebensstil wurde zum Exportschlager. Mit ihm bescherten z.B. die PKW-Exporte Mercedes, BMW und Volkswagen immer neue Rekordeinnahmen. Dass alle diese Wagen auch CO2 in die Luft blasen, war lange kein Thema. Dass auch die Menschen in Asien und Afrika ihren Anteil am wirtschaftlichen Wohlstand und am Fortschritt haben wollen, ist nur zu verständlich, bringt Mutter Erde aber nun noch deutlich schneller an ihre Grenzen.
Die andere große Krise betrifft die Demokratie. Betrifft den gesellschaftlichen Zusammenhalt in fast allen demokratischen Staaten, besonders in Europa und in den USA.
Gewiss, es gibt da viele Faktoren und nicht die eine Ursache für die wirklich erschreckenden Entwicklungen, die einen ratlos oder auch zornig machen können und denen man doch wieder meistens nur gelähmt zusehen kann. Abgesehen davon, dass man sich fragt, wie es sein kann, dass derartig viele dumme und/oder schwerst narzistisch gestörte Männer weltweit gleichzeitig in Machtpositionen sind - (Trump, Putin, Erdogan, Assad, Kim Jong Un, Duterte, Bolsonaro, Johnson, Katchinsky, Orban) .... Die allermeisten von ihnen sind ja durch Wahlen an die Macht gekommen. In fast allen Demokratien drohen die Populisten die Macht zu übernehmen, ohne Putsch, durch Wahlen.
Das ist einmal einer in leider weiten Teilen unserer Bevölkerung verankerten Fremdenfeindlichkeit geschuldet; neueste Untersuchungen zeigen das ganz eindeutig auf. Und dazu kommt dann bei vielen die Angst, unter die Räder zu kommen, die Angst vor sozialem Abstieg, der seit Ende der 80er Jahre gerade auch den sog. bürgerlichen Mittelstand erreicht hat. Denn seit dem Ende des klassischen Ost-West-Konfliktes ist die Weltwirtschaft in die Hände des ungebremsten Finanzkapitalismus geraten, dessen Mantra „Privat ist besser als Staat" und „Der Markt wird es schon richten." die Gehirne der führenden Politiker der westlichen Welt benebelt hat. Wie es bei Jeremia heißt: „Sie laufen alle ihren Lauf", sie machen einfach weiter ... Sie überlassen der Gier das Feld... Wie viele Krisen haben wir nicht in den letzten 20 Jahren erlebt: da platzte 1999 die „Internet-Blase", wie viele Menschen verloren ihre Altersvorsorge, weil sie ihr Geld in Telekom-Aktien investiert hatten. Dann kam der 11.September 2001 mit all seinen Folgen, das Elend im Irak, in Afghanistan, in Syrien, in Libyen, die Destabilisierung des ganzen Nahen Ostens; 2008 dann die Finanzkrise, das Platzen der „Immobilien-Blase" in den USA mit dem Zusammenbruch der Investmentbanken weltweit .... Die Flüchtlings-Krise 2015 in Europa, das Erstarken der Rechtspopulisten, Antisemiten und Rassisten; der Brexit, Terroranschläge, Verunsicherung überall ...
Instrumentalmusik
Krise ~ kritische Zeit ~ Zeit der Entscheidung.
Was für uns erst nur schlecht klingt, will eigentlich etwas Positives sein. Denn die Krise macht nur deutlich: da ist etwas grundlegend faul. Da läuft etwas gänzlich schief.
Da stehen neue Grund-Entscheidungen an.
Da hilft kein Jammern „Hätte ich doch" oder „Die anderen sind schuld", sondern nur die Erkenntnis „Das ist falsch gewesen, da habe ich mitgemacht." und die Bereitschaft „Hier will ich mich ändern, da mache ich nicht mehr mit."
Es sind die jungen Menschen, die das offensichtlich begriffen haben, es zu ihrem Programm gemacht haben. Allen voran Greta Thunberg.
Ihre Unerbittlichkeit in der Sache stößt bei vielen mittlerweile auf Unverständnis, löst gar Aggressionen aus bis hin zu Morddrohungen. Man will sich nichts vorschreiben lassen, sich kein schlechtes Gewissen machen lassen, will weiter so gut und komfortabel leben wie bisher.
Greta Thunberg ergeht es da nicht anders als den alttestamentlichen Propheten. Gerade von Jeremia wissen wir, dass er überhaupt keine Lust hatte, mit seiner Botschaft vor sein Volk zu treten. Sein erstes Argument: „Ich bin zu jung!" Doch dieses Argument ließ Gott nicht gelten. „Sage nicht, ich bin zu jung; sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende; und alles predigen, was ich dir gebiete." Und dann vernimmt Jeremia noch etwas, was mit Blick auf Greta Thunberg wirklich spannend ist: „Ich will dich heute zur festen Stadt, zur eisernen Säule, zur ehernen Mauer machen im ganzen Land gegen die Könige Judas, gegen seine Großen, gegen seine Priester, gegen das Volk des Landes, dass, wenn sie auch gegen dich aufstehen, sie dir dennoch nichts anhaben können; denn ich bin bei dir."
Die Wahrheit zu Gehör zu bringen, das ist noch nie eine Angelegenheit gewesen, die dem Überbringer nur Anerkennung gebracht hat. Im Gegenteil: die Wahrheit stört - sie stört auf, sie beunruhigt. Weshalb Lügen es viel leichter haben, anzukommen. In unseren Tagen verkleidet als „andere Wahrheiten".
Wer für die Wahrheit die Stimme erhebt, muss gewappnet sein. „Ich mache dich hart", das vernimmt Jeremia. Die Angriffe sollen an dir abprallen; du kannst sie aushalten, ohne einzuknicken.
Auch Greta Thunberg erlebe ich als so von Gott her zugerüstet. Es ist ihr Asperger-Syndrom, das sie ehern macht, unerbittlich und bislang alle Angriffe aushalten lässt.
Dazu stehe ich: wir sind heute Augen- und Ohrenzeugen einer Prophetin; wir können erleben, wie es den biblischen Propheten ergangen ist. Hoffentlich sind wir klüger als die Zeitgenossen von Jeremia, die eben nicht bereit waren, von ihrem Lebensstil zu lassen, denen die Katastrophe so nicht erspart geblieben ist. Erst die nachfolgenden Generationen haben begriffen, dass er recht hatte mit dem, was er kritisiert hatte, wo er Umkehr und Veränderungen gepredigt hatte.
Ja, hoffentlich sind wir klüger - wir alle, nicht nur „die da oben", denn die da oben werden in den Demokratien von „denen da unten", also auch von uns gewählt.
Instrumentalmusik
Ja, wir sind in einer Krise, nicht nur die Wirtschaft durch Brexit und Klimakrise, sondern unsere ganze westliche Gesellschaft - und die Kirchen gehören dazu! Und das in einer Zeit, wo die Welt ein Dorf geworden ist. Wo es nichts mehr gibt, was nur uns hier in Deutschland betrifft, sondern wo alles mit allem zusammenhängt. Das ist anstrengend, keine Frage. Aber es ist so und wir dürfen davor nicht die Augen verschließen.
Uns ist durch die Globalisierung - ob wir sie gewollt haben oder nicht, ist hier völlig unwichtig - uns ist durch die Globalisierung eine weltweite Verantwortung füreinander zugewachsen.
Unser Wirtschaften und Konsumieren haben nicht nur Folgen für die Umwelt, für das weltweite Klima.
Unser Wirtschaften und Konsumieren kann auch das: Frieden fördern oder Krieg.
Aber wir wollen doch keinen Krieg, mögen sie jetzt erschrocken denken. Keiner ist doch für Krieg. Jeder will doch Frieden.
Schon möglich. Aber Frieden ist tatsächlich mehr und anderes, als Schweigen der Waffen. So wie der Krieg seinen Preis hat, so hat auch der Frieden seinen Preis.
Welchen?
Der, der Frieden will, muss für das Recht, für Gerechtigkeit sorgen. „Mein Volk will das Recht des Herrn nicht wissen" hört Jeremia die Klage Gottes.
Frieden braucht Recht und Gerechtigkeit.
In der Bibel wird uns Gott immer wieder als der vorgestellt, der Recht und Gerechtigkeit liebt. Friede, Schalom, ist nur denkbar als Frucht von Recht und Gerechtigkeit. Darum liegt Gott nichts so sehr am Herzen, als dass Gerechtigkeit unter den Menschen wohnt.
Gerechtigkeit im biblischen, im göttlichen Sinn meint immer Gemeinschaftsgerechtigkeit. Hat immer das Zusammenleben der Menschen auf allen Ebenen des Lebens und Arbeitens im Blick. Da geht es auch beim Recht nicht darum, dass der eine gegen den anderen Recht bekommt, dass das Lebensrecht des einen höher bewertet wird als das des anderen aufgrund seiner Herkunft, seines sozialen Status. Da geht es darum, das gesellschaftliche Leben so zu regeln, dass es dem Lebensbedürfnis eines jeden gerecht wird. Dass jeder Raum hat, sich und seine Gaben und Fähigkeiten zu entfalten, dass jeder die Möglichkeit hat, selbstbestimmt sein Leben zu gestalten.
Das Gegenbild dazu ist das ins Soziale übertragene Darwin'sche „Survival of the fittest", wo der Stärkste, der Klügste, der Einflussreichste, der Reichste das Maß aller Dinge ist und vorgibt, was Sache der Gemeinschaft ist.
Gerechtigkeit ist soziale Gerechtigkeit ist Gemeinschaftsgerechtigkeit - nicht nur vor Ort in unserer Gesellschaft, sondern weltweit.
Nach Gott und seiner Gerechtigkeit, seinem Willen für uns fragen in dieser Zeit können wir nicht mehr anders als in globaler Verantwortung.
Unser Problem ist, dass wir zwar technisch in der Lage sind, jederzeit überall in der Welt zu sein, aber unsere Seele ist noch nicht nachgekommen. Wir denken und handeln vielfach noch so, als gingen uns die Menschen in Afrika und Asien und Lateinamerika nichts an, als könnten wir unser Leben in Deutschland wie auf einer Insel gestalten. Sind wir noch gefangen im Blick auf die eigene Gesellschaft und fühlen uns schon überfordert, wenn 5 Millionen Menschen anderer Hautfarbe und Herkunft und Kultur unter uns und mit uns leben wollen. Und jetzt sollen wir uns auch noch Gedanken machen über die Lebensverhältnisse der Menschen in Afrika!?
Aber wenn wir wirklich Frieden wollen, in Frieden leben wollen, dann müssen wir uns dazu bequemen, den Blick zu weiten. Wir hier in Kaiserswerth müssen dann wenigstens einmal bis nach Garath und Eller schauen, begreifen, was soziale Not in unserer Stadt bedeutet - dass Hartz IV kein Dauerzustand sein kann. Der Ausgleich schon in Düsseldorf wird uns hier etwas kosten. Ich finde, es ist ein Skandal, dass die Bauplanungen für Kaiserswerth und Umgebung nur maximal 30% der neuen Wohnungen für Sozialwohnungen vorsehen und dass die Sozialbindung nur 15 Jahre beträgt. Klar, die Investoren wollen schnell Rendite. Aber es geht um den Frieden in unserer Gesellschaft - und der hat seinen Preis.
Und dann müssen wir in Deutschland und Europa gemeinsam nach Afrika sehen, uns dafür interessieren und dafür einsetzen, dass die Menschen dort eine Zukunft haben. Da geht es sofort an unseren Lebensstil - z.B. unseren Textil- und Kleiderkonsum, unseren Umgang mit Elektronik und dem anfallenden Elektroschrott, um unsere Essgewohnheiten mit einem überbordenden Fisch- und Fleischkonsum. Bislang lassen wir Millionen Afrikanern gar keine andere Lebensmöglichkeit, als die lebensgefährliche Flucht nach Europa.
Ja, das wird uns einiges kosten. Frieden und Gerechtigkeit auf dieser Erde haben ihren Preis.
Aber es lohnt sich, diesen Preis zu zahlen.
Es lohnt sich, abgeben und teilen einzuüben.
Es lohnt sich, sich für weltweite Gerechtigkeit einzusetzen.
Weil es dem Willen Gottes entspricht und weil wir nur dann
eine friedliche, lebenswerte Zukunft vor uns haben und die uns nachfolgenden Generationen zumal, in der wir keine Angst haben müssen, auf der Strecke zu bleiben, von anderen, nur weil sie stärker sind als wir, niedergemacht zu werden. Wer sich auf seine Stärke verlässt, der ist verlassen. Wer sich an Gott und seinem Willen orientiert, der wird sich für Gerechtigkeit weltweit stark machen und wird erleben, dass Gerechtigkeit und Frieden sich küssen, wie es in Ps.85 heißt.
So wird es uns von Jeremia vor Augen gestellt.
Wollen wir hinsehen, nachdenken und umkehren?
Das gebe Gott.
Amen.
20.So.n.Trinitatis, 03.11.2019, Stadtkirche, 1.Mose 8,18-22. 9, 12-17, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 20.n.Trin. - 3.XI.2019
1.Mose 8,18-22. 9, 12-17
Liebe Gemeinde!
Man muss kein Christ sein, um den November zu verstehen: Er sagt mit allen seinen Klängen und allem seinem Schweigen, mit seinem eigentümlich trüben Licht und seiner grauen Abschiedsluft jedem Blatt im Wind und jedem Lebewesen, das sich noch hält: Du musst sterben.
… Nicht, als wolle er Schrecken verbreiten. Uns hat dieser Monat zwei Kinder geschenkt, und die im November Geborenen haben nach einer vielleicht halbwegs nachprüfbaren Studie sogar die durchschnittlich längste Lebenserwartung. Aber auch langem Leben und Jahren mit sonnigen Sommern und einem satten Herbst gilt die Botschaft des Welkens und des Fallens, … die Botschaft der Endlichkeit. ——
Doch ist das wirklich so?
Spricht der sich schließende Kreis des Jahres wirklich vom Tod?
Für einen Menschen, der mit der Bibel lebt, rufen Ernte und Winter, Nacht und Frost ja eine ganz andere Erinnerung wach. Diese Atempausen in der Zeit, diese Stillstände und Einkehr-bewegungen sind doch die notwendigen Gegenstücke der Lebenskräfte und Lichtgeschenke der Natur. Verdorren und Saftigkeit, Ruhe und Überschwang sind so miteinander verschwistert, sind solche Doppelphänomene der zyklisch geschaffenen Welt, dass das eine immer schon das andere bedingt und in sich mitenthält: Helligkeit und Finsternis, Wachstum und Verzehr könnten jeweils nichts sein ohne ihr notwendiges Gegenteil, und wenn wir das eine erfahren, so klingt uns doch immer im Ohr, wie Gott auch das andere garantiert und in seiner unerlässlichen Rolle der Rekreation und Vorbereitung festgesetzt hat.
„So lange die Erde steht soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“
Nirgends ist die Bibel näher dran an Ying und Yang, an kosmischer Harmonie, an Öko-Idyll als im schönen Noah-Bund, dessen Stiftung wir gerade eben wieder hörten.
In diesen naturreligiösen Worten, die älter sind als alles, was wir dann in der Kulturgeschichte der biblischen Menschheit hören, ist die Welt in Ordnung. Und die Versuchung liegt nahe, den damaligen Zustand, der dem Ideal unbehandelter Streuobstwiesen und artenvielfalterhaltender Nationalparks und ressourcenschonenden Klimaschutzes entspricht, als das biblisch gebotene und gesegnete Weltbild zu einem einfachen politischen Maßstab zu machen: Das von Gottes mit dem Regenbogenzeichen besiegelter Verheißung dauerhafte zugesagte Gleichgewicht in der Schöpfung ist die Norm, der unser Verhalten, unsere Wirtschaft und Politik sich verpflichten müssen. … So wird der feierliche Naturschutzschwur Gottes im 8.Kapitel der Bibel sicher am häufigsten verstanden. Und so wird die Selbstverpflichtung Gottes sicher auch am häufigsten zu einem Vorbild für unsere Umweltverantwortung gemacht.
Doch so schlicht – dass im Haushalt der Natur und ihren Wechselprozessen nur das gottgegebene, ausgleichende Maß zwischen Frost und Hitze, Brache und Düngung, nachhaltigem Verbrauch und verbrauchsarmer Regeneration gehalten werden müsste, damit alles gut wird – … so schlicht sollte man sich die Welt wohl nur von montags bis samstags machen: Dass unsere Zeit, die das Maß verraten hat, sich entweder klar und einfach auf den Zweiklang von Haben und Geben, Gebrauchen und Sparen, Nutzen und Verzichten einstimmen muss oder das Ende aller menschlichen Verfügung über die Welt erleben wird, ist deutlich.
Doch diese unbestreitbar eindeutige Botschaft vom ökologischen Ying und Yang ist nicht die eigentliche Botschaft vom Noahbund, der unter dem Regenbogen geschlossen wurde, auch wenn sie vordergründig eine Botschaft für unsere Tage ist.
Sonntags muss man aber auch die Geschichte der Natur, wie sie uns in der Bibel begegnet, eher in ihrer Doppelbödigkeit betrachten.
Dann geht uns auf, dass das Versprechen, die Tages- und die Jahreszeiten, die Temperaturen und die Fruchtbarkeit der Erde sollten künftig Bestand haben, keine positive Gebrauchsanleitung für das Leben auf einem schönen Planeten ist, sondern die Bewahrung einer defekten, … ja, einer längst zerstörten Schöpfung!
Alles, was wir heute hörten – und das ist eine der unergründlichen Tiefen der Bibel! – …alles, was so klingt, wie der ursprüngliche Bauplan des Kosmos, ist nicht mehr Schöpfungsgeschichte, sondern Rettungsgeschichte nach einem ersten Weltuntergang.
Die Bibel erzählt – und das müssten wir uns gerade als Christen immer, immer wieder klar machen – die Bibel erzählt fast alles, was sie uns mitteilt, als Geschichten von jenseits des Todes!
Denn dass die Sintflut eine tragische Brechung der Wirklichkeit wie Gott sie gewollt hatte darstellt, dürfte unverkennbar sein. Zum zweiten Mal in weniger als sechs Kapiteln ist in den Tagen Noahs die Schöpfung durch den Menschen zerbrochen: Adam und Eva verursachten den Einbruch des Todes ins Leben und die Generation der Flut rief den fast vollständigen Untergang alles nunmehr ohnehin schon Sterblichen herbei.
Und so ist eine schrecklich zerstörerische Unfähigkeit, mit dem Leben zu leben, in die Welt gekommen durch den Menschen.
Was immer er in seiner kreativen Neugier, die über jeden Baum verfügen und jede Frucht schmecken will, anfasst, kann der Mensch radikal gefährden. Gewiss kann er auch flicken, erfinden und wohltätige Überraschungen zustandebringen durch dieselbe Neugier. Aber eines steht fest und wird nie zu verrücken sein: Ein Schöpfer, … sein Schöpfer kann der Mensch nicht werden. Das Leben ist nicht seine Erfindung und liegt nicht in des Menschen Hand. Darin liegt zu seinem unendlichen Unglück seit jenem Griff, der in Eden vor solcher Anmaßung nicht zurückschreckte, nur der Tod. …….
Und darum ist eine Welt, die allein dem Menschen überlassen wäre, immer auch eine tödlich bedrohte Welt.
Nun müssen wir uns aber eingestehen, dass genau dies die Welt ist, die die Mehrheit unserer Zeitgenossen zu kennen glaubt! Für die meisten Mitmenschen in unserer Gegenwart gilt wohl, dass niemand über der Welt steht, dass niemand über sie gebietet und wacht und dass niemand jenseits der Welt – vor ihrem Beginn, nach ihrem Ende – das Leben weckte und wieder wecken kann.
Darum ist es aber umso dringlicher, dass wir die christliche Perspektive, die biblische Perspektive nicht aus den Augen verlieren, in der eine Menschheit ohne Gott schlicht nicht denkbar ist! Von Anfang an braucht die Menschheit einen Retter und nach biblischem Zeugnis hat sie von Anfang an eben diesen: Sie hat Den, Der den Sündenfall und die Sintflut so wandte, dass beide Katastrophen nicht zur Auslöschung führten, obwohl der Mensch sie allein jeweils nicht überstanden hätte. ——
Das ist nun zweifellos ein unermesslicher Trost.
Doch was genau löst solcher Trost eigentlich aus, wenn schon die allerersten Seiten der Bibel von apokalyptischen Vorgängen sprechen, die nur durch Gottes Eingreifen verhindert werden konnten: Soll man am Menschen vollständig verzweifeln? Oder soll man seine selbst- und weltmörderische Zerstörungskraft im Gegenteil auf die leichte Schulter nehmen, weil es dank Gottes ja immer wieder „joot jejange hat“?
Soll man die Erde nun, im ausgerufenen Anthropozän – dem Zeitalter des menschengemachten Klimawandels, das nach dem Zerstörer des bisherigen Weltzustands seinen neuen Namen trägt – soll man die Erde im Anthopozän nun also als zum Scheitern verurteilt auf dem schnellsten Weg dem kurzen Prozess des Menschen überlassen? Oder soll man sorglos darauf wetten, dass die Sünden- und die Sintflutkrise eine Blaupause abgeben, nach der auch die Klimakrise durch Gottes Gnade zu lösen sein wird? …….
Oder könnte der Blick auf das zerstörerische Treiben des Menschen und das Rettungswerk Gottes uns zwischen Zynismus und Leichtfertigkeit nicht etwas Drittes lehren?
Genau das ist doch wohl die Botschaft des Noahbundes, in dem zwei schreiende Gegensätze versöhnt werden.
Ausgerechnet der Verzicht auf weitere Strafen, ausgerechnet die Verheißung des dauerhaften Segens nach der Sintflut, ausgerechnet diese Errettung aus dem Tode wird in Gottes Wort ja begründet mit dem nüchternsten Menschenbild, das es nur geben kann:
Dass das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf, bewegt Gott dazu, hinfort das Dasein und den Lebensraum und Lebensrahmen dieses Mängelwesens nicht mehr infrage zu stellen.
In der aus dem Meer des Todes, aus der Sintflut geretteten Welt nach Noah herrscht also nicht Vollkommenheit. Im Gegenteil: Die von Gott aus dem Grab des Bisherigen gerufene Menschheit besteht nun nicht aus solchen, die aus sich heraus Schonung verdient hätten oder Gefahrlosigkeit versprechen könnten. Sie bleiben gefährliche und gefährdete Geschöpfe.
So lange die Erde steht, auf der solche Menschen leben, so lange wird sich nichts auf ihr von selbst verstehen, wird nichts von sich aus schlicht „laufen“.
Doch weder ist die Welt darum hoffnungslos, noch wäre sie jemals einfach auf der sicheren Seite.
Der Mensch ist ein stetes Risiko für die Schöpfung; der Schöpfer aber verspricht genauso stetig, ausgleichend für die Welt einzustehen, die Saat brauchen wird, wenn es Ernte geben soll, die zum Abbau ihrer Hitze der Kälte bedarf, in der es neben der guten auch die harte Zeit des Jahres geben wird und deren Licht immer auch Schatten und Finsternis hervorruft.
Es ist also weniger die ideale natürliche Harmonie, die in der Zusage Gottes an Noah beschworen wird, als vielmehr die Verheißung, dass Gott, der Retter aus dem Tod und Richter über die Sünde unermüdlich zu sein verspricht bei seiner Bewahrung der unsicheren Welt.
Wenn wir das aber erkennen – dass die scheinbar naturgesetzliche Stabilität des Weltsystems nicht ein Urzustand ist, den man bewahren oder als Ziel verordnen könnte, sondern ein Zeugnis der Gnade, mit der Gott sich gegen alle Abbrüche und Einbrüche der menschlichen Hybris einsetzt –, dann kann sich weder Kleinmut noch träge Gelassenheit aus der Einsicht in das stetige und zuverlässige Heilswerk ergeben, das Gott auch in der Natur beweist.
Wenn die uns heute bekannte Natur nämlich nicht als Ergebnis seines ersten Schöpfungswerkes, sondern als Ausdruck des zweiten Werkes Gottes – des Einsatzes für die Rettung des bedrohten und bedrohlichen Menschen – zu begreifen ist, dann muss sie uns ja umso mehr am Herzen liegen.
In solchem biblischen Verständnis der nachsintflutlichen Kreatur und materiellen Wirklichkeit als einer Überlebenden der menschheitlichen Urkatastrophe und darum als Mittel der Gnade Gottes im Kampf um die Zukunft seines Ebenbildes, wird dann aber auch der Auftrag unserer Umweltverantwortung aus dem ersten Artikel des Glaubensbekenntnisses – „Von Gott, dem Schöpfer der Welt“ – in den zweiten Artikel aus-gedehnt: „Von Gott, dem Retter, dem Heiland der Welt“.
Es geht eben nicht darum, das verlorene Paradies in der wahrhaftig ja auch nicht naiv zu verherrlichenden Natur zu suchen und zu pflegen, sondern es gilt, das kommende Reich Gottes – in dem dann endgültig und für immer alle Schuld und der Tod, alle Sünde und Sintflut überwunden sein werden – nicht zu gefährden, indem man Gottes Wege für die Menschheit auf’s Spiel setzt.
In dieser Erwartung, dass der versprochene dauerhafte Wechsel der Prozesse, die das Leben erhalten, ein Ziel hat – nämlich die endgültige Rettung der Welt – wird die Dringlichkeit der heutigen ökologischen Fragen für uns Christen erst unmissverständlich deutlich: Nicht das Klima, nicht der Regenwald, nicht der Schutz der Arten an sich sind Selbstzwecke. Aber weil Gott mit allem Fleisch, das auf Erden ist, einen Bund geschlossen hat, der sich erfüllt, wenn alles – wie Noah und die Seinen und mit ihnen die Kreaturen – vom Tod errettet ist, … darum sind die großen Themen unserer Zeit wahrhaft christliche Anliegen!
Denn alles, was uns umgibt – gerade im November, der letzten Zeit vor dem Advent, in dem wir ganz bewusst das Ewige erwarten – …. alles, was uns umgibt, was mit uns wächst und reift und besteht, zehrt von der Verheißung und weist auf sie hin: Du wirst leben!
Und das ist gewiss: Am schönsten, am einfachsten und am unvergesslichsten bezeugt diesen ewigen Bund zwischen Gott und allem Fleisch der Bogen in den Wolken, den die Christen immer schon unter den Füßen des endgültig Erscheinenden sahen.
Denn im letzten Buch der Bibel, da leuchtet er wieder – der Bogen, den Noah nach der ersten Rettung der Welt aus dem Tod erblickte (vgl.Offenb.4,3 und 10,1), und vom Thron, um den der Regenbogen steht, hören wir die Stimme:
„Ich mache alles neu!“ (Offenb.21,5)
Amen.
Reformationstag, 31.10.2019, Stadtkirche, 5.Mose 6, 4 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reformationstag 2019
5.Mose 6, 4-9
Liebe Gemeinde!
Was wir hier feiern, ist nicht der Reformationstag.
Reformationstag ist, wenn in westdeutschen Kirchen vormittags Menschen, die nicht arbeiten müssen oder für ihren kirchlichen Dienst bezahlt werden, eine Versammlung mit Festrede abhalten: Da hörten sie bis vor einigen Jahrzehnten Würdenträger feierliche Dinge über das große geistesgeschichtliche Erbe des Protestantismus tönen; dann vernahm man etliche Jahre lang politisch-kritische Erklärungen mit entsprechend gefärbten Halstüchern über Rassenfrage, Weltfrieden und Atomkraft, bis man in jüngster Zeit auf schön populäre Bestseller-Bischöfe und -innen sattelte, die ganz sanft Themen der Lebensmitte, der Seelenbalance und der metaphysischen Ökologie aller religiösen Gewächse ausbreiten.
Reformationstag ist also eine Sache für wenige akademische oder gewohnheitstreue Beamten, Ruheständler und Regelmäßige.
Wir dagegen feiern hier etwas anderes. Einen anderen Tag und andere Leute.
In biblischer und kirchlich-liturgischer Zeitrechnung ist laut unseren Armbanduhren nämlich seit Sonnenuntergang nicht mehr der Tag der selbstvergewissernden Festreden einer frühneuzeitlichen Sondergruppe in der Christenheit, sondern eine universalere Feier hat begonnen. Die Feier, die auch historisch den Anlass gab, dass Luther vor oder nach der ersten Festmesse die Tür der besonders gerade mit diesem Fest verbundene Schlosskirche[i] als Aushängekasten nutzte, … die Feier, die jetzt mit dem Vorabend des 1.November begann und beginnt, ist die Feier Aller Heiligen!
Und wenn wir es ernst nehmen, dass der Beginn der Reformation sich seit Menschengedenken ausgerechnet an dieses Fest geknüpft hat, und wenn wir die verblassten und überholten konfessionellen Abgrenzungen einmal auf sich beruhen lassen, dann könnte uns tatsächlich aufgehen, wie sach- und evangeliumsgemäß es ist, dass die evangelische Kirche ihrer Ursprünge an keinem anderen Tag gedenken sollte, als am Tag der universalen, weltgeschichtlichen Fülle aller Heiligen.
Kein geringeres Selbstbewusstsein darf nämlich alles haben, was – mit Luthers anschaulicher Drastik gesprochen – „aus der Taufe gekrochen ist“. Jeder getaufte Christenmensch soll wissen und glauben, dass er ein Teil der allergrößten und umfassendsten Gemeinschaft der Welt ist: Ein Glied der Una sancta – der einen Heiligen – nämlich der Gemeinde Gottes, ein Glied jener Gemeinde, die nach Calvin „alle Auserwählten Gottes (umfasst), unter deren Zahl auch die einbegriffen werden, die bereits verstorben sind“ (Institutio IV 1,2) und die dabei so uranfänglich und ewig ist, dass der Heidelberger Katechismus bekennt (Fr.54), „daß der Sohn Gottes aus dem ganzen menschlichen Geschlecht sich eine auserwählte Gemeinde zum ewigen Leben, durch seinen Geist und Wort, in Einigkeit des wahren Glaubens von Anbeginn der Welt bis ans Ende versammelt, schützt und erhält.“
Nichts anderes ist also die Reformation als die Einladung an alle Menschen, sich nicht durch Geldforderungen und nicht durch menschliche Skandale, sich weder durch Selbst- oder Gottes-Zweifel noch durch religiöse Einschüchterung, sich ebenso wenig von Minderwertigkeitskomplexen wie von eigenen gottlosen Einbildungen weismachen zu lassen, man sei nicht kirchenfähig, nicht gnadenvoll, nicht gottgewollt, nicht heilig. …
Die Entdeckung, dass Gottes Wort jeden Menschen ansprechen will, dass die Heilsbotschaft von der Gnade radikale Dimensionen bedingungsloser Einschließlichkeit für alle Sünder der Welt besitzt, … die Entdeckung, dass Berufung und Gerechtigkeit und Priestertum – also Gebets- und Gottesdienst – allgemeine Geistesgaben für die Glaubenden sind, … die Entdeckung, dass man aus dem durch Gottes Erwählen gestifteten Bund nicht austreten kann, wie schuldig, wie trotzig, wie vergesslich man auch sei, weil in Jesus Christus aller Menschen Verlassenheit und Verlorenheit zu Gottes ganz eigenem Leid gemacht und in Gottes restlosen Sieg darüber verschlungen sind, … die Entdeckung des großen, freien, vollen Heils, das Gott seinen Menschen eröffnet und im Bund mit Israel, in den apostolischen Gemeindegründungen, in der heiligen, christlichen Kirche mit ihnen teilt … diese Entdeckung, dass das Reich aller Heiligen uns allen offen steht, ist die Reformation: Mit der besonderen Verwunderung und dem immer wieder frischen Staunen darüber, dass die offenstehende Welt Gottes, dass der einladende Kreis des Heils, der Geheilten, der Heiligen wirklich auch als Platz für mich gemeint ist – … den Skeptiker, den Spötter, den Schüchternen, den Stumpfen, … den Sünder?!!
Auch dieses beinah ungläubige Verdutzt-Sein darüber, wohin man gehört und wer man sein darf, wenn man ein Christ ist, … dieses augenreibende Glückszwinkern der Beschenkten, der Heimgekehrten, der Aufgenommenen, beschreibt der Heidelberger Katechismus, wenn er die Erwähnung der ewig auserwählten Gemeinde münden lässt in die zögerlich-herzklopfende Überwältigung durch die unzweifelhafte Tatsache, „daß ich derselben ein lebendiges Glied bin und ewig bleiben werde.“ (Fr.54)
Dieser Satz, den man nicht oft genug wiederholen kann, ist die kürzeste, direkteste Übersetzung der großen, manchmal spröden reformatorischen Entdeckung von der Rechtfertigung aus Glauben:
„Ich … auch ich gehöre dazu! Das ist nicht mein Erfolg. Nicht mein Verdienst. Erst recht nicht: »Mein Kampf«. Aber Gott meint es ernst: Auch ich gehöre dazu!“
Und darum wäre ein gutes, gesundes und gesegnetes evangelisches Grundgefühl – wenn man es denn nicht spießig, nicht kitschig, nicht elitär und nicht vereinsmeierisch neuerfinden könnte – … ein gut-evangelisches Grundgefühl wäre das Gefühl der Zugehörigkeit: „… daß ich ein Glied derselben bin!“
Dieses Gefühl sollte uns wärmen, wenn wir einen barocken Hochaltar voller flatternder Engel und purzelnder Putten betrachten, genauso wie da, wo uns die Wellen und Wogen des Protestes und der Hoffnungen junger Menschen auf der Straße begegnen.
„Daß ich ein Glied derselben bin“, das sollte uns durch Kopf und Herz gehen, wenn wir einen freikirchlichen Gottesdienst ohne Formen und mit viel schlichtem Enthusiasmus mitfeiern genauso wie dort, wo die zeitlose Klarheit und Strenge der gregorianischen Tradition unser Beten läutert.
„Daß ich ein Glied derselben bin“, das dürfen wir uns sagen, wo die Kraft der Christen kirchengründend den Untergrund durchbricht oder trostlose Gesellschaften erneuert wie rasend in China und in weiten Teilen Afrikas; aber „daß ich ein Glied derselben bin“, soll jeder von uns auch spüren, wenn er das Kreuz der Kirche sieht, die verfolgt und umerzogen und gefoltert und getötet wird in Lagern und Landstrichen rund um den Globus.
Ich, … auch ich gehöre dazu: Zur christlichen Minderheit, die den Sozialismus überstanden hat, zur langweiligen, blass gewordenen Normalkirche der dreiviertelsäkularisierten Gewohnheitsgemeinden, die wir noch kennen, zur diskussions- und musikbewegten Kirchentagscommunity, zu den kreativen, experimentellen, virtuellen Christus-Missionen in die zersplitterten Lebensräume der Postmoderne.
Ich, … auch ich gehöre dazu, wenn sie in Taizé oder in Gnadenthal auf Zeit oder für immer nach Gemeinschaftsformen der verbindlichen Nachfolge suchen; ich, … auch ich gehöre dazu, wenn leere Klöster in Frankreich oder mitten in Köln eine neue Ordensvielfalt der Armen, der Betenden, der Brennenden und Liebenden sammeln.
Du, … auch du bist ein Glied derselben, einen und ewigen Gemeinde.
Du bist einer von allen Heiligen! ——
Und es ist keine Phantasiereise, sondern eine Wanderung des Glaubens wie in der göttlichen Komödie, wenn wir jetzt durch die Stufen und Regionen, durch die historischen Zeitzonen und die archäologischen Schichten dringen wollten, um die ganze Länge und Breite, die Höhe und Tiefe jener unvergänglichen Gemeinschaft zu ermessen, in die das Wort uns ruft, das Vertrauen uns führt und Christus jeden von uns vertretend stellt.
Man ahnt und soll sich nach Lust und Laune ausmalen, wie voll die Menschheit an solchen Heiligen, wie Du und ich es sind, ist und war und bleibt. Man ahnt, wie die Fülle und Abwechslung im Mischgewebe der Christenheit farbenprächtig und vielfältig ist und uns doch überall einlädt, zu begreifen, dass wir ein Glied derselben sind:
Ob’s die rockenden Harlem Gospel Singers oder die mattgoldenen Vierzehn Nothelfer des Mittelalters wären, … die zungenredenden Pfingstler, die stummen Quaker, … die steifen Wohltäter, die die Diakonie anfingen, oder die draufgängerischen Jesus-Liebhaber, die Herrnhut in alle Welt sandte, … die sinn- und segenslos Kämpfenden des Dreißigjährigen Krieges, … die herrlichen, mutigen, wilden, gerechten und sündigen Befreier und Begeisterer von 1517 bis 1555, … die franziskanischen Alternativen, die die Vögel auf den Dächern zu Christen machen konnten … oder die schreibenden, schreibenden, schreibenden Bewahrer und Deuter der Lichtes in dunklen Zeiten, als außerhalb der Konvente und Einsiedeleien die Kultur zusammenbrach, … ob’s die großen Redner von Konstantinopel oder die unermüdlichen Apostel und Apostelinnen wären, die zwischen dem Nil, dem Euphrat und dem Ganges ganze Völker zu frühen christlichen Reichen formten, … ob’s die lieben Philipper oder die zickigen Korinther wären, … überall muss – wenn die Wahrheit uns frei macht von allen Vorurteilen und Verboten – uns aufgehen, dass wir dazugehören!
Das ist herrlich!
Doch Vorsicht.
Gemütlich ist es nicht. Bequem ist es nicht.
Landeskirchlich und ortsgemeindlich ist es nicht!
Weil’s mehr gibt, als nur die sächsischen Fürsten oder die rheinischen Synoden, mehr als die Schweizer Kantonskirchen oder die Altpreußische Union.
Dieses „daß ich ein Glied derselben bin“, das bürgert uns – wenn wir die provinzielle Verfassung, die uns die Reformation hinterlassen hat, in der man kurhessisch-waldeck’sch oder pfälzisch oder hannöver’sch oder württembergisch evangelisch sein soll, endlich überwinden – …. dieses „daß ich ein Glied derselben bin“, das bürgert uns auch aus!
Ein Christ in der Freiheit der Kinder Gottes, in der Familie der Erlösten des HERRN zu sein, macht uns auch – und in zahlenmäßiger Hinsicht: überwiegend – zu Brüdern und Schwestern der ganz anderen Heiligen.
Wie vieles an Kirche gibt es, das nicht europäisch geformt und gefärbt ist: Die Batak-Kirchen, die unsere Missionare auf den Inseln Indonesien ermöglichten; die immer mehr inkulturierten Christentümer der asiatischen Welt; die gigantische Glaubenslandschaft des christlichen Afrika; das amazonische Christentum, durch das die katholische Kirche in den letzten Tagen einen zukunftsträchtigen Globalisierungsschub erlebt habt; die uralten Völker des christlichen Kaukasus; die indischen, iranischen, irakischen, syrischen und äthiopischen Wiegen der ersten Liturgien und ältesten Theologie der Kirche, das ganze Griechisch, Koptisch, Chaldäisch und Aramäisch sprechende Volk der Getauften, die bis heute die Welt des Urchristentums besiedeln und deren Heimat uns heilig sein sollte als Quelle der Kirche, … und alle ihre Millionen christlichen Geschwister und Nachfahren, die auf Arabisch bekennen, dass Issa al-Massih, der Sohn der Jungfrau Maryam zugleich der Sohn Alla’hs ist! …….
„Daß auch ich ein Glied derselben bin …“: Das zu betrachten und zu bekennen, ist nun allerdings doch eine ungewohnte Übung am reformatorischen Allerheiligen-Vorabend.
Es zeigt uns die andere Seite der weltweiten und überzeitlichen Gemeinschaft aller Glaubenden:
Sie beheimatet uns in der Fremde und macht uns zu Fremden in der Heimat.
Wer den freien Ruf der Gnade hört, wer dem befreienden Wort Christi folgt, wer auf die freie Einladung, dazuzugehören, eingeht, der muss erst einmal ausziehen können, wie Luther und Calvin und ihre Generation auszogen aus den Lügen einer Seelenknechtschaft und Traditionsverhaftung, die Gott verriet!
Wer die freie Einladung in die Gemeinschaft aller Heiligen befolgen will, der muss zunächst „die gottlosen Bindungen dieser Welt“ (Barmen II) hinter sich lassen können … die Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten, den Ich-Sinn und das Wir-Gefühl, die kleine überschau-bare Parzellen des Eigenen und der Selbstverteididgung schaffen, die am Reformationsfest so oft als Selbstbeweihräucherung auftreten, wenn wir uns evangelischer Bespiegelung und Kirchtürmlichkeit und Trotzigkeit – „das Reich muss uns doch bleiben!“ – hingeben.
Schluss damit!
Am Ende, vielmehr am Anfang der Glaubensreise durch die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe der auserwählten Gemeinschaft, deren Glied auch wir sind, steht keiner von uns.
Der Ursprung der einen Gemeinde, deren Glied auch wir sind durch’s Wort der Gnade – und das macht das Wunder des „Auch du gehörst dazu“ erst eigentlich aus – … der Ursprung der einen Gemeinde ist ein anderes, das ältere, das erste Volk des Eigentums.
Der Ursprung aller Heiligen ist Israel, dessen Glaubensbekenntnis wir heute auch unter den Heiden, die dazugehören sollen, als den neuen Predigttext, den alten Grundtext von allem hören, was Menschen frei zu Gott und fremd in der Welt und als Glied Desselben daheim allein in Ihm macht:
Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer.
Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.
Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst.
Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.
Amen.
[i] In der recht neuen Wittenberger Schlosskirche hatte Kurfürst Friedrich der Weise eine der allergrößten spätmittelalterlichen Reliquiensammlungen – die Heiltumbskammer – zusammengetragen, die am Fest aller Heiligen einen wichtigen Anziehungspunkt darstellte … auch wegen der mit den Reliquien verbundenen Ablässe. Der 1.November war mithin so etwas wie das Patronatsfest dieses bedeutenden Kirchenschatzes, den übrigens Cranach wirkungsvoll in Holzschnitten inventarisiert und damit beworben hat.
18.S.n.Tr., 20.10.2019, Mutterhauskirche, Jak.2,14-26, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
die Überarbeitung des liturgischen Kalenders der Evangelischen Kirche in Deutschland bietet uns am heutigen Sonntag eine echte Überraschung. Ich habe es selber kaum fassen können, als ich vor Wochen im Perikopenbuch den vorgeschlagenen Predigttext las, ein recht langer Abschnitt aus dem Jakobusbrief. 11 Tage vor dem Reformationstag, dessen 500. Jubeltag 2017 wir ja noch in guter Erinnerung haben, wird uns ein Text vorgelegt, der nichts weniger ist als eine Provokation, aber eine gute, eine heilsame, eine not-wendige Provokation. Und diese Provokation heißt: „Der Glaube ohne Werke ist tot." Ich weiß, dass Martin Luther das ganz anders beurteilen würde und beurteilt hat; denn wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte es den Jakobusbrief in der Evangelischen Bibel nicht mehr gegeben. Das war ja das Credo Luthers „Der Glaube allein macht selig und gerecht - die Werke nützen nichts." Oder anders „Solus Christus - Sola fide". Paulus war für ihn der rechte Apostel, Jakobus lag ihm schwer im Magen.
Und diese „Wertschätzung" hat Luther den Evangelischen vererbt: der Glaube ist gut - die Werke sind schlecht.
Immerhin: Jakobus hat die Reformation überlebt. Sein Brief findet sich in unserer Bibel. Auch in der Luther-Bibel.
Hören wir einmal, was Jakobus uns zu sagen hat, wie er die Botschaft Jesu verstanden hat, wie er sie in seinen Alltag einbezogen hat.
„Was hilft's, Brüder und Schwestern, wenn jemand sagt, er habe Glauben, und hat doch keine Werke? Kann denn der Glaube ihn selig machen?
Wenn ein Bruder oder eine Schwester nackt ist und Mangel hat an täglicher Nahrung und jemand unter euch spricht zu ihnen: Geht hin in Frieden, wärmt euch und sättigt euch!, ihr gebt ihnen aber nicht, was der Leib nötig hat - was hilft ihnen das?
So ist auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, tot in sich selber.
Aber es könnte jemand sagen: Du hast Glauben, und ich habe Werke. Zeige mir deinen Glauben ohne die Werke, so will ich dir meinen Glauben zeigen aus meinen Werken. Du glaubst, dass nur einer Gott ist? Du tust recht daran; die Teufel glauben's auch und zittern. Willst du nun einsehen, du törichter Mensch, dass der Glaube ohne Werke nutzlos ist?
Ist nicht Abraham, unser Vater, durch Werke gerecht geworden, als er seinen Sohn Isaak auf dem Altar opferte? Da siehst du, dass der Glaube zusammengewirkt hat mit seinen Werken, und durch die Werke ist der Glaube vollkommen geworden. So ist die Schrift erfüllt, die da spricht: „Abraham hat Gott geglaubt und das ist ihm zur Gerechtigkeit gerechnet worden", und er wurde „ein Freund Gottes" genannt. So seht ihr nun, dass der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durch Glauben allein.
Desgleichen die Hure Rahab: Ist sie nicht durch Werke gerecht geworden, als sie die Boten aufnahm und sie auf einem anderen Weg hinausließ? Denn wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot."
Sie müssen zugeben: für evangelisch sozialisierte Ohren ist das eine ziemliche Provokation.
- Kann denn der Glaube ihn selig machen?
- Der Glaube ohne Werke ist tot in sich selber.
- Der Mensch wird durch Werke gerecht, nicht durch Glauben allein.
- Wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot.
Und dann noch die Auslegung über Abraham, diesen „Vater des Glaubens": der eben nicht nur einfach Gott geglaubt hat, sondern getan hat, was Gott ihm zu tun aufgetragen hat, und genau das wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet; sein Glaube wurde durch die Werke vollkommen.
Ja, es stimmt: das klingt bei Paulus und Martin Luther doch ziemlich anders.
Haben die nicht immer und immer wieder betont, dass es allein auf den Glauben ankommt? Dass Werke sogar schädlich sind, den Menschen dazu verführen zu meinen, sie könnten ihrer Seelen Seligkeit selbst bewerkstelligen? Geht es beim Glauben nicht um die Gnade Gottes, darum, dass er alleine uns selig machen kann, uns gerecht machen kann?
Ja, ich selber bin noch mit diesem Verständnis ins Studium gegangen und aus dem Studium herausgekommen:
Der Glaubensgerechtigkeit steht diametral die Werkgerechtigkeit gegenüber; die erste ist hui, die zweite pfui; die erste ist gut evangelisch, die zweite eben katholisch.
Doch damit werden wir nicht nur Jakobus nicht gerecht, sondern auch Jesus nicht. Und darüber hinaus schaden wir uns selbst. Denn Glaube und Werke gehören zusammen - wie Reden und Tun, oder besser: wie Hören und Tun, wie Denken und Handeln.
Liebe Gemeinde, hier ist Jakobus wirklich viel näher bei Jesus als Paulus. Denn Jesus hat gesagt (so ist es in der Bergpredigt bei Matthäus zu lesen): „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel." Ja, was hilft's, den richtigen Glauben, das richtige Bekenntnis, die richtige Überzeugung zu haben - wenn sie keine „Früchte" trägt, sprich: wenn sich nichts positiv im Alltag verändert.
Und damit ist Jakobus brennend aktuell.
Was hilft's, wenn man erkennt, dass die Klimawende wirklich notwendig ist, aber selber kauft man noch schnell einen SUV, oder bucht eine Kreuzfahrt in die Karibik?
Was hilft's, wenn die Regierungsparteien aus lauter Sorge um ihre Wiederwahl, man kann auch sagen: aus lauter Angst vor dem Wahlvolk, das der Devise folgt „Wasch mich, aber mach mir den Pelz nicht nass", zwar von der Klimawende reden, aber ihren Worten keine Taten folgen lassen, die auch nur halbwegs positive Effekte zeigen?
Was hilft's, wenn man sich für den Tierschutz ausspricht, aber im Supermarkt ein Kilo Rinderhack für 3,99 Euro in den Einkaufswagen legt?
Was hilft's, wenn man sich zum Grundgesetz samt Artikel 1 bekennt, aber als Wohnungseigentümer keinen Mieter haben möchte, der einen türkischen oder arabischen Namen hat.
Was hilft's, wenn man natürlich für Inklusion in den Schulen ist, aber sich im Urlaub bei der Reiseleitung darüber beschwert, dass am Nachbartisch eine Familie mit einem behinderten Kind sitzt.
Was hilft's, dass man natürlich junge Menschen für die Kirche und für den Gottesdienst gewinnen will, aber es soll alles so bleiben, wie es schon immer war - die Liturgie, die Lieder.
Liebe Gemeinde, ich denke, sie haben gemerkt, wie aktuell dieser Brief des Jakobus ist, wie er mitten hineingreift genau dorthin, wo es schmerzt.
Ja, wir sind schnell dabei mit den richtigen Bekenntnissen und Einstellungen, wir sind für Umweltschutz und Klimawende, wir sind für Gerechtigkeit und Frieden - aber bitte, bitte, das darf uns nichts kosten, das darf unseren ruhigen Lebensablauf nicht durcheinanderbringen.
Es sind schon harte Sätze, die uns Jakobus da auf den Tisch legt oder auch an den Kopf wirft:
- Der Glaube, wenn er nicht Werke hat, ist tot in sich selber.
- Du glaubst, dass nur einer Gott ist?
Du tust recht daran; die Teufel glauben's auch und
zittern.
- Seht ihr nun, dass der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durch Glauben allein.
- Denn wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot.
Harte Sätze für eingefleischte Protestanten, die sich seit der Reformation am „Sola fide" - „allein aus Glauben" festhalten.
Wie geht das nun zusammen?
Ich glaube nicht, dass Jakobus sich hier von Paulus und seiner Botschaft von der Vorrangstellung des Glaubens und der Gnade Gottes, die uns geschenkt wird, absetzen wollte; es ist noch nicht einmal klar, ob er überhaupt die entsprechenden Briefe des Paulus kannte. Dass Gott uns in seiner Güte annimmt, uns seine Liebe geschenkt hat, das steht auch für Jakobus fest. Aber ihm geht es - und da ist er wirklich anders unterwegs als Paulus - ihm geht es nicht so sehr um die Beziehung zwischen Gott und Mensch, als vielmehr um die Beziehungen der Menschen untereinander. Es geht weniger um das Thema „Erlösung" als vielmehr um das Thema „Weltverantwortung". In der Welt, dort zeigt sich, ob der einzelne Mensch aus dem Glauben heraus lebt und handelt oder ob er sich den gerade herrschenden Verhältnissen angepasst verhält oder seiner Bequemlichkeit nachgibt. Wenn er letzteres tut, dann - so Jakobus - ist sein Glaube tot. Da kann er noch so viel mit dem Mund bekennen. Modern ausgedrückt wendet sich Jakobus hier gegen das „Sonntagschristentum", das den Glauben in die Innerlichkeit einschließt, ihn auf das ganz persönliche Verhältnis Mensch - Gott oder Mensch - Jesus begrenzt. Alles andere ist dann Politik, die nichts mit dem Glauben zu tun hat.
Offenbar hat Jakobus hier Gemeinden vor Augen, bei denen das notwendige Zusammenspiel von Glauben und Handeln zerbröselt. Dagegen schreibt er seinen Mahnbrief.
Wer den ganzen Jakobusbrief liest, der wird immer wieder darauf hingewiesen, dass für den Glaubenden nur eines wirklich wichtig ist: sein Leben aus Gottes Wort und Weisung zu leben, eben zu hören und zu handeln - und so die richtige „Antwort" auf Gottes Zuwendung, auf seine Güte zu geben.
Wie diese Antwort im Einzelnen aussieht, das muss immer wieder neu überlegt und bedacht werden. Es gibt keine fertigen Antworten in der Bibel, sondern nur Wegmarken oder Leitlinien - und diese sind immer in ihren geschichtlichen Zusammenhängen zu bedenken. Ja, der Glaube ist etwas für mündige Menschen, er führt immer in den kritischen Diskurs.
Und ja, der Glaube basiert auf dem Vertrauen, dass Gott jeden Menschen wertschätzt, dass er zu jedem sein Ja spricht, noch bevor dieser überhaupt in der Lage ist, ihm zu antworten. Aber die Antwort muss eben kommen. Gott erwartet, dass er wertgeschätzt wird, indem der Mensch die Werte, für die Gott steht, umsetzt und für sie einsteht mit Hand und Fuß und natürlich auch mit seiner Stimme. „Seid Täter des Wortes und nicht nur Hörer", fordert Jakobus im ersten Kapitel seines Briefes. Und das heißt: Übernehmt endlich die Verantwortung, die euch von Gott her übertragen ist, und handelt. Ihr seid keine unmündigen Kinder mehr, sondern die Erben. Verspielt nicht das, was euch anvertraut ist. Verspielt es nicht, indem ihr etwas Falsches tut, aber verspielt es auch nicht, indem ihr gar nichts tut.
Liebe Gemeinde, Jakobus ist unbequem - gerade für uns Protestanten. Nachdem wir uns seit 500 Jahren in der von Martin Luther so hoch geschätzten paulinischen Lehre „allein aus Glauben" eingekuschelt haben, haben die Worte des Jakobus fast die Wirkung einer kalten Dusche. Und gleichzeitig sind sie genau der richtige Ruf in dieser Zeit. Und weil die Christen, die Kirchen auf Jakobus nicht gehört haben, hat der Heilige Geist inzwischen noch ganz andere Wege gefunden, diesen Ruf „Seid Täter - tut was - übernehmt Verantwortung" laut werden zu lassen - um Gottes und der Menschen willen, um des Lebens auf dieser Erde willen. Es schreien nicht die Steine (Lk.19,40), sondern Kinder und Jugendliche und das weltweit.
Lassen wir uns aufrütteln; es kann nicht mehr einfach so weiter gehen wie bisher, jedenfalls nicht, wenn uns das Leben auf dieser Erde am Herzen liegt. Gott liegt es am Herzen. Er will, dass wir umkehren, dass wir die Ressourcen der Erde nicht ausbeuten für unseren Wohlstand, sondern so gebrauchen, dass alle Menschen und Tiere miteinander gut leben können; darin zeigt sich seine Gerechtigkeit, die Gemeinschaftsgerechtigkeit ist. Zu dieser Gerechtigkeit hat uns Christus befreit und berufen. Schenken wir ihm also Glauben, vertrauen wir ihm und zeigen dieses durch unser Tun und Lassen.
Amen.
17.n.Trinitatis, 13.10.2019, Stadtkirche, Josua 2, 1- 21, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 17.n.Trin. - 13.X.2019
Josua 2, 1 - 21
Liebe Gemeinde!
Abscheuliche, kranke Ausbrüche einer männlichen Kleinkinder-Wut und eines widerwärtigen Hass-Erbes im Abendland, in dem Abrahams Kinder und Jesu Glaubensgeschwister vor den sogenannten Christen nie sicher sein konnten … solche Ausbrüche des alten Elends, das uns anhängt, schreien geradezu nach neuen Wegen des Denkens und Handelns.
Und so ist die Geschichte einer heldenhaften, helfenden Hure, einer Außenseiterin, die die ersten Israeliten in Israel retten kann, natürlich ein Glücksfall für alle zeitgenössischen Theologien und es ist wenig Wunder, dass diese schwierige und zwielichtige Episode tatsächlich denn auch jüngst unter die Predigttexte kam. In dieser Erzählung ist schließlich alles enthalten, was heute auf der Tagesordnung steht: Ihre Hauptgestalt ist weiblich, ihre Sexualmoral straft alte kirchlichen Vorstellungen Lügen, sie bringt die unkonventionelle Farbe der nichtisraelitischen Kulturen in die Bibel und sie befolgt Impulse, die es mit der Wahrheit nicht so genau, dafür aber mit der Solidarität umso ernster nehmen.
Wer also nicht direkt über Carola Rackete, die beherzte Seenotamazone und Klimaretterin meditieren will, findet in der multikulturellen Grenzüberschreiterin Rahab und ihrem feministischen Ethos der Mitmenschlichkeit einen würdigen biblischen Ersatz.
Dabei ist – obwohl die Passgenauigkeit dieses Schnittmusters zu heutigen Musterbeispielen des politisch Korrekten einigermaßen frappiert – auch nichts von alledem zu kritisieren, was uns bei Rahab an landläufigen Vorstellungen von vorurteilsfreier Humanität begegnet: Die Überwindung von Geschlechterklischees, nach denen Heldentum männlich ist, … die Überwindung von Ausgrenzungsmoral, die tabuisierten Lebensformen ohne Ansehen der Person mit vorgefertigter Ablehnung begegnet, … die Überwindung von geschlossenen Gruppenzugehörigkeiten, außerhalb derer Fremden nur Misstrauen gilt – alle diese Überschreitungen ehedem unbestrittener Scheidelinien gehören zum christlichen Glauben dazu: „Nicht Mann, nicht Frau, nicht Jude, nicht Heide, nicht Gerechter, nicht Sünderin … neue Kreatur“ … das ist biblische Freiheitslehre vom Ursprung her (vgl. Gal3, 26f).
Und doch wäre es zu simpel und zu plakativ, die Geschichte der Prostituierten von Jericho, die Israels Spione schützt und vorm Fremdenhass ihrer Heimat bewahrt, als Steinbruch für unsere tagespolitischen Ideale zu nutzen.
Eine bloße Motivationserzählung für Zivilcourage und weibliche Autonomie, für interreligiöse Toleranz und kreative Konfliktstrategien bietet das Husarenstück dieser Rapunzel, die die bedrängten Männer abseilt, deren Wiederkehr den Untergang des alten heidnischen Stadtstaates im Westjordanland bringen wird, denn doch nicht. Wenn wir uns zu solchen Haltungen motivieren wollen, dann sollte eine Standortbestimmung in den Herausforderungen der Gegenwart wohl genügen.
Erzählt uns die Bibel aber von Rettung und Entkommen, von fragwürdigen Menschenplänen und unvorhersehbarem Segen, dann müssen wir den Namen derer, die uns heute beschäftigt, wörtlicher nehmen. Es ist ein ganz und gar anzüglicher, schmutziger Name für eine verächtliche Frau ……. bedeutet er doch auf Hebräisch buchstäblich „die Weite“.
… So widerwärtig grob, ja vulgär kann die Bibel sein, dass sie eine Hure unter diesem unflätigen Begriff aus dem Schweinestall des Sexismus auftreten lässt.
… Am liebsten bliebe man viktorianisch weit weg von so unnötiger Obszönität.
Aber dann verfehlte man das Eigentliche. Denn Gottes Wort und die heiligen Geschichten sprechen nie entschärft, nie also nach unserer Façon zu uns. Wenn wir sie uns prüde oder politisch in der geglätteten, in der modernisierten Form zurechtmachen, die uns gerade zusagt, sehen und hören wir nur unser eigenes Abbild und Echo.
Und darum hat die Kirche seit Jahrtausenden eine ganz andere, ganz ehrwürdige und ganz verachtete Methode des Verstehens geübt, eine Methode, die versucht, in jedem Teil und Bild der Bibel nicht das aufzudecken, was uns entspricht und ähnelt, sondern die Ähnlichkeit mit Gott, die Spiegelbildlichkeit der Gottesgeschichten und Gottestaten untereinander zum Vorschein zu bringen.
Es ist also weder Phantasielosigkeit noch Systemzwang, wenn die alte Kirche und die frommen Auslegungstraditionen bis vor wenigen Jahrzehnten immer wieder in allen biblischen Einzelheiten Erinnerungen an Gott selber und seine dreifaltige Wirklichkeit aufspürten und Korrespondenzen und verhüllte Spiegelungen zwischen entlegenen Teilen des einen heiligen Zeugnisses aufdeckten. Sie waren nicht arm an Vorstellungskraft, sondern - im Gegenteil - gerade aufgeschlossen für verborgene Feinheiten, wenn sie sich sagten: Die Mitte muss in diesem herrlichen Buch bis an seine Ränder aus-strahlen und die beherrschende und unersetzliche Hauptgestalt wird sich in jedem De-tail reflektierend, prägend, licht- oder schattenwerfend entdecken lassen.
Es ist also wirklich nicht zu belächeln, wenn jedes Holz in der Bibel an’s Kreuz von Golgatha denken lässt, wenn jede Schuld an den Kreuzestod und jede Unschuld an den Gekreuzigten erinnert, wenn alles Licht österlich und noch so geringfügige Schritte der Befreiung endgültig gedeutet werden.
Es ist nicht zu verachten, wenn im Alltäglichsten das Heilige, wenn im Normalen das Wunder und im Selbstverständlichsten das Heil durchschimmert; es ist nicht absurd zu nennen, wenn jede Mutter wie die an der Krippe und unter dem Kreuz erscheint und jedes Kind wie ein verfremdetes oder treffendes Echo dessen klingt, der beten lehrte: „Unser Vater! Abba!“
… Es ist keine Torheit und auch keine Vergewaltigung, wenn das Zeitliche in den biblischen Geschichten den Glanz der Ewigkeit freisetzt und sämtliche hohe und niedrige, neben- und hauptsächliche Einzelheiten gebrochene, aber doch sichtbare Reflexe des Einen, des Einzigen offenbaren.
Jesus in allen Dingen sehen: Das ist nicht unsinnig!
… Es sei denn, es wäre unsinnig, Licht zu sehen, wenn die Sonne scheint oder Glück zu empfinden, wenn man liebt und geliebt wird.
Jesus in allen Dingen zu sehen, das Geheimnis Gottes in jedem Menschen, die Erlösung der Welt in deren Bruchstücken: Das passiert, wo Menschen glauben, wo sie sich und wo sie alles stets im Angesicht Gottes und vor Seinen Augen erfahren. ———
Darum hat die Tradition auch die Geschichte aus dem Bordell von Jericho für eine Heilsgeschichte gehalten: Da, wo die Vorboten Israels in purer Zweideutigkeit bei einer ausgenutzten und abgehalfterten Prostituierten abstiegen, weil sie sonst keinen Raum in der Herberge hatten, sah die Tradition auch nur jene Viehhöhle, in der im Mist und unter den dunkeln Gestalten der nomadischen Halbwelt von den Hürden Gott selber das erste Nachtquartier auf Erden fand. Er kehrt bei den Sündern ein. Ernsthaft!
Und die Herbergsmutter dort im Rotlichtviertel Jerichos, die sie mit dem scheußlichen Namen für das viel zu oft gespielte Empfangen und Aufnehmen verspotteten, … diese Hure, die sie „die Weite“ nannten, sie kehrt schon beim Propheten Jesaja in einem neuen Licht wieder. Da ruft der Trösterprophet die inzwischen lange verfallene und verödete Stadt Jerusalem auf – sie, in der es so leer und einsam war –: „Mache den Raum deines Zeltes weit“ …, denn sie kommen, kommen alle zu ihr und werden sie erfüllen, bis die weitgewordene Stadt tatsächlich die Verlorenen der Menschheit umfasst (Jes.54,1ff).
Es ist also ein Evangelium noch in diesem widerwärtigen Schmähnamen: Sie, die durch ihr entwürdigendes Gewerbe jedermann umfangen und einlassen musste, wird zum Vorzeichen eines tatsächlichen Willkommens in echter, unbegrenzter Liebe.
Das aber – diese wirkliche Öffnung und Erweiterung der sonst immer auf Ausschluss und Begrenzung bedachten Verhältnisse unter den Menschen – geschieht unter wahrhaftigen Opfern: Die alte Welt der Rahab, das vorisraelitische, altorientalische Jericho ist ja dem Untergang geweiht. Die Randfigur Rahab, in ihrem Haus an der äußersten Peripherie, an der Stadtmauer, … diese Randfigur, in der allein sich Hoffnung auf Zukunft verkörpert, muss durch einen schrecklichen Umbruch, sie muss durch ein Gericht hindurch, wenn es Zukunft geben soll.
– Auch in dieser Hinsicht – dass die Retterin der Vorhut Israels das Ende der Welt, in die sie gehörte wird erfahren müssen – ist bei Rahab ein echter Vorschein (oder eine Vorfinsternis?) der Ereignisse, von denen das Neue Testament berichtet, zu finden: Wenn das Alte leben will, muss es durch das Sterben hindurch! So eng und einig sind die beiden Bibelteile verbunden.
Und das, was retten kann, wenn alles andere vergeht … da haben schon die ältesten christlichen Ausleger keinen Zweifel gekannt, wie symbolisch, wie vielsagend es ist: Aus Rahabs Fenster, aus dem die Kundschafter durch ihren mutigen Einsatz für sie entkommen konnten, hängt ein blutrotes Seil zum Zeichen der künftigen Bewahrung. Dieses scharlachfarbene Band, das anzeigt, dass Rahab, die Fremde, die Kanaanäerin und ihre Sippe verschont werden sollen, ist nichts anderes als das Schutzzeichen, das von Israel aus in die ganze Welt, über alle Völker und Stämme, über Gottsuchende und Heiden, über Gerechte und Sünder zugleich sich ergießt: Es fließt aus Jesu Herz. Es ist das Herzblut dessen, der so weit … so weitherzig ist, dass er für jeden Menschen Platz macht in seinem Innersten, dass er sein eigenes Dasein für alle öffnet und sein Leben in der Hingabe auf Golgatha als Schutz und Schirm für die Welt einsetzt. ———
Diese alte, symbolische, allegorische Weise, die Gestalt der grenzenlos solidarischen Prostituierten aus der Zeit vor Israel voller Christusbezüge und Christusbeziehungen zu deuten, ist aber nicht nur eine gesuchte Interpretation, sondern eine biblische Tatsache. Nach dem Zeugnis der jüdischen Ausleger wie des Neuen Testaments ist die heidnische Hure, die unzüchtige Beschützerin der Zukunft eine Stammmutter der größten Söhne Israels. Sie, die Israel moralisch wie ethnisch unversöhnlich fernstand, ist zu einer Garantin von Israels Fortbestand geworden:
Für die Rabbinen steht fest, dass sie nach der Eroberung und Zerstörung Jerichos Josua, den Anführer Israels heiratete und dass zu ihren Nachkommen viele Propheten, v.a. aber Jeremia zählen[i].
Das Neue Testament indes wagt sich dabei an eine noch erstaunlichere Erinnerung (vgl. Matth.1,5f!): In Rahab, „der Weiten“ bereitet sich tatsächlich das erstaunlichste aller Wunder vor. Ihr Urenkel sollte David heißen … der König Israels. Und dessen entfernter Sohn und Nachfahre – der starb, weil er in den Augen der Weltmacht „der König der Juden“ war – Jesus Christus selber also ist es, in dem das rote Rettungsband der Rahab sich fortsetzte. ——
So weit ist das Herz und Wesen Gottes: Er nimmt nicht nur das erwählte Fleisch Israels, sondern auch das Erbe der Heiden an. Gott wird Mensch nicht nur aus heiligem Stamm, sondern genauso aus dem Stoff der Sünder. Er trägt von seiner kanaanäischenVorfahrin her die weite, weite Liebe im Herzen, die zu allen Vorstellungen einer engen, starren, kleinkarierten Ausschließlichkeit in denkbar größtem Gegensatz steht! …
Die unabhängige, selbstbewusste, schlagfertige, risikobereite Fremde, die einst für Israel den Anfang seiner Geschichte ermöglichte, ist so auch der Anfang der Geschichte aller Geretteten. Denn in Rahab sind sie tatsächlich schon eins: Die Vorzeichen Christi und die vergehende Wirklichkeit der Sünder.
Und so ist die Dirne aus Jericho tatsächliche eine der Mütter Gottes, der in Jesus Mensch wurde! ———
Dieser bis heute spürbare Skandal, diese gewaltige Zumutung an unser beschränktes Denken – „Dies: Gut, das: Böse; hie Freund!, da Feind!; wir: Ja, die: Nein!“ – diese unglaubliche Aufweitung unserer Herz- und Hirnverengungen ist es, was mit der zentralen Botschaft gemeint ist, dass Gott die Sünde auf sich und die Sünder in Jesus an- nimmt. …………
……. Dass Rahabs Ur-Ur-Ur-Enkel die Sünder annimmt, bleibt verstörend.
Aber es gibt gerade angesichts des alten Hasses, der ewigen Schuld, der Wiederkehr aller längst überwundenen Auswüchse des Bösen in der Menschheit bis heute keinen so radikalen, so nötigen Weg, wie den Weg dieser skandalösen Annahme. ———
Karl Barth hat es sofort nach dem Krieg, als die unfasslichen Nazi-Greuel unleugbar aller Welt vor Augen standen, den Schweizern in direkter Konfrontation zugemutet, diesen Skandal, gegen den sich alles in uns sträubt, ganz konkret anzuhören. … Ob wir ihn heute – wenn wir den vermeintlichen Sicherheitsabstand zwischen uns und den Tätern, den Schreibern und Verbreitern und Betreibern des Hasses unserer Gegenwart einmal durch diese Worte durchbrechen lassen – … ob wir den Skandal der Sündersolidarität wohl besser aushielten, als die braven Schweizer, denen Barth 1945 schrieb:
„Wie, wenn es plötzlich heißen würde: »Her zu mir, ihr Unsympathischen, ihr bösen Hitlerbuben und -mädchen, ihr brutalen SS-Soldaten, ihr üblen Gestaposchurken, ihr traurigen Kompromißler und Kollaborationisten, ihr Herdenmenschen alle, die ihr nun so lange geduldig und dumm hinter eurem sogenannten Führer hergelaufen seid! Her zu mir, ihr Schuldigen und Mitschuldigen, denen nun widerfährt und widerfahren muß, was eure Taten wert sind! Her zu mir, ich kenne euch wohl, ich frage aber nicht wer ihr seid und was ihr getan habt, ich sehe nur, daß ihr am Ende sei und wohl oder übel von vorne anfangen müßt, ich will euch erquicken, gerade mit euch will ich jetzt vom Nullpunkt her neu anfangen! Wenn diese, die Schweizer, geschwollen von ihren demokratischen, sozialen und christlichen Ideen, die sie immer hochgehalten haben, an euch nicht interessiert sind, ich bin es; wenn sie es euch nicht sagen wollen, ich sage es euch: Ich bin für euch! Ich bin euer Freund!«“[ii]
Rahab, die Mutter Jesu?!
Jesus nimmt die Sünder an?!
… Wie weit!!!
……. Wie weit!!!
Amen.
[i] Der Babylonische Talmud ins Deutsche übersetzt von Lazarus Goldschmidt, Bd. IV: Traktat Megillah I, xi (fol.14 b), Nachdr.: Frankfurt/M 1996, S. 60.
[ii] Karl Barth, Die Deutschen und wir (1945), in: Ders., Eine Schweizer Stimme – 1938-1945, Zollikon-Zürich, 1945, S.354f.
Michaelis, 29.09.2019, Stadtkirche, Lukas 10, 17 - 23, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Michaelis - 29.IX.2019
Lukas 10, 17-23
Liebe Gemeinde!
In meinen Predigten klafft – wenn ich es richtig überlege – eine Leerstelle.
Jemand kommt nicht darin vor.
Ist abwesend.
Das ist nicht – wie mir zunächst durch den Kopf ging – Feigheit.
… Nein, ich würde mich durchaus trauen von ihm zu reden, wenn es angebracht wäre. Und auch wenn es nicht zeitgemäß erscheint.
Vielleicht aber spreche ich so selten von ihm, weil es zu billig ist. Er hat so unendlich lange den Predigenden als zuverlässigstes Mittel gedient, um Gehör und furchtsamen Gehorsam zu wecken, dass ich auf seinen ehemals garantiert wirkungsvollen Einsatz lieber verzichte. Lieber scheitern, als im Bund mit ihm an’s Ziel kommen. Sollen andere ihn meinetwegen nutzen. Mir kommt das Nutzen des großen Unnützen, des Verdrehers und Zerstörers suspekt vor.
Vielleicht taucht er bei mir auch nicht auf, weil ich zu viel Phantasie hätte, um einen, von dem man nur nüchtern reden soll, zu schildern. Es könnte passieren, dass er faszinierte, wenn man sich mit ihm beschäftigt. Das ist schon anderen so gegangen. Er wurde ihr Gesellenstück: Niemanden haben sie so darzustellen, so nachzuahmen, so vorzutäuschen vermocht wie ihn, ihren Meister. Dem sie die eigenen Züge liehen. Geschrieben und gemalt haben sie einen anderen: Erschienen ist aber ihr Selbstporträt.
Vielleicht fällt mir darum nichts zu ihm ein. Damit ich nicht zu redselig werde. Oder anfange, Menschen für den Falschen zu interessieren.
… Wobei: Selbst das ist nicht der Grund meines Verschweigens. Obwohl das Drittelstündchen in der Woche, das wir hier zusammen versuchen dem Dienst an der Wahrheit zu widmen, tatsächlich zu kostbar für noch so schöne, schreckliche Lügen ist.
Allerdings ist meine Zunge auch nicht deshalb so schwer, weil ich den Lügner für unwahr hielte; die lächerliche zeitgenössische Absprache, an so etwas könne man doch längst nicht mehr glauben, ist beinah zu erbärmlich, um sie zu kommentieren: ……. An den, von dem sich nicht zu reden lohnt, hat noch nie ein Christ, der bei Trost war, „geglaubt“.
Christen glauben an Gott, weil Glauben Vertrauen heißt und Treue. Nur an Gott. An niemanden sonst.
Erst recht nicht an den Niemand, den Verneiner, der kein „Ja“, kein „Amen“ verträgt und alles entkernt, aushängt, wegdünnt, bis jeder Satz und jede Tat und jede Wahrheit nur noch ein Dunst, eine Täuschung, … eine Leerstelle wie er selber ist.
Ich spreche vom Verbreiter der Sinnlosigkeit also nicht deshalb so wenig, weil ich nicht an ihn glaube.
… Sondern weil in einer der schönsten und geheimnisvollsten Sekunden der Weltgeschichte die Trostlosigkeit und alles Destruktive, das ganze Gift und die perverse Anziehungskraft Satans verpufft sind. Eine Implosion des Vernichters. Ein Zusammenbruch der Negativität. Eine gigantische, endgültige Ent-Ladung, eine Ausladung des Bösen.
… Und nach diesem atemlosen Moment auf Messers Schneide, der apokalyptischen Gewalt, der pilzförmigen Wolke, dem elektrisierenden Blitz, der die Eingeweide der Wirklichkeit noch einmal leichenblass auf schwarzem Grund sichtbar macht, … nach dieser ungeheuerlichen Reaktion des Kosmos, der so oft ja nur wie die Schale um die furchtbare Leerstelle, wie die rissige Hülle um das reine Nichts anmutet … nach dieser Entkernung der Welt, in der wir so viel Grausames erleben, dass wir manchmal vermuten, das Schreckliche hielte sie zusammen ……. was hören und erleben wir da? …….
Den Urknall des Neuen Testamentes, ein Geräusch, in dem unser Glaube sich so einzigartig verdichtet, wie in nichts sonst: Es ist der Klang eines Jauchzausbruchs, eines Überschall-jubels, eines Lach-Lobes, der so beispiellos ist, dass die hochpoetische und hochpsychologische griechische Sprache dafür keinen Begriff hatte; erst die Autoren des Neuen Testaments haben dieses Wort geschaffen, um den unvergleichlichen Laut der grenzenlosen Erlösungsfreude zu beschreiben, die losbricht, wo das Evangelium wahr wird.
„Agallíasis“ ist das neutestamentliche Urwort des Rettungsglückes: Jubelpracht, Feierschrei, Heilsjodler!
Lukas, der einzige Grieche unter den Evangelisten und Aposteln liebt dieses Fremdwort, das die tragischen und philosophischen und komischen Autoren seiner Muttersprache nicht kannten und er verwendet es mit der Entdeckerfreude eines Überraschten öfter als andere Zeugen Jesu Christi.
Und auch für mich ist der Satz des Lukas, den wir eben gehört haben „Zu der Stunde freute sich Jesus im Heiligen Geist und sprach: Ich preise dich Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du dies den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart. Ja, Vater, so hat es dir wohlgefallen“ eine der schönsten Stellen der Bibel, ……. einer meiner Lieblingsaugenblicke mit Jesus: Seine Agallíasis, sein großer Freudenausbruch, in dem die drei – der Sohn, der Heilige Geist und der Vater – eins sind, … das lachende Herz der Trinität.
Dass Jesus so lachen kann, dass er so überschäumt vor erleichterter Leichtigkeit und dass wir ihn hier und jetzt sprudelnd singen hören können, ist ein Höhepunkt seiner Zugänglichkeit und unserer Verbundenheit mit ihm. Gelöst und frei zeigt sich uns sein Herz in diesem sogenannten „Heilandsruf“, … vorbehaltlos positiv, wie er es von Maria, seiner unendlich liebens-werten Mutter geerbt hat, die genauso – mit einer Agallíasis – auf seine Empfängnis reagierte, als sie ihr Magnifikat anstimmte, in dem gleich zu Beginn diese charakteristisch neutestamentliche Freudenekstase sich ausspricht: „Mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes“ (Lk2,47) …. übrigens noch ein Satz, in dem alle drei Elemente der Trinität sich finden.
Jubel in Gott, weil Gott Jubel ist!
Das ist das Neue Testament in einer einzigen, ansteckenden Gefühlsregung: Der klare Rausch innergöttlicher, welterlösender Lebensfreude. ——
Doch wie kommt es, dass wir schon wieder von so uferloser Fröhlichkeit reden?
Waren wir denn nicht auf der Suche nach dem, der uns pessimistisch und schuldbewusst, der uns furchtsam und depressiv stimmen würde, wenn wir ihn mehr in unsere Worte und Gedanken einließen?
Wo ist denn Satan nur, der im fahlen und fatalen Blitz eben noch kurz und dramatisch durch die Predigt wetterleuchtete? …….
Ja, wo ist Satan?
… Wer dürfte das sagen?
Wer wollte das sagen, wenn doch Himmel und Erde – jedenfalls für die, deren Weisheit und Klugheit sie nicht blind und taub machen – erfüllt sind von Jesu Jubelruf?
Wer wollte ernsthaft Satanskunde treiben, wenn Jesus doch so unbekümmert reine Glückseligkeit verbreitet?
Wer von uns könnte wohl – und wenn wir noch so viel Sorge und Skepsis, Kritik, ja Panik beim Blick auf die Welt empfinden mögen – … wer von uns könnte zurück hinter den zeitenwendenden Durchbruch, der sich im innergöttlichen Schrei der Erleichterung kundtut?
Wenn wir so täten, als habe Jesus nie den Triumph gefeiert, den seine Agallíasis uns mitteilt, dann wäre es so wie da, wo die Welt hinter allen Optimismus, hinter all die Gewissheit der Verbesserung, hinter jene unerschütterliche Zuversicht zurückfällt, die in den Visionen, den Vorwegnahmen und Erwartungen der Besten liegt und kräftig bleibt, auch wo sie sich nicht zur Gänze, auch wenn sie sich nicht rasch erfüllen.
Gewiss: Man kann jeden Schwung, jeden Auftrieb, jedes Vertrauen auf ein Ziel zu vernichten versuchen, wenn man es will. Man kann den Frieden hindern, man kann Landschaften statt sie zu pflegen auch verkümmern lassen, man kann die Gerechtigkeit und die Zukunft und den Wandel unterhöhlen und zum Einsturz bringen wollen.
… Wenn man vom und mit dem Teufel spricht, ist das ein Leichtes. …….
Aber man bekommt trotz aller Schwarzseherei und aller tödlichen Entmutigung, man bekommt trotz aller Schwächung der Moral und trotz allen Entzugs der eigenen, einsatzscheuen Kräfte, … man bekommt trotz aller Feigheit und Faulheit, mit der man das Schlechte groß und das Gute klein redet, den Traum – biblisch wissen wir, dass er „Verheißung“ heißt – nicht mehr aus der Welt.
Der Traum, dass unsere Landschaften in Ost und West, auf der nördlichen wie auf der südlichen Seite der Erde blühen könnten, den unauslöschlichen Traum, den Martin Luther King von der Versöhnung unter den Rassen hatte, die prophetische Weitsicht, mit der Martin Buber vom einen Land und einen Frieden der zwei Völker sprach … alle diese Vorgriffe auf Zustände, die so noch nicht herrschen, haben doch unvergleichliche Kraft bewiesen, die die herrschenden Zustände wandelt.
Um wieviel mehr gilt aber, dass der Augenblick der inneren Verzückung, der Jesu Jubelruf vorausgeht, eine solche unumkehrbar wirkmächtige Vorwegnahme ist, die längst tief greift, ehe sie auch umfassend eingetreten scheint.
Vor seinem Ausbruch in helle Freude hat Jesus seelisch ja den entscheidenden Wendepunkt der Welt erlebt und es bezeugt mit Worten, die in ihrer Knappheit wie gemeißelt wirken: „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz.“ …….
– Mehr nicht.
Kein Wie und Wo.
Kein Wann und Wodurch.
Nur das endgültige Zeugnis von Satans Ende.
Ob Christus dabei nun Einblick in einen gegenwärtigen Vorgang oder durch die Geschichte hindurch bis an deren Ende nahm, ist nicht von Belang. Jede Ausschmückung, jede erläuternde Verständnishilfe versagt ja doch vor der Größe und Bedeutung des Geschauten.
Es ist von der Wucht des „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“.
Und es besiegelt, was jener erste Satz besagt: „Siehe, alles ist sehr gut!“
Denn dieser Augenblick, in dem Jesus die vollständige Vernichtung des Bösen schaut, bringt ja die unumstößliche aber auch unergründliche Offenbarung des Guten: Es ist gewiss. Es bleibt. Es trägt schon jetzt und wird für immer tragen.
… Denn das Böse ist zukunftslos. Es ist verloren. Alles, was es vermag, alles, worin es sich zeigt und aufspielt, ist nur sein eigenes Verlöschen. Das Böse ist unumkehrbar auf dem Weg ins Nichts.
… So muss man – wenn überhaupt – von ihm reden: Vom Bösen geht das Nichts aus, weil das Böse selbst zur Nichtigkeit verdammt ist.
Wenn wir aber erkennen – durch Jesu atemberaubende innerste Vision und seinen welterschütternden Freudenschrei nach außen –, dass das Böse nichts mehr wird, sondern nur in den Sog seines eigenen Untergangs zieht, … wenn wir erkennen, dass Satan und alle seine Ziele im Nie-Mehr enden und dass er darum nur als Herr des Nirgendwo, ja, als die Verkörperung des Niemand begegnen kann, und dass dieser Nichts und Niemand selber der von Gott Verdammte ist: Wie sollte man da noch Interesse an ihm finden? Wo die absolute Leerstelle klafft, der verneinte Verneiner, wo die Negativität sich selbst überlassen ist und dem Schrecklichen tatsächlich keine einzige dauerhafte Möglichkeit mehr bleibt … wen oder was sollte man da noch suchen?
Satan ist verloren.
Niemand wird ihn einst mehr finden.
Sein Wüten ist die Verzweiflung des Sich-Auflösenden. Sein Griff nach uns und unsere unmittelbare Hilflosigkeit sind schauerliche Zuckungen und Stromschläge des Verglühenden.
Und auch wenn wir ihn noch wahrnehmen und teuflisches Leiden noch herrscht: Es ist im wahrsten Sinne des Wortes das alles „endlich“, … zuendegehend, … vom Ende gezeichnet und aussichtlos unwahr. ———
Dagegen ist Jubel das neue Wort der neuen Wirklichkeit.
Die Wirklichkeit – das lehrt uns der heutige Tag der Engel ja in staunender Dankbarkeit zu bekennen – … die Wirklichkeit das ist die Fülle der guten Mächte. Die Wirklichkeit, das sind die unzählbaren, unsichtbaren Kräfte und Dienste Gottes, die Ihn umgeben und Ihm als Herrn gehorchen und deren grenzenlos Hilfe zugleich unsere Gegenwart durchdringt.
So übermächtig sind aber die Wirkungen und Lenkungen dieser Heerscharen des Guten, dass wir tatsächlich das Wesentliche und Eigentliche, das Wahre und Wirkliche verleugnen und missachten, wann immer wir uns bleibend mit anderem aufhalten als dem großen Jubel der himmlischen Heerscharen.
Sind sie doch die Zeugen und Garanten der Wahrheit und der Liebe, des Lebens und der Freude! Und an ihrem Dienst und ihrem Lob teilzunehmen, mit ihnen zu leben und zu wirken – weil unsere Namen im Himmel geschrieben sind – das ist unsere Agallíasis!
Und darum lobet den HERRN, ihr seine Engel, ihr starken Helden, die ihr seinen Befehl ausrichtet, dass man höre auf die Stimme seines Wortes (Ps.103,20)
Denn selig sind die Augen, die sehen, was ihr seht!
Amen.
14.n.Trin., 22.09.2019, Jonakirche, 1.Mose 28, 10-19; Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 14.n.Trin. - 22.IX.2019
1.Mose 28, 10 – 19
Liebe Gemeinde!
Freiheit, … das ist Durchlässigkeit. Man muss seinen Ort und Standpunkt wechseln können, man muss anders hinaus als hinein kommen können, man muss lernen und sich wandeln und das Leben verändern dürfen, um frei zu sein.
Wo die Zunft- und Standesgrenzen nicht mehr alles einschränken, wo Juden Handwerker und Handwerker Gelehrte werden dürfen, wo der Junge aus der einen Kaste das Mädchen aus der anderen heiraten darf, wo man im Norden ebenso willkommen ist wie im Süden, wo die Grenze grün ist und man auf beiden Seiten leben kann, wo kein Verbot des Neue, Fremde, Andere hindert und wo keine Schranke und kein Graben das Denken von Widerspruch und Gegenteil abriegeln, … da herrscht Freiheit.
Das alles sind Gemeinplätze, Plattitüden … und doch gäbe schon die Erörterung, wieviel von solchen Grundfreiheiten wir wirklich kennen und wollen, Stoff für manche kritische Selbstprüfung. Durchlässig soll immer nur sein, was uns einschränken könnte; … den Durchbruch anderer durch die Schranken, die sie festlegen, sehen auch wir „freiheitlich“ uns nennenden Gesellschaften viel weniger als nötig an.
Und über ein Grundmaß an derzeit befürworteter Durchlässigkeit von allerhand Barrieren in den Köpfen und Karten unserer Wirklichkeit hinaus verkriechen die meisten Modernen sich vor der wirklichen Freiheit. Es reicht, dass wir ein Denkmal für 1989 planen und Rosa Luxemburg mit der „Freiheit der Andersdenkenden“ zitieren und Hongkong alles Gute und den Geschlechterrollen den baldigen Garaus wünschen: Mehr wollen wir nicht wirklich durchlässig und durchlassen in unseren Weltbildern. Denn eine Grenze zementiert gerade die Einheitsfront der aufgeklärten, der liberalen und sonstigen Freidenker: Was nicht durchgelassen wird, ist die andere Welt, die höhere Wirklichkeit, die Fremdheit und Selbständigkeit Gottes.
Für Gott ist unser Horizont geschlossen; die Schranken unseres menschlichen Geistes sind für Zeichen und Worte des Himmels schwer passierbar; die Wissenschaft und ihre Regionen der Wahrscheinlichkeit und mehr noch ihre festen Provinzen des Bewiesenen sind zu Offenheit und Ewigkeit hin abgeriegelt. ……. ———
Das ist nicht neu. Die Götterbilder der Menschheit wuchsen fast immer aus ihren Weltbildern, aus ihren natürlichen, geographischen und meteorologischen Bedingungen, aus den erotischen und psychologischen Trieben, aus materiellen und militärischen Wunschträumen eines Zeitalters, einer Kultur. Waldbewohner haben zottelige Götter, Seefahrer sturmgebietende, Händler haben geschmeidig-schmierige Götzen … und Materialisten haben Fetische.
Die Götter der Welt kommen von innen und von unten, nicht von Oben oder Außen.
Darum weiß auch Jakob, der Dahintreibende nicht mehr, ob er einen Gott hat. …
Sein Vater, der blinde Isaak hatte wohl einen – einen erschreckenden Gott, der einen Menschen ganz für sich fordern kann und darum auch einen Menschen ganz retten kann: Beides ist dem Isaak früh geschehen; im Alter aber nannte man ihn im ganzen Land Kanaan „den Gesegneten des HERRN“ (vgl. 1.Mose 26,29).
Doch eben vom HERRN, dem unsichtbaren, die Geschichte und das Universum lenkenden und überschreitenden Gott des Bundes mit und der Verheißungen für Abraham … vom HERRN also war zwischen Isaaks Söhnen nicht mehr die Rede: Die Zwillinge Esau und Jakob konkurrierten mit ihrer jeweiligen Neigung zu Gewalt und Lüge um handfeste, landestypische, innerweltliche, … um säkulare Dinge, Dinge aus Wald und Feld, die mit einem kräftig-deftigen Eintopf und einem Jagdschmaus symbolisiert und übertragen werden konnten. Und das ergaunerte Erbe, das zum Auslöser von Jakobs Rückkehr zu den heidnischen Wurzeln Abrahams werden sollte, … diese beinah magische Segensübertragung des erlöschenden Vaters unterschied sich so gut wie gar nicht von den Sprüchen und Orakeln anderer uralter Naturvölker und Strotzkulturen: „Gott gebe dir vom Tau des Himmels und von der Fettigkeit der Erde und Korn und Wein die Fülle. Völker sollen dir dienen, und Stämme sollen dir zu Füßen fallen. Sei ein Herr über deine Brüder, und deiner Mütter Söhne sollen dir zu Füßen fallen ….“ (1.Mose27,28ff)
Einen Gott Jakobs kann man in diesen Formeln, die jeder Ackerbauer und Genussbürger heute noch am Erntedanktag feierlich fände, nicht entdecken. Das können Zeus und Gaia und Wotan und Frau Holle und die Schutzgöttin Britanniens und Boris Johnson auch: Fraß und Glanz versprechen, ist das phantasielos Naheliegendste, das es gibt.
Und so ist die Nacht Jakobs, der auf dem Weg zurück nach Haran ist, von wo der HERR Abraham in die Offenheit gerufen hatte, ziemlich genau unsere eigene Nacht: Die Erschöpfung eines ganz auf Lust, Erfolg und Habe fixierten Schlages, der im Wettbewerb um sein Begehren alle Hebel in Bewegung setzt … der dann auch triumphiert - und doch verliert, … der siegt und scheitert in einem Manöver.
Ein Erfolgsversprechen hat Jakob, … nur hatte er kein Recht darauf und wo soll er jetzt Frieden finden? Allein des Wohlstands wurde er ja versichert, aber nicht des Bleibens. Betrüger mit gerissenem Gewinn, doch ohne Glück; getrieben von der eigenen Rücksichtslosigkeit, gejagt vom Aufgehen seiner eigenen Pläne.
So reibt das Leben auf, bei dem bloße Sachen zu Ursachen werden, deren Folgen Erfolg sein müssen. In der leeren Flachheit des Irdischen bleibt man unbefriedigt und orientierungslos auf der Strecke zwischen zurückliegenden Projekten und bevorstehenden Ambitionen. ——
Doch Jakobs Zug durchs öde Dasein, in dem er seinen Bruder betrogen hatte und von seinem Onkel betrogen werden sollte, wird durchkreuzt, als er am reglosesten ist: Dem schlafenden Menschen, dem wehr- und hilf- und absichtslos in die Horizontale Gestreckten …, dem zeigt sich plötzlich die andere Dimension, … die Vertikale, die Senkrechte! Auf der Erde irrt er, doch da öffnet sich über ihm der Himmel.
Und siehe da: Durchlässigkeit! Es gibt sie! Es gibt eine Freiheit, die der Betrüger und bald Betrogene nicht durch seine Schläue und auch nicht durch seine strategische Flucht, nicht durch seine Pläne, ja überhaupt nicht durch sein eigenes Zutun erlangt.
Mitten im Nichts ist da die Leiter!
In der Dunkelheit der Nacht ist da der offene Weg nicht nur von Kanaan nach Mesopotamien oder sonst von A nach B auf der horizontalen Fläche der Erdkugel, sondern der Weg aus der Tiefe in die Unendlichkeit, der Weg aus dem Ewigen in den staubigen Moment.
… Aus dem Nirgendwo – aus dem All; … schwebend aus unfassbarer Ferne – fußend neben dem eignen schweren Haupt; … unerklärlich – unmittelbar …….
Dieser Durchbruch Gottes in die müde Nacht des Wanderers, dieser Durchbruch der Gegenwart des Heiligen in der Wildnis, dieser Durchbruch lebendiger Boten- und Kommunikationsströme in die Einsamkeit eines Menschen auf dem Rückzug ist vielleicht das größte Ereignis, von dem das erste Buch der Bibel nach der Schöpfung berichtet.
Es ist der Augenblick reiner, unvorhersehbarer, unverfügbarer Offenbarung.
Dem Jakob wird weder Speise noch Trank dadurch beschert, er empfängt kein Wunderschwert und keine Schatzkarte, er findet nichts unter dem Stein und nichts verändert sich an seiner Lage: Doch was ihm geschenkt wird, indem er die Engel Gottes erkennt, die ständig Verbindung zwischen Erde und Himmel schaffen und ununterbrochen Irdisches und Überirdisches verknüpfen, … was dem Jakob aufgeht, als er den Zusammenhang der sichtbaren mit der verborgenen Wirklichkeit erkennt, … was Jakob widerfährt, als der HERR Sich ihm in so lebendig vermittelter Direktheit als den Bezugspunkt des auf- und absteigenden Kontaktes von hier und dort zu erkennen gibt – das ist das große radikale Wunder, das wir Christen heute kaum noch ansprechen, kaum noch benennen mögen, obwohl es doch unser Ein und Alles ist: Es ist eben Offenbarung! Offen-Barung … also Eröffnung, Aufschließen dessen, was uns sonst niemals zugänglich wäre, … Durchlässig-Machen des Undurchdringlichen. Offenbarung von Gottes Seite, … Aufschluss durch Ihn, … Einladung in Seine Offenheit!
Mit dieser Jakobsleiter steht und fällt für uns alles.
Entweder, wir dürfen sie erblicken, … dürfen die angeknüpfte Bindung, die uns da von oben zufällt, ergreifen, … entweder wir dürfen also eine unablässige Vermittlung und Beziehung zwischen Gott und der Welt, zwischen uns Menschen und dem HERRN annehmen und dadurch in einer allgegenwärtigen Gottesnähe leben, im wunderbaren Vertrauen, dass Er Sich aus Seiner Wirklichkeit der unsrigen zuwendet und uns nicht abschneiden lässt von Ihm; ……. oder wir meiden den steilen, „senkrecht von oben“ – wie Karl Barth zu lehren pflegte[i] – dringenden Begriff der Offenbarung und basteln kleine Modelleisenbahnlandschaften der Welt, in der wir künstliche Miniaturbrücken und Pappmaché-Hügel errichten, die dann die hervorragenden Aussichtspunkte und die überraschungslosen Spannungsbögen unserer innerweltlichen Gottesvorstellungen sind.
Entweder Gott stellt sich vom Himmel her als der HERR vor – wie Er es in Verheißung und Segen für Jakob getan hat –, oder wir bleiben eingeschränkt auf die Vorstellungen, die wir nun mal haben und machen.
Entweder also es ereignet sich der Durchbruch durch die äußerste Begrenzung unseres Gesichtskreises, der darum Offenbarung heißt, weil er Freiheit über alles hinaus eröffnet, was unser Denken und Wissen sonst einengt, oder es bleibt bei der Gefangenschaft des Menschen in den Grenzen, die uns ohne Gottes Einbruch aus der Höhe vom Himmel und seiner Weite ausschließen.
Darum ist jener Gedenkstein, den Jakob an dem Ort errichtete, an dem Erde und Überwelt miteinander kommunizieren, ein Meilenstein unserer Befreiung und ein Wegweiser über alles Vertraute hinaus! „Pforte des Himmels“, „Beth-El“: Dass wir solche Punkte kennen dürfen, an denen zwei getrennte Ebenen sich verbinden, an denen aus der einen Wirklichkeit der Zugang zur anderen führt, … dass wir von solchen Punkten wissen dürfen, ist Geschenk und Gabe, Freude und Hoffnung für eine immer weniger von oben beleuchtete und belüftete Welt und für uns immer enger in eine gemeinsame Schicksalshaftung geschweißte Menschheit.
Wenn wir Christen nicht laut und fröhlich im stickigen Gedränge der Erde zu Zeugen der Himmelsfreiheit werden, die sich durch die Offenbarung Gottes auftut, dann betrügen wir die Öffentlichkeit, indem wir ihr die eigentliche Öffnung des Lebens vorenthalten.
Wir sollten – weil wir es dürfen! – von der Leiter sprechen, von der göttlichen Herablassung in der Offenbarung und dem Aufstieg in Glauben und Liebe, der uns über alle Hoffnungslosigkeit so hoch hinausführt.
Wir sollten von den Boten Gottes sprechen und singen, die unter uns gegenwärtig sind und uns verbinden mit der Quelle und dem Ziel alles dessen, was wir sehen und dessen, was uns noch nicht zugänglich ist.
Wir dürfen wie Jakob von Gottes Nähe zur Nacht wissen.
Wir dürfen wie Jakob die Durchlässigkeit unserer Angst, unserer Schuld, unserer Verlorenheit spüren …, weil keine dieser Lasten, keiner dieser belastenden Sargdeckel unseres Daseins den Weg, den Gott Sich bahnt und die Bahn, die Er uns bricht, aufhalten kann.
Gott durchstößt sie. Seine himmlischen Heerscharen lassen sich nicht hindern, sondern tragen hinauf – uns, die wir so untragbar sind! – und bringen herab was Er, Der so hoch ist, unter uns bringt und über uns breitet.
So dürfen wir in der alten schon die neue Welt eintreten und auftreffen sehen: Bethel-Punkte … Niederlassungen Gottes, Ankünfte und Einzüge, Heimsuchungen und Einwohnungen des Himmlischen in der irdischen Geschichte.
Beth-El: Gottes Hiersein auf Erden! – In der Verschonung Noahs und der Verheißung für Abraham; in der Erwählung der Jakobskinder - des Volkes Israel - und in dem Bund, der durch Moses für immer ein heiliges Gesetz gegen alle Anarchie der Menschen aufrichtete; in der Vielzahl der treuen und tapferen Gottesboten, der menschlichen Engel, die wir als Propheten und Zeugen des Lebendigen in allen biblischen Zeitaltern und allen Jahrhunderten Israels und der Kirche erlebt haben; einzigartig dann in der Pforte des Himmels und dem Haus Gottes, die wir in Maria finden, in der Gott tatsächlich die Offenbarung bis an den Fuß der Jakobsleiter gebracht und in den Schoß einer menschlichen Mutter gebettet hat – … und da dann, in Ihm, in Jesus, …. da ist der vollkommene Durchbruch unserer Freiheit, da ist die allernächste Wirklichkeit, die wir kennen, lieben und brauchen – da ist dieser Mensch in unserer Nacht und unserem Leid, in unserem Durst und unserem Tod – zum Beth-El geworden, wie der Stein von Lus, den Jakob begoss, den er am Morgen salbte: … Christus!
Gott hat sich in Ihm tatsächlich für immer geoffenbart – dessen sind wir Zeugen!
Er hat in der Dunkelheit, die wir so fassbar erfahren, Öffnung geschaffen, … einen Weg.
Und darum – weil Er Sich der Welt verbunden, sie mit Seinen Engeln und Mächten und Gewalten durchdrungen hat und alles, was lebt, zur Freiheit Seiner Kinder führen wird – darum ist zu allen Zeiten und also heute zu beten:
„Lobe den HERRN, meine Seele und vergiss nicht, was Er dir Gutes getan hat!“ (Ps.103,2)
Wir sind auf der Leiter zu Ihm.
Immer näher.
Unumstößlich.
Amen.
[i] Die berühmte Formulierung begegnet früh bei Barth u.a. im sog. „Tambacher“ Vortrag von 1919: „Der Christ in der Gesellschaft“, in: Karl Barth, Das Wort Gottes und die Theologie – Gesammelte Vorträge, München 1924, hier: S. 40
12.Sonntag nach Trinitatis, 08.09.2019, Stadtkirche, Apostelgeschichte 3, 1 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 8.IX.2019 - 12.n.Trin.
Apostelgeschichte 3, 1-10
Liebe Gemeinde!
Erhalten, worum man nicht gebeten hatte.
… Was zunächst klingt wie der Brexit, ist in Wirklichkeit nur das Leben.
Wie oft geht es Menschen so, dass sie sich etwas sehnlichst wünschen, … sich das Haben immer schöner ausmalen und schließlich so in den Drang nach Besitz und Genuss des Objekts ihrer Begierde steigern, dass der Heißhunger nicht mehr zu beherrschen ist. Und dann – im Empfangen und Zupacken – ist man sehr schnell, beinah schlagartig doch nur des Fischers Frau: … Hat, was man wollte, … aber das war es nicht…. Es fühlt sich anders an, nun, da man es nicht mehr mit Verlangen erwartet, sondern in Gebrauch hat, aus der Nähe sieht, spannungslos darüber verfügt. … Man hat bekommen, aber nicht das Gewünschte. Oder ärger noch: Die Medizin, die endlich zu haben war, hilft nicht gegen das Fieber, …der Wunsch ist erfüllt, aber das Wünschen lässt nicht nach. … Es stolpert weiter, klammert sich andernorts an, träumt von Neuem. …….
Diese Erfahrung ist aber – so nüchtern sie macht – eben darum nicht nur schlecht.
Wenn in der Wunscherfüllung tatsächlich etwas Vollkommenes läge, dann wären nicht nur junge Menschen gefährdet, denen das Leben Träume früh verwirklicht. Wir wissen und wir sorgen uns ja, dass es – bei aller Kinder- und Familienarmut in unserem Land – viel zu viele Jugendliche gibt, die niemals warten und keine abgeschlagenen Bitten erleben müssen.
… Wie stumpf, wie traurig das aber ist: Wenn mir alles zufällt und jede Hoffnung in Erfüllung geht. Nie gibt es dann Anlass, über ein Bedürfnis hinauszuwachsen, nie gibt es Gelegenheit, eigene Wege und Mittel zu finden. Am Ende bleibt denen, deren Wünsche alle wahr werden, nur noch die Verschmelzung mit den Dingen, die sie so zu brauchen meinen und begehren. … Und schon man geht auf in dem, was da regelmäßig, immer neu, aber auch immer einfach unseren Appetit, unsere Abhängigkeit bedient.
… Menschen werden stillgestellt durch Stillung ihrer Wünsche.
Wer da also noch erhält, was er sich nicht wünschte, oder wer wünscht, ohne zu bekommen, der ist vielleicht nicht glücklich, aber doch auf dem Weg der Weisheit und der Wahrheit und nicht am Punkt der Lähmung durch die vollgestopfte Erwartungslosigkeit. ——
Solche Gelähmten allerdings, die wissen, wo und wie ihre Wünsche sich regelmäßig befriedigen lassen, gibt es viele. Viele haben ein geregeltes Verdienst und einen fest abgesteckten Standpunkt im Leben und können mehr als beruhigt zu Bett und am Morgen wieder an die nächste Runde gehen: Es kommt alles, wie erwartet und nach nichts muss man sich sehnen, denn es ist gesorgt. …
Ein solcher Bruder im Geist und im Fleisch der in dieser Welt befriedigend Versorgten sitzt an der Schönen Pforte des Tempels. Das ist seine Sicherheit, seine Bank. Er hat dabei einen guten Posten.
… Bis heute knien die meisten, die auf diesem Weg durch’s Leben kommen, nicht an den Flügeltüren der Grand-hotels oder an den Eingängen der Gourmet-Tempel, sondern am Hauptportal der Kathedralen und auf den Stufen der schönsten Kirchen.
Denn was immer die Besucher an solche Stätten treibt – ob sie ihrerseits Wünsche, Bitten, Hoffnungen, … vielleicht nur Neugier oder sogar bloß Gewohnheit spüren – … eine ausgestreckte Hand vor dem Haus Gottes ist ein wirkungsvoller Hebel: Drinnen will der Eintretende ja auch irgendetwas empfangen, also bestätigt er draußen den Mechanismus, der auf Wünschen das Bekommen folgen lässt.
Doch nun ist die große Überraschung des Christentums – der Grund dafür, dass Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth jeweils meinten, es unterscheide sich grundsätzlich von allem, was man sonst „Religion“ nennt –, dass der christliche Glaube mit dem „Gib, um zu empfangen“-Gesetz, mit dem Mechanismus „Sei gut, damit’s noch besser für dich wird“ bricht.
Dass Gott unsere Wünsche erfüllen könnte und dass nur das ein Schlüssel oder Hebel für unseren Glauben, unsere Moral, unser Herz, unsere Haltung sein könnte …, darüber lacht das Neue Testament herzlich und unerschrocken.
Gott ist unbestechlich!
Seine Pädagogik – wie Er seine Kinder führt – ist nicht darauf angewiesen, dass man Ihn erst beeindruckt oder befriedigt, um dann selbst an die Reihe zu kommen mit Vergünstigung und Lohn.
Gott gibt aus Liebe.
Und wer Ihn liebt, gibt.
… Kein Müssen! Keine Berechnung!
Gnade, und von der Gnade geformte Freiheit.
So sieht Religion sonst nicht aus: Die festgelegten Strategien zur Besänftigung einer Gottheit und die einleuchtenden Gesetze, die die Kosten und den zu erwartenden Gewinn zwischen Moral und Segen vermakeln.
Dagegen ist das Evangelium, die Botschaft vom grundlos begründeten Heil der Welt eine einzige Blüte des Unerklärlichen und eine Frucht ohne die Mühsal des Ackerns, Verzichtens und Schuftens. … Und für alle, die Aufwand gegen Ertrag zu stellen vermögen, ist das, was Jesus Christus in die Welt gebracht hat und verteilt bis an deren Ende, eine einzige Verdatterung und Unheimlichkeit: Bedingungslose Hilfe, die bedingungslose Hilfe weckt, wie der Ruf sein Echo. ……
Sonderbare Größe und Güte!
… Unberechenbar und unverdient. … Nicht wie Gold und Geld. … Andere Maßstäbe als Silber und Kupfer. … Nichts, das wie ein Vermögen erworben oder mit dem Geiz der Kleingeldgeber verteilt werden könnte. ———
„– Lahmer, auf Deinem gewohnten Posten, der Du Geld erwartest, weil Geld Dir genügt: Streck’ die Hand nicht aus, wenn die beiden Apostel der unermesslichen Liebe und ihrer maßlosen Folgen die Stufen heraufkommen, um im Tempel des verschwenderischen Gottes Israels anzubeten, Der Heil ausschüttet, das keinem gehört und jeder haben soll.
– Lahmer, der Du weißt, dass Almosenbetteln – also das Wünschen des Wahrscheinlichen – Dich von Mutterleibe an ernährt. Sei still, wenn die Fischer kommen, die die Menschen aus dem trüben Schlamm ihrer müden Sicherheit in die Wunderwelt Gottes verwickeln, wo alles neu und frei ist.
– Lahmer, duck Dich so rasch Du kannst, … oder ist Dir das tägliche, jahrtausendealte Geschäft, das bis jetzt auch Deines war, nicht mehr lieb? Geld und Gewissen lassen sich so doch gut verknüpfen, wenn die Dich tragen und unterstützen an Dir im Gewissen gewinnen und Du an ihnen im Geldbeutel. Aber die Jünger des reinen Vergebens da, die verderben das Verdienen am Verdienstlichen. Wer ihnen begegnet, kann an allem Weltlichen Schaden nehmen, aber seine Seele gewinnen …….
– Willst Du das, Lahmer? Willst du das, Mensch im Geschäft Deines Alltags? Willst Du das, Mensch in der Erfüllungsmaschine Deiner kleinen, fabrikneuen, computergesteuerten, paketbotenhetzenden Wünsche?“ ——
Die beiden galiläischen Beter, die da zum Nachmittagsgebet eilen, zerstören jedenfalls die Mechanik der alten Welt, in der jeder von uns sich eingerichtet hat und das Leben so bequem wie möglich aussitzt.
Man sieht’s ihnen vermutlich nicht an – diesen ganz gewöhnlichen, einfachen Frommen. …
Aber sie kommen nicht zufällig zu dieser Stunde. Es ist jene neunte Stunde, die vor wenigen Monaten ihr Leben zerstört hatte: Da hatte man parallel zur Schlachtung des Nachmittagsopfers am Tempel draußen auf dem Müllberg ihre Hoffnung, ihre Vorfreude, ihre ganze angesammelte Hochstimmung der erfüllten Messiaserwartung ebenfalls geschlachtet. … Genau um diese Stunde im Frühjahr hatte man sie um alles gebracht, was sie je für möglich, dann für denkbar, schließlich für direkt greifbar gehalten hatten.
Da war ihnen das Herz und mit ihm sein Wünschen zerbrochen als sie diese Gottverlassenheit erlebten: Der eine von ihnen unter einem Galgen, der andere in einem stickigen Versteck, verkrochen vor der eigenen Reue. … Betrogen, entblößt, beschämt und besiegt hatte die neunte Stunde auf Golgatha sie beide zurückgelassen, … Petrus und Johannes!
… Doch seitdem …! In den Frühjahrs- und Sommermonaten dieses unglaublichen Jahres, das nun auf den Herbst zugeht, da war mehr geschehen, als sie sich in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatten: Zwar war keiner ihrer Ansprüche in Erfüllung gegangen. Sie waren nicht zu Prinzen des heiligen Volkes, nicht zu Richtern des Erdkreises, zu Trägern letzter Macht, zu Thronräten der Herrlichkeit erhoben worden.
Aber mehr, weit mehr, … unendlich mehr war geschehen: ER war auferstanden von den Toten. ER hatte den Tod und mit ihm alles Scheitern, Leiden, Verderben und Verlorengehen besiegt. ER hatte nicht eine, … nicht ihre, … nein, ER hatte die Hoffnung schlechthin, die größere Hoffnung, die Hoffnung jenseits aller Hoffnung erfüllt: Das Letzte, auf das alles zuläuft und mit dem alles zerstört wird, hatte ER zerstört. ER hat unendlichen Anfang, unendliche Zukunft, unendliche Freiheit, unendliche Freude, unendliche Liebe gebracht und es ihnen – den Menschen, die immer noch einfach, immer noch sterblich, immer noch Staunende waren - … ER hatte es ihnen, den Aposteln geschenkt und dazu Seinen Geist, durch den sie es weitergeben und ausbreiten und jedem Menschen nahebringen konnten, dass der Tod Jesu Christi Leben für alle bedeutet.
Und als sie zur Sterbestunde Jesu zum Opfer und Gebet in den Tempel gehen, da reißen sie eben mit dem Namen Jesu Christi einen Menschen, der gar nicht auf Rettung oder Heil gehofft hatte, aus seinem angestammten Dasein, aus den Bedingungen und Gewohnheiten, den Fesseln und der Regelmäßigkeit seiner Gegenwart.
Er empfängt, was er nicht erbeten hatte! … Das Alte vergeht und es ersteht ein neuer Mensch, … einer, der zum ersten Mal an diesem beliebigen Tag nicht vor der Tür, sondern in Gottes Nähe beten kann … beten auch jenes Gebet, das auf Hebräisch „Amidah“, also das „Gebet im Aufrechtstehen“ heißt.
Und nicht nur, dass er sich aufrichtet, nicht nur dass er steht und betet, … nein er hüpft und tanzt, er zappelt und jubelt, dass es um ihn her nur so vor österlichen Funken sprüht und Gotteslob- und Auferstehungskonfetti regnet. ——
Aber jetzt sind wir dran!
Mit der Frage, ob wir das nicht nur als eine erbauliche Geschichte verstehen wollen, womöglich gar als alte Legende von einer Heilung, an die wir nur noch selten glauben zu können meinen, sondern ob wir die Botschaft und Wirkung des Christentums darin erkennen …, des Christentums, das auch uns nicht gibt, was wir gern hätten, das auch uns nicht bedient mit unsern Wunschvorstellungen, das auch uns nicht einfach versorgt mit dem, was wir von einer Religion erwarten?!
Das wirkliche Christentum löst nicht alle unsere ärgerlichen Probleme; es vertreibt nicht jede Sorge, es entlastet uns nicht von unserer vielfältigen Verantwortung, es ordnet unsere komplizierte Welt nicht in ein einfaches Schwarz-Weiß-Schema.
Der lebendige Gott, Dem wir in Jesus Christus begegnen, ist keine Bestellannahme für alle, die sich den Alltag erleichtert oder das Denken abgenommen wissen wollen.
Die Gnade Gottes liegt nicht in unserer Verfügung, und was wir begehren, können wir auf dem Weg über’s Gebet noch lange nicht nach unseren Launen beeinflussen.
Wer es so mechanisch, so überraschungsfrei braucht, ist bei Gott und Seinen Boten an der falschen Adresse und sollte sich einen festen Bürostuhl, eine von hohen Zäunen verteidigte Privatwelt oder eine unverrückbar zementierte Weltanschauung zulegen, damit er hat und halten kann, was ihm seines Erachtens zusteht und nur erfährt, nur empfängt, was er will.
Wer sich aber Gott aussetzt, wer den Heiligen Geist nicht abwehrt, wer dem Evangelium von Jesus Christus nicht ausweicht, der wird das Unerwartete und Unvorhergesehene erleben, der wird Wunder schauen:
Statt einer engen Moral wird Jesus Christus ihm womöglich ein weites Herz und ganz viel Güte schenken.
Statt Gesundheit findet ein anderer plötzlich zu Geduld und zum Verständnis für die Schwachen.
Statt einem selbstzufriedenen Gewissen entdeckt ein Jünger Jesu durch den Glauben plötzlich das Zerstörerische an seiner eigenen Sünde und das unfassbar Schöpferische der Liebe Gottes.
Statt satter Sicherheit gewinnt ein Gläubiger den seligen Hunger nach Gerechtigkeit und dem Reich Gottes.
Statt beruhigende Schläfrigkeit zu verbreiten, lodert ein Bibelwort plötzlich als Kraft und Licht in der Dunkelheit und erweckt den Hörer.
Statt Seelenfriedens beschert das Evangelium dem Christen die heilige Unrast der Menschenfreundlichkeit Gottes, der will, dass allen geholfen werde (vgl.1.Tim.2,4) .
Statt eigener Wünsche setzt das Wort vom Kreuz die Fürbitte für andere, ein Leben im Dienst, und stellvertretende Hoffnung für die ganze Erde frei.
Was immer wir wollten, was immer uns wichtig war: Wenn Jesus Christus uns berührt und beruft, wenn er uns heilt und in uns leiblich, seelisch, geistlich herrscht, dann geraten die Meinungen und Maßstäbe durcheinander und verschieben sich die Ziele.
Aber eines haben alle diese Zeichen und Wunder gemeinsam, die die Offenbarung des auferstandenen Heilands an den Menschen wirkt: Sie sind herrlich, …. sie sind frisch, … sie befreien und beflügeln und beglücken. Sie bringen eine neue Wirklichkeit im alten Dasein zum Glühen, … sie wecken einen Jubel, der den Alltag und das Leid überstrahlt, … sie verwandeln stumpfe Gewohnheitstiere in heilige Seelen, … sie überraschen die Welt und uns selber durch das Geschenk der mächtigen, gnädigen, ewigen Liebe, die uns allen offensteht.
Und darum: „Lahmer, streck die Hände hin und nimm entgegen, was Dir angeboten wird!“
Gold und Silber sind es nicht:
Es ist Jesus Christus – das Leben!
Amen.
11.S.n.Tr., 01.09.2019, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Thema: „Erinnern und tun, was dem Frieden dient"
Liebe Gemeinde,
der Krieg begann mit einer Lüge. „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen", erklärte Adolf Hitler am Morgen des 1.Septembers im Reichstag in seiner vom Rundfunkt übertragenen Ansprache unter dem Jubel seiner Anhänger, als wären es polnische Soldaten gewesen, die zuerst geschossen hätten und den Sender Gleiwitz überfielen. Dabei hatte in der Nacht zuvor eine Gruppe SS-Männer die Szenerie an der deutschen Zollstation und dem Rundfunksender arrangiert. Sie hatten Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen geholt, sie erschossen und in polnische Uniformen gesteckt und vor Ort liegengelassen. Die Polen hatten Deutschland bis dahin eben keinen Anlass für einen Krieg gegeben. Doch da das Deutsche Reich wirtschaftlich vor dem Bankrott stand und bereits die Septembergehälter der in den Behörden arbeitenden Angestellten und Beamten nicht mehr hätte bezahlen können, musste ein Kriegsanlass herbeigelogen werden. Fake news gibt es nicht erst seit Donald Trump. Der Überfall auf Polen erfolgte ohne Kriegserklärung. Um 5.45 Uhr schlugen die ersten Granaten des Schlachtschiffs „Schleswig-Holstein" auf der Westerplatte in Danzig ein. Zeitgleich fiel die Wehrmacht an verschiedenen Fronten in Polen ein.
Dass es Krieg geben würde, das lag schon länger in der Luft.
Eigentlich hätte es jeder wissen können, denn bereits auf der ersten Seite seines Buches „Mein Kampf" hatte Hitler dargelegt, dass sein politisches Programm auf Aggression setzte. Es war Hitler nach der Machtergreifung 1933 gelungen, dass der überwiegende Teil der Deutschen ihm Gefolgschaft leistete. Die Aufrüstungspolitik, zu der auch der Bau der Autobahnen gehörte, stoppte die galoppierende Arbeitslosigkeit, ein bescheidener Wohlstand wurde möglich. Die Rassen-Ideologie der Nazis streichelte das Nationalgefühl der Deutschen, die sich nicht erst seit 1933 für etwas Besseres als die anderen Völker Europas hielten. So konnte auch der in weiten Bevölkerungskreisen verbreitete Antisemitismus mit Macht aufblühen. Es war leicht, sich an geplündertem jüdischen Vermögen, enteigneten Wohnungen und arisierten Geschäften zu bereichern. Der Rechtsstaat wurde hinweggefegt. Recht war, was der neuen Ordnung diente.
Das brutale Vorgehen der Nazis machte natürlich auch Angst und hinderte so manchen daran, seinen Mund aufzumachen und Unrecht Unrecht zu nennen. Der Verlust an Freiheit schien aber den meisten ein akzeptabler Preis für die neue Blüte Deutschlands zu sein. Mit Inbrunst wurde gesungen „Deutschland, Deutschland über alles" - und dafür wurde Krieg geführt.
Er sollte 6 Jahre dauern, kostete fast 60 Millionen Menschen das Leben und endete in der Niederlage Deutschlands. Es sollte aber noch einmal 40 Jahre dauern, bis ein Bundespräsident in der Feierstunde zum 8.Mai im Bundestag sagte bzw. zu sagen wagte, dass die militärische Niederlage auch eine Befreiung der Deutschen „von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" war. Ich möchte nicht wissen, wie eine entsprechende Rede eines Herrn Gauland, eines Björn Höcke oder einer Alice Weidel heute ausfallen würde - ein echter Lackmustest in Sachen Krieg und Frieden, Freiheit oder Diktatur.
Ab 13 Uhr laden heute der Düsseldorfer Appell und die Landeshauptstadt Düsseldorf zu einem Fest für Frieden, Freiheit und Demokratie ein. Der 1.September ist mittlerweile zum Weltfriedenstag ernannt. Seine Nachhaltigkeit hängt aber daran, ob wir bereit sind, uns auch zu erinnern an das, was da gewesen ist und vor 80 Jahren einen schrecklichen Höhepunkt erfahren hat; zu erinnern - nicht zurückzuschauen wie Lots Frau auf das brennende Sodom, um zu erstarren, sondern um nachzudenken, um die richtigen Konsequenzen für heute und morgen zu ziehen, um mutige und entschlossene Schritte zu gehen.
Zeitzeugen sind dabei besonders wichtig, Menschen, die selbst erlebt haben, wie schrecklich Krieg ist. Davon gibt es immer weniger - 80 Jahre nach Kriegsbeginn.
Ich war froh, dass noch einige solcher Zeitzeugen in unserer Gemeinde leben und hatte sie eingeladen, an dieser Stelle kurz zu berichten, wie sie diese Tage um den 1.September 1939 erlebt haben - in ihren Familien, in ihrer Nachbarschaft.
Doch leider mussten sie kurzfristig aus gravierenden gesundheitlichen Gründen absagen. Ob es zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal möglich ist, dass sie von ihren Erlebnissen und Erinnerungen berichten, wird sich zeigen. An dieser Stelle wünsche ich den Betreffenden gesundheitlich alles Gute.
Lesung Jak.3,13-18 (Übersetzung von Jörg Zink)
„Wer ist weise und klug unter euch? Der zeige es durch die Tat! Er zeige die Wirkung eines guten und erfreulichen Verhaltens, er zeige die Gelassenheit, die die Weisheit an sich hat. Habt ihr aber bitteren Neid und Streit in eurem Herzen, dann behauptet nicht, ihr wäret weise! Ihr müsstet lügen und die Wirklichkeit fälschen. Denn damit verfügt ihr nicht über die Weisheit, die von oben kommt, sondern vielleicht über irdische Wendigkeit, menschliche Gewandtheit oder gar teuflisches Geschick. Wo man nämlich neidet und streitet, da herrschen die Unordnung und jede Art von Schlechtigkeit. Die Weisheit dagegen, die von oben kommt, ist zum ersten rein und klar, sie ist ferner auf Frieden bedacht, sie ist fähig, nachzugeben und sich einem fremden Willen zu fügen. Sie ist voll Erbarmen und reich an guten Wirkungen. Sie ist frei von Gespaltenheit und Zweifel und kennt keine Verstellung. Die Frucht der Gerechtigkeit wird in Frieden für die gesät, die Frieden schaffen."
Da hat Jakobus Jesus genau verstanden, der in der Bergpredigt sagt: nur ein guter Baum kann gute Früchte bringen. Nur ein friedfertiger Mensch kann Frieden schaffen. Aber was macht einen friedfertigen Menschen aus?
Wer ist weise und klug?
Jakobus hält fest: ein solcher Mensch zeigt ein gutes und erfreuliches Verhalten; er ist in dem, was er sagt, rein und klar, nicht zweideutig und verklausuliert; er ist kompromissbereit und um Ausgleich bemüht; er hat ein Gespür dafür, was machbar und möglich ist; er ist voller Verständnis - er bemüht sich, zu verstehen, was in dem anderen vorgeht, seine Sicht auf die Dinge nachzuvollziehen. Es geht ihm wirklich um Frieden, nicht um die Durchsetzung der eigenen Interessen.
Ein friedfertiger Mensch besteht niemals auf seinem Standpunkt, sondern er ist bereit, sich zu bewegen, sich auf einen oft anstrengenden und langwierigen Weg zu machen - auf den anderen zu und mit ihm weiter.
Jakobus ist erstaunlich realistisch. Er weiß darum, dass Frieden Arbeit bedeutet, zuerst Arbeit an sich selbst und dann Arbeit mit dem Gegenüber, ein Ringen und Streiten, aber kein Ringkampf und kein Aufeinandereinschlagen, sondern Reden und Hören, ja Hinhören - und dabei ehrlich sein - rein und klar.
Ich glaube, daran mangelt es heute vor allen Dingen, daran hat es immer schon gemangelt in den letzten 74 Jahren. Man hat die Arbeit gescheut, die es gebraucht hätte, um auf den Trümmern des 2.Weltkrieges wirklich Frieden zu schaffen. Fast jeder Mann und jede Frau in Deutschland haben sich vor der Auf-Arbeitung der Zeit der Nazidiktatur gedrückt, hätten sie sich dann doch auch mit eigenem Weggucken, mit eigenem Mitmachen, mit eigenem Schuldigwerden befassen müssen. Lieber wurde in die Hände gespuckt, die Trümmer weggeräumt und der Wohlstand aufgebaut. Doch in das schicke neue Haus, das da aufgebaut wurde, die westdeutsche Bundesrepublik, da sind unübersehbar die alten Dämonen wieder mit eingezogen: Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus. Das Grundgesetz als bloßer Grundstein der Demokratie ist da kein ausreichender Schutz. Demokratie und Freiheit sind lebenslange Arbeitsprogramme. Die Arbeit, die die Kriegsgeneration nicht leisten wollte, die Teile der Kriegskinder und Nachkriegskinder in den 1968er Jahren angestoßen, aber nicht wirklich in die Breite der Gesellschaft hineinbekommen haben, müssen jetzt die Nachkriegsenkel leisten - nach innen und nach außen. Es ist die Auseinandersetzung mit der AfD und all denen, die mit ihr gemeinsam unterwegs sind. Hier ist Klarheit nötig, die nur gewonnen werden kann, wenn man sich mit den Verstrickungen in der eigenen Familie ehrlich auseinandergesetzt hat.
Liebe Gemeinde, das, was nach innen zu leisten ist, das gilt auch für die anstehenden Verhandlungen zwischen den Nationen. Auch dort ist Erinnerungsarbeit angesagt; auch dort geht es darum, zu hören, sich gegenseitig zu erzählen, wie man den anderen jeweils wahrnimmt; welchen Blick man auf die Vergangenheit hat, welche Hoffnungen und Befürchtungen man für die Zukunft hegt - in Europa, zwischen einzelnen Völkern, weltweit. Die Vergangenheit ist nie einfach vergangen. Gerade das, was in der Vergangenheit mit Schuld und Scham besetzt ist, kann fatale Folgen haben, wenn es nicht ver-arbeitet ist, angesehen und ab-gearbeitet im Sinn und Geiste Jesu: im gegenseitigen Bekennen mit der Bitte um Vergebung und mit der gewährten Vergebung. Viel ist da noch zu tun, nicht nur gegenüber den Nationen Osteuropas, sondern gerade auch im Umgang mit den Nationen Afrikas und des Vorderen Orients, die alle noch bis heute an den Folgen der Kolonisierung durch die Europäischen Mächte leiden. Es braucht da wirklich, wie Jakobus schreibt, die Weisheit von oben, um einen Weg in eine gute, friedvolle Zukunft der Menschheitsfamilie finden zu können.
Und machen wir uns nichts vor: es gibt sehr viele, gerade auch reiche, mächtige und einflussreiche Menschen, die an diesem Weg kein Interesse haben, einfach weil sie von der herrschenden Ungerechtigkeit, von Krieg und Elend profitieren.
Der Weg des Friedens ist ein steiniger und unbequemer Weg, ein Weg voller Auseinandersetzungen.
Hören wir einmal, was uns der Epheserbrief für diesen Weg zu bedenken aufgibt; Kapitel 6, die Verse 10-18b.
„Zu guter Letzt: Werdet stark durch die Kraft und Macht des Herrn. Zieht an die Waffenrüstung Gottes, um den listigen Anschlägen des Teufels zu widerstehen! Denn wir haben nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen Mächte und Gewalten, gegen die Weltherrscher dieser Finsternis, gegen die bösen Geister in den himmlischen Bereichen. Darum legt die Waffenrüstung Gottes an, damit ihr am Tag des Unheils widerstehen und standhalten könnt! Steht also da, eure Hüften umgürtet mit Wahrheit, angetan mit dem Brustpanzer der Gerechtigkeit, die Füße beschuht mit der Bereitschaft für das Evangelium des Friedens. Vor allem greift zum Schild des Glaubens! Mit ihm könnt ihr alle feurigen Geschosse des Bösen auslöschen. Und nehmt den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, das ist das Wort Gottes. Hört nicht auf zu beten und zu flehen! Betet jederzeit im Geist; seid wachsam und harrt aus."
Liebe Gemeinde, das Weltbild, das dem Epheserbrief zugrunde liegt, ist nicht meines und ich denke, es ist auch nicht ihres. Hinter all dem Bösen auf der Welt steckt für mich nicht der Teufel im metaphysischen Sinn, kein personifizierter Gegenspieler Gottes. Nein, das Böse ist durch und durch eine menschliche Möglichkeit. Was das Böse so „teuflisch" macht, das ist die Fähigkeit des Menschen, es zu maskieren. Es wäre zu schön, wenn es nur brutal daherkommt, mit der Fratze des Schlächters, des Massenmörders. Nein, es wird verkleidet. Ich möchte Ihnen aus meiner Kindheit und Jugendzeit ein solch ganz harmlos daherkommendes Beispiel benennen, einen Satz, den ich nicht nur von meinen Eltern gehört habe: „Wir bringen unser Geld zur Bank; dort lassen wir es für uns arbeiten."
Wie das? Wer hat schon einmal Geld arbeiten sehen? Nein, arbeiten, das tun Menschen; und am Ende der Wertschöpfungskette sind das meistens Menschen, die miserabel bezahlt werden und die damit die Zinserträge, die Aktiengewinne erwirtschaften. Das ist die unangenehme Wahrheit der globalen Wirtschaft, wie sie von uns Menschen eingerichtet ist. Es ist die menschliche Gier nach Geld und Macht, die mittlerweile das Überleben der Menschheit auf dieser Erde bedroht. Eine wahrhaft teuflische und gefährliche Angelegenheit. Gegen diese Bedrohung kommt man nicht mit herkömmlichen Waffen an, sondern tatsächlich nur mit geistlich-geistigen „Waffen".
Mit Wahrheit - gegen die Lügen und fake news.
Mit Gerechtigkeit - vor allen Dingen gegen die ganzen strukturellen Ungerechtigkeiten, aus denen sich die vielen Armen weltweit nicht befreien können.
Mit der Bereitschaft, die Güter dieser Erde wirklich zu teilen und so das Evangelium des Friedens mit Leben zu erfüllen.
Und sich nicht darin beirren zu lassen, dass eine gerechte, friedliche Welt möglich ist, eben der Verheißung Jesu zu glauben, ihm zu vertrauen.
Das meint: den Schild des Glaubens, den Helm des Heils und - übrigens die einzige „Offensivwaffe" - das Schwert des Wortes zu ergreifen.
Mit dieser Waffenrüstung ist Widerstand möglich, Widerstand nicht, um zu siegen, sondern um zu versöhnen.
Sieger im klassischen Sinne produzieren nämlich mit den Verlierern nur wieder neuen Hass und neue Gewalt.
Die Dichterin Christa Wolf legte mitten in der Zeit des Kalten Krieges in ihrem Buch „Kassandra" eben dieser antiken Seherin aus Homers „Ilias" einen wahrhaft prophetischen Satz in den Mund. Als der siegreiche Agamemnon nach der Zerstörung Trojas von ihr wissen wollte, wie es um die Zukunftsaussichten seiner Stadt Mykene steht, antwortet sie ihm: „Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehen." Ein Satz, der den Geist Jesu atmet.
Der dient dem Frieden und sucht damit auch seiner Stadt Bestes, der den Ausgleich sucht, das Lebensrecht jedes Menschen, jedes Volkes achtet und aller Lebewesen auf dieser herrlichen Erde. Darum: „Lass ab vom Bösen und tu Gutes. Suche den Frieden und jage ihm nach!" Amen.
11.n.Trinitatis, 01.09.2019 - 80.Jahrestag des Beginns des 2.Weltkrieges, Stadtkirche, Hiob 23, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth1.IX.2019 - 80 Jahrestag des Beginns des II. Weltkrieges (11.n.Trin.)
Hiob 23
Liebe Gemeinde!
Unser Kirchenbuch verrät nicht viel über den Ausklang des Friedens in einem Altweibersommer hier am Rhein: Am frühen Morgen des 24.August 1939 ist weit oben in Wittlaer ein zwölfjähriger Junge gestorben, der zwei Tage später beerdigt wird. … Für ein paar Menschen steht die Zeit still! —
Am 2.September wird in der Walburgisstr. eine fünfzigjährige Frau sterben mit einem Nachnamen, der in unserer Gemeinde bis heute vorkommt. … Für ein paar Menschen geht das Liebste unter! —
Am 3.September holt der Tod einen fünf Monate alten Knaben vom Töllershof, der auch noch in dieser ersten Kriegswoche mit einer Grabrede beigesetzt wird. … Ein paar Menschen können an Gottes Gnade wohl nicht mehr glauben! —
Pastor Schruck, der alle drei beerdigt, tauft am 3.September im Krankenhaus einen kleinen Kurt Hermann Gottfried und Anfang Oktober folgen Haustaufen in Familien, die ebenfalls noch bei uns bekannt sind.
Und zwischen alle dem haben am 30. und am 31.August 1939 zwei Paare geheiratet; der zweite Bräutigam ist mit 55 Jahren zu alt, um noch von dem, was kommt, unmittelbar ereilt zu werden.
Die nächsten beiden Trauungen allerdings – vom 9.September – sind zwar schon in unser Kirchenbuch eingetragen, aber am Ende der Zeilen findet sich eine Anmerkung, die besagt, dass diese Trauungen – beide Bräutigame waren 26 – doch nicht stattfanden, weil „kein Urlaub“ erteilt wurde.
So schleicht der Krieg sich also bei uns ein. Geburt und Sterben sind einstweilen wie immer … nur das Lieben, Anfang und Gründung eines gemeinsamen Lebens wird überschattet und muss dem viel wichtigeren Siegen, dem Töten und Getötetwerden weichen.
Dabei ist es doch so eine schöne Zeit … die Zeit der Dahlien und der Spinnfäden im Blauen. Die Ernte ist eingebracht, nur die Winzer warten noch auf die Süße und für die Kartoffeln werden die Kinder Schulferien kriegen und es wird ein Herbst wie immer. In Pommern sammeln sich erste Wildgänse auf den Wiesen, die Störche lassen ihre Nester bald zurück. Meine Großmutter näht am Hochzeitskleid, im Oktober wird der Großvater tatsächlich Urlaub kriegen und in Uniform heiraten. In Stettin-Neutorney, in der Bethanienstr.9 sitzt die Urgroßmutter Marquardt, die seit März verwitwet ist. 12 Kinder hatte sie, und jetzt ist sie allein. Aber die leisen Uhren und die Sicherheit der eigenen Möbel im Stift machen, dass sie sich in die Stille ihres Lebensabends ergeben kann, hier bei den über 430 Diakonissen des Kaiserswerther Verbandes, … die allerdings seit zwei Jahren ihr Lyceum nicht mehr betreiben dürfen und aus allen Kindergärten gekündigt worden sind, damit braune Schwestern der NSV sie ersetzen können … die Diakonissen und ihren christlichen Geist. —
Nachsommer; … Ahnung des Frühherbst; … kühle Dämmerung, Klarheit der Luft.
Heute früh vor 80 Jahren aber – an einem Freitagmorgen – ist aller Tage Abend gekommen, … nicht nur für die paar Menschen, die ein Kirchenbucheintrag betrifft, sondern in der Chronik der Menschheit: Es gibt von Sizilien bis mindestens zum Skaggerak vielleicht keine Familie in Europa, in der durch den 1.September 1939 nicht Unheil, Trauer, Verlust, Gewalt oder Schuld eingebrochen sind, … und von Kanada bis Australien, von Nordafrika bis auf die japanischen Kriegsschauplätze sind die Leidtragenden der Folgen dieses Tages die globalisierteste Schicksalsgemeinschaft, die es bis in unsere Zeit weltweiter ökologischer Opfer-Täter-Gemeinsamkeit je gab.
Und es begann mit diesem Septembersonnenaufgang, als sie vor vier Uhr schon in den Garnisonen weit im Osten, wo es früh tagt, zum Überfall rüsteten, weil die fieber- und lügenhaften Gespräche zwischen den Vertretern des 3.Reiches, Polens, Englands, Frankreichs und Italiens während der vorangegangenen Tage und noch während der ganzen Nacht nichts daran änderten: Deutschland schlug los.
Der Hitler-Stalin-Pakt hatte es ermöglicht: Man griff auf Polen über, nicht nur auf der Danziger Westerplatte, an der das arge völkerrechtliche Konstrukt des Korridors eine Sollbruchstelle der Versailler Verhältnisse bot, sondern auf breiter Front. Für die Kameras im oberschlesischen Gleiwitz, wo der Überfall auf den Rundfunksender eine teuflische Inszenierung war, um deutsche Opfermythen zu erzeugen, … doch neben vielen Grenzposten auch im Landesinneren selbst, in Wieluń, wo der deutsche Luftangriff am ersten Tag dieses Krieges auch das erste Kriegsverbrechen der Wehrmacht brachte, die in drei Stuka-Angriffswellen gleich zu Beginn das städtische Krankenhaus vollkommen zerstörte und bis zu 1200 zivile Opfer bereits in den allerfrühesten Morgenstunden der sich auf Europa senkenden Finsternis forderte.
Dieser schreckliche Tag, der sich heute jährt, ist aber nicht nur für die Geschichtsschreibung eine epochenscheidende Verdunkelung – als wäre das Grauen des 1.Weltkrieges nur 25 Jahre vorher nicht abgründig und unheilbar genug gewesen! –, … sondern wirkt für die Theologie und den Glauben der Christenheit mindestens ebenso.
Wir wissen, was diesem Anfang folgte: Eine geistige und militärische, eine antizivilisatorische Barbarei, die den Prozess der Weltgeschichte gesprengt hat. … Nach der Verwirklichung jenes kranken Albtraums – unserer jüngsten Vergangenheit noch zu Menschengedenken! –, ist es ja unmöglich geworden, der Abfolge der Zeiten und Generationen eine Richtung anzudichten. Weil wir ahnen: Jederzeit kann das gewonnene und gewachsene Gute der Jahrhunderte sich auflösen und blutigste Bestialität hervorbrechen; jederzeit kann mitten in edelster Kultur primitivste Gemeinheit, niedrigste Beutegier, urzeitlicher Jagdrudelinstinkt sich selbstverständlich zeigen; jederzeit kann die Horde nach Kannibalismus verlangen und Zähmung sich umkehren; … jede Zeit kann Ur- und Endzeit sein.
Wenn wir das aber ernst nehmen – dass am 1.September 1939 oder auch im Jahr 1933 und womöglich sogar im Jahr 1942 mit der sog. „Endlösung“, die zum Holocaust führte, nicht eine einzigartige, unvergleichliche, eine unwiederholbare Verfinsterung des sonst so klaren, aufgeklärten Selbstbildes der Menschheit eintrat, sondern nur ein entsetzlich grelles Licht nichts mehr von den allgemeinen unmenschlichen Möglichkeiten verbarg – … wenn wir also nicht plötzlich etwas Beispielloses darin erkennen, was der Krieg aufdeckte, … sondern uns selber, dann müssen wir wohl fragen, was denn da mit dem Tag vor 80 Jahren verdunkelt wird? Wenn er uns den Menschen leider so überdeutlich zeigt in seiner Unbelehrbarkeit, in seiner feigen Grausamkeit und brutalen Gewöhnlichkeit … wird dann nicht durch das, was wir am Menschen erblicken müssen, Gott verdunkelt?
Wenn der Mensch so furchtbar ist, kann Gott nicht wundervoll sein.
Ist der Mensch zu solcher Schande fähig, kann Gott keine Ehre behaupten.
Ist der Mensch so böse, so ist Gott nicht gut. ———
....... Seien wir ehrlich: Dieses Denken, das in der evangelischen Kirche durch Dorothee Sölles Wort, sie könne nach Auschwitz nicht mehr den Herrn loben, „der alles so herrlich regieret“ zu einem Leitmotiv geworden ist, … dieses Denken ist unmittelbar nachvollziehbar, verständlich und sympathisch.
… Doch es gibt dem Recht, der am 1.September 1939 den Befehl zum Angriff gab!
Auf eine furchtbare Weise würde das tausendjährige Reich tatsächlich tausend Jahre in den Köpfen und ihren Fragen, ihrer Verzweiflung und ihrem Nihilismus an der Macht bleiben, wenn es in alle Zukunft Gott ausschließen könnte von der Entscheidung über die Weltgeschichte. Tatsächlich wäre der verlorene Krieg, dessen Beginn und unfassbare Opfer heute vor uns stehen, auch weiterhin im Gange, wenn er die Bedeutung Gottes für die Menschheit und ihre Zukunft hätte zerstören können. Und der Erfolg, dass man Gott nicht mehr trauen, auf Ihn nicht mehr hoffen könnte, weil die von den Deutschen frei gewählte Diktatur von 1933 bis 1945 Ihn aller Glaubwürdigkeit entkleidet und beraubt hat … dieser Erfolg wäre Hitlers wahnhaft bis zuletzt verfolgter Endsieg. ———
Und so stehen wir da: Die Geschichte, die unsere Großeltern verschuldet und erlebt, selten genug verantwortet oder verarbeitet haben, … die Geschichte ein Abgrund. Und für die Zukunft bleibt die Frage, ob wir in diesen nicht mythischen, nicht geheimnisvollen, sondern historischen und realen – und von uns verdammt noch mal auch zu durchleuchtenden! – Abgrund nun den Sturz Gottes sich vollziehen sahen?
Hat unser Volk Gott mitgerissen ins Verderben?
Waren Hitler und seine willigen Massenmörder und Totengräber stark genug, zwar nicht das jüdische Volk, das sie – wie wir heute wissen – nicht vernichten konnten!, so doch immerhin seinen Gott unter sich zu begraben? …………
… Den Gott Hiobs???
Neuer Predigttext des 11.Sonntags n. Trinitatis:
„Hiob antwortete und sprach:
Auch heute lehnt sich meine Klage auf; seine (Gottes!) Hand drückt schwer, dass ich seufzen muss.
Ach dass ich wüsste, wie ich ihn finden und zu seiner Stätte kommen könnte! So würde ich ihm das Recht darlegen und meinen Mund mit Beweisen füllen und erfahren die Reden, die er mir antworten, und vernehmen, was er mir sagen würde.
Würde er mit großer Macht mit mir rechten?
Nein, er selbst würde achthaben auf mich.
Dort würde ein Redlicher mit ihm rechten, und für immer würde ich entrinnen meinem Richter!
Aber gehe ich nach Osten, so ist er nicht da; gehe ich nach Westen, so spüre ich ihn nicht. Wirkt er im Norden, so schaue ich ihn nicht; verbirgt er sich im Süden, so sehe ich ihn nicht.
Er aber kennt meinen Weg gut. Er prüfe mich, so will ich befunden werden wie das Gold. Denn ich hielt meinen Fuß auf seiner Bahn und bewahrte seinen Weg und wich nicht ab und übertrat nicht das Gebot seiner Lippen und bewahrte die Reden seines Mundes bei mir.
Doch er hat's beschlossen, wer will ihm wehren? Und er macht's, wie er will. Ja, er wird vollenden, was mir be-stimmt ist, und hat noch mehr derart im Sinn.
Darum erschrecke ich vor seinem Angesicht, und wenn ich darüber nachdenke, so fürchte ich mich vor ihm.
Gott ist's, der mein Herz mutlos gemacht, und der All-mächtige, der mich erschreckt hat; denn nicht der Finsternis wegen muss ich schweigen, und nicht, weil Dunkel mein Angesicht deckt.“
Das ist doch das Geheimnis dieses Buches, aus dem ausgerechnet heute gepredigt werden soll: Die Klagen, … die glühenden und beißenden Anklagen und die erstickende Enttäuschung Hiobs, die tief verwundete Offenheit seines Herzens, die grausige Echolosigkeit seines unermüdlichen Rufens, Schreiens und Flehens … sie zeugen doch nicht von einem beseitigten oder einem besiegten, von einem überwundenen und vergangenen Gott, sondern sie stürmen hinauf und sie stürzen herunter, weil der Gott Hiobs zu verborgen ist, … entzogen, … unerreichbar, … weit, weit, weit über allem Bitten und Verstehen des Menschen, der Antwort sucht.
……. Das aber heißt nicht, dass Hiobs Gott stumm sei … oder tot.
Hiob erfährt nicht, dass Gott nicht sei.
Er zerwühlt nur Himmel, Erde, Unterwelt und zermartert sich selbst bei der Frage: „Wo?“
Und er zerreißt sich selbst und wird zerrissen durch die Frage „Wie? Wie kann ich – der ich Dich nicht verstehe – nur weiter leben? Obwohl ich keine Antwort finde. Weil die alte Gesetzmäßigkeit von Schuld und Strafe sich aufgelöst hat. Weil die sicher geglaubte Ordnung von Recht und Vergeltung außer Kraft ist. Weil alle Überzeugung, aller Glaube vergehen müssen, wenn Du Gott anders bist, als ich Dich dachte und wollte, anders als ich Dich mir machte …. Ich glaubte Mose und dem Psalmbeter, dass Du da seiest und nah (vgl. 5.Mose 30,11ff; Ps.139,7ff). Und nun bist Du fern und nirgends. Ich besaß Dich und habe mein Wissen und meine Weisheit jetzt so völlig verloren, da Deine Hoheit und Wahrheit sich meinen Grenzen nicht fügen. Und diese Unsicherheit … die Unsicherheit, dass ich Dich nicht abstreiten, aber noch weniger einsetzen kann als Stifter und Sinn aller Erfahrungen meiner Tage, die macht Dich schrecklich. Wenn Du nicht wärest Gott, hätte ich keine Fragen. Da Du aber bist, … wie soll ich da sein?“
Nicht also, dass man von Gott nichts mehr sagen könne, ist die Not Hiobs, sondern dass man nicht von Ihm schweigen kann.
Nicht dass Gott aufgehört hätte, Gott zu sein, sondern gerade, dass Gott Gott ist, quält Hiob.
Nicht dass Gott eine Lüge wäre, sondern dass der Mensch nicht die Wahrheit und also sich selbst, sein Leben und die Welt beherrscht, ist es, was so empört, beängstigt und beirrt.
……. Und doch: Wenn wir denken, wo wir eben noch standen – bei der furchtbaren Empfindung, Gott sei womöglich unmöglich gemacht, … Gott sei im heute einst begonnenen Krieg für immer vernichtet und ausgeschaltet worden … Gott sei in den Kirchenbüchern, die so viele bittere Fragen und Zweifel an Ihm enthalten, ganz zweifelsohne als Opfer der Menschen zu verzeichnen …, Gott sei also der Verlierer und der Verlust dessen, was wir als die Geschichte verursachen und erleben, … wie anders ist es dann, mit Hiob nicht Totenklage um Ihn, sondern Anklage zu halten! Wie anders ist es, mit Hiob Gott nicht aufzugeben, sondern Ihn mit leidenschaftlichem Zorn und rasender Liebe zu suchen! Wie anders ist es, Gott nicht in der zerstörerischen Gewalt der Menschen zu wissen, sondern Ihn im Rätsel ihrer tragischen Ohnmacht zu ahnen. …….
Zu lösen sind diese Rätsel allerdings nicht.
Aber auch nicht aufzugeben.
Es bleibt unser Weg und es bleibt unsere Grenze, dass wir in den Schrecknissen der Welt und der Geschichte wie in ihren Segensstunden, Gott nicht auslassen, nicht schonen, nicht vergessen, nicht übersehen, sondern Ihn suchen, Ihn anrufen, Ihn anbeten und anklagen ohne jemals Sieger über Ihn zu werden, … ohne Sein Geheimnis zu durchdringen, … ohne jemals mit Ihm fertig zu sein. … Und ohne am Zweifel zu verzweifeln.
Niemals werden wir die Frage der Wege, der Verheißungen und Verweigerungen Gottes in diesem Leben lösen.
Oft wird die Frage uns tatsächlich in Dunkelheit führen.
Aber sie wird sich auch dort … in Katastrophen und Leid nicht auflösen.
Sie bleibt bei uns, gerade dann und dort, wo sie nichts verrät.
Die Frage nach Gott bleibt, bis Der sie beantwortet, Der die Antwort ist.
Es scheint wie eine ungeheure, erschreckend … verwirrend in die Zukunft über alle Verdunkelung hinaus weisende Mahnung, dass die Herrnhuter Losung für Freitag, den 1.September 1939 – wie man Jochen Kleppers Tagebuch entnehmen kann[i] – lautete:
„Suchet den HERRN, solange er zu finden ist; rufet ihn an, solange Er nahe ist“ (Jes.55,6)
War Er’s damals noch?
Ist Er’s heute wieder?
Suchen müssen wir. Müssen Ihn anrufen.
Und werden dabei fühlen wie Astrid Lindgren, deren Tagebuch mit diesem Datum beginnt, unter dem der Eintrag mündet in den Stoßseufzer: „Gott bewahre unseren armen vom Wahn-sinn heimgesuchten Planeten.“[ii]
Und das letzte Wort aus dem September 1939 hat über die Fronten und Feindschaften hinweg George Bell, der englische Freund Dietrich Bonhoeffers, der als Reaktion auf den Kriegsaus-bruch an Bonhoeffer schrieb[iii]:
“Let uns pray together often by reading the Beatitudes; Pax Dei quae superat omnia nos custodiat.”
„Lass uns oft miteinander beten, indem wir die Seligpreisungen lesen; der Friede Gottes, der alles überragt, bewahre uns.“
Amen.
[i] Vgl. Jochen Klepper, Unter dem Schatten deiner Flügel – Aus den Tagebüchern der Jahre 1932 – 1942. Mit einem Geleitwort von Reinhold Schneider, Stuttgart o.J., S. 796.
[ii][ii] Astrid Lindgren, Die Menschheit hat den Verstand verloren: Tagebücher 1939 – 1945, aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch und Gabriele Haefs, Berlin 2015, S. 21.
[iii] Brief von George Bell an Dietrich Bonhoeffer vom 6.9.39 in: Dietrich Bonhoeffer, Illegale Theologenausbildung: Sammelvikariate 1937-1940, hg. v.Dirk Schulz (DBW Bd. 15), Gütersloh 1998, S. 262.
10.n.Trinitatis (Israelsonntag), 25.08.2019, Stadt- und Jonakirche, Lukas 19, 41 - 48, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 10.n.Trin. (Israelsonntag: Gedenktag der Zerstörung Jerusalems) - 25.VIII.2019
Lukas 19,41-48
Liebe Gemeinde!
Als nur noch wenige Tage sie vom Tod trennten, hat meine Großmutter sehr einverstanden, sehr gespannt, fast vergnügt immer wieder wie ein Kind die Nase aus dem Bett gestreckt und völlig ohne Verunsicherung, nur erwartungsvoll und neugierig gefragt: „Und wie geht’s jetzt weiter?“
… Mehr Frommes oder Feierliches fiel ihr nicht ein und war auch nicht nötig.
In der Lebendigkeit dieser Frage auf einem Sterbebett kann man alles finden, was unseren herrlichen, herrlichen Glauben ausmacht: Christen und Juden, Menschen des lebendigen Gottes gehen durch diese Welt und ihre Stürme und scheiden schließlich aus dem Dasein mit der unerschöpflichen Aussicht, dass es weitergeht.
Theologisch mag das kein Kernsatz des Glaubens sein, dogmatisch ist die Formulierung, ist auch die reine Neugierde darin nicht besonders ausgereift, … doch gerade das Unfertige, das Offene, … gerade das, was sich erst ankündigt und noch gar nicht abschließend ausdrücken lässt, ist das echteste Zeugnis für den Gott, Der die fertige alte Welt des Todes überwältigt mit Seinem neuen Leben, das ewig ist.
„Es geht weiter!“
Das ist – in aller notwendigen Vorläufigkeit – die Botschaft wirklicher Befreiung. „Es geht weiter!“, das ist die Botschaft, die die Bibel in die Finsternis der Sklaverei, in die Sklaverei der Sünde, in das Sündenleid sogar bis hin zum Tod ruft.
„Es geht weiter!“ ist das, was uns ein Blick auf das Volk Israel zu jeder Epoche seiner turbulenten Geschichte der Zähigkeit der Zuversicht lehrt.
„Es geht weiter!“ ist das, was uns ein Gottesdienst an Israels Seite, mit seinen Gebeten und Liedern, seiner Schrift und seiner Hoffnung spüren lässt. ——
„Es geht weiter!“ … das ist aber auch die entscheidende und endgültige Verurteilung so vieler christlicher Denk- und Glaubens- und Urteilsfehler, … Fehler, die uns am Israelsonntag immer wieder schockierend anspringen und anklagen vor dem lebendigen Gott!
Denn beinah zweitausend Jahre lang war die Kirche finster brütend blind für diese Botschaft des Aufatmens und der Erwartung. Zweitausend Jahre lang hat die blinde Kirche das Wort von der Barmherzigkeit, von der allein sie selbst doch lebte, nicht wahrhaben wollen, sondern hat es unterdrückt, geleugnet, mit Feuer und Waffen, mit Hass und Mord widerlegt, indem sie das Evangelium vom Weitergehen meinte gründen zu dürfen auf einen endgültigen Abbruch der Gnade für die Synagoge, die weiter und weiter voraus- und hinaufschaute auf ihren Herrn:
„Israel ist am Ende! Seine Zeit ist vorbei! Es gehört für immer der Vergangenheit an! Nichts kommt mehr!“: Das ist kurz und tödlich der theologische Irrsinn, mit dem die Christenheit das Volk, von dem die Hoffnung kam, für jenseits aller Hoffnung erklärte … und entsprechend handelte.
Und besonders perfide ist, dass das heutige Evangelium seit Jahrhunderten am Israelsonntag in dieser und keiner anderen Deutung gelesen und verstanden wurde: Jesus weint über das endgültig verworfene Volk Jerusalems. … Finale Ablösung! Heilandstränen, Lacrimæ Christi, die nicht taufen, nicht waschen, nicht erlösen, sondern auslöschen!?!
… Als habe man nie gehört, wie noch Sterbende voller Vorfreude fragen: „Und wie geht’s jetzt weiter?“
… Als habe man nie gehört, dass schon zu Jesu Zeiten jener Gedenktag der Zerstörung Jerusalems begangen wurde – der 9.Tag im Monat Aw –, an dem Israel unter Fasten, Buße und Hoffnung der Katastrophen seiner Vergangenheit gedachte, die sämtlich, trotz aller Schrecken ja die Botschaft bergen, dass Gott um seiner Barmherzigkeit willen sucht, wie es weitergehe.
Wenn aber schon in neutestamentlicher Zeit an ein Strafgericht und eine Zerstörung des Tempels erinnert wurde, denen sein Wiederaufbau folgte, welche seelische Deformation zeigt sich dann darin zu meinen, Jesu Warnungen und Sorgen um Jerusalem seien unerbittlich schärfer und mitleidloser zu verstehen, als die aller Buß- und Unheilspropheten vor ihm!
Hat die Kirche wirklich nicht begriffen, dass es der entscheidende Wesenszug aller Propheten in Israel war, dass sie ansagen mussten, was sie selber nicht wollten?! Dass sie drohen mussten, was sie fürchteten und aufdecken, was sie ihren Hörern gern erspart hätten?!
… Nur Jona, der zu gern wollte, dass sein Schwefelwort für Ninive in Erfüllung ginge, vertrat seinen Auftrag in der Erwartung härtester Konsequenz … und ist dafür bis heute lächerlich mit seinem falschen Kummer um eine vertrocknete Pflanze und seiner echten Lust am Untergang anderer Menschen.
Die Propheten Israels hoffen, dass sie niemals Recht behalten müssen!
Und Jesus ist der Größte unter ihnen allen.
Er will Unrecht haben! … Will alles Unrechthaben seines Volkes, alles Unrechthaben der Menschen aller Zeiten auf sich nehmen. Jesus will widersprochen und widerlegt werden. Denn sein ganzes Leben – vor wie nach seinem Tod und seiner Auferweckung – wäre sinnlos, wenn am Ende er das Recht behielte und wir das Unrecht.
Und so sind seine Tränen – diese atemberaubenden Einblicke in die Ratlosigkeit und Müdigkeit Gottes angesichts der menschlichen, … der auserwählten Stur- und Torheit – … so sind also Jesu Tränen über Jerusalem und Israel nicht sein endgültiger Abschied, nicht das Todesurteil, das die verblendete Christenheit in ihnen sehen wollte, sondern das Gegenteil. Sie sind der Anfang seines Kampfes um Israel, eines Kampfes, den er niemals verlorengeben kann … Er, der keinen aufgibt! ……. ——
Und wie geht es nun weiter, nachdem er sich die Angst um sein von den Römern schon so lange umzingeltes und gepresstes Volk von der Seele geweint hat, das durch die Gärung von Jesu Passion und Ostern und durch die Ereignisse nach Himmelfahrt und Pfingsten tatsächlich ja noch viel mehr in den Ruf der erdkreisweiten Unruhestiftung kommen sollte? …
Wie geht es jetzt weiter? – Kämpferisch. Das Herz des bedrohten Jerusalem, den Tempel Gottes lässt er nicht einfach ausbluten, sondern wirft sich leidenschaftlich ins Zeug, um den Zion zu reinigen und so die ganze Stadt zurück in den Dienst des Friedens und des Gebetes zu bringen, nach dem sie heißt und der in ihr heimisch ist.
Schließlich ist aber nichts auch psychologisch, also menschlich überzeugender, als dass die Tränen, die Jesus angesichts des bis heute komplizierten geographischen Mittelpunktes allen Segens und aller Sünden überkommen, letztlich Energie und Aktivität, Entschlossenheit und Aufbruch freisetzen: Heulen dient immer dazu, die tief unter dem Jammer verschüttete Hoffnung freizuschwemmen.
Es geht also weiter! Aus dem um Jerusalem Klagenden wird der für Jerusalem Streitende.
Er stirbt für sie, die sich taub und ahnungslos stellen. Und der Schmerz der Ablehnung durch sein Volk, die Traurigkeit, dass der Messias nicht Israels Triumph bringen konnte, sondern mit seiner Ablehnung leben und sterben musste und sie bis heute anhält, … alles das hat ja nicht verhindern können oder müssen, dass es dennoch weiterging: Für uns – die Menschheit in aller Welt – hat diese Bitterkeit das Heil bedeutet!
Erst durch Israels Zweifel am Messias wurden wir einbezogen in die Geschichte dieses Christus und dieses Glaubens.
Es findet sich also nichts von endgültigem Scheitern oder ewiger Versäumnis der Zeit der Gnade in diesen betrübten Worten Jesu, sondern ein Mitleid, eine Verbundenheit und eine Treue zu Israel sprechen daraus, die uns Heiden überhaupt erst einen vertrauenswürdigen Gott zeigen, … einen Gott nämlich, Dessen Gerichtsbotschaft der Umkehr und Dessen Urteil zukünftiger Aufrichtung und nicht endgültiger Hinrichtung dient! … Ein Gott also, Der nicht vernichtende Machtsprüche fällt oder Todesstrafen verhängt, sondern zu Dem durch die Rätsel menschlicher Weigerung und menschlichen Missverständnisses hindurch die Wege offen bleiben, … weil es weiter geht!
……. Weiter – auch wenn wir vorsichtig davon sprechen müssen, weil es das Geheimnis einer Gnade und einer Last betrifft, die nicht wir Heiden empfangen und getragen haben! – … weiter ja auch für Israel.
Denn die Schrecken, die Jesus um seine Fassung brachten – die grauenvolle Schau eines dem Erdboden gleichgemachtes Jerusalem – … diese finsteren Aussichten sind ja kein letzter Akt geworden! Die von den Römern unter Vespasian noch zu Lebzeiten des Evangelisten Lukas vollzogene Zerstörung des Tempels und Schleifung der Stadt Gottes war nicht dauerhaft: Der schluchzende Jesus hat Unrecht behalten, wie er es wünschte!
… Ja, er selbst hat mit seinen Tränen eigentlich sogar Bausteine geweint, denn an der Stelle seiner Überwältigung auf dem Ölberg wurde schon im 6.Jahrhundert aus den hellen Steinen der heiligen Stadt das Kirchlein mit dem Namen „Dominus flevit“ („Der Herr weinte“) erbaut, dessen bis heute ergreifender Nachfolgebau aus Liebe zu Jerusalem mit den Gesetzen allen Kirchbaus bricht. … Nicht nach Osten, sondern nach Westen ist sie gerichtet, damit man über den Altar hinweg jenen Blick teilt, der für Jesus so emotional war und der heute vielleicht die schönste und beste Aussicht irgendeiner Kirche der Welt bietet: Mit den liebevoll übergehenden Augen des Herrn sieht man von dieser „Dominus flevit“ aus auf den heiligen Berg, an dessen Fuß die Klagemauer unter dem Felsendom liegt und auf die Anastasis, die Auferstehungskirche … die Orte der Gegenwart und des Lebens Gottes selber!!!
… Und trotz aller immer noch ungelöster Sorgen, Schuld und Schmerzen an diesem schwierigsten und schönsten aller Erdenorte zeigt der Jesusblick auf ein nicht zerstörtes, sondern stehendes, auf ein noch immer nicht friedliches, aber lebendiges, auf ein noch nicht versöhntes und dennoch unendliche Verheißung bergendes Jerusalem wie es tatsächlich weitergeht, … weiter und weiter …!
Denn wenn wir uns mit Jesus die Tränen über den allezeit umstrittenen, aber niemals verlassenen Ort Gottes inmitten der Menschheit gewischt haben, dann erkennen wir am heutigen Israelsonntag, dass Jerusalem nichts anderes als das Versprechen der Zukunft an sich ist!
Jeder, der um Jerusalem bangt und für Jerusalem betet, jeder, der sich freut mit Jerusalem und seinen Frieden sucht, jeder, der wenn er es schon nicht in dieser Zeit, so doch (wie ich) endlich einst in der Ewigkeit zu betreten und Heimat zu nennen hofft, … jeder also, der einmal und dann immer wieder mit Jesus Christus auf diese Stadt geblickt hat, kann mit den Augen des Glaubens wie mit jenen der Archäologie, kann mit dem Blick der Hoffnung wie mit dem der Geschichte, kann mit der visionären Schau der Prophetie wie der Liebe wahrhaftig ganz einfach erkennen, was Jerusalem uns allen zu sagen hat … seit dreitausend Jahren: „Es geht weiter!“ ———
Und diese Botschaft, die in dem Wort und Ort „Jerusalem“ sich findet, ist lebenswichtig – für den Glauben wie für die Welt.
Je mehr wir ja inzwischen fragen müssen, ob und wie sich Hoffnung für die Zukunft aus-machen lässt, desto wichtiger wird ja nur die Wahrheit Jerusalems.
Wenn wir uns also fragen, was der wahnsinnige amerikanische Präsident noch anstellt, der in dieser Woche tatsächlich zitiert und geraunt hat, dass manche seiner Anhänger in ihm den König von Israel, ja den Messias sähen und er sich selber als der Erwählte weiß[i] … „Jerusalem! Es geht trotzdem weiter!“
Und wenn wir ohnmächtig die Gültigkeit der Worte Jesu auch heute anerkennen müssen, dass vor allen Augen verborgen scheint, was zum Frieden dient, obwohl es auch heute eigentlich so offen zu Tage tritt und jeder Mensch wissen muss, welchen Preis wir zahlen werden, wenn wir nicht endlich anders, rücksichtsvoller, nachdenklicher und mitmenschlicher leben … „Jerusalem! Niemals aufgeben! Es geht weiter!“
Und wenn uns die Verzweiflung packen könnte über die Gier und Verblendung, mit der eine erwärmte Welt noch aufgeheizt, ja buchstäblich in Brand gesetzt wird … „Jerusalem! Gott gibt sein Werk nicht dem Feuer preis!“
Und wenn ich schier verzagen und hinschmeißen möchte angesichts der Trostlosigkeit unserer evangelischen Kirche, die nicht weiß, was ihr anvertraut ist und ihr eigenes Herz – den sonn-täglichen Gottesdienst – wie irgendeine aus der Mode gekommene Gewohnheit aufzugeben bereit scheint[ii] … „Jerusalem! Weiter geht es mit Gott!“
Und wenn Du Dich am Ende glauben solltest … oder wenn wirklich einmal das Ende da ist:
„Jerusalem! Gottes Zukunft ist unendlich!“ ——
So können wir uns trösten, dürfen wir vertrauen und wollen wir singen, bekennen und glauben, bis unsere Füße in ihren Toren stehen:
„Jerusalem ist gebaut als eine Stadt, in der man zusammenkommen soll.
Wünschet Jerusalem Glück! Es möge wohl gehen denen, die dich lieben!
Um meiner Brüder und Freunde willen will ich dir Frieden wünschen.
Um des Hauses des HERRN willen, unseres Gottes …
Alle meine Quellen sind in dir!“
(Psalm 122i.A.; 87,7)
Amen.
[i] Vgl. dazu https://www.haaretz.com/israel-news/trump-israel-king-anti-semitism-jews-1.7728867
https://www.theguardian.com/us-news/2019/aug/21/trump-press-conference-greenland-jewish-democrats
[ii] Vgl. die Kirchgangsstudie der liturgischen Konferenz der EKD 2019 („Faktoren des Kirchgangs“), besonders deren Fazit S.42 . Siehe https://www.liturgische-konferenz.de/download/Kirchgangsstudie%202019_Ergebnispapier_END.pdf
9.S.n.Tr., 18.08.2019, Phil.3,(4b-6)7-14, StK + MhK, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
wenn man in diesen Tagen und Wochen die Zeitungen aufschlägt oder die Nachrichtensendungen im Rundfunk oder Fernsehen einschaltet, dann ist da viel Beunruhigendes zu hören und zu sehen. Das Geschehen in unserer Gesellschaft, in Europa, auf dieser Welt kennt keine Sommerfrische, Mutter Erde kann nicht die Seele baumeln lassen. Konflikte und Katastrophen machen keine Pause, weshalb verantwortungsbewusste Regierungscheffinnen und - chefs auch im Urlaub immer erreichbar sind. Wenn also das echte Leben, die Realität so risikobehaftet und unberechenbar ist, dann - so hoffen und denken jedenfalls nicht wenige - dann sollte doch wenigstens mit der Religion, dem Glauben alles berechenbar und verlässlich-sicher sein. Irgendetwas Sicheres braucht es doch, um gerade in unsicheren Zeiten Mensch zu bleiben.
Ohne Geborgenheit und Verlässlichkeit im Innersten geht es einfach nicht.
Besuchen deshalb nicht auch von Ihnen hier die Meisten sonntags vormittags einen Gottesdienst? Um sich vergewissern und bestärken zu lassen: ja, mein Glaube trägt mich; er ist eine sichere Grundlage für mein Leben im Alltag, im Beruf? Wird einem das nicht gerade auch durch die bekannten und vielleicht seit Kinderzeiten vertrauten Liedtexte und -melodien vermittelt, die ja oftmals für den Glauben wichtiger waren und sind als die biblischen Texte und Lesungen?
Doch so einfach ist es leider nicht mit der Religion und dem Glauben, auch nicht mit der christlichen Religion, dem christlichen Glauben. Jede echte Religion ist riskant. Der Gottesglaube führt den Menschen immer wieder in Situationen, in denen etwas gewagt werden will.
Genau das ist das übergreifende Thema der verschiedenen Texte und Lesungen für den 9.Sonntag nach Trinitatis.
Das Evangelium, das wir vorhin in der Lesung gehört haben, die Gleichnisse vom Schatz im Acker und von der kostbaren Perle, erzählen davon, dass das Reich Gottes den vollen Einsatz verlangt - ein Alles oder Nichts - und das natürlich bei jedem vollem Einsatz das Risiko mitläuft, auf das falsche Pferd gesetzt zu haben; es kann auch danebengehen, was wir uns vornehmen, wofür wir uns stark machen.
Wer mit Gott unterwegs ist, ist halt noch nicht am Ziel, sondern unterwegs und muss auf Überraschungen gefasst sein. So ist es jedenfalls Paulus ergangen, davon handelt der Predigttext aus dem Brief an die Gemeinde in Philippi.
Paulus bezieht sich dabei auf andere Verkündiger des Evangeliums, die darauf bestehen, dass alle vor ihrer Taufe erst einmal richtige Juden werden müssen, weil Jesus ja Jude gewesen ist; und das hieß: sie mussten die jüdischen Gebote und Regeln einhalten und sich beschneiden lassen. Paulus sieht das zu diesem Zeitpunkt aber völlig anders:
(„Wenn andere meinen, sie könnten mit irdischen Vorzügen großtun - ich hätte viel mehr Grund dazu.
5 Ich wurde beschnitten, als ich eine Woche alt war. Ich bin von Geburt ein Israelit aus dem Stamm Benjamin, ein Hebräer von reinster Abstammung. Was die Stellung zum Gesetz angeht, so gehörte ich zur strengen Richtung der Pharisäer.
6 Mein Eifer ging so weit, dass ich die christliche Gemeinde verfolgte. Gemessen an dem, was das Gesetz vorschreibt, stand ich vor Gott ohne Tadel da.)
7 Aber dies alles, was mir früher als Vorteil erschien, habe ich durch Christus als Nachteil erkannt.
8 Ich betrachte überhaupt alles als Verlust im Vergleich mit dem überwältigenden Gewinn, dass ich Jesus Christus als meinen Herrn kenne. Durch ihn hat für mich alles andere seinen Wert verloren, ja, ich halte es für bloßen Dreck. Nur noch Christus besitzt für mich einen Wert.
9 Zu ihm möchte ich um jeden Preis gehören. Deshalb will ich nicht mehr durch mein eigenes Tun vor Gott als gerecht bestehen. Ich suche nicht meine eigene Gerechtigkeit, die aus der Befolgung des Gesetzes kommt, sondern die Gerechtigkeit, die von Gott kommt und denen geschenkt wird, die glauben. Ich möchte vor Gott als gerecht bestehen, indem ich mich in vertrauendem Glauben auf das verlasse, was er durch Christus für mich getan hat.
10 Ich möchte nichts anderes mehr kennen als Christus: Ich möchte die Kraft seiner Auferstehung erfahren, ich möchte sein Leiden mit ihm teilen. Mit ihm gleich geworden in seinem Tod,
11 hoffe ich auch, zur Auferstehung der Toten zu gelangen.
12 Ich meine nicht, dass ich schon vollkommen bin und das Ziel erreicht habe. Ich laufe aber auf das Ziel zu, um es zu ergreifen, nachdem Jesus Christus von mir Besitz ergriffen hat.
13 Ich bilde mir nicht ein, Brüder und Schwestern, dass ich es schon geschafft habe. Aber die Entscheidung ist gefallen! Ich lasse alles hinter mir und sehe nur noch, was vor mir liegt.
14 Ich halte geradewegs auf das Ziel zu, um den Siegespreis zu gewinnen. Dieser Preis ist das ewige Leben, zu dem Gott mich durch Jesus Christus berufen hat."
Wer mit Gott unterwegs ist, der ist vor keiner Überraschung sicher. Das hat Paulus selbst erlebt. Dabei war er sich so sicher gewesen, den richtigen Glauben zu haben, die richtige Haltung: fromm war er, sehr fromm; der Glaube, die Thora, die waren ihm heilig; alle 613 Gebote befolgte er mit großer Ernsthaftigkeit; und weil diese Gebote alle Ketzer verdammten, tat er alles ihm Mögliche, um diese Abtrünnigen ihrer gerechten Strafe zuzuführen.
Doch dann - die große Wende. Aus dem Verfolger wurde der Verkündiger. Und das, was ihm bis dahin Halt und Sicherheit gab, was ihm heilig und tröstlich war - das alles hat seinen Wert verloren, „ja, ich halte es für bloßen Dreck."
Starke Worte eines Konvertiten. Wir kennen Vergleichbares bei Menschen unserer Tage, die ihre Religion wechseln und an ihrer alten Religion kein gutes Haar mehr lassen. Menschlich-psychologisch vielleicht nachvollziehbar, aber nicht der Sache wirklich dienlich.
Für Paulus jedenfalls steht fest: „Nur noch Christus besitzt für mich einen Wert. Zu ihm möchte ich um jeden Preis gehören."
Die theologische Wende bei Paulus heißt: vor Gott gut dastehen nicht durch das eigene Tun, sondern sich einfach von ihm angenommen und geliebt zu begreifen; Gottes Liebe als Geschenk und nicht als Lohn. Diese Erkenntnis ist für ihn untrennbar mit Jesus Christus verbunden, vor allen Dingen mit dem Geschehen auf Golgatha und mit der Botschaft der Auferstehung. Paulus hofft für sich, an diesem Christus-Geschick Anteil zu bekommen. Das ist sein Lebensziel: durch Leiden und Tod zur Auferstehung zu gelangen.
Ein Ziel, das er sich nicht so einfach ausgesucht hat. Christus, so Paulus, hat von mir Besitz ergriffen; nicht sein Ego hat sich dieses Ziel erwählt, sondern der „Christus in mir", Christus, sein anderes Ich - in der Psychologie: das Selbst. Christus hat mich auf diese Spur gesetzt und darum muss ich einfach auf dieses Ziel hin leben. „Ich bilde mir nicht ein, Brüder und Schwestern, dass ich es schon geschafft habe. Aber die Entscheidung ist gefallen! Ich lasse alles hinter mir und sehe nur noch, was vor mir liegt. Ich halte geradewegs auf das Ziel zu, um den Siegespreis zu gewinnen. Dieser Preis ist das ewige Leben, zu dem Gott mich durch Jesus Christus berufen hat."
Liebe Gemeinde, das ist die überraschende Erfahrung mit Gott, die Paulus gemacht hat. Das, was ihm unverrückbar heilig war, das wurde ihm aus der Hand und aus dem Herzen gerissen; die Religion, der Glaube - er ist genauso risikobehaftet wie das ganze Leben; Sicherheiten und Gewissheiten können von einer zur anderen Stunde zerbröseln. Aber das liegt dann nicht allein an der Situation, in die ein Mensch hineingerät, sondern das liegt vor allen Dingen daran, dass Gott eben ein lebendiger Gott ist. Dass er selber mitgeht - mit seiner Schöpfung, dass er mitten drin ist im Alltag seiner Geschöpfe, in die Entwicklungen der Geschichte auf diesem Globus hineinverwickelt ist. Ein Gott, der eben nicht „alles so herrlich regieret", wie es das bekannte Lied von Joachim Neander noch formuliert, der vielmehr selber Schmerzen leidet aufgrund all der schlechten Regierungen in dieser Welt, der mit den Hungernden und Verfolgten mit-leidet, der - um es menschlich auszudrücken - einfach nicht begreifen kann, wie sehr die Menschheit sich verrannt hat in Nationalismen und im Machtstreben, in der Ausbeutung der Natur und in der
Gier nach immer mehr Reichtum und Konsum.
Ein Gott, der mit-leidet und der, weil er das Leben liebt, die Hoffnung nicht aufgegeben hat, die Hoffnung, dass die Menschheit auf dieser Erde eine Zukunft hat, eine gute Zukunft. Dazu braucht er aber unseren Einsatz. Er braucht Menschen, die sich von ihm, von seinem Geist, von Christus auf eine neue Spur setzen lassen - auf die Spur des Lebens, eines Lebens in Gerechtigkeit und Frieden im Einklang mit der Schöpfung. Er braucht Menschen, die bereit sind, zu einer wahrhaft paulinischen Wende, die sich erschüttern lassen. Die vom hohen Ross des Fortschritts-, Wachstums- und Wohlstandsdenkens herunter steigen oder auch herunterfallen, die die Stimme des kosmischen Christus hören: Mensch, warum zerstörst du mich und damit dich selber, deine Mitmenschen, alle Mitgeschöpfe?
Paulus hatte es aus dem Sattel geworfen, so beschreibt es jedenfalls Lukas in der Apostelgeschichte. Ihm blieb die schmerzliche Erkenntnis nicht erspart, auf dem falschen Weg gewesen zu sein; und ein anderer, einer, der zu der Gemeinschaft des neuen Weges, wie die Christen damals genannt wurden, gehörte, musste ihm dann erst die Augen öffnen - für den neuen Weg (siehe Apg.9).
Und wo stehen wir? Welche Rolle spielt die Religion, der Glaube in unserem Leben, in unserem Alltag? Wie weit gehen Glaube und Alltag auseinander? In wie weit leben wir da in zwei Welten? Dabei gibt es doch nur eine Wirklichkeit, die alles umfasst - das Sichtbare und das Unsichtbare.
Ich möchte an dieser Stelle einmal von meinem religiösen Herkommen erzählen und von meiner Wende, die wesentlich anders dahergekommen ist als damals bei Paulus; aber die Zeiten sind ja auch sehr viel anders.
Ich bin in einem sehr frommen Umfeld groß geworden; die biblischen Geschichten waren mir von frühester Kindheit vertraut; der Besuch des sonntäglichen Kindergottesdienstes war selbstverständlich. Und weil der Sonntag Gottesdiensttag war, war es für mich auch klar, dass ich nicht Mitglied in einem Volleyballverein werden konnte, da die Vereinsspiele grundsätzlich sonntags vormittags angesetzt wurden.
Das war zwar schade, aber es ging ja um das ewige Leben.
Ins Theologiestudium bin ich mit dem festen Vorsatz gegangen, mir meinen Glauben nicht kaputtmachen zu lassen. Ich hatte ja den richtigen, den christlichen, den evangelischen Glauben, den Glauben, den Paulus verkündet hatte und den ich ebenso verkünden wollte. Mein Glaubensziel war das ewige Leben, das deutlich ein Leben nach dem Tod war.
Die Wende, die Bekehrung kann ich nicht mit einem einzigen Ereignis verbinden; bei mir zeigte Gott, dass er viel Geduld hat und die Hoffnung nicht aufgibt. Glaubensgewissheiten in Frage zu stellen und sich auf Neues einzulassen, das ist alles andere als leicht. Über Gott anderes zu denken als die ganzen theologischen Väter, auch anderes als ein Martin Luther, als ein Karl Barth, ja selbst als ein Paulus - einfach weil es mir nur so möglich ist, Glauben und Verstand beieinander zu halten - das hat mich zumindest immer wieder tief verunsichert. Aber es ist genau dieser neue Weg, auf dem ich in ganz intensiver Weise Gott erfahren, erlebt habe. Und genau dieses Erleben und Erfahren, darauf kommt es an, das ist lebendiger Glaube und das ermöglicht eine Hinwendung zu dieser Wirklichkeit. Gott ist wahrlich „größer"; keine Religion kennt ihn in Gänze; kein menschliches Gehirn wird jemals begreifen, wie er ist. Das mahnt zur Demut. Gott ist Liebe, das habe ich von Jesus gelernt; aber die Liebe ist nichts, was ich anbeten soll, sondern die Liebe möchte meinen Einsatz, mein Tun. Gott ist als Gott der Liebe nur dann in dieser Welt präsent, wenn wir lieben. Das schenkt die Einsicht und den Mut, auch in der gesellschaftlichen und politischen Realität scheinbar unabänderliche Gewissheiten loszulassen, um wirklich neue Wege einzuschlagen, um so dem Willen Gottes zu entsprechen. Es ist die Verantwortung des Menschen, für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung zu sorgen.
Es ist verhängnisvoll gewesen, dass besonders in den Kirchen der Reformation die Betonung auf der Rechtfertigung„allein aus Glauben" zu einer Abwertung der „Werke" geführt hat. Dabei zeigt doch das Tun in dieser Welt, ob wir wirklich Menschen sind, die glauben - d.h. die darauf vertrauen, dass Gott für sie sorgt und sie mit allen anderen Geschöpfen alles auf dieser Erde haben, was sie brauchen.
Die heraufziehende Klimakatastrophe ist in meinen Augen ein unüberhörbarer Ruf zu einem grundlegend neuen Denken, Arbeiten und Wirtschaften. Jeder einzelne ist gefordert und wir gemeinsam als Kirchengemeinde, als Stadtgemeinde, in unserer Gesellschaft. Alles muss auf den Prüfstand - alle Ansprüche, alle Bequemlichkeiten, alles liebgewordene Selbstverständliche. Vieles wird losgelassen werden müssen - nicht, weil der Einzelne es sich nicht mehr leisten kann, sondern weil die Erde mit ihren Ressourcen und ihrer Endlichkeit es sich nicht mehr leisten kann. Mit Blick auf uns hier im Düsseldorfer Norden hat der Wochenspruch da eine ganz neue Aktualität: „Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern." (Lk.12,48b)
Es wird vieles in 20 Jahren ganz anders sein müssen. Aber es geht tatsächlich um alles oder nichts. Darum dass die Kinder von heute Bedingungen vorfinden, in denen ein menschenwürdiges Leben möglich ist.
Um darüber nachzudenken, wie dieser neue Weg aussehen könnte, um seine Ängste und Sorgen zu teilen, die mit den kommenden Veränderungen zu tun haben, um sich ermutigen zu lassen von Gottes Kraft, in der Gemeinschaft seine Gegenwart zu spüren, dazu könnte unsere Gemeinde doch genau der richtige Raum sein. Wie schreibt Paulus: „Ich bilde mir nicht ein, Brüder und Schwestern, dass ich es schon geschafft habe. Aber die Entscheidung ist gefallen! Ich lasse alles hinter mir und sehe nur noch, was vor mir liegt. Ich halte geradewegs auf das Ziel zu" -
und das ist angesichts unserer gegenwärtigen Situation: alles Menschenmögliche zu tun, um den Lebensraum Erde für die kommenden Generationen zu erhalten und sich so neu der Verantwortung zu stellen, die Gott uns Menschen übertragen hat. Wir können sicher sein: Gott geht dabei an unserer Seite.
Amen.
6.S.n.Tr., 28.07.2019, 1. Petrus 2, 2-9, Stadtkirche, Daniel Kaufmann
Liebe Schwestern und Brüder,
„Alles beginnt mit der Sehnsucht,
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres."
Nelly Sachs, eine Jüdin, die den Holocaust überlebte, beginnt mit diesen Worten eines ihrer berühmtesten Gedichte.
Mit dieser Sehnsuchtsthematik beginnt auch unser heutiger Predigttext aus dem Petrusbrief. Ich lese uns den für heute vorgeschlagen Text aus 1. Petrus 2, 2-9
Da heißt es:
2 Habt Sehnsucht nach der vernünftigen lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein, damit ihr durch sie zunehmt zu eurem Heil,
3 da ihr ja geschmeckt habt, dass der Herr freundlich ist.
4 Zu ihm kommt als zu dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen ist, aber bei Gott auserwählt und kostbar.
5 Und auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Hause und zur heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche Opfer, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus.
6 Darum steht in der Schrift (Jesaja 28,16): »Siehe, ich lege in Zion einen auserwählten, kostbaren Eckstein; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.«
7 Für euch nun, die ihr glaubt, ist er kostbar; für die Ungläubigen aber ist »der Stein, den die Bauleute verworfen haben und der zum Eckstein geworden ist,
8 ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses« (Psalm 118,22; Jesaja 8,14); sie stoßen sich an ihm, weil sie nicht an das Wort glauben, wozu sie auch bestimmt sind. 9 Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht;
1. "Alles beginnt mit der Sehnsucht." Wir sind sehnsüchtig wie die neugeborenen Kindlein nach der vernünftigen, lauteren Milch. Für unser Leben als Christ ist das geradezu die Überschrift schlechthin. Wir sind Sehnsuchtsleute, Menschen, in deren Herzen Raum für mehr, Größeres ist.
Genauer und konkret: Für das Wort, das wir uns nicht selber sagen können, das uns vielmehr gesagt wird, das uns von Gott gesagt ist, dass von der Freundlichkeit Gottes erzählt, dass uns die Zuwendung unseres Gottes nahebringt, dass von der Sehnsucht Gottes nach unserer Gemeinschaft berichtet. Diese Sache mit der Sehnsucht berührt ein Thema, das Zeit und Ewigkeit, Gott und Mensch, Unendlichkeit und den Ort, an dem ich lebe, zusammenbindet und verknüpft. Und uns daran erinnert, dass in unserem Herzen Raum für mehr, für Schöneres, für Größeres ist.
Diese Sehnsucht durchzieht wie ein Cantus Firmus unsere Glaubensgeschichte. (Mose seufzt auf dem Berg Sinai: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen" (2. Mose 33,18) Die Jünger sagen bei der Verklärung Jesu auf dem Berg Tabor begeistert: „Lass uns hier Hütten bauen." (Lukas 9,33)
Vom Kirchenlehrer Augustinus ist überliefert: „Unruhig sei unser Herz bis es Ruhe findet in Gott." Mystiker wie Gerhard Tersteegen haben zahlreiche Gedichte und Lieder geschrieben:
„Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben,
aller Dinge Grund und Leben,
Meer ohn Grund und Ende, Wunder aller Wunder:
Ich senk mich in dich hinunter.
Ich in dir, du in mir,
lass mich ganz verschwinden,
dich nur sehn und finden."
Dorothe Sölle sagt es ein wenig kämpferischer, aber in ähnlicher Dringlichkeit:
„Es muss noch mehr als alles geben!". Mehr als all das, was uns vorgesetzt wird an angeblich wichtigem, Bedeutendem und Bemerkenswertem.
Wir sind sehnsüchtig nach der Fülle des Lebens und Daseins, wir sind süchtig nach dem Leben, dass Gott unser Schöpfer uns geben und schenken möchte.
Eine andere Frage ist, ob wir uns dieser Sehnsucht so ohne weiteres anvertrauen.
Wer aus dem Vollen schöpfen möchte, wer mehr als alles anstrebt steht in Gefahr am Ende mit leeren Händen dazu stehen. Muss nach allem Tun und Machen vielleicht eingestehen, dass es nur für kleine Portionen gereicht hat. Muss mit Enttäuschungen rechnen. Nicht wenige schrauben die Erwartungen entsprechend zurück. Oder dimmen die Unruhe zu einer flackernden Funzel herunter. Anders Petrus in seinem Brief, der bei seinen Lesern diese Sehnsucht geradezu neu befördern und wecken will. Weil sie uns die Tiefe und den Sinn des Daseins wie nichts sonst erschließen kann. Weil es bei dieser Sehnsucht um mehr geht als um Unterhaltung und Entertainment. Weil diese Sucht nach Leben sich nicht auf Kaufen und Konsum reduzieren lässt. Weil diese Sucht nach letztem Sinn nicht in der Arbeit, im Job oder im Hamsterrad der Karriere gefangen ist. Weil diese Sucht nach mehr sich weder im Essen noch im Trinken erschöpft. Weil diese Sucht nicht auf Mager oder Fett, auf Körpergewicht und Body - Maß - Index fixiert bleibt. Weil diese Sucht nicht mit Tabletten, Aufputschmittel oder Drogen zu höheren Bewusstseinszuständen kommen möchte. Das alles sind Süchte, die ins Leere, in die Leere führen. Die uns hungrig und unzufrieden und rastlos und gelangweilt und zutiefst unzufrieden zurücklassen. Die Sehnsucht nach Gott ist die einzige Sucht, die uns auf gesunde und fruchtbare Weise mit dem Ursprung und Ziel unseres Lebens verbinden kann. Und dann ernährt wie nichts anderes sonst.
Wie die Mutter mit ihrer Milch das Kind bringt uns diese Sehnsucht zu den Quellen, von und aus denen wir leben können. Sie bringt uns in die Nähe und in die Gemeinschaft Gottes.
2. "Alles beginnt mit der Sehnsucht.
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres."
Wir sind Menschen, die Sehnsucht haben nach der Quelle des Lebens, nach Gott. Zu diesem mehr gehört auch die Sehnsucht nach einem Menschen, an dem man sich orientieren, aufrichten, ausrichten kann. Der einem sagt, wo es lang geht, mit Klima und Datenschutz, selbstbestimmtem Leben und Sterben, würdevollem alt und lebenssatt werden. Wir wollen gerne wissen, wie das Miteinander in Buntheit und auseinanderdrifteten Lebenswelten gelingen kann und welche Schritte nötig sind, damit eine Gesellschaft ihre Identität, ihre Werte und ihre Lebensmelodie nicht aus den Augen verliert. Der Erwartungsdruck ist da ja enorm, hoch, groß oft überdimensional hoch. Und es gehört zu den ernüchternden Erfahrungen unserer Tage, dass die hoch gehypten, mit vielen Klicks versehenen Meinungsmacher, Influencer und Medienstars, die Messiasse unserer Tage ihren Glanz, ihre Faszination oder Zauber meist über Nacht oder doch schneller als gedacht verlieren. Oder sich herausstellt, dass hinter der Fassade eine Reihe der altbekannten menschlichen Abgründe, Unvollkommenheiten und Schieflagen lauert. Insofern ist Petrus, unser Briefeschreiber ausgesprochen mutig. Er schreibt uns, den Getauften, ins Stammbuch, dass wir mit unserer Sehnsucht nach letzter Glaubwürdigkeit fündig werden können bei Jesus Christus, dem Eckstein, den Stein des Anstoßes, den Stein des Ärgernisses.
Bei Jesus - Petrus wird nicht müde das immer wieder zu betonen - bei Jesus sind wir mit dieser Sehnsucht nach letzter Glaubwürdigkeit richtig. Gerade weil sich an ihm die Geister scheiden. Er eckt an und reizt zur Entscheidung. Mit seiner bedingungslosen Liebe zu den Sündern, zu denen, die am Rande stehen und mit denen wir eher nicht zu tun haben wollen. Mit seiner kompromisslosen Parteinahme für die, die wenig Bildung, keine Lobby und in der Regel nur die unattraktiven Plätze im Konzert der Wichtigen und Einflussreichen bekommen. Mit seiner schier grenzenlosen Empathie für Menschen, die aus dem Tritt gekommen sind, durch Krankheit, durch Streit in der Familie, durch Unzufriedenheit mit sich selbst. Mit seinem geradezu naiven Vertrauen auf die Möglichkeiten Gottes, wenn es um Heilung und Umkehr, Sündenvergebung und Neuanfang geht. Mit seinen aufwühlenden Statements zu Tod und Leben, mit seiner unerhört einseitigen und entlarvenden Kritik des herkömmlichen Frömmigkeitsbetriebes. Mit seinem unerbittlichen Insistieren auf dem Vorrang des Menschlichen vor allen Gesetzen und Regeln.
Wir, das heißt auch die Kirche, arbeiten uns seit 2000 Jahren daran ab, dass Jesus womöglich gar nicht so radikal anders, nicht so grundsätzlich eindeutig und nicht so vorbehaltlos in seiner Zuwendung zu den Menschen gewesen ist. Dass die Worte der Bergpredigt lediglich ein Anreiz sein sollen, um in die richtige Richtung zu gelangen. Denn erfüllbar und lebbar sei das alles nicht, bestenfalls für die Klassenbesten und frömmsten Gemüter. Wir haben das Evangelium für alle einigermaßen heruntergedampft auf ein Maß, dass wir für schaff- und erfüllbar halten. Was wir mit unserem gut bürgerlichen Leben einigermaßen in Einklang zu bringen glauben können. Es ist bei uns wie bei der Geschichte von den Gänsen, von denen der dänische Philosoph und Schriftsteller Kierkegaard erzählt:
„Ein Haufen schnatternder Gänse wohnt auf einem wunderbaren Hof. Sie veranstalten alle sieben Tage eine herrliche Parade. Das stattliche Federvieh wandert im Gänsemarsch zum Zaun, wo der beredte Gänsereich mit ergreifenden Worten schnatternd die Herrlichkeit der Gänse dartut. Immer wieder kommt er darauf zu sprechen, wie in Vorzeiten die Gänse mit ihrem mächtigen Gespann die Meere und Kontinente beflogen haben. Er vergisst nicht, dabei das Lob an Gottes Schöpfermacht zu betonen. Schließlich hat er den Gänsen ihre kräftigen Flügel und ihren unglaublichen Richtungssinn gegeben, dank deren die Gänse die Erdkugel überflogen. Die Gänse sind tief beeindruckt. Sie senken andächtig ihre Köpfe und drücken ihre Flügel fest an den wohlgenährten Körper, der noch nie den Boden verlassen hat. Sie watscheln auseinander, voll Lobes für die gute Predigt und den beredten Gänserich. Aber das ist auch alles. Fliegen tun sie nicht. Sie machen nicht einmal den Versuch. Sie kommen gar nicht auf den Gedanken. Sie fliegen nicht, denn das Korn ist gut, der Hof ist sicher, und ihr Leben bequem."
"Christentum ist Brandstiftung", hat Kierkegaard seinen Zeitgenossen vielleicht ein wenig undiplomatisch, aber unmissverständlich entgegengeschleudert, "und ihr macht da was Warmes, Gemütliches draus und regelt das Feuer, das von Jesus ausgeht, auf Zimmertemperatur herunter, macht eure traditionellen Feste und Traditionen, wo niemals was Ansteckendes draus folgt, wo folgenlos über Liebe und Licht räsoniert wird, Aber fliegen tut keiner, abheben und diese Welt aus den Angeln heben tut keiner. Denn das Korn ist gut, der Hof ist sicher und das Leben ist bequem." (Das Korn ist auch für den Pfarrer gut, der Hof ist auch für den Pfarrer sicher und das Leben ist auch für den Pfarrer bequem)
Und doch und daran werden wir heute Morgen mit Petrus erinnert, gibt es diese Sehnsucht, die über gutes Korn, sicheren Hof und bequemes Leben hinausgeht. Es gibt diese Sehnsucht nach einer Authentizität, die sich nicht in dem Machbaren und Möglichen erschöpft. Es gibt diese Sehnsucht nach einem, der den Ärger, den Streit, den Widerspruch zu uns durchhält aushält und dafür auch sein Leben einsetzt. Um im Bild mit den Gänsen zu bleiben:
Es gibt auch bei uns diese Sehnsucht zu fliegen. Und bevor wir da allzu theoretisch abgleiten, wie, wo und wann wir da in geeigneter Weise anknüpfen können, sei an Martin Niemöller mit seiner recht einfachen, schlichten, aber eindringlichen Frage erinnert: Was würde Jesus dazu sagen...? Was würde Jesus sagen zu Klima, Datenschutzverordnung, Bewahrung der Schöpfung, Gerechtigkeit für alle, Zuflucht für Gestrandete? Die Tücke liegt vermutlich darin, dass wir da keine fertigen Antworten, Konzepte hätten, sondern selbst im hier und jetzt und mit unserem eigenen Leben Antworten suchen und finden müssten. Und dabei auch in die eine oder andere Sackgasse geraten würden. Was aber durchweg kein Schaden wäre, sondern uns erfrischend nah in die Gefolgschaft Jesu brächte. Die Jünger sind bei aller Wertschätzung ihrer Kompetenzen ja vor allem Menschen, die dazu lernen und ihren Horizont immer mehr erweitern - bekanntlich dann so weit, dass die frohe Botschaft über etliche Umwege auch uns hier in Kaiserswerth erreichen konnte.
3. „Alles beginnt mit der Sehnsucht,
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres."
Wir sind Menschen die Sehnsucht haben nach der Quelle des Lebens, nach Gott.
Wir sind Menschen, die Sehnsucht haben nach dem wahren Menschen Gottes, nach Jesus. Und wir sind Menschen, die Sehnsucht haben nach etwas, was das Göttliche auch in uns sichtbar und spürbar macht. In der christlichen Tradition ist hier in der Regel von dem Geist Gottes die Rede, von dem ja auch in dem dritten Teil des Apostolischen Glaubensbekenntnisses Einiges genannt wird. Der in uns Wohnung nehmen will und wird, der uns mit Gottes Gegenwart er- und ausfüllen will. Der uns in besonderer Weise vergewissert, dass wir Gottes Kinder sind. Petrus sagt es in seinem Brief ähnlich eindrücklich: „Ihr seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, das ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht."
Angesichts dieser Titelsammlung kann man fast ein wenig schwindelig werden. So viele Orden auf einmal sind wir ja gar nicht gewohnt. Zumindest, wenn man das ernst nimmt und für sich gelten lässt. Wir sind erwählt, persönlich mit Namen gemeint und von Gott in Anspruch genommen. Die Taufe ist das große „Ja" Gottes über unser Leben und das gilt für Zeit und Ewigkeit. Wir sind königlich, und das meint: in dieser Gemeinschaft muss keiner mehr buckeln und sich krumm machen, hier darf jeder aufrecht gehen. Wir sind priesterlich, und das meint: in dieser Gemeinschaft hat jeder und jede einen direkten Zugang zu Gott, die herkömmliche Hierarchie vor dem Altar wird ein für allemal überwunden, es braucht keinen zusätzlichen Stellvertreter in welcher Amtskleidung auch immer, um mit Gott in Kontakt zu kommen. Wir sind Heilige und das meint: Wir dürfen einmal von uns und unsere Leistungen, Talenten und vorzeigbaren Qualitäten absehen, sie sind für unser Gottesverhältnis nicht entscheidend, wir sind von Gott für gut befunden, er verleiht uns dieses Prädikat „heilig", denn er sieht uns mit den Augen Jesu, und das sind die Augen der Liebe, die alles, die selbst den Tod überwindet. Und wir gehören zu Gott, sind Gottes Menschen, sind Gottes Volk und als solches gehören wir zu der Familie der Kinder Gottes, die mit ihm verbunden sind für alle Zeiten der Welt. Und wir dürfen diese ausgesprochen ermutigende Botschaft allen sagen, die es noch nicht wissen, noch nicht gehört haben, denen diese Gegenwart Gottes in ihrem Leben noch nicht begegnet ist, aus welchem Grund auch immer.
Nelly Sachs schreibt:
„Alles beginnt mit der Sehnsucht,
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres -
Das ist des Menschen Größe und Not:
Sehnsucht nach Stille, nach Freundschaft und Liebe.
Und wo Sehnsucht sich erfüllt,
dort bricht sie noch stärker auf -
Fing nicht auch Deine Menschwerdung, Gott,
mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?
So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen,
Dich zu suchen,
und lass sie damit enden,
Dich gefunden zu haben."
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.
Amen.
Pfr. Daniel Kaufmann
4.n.Trinitatis, 14.07.2019, Stadtkirche, Lukas 6,36 - 42, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 14.VII.2019 – 4.n.Trin.
Lukas 6,36-42
Liebe Gemeinde!
Die geflügelten Worte der französischen Revolution, die heute vor 230 Jahren mit dem Sturm auf das Bastille-Gefängnis begann, sind ungeachtet ihres guten Klangs in Wahrheit doch buchstäbliche Schlag-Worte: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ wurden trotz emanzipatorischen Grundtons zum schrillen Alarmläuten des Terrors. Wer immer sich mit 1789 als Urdatum unseres westlich aufgeklärten Europa befasst, kann nicht überhören, dass aus den zentralen Versprechen auch des heutigen demokratischen Gemeinwesens rasch die Lizenz zu Willkürmorden, Racheherrschaft und einer blutigen Entchristianisierung durch den „Wohlfahrtsausschuss“ Robespierres wurde.
Man wird deshalb die Parolen nicht verwerfen, die in den Ohren der deutschen Dichter und Denker von Weimar, Jena und Tübingen damals wie Musik klangen.
Ebenso wenig wird man andere hohe Ideale verleugnen wollen, die etwa in der Propaganda der DDR – und auch da nicht nur von schlechten Dichtern – besungen und gefeiert wurden: „Fortschritt, Frieden, Solidarität“.
Schließlich bemühen wir ja auch weiterhin den Dreiklang der kirchlichen Schützenbruderschaft, dessen Elemente ebenfalls sämtlich nicht nur schön, sondern auch nach verschiedenen ideologischen Spielarten der Schuld klingen: „Glaube, Sitte, Heimat“. ———
Hält man sich dieses blutgetränkte, schillernde Wortgewebe der Weltgeschichte vor Augen, wird man für die Bergpredigt oder Feldrede – also für die bei Matthäus und Lukas aufgezeichnete Grundsatzpredigt Jesu – umso dankbarer.
Kurz ist sie, klar ist sie, und dennoch ist sie in erster Linie kein Steinbruch der Sprichwörter und erst recht keine Fundgrube der Kampflosungen.
Die grundsätzlichen Worte Jesu sind eben nicht – und das muss uns hörende Gemeinden der Reformation ganz besonders hellhörig machen! – Textnachrichten, sondern Tatnachrichten. Wir müssen unsere Taten nach ihnen richten, wollen wir sie denn verstehen. Jesu Worte sind nämlich Tu-Wörter. Das Verbum Dei – das Gotteswort des Evangeliums – will in die Verben unseres Lebens, in’s Tun und Lassen, in’s Geben und Nehmen, in unseren Eifer und unsere Standhaftigkeit, in unseren aktiven Gehorsam und dessen praktische Folgen, kurzum: in unser tägliches Leben und Sterben übersetzt werden.
Nicht, wer die Feldrede oder Bergpredigt hört, sondern wer sie tut, ist ein Jünger des dort lehrenden Meisters – so wie es schon die ewiggültige Antwort Israels auf die Offenbarung am Sinai bestätigt, wo das Volk auf die Verlesung der Gebote hin ausrief: „Wir wollen sie tun und hören“ (2.Mose24,7)!
Und darum ist es passend, dass sich die Kultusminister und das Kirchenjahr heute so uneinig sind: Die einen wollen, dass wir uns heute von den Ferien, von Wochen voller Müßiggang ansprechen lassen; das Kirchenjahr dagegen schickt uns den 4.Sonntag nach Trinitatis, der uns alle Jahre wieder fragt: „Tut ihr, was euch gelehrt wurde? Lebt ihr die Botschaft Christi? Handelt ihr in seinem Geist?“ …….
Urlaub contra Ethik also.
Nicht, weil Ruhe ein Laster wäre … im Gegenteil.
Aber weil Tatenlosigkeit Sünde ist. —
Was also sollen wir tun?
Das, was im Anfang verboten war – weil überflüssig. Nun aber ist es notwendig, weil es die Lebensweise des Ursprungs, des Paradieses in die tod- und schuldbedrohte Welt rettet.
….... Was wir tun sollen? … Sein wie Gott!
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“
Mit diesem Imperativ erfüllt sich ja ausgerechnet das halb andeutungsvolle, halb skeptische Geraune der Schlange, die als Folge der ersten Gebotsüberschreitung ja in Aussicht gestellt hatte (1.Mose3,5): „An dem Tag, da ihr von der verbotenen Frucht esst, werden euren Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“
Geglaubt hatte sie es natürlich nicht – wie sollte die verzweifelte Zweifelverführerin denn auch glauben? Dass man mit offenen Augen wie Gott werden könne, war ihrerseits eine leere Versprechung, eine Verlockung in den blinden Wahn. … Nie könnte das doch möglich sein.
… Aber es ist möglich.
Und Jesus gebietet es uns, dass wir die Bosheit der Schlange mit genau diesem Guten überwinden (vgl. die heutige Epistellesung Römer 12,21): Ihr niemals ernstgemeintes Wort wird tatsächlich wahr!
Die Barmherzigen können sein wie Gott!!!
Wie aber das?
Wie kommt es, dass die unsinnige List, die die Menschen zur Entscheidung gegen Gott brachte, sie tatsächlich in Seine Nähe, in Verbindung und Verähnlichung zu Ihm führt?
… Das geschieht durch die Erfahrung, die der Fall in die Sünde, in die Giergelüste und Machtmachenschaften den Menschen bescherte: Wer Gottes schonende Warnung vor dem Drang nach All-Wissen und All-Können abschüttelt, gerät auf die Schattenseite des Lebens, gerät in die zwielichtige, graue, grauenvolle Wirklichkeit alles Möglichen.
… Und so widerfuhr der Menschheit Leid: Das Leid, richtig, aber auch falsch wählen und handeln zu können; das Leid, Gutes ebenso wie Böses versuchen und sogar vollbringen zu können; das Leid, nichts mehr ohne sein Gegenteil zu finden und zu erleben.
Wer aber so in die Not dieser Welt, in die Schmerzen des Schuldigwerdens und in die Krankheiten und Schwächen des schutzlos gewordenen Lebens sieht, … wer seine Augen davor nicht verschließt, sondern erkennt, in welcher Wirklichkeit die Menschen existieren, der lernt durch solche Einsicht jenen Blick, der ihn auf den Posten an Gottes Seite stellt: Den Blick des Mitleidens, den Blick des Barmherzigen.
Auf dem Weg der Wahrnehmung von Sünde, Leid und Tod kommt der Mensch, dem die Augen dafür aufgegangen sind, also tatsächlich zu Gott!
Das hatte die Schlange nicht ahnen können: Dass es eine solche Gemeinsamkeit zwischen den durch ihre freie Übertretung betrogenen Menschen und dem geduldigen, langmütigen, gnädigen Gott der Barmherzigkeit und Vergebung (vgl. 2.Mose33,19 + 34,6f!) geben könne.
Aber was immer sie böse zu machen gedachte, Gottes Erbarmen hat’s doch gut gemacht (vgl. die heutige alttestamentliche Lesung 1.Mose 50,20): Der Schöpfer von Eden wurde nach dessen Verlust zum Heiland und Tröster Adams und Evas.
Und in Jesus Christus bindet Er Menschen in diese, Seine göttlich rettende Liebe zur menschlichen Hilflosigkeit ein.
Und um nichts anderes geht es in der Ethik Jesu, in den grundlegenden Weisungen vom Berg und vom Feld:
- Die Wirklichkeit wie Gott selber mit Augen des Erbarmens anzublicken.
- Schluss zu machen mit der kalten Arroganz der Macht, die glaubt, andere rein nach den eigenen Gesichtspunkten beurteilen zu dürfen.
- Ernst zu machen mit der Einsicht, dass keiner besser oder mehr sehen kann, als irgendein anderer … es sei denn, er blicke gnädig auf die Dinge! ——
In dieser entscheidenden Perspektivverschiebung – weg von unserer selbstbezogenen Blick-verengung, hin zur Weite des göttlichen Wohlwollens – liegt alles, was wir tun sollen.
Barmherzigkeit, Barmherzigkeit, Barmherzigkeit: Das ist tatsächlich das Ganze der christlichen Gebote! ——
Allerdings schwebt uns dabei wahrscheinlich etwas viel zu Weiches und Verschwommenes vor! Barmherzigkeit ist nicht der altersmilde Weichzeichner, der uns alle Dinge durch gerührte Tränen regenbogenfarbig sehen lässt. Im Gegenteil:
Es ist Hässliches und es ist Hartes, das uns überhaupt erst lehren kann, die Welt so zu sehen wie Gott sie schaut.
Vergessen wir nicht, dass Gottes Welt- und Menschenkenntnis nicht durch Wolkenschleier hindurch von oben entstehen, sondern in fürchterlicher Nahaufnahme von unten:
Aus einem Futtertrog fällt sein erster Blick auf die unbarmherzige Welt, die Flüchtlingskinder irgendwo notdürftig unterkriechen oder gleich verderben lässt.
Und vom letzten Rand der Gemeinschaft, aus den Baracken der Staaten- und der Rechtlosen, die in Ägypten in Gestalt unserer koptischen Glaubensgeschwister bis heute an den Müllbergen siedeln, betrachtet der Junge, der vor Herodes floh, die Welt, die ihn erwartet.
Und in der Kälte der schwarzen Nächte, in denen er weder Nest noch Grube hatte (vgl. Matth.8,20), und in der Hitze der Tage, in denen er in der Wüste fastete und dürstete, und durch die Vertrautheit mit dem Leid der Verletzten, der Ohnmächtigen, der Verkrüppelten, der Verachteten, deren Wunden er küsste, deren Mahlzeiten er teilte, deren Elend ihn umfing … aus diesem brutalen, freiwilligen Dichtdransein am Puls der in Schuld und Hoffnungslosigkeit und Gewaltherrschaft gefallenen Wirklichkeit, formte sich seine Sicht des Lebens und des Todes.
Bis seine Augen – geschwollen von Schlägen, verklebt vom Blut – am höchsten Punkt seines Weges brachen … als er erhöht worden war über alle (vgl. Joh8,28), … als die Welt ihn gekreuzigt hatte.
Das ist die Sehschule der Barmherzigkeit.
Wahrhaftig nicht eine Betrachtungsweise frommer Denkungsart, die mit wohlfeilen Sprüchen, gefühligen Redewendungen oder sonstigen Zückerchen dem Affen zu Leibe rückt.
Barmherzigkeit ist nicht verständnisvolle Nettigkeit und auch nicht liberale Toleranz.
Barmherzigkeit heißt schonungsloses Wissen um die Wirklichkeit der Verlorenen.
Barmherzigkeit verdankt sich also der Einsicht in die menschliche Verdammnis.
Barmherzigkeit erwächst nämlich tatsächlich nur da, wo man die Unbarmherzigkeit, … nein, die Hartherzigkeit, … nein, die völlige Herzlosigkeit, … wo man den Horror und den Hass der Menschenhölle ernsthaft erfahren hat.
Solange wir die ausblenden, sind wir blinde Blindenführer. Erst wenn wir sehend werden, wo man lieber wegschaut, erst wenn uns klar wird, was man gewöhnlich verwischt, erst wenn scharf vor unseren Augen steht, was andere gewöhnlich übersehen … erst dann können wir die Liebe Gottes, Seine Gerechtigkeit und Sein ganzes Herz erfassen und daran wachsen, Ihm nachzufolgen, nahe zu kommen und ähnlich zu werden. —
Wahrhaftig: Erst außerhalb unserer Paradiese werden unsere Augen aufgetan, … erst dann erkennen wir, was gut und böse ist und werden wie Gott … erfüllt von der Notwendigkeit, Not wahrzunehmen, um sie lindern, abwenden und überwinden zu können.
Am eindringlichsten und unmittelbarsten geschieht das indes von Angesicht zu Angesicht: Nicht am Bildschirm und nicht in der intellektuellen Reflektion, nicht in theoretischer Politisiererei und auch nicht in den Programmen, Parolen und Predigten, die uns allenfalls als Forum ethischer Diskussion herhalten zu müssen scheinen.
Nein, Aug in Aug sollen wir uns den Tatsachen stellen, um zu tatsächlichen Tätern der Barmherzigkeit zu werden.
Und es hat ja alles Augen!!!
Jeder Gegenstand, den wir achtlos nutzen, guckt uns an mit den Augen derer, die sich für ihn in die Minen und deren Gift abseilten, die an den Fließbändern standen, obwohl sie in die Schulbank gehört hätten, die in den Nähfabriken bis zur Erschöpfung und auf den Märkten der Welt für einen Hohn von Hungerlohn geschuftet haben … und mit den Augen derer, die das nicht mehr aushalten, Kurs auf ein neues Leben machen, festgehalten werden, nicht mehr bei Trost sind, … ertrinken. .
Jeder Apparat unserer Lebenserleichterung blickt uns mit den Augen der Tausende an, die mittelbar für ihn bezahlt haben, aber nie in den Genuss gekühlter, sauberer, gesunder, frischer Nahrung, bequem abgerufener Erkenntnis oder sinn- und sorgenfreien Vergnügens kommen werden, weil sie am falschen Ort geboren wurden, unterdrückt bleiben, zu kurz nur leben dürfen. …….
Augen, … Augen, … überall Augen, die auf unser gutes Leben, unser gutes Gewissen, unsere guten Geschäfte geheftet sind … und staunen, … weinen, … anklagen.
Überall aber auch Augen, die aus der Ferne der Zukunft auf uns schauen: Forschend, zornig, unversöhnlich, weil wir auf unsern überflüssig geflogenen und gefahrenen Wegen, bei unsern verantwortungslos verschlungenen Selbstverständlichkeiten, ja sogar in jedem Tropfen vergossenen Wassers ihren Anteil an den zeitlichen, endlichen Gütern verbrannt und verschleudert haben.
Allen diese Augen müssen wir zu begegnen lernen.
Ihren Blicken müssen wir standhalten … und sie erwidern.
Dann lernen wir an diesem Sonntag der Ethik, die keine Unterbrechung, keinen Urlaub kennt, sondern nur Schritte auf dem Weg der Barmherzigkeit, der der Weg zu Gott ist, … dann also lernen wir – wenn wir den Anderen, den Fremden, den Künftigen, unseren Nächsten so in die Augen blicken – , dass wir wahrhaftig nicht auf ihre Splitter achten, nicht auf das an ihnen, was uns ein Dorn im Auge sein mag, sondern auf den Balken in unserem Auge.
Dieser Balken, der unsere Sicht verstellt, ist das verhängnisvolle Denkmal, das wir uns selber errichten und das sich in den angstvollen und zornigen Augen der Vielen spiegelt und sie trübt.
… Denn mit dieser Siegessäule unserer Selbstsucht sind wir ja verantwortlich für das, was den anderen den Ausblick auf Gott, auf Gnade und Frieden nimmt.
Und darum müssen wir den Balken und alles, was er stützt, über kurz oder lang – jeder für sich und die handlungsfähigen Verantwortlichen dieser Welt gemeinschaftlich – tatsächlich ziehen und aus unserer Weltanschauung ein für allemal entfernen!
So werden wir nämlich endgültig erkennen, wer an diesem Balken unserer Selbstsucht gekreuzigt ist.
… Und wie wir durch den Verzicht auf unsere Vorrechte und ihr Unrecht nicht nur der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit aller Menschen näher kommen, sondern zuerst und zuletzt auch jener Barmherzigkeit, auf die wir alle so unendlich angewiesen sind.
Diese Barmherzigkeit, die wir brauchen und um derentwillen Jesus Christus am von uns errichteten Balken gekreuzigt wurde, … diese Barmherzigkeit und nichts anderes sollen wir schließlich auch selber leben!
Wie Gott.
Durch Ihn.
Bis zu Ihm hin!
Amen.
Trinitatis, 16.06.2019, Stadt- und Jonakirche, 2.Korinther 13,11-13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona Trinitatis - 16.VI.2019
2.Korinther 13,11-13 – Tersteegen Gedenkjahr
Zuletzt, Brüder und Schwestern, freut euch, lasst euch zurechtbringen, lasst euch mahnen, habt einerlei Sinn, haltet Frieden! So wird der Gott der Liebe und des Friedens mit euch sein.
Grüßt euch untereinander mit dem heiligen Kuss. Es grüßen euch alle Heiligen.
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!
Dazu Tersteegen (EG 252, 2 + 3+ 6):
Ach, dein Lebensgeist durchdringe, / Gnade, Kraft und Segen bringe
deinen Gliedern allzumal,
wo sie hier zerstreuet wohnen / unter allen Nationen,
die du kennest überall.
O wie lieb ich, Herr, die Deinen, / die dich suchen, die dich meinen;
o wie köstlich sind sie mir!
Du weißt, wie mich’s oft erquicket, / wenn ich Seelen hab erblicket,
die sich ganz ergeben dir.
Laß die Deinen noch auf Erden / ganz nach deinem Willen werden,
mache deine Kinder schön,
abgeschieden, klein und stille, / sanft, einfältig, wie dein Wille,
und wie du sie gern willst sehn.
Liebe Gemeinde!
„Zu Pfingsten, dem lieblichen Fest, hast Du viel zu kompliziert gepredigt – und auch noch gebrüllt!“, höre ich. …….
– Natürlich könnte man den Heiligen Geist, Der beim Verstehen hilft, auch damit herausfordern wollen, zu zeigen, was Er kann. … Aber ein Jammer und ein Spiel mit der Lästerung ist es doch.
Und darum kann ich nur dankbar sein, dass heute zwar der Tag der allerhöchsten Komplikation unseres Glaubens gekommen ist – der Tag, an dem wir jene einzigartige christliche Erkenntnis und Lehre feiern, die in keiner anderen Offenbarung oder Weltanschauung vorkommt … der Tag der Trinität, der Dreieinigkeit – und doch wird alles ganz einfach, wenn wir uns einem der Brüder anschließen, die vor uns den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist geliebt und angebetet haben.
Dieser Fremdling unter den großen Köpfen, dieser Pilger abseits der Zeitströmung, dieser Gottesfreund, der sich selbst freiwillig zu den „Stillen im Lande“ zählte, weil er ein eintöniges Handwerk - das Bandwirken - ausübte, um durch kein weltliches Geschäft vom ständigen Gebet abgelenkt zu werden, … dieser Gerhard Tersteegen ist ein so freier, furchtloser, konsequenter Jünger Jesu gewesen, dass unsre niederländisch-niederrheinisch-bergische Landschaft vielleicht bis heute nicht weiß, wer da zwischen Moers und Mülheim und Krefeld, zwischen Heiligenhaus und Velbert, zwischen Elberfeld, Barmen, Gruiten und Solingen ein Netzt aus hunderten Briefen und geistlichen Freundschaften und seelsorglichen Gesprächen und endlosen Gebetsgemeinschaften geknüpft hat[i]. … Er war das, was er andere ohne Scheu nannte – weil er die Gegenwart des Heiligen Geistes als die große Wirklichkeit des Christenlebens erfahren hatte:
… Er war ein „Heiliger“!?! —
Tersteegen selber liebte die Heiligen gerade so, wie der Apostel Paulus es am Schluss des 2.Korintherbriefes seiner hochproblematischen Gemeinde im Zeichen des heiligen Kusses aufträgt.
Paulus und Tersteegen erfassten nämlich, was die evangelische Mehrheit nicht mehr verstehen will: Wo Gott wirkt und angerufen wird, da dringen ein Licht und eine Wahrheit in und durch den Menschen, die ihn wirklich verwandeln. Wo Gott einen Menschen berührt – im rettenden Bad der Wiedergeburt (vgl.Titus3,5), in der lebenserhaltenden Speise, die uns Christus schenkt, durch das heilende Wort, das der Geist unmittelbar spricht – wo Gott einen Menschen berührt, da schafft Er ein neues Herz und einen neuen Sinn, … da beginnt ein Leben, das mit den stofflichen und zeitlichen Vorgängen, mit den Bedingungen der Bio-Chemie und der Physik nicht verrechnet werden kann. Christen sind neue Kreaturen und darum Fremdkörper in der materiell begrenzten Welt. In den drei Dimensionen dessen, was man gemeinhin die Wirklichkeit nennt, sind Christen nicht zuhause, denn sie gehören in die nächste Dimension … in die herrliche Freiheit von den drei anderen Schranken, die der Welt bevorsteht.
… Leute des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes sind also Außerirdische.
Und in dieser nicht einzuordnenden, in dieser ortlosen, utopischen Freiheit und Unkonventionalität, in der Christen nicht mehr leben können, als gebe es Gott nicht und als käme Sein Reich nicht und als wäre Er nicht unser eigentliches Ziel und Zuhause und darum schon jetzt unsere bestimmende und beschwingende Wirklichkeit … in dieser nicht einzuordnenden Freiheit glänzen und leiden die Heiligen, die man deshalb lieben muss und lieben kann, wenn man ahnt, wie angefochten und wie unabhängig, wie angespannt und wie siegreich, wie verrückt und wie getrost es macht, das Wunder der Freiheit in der Begrenzung des Gewohnten zu spüren.
Christen sind Heilige, weil sie den Überschuss, der Gott ist, in ihrem Leben verkörpern, und weil dadurch in ihrer Existenz alles anders – vieles mehr und vieles weniger – zählt, als bei denen, die nur im Hier und Jetzt und dann nirgends mehr sind.
Darum liebte, grüßte und küßte Paulus auch die Heiligen in Korinth, obwohl sie ihn zur Weißglut und zum Heulen brachten, mit ihren teils überspannten und teils naiven Vorstellungen von dem, was es bedeute, getauft oder ein Apostel oder von den Toten auferstanden zu sein:
Christen als Heilige bezeugen nämlich in ihrer jeweils eigenen Person tatsächlich die ungewohnte, irritierende, experimentelle, sakramentale, provokative, entwaffnende, emotional erschütternde, rational unerklärliche Gegenwart Gottes in der Menschheit.
Und es ist protestantische Selbstverstümmelung, die biblische Gewissheit zu verdrängen, dass die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes jeweils originelle und konkret-individuelle Gestalt in den Christen annehmen … nur aus Angst vor dem katholischen Vorbild.
Der evangelische Gegenentwurf vom „Priestertum aller Gläubigen“ ist längst ja zum geschmacksverdeckenden und konturlosen Kleisterüberguß geworden, der alle zu Gleichen erklärt und keinen mehr selbständig betrachtet. Doch die bei uns Protestanten so beliebte Gleichmache aller Menschen ist gerade auch mit dem allgemeinen Priestertum nicht gemeint, sondern wie im Begriff des „Heiligen“ so zeigt sich Gottes Nähe in jedem bestimmten Einzelnen auch darin lebendig, dass Er sich in so zahllosen, unverwechselbaren Individuen lauter Könige, Priester und Propheten berufen kann.
… Nicht wie vermeintlich gleich wir alle sind, sondern wie besonders – wie schöpferisch, menschenfreundlich und persönlich der dreieinige Gott ist, Der in unterschiedlichsten Menschen Wohnung nimmt und sie erfüllt: Darum geht es also … von Paulus bis Tersteegen!
Wenn wir das aber heute wieder erfassen, was Gerhard Tersteegen erfuhr – dass Gottes Allgegenwart und geistliche Einwohnung aus der Gemeinde aller Zeiten eine Wolke von Zeugen macht (vgl.Hebr.11) –, dann würde unsere Verarmung an Gesichtern und Geschichten des Glaubens der Fülle der von Gott Durchdrungenen und Getriebenen und Gehaltenen und Geformten weichen: Dann müsste evangelische Menschlichkeit nicht mehr nur aus den zwei stereotypen christlichen Vorbildern bestehen, die 90% unserer Predigten und Erbauungsbeispiele unter sich aufteilen – Dietrich Bonhoeffer und Martin Luther King –, sondern dann würden über den ethischen Bereich hinaus die Tiefe und Weite, die Helligkeit und Schönheit, die Ehrfurcht und die Freude des Christseins wieder Anziehung und Ausstrahlung unter uns gewinnen, wenn wir von den betenden und schweigenden, von den weisen und den inspirierten, von den duldenden und den hingerissenen Berufenen erzählen könnten … von den menschlichen Engeln, den Cherubim und Seraphim der Anbetung, von den Künstlern der Nächsten- und den Bergsteigern der Gottesliebe, … von den ansteckenden Hoffnungsträgern, … von den Menschheitswohltaten in-sich-gekehrter Bibelforscher, … von den vulkanischen Gerechtigkeitssuchern, … von den kristallklar Weitblickenden, … von den kleinen Lichtern in der Nacht … und – wie die Ostkirche es besonders liebt – von den Narren in Christo. —
Der leise, scheue, reformierte Gottsucher Tersteegen hat nun die Erfahrung des überwältigenden Reichtums Gottes in den Menschen gemacht, weil er keine Grenzen respektierte: In seinem Haupt- und Herzblutwerk, den „Auserlesenen Lebensbeschreibungen Heiliger Seelen“ hat er 25 z.T. geradezu kanonische, andererseits aber auch völlig unbekannte, beinah noch zeitgenössische katholische Heilige geschildert, weil er mit ihnen die Erfahrung solchen inneren Lebens – des „verborgenen Lebens mit Christus in Gott“ wie er es gut biblisch nannte (vgl.Kol.3,3) – teilte[ii].
Dieser Schatz, um den evangelische Sensibilität immer noch einen Bogen macht, ist bei ihm aber keinesfalls Ausdruck einer Menschenverherrlichung, eines Kultes heroischer Tugend oder sagenhafter Glaubenshelden, sondern im Gegenteil: Dass Tersteegen für Gott in den Menschen so empfänglich war, verdankt er seiner eigenen unerbittlichen Bescheidenheit.
… Niemals sich selber in den Mittelpunkt stellend, … zu keiner Zeit der narzisstischen Faszination des menschlichen Spiegelbildes erlegen, … stets nüchtern, karg und demütig darauf bedacht, zu hören, nicht zu hindern, … zu folgen, und nicht über sich selbst zu stolpern oder aus der Bahn zu stürzen, … akribisch auf innerliche Konzentration fokussiert, … immun gegen das Echo der eigenen Stimme, … eifrig, das ständige Abgelenktwerden des in Kleinigkeiten verzettelten Herzens zu meiden, bis Wahrnehmung, Gefühl und Verstand nicht nur Nebensachen, sondern die Vollkommenheit Gottes aus inniger Nähe wahrnehmen können, arbeitete Tersteegen an sich genau konträr zu unserer heutigen Ego-Technik:
Wir richten alles aus auf unsere Bedürfnisse und deren Befriedigung.
Tersteegen richtete sich darauf aus, dass kein Bedürfnis mehr in ihm krähte.
Wir fragen: Wie kann ich am besten für mich sorgen?
Tersteegen fragte: Warum sollte ich sorgen?
Wir wollen am liebsten alles haben.
Tersteegen erlebte, dass der Liebste alles hat. ———
In seinem „Handbrieflein von der wahren Mystik“[iii] gibt er knapp und klar den Weg an, auf dem nicht wir Heilige werden, sondern auf dem wir erfahren, dass Gott es ist, Der uns dazu beruft und führt:
„Ganz für Gott sein ist das Geheimnis des Inwendigen (mystischen) Lebens, wovon sich die Leute solche seltsamen und fürchterlichen Bilder machen. Und so leben wir, wann Christus selbst unser Leben wird.
Ein selbstgemachtes Christenleben, ein Christenleben, wovon nicht Christus, im Inwendigen lebend, der Ursprung und die Seele ist, ist nicht das, was es genennet wird, sondern eine tote Larve, eine äußere Gestalt ohne Leben und Kraft.
Wir sollen nur von unserm eigenen Tun ablassen, Jesu unser Herz wahrhaftig eingeben, bei ihm kindlich drinnen bleiben und ihn frei durch seinen Geist in uns wirken lassen.
Es ist nichts einfältiger, sicherer, lieblicher, fruchtbarer als dieses Herzensleben, welches nicht durch Lesen und Kopfanstrengen, sondern durch Sterben und Lieben gründlich erkannt und erfahren wird. Ist also mehr das Werk des Geistes Jesu in uns als unser eigenes Werk.“
Weit davon entfernt also, dass die Entdeckung der christlichen Heiligkeit oder der mystischen Frömmigkeit – der „Gottseligkeit und Gottesdienstlichkeit“, wie Tersteegen die von ihm und seinen Glaubensgeschwistern in der Gemeinschaft der Pilgerhütte bei Heiligenhaus geübte Lebenshaltung nannte[iv] – … weit entfernt davon, dass diese ökumenisch grenzenlose Spiri-tualität der lebendigen Erfahrung Gottes künstlich verklärte Menschenbilder schuf, war Tersteegens Blick auf sich selbst und die menschliche Psyche krampflos ehrlich.
In einem Lied „Von geist- und leiblicher Schwermüthigkeit“[v] kann er eine tatsächliche Depression besingen, und auch sonst ist bei ihm nichts von jener harmlosen Oberflächlichkeit, die so oft bei den Frommen begegnet, wenn sie den berühmten Friede-Freude-Eierkuchen mit der Schaumschlägerei ihrer simplen Sprüche garnieren.
Tersteegen lehrt in seiner Dichtung und Seelsorge, dass genau das die hohe Herausforderung des heiligen, also gottverbundenen Lebens ist: Sich nicht drüber weg zu täuschen oder schönzureden, wie selten es gelingt und wie schwierig es bleibt, sich auf das Wesentliche, auf das Eine, das nottut, … sich auf Gott zu konzentrieren.
Die kurze Aufmerksamkeitsspanne des flüchtig lebenden Menschen muss den ewigen Gott zu einer enormen Überforderung zu machen.
Die Flatterhaftigkeit unserer Interessen scheitert am Bleibenden.
Der unersättliche Appetit auf Abwechslung verleidet Den, Der die Treue selber ist. … Leichter fällt’s, vielen Luftgebilden nachzujagen, als im Geheimnis des einen Unergründliche an seine eigenen Begrenztheit zu stoßen.
Eher würde der Mensch also leer ausgehen, als seine sinnlosen Projektionen auf das Nichts aufzugeben.
Und darum ist es Mühe, sich vom vielen Scheitern des eigenen Wollens zurückzuziehen und ruhig zu werden, während Stolz, Hunger und Ehrgeiz uns doch zur Hektik treiben.
Es bedeutet echte Askese, nicht andauernd zeigen zu können, was man kann.
Es strengt an, nicht immer mehr Anstrengung und Erfolg zu beweisen.
Es ist hart, zufrieden zu sein.
Es ist nicht selbstverständlich, sich nicht selbst auf alles verstehen zu wollen. ————
Es ist also nicht der Mensch, der die für Tersteegen herrliche und wirkliche und dauerhafte Freiheit des Menschen, seine Gotteserfahrung, seine Gottseligkeit erreichen kann.
Es ist … und jetzt sind wir an jenem Punkt, an dem alles ganz einfach wird … es ist Gott allein und es ist ganz Gott, Der den Menschen zu sich bringt: Es ist Gott, Der den Menschen menschlich macht – und das heißt von Gott begrenzt, durch Gott begnadigt und mit Gott begabt.
Es ist Gott, weil Er dreieinig ist: Ursprung, Wendung und Heilung unseres Lebens, … himmlischer Vater, irdischer Heiland, innerste Kraft.
Gott ist das, … nur Gott.
Und wer nur Ihm, Ihm allein das eigene Herz, den eigenen Willen, das eigene Wesen lässt, der findet, gewinnt und hat alles, denn er erkennt die Wahrheit: Gott ist der Herr und Gott ist der Helfer und Gott ist das Geheimnis unseres Lebens.
Und so ist gefunden, wer sich in Gott verliert.
… Hat ewige Zukunft, wer in Gott vergeht.
Wird leben, wer in Gott sein Sterben nicht fürchtet.
Bleibt weise und sicher und selig, wer endlich alles in Gott vergisst.
Das ist die umfassende Weite des dreieinigen Gottes, Der vor allen, für alle und in allen war, ist und bleibt, und dessen biblischer Name darum das „Ich bin“ ist.
„Du erste Wesenheit! Du Wesen der du bist!
All unser Wesen, HErr, / verglichen dir, / nicht ist; (……..)
Ja, ich verlier mich selbst, / wenn ich an dich gedenk /
Und in dem Ocean dein’s Wesens mich ersenck.
Was Wesen hat fleußt hin und sinckt in diesem Meere:
Du bist allein/ du bist auch alles/ HErre!“[vi]
So ist wirklich der Eine – der Gott der Liebe und des Friedens – alles!
Und darum sei die Gnade unsers Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes mit uns allen!
Amen.
[i] Die umfassendste Monographie bleibt: C. P. van Andel, Gerhard Tersteegen: Leben und Werk – Sein Platz in der Kirchengeschichte, Neukirchen /Vluyn 1973.
[ii] Vgl. dazu R. Mohr, Eigenart und Bedeutung von Tersteegens „Auserlesenen Lebensbeschreibungen heiliger Seelen“, in: M. Kock & J. Thiesbonekamp (Hgg.), Gerhard Tersteegen – Evangelische Mystik inmitten der Aufklärung, Köln 1997, S.181-206.
[iii] Zitiert nach: Gerhard Tersteegen, Ich bete an die Macht der Liebe. Eine Auswahl aus seinen Werken, hg. v. D. Meyer, Gießen & Basel 1997, S.188f.
[iv] Vgl. G. Tersteegen, Kurze Abhandlung von dem Wesen und Nutzen der wahren Gottseligkeit, in: Ders., Weg der Wahrheit, die da ist nach der Gottseligkeit; bestehend aus zwölf bei verschiedenen Gelegenheiten aufgesetzten Stücken und Traktätlein nebst zwei Zugaben, Stuttgart 1905, S.122.
[v] Zu finden in: Johannes Schmidlin, Ein Hundert Geistliche Lieder aus dem Blumengärtlein Gerhard Tersteegens – Zürich 1764, Nachdruck: Köln 1997, Nr. XLIV, S.150f (Orthographie und Interpunktion zur besseren Verständlichkeit modifiziert [J.M.]): „Will man nach meinem Zustand fragen, / wie es mit mir beschaffen sei? / Ich muß gar heimlich etwas tragen, / das ich scheu zu entdecken frei. / Doch ich mich nicht enthalten kann, / etwas davon zu zeigen an: / Ich seh in mir gar tief verborgen / ein’n Abgrund von Melancholey; / der ist, wenn ich erwach am Morgen / als wenn er immer werde neu. / Drin bring ich jetzt die Tage zu / und finde nirgends Rast noch Ruh. / Dies macht ein unaussprechlich Sehnen, / daß ich schier wünschte, nicht zu sein, / als länger mich in Schwermut grämen / und heimlich leiden solche Pein. / Doch endlich wird der kalte Tod / zerbrechen, … zerbrechen diese Zentner-Not.“
[vi] Zitat aus: Heilige Sechs-Zahlen / oder Übung der Gottseligkeit gegen GOTT / durch das Gesicht und die Beschauung seines Wesens / und seiner göttlichen Vollkommenheiten. Anitzo aus Frantzösischen in Teutsche Reymen gebracht – „IX: Beschauung Gottes unter diesem Namen WESEN / GEIST“, in: Jean de Labadie, Hand-Büchlein der wahren Gottseligkeit (1727), Übersetzung des „Manuel de Piété“ von Gerhard Tersteegen, Nachdruck: Köln 1997, S. 232f.
1.Pfingsttag, 09.06.2019, Stadtkirche, Johannes 14,15-19.23b-27, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Tag der Ausgießung des Heiligen Geistes - 9.VI.2019
Johannes 14,15-19.23b-27
Liebe Gemeinde!
Wir sind nicht allein. Das ist die Pfingstbotschaft.
Wir sind nicht allein. Es gibt keine „nachchristliche“ Zeit, keine „gottlose“ Menschheit, es gibt keine „materialistische“ Weltanschauung und Wirtschaftsordnung und auch keinen künstlichen, virtuellen „Geist“. Sie alle beruhen – mitsamt ihren gewaltigen Phantomschmerzen und weltweiten Manifestationen – auf Selbsttäuschung. Wenn sich der blanke Ungeist des Kapitals, die nackte Selbstherrlichkeit des homo sapiens, die Trostlosigkeit des aufgeklärten Affen, der Gott entlarvte als Etwas, das der Primat nicht braucht, auch noch so eingeigelt haben in ihrem rein stofflich-endlichen Universum …, so weht es trotzdem durch die Köpfe und die Lüfte und dringt mal hier, mal da, mal laut, mal sacht, mal sehnsüchtig, mal wild, mal heimlich, mal sanft, mal schrecklich in die leeren Organe und Zellen und Apparate – und sie halten es für einen Spuk, für eine Strahlung, eine Störung. …….
… Und doch merken sie: Wir sind nicht allein! ——
Unsere pfingstliche Sorge und Freude sind aber eine andere, als da, wo es der Welt unversehens widerfährt, beseelt, beansprucht und erfüllt zu werden.
Wir getauften Jünger und Jüngerinnen des Auferweckten müssen uns nur fragen, ob wir das Nicht-Allein-Sein, das doch unser größtes Geschenk ist, noch würdigen oder ob wir es nicht schmählich und gründlich vergessen.
… Das aber ist schon 1000 Jahre länger die Pfingstfrage im Volk Gottes, als die Kirche Pfingsten feiert.
Denn auch das Fest Israels, das 10 Tage nach Jesu Himmelfahrt so viele Menschen aus so vielen Sprachen und Völkern am Tempel des HERRN versammelt hatte, stellte vor diese entscheidende Frage: Schawuot, das biblische Wochenfest, das dem Passahfest der Befreiung folgt, ist ja dem Gedächtnis der Gabe des Gesetzes am Sinai gewidmet. Und dieses Geschenk der Torah, diese Mitteilung der heiligen und heilstiftenden Weisung Gottes ist in Israel immer wieder von der Gefahr der Gewohnheit, des alltäglichen Gedächtnisschwundes und damit des schleichenden Vergessens bedroht worden.
So wie die Kirche die gleiche Gnadengabe gegenwärtiger Gottesweisung immer und immer wieder erst für selbst-, dann für unverständlich und schließlich für vergangen hält. ——
So oft Israel also an der heiligen Torah des HERRn, die es selbst verwirklichen sollte, gesündigt hat, so oft hat die Kirche den Geist, der ihre Wirklichkeit heiligen wollte, verraten und verdrängt. …….
Weißt Du, Israel, was die Torah ist, die Dir auf Sinai, wo die Himmel troffen vor Gott (vgl.Ps.68,9), anvertraut wurde?
Weißt Du, Christenheit, was der Geist ist, der zu Schawuot, am Pfingsttag ausgegossen wurde über Dir? —
Torah und Geist, Geist und Gebot sind Gestalten der Lebensliebe, der gelebten Liebe, des zu lebenden Geliebtseins: „Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten“, spricht Christus.
Das ist die Grundlage für alles, was von Gott kommt und zu Ihm führt und von Ihm bei uns ist: Geist und Gebot und Liebe als die drei Weisen des einen Gottgehörens, Gottgehorchens, Gottgenügens. Dreifach Gott in unserm Leben und unser Leben dreifach in Gott gelebt. …
Wer das verspürt und versteht – dass da, wo die Liebe zu Jesus Christus uns ihm folgen, ihm ähnlich werden lässt in Gerechtigkeit und Glaube, dass da mitten in der Ethik und Praxis eines irdischen christlichen Lebens alles voller Trost und Glanz und Glück, alles voller Gott ist – … wer das verspürt und versteht, der erkennt die für andere so materialistische und gottverlassene und nachchristliche Welt erst richtig.
Denn den Geist der Wahrheit kann man eben nicht in der Blickverengung finden, die für diese Welt so typisch ist: Hier sieht man sich. Denkt für sich, sorgt für sich, entscheidet für sich … ob in Politik, Industrie oder Privatleben, ob in Wissenschaft oder Kunst: Sich selbst der Nächste zu sein, von sich selbst nicht absehen zu können, das ist das Thema und das Ziel, … ja, es ist die von selbst unüberwindliche Natur dieser Welt, in der jeder von uns grammatikalisch und logisch in sich die 1.Person (!) findet.
Wer’s für eine der miesepetrigen Übertreibungen der Kirche hält, dass der Mensch übermäßig selbstbezogen sei, der kann an Jesu Pfingstversprechen gleich die Probe machen.
Allerdings ausnahmsweise nicht anhand der Frage, ob wir genug für andere da sind, sondern an ihrer Umkehr: Empfinden wir es überhaupt noch, dass uns andere fehlen? Lassen wir – die starken, selbstbewussten, eigenverantwortlichen Subjekte, die wir sind – lassen wir es zu, andere zu brauchen … oder halten wir es für unreif, auf fremden Rat und fremden Beistand, auf gutes Beispiel und gutes Zureden angewiesen zu sein?
Was ist also unser Bild von uns selber? Ist es nicht ziemlich genau in jenem befremdlichen Begriff des „Waisenkindes“ zusammengefasst? … Waisen sind solche, die von denen, die vor ihnen waren und für sie sein könnten, verlassen wurden und folglich mit sich selber vorlieb und für sich alleine anfangen müssen.
… Ist das aber nicht haarscharf das Bild, das die aufgeklärte Menschheit von sich selber pflegt: Da ist niemand, dem wir uns verdanken; wir sind unerklärlich einsam entstanden und so leitet unser Leben sich von nichts anderem her und führt folglich auch zu keinem andern Ziel, als der Selbstbehauptung und Selbstverherrlichung jenes urheberlos sinnfreien Zufalls, der wir sind.
… „Ich denke, also bin ich“: Die Abstammungsurkunde des modernen Menschen ist tatsächlich doch der trotzig-trostlose Urschrei eines metphysischen Findelkindes[i]. ——
Wie klar entgegengesetzt lautet nun aber das Pfingstversprechen Jesu „Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen!“
In dieser Zusage, dass unser Dasein nicht in der verlorenen Selbstherrlichkeit des vermeintlich vorgängerlosen Waisenwesens bestehen soll, sondern eingebunden in das Geheimnis Gottes, Der Vater und Sohn, Schöpfer und Geschöpf, Ursprung und Hervorbringung ist; … in dieser Zusage, dass wir genauso wenig Waisen bleiben sollen wie Jesus Christus selber, den sein Vater auch im Tode nicht verließ, kommt an Pfingsten aber noch eine weitere Dimension hinzu: Nicht nur, dass Gott väterlich vor uns ist, sondern dass Er auch unsere Zukunft, unser Nachher sein wird.
Denn das Geheimnis Gottes, der nicht einsam und alleine, sondern dreifaltig ist, besteht auch in einer innergöttlichen Stellvertretung. Keine Seite Gottes ist sich einfach selbst genug, nichts an Gott ist einfach „selbständig“, sondern in Gott selber gibt es ein Zurücktreten und ein Übernehmen, ein Dasein für den Anderen, ein Ineinander-enthalten-sein.
Das ist der innere Zug dessen, was nach außen die Pfingstwahrheit des „Wir sind nicht allein“ ausmacht.
Pfingsten bedeutet, dass dort, wo die innerweltliche Sichtbarkeit Jesu Christi endet, seine Gegenwart in der unsichtbaren Gestalt, die der Geist ihr verleiht, anhebt.
Pfingsten bedeutet also, dass derselbe Gott, Der nach der langen Geschichte, in der Israel als Erstlingsvolk vom Sinai her vor allen anderen die Gottesgegenwart im Gebot er- und gelebt hat, und nach dem kurzen, allesentscheidenden zweiten Akt, in dem die Gottesgegenwart lebendiger Mensch und gekreuzigter Mensch und toter Mensch und auferweckter Mensch für alle wurde, nun ein dritter Akt beginnt, in dem Gott Sich vergegenwärtigt in und unter allen Menschen, indem Er geliebt und Sein Gebot befolgt und Sein Wort gehört und Seine Lehre empfangen und verkündigt wird in aller Welt. …….
Und in diesem dritten Akt, in dem Gott selber „nach“ Christus die Welt allererst mit Christi Geist durchdringt, … in diesem dritten Akt zeigt es sich, dass es wirklich keine einseitige Wirklichkeit gibt, sondern nur einen vielfältig erfüllten und verwirklichten Überschuss über das hinaus, was man mit weltlichen Mitteln sehen, fassen und für wahr halten kann.
Dieser Überschuss, dass immer mehr da und immer mehr wahr ist, als Erfahrung, Verstand und Vermutung begreifen, ist durchgängig zu finden:
Alles, was uns umgibt, was uns geschenkt und offenbart wird, ist anders und ist mehr, als der erste Blick vermeint.
§ Da ist das Wort, das Christus zu den Seinen spricht. Dieses Wort aber ist gar nicht seines, sondern es ist das Wort des Vaters.
§ Und da ist die christliche Liebe zu Christus, … die Christusliebe, die dem Wort antwortet, die dem Anspruch entspricht: Ihr Gegenstück ist mehr als bloße zwischenmenschlich gegenseitige Liebe. Wer Christus liebt, der wird nämlich vom Vater wieder geliebt.
§ Und da ist die Grundlage und Vollendung dieser Liebe, die den Vater mit dem menschgewordenen Sohn und durch den Sohn die Menschen mit dem göttlichen Vater verbindet: Die Verbindung, die Liebe immer will und bringt, besteht darin, dass der Vater und der Sohn im liebenden Menschen Einzug nehmen, doch so, dass ihre Einwohnung die Liebe selber, der Heilige Geist also ist. ———
Wir sind also wahrhaftig nicht allein in unserer Zugehörigkeit zu dem Gott, Der in sich solche Verbindung und Beziehung ist und stiftet.
Und darum ist das äußerliche Urdatum, das Wunder des ersten Pfingsttages eben nichts anderes als eine Ouvertüre über Thema und Variation der Gemeinschaft der Vielen in jenem einen Geist, den der Vater sendet in Jesu Namen.
Dass die Schawuot-Pilger – die an sich schon aus allen Nationen und Sprachen kommend die weltweite Ausstrahlung und Anziehungskraft der Gebote der Gottes- und der Menschenliebe vom Sinai bezeugen – … dass diese Juden und Judensympathisanten, die als Pfingstpilger in Jerusalem zusammenkamen, eine vielfältige Übereinstimmung und eine identische Überzeugung in sprachlicher Mannigfaltigkeit erfuhren (vgl.Apg.2!), ist die anschaulichste, eindringlichste Beglaubigung dafür, dass das Christentum die Welt darum global erfasst hat und erfassen soll, weil Gott selber nicht exklusiv und nur mit sich selbst konform ist, sondern trinitarische, dreifaltige Weisen des Wirklichkeitsbezugs eröffnet!
Auf Sinai, am schwarzen Kreuz und lichten Grab von Golgatha und ebenso in der wieten weiteren Wahrheit, die der Geist – der Tröster, Fürsprecher, der Paraklet – vom Vater gesandt in Jesu Namen lehrt und erinnert: Diese Folge und Vielfalt der Offenbarung ist in Wirklichkeit Einheit, … aber Einheit, die nicht Einfalt, … Einheit, die nicht Einheitlichkeit sein muss!
Und darum ist das größte Missverständnis und Versäumnis und eben auch die größte – biblisch unvergebbare! – Sünde die Sünde wider den Heiligen Geist (vgl.Matth12,31f). Wer den Geist leugnet, wer in Ihm nicht Gott selber wiedererkennt und folglich die innere Weite in der Wahrheit Gottes verkennt, der macht sich schuldig an beiden: Gott und den Menschen…. Denn ohne den Geist gälte ja: Alle sind allein! Und allein ist unser Gott. Und wir allein sind die Seinen.
Nur der Gottesgeist schafft und verbindet und vermehrt ja die vielen reichen Möglichkeiten, durch die Gott Sich finden und preisen lassen will von den Menschen.
… Wo immer darum Christen heute meinen, sie müssten die Lehre von der Trinität, von der Dreifaltigkeit Gottes aufgeben, um sich anderen Denk- und Glaubensweisen besser vermitteln und ihnen näher begegnen zu können, da irren sie fatal. Nur die innere Dreifaltigkeit Gottes öffnet der Vielheit der Menschen den pfingstlichen Weg. Wohingegen gerade die absolute Einheit eines Gottesbegriffes, die abstrakte innere Einsamkeit Gottes zwangsläufig zu einem Glauben in Ausschließlichkeit führt, der andere fernhält und alleine lässt.
Und so zeigt sich in der sowohl Gott selber als auch die Christen betreffenden Pfingstbotschaft „Wir sind nicht allein“ jener Friede, den die Welt nicht geben … aber eben auch nicht nehmen kann!
Die Welt sieht nur sich.
Kann nur sich alleine denken, behaupten und endlich ausbrennen.
Gottes Geist aber brennt in Vielen, ohne sie zur Ununterscheidbarkeit zusammenzuschmelzen und dann zu verglühen.
Gottes Heiliger Geist, in dem Er selber sich endlos und überall und mannigfaltig vergegenwärtigt ist der Friede der Vielen, … der Friede für alle, der sie nicht ineins zwingt, sondern leben lässt, wie er lebt: Nicht allein.
Nicht wie die Welt gibt, gibt Er diesen Frieden; … nicht Einzelnen für sich, sondern der Gemeinde, in deren Liebe und Leben Er selber Wohnung nimmt, gibt Gott diesen Frieden: In der Gnade unseres Herrn Jesu Christi und der Liebe Gottes und der Gemeinschaft des Heiligen Geistes, die mit uns allen seien (vgl.2.Kor13,13), … denn wir sind nicht allein!
Amen.
[i] Zu einer philosophischen Kritik an der cartesianischen Formel des »cogito, ergo sum« vgl. Bernhard Waldenfels, „Der geistesgeschichtliche Hintergrund: Vom Ich zum Wir“, in: Erfahrung und Theologie des Heiligen Geistes, hgg. v. Claus Heitmann & Heribert Mühlen, Hamburg und München 1974, S.162-175.
Exaudi, 02.06.2019, Stadtkirche, Epheser 3,14-21, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Exaudi 2.VI.2019
Epheser 3, 14-21
Liebe Gemeinde!
Die Welt wird wieder vermessen … wie einst, als Kolumbus die Meere und Mercator die Länder und Merian die Städte und Linné die Pflanzen und Humboldt die Flüsse und Wälder und Amundsen das Eis und die Pole vermass.
Nur: Was damals die Entdeckung der unendlichen Weite bedeutete, fördert heute ihre Begrenzung zu Tage. Heute wird vermessen, was noch vorhanden ist und wie lange es noch reicht, wieviel von der Fülle bleibt und was der Mensch schon zerstört und zum Verschwinden gebracht hat.
Vor wenigen Generationen maßen sie also noch mehr, als sie sich je hatten träumen lassen, … doch in ein Paar Geschlechtern schon wird man nur noch staunen über den märchenhaften Reichtum, der nicht mehr zu finden ist. …….
Die vermessene Welt hat also – wie’s scheint – zur Vermessenheit des Menschen geführt: Seit er alles erfasst und kartographiert hat ordnet der Mensch es nicht mehr ein, sondern wie ein Kind wirft er das Spielzeug fort, das ihn langweilt, nachdem er’s einmal in der Hand gewogen hat. … Soll ein anderer doch das große Zimmer aufräumen, das er in Unordnung gebracht hat. …
Dem Menschen, der Wasser vom Polarkreis trinken und sich Fleisch aus Feuerland grillen kann und der den Regenwald nicht mehr braucht und nach dem Urlaub die Südsee fad findet, … dem Menschen der westlichen Moderne ist die weite Welt wertlos geworden, und wenn er die Koralle und die Blume, den Bach und die Wolke achtlos verdirbt, dann steckt auch darin der Defekt des Kleinkindes … seine Gewissenlosigkeit: Nur dass das kleine Kind noch nicht weiß, was „Genug“ und „Kaputt“ und „Vorbei“ bedeuten und sich daher weder als Ursache noch Schuldigen erleben kann, weshalb wir von der kindlichen Unschuld sprechen.
Der erwachsene Mensch aber, der das „Vorbei“ und „Kaputt“ und „Genug“ kennt und es trotzdem allgemein und dauerhaft werden lässt, … dieser erwachsene Mensch wird heute – drei Tage nach der Himmelfahrt Christi – ins Gebet genommen:
Knie dich einmal neben den Apostel Paulus, erwachsener Mensch! … Das ist zwar tief unter deiner Würde und auch außerhalb deines mit der vermessenen Welt geschrumpften Verständnishorizontes. Auf die Knie gehst du ja grundsätzlich nicht, denn demütig zu sein fällt dir schwer, der du die Atolle und das Packeis, die Pampa und die Tundra als Überflieger mit müdem Blick von oben zu betrachten gewöhnt bist.
… Aber gerade darum tut es dir gut, wie Paulus die Knie zu beugen vor dem Vater im Himmel.
Da kriegst du das seltene Gefühl für die Maßstäbe der Wahrheit: Dass du nicht der Tyrann bist, als der du dich gebärdest, sondern selber einen Auftrag hast. Dein Auftrag, der von oben kommt, ist allerdings von großer Bedeutung – und es lohnt, dafür in die neue Lutherübersetzung zu blicken: Anstelle des vertrauten Satzes „Ich beuge meine Knie vor dem Vater, der der rechte Vater ist über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden“, hören wir nunmehr „Ich beuge meine Knie vor dem Vater, von dem jedes Geschlecht im Himmel und auf Erden seinen Namen hat.“ Im Griechischen allerdings heißt es noch präziser: „Ich beuge meine Knie vor dem Vater, nach dem alles Väterliche, … nach dem alle Verwandtschaft (πατριά) benannt wird“ … und genau darin besteht der Auftrag für die erwachsene Menschheit: Nicht nur Kinder des Vaters, nein, selber väterlich und mütterlich soll sie sein oder wieder werden.
Das Vater- oder Muttersein, das der unverheiratete und kinderlose Paulus für seine Gemein-den erbittet, hat mit der biologischen Funktion, gegen die die heutige Genderideologie so empfindlich ist, allerdings wenig zu tun. Die Aufgabe für jeden erwachsenen Christen ist vielmehr die Nachahmung der Väterlichkeit Gottes. Und Gottes Väterlichkeit besteht wie alle menschliche Elternschaft darin, ein Leben, das nicht das eigene ist, bedingungslos bis zum Selbstopfer zu lieben … zu lieben gerade auch darin, dass dieses andere Leben sich selbständig macht und von meinem Leben unterscheidet, ja dass es unabhängig von mir wird und mich - irdisch gesprochen - einst überdauern soll.
Solche urgöttliche Eigenschaft – Liebe für fremdes, schutzbefohlenes und doch eigenständiges Leben als innersten Wesenszug zu verkörpern – , … solche Väterlichkeit und Mütterlichkeit, … solche Berufung, Verwandtschaft mit allem, was lebt, zu empfinden, ist also der tiefste und heilende Auftrag der Christen.
Christ zu sein bedeutet, von der Selbstliebe, von der verzehrenden Sucht, äußerlich und oberflächlich auf alle Fälle mit sich selbst im Reinen zu sein, frei zu werden und stattdessen die endlose Fremdliebe zu üben, die an keinen Schlusspunkt kommt, weil sie universal gilt und weiterreicht als die eigene Zeit und Not, als die eigene Zufriedenheit und das eigene Dasein. ——
Können Menschen das aber?
Können wir so erwachsen, so souverän werden, dass wir Verantwortung auch für das Fremde und Fürsorge auch für die Späteren übernehmen und Unbekannte berücksichtigen und die in der Anonymität Verborgenen bedenken?
Ist ein solches väterlich-mütterliches Verhältnis nicht doch allein auf die eigene Brut und Sippe oder die nachbarlich-vertraute Menschheit beschränkt, die wir sehen, fassen, ansprechen und kennen? …….
Für Christen nicht, ……. nicht nach letztem Donnerstag.
Denn die Himmelfahrt unsres Herrn – sein Eintritt in die Dimension der Grenzenlosigkeit – fordert eine entsprechende Erweiterung im beschränkten Wahrnehmen, Denken und Fühlen seiner Gemeinde: Seit Jesus in die umfassende Wirklichkeit der Gottesgegenwart eingegangen ist, kann die Bindung an seine Botschaft und das Befolgen seiner Weisung und das Nachahmen seines Vorbildes wirklich nichts Engstirniges oder -herziges mehr haben.
Die Unermesslichkeit des Himmels, den Jesus Christus eingenommen hat, ist ja der einzig gültige Maßstab auch jener Herzen, in die er gehört.
Und das ist es, was der Apostel auf Knien auch für uns erbittet: Dass wir wirklich so groß werden, … groß und großzügig genug, um die ganze Welt zu lieben. Paulus bittet darum, dass unser inwendiger Mensch gestärkt wird – gedehnt und umfassend geweitet – nach dem Reichtum der Herrlichkeit Gottes, damit Christus, der jetzt die Maße des Weltalls hat, auch wirklich in unseren Herzen wohnen kann und in der schrankenlosen Reichweite seiner Herrschaft nicht scheitert am Kleingeistigen und Schmalherzigen der Seinen.
An dieser Stelle nämlich – und das heißt: mitten in uns, in unserer menschlichen Mitte – bestätigt sich die Bedeutung des viel zu oft als unverständlich und antiquiert empfundenen Festes Christi Himmelfahrt: Es geht dabei universal wie existentiell schlicht um die endgültige und ewige Entgrenzung des Reiches Christi, dem keine räumliche Trennung und keine Epochenschwelle mehr Begrenzung auferlegt.
Ist Christus, der Menschgewordene tatsächlich der, als den wir ihn bekennen – nämlich Gott! –, dann gebührt ihm allumfassend und ausnahmslos die Macht und Ehre, das Lob und die Herrlichkeit, und dann können die, die an ihn glauben, in ihrem Dasein und Denken nur nach Entsprechungen suchen, die dem Herrn über Alles und dem Helfer Aller gerecht werden.
Und gerade das am überholtesten wirkende Motiv der Himmelfahrt – die spöttisch als Raketenbahn belächelte Aufnahme des eben noch auf Erden Lebendigen in die Wolkendecke der Atmosphäre – kann uns eine wunderbar anschauliche, wissenschaftlich keinesfalls lachhafte Anregung bieten, unser Herz ebenfalls auf die Bahn zu schicken und die Sphären zu durchstoßen, die uns sonst festhalten.
Nie zuvor konnte die Christenheit sich ja so kundig in einem Blick üben, den die Evangelien und die naive alte Kunst exakt beabsichtigten: Erst wir Heutigen im Zeitalter der Raum-fahrt können den liebevollen und andächtigen Alexander-Gerst-Blick hinunter auf die Erdkugel ahnen und nachvollziehen, … jenen Blick, der in der gewaltigen Tiefe des Weltraumes teilnahmsvoll und berührt am Gegenstand der Liebe Christi haftet.
Das, was der Astronaut Gerst Millionen von Zeitgenossen im vergangenen Jahr spüren ließ, als er in der ISS-Raumstation ein Video an seine Enkelkinder[i] aufzeichnete – das von böswilliger Seite natürlich sofort als „Ökoastronautik auf unwissenschaftlicher Grundlage“[ii] verunglimpft wurde –, ist eine wunderbare Himmelfahrtsmeditation. Er spricht darin vom „zerbrechlichen Raumschiff Erde“, das auch nur von seiner astronautischen Umlaufbahn aus viel kleiner ist, als man meinen sollte.
Um wieviel kleiner aber ist diese Erde, auf der Bethlehem und Golgatha und das Auferstehungsgrab des Herrn Jesus Christus sich finden, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass dieser Herr Jesus Christus nicht nur den zerbrechlichen Planeten, auf dem er geboren wurde, starb und auferstand, sondern das gesamte, unerforschliche Weltall mit seiner Liebe und ihrer Lebenskraft durchdringt: Jesus Christus – Krippenkind, Gekreuzigter und am dritten Tag aus dem Reich des Todes Auferweckter –… Jesus Christus und kein anderer ist es, der auch das Universum hält, es umwölbt und überbrückt, seit er den Platz ein-genommen hat, den sein Vater ihm bereiten wollte als Herzblut des Kosmos, als schöpferischer Puls der Materie und als Schlussstein bei der Wiederherstellung alles dessen, was zerstört und erloschen ist.
Genau das aber ist die Breite und die Länge, die Höhe und die Tiefe, die wir uns verdeutlichen sollen durch unsern neuzeitlich eröffneten Blick in den Weltraum; das sind die Breite und Länge, die Höhe und die Tiefe, die wir bekennen, indem wir die Himmelfahrt, die universale Raumerfüllung, die kosmische Herrschaft Jesu feiern:
Er ist geboren worden, um neben der Erde und ihrem Trabanten auch die Merkur-, Venus- und Mars-, die Jupiter-, Saturn-, Uranus- und Neptunsphären des Sonnensystems als Lebens-räume unseres Gottes zu erweisen … die geistigen, die Liebes-, und Kampf- und Machtkonstellationen, die Zeit-, die Todes- und die Tiefensphären der Wirklichkeit.
Und ebenso wie die Liebe Jesu Christi, die alle Erkenntnis übertrifft auch alles bisherige Wissen um unseren Kosmos in seinen Dimensionen vom schwarzem Loch bis zum Zusammenfall des gekrümmten Raum-Zeit-Kontinuums übertrifft, so durchdringt sie das alles doch bis in seine kleinsten Verästelungen, bis in alle Falten, die die Wirklichkeit mathematisch wirft und bis in jeden Winkel, den wir vernachlässigen und veruntreuen.
Versuchen wir also – nach Christi Himmelfahrt, nach seiner Inthronisation und Inklusion in und über dem Ganzen – tatsächlich nichts mehr christuslos, keine Tatsache mehr außerhalb Christi, keine Begegnung mehr christusfrei, jeden Menschen und jedes Ding vielmehr christushaltig und christusweisend zu betrachten, zu erfahren und zu lieben!
Denn dann ist es nicht trivial und auch nicht albern enthusiastisch, sondern ein Aufstieg in die Weite der Himmelfahrt und eine Anpassung unserer beschränkten Kategorien an die Größe der Offenbarung Christi, wenn uns alles in Höhe und Tiefe und Breite und Weite zum Zeugnis für Christus wird und zur Gelegenheit, ihn zu ehren und zu lieben!
Die Koralle ist Teil seiner blutroten Dornenkrone, die wir nicht vergessend verbleichen lassen dürfen, und der Singvogel, die Biene, die Mücke jubeln seinen Namen; Luft und Wasser sind stoffliche Boten dessen, durch den uns innerlich wie äußerlich Leben und Reinheit geschenkt werden, und die Wüste, die Strände und Gletscher der Erde sind Kammern und Kelche, die sein Schweigen, seine Sturmfestigkeit und seine Klarheit speichern; die Blumen spiegeln das paradiesische Licht seines Ostertages und jeder Baum ist Holz vom Holz, an dem er hing, um aus Menschen von Erde nicht nur wieder Erde werden zu lassen, sondern um uns zu pflanzen im Hause des HERRN, wo wir in den Vorhöfen unseres Gottes grünen sollen (vgl.Ps.92,14).
Die Himmelfahrt, die das Weltall Breite mal Länge, Höhe mal Tiefe als jenen Raum ausmisst, in dem Jesus Christus, der Herr gegenwärtig ist, … die Himmelfahrt lehrt uns also wirklich die ganze Fülle Gottes zu erlangen in unserem Bekenntnis und unserm Schauen. ———
Und zusammengefasst ist das alles – diese weltumspannende Weite, diese Abgrund und Höhe verbindende Achse – … zusammengefasst ist das alles in jenem allerschlichtesten Zeichen, das wir eigentlich lange genug den orthodoxen und orientalischen und katholischen und den traditionell lutherischen Christen überlassen haben, als beträfe es uns nicht.
… Dabei hat Luther den Morgen und den Abend in seinem Katechismus zwar mit dem gebe-teten Segen empfangen, doch zuvor sagt er – und so steht’s bis heute in unserm Gesangbuch (vgl. EG 863 & 894):
„Des Morgens, so Du aus dem Bette fährest, / des Abends, wenn du zu Bette gehest, sollst Du Dich segenen mit dem heiligen Kreuz und sagen:
Des walt Gott Vater, Sohn, heiliger Geist, Amen.“[iii]
Und für Bonhoeffer in seiner Zelle, in der er beinah zwei Jahre ohne Gottesdienst und ohne den Trost des Sakramentes des gegenwärtigen Christus leben musste, war es von entscheiden-der Wichtigkeit, sich im Kreuzzeichen über den eigenen Körper der Liebe Christi, die alle Erkenntnis übertrifft und der ganzen Fülle Gottes vergewissern zu dürfen[iv].
… Wer immer also die anerzogene Unbeweglichkeit unserer Glieder ablegen kann und mit allen Heiligen die Breite und die Länge, die Höhe und die Tiefe ausmisst, die Kopf und Kör-per, Herz und Gegenseite verbindet, der setzt im Bekreuzigen ohne Worte ein schlichtes, unumstößliches Zeichen dafür, wer im eigenen Leib und Leben und in Welt und Welt-raum der Herr ist.
… Mit einem entscheidenden Zusatz, der jener großen Welt- und Menschenliebe entspricht, die von dem Vater kommt, von dem alle Väterlichkeit und die ganze Familie der Lebendigen auf Erden ihren Namen hat. Diesen Zusatz hat ein buddhistischer Mönch, als er zum ersten Mal sich bekreuzigende Christen erlebte, so formuliert:
„Wer über sich das Zeichen des Kreuzes Christi macht, muß alle leidenden Menschen auf der Welt umarmen wollen.“[v]
So ist es.
So zeigt es das Kreuz. Denn in seinem Zeichen sind wir in der Liebe eingewurzelt und gegründet, … in der Liebe, die in den Himmel aufgenommen wurde, um alle und alles zu erfüllen!
Amen.
[i] Zu finden über http://blogs.esa.int/alexander-gerst/de/.
[ii] Vgl. den Kommentar von Matthias Kamann in der „Welt“ vom 20.12.2018 unter. https://www.welt.de/debatte/kommentare/article185882680/Alexander-Gerst-Seine-Oekoastronautik-beruht-auf-falschen-Voraussetzungen.html
[iii][iii] Vgl. Martin Luther, Kleiner Katechismus – „Wie ein Hausvater sein Gesinde soll lehren, morgens und abends sich zu segenen“, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hhg. Im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, 11.Aufl., Göttingen, 1991, S.521f. Schon die Zwischenüberschrift dieses Abschnitts zu den Gebeten der Tageszeiten belegt, wie essentiell die Bekreuzigung im Sinne der persönlichen Aneignung des Segens für Luther war.
[iv] Vgl. Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer: Theologe. Christ. Zeitgenosse – Eine Biographie, München 1967, S. 956: „Das Bedürfnis des Isolierten nach zeichenhafter Gewißheit führte dazu, daß er sich nach Luthers Anweisung mit dem Kreuz segnete.“
[v] Der amerikanische Trappist Thomas Merton hat im 20.Jahrhundert eine Verbindung zwischen christlichen und zen-buddhistischen Meditationsweisen erkannt und einen folgenreichen Austausch darüber angeregt. Aus dem Zusammenhang der ersten Tagungen zu dieser Thematik dürfte das Zitat des buddhistischen Mönches stammen, das sich findet in: Balthasar Fischer, Das Kreuzzeichen – aufzugebender oder beizubehaltender katholischer Brauch? (1979), in: Ders., Redemptionis mysterium – Studien zu Osterfeier und zur christlichen Initiation, Paderborn 1992, S.171.
Chr.Himmelfahrt, 30.05.2019, 1.Kö.8,22-24.26-29, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text: 1.Kö.8,22-24.26-29
Liebe Gemeinde,
als in der Karwoche die Bilder vom Großbrand in der Kathedrale Notre Dame in Paris über die Bildschirme liefen, da sah man bei den Zuschauenden viele entsetzte und betroffene Gesichter. Tausende waren zusammengelaufen. Was sie sahen, verschlug ihnen die Sprache. Notre Dame, das ist Frankreich, sagte einer. Ich war gestern noch in der Kirche gewesen, habe gebetet - eine andere. Mehr noch als der Eiffelturm ist Notre Dame die Sehenswürdigkeit von Paris. Eine der größten und schönsten gotischen Kathedralen, eines der architektonischen Wahrzeichen nicht nur Frankreichs, sondern Europas, eine Zeugin der christlichen Geschichte in einer mittlerweile säkularen, multikulturellen Gesellschaft und in einem betont laizistischen Staat. Da brennt das Herz Frankreichs, hieß es aus dem Elyséepalast. Und „Wir bauen Notre Dame wieder auf und sie wird schöner als zuvor." Keine 24 Stunden später waren bereits Spendenzusagen in Höhe von mehr als 900 Millionen Euro eingegangen.
Notre Dame in Paris, der Kölner Dom, die Kathedrale von Chartres, der Stephansdom in Wien - Weltkulturerbe und Gotteshäuser, Bauwerke, die mehr sind als architektonisch herausragende Denkmäler, sie sind auch Zeugen, deren Botschaft durch Stein und Licht zu uns spricht.
Ich kann den starken Wunsch nach Wiederaufbau der Kathedrale verstehen - ich stelle mir vor, was wäre, denn der Kölner Dom gebrannt hätte. Ja, und selbst wenn die Mutterhauskirche oder die Stadtkirche in Flammen gestanden hätte, würden sich dann nicht auch die unterschiedlichsten Menschen zusammentun, um die Bauwerke wiedererstehen zu lassen? Haben die Dresdner nicht alles in Bewegung gesetzt, ihre Frauenkirche, von der so gut wie nichts mehr nach den Bombenangriffen im Februar 1945 übrig war, wieder auferstehen zu lassen - und das in einer Stadt, in der nur noch eine Minderheit zu einer der christlichen Konfessionen gehört?
Kathedralen, Dome, Kirchen - sie sind einfach mehr als einfache Bauwerke - sie sind Gotteshäuser, Orte, die Zeugnis geben von einer Wirklichkeit, die über uns hinausweist.
Liebe Gemeinde, vielleicht fragen sie sich schon, warum ich so viel über Kirchen und ihre Bedeutung spreche, über diese sehr irdischen Dinge, wo es doch eigentlich heute um den Himmel geht, feiern wir doch „Christi Himmelfahrt". Nun, es ist der vorgeschlagene Predigttext für diesen Tag, in dem es um den Himmel geht und um die Frage, wo Gott denn wohnt - und das alles bei der Einweihung eines Gotteshauses, bei der Einweihung des Tempels in Jerusalem. Ich lese jetzt diesen Text aus 1.Kö.8,22-24.26-29:
„Da trat Salomo vor den Augen der ganzen Gemeinde Israel vor den Altar des HERRN, breitete die Arme zum Himmel aus und betete:
»Ewiger, du Gott Israels! Weder im Himmel noch auf der Erde gibt es einen Gott wie dich. Du stehst zu deinem Bund und erweist deine Güte und Liebe allen, die dir mit ungeteiltem Herzen dienen.
So hast du an deinem Diener, meinem Vater David, gehandelt. Der heutige Tag ist Zeuge dafür, dass du dein Versprechen gehalten hast.
Gott Israels, lass doch in Erfüllung gehen, was du meinem Vater David, deinem Diener, versprochen hast!
Aber bist du nicht viel zu erhaben, um bei uns Menschen zu wohnen? Ist doch selbst der Himmel und alle Himmelswelten zu klein für dich, wie viel mehr dann dieses Haus, das ich gebaut habe.
Barmherziger, mein Gott! Achte dennoch auf mein demütiges Gebet und höre auf die Bitte, die ich heute vor dich bringe:
Richte deinen Blick Tag und Nacht auf dieses Haus, von dem du gesagt hast: 'Hier soll mein Name wohnen! Höre mich, wenn ich von hier aus zu dir rufe."
Der Tempel in Jerusalem, das war das Bauprojekt Salomos schlechthin, erste Planungen hatte schon sein Vater David gemacht, aber die Ausführung, das war Salomos Sache. Für den Gott Israels hatte er ein prächtiges Haus errichten lassen, ein Gebäude, in dem Gott wohnen sollte. Bis dahin „wohnte" Gott in einem Zelt, in der Stiftshütte. Diese mobile Behausung hatte ihn mit seinem Volk 40 Jahre durch die Wüste ziehen lassen. Aber nachdem Israel im Gelobten Land sesshaft geworden war, man in steinernen Häusern wohnte, war der Wunsch aufgekommen, Gott ebenso ein Haus zu bauen. Ihn zu verorten - an einem bedeutungsschweren Ort: dort auf dem Berg Zion oder wie er auch heißt, auf dem Berg Morija, hatte Abraham - so die Überlieferung - vor Urzeiten einen Altar gebaut, um seinen Sohn Isaak zu opfern, was Gott allerdings zu verhindern wusste. Dort nun stand der Tempel Salomos, ein prächtiges Gebäude, das von den besten Handwerkern seiner Zeit in nur 7 Jahren errichtet worden war, wobei das ganze Volk dieses Projekt mitgetragen hatte - mit Steuern, Spenden und eigenem Arbeitseinsatz zum Gelingen beigetragen. (Die Verantwortlichen der Großbauprojekte in Berlin und Stuttgart können davon nur träumen.) Nun, zur feierlichen Einweihung, wendet sich Salomo im Gebet an Gott.
Ein erstaunliches Gebet, wirklich nachdenklich-demütig. Da stellt Salomo die entwaffnend ehrliche Frage: „Bist du, Gott, nicht viel zu erhaben, zu groß, um bei uns Menschen auf Erden zu wohnen? Ist doch selbst der Himmel und alle Himmelswelten zu klein für dich - wie viel mehr dann dieses Haus, das ich gebaut habe."
Nicht wahr, liebe Gemeinde, diese grundlegende Frage stellt sich doch: Kann Gott überhaupt irgendwo „wohnen"? Er ist doch unfassbar. Können wir ihm da überhaupt irgendwo einen Platz, eine Wohnung zuweisen?
Die jüdische Tradition ist da schon sehr vorsichtig. Das wird nicht nur in unserem Predigttext deutlich, wo Salomo ja gerade nicht sagt, dass Gott in diesem neuen Heiligtum wohnen wird, sondern „sein Name". Sehr ähnlich heißt es in Psalm 26,8 „Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt." Nicht Gott in Gänze, sondern sein Name und seine Ehre, seine Herrlichkeit sollen in dem Tempel zu Jerusalem gegenwärtig sein. Wichtige Aspekte des Göttlichen.
Gott selbst lässt sich auf Erden weder in einem Tempel oder einer Kirche, in keinem Sakralbau und noch nicht einmal im Himmel verorten.
Er ist unendlich viel größer, nicht nur größer als unsere Gebäude aus Stein, sondern auch größer als die Räume, die sich unseren Teleskopen erschließen, auch größer als unsere Denkgebäude, unsere Vorstellungen von ihm. Gott ist größer und allgegenwärtig.
So weit, so gut. Oder auch: so weit, so schlecht. Denn: diese Information hilft uns wenig, wenn wir Gottes Nähe brauchen, wenn wir nach seiner Gegenwart Ausschau halten. Das werden auch die Jüngerinnen und Jünger gedacht haben. Jesus ist bei Gott - aber wo ist das? Wo können wir jetzt noch seine Nähe spüren - auf dieser Erde, unter dem weiten Himmel? Wo können wir ihm begegnen? Wo zeigt er sich? Wo wohnt seine Ehre, seine Herrlichkeit, seine Kraft? Wo lässt er sich vernehmen, wo erfahren wir, was sein Wille für uns ist? Wo hören wir seine Stimme?
Bei der Wiedereinweihung des Berliner Domes 1993 in Anwesenheit der Regierungs- und Staatsspitze irritierte der damalige Präses der Rheinischen Kirche Pfarrer Peter Beier die Versammelten in ihrer Hochstimmung, als er seine Predigt mit folgenden Worten eröffnete: „Die Wahrheit braucht keine Dome. Das liebe Evangelium kriecht in jeder Hütte unter und hält sie warm. Die Evangelische Kirche braucht auch keine Dome. Und wenig Repräsentanz. Sie hat keinen Teil an Triumphen von gestern. Tunlichst. Bescheidenheit steht ihr an."
Ja, wenn Gott überall ist, dann ist er nicht nur in den prachtvollen Tempeln und Kathedralen, sondern auch in den Hütten und Baracken in den Slums der Elendsviertel von Kalkutta und Rio de Janeiro, von Johannesburg und Kairo.
Und, ja, wenn Gott der Eine ist, der Ewige, dann ist er mit seiner Wahrheit auch nicht nur in Kirchen und Synagogen zu finden, sondern auch in Moscheen, Tempeln, Pagoden und Schreinen. Wer wollte sich erdreisten, zu sagen, dort sei er nicht? Wie heißt es in Psalm 36: „Herr, deine Güte reicht soweit der Himmel ist und deine Wahrheit soweit die Wolken gehen."
Gott ist allgegenwärtig mit seiner Güte und Wahrheit, mit seiner Barmherzigkeit, wie Salomo sagt „Du stehst zu deinem Bund und erweist deine Güte und Liebe allen, die dir mit ungeteiltem Herzen dienen."
Mögen die meisten Ausleger hier an den Abrahambund denken, mir kommt hier der allererste „Bund" in den Sinn, von dem die Bibel spricht, der Noah-Bund, wo Gott nach der Katastrophe der Sintflut allem Leben auf dieser Erde Schutz und Bestand zusichert unter dem Zeichen des Regenbogens.
„Du stehst zu deinem Bund und erweist deine Güte und Liebe allen, die dir mit ungeteiltem Herzen dienen."
Worum geht es bei diesem Dienst? Geht es um die richtige Religion, die richtige Konfession oder die richtige Liturgie?
Nein, sondern darum, der Güte und Liebe Gottes mit dem eigenen Leben und Handeln zu entsprechen. Da ist es dann ziemlich egal, ob man seine spirituelle Heimat im Islam oder im Judentum, im Christentum oder im Buddhismus hat, ob man am Freitag in die Moschee, am Sabbat in die Synagoge oder am Sonntag in die Kirche geht. Ob man zu Allah betet oder Adonaj anruft, ob man das trinitarische Gottesbild im Herzen trägt und sich mit dem Kreuzzeichen unter Gottes Segen stellt oder in der Meditation sich von allen Anhaftungen zu befreien versucht und das Leerwerden einübt. Jesus hat es ganz prägnant formuliert: Nicht derjenige kommt ins Reich Gottes, der Herr, Herr sagt - der das richtige Glaubensbekenntnis hat -, sondern der, der den Willen Gottes tut - das heißt: der Gottes Liebe und Güte, seine Barmherzigkeit und darin seine Wahrheit in seinem Leben und Handeln umsetzt. Diese Menschen stehen im Bund mit Gott, in ihnen und unter ihnen ist er gegenwärtig.
Die Frage nach der Gegenwart Gottes ist damit eigentlich ganz einfach zu beantworten: Wo Liebe und Barmherzigkeit, wo Güte ist, da ist Gott.
Jesus von Nazareth hat mit seinem ganzen Leben und Handeln genau dieses getan: Gottes Liebe, Güte und Barmherzigkeit bezeugt - mit Worten und mit Taten. Und weil Gottes Güte keine Grenze kennt, keine räumliche und keine zeitliche, weil es in seiner Gegenwart immer Leben und Licht gibt, deshalb hat Jesus über den Karfreitag hinaus Anteil an dieser göttlichen Wirklichkeit, ist er bei Gott, eben „im Himmel".
Lebt Güte, Liebe und Barmherzigkeit und lasst so Gott gegenwärtig werden in eurem Leben, bringt diese Wahrheit unter die Menschen mit Herzen, Mund und Händen, damit sie Gottes Nähe spüren. Kathedralen aus Stein und Licht mögen wunderbare Orte sein, in denen Menschen sensibel werden können für das, was die simple materielle Wirklichkeit übersteigt. Aber die besseren Kathedralen entstehen dort, wo Menschen einander in Güte und Liebe begegnen und sich voller Barmherzigkeit denen zuwenden, die Hilfe brauchen. Auf diese sakralen Orte und Stätten ist unsere Welt wirklich angewiesen. Himmlische Räume der Güte. Himmlische Räume, in denen Gott gerne Wohnung nimmt.
„Wo Barmherzigkeit und Liebe wohnen, da wohnt Gott."
Machen wir uns doch daran, dass sich Gott bei uns und unter uns zuhause fühlen kann.
Amen.
Kantate, 19.05.2019, Stadtkirche, "Singen wir heut mit einem Mund" (EG 104), Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Kantate - 19.V.2019
„Singen wir heut mit einem Mund“ (EG 105)[i]
Liebe Gemeinde!
Dass Singen und Musik an sich nichts Harmloses sind, … nichts, das einfach einen Naturzustand der in Laut und Bewegung überströmenden Seele darstellt, das haben wir inzwischen gelernt: Der Vers von Joh.G.Seume „Wo man singet, laß dich ruhig nieder, / ohne Furcht, was man im Lande glaubt; / wo man singet, wird kein Mensch beraubt; / Bösewichter haben keine Lieder“[ii] war schon immer eine furchtbare Lüge … seit der erste Mensch in ein Muschelhorn stieß und auf einen gespannten Ziegenbalg schlug und dann aus vielen rauhen Kehlen ein blutrauschender Schlachtgesang erhoben wurde.
Nicht erst die Nazis – sie allerdings für immer! – haben dem Volkslied, dem Marschlied, ja auch dem Choral seine Unschuld geraubt. Immer schon kann Gesang Hetze sein, kann Musik Aggressionshypnose ausüben, kann Rhythmus aufpeitschen und Melodie verführen wie Propaganda.
Eine singende Kirche wie unsere darf darum nicht unkritisch sein, nicht naiv, und der ganz dem mitreißenden und ja hoffentlich auch leidenschaftlichen Singen gewidmete Sonntag eine Mondumwandlung nach Ostern darf nicht so tun, als sängen wir einfach, weil uns Gesang gegeben oder weil wir so stimmungsvolle Rheinländer oder so kunstbeflissene Bürger oder sonst ein begnadetes Stimmvieh beim Grand Prix Eurovision de la Chanson seien. …….
Wenn wir als Christen immer noch singen und – so Gott will! – singen werden, bis Sonne und Mond ihre nach den Vorstellungen der Alten harmonischen irdischen Bahnen vollendet haben, dann müssen wir wissen, was unser Lied vom Grölen der SA und der Roten Armee und von den vielen anderen seichten oder gemeingefährlichen Liedern unterscheidet, die auch die bösen und die blöden Menschen haben: … Tonleiter und Technik können es nicht sein. Die Stile, in denen wir singen, die Klangsprache und Harmonien unserer Musik sind längst nicht mehr spezifisch kirchlich oder sakral.
Und wenn wir doch die Choräle und Kantaten, die Oratorien und Passionen unserer Vorfahren brauchen und Schätze der Vergangenheit bei uns lebendig sind und wenn wir bisweilen regel-recht archaische Melodien mit dem Atem der Gegenwart wachküssen, so wie in diesem Gottesdienst das Osterlied (EG 104) der böhmischen Brüder, dann ist das alles keinesfalls museal, kein Rückzug in hermetische Klangräume und andere feste Burgen der Historie. …….
Wenn wir nämlich als Christen singen, wenn wir bewusst als Christen singen, dann fallen alle unsere üblichen Zeitstufen weg: Der große Entwicklungsbogen des Fortschritts, die ewige Jagd, dem alten Stil zu entkommen und einen neuen zu finden, die üblichen Unterscheidungen zwischen historischer und Avantgardemusik werden sämtlich überholt und gegenstandslos, wenn wir uns verdeutlichen, dass Christen immer etwas besingen, das das Allerneueste, das das Nochnichtdagewesene, das die unglaublichste Vorhut der allgemeinen Zukunft ist. Christliche Lieder sind nämlich zu allen Zeiten und in jeder Gestalt nichts anderes als Oster-Echos!
Ein toter Christus hätte das Verstummen des Christentums vor seinem Anfang bedeutet.
Ein im Grab gebliebener Christus wäre die herausgeschnittene Zunge, die durchtrennte Luftröhre, das zerrissene Stimmband der Kirche gewesen.
Kein Ostern: Kein Lied!
Kein dritter Tag: Niemals ein Hymnus!
Keine Auferstehung: Nirgends ein Introitus, nirgends ein Gloria, nirgends ein Halleluja, nirgends eine Sequenz, nirgends ein Te Deum, nirgends eine Antiphon, nirgends ein Canticum, nirgends eine Motette, nirgends eine Choral, nirgends eine Arie, nirgends eine Sinfonie der Tausend, nirgends ein Gospel, nirgends Soul, nirgends Worship, nirgends das, was wir seit zweitausend Jahren unter Musik verstehen!
Und aus diesem Grund gibt es keine „alte“ christliche Musik: Jede Musik, jeder Gesang einer christlichen Gemeinde, eines christlichen Mundes gehen aus dem Geheimnis des Wunders hervor, mit dem Gott die alte Welt und Wirklichkeit des Todes hinter sich gelassen und das Neue, … das Leben, das bleibt, geschaffen hat!
… Und darum sind Gregorianik und byzantinische Liturgie, sind lutherischer Choral und reformierter Psalmengesang und barocke Orgelherrlichkeit, sind romantische Chorwerke und der wiedergewonnene Kirchenton im frühen 20.Jahrhundert, sind Neues Geistliches Lied und auch Sakro-Pop alle gleich jung … wo jemand Ohren hat, zu hören, dass sie Gottes unveraltete, atemberaubend lebensbestimmende, gegenwärtige, zukunftsträchtige Tat feiern! ———
Diese Zeitlosigkeit, dieses Geweckt- und Aufgerufenwerden im Jetzt, dieses Antworten und Jubeln und Hinaussingen, dieses Anbeten und Loben Dessen, Der ist, wie Er war und sein wird, hier und heute hat aber Folgen:
Wenn wir von Gott gezupft werden, wenn Er über unsere Saiten streicht, wenn der Klang unserer Stimmen und der Takt unserer Herzen und die Tiefen und Höhen, die in uns angeschlagen werden, von Gottes Eingreifen rühren, wenn sie durch Sein Tun ausgelöst werden, dann sind christliches Singen und Musizieren wahrhaftig nichts Harmloses! Sondern die physischen Schallwellen und die chorische Begleitung eines Geschehens, das mehr Dynamik und Sprengkraft hat, als alle sonstigen innerweltlichen Vorgänge.
Am ältesten Lied der Bibel – dem Trommel- und Tanzlied der Prophetin Miriam am Schilfmeer (vgl. 2Mose15,21) – kann man es schon festmachen: Wo Gottes Zeugen singen, da wird nicht ideale Kunst gepflegt, sondern geschichtliche Wirklichkeit erlebt, da geben keine Unbeteiligten etwas bloß wieder, sondern da hört man jene ihre Stimmen erheben, deren innerstes Dasein und deren äußere Situation von Gottes Wirken betroffen wird.
Und darum ist alles Singen eine ganz andere Stellungnahme als bloß das Hören. Gesang ist körperliche Aktivität der Zustimmung des Glaubens und leibliches Bejahen der Botschaft Gottes – kein Wunder, dass Maria die erste und die wichtigste Sängerin des Neuen Testamentes ist! –, und es verwandelt rein aufnehmende Gefäße in kommunizierende Röhren, in Quellen der Weitergabe und Klangschalen des Einflusses, den Gott auf die schweigenden Tatsachen der Erde nimmt.
Singen ist also niemals neutral, sondern öffentlich hörbare Parteinahme, es ist klärender Akt des Widerstands gegen alles andere Getöne und vernehmbare Loyalitätserklärung.
Weil man also zwar hören kann, ohne dass es einen betrifft, aber nicht singen, ohne beteiligt zu sein, … deshalb ist es womöglich kein Missverständnis, wenn in der einst so entschieden hörbaren evangelischen Kirche die Singzauderer und Gesangsverweigerer zunehmen.
Menschen, die nicht mitsingen, fehlt nicht immer bloß die Vertrautheit mit Liedgut und Liturgie. Ihre stille Zurückhaltung drückt vielmehr ein treffendes Gespür aus: Solange ich stumm bleibe, bin ich neutral und geschützt – wenn ich das Innere aber öffne und durchlässig werde, dann hab ich gewählt und mich erklärt! … Das neudeutsche Wort dafür – eigentlich (und wiederum ohne Überraschung) fast ausschließlich gebraucht, um die Verbundenheit mit meiner Firma, die Identifikation mit meinem Arbeitgeber auszudrücken – … das neudeutsche Wort dafür, ist „Commitment“. … Denn da wird die Gegenwart hemmungslos religiös: Wenn sie ihre Hingabe an Marke, Strategie und Gemeinschaftsidentität im Geschäftlichen beschwören kann. Im eifrigen Dienst und Denken, wie meine Organisation es will, da … „committe“ ich mich, wie es noch schauriger auf Neudeutsch heißt.
Dabei bedeutet „Commitment“ wörtlich die Verpflichtung sich zum „Mitgesandten“, zum „Mitbotschafter“ einer Mission zu machen. Und ist insofern das innerste Merkmal echten Glaubens und das eigentliche Wesen der kirchlichen Musik: Mitträger des Evangeliums, Weiterträger von Lobpreis, Gebet und Wahrheit, Überbringer der Freude, Begleiter und Vermittler von ewigem Wort und jeweiliger Antwort zu sein.
Wer immer also als Christ singt, wirkt mit bei der göttlichen Mission der Befreiung und Rettung von Menschheit und Welt. Lässt sich hören als daran beteiligt. Kommt aus der Deckung. Verzichtet auf Neutralität. Steht in der Öffentlichkeit. Ergreift Partei.
Und darum können wir uns nur freuen, dass Gesang – wohl oder übel – nichts Harmloses darstellt, sondern lautes, klares, deutliches Profil! ——
Das macht das Osterlied des Hauptdichters der böhmischen Brüder, Michael Weiße, zu einem so wichtigen alten Neuzugang in unserem derzeitigen Gesangbuch. Als Auferstehungslied mit uralter Tradition verkörpert es in reinster Form die Ursprungssituation der Kirche und ihrer Bestimmung: Wieder- und Weitergabe der fels- und fesselsprengenden Botschaft von Ostern zu sein, Echo der ersten Zeugen des endgültigen Durchbruchs Gottes durch alles, was Tod und tödlich ist und unermüdlicher Chor des unendlichen, fortwährend neuen Lebens zu werden.
So ist das frische Lied, das die Kirche immer und überall aus einem Mund singt: Dass Gott aller Anfang ist und nicht vergeht und dass alle, die in Christus sind, am unwiderruflichen Triumph dieses Schöpfers über die Zerstörer, am Triumph der Liebe über allen Hass, am Triumph des Befreiers über unsere Zwinger und Zwänge und des Gnädigen über jede Gewalt teilhaben.
Ja, … auch wenn es schwierig und politisch inkorrekt erscheint – aber zum leidenschaftlichen, niemals neutralen, ausdrücklich Öffentliches anstimmenden Wesen des Gemeindegesanges gehört auch das – … auch wenn es also politisch inkorrekt erscheint, ist der Vorgänger des von Michael Weiße verfassten und vom kämpferischen Thomas Müntzer 1524 in seine Gottesdienstordnung „Deutsches Kirchenamt“ übernommenen Liedes bekannt als „Canticum triumphale“, als „Siegeslied“.
Diesen uns befremdlichen Titel teilt die damit bezeichnete Osterantiphon jedoch mit vielen Psalmen im ursprünglichen Hebräischen, von denen ein Drittel die mittlerweile ersetzte Überschrift aufweist: „Zum Siegen!“ – „La-Menatzeach!“
Lieder Israels, Lieder der Kirche sind aber zunächst und zuletzt eben keine hingehauchten „Vielleichts“, keine gesäuselten „Schön-wäre-es“, keine stockenden „Kann-sein-kann-auch-nicht-seins“, sondern sie sind in die Welt gesungene Bekräftigungen dessen, was wir glauben und bezeugen. Psalmen, Hymnen und Choräle werfen in der Regel nicht Fragen auf, sondern feiern Antworten; sie üben nicht im Zweifel, sondern stimmen auf die vollbrachten Wundern Gottes ein; sie lassen weder Singende noch Hörende im Ungewissen, sondern erfüllen sinnliche und geistige Wahrnehmungsorgane mit Kraft und Wohllaut; und so wird man mit einem Lied nie fertig wie mit einem Satz, einem Faktum oder einer Behauptung, denn Musikalisches wächst in der Wiederholung, lebt vom Wiederaufnehmen und unermüdlichen Von-Vorn-Beginnen.
Wo alle unsere Gedanken abbrechen, hebt das Lied von Neuem an.
Darum sollen wir es immer wieder singen – dem HERRN, der Wunder tut.
… Sollen singen davon, dass Er der Sieger ist: In der Welt Sieger, über die Welt Sieger und für die Welt Sieger; Sieger im Tod, Sieger über den Tod, Sieger für die Toten!!!
Von diesem Sieg nun spricht ganz bewusst die älteste Fassung des Canticum triumphale, die noch die gesamtkirchliche, urchristliche Theologie von der Auferweckung des ganzen hilflosen Menschengeschlechtes durch den Abstieg Christi in das Reich des Todes kennt[iii], das er schlicht sprengt, weil der Tod, die Scheol, die Unterwelt so viel Himmel nicht fassen kann.
Derart universal, kosmisch, dynamisch singt die westliche Kirche zwar nur noch selten, weil sie die Bedeutung dessen, was sie glaubt, auf die Glaubenden und deren Glauben zu beschränken neigt.
… Aber das ahnen wir doch, wenn wir singen dürfen: In unseren Liedern klingt mehr an, als unsere Begriffe und Formeln, als unser Dogma und unsere Skepsis umreißen und festmachen können.
Wo gesetztes Wort als schwingender, ausgreifender, forttönender Klang begegnet, wird tatsächlich das Größere greifbar, das über unsere kurzen Silben, unseren kurzen Atem, unsere flüchtige Zeit hinausgeht: Wie die doxologische, die lobpreisende Kehrstrophe des Siegesliedes von Michael Weiße zu immerwährendem, schrankenlosem Besingen dessen ruft, was Jesus Christus getan hat, so kündigt sich in jedem Lied des Glaubens der Überschuss an Weite, Jubel und Rühmen an, der die dauerhafte Wirklichkeit des Himmels, das Reich ewig-neuen Gotteslobes ausmachen wird.
Singen ist also wahrhaftig nichts Läppisches, sondern der Glaubenden, ja der Menschheit letztes Ziel!
Und wo wir heute schon willentlich und zustimmend vom Sieg, von Ostern, vom unumkehrbaren Leben singen, da fallen tatsächlich alle Widerstände und alle Zeitgrenzen, alle Verstehensschranken fort: Da öffnet sich die Gegenwart Gottes, von der nichts uns scheiden und deren Herrlichkeit nichts trüben kann. Da erleben wir den Kosmos unter dem siegreichen Christus wieder hergestellt, als lautere Schönheit, als reine Harmonie, weil das würgende Schweigen der Toten durchbrochen ist und das lebende Lied triumphiert!
Und genau das singen wir heut mit einem Mund schon für und für!
Singen dem HERRN ein neues Lied, denn Er tut Wunder!
Amen.
[i] Zu diesem immer noch weitgehend unbekannten Lied und seiner „Vorlage“ – dem sog. „Canticum triumphale“ und dessen Theologie – vgl. insgesamt Frieder Schulz, „Singen wir heut mit einem Mund: Hymnologisch-liturgische Studie zu einem Osterlied der böhmischen Brüder” in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie Jg. 32 (1989), S.29–71.
[ii] Johann Gottfried Seume, „Die Gesänge“, in: Der ewige Brunnen – Ein Volksbuch deutscher Dichtung (hgg. v. L.Reiners), München 1955, S.819.
[iii] Vgl. dazu: Irenäus Totzke, „Christi Auferstehung – Auferstehung des Menschen“, in: Ders., Auferstehung und Geistausgießung (Tür gen Osten – Beiträge zur Spiritualität der Ostkirche Bd.1), Sankt Ottilien 2012, S. 9-12.
Konfirmation, 11.05.2019, Mutterhauskirche, Sprüche Salomos 8 i.A., Jonas Marquardt
Predigt Mutterhauskirche 11.V.2019
Sprüche 8, 22+30f
DIE WEISHEIT SPRICHT: „DER HERR HAT MICH SCHON GEHABT IM ANFANG SEINER WEGE, EHE ER ETWAS SCHUF VON ANBEGINN HER: DA WAR ICH ALS SEIN LIEBLING BEI IHM; ICH WAR SEINE LUST TÄGLICH UND SPIELTE VOR IHM ALLEZEIT; ICH SPIELTE AUF SEINEM ERDKREIS UND HATTE MEINE LUST AN DEN MENSCHENKINDERN.“
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Jetzt wird Ordnung gemacht und aussortiert! Ich räume Eure Kindheit auf! ——
So ging Konfirmation früher. Da haben die Pastoren ihre Konfirmanden bei der Einsegnung ein letztes Mal scharf angeguckt, sich geräuspert, feierlich vom Ernst des Lebens getönt und darauf hingewiesen, dass man nach Ostern die Schule verlassen und seine Lehre anfangen oder in den höheren Klassen des Gymnasiums pauken müsse, wie noch nie. Und dann „Soldat werden“, „Vaterland“, „Pflicht“, „Familie“, … „Kampf des Daseins“, … „Hände Arbeit“, … „Schweiß des Angesichtes“, … „Glückes Schmied“, … Rhabarber … Rhabarber, … Rhabarber.
Und dann haben die Konfirmanden zur Urgroßväterzeit nach dem Fest halt brav ihre Zinnsoldaten und die Dampfmaschine eingepackt und die Mädchen ihre Puppen verstaut und die Zöpfe hochgesteckt, … und man war groß. ———
Und das Gleiche machen wir jetzt auch. Ich räume Eure Kindheit auf; wir schaffen Ordnung. Denn in Euren Konfirmationssprüchen ist viel von Geist und viel von Weisheit, viel von Liebe, viel von Freiheit, viel vom Guten die Rede. Und da das alles hochgradig ernst- und erwachsenklingende Begriffe sind, und da man wahrhaftig ja auch nicht bestreiten kann, dass Ihr heute reifer, hübscher und seriöser wirkt denn je, ist es wahrscheinlich wirklich an der Zeit, das Kindliche wegzuräumen und klar Schiff zu haben auf dem Kurs zur Autonomie – … den Fachbegriff für Selbständigkeit könnt Ihr mal googeln. ——
Als Erstes verbrennen wir symbolisch ein Schild, das über Euren Häuptern stand, als Ihr noch klein wart und gern geschaukelt und gewippt habt und Sand futtern und hinter die Hecke pinkeln durftet. Da stand über allen Spielplätzen: „Eltern haften für ihre Kinder“, weil nicht Ihr bestraft worden wäret, wenn Ihr einander dort ohne Luftschacht eingebuddelt oder kopfüber von der Rutsche geschubst hättet, sondern Eure Eltern.
Dieses Schild von der Haftpflicht Eurer Eltern ist jetzt altes Eisen und kann entsorgt werden: Nicht bloß weil Ihr ab dem 14. Lebensjahr nicht mehr grundsätzlich strafunmündig seid, sondern weil Ihr in einer entscheidenden Hinsicht vielmehr uneingeschränkte Mündigkeit erlangt … in Religionsfragen nämlich. Was Ihr selber glaubt, das ist ab 14 rechtlich ausschließlich Eure Angelegenheit, da haften weder Eltern, noch Freunde, weder Pastoren noch sonst irgendein bevormundungsfreudiger Anderer mehr für Euch.
Was die höchsten Maßstäbe und die lebenswichtigste Wahrheit sind, das müsst Ihr vor Gott und den Menschen nun selbst verantworten! … Darum weg mit dem Spielplatzschild „Eltern haften für ihre Kinder.“ —
Nach dem Spielplatz nehmen wir uns mal die Spielsachen vor.
Da könnte die Razzia auf das, was Ihr nicht mehr braucht, meinetwegen auch dramatisch anfangen: Seit mir vorgestern angekündigt wurde, wahrscheinlich käme an diesem Donnerstag kaum jemand in den Konfirmandenunterricht, weil doch das neue update von Fortnite erwartet werde, war ich kurz in Versuchung, Euch vorzuschlagen, das ganze Internet und den Laptop, die Konsole und allen andern virtuellen Kinderverfettungskram auf den Speicher zu bringen und ein Leben danach zu suchen.
… Aber nicht nur fiel mir ein, dass Ihr dann sehr, sehr traurig wäret, sondern auch, dass Ihr ohne Internet womöglich gar nicht klüger würdet. … Also nutzt es nicht zur Verdummung und verzockt Euch nicht nur dran, sondern macht Gutes daraus! —
Und wir räumen weiter auf: Her mit den Spielsachen, die Ihr nicht mehr braucht, damit sie weg können.
Was gibt’s denn da?
„Mensch ärgere nicht!“ – Pardon, das muss bleiben! Das ist nicht nur Kult, sondern nötig.
Dann schmeißen wir vielleicht aber Kuscheltiere und transformative Autos und Puppen, die aussehen, als kämen sie aus Bergisch Gladbach, weg, und die Technik- und Experimentierbaukästen und die Spielfelder, auf denen man Verbrecher durch London jagt oder neue Landschaften besiedelt oder entweder über „Los“ oder ins Gefängnis geht, … die schmeißen wir weg, … und die kleinen bunten Steine mit den Noppen, die die Reflexzonen so stimulieren, wenn man nachts barfuß drauftritt, die kommen auch weg, ... und die Puzzle, mit den frustrierend fehlenden Teilen und das ganze intergalaktische Merchandising und die glitzernden Ausmalhefte mit Prinzessinnen und den von mir so tief gehassten Einhörnern … und die Quartette und das ganze Mikado-Gefummel und die Laserschwerter, … die erwischt’s! (oder?), … und diese schwarz-weißgemusterten Bretter, auf denen lahme Könige und träge Bauern und zackige Läufer und beinah allmächtige Damen rumschieben und durch die man regelrecht zum strategischen Genie wird, wenn man die uralte Kunst des Voraus- und Durchdenkens daran einübt ……. nun, die können wir ja vielleicht doch nicht entsorgen, … und die Teddies, die Eure Geheimnisse kennen, auch nicht, … und die Dinge, denen Ihr entwachsen seid, aber die Euch einmal lieb waren, eigentlich auch nicht, … und die harmlosen und die raffinierten und die anspruchsvollen und die blödsinnigen, aber komischen Spielereien auch nicht, denn auch die sind berechtigte Teile Eures Lebens, … und die Schläger, mit denen Ihr von Badminton bis Tischtennis, von Lacrosse bis Golf manchmal so leidenschaftlich spielt, und die Bälle und die Instrumente und die Rollen, die Ihr teils vollendet, teils als Anfänger, aber immer mit Lust und geistigem Gewinn spielt, … und alle die anderen spielerischen Begleiter und Bestandteile Eures Lebens, von den Kinderschuhen bis heute: ……. Was davon kann denn nun wirklich weg? …
Ich wollte Euch doch zum Großreinemachen, zum Kehraus des Kindlichen helfen, …ich wollte doch Ordnung und ein übersichtliches System reinbringen, nachdem die Kindheit vorüber ist. …….
Doch es gelingt mir nicht, Euch die alten Erinnerungen und bisherigen Übungen, die freien Möglichkeiten und ziellosen Freuden der Lebensphase, aus der Ihr nun rauswachst, überzeugend abzugewöhnen und wegzupacken.
Denn der beste Ordner unseres Lebens und der ganzen Welt, der zuverlässigste Sortierer und Bereiniger unserer Unordnung, der klügste Lehrer und hellste Erleuchter der Menschheit ist der Heilige Geist Gottes, in dessen Namen und Auftrag ich Euch gleich die Hände auflegen werde.
… Und dieser Heilige Geist, dem die Schöpfung ihre Ordnung, Muster und Gesetze bis hin zu den Sequenzen der DNA und den zierlich-harmonischen Gebilden der Atome verdankt, … dieser Heilige Geist, der in großen Teilen der Bibel auch schlicht die Weisheit Gottes genannt wird, der ist eben doch kein starrer Systematiker, der alles festlegt und nichts offen oder möglich lässt, sondern im Gegenteil: Gottes Weisheit, Gottes Geist ist die wunderbare, spielerische Freiheit, Alles zu ermöglichen und Nichts nur zu fürchten, in allem Gutes zu denken und überall Sinn und Schönheit zu erkennen.
Gottes Weisheit ist die absichtslose Bereitschaft zum Vertrauen.
Gottes Geist ist die Überlegenheit über alle Zwecke und die unendliche Freude am Einzelnen wie am Ganzen.
Und gerade darum hören wir in den Sprüchen Salomos, dass Gottes Geist, Gottes Weisheit darin vollkommen ist, nicht immer bloß ein festes Ziel, sondern ein freies Spiel zu verfolgen.
Gott selber steht nämlich unter keinerlei Zwang, immer etwas Bestimmtes zu müssen, und darum will und liebt Er’s auch, dass Seine Menschen nicht als Sklaven, sondern als Freie denken und handeln, sprechen und leben.
Und diese Freiheit zum Spiel aller Kräfte, und diese neugierige Offenheit für Phantasie und Zukunft, und diese unbesorgte Lebenslust und Lebenshoffnung sind Gaben Gottes, die Er allen denen gibt, die ihr Dasein nicht als zu erledigende Hausaufgabe, sondern als geschenkte Möglichkeit erfahren.
Es geht im Leben nicht stur um Erfolge und Sieg!
… Als Christen wissen wir genau, dass wir Menschen ohne Gott immer nur verlieren würden und Verlorene wären.
Sondern es geht darum, dass wir an jenem wunderbaren Spiel Gottes, das sich Leben nennt, teilnehmen.
Der Gewinner dieses Spieles steht fest: Es ist jeder, der sich von Gottes Weisheit und Gottes Geist segnen lässt mit Freude am Leben und mit der Zuversicht, dass es uns am Ende nicht schwer, sondern leicht fallen wird.
Denn auf dem Spiel steht nicht, ob wir im Ernst die verbiesterten Besten sind. Sondern, dass wir die Freude Gottes nicht verlieren – Seine Freude an uns, unsere Freude an Ihm und Seinem Wunderwerk des Lebens in Zeit und Ewigkeit. ——
…. Und darum kann ich Eure unbeschwerte Kindheit jetzt leider doch nicht wegräumen und Euch hinaus ins feindliche Leben schicken.
Im Gegenteil.
Ich kann Euch nur von Herzen bitten: Werdet frei und weise, indem Ihr Gottes Kinder bleibt … in allem, was Ihr tun und leisten werdet, in allem, was einmal Eure Erfolge und Eure Niederlagen sein sollten.
Bleibt Gottes Kinder, die nicht sorgen müssen, sondern frei durch Ihn und für Ihn sind, weil sie sicher sein dürfen, dass zuletzt nur Eins buchstäblich unendlich ernst ist: Der große, gnädige, liebende Gott selber.
- Gott, unser Schöpfer, Der uns nicht teilnehmen lassen musste an allem, aber aus freien Stücken will, dass wir da sein dürfen und mit Ihm teilen.
- Und Jesus Christus, das Lamm Gottes, das uns dafür von Schuld und Tod befreit hat.
- Und die Weisheit des Geistes Gottes, die reine, freie Freude schenkt.
Werft darum gar nichts weg – kein kindliches Vertrauen, keinen einfachen Glauben, keine kinderleichten Erfahrungen –, … werft nichts weg, das Euch mit Gott verbindet.
Und nehmt heute einfach nur für immer – auch in Euer nicht aufgeräumtes Dasein! – Seinen Segen mit, … den Segen, dass Ihr in spielerischer Weisheit Menschen sein dürft, an denen Gott Seine Lust hat!
Amen.
Die „spielende Weisheit“ steht im Alten Testament für die faszinierende Entsprechung zwischen der Regelhaftigkeit und Schönheit des Kosmos und der reinen (Zweck-)Freiheit dieser Wunder. Die gleiche Relation zwischen der Schönheit an sich und dem spielenden Genuss daran haben auch die Philosophen seit der Antike entdeckt, bestaunt und gelehrt. Klassisch dazu Schiller, der im 15.Brief „Über die ästhetische Erziehung des Menschen….“ (in: F.v.Schiller, Sämtliche Werke - Fünfter Band: Erzählungen / Theoretische Schriften, hgg. v. G.Fricke† und H.G.Göpfert, Darmstadt 19939, S. 617) schreibt: „(M)it dem Angenehmen, mit dem Guten, mit dem Vollkommenen ist es dem Menschen nur ernst, aber mit der Schönheit spielt er.“ Vorher heißt es von diesem Spiel des Menschen: „(N)ur das Spiel ist es, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet.“ Genau dieser Zusammenhang ist der für die Predigt entscheidende Gedanke: Wo wir die Schönheit des Lebens – und Ästhetisches ist eine Kategorie der Offenbarung Gottes, wie die alte Theologie uns lehrt! – erfahren, da macht die Teilhabe daran uns unangestrengt und frei zu den Kindern Dessen, Der in aller Schönheit verborgen nahe ist und sie uns als Anteil an Seiner Freude schenkt.
Konfirmation / Misericordias Domini, 05.05.2019, Stadtkirche, Psalm 100,3, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Konfirmation Miserikordias Domini - 5.V.2019
Psalm 100, 3 „ER hat uns gemacht und nicht wir selbst.“
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Verzeiht und nehmt’s nicht persönlich, wenn wir an der Metzgertheke beginnen: Gleich wird‘s manierlicher und appetitlicher.
…… Nun ist es heute ja so, dass man noch bei Eisbein und Chickenwings feststellen kann, dass jedes Schweinchen und jedes Hähnchen Anspruch auf eine ordentliche Herkunftsangabe hat. Was immer an die Leute und auf den Teller gebracht wird, soll erzählen können, aus welch gutem Stall es kommt und wie schön die Gänseblümchen dort auf der Weide blühten und wie heil die Welt war, in der das kleine Schnitzel grunzte.
Und ihr? Seid ihr etwa weniger als die Mastferkel, und sollte eure Herkunftsbezeichnung weniger zu Herzen gehen als die ganze Postkartenidylle, aus der wir gerne unsre Frühstücksmilch und Leberwurst beziehen?
… Ihr versteht nicht so recht, was ich meine?
Dann sag‘ ich’s noch mal anders: Wir leben in Zeiten, in denen es Vielen viel bedeutet, zu wissen, wo etwas herkommt. Man möchte überzeugt werden, dass es aus einer guten Quelle stammt, dass an seinen Ursprüngen Geschick und Ehrfurcht beteiligt waren und dass Liebe drin steckt. Und dabei reden wir von Armbanduhren, Geschirrspültüchern oder Trüffelschokolade. Wir reden also von Produkten. …
Aber ich möchte von Euch reden.
Ich möchte davon reden, woher Ihr kommt, welchem Geschick und welcher Liebe Ihr Euer Dasein verdankt und was das Gütesiegel sein mag, das Euer Entstehen trägt. ——
Nun wird Euren Eltern gerade etwas schwül zumute, denn nachdem man zunächst fürchten musste, dass wieder eine Bio-Predigt, eine Klima-Predigt oder ähnliches sich ankündige, wird’s nun scheinbar gänzlich unangemessen, ja geradezu unanständig, wenn unser Thema lauten sollte: „Wo kommen nur die Kinder her?“ …
Doch ruhig Blut, Ihr lieben Eltern. Da schweigt des Pfarrers Höflichkeit. Denn da gibt’s auch nicht viel zu sagen, wenn wir nicht von etwas ganz anderem als dem fröhlichen Allerweltsthema der leiblichen Liebe sprechen wollten.
Doch eben von der anderen Liebe, von der, die nicht Vater und Mutter, nicht Fleisch und Blut also gehegt haben, … von dieser anderen Liebe will ich im Beisein aller, die jetzt hier sind und auf diese jungen Menschen blicken, die wir nicht beschämen wollen, reden dürfen!
Dass das nicht unanständig sei, kann ich aber nicht versprechen.
Denn die andere Liebe, die Liebe, die so viel mehr noch vermag, als unser Fleisch und Blut, die geht wahrhaftig weiter als nur bis an die Oberfläche unseres Lebens, sie geht unter die Haut und trifft die, die sie erfahren, bis in’s Mark.
Und wie soll man davon sprechen, wie soll man so etwas vermitteln, in einer Zeit, in der – aus gutem Grund – der Abstand oberstes Gebot ist? …….
Wäre ich ein weniger langweiliger Pfarrer, … einer, der zur Konfirmation auf Rollerblades in die Kirche saust oder bunte Regenschirme mit lustigem Logo auf der Kanzel aufspannt, dann hätte ich mich wenigstens darum bemüht, in anschaulicher Weise zu vermitteln, wie ernst ich es meine, dass Ihr Konfirmandinnen und Konfirmanden die Liebe als das Markenzeichen, das Euch prägt, sichtbar vorweisen solltet. Ich hätte T-Shirts ordern können, die auf gut amerikanische Weise bedruckt und auf fernöstliche Weise genäht wären, auf denen dann stünde, was ich meine. … Aber die waschen aus.
Wäre ich noch ein bisschen zeitgemäßer, dann hätte ich vielleicht einen richtigen kleinen Skandal losgetreten und dabei auf das Vorbild der koptischen Christen Ägyptens verwiesen, die tatsächlich bei der Taufe schon ihre Kinder mit einem Kreuzzeichen tätowieren lassen, das ihnen unauslöschlich auf die Haut schreibt, Wem sie sich verdanken und Wen sie folglich ein Leben lang nicht verleugnen können, selbst wenn ihr Mund einmal lügen sollte. Die Rage Eurer Eltern hätte ich noch riskiert, wenn ich meinte, ein Tattoo sei eine hilfreiche Gedächtnisstütze, um einen als Christen zu bezeichnen; der Arm meiner alten Französischlehrerin allerdings, auf den deutsche Monster im KZ eine Stückzahl tätowiert hatten, wäre mir dabei als Hinderungsgrund für solche Mätzchen erschienen. Aber am Ende hätte ich es ohnehin immer noch für zu oberflächlich gehalten, Euch bloß mit Tinte auf die Pelle zu rücken, um Euch Eure Herkunftsbezeichnung buchstäblich einzubleuen.
Ich bin der Meinung, Ihr müsstet, nein, Ihr würdet es anderswo tragen wollen: Das Zeichen, das deutlich macht, woher Ihr stammt und wer die Rechte an Euch hat und behält, weil Er Euch entwarf und formte und in Euch solche Unikate sieht, dass Er nie wieder einen zweiten Abklatsch, eine Wiederholung Seines einzigartigen Werkes in Eurer Gestalt versuchen wird.
Und darum will ich – Abstand hin oder her – nicht an Eure Wäsche und nicht an Eure Haut, … sondern an Euer Herz!
Wobei wir uns als evangelische Christen sicher sofort auf das Eine verstehen: Herz und Seele sind die freiesten Stücke eines Menschen! Man kann sie eben nicht bedrucken oder tätowieren – egal wie sehr einem jemand da auf den Leib rückt!
… Nein, es kann sonstwer so unverschämt kommen wie gerade ich und Euer Herz, Eure Gedanken, Gefühle und Wesen beanspruchen: Der Sitz des Denkens, des Glaubens und der Wahrheit, der geht nur von Innen auf. …
Und auch ich stehe heute nur davor und bitte.
Weil Ihr aber eben kein Vieh und kein Erzeugnis seid, kann nicht einmal Eure Herkunftsangabe – die Bezeichnung, Wer aus Liebe Euer Urheber und Schöpfer ist – Euch einfach aufgeklebt und angeheftet werden. Vielmehr müsst Ihr selbst dem zustimmen, dass man Euch nicht als Treibgut, nicht als Massenware und nicht als Zufallsprodukte ansieht und auch Ihr Euch nicht so betrachtet.
Und das macht die Konfirmation zu einem so starken Moment, zu einer so wichtigen Entscheidung: Eure Eltern konnten und können Euch nicht fragen, ob Ihr ihnen Euer Leben verdanken wollt, … aber der allmächtige Gott, Der Himmel und Erde und alles, was darinnen ist, erschaffen hat, Der fragt tatsächlich in diesem Augenblick, ob Ihr Seine Schöpfung und ob Ihr Sein Bild in der Menschheit und ob Ihr Seinen menschgewordenen Sohn, der für die Zukunft aller Menschen zur Welt kam, lebte, lehrte, litt, der starb und auferstanden ist für alle – und dessen Siegel Ihr in der Taufe durch Wasser und Heiligen Geist empfangen habt – … Gott fragt, ob Ihr das alles als Wahrheit Eures Lebens, als Euer Woher, Wozu und Wohin bejahen wollt? Oder ob Ihr sagt: Es war die Laune einer Nacht, der Zusammenstoß zweier Zellen und ein bio-chemiko-physikalischer Prozess, der so verlief, aber auch anders hätte laufen können, der momentan auf mich hinausläuft und eines Nachts im Auseinanderdriften meiner Grundbestandteile sich wieder auflösen wird und rückwärts fällt ins nebelhafte Nichts.
’ne Nummer kleiner geht’s leider nicht.
Weil das hier eben nicht die Metzgertheke ist. wo man zwei Pfund Christentum halb-und-halb und noch was für die Tiefkühltruhe bekommt.
Aber macht Euch nicht in’s Hemd.
Guckt Euch lieber noch mal um und seht, wie viele Herzen und Köpfe gerade Euretwegen und wegen Eurer Entscheidung an diesem Tag ihre Innenverriegelung aufgesperrt haben und ganz unverkrampft offen sind für Gott: Da sind Großväter, die sich heute erinnern, wie es bei Ihnen war, als sie im Krieg, in harter Zeit ihr Bekenntnis zu Eurem Gott ablegten; da sind ganze Familie, deren Teil Ihr seid, die heute – weil jemand fehlt, den Ihr alle miteinander lieb habt und lieb behaltet – spüren, dass Zeit und Ewigkeit, dass Gottes Gegenwart und unser Leben zusammengehören und untrennbar sind; da sind ältere Geschwister, die bei aller abgeklärten Coolness das auch erlebt und für sich so entschieden haben; da sind Eltern, Paten und skeptische Verwandte, denen es zwar milde peinlich ist, wie hier von Hemd und Haut und Herkunft die Rede ist, und die doch wissen, dass es nackt und unanständig nur wäre, wenn wir nicht das Herz meinten und jene andere Liebe, … die Liebe Gottes, der wir uns verdanken.
Doch abgesehen von allen denen, die heute auf ihre Weise Eure Entscheidung begleiten, ist da eben noch ein Anderer!
Michelangelo hat Ihn – obwohl es unmöglich ist – zu malen versucht[i]: Gott, wie Er auf Adam, den Menschen zurast. … Eigentlich ein kolossaler Knalleffekt, der schwarze Löcher reißt, … noch unvorstellbar lächerlicher, als wenn ich tatsächlich hier auf Rollschuhen reingeschlittert wäre.
… Aber worauf es bei diesem Bild von Gott und Mensch alleine ankommt, ist das Fingerspitzengefühl, das nicht einmal vollzogene Antippen mit einem Finger und Berühren mit einer Hand, durch das Liebe, Lebendigkeit und Wahrheit strömen und verschenkt werden.
Man nennt das Segen.
Und wenn Ihr jetzt zustimmt, dass Ihr die Hand Gottes als Eure Wiege und Eure Heimat seht – wenn das also Euer Bekenntnis und keine pseudowissenschaftliche Fest-stellung ist, dieses „Er hat uns gemacht und nicht wir selbst“ –, dann ist Euer Leben tatsächlich gemacht!
… Was immer kommt, wie immer es wird: Ihr nehmt es aus Gottes Hand, und in Seine Hände gehört Ihr für immer, und auf Eurem Herzen steht wie über Eurer Herkunft und Eurem Ziel, das was Gottes ganze Schöpfung auszeichnet: „Siehe, es ist sehr gut!“ (vgl. 1.Mose 1,31)
Amen.
[i] Auf dem Gottesdienstblatt zur Konfirmation war eine Zeichnung des berühmten gott-menschlichen Zeigefingermotivs aus Michelangelos „Erschaffung Adams“ in der Sixtina abgebildet.
Konfirmation, 04.05.2019, Stadtkirche, Psalm 100,3, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Konfirmation 4.V.2019
Psalm 100, 3 „ER hat uns gemacht und nicht wir selbst.“
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
„Wer war’s?“ – Damit fängt’s so oft an.
„Wer war’s?“ – Das kann die Frage nach dem Schuldigen sein … urernst bei der verbotenen Frucht im Garten Eden, sinnlos bei den unappetitlichen Partyhinterlassenschaften heute Abend spät auf dem Teppich.
„Wer war’s?“ – Das kann die Wissensfrage sein, wenn man zwischen Alexander Graham Bell oder Johann Philipp Reis als Erfinder dessen schwankt, was heute Handy heißt. Die erste Botschaft, die in Deutschland jemals über das Telephon vermittelt wurde, war übrigens „Das Pferd frisst keinen Gurkensalat“!? … Da sieht man, was Fortschritt ist, denn heute benutzt man diese Erfindung von Johann Philipp Reis ausschließlich für Sinnvolles.
„Wer war’s?“ – Das ist eine Frage, die Tragödien und Kriege auslösen, eine Antwort, die Erfolg oder Zuspätkommen ausmachen kann, eine Entscheidung auf detektivischer Grundlage, deren Folgen bloß Extra-Hausaufgaben oder doch zerstörte Zukunft sein können. —
Aber je näher das Fragezeichen des „Wer war’s?“ sich in unsere Richtung schlängelt, desto weniger wissen wir genau: Wer hat vor neun oder zehn Jahren die Klecksbilder gemalt und die Kleinigkeiten gebastelt hat, die von Euren Eltern oder Großeltern irgendeiner bis heute hängen oder gesammelt hat und auf denen in krakeliger Schrift Euer Vorname steht?
Und wer war das komische Wesen mit Zahnlücke, das auf Euren Einschulungsbildern die bunte Schultüte auf dem Arm hat und breit wie ein Honigkuchenpferd oder schüchtern-ahnungslos wie etwas aus den unteren Schichten der Muggle vor sich hin grinst?
Und wer war das, der in den letzten Jahren plötzlich so müde oder so stur oder so frühreif oder so aufgeweckt wie noch nie in Euren Zimmern chillt, Euer Taschengeld für eigentümliche Freuden ausgibt und die seltsamen Noten nach Hause brachte, die es früher so eher nicht gab? —
„Wer war das?“ werdet Ihr einst fragen, wenn Ihr so um 2040 herum die Photos vom heutigen Tag in einer cloud sucht, die dann schon technisch richtig vorsintflutlich wirken dürfte, … „Wer war das bloß?“ werdet Ihr also einst fragen beim Blick auf die sehenswert adretten, irgendwie erstaunlich vertrauten, aber doch auch erst allmählich zum Vorschein kommenden Züge in den Gesichtern von Dreizehn- und Vierzehnjährigen, … Züge, die 2040 dann klar sein werden, harmonisch oder aber ganz anders fortgesetzt, als man 2019 zu ahnen meinte.
Wer war’s? ……. ——
Es wäre ein Glück, wann immer sich diese Frage in Eurer Richtung stellt – schlimmstenfalls als Schuldfrage, schönstenfalls als Frage der Lebenserfahrung – es wäre ein Glück, wenn Ihr einmal zu den Menschen gehören würdet, die nicht zu feige und nicht zu verlogen, die nicht zu unsicher und nicht zu gedankenlos sind, um eine ganz einfache, ganz wichtige Antwort darauf auch aussprechen zu können: „Wer war das, der sich so entwickelt hat? Wer war das, der sich so verändert hat? Wer war das, der einen solchen Fehler gemacht hat? Wer war das, der seinen Traum so hartnäckig verfolgt hat? Wer war das, der diesen Babyspeck und dieses Kindergemüt, diese Jugendlässigkeit und diese Lach- und Sorgenfalten auf diesem immer gleichen, immer anderen Gesicht versammelt und in diesem Kopf und Herz so unterschiedliche Gedanken, Hoffnungen und Leistungen zusammengebracht hat?“ ……. „Wer das war?“ – „Ich!“
Wenn Ihr das einmal sagt … gehen wir nicht nur zwanzig Jahre in Eure Zukunft, sondern nehmen wir einen tieferen Schluck aus der Quelle aller Verheißungen …., wenn Ihr also einmal in ganz vielen Jahren, auf der Höhe Eures Lebens oder am besten sogar, wenn es sich langsam zu einem echten, vollen, eingesetzten und ausgeschöpften Reichtum an Jahren, an Bildern, an Dingen und Menschen gerundet hat … wenn Ihr dann sagen könnt: „Ich war das!“, dann wird es für Euch und für die Welt gut sein.
Denn wenn es etwas gibt, das unser Glaube genauso wie unsere Vernunft verbietet und verwirft, dann sind das Menschen, die immer nur sagen: „Ich war das nicht!“
„Auf den Teppich habe nicht ich gekotzt, und am falschen Knopf hab ich auch nicht gedreht und ein Risiko hab ich nie auf mich genommen, und entschuldigen muss ich mich auch nicht.“
Solche Leute, die wie der erste Adam immer nur alles auf einen anderen schieben, die sich drücken und zu schade sind und zu geist- und lust- und zu charakterlos, um sich ihrer selbst bewusst zu sein, solche Leute, die keine Verantwortung übernehmen und die nicht stolz und nicht demütig genug sind, um geradeheraus zu sagen: „Ich war’s!“, die sind ein Übel.
Und darum seid Ihr evangelische Christen und evangelische Christinnen, weil Ihr das hoffentlich gemerkt und gelernt habt: Wer vor Gott steht, kann und muss sich niemals verkriechen, sondern jeder Mensch soll sich bekennen zu seinen Schwächen wie zu seinen Stärken, zu seinen Schatten- wie zu seinen Segensseiten; wenn ein Christ nämlich irgendwo das Wörtchen „Ich“ sagt – und sagt’s als Christ! –, dann hat er im selben Atemzug ein zweites Wort gesagt.
Hier herrscht jetzt allerdings Verwechslungsgefahr, wenn ich den Satz richtig erkläre und vollende. Er lautet nämlich so: Wenn einer von uns „Ich“ sagt, sagt er auch „Gott“.
Das bedeutet nicht – nicht, nicht, nicht! –, dass unser Ego unser Gott ist oder wir uns selbst vergötzen. … Bitte, bitte seid niemals so trostlos dumm!
Sondern seid so klug und frei, dass Ihr versteht: Gottes Liebe zu jedem Menschen ist so grund- und grenzenlos, dass es wirklich in der gesamten Menschheit und in jedem Augenblick jedes Menschenlebens nichts gibt, das nicht auch Gott betrifft. Gott hat sich so vollständig auf uns Menschen eingelassen, Er hat sich so wirklich und so konsequent in unser Leben, unser Lachen und unser Leiden eingebunden, dass Er uns immer nahe ist und dass wir darum nichts erleben, dass wir nichts schaffen und nichts verlieren können, das uns nicht den Zusammenhang mit Ihm spüren und vertiefen lässt.
Darum ist ja auch Verstecken vor Gott ein solcher Unfug und Angeberei vor Ihm genauso: Was in unserem Leben glänzend läuft und wo wir gerne sagen: „Ich war’s“, das verbindet uns mit Ihm, Der uns gemacht hat, nicht weniger und nicht mehr, als das, was schief und schrecklich läuft. Wir können in beidem nur deshalb überhaupt wir selber sein, weil Gott uns gewollt hat und uns niemals verlässt, … weder im Guten noch im Bösen. ——
Diese Botschaft, dass wo Ihr seid, auch Gott ist, diese Botschaft von der unlösbaren Verbindung, die Gott zu uns hält, schützt Christen wenn sie großartig sind und Großartiges erfahren vor dem Wahnsinn und Übermut, die denen drohen, die tatsächlich das Glück in ihrem Leben für selbstgemacht halten: Niemand macht sich selber! Glaubt bloß nicht das Märchen vom self-made man! Gott ist als Ursprung und Sinn an Allem beteiligt!
Aber umgekehrt bedeutet das: So wie wir niemals nur für uns glücklich sein können, so werden wir auch niemals nur alleine leiden oder nur uns selbst überlassen sein; Gott gibt uns nicht auf, auch wenn es hart auf hart kommt. Glaubt also genauso wenig das Märchen von der gottverlassenen Menschheit!
Glaubt stattdessen, dass einer – Gott selber nämlich – Euch Gutes will, dass Er Eure Freuden will und Eure Ziele teilt und dass Er Euch dafür wie auf Michelangelos Bild[i] von den Finger- bis in die Haarspitzen mit Seinen Kräften und Seinem Segen ausstattet, so dass Ihr Seinen Fingerabdruck an Euch und in die Welt tragt und sie mit guten Spuren füllen könnt.
Wenn Ihr aber einmal tatsächlich gar nicht weiterwissen oder -kommen solltet, dann dürft Ihr sogar glauben, dass Er – Gott selber – tatsächlich auch in Euer verzagtes, peinliches Schweigen hinein sagen wird : „Ich war’s!“
Gott selbst wird eintreten für Euch, wenn Ihr je meinen solltet, nicht mehr zu Euch selbst stehen zu können.
Gott ist eingetreten für Euch!
Das ist der allertiefste und beste Inhalt unseres Glaubens: Er heißt Jesus Christus.
Und bedeutet: Ihr könnt euch darauf verlassen, dass Ihr wisst, wer’s war. … Dass Ihr wisst, wer heute schon Euer ganzes Leben und Eure ganze Zukunft, wer heute schon alles, was kommt und wird, gut gemacht hat bis in Ewigkeit.
Das hat Jesus Christus getan, weil er Mensch wurde wie Ihr und Euren menschlichen Satz „Ich bin’s! Ich war’s!“ dadurch ganz praktisch zu einem Satz Gottes gemacht hat. Gott heißt ja „Ich bin’s und ich war’s und ich werde es sein!“ (vgl. 2.Mose 314).
Gott, der darum die Antwort ist auf die Schöpfer-, die Helfer- und die Hoffnungsfrage.
„Wer war’s?“
–Ihr, die gerade Euren Glauben an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist bekannt habt, habt selber diese Antwort gegeben.
„Ich“, habt Ihr gesagt. „Ich glaube“. … An Den, Der’s war und ist und bleibt.
Dem Ihr gehört. Der Euch segnet und führt und vollendet.
Amen.
[i] Auf dem Gottesdienstblatt zur Konfirmation war eine Zeichnung des berühmten gott-menschlichen Zeigefingermotivs aus Michelangelos „Erschaffung Adams“ in der Sixtina abgebildet.
Quasimodogeniti, 28.04.2019, Stadtkirche, 1.Petrus 1, 3 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Quasimodogeniti - 28.IV.2019
1.Petrus 1, 3–9
Liebe Gemeinde!
Heute ist der Oktavtag von Ostern, der achte Tag nach dem Fest, der in der Kirche immer von besonderer Bedeutung ist, weil nach den sieben Wochentagen irdischer Zeitrechnung mit dem 8.Tag symbolisch die Ewigkeit beginnt. Heute wird Ostern also ewig.
Und die sieben Tage, die hinter uns liegen, sind biblisch ja so erfüllt: Am vergangenen Sonntag die ersten, zurückhaltenden, überfordernden, wunderbaren Begegnungen am Grab und im Garten; am Montag die Begegnung auf der Landstraße nach Emmaus; dann weitere Wiedersehen bis hin zum unbeschreiblichen und biblisch unbeschriebenen Augenblick, als auch seine Mutter, die ja auf Golgatha gewesen war, ihn wiederhatte; gerade eben schließlich die Stunde des Thomas … und in genau diesen sieben Tagen wohl auch für uns, die wir irgendwo zwischen den Blinden mit brennenden Herzen und den Ungläubigen mit bohrenden Fragen stehen dürften, Gelegenheiten, dem Auferstandenen nahe zu sein, ihn wiederzuerkennen. Ostern also in sich weitenden Kreisen.
Und schließlich ist heute nach dem alten julianischen Kalender Ostern nun auch im Osten und im Orient; Ostern der frühesten Kirchen, Ostern der uralten Bräuche, Ostern des ursprünglichen Rufes von Alexandrien und Antiochien:
„Christos anesti! Alithos anesti!“
„Al-Masih qam! Haqqan qam!“
Ostern der Ökumene, Ostern des gläubigen Erdkreises.
Zeitliche und räumliche, menschliche und weltliche Osterfülle sind heut also mit Händen zu greifen und im Herzen zu halten: Fest und voll und reich und rundherum ist Ostern.
… Und welches Vorzeichen stellt unsere Kirche über diesen Tag, der vollendet zu sein scheint?
……. „Quasi“!? …….
Man meint, sich zu verhören.
Es sollte doch wohl eine stärkere und siegessicherere Losung über diesem Sonntag stehen, als „Quasi“, … also: „Ungefähr“, „vergleichsweise“, „sozusagen wie“. Man sollte doch ein volltönendes: „Genau so!“ oder „Es ist vollkommen“ erwarten, wenn das höchste Fest der Kirche wirklich seine ganze Botschaft entfaltet und bestätigt hat.
… Aber so ist das Christentum in Wahrheit: Wo es biblisch und nicht politisch-imperialistisch gestützt ist, da ist das Christentum niemals ein Triumphgeheul, niemals eine Gewinner-Propaganda – auch wenn es vom wichtigsten Sieg der Welt weiß! –, sondern es lebt von Gottes Botschaft an die Wirklichkeit, ……. jene Wirklichkeit, in der auch am achten Tag der österlichen Fülle …Wirklichkeit herrscht!
Christen leben ja in keiner anderen Realität, in keiner anderen Dimension, auf keinem anderen Stern als mit ihnen die gesamte Menschheit.
Nur dass sie eines wissen, das anderen verborgen bleibt: Es hat etwas begonnen, das ewig ist; es ist etwas geschehen, das für immer wirkt; es ist Einer auferstanden, Der damit für die Gesamtheit einen ungeahnten Anfang machte. Und darum ist Ostern buchstäblich wie in Max von Schenkendorfs einst beliebtem, heute zu Recht vergessenem geistlichen Volkslied: „Ostern, Ostern, Frühlingswehen!“ – Ostern ist quasi wirklich eine erste Presswehe, Ostern ist sozusagen der bestimmt nicht schmerzfreie An- und Durchbruch einer neuen Geburt und Zeit.
Und damit ist es so ungeheuer realistisch und lebensnah wie die ganze biblische Offenbarung: Kein „Simsalabim“ der Erlösung, kein Spezialeffekt, der alles strahlend kittet, was eben noch in tausend grauen Scherben lag, ist dies Ostern. Sondern ein unumkehrbarer, aber eben doch nur erster Anfang, … ein Beginn, dem ein langer, kräfteraubender, lebenspendender Prozess folgt.
Und in diesem Prozess befinden wir uns: Wir, die wie die neugeborenen Kinder – „Quasimodogeniti“ (vgl.1.Petr.2,2) – wiedergeboren sind zu einer lebendigen Hoffnung.
Vollendet sind wir also noch lange nicht, und abgeschlossen ist Ostern keinesfalls, sondern gerade hat ein Leben seinen ersten Schrei getan, seinen ersten Atem geschöpft, dem noch viele, viele Wachstumsschmerzen und Entwicklungsschübe bevorstehen. —
Von solchen Schwierigkeiten und Krisen, von solchen Anstrengungen und Prüfungen spricht nun der 1.Petrusbrief, der mit dem Lobpreis auf das Wunder der Wiedergeburt als österlich Hoffende beginnt. Was der Apostel in diesem Brief von den ersten Versen an in Aussicht stellt, ist nämlich von Ostern her – dem Wunder, dessen Zeuge er selber war! – gerade keine heilgezauberte Welt, sondern eine Bewährungs- und Zerreißprobe für die, die wissen, was Gott da getan hat, und die zugleich erleben, wie anders die Wirklichkeit uns noch immer begegnet.
……. Ostern mitten in der Wirklichkeit eben.
Ostern als die unverlierbar, unzerstörbar, unsterblich geborene Hoffnung mitten in Verlusten, Zerstörungen und Sterben.
… Ostern quasi wie 2019!
Um das zu erfassen, müssen wir allerdings von uns absehen können.
Wir müssen absehen von Menschen wie uns, denen nichts fehlt und die darum nach 8 Tagen von der Auferstehung tatsächlich schon in der Vergangenheitsform reden – weil sie eben bloß ein Fest gefeiert haben – und die sie nicht in die Zukunft, ins Futur übersetzen müssen, da sie von lebendiger Hoffnung nichts verstehen und kein wachsendes, zunehmendes, sich vertiefendes und erweiterndes Ostern brauchen. ———
Ich habe dieses Jahr innerlich Ostern gefeiert mit einer – beschämt gestehe ich’s – für mich namenlosen Frau, die einmal im Jahr, immer am Sonntag Estomihi für mich Küsterin ist, wenn ich über Karneval eine Tagung in einem großartigen katholischen Haus habe. Jedes Jahr wieder hat sie in der Kapelle mit dem leisesten Anflug eines verschwörerischen Lächelns alles für die Kommunion gerichtet und sagt dann jedes Jahr: „Ich wusste gar nicht, dass nur ein Wortgottesdienst sein soll.“ Und dann räumt sie den Altar nicht etwa ab, denn wenn sie sonntags Dienst tut, dann will sie ihren lebendigen Herrn, ihre lebendige Hoffnung auch empfangen – und sei’s aus einer evangelischen Hand. Dass sie nicht evangelisch ist, ist gewiss: Ich erfahre von ihr jedes Jahr ein anderes Wunder. Da ist ein Eiszapfen, den sie in der Früh geknipst hat und in dem für jedermann klar ersichtlich die Jungfrau mit dem Kinde sich zeigt, der meine Küsterin reinen Herzens vertraut. Da ist der Palmstrauß aus Buchsbaum hinterm Sakristeikreuz, den ich selber Jahr für Jahr sehe – 46 Sonntage nach dem letzten Palmsonntag –, und der tatsächlich immer noch so frisch und grün ist, als sei er gerade eben geschnitten worden. Da sind Sorgen um Kinder und Geschwister in Schweden und Frankreich und Amerika, die durch viel Gebet und Geduld gelöst werden. Da war in diesem Jahr der Bericht von ihrem kranken Schwager in der Heimat, der – als es ihm besser ging – unbedingt wieder mit den anderen Männern aus dem Dorf hinaus zum Fischen fahren wollte und sich nicht aufhalten ließ und einen großen Fang tat und dann draußen auf dem Wasser Dem begegnete, Der die Fischer ruft, so dass sie alles stehen und liegen lassen, um Ihm zu folgen, … und morgens um 10.00h brachte man ihn seiner Frau ins Haus, und die Geschwister aus der ganzen Welt flogen um den halben Globus, um wenigstens beim Begräbnis dabei zu sein, wenn einer von ihnen ganz jenem treuen Menschenfischer anvertraut wird, Der uns ins Leben zieht.
… Mit dieser Frau und ihrer weitverzweigten Familie habe ich innerlich Ostern gefeiert, denn sie sind katholische Tamilen, und das Herz der Christen von Sri Lanka hat dieses Jahr Wort für Wort erfahren, was das heißt: Wenn ihr traurig seid in mancherlei Anfechtungen, wird euer Glaube doch bewährt und viel kostbarer befunden werden als vergängliches Gold, … zu Lob, Preis und Ehre, wenn offenbart wird Jesus Christus.
Ostern wird auf eine für uns fast vergessene Weise ja umso wahrer und gewichtiger, je mehr die Wirklichkeit, in der wir leben, noch danach schreit, … je mehr wir tatsächlich in unserer Glaubensentwicklung noch die Auferstehungshoffnung sich entfalten und Halt geben merken und spüren, dass nur hier – im Harren auf den HERRN – die Kraft liegt, aufzufahren mit Flügeln wie Adler (vgl.Jes40,31).
Der unbeteiligte Blick zurück auf etwas, das sich einmal ereignet hat und gewesen ist, kann uns ja nicht von ferne zeigen, dass es wirklich Seligkeit bedeutet, diesem Ereignis immer persönlicher näher zu kommen durch eigene Erfahrungen, die das unvergänglich, unbefleckt und unverwelklich aufbewahrte Erbe des Glaubens zur unmittelbaren Notwendigkeit machen. ——
Und so wünschte ich mir und uns allen, dass wir auch heute, genau in dieser Stunde jetzt noch einmal Ostern in Gemeinschaft und Verbundenheit mit Geschwistern feiern, denen das Ziel des Glaubens – der Seelen Seligkeit – eine existentielle, eine politisch und psychologisch und emotional unersetzliche Hoffnung schenkt, etwas, das ihnen in ihrem konkreten Todesdasein wirklich eine Neugeburt zum eigentlichen Leben bedeuten muss.
… Gehen wir also im Geist doch an einen Ort, der uns längst schon heilig sein müsste, weil er mehr noch als Wittenberg oder Genf oder Rom unsere Wiege ist, … gehen wir im Geist also nach Antiochien in Syrien, wo man zum ersten Mal die Anhänger des Auferweckten „Christen“ nannte (vgl. Apostelgeschichte 11,26)!
Seit dort heut früh die Sonne aufgegangen ist, sind an diesem Ort, an dem einst die ersten Heidenchristen den Apostel Paulus auf die Spur zur Weltmission brachten, die Glocken und Hymnen voller Osterjubel mitten zwischen den Minaretten und dem Alltagslärm und dem Nachhall des furchtbaren Bürgerkrieges zu hören gewesen. Und wenn die dort verbliebenen Gläubigen der syrisch-orthodoxen Kirche und ihre aramäischen, chaldäischen und assyrischen Geschwister in Jesu Muttersprache und in der Weltsprache, die wir zu Unrecht immer nur mit dem Islam verbinden, die Botschaft vom Sieg über den Tod bekennen und feiern, dann liegt über diesen Orten, Landschaften und Provinzen, denen die Welt die Entstehung der Kirche verdankt, der Glanz einer selbst durch Terror und Chaos, Unterdrückung, Massenflucht und bitteren Krieg nicht auszulöschenden Hoffnung.
Es ist die Hoffnung, zu der auch wir wiedergeboren sind –ohne es allzu oft auch nur ein-ordnen, geschweige denn ausloten zu können, was das tatsächlich bedeutet: Eine Hoffnung, die Schrecken und Verfolgung überstehen lässt; eine Hoffnung, die Untergang und gezielte Vernichtungstaktik überlebt; eine Hoffnung, die alle schwindenden Perspektiven und alle Todesdrohungen der Gegenwart übersteigt, weil sie das kommende Leben und die bleibende Welt bedeutet.
In solcher Hoffnung auf das ewige Leben, in solchen Wehen feiern die letzten Christen des Vorderen Orients in dieser Stunde die Auferstehung Jesu Christi von den Toten.
In Antiochien haben sie aus dem sog. „Heiligen Grab“ hinter dem Altar der Kirchen gerade das Christus symbolisierende Kreuz, das dort am Freitag zur Bestattung eingesenkt wurde, wieder hoch erhoben, haben es mit einer roten Stola geziert, haben das Kreuz dann feierlich in alle vier Himmelsrichtungen – auch zu uns, in den tatenlosen Norden – gewendet und der große, österliche Friedensgruß des Auferweckten ist von der Stadt unserer Ursprünge als Heidenchristen, von der Wiege unserer Wiedergeburt aus, in die universale Ökumene gerufen worden:
„Möge dein Friede und deine Ruhe, unser Herr und Heiland Jesus Christus, mit uns und unter uns sein, wenn wir einander umarmen. Und möge dein Friede in den vier Erdteilen herrschen bis zum Ende der Welt“ so lautet der Segen, den die Priester Antiochiens gerade über Ost und West, über Nord und Süd gesprochen haben[i].
Die Zusage des endgültigen Friedens ergeht aus den verheerten und zukunftsunsicheren Nachkriegstrümmern der syrischen Tragödie: Das ist die Wirklichkeit von Ostern mitten in der Wirklichkeit!
Etwas, das uns zeigt, dass die große Barmherzigkeit Gottes tatsächlich am Anfang und keineswegs abgeschlossen ist, und uns ebendadurch auch daran erinnert, dass nicht, wo und wie wir es gefeiert haben, der tiefste Sinn von Ostern sich zeigt, sondern in einer Wirklichkeit, die noch nicht verwirklicht ist.
Der Blick in das, was wir als die Realität kennen, öffnet uns also die Augen für das, was als Ziel der Auferstehung Jesu Christi über alles sogenannte Wirkliche hinausgeht:
Das Erbe im Himmel, die Seligkeit, deren herrliche und unaussprechliche Freude das Ziel unseres Glaubens ist und die offenbar werden soll zur letzten Zeit.
…Dazu sind in Sri Lanka, in Syrien und hierzulande bei uns wir alle, die Jesus Christus auch in seiner derzeitigen Unsichtbarkeit liebhaben, in die lebendige Hoffnung gekommen und werden alle Wehen der Wiedergeburt, werden die schmerzhaften Wachstumsstadien Seines Friedens durchstehen, bis es nicht mehr quasi, sondern wirklich ewig und weltumspannend Ostern ist!
Amen.
[i][i][i] Gesang nach der Kreuzerhebung bei der Feier der Auferstehung und Kreuzverehrung am Grossen Sonntag der Auferstehung, in: Andreas Heinz, Feste und Feiern im Kirchenjahr nach dem Ritus der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien (M’ad’dono), [Sophia - Quellen östlicher Theologie: Bd. 31], Trier 1998, S.373.
Tag der Auferstehung des Herrn, 21.04.2019, Stadtkirche, Johannes 20,11-18, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ostersonntag – 21.IV.2019
Johannes 20, 11-18
Liebe Gemeinde!
Ostern – das unglaublichste Fest der Welt! – will uns verrückt machen.
Und umgekehrt wird nur wer sich selbst noch verrücken lässt überhaupt Ostern feiern wollen.
Denn die immer schon und heute Morgen immer noch wissen, was Sache ist und was nicht, die würden es ja sowieso niemals aushalten, wirklich das zu hören und zu fassen und zu sagen und zu tun, worum es heute geht.
… Viel zu unglaublich ist es ja für alle, die sich sicher sind. Viel zu unglaublich ist Ostern für alle, die zu wissen glauben, was man wissen kann und was nicht. Viel zu unglaublich ist Ostern für alle, die festgestellt haben, was möglich und was unmöglich ist. Viel zu unglaublich ist Ostern für jeden gesunden Menschenverstand, für jedes kritische Denken, für jeden nüchternen Blick.
Und weil das alles wirklich zutrifft – soweit es überhaupt Wirklichkeit und Richtigkeit geben kann –, … weil es jedenfalls stimmt, dass Ostern unglaublich ist, darum wollen wir heute ausnahmsweise nicht vom Glauben reden.
Ostern ist nämlich nicht das Fest des Glaubens.
… Anders Karfreitag: Da steht für viele als Tatsache fest, was an jenem Tag historisch geschah: Zu glauben aber, dass es für uns geschah, vermögen nur wenige. … Ohne Glauben also kein Karfreitag. … Umgekehrt wiederum: An das Geschehen von Ostern glauben die Menschen eher selten; dass es aber tatsächlich auch ihnen zugutekommt, ändert sich dadurch nicht. … Ist der Tod damals besiegt worden, dann hat das Folgen … ob man’s nun glaubt oder nicht!
Verrückt, oder? ——
Jedenfalls wollen wir dem unglaublichen Wunder der Auferstehung zu Ehren heute einmal von dem reden, was wir nicht glauben und nicht glauben können:
Ich glaube zum Beispiel nicht – und es lässt sich auch nicht glaubhaft machen –, dass die Begegnung Maria Magdalenas mit dem Auferstandenen eine Erfindung sein kann, denn bis heute bringt sie alles durcheinander. Die wichtigste und größte Tat Gottes, das Wunder, durch das die Christusgläubigen zur Auferweckungsgemeinde, zur Gemeinde des endgültig Lebendigen und des ewigen Lebens wurden, hätte man sich doch von einer feierlichen und anerkannten Zeugenschar beglaubigt gewünscht: Die 11 männlichen Erz- und Ur-Zeugen, deren Bedeutung die Evangelien mit wechselndem Erfolg inszenieren und deren alberne Sorge um ihre Dominanzansprüche und Positionen auf der Autoritätsskala die Evangelien auch nicht verschweigen, werden jedenfalls vollkommen düpiert dadurch, dass keiner von ihnen die Primärquelle der Auferweckungsberichte sein durfte.
Eine Frau, der derart entscheidende Erfahrungen und Aufträge zuteilwerden, eine Frau, auf deren Aussage die Zentralbotschaft des Neuen Testamentes beruht ……., das ist unerfindlich. … Man kann nicht glauben, dass es nicht so war!
Paulus schäumt noch heute darüber und verschweigt die erste Adressatin jener Botschaft, die auch sein Leben völlig verrücken sollte, konsequent, … vielleicht mit Ausnahme eines spröden Grußes im Römerbrief[i], wo er jeden anderen genannten Namen mit einer sehr persönlichen Sympathie- und Verbundenheitsbekundung bedenkt und nur in einem Fall distanziert und spitz, ach was, säuerlich beleidigt klingt (Rö16,6): „Grüßt Maria, die viel Mühe und Arbeit um euch gehabt hat“ ….. „Ich persönlich hätte ihren Eifer ja durchaus entbehren können“, meint man zu hören.
….... Nicht zu glauben, Paulus – nicht wahr?! –, dass Deine ganze Frauenverachtung an jedem Ostertag so entlarvt wird, wenn die Kirche allerorten wieder hört, wer die “Apostola Apostolorum”[ii] war, die Apostelin der Apostel, die Evangelistin der Evangelisten, wie die Väter der griechischen und lateinischen Kirche sie in der Antike immerhin nennen – und auf wessen Verkündigung unser heutiges Fest der Feste zurückgeht!
Ich glaube jedenfalls nicht, dass es ohne die ruhelose und trostlose Magdalena heute Ostern wäre.
Ihre verzweifelte Anhänglichkeit an Den, Der sie überhaupt erst zu einer freien Frau gemacht hatte, als Er sie von ihren Dämonen, von der Qual treibender, steuernder Mächte befreite, die sie in Abhängigkeit hielten (vgl. Lk8,2), … ihre im frauenfeindlichen 19.Jahrhundert sicher rasch als „Hysterie“ diagnostizierte existentielle Empfänglichkeit für die heilend sinn- und segenstiftenden Worte und Taten Jesu, … ihre verrückte Persönlichkeit also hat mit dem, was wir heute Unglaubliches feiern, allerdings nichts zu tun.
Denn eines wird ganz deutlich, wenn wir von ihrer Begegnung mit dem Auferstandenen am Ostermorgen hören: Sie konnte an die Auferstehung der Toten – zu der sie sich als fromme, vermutlich pharisäische Jüdin aus Jesu Begleitung doch ausdrücklich bekannte – praktisch genauso wenig glauben wie wir.
Denn – seien wir klar, seien wir ehrlich – auch wenn dieser Satz in unserer „Ich glaube-nicht-Predigt“ am schwersten fällt: Ich glaube nicht an einen Glauben an die Auferstehung, und weder Maria Magdalena noch sonst eine Jüdin oder Christin oder Heilige besaß je einen solchen Glauben.
Wer einmal den unglaublichen Vorgang des Sterbens erlebt hat, wo schwindet, was wir halten wollen und fremd wird, was wir lieben und ohnmächtig ist, was immer wir vermögen, und wer dann die völlige Entzogenheit, die eine Leiche ohne Leben umgibt, erkennen musste, und wer schließlich auch nur in Ansätzen die unerbittliche Chemie und Physik der Verwesung mitbekam, der wir wegen unserer schwachen Nerven heute so oft mit Feuer zuvorkommen, der kann nicht ernsthaft meinen, an eine Auferstehung zu glauben. … Vielmehr verschwindet und zerfällt diese naive Erwartung, diese ahnungslose Täuschung, der kalte Leib könne sich wieder regen, die gebrochenen Augen könnten uns wieder ansehen, die vergangene Bewegung könne von neuem entstehen, von Stunde zu Stunde, nachdem einer den Geist aufgegeben hat. Und am dritten Tag nachdem Magdalena die traumatische Entseelung und Entleibung, ja die Entmenschung Jesu auf Golgatha miterleben musste, weiß sie genau, dass er tot ist, und weder ist sie so vermessen noch so dumm, so zu tun, als könne er irgendetwas anderes als ein kläglich zugerichtetes Überbleibsel an Zellen und geschundenem Stoff mehr sein. Nur diese grauenvollen, leeren Reste kommt sie suchen. Mit anderem rechnet sie nicht.
Und ich glaube auch nicht, dass man das darf.
Weil ich nicht glaube, dass irgendetwas selbstverständlich ist, außer dem Wort Gottes: „Du bist Erde und sollst zu Erde werden“ (1.Mose3,19).
Und darum glaube ich auch nicht, dass ein Mensch erkennen könnte, was Auferweckung der Toten, was Auferstehung des Fleisches ist.
Maria Magdalena, diejenige, deren Liebestreue zu Jesus so unvergleichlich war, dass sie sein Sterben ertrug und seinen Anblick im Grab meint ertragen zu können und nach dem Bericht des Johannes am Ostermorgen bereits ein zweites Mal an diesem Ort (vgl.Joh20,1f), an dem ihre Dämonen vermutlich wieder auf sie warten, ist … nachdem sie zunächst Reißaus nahm, weil die geöffnete Höhle sie so verstörte – so fern war ihr der Auferstehungsglaube! – … Maria Magdalena beweist es uns ja gerade, dass keiner von uns vorbereitet, dass niemand von uns fähig ist, Auferstehung zu begreifen. Denn – auch das ist nichts, was man sich ausdenken könnte – da steht sie vor Dem, Den ihre Seele sucht (vgl. Hoheslied 3,1) und kann Ihn nicht erkennen, obwohl es wirklich Er selber und kein anderer ist!
Zum Verrücktwerden ist diese Beschränkung unseres Reaktions- und Fassungsvermögens: Wir sind von Natur aus und mit allen unseren derzeitigen Instinkten und Wahrnehmungen wirklich nur auf dieses kurze, vorübergehende, abbrechende Dasein ausgelegt, auf dieses Leben, in dem wir immer schon mitten im Tod sind.
Drüberhinaus reicht’s bei uns nicht.
Und so müssen wir wahrhaftig auch nicht glauben, Marias Sehnsucht, ihre Phantasie hätte Anteil an der Erscheinung, an dem Treffen dort am Grab: Wenn ihre Erinnerung Ihn beschworen, ihre seelische Anspannung Ihn herbeihalluziniert hätte, wäre Er ihr niemals fremd gewesen, hätte sie nie den Gärtner in ihm vermutet, der doch ein Geschöpf ihrer Wünsche war.
Den Mann, den sie hatten töten können, kannte sie; Den, Der den Tod überwunden hatte, nicht!
Und darum glaube ich auch nicht, dass Maria Ihn je erkannt hätte, so wie ich nicht glaube, dass je ein Mensch Gott und Seine Wirklichkeit erkennen könnte und würde, … wenn Er nicht gesprochen hätte.
Aber dann spricht Er!
… Und Er spricht die heilige Sprache, die doch zugleich die Alltagssprache aller Menschenkinder ist und aller Welt Muttersprache. … Es ist das Hebräisch der Liebe.
Und da glaube ich nun nicht, dass es einen Menschen gibt, der diese Sprache nicht erkennen, der sie nicht verstehen würde.
Was die Augen und der Verstand und alle Sinne nicht erfassen konnten, dem kann das Ohr sich nicht entziehen.
Auch das ist verrückt.
… Denn die Stimme – so ätherisch sie zunächst wohl wirken mag – ist ihrerseits zweifellos zugleich eine somatische Erscheinung, ein „Stimm-Körper“, ein Merkmal mit bestimmten physikalischen Eigenschaften… etwas, was ich immer dann merke, wenn ich mit meinem Vater und meinem Bruder gemeinsam singe: Wie gnadenlos laut das sein muss, mag man ahnen, … dass es aber in einer sonst nicht auftretenden Weise – die keine musikalische Qualität hat – „voll“ klingt, beweist, dass es eben auch eine DNA der Stimme, ein leiblich ausgeprägtes Profil individueller Stimmen gibt, das biologische Verwandtschaft und andere biologische Bedingungen kennt.
Ich glaube darum auch nicht, dass der auferweckte Jesus, Dessen Stimme Maria Magdalena so vertraut war, dass sie Ihn in Seinem Wort erkannte, ein Geistwesen oder eine Vision war. … Es waren die Stimmbänder und der verletzte Brustkorb, es waren Mund und Lippen Dessen, Den sie gehört hatte, ehe der Tod Ihn verstummen machte, die sie nun wieder hörte!
Andernfalls hätte sie ja nicht getan, was dann folgte – nach Ihm gegriffen – , und Er hätte nicht entgegnet, wie Er’s dann tat: „Halte mich nicht fest!“
Ich glaube nicht, dass ich anders als sie reagiert hätte.
Jede ergreifende, erschütternde Begegnung von Angesicht zu Angesicht führt vom Anblicken und Ansprechen zum Anfassen, … und wir haben in der jüngsten Zeit einige Wiedersehen erlebt, die von lautem Jubel und Schluchzen in wortlos innige Umarmung übergingen, wenn die Verlorenen gefunden, die Bedrohten gerettet, die Totgeglaubten wiedergeschenkt waren. So geht es bei uns zu. ———
Doch Ostern ist unglaublich verrückt.
Es überspringt die Grenzen unserer gewohnten Natur und seelischen Verfassung. Es ist keine einfache Wiedergutmachung dessen, was verdorben und zerstört war, denn das hieße, alles wird, wie’s einmal war. Doch in Wirklichkeit wird alles neu durch die Auferweckung Jesu. … Nicht das Alte geht weiter, sondern das große Endgültige kommt!
Und ich glaube nicht, dass Magdalena es verstand oder ich es verstehe, was das heißt.
Aber dass weder sie, Seine erste Zeugin, noch die Jünger noch seine Mutter den Auferweckten einfach in ihre Arme schließen und festhalten konnten, das zeigte sich sofort.
Denn es wäre hier bei uns heute nicht dieses unglaubliche Fest zu feiern – fast zweitausend Jahre nachdem sie Ihn doch wohl am liebsten in ihren Armen und an ihrer Brust erstickt hätten –, wenn die Apostelin der Apostel und alle weiteren Jesus-Liebenden seitdem nicht immer wieder erlebt hätten, dass Ihn zu finden, Ihn weiterzugeben heißt, dass Ihn nur hat, wer Ihn teilt, dass bei Ihm nur bleibt, wer Ihm nachfolgt … nachfolgt auf dem Weg zum Vater, nachfolgt auf dem Weg durch die Welt und die Zeit und das Leben und den Tod und die Hölle und den Himmel … zu Gott!
Darum glaube ich auch nicht, dass Ostern – dieses verrückte Fest, das unseren Blick so weit voraus, so hoch hinauf, so fern hinein in die Ewigkeit lenkt, dass alle unsere sonstigen Seh- und Denk- und Lebensweisen dadurch wirklich verschoben, verrückt und verlassen werden, … ich glaube also nicht, dass Ostern an Ostern das Ziel wäre, sondern dass uns durch Ostern ein ganz anderes, … das wahre Ziel unseres Lebens gewiesen wird.
Das aber ist nicht mehr der Tod! ……. ——
Wenn wir dieses andere, dieses wahre Ziel indes auch nicht einfach finden, nicht leicht erkennen, nicht heut verstehen, nicht selber festhalten können, so sollen wir nun doch mit Maria Magdalena, die von sich aus ebenso wenig von alledem glauben und begreifen und behalten durfte, … so sollen wir doch mit Maria Magdalena selbst die Gesuchten und Gefundenen, die Gemeinten und Genannten, die Gesandten und Geretteten werden.
Denn das ist das Letzte, was unglaublich ist: Ostern weist uns den Weg zu einem Ziel, von dem wir eigentlich nicht glauben dürfen, dass es auch unseres sein könne.
… Aber Christus, der uns an Ostern durch Maria Magdalena Seine „Brüder und Schwestern“ nennen lässt, sagt’s uns unüberhörbar in der Sprache des persönlichen Rufes: Gott ist tatsächlich euer Ziel! Denn Er ist „euer“ Gott und Vater!
… Und wenn das auch unglaublich ist, so ist es doch wahr.
… Nicht, weil wir es so fest glauben, sondern weil Er so unverrückbar daran festhält, wie an Maria Magdalena, der die Stimme des Auferweckten es bewies (Jesaja 43,1):
„Fürchte dich nicht, denn ICH habe dich erlöst;
ICH habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist MEIN!“
Das glaube ich.
Das dürfen wir alle glauben!
Amen.
[i] Dieser Gruß ist für die orthodoxe Überlieferung ein Anhaltspunkt für die alte Überlieferung, Maria Magdalena sei nach Jesu Himmelfahrt nach Rom gegangen, für die christliche Mission tätig gewesen und habe v.a. dort beim Kaiser Tiberius selber interveniert, um Pontius Pilatus abberufen zu lassen. Der Reichtum und die Eigenständigkeit des ostkirchlichen Bildes von Maria Magdalena verdiente im Übrigen eine eigene Predigt!
[ii] Mit diesem und ähnlichen patristischen Zitaten hat Papst Franziskus im Jahr 2016 in einem Dekret den Gedenktag der Magdalena (22.Juli auch im evangelischen Kalender) endlich – aber auch erstmals!!! – dem Rang nach den anderen Apostelfesten gleichgestellt. Die Symbolik dieser Entscheidung ist in ihrer Bedeutung für eine Neubestimmung des androzentrischen katholischen Amtsverständnisses nicht zu unterschätzen; vgl. dazu: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/ccdds/documents/articolo-roche-maddalena_ge.pdf
Karfreitag, 19.04.2019, Stadtkirche, Johannes 19, 31-37, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag 19.IV.2019
Johannes 19, 31-37
Liebe Gemeinde!
Wenn am dritten Tag Ostern ist, wird man – hoffentlich – auf manchen Kanzeln erleben, wie Martin Buber sich das Weitererzählen von Wundern dachte. In der Einleitung zu seinen „Erzählungen der Chassidim“ sagt Buber:
„Erzählung ist mehr als eine Spiegelung; die heilige Essenz, die in ihr bezeugt wird, lebt in ihr fort. Wunder, das man erzählt, wird von neuem mächtig. Kraft, die einst wirkte, pflanzt im lebendigen Worte sich fort und wirkt noch nach Generationen.“
Und zur Illustration, was solche Vergegenwärtigung im Wort bedeutet, fährt Buber fort:
„Man bat einen Rabbi, dessen Großvater ein Schüler des Baalschem gewesen war, eine Geschichte zu erzählen. 'Eine Geschichte', sagte er, 'soll man so erzählen, daß sie selber Hilfe sei.' Und er erzählte: 'Mein Großvater war lahm. Einmal bat man ihn, eine Geschichte von seinem Lehrer zu erzählen. Da erzählte er, wie der heilige Baalschem beim Beten zu hüpfen und zu tanzen pflegte. Mein Großvater stand und erzählte, und die Erzählung riß ihn so hin, daß er hüpfend und tanzend zeigen mußte, wie der Meister es gemacht hatte. Von der Stunde an war er geheilt. So soll man Geschichten erzählen.'“ ———
Kann man aber die Geschichte des heutigen Tages – eine Geschichte vom Ende des Lebens, eine Todesgeschichte – so erzählen, dass sie heute „lebt“ und „mächtig fortwirkt“, … kann man sie so erzählen – diese Geschichte vom Heilandsopfer – , dass „sie selber Hilfe“ wird? …….
Wenn nicht, dann ist die staatlich offizielle Abschaffung des Karfreitag als Feiertag für evangelische Christen in Österreich folgerichtig: Sinnlose Tode und zerstörerische Gewalt ereignen sich ununterbrochen, sind das Alltäglichste der Welt. Sie prägen jeden Tag des Kalenders, und die Menschheit ist es gewohnt, sie schneller zu vergessen als den Wetterbericht.
Was also sollte eine Hinrichtung vor zwei Jahrtausenden uns heute noch sagen und geben können?
Wie sollte jene Kreuzigung – Schlussstrich unter einem kurzen Leben, das siebzig Generationen zurück liegt – uns heute helfen?
Wie sollten so lang vergangene Schmerzen uns noch heute betreffen, so längst durchlittene Leiden uns bewegen, … wie sollten so weit entfernte Wunden uns gar heilen und ein so tief verschütteter Tod heute irgendwen von irgendwas befreien? ……. ——
Und selbst wenn man das glauben wollte: Wie müsste man davon dann wohl erzählen? Welches Wunder müsste der Bericht darüber vollbringen, um nicht tote, leere Gewesenheit zu sein?
…Wie brächte die Kraft der Karfreitagserzählung also sich selber in uns hervor? ——
Das vermag kein Erzähler, kein Prediger, kein Dichter.
Für uns alle wäre es unmöglich – und wenn wir noch so viel Mitleid, noch so viel Compassio mit der geschilderten Passion des Herrn empfänden – , davon anders als historisch, erinnernd, rückblickend Zeugnis zu geben. ———
Doch der Bericht des Evangelisten Johannes weiß von einem scheinbar beiläufigen Nachspiel der Kreuzigung Jesu, das in Wirklichkeit der Anfang der nichtendenden Vergegenwärtigung dessen ist, was da für die ganze Welt geschah.
Es ist der kurze, rätselhafte Vorgang, als bei den beiden anderen Hinrichtungsopfern der Erstickungstod durch das Brechen ihrer Beine beschleunigt wird, denn wenn sie sich in der schwebenden Haltung der Gekreuzigten am Längsbalken nicht mehr abstützen und hochdrücken können, dann zerquetscht die Last des Oberkörpers schnell die inneren Organe und führt zum qualvollen Versagen der Atmung und der Herzfunktion.
Doch diese brutalste aller Sterbehilfen braucht Jesus nicht mehr.
Er ist schon tot.
Die Zeit post Christum hat schon begonnen.
Eine Ära nach dem Leben Jesu ist angebrochen.
… Ab jetzt ist er Vergangenheit. …….
Aber der Erste, der in diese unwiderrufliche Vergangenheit sticht, in der eine Leiche alles ist, was bleiben wird, bis auch sie zerfällt, … der erste Eingriff in das erstarrende und schließlich verschwindende „Es war einmal“, löst tatsächlich alles wieder auf, was der Tod da blockiert und festgelegt hat.
Und die Spitze einer römischen Lanze – letzte Vollendung des Mordes, finale Nachhut des Tötens – … die Spitze einer römischen Lanze also bringt buchstäblich bereits im Tod das Leben des Gekreuzigten hervor.
Mehr noch als das verzweifelte Bekenntnis des römischen Hauptmanns unter dem Kreuz, das die anderen Evangelisten aufbewahren – „Wahrlich dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ (Matth27,54 / Mk15,39 / [Lk23,47]) … das todtraurigste Geständnis der Weltgeschichte, indem es die alles entscheidende Offenbarung in die Vergangenheitsform rückt, weil der Tod stärker scheint als die Gegenwart Gottes – … mehr noch als diese erschütternde Selbstanklage des Hauptmanns, dient die letzte gegen ihn gerichtete römische Waffe dem Sieg Jesu Christi! … Denn was da physisch geschah, als Blut und Wasser aus der durch die Lanze geöffneten Seite Jesu flossen, das war für den Augenzeugen, der im Johannesevangelium zu uns spricht, der Anfang des Glaubens.
Weil es wirklich der Durchbruch war.
Indem mit Blut und Wasser aus Jesu Leib die beiden Ursubstanzen sichtbar hervortraten, denen sich das Leben allgemein und die Lebendigkeit in jedem Einzelwesen verdanken, erkannte der Zeuge schon auf Golgatha, dass hier kein bloßer Abbruch vor sich ging, sondern eine neue Welt, dass die Schöpfung hier von vorn beginnt.
Vielleicht war es das archetypische Bild aus der Genesis, das dem schockierten und gerade dadurch empfänglichen Jünger unter dem Kreuz vor Augen stand, als der Seitenstich seinen Herrn zerriss:
Im allerersten Schlaf des ersten Menschen – und wie sollte der dieses Vergehen von Fühlen und Denken anders erfahren haben, denn als Ende seines Lebens?! – … im allerersten Schlaf also, war Adams Seite aufgebrochen worden. Doch der Eingriff verlief nicht tödlich, sondern schöpferisch; die Hilflosigkeit Adams verhalf Eva ins Dasein, die aus seiner Seite genommen Fleisch und Bein von seinem Bein und Fleisch wurde.
Nicht anders aber war es, als der Todesschlaf sich auf der Schädelstätte über Jesus senkte: Aus Schweigen und Reglosigkeit des Einen entspringt wie ein Brunnen der Gnade die Quelle des Lebens für andere.
Aus Jesu Tod strömt Neues, fließt Segen: Das ist die erste biblische Erinnerung, die den Jünger mit plötzlicher Gewissheit erfüllte, als er das brutale Siegel unter dem Kreuzigungsvorgang erlebte.
Und dann ergriff ihn eine ganze heiße, pulsierende Welle des Vertrauens in die Weisheit und die Wahrheit Gottes, und die Fülle der Schriften Israels ließ Heil ahnen und erkennen, wo zunächst nur Horror sich zeigte: Hängt da am Balken nicht der, der bei seinem ersten Erscheinen am Jordan vom Täufer als das Lamm Gottes begrüßt worden war? Und ist ihm an diesem Passavorabend nicht tatsächlich gemäß dem biblischen Gebot aus Exodus für die Schlachtung des Passalammes kein Knochen gebrochen worden (vgl.2.Mose12,46)? Und ist das Kreuz, an dem das Rettungszeichen, das Blut des Lammes sich so deutlich zeigt, nicht also tatsächlich eine Tür, … eine Tür zur Freiheit aus dem Zwang der Sünde und der Knechtschaft des Todes?
Hier öffnet sich das Leben neu, hier beginnt die Freiheit einer neuen Menschheit: Genesis und Exodus wiederholen sich auf Golgatha für alle Welt.
Und diese Erkenntnis – dass das, was wie Ohnmacht und Scheitern wirkt, tatsächlich Geburt und Befreiung bringt – durchspült den Jünger angesichts des Blutes und des Wassers, die da fließen, wo Leichenstarre und Todeskälte viel eher zu erwarten waren.
Denn es ist tatsächlich ja ein Grundmuster und eine Grundwahrheit der ganzen Geschichte der Erwählung Israels und seiner Gemeinschaft mit Gott: Das Nebensächliche, das Verachtete, das Unwahrscheinliche, das den Menschen als sinnlos und unmöglich Geltende, das sucht und pflegt, das ehrt und liebt der Gott der Armen, der Gott der Sklaven, der Gott der Sturen, der Gott der Besiegten, der Gott der Büßer, der Gott der Hoffnung, der Gott des Restes, der Gott des Kommenden.
… Bis zum Ziel seiner Heilsgeschichte geht Gott ja niemals den einfachen Weg der Masse und der Macht, sondern die vergessenen, belächelten, verdunkelten, die gemiedenen Wege des Wartens, der Zweifel, der Einsamkeit und auch des Leidens.
… Bis zum bezeichnenden Ziel, von dem der letzte große Heilsprophet des Alten Testamentes spricht: Da wird nicht etwa der klare Triumph der Allmacht einen Messiaskönig Schlachten gewinnen lassen, sondern auch da Gott bleibt den Umwegen, den Niedergeschlagenen, den Verworrenen, ja, den Verlorenen treu.
… Denn zum Schluss, da heißt es bei Sacharja (12,9ff) doch tatsächlich vom endgültigen Sieg Gottes über alle Feindschaft und Gewalt auf Erden, dass er geschehen solle, indem Gott „den Geist der Gnade und des Gebetes“ ausgießt; und unmittelbar darauf … erschütternd: „Und sie werden mich ansehen, den sie durchbohrt haben, und sie werden um ihn klagen, wie man klagt um ein einziges Kind.“ ……. ———
Die Ausgießung des schöpferischen, des neuschaffenden Heiligen Geistes, mit dem Gott die Menschheit verwandeln wird, geschieht also in dem Augenblick, in dem die Welt das unglaubliche Opfer erkennt, das ihre Versöhnung gekostet hat: Gottes Schmerz und Selbsthingabe, ja, Gottes freiwilliges Sich-Ausliefern an ihre Zerstörungswut.
… Und genau das ist eben der Anfang vom Ende der Endlichkeit; es ist der Durchbruch des lebenspendenden Gottesgeistes durch die Geschichte des Todes, wenn endlich erkannt wird, dass alle Hoffnung der Welt auf dem Durchbohrten, nicht dem Durchbohrer ruht …, dass nicht der die Lanze führt, sondern Der, Den sie trifft, uns allen Zukunft und Rettung und Leben schenken kann. ——
Alle diese biblischen Grundbotschaften aber – die Botschaft vom Schöpfer, der Leben weckt, wo der Mensch nur Todesschlaf sieht, die Botschaft vom Lamm, das die Menschheit vor Schuld und Sterben schützt, indem es sich für sie stellvertretend hingibt, die Botschaft vom Heiligen Geist, der die neue Wirklichkeit hervorbringt, in der die Schwachheit Gottes stärker ist als die Menschen sind (vgl. 1.Kor1,25), – alle diese biblischen Grundbotschaften, die im Tod des Gekreuzigten den wunderbaren Ursprung des Heils und der Erlösung erkennen lassen, durchströmen den Augenzeugen des Karfreitag spontan als er jene Ströme erblickt, die aus Jesu Leib nach dem Seitenstich hervorgehen!
Ein scheinbares Detail – ein auf den ersten Blick schreckliches zudem – wird für den, der die Bibel Israels kennt und ihr glaubt, zum ergreifenden und erfüllenden Hoffnungs- und Bestätigungszeichen, dass die Heilsgeschichte der Schöpfung, Befreiung und Versöhnung am Karfreitag nicht etwa scheitert, sondern sich herrlich erneuert und erweitert und darin endgültig vollzieht! ——
Und so muss man also davon erzählen, was am Kreuz geschehen ist:
So, dass kein einziges Detail, kein abschreckendes Moment dieser tatsächlich furchtbaren Ereignisse übersehen oder verdrängt wird.
Denn was wir nicht festhalten, was wir nicht meditieren, was wir nicht immer wieder frisch im Herzen und neu im Gedächtnis bewegen – so wie Blut und Wasser rege und belebend sind – , das spricht alsbald nur noch die verstaubte Sprache der Vergangenheit und des Todes. Wenn wir aber wie Johannes, der Augenzeuge hinschauen nach Golgatha und wenn wir das, was uns dort gezeigt wird, mit der lebendigen und zukunftsträchtigen Sprache der Bibel beschreiben, dann singen die Tatsachen das Lied von der Liebe und dem guten Ziel Gottes, dann singen die beklemmenden Einzelheiten der Passion einen mitreißenden Psalm der Tröstung und Zuversicht, dann schwingt in jeder scheinbar nebensächlichen Kleinigkeit der volle Ton der göttlichen Kraft und Herrlichkeit und des kommenden Reiches.
Und das Blut und Wasser, die da aus Jesu Seite fließen, werden tatsächlich zu einem großen Strom, dem wir uns anvertrauen, von dem wir uns tragen lassen können, weil das Glauben heißt; …Glauben heißt: In den Fesseln Jesu die Befreiung, in seinen Wunden das Heil, in seinem Sterben das Leben, in seinem Tod Gnade und Ewigkeit anzunehmen … in Taufe und Abendmahl, … Wasser und Blut! ——
Kein anderer Karfreitagsbericht lässt uns ein so reiches, so volles Zeugnis hören von der biblischen Heilsgeschichte und wie sie tatsächlich gipfelt in der schöpferischen, geistlichen Real-Symbolik, die Jesu Leib und Blut für immer freisetzt.
Darum hat aber auch kein Detail der Passion so viel Leidenschaft, so viel Liebe und Zuversicht geweckt, wie die von Johannes geschilderte Seitenwunde Jesu, der von Bernhard von Clairvaux bis zu Paul Gerhardt tiefste Meditationen gewidmet wurden, ehe sie im 17. und 18. Jahrhundert über die Konfessionsgrenzen hinweg zwei ganz unvergleichlich glühende Verehrer fand – die einfache burgundische Nonne Marguerite-Marie Alacoque, der die Welt die Herz-Jesu-Verehrung (bis in’s Soziale hinein) verdankt, und den großen Grafen Zinzendorf, der seinen kindlichen Glauben ganz und gar auf diese „Seitenhöhle“ gründete, durch die jeder von uns einen unmittelbaren Zugang zum Frieden an Jesu Herzen hat.
Auch im 20.Jahrhundert noch hat die Erinnerung an das geöffnete Herz Jesu, die besonders von der polnischen Nonne Faustyna Kowalska in Krakau gepflegt wurde, die Theologie der Barmherzigkeit hervorgebracht, die der katholischen Kirche – und nicht nur ihr – so dringend nötig war und bleibt.
Und so merken wir, wie dort, wo die ganze Botschaft der Bibel sich in einem einzigen Schnittpunkt konzentriert, wenn Jesu letzte Wunde uns vom Paradies bis zum Reich Gottes alles, was wir glauben und hoffen dürfen lebendig macht, … so merken wir, wie an diesem Schnittpunkt – dem Stich in Jesu Seite – auch in uns das vorgeht, was hier erzählt wird: Auch unser Herz geht auf, wird unendlich weit … und spürt an der strömenden Quelle von Blut und Wasser den großen Puls des Lebens, das in dreien Tagen Ostern wird!
Amen.
Zu M.-M.Alacoque, die reiche und vielfältige Traditionen der Herz-Jesu-Verehrung des Mittelalters (unbewusst?) aufgriff und ihre Mission in der Durchsetzung eines eigenen Herz-Jesu-Festes sah, vgl. Hildegard Waach, Margareta Maria Alacoque – Skizze eines Lebens, Eichstätt 1962. Zinzendorfs – häufig in seiner drastisch- barocken Schwülstigkeit als besonders irritierend empfundener – Kult der „Seitenhöhle“ ist in Predigten, Liedern und Ansprachen mit einer ganz eigenen Metaphorik breit bezeugt, auch wenn er nicht durchweg seine Sprache und Frömmigkeit beherrschte und in der Rezeption der Zinzendorf’schen Theologie gänzlich in den Hintergrund getreten ist.
Maria Faustyna Kowalska (1905-1938), Mystikerin der Barmherzigkeit Jesu, wird – wohl auch weil ihre Seligsprechung und Kanonisierung ein besonderes Anliegen des Krakauer Erzbischofs und späteren Papstes Johannes Paul II. war und ihre Botschaft von teilweise sehr konservativen, antiökumenischen Kreisen der katholischen Kirche besonders gepflegt und instrumentalisiert wird (bis hin zu einem leider durchaus kitschverdächtigen Bild, das auf ihre Visionen zurückgeht und den Ausgang eines roten und eines weißen Strahles aus dem Herzen Jesu zeigt) – in der evangelischen Theologie bisher kaum wahrgenommen. Dennoch verdient sie auch unsere Aufmerksamkeit, weil ihre Einsichten in die göttliche Barmherzigkeit in eindrücklicher Weise eine nicht-triumphale Christologie vorstellen.
Gründonnerstag, 18.04.2019, Stadtkirche, Matthäus 26,6-13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Gründonnerstag -18.IV.2019
Matthäus 26, 6-13[i]
Liebe Gemeinde!
Eine Woche ist dies, in der jede Geste zählt; eine Woche, in der jedes noch so kleine Zeichen Wahrheit werden kann.
Eine Woche, in der nichts einfach ist, wie es ist, sondern von Dingen spricht, die wir gern verleugnen und vergessen.
Eine Woche, in der ein Esel plötzlich zum politischen Vorzeichen einer neuen Zeit wird, die rasenden Jubel weckt (vgl.Matth21,1-11), und ein einfacher Hahnenschrei zur unvergesslich blockadelösenden Bußpredigt (vgl.26,74f).
Eine Woche, in der eines von Tausend desinteressierten Todesurteilen eines römischen Präfekten plötzlich zum Wendepunkt der Menschheitsgeschichte wird und in der bei irgendeinem Jerusalemer Mazzenbäcker unter Tausend trockenen Brotscheiben, die er für‘s Fest der ungesäuerten Brote gemacht hatte, eine Scheibe war, in der zum ersten Mal in der Geschichte der Leib des Sohnes Gottes sich brechen, empfangen und kauen lassen würde.
Eine Woche, in der der Friedefürst aus Zorn über die Geldwechsler und Händler im Hause Gottes zur Furie werden konnte (vgl.21,12-17); eine Woche, in der zwei wertlose Münzen, die eine alte Frau in den Gotteskasten wirft, den Gerechten in der vertrauensvollen Hingabe des eigenen Lebens bestärken (vgl.Mk12,41-44).
Eine Woche, in der Wahrheit Ironie (vgl.Joh18,37f) und der bittere Ernst einer Exekution zur Kulisse eines Freizeitspieles wird (vgl.Matth27,35).
Eine Woche, in der alles alles bedeuten kann, und jedenfalls nicht, was es auf den ersten Blick scheinen mag.
Eine Woche – so hat uns diese gelehrt – in der sogar Holz und Steine eine Passion erleiden können und säkulare Zeitgenossen Kopf und Kragen riskieren, um eine Dornenkrone vor den Flammen zu bewahren und die Bevölkerung der mondänsten Stadt des freien Geistes auf den Straßen um eine alte Kirche weint oder auf die Knie fällt und angesichts des Infernos, das alle Kultur verschlingen kann, beweist, wie die Lieder und Gebete, die der Geist der Menschheit speichert, unvergänglich sind und bleiben. ———
Es ist Wahrheitswoche, diese Folge von heiligen Tagen und Nächten, in denen Hymnen und Heulen sich abwechseln und Folter, Tod und Trauer sich zu Wunder, Wiedersehen und Lachen wandeln. Wahrheitswoche, die alles anders zeigt, als gewöhnlich, … wahrer, als in der sogenannten Wirklichkeit.
Doch in einer so bedeutungsreichen Zeit, in der die Symbole und Handlungen und Worte des Glaubens immer weitere Dimensionen eröffnen, müssen wir besonders genau prüfen, was wir sehen und verstehen, was sich tut und was sich zeigt.
Und da nun das Abendmahl, dessen Einsetzung wir heute feiern, in gewissem Sinn der Mittelpunkt der ganzen Karwoche, ja der Mittelpunkt allen gläubigen Passionsgedenkens überhaupt ist, gilt dabei in zusätzlichem Maße die Frage, ob wir seine Bedeutung wirklich erfassen, oder ob wir es versäumen, dieses reiche Geschehen zu entschlüsseln, weil es uns überfordert.
Gewiss ist ein liturgischer Vorgang, in dem die ganze alttestamentliche Tradition von ihrem Ursprung her – dem großen Befreiungswunder des Passafestes – wiederkehrt, schon bedeutungsschwer genug.
Nimmt man noch dazu, dass hier die erst noch folgen-den, in ihrer Dramatik kaum auszudeutenden Ereignisse der letzten Nacht und des letzten Tages in Jesu Leben vor Ostern vorweggenommen werden – dass er hier sein Leben hingibt, ehe er es hingibt, dass er sein Blut vergießt, ehe er es vergießt, dass er sich zur Gabe für die Seinen macht, ehe er dahingegeben wird –, dann wird ohne weiteres erkennbar, weshalb ein so geheimnisvolles Herzstück des Glaubens, in dem Israel und die Kirche die Feier der großen, aber eben auch das Verstehen überwältigenden Heilstaten Gottes begehen, oft entweder in starrem Ritual oder in seichter Banalisierung begegnet. …….
Und doch führt kein Ausweichen weiter: Das Passafest, das eine jubelnde Feier der Zukunft mitten unter den schrecklichen Opfern der Ägypter darstellt, deren Erstgeborene in dieser Nacht sterben, damit Israel endlich die Freiheit erlangen kann, ist ebenso vieldeutig wie die Mahlfeier der christlichen Gemeinde, die ewiges Leben empfangen darf, indem sie Anteil an einem schrecklichen, unschuldigen Tod bekommt. ———
Nun hat die evangelische Kirche in den vergangenen Jahrzehnten ihr Bestes getan, um hier die Spuren zu verwischen.
Der Ruf und das Bedürfnis nach einer Aufheiterung der Abendmahlsfrömmigkeit sind überall erhört worden, und aus der beklemmenden Feier einer todernsten Henkersmahlzeit ist die leichte und festliche Atmosphäre der Ostermahle des Auferweckten geworden oder eine schnoddrige, bisweilen anarchische Verbrüderungsstimmung, die die soziale und sonstige Großzügigkeit Dessen nachahmt, Der mit den Sündern und Integrationsunfähigen einfach das Brot brach und Gemeinschaft hielt.
Weder das eine noch das andere ist unbiblisch, und in manchem rückt die dankbare und herzliche Begegnung mit Christus in Brot und Wein auch unsere Formen wieder in Richtung der Alten Kirche und der Anfänge, in denen die „Eucharistie“ – also die Feier der Danksagung und des Lobpreises für das Geschenk des leibseelischen Heils in der Gottesgemeinschaft Jesu Christi – die Woche, das Denken und Dasein der Gemeinde völlig überstrahlte und durchglühte.
Doch heute ist Gründonnerstag, heute ist das Urdatum dessen, was zur Eucharistie erst werden musste.
Heute, in der Nacht des Staunens und der Feigheit, in der Nacht des Zitterns und der Klage, in der Nacht des Verrates und der Panik und der Justizposse und des kaltblütigen Kalküls der Mächtigen und inmitten all dessen des steinerweichenden Leidens Jesu … heute, unter diesen finsteren Umständen geschieht die Grundlegung dessen, was die Christenheit ausmacht und trägt: Vollständige Gemeinschaft mit Jesus Christus, dem für die Menschheit fleischgewordenen und unter den Menschen leidenden Sohn Gottes.
Und das können wir als Christen nicht ausblenden:
Dass unser Zugang zu Gott und zum Leben, dass unser Bund mit Ihm und unsere Verbindung untereinander sich nicht irgendeinem erbaulichen Gründungsmythos, sondern einem historischen „Mischmasch aus Irrtum und Gewalt“ verdanken, wie Goethe gleich die ganze Kirchengeschichte scharfzüngig zusammengefasst haben wollte[ii]. ——
Wer sich also nachher erhebt und zum Abendmahl kommt, der geht keinen Spazier-gang, sondern einen schweren Weg, einen Weg, der durch Tatsachen führt, die nicht leicht und lustig, sondern lastend und schwer sind, … Tatsachen, die sich nicht als Bilder voller Harmonie und Wohlgefallen auflösen lassen, sondern blutig, schmerzlich, traurig bleiben.
Doch genau das ist nun einmal nicht nur das rätselhafte Geschehen, dessen wir im Abendmahl teilhaftig werden, sondern so und nicht anders sind diese Welt und ihre Geschichte.
…Wenn wir eine Zeremonie der guten Laune, ein Ritual der positiven Suggestion suchen, dann halten wir unsere Hand und unser Herz vergebens dem Sakrament dieses Tages entgegen.
Das Abendmahl empfangen und in seiner überwältigenden Kostbarkeit als Wahrheit verehren, können nur die, die darin nicht eine bequeme Ersatzhandlung sehen, die uns leibliches und seelisches Behagen und Bestätigtwerden verschaffen oder vortäuschen soll, sondern die bereit sind, den Gethsemanegeschmack der vollständigen schwitzenden, weinenden, bluten-den, sterbenden Hingabe für alle Leidenden der Erde zu ertragen.
Wozu wir hier gerufen sind, ist tatsächlich das Mahl, das die Noch-Versklavten in einer Welt der gottlosen Bindungen, in einer Welt der Unterdrückung und des Unrechts aßen … und in der Dunkelheit um sie herum war Grauen und Gefahr.
Wozu wir hier gerufen sind, ist die kurze Rast, die Einer hielt, Der zwar Gastgeber war und bleibt, Dem aber weder das Dach, unter dem Er die Seinen versammelte, noch Becher und Teller gehörten, von denen Er alles austeilte und Der von dort weitereilte, um alles, … restlos alles auszuschenken und aufzugeben.
Nichts hatte Er,… nichts hat Er, als Sein Leben.
Nur das kann Er anderen bieten, nur damit kann Er retten, was zu retten ist.
… Nichts als Sein nacktes Leben. …….
Wer das erkennt, der wird verstehen, warum hier tatsächlich zwei bloße Allerweltselemente – Grundstoffe des Lebens, Brot und Wein – mehr werden und bedeuten als Himmel und Erde: Dieses Mahl, bei dem der Wirt selber die Speise und der Trank ist, … es zehrt von keinem Überfluss und bedeutet kein himmelreiches Festgelage, sondern es ist die reinste Gestalt der Notgemeinschaft Gottes, es ist das gänzliche Aufopfern alles dessen, was Liebe herzugeben vermag.
Das Abendmahl in seiner geringen und alltäglichen Gestalt ist kein Symbol für Anderes, für Höheres und Größeres, sondern es ist tatsächlich das Letzte, was Gott geben kann: Leib und Leben aus Liebe. ——
Und so wird der große, heilige Ernst dieser Feier, so wird die bleiche, stumme Andacht, mit der mancher etwas so Unerhörtes und Unermessliches empfängt, doch wieder nachvollziehbar und nötig.
Weil hier in der Wirklichkeit dieser Welt, die so krank ist und so brutal, die so böse und so von Trost verlassen sein kann, in kleiner, schwacher und doch spürbarer Unmittelbarkeit Gott tut, was getan werden muss und wozu sonst niemand sich überwindet: Er gibt alles, Er gibt sich.
Jedes Krümchen Brot, jeder Tropfen Wein zeugt davon.
Sie retten Leben.
Retten uns.
Retten die Welt! ———
Was bedeutet das aber für uns Christen, wenn wir diesen unvergleichlichen Sinn dessen begreifen, was hier so schlicht wirkt, so gewöhnlich aussieht und so gewohnt schmeckt?
Doch wohl dies, dass wir bei allem, was es an überschwenglicher und jubelnder, an für unsere Begriffe zeitgemäßer und einladender Haltung, das Abendmahl zu feiern, gibt, doch die Frau nicht vergessen, die in dieser Woche der Gesten und der kleinen Handlungen, das Wichtigste und Richtigste getan hat: Die Frau, die den Gast in Bethanien mit den aromatischen Ölen begoss, die in ihrer Welt den Toten gebühren.
Sie allein hat nicht so getan, als ließe sich über die Nähe und Wirklichkeit der Schatten und des Sterbens hinweggehen, als ließe sich das Erschütternde und doch Unvermeidliche ausblenden und als gingen die Dinge und die Tage einen gewöhnlichen Gang.
Sie hat in Ihm, Der dort zu Tisch lag, Den erkannt – und Ihm mit allem, was sie vermochte, gedankt – , Der auf dem Weg in den Tod war.
So nahm ihre Salbung Sein Ende vorweg.
Und so war ihre Salbung eine Tat der Wahrheit … und darin eine Tat der Liebe. ——
Darum, wo immer wir von Ihm sprechen, Der sich in Seinem Tod einsetzt als unser Leben, müssen wir auch von ihr sprechen, die sich nicht davon ablenken ließ, das zu sehen und mit ihren Mitteln wahrheitsgemäß zu bezeugen und besiegeln.
Das Abendmahl am Gründonnerstag zu feiern, bedeutet also, die wahrheitsgemäße Geste der Salbenden von Bethanien zu vollziehen, eine Geste, die das Bekenntnis darstellt: Dein Tod ist nötiger, als alles, was wir kennen und besitzen.
Dein Tod ist kostbarer als die Welt.
Dein Tod ist alles, was uns lieb ist.
Denn das ist das Geheimnis unseres Glaubens an diesem Tag der schlichten Zeichen letzter Wahrheit:
Dass wir Deinen Tod, o Herr, bekennen und Deine Auferstehung preisen, bis Du kommst in Herrlichkeit!
Amen.
[i] Die diesjährigen Passionsandachten waren der gesamtbiblischen Überlieferung zum Zeichen der Salbung gewidmet. Daher ist die Perikope von der Salbung Jesu bereits in einer Andacht meditiert worden und wird in dieser Predigt – die damit zur Themenpredigt wird – nicht im üblichen Sinne ausgelegt.
[ii] Zahme Xenien IX.
Okuli, 24.03.2019, Stadtkirche, Jeremia 20, 7-11a, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Okuli - 24.III.2019
Jeremia 20, 7 -11a
Liebe Gemeinde!
Jeremia ist der Ungefragte unter den großen Propheten.
Wo Jesaja unser Denken, Singen, Sehen und Fühlen mit seiner Botschaft auch nach zweieinhalb Jahrtausenden erfüllt – das Röslein aus der Wurzel Jesse (vgl. Jes 11,1) und die Jungfrau, die den Immanuel gebiert (7,14), der Knecht, der unsre Krankheit trägt und unsre Schmerzen auf sich lädt und durch dessen Wunden wir geheilt sind (53,4f), bis der Wolf bei den Lämmern wohnt (11,6) und die Herrlichkeit des HERRN über der Finsternis des Erdreichs, dem Dunkel der Völker aufgeht (60,2), weil die Füße der Freudenboten auf den Bergen so lieblich sind (52,7) und die Schwerter endlich zu Pflugscharen werden und die Völker hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen (2,4) – … wo also kein Festtag ohne Jesaja vergeht und wir nichts, gar nichts ohne seine Verkündigung wären, ……. und wo Hesekiel und Daniel unsere Erschütterungen und letzten Hoffnungen durchdringen, weil wir die Schrift an der Wand dieser Welt und die tönernen Füße, auf denen sie steht, bei Daniel (5,5 + 25; 2,31ff) zu erkennen gelernt haben und weil die Künstler und großen Tröster das Totenfeld dieser Erde mit den Augen Hesekiels (37) erblicken, der sah, wie der Staub sich rührt und wie es rauscht und die dürren, bleichen Knochen zusammenrücken, Gebein an Gebein und endlich der Odem Gottes neues Leben aus dem Tod erweckt, … wo also die drei anderen großen Propheten bis heute durch ihre Worte und ihre Sprachbilder das Bewusstsein der Gläubigen prägen, ist Jeremia fast völlig aus dem Gedächtnis der Gemeinde verschwunden.
… Nur einmal im Jahr hat er in der christlichen Tradition seit vielen Jahrhunderten einen kurzen Urlaub aus dem Reich des Schweigens und der Vergessenheit:
Wenn in der Passionszeit, v.a. in der Karwoche der Schmerz um Christus und Christi eigener Schmerz die Kirche ergreift, dann findet sie in den Klageliedern Jeremias eine Stimme, die das Grauenvolle ausspricht, hinausschreit, … die Stimme des jüdischen Leidens unter Verfolgung, Vertreibung, Heimatlosigkeit, Verbannung und Gottesfinsternis. Einmal im Jahr weint die Christenheit mit den Tränen Israels und klagt den hebräischen Weltschmerz hinaus … in vielen barocken Vertonungen der Klagelieder tatsächlich sogar im Lautbild des Urtextes, der die Klagelieder Jeremias nach den hebräischen Buchstaben durchnummeriert und der damit die Komponisten zu ungeheuer lautmalerischem Jammer inspiriert hat, wenn sie fremdklingende, ganz abstrakte Konsonanten und Vokale auskosteten – das Aleph, das Beth, das Gimmel usw. – , um den Ton reinen Leids zu schildern.
Den wortlosen Urschrei universaler Traurigkeit transportiert Jeremia also für die Kirche, den Klang sprachzerfetzenden Unglücks. ——
Dabei spricht er heute allerdings ja ganz deutlich zu uns.
… Zu deutlich wohl.
Denn seine Auflehnung gegen das Prophetenschicksal ist markerschütternd.
Er schreit seine Erfahrung der Ohnmacht gegenüber Gott, Der einen Menschen einfach zu Seinem Boten macht, in einer Art hinaus, die an die qualvollen Anklagen der vergangenen Jahre und nun der vergangenen Woche erinnert, als Frauen und Männer endlich nach brutalem Schweigen begannen, ihr Opferleid als Missbrauchte, Vergewaltigte und Gedemütigte öffentlich zu machen.
……. Martin Buber übersetzt Jeremias Ausbruch gegen seinen Herrn denn auch er-schreckend richtig und deutlich in die Sprache der Übergriffe:
„Betört hast du mich, / ich ließ mich betören, / Gepackt hast du mich, / du hast übermocht.“
… Auch wenn sich uns alles sträubt: Der Prophet spricht tatsächlich von Vergewaltigung. —
Nun wäre es ein Leichtes, dieses Trauma, das natürlich auch in der Bibel begegnet, weil sie wirklich allem Menschlichen vor Gott und in Gott das Wort verleiht, … nun wäre es also ein Leichtes, dieses Trauma des Jeremia als schreckliches Beispiel jener Überwältigungen zu betrachten, die zu unserm Entsetzen schon immer im Raum einer Glaubensgemeinschaft begegnen, in der höchste und geheimnisvollste Kräfte Menschen berühren und verbinden und verleiten und verängstigen.
Doch die Erfahrung der Wehrlosigkeit des Jeremia rührt nicht her aus den – weiß Gott! – missbrauchsanfälligen Strukturen von Menschenmacht.
… Sie rührt vielmehr an ein noch tieferes Ausgeliefertsein.
Denn das Leid Jeremias beginnt pränatal. …….
Er ist nicht erst gegen seinen Willen als Erwachsener in den Dienst Gottes genötigt worden, sondern bereits vor seiner Empfängnis wurde Jeremia vom HERRN beschlagnahmt: „Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleib bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von deiner Mutter geboren wurdest und bestellte dich zum Propheten für die Völker“, so beginnt das Buch seiner Unfreiwilligkeit (Jer1,5f).
Jeremias verzweifelter Groll gegen seine Bestimmung ist also gerechtfertigt: Er hatte nie eine Wahl, … und genau dagegen richtet sein Hader sich derart hartnäckig, dass die Bibel und die Glaubenden kein zweites Beispiel derart unmissverständlichen Gottes-Protestes kennen.
… Dass solcher Widerstand gegen die vorgeburtliche Festlegung, gegen das Eingespanntsein in ein Geschick, das vorm eigenen Lebensbeginn schon feststand, aber eben zu den großen Prophetien der Bibel gehört, das lehrt uns, hinter Jeremias lautem Protest mehr zu sehen als ein Einzelschicksal, mehr als das düstere Los eines embryonal Erwählten. … An Jeremias immer wieder vergessener, aber nicht verklungener Stimme, die gegen die Eingliederung in etwas viel Größeres als unser eigenes Leben einen so unüberholten Einspruch erhebt, lässt sich etwas Unheimliches erfahren.
… Denn auch wenn es in Gegenwart fröhlicher Taufeltern beinah zynisch zu sagen ist: Wir alle haben unsere Kinder ja nicht gefragt, ob sie geboren werden wollten, und auch wir selber konnten unserm Dasein nicht freiwillig zustimmen.
Da zu sein, heißt etwas zu erleben, was wir nicht bejahen konnten; unsere Geburt und unser Leben sind fremdbestimmt…. Für die meisten unter uns ist es ein grundloses Geschenk, dass wir leben; für manche aber auch ein unverdiente Verhängnis.
… So oder so machen wir indes am Ursprung unseres Lebens die Entdeckung: „Unser keiner lebt sich selber“ (Rö14,7). ……. Jeder lebt von Vorausgegangenem. Jeder lebt von wem her und von woher. Auch am Beginn ist also keiner ein Anfang, sondern immer schon eine Folge. —
Diese Bedingtheit, dass wir nicht für uns stehen, dass unser Leben nicht unsere Sache ist – eine Bedingtheit, die in der kirchlichen Theologie negativ als die Erbsünde, positiv als die Erwählung zum Glied eines einzigen großen Menschheitskörpers in Christus begegnet – … diese Bedingtheit, dass Menschsein wohl oder übel Zusammenhang und nicht radikale Autonomie bedeutet, lehnen die Fanatiker der Unabhängigkeit, die Eisprediger des Egoismus seit Jahrtausenden ab. Seit Jahrtausenden brüsten sie sich: „Wir entscheiden nur für uns“. Seit Jahrtausenden verweigern sie sich: „Außer mir selbst geht nichts mich an“.
Wer da aber - wie Jeremia - vom ersten Atemzug an in den weiten Rahmen der Menschheitspläne Gottes eingespannt ist, wer dazu berufen ist, sich nicht auf sein weniges, kurzes Einzelleben zu beschränken, sondern zu warnen und zu hoffen für das Volk Gottes insgesamt auf seinem Weg von den Toren des verlorenen Paradieses bis zum Anbruch des kommenden Reiches Gottes, der wird von den kleinen Ichheiten, von den raffenden „Mein!“-Sagern, von den hasserfüllten Selber-Rechthabern verleumdet und bekämpft.
… Und da Jeremia dem Jerusalem seiner Tage – den engstirnigen Kultidioten, den rücksichtlosen Politprofiteuren, den perversen Macht- und Gewinnspielern – immer nur in den Ohren liegen musste, dass ihre kurzsichtigen Eigeninteressen Nacht und Finsternis über die Zukunft des Gottesvolkes bringen würden zu einer Zeit, da Israel hätte umkehren und umdenken müssen, statt sich den Strömungen der Großmannssucht und der Risikoverharmlosung von Ägypten bis Babylon auszuliefern, … da dieser miesepetrige Spielverderber also, dieser unausstehliche Schwarzmaler Jeremia den Zeitgenossen immer nur in den Ohren lag und Buße und Gerechtigkeit verlangte, darum war er der Allerverachtetste und Un-werteste und man hielt ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre (vgl. Jes53,3f) … und er sich auch! ——
Gott, der ihn predigen hieß, der ihn einfach nicht losließ, sondern wieder und wieder in taube Ohren rufen machte, dass es keine Zukunftsgarantie gibt – weder durch Waffen noch durch Weltanschauung – … Gott machte ihn zum Spott, über den täglich gelacht wurde, wenn er immer nur „Frevel und Gewalt!“ schrie. …….
Aber das war ja das Verhängnis des armen Jeremia, dass er nicht aus dem großen, von Gott gegebenen Rahmen der Menschheitsgeschichte in ein abgedichtetes Gebäude aus Lebenslügen und Privatvergnügen flüchten konnte, sondern immer und überall erinnert wurde und selbst daran erinnerte, dass kein Mensch nur für sich allein lebt, sondern wir alle schon vor unserer Geburt Verantwortung erben und sie für die Nachkommen tragen.
… Die eingeigelten Judäer wollten es nicht hören; die selbstgefälligen Bürger und Priester Jerusalems machten sich lustig darüber, dass Jeremia ständig warnte, wer nur auf sich achte, komme um, und wer nur auf sich selbst vertraue, übe Verrat.
Und auch die Kirche vergaß – bis auf die eine schwarze Woche, in der die Klagelieder unvermeidlich wurden – allzugern den Propheten der lästigen Botschaft Gottes, die den herausfordernden Zusammenhang aller Menschen von den Ureltern, den Erzvätern und -müttern über die heutige Generation bis zu den letzten Lebenden aufrichtet, …eine Schicksalsgemeinschaft, aus der kein Einziger sich ausnehmen darf. …….
So litt Jeremia also, litt stumm – und manchmal schreiend, anklagend – unter Gott und den Menschen … und konnte das Feuer der Wahrheit und Gerechtigkeit Gottes doch nicht loswerden, nicht abtun, nicht verschweigen, nicht vergessen.
… Nur er selber, der langweilig ewige Mahner schien wieder und wieder vergessen zu werden. ———
Aber im großen Weltzusammenhang Gottes bleibt keiner vergessen.
Und in diesen Wochen regt sich die Stimme Jeremias wieder einmal unerwartet laut und deutlich: Der Protest gegen das wehrlose Ausgeliefertsein an Entscheidungen und Lasten, die längst vor den eigenen Tagen feststanden, der Protest gegen die Bestimmung, die das eigene Dasein durch Frühere und bald Vergangene erfährt, der Protest gegen den maßlos ungerechten Geiz derer, die nur ihr eigenes Dasein interessiert, die nur einen Pakt schmieden, der die Sünden der Väter auf die Häupter der Kinder bis ins dritte und vierte Glied niederregnen lässt, … diese Anklage gegen ein künftiges Geschick, das aber längst schon fremdverantwortet ist, ist neuerdings zum Ton der Freitage – der “Fridays for future” – geworden:
Da gehen die, die jung sind, wie Jeremia es war, dem der HERR entgegenhielt (Jer1,7): „Sage nicht »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete“, … da gehen die Jungen also und schreien ihre Sorge um die Bedingungen heraus, die man ihnen vorgegeben hat und deren etliche sich doch noch wandeln, ändern ließen.
… Gewiss sind sie nicht alle kleine Jeremias, vorherbestimmt, der Welt die Leviten zu lesen, statt ihre unregelmäßige Verben und jede andere Unregelmäßigkeit, die die Erwachsenen für unentbehrlich halten, zu lernen.
Aber ganz gewiss sind sie eine Generation, der es bestimmt ist, auszubaden, was der große Zusammenhang der Welt- und Wirtschaftsgeschichte ihnen an Sturm, an Flut und Feuer hinterlässt. Sie sind eine Generation, der ihre Vorgänger Gewalt angetan haben.
Und darum treffen sie bei den Spießern und Scheinheiligen, die jetzt von der Verletzung der Schulpflicht heuchlerisches Aufhebens machen und die eigene tödliche Verletzung des Sorgfaltspflicht auf einer bedrohten und begrenzten Erde übersehen, auf genau die selbe Ablehnung, die der Prophet erfuhr, der den Jerusalemern den faulen Frieden ihrer letzten freien Tage verdarb, ehe Nebukadnezar sie überwältigte und in die Verbannung schleppte.
In dieser Gemeinsamkeit der jungen Protestierer an den Zukunftsfreitagen mit dem Propheten der Auflehnung gegen das vergewaltigte Leben wird die Zukunftsfrage aber tatsächlich zeichenhaft beantwortet.
Denn Jeremia, dessen Leiden an Gott und der eigenen Vorherbestimmung zu einem großen Prophetenbuch – und das heißt ja: zu einem Teil des Gotteswortes selber – wurde, … Jeremia ist mit seinem leidigen Aufbegehren gegen das Unrecht und mit seiner steten Warnung vor dem Unheil eben nicht vergessen und vergangen.
Im Gegenteil: Sein pränatales Leiden, seine lebenslange Einspannung in den Wächter- und Zeugendienst im Kampf gegen Lebenszerstörer und Gerechtigkeitsverächter und alle Gottlosigkeit und Unmenschlichkeit hat Nachfolger gefunden … Nachfolger bis in die heutige Jugend, die dem einen besorgten Mädchen aus Schweden zu Tausenden auf deren prophetischen Wegen folgt.
Darüber hinaus aber hat Jeremia den größten aller Nachfolger gefunden: Einen, der wahrhaftig schon vor seiner Entstehung im Mutterleib auserwählt war, das Leiden Gottes an den Menschen und alles zwischenmenschliche Leid und auch das Gottesleiden der Menschheit zu tragen. Einen, dessen ganzes Leben schon ewig vor seiner Geburt und auch ewig über den heutigen Tag hinaus erfüllt ist von der Bereitschaft, die Schmerzen und Lasten und Festlegungen der Menschheit zu tragen und sie durch seine grenzenlose Freiwilligkeit, seine unbe-grenzte Stellvertretung zu überwinden.
„Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleib bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker“ (Jer.1,5):
Das ist Christus, der das vorgeburtliche Leiden und die Gewalt- und Ohnmachtserfahrung Jeremias restlos teilt … und vollendet … und dem darum die Zukunft im größten Zusammenhang gehört, … die ganze bedrohte Erde, ja, das Universum selbst.
Morgen feiern wir seine Empfängnis.
… Und dass darin – trotz allen wirklichen Leids – alles Leben wirklich bejaht ist für immer!
Amen.
Invokavit, 10.03.2019, Mutterhauskirche, Gen 3, 1-19.21.23, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
der Predigttext für diesen Sonntag ist eine der ganz großen und eindrücklichen Erzählungen der Bibel. Sie gehört in die sog. Urstandsgeschichte des Jahwisten, dem wir die ältesten literarischen Teile des 1.Buch Mose verdanken. Diese Urstandsgeschichte ist der sog. Heilsgeschichte, die mit der Erwählung Abrahams beginnt, vorgeschaltet und umfasst die Kapitel 2 bis 11. In ihr bedenkt der Jahwist Fragen, die alle Menschen zu allen Zeiten angehen, Fragen, die sich ergeben aus der Betrachtung der Welt und des menschlichen Lebens, wie es ist - in der Spannung zwischen Staunen und Schrecken. In Adam und Eva, in Kain und Abel, in Noah und seiner Familie begegnen uns nicht historische Persönlichkeiten, sondern Prototypen des Menschseins. Die Faszination, die von diesen Geschichten ausgeht, hat eben damit zu tun, dass wir uns selbst in ihnen begegnen, dass sie uns einen Spiegel vorhalten: Mensch, sieh hin, das bist du, und das sind deine Möglichkeiten.
Hören wir also die Verse aus dem dritten Kapitel:
„Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Feld, die Jahwe gemacht hatte, und sprach zu der Frau: Ja, sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?
Da sprach die Frau zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet!
Da sprach die Schlange zu der Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tag, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott, nämlich Wissende sein im Hinblick darauf, was gut ist für euch und was schlecht.
Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er aß.
Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und sie flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. Und sie hörten Jahwe, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seiner Frau vor dem Angesicht Jahwes unter den Bäumen im Garten. Und Jahwe rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du?
Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.
Und er sprach: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du etwa gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du sollst nicht davon essen?
Da sprach Adam: Die Frau, die du mir an die Seite gegeben hast, gab mir von dem Baum, und ich aß.
Da sprach Jahwe zu der Frau: Warum hast du das getan?
Die Frau sprach: Die Schlange betrog mich, sodass ich aß.
Da sprach Jahwe zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht, verstoßen aus allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauch sollst du kriechen und Erde fressen dein Leben lang. Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.
Und zur Frau sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein.
Und zum Mann sprach er: Weil du auf die Stimme deiner Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen -, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Feld essen. Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, von der du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.
(Und Adam nannte seine Frau Eva; denn sie wurde die Mutter aller, die da leben.)
Und Jahwe machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an.
(Und Jahwe sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner, ein Wissender im Hinblick darauf, was gut für ihn ist und was schlecht. Nun aber, dass er nur seine Hand nicht ausstrecke und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!)
Und Jahwe wies ihn aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war.
(Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.)
Vielschichtig ist diese Erzählung. Sie hat eine lange Überlieferungsgeschichte hinter sich. Mit den Erkenntnissen der modernen Bibelwissenschaften im Hintergrund erzählt sie einem viel über die Interessen und Interessenkonflikte der Menschen vergangener Zeiten, die sich widerspiegeln in einzelnen Formulierungen und Anspielungen - zum Beispiel was die Schlange und ihre Rolle betrifft. Aber eine Predigt ist ein ungeeigneter Ort, alles das zu erläutern. Ebenso gewichtig ist auch die Traditionsgeschichte, die diese Erzählung in unserer christlich-abendländischen Geschichte hatte, eine lange Missbrauchsgeschichte vor allen Dingen zu Lasten der Frau - frei nach dem Motto „Eva ist an allem schuld". Doch auch auf diesen Bereich will ich im Folgenden nicht weiter eingehen.
Als ich mich bei der Vorbereitung mit dem Text beschäftigt habe, sind mir die sehr verschiedenen Überschriften ins Auge gefallen, unter denen diese Erzählung steht: „Der Sündenfall", „Der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies", „Die Bestrafung der Menschen und der Verlust des Paradieses", „Die Geschichte vom verlorenen Paradies". Diese unterschiedlichen Überschriften zeigen an, wie unterschiedlich das Verständnis dieser Geschichte ist. Schuld und Strafe, Wehmut, Trauer und Sehnsucht - alles das kann offensichtlich herausgelesen werden. Die Frage ist allerdings: in welcher Gewichtung, mit welchem Recht? Geht es dem Jahwisten zum Beispiel wirklich darum, die Schlechtigkeit des Menschen aufzuzeigen, ihn als frevelhaften Zerstörer des Paradieses darzustellen, der Gottes Zorn und Strafe zu Recht auf sich gezogen hat?
Ich möchte mich darum noch einmal ganz neu dieser Geschichte zuwenden - was gar nicht so einfach ist, weil sie mir schon zu bekannt ist. Dabei will ich mich von drei Fragen leiten lassen:
1. Was meint eigentlich „im Paradies sein"?
2. Was lässt den Menschen aus dem Paradies fallen?
3. Ist das „Leben im Paradies" für uns heute ein unerfüllbarer Traum - ist es für uns also endgültig „verloren"? Und wenn nein: wo ist es zu finden, wie ist es „zurück-zugewinnen"?
Zu 1) Die Vorstellung von einem Paradies als einem Ort, wo das Leben einfach nur schön ist, kommt in den mythischen Erzählungen fast aller Völker vor. Der Garten in Eden, von dem die Bibel spricht, gehört in diese Reihe. Wie das Leben im Paradies ist bzw. wie es gewesen ist - denn es ist ja leider verloren -, diese Vorstellung speist sich gewöhnlich aus dem, was in der realen Welt als schlecht erlebt wird. Im Paradies Sein - das heißt dann
- auf Du und Du mit den Tieren leben, ohne Feindschaft und ohne Angst
- keine Herrschaft des einen über den anderen, auch nicht des Mannes über die Frau
- keine Schmerzen leiden und nie krank werden
- leben von dem, was die Natur einem im Überfluss gibt
- nicht schwer arbeiten müssen (heute würden viele sagen: überhaupt nicht arbeiten müssen)
- nicht sterben müssen
- niemals altern
Der Jahwist kannte sicher eine ganze Reihe solcher Geschichten vom Paradies, als er seine aufschrieb. Und es ist nun wichtig, seine besonderen Akzente zu verstehen. Was ist für ihn der Garten in Eden und was bedeutet es, dort zu leben?
Auch er spricht von der Fülle an Nahrung, besonders von Baumfrüchten, verlockend anzusehen und gut zu essen, alles von Gott geschaffen, damit es sich der Mensch gut gehen lassen kann. Auch er nennt den vertrauten Umgang des Menschen mit den Tieren, dazu die vertraute, herrschaftsfreie Beziehung der Geschlechter und überhaupt der Menschen zueinander.
Aber das Grundlegende des paradiesischen Lebens ist für den Jahwisten etwas anderes: nämlich dass der Mensch in engster Beziehung zu seinem Schöpfer steht und darin seinen Halt und seine Orientierung findet. Das meint die Rede von dem Tabu des Baumes in der Mitte des Gartens: es ist die Einladung Gottes an sein Geschöpf, sich zu ihm zu verhalten, ihm zu vertrauen und das zu zeigen, indem er etwas nicht tut. Diese Beziehung ermöglicht es dem Menschen, nackt zu sein und sich nicht zu schämen. Nackt sein heißt: zu sein, was und wie man eben ist - ein Geschöpf, auf Hilfe angewiesen, mit Fehlern behaftet, ein Wesen aus Erde gemacht, sterblich. Der Mensch, der sich seiner Nacktheit nicht schämt, das ist der mit seiner Geschöpflichkeit versöhnte Mensch. Er ist aus Erde gemacht, sterblich, aber das bestimmt ihn nicht. Entscheidend ist das beglückende Wissen, aus Staub zu sein, der von Gottes Atem, seinem Geist beseelt ist. Was ihn im Paradies sein lässt, das ist das umfassende Vertrauen in Gott, seinen Schöpfer.
Zu 2) Wenn wir uns das deutlich machen, dann dürfte es uns nicht schwer fallen, aus unserem Predigttext die Antwort auf die zweite Frage herauszuhören: Was lässt den Menschen aus dem Paradies fallen?
Es ist nicht der böse Wille, es ist auch keine böse Absicht. Es ist nicht die Schlechtigkeit des Menschen. Vielmehr entgleitet dem Menschen das Paradies in dem Augenblick, in dem er in seinem Urvertrauen in Gott erschüttert wird. Das wird meisterhaft in dem Gespräch zwischen der Schlange und Eva dargestellt. „Sollte Gott gesagt haben ...?" Was für eine Tragik: das Paradies geht verloren, indem über Gott disputiert wird. Da wird der Zweifel an Gottes Güte gesät, da gerät Gott in den Verdacht, ein machtbesessener Despot zu sein, der eifersüchtig über seine Privilegien wacht, der die Menschen klein halten will und ihnen deshalb droht. Der Mensch in Gestalt der Eva verteidigt Gott, so gut sie kann; aber: da wo der Zweifel erst einmal sein Werk in einem Menschen begonnen hat, da siegt am Ende die Angst. Nein, einem womöglich unterdrückerischen, bedrohlichen Gott - dem möchte man nicht ausgeliefert sein. Da ist es wirklich besser, selbst sein Leben in die Hand zu nehmen - „wissend zu sein, was gut für einen ist und was schlecht". Das Vertrauen in den Schöpfer, den Freund, der mit einem durchs Leben geht, ist hin, die Fraglosigkeit der Beziehung zwischen Mensch und Gott. Der Tabubruch, der Griff nach der verbotenen Frucht macht das nur sichtbar.
Und das erstaunliche: die Schlange hat mit dem, was sie gesagt hat, ja nicht einmal unrecht. Den Menschen gehen die Augen auf. Sie sind wirklich wissend geworden, allerdings anders als gedacht. Denn das Wissend-Sein enthebt sie ja nicht ihrer Geschöpflichkeit. Sie sind keine Götter geworden. Sie erkannten sich, wie sie eben waren, als nackt, als Wesen aus Staub, unvollkommen, sterblich. Diese Erkenntnis ist hart und wahrhaft beschämend, wenn man eigentlich sich selbst auf dem Weg zur Göttlichkeit sah. Aus dem Zweifel an Gottes Güte, in deren Nähe es sich einfach Mensch sein ließ, ist die Verzweiflung an der eigenen Existenz als sterbliches Geschöpf erwachsen. Und alles, was die Erzählung im Folgenden schildert, malt diesen Zustand der Verzweiflung an sich selbst aus und ihre Folgen für den Menschen in seiner Beziehung zu sich selbst, zu seinem Nächsten, zu seiner Umwelt und zu Gott:
- das Sich-Verstecken voreinander und vor Gott
- die Scham über die eigene Unvollkommenheit, sprich Nacktheit
- die Arbeit wird nicht mehr als ein bebauen und bewahren der Schöpfung begriffen, sondern als schweißtreibender Kampf, als Maloche
- anstelle des Miteinanders der Geschlechter tritt die Herrschaft des Patriarchats
- auch im Hinblick auf die Fähigkeit, Leben weiterzugeben, verschiebt sich die Wahrnehmung: die Schmerzen der Geburt, die Mühsal der Schwangerschaft verdrängen geradezu die Freude über das zu erwartende Kind
- und - sozusagen der traurige Höhepunkt: der Mensch vergisst seine Schöpfung aus Erde und Gottesatem; er kann sich nur noch als den sehen, der dazu verdammt ist, wieder zur Erde zu werden; der leibliche Tod wird ihm zur Strafe.
Dass er diese Sicht auf sein Leben als Strafe Gottes betrachtet, zeigt überdeutlich, wie sehr sich auch sein Blick für Gott getrübt hat. Denn wenn wir genau in den Text sehen, dann ist Gott alles andere als ein seine Menschenkinder strafender Gott. „Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist?" fragt Gott eher bestürzt. Das wollte er ja dem Menschen ersparen, dass er je seiner Geschöpflichkeit anders begegnet als auf dem Boden des absoluten Vertrauens zu seinem Schöpfer, dass er sie als Bedrohung und Nichtigkeit wahrnimmt. Ich spüre in dieser Erzählung etwas von Gottes Trauer und Mitleid, nichts von Zorn oder Strafe. Nicht nur, dass er Adam und Eva entgegen der Tabusetzung nicht mit dem Tod straft, er rüstet sie so gut er kann für ihre neue Existenz aus, er kommt ihrem Bedürfnis, ihre Schwäche und Bedürftigkeit voreinander zu verbergen, entgegen und macht ihnen Kleider aus Fellen.
Und es ist dieses Bild von Gott, das mich leitet, wenn ich die dritte unserer Fragen bedenke: ob das „Leben im Paradies" für uns heute ein unerfüllbarer Traum ist, endgültig verloren, und wenn nicht, wo es dann zu finden ist, wie wir es „zurückgewinnen" können.
Zu 3) Ich meine: das „Leben im Paradies" ist keine Utopie. Allerdings lässt es sich nicht einfach von uns her „zurück-gewinnen". Das „Leben im Paradies" ist vielmehr eine Daseinsmöglichkeit, die uns geschenkt werden kann. Geschenkt von Gott, der ja nicht einfach im Paradies zurückgeblieben ist, als seine Menschenkinder Jenseits von Eden ihr Leben aufnahmen. Das Zeugnis der Bibel gibt mir alles Recht zu sagen: Gott hat seine Menschen auf diesem Weg begleitet. Er ist mit ihnen ins „Elend", in die Fremde gezogen, hat sie immer wieder eingeladen, im Vertrauen auf ihn ihr Leben zu leben - sich wieder versöhnen zu lassen mit ihrer Geschöpflichkeit. In immer wieder neuen Anläufen erinnert die Bibel an dieses Werben Gottes um seine Menschenkinder - zugespitzt um sein Volk Israel, das er ja gerade als Bild des Kleinen, Schwachen erwählt hat. Doch zum Ziel gekommen ist er erst in Jesus von Nazareth. Jesus ließ sich von Gott einladen zum „Leben im Paradies", zum Leben auf der Grundlage eines bedingungslosen Vertrauens in die Güte Gottes, in die Güte des Abba. Und in dem Bewusstsein, geliebtes Geschöpf, geliebtes Kind Gottes zu sein, konnte er ganz und gar Ja sagen zu seinem Menschsein, seinen Möglichkeiten und seinen Grenzen, seinen Stärken und seinen Schwächen. Ja, er schämte sich nicht nur nicht für seine Nacktheit, d.h. Bedürftigkeit und Begrenztheit, sie wurde mit seiner Einwilligung der Ort, an dem die Stärke Gottes sichtbar werden konnte - zuletzt am Kreuz von Golgatha, wie es Paulus sagt: „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig."
Die Geschichte Jesu will für uns Wegweiser ins „Paradies" sein. In ihm hat Gott uns alle noch einmal eingeladen, zurückzufinden zum Urgrund und Zentrum unseres Lebens, das er selbst ist. In ihm bittet Gott uns um unser Vertrauen: lasst euch versöhnen mit Gott. Lasst euch versöhnen mit eurem Schöpfer und nehmt euch als seine Geschöpfe an. Lebt als die, als die ihr einzig glücklich leben könnt: als Menschen, begrenzt und endlich, aus Erde gemacht - und doch geborgen in Gottes ewigen Armen, beseelt von seinem Geist.
Darum: lassen wir uns einladen, kehren wir um aus dem „Elend", aus der Fremdheit unseres Lebens jenseits von Eden. Kein Engel mit dem Flammenschwert versperrt uns diesen Weg zurück in die Arme Gottes. Vielmehr - er kommt uns schon immer entgegen. Amen.
1.Mose 3,1-19(20)21(22)23(24)
Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Feld, die Jahwe gemacht hatte, und sprach zu der Frau: Ja, sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?
Da sprach die Frau zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet!
Da sprach die Schlange zu der Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tag, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott, nämlich Wissende sein im Hinblick darauf, was gut ist für euch und was schlecht.
Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er aß.
Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und sie flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. Und sie hörten Jahwe, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seiner Frau vor dem Angesicht Jahwes unter den Bäumen im Garten. Und Jahwe rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du?
Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.
Und er sprach: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du etwa gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du sollst nicht davon essen?
Da sprach Adam: Die Frau, die du mir an die Seite gegeben hast, gab mir von dem Baum, und ich aß.
Da sprach Jahwe zu der Frau: Warum hast du das getan?
Die Frau sprach: Die Schlange betrog mich, sodass ich aß.
Da sprach Jahwe zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht, verstoßen aus allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauch sollst du kriechen und Erde fressen dein Leben lang. Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.
Und zur Frau sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein.
Und zum Mann sprach er: Weil du auf die Stimme deiner Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen -, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Feld essen. Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, von der du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.
(Und Adam nannte seine Frau Eva; denn sie wurde die Mutter aller, die da leben.)
Und Jahwe machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an.
(Und Jahwe sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner, ein Wissender im Hinblick darauf, was gut für ihn ist und was schlecht. Nun aber, dass er nur seine Hand nicht ausstrecke und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!)
Und Jahwe wies ihn aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war.
(Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.)
Die kursiv gedruckten Verse hat ein anderer biblischer Redakteur in die Erzählung hineingeschrieben.
Invokavit, 10.03.2019, Stadtkirche, Hebräer 4, 14-16, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Invokavit - 10.III.2019
Hebräer 4, 14-16
Liebe Gemeinde!
Das Wartezimmer der Angst kennt jeder: Für die einen ist es der Raum mit der Leder-und-Chrom-Sitzgruppe, wo man nach dem Berater auch dem Direktor die Schwierigkeiten bei der nächsten Rate erläutern muss. Für die anderen ist es der schreckliche halb-Flur-halb-Hasenkäfig-Verschlag mit den zerkratzten Schalensitzen, wo man Stunde um Stunde auf dem Ausländer- oder Arbeitsamt totschlägt, nur um ein neues, noch sinnloseres Formular zu erhalten. Das Wartezimmer der Angst, in dem die Herzen wegen des Kredits bis zum Hals schlagen oder angesichts der anatomischen Schaubilder die Sorge wegen des Knotens einem die Kehle schnürt, … der Vorhof der Angst, in dem man auf das Bewerbungsgespräch oder auf die Entscheidung des Gerichtes wartet, … die vielen gekachelten Flure und öde beleuchteten, stummen Menschenschlangen vor den gefürchteten Grenzschaltern in der Friedrichstr., in Marien-born/Helmstedt, in Herleshausen und Lauenburg, wenn sich früher Glaubens- und andere Geschwister innerhalb Deutschlands besuchen wollten, … alle diese beklemmenden Niemandsländer und adrenalingefluteten Schweigestreifen vor dem Sitz des panisch Erschreckenden gehören zum Leben.
… Wer Mensch ist, kennt auch die Angst. ——
Der erste richtige Angstort meiner Erinnerung war ein reines Theatermöbel, … eine schwarz gebeizte, steife, grotesk geschnitzte Bank im nachgeahmten Tudor-Stil, auf deren figürlichen Sitzflächen kein Kind angemessen Platz fand, weil der Corpus der Banktruhe so hoch war, dass man keinen Boden mehr unter den Füßen und im Rücken das kantige Relief der Schnitzereien hatte, wenn man auf diesem Möbel zu sitzen kam. … Das Unangenehme daran war berechnet. Denn die quälende Bank war der erste Teil der schulisch möglichen Höchststrafe. Sie stand in der zentralen Halle meiner englischen Grundschule, über die lange Korridore in zwei Richtungen verliefen und sie bezeichnete das Banngebiet des Rektorenzimmers. Ein Schüler, dem auf dieser Bank sein Ort angewiesen wurde, saß lange und versteinert und öffentlich darauf und war dabei zur Abschreckung aller Betrachter unausweichlich dem Schrecken des Kommenden geweiht: Er hatte die Hand und den Rohrstock seiner Lehrer bereits hinter sich; nun blühte ihm eine Behandlung mit dem als Striemen eingesetzten Gürtel unseres Rektors, Gordon Ross, der ein lustiger, umgänglicher Bedarfs-Choleriker war. Er verdrosch für das edle Ziel der Disziplin. Die Neo-Tudor-Bank, dieser Pranger vor seiner Tür war ein Mittel der Kultivierung, eine Erinnerung an die Zivilisation. Eine erzieherische kleine Folterübung für die Nerven nervender Kinder. Als leerer Schauort der Angstschauer sollte die Bank uns Schüler schließlich auch wenn sie unbesetzt war bange machen und so zum Erwachsenwerden helfen: Sind Erwachsene doch jene Menschen, deren Leben am meisten von der Furcht bestimmt wird, weil sie alles tun – Kraft trainieren, Selbstsicherheit vortäuschen, Reichtum anhäufen –, nur um die Angst loszuwerden, die sie als Kinder kannten und am Ende wieder befürchten. Während Kinder nämlich schlicht dort Angst haben, wo Angst zu haben ist, leiden vermeintlich Erwachsene an einer unterschwellig ständig peinigenden Angst vor der Angst, die sie am liebsten nicht wahrhätten.
… Und das ist die Steigerung. Denn eigentlich bedeutet es Furcht vor dem Leben, zu dem die Angst gehört wie der Winter und die Nacht und der Schmerz.
Wer wirklich leben will, darf die Angst nicht fürchten, existiert er doch sonst in Täuschung und Lüge, weil alles, was wir auf Erden lieben und sind, unter der Bestimmung steht, von der wir heute in der 1.Lesung (1.Mose 3,19) hörten: „Du bist Staub und sollst wieder zu Staub werden.“
Mit der Endlichkeit und dem Tod müsste man also angstfrei leben können, wenn man nicht ständig aussichtlos verleugnen will, was sicher ist.
… Aber man müsste es eben wie die Kinder können, die so selbstvergessen frei und frech sein können, dass die Angstbank sie nicht beeinträchtigt, bis sie nicht auf ihr sitzen. … Während Erwachsene davon beherrscht werden: „Niemals will ich in die Situation kommen, die zum Fürchten wäre“, leben Kinder im glücklichen Bewusstsein: „Gewiss kann man dahin kommen, – aber jetzt bin ich woanders!“
Ist das aber eine Haltung für die Passionszeit? … Diese Meditationszeit der Todesleiden, in die uns am heutigen Invokavit-Sonntag gleich die beiden biblischen Lesungen vom Fall der Menschen und von Satans Jesus-Prüfung[i] mit ganzer Wucht und Schwere eingeführt haben, so dass alle bitteren Bilder und Tatsachen– Sünde, Tod und Teufel – sofort beisammen wären?!
Kann man zu Beginn dieser ernsten Wochen wirklich von einer kindlichen Unbefangenheit vor den Schlägen des Schicksals und den Gesetzen der tödlichen Sündenwirklichkeit reden?
Müsste man nicht vielmehr den Erwachsenen, denen Todesfurcht und Gottesfurcht und beinah jede Ehrfurcht so peinlich sind, angesichts der Leiden Christi absichtlich Angst einjagen?
Müsste man nicht ausziehen, um in vierzig Tagen nun bewusst das Fürchten zu lernen? …….Nein!
Die Passionszeit predigt uns das glatte Gegenteil. Sie führt nicht in die Verzweiflung, sondern aus ihr hinaus. Sie schleudert uns nicht in die Hölle, sondern sie will uns vom Gericht befreien. Die Passionszeit verstärkt nicht das Heulen und Zähneklappern, sondern sie tröstet und rettet uns. ———
Um das nicht nur als theologisch richtigen Satz, sondern als wirkliche Richtung unserer Lebenswege zu verstehen, muss ich noch einmal zurück in meine englische Grundschule, die als das Waisenhaus der mächtig wachsenden Stadt Liverpool in den Zeiten der Cholera gegründet worden war[ii].
Sie bestand nämlich nicht nur aus dem langgestreckten Gebäudeteil, in dem sich den Korridor entlang Klassenzimmer an Klassenzimmer reihte, sondern genau an der Mitte dieser Längsachse gab es einen Vorbauflügel, an dem ein breites Hauptportal zwischen Aula und Speisesaal in das Gebäude führte. Das war der Weg der Erwachsenen; wir Kinder mussten den großen alten Kasten durch Nebeneingänge an den äußeren Enden betreten.
Wenn es ausnahmsweise aber doch erlaubt wurde, dass wir die zentrale Flügeltür nutzten, sprach die Schule eine ganz veränderte Sprache. Zwar war durch das offene Portal und den Gang dahinter auch sofort der Mittelpunkt der ganzen Institution auf dem langen Korridor zu erblicken: Die Angstbank. … Doch über dem Portal war ein Relief angebracht, das diesen Blick in eine völlig neue Perspektive rückte: In weißem Stein war da ein Kind zu sehen, ein lachendes Kind, das seinerseits von jungen Tieren und Menschen umgeben war und beide Arme ausbreitete. Und wenn man so unter der Willkommens- und Freundschaftsgeste des Christuskindes in das Innere schaute, war die Bank eine andere. … Noch immer kein Platz, an dem man gerne gesessen hätte, aber doch eindeutig kein Ort der Verlassenheit und des Ausgestoßenseins mehr. Das Kind über dem Eingang winkte ja unzweifelhaft jedem als sein Begleiter: Rechts in die täglichen Andachten, links zum Essen … und geradeaus – wenn’s sein musste – auf die Angstbank.
Mehr nicht.
… Aber darin alles.
In dieser trivialen Schulerinnerung ist nämlich die eigentliche Botschaft des Hebräerbriefs enthalten, der uns sagt, dass Christus unser – oft sagen wir „Leidensgenosse“, aber genauso gut könnten wir sagen – unser „Klassenkamerad“ in der Schule des Menschseins ist, in den Proben und Prüfungen, die jeden erwarten und die alle bestehen müssen.
„Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir“, das heißt dass die Höhe und Tiefe, die Oberfläche und die Schwere, die Flüchtigkeit und der Ernst unserer sämtlichen Erfahrungsmöglichkeiten auch Christus vertraut geworden sind.
Kein Erleben, keine Reaktion, kein Instinkt eines Menschen sind für Christus, unseren Botschafter in Gottes Gegenwart nur eine Sache des Hörensagens oder bloßer Ahnung. Er hat von Geburt an die ganze Breite der irdischen Wirklichkeit kennengelernt und ihre ganze Härte abbekommen. Hunger und Durst, Erschöpfung und Traurigkeit, Verlegenheit und Beschämung, Ratlosigkeit und Gefährdung, Krankheit und Ohnmacht, Verletzung und Sterben und wie die angsterregenden Begleiterscheinungen des Leben auch heißen mögen: Jesus Christus hat sie alle am eigenen Leib kennengelernt und durchlaufen, hat ihre Wirkung und ihre Spuren körperlich und seelisch ertragen, und hier und heute nimmt er an ihnen so unmittelbar teil, wie einst bei seiner Versuchung (vgl. Matth.4,1-11).
Wenn irgendwo ein Mensch leidet, wenn irgendwo einer in der Presse der Trübsal, im Kreuzfeuer der Anfechtung, in der Herz und Nieren durchbohrenden Ausquetschung von Leib- und Seelenkräften unter Krisendruck stöhnt, … dann ist derjenige stets dabei, der uns vor der Tür unseres Lebens in Empfang nimmt und alle Stationen unseres Daseins mit uns durchläuft und noch auf der Angstbank unser Los teilt.
Dieser Hohepriester – und das heißt nichts anderes als: Dieser, der unser Schicksal zu seinem Schicksal macht – … der hat bei seiner Versuchung gezeigt, wo er seinen Ort sieht: Nicht auf den Flügeln der Schutzengel, nicht im Labor der Zauberlehrlinge, nicht auf den Posten der angemaßten Weltbeherrscher, … überhaupt nicht bei denen, die unverletzbar, unerreichbar über den gemeinen Grausamkeiten der Sterblichkeit existieren, sondern in der Wüste der Hungrigen, an der Seite aller, die Höhenangst haben, in der Mitte derer, die nichts von dieser Erde besitzen, denen außer ihrer Seele nichts auf der Welt gehört.
Er ist ihr Klassenkamerad, … im schulischen wie im gesellschaftlichen Sinn: Nicht erhoben, nicht entrückt, nicht verschont. Er lernt zu leiden, wie sie; er ist bescheiden wie sie. Er ist das Kind Gottes, das auch die Erwachsenen alle durch alles begleiten will!
Und darum ist seine Passion, sein Leiden-Lern-Weg so allesentscheidend für die Menschheit, und darum müssen wir in der evangelischen Kirche leidenschaftlich Acht geben, dass diejenigen, die immer unangefochtener behaupten, die Kreuz- und Wundentheologie der Tradition und die Passionsfrömmigkeit seien überholt und überflüssig, nicht unwidersprochen bleiben.
Wenn es nämlich bald allgemein übernommen wird, dass Jesu Leiden ein Unfall, ein unbeabsichtigter politischer Justizskandal war und dass es also völlig unsinnig sei, mit Jesu eigenen Worten zu sagen, er habe leiden müssen (vgl. Mk8,31 u.ö.), dann ergibt sich ein furchtbarer Rückschluss: Wenn Jesu Leiden sinnlos war, ungewollt, ein Versehen, … dann ist die reine Sinnlosigkeit das letzte Wort auch über jedes andere Leiden in der Menschheit. … Es ist dann entweder reines Pech oder eigene Schuld, wenn es immer noch so grenzenlose Schmerzen und Schrecken auf Erden gibt. Es herrscht dann entweder blinder Zufall oder erbarmungsloser Individualismus, so dass manche, die es eben nicht besser wissen, können oder wollen, maßlos schlecht und andere aus eigenem Verdienst halt gut dran sind, oder aber es ist alles grundlos, …. aber auf keinen Fall können die Leiden der Menschen ein Ziel und Ende finden, das durch Jesu Weg bestimmt wäre. …….
Nun ist der christliche Glaube zwar bestimmt nicht die Überzeugung, dass alle Leiden dieser Zeit sinnvoll und gewollt seien, … aber das ist die christliche Gewissheit, dass Jesu Leiden sehr wohl dem göttlichen Willen entspricht und den Sinn hat, dass er leidgeprüft und endlos leidensbereit, jedem, der ihn sucht, erkennt und bittet, in allem Leiden vorangeht und damit den Weg zum Ziel, den Weg zum Leben, den Weg zu Freiheit und Segen in Gottes Gegenwart eröffnet.
Diesen Weg ist Jesus bewusst gegangen und geht ihn solange, bis auch der letzte Mensch durch das Portal gekommen ist und sich unterwegs nach einem umsieht, der ihm zur Seite bleibt und ihn in keiner Prüfung verlässt und auch auf der Angstbank da sein wird, auf der wir sonst so verlassen, so verloren wären. ———
Dass wir einen haben, der die schwerste Prüfung, die letzte Versuchung von Schuld und Tod aus freien Stücken auf sich nahm und der dieses Examen bestand – „Examen“ heißt im klassischen Latein „das Zünglein an der Waage“[iii] –, …dass wir einen haben, der sein bestandenes Leiden als Zünglein an unserer Waage einsetzt, der auch uns also durch seine Erfahrung und Prüfung die unsrigen bestehen lässt:
Das ist die Gnadengabe der Passion Jesu.
Es ist der Blick auf’s Letzte im Leben, der auch uns unbefangen machen kann
Wer Jesu Weg ans Kreuz also als bedeutungslosen Irrtum abtut, der verwirft die Gnade, die schon mit dem freundlich einladenden Kind über meiner Schultür über unser aller Leben steht.
Wer Jesus vom Kreuz trennt, der fegt die größte Hoffnung der Welt davon.
Denn der kann nicht sagen – was jedem im Vorhof der Angst so überlebensnotwendig ist, zu hören – „Lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zum Thron der Gnade“, … denn dieser Thron ist das Kreuz.
Es ist der Ort, an dem unser Bestehen hängt.
Es ist der Ort, an dem die Angstbank zum biblischen Gnadenstuhl wird, an dem wir die Gegenwart Gottes selber finden und Barmherzigkeit empfangen zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.
Das ist das Kreuz, … nur das Kreuz, auf das die sechs Wochen der Passionszeit uns leuchtend und klar hinweisen.
Weil wir denn einen so großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat – und die Hölle und den Tod –, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis!
Amen.
[i] Die Lesung aus 1.Mose 3, 1-19 und das altkirchliche Invokavit-Evangelium Matthäus 4, 1-11 sind von altersher das Proprium dieses Sonntags, der einen ganz besonderen existentiellen Ernst besitzt: Man vergleich dazu z.B. die zu Recht berühmten Invokavitpredigten, die Luther in der Fastenzeit 1522 in Wittenberg hielt, deren erste, vom 9.März 1522 mit den Worten beginnt: „Wir seindt allsampt zu dem tod gefodert / und wirt keyner für den andern sterben. Sonder ein yglicher in eygner person für sich mit dem tod kempffen. In die oren künden wir woll schreyen. Aber ein yeglicher muß für sich selber geschickt sein in d’zeyt des todts / ich würd denn nit bey dir sein / noch du bey mir. Hierjn so muß ein yederman selber die hauptstück so einen Christen belangen / wol wissen und gerüst sein“ (Martin Luther, Acht Sermon gepredigt zu Wittenberg in der Fasten [9.-16.März] 1522 – Dominica Invocauit Sermon., in: Luthers Werke [Bonner Ausgabe], Nachdr. Berlin 1962, VII. Bd, S. 363).
[ii] Dieses mächtige, von einem verschwenderischen „green“ umgebene Bauwerk, bekannt als „Salisbury House“, in dem die „Childwall Church of England Primary School“ untergebracht war, musste leider in den 90er Jahren des 20.Jahrhunderts einem funktionalen Neubau weichen.
[iii] Vgl. K.E. Georges‘ Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, 11.Aufl., Hannover 1962, Bd. I, Sp.2505.
5.Sonntag vor der Passionszeit, 03.02.2019, Stadtkirche, 1.Korinther 1, 4-9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.II.2019 - 5.So.vor der Passionszeit
1.Korinther 1, 4-9
Liebe Gemeinde!
Ein Richter hat mir in der vergangenen Woche die Grenzen meiner Erkenntnis gewiesen, als er ganz nüchtern, ganz kühl zu meiner Belehrung die – gerechtfertigte – Frage stellte, wie es komme, dass so viele Pfarrer und Pfarrerinnen zu wissen behaupten, was man nicht wissen kann: Wer ein Christ ist unter den Zahlreichen, bei denen die Fragen von Religionswechsel und Taufe und Kirchenzugehörigkeit schicksalhafte Bedeutung gewinnen, weil ein Gerichtsurteil es entweder gelten lässt oder in Zweifel zieht, dass Flüchtlinge tatsächlich aus Überzeugung konvertieren. Der Richter wunderte sich angesichts der Verborgenheit des Gegenstandes über die Hellsicht, mit der Seelsorger allzu häufig hinter Stirnen und in Herzen blicken wollen, um dann den christlichen Glauben eines Menschen unter Eid zu bestätigen. Er seinerseits war bemüht, mich darauf hinweisen, dass ich auf die Frage, ob jemand Christ sei, keinesfalls nur mit „Ja“ antworten müsse, sondern auch „Nein“ sagen könne oder „Ich weiß nicht“.
Recht hatte er.
Weder er noch ich können eine solche Frage beantworten: Ob jemand hier in dieser Kirche, ob einer hier auf dieser Kanzel Christ ist, lässt sich nicht wissen, ist nicht zu erkennen in gerichtsfestem Sinn. Wir können es für andere und uns selbst nur erbitten und hoffen. Aber beweisbar ist es nicht. … Es könnte noch beim Frömmsten, beim Überzeugendsten, beim Gerechtesten anders sein. Und beim Gleichgültigsten, Abweisendesten, Unmoralischsten auch. …….
Genau das aber ist für Christen nicht verwunderlich.
Im Gegenteil: Weil die Botschaft, von der wir leben, die Botschaft einer großen Wende ist – einer vergangenen und gegenwärtigen und auch noch ausstehenden Wendung aller Dinge –, darum können Christen sich über die rätselhafte, manchmal auch schillernd schöne Mehrdeutigkeit, die uns überall und bei allen begegnet, nicht wundern. Klare Schildchen mit dem eindeutigen botanischen Namen dran, lassen sich den Pflanzen in Gottes Garten einfach nicht zuordnen, weil alle Gattungsbegriffe fließen und alle Bäumchen sich wechseln, seit Christus für die Sünder gestorben ist, damit sie durch seinen Tod in ihrem Leben Gerechte würden und durch Seine Gerechtigkeit in ihrem Tod zum Leben durchdringen (vgl. Rö5,8).
Wenn wir demnach in Christi Nähe, im Kreis seiner Gemeinde einen Menschen kennen, … dann kennen wir ihn nicht: Weil Christen in der Umkehr leben und auf die Verwandlung der Welt zu. Ein Ungerechter wird unter dem Einfluss Christi ein Gerechtfertigter; ein Übeltäter wendet sich zum Guten; ein Kranker wird gesund; einem Sterbenden steht der Anfang bevor. Huren können Heilige und bestechliche Betrüger können Evangelisten werden, wie wir es eben im Evangelium des Zöllners Matthäus (21,32) hörten.
Was immer wir von einem Menschen zu wissen meinen, kann durch Christus daher in’s glatte Gegenteil umschlagen.
Die wirkliche christliche Menschenkunde und Weltkenntnis ist also eine tiefe Übung und hohe Kunst darin, nicht das zu sehen, was man sieht, sondern zu suchen, was dahinter verborgen und verheißen ist.
Und darum trauen wir im Licht des Evangeliums keiner Bestandaufnahme, die uns erklärt, wer einer ist und wie die Dinge nun einmal seien. Wir haben zu viel Hintergrund und glauben an zu viel Umkehr und Veränderung, um vor der Ewigkeit schon irgendetwas festlegen oder endgültig benennen zu können. … Schließlich hätte am ersten Passahtag des Jahres 33 auch niemand unter allen Beteiligten wetten mögen, dass ein gewöhnlicher Krimineller, der an jenem Freitag hingerichtet werden sollte, am Abend dieses Tages schon im Paradies sein würde, weil neben ihm der Versöhner starb. ———
Für unseren Vorbehalt also, dass alles anders sein und kommen könnte, wenn man nur weiter oder tiefer sieht, ist nicht zuletzt der Beginn des 1.Korintherbriefes ein sprechendes, wenn auch nicht unbedingt beruhigendes Beispiel.
Auf den ersten Blick sind es herzlich freundliche und erwartbare Worte, mit denen Christen einander grüßen und im Wesentlichen nahe sein können; überraschend wirken sie kaum.
Wenn man aber weiß, dass die Korinther tatsächlich jene Gemeinde sind, bei der die Grundsatzfrage meines juristischen Gegenübers aus dieser Woche wahrhaftig am angebrachtesten war, dann hört man durchaus mehr als briefliche Höflichkeit.
Unter den Getauften von Korinth herrschte Anarchie: Von Anfang an bildeten sich Parteien, die einander die wahre Erkenntnis absprachen und eine virtuose Anti-Moral ausprobierten, die darin bestand, die durch Christus geschenkte Freiheit in allen Spielarten menschlicher Rücksichtslosigkeit zu demonstrieren. Ob unter diesen experimentellen Formen, das Evangelium von der Rechtfertigung der Sünder anzuwenden, überhaupt etwas entstand, das den Namen des „Christlichen“ verdient, darf man tatsächlich fragen. …
… Paulus aber dankt für diesen Haufen radikaler Kräfte! Er dankt für ihre eigenwilligen und kontroversen Lebensentwürfe, bei denen auch haarsträubende Missverständnisse sich zeigten, wenn man z.B. sämtliche sexuellen und kulturellen Tabus über den Haufen warf oder sich auf jede spontane Weise Begeisterungen und Offenbarungen hingab.
… Waren das Christen, für die man die Hand in’s Feuer legen wollte?
… Paulus aber dankt für sie mit dem Zentralbegriff des entstehenden christlichen Gottesdienstes: „Eucharistō“, so beginnt er. … Heiliger, liturgischer Dank für die frivolen und pole-mischen Auswüchse im instabilen Leben der von ihm jüngst gegründeten Gemeinde?! …
Und in aller Doppeldeutigkeit, die darin steckt, haben wir es bei dieser feierlichen Beteuerung nicht nur mit dem apostolischen Sarkasmus zu tun, dessen Paulus extrem fähig war.
Hört man nämlich noch genauer hin, so gilt seine Dankbarkeit ja nicht rhetorisch den zänkischen Korinthern, sondern dem, was ihnen in Jesus Christus gegeben ist: Paulus’ Dankbarkeit gilt der Gnade Gottes und – in ihm, in Jesus Christus! – auch dem, was unter den Christen allzu schnell zu umstrittenen Schlagworten werden sollte …. dem Reichtum an Wort und an Erkenntnis, … an Logos und an Gnosis. Ein Begriff wie „Gnosis“ - Erkenntnis - sollte bedauerlich bald in der Kirchengeschichte Ketzereien und Häresien ihren Titel geben …, zwischenmenschlich wurde er zu einem der umstrittensten Reizworte. Vor Gott und in Gott aber war und bleibt er ein Dankwort, weil die Wahrheit Gottes eine andere ist, als ihre Beanspruchung und Verwendung unter den Menschen.
Mit dieser anderen, … dieser Gottes-Dimension vor Augen, in der oberflächliche Konflikte eine unerschütterliche Wahrheit doch nicht aufheben, nicht entkräften können, muss man dann aber die freundlichen Worte des Paulus weiterlesen, die zunächst wie ein Wohlwollen heischendes Stilmittel wirkten, in Wirklichkeit aber schon das Tragende unter allem wechselseitigen Angriff und Widerspruch bewiesen haben.
Auch die weiteren Botschaften des Apostels zielen auf einen viel tieferen Ernst als jene Pseudo-Probleme, denen Menschen und darum auch Christenmenschen sich mit Vorliebe widmen: Was in Luthers Übersetzung – irreführenderweise – als die Predigt von Christus begegnet, die den Christen Grundlage zum Warten auf die endgültige Offenbarung ihres Herrn bietet, das bringt in Wirklichkeit zwei ganz andere Worte und Wahrheiten ins Spiel:
Paulus spricht hier von der „Martyria“ – also dem Zeugnis für Christus –, aber auch vom Martyrium, also von der Bezeugung Christi durch das Leiden der Seinen. … Echtes Wort- und Blut- und Lebenszeugnis können tatsächlich die Konsequenz sein, wenn man ihn das Ziel der christlichen Erwartung nennen hört: Im Griechischen ist das die „Apokalypse“.
… Und in diesen beiden Worten, die Paulus am Anfang seiner Korrespondenz mit den zweifelhaften Glaubensgeschwistern von Korinth benutzt, packt uns wahrhaftig eine ganz andere, eine ungeahnte Möglichkeit des scheinbar harmlosen Glaubens, aus dem so viele – nicht nur damals – eine Meinungssache, eine subjektive Vorstellung machen, mit der man sich selber bequem identifizieren und andere noch bequemer nieder machen kann.
… Unter allen unseren leichten und seichten Ideen, was Christentum denn nun bedeuten könnte und wie wir es uns am ehesten anschmiegen und nützlich machen möchten, zeichnet sich nun aber plötzlich die harte Kante ab, die dem ganzen angepassten und angemaßten Christsein das schärfste und letzte Profil gibt: Martyrium und Apokalypse – also persönliches und geschichtliches Durchhalten, wenn es gar nicht mehr der Selbstbestätigung und der überlegenen eigenen Seelenruh dient, sich als Christ darzustellen.
… Sind wir dann aber Christen, … werden wir es sein, wenn es wirklich um Leidensbereitschaft und endgültige Entscheidungen und Scheidungen gehen sollte, … um Hingabe aller unserer Sicherheiten, ja um Auflösung der Welt, die wir kennen und als die unsre betrachten?
Werden wir Christen sein? ——
Was hat der Richter nur für eine tief, tief treffende Frage gestellt … auch wenn sich ihr Verdacht nicht in erster Linie gegen die Konvertiten und Neuchristen richtet, über deren Ernsthaftigkeit deutsche Gerichte neuerdings befinden müssen.
Werden wir Christen sein, wenn es nicht mehr einfach nur auf unsere jeweiligen Spielarten und Selbstbilder in Sachen Glaube und Gutdünken ankommt?
Werden wir uns als Christen herausstellen, wenn das nicht mehr nur eine Frage von längst zurückliegender Taufe und etwas befremdlicher, aber immerhin doch auch sinnvoller Kirchensteuer und angestammten Feiertagsgewohnheiten mehr ist, sondern wenn es tatsächlich um Gotteserkenntnis geht, die wir mit unserem ganzen Dasein besiegeln müssten?
Wenn es um Treue zu einer Botschaft von der ewigen Menschenliebe geht, die sich unter den zunehmend verschärften Bedingungen irdischer Unmenschlichkeit nicht mehr kostenlos befürworten lässt?
Werden wir Christen sein, wenn bald tatsächlich unausweichlich klar wird, dass die Jünger des Heilands der Armen die Sünden der reichen Welt nicht mehr teilen und decken und schönreden können, sondern Hungrige speisen und Verlassene schützen und die Anwälte der Rechtlosen und ihrer gerechten Forderungen sein müssen?
Werden wir also Christen sein, wenn wir einst gemessen werden an den Maßstäben der Lehre, des Lebens und Leidens Jesu?
Werden wir Christen sein, wenn das nicht mehr nur durch Behauptung, sondern – das krude Wortspiel sei mir verziehen – wenn es etwa durch Enthauptung zu klären wäre?
Werden wir Christen sein, wenn wir merken, dass der Glaube an Gott, den Vater Jesu Christi unser Leben nicht komfortabler, sondern angreifbarer, unbeliebter, anstrengender und schutzloser macht?
Werden wir Christen sein, wenn eines Tages das Zeichen unserer Glaubens aufhört, ein Symbol zu sein und wieder – wie am Anfang – eine Wirklichkeit wird, … das Kreuz?! ——
Ist es nicht rätselhaft, dass jeder von uns vor so einfachen und naheliegenden Fragen verstummen muss?!
Denn sie lassen sich nicht beantworten, … jedenfalls nicht theoretisch, ……. und doch sind sie gar nicht theoretisch gestellt. Es ist ja nicht nur die große – seltsam an weltweiter Realität gewinnende – Drohung von Martyrium und Apokalypse, die uns um eine klare Antwort bringt: Jede Krankheit, die uns oder die Unseren trifft, jedes Unglück, das im Nu geschehen kann, … und schließlich sogar der langweilige, zähe Zahn der Zeit, der alles zerreibt, … so viele Ereignisse und Entwicklungen im Leben können unsre Täuschung aufdecken … oder vielmehr die darunterliegende nackte Wahrheit, dass wir gar keine Christen sind, sondern nur glaubten, zu glauben, … nur hofften, zu hoffen, … nur geliebt hätten, geliebt zu sein.
Wenn’s aber drauf ankommt, ist oft von alledem nichts wirklich, sondern fraglich, zweifelhaft, im Nebel von Traurigkeit und Trübsal und Enttäuschung verschwunden.
… Und ob unsere Geschwister in Korinth, die ganz am Anfang so hyperaktiv und feuereifrig auf dem nagelneuen Spielplatz des Glaubens an Jesus Christus herumlärmten und ausprobierten, wie waghalsig man den Himmel stürmen und die Hölle herausfordern kann, wenn der Tod besiegt und die Sünde entmachtet ist, … ob unsere Vorläufer damals die Prüfung bestanden und sich in Anfechtung und Verfolgung, in Verlassenheit und Sterben so vollmundig bewiesen, wie ihre Selbsteinschätzung als Vollkommene es war, … das bleibt fraglich.
Unter den Märtyrern der Alten Kirche begegnen auffallend wenige aus dieser doch besonders hervorgehobenen und lebhaft selbstbewussten Gründung der ersten Generation.
… Vielleicht lernten die korinthischen Krakeeler ja irgendwann, dass ihr christlicher Glaube ein in Wirklichkeit auch ihnen verborgenes Geheimnis und keine spektakuläre Ansage mit der großen Glocke sein musste.
… Vielleicht fand es sich gar, dass sie doch nicht so christlich sein konnten, wie sie es von sich im Gegensatz zu allen anderen erklärt hatten. …….
Aber gerade dann, … dann wiegen die letzten Worte in der Briefeinleitung des Paulus am Schwersten: Denn auf das, was wir an uns feststellen können, kommt es nicht an.
Wir glauben ja nicht an unseren Glauben, … wir glauben nicht an uns!
Wir glauben an Gott.
Und von Dem sagt der Apostel nicht nur ausgerechnet den Korinthern, sondern auch jedem, der bei uns an sich, an seinem oder an eines anderen Glauben zweifelt:
„Gott wird euch fest machen bis ans Ende, dass ihr untadelig seid am Tage unseres Herrn Jesu Christi.“
Denn die Antwort auf die erschütternd offene Frage, ob jemand ein Christ sei, … ob ich selber ein Christ sein könne, … die Antwort auf die wichtigste und unlösbarste Frage unseres Lebens lautet weder „Ja“ noch „Nein“ noch „Ich weiß es nicht“, sondern:
„Gott ist treu, durch Den ihr berufen seid zur Gemeinschaft Seines Sohnes Jesus Christus, unseres Herrn“!
Darauf können wir uns verlassen.
Für jeden, nach dem man uns fragt.
Für jeden.
… Sogar uns selber!
Amen.
Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus, 27.01.2019, Stadtkirche, Klagelieder 3 i.A., Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 27.I.2019 – Gedenktag für die Opfer des Holocaust
Klagelieder 3 i.A.
Liebe Gemeinde!
Im Tun der biblischen Menschen gibt es eine seltsame Doppelung. Sie verhalten sich unter zwei scheinbar verschiedenen Gefühlsregungen ganz gleich: … Ob sie Schuld empfinden oder Schmerz – ob sie sich also als Täter oder als Opfer des Bösen erfahren –, ist ihre Reaktion erstaunlicherweise jeweils die selbe: Wer des Schrecklichen angeklagt oder durch Schreckliches getroffen ist, tut alles Schöne und Heile von sich. …….
Und der Sünder und der Trauernde erkennen einander an Sack und Asche.
Jakob zerreißt sein Kleid und legt das härene Tuch des Büßers um seine Lenden als man ihm den vermeintlichen Tod Josephs, seines Lieblings meldet (vgl. 1.Mose 37,34), und Esthers Oheim, der fromme Mardochai, zerreißt seine Kleider, legt den Sack an und streut Asche auf sein Haupt, als ihm der geheime Plan zur Vernichtung der Juden Persiens bekannt wird (vgl. Esth. 4,1) – nicht anders als Jahrhunderte zuvor Thamar, die Tochter König Davids, die eigenhändig ihr buntes Kleid zerriss und Asche auf ihr duftendes Haar warf, nachdem ihr Halb-Bruder sie vergewaltigt hatte (vgl.2.Samuel 13,19).
Diese Reaktion der Hinterbliebenen, der Opfer von Tücke und Gewalt gleicht nun aber genau dem Verhalten, das der heilige König Josia von Juda an den Tag legte, als er zum ersten Mal nach Jahrhunderten wieder das ganze Gesetz Gottes hörte, das man in einem Tempel-Archiv entdeckt hatte: Die beinah vergessene Urkunde vom Sinai fuhr dem frommen Herrscher so durch Mark und Bein, als er erfasste, dass Gottes Volk sich nach völlig anderen Maßstäben richtete, dass er bei der ersten Lesung der Torah sofort die Kleider zerriss (vgl. 2.Könige 22,11) – nicht anders als der König von Ninive, den die Gerichtsdrohung des fremden Propheten Jona so traf, dass er den Purpur ablegte, sich in einen Sack hüllte und in die Asche setzte, um seine Reue über das Unrecht seiner Zivilisation der brutalen Gier zu bezeugen (vgl. Jona 3,6).
Und so begegnen sich die Schuldigen und die Unschuldigen, Missetäter und Leidtragende in der Bibel in der Tracht Hiobs, der in seinem Unglück sein Gewand zerriss, das Haar schor, sich auf die Erde setzte und dort in der Asche die Schwären seines Leibes mit einer Scherbe schabte (vgl. Hiob 1,20 + 2,8). ———
……. Was aber ist nach Auschwitz?
Wer kann sich noch Asche auf’s Haupt streuen, seit das Zeichen der Schuld und Trauer seine Unschuld verloren hat?!
Wer kann sich zur Buße noch nackt auf die Erde setzen, seit sogar die Menschenhaut kein untätowiertes Blatt mehr ist, sondern das Medium der Entmenschung, der Träger jener Ziffern, mit denen die Würger die Würde ihrer Opfer durch Einbrennen auslöschten, als sie Person und Name durch Stückzahl und saubere Mordbuchführung am Objekt ersetzten?!
Wer könnte auch nur zum Zeichen der Trauer sein Kleid auftrennen, ohne an das Heer von Sternen zu denken, die auf jeden Rock und jedes Hemd und jeden Mantel genäht waren, um noch in der Finsternis der Hölle den Teufeln zu zeigen, dass sie sich an Kindern des Himmels vergriffen?! …….
Wer könnte überhaupt noch so biblisch davon reden, so altorientalisch, so abendländisch, in so entrücktem hohen Ton, ohne daran zu denken, dass Pathos und Schwulst – die Krankheit und der Krebs der Lüge am Leib der Sprache – das Tötungsgift zu erzeugen halfen, das in die Köpfe und Kommandos und die Geschichte unseres Volkes, unserer Familien drang und aus uns den weltweiten Inbegriff der schöngeistigen Bestie machte?! ——
Was aber können wir dann, wenn uns offenkundig nicht einmal die biblischen Ausdrucksmuster der Bestürzung über verlorene Leben und verwirkte Unschuld mehr bleiben? ——
Die ungeheure Solidarität, die sich in der grundsätzlich gemeinsamen Haltung von Trauernden und Büßenden zeigt, ist allerdings von unserer Seite auch nie ernsthaft gesucht worden:
Wo man die schreienden Menschheitsverbrechen der Nazi-Zeit überhaupt betrachtete, trat eine doppelte Möglichkeit der Reaktion gar nicht in den Blick.
Vielmehr gab es ein striktes und tatsächlich auch unvermeidliches Entweder-Oder, das die Zeitzeugen, die als Überlebende einst zum Volk der Verbrecher oder zu Angehörigen der Verfolgten zählten, schied in solche, die die nie-dagewesene Scham und Schande des Holocaust und solche, die seinen Schmerz und namenloses Leid davontrugen.
Wer zu der einen Gruppe gehörte, konnte die Perspektive der anderen nicht einnehmen: Wer in den Kreis gehörte, aus dem der Massenmord an den Juden, den Polen, den Sinti und Roma, den Oppositionellen, den Homosexuellen, den Kranken und Behinderten hervorgegangen war, wer feige oder billigend oder tatkräftig mitwirkend diesen Bruch mit allem Recht und aller Kultur seinen Lauf hatte nehmen lassen, dem war es – wahrhaftig – verwehrt, mit etwas anderem als bodenloser Reue zu reagieren, wenn er begriff, dass unter einem Urteil der Geschichte steht, wer immer solches miterlebt hat. ……. Das Urteil – nicht moralisch, nicht persönlich, schlicht historisch – „Und du warst auch einer, dessen Lebens-jahre teilhatten an der Herrschaft des Todes.“ ——
Die Bitterkeit dieser Tatsache, dass die Herrschaft des Todes Daten unserer Geschichte bezeichnet, hat auch aus Unbeteiligten – Unschuldigen und Nachgeborenen – eine Gemeinschaft des Schuldgefühls gemacht, … eines Schuldgefühls, das sie tragen mussten, weil die weitaus meisten wirklich Schuldigen dazu nicht bereit waren, … so verbogen, so verdorben hat die Schuld sie. ——
Doch in dieser Erinnerungsgemeinschaft des Schuldgefühls und der Selbstanklage, in der wir stehen und in die wir gehören, … in dieser Erinnerungsgemeinschaft eines ständigen kritischen Verdachts und Urteils im Blick auf die eigene Rolle und Geschichte und Veranlagung, konnte sich bei so viel – noch einmal: nötiger! – Selbstbezogenheit die andere Seite der Sack-und-Asche-Theologie der Bibel eben nicht einstellen.
Die bittere Bußbereitschaft, zu der wir erzogen wurden und die die Kirche in Deutschland – viel zu spät – nun überwiegend prägt, hat eine Ausschließlichkeit angenommen, die das andere Motiv des biblisch überlieferten Schmerz-Rituals verdrängte: Die tiefe, tiefe Bestürzung und ein einfach abgrundtiefe Weh der Trauer sind uns sonderbar fremd geblieben.
Wo immer die Erinnerung an den unglaublichen, in unserm Land, von unsren Vorgängern geplanten und begrüßten und vollzogenen Massenmord nicht verleugnet wurde, führte sie zu einer moralischen Reaktion, … einer verzweifelten oder grimmig lehrhaften Anwendung; so als sei das Schlimmste und Ungeheuerlichste an den Sünden unsrer Nazi-Vergangenheit, wie sie uns und unsern Stolz, unsre Unschuld, unser Selbstverständnis trübten und zerbrachen; so als müssten wir alle Bosheit und Verbrechen künftig strikt durch Gutes und Vorbildlichkeit ausgleichen. …….
Aber in Auschwitz ist nicht das deutsche Volk das Opfer geworden und die Erinnerung an Auschwitz soll nicht der Versöhnung der Welt der Mörder mit sich selbst dienen … und sei’s in dem heiligen Schwur: „Nie wieder! Wir haben es verstanden! Wir haben uns geändert!“.
In Auschwitz und Treblinka und Majdanek und Sobibor und Mauthausen und Bergen-Belsen und Buchenwald und Sachsenhausen und Ravensbrück und Dachau und an unzähligen anderen Stätten des Greuels sind zuerst und zuletzt Gottes Kinder – Seine teuren erzauserwählten und geliebten Abrahams-Nachkommen, … die glühend frommen Kinder Mariens, der Königin von Polen, … Seine fahrenden Kinder der Landstraße, … die Gott entlaufenen und in Widerstand und Tod Ihm heimlich dann doch so treuen Kommunisten, … die schwachen, hilfsbedürftigen „Krüppel und Blöden“, wie man damals noch sagte, denen Jesus am liebsten und stärksten die Hände auflegte – ……. Gottes Kinder sind dort zur Schlachtbank geführt worden und aus den Gaskammern in die Öfen voller Menschenleiber und aus den rauchenden Schloten und dem kalten Kehricht als Asche auf die Felder, Asche in den Wind, Asche in alle Welt gekommen.
… Man hat Gott da um das Seine gebracht, … man hat Gottes Liebe ins Leere geschickt mit den Tausenden, Tausenden, Tausenden pulverisierten, zerstreuten Leichen. ——
Und wem das nicht zuerst und zuletzt das Herz bricht, der kann sich damit noch so viel befassen, der kann noch so ernsthaft eine politische oder weltanschauliche Lehre daraus ziehen …, – der allerletzten Ernst, um dessentwillen das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus tatsächlich in die Kirche und den Gottesdienst gehört, wird nicht dadurch klar, dass man die Vergangenheit als Warnung und Imperativ für die Zukunft begreift.
Dieser Vergangenheit müssen wir nämlich schlicht um ihrer selbst willen gedenken! … Nicht nur, was man nun nach dem krassesten Frevel menschlicher Geschichte machen und was aus Christenheit und Abendland und Menschenrecht werden soll nach einem Morden, das in letzter Konsequenz der Menschheit und Europas und der Kirche Selbstmord bedeutete, … nicht nur die Suche nach einer Lehre aus alledem betrifft und bewegt seither die Gemeinde Gottes, sondern ganz abgesehen davon, ganz abgesehen von uns also geht es um die von unsrer Seite nie auflösbare, nie abschließbare Qual der Erinnerung an jedes einzelne Opfer, an jedes einzelne von Gottes misshandelten und vernichteten Kinder, um ihre Leiden und ihren Tod!
… Um diese völlige Leere, diesen tödlichen Verlust, diesen Riss, diesen Bruch, diese klaffend unheilbare Wunde, um diese Abwesenheit jeglichen Sinns geht es. …….
Auschwitz und der Holocaust dürfen also nicht in jene technische Perspektive des „Wozu?“ – „Wozu kann uns das bringen? Wozu kann das die Menschheit motivieren?“ – gerückt werden … denn auch das ist noch eine Verzweckung, eine Verdinglichung, ein Nutzen des Abgrunds.
Darum aber finden wir uns heute statt bei der seit Jahrzehnten erhobenen und erwogenen Frage nach unserer Schuld und Buße bei einem Klagen ohne Fragen, bei einem Schmerz um andere, der nicht behoben, nicht vergessen werden kann.
Aus den büßenden Tätern müssen solche werden, die die sprichwörtliche Unfähigkeit zu trauern[i] hinter sich lassen und sich stumm oder mit Tränen niedersetzen in die Asche, wo aus ganz anderen Gründen und doch an keinem anderen Ort die Betrübten, die Be-raubten, die Verfolgten sitzen.
… Nicht, weil Christen und Deutsche damit die Verantwortung umgehen oder abweisen könnten.
Das wird bis zu jenem Tag, an dem die Toten auferstehen und das Gericht gehalten wird, niemals möglich sein. Immer werden die Seiten unserer Geschichte im aufgeklärten, modernen, technischen 20.Jahrhundert ja den weltweit lesbaren Eintrag enthalten: „Hier herrschte im Leben des deutschen Volkes und im Glauben der christlichen Kirche unverhüllt der Tod“.
Doch die Bibel kennt nun einmal nicht von ungefähr den atemberaubenden Gleichklang, die unverdiente und ungerechtfertigte und letztlich unvorstellbare Gemeinsamkeit im Verhalten der Schuldigen und der Traurigen.
Die Bibel kennt sie ……. —
Wenn wir also – obwohl das bis vor Kurzem im Täter-Opfer-Verhältnis undenkbar war – tatsächlich erfahren, dass es äußerlich keine Unterscheidung zwischen dem geben mag, was Buße und was Trauer ist, und wenn wir folglich in unsrem Holocaust-Gedenken zwischen Klägern und Angeklagten ein gemeinsames Grundgefühl der Klage, einen Austausch geteilten Schmerzes gewahren und gewähren sollten, dann sprechen Sack und Asche doch wirklich auch zu uns noch einmal neu und anders:
Ihre doppelte Verwendung als Ausdruck der gegensätzlichen Grundgefühle nach Auschwitz weist darauf, dass die Radikalität von Schuld dort, wo sie radikale Trauer wird, nicht jene endgültige Unterscheidung und Trennung der Sünder von Gott bedeutet, die wir eigentlich wahrhaftig fürchten müssten.
… Wo radikales Schuldbekenntnis zu radikalem Mitleiden führt, da führt es uns von Gott nicht fort, sondern vielmehr hinein in das Leiden, in die Schmerzen, in die Schuld-last, die Er selber trägt. ……. ——
Wie unheilbar die Wunde, wie unüberbrückbar der Abgrund, die wir Auschwitz nennen, darum auch bleiben: Die biblische Botschaft bleibt auch … die Botschaft, dass Verbrecher wie Zerbrochene, dass Sünder wie Unschuldige eines gemeinsam unendlich nötig haben – – – – – Gott! … Gott, bei dem Buße und Leid zum selben Ziel führen, … zu jenem Herzen, das durch Menschen gebrochen wird und das durch diesen Gottes-schmerz – und durch nichts anderes! – uns Menschen doch heilt. ———
Und so ist das große Klagelied Israels, an dem wir schuldig sind und mit dem wir dennoch trauern, hoffen und glauben sollen … das große Klagelied Israels, das Lied seiner Buße und Trauer ist schon immer auch ein Lied des Trostes gewesen … und bleibt es immer für alle, deren Herz in Sack und Asche geht:
„Der HERR hat mich geführt und gehen lassen in die Finsternis und nicht ins Licht …;
Er läßt mich den Weg verfehlen;
… Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben; ich habe das Gute vergessen“,
heißt es da. Und im gleichen Schrei der Reue und des Schmerzes:
„Die Güte des HERRN ist’s, daß wir nicht gar aus sind,
Seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu
und Deine Treue ist groß.
Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele,
darum will ich auf Ihn hoffen“
(Klagelieder 3 i.A.).
Amen.
[i] Vgl. das 1967 veröffentlichte Buch von Margarete und Alexander Mitscherlich: „Die Unfähigkeit zu trauern“ und die damit seit den 60er-Jahren verbundene Diskussion über Verdrängung und Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit.
2.n.Epiphanias, 20.01.2019, Stadtkirche, Römer 12, 9 - 16, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.n.Epiphan. – 20.I.2019
Römer 12,9-16
Liebe Gemeinde!
Das Frustrierende an Gott ist das Göttliche: Dass Er Sich einfach nicht angucken, dass Er Sich nicht benutzen lässt. Weder zeigt Er sich, um Mose und dem traumatisierten Volk, das ihm durch die Wüste folgt, schnelle, eindeutige Klarheit zu geben: Stattdessen offenbart Gott am Sinai nur Seinen herrlichen Namen – der allerdings seither Millionen Menschen Trost und Schild und Segen war – …, aber dennoch bleibt’s dabei: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der Mich sieht“ (2.Mose33,20).
Noch lässt Gott Sich einfach vorführen, als Maria nach ihrem dreißigjährigen Schweigen und heimlichen Sinnen endlich einmal sehen lassen will, wer Jesus wirklich ist: Bei seinem ersten Zeichen auf der Hochzeit zu Kana ist für die Trinker zwar der unvermutet gute Wein eine Offenbarung … aber welche unglaubliche Wahrheit in diesem neuen Wein erschienen ist, das bleibt den Leuten - bis auf die Jünger - trotz des Wunders verborgen (vgl. Joh2,1-11)[i].
Gott lässt Sich nicht einfach zur Schau stellen, Er lässt Sich nicht benutzen.
Gottes Geheimnis, Seine göttliche Unbegreiflichkeit fließt nicht einfach, strahlt nicht einfach aus in Formen, Bildern, Tatsachen, die wir mühelos verstehen, sehen, fassen könnten.
… Das noch viel Frustrierende aber ist: Es gibt Gottes-Zeichen und Gottes-Formen und Gottes-Bilder, die jedermann erkennen, fühlen und teilen kann. Gott kann gesehen und erfahren werden. … Will es auch. … Aber nicht in Seiner Göttlichkeit.
Und da kommen wir ins Spiel.
Weil wir alle sterben müssten, wenn wir Gott unverhüllt sähen – ein Licht, heller als alle Sonnen, … eine Lebendigkeit, unbändiger als alle Energie im Kosmos, … eine Wahrheit, durchdringender als jeder Röntgenstrahl – … weil wir alle sterben müssten, wenn Gott uns direkt träfe, darum gibt es einen Mittler, der Mensch von unserer Art wurde und Jesus heißt, und es gibt zahllose weitere mittelbare Wege und Weisen, durch die Gott sich unter uns einstellen und erfassen lassen will.
… Auf allen diesen Wegen und in allen diesen Weisen sind allerdings wir gefragt.
Wir sind gefragt mit Haut und Haar, gefragt mit Herz und Hand: „Leihst Du sie Ihm? Stellst Du sie zur Verfügung? Trägst Du zum Ausstrahlen Gottes bei, beteiligst Du Dich an Seiner Gestalwerdung und Gestaltung in dieser Welt? Lässt Du Dich in ein solches Botenamt rufen, in solchen Dienst eines Repräsentanten jenes Gottes, dem Du gehörst? Räumst Du durch Dein Leben Gott einen Weg zu anderen frei, hältst Du Ihm mit Deinem Tun und Wesen den Platz offen, den Er füllen will?“ ——
Das sind die wichtigsten Fragen nach Weihnachten:
Ob es nämlich nun, nach Christi Geburt dabei bleiben soll, dass Gott unter den Menschen auf menschliche Art gesucht und gefunden wird, oder ob nach der Fleischwerdung Jesu in Maria alle anderen Menschen ungerührt weiter bloß als zweibeinige Säugetiere existieren und sich niemand mehr bereit erklärt, Gott in Bauch und Gebein, auf Arme und Schultern zu laden und Ihn durch Dick und Dünn zu tragen?
Wenn niemand außer Maria, die das in einzigartiger und einmaliger Konsequenz getan hat … wenn niemand außer Maria Gott Herzblut und Leibeskräfte überlässt, dann kehrt tatsächlich die ganze Unsichtbarkeit, Unnahbarkeit, Unbegreiflichkeit Gottes zurück, die gerade die Heiden und die Philosophen, die abstrakten Gottsucher und Gottdenker bis in unsere Tage hinein so tief irritiert. Unvorstellbar verborgen bleibt Er dann … das unsichtbare Geheimnis einer Sehnsucht, … einer Theorie, … eines Selbstbetruges.
Und so wäre das eigentlich Frustrierende an Gott in der nachweihnachtlichen, in der christlichen Wirklichkeit, in der wir leben, also doch nicht Seine Göttlichkeit, sondern die Menschlichkeit, … die Menschheit, die Er gewählt und angenommen hat und die Ihn den-noch hartnäckig nicht aufnimmt, nicht annimmt, nicht ausstrahlt. ——
Das ist der Grund, weshalb es im Neuen Testament und in der Kirche, in den Gottesdiensten und im Leben der christlichen Gemeinde einen ganz wichtigen Aspekt gibt, der uns Heutigen allerdings höchst suspekt geworden ist: Die christliche Ethik.
… Wenn die dran ist, wird erst einmal gestöhnt! Wenn es um das geht, was zu tun richtig und notwendig und geboten ist, dann rollen viele von uns mit den Augen … und sei’s nur innerlich: Schließlich sind wir erwachsen, … mündig, … selbstbestimmt. Benimmregeln und Verhaltensvorschriften lehnen die Meisten von uns aus liberaler, emanzipatorischer Überzeugung ab. … Und für das, was christliche Normen sind, gibt es einen beinah verächtlichen Ausdruck, der die ganze Misere der Einschüchterung und Aufpasserei und Unterdrückung zusammenfasst, die wir mit dem vergangenen Herrschafts- und Kulturanspruch der Kirche verbinden: Das alles läuft unter „Moral“ … und die ist vorsintflutlich altbacken und sauer.
An ihre Stelle ist die bunte Breite der Wahlmöglichkeiten getreten, die jeder Einzelne hat und aus denen jeder nach jeweiligem Geschmack ein eigenes, ganz persönliches Rezept braut. ….... ———
Und dennoch: Obwohl einer der Gründe für die neue Perikopenordnung unserer Kirche die aus vielen Ecken gemeldete Ermüdung der Gemeinden angesichts der neutestamentlichen Episteln war, über die zu oft gepredigt werden sollte – eine Epistel-Ermüdung, die oft genug einfach Moral-Müdigkeit und Dogmatik-Überdruss bezeugt –, ist uns heute, kurz nach Epiphanias das erste große Ethik-Kapitel des Römerbriefes aufgeschlagen, aus dem auch schon vergangene Woche die Epistellesung stammte.
… Und wer Augen hat und Ohren, merkt, dass wir hier in eine andere Welt und Wirklichkeit gerufen werden, als die lässige „Kann-ja-jeder-selbst-entscheiden“-Stimmung, die sich bei uns festgesetzt hat.
In diesem kurzen, beinah stakkatomäßigen Abschnitt voller Aufforderungen regiert eine Verbalform, die man sich eigentlich als freies Kind der Moderne nicht bieten lassen kann. Es herrscht der Imperativ. … Mehr als zwanzigmal begegnet er uns in den Übersetzungen dieser Perlenschnur von kurzen Anweisungen. Und so zielsicher wie die klaren Maximen aus der Kanone geschossen kommen – „Hasset! Liebet! Kommt einander zuvor! Brennt! Dient! Freut euch! Weint! Trachtet!“ –, so anstößig ist das gerade für heutige Ohren, die ganz andere Sprechweisen und Kommunikationsmittel gewohnt sind.
Seit den sechziger Jahren ist in der Gesellschaft ein anderer Ton immer üblicher geworden, und in der Kirche und auf der Kanzel ist die Formel meistenteils unumstritten, die Ernst Lange, der einst neue Wege der Verkündigung und Gemeindearbeit eröffnete, damals prägte:
„Predigen heißt: Ich rede mit dem Hörer über sein Leben. Ich rede mit ihm über seine Erfah-rungen und Anschauungen, seine Hoffnungen und Enttäuschungen, seine Erfolge und sein Versagen, seine Aufgaben und sein Schicksal.“[ii]
… Solches Reden über des Hörers Leben hat die vielen „Kennen-Sie-das-auch?“-Predigten hervorgerufen, die ihre Lebensnähe demonstrieren, indem sie an der Kasse des Bio-Supermarktes, in der Umkleidekabine des Fun-Schwimmbades und vor der Latte-macchiato-Maschine im Büro beginnen … und oft genug auch enden. …….
Doch wer sich von mir über sein Leben daherreden ließe oder wer – fairnesshalber und zur Abwechslung – mal über mein Leben reden wollte, der könnte noch so viele banale oder sehr ernste Situationen beschreiben: In dieses anscheinend selbstverständliche und für uns doch so unerhörte Trommelfeuer aus lauter Imperativen führt trotzdem kein alltäglicher Weg.
Um sich – so wie alle, die heute hier sind – … um sich einem so unzeitgemäßen Prasseln von Apellen auszusetzen, muss schon etwas anderes der Auslöser sein, als unsere gewohnte Welt. Eine andere, eine neue Welt muss das sein, die es trotz unseres selbstbewussten Widerstandes gegen jede Bevormundung wagt, uns zu lauter Verwandlung und Umdenken, zu lauter Ungewohntem und Ungewöhnlichem zu fordern, … zu reiner Liebe, zu folgenreicher Moral, zu mutiger Menschlichkeit und opferwilligem Mitgefühl, zu bescheidenem Lebenswandel und radikal sorgloser Begeisterung.
Was aber diese Forderungen, diese lebhaften Aufrufe zum Neuen, Guten, Furchtlosen auslöst und woher in der christlichen Ethik, in der Moral der Getauften der Elan, ja die Autorität stammt – und ganz bestimmt wird hier autoritärer, gebieterischer, klarer geredet, als wir es irgendwo sonst akzeptieren könnten! – … woher also die apostolische Pädagogik und Menschenführung ihren überragenden und doch praktischen Anspruch nimmt, das ist entwaffnend: … Weihnachten! Fleischwerdung! Einmenschung Gottes! Seine bedingungslose Annäherung an uns und darum unsere Nachfolge auf Seinem Weg.
Die gesamte christliche Ethik lässt sich nämlich auf diesen einen Nenner bringen: Was Gott im Wunder der Menschwerdung Jesu Christi getan und vollbracht hat, das verlangt danach, dass wir es – in aller Unvollkommenheit – ebenso üben und nachvollziehen, dass wir es wiederholen und fortsetzen, weil es ein Menschenweg ist!
… Nicht also, damit wir dadurch die Erlösung des Menschengeschechtes bewirkten, die längst bewirkt ist, … sondern weil das Menschsein Christi die echte Menschlichkeit der Erlösten bewirkt.
Und weil so jeder Zug unseres Lebens sichtbare, ausstrahlungsstarke Züge Gottes an den Tag legen kann. ——
Wenn wir also die ethischen Mahnungen des Paulus an die Römer nachbuchstabieren, um sie in unser Verhalten einzubeziehen, in unsere eigene Art und unser Wesen einzubetten, dann befehlen und befähigen sie uns, das nachzuleben, was in der Geburt Jesu begonnen hat:
- Liebe, die keinen Vorbehalt kennt, sondern sich unbedingt einlässt auf alles, was in der Welt nötig ist, was gebraucht wird. Diese Liebe war es, die Gott zum Kind macht.
- Und der brennende Eifer, die rückhaltlose Hingabe an aktive Verwirklichung des Rechtes und der Gemeinschaft: Die sind es, die uns aus den Berichten des Evangeliums entgegenschlagen, wo ein ruheloser Menschenfreund, ein Gerechter und ein Helfer uns inmitten der Menge begegnet, der sein Tun aus den Quellen der Freude, der Geduld und des Gebetes speist.
- Dann das Gespür für die Not und die Nähe zu den Hungrigen, … die selbstverständliche Tischgemeinschaft mit jedem Bedürftigen, … das Teilen, das keine Einschränkung kennt: Das sind die vielen Heilungen und Mahlgemeinschaften, der offene Versöhnungswille und die Sünder-Liebe Jesu, wie sie seine Wirksamkeit in Galiläa, Samarien und Judäa erfüllten, die uns hier zu Vorbildern gleicher diakonischer und moralischer Solidarität gemacht werden.
- Und das vergebende Segnen noch unter Schmerzen, die leibhaftige Erfahrung des Teilnehmens wie an der Fröhlichkeit so auch am bittersten Leiden der Menschen – alles, was die Passionsberichte durchzieht – …: Auch das ist Wegweiser und Maßstab für uns, nicht zurück zu weichen, uns nicht zurückzuziehen, wo Liebe und Not Konsequenzen haben müssen.
- Zum Schluss aber der gemeinsame Sinn, der geteilte, Allen gegebene Geist, der trotz der Himmelfahrt nicht in’s Überlegene strebt, sondern die Sorgen und Niederungen des Daseins auf Erden treu weiter und weiter mitträgt und verwandelt: Noch dieser letzte Passus spricht von einem Auftrag, den – wie der erhöhte Herr – auch wir auf als seine Gemeinde auf Erden ausfüllen können. ——
Zug für Zug führen also die moralischen Maßstäbe des christlichen Lebens in den Generation für Generation, Tag für Tag, Tat für Tat sich praktisch bietenden Nachvollzug des Lebens Jesu wie es uns zwischen Weihnachten und Pfingsten überliefert wird.
Und diese christusbezogene, christologische Grundlage unserer Ethik ist ihre eigentümliche Autorität: Hier werden eben nicht Prinzipien oder Normen eingeklagt; hier wird niemand eingeschüchtert, er müsse eine Theorie, eine Ideologie umsetzen, die der Spekulation oder der Rhetorik irgendwelcher Moralapostel entstammt. … Hier sind nur die Apostel Jesu Christi schlicht und einfach und gewiss davon überzeugt, dass was er konkret vorgelebt hat, auch konkret nachgelebt werden kann, dass sein tatsächliches Menschsein auch unser Menschsein formen und heiligen und gut machen kann, dass seine Person und Geschichte auch in uns persönliche und geschichtliche Wirklichkeit werden wollen.
Und in dieser Autorität der Tatsache Jesu Christi, in dieser Wirklichkeit, die nicht von uns geschaffen werden soll, sondern für uns in Ihm schon wahr geworden ist, in dieser Ethik, die uns nicht drillt und drangsaliert, sondern im Gegenteil zum Höchsten und Herrlichsten – einem erfüllt erlösten Leben mit Christus – befreit …, da steckt die Einzigartigkeit der vielen scheinbaren Befehle des Paulus, gegen die der unbändige Stolz des Menschen so gern rebellieren würde.
Tatsächlich nämlich verwendet Paulus gar keine Befehlsform in seiner Ethik – und auch nicht die anderen sprachlichen Varianten der Willensdurchsetzung, den Jussiv oder den Optativ:
Vielmehr ist alles das, was bei uns im Deutschen wie ein engmaschiges Gitter von Ausrufezeichen wirkt, im Griechischen des Paulus eine einzige fließende, atmende Beschreibung dessen, was Menschen sind, die von Christus her, … die hinter Ihm her und also zu Ihm hin existieren: Lauter Partizipien, lauter Teilnahmsbezeichnungen begegnen hier, die unser Leben in das Muster, in die Choreographie und das lebendige Bild Christi einzeichnen und uns zeigen, wie Er ist … die uns Ihn zeigen, wie Er ist und die uns dabei zeigen, wie Er zu sein. ——
Gott ist also wahrhaftig nicht frustrierend fern oder enttäuschend ungreifbar:
Wer Ihn liebt, kann Ihn plastischer und praktischer, direkter und unmittelbarer erleben und begreiflich machen, als man sich träumen ließe.
Gott kann gesehen und gefühlt, erfahren und bezeugt werden, wenn wir am Weg und Wesen Christi partizipieren, wenn wir also das weihnachtliche und das Passions-Leben, das österliche und das Leben im Geist üben, das Er aufgetan hat, um uns Ihm folgen zu lassen. ——
Liebe Gemeinde: Ethik … kennen Sie das auch?
Wenn wir Christus kennen: Ja!
Amen.
[i] Die gottesdienstlichen Lesungen am 2.Sonntag nach Epiphanias sind 2.Mose 33,18-23 und Johannes 2, 1-11. Das damit gegebene Thema umkreist tatsächlich die (sinnliche?!) Erkennbarkeit Gottes in der irdischen Wirklichkeit.
[ii] Ernst Lange, Zur Aufgabe christlicher Rede, in: R.Scholz (Hrsg.), Ernst Lange. Predigen als Beruf - Aufsätze, Stuttgart 1976. S.58.
1.n.Epiphanias (Taufe Christi), 13.01.2019, Stadtkirche, Josua 3,5-11.17, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.n.Ep. - 13.I.2019
Josua 3, 5-11.17
Liebe Gemeinde!
Wenn das Kindlein endlich frische Windeln hat und nicht mehr die strohjuckigen, die die Hirten und die Weisen alle andächtig anfassen wollten, und wenn seine Nase geputzt ist, weil es sich ja einen ersten Schnupfen holen musste bei der Rührung der vielen schmuddeligen und prächtigen Fremden, die es ungefragt küssten, und wenn dann noch „Maria lactans“ – wie die Kunstgeschichte sie nennt – seinen großen kleinen Lebenshunger für den Augenblick stillen konnte und es also nachweihnachtlich rundherum friedlich wird, … dann ist jedenfalls kaum die Zeit für fromme Feldzüge oder biblische Eroberungsreisen, sondern endlich mal für’s Verschnaufen im Glaubensbetrieb.
Es reicht doch wohl, dass das Jahr schon wieder munter und katastrophal weitereilt und Kriege und Mauerträume und Schneeheimsuchungen und Demokratiekrisen uns daran erinnern, dass die Welt nicht heil ist, auch wenn wir gerade das neugeborene Heil dieser Welt gefeiert haben. …….
Warum sollten wir uns dann aber – nach unserer revidierten Perikopenordnung – mit der mühsamen Ur- und Frühgeschichte des feierlichen Übergangs der wandernden Israeliten über den Jordan beschäftigen?
Dieses Stadium zwischen der Wüstenwanderung – die immerhin ja für Aufbruch und Freiheit steht – und der bescheidenen Zeit der Sesshaftwerdung, in der die Richter Israels Macht allenfalls zur Selbstverteidigung nutzten, passt schlecht in das friedlich-harmlose Bild, das wir Christen gern von der Botschaft der Bibel entwerfen wollen.
Am Ufer des Jordan, wo die lange heimatlosen Wanderer sich anschicken, hinter dem beweglichen Zentralheiligtum ihres Bundes – der Lade mit den Gesetzestafeln – die Grenze zum Milch-und-Honig-Land zu überqueren, liegt ein Knotenpunkt, ja ein Knäuel von mehr als dreieinhalbtausend Jahren Weltgeschichte. … Wäre der Weg der Wüstenwanderer an dieser Stelle nicht weiter gegangen, wären sie auf den Höhen des Jordangraben abgebogen oder umgekehrt, so wäre die Welt, wie wir sie kennen, eine ganz andere:
Ohne die Einwanderung der zwölf Stämme der Jakobskinder, ohne ihre Landnahme in Kanaan gäbe es die drei Weltreligionen, die den einen Gott bekennen jedenfalls nicht. … Wenn der Befreier, der durch Mose das Leid der Sklaven in Ägypten beendete, nicht auch der Wegbahner und Worthalter, wenn Er nicht auch der Heimatgeber und Verheißungserfüller geworden wäre, Der tatsächlich für Seine Bundesgenossen ein neues Leben in einem Land für ihre Zukunft, in einem Reich für ihre Kinder und einer Stadt voller Friedenshoffnung stiftete, … wenn Gott auf den Auszug also nicht auch einen Einzug hätte folgen lassen, wäre kein David und kein Davidssohn aufgekommen, … kein Prophet und kein Gericht und keine Vergebung, keine Verbannung aus dem Heiligen Land und keine Hoffnung auf endgültige Wiederkehr, dann aber auch keine Messiaserwartung und keine Reich-Gottes-Sehnsucht und damit auch kein Menschheitsgedanke, keine Weltmission, kein Israel, keine Kirche, die das überall hintragen, keine heilige Schrift und keine Gottsuche in allen Ländern, keine Völkerfamilie in der Taufe, und auch den längst nicht mehr bloß religiösen Fortschrittstrieb gäbe es nicht, … es gäbe nirgends ein universales Ziel der Verantwortung, gäbe keine Heils-Dynamik unseres Daseins, … gäbe keine Aussicht, dass die Erde allen Lebendigen eine Heimstatt und Recht bieten soll und der Himmel einst wirklich das Kanaan sein wird, in dem wir ewig bleiben dürfen.
Ohne die Überquerung dieses Flusses damals, ohne diesen Schritt hinein in Gefahr und Flut und Unsicherheit, wäre unermesslich viel Gutes nicht gekommen.
……. Aber natürlich auch nicht das viele Schreckliche, dessentwegen wir die Jordanfurt, durch die sie zogen, als Einbruch größter Probleme in die Wirklichkeit erfahren:
Wäre Israel nomadisch geblieben, hätte es immer wieder andere, aber eben wechselnde Kämpfe um Weiden und Wasser und Bleiberechte geführt und der Menschheit wäre es erspart geblieben, bis heute zu fragen, ob es nun einen Platz für Gottes Erwählte gibt, oder ob die alten Mächte ältere Rechte, ob ursprüngliches Bewohntsein und Gewohntsein stärkere An-sprüche darstellen als der biblische Aufbruch Gottes.
Ohne den Einzug der Landlosen in das Land, in dem Kanaaniter, Hetiter, Hiwiter, Perisiter, Girgaschiter, Amoriter und Jebusiter siedelten, wäre aber nicht nur das Ringen der folgenden drei Jahrtausende um diesen schmalen Streifen zwischen Mittelmeer und Jordan unterblieben, sondern zahllose andere Konflikte, bei denen die Nobodies die Etablierten, bei denen die Verzweifelten die Unbeteiligten, die Abenteurer die Eingerosteten, die Vagabunden die Unbeweglichen, die Pioniere die Verschanzten, die Fremden die Einheimischen aufstörten, hätten kein derart erhabenes und leuchtendes Vorbild gefunden, und andere Eroberungen – die Kreuzzüge und Neuland- und Kolonisierung- und Unterwerfungsphantasien gerade der christlichen Welt, aber auch die gewaltsame Verbreitung der islamischen Gemeinschaft in alle vier Himmelsrichtungen – hätten in keinem heilsgeschichtlichen Muster ihre Berechtigung gefunden.
Ein Israel, das die Grenze des Jordan nicht überwunden hätte, hätte womöglich für eine viel statischere Welt gesorgt – jedenfalls geistlich. Es wären die Griechen oder Perser, die Römer oder Hunnen gewesen, die rund um das Mittelmeer für Bewegung … aber auch Schrecken, für Wandel … aber auch Gewalt, für Entwicklung … aber auch Verheerungen gesorgt hätten. ———
Wie also ist das mit der erschöpften Friedensstimmung, in der wir vielleicht sein mögen zu Beginn dieses Jahres, dessen Losung uns ja leider so rastlos und unbequem daher kommt: „Suche Frieden und jage ihm nach“ (Psalm 34,15)?
Wie ist das mit der nachweihnachtlichen Lethargie und dem politischen Wunsch, es möge in der Welt endlich einmal wieder alles reibungslos ruhig und nicht immer so hektisch, so herausfordernd, so unübersichtlich und unabsehbar zugehen? …….
Wäre es nicht eine Wohltat, wenigstens am Jordan haltmachen zu können und sich also nicht schon am zweiten Sonntag des Jahres in die ungelösten Verstrickungen der Jahrtausende und deren Auswirkungen für die Gegenwart zu stürzen?
Sollen wir also dem Josua und den Priestern, die da Gottes Wort in der Bundeslade hinunter zum Wasser tragen, nicht einfach die Gefolgschaft kündigen?
… Wir bleiben stehen! … Oder machen’s gleich wie so viele unserer Zeitgenossen und gehen rückwärts! Rückwärts wie Großbritannien, das vom Empire träumt, rückwärts wie die Großmächte, die sich kalte Kriege und Mauern zurückwünschen, rückwärts wie die Demagogen ganz Europas, die dasselbe wollen wie die Islamisten: Eine vergangene Welt des Vertrauten ohne alle Veränderung. ——
Also: Abblasen den Durchzug! Kompanie halt! Keine nassen Füße, keine schmutzigen Hände mit dem ganzen heilsgeschichtlichen und historischen Schlamassel des Streits um das Heilige Land und den richtigen Weg und die bessere Gerechtigkeit und den sicheren Frieden.
Das Kindlein hatte doch frische Windeln, eine saubere Schnute und Schlafbäckchen. Stille Nacht. ——
… Wo aber ist das Kindlein???
Die Krippe ist leer.
Die Hirten sorgen sich wieder um neugeborene Schafe.
Die Weisen grübeln, was der Stern und das Bettelbaby denn nun tatsächlich bedeuteten.
Die anderen Kindlein von Bethlehem sind ermordet.
Herodes bleibt seine geisteskranke Gänsehaut.
Augustus hat seine Steuerlisten.
Die ausgepressten Judäer und Galiläer ächzen unter der römischen Knute und warten auf die Erlösung.
… Und das Kindlein, das Ägypten inzwischen am eigenen Leib erfahren hat, das in das „Haus der Knechtschaft“ (vgl. 2.Mose20,2) fliehen musste und dann in Nazareth das verborgene Leben des irdischen Alltags mit Handwerk und Geldverdienen und Beerdigungen und ab und an mal einer Hochzeit wie in Kana erlebt hat, … das Kindlein ist da, wo wir heute umdrehen und nicht hinunter in die schwierigen Weltverhältnisse wollten:
Es steht in der Jordansenke, dort wo die Erde geologisch alsbald den tiefsten Punkt erreicht und das Rauschen der Wasser für biblisches Empfinden immer auch etwas von Urflut und Verderben und elementarer Bedrohung ahnen lässt.
Dort am Jordan steht Jesus. Der heute nicht mehr Windeln und Sauberkeit und Muttermilch braucht, sondern schon dreißig Jahre alt ist und die Räude und Krätze und Schwielen und Staubigkeit kennt, die die anderen da aufdecken, die wie er hinein in das Wasser waten, wo der Gerichtsprophet sie erwartet und in die Tiefe drücken wird.
Und in Wahrheit ist der dreißigjährige Jesus am Jordan noch viel, viel älter.
Denn wenn die ersten Christen, die Jünger Jesu, die Apostel und Evangelisten und alle Griechisch sprechenden Gemeinden und Gelehrten der Antike das Buch Josua aufschlugen, um zu lesen, wie es war, als die neue Zeit nach der Befreiung begann, wie es war, als der Exodus zur erfüllten Verheißung wurde und das Leben der Erlösten anfing, sich mitten in der Wirklichkeit durchsetzen zu müssen, … wenn die alte Kirche also das Schwellenkapitel las, in dem die Gemeinde Gottes an der Grenze zu ihrer Bestimmung stand und zauderte, ob sie den Schritt in die Konflikte der Realität drüben wagen sollte, dann stand da im Hebräischen wie im Griechischen … „Jesus“ am Jordan.
Denn in beiden Sprachen ist zu erkennen, dass sie Träger des gleichen Namens sind: Der Mann, der aus dem Wüstentraum von Heil und Heimat eine Tatsache zu machen begann und der Mann, der gekommen ist, um trotz Schuld und Tod den Weltenwunsch nach Leben und Gerechtigkeit im Reich Gottes zu vollenden. Sie heißen beide „Jehoshua“ in der Sprache des Alten und „Jesus“ in der Sprache des Neuen Testaments.
Und sie sind beide die Überquerer des Jordan, jener Grenze zwischen Hoffnung und Realisierung, jener Barriere zwischen frommen Wünschen und deren weltlicher Verwirklichung.
Wenn daher die Alten lasen, was unsere neue Perikopenordnung uns heute – am Sonntag, der der Taufe Christi gewidmet ist – aufgeschlagen hat, dann klang es für ihre Ohren so:
„Und Jesus sprach zum Volk: Heiligt euch, denn morgen wird der HERR Wunder unter euch tun. … Und der HERR sprach zu Jesus: Heute will ich anfangen, dich groß zu machen vor ganz Israel, damit sie wissen: Wie ich mit Mose gewesen bin, so werde ich auch mit dir sein. … Und Jesus sprach zu den Israeliten: Herzu! Hört die Worte des HERRN, eures Gottes! Daran sollt ihr merken, dass ein lebendiger Gott unter euch ist und dass er vor euch her vertreiben wird die Kanaaniter.“
Und genau so verstanden die Alten, unsere hellhörigen Vorfahren auch die Taufe Christi: Sie ist tatsächlich der erste und tatsächlich auch schwere, gefährliche, aber umso notwendigere Schritt des Christus in die Spannungen und Konflikte, in die Verwirrungen, Kämpfe und Anfechtungen der Menschheitsgeschichte, die doch durch Christi Erscheinen und Eintritt zugleich die Geschichte der kosmischen Erlösung werden soll.
Der Abstieg Christi in den Jordan ist die Konsequenz seiner Menschwerdung, indem sie noch weiter hinunter als in die äußere Armut und Not der Krippe führt. Mit diesem Schritt in Richtung der verschlingenden Tiefe, mit diesem Schritt in Richtung des buchstäblichen Untergehens fängt der Weg in den Widerstand der ungezähmten Elemente, der Weg ins Chaos, der irdische Weg ins Unterirdische an.
Stehenbleiben und Zusehen ist also keine Wahl für den, der uns und allen helfen will.
Umzukehren und einfach liegen zu lassen, was an guten und an elenden Möglichkeit überm Jordan auf Gott und seine Menschen wartet, ist nicht denkbar, wenn er der Christus ist.
… Er muss sich stellen, muss sich einlassen, muss hinein, hinunter und hindurch.
Und indem er in den Jordan, in den tiefen Graben, der zum Toten Meer strömt, steigt, wiederholt sich auch bei der Taufe Jesu das Wunder des Durchgangs unter Josua, dem ersten Jesus: Der Jordan tötet nicht, sondern führt ins Leben; es ist nicht Vernichtung, sondern Veränderung, die sich dort auftut.
Und gerade wenn es danach weiter geht in die schwierigen, steinigen und streitigen Gefilde der Wirklichkeit: Seit Jesus in den Strom, der bis zur Unterwelt reißt, getreten ist, hat der seine Schrecken verloren und zeigt sich als eine Brücke zum jenseitigen Ufer.
Die orthodoxe Kirche feiert in diesem hochsymbolischen Eintauchen Jesu ins unheimliche unstete Element schon die Durchdringung aller Wirklichkeit durch den Heiligen Geist. Mit der Taufe im Jordan fängt der Sieg Christi über alles Chaos an, er ist die Weihe der tosenden, vernichtenden, … belebenden Wasser.
Und auch wenn uns dieses Denken fern gerückt ist: In der Verbindung des ersten und des zweiten Jesusweges in den Jordan zeigt sich auch uns, dass wir – umgangssprachlich – nicht mehr baden gehen können, seit der Herr in die Gewässer und Untiefen dieser Welt kam!
Vielmehr rufen alle Orte und Anfänge, ruft alle Wirklichkeit und schließlich auch jede Herausforderung einfach nur kristallklar danach, dass wir uns in sie hineinbegeben wie Josua, wie Jesus in den Jordan; Krisen und Konflikte sollen wir durchstehen wie Jesus, wie Josua in jenem Flussbett standen, und Schwellen, Gräben und Grenzen gilt es ohne Furcht zur Furt zu machen, um Strudel und Abgründe zu überqueren in Richtung der versprochenen Zukunft.
Das ist der ermutigende Aufbruch der Taufe im Jordan: Dass wir in das Jahr und die Welt und die Geschichte ziehen und dabei wissen, dass ein lebendiger Gott über Wasser und Erde und Himmel gebietet und dass Er mit uns ist, bis wir und alle durch Ihn und bei Ihm am Ziel sind!
Amen.
Altjahrsabend 2018, Stadtkirche, Hebräer 13,8f, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2018
Hebräer 13,8f
Liebe Gemeinde!
Jetzt sind alle Möglichkeiten von 2018 vorbei. Es kann noch Folgen haben … dieses Jahr, … aber es hat nichts Offenes mehr. Was so oder so, was gut oder übel oder anders hätte sein können, ist nun nur noch … gewesen.
Das macht die Härte der Vergangenheit aus: In sie können wir nicht mehr eingreifen. Sie lässt uns mit gebundenen Händen zurück. Allenfalls ihre Nachwirkung, was aus ihr herausragt, was fortwächst aus ihrem Grab, das können wir im kleinen Spielraum des Heute noch nutzen oder entschärfen, aber die Masse aller Möglichkeiten, die sich boten, ist verloren. Geblieben sind von 2018 viele vertane, viele verwirkte Chancen. Wer Kinder hat oder Kindeskinder oder wer Gottes Kindern in ihrer Mannigfaltigkeit Gutes wünscht, der weiß, dass man an vielen Stellen der vergangenen Monate sich anderes erhofft und von sich selber anderes zu verlangen gehabt hätte, wenn sich denn aus den jetzt verstrichenen Tagen Heilsames für die Tage, die noch kommen werden, hätte ergeben sollen.
……. Jedoch, über den eigenen Tag hinaus, in die Gegenwart Späterer blicken und denken wir selten, … viel, viel zu selten.
Wir kleben allzu sehr an den wenigen Stunden, in denen unser Dasein summt und vor sich hin um den Honigtopf oder den Misthaufen schwirrt, die uns gerade verlocken: Was sein wird, kümmert die Eintagsfliege nicht, die jetzt ihre einzige Beute machen, ihren unruhigen Brauttanz abwickeln, ihr liebloses Gelege zurücklassen und endlich die Klatsche erwarten muss. …
Doch als Insekten sind wir nicht geschaffen.
Unser Geist hat andere Maßstäbe und Horizonte empfangen – so hörten wir doch auch den mehr als skeptischen Prediger Salomo (3,11) bekennen: „Gott alles schön gemacht; auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.“
Wenn also der Mensch auch nicht ergründen kann, wie Gottes Werk begann und wie es sich fügen wird: Er kann doch mit seiner Suche nach Verstehen und mit seinem Willen zum Richtigen über den Augenblick hinaus in eine Weite greifen, die das eigene Dasein unermesslich übertrifft.
Und darum ist der Mensch ein Wesen, das im Gegensatz zu allen anderen Geschöpfen die Kategorie der Zukunft spürt, kennt und beachten kann.
Durch diese Zukünftigkeit seines Geistes, durch die futuristische Auszeichnung, als einzige Kreatur auch das Noch-nicht-Dagewesene berücksichtigen zu können, könnte der Mensch also tatsächlich sein Entscheiden und Handeln, seine ganze Lebensweise an den Fragen von morgen, an der Perspektive des Kommenden ausrichten. Er würde damit das eigentliche Wesen der Zeit – nämlich, dass sie Möglichkeiten schafft und bietet – auf angemessene Weise berücksichtigen. Nur so, indem der Mensch das grenzenlose Reich des Möglichen stets vor Augen hätte, würde er seine Berufung ergreifen: Existenz im Angesicht des Potentials der Zukunft … ein Dasein in der Fülle des Potentialis, des Denkbaren, des Wo-Möglichen.
Ist das nicht die Höchste der menschlichen Fähigkeiten?
Frei zu sein für alles? Jede Eventualität, jeden Ruf des Allerneusten, jede Regung der Erstmaligkeit, jede Transformation zum Mehr-als-Modernen zu erfassen und der Zeit immer schon voraus zu sein? Und ist das nicht auch die Signatur unserer Epoche, die zwar so wenig tut, um das Morgen praktisch zu ermöglichen, sich aber am liebsten einbildet, sie sei von nichts als von der Zukunft inspiriert und deren unglaublichen Chancen? ———
……. In der Tat, das mag so sein.
Aber wenn wir uns im Zeitalter der virtuellen Fortschritte, der digitalen Revolution wirklich als zukunftsfähige Leute, als Gesellschaft der Offenheit für das Unbekannte darstellen wollen, dann doch leider so, wie es in einem zeitgenössischen Weihnachtslied aus England heißt, in dem die Herbergssuche des heute anklopfenden Chris-tus die Antwort erhält:
“No, we haven’t got a manger / no, we haven’t got a stable. /
We are Christian men and women / always willing, never able.”[i] –
„Nein, wir haben keine Krippe, / sind die Herren keines Stalls. /
Wir sind Christen: Immer willig – / aber fähig keinesfalls“!
Wir mögen das Mögliche mögen, aber wenn es um die Herausforderung geht – und das Risiko –, dass es unter allen Möglichkeiten ja nur eine gibt, die wirklich und historisch werden wird, … wenn es also um die Verwirklichung des vielen Möglichen geht, dann kneifen wir zukunftsfreudigen Jünger der Moderne und bleiben lieber beim Gewohnten: Unsere Technik, unsere Energie, unsere Geschäftsmodelle, unseren Lebensstandard behalten wir am liebsten so wie immer. Lass doch die Zukunft ihre Möglichkeiten begraben und tastet unsere Gegenwart nicht an!
…… “Always willing, never able”. ——
Müssten da dann nicht wir Christen uns als die eigentlichen Verteidiger der Zukunft zeigen? Müssten wir nicht die vielen Predigten und Botschaften und biblischen Merksätze vertreten, die auch ich immer wieder stark mache: Dass der Advent unsere wahre Orientierung zeigt und dass das kommende Reich Gottes und die letzten Dinge – alles, was man die „Eschatologie“, also die gespannte und treue Erwartungshaltung des Glaubens nennt – unsere eigentlichen Anliegen sind?! ———
… Doch immer, wenn man meint, man wüsste haargenau, was nun die christliche Haltung sein wird, kommt eine handfeste Überraschung!
Ohne Zweifel ist das Christentum die Botschaft von der größten Hoffnung der Welt und ebenso zweifelsohne nimmt es uns tatsächlich hier und heute in Verantwortung auch für Menschen und Dinge, die wir nicht sehen und nicht selbst verschulden können, für die wir aber als Gemeinschaft vor Gott doch geradestehen werden. … Natürlich muss es uns Christen daher umtreiben, wenn die Zukunft des Menschengeschlechtes und der Schöpfung kaltblütig auf’s Spiel gesetzt wird und alle tragenden Säulen der Gegenwart beschädigt und zum Wanken gebracht werden.
Und dennoch: Gerade jetzt, wenn man Alarm schlagen, wenn man zum Unheilspropheten, zum Zeichendeuter und Künder schrecklicher Ahnungen und Omina werden könnte, die das Schwarzmalen zum hellsichtigsten Blick machen, … gerade jetzt, wenn man meint, nun sei die Sache klar und die Botschaft endgültig finster, kommt aus dem Herzen der Bibel und des Glaubens ein Schelm – es ist der Heilige Geist! – und alles wird ganz licht und einfach: „Zukunft? – Ist das denn wirklich eure Sache?“ … „Zukunft? – Was müsst ihr da noch lange fragen?“ … „Zukunft? – Hört doch mal auf zu flattern!“, sagt der Heilige Geist, der selbst ja die Beweglichkeit Gottes ist. „Hört auf zu flattern. Denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde!“
Und dann wird alles plötzlich ruhig, wenn der zutiefst gelassene Geist und die hell aufgeregte Braut – das sind wir, die Kirche (vgl. Offb.22,17) – ein Herz und eine Seele werden.
Zukunft als das Reich der unbegrenzten Möglichkeiten ist tatsächlich keine christliche Sorge.
Im Gegenteil – und nicht zu verwechseln mit der herrlichen Erwartung der christlichen Eschatologie! –, … im Gegenteil: Das Christentum ist eine Immunisierung gegen die agitierenden, aber (wir sahen es ja eben) gleichzeitig auch lähmenden Reize des als künftig Denk-und Fürchtbaren.
Die Botschaft, die der Glaube der aufreizenden Unklarheit, der chaotischen Fluktuation und panisch flirrenden Unschärfe möglicher Zukunftsbilder entgegenhält, ist die radikale Bergpredigtweisung (Matth.6,34): „Sorgt nicht für morgen!“
„Sorgt einfach nicht!“: Das ist die Stimme unseres Herrn. Das ist seine Stimme in einer vor Morgen-Sorgen umgetriebenen Zeit.
Er dagegen weiß es ganz nüchtern: „Der morgige Tag wird für das Seine sorgen!“
Und in dieser schlichten Wahrheit wird zwar nicht die Ordnung der zerfahrenden und sich aufheizenden und zerrissenen und gespaltenen Welt wieder hergestellt, aber in alle von Klima, Krieg, Korruption und Klonen verdüsterten Ausblicke fällt der Strahl der Vernunft, der uns zeigt: Von den sich potenzierenden potentiellen Katastrophen- oder Wunderszenarien wird die Zukunft wahrhaftig nicht alle mit sich bringen. … Im Gegenteil: Nur eine einzige unter allen denkbaren Ent- und Verwicklungen wird sich tatsächlich auch einstellen. Nur eine einzige Wendung wird die Geschichte nehmen. Nur ein Ergebnis werden die tausend verworrenen und doch auch miteinander kommunizierenden Komplexe aller Möglichkeiten zeitigen. … Und wir zerbrechen uns den Kopf über sie alle. …….
Damit ist nicht der Verantwortungslosigkeit das Wort geredet.
Aber der große Ruf Christi zur Sorgenfreiheit im Glauben darf nicht ungehört unter allen Entspannungs-, Entschleunigungs- und Zentrierungsangeboten der Menschen verhallen.
Es ist und bleibt die für uns im sinnlos kreißenden, nur Wind gebärenden Abendland (vgl.Jes.26,18) ungewohnte, heute bloß noch als Exotik des Fernen Ostens empfundene Herausforderung Christi, alle unsere klugen und ängstlichen Voraussichten und Befürchtungen zu befrieden, den gegenwärtigen Augenblick als die Präsenz Gottes, als Begegnung mit Seiner Gnade und Übung unseres Vertrauens anzunehmen und darüber hinaus weder die Phantasie noch die Gier immer schon die Pleiten oder Zinsen unserer bevorstehenden Handlungen ausmalen zu lassen.
„Lebt nicht im Reich der Möglichkeiten, sondern in der Gegenwart des Wirklichen!“, rät Jesus Christus uns also heute.
Und da entfaltet sich plötzlich jenes wunderbar tragende, unerschütterliche Wort aus dem Hebräerbrief, das ich mir auf meinem Grab wünsche, weil es über meinem Leben steht.
JESUSCHRISTUSGESTERNUNDHEUTEUNDDERSELBEAUCHINEWIGKEIT.
Und in diesem Satz der größten Ruhe – einem Satz ohne Verb, ohne Tu-Wort – fehlt auch noch das andere Beunruhigungs-Wort, das uns winkt und peinigt am Altjahrsabend und immer wieder in den aufwühlenden, endlosen, aggressiven Anstrengungen unserer Alltags-Arbeit: „Morgen“ fehlt.
Jesus Christus – der Ursprung und das Ziel der Zeit – unterliegt nicht dem Erwartungsdruck und nicht der Hoffnungsillusion, die sich für uns in’s „morgen“ drängt.
Jesus Christus war da und ist da und bleibt für immer. In ihm – um Mörike[ii] abzuwandeln – … in ihm hat’s begonnen, der Monde und Sonnen entstehen sah und Anfang und Ende sind ihm in die Hände für immer gelegt:
Und eben darum ist das kurzfristige und atemlose „Morgen! Was wird morgen sein? Morgen wollen wir’s besorgen! Morgen, Kinder, wird’s was geben …“ bei ihm kein eigenständiger Zeitabschnitt.
… Jesus Christus ist so unveränderlich die Verheißung und des Siegel der Menschenliebe und der Weltvollendung Gottes, dass es müßig wäre, seine Zuverlässigkeit, seine Nähe und Hilfe als Glücksanhänger wie bei einem treffende sogenannten „Bettelarmband“ in die kleinen Ketten unserer aneinandergefädelten Tage zu knüpfen: Er ist ja immer – Tag für Tag, Stunde um Stunde, bei jedem Atemzug, im tiefsten vorweltlichen Schweigen und nach der alles verwandelnden Nanosekunde der letzten Posaune – derselbe. Er ist die allgegenwärtige Liebe des Vaters, er ist die tat-sächliche Erlösung der Menschheit von Innen heraus, er ist die Gabe des Geistes aus der Höhe: Er ist das!
Ihn darum auch als den Garanten von morgen, als die Erwartung für ein neues Jahr, als die Ermöglichung der Zukunft zu bezeichnen, wäre eine überflüssige, ja eine paradoxe Verniedlichung: … Als könne man die Wirklichkeit sich spaßeshalber auch als eine Möglichkeit vorstellen.
Denn nicht das ist heute unser Trost, dass Jesus Christus auch morgen da sein wird, sondern unsere Gewissheit ist, dass es eben auch ein morgen geben wird, weil Jesus Christus ist und war und derselbe bleibt.
Und so schauen wir am letzten Abend dieses Jahres nicht in das neblige Reich aller möglichen Morgen, sondern in die beständige Tatsache und Wahrheit, dass Gott die Welt geschaffen hat, erhalten und vollenden wird durch Seinen Sohn, den Eckstein, das Leben, die Auferstehung.
Wenn darum der große Karl Barth, dessen Tod sich vor drei Wochen zum 50.Mal jährte und dessen epochemachender Römerbriefkommentar 1919 erschien – weshalb die EKD das bald anbrechende Jahr zum Karl-Barth-Jahr erklärt hat – … wenn also Karl Barth (wie andere Fromme vor ihm und nach ihm) fordert, auf den Tisch des Theologen gehörten aufgeschlagen nebeneinander stets die Bibel und die Zeitung, dann können wir doch nicht umhin, deren Verschiedenheit zu bedenken:
Was in den Zeitungen von 2019 stehen könnte, welche Wege die Welt wählen wird, welchen Segen sie verwirklichen und welche Gebote und Gelegenheiten sie verfehlen wird – und wir mit ihr! –, das wissen wir noch nicht. Das ist die Sorge von morgen.
Aber dass der eine Jesus Christus schon über jeder Seite des Kalenders feststeht und dass er in jeder Stunde der Zukunft da sein und die Welt tragen wird, das ist bereits heute für uns unzweifelhaft.
Es ist die große Gnade eines festen Herzens.
Es ist das Fundament aller Wirklichkeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Es macht alles möglich.
Und darum sind wir von Herzen willig und bereit, ihm forthin zu leben (vgl. Frage 1 des Heidelberger Katechismus – EG 856): Jesus Christus, der gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit ist.
Amen.
[i] “Standing in the rain” von Sydney Carter – No.400 in: Hymns Ancient & Modern (Standard edition, 1993)
[ii] Nach Mörikes „Zum neuen Jahr – Kirchengesang“ („Wie heimlicher Weise…“), in: Eduard Mörike, Werke in einem Band, hg.v. H.G.Göpfert, München Wien, 1977, S.117.
Altjahresabend 2018, Mutterhauskirche, Ps.34,15, Ulrike Heimann
Text: Ps.34,15 (Jahreslosung 2019)
Liebe Gemeinde, zum Jahresende legt es sich nahe, einmal zurückzublicken auf die vergangene Zeit, auf das, was gewesen und geschehen ist Anno Domini 2018, Erinnerungen aufzufrischen an Ereignisse, die einen bewegt haben im guten oder erregt haben im negativen Sinn. Allerdings hat uns gerade das Jahr 2018 selbst eine ganze Reihe Ereignisse in der Geschichte in besonderer Weise in Erinnerung gebracht:
1618 - vor 400 Jahren - begann der Dreißigjährige Krieg, der große Teile Europas in Schutt und Asche legte und zusammen mit seinen „Begleitern" Hunger und Seuchen jeden dritten Europäer das Leben kostete. 1918 - vor 100 Jahren - endete der 1.Weltkrieg, der mit einer bis dahin unvorstellbaren Grausamkeit geführt wurde und in dessen Materialschlachten über 10 Millionen Soldaten auf allen Seiten ihr Leben ließen.
Im Mai 1948 - vor 70 Jahren - erfolgte die Gründung des Staates Israel. Eine sichere Heimstatt für alle Juden sollte er sein nach den Schrecken des Holocaust, aber Frieden hat sich seitdem in der Region nicht eingestellt.
Nicht zuletzt aufgrund der erlebten Gräuel, die der 2.Weltkrieg mit sich brachte, wurde ebenfalls vor 70 Jahren die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York verkündet.
Vor dieser historischen Folie bleibt einem dann nur das große Kopfschütteln angesichts vieler Ereignisse im vergangenen Jahr, die die Frage aufwerfen: Hat die Menschheit, haben wir gar nichts gelernt, gar nichts begriffen?
Nur ein paar Beispiele:
Der Brexit mit allen Auseinandersetzungen: als wenn Europa ein Konzern ist, der umgebaut und teilweise veräußert werden soll, wo es ums Geschäft geht und um Gewinne, die keiner dem anderen gönnt; dabei geht es um so viel mehr: um den Frieden zwischen Völkern, die sich jahrhundertelang bekriegt haben; um Verständigung zwischen Millionen Menschen, die sich dank offener Grenzen mittlerweile angstfrei begegnen können und viele Vorurteile abbauen konnten.
Da ist das Aufblühen des vor allen Dingen rechten und nationalistischen Populismus, der das Friedensprojekt Europäische Union in große Gefahr bringt. Als könnte es ein nationales Wohlergehen geben, ohne Rücksichtnahme auf das Wohlergehen der Nachbarstaaten. Dummheit ist wirklich gefährlicher als Bosheit.
Das Paradebeispiel liefern dazu die Vereinigten Staaten. Donald Trump ist sicher ein pathologischer Lügner und gewissenloser Narziss der Extraklasse, aber gefährlich konnte er nur werden durch die unglaubliche Dummheit von Millionen Amerikanern, die ihn gewählt haben und durch die Charakterlosigkeit von Menschen, die um des eigenen Vorteils willen sich von ihm in Dienst haben nehmen lassen.
Ach ja, die Zahl der Flüchtlinge, die im letzten Jahr nach Deutschland gekommen sind, liegt deutlich unter der CSU-Obergrenze von 200000. Horst Seehofer kann also aufatmen, ebenso die Bundesregierung. Wer nicht aufatmen kann, sind die Flüchtlinge, denn die Fluchtursachen sind ja nicht geringer geworden, sodass es weniger Flüchtlinge auf der Welt gibt. Nein, die Grenzen nach Europa sind nur dichter geworden. Das Friedensprojekt Europa ist von außen betrachtet ein Festungsprojekt geworden. Als wenn es den Menschen auf unserem Kontinent auf Dauer gut gehen kann, ohne Rücksichtnahme auf das Wohlergehen der Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika. Wenn der Apostel Paulus das Bild vom Leib seiner Gemeinde in Korinth vor Augen malt und ihr ins Stammbuch schreibt, dass das Leid, die Not des einen Gliedes den ganzen Leib betrifft, so gilt das auch für das Ergehen der Menschheit insgesamt auf dieser Erde.
Bislang ist es vor allen Dingen den Menschen in der westlichen Welt, also auch uns in der alten Bundesrepublik, weitest gehend gelungen, uns die negativen Folgen dieser Wahrheit vom Leib zu halten. Die Umweltzerstörungen, die gesundheitlichen Folgen und die sozialen und kulturellen Verwerfungen, die unsere kapitalistische Konsumgesellschaft nach sich zieht, haben wir jahrzehntelang „outgesourced" in die Länder der sog. Dritten Welt, der ehemaligen europäischen Kolonien vor allen Dingen. Als diese Länder unabhängig wurden, fanden sich dort genügend skrupellose, korrupte und geldgierige Potentaten, mit denen unsere Regierungen ihre Politik fortsetzen konnten. Der simple Nenner lautete: ihr lasst unsere Konzerne eure Bodenschätze und natürlichen Ressourcen ausbeuten und ihr bekommt dafür eure Luxusgüter und Waffen, um die eigene Bevölkerung still zu halten. Nach diesem Prinzip funktioniert bis heute der „freie" Welthandel, die „freie" Wirtschaft.
Seit dem Fall der Mauer 1989 ließ sich allerdings dieses Prinzip - für uns die positiven Seiten der Globalisierung und für die anderen, die weit weg sind, die negativen Folgen - so nicht mehr durchhalten. In den westeuropäischen Gesellschaften wächst seitdem die Schicht der sozial abgehängten und armen Menschen. Die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich machte in diesem Jahr deutlich, dass die soziale Frage - jenseits von populistischen Hetzern - eine nicht zu unterschätzende Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Frieden ist.
Dass wir, dass die Menschheit ihr Zusammenleben und Arbeiten, ihr Wirtschaften und Handeln ganz neu denken und ausrichten muss, das macht der drohende Kollaps des Klimas und der Weltmeere - eigentlich - unmissverständlich klar. Der heiße, trockene Sommer sollte uns hier deutlich mehr aufregen, als der Dieselskandal. Es wird nicht reichen, die Deiche an den europäischen Küsten zu erhöhen, neue Bewässerungssysteme in der europäischen Landwirtschaft einzuführen, die Versicherungspolicen für Sturm- und Unwetterschäden zu erhöhen und Plastiktüten zu verbieten - und ansonsten weiterzumachen wie bisher. Es entzieht sich unseren heutigen Vorstellungen, was für Flüchtlingsströme in Gang gesetzt werden, wenn klimabedingt riesige Landflächen unbewohnbar oder vom Wasser verschlungen werden. Anders als die Erzählung von der Sintflut im 1.Buch Mose, die auf eine lokale Katastrophe in der Frühzeit des Menschen zurückzuführen ist, wird die klimabedingte Sintflut eine globale sein. Wir sollten klüger sein als die Zeitgenossen des Noah und uns warnen lassen, umdenken und umkehren.
Darauf zielt auch die Jahreslosung für 2019 ab, ein Vers aus dem 34.Psalm: „Suche Frieden und jage ihm nach!"
Den Verantwortlichen für die Jahreslosung ist sicher wichtig gewesen, dass es ein Wort ist, das prägnant und gut merkbar ist - in Zeiten von Twitter also möglichst kurz. Es wäre aber besser gewesen, wenn sie den ganzen Vers 15 genommen hätten, nicht nur die zweite Satzhälfte. Vollständig heißt er: „Lass ab vom Bösen und tu Gutes; suche Frieden und jage ihm nach."
Den Frieden zu suchen ist keine rein gedankliche Geschichte. Es hilft nicht, für den Frieden zu sein.
Der Frieden muss getan werden.
Friedenssuche ist mit Arbeit verbunden.
Sie erfordert Anstrengung.
Sie erfordert die Bereitschaft zum Konflikt.
Die erste Auseinandersetzung muss jeder mit sich selbst führen.
Jeder muss bereit sein, hinzusehen, wie und wo er selbst verstrickt ist in all die Ungerechtigkeiten und Heillosigkeiten in unserer Gesellschaft und in unserer Welt. Ohne die Bereitschaft, die Verstrickung in die strukturellen Sünden unserer Zeit anzuerkennen, würden wir in die Falle der Selbstgerechtigkeit laufen.
„Lass ab vom Bösen und tu Gutes." Das hört sich so einfach an, aber es ist oft ganz schwer umzusetzen und durchzuhalten in unserer komplexen Welt.
Gewiss, jeder kann angesichts der Klima- und Umweltschädlichkeit der Massentierhaltung - ganz abgesehen von dem Leiden der Tiere - für sich selbst entscheiden, Vegetarier oder Veganer zu werden oder wie es vor 60 Jahren der Fall war, nur einmal in der Woche Fleisch zu essen. Je mehr so leben, umso besser.
Aber was ist mit den deutschen Waffenexporten? Deutsche Waffen bringen den Tod zum Beispiel im Jemen. Allerdings sorgen sie auch für Arbeitsplätze z.B. bei Rheinmetall in Düsseldorf. Und bringen so Geld über die Kirchensteuer in unsere Kirchen und Gemeinden. Und finanzieren über die Aktienmärkte die Pensionsfonds der Renten- und Versicherungskassen - finanzieren unseren Wohlstand mit. Hier vom Bösen abzulassen, tut richtig weh. Wie kann hier das Gute aussehen, das wir tun sollen?
„Suche Frieden und jage ihm nach." Eine höchst anspruchsvolle Angelegenheit, die uns, wenn wir es ernst meinen, alles abverlangt: umdenken, umkehren, sich bescheiden.
Und das nicht nur im politischen und wirtschaftlichen Bereich, sondern auch im geistlich-religiösen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass den Religionen in der Friedensfrage genauso wie in der Frage nach der Zukunft der Menschheit angesichts all der drohenden Gefahren eine Schlüsselrolle zufällt. Allerdings muss jede ihr Friedenspotential befördern - und dafür das Gewaltpotential, das in jeder Religion zu finden ist, hinter sich lassen. Eben das Gute tun, das, was dem Frieden und dem gedeihlichen Zusammenleben der Menschen und Völker dient, und das Böse lassen, das, was zu Abgrenzung und Abwertung von anderen führt.
Auch wir Christen müssen uns da selbstkritisch befragen. Wovon müssen wir uns verabschieden und was müssen wir stark machen, welche Gedanken und Haltungen fördern, um so dem Frieden nachzujagen?
Vor allen Dingen müssen wir uns von dem Anspruch verabschieden, unser Glaube sei der einzig richtige, nur wir hätten die Wahrheit. Keine Religion hat die ganze Wahrheit, die völlige Gotteserkenntnis. Jede Religion kann nur Zeugnis davon geben, was ihr durch den Geist Gottes an Erkenntnis gegeben wurde - abhängig von Zeit und Raum. Und darauf käme es gerade in unserer globalisierten Welt doch an: dass wir ein brennendes Interesse daran haben müssten, voneinander zu erfahren, was uns jeweils der Geist Gottes an Erkenntnissen über das Leben und die Welt, über den Sinn unserer Existenz und das Ziel der Schöpfung vermittelt hat.
Jede Religion ist mit ihrer Wahrheit wie ein Instrument, und die Menschen, die sich ihr verbunden fühlen, haben die Aufgabe, diesem Instrument möglichst reine und wohlklingende Töne zu entlocken, die das Herz aller Hörer erfreuen.
Gott hat nun einmal Gefallen daran gehabt, sich ein Orchester zu schaffen mit den unterschiedlichsten Instrumenten, sprich Religionen, Konfessionen und Glaubensweisen. Jedes Instrument wird gebraucht, jedes ist ihm wert und wichtig. Denn erst alle zusammen können die Sinfonie des Lebens zum Klingen bringen. Allerdings machen Gott die Musiker bislang einen Strich durch die Rechnung; sie verweigern das Zusammenspiel; jeder meint, immer die erste Geige, die dröhnende Pauke und die lauteste Trompete sein zu müssen und natürlich jeder in seinem eigenen Takt.
Aufeinander zu hören, den Klang des anderen wahrzunehmen, gerade auch die leisen Töne und sich dann im Zusammenklang auch getragen zu fühlen in der Gemeinschaft, das wäre es doch.
Eine Erfahrung dieser Art konnten wir gestern im Gottesdienst machen. Da wurde eine Ansprache des hinduistischen Dichters Rabindranath Tagore vorgetragen, die dieser am Weihnachtsfest 1910 in seinem Aschram in Indien gehalten hatte. Mit wieviel Liebe und Achtung sprach Tagore da von Jesus und von dem, was er ihm, dem gläubigen Hindu, zu sagen hat. Er sagte: „Wir haben viele große Gestalten hinter unüberwindbaren Zäunen abgesondert wie Fremdkörper. Doch diese Menschen gehören der ganzen Welt. Die Vorsehung hat sie geschickt, um die ganze Welt zu bereichern, und wir sind so überheblich, sie auszugrenzen. In dieser Haltung verharrten wir lange Zeit ohne jedes Interesse für Jesus, die große Seele." Und dann sprach er davon, dass er in dem, was Jesus gesagt und getan hat, vieles entdeckt hat, was seiner eigenen religiösen Tradition ganz ähnlich ist.
Mir ist da ein Vers aus dem Buch des Propheten Micha in den Sinn gekommen, der wie ein verbindender Grundton in dem Orchester der Religionen sein kann: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Barmherzige von dir fordert: Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott." (6,8) Jeder hört auf die Worte, die ihm als Gottes Wort zugekommen sind, jeder übt sich in der Liebe, nämlich den anderen so anzunehmen, wie er ist, und jeder erkennt an, dass er ein Mensch ist mit Schwächen und Grenzen, angewiesen auf Barmherzigkeit und Vergebung.
Unter diesem Vorzeichen kann der Glaube, die Religion eine enorme Friedenskraft entfalten. Und auch im Hinblick auf die notwendige Veränderung unseres Lebensstils sehe ich hier die große Chance für unsere Erde, für das Klima: dass jeder bereit ist, sich zurückzunehmen und zu begrenzen - um des Ganzen willen. Dass es nicht mehr darum geht, was jeder sich leisten kann, sondern was sich die Menschheit leisten kann - mit Blick auf die begrenzten Ressourcen der Erde, mit Blick auf das Lebensrecht aller anderen Geschöpfe.
„Suche den Frieden, den Schalom und jage ihm nach."
Mit aller Kraft, jede und jeder mit ihren, seinen Möglichkeiten.
Ich möchte schließen mit einem Mut machenden Beispiel, mit dem vor 14 Tagen die Rheinische Post aufwartete:
Da gab es einen Artikel über die Schwedin Greta Thunberg, die 9 Jahre alt war, als sie zum ersten Mal vom Klimawandel hörte. Sie konnte nicht begreifen, warum nicht viel mehr Menschen versuchen, etwas zu verändern. Sie selbst hörte auf, Fleisch zu essen und beschloss, nicht mehr mit dem Flugzeug zu fliegen. Auch ihre Eltern konnte sie überzeugen. Die Familie fährt nun E-Auto und nutzt Solarenergie. Mittlerweils ist sie 15 Jahre alt und landesweit bekannt. Jeden Freitag bestreikt sie die Schule und protestiert damit gegen die Tatenlosigkeit der Regierenden und Erwachsenen: Warum sollten Junge für eine Zukunft lernen, wenn niemand genug tut, damit es diese für ihre Generation überhaupt gibt? Auch Gleichaltrige steckt die 15-jährige an. Weltweit machen es ihr Schülerinnen und Schüler nach und demonstrieren unter dem Stichwort „Fridays for Future".
Gretas Botschaft an uns: „Wenn ein paar Kinder auf der ganzen Welt Schlagzeilen machen können, weil sie einfach nicht zur Schule gehen, dann stellt euch vor, was wir gemeinsam erreichen könnten, wenn wir es wirklich wollen würden."
Darum: „Lass das Böse und tu das Gute; suche Schalom und jage ihm nach." Versuchen wir es doch mit ganzer Kraft im neuen Jahr.
Amen.
Heiligabend, 24.12.2018, Mutterhauskirche, Christvesper, Ulrike Heimann
„Die Tiere an der Krippe"
Liebe Gemeinde,
friedlich stehen oder liegen sie an der Krippe und blicken auf das neugeborene Kind - so wie auf ungezählten Krippen-Bildern, wie auch auf dem Deckblatt des Gottesdienstprogrammes, das jeder in den Händen hält, einer Zeichnung nach einer mittelalterlichen Buchmalerei aus Franken Ende des 13. Jahrhunderts. Die Rede ist - nein, nicht von Maria und Josef - die Rede ist von Ochs und Esel. Sie bleiben stets im Hintergrund und sind doch weit mehr als bloße Statisten.
Was es mit Ochs und Esel auf sich hat, darüber möchte ich heute mit ihnen gerne nachdenken.
In den neutestamentlichen Erzählungen der Geburt Jesu ist zwar von einer Futterkrippe, aber weder von einem Ochsen noch von einem Esel die Rede. Dass sie dennoch zu einem festen Bestandteil der weihnachtlichen Tradition geworden sind, verdanken wir dem Propheten Jesaja. Direkt im ersten Kapitel gebraucht Jesaja ein Bild, um seinen Frust über das völlige Unverständnis seines Volkes gegenüber Gott und seinen Weisungen zum Ausdruck zu bringen. Obwohl euch Gott doch wie ein Vater liebt und aufgezogen hat, seid ihr von ihm abgefallen, wollt ihr nichts mehr von ihm wissen. Und er fährt fort: „Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn; aber Israel kennt's nicht und mein Volk versteht's nicht." Da haben wir also Ochs und Esel.
Frühe Kirchenväter wie Augustinus und Gregor von Nazianz interpretierten den Ochsen als Symbol des Judentums und den Esel als das der Heiden. „Zwischen dem jungen Stier, der an das Gesetz gebunden ist, und dem Esel, der mit der Sünde des Götzendienstes beladen ist, liegt der Gottessohn", so schreibt Gregor von Nazianz; Gottes Angebot des Heiles an alle Welt, und das - so die einhellige Meinung - musste doch angenommen werden. Aber das Judentum blieb bestehen und die Heiden liefen auch nicht in Scharen zum Christentum über. Das schlug sich dann in der frühen christlichen Kunst nieder. Auf den ältesten bekannten Geburtsdarstellungen z.B. auf frühen Sarkophagen-Reliefs in Rom und Mailand wenden sich Ochs und Esel von dem Neugeborenen ab - symbolisch für all diejenigen, die Jesus nicht als Messias anerkennen können und wollen.
War es den Menschen in den ersten Jahrhunderten noch klar, dass Ochs und Esel reine Symbole waren, so breitete sich im Laufe der späteren Jahrhunderte immer mehr die Vorstellung aus, es hätten tatsächlich Tiere den Stall bei der Geburt Jesu bevölkert. Ochs und Esel waren aus Krippendarstellungen nicht mehr wegzudenken. In ganz besonderer Weise prägte dann Franz von Assisi die abendländische Geschichte der Weihnachtstradition. Zu Beginn des 13.Jahrhunderts feierte er in Greccio ein denkwürdiges Weihnachtsfest mit dem ersten Krippenspiel in natura. Auf seine Anleitung hin spielten die Bewohner von Greccio die Gestalten der lukanischen Weihnachtsgeschichte - Maria und Josef, die Hirten und Engel - und selbstverständlich gab es auch echte Schafe und eben Ochs und Esel. Franziskus wollte das Heil anschaulich machen, die Geschichte, die da geschehen war. Und auch er interpretierte die Gestalten von Ochs und Esel. Der Ochse stand für ihn wie für die Kirchenväter für die Juden, der Esel für die Muslime. Aber sie wandten sich nicht ab von der Krippe wie auf den alten Darstellungen, sondern Franziskus sah sie mit dem Kind in der Krippe in geheimnisvoller, göttlicher Weise verbunden. Judentum, Islam und Christentum - beteten sie doch zu dem gleichen Gott. In diesem Denken, in dieser religionsverbindenden Haltung war Franziskus seiner Zeit - und ja auch noch unserer Zeit - weit voraus. Das Kind in der Krippe mit Ochs und Esel - ein Symbol für die Verständigung der Religionen, zugleich auch ein Symbol für den Frieden zwischen Mensch und Kreatur. Bruder Ochse und Bruder Esel, auch für sie ist Jesus geboren. Das Heil, das Gott in ihm schenkt, gilt auch den Tieren. Und auch dafür gibt es eine gute prophetische Tradition wieder bei Jesaja, der davon spricht, dass Löwe und Lamm beieinander liegen und das kleine Kind furchtlos seine Hand ins Loch der Natter, der Schlange streckt. Der Friede Gottes gilt eben nicht nur den Menschen, sondern aller Kreatur.
Ochs und Esel, sie stehen auch als Nutztiere da.
Der Ochse, der anders als der wilde Stier unter dem Joch geht und den Pflug durch den steinigen Acker zieht. Der Ochse, ohne den es den Ausbau der Landwirtschaft in der Frühzeit nicht gegeben hätte.
Der Ochse unter dem Joch, er zieht die Lasten, die der Mensch, sein Herr, nicht bewältigen kann. Zuverlässig und unermüdlich. Er hat auch keine Wahl, als unter dem Joch zu gehen.
Ähnlich der Esel, das genügsame Lasttier, dem alles Mögliche auf den Rücken gepackt werden kann. Ich habe in Filmen über den Orient schon Esel so bepackt gesehen, dass kaum noch Kopf und Hufen zu sehen waren. Und manches Mal saß dann noch der Herr oben auf dem ganzen Gepäck und trieb lautstark sein Reittier an.
Der Ochse wie der Esel stehen hier symbolisch für all die Menschen, die sich auch in Lebenssituationen befinden, die sie sich nicht ausgesucht haben und die sie dennoch bewältigen müssen. Menschen, die manchmal unvorstellbare Lasten tragen, unvorstellbaren Belastungen ausgesetzt sind. Mir stehen da die Steine klopfenden und schleppenden Kindersklaven in Indien vor Augen, die für die Schulden ihrer Eltern auf Jahre hinaus 14 Stunden am Tag schuften müssen, angetrieben von unbarmherzigen Aufsehern. Ich denke an die Frauen in afrikanischen Ländern, die das Trinkwasser für ihre Familien über viele Kilometer auf dem Kopf durch die staubige Savanne tragen. Mir fallen aber auch die vielen alleinerziehenden Mütter und manchmal Väter ein, die ihre Sorgen um das tägliche Auskommen und um die Entwicklungschancen ihrer Kinder mit niemandem teilen können, die diese Lasten im Alltag alleine schultern müssen. Ebenso habe ich die Frauen und Mädchen im Blick, die bis heute in den Kriegsgebieten unserer Erde den Massenvergewaltigungen durch marodierende Soldaten und Söldnertruppen und durch Terror verbreitende Banden ausgesetzt sind, die von diesen traumatischen Erlebnissen ihr ganzes weiteres Leben verfolgt werden.
Für mich stehen all diese belasteten und unter ihren Lasten oft verzweifelnden Menschen ganz nah an der Krippe - symbolisch in Ochs und Esel. Opfer unserer ungerechten Weltwirtschaftsordnung, Opfer all der Kriege und Konflikte im Großen wie im Kleinen, in den Ehen und Familien wie zwischen den Völkern und Nationalitäten.
Und klassische Opfertiere sind Ochs und Esel damals ja auch gewesen. Sie stehen für das Opfer, das letztlich sinnlos ist, denn Gott will - auch dies Erkenntnis der Propheten - keine blutigen Opfer. Das Kind in der Krippe bedeutet und bringt nicht weniger als das Ende aller Vorstellungen, Gott oder das Schicksal durch Opfer irgendwie positiv beeinflussen zu können. Wo Vergebung von Sünden stattfindet, da muss Blut fließen. Auf diesen Grundsatz beruft sich die jüdische Religion zur Zeit Jesu - und es sind Ströme von Blut unschuldiger Tiere geflossen Tag für Tag im Tempel von Jerusalem bis zu seiner Zerstörung durch die Römer im Jahre 70 unserer Zeitrechnung. Ganz anders das Kind in der Krippe, als es ein Mann geworden ist; da erzählt er den Menschen von Gottes grenzenloser Güte, der seine Sonne scheinen lässt über Gute und Böse, über Gerechte und Ungerechte, und der sich einfach, kindlich einfach bitten lässt: vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Vergebung ohne Blutvergießen, Vergebung als gegenseitiges Geschenk, das Neuanfänge möglich macht. Die theologischen Überlegungen auch schon neutestamentlicher Briefschreiber, die den Justizmord an Jesus zu einem Opfertod zur Vergebung von Sünden umdeuten, sind vor diesem Hintergrund für mich kaum zu ertragen; ihnen folgen kann ich schon lange nicht mehr.
Nein, die Liebe, die Gott uns in diesem Kind in der Krippe erweist, bedeutet auch Erlösung vom Opferdenken, bedeutet auch für die Opfer Erlösung. Auch dafür stehen Ochs und Esel an der Krippe.
Ochs und Esel an der Krippe, am Ort der Geburt des neuen Menschen - das kann in der heutigen Zeit auch tiefenpsychologisch gedeutet werden. Die Tiere stehen als Symbol für die Trieb- und Instinktnatur des Menschen. Unsere Gefühle sind dem Geheimnis der Christgeburt oft näher als unser ach so klarer Verstand. Wenn wir auf unsere Gefühle hören, dann treiben sie uns hin zur Krippe, in der das göttliche Kind liegt und zeigen uns damit den Weg zu erfülltem, wahren Leben. Denn in dem Kind liegt all das vor uns da, was in uns zur Welt kommen will: Vertrauen, Liebe, Hoffnung, Zärtlichkeit, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft. Wer seine Gefühle dagegen unterdrückt, wer nur aus dem Kopf lebt, weil er vom Kopf meint alles steuern und bestimmen zu können, der lebt an seinen Möglichkeiten vorbei, der bleibt sich selbst fremd, in dem kann nichts Neues geboren werden. Wir brauchen die Tiere, wir brauchen die Triebe und Instinkte, die Gefühle. Ochs und Esel an der Krippe laden uns dazu ein, unsere Kopflastigkeit abzulegen und uns demütig den Tieren in uns zuzuwenden. Sie sind dem Geheimnis der Weihnacht, dem göttlichen Kind näher als unser Kopf, der über das Kind lediglich nachdenkt, anstatt sich ihm hinzugeben und es in der Hingabe in sich aufzunehmen.
Ochs und Esel - wirklich keine Statisten im Weihnachtsgeschehen, sondern mitten drin, hineinverwickelt in das Geheimnis von Erlösung und Befreiung, von Liebe und Neuanfang.
Und weil schon immer Ochs und Esel Menschen dazu angeregt haben, über ihre Existenz an der Krippe nachzudenken, möchte ich schließen mit einer kleinen Geschichte von Karl-Heinrich Waggerl: „Wie Ochs und Esel an die Krippe kamen"
Als Josef mit Maria auf dem Weg nach Bethlehem war, rief ein Engel die Tiere heimlich zusammen, um einige auszuwählen, der Heiligen Familie im Stalle zu helfen. Als erster meldete sich natürlich der Löwe: „Nur ein König ist würdig, dem Herrn der Welt zu dienen", brüllte er, „ich werde jeden zerreißen, der dem Kind zu nahe kommt!"
„Du bist mir zu grimmig", sagte der Engel. Darauf schlich sich der Fuchs näher. Mit unschuldiger Miene meinte er: „Ich werde sie gut versorgen. Für das Gotteskind besorge ich den süßesten Honig, und für die Wöchnerin stehle ich jeden Morgen ein Huhn."
„Du bist mir zu verschlagen", sagte der Engel. Da stelzte der Pfau heran. Rauschend entfaltete er sein Rad und glänzte in seinem Gefieder. „Ich will den armseligen Schafstall köstlicher schmücken als Salomon seinen Tempel!"
„Du bist mir zu eitel", sagte der Engel. Es kamen noch viele und priesen ihre Künste an. Vergeblich. Zuletzt blickte der strenge Engel noch einmal suchend um sich und sah Ochs und Esel draußen auf dem Felde dem Bauern dienen. Der Engel rief auch sie heran: „Was habt ihr anzubieten?" „Nichts", sagte der Esel und klappte traurig die Ohren herunter, „wir haben nichts gelernt außer Demut und Geduld. Denn alles andere hat uns immer noch mehr Prügel eingebracht." Und der Ochse warf schüchtern ein: „Aber vielleicht könnten wir dann und wann mit unseren Schwänzen die Fliegen verscheuchen."
Da sagte der Engel: „Ihr seid die richtigen."
Dass wir uns auch - jeder mit seinen Gaben, aber eben auch mit seinen Lasten und Belastungen - als richtig und willkommen an der Krippe sehen, das wünsche ich uns allen.
Amen.
2.Christtag 2018, Stadtkirche, Jesaja 62, 1- 5, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Christtag 2018
Jesaja 62, 1–5
Liebe Gemeinde!
Wer sitzt eigentlich noch am zweiten Christtag, dem dritten Tag unserer Weihnachtsfeiern – außer aus Bequemlichkeit oder Versehen – unterm Baum oder an der Krippe?
Allmählich sollte man doch machen, dass man weiter kommt: Gäste haben lang genug für Aufwand gesorgt; Chorsänger sind überwiegend heiser vor lauter Einsatz; das Fernsehprogramm ist vollständig an der Wiederholungstaste eingerastet und selbst die Kinder dürften froh sein, irgendwann nicht noch mehr auspacken und bespielen zu müssen. …….
Weihnachts-Kehraus: Baum nadelt, Stern flackert, Hose spannt, Familie nervt. Vorhang, bitte!
… Aber da sind ein paar Hartnäckige, die einfach keinen Wink mit dem Zaunpfahl verstehen wollen, … die immer noch auf irgendwas zu warten scheinen, obwohl der ganze Zinnober doch durch ist. Und trotzdem tatsächlich immer noch solche, die nicht satt sind, … stur auf Kindchen-Schau, … schlimmer noch: Regelrechte Gottsucher, Erlösungssammler, richtige hardcore Christus-Abhängige.
In Gesellschaft solcher Leute fühlt der normale Weihnachtschrist sich eher unwohl, weil sie nicht nur so irre humorlos den Absprung in’s gesunde „Nächstes-Jahr-dann-wieder“-Gefühl verpassen, sondern sie sehen tatsächlich auch noch aus, als hätten sie die ganze Sache nötig.
Doch genau ihnen – den etwas beladenen Trostbedürftigen, die von Weihnachten (d.h. aber ja: von Gott!) mehr erwarten, als andere sich das überhaupt vorstellen können – … genau ihnen räumt die ganze Bibel einen Vorzugsplatz ein.
… Egal, wie man sie nennt – die „grauen Unsichtbaren“, … die „kleinen Leute“, … die „Sanftmütigen, die das Erdreich besitzen sollen“, … die „verborgenen Heiligen“, … die „in der Welt Zukurzgekommenen“ – … egal wie man sie spöttisch, verächtlich, herablassend nennt: Sie sind schon immer irgendwo auf den Feldern und Landstraßen gewesen und haben am Wegrand gekauert oder sich in die Schatten geduckt und dabei doch Löcher in den Himmel gestarrt, weil sie irgendwelche Träume, … für die meisten ganz lächerliche Phantasien hatten; und niemand würde gerade hier und heute an sie denken, wenn nicht damals ihren Vettern, ihren Bluts- und Geistesverwandten in Bethlehem die himmlischen Heerscharen erschienen wären und das viele stumme Warten und alberne Hoffen so wunderschön und einfach und unvergesslich und endgültig bestätigt und besungen hätten.
Wer aber die Geschichte, die da geschehen ist, die der Herr ihnen kundgetan hat, je gehört und behalten hat, … wer je die Tatsache gemerkt hat, dass die leichtgläubigen und schwer lebenden, die naiven und hungrigen Tagelöhner und Analphabeten vom unteren Ende der sozialen Stufenleiter die Ersten waren, denen Gott ein Weihnachten bereitet hat, der kann sich über die unverbesserlichen Tagträumer, über die proletarischen Utopisten mit den absonderlichen Kindergemütern nicht mehr wundern.
… Wo die sind, ist Weihnachten nicht weit. ———
In meiner Kindheit begann Weihnachten im eigentlichen Sinn mit einer Runde zu den Gemeindegliedern der deutschen Gemeinde in Liverpool, die aus Armuts-, Alters- oder Krankheitsgründen nicht selbst in die Kirche kommen konnten. Was es da an Seeleuten mit allerlei Fahnen, an verkrachten Existenzen, an malerisch Bekloppten gab, war schon schrill, … aber die Krönung war immer ein Besuch in einer an Gammelplüsch, Taubengurren, Fensterfinsternis und Schimmel nicht zu überbietenden Mansarde, in der eine alte Blinde mitten in den Slums hauste, … deren Fingernägelkrallen wer weiß wer im Sommer lackiert haben musste, … die alles Englisch vergessen hatte, obwohl sie einen britischen Nachnamen trug, … die dafür aber neben görenhaftem Berlinisch auch Russisch an den Mann brachte, wenn sie sich auf meinen Vater stürzte.
Diese „Auntie Watty“, wie wir Kinder sie nennen sollten, mochte einst tatsächlich in gediegenen Verhältnissen daheim gewesen sein – manche Details ihres maroden Plunders sprachen dafür –, aber die wirren Andeutungen, die sie in ihrer exaltierten Festtagsstimmung machte, deuteten in eine noch grandiosere Richtung: Sie hatte sich in ihrer bitterarmen Entwurzelungs- Einsamkeit einen besonderen Stammbaum geschaffen, … eine Romanowa, … Anastasia, die letzte Zarentochter! ——
Seit diesen Dezembersamstagen bei Auntie Watty weiß ich, was der Prophet verheißt:
„Und du wirst sein eine schöne Krone in der Hand des HERRN. … Man soll dich nicht mehr nennen »Verlassene« und dein Land nicht mehr »Einsame« …“
Mit den Viehhirten kommen viele „Prinzessinnen“ zur Krippe. Da gehören sie auch hin! ——
Wenn wir fertig waren mit den Besuchen bei solchen Vogelscheuchen der Verlassenheit und ihrer Verheißung, führte der Weg in der damals noch verrufenen und verkommenen Innenstadt von Liverpool oft an einem eher schlichten Denkmal vorbei: Auf einer langen Bank aus schmuddeligem Granit sitzt eine in Bronze gegossene, gesichtslose Frau mit dem typischen Kopftuch der einfachen Irinnen, die diese Stadt auch noch 140 Jahre nach der verheerenden irischen Hungersnot bevölkerten; sie hat eine Plastiktüte – aus Bronze! – neben sich und auf der Bank an ihrer Seite eine Zeitung ausgebreitet, von der ein Spatz ein paar Krümchen pickt. Die Inschrift ist gewidmet: „To all the lonely people“, denn es ist Eleanor Rigby – von den Beatles besungen –, die dort in der Kälte für immer ohne Gesprächspartner sitzt.
“All the lonely people, where do they all come from?
All the lonely people, where do they all belong?”
„Um Zions willen will ich nicht schweigen“, sagt der Prophet „… bis sein Heil brenne wie eine Fackel.“
Die Weihnachtsbäume der Welt leuchten ganz anders in den Augen der stumm lebenden Vergessenen. Wir können uns solches Glänzen vielleicht gar nicht vorstellen. ——
Unten am Hafen, in den Docks von Liverpool sind im 19.Jahrhundert Millionen von Schicksalen durchgeschleut worden: Die ausgemergelten Gerippe der darbenden Iren, die seit 1840 als eine Bevölkerung voll unendlichen Heimwehs, voll glühender Verzweiflung über das Nimmerwiedersehen ihrer grünen Heimat, die doch kein Brot hergab, nach Amerika gespült wurden, haben dort zum letzten Mal die alte Welt gesehen und fuhren in die Ferne. Ihre Sehnsucht, ja ihre letzte Hoffnung galt dem damals offenen Amerika: „Gebt mir eure Müden, eure Armen, / eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren“, sprach die Statue, die drüben, jenseits des Atlantik die Fackel emporreckte. „Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen; / hoch halt ich mein Licht am goldenen Tor.“
“Give me your tired, your poor, /
Your huddled masses yearning to breathe free, /
The wretched refuse of your teeming shore. /
Send these, the homeless, tempest-tossed to me: /
I lift my lamp beside the golden door.“[i]
Weihnachtsworte sind es, die am Eingang der neuen Welt, am Fuß der Freiheitsstatue heute noch anzeigen, dass Gottes Kind an einem für alles Volk offenen, einem unverschließbaren Ort geboren wurde, zu dem jedermann Zugang haben sollte. ——
Doch in den gleichen Hafenbecken beiderseits und an allen Ufern des Atlantik vollzog sich damals eine noch viel größere Tragödie. Das christliche Abendland und die neue freie Welt waren unlöslich verbunden durch den schwunghaften Handel mit Müttern und Vätern und Kinder, durch den skrupellosen Raub, die systematische Dehumanisierung und dann den lukrativen Verkauf und die sadistische Zerstörung von Familien – des Inbegriffs dessen, was die weihnachtfeiernde Christenheit für heilig und erbaulich hielt!
Sklavenschiffe und Sklavenmärkte und Sklavenkörper und Sklavenleid stellen eine unauslöschliche moralische Schuld und Schande in dieser Welt dar.
Es wird nie zu begreifen sein, dass es Christen waren, die dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit begingen – und dass es heute noch immer Christen sind, … dass wir selber es sind, die mit der Ahnung leben können, wie viele unserer alltäglichen Gebrauchsgegenstände und Gewohnheiten mittelbar darauf beruhen, dass es nach wie vor so zahlreiche Spielarten der Sklaverei, des Menschenhandels, der Zwangsarbeit und anderer Entrechtung gibt.
……. Doch sind wir nicht plötzlich bei unserem ziellosen Dahintreiben durch die tristen und trüben Randbezirke der Wirklichkeit, aus denen sich so viel Notwendigkeit des Weihnachtswunders speist, in einen hoffnungslosen Bereich, in eine undurchdringliche Finsternis geraten?
Ist die Menschheit – wenn wir sie nicht im Fragment einzelner anrührender Geschichten, sondern in der Summe ihrer Grausamkeit und Gier betrachten – nicht ohne Verbindung zu der kleinen, aber doch so tröstlichen Wirklichkeit von Bethlehem?
Müssen wir nicht also doch unseren Posten an der Krippe räumen? Aufhören, eine ergreifende alte, aber mit den Verhältnissen der Welt nicht in Einklang zu bringende Geschichte zu betrachten und zu bedenken? …….
Das wäre vielleicht naheliegend. Das wäre scheinbar vernünftig und auf alle Fälle bequem.
Und es ist der Weg der meisten Weihnachtschristen, die sich der Zerreißprobe nicht stellen, wie ein kleines Kind und eine einzige Geburt und eine Liebe und ein einsamer Heiland und ein längst vergangenes Leben und Leiden und ein rätselhafter Tod und eine unwahrscheinlich klingende Auferweckung so viel bedeuten, so lange ausreichen sollen, dass man für sich und andere mehr als nur ein Weihnachtsfest pro Jahr daraus machen könnte? …………
Doch der Stoff, aus dem biblischer Glaube entsteht, … die geistige und geistliche Haltung, die Bedingung dafür sind, dass wir nicht tatsächlich zynisch auf etwas verzichten, das wir zwar vielleicht nicht zu brauchen meinen, das aber dennoch nötig, lebenswichtig, ja heilsentscheidend für Viele sein wird, … diese Haltung zeigt uns der Prophet, dessen Verkündigung mit dem Ruf anfängt: „Um Zions willen will ich nicht schweigen und um Jerusalems willen will ich nicht innehalten, bis seine Gerechtigkeit aufgehen wie ein Glanz …“
Er gibt auch unter widrigen und entmutigenden Umständen seine Verkündigung, seine Botschaft der Zuversicht, seine Ansage des Heiles nicht auf. Denn er weiß, dass die gute Nachricht nicht dazu dient, ihn hervorzuheben, sie ist auch nicht dazu da, in erster Linie ihn selber zu trösten, zu bestätigen, zu überzeugen. Sie wendet sich an die, die wirklich Hoffnung brauchen, die wirklich ohne Gottes Wort zugrunde gingen.
Und diese Menschen hören den Ruf und folgen dem Wort!
… Ausgerechnet die Sklaven, deren Leid so zum Himmel schrie, als sei diese Erde im stolzen 19.Jahrhundert die Hölle selbst, … ausgerechnet die schwarzen Sklaven haben die Botschaft des Jesaja, die uns heute beschäftigt, unmittelbar auf- und ernstgenommen. Sie stützten sich so sehr auf die Verheißung, dass die zerstörte und brachliegende Stadt Jerusalem, deren Menschen wie sie selber in Gefangenschaft und Unterdrückung verschleppt waren, wieder leben solle, dass aus diesen Worten zwei ihrer liebsten Namen, ihrer liebsten Titel hervorgingen. Das müssen sie von den puritanischen Siedlern übernommen haben, die Bezeichnungen und Eigennamen gerne unmittelbar aus dem Hebräischen aufgriffen, und so sind die Zusagen, dass das verlassene und verödete Land von Gott „Meine Lust“ und „Liebe Frau“ genannt werden sollte, unter den glühend gläubigen schwarzen Christen Nordamerikas zum häufigen Mädchennamen Hephzibah[ii] und zur typischen Benennung des gelobten Landes als „Beulah“[iii] geworden.
Gerade die, die Verlassenheit erfahren, beziehen die Zusage der Liebe und des Wohlgefallens Gottes also auf sich. Es sind immer wieder die Hirten und andere armselige Schlucker und Sucher, die die Verkündigung großer Freude, die allem Volke widerfahren wird, beim Wort nehmen.
Und wer einmal die Stimme des afroamerikanischen Glaubens – die Stimme etwa Mahalia Jacksons[iv] – von dem Land hat singen hören, in dem Gott sich ganz mit den Menschen verbinden wird und zu dem es uns darum so zieht, … wer gehört hat, wie die Aussicht auf „Beulah“ – diesen Ort der Nähe Gottes – eine ganze Seele klingen und singen macht, ……. der muss sich nicht fragen, wer denn noch an der Krippe, wer denn noch beim Kind ausharren mag, heute am dritten Tag der Weihnachtsfeiern?
Mögen die ihre Plätze aufgeben, die nur kurz einmal vorbeischauen und dann wieder ohne den leben werden, der zu Bethlehem geboren ist.
Tausende, Abertausende, Millionen sind aus allen öden, verlassenen, übersehenen, aufgegebenen Ecken und Winkeln der Erde auf ihren Sklavenschiffen, Flüchtlingswegen, Hungermärschen, durch ihre Tränennächte und Einsamkeiten auf dem Weg zu ihm.
Es wird dort, wo Jesus Christus unter uns erschienen ist, nie still, nie einsam sein!
Unzählige graue Unsichtbaren, … kleine Leute, … Sanftmütige, die das Erdreich besitzen sollen, … verborgene Heilige sind unterwegs, um bei ihm zu sein und zu bleiben.
Wir sollten uns nur freuen, dass auch wir heute noch diesen Platz finden, wo Gottes Lust und Liebe wohnen, … wo Menschen sich an Ihm und unser Gott sich an den Menschen freut!
Möge es bloß auch unser Platz bleiben, bis weder Weihnachten noch sonst ein irdischer Tag mehr herrscht!
Möge es unser alle Platz bleiben!
Amen.
[i] Aus dem Gedicht „The New Colossus“ von Emma Lazarus, das bis heute die Freiheitsstatue schmückt und emblematisch für einen amerikanischen Traum ist, dem man Fortsetzung wünschen mag.
[ii] Hebräisch für „Ich habe Freude an ihr“.
[iii] Wörtliche Bedeutung auf Hebräisch „Die Verheiratete/ die einen Herrn hat“ …. Als Muster feministischer Perspektiven taugt dieser neu in die Perikopenordnung aufgenommene Text daher eher weniger.
[iv] Vgl. u.a. das Lied „Walking to Jerusalem“.
1.Christtag 2018, Johannes 1, 1-4.9-14, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Christtag 2018
Johannes 1, 1-5.9-14
Liebe Gemeinde!
Warum ich unter allen Weihnachtgeschenken der Erde vor allen andern tatsächlich immer wieder den Glauben an Jesus Christus, den Menschgewordenen wählen würde, hat einen einfachen Grund: Jedes andere Geschenk und viel anderer Glaube fällt unter die Kategorien des Seins und des Habens.
Einen geschenkten Gegenstand z.B. besitzt der Beschenkte seit gestern Abend: Ausgepackt, angeeignet ist das Geschenk jetzt in sein Eigentum übergegangen. Gabe ist jetzt Habe. Dieser uns ganz vertraute Vorgang bedeutet eigentlich keine Entwicklung, sondern eine äußerliche Abwicklung: Was deins gewesen ist, ist jetzt meins.
Geändert hat sich wirklich nur ein juristischer Tatbestand. Geschehen ist nichts.
Ähnlich funktioniert in vielen Fällen auch das Geschäft des Glaubens.
Nach grobem Verständnis werden durch Glauben Tatsachen vermittelt, die dem praktischen Anfassen oder dem vernünftigen Nachhalten sonst nicht zugänglich wären. Glaube setzt mich demnach in den Stand korrekten Zugriffs auf Unsichtbares, auf Geistiges, … Glaube setzt mich also z.B. in den Stand, auf die Wahrheit zuzugreifen. —
Wenn man noch mehr vergröbern wollte, könnte man sagen, dass dieses Verständnis der Glaubenserkenntnis das Grundmodell des Islams und seines Erfolges ist. Islamischer Glaube vermittelt, was stimmt. Islamischer Glaube vermittelt, wer Gott ist, was er will und was für den Menschen folglich das Richtige und das Verkehrte ist. Wer solchem Glauben beitritt, ändert seinen Kenntnisstand oder gibt den Tatsachen, die er vorher nicht anerkannte, seine Zustimmung. Jetzt hat der gläubige Muslim von Rechts wegen Teil am Recht.
Veränderung an sich findet dabei weder im Glaubenden noch im Geglaubten statt: Die theologischen und moralischen Fakten und Wahrheiten sind gegeben, und wer glaubt, bestätigt, dass sie es sind. ——
Ein so starres System ist nun gewiss nicht biblisch und entspricht auch nicht dem Gott des Alten und des Neuen Testamentes.
Denn eines der lebendigen Wunder der Bibel im Gegensatz zum Vollkommenheitsanspruch des Qor’an ist ihre Widersprüchlichkeit und eine Offenheit, die noch und noch von Verheißung zur Erfüllung und von Verwerfung zu Versöhnung drängt.
Das Wort, die Botschaft der Bibel gibt keine Gleichungen vor, die durchgerechnet sind und damit stimmen, so dass man sie ein für allemal unveränderlich nachprüfen könnte.
… Im Gegenteil: Die biblischen Gleichungen und Wahrheiten gehen nie einfach auf. Dazu sind sie viel zu realitätsreich. Sie enthalten so viel von der lebendigen Spannung, die in Liebe und Abwendung zwischen dieser Welt und ihrem Schöpfer besteht, dass keine idiotensichere Formel, kein toter Lehrsatz daraus werden kann.
Oft zeigt die biblische Offenbarung uns sogar zwei unversöhnliche Ansichten, die dennoch gemeinsam Wahres bezeichnen: Der Mensch ist geliebt und gerichtsreif; die Schöpfung ist wundervoll und todverfallen; Israel ist heilig und halsstarrig; Gott ist unfehlbar gerecht und unfassbar barmherzig; die Welt taumelt auf eine Apokalypse zu und zugleich wächst das Friedensreich Gottes in ihr heran. …….
Im Gegensatz zum eindeutigen Islam ist daher das Glaubensverständnis des Judentums eine Wunderwerkstatt der Vieldeutigkeit und Phantasie. Nichts Starres ergibt sich, wenn die jüdischen Frommen und Weisen in der Bibel forschen und ihrer verschwenderischen Lebendigkeit nachspüren, sondern eine stete Verflüssigung allzu festgeronnener Dogmen, um immer wieder neu dem Geist und der Zukunft Gottes Raum zu geben und Folge zu leisten und dem Herrn der unendlichen Möglichkeiten gerade darin treu zu sein, dass man Sein Wort nicht in einer Deutung erschöpft, sondern zahllose zulässt. ——
Doch an Weihnachten ist etwas geschehen, das von Gottes Seite sogar noch über diese Freiheit des Glaubens hinausgeht – und über die Festlegungen, die Menschen immer wieder versuchen, erst recht.
An Weihnachten ist Gott in’s Werden gekommen.
Das heißt, dass es nicht mehr bei den alten Feststellungen und Festschreibungen bleiben kann, wer und wie Gott ist, und dass auch die Bereitschaft für Gottes endlose Möglichkeiten nicht mehr das letzte Wort sein wird.
… An Weihnachten ist aus dem Sein und Können, aus der Existenz und Potenz Gottes eine wahrhaftige Entwicklung, tatsächlich eine Erweiterung geworden.
Gewiss: Gott hat sich nicht verändert. Aber indem er Mensch wurde, hat Er der Wandlungsfähigkeit, die seine Schöpfung auszeichnet – eine Schöpfung, in der sich Wachstum und Verfall ereignen –, den Makel des Unsteten und Instabilen genommen. …. Dass Gott selber zu solchen Wechseln, dass Er zur Teilnahme am Spiel von Zeit und Bewegung bereit war, ist eine Begnadigung, ja eine Rechtfertigung dessen, was sich bei uns Menschen tatsächlich nicht gleich bleibt, sondern verändert.
Und das ist das ungeheure, das im Wortsinne unendliche Weihnachtsgeschenk, das die Menschwerdung Jesu Christi bedeutet und ohne das zu leben unvorstellbar wäre. Dieses Geschenk bedeutet ja, dass unsere Entwicklungen, unsere Veränderungen und Verwandlungen keine Brüche mit Gott sind, weil Gott seit Weihnachten nicht mehr statisch über allem, sondern am Lauf des Lebens selbst beteiligt ist.
Weihnachten schenkt uns den Glauben an und das Recht auf das Werden! ——
Als der Evangelist Johannes – den die Ostkirche immer nur mit auf den Mund gelegten Fingern abbildet, … schweigend, sprachlos – … als dieser Evangelist Johannes sein staunendes Schweigen vor der Offenbarung brach, da hatte sich ein unglaublicher Satz in ihm gesammelt.
Der Satz, der niemals aufhören wird zu klingen wie ein noch-nie-dagewesener, abenteuerlicher Versuch, etwas zu sagen, für das alle Sprachen zu ungeschmeidig sind:
„Das Wort wurde Fleisch.“
Dieser eine Satz, der äonenlang undenkbar gewesen wäre und der plötzlich eine unendliche Epoche des Staunens und des geistigen und praktischen Nachvollzugs und der Anbetung dieses Mysteriums des Werdens in der Gottheit selbst eröffnet hat, … dieser eine Satz ist das christliche Schicksal geworden.
Dass Gott selber Sich bewegt, … dass Er werden kann, was Er zuvor – jedenfalls als Mensch – nicht war, … dass aber diese Entwicklungsbereitschaft, diese Wandlungsgnade in Ihm selber angelegt ist, … dass Gott Sich einfach öffnen und in Schwäche und Demut begeben kann, … dass sogar Leid und Schmerz und Sterben nicht unter Seiner unberührbaren Würde sind, sondern dass Er bis so tief hinein in unser Elend sich selbst und uns treu bleiben kann … diese maßlose Überraschung, dass Gott sich aus Liebe frei entfalten kann wie wir, ist das Herz unseres Glaubens – und es beginnt an Weihnachten zu schlagen.
Und tatsächlich ist solche Wandlungsgnade, tatsächlich ist dieses Wunder der auf uns zugehenden, ja in unsere Mitte, in unser Wesen eingehenden Gegenwart Gottes das wesentliche Merkmal des Christentums geworden.
Christentum ist Bereitschaft für den Wandel und Erfahrung mit der Veränderung.
Im Christentum beginnt mit der Fleischwerdung des Wortes ein Tanz der Tatsachen!
Das zeigt sich gerade auch auf dem vernachlässigten Feld der Sakramente:
Geist begegnet im Wasser, Wasser wird Wein, Wein wird Blut, Brot wird Fleisch, … Fleisch, das das Wort wurde, … Fleisch, das den Geist schenkt, der im Wasser begegnet: Verwandlung in allen für die übrige Welt ordinären, nichtssagenden Bausteinen des Lebens.
Es zeigt sich aber ebenso bei den Bestimmungen und Verhältnissen der Wirklichkeit in christlicher Erfahrung: Ein Toter wird auferweckt, eine Jungfrau wird Mutter, ein Blinder wird sehend, Heiden werden Kinder Gottes, Sünder werden gerecht, Menschen werden … … … …
Ja, … was können Menschen werden, seit Weihnachten wurde, seit das Wort das Werden annahm?
Da ist dem Evangelisten Johannes neben dem großen Satz vom Geheimnis des göttlichen Werdens ein nicht minder wunderbarer Satz über die menschliche Werde-Wirklichkeit aufgegangen:
„Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen die an seinen Namen glauben.“
Das ist ein Satz, der außerhalb des Christentums allenfalls bildlich zulässig ist, aber seit Weihnachten eine Qualität gewonnen hat, die staunenswert bleibt.
Die Möglichkeit, die er uns zeigt, ist nicht biologisch zu verstehen, sie betrifft nicht unsere leibliche Natur.
… Aber das Gottes-Kinder-Werden begegnet in der Werde-Meditation des Johannes noch vor der Fleischwerdung des Wortes: Es ist also nicht nur eine symbolische Redewendung, die eine geistige Wirkung, einen inneren Nachhall der tatsächlichen Geburt Jesu in den Gläubigen beschreibt, sondern es bezeichnet tatsächlich ein vorgeordnetes Ziel des Weihnachtswunders. Damit diese Entwicklung möglich würde – so muss man schließen –, ging Gott den neuen Weg, den unerhörten Weg vom Geistigen in die Materie, in das konkret Stoffliche.
Um aus Menschen – den vielseitigen, den anpassungsfähigen, aber auch eigensinnigen Künstlern der Evolution (um einmal ein wahrhaftig naheliegendes Wort zu benutzen) – diejenigen zu machen, die wirklich Ihm ähneln, die wirklich Ihm entsprechen, die Ihm wirklich wesentlich verbunden sein würden: Darum hat Gott den Weg der Einleibung, der Verwirklichung, der Realisierung Seiner selbst in der Menschheit gewählt.
Das Fleischwerden Gottes in Jesus Christus dient dem Ziel der Verwirklichung des Menschen nach dem Ebenbild Gottes.
Damit Er der Vater aller werden könnte, die an Ihn glauben, wurde Gott … Sohn.
Was Gott demnach an Weihnachten zu werden bereit war, will also unsere Entwicklung freisetzen, will uns bereit machen, wie Er nicht festzuhalten an dem, was wir sind und haben, sondern Gott ähnlich zu werden in den Möglichkeiten des Neubeginns, des Aufgebens, des Anderswerdens und Andersmachens. ———
Wenn also wirklich das schönste aller Weihnachtsgeschenke die geglaubte Menschwerdung ist, dann ist es auch das folgenreichste aller Geschenke, weil es uns nicht mit etwas ausstattet, das wir schnell und einfach haben könnten, sondern uns eine Veränderung, eine Hoffnung, eine Aussicht auf große Wandlungen zumutet.
Doch gerade in dieser weiten Wirkung – dass Weihnachten uns nichts für uns schon Fertiges schenkt, sondern erst auf eine fortwährende Verwandlung und Annäherung an Gott verweist – … gerade in dieser langen, weiten Fortwirkung ist Weihnachten eine unendliche Befreiung:
Nichts muss bleiben, bloß weil es einst war, jetzt ist oder als unabänderlich gilt. Alles kann sich wandeln und wechseln; wir können wachsen und werden, was bisher unvorstellbar schien.
Wir können hoffen, dass die paralysierte und zementierte Lage unserer Menschheit sich ändern lässt, die zwischen großartig erfinderischen Möglichkeiten und tödlich verstrickter Selbstbezogenheit keine Entscheidung treffen kann.
Wir sollen – seit wir von Gottes wundervollem Sich-Einlassen auf die Welt wissen – glauben und bezeugen und bewirken, dass nichts und niemand in der Welt rettungslos ist und noch die urältesten Gewohnheiten, die am wenigsten hinterfragten Gesetzmäßigkeiten hier kein ewiges Verhängnis darstellen und dass sich ändern kann und muss, was dem Leben der Welt und Menschen Gottes schadet und dass siegen soll und wird, was der Gerechtigkeit und der Liebe dient.
Wir haben seit Weihnachten also wirklich eine neue Welt, in der eine neue Wirklichkeit des einen Gottes sich entfaltet: Der Segen des Anders-Werdens.
Sein weihnachtliches Fleischwerden.
Sein sakramentales Übersetzen von einem Stoff in den anderen.
Unser ethisches und praktisches Heilwerden durch Umkehr und Neuanfang.
Endlich auch das österliche Weltwunder, das die Todeswirklichkeit sprengt und überall ewiges Leben werden lässt.
Das alles ist das vollkommene Weihnachtsgeschenk in dem einen unendlichen Satz:
„Das Wort ward Fleisch“!——
Und wir sehen seine Herrlichkeit.
Amen.
Christmette 2018, Stadtkirche, Weisheit Salomos 18,14f, Jonas Marquardt
Kaiserswerth Christmette 2018
Weisheit 18,14f
„Als tiefes Schweigen das All umfing
und die Nacht bis zur Mitte gelangt war,
da stieg dein allmächtiges Wort, Herr,
vom Himmel herab, vom königlichen Thron.“
„Dum medium silentium tenerent omnia,
et nox in suo cursu medium iter haberet
omnipotens sermo tuus, Domine,
de caelis a regalibus sedibus venit.“
Altkirchliche Antiphon nach Weisheit Salomos 18,14f
Liebe Gemeinde!
Nicht dass ich vermutete, hier sei niemand mehr zurechnungsfähig, niemand sei mehr orientiert in Raum und Zeit. … Und dennoch bin ich sicher, dass die Wenigsten wissen, wo und wann wir gerade sind. Jedenfalls zeigen’s unsere Geräte nicht an.
Wir sind… wann anders.
Das liegt an der Nacht. Sie ist die Interessanteste der Zeiten.
… Der Morgen ist ein Milchmädchen; frisch und fröhlich und viele sehnen sich danach. Aber auch arg rosig. Ist alles erst einmal alles ganz aufgeklärt, sieht’s anders aus.
Danach kommt der Mittag. Das ist ein Blender. Und macht halbe Sachen: Täuscht Ruhe vor, dabei wartet hinter ihm ja noch ein langer Abschwung.
Schließlich der Abend: … Nachlassende Handlung, weniger Leben, Vorzeichen des Endes. ——
Wie anders dagegen die Nacht, … gerade die Nacht der Jugend! Zeit der Feste, Zeit des Feierns, Zeit der Räusche und der Rendezvous. Kein anderer Zeitabschnitt wird so durchtanzt, durchspielt, durchzecht; kein anderer ist so dramatisch mit den Schicksalsstunden einer Nachtwache oder den Verlockungen und Folgen eines nächtlichen Abenteuers verknüpft. Kein anderer trägt so zur Erholung und Kräftigung, kein anderer aber auch so zur Erhaltung und Vermehrung des Menschengeschlechtes bei.
… Die Nacht ist voller Spuk und Liebe, voller Phantasie und Sorgen; sie ist endloser als jeder Tag, … bleiern oder leidenschaftlich, aber immer geheimnisvoll, immer voll Wohl oder Übel aufregend.
Und heute feiern wir sie!
Diese Mette ist der einzige wirkliche Nachtgottesdienst, den unsere Kirche kennt, denn die andere heilige Nacht – die von Ostern – erlebt man ja ganz vom Sonnenaufgang her, der dann die Frauen an’s Grab führt und die wunderbare Botschaft der Auferstehung in die Welt strahlen macht. Ostern also ist Überwindung der Nacht.
Weihnachten dagegen ist zunächst im besten Sinne ein Fest voller Nachtleben. ——
In diesen Stunden, in denen die Dunkelheit jedes Geräusch intensiviert, wirkt der Schrei eines Neugeborenen wie ein Fanal: Kein Gespenst hat diese Nacht hervorgebracht, sondern einen vitalen Menschen.
Und andere Nachtmenschen – müde, aber auch wachsame Hüter – erfahren eine solche Sternstunde unterm dunklen Himmel, dass sie Hürden und Nachtlager verlassen, in der Finsternis noch aufbrechen und ein intimes Bild im Schein dürftiger Beleuchtung finden, das ihr Herz und Leben wärmer, lichter und zukunftsbereiter macht als die Sonne selbst es könnte. Andernorts wiederum sind in diesen Nachtstunden wissenschaftliche Nachtschwärmer in ihrem Element, denn die Schwärze des Weltalles zeigt ihnen von Sonnenunter- bis Sonnenaufgang eine Spur, die sie aus ihrer Welt nach Israel und in Israel zum Himmel selber führen wird. … Vom geburtsnassen Kleinkind bis zur unvordenklichen Tiefe des Kosmos ist in dieser Nacht also alles lebendig.
… Eine heilige Nacht; …… wahrlich! ——
Aber beantwortet das schon die Frage, die stets das jüngste Kind zu stellen hat bei der schönsten nächtlichen Feier des jüdischen Volkes, an die unser jetziger nächtlicher Gottesdienst auf verborgene Weise ja erinnert?
Wenn in den Ostertagen in jüdischen Häusern nämlich das Passamahl gefeiert wird, fällt nach begnadeter pädagogischer Tradition alle Jahre wieder dem jeweils kleinsten Tischgast an der reich gedeckten und geschmückten Tafel die entscheidende Erkundigung zu: „Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?“ muss der Jüngste fragen und so die schöpfungsfrische Neugier der Kindheit als theologische Notwendigkeit bezeugen. ——
Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?
— Wie antworten wir unsern Kindern, die nach Bescherung und Festessen, nach Aufruhr und erster Entladung der Vorfreude und Festspannung tatsächlich ja ahnen, dass es nicht nur der Überfluss an Genüssen und Geschenken ist, der die Heilige Nacht auszeichnet, sondern dass sich unter diesen Gestalten des Schönen und des Guten etwas anderes als reiner Spieltrieb und bloße Gaumenfreuden verbergen und zugleich enthüllen will.
Hinter allen greifbaren Elementen der Nacht unserer gegenseitigen Wunscherfüllung und des gemeinsamen Verwöhntwerdens steht in Wahrheit ja zunächst das Gegenteil … ein Gegenteil, das auch die Passanacht erst unverwechselbar und leuchtend macht.
Beim Passa bildet die Finsternis der Sklaverei den Hintergrund des freien Feierns.
Und in der Weihnacht wird alles dadurch so kerzenhell und himmelsklar, dass ihr Licht in eine andere Art des Festgehaltenwerdens fällt. Diese andere Dunkelheit, die uns prägt, diese anderen Schatten, die auf uns liegen und die heute Nacht von einem Wunderlicht durchbrochen werden, müssen wir unseren fragenden Kindern auch erklären.
Die alten Griechen hatten es da leichter. Sie unterschieden sprachlich zweierlei Nacht: Die eine, das sind die Stunden ohne Sonne, in denen die äußere Welt lichtlos schlummert. … Dass nun in diese astrophysische Nacht hinein zur Weihnacht Lebendigkeit strömt, die sich beim Kind und den Hirten und den östlichen Sterndeutern und den Himmelskörpern und am meisten vielleicht bei den himmlischen Heerscharen zeigt, das ist die eine Heiligkeit dieser Nacht: Lebendiges Nachtleben.
Doch die Griechen kannten neben der nächtlichen Zeit – der Nyx – auch noch einen sogar ursprünglicheren nächtlichen Zustand, der nicht durch den Wechsel von Licht und Verdunkelung hervorgebracht wird, sondern der die innere Nachtseite des Universums, seine stoffliche und geistige Unheimlichkeit und Undurchdringlichkeit darstellt, das Chaos und die Schwärze, die allem Materiellen vorangehen und innewohnen. „Erebos“ hieß diese innerliche und untergründige Nacht der Welt[i].
Und auch wenn der griechische Unterweltgott Erebos im Neuen Testament keine Erwähnung findet, so ist doch nicht zu leugnen, sondern staunend zu bekennen, dass die heutige Nacht auch deshalb heilig ist, weil Gott in ihr nicht nur in die Abwesenheit des Tageslichts, sondern in die Allgegenwart von Chaos und Finsternis und dunklem Todesgeschick gekommen ist.
Gott, Der Klarheit und Licht ohne jede Veränderung ist (vgl.Jak.1,17), hat Sich im Geborenwerden Jesu – und es ist das Geborenwerden dessen, den wir als wahren Gott bekennen! – auf so viel physische und metaphysische Finsternis eingelassen, dass es ungeheuerlich ist:
Aus der universalen und transzendenten Ewigkeit in die blinde Enge von Mutterleib und -schoß!
Aus göttlicher Klarheit in irdisches Zwielicht!
Aus dem Urlicht des Lebens in die Dämmerung der Sterblichkeit, die das Lichtlöschen des Todes durch jeden Atemzug und Windhauch erleiden kann.
… Gott in der chaotischen Realität zwischen der Bauchhöhle einer Frau und den Eingeweiden der Erde!
… Den Juden ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit (vgl.1.Kor1,23) ist also nicht erst die Sonnenfinsternis am Kreuz, sondern schon diese Nacht der Krippe!
Für uns aber ist das die zweite Heiligkeit dieser Nacht: Die Gottesgegenwart im durch und durch verdunkelten, innerlich sonnenfinsteren, nächtlichen Dasein der Menschen.
Das unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten der Weltgeschichte, denn sie ist das Pendant, sie ist die Ergänzung der Passanacht, in der die jüdischen Kinder den Dingen auf den Grund gehen: Passa bedeutet, dass Gott Seine Menschen in die Freiheit herausführt. Weihnachten bedeutet, dass Gott sich in die Unfreiheit der Menschen begibt. ——
Gemeinsam ist der Nacht des Exodus und der Nacht der Inkarnation aber, dass es sich jeweils um Rettung, um Befreiung, um geschichtsmächtiges, schicksalwendendes, heilvolles Eingreifen und Einkehren Gottes in die Wirklichkeit seiner Menschen handelt.
Und darum war es mit treffendem Gespür, ja mit tiefer Einsicht, dass in der alten Kirche ausgerechnet ein Passa-Text aus dem für uns apokryphen Buch der Weisheit Salomos aus-gewählt wurde, um der Liturgie einen unvergesslichen weihnachtlichen Kehrvers zu schenken[ii].
In der Weisheit Salomos beschreiben die Verse vom mitternächtlich-tiefen Schweigen, in das hinein das allmächtige Wort fährt, ursprünglich nämlich im härtesten Kontrast zu unserer weichen Sektlaune nach glücklicher Geburt den blutigen Kometenaufschlag, als die arglosen Ägypter nachts vom Himmel hoch durch den Engel getroffen wurden, der ihre Erstgeborenen tötete. …….
Das ist nun tatsächlich aber ein liturgisch abgründiges Wagnis: Einen Einbruch des Tödlichen zum Bild für die Ankunft des Lebens zu machen. …Grausam. … Geschmack-los. ……. Aber auch wahr!
… Ohne die schwarze, tragisch makabre, tödliche Grundschattierung der irdischen Wirklichkeit wären Befreiung und Erlösung des Menschen überflüssig.
… Dasein ohne Bitternis, Weile ohne Bruch, Gemeinschaft ohne Mord, Humanität ohne Sünde könnten ohne Rettung, ohne Wunder, ohne Gott stets weiterfließen.
Erst die Nacht am Horizont, erst die Finsternis über dem Erdreich, erst das farblose Schattenreich, dem wir ohne Gott entstiegen und zu dem wir zurückkehrten, wenn Gott uns verloren gäbe oder ginge … erst das Grauen des Nichts macht doch alle Passa- und Weihnachtswunder nötig.
Denn – und das ist die wichtigste Gemeinsamkeit zwischen der Nacht des Passa und der heutigen Christnacht und auch der ersten Nacht auf Erden und einst der letzten aller Nächte – denn wir haben einen Gott, Der nichts im Dunkel enden lässt, Der nicht mit Vernichtung und Vernachtung droht, sondern Der schon bei der Schöpfung eine andere Zielrichtung und Zeitrechnung in die Welt gebracht hat als unsere negative Zählweise und unser destruktives Zeitgefühl.
… Unsere Natur rechnet abwärts, vom Hellen zum Dunklen, vom Aufgang zum Untergang, vom Frühem zum Späten, vom Morgenrot bis zum schwarzen Loch.
Wir sehen den Tag und die Zeit und das Leben „vergehen“. Und gegen die Vergänglichkeit kämpfen wir an, indem wir als Jugendliche die Nacht zum Tag machen, indem wir als alte Leute die Dämmerung möglichst verlängern, indem wir Kunstlicht und Exzess und – wer weiß? – vielleicht auch Weihnachtskerzen und Geistesblitze als Mittel nutzen, um den Einbruch der unerleuchteten Stunden, um die gefürchtete Bewusstlosigkeit und das ängstlich abgewehrte Einschlafen, … um den Tod aufzuschieben.
Unserem Empfinden nach ist die Nacht das Ende des Tages, sein Schlussstrich. …….
Doch seit Gott aus dem dunklen Tohuwabohu vor der Zeit den Unterschied von Finsternis und Licht herausdifferenziert hat, geht Seine Zeiteinteilung, geht biblische Chronologie anders: Niemals abwärts! Immer aufwärts! Nicht zum Ende, sondern auf die Erfüllung hin: Es wird Abend und Morgen und so wird es Tag (vgl.1.Mose 1,5)!
Und so ist auch diese Nacht zu verstehen und zu datieren, ……. so, im Unterschied zu allen anderen Nächten und wie wir sie erleben: Diese Heilige Nacht ist nicht der Abschluss des gestrigen Tages, des 24.Dezember – einerlei, was die Kalender und die Datumsanzeigen unserer Geräte noch immer sagen mögen. Diese Nacht ist wirklich kein Vorabend mehr, … nein, sie ist „morgen“, sie ist Weihnachten!
Wie das Passa – das Mahl und der Aufbruch und die Flucht und die Rettung aus Ägypten – der tatsächliche Anfang der Freiheit war, so ist auch jetzt nicht mehr gestern oder seine Fortsetzung, sein Abspann, … sondern wir sind in der Nacht des Neuen. Gottes Reich ist hier in der Finsternis angebrochen.
Wir sind ……. wann anders.
Gewiss: Es ist Nacht. Grauen über Indonesien. Nacht in Afghanistan, Nacht im Jemen, Nacht in Syrien, Nacht über Bethlehem. Finsternis auch über viele, vielen anderen Landstrichen, die wir hell und aufgeklärt glaubten. …….
Aber die Nacht, in der Christus Mensch wird, zeigt uns, dass wir trotz allem und mit allem nicht am Ende, sondern am Anfang sind.
Wie der Dichter unter den Kirchenvätern – Ambrosius von Mailand – es singt: Diese Nacht voller Leben und Anfang und Aufbruch ist der Aufgang eines ganz neuen Lichtes, eines Lichtes, das Finsternis leuchten lässt wie den Tag (vgl.Ps.139,12)[iii].
Und so hat Gott diese Heilige Nacht endgültig zu Seinem Tag, zum Tag für jeden von uns werden lassen, denn Er hat ja die Menschheit zu Seiner eigenen Sache gemacht , …Seine Menschheit, deren Teil Er in Jesus Christus geworden ist.
Und das unterscheidet diese Nacht von allem anderen:
Dass wir in ihr morgen sind; dass wir im Licht sind, das immer nur zunimmt und das wir preisen, von dem wir leben, zu dem wir gehen … mitten in der Nacht.
Amen.
[i] Vgl. dazu H.-G. Friese, Die Ästhetik der Nacht – Eine Kulturgeschichte, Reinbek 2011, bes. 170ff.
[ii] Vgl. dazu A. Cabaniss, Wisdom 18: 14 f.: An Early Christmas Text, in: Vigiliae Christianae, 10(2) [1956], 97-102.
[iii] Vgl. Ambrosius‘ vielfach (auch von Luther) übersetzten Hymnus „Veni, redemptor gentium“ – im EG 4,4.
Christvesper 2018, Stadtkirche, Lukas 1,31 + Matthäus 1,21, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christvesper 2018
Lukas 1,31
Liebe Gemeinde!
Gelegentlich ist auf der Geburtsstation am Bettchen ein Schild angebracht: „Müller - männlich“ oder „Meyer - weiblich“, … und nur ganz selten ist das ein besorgniserregendes Zeichen etwa für unversöhnliche Namensvorstellungen der Eltern oder tatsächliche Vernachlässigung eines ungewollten Erdenbürgers. Häufiger sind die kleinen weiblichen Meyers und die Müller-Knaben nur noch nicht vollständig etikettiert, weil man eben noch nicht mit Gewissheit sagen kann, ob sich da ein großer Alexander oder ein feiner, kleiner Oberon entfaltet, und wenn dann einer Ernst hieße oder eine Hertha, die das partout nicht sind, dann sind vier frühe namenlose Lebenstage nicht umsonst und nicht verkehrt. ——
Verkehrt ist etwas anderes.
Verkehrt ist es, dass an der Krippe von Bethlehem ein ganz ähnliches Schildchen zu hängen scheint, das von Unsicherheit und Zögern, von Unentschlossenheit und der Unfähigkeit zur Festlegung zeugt.
Dieses Schild haben wir dort angebracht.
Nicht die Erschöpfung der jungen Mutter, die da unter den Gefahren der Obdachlosigkeit entbinden musste, hat dem Kind das Fragezeichen mit auf den Weg gegeben.
Und auch der sicher von allerhand Selbstzweifeln bewegte Ziehvater, der seine Frau nicht besser schützen und stützen konnte als sie im Dreck des Unterschlupfs so erbärmlich durch ihre Krise musste, … auch er hat seine vielen Fragen nicht verewigt, die mit diesem unerklärlichen Kind zur Welt kamen.
Denn beiden – der ahnungslosen Mutter wie dem ausgeschlossenen Mann – war nur eines ganz früh und ganz klar gesagt worden: Dieses Kind sollte nicht namenlos leben, obwohl es unter den Menschen vaterlos sein würde.
Nur in diesem einzigen Detail stimmen nämlich die beiden Geburtsgeschichten, die der Evangelist Matthäus und der Evangelist Lukas berichten, überein: Joseph wie Maria begegnet vor der Geburt ein Engel, der ihnen exakt gleichlautend aufträgt „Du wirst seinen Namen Jesus nennen“ (Matthäus1,21 // Lk1,31). Keine andere Sequenz in den beiden Geburtsberichten ist so deckungsgleich.
Wenn Forscher einen sprachlichen DNA-Vergleich anstellen wollten, um aus dem 1. und dem 3.Evangelium auf den darin Dargestellten zu schließen, ergäbe einzig das Muster dieses Abschnitts früh und eindeutig seine Identität: Schon vorgeburtlich gilt ihm der Name Jesus. ——
Wir allerdings erkennen selten, wie ausschlaggebend dieses Detail ist.
Und wenn wir nun erst an Heilig Abend dazu kommen, uns mit der Geburt dieses Kindes zu befassen, dann geraten wir tatsächlich in’s Tal der Ahnungslosen, denn dann begegnet uns von den Kanzeln herab immer nur ein kleiner Ausschnitt des Evangeliums, den Lukas – der Weihnachtsbote – nie ohne den größeren Zusammenhang für verständlich gehalten hätte.
In dem, was wir als Weihnachtsevangelium lesen, ist nämlich ein echter Mangel enthalten: Der, um den es geht, begegnet uns als der erste Sohn, als der neugeborene Heiland, als Christus, der Herr, als das Kind, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend – … aber trotz dieser zahlreichen Beschreibungen wird er nicht ein einziges Mal genannt.
Das Evangelium des Heiligen Abend berichtet tatsächlich von einer anonymen Geburt.
Sämtliche Bezeichnungen darin sind völlig unspezifisch:
Kinder und Erstgeborene gibt es seit jeher – zum Glück – unzählige.
Und Heilsbringer sind bis heute eine so beliebige Kategorie, dass man sich aussuchen kann, ob man sie lieber aus dem Saar- oder dem Sauerland hätte, ob sie schöne biblische Namen tragen sollen, gegen die man dann in gelben Westen aufmuckt, oder ob sie besser wie ein pompöser Schnatterich heißen, gegen den man im Namen der Bibel wahrlich protestieren könnte.
Obendrein wurden Heilande im römischen Reich regelmäßig geboren, denn jeder Imperator konnte die Ankunft eines Stammhalters mit genau jener Formel proklamieren, die die Engel in einer geradezu satirischen Provokation den Bethlehemer Hirten zuriefen: „Ein neuer Retter, ein neuer Sotēr ist angekommen“.
Was schließlich den „Christus“-Titel betrifft, gibt nicht einmal der einen eindeutigen Aufschluss, denn mit diesem Ehrennamen des von Gott Erwählten hat der Prophet Jesaja schon den altpersischen König Kyros bezeichnet, der die Juden aus dem Exil in ihre Heimat ziehen ließ, und weitere Messias-Anwärter, die den Titel des Gesalbten mit dem Versprechen endgültiger Befreiung verbanden, waren gerade in neutestamentlicher Zeit häufig. ———
Wer also ist das mysteriöse Neugeborene, dessen Identität das Weihnachtsevangelium an sich mehr verbirgt als verkündet?
Das ist in der Tat eine ganz zentrale Frage, denn der Maßstab dieses Festes und die unvergleichliche Rolle, die es als beinah letzte allgemeine Berührung unserer Gesellschaft mit dem, an den die Christen glauben, spielt … diese Sonderstellung macht es doch dringend wünschenswert, dass wir die Einsicht gewinnen, mit wem Weihnachten uns konfrontiert.
Stattdessen – man halte das nicht nur für pastorale Polemik, sondern höre die mitschwingende Selbstkritik – … stattdessen sind wir aber leider mit dem Ungefähren, mit Missverständlichem und Vieldeutigem zufrieden.
Denn die Mitte des Weihnachtsfestes nimmt auch in liebgewonnener, traditionell evangelischer Gestalt ein namenloses, geheimnisvolles Geschöpf ein, das Luther zum Gabenbringer machte, um diese Rolle nicht länger Sankt Nikolaus allein zu überlassen, „der uns doch nichts erworben“ (vgl. EG 346,2).
Aus Luthers „heiligem Christ“ wurde jedoch spätestens seit Nürnberger Patriziertöchter mit Rauschgoldlocken es verkörperten ein elfengleiches, geschlechtsdiverses, unbestimmtes Wesen – das „Christkind“ – , das reines Symbol ist und folglich vielleicht einen Erfinder und eine Konjunktur hatte und bis heute noch Nostalgienachklänge, aber eben keine Geburt, kein Leben und Sterben, keine Ewigkeit … keine Wirklichkeit!
Nun geht es gar nicht darum, sich gegen nötige, sprechende, ansprechende Symbole zu wenden. Wir sollten die tiefsinnige, komplexe und doch oft unmittelbar zugängliche Sprache der Zeichen und Bilder ja vielmehr wieder auffrischen und nutzen, denn sie erschließt uns unsere Herkunft und schenkt zuweilen weltweite Verständlichkeit, wo Formeln und Fachbegriffe schleierhaft sind.
Doch in der christlichen Kirche muss am Beginn des ihr anvertrauten Evangeliums Klarheit herrschen, die Erkenntnis erzeugt. Und klar ist: In der Menschheitsgeschichte hat unter der Herrschaft des Augustus, der sich selbst als Sohn des göttlichen Cäsar bezeichnen ließ, in der Provinz des Herodes einst kein Symbol, kein „Christkind“ seine Urständ gefeiert, sondern da wurde ein ganz uncäsarischer Mensch geboren, … ein einzelner, noch hilfloser, aber doch zukunftsfähiger, bestimmter Mensch!
Und so wie man einen Menschen niemals nur mit einer Nummer oder einem Code und auch nicht mit einem Gattungsbegriff oder nach äußeren Merkmalen der Blutgruppe, der Volkszugehörigkeit oder irgendeines Ranges ansprechen sollte, ebenso wenig sollte man diesen Menschen, um den es uns doch so besonders geht, einfach nur mit seiner Amtsbezeichnung – und sei sie noch so weihevoll – oder mit sonstigen theologisch schmückenden Beiworten bedenken. … Wir sollten ihn bei seinem Namen nennen, denn er ist kein Symbol und keine Figur, sondern einer von uns. Er ist wirklich. Er ist individuell, … persönlich. Hat Merkmale und ein Gesicht und einen Fingerabdruck – und auch eine Blutgruppe! – , hat einen Namen, so wie jeder andere. … Sein Name aber heißt „Jesus“.
Das hat seine Mutter geflüstert oder vor Erleichterung laut schluchzend ausgerufen, als er endlich neben ihr in den Windeln auf der Streu lag. Und sie hat es wohl auch geschluchzt oder geflüstert, als er dreißig Jahre später über ihr am Kreuz den Todeskampf, die umgekehrten Wehen durchlitt und in ein Leichentuch gewickelt wurde.
„Jesus“: das ist der erste Laut, der diesen Menschen weihnachtlich empfing und es ist der letzte Karfreitagslaut, den sein von der Agonie blockiertes Gehör vernahm, ehe er den Preis des Menschenlebens entrichtete … des Lebens aller Menschen.
In diesem „Jesus“-Namen ist für den, der ihn zwischen seiner Geburt und seiner Kreuzigung trug, zunächst also ein ganzes Menschenleben gefasst, so wie es uns mit dem eigenen Namen geht.
… Doch sein Name steht – anders als es unseren wiederfahren wird – heute nicht etwa auf einem Grab. Denn der Träger dieses durchaus nicht ungewöhnlichen, sondern zu seiner Zeit beliebten Namens hat tatsächlich – wie es im ältesten Lied der Christen heißt (Phil2,9f) – den Namen empfangen, der über allen Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind!
Es ist also kein Name, der verklungen wäre, kein Name, den keiner mehr nennt, sondern seit Gott Seinen in Bethlehem geborenen kleinen Sohn, den man auf Golgatha zerbrochen und als gründlich ausgelöscht verworfen hatte, aus dem Reich des Todes rief, ist dieser Eigenname Mitte, Motor und Motiv der Weltgeschichte, der Welthoffnung geblieben.
„Herr, wer bist du?“ schleuderte ihm sein Erzfeind Paulus entgegen, der die Erinnerung an den falschen Messias, den unechten Christus aus Nazareth ausrotten wollte. … Und auf die Antwort muss man genau merken (vgl.Apg.9,5). Es heißt nicht, dass der Auferstandene und zur Rechten Gottes Erhöhte seinem Verfolger geantwortet hätte: „Ich bin doch der Christus! Ich habe doch den Titel und doch das Amt!“, … sondern als stünde er vor der Tür, ganz von Mensch zu Mensch, wie schon an der Krippe das Kleinkind kosend genannt wurde, nennt er auch aus dem Himmel seinen einfachen Rufnamen: „Ich bin Jesus!“
Und seitdem können alle Menschen aller Völker ihn tatsächlich so ansprechen, können ihn nennen und beim Namen rufen … und er hört!
Dieser Name ist seit Weihnachten unser Zugang: Nicht zu einem König – der braucht Schmeichelei – , nicht zu einem Priester – der braucht Devotion – , nicht zu einem überirdischen Würdenträger – der braucht hymnische Titel – , sondern zum besten Freund, zum nächsten Menschen, zum stärksten Trost und wärmsten Licht, zur wirklichsten Hoffnung, zur unverlierbaren Liebe.
Dieser Jesus nämlich hält, was sein Allerwelts-Name verspricht – hält es für jeden, der ihn anruft, denn es ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin sie sollen selig werden (vgl.Apg.4,12). ——
Und so ist es ein Glück, dass er einen wirklich alltäglich aussprechbaren Namen und keinen Kunstnamen trägt, … einen Namen, der in Israel ganz und gar vertraut war, denn schon der Nachfolger des Mose, der die Befreiung aus Ägypten und den Einzug in’s gelobte Land vollendete, hieß so – Jehoschua, Josua – und auch z.B. der Hohepriester Josua in jener armen, aber doch erlösten Zeit, als die Juden aus Babel heimkehren durften (vgl. Sacharja 3!).
Auch diese Männer der Rettung trugen also diesen beliebten Namen, … denn in seiner uns geläufigen, damals volkstümlichen Kurzform – Jeschua – ist es ein sprechender, ein vielsagender, ein ganz klar verständlicher Name. … Auf Hebräisch bedeutet er schlicht: „Hilfe, Rettung, Heil.“
Das Kind dieser Nacht heißt also: „Hilfe!“
Einfacher und sinnreicher kann kein Name sein.
So sehr, dass selbst dort, wo niemand die Bedeutung des Wortes mehr kennt, er doch immer noch ursprünglich sinngemäß verwandt wird, wo immer wir „Herrje!“ oder „Oje!“ rufen, … genau wie die angelsächsische Welt „Geez!“ als Stoßseufzer ihres Schreckens oder Überwältigung kennt.
„Hilfe!“ heißt das kleine Wickelwesen im Stroh, das wir lieber namenlos lassen oder auf seine quasi-amtliche, vor allem aber niedliche Seite als „Christkind“ reduzieren.
Doch genau diese gönnerhafte Festlegung auf das Unbestimmte, irgendwie Feierliche und Rührende, das lockig und geflügelt und – sagen wir’s ruhig – zwitterhaft kitschig sein kann, entleert die Krippe, unterbindet die Entbindung dort, schafft den aus der Welt, den die Hirten als Erste auf Erden suchten.
Das Christkind gehört in die Stuben, auf die Weihnachtsmärkte, in die erzgebirgisch anheimelnde Kerzenwelt des Gemütes.
„Jesus“ dagegen gehört in’s Leben und Sterben. Sein ganz persönlicher und doch buchstäblicher Allerweltsname, der für die ganze Welt ein Versprechen enthält – „Heil! Beistand! Rettung!“ – ist unlöslich und unmittelbar mit ihm verbunden und dabei eben doch ganzjährig und lebenslang offen für uns alle, wenn wir ihn nur nutzen, wenn wir ihn nur aussprechen und wahrnehmen und gebrauchen wollten.
Vielleicht aber ist ja gerade der Heilige Abend, an dem wir weniger den Selbstverteidigungsstolz spüren, der uns gewöhnlich so hässlich macht, weil wir in der Aussicht auf das Miteinander, auf Genuss und Gespräch und Gewärmt-Sein und Gesegnet-Sein nicht ganz so überheblich, nicht ganz so selbstbezogen, nicht ganz so unerreichbar sind wie sonst, …vielleicht ist also gerade der Heilige Abend die beste aller Stunden, damit anzufangen, dass wir uns sagen und sagen lassen: „Auch ich brauch’ diesen Jesus, denn auch ich brauche Hilfe. Ich wäre nicht hier, … ich wäre nicht Ich, wenn mir nicht auf Schritt und Tritt geholfen worden wäre. Auch ich bin ohne Jesus nicht schlicht nicht denkbar. Er ist das Geheimnis meines Lebens. …….“
Und wenn wir das merken, wie der „Jesus“-Name, den Jahrzehnte nach Weihnachten der Blinde von Jericho rief, als hätten ihm ihn die Weihnachtsengel verraten (Mk10,47) – „Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ – wenn wir merken, wie der „Jesus“-Name die ganze Botschaft von diesem Kind enthält, das für alle Welt der Heiland, der Helfer und Retter sein kann, dann sollten wir wirklich anfangen, ihn zu nutzen.
Vielleicht bringen wir es nicht schnell zu jener uralten, unerschöpflichen Gebetsweise, die sich das „Jesus“-Gebet nennt, das seit beinah anderthalb Jahrtausenden von denen geübt wird, die wie der Blinde einfach nur „Jesus“ rufen und Kraft und Segen und Frieden darin finden, … bei jedem Atemzug, bei jedem Schlagen des Herzens innerlich diesen Namen zu wiederholen.
Aber auch wenn wir oft anders atmen und anderes denken und tun mögen, … wir sollten ihn mitnehmen und festhalten: Den Namen, der über alle Namen ist, der immer galt und immer hält, was er verspricht. „Jesus“, der vor seiner Geburt wie nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt genau war, ist und bleibt, was sein Name verheißt:
Unsere Hilfe, unsere Rettung!
Amen.
2. Advent, 09.12.2018, Mutterhauskirche, „Erwartungen“ – Jes.35,3-4 u. Jak.5,7-8, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
Erwartung und Hoffnung, diese beiden Stichworte charakterisieren die liturgischen Texte des 2.Advents. Zwei Stichworte, die gerade auch zu meinem 25-jährigen Dienstjubiläum passen. Am 2.Advent 1993 wurde ich hier in der Mutterhauskirche in die zweite Pfarrstelle, die Gemeindepfarrstelle der damaligen Anstaltskirchengemeinde beim Diakoniewerk Kaiserswerth eingeführt.
Erwartungen und Hoffnungen waren damals mit dabei - von meiner Seite genauso wie von der Seite der Gemeindeglieder der Anstaltskirchengemeinde, die nicht nur einen besonderen Namen hatte, sondern sich auch in besonderer Weise zusammensetzte. Eine Frage: wer von den Anwesenden war damals mit dabei? ... Dass es nur noch so wenige sind, die den Einführungsgottesdienst mitgefeiert haben, hängt eben mit der besonderen Zusammensetzung der früheren Anstaltskirchengemeinde zusammen. Damals saßen hier noch etwa 80 Diakonissen mit Tracht in den Reihen und auch noch eine ganze Reihe vor allen Dingen ehemalige Mitarbeitende der Kaiserswerther Diakonie, die „Zivilen", wie sie genannt wurden und die sich damals das Wohnen in Kaiserswerth noch leisten konnten.
Meine Erwartung jedenfalls war, dass die geistliche Besonderheit dieser Gemeinde gerade mit den Diakonissen und mit der - wie mir der Superintendent damals sagt - höchsten Dichte an Theologen in der rheinischen Kirche - sich in einem besonders intensiven geistlichen und lebenspraktischen Zusammenleben zeigt und so eine einladende Wirkung nach außen hat. So hoffte ich auf ein gemeinsames Arbeiten und Gestalten, auf gute kollegiale Zusammenarbeit und regen Austausch von Erfahrungen auf allen Ebenen kirchlichen und diakonischen Handelns.
Was soll ich sagen: nach nicht einmal einem Jahr war ich - was meine Erwartungen anging - ziemlich desillusioniert. Die Anstaltskirchengemeinde, die zahlenmäßig damals etwa 1000 Seelen umfasste, war nicht die eine Gemeinde, sondern sie bestand aus einzelnen Gruppen, die bestenfalls nebeneinander lebten: es gab drei Schwesternschaften, dann eben die „zivilen" ehemaligen Mitarbeitenden und die Gemeindeglieder, die - ohne in einer Beziehung zum Diakoniewerk zu stehen - zufällig auf dem Territorium der Kirchengemeinde wohnten. So besuchte der Besuchsdienst der Gemeinde nur die „zivilen" Senioren zum Geburtstag. Und an den Treffen des Seniorenkreises im Fronberghaus nahm keine der Schwestern teil; nein, ich will nicht ungerecht sein: Sr. Elsbeth Müller und Sr. Erika Bleck nahmen die Einladung der Gemeinde an, solange es ihnen gesundheitlich möglich war. Auch Kollegialität im Pfarrteam, wie ich sie in meiner Zeit vorher in Großenbaum erlebt hatte, stellte sich nicht ein. Und die Beziehung zum Vorstand des Diakoniewerkes gestaltete sich anstrengend schwierig. Ja, es waren Zeiten des Umbruchs: die demographische Entwicklung der Schwesternschaften, die Veränderungen im Bereich der Arbeitsfelder der Diakonie - vor allen Dingen der finanziellen Grundlagen, aber auch im Gefüge der Mitarbeiterschaft, unter denen es immer weniger Zusammenhalt und überhaupt eine gewachsene „Corporite Identity" gab - und dann die fehlende Kontinuität gerade im Bereich des Theologischen Vorstands; und der Gemeinde wurden in der Zeit auch noch vom Gesamtverband her die finanziellen Mittel massiv gekürzt - all das führte dazu, dass die Möglichkeit, Gemeinde zu sein, an eine deutliche Grenze kam. Das Ende der Anstaltskirchengemeinde und das Zusammengehen mit der damaligen Ortsgemeinde Kaiserswerth waren einfach folgerichtig. Mich haben die Verhandlungen 1996/97 und die dann folgenden ersten Jahre in der einen, neuen und alten Ortsgemeinde Kaiserswerth immer an die Wiedervereinigung von Deutschland West und Ost 1989/90 erinnert. Da kam jeweils ein „armer" Verwandter zu einem „reichen" Verwandten, da gab es individuelle Enttäuschungen, da ging es darum, das Eigene zu bewahren; Veränderungen wurden als Verlust gesehen; neue Wege wollten so manche Gemeindeglieder bedauerlicherweise nicht mitgehen.
Dass ich mich auf diese neuen Wege eingelassen habe und sie aktiv mitgestaltete, war für sie ein Verrat ihrer Erwartungen, die sie mit meinem Dienst verbunden hatten.
Und ja, wie bei der deutschen Wiedervereinigung waren die Verluste deutlich stärker auf der einen Seite zu erleben, war der 3. Gemeindebezirk bald derjenige, der kein eigenes Gemeindezentrum, keine Räumlichkeiten für die Gemeindearbeit mehr zur Verfügung hatte. Dazu wurde die Mutterhauskirche immer stärker von der Kaiserswerther Diakonie für eigene Veranstaltungen genutzt. Das hatte natürlich auch Auswirkungen auf meine Arbeitsmöglichkeiten als Gemeindepfarrerin, die sich deutlich von denen meiner Kollegen unterschieden - ohne dass dieses jemals vom Presbyterium bedacht und gewürdigt wurde. Dazu war das Bezirksdenken noch für viele Jahre viel zu beherrschend.
Ehrlicherweise muss ich an dieser Stelle bekennen, dass ich, wenn es denn eine entsprechende Chance gegeben hätte, sich auf eine andere Gemeindepfarrstelle zu bewerben, das vor etwa 15 Jahren gerne getan hätte. Aber bedingt durch die Arbeitsstelle meines Mannes in Angermund war mein Bewegungsradius doch viel zu eingeschränkt. Und Gemeinde musste es einfach sein, das ist nun einmal meine Berufung.
So bin ich geblieben und habe versucht, das Beste aus wirklich sehr schwierigen Bedingungen zu machen. Erwartungen hatte ich keine mehr, aber noch ein paar Hoffnungen:
Die Hoffnung, dass es irgendwie mit der Kollegialität im Pfarrteam der Gemeinde besser wird.
Die Hoffnung, dass geistlich doch noch etwas Neues aufbricht und sich gestalten lässt.
Die Hoffnung, dass sich die Kaiserswerther Gemeinde auf den Weg macht - raus aus dem Schrebergarten der Selbstgenügsamkeit und hin zu den Menschen, mitten hinein in die Auseinandersetzungen unserer Zeit.
Immer waren da aber vor allen Dingen die Menschen, denen ich im Alltag meines Arbeitslebens begegnete. Die ich begleitet habe und die mich begleitet haben. Geben und Empfangen waren untrennbar verbunden. So konnte sich Neues im Alten entwickeln, konnten Grenzen überwunden werden, tat sich weiter Raum auf. So engagierten sich im Besuchsdienst sehr bald auch Schwestern der Schwesternschaft; ob im Lektorendienst, in der Schola, in der Seniorenkantorei oder im Flötenkreis: jeder und jede war und ist willkommen, um mitzumachen, um gemeinsam Gemeinde zu sein. Mit der jeweiligen Lebensgeschichte, mit allen Enttäuschungen genauso wie mit aller Erfüllung, mit allen Zweifeln und Hoffnungen. Als Gebende und Empfangende, Beschenkte. Die Mauer, die das Gelände der alten Diakonissenanstalt umgab, begann mit den Jahren mehr und mehr zu verschwinden - vor allen Dingen in den Köpfen der Leute. Das war von großer Bedeutung besonders für das gottesdienstliche Leben in der Mutterhauskirche. Denn die hat nur dann eine Zukunft als Gottesdienststätte, in der regelmäßig sonntags Gottesdienst gefeiert wird, wenn sie nicht nur als Kirche der Schwesternschaft betrachtet wird, sondern als Ort, an dem sich die ganze Gemeinde versammelt. Und es ist tatsächlich gelungen, dass die Gottesdienste sonntags in beachtlichem Umfang von der Gemeinde besucht werden, und so der erheblichen Verkleinerung der Schwesternschaft, die ja jahrzehntelang das Gros der Gottesdienstbesucherinnen stellte, entgegengewirkt ist. Heute bin ich unendlich dankbar dafür, dass die Mutterhauskirche als Gottesdienststätte der Gemeinde Zukunft hat.
Ja, der zweite Advent mit seinen Stichworten Erwartung und Hoffnung ist eine Art roter Faden für mich durch meine 25 Jahre Gemeindepfarramt gewesen. Und er wird es weiter sein.
Ich lese dazu einmal die Verse 3 und 4 aus dem Kapitel 35 des Jesajabuches und auch noch einmal den Text aus dem Jakobusbrief: „Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! Sagt den verzagten Herzen: Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott. Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen." „So seid nun geduldig, Brüder und Schwestern, bis zum Kommen des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen. Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe."
Erwartungen werden immer wieder enttäuscht, was ich an Erfolgen oder Entwicklungen erwarte, gerade auch von anderen Menschen, das wird sich immer wieder in Luft auflösen. Wie viele Erwartungen hatte ich in der Vergangenheit zum Beispiel immer wieder mit einem neuen theologischen Vorstand oder einer neuen Leitung der Schwesternschaft verbunden, Interesse an echter Zusammenarbeit zwischen Gemeinde und Diakonie erwartet....
Aber mit der Hoffnung verhält es sich anders. Die Hoffnung versteift sich nicht auf eigene Vorstellungen und Planungen, sondern sie bewahrt sich Offenheit. Sie sagt nicht: So und so muss es kommen, damit es gut ist. Sie sagt vielmehr: So kann ich es mir vorstellen, aber es kann noch ganz anders und vielleicht ja viel besser kommen. Hoffnung hält nicht fest, sondern kann loslassen, kann sich auch verabschieden, Altes, Überlebtes zurücklassen. Nicht zornig, verbittert, im negativen Sinne enttäuscht. Sondern einfach mit der gewachsener Erkenntnis und dem Verständnis, dass alles seine Zeit hat, zu seiner Zeit wichtig und sinnvoll war, aber dass sich die Zeiten eben deutlich wandeln.
Zu dieser Erkenntnis helfen genau die beiden Texte aus Jesaja und Jakobus. Bei Jesaja finden wir ein Musterbeispiel von Erwartung, die sich so - und das zum Glück! - nicht erfüllt hat. Die Erwartung, dass Gott zu Rache kommt. Dass seine Hilfe in Vergeltung besteht - menschlich und historisch nachvollziehbar, dass das jüdische Volk in der Verbannung in Babel und in Erinnerung an all die erlittenen Verluste so gedacht hat. Aber das sind nicht die Gedanken Gottes, das ist jedenfalls die Schlussfolgerung, die ich nach jahrzehntelangem Nachsinnen mit Kopf und Herz ziehe. Gott vergilt nicht, er rechnet nicht auf. Wir sind es selbst, die mit unserem Tun oder auch Unterlassen Gutes oder Schädliches in Gang setzen. Gott ermöglicht vielmehr Zukunft und Leben, indem er Raum gewährt - zum Nachdenken, Umkehren, zur Vergebung und zum Neuanfang - mitten im Alten, mitten in den alten Geschichten, die zur Vergangenheit gehören.
Wenn ich darum diesen Text aus Jesaja zu Gehör bringe, dann nehme ich mir die christliche Freiheit, zu lesen: „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott. Er kommt und wird euch helfen." Er wird euch helfen, eure Enttäuschungen, alles Scheitern anzusehen - und dann loszulassen, Gott anheimzustellen, und die Hoffnung auf ihn zu richten - um der Zukunft, um des Lebens willen. Er kommt ja und wird uns helfen. Aber eben meistens ganz anders als von uns erwartet. Wichtig ist dabei, dass zur Hoffnung bei Jakobus ein weiteres Stichwort kommt: die Geduld. Das Wartenkönnen. Das heißt nicht, die Hände in den Schoß zu legen, sondern da ist schon das zu tun, was sich in der Begegnung mit den Menschen, mit denen man es zu tun bekommt, nahelegt, was meistens wenig spektakulär ist, wenig öffentlichkeitswirksam, aber eben not-wendig. Das ist die Arbeit des Bauern, der sein Teil tut und dabei genau weiß, dass zum Gelingen nun Früh- und Spätregen kommen müssen und das Wachsen der Frucht Zeit braucht. Seine Zeit. "Seid geduldig und stärkt eure Herzen. Denn das Kommen des Herrn ist nahe." Loslassen - losgehen - das Herz auf Gott richten - auf ihn und seine Zukunft hoffen - Jesus sprach vom Reich Gottes, auf das wir all unser Augenmerk richten sollen. Ich denke, bei all den kirchlichen und gemeindlichen Strukturdebatten ist das der entscheidende Fehler: wir denken immer zu klein, wir hoffen nicht für die Welt, für die von Gott geliebte Welt, in die er doch gekommen ist und immer wieder kommen will, sondern wir beschäftigen uns nur mit unserer eigene Zukunft. Dafür braucht uns aber keiner, auch Gott nicht.
Liebe Gemeinde, die Hoffnung, die sich auf Gott richtet und die Augen und Hände öffnet für sein Reich, die, schreibt Paulus, lässt nicht zuschanden werden. Ja, das stimmt. Das habe ich in den letzten Jahren erleben können.
Das kollegiale Miteinander hat sich vielversprechend entwickelt.
Und geistlich ist so manches aufgeblüht, vor allen Dingen die Ökumene. In der Begegnung mit den Frauen in der kfd und in der ökumenischen Hospizgruppe, da ist wirklich der Heilige Geist spürbar - als Geist der Verständigung, der Gemeinschaft, der Stärke, der Freude und des Aufbruchs. Und der wirkt sich aus auch in der ökumenischen Flüchtlingshilfe als ganz konkrete Diakonie, als Dienst an den Menschen, als Dienst an der Gesellschaft, an der Welt.
Und auch in unserer Gemeinde in ihrer konkreten Gestalt hat sich etwas getan. Davon gibt die neue Gemeindekonzeption Zeugnis. Während die Präambel der 2004 erstellten Konzeption noch als Bild für die Gemeinde einen offenen Garten präsentierte, in den Jesus Christus alle Menschen zur Muße und Mitarbeit einlädt, sieht die in diesem Jahr verabschiedete Konzeption die Gemeinde als eine Gemeinschaft in der Nachfolge Jesu, die mit vielen anderen auf dem Weg ist, um gemeinsam mit ihnen eine gerechtere und mitmenschliche Gesellschaft im Horizont des Reiches Gottes zu gestalten.
Hinsehen - Aufstehen - Losgehen: der Erinnerungsgang am 9. November zu den Stolpersteinen ist nicht nur einfach gesellschaftspolitisch wichtig gewesen, sondern es ist zugleich eine zutiefst geistliche Sache: nämlich ernst zu nehmen, dass diese Welt Gottes Welt ist, der für sie Gerechtigkeit und Frieden will und deshalb zum Widerstand gegen Hass und Unrecht auffordert.
„Seid geduldig, tut, was ihr tun könnt und stärkt eure Herzen. Denn das Kommen des Herrn ist nahe."
Sie haben alle mit dem Gottesdienstprogramm diese Karte erhalten. Sieger Köder hat darauf das bekannte Adventslied „Maria durch ein Dornwald ging" ins Bild gesetzt.
Sie möchte uns daran erinnern, dass dort, wo Vergeblichkeit und Scheitern uns schmerzhaft vor Augen stehen, es sich doch lohnt, die Hoffnung auf Gott und seine Zukunft eröffnende Nähe nicht aufzugeben. Glauben Sie mir: wir werden immer wieder Rosen von gelingendem Leben, von Begegnung und geistlichem Aufbruch über alle Grenzen hinweg und mitten unter den Dornen von Strukturen und scheinbar unabänderlichen Gegebenheiten aufblühen sehen!
Amen.
2.Advent, 09.12.2018, Stadtkirche, Jesaja 35, 3 - 10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Advent- 9.XII.2018
Jesaja 35, 3 – 10
Liebe Gemeinde!
Was wir „Globalisierung“ nennen, gibt es schon immer in vielfacher Gestalt – und das meiste davon ist gut.
Grässlich war stets jeder Griff nach globaler Macht; aber ohne die schrecklichen Großmächte, ohne Alexander und das römische Reich und die muslimische Expansion und das britische Empire und das napoleonische Europa und die Weltführungsmacht Amerikas, … ohne alle diese blutigen Blüten der Vernichtung, deren Früchte Fortschritte waren, … ohne alle diese gewissenlosen Zerstörer der Barbarei wäre es um Zivilisation und Humanität so unvorstellbar dürftig bestellt, dass man ihre Greuel der Verwüstung und den Gewinn an Austausch und Gemeinsamkeit, den sie herbeiführten, nicht einfach verrechnen kann.
Fest steht jedoch: Was seit Jahrtausenden an globalisiertem Waren- und Gedankenaustausch praktiziert wird, und wie Salz und Seide, Märchen und Mathematik, Gold und Geist von Mund zu Mund und Hand zu Hand, von Ufer zu Ufer um den ganzen Erdkreis wandern: Das ist eine große, gnädige globale Gütergemeinschaft.
Von diesem weltumspannenden Miteinander leben wir seit Menschengedenken; in großen wie in kleinen Zügen ist seit jeher das Netz, das alles miteinander verbindet und Einzelne zur Menschheit verwebt, breit ausgespannt. ——
Auch in den Miniaturen des eigenen Lebens lassen seine Fäden sich verfolgen.
Bis zum Überdruss kennt man in der Gemeinde vermutlich meine Anhänglichkeit an meine Großmutter, die eine unprätentiöse Pommerin war, geboren, wo die Chaussee aufhörte und die Welt sich in Wald und Weite verlor. Als Gesellschafterin und dann Erzieherin in einem Diplomatenhaus kam sie allerdings ausgerechnet in den Dreißigerjahren weit über das enge Reich hinaus, das sich tausend Jahre Weltherrschaft ohne Weltverbundenheit vorgenommen hatte. Und schon die ersten Erfahrungen der jungen Frau aus Hinterpommern noch im Berlin der Sommerolympiade ließen ihr Großdeutschland klein erscheinen, und dann ein Frühjahr unter den malerischen Orangenbäumen von Taormina, ein langer Aufenthalt in London, mit täglicher Promenade durch den Hyde-Park und Lernen an der steifen Etikette und gelassenen Höflichkeit der Engländer, schließlich eine Überfahrt nach New York, wo sie sich beim Tennisspiel auf dem Schiff zwei reizenden Berliner Mädels anschloss, die sich zu ihrer größten Verwunderung als Jüdinnen auf der Flucht in die Freiheit erwiesen … alle diese Begegnungen mit sizilianischer Wärme und aristokratischer Würde und amerikanischer Vielfalt erschlossen ihr die Wirklichkeit der Welt und uns als Enkeln von klein auf ein Vergnügen daran, uns die kleine junge Großmutter vor Vulkanen und Wolkenkratzern zu denken und sie auch da wiederzuerkennen.
Doch nicht nur kleine, persönliche Bande in die Welt stellen uns die Verbundenheit des Erdkreises vor Augen, sondern eine grundlegende Erfahrung, die unser aller Vorfahrin im Glauben machen musste: Die Gemeinde Israel, die Tochter Zion nämlich erfuhr hautnah, was es heißt, aus der vermeintlich sicheren Geborgenheit der Heimat, aus der Unabhängigkeit und Selbstverständlichkeit der gewohnten eigenen Wirklichkeit in eine schockhaft unvertraute Umgebung katapultiert zu werden.
Als Juda und Jerusalem von den Babyloniern zerstört und die Bewohner in’s Exil gezerrt wurden, traf die Fremde das Gottesvolk mit überwältigender Wucht: Schöner, größer, stärker war alles, was Babylon in der immensen fruchtbaren Fläche zwischen den alten Lebensadern Euphrat und Tigris bot, im Vergleich zum abgeschiedenen Hügelland, aus dem die judäischen Gefangenen kamen. Bunt war Babel, hell und bilderlos war Jerusalem gewesen. Gewaltige und gierige Massen trafen aufeinander im Netz der vielen mesopotamischen Städte, Königreiche und Kulturen … zwölf versippte Stämme, die alle einst Sklaven gewesen waren, hatten Israel früher ausgemacht.
Diese Erfahrung des schutzlosen Ausgeliefertsein und der radikalen Entwürdigung und Überbietung all dessen, was ihnen zuhause als heilig und erhaben galt, muss die jüdischen Exulanten im Kern verunsichert haben. Sie verloren neben dem äußeren auch jeden inneren Halt.
Zerbröckelte Gewissheiten, entleerter Glaube, entwurzelte Menschen, … das ist die Lage, in die hinein der Trostprophet Jesaja seine kanonisch gewordene Botschaft der Ermutigung ruft: „Stärket die müden Hände und macht fest die wankenden Knie. Sagt den verzagten Herzen: »Seid getrost; fürchtet euch nicht! Siehe, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.«“
Wir haben es hier wahrhaftig mit Seelsorge im Ernstfall zu tun. Nicht Einzelheiten, sondern alles ist fraglich geworden für die Gemeinschaft, die Jesaja wieder aufrichten muss, wenn sie sich durch das erlittene Trauma nicht sang- und klanglos auflösen soll. Ihre bisherige Grundlage – wir sagen heute: ihre Identität – als die mit Israels Gott Verbundenen ist weggefallen. Er hatte das Land und darin Seinen Segen und Seine Gegenwart verheißen: Nun haben sie weder den Ort noch den Herrn dieses Ortes noch die Gnade, die daran geknüpft war, mehr. Sie sind heimat-, sinn- und gottlos gemacht.
Was sollte – wenn sie nicht apathisch geworden irgendwann das Atmen einstellen –, … was sollte ihnen noch helfen, außer eben der Rache-Botschaft, die zunächst bei Jesaja anklingt? Wenn sie nichts behalten durften – die Auserwählten des Schöpfers von Himmel und Erde! –, … wenn ihnen nichts blieb, was soll denn dann noch den Fremden, den Feinden, den Siegern bleiben? Ist nicht das Weltgericht für alle die letzte Hoffnung derer, die schon verurteilt sind? ——
Doch nun gilt es, das erstaunliche Wunder zu beachten, dass sich an Israel gerade in der babylonischen Gefangenschaft vollzogen hat!
Dort, wo sie zu idealen Trägern eines grenzenlosen Zornes, eines Vergeltungswunsches gigantischen Ausmaßes hätten werden können, wandelt sich die Zukunftserwartung im Volk Gottes grundlegend!
Es ist wie die orthodoxe Theologie und ihre Anastasis-, ihre Auferstehungsikonen uns lehren: Ostern beginnt in der Hölle, im Reich des Todes!
Als habe die Begegnung mit der Übermacht der Fremden – aber eben auch die unfreiwillige Nähe zu ihnen – Israel gelehrt, dass jenseits seiner Grenzen und auch außerhalb seines heiligen Bundes Menschen leben, die Zukunft und Hoffnung, die Gerechtigkeit und Erlösung brauchen. … Statt das Ende der triumphierenden Anderen herbeizusehnen, hat das Exil die Tochter Zion nämlich die Aussicht in den Advent gelehrt, die Aussicht auf einen Triumph, der auch den Anderen zugutekommt …, die Aussicht auf einen Triumph der Barmherzigkeit, der Heilung und des Lebens!
Diese Perspektive eines großen, weltweiten Durchbruchs der Gesundheit, der Erneuerung, des Gedeihens wird in den berühmten Bildern der wiederhergestellten Geschwächten und Versehrten beschrieben: Die sehenden Blinden und hörenden Tauben, die hüpfenden Lahmen und jauchzenden Stummen verkörpern buchstäblich die Heilswende, die Israel in seinem katastrophalen Unheil zu erwarten beginnen durfte.
… Dazu muss man allerdings den Doppelsinn der medizinischen Bilder von Beeinträchtigung und Behinderung bedenken. In Israel war ein körperlicher Defekt u.U. auch bei einem Glied des Gottesvolkes ein Hinderungsgrund für die uneingeschränkte Zulassung zum Tempel und zur Heilsgemeinde. Eine für uns inakzeptable Diskriminierung ist z.B. die biblische Bestimmung für die Nachkommen Aarons, dass ihren priesterlichen Dienst niemand versehen dürfe, „an dem ein Fehler ist, … er sei blind oder lahm, mit einem entstellten Ge-sicht, mit irgendeiner Missbildung, oder wer einen gebrochenen Fuß oder eine gebrochene Hand hat oder bucklig oder verkümmert ist oder wer einen weißen Fleck im Auge hat oder Krätze oder Flechten oder beschädigte Hoden“ (3.Mose21,18ff).
Diese exklusive Linie führte in den Höhlen am Toten Meer später die Gemeinde von Qumran noch härter weiter, die alle Kranken, Behinderten und sogar vor Alter zitternde Gebrechliche ausdrücklich aus ihrer Gemeinschaft ausschließt, damit die Engel der Heiligkeit, die unsichtbar anwesend sind, nicht durch Mängelwesen beleidigt werden[i]. …….
Vor diesem Hintergrund gewinnen die Heilungen Jesu und die nie geheilte Behinderung des Völkerapostels Paulus erst wirklich ihre radikale Bedeutung: Sie sind Durchbrüche eines Gottesrechtes der Inklusion, sie schaffen Reich-Gottes-Tatsachen, die eine neue Welt bedeuten, in denen kein Leid, kein Mangel, keine Abweichung Menschen mehr von der Zugehörigkeit zu ihrem himmlischen Vater und Seinem Heil mehr trennen können.
Noch einen erheblichen Schritt weiter als die Tilgung der körperlichen Unzulänglichkeiten und die daraus folgende Eröffnung voller Heilsgemeinschaft geht die Verheißung des Jesaja aber, wenn wir sie im Rahmen des Babylon-Schocks der Tochter Zion verstehen.
In Israel hatte man lange einen grimmigen heiligen Spott gegen die Hersteller und Verehrer von Götzenbildern gepflegt, die doch erkennbar fühllos, blind, taub und stumm sind. Von den reglosen Bildern, die weder lebendige Sinne noch Geist besaßen, schloss man auf ihre Anhänger: „Die solche Götzen machen, sind ihnen gleich, alle die auf sie hoffen (d.h. genaus so blind und lahm und unsinnig)“ (Ps.115,8)! Und bei Jesaja (44,18) heißt es in einer seiner Polemiken gegen die Wahnsinnigen, die aus einem Holzklotz sowohl Feuerholz wie Kultbilder machen: „Sie wissen nichts und verstehen nichts; denn sie sind verblendet, dass ihre Augen nicht sehen und ihre Herzen nichts merken können.“
Wo Organe oder Sinne eines Menschen also nicht zu gebrauchen waren, sah Israel ein Sinnbild, ja eine Folge der Verwirrung und Verwechslung zwischen Gesund und Krank, zwischen Gutem und Schlechtem, Hilfreichem und Unnützem, zwischen Gott und dem Wunschdenken. Im brutalen Jargon des heutigen Schulhofs galt für das an den unsichtbaren Gott gebundene Israel, dass es Götzendiener, die sichtlich blinde Gegenstände anriefen, für „behindert“ hielt. ——
Wenn nun aber der Prophet mitten in Babylon, unter den Götzen, die wir heute noch im Pergamon-Museum anglotzen, verkündet, dass die Blinden sehen und die Lahmen auf dem heiligen Weg gehen werden, dann bedeutet diese wunderbare Zusage eine nie dagewesene Hoffnung und Öffnung der Heilszukunft für alle: Die Völker, die für Israel ihrer gesunden Sinne beraubt waren, sollen sehfähig und selbständig und vernünftig und vernehmlich genug werden, um auf dem verjüngten und erfrischenden Weg der Zukunft mitzuziehen, dessen Ziel Gott ist! Die Unzurechnungsfähigen – aus Israels Sicht – werden mitberufen! Die Gehemmten und Gehinderten werden frei, sich anzuschließen und teilzuhaben am Bund und an der Erlösung.
Und so verheißt Jesaja mitten unter den Verehrern der toten Symbole gerade auch ihnen blühendes Leben. Inmitten der feindseligen Übermacht Babylons, verkörpert in den kräuselbärtigen und geflügelten Raubtieren des Ischtar-Tores kündigt Jesaja das Verschwinden der Löwen und der anderen reißenden Bestien an und damit einen gefahrlosen Heimweg zum Heil.
Was sich also in den babylonischen Begegnungen und ihren Horizont- und Hoffnungserweiterungen für Israel zuträgt, ist das größte Globalisierungsgeschehen aller Zeiten.
Aus dem exklusiven Denken, das nur die Genossen des eigenen Volkes – noch dazu nur die Gesunden unter ihnen! – als Erwählte betrachtete, wird das einzigartige Geschenk, das Israel der ganzen Weltgemeinschaft gemacht hat: Die Hoffnung auf universales Heil.
… Und nichts anderes ist Adventshoffnung bis heute. Sie erwartet für den ganzen Globus Gutes. Sie erwartet die Wiederkehr und das Friedensreich des einen Gottes dieser Welt. ——
Es ist die Botschaft, die wir in der sorgenvollen Unruhe und Ungewissheit unserer Zeit ganz besonders nötig haben: Es kann und wird kein Heil geben, das wenigen gilt! Es wird und kann überhaupt kein bloß beschränkt geltendes und also auch ausschließendes Heil geben!
Denn die Globalisierung aller Schwierigkeiten, die Grenzenlosigkeit aller Gefahren zeigt uns inzwischen ja ebenso wie der Segen des weltweiten Miteinanders überdeutlich, dass Alle am Gedeih und Verderb Aller teilhaben.
Ob wir darum mit Jesaja in Babylon den Weg zur Erlösung oder mit den Versammelten in Kattowitz den Weg zur Verhinderung der Klimakatastrophe oder bei den Engeln über Bethlehem den Frieden auf Erden für die Menschen des göttlichen Wohlgefallens suchen: Es geht immer um’s Ganze! Es geht immer um das Heil der Welt. … Immer um die biblische Zusage, dass Gott globale Maßstäbe hat und dass wir Hoffnung auf Seine grenzenlose Ewigkeit machen und darum Zuversicht für jeden Menschen hegen dürfen.
Das ist tatsächlich die größte, weiteste und endgültigste Gestalt der Weltgemeinschaft: Das Reich Gottes, zu dem die Wege des Advent uns führen und in dem die Fernen und Fremden, die hinter den ungeöffneten Türen und den verschlossenen Toren, die für uns Adventszeichen sind, warten, mit uns am reinen Heil und Segen teilhaben sollen.
Von ihnen allen ist ja seit Babylon gesagt:
„Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wir über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen!“
Amen.
[i] So ausdrücklich in der „Gemeinschaftsregel“ (1QSa II, 3-10), in: Die Texte aus Qumran. Hebräisch und Deutsch, hg. v.E.Lohse, Darmstadt 19864, S.49f.
1. Advent, 02.12.2018, Mutterhauskirche, Mar 11, 1-10, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
die Evangelien weisen - im wahrsten Wortsinn - dem Esel eine tragende Rolle zu. Alle vier Evangelisten überliefern, dass Jesus auf einem Esel ritt, als er das letzte Mal nach Jerusalem kam. Ein Esel musste es sein - kein Pferd, kein Kamel - und das nicht von ungefähr. Warum sollte dieses Tier also nicht einmal im Mittelpunkt eines Adventsgottesdienstes stehen?
Bis heute werden im Nahen Osten Esel als Reit- und vor allem als Lasttiere eingesetzt. Manchmal so hoch bepackt, dass von dem Tier selbst nur die Beine zu sehen sind. Das war vor zwei- bis dreitausend Jahren noch mehr der Fall. Damals und heute: nicht ein PS, sondern ein ES, eine Esels-Stärke für den kleinen Mann.
Das wird auch an manchen Stellen in der hebräischen Bibel deutlich. So erzählt das 4.Kapitel des 2.Mosebuches, wie Mose von Gott nach Ägypten geschickt wird, um seine Landsleute in die Freiheit zu führen. Seine Frau und seine Söhne nimmt er mit und setzt sie - auf einen Esel. Der Befreier kommt nicht auf hohem Ross!
Zu Beginn des 1.Königsbuches wird eine andere Episode erzählt. Es geht um die Nachfolge König Davids. Der älteste seiner überlebenden Söhne, Adonia, fühlt sich schon als kommender Herrscher. Deshalb schafft er sich Wagen und Pferde an, denen bei Ausfahrten 50 Männer vorauslaufen, um die Menschen auf den bedeutenden Mann aufmerksam zu machen. Doch David bestimmt Salomo zu seinem Nachfolger und lässt ihn, den Gepflogenheiten entsprechend, dazu salben. Zur Salbung aber muss der junge Mann auf einem Esel (Maultier) reiten. Herrschen und Bescheidenheit gehören zusammen, darauf wird der künftige König von vornherein hingewiesen.
Das wird noch deutlicher beim Propheten Sacharja. In seiner berühmten Weissagung (im 9.Kapitel) kündigt er den neuen König Israels an und schreibt: „Demütig ist er und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin." Genau daran hat sich Jesus, der die Bibel seines Volkes kannte, orientiert, als er nach Jerusalem kam.
Ungewöhnlich war es deswegen nicht, weil er damit eher ein gewohntes Bild bot. Dass Rabbinen auf einem Esel ritten, kam immer wieder vor. In einer rabbinischen Überlieferung heißt es: „Es geschah, dass Rabbi Jochanan ben Zakkai auf einem Esel ritt, und seine Schüler gingen hinter ihm her." So zog auch Jesus begleitet von seinen Jüngern, seinen Schülern nach Jerusalem. Und der Esel spielte dabei eine tragende Rolle.
Jesus bezog sich nämlich ganz bewusst auf die Worte Sacharjas. Wie er immer bildhaft in Gleichnissen seine Botschaften unter die Menschen brachte und nie abstrakt-philosophisch, so wollte er mit dem Esel eine Bildpredigt halten. Wenn die Leute Jesus auf dem Grautier sahen, sollten sie sich ihre Gedanken machen. Die Bibelkundigen konnten an Sacharja denken. Und die anderen mussten zumindest eins zugeben: dieser Jesus, der trägt die Nase nicht hoch, der kommt zu den kleinen Leuten, ja er ist einer von den kleinen Leuten. Der Esel ist wie der überlange Zeigefinger von Johannes dem Täufer auf dem Isenheimer Altarbild, mit dem er auf den Gekreuzigten weist. So verweist in dieser Einzugs-Szene der Esel auf Jesus. Seht, euer König sitzt nicht auf dem hohen Ross, er ist nicht hochmütig, sondern demütig, er ist in erster Linie nicht für die oberen Zehntausend da, sondern für die „Stiefkinder des Glücks", für die im Schatten der Weltgeschichte: für alle Armen, Enttäuschten, Geschundenen, Verzweifelten. Jesu Weg hat nichts gemein mit den Triumpfzügen der Könige und Sieger. Seine Straße führt ihn ins Leiden. Gerade dadurch macht er aber seine Liebe zu allen Menschen deutlich. Auch darauf weist sein lebendiger Untersatz hin, der ihn in die Hauptstadt trägt.
Das betrifft natürlich auch uns, nicht nur Jesu Zeitgenossen. Wieder einmal beginnt eine Adventszeit. Erneut hören wir die alte Botschaft, dass Gott sich in Jesus auch uns nahen will. Und seit damals hat sich nichts an der Art und Weise geändert, wie er kommt. In einem Adventslied in unserem Gesangbuch (eg 5) heißt es: „Gottes Sohn ist kommen uns allen zu frommen hier auf diese Erden in armen Gebärden ..." oder in einem anderen Lied (eg 9) „... zwar ohne stolze Pracht .... Er will hier seine Macht ... verhüllen ..." Sein Weg zu uns - auch heute noch alles andere als ein Triumpfzug. Der Ritt auf einem Eselsfüllen lässt den Reiter nicht locker daherkommen. Es ist ein unruhiges Trippeln, man braucht viel Geschick und Aufmerksamkeit, um sich überhaupt auf dem Tier halten zu können. Königlich sieht anders aus. Doch so kommt eben dieser König. Sein Kommen lässt sich viel besser in negativen als in positiven Aussagen zur Sprache bringen.
Dieser König - er lässt die, die an ihn glauben, nicht Millionäre werden, mit ihm kommt das Heil, aber nicht der Wohlstand. Das mögen sich all die Pfingstkirchen, die gerade in Afrika und Lateinamerika die Menschen mit genau diesen Versprechungen ködern, endlich einmal zu Herzen nehmen.
Dieser König - er befreit die, die ihm nachfolgen, nicht von ihren alltäglichen Sorgen und allen Krankheiten. Seine Kirche ist nicht der strahlende Beginn des Reiches Gottes und sie ist noch nicht einmal die moralisch unbestrittenste Institution auf dieser Erde - das haben die massenhaften Missbrauchsfälle gerade wieder einmal gezeigt.
Ja, wir hätten es natürlich lieber, wenn Jesus königlicher, mächtiger daherkäme, unbehelligt und unberührt von all den Peinlichkeiten und Machenschaften der Menschen, die sich auf ihn berufen.
So wie er 1989 kam, da konnte man doch stolz sein auf die Kirche, die Wesentliches beigetragen hatte zum Fall der Mauer mit ihren Friedensgebeten.
Aber - das ist Geschichte. Ein kurzes Zwischenspiel.
Jetzt ist wieder Alltag.
Aber genau in diesen hinein kommt Jesus. In den ganz normalen Alltag.
Er macht sich hörbar in der Verkündigung - im Gottesdienst, in der Andacht einer Adventsfeier.
Er kann uns ansprechen, wenn wir in der Bibel lesen.
Er kann uns zum Nachdenken bringen beim Zeitungslesen oder bei der Lektüre eines guten Buches oder beim Hören einer Reportage im Radio oder im Fernsehen.
Er kann uns begegnen, wenn wir uns Zeit nehmen für einen Besuch bei einem einsamen oder kranken Mitmenschen. Nach Matthäus 25 begegnen wir in solchen Menschen Jesus selber.
Er kommt, aber um anzukommen, braucht er uns - am rechten Ort und in der rechten Haltung.
Er braucht uns nicht als Zuschauer. In einem Buch mit heiteren Begebenheiten aus der Kirche früherer Zeiten habe ich eine Anekdote gefunden: Ein altgewordener Pastor wollte sich nicht zur Ruhe setzen. Sein Generalsuperintendent besuchte ihn, um ihm liebevoll klarzumachen, dass er nicht länger in Amt und Würden bleiben könne. Die Antwort des Pastors: „Nein, ich kann und darf mich nicht zur Ruhe setzen. Es geht einfach nicht." „Warum denn nicht in aller Welt?" entgegnet der Generalsuperintendent. Darauf der Pastor: „Der Herr bedarf meiner noch!" Darauf nach kurzem Überlegen der Generalsuperintendent: „Lieber Bruder, in der Bibel steht nur einmal, dass der Herr eines bedurfte, und das war - eines Esels."
Das klingt hart. Natürlich ist der Esel alles andere als ein edles Tier und wird sogar als Schimpfwort missbraucht. Wer möchte schon ein Esel sein? Wer möchte schon Lasten für andere tragen? Nützlich sein?
Doch genau so braucht uns der Mann aus Nazareth: er bedarf unser, um Einzug zu halten in unserer Welt.
Um allen deutlich zu machen, was in seinem Königtum zählt, worauf es ankommt: auf Freundlichkeit, Güte, Verständnis, Barmherzigkeit, Mitgefühl.
Er regiert eben nicht von oben durch, sondern unterfängt alle, die unten sind, um sie nach oben zu heben und zu tragen.
Und dazu braucht er Esel - pardon: Menschen, die von seinem Geist erfüllt sind und bereit sind zu solchem Dienst. Menschen, die damit nichts weniger tun, als was Gott tut - so wie es Jesaja von Gott vernimmt (46,4.9) : „Ich will heben und tragen und erretten. Ich bin Gott, ein Gott, dem nichts gleicht."
So wie Jesus ein König ist, der mit keinem anderen König zu vergleichen ist.
Sie alle kennen sicher das berühmte Grafitti aus dem 2. Jahrhundert, mit dem ein Unbekannter sich über einen Christen lustig macht: zu sehen ist eine menschliche Gestalt an einem Kreuz mit einem Eselskopf , davor eine zweite Gestalt in Anbetungshaltung und dazu der Text: Alexander betet seinen Gott an.
Ein Spottbild, das für den, dessen Herz vom Geist Gottes erfüllt ist, genau die Wahrheit enthüllt: der Mann aus Nazareth ist der, der tut, was Gott tut: er hebt die auf, die am Boden liegen, beugt sich zu ihnen herab, er trägt die, die unter der Last des Lebens zusammengebrochen sind, und er errettet, die der Rettung bedürfen. Er ist sich für den Eselsdienst nicht zu schade.
Die Adventszeit gibt uns die Gelegenheit, in uns zu gehen und für uns zu klären, wo wir uns sehen, wo unser Platz ist in der Geschichte des in unsere Zeit und unser Leben einziehenden Jesus. Können wir uns darauf einlassen, Esel Jesu zu sein? Gewiss ist: er bedarf ihrer.
Amen.
1.Advent 02.12.2018, Stadtkirche, Matthäus 21, 1- 11 - Gottesdienst mit Einführung der revidierten Perikopenordnung und des neuen Lektionars, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent - 2.XII.2018
Matthäus, 21, 1–11
Liebe Gemeinde!
Ein „Einzug“ – so wie wir ihn eben bei der Ingebrauchnahme des neuen Lektionars erlebt haben[i] – ist eigentlich ein unverzichtbarer Bestandteil echter christlicher Liturgie!
… Nicht weil uns sitzfreudigen evangelischen Bewegungsmuffeln der Pomp oder die Parade fehlten, … nicht weil das Trampeln im Gänsemarsch oder das fröhliche Abhalten einer Polonaise Zeremonien wären, die dem Gottesdienst mehr Würde oder vielleicht auch nur mehr Schwung verleihen: Wer an die höheren Weihen des Gleichschritts glaubt, kennt bloß den Karneval nicht. ……. Und dennoch – obwohl wir Grund genug haben, das Zwiespältige und Lächerliche an allzu inszenierter Feierlichkeit zu bedenken – fehlt uns nicht nur eine verständliche und unmittelbare Dimension des Gottesdienstes wenn unser Körper ihn bloß passiv und abgekoppelt im Sitzen erlebt, sondern unsere hartnäckige Sesshaftigkeit widerspricht dem eigentlichen Wesen des Christentums und der Person Christi.
Das Christentum ist nicht als Lehrgebäude und nicht als feste Einrichtung entstanden, sondern als Bewegung. Aus umherziehenden Missionaren, aus Wanderpredigern und Glaubensflüchtlingen, die sämtlich ein Leben der Nachfolge Jesu übten, wuchs jene Kirche, die uns als Inbegriff des ortsgebundenen, spießigen „Es-war-schon-immer-so“-Vereins erscheint.
Weil wir ursprünglich aber eben von einem rastlosen Volk abstammen, von lauter Nomaden vom Schlag eines Moses, Paulus, Suitbertus, Zinzendorf, Wesley und Fliedner, darum „steckt’s auch uns im Blut“: Mal äußert sich dies bewegliche Erbe in der Bereitschaft, Pilger zu sein und mal darin, Protestler zu werden; mal treibt es weit hinaus in die Mission und dann wieder einfach auf die Straßen Alabamas von Selma nach Montgomery oder auf die Straßen von Leipzig, um dort Veränderung herbeizusingen und zu rufen.
Christen jedenfalls beweisen immer wieder, dass nicht das Einst, sondern das Bald, nicht das „War einmal“, sondern das „Wird einmal“, nicht die Gewohnheit, sondern ihre Hoffnung, nichts Verlassenes, sondern bloß das Ziel Heil und heilig sind. —
Und darum fängt in der Kirche das Jahr mit dem Advent an: Mit aufschwingenden Toren, mit Türflügeln, die durchschritten werden und einem Blick, der nach vorne und nach oben geht und die alte Tiefe, die Stallwärme, die Gruben der Füchse, die Nester der Vögel, den Ofen des Bürgers, die Behaglichkeit des Vertrauten vergisst. ——
Advent sollte einmal – vielleicht kommt’s bald wieder so! – unbequem sein.
Advent sollte – vielleicht werden wir’s noch erleben! – mit Verzicht und Freiheit beginnen. Advent sollte tüchtig machen – vielleicht lernen ja auch wir es eines Tages! –, ganz neuen Ufern, einer neuen Zeit entgegenzugehen.
Advent sollte Anfang, nicht Wiederholung bedeuten.
Advent sollte wartendes Zittern, nicht dösendes Sesselpupsen sein.
Advent sollte Spannung und Hoffnung und Morgenrot, endzeitliche Freude, Wiederkunft Christi, Auferstehung der Toten und Anbruch des Reiches Gottes bescheren, nicht Schokoladenschock, Kaufrausch und Schenkschlacht.
Und darum ist jede Erinnerung daran, dass sich durch die Tage und Stunden, die Lieder und Gebete des heute begonnen Advent die Spur der Erwartung und die Bewegung des Aufbruchs als geistliches Grundmotiv und körperliche Grundhaltung ziehen, nötig und heilsam! —
Auf seine Weise hat das auch der schlichte Einzug eben zeigen wollen, mit dem Anfang und Erneuerung sinnenfällig werden sollten: Wir können nicht einfach hocken bleiben, wenn uns das Wort, das Christus ist und Christus in seinem Wort neu nahe kommen.
Wo immer uns der begegnet, der selbst Weg, Wahrheit und Leben ist, da sollen wir uns nicht hängen lassen oder an etwas hängen, sondern da können Christen auftreten als die, die dem Kommenden die Ehre geben und die selbst mit allen Kräften mitziehen, wenn es um die Ankunft Gottes in der Welt geht.
Dass wir daher aus der lethargischen Haltung bloßer Zuschauer und Zuhörer aufgeweckt werden, dass wir uns buchstäblich aktivieren lassen, wenn und wo Gott nach uns ruft, ist der unmittelbare Sinn jeder Bewegung, die die Gottesdienst feiernde Gemeinde vollzieht.
In der griechischen Liturgie wird das deutlich gerade am sog. „Kleinen Einzug“, bei dem in jedem Gottesdienst das Evangelienbuch – also Christus im Wort und nicht in den sakramentalen Gaben – feierlich durch die Kirche in den Altarraum getragen wird. Bei dieser Handlung ruft der Diakon der Gemeinde zu: „Weisheit! Stehet aufrecht!“[ii]
Dabei geht es natürlich nicht um militärisches Strammstehen, sondern um die befreite Haltung der Erlösten, die nicht mehr gebeugt und nicht mehr gefesselt bleiben können, sobald Gottes Sohn unter sie tritt.
Und weil Christus, das fleischgewordene Wort eben nicht nur ein statisches, abgeschlossenes Buch sein kann – leider sagen wir von schönen, dauerhaften Büchern ja ausgerechnet, sie seien „gebunden“ – … weil also das lebendige Wort in Wirklichkeit frei bleibt und befreit, darum ist es kein Kult, sondern eine durchaus angemessene Veranschaulichung, dem Evangelium etwas von seiner Dynamik und Mobilität zurückzugeben, indem wir es nicht liegen lassen, sondern uns zu seinen Wegbegleitern machen. —
Dabei ruft dann die von uns getragene Schrift das Bild wach, das wir zu Beginn dieses Advents und damit am ersten Anfang des neuen, sechsjährigen Durchgangs durch die biblische Botschaft vor Augen haben. Es ist eine Szene, mit der wir nie fertig werden, wenn sie uns auch noch so bekannt erscheint: Wie Christus auf jenem Tier, das schon an seiner Krippe stand, unter dem Jubel der heiligen Stadt zum Kreuz reitet.
... Vertraut ist das ja wahrhaftig, aber in Wahrheit doch eine lächerliche Szene, … wie da ausgerechnet ein Hungerkünstler auf einem entwendeten Grauen als Retter begrüßt wird!
Indes erkennen wir darin immerhin aber das entscheidende Grundmotiv wieder: Dass wir einen beweglichen und nicht fixierten, dass wir einen fortschreitenden und nicht stehengebliebenen Gott in unserer Mitte begrüßen sollen.
Und das ist eine der erstaunlichsten und verheißungsvollsten Wahrheiten des christlichen Glaubens – gerade im zweideutigen Rätselbild des Eselreiters, der Fortbewegung auf dem Rücken eines beharrlich sturen Lasttieres versinnbildlicht und Stürme der Begeisterung auslöst, obwohl er in offensichtlicher Tiefstapelei einherzieht.
Der da schnell auf dem Langsamen kommt, der da solchen Überschwang in seiner Bescheidenheit weckt, der da so anders als gedacht und dennoch so völlig in den Bahnen der Verheißung vor den Augen der Welt erscheint: Er ist tatsächlich das Gegenbild, ja die Gegenbewegung zu allem, was sonst die Metaphysik der Menschheit an Göttlichem entwirft!
Ein Gott, wie wir ihn denken würden, hätte Würde. … Würde er würdelos, hätte er nichts Göttliches mehr an sich.
Ein Gott, wie wir ihn uns vorstellen wollten, stellte etwas Großes dar. … Verstellte er sich als klein und lächerlich, dann enttäuschte er wohl unsere Vorstellung.
Ein enttäuschender Gott aber wäre eine Gottestäuschung: … So kritisch aufgeklärt und anspruchsvoll können wir ja sein. Ein Gott jedoch, der unseren Ansprüchen nicht genügt, kann nicht beanspruchen, für uns ein Gott zu sein. ……. ——
Und so stellt das erste Bild, das der Gott der Bibel am Beginn unseres neuen Weges mit Ihm abgibt, noch einmal ganz andere Ansprüche an unsere Beweglichkeit, als dass Er uns nur herausforderte, nicht so ganz so lustlos herum zu sitzen, wenn Er sich doch auf den sonderbaren Weg als Mensch auf einem Esel macht.
Die Herausforderung, mit der alles für uns losgeht, ist nämlich vielmehr, dass wir offenkundig kein einziges natürlich naheliegendes, nachvollziehbares Bild von Gott haben können.
Der dumme kleine Esel mit dem armen Mann auf seinem Rücken reitet sie alle zuschanden.
… Und statt den Ahnungen und Überlieferungen philosophisch wertvoller und psychologisch wahrscheinlicher Theologie nachhängen zu können, sollen wir am Beginn des Kirchenjahres ohne allen festen Grund, ohne gesicherte Erkenntnis, ohne klare Vorstellungen nur ein unverstandenes Staunen, nur eine offene Frage aufgreifen und Abschied von den großen, logischen, einleuchtenden Mutmaßungen nehmen.
Wir sollen anscheinend wirklich bei Null anfangen.
Kein Vorwissen mitbringen.
Gott als den Unbekannten aushalten.
…. Uns wieder einmal wirklich nur von der Wahrheit selber und nicht von unseren Meinungen leiten lassen, …. Meinungen, die Gott in einem Kleinkind ausschließen würden, … Meinungen, die Gott in einem sturmumtosten Boot aus-schließen würden, … Meinungen, die Gott in Gesellschaft der Bösen ausschließen würden, … Meinungen, die Gott unter den Bettlern ausschließen würden, … Meinungen, die Gott als einen blutige Tränen Weinenden ausschließen würden, … Meinungen, die Gott vor Gericht ausschließen würden, … Meinungen, die Gott unter der Todesstrafe ausschließen würden, … Meinungen, die Gott in der engen Kammer hinter dem Felsen ausschließen würden, … Meinungen, die Gott in Christus vollkommen ausschließen würden.
Alle diese Meinungen sollen wir zurücklassen.
Ohne sie noch einmal anzurühren, sollen wir losgehen durch das Tor, …. in den Advent.
Das ist die höchste Form der Beweglichkeit, die uns nötig bleibt: Dass wir tatsächlich jede feste Idee eines fertigen Gottesbegriffs ablegen und uns vorurteilslos dem Unbekannten überlassen, in das nicht unser Intellekt oder unsere messerscharfe Kritik uns führen, sondern … jener Esel, der einen jungen Mann trägt, der bald sterben wird.
Wenn es aber wirklich so sein soll, dann müssen wir eben diese Freiheit zulassen, nichts anderes von Gott zu besitzen und behaupten zu können, als was uns nun nach und nach auf den abenteuerlichen Wegen der Demut Jesu, seiner Wehrlosigkeit, seiner Opferbereitschaft, seiner Auslieferung und Hingabe begegnen wird … von Schritt zu Schritt, von Evangelienbericht zu Evangelienbericht, von Gottesdienst zu Gottesdienst, von Sonntag zu Sonntag, von Jahr zu Jahr.
……. Auch wenn wir instinktiv einen Gott, der die Dinge beherrscht und sie nicht erleidet, bevorzugen würden.
Auch wenn wir instinktiv die Vorstellung, dass Gott wirklich ein Mensch wurde und also hinfällig und sterblich, für eine Übertreibung halten, die nicht buchstäblich meinen kann, was da gesagt wird.
Auch wenn wir schon die Geburt in Bethlehem eher für eine poetische Spekulation, als für ein Schicksal, das Gott sich selber auferlegt hat, nehmen. …....
Doch heute fangen wir ja neu an.
Heute bewegen wir uns in die liturgische Zukunft, gehen gottesdienstlich Unbekanntem, gehen persönlich Ungewohntem, gehen der Ungewissheit eines Kirchen- und bald auch Kalenderjahres entgegen, die alles bringen können: Erbetenes oder Befürchtetes, Segen oder Anfechtung, Not oder Gnade. …….
Wem das aber zum 1.Advent aufgeht – dass wir Menschen viel weniger vom Bisherigen als vom Zukünftigen abhängig sind – …, wem die Bestimmung aufgeht, dass wir nie fertig sein können, weil der morgige Tag seine eigene Plage und sein eigenes Wunder haben muss, … wer so die Wahrheit des adventlichen Vorbehalts vor allem Bestehenden und Abgeschlossenen erkennt, der könnte allerdings von lauter hellem Staunen und sprachloser Anbetung ergriffen werden, wenn er auch erkennt, was die Unbekanntheit Gottes, was die ungeahnte Unabhängigkeit Gottes von allen menschlichen Erklärungen und Einordnungen und Festlegungen gerade dann bedeutet: Sie bedeutet, dass Gott ebenso offen zur Zukunft ist wie unser ungeklärtes, ungewisses Leben!
Wenn wir Gott noch nicht begriffen haben können, dann heißt das, dass Er uns noch bevorsteht!
Wenn wir alte Missverständnisse aufgeben, dann dürfen wir noch nie vermutete Wahrheit erwarten!
Wenn wir nicht beharren müssen, genau zu wissen, wie Gott ist, dann kommen Überraschungen und Offenbarungen auf uns zu.
… Wenn wir uns bewegen und in den Advent aufbrechen, dann werden wir erfahren, dass genau das die Zeit und Dimension unseres Gottes, des Gottes Israels, des in Jesus Christus zu uns Kommenden ist.
Gott ist der Gott der Zukunft!
Anders als die abgeschlossenen Sagen der Heiden und das endgültig unüberbietbare Hörensagen Mohammeds ist das Wort unseres Glaubens das Wort des Kommenden!
Gott „war“ nicht einmal, sondern Er erwartet uns genauso wie wir Ihn erwarten.
Er ist seit den Tagen der Wüstenwanderung ein Wegweiser in’s Morgige, und verheißt seit den Propheten, dass Er näher und näher bei Seinem Volk auf Erden sein will und kommt zur Welt, um bis auf den heutigen Tag nicht nachzulassen, immer weitere Menschen und Zeiten zu rufen und mit Künftigem zu erfüllen.
Darum können wir Gott noch nicht haben; Er kann noch nicht aus-verstanden und zuende-erkannt sein. Denn immer weiter öffnet Er das Tor dessen, was wird.
Ja, Gott ist immer noch so viel mehr und wunderbarer und herrlicher, als wir es bisher erfahren und bezeugen konnten; so dass man mit dem großen Theologen Eberhard Jüngel sagen muss: Gottes Sein ist im Werden[iii].
Und darum bewegt Er uns so!
Und darum ist es ein solcher Segen, in den Advent aufzubrechen!
Denn es geht auf Gott zu, auf Gott, den in Christus Kommenden, … unsere Zukunft!
Und so singen auch wir dem sonderbar, wunderbar Einziehenden entgegen:
Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt im Namen des HERRN! Hosianna in der Höhe! (Matth. 21,9)
Amen.
[i] In diesem Gottesdienst, der mit der revidierten Perikopenordnung, die ab dem 1.Advent 2018 gilt, wieder in den ersten Jahrgang des Lese- und Predigtzyklus eintritt, wurde auch das neue Lektionar eingeführt. Eine Konfirmandin und ein Konfirmand, Küster und Presbyterin trugen mit dem ersten Licht des Adventskranzes auch Lektionar und Altarbibel in einem Einzug nach vorne
[ii] Zitiert aus der orthodoxen Chrysostomus-Liturgie nach: „Griechische Liturgien“ – übersetzt von Remigius Storf, in: BKV 5: Griechische Liturgien / Leben der Heiligen Väter von Palladius / Leben der Hl.Melania von Gerontius, Kempten 1912, S.226.
[iii] Vgl. dazu Eberhard Jüngel, Gottes Sein ist im Werden – Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei KARL BARTH: Eine Paraphrase, 3.Aufl., Tübingen 1976.
Ewigkeitssonntag, 25.11.2018, Stadtkirche, Philipper 1,21-26, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 25.XI.2018
Philipper 1, 21 – 26
Liebe Gemeinde!
Ein Liebesbrief zum Totensonntag ist uns heute aufgeschlagen.
Kein Kondolenzschreiben, keine mühevollen oder feinfühligen Formeln der Teilnahme an unserer Trauer, sondern Grüße eines Glücklichen.
……. Und doch ist das alles andere als eine jener unsensiblen Äußerungen, die manchmal mitten in den Schmerz treffen und das Verlassensein und die Endgültigkeit umso spürbarer machen, je banaler das sorglos weiterplätschernde Leben Dritter sich aufdrängt.
Paulus geht nicht absichtlich oder stumpfsinnig über das Unglück hinweg, das der Tod in unser Dasein bringt.
Vielleicht hat selten ein Mensch in Wirklichkeit den Tod so ernst genommen, wie der Apostel das tat, der sein eigenes Leben und Denken als todbeherrscht und todgesteuert erfuhr (vgl.Rö7+8).
Doch gerade darum, … weil er die zerstörerische Macht des Todes in den besten Zügen seines eigenen Wesens erkannte und weil er die Prägung des Menschlichen durch den Tod – also die Sünde – so erschreckend tief und verzweifelt durchschaute … gerade darum ist Paulus der beste Zeuge auch des glücklichen Lebens. Denn sein Glück, mit dem er uns am Totensonntag grüßt, will auch unser Glück sein.
Es handelt sich dabei um den Kern des christlichen Glaubens, nämlich die Tatsache, dass es zwar viele Weltverbesserungs- und Lebensveränderungsbewegungen gab und gibt, aber keine andere Gemeinschaft und Botschaft wie die unsrige, die Theodor Fliedner in seinen beiden letzten Worten zusammenfasste: „Todesüberwinder – Sieger“[i].
Wenn es Christen – zumal evangelischen – aber immer schwerer und fremder wird, das Evangelium nicht als ein Programm zur Weltreform, sondern als die Ansage des Siegs über den Tod zu begreifen, dann verwundert es nicht, wenn viel zu viele Menschen den Glauben nicht mehr mit der Freude in Verbindung bringen, die er eigentlich schenkt.
…Und darum ist es so wichtig, dass wir an diesem Tag, der alle Trauer eines Jahres versammeln und aushalten will, keine Trübsal, ja nicht einmal einen einfühlsamen Seelsorgetraktat zu hören bekommen, sondern einfach den absichtslosen Einblick in’s Innere eines glücklichen Christen. ——
Dieser zwischen zweierlei Gutem – nicht zwischen zwei Übeln! – hin- und hergerissene Apostel sitzt bei der Abfassung seines Briefes im Gefängnis (vgl.Phil1,7). Man hat ihn dort mit Sicherheit misshandelt und gefoltert, er ist ohne Rechtsbeistand und folglich ahnungslos, ob seine Zukunft die Hinrichtung oder die Freilassung sein wird, … doch eines ist er nicht: Er ist nicht niedergeschlagen.
… Im Gegenteil: Seine zwischen dem Blick auf’s Lebenswerk und auf’s Lebensende schwankenden Gedanken sind von schäumender Fröhlichkeit. Denn genau auf der Mitte zwischen Freiheit und Friedhof findet er zur Beschreibung seiner Lage nur eine Serie geradezu kostbar schimmernder Begriffe: „Gewinn“, „Frucht“, „Lust“ und „Rühmen“ sind jedenfalls nicht die üblichen Ausdrücke, die uns in den Sinn kommen, wenn uns die Nähe und Wirklichkeit des Todes mitten im Leben berühren.
… Und ein leises Unbehagen, solche Worte ausgerechnet dann auslegen zu sollen, wenn uns die Erinnerung an die Abschiede und die Verstorbenen des endenden Jahres nahegeht, beschleicht auch mich in diesem Augenblick.
… Wären „Verlust“ und „Verlangen“, „Schmerz“ und „Klage“ nicht allemal näher an unserem Gefühl, als die sonderbare, die geradezu verdächtige Hochstimmung des Paulus? ……
Gewiss.
Und dennoch ist nichts wichtiger und richtiger – auch in der Trauer –, als dass wir uns auch die andere Seite, den fremden Blick, die ungewohnte Wahrheit zeigen lassen, die man für sich alleine nicht entdecken und zuweilen auch kaum ertragen kann.
Wenn uns einer stirbt, an dem das Herz hing, durch den das Leben uns erreichte und zu uns sprach, mit dem wir Lachen und Weinen, Gutes und Böses geteilt haben, der uns Harmonie oder Widerstand bot, so wie wir sie brauchten, … wenn unser Leben so angegriffen und gemindert, so ausgeleert und so verarmt wurde, dann werden wir nur diesen Schaden, diesen Verlust empfinden.
Dann streicht das grausame „Minus“ allen Inhalt, alle Schätze des Daseins unerbittlich zusammen und wir merken, dass wir zwar viel besitzen können und doch Bettler sind, denen der bloße Puls, der schlichte Atem eines anderen Menschen – nichts als Luft also – unersetzlich fehlen.
Dagegen spricht auch der Apostel nicht.
Er rechnet uns den Wegbruch aus unserer festen Liebebindung nicht schön; er macht uns nicht vor, dass wir uns auf einen Ausgleich freuen oder einen Ersatz bekommen sollen.
Nicht einmal jene wirklich wahre und tröstliche Abwägung stellt er an, dass das Sterben oft von Qual entbindet und Leid erspart, und noch weniger interessiert ihn unsere verbürgte und lebenswichtige Erfahrung, dass Erinnerung und Dankbarkeit in der Zukunft wiederkehren und Bitterkeit und Tränen vergehen können.
Der Apostel will unsere Trauer nicht manipulieren und auch nicht therapieren.
Er weist uns stattdessen in eine ganze andere Richtung und lenkt uns zu wirklich ganz anderen Wahrheiten, als man sie heute sonst beim Bewältigen unserer Verluste oder in bewusster Erwartung unseres eigenen Sterbens noch für verheißungsvoll hält.
Und doch ist der fremd gewordene Blick des Apostels auf Leben und Sterben die glücklichste aller Möglichkeiten des Menschseins. Sie besteht aber zuerst und zuletzt und für immer in der schlichten Überschrift seiner Gefängnisgedanken und seiner Lebensweisheit, seines Todesmutes und seiner dynamischen Heiterkeit. Das Glück des Paulus besteht in der Tatsache, die jeden von uns Getauften mit ihm verbindet, dass nämlich nicht allein das Auf und Ab, das Wachsen und Schwinden, das Geben und Nehmen, das Halten und Verlieren, das Werden und Gewesensein unserer persönlich gemachten Erfahrungen und unserer physikalisch verlebten Zeit unser Leben ausmachen, … sondern mehr!
… Unser Leben ist mehr, als wir selber kennen und fassen, … mehr auch als wir selber genießen und erleiden können.
Unser Leben – von dem man ja eigentlich meinen sollte, dass wir es völlig durchschauen und beherrschen, dass wir es besser kennen und eindeutiger bestimmen müssten, als jeder andere Mensch – unser Leben ist in Wahrheit mehr, als wir wissen, sehen und fühlen.
Denn Christus ist unser Leben!
Dieser unscheinbare kleine Satz, der ein bisschen verrätselt und womöglich auch nur bildhaft und am Ende vielleicht bloß exaltiert klingt …, dieser unscheinbare Satz entscheidet in Wirklichkeit alles.
Wenn man einen solchen Satz tatsächlich formen und schreiben, wenn man ihn hören und erst recht wenn ihn wirklich glauben könnte – „Christus ist mein Leben“ –, … wenn man einen solchen Satz tatsächlich formen und schreiben, wenn man ihn hören und erst recht wenn ihn wirklich glauben könnte ohne dass er nur einen beliebig übertragenen Sinn wiedergibt, sondern so, dass wir ihn verstehen und meinen als Ausdruck unserer wirklichen Bereitschaft dazu, einem anderen unser Leben anzuvertrauen und in diesem anderen unseren eigenen Ausgangs-, Mittel- und Zielpunkt zu finden – „Christus ist mein Leben“ – , … wenn man einen solchen Satz also wirklich gelten lassen und als gültig betrachten wollte, … dann würden wir das, was der Apostel war und was wir Christen so wie niemand sonst sein könnten: Glücklich.
„Christus ist mein Leben“ – das ist nicht das Weglaufen vor dem eigenen Befinden oder der eigenen Verantwortung. Es ist nicht das Ausblenden der Realität oder der Rückzug aus ihren Prüfungen und Anfechtungen. Es ist nicht der Ersatz des zu schwachen eigenen Ich durch irgendeinen anderen Platzhalter, ein erträumtes Über-Ich. Sondern es ist die Erweiterung und Öffnung aller, … aller (!) unserer Erlebnisse und Verluste und Erfolge und Enttäuschungen und Leiden und Siege für einen weiteren, in innigster Gemeinschaft mit uns daran Beteiligten. Nicht, dass wir nicht mehr vorkämen im eigenen Leben, wird durch solchen Glauben bewirkt, sondern dass alles, in dem wir vorkommen und das über uns kommt, uns mit Christus vereint!
Denn das ist ja wirklich der Kern und die Krone des Evangeliums: Es bringt uns in Jesus Christus die Botschaft von einer Geburt und tausend Taten, von Kräften und Liebe, von unbegrenzter Hingabe und einem Opfer, die alle jedem Einzelnen von uns gelten. … Das Leben und die Botschaft, der Tod und der Auferweckungssieg Jesu haben ihr Ziel ja wahrhaftig nicht in seiner Person, sondern in uns!
Und wenn wir das begreifen, nein, wenn wir es ergreifen und davon ergriffen werden, dann verschmilzt das Eigene und Einzelne mit diesem Einen und Allgemeinen: Mein Dasein und mein Ich sind in der Summe aus Lebens- und Sterbensbereitschaft und Ewigkeit enthalten, die die Wirklichkeit Christi als Stellvertreter aller Menschen ausmacht.
Und weil dem so ist, kann mir nichts verloren gehen oder genommen werden.
Ist Christus mein Leben – der das Leben Aller, der das ewige Leben ist – : Was sollte mir einst fehlen können?!
Wer sich als Teil in’s Ganze eingebunden weiß, dem bleibt gewiss nichts fern und der bleibt selber nicht übrig oder abgetrennt, sondern er lebt in dieser Zeit und ihrer Beschränkung auf ein Nacheinander getrost zur Offenbarung der Ewigkeit hin, in der alles nicht mehr geschieden, sondern in dauerhafter Gegenwart versammelt sein wird.
Ist Christus also wirklich mein Leben schon hier im Stückwerk des Vorübergehenden, wie reich und wie beglückt wird uns die bleibende Vollkommenheit erst machten!!!
Der gänzlich unpassende, ja geradezu unangemessene Begriff, den Paulus für die Fülle verwendet, die er nach dem Sterben und also jenseits der Zeit erwartet, wenn er erklärt, dass Sterben sein Gewinn werde, … sein „Profit“[ii] – im Lateinischen ist das furchtbar ökonomisch besetzte Wort sogar wie etwas „Lukratives“ wiedergegeben! –, … dieser geschmacklos nach Habsucht und Gier klingende Ausdruck macht allerdings eben in seiner handfesten Alltäglichkeit deutlich, wie direkt das Glück des Glaubendürfens sich in der Haltung des Apostels ausprägt. Paulus ist durch sein mit Christus geteiltes, zu Christus gehöriges Leben so zuversichtlich, dass er alle Spielarten seiner eigenen Zukunft als reinen, lockenden Luxus empfindet.
Im Vollbesitz unvergänglich gewisser Hoffnung hat er daher die Qual der Wahl: Bald jene unerschöpfliche Fülle zu schauen und zu genießen, die ihn erwartet, oder aber die unermessliche Großzügigkeit Gottes weiter fruchtbar unter den Menschen auszubreiten, ist eine Alternative, die ihm hart zusetzt. Doch nicht, weil er verunsichert, sondern gerade weil er im Leben und im Sterben so sicher ist, dass Christus reich an allem und reich für alle ist, ……. reich an lohnenden Aufgaben hier, reich an seligem Lohn dort. ——
Und so ist es tatsächlich ein Liebesbrief, den wir heute am Totensonntag hören.
Nicht einer jener herzzerreißenden, die man manchmal mit Tinte oder Sehnsucht den Verstorbenen schreibt und auch nicht einer jener, die aus ihrer Feder stammen und uns traurig drüber machen, dass Gedanken, Worte und Papier länger da sind als das Herz und die Hand, denen wir sie verdanken.
Unser Totensonntagsliebesbrief gilt dem, der unser Leben ist – und ebenso das Leben aller unserer Toten.
Ein Liebesbrief an den lebendigen Christus ist es, der allen Lebendigen Grund und Ziel gibt.
Ein Brief, der zum Leben und Warten und Wirken ebenso ermutigt wie zum Sterben. … Denn auch das sagt dieser lebensvolle und glückliche Brief ja tatsächlich: Unverkrampft und ohne alle morbiden Untertöne erleben wir in ihm, wie Paulus das Abschiednehmen vom sterblichen Dasein nicht nur nicht fürchtet, sondern sich bis auf Weiteres geradezu versagen muss.
Er tut es, weil die Verbundenheit zur Gemeinde, weil die auf einander angewiesene Gemeinschaft hier auf Erden ihn braucht und fordert … so wie das Leben tatsächlich jeden fordert, der es noch teilt. Jeder, der atmet, hat seine Aufgabe in unserem Kreis. Jeder, der da ist, hat einen existentiellen Daseinsgrund. … Auch die, die es nicht mehr wissen und wahrnehmen können oder wahrhaben wollen!
Doch umgekehrt gilt eben genauso – ohne jeden Verdacht auf Krankheit oder Unsinn –, dass jeder Christ zuweilen die unendlich tröstliche Regung empfinden darf, wie schön es sein wird, das Leben nicht mehr begrenzt, sondern jenseits aller Einschränkung zu erfahren!
… Wie schön, wie reich, wie frei es sein wird, wenn aus der unsichtbaren Zugehörigkeit zu Jesus Christus das völlig ungetrennte Miteinander, die direkte Teilnahme an seiner Wirklichkeit, die endgültige Stufe des Bei-ihm-und-im-Leben-Seins geworden ist! ——
So ist das Glück des Glaubens.
Ein Glück, das auf allen Seiten und in allen Dingen Zukunft offenbart.
Ein Glück, das schon heute Erlösung vom Fluch des Todes und einst im Sterben Zuversicht des Lebens bedeutet.
Ein Glück, das uns und unsere Toten schließlich völlig und gänzlich und wirklich und ewig das Größte erfahren lassen wird, das es geben kann: Bei Christus zu sein, dem Todesüberwinder, dem Sieger, der jetzt unser Leben ist – und uns alles, was kommt, zum Gewinn und zur Frucht und zur Lust und zum Rühmen macht!
Amen.
[i] Georg Fliedner, Theodor Fliedner – Durch Gottes Gnade Erneuerer des apostolischen Diakonissenamtes in der evangelischen Kirche: Sein Leben und Wirken, II.Bd., Kaiserswerth a.Rh., 1910, S.362.
[ii] Der Stamm des Wortes κέρδος ist sonst im biblischen Gebrauch überwiegend kritisch bis negativ besetzt!
Drittl.S.i.Kj., 11.11.2018, Mutterhauskirche, Ps.51,12-14, Ulrike Heimann
Thema: 100 Jahre Ende des 1.Weltkriegs - 80 Jahre Progromnacht (Beginn der ökum. Friedensdekade)
Ps.51,12-14 (mit Bild „Der Schrei" von E.Munch von 1893)
Was für ein Datum, was für ein Wochenende, was für eine Zeit, liebe Gemeinde!
Vor 100 Jahren endete der 1.Weltkrieg, aber wirklich Frieden kehrte nicht ein - in Deutschland, in Europa, in der Welt. Es begann vielmehr ein Tanz auf dem Vulkan. Der Hass brodelte, Nationalismus und Faschismus befeuerten sich gegenseitig; am 9. November vor 80 Jahren brannten überall in Deutschland die Synagogen, zog ein aufgehetzter Mob durch die Straßen, jüdische Mitbürger wurden gedemütigt, misshandelt, ermordet. Ein unübersehbares Fanal auf dem Weg in den Krieg und in den Holocaust. Aber viel zu viele wollten das nicht wahrhaben.
„Damit wir nicht ins Stolpern kommen ... Erinnerung stärkt das Rückgrat" - unter diesem Motto hat die ökumenische Flüchtlingshilfe am Freitagabend alle Kaiserswerther Bürgerinnen und Bürger zu einem Erinnerungsgang eingeladen. Über 200 sind der Einladung gefolgt. Wir haben die Stolpersteine, die es hier in Kaiserswerth gibt, aufgesucht, uns das Schicksal von jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern vor Augen gehalten, denen damals in der Nazi-Zeit kein Mitmensch zu Hilfe kam und uns davon ermahnen lassen, selber heute nicht wegzusehen und zu schweigen, wenn Menschen, die unter uns leben, angefeindet, verächtlich gemacht und angegriffen werden. Auch Flüchtlinge, die unter uns wohnen und die wir in den letzten Jahren ja kennengelernt haben, haben wir eingeladen, mitzugehen und auf diese Weise einen wesentlichen Teil unserer bundesdeutschen, demokratischen Kultur mitzuerleben.
Es ist einfach so: die richtige Haltung und Einstellung bleibt wirkungslos, wenn wir sie nur zu Hause auf dem Sofa und vor dem Fernsehen äußern. Es ist heute unverzichtbar, diese unter die Menschen zu bringen, sie auf der Straße, in der Öffentlichkeit zu zeigen. Der Beginn der ökumenischen Friedensdekade am heutigen Sonntag will uns ebenso motivieren, nicht einfach „für den Frieden zu sein" - wer ist das nicht? -, sondern sich für den Frieden einzusetzen und aufzustehen.
Für den Frieden in unserer Gesellschaft, für den Frieden zwischen den Ländern Europas und weltweit.
Die Friedensdekade im November lädt uns jedes Jahr ein, innezuhalten und uns neu darauf auszurichten, Boten des Friedens zu werden. Der Volkstrauertag und der Buß- und Bettag gehören dazu: Erinnerung - Nachdenken - Umkehren - Aufstehen - all das gehört zusammen.
Und das wollen wir in diesem Gottesdienst auch tun.
Erinnern - an den „Großen Krieg", an die „Urkatastrophe" Europas. Im Geschichtsunterricht kam er in meiner Schulzeit nicht zur Sprache. Ich kannte nur die nackten Zahlen: 1.Weltkrieg von 1914 bis 1918; 15 Millionen Kriegstote; und ein Ortsname fiel: Verdun; und dass es den Einsatz von Giftgas gegeben hatte. Das war dann auch schon alles. Der 2.Weltkrieg, der nahm auch in den Schulbüchern erheblich mehr Raum ein. Erst vor einem Jahr habe ich erfahren, dass mein Großvater in Verdun als Soldat gewesen ist, dass er als einziger seiner Kompanie überlebt hatte. Meine Großmutter hatte nie darüber gesprochen. Ob Mein Großvater mit ihr überhaupt darüber gesprochen hat? Über das Grauen, über die bis dahin unbekannte Brutalität der Kriegsführung? In ganz Europa gingen 1914 die Lichter der Menschlichkeit aus. Das Ende des 1.Weltkriegs war nicht das Ende der Kriege auf der Welt. Geschichtswissenschaftler unserer Tage sprechen ja davon, dass es im Grunde genommen von 1914 - 1945 einen zweiten „Dreißigjährigen Krieg" gegeben hat; in der Zeit, in der auf den europäischen Schlachtfeldern die Waffen schwiegen, tobte der Krieg der Worte, der Krieg des Hasses und der nationalistischen Propaganda und Ressentiments umso heftiger. Und den Worten folgten dann wieder furchtbare Taten. Man kann die Kriege, die allein seit 1918 auf der Welt geführt wurden und noch werden, gar nicht alle aufzählen. Das Grauen, das sie für ungezählte Menschen mit sich brachten. Wenn wir das alles wirklich an uns heranlassen würden, dann könnte man eigentlich vor Ohnmacht, vor Verzweiflung nur schreien. Gemalt würde mein Bild von solchem Schreien etwa so aussehen wie das Bild von Edvard Munch, das Sie in Händen halten.
Im Vordergrund sieht man eine einzelne Person. Sie schaut in unsere Richtung. Die Hände sind an den Kopf gepresst, Augen und Mund weit aufgerissen. Das Gesicht ähnelt eher einem Toten, einem Gespenst als einem Menschen. Im schwarzen Kleid kommt er oder ist es eine Sie? uns auf einer Brücke entgegen. Die Brücke mit einem Geländer ist das einzig Feste auf diesem Bild. Die Landschaft ist in Bewegung: alles ist in wellenförmigen Linien gemalt: das dunkle Wasser genau so wie der blutrote Himmel. Der Mensch vorne auf dem Bild ist in den gleichen Wellenlinien gemalt wie die Landschaft. Fast wirkt es, als löse sich alles ineinander auf.
„Der Schrei", so heißt das Bild von Edvard Munch. Er hat es 1893 gemalt. Inspiriert hat ihn ein Naturschauspiel in seiner norwegischen Heimat. Er schreibt darüber: „Ich ging mit zwei Freunden die Straße entlang - dann ging die Sonne unter. Der Himmel wurde plötzlich blutrot, und ich fühlte einen Schauer von Traurigkeit. Einen drückenden Schmerz in meiner Brust. Ich hielt an, lehnte mich an einen Zaun, denn ich war auf einmal todmüde. Über dem blauschwarzen Fjord und der Stadt lag Blut in Feuerzungen. Meine Freunde gingen weiter - und ich wurde zitternd vor Angst zurückgelassen. Und ich fühlte, dass ein gewaltiger unendlicher Schrei durch die Natur ging."
Hatte Munch geahnt, welches Grauen das nächste Jahrhundert bereit hält? Ich glaube es nicht. Aber sein Bild wurde als Illustration in den Schulbüchern des 20.Jahrhunderst verwendet. Als ein Bild für das Grauen, für das es keine Worte gibt. Man kann in dem Bild sehen, was aus den Seelen der Toten und Lebenden, Überlebenden dringt: ein wortloser, ja sogar stummer Schrei des Entsetzens.
Die Landschaft, sie ist vor allen Dingen Seelenlandschaft. Da ist eine Seele in Aufruhr. Sieht sich überwältigt von Verunsicherung und Angst, hilflos und von Gott und Mensch verlassen ist sie erstarrt. Was zu sehen ist, ist kein Sonnenuntergang, sondern eher der Untergang der Welt, die verbrennt, vom Feuer verschlungen wird.
Lassen Sie uns an dieser Stelle miteinander singen, ein neues Lied auf eine alte Melodie. Ein Lied, das uns auf die Brücke des Bildes verweisen will, auf die Brücke über den Abgrund, auf die Möglichkeit, all dem Schrecken von Tod und Gewalt so zu begegnen, dass wir eben nicht im Entsetzen erstarren und auch nicht einfach achtlos an menschlicher Not vorbeigehen.
Ulrich Tietze hat dieses Lied gedichtet: „Gewalt herrscht allerorten".
„Gib, dass wir uns besinnen und guten Weg beginnen, mach offen uns und frei."
Genau darauf kommt alles an, dass wir offen und frei werden. Dann weichen die Lähmung und das Entsetzen, dann finden wir zurück ins Leben allen Schwierigkeiten und Widrigkeiten zum Trotz. Denn ohne diese ist das Leben eh nicht zu haben.
Um offen und frei zu werden, braucht es Besinnung und Umkehr. In der Kirchensprache: Gebet und Buße. Weshalb es ausgesprochen sinnvoll ist, dass die Friedensdekade mit dem Buß- und Bettag abgeschlossen wird.
All die Erinnerungen an das Elend der Kriege, all das Gedenken an die Judenverfolgungen im Dritten Reich, an das Versagen gerade der Kirchen in dieser Angelegenheit, denen es fast immer nur um die eigene Sicherheit, das eigene Überleben ging, die eben lieber Choräle gesungen haben als für die Juden zu schreien, alles das lässt einen sich entweder mit Schaudern abwenden oder führt gar nur noch zu einem Achselzucken: was soll's? Und geht es doch gut. Seit 73 Jahren Frieden und Wohlstand. Krieg führen doch andere. Wir wollen das Leben genießen!
Diese Haltung ist ziemlich weit verbreitet.
Es stimmt ja, dass es uns hier in Deutschland seit unglaublich langer Zeit nicht nur gut, sondern sehr gut geht. Doch die Dankbarkeit dafür ist kaum noch zu spüren. Der Frieden ist so schrecklich selbstverständlich und normal geworden. Aber das ist er nicht. Und seit ein paar Jahren merken wir ja, dass er bröckelt, von innen her ausgehöhlt wird. Der Frieden in unserer Gesellschaft ist bedroht wie seit Jahrzehnten nicht.
Die Umgangsformen und die Sprache im öffentlichen Diskurs sprechen Bände: Hass und Aggression machen sich breit. Wutbürger, die mit keinem Argument mehr erreicht werden können, die nur noch eines eint: klare Feindbilder.
Wie konnte das so kommen? Ohne Frage ist so manches mit der Wiedervereinigung nach dem Mauerfall nicht gut gelaufen, sind viele auf der Strecke geblieben und fühlen sich bis heute ausgegrenzt und als Verlierer. Und angesichts von Wohnungsmangel und Pflegenotstand haben auch viele von denen, die bisher noch gar nichts verloren haben, Angst, abzustürzen - in den östlichen wie in den westlichen Bundesländern. Der Asylbewerber, der Flüchtling, der Migrant wird nur als Bedrohung des eigenen Wohlstandes oder Anspruches auf Unterstützung gesehen.
Doch die Wirklichkeit ist nicht so einfach, sondern mittlerweile sehr kompliziert. Das erfordert Anstrengungen von allen Seiten: es müsste viel mehr erklärt werden, aufgedeckt, wie verflochten die Welt mit ihren Märkten heute ist. Nur wenn man weiß, wie alle mit allen zusammenhängen, sind Lösungen denkbar, die von der großen Mehrheit der Gesellschaft wirklich mitgetragen werden. Und das braucht es, um den Frieden zu erhalten - nach innen und nach außen.
„Gib, dass wir uns besinnen und guten Weg beginnen, mach offen uns und frei."
Im 51.Psalm, einem Bußpsalm, nimmt der Beter diesen Gedanken auf und bittet Gott:
„Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, gewissen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen Heiligen Geist nicht von mir. Erfreue mich wieder mit deiner Hilfe, und mit einem willigen Geist rüste mich aus."
Um für den Frieden eintreten zu können, um für ihn zu arbeiten, braucht es in erster Linie nicht Aktionen und Demonstrationen, sondern der einzelne Mensch muss in sich gehen, muss sich öffnen für den Geist Gottes, dass er ihn friedensfähig macht. Das Herz ist in der Bibel nicht so sehr wie bei uns der Ort des Gefühls, sondern der Ort des Denkens. Es geht hier um die Gedanken des Herzens; die sollen rein sein, frei sein von Hass und Verachtung, von Vorurteilen und Gleichgültigkeit. Ein Mensch mit solch einem Herzen, der begegnet dem Anderen, dem Fremden als seinem Mitmenschen; er sieht ihn als Partner in dieser Zeit und Welt und nicht als Bedrohung. Ein reines Herz ist immer auch ein weites, offenes Herz. „... und gib mir einen neuen, gewissen Geist."
Mach mich klarsichtig, dass ich unterscheiden kann zwischen gut und böse, zwischen dem, was im Einklang mit deinen Geboten steht und was ihnen entgegensteht, damit ich mich leiten lasse von dem, was allen gemeinsam hilfreich und heilsam ist, nicht meinen Vorteil suche auf Kosten von anderen. Lass mich unterscheiden zwischen Lüge und Wahrheit.
Nur dort, wo man wahrhaftig ist, wo man sich der Wahrheit verpflichtet weiß, kann etwas Gutes entstehen.
Doch in unseren Tagen ist ein solch reines, weites, offenes Herz und ein neuer, gewisser Geist, der sich nicht korrumpieren lässt von Reichtum und Macht, kaum gefragt. Lüge und Manipulation der Meinungen sind eine der größten Gefahren für unsere Demokratie und für den Frieden in unserer Gesellschaft und zwischen den Völkern. Der Wind bläst allen ordentlich ins Gesicht, die da Widerstand leisten. Darum ist es auch für uns unerlässlich, mit dem Beter des Psalms weiter zu bitten: „Erfreue mich wieder mit deiner Hilfe und mit einem willigen Geist rüste mich aus." Gott, gib du mir die Widerstandskraft, die ich brauche - Tag für Tag, in den unterschiedlichen Situationen - lass mich immer wieder erfahren: ich bin nicht alleine unterwegs; und gib mir einen langen Atem, lass mich nicht kraft- und mutlos werden, wenn ich merke, wie verworren diese Zeiten sind, wie undurchschaubar. Lass mich darauf vertrauen, dass du, Gott, das letzte Wort hast.
„Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, gewissen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen Heiligen Geist nicht von mir. Erfreue mich wieder mit deiner Hilfe, und mit einem willigen Geist rüste mich aus."
Amen.
Lied „In dieser unsrer Zeit" (Text: Peter Spangenberg; Mel. eg 321 „Nun danket alle Gott")
1. Gewalt herrscht allerorten / in Taten und in Worten,
und Menschen leiden sehr.
Und manche hört man flehen: / „Lass uns nicht untergehen,
mach unsre Tage nicht zu schwer."
2. Die Welt sehn wir verwildern / in Sprache und in Bildern,
die Zeit ertrinkt im Blut.
Hoch sind die Einschaltquoten, / wo Menschen bös verrohten,
denn die Gewalt verkauft sich gut.
3. Hilf, dass wir Frieden schaffen, / wir brauchen Geist statt Waffen.
Sonst droht der Untergang.
Dort, wo wir unterdrücken, / kann Leben niemals glücken,
so gib uns Kraft zum Neuanfang.
4. Gib, dass wir uns besinnen / und guten Weg beginnen,
mach offen uns und frei.
Hilf, Leben zu entfalten, / mit Liebe zu gestalten,
dass Menschlichkeit kein Wort nur sei.
(Text: Ulrich Tietze; Mel. eg.521 „O Welt, ich muss dich lassen")
1. In dieser unsrer Zeit
ist uns an Gottes Segen,
an seiner Freundlichkeit
unendlich viel gelegen.
Wir brauchen neuen Mut
und Rückgrat nebst Verstand,
Gewissen täte gut
für jedermann im Land.
2. Das Wissen um den Sinn
ist gut für unsre Seele,
zu wissen, wer ich bin
und wem ich mich befehle.
Der Glaube gibt mir Halt,
von Gott kommt diese Kraft
in vielerlei Gestalt,
wie nur der Schöpfer schafft.
3. In unsrer großen Welt
geht es um neuen Frieden,
der wirklich trägt und hält,
wenn Hoffnung uns beschieden,
wo das Bekenntnis gilt,
die Wahrheit und der Mut
und Gottes Menschenbild
das höchste Menschengut.
(Text: Peter Spangenberg Mel. EG 321)
22.So.n.Trinitatis, 28.10.2018, Stadtkirche, Römer 7, 14 - 25a, Pfr.i.R. Hermann Bauer
Römer 7,14-25a, Predigt am 22. Sonntag n.Tr. am 28.Okt.2018
In der Stadtkirche zu Kaiserswerth
Liebe Gemeinde!
Das ist einer der schwierigsten Texte aus den Paulusbriefen, aber auch einer der wichtigsten.
Wir können ihn nicht einfach übergehen, sondern sollten versuchen, einen Zugang zu ihm zu finden.
Paulus redet von sich selbst, er redet in Ichform.
Beachtet man das nicht, wird man den Text auf verhängnisvolle Weise missverstehen. Die Aussage dieses Textes kann man nur in Ichform machen, auch nur in Ichform wiederholen. Paulus sagt nicht „Du bist fleischlich und unter die Sünde verkauft“ oder „Ihr seid es“ oder überhaupt „der Mensch“ sei fleischlich und unter die Sünde verkauft.
Paulus spricht von sich selbst!
Aber ich bin nicht Paulus!
Was geht mich das an?
Paulus spricht so von sich selbst, weil er sich hineingenommen erfährt in eine Gottesgeschichte. Diese Geschichte hat ihm die Augen geöffnet.
Dabei geht es nicht um Erkenntnisse, wie die Verhältnisse in der Welt zu verändern sind
oder andere Menschen zu einer Verhaltensänderung gebracht werden können, es geht um Erkenntnisse und Erfahrungen, die ihn selbst verändern. Diese Aussagen gehören
in kein wissenschaftliches Lehrbuch über die menschliche Spezies, auch nicht in eines über den rechten Umgang mit Menschen, also in keine Ethik.
Ihre Wahrheit entzieht sich sofort, gösse man sie in die Form solcher objektiven allgemeingültigen Wahrheiten.
Wohin gehören sie dann?
Das Haus ihrer Wahrheit ist das persönliche Bekenntnis, das Danklied des Erlösten.
Unser Eingangspsalm war ein solches Danklied (Ps.107 – EG 747).
Abgesehen von der rhythmischen Form, weist unser Text die Merkmale eines solchen Psalms auf: Die Schilderung der Not, die Klage: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leib …“, der Dank: „Dank sei Gott durch Jesus Christus unseren Herrn.“
Eigentlich gehört der nächste Vers auch noch dazu: „Keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind.“
Was geht mich (uns) das an?
In diese Gottesgeschichte, in der Paulus zu diesen Aussagen kommt, sind auch wir als getaufte Christen einbezogen. Hier gibt es eine Verbindung zwischen Paulus und uns. So könnte der Text des Paulus uns dazu verhelfen, deutlicher und klarer die Barmherzigkeit Gottes zu erkennen, die uns in Jesus Christus widerfahren ist.
Nun redet Paulus hier anders von dieser Gottesgeschichte, als wir es gewohnt sind.
Wir reden von der Schöpfung, von Adam und Eva, von Noah, Abraham, Jakob, von Mose, David, den Propheten, von Jesus Christus, seinen Aposteln und der Ausgießung des Heiligen Geistes.
Paulus spricht hier von einer verborgenen Dimension dieser Gottesgeschichte, davon wie sie sich in ihm, in seiner Person, in seiner Vergangenheit, in seiner Gegenwart und Zukunft ereignet.
Von drei Größen ist da die Rede: Vom Gesetz, vom Ich des Menschen und von der Sünde
Diese drei Größen sind ineinander verwickelt und verknotet.
Das kann einen wirr im Kopf machen, aber mit Geduld läßt sich mancher Knoten lösen.
Da ist das Gesetz.
Es geht nicht um das staatliche Gesetz, das im Namen des Volkes verkündet wird, sondern um das Gesetz Gottes, das durch Mose dem Volk Israel gegeben ist ,und von dem Mose bei seinem Abschied sagte :
Nehmt zu Herzen alle Worte, die ich euch heute bezeuge, dass ihr euren Kindern befehlt, alle Worte dieses Gesetzes zu halten, denn es ist nicht ein leeres Wort, sondern es ist euer Leben.
Das Gesetz sagt uns, wofür wir vor Gott verantwortlich sind.
Da ist das Ich.
Paulus sagt: „Ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen.“ Das Gesetz ist gut. Ich will es auch tun. Meine auch, dass ich das Gute täte und mir das Leben erwirke.
Aber dann merke ich: Ich weiß nicht, was ich tue, ich tue, obwohl ich das Gute tun will, und auch der Überzeugung bin, dass ich es tue, doch das Böse, das ich nicht will, ich erwirke mir den Tod und nicht das Leben.
Und nun kommt die dritte Größe ins Spiel.
Es ist die Sünde.
Ich bin unter sie verkauft, sie wohnt in mir, bewirkt, dass ich nicht das tue, was ich will und auch meine zu tun, sondern das tue, was ich hasse.
Zweimal sagt es Paulus.
Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt.
Und ähnlich wie Eva im Paradies es von der Schlange sagte,sagt Paulus unmittelbar vor unserer Textstelle: Die Sünde hat mich getäuscht und betrogen. Jetzt entdecke ich, dass das Gesetz, das doch heilig und gut ist, seine Funktion wandelt, sein Gesicht wandelt. Es wird gewissermaßen zu einem anderen Gesetz. Das was zum Leben gegeben ist, hängt mir, der ich unter die Sünde verkauft bin, die jetzt in meinen Gliedern wohnt, und bewirkt dass ich tue was ich hasse, es hängt mir das Böse an. Es macht mich vor Gott haftbar für das Böse, das ich getan habe. Ich kann ja nicht sagen: Die Sünde hat es getan; das Gesetz sagt mir: Du hast es getan.
So wird das Gesetz zu einem richtenden, verurteilenden und todbringenden Wort.
Es gibt mir zu verstehen: Das Gute, das du dir erwirken willst, das Leben: Es steht dir gar nicht zur Verfügung, dir steht nur das Böse zur Verfügung. Es hält mich gefangen im Gesetz der Sünde.
Wie kam es dazu?
Das beschreibt Paulus einige Verse zuvor so: Die Sünde betrog mich und tötete mich durch das Gebot. (V.11)
Im Gesetz ist gesagt: Du sollst nicht begehren. Die Sünde nahm das Gebot zum Anlass und erregte in mir Begierden aller Art. Die durch das Gesetz geweckte Begierde umfasst für Paulus nicht nur die im neunten und zehnten Gebot aufgezählten Objekte der Begierde: "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, noch Haus, Acker, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles was sein ist."
Darin war Paulus, wie er im Philipperbrief sagt, untadelig. Bei ihm weckte die Sünde die Begierde, mit Hilfe des Gesetzes seine eigene Gerechtigkeit aufzurichten und diese vor Gott zur Geltung zu bringen wie es etwa in Jesu Gleichnis der Pharisäer tut, wenn er im Tempel vor Gott sagt: „Ich danke dir, dass ich nicht so bin wie dieser Zöllner da“.
Es geht um die Begierde, sich selbst das Leben zu verschaffen.
Wer soll es denn schließlich sonst tun, sagt mir die Sünde.
Paulus spricht von diesem Betrug der Sünde als von einem Geschehen in der Vergangenheit.
Denn er erlebte sich als einen, der schon immer auf dieses Gleis gesetzt war. Die Sünde erscheint hier als eine überindividuelle Macht, die den Menschen beherrscht, von ihm Besitz ergreift, in ihm haust, das Individuum schon immer bestimmt.
Sie ist eine transsubjektive Macht.
In Christus weiß sich Paulus nicht mehr unter die Sünde verkauft: „Keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind.“
Ist dieses Verkauft-Sein unter die Sünde Vergangenheit?
Ja!!!
Aber Vergangenheit ist nie einfach vergangen. Paulus spricht ja von ihr in der Gegenwartsform. Sie ragt in die Gegenwart hinein.
Darum: Die Abkehr von der Sünde und das Sich-bergen-in-Christus, diese Umwendung, diese Sinneserneuerung, diese Metanoia ist mir aufgegeben, solange ich hier lebe.
Diese Schilderung menschlicher Existenz ist für viele Zeitgenossen geradezu ein Greuel.
Schließlich ginge es heute um die Selbstbestimmung des Menschen, die Autonomie: Er bestimme selbst, was für ihn gut und böse sei. Ein göttliches Gesetz sei finsterste Fremdbestimmung, Heteronomie.
Statt zu verkünden, dass im Menschen nichts Gutes wohne, müsse man positiv denken und wenn das eine Lebensprogramm nicht klappt, müsse man sich eben ein neues erfinden. Außerdem gehe es um Erfolg in diesem Leben. Das Schielen nach ewigem Seelenheil und Angst vor Verdammnis machen einen nur untauglich für das hier und heute: Und ein postmoderner Philosoph wird uns flugs erklären, dass diese drei Größen - das Gesetz Gottes, die Sünde und das Ich - eben menschliche Erfindungen seien, die irgendwann einmal in der Geschichte gemacht worden wären und die dann aus irgendwelchen Interessen - meistens Macht- und Herrschaftsinteressen - von mächtigen Meinungsmachern den Menschenins Bewusstsein infiltriert worden wären, aber keinerlei Anspruch auf Wahrheit und Geltung hätten. Sie gehörten in die Rumpelkammer der Geschichte.
Es gibt nicht wenige Theologen und Theologinnen, die dem zustimmen. Sie empfehlen daher der Kirche notwendige Abschiede oder etwas salopper ausgedrückt: Ein Entrümpelungsprogramm, und zu dem zu entsorgenden Gerümpel gehöre auch die Rede vom Tod als der Sünde Sold.
Was soll man dazu sagen?
Zunächst was ich schon zu Beginn sagte: Paulus redet ja nicht von dem Menschen,
er sagt nicht: Im Menschen wohnt nichts Gutes, sondern in mir wohnt nichts Gutes. Er sagt: ich bin fleischlich unter die Sünde verkauft. Er schildert nicht einen objektiven Sachverhalt, sondern eine sehr persönliche Erfahrung, von der man nur in Ichform reden kann
Und so sollten wir den Text nicht als eine allgemeine Lehre über den Menschen hören, sondern zunächst einmal als ein sehr persönliches Bekenntnis.
Persönliche Mittteilungen fordern mich auf zu verstehen.
Dem Paulus aber das, was er erfahren hat, weg zu erklären, es gar als Gerümpel zu deklarieren, das ist das Gegenteil von Verstehenwollen.
Also was für eine Erfahrung hat Paulus gemacht, die ihn zu diesem Bekenntnis nötigt?
In unserem Text gibt es zwei Andeutungen dieser Erfahrung.
Er spricht ja davon, dass er sich in einem Zustand völliger Unkenntnis befand, über das was er durch seinen Gesetzeseifer bewirkt. Irgendwann muß diese Unkenntnis gewichen sein, auch die Unkenntnis darüber, dass das Gesetz ihm Verurteilung und Tod bringt. Es ist ja kein leeres Wort, sondern auch Gottes richtendes Wort. Irgendwann müssen ihm die Augen aufgegangen sein, dass da eine Macht am Werke war und ist, die ihn mit Hilfe des Gesetzes täuschte und betrog.
Der andere Hinweis: Die letzten Sätze unseres Textes.
„Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leib.
Dank sei Gott durch Jesus Christus unseren Herrn!“
Es ist in unserem Text implizit noch von einer vierten Größe die Rede: Als Gott einen hellen Schein in sein Herz gab, und er erleuchtet wurde zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesichte Jesu Christi; als er erkannte, Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber, das Leben ist in Christus beschlossen, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergänglich Wesen ans Licht gebracht hat, in ihm ist das Leben und Gottes Gabe ist es - als er dazu erleuchtet wurde, da erschien ihm, was er bisher war in einem ganz neuen Licht. Das was er als Gewinn erachtete, dessen er sich rühmte - dass er aus dem Volke Israel war, beschnitten am 8. Tage, vom Stamme Benjamin, Hebräer von Hebräern, nach dem Gesetz ein Pharisäer, nach dem Eifer ein Verfolger der Gemeinde, nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz forderte untadelig - das was ihm Gewinn war, sein Ruhm, das alles, so sagt er, ist mir ein Schaden geworden und ich erachte es für Dreck. Es hat ihn ja zum Feind Gottes gemacht.
Diese Erleuchtung ist nicht nur Aufklärung über seine Gegenwart und Zukunft, sondern auch Aufklärung über seine Vergangenheit.
Redet Paulus hier von dem uns allen vertrauten Konflikt, dass man aus Schwäche, verführt von seinen Begierden das versäumt, was man eigentlich tun sollte?
Die Sünde verführte ihn dazu (und das ist eine merkwürdige Entdeckung - durch das Gesetz Gottes, also durch das, was ihm das heiligste war, und dem gerecht zu werden er alles, was ihm zur Verfügung stand einsetzte) - verführte ihn dazu sich das Leben zu erwirken!
Paulus entdeckte, er war damit einer gewaltigen und tödlichen Fehlorientierung erlegen war. Diese zur Fehlorientierung verführende Macht, nennt er Sünde.
Die Fehlorientierung betrifft das Gesetz Gottes, das Ich und das Leben .
Das Leben ist Gabe Gottes, es kommt aus Gottes Händen, ich kann es mir gar nicht erwerben, es wird mir geschenkt.
Die Fülle des Lebens besteht darin, dass ich Zugang zu Gott habe und mich in Gott freue, teilhabe an der Freude Gottes an seinen Geschöpfen. Das ist die Freude; die einem niemand nehmen kann. Eingeschlossen in diese Freude in Gott ist auch die Freude über die Gaben, die Gott einem durch seine Schöpfung schenkt: Die Früchte dieser Erde, die Mitmenschen.
Fragt man, wo ist der Zugang zu dem Ort, wo man sich in Gott freuen kann, so mag man manches nennen: Die Natur, deren Schönheit einen immer neu faszinieren kann, die Gemeinschaft mit anderen Menschen, durch die man Gottes Liebe erfährt, dass man überhaupt da ist, und dieses Leben hat; vor allem aber ist es Jesus Christus, der einem den Zugang zu diesen Orten neu erschlossen hatund immer neu erschließt..
Die Sünde, so Paulus, verführte einen, was den Erwerb des Lebens betrifft, auf das zu vertrauen, worüber der Mensch verfügt, also auf sich selbst.
Sie führt einen zu einer Gesetzeserfüllung, in der zum Vorschein kommt, was für ein toller Mensch einer ist, einer der an Frömmigkeit oder Kompetenz alle anderen übertrifft, In dieser Weise der Gesetzeserfüllung kommt er selbst, seine Gerechtigkeit, seine Untadeligkeit zur Erscheinung und alle loben ihn. Aber es kommt nicht - wie etwa in den Heilungen Jesu - das Reich Gottes zur Erscheinung, so dass alle Gott loben.
Paulus nennt das auf Fleisch vertrauen, fleischlich gesinnt sein. Das ist eine Fehlorientierung.
Das Leben ist Gottes Gabe, die in der Zugehörigkeit zu dem beschlossen ist, der dem Tode die Macht genommen hat und das Leben und ein unvergänglich Wesen ans Licht gebracht hat.
Wenn es ums Leben geht, da muß man Gott vertrauen. Die Sünde verführt einen zu einem falschen Vertrauen. Und zu einem falschen Verständnis des Gesetzes Gottes. Nicht der Eifer für Recht und Gesetz, der sich in der Verfolgung derer austobt, die angeblich oder auch wirklich Gesetzesbrecher sind, ist des Gesetzes Erfüllung. Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung.
Und im Hohelied der Liebe heißt es: Die Liebe eifert nicht.
Und so hat Paulus entdecken müssen, dass er gerade als Eiferer für das Gesetz, den Willen Gottes im Gesetz verfehlte.
Gehören diese Erkenntnisse, die ja beschlossen sind in dem Satz „Der Tod ist der Sünde Sold“ in die Rumpelkammer der Geschichte?
Ich kann das nicht finden.
Vielmehr finde ich, dass diese desorientierende, zu einem falschen Verständnis über das Leben, über den Gebrauch des göttlichen Gesetzes verführende Macht der Sünde, eine höchst aktuelle Macht ist. Der den Geist Jesu entgegenzusetzen wir allen Anlass haben.
Auch wir sind auf der Jagd nach Leben.
Heute in einer säkularisierten Gesellschaft meinen viele, dazu sei eine höchst ungenierte Selbstdarstellung das Gebot der Stunde.
Man mag dadurch einen prominenten Platz auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten erringen aber eben nicht das Leben.
Als Christen sind wir - anders als Paulus - mit dem Gesetz Gottes in der jesuanische Auslegung konfrontiert: „Seid barmherzig wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Luk. 6,36)
Gottes Gebot, das zum Leben führt, ist die Barmherzigkeit,
Aber man kann sich nicht selbst zu einem barmherzigen und liebenden Menschen machen.
Ein barmherziger Mensch kann man nur werden, indem man sich der Barmherzigkeit Gottes öffnet.
„Wie die zarten Blumen willig sich entfalten
und der Sonne stille halten“ (G.Tersteegen – EG 165, 6), so entfaltet sich auch bei uns die Barmherzigkeit, wenn wir der Sonne stille halten, zu der uns in unserer Todesnacht Jesus Christus wurde und die uns Licht Leben Freud und Wonne bringt.
Zu diesem Stillehalten und zu dieser Erneuerung im Lichte dieser Sonne, will uns der Text des Paulus anleiten.
Und dann werden wir auch erkennen, wie fehlgeleitet und vergeblich unsre Jagd nach dem Leben war und ist.
Reformationstag 2018, 31.10.2018, Stadtkirche, Galater 5, 1 - 6, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reformationstag - 31.X.2018
Galater 5, 1 – 6
Liebe Gemeinde!
Es ist Zeit von einer kolossalen grünen Dame zu reden.
Oder einer ziemlich nackten, mit einer Art Narrenkappe, der aber doch der volle Ernst in’s Gesicht geschrieben steht und an den starken Oberarmen abzulesen ist.
Es ist Zeit von einer Fahne zu reden oder einer Parole, die Millionen Menschen Hoffnung gaben und geben.
Es ist Zeit von den grauen, ausgemergelten Sklavenströmen zu reden, die mit wenig oder gar nichts am Leib in’s Morgenrot aufbrechen, die quälende Nacht hinter sich lassend, und mit einem einzigen, ungläubig-hoffnungsvollen Flüstern oder Gebet oder Lied auf den Lippen. …
Es ist Zeit von der Hafeneinfahrt zu reden, die die kolossale Dame weniger bewachen als offen halten sollte. … Von der Flamme, die die stürmische Halbnackte nicht nur leider auch an Häuser und Kirchen und den Frieden legte, sondern in Köpfen und Herzen der Jungen, der Dichter, der Mutigen und Sehnsüchtigen und Philosophen entfachte, bist Tübingen glühte und Jena und die Wartburg … immer wieder die Wartburg! … und die Paulskirche und viele andere Orte unserer Geistesgeschichte.
… Und von den Leiden, die sich an’s Schilfmeer schleppten und über das Mittelmeer und quer durch Mittelamerika, und vom Traum, der sie aufrecht hält und von der Trommel und dem Schellenkranz, den die eine oder andere im Bettelbündel hat, um eines Tages ihren Dank und ihren Jubel hinaussingen und -tanzen zu können: „Eine große Tat, … ein großer Tag, … Roß und Reiter im Meer, … aber die Hungrigen gefüllt mit Gütern und die in den Staub Erniedrigten erhoben auf den Thron … und die Schmerzen und das Geschrei vergangen und die Tränen abgewischt und der Tod nicht mehr!“[i]
Es ist Zeit mit dem ganz und gar nicht mehr zeitgemäßen und trotzdem nur halb vergessenen Dichter Max von Schenkendorf zu summen von der „Freiheit, die ich meine“.
Es ist Zeit dazu, heute.
Denn dieser Tag ist nicht nur ein Feiertag des Glaubens, ein Gedenktag der Rechtfertigung, eine Selbstbeweihräucherung des Protestantismus, sondern dieser Tag ist ein Fest der Freiheit!
Freiheit – das Wort, das es im biblischen Hebräischen gar nicht gibt, weil sie für das Volk Gottes kein Zustand, sondern ein wunderbares Tun des befreienden Gottes ist – … Freiheit, für die der Apostel Paulus im Griechischen erst einen abstrakten Begriff fand, den er dafür in jeder seiner großen Epistel mindestens einmal lebendig und unvergesslich hervorhob als die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes“, von der er den Römern schrieb (8,21) und die Freiheit des Gewissens, über die niemand anderes urteilen kann, die er den Korinthern entgegenhielt (1.Kor10,29), denen er auch die weit überweltliche Wahrheit zeigte, dass Freiheit da ist, wo der Geist des Herrn ist (2.Kor3,17) , … Freiheit, die das Erlösungs-Geschenk Jesu Christi ist und die Entdeckung des Erfurter Mönches, der sich selber bald auf Griechisch den „Freien“, den „Eleutheros“, den „Luther“ nannte, … Freiheit, von der alle Aufbrüche der Neuzeit ihren Atem, ihren Wind erhielten, … Freiheit, die neben Bonhoeffer und unseren kirchlichen Zeugen etwa auch eine schon nach ihr benannte Libertas Schulze-Boysen im Kampf gegen das innere und äußere Nazitum antrieb, … Freiheit, die kostbarste politische Perle im erstickenden Schlamm des 19. und 20.Jahrhunderts, vom 9.November 1918 an über alle höllischen und hellen Wiederholungen dieses Jahrestages, … Freiheit:
… Ach ja, ……. Freiheit!?? …....
Ich konnte sie als Junge nicht leiden, den seine Eltern zu Eigenverantwortung und eigenem Urteil erziehen wollten, indem sie auf viele Fragen, was wann wie zu tun sei, immer die gleich lästige, überfordernde Antwort gaben: „Du bist ein freier Mensch“.
Will der Mensch denn frei sein? Will er nicht eher einfach wissen, wann er zu Hause sein soll, um ein Donnerwetter zu vermeiden?
Ist es für den sogenannten freien Menschen tatsächlich nicht viel leichter, die Verbote zu kennen und zu befolgen, die ihm den Rahmen stecken, als ständig Entscheidungen zu treffen, was wie und wo auf weiter Flur und freier Fläche zu tun wäre?
Die Leidenschaft und Sympathie, die wir für geschichtliche Freiheitssuche und die dabei erreichten Ordnungen der Freiheit empfinden mögen, sollten uns nicht täuschen, … weder über die Allgemeinheit noch über uns selber.
Müssen mag zwar nicht schön sein – aber wer sagt, dass die Freiheit den Zwang zu müssen aufhebt? Muss der Freie nicht ungleich mehr bedenken und verantworten als der Befehlsempfänger? Ist Freiheit nicht die Forderung zu eigener Haltung und eigener Rechenschaft, wogegen Gehorsam den alten paradiesischen Verweis ermöglicht, dass es letztlich jemand anderes war? … Ist geübte und gelebte Freiheit nicht tatsächlich sehr viel anspruchsvoller als der schlichte und mechanische Zwang?
Solche Fragen beschleichen uns nicht nur wenn wir sehen, wie selbstverständlich unsere Gegenwart eigene und fremde Freiheiten opfert, sobald sie Angst empfindet.
Solches Fragen – ob Unfreiheit dem Menschen unter Umständen nicht viel lieber ist, als mühsame Selbständigkeit – stellt sich nicht nur ein, wenn wir uns einmal vorstellen, der Galaterbrief sei an Gesellschaften oder Gemeinden gerichtet, die die kommunistische Diktatur hinter sich haben und sie heimlich vielleicht doch wieder ganz gerne hätten.
Solche Fragen nach der Bequemlichkeit des klaren „Du sollst“ im Vergleich zur Unklarheit des „Wisse selbst, dass und was Du darfst“ dürfen wir schließlich aber auch nicht nur in die alte Schablone des alt-neutestamentlichen Gegensatzes einordnen, bei der sich immer ergibt, dass das jüdische Gesetz vermeintlich geistlose Vorschriftserfüllung darstellt.
Die Frage nach der Freiheit und ob wir sie wirklich ertragen, ob wir ihr gewachsen sind und sie freudig und vertrauensvoll annehmen können, die Frage nach der Freiheit hat heute und jetzt nämlich ihre Zeit für uns:
Wollen wir frei sein durch Christus?
… Oder nicht lieber doch … sicher?
Die Freiheit, zu der Christus uns befreit hat, ist nämlich alles andere als eine Gestalt überprüfbarer Gewissheit oder sichtbarer Sicherheit.
Doch gerade um diese Dinge geht es in Wirklichkeit ja fast immer: Um das Fressen und den Ruf. … Dass ich es gut habe und als gut, … besser noch: als Bester wahrgenommen werde. Dass ich mir sagen kann und man von mir sagt, wie alles bei mir stimmt. Dass alles läuft und nichts mir fehlt. …….
Solche Bestätigung, solche klaren Ergebnisse beschert schließlich ja jede Messlatte, an der ich persönlich Maß nehmen mag. Welche Vorgaben das dabei im Einzelnen sind, denen ich mich unterordne, denen ich mein Leben anpasse und durch die ich meine Leistungssteigerungen nachvollziehe, ist beinah beliebig. Ob es der Geldwert oder die öffentliche Meinung ist, ob es körperliche oder intellektuelle Wettbewerbsvorteile sind, die mich ausmachen und erfüllen, ist einerlei. Was dem einen sein Harvard-Diplom, sein Nobelpreis, sein Luxusschlitten ist, ist anderen ihr Hintern, ihr Bizeps, ihre aktuelle Netzwerkpopularität.
Diese eindeutig einfachen Selbstanforderungen, für die ich lernen, trainieren, fleißig sein, für die ich mich schinden und schlagen und schummeln kann, … solche Normen, die ich übertreffe, solche Disziplin, die ich halte, solche Erwartungen, die ich erfülle, sind die Gesetze, die fast jeder angeblich freie Mensch sich nicht nur aufschwatzen und überstülpen lässt, sondern die beinah jeder sich sehnlichst sucht: Wo kann ich sicher sein, gut zu sein? Wo darf ich zeigen, was ich kann und bin und habe? …….
Nicht bei Christus.
Das haben die Galater schnell und bitter empfunden, die durch Paulus in die freie Kindschaft eines ihnen unbekannten Gottes aufgenommen wurden. Die Galater wollten nicht nur die Gnade des fremden Gottes durch seinen eingeborenen Sohn empfangen, es genügte ihnen nicht nur des Vaters Liebe, sondern sie wollten selber lieb Kind sein.
Unzweifelhaft war das verständlich.
Und wenig Zweifel besteht, dass auch wir das nicht anders spüren und halten, auch wenn wir nicht den Weg der Galater wählen, die sich durch die Beschneidung – immerhin ein sehr konkreter Weg, seine Opfer- und Leidensbereitschaft, seine Anpassung an besondere Erwartungen und seinen sittlichen Ernst zu demonstrieren! – zu Gott bekennen zu müssen meinten.
Nicht anders als ihnen, die auf Gottes Gnade mit einem tiefen Einschnitt, einer hochsymbolischen Gegengabe antworten wollten, geht es auch uns.
Dass Gott uns ohne Verdienst und Würdigkeit zu seinen Kindern und Erben macht, dass Er uns „einfach nur so“ das Größte von allem widmet – Sich Selber!!! – und dass wir Gerechtigkeit und Seligkeit wie jeder andere als Geschenk erhalten, nicht als Lohn, … das ist zu viel Freigebigkeit, das ist der Freiheit zu viel.
Wir sind enger. Wir mögen’s eindeutiger. Wir rechnen’s lieber nach und wissen dann wieviel warum.
Und darum ist das heutige Fest der Freiheit so lebensnotwendig, so weltwichtig für uns.
Es ist in Wahrheit nämlich der heilige Tag der Freiheit Gottes:
Denn weder die Liberty der Amerikaner noch die Marianne der Franzosen noch das Ideal der Romantik noch das politische Ziel und die Praxis des Liberalismus oder der Befreiungstheologie können uns ja das geben, was die unfassbare Freiheit Gottes, zu der wir befreit sind, uns geben will: Unverdientes, aber auch unverlierbares Leben.
Nichts anderes aber ist es, was Paulus seinen kleingläubig leistungsversessenen Galatern und Luther seinen angststarr verdienstgläubigen Sachsen und Sündern sagt und was wir bei jeder Taufe und jedem Abendmahl, an jedem neuen Tag, der uns das Evangelium bringt, hören und glauben und feiern sollen: Die Freiheit Gottes, uns nur um Seines Sohnes willen, aus grundloser Gnade aus allem, was uns zwingt und allen unseren Zwängen zu lösen!
… Freigesprochen sind wir von aller Verkettung zwischen unseren panischen Selbstversuchen und selbstsüchtigen Erfolgen … nicht wegen Unschuld oder Gelingens, sondern aus Vergebung! Befreit dazu, ohne die schlichte Logik des Einsatzes und seines nachweisbaren Ergebnisses zu leben und zu handeln, durchzuhalten und treu zu sein, hoffnungsreich und glaubensfröhlich zu bleiben, auch wenn nichts Gigantisches uns auszeichnet, auch wenn kein messbarer Erfolg uns bestätigt, auch wenn die stete Bereitschaft zu Vertrauen und Frieden uns keinen Sieg und keinen vorderen Platz beschert. … Aus reiner Zuversicht, aus einfach christlicher Gelassenheit.
Unser Leben – das durch nichts zu rechtfertigen ist, außer durch Gott – muss, wenn wir es in solcher Freiheit des Christenmenschen führen, nicht anders sein, als die Seligpreisungen (vgl.Matth5,1-10) es uns zeigen: Kein Leben, das alle anderen überbietet; kein Leben, das sich als stärker und wertvoller beweist, wenn es um sich blickt; kein hellerer Glanz, kein weißeres Weiß, kein besseres Bild als nur die geistliche Bescheidenheit, die Ausdauer auch im Leiden, die Sanftmut, Barmherzigkeit und Ungetrübtheit und der Friedenswille derer, die nicht ihrer eigenen Gerechtigkeit ein Denkmal schaffen müssen, sondern die fröhlich und gierig hungern und dürsten und hoffen auf eine Gerechtigkeit, die nicht in unserer Macht steht, sondern im Geist Gottes.
Warten können und glauben, … Gott in Seiner unbegrenzten Freiheit alle Dinge werden und wenden zu lassen und es nicht alles selber fertig zu bringen und gemacht zu haben, weil wir so groß sind: Das ist das anspruchsvoll Bescheidene am christlich freien Leben, wie die Reformation es wiedergefunden hat.
… Das Zeitalter der abendlandbeherrschenden, gottgleichen, allmächtigen Päpste und Kaiser und Vorbilder war damit für immer vorbei.
Zeiten der Befreiung und damit auch Zeiten der Verwirrung, Zeiten des Irrtums und Zeiten der Schwäche brachen an, Zeiten, in denen – wie heute – immer der Augenblick war und bleibt, dass jeder einzelne Mensch die einzig wirkliche und richtige, verheißungsvolle und dauerhafte Wahrheit bekennt und übt: Dass Gottes Freiheit uns dazu befreit, alles Messen und Müssen zu vergessen und bloß als die Geliebten zu lieben und als die Erlösten zu glauben.
…Das heißt, in Christus zu leben.
Und wen der Sohn so frei macht, der ist recht frei (Joh8,36)!
Amen.
[i] Die Verbindung aus dem Lied der Miriam (2.Mose 15,21), dem Lobgesang Mariens (Lukas 1,46ff), der seinerseits den Hannapsalm aufgreift (1.Samuel 2) und den letzten hymnischen Verheißungen der Offenbarung (21,4) zeigt, wie gesamtbiblisch die Hoffnung und Erfahrung der Befreiung einen Zusammenhang darstellen, der über jede Gegenwart hinaus in das Reich Gottes weist.
21.S.n.Tr., 21.10.2018, Stadt-u. Mutterhauskirche, Jer.29 1.4-14, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
sie saßen an den Wassern von Babylon und weinten. Ihre Harfen hatten sie in die Weiden gehängt, nein, es war ihnen wirklich nicht nach Singen zumute. Fern der Heimat waren sie. Verschleppt, deportiert ins Feindesland. Auf Hungermärschen waren viele von ihnen umgekommen. Der Tempel in Jerusalem war zerstört! Der Opferkult, die Gottesdienste - aus und vorbei. Sie fühlten sich, als wäre ihnen das Herz aus der Brust gerissen. Kein Tag verging, ohne wehmütige Erinnerung, ohne Klagen und Trauer. Voller Sehnsucht schworen sie sich: „Vergesse ich dich, Jerusalem, so verdorre meine Rechte." Verunsichert, verstört, verbittert klagten gar viele zornig und wütend: „Tochter Babylon, du Verwüsterin, wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert." (Ps.137,8f)
Sie saßen an den Wassern zu Babylon - abgeschnitten vom Leben, wie sie es nur kannten und verstanden. Was sollte das Überleben da bringen? Resignation und Mutlosigkeit hatten die Exilierten fest im Griff. Und die Kunde davon drang bis nach Judäa, wo die, die zurückgeblieben waren, mehr schlecht als recht ebenfalls damit kämpften, das Überleben in dem zerstörten Land zu sichern. Unter ihnen Jeremia, der Prophet. Jahrelang hatte er ja kommen sehen, was dann geschehen war, hatte die riskante Außenpolitik der Judäischen Herrscher kritisiert und genauso die völlig aus den Fugen geratene Sozialpolitik, wo es nicht um Gerechtigkeit ging, wie Gesetz und Religion es verlangten, sondern wo die Reichen und Einflussreichen ihre Schäflein ins Trockene brachten auf Kosten der Armen und Schwachen. Doch seine Kritik war ungehört verhallt. Aber es war keine Schadenfreude, kein „Seht ihr, ich hatte doch recht!", was ihn erfüllte. Was brachte ein solches Statement schon für die Zukunft, für das Leben und Überleben seines Volkes? Doch genau darum ging es doch Israels Gott: um ein heilvolles Leben, um Zukunft. Trotz aller Krisen, trotz aller Widerstände und Widrigkeiten.
Jeremia setzt sich hin und schreibt einen Brief an seine Volksgenossen im Exil, einen ungewöhnlichen Brief, einen leidenschaftlichen Brief. Einen Trostbrief, ja mehr noch: einen Mutmachbrief an die klagenden und hoffnungsleeren Menschen in Babylon. Eine Aufforderung, nach vorne zu schauen und umzudenken: Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn und kümmert euch um ihr Wohlergehen.
Ich lese uns den Mutmachbrief aus dem 29.Kapitel:
„Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte ...
So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu den Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen:
Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte;
nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet.
Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's auch euch wohl.
Denn so spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Lasst euch durch die Propheten, die bei euch sind, und durch die Wahrsager nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen!
Denn sie weissagen euch Lüge in meinem Namen. Ich habe sie nicht gesandt, spricht der HERR. ...
Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.
Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten und ich will euch erhören.
Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet,
so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen."
Wir sind nicht Verbannte, liebe Gemeinde. Wir Christen leben nicht im Exil. Dieser Brief richtet sich an Juden, die sich in einer vergangenen und einmaligen Situation befinden. Kriegsflüchtlinge in unserem Land mögen diese Worte ähnlich hören wie damals die Juden in Babel. Sollen sie darauf hoffen, bald zurückkehren zu können oder sollen sie sich hier auf ihre Integration in unsere Gesellschaft konzentrieren? Diese Fragen sind für sie sicher elementar. Da stehen wir eben ganz anders da. Aber in diesem Brief des Jeremia lassen sich Entdeckungen machen, die auch für uns als Christinnen und Christen, für uns als Kirche in unserer Gesellschaft heute Mut machend und lebenswichtig sind.
Die erste Entdeckung: Jeremia zeigt auf, dass Gott auch ohne Tempel und ohne Opferriten erfahren und verehrt werden kann. Das war in Israel damals revolutionär und ist es für fast zweitausend Jahre Zerstreuung der Juden geblieben. Gott ist kein Provinzgott, sondern ein Gott aller Menschen überall. Einer, den jeder Mensch auf der Erde überall finden kann, weil er sich finden lassen will. Gott ist kein nationaler, kein jüdischer, kein deutscher, kein amerikanischer oder russischer Gott. Vor Jahren las ich einmal in einer kleinen Kirche bei Hamburg ein Schriftband, das zeigt, was das bedeutet:
„Wenn wir einer anderen Religion, einer anderen Kultur, einem anderen Volk begegnen, dann ist es unsere Aufgabe, unsere Schuhe auszuziehen, denn der Ort, den wir betreten, ist heiliger Boden. Sonst könnte es sein, dass wir die Liebe, den Glauben, die Hoffnung eines anderen zertreten oder vergessen, dass Gott schon vor unserer Ankunft dort war." Gott ist ein Gott aller Menschen überall.
Die zweite Entdeckung: Jeremia setzt an die Stelle von Hass , Zorn und Rache der Verbitterten die Liebe zu denen, die ihre bittere Lage verursacht haben: „Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's auch euch wohl." ...Eine Feindesliebe, die befreit - die Exilierten aus der Opferrolle herausholt, die ihnen das Heft des Handelns in die Hände legt und damit Zukunft eröffnet. Macht etwas aus eurem Leben, dafür hat es euch Gott gegeben. Gestaltet eure Zukunft gerade dort, wo ihr seid - mit den Menschen, die um euch herum leben, wohnen und arbeiten. Euch geht es nur so gut, wie es ihnen auch gut geht. Euer Wohlergehen hängt an ihrem Wohlergehen. „Suchet der Stadt Bestes."
Die dritte Entdeckung: Jeremias Brief gibt eine lebendige Anschauung davon, was Nüchternheit bewirkt. Er rät den Seinen (und uns auch), die Gegenwart anzunehmen allen Widrigkeiten zum Trotz und sich nicht in Nostalgie zu flüchten. Der Alltag ist die Zeit, die einen herausfordert, das Leben soll und muss und wird weitergehen. Und wo das bejaht und angepackt wird, da tut sich Schritt für Schritt Zukunft auf, wächst Hoffnung und Zuversicht.
Mit diesen drei Entdeckungen im Rücken will ich jetzt etwas Ungewöhnliches wagen. Ich schreibe einen neuen Brief des Jeremia und zwar an uns heute. Einen neuen Mutmachbrief, um unser Gottvertrauen zu stärken und uns davon abzubringen, ewig nach hinten zusehen und Verluste zu beklagen, sondern um uns eine Zukunftsperspektive zu eröffnen, die uns auf Größeres hoffen lässt.
„Liebe Gemeinde in Kaiserswerth, ich habe eine Botschaft für euch. Ihr habt den Eindruck, dass es schon länger bergab geht mit der Kirche. Manche sehen gar das christliche Abendland untergehen. Wenn ihr in bestimmten Stadtteilen in Düsseldorf oder Duisburg unterwegs seid, fühlt ihr euch vielleicht wie in einem fremden Land. Kirchen werden geschlossen, Jahr für Jahr treten immer mehr aus den Kirchen aus, in vielen Kirchen verlieren sich sonntags die Gottesdienstbesucher, bei Beerdigungen können viele nicht einmal mehr das Vaterunser mitsprechen. Der christliche Glaube, er erscheint mehr wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Früher hat er das Jahr mit seinen Festen geprägt, doch nun sind es die kommerziellen Events, zu denen die Menschen zusammenströmen. Nur da, wo der Kommerz ein Fest brauchen kann, ist es noch von öffentlichem Interesse wie das Weihnachtsfest. Auch in den Familien ist der Glaube kaum noch ein Thema: wo wird noch zusammen gebetet, wo über Fragen des Glaubens gesprochen?
Ihr erlebt dieses als Verlust. Gerade die Älteren beklagen diese Entwicklungen. Allzu viele werden so von ihrem Alltag mit seinen Sorgen in Beschlag genommen, dass sie keine Zeit haben für Gott, Gott nicht suchen, obwohl er doch so wichtig war und ist. So erging das damals meinen Landsleuten auch, als der Tempelkult nach der Zerstörung des Tempels aufhörte. Ihr seid da nicht viel besser oder schlechter dran als sie. Damals habe ich die Verängstigten vor den Vertröstern gewarnt. Die redeten ein schnelles Ende ihres beklagenswerten Zustandes herbei. „Alles wird bald ein Ende haben. Es wird schon wieder. Alles wird gut." So machten sie sich Illusionen und gaben dabei gar Gott als Garanten aus.
Euch sage ich: Das, was euch beunruhigt, wird anhalten. Es gibt kein Zurück auf dieser Welt. Die gute alte Zeit, die es ja so auch nie gegeben hat, kommt nicht zurück. Misstraut denen, die euch vorgaukeln, dass alles bald wieder sein wird wie früher, wenn man nur ein paar Stellschrauben anzieht. Ihr werdet nicht zurückbekommen, was ihr verloren habt. Die Welt und die Zeit bewegen sich immer nach vorne. Wie meinen Landsleuten damals sage ich auch euch:
Bleibt nüchtern. Haltet eure Lage nicht nur klagend aus. Nehmt doch erst einmal wahr, was ihr habt, all die guten Möglichkeiten, die materiellen wie die ideellen, um die euch meine Landsleute damals beneidet hätten. Und setzt euch damit ein. Mischt euch ein - in eure Gesellschaft. Macht euch nützlich - in eurer Nachbarschaft. Setzt euch für den sozialen Wohnungsbau und für bezahlbare Mieten ein, sorgt dafür, dass keine Ghettos entstehen - weder für die Reichen noch für die Armen. Schützt eure Umwelt, verhindert das sinnlose Abholzen ganzer Wälder. Sorgt für ausreichende Grünflächen in den Städten. Ernährt euch möglichst von dem, was vor Ort wächst. Und zeigt eure Dankbarkeit, dass es euch so gut geht, dankt Gott und bezeugt ihn damit vor den Menschen. Ihr habt einen Auftrag und eine Aufgabe mit eurem Leben für diese Welt. Gott hat jede und jeden berufen, das Seine, das Ihre zu tun, damit das große Ganze seines Reiches gelingen kann. Gott hat einen großen Sinn in jedes kleine Leben gegeben, darum ist nichts umsonst und unwichtig, was ihr tut.
Und wie damals sage ich: ihr sollt Kinder haben und mit ihnen leben. Es gibt zu viele, die meinen, in diese Welt könne man keine Kinder setzen. Bedenkt: jedes neugeborene Kind ist ein Bote Gottes, der euch zeigt, dass Gott die Hoffnung für diese Welt nicht aufgegeben hat. Und jedes Kind soll euch an eure Verantwortung erinnern, dieser Hoffnung entsprechend heute zu leben - achtsam und bereit, sich um der Lebensmöglichkeiten der kommenden Generationen willen zu bescheiden.
Ja, setzt euch für den Frieden ein. Sucht das Gespräch und den Ausgleich auch mit denen, die eure Lebens- und Glaubensformen nicht teilen, die ablehnen und bekämpfen, was euch wichtig und heilig ist. Haltet und macht Frieden mit Gegnern, mit Fremden, ja selbst mit Feinden. Lernt immer mehr, dass ihr Frieden nie gegen eure Feinde, sondern nur mit ihnen machen könnt. Auch beten könnt ihr nie gegen andere. Betet vielmehr, dass Gottes Geist ihr Herz und ihren Verstand erleuchten möge. Haltet solche Veränderung für möglich.
Und lasst euch nicht die Hoffnung rauben, dass sich eine lebenswerte Zukunft auftun kann. Haltet euch an die Worte, die ich schon meinen Glaubensgeschwistern als Worte Gottes gesagt habe:
„Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet,
so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR;
denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung."
Euer Jeremia.
20.n.Trin., 14.10.2018 Stadtkirche, 1.Korinther 7,29 - 31, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 14.X.2018 - 20.n.Trin.
1.Korinther 7, 29-31
Liebe Gemeinde!
Wenn ich mir beim Erziehen zuhöre, glaube ich gelegentlich, den Alten Fritz oder Churchill oder irgendeinen Fußballtrainer zu erleben, der sich auf’s „Blut, Schweiß und Tränen“-Predigen versteht. Als wäre es immer noch spätes 19.Jahrhundert oder als herrsche hier das Bildungswesen Süd-Koreas, verkünde ich das perverse Hohelied des eisernen Willens:
„Du musst wollen! Und alles, was Du Dir wirklich vornimmst, das musst Du ganz wollen! Und wenn Du einfach nicht willst, dann wird’s auch nix!“
……. Wollen, Wollen, Wollen! … Wille! Wille! Wille!
Was in der Vergangenheit die Zwangsjacke der Disziplin des Militärs und der Ausbeutung war, ist allerdings auch heute noch genauso verbreitet. Nur dass inzwischen die Diktatur des unbedingten Menschenwillens am liebsten von jedem gegen sich selbst ausgeübt wird. Man nennt es „positives Denken“, und es herrscht in weiten Teilen der Welt besonders im christ-lichen Gewand als die Botschaft: „Wenn Du fest an einen Erfolg glaubst, … wenn Du unbeirrt Dein Glück, Deine Gesundheit, Deinen Wohlstand anpeilst und sie wirklich willst, dann wird dieser gute Wille gesegnet, dann wirst Du kriegen, worauf Du Dich vertrauensvoll konzentrierst.“
– Diese sadistische Lüge ist natürlich eine der bittersten Formen von Folter, die es geben kann, weil der Umkehrschluss so vernichtend ist: Wer trotz der Wunderwaffe des menschlichen Willens, positiv zu denken, Kummer, Hunger, Leid erlebt … der ist selber schuld. Der hat versagt. … Der wollte eben nicht.
Mit diesem Zynismus füllt man die Megakirchen der Welt.
Mit diesem Zynismus fülle ich die Köpfe meiner Kinder: „Du musst schon wollen! Du musst bloß wollen! … Du hast halt nicht gewollt.“ ———
Gott sei daher Dank, dass es noch die Väter und Lehrer der Christenheit gibt, die die Kinder und die Völker nicht den Götzen der Gier und des Ehrgeizes opfern. Gott sei Dank, dass Paulus uns eine so andere, eine so weise Sicht auf das eröffnet, was uns als die große Arena, in der unsere Wünsche wahr werden müssen, vorgegaukelt wird.
Paulus – der Mensch, dem auf dem Damaskus-Weg zur Durchsetzung seiner Ziele das endgültige Überrumpeln durch Gott widerfuhr – … Paulus hat die Wahrheit über die Welt erlebt, als er ausdrücklich gegen alle seine Wünsche und Erwartungen Christus begegnete …, Christus – dem Ende der Welt.
Denn das ist Christus ja, wenn er die Erlösung, wenn er der Neubeginn, wenn er das zukünftige Endgültige ist: Christus wird zum Ende der Wünsch-Dir-was- und Woll-noch-mehr-Welt.
Die Welt, die uns nicht gut genug ist – weil wir nicht gut sind! –, … die Welt, die uns besessen macht, weil wir unterschwellig spüren, dass wir sie niemals so fest besitzen können, wie wir wollten, … die Welt, die wir mit allen unseren Sehnsüchten und Begierden nach ihr ja gerade zerstören, wenn wir sie packen und melken, … die Welt, die wir als Gegenstand unseres Willens umso mehr vergewaltigen, je mehr sie uns in ihrer Schönheit und Zerbrechlichkeit den heiligen Willen eines Anderen zeigt …, diese Welt ist nur das Vorletzte, wenn man Christus erkennt, … Christus, das Alpha und Omega.
Christus, der die Welt erneuert, … Christus, der die Zukunft bringt, … Christus, der das Bleibende zeigt und schenkt: Christus löst den wilden, trotzdem ohnmächtigen und unsren Willen darum zur Verzweiflung bringenden Klammergriff, mit dem wir die entgleitende Welt beherrschen wollen.
Und damit – nur damit – wird ein gelöstes Welt-Verhältnis und Welt-Verhalten möglich.
Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, dass man die Welt und alle ihre Wunder und Wahrheit aufgeben solle!
Es geht nicht um die finstere und gefährliche Abkehr, die die von der Welt Enttäuschten vollziehen, wenn sie sich vom Leben betrogen fühlen und am liebsten Sintflut und Weltenbrand über alles brächten, was sie nicht befriedigen und glücklich machen konnte.
… Zu solchen Weltverneinern sollen wir Christen wahrhaftig nicht werden!
Die Welt ist es ja nicht, die ein Versprechen nicht hielt oder uns leerer ausgehen ließ, als wir sein zu sollen glaubten.
Alles, was die Welt ist und kann, verdient unsere Zuneigung, unsere Dankbarkeit, unseren Schutz! ……. Wenn man in diesen Zeiten, wenn man nur in dieser vergangenen Woche daher hört und liest und erlebt, dass wir Menschen der Erde und allem, was darauf lebt, unwiderruflichen Schaden zufügen, dann muss die christliche Kirche tatsächlich stark und strikt der gottlosen Faulheit und dem Gewinnstreben derer widersprechen, die das nicht anzufechten scheint:
… Schwach ist sie ja … und unverteidigt, diese Welt, die alles hergeben muss, um uns zu dienen und der wir eine Gewalt antun, die unsere flüchtigen Tage um Jahrtausende überdauern wird.
Und uns ist sie anvertraut, sie zu bebauen und bewahren (vgl.1.Mose2,15).
Darum kann keiner von uns sich von der Welt einfach abwenden und sie ungerührt ihrem Schicksal überlassen.
Missachtung der Schöpfung ist Missachtung des Schöpfers.
Das, was man heute „Öko-Sünden“ nennt, ist tatsächlich angewandter Atheismus.
Doch genauso schlimm und schädlich und verkehrt ist das Gegenteil der Weltmisshandlung: Die Weltvergötzung. Ob sie nun ökologisch die Natur zum Fetisch erhebt oder sie als Materialismus unbekümmert ausschlachtet: Wer immer in allen Dingen nur auf das Geschaffene sieht und zielt, der verfehlt den Schöpfer.
Und das ist der Grund, weshalb die ganze Welt mit allem, was sie enthält, uns nicht glücklich machen kann. Sie ist zwar der Kosmos – … aber nicht das „All“, das PAN, das die griechische Philosophie und Frömmigkeit in ihr vermutete und verehrte. Sie ist nicht bleibend.
Spätestens seit der Mensch ist, wie er ist – seit dem Sündenfall also –, ist die Welt in den Sog des Seins zu Tode geraten; … seit der Mensch die einzige Grenze, die es für ihn gab, übertrat, ist ja alles der Begrenztheit verfallen.
… Seitdem gilt, dass das Wesen und die Gestalt dieser Welt vergehen.
… Und dass jede Bindung an Vergängliches – wenn sie absolut wird – uns leer ausgehen lassen und enttäuschen muss. ———
Gewiss hat der anonyme Street-Art-Künstler, der unter dem Decknamen Bansky letzte Woche das Auktionshaus Sothebys und eine Sammlerin moderner Kunst so sagenhaft narrte, keine Anschauung für die Botschaft des Apostels Paulus beabsichtigt. Aber das Bild „Girl With Balloon“, das gerade eben teuer ersteigert war und daraufhin durch den im Rahmen heimlich eingebauten Shredder noch im Auktionssaal zerfetzt wurde, ist ein unüberbietbar treffendes Symbol unseres gesamten Verhältnisses zum Irdischen. … Ès ist „Haschen nach Wind“ – wie der Prediger Salomo sagt (1,17 u.ö.) – … es ist „Haschen nach Wind“, dieses Mädchen mit dem davonfliegenden Luftballon, … und wenn wir es endlich zu haben meinen, … wenn es ergattert und bezahlt ist, dann löst es sich auf und wird wieder zu Staub. …….
Wer er zu haben meint, der hat es nicht.
Nur wer es hat, als habe er es nicht, wird nicht enttäuscht, sondern den Weg der Freude und der Dauer finden.
Denn das ist die Weisheit und Freiheit, zu der Paulus uns Christen beruft: Diese Welt und alles, was sie bietet, zu nutzen nicht mit dem tödlich erstickenden Klammergriff „Ich will!“ oder „Das muss!“, sondern auf der ausgestreckten Hand des
„Mein sind die Jahre nicht, / die mir die Zeit genommen, /
mein sind die Jahre nicht, / die etwa werden kommen; /
der Augenblick ist mein / und nehm’ ich den in Acht, /
so ist Der mein, / der Zeit und Ewigkeit gemacht.“ [i] ———
Es liegt eine unermessliche und köstlich ruhige Weite in diesem christlichen Gebrauch der zeitlichen Dinge, … in diesem vorübergehenden christlichen Genuss an irdischer Freude … und auch in diesem christlichen Realismus angesichts der sterblichen Liebe.
„Unsterbliche Liebe“ – das große, künstliche Krampf-Ideal, das die Kultur vom antiken Mythos bis zum kitschigen Kino durchwabert – … „unsterbliche Liebe“ ist eine theologische, keine romantische Wirklichkeit.
Obwohl der Junggeselle Paulus in diesen Dingen vielleicht am wenigsten berufen war zu urteilen, ist doch auch in Sachen des Herzens, der Ehe und des menschlichen Miteinanders seine grundnüchterne und bescheidene Maxime, man solle freien und lieben, man solle verehelicht und verbunden sein, als wäre man es nicht, weder ein Liebestöter noch eine Lizenz zur Untreue, sondern vielmehr die einzige Möglichkeit, etwas so Volles und Fundamentales wie die Liebe nicht platzen zu lassen wie den Ballon des kleinen Mädchens.
Man kann und soll nichts Absolutes aus den Erfahrungen und Geschenken des Lebens machen, …nicht einmal die zwischenmenschliche Liebe verträgt es, so überfrachtet zu werden, als sei sie das Totale, das Eine und Alles.
Wer einen anderen Menschen so auflädt, dass alles Glück des Daseins, aller Sinn des Lebens, alle Hoffnung der Welt sich in diesem Einen bündeln, der schafft sich doch nur einen von Außen bedrohten und im Inneren kläglich ohnmächtigen Nebengott: Kein Mensch kann ja das Versprechen halten, selig zu machen. Kein Mensch kann das Himmelreich ersetzen!
Nur wer also auch in der Liebe die Begrenztheit des Geliebten und die gemeinsame Freiheit für das Höhere und Höchste achtet, entgeht der zum Scheitern verurteilten Illusion, die sich das Letzte vom Vorletzten erhofft. ——
Einerlei daher, wohin wir den Blick wenden: Die uns befremdende Botschaft, dass alle unsere Tränen und unser ganzes Lachen, dass sämtliches Haben und selbst die Liebe nur etwas Vorläufiges, nur Stückwerk, nur uneigentlich sein werden … diese befremdende Botschaft vom uneigentlichen Leben, ist in Wahrheit die Befreiung zum Eigentlichen:
Nichts soll uns schon vollkommen mit Beschlag belegen, nichts müssen wir als das Non-plus-ultra, als Höchstes der Gefühle, als Ziel und Gipfel betrachten und behandeln.
… Es ist alles nur vorübergehend, alles nur für den Augenblick. Wer sich drauf versteift und darein verbeißt, wer es alles jetzt sofort und ganz will, der erreicht nicht das Wahre, sondern nur einen ganz begrenzten Ausschnitt, ein rasches Vorleuchten, die Spur einer Ahnung.
… Die soll man zwar kosten. … Darf man auch gewiss genießen.
… Und sie sind unzweifelhaft auch zu lieben.
Aber sie bleiben so kurz wie die Zeit – und auch so endlich.
Wer also daraus schon unbedingt alles machen will, der hat das befreiende, das Geist und Herz und Sinn und Hoffnung erweiternde und eröffnende christliche Geheimnis des erlösten Lebens noch nicht erfahren: Das gelöste und gelassene Sein im Vorletzten, das nichts Letztes beansprucht und erzwingt, weil das Wesen dieser Welt vergeht und alle Wirklichkeit der Dinge und der Menschen und des Lebens nicht durch uns, sondern durch Gott selber erneuert und einst für immer festgehalten und bewahrt werden soll.
Darum kann man aber dieses gelöste Leben, das sich nicht im Alles-Wollen-und-selber-Machen vollzieht, sondern in Nehmen und Geben, in Haben und Lassen, als hätte und nähme man nicht, auch umgekehrt beschreiben als ein Leben, das jetzt schon frei ist von Verzicht und Verlust, weil es im Glauben bereits heute lebt, als ob alles gut sei und gewiss! ……. ———
Dass das nichts Weltfremdes und Verrücktes sein muss, sondern das Geschenk großer Kraft und Klarheit, die im Vorletzten schon vom Letzten her leben darf, kann ein rein politisches Beispiel vergegenwärtigen.
Aus dem Polen der 80er Jahre – als der Würgegriff der kommunistischen Partei und ihrer mächtigen sowjetischen Beschützer die Menschen auf dem Weg in die Freiheit innerlich nicht mehr zu fesseln und zu brechen vermochte – berichtet ein damaliger westlicher Beobachter eine erstaunliche Parallele zum gelösten Leben, wie Paulus es uns lehrt:
Es war eine Lebensweise, in der das Bewusstsein das Sein bestimmte, schildert Timothy Garton Ash die Zeit, als die Solidarność begann: „In der unfreien Realität verkündet sie die Idee des Als-ob: Versuche zu leben, als ob du in einem freien Land lebtest, selbst wenn dein Arbeitszimmer gerade eine Gefängniszelle ist.“[ii]
Dieses Leben im Als-ob des Reiches Gottes, dieses Leben, als sei das Irdische nicht alles … das ist nun aber kein Kraft- und Willensakt verzweifelter Menschen, sondern es ist die Wirklichkeit der Gnade und das Geschenk unseres Glaubens.
Es ist unser Leben als Christen … von den ersten Märtyrern über alle Gefangenschaft, in der Christen „von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar“ (vgl. EG 652) leben durften, bis hin zu unserer Zeit, in der Not und Gewalt und Gier und Zweifel doch nicht hindern werden, dass wir immer noch und weiter dem Sieg der Liebe und Wahrheit und dem Reich des Friedens und der Gerechtigkeit entgegenleben.
Denn sie werden das Letzte sein, … weil Christus ist, was er ist, - Alpha und Omega - er, der die Welt erneuert, … Christus, der die Zukunft bringt, … Christus, der das Bleibende zeigt und schenkt.
Und das liegt an niemandes Wollen und Laufen, sondern an Gottes Erbarmen (Rö9,16)!
Amen.
[i] Andreas Gryphius, „Betrachtung der Zeit“ – No.76 der Epigrammta oder Bey-Schrifften: Das erste buch, in: Andreas Gryphius. Werke Dritter Band: Lyrische Gedichte. Hg. v. Hermann Palm, ( Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1884) Hildesheim 1961, S. 389.
[ii] Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt, Aus den Zentren Mitteleuropas 1980-1990, München 1990, S. 104.
18.n.Trin., 30.09.2018, Stadtkirche, Jakobus 2, 1 - 13, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 18.n.Trin. 30.IX.2018
Jakobus 2, 1- 13
Liebe Gemeinde!
Eins dürfte sicher sein: Über etwas, das es nicht gibt, wird in der Bibel auch nichts geschrieben. Wenn sich also im Jakobusbrief ein Abschnitt über Speichelleckerei vor irgendwelchen vermögenden Großkotzen findet, dann muss es dieses unappetitliche Phänomen schon in neutestamentlicher Zeit gegeben haben.
… Dann hat also schon zu Zeiten der Jünger und Angehörigen Jesu – immerhin ist der Autor des Jakobusbriefes der spät berufene, dann aber umso wichtigere Herrenbruder, der die Jerusalemer Urgemeinde leitete, nachdem die Apostel sich der Mission verschrieben hatten – … zur Zeit dieses Bruders Jesu und seiner noch wirksamen Jünger hat also schon die Unsitte in den ältesten Kirchen der Welt Einzug gehalten, dass Kapital und Kostüm, Klamotte und Knete gewürdigt wurden, obwohl sie doch genau die Kennzeichen jener Welt sind, die in Gier und Betrug gefallen war und die vom Reich Gottes überwunden wird!
Schon im Kreis derer, die den neuen Menschen – Jesus, den auferweckten Gekreuzigten – erlebt hatten, … schon im Kreis derer, die sahen, wie verschlossene Türen ihn nach Ostern nicht mehr aufhielten, wie er ganz gewöhnliche Speise zu sich nahm und kaum vernarbte Wunden hatte und doch ganz frei war von den Beschränkungen des Stofflichen … schon im Kreis der Augenzeugen des von materiellen Zwängen befreiten Lebens hat also die alte unterwürfige Haltung gegenüber dem Tauschmittel, das alles verspricht, um sich gegriffen: Geld – etwas völlig Leeres, Ungenießbares, rein Theoretisches - … Geld machte schon damals Menschen unkritisch.
… Dass der Stein vom Grab gerollt und das Grab durch die Kraft, die aus Nichts alles schafft, offen und leer war, hinterfragt man, ……. dagegen dass alle Türen sich öffnen und alles möglich werden soll, bloß weil Zahlen und Zahlkraft Einzug halten, wird gläubig hingenommen:
Das ist der Trugschluss, oft genug der Betrugschluss, den Vermögen zu allen Zeiten ausgelöst hat. Alles dem Geld, weil Geld alles kann und ist. ……. Oder doch nicht??
Haben sie sich schon zu Zeiten des Jakobus in den Töchtergemeinden Jerusalems tatsächlich so prostituiert, dass sie um jeden reichen Protz herumscharwenzelt sind?
Waren sie wirklich damals schon wieder so verhurt?
Offenbar ja …, sonst hätte Jakobus nicht so stark dagegen geschrieben.
Und dennoch war die Situation der frühen liebedienerischen Christen eine andere, als alles, was wir kennen, und ihre Beweggründe für das devote Hofieren der Reichen auch.
In allen Gesellschaften der alten Welt gab es nämlich einen verstörend selbstverständlichen Zusammenhang, den wir zwar heute auch noch erleben können … jedoch als Skandal: Im Altertum war das Recht von Rechts wegen das Recht der Besitzenden. Gesetze und ihre Durchsetzung verdankten sich ausschließlich dem Einfluss der Reichen. Gerechtigkeit war an Vermögen gebunden. Armut blieb rechtlos.
So funktionierte das griechische, aber ebenso das römische Recht.
Die Bibel indes ist von jener Stunde am Sinai an, in der tatsächlich ein Sklavenvolk das Gesetz der Freiheit in zehn allgemeingültigen Weisungen für alle Menschen erhielt, die Urkunde eines zunächst utopischen, dann radikalen und bis heute unendlich segensreichen Protestes gegen alle Klassenjustiz und alle Sonderrechte.
Die Bibel ist ein Gesetzbuch der Menschheit, nicht ein Kodex für Wenige.
Und sie begründet damit den Vorrang, den Primat des Solls über das Haben.
… Nicht was einem gehört, sondern wem einer gehorcht, ist Quelle und Maß des biblischen Rechtes. Und darum gilt es jedem Menschen in gleicher Weise und steht unterschiedslos allen offen. ——
Dass Glaube an Gott und Bindung an Ihn zu einer Rechts- und Lebensordnung ohne alles Ansehen der Person führen, ist also die Ausgangslage, die das Judenchristentum mit dem revolutionären „Recht für alle“ in der Gemeinde Israels teilte. …….
… Doch dann kamen die Heidenchristen, … kamen aus der Welt des römischen Rechtes, das nur für Bürger galt und keine Gesetze für die Masse der Rechtlosen kannte.
Und wenn nun gar ein erkennbar reicher Heide in die christlichen Versammlungen kam – mit einem goldenen Ring und einem herrlichen Kleid und anderen Insignien imperialer, senatorischer Macht –, was mag dann wohl durch die Köpfe der Gemeindeglieder gegangen sein?
Kam nicht mit jedem Reichen die Gefahr eines Rechtes, das nur ihn schützte und alle anderen – die jüdischen Christen, die Unfreien und Barbaren unter ihnen – mit schutzloser Rechtlosigkeit bedrohte?
… Die Erinnerungen und Legenden der alten Christen[i] berichten ja genau davon wieder und wieder: Wie Angehörige der Oberschicht – besonders junge Frauen, die nirgends in der alten Welt als rechtsfähig betrachtet wurden – in die Versammlungen der Gläubigen fanden und die Unantastbarkeit des weiblichen Körpers durch männliche Ansprüche erfuhren, und wie ihre erbosten Väter und Mütter daraufhin alle Hebel in Bewegung setzten, um die christlichen Verführer gefügig-braver Heidinnen der Folter und den Schauprozessen des Willkür-Systems römischer Justiz auszuliefern.
Reiche, die in einen christlichen Gottesdienst kamen, rochen also durchaus nach Ausspähung und schwelender Bedrohung.
… Dass solche unheimlichen Besucher von den winzigen, wackeligen Ur- und Untergrundgemeinden keine Abfuhr erhielten, sondern womöglich aus schierer Panik umflattert und gebauchpinselt wurden, ist noch einmal ein anderes Bild als die schamlose Schleimerei, das Scharwenzeln und Schmarotzen, das sonst zu beobachten ist, wo Geld und sein Einfluss vermutet werden.
Die Mahnung des Jakobus, die „großen Hansen“ – wie Luther sie nannte, wenn er einen zahmen Tag hatte – nicht zu bevorzugen, muss also vor dem Hintergrund der wirklichen Gefahr gesehen werden, die von materiell reichen und damit auch politisch und rechtlich einflussreichen Zeitgenossen damals ausging.
Dadurch gewinnt diese Mahnung allerdings nur noch an Gewicht, geht sie doch über die – leider auch nicht selbstverständliche – soziale Parteinahme der christlichen Gemeinde für die Armen, aus deren Reihen sie selber stammt und an deren Seite sie zuallererst und bis zuletzt immer gehört, hinaus.
Jakobus stellt die Gemeinde damals wie heute in Wahrheit nämlich vor die Frage, welche Gerechtigkeit, welches Urteil sie wirklich erwartet:
Menschliches Recht, das die Mächtigen nach Belieben setzen, aufheben und umgehen … oder ein Recht, das für alle und für immer gilt, weil es das gottgewollte und gottgemäße, weil es das Gesetz Gottes selber ist!? …….
Wenn Ihr Euch duckt und buckelt vor den Ansprüchen und den Drohungen derer, die sich für Herren halten und die darum Gewalt üben und vor ihre Gerichte ziehen, wer immer sich ihrem Regime widersetzt, … wie wollt Ihr dann vor Dem bestehen, Dessen Gebote mit der Entmachtung aller vermeintlich und verbrecherisch Großen, Starken und Reichen beginnen: „Ich bin der HERR, dein Gott“ (vgl.2.Mose 20,2)?!
Gottes Gesetz fängt wirklich nicht umsonst mit dieser klaren Botschaft der Befreiung von allen anderen Herrschaften, Mächten und Gewalten an, um gerade dadurch seine unumstößliche und ausnahmslose Gültigkeit zu begründen: Kein Diktator und keine Krone, auch keine Elite und kein Präsident, kein Senat und keine Mehrheit kann es mit diesem Satz aufnehmen. … Ihnen allen gegenüber wird und bleibt frei, wer die zehn Gebote der Freiheit, die zehn Gebote einer freien, gleichen Menschheit, die in Israel begonnen hat, annimmt. —
Doch wer sie annimmt – und das bleibt die Herausforderung aller Christen bis heute! – der muss seine Freiheit auch bewähren!
Der kann – warum auch immer – nicht mehr mit den Wölfen heulen, vor den Lügnern schweigen oder bei den Starken lieb Kind sein.
Sondern der muss frei reden, selbständig handeln und unabhängig urteilen.
Der Kirche Jesu Christi hat diese innere Freiheit, den Reichen und Mächtigen, den Gönnern und Beschützern ohne Bücklinge und Unterwürfigkeit, vielmehr als aufrechte Subjekte eines kollektiv-königlichen Gesetzes zu begegnen, lange gefehlt.
… Und heute erleben wir, wie diese Freiheit in der säkularen, unabhängigen und mündigen Welt ebenso schwindet.
Dachten wir lange, es gebe eine Kraft der Aufklärung, der geistigen Reifung und Rationalität, die der Gedanken- und Meinungsfreiheit, den Menschenrechten und der individuellen Würde jedes Einzelnen entgegenkomme und sie stärkt, so werden wir heute Zeugen, dass zivilisierte und differenzierte Gesellschaften zurückgleiten können in die Brutalität des Altertums: Recht wird als Privileg reklamiert, es soll nicht uneingeschränkt gelten, sondern nur einigen vorbehalten sein und andere schlicht ausschließen!
Diese Schwindsucht der moralischen Kategorien der Menschheit, dieses Vergreisen und Absterben des einzigen Rechtsempfindens, das für einen Christen diesen Namen verdient – nämlich des Empfindens für die majestätische Allgemeinheit der Pflichten und Rechte des Menschen vor dem einzigen Gott –, dieses praktische Verwelken und Verlöschen dessen, was dem Willen Gottes wie dem Wohl der Menschheit entspricht, geschieht vor unseren Augen: Der Rückzug in vereinzelte, isolierte Körperschaften; der Kampf gegen eine universale Ethik zugunsten kleiner Stammes- und Nationalideologien; der freche Bruch juristisch garantierter und akzeptierter Normen in der Verfassung von Demokratien, im Gebaren der Industrie, in der Kommunikation der Öffentlichkeit; die Pöbelherrschaft, zu der freie Wahlen und Meinungsäußerung zu unserer Beklemmung tatsächlich auch verkommen können, … das alles ruft nach Umkehr und Klarheit.
Uns …uns Christen aber ruft es zum Königsrecht, zum Gesetz der Freiheit, in dem das Kleine und das Große miteinander verbunden und verbürgt sind:
Um die Zehn Gebote geht es dabei, in denen Kriegsverbot und Friedensforderung, Schutz von Familie und Geschlechtsleben, geistliche und sinnliche Treue, Liebe zu Gott und das Recht des Mitmenschen, Wahrheit und Ruhe in Wort und Welt in allerkürzester Weise allgemeinverbindlich, schnörkellos und zuverlässig begründet werden!
… Aus dieser tragfähigen Grundlage des Menschseins lässt keine Einzelheit sich lösen, ohne dass das Ganze zusammenstürzt: Wer nur auf Mord verzichtet, aber nicht auf Lüge, der ist ein ebenso zynischer Verräter des Rechtes wie jener bürgerliche Patriot, der die Ehe nicht bricht, aber tötet, oder jener selbstzufriedene Wohlstandsmensch, der kein Begehren kennt, aber auch keinen Gott .
Gerade die innere Zusammengehörigkeit aller Bereiche des Lebens, wie die zehn Gebote sie spiegeln, die Verflochtenheit ganz luftiger Ideale (Wahrheit) mit ganz konkreten Versuchungen (Diebstahl) und ganz antiquiert wirkenden Tabus (heilige Bilderlosigkeit und Namensehrfurcht), … gerade diese umfassende und doch nicht pedantische oder erdrückende Wirklichkeitsfülle des göttlichen Grundrechts macht es nun aber auch zu einer Schule der Barmherzigkeit: In diesen zehn einfachen Fundamentalsätzen finden alle Menschen sich und ihr gegenseitiges Recht.
Auf die Einhaltung dieser Gebote sind unterschiedslos alle angewiesen.
Wer das erkannt hat, der weiß, welche Gerechtigkeit und welches Urteil wir allein wählen können: Das freie Gericht Gottes, Dessen befreiende Gerechtigkeit alle Menschen berechtigt – also fähig und würdig macht –, nach dem Gesetz der Freiheit zu leben und Furcht, Berechnung, Opportunismus abzuschütteln. ———
Das ist die Botschaft, die Jakobus uns in Zeiten der Rechtsauflösung und Rechtsvergessenheit in der Welt vor Augen stellt: Christen müssen die Ansprüche aller Kinder Gottes auf äußere und innere Freiheit verteidigen. Christen erkennen in jedermanns Recht auf Heimat ebenso wie in jedermanns Recht auf Asyl, in jedermanns Recht auf ausbeutungsfreie Arbeit wie in jedermanns Recht auf körperliche Unversehrtheit, in jedermanns Recht auf Bildung genauso wie in jedermanns Recht auf Glauben Strahlen jenes unendlich klaren, ungetrübten Lichtes, in dem sie selber Gott erkennen und selbst von Ihm erkannt werden wollen:
Nicht als Personen willkürlichen und ungleichen Rechtes möge Gott uns alle ja sehen, sondern als ebenbürtige und gleichberechtigte Menschen, die berufen sind zur gemeinsamen Freiheit und gemeinsamer Barmherzigkeit.
Denn der gute Name, der über uns genannt wird – der Name Christi, des Herrn der Herrlichkeit – ist kein Eigenname und kein persönlicher Anspruch, sondern unser Freispruch: Im Christennamen spricht Gott uns das Recht zu, nur Seinem Gesetz zu folgen, … jenem Gebot, das wir von ihm haben, dass wer Gott liebt, auch seinen Bruder liebe (vgl.1.Joh.4,21).
Danach richten wir uns und so wollen wir einst gerichtet werden:
Von dem, der die Armen – uns rechtlose Heiden – erwählt und in seiner Nachfolge zu seiner Gerechtigkeit und seinem Reich berufen hat.
Amen.
Fürbitten
Herr, Dein Ruf zu Freiheit und Gerechtigkeit, Die Ruf zu Barmherzigkeit und Liebe trifft auf eine verstockte und verunsicherte Welt.
Wir aber wollen uns rufen lassen im Vertrauen auf Deinen Heiligen Geist.
Vom Sinai her weht die Kraft der durch Dich geschenkten Freiheit und des von Dir gegebenen Rechtes.
Keine Furcht und keine Tyrannei, kein Misstrauen und keine Einschüchterung haben in Jahrtausenden Dein königliches Menschenrecht auslöschen können:
Immer noch und immer weiter löst es Gefangene und Unterdrückte, Erschöpfte und Enttäuschte aus ihren Fesseln und weckt unter den Völkern und bei den Einzelnen Zeugen der Hoffnung, Botschafter der Wahrheit, Täter des Gerechten.
Lass doch auch uns zu deren Zahl und Gemeinschaft gehören.
Lass uns den Namen Jesu Christi verkünden und tragen als Zeichen siegreicher Menschenliebe, als Schild unverwüstlicher Zuversicht, als Pfand weltweiter Gemeinschaft.
Du gibst niemanden auf,
überhörst keinen Schrei,
verachtest keinen der Geringen,
wirst nicht ein einziges Deiner Geschöpfe verlieren, die zu Deiner Ehre und in Deinem Ebenbild geschaffen sind.
Darum vertrauen wir Dir das Recht der Menschheit an,
darum bitten wir Dich, dass Dein Geist die Welt erneuern und regieren möge
und darum geben wir Dir unser Herz und unsere Hände, dass Du sie mit Liebe füllst und bei Dir verknüpfst in Ewigkeit.
[i] In dieser Hinsicht sind z.B. die Thekla-, Agnes- und Barbara-Überlieferung (um nur einige populäre Beispiele zu nennen) sehr ähnlich.
16.n.Trin., 16.09.2018, Stadtkirche, Apostelgeschichte 12, 1 - 11, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 16.n.Trin. - 16.IX.2018
Apostelgeschichte 12, 1-11
Liebe Gemeinde!
Seit einer Woche schüttele ich meine Bibel, um zu sehen, ob nicht doch noch irgendwo eine fehlende Seite herausfällt.
Für meine Begriffe kann der Bericht, den wir heute aus der Feder des Lukas vor uns haben, nicht vollständig sein. … Die beiden ersten Sätze darin sind ja nicht mehr als eine Überschrift, die nach ausführlicher Fortsetzung verlangt.
… Immerhin wird doch mit diesen vollkommen blassen und unbeteiligten Notizen ein unglaublicher Einbruch in die Urzelle des Christentums vermeldet: Der erste der Zwölfe stirbt nach Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten! Einer der allerersten berufenen Anhänger und Nachfolger des Messias, ein zentraler Christuszeuge der ersten Stunde – Jakobus, Sohn des Zebedäus, Bruder des Johannes, einer der berühmten „Donnersöhne“ unter den Jüngern – wird ermordet … und es sollte weniger bedeuten, als irgendeine Randnotiz der Weltgeschichte … und sei’s über den Tod seines Mörders, Herodes Agrippa, der dem Lukas im gleichen Kapitel immerhin eine detaillierte Schilderung entlockt? ……
Doch so sehr ich auch nach dem losen Blatt fahnde, das an dieser Stelle in die Apostelgeschichte gehörte: Tatsache ist, dass sich der ungeheure Einschnitt in die Erfahrungen und Orientierungen der Urgemeinde nirgends in Worte gefasst finden lassen will.
… Dieser Punkt bleibt eine Leerstelle.
Und das Unglaubliche bleibt bestehen, dass einer der engsten Begleiter Jesu Christi einem Verbrechen zum Opfer fällt, das ihn brutal aus der Welt reißt, und die christliche Gemeinde geht im selben Atemzug, in dem sie davon spricht, zu einer anderen Erfahrung, zum Wunder, das ein anderer Apostel erlebte, über. ———
Stimmt da vielleicht etwas nicht mit den Christen?
Sind sie unfähig, mit der politischen Gewalt, mit dem zynischen Unrecht und dem Tod umzugehen, die beim Martyrium des Jakobus ihre ungebrochene Herrschaft demonstrieren?
Sind die Christen Realitätsverweigerer, die alles ausblenden, was nicht in ihre Heile-Welt-Legenden passt? …….
Dass Lukas nicht hätte spüren sollen, wie seltsam sein brutal nüchterner Chronik-Stil an dieser Stelle wirkt, kann man ausschließen.
In seinem Evangelium hat er zwar einiges aus-gelassen, was bei Markus und Matthäus von den sehr lebhaften und sehr zweifelhaften Erinnerungen an Johannes und Jakobus, die von Jesus sogenannten „Donnersöhne“ (vgl.Mk3,17) noch lebendig war: Lukas überliefert nicht, dass sie es waren, die sich brennend vor Ehrgeiz danach drängten, im Reich Gottes einst links und rechts von Jesus auf den Thronen der Vizeherrscher zu sitzen (vgl.Mk10,35ff) und auch nicht, dass Jesus ihnen beiden daraufhin den Leidenskelch und die Todestaufe ankündigte, die er selbst vor aller Herrlichkeit würde trinken und leiden müssen (vgl.Mk10,39f); …aber dass die beiden gewitterköpfigen Söhne des Zebedäus (vgl.Lk9,54) trotz - oder wegen? - ihres Temperaments gemeinsam mit Petrus den innersten Kreis der Jünger darstellten und dass sie auf dem Berg der Verklärung und im Garten Gethsemane die hellste und die trübste Stunde Jesu vor der Kreuzigung teilten – das berichtet auch Lukas.
Ihm war also vollkommen bewusst, wessen frühen und grausamen Tod er da verzeichnete und welche Lücke der Gefährte und Bruder unter den Aposteln zurückließ.
Und auch die Christenheit hat es immer verspürt, so dass seit tausend Jahren keine Sinnsuche, keine Wanderbewegung im Abendland so ausgeprägt war wie die Reise zu Jakobus, auf’s Sternenfeld von Compostela, wo der Legende nach dieser verschwundene Jesus-Jünger ruhen und dessen harren sollte, was ihm noch bevorsteht.
…Trotzdem aber ist der Bericht von seinem Ende so spröde, so sparsam!
Weil der immerhin von Jesus angekündigte Märtyrertod tatsächlich eine solche Verlegenheit war?
Oder weil es so früh - ein knappes Jahrzehnt - nach Ostern wirklich noch keine Möglichkeit gab, christlich angemessen vom Sterben der Gläubigen und glühend Hoffenden zu sprechen, die selber noch Jesus, den Auferweckten vor Augen hatten und darum den Tod schlicht nicht mehr kommen sahen? ……. ———
Oder vielleicht deshalb, weil die erschreckend dürre Todesnachricht von der Laune und dem Henker des Herodes tatsächlich nur die Überschrift, tatsächlich nur den Auftakt bedeutet zu dem, was dann folgt?
… Wenn die Gemeinschaft Jesu Christi wirklich ein Leib ist, wenn die Jünger und die Getauften tatsächlich ein gemeinsamer Organismus sind, in dem die unzerstörbare Wirklichkeit und Gegenwart des Auferweckten sich verkörpern, dann zerfallen ihre Erfahrungen, ihre Erlebnisse und ihre Betrübnisse, ihr Gehen und ihr Kommen tatsächlich nicht in getrennte Episoden, sondern dann sind und bleiben Sterbens- und Lebensschicksale der Christen verbunden als die eine Realität des lebendigen Jesus Christus.
Die scheinbare Total-Unterscheidung – hie Leben, da Tod – ist ja elf, zwölf Jahre vor der Hinrichtung des Jakobus am dritten Tag nach Jesu eigenem Sterben aufgehoben worden.
Seither ist es für die Osterzeugen eigentlich nur noch möglich, von den Toten zu sprechen wie von Lebenden, von den Fernen nur noch so zu denken wie von den Nahen, und kein unüberbrückbare Verschiedenheit, keine völlige Entfremdung mehr anzuerkennen: Wenn der gekreuzigte Jesus Christus tatsächlich der Lebendige ist, dann kann auch sein gerade noch so lebhafter Jünger Jakobus also nicht einfach im undurchdringlichen Dunkel und Schweigen dessen, was der Tod bisher war, verschwinden.
… Ist der Tod nämlich einmal durchlässig geworden – und das hatten die ersten Jünger ja staunend und auch ungläubig erlebt –, dann ist der Zustand der Toten völlig verändert im Vergleich zur bisherigen Ausweglosigkeit der Gräber.
Und auch wenn es uns fremdartig erscheint – weil wir befangen sind in einem Denken, das letztlich nur Einzelne und keine Gemeinschaft kennt –…, auch wenn wir also Schwierigkeiten haben werden, lässt sich doch die Theologie des Lukas und das Verständnis, das die ersten Christen von der Durchlässigkeit zwischen Tod und Leben gewonnen hatten, recht deutlich erfassen, wenn wir die unterschiedlichen Schicksale der beiden Apostel Jakobus und Petrus als eine zusammenhängende Geschichte sehen.
Erlebt haben sie zwei verschiedene Personen – und dennoch erklären sie sich wechsel-seitig.
Denn so viel springt uns allen ja in’s Auge: Der Bericht von der Befreiung des Petrus aus dem Gefängnis ist Zug um Zug eine Ostergeschichte.
Sie ereignet sich ja auch in der Karwoche, in der österlichen Zeit der ungesäuerten Brote. Da wird über das Passafest Petrus in einen Kerker geworfen, der so bewacht und so verriegelt ist wie das versiegelte Grab seines Herrn zur gleichen Festzeit wenige Jahre zuvor. Und inmitten der starren Wachen und lähmenden Fesseln erstrahlt im finsteren Kerker ein Licht – das Licht! – und handelt ein Engel am bewegungs- und verständnisunfähigen Jünger.
Was er aber tut, spricht Bände: Er schlägt die Seite des Petrus – und es begegnet dabei ein Wort, das sonst nur im Bericht von der Kreuzigung Jesu und vom ungläubigen Thomas eine Rolle spielt[i], … ein Wort, das Zinzendorf so liebte, weil er spürte, dass diese anatomische Angabe auf das innerste Lebensgeheimnis des Heilands zielt. Bei Zinzendorf und im Barock ist es die „Seitenhöhle“, … der Quell, aus dem Blut und Wasser aus Jesu Herzkammern strömten.
…Und just diese Seitenhöhle, diese Herzkammer des Apostels muss der Engel also berühren, als versetze er dem stillstehenden Lebensorgan den rettenden Stoß, der es wieder bewegt.
Und wie die Träumenden, wie die Kinder – benommen und folgsam – führt der Apostel aus, wozu der Engel ihn bringen will, von dem es zunächst im Griechischen heißt: Er „auferweckte“ ihn und sprach zu ihm „Aufersteh!“
… So kleidet sich Petrus wie im Schlaf, folgt traumwandlerisch durch das unpassierbare Kerkerlabyrinth und schließlich – Höhepunkt dessen, was nicht von Menschenhand geschehen kann – … und schließlich gelangt er hinaus in die Stadt, weil die eiserne Tür des Gefängnisses „automatisch“ (wie es auf Griechisch heißt) vor ihm aufsprang! ———
Dass dieser „Automatismus“ allerdings eben keine Mechanik, keine physikalische Folge einer physikalischen Wirkung ist, sondern der Durchbruch der Kraft Gottes durch alle natürlichen Hemmnisse und Widerstände – das bestätigt ja, dass wir es hier mit einer Geschichte zu tun haben, die nur im Licht von Ostern verstanden werden will.
Sie erzählt also mehr, als nur wie Petrus den Fängen der herodianischen Pseudo-Justiz entkam.
Vielmehr hat Lukas es doch wohl gewagt, das, was wir niemals angemessen schildern und uns auch kaum ausmalen könnten, durch den Bericht von der Inhaftierung Petri und seiner Befreiung anschaulich zu beschreiben: Nämlich das, was passiert, wo die Menschen Gottes in den Bann und Zwang, in die Ohnmacht des Todes geraten!
Mit seiner zunächst so unbefriedigenden Abfolge von nüchternem Hinrichtungsvermerk und anschließendem Befreiungsbericht ist Lukas also tatsächlich in die Nähe einer Innenansicht der Osterereignisse gekommen.
… Wohlweislich hat er natürlich nicht behauptet, zu wissen oder wiederzugeben, wie sich die herrliche Gottestat der endgültigen Herausführung aus dem Tod vollzieht, … er hat nicht das endgültige und ewige Passa, das Ausziehen aus den Gräbern und Heimkehren in’s gelobte Land des Lebens zu dokumentieren unternommen.
Doch in der Gestalt dessen, was die Forschung ein „Türwunder“ nennt und in den Anspielungen auf das Psalmwort von den Träumenden, als die wir uns fühlen werden, wenn endlich der HERR die Gefangenen Zions erlöst (vgl.Ps126!), und im österlichen Laufen und Verkündigen der Türmagd Rhode, der man das Undenkbare auch in der betenden Gemeinde schlicht nicht glauben mag … in allen diesen Zügen hat Lukas der minimalistisch festgehaltenen Passionsgeschichte des Jakobus doch eine maximal ausführliche Auferstehungsbotschaft angefügt. ———
Was uns allerdings bewegen und beschäftigen sollte, wenn wir erkennen, dass in der Apostelgeschichte die Rettung des Petrus geheimnisvoll die Auferstehung des getöteten Jakobus vertritt, das ist diese Wahrheit wechselseitigen, gemeinschaftlichen Leidens und Lebens.
In dem, was einem hier an Befreiung widerfährt, widerfährt auch dem anderen Recht und Heil. Und was der eine erduldete, das teilte der andere unter scheinbar harmloserer Gestalt.
Auf diese unlösliche Durchdringung zwischen den Erfahrungen, den Tragödien und Trauerspielen der einen Biographie und den Glücksfällen und Triumphen des anderen Lebenslaufes kommt es aber wirklich an, wenn wir als Christen gerade im Licht von Ostern bekennen (Rö14,7): Unser keiner lebt sich selber und keiner stirbt sich selber.
Wenn wir wirklich eines Tages wieder wie Lukas und die Gemeinde der Anfänge dahin kämen, dass wir eine solche Verweisfunktion vom Glück des einen auf das Leid des anderen begriffen, … wenn wir dahin kämen, eine solche Korrespondenz nicht nur zu behaupten, sondern ernsthaft zu leben – dass Freuden und Wunder in manchen unserer Erfahrungen nicht ohne Schmerzen und Sterben in den Erfahrungen anderer sinnvoll zu verstehen sind –, dann würde sich Tiefgreifendes in der Welt ändern!
Nicht, als hätten wir dann endlich die fehlenden Blätter, des Rätsels Lösungen, die befriedigenden Erklärungen des Unverständlichen gefunden.
Aber doch so, dass niemand mehr alleine in seinem Leid oder seinem Segen stehen würde: Wo immer Türen aufgehen, wo wunderbare Fügungen eintreten, wo Osterlicht leuchtet und Freiheit sich einstellt, da können die Unterdrückten und die Misshandelten und die Opfer und die Toten nicht einfach vergessen und vernichtet sein und da wird auch nicht nur an sie erinnert oder bloß vorweggenommen, was auch ihnen zusteht, sondern da sind sie beteiligt, da handelt Gott in ihrem Namen und im Blick auf sie.
Meine Heilung ist demnach eine Verheißung, die weit über mich hinausgeht.
Und meine Erleichterungen, meine Lichtmomente, meine Neuanfänge tragen demnach etwas in sich, das sich gewiss nicht auf mich und mein Verdienst bezieht, sondern das die Hilflosen und Hoffnungslosen vergegenwärtigt und ihre Teilhabe an Fülle und Freude offenhält.
Nicht Einzelschicksale und Einzelrechte sind demnach christliche Angelegenheit und Sorge, sondern der Zusammenhang aller Dinge und Geschichten, jenes unlösbar verknüpfte große Ganze, das wir die „Heilsgeschichte“ nennen, weil sich Pech und Bevorzugung darin nicht ein-fach willkürlich verteilen, sondern zur gegenseitigen Ergänzung und Vervollständigung bestimmt sind.
Wer also immer noch meint, er habe persönlich und alleine Ansprüche auf irgendetwas – was es auch sei! – , der kennt das Wunder von Ostern nicht!
Ostern ist ja der Grund dafür, dass es überhaupt etwas gibt, das besteht und das Hoffnung bedeutet und dass nicht alles nur Sterben und Verlöschen ist.
Weil aber alles, was es gibt, österlich verstanden und erlebt werden will, darum ist wiederum nichts an sich und endgültig sinnvoll, sondern alles Gute, alles Gelingen, alles Glück weist auf jenes Heil hin, das niemals in unserer Macht stand und uns auch niemals zu Gebote stehen wird.
Gott allein hat die Macht, dass aus dem wechselhaften Glück und dem vorübergehenden Licht auf dieser Erde jener Sieg und jenes Leben werden, die allen ewig zugutekommen sollen.
Und darum möge es auch keine unüberwindliche Anfechtung für uns sein, wenn wir es immer wieder erleben, dass nicht nur die Lebensläufe und Todesschicksale anderer rätselhaft, ungerecht, abgebrochen und ungesühnt erscheinen, sondern dass jeder neben dem Wunder des Petrus ebenso das Weh des Jakobus erfahren muss.
Vollständig dem auferweckten Herrn leben, heißt eben auch sterben können.
Denn wir leben und sterben ja Ihm allein, weil nur Er über Tote und Lebendige Herr ist. ——
Und so fehlt keine Seite in der Bibel oder in unserem Leben.
Denn da, wo wir nichts weiter mehr sind, da ist Er alles.
Ob wir aber leben oder sterben: Wir sind Sein!
Amen.
15.n.Trin., 09.09.2018, Stadtkirche, Galater 5,25 - 6,10, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 15.n.Trin. - 9.IX.2018
Galater 5,25 – 6,10
Liebe Gemeinde!
Es geht nicht mehr gemütlich weiter.
Das dürfte uns allen inzwischen dämmern.
Es geht nicht mehr weiter mit dem Gefühl, dass es zwar einige echte und ein paar ganz furchtbare Probleme in Politik und Welt geben mag, aber alles doch im Rahmen und in den Richtungen, die wir kennen. …….
Vor uns liegt Un- … oder Allzubekanntes.
Und jeder Ausbruch dieses allzu bekannten Unbekannten in der Menschheit war bisher schrecklich.
Und würde es wiederum werden. …
Doch bloß weil wir uns im Augenblick einbilden, es sei uns fremd, das Unbekannte – nennen wir es einmal: das „Böse“ –, …nur deshalb laden wir so gern alle Schuld an dem, was kommt, dem Fremden auf.
In Wirklichkeit aber ist es – das „Böse“ – uns ja tief vertraut. … Und daher kommt nichts Fremdes auf uns zu, sondern zuletzt nur Gestalten unserer eigenen Schuld. —
So könnte man es theologisch sagen.
Und hätte damit – auch wenn es zunächst vielleicht fromm und verklausuliert klingt – doch eine sehr deutliche Erwiderung auf das gefunden, was viele Menschen in Politik und Stimmungsmache behaupten. Die ungeheure Lüge, dass alle Schwierigkeiten von außen kämen und wir mit uns alleine wunderbar im Reinen sein könnten, … diese Lüge ist so alt wie der Unglaube.
Wer glaubt, der weiß, dass das die schrecklichste Täuschung und Flucht ist: Dass Menschen behaupten, sie hätten Recht und Frieden, wenn nur der andere nicht wäre, … der Schuldige, … der Versucher, … der Bock.
Recht und Frieden finden nur die, die sie nicht verblendet und exklusiv bei sich selber suchen, sondern bereit sind, sie zu empfangen und dann bewusst und ohne Furcht und Geiz zu teilen.
Darum nämlich geht es, wenn in jedem Brief, in jeder Predigt, in jedem Fetzen, der aus dem Neuen Testament und der Alten Kirche auf uns gekommen ist, immer und immer wieder die Frohe Botschaft der Erlösung zu Mahnungen für einen Einsatz in der noch nicht erlösten Welt führt.
Christus – das größte Geschenk Gottes – macht die Empfänger entweder selber großzügig oder es überführt sie als Heuchler und Räuber, die unterschlagen, was doch nicht Ihres ist.
Aus diesem Grund ist das, was uns lange gelangweilt haben mag – die christliche Ethik – ein unerlässlicher Bestandteil, … ja geradezu das Wasserzeichen unseres Glaubens! ——
Es ist keinesfalls nebensächlich, es ist keinesfalls eine Sache des individuellen Dafürhaltens oder Gutdünkens, ob wir tatsächlich im Geist Christi wandeln oder ihn bloß für eine ideale Vorstellung halten.
Wenn wir es weiterhin dulden, dass Menschen, die dem Maßstab des Evangeliums praktisch Folge leisten wollen, als „Gutmenschen“, als ahnungslose Moralapostel und lächerliche Idealisten betrachtet und darum nicht ernst genommen werden, … wenn wir es weiterhin nicht eindeutig und entschieden schaffen, die verspottete christliche Nächstenliebe als die einzige uns persönlich betreffende Frage von Gewicht in Zeit und Ewigkeit zu erkennen und mit unserer Tat zu beantworten, dann sind wir mit allen Konsequenzen der Versuchung erlegen, unser Erstgeburtsrecht gegen ein Linsengericht zu verscherbeln (vgl.1.Mose 25,29ff).
Gewiss ist es hundertmal leichter, sich zurückzuziehen auf die faule Ausrede, dass zwischen nüchternem Pragmatismus und dem hohen Ziel des christlichen Lebens ein unüberwindlicher Graben namens „Wirklichkeit“ klaffe.
Doch damit sind wir verloren und gerichtet: Denn entweder Gott, der die Welt schuf, den Tod überwand und Sein Reich herbeiführt, ist die Wirklichkeit, die alle anderen Ansprüche Lügen straft, oder jedes Konstrukt, jede Phantasie, jede Propaganda kann genauso letzte Gültigkeit behaupten.
Es geht tatsächlich nicht nur in der unübersichtlichen Aufgeregtheit von Politik und Medien, sondern ganz genauso auch in unserem persönlichen Leben um die Frage, was Wahrheit ist und was Fiktion?
Das Gesetz des Stärkeren und die brutale Kosten-Nutzen-Logik oder das Gesetz Christi, … also das Gesetz jenes sanftmütigen Geistes, der unter fremder Last zu leiden bereit ist?
… Das sind keine Fragen für Weltfremde, sondern Fragen, bei denen es um die Welt geht!
Was ist für jeden von uns das schlechthin Verbindliche?
Was zeigt uns im Schwindelgefühl dieser Jahre, in denen Kompassnadeln sich wie Uhrzeiger drehen können, die richtige Richtung?
Auf diese grundsätzliche Frage gibt Paulus grundsätzliche Antworten im zweiten Teil des Galaterbriefes. Nichts anderes gilt als nur der Glaube, der durch die Liebe tätig ist, lautet sein Grundprinzip (5,6). Denn „das ganze Gesetz ist in e i n e m Wort erfüllt, in dem »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!«“ (5,14)
Jeder, der jemals auch nur von ferne irgendetwas von Dem gehört hat, Der die Gefangenen aus der Knechtschaft führte und Sich für die Sünder kreuzigen ließ – und so Sein Recht und Seine Gerechtigkeit offenbarte – … jeder kennt diese Lehre des Vaters und des Sohnes und des Geistes, Dessen Frucht „Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit“ ist, wie Paulus weiter schreibt (5,22).
Aber weiß auch nur ein kleiner Teil derer, die damit das ABC, das Einmaleins des Christentums kennen, was solche schönen oder scheinheiligen Formeln bedeuten, … was sie kosten?
Diese landauf, landab vertraute und darum längst langweilig gewordene Lehre bedeutet, dass man niemals, niemals sagen kann: „Fremdes Leben ist schuld an meiner Schuld“, sondern sagen muss „Meine Schuld ist einen fremden Tod gestorben und meine Gerechtigkeit ist nicht mein Eigentum, sondern ich lebe von fremder Unschuld!“.
… Weil ich nicht Christus bin, aber Christus an meine Stelle getreten ist, darum können Christen – wenn sie Christen sind! – nicht mehr zwischen dem Eigenen und dem Fremden jene scharfe Trennlinie ziehen, die alle Eigentums-, Besitz- und Zugehörigkeitsgesetze der Welt sonst regelt.
… Christen sind verwirrt, Christen sind hilflos, wenn es um solche trennscharfen Unterscheidungen gehen soll, denn sie – denn wir! – leben nun einmal nicht vom Eigenen, sondern von fremder, von geschenkter Gerechtigkeit und Gnade. ———
Die Mutter aller Probleme sind die Anderen?
…….Nein – weil Christus Der Andere ist, der sein Gesetz vollkommen erfüllt und die Last aller Anderen – meine, Deine, eines jeden Last – getragen und abgetan hat!
Das ist der Hintergrund der banal gewordenen Aufforderung, dass einer die Last des anderen tragen müsse, wenn es um die Rechtsordnung und die Ansprüche in einem christlichen Leben geht. … Dieser berühmte Imperativ, den viele Ehepaare als Leitspruch einer aufgeklärten Gleichberechtigung verstehen, ist nicht etwa nur eine Parole der sozialdemokratischen Solidarität oder einer ordoliberalen Ausgleichsethik, sondern ein Wort vom Kreuz her, vom letzten, tiefsten, verwirrtesten und verwirrendsten Ereignis fremder Lastenübernahme: Golgatha, wo Einer für alle die Verworfen- und Verlassenheit auf sich lud, ist gemeint.
Christus, der da trägt die Sünd’ der Welt ist der Inbegriff, ist die Erfüllung des Gesetzes, von dem der Apostel spricht.
Es ist das Gesetz einer freiwilligen Aneignung alles dessen, was man wahrlich weder will noch verdient; es ist das Gesetz einer Verantwortung für das, was einem völlig fern liegt und das man dennoch zu seiner Sache macht. ——
Diese Zuspitzung, die die christliche Ethik und das christliche Leben eigentlich immer und überall aufweisen, ist der tatsächlich zutreffende Grund, weshalb so viele Menschen und auch so viele Christen das Christentum für absurd, … unerfüllbar, … ja, untragbar halten.
Denn sein Gesetz widerspricht allen bekannten Mustern und menschlichen Regeln:
„Jedem das Seine“ – der pervertierte, aber ursprünglich ganz philosophische Grundsatz allen Rechtes – … „Jedem das Seine“ wird ja in’s glatte Gegenteil verkehrt, wenn ich die Last des anderen übernehmen soll.
„Jeder für sich“, dieser ausgeprägte Reflex aller vier- und zweibeinigen Fluchttiere … „Jeder für sich“ wird gegen alle Instinkte ausgehebelt, wenn einer widernatürlicherweise sich mit der Sorge, der Verantwortung und Rettung für einen anderen beladen soll.
„Ich bin mir selbst der Nächste“, diese himmelschreiende soziale Blasphemie, die in unserer Welt den Rang eines fast unstrittigen sittlichen Prinzips erreicht hat, … „Ich bin mir selbst der Nächste“, dieser trostlose Monolog eines von Gott und den Menschen abgeschnittenen Individualisten, … das wird gereizt und provoziert durch die Zumutung, überhaupt nur wahrzunehmen, dass es andere gibt und dass auch sie schwerwiegende Belange haben können! …….
Das Gesetz Christi also untergräbt das Rechtsempfinden des glaubenslosen Menschen und es entzündet die Panik des trostlosen Einzelgängers und -täters, von dem doch schon im Paradies gesagt war „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ (1.Mose2,18).
Und dennoch ist dieses Gesetz – dass man auf sich nehme, auch was nicht eigene Not ist – die Rettung nicht nur der anderen, sondern auch für uns.
Denn – so sagt es Paulus selbst – denn ein jeder wird seine eigene Last tragen.
Aber gerade in der Verbindung von meiner und nicht-meiner Last, in der Gemeinsamkeit eigener und fremder Schuld, im Zusammenhang des einzelnen und des gesamten Leids, so wie Christen es kennen, die zusätzlich zur ihrer auch andere Not aufgreifen und bewältigen wollen, … gerade in dieser gelebten Erfahrung des Mittragens wird die Entlastung wirksam, die uns allen gemeinsam gilt:
Christus erleichtert kein Los und erlöst kein Leichtgewicht da, wo Menschen nur sich selber kennen und bemitleiden, … nein, denn die Mühseligen und Beladenen erquickt er!
Wer sich’s leicht macht, hat’s bei ihm also schwer.
Und wer nur die Schuld der Anderen …, wer nur die Fremden in der Schuld sieht, der wird nichts erkennen und nichts bekennen, von dem er selber Befreiung und Rettung braucht – und wird sie darum auch nicht erlangen.
Da gilt wahrhaftig: Irret euch nicht! Gott lässt sich nicht spotten!
… Wer sich selbst für vollkommen hält, wird außer sich nichts mehr finden.
Wer meint, keiner Veränderung zu bedürfen, wird nichts weiter erfahren.
Wer fertig ist mit und an sich, der soll es auch sein.
Was der Mensch sät, das wird er ernten.
Wer alleine, ohne Gott zufrieden war, wird ohne Gott bleiben.
Wer nichts abnahm, dem wird auch nichts abgenommen.
Wer nur das Seine wollte, erhält nicht mehr.
Und genau das ist das vernichtende Urteil, das die abgeschlossene, sich selbst verteidigende und jeden anderen abwehrende Haltung unserer Tage ernten wird: Nichts und niemand wird einst da sein. …….
Endlos einsam, ganz verlassen, ewig auf sich allein geworfen bleibt, wer nur im eigenen Namen, in eigener Sache, in die eigene Tasche, für das eigene Fleisch wirkt und sät.
Stattdessen müssen wir auf den Geist säen, der die Liebe ist, wenn wir nicht ohne Geist und Liebe ersticken wollen.
Wir müssen auf den Geist säen, dessen Frucht Frieden ist – auch wenn es hart ist und demütigt, dass wir dabei tatsächlich den Hass und die Bosheit ferner, fremder Menschen auf- und ernstnehmen und ertragen und mitschleppen und endlich einmal bewältigen sollen, wenn das Gute aufgeht, das in der Geduld und im Verzicht liegt.
Wir müssen auf den Geist säen, was so schwach und ohnmächtig und unwahrscheinlich erscheint im Vergleich zu den gewaltigen und gewaltsamen Erträgen der Selbstsucht und der Rücksichtslosigkeit: Die Vergebung müssen wir säen, die Güte, die Hingabe.
Säen wir sie, so wird es auch eine Ernte geben.
Aber die Mühe und Bitterkeit dieser Arbeit und dieses Ausharrens sind einstweilen noch da:
Dass wir hinnehmen und leidenschaftlich mittragen, was die Hungrigen dieser Erde leiden und fordern, … dass wir aufgreifen und nicht abschütteln als berühre es uns nicht, was die Wütenden und die Hassenden schreien und anrichten.
Nirgends – von Chemnitz bis Kabul, von Idlib bis Istanbul, vom Kreml bis zur Knesset – nirgends sollen wir ablehnen, in Gebet und Fürsprache uns anzueignen, was Menschen fehlt , und in Mitgefühl und Nähe zu bedenken und zu vertreten, wonach auf verzweifelten Wegen gesucht wird.
Und bei alledem sollen wir keinem mit Hochmut, keinem mit Selbstgerechtigkeit, keinem mit Vorwurf begegnen, sondern nach dem Gesetz Christi handeln, das selten so abgrundtief bescheiden, so demütig und bußfertig und voller stellvertretender Bereitschaft für alle Menschen gedeutet worden ist, wie in einem zu Unrecht vergessenen Gedicht Ernst Wiecherts … vielleicht einem der in seiner konventionellen Lyrik schonungslosesten Gedichte des 20.Jahrhunderts.
Wiechert schrieb es im Bewusstsein der Schuld an der größten Katastrophe der Menschheit – und sein Wort möge uns warnen und rufen, ehe das unbekannte Allzubekannte wieder ausbricht[i]:
Es geht ein Pflüger übers Land,
der pflügt mit kühler Greisenhand
die Schönheit dieser Erden.
Und über Menschenplan - und trug
führt schweigend er den Schicksalspflug,
vor dem zu Staub wir werden.
So pflügt er Haus und Hof und Gut
und Greis und Kind und Wein und Blut
mit seinen kühlen Händen.
Er hat uns lächelnd ausgesät
und hat uns lächelnd abgemäht
und wird uns lächelnd wenden.
Rings um ihn still die Wälder stehn,
rings um ihn still die Ströme gehn,
und goldne Sterne scheinen.
Wie haben wir doch zugebracht
wie ein Geschwätz bei Tag und Nacht
so Lachen wie Weinen.
Nun lassen Habe wir und Haus,
wir ziehen unsere Schuhe aus
und gehn mit nackten Füßen.
Wir säten Tod und säten Qual.
Auf unsren Stirnen brennt das Mal,
wir büßen, wir büßen.
Und nächtens pocht es leis ans Tor,
und tausend Kinder stehn davor
mit ihren Tränenkrügen.
Und weisen still ihr Totenhemd
und sehn uns schweigend an und fremd
mit schmerzversteinten Zügen.
O gib den Toten Salz und Korn
und daß des Mondes Silberhorn
um ihren Traum sich runde!
Und laß indessen Zug um Zug
uns leeren ihren Tränenkrug
bis zu dem bittren Grunde.
Und gib, daß ohne Bitterkeit
wir tragen unser Bettlerkleid
und deinem Wort uns fügen.
Und laß uns hinterm Pfluge gehn,
solang die Disteln vor uns stehn,
und pflügen und pflügen.
Und führe heut und für und für
durchs hohe Gras vor meiner Tür
die Füße aller Armen.
Und gib, daß es mir niemals fehlt
an dem, wonach ihr Herz sich quält:
ein bißchen Brot und viel Erbarmen.
Amen.
[i] Hier zitiert nach: Ernst Wiechert, An die deutsche Jugend – Vier Reden, München 1951, (ohne Seitenangabe nach S.138).
14.n.Trin. 02.09.2018 3.Teil der Predigtreihe "Heiligkeit - was ist das?": "Heilige Menschen" Stadtkirche Sacharja 14,5c & 1.Thessalonicher 3, 13
Predigt Kaiserswerth 14.n.Trin. - 2.IX.2018 / Predigtreihe: „Was ist Heiligkeit?“
Heilige Menschen – Sacharja 14,5c + 1.Thess.3,13
Liebe Gemeinde!
Um die Frage der katholischen Heiligenverehrung soll es gar nicht gehen:
Die hat kein Geringerer als Gerhard Tersteegen[i], der Mystiker des reformierten Pietismus, vor mehr als zweihundertsechzig Jahren an seinem Webstuhl zwischen Velbert und Heiligenhaus gelöst. Für Tersteegen waren die „heiligen Seelen“, deren Lebensgeschichten und Glaubenszeugnisse er jahrzehntelang sammelte, völlig unabhängig von konfessionellen Grenzen Meister und Lehrerinnen, Schwestern und Brüder im Glauben, und er hat die Wahrheit und Weisheit eines Franz von Assisi, eines Nikolaus von der Flüe, einer Juliana von Norwich, er hat die Schriften und das Vorbild einer Hildegard von Bingen, einer Teresa von Avila und eines Johannes vom Kreuz – um nur einige wenige Bekannte zu nennen – so hoch geschätzt, dass er sie mit erstaunlicher Sach- und Sprachkenntnis erforschte und publizierte.
Neben seinem unermüdlichen seelsorglichen Briefwechsel nahm Tersteegens Beschäftigung mit den Heiligen noch vor seiner Lieddichtung den größten Teil jener Kräfte in Anspruch, die das kärgliche Bandwirkerhandwerk ihm ließ.
Dabei verfuhr er allerdings sehr viel weitherziger als Theodor Fliedner, der in seinem Buch der Märtyrer und Glaubenszeugen der evangelischen Kirche von den Aposteln bis auf unsere Zeit[ii] zwar viele Heilige der Alten Kirche und des Mittelalters – unter ihnen Severin, Suitber-tus, Kyrill und Methodius, die sieben heiligen Schläfer, Ulrich und Afra von Augsburg, Bern-hard von Clairvaux, die beiden Ewalde, Elisabeth von Thüringen und Willibrord – aufnahm, aber peinlich darauf achtete, keine katholischen Glaubenszeugen aus den Jahrhunderten nach der Reformation zu schildern und zu rühmen.
Tersteegens Verständnis für die Bedeutung der im Katholizismus sog. „Heiligen“ ist in seinen eigenen Worten zusammengefasst:
„Betrachten wir die Heiligen mit Absicht auf uns, so sind sie Glieder der Gemeinde Jesu Christi. Alles, was Gott ihnen gegeben, das hat Er der ganzen Gemeinde gegeben; was Er in ihnen und durch sie gewirkt, ja, sie selbst ganz, gehören dem Leibe Christi zu. ……. [A]lso will ich auch der Kirche geben, was ihr zugehört, nämlich diese Vorbilder der Heiligen als kostbare Kirchenzieraten (Anathemata, Luc.21,5.), mit allen ihren unterschiedlichen Austeilungen und Gaben, zum gemeinen Nutzen, denn es ist Ein Leib. Möge nur keiner aus sektiererischer Selbstliebe diese Gabe Gottes von sich stoßen und sich dieses Guten zu seinem eigenen Schaden berauben!“[iii]
Wer immer also die Anregung und Tröstung durch einen Augustinus oder eine Therese von Lisieux ausschlägt, wer es sich nicht gestattet, einen Charles de Foucauld oder eine Edith Stein in sein Denken und Glaubensleben einziehen zu lassen, bloß weil sie andernorts „Selige“ oder „Heilige“ genannt werden, den tötet der Buchstabe, wo der Geist Leben schenken will (vgl. 2.Kor3,6).
Dennoch ist dieser Blick auf die kanonisierten Zeugen der katholischen Tradition bei weitem nicht umfassend genug. Das wird schon dadurch deutlich, dass die ersten „Heiligen“, von denen die Bibel in beiden Testamenten ausdrücklich spricht, weder katholisch noch evangelisch waren, sondern schlicht Juden.
Denn zugleich mit dem Gott, Der so frei war, die irdische Wirklichkeit als den Raum Seiner Schöpfung und Taten, Seiner Wunder und Ziele zu wählen und dann in Raum und Zeit freiwillig nicht nur die hellen, sondern auch die dunklen Seiten des Lebens zu teilen … zugleich mit Ihm ist auch ein elendes, aber befreites Volk auf der Weltbühne erschienen, dem von diesem Gott gesagt wurde: „Ihr sollt heilig sein, weil ich heilig bin“ (3.Mose 11,44; 19,2 u.ö.).
Israel hat also seit dem Auszug aus Ägypten den Auftrag, die Freiheit und die völlige Unabhängigkeit Seines Herrn zu teilen: So wie Er nicht durch Größe oder Überwältigung Seine göttliche Erhabenheit beweist, so soll auch Sein Volk Ihn nicht durch das Eindrucksvolle oder Zwingende seines Daseins bezeugen, sondern dadurch, dass sie die gleiche innere und äußere Verschiedenheit, die gleiche geistige und praktische Andersartigkeit beweisen, die auch Ihn von allen vorgefertigten und landläufigen Gottesbildern unterscheidet.
Israel, das Volk des freien Gottes, soll anders sein. … Eigenartig und bereit, sich nicht den Vorstellungen dieser Welt anzubiedern.
Das kommt jener Gestalt von Eigenständigkeit und Unangepasstheit nahe, die wir an Gottes Heiligkeit beobachten konnten, … einer Heiligkeit deren innerweltliche, immanente Lust auf Verwirklichung, auf Realität verblüfft.
Genauso soll Israels Heiligkeit – seine Andersartigkeit – eine Sache dieses Lebens hier auf Erden sein, die den feierlichen und sonntäglichen Vorstellungen der Heiden von religiösem Zauber, von überirdischer Ergriffenheit und gewaltigem Tamtam die heiße Luft entzieht.
Das veranschaulicht das sog. „Heiligkeitsgesetz“ des 3.Buchs Mose[iv], in dem einige der typisch jüdischen Gebote der Alltagsheiligung stehen, die die Welt so befremden: Die Speisegebote, die zwischen Milchigem und Fleischigem trennen, …Textilvorschriften, die zweierlei Stoffe in einem Gewand verbieten und viele andere Regelungen geschlechtlicher und gesellschaftlicher Einzelheiten. Der gemeinsame Nenner dieser vielen, scheinbar nebensächlichen Details ist dabei klar zu erkennen: Ihr sollt heilig sein, bedeutet so zu leben, dass mitten im Alltag Unterscheidung stattfindet.
… Nicht alles ist gleich-gültig.
… Noch in Kleinigkeiten besteht die Möglichkeit, sich selbst und der Welt zu zeigen, dass man nicht unbedacht mit- oder nachmacht, wenn sich der breite Strom der Gewohnheit oder Bequemlichkeit durch das Leben wälzt, sondern dass es Freiheit bedeutet, sich zu ändern und dann auch anders zu sein. —
Der grundlegende Gedanke, dass Heiligkeit in der Unterscheidung von üblichen Erwartungen, in der Unterscheidung vom allgemeinen Gebrauch und von verbreiteten Selbstverständlichkeiten besteht, ist also das Grundmodell des biblischen Lebens.
Aus Israel hat es ein heiliges Volk, ein auserwähltes Geschlecht und königliches Priestertum (vgl. 2.Mose19,6 / 1.Petr.2,9) gemacht, eine Gemeinschaft, deren heilige Unangepasstheit sie trotz aller Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung in zweieinhalb Jahrtausenden bis heute erhalten hat.
… Denn anders als man landläufig meinen mag, da der heidnische, antijüdische Druck bis heute herrscht – „Alle müssten sein wie wir!“ –, war es doch gerade die Eigenständigkeit, die heilige Eigenart, die der Gemeinde Israel ihren Fortbestand sicherte, indem er ihre Assimilation und damit ihr Verschwinden verhinderte.
Heilig zu sein – also anders zu sein – war und bleibt Israels Zukunftsgarantie. —
Das Modell dieser unangepassten Heiligkeit Israels ist nun aber in der Botschaft Jesu Christi ganz und gar erhalten und radikalisiert worden.
Seine Bergpredigt von der besseren Gerechtigkeit wagt es ja, der Gemeinde zu gebieten: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!“ (Matth.5,48), und der Apostel Paulus deutet dieses neutestamentliche Heiligkeitsgebot im Geist des Herrn, wenn er an die Römer (12,2) schreibt: „Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene!“
Auch hier also das Grundmuster der Unterscheidung: Seid frei von den Zwängen und Erwartungen der Welt; löst euch aus der Knechtschaft des Allgemeinen und Alltäglichen, aber auch von der Verführung des Beliebten und Zeitgemäßen.
Heiligkeit verlangt Andersartigkeit.
Die Heiligkeitsbotschaft der Bibel läuft auf die Unabhängigkeitserklärung der Gemeinde hinaus.
Dieses Evangelium von der Erlösung und Heiligung durch die Freiheit des Befreiung-Gottes ausgerechnet im Zeitalter des römischen Weltreichs mit seiner ersten globalen Weltordnung zu predigen, war schlichtweg gefährlich:
„Fallt auf!
Tarnt euch nicht!
Handelt erkennbar!
Setzt euch ab!
Sucht nicht nach Mehrheit!
Bleibt besonders!
Werdet nicht normal nach den Maßstäben der Menge!
Haltet eine andere Wahrheit hoch!
Lebt ein Leben, das sich unterscheidet!
Ihr sollt heilig sein, denn Ich bin heilig!“
… Diese Selbständigkeit der Kirche, diese Freiheit eines Christenmenschen von allen Zwängen und Moden und Vorlieben und Diktaten der übrigen Welt ist allerdings ebenso wie beim Volk Israel auch die eigentliche Zukunftskraft der Gemeinde:
Eine Kirche, der nichts mehr heilig ist, die bei allem mitmachen kann, verdampft! Bestehen bleibt nur die Kirche, die sich vom breiten Fluss und Einfluss der Allerweltsströmungen unterscheidet und innerlich wie äußerlich frei zur Heiligkeit bleibt! —
Am Anfang standen den ersten heidenchristlichen Gemeindegründungen dabei die Gläubigen in der heiligen Stadt vor Augen.
Diejenigen, die in Jerusalem, unter den Augen des gefährlichen Opportunisten Pilatus, um-geben von der Priesterschaft, die mit ihm kollaborierte, getrennt von den meisten ihrer Glaubensgenossen durch das Bekenntnis, ausgerechnet ein verfluchter Gekreuzigter sei der Messias – diejenigen, die das in Jerusalem durchhielten und täglich dennoch im Tempel und in den Häusern beisammen waren, um Gott zu loben und das Brot zu brechen (vgl.Apg2,46) … diejenigen, die das unbeirrt und unabhängig durchhielten, standen allen jüngeren Gemeinden vor Augen unter dem schlichten und selbstverständlichen Titel, den schon die Jerusalemer Gemeinde vor Christus getragen hatte: „Die Heiligen“.
Die erste Form der Kirchensteuer, die diakonische Kollekte, die Paulus von allen seinen Gemeinden in Kleinasien und dem griechischen Raum zusammenlegen ließ, war für diese Minderheit, die am Ursprung stand, bestimmt, und wann immer Paulus dieses zentrale Anliegen der Unterstützung für die Jerusalemer Kirche erwähnt, spricht er einfach vom „Dienst für die Heiligen“ (vgl.2.Kor9,1).
Von Jerusalem her, wo man Heiligkeit als Haltung und Hoffnung der Freiheit seit Jahrhunderten geübt und bewährt hatte, breitete sich also im Urchristentum das starke Beispiel des unabhängigen, selbstgewählten und -verantworteten Glaubenslebens aus.
Die jungen Christen in den Verfolgungszeiten erfuhren es dabei am eigenen Leib, dass ihre Zugehörigkeit zum heiligen Gott auch von ihnen das verlangen konnte, was wir im Vater-unser so ahnungslos beten und was doch im jüdischen Volk eine eindeutige, unmissverständliche Bedeutung hat: „Heiligung des Namens“ Gottes heißt in letzter Konsequenz nichts anderes, als die letzte Freiheit.
Wer sich keiner Gewalt, keinem Zwang, keiner Forderung der Welt beugt, der heiligt Gottes Namen tatsächlich. Heiligung ist nötigenfalls also die Freiheit zum Martyrium, die Freiheit sein Leben niemandem zu unterwerfen, sondern es in Gott hinein von Leid und Tod ganz unabhängig zu erhalten[v].
So ergab sich der Brauch – angefangen beim ersten Märtyrer der Jerusalemer Urgemeinde, Stephanus, der schon von den Zeitzeugen in Damaskus zu den „Heiligen“ gerechnet wurde (vgl. Apg9, 13!) –, diejenigen, die im Bekenntnis zu Jesus Christus konsequent und ungebeugt blieben, besonders mit dem Ehrentitel der Freiheit zu würdigen: Abgesehen von den Aposteln und einigen der unmittelbaren Verwandten Jesu waren die Bischöfe Ignatius und Polykarp, die selbstbewussten Christinnen Thekla, Perpetua und Felicitas, der Diakon Laurentius und andere, uns weniger Vertraute die Ersten, die man weit und breit „Heilige“ nannte, weil sie sich nicht einschüchtern und eingliedern ließen, sondern unerschüttert ihren christlichen Eigensinn bewahrten und den einen, freien, wahren Gott dadurch heiligten.
Ihr Gedächtnis, Beispiel und Zeugnis hat sich dann mit den Scharen der anderen verbunden, die in der Kirche Mut und Festigkeit, Lust und Erkenntnis und Freude weckten, weil sie auf tausend Weisen vorlebten, dass Christen freie Menschen sind und niemandem untertan und dass es keine Notwendigkeit gibt, sich diese Haltung einschränken oder gar nehmen zu lassen.
Dass unter den unzähligen Menschen, die so heilig lebten und sind, die Mehrheit niemals als Lehrerinnen oder Lehrer, als Propheten oder Verkünder oder Bekenner oder Blutzeugen der Kirche bekannt geworden ist, das bestätigt ja nur, dass Heiligkeit tatsächlich nichts Exotisches, nichts Überirdisches, nichts Sakrales, sondern eine konkrete Wirklichkeit und ein ganz realer Weg des Lebens ist.
… Und das liegt an dem, wovon wir jetzt zwei Wochen keine Silbe ausdrücklich gesagt und doch ununterbrochen geredet haben: Der heilige Gott ist der Heilige Geist!
… Gott ist immer gegenwärtig, wo Er angerufen und geglaubt wird, wo wir Ihn brauchen und hören, wo wir Sein sind und bleiben wollen.
Gott, der Heilige Geist ist selber ja die Freiheit (vgl.2.Kor3,17), die Menschen des Glaubens geschenkt ist und in der wir leben und beharren können.
Gott, der Heilige Geist ist die Kraft, die überall und immer die Unabhängigkeit der Berufenen und Getauften von allen anderen Mächten und Gewalten stärkt.
Eine Kirche, die sich anschmiegt, eine Obrigkeits- oder National- oder Zeitgeistkirche wird darum, je mehr sie sich in Abhängigkeit von Autoritäten oder Meinungen begibt, desto geistloser.
… Nur in der Gemeinschaft der Heiligen – also in der Gemeinde, die mit dem Heiligen Geist im von allem anderen ungebundenen Bund steht – … nur in dieser Gemeinschaft der Heiligen ist der Ort des heiligen Gottes, so wie Er ihn frei wollte und wählte.
Von diesem Ort und diesem Gott haben wir in den beiden letzten Wochen gesprochen.
Und damit sind wir im großen heiligen Bündnis Israels und der Getauften, die die Haltung und die Hoffnung haben, dass wir zum freien Gott durch Sein Erwählen gehören und von Ihm weder durch Leben noch durch Sterben getrennt werden können.
Und einst – so hat es der Prophet Sacharja in armen, dunklen Tagen bekannt und mit den gleichen Worten hat es auch Paulus seiner Gemeinde in Thessaloniki im ältesten Stück des Neuen Testaments geschrieben[vi] – … einst, da wird Gott der HERR kommen mit allen Seinen Heiligen, … mit den Freien, mit den Treuen, die bleiben.
Und dann – so wagen wir zu hoffen und zu bekennen – dann wird die Gemeinschaft der Heiligen, die allezeit auf Erden war (vgl.CA VII) und bei der auch wir als lebendige Glieder ewig bleiben werden (Heidelberger Katechismus, Fr.54), durch den heiligen Gott, den Heiligen Geist die Fülle aller heiligen Menschen verbinden, die nichts sonst fürchten, lieben und ehren als Seine schöpferische, rettende und siegreiche Freiheit:
Gerhard… Franziskus … Nikolaus … Juliana … Hildegard … Teresa … Juan … Theodor … Severin … Swidbert … Kyrill … Method … Ulrich … Afra … Bernhard … Ewald … Elisabeth … Willibrord … Augustinus … Thérèse … Charles … Edith … Stephanus … Ignatius … Polykarp … Thekla … Perpetua … Felicitas … Laurentius … Paulus … Sacharja … Moses … und wir alle!
Amen.
Fürbitten
Herr, Dich und die Deinen verbindet die Freiheit.
Gib sie darum auch uns!
Lass uns unbekümmert um Beifall oder Wut der Menge in Deiner herrlichen, heiligen Freiheit leben und dafür sorgen, kämpfen und beten, dass alle Welt aus Zwang und Angst und Hass gelöst und auch frei wird.
Wir bitten Dich für alle, die äußerlich bedrängt und bedroht sind durch Hunger, Armut und Gewalt,
und ebenso für alle, die innerlich beschränkt sind durch Bevormundung, mangelnde Bildung und Vorurteil.
Du hast die Menschen gewählt.
Erbarme Dich doch, dass auch sie erfahren und ergreifen, was heißt, die Wahl zu haben.
Stärke Deine Kirche, wecke die Gemeinschaft der Heiligen,
dass sie klar und treu und fröhlich zeigt,
wie unabhängig wird sein können,
wie sicher man wird, wo Du dem Leben Raum und Ziel gibst,
und wie grenzenlos gut es ist, dass nichts uns trennen, lösen, scheiden kann von Dir!
Schenke uns immer reichlicher die Gaben des Heiligen Geistes,
der die Welt und auch uns heiligt,
und lass uns mit den Auserwählten hier und künftig zusammengehören …
frei von Sünde, … frei vom Tod,
… frei für Dich, den heiligen, starken, unsterblichen Gott,
den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist.
[i] Zur Predigtreihe wurden in jedem Gottesdienst Lieder Tersteegens gesungen.
[ii] Erschienen im Verlag der Diakonissen-Anstalt zu Kaiserswerth am Rhein, 1864.
[iii] Vorrede zu den „Auserlesenen Lebensbeschreibungen heiliger Seelen“ zitiert nach: Gerhard Tersteegen, Ich bete an die Macht der Liebe – Eine Auswahl aus seinen Werken, hg.v. Dietrich Meyer, Gießen und Basel, 1997, S.337.
[iv] In der Forschung hat es sich eingebürgert, den Zusammenhang Leviticus (=3.Mose) 17-26 mit diesem Begriff zu bezeichnen, der tatsächlich das Leitmotiv darin darstellt.
[v] Die Begriffsprägung „Heiligung des Namens“ (hebr. „Kiddush ha-Shem“) ist im Judentum bis heute eine eindeutige Umschreibung des Martyriums.
[vi] An dieser Stelle ist die Bezeichnung „Heilige“ besonders bemerkenswert, da der 1.Thess (Kap.4) auf die völlig unvorhergesehene Situation allererster Todesfälle in der christlichen Gemeinde reagiert. Wenn Paulus eindeutig aus Sacharja 14 zitiert, dann ist – noch ehe das Sterben der Getauften zur Regel wurde – die Verwendung und der Sinn des geprägten Begriffes eindeutig: Die „Heiligen“, mit denen Gott kommt, um Sein Reich zu errichten, sind auch für Paulus noch selbstverständlich die „Heiligen“ Israels vor Christi Geburt! Die (Selbst-)Bezeichnung als „Heilige“ verbindet die Gemeinde beider Testamente also zutiefst.
13.S.n.Tr., 26.08.2018, Mutterhauskirche, 1.Mose 4, 1-26, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
der Text, der uns heute zum Nachdenken anregen möchte, steht im ersten Buch der hebräischen Bibel, ist Teil der sogenannten Urgeschichte in Genesis Kapitel 1-11.
Dort wird nach der Entstehung der Welt gefragt, der Erschaffung des Menschen, seinen Mängeln und Grenzen, nach dem Woher von Gewalt und von Katastrophen und dem Anteil, den Menschen daran haben - und in all dem nach dem Verhältnis des Menschen zu Gott. Themen übrigens, die auch in anderen heiligen Schriften anderer Religionen zu finden sind, denn es geht ja um Dinge, die überall geschehen. Menschheitliche Erfahrungen und Einsichten, die alle Menschen miteinander machten und immer noch machen.
Die Erzählungen der Urgeschichte sind also nicht primär Kunde über Ereignisse der Vergangenheit, sondern ein Wort, das die Gegenwart der Adressaten, der Hörerinnen und Hörer meint. Die Menschen, von denen die Urgeschichte erzählt, sind gerade keine historischen Individuen, sondern es sind kollektive Gestalten, deren Wünschen und Wollen, Stärken und Schwächen allen Menschen gemeinsam sind. „Urzeit" meint eben nicht „vergangene Vergangenheit", sondern es geht um den Zeitengrund, der in aller geschichtlichen Zeit weiterwirkt - gestern, heute und auch morgen. Die Erzählungen der Urgeschichte sind Geschichten eines „mitlaufenden Anfangs", der jeder Zeit gleichzeitig bleibt.
Wie geht es weiter mit dem Menschen, der der Kinderstube des Garten Edens entwachsen ist, der sich „emanzipiert" hat, selber entscheiden will, wo es für ihn lang geht? Wie nutzt er seine Freiheit jenseits von Eden? Wir hören nun Kapitel 4 in der Übersetzung der „Bibel in gerechter Sprache" mit Ergänzungen aus der Übersetzung von Buber/Rosenzweig:
„Der Mensch/Adam" erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar den Kajin.
Sie sprach: Kaniti - erworben habe ich mit dem Ewigen einen Mann. Sie fuhr fort und gebar seinen Bruder, den Habel. Habel wurde ein Viehhirte, Kajin aber Ackerbauer.
Nach einiger Zeit brachte Kajin von den Früchten des Ackers dem Ewigen eine Opfergabe dar. Daraufhin brachte auch Habel von den Erstgeburten seiner Herde und von ihren Fettstücken dar. Der Ewige beachtete Habel und seine Opfergabe. Kajin aber und seine Opfergabe beachtete er nicht.
Das entflammte Kajin sehr, seine Gesichtszüge entglitten. Da sagte der Ewige zu Kajin: Warum brennt es in dir? Und warum entgleiten deine Gesichtszüge derart? Ist es nicht so: Wenn dir Gutes gelingt, schaust du stolz; wenn dir aber nichts Gutes gelingt, lauert die Sünde an der Tür. Auf dich richtet sich ihr Verlangen; doch du - du musst sie beherrschen.
Da wollte Kajin seinem Bruder Habel etwas sagen - doch als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kajin gegen seinen Bruder Habel und tötete ihn.
Der Ewige sagte zu Kajin: „Wo ist Habel, dein Bruder?"Der sagte: „Das weiß ich nicht. Bin ich meines Bruders Hüter?"
Der Ewige aber sprach: „Was hast du getan! Laut schreit das Blut deines Bruders zu mir aus dem Acker. Und nun: verflucht bist du, weg vom Acker, der das Blut deines Bruders aus deiner Hand empfangen und aufgenommen hat. Wenn du den Acker weiter bearbeitest, wird er dir seine Kraft nicht mehr geben. Heimatlos und ruhelos (unstet und flüchtig) musst du auf der Erde sein."
Da sagte Kajin zum Ewigen: „Allzu groß zum Tragen ist meine Verfehlung/Schuld. Du verstreibst mich heute vom Antlitz des Ackers und auch vor deinem Antlitz muss ich mich verbergen, heimatlos und ruhelos sein auf Erden; es wird geschehen: wer mich findet, wird mich töten."
Der Ewige sprach zu ihm: „Wahrhaftig: wer Kajin erschlägt, siebenfach soll es gerächt werden." Und der Ewige legte Kajin ein Zeichen an, dass der ihn nicht erschlüge, der ihn findet.
So zog Kajin los, fort vom Angesicht des Ewigen und wurde erst sesshaft im Lande Nod, „Unruhe", östlich von Eden.
Kajin erkannte seine Frau, sie wurde schwanger und gebar den Henoch. Er (Kajin) aber wurde zum Erbauer einer Stadt und nannte sie nach dem Namen seines Sohnes - Henoch.
Dem Henoch wurde Irad geboren, Irad bekam den Mehujael, Mehujael bekam den Metuschael, und Metuschael bekam den Lamech.
Lamech nahm sich zwei Frauen. Der Name der einen war Ada, der Name der anderen Zilla. Die Ada gebar den Jabal. Der wurde Vater der Besitzer von Zelt und Herde. Der Name seines Bruders war Jubal, der wurde Vater aller Spieler auf Harfe und Flöte.
Auch Zilla gebar, und zwar den Tubal-Kajin, ein Schmied aller Dinge aus Erz und Eisen. Tubal-Kajins Schwester war Naama, die Liebliche.
Und Lamech sprach zu seinen Frauen: „Ada und Zilla, hört meine Stimme! Ihr Frauen Lamechs, vernehmt meinen Spruch: Ja, einen Mann töte ich für eine Wunde und einen Knaben für eine Strieme! Ja, siebenfach wird Kajin gerächt, aber siebenundsiebzigfach Lamech!
Der Mensch/Adam erkannte seine Frau noch einmal, und sie gebar einen Sohn und gab ihm den Namen Scheth, „Setzling"/„Ersatz", „denn seht, Gott hat mir einen anderen Nachkommen gesetzt anstelle Habels, denn Kajin hat ihn erschlagen."
Und auch dem Scheth wurde ein Sohn geboren, dem gab er den Namen Enosch, „der (schwache und hinfällige) Mensch". In jener Zeit begann man, den Namen des Ewigen anzurufen."
Im Folgenden möchte ich einige Aspekte ansprechen, die uns in dieser Erzählung provozieren, uns mit Blick auf uns und unsere Gegenwart zum selbst-kritischen Nachdenken bringen wollen. Denn die Erzählung von Kajin und Habel ist deutlich mehr als eine Konfliktgeschichte aus dem Kinderzimmer einer Familie im Zweistromland der Vorzeit.
a. Die Geschichte der Menschheit als Geschichte einer Familie
Jenseits aller biblizistischen Engführung, die darauf besteht, dass alle Menschen auf dieser Erde von Adam und Eva abstammen, von diesem einen Menschenpaar und auch jenseits der wissenschaftlichen Genomforschung, die tatsächlich meint, genetisch das Erbgut der „Eva" bestimmt zu haben, das sich in jedem Homo Sapiens Sapiens unserer Tage nachweisen lässt - jenseits dieser Fakten bzw. Glaubenssätze hält diese Erzählung fest: alle Menschen auf dieser Erde sind miteinander verbunden - die Menschheit ist bei allen äußeren Differenzierungen eine Familie. Die Konflikte, die es zwischen Menschen, zwischen Völkern und Nationen, zwischen Ethnien und Religionen gibt, sind darum nie nur die Konflikte der anderen, mit denen man nichts zu tun hat, sondern sie gehen jedes „Familienmitglied" an.
Die Geschichte von Kajin und Habel spielt auch heute und - Gott sei es geklagt - wird auch morgen weiter gespielt - in unzähligen Familien genauso wie auf der gesellschaftlichen und weltpolitischen Bühne.
b. Die ungleichen Brüder Kajin und Habel
Immer wieder hat unser Predigttext Dichter inspiriert, die die Geschichte der ungleichen Brüder in ihre Zeit und Verhältnisse übertragen haben; die berühmteste ist wahrscheinlich der Roman „Jenseits von Eden" von John Steinbeck.
Kajin ist der Erstgeborene, der Stolz der Mutter, was sich auch im Namen ausdrückt: Kajin ~ Erwerb, aber auch Lanze.
Habel, der jüngere Bruder, bleibt merkwürdig blass, was sich ebenfalls im Namen widerspiegelt: Habel ~ Hauch.
Vor Jahren habe ich einmal versucht, mit einer Gruppe die Geschichte im Bibliodrama zu spielen. Habels Rolle wollte keiner haben. Mit Jugendlichen unserer Tage wäre das sicher nicht anders: Habel, der ist doch nur das „Opfer", der Schwächling. Der Kajin ist der viel interessantere Typ, vital, zupackend. Und der Mord, nun ja ...
Vielleicht fragen wir uns einmal, mit wem aus der „Familie" wir uns identifizieren wollen/können....
Die beiden genannten „Berufe" spiegeln tatsächlich genau die menschheitliche Entwicklung der Frühzeit wider: nach seiner Zeit als Jäger und Sammler bestritt der Mensch seinen Lebensunterhalt entweder als Viehzüchter/Hirte oder als Ackerbauer. Kajin als Erstgeborener bearbeitet das Land. Die Erzählung spricht nun davon, dass er wohl keine gute Ernte einbringen konnte - seine Opfergabe, mit der er den Himmel um Gelingen gebeten hatte, wird nicht „angesehen", d.h. angenommen. Anders als die Opfergabe Habels. Der Ackerbauer ist ja bis heute den Wetterbedingungen ganz anders ausgeliefert als der Viehzüchter, der im Notfall vor Dürren oder Überschwemmungen ausweichen kann. Was auch immer hinter dem „nicht angesehen worden sein" steckt: auf jeden Fall bringt dieser Misserfolg Kajin völlig aus dem Tritt; Neid und Ärger fluten in ihm hoch. Er braucht einen Sündenbock für sein Scheitern - und findet ihn in seinem erfolgreichen Bruder Habel. Und er erschlägt ihn.
Ein Gedanke ist dabei bis heute wichtig: offensichtlich ist die Unfähigkeit, mit Misserfolgen und Scheitern angemessen umzugehen, sich einzugestehen, dass man kein Anrecht darauf hat, Erfolg zu haben und im Wohlstand zu leben und der Neid auf den Erfolg des anderen bzw. der Unwillen, ihm etwas Gutes zu gönnen, sich mit ihm und für ihn zu freuen, die entscheidenden Triebfedern für Gewalttaten, für Mord, Krieg und Bürgerkrieg. Das ist der Kern hinter dem Trumpschen Mantra „America first" oder vergleichbaren Parolen populistischer und nationalistischer Verführer, die ja alle ebenso wie Kajin Sündenböcke brauchen, an denen sie ihre eigenen Probleme abarbeiten können: vor allen Dingen heute die Flüchtlinge, Migranten, aber auch Muslime, Juden, Angehörige von Minderheiten. Die Ertrunkenen im Mittelmeer, die Verdursteten in der Sahara, die Geschundenen in den Fängen der Schlepper und Milizen: die Habels unserer Zeit. Aus den Augen, aus dem Sinn, verscharrt im Sand, vergessen, tot.
Das wäre dann der größte humanitäre GAU.
Der Erzähler der Urgeschichte bringt genau an diesem Punkt Gott ins Spiel.
c. Welche Rolle spielt Gott?
„Wo ist Habel, dein Bruder?" Unüberhörbar trifft diese Frage den Menschen mitten ins Herz - das göttliche Hintergrundrauschen seit dem Anfang menschlicher Geschichte. „Wo ist Habel, dein Bruder?" Kajin versucht sich herauszureden: „Das weiß ich nicht. (und dann will er noch witzig sein:) Bin ich meines Bruders Hüter?" Er ist doch der Hirte, nicht ich.
Auch heute fällt die Antwort nicht viel anders aus: „Das weiß ich nicht. Dafür bin ich nicht zuständig."
Verscharrt im Wüstensand, begraben in den Akten und Zuständigkeiten der Behörden - was geht es uns an?
Und wen kümmert es letztlich?
Die Bibel ist da eindeutig: Gott kümmert es. Gott sind die Habels aller Zeiten nicht egal. Er steht in einem besonderen Verhältnis gerade zu den Schwachen und scheinbar überflüssigen Randfiguren der Menschheitsgeschichte. Immer wieder können wir lesen, dass Gott das Rufen der Elenden hört. Und noch ihr vergossenes Blut ist ein Schrei in seinen Ohren. Kein Gewalt-Opfer wird je von ihm übersehen oder vergessen. Er ist solidarisch mit ihnen. Er deckt das Unrecht auf und zeigt dem Gewalttäter die selbstverschuldeten Konsequenzen seiner Untat auf. Der Mord an seinem Bruder macht ihn heimatlos, reißt ihn aus seinen Lebensbezügen. Sein Gewissen wird ihm keine Ruhe lassen. In früheren Zeiten wurden Totschläger aus ihren Sippen ausgestoßen und waren vogelfrei, d.h. sie genossen keinerlei Rechtsschutz ihrer Person, jeder, der ihnen begegnete, konnte sie straflos töten. Als Kajin nun selbst erkennt, in was für eine ausweglose Situation er sich gebracht hat, erweist sich Gott auch ihm gegenüber als Schutz der Schwachen, zeigt auf, dass ihm jedes Leben schutzwürdig ist - selbst das Leben eines Mörders.
Und mit Blick auf die Menschheitsfamilie hält unsere Erzählung fest: jeder Mord ist Brudermord.
Im Allgemeinen wird in unseren Gottesdiensten diese Erzählung nur bis dahin gelesen, wo es heißt, dass Kajin fortzog und sich fernab im Lande Nod niederlässt. Aber die Geschichte geht weiter. Kajins Geschichte geht weiter. Er heiratet und wird Vater und er bringt die kulturelle Entwicklung voran: aus dem Ackerbauer wird ein Städtebauer; auch darin folgt die Erzählung der Frühgeschichte der Menschheit: im Zweistromland entstanden die ersten Stadtstaaten. (Übrigens hat Kajin da ein ganz berühmtes mythisches Pendant: Romulus. Wie Kajin bringt Romulus seinen Bruder Remus um und wird zum Gründer der Stadt Rom.)
d. Das Erbe Kajins: Fortschritt und die Eskalation der Gewalt
Die Erzählung zeigt: Kajin lebt weiter, entwickelt sich weiter - in seinen Kindern und Kindeskindern.
Die Genealogie nennt als letzten Lamech. Er hat vier Kinder von zwei Frauen, drei Söhne und eine Tochter. Von dem einen, Jubal, wird gesagt, er wurde Vater aller Spieler auf Harfe und Flöte. Mit ihm kam Kultur, die Musik ins Leben der Menschheit. Und mit Tubal-Kajin kommt der technische Fortschritt in den Alltag der Menschen: er entwickelt die Kunst des Schmiedens, der Verarbeitung von Erz. Hilfreiche Werkzeuge und Gerätschaften aus Metall erleichtern nun das Leben. Aber es bleibt eben nicht bei der Produktion von Nägeln, Kesseln und Pflugscharen. Geschmiedet werden auch Ketten und Schwerter, Waffen, die Tod und Verderben bringen, Angst und Schrecken. Darüber kann auch Naama, die Liebliche, Tubal-Kajins Schwester nicht hinwegtäuschen.
Und wie zur Bestätigung meldet sich Lamech abschließend zu Wort - mit einem Spruch voller maßloser Brutalität:
„Einen Mann töte ich für eine Wunde und einen Knaben für eine Strieme! Siebenfach wird Kajin gerächt, aber siebenundsiebzigfach Lamech!"
Wo es Gott darum ging, Leben zu schützen, wird hier Leben der Willkür und Maßlosigkeit menschlicher Gewalt ausgeliefert. Vor dem Hintergrund dieses Textes wird erst deutlich, was für einen großen Schritt in Richtung Humanität das Thora-Gesetz „Auge um Auge, Zahn um Zahn" bedeutet hat. Und warum Jesus auf die Frage, wie oft man seinem Mitmenschen vergeben soll, antwortete: Nicht nur siebenmal, sondern siebenmalsiebzig mal.
Nein, Kajin ist nicht ausgestorben, seine Spuren sind in der Menschheitsgeschichte bis heute zu besichtigen. Im Guten wie im Schlechten. Die Kultur, der wissenschaftliche und technische Fortschritt : offensichtlich bringt doch der eine Baum gute und schlechte Früchte.
Und auch Habel lebt weiter: Eva gebar noch einen Sohn, den sie Scheth nannte - Ersatz für den erschlagenen Habel. Mit dessen Sohn Enosch, d.h. „der schwache Mensch" bekennt die biblische Urgeschichte: der Mensch ist kein Übermensch, sondern er hat seine Schwächen, Fehler und Grenzen. Aber als solcher ist er geschaffen und gewollt und als solcher soll er leben - vor Gott und mit Gott.
e. Wo sind die Schwestern?
Liebe Gemeinde, lassen sie mich zum Schluss noch etwas Kritisches zu dieser biblischen Urgeschichte sagen.
Sie kommt ja als durch und durch patriarchale Erzählung daher. Es sind die Männer, die die Geschichte machen. Die Rolle der Frauen ist mehr als bescheiden. Sie „werden erkannt", wie es so schön heißt, und gebären die Söhne, die Stammhalter. Allenfalls wenn sie schön und lieblich sind, werden sie namentlich erwähnt - wie Naama. Und Ada und Zilla werden als Bewunderer von Lamechs Großartigkeit oder besser Großspurigkeit gebraucht. Wie sich bedeutende Männer durch die Zeiten gerne mit schönen Frauen umgeben haben und umgeben, deren Bewunderung sie sich oft einiges kosten lassen und die ansonsten nichts zu melden haben.
In Anlehnung an Hilde Domins Gedicht „Abel steh auf" halte ich es für dringend geboten zu rufen:
Ada, Zilla, Naama - steht auf! Gott und die Menschheit brauchen euch, um eine bessere, gewaltfreiere Welt zu schaffen. Ich denke, dass sie so gewaltverhaftet ist, dass sich das kajinitische Gewalt-Gen so sehr hat manifestieren können, das hat zentral damit zu tun, dass die Frauen sich nicht mit ihrer viel größeren Nähe zum Leben, mit ihrer Fürsorglichkeit und ihrer Fähigkeit, zu pflegen, zu nähren und das Schwache zu behüten in den Lauf der Geschichte eingeschrieben haben.
Ada, Zilla und Naama, steht auf! Hört auf, den mächtigen Männern als Staffage zu dienen, lasst euch nicht kaufen mit Schmuck, Kleidung und SUVs, mit Wellness Wochenenden und Shopping-Touren nach London und New York. Es gibt viel zu tun. Eine bessere, gerechtere, friedlichere Welt will gestaltet werden und dazu braucht es weibliches Empathievermögen und die Bereitschaft, von sich selbst abzusehen, um Lebensmöglichkeiten für Enosch, für alle Schwestern und Brüder der Menschheitsfamilie zu schaffen.
Gott gebe es, dass in 100 Jahren dieses 4.Kapitel der biblischen Urgeschichte ergänzt werden kann.
Amen.
13.n.Trin., 26.08.2018, 2.Teil der Predigtreihe "Heiligkeit - was ist das?": "Heilige Orte", Stadt- und Jonakirche, Offenbarung 21,3, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 13.n.Trin. - 16.VIII.2018 / Predigtreihe: „Was ist Heiligkeit?“
Heilige Orte – Offenbarung 21, 3
Liebe Gemeinde!
Gibt es „heilige“ Orte? Darf es sie geben?
Gestern vor 31 Jahren hat ein tollpatschiger und tollkühner Gymnasiast auf einer deutsch-deutschen kirchlichen Jugendrüstzeit in einem Wäldchen direkt an der Neiße – im Visier polnischer Grenzsoldaten – die von ihm Angehimmelte gefragt, ob sie sich wohl ein ganzes Leben an seiner Seite vorstellen könne. …….
Sie sagte Ja, und er hält das krüppelige kleine Kiefernstück in der Lausitz daher vermutlich immer noch für ein Stück des Himmels. …
Manche Leute scheinen heilige Orte also ganz eigenmächtig zu bestimmen.
Andere folgen eher den Sitten und Strömen der Masse, so wie die 2 Millionen, die dieser Tage in brütender Hitze den kleinen Hügel Arafat auf ihrer Hadsch belagerten.
Wieder anderen dagegen ist der Gedanke an bestimmte Flecken Erde, an bestimmte Punkte auf der Landkarte, die eine besondere und bleibende Bedeutung haben sollen, fremd und unheimlich: Zu viele falsche und propagandistische Weiheorte und Heiligtümer hat die Welt schon gesehen, und auch wenn die ehedem aggressiven Botschaften des Niederwald-Denkmals und des Ehrenmals von Laboe oder des einstigen Nazi-Nationaldenkmals für Schlageter am Düsseldorfer Nordfriedhof keine ernsthafte Gemeinde mehr finden, ist die mystische Aura symbolträchtiger Orte in allgemeinen Verdacht geraten.
Neben dem politischen und dem Machtmissbrauch steht dahinter immer auch der alte Streit zwischen der katholischen Welt der geweihten Bauwerke und Gegenstände und der evangelischen Ablehnung aller sakralen Repräsentation und Überwältigung.
Und doch ist die platte protestantische Antithese – „Es gibt keine heiligen Orte oder Bauten“ – in ihrer teils bissigen, teils einfach bequemen Gleichgültigkeit gegen alles Greif- und Sichtbare nicht gerechtfertigt.
Denn gegen einen so kernevangelisch klingenden Grundsatz wie die Absage an alle hei-ligen Bezirke und Bezugspunkte steht … die Bibel!
„Heiligkeit“ ist in Israel – von Mose über die Propheten bis zu den Kündern des Apokalyptischen – zuerst und zuletzt weniger eine theologische als eine topologische Kategorie.
Klarer gesagt: Die Heilige Schrift bezeugt nachdrücklicher und stärker die Heiligkeit von Orten als die Heiligkeit Gottes.
… Das aber bestimmt nicht, weil Gott nicht heilig wäre.
Dazu ist letzte Woche das biblische Wort vom dreimal Heiligen hoffentlich deutlich genug gesprochen und gesungen worden! Die Heiligkeit Gottes zeigte sich uns dabei nicht als Seine schreckliche Übermacht, sondern als Seine vollständige Freiheit, Er selber, Gott zu sein … und nicht Trug- oder Wunschbild nach Menschenweise.
Dass Gott Seine eigenen Pläne macht, dass Sein Wille nicht unsere Ideen nachäfft und Sein Heil, Seine Heiligkeit nicht uns unterworfen sind, dass wir uns aber gerade in Seiner Freiheit auf Ihn verlassen und bei Ihm still sein können, das wiederum ist der Hintergrund dafür, dass Israel und nach ihm auch die christliche Kirche Seine Spuren, Seine Nähe, Seine Gegenwart nicht in Wolkenkuckucksheim, nicht im Nebel des Nirvana und auch sonst nicht im Ungefähren suchen muss, sondern dort, wo Er will.
Gott hat in Seiner Heiligkeit die freie Wahl.
Er richtet sich nicht nach der Gänsehaut der Menschen, die am Rande des Vulkans oder im Angesicht des Ozeans oder da, wo die wolkenumwitterten Gipfel die Sterblichen winzig machen, hehre Schauer empfinden und pathetische Floskeln gebrauchen um das Erhabene zu beschwören.
Den ganzen Voodoo-Zauber unserer Naturfrömmigkeit nimmt Gott nicht ernst, und unsere lustvolle Phantasie, dass etwa ein Riesenklumpen Gestein wie der Himalaja oder eine Riesenlache Wasser wie der Atlantik oder sonst eine gigantische Hinterlassenschaft etwas Mystisches bedeuten müssten, zeigt ja nur, dass wir keinen Hauch des Unendlichen wirklich fassen können, … denn alles, was wir kennen und angaffen und nachempfinden sind ja bloß winzige Staubkörnchen und Tropfen im wirklichen Maßstab der Ewigkeit.
……. Dennoch aber ist Gott so frei, sich auch auf dieser bescheidenen Erde mitten im Weltall finden zu lassen. … Nur wählt Er ganz allein, wie und wo.
Und genau davon spricht die Bibel.
Die ganze Bibel ist ein Bericht von Gottes eigenwilligen, unvorhersehbaren Ankünften auf Erden.
Der Unermessliche und Unvergleichliche, Der ganz anders ist als alle menschlichen Vermutungen und Ahnungen Ihn machen würden, ist unentwegt bewegt, ist unentwegt unterwegs zu uns. Er ist ein Gott Der nicht die Allgemeinheit und die Verallgemeinerung sucht, sondern Der bereit ist, im wirklichen Leben anzukommen und zu bleiben. Gott braucht nicht das Große Ganze, Er verlangt nicht den Universalmaßstab der Allgegenwart wie alles, was Menschen gern „geistig“ oder „virtuell“ nennen – obwohl Er wahrhaftig den Kosmos in jedem seiner Atome erfüllt –, sondern weil Er wirklich ist, beliebt’s Ihm auch, genau bezeichnete, benennbare, begehbare Orte zu beziehen!
Das ist der eigentliche Grund sowohl für die Wanderung und Landnahme, die das Alte Testament eröffnen, wie für die christliche Missionsgeschichte und nicht zuletzt für viele der heikelsten Konflikte noch der Gegenwart.
Gott hat sich zu irdischer Nähe entschlossen und das jenseitige Ufer „Über-All“ verlassen, das genauso gut ja auch „Nirgendwo“ heißen könnte.
Seit Er Abrahams - des Nichtsesshaften - Gast am Zelt von Mamre war (vgl.1.Mose18!), seit Er Isaak den Altar und den Brunnen von Beerscheba bauen ließ (vgl.1.Mose26,25), seit Er Jakob die Leiter und die Brücke zwischen der unendlichen und der endlichen Welt bei Bethel zeigte (vgl.1.Mose28), seit den Tagen der Väter also ist die Landkarte dieser Erde übersät worden von Punkten, an denen Gott sich lokalisieren ließ, an denen Er sich verortete.
Wegenetze sind entstanden, auf denen man Seine Herbergssuche nachvollziehen kann. Von Asyl zu Asyl zog Er um, so dass ein wirkliches Geflecht von herausgehobenen, von auserwählten – wiewohl selten herausragenden – Gottesstätten sich über die Landstriche der biblischen Welt zieht, …lauter Orte, die Gott einen Rahmen und Raum boten: Der Sinai und das Heiligtum zu Silo, der Karmel und der Horeb (vgl.1.Könige18+19); … und auch im Alten Testament hat Israels Gott schon außerhalb der Grenzen des gelobten Landes Sich in innerirdischer Gegenwart erwiesen, als Er zu Jona am Stadtrand von Ninive sprach (vgl.Jona4) und als Er Hesekiel – den Propheten der Heiligkeit! – am Flußufer des Kebar im südlichen Irak Seine Herrlichkeit schauen ließ (vgl.Hes.1) und als Er Daniel im Herzen von Babylon, mitten unter Medern und Persern unterm Schutz des Höchsten erhielt (vgl.Dan1+6).
Gott weilt und wohnt also an Orten dieser Erde.
Und diese überraschende Geschichte Seines Einzuges, Seiner Niederlassung und Einwohnung kreist in der ganzen Bibel um den einen Ort, um den – wir sagten es schon – auch heute noch ausdrücklich oder unbewusst ein Großteil aller gegenwärtigen Geschichte kreist: Jerusalem, von dem wir gerade sangen, dass Er, Der nahe ist in jeder Zeit und Zone, hier wirklich wohne (EG 632,5)!
… Jerusalem ist das Ziel der Gottesreise, als die wir nicht nur die Geschichte des Exodus oder der Heimkehr aus dem babylonischen Exil erkennen müssen.
Jerusalem ist das Ziel der Gottesreise, die weit über die Zeiten der beiden biblischen Testamente hinaus bis heute anhält. Mit diesem Fleckchen Erde, von dem es wieder und wieder in der Bibel Israels heißt, Gott hat es erwählt, um Seinen Namen dort wohnen zu lassen (vgl.5.Mose12,11ff) – demnach ist es der Ort an dem, Der „Ich werde sein, der Ich sein werde“ sein will! … – mit diesem Mittelpunkt Jerusalem hat es daher eine unmissverständliche Bewandtnis auch für uns.
Jerusalem ist das Sehnsuchtsziel der Heimatsuche Gottes, Dessen Führen und Leiten in der Geschichte Seines Volkes auf Seine eigene Einortung, Seine dauerhafte Eingliederung inmitten der Seinen zielt.
Gott will Seinen Ort bei uns.
Er will Sich nicht als vorübergehende, sondern als bleibende Gegenwart in dieser kleinen, zerrissenen und zerfallenden Welt erweisen.
Und das geht nicht gedanklich allein oder im übertragenen Sinn. Es geht nur durch das, was nun kein Leihwort, keine bloße Veranschaulichung, kein Bild mehr ist, sondern ein genauer und konkreter Ausdruck für diese wirkliche Präsenz Gottes auf Erden: … „EINWOHNUNG“ nennt man es.
Und es meint buchstäblich, dass Er in der Stadt, dass Er an einer Stelle ist, dass Er unter einem Dach ist, weil Er die Welt nicht vage und weit entfernt umfasst, sondern als Mitbewohner ihrer uns zugänglichen Dimensionen in sie eingegangen ist!
Der Ort, an den Gott gehört, der Ort Seiner Einwohnung – Jerusalem, dieser von Menschen so geschundene und umstrittene und vergewaltigte und doch auch so unvergleichlich geliebte und gebrauchte Ort – ist also nichts anderes als das Modell, das Grundmuster dessen, was wir als die Einortung und Einwohnung Gottes in letzter Konsequenz und letztem Ernst bekennen: Jerusalem ist das Vorbild und Ziel der EINWOHNUNG GOTTES IM FLEISCH, … Seiner Inkarnation, Seiner MENSCHWERDUNG IN RAUM UND ZEIT.
Jerusalem zeigt uns den Heiligen, Der sich in die dürftigen Schranken des Hierseins und des Daseins gibt, um unter uns Endlichen endlos nah zu sein! ———
……. Und da sollte es eine Kirche geben – und das sollte ausgerechnet die auf die Bibel sich gründende evangelische Kirche sein – die behauptet, „heilige Orte“ seine bloß unsinnige, völlig überflüssige, verkehrte Vorstellungen?? – Obwohl uns selbst als Weihnachtschristen, als Gelegenheitsgästen im Hause Gottes doch so vor Augen stehen und in den Ohren klingen müsste, wie alles anfängt mit der bitteren, aber notwendigen Suche nach Quartier in dieser Welt, zu der Gott ankommt, um zu bleiben (vgl.Lk2!)?!
Die ganze Bibel schildert es uns doch: Gott ist nicht entzogen, Er bleibt nicht überlegen, sondern Er zieht ein, sucht Heimat unter uns, … teilt unsere Wirklichkeit, … verortet und verleiblicht Sich darin.
„Gott ist gegenwärtig“ haben wir vergangene Woche gesungen und gerade gebetet (EG 165).
Das ist - aus dem Mund eines evangelischen Mystikers! - eine umwerfend plastische Aussage:
Er ist anwesend, Er ist real, Er ist lokal, gehört in Raum und Zeit: So müssen wir auf unserer Suche nach der Heiligkeit diese jetzt wohl verstehen.
Heiligkeit ist die Freiheit Gottes, eine ganze andere Gegenwart als die erhabene Transzendenz zu wählen: Die Gegenwart im Hier und Jetzt, in Fleisch und Blut, unter den Tatsachen und Grenzen unseres Lebens.
Dafür steht Jerusalem und das ereignet sich in der Fleischwerdung des Wortes: Gott zieht in die Schwachheit, in den Streit, den Hass, das Feuer, … Gott zieht in die Passion der Tatsächlichkeit auf Erden ein.
Aus dieser Schutzlosigkeit aber, in die Er drängt, um bei uns zu sein, ergeben sich wahrhaftig andere heilige Orte als die magischen und gigantischen der einzelnen Verliebten oder der elektrisierten Massen.
Die Heiligtümer unseres Gottes, der wirklich die Nähe und das geteilte Leiden mit uns sucht, sind längst nicht alle schön und erhaben.
… Nicht ihre Ästhetik, nicht ihre Lage, nicht ihre Atmosphäre, nicht ihre Aura machen sie heilig:
Golgatha war die Müllkippe Jerusalems, … die ältesten Kirchen waren unterirdische Tunnel oder Friedhöfe, … die verfolgten Protestanten lobten Gott in Höhlen und in Scheunen, … die Puritaner beteten in der rauhen Wildnis, … die schwarzen Sklaven Amerikas hielten ihre Versammlungen irgendwo an schlammigen, moskitoverseuchten Flussbetten, … jenes arme Mädchen, dessen Erlebnis den größten Wallfahrtsort Europas hervorrief, traf die Dame an einem Rinnsal, das die Kanalisation in Lourdes ersetzte ……. und wenn man das schrecklichste Leid der Menschheit aufsucht – also den Ort, an dem man die Friedenssehnsucht, die Jerusalem bedeutet, und den Leidenswillen des Fleischgewordenen in ihrer tiefsten Notwendigkeit erfährt – dann steht man in den Todeslagern, in einem Entsetzen, das alles übersteigt und wegschält, was wir fühlen können.
……. Doch es sind Orte Gottes. …….
Weil jeder Ort, an dem gehört wird, dass Er bei den Seinen sein will, … jeder Ort, an dem der Gekreuzigte seinen rettenden Namen wohnen lässt, … jeder Ort, an dem der Geist der Liebes- und der Leidensgemeinschaft bezeugt und angerufen wird … weil jeder dieser Orte heilig ist. ——
Und so wie Benjamin Schmolck in unserem ersten Lied von seiner Schweidnitzer Kirche singt – einer Kirche, die tatsächlich im gegenreformatorischen Schlesien ein Hort der Sicherheit, des Friedens und der bergenden Gottesgegenwart war –, so müssen wir wieder lernen, dass auch unsere Kirchen, unsere Versammlungen keine willkürlichen, gleichgültigen Allerweltsorte sind, sondern das Beste und das Heiligste, was es geben kann: Quellen der wirklichen Nähe Gottes, … die räumliche Wirklichkeit des Erlösungswerkes unseres menschgewordenen Versöhners, … Stationen der Pilgerschaft, die Gott und Seine Gemeinde über die ganze Erde führt, bis Jerusalem unangefochten und heil ist.
Ehrfurcht, Freude und Hoffnung müssten uns also in jeder Kirche durchdringen, weil sie uns bezeugt, dass Gott die irdische Wirklichkeit gewählt hat und uns Sündern Seine Gegenwart hier auf Erden schenkt.
Und darum ist das der größte Jubelruf der Bibel an ihrem Ziel, … dass die Einwohnung des Heils hier unter uns sich vollendet hat:
„Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden Sein Volk sein und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein.“ (Offb.21,3)
Amen.
Fürbitten
Herr, Du bist die Gegenwart.
In Dir leben und weben und sind wir.
Und Du wohnst in unserem Fleisch,
teilst unsere Wirklichkeit,
lebst in unserer Mitte.
Das soll, das will Deine Gemeinde heiligen.
Trotz aller Sorgen und Gefahren der Zeit, trotz aller Trübsal und Einsamkeit des Daseins:
Wir dürfen glauben und festhalten,
dass es keine Gottverlassenheit,
dass es keine leere Welt,
dass es kein heimatloses Leben,
dass es keine ziellose Geschichte gibt.
Du bist ja unsere Zuflucht;
in Deiner Nähe sind wir am richtigen Ort!
Dass Du in dieser irdischen Realität zugegen bist,
dass wir den Raum mit Dir teilen
und Dich an unserer Seite finden,
macht unser Dasein reich an Segen.
Die Gemeinde des heiligen Gegenwärtigen bezeugt Dich darum in ihrem Mut, in ihrer Ruhe und in ihrer Offenheit:
Wir erfahren Deine Einkehr mit jedem, der zu uns kommt.
Wir vertrauen auf das Ziel, das alle, die hier scheiden, erreichen sollen.
Wir freuen uns mit Jerusalem, dass Frieden und Heil keine Gedankenbilder bleiben, sondern in unumstößlicher Wahrheit einkehren und sich ausbreiten werden.
In Deiner Gegenwart lass uns so Deinem Reich dienen.
In Deinem Reich lass uns so in Deiner Gegenwart leben.
Schenke Israel und allen Völkern,
schenke jedem Menschen das Bürgerrecht Jerusalems,
die Heimat und den Frieden der künftigen Stadt.
In ihre Tore lass uns treten
und Dich dort preisen,
der Du heilig bist, in Ewigkeit.
Die Fragestellung der Predigt berührt weniger die katholisch-evangelische Kontroverse als die höchste seltsame, kritische und dennoch unvermeidliche Frage, was das Land Israel, die Stadt Jerusalem und der Tempel darin – zweifellos zentralste Inhalte des Alten Testaments – für uns als Christen bedeuten können?
Enorm problematisch ist seit jeher jede Form der christlichen „Land-Theologie“ – einerlei, ob sie im Gefolge der mittelalterlichen Kreuzzüge brachiale Aneignung propagiert (man vgl. etwa das sog. „Palästina-Lied“ Walthers von der Vogelweide), ob sie einfach nur die konkreten Gegenstände der biblischen Heimat- und Friedensverheißung spiritualisiert (was durch alle Jahrhunderte der Kirche gängige Methode war und bis heute unvermeidlich, ja auch berechtigt ist und dennoch Wesentliches verfehlt) oder ob man gar eine Variante des christlichen „Zionismus“ übernimmt, der sich z.Zt. in Nord- und Südamerika enorm ausbreitet und verheerende politische Folgen in seiner militanten Parteinahme für Parteipolitik etwa in den USA und im heutigen Staat Israel zeitigt. In alle Richtungen bleibt die Frage nach dem Land, den Orten, den realen Topoi der biblischen Theologie also schwierig, vielleicht kaum lösbar … ganz gewiss aber zentral. Denn an ihr hängt die Konkretion, die Weltlichkeit und Wahrhaftigkeit unseres Glaubens und unsere Hoffnung.
Gesungen wurde das u.a. in Knapps Evangelischem Liederschatz für Kirche und Haus (Cotta, Stuttgart und Tübingen, 1837, No.1119) allerdings ohne Verfasserangabe und gekürzt unter der Rubrik „Kirchweih“ überlieferte Lied „Ach wie heilig ist der Ort!“, das aber bspw. im Evgl.-lutherischen Gesangbuch für die Fürstentümer Reuß, Greiz und Gera 1922, unter No.196 korrekt Benjamin Schmolck zugeschrieben wird.
12.n.Trin. 19.08.2018 Stadt- und Jonakirche 1.Teil der Predigtreihe: "Was ist Heiligkeit?" Offenbarung 4, 5 - 8: Gottes Heiligkeit
Predigt Kaiserswerth & Jona 12.n.Trin. - 19.VIII.2018 / Predigtreihe: „Was ist Heiligkeit?“
Heiligkeit Gottes – Offenbarung 4, 5- 8
Liebe Gemeinde!
Wir müssen zurück zu den Quellen, zu den Brunnen, aus denen lebenspendende Offenbarung einen lebensfähigen Glauben speist.
Wir müssen nach Jahrzehnten und noch viel längeren Perioden der liturgischen, der theologischen und politischen Staubtrockenheit in unserer evangelischen Kirche endlich wieder zum frischen Wasser, mit dem wir doch alle getauft sind: Zum Geist, … zur Liebe, … zur Gegenwart Gottes, in denen man Leib und Seele baden soll, in die man sich versenken und aus denen man gerettet auftauchen darf. …….
Wir brauchen dringend, dringend Seine Segensflut. ——
Das hat dieser dürre Sommer uns mehr als nur bildlich gezeigt:
Wenn wir nicht wirklich umkehren und mit Haupt und Gliedern in der westlichen Welt einer schier tödlichen Energieverschleuderung absagen, dann wird unstillbarer Durst – äußerlich wie innerlich – das Ende der Geschichte bedeuten.
Und darum ist es dringlicher als je zuvor, dass wir Christen zu den Heilsbrunnen, zu den tiefsten Wasseradern der Wirklichkeit zurückrufen, in denen genug strömt, um die sterbende Welt zu erquicken und die Selbstverbrennung der Menschen zu löschen: Barmherzigkeit, Gnade, Geduld und Treue Gottes fließen ja weiterhin, und wer sich nicht zu schade dafür ist, kann knien und sich am Ufer dieser Segensströme satttrinken – wie die Kämpfer, die Gideon berief, weil sie nicht besoffen von ihren eigenen Fähigkeiten waren, sondern einfach ihren Schmacht spürten und unbekümmert aufleckten, was dagegen half (vgl.Richter7,5-7). —
Allerdings – und dass es ein „Allerdings“ gibt, zeugt davon, dass wir vom wirklichen, lebendigen Gott und nicht nur von einer menschlichen Phantasie sprechen – … allerdings also ist es nicht so, dass alles einfach gut würde, wenn wir die große Menschenfreundlichkeit, die Güte und Großzügigkeit wiederentdeckten, die Gott dieser Welt schon vor ihrer Schöpfung und mit ihrer Erschaffung vorgelebt hat.
Denn die gütigen Seiten Gottes, die Eigenschaften, die aus Ihm auf der heutigen religiösen Schwundstufe des westlichen Denkens den harmlos verzwergten „lieben Gott“ gemacht haben, sind nicht alles.
Gott ist nicht nur als das Planschbecken oder die Sprinkleranlage vorzustellen, die zur Abkühlung unseres überhitzten Planeten nötig sind, denn Er selber ist Feuer und Glut.
Wenn es irgendeine Annäherung an die ureigenste, ursprünglichste, unvergleichlichste Eigenheit Gottes, die wir Seine „Heiligkeit“ nennen, gibt, dann ist es eine Grunderfahrung, die Kinder überall und zu allen Zeiten gemacht haben: Einerlei ob sie an den Torffeuern Grönlands oder den Freiluftfeuerstellen der Kalahari groß wurden, ob sie die riesigen gusseisernen Herde der Großmütterzeiten oder die elektrischen Kochplatten der DDR-Einbauküchen erlebten … jedes Kind lernt früh und eindrücklich die scharfe Warnung: „Heiß!“
Ich selber erinnere mich an die Faszination, die dieser magische Abwehrzauber bedeutete: Man erstarrte in der Nähe des gefährlichen Herdes und doch war es nicht nur Angst, sondern ebenso mächtige Anziehung, die jeden Schritt näher heran genauso lähmte wie jedes Zurückweichen.
Dieses Phänomen einer Kraft, die verletzen und zugleich ja auch am Leben erhalten kann, dieses Wunder einer Gefahr (!), die Behagen und Schutz vor der Kälte spendet, dieses frühkindliche Gewarnt- und Gewärmt-Werden ist die unmittelbarste Veranschaulichung der Heiligkeit.
Der Vergleich zeigt uns: Gott ist – anders als Seine Liebe und Gnade – nichts, das wir einfach aufnehmen könnten.
Gott ist nicht ab- und erst recht nicht auszuschöpfen.
Gott ist – so lebensnotwendig Er auch immer ist – nicht greifbar.
Wer Ihm zu nahe kommt, vergeht. ——
Das ist die erste Bedeutung des fast allen Kulturen und Religionen vorliegenden Geheimnisses der Heiligkeit: Vom Zentrum aller Wahrheit und allen Lebens schlägt uns eine derartige Kraft entgegen, dass sie uns zum Schmelzen bringt. Das Höchste, das Beste, das Wichtigste in der Welt ist mehr, als Menschen fassen können. … Wer die Wahrheit nackt, das Licht ohne Schirm, die Macht als solche erblickt, verfällt ihrer Allgewalt widerstands- und rettungslos.
Darum umgibt in vielen Religionen alles, was für heilig gehalten wird, auch eine Schutzzone, auf der Fluch und Strafe liegen, die vor der Berührung, vor unmittelbarem Kontakt und direkter Beziehung schützen. Das „Tabu“ schützt vor Überwältigung und warnt die Sterblichen vor dem Preis der Unsterblichkeit … kostet sie doch immer das Leben. ———
Ehe wir jedoch dieser Spur der Religionswissenschaft folgen und uns in Verhältnisse und Beobachtungen einwickeln lassen, die von der Südsee bis zu den asiatischen Hochkulturen gelten mögen und auch in den abendländischen Zivilisationen der Antike wirken, müssen wir an den Anfang unserer Überlegungen zurück: Wir wollten Wasser des Lebens aus dem Brunnen der Offenbarung, aus den Quellen des Juden- und des Christentums schöpfen.
Und da begegnet der auffallende Umstand, dass wir eben zwar den brennenden Dornbusch beschrieben haben, dessen die Mitte nicht vernichtendes Feuer Sterbliche doch auf heiligen Abstand hält … aber diese erste Begegnung mit der verzehrenden Heiligkeit Gottes ist biblisch betrachtet eben nicht der Anfang aller Dinge!
Die Bibel fängt nicht an mit der Psychologie des Faszinierenden und Erschreckenden, das sonst aller Begegnung mit der Überwelt und dem Jenseits zugrunde liegt, sondern sie erzählt uns ein ganzes, geliebtes langes Buch lang – nämlich im Ersten Buch Mose, in den unvergesslichen Ur- und Vätergeschichten der Genesis – nur vom Werden der Welt, von ihrer Ordnung und Unordnung, von der Vielfalt der Menschheit und dem winzigen Senfkorn der heimat- und dann rechtlosen Abrahamskinder, von ihrer Sehnsucht, ihrem Segen und ihrem Sturz in die Sklaverei.
Und in diesen Grundlagen der Überlieferung von Gott dem Schöpfer und Erlöser ist alles nüchtern, ist nichts „transzendent“ oder „numinos“, … und in alledem kommt der Gedanke der „Heiligkeit“ daher überhaupt auch nur einmal, im Blick auf den Sabbat als geheiligten Tag vor (vgl.1.Mose2,3).
Dass Gott, Der hinter und in aller Natur und Geschichte wirkt und regiert, unheimlich wäre…, dass Er erhaben und unfassbar sein muss: Das ist ganz und gar nicht die Hauptlektion, mit der die Offenbarung Gottes anfängt.
Das Geheimnisvolle an Seiner Macht, … das von allen unseren Erwartungen und Vorstellungen Unabhängige, das Ihn auszeichnet, taugt also gerade nicht als allgemeine Voraussetzung des Gottesverhältnisses der Menschheit, und es steht bewusst auch nicht im ersten Buch der Bibel, … diesem Buch des Weltlichen, nicht des Heiligen.
Menschen sollen sich Gott nicht unterwerfen, nur weil Er eine so namenlose, eine so unvergleichliche Hoheit und Weisheit verkörpert und eine grenzenlose Potenz darstellt: Dieser biblisch eindeutige Vorbehalt bleibt eine grundsätzliche Anfrage an den Islam ebenso wie an alle natürlichen Religionen, die verehren, was immer Gänsehaut erregt und Schauder erweckt, was immer unserer Erkenntnis unzugänglich ist oder uns sonstwie dominant beeindruckt.
Solchen instinktiven Unterwerfungen setzt die Bibel mit der Genesis ein Buch der Aufklärung und der Liebe zum Detail, zum Geringen, zum Einzelmenschen, zum schwachen Stamm der Erwählten entgegen: Nicht das Dogma von der unwidersprechlichen Stärke, sondern die unerfindliche Vorliebe für das Unwahrscheinliche und Nebensächliche eröffnet also den Bund mit unserem Gott. ……. Und erst, wo Mensch und Menschheit diesem Gott Vertrauen entgegenbringen, wo sie Ihm ihre Not anvertrauen – das Unrecht in der ägyptischen Sklaverei, die Hoffnung auf eine gerechte Zukunft, die Bereitschaft, sich für die leidenden Brüder einzusetzen, … also alles das, was Moses bewegte – erst da, auf der Grundlage des Vertrauens erweist sich Gott dann auch als ganz und gar heilig.
Denn da, wo Menschen Gott vertrauen, … da wird es tatsächlich wichtig zu begreifen, dass Er trotzdem noch lange nicht und niemals von unseren Vorstellungen geformt, von unseren Bedürfnissen bestimmt wird!!
… Wir sollen vielmehr lernen – so wie Mose es am brennenden Dornbusch erfuhr und Jesaja bei seiner Berufung und Petrus als er nach dem wunderbaren Fischzug die Macht seines Meisters erkannte (vgl.Lk5,8!) – wir sollen lernen, dass der Gott, Dem wir trauen und Den wir lieben, tatsächlich heilig ist! Denn Seine Heiligkeit bedeutet und garantiert eben: Er ist nicht bloß unsere Fortsetzung mit anderen Mitteln, … Er ist nicht die vergrößerte oder allmächtig zurechtgemachte Kraft unseres Wunschdenkens, … Er ist nicht der Gehilfe unserer Launen oder die praktische Lösung für unsere Zwickmühlen.
… Nein, Er – der Gott, ohne Den wir verloren wären – ist heilig, und das bedeutet: Ganz anders.
… Ganz anders! Er ist höher, als es für uns bequem ist und wir es gerne hätten.
Er wird entscheiden, handeln und retten auf Seine ganz unabhängige, ganz eigenständige Weise und nicht nach unseren Träumen.
Nie wird Er unser Spielzeug, unser Instrument, unser Erfüllungsgehilfe sein:
Weil Er heilig ist, ist Er frei!
Diese Qualität der Heiligkeit – dass sie nämlich die Unmöglichkeit bedeutet, dass der Heilige selber unterworfen werden könnte– ist die ganz andere Kehrseite des landläufigen religiösen Verständnisses: Wo andere Kulte und Kulturen sich dem, was sie als heilig erleben, ergeben, bedeutet das biblische Zeugnis vom heiligen Gott, dass die Glaubenden Ihn freigeben.
Da Gott sich als der Heilige erst zu erkennen gibt, nachdem Er den Vätern Israels schon lange bekannt und darum auch von Mose anerkannt war, zielt Seine Heiligkeit nicht auf die Unterwerfung aller, die Ihm angehören und folgen, sondern auf ihre Zustimmung und ihr Zutrauen: Er ist der Heilige, Dessen unnahbare und unzähmbare Freiheit Israel und die Kirche demütig, aber eben auch getrost bestätigen und bejahen sollen. Denn dass in Ihm eine so kraftvolle, eine so unbezwingliche Energie und Leidenschaft brennen, dass man sich verhebt und versündigt, wenn man Ihn meint handhaben und durchschauen zu können, das ist keine einschüchternde Drohung mehr, sondern ein Segen für Seine Gemeinde.
Wäre Er nicht himmelhoch der HERR, Den kein Maß ausmessen, keine Wissenschaft er-klären, keine Hellsicht vorhersagen kann, dann wäre das doch kein Vorteil, sondern eine bittere Enttäuschung für die, die Ihn gerade als Diesen bejahen und bekennen.
Seine unfassbare und unkontrollierbare Heiligkeit nämlich versklavt die Ihm ergebenen Menschen nicht, sondern ermutigt und erhebt sie gerade: Sie werden ja freier und größer, je mehr sie Gott Seine Größe und Freiheit überlassen. … Denn auch wenn man Ihm nichts vorschreiben und nichts vormachen kann, sondern nur in Ehrfurcht und Zuversicht Seinen Ratschluss und Seine Wunder bezeugen und anbeten darf, so ist doch die ungezügelte Flamme, … das nur von Ihm gewusste, gewollte und gewählte Wehen Seines Geistes der wahre Inhalt des Glaubens.
Wir glauben an Gott, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, den Erwähler und Erretter Israels, den Vater Jesu Christi und Versöhner der Welt ja nicht, weil wir Seine Wege lenken, Seine Entscheidungen beeinflussen, Seine Taten selber er-ledigen könnten, sondern weil Er rein aus eigener Vollmacht und eigener Liebe Sich einlässt, ja Sich einbindet in unsere verworrene, verzweifelte und verlorene Wirklichkeit.
Wir glauben an Ihn, nicht weil wir alles schon kennen und wissen, was von Ihm kommt und was bei Ihm möglich ist, sondern gerade weil die Erfahrungen und Verheißungen der Bibel uns Seine einzigartige Unvorhersehbarkeit und Seine herrliche Souveränität lehren.
Wir glauben – weil wir Ihm vertrauen –, dass Er heilig ist und damit alle unsere Erwartungen und Hoffnungen übertreffen und auf wunderbare, ungeahnte Weise in den Schatten stellen wird, wenn Er die Schöpfung vollendet und Sein Reich kommt. ——
Das ist der Glutkern des von uns unerreichbaren, des für uns unnahbaren Geheimnisses der Heiligkeit Gottes: Nur Er allein ist so lebendig und so stark, dass alle unsere Gedanken und unser Begreifen hier scheitern.
…. Wir müssten tatsächlich bersten oder uns in reinen Begeisterungsflammen auflösen, wenn wir Ihn in Seiner Mitte erfassen und begreifen wollen.
Und darum ist die Mahnung vor der Hitze der Heiligkeit Gottes wahrhaftig angebracht: Etwas so Durchdringendes wie Gott ist kein harmloses Etwas, sondern das allesverschlingende und umwälzende und vollkommene und eines Tages dann allumfassende, universale, ganze Geheimnis des liebenden und geliebten Lebens.
Vor diesem Geheimnis – von dem wir auch schon hier und jetzt, noch in gebührender Ferne und Demut gewärmt und ergriffen sind – müssen wir Ehrfurcht wahren, aber wir müssen es nicht unterwürfig fürchten!
Vielmehr ist die angemessene, die irdisch und überirdisch einzig angemessene Antwort auf die Heiligkeit Gottes, dass wir sie jubelnd feiern!
Und dieses Lob Seiner Herrlichkeit, das auch unser Amt ist, dieses bejahende Bekenntnis der Heiligkeit des HERRN Zebaoth, das hören wir die Seraphim bei Jesaja (6,3) und die himmlischen Gestalten der Offenbarung (4,8) nimmermüde, ohne Ende, ohne Ziel zu allen Zeiten und für immer erheben.
Es ist die Grundmelodie jeder Lebensäußerung des Glaubens.
Es ist das Lied der ganzen Erde ebenso wie es das Lied der Ewigkeit ist.
Aus diesem Feuer strömt dann tatsächlich das Wasser, das wir suchen, strömen die Quellen der Gnade und des Vertrauens, … aus dem Feuer der heiligen Fackeln und Flammen, die das gläserne Meer umgeben, fließen Glaube, Hoffnung und Liebe in die durstige Welt.
Wenn wir das erkennen und bejahen – dass nicht die bedingungslose und also missbrauchbare Güte, sondern die freie Heiligkeit Gottes, die sich in ihr zeigt, uns retten – dann wird tatsächlich alles gut werden.
Wir müssen dafür aber nicht nur lernen, dass Barmherzigkeit und Liebe gut, sondern mehr noch dass sie heilig sind: Unüberwindlich, … erste, letzte, bleibende Kraft Gottes!
Und darum stimmen auch wir ein und bekennen ohne Unterlass:
„Heilig, heilig, heilig ist Gott, der HERR Zebaoth!“
Amen.
Fürbitten
Herr, Deine Heiligkeit geht über Bitten und Verstehen.
Sie ist die Macht von Tod und Leben, und sie bewegt das Nichts und das All.
Und dennoch ist sie unser Heil.
Denn Du hast Dich aus freien Stücken zur Schöpfung entschieden
und den Geschöpfen zugewandt
und uns Menschen durch den unauflöslichen Bund mit Abraham, in Christus verbunden.
Nicht unserer starre Furcht, sondern unsere reine Zuversicht hast Du da geweckt.
Und so bringen wir Dir – dem Höchsten und Heimlichsten – doch voller Vertrauen ALLES:
Die ganze Welt, … die ganze Not der Welt.
Wir befehlen Dir den Durst, den alles leidet, an:
Wie der Hirsch nach frischem Wasser, so lechzt die Welt nach Erneuerung und Erlösung.
Nach dem lebendigen Gott suchen alle Menschen, … bewusst oder unbewusst.
Nach Deiner Gegenwart dürstet es alle – die Traurigen, die Wartenden, die Ängstlichen, die Leidenden, die Sterbenden.
Weil Du ohne unser Verdienst und Zutun Dich uns so gnädig und so herrlich zeigst, darum legen wir Dir ALLE, ALLES an Dein heiliges Herz.
Lass uns aus Deiner unerschöpflichen Kraft leben …. ob wir gleich sterben.
Lass uns in Deinem unauslöschlichen Licht Dich selbst erkennen, die wir doch blind sind.
Lass uns mit allen Engeln und Erzengeln und dem ganzen himmlischen Heer Dich bekennen und preisen, Dich ehren und loben in Ewigkeit … obwohl wir Sünder sind.
Denn Du, Herr, bist HEILIG – HEILIG – HEILIG!
8.n.Trin. 22.07.2018, Stadtkirche, 1.Korinther 6, 9- 20, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 8.n.Trin. - 22.VII.2018
1.Korinther 6, 9–20
Liebe Gemeinde!
Ein Grund, weshalb es auch in diesem Sommer schwerfallen wird, wenn man auf dem Heimweg aus Burgund wieder über die deutsche Grenze kommt, ist der fürchterliche Zustand der deutschen Dörfer: Sie sind so steril, dass einem jede Lebensfreude und jedes Sommergefühl sofort vergehen. … Und das Schlimmste an ihnen sind die Kacheln und die Verklinkerung.
Was auf den Dörfern meiner Kindheit in den sechziger Jahren am anheimelnden hessischen Fachwerk begonnen hatte, hat sich überall wie eine Seuche verbreitet: Alle die alten, teils windschiefen und geflickten Muster der Vergangenheit, die überlieferten oder improvisierten Ornamente aus Lehm und Holz, die gegerbten und ausgewaschenen Farben, die grobe und fromme Schnitzerei an den Balken musste mindestens bis auf Mannshöhe verschwinden hinter potthässlichen grauen oder blauen Plättchen, die mit farbig darunter gesprenkelten Fliesen eine unsägliche Trostlosigkeit des Praktischen verströmen. So wurde die Welt der Brüder Grimm verdeckt von zwei typisch deutschen Erwägungen: Der Ersparnis, nie wieder streichen zu müssen, und dem Vorteil, dass Fliesen abwaschbar sind.
… Nun mag es in Deutschland Gründe geben, weshalb man zwanzig Jahre nach Kriegsende ein Bedürfnis nach Zudecken des Alten und Auswischen der Vergangenheit hatte.
Aber auf der ganzen Welt gilt dennoch die Wahrheit: Das Leben ist von uns aus nicht abwaschbar, und wo man das Gewesene mit einem raschen, praktischen Kunstgriff ausblendet, bleibt es dennoch bestehen … nur verdrängt. ————
Manch einem mag dieser umschweifige Predigtbeginn wie ein Ausweichen erscheinen, um nicht gleich auf die irritierenden Themen des Paulus zu sprechen kommen zu müssen, die unsere Kirche heute zuweilen als längst überwundene Reste einer überholten Sexualmoral behandelt, während andere unserer Glaubensgeschwister an ihnen immer wieder die eigentlichen Indizien einer großen Wahrheitsleugnung bei den Evangelischen festmachen.
Doch beide Seiten – die fröhlichen Befürworter ethischer Gleichgültigkeit in geschlechtlichen Dingen ebenso wie die ständig unanständig auf die Unanständigkeit Fixierten – übersehen den entscheidenden Zusammenhang, in dem fast alle moralischen, praktisch-en, konkreten Mahnungen des Neuen Testaments stehen. … Es geht nicht um Speisegesetze oder Sexualethik oder Sozialstandards!
… Es geht um die Auferstehung! ——
Beinah alles, was die apostolischen Schriften an Weisung und Anweisung für die Gemeinde enthalten, gewinnt seine Bedeutung vom Mittelpunkt der Heilsgeschichte her und wird darum wichtig, weil die Auferweckung Jesu unmittelbare Folgen für jeden menschlichen Körper und die ganze Menschheit insgesamt haben wird: Was zu Ostern an ihm geschah, wird uns allen künftig widerfahren.
… Das ist die beinah simple, aber allesentscheidende Voraussetzung, um wirklich als getaufter Mensch zu leben. Sie bedeutet: Nichts von unserem Leben, … auch nicht der Körper ist spurlos vorübergehend. Alles an unserem Leben … auch der Körper ist dauerhaft zum Sein in Gottes Gegenwart bestimmt. ——
Wer das nicht versteht oder wer es nicht ernst nehmen mag oder wer es unangenehm findet, der wird nie recht glücklich mit dem Evangelium werden können.
Denn wer den Körper bei Glaubenssachen lieber nicht mit dabei hat, der ist auf irgendeine kopflastige oder abstrakte Weise mehr zu Verklinkerung und Abwaschen geneigt, … als seien die Erlebnisse und die Zustände und Bedürfnisse seines Leibes irgendwelche Neben-handlungen oder Hintergrundbilder des rein Geistigen, die der Regen sowieso davonspült oder die Zeit spurlos verwischt. …
Das aber ist gegen das biblische Grundmuster der Schöpfung, die den Atem Gottes und die Materie unlöslich verbunden hat.
Gerade der an Leib und Seele gottebenbildliche Mensch soll sich nicht weismachen, sein Organismus und dessen Gliederapparat seien eine Tafel, auf die jeder Pennäler seine Zoten schreiben und nach dem schmutzigen Gelächter, auf das er zielte, wieder auswischen kann.
Der Körper mit seinen verschlungenen Wegen für Blut und Atem, mit seinen Kreisläufen von Ernährung und Verbrennung, mit seinen Geheimnissen der Fruchtbarkeit und der Heilung und des Alterns und Sterbens, die alle ein ganzes Leben lang verborgen wirksam sind, ist kein bloßes Sieb, durch das man nacheinander den Saft von Sauerkirschen und den Sud von Essiggurken abgießt, er ist kein Stundenhotel, durch das man alle Triebe jagt und nach dem Gesuhle wird die Wäsche gewechselt und das war‘s.
Der Körper ist die Heimat des Lebens, er ist Wirt und Hausherr der Seele, er ist der Stoff, aus dem Gut und Böse, Heiliges und Scheußliches heranreifen können bis sie bleibende Gestalt auch in Fleisch und Blut gewonnen haben.
Darum ist es für Christen alles andere als gleichgültig und auch niemals nur vorübergehend, was wir mit dem Körper vornehmen und was wir ihm antun.
Weil der biblische Glaube also so „ganzheitlich“ ist – um einen modernen und positiv besetzten Begriff zu nutzen –, eben darum kennt dieser Glaube auch Bedenken im Blick auf alle möglichen Handlungen und Gewohnheiten, … Bedenken, die uns vielleicht als überholt erscheinen.
In Wahrheit steht aber auch hinter den Einschränkungen und Tabus, hinter den Weisungen und den Warnungen der biblischen Moral der fundamentale Grundsatz, dass der Leib am Heil und an der Heiligkeit ebenso beteiligt sein muss wie das Innere des Menschen und dass er kein gleichgültiger Gegenstand, kein bloßes Instrument, keine Hülle darstellt. … Jedenfalls nicht für die Gemeinde, die den aus dem Grabe Auferweckten kennt und ihm gehören, folgen und gleich werden will!
Wenn wir uns also meistens auf den Grundsatz einigen, Menschen hätten die Lizenz, alles zu machen, was sie mögen, so lange sie niemand anderem wehtun und schaden, dann haben wir diese Rechnung tatsächlich ohne den Wirt gemacht.
Denn ein Mensch, der – ganz ohne Fremdgefährdung – seinen Körper nur als Mittel betrachtet, das ihm Rausch oder Respekt verschaffen, mit dem er Willkür oder beliebige Experimente anstellen kann, der spaltet sich selbst und bricht den Hausfrieden zwischen seinem physischen und seinem psychischen Ich, indem die eine Seite ein Risiko eingeht, das auch die andere vergelten muss.
Denn die sexuellen und die moralischen Übertretungen – das Ausschweifen der Triebe bei Unzucht und unverbindlichem oder erzwungenem oder gekauftem Geschlechtsverkehr, die Zügellosigkeit des Geistes bei den Götzendienern und den Lästerern und die Maßlosigkeit der Diebe und Gierigen und Süchtigen haben jeweils dies gemeinsam: Sie leben von der Illusion, dass das einmalige oder seltene Ereignis, der peinliche, aber ja auch nur vorübergehende Sieg eines eigentlich nicht zu rechtfertigenden Verhaltensdrangs so schlimm nicht sei.
… Lüge auf der Kanzel oder in der Kinderstube, Betrug in der Politik oder Wirtschaft, Sex ohne jene Gegenseitigkeit und Treue, die nicht nur für zwei Partner, sondern auch für ein drittes Leben … ein werdendes, abhängiges, schutzbefohlenes Leben die dauerhafte Basis schaffen könnte, … alle solche Augenblickslaunen, solche Ausnahmeanwandlungen, die wir auf Dauer ja wirklich nicht gutheißen, aber eben gelegentlich nicht vermeiden mögen: Die sind so ernsthaft nicht, weil sie ja nicht die Norm, sondern deren Durchbrechung darstellen.
Doch wo das Innere wiederholt die Schranke zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Ehrlichkeit und Betrug durchbricht, da wird der ganze Mensch ein Wesen ohne Haltung, ohne Halt, das weder mehr aufrecht noch aufrichtig sein kann. Wahn, Verstellung und krankhafte Unsicherheit werden auch psychosomatisch die Folgen sein.
Und wo das große äußere Austausch- und Verbindungsmedium – nämlich der Körper – beiläufig und unterschiedslos, unaufrichtig und flüchtig eingesetzt wird, da verliert das menschliche Innenleben alles, worin es gefasst und verbunden war, und zerfällt in schutz- und ziellose Bindungsangst und Bestätigungssucht.
Denn abwaschen, wegpusten, ungeschehen machen: Das lassen sich unsere Lebensäußerungen eben nicht!
Der Geist kann also den Körper und der Leib die Seele gefährden.
… Der Leib kann die Seele gefährden. Dramatisch. … Ja, sogar endgültig und ewig!
Ersteres – die Wirkungen von psychischen Zwängen, Traumata und Leiden auf den Organismus – nehmen wir noch ernst.
Bei Letzterem – dass ein Freibrief für die Sexualität das Seelenheil zerstören kann – haben wir die Einsicht verdrängt und leugnen die Erfahrung. ——
Doch für Paulus und die christliche Gemeinde ist ausgerechnet diese Wechselwirkung, vielmehr die Verantwortung, die der Leib für das hat, was er an Leidenschaft bindet und löst, worauf er sich einlässt und was er sich fernhält, das zentrale Unterscheidungsmerkmal, das ihre Identität als Nachfolger des Menschgewordenen ausmacht.
Damit standen die Christen im bewussten Gegensatz zu allen Heiden, die entweder als Philosophen völlig unabhängig vom Leib denken und leben wollten, oder als Machtmenschen die Ästhetik und Kraft von Körpern feierten, indem sie sie wie ein Genussmittel bei ihren abhängigen Lustobjekten – bevorzugt Knaben – auskosteten oder als Werkzeug in Gestalt von untergebenen Soldaten und Sklaven restlos ausnutzten.
Doch weder diese Verachtung noch solche Vergötzung des Fleisches kann ja der Weg der Christen sein.
Für uns darf der Körper weder zum Fetisch noch zum Ding werden – weder zum Schönsten, noch zum Nichtigsten – , denn er ist beides nicht, sondern das Mittel wirklicher, höchster und heiliger Verbindung: Schließlich hat Gott sich im Fleisch geoffenbart – und zwar nicht nur in seinem Reiz und seiner Stärke, sondern auch in seinem Elend und seiner Not –, und dann hat Gott sich durch Jesu Auferweckung zum Bleiben des Körperlichen bekannt, und so verbindet jeder Körper Gott und die Menschheit, Himmel und Erde, irdisch Zeitliches und künftig Ewiges. Weder Haupt-, noch Nebensache, sondern grundlegend beziehungsstiftender Bestandteil: Das ist es, was Glieder und Eingeweide, Haut und Haare für das Menschen- und Gottesverhältnis eines Getauften sind.
Und darum soll unser Umgang mit allem Körperlichen immer dessen Vermittlerrolle berücksichtigen:
Blockiert das Leibliche das, was wir als Christen glauben und hoffen und lieben dürfen? Oder hält auch unser Körper sich bereit für Bewegungen, Begegnungen und Berührungen, die die lebendige Wahrheit und Wirklichkeit Jesu Christi ihrerseits verkörpern und weitergeben?
Ist unser stoffliches Dasein also offen für den gegenwärtigen Gott?
… Bietet es Raum für Christus?
Denn das ist die letzte und eigentlich bis heute kaum angemessen wahrgenommene Folgerung, mit der Paulus – vermeintlich der Erfinder der leibfeindlichen Erbsündenlehre – uns überrascht, wenn er jeden einzigen christlichen Körper als Ort der Gegenwart Gottes, als Tempel des Heiligen Geistes beschreibt!
Nicht in unseren Gedanken oder unserem Gedächtnis, nicht in unserem Gefühl oder Gewissen allein will und kann Gott uns nahe sein, sondern in allen Fasern und in jeder organischen Notwendigkeit von Schlaf, Essen und Trinken, …. in jedem leiblichen Wohlgefühl von Tun und Liebe und Lust.
Gott, der den Menschen nie mehr in seine Bestandteile zergliedern wird, sondern Der als Gott des Bundes in jedem Einzelnen die unverbrüchliche Verbindung von Kreatur und Beseeltem heilen und heiligen will, … dieser Gott braucht Menschen, die Seine Anwesenheit in den schlichtesten und einfachsten und alltäglichsten Wechselwirkungen des Lebens bewahren und beweisen: Rede und Arbeit, Genuss und Verzicht, Hingebung und Beherrschung können wie selbstverständlich gottvoll sein … oder aber sinnlos. Entweder wir spüren und üben diese Gnade, dass unsere Geschöpflichkeit in allem den Schöpfer verherrlichen kann: Darin wie wir Nahrung zu uns nehmen, wie wir Leib und Geist aufeinander beziehen und behandeln, wie wir als Männer und Frauen den Geschlechtstrieb nutzen. In allem sind tausend Momente der Dankbarkeit und Verantwortung, der Freude und der Rücksicht, der Reinheit und der Gerechtigkeit angelegt.
Und jede dieser Kleinigkeiten, jede dieser Natürlichkeiten trägt ihren unumkehrbaren Teil dazu bei, ob der Raum Gottes in der Welt durch uns ausgestaltet oder verschandelt wird, ob wir ihn erweitern oder ob wir Gott den Boden entziehen.
Nichts ist also unwichtig.
Nichts ist versteckbar.
Es ist nichts einfach abwaschbar … außer durch die Taufe, die aber gerade nicht die Fassade, sondern die alte, unregelmäßige, eigenwillige Wirklichkeit des aus Dreck und Herrlichkeit gebildeten Menschen betrifft.
Genau diese nämlich – in ihrer auch nach der Taufe bestehenden ganzen Hinfälligkeit, in ihrer verwitternden Zeitlichkeit und ihrer irdischen Unvollkommenheit – ermöglicht doch überall und jederzeit Lebenszeichen unserer Gottesnähe. In der Wirklichkeit unseres Daseins will Gott wohnen, er will eingebürgert, er will integriert sein in allem, was wir tun und treiben, was uns freut und hilft und hält.
Der Tisch, das Bett und das Bad, der Schrank, der Spiegel und der Sport können Räume der vertrauten Zugehörigkeit zu Gott sein, können unsere Bindung an Ihn beweisen: Durch Suchtlosigkeit, nicht Zuchtlosigkeit, durch Freiheit, nicht Abhängigkeit, durch Getreu-, nicht Getriebensein.
Wir können und sollen Ihm also mit Fleisch und Blut Ehre machen, Der sich in uns wiederfinden und für immer mit uns leben will!
Gott ist also mit dem Leib zu preisen … physisch, praktisch und persönlich.
Weil Er uns so geschaffen hat und so haben will.
Weil wir Ihm mit Leib und Seele gehören.
Weil es eine Auferstehung der Toten gibt und das ewige Leben.
Amen.
7.n.Trin. 15.07.2018 Stadtkirche Philipper 2, 1 - 4 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 7.n.Trin. - 15.VII.2018
Philipper 2, 1- 4
Liebe Gemeinde!
Wenn man in asozialen Zeiten lebt, in denen die großen Schlagworte nur noch Schläge sind und die das große Wort führen nur noch nach Führer klingen und die wichtigste Beziehung, die man untereinander aufrechthalten mag, die Grenzziehung ist, … in solchen Zeiten des Bedeutungsverlustes der Menschlichkeit und der rasanten Kursgewinne ihres Gegenteils, da fragt sich manch einer, was für einen ekligen, was für einen bitteren Geschmack er denn da auf der Zunge hat und kaum noch loswird. …….
– Es ist der herbe Geschmack einer Welt, in der jeder am liebsten sein eigenes Süppchen kocht, das ihm aber auch dann nur schmeckt, wenn er sicher sein kann, dass allen anderen die Suppe versalzen ist. Es ist der Geschmack einer Welt, in der Menschen nicht satt und zufrieden sein wollen, wenn sie andere nicht hungrig wissen. Es ist der Geschmack einer Welt, die nur das genießen kann, was ein anderer nicht kriegt. Es ist der widerliche Geschmack einer Welt, deren Grundnahrungsmittel und deren Delikatessen die eine entscheidende Zutat haben müssen: Tränen und Schweiß der anderen machen ihr den Braten erst fett und die Nachspeise süß.
In einer solchen Welt der Geschmacklosigkeit leben wir ja wahrhaftig, … einer Welt, in der es nicht zunächst darum geht, was jeder haben könnte und sollte, sondern viel mehr um das, was andere nicht haben dürfen.
Doch auch wenn diese Erscheinungen in Wirklichkeit alle nicht neu sind, sondern das uralte Salz- und Säurewesen der Sünde, in der die menschliche Natur eingepökelt und kaum genießbar konserviert ist seit den Tagen ihrer ältesten Gier, … so ist es dennoch höchste Zeit, dass wir die Verbitterung und Vergällung nicht unbesehen alles verderben lassen, sondern dass wir Christen nach einem anderen Rezept für das Leben fragen.
Wieso schmeckt alles, was das Neue Testament uns bietet, so anders? Weshalb hat der winzig kleine Kreis der Jünger des Gekreuzigten nicht auch dieses Sägespäne-Aroma der Unzufriedenheit und des Neides? Wie kommt es, dass bei einer so bedrohten und schwachen Menschengruppe wie der ersten Kirche nicht alles nur nach Hass und Angst riecht und vergiftet wird von Misstrauen und aggressiver Selbstverteidigung?
Das liegt daran, dass die Kirche tatsächlich nicht die Welt ist.
Eine Kirche, die vom Grenzziehen lebt, wäre eben niemals die Kirche, sondern eine eingeigelte Sekte geblieben, … längst ausgestorben.
Eine Kirche, die die Bittenden und Suchenden und Anklopfenden nicht zu Tisch bittet, die nicht speist und tränkt und pflegt und teilt, sondern hortet und fortschickt, wäre an ihrer Lebenslüge erstickt.
Eine Kirche, die nicht im Zeichen der Opfer, sondern derer, die Opfer fordern, stünde, hätte sich ein Gericht verdient wie es den Orten ihrer Ursprünge entspräche: Sodom und Gomorrha. ——
Gewiss: In der Welt haben Grenzen ihre Notwendigkeit und Härte ist zuweilen unumgänglich, und objektiv ist bedingungslose, allgemeine Hilfe für alle Bedrückten und Bedrängten nicht möglich.
Aber diese Grenzen der Politik, diese Beschränkungen des materiellen Realismus sind eben nicht der Rahmen und das Maß der Kirche.
Denn sie gehört Einem und in ihr lebt Einer, Der die Sünde und den Tod – also die nach Form und Inhalt üblichen Bestimmungen der Welt – außer Kraft gesetzt hat und für immer überwinden wird.
Aus diesem einfachen Grund schmeckt das Brot der Kirche nicht nach dem Schimmel der Angst, sondern nach dem Sauerteig der Hoffnung. Aus diesem Grund hat von Anbeginn an in der Kirche Jesu Christi nicht der Futterneid derer herrschen dürfen, die sich am Napf gegenseitig wegbeißen, sondern das naive Urvertrauen jener, die einmal geschmeckt und gesehen hatten, was fünf Gerstenbrote und zwei Fische vermögen (vgl. Joh6,9).
Weil also die Kirche nicht die Welt ist, sondern dieser Kreis einer Weltmaßstäbe unbekümmert außer Kraft setzenden universalen Glaubens- und Tischgemeinschaft, darum muss es immer wieder zu jenem Konflikt kommen, den wir in dieser asozialen Zeit erleben.
Die große, auf die Weltgemeinschaft des Reiches Gottes hinweisende und zugehende Kirche Jesu Christi wird die kleine, bange, böse Welt nämlich tatsächlich immer wieder herausfordern und reizen … ob sie nun will oder nicht.
Auch und gerade wo die Kanzel nicht als Ort der Politik gilt, werden sich die Provokation und Verärgerung zeigen, die aus dem Evangelium kommen, wenn man spürt, wie konträr die Sicherheit des Glaubens zur Verunsicherung in der Welt liegt. ——
… Und so wird ein so kleiner, lange Zeit still vor sich hin verstaubender Briefabschnitt wie das freundliche und besonders harmonische Stückchen Gemeindeethik aus dem Philipperbrief plötzlich zur kategorischen Herausforderung an die Welt.
Man sollte diese beiden unscheinbaren Sätze, die Paulus seiner europäischen Erstgründung und dauerhaften Lieblingsgemeinde schreibt, jedem Gröler und jedem Grantler auswendig zu lernen geben, die das Abendland und das Christentum darin verteidigen wollen:
Sollen alle die Anstifter zu kalter Abwehr doch einmal diese körpertemperierte und herzwarme DNA des wirklichen Christentums entschlüsseln, deren Baukasten die Stoffe Trost und Liebe und Gemeinschaft und Herzlichkeit und Freude und Eintracht zu immer neuen Wachstums- und Verbindungsmustern verknüpft.
Sollen alle die ignoranten und arroganten Abschüttler des Mitleids und Auslöscher des biblischen Liebesgebotes doch einmal irre daran werden, wie arglos und frei der Apostel die Selbsterhaltungszwänge der Natur zugunsten von Demut und gelebter Selbstlosigkeit wegwischt.
Sollen die mutlosen Hassprediger und mutwilligen Spalter aller Gemeinschaftsideale ruhig erleben, wie unbeirrbar die christliche Überzeugung von der Überlegenheit des Miteinanders über das Gegeneinander ist.
Schnell werden wohl die allermeisten es merken, dass sie eine andere Wirklichkeit und andere Werte propagieren als die Zeugen Jesu Christi.
Schnell müsste es klar werden, dass da, wo die Kirche ist, Aufgeblasenheit und Anspruchsdenken, die heute so populär geworden sind, klein und erbärmlich wirken, weil Christus den Seinen aufträgt, nicht sich selbst, sondern anderen zugute zu leben und ihnen in Achtung und Dienst den Vorrang vor den eigenen Wünschen einzuräumen.
Eine Verbindung und Vereinbarkeit des Christentums mit den Schlagworten heute oder die Vereinnahmung des christlichen Erbes durch die Schreihälse und Stimmungsmacher wird sich dann gewiss erübrigen.
Denn die Akte „Christliches Abendland“ beginnt mit dem Blatt: „Achte einer den andern höher als sich selbst, und sehe nicht auf das Seine, sondern auf das, was dem andern dient“!
Hört Ihr das, Salvini und Duda und Orban? Hörst Du das, Seehofer, der Du Deinen Geburtstag mit Machtphantasien garnierst wie weiland Herodes (vgl. Mk6,21ff). Hörst Du das, Du Wortbrecher und moralischer Wegelagerer und Kinderräuber, Trump? Hört Ihr das, Ihr von der Abendland-Mafia? Schlagt niemals wieder die Bibel auf, als zeuge sie für Euch … denn sie schlägt Euch in’s Gesicht und verklagt Euch! ……. ———
Man wird dann allerdings auch fragen müssen, was denn wohl in Zeiten von Armut und Kriegen und Lebenshunger bei unzähligen Menschen überhaupt die Botschaft des Christentums an die Politik sein könnte? …….
Dass das nicht die Umsetzung des ersten christlichen Manifestes sein wird, das für Europa je verfasst wurde – nämlich dieser Philipper-Grundordnung der Herzens-Übereinstimmung und des Ich-Verzichts – … das leuchtet schnell ein.
Nicht nur die Moral der Bergpredigt, sondern auch die besondere Lebensform der philippischen Bescheidenheit zugunsten Anderer in der Gemeinschaft erweist sich als ein Entwurf nicht für die gesamte Öffentlichkeit, sondern für die Glaubenden und Getauften, die sich selbst darauf verpflichten!
Einen Staat, eine säkulare Gesellschaft, eine humane Friedensordnung, eine gerechte Wirtschaft – so kostbar sie sind – wird man auf der Grundlage der Ermahnung in Christus, des Trostes seiner Liebe und der Gemeinschaft des Heiligen Geistes nicht errichten können: Das wäre eine Überfrachtung und eine Verfremdung, denn die Weltanschauung unserer Zeit sollte nicht nur religiös begründet sein, und das Recht unserer Verfassung darf nicht nur da angewandt werden, wo wir lieben, und der Zusammenhalt des Gemeinwesens kann nicht zunächst geistgewirkt sein.
Für den Staat müssen seine Voraussetzungen vielmehr vernünftig, legal und objektiv sein.
Welche Aufgabe aber fällt denn dann der christlichen Kirche noch zu, wenn sie erkennt, dass sie ihre freien und uneingeschränkt zuversichtlichen Maßstäbe der Politik so wenig aufdrücken kann, wie sie umgekehrt den Titel des Christlichen der Politik ja auch nicht einfach überlassen mag? …
… Wenn die Kirche Jesu Christi der Politik nicht immer sagte, was sie tun soll, wenn die Kirche den Politikern nicht immer weismachen würde, sie wisse und könne alles besser, dann wäre vielleicht die wirkliche Gelegenheit und der wahre Auftrag der Gemeinschaft der Heiligen deutlicher: Wir sollen der Welt nicht vorschreiben, was sie tun muss und sollen ihr nicht nachbeten, was sie als alternativlos vorgibt, sondern wir sollen es anders machen.
In Respekt und höchster Freiheit soll die christliche Gemeinde nicht für und nicht gegen die Politik das Richtige beanspruchen, sondern sie soll es einfach tun, da wo sie steht! —
Sie wird sich der Welt dabei nicht zum Vorbild setzen und auch nicht zum Vormund, sondern in der Unabhängigkeit der höchsten Treue ihrem Herrn gegenüber wird die Gemeinde der Christen mal Unvorstellbares und mal Unerwünschtes, mal hoch Willkommenes und mal allseits Belächeltes tun, mal wird sie dabei das Gebot der Stunde beispielhaft erfüllen und dann wieder die letzte Bewahrerin von völlig Verdrängtem und Vergessenem sein.
Auf alle Fälle aber wird jene durch alle Zeiten und über den Tod hinaus in das ewige Leben reichende Gemeinschaft der Kirche sich nicht davon abbringen zu lassen, dass sie Christi Gebot und die Lehre der Apostel fest- und hochhält und ihnen nachfolgt.
Und so wird sie immer in ihrem Kreis Fremde und Feinde aufnehmen und versöhnen – wie damals, als die zögerlichen galiläischen Jünger von Paulus die Bereitschaft für getaufte Heiden in ihrer Mitte erst lernen mussten.
Immer wird die von allem Äußeren unberührte Liebesgemeinschaft der Kirche sich auch den Verleumdeten zuwenden und denen, die eigentlich alle Zuwendung verweigern – wie sie es durch die Diakonen in der Alten Kirche und die Armenpflege in Mittelalter und Reformation und durch die Innere Mission, durch Bildungs- und Sozialarbeit seit den Fliedner’schen Tagen hält.
Und immer wird die eine, heilige, christliche Kirche dabei alle nationalen und kulturellen Schranken für nebensächlich und unerheblich halten – wie es die Herrnhuter Gemeinde schon im 18.Jahrhundert kosmopolitisch und aufklärerisch vorgelebt hat, die in ihren Missionsgebieten nicht die nackten Wilden und die bösen Menschenfresser europäisieren wollte, sondern die sich wünschte würdig zu sein, in ihren eigenen Reihen die Vertreter, die Erstlinge aller Stämme und Völker – der Exotischsten und der Entwürdigtesten – zu sehen, die einst allesamt dem Lamm auf dem Thron singen und spielen werden[i].
Immer wird die Kirche des einen und einzigen, des höchsten, des ersten und letzten Herrn darum auch die Regierungen und die Gewaltigen, die Ideologen und die Machtmenschen dieser Welt im Zweifelsfall als törichte und gewichtlose Schatten betrachten, die nicht hindern können, dass eines Tages Güte und Treue einander begegnen und Gerechtigkeit und Friede sich küssen (Ps.85,11) – so wie es die weltweite, unabgestimmte und sich überall doch bestärkende Leidenschaft der Christen für die Kriegs- und Hunger- und Notflüchtlinge unserer Zeit mit hingebungsvollem Einsatz, mit scharfer Wachsamkeit und mit geschwisterlichem Einfühlungsvermögen der Weltöffentlichkeit vor Augen hält. ——
Wir Christen sind nicht die Welt.
Wir wollen – und sollen! – sie nicht beherrschen.
Wir werden sie auch nicht selber retten können.
Aber so lange die Weltgeschichte noch weitergeht, so lange wird die christliche Kirche das eigenständige und nötige Wächter- und Zeugen- und Dieneramt ausüben, mit dem unsere ersten christlichen Brüder und Schwestern hier im Abendland, in Philippi betraut wurden.
Und damit wird die Welt es immer wieder merken, dass sie nicht die letzte Weisheit besitzt und nicht das letzte Wort behalten wird, dass ihre Maßstäbe nicht selbstverständlich und nicht unangefochten sind, weil in ihr eine Gemeinschaft existiert – »SOCIETAS SPIRITUS« steht im Philipperbrief auf Lateinisch – in der es anders zugeht, … soziologisch im Sinne des Heiligen Geistes, … sozial, … bescheiden, … einträchtig, … wo nicht Ehre und erst recht nicht Konkurrenz und Furcht zählen, sondern die Gemeinsamkeit aus Gott und in Gott. —
Und diese Ermahnung, dieser Trost, diese Herzlichkeit sind politischer als alle Politik, … denn in ihnen kündigt sich das Reich Gottes an, dessen Herrschaft kein Ende haben wird.
Amen.
[i] Die Beschränkung auf ganz wenige, symbolische und freiwillige Bekehrungen, durch die der weltweite Charakter der Kirche bezeugt, aber keine kolonialistische Expansion betrieben werden sollte, war das singulär Spezifische der Herrnhuter Mission; vgl. dazu z.B. Zinzendorfs „Rede vom Grund-Plane unserer Heidenmissionen – Himmelfahrtstag, 19.Mai 1746“ in: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Texte zur Mission - Mit einer Einführung in die Missionstheologie Zinzendorfs herausgegeben von Helmut Binz, Hamburg 1979, S.97ff.
5.n.Trin. 01.07.2018 Stadtkirche 1.Mose 12,1 - 4 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 5.n.Trin. 01.VII.2018
1.Mose 12, 1-4
Liebe Gemeinde!
Man verachtet sie, man hält sie für entscheidungsschwach und unselbständig … und natürlich – tödlich in Zeiten der Popularitätsdiktatur! – hält man sie für langweilig: Die „Ja-Sager“!
Denn die Helden und die Wellenreiter der Massenstimmungen heute sind ja glatt das Gegenteil: Es lebe die Internationale der „Nein-Sager“! … Ich sag’ „Nein“ zu Dir, Du sagst „Nein“ zu mir, gemeinsam sagen wir „Nein“ zu allem Gemeinsamen: So wird das doch im Handumdrehen was mit der Abschaffung des dummen „Ja-Sager“-Erbes, das in Gestalt von Frieden und Versöhnung und Völkerverständigung wie ein Mühlstein um unsere Hälse hängt.
Ein „Hoch!“ also auf den ersten Grunzlaut der Natur – das viehische „Nein!“ – , ein „Hoch!“ auf die Brücke in eine wunderbare neue Welt des zerstörten Vertrauens, der vermauerten Straßen und der einfachen Ordnung wie sie etliche führende Männer der Gegenwart verstehen: Ich bin immer der Erste und Du immer das Letzte. …. ———
Doch der kunstlose Reflex des „Nein“-Sagens, den trotzige Kinder und knurrende Hunde und aufgestörte Winterschläfer an den Tag legen, ist das erste, was der biblische Glaube überwindet. Nichts anderes ist die Offenbarung Gottes ja von Beginn an für die Menschheit, als ein Ruf, den dumpfen, tierischen, geist- und herzlosen alten Adam, der ein bärbeißiges Brummtier ist, abzulegen und stattdessen den neuen Menschen, der sich nicht gegen alles weigert, sondern sich etwas traut, … ja, der vertraut, anzunehmen.
Der natürliche Mensch ist das traurige Tier, das nur seine Höhle kennt und in sie zurückkriecht, um sie mit lautem „Nein!“ zu verteidigen. Der Mensch Gottes dagegen ist anders als diese: Er ist ein Wanderer, einer, der sich auf die Entdeckungs- und Pilgerreise begibt, zu der Gott ihn geschaffen hat und ermutigt.
Und die allererste Berufung eines Menschen durch Gott – die abrahamitische Urszene des Glaubens – stellt diesen Sprung aus der primitiven Prähistorie in die Geschichte dar, … den Sprung ins Weite, in die Offenheit, durch den der Höhlenbewohner – selbst wenn er schon in einen mesopotamischen Stadtstaat gehörte – zum Weltbürger wurde. ——
Das also ist die Wahrheit Abrahams: Dass er die Schranken, die sicher sind und die Sicherheit, die beschränkt ist, endgültig verließ.
Seitdem ist das Vaterland – nach dem berühmten Wort Heinrich Heines[i] und im Geist des Hebräerbriefs (vgl. 11, 14-16) – „tragbar“, beweglich, ein „Vademecum“, ein mitziehendes Vertrauen, eine wandelnde Zuversicht, ein vor uns liegendes Heimkehrerziel. ———
Das ist alles tatsächlich tiefe und entscheidende Wahrheit, ohne die kein Mensch die Bibel und das Volk Israel und die Kirche je verstehen könnte: Dass der Ruf Gottes stets Aufbruch und nie Besitz bedeutet, … dass die Verheißung Gottes einen Menschen von allem löst, ihn frei macht und bereit, bis zuletzt nach Gottes Zielen zu suchen; … dass der Segen Gottes nur unterwegs und nicht im Wohnen, im Gewohnten seine wahre Fülle bietet.
Das ist alles tatsächliche und tiefe Wahrheit: Dass Glaube an unseren Gott das Gegenteil von schwächlicher Feigheit – nämlich wirkliches Wagnis! – ist, und dass Ungläubige allemal bürgerlicher und bequemer leben können als die von Gott Gerufenen, und dass wir heimatliche Zugehörigkeit nicht zu etwas Bekanntem, sondern nur zum zukünftigen Reich Gottes haben!
Das ist Wahrheit – reine und bedeutungsvolle Wahrheit! – , dass wir als Nachfolger der biblischen Gemeinde zu den Entwurzelten und den Flüchtlingen und den Fremdlingen halten und gehören müssen und nicht zu den Götzendienern von Gut und Blut und Boden. ——
Doch alle diese uns einerseits bekannte,… ja, durch ihre Vertrautheit schon wieder entschärfte und zur bloßen Formel gewordene Wahrheit hat eine oft übersehene, ganz reale Grundvoraussetzung, von der unser heutiger, ebenfalls sattsam bekannter Predigttext spricht.
Allerdings ist diese Voraussetzung nicht in den äußerst beliebten, … ja geradezu unbedacht beliebten Segensworten der Abrahamsberufung zu finden.
Die bis heute als Taufspruch beispiellos populäre Doppelzusage, dass Abraham gesegnet und ein Segen werden soll, die Eltern als Schutz- und Erfolgsverheißung hören, ist nämlich eigentlich eingebunden in den denkbar schmerzhaftesten, verunsicherndsten Zusammenhang:
Dem Segen, den Abraham empfangen und weitergeben soll, geht der tiefstmögliche Bruch voraus!
Vaterlandslos und verwaist soll er schließlich werden, nur um den Segen Gottes zu erlangen, … und das nicht durch irgendein Schicksal, sondern durch eigene Entscheidung. Der Beistand und die schenkende Gabe Gottes gelten ihm dann, wenn er alle Anker lichtet und jeden anderen Schatz aufgibt. Bloß einem nackten, obdachlosen Bettler wird so Gottes großer, dauerhafter Segen verheißen!
Und da kommt jene Grundvoraussetzung aller unserer erbaulichen und nonkonformistischen Standardfloskeln vom freizügigen, mobilen, beweglichen, geistig unabhängigen wandernden Gottesvolk in’s Spiel: Die ganze Idee, die ganze Wirklichkeit eines nicht angepassten, eines zum Verzicht und zum Ungewissen bereiten Lebens auf einem neuen Weg beruht auf dem schlichten Urereignis des Rufes Gottes einerseits und auf der erstaunlichen Tatsache, wen dieser Ruf traf.
… Er war ein Sesshafter. Sein Vater noch – Terach – war den mesopotamischen Karawanen- und Handelswegen gefolgt (vgl.1.Mose11,31f) und hatte sich dann niedergelassen, wo Kultur und Kommerz blühten: In der uralten Stadt Haran, die dem Reichtum und seinen Konjunkturen geweiht war, weil sie ein weitberühmtes Heiligtum des Mondes beherbergte, – jenes tröstlichen Gestirns, das beweist: Mal wird’s mehr, mal wird’s weniger, aber immer kehrt alles zurück, wenn man nur lange genug gewartet hat.
In dieser behäbigen Stadt am Südrand der heutigen Türkei, im äußersten Norden Syriens, wo die traditionellen Häuser bis heute die Form eines Bienenstocks nachempfinden – des Inbegriffs von Schaffenseifer, Sammelfleiß und Wintervorrat – begann das verantwortliche Leben Abrams, der wie jeder Einwanderer der zweiten Generation stolz auf Erreichtes, empfindlich für Störung und bieder beim Bewahren gewesen sein muss. Hier mehrte er mit den Jahren sein Gut und seine Ehre. Hier war er alt geworden. Ein verdienter Bürger, ein ansässiger Besitzer. Eines jener Tiere der Gewohnheit, die zum Neuen „Nein“ sagen. ——
Doch er – unser Vater, wenn wir ihn denn so nennen dürfen – … unser Vater des Glaubens hat unvorhersehbarer-, … wunderbarerweise „Ja“ gesagt.
Dieses „Ja“ Abrahams ist die erste und zugleich die alles entscheidende Tat des Glaubens in dieser Welt und ihrer Geschichte.
Das „Ja“ des alten Mannes von Haran ist von einer so unvergleichlichen Bedeutung wie das andere, an dem die Heilsgeschichte hängt, … das „Ja“ des jungen Mädchens aus Nazareth, deren Lobgesang wir eben miteinander gebetet haben.
Zwischen der abrahamitischen und der marianischen Zustimmung zu Gott entwickelt und verwirklicht sich das Heil der Welt. ……. Und hätte nur einer der beiden das Naheliegende, das Natürliche, … das „Nein“ gesagt, das doch so selbstverständlich gewesen wäre, dann gäbe es kein jüdisches Volk und keine christliche Kirche, dann gäbe es den wunderbaren Weg durch die Welt und das wunderbare Ziel aller Zeiten nicht, die uns zu Pilgernden und Heimkehrern machen. ———
Es ist tatsächlich so: Wenn man an irgendeiner Stelle der Bibel nicht nur mit stockendem Atem ihrem Bericht folgt – das muss man in Wirklichkeit doch von Seite zu Seite, ja von Vers zu Vers –, … wenn man aber an irgendeiner Stelle der Bibel tatsächlich einfach nicht weiter hören und lesen mag, weil es unmöglich scheint, dass es überhaupt weitergehe, ……. dann ist das nicht da, wo die Feinde am Strand auftauchen und die Fliehenden doch erst auf halbem Weg zum rettenden Ufer sind, …… es ist auch nicht da, wo die von Gott geschriebenen steinernen Tafeln mit der Wahrheit und dem Weg zerschlagen werden, weil die Menschen lieber dem Trug und der Materie dienen, ……. und auch da ist es nicht, wo Gottes Gerichte über die Auserwählten, die doch solche Sünder sind, hereinbrechen, ……. und nicht einmal da ist es, wo der eine Erwählte das Leid aller Menschen getragen, ihre ganze erdrückende, verzehrende Schuld geschleppt und geschluckt hat und würgend, verlassen, verzweifelt daran stirbt; …… nein, wenn man irgendwo die Bibel aus der Hand legen und an der Hoffnung verzagen muss – weil man doch sich selber kennt! – , … dann ist es nicht bei diesen Gipfeln und Abgründen der Heilsgeschichte, sondern unmittelbar an deren völlig unwahrscheinlichem Ausgangspunkt.
Gottes Ruf zu neuem Leben, … Gottes Herausforderung, die alte Welt stehen zu lassen und für Ihn und zu Ihm hin in Richtung der neuen aufzubrechen, … Gottes Ermunterung, dass wir das Beste niemals verlieren werden, wenn wir es nicht schon haben wollen, sondern erst empfangen, … dieser abenteuerliche Grundgedanke Gottes, ein Mensch könne seine Gewohnheit und sein Dasein völlig verändern und sich wirklich auf das einlassen, was von oben und von vorne kommt: Das ist der gewagte, beinah absurde Einsatz Gottes, mit dem nach Sündenfall, Sintflut und „Sturmbau“ zu Babel das Gute in der Weltgeschichte anfangen soll.
……. Eigentlich konnte Abraham menschenlogischerweise nur „Nein“ sagen: Nein, ich will keinem Versuch dienen, sondern der Sonne und dem Mond. Nein, ich will nicht nomadisieren, denn die Welt braucht Zivilisation. Nein, ich will nicht der Erste und Einzige im Unbekannten, sondern ein treues Glied des Bewährten sein. Nein, ich will Sicherheit. Nein, ich hüte das Grab meines Vaters. … Nein danke, ich habe eine Heimat. ——
Aber Abraham hat durch sein „Ja“-Sagen die Welt grundlegend und für immer verändert! Nicht Kleinmut und Weigerung, nicht Misstrauen und Angst, die wir in uns selber vor- und darum selbstverständlich finden, gelten künftig, sondern ein mutiges Wunder der Zuversicht, ein radikaler Durchbruch der Unerschrockenheit, die ungesicherte, aber umso freiwilligere Hingabe an Gottes Macht: Das ist das „Ja“ Abrahams, das ist Marias „Ja“ zu Gott … und so sind seither Maß und Möglichkeit des Glaubens.
Weil diese beiden es wagten, sich in ein unerforschtes Meer der guten Aussichten zu stürzen, weil sie sich Dem anschlossen, Der nie Vergangenheit werden kann, dieweil Er ewig ist und man mit Ihm also immer nur Zukunft gewinnt: Darum ist in der Menschheit das positive Wort, die Bejahung zum Schlüssel des Lebens und des Segens geworden: Mögen Vorsicht und Vernunft noch so sehr das Verneinen alles Nie-Dagewesenen, alles Unvertrauten und Unsicheren nahelegen – der Glaube Abrahams und Marias zeigt uns ansteckend, dass wir alles verlieren, wenn wir „Nein“ zum Unbekannten sagen, weil Heil nicht etwas ist, was wir kennen, sind und haben, sondern einzig das, was uns bei Gott erwartet.
Trotz aller eingefleischter Abwehr gegen die unvorsichtigen, die blauäugigen und gutgläubigen „Ja“-Sager, die sich trauen, was wir uns nicht trauen, die verlassen, was uns hält und riskieren, was uns zu teuer scheint: Abrahams Segen – jener, den er erfuhr und jener, den er allen Glaubenden eröffnet – stellt unsere Gewissheiten auf den Kopf!
Das instinktive „Nein“ unserer Sorge, unserer Erfahrung und Klugheit ist kein weiser Rat, sondern töricht und schwach, wenn wir es gegen Gott und Sein Wort richten!
- Wollen wir wirklich ablehnen, wo Gott Vertrauen fordert?
- Wollen wir es wirklich ausschlagen, wenn Gott Seine Zukunft durch Veränderungen greifbar macht?
- Wollen wir wirklich „Nein“ sagen zu Seinem Gebot der Liebe, … der Feindesliebe, weil die tierische Natur uns dazu zwingt?
- Wollen wir „Nein“ sagen zu Gottes Plänen, die allemal stärker und gewisser sind als jede scheiternde Voraussicht des ängstlichen Menschen?
- Wollen wir „Nein“ sagen dazu, dass Gott Zeugen des Segens in die Fremde sendet und nicht Zeugen der Verwerfung?
- Wollen wir es wirklich wagen, das Wagnis der Wegweisung Gottes abzulehnen, … den Glauben abzulehnen, der nichts weiß und hat außer der Verheißung?
- Wollen wir wirklich dem Geist, der stets verneint, auf die Leimrute gehen, die uns festhalten wird bis zum Sterben?
Oder wollen wir mit Abraham nicht dem Vaterhaus, nicht der Verwandtschaft für immer verfallen bleiben, sondern Den Vater suchen und Sein Reich, das kommt?
Glaube ist das Wagnis des Vertrauens vor aller Welt und ohne alle Welt, Zuversicht des, das man hofft und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht (vgl. Heb.11,1). ——
Es sind Glaubenszeiten wie unsere, in denen sich die Geister in die des „Ja“ und die anderen des „Nein“ scheiden.
Angst und ihr Namensgeber – die Enge – werden dabei unweigerlich dorthin geraten, wo sie sich zuhause wissen: In die Vergangenheit.
Doch der Glaube Abrahams, der sein ganzes Vertrauen einzig auf Gott wagte und alles andere zurückließ, der führt in die Weite, in der viele Völker, … ja, wie wir getrost glauben dürfen: alle Völker einst miteinander den Segen und die Gegenwart des lebendigen Gottes finden sollen.
Es sind Glaubenszeiten.
Gott gebe uns, dass wir „Ja“ dazu sagen können!
Amen.
[i] Vgl. Heinrich Heine, Geständnisse, in: Sämtliche Schriften – Bd.VI/1, hg.v. K.Briegleb, 2.Aufl., München 1985, S 483, wo Heine das heilige Buch, die Bibel als „portatives Vaterland“ der Juden im Exil beschreibt.
Johannistag 24.06.2018 Stadtkirche Johannes 3,30 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Johannistag 2018
Johannes 3,30
Liebe Gemeinde!
Halbzeit.
Die Mittelnaht des Jahres ist erreicht, seine Spiegelachse. … Auf der einen Seite Saat, aus der Lebendiges heranreift, auf der anderen Seite Ernte, die das Leben nähren und selber wieder zu Saat werden muss. Und auf dem Scheitelpunkt dieser Symmetrie des Heranwachsens und des Verzehrtwerdens war nun am 21.Juni ein langer Tag voll Licht, dessen Besonderheit im Sonnenjahr schon immer zu allerlei oberflächlicher und tiefer Deutung geführt hat:
Der Zenit im Zyklus der Natur wird dabei bis heute im schwedischen Brauchtum greifbar, wo alle bis in die helle Mitternacht sich schwindelig um den bekränzten Sommerbaum tanzen und dann unter die Feldblumen am Ackerrain kullern, … und je nachdem ob man zu zweit fällt, bringt der Märzen dem Bauern neues Gesinde oder Erben.
… Und auch die Freimaurer und alle möglichen anderen Geheimlehren und Ideologien bis hin zur völkischen der Nazis haben die Sommersonnenwende als symbolisch aufgeladenen astronomischen Stichtag begangen. Der hellste Tag hat’s einfach in sich.
Darum hat die Kirche einen solchen buchstäblich ins Auge springenden und das Fell kitzelnden Moment, wo Licht und Lebenskraft im Überfluss überall den Hafer jucken lassen, seit alters her natürlich auch deuten müssen und wollen, um nicht bloß den selbstverständlichen Prozessen und Reflexen der Natur dabei zu huldigen.
Und die kirchliche Sinngebung der Jahresmitte hat es wahrhaftig ebenso in sich.
Denn das Spiel mit der theologischen Symbolik unseres Zentralgestirns ist einer der geistreichsten Einfälle am Kirchenjahr.
Geläufig ist uns ja die Erklärung, die Kirche habe die Sonnenwenden des Dezember und des Juni deshalb als Tage der Geburt Christi und des Täufers gewählt, um möglichst anschaulich zu machen, dass der Erlöser der Menschen in der tiefen Finsternis des europäischen Winters als das wahre Licht erscheint, während sich auf dem Gipfel des Mittsommers durch das Zeugnis des Täufers schon wieder das allmähliche Verlöschen der Solarstrahlung ankündigt, die vor der ewigen Helligkeit des kommenden Reiches aber auch getrost verbleichen kann.
Doch bloß eine einfache Korrespondenz ist in dieser Gegenüberstellung von Johanni und Christi Geburt nicht gegeben.
Denn bei genauerem Nachdenken besagen die beiden Daten und ihre Deutungen ja folgendes: In der dunkelsten irdischen Nacht leuchtet uns das himmlisch Hellste auf, … und der hellste irdische Tag weist wegen dieser wahren Erleuchtung wiederum auch nur auf das voraus, was in jener Dunkelheit begann. Sowohl der 24.Dezember wie der 24.Juni beziehen sich also auf Jesu Geburt, und der Tag in der Jahresmitte ist in Wahrheit nur von der gewesenen und von der kommenden Heiligen Nacht her zu verstehen.
Die Mittsommersonne ans sich hat demnach einfach gar keine erhellende Bedeutung …
Dass damit eine polemische, anti-heidnische Spitze gegen alles fromme Feiern des Kosmischen oder der Astrologie geschärft wird, ist deutlich.
Aber mit dieser raffinierten Umdeutung des von den Tagen der Druiden in Stonehenge bis zu den HJ-Aufmärschen in der Kaiserpfalz scheinbar eindeutigen Hochgefühls beim Sonnenhöchststand, ist eine weitere Lehre verbunden, die auch uns durchaus betrifft. Denn auch ohne alt- oder neuheidnisches Pathos ist das Behagen, auf dem Gipfelpunkt der Zeit zu stehen, so etwas wie unser Lebensgefühl: Wir sehen grundsätzlich ja unsere Gegenwart auch als unseren Lebensmittelpunkt, … der Augenblick ist für uns zentral, … das Heute ist der Maßstab aller Dinge. ———
Dass der kirchliche Kalender dieser Vorliebe für die jeweils aktuelle Konstellation der Himmelskörper und der von ihnen beeinflussten Stimmungen nun aber so die Spitze abbricht, ist tatsächlich ein Dämpfer.
… Sollte es wahrhaftig denn völlig unwichtig sein, wie wir uns momentan fühlen? Soll es überhaupt nicht zählen, wenn die äußeren Faktoren alle so günstig und bequem und wohltuend sind wie mitten im Sommer?
… Ist das nicht abschreckend weltfremd und lebensfern, so kategorisch anderen Zeitstufen den Vorzug vor der Gegenwart zu geben?!
Ja … – und nein.
Gewiss ist es abschreckend für eine Menschheit, die außerhalb ihres eigenen kleinen Zeitausschnitts nichts weiter wahrnimmt. … Dass wir tatsächlich das Gefühl für alles verloren haben, was jenseits des gegenwärtigen Erlebens liegt, ließe sich an vielen Beispielen zeigen – nicht zuletzt an der absurden Neigung, die Probleme des Tages für die größten Herausforderungen der Geschichte zu erklären und Stabilität, Vernunft, Verträge, Verlässlichkeit zu riskieren, um Stimmungen zu bedienen und kurzsichtige Ziele zu erreichen.
Angesichts der chaotischen Kurzschlüssigkeit der Krisentreiber und der Haurucktribunen unserer Tage ist die Botschaft des Johannistages sehr, sehr ernst zu nehmen in ihrer heilsamen Relativierung des Augenblicks.
… Wer sich nicht mehr erinnern kann, welche Lasten in der Vergangenheit bewältigt wurden, und wer sich nicht einstellen kann auf die der ganzen Welt drohenden Entwicklungen, der wird nie den Blick frei dafür haben, wie verzerrt viele unserer derzeitigen Parolen und Sorgen tatsächlich sind.
Und wer nie mit Johannes, dem Vorboten des Kommenden zu sagen lernt „ICH MUSS ABNEHMEN, … ich muss hinter den Hoffnungen und Rechten der Zukunft zurücktreten, … ich habe als Vorübergehender keinen dauerhaften Vorrang“, … wer nie diese gelassene Ergebung findet, dass unsere Gegenwart nicht wichtiger und bedeutender als jeder längst verblühte Sommer, jede noch im Schoß des Künftigen schlummernde Möglichkeit ist – der wird ein Tyrann des Augenblicks, ein Diktator flüchtig-zufälliger Launen.
Vor solche Trugschlüsse des Mittsommers – als sei es alles hier und jetzt bei uns auf der Höhe oder zur Entscheidung reif und richtig – … vor solche Trugschlüsse hat die Kirche eine wunderbare Schranke eingezogen, an der der Größte der Propheten Wache steht (vgl. Matth.11,11), der dem Christus verwandtschaftlich und biographisch am allernächsten war und dann doch gerade aus dieser beinah unmittelbaren Position heraus in den Hintergrund treten musste – … und konnte!
……. „ER MUSS WACHSEN!“
Doch nicht nur seine Selbstlosigkeit, sein Absehen-Können von sich macht Johannes zum Maßstab auch für unsere Gegenwart, sondern die unendlich weise und erleuchtete Einbettung, die er seinem und jedem anderen Heute gibt in dem anderen Wort, das zum Abnehmen des eigenen Ego und dem Wachsen des einen Erwählten dazugehört, so wie wir es eben vernahmen: „NACH MIR KOMMT, DER VOR MIR WAR“ (vgl. Joh1,30!).
Das ist der eigentliche Sinn des Johannistages: Dass er uns mitten in der Zeit lehrt, dass noch vor uns liegt, was doch schon vor uns war! …….
Johannes überlässt mit dem Einverständnis ins eigene Schwinden und in die überragende Zukunft Christi seinen eigenen Rang und sein eigenes Schicksal ja nicht einfach bloß einem Jüngeren.
Vielmehr ist er gewiss, dass dieser Jesus als der Messias, als der Christus durch eine ursprüngliche Bestimmung auch endgültig der Herr und das Ziel aller Zeiten und aller Zeitläufte und Lebenswege sein wird: Wer daher seinen Ort und seine Tage, wer sein Leben als einen Ausschnitt aus der viel, viel älteren und längeren Heilsgeschichte Gottes begreift, der wird umfasst von Christus zuvor und Christus zuletzt.
Und diese Sicht der Zeit und dieses Lebensgefühl eines tiefen Eingebundenseins in etwas, das uns in jeder Richtung und auf jede Weise überragt und übertrifft: Das will uns der heutige Tag, der sich auf das vor einem halben Jahr vergangene und auf das in einem halbe Jahr kommende Weihnachten bezieht, wieder lehren und schenken.
Unsere Gegenwart ist wirklich nicht das Erste und nicht das Letzte, auf das es ankommt.
Ihr Bruchstückcharakter und ihre Begrenzung würden das ohnehin nicht zulassen. Gegenwarten sind stets nur unvollständige Momente und haben keine Dauer.
Sich auszuruhen auf etwas so Endlichem, sich zu identifizieren mit etwas so Unbeständigem wie einer reinen Jetztzeit, das wäre wie das irrlichternde kurze Aufleuchten und Verlöschen der Johanniswürmchen, die in diesen Juni-Nächten durch’s Gebüsch schwärmen.
Vielmehr gilt es vom Täufer zu lernen, dass unserm Leben hier und jetzt immer wieder der Bußruf gilt, die Ansage, dass es nicht einfach weiter geht, sondern dass wir uns ändern müssen, um aus der Befangenheit in unserm ständigen „Das ist jetzt wichtig! Und jetzt ist das wichtig! Und das Jetzt ist jetzt wichtig!“ herauszufinden – und zu lernen, dass wir das wirklich Wichtige nicht finden werden, wenn wir nicht zurück in die Zukunft, in die zukünftige Vergangenheit blicken.
Wirklich und für immer wichtig ist nämlich doch nur, dass wir Jesus Christus kennen, dass wir ihn kennen lernen!
Ohne ihn hat kein Leben Grund und kein Leben Erwartung.
Ohne Jesus Christus wachsen ein paar Jahre lang nur wir, … wie die Seifenblasen wachsen, wenn sie aufgeblasen werden: Bis zum Platzen.
Wenn wir aber wie der einstige Vorbote des Herrn eine Haltung und eine Spannung erreichen, in der wir das von Christus Verkündigte und das von Christus Verheißene als die zwei Dimensionen begreifen, die unser Augenblicksleben um das Woher und Wohin ergänzen und es dadurch vor dem Verbleichen und Verrauchen retten, dann treten Hoffnung und Glaube an die Stelle von Egoismus und Routine.
Denn dann begreifen wir, dass wir gemeinsam mit allen anderen Menschen zwischen den Zeiten[i] stehen: Zwischen dem Weihnachten, an dem die Rettung dieser Welt begann, und dem Wiedersehen, das sie vollenden wird. … Was lange vor uns war, ist ja nicht abgeschlossen, sondern es geht weiter. Das Wunder, dass Gott wirklich unser Leben zu Seinem machen wollte, damit die Menschheit an Seinem Leben einmal genauso teilhaben sollte, … dieses weihnachtliche Wunder verbindet Vergangenheit und Gegenwart ja mit der Zukunft bis zum jüngsten Tag – und mit der Ewigkeit.
… Denn was immer uns vergehen mag, was immer wir vermissen und verlieren: An dieser allesentscheidenden Stelle gibt es tatsächlich nur ein einziges Wachsen und Mehren, eine Steigerung und Zunahme, die ins Unendliche weist: Christus wird immer mehr, immer wichtiger, immer globaler und weltumspannender.
… Wenn wir daher nicht immer nur mit unserm panischen und irrationalen Tagesgeschehen beschäftigt wären, sondern uns vor Augen stellten, was mitten durch unsere Gegenwart hindurch alles Vergangene mit jedwedem Kommenden verbindet, … was von Weihnacht zu Weihnacht, was von Winter zu Winter, von Nacht zu Nacht, von Krise zu Krise, von Katastrophe zu Katastrophe, von Unsicherheit zu Unsicherheit wirklich zunimmt, dann würden doch auch wir es erkennen: Die Bedeutung Jesu Christi wächst!
… Immer zentraler wird es, dass wir die Weltregierung nicht in den Händen der Schurken, nicht in den Stimmen der Mehrheiten, nicht bei der Willkür der Mächtigen, nicht in den Fängen der Verbrecher, nicht im Belieben jedes Einzelnen wissen, sondern in der Obhut dessen, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und Erden (vgl. Matth.28,18ff) und der immer wieder neue und andere Menschen sendet, zu sammeln, zu trösten, zu taufen und zu lehren, weil er in jeder Gegenwart, jedem Augenblick, jeder Sekunde verborgen bei uns ist und uns sichtbar und siegreich erwartet.
Jesus Christus – dessen Geburt wir alle heute vor einem halben Jahr gefeiert haben – Jesus Christus ist der Welt näher gekommen, steht ihr direkter noch bevor, als vor 182 ½ Tagen.
… Nicht dass wir ihn zwingend schon in weiteren 182 ½ Tagen leibhaftig werden sehen und empfangen können, … aber seine Versöhnung und Herrschaft über alle Völker ist doch in Gang gekommen in der Unruhe dieser Zeit.
Denn dass die Welt in Bewegung ist – erschütternd und erschreckend und erstaunlich und erkennbar –, … dass die Geschichte sich dramatisch fortentwickelt und wir ihre Beschleunigung nicht aufhalten, ihre Wendungen kaum noch ahnen, ihre Überraschungen überhaupt niemals vorwegnehmen können … das alles ändert ja nichts daran, sondern bestätigt es nur, dass alles, was wir sind und wissen und können und haben, vergeht und ein anderes, ein Anderer kommt!
Es kommt, der vor uns war. Sein Tag und Seine Zeit brechen an.
Und es wäre töricht, wenn wir das ausgerechnet heute nur mit Sonnenschein und Hochgefühl verbänden.
Dieser Sommersonntag, der uns zurück- und vorausschauen macht, zeigt uns doch, dass die Gegenwart im Vergleich zur Bedeutung und zum Gewicht dessen, was war und was kommt, leicht und gering ist (vgl. Rö8,18; 2.Kor4,17f), und dass wenn die Zeiten sich ändern wir uns mit ihnen ändern müssen – gemeinsam mit allen alten und neuen, allen hiesigen und allen Glaubensgeschwistern in aller Welt, die sich taufen lassen und auf die Wege des Herrn rufen: Bereit zum Vertrauen, bereit zur Geduld, bereit zur Zuversicht, bereit zur Umkehr, bereit zur Liebe, bereit zum Wagnis, bereit zum Leiden, bereit zum Neuanfang.
Denn wir müssen vergehen. Und Er wächst.
Und Er kommt.
Amen.
Ja, komm, Herr Jesu! (Offenb.22,20)
[i] „Zwischen den Zeiten“ hieß und sah sich die Zeitschrift der sog. „Dialektischen Theologie“ Karl Barths, Eduard Thurneysens, Rudolf Bultmanns und Friedrich Gogartens, die in den äußerst krisenhaften Jahren 1923 -1933 im Münchner Christian Kaiser Verlag erschien. Dass sie gerade heute wieder einfällt, ist vielleicht kein Zufall. Der berühmte Finger des Täufers auf dem Isenheimer Altar, der so expressiv gesteigert und unverwandt auf den Gekreuzigten weist, war auch damals das Sinnbild aller sachlichen und dabei wahrlich nicht wirklichkeitsfernen Theologie und wurde nicht nur von Karl Barth in „Zwischen den Zeiten“ ganz bewusst beschrieben und beansprucht..
3.So.n.Trin., 17.06.2018 Stadtkirche 1.Johannes 1,5 - 2,6 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.n.Trin. - 17.VI.2018
1.Johannes 1,5 – 2,6
Liebe Gemeinde!
Das erste, was bei der Lektüre dieser einleitenden Sätze, dieser Grund-Sätze des 1.Johannesbriefes auffällt, wenn man sie im Original liest, ist ihre mächtige Klarheit.
Diese Sätze könnte man einem Studenten vorlegen, der gerade die Grundlagen des Griechischen gelernt hat, und wenn man ihn dann bäte, eine Übersetzung anzufertigen, käme mit Sicherheit mehr oder weniger das heraus, was wir in der Lutherbibel ebenso finden wie in fast allen treuen Übertragungen. … Es gibt wenige Abschnitte des Neuen Testaments, in denen die Übersetzer so völlig übereinstimmen: Abweichungen sind kaum möglich, weil der Urtext so völlig durchsichtig und folgerichtig und geklärt wirkt. ——
… Wer so zielgerichtet, schnörkellos und hell zu formulieren vermag, der hat entweder die letzte Weisheit erlangt oder die hellste Wahrheit erkannt oder die tiefste Demut erreicht. …….
An Johannes’ Sätzen, in denen nichts weggelassen werden kann, weil nichts stört oder schmückt, an diesen Sätzen, zu denen nichts hinzugefügt werden kann, weil nichts offen oder unverständlich bleibt, zeigt sich also – noch ehe wir ihren Inhalt betrachten – , dass hier ein menschlicher Verstand und die Erfahrung eines Lebens an der Grenze ihrer Vollendung stehen: So sparsam und doch leuchtend sprechen meistens nur alte Leute, für die Leid und Fülle des Gewesenen zum Wesen selber, zum Wesentlichen geworden sind. Die schrecklichsten Tiefen und die glücklichsten Geheimnisse des Daseins klingen bei ihnen so einfach, dass ihre Vertrautheit mit allem in allem nur noch etwas Selbstverständliches berührt und Angst und Zweifel verschwinden. ——
Diese Wirkung natürlicher Glaubwürdigkeit und mühelos vermittelten Friedens hat Johannes, der uralte Lieblingsjünger Jesu als Greis in den ersten christlichen Gemeinden entfaltet. Zeugen, die ihn als Kinder erlebt hatten, wussten noch in der zweiten Hälfte des 2.Jhdts. vom unauslöschlichen Eindruck zu berichten, den der letzte Überlebende aus dem Zwölferkreis machte, wenn er gelähmt, geistig entrückt und nach Innen gekehrt ehrfürchtig in die Versammlungen getragen wurde und dort lediglich wieder und wieder den Satz wiederholte: „Kindlein, liebet einander!“[i]
Aus diesem abgeklärten, vorletzten Zustand auf Erden, in dem ein Mensch seine Entscheidungen getroffen, ihre Folgen sämtlich getragen und ihren Lohn nun unmittelbar vor Augen hat, ist wohl auch der Brief des Apostels zu verstehen.
Er enthält das Bekenntnis und Vermächtnis eines Menschen, der selber auf Golgatha dabei war und trotzdem weiß, welchem ewigen Licht er entgegen geht. Er enthält den durch Belastung und Versuchung und Verfolgung und Bewahrung unkompliziert gewordenen, rundgeschliffenen, kieselharten Glaubenskern eines apostolischen Lebens, das Herrliches und Höllisches hinter sich hat – und im Reinen damit ist.
Allerdings hat diese durch und durch geläuterte und reduzierte Gestalt, die die Botschaft des Evangelisten in seinen Episteln annimmt, eine logische Folge: Je klarer sein in der Welt müde gewordenes Auge das Licht des Gottessohnes sieht, je heller seinem alten Gehör die innere Stimme der Wahrheit klingt, je sicherer er im Lauf der Jahrzehnte das Wort und Gebot der Liebe Gottes erkannt hat und je stärker er in einem langen Leben die Reinigungskraft des Blutes Jesu Christi erfahren konnte – desto schlichter ist sein Vertrauen geworden.
… Alle Fragen hat die Wirklichkeit ihm beantwortet – damals, als nach Karfreitag der dritte Tag kam und dann die vierzig Tage des Glücks mit dem ewig Lebenden und dann der Schock des Himmelfahrtsabschieds und dann, nach zehn Tagen die plötzliche Durchdringung mit der Kraft des Geistes aus der Höhe, und dann die Jahre des Predigens und Wanderns und des Betens und der Mahlfeiern an unzähligen Orten der Erde und danach die furchterregende Einsamkeit und die Ketten auf der Verbannungsinsel Patmos und die heiligen Leiden und Freuden der Offenbarung der letzten Dinge und dann noch immer nicht der Tod, sondern das langsame, immer leisere Altern, in dem er für Maria, die ihm anvertraute Mutter (vgl. Joh19,27) nicht mehr sorgen musste, sondern ein anderer ihn gürtete und führte, wohin er gar nicht wollte (Joh21,18), und dazwischen das Schreiben des Evangeliums, und mit dem flacher werdenden Atem und den weniger werdenden Worte die immer kürzeren Briefe und das letzte Jahrzehnt seines Lebensjahrhunderts und der dritte kaiserliche Christenverfolger in Rom – Trajan, der auf Nero und Domitian folgte –, … und der See Genezareth wird blasser und Jerusalem wird blasser und Ephesus, die Stadt seines Alters wird blasser, denn nur Gott selber, … die Wahrheit, … die Liebe ist für ihn und vor ihm noch klar und immer deutlicher.
… Dem Johannes hat also diese Wirklichkeit seines Lebens für Gott und zu Gott hin alle Fragen beantwortet.
Und darum ist das, was ihm von alledem geblieben ist, eine ganz und gar eindeutige Botschaft, … etwas, das wir gewöhnlich abschätzig eine „Schwarz-Weiß-Botschaft“ nennen!
Denn darüber staunen wir, … dass da einer so fraglos und unvorsichtig einfach sagen kann: Gott ist für mich kein verschwommenes, verschleiertes Rätsel, sondern völlig klar. Von Gott geht eine so unverkennbare Ausstrahlung aus, dass wir uns entweder in Seinem Glanz befinden oder in radikaler Dunkelheit. Und dieses Entweder-Oder ist nicht von den üblichen, typisch menschlichen Grauzonen bestimmt, es ist nicht von Schatten begleitet und wird auch nicht von schwarzen Rändern eingefasst und überlagert. … Im Gegenteil. Das Blut des Sohnes Gottes ist wie der leuchtendrote Sonnenaufgang; wo sein Leben sich ausbreitet und fließt, da geschieht, was uns jeder Morgen zeigt: Aus Blutrot wird Taghelligkeit. ——
Es gibt da also nichts Dunkles zu fürchten, wo die Jünger vom Blut Jesu reden, das sie rein macht und neu.
Dass Jesus für uns starb – damals auf Golgatha, wo Johannes selber Augen- und Ohrenzeuge seiner Liebe bis zuletzt war – dass Jesus für uns starb, war wirklich das Ende der Nacht. … So viel Licht konnte das schwarze Reich nicht verdunkeln und verdecken: Das Sterben brachte – im Gegenteil – das unauslöschliche Licht in Jesus Christus endgültig hervor, indem sein Leben aus jenem Körper, jener einen Lebenszeit austrat, die es bisher umgrenzten, und seither überall und immer ist.
Schon der Lanzenstich in Jesu Seite war wie das Öffnen seines Grabes: Osterlicht strömt hervor, … unaufhaltsames Leben.
Und in diesem Licht und Leben können wir sein!
… In einem Licht, das einfach gar keine Verdunkelung mehr erfährt. In einem Licht, das klar und ewig ist, weil keine Nacht ihm mehr folgt.
Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis. ——
Das ist das blendende Weiß von Johannes’ Botschaft.
Und das Schwarz?
Das sind wir. Ganz einfach.
… Nicht weil der Apostel den Dualismus lehrt, der zu seiner Zeit im römischen Reich viele nachdenkliche und ernsthafte Menschen faszinierte, die etwas von der persischen Hochreligion des Propheten Zarathustra erfuhren[ii]. Die persische Religion lehrte ein todernstes, lebensbedrohliches Ringen zwischen dem erleuchtenden Feuergeist des Schöpfers Ohrmazd und dem bösen Fürsten der Finsternis, Ahriman. … In deren Kampf ist alles einbezogen, in ihrem endlosen Kräftemessen teilt sich die ganze Welt, wird die Materie ebenso wie das Spirituelle verwickelt; ihr Duell zerreißt im Widerstreit der guten und der bösen Regungen auch die Menschenseele.
Diesen schwarz-weißen Dualismus – der um Vieles philosophischer und ethischer war, als der bequeme Brei, zu dem die Römer tausend bunte Götter in ihrem Staatskult vermischten – … diesen schwarz-weißen Dualismus hatte das jüdische Volk schon im babylonischen Exil und in der Zeit des großen Alexander kennen gelernt; und die ersten christlichen Missionare – darunter gewiss auch die Apostel des Iran, Judas Thaddäus und Simon Zelotes – begegneten bei den schwarz-weiß Dualisten einer solchen Sittenstrenge und einer so zwingenden Erklärung für die Konflikte zwischen Richtig und Verkehrt, zwischen Heiligem und Unheil, dass allmählich ein tiefer Einfluss der persischen Zwiespaltreligion in den Sekten der christlichen Gnosis und dann auch in der Kirche zu wirken begann. Dass die Welt der Schauplatz eines riesigen Zwei-Lager-Krieges sei und dass die Wahrheit also nur in einer apokalyptischen totalen Schlacht um den Endsieg sich behaupten werde – insgesamt also genau die Propaganda des Islamismus und der christlichen Fanatiker – das sind Auswirkungen jener Begegnung mit dem Dualismus Zarathustras.
Doch die Klarheit des alten Johannes, sein reines Entweder-Oder hat nichts von der erstickenden Bedrohlichkeit einer Welt zwischen zwei gleichstarken magnetischen Polen.
Johannes kennt das Weiß des Lebens, der Liebe und des Gebotes Gottes. So herrlich leuchtend, so ungetrübt und sonnenklar ist es, dass es eine ganz leichte, eindeutige Frage der Wahrheit ist, ob wir ein derartiges Licht auch an und in uns haben?
– Sind wir aber nicht von dieser schattenlosen, gleichmäßig weltraumfüllenden Heiterkeit, dann ist neben diesem wundervollen Glanz physikalisch und psychologisch alles andere schlicht Schwärze.
Wer sich darum einbildet und wer rausposaunt, er selber sei so transparent, so einleuchtend, so durch und durch klar und wahr wie Gott, der lügt.
Sünde ist der Selbstbetrug der Schattenwelt, sie sei aufgeklärt.
Das Allerschrecklichste an diesem Irrtum, an dieser trüben Selbsttäuschung ist aber, dass den Sündern, die sich selbst für helle halten, die wirkliche Quelle aller Wärme und aller Einsicht verborgen bleibt.
Diese tatsächliche Quelle der Erleuchtung und der Einsicht ist aber das Gebot Gottes, … das Gebot, das Johannes ... wie Jesus … wie die Propheten … wie Moses in dem einen Hauptgebot zusammengefasst sieht: „Liebt!“
Diese Hauptsumme des Gesetzes, diesen Kern und Stern der Wahrheit und des Lebens hat noch der alte Apostel Johannes um die Jahrhundertwende nicht umsonst wiederholt und wiederholt. Nicht aus Vergesslichkeit, nicht aus Demenz, sondern weil da, wo wir alles vergessen dürfen und nichts mehr behalten müssen, die Summe doch nach wie vor nicht mehr und nicht weniger und nichts anderes ist als dieses: „Kindlein, liebet einander!“
Wer dagegen sich selbst für die Sonne hält, für das Zentralgestirn, für rein und richtig und tadellos, der kann nicht lieben – jedenfalls nicht im christlichen Sinn! –, weil er keinem Beispiel folgen kann.
Wer sagt, er habe keine Sünde, der kann ja nur sich selber als beispielhaft sehen. … Einem Vorbild folgen, die Bahn aller Körper um die große Sonne mitvollziehen: Das hingegen kann ein solcher blinder Sünder nicht, weil er ja von sich selbst geblendet ist.
Seine Sünde zu bekennen, heißt darum vor allem anderen, sich selbst vom erdichteten Himmel auf die wirkliche Erde zu versetzen und zu gestehen, dass man eben nicht überirdisch ist, sondern ein Trabant, ein Nachfolger sein will, jemand, der in der Umlaufbahn des wirklichen Lichtes und der wirklichen Liebe dem Gebot folgen will, das die Welt ordnet und schön macht.
Und das ist das Wunder des Evangeliums, dass in ihm das Beispiel, wie wir leben sollen, und die Botschaft von der Sündenvergebung, die unser Leben rettet, in eins fallen: Indem Jesus Christus uns die Liebe Gottes vorlebt, indem er das göttliche Gebot der Liebe erfüllt, erfüllt und bestätigt es sich eben auch an uns: Dass Gottes Sohn uns liebt, ist ja die Versöhnung für unsere Sünden – und die der ganzen Welt! – und zugleich der Weg, auf dem wir ihm folgen, nahe sein und ähnlich werden können.
Und so ist das Glauben und Leben als Christ tatsächlich nicht schwer, sondern in Wirklichkeit so einfach und klar, wie Johannes es uns hinterlassen hat:
Gott ist Licht.
Wir sind’s nicht.
Aber der Glanz unseres herrlichen Gottes schließt die Finsternis nicht aus, wie in der dualistischen Sicht der Welt, sondern will sie erhellen und mit sich selbst erfüllen.
Und wer immer in der Dunkelheit bereit ist, sich erleuchten, d.h. vor allem: sich von Gott lieben und vergeben zu lassen, in dem wird alles, … alles ebenso hell.
Wenn die Sonne der Versöhnung in einem Menschen aufgeht, dann wird er selber lieben, bis Gottes Liebe in ihm vollkommen ist.
Wir trüben Menschen können nämlich als Liebende so leben, wie Jesus gelebt hat und lebt! ———
Klarer – und wunderbarer … und einfacher! – geht es nicht.
Amen.
[i] Aus historischer Sicht werden die vielfältigen Zeugnisse, die sich auf Johannes(-Gestalten), beziehen am gründlichsten vorgestellt bei Martin Hengel, Die johanneische Frage, Ein Lösungsversuch (WUNT 67), Tübingen 1993. Die Predigt gründet auf der altkirchlichen Überlieferung, die den Apostel mit dem Evangelisten und dem Empfänger der Offenbarung identifiziert: Folgt man dieser Tradition, wird das Corpus der johanneischen Schriften plausibel als Ausdruck einer langen, biographisch-meditativen Entwicklung.
[ii] Faszinierend für eine Gemeinde, in der viele iranische Neuchristen eine Heimat suchen und finden, ist die Erfahrung, dass unter den Iranern bis heute – trotz der islamistischen Unterdrückung – immer noch erstaunliche Kenntnisse der zoroastrischen Vergangenheit lebendig sind und ein kultureller Patriotismus diese Aspekte der persischen Geistesgeschichte nach wie vor als Bestandteile der eigenen Identität wahrnimmt. Das ergaben auch unmittelbare Rückmeldungen der iranischen Hörer zur Predigt.
2.So.n.Trin. 10.06.2018 (Gottesdienst zur Gemeindeversammlung) Stadtkirche 1.Korinther 14,1-3+20-25 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.n.Trin - 10.VI.2018, mit anschl. Gemeindeversammlung
1.Korinther 14,1- 3+20-25
Liebe Gemeinde!
Der evangelische Witz, demzufolge der Heilige Geist bei der himmlischen Urlaubsplanung Rom als Reiseziel vorschlägt, weil er diesen interessanten Ort noch nie besucht habe, ist mir diese Woche auf dem Schützenfest in Wittlaer aus berufenem Mund in seiner katholischen Fassung erzählt worden.
… Doch wer meint, er ahne, wie es darin zugeht, könnte durchaus irren: Während Gott, der Vater Amerika als Urlaubsparadies ablehnt und der Sohn Jerusalem, weil beiden dort jeweils Zweifelhaftes angetan wurde, ist die Mutter Gottes begeistert, als man Medjugorje, nicht weit von der kroatischen Adria in Erwägung zieht: Dort sei zumindest sie noch nie gewesen.
Dazu muss man natürlich wissen, dass das bosnische Medjugorje einer der am heftigsten umstrittenen, inoffiziellen Marienwallfahrtsorte ist, von dem die einen meinen, dass die unermüdliche Mutter des Herrn dort regelmäßig als Orakel erscheint, währen die anderen ihre beinah täglichen, eher belanglosen Botschaften als Beweis für blanke Erfindung nehmen.
Jedenfalls ist der Medjugorje-Witz ein Beispiel dafür, dass auch in der katholischen Kirche nicht alles voller heiliger Kühe ist und man selbstkritisch ironisch, sogar ätzend sein kann.
Umgekehrt wäre ich tatsächlich weniger sicher.
… Oder haben wir den Wanderwitz schon einmal mit der Pointe gehört, dass der Heiland bei der Reiseplanung der Dreieinigkeit sich besonders für den evangelischen Kirchentag interessiert, weil er sich dort – von den Latschen vielleicht abgesehen – völlig unerkannt bewegen kann? …….
Derlei unfreundliche und unerfreuliche Töne an die eigene Adresse, an unsere eigene Kirche oder Gemeinde gerichtet, regen uns meistens mehr auf als an.
Doch das Festhalten an Wohlgefühlen, die wir uns gegenseitig verschaffen und gönnen, und die unbedingte Loyalität zu einem einmal akzeptierten Ritus oder Dogma oder auch nur Gewohnheitstrott, sind kein Zeichen der Wahrheit und des Rechts, sondern nur Fettpolster der Seele.
Darum ist es vielleicht ein Glück und auf alle Fälle kein Zufall, dass wir am Tag unserer Gemeindeversammlung zunächst wieder einmal gemeinsam mit der beklopptesten Gemeinde des Neuen Testaments einen blauen Brief erhalten.
Dieser Mahnbrief nach Korinth hatte allen Anlass: In Korinth – zwanzig Jahre nach Ostern und Pfingsten und zweieinhalb Jahre nach den ersten Zuckungen der dortigen Gemeinde – ist Chaos die Tagesordnung. Das große Aufbruchs- und Begeisterungschaos der ersten Anfänge – als damals ein sozusagen lokales Pfingstfest in der Hafenstadt aufloderte und die ersten Juden, Griechen, Türken, Römer zu einer seltsamen Verbindung in Jesu Namen verschmolz – dieses große enthusiastische Feuerwerk findet immer noch ein Publikum. Das findet Feuerwerk ja immer, … egal was und wie: Hauptsache es kracht, donnert und stinkt! …Was da nach Männerhumor klingt, ist doch zu allen Zeiten das Rezept erfolgreicher Aufmerksamkeitserregung: Geheimnisvolle Technik, Nervenkitzel und eine hauchfeine Möglichkeit von Personenschäden faszinieren stets. ———
In Korinth nun war das Spannende am Christentum – das ja sowieso als eine staatsgefährdende Bewegung gelten musste, weil es einen nach römischem Recht Gekreuzigten in seiner Mitte feierte – das Spannende am Christentum, das Explosive daran war unzweifelhaft neben dem hingerichteten Retter der unzähmbare Heilige Geist, Der die Gläubigen packen, rütteln und in Trance versetzen konnte, Der sie singen, schreien und heiser werden ließ und Der es – weil Rr keine Schranken kennt und jeden mit jedem verbindet – fertig bringt, dass einer plötzlich die fremde Sprache des anderen oder die Sprache der zukünftigen neuen Welt oder die dröhnenden, weltallbewegenden Jubellaute der himmlischen Heerscharen auf der Zunge hat.
Solche ekstatischen Sprach- und Jauchzphänomene, solche spektakulären Ausbrüche der kreativen Unheimlichkeit, die Menschen zu überirdischen Wesen, zu Sprachrohren tief verborgener Geheimnisse und nie dagewesener Vorahnungen der ewigen Herrlichkeit macht … die gab es in Korinth offenbar viele und wirkungsvolle.
Die christliche Gemeinde dort war zuweilen geradezu ein Magnet für Schaulustige, die das Verblüffende und Aufwühlende und Paranormale schätzten.
… So wie meine Kinder gestern zu Roncalli eingeladen waren.
… So wie ich immer noch lüstern und verschämt darauf warte, irgendwann einmal selbst zumindest Zeuge der bis heute ja aktiven charismatischen, pfingstlerischen Vulkane der Zungenrede, des Lobpreises und der Verzückung zu werden.
… Und so wie wir alle lernen und verinnerlichen, dass es Spektakel, Schlagzeilen, Ereignisse, Inszenierungen, gezielte und gekonnte Überwältigungen braucht, damit man von der Gemeinde Jesu Christi redet und sie Teil des weltweiten Unterhaltungs- und Beliebtheitsrummels bleibt.
Wobei Paulus gar nicht so schlecht, gar nicht so misstrauisch von den Unterhaltungskünstlern, die mit Gott in allen Sprachen sprechen konnten, dachte: Er kannte sie ja persönlich und sah in den publikumswirksamen Ausbrüchen des entfesselten Redens und Rühmens wirkliche Gebetswunder, bei denen Menschen sich ohne Zaum und ohne Zügel bis hinauf in die Gemeinschaft aller Heiligen schwangen und an das Herz Gottes hochjubelten. …….
Aber nützt das wirklich der Gemeinde?
Dient diese Art der Losgelassenheit den doch auch irdischen Aufgaben der Kirche?
Oder führt sie, wenn das Strohfeuer des öffentlichen Interesses erlischt, nicht bloß dazu, dass Christen als harmlose Schwärmer, Idealisten, seichte oder absurde Phantasten, jedenfalls als nicht ernstzunehmende Spinner belächelt werden?
Nun: Das Belächelt-Werden ist genauso wenig verkehrt wie das Nicht-Ernstgenommen-Werden. Beides müssen Christen kennen und drauf pfeifen können.
Allerdings selber die Kirche nicht ernst zu nehmen, selber nur den Effekt, die Stimmung, das Spannende oder das Entspannende an der Gemeinde zu suchen und den klaren, nüchternen, regelmäßigen Gang ihres Lebens im Dienst an Gott und den Menschen als das viel Nötigere und Dienlichere und auch Mühevollere zu übersehen: Dagegen schreibt Paulus Briefe … zur Not auch in „Menschen- und in Engelszungen“, wie wir bei jeder Hochzeit hören (vgl. 1.Kor.13,1).
Das berühmte Hohe Lied der Liebe – 1.Korinther 13 – geht unserem heutigen Briefabschnitt nämlich nicht zufällig voran. In Wahrheit ist es vielmehr als eine Art Einleitung zu den Vorbehalten gegen die sinnlos exaltierte Zungenrede gemeint … und gegen alles andere, das nur dem Selbstgefühl und der Selbstbezogenheit dient.
Lieben soll und muss die Kirche also, … lieben soll und muss und kann sie und dürfte darin eigentlich schon den sichersten Riegel gegen alle Formen des Lebens und des Lobens finden, die nur sie selber betreffen und beschäftigen und bestätigen.
Lieben soll und muss die Kirche eben vor allem anderen, damit sie nicht nur in ihrem eigenen Säuseln und Getöse aufgeht wie die, die sich im Rausch frommer Ekstase verausgaben; stattdessen soll sie ja die geliebten Anderen, die Menschen dieser Welt, die heutigen und morgigen Heiden und Nicht-mehr-Heiden fest und klar im Blick behalten, damit sie ihnen nichts vorschwärmt und nichts vormacht, sondern prophetisch zu ihnen reden kann.
Liebe ist für Paulus demnach die Voraussetzung des prophetischen Amtes der Gemeinde, von dem man so viel hört.
Was aber ist dieses prophetische Amt? … Ist es etwa die Zukunftsvorhersage, so wie wir immer noch meinen? …….
Wenn reines Orakelwissen, reines Ankündigen des Kommenden das Wesen eines Propheten ausmachte, dann trügen die vier großen und die zwölf kleinen Schriftpropheten ihre Bezeichnung zu Unrecht: Christusweissagung und Zukunftsverheißung ist trotz unseres hartnäckigen Missverständnisses nicht ihr größter Auftrag! … Selbst bei den wirklich begnadeten Zeugen des Heilsratsschlusses Gottes kann man die klaren, vollen messianischen und Reich-Gottes-Hinweise aufzählen: Jesaja 2 und 7 und 9 und 11 und 25 und 29 und 32 und von 40 bis 54 das große Leuchtfeuer der Erlösung und dann ab Kapitel 60 lauter Kerzen der Hoffnung. Und bei Jeremia das 23. und das 31. Kapitel mit seinen Ablegern, und bei Hesekiel das Hirtenwort im 34. Kapitel und das Auferstehungsmysterium im 37. und die Schilderungen der Endzeit und des neuen Jerusalem ab dem 38.Kapitel, und bei Daniel die Pläne der Weltgeschichte vom 7. Kapitel an und der vorösterliche Glanz im 12., und bei Hosea einige Liebesworte (bes.2 und 11), und bei Joel ein Pfingstkapitel (2), und bei Amos ein kleiner Hoffnungsschimmer über das fällige Gericht hinaus (9,11), und bei Micha ein Wink zum Zion des Völkerfriedens (4) und auf die Hoffnung aus Bethlehem (5), und bei Haggai die Aussicht, dass die Trümmer des Tempels nicht das Ende der Gemeinde sind, und bei Sacharja zuletzt tatsächlich steigendes und aufstrahlendes Vertrauen auf einen, der Jesus heißt (3) und auf einem Esel reitet (9), … Hoffnung auf einen Durchbohrten (12,9ff), der dieser Welt Frieden bringt (14), und bei Maleachi das Ende der Zeit und das Gericht (3).
Das ist das ganze heilige Horoskop, das ganze Zukunftsinstrument der Bibel Israels.
Aber was tun denn dann die Propheten sonst, die wir ja immer noch als Wegweiser und Lehrer und Amtsbrüder sehen und nachahmen sollen?
… Sie tun eben das, wofür die Liebe die entscheidendste aller Voraussetzungen ist: Sie sagen die Wahrheit. Sagen, was sein soll. Nennen die Gegenwart beim Namen. Suchen den Willen Gottes. Lassen Sein Gesetz nicht vergessen. Heiligen Seinen Namen. Mühen sich, dass Gottes Reich nicht gehindert wird. Decken Schuld auf, schlichten Streit, verteidigen die Unterdrückten, verunsichern die Frevler, ermutigen die Gerechten, sind unbequem und treu.
Noch kürzer: Was ist das prophetische Amt? Es ist Kritik! … Es ist das Witzerzählen über uns und über die Selbsttäuschung und Eigenliebe und Bequemlichkeit und die Dämlichkeit und die Trägheit und die Feigheit, mit denen wir Menschen uns eine Gottesbindung und Gottesnähe einreden und einbilden, die so nicht unser Ernst sein kann, weil sie einfach lächerlich ist.
Prophetische Rede ist Schelt- und Mahn- und Ermutigungs- und Erinnerungswort im Heiligen Geist der Selbstkritik.
Prophetisch werden wir daran erinnert und werden selber erinnern, dass Gott nicht einfach dort ist, wo Jerusalem oder Rom, wo Wittenberg oder Genf, wo Kaiserswerth oder Medjugorje auf der Karte steht. Gott ist nicht selbstverständlich dort und die Gemeinde Jesu Christi ist nicht selbstverständlich dort, wo Gesangbuch oder Bibel, wo Meldewesen oder Amtshandlungen es nahezulegen scheinen; man dient Ihm nicht und findet Ihn auch nicht unbedingt, bloß weil man unter dem tönenden Namen „Konfirmandenarbeit“ oder „Kirchenchor“, „Jugendfreizeit“ oder „Bibelstunde“, „Diakonie“ oder „Ökumene“, „Flüchtlingshilfe“ oder „Hauskreis“ zusammenkommt.
Prophetisches Reden hat keine Ehrfurcht vor solchen Überschriften und keine Geduld für die Denkmalschutz-Plaketten, mit denen wir Gewohnheiten adeln und hinter denen sich ebensoviel Ödnis wie Leben, ebensoviel Unsinn wie Segen verbergen kann.
Nach Letzteren aber – nach lebendigem Segen und gesegnetem Leben – fragt die prophetische Gemeinde, … weil sie die Gemeinde ist, die nach der Liebe strebt.
Als liebende Gemeinde tut sie sich gewiss schwer mit dem Wehtun, … aber das Licht der Wahrheit darf sie doch nicht scheuen.
Als liebende Gemeinde ist sie nicht Urteilsvollstreckerin eines Richters, aber leidenschaftliche Ruferin zu Änderung und Erneuerung vor dem Gericht.
Als liebende Gemeinde, die das Gute verstehen will und nur beim Bösen die Ahnungslosigkeit des Kindes hinnimmt, wird sie sich und anderen das Wachsen und Reifen einräumen, aber das Verkommen und Faulen nicht zulassen.
Als liebende Gemeinde wird sie weder sich selbst noch andere für unfehlbar oder unangreifbar halten, sondern bei Nah und Fern, bei Freunden und Nächsten ebenso wie bei Fremden und Gegnern das wirklich Nötige und das tatsächlich Verkehrte unterscheiden und auseinanderhalten.
… Und dann wird sie sich selber als die Gemeinde Jesu Christi aus Liebe zu ihm und zu seinen Gliedern ebenso scharf und offen kritisieren und zum Licht und zur Wahrheit ausrichten, wie sie das auch bei anderen tun muss.
… Und so wird sie der Politik und der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Wissenschaft, der Philosophie und der Kunst, dem Islam und den Religionsfeinden die Liebe Gottes auszurichten und gleichzeitig die Leviten zu lesen haben.
Sie wird – wie Luther und die Reformatoren – immer wieder bekennen, wie häßlich und wie arm, wie verrückt und wie verhärtet, wie … bekloppt die Kirche überall und unsere Gemeinde hier ist, ……. und was für eine Freude und Wonne es dennoch bleibt, zu ihr zu gehören, weil ausgerechnet ihr der Reichtum aller Gnadengaben Gottes in einem fröhlichen Wechsel übertragen wurde.
Und wenn wir so von uns sprechen und von anderen – mit Härte und Humor und Hoffnung –, wenn wir sagen, was uns und ihnen fehlt, was sie sich und wir uns vormachen und was wir stattdessen bräuchten und sollten und wie wir das trotz aller Einbildung und Täuschung nicht bei uns, aber bei Gott in Hülle und Fülle finden und haben dürfen, … wenn wir uns und die Leute also nicht schonen, wenn wir wirklich in allen Dingen kritisch – d.h. mit dem Willen zum Besseren auf dem Weg zum vollkommen Guten bleiben, weil die unendliche Liebe uns das lehrt und gewährt – …, dann kann es nicht ausbleiben, dass Menschen, die solches Prüfen, was in den Herzen ist und solches Ehrlichsein erleben, tatsächlich mit uns anbeten und bekennen, dass Gott wahrhaftig nicht nur in Mekka oder Medjugorje, nicht nur auf dem Athos oder in Salt Lake City ist, sondern hier, … wahrhaftig unter uns!
Amen.
1.So.n.Trin. 03.06.2018 Jeremia 23,16-29 Bittgottesdienst um Frieden anlässlich der 400. Wiederkehr des Ausbruchs des Dreißigjährigen Krieges Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.n.Trin. 3.VI.2018
Bittgottesdienst um Frieden anlässlich der 400.Wiederkehr des Ausbruchs des Dreißigjährigen Krieges
Jeremia 23, 16-29[i]
Liebe Gemeinde!
Kein Mensch weiß, in welcher Zeit er lebt.
Ihre Bezeichnungen und damit Deutungen erhalten Epochen erst im Rückblick, wenn sich zeigt, was wirklich bestimmend, was wirklich entscheidend für eine Ära oder Generation gewesen ist.
Und da verschieben sich die Gewichte und rücken sich die Perspektiven oft erstaunlich zurecht, wenn die Späteren erkennen, was den Zeitgenossen und ihren Propheten verborgen war.
Die „Propheten“, die Sprücheklopfer und Schönwettermacher, die die Gegenwart bei Laune halten, suchen seit biblischen Tagen ja das Positive heraus, um ihren Hörern, ihren Kunden in der Modevilla des Zeitgeistes Appetit auf’s Aktuelle zu machen; … denn auf Dauer – das werden die Angstmacher unserer Zeit auch noch erfahren – hört niemand es gerne, dass nur Krise oder Katastrophe das Angebot des Tages seien. … Es muss schon etwas Gutes sein, etwas, das Stolz und Zuversicht weckt, als dessen Zeitzeugen man gerne dasteht. Einer verlorenen Generation mag niemand angehören … auch die 14/18er blieben schließlich lieber als die Hedonisten der Goldenen Zwanziger Jahre im Gedächtnis; auch die 33er, die zu 45ern wurden, betrachteten sich später als Wiederaufbauer und Anpacker, nicht als Zerstörer und Totengräber!
Und immer haben die Propheten es bestätigen können: Ihr seid Träger großer Hoffnungen und Leister großer Dinge und in euren Tagen passiert Historisches. …….
Das pflegen wir – obwohl wir derzeit ja eine eher verunsicherte und überforderte Gegenwart erleben – nicht anders zu hören. Umbrüche und Entwicklungen der ganz gewaltigen Art voll-ziehen sich, und die Menschheit im frühen 21.Jahrhundert baut gleichzeitig an zwei weltgeschichtlichen Wundern: Der Künstlichen Intelligenz und der biologischen Überwindung des Todes.
ICH SANDTE DIE PROPHETEN NICHT AUS UND DOCH LAUFEN SIE;
ICH REDETE NICHT ZU IHNEN UND DOCH WEISSAGEN SIE.
EG 247, 1. - Gemeindegesang[ii]
Herr, unser Gott, lass nicht zuschanden werden
die, so in ihren Nöten und Beschwerden
bei Tag und Nacht auf deine Güte hoffen
und zu dir rufen, / und zu dir rufen.
Ob wir aber einst als die Schwellenzeit vorm Anbruch der Unsterblichkeit gelten werden, ob man sich unsereR Epoche als der Entstehung einer ganz neuen, geisterfüllten Technik erinnern wird, … wer weiß es?
Es könnte auch ganz anders kommen.
Es könnten Entwicklungen und Prozesse, die wir nicht weiter ernst nehmen, die wir ausklammern oder schlicht nicht erleben, eines Tages als die wirklichen Weichenstellungen, als die eigentlich geschichtsmächtigen Umbrüche zu Beginn des 3.Jahrtausends christlicher Zeitrechnung gelten. Vielleicht wird man auf uns zurückblicken und sagen: Sie liebten die Mobilität und waren doch zu langsam, als es um’s Überleben ging. Oder man wird uns die letzte Plastikepoche nennen, vor dem großen Plastiktod. Oder man wird die Jahrzehnte, die wir gerade erleben, von einem sich anbahnenden Ergebnis her deuten – Zerfall des Westens, Aussterben der Schriftlichkeit, Verbot aller Religionen –, das wir noch gar nicht kennen und nennen können.
WER HAT IM RAT DES HERRN GESTANDEN,
DASS ER SEIN WORT GESEHEN UND GEHÖRT HÄTTE?
EG 247,2.
Mach zuschanden alle, die dich hassen,
die sich allein auf ihre Macht verlassen.
Ach kehre dich mit Gnaden zu uns Armen,
laß dich's erbarmen, / laß dich's erbarmen,
Solche Unsicherheit der Zeit und solche Unwissenheit über ihre Ziele haben wir nun zweifellos auch mit den Zeitgenossen des Dreißigjährigen Krieges gemeinsam: Keiner von ihnen konnte vor 400 Jahren ahnen, dass die Ereignisse in Prag und das Abenteuer eines jungen pfälzisch-englischen Braupaares, die gerne die böhmische Krone tragen wollten, dazu führen würden, dass ein Menschenalter lang niemand von ihnen mehr Frieden erleben sollte, sondern stattdessen die christlichen Völker in einen Krieg geraten waren, der hartnäckiger, tückischer und grausamer wüten würde, als man es je für möglich hielt.
Doch als der dreißigjährige Unfriede, der eine ununterbrochene apokalyptische Bedrohung auch für die verschonten Gegenden brachte, allmählich in’s Lebensgefühl und in die Todeserwartung der Damaligen einsickerte, hatten sie im Vergleich zu uns einen ungewöhnlichen Vorteil: Ihnen fiel es nämlich viel, viel leichter, sich von den Propheten und Propagandisten der guten Tage zu lösen und das erschreckend Negative, das Abgründige, … ja, das Verdammte ihrer Zeit zu erkennen.
Die Menschen des Unruhezustands und der alarmierenden Zerbrechlichkeit, die wir den „Früh-Barock“ nennen, waren nicht wie wir auf positive Prognosen und das Versprechen universaler Problemlösungen fixiert, sie waren nicht eingesponnen in das Märchen einer ständigen Verbesserung des Lebens und wussten nichts von einem Recht auf Glück und Haben.
Dadurch aber war ihre Welt – so unvergleichlich brutal und bitter sie auch gewesen sein mag – nicht von jener unhaltbaren Unwirklichkeit, die unsere auszeichnet.
Wenn wir tatsächlich auch nur einen geringen Teil ihrer Entbehrungen, ihrer realen Albträume und persönlichen Tragödien erleiden müssten, würde es uns in mentale Lähmung und seelische Erstarrung versetzen, und alle Organe und Regungen, die von Sinn und Hoffnung leben, verlöschten im Schock des Vakuums, in das solche Pein uns stieße. …
Würden wir der grausigen Realität begegnen, die damals unsere Vorfahren kannten und die heute die Mehrheit der uns Gleichzeitigen umgibt, dann wären die Kräfte des Suchens und des Widerstandes, die wir „Glauben“ nennen, in uns einer solchen kollektiven Erfahrung kaum gewachsen. …
Das zeigt uns jede punktuelle Katastrophe, jede einzelne Konfrontation mit dem Terror und der zerreißerischen Gewalt des Hasses genauso wie unsere Unfähigkeit, mit unserer glasklaren Schuld an den Fluchtursachen, der Ungerechtigkeit und der Naturvernichtung des jetzigen Zeitalters umzugehen. Wo immer es ernst wird und ausweglos, wo immer es zu Opfern und Leiden kommt, erwacht in uns der schwache und schändliche Instinkt, zu jammern: „Wenn so etwas möglich ist, kann es keinen Gott geben! Dann ist also alles sinnlos … und wir können weitermachen …....“
BIN ICH NUR EIN GOTT, DER NAHE IST, SPRICHT DER HERR,
UND NICHT AUCH EIN GOTT, DER FERNE IST?
EG 247, 3.
und schaff uns Beistand wider unsre Feinde!
Wenn du ein Wort sprichst, werden sie bald Freunde.
Herr, wehre der Gewalt auf dieser Erde,
daß Friede werde, / daß Friede werde.
„Wenn so etwas möglich ist, kann es keinen Gott geben! Dann ist alles sinnlos … also können wir weitermachen.“ … So reagieren wir – die Einheimischen der weltweiten Internetnachbarschaft – mit unserer kleinen Erfahrungstoleranz also auf die Wirklichkeit.
Die Menschen des zersplitterten Reiches und der provinziellen Fronten und der mörderischen innerchristlichen Grabenkämpfe dagegen, verstanden die Dinge gerade umgekehrt …: „Was immer möglich ist, kann nur sein, weil Gott es gibt. Und darum hat es alles eine Botschaft: Dass wir nicht weitermachen können!“ ———
Das ist tatsächlich der im dreißigjährigen Krieg allgegenwärtige erste Gedanke der Leidtragenden: Nicht etwa, dass der trostlose Jammer ihrer Tage den durchaus nicht unschuldigen christlichen Glauben ausschließt und Gott also gleich mit erledigt, … sondern dass das himmelschreiende Elend des Blutvergießens, der Grausamkeit und des nackten Sterbens eine gewaltige Erschütterung bedeutet, mit der Gott den flachen, falschen, verflüchtigten, den schuldigen Glauben schrecklich durcheinanderrüttelt, damit er sich endlich wieder finden und bessern kann[iii].
Während wir also verzweifeln, wenn das, woran wir gerne glauben würden, sich nicht in guten Erfahrungen bestätigt, schlossen die armen Kriegsopfer und Kriegstreiber und Kriegsflüchtlinge und Kriegsmüden des 17.Jahrhunderts, dass ihre schlechten Erfahrungen sie unzweifelhaft eindeutig zu neuem Glauben bringen wollten.
Sie erschraken tatsächlich über ihre eigene Schuld. Erkenntnis schrecklicher, lebenszerstörender Sünde drängte sich ihnen auf, und in ihren teils fassungslos traumatisierten, teils zwanghaft überbordenden Schilderungen des Erlebten klingen zwei Grundmotive am stärksten:
Diese Geschlechter, die das Grauen erfuhren, wollen büßen, und sie halten mit allen Fasern an der Hoffnung auf den Himmel fest, die ihnen lebend und sterbend das Unumstößlichste bleibt[iv].
Der perverse Weltenbrand, den ihre eigene menschliche Niedertracht entfesselt hat, vermag sie nicht von dem abspenstig zu machen und zu scheiden, was größer ist als diese Welt und heiliger als aller Menschen Unheil: Von Gott!
Gott ist mehr als das, was alle Truppen und Banden eines ganzen Kontinents verbrennen und zerstören können, … Gottes Wirklichkeit ist dringender und kostbarer, als alles, was in den endzeitlichen Schrecken einer ganzen Generation zerstäubt und verweht: Sogar das Furchtbare, sogar die rohe, nackte, schamlose Verderbnis des Menschlichen wird den barocken Augen- und Ohrenzeugen schließlich zum Ruf zurück zu dem zürnenden, aber doch durch Flammen hindurch und über Trümmer hinweg immer noch bleibenden und richtenden und endlich allein auch rettenden Gott!
IST MEIN WORT NICHT WIE EIN FEUER, SPRICHT DER HERR,
UND WIE EIN HAMMER, DER FELSEN ZERSCHMEISST?
EG 247, 4.
Wir haben niemand, dem wir uns vertrauen,
vergebens ist`s, auf Menschenhilfe bauen.
Wir traun auf dich, wir schrein in Jesu Namen:
Hilf, Helfer! Amen. / Hilf, Helfer! Amen.
(Johann Heermann, 1630)
Das ist – wahrhaftig ohne Vergangenheitsbeschönigung und ahnungslose Rückwärtswendung gesprochen! – …. das ist doch der unvergleichliche Vorzug, das unnachahmliche Vorrecht unserer Vorfahren vor vier Jahrhunderten: Sie fielen nicht ins Leere angesichts der Sinnlosigkeit ihrer Zeit, … sondern auf die Knie, um ihr Leben praktisch zu ändern und ihre Aussich-ten ins Unendliche zu weiten.
Sie kehrten um … und kehrten in der gleichen Bewegung ab von den Mitteln und Parolen, den Werten und den Ideologien der militärischen, der religions- und identitäts-politischen Gefechte des Tages, um sich ganz zur Ewigkeit zu wenden. ——
Klein wurden die Konflikte, die so unverhältnismäßig große Lasten und Tribute an Leib und Leben gefordert hatten!
… War es zunächst ja als ein Kampf um die christliche Wahrheit, ein Ringen zwischen den Konfessionen ausgebrochen, was sich da an menschlicher Verachtung, an Gier, an Rauf- und Mordlust, an satanischer Vernichtungswut entladen hatte, …. doch so erbittert und fanatisch der Krieg der Kirchen auch begann, so nüchtern und so bescheiden und bekehrt nimmt sich aus, was die Beteiligten dabei lernten: Nämlich – auch wenn es noch lange brauchte, um nicht nur die müde Frucht der Leiden, sondern eine sich durchsetzende Überzeugung zu werden – … was die Beteiligten an der abendländischen Auslöschung und Selbstauslöschung des Dreißigjährigen Krieges lernten, war das christliche Gebot der Toleranz[v]:
„Gezwungen Werck zerbricht:
Gewalt macht keinen fromm / macht keinen Christen nicht.
Es ist ja nichts so frey / nichts also vngedrungen
Als wol der Gottesdienst: / so bald er wird erzwungen /
So ist er nur ein Schein / ein holer falscher Thon.
Gut von sich selber thun, das heist Religion /
Das ist GOtt angenehm. Laßt Ketzer Ketzer bleiben /
Vnd gleubet jhr für euch: Begehrt sie nicht zu treiben.
Geheissen willig seyn ist plötzlich vmgewandt /
Trew die aus Furchte kömpt hat mißlichen Bestand.
Ein Mensch kann seinen Sinn wol für den andern schliessen;
Der Glauben liget tieff. GOtt kennet die Gewissen.“
In diesen Worten des unbestrittenen Dichterfürsten des schlesischen Barock und Formers unserer Sprache wie vor ihm nur Luther … in diesen Worten Martin Opitz’ findet sich jene ganze Betonung der Gewissensfreiheit und der Toleranz, auf die wir heute – angesichts der fanatischen Gewalt und sich abzeichnenden Weltkriege im Namen einer Religion – alles Gottvertrauen, alle Glaubenssicherheit eines Christenmenschen stützen müssen. ——
Der Dreißigjährige Krieg hat seine Zeugen und Überlebenden und erst recht uns Nachkommen ja wahrlich lehren wollen und belehren können, dass Glaube an Gott nicht von Feindschaft geprägt und nicht durch den Einsatz von Gewalt erhalten werden kann, sondern dass er beides verbietet.
Das Gebot unseres Glaubens ist der Friede!
Ihn dürfen wir nicht opfern: Keiner Strategie des Terrors, keinem Impuls der Verteidigung, keiner weltpolitischen Verantwortungsethik![vi] —
Würde heute ein neuer dreißigjähriger Krieg ausbrechen, so würden doch eines Tages unsere Enkel – falls sie nicht, wie Christina von Schweden, die Tochter Gustav Adolfs, des großen Helden der evangelischen Sache, schließlich zur Gegenseite des ungesegneten Kampfes übertreten – … so würden also unsere Enkel in dreißig Jahren doch nur feststellen, dass alles Töten und Bluten und Weinen vergebens war, weil Gott nicht in den Hütten der Sieger, sondern in den Gewissen der Gerechten wohnt.
Und wer Ihn dort findet und ehrt, der wird hier und heute umkehren und praktische Werke der Buße tun, um die eigene Verstrickung in die ungerechte Welt- und Wirtschafts- und Schöpfungs-Ausschlachtungsordnung zu lösen und um mit den Zeugen des Krieges, der vor vierhundert Jahren begann, den Frieden zu suchen und getrost zu erwarten, den nur Gott geben wird: Den Frieden Seines kommenden Reiches.
Amen.
[i] Dies ist der für den 1.Sonntag nach Trinitatis in der Perikopenordnung vorgesehene Predigttext.
[ii] Johann Heermann ist im Gottesdienst auch mit dem Choral „Treuer Wächter Israel‘“ (EG 248) vertreten gewesen. Seine besondere Leidens- und Kriegserfahrung stand beispielhaft für das Erleben jener heimgesuchten Generation – besonders in Schlesien. Die Melodie des Liedes EG 247 – von Matthäus Appelles von Löwenstern ursprünglich zu seinem unter dem existentiellen Eindruck der schrecklichen Kriegsereignisse entstandenen Lied „Christe, du Beistand deiner Kreutzgemeinde“ geschrieben – ist ein weiteres Zeugnis der besonderen und unverwechselbaren Spuren, die der Dreißigjährige Krieg bis heute in unseren Gesangbüchern hinterlassen hat.
[iii] Nachweise dieser Behauptung bleibt die Predigt schuldig. Als prägnantes – obgleich willkürlich herausgegriffenes – Beispiel stand bei ihrer Abfassung aber vor Augen die Friedenspredigt in Bad Peterstal im Schwarzwald (1650) von Johann Georg Dorsch (1597-1659), die zugänglich ist in: Der Protestantismus des 17.Jahrhunderts hg.v. W.Zeller (Klassiker des Protestantismus V), Bremen 1962, S. 249ff.
[iv] Davon zeugte schon das erste Lied – „Jerusalem, du hochgebaute Stadt“ (EG 150) –, mit dem der Gottesdienst begann.
[v] Die Zeilen aus Martin Opitz großem Trostgedichte In Widerwertigkeit Deß Krieges (1633) sind zitiert nach seiner Veröffentlichung in Martin Opitz (1597-1637), Orte und Gedichte, Fotografien: Volker Kreidler – Auswahl, Konzeption und Kommentare: Walter Schmitz, Anja Häse, Eckhard Guber, Jochen Strobel, Dresden 1999, S. 110.
[vi] Dass diese apodiktische Aussage an der politischen Wirklichkeit scheitern kann, soll damit nicht in Abrede gestellt werden. Die Untätigkeit der Welt angesichts solcher Verbrechen, wie sie in Syrien und solcher Leiden, wie sie im Jemen geschehen, ist durch keine dogmatische Überzeugung gedeckt – genauso wenig wie ein militärisches Eingreifen sich auf religiöse Legitimation verlassen darf. Diese Aporie gehört zu den schrecklichen Herausforderungen dessen, was in der Predigt mit „Erfahrungstoleranz“ umschrieben wird, an der es uns mangelt.
Rogate 06.05.2018 Stadtkirche Kolosser 4,2-6 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Rogate - 6.V.2018
Kolosser 4, 2 -6
Liebe Gemeinde!
Wenn die Welt voller Flieder und Butterblumen und Kastanienkerzen und Feiertage ist, wenn man Zwitschern hört und will, dann fängt auch bei uns an, was Gershwins song in unnachahmlich warmen Farben fließen läßt: „Summertime, and the livin’ is easy“ …. Sommertage, und das Leben wird leicht!
… In diese leichten Tage nun, die wärmer, länger, heiterer werden, fällt bei uns alljährlich aber ein unterschätzter Sonntag, der uns nicht wie seine beiden vorigen Schwestern mit ihrem umwerfenden Charme und Temperament eine eindrückliche Begegnung beschert.
… Wer die Damen „Jubilate!“ und „Kantate!“ erlebt hat, die überbordend fröhlich und impulsiv daherkommen und einen ungebeten zu Feiernden und Singenden machen, der ist beim Dritten in der Reihe der Aufforderungssonntage vermutlich immer schon auf der Hut:
Der dritte Imperativ nach „Jauchzt!“ und „Singt!“ hat es allemal schwerer.
… Und sein Anliegen, jetzt in der fünften Woche des neuen Osterlebens – „Betet!“ –, ist nicht so spontan und ansteckend wie die Lust und Laune und der Klang der jubelnden Vorgängerinnen. … Denn – das kann man von alters her aus der Gebetslehre der alten Kirche, der Ostkirche und der christlichen Orden lernen – denn das Beten ist kein Spaßbetrieb, kein stimmungsvoller Selbstläufer wie Gesang und Gelächter es sein können: Beten, das lehrt die Not und nicht die Neigung, so weiß es bis heute ja die landläufige Spruchweisheit.
… Mit anderen Worten: Wer will das schon? … Jetzt, wo die Maisonne uns die Haut kitzelt und sogar die Friedhöfe im Rausch der Rhododendronblüte sind und man die träge Zeit der langen Abende zwischen Wasserplanschen und Würstchenbraten genüsslich dehnen könnte.
„Rogate!“?
… Nicht wirklich?!
Doch dieser klare Nachteil einer meist nur widerwillig befolgten Aufforderung ist schon in früheren Zeiten akut gewesen. Und das hat dem Sonntag Rogate sein eigentliches, sein stiefmütterlich vergessenes Gepräge gegeben. Er verdankt seinen Namen nämlich nicht in erster Linie dem Gesetz der Serie, die nach den gern gehörten Imperativen „Freut euch und singt“ nun einfach noch ein weiteres erbauliches Ausrufezeichen setzen wollte, sondern dieser Sonntag ist ein Tag der praktischen Übung, ein Tag der buchstäblichen „Feldforschung“ der Kirche. Nach der österlichen Festfreude und der überschwänglichen Frühlingsblüte tritt am ersten Sonntag des ersten nachösterlichen Monats, beim Übergang zu den Wochen des Wachsens und Reifens der Saat zur Ernte die Alltagssorge der Welt wieder in den Blick der Gemeinde: Wird es ein Jahr, das die Hungrigen satt macht? Wird es ein Sommer, der für den nächsten Winter reicht? Wächst die irdische Zukunft oder werden Leib und Leben welken müssen?
Und aus diesen sehr praktischen, sehr lebensnahen Fragen der alten landwirtschaftlichen Welt gewann der heutige Tag seinen Namen und sein Programm. Weil sich nun, im Sternzeichen des schuftenden, ackernden Stieres der wirklich kritische und arbeitsreiche Abschnitt des bäuerlichen Jahres ankündigt, darum dienten dieser Sonntag und die drei Bitttage bis Christi Himmelfahrt der inneren und äußeren Einstellung auf die Arbeit und der herzlichen Bitte um Gottes Segen für deren Erträge.
„Rogate!“, „Betet!“ war also keine rein rhetorische Ermutigung zu etwas, das Menschen nicht unbedingt gern und freiwillig tun, sondern dieser dritte Aufmunterungssonntag in Folge ging vom Wort zur Tat über, von der Erinnerung an das, was not ist, zu dessen Vollzug:
An Rogate wurde eben nicht über das Beten geredet, sondern es geschah konkret, mit beiden Beinen, beiden Händen und allen Kräften der Seele und des Körpers, indem man Flurprozessionen durch die Felder und Bittgänge über Land unternahm.
Nicht die Predigt über die geistliche Kunst, sondern der Marsch durch das weltliche Gelände des Betens machen also diesen unterschätzten Sonntag aus, der meint und übt, was sein Name sagt.
Und wenn wir heute auch nicht zwischen Butterblumen und Saatgrün, Holunderdolden und schießendem Unkraut mit einer Litanei durch die Gemarkung ziehen, so will der Rogate-Sonntag doch auch uns an der Schnittstelle von Hören und Tun, von richtigen Gedanken und nötiger Anwendung praktisch in’s Gebet führen.
Auch die Sommertage, die uns leichter leben lassen, fallen nämlich unter das weise apostolische „Sowohl-als-auch“, mit dem der Abschnitt aus dem Kolosserbrief schließt: „Redet freundlich – aber spart auch nicht am Salz!“
Diese Klammer – dass Freundlich-Schönes und Salzig-Ernste zusammengehören – ist überhaupt von allergrößter Wichtigkeit, weil sie der Verlockung der Einseitigkeit entgegenwirkt: … Gerade jetzt in den leichten, lichten Tagen könnte man ja versucht sein, endlich die düsteren Gedanken hinter sich zu lassen, … alle die quälenden Probleme dieser Erde, … die vielen Mängel und die ganze Not der Menschheit mit den Wintermänteln einzumotten und ein Lebensgefühl der leichten Kost, der nicht-belastenden Obststückchen zu pflegen.
… Auch mir als Prediger wäre es bestimmt manchmal angenehmer, bloß Flöckchen zu raspeln und bekömmlich mundgerechte Diäthäppchen aufzutischen, die man gut runterkriegt und an denen niemand sich verschluckt oder würgt.
… Man könnte ja wirklich mal bloß vom Frühling oder von den Dingen, auf die wir stolz sein können, sprechen, von unserer Energie und unseren Erfolgen und unserer Entspannung, von all den schönen, wohltuenden und befriedigenden Seiten des Lebens, die gerade in Blüte stehen. Warum muss das immer verdorben werden durch Erinnerung an das Elend auf Erden, durch Sorge um die Zerstörung der doch immer noch prachtvollen Natur, durch Skepsis gegen eine Wirtschaft und Industrie, die auf Betrug beruhen und endlich erst „ehrlicher“ zu werden versprechen? …….
Der Grund dafür, dass christliches Reden und Denken es nicht beim Sonnenschein belassen können, sondern auch den Schatten und das Schmutzige sehen, nennen und beheben wollen, liegt letztlich im Gebet als unserem ersten und größten Auftrag.
Würden wir nur für uns und nur zueinander reden, dann wären unsere Gesprächsgegenstände garantiert hübsch und hell. Weil wir gerne glänzen, …vor uns selber ebenso wie im Miteinander.
Doch wenn wir beten, dann wenden wir uns an den Herrn der Welt, den Schöpfer der Wirklichkeit, das Opfer der großen Störung, die wir Sünde nennen, und den Boten und Richter der Wahrheit.
Wer vor Ihm, der alles weiß und sieht und teilt und trägt und heilt und schließlich wiederherstellt, lügen oder an Salz sparen wollte, der wäre nicht bei Verstand.
Betend kann man Gott nichts vormachen.
Beten bedeutet, die Wahrheit auszusprechen – im Dank ebenso wie in der Bitte und der Klage.
Weil die Gemeinde aber diesen Auftrag und dieses Recht hat – dem Vater des Lichts und der Wahrheit ihrerseits die ganze Wirklichkeit und Wahrheit vorzulegen und anzuvertrauen –, darum wird nur die betende Kirche auch eine ehrliche Kirche sein. Und die Kirche, die die Wahrheit nicht unterschlägt, wird durch ihre Wahrnehmung des Wirklichen unweigerlich auch zur bekennenden, bittenden und anbetenden Kirche werden. ——
Aus der Wirklichkeit kommt also wirkliches Beten für uns. … Nicht nur Blümchenbeten, sondern auch Dornenbeten; nicht nur überm Schönen werden wir beten, sondern auch überm Schweren, nicht nur Glanz, sondern auch Gestank wird in unserem Gebet vorkommen, wenn es sich mitten in dieser Welt und mit dieser Welt zu Gott wendet.
Damit aber ist es eben gerade nicht eine fromme Form, die der Gegenwart fremd geworden sein muss, sondern eigentlich das glatte Gegenteil. Beten ist aktives In-der-Welt-Sein, Beten ist Beteiligung an den Tatsachen und an ihrer Änderung, Beten ist Hinschauen und Aussprechen und hoffnungsvolles Dranbleiben, wo andere lieber weghören und dichtmachen.
Und darum genau ist der Rogate-Sonntag so ein wichtiger, wegweisender Anlass:
Weil er nicht weniger als den Übergang markiert zwischen dem herrlichen Evangelium von Ostern, das der Frühling uns geschenkt hat, und dessen kräftigem Einwurzeln und Durchdringen in der Welt – begossen mit Heiligem Geist und Menschenschweiß –, bis es Früchte bringt, … bis es zur Ernte kommt.
Beten heißt also den von Gott ausgesäten Samen von Leben, Heil und Gnade bei seinem Aufgehen und Gedeihen zu fördern und Arbeit auf dem Feld, auf dem der Glaube wachsen soll, zu übernehmen. ——
Damit kommen wir aber endlich zu den Worten des Paulus an die Kolosser.
Denn dieser Rogate-Ruf – „Seid beharrlich im Gebet!“ – ist eine klare Aufforderung zur Mitarbeit: Der gefangene Apostel ruft die junge Gemeinde damit auf, ihn und sein Missionswerk nach Kräften zu unterstützen. Gewiss dürften die Kolosser nicht versucht haben, ihn mit Brechstangen oder Protestkundgebungen vor dem Statthalter aus seiner Haft in Ephesus befreien, weil er sie doch bat, durch ihr Gebete eine Tür für das Wort aufzutun, und ebenso sicher werden sich die wenigsten der kleinen Handwerker, Tagelöhner und römischen Damen in Kolossä ihm als Wanderprediger angeschlossen haben, als er schließlich weiterziehen konnte, um das Geheimnis Christi zu sagen.
Und doch ist es keine Rhetorik, wenn Paulus sie um ihr Gebet bittet und sie damit zu seinen Fürsprechern, Befreiern und Mitarbeitern macht. Denn betend – also an der Wahrheit in der Wirklichkeit vor Gott beteiligt – können und sollen wir Menschen Dinge tun und Aufgaben teilen, die weit über unseren Standort und unseren direkten Radius hinaus reichen. So wie die Kolosser als Betende zu Unterstützern und Helfern der Weltmission werden sollten – denn Paulus war ja nicht bei ihnen gewesen, um nur einen kleinen Kultverein im türkischen Lykostal zu gründen, sondern um der weltweiten Verbreitung und Wirkung des Evangeliums zu dienen –, so sollen auch wir durch unser beharrliches und weises und waches Beten die, die draußen sind einbeziehen und niemals aufgeben.
Das ist die akute, die hochaktuelle Aufgabe unseres Gebetes, durch die wir die Zeit auskaufen, d.h. jede Gunst der Stunde, jeden Ruf eines Augenblicks nutzen sollen: Wir sollen sehen, was draußen ist … und was los ist mit denen draußen, … wir sollen uns mit unserem Beten auf die Welt und das Weltliche einstellen! In Vorsicht und Weitblick, in Kritik und leidenschaftlicher Zuversicht, in Geduld und Barmherzigkeit und unbeschränkter Beteiligung.
Mit diesem Durchbeten der Gegenwart, mit diesem Mit-Gott-Mitwirken, mit diesem Sich-Hineinknien und Einstehen für alles und alle tut sich also die Ackerfläche auf, die wir an Rogate mit unserer Flurprozession, mit unserem Gebetsmarsch umschreiten sollen, um darauf eine gesegnete Ernte zu erbitten.
Der Acker ist die Welt – mit ihren Disteln und Dornen, ihrer Frucht und ihrem Korn. Und das Wachstum und die Ernte sind das Heilen und das Heil dieser Welt.
… Dafür können wir nichts tun, mag man meinen. Da reichen unsere Möglichkeiten nicht hin, unsere Kräfte nicht und auch nicht unsere Geduld.
… Wie können wir den Hunger im Jemen, die Gewalt in Syrien, die Hoffnungslosigkeit hinter der Sahara, den Leidensdruck der weltweiten Hungerlöhne, die Tristesse des Unglaubens in der 1.Welt, die globale Vernichtung der Natur, die Mätzchen der Mächtigen und die Trägheit des Menschen an sich, … wie können wir die Gifte der Vergangenheit, die Probleme der Gegenwart, den Raubbau an der Zukunft lösen, ändern, aufhalten, umdrehen?
……. Genauso, wie die Kolosser Paulus aus dem Gefängnis freikriegen und die Weltmission voranbringen konnten: Was uns leibhaftig und persönlich, was uns technisch und politisch nicht möglich ist, liegt doch im Gebet als weites, offenes Feld vor uns.
Wir müssen nur anfangen, die Zeit auszukaufen, den Auftrag anzunehmen und die Zukunft, die da draußen aufbricht, als weltumfassende Gebetsaufforderung an uns zu verstehen.
Das ist der große, aktive Dienst, den die Gemeinde Jesu Christi buchstäblich immer und für jeden Ort leisten kann, indem sie unermüdlich mitbetet in allen Anliegen, die nach Gott schreien.
Darin zeigen sich ihre Berufung und ihre Verantwortung: Dass sie wirklich hinhört und -schaut nach draußen und dass sie die Wahrheit darüber dann auch vor Gott ausbreitet, Ihn bestürmt oder Ihn stützt in dem Vielen, das sich unserer eigenen Zuständigkeit und Wirkung entzieht.
Zu beten haben wir immer, wenn wir wirklich Christen sein wollen! ——
Da muss ein evangelischer Pfarrer wohl nicht den Papst zitieren, dessen erste Aufforderung an die Menge vor dem Petersdom das Priestertum aller Gläubigen kommentarlos bestätigt hat: „Betet für mich!“ rief Franziskus den Leuten genauso zu wie schon Paulus es tat.
Das aber ist nicht irgendein Ruf, sondern unsere Berufung, unser Dienst, unser Lebensauftrag als Christen! ……. Und darum ist es unerklärlich, wenn in unserer Gemeinde der Gebetskreis seit vielen Jahren aus dem sprichwörtlichen Fähnlein der sieben Aufrechten besteht.
Der nicht zu überschätzende heutige Sonntag will das jedenfalls ändern.
Er ist nicht dem Reden über das Beten gewidmet, sondern er ist ein Marschbefehl: Los, geht beten! Zieht durch die Zeiten und um die Welt und hört nicht auf zu beten!
Und wenn der Weißdorn verblüht und die Vergissmeinnicht längst verwelkt sind, wenn der Sommer vorüber und nichts mehr leicht ist … auch dann vergesst das eine Entscheidende dennoch niemals:
Rogate! Betet!
Nur dann wird Euer Leben in der Welt schließlich Frucht tragen und gesegnet sein!
Amen.
Fürbitten
Herr, die schöne, salzige Welt – Deine Schöpfung, die Heimat Deiner Kinder – bringen wir vor Dich.
Wir tragen sie auf dem Herzen und blicken Sie mit Deinen Augen der Liebe und des Mitleids an.
Du siehst sie:
Kennst jedes Gesicht,
… siehst jede Spur,
… spürst jeden Kummer,
… kümmerst Dich um alles, was da lebt.
Darum kennst Du auch die Wunden,
die Schmerzen,
die zitternde Angst,
die lähmende Erschöpfung,
den stechenden Hunger,
das ganze große Elend.
Herr, wie wenig können wir für die Vielen tun, die Du liebst.
Aber wir bitten Dich um zweierlei:
- Nutze und verändere uns mit allen unseren Möglichkeiten und Gaben, dass unser Besitz und unsere Zeit, unsere Kräfte und unsere Hoffnung auch für andere Frucht bringen und Schutz und Freiheit.
- Und gieß Deinen Geist auch in unser Denken, Glauben und Träumen aus, dass wir mit der Welt nicht fertig werden und die Dinge nicht auf sich beruhen lassen und die Erwartung nicht aufgeben und die Menschheit nicht vergessen in ihrer nackten Wirklichkeit, sondern dass wir beten und beten und beten und Zeugen und Boten Deines Reiches bleiben und mit Dir und den Deinen verbunden dem Tag entgegenharren, an dem wir Dich nichts mehr fragen werden, weil die Wahrheit und das Recht, weil Schönheit und Frieden, weil Heil und Herrlichkeit uns alle mit Dem verbinden und vereinen, Der uns zu beten lehrt:
Vater unser im Himmel …….
Kantate 29.04.2018 Stadtkirche Apostelgeschichte 16,23-34 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Kantate - 29.IV.2018
Apostelgeschichte 16,23-34
Liebe Gemeinde!
Wahrscheinlich sitzen heute wenige hier, die die beiden typischen Merkmale des Christenlebens verkörpern, von denen dieser Bericht aus unserer Frühzeit handelt.
Würde ein Kindergottesdienstkind nämlich – völlig zurecht! – aus dieser Sonntagsschulgeschichte folgern: … Christen sind erschütternd singende Knastbrüder, dann wären wir alle fast ausnahmslos eine Enttäuschung.
Unser Gesang hat wenig von der biblischen Urgewalt kettensprengender Befreiung bewahrt, die uns aus dem Verlies in Philippi entgegenströmt. Jahrhunderte einer ganz anderen, gemessenen und taktvollen Kultivierung haben aus dem Singen eine Kunst und aus der Theologie eine Wissenschaft gemacht und aus dem Glauben eine Idee. Erdbeben und andere Durchbrüche begleiten in aller Regel weder unsere Lieder noch unsere Worte, und die Mächte des gebannten Lauschens, das entfesselte Häftlinge sitzenbleiben macht, … die Mächte der rasenden Angst, die den Augenzeugen einer Gebetsversammlung beinah in den Verzweiflungstod treiben, … die Mächte einer umstürzenden Erlöstheit, die zu plötzlicher Hingabe und Taufbegeisterung führen … sie alle sind uns meistens fremd und fern. ——
Aber sie ruhen nur.
Wir ruhen ja auch: Trotz aller Atemlosigkeit und Arbeitslast der vielen Glieder, die Ehren- und andere Ämter in der Gemeinde ausüben, ist der Zustand der Kirche bei uns vielleicht am ehesten als „stabile Seitenlage“ zu beschreiben. Am Boden - aber doch leidlich gestützt - ruhen wir und sind mit dem Durchkommen beschäftigt, bis die Herzmassage und die Mund-zu-Mund-Beatmung, die der Heilige Geist wie kein anderer Helfer und Retter beherrscht, uns wieder in’s wirkliche Getümmel, in die echte Arbeit von Mission und Bekenntnis zurückführen wird.
Was „Mission“ bedeutet, das ist inzwischen immerhin ja kein Fremdwort mehr, und wie der andere Begriff – „Zeugnis“, „Bekenntnis“ – zurück in die Sprache der Bibel, die die Sprache der Wirklichkeit spricht, zu übersetzen ist, werden wir über kurz oder lang zweifellos auch wieder praktisch lernen: In der Bibelsprache des Neuen Testaments lautet das Wort für „Bekenntnis“ nun einmal schlicht „Martyria“, „Martyrium“.
Weshalb der kleine Mensch aus dem Kindergottesdienst, der gut aufgepasst hat als ihm von Paulus und Silas in Philippi erzählt wurde, eben völlig recht hat: Christen müssen nach dem Beispiel dieser beiden tatsächlich wohl solche sein, die jederzeit im Kittchen landen können.
Zumindest war das ihr Anfang hier in Europa.
Und diesen Anfang sollte man sich immer wieder vor Augen führen … – je mehr wir das „christliche Abendland“ als Schlagwort feiern, desto nüchterner: Das Christentum in Europa fängt im Knast an!
Ganze zwölf Verse liegen ja in diesem Kapitel der Apostelgeschichte zwischen der Zeitenwende, als der Traum von einem um Hilfe schreienden Mazedonier Paulus zum ersten Mal über die magische Erdteilgrenze hinüber auf unseren Kontinent führte, und der Verhaftung und brutalen Misshandlung der Christusboten!
Zwölf Verse, in denen auf dieser Seite der Dardanellen eine Frau von der anderen Seite getauft wurde – die Purpurkrämerin Lydia –, … doch danach ging alles ganz schnell und schief: Die Apostel bringen nämlich den Geist der Freiheit und der lebendigen Wahrheit – den Geist des auferstandenen und aufgefahrenen Jesus Christus – nach Europa, aber der stört dort das Geschäft.
Das Geschäft, das in Philippi bisher so glänzend lief, ist indes gewiss nicht das Bekenntnis zur Wahrheit, sondern die sensationsfreudige öffentliche Meinungs- und Stimmungs-manipulation, die von einer paranormal, vielleicht auch pathologisch begabten Sklavin betrieben wird (vgl. Apg.16,16ff).
Diese „Magd mit dem Wahrsagegeist“ besitzt das, was jede PR-Agentur sich am meisten wünscht – ein mysteriöses Einfühlungsvermögen in die Menschen und einen indiskreten Mitteilungsdrang –, und ihre Bestimmung ist es, alles, was sie von den Wünschen und Sorgen und Geheimnissen anderer erfasst hat, laut und schrill herauszuplärren, weshalb man sie als Hellseherin und Orakel nutzt und ihr hohen Unterhaltungswert und gewiss auch therapeutische Fähigkeiten zuspricht.
Doch die übersteuerte Enthüllungsschreierei, die Privates herausposaunt und aus Stillem viel Lärm macht, die konnten Paulus und Silas nicht ertragen, als die Magd sich mit geistlichen Werbesprüchen an ihre Fersen heftete: Das Evangelium braucht keine Kampagne und kein Spektakel, wenn es wirken soll.
Und darum treiben die beiden Missionare in Jesu Namen den Geist der großen Lautsprecherin kurzerhand aus.
… Wehe aber denen, die die Geschäfte der Marktschreier und des Marktes bedrohen!
Paulus und Silas trug ihre Unabhängigkeit von solchen beherrschenden Mächten jedenfalls sofort Verhaftung und Misshandlung und Gefangenschaft ein: Und das ist keine linke Agitation, sondern unangenehme biblische Tatsache. … Die Tatsache, die dem Sonntagsschulkind auffällt, dass das Christentum offenbar als eine ärgerniserregende und riskante Sache anfing, für die man geradestehen und Schmerz und Strafe erwarten musste. ———
Diese Tatsache nun, dass unser Bekenntnis und seine möglichen Konsequenzen von Anfang an für Leib und Leben ernst und bleibend waren, bringt uns das kraftvolle und folgenschwere Mitternachtssingen der gefangenen Christusboten für Europa wirklich wieder zu Bewusstsein.
Schließlich sind wir trotz unserer stabilen Seitenlage selber Zeitgenossen unzähliger eingesperrter und gefolterter Christen weltweit, ja wir sind die Generation, die auf Erden die meisten Märtyrer jemals erlebt.
Und obwohl wir uns den Kantate-Sonntag eigentlich als heiteres Festival der schönen Klänge vorstellen, bringen uns diese ernsten Töne vielleicht noch viel mehr an das eigentliche Zentrum unseres Glaubens in seiner gesungenen, geklagten und gebeteten Gestalt heran.
Dass Christen wegen Christus im Gefängnis sitzen, ist nämlich niemals anders gewesen.
Und denken wir zurück, dann fallen uns die prägenden Erfahrungen derer ein, die den Alten heute noch vor Augen stehen: Wir erinnern uns, dass Martin Niemöller über Jahre der „persönliche Gefangene des Führers“ war, und mir bleibt’s eine mahnende Pflicht, dass einer meiner Vorgänger auf der kleinen Kanzel in Schöller, Wilhelm Niesel im Kirchenkampf bittere Haftzeiten erlebte genau wie so viele andere Kandidaten und Theologen der Bekennenden Kirche … ob nun Heinrich Held, erster rheinischer Präses nach dem Krieg oder Karl Immer, der treue Zeuge von Barmen oder Johannes Schlingensiepen oder Wilhelm Busch, um nur ein Paar zu nennen. … Von den Widerständlern Moltke und Dohnanyi, Lehndorff und Trott gleich ganz zu schweigen, … wie von Paul Schneider und Dietrich Bonhoeffer, deren jeweiligen Gefangenschaften wir einige der tiefsten und kostbarsten Zeugnisse des christlichen Glaubens im 20.Jahrhundert verdanken – „Martyria“ für alle Zukunft!
Noch weiter zurückzublicken, wäre spannend und ergäbe ein ähnliches Bild. Zu allen Zeiten saßen Christen in Europa hinter Gittern oder in der Verbannung und haben gerade dort das Zeugnis, die „Martyria“ der Kirche bereichert: Der Puritaner Johan Bunyan mit dem nach der Bibel meistgelesenen Buch in englischer Sprache, der „Pilgerreise zur Ewigkeit“, Johannes vom Kreuz mit seiner mystischen Erfahrung von der „Dunklen Nacht der Seele“, Thomas Morus mit seinen Gewissens-Briefen vor der Hinrichtung, der Kirchenvater Boëthius mit seinem „Trost der Philosophie“ und allen zuvor die Apostel Johannes mit der Geheimen Offenbarung und Paulus mit den Gefangenschaftsbriefen an die Epheser, Philipper, Kolosser und Philemon.
Die Liste würde endlos, wenn wir nur ein wenig auch nach Osten und Westen und Süden blickten, wo Solschenizyn im Gulag Christ wird, wo Martin Luther King den immer noch nicht erfüllten Traum für Amerika im Gefängnis durch seine bahnbrechenden Gedanken über „gerechte und ungerechte Gesetze“ vertieft[i], oder dorthin, wo in Libyen die 21 Märtyrer vom Februar 2015, die größtenteils aus dem ägyptischen Dorf El-Or kamen, noch in der Gefangenschaft des IS ihrer Gewohnheit als Chorknaben ihrer koptischen Dorfgemeinde nach-gingen und die Liturgie ihrer Kirche sangen, bis ihnen am Mittelmeerstrand als Gruß an Europa die Kehlen durchtrennt wurden[ii]. ……. ——
Doch wenn uns bei dieser Erinnerung an das jüngste und brutalste Martyrium für Christus nun vielleicht alles im Halse stecken bleiben will, was wir an Kantate sonst mit fröhlichem und freiem Gesang verbinden, dann sind wir eigentlich erst da, wo das Lied und die Musik und die Martyria des Glaubens überhaupt anfangen.
Denn das zeigt uns das mittenächtliche Gotteslob im Kerker von Philippi ja unmissverständlich, was eigentlich geschieht, wenn die Zeugen Christi beten, singen und loben: Urkräfte werden da freigesetzt. Kräfte, die die Welt bewegen und ihre Geschichte verändern. Das aber liegt daran, dass unsere Lieder und Weisen, unsere Gebete und Melodien von Hause aus nicht das sind, was manchmal mit Musik verbunden wird: Sie sind nicht der unmittelbarste, spontane Ausfluss eines individuellen Inneren und seiner Inspiration.
Das Lied der Kirche ist nicht persönlicher Ausdruck im expressionistischen Sinne und auch nicht virtuoser Beweis eines einzelnen Genies oder einer augenblicklichen Seelenbewegung. Denn dass Paulus und Silas in ihrer schrecklichen Tortur, mit den Beinen im Streckblock und in der Dunkelheit eines vermutlich halb unterirdischen und mit Sicherheit ekelerregenden Kerkergewölbes einer musischen Eingebung hätten folgen oder eine Gelegenheitsliturgie aus dem Stehgreif hätten anstimmen können, darf man ausschließen. Was sie vielmehr taten und was die Kraft hatte, sie zu freien Menschen zu machen und ihre Mitgefangenen zur teilnehmenden, nicht auseinanderfallenden Gemeinschaft … das war das urbiblische Psalmensingen.
Mit der Frage, was man in der Nacht lernen, beten und singen soll, fängt bis heute der Talmud an[iii] und greift dabei zurück auf einen Vers aus dem Zentralgebet des Psalters, den 119.Psalm, in dem es heißt (Ps. 119), 61f):
„Der Gottlosen Stricke umschlingen mich; aber dein Gesetz vergesse ich nicht:
Zur Mitternacht stehe ich auf, dir zu danken für die Ordnungen deiner Gerechtigkeit.“
Seit Davids Zeiten also ist nach jüdischer Überlieferung das Gebet in der tiefsten Nacht biblische Tradition … und genau in diesen mächtigen Strom reihen sich auch die gefesselten Gefangenen von Philippi ein. Aus diesem Traditionsstrom, der das Gottvertrauen und die Gottesbindung der Jahrhunderte mit sich führt, der angereichert ist mit unzähligen Beweisen des Geistes und der Kraft, schöpfen also die Christusboten, als sie in Europa lahmgelegt werden.
Und ihr Psalmengesang, ihr Mitternachtsgebet an der Schwelle des Abendlandes öffnet tatsächlich die Schleusen des Heils für Europa: Aus den heiligen Liedern des Volkes Israel, mit denen es sein Glauben und Hoffen, sein Kämpfen und seinen Widerstand weiter- und weitergesagt und -gesungen hat, dringen die Gerechtigkeits- und Freiheitsliebe, die Gewissheit und die Gemeinsamkeit des Glaubens auch in’s griechische Gefängnis und erschüttern seine Grundfesten: Dass Gefangene dem Gott der Befreiung, dass Gefolterte dem Gott der wahren Gerechtigkeit, dass Menschen in tiefster Finsternis dem Licht der Welt, dass ohnmächtig Hilflose dem lebendigen Erlöser der ganzen Welt singen und also nahe sein können, das bringt den Kerker um seine Funktion … und deshalb fallen die sinnlosen Fesseln!
Das Einzige, was nun noch bindet, ist eben die Kraft der Glaubens- und Gebetsgemeinschaft, die aus den Psalmliedern, aus den Lobgesängen der Apostel spricht.
Diese Kraft der gemeinschaftsstiftenden Singe-Martyria wurde in Philippi auf direkte Weise zur Rettung: Weil die anderen Gefangenen nach dem Wegfall der Fesseln nicht einfach die Flucht ergriffen, sondern in der Gemeinschaft blieben, die aus den alt-neuen Liedern auch bei ihnen entstanden war, darum musste der Kerkermeister nicht seiner panischen Angst wegen Verletzung der Dienstpflicht nachgeben und sich nach dem Ehrenkodex selber entleiben: Vielmehr hat der unerschütterliche Zusammenhalt zwischen Gott und den Seinen, der aus den überlieferten Liedern spricht und sich in ihnen vergegenwärtigt, auch den Bewacher eingebunden, … auch er fand seinen Ort in jener biblischen Gemeinde des Gottes Israels, des Vaters Jesu Christi, die eben in jedem ihrer Lied sich bestätigt und erweitert!
Weil diese biblischen Lieder, weil die Musik der Kirche und die Gesänge der Gemeinde also eben keine Einzelfälle, keine Eintagsklänge, keine Solonummern sind, sondern immer schon erfüllt von menschlicher Glaubenserfahrung, darum eröffnen sie immer auch ein Einstimmen und Einziehen in die Verbundenheit mit den Vielen, die vor uns und nach uns Gott vertrauen und Ihn anfangs- und endlos loben und preisen.
In dieser Fülle unserer Glaubenslieder und unseres Gotteslobes, die über jede persönliche Einzelgeschichte jahrhunderteweit hinausgehen und Tiefstes, Höchstes, Erstes, Letztes mitbringen und aufklingen lassen, … in dieser Fülle ist ihre befreiende Trostmacht und Bekenntniskraft enthalten.
Wir singen als die Gemeinde des einen Gottes eben nirgends und nie alleine, sondern stets in vollen, starken und fröhlichen Chören: Zwar mögen wir selbst gefangen sein wie Paulus und Silas, doch in unseren Psalmen und Lobgesängen singen die Befreiten aller Zeiten mit; wir mögen zuweilen schwarze Mitternacht und keinen Tag mehr vor Augen haben, aber in den heilsgeschichtlichen Worten und Dichtungen der Bibel ist immer doch der Schöpfungs- und Ostermorgen ganz frisch, der alles Singen weckt und auslöst; wir mögen vielleicht auch gar nicht mehr sangesfähig sein, aber wer immer einen Psalm liest, ein Gesangbuch aufschlägt, eine Melodie im Ohr hat, der wird auch stumm und schweigend noch von jenem Strom getragen, der als ewiges, unablässiges Loben, Klagen und Beten durch alle Zeiten fließt und in Gottes Gegenwart mündet.
Und so wird aus Psalmen und Liedern und Martyria das Volk Gottes gebaut und die Gemeinde erhalten und die Geschichte gestaltet, bis niemand mehr in Fesseln oder Lei-den liegt, sondern alle nur noch eingebunden sind und einstimmen in die Freude des Glaubens, der auch um Mitternacht im Gefängnis Gott nur loben kann.
Amen.
[i] Greifbar im Internet z.B. auf der Seite des African Studies Center der University of Pennsylvania unter http://www.africa.upenn.edu/Articles_Gen/Letter_Birmingham.html
[ii] Das Schicksal der 21 Märtyrer von Libyen sollte man sich nicht im Internet vergegenwärtigen, wo ihre Ermordung tatsächlich als professionell geschnittenes Video durch den IS „gepostet“ wurde und eine neue Ära der medialen Perversion eingeleitet hat, sondern indem man das empfehlenswerte Buch liest, das Martin Mosebach über diese jüngsten Blutzeugen des Christentums recherchiert und publiziert hat: Martin Mosebach, die 21, Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer, Reinbek (Rowohlt) 2018.
[iii] Babylonischer Talmud, Traktat Berakhot I,1 (Fol. 3b), hg. v. Lazarus Goldschmidt, Band 1, Nachdruck Frankfurt/M 1996, S.6ff.
Jubilate 22.04.2018 Stadtkirche 2.Korinther 4, 16-18 Pfr .Hermann Bauer
2. Kor.4,16-18: Predigt am Sonntag Jubilate 2018 in der Stadtkirche in Kaiserswerth
Liebe Gemeinde!
Warum wird Paulus nicht müde?
Er hätte allen Grund dazu.
Wie kommt er daher?
Ein alter Mann,
mit einer Krankheit geplagt,
die sein öffentliches Auftreten sehr erschwerte,
mit deutlichen Zeichen des Verfalls an seinem Leib,
Spuren der schweren Strafen, die er erdulden mußte,
der Strapazen seiner vielen Reisen, der Entbehrungen, die sie mit sich brachten,
dabei verfolgt, unterdrückt,
von vielen Seiten angefeindet, verleumdet, von allen Seiten bedrängt,
ohne festen Wohnsitz, ohne Pflege.
Wenn da einer nicht müde wird, dann ist es ein Wunder.
Aber sagt Paulus:
Das ist der äußere Mensch.
Doch wenn auch unser äußere Mensch verfällt,
so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.
Erneuerung des inneren Menschen, täglich?
Wie geschieht das?
In unserer aktuellen Medienlandschaft ist Müdigkeit und sind Ratschläge zu ihrer Überwindung ein häufig traktiertes Thema.
Nur, was Paulus dazu sagt, ist etwas ganz anderes als was dort zu lesen ist.
Und damit müssen wir uns beschäftigen.
Nur dazu muß man sich den gesamten Briefteil vergegenwärtigen, zu dem unser Text gehört
und dafür bitte ich um ihre Geduld.
Paulus weiß sich eingebunden und einbezogen
In ein Geschehen von Gott her, das eine neue, eine letzte Phase der Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung ist.
Am Anfang unseres Briefabschnittes (2.Kor.2,14-17) beschreibt er dieses Geschehen mit einem Bild aus seiner römisch- hellenistischen Umwelt.
Hatte damals der Kaiser oder sein oberster Feldherr einen wichtigen Sieg errungen,
etwa wie Titus über die Juden im Jahre 70 nach Christus, so stellt er sich in einem Triumphzug aller Welt dar als Sieger über seine Feinde, vor allem aber als gegenwärtige Erscheinung des höchsten Gottes, als Epiphanie Jupiters, der als Garant einer heilvollen Weltherrschaft galt.
In diesem Triumphzug werden mitgeführt die Beute, die vornehmsten Gefangenen, aber auch die, die durch ihre Dienste zu diesem Sieg beigetragen haben.
Wohlgerüche steigen auf, die von der Gegenwart des Gottes künden.
Nur der Teufel stinkt.
Jubelchöre erklingen und die Volksmenge zeigt Gesten der ehrfürchtiger Anbetung und beseligter Freude.
So etwas wie ein Triumphzug findet auch dort statt, wo Paulus sein Evangelium verkündet
um an allen Orten den Wohlgeruch der Erkenntnis Gottes zu offenbaren.
Und er Paulus - sei es als Besiegter, sei es als Diener oder Sklave oder als beides - ist in dieses Geschehen mit einbezogen.
Er schreibt:
Ich danke Gott, dass er mich überall im Triumphzug mitführt.
Wir sind für Gott ein Wohlgeruch Christi, (2.Kor.2,14) der die Offenbarung Gottes an allen Orten anzeigt.
Wo findet dieser Triumphzug statt?
Es tauchen zwei allerdings sehr unterschiedliche Ortsangaben auf:
An allen Orten, also in der Welt und in Christus.
Was soll das heißen?
Diese neue Phase der Gottesgeschichte beginnt damit, dass inmitten dieser Welt – und nun muß man wieder ein Bild gebrauchen – eine Art Kraftfeld sich ausbreitet, ausgehend von dem gekreuzigten und auferstandene Christus Jesus.
Es ist der Wirkbereich des von Christus ausgehenden Gottesgeistes,
ein geistliches Kraftfeld.
Sein Name ist Christus.
Wer in ihm ist, ist in Christus.
Paulus weiß sich von Gott in Anspruch genommen, durch seinen Dienst, Menschen in Verbindung zu bringen zu diesem Kraftfeld.
Durch sein Wirken gelangen Menschen in dieses geistliche Kraftfeld hinein.
Paulus sagt:
Dazu ist Gott, der da sprach aus der Finsternis soll Licht aufstrahlen, in unserem Herzen aufgestrahlt, um die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesichte Jesu Christi offenbar zu machen (2.Kor.4,6) um Christus offenbar zu machen, als das Bild Gottes.
Darum verkündet er Christus als den Herrn, sich selbst aber als Diener oder Sklave Christi, ja auch als Diener seiner Gemeinden um Christi willen
Durch seinen Dienst werden die Gemeinden, die er gründet, als in dieses Kraftfeld versetzt zum Leib Christi und der einzelne Christ zu einem Gliedmaß am Leibe Christi.
Was verändert sich durch dieses Eingebundenwerden in das Kraftfeld des Geistes?
Paulus gebraucht wieder ein Bild, diesmal aus der Sprache des Handels.
Der Geist ist nur eine Anzahlung,
ein Pfand, (2.Kor 5,4)
für eine noch ausstehende viel größere Gabe, ein Pfand dafür, dass die, die in Christus sind
der kommenden Vollendung in Gott teilhaftig werden.
Diese umschreibt Paulus wiederum mit vielen Bildern.
Er spricht von einem Überkleidetwerden mit einer nicht mit Händen gemachten ewigen Behausung aus dem Himmel (2.Kor.5,1-4, vom Anziehens des Unverweslichen,
Oder er spricht davon, dass Gott, der Christus auferweckt hat, auch uns als zu Christus Gehörende mit Christus auferwecken wird (2.Kor.4,14).
Oder er spricht ganz schlicht vom Daheimsein bei Christus (2.Kor.5,8)
Das sind für viele heute - auch solche, die sich als Christen verstehen - ziemlich unerschwingliche und von der allgegenwärtigen Religionskritik aufs heftigste bekämpfte Aussagen.
Aber es sind auch Aussagen über die Gegenwart hier und jetzt.
Dem, der in Christus ist, ist hier und jetzt ein neuer Zukunftshorizont eröffnet,
eine Zukunft jenseits von Raum und Zeit,
jenseits dieser Welt,
eine Zukunft bei Gott.
der die Zeit in Händen hält,
der die ganze Schöpfung, das All,
aus dem Nichts ins Sein gerufen hat.
Ein neuer Zukunftshorizont, bedeutet eine neue Weise des Existierens und zwar schon hier und jetzt.
Diese neue Weise des Existierens ist in Christus erschienen,
ein Existieren im Hier und Heute
aus der Kraft Gottes.
Gerade als Mensch in der Knechtsgestalt des Menschen (Phil.2,7) ist er das Bild Gottes.
Und Paulus sagt: Wir alle aber - ergriffen vom Geiste Christi - werden in dasselbe Bild verwandelt werden aus Herrlichkeit zur Herrlichkeit (2.Kor.3,17-18).
Dieses Verwandelt werden in das Bild Christi ist ein Prozess, der im Hier und Heute beginnt.
Paulus sagt:
Ist einer in Christus,
so ist er eine neue Kreatur,
das Alte ist vergangen,
siehe es ist alles neu geworden (2.Kor.5,17)
Diesen Prozess der Erneuerung des Menschen meint Paulus, wenn er in unserem Text davon spricht, dass der innere Mensch von Tag zu Tag erneuert wird.
Wie sieht diese Erneuerung konkret aus?
Im Römerbrief spricht er von einer Erneuerung des Sinnes, und er meint damit nicht nur das denkerische Vermögen des Menschen, sondern die Gesamtheit des Wahrnehmens, Empfindens, Denkens, Wollens und Handelns.
Wie ist diese Erneuerung möglich?
Paulus sagt:
Wo der Geist des Herrn ist, ist Freiheit.(2.Kor.3,17)
Und er beschreibt diese Freiheit
Als Befreiung von der Macht der Sünde und des Todes.
In Christus hat der Geist des Lebens dich frei gemacht, vom Gesetz der Sünde und des Todes.
Darum keine Verurteilung für die, die in Christus Jesus sind. (Römer 8,1-2)
Nicht Verurteilung und Tod ist der Zukunftshorizont in Christus,
sondern Leben bei Gott.
Das Jenseits von Zeit und Welt, ist nicht der alles vernichtende Abgrund des Nichts, sondern Gott, der aus dem Nichts die Welt ins Sein ruft.
Dieser neue Zukunftshorizont in Christus bedeutet schon hier und heute Befreiung von zwei Zwängen, denen die Menschheit von alters her unterworfen ist:
Die Faszination von allem, was einem Macht gibt, nach dem Leben zu greifen,und der Zwang zur Selbsterhaltung und damit zur Feindschaft gegenüber allem und jedem, der einen in dieser Selbsterhaltung bedroht.
Die Befreiung von diesen Zwängen, ermöglicht durch den neuen Zukunftshorizont, macht eine Erneuerung des Existierens möglich.
Diese Erneuerung ist kein magischer Prozess, er läuft auch nicht nach notwendigen Naturgesetzen ab etwa wie ein chemischer oder physikalischer Prozess.
Der Mensch ist ja kein Stein.
Er ist kein festgestelltes Wesen.
Ihm ist sein Sein immer auch aufgegeben.
Er hat zu sein, was er schon ist.
Er hat in den Möglichkeiten, die ihm in Christus eröffnet sind, zu wandeln.
Die Gabe Gottes ist immer auch Aufgabe.
Redet Paulus in unserem Text im Indikativ „Der innere Mensch wird von Tag zu Tag erneuert“, so gebraucht er im Römerbrief die Aufforderungsform:
Ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes. (Römer 12,2)
Oder
Christus hat uns zur Freiheit befreit, so steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen.
Oder wenn wir im Geiste leben, so laßt uns auch im Geiste wandeln. (Gal.5,1 und Gal.5,25)
Dieser Wandel in Freiheit, im Hier und Jetzt, führt einen aber in die Bedrängnisse, von denen die äußere Erscheinung des Paulus gezeichnet ist.
Paulus sagt: Den Schatz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesichte Jesu Christi, haben wir in irdenen Gefäßen.(2.Kor.4,7)
Diese Diskrepanz zwischen außen und innen ist ja auch schon in dem Bild vom Triumphzug enthalten.
Denn der, der da triumphiert, der den Paulus in seinem Triumphzug mitführt, trägt auf seinem Haupt nicht den goldenen Strahlenkranz des höchsten Gottes sondern eine Dornenkrone, und er ist nicht erhöht auf einem hocherhabenen Thron, sondern ans Kreuz.
Nun bewertet Paulus in unserem Text diese Diskrepanz und provoziert damit gewaltigen Widerspruch.
Er legt inneres und äußeres gewissermaßen auf die Waage und stellt fest:
Die gegenwärtigen Trübsale wiegen leicht, gegenüber dem, was sie uns schaffen,
nämlich eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit.(2.Kor.4,17)
Ist das nicht wieder der uralte
Priester- und Pastorentrick?
Menschen werden für dumm verkauft und auf eine zukünftige, unsichtbare, angeblich ewige Herrlichkeit vertröstet.
Gibt es das überhaupt?
Ist das nicht ein billiges Vertrösten?
Sehr gefährlich!
Ein geeignetes Mittel für Machthaber, zur Ruhigstellung unterdrückter Massen.
Opium fürs Volk hat Karl Marx gesagt.
So neu ist dieser Vorwurf nicht.
Schon die Korinther haben ihn gegen ihren Apostel erhoben:
Du willst Bote einer neuen Schöpfung sein. Ein solcher müßte doch mit sieghaften Worten die Mächte der Finsternis zu Boden treten, an dem müßte doch Gottesmacht spürbar werden, er müßte überströmen von innerer Erleuchtung und begeistern durch die Verzückung, die er verbreitet.
Stattdessen: Wie kümmerlich ist deine Rede, wie armselig deine Gestalt!
Du gleichst doch eher einem geprügelten Hund und bist es auch, geschlagen von Krankheit und Verfolgung.
Der Bote einer neuen Schöpfung müßte doch anders daher kommen.
So wollten auch die Korinther Sichtbares, Greifbares, Gegenwärtiges, Siegesrausch, Enthusiasmus, aber nicht Verfall und Trübsale.
Was hat es mit diesen Trübsalen auf sich?
Paulus ist - wenn er fremdem Leid begegnet - weit davon entfernt, den Leidenden auf eine künftige Herrlichkeit zu vertrösten, um dem Leid auszuweichen.
Er läßt sich in fremdes Leid verwickeln.
Wer ist schwach und ich werde nicht schwach, wer kommt zu Fall und ich brenne nicht.
So wie Jesus die Hungrigen nicht von sich weist, sondern ihnen Brot schafft,
an den Kranken nicht vorübergeht, sondern bei ihnen Halt macht,
den Sünder nicht verwirft, sondern ihm vergibt,
in das Haus des Verachteten einkehrt und die Empörung der Gerechten auf sich nimmt, so auch Paulus.
Auch in der Existenz des Paulus bildete sich die Gestalt des Gottesknechtes ab, von dem es heißt: Er trug unsere Krankheiten und lud auf sich unsere Schmerzen.
Die Trübsale des Paulus sind die Trübsale der Welt, denen er nicht ausweicht, sondern in die er sich verwickeln läßt, so wie Christus es seinen Jüngern befohlen hat.
In der kirchlichen Tradition sprach man dann von den Werken der Barmherzigkeit:
die Hungrigen speisen,
die Durstigen tränken,
die Nackten bekleiden,
die Fremden aufnehmen,
die Kranken pflegen,
die Gefangenen besuchen
und wer das tut, an dessen leiblicher Gestalt wird auch die Not und der Verfall derer sichtbar, deren er sich annimmt.
Die Trübsale des Paulus haben aber auch noch eine andere Dimension.
Paulus hat den Willen Gottes neu interpretiert, und damit den Widerstand und die Feindschaft
der Repräsentanten des bis dahin Geltenden herausgefordert.
Was war das Neue:
Christus ist des Gesetzes Ende (Römer 10,4).
Hier ist nicht Jude noch Grieche,
hier ist nicht Sklave noch Freier,
hier ist nicht Mann noch Frau,
denn ihr seid allesamt einer in Christus (Gal.3,28).
Ritualgesetze, Speisegesetze, Kleidervorschriften, Standesgebote sind zweitrangig.
Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung (Römer 13,8-10).
Der Glaube an Christus - nicht das Aufsichnehmen des mosaischen Gesetzes - ist der Heilsweg.
Die Öffnung des Heils für alle Menschen ist das Neue.
Und Paulus wurde verfolgt wie die Propheten verfolgt wurden, wie Christus verfolgt wurde.
Obwohl er sich mit allen Kräften bemühte, Verständnis zu wecken für seine Botschaft - es half nichts.
Er konnte diesen Widerstand nicht vermeiden.
Er hätte seine Botschaft verschweigen müssen.
Aber das hätte bedeutet, die ihm zuteil gewordenen Offenbarung Gottes und die Erkenntnis der Wahrheit zu verraten.
Er mußte für die Wahrheit leiden und sterben.
Aber diese gegenwärtigen Trübsale sind leicht, denn sie schaffen eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit, nämlich das Leben mit Christus - nicht nur dort, sondern schon hier.
Es wird erfahrbar eben darin, dass Paulus nicht müde wird.
Es ist ein Wunder, denn es kommt aus er Kraft Gottes.
Paulus sagt (2.Kor.4,8-10):
Darin dass wir von allen Seiten bedrängt sind
uns aber nicht ängstigen,
uns bange ist, aber wir nicht verzagen,
wir Verfolgung leiden, aber doch nicht verlassen sind,
wir unterdrückt werden, aber doch nicht umkommen
ist Gottes Kraft am Werke
als Pfand dafür,
dass das Sterbliche verschlungen wird vom Leben (2.Kor.5,4).
Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unsrem Leibe,
damit auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde.
Dafür ist notwendig, dass wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare.
Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich, was aber unsichtbar ist , das ist ewig.
So der letzte Satz unseres Textes.
Paulus wendet sich mit seiner Botschaft nicht an den Verstand, des Menschen.
Unser Verstand ist das Organ. mit dem wir erkennen, was ist und wie es sich verhält.
Gemäß unseren wissenschaftlichen Methoden machen wir uns einen Entwurf, wie etwas sein und sich verhalten könnte, und überprüfen dann durch Experimente, ob sich unsere Prognosen an der Realität bestätigen.
Diese erfassen wir mit unseren Sinnen:
Sehen Hören Fühlen Riechen Schmecken.
Durch Indienstnahme von Apparaten haben wir den Bereich dessen, was wir mit Sinnen wahrnehmen können, ungeheuer erweitert.
So können wir heute z.B. mit Hilfe des uns unhörbaren Ultraschalls das Verhalten unserer inneren Organe auf dem Bildschirm sichtbar machen.
Damit erfassen wir aber nur, was in der Zeit und in der Welt ist.
Was jenseits von Zeit und Welt ist,
was Jenseits des Seins ist,
wofür wir das Wörtchen „ist“
nur noch im übertragenen Sinne gebrauchen können
und wovon wir überhaupt nur in Bildern und Vergleichen sprechen können:
Da ist für den Verstand nichts.
Wie kann man also das Unsichtbare sehen?
Paulus wendet sich nicht an den Verstand, sondern an das Gewissen.
Durch Offenbarung der Wahrheit empfehlen wir uns dem Gewissen aller Menschen vor Gott (2.Kor.4,2).
Im Gewissen wissen wir um unsere Verantwortung für unsere ganzes Leben vor Gott.
Verantwortung ist mehr als Rechenschaftspflicht vor irdischen Instanzen.
Wäre sie nur das, wäre sie nicht unentrinnbar.
Wir bleiben verantwortlich auch wenn wir sie leugnen, auch wenn wir uns ihr entziehen, auch wenn wir tot sind.
In fast allen menschlichen Kulturen gibt es die Überlieferung von einem jenseitigen Gericht, vor dem der Mensch sich verantworten muß.
Dieses Wissen gehört zum Menschsein dazu.
Im jüdisch christlichen Bereich sprechen wir von der Verantwortung vor Gott.
Wer dieses Wissen unter Projektionsverdacht stellt, wie es die aufgeklärte Religionskritik bisweilen tut, gerät selbst in den Verdacht, sich seiner Verantwortung entziehen zu wollen.
So ist das Gewissen das Empfangsorgan für das Unsichtbare für die Botschaft des Paulus aus dem Jenseits von Zeit und Welt
Unser Verstand sagt, was richtig ist,
unser Gewissen sagt, was wahr ist
auch wenn es uns gar nicht passt.
Die Erkenntnisse des Verstandes benützen wir für unsere Zwecke.
Was das Gewissen uns sagt, nimmt uns in die Pflicht, … auch wenn wir es gar nicht bezwecken.
Es nötigt uns und klagt uns an, wenn wir es verletzen.
Wenn Paulus sagt:
Jesus Christus ist das Bild Gottes,
so ist das ein Gewissensurteil,
das ihn bindet und ihn zu seinem Dienst nötigt.
Und wenn wir ergriffen sind von der Menschlichkeit Jesu, und bekennen, dass in ihm die Weise des Menschseins erschienen ist, die nach dem Willen Gottes auch in unserer Existenz Gestalt gewinnen soll, so sind wir ergriffen vom Geiste Jesu, hineingenommen in das Kraftfeld des Geistes Gottes, und haben das Unterpfand unserer Zukunft bei Gott empfangen.
Amen
Konfirmation / Misericordias Domini 15.04.2018 Stadtkirche Johannes 10,11ff Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Misericordias Domini / Konfirmation 15.IV.2018
Johannes 10,11
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Seid Ihr hütbar?
– Das Rechtschreibprogramm meines Computers zeigt mir an, ich könne Euch diese Frage nicht stellen, weil es das Wort gar nicht gibt. Und die Autokorrektur schlägt vor, ich solle Euch lieber fragen, ob Ihr vielleicht „hörbar“ seid, … aber das muss ich nicht, denn die Antwort ist ein dreifach donnerndes „Und ob“. Ja, hörbar seid Ihr definitiv! … Zum Glück! Schließlich habt Ihr gerade laut von Eurer hörbaren Religionsmündigkeit Gebrauch gemacht und Gott mit Eurem Wort zu verstehen gegeben, dass Er mit Euch rechnen, dass Er in Zukunft Sein Recht und Sein Reich auch mit Euch voranbringen und vollenden kann.
… Aber dann ist es ja nur umso dringender nötig, noch einmal zu fragen, ob Ihr überhaupt noch „hütbar“ seid, oder ob ab jetzt nicht Schluss ist mit dem ganzen Kram von Kinderhüten und Babysitten über Aufpassen und Vorschreiben und Rumerziehen bis zum Ratschlägegeben und Vorschriftenmachen und ewigen Bevormunden?
Vermutlich habt Ihr einiges davon satt, und das Hüten und Behüten zählt für Euch nur noch zu den …. na eben! … „alten Hüten“, die langsam nicht mehr tragbar sind.
… Und Eure Eltern mögen es hier und da – stolz oder erschöpft – sogar ganz ähnlich sehen: Autopilot und Selbständigkeit und kein permanentes Beaufsichtigen und Beschützen und Zurück-in-den-Stall-Pfeifen mehr. … Ratinger Straße und Nachtresidenz: Here we come! —
Doch ausgerechnet jetzt steht einer hier vor Euch – am Tag, der irgendwie das Ende Eurer Hütbarkeit beschleunigt – und will Euch nochmal so richtig einherden und verlämmern und verschafen und verbocken, bis Ihr wieder „Määäh“ macht und klein und wollig seid?! …….
Das wäre wirklich typisch pastoral von Eurem Pastor, … schließlich heißt „pastoral“ ja auch einfach nur „hirtig“.
Will der Marquardt Euch also nochmal um jeden Preis als seine kleine Kaiserswerther Schafzucht behandeln und wenigstens noch einen großen, nichtlöslichen evangelischen Farbfleck auf Euern Pelz klatschen, damit man weiß, wer Ihr seid … so wie sie es in England und Australien und überall sonst, wo es freilebende Herden gibt, ja auch machen? ……
Na ja.
Ihr habt’s ja eben selbst gehört (Schriftlesung: Johannes 10,12f): Marquardt ist auch nur ein Mietling!
Wenn’s ernst wird mit Eurer Freiheit und Selbständigkeit und Eurem Risiko in Wildnis und Weite ... wo ist dann wohl der Pastor, wo ist dann der Miethirte? … Vermutlich – vielleicht sogar: hoffentlich?! – nicht auf der Ratinger Str. oder in der Nachtresidenz oder wo immer Ihr Euch tummelt und auslebt oder wehtut und das arme Tier kriegt.
Da werden noch nicht einmal Eure Mutter, Euer Vater, Eure Geschwister und Familien unbe-dingt bei Euch sein, obwohl Ihr von denen wirklich in der Wolle gefärbt seid und sie Euch bestimmt von Herzen gern beistünden, wenn Ihr mal nicht ungeschoren davonkommt.
Je unhütbarer Ihr jedenfalls seid, je weniger festangebunden Eure Zukunft verläuft, je mehr Ihr Nomadenwege geht – und das heißt: je mehr Ihr Euch entwickelt und verändert und entfaltet – desto weniger wird irgendjemand, selbst wenn er’s noch so gut mit Euch meint, Euch behüten wollen und können.
Bis es sogar Tage geben mag, an denen Euch einfällt, wie schön der Stallgeruch früher war und wie angenehm es sich anfühlte, gefüttert und beschützt zu werden und einfach nur hinterherzutrotteln als Teil der vertrauten Herde.
Aber das nützt nichts.
Und schadet auch nichts: Wer groß wird und selbst verantwortlich ist, der ist irgendwann eben nicht mehr „hütbar“.
Das mag der Grund sein, weshalb es das Wort außerhalb der Fachliteratur für Schafzüchter auch gar nicht offiziell gibt, … weil man es irgendwann gar nicht mehr anwenden könnte auf Euch. … Vielleicht ja auch wirklich ab heute nicht mehr?!
Und trotzdem – ganz egal, ob es dafür auf unserer Seite einen Fachbegriff gibt – …, trotz aller unserer Unhütbarkeit bleibt eines dennoch immer und immer wahr: Nämlich dass wir einen Hirten haben, … den guten Hirten Jesus Christus.
Das ist eine Tatsache, die unabhängig von uns und unserer Lage und Situation einfach unveränderlich feststeht: Jesus Christus wird niemals aufhören, mit seinem Leben für Euer Leben geradezustehen. Ob Ihr ihn unbedingt abschütteln wollt oder ob Ihr Ihn vielleicht gerade deutlich vor Augen habt, … so oder so bleibt Er der eine, wirkliche, verlässliche, unbeirrbare Hüter und Beschützer Eurer Lebenswege durch Dick und Dünn. …
Denn gerade das ist ja die eigentliche Arbeit und Aufgabe eines Hirten: Dieses Dasein und Treusein, das meistens einfach im Hintergrund geschieht und das diejenigen oft gar nicht mitkriegen, über die da doch gewacht und für die da doch gesorgt wird.
… Frag mal ein Schaf auf der Weide, wo denn der Schäfer ist?
Es wird ihn seit dem Morgen überhaupt nicht mehr zur Kenntnis genommen haben, und hält sich inzwischen selbst vermutlich für den abenteuerlustigen Entdecker seiner grünen Aue und des frischen Wassers, an dem es weidet.
Der Schäfer verträgt das durchaus.
Und Gott seinerseits genauso.
… Was nicht heißt, dass es gut oder gerecht wäre, Gott so lieblos aus dem Blick zu verlieren und zu vergessen, dass Er immer da war und immer da bleiben wird.
Natürlich wünschte ich Euch und bitte Euch heute auch ganz feierlich darum, dass Ihr nicht zu jener Sorte unbekümmerter, strunzblöder Leute werdet, die alles als selbstverständlich nehmen und gar nicht mehr merken, dass sie nicht ihrem eigenen Genie oder einem zufälligen Glück, sondern dem Segen ihres Gottes verdanken, was sie Gutes erleben!
Ich bitte Euch also drum, dass Ihr nicht dämlich wie die Schafe, sondern verständig wie denkende Menschen durch Euer Leben geht und immer wieder einmal Eure Gedanken und Augen aufhebt und hinblickt und seht, wer da am Rand Eures Gesichtsfeldes steht und Euch nicht verloren gehen lässt. Der war am Morgen Eures Lebens da und hat Euch auf die Wege und die Weide gebracht, und Er wird auch am Abend noch da sein und Euch mit Seinem Stab und Ruf sammeln und heimbringen, bis Ihr wieder geborgen seid bei Ihm.
Denkt also zwischendurch immer wieder an unseren, an Euren Gott und dankt Ihm!
Und fragt Euch ab und zu auch dieses noch: Wenn es schon kein Wort dafür gibt, dass Menschen hütbar sind und oft auch hütbedürftig … warum gibt es dann eigentlich trotzdem diesen Hirten? Warum passt da einer auf und gibt sich dafür her, dass wir nicht einfach im finstern Tal abstürzen oder im Angesicht unserer Feinde Reißaus nehmen, sondern dass wir behütet und versöhnt und gesegnet durch alles das durchkommen und einmal bleiben werden bei Ihm?
Warum hat die unhütbare Menschheit einen so unverbesserlich treuen Hüter?
Die Frage führt ins Zentrum unseres Glaubens.
Und trotzdem ist sie nicht einmal schwer zu beantworten:
Gott macht das alles – Euch zu beschützen und zu leiten und zu retten und endlich festzuhalten und in Sicherheit zu bringen – … Gott macht das alles nicht, weil Er so gerne der Rudelführer oder der Leithammel ist.
… Im Gegenteil und umgekehrt! … Und das ist übrigens der Grund, weshalb ich alle anderen Götter und Götterbilder der Menschheit für eine Zumutung und eine Mafia oder bloß einen schlechten Scherz halte!
Unser Gott, unser Retter ist also auch unser Hirte nicht deshalb, weil er so gerne der Herr ist. … Vor Göttern, die nur Herren sein wollen, ist ebenso zu warnen wie vor Menschen, die nur das wollen. … Denn es gilt die Grundregel: Hütet Euch vor allen, die über Euch herrschen wollen! Behütet Euch also selber vor denen, die so tun, als seien sie göttergleich oder göttlich. … Und vertraut jemandem und jedermann überhaupt nur dann, wenn Ihr wisst, dass da nicht von oben herab, sondern aus der Nähe und Wahrheit Eures Lebens heraus gesprochen und gehandelt und befohlen und geholfen wird.
Vertraut also keinem Gott, der nicht auch Mensch wurde!
Und lasst nur Den Euren Hirten sein, Der selber auch ……. – was haben wir jetzt seit Wochen von ihm zu singen geübt? – „Christe, Du …….“? – Genau!
… Lasst nur Den Euren Hirten sein, der selber auch „das Lamm Gottes“ ist!
Denn Der weiß und kennt und teilt und rettet Euer Leben nicht von oben herab als großer Treiber und Vormund, sondern aus der ganzen Wirklichkeit von Lachen und Weinen, Leiden und Lieben, Freude und Schmerz, Ratinger Straße und Kaiserswerther Stadtkirche heraus … aus dieser Wirklichkeit heraus, die er als sterblicher Mensch erfahren hat und die aus dem Lamm Gottes den einzig wahren, guten Hirten gemacht hat.
Das ist Eure Wirklichkeit.
Und wenn man darin auch nicht hütbar sein mag, weil es das Wort schlicht nicht gibt … wichtig ist doch nur: Wenn Ihr Christus gehört und folgt, seid Ihr vielleicht nicht hütbar, aber ganz gewiss trotzdem behütet … und werdet’s immer bleiben!
Amen.
Konfirmation 14.04.2018 Stadtkirche Johannes 10,11 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Konfirmation 14.IV.2018
Johannes 10,11
[Mit zwei frühchristlichen Darstellungen des Guten Hirten als jugendlichen Schäfers]
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Mal eine ganz unverbindliche Frage: Was wärt Ihr lieber, … „schön“ oder „gut“?
Würde es Euch also besser gefallen, dass Ihr andern wegen Eures netten Aussehens (so wie heute!) gefallt, oder fändet Ihr es hübscher, wenn andere Gefallen an Euch finden, weil Ihr nett seid?
……. Häähhh? Wie bitte? …….
Die Frage ist extra so ein bisschen umständlich und verdreht gestellt: Erstens weil ich es gemein fände – nachdem ich so oft behauptet habe, Ihr müsstet heute nichts Großartiges aufsagen oder vormachen –, von Euch jetzt doch etwas wissen zu wollen, für das man erst ein Fremdwörterbuch braucht, … nämlich ob Ihr Euch eher für das, was „ethisch“ ist oder eher für das, was „ästhetisch“ ist interessiert, … ob Ihr also mehr für Mode oder Moral sein.
Zweitens will ich natürlich mit der komisch verwurstelten Frage, ob Ihr lieber eine gute Optik oder ein schönes Innere habt, die beiden Seiten so lange hin- und herdrehen, bis man sie kaum noch auseinanderhalten kann.
Denn es ist einfach immer Unfug, wenn man uns weismachen will, man müsse sich zwischen dem, was innerlich und dem, was äußerlich attraktiv ist, unbedingt entscheiden.
Wenn das so wäre, dann hättet Ihr heute morgen jedenfalls alles falsch gemacht, … dann sollte man sich zu seiner Konfirmation jedenfalls nicht rausputzen, sondern am besten in Gesundheitslatschen und Tarnfarbe kommen, damit klar ist, dass hier und jetzt das furchtbar ernste Innenleben beginnt und die ganze oberflächliche Eitelkeit von Instagram ein Ende findet.
Doch die Idee, dass gute und liebevolle Christen irgendwie säuerlich und unappetitlich aussehen müssen, ist ein echtes Missverständnis, und jedes Fest wie heute, an dem wir schöngekleidete und ansehnliche Gestalten in der Kirche versammeln, zeigt uns, dass man gekämmte Haare, gebügelte Kleider und gepflegte Manieren haben kann … und trotzdem kein schlechter Mensch sein muss!
Das ist in der evangelischen Kirche manchmal ein wenig vergessen worden, weil wir doch Prunk und Zinnober und Gewänder und Firlefanz ablehnen und ganz vom schlichten Wort und von der reinen Überzeugung leben.
Aber Ihr seid nun mal eine Generation, die sich ohne Fotos, die sich ohne was zum Gucken eigentlich von nichts mehr ein Bild machen kann.
… Logisch, irgendwie.
Zum Glück habt Ihr dabei immer noch Geduld mit Dinosauriern wie mir, die ein “shooting“ für ein Massaker halten und bei den Bildchen, die man sich gegenseitig schickt, meinen, die seien so etwas wie Briefmarken und dahinter käme dann der Text mit der eigentlichen, ausführlich formulierten Botschaft. ——
Ein ganz besonderes Glück aber haben wir alle miteinander an diesem Wochenende Eurer Konfirmation, denn das ist für die schnellen Sehleute wie Euch und für langweilige Langstreckenleser wie mich ein idealer Kompromiss, weil es ganz im Zeichen des bekanntesten Psalms und gleichzeitig eines der unvergänglichsten Bilder der Bibel steht: Die Rede ist vom guten Hirten.
Dieses Bild, dass der Herr unser Hirte ist und dass er bei jedem bleibt – auch im finstern Tal – … das hat heute noch eine genauso direkte Trostkraft wie vor dreitausend Jahren.
Und es ist ein vertrauter Anblick, der dabei wach wird, … denn entweder auf den alltäglichen Wiesen und Weiden hier am Rhein oder auf irgendwelchen ganz bewusst biblischen Bildern ist uns ein hütender Hirte, der seiner friedlichen Schar den Weg weist und keinen Schützling verloren gehen lässt, ganz bestimmt schon begegnet.
Das Hirtenbild spricht also sofort und verständlich: Es ist Glück – so sagt das Hirtenbild – … es ist Glück, wenn man zu Gott gehört, es ist Glück und Geborgenheit und es gibt dem Leben eine Richtung, und es schenkt Zuversicht und Ziele, wenn wir nicht nur auf eigene Faust und aus eigener Kraft leben, sondern uns gemeinsam von der Weisheit und der Stimme Dessen leiten lassen, Der Seine Herde verteidigt und erhält und schließlich in die große Sicherheit Seines Hauses führt, wo wir alle bleiben dürfen …immerdar.
Es ist also gut, zur Gemeinde Dessen zu gehören, Der uns durch Gutes und Barmherzigkeit lenkt und uns dadurch auch barmherzig und gut macht.
Aber – und jetzt kommt der „Witz“ am biblischen Bild des Guten Hirten – aber es ist nicht nur eine Gute Botschaft, dass wir in diese Herde und diese Heimat gehören. Sondern diese gute Botschaft ist auch sehenswert schön.
Und genau diese Seite des Evangeliums von Gottes liebevoller Sorge und Seinem guten Segen für uns haben die ersten Christen in Griechenland und Rom ganz früh entdeckt.
Ihnen war nämlich das Evangelium – vielleicht ein bisschen ähnlich wie bei Euch – in gewisser Weise manchmal zu schwer: Dass der Gott der Bibel sich für Seine Menschen quälen und am Kreuz töten lässt, das war ihnen ein Kummer, eine bedrückende und fremde Last.
Genau wie bei Euch war vielen von Ihnen das sonnige, das starke und sportliche Leben lieber als die Karfreitagsstunde, in der Jesus unter so schrecklichen Schmerzen den dunklen Tod erlitt.
… Natürlich begriffen auch die frühen Christen genauso gut wie Ihr, dass es kein Leben nur in Heiterkeit und Freiheit gibt, weil Bitteres und Zwang irgendwann jeden Menschen treffen.
Aber die Christen der Frühzeit verguckten sich gerade deshalb in das Bild vom guten Hirten, weil es ihre Lieblingsvorstellung zeigte: Wenn sie von Schäfern und Schafherden hörten, dann dachten sie an unbeschwertes Leben irgendwo in idyllischer Landschaft, an Spiele und Lieder und Ruhen unter blauem Himmel und im Schatten alter Bäume.
Und solche jugendliche Lebensfreude der Hirten, solches den Lämmern-Helfen, das wie ein Vergnügen wirkt, solche Bilder, in denen das Leben harmonisch, ja beinah wieder paradiesisch ist, die gehörten in den Gemeinden der ersten Jahrhunderte viel mehr zur Darstellung Jesu und zum Hinweis auf ihn, als die Abbildung seines Leidens und Todes.
Am Anfang der Kirche also finden wir, dass die Katechumenen im Taufunterricht, die ihren Glauben an Jesus Christus bestätigen – und das heißt ja: „konfirmieren“ – sollten, einen Eindruck von echter Schönheit empfingen: Gottes Liebe zu uns ist keine trübe Sache, sondern diese Liebe Gottes entdeckt man am einfachsten und klarsten im unbeschwerten und kräftigen Bild eines jungen, energiegeladenen Menschen, der in der Natur lebt und dort für die Kreatur sorgt … im Bild des muskelstarken, singenden Hirtenknaben. ——
Gottes Fürsorge für seine Menschen machte Ihn also in den Augen der griechischen und römischen Christen der Frühzeit tatsächlich einfach schön. Sie erkannten in Ihm Einen, Der frei und gern das Leben der Menschen annahm und auf Seine Schultern lud. Sie vertrauten darauf, dass auch die Last, die Er da zu tragen bekommt, Ihn nicht bis zur Unkenntlichkeit entstellen würde, sondern dass Er die unveränderte Kraft hat, Liebe und Freude auszustrahlen.
Mit anderen Worten: Die ersten Christen sahen Gott ganz von Ostern her. Sie erkannten in Ihm Den, Den selbst der Tod nicht besiegen und selbst das Böse nicht hässlich machen kann.
Und in Wahrheit ist Er so bis heute: Gott ist das Beste geblieben, was es gibt. Er bleibt der Sieger über alles, was die Welt und das Leben grau und krank und schlecht werden lässt.
Und wer sich von Gott mitnehmen lässt, der wird sogar wenn der Weg durch tiefe Schatten führt, durch Enttäuschung oder Schuld, durch Elend, Angst und schwarze Nacht, … wer sich von Gott durch alles das mitnehmen lässt, der wird trotz allem und in allem so viel Schönes erleben dürfen und am Ende so Herrliches finden, dass es ein gutes Leben sein wird.
Und dieses gute Leben in Vertrauen und Gehorsam und im Gehören zu Gott: Es wird schön!
…Bestimmt wird’s nicht nur leicht, nicht immer nur harmlos sein.
Aber weil Gott es so gerne mit Euch teilen will, weil Er Euch so selbstverständlich mitnehmen und so sicher tragen wird, deshalb könnt Ihr die Sorge und den Kleinmut und die Panik und den Ehrgeiz und die Aggression und die Gier und das Misstrauen und alles andere, was Menschen scheußlich und abstoßend macht wie die Hass-Rapper, getrost ablegen oder Euch gar nicht erst angewöhnen.
Mit Gott werdet Ihr wirklich gut leben … und darum auch buchstäblich schön! … Innerlich und äußerlich. Frei und fest. Zuversichtlich und liebevoll.
Und darum ist es nicht irgendein Abschiedsgruß, sondern eine Verheißung, wenn ich Euch – die zum Guten Hirten gehören – jetzt sage: „Ein schönes Leben!“
Amen.
Quasimodogeniti, 08.04.2018, Mutterhauskirche, Joh.21 1-14, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde!
„Im Evangelium des Johannes wiegt jedes Wort einen Zentner." So hat einmal Martin Luther dieses Buch charakterisiert. Bei einem Ausleger unserer Zeit habe ich den Satz gefunden, dass speziell im 21. Kapitel die für das ganze vierte Evangelium charakteristische Neigung zur symbolischen Redeweise zur vollen Entfaltung kommt.
Die Aufgabe, die sich uns heute morgen also stellt, heißt: sich auf eine Entdeckungsreise in den Predigttext hineinzubegeben, um die Symbole als Ausdrucksformen des Glaubens herauszuarbeiten, damit sie uns zum Leben helfen.
Unser Text gehört mit dem ganzen Kapitel 21 zu einem Nachtragsteil des Johannesevangeliums, das aus dem Kreis der Jünger des Evangelisten stammt. Eigentlich ist mit dem Kapitel 20 das ganze Evangelium abgeschlossen. So heißt es in Vers 30f : „Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen." Alles ist also gesagt, was gesagt werden muss, um Jesus als den Christus zu glauben und das heißt vor allen Dingen: zu glauben, dass er der Lebendige ist, der den Tod überwunden hat. Zwei Begegnungen schildert der Evangelist zwischen Jüngerinnen und Jüngern und dem Auferstandenen: die Begegnung Jesus - Maria von Magdala und die Begegnung zwischen Jesus und seinen Jüngern - und die sozusagen noch in doppelter Ausführung, einmal ganz handgreiflich für den Zweifler Thomas.
Alles ist also gesagt, damit die nachfolgende Gemeinde weiß: Jesus ist der Christus, er lebt.
Und dennoch dieser Nachtrag. Und mit Recht, denn es gibt noch etwas ganz Wichtiges zu sagen - für die nachfolgenden, die kommenden Generationen der Christen, für uns: wie nämlich wir in unserem Leben erfahren können, dass Jesus der Christus ist, dass er bei uns ist, mitten unter uns.
Ein drittes Mal offenbarte sich Jesus, heißt es in Vers 14. Unser Predigttext zeigt also auf, auf welche Art und Weise sich Jesus - bis heute - seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern zu erkennen gibt.
„Es waren beieinander Simon Petrus und Thomas und Nathanael aus Kana in Galiläa und die Söhne des Zebedäus und zwei andere seiner Jünger."
Sieben Jünger werden hier aufgeführt - stellvertretend für alle anderen, die Jesus nachfolgen. Ein Name fällt auf: Nathanael. Er gehört nicht zu den Zwölfen. Nur im Johannesevangelium kommt er vor; zweimal wird sein Name genannt, im ersten und hier im letzten Kapitel. Damals, bei seiner Berufung, bekommt er von Jesus die Zusage: „Du wirst noch Größeres erleben." Das soll nun am Ende in Erfüllung gehen. Er erlebt das Größte, was es für einen Menschen gibt: er erlebt Jesus als den Auferstandenen; er erfährt, dass der Glaube an diesen Herrn trägt und Zukunft eröffnet, da wo alles andere wegbricht. Aber noch sind ihm die Augen nicht geöffnet. Gehen wir also den Gang der Geschichte mit, um dieses „Größere" mit Nathanael zu erleben.
„Spricht Simon Petrus zu ihnen: Ich will fischen gehen.
Sie sprechen zu ihm: So wollen wir mit dir gehen.
Sie gingen hinaus und stiegen in das Boot, und in dieser Nacht fingen sie nichts."
Die Jünger sind wieder in ihren Alltag zurückgekehrt. Aber eine seltsame Lähmung liegt auf der Szene. Sie machen irgendwie weiter, wie gehabt, denn das Leben muss ja weitergehen. Aber es ist kein erfülltes Leben. Ihre Bemühungen, ihre Anstrengungen sind letztlich umsonst. Was sie unternehmen, bleibt folgenlos. Das Netz bleibt leer. Sie sitzen halt alle in einem Boot; aber das ist es auch. Die Begeisterung, der eigene Antrieb fehlt.
Für die Jünger heißt das auch: sie haben zwar alles über Jesus und sein Leben gehört und müssten eigentlich als Glaubende gelten; und trotzdem verläuft ihr Glaubensleben leer. Das Bild vom Boot und Fischfang ist ja geradezu das Bild von der Kirche und ihrem Wirken. Und ist es nicht auch heute so, dass gerade im kirchlichen Leben viele, die angetreten sind, die Botschaft Jesu unter die Menschen zu bringen, die Erfahrung von Leere und Erfolglosigkeit machen?
„Nacht" nennt die Bibel die Zeit solcher Leere. Eine seelische Zeitangabe. Ein Boot, draußen auf dem See, in der Nacht - und die Netze sind leer: wahrlich kein hoffnungsvolles, ermutigendes Bild. Wie kommt man da zum Tag, wie gewinnt man das feste Land, den Boden unter den Füßen, wie kommt man dahin zu wissen, wofür man lebt?
Unser Text sagt: der Anfang ist gemacht und die innere Verzweiflung und Dunkelheit lichtet sich, wenn einem die eigene Leere „klar" zu werden beginnt, wenn es einem „dämmert", trotz aller Anstrengung letztlich mit „leeren Netzen" dazustehen. Und diese Einsicht kann nur entstehen vor dem Hintergrund einer „Vision" einer ganz anderen Gestalt des Menschseins, einer Vision vom anderen Ufer.
„Als es aber schon Morgen war, stand Jesus am Ufer, aber die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war. Spricht Jesus zu ihnen: Kinder, habt ihr nichts zu essen? Sie antworteten ihm: Nein."
Wer begegnet da eigentlich den Jüngern am See? Es ist viel zu leicht, schnell „der auferstandene Jesus" zu sagen! Damit raubt man sich selbst die Chance, den Weg mitzugehen, den die Geschichte selbst eröffnet. Den Weg, den auch die Jünger im Boot gegangen sind - und die haben ihn ja nicht sogleich erkannt. Was ihnen da erscheint, ist eine Gestalt, die ihnen zunächst einmal den Mut gibt, offen zuzugestehen: sie haben nichts zu essen. Nichts, wovon sie leben können. Sie sind leer und hungrig. Kaum ein Geständnis kann uns Menschen schwerer fallen als dieses: zuzugeben, dass man trotz aller Anstrengungen, trotz aller ehrlichen Bemühungen bei Licht besehen mit leeren Händen dasteht. Zu solcher Armut zu stehen, das war - wir erinnern uns - Adam und Eva in der Paradiesesgeschichte nicht möglich. Sie versteckten sich, machten sich Schurze - und änderten doch an der Tatsache ihrer Nacktheit, d.h. Armut und Bedürftigkeit nichts. Dass die Jünger hier zu ihrer Armut, ihren leeren Händen stehen können, das ist unendlich viel. Und sie können es im Angesicht dieser Erscheinung vom anderen Ufer. Sie ruft in ihnen diesen Mut, diese Kraft wach - und damit schon neues Leben.
Folgen wir weiter dem Text:
„Er aber sprach zu ihnen: Werft das Netz aus zur Rechten des Bootes, so werdet ihr finden. Da warfen sie es aus und konnten's nicht mehr ziehen wegen der Menge der Fische."
Was steckt hinter dieser Aufforderung, und warum sollen sie das Netz ausgerechnet zur rechten Seite des Bootes auswerfen? Und warum ist dann das Netz voll?
Die Jünger - und damit wir - sind berufen, in unserem Leben, in dem, was wir schon immer tun, Erfüllung zu finden. Wir brauchen nicht alles hinzuwerfen, sondern der Sinn des Lebens will in unserem Alltag entdeckt werden. Die Gestalt „vom anderen Ufer" beauftragt uns, ganz im Diesseits zu leben, das eigene Leben anzunehmen. Und zwar bewusst und entschieden. Die rechte Seite steht für das bewusste Handeln. Es geht darum, bewusst zu tun, was man tut, eben am hellen Tag - und nicht mechanisch weiterzumachen, zu funktionieren. Nur ein selbstgelebtes, bewusst gestaltetes Leben kann innerlich Erfüllung bringen. Wer weiß, was er glaubt und was er tut, bei dem beginnt sich das Leben zu füllen wie ein Treibnetz voller Fische. Und die Erfahrung der Fülle im eigenen Leben, die Erfahrung solch tiefen inneren Glücks, sie wird zur Voraussetzung, um die Person Jesu in ihrer Wahrheit und Lebendigkeit wirklich erkennen zu können. Je mehr das eigene Leben sich in seinem Reichtum enthüllt, erschließt sich zugleich, wer Jesus war und bleibend ist. Glaube und Erfahrung gehören zusammen - das ist die Botschaft unseres Predigttextes.
„Da spricht der Jünger, den Jesus lieb hatte, zu Petrus: Es ist der Herr! Als Simon Petrus hörte, dass es der Herr war, gürtete er sich das Obergewand um, denn er war nackt, und warf sich ins Wasser. Die anderen Jünger aber kamen mit dem Boot, denn sie waren nicht fern vom Land, nur etwa 200 Ellen, und zogen das Netz mit den Fischen."
Im Bewusstsein, worauf unser Leben hinausläuft, was seinen Sinn ausmacht, eben in der Erkenntnis, dass es Jesus ist, der auf uns am anderen Ufer wartet, brauchen wir uns nicht mehr vor den Risiken des Lebens zu fürchten. Ja, die Unwägbarkeiten sind sogar überschaubar - dafür stehen die 200 Ellen, mit denen die Distanz zwischen dem Boot und dem anderen Ufer angegeben ist. Wer weiß, was er glaubt und wofür er lebt, der kann sich sogar ganz in das Leben hineinwerfen - wie Petrus sich in den See hineinwirft. (Und er ist dabei nicht verrückt, sondern tut es überlegt - wie Petrus nicht nackt ins Wasser springt, sondern sich sein Obergewand anzieht. Bekleidet heißt hier: überlegt und vernünftig.)
„Als sie nun ans Land stiegen, sahen sie ein Kohlefeuer und Fische darauf und Brot. Spricht Jesus zu ihnen: Bringt von den Fischen, die ihr jetzt gefangen habt! Simon Petrus stieg hinein ins Boot und zog das Netz an Land, voll großer Fische, 153. Und obwohl es so viele waren, zerriss doch das Netz nicht."
Am anderen Ufer angekommen, zeigt es sich: es ist schon angerichtet. Das soll die Jünger, das soll uns nicht enttäuschen - als wäre unser menschliches Tun überflüssig; sondern vielmehr: gerade im Gefühl und Bewusstsein der eigenen Erfülltheit merkt man, was Jesus, was Gott uns schon immer bereitet hat. Gerade die Erfahrung der Fülle im eigenen Leben lässt uns einfach dankbar sein und so Gott die Ehre geben. Unser ganzes Dasein ist letztlich Geschenk - und die Dankbarkeit und Freude darüber beflügelt einen, selbst zu tun, was man tun kann. Denn: unser Tun, der Ertrag unseres Lebens ist bei Gott gefragt, er ist Teil der ganzen Fülle.
„Bringt von eurem dazu" fordert Jesus die Jünger, fordert er uns auf. Gottes und unsere Arbeit verschmelzen zu einem großen Ganzen. Menschliches und Göttliches greifen ineinander, durchdringen und fordern sich gegenseitig.
153 Fische sind es, die die Jünger dazutun können. Ich habe zwei verschiedene Auslegungsmöglichkeiten hinsichtlich dieser Zahl gefunden, die für mich beide sehr bedenkenswert sind.
Einmal bemerkt der Kirchvater Hieronymus dazu, dass die Naturforscher seiner Zeit 153 Fischarten kannten. Die Zahl bedeutet dann, dass es bei dem Fang nicht nur um Viel geht, sondern um Alles. Gott hat die Fülle, hat Alles in unsere Hände gelegt.
Nun die andere Auslegungsmöglichkeit:
die konkrete Zahl will sagen, dass es für jeden im Hinblick auf sein Leben, seinen Erfolg und Ertrag, vor Gott ein festes Maß gibt - und nicht mehr und nicht weniger. Es geht nicht um Alles oder Nichts, sondern darum, ob wir das in unserem Leben und Alltag zur Entfaltung bringen, was in uns angelegt ist. Was wir einbringen können - ohne dass das Netz zerreißt - ohne dass wir überfordert sind.
„Spricht Jesus zu ihnen: Kommt und haltet das Mahl. Niemand aber unter den Jüngern wagte, ihn zu fragen: Wer bist du? Denn sie wussten, dass es der Herr war."
Das gemeinsame Mahl als Sinnbild der Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch. Wir sind die Eingeladenen und feiern die Fülle des Lebens. Und wo wir in solcher Feier verbunden sind, da erübrigt sich alles Fragen, da braucht es keine Beweise: da ist Jesus lebendig gegenwärtig, mitten unter uns. Da braucht keiner den anderen mehr zu belehren, wie es Jeremia schon geschrieben hat, sondern da erkennt jeder Gott in seinem Herzen. Da findet der Glaube sein Ziel.
Wenn wir das berücksichtigen, dann verliert der Vers 13 auch seine Merkwürdigkeit, wo es heißt:
„Da kommt Jesus und nimmt das Brot und gibt's ihnen, desgleichen auch die Fische."
Gerade das Bewusstsein seiner Lebendigkeit in unserem Alltag und Leben lässt uns immer wieder neue Erfahrungen seines Kommens machen, immer wieder neue Osterbegegnungen erleben. So möchte er erlebt werden, wenn wir im Gottesdienst das Abendmahl feiern. Und genauso möchte er erlebt werden, wenn wir beispielsweise in einer Lebenskrise stecken und uns Menschen mit wirklich guten Worten helfen, uns auf diese Weise Brot des Lebens reichen, wie Jesus es ja auch so oft ausgeteilt hat. Dass wir diese Begegnungen nicht gering achten, sondern als das „Größere" unseres Lebens begreifen, das Jesus Nathanael und mit ihm uns versprochen hat, das wünsche ich uns allen.
Amen.
Ostersonntag 01.04.2018 Stadtkirche 1.Samuel 2,1 - 10 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Auferstehung des Herrn - 1.IV.2018
1.Sam 2, 1-10
Liebe Gemeinde!
Aus aktuellem österlichem Anlass hat mich kürzlich die Frage beschäftigt, woher eigentlich das schöne, anschauliche Wort vom „Eiertanz“ stammen mag?
… Immerhin ist es tatsächlich doch als Lehnwort für deutsche Vorsicht in den angelsächsischen Sprachraum vorgedrungen!
… Allerdings ist die Frage leicht zu beantworten, denn die Deutschen sind gelegentlich vielleicht Eiertänzer, meistens aber vor allen Dingen Langeweiler.
Wer soll’s denn also wohl gewesen sein, wenn mal ein originelles Wort auftaucht? Dreimal darf man raten: Natürlich! Genau! … Goethe nimmt die vermutlich von den Gauklern stammende seltsame Vokabel als Erster in die Schriftsprache auf, als er die hinreißende und mysteriöse kleine Mignon im „Wilhelm Meister“ mehrfach mit dem delikaten Tänzchen zwischen rohen Eiern in Verbindung bringt.
Und weil’s gleich sämtliche Klischees bestätigt, darf auch der Zweite im Bunde nicht fehlen, der den „Eiertanz“ als politische Kunstform in unserem Vaterland sprichwörtlich gemacht hat. Wer wohl? …Na klar: Bismarck, den eine Karikatur in der „Frankfurter Latern’“ schon 1863 graziös im Tutu zeigte, wie er als Prima Ballerina zwischen lauter eiförmigen Zerbrechlich-keiten tänzelt, die Aufschriften wie „Wahlen“, „Reform“ oder „Verfassung“ tragen. … —— Warum mir aber der „Eiertanz“ in dieser Woche überhaupt so wichtig wurde? Nun, weil eine führende evangelische Monatsschrift ein Heft zum Thema „Auferstehung“ herausgegeben hat.
Und wer je einen „Eiertanz“ erleben wollte, der den Namen verdient, muss nur der Theologie zuschauen, wie sie gar nicht mehr weiß, wohin bei diesem Thema noch vorsichtig und gespreizt ihr Füßchen setzen, das doch auf keinen Fall in eins der vielen Fettnäpfe treten darf: „Wörtliches Verständnis“, „leeres Grab“, „leibliche Auferweckung“, „historisches Datum“ …….
… Ach je, ach je!
… Wie schrecklich muss es sein, wenn man Theologe ist und von Ostern reden soll!
…. Gleich hat man vor lauter Ungeschick ein Malheur am Bein, und die Leute könnte denken, man sei naiv oder vorwissenschaftlich oder – Vorsicht: Straußenei! – am Ende gar fromm.
Wohl dem, der sich dabei nicht ziert!
Wohl dem, der Elefant im Porzellanladen ist. …….
Ich jedenfalls bin – weil es Ostern ist! – durchaus in Tanzlaune und will mir keinen Zwang antun, will keine lähmende Vorsicht, keinen Trippelschritt.
Für Leisetreterei und eine Zehenspitzenakrobatik, die es tunlichst meidet, der „Ich-glaube-nur-was-ich-sehe“-Welt auf die Füße zu treten oder den „Wirklich-ist-was-sich-physikalisch-beweisen-lässt“-Leuten in die Quere zu kommen, ist heute nicht der Tag!
… Und meiner Tanzpartnerin, … unserer Vortänzerin ist auch nicht danach.
Hanna will tanzen!
Obwohl Hanna uralt ist.
Obwohl Hanna tot ist.
Hanna ist gestorben, als in Bethlehem eine Schar kleiner Jungs lebte, unter denen Hannas langersehnter Sohn Samuel später einmal den Allerkleinsten zum allergrößten König salben würde – David hieß er –, und das war tausend Jahre vor Ostern.
Hanna ist also schon ewig tot.
Aber die Toten sind die allerbesten Ostertänzer.
Je älter, desto losgelassener tanzen sie.
Hannas Tanz- und Osterlied, das wir eben miteinander gebetet haben, ist jedenfalls archaisch, also ein Lied der Jahrtausende, weil es genau den Klang und den Stil, weil es die Form und den Rhythmus der Psalmen hat, die am Tempel von Jerusalem nach Hannas Tagen von den Priestern und Leviten gesungen wurden.
Und wenn die Chöre der Leviten Psalmen sangen, dann begleiteten sie sich mit Schlagzeug und Saiteninstrumenten und dann ging durch die Reihen der ehrwürdig bärtigen Gottesdiener am Heiligtum in ihren hellen Gewändern ein Schwanken und Schwingen, ein Rütteln und Stampfen, ein Beugen und In-die-Hände-Schlagen, das man gesehen haben muss!
Tatsächlich: Das Tanzen gehört zu den schönen Gottesdiensten Israels, weil dort – wie es in einem der Sehnsuchtslieder nach dem Tempel heißt (vgl.Ps.84,3) – sich „Leib und Seele“ freuen in Gott.
Und die Krönung des ganzen Psalters, die großen Halleluja-Lieder an seinem Schluss fordern die ganze Welt auf, den Namen Gottes im Reigen zu loben (vgl.Ps149,3; 150,4)!
Aber wenn schon die alten Männer und die jungen Leviten in Jerusalem tanzten – so wie man es heute noch in den Synagogen sehen kann, wo gichtige und gewichtige Rabbis ganz verzückt mit der Torah-Rolle im Arm walzen können –, um wieviel mehr die Frauen, die die Pauke schlagen (vgl.Ps68,26) und sich dabei an’s größte Vorbild des Befreiungs- und Erlösungsjubels Israels halten können, an Miriam, die Prophetin, die die älteste Musik der Bibel tanzend am Schilfmeer geschaffen hat (vgl.2.Mose15,20f).
Auch Hanna wird es also zum Tanzen gewesen sein, als sie eine eigene Rettung und Erlösung erfuhr: War ihr Leben doch wie Totsein gewesen. Und zwar nicht im übertragenen, sondern im ganz physischen Sinn. Sie nämlich war verdammt dazu, abseits und außerhalb des Segens Gottes zu stehen, den andere unmittelbar erfahren, wenn sie am Wunder der Entstehung des Lebens und seines Weitergehens beteiligt sind. In der archaischen Zeit Hannas war ein unfruchtbares, ein kinderloses Leben wie ihres eine Stufe des Nichtlebens, ein Sein im Tode. Aber aus dieser leiblichen und seelischen Versteinerung, aus diesem Vegetieren im tiefen Schatten der Lebenden und Blühenden wurde Hanna ins Licht und die Bewegung des Lebens gerissen, als sie schließlich doch ein Kind empfing und gebar, dem sie den Freudennamen ihrer Erhörung – den Namen „Samuel“: „Gott hört“ – gab (vgl. 1.Samuel 1).
Diese ganz intime, höchstpersönliche Todes- und Lebenserfahrung besingt ihr gewaltiges Lied nun allerdings in den allgemeinsten, weltumgreifendsten Tönen: Die Stürze und Erhebungen, die Umwälzungen und Begradigungen, die Wiederherstellung und Heilung einer von Mangel und Unrecht gerüttelten und geschüttelten und verfinsterten Weltordnung sind für die dankbare Sängerin Hanna durch eine einzige, lebenswendende Erfahrung anschaulich und begreifbar, plastisch und glaubhaft geworden. … Was sie selbst an Leib und Gliedern bezeugen konnte, das gab ihr auch die Möglichkeit, geschichtliche, ja kosmische Dimensionen und Perspektiven des Heils zu erfassen, die im Untergang der alten und dem Triumph einer neuen Weltwirklichkeit gipfeln werden.
Und so ist der Jubelhymnus aus der grauen Vorzeit Israels, der eine Sprache voller Urbilder spricht – das erhobene, zum Himmel gereckte Horn des Siegers, die zerstörten Waffen des tödlichen Zweikampfs, die Sattheit des Glücks und die Dunkelheit ohne Gott und jener mythische Donner, der Sein Eingreifen auf Erden ankündigt – … so ist dieses prähistorische Lied, das so tief aus der vorösterlichen Zeit so weit in unsre nachösterliche Epoche hinüber-klingt zwar nicht gerade eine zum Trällern geeignete Frühlingsweise, kein gezwitschertes Chanson der Leichtigkeit, aber gerade die Wucht und Macht, die hier in den Worten einer frohen, freien Frau anklingen, versetzen tatsächlich Berge und Abgründe in Bewegung.
Es ist österliche Bewegtheit, es ist das gewaltige Regen und Durchbrechen, das Zerreißen und das Mitreißen, das wir aus dem Osterevangelium kennen, in dem die Grundfesten der Erde tatsächlich wackeln und die Mauern der Wirklichkeit sich verschieben, um die allererste Dynamik, die Urkraft des Schöpfers aus dem toten Felsen hervorbrechen zu lassen.
Dass dieses von Gott unaufhaltsam in Gang gesetzte Andrängen des Lebens gegen die Tore des Todes gerade von einer Frau besungen wird, die in den gefürchteten Wehen der ersehnten Geburt erlebt hat, wie stark es schon auf dem Weg des Anfangs ist, wenn Leben sich durchsetzt, das verleiht dem Hannapsalm seine urtümliche Direktheit.
… Und die macht ihn auch heute, im Kreis der anderen Osterbotschaften der Osterbotinnen Maria Magdalena, Johanna und Maria, des Jakobus Mutter (vgl.Lk24,10) so einzigartig packend.
Weil aus Hannas Worten eben keine bloßen Augen- und Ohrenzeugin des in der Tat leeren Grabes am in der Tat historischen Datum der Auferweckung Jesu Christi spricht, sondern eine Angerührte, … eine, in deren eigenem Leib schon tausend Jahre vor diesem Ereignis das göttliche Beben und Schütteln und Ergriffenwerden begann, das sich am Ostermorgen im Durchbruch des Gekreuzigten durch die Riegel des Totenreiches entlud. ——
Tatsächlich sind also die Toten – wie Hanna – die besten Osterzeugen.
Denn die große Bewegung, die wir Ostern nennen und heute feiern, diese Geburt des wirklichen und unendlichen Lebens, das nicht mehr beginnt, um im Tod zu enden, sondern dessen Beginn dem Tod ein Ende macht, … diese Bewegung hat dort begonnen, wo unser Glaubensbekenntnis eine auffällige Anleihe gerade im Psalm der Hanna macht.
Hanna wagt es ja, den politisch und theologisch und seelsorglich inkorrektesten Satz aller Sätze zu singen: „Der HERR tötet und macht lebendig“, singt sie! … Für einen solchen Gedanken muss man eigentlich schon Bußgeld an eine therapeutische Einrichtung zahlen, weil er so verstörend wirkt.
Aber es ist Hannas Vertrauen, ihre Erfahrung, dass Gott eben eine doppelte Bewegung vollziehen und mitgehen kann, wo uns die Wege einspurig und unumkehrbar erscheinen, … so wie ihre lebendig-tote Aussichtslosigkeit es ja auch war.
Statt also nur dieses Leben als Rahmen zu betrachten, in dem Gott eingreifen und Seine Gegenwart beweisen kann, geht Hannas Bekenntnislied den großen Schritt weiter, … eigentlich muss man sagen: wagt Hannas Bekenntnislied jenen unerhörten Sprung, der vom Leben in’s Nicht-Leben führt, und hält daran fest, dass Gott auch hier nicht abwesend, sondern treu ist!
„Der HERR führt ins Totenreich und wieder hinauf“ singt sie.
Diesem biblisch beinah einzigartigen Satz des Vertrauens aber … einem Satz, in dem Gott nicht von oben handelt, hört und hilft, sondern in dem man tatsächlich einen Eingang Gottes, ja Seinen Abstieg in einen Ihm völlig fernen Abgrund ahnt …, diesem Grundsatz des Vertrauens der Hanna schließt unser Glaubensbekenntnis sich tatsächlich an mit einer Formulierung, die Ostern schon vor der sonntäglichen Auferstehung Jesu Christi beginnen lässt.
Er, der gekreuzigt, gestorben und begraben war … er ist „hinabgestiegen in das Reich des Todes“ heißt es da.
Er war also – obwohl tot – nicht leichenstarr und steinern passiv, wie der Tod uns macht, sondern Gottes elementare Kraft bewegte ihn auch im Grab und führte ihn auch dort.
Wohin? – Nun, zu denen, die Ostern noch viel mehr brauchen als die Lebenden. Der Abstieg in das Reich des Todes ist nämlich keine mythologische oder symbolische Redewendung, sondern er beschreibt auf annähernd gelungene Weise den Weg, wie die Gemeinschaft Gottes mit den Toten, die nicht Tote bleiben sollen, eröffnet wurde: Eben indem Jesus Christus auch bei ihnen Einzug hielt, indem er auch in ihre Reihen aufgenommen wurde; so wie Weihnachten ihn zu einem von uns Sterblichen machte, so wurde er durch sein Sterben einer von ihnen, den Gestorbenen … kam unter sie, ging ihnen nach und nahe und brachte Bewegung, brachte Leben unter sie, ... weil er nichts anderes ist und nichts anderes kann. ——
Diese Überzeugung nun, dass Jesus nicht nur den Lebenden, sondern auch den Toten durch sein Kreuz und seine Auferweckung das Heil gebracht hat, beherrscht die österliche Theologie der Ostkirche bis heute: Ihr Osterglaube und ihre Osterbilder sind erfüllt von genau dieser buchstäblich „ergreifenden“ Tatsache, dass unser heutiges Fest im Reich des Todes angefangen hat, wo der Sieg des Lebens damit beginnt, dass Jesus Adam und Eva und alle anderen längst Vergangenen und Vergessenen bei der Hand packt und emporreißt, damit auch sie mit ihm ins neue Leben gelangen. … Und der Wirbel, den sein Erscheinen dort bei den Schatten, im vollständigen Stillstand und Schweigen der Verblichenen und Verwesten verursacht, ist auf vielen Ikonen herrlich anzuschauen.
Zwar war dieses Motiv von „Christus in der Vorhölle“ aufgrund des Glaubensbekenntnisses auch für Albrecht Dürer noch ein selbstverständlicher Bestandteil seiner Holzschnitt- und Radierungsfolgen zur Passion.
Aber in der westlichen Kunst erblickt man dabei – Stichwort: Bismarck – einen siegreichen Feldherrn bei der Einnahme einer Festung und das benommene Glotzen befreiter Geiseln, die gar nicht mehr wissen, was Leben ist und wie es geht.
Die orthodoxe Kunst dagegen hat – bei aller Neigung zu statischer Formensprache – den befreienden Christus im Reich des Todes immer nur mit unglaublicher Dynamik und mit Schwung und Lebhaftigkeit zeigen können, wie er das greise Urelternpaar in Galopp bringt und alles kreist und die toten Massen auf die Beine kommen und ungestüm auffahren ins Licht. …
Das liegt an den Hymnen des östlichen Osterjubels – verfasst von gravitätischen Kirchenvätern, von grüblerischen Mönchen und Popen in steifen Gewändern, mit Kopfputz wie Pilzen, … von Männern also, die den Priestern und Leviten von Jerusalem an heiliger Würde in nichts nachstanden – , aber in allen deren „Anastasis-“, Auferstehungshymnen werden „jauchzende Füße“ und der Reigen der Töchter Zions und das Tanzen der Kirche und der Heiligen und der ganzen Kreatur besungen wann immer es um die Lebendigkeit geht, die Christus, der Sieger überallhin gebracht hat, … bis in die letzten Winkel des Hades, … bis an die Säulen der Erde, … bis dahin, wo der Abgrund von den Osterbässen, vom Herz und Puls des Lebens selber dröhnt.
Während das Abendland also den Totentanz kennt, der uns alle hinabführt, sind die morgenländische und die byzantinische Kirche gemeinsam mit den Psalmen Israels die Sängerinnen eines anderen Tanzes: Der herrlichen, mitreißenden, unaufhaltsamen Bewegung nämlich, mit der Jesus Christus bei den Toten von vor vielen Jahrtausenden angefangen hat und erst beim letzten Menschen aufhören wird, bis alle – einander an den Händen fassend – ihm lachend und leicht und beschwingt empor in’s Leben folgen und in den Jubel.
Denn der Herr führt ins Totenreich und wieder hinauf.
Darum will Hanna tanzen.
Darum tanzt sie!
Amen.
Aus dem unerschöpflichen Reichtum der ostkirchlichen Osterhymnen ist hier (beinah willkürlich unter den reichen Belegen) die 5.Ode des Osterkanons des Johannes Damascenus angeklungen, zitiert nach: Osterjubel der Ostkirche. Hymnen aus der fünfzigtägigen Osterfeier der byzantinischen Kirche – Erster Teil: Das Pentekostarion, hg. und übertragen v. P.Kilian Kirchhoff O.F.M., Münster 1940, S.5
Karfreitag 30.03.2018 Stadtkirche Hebräer 9 i.A. (bes.15 + 26b-28) Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag - 30.III.2018
Hebräer 9, 15 + 26b-28
Liebe Gemeinde!
Sterben ist nicht nur das ewige Gesetz und letzte Geheimnis des leiblichen Lebens, und die Verlusterfahrung der Hinterbliebenen eines Verstorbenen ist nicht nur eine seelische und emotionale Erschütterung.
Vielmehr haben der Vorgang des menschlichen Dahinschwindens und die Tatsache des Nicht-mehr-Seins eines Menschen neben allen persönlichen Schmerzen auch eine völlig nüchterne, glasklare Bilanz und Bedeutung. … Der Tod als Tatsache ist ein juristischer Sachverhalt: Ein Tod hat rechtliche Folgen. Immer. ……. ——
Das ist eine der Schamschwellen, die die leidige Todeswirklichkeit zu einem so entlegenen Anbau der Welt machen, dass wir diesen Raum, auf den die Fluchten unseres Daseins alle hinführen, kaum mehr betreten … und wenn es denn doch sein muss, so erst dann, wenn’s keine Umkehr und also auch keine Vertrautheit damit gibt.
Der Tod jedenfalls löst ungerührt bestehende Rechte auf und schafft rechtlich und ökonomisch neue Verhältnisse Ansprüche des Toten verfallen oder gehen auf den Nächsten über; manche verlieren seelisch und materiell Kostbares durch einen Tod, die anderen gewinnen ein Erbe.
Der Tod ist also ein Umverteiler: Auch das macht ihn in Gesellschaften, denen Haben viel bedeutet, so unbeliebt. … Nehmen und Geben verursacht der Tod, Besitzen dagegen ist bei ihm unmöglich. ——
Der juristisch und praktisch folgenreiche Tod mutet uns allerdings als Karfreitagsthema befremdlich an.
Wo bleiben die erwartbaren geistlichen Motive – Stellvertretung, Sünde, Sühne –, … jene Schlüsselreize, die den Tag der Kreuzigung Jesu bei uns entweder zu einem Hochfest der Dogmatik oder zu einer Generalabrechnung mit überholten, unverständlichen Traditionen machen? …
Nun, diese ganz und gar zentralen theologischen Anliegen sind beim Verfasser des Hebräerbriefes bestens aufgehoben. Aus seiner anspruchsvollen, schöpferischen und schriftgelehrten Meditation über das Kreuzesopfer Jesu stammen mit die wichtigsten Vorgaben für alles Denken und Deuten der Passion.
Aber der hochgebildete, griechischsprechende Judenchrist, der beinah als Erster versuchte, dem betäubenden Schmerz über Jesu Liquidierung durch die Römer einen eigentlichen und ewigen Sinn im Licht der Heiligen Schrift und der apostolischen Predigten abzugewinnen, … dieser hebräische Herkules, der eine Pionieraufgabe der Kreuzestheologie übernahm … er war wirklich von beinah enzyklopädischer antiker Bildung: Er kannte nicht nur die Schriften Israels und seine gottesdienstliche Praxis, er war nicht nur mit der griechischen und jüdischen Philosophie seiner Tage vertraut, er lebte nicht nur als Übersetzer zwischen jüdischer und christlicher und heidnischer Wirklichkeit und wurde dabei zu einem Sprachschöpfer des Griechischen wie nach ihm vielleicht nur noch Luther für unsere Muttersprache, … – nein, der Apostel für die Hebräer war auch schlicht von unerschrockener Eigenständigkeit, ja Originalität.
Als einziger Zeuge im Neuen „Testament“ nimmt er nämlich bewusst wahr und in seine Überlegungen auf, dass dieser zentrale Begriff – das „Testament“ – , den noch wir heute nutzen, ein juristischer ist.
Im Griechischen ist das Wort sogar noch umfassender und vielseitiger ein rechtlicher Terminus: Διαθήκη hat nämlich die Doppelbedeutung von „Bund“ und „Testament“. Es benennt den Bündnis- und den Erbfall, regelt also Zusammenschlüsse und Nachfolge.
Und in seinem vertieften Betrachten und Ergrübeln und Durchforschen des rätselhaften, sinnlos-stummen Todes seines Herrn geht dem Hebräerapostel auf, dass dieser nicht nur ein Opfer gebracht hat, das einen unverbrüchlichen Bund, ein Treue- und Verpflichtungsverhältnis zwischen Gott und den Sündern stiftet.
Feierlich und schauerlich besiegelte Bündnisse sind nämlich nur das eine, das der übliche Begriff bezeichnet, mit dem Christus der „Mittler des neuen Bundes“ genannt wird.
Das andere ist das Institut und Dokument, die uns ermöglichen, zu übernehmen, was ein Verstorbener uns testamentarisch, also in seinem letzten Willen rechtskräftig hinterlassen hat.
Christi Opfer macht uns demnach zu Partnern und Erben. Er setzt gleichsam sein Leben ein – in seinem vergossenen Blut – um den angefochtenen Bund Gottes mit uns zu festigen, und er verfügt mit seinem letzten Willen, dass sein Tod uns zu Empfängern eines Anspruches macht, den bisher er allein besaß, … des Anspruchs auf Leben in Gott!
Beide Vorgänge sind rechtlich.
Und bei beiden ist der Kreuzestod kein unerklärlicher Unfall, kein bloß brutaler Willkürakt. Die Verteidigung des Gottesbundes mit dem eigenen Leben und die Übertragung eines Erbes nach dem eigenen Tod sind vielmehr jeweils höchst vollmächtige und freie Entscheidungen dessen, der sich einsetzt und über sich verfügt, der sich und das Seinige hingibt … und der das selbst bestimmt. ——
Durch seine sprachschürfende und wägende Nachdenklichkeit hat der Verfasser des Briefs an die Hebräer also eine schlüssige und erhellende Deutung des Karfreitagsgeschehens erreicht, die anders als die heute weithin übliche Kapitulation vor dem Unerklärlichen dieses Sterbens wirklich etwas Sinnvolles darin zu erkennen hilft.
Wenn Israel immer schon den „Bund“ als das Medium bezeugt, in dem das Verhältnis zwischen Gott und Seinen Menschen vermittelt wird, dann ist es fundamental konsequent zu bekennen, dass Christi Tod hier das neue Medium ist: Eine Besiegelung mit bloßer Tinte, mit Handschlag, Schwurritual oder anderen Gesten galt noch nie als angemessen für den singulären Vorgang, dass Sterbliche mit Gott verbündet werden; stattdessen wurde die existentielle Lebensnotwendigkeit dieser Verbindung von Anfang an mit Blut, dem Stoff des Lebens schlechthin bekräftigt.
In der israelitischen Gründungsgeschichte geschah dies mit dem Blut der Opfertiere … auch damals also schon die biblische Sanktion gegen jedwede dem Menschen von außen auferlegte Verletzung; stattdessen wird der Mensch ersetzt, … vertreten.
Weil aber dieser Bund von der menschlichen Seite stets gefährdet, übertreten und verdrängt, vergessen, angezweifelt und bekämpft wurde, darum hat Gott schließlich einseitig … und ganz bewusst den für den Bundesschluss unverbrüchlich verbindlichen Akt vollzogen – abermals durch einen Akt der gültigen Stellvertretung: Besiegelt mit dem Blut des Mittlers, das nicht im Namen der Menschheit, sondern als bekräftigende Gabe Gottes eingesetzt wurde, hat Er den bleibenden Bund vermittelt.
Christi Leben ist also begründend eingegangen in das ewige Bleiben des Bundes.
Und Golgatha ist also der Ort eines theozentrischen Rechtsaktes, einer von Gott mit höchster Bindekraft beschworenen, besiegelten und vollzogenen Ordnung der Weltwirklichkeit. ——
Das ist für unser wildes und resigniertes Denken, das sich mit Ahnungen von Anarchie und Nihilismus und Absurdität abgefunden zu haben scheint, eine Zumutung.
Wir sind es gewohnt, die Kreuzigung Jesu nicht als Rechtsakt, sondern im schreienden Gegensatz als Inbegriff des totalen Unrechts zu betrachten.
Es kommt unserem chaotischen und überforderten, allenfalls noch empathisch-erregten Grundgefühl entgegen, dass wir an Karfreitag das Scheitern der Ordnung, die Entfesselung des Negativen zu erfassen behaupten, dem wir dann mit Notmaßnahmen oder maximalem Tugendterror oder politischer Rhetorik begegnen. …….
Der neuzeitliche Mensch wird jedenfalls um seine ganze krisenhafte Selbstermächtigung gebracht, wenn er hören und bedenken soll, dass das, was empörend und erschöpfend schrecklich auf ihn wirkt, aus einer höheren Sicht und – wagen wir’s?! – aus einer höheren Systematik mit rechten Dingen zugeht, ja sogar das Recht des Menschen allererst, … dann aber auch final begründet. ——
Diese Deutung des äußerlich, historisch zweifellos völlig ungerechtfertigten und zynischen Pilatus-Urteils im Licht einer souveränen und rechtstiftenden Absicht Gottes, ist für das Christentum nun aber von fundamentaler Wichtigkeit gewesen.
Als Sekte, die das Sinnlose verklärt, als perverse Gemeinschaft des Paradoxen hätte sich die Gemeinde des Gekreuzigten und Auferweckten nicht verständlich machen können in einer Umgebung, die von der reflektierten und praktizierten Gesetzestreue der jüdischen Welt, vom differenzierten logischen Empfinden der Griechen und von den strengen römischen Juristenschulen geprägt war. Ein bloßer Kult des Justizirrtums, ein Ressentiment der a-moralischen Reaktion auf das als Unrecht Erlebte wäre tatsächlich in Jerusalem, in Athen und vor dem Forum der legalistischen Lateiner krachend untergegangen.
Das Kreuz als Symbol für die ersatzlose Auflösung allen Rechtes wäre ein verheerendes … und alsbald implodierendes Zeichen geworden.
Sein eigentlicher Skandal entfaltet sich aber eben auch nicht in solcher Negativität, sondern im kühnen und klaren Argument, dass hier menschliches Unrecht durch eine gültige und gewollte Rechtsetzung Gottes umgekehrt und überboten worden ist. In der Sprache der Alten heißt solche überbietende Korrektur des Unrechts durch höhere Gerechtigkeit: Am Kreuz geschah die Erlösung von den Übertretungen, das Kreuz brachte die Aufhebung der Sünde.
So ist nun also die gewaltige und auf die maßgeblichen Rechts- und Denktraditionen Israels und der Heiden zielende Kreuzestheologie des Hebräerbriefs eine kanonische und konstruktive Grundlegung der christlichen Kirche, die nicht antinomistische, also ordnungs- und gesetzesfeindliche Prinzipien, sondern das von Christus mit seinem Opfer verbürgte Gesetz Gottes vertritt: Das Gesetz einer Gerechtigkeit, die Gott in Kraft setzt und anwendet durch die bundesstiftende Hingabe Jesu Christi.
Die rechtliche Gültigkeit dieser Gerechtigkeit ist von Gott durch Blut besiegelt – und vonseiten des Menschen muss sie im Glauben anerkannt werden. ———
Diese Rechtsordnung Gottes ist am Karfreitag ein für allemal in Kraft getreten.
Die unwiederholbare Gültigkeitserklärung des Bundes ist dem Apostel der Hebräer dabei besonders wichtig, weil sie zur Objektivität des am Kreuz ratifizierten Gottesrechtes notwendig ist. … Gott lässt den Bund und die Verheißung, die Διαθήκη also als Rechtsanspruch und Testament nicht etwa von Fall zu Fall, von Person zu Person, von Situation zu Situation anwenden und gelten, sondern Er hat die apodiktische, die unbedingte Geltung des Zugangs zu Ihm und der Aussichten bei Ihm im einmaligen und für immer hinreichenden Faktum des Kreuzestodes Jesu Christi bestätigt.
Daneben ist kein subjektives Geschehen, kein Einzelereignis, kein privates Erlebnis, keine Gnadenerfahrung im Leben eines Christen von vergleichbarer Bedeutung:
Gerettet wird jeder, der gerettet wird, durch das, was am heutigen Tag in römischer Zeit zwischen dem Gerichtspflaster Gabbatha (vgl. Joh19,13) und der Hinrichtungsstätte Golgatha geschehen ist.
Der unvergleichliche niederländische Erweckungsprediger aus dem Wuppertal – Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803-1875) – hatte also im strengen Sinne recht, wenn er – sonst ganz und gar Pietist – ein subjektives Erlebnis des Durchbruchs zu Glauben und Gotteskindschaft ablehnte und auf die Frage nach seiner Bekehrung schlicht zu antworten pflegte: „Vor neunzehnhundert Jahren auf Golgatha!“ ——
Mit einem herrlichen, eigentlich rein theologischen Ausdruck der Juristensprache müsste man das Kreuz darum als die „Ewigkeitsgarantie“ des erneuerten, des ewigen Bundes und Testamentes bezeichnen.
Sein unumstößlich ewiger Bestand hat nun aber eine direkte, für jeden Menschen persönliche und dabei doch konsequent rechtliche Folge.
Diese wird vom Apostel des Hebräerbriefes in großer systematischer Stringenz darum auch benannt:
Sterben als das ewige Gesetz und letzte Geheimnis des leiblichen Lebens versetzt jeden Menschen nämlich ein letztes Mal in eine juristische, genauer gesagt eine „forensische“, also gerichtliche Entscheidungssituation.
Die einmalige und unwiderruflich entscheidende Lage, wenn mit der Vollendung des Lebens auch unser Recht und unsere Rechtsansprüche sich erfüllen, indem sie sich entweder als gültig oder nichtig erweisen, … diese einmalige Lage ist nach altchristlicher, d.h. neutestamentlicher Überzeugung aber genauestens verknüpft und gebunden an das einmalige, unwiderrufliche Geschehen des Karfreitag.
… Wessen eigenes Sterben, wessen Biographie und Wesen, wenn sie vollbracht sind, also im schlüssigen Zusammenhang, in einer Rechtsbeziehung zum Tod Jesus Christi stehen, dem wird der in Christus erneute Bund dann auch zum neuen Testament, zum Erbe der Verheißung.
Wer das objektive Recht Gottes also anerkennt, das im Selbstopfer des Mittlers gesetzt und gesiegelt wird, der wird schließlich auch Subjekt dieses Rechtes werden, wenn er die verbürgten Rechtsgüter der Sündenfreiheit, der Gottesnähe, des Heiles und des Lebens empfangen darf.
Die Rechtsbeziehung, die in diesem Bund demnach gesetzt ist, heißt Glauben.
Und der Rechtstitel, den dieses Testament verbrieft, ist die Seligkeit. ———
Gewiss klingt das, was der Hebräerbrief in profunder und präziser Weise auslegt, in unseren viel weniger streng an rabbinischer Kasuistik, philosophischer Verstehenskunst und römischen Rechtssentenzen geschulten Ohren abstrakt, … oder trocken, … oder befremdlich, … oder alles auf einmal.
Und doch ist es ein bis heute nicht übertroffener Gewinn, wenn wir gerade an Karfreitag nicht den Verzicht auf’s Verstehen und nicht den Triumph des Destruktiven und nicht die Flucht in klagendes oder anklagendes Pathos erleben müssen, sondern in sachlicher Zucht und Seelenruhe meditieren können:
Menschliches Unrecht scheitert an göttlichem Recht.
Die menschliche Sünde scheitert an der göttlichen Gerechtigkeit.
Und die prinzipielle Norm des Todes scheitert an der göttlichen Liberalität, weil Gott einen Bund und ein Testament gemacht, deren Inhalt ist: Allen, die das Opfer meiner Selbsthingabe in Vollmacht verbindlich bestätigen, gewähre Ich das Leben mit Mir. —
Darum ist dieser Tag, an dem wir den Sieg des Rechtes und der Freiheit Gottes über den Sünden- und den Todeszwang bezeugen, unser höchster Feiertag.
… Bis Ostern.
Amen.
Gründonnerstag 29.03.2018 Stadtkirche 1.Korinther 10,16f Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Gründonnerstag - 29.III.2018
1.Korinther 10, 16f
Liebe Gemeinde!
Wir leben in gespaltenen Zeiten. Kreise und Lager und Bewegungen und Gemeinschaften machen von sich reden, die alle Ausschluss und Feindschaft, Gegenbilder und Trennungen befürworten. Ob man Mauern bauen oder seine Insel alleine für sich besitzen will, ob man die Nähe des Unvertrauten scheut oder die Rückkehr zum Immergewohnten herbeizwingen will: Der Geist, … der Ungeist der Absonderung und des Einigelns, … der Geist, der Ungeist des Unterscheidens und Trennens beherrscht unsere Zeit.
Wer aber solche Spaltgeister, solche Apostel der Scheidung erlebt, der ist christlich gesprochen immer mit einem Bein in Korinth.
Korinth – die Hafenstadt, in der das Völkermeer schon vor zweitausend Jahren anbrandete und einen großen Umschlagplatz der Kulte und Kulturen schuf – … Korinth ist alles das gewesen, was heute Furcht und Abscheu erregt … und damals Furcht und Abscheu mit sich brachte. Korinth war der sprichwörtliche Tiegel, in dem Sprache und Herkunft und Sitte und Ansprüche zahlreicher Völker und Stämme in rohem und darum gerade erhitzbarem Zustand aufeinandertrafen: Manche einander anziehend, viele einander abstoßend. Und als Öl im Feuer, als salpetriges Scheidewasser im Gebräu wirkte der Reichtum eines Handelszentrums zwischen Ost und West. Diese Zutat – dass es lohnte, unter den quirligen Menschenmassen von Korinth zu sein und ihren Markt und ihre Kenntnisse der Welt zu nutzen – … diese letzte Zutat, dass das Miteinander vielen Profit brachte und noch zahlloseren zum Verhängnis wurde, beschleunigte die Verwerfungen und die giftigen Absetzungsprozesse untereinander.
Doch aus keinem Ausschnitt, keinem Querschnitt der damaligen korinthischen Gesellschaft haben wir davon so genaue Kunde wie aus der kleinen Gemeinschaft – wenn es denn eine war?! – der dort lebenden Getauften.
Die Urgemeinde von Korinth war ein Abbild der sie hervorbringenden Großstadt: Juden, Griechen und Barbaren, die den Christennamen trugen, … Halt- und Wahrheitsuchende, Gläubige aus Angst oder Neugier also, … Kaufleute und Sklaven, Einheimische und Verschleppte, … Asketen und Unzüchtige, Heuchler und Heilige, … sie alle trafen sich im Haus der Chloë (vgl.1.Kor1,11) oder bei Krispus und Gaius (vgl.1,14), sofern sie es mit Paulus hielten, oder in den Villen derer, die mehr auf den dünkelhaft geheimnisvollen Missionar mit dem exquisiten Namen Apollos (vgl. 3,5f + Apg18,24ff) gaben oder in den Absteigen derer, die nach Judäa und Galiläa und damit zu Simon Petrus (= Kephas, vgl.1,12), dem ersten der Apostel Verbindung hielten; sie alle beäugten einander und bestritten sich Rang und Wahrheit und Ernsthaftigkeit. ——
Und für sie alle ist Christus gestorben.
Der eine, kleine Mensch, dessen wenige Lebensjahre und dessen begrenzte Körperkraft nie ausgereicht hätten, persönlich auch nur eine solche exotische und toxische Mischung wie die zwei Jahrzehnte nach seiner Kreuzigung in seinem Namen versammelten und lauernden Korintherchristen zu erreichen, … dieser eine, kleine Mensch Jesus von Nazareth hat den Haufen und den Wust der bösartigen, neiderfüllten Gehässigkeiten seiner Gemeinde auf sich gepackt, er hat die vielen Fliehkräfte in sich gebündelt, er hat die geistliche und liturgische Brandstiftung und den Rufmord, die Eigenliebe und den Fremdenhass der vielen Christen untereinander, … ach was, der vielen Nicht-Christen und Christenverfolger und Christusverächter und Unchristentümer der ganzen Welt zu seinem Los, zu seinem Schicksal gemacht und hat die Scheiterhaufen und die Krematorien und die Steinigungen und die Erschießungskommandos, die zweitausend Jahre lang seither in aller Welt gewütet haben und weiter wüten werden … dieser eine, kleine Mann am Kreuz hat sie alle in seinem allwissenden Herzen und allumfassenden Geist, mit seinem allsehenden Auge und seiner allgegenwärtigen, ohnmächtigen, aber endgültigen und todüberwindenden Liebe in sich aufgenommen, er hat sie geschluckt und eingeatmet und auf seine Schultern getürmt, er hat alle Knochen und jede Rippe mit ihnen belastet, sie in jedem Nerv und sämtlichen Fasern zucken und reißen gespürt, er hat sie in seinem Mark und Bein wüten lassen müssen, er ist an ihnen erstickt und unter ihnen zermalmt worden, er ist zerbrochen und zerschlissen worden von so viel Leid und Gewalt, er ist den Tod aller Tode, den Tod aller Toten vorgestorben, mitgestorben, nachgestorben.
Er, der Eine, ist mit den verfeindeten Vielen, mit den Hassmassen der Menschheit … mit ihnen und für sie zur Einheit geworden. Zur unauflösbaren, untrennbaren – ja: auch seelisch unzertrennlichen – Einheit geworden.
Wer jetzt Menschheit sagt und meint oder sein oder treffen will, der trifft auf Christus!
Christus, der leiblich und vollständig verknetet und zerstampft und ungerührt untergerührt und mit Erde und Asche eingestäubt und eingebacken ist in den Menschheitsleib, den Menschenleib, den Laib der Lebenden; Christus, der ausgepresst und zerronnen und verschmolzen und gegoren und gegangen und verströmt ist im Kelch des Leidens und der Freude aller Bewohner dieser Erde. ——
Darum fängt Paulus seinen Korintherbrief mit der Frage an die Streit- und Trennungssüchtigen an: „Ist Christus etwa zerteilt?“ (1.Kor.1,13)
Nein!
Christus ist ganz und nicht zerteilt: Er ist ganz in Menschengestalt und ganz in der Brotgestalt, er ist ganz in der Stellvertretung und ganz für alle. Christus ist die lebendige und vollständige Gemeinschaft der Seinen, ja er selber ist vor Gott die Gesamtheit allen Fleisches, allen Blutes, er selber ist für die Welt die vollständige Gegenwart Gottes.
Man kann ihn nicht in Portionen und nicht in Symbolen, man kann ihn nicht in Schichten oder Spuren haben: Wenn Ihr Christus wollt, wenn Ihr ihn meint, dann habt Ihr ihn immer nur wirklich, vollständig, ungeteilt, in seiner allgemeinen, ausnahmslosen Fülle, mit seiner umfassenden Einbeziehung der ganzen Menschheit in ihn und umgekehrt mit seiner buchstäblichen Eingliederung in alles Menschliche.
Wer also Christus anruft, wer sich selbst nach ihm nennt, wer sein Wort hört und mitteilt, wer seine Zukunft und Wiederkehr erwartet, wer seine Gegenwart bekennt, wer am Tisch dieses Herrn seinen körperlichen Hunger und Durst mit den wirklichen Gaben dieses Herrn speist und seinen Leib nährt mit der wirklichen Kraft dieses Lebens, der kann kein Mensch der Trennungen, der Spaltungen, der Einteilungen, der Kleinteilungen, des Gegensatzes, der Eigensucht, des Ausschließens sein.
Wer Christus will und Christus hat, der hat das Eine, in dem alles und alle auch Eines sind!
Wer Christus in sein Leben – sein Denken, sein Hoffen, sein Glauben und Lieben, sein Handeln und Dasein, wer Christus in sein System und seinen Organismus – wer Christus in seinen Leib aufnimmt, der empfängt die Einheit, die Ganzheit, … eben das, was in Zeiten des Zwiespalts und in einer Welt der Getrennten das Heilmittel, das Heil also ist! ——
Das liegt an jenem umgekehrten Stoffwechsel, den die Aufnahme Jesu Christi in Gang setzt.
Gewöhnlich wird ja alles, was wir verzehren und aufnehmen, zu einem Teil unserer selbst: Eiweiß und Fette und alle anderen Stoffe verwandelt der menschliche Körper sich an oder setzt sie um.
Das Abendmahl dagegen ist – ohne allen obskuren Zauber, ohne allen materiellen Okkultismus – die Ausnahme: Hier wird der Nutznießer verändert, nicht das Genossene; hier übt die Speise das Geheimnis der Verwandlung auf den aus, der sie zu sich nimmt.
Wie das geschieht, zeigt Paulus auf allereinfachste Weise.
Seine bündige, hochkonzentrierte Formel vom Kelch, über den wir den Segen sprechen, und vom Brot, das wir brechen, beweist schon die anverwandelnde Wirkung des Abendmahls: Ohne alle Spekulation und alle metaphysischen Erklärungen zeigt Paulus uns in diesen Worten eine Handlung der Gemeinde, die Jesu Handlungen so genau entspricht wie der Schatten dem bewegten Körper folgt.
Paulus’ Hinweis darauf, dass wo immer Abendmahl gefeiert wird die exakt gleichen Handbewegungen und der identische Vorgang stattfinden, die Jesus selbst vollzog, ist ohne jede Überbetonung eine Bestätigung dafür, wie das Mahl des Herrn aus den Feiernden Nachfolger Christi macht, wie es die betende und brotbrechende Gemeinschaft von innen heraus in die gelebte Nachahmung Christi führt.
Jede selbstverständliche Geste und jeder geistige Vollzug bei diesem Mahl werden ja zum Echo und Spiegel, zur Entsprechung und zur Gegenwart Jesu Christi selbst, der den Kelch mit dem Segenswort, dem Dankgebet und der ausschenkenden Umsicht genauso handhabte, wie er das Brechen und Teilen und Darreichend des Brotes beim Passamahl vollzog, dessen Liturgie wir mit ihm im Entscheidenden nachvollziehen, wo immer wir in seinem Namen den Becher der Befreiung und das Brot der Gemeinschaft nehmen und empfangen.
Doch nicht nur solch praktischer Nachvollzug der Mahlfeier, der ja auch einstudiert, der ja auch bloß Mimikry sein könnte, wird uns durch den Kelch und das Brot zur zwei-en Natur. Sondern – so sagt es der Apostel im zweiten seiner unspektakulären Sätze – sondern wo wir tun und beten und teilen und glauben, was Christus uns aufgetragen und anvertraut und übergeben und zugesagt hat, da werden wir wirklich verändert: Wer mit Christus lebt und wer von Christus lebt, der kann nie mehr das tun und wollen, was so unchristlich ist, … der kann nicht mehr unterscheiden und trennen unter den Menschen, der kann die Gemeinsamkeit nicht zerbrechen und die Zusammengehörigkeit nicht aufheben, die durch den einen treuen, bedingungslosen Stellvertreter und Erlöser aller Menschen gestiftet worden ist.
Wer das Mahl Christi feiert, wird also zu einem neuen, zu einem anderem Menschen, der nicht mehr für sich, sondern mit Christus für alle sein will, der mit dem einzigen Retter zum Boten der Einheit wird.
Wer das Abendmahl in Wahrheit und in Aufrichtigkeit feiert, wird durch das eine Brot und das eine Tun und das eine Glauben und das eine Herz und die eine Seele, die dank Chrisi Gegenwart darin walten, zum Teil des einen Leibes.
Das Abendmahl, das die Glaubenden mit Christus speist und mit ihm verbindet, ist zugleich das Mahl der großen Einigung aller.
Es bringt die Gedanken und das Streben, es bringt die Hoffnung und das Ziel der Feiernden in Übereinstimmung mit Christi Weg und Sendung und ihrer Vollendung. Es orientiert unser ganzes Leben in Christi Richtung, weil es uns seine Gemeinschaft, sein Friedenstiften, seine Versöhnung, seine Liebe, … zuletzt sein Reich zum gegenständlichen und geistigen Inhalt des Lebens macht.
Und darum ist die große, ungeheilte, bittere und böse Wunde am Leib Christi und am Leben der Seinen, wenn sie nicht einig sind, wenn sie für Spaltungen, für Verwerfungen, für Abgrenzung und Ausgrenzung stehen: Das ist immer unerträglich, unverantwortlich und unentschuldbar … am meisten aber, wenn die Gemeinschaft des Blutes und des Leibes Christi sich untereinander bekämpft, verleugnet oder ablehnt.
Der Skandal von Korinth ist der Skandal auch unserer Tage: Mit ihm untergraben wir nicht nur die christliche Wahrheit und den christlichen Dienst in der Welt, sondern zerstören den Plan und die Ziele des einen Gottes aller Menschen, die er in Jesus Christus offenbart und besiegelt hat.
Wenn wir durch das Mahl des Herrn getrennt und nicht verbunden werden, wenn es uns scheidet und nicht eint, dann ist das aktive Leugnung Gottes, dann ist das praktizierter Atheismus, dann ist es kirchliche Gotteslästerung und Christusverfolgung.
Darum kann an diesem Gründonnerstag nur eines unser Wunsch und unser Schwur sein:
Wer hier und heute den Kelch und das Brot der Gemeinschaft teilt, wer Christi Blut und Leib empfängt, die das Lebens- und Heilmittel der Vereinigung und des Friedens sind, der muss beten und bereit sein, die Einheit der Kirche zu wollen und zu erreichen. Der muss dem Geist und der Verheißung der weltweiten Gemeinschaft aller Christusgläubigen auch um den Preis von Gewohnheit und vermeintlich Selbstverständlichem treu sein wollen.
Wir müssen in dieser Zeit der Spaltungen und Zwietracht also einen ganz neuen, ganz ehrlichen, ganz teuren und ganz wahren Frieden für die ganze Welt und in ihr für die Kirche Jesu Christi suchen: Den Frieden, der in der Gemeinschaft Seines Leibes und Blutes besteht, den Frieden also, der im menschlichen und kirchlichen und sakramentalen Leib des Herrn lebendig ist.
Wie wir ihn finden, ist unsere Sache. Dass wir ihn finden müssen – und zwar zu unseren Lebzeiten – ist der Wahrheit Gottes und des Evangeliums geschuldet.
In Aufnahme dessen, was die zerstreuten und auseinandergerissenen Juden in der Welt bei ihren Passafesten bekräftigen: „Dieses Jahr noch hier – nächstes Jahr in Jerusalem!“ wollen wir also jetzt das Mahl halten.
In der Hoffnung und im Glauben: Jetzt noch in der Uneinigkeit, … nächstes Jahr in der Einheit des einen Leibes Christi.
Amen.
Palmsonntag 25.03.2018 Stadtkirche Jesaja 50, 4 - 9 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Palmarum 25.III.2018
Jesaja 50, 4 – 9
Liebe Gemeinde!
Im Wimmelbild des Palmsonntag geht ein einzelner Gesichtsausdruck unweigerlich unter: Die Hochstimmung dieses Spektakels, als eine religiös aufgeladene Großstadtbevölkerung den Anbruch einer neuen Ära feierte und sich im Geist schon von den Fremden, den Römern, den Heiden, den Zöllnern befreit und als die Sieger der Geschichte sah – … die Hochstimmung dieses Tages ist zu bunt und aufwühlend, als dass man irgendein Gesicht in der Menge wirklich einmal länger betrachten könnte: Köpfe und Arme und Äste und Stoffe wogen und sausen über dem bewegten Massenkörper, die aufbrandenden Jubelrufe der Menge, in denen das gellende Gekreische ausgelassener Kinder und die schrillen Freudentriller orientalischer Frauen sich in den akustischen Höchstlagen vermischen, bereiten selbst dem Betrachter, der nur lesend oder lauschend dem großen Ereignis folgt, schwindeliges Ohrensausen.
… Um wirklich zu erfassen, was da vor den Mauern von Jerusalem und auf seinen Straßen geschieht, als der prophetisch verheißene Eselreiter erscheint, ist das alles viel zu unruhig, viel zu rasant; Einzelheiten verschwimmen, … es bleiben das Rauschen und der hypnotisierende Sog des Kollektiv-Phänomens. ——
Und doch begegnet uns heute in der längst gewohnten, unübersichtlichen Breitleinwand-Sequenz des alljährlichen Palmsonntagmarathons plötzlich eine Nahaufnahme.
Festgehalten hat sie – so etwas gibt es nur in der Bibel – ein Drehbuchautor, der fünfhundert Jahre vor der Aufmarsch-Szene des Kurzzeit-Königs von Israel lebte. Jesaja, der als Nicht-Augenzeuge auch keinen Dokumentarfilm drehen konnte, hat dieses eindringliche Standbild eingefangen, in dem aller Tumult plötzlich zur Ruhe kommt und wie schockgefroren in der harten Sprache der unmissverständlichen Tatsachen zu uns spricht.
In Jesajas Beschreibung des geheimnisvollen Gottesknechtes, der von Gott berufen wurde, um ihn in ein beispielloses Leiden zu senden, begegnet nämlich für den Bruchteil eines Augenblicks ein direktes Porträt dieser Hauptperson des Palmsonntag.
Unvorbereitet gerät Jesu Aussehen gerät in den Fokus. Und dabei bleiben wir hängen an einem Detail seiner Gestalt: Sein Angesicht ist steinhart.
Da, wo sein Vorderschädel über seinen dunklen Augen aufragt, müsste sonst – zwar anders als im Blick darunter, aber doch auch ganz lebendig – die Stirn wie ein offenes Buch zu lesen sein: Das Gitternetz über den Augenbrauen, das sich vom Sorgen oder Lachen zusammenzieht, die gefurchte Stirnfalte bis zur Nasenwurzel, die Zorn oder tiefes Nachdenken erkennbar macht, der Übergang zu den ungeschützten Schläfen, wo man das Pochen der Angst und Anspannung in den Adern verfolgen kann, die ganze Fläche bis zum Haaransatz, die gerötet oder erblasst oder schweißglänzend sein mag – je nachdem, welche inneren Gefühle sich an der Stirn ablesen lassen –, dieses ganze Panorama einer aussagekräftigen menschlichen Kopfpartie ist wie ein Kiesel so hart, so glatt, so kalt, so stumm und ohne deutbare Regung.
Jesus ist versteinert, verhärtet. …….
Und das ist in Wahrheit die gute Nachricht, die uns heute, am Tag der beginnenden Hurra-und-Hängt-ihn-auf-Hetze auf Jesus durch das Gottesknechtslied des Propheten vermittelt wird: Der von Gott Gesandte bietet dem Erlösungs- wie dem Tötungsrausch gleichermaßen die Stirn.
Sein Inneres ist gefestigt, sein Denken und Bewusstsein sind gegen Ansturm und Angriff gefeit.
Weder die Vereinnahmung noch die Ablehnung durch die Masse werden sich in seinen Geist einschleichen und ihm als Ruhm zu Kopf steigen oder als Rache sein Wesen vergiften. Sie prallen ab am Schutzschild des harten Angesichtes. ——
Was aber steht dahinter?
Sollen wir uns Christus, der in seinen letzten Tagen über Jerusalem geweint (vgl. Lk19,41) und auch am Grab seines Freundes Lazarus Tränen vergossen hat (vgl. Joh11,35), … sollen wir uns Christus, der in seinen letzten Tagen die Salbung durch eine Frau voll Liebe gegen die Lieblosigkeit seiner Jünger verteidigte und der brennende Sehnsucht nach einer letzten gemeinsamen Mahlzeit mit den Seinen verspürte (vgl. Lk22,15), … sollen wir uns Christus, der im Garten Gethsemane von einem anaphylaktischen Angstschock befallen wurde (vgl. Lk22, 44) und nach der Tradition unter seinem Kreuz zusammenbrach, … sollen wir uns diesen verletzlichen, verwundbaren Jesus Christus vielleicht doch als eine Art Ironman, einen schmerz-unempfindlichen, kaltblütig todesbereiten Haschischesser wie die Assassinen, als einen spartanisch-stoischen Helden vorstellen, der angesichts des Leidens nicht mit der Wimper zuckt?
Keinesfalls!
Dazu sind die Evangeliums-Berichte von der Passionswoche zu ungeschönt: Fleisch und Blut Jesu sträuben sich wie alle irdische Natur, wenn sie Gefahr, Schmerzen oder Tod wittert.
Was indes das Gottesknechtslied über die innere Widerstandsfähigkeit des Auserwählten gegen Schläge, Schmach und Speichel sagt, das hat einen ganz anderen Grund als Tapferkeit oder Martyriumssehnsucht.
Die prophetische Beschreibung dessen, der vor dem Hohn der Welt und vor der geballten Verurteilung durch die Menschen nicht zurückweicht, benennt die Kraft, die ihn erfüllt: Es ist das hörende Ohr und die Zunge, die zum Träger für das gehörte Wort wird.
Der Gottesknecht, der Menschensohn auf dem Leidensweg ist durch das Wort der göttlichen Zusage gewappnet. Diese Hilfszusage, diese Verheißung des Beistands und der unanfechtbaren Rechtfertigung durch Gott macht ihn fähig durchzustehen, was immer kommt.
Wir haben es im versteinerten Angesicht Jesu also nicht mit dem dicken Fell oder der harten Haut eines Unberührbaren zu tun, der sich äußerlich weltabweisend gemacht hat wie einst Siegfried, sondern wir begegnen in ihm der Hilfe Gottes, die von innen stärkt und schützt und durch die der Gottesknecht sich der Welt darum ausliefern kann. ——
Dass Jesus Christus aus diesem Wort heraus für seine Passion bereitet und gehärtet ist, kann uns in diesen letzten Tagen vor seiner Kreuzigung nur freuen.
Doch über die Freude hinaus, IHN, der für uns sterben geht, im Inneren von Gott verteidigt und aufrecht bewahrt zu sehen, gibt es noch eine andere Freude in diesem Lied vom ermutigten, bestärkten Gottesknecht zu finden.
Seit den Tagen des Jesaja nämlich fragen sich die Hörer und die Leser seiner Botschaft, ob sie nur einen Einzelnen, nur den Messias also meint, oder ob sie nicht doch von der Gesamtheit der durch Gott Erwählten, ob sie nicht also doch von Seiner Heilsgemeinde Israel spricht, die in Treue und Leidensbereitschaft bis zum Tod Zeugnis für ihn ablegt.
Sollte man in dem getrosten, zuversichtlichen Gottesknecht also auch ein Vorbild für Viele, eine gemeinschaftliche Existenz sehen?
Ist es also gerade an diesem Tag des Massenauflaufs im biblischen Jerusalem nicht völlig in Ordnung, dass wir kaum einen Einzelnen dabei in Ruhe betrachten können, sondern nur ein großes Durch- und Miteinander der Glaubenden und Hoffenden erleben?
Denn der beherzte und beseelte Trotz, der vor Verfolgung und Anfeindung nicht ausweicht, sondern sie für den Gott des Bundes, den Hirten und Hüter der Leidenden riskiert, … das ist doch von Abraham her das Geheimnis und der Grundzug des Volkes Gottes!
Diese unbeirrte Haltung, die für das Recht und Gesetz, die von innen heraus tragen, gerade steht und sich nicht biegen und nicht verhandeln lässt, … diese hartnäckige Treue hat im Übrigen auch einen ganz und gar nicht frömmlerischen, aber umso jüdischeren Namen: Man nennt solch klares Durchhalten und steifes Auf-seinem-Recht-Bestehen „Chuzpe“, … und wer die „Chuzpe“ bisher nur für eine bestimmte raffinierte Schlitzohrigkeit oder eine plumpe Unverschämtheit hielt, der mag folgende Erklärung eines Lexikons von vor hundertfünfzig Jahren meditieren:
„Chuzpe“ – heißt es da – sei „die Dreistigkeit oder der Mut, der in einem gerechten Selbstvertrauen seinen Grund hat, … auch die Keckheit, die aus einer leichtsinnigen Lebhaftigkeit entspringt, oder gar die Frechheit, in welcher man sich, gleichgültig gegen Ehre und Schande, über jedes Urteil anderer hinwegsetzt.“[i] …….
Sind aber nicht Beginn und Ende dieser Definition genau das, was man dem in sein Leiden ziehenden Mann auf dem Esel am allermeisten wünscht und gönnt: „Mut, der in einem gerechten Selbstvertrauen seinen Grund hat … und eine Gleichgültigkeit gegen Ehre und Schande, die sich über jedes Urteil hinwegsetzt“, weil nur der Richtspruch Gottes und endlich also nur die Rechtfertigung durch Ihn zählt und weil das Vertrauen darauf alles andere zuletzt in den Schatten stellt?!
Wenn aber Jesaja im Lied von der Chuzpe, vom Vertrauen und der inneren Unanfechtbarkeit des Gottesknechtes eine Haltung besingt, die Jesus am Tag seines Triumphes genauso nötig war wie am Tag seiner Erniedrigung, die so kurz darauf folgte, … und wenn das eine Haltung ist, die sich im jüdischen Volk durch Jahrtausende der Bedrückung und des Leidens bewährt hat, … dann sollten wir im Namen aller Leidenden und im Blick auf alle Leiden, die auch uns ja nicht erspart bleiben können, diese Haltung, dieses Geheimnis des Trostes aus dem Wort, das uns gesagt ist und das wir den Müden zur rechten Zeit sagen sollen, zu Herzen nehmen!
Das Wort vom Gottesknecht und seine Passion und die Erfahrungen Israels können auch uns zum Lehrstück der Klarheit und der inneren Freiheit werden:
Wer nämlich wirklich weiß, was in der heute beginnenden Karwoche für ein Weg gegangen wurde, der muss sich im tiefsten Innersten nicht mehr fürchten. Wer den Bericht von Jesu Weg durch die Angriffe und die Gewalt vernimmt, durch Todesfurcht und letzten Schmerz und durch die Verzweiflung des Sterbens, der erfährt ja auch, dass die Worte Jesajas keine Täuschung waren: Wer hier wollte heute noch das Recht Jesu anfechten, … wer, der das Evangelium der Karwoche und des österlichen Geheimnisses kennt?
Gott war ihm nahe – ihm, der trotzdem den Schrei der Gottverlassenheit ausstieß – Gott war ihm nahe und hat ihn gerechtgesprochen, als Er alle Verwerfungs- und Todesurteile aufhob und am dritten Tag ein Macht- und Lebenswort der Auferweckung sprach, das niemals, weder in dieser, noch in der künftigen Welt übertroffen werden soll!
Jesus, der im Palmsonntagstaumel fast verschwindet und im Karfreitagsgericht tatsächlich vernichtet wurde , Jesus, dessen Angesicht hart und dessen Herz fest war bis die letzten Prüfungen ihn aufrieben – Staub zum Staub! –, Jesus, der durch das alles hindurch ewiges Leben erreicht und eröffnet hat: Jesus also ist der felsenfeste Grund jener Haltung, die als Verbindung von Chuzpe und Glauben uns Christen prägen, tragen und erhalten will.
Wer das hört, wie ein Jünger hört, der kann in alles gehen – Hosiannarufe oder Schicksalsschläge – denn er weiß, wohin sein Herr ihn führt und bringt. ———
Paulus hat diese Haltung des Gottesknechtes, die auch die, die an ihn glauben und ihm folgen, auszeichnet, mit den Worten des Jesaja aufgegriffen in seinem hohen Lied der Glaubensgewissheit (vgl.Rö.8,34+38f): „Wer will verdammen? … Christus ist hier, und darum bin ich gewiss, dass weder Tod noch Leben, … weder Hohes noch Tiefes, … ja, überhaupt nichts uns von der Liebe Gotte scheiden kann!“—
Und die selbe christliche Haltung, das selbe christliche Gehalten-Seins im Leben und im Leiden besingt Jochen Klepper ebenfalls mit den Worten des Jesaja (vgl. EG 452 [Lied nach der Predigt]).
Allerdings hat in Kleppers Gottesknechts-Choral das Bild vom geweckten und angesprochenen Gehör beinah so etwas wie ein Fehlhören, ein Missverständnis bewirkt, weil wir seine Strophen zu vordergründig als Lied der Morgenfrühe eingeordnet haben.
… Wenn man jedoch etwas vom wirklichen Leiden des Gottesknechtes und den wirklichen Leiden des Volkes Israel weiß, in die Klepper durch seine jüdische Ehefrau mithineingeriet, dann wird das Lied ganz anders hörbar:
Das Licht und der Morgen sind dann als Wunder zu erfahren, die einer, der den Abschied und aller Tage Abend drohen sieht, viel staunender wahrnimmt.
Und der Tag und der Ruf, die Klepper feiert, und die Bande, aus denen Gott löst und der Schlaf, von dem der Sänger singt … sie verlieren alles Alltägliche und bezeugen ein letztes, ein endgültiges Vertrauen auf Freiheit, da wo sonst nur Erstarrung sein würde, auf Aufstehen, wo sonst nur Begraben-Bleiben bliebe.
Dass Gott uns alle Morgen weckt – wie an dem Tage, da er die Welt erschuf –, dass Gottes Wort uns in Licht hüllen und alle unsre Schuld und unser Unrecht mit vollem Lohn ausgleichen wird und dass dieses Aufweckungswunder aller Morgen sich auch am dunkelsten der Tage ereignet …., diese Zeilen zeigen, was hier eigentlich zur Sprache und in den Gesang drängt: Es ist die Woche, die heute beginnt, die in die Nacht des Todes führt und dann zum Wecken in jener Frühe, wo an der Dämmerungspforte Gott nicht mehr verborgen, sondern als Der offenbar wird, von Dem wir sagen dürfen: Er geleitet auch uns aus dem Schlafe wie Er Christus aus dem Reich des Todes geführt hat.
Wer das wie ein Jünger hört, der kann in alles gehen!
Denn in allem unübersichtlichen Chaos dieses und aller Tage, weiß er: Gott der HERR ist nahe und hilft mir!
Amen.
[i] Abraham Moses Tendlau, Sprichwörter und Redensarten deutsch-jüdischer Vorzeit als Beitrag zur Volks-, Sprach- u. Sprichwörterkunde, Frankfurt a.M., 1860, S. 302
Judika 18.03.2018 Stadtkirche 4.Mose 21,4 - 9 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Judika - 18.III.2018
4.Mose 21, 4 – 9
Liebe Gemeinde!
Passionszeit ist Ekelzeit, … für die Zartbesaiteten, für die Gedankenlosen, für die Hochmütigen. … Für alle, die dem Sterben lieber nicht ins Auge sehen. … Für alle, die sich für porentief ansehnlich halten und keinen menschlichen Makel an sich selber feststellen können. … Für alle, die finden, es gäbe doch schon genügend, das einen runterzieht, und wenn überhaupt Gottesdienst, dann aufmunternd, bitte! ——
Heute aber wird die Ekelzeit leider sogar noch einmal gesteigert.
Heute geht es an die Urangst und die Ur-Schuld und den Ur-Tod.
Die Sündenschlange und die Schlangensünde sind aus der prähistorischen Mythologie nämlich auferstanden und begegnen in den Anfängen der Geschichte Israels als verwirrende Wiedergänger des Urmenschen-Dramas:
Damals, ursprünglich, im Garten Eden krankte der Mensch an einem ungestillten Hunger auf das Neue und Unbekannte. Das trieb ihn in den Rachen der allesverschlingenden Schlange: … Nicht jener kleinen Giftnatter, die ihn anzüngelte mit ihrer süßen Neugier, ihrem kindlichen Alles-Wollen …. Nein, dieses Alles-Wollen, das die Urmenschen angeilte, stürzte sie dem in den Rachen, der alle kriegt, die alles wollen, … dem Tod, dem unersättlichsten der Würmer, der uns sämtlich zerlegt.
Damals also die Sucht nach Unbekanntem.
In der Wüste dagegen das idiotische Gegenteil: Selbstmörderische Sehnsucht rückwärts in den Ägypten-Abgrund, aus dem man gerade entkam.
Das Volk, dem die Freiheitssuche anstrengender wurde als die Sklaverei, will zurück in die Trostlosigkeit, aus der es eben erst aufbrach! …….
Diese Erfahrung Israels in der Wüste, das seine eigene Befreiung am liebsten rückgängig gemacht hätte, weil das Abenteuer des neuen Lebens unsicherer war als das alte Leid, … diese Erfahrung widersinnigen Rückblickens und Festhaltens am Bekannten, weil das Unbekannte anstrengend wird, ist eine menschliche, eine menschheitliche Grundfigur: „Früher war mehr Lametta“ … in der schönen DDR, im guten, alten Dritten Reich, in der gemütvollen Großväterzeit ohne Demokratie, in der gesunden Epoche vor dem Penicillin, in der heilen Welt ohne Menschenrechte, in der lustigen Vergangenheit, als wir alle noch Barbaren waren.
… Bloß bei solchen Trugbildern lieber nicht in den Spiegel blicken, heute am Sonntag des Extremekels: Denn da ist das dumpfe Proletarier-Deutschland, das uniformierte Hass-Deutschland, das pomadisierte und gedrillte Kadetten-Deutschland, das bucklig-kleinstaatliche Fürsten-Deutschland, das harte, kalte, hungrige Leben der Jahrhunderte und Jahrtausende, aus denen wir kommen, zu sehen. ……. Und darum: Nicht hinschauen!
Zum Träumen – so wie Israel von der schönen, der verklärten Sklaverei träumte – … zum Träumen reicht das alles allemal, … auch ohne Abgleich mit der Wirklichkeit.
… Man kann sich schließlich ja auch Syrien schönträumen, wenn man zum Großmufti und seinem Henker reist; man kann das schmutzige Russland glänzen machen und Stalin einen Heiligenschein verpassen; man kann sich per Ministerium eine Heimat aus dem Heimatfilm verordnen; man kann seine eigene Welt und sein eigenes Leben und sein eigenes Bild so überarbeiten, dass alles traumhaft wird; … man kann so vieles - wieder - haben wollen, wie es nie war.
Auch dann beißt einen die Schlange.
Nun nicht, weil man am Baum des Wissens mehr erfährt, als guttut.
Sondern weil man unterschlägt, was wahr ist und mehr vergisst, als erlaubt sein kann.
Beides ist Sünde: Alles-Wollen und Alles-nicht-mehr-wahr-haben-Wollen.
Gier, die das Leben nach vorne verbraucht, ist genauso tödlich wie die Lustseuche, es nicht hergeben, sondern endlos wiederkäuen und wiederholen zu wollen, als bliebe es immer frisch, als sei es unverdorben.
Beides aber ist uns Menschen längst verloren: Der unbelastete Zugriff auf die Zukunft genau wie die Unschuld im Blick auf die Vergangenheit.
Die Schlange sitzt drin: Die Lüge und der Tod sind losgelassen. Sie sparen nichts aus. Sie färben und verderben alles.
Nichts gestern, nichts morgen ist ohne Lüge, ohne Tod auf dieser Welt.
Nichts ist schuldlos.
Es ist ein Ekel.
Und darum will man es lieber nicht sehen. Nicht hören. … Ich will’s auch lieber nicht schon wieder nennen und erzählen. … Es ist ja doch so abstoßend. … Und vergebens. ———
Aber hat wer die ausgemergelte Frau gesehen … aus Ost-Ghouta in ihrer Hungerohnmacht, die da zusammensank wie die schmerzensreiche Mutter unter dem Kreuz bei den alten Niederländern und den altdeutschen Malern und Bildschnitzern?
Damals, als man die verzweifelte Ohnmacht der Jungfrau auf Golgatha und die Vesperbilder mit dem bluttriefend zerfetzten „Christus in der Rast“, der gegeißelt und gefoltert und gekreuzigt worden ist, für Andachtsbilder hielt, … damals hat man den Ekel nicht aus der Passionsfrömmigkeit, aus dem Mitleid mit dem leidenden Sohn Gottes verbannt.
Damals hat man hingeschaut.
Sich sogar versenkt in’s Klägliche, in’s Widerliche, in’s Traumatisierende. … Und etwas erkannt!! ———
… Das muss gar nicht vor einem gotischen Schrein oder Bilderstock sein, das erwacht gar nicht nur, wenn man die expressiven Marienklagen und Lamenti des Barock hört. Es kann genauso unmittelbar geschehen wenn die Nachrichten, die Zeitung und das Internet uns in die Passion versetzen: Ein Schmerz, ein Leid, ein Tod blicken uns da aus leeren oder schon gebrochenen Augen an, die welterschütternd sind … aber ich blicke weg, weil es weder auszuhalten, noch – und das ist das Allerschlimmste! – … noch zu ändern ist.
Das sind feurige Schlangen! Das ist der Wurm, der nicht stirbt, das Feuer, das nicht verlöscht (vgl. Jesaja 66,24): Die Unfähigkeit, Tatsachen auszuhalten, ist reines, brandgefährliches Gift. Gewiss kann man lange damit leben, aber es tötet schließlich doch.——
Gemeindelied:
„Du großer Schmerzensmann, Ach Jesu, immerfort
von Bütteln krumm geschlagen. wirst du ans Kreuz geschlagen.
- schaust uns von Fotos an Hier und an jedem Ort,
so oft in unseren Tagen. heut und an allen Tagen.
Du leidest Seelenqual, Und wer bin ich dabei?
Verfolgung, Angst und Hohn. Der in der Menge steht?
Und wir vergessen dich Der dich nicht kennen will?
nach paar Minuten schon. Der stumm vorübergeht?“
(Gerhard Schöne, Gesangbuch der Evangelischen Brüdergemeine Nr. 257)
Wie aber erging es Israel, als es die Wirklichkeit nicht mehr akzeptierte, sondern sich ein Ägypten zurechtlog, das dem Wunschdenken, aber nicht der Wahrheit entsprach?
… Israel wurde von den Kreaturen heimgesucht, die in der Urgeschichte mit dem Schönfärben und Zurechtlügen begannen. Israel wurde vom Otterngezücht befallen, angesichts dessen bis zum heutigen Tage zahllose Menschen Urangst befällt.
Doch dieser aus tiefsten Schichten stammende Ekel, diese archaische, panische Feindschaft zwischen den Nachkommen der Schlange und den Nachkommen des Weibes ändert nichts an dem, was Gott für nötig und richtig hielt und hält.
Denn die Therapie Gottes ist schlicht Konfrontation:
„Seht auf die Schlange, die Euch plagt und ängstigt! Seht hin und erkennt, was genau mit Euch vor sich geht! Seht hin und haltet den schwer erträglichen Anblick der Wahrheit aus!“
Dieses psychologisch bis heute bewährte und plausible Verfahren, Verdrängung und Selbstbetrug nicht zuzulassen, sondern dem Gefürchteten und Schmerzhaften in’s Auge zu sehen, hat einen unvergesslichen Anfang mit dieser erstaunlichen Geschichte.
Gott verschont vor Strafe, die ja Folge von Schuld ist, nicht indem er Schuld und Strafe einfach verschwinden lässt, sondern indem er sie sichtbar, ja geradezu unübersehbar macht.
Die eherne Schlange nämlich, deren Bronzefarbe in der Wüste doch wohl geradezu spektakulär geglänzt und gegleißt haben muss, bewirkt Heil durch Hingucken.
Wodurch? – Indem Gott eben nicht verschleiert, dass seine Gemeinde aus Angefochtenen, aus Verunsicherten und Unzufriedenen und Verängstigten und Verlogenen und Gebissenen und Erbitterten und Rückwärtsgewandten und Illusionsopfern und Feiglingen und Phantasten und Träumern und Lügnern und Heuchlern und Halbherzigen und Verstockten und Erschrockenen und Unreifen und Erzbösen und Hinterhältigen und Gerissenen und Gleichgültigen und Neidischen und Törichten und Gierigen und Sündern besteht.
Die eherne Schlange ist ja ein Mahnmal genau aller dieser Formen von Schuld und aller daraus folgenden Konsequenzen und Strafen, – und wie jedes Mahnmal schafft sie die Gelegenheit, sich zu dem zu verhalten, zu dem zu bekennen, was dort dargestellt ist.
Jeder Israelit der aufblickt und hinsieht, erkennt und bekennt also: Gott hat mein abenteuerliches Murren, meine vernichtenden Absichten, meine grundlosen Abgründe vollkommen erfasst und mir zugeordnet … und da oben auf dem Pfahl hängt in Gestalt der ekelhaften Giftschlange die Wahrheit über mich, … die Wahrheit, die wehtut!
… Sie zeigt: Ich bin nicht gesund, ich bin nicht vollkommen, ich bin nicht heil. Ich habe das Verderben in mir. Ich trage etwas Hochnotpeinliches in mir, ein aktives Risiko, ich bin befallen von etwas Schleichendem, das mich und andere gefährdet.
… Gott offenbart mir in der Zumutung des Schlangenbildes, das so viele Völker der alten Welt verehren, schlicht meine Wirklichkeit und ihre Folgen.
… Und das ist heilsam, weil es die bittere Wahrheit ist, … heilsam aber vor allem, weil es meine Wahrheit ist, die nun allerdings nicht mehr nur hier bei mir unterdrückt und verborgen und verschlossen werden muss, weil Gott sie ja so hoch hinaus über mich erhoben und damit von mir genommen hat.
Gott hat meine Schuld und Schande aus der erstickenden Last, die ich in mir zusammengepresst und eingesargt hatte, zu Seiner Sache gemacht!
Und indem sie dort meine Möglichkeiten weit überschreitend an die Luft und an das Licht des Tages gebracht und aufgehängt wird, werde ich von den Lügen und Lüsten, den Bedrückungen und Verweigerungen befreit, die mein Leben und Lieben und Hoffen und Vertrauen madig und krank machen und allmählich abtöten. ———
Diese Bedeutung und Wirkung der ehernen Schlange – dass sie das Böse aus den Menschen wie Ziehsalbe herauszieht und in sich bindet durch eine Übertragung, eine Identifikation , die mit dem bewussten Auf-sie-Hinschauen entsteht –, … diese Wirkung und Bedeutung der ehernen Schlange hat sie zu einem der mit Abstand sprechendsten Zeichen der Bibel Israels gemacht.
Sie ist eben nicht nur ein Fruchtbarkeits- oder Abschreckungssymbol wie es ihrer im Alten Orient und der Antike in ähnlicher Gestalt – vom Herolds-, bis zum Äskulapstab – so viele gibt.
Sie ist vielmehr so etwas wie ein Sakrament, eine wirksame Zeichenhandlung des Glaubens:
Wenn ein Mensch sein Böses, seine Not nicht vergeblich Gott im Verborgenen vorenthalten will, sondern sie Ihm überlässt und überträgt, dann erst lassen sie den Menschen los, dann erst werden sie ihn nicht mehr vernichten, sondern ihrerseits vernichtet werden! ———
Kein anderer biblischer Zusammenhang hat so überzeugend, so eindeutig den Charakter eines Vorzeichens, einer Präfiguration der Passion Jesu Christi!
… Alles Ekelhafte und Furchterregende meines Lebens, alle Ur- und Erbsünde und aller Erb- und Ur-Tod werden nur dann ihren verfluchten Halt an mir und Druck für mich verlieren, wenn ich sie nicht mehr leugne, sondern in aller Klarheit einsehe, wo sie so offensichtlich sind: Am Kreuz, an dem Jesus Christus ja nicht seine Verderbnis und sein Verlorensein zur Schau stellt, sondern meine!
Wenn der Blick dem nicht ausweicht, … wenn ich sehe, dass dort – und nicht in meiner Vergangenheit und nicht in meiner Zukunft, sondern dort am Kreuz! – das Ziel und Ende meiner Angst und Sünde und der Schlüssel zur Liebe, zum Leben, zum Segen zu finden ist, dann werde ich heil, dann erfahre ich Gnade, dann kehren Mut und Freiheit ein, die sich trotz der Schrecken und Schmerzen dieser Welt und aller Männer, Frauen und Kinder, die in ihr leiden, nicht mehr niederhalten lassen.
Wenn ich erkenne, dass Jesus Christus da für mich das Schlimmste und Letzte übernommen hat, dann ist für jeden Menschen Hoffnung, dann gewinnen sie alle, alle Aussicht auf Heil!
Das hat der Prinz der Prediger, der große Charles Haddon Spurgeon (1834-1892) als seine Bekehrung erlebt:
Als Fünfzehnjährigen, religiös noch durchaus Suchenden hat es den jungen Spurgeon am 6.Januar 1850 wegen eines schrecklichen Schneesturms auf dem Weg in den Gottesdienst als letzte Rettung in die winzige Kapelle einer kleinen Methodistenversammlung verschlagen. Auch deren Prediger war durch den tosenden Sturm verhindert worden, so dass ein einfacher Schneider oder Schuster der kleinen Schar das Wort auslegte.
Der alte Handwerker besaß keine rhetorischen Gaben, sondern behalf sich in typisch ursprünglicher Methodistenmanier mit abwechslungslosen, eindringlich-pathetisch sich steigernden Wiederholungen.
Wieder und wieder rief er das Dutzend Fromme auf, auf den Herrn zu blicken!
„Seht auf ihn!“ - „Seht auf ihn!“ - „Seht auf ihn!“, skandierte er, bis er den unbekannten Jüngling bemerkte und direkt ansprach: „Junger Mann, sie sehen so verloren aus! Und sie werden immer verloren sein, wenn sie nicht auf den Herrn sehen. Verloren im Leben! Verloren im Sterben“ ……. und dann hob er beschwörend die Hände, wie nur einer der ursprünglichen Bekehrungsprediger das konnte und schrie förmlich: „Junger Mann! Sieh auf Jesus Christus! Sieh ihn an, sieh ihn an … mehr musst du gar nicht unternehmen! Sieh den Herrn an und du wirst leben!“ …….
„Und da erging es mir wie damals, als die eherne Schlange aufgerichtet wurde, den Leuten, die hinsahen und geheilt wurden“, berichtete Spurgeon wieder und wieder. „Was für ein wunderbares Wort war doch dieses »Hinsehen!«. Die Augen hätte ich mir aus dem Kopf gucken wollen. Denn die Wolke war fort und ich sah das Licht.“
Spurgeon wurde der allergrößte Erweckungsprediger des 19.Jahrhunderts.
Und sein Augenblick ist bis heute die Rettung: Wenn ich Christus ansehe, dass alle leben sollen. Und wenn ich dann die Welt tatsächlich wahrnehmen kann und für ihr ganzes Leid und Elend dort die Aussicht auf Heil erkenne, … auf die größte Hoffnung aller Zeiten!
Amen
Fürbittgebet
Herr, wir blicken auf Deine Welt.
Wir sehen und erkennen Dich in den Brüdern und Schwestern Deiner Passion.
Ihre Traurigkeit und ihre Schmerzen gehören zu Dir.
Und ihre Wirklichkeit ist unsere – durch Schuld und Unterlassen.
Darum bitten wir Dich für alle Leidenden, Verfolgten, Gequälten und dem Tode Ausgelieferten
in Syrien und Palästina,
im Sudan und Libyen,
in Myanmar und Indonesien,
in unserer Zeit und unserer Nähe:
(Gemeinde – EG 190.1, 1)
O Lamm Gottes unschuldig, / am Stamm des Kreuzes geschlachtet
Allzeit erfunden geduldig, / wiewohl du warest verachtet,
all Sünd hast du getragen, sonst müßten wir verzagen.
Erbarm dich unser, o Jesu.
Herr, wir blicken auf die Menschen.
Wir sehen und erkennen Dich in den Brüdern und Schwestern Deiner Passion.
Die Verlassenen und Trauernden,
die Einsamen und Erschöpften sind es,
die Du nicht alleine lassen konntest;
für sie hast Du auf Dich geladen,
was Menschen beugt und bitter macht.
Gib, dass wir in ihnen Dir begegnen dürfen,
wenn wir nicht fortschauen, weghören, ausweichen,
sondern mitfühlen, aufnehmen und teilen,
was sie und Dich bewegt:
(Gemeinde – EG 190.1, 2)
O Lamm Gottes unschuldig, / am Stamm des Kreuzes geschlachtet
Allzeit erfunden geduldig, / wiewohl du warest verachtet,
all Sünd hast du getragen, sonst müßten wir verzagen.
Erbarm dich unser, o Jesu.
Herr, wir blicken auf uns selbst in nackter Wahrheit.
Wir sehen und erkennen Dich in den Ursachen Deiner Passion.
Unsere Selbsttäuschung, unsere Blindheit,
unsere Schuld ist aufgedeckt in Dir.
Doch weil wir sehen, dass Du sie übernommen und bewältigt hast,
darum wollen wir Dir danken
und folgen und treu sein in allem, was wir sind und was wir vermögen.
Lass uns als die Deinen durch Dich heil werden
und lass uns mit der ganzen Welt zu Deiner Erlösung, zu Deinem Frieden wirklich kommen:
(Gemeinde – EG 190.1, 3)
O Lamm Gottes unschuldig, / am Stamm des Kreuzes geschlachtet
Allzeit erfunden geduldig, / wiewohl du warest verachtet,
all Sünd hast du getragen, sonst müßten wir verzagen.
Gib deinen Frieden, o Jesu.
Der unvergleichliche englische Erweckungsprediger hat in zahllosen seiner Predigten die Geschichte seiner Bekehrung nacherzählt.
Hier im Original eine Fassung, die im Netz unter reformedcollective.com/2016/06/10/charles-spurgeon/ zu finden ist.
“I sometimes think I might have been in darkness and despair until now had it not been for the goodness of God in sending a snowstorm, one Sunday morning, while I was going to a certain place of worship. When I could go no further, I turned down a side street, and came to a little Primitive Methodist Chapel. In that chapel there may have been a dozen or fifteen people. I had heard of the Primitive Methodists, how they sang so loudly that they made people’s heads ache; but that did not matter to me. I wanted to know how I might be saved, and if they could tell me that, I did not care how much they made my head ache. The minister did not come that morning; he was snowed up, I suppose. At last, a very thin-looking man,* a shoemaker, or tailor, or something of that sort, went up into the pulpit to preach. Now, it is well that preachers should be instructed; but this man was really stupid. He was obliged to stick to his text, for the simple reason that he had little else to say. The text was,—
“LOOK UNTO ME, AND BE YE SAVED, ALL THE ENDS OF THE EARTH.”
He did not even pronounce the words rightly, but that did not matter. There was, I thought, a glimpse of hope for me in that text. The preacher began thus—”My dear friends, this is a very simple text indeed. It says, ‘Look.’ Now lookin’ don’t take a deal of pains. It ain’t liftin’ your foot or your finger; it is just, ‘Look.’ Well, a man needn’t go to College to learn to look. You may be the biggest fool, and yet you can look. A man needn’t be worth a thousand a year to be able to look. Anyone can look; even a child can look. But then the text says, ‘Look unto Me.’ Ay!” said he, in broad Essex, “many on ye are lookin’ to yourselves, but it’s no use lookin’ there. You’ll never find any comfort in yourselves. Some look to God the Father. No, look to Him by-and-by. Jesus Christ says, ‘Look unto Me.’ Some on ye say, ‘We must wait for the Spirit’s workin’.’ You have no business with that just now. Look to Christ. The text says, ‘Look unto Me.'” Then the good man followed up his text in this way:—”Look unto Me; I am sweatin’ great drops of blood. Look unto Me; I am hangin’ on the cross. Look unto Me; I am dead and buried. Look unto Me; I rise again. Look unto Me; I ascend to Heaven. Look unto Me; I am sittin’ at the Father’s right hand. O poor sinner, look unto Me! look unto Me! When he had gone to about that length, and managed to spin out ten minutes or so, he was at the end of his tether. Then he looked at me under the gallery, and I daresay, with so few present, he knew me to be a stranger. Just fixing his eyes on me, as if he knew all my heart, he said, “Young man, you look very miserable.” Well, I did; but I had not been accustomed to have remarks made from the pulpit on my personal appearance before. However, it was a good blow, struck right home. He continued, “and you always will be miserable—miserable in life, and miserable in death,—if you don’t obey my text; but if you obey now, this moment, you will be saved.” Then, lifting up his hands, he shouted, as only a Primitive Methodist could do, “Young man, look to Jesus Christ. Look! Look! Look! You have nothin’ to do but to look and live.” I saw at once the way of salvation. I know not what else he said,—I did not take much notice of it,—I was so possessed with that one thought. Like as when the brazen serpent was lifted up, the people only looked and were healed, so it was with me. I had been waiting to do fifty things, but when I heard that word, “Look!” what a charming word it seemed to me! Oh! I looked until I could almost have looked my eyes away. There and then the cloud was gone, the darkness had rolled away, and that moment I saw the sun; and I could have risen that instant, and sung with the most enthusiastic of them, of the precious blood of Christ, and the simple faith which looks alone to Him. Oh, that somebody had told me this before, “Trust Christ, and you shall be saved”
[C. H. Spurgeon, Autobiography 4 vols. (Passmore & Alabaster, 1897), 1: 105-108.].
Okuli 04.03.2018 Stadtkirche 1.Petrus 1,18-21 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Okuli - 4.III.2018
1.Petrus 1,18 – 21
Liebe Gemeinde!
Als in Kapernaum in Galiläa vor zweitausend Jahren im Haus des Fischers Jona das erste Kind geboren war, stellte sich heraus, dass hier ein männlicher Säugling den Mutterschoß „durchbrochen hatte“, wie die Bibel das formuliert.
Darum musste, als der kleine Simon dreißig Tage gelebt hatte, der alte Brauch des Auslösens vollzogen werden. Denn alle männliche Erstgeburt ist nach biblischem Gesetz „dem HERRN heilig“ (vgl.2.Mose13), d.h. alle männliche Erstgeburt gehört von Rechts wegen dem HERRN und muss von dieser bedingungslosen Gottesbindung, dieser totalen Verfallenheit an den Heiligen abgelöst werden.
Spuren eines solchen urtümlichen Empfindens, dass der Mensch über nichts, … nicht einmal über seine eigenen Nachkommen frei verfügen könne, weil ihm alles nur von Gott zukommt und er zu radikaler Dankbarkeit verpflichtet ist, … Spuren eines solchen, in graue Vorzeit zurückreichenden Gebunden- und Abhängigseins haben sich lange erhalten:
Noch kürzlich berichtete mir jemand aus einem der Dörfer vor den Düsseldorfer Stadttoren von seiner Familie. Der Vater stammte aus katholisch-kinderreicher Geschwisterschar und war – wie man es noch bis etwa um den I. Weltkrieg herum hielt – als Ältester „für Jott bestimmt“, also als Priester vorgesehen. Allerdings offenbarte sich im Laufe seiner Jugend ein echter Hinderungsgrund für das geistliche Amt: Der Junge war nämlich schlicht zu intelligent. So blieb nach längerem Zögern nichts anderes übrig, als ihn Arzt werden zu lassen. …
Interessant daran ist für uns heute nicht die beklagenswerte Vorstellung, dass erst leichte Minderbegabung eine kirchliche Berufung darstellt, sondern die uralte Erinnerung, dass wir Menschen radikal – wurzelhaft – an Gott gebunden sind.
Im jüdischen Volk ist daher der Brauch der Auslösung des ältesten Sohnes nach dem Gebot der Tora bis heute lebendig. Die israelische Nationalbank prägt auch in der Gegenwart eigene Münzen, deren Gewicht der biblischen Vorschrift genau entspricht (vgl.4.Mose3,40ff), dass fünf von ihnen zusammen 117 Gramm reinen Silbers ergeben müssen. Mit diesen Silberschekeln geht der Vater am dreißigsten Lebenstag des Knaben zu einem Nachkommen des Hohepriesters Aarons und löst das Kind aus der Verpflichtung zum gottgeweihten Priesterdienst symbolisch ab, woraufhin der Angehörige des priesterlichen Stammes dem Säugling die Münzen zurückschenkt als Grundstock für sein freies Leben.
Diese Sitte also ist auch ausgeübt worden bei der Geburt dessen, den die christliche Tradition später als den ersten Bischof von Rom, den Erzpriester der jungen Kirche betrachten sollte. Simon Petrus, aus dessen Brief an die christliche Diaspora in der heutigen Türkei, zwischen dem Schwarzen und dem Mittelmeer wir heute hören (vgl.1.Petrus1,1), … Simon Petrus wusste demnach, dass er nach dem Gesetz Gottes frei war, ausgelöst aus der heiligen Verpflichtung, ein Dankopfer zu sein, dessen Leben und Dienst dem HERRN zustand. Wenn er aber dennoch diente und ein Leben der Dankbarkeit dem HERRN gegenüber lebte, dann weil er wie jeder Erstgeborene in Israel, wie jeder Jude insgesamt die Freiheit dazu erlangt hatte und keinem Zwang mehr unterlag.
Ausgelöste leben freiwillig mit Gott!
Das ist ihr schönes Vorrecht nach dem Brauch der Väter Israels. ——
Was aber ist dann eigentlich zur Freiheit der anderen, … was ist zur Freiheit der Nachkommen anderer Vätersitten zu sagen?
Zur Freiheit der pontischen, galatischen und kappadokischen Heidenchristen, der vorderasiatischen Turkvölker, der keltischen Stämme, die dort hausten, der römischen und griechischen Besatzer und Kolonisten, aus deren verschiedenen Kulturen und Kulten die Briefempfänger des Petrus stammten, die als Getaufte seine Geschwister in Jesus Christus geworden waren?
Welchen Grund der Freiheit gibt es im Leben der Menschheit wirklich?
Wo sollte die Freiheit herstammen, wenn doch neben der Dankesschuld gegen Gott auch die Herkunft und Abstammung Menschen so festnageln, dass schon ihre Wiege ein Sarg ihrer Selbstentfaltung genannt werden muss:
Wenn Du römisches Bürgerrecht vom Vater her hast, bist Du rechtsfähig; wenn Du zu den fremden Völkern gehörst, bist Du ein Barbar.
Und das sind keine Verhältnisse der Antike allein:
- Woher soll heute die Freiheit stammen, die als Menschenrecht zwar universal begründet wird, aber den Nachkommen der Diasporagemeinde des Petrus durch Erdogan so schmählich vorenthalten wird?
- Woher soll die Freiheit kommen, die in Russland als Krankheit des Westens und in Venezuela als Trick des Kapitals betrachtet wird?
- Was sind Gestalt und Wert der Freiheit in China, das vielleicht nicht einmal weltanschaulich das Ideal des Abendlandes teilen kann?
- Wie frei aber ist der Westen selber, der sich diesseits des Meeres an seiner Freizügigkeit verhoben zu haben scheint und jenseits des Meeres zwischen Mauerphantasien, Strafzöllen und dem Recht auf Waffen zur Freiheitsverteidigung die nächste Generation, die eigenen Schulkinder zu Geiseln alten Zwangsverhaltens macht?
- … Und woher soll das Recht auf Freiheit genommen werden, das so vielen Muslimen unter Todesdrohung verwehrt wird? Wie können etwa die Kinder Persiens, die Menschen des Iran endlich frei werden, ihren Stolz und ihre Sehnsucht öffentlich Jesus Christus zu weihen, den so viele von ihnen so aufrichtig und auch so verzweifelt, so mutig und unter so schweren Opfern suchen? …….
Es ist eine peinliche Tatsache, dass wir im Westen so viel von den unveräußerlichen Freiheitsrechten des Menschen im Indikativ reden – „Jeder Mensch hat das Recht auf körperliche und geistige und soziale Freiheit“ erklären wir feierlich – … und wissen doch, dass dieses Freiheit-Haben öfter ein Nicht-Haben ist!
Was also könnten wir beitragen zur Befreiung der Unfreien? Was, außer nichtvorhandene Menschenrechte durch ihre Beschwörung zu ersetzen? —
Diese Frage ist in Israel immer schon ein Anliegen des auserwählten Volkes gewesen: Gibt es außer der Befreiung, die Israel durch den Auszug aus Ägypten erfahren hat, auch Freiheit für die Anderen? …….
Dabei zeigt der Blick zurück auf den Beginn der Befreiung in der Nacht des Passa allerdings, dass von Anfang an zwei Freiheiten für Israel unlöslich verbunden waren: Die Befreiung aus der Knechtschaft, die nach dem Aufbruch in jener atemlosen Nacht begann, … und die Befreiung vor dem Aufbruch, … die Befreiung vom Todesschicksal, die sich genau in dieser Nacht vollzog, als das Verderben über Ägypten wütete und an den Türen, die das Blut des geschlachteten Passalammes aufwiesen, vorüberging (vgl.2.Mose 12,21-24).
Befreit vom Tod und dadurch befreit zum Exodus: Das also ist die biblische Reihenfolge des Heils!
Und genau in diese Reihenfolge ordnen sich die Mission und die Botschaft der ersten Judenchristen in dieser Welt ein.
Die ersten Zeugen Christi unter allen Völkern verstanden ihren Auftrag so, dass sie allen Bewohnern der Erde, dass sie den Bürgern aller Länder, den Erben aller Vergangenheiten die Kraft im Blut des universalen Passalammes verkündigen sollten, … die Kraft, die den Tod vorübergehen macht.
Daher fängt der 1.Petrusbrief schon genau mit diesem Gruß an (1,1f):
„Petrus, ein Apostel Jesu Christi, an die auserwählten Fremdlinge, die verstreut wohnen in Pontus, Galatien Kappadokien, der Provinz Asien und Bithynien, die Gott der Vater ausersehen hat durch die Heiligung des Geistes zum Gehorsam und zur Besprengung mit dem Blut Christi: Gott gebe euch viel Gnade und Frieden!“
Das ist und bleibt tatsächlich das Erste, was „christliche Botschaft“ ist und genannt zu werden verdient: Wir sind Boten dieses Blutes, ausgesandt um die inneren und äußeren Türen und Grenzen der Menschheit mit dem Zeichen zu versehen, das Verschonung bringt und das durch diese Verschonung dazu befreit, den langen Weg in eine Zukunft anzutreten, die nicht mehr vom Gewesenen und nicht mehr von Gewalt beherrscht wird, sondern zum freien Leben führt. ——
Gerade weil wir in unserer Kirche heute allerdings eine so ausgeprägte Scheu und Verweigerung erleben, sich mit dem Tod Jesu als dem Ursprung unserer Befreiung und Erlösung zu identifizieren, ist der Blick auf die Botschaft der Apostel, die die Botschaft des Passafestes ist, so dringend wichtig: Das geschlachtete Lamm war damals kein nebensächliches letztes Mittel, sondern der ermöglichende Auslöser des Exodus.
… Ohne sein Blut niemals Freiheit!
Aus dieser grundlegenden Tatsache geht hervor, dass wir es wieder lernen müssen, den christlichen Beitrag zu den Befreiungsfragen, zur Freiheitssuche in der weltweiten Menschheit vom Kreuz Christi, von seinem Tod her zu erfassen: Die Freiheit, zu der uns Christus befreit hat (vgl.Gal.5,1), beginnt mit der Erfahrung, dass der Tod seine schreckliche Macht verloren hat. … Diese Erfahrung allerdings kann wirklich durch nichts anderes erreicht werden als das, was zwischen Karfreitag und Ostern, zwischen dem Tod des unschuldigen und unbefleckten Lammes und seiner Auferweckung und Verherrlichung geschehen ist.
Darum reicht kein vergängliches Silber und Gold, um solche Freiheit zu schaffen, … nicht einmal die Auslösungssitte Israels, die einem Neugeborenen ein Leben ohne verpflichtende Vorbelastung ermöglicht: Auch wer nicht mehr von Pflicht und Pietät und Patriarchat der Vergangenheit gebunden ist, kann ja dem kommenden Tod nichts entgegensetzen.
Das kann nur die einzigartige Gabe, die darin besteht, dass Jesus Christus sein Leben, … sein Leben, das tatsächlich immer schon, ausnahmslos, ganz und gar Gott gehörte, ganz und gar für die Menschheit freigegeben hat.
Das ist der Sinn des Kreuzestodes: Nicht eine blutrünstige, primitive Praxis des Menschenopfers, sondern die unvergleichlich großzügige Hingabe eines Lebens, das wirklich schon ehe der Grund der Welt gelegt wurde, das also ursprünglich und vollkommen die Sache Gottes, sein Eigentum, seine freie und befreiende Gabe war.
Diese uranfängliche Lebensgabe Gottes, die keine Schuld zerstören, aber auch keine Dankbarkeit abgelten kann, die mit gar nichts zu verrechnen oder zu vergleichen ist, tritt in die Weltgeschichte ein, … ganz plastisch-drastisch müsste man vielleicht wirklich sagen: „tritt“ in der Weltgeschichte „aus“, als das teure Leben Jesu Christi nicht mehr in seinem Einzelkörper eingefasst ist, sondern in seinem Blut als Gnade, als Schutz, als Segen, als sakramentale Gabe allen Menschen zufließt.
Und diese Hingabe bewirkt tatsächlich Freiheit.
Das ist keine theologische Formel, keine Predigtfloskel!
Wer das immer noch meint, hat noch nicht mitbekommen, was es bedeutet, dass Menschen – ich denke besonders an viele Männer und Frauen aus Iran – sich von keinem Abschied, keiner Unsicherheit, keiner Drohung, keinen letzten Konsequenzen mehr aufhalten lassen, sondern ihr Leben in die Hand nehmen, ihr vertrautes Dasein und unvorstellbar kostbare Bindungen verlassen, um eine neue Existenz, um eine Wiedergeburt, um wirkliche – beängstigende, beglückende! – Freiheit zu finden in der Taufe und der Zugehörigkeit zu Jesus Christus, die ihnen ehe der Grund der Welt gelegt wurde zugedacht war.
Wir haben im heutigen Evangelium (vgl.Lk9,57-62) gehört[i], wie hart ein solcher Exodus in die Freiheit der Nachfolge Jesu in Wahrheit ist: Der Blick zurück auf alles Liebgewonnene, die Bindung an Familie und Volk, die Pflichten als Kinder oder Eltern, … alles das muss man aufzugeben und zu unterlassen wagen.
… Ehe wir aber etwas Unüberlegtes sagen, prüfe jeder von uns einfach nur sich selbst, was Menschen zu so einschneidenden Wagnissen bewegen mag?
– Glauben wir, etwas von alledem wäre für uns wohl mit vergänglichem Silber oder Gold, mit materieller Entschädigung oder finanziellem Ersatz aufzuwiegen?
… Wenn etwas die Wege derer ermöglicht, die alles trotz allem zurücklassen und nach vorne blicken, weil sie die Freiheit der Christen suchen, dann ist es das Kreuz Jesu, sein Tod, der ein Leben jenseits des alten Zwangs, jenseits der vergänglichen Verluste und der unweigerlichen Angst ermöglicht.
Ein Leben, das durch Christus, das Lamm Gottes vom nichtigen Wandel der Bevormundung und Festlegung und Unselbständigkeit befreit ist und so in die Weite und in die Offenheit führt.
Diesen biblischen, diesen apostolischen Begriff der Freiheit sollten wir wieder ernst nehmen!
Das bedeutet nicht, die anderen Grundfreiheiten zu verachten, … Grundfreiheiten, von denen wir öfter reden, als dass wir sie andern Menschen wirklich anbieten oder verschaffen zu können.
Hingegen die Möglichkeit, durch Christi Blut herausgelöst zu werden aus dem alten und aufzubrechen in das neue Leben, die können wir zwar noch weniger selber herstellen und übertragen, … aber wir können und müssen diese Befreiung als das erste und wichtigste Werk Gottes durch das Lamm verstehen und bezeugen:
Denn diese Freiheit wirkt heute Veränderungen in der Weltgeschichte, sie wirkt Veränderungen in Lebensgeschichten, sie wirkt Veränderungen für alle, die sie erfahren.
Sie bewirkt, dass Menschen Glauben und Hoffnung zu Gott haben … und also Zukunft!
Zu dieser Freiheit hat uns Christus befreit.
Amen.
[i] Das Evangelium vom Ruf in die bedingungslose Nachfolge las im Gottesdienst eine Christin aus dem Iran, deren Entscheidung zur Konversion und Flucht-Erfahrungen eine ganz konkrete und ergreifende Beglaubigung des Gelesenen darstellen.
Reminiscere, 25.02.2018, Mutterhauskirche, "Das Abendmahl", Ulrike Heimann
Thema/Text : Das Abendmahl - eine Annäherung
Liebe Gemeinde,
da wir heute miteinander das Abendmahl feiern, will ich die Gelegenheit wahrnehmen und das Abendmahl selbst in den Mittelpunkt der Predigt stellen.
Jesus hat seine Jünger einmal gefragt, was die Leute so über ihn denken würden, was sie glaubten, wer er sei. Die verschiedensten Antworten sind dabei zu Tage getreten. Ebenso würde es wohl jedem und jeder ergehen, die eine Umfrage starten würde mit der Frage: „Was, glauben sie, bedeutet das Abendmahl?"
Jeder und jede hat da ihre eigenen Vorstellungen, jede und jeder verbindet andere Erwartungen und Hoffnungen mit der Feier des Abendmahls.
Einige der wohl am häufigsten anzutreffenden Gedanken möchte ich jetzt einmal benennen.
Da heißt es: das Abendmahl ist etwas Heiliges, das man gar nicht so recht begreifen kann; irgendetwas geschieht da, aber was, das weiß man nicht genau. Heilig und unheimlich - das kann für viele sehr nahe beieinander liegen. Ja, und dann muss man das Abendmahl „richtig" empfangen, denn sonst, so hat man es gelernt, „isst man es sich zum Gericht". Was aber mit „richtig" gemeint ist, darüber herrscht viel Unklarheit. Für die einen heißt „richtig" mit ernstem Gesicht, den Blick nach innen gerichtet; Lächeln, den Blickkontakt mit anderen suchen - das ist schon falsch. Für andere wieder ist es wichtig, dass man sich seiner ganzen Schuld bewusst ist. Das „Sündenbewusstsein" gehört für sie zum rechten Empfang des Abendmahls dazu. Weshalb in nicht wenigen Kirchen vor dem Abendmahl immer ein allgemeines großes Beichtgebet gesprochen wird mit Absolution.
Und immer wieder entzünden sich lange, manchmal geradezu verbissen geführte Diskussionen, wie das nun ist mit dem Leib und dem Blut Jesu Christi, ob das Brot weiter Brot ist und der Wein weiter Wein, oder ob sich da doch etwas gewandelt hat. Und ob das dann etwas mit den Einsetzungsworten zu tun hat, wenn sie gesprochen werden „Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird". Die ganzen Unklarheiten, die sich um diese Worte ranken, werden gerade dadurch offensichtlich, wenn man bedenkt, dass die populäre Zauberformel „Hokuspokus" auf die lateinischen Einsetzungsworte „Hoc est corpus meus" - „das ist mein Leib" zurückzuführen ist.
Und dann gibt es immer mehr Christen, die mit dem ganzen Abendmahl nichts mehr anfangen können, weil sie die Glaubensvorstellungen von Vergebung und Opfertod nicht teilen.
Es stehen also eine Menge Fragen im Raum, wenn das Abendmahl gefeiert wird. Ich lade Sie darum ein, zu einer Art Bestandsaufnahme aus der biblischen und frühchristlichen Tradition, was denn das Abendmahl ist, wie wir es verstehen können. Die eine Antwort, die gibt es dabei nicht. Schon die Evangelien bieten sehr unterschiedliche Deutungen an.
Ganz entscheidend ist dabei die Unterscheidung zwischen dem, was Jesus gesagt und gelebt hat - und dem, was man über ihn und von ihm später gesagt hat, welche Worte man ihm in den Mund gelegt hat. Eine Unterscheidung, die mir persönlich geholfen hat, gerne und mit einem Lächeln im Gesicht Abendmahl zu feiern.
Von Jesus erzählen die Evangelien - besonders die Synoptiker - übereinstimmend, dass er gerne in Gemeinschaft aß und Feste feierte. Immer wieder erzählte er Gleichnisse, in denen ein König, ein Hausherr zu einem großen Fest einlädt. Dass seine Gegner ihn einen Fresser und Weinsäufer schimpften, wird auch damit zusammenhängen. Aber diese gemeinsamen Fest-Mähler waren für Jesus ein gelebtes Zeichen des Anbruchs des Reiches Gottes. Dieses Reich Gottes stand allen Menschen guten Willens offen. Das war für seine Volksgenossen etwas Neues, denn eigentlich hatte ein anständiger Jude nur Tischgemeinschaft mit einem anderen anständigen Juden. Und deshalb erregte Jesus auch so enormen Anstoß damit, dass er „mit Sündern" an einem Tisch saß. „Es werden kommen von Osten und Westen, von Norden und Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes." (Lk.13,29)
Daneben feierte Jesus auch die religiösen Feste seines Volkes. In ganz besonderer Weise natürlich das Passahfest, das am Sederabend geprägt war von einem Festmahl mit ganz speziellen Ritualen. Es war dieses Mahl, das Jesus am Abend vor seiner Hinrichtung mit seinen Jüngern feierte - so jedenfalls erzählen es die synoptischen Evangelien. Dass Jesus dieses Passahmahl feierte, darf als gesichert gelten. Aber alles das, was wir in der Bibel lesen können, was er dann beim Passahmahl gesagt hat, das ist ihm in den Mund gelegt worden, das ist Deutung, mit der die Evangelisten die Bedeutung Jesu für den Glaubenden herausarbeiten wollten. Nicht mehr das, was Jesus selbst geglaubt hat, wie er gelebt hat, stand im Mittelpunkt des Interesses, sondern der Glaube an Jesus. Diese Verschiebung kann man sehr gut im Markusevangelium erkennen. „Während des Mahls nahm er das Brot und sprach den Lobpreis; dann brach er das Brot, reichte es ihnen und sagte: Nehmt, das ist mein Leib. Dann nahm er den Becher, sprach das Dankgebet, reichte ihn den Jüngern, und sie tranken alle daraus. Und er sagte zu ihnen: Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird. Amen. Ich sage euch: Ich werde nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken bis zu dem Tag, an dem ich von Neuem davon trinke im Reich Gottes." (Mk.14,22-25)
Vom „Blut des Bundes" hat Jesus nie gesprochen. Das Wort findet sich so nirgends in seiner Verkündigung. Er hat immer vom Reich Gottes gesprochen, das allen offen stand und das „mitten unter uns" ist. Hier in dieser „Rede" wird dieses Reich Gottes bereits ins Jenseits verschoben. Darüber hinaus ist es für einen jüdischen Menschen - und Jesus war Jude genauso wie Paulus und die ganze Urgemeinde - undenkbar, dass der Wein das Blut symbolisiert oder gar als Blut zu sich genommen werden soll. Denn das Blut ist der Sitz des Lebens und darf nicht angerührt werden. Aber es gab im Judentum die Tradition, dass ein Bund, ein besonderer Vertrag mit einem Opfer, mit Blut besiegelt wurde; so galt er als von Gott geschützt und geheiligt. Das galt für den Noah-Bund, für den Bund Abrahams mit Gott, für den Bundesschluss am Sinai. Und als es dann in der frühen Christenheit darum ging, die Stellung der Jesus-Anhänger, die nicht mehr nur aus dem jüdischen Volk stammten, sondern auch aus dem Heidentum, als von Gott geheiligte Gemeinschaft neben dem Judentum darzustellen, griff man auf dieses Symbol des Bundesschlusses zurück, sprach man vom neuen Bund, den Jesus mit seinen Jüngern schloss. Jesus reicht den Kelch als verbindendes Bundeszeichen in die Runde seiner Jünger und besiegelt diesen Bund „mit seinem Blut"; sein Tod am Kreuz ist diese Besiegelung, so hat es die Gemeinde, für die Markus sein Evangelium schrieb, verstanden.
Die biblischen Überlieferungen vom „letzten Abendmahl" sind eben keine Reportagen, Berichte. Vielmehr spiegeln sie die Veränderungen der Mahlfeiern in den frühen Jesusgemeinden und das immer weitergehende Nachdenken über Jesus und sein Schicksal wider, welchen Sinn sein Tod gehabt haben kann. So schreibt Paulus an die Gemeinde in Korinth von einer Abendmahlspraxis, die er selbst wohl so in der Gemeinde in Antiochia kennengelernt hat: „Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis! Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sprach: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut. Tut dies, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis! Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt." (1.Kor.11,23-26)
Zentral ist hier das „Tut dies zu meinem Gedächtnis". Erinnert euch an die Gemeinschaft, die Jesus mit seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern verband, eine Lebensgemeinschaft, für die Jesus alles einsetzte - mein Leib für euch. Und diese Gemeinschaft wird auch durch den Tod Jesu nicht in Frage gestellt, denn er ist der kommende.
In diesen Einsetzungsworten ist noch keine Rede von Sündenvergebung durch das Vergießen des Blutes. Diese Gedanken tauchen erst später bei Matthäus und Lukas auf. Dass diese dann im Laufe der Geschichte fast alle anderen Gedanken verdrängt haben, ist nicht nur bedenklich, sondern hat großen Schaden angerichtet, zum Beispiel ein ganz verqueres Gottesbild entstehen lassen, dass Gott seine Vergebung abhängig gemacht hat davon, dass Jesus für uns gestorben ist, sein Blut vergossen hat.
Doch neben diesen Schilderungen frühchristlicher Mahlfeiern gibt es andere, die sich deutlich davon unterscheiden. Weder knüpfen sie an den Tod Jesu an, noch verstehen sie das Abendmahl als Einsetzung eines Gedächtnisses. Die „Zwölfapostellehre", die im palästinischen Raum vor den Evangelien um etwa 60 n.Chr. entstand, beschreibt ein richtiges Mahl mit Brot und Wein. Der mit diesem Mahl verbundene Dank an Gott gab der Feier den Namen: „Eucharistie" - Danksagung. Ich lese aus dem 9. und 10.Kapitel der „Didache"/Zwölfapostellehre: „Nun einige Worte über die Eucharistiefeier. So sollt ihr Dank sagen: Zuerst über den Becher: Wir danken dir, unser Vater, für den Messias. Er ist der heilige Weinstock aus König Davids Geschlecht. In Jesus, der dir gehorcht, hast du ihn uns geoffenbart. Denn dein ist die Herrlichkeit für immer.
Dann über das geteilte Brot: Wir danken dir, unser Vater, für das Leben und die Erkenntnis, die du uns offenbart hast durch Jesus ... Die Körner dieses Brotes wuchsen, jedes für sich, auf den Höhen heran. Erst durch das Sammeln wurden sie ein Leib. Ebenso sammle deine Kirche aus allen Gegenden der Erde, dass sie eins werde in deinem Reich. Wir loben dich: Dein ist alle Herrlichkeit und Macht. Und Jesus bringe dieses Lob vor dich für allezeit.
Nach dem Sättigungsmahl sollt ihr so Dank sagen: Wir danken dir, heiliger Vater, denn du selbst, dein heiliger Name, wohnt jetzt in unseren Herzen. Wir danken dir, weil du uns durch Jesus ... Erkenntnis, Glaube und Unsterblichkeit hast schmecken lassen."
Es wird nicht an ein letztes Abendmahl erinnert, vielmehr wird die Praxis Jesu, der seine Tisch- und Festmahlgemeinschaften als Reich-Gottes-Symbol hielt, lebendig gehalten.
Das Reich Gottes, das mitten unter uns und in uns Wirklichkeit werden will. Eine Lebenswirklichkeit, die nicht erst nach dem Tod auf uns wartet, sondern die Zeit und Ewigkeit durchdringt. Wie der Evangelist Johannes es Jesus sagen lässt: wer dieser Botschaft vertraut, ihr glaubt, der wird nicht sterben - der ist bereits vom Tod ins Leben auferstanden.
Es ist auffällig, dass das Johannesevangelium, dem die Passionserzählung des Markusevangeliums bekannt war, die Szene vom letzten Mahl Jesu, das seinen Tod deutet, ganz streicht. Johannes gibt dem Mahl einen völlig anderen Sinn als der Apostel Paulus und die Synoptiker. Bei ihm wird in den Kapiteln 13 bis 17 von einem Abschiedsmahl gesprochen, das aber keine symbolische Gedächtnisfeier ist. Statt des Essens steht die Fußwaschung im Mittelpunkt als ein „Beispiel", „damit ihr tut, wie ich euch getan habe." (Joh.13,15) Wie auch kein Bund geschlossen wird, sondern eine Weisung weitergegeben wird: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe." Die Liebe Gottes, die Jesus den Menschen vermittelt hat, lässt sich nicht erinnern, sondern sie muss weitergegeben werden - in Wort und Tat. Sie will nicht rituell gefeiert, sondern mit Herzen, Mund und Händen gelebt werden.
Ich gebe gerne zu, liebe Gemeinde, dass für mich beim Abendmahl die Gedanken an Vergebung durch den Kreuzestod Jesu, alle Vorstellungen von Opfer keine Rolle mehr spielen. Für mich ist wichtig, was Jesus gesagt und getan, wie er gelebt hat; ihm möchte ich nachfolgen. Wie er möchte ich bedingungslose Liebe leben, in der Hoffnung, dass ich solche Liebe auch durchhalte, wenn es eng wird. Jesus hat durchgehalten, ist nicht vor Gewalt und Tod zurückgewichen. Sein Beispiel ist mir Verpflichtung und macht mir Mut.
Gemeinschaft, Stärkung und Hoffnung - das sind die Gesichtspunkte, die mir beim Abendmahl wichtig sind.
Gemeinschaft mit Gott, der unser Gastgeber ist.
Jeder, der sich einladen lässt, ist eingeladen.
Es ist nicht an uns, irgendeinen auszuschließen.
Gemeinschaft untereinander. Wer Brot und Wein miteinander teilt, muss auch bereit sein, alle anderen Lebensgüter miteinander zu teilen, zum Wohl aller einzusetzen.
Gemeinschaft der Verschiedenen. Jeder und jede darf so sein, wie er, wie sie ist.
Das Abendmahl ist für mich Wegzehrung, Stärkungsmahl auf meinem Lebensweg. Ich bin mit vielen anderen unterwegs und setze mich dafür ein, dass das Reich Gottes, von dem Jesus gesprochen hat, unter uns wächst, dass Gerechtigkeit, Liebe und Barmherzigkeit sich immer mehr auf dieser Erde auswirken und sich so Frieden ausbreitet.
Auf diesem Weg sind uns viele vorangegangen, deren Leben sich vollendet hat. In der Liebe Gottes sind wir bleibend mit ihnen verbunden - gerade auch beim Abendmahl. Und ich habe die Hoffnung, dass wir alle einmal beim endzeitlichen Festmahl zusammenkommen werden, wenn das Reich Gottes zur Vollendung gekommen ist, alle Zeit in der Ewigkeit aufgehoben ist.
Abendmahl ist Eucharistie: wir danken Gott, der uns geschaffen hat und uns erhält, wir danken ihm für seine Liebe, die uns immer wieder einen neuen Anfang schenkt, wir danken ihm für das Beispiel, das Jesus uns gegeben hat, wir danken ihm dafür, dass sein Geist unter uns und in uns wirksam ist.
Wenn wir Brot und Wein miteinander teilen, dann verwandeln sich da nicht die Elemente, sondern da sollen wir verwandelt werden, unser Denken, Reden und Tun, unsere Herzen und Hände.
Und „richtig" feiert die Eucharistie, der dafür offen ist, der um diese Erneuerung, diese Wandlung seines Wesens bittet.
Liebe Gemeinde, wenn wir gleich miteinander „Eucharistie" feiern, dann stehe ich vor dem Problem, dass unsere Gottesdienstordnung eben durch und durch vom Opfer- und Sündenvergebungsgedanken beim Abendmahl geprägt ist, dass es sich um das Gedächtnismahl an das letzte Abendmahl handelt, das Kreuz des Karfreitags präsenter ist als alle Jesusmähler und als das Licht des Ostermorgens. Aus dieser Prägung der Liturgie kommt man kaum raus.
Aber es ist doch auch anderes möglich. Deshalb möchte ich heute mit Ihnen Eucharistie feiern mit den Einsetzungsworten aus der ältesten christlichen Überlieferung, aus der Zwölfapostellehre.
Denn auf jeden Fall gilt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen."
Jesus ist gegenwärtig in und unter uns, in und unter Brot und Wein.
Da sind wir mit ihm verbunden und miteinander.
Wenn das kein Grund ist, zu danken und Eucharistie zu feiern.
Amen.
Das Abendmahl (die unterschiedlichen Einsetzungsworte)
Während des Mahls nahm er das Brot und sprach den Lobpreis; dann brach er das Brot, reichte es ihnen und sagte: „Nehmt, das ist mein Leib." Dann nahm er den Becher, sprach das Dankgebet, reichte ihn den Jüngern, und sie tranken alle daraus. Und er sagte zu ihnen: „Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird. Amen. Ich sage euch: Ich werde nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken bis zu dem Tag, an dem ich von neuem davon trinke im Reich Gottes." (Mk.14,22-25)
„Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis! Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sprach: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut. Tut dies, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis! Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt." (1.Kor.11,23-26)
Als sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach's und gab's den Jüngern und sprach: „Nehmet, esset; das ist mein Leib."
Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: „Trinket alle daraus; das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.
Ich sage euch: Ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken bis an den Tag, an dem ich von neuem davon trinken werde mit euch in meines Vaters Reich." (Mt.26,26-29)
Nun einige Worte über die Eucharistiefeier. So sollt ihr Dank sagen: Zuerst über den Becher: „Wir danken dir, unser Vater, für den Messias. Er ist der heilige Weinstock aus König Davids Geschlecht. In Jesus, der dir gehorcht, hast du ihn uns geoffenbart. Denn dein ist die Herrlichkeit für immer."
Dann über das geteilte Brot: „Wir danken dir, unser Vater, für das Leben und die Erkenntnis, die du uns offenbart hast durch Jesus ... Die Körner dieses Brotes wuchsen, jedes für sich, auf den Höhen heran. Erst durch das Sammeln wurden sie ein Leib. Ebenso sammle deine Kirche aus allen Gegenden der Erde, dass sie eins werde in deinem Reich. Wir loben dich: Dein ist alle Herrlichkeit und Macht. Und Jesus bringe dieses Lob vor dich für allezeit."
Nach dem Sättigungsmahl sollt ihr so Dank sagen: „Wir danken dir, heiliger Vater, denn du selbst, dein heiliger Name, wohnt jetzt in unseren Herzen. Wir danken dir, weil du uns durch Jesus ... Erkenntnis, Glaube und Unsterblichkeit hast schmecken lassen."
(Didache/Zwölfapostellehre 9.-10.Kapitel)
Reminiscere 25.02.2018 Stadtkirche Jesaja 5,1-7 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reminiscere - 25.II.2018
Jesaja 5, 1 – 7
Liebe Gemeinde!
Von Jesaja, dem größten der Schriftpropheten steht den Meisten hier womöglich vor allem ein Bild vor Augen: Wie er im Tempel von Jerusalem, den heiligsten Quadratmetern der biblischen Erde in einer kolossalen Vision berufen wird. Obwohl er nur den untersten Saum des Gewandes Gottes dort am Heiligtum wahrnimmt, erschaudert er doch, weil er den Hymnus der Seraphim, der rein aus Lobgesang bestehenden, körperlosen Himmelswesen hören darf.
„Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth“: So rauscht die Anbetung der sechsflügeligen Engelschöre durch alle Sphären und klingt in den Gottesdiensten der Synagoge und der Kirche in Ost und West ununterbrochen bis heute fort, immer dann, wenn das tiefste Geheimnis – für uns die Gegenwart des Herrn im Abendmahl – die Sterblichen bewegt.
Und dieser unsichtbare, überwältigend heilige Gott sucht einen irdischen Boten – so erfährt Jesaja es damals, im Jahr 736 vor Christi Geburt bei seiner Berufungserfahrung im Tempel –, dieser HERR Zebaoth sucht einen Boten, als den Jesaja sich voll todesnaher Scheu anbietet. Ehe er aber von Gottes Heiligkeit wird mit schwachen, unreinen Menschenworten reden können, muss sein Mund mit einer glühenden Kohle gereinigt werden, um seine Schuld von ihm zu nehmen und seine Sünde zu sühnen.——
Was ist das aber für ein heiliger, schrecklicher, …den Menschen suchender, …heimsuchender Gott, dieser HERR Zebaoth, in dessen Dienst der Prophet nach dieser berühmten Schilderung des 6.Kapitels berufen wird? ——
Wir fragen danach nicht etwa, weil wir den unausrottbaren, selbstmörderischen Abweg fortsetzen wollen, der in der Christenheit immer noch zwischen dem Gott des Alten und dem Gott des Neuen Testaments zu unterscheiden versucht.
… Wer die dem Menschen gefährliche Heiligkeit Gottes für eine veraltete, von Christus überwundene Erscheinung halten sollte, muss nur einmal das Neue Testament, muss nur einmal das heutige Evangelium (Mk12, 1-12) lesen: Der Menschensohn in seiner Herrlichkeit auf dem Thron, vor dessen Richterstuhl wir alle offenbar werden müssen, ist nicht minder ehrfurchtgebietend als sein Vater, der Heilige Israels!
Und dennoch darf und muss man fragen, was für eine erschütternde Heiligkeit den biblischen Gott ausmacht, der uns in Jesaja 6 begegnet, wenn wir zuvor doch Jesaja 5 lesen.
Denn genau vor dem Kapitel, in dem der unnahbar Erhabene einen Boten sucht, begegnen uns der selbe Gott und der gleiche Bote in ganz anderen Rollen:
In unserem heutigen Jesaja-Abschnitt - dem Weinberg-Lied -, da tritt der Prophet nämlich auf wie ein Troubadour, wie ein Bänkelsänger, der auf dem Marktplatz eine Romanze leiert, um dem Publikum etwas zum Mitfühlen und Nachdenken zu geben.
… Dass das Lied, das der Prophet im Namen seines Freundes anstimmt, nämlich ein Lied von der Liebe – tatsächlich: ein Lied von einem Liebesfiasko – ist, das geht aus vielen anderen biblischen und orientalischen Beispielen hervor. Der Weinberg ist für die Alten das gewesen, was für uns die Rosen oder Champagner mit Austern sind: Eindeutig romantische, sinnliche und erotische Bilder, deren verführerische Schilderung anzügliche Nebentöne erklingen lässt. Wer ein Lied „von seinem Freund und dessen Weinberg“ trällert oder pfeift, darf also mit vielsagendem Grinsen und neugieriger Aufmerksamkeit rechnen. ……. „Was hat dein Freund denn für Schäferstündchen im Weinberg genossen? Welchen ekstatischen Rausch hat der fruchtbare Weinstock deinem Freund denn verschafft?“
Und die Leute recken die Hälse und spitzen die Ohren, wenn jetzt ein Gassenhauer kommt, der wie das damals so bekannte Hohe Lied Salomos nicht viel Schönes verschweigt, in dem es heißt (7,9+13): „Lass deine Brüste sein wie Trauben am Weinstock. … Wir wollen früh aufbrechen zu den Weinbergen und sehen, ob der Weinstock sproßt und seine Blüten aufgehen. … Da will ich dir meine Liebe schenken“
– Jetzt wird’s zünftig, meinen also die Leute.
Und Jesaja nimmt sich wahrhaftig auch gewagte, ja ungeheuerliche Freiheiten heraus, indem er um der wirkungsvollen Erotik-Fiktion willen Gott schlicht als „seinen Freund“ ankündigt, dessen denkwürdige Amouren er besingen wird. …….
… Aber zünftig wird’s nicht und auch nicht zotig. … Sondern zornig – und ein Desaster.
Die romantische Liebesgeschichte geht gnadenlos schief.
Denn derjenige, der alles für die Liebe getan hat, der den Weinberg bestellt und verwöhnt hat, der die sichersten Vorbereitungen für ein glückliches Rendezvous, für Früchte der Liebe getroffen hat, … der wird so eiskalt enttäuscht und bloßgestellt, der blitzt so saudumm ab und steht so bemitleidenswert „ohne“ da, dass es schon wieder ein Publikumserfolg sein müsste, einen so begossenen Liebhaber, einen Hahnrei, wie man früher sagte, eine gehörnte Witzfigur statt eines galanten Helden als das Ende vom Lied zu erleben. …
Doch wer an diesem Ende des Liedes zuletzt lacht, lacht nicht am besten.
Denn der Prophet, der so unverschämt vertraulich von Gott wie von seinem Freund sprach, … so direkt, wie fast kein anderer Zeuge zuvor oder danach, ……. der bleibt auch so direkt, so ohne Schnörkel.
Denn er sagt dem verdutzten Publikum … dem verdutzten Publikum hier:
Ihr seid der Weinberg!
Ihr seid’s, an denen die Liebe meines Freundes scheitert!
Ihr seid die Enttäuschung Gottes! ——
Darüber nämlich werden wir uns wohl keine Illusionen machen: Wenn die Heiligkeit Gottes keine alttestamentliche Besonderheit ist und Gottes Liebe hoffentlich auch nicht, dann gilt das natürlich genauso für Gottes Zorn! Sich auf Gottes Zorn einen bloß historischen Reim zu machen, so als bliebe es immer bloß bei der Selbstauslegung des Propheten, der seinen ersten Zuhörern erklären musste: „Des HERRN Zebaoth Weinberg ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing“, … das wäre nur möglich, wenn wir damit die ganze Bibel als gestrig und erloschen verstehen wollten.
Wenn sie aber Aktualität besitzen sollte, wenn sie noch brennen kann, dann ist eine historische Erklärung der Gerichtsprophetie, mit der Jesaja lediglich seine Zeitgenossen vor dem ethischen Zusammenbruch warnen wollte, nichtssagend, … dann sagt uns das kuriose Lied von Gottes zerbrochener Hoffnung vielmehr nämlich etwas Tragisches: Weil Gott liebt, darum ist er in der schrecklichen Lage jederzeit – und darum auch heute! – verraten und enttäuscht zu werden … und entsprechend auch heute zornig!
Der Zorn des Weinbergbesitzers allerdings, … der Zorn der unerwiderten Hoffnung und Liebe Gottes: das ist sicherlich etwas, das wir in seiner Bitterkeit und Härte – Verwüsten und Einreißen, Zertreten und Verschmachten-Lassen – in unseren verbliebenen Gottesahnungen kaum mehr unterbringen können. Was wir von Gott noch denken und uns vorstellen können, ist meistens ja von der harmlos-reibungslosen Qualität funktionierender Wohlfahrtseinrichtungen: Eine gesichtslose, anonyme, letztlich aber hilfreiche Ausgleichsinstanz, die im Falle eines Falles für unbürokratische Unterstützung für jedermann und erträgliche Lebensverhältnisse für die Angewiesenen sorgt. Ob dieses Sozialamt, dieses Gericht, dieser Kummerkasten der Nation allerdings ein Eigenleben, ein emotionales Innenleben haben: Wer weiß? Und wen kümmert’s? – Sie sollen schließlich einfach Gutes tun und Fairness herstellen. …….
Doch so ist Gott nicht.
Denn Er ist der Vater der verhungernden Kinder im Jemen.
Er ist der Bruder im Leiden der Erstickenden und Verschütteten im Feuersturm von Ost-Ghouta.
Er ist der Schöpfer der Rohingya, in deren Mitte Er unerkannt aus ihrer angezündeten Heimat flieht und ausgestoßen zusammen mit ihnen auf dem Meer umherirrt.
Gott liebt diejenigen, die noch heute – dreieinhalb Jahrtausende nach dem Exodus – in Sklaverei gehalten werden.
Gott liebt diejenigen, die in den verpesteten und überquellenden Kloaken dieser Welt Trinkwasser schöpfen, … die in den neuen Wüsten des Amazonas Verlierer des Spiels „Bodenschätze oder Völkermord“ werden, … er liebt die Milliarden, die überflüssig sind in der Welt der Wenigen.
Gott teilt die Armut derer, die nicht innerhalb unserer Illusion, sondern draußen in der Wirklichkeit hausen. Deren tausend Sorgen treffen Gott. Gott weint ihre Tränen. Gott nimmt ihre Seite ein. Gott – weil Er zu ihnen gehört, so wie sie zu Ihm – spürt ihre Wut.
Und daher kommt Sein Zorn.
Weil Er nicht unsere Welt sieht wie wir, sondern die ganze Welt … mit den Augen aller Menschen.
Und die ganze, die wirkliche Welt ist zum glühend Zornigwerden!
Was wir in den letzten Wochen als Verdruss, als Ermüdung und Lähmung und Ratlosigkeit bei uns als Zeitgenossen, bei den zögerlichen Verantwortlichen und gerade auch bei den rasch Unverantwortlichen in der Welt festgestellt haben, dieses Verzweifeln an den Kriegen und dem Morden, am Lauffeuer des Hasses, an der sprießenden Saat der rohen Hetze und nackten Dummheit, an der Taubheit, Blindheit, Sturheit, Falschheit ganzer Menschenmassen: Das trifft und steigert sich in Gottes allen Menschen nahem Innersten zu leidenschaftlichem Zorn!
Aus dem einen, schlichten, fundamentalen Grund, den der Prophet Jesaja bei seinem voyeuristischen, indiskreten Lied von Gottes schmerzhafter Gefühls-, also Liebesverletzung in einen griffigen, unmissverständlichen Reim gegossen hat, den alle Übersetzungen widerzugeben versuchen:
„Ich suchte Recht und es war schlecht;
ich suchte Treu und fand Geschrei“.
Da nutzt er immer noch den Ton des Bänkelsängers, des volkstümlichen Unterhalters … aber das Lachen bleibt im Halse stecken – eben weil der Reim und seine Wahrheit sofort „sitzen“.
Gott, der die Menschheit liebt und sich um sie müht – um die jüdische und christliche Gemeinschaft, um die ganze von ihm gepflanzte und gehegte Nachkommenschaft Adams – Gott, der Freund der Menschen und der Liebhaber ihres Lebens (vgl. Weisheit Salomos 11,26[i]) kocht vor Zorn über uns! Ja, über uns, an denen – wie Jesaja sagt – „sein Herz hing“: Da hören wir es ja wohl, dass Sein Zorn keine ferne Erinnerung an irgendwen, sondern ein unmittelbares Attribut, eine Herzenssache, eine Folge und Frucht seiner Liebe und unserer Lieblosigkeit ist!
Wäre der Mensch für Gott bloß das, was für uns ein Insekt ist – kaum wahrgenommenes Leben in seiner niederen Sphäre …, dann wäre hier gewiss nicht von allen diesen großen Gefühlen die Rede: Nicht von der Leidenschaft der Liebe und nicht von ihrer Kehrseite, dem leidenschaftlichen Zorn. … Meinen Kindern sage ich es nie anders: Wenn ihr mir gleichgültiger wäret, würdet ihr mich nicht so wütend in Wallung bringen. Die mir egal sind, die berühren mich nicht, über die kann ich mich nicht erregen. …….
Aber dass der von Ihm angelegte und gehegte Weinberg, dass Seine Kinder, Seine Geliebten, sich nicht entwickeln wollen, sondern wild und sinnlos bleiben, … dass die Welt heute so trost- und rechtlos ist, wie wir sie erleben: Kann das Gott etwa gleichgültig sein? Kann Ihn das ungerührt lassen? …….
Nie und nimmer!
Denn Sein Zorn ist Seine Weltverbundenheit.
Gottes Zorn zeigt Seine Menschennähe.
Der zornige Gott ist unser Gott! … Er geht uns an, weil wir Ihm als Menschen, als Juden, als Christen so nahestehen, … – so kindlich, so geliebt nahestehen – , dass unsere Verweigerung Ihn zerreißt, dass Er Seine Traurigkeit, Seine Frustration darüber, … Seine peinlichsten, schmerzhaftesten, unvorteilhaftesten, Seine unerträglichsten Gefühle mitteilen muss.
Er unterdrückt sie nicht.
Er verschweigt sie nicht.
Stattdessen lässt Er uns durch seinen Bänkelsänger-Propheten mit der Ballade von der Wut des Verschmähten in Sein Innerstes sehen. …....
Und das alles – wohlgemerkt! – ehe es bei der Berufung des Jesaja um die Hoheit und Heiligkeit des HERRN Zebaoth geht.
Zuerst soll und darf man Seine Schwäche erblicken, … Seine Schwäche für die Menschen, Seine frustrierte Werbung und Sein vergebliches Wirken für sie. ——
Was also ist das für ein Gott, Der sich so betrüben, so beleidigen lässt?
Was ist das für ein Gott, Der sich so kränken und täuschen lassen kann, wie Dieser?
Es ist der Gott ohne dessen Liebe und Zorn nichts wäre: Keine vollkommene Schöpfung und erst recht keine unvollkommene Menschheit. Denn dass Er so zornig über sie werden kann, dass sie Ihm so zu schaffen macht und so zu leiden gibt: Das ist ja schon der entscheidende Schritt auf dem bedingungslosen Weg Gottes hinein in’s Menschliche, in’s Menschsein, … zu dem Misslingen und Verderben und Scheitern nun einmal gehören.
Ein anderer Gott hätte die Mutwilligen zerstört.
Unser Gott dagegen lässt davon singen, wie unglücklich sie ihn machen.
Darum hat der Heilige, der vor aller Seiner Erhabenheit Seine Abhängigkeit und Erniedrigung in der mehr als menschlichen Wutballade öffentlich machen ließ, an Jesaja, der das wagte, auch den richtigen Boten gefunden.
Der heilige Gott Jesajas, der an Seiner Liebe zu den Menschen leidet: Das also ist unser Gott!
Und darum ist es unsere Sache, ob wir Ihn – der doch genug gelitten hat in Seinem Weinberg, … in der Kelter, … am Kreuz – ……. unsere Sache ist es, ob wir Ihn weiter und weiter leiden lassen, oder ob Er an uns Früchte der Gerechtigkeit und des Rechtes finden wird, … Früchte, die Seinem Zorn, Seiner Liebe Ehre machen.
Amen.
[i] In Luthers Übersetzung dieses apokryphen Buches stand bis 1912 an dieser Stelle die später besonders in ökotheologischen Kreisen beliebte Formulierung vom „Liebhaber des Lebens“. Wegen zu deftiger und treffender Anklänge ist die herrliche Formulierung inzwischen dem deutlich weniger fulminanten „Freund“ gewichen.
Invokavit 18.02.2018 Stadt- und Mutterhauskirche 2.Korinther 6, 1 - 10 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Invokavit - 18.II.2018
2.Korinther 6, 1- 10
Liebe Gemeinde!
Ein Tunnel liegt vor uns. Zumindest ein trostlos erscheinendes Stück Weg, … kahl und grau. Das Gloria und das Halleluja, der Weihnachts- und der Osterton sind abgestellt. Die Wurst ist weg, der Wein ist weg, der Zucker und die Schokolade fehlen, das Fettgebackene wird hart und trocken, die Eier sammeln sich, bis man sie färbt. Sechsmal sechs und vorher einmal vier Wochentage ohne die gewohnte Allzureichlichkeit an Kalorien und Geschmack, und dazwischen sechs Sonntage, an denen traditionell auch nicht getauft oder sonstwie fröhlich gefeiert, … gar getanzt wurde. …….
Öde Strecke, … falls man sie überhaupt einschlägt.
Die meisten Kalender kennen die Landschaftsbezeichnung für diese Fastentundra, diese Passionssteppe gar nicht mehr. In ihnen geht der Weg nur geschäftsmäßig durch den nachnärrischen Februar und den ferienlosen März bis zum nächsten Tag des Ulks am 1.April[i].
Aber vor uns liegt das kahle, schmucklose Plateau der Leidensgeschichte, das sich in der reizlos kargen Ebene der vierzig Fastentage ankündigt.
Zähe Strecke, … lang und lästig.
Und nun steht – wie ein letzter Grüß-August mit Pappnas’ – auch noch einer am Eingang zu den sechs sauren Wochen ohne Süßes und kräht: „Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils!“
……. Ausgerechnet wenn andere ihr morgendliches Kaffein und ihr abendliches Viertele Trollinger aufgeben und Amüsement oder Laster ruhen lassen und also wohl noch brummiger als sonst sind, lädt Paulus auf den schmalen Weg des Verzichts mit derart ironischen Werbesprüchen ein! … „Zeit der Gnade, Zeit des Heils…“ ……. Sehr komisch! Zeit der spaßbefreiten Spielverderber wohl eher!
– Was soll eigentlich ein so schräger Werbespruch, ein so verqueres Motto?
Ist Buße denn Gnade? Ist Leiden denn Heil? Wie kommt man überhaupt auf eine so dämliche Idee, Schönes und Gutes in Aussicht zu stellen und dafür dann mit Meldungen von „Trübsal, Not und Ängsten, von Schlägen, Gefängnis, Verfolgungen, von Mühen, Wachen und Fasten“ die Trommel zu rühren? … Man muss doch locken und nicht abstoßen! Man muss doch Appetit erregen und nicht Verdruss!
Wen will man denn packen mit so sinnlosen Verdrehungen wie „Heil im Leid“? Niemand sonst plakatiert doch: „Wohlfühlen im Weh! Chic im Schmuddel! Fit im Fett! Frisch in Runzeln!“ …….
Ist dann aber der Auftakt zur Passionszeit nicht völlig misslungen, wenn bei uns eine derart irreführende Parole drüber steht: „Sterbende, und siehe wir leben! Gezüchtigt und doch nicht getötet! Arm, aber reich für die Vielen!“
… Das versteht ja kein Mensch. Das hat nichts mit dem Leben halbwegs gewöhnlicher Leute zu tun. … Und wenn es uns nicht angeht, wenn es nicht um unser Leben geht oder wenigstens von unserm Leben handelt, dann kann’s nicht von Interesse sein.
So ungefähr schütteln angeblich manche Predigthörer einen fremden Bibeltext von sich ab. Und noch stumpfsinniger urteilen tatsächlich oft die, die das Predigen lehren und formen sollen, oder wir, die wir es immer wieder tun. In Universität und Seminar und Pfarrkonvent heißt es regelmäßig: „Man muss die Leute abholen. Man muss mit den Hörenden über ihr Leben sprechen. Alles andere verstehen sie nicht und wollen’s auch nicht kennenlernen.“
Doch zum Glück ist diese sträfliche Unterschätzung der Menschen, diese lästerliche und langweilige Eingrenzung der Fähigkeit zum Mitdenken und zum Mitfühlen inzwischen von unverdächtiger Seite ausgehebelt worden:
Wer immer noch meint, die Menschheit interessiere sich nur für sich selbst, der kennt das Internet noch nicht. Denn was es sonst auch leisten oder zerstören mag: Das Internet ist der Beweis dafür, dass es eine grenzenlose – mal heilsame, mal krankhafte – Bereitschaft gibt, sich mit der Lebensweise und den Lebenswegen anderer Menschen zu beschäftigen. Das kann zweifelhafter Neugier entspringen, aber auch der Wahrnehmung bisher ungeahnter Möglichkeiten: Alle die manchmal aufrichtigen, manchmal oberflächlichen Einblicke in fremde Erfahrungen und fremdes Denken, die dort aufgeblättert und aufbewahrt werden, alle die ausführlichen Erkenntnisse und Einsichten, die dort geteilt und die unbedachten Ansichten und Anblicke, die dort in die Welt geschossen werden, zeigen miteinander ja eindrucksvoll, dass Menschen wahrhaftig nicht bloß für ihre eigenen Belange, sondern auch für die inneren und äußeren Lebensumstände anderer aufgeschlossen sein können.
Seit es also das Internet und die tausend Kommunikationsformen, die Blogs und Gruppen und die offenen Diskussionen und die Flut der Bilder und die kurzen Wege der Einbindung fremder Erdbewohner in allernächste Anliegen gibt, kann man die Menschheit nicht mehr ernsthaft für so beschränkt erklären, dass sie nur das Eigene und Bekannte bewege.
… Das sage ich wohlwissend um die verbohrten Verschwörungstheoretiker, die hasserfüllte Gesinnungsmafia und die verbrecherische Dunkelwelt des tausendarmigen Austauschkrakens, den wir gezüchtet haben. Doch die Probe ist eben nicht nur negativ erbracht. Sondern das Licht steht auf dem Leuchter: Menschen können und wollen lernen und begreifen, was ihresgleichen die Köpfe und die Herzen erfüllt!
Und dabei sind wir als Christen von altersher im Vorteil:
Uns ist der Austausch, der Kontakt über große räumliche und zeitliche Entfernungen hinweg, das gegenseitige Anteilnehmen in einer weltweiten Verbindung von den ersten Tagen her mitgegeben. Das älteste geistige Geflecht, das Menschen aus allen Himmelsrichtungen dauerhaft miteinander verwoben hat, heißt Kirche.
Und weil in der Kirche Jesu Christi eben alle in einer Kommunikation – das christliche Wort dafür ist in einer „Communio“, also in der „Gemeinschaft der Heiligen“ – stehen, darum muss alles, was bei uns über Menschen und Menschenleben gesagt wird, tatsächlich immer auch mit seinem Gegenteil zusammengehen können.
Es muss – um den weltweiten und allumfassenden Zusammenhang der Christenheit auszudrücken – tatsächlich von Lachen im Leid und vom Schmerz in der Freude die Rede sein, es muss von Hunger in Sattheit und Leben im Tod die Rede sein, weil in der Gesamtheit der Kirche beides stets gleichzeitig und parallel wahr ist: Während die einen es schwer haben, gedeihen die andern; während ein Teil der Kirche jubelt über Gott, unsern Retter, tragen andere Mitgetaufte das Kreuz des Herrn und teilen seine Passion. … Zur selben Zeit gibt es Christen wie uns, die vor lauter anderem Glück das Glück des Christseins beinah verloren haben und Christen im tiefsten Leid, die ohne ihr Christentum völlig verloren wären.
Nun ist aber kaum eine andere Zeit des Jahres so dafür geeignet und geheiligt wie die jetzt begonnenen vierzig ernsten Tage, dass wir uns bis in’s Körperliche hinein die Wirklichkeit, die wir nicht kennen und nicht ständig aushalten müssen, vergegenwärtigen!
Wenn wir fasten oder geistlich ernste Einkehr halten in der Passionszeit, dann ist der letzte Grund dafür unsere Psychohygiene oder unsere Darmentschlackung und der vorletzte Grund ist eine Spiegelung des Leidens Christi in unserm eigenen Seelen- und Stoffwechselhaushalt, denn der eine und eigentliche Grund ist die erlebte und erprobte Wahrheit, dass wir in eine Gemeinschaft gehören, deren Dasein oft, wenn nicht gar immer von Trübsal, Not und Ängsten, von Schlägen, Gefangenschaft, Verfolgung, Mühe, Folter und Fasten bestimmt ist.
Diese uns ferne Wirklichkeit – aber eben: Wirklichkeit! – des Leidens, die wir meditieren und symbolisch teilen, ist die Wirklichkeit der überwältigenden Mehrheit unserer Menschengeschwister:
Sie vegetieren in aussichtsloser Armut.
Sie träumen quälende Träume von der sorglos reichen, freien Welt, die wir bewohnen, und ihr Leben wird dadurch noch grauer.
Sie verlieren ihre Kinder durch Hunger und frühen Tod.
Sie werden geplagt von für uns unvorstellbaren Miseren: Sie haben kein Wasser. … Ihre einzige Arbeitsstätte ist der Müllhaufen der 1.Welt. … Ihre zuverlässigste Währung sind die Körper ihrer Töchter, ihre eigenen, verliehenen Gebärmütter, ihre verkaufte Organe.
Ihr Mangel an Lese-, Schreib- und Rechenschulung fesselt sie in würdeloser Abhängigkeit.
Und – auch das! – ihre Kultur oder deren Mangel, ihr Glaube oder dessen Perversion verdammen sie zu rechtlosem Dasein, wenn sie weiblich sind, zum Ausgestoßenwerden, wenn sie anders sind, zu Furcht und Verzweiflung, wenn sie den Dämonen und dem Schicksal und dem Tod begegnen.
Das sind die Menschen in ihrer zahlenmäßigen Mehrheit.
Und dann unter ihnen unsere Glaubensgeschwister: Elend wie allzu viele in den Regionen des Südens und fernen Ostens, … aber zu Ausbeutung und Unterdrückung und nackter Not kommt bei einer horrend wachsenden Zahl von ihnen noch Hass und Verfolgung und Beleidigung und Rechtlosigkeit und Einschüchterung und systematische Ausschaltung und Vernichtung hinzu … weil sie Christen sind, … Christen sind wie wir.
Und neben den Opfern der Welt und den Märtyrern unseres Glaubens, deren leidiges Leid ein vitaler Widerstandsinstinkt uns ja doch immer vom Leib und von der Seele hält, sollten wir als drittes natürlich an unsere unmittelbaren Nachbarn, unsere Mitbürger und Angehörigen denken. Da gibt es wahrhaftig ja auch der Menschheit ganzen Jammer: Die Lebensenttäuschungen, die Krankheitsgeschichten, die Geld- und Luxussorgen, das Verstummen und Aus-den-Augen-Verlieren, die Erfahrung des völlig aktiven Sinnlos-Seins, die verdrängte Bangigkeit vor morgen und übermorgen und dem Ende, und – natürlich – den Tod, … den jähen Tod und den zähen Tod, … den, an den wir nicht denken wollen, obwohl er unvermeidlich kommt, und den, den wir nur noch wünschen und zulassen können, obwohl er so schmerzt.
Wo auch immer wir also wirklich einmal die Wirklichkeit wahrnehmen, treffen wir auf Bilder und Eindrücke und Einbrüche und Endlosigkeiten des Schweren, des Bitteren, des Dunkels. …….
Und haben zu Beginn jener wenigen Wochen, in denen wir uns dem nicht entziehen, einen Boten vor uns stehen, der sagt: „Jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils.“
… Fremd berührt uns das immer noch, befremdlich und sperrig und kratzend und verletzend, weil wir jetzt fünf Minuten lang und im April vielleicht etliche von vierzig Tagen lang das Leid, das um uns herum trifft und haust und schmerzt, ein klein wenig bedacht, ein klein wenig mitgefühlt haben.
Aber nach wenigen Minuten schon mutet diese unerfindliche Synchronschaltung – dass mitten unter dem Leid auch von Gnade und Heil geredet werden soll! – plötzlich nicht mehr albern und idiotisch an.
Denn auch in der geringfügigen Berührung mit dem Leiden, der wir uns gerade ausgesetzt haben, gewinnt die Botschaft des Apostels an unmittelbarer Berechtigung und Dringlichkeit: Hat er doch eben keinen dummen, schrägen Werbespruch für irgendeine Fastenerfahrung geprägt, sondern eine wirkliche, wahrhaftige und beglaubigte Lebenserfahrung mitgeteilt.
Paulus hat es wirklich nicht nur in seiner ökumenischen Verbundenheit mit der Gemeinschaft aller Heiligen zwischen Jerusalem, Damaskus, Ephesus, Philippi, Korinth, Athen und Rom, sondern direkt in seiner eigenen Existenz erlebt, dass Leid und Errettung, dass Rückschläge und Wunder, dass tiefste Not und höchste Dankbarkeit, dass Unglück und Segen gleichzeitig an ihm und durch ihn und auch überall sonst geschehen.
Und aus dieser erfahrungsgesättigten Quelle hören wir es jetzt also wieder, dass es einseitig und künstlich und unwirklich ist, wenn wir sortieren und trennen und uns vormachen, die gute Nachricht Gottes sei nur unter guten Verhältnissen an guten Tagen wirksam. Es ist unwirklich und künstlich und verwerflich, wenn wir das Heil nur denen mit der heilen Haut zusagen, wenn wir vom Leben nur denen predigen, die außer Todesgefahr sind, wenn wir Gottes Segen nur Gewinnern mitteilen und den unzerstörbaren Trost der Ewigkeit nur als Botschaft an die Unbelasteten behandeln.
Im Gegenteil: Gnade und Heil sind nötige und mächtige und heilsame und wunderbare Worte und Wahrheiten da, wo sie auf Widerspruch, auf Bestreitung, Infragestellung, auf ihr Gegenteil stoßen!
Die Kranken bedürfen des Arztes!
Die Hoffnungslosen bedürfen des Lichtes!
Die leidende Menschheit bedarf der Erlösung! ——
Das ist die alte Botschaft, die dem Christentum den Opiumvorwurf eingetragen hat, … den Vorwurf, ein Betäubungsmittel zu verabreichen und am Bösen und Traurigen nichts zu ändern. ——
… In einer Welt voller Drogen und Verdrängungstechniken scheint das allerdings ein geradezu alltäglicher und diesmal kaum den Richtigen treffender Vorwurf.
Wir sollten daher – anstatt immer noch auf diesen Vorwurf zu reagieren und so auf das Beste zu verzichten, das es gibt und das die Welt braucht – … wir sollten daher genau das in diesen vierzig Tagen endlich wieder ergreifen und kosten: Aus Verbundenheit mit den Leidenden der Welt sollten wir die Kraft des gelebten und beglaubigten Evangeliums kennenlernen und weitergeben, damit wir die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangen.
Denn das Evangelium vom stellvertretend leidenden, gekreuzigten, gestorbenen und auferweckten Jesus Christus ist die Kraft, die Menschen in allen Widrigkeiten, allen Prüfungen und Plagen und Ängsten und Schrecken ihrer Wirklichkeit das wahre Gegenteil ermöglicht: Zuversicht und Kraft und Trost und Jubel und Leben – … dass sie leben als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben.
Dass es eine solche Kraft gibt, geht uns im Namen aller Menschen an!
In den kommenden sechs strengen, harten, gnädigen Wochen gilt es nun, sie zu erfahren.
Amen.
Septuagesimae 28.01.2018 Stadtkirche Jeremia 9,22f Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Septuagesimæ - 29.I.2018
Jeremia 9, 22f
Liebe Gemeinde!
Seit längerem mache ich eine Therapie[i].
Nicht weil der Zusammenbruch droht, …bloß die Anspruchslosigkeit: Die Erwartung nimmt ab, die Leidenschaft leidet, die Aussichten werden tunnelartig, wo sich früher eine ganze Landschaft und noch mehr Horizont eröffneten.
… Natürlich geht es um Beziehungsfragen, wie bei vielen Therapiesuchenden.
… Und natürlich geht es um Vergangenes, wie noch häufiger bei Therapien.
Aber v.a. geht es um die Gewissheit, dass ein anderer Blick, ein neues Hören, ein frisch angeregtes Hoffen und Wollen helfen können, den Lebensgrund und Lebenssinn wieder lebendiger zu erfassen, als da, wo sie eingeschneit sind unter der Gewohnheit und mit dem leichten Schimmelflaum der Selbstverständlichkeit bewachsen.
Zum Glück besteht freie Wahl der Therapeuten und ihrer Techniken. Und kosten kann das Ganze nur Zeit und ein Brandopfer aller Vorurteile und aller falscher Sicherheit.
… So also mache ich nun meine Therapie munter bei allen möglichen Experten und Koryphäen, bei weisen Frauen und großen Lehrmeistern, bei seriösen Berühmtheiten und abenteuerlichen Exzentrikern, bei überall empfohlenen Fachleuten und bei geradezu als Scharlatane verschrienen Wunderdoktoren.
Wer immer interessante, eigenwillige oder erfahrungssatte Übungen kennt, wie die alte auch die neue Liebe bleibt, wie Zukunftskräfte aus der Bindung der Vergangenheit entstehen können, bei dem suche und finde ich Rat.
Da ist z.B. eine wahnsinnig temperamentvolle, herzenszart-burschikose Spanierin, die gemeinsam mit einem stumm und dumm wirkenden jüngeren Kollegen berät, dessen Worte umso nachdenklicher machen, je leiser und weniger er überhaupt spricht. Bei ihnen gehe ich gern ein und aus, und auch bei einem anderen renommierten spanischen Seelenkundigen[ii].
Auch gibt’s eine junge Kranke gleichen Namens wie die resolute Spanierin[iii], das Kind einer ziemlich eintönigen Gegend Frankreichs, die manchmal nur sentimentale Redewendungen zu gebrauchen scheint, aber dann merkt man – wie sie da so vor sich hin stirbt –, dass sie ihre Formulierungen nicht dem Groschenroman, sondern einem Schreienden auf Golgatha verdankt.
Bei schriftstellernden Amateuren nehme ich ebenfalls Hilfe in Anspruch: Unglaublich viel verdanke ich einem Kinderbuch-Verfasser[iv], der im Hauptberuf Wissenschaftler an exklusivster angelsächsisch-akademischer Adresse ist; aber genauso profitiere ich von den brieflichen Ratschlägen eines weitgereisten Mannes, den sein Glaube in den fernen Osten verschlagen hat, von wo er nicht mehr wiederkehren kann[v].
Wieder andere gibt es, die mich ihre Tagebücher lesen lassen und auf diesem Wege zeigen, dass sie verstehen und mir auch voraushaben, was sich im Inneren entwickeln will[vi].
Nicht zu vergessen: Der sächsische Poltergeist mit dem unfehlbaren Gehör des Sprachgenies für den Seelenwortschatz und dem Bierfass voller Trost und Kraft und Licht und Recht und Unheil, bei dem wir letztes Jahr eine gigantische Gruppentherapie versucht haben.
....... Ach, am Ende – und das wissen wir alle – … am Ende gibt es ja unzählige dichtende und singende und spinnerte und anerkannte und brillante und urkomische Engel und Käuze, denen wir begegnen und die uns ändern, lehren, heilen und bestärken in unserem Glauben und Lieben und Hoffen. ——
Diese Woche nun habe ich ein paar Stunden bei einem Seelenklempner verbracht, den ich lang schon zu kennen meine[vii]. Er wirkt auf mich immer wieder erstaunlich jung – keine echte Autorität! – und manchmal auch wie ein Narzisst, … ein Einzelgänger, der arg mit sich selbst beschäftigt scheint. Vielleicht kennt er aber genau deshalb – weil er sich selber so kritisch erforscht – auch die Menschen allgemein.
Bei diesem linkischen, wenig vertrauen-, dafür beinah mitleideinflößenden Famulus im psychosomatischen Kurbetrieb Gottes – nennen wir ihn Dr.Jeremy, wie in einer amerikanischen Krankenhausserie – war ich also diese Woche.
Dr.Jeremy, der blass und hager und verschlossen ist, wirkt auf meinesgleichen unbehaglich.
Ihm gegenüber komme ich mir raumgreifend, … zu groß, zu grobschlächtig vor, … Kopf und Körper irgendwie aufgeblasen.
Er würde einen zwar nie so direkt herausfordern, aber mir scheint dieser Dr.Jeremy immer stumm zu fragen: „Worauf bildest du dir eigentlich so mächtig was ein? Was macht dich so großspurig?“
– Weshalb ich schon vorauseilend meine gute evangelische Erziehung wie eine Monstranz vor mir hertrage und kaum dass ich ihm gegenübersitze im Angriff als bester Verteidigung sofort loslege:
„Ich bin nicht eingebildet. Im Gegenteil. Ich bin von Kindesbeinen an zur Bescheidenheit gelenkt worden. Nur nichts hermachen. Immer schön preußisch-sparsam beim stinkenden Selbstlob. Oder wenigstens britisch: Understatement, … betont selbstironisch. Das mach’ ich doch auch ganz gut. … Letztens an der Kirchentür wieder: Meine Paradenummer. Wenn jemand mal nicht schlimm, sondern gut findet, dass ich so eine lautstark Stimme habe, dann kontere ich das Lob doch reflexartig mit: ˶Da kann kein Ochse was dafür, wenn er laut brüllen kann˝.
… Müsste Dir eigentlich gefallen, Jeremy. Ist doch dein Mantra: Bloß nicht übermütig werden, bloß nichts zu Kopf steigen lassen. Und wenn doch irgendetwas mal gelungen, wenn’s doch mal irgendwo gut oder besonders oder überragend ist, dann nüchtern bleiben und dran denken, dass nur Trottel sich für ihre eigenen Erfinder halten. Wir andern wissen, dass wir alleine nie dahin geraten wären, wo Elternhaus und Glück, wohin die Zufälle der Geographie oder das Zusammenspiel von Leistung und Verhältnissen uns nun mal bugsiert haben.
…….Und wenn gar keine sonstige Distanz, gar keine weitere Relativierung mehr geht, … oder wenn man wirklich alles zu Ende gedacht und sich mit keinen fremden Federn mehr geschmückt sieht, dann bleibt doch immer noch die erste und die letzte Ursache: Dass wir das Gute und das Heile und das Schöne und das Wünschenswerte nicht auf unsere Fahnen schreiben, sondern Gott allein die Ehre geben!
Diese Form der Selbstrelativierung meinst du doch, Doktor?! – Nichts können wir uns stolz und bräsig zurechnen. Am Ende – oder schon zu Beginn – ist doch immer nur Gott der Anfänger und der Vollender.
Das ist ja jetzt biblische Bescheidenheitsethik in Reinkultur. Das hat dein Zunftgenosse Paulus doch in alle vier Winde getragen, als er in Korinth einen kollektiven Ausbruch der autogenen Egoschwellung, der chronischen Ichblähung erlebte: ˶Wer sich rühmen will, der rühme sich des Herrn˝ (vgl. 1.Kor1,30).
Glaube an Gott nimmt also der krankhaften Selbstbezogenheit ihre heiße Luft.
Glaube stutzt den Menschen zurück auf Normalmaß
……. Oder?“ ——
Aber der bleiche, immer übermüdete Dr.Jeremy, der doch eindeutig die verzerrte menschliche Selbstwahrnehmung behandeln will, zieht die Augenbrauen so hoch, dass man ganz verunsichert wird:
Meint er am Ende gar nicht die scheinbar unbezweifelte Tugend der Selbstrelativierung?
Kann es sein, dass er gar nicht zur reflexartigen Selbstzurücknahme bewegen will??
… Aber wie wäre das denkbar?
Ist der biblische Glaube, ist das Christentum nicht eine ganz gezielte Therapie gegen die Ichsucht? Ist es nicht der erste Schritt zur seelischen Gesundheit, wenn die Eigenliebe auf Diät gesetzt wird, wenn der Götze, der meinen Namen trägt, abspecken muss bis er ausgedient hat, und an die Stelle der falschen Vorstellungen von der eigenen Bedeutung der Blick auf Gott tritt?
Erstaunlicherweise stimmt der asketische und in sich selbst zurückgezogene junge Seelenfachmann dem erkennbar gar nicht zu.
So verhärmt und schüchtern er auch wirken mag: Dr.Jeremy vermittelt nicht die Botschaft, dass man gering von sich denken müsse, um groß von anderem und vom Größten angemessen denken zu können.
Ich muss ihn tatsächlich falsch verstanden haben, wenn ich seine sparsamen Anstöße in diese Richtung deute.
Wenn man ihn länger erlebt, spürt man in seiner leisen, unruhigen Art nämlich einen ganz anderen Unterton; da schwebt die unterschwellige Frage, die ihm offenbar wirklich Rätsel aufgibt:
„Ist deine Person so klein, ist dein Horizont so eng, dass du tatsächlich dich selber aufgehoben siehst in äußeren Bezügen?
Erkennst du tatsächlich dich selber, wenn du deinen Erfolg, deine Medaillen betrachtest oder vorzeigst?
Meinst du, dich wirklich ganz vorgestellt, dich selber wirklich ausreichend repräsentiert zu haben, wenn man mitkriegt, was du leisten …oder dir leisten kannst?
Ist das alles?
Mehr wäre da nicht, als nur die hübschen Dinge, die du besitzt, … die Sachen, die du gut kannst?
Bist du so bescheiden, dass du dich mit solchen Einzelheiten identifizierst, dass du in so oberflächlichen Zufälligkeiten wie der Punktzahl eines Intelligenztest oder einer Höchstleistung beim sportlichen Wettkampf oder der Summe deiner Freunde und Bewunderer schon alles siehst, was zählt und für dich spricht?
… Und meinst du wirklich, das zusammengenommen sei schon so wichtig, dass ich dir ernsthaft raten würde, es wieder kleinzurechnen, damit irgendwo am Ende deiner Aufzählung von Reichtum, Kraft und Weisheit Gott wenigstens auch noch vorkommt?“ ———
Und das – vorwurfsvolle? mitleidvolle? – Staunen im Gesicht des introvertierten Dr.Jeremy ist so echt, dass man unwillkürlich erkennt: Er ist tatsächlich überzeugt davon, dass man zu wenig wirklich Großes, wirklich Wunderbares, wirklich Wichtiges und Lohnendes kennt, wenn man nur dran rumdokert, welche Bedeutung, welche Befriedigung die üblichen Güter und Gaben für uns darstellen!
Und auf einmal fällt mir ein, was für ein sonderbares Schild am Eingang der Gemeinschaftspraxis Ezekiel & Jeremy zu lesen ist. Da steht der seltsame Ausdruck „Spezialisten für Herzerneuerung – Herzvergrößerung“[viii].
Und mit dieser Erinnerung, dass hier niemand auf verkleinerte Ziele, auf bescheidenere Ansprüche, auf heruntergeschraubte Hoffnungen trainiert wird, sondern dass bei den Heilkundigen und Therapeuten der Bibel tatsächlich das Allergrößte und Unvorstellbarste gesucht und gefunden werden soll, beginnt die Kur des schweigsamen Arztes mit dem inneren Fragemonolog zu wirken.
Es geht nicht darum, dass man bei ihm allen Stolz, alle Zufriedenheit ablegen und loswerden sollte.
Im Gegenteil:
Dr.Jeremy weist auf einen Lebensinhalt, auf einen Lebenssinn, auf Kapazitäten des Herzens und der Hoffnung, auf Inhalte des Menschseins hin, die alle gewohnten, alle vertrauten Möglichkeiten und Genüsse unendlich übertreffen.
Dr.Jeremy’s Andeutung, dass man mit zu wenigem vorliebnimmt, wenn man sich der üblichen, überraschungslosen Größen rühmt – ein Weiser halt immer wieder seiner Weisheit, ein Starker eben bloß seiner Stärke, ein Reicher einfach nur seines Reichtums –, … diese Andeutung, dass wir gar nicht ahnen, was Rühmen und Fröhlichsein, was wirkliches Erfülltwerden und echte Bestätigung unserer Würde und Fähigkeiten tatsächlich sein könnten, erweitert wahrhaftig das Herz und alle Aufnahmebereitschaft und alle Wege der Selbsterfahrung ganz unermesslich.
Denn so behutsam, spröde und zögerlich seine Worte und Methoden auch sind: Dieser vielleicht nicht lebens-, aber eindeutig leidenserfahrene Mensch, dieser Mensch, den das Menschheitsleiden gepackt und gezeichnet hat, dieser furchtbar mitgenommene, aufs Äußerste geprüfte Prophet Gottes, hält sich nicht mehr mit Vorübergehendem, mit Flüchtigem auf.
Er kennt und er berührt den Kern.
Und darum ist seine Botschaft:
Lasst euch nicht auf das Geringe ein!
Gebt dem wirklich Entscheidenden Raum!
Sucht nicht zu wenig!
Bleibt nicht zurück hinter dem, was ihr empfangen könntet, wenn ihr nicht vorher schon eingebildet satt wäret!
Ihr sollt Gott kennenlernen – Gott, der auf keinen Fall nur eine Funktion eurer Bescheidenheit sein will!
Im Gegenteil vielmehr: Der HERR könnte und der HERR will mit Seinem weltweiten, alle Menschen, alle Kreatur umfassenden Barmherzigkeitsschatz, mit seinem vollkommenen Recht, mit seinem Überfluss an heilender Gerechtigkeit zum Inhalt eures Lebens werden. Der HERR will, dass Er euer Dasein füllt, formt und vollendet.
Er will euer Gott sein!
Er selbst will euer Ruhm, euer Stolz, euer Glück, eure Freude sein!!!
– Und das ist die Therapie.
Das ist die Heilung. Das rettet.
Amen.
[i] Das Interesse an einer Wiedergewinnung oder ersten Entdeckung der kirchengeschichtlichen und ökumenischen Schätze der Christenheit, das in diesem Jahr nach dem Reformationsjubiläum einen besonderen Akzent verdient, hat zweifellos viel Aufklärendes und Therapeutisches, wenn es Verengungen und Verknöcherungen, wenn es Ignoranz und Arroganz zu verarbeiten hilft, die uns allzu sehr verarmen lassen.
[ii] Die Begegnung mit den Gestalten, Werken und Frömmigkeitswegen von Theresa von Avila, Johannes vom Kreuz und – als Dritter im protestantisch lange Zeit indiskutablen Bunde – mit Ignatius von Loyola ist eine wirkliche theologische Entdeckungs- und Erfrischungsreise.
[iii] Das gilt ebenso für die Aufnahme des sog. „kleinen Weges“, der sog. „Kleinen“ Therese (von Lisieux), in deren Denken, Leiden, Zweifeln und Zuversicht dem evangelischen Christen eine Schwester begegnen kann.
[iv] C.S.Lewis – Autor der klassischen „Narnia“-Reihe – , der neben dem als Krimiautor verkannten G.K.Chesterton ein Klassiker der modernen Apologetik (also Verteidigung des Christentums) ist. Ohne ihn könnten und sollten wir einpacken. Auch der Blick auf Dorothy L.Sayers lohnt in diesem Zusammenhang.
[v] Gemeint ist der erste Jesuiten-Missionar in Asien – Franziskus Xaverius – dessen Briefe von seiner tödlich endenden Pionierfahrt unglaublich empfehlenswerte Lektüre sind.
[vi] Besonders für uns Evangelische geradezu Klassiker sind die Aufzeichnungen Jochen Kleppers, „Unter dem Schatten deiner Flügel“ (verschiedene Auflagen) und natürlich die Bonhoeffer’schen Notate und Briefe aus der Haft, bekannt als „Widerstand und Ergebung“. Aber auch Reinhold Schneiders diverse tagebuchartigen Veröffentlichungen und Maurice Blondels „Tagebuch vor Gott 1883-1894“ (übertragen von Hans Urs von Balthasar), Einsiedeln 1964, oder die Journale von Simone Weil („Cahiers“) und Edith Stein sind Kostbarkeiten der Glaubensreflexion in der Moderne.
[vii] Die in dieser Predigt verwendete Form einer Allegorie versucht, die Denkbewegung zu besserer Verstehbarkeit des Vertrauten im (ver)fremde(te)n Gewand praktisch nachzuvollziehen.
[viii] Die beiden Exilspropheten Hesekiel und Jeremia sind in der Verkündigung des neuen Herzens, das aus der katastrophalen Krise des Glaubens und der Gemeinde herausführen wird, einig: Vgl. Jeremia 31,33 und Hesekiel 36,26ff.
Letzter n.Epiphan. 21.01.2018 Stadtkirche Matthäus 17, 1 - 9, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 21.I.2018 - Letzter S. n.Epiphanias
Matthäus 17, 1 – 9
Liebe Gemeinde!
Wer über die evangelische Kirche gern lacht und noch lachen kann, der kommt ab und zu nicht an Günther Beckstein vorbei, dem kurzfristigen Ministerpräsidenten von Bayern und Beinah-Präses der EKD. Kurz bevor er vor etwa vier Jahren auf der EKD-Synode in Düsseldorf zum Präses hätte gewählt werden können, um dann hier in unserer Kaiserswerther Stadtkirche in sein Amt eingeführt zu werden, las er der evangelischen Kirche kräftig die Leviten. Er forderte damals nämlich mehr Frömmigkeit statt einer „Theologie der Energiesparlampe“.
Nun hat nicht diese Formulierung allein Beckstein die Wahl gekostet, aber sie traf doch und saß. Denn sie gilt. Es gilt, dass viele von uns sich lange schon mehr der Energiesparlampe als der Frömmigkeit verpflichtet haben, mehr dem politisch korrekten Leuchten als der richtigen geistlichen Erleuchtung, kurzum: mehr der Ethik als der Dogmatik.
…Nun ist gegen Ethik und Ökologie nichts, gar nichts zu sagen: Über die Photovoltaikanlage, die auf unserem Gemeindehaus im Herbst glücklich angebracht worden ist und mit uns allen dem Licht entgegenharrt, können wir uns nur herzlich freuen; aber eine Kirche, die ihren Schwerpunkt auf solche vorletzten Dinge setzt – auf Fragen, für die es gar keiner Kirche bedarf –, und die die Botschaft, die nur der Kirche anvertraut ist, darüber in den Hintergrund treten lässt, … nun, eine solche energiesparende Kirche kann keine sehr helle Ausstrahlung haben.
Und darum ist es mein heißer Wunsch und mein Ziel, dass wir uns künftig dem wahren, dem lebendigen Licht der Welt zuwenden und nichts, gar nichts sparen oder uns ersparen, wo es darum geht, dass wir von Ihm alle unsere Energie und Kraft und Wärme und Erleuchtung beziehen. Jesus strahlen zu lassen, seine Herrlichkeit zu schauen und zu zeigen, in seinem Glanz die Welt zu sehen und so allen Schatten in der hellen Zuversicht zu begegnen „Du blickst mich ja mit deinen Augen an, daraus ich Licht im Tode nehmen kann“ (EG 476,6) – das ist das Ziel und Wesen einer Kirche, die nicht energiesparend, sondern lichthungrig und aufklärend ist.
Und um diese Verheißung der Kirche zu erfassen, … um ein Leben aus dem Licht zu führen, ist tatsächlich die Verklärung Jesu die beste Anschauung.
Bei uns Evangelischen begegnet dieses leuchtende Evangelium immer zum Abschluss der Epiphanias-Zeit, wenn der Herrnhuter-Stern ein letztes Mal die Christus-Helligkeit aus den abnehmenden Tagen in die wieder länger werdenden scheinen lässt.
Bei den anderen Kirchen dagegen ist dem Lichtwunder auf dem Berg ein eigenes Hochfest gewidmet: Sowohl bei Katholiken als auch bei den Orthodoxen fällt es auf den 6.August.
Für die Ostkirchen zumal hat nun aber gerade dieses Fest eine überragende Bedeutung, und bei ihnen wollen wir daher heute in die Schule gehen, um einmal wirklich nicht beim schwachen Licht, an das wir gewöhnt sind, sondern im mächtigen Urlicht des Glaubens zu betrachten, was da geschieht.
Die transparente Glut, in der Jesus im Ereignis seiner Verklärung erschien, die himmlische, schattenlose Aura, in der er inmitten der beiden größten Gotteszeugen der bisherigen Heilsgeschichte aufleuchtete, ist dabei tatsächlich das entscheidende Phänomen.
Dieses Phänomen – ein Begriff, der ja schon den leise anrüchigen Unterton des Ungewöhnlichen, des Außer-„Ordentlichen“ mitschwingen lässt – dieses sichtbare Phänomen ist das, worum es bei der Offenbarung Jesu in aller Klarheit geht.
Buchstäblich bedeutet „Phänomen“ ja das im Licht Aufleuchtende. Bei der Verklärung allerdings ist nicht der Aufleuchtende, sondern das Leuchten selber, nicht der Erscheinende, sondern die Erscheinung das neue Mysterium…. Und je nachdem, wofür wir das Licht halten, das da gewaltig aufbricht, werden wir auch den zentral Beleuchteten, den im Mittelpunkt dieses Strahlens einordnen. ——
Seit langer Zeit hat sich bei uns im Zuge der Aufklärung die Erklärung der Verklärung ergeben, dass sich in diesem Bericht das Licht bündele, in dem die Gemeinde Jesus sieht.
Weil Jesus den Glaubenden österlich einleuchtete, darum beleuchteten sie ihn ihrerseits so hell. Dann wäre der Lichteffekt, von dem auf dem Berg in der Mitte des Evangeliums berichtet wird, eine Beleuchtung, ein Spotlight, das die Zeugen und Erzähler geschickt einsetzten, um den Gegenstand ihrer Überlieferung in das rechte Licht zu rücken. Noch anders gesagt … uns technisch ganz vertraut: Das Licht der Verklärung verdankte sich m.a.W. einer Projektion, der Erhellung durch einen Projektor, der Jesu Gestalt und Ort und Rolle in der Heilsgeschichte verdeutlicht und veranschaulicht. Die Quelle solcher Erhellung wären dann also zweifelsfrei wir Menschen: Markus, Matthäus, Lukas, Augustinus, Luther, Bultmann, Barth, Du und ich.
……. Theologie der Energiesparlampe! ……. Unsere Leistung jedenfalls, … womöglich kalt und trübe, unter Umständen auch überraschend stark, aber eben das arme Glimmen einer Funzel im Vergleich zu echtem Licht. ——
Die Alte Kirche und die orthodoxen Kirchen allerdings haben eine derartige Erklärung des Menschenaugen völlig neuen Glänzens auf dem Berg der Verklärung nie angenommen. Sie erfuhren die Belichtung und Erhellung stets gerade umgekehrt: Der Leuchtkörper, dessen gewaltige Ausstrahlung sich da ungeschirmt für einen klaren Augenblick entlud, ist Christus selber. Unverhüllt wurde in der Gesellschaft des Mose und Elia durch Christi Leib Gott selber sichtbar, den der treue Bote vom Sinai ebenso wie der treue Kämpfer vom Karmel so gerne einst auf Erden erblickt und gezeigt hätten, doch wurden ihrer Augen noch zum Schutz gehalten.
Es wäre also die klare Gottheit Christi, die auf dem Berg seinen menschlichen Körper lichtdurchlässig machte! ——
Diese Sichtweise der Ausstrahlungsoffenbarung, die uns Jesus Christus nicht in einem Licht, sondern als das Licht zeigt, hat allerdings Folgen.
Wenn wir den Herrn nicht als das Objekt, als den Gegenstand einer Klarheit, sondern als das Subjekt, als den Urheber dieser Klarheit begreifen, dann verlieren wir selbst damit ja unsere Rolle als Aufklärer.
Wenn nicht unsere Sichtweise, sondern seine Wahrheit das Bild bestimmen sollten, dann können wir in unserer Theologie, mehr aber noch: dann können wir in unserem Glauben nicht mehr selber den Energieverbrauch, die Lichtintensität, den Einfallswinkel und den Blendschutz bestimmen. Wenn Christus selber das Licht ist und für Erhellung sorgt, dann bedeuten unsere Projektionen, unser Durchblick und unsere Geistesblitze plötzlich nicht mehr allzu viel, denn dann gibt es eine eigenständige, eine transparente, eine einsehbare Quelle, deren Ausstrahlung unseren Glauben und unsere Theologie überhaupt erst aus dem Schatten der Zweifel und des Irrtums ruft, dann gibt es also eine Offenbarung, deren Ausstrahlung die christliche Wahrheit und das christliche Bekenntnis nur spiegeln werden.
Die Frage dieser Rollenverteilung – entweder unser kritischer Geist beleuchtet Ihn, oder Sein heller, Heiliger Geist erleuchtet uns – markiert seit langem den Unterschied zwischen der höchst selbstbewussten evangelischen Sichtweise auf Jesus Christus und dem anbetenden, staunenden Versenken in die Schönheit der offenbaren Wahrheit auf Seiten der weniger forschenden, mehr schauenden – „ästhetischen“ – Kirchen in der Welt.
Für beide Zugänge braucht es helle Köpfe, … gewiss.
… Doch woher sie jeweils den Zündfunken zu nehmen glauben, ist vielsagend gegensätzlich.
Der westliche Protestantismus, der sich als Anwalt und Erben der Aufklärung betrachtet, sieht sich darum auch als Träger der Taschenlampe moderner Verständnismöglichkeiten. Das überlieferungsverpflichtete Christentum des Ostens und des Orients dagegen empfindet sich eher als die Linse, durch die das selbständige Licht der Wahrheit und seine Bilder in die Menschheit fallen.
Ohne nun etwa den (Alb-)Traum einer Rückkehr nach Byzanz oder einer ultra-orthodoxen Ökumene auf der Grundlage der altkirchlichen Konzilien zu fordern – die pro forma allerdings auch in unserer Landeskirche immer noch den Charakter normativer Bekenntnisse genießen – , halte ich es im Licht des verklärten, des von Innen, … aus seinem Geheimnis ausstrahlenden Jesus Christus für an der Zeit, dass wir erneut hinschauen auf seine Leuchtgestalt:
Sehen wir da wirklich nur einen Menschen, der im Scheinwerferkegel der öffentlichen Erwartung oder im Blitzlichtgewitter seiner historischen Wirksamkeit oder im milden Schimmer frommer Erinnerungen erstrahlt? ……. Natürlich sehen wir genau nur den und genau nur das, wenn wir unsere vorgefassten Einsichten unsere blinden Flecken schützen lassen.
… Wer nur den mechanischen Apparat wahrnimmt, für den ist schon die menschliche Schönheit bloß ein Gerippe mit Nervenkostüm unter Fleischpolster; wer nur die Oberfläche anerkennt, für den ist die Sixtinische Madonna ein ebenso bunt eingefärbtes Stoffstück wie ein beliebiges Tischtuch; wer nur auf äußere Form und Farbe sieht, der grüßt wie der Mandrill genauso gern das grell gefärbte Gesäß eines anderen wie dessen Gesicht.
Wenn wir also geflissentlich übersehen, was wir nicht einordnen können, und ausblenden, was uns unwahrscheinlich vorkommt, dann werden wir über den gewohnten Ausschnitt unseres Jesusbildes nie hinauskommen: Ein Mensch, in dem andere viel sahen.
… Es sei denn, auch wir ließen uns von der ungeahnten Glut und Fülle der Erscheinung vor Petrus, Johannes und Jakobus auf dem Berg erwecken und erleuchten.
… Es sei denn, wir kniffen nicht mehr die Augen messend, abwägend zu, sondern weideten sie an dem einzigartigen Schauspiel einer menschlichen Sonne, eines Leibes, der durch feste Kleider hindurch glänzt und strahlt, eines Schattens aus reinem Licht.
Dieser Anblick, der die alte, die orthodoxe Theologie nie mehr losgelassen hat, ist nämlich nicht einfach nur rätselhaft oder paradox, sondern v.a. ist er … überwältigend schön.
Das ist im Griechischen ja auch der entscheidende Sinn des ersten Zeugenwortes bei diesem Phänomen.
Petrus, dessen begeisterte Äußerung wir immer ein wenig mit dem Beigeschmack des Eigennutzes hören, wenn es heißt: „Herr, hier ist gut sein“ … Petrus ruft hingerissen aus: „Herr, hier ist es schön (καλόν) für uns zu sein.“
Und dieser Doppelsinn des griechischen Wortes für gut und schön führt uns über die strahlend aufbrechende Erscheinung des Göttlichen im Menschlichen bei Christus zum Ausgangspunkt der ganzen Schöpfung, zu ihrem Geheimnis und zu ihrem Ziel: Diese Welt soll herrlich sein; Gott gab ihr ihre Gestalt mit überwältigender Güte und Schönheit und das Helle, das Heitere, das Heil, … heile, heitere, helle Heiligkeit ist das, was das Geschöpf mit dem Schöpfer, was alle Erscheinungen und Bilder der Wirklichkeit mit ihrem Urheber verbinden soll.
Gott hat der Welt sein Licht, seine Schönheit geschenkt!
Unverlierbare, alle heutige Vorstellungskraft übertreffende, von sich und an sich wirkende Leuchtkraft prägt und durchdringt das, was Gott sich und dem geschaffenen Kosmos zur Freude bestimmt hat.
Und mitten im Evangelium – zwischen der armen Geburt und dem bitteren Leiden seines Sohnes, genau da, wo wir heute am letzten Sonntag der Erscheinungszeit stehen – … mitten im Evangelium geht dieses ewige Urlicht auf, prägt sich in Jesu Leib und Gliedern, in seinem Angesicht und dessen Strahlen aus.
Gott enthüllt – für diesen einen Augenblick – sich selbst in seiner unermesslichen, alle Dunkelheit, jeden Schatten tilgenden Klarheit. Und die Zeugen sehen Gottes Herrlichkeit in Menschengestalt, in dem Menschen, in dem Gott selber ist.
Das ist das Inbild, der Inbegriff der Theologie der orientalischen und griechischen und östlichen Kirche: Die Erkenntnis, dass Weihnachten und die Passion Schritte, Stadien, notwendige Durchbrüche durch die Nacht des Hungers und der Erbärmlichkeit, durch die Schwere und Schwärze des Todes sind, die es ermöglichen, dass Gottes Wesen und die Bestimmung der Welt ineinander fließen, in dem unglaublichen, herrlichen, alles Kleine und alle Schönheit und alle Wunder und alles Einfache in Glanz badenden und tränkenden Licht des Lebens.
Jesus Christus, der Verklärte ist schön, weil Gott die strahlende Schönheit selber ist.
Und darum ist das Bekenntnis und Dogma der christlichen Kirche nichts Strenges und Staubiges, sondern auch sie funkeln vor Schönheit und Glanz, wenn wir sie nur entdecken.
Und so sind Theologie und Glaube, so ist unser Christsein das Schönste, was es jemals gab und geben kann, bis wir selber mit unseren eigenen Augen – denn die Augen der Sehenden werden nicht mehr blind sein (Jes.32,3) –, … bis wir selber mit unseren eigenen Augen den König sehen in seiner Schönheit (Jes.33,17). ——
Wollen wir da noch die Theologie der Energiesparlampe?
-------
Amen.
Fürbitten
Herr, Du bist die Schönheit der Welt – der Glanz aller Dinge – das Licht der Freude.
Du bist die dreifache Sonne, deren Kraft und Segen ohne Anfang und ohne Ende sind.
In Deiner Herrlichkeit erkennen wir unsere Auszeichnung und unsere Bestimmung:
Wir dürfen Dich schauen,
dürfen Dich spiegeln,
dürfen selber hell und heiter und heilig werden in Dir!
Darum befehlen wir Dir Deine Schöpfung an:
Schön hast Du sie geschaffen, und sie soll Deine Vollkommenheit bezeugen.
Lehre uns darum, Luft und Wasser, die Erde und das Leben zu schützen und zu schonen, weil sie im Spiel der Lichter, im Glanz der Farben, in der Unberührtheit ihrer Gestalt, in der Freude, die sie wecken können, Träger und Boten ihres Herrn sind.
Es gibt nichts, niemanden gibt es, in dem wir nicht ein Abbild, eine treue Wiedergabe Deiner schönen Heilsgedanken sehen sollten.
Darum schenke uns Deinen wunderbaren Geist,
Der uns zum Staunen und zur Anbetung bringt,
Der uns Augen und Herzen weckt für Deine Gegenwart in dieser Welt,
Der uns die Spuren finden und ihnen folgen lässt, die durch’s Geschaffene zu Dir,
dem Ewigen,
dem Herrlichen,
dem Heiligen führen.
Lass uns in Deinem Licht das Licht dieser Tage sehen, die wir erleben:
Nicht ihre Sorgen, nicht ihre Schatten, nicht ihre Finsternisse sollen uns erfüllen,
sondern als Boten der Hoffnung, als Heiler der Schäden, als Vorhut des Lebens möchten wir in diesen Tagen Dir dienen.
Und über allem anderen lass unsere Augen und unser Denken, unser Vertrauen und unser Leben ausgerichtet sein auf Den, in Dessen menschlicher Gestalt wir Dich finden:
Lass uns Christus vor Augen stehen,
Ihn lass uns erkennen,
von Ihm lass uns nichts scheiden
und durch Ihn nimm uns an,
dass wir endlich Dich selber schauen in unwandelbarer, makelloser Schönheit,
Vater – Sohn – Heiligen Geist.
Eine erste Einführung in die Liturgie des Hochfestes der Verklärung (u.a.) gibt die Folge einer Handreichung der Deutschen Bischofskonferenz und der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland, die 2017 erschienen ist unter dem Titel: Das Kirchenjahr in der Tradition des Ostens und des Westens, IV.: Christus feiern mit der Gottesmutter und allen Heiligen (im Internet verfügbar unter http://www.obkd.de/Texte/Christus%20feiern%20mit%20der%20Gottesmutter%20und%20allen%20Heiligen).
Die Bedeutung, die gerade die Verklärung für die Christologie der Ostkirche, für ihren Ritus, für ihr Verständnis der Ikonen, für ihre positive Anthropologie und für ihre kosmische Schöpfungsbejahung hat, ist kaum in Kürze zu entfalten. Auch und besonders die östliche Mystik, die in Anlehnung an den traditionellen Ort der Verklärung – den Tabor – von einem „Tabor-Licht“ spricht, das den Gläubigen aufgehen kann, ist eine Entfaltung des Verklärungsevangeliums. Hier liegen reiche Anregungen und Schätze für das Christentum, das seine wirkliche Ökumenizität im vereinten Bezeugen und gemeinsamen Feiern der trinitarischen Offenbarung erst noch vor sich hat.
1.S.n.Epiph. 7.1.2018, StK und MhK, Offb.21,6 , Ulrike Heimann
„Gott spricht: Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst."
Liebe Gemeinde,
die Losung der Herrenhuter, dieser Vers aus der Offenbarung des Johannes, die uns durch das Jahr 2018 begleiten soll, hat es in sich. Die Worte sind wie die Glassteine eines Kaleidoskopes, die je nach Lichteinfall und Sortierung völlig neue Bilder ergeben:
umsonst - da gibt es etwas umsonst, ein besonderes Schnäppchen; gratis - ein Wort, das uns noch einmal das Reformationsjubiläum des letzten Jahres in Erinnerung ruft: Sola gratia - Gottes Liebe, Gottes Güte, seine Vergebung - ganz umsonst.
Umsonst (etwas geschüttelt) - alle meine Bemühungen, alles Arbeiten, alles Lernen - alles umsonst, vergeblich.
Umsonst (wieder etwas geschüttelt) - was nichts kostet, das kann auch nichts taugen; umsonst ist noch nicht mal der Tod.
Sie merken schon an diesem einen Wort: die Jahreslosung wird uns immer wieder neu zu denken geben können auf unserem Weg durch das gerade angefangene Jahr.
Ich möchte sie heute morgen auf einen Spaziergang durch die biblische Überlieferung mitnehmen, auf dem deutlich wird, was alles angesprochen wird mit diesem eher kurzen Vers aus der Offenbarung, welche Themen, die uns und unser Leben hier und heute unmittelbar betreffen, wie aktuell die Jahreslosung ist, politisch genauso wie spirituell relevant.
Das Stichwort „Wasser" macht das sofort deutlich.
Wasser ist für das Leben auf diesem Planeten von grundlegender Bedeutung. Alles Leben kommt aus dem Wasser, nicht nur erdgeschichtlich ist das so, sondern jeder von uns hat seine ersten Lebensmonate im Wasser der Gebärmutter zugebracht. Zu über 80% besteht unser Körper aus Wasser. Ohne feste Nahrung können wir Menschen einige Wochen überleben, ohne Wasser nur wenige Tage.
Aber auch das wissen wir: 96% des Wassers auf der Erde ist Salzwasser, nur 4 % sind Süßwasser und nur 1% ist als trinkbares Wasser in den Gesteinsporen des Untergrunds gespeichert.
Wasser ist kostbar. Das haben auch die Investmentbanker und Manager von großen Vermögen erkannt, die drauf und dran sind, dieses Grund-Lebensmittel zum Anlage- und Spekulationsobjekt zu machen. Eine für Milliarden Menschen existenzgefährdende, ja lebensbedrohliche Entwicklung. Nicht umsonst befasst sich die jetzt laufende Kampagne von Brot für die Welt mit dem Thema „Wasser für alle", macht deutlich, dass der Zugang zu sauberem Wasser ein grundlegendes Menschenrecht ist. Das ist nicht nur eine politische Frage, sondern hat auch eine zutiefst geistliche Dimension.
Wasser ist Leben - für den Menschen der Bibel das kostbare Geschenk Gottes. 4 Ströme bewässerten den Paradiesesgarten und sorgten für Leben mitten in karger Steppe und Wüstenlandschaft, so erzählt es die älteste Schöpfungsgeschichte der Bibel. Der Mensch braucht zum Leben Wasser. Der Durst nach Wasser ist elementar: er zeigt an, dass wir abhängig sind von der Natur, dass Leben nur möglich ist in Verbundenheit mit der Schöpfung und als Teil von ihr - so wie Gott es eben gedacht hat. Nun ist der Mensch nicht einfach nur Leib, dessen Bedürfnisse materiell zu befriedigen sind. So gewiss es für den biblischen Menschen war, dass der Mensch körperlich ein „Erdling" war, so war das aber nicht alles. Er war von Gottes Atem, seinem Geist erfüllt und das machte ihn zu einer „lebendigen Seele". Und auch die Seele oder der Geist braucht Nahrung. Das ist ja auch für den modernen Menschen unstrittig. Hunger und Durst sind nicht nur Regungen des Körpers, sondern auch von Geist und Seele.
Der Durst nach Anerkennung und Zuwendung, nach Liebe und Sinn, er begleitet uns durch unser ganzes Leben. Und dieser Durst ist genauso elementar wie der Durst nach Wasser. Und wie Gott derjenige ist, der mit der Schöpfungsgabe des Wassers den leiblichen Durst stillt, so ist er auch derjenige, der den seelisch-geistlichen Durst stillen kann.
Davon spricht zum Beispiel der Psalm 36 (V.9-10): „Sie werden satt von den reichen Gütern deines Hauses, und du tränkst sie mit Wonne wie mit einem Strom. Denn bei dir ist die Quelle des Lebens."
Um den körperlichen Durst zu stillen, brauchen wir hier in unserer Gesellschaft keinen Kopf zu zerbrechen; einfach nur den Wasserhahn aufdrehen und das beste Trinkwasser läuft heraus. Was für ein unglaublicher Luxus und eigentlich Grund genug, schon morgens im Badezimmer ein Danklied zu singen „Mein erst Gefühl sei Preis und Dank".
Ungleich komplizierter ist es mit dem seelischen Durst. Der seelisch Durstige weiß offensichtlich nicht so recht, wo er diesen Durst stillen kann. Ein Phänomen, von dem schon die Bibel berichtet. So klagt der Prophet Jeremia in einer Gottesrede: „Mein Volk tut eine zweifache Sünde: Mich die lebendige Quelle, verlassen sie und machen sich Zisternen, die doch rissig sind und kein Wasser geben." (Jer.2,13) Immer wieder können wir in der biblischen Botschaft lesen, dass Gott sich seinen Menschenkindern voller Liebe zuwendet, dass er diese Liebe nicht davon abhängig macht, ob jemand etwas geleistet hat, ob er groß dasteht vor der Welt. Davon machen wir Menschen unsere Sympathie und Zuneigung anderen gegenüber nur zu oft abhängig, versuchen wir krampfhaft, etwas vom Glanz der Großen und Berühmten und Bedeutenden abzubekommen. Gott aber schätzt jeden so, wie er ihn ins Leben gerufen hat, mit seinen Stärken und Schwächen, unter den Augen seiner Liebe hat jedes Leben Würde und Sinn. Aber offensichtlich sagt allzu vielen diese Lebensquelle nicht zu, versuchen sie lieber ihren Lebensdurst auf andere Weise zu stillen. Sie machen sich - selbst ist der Mann, ist die Frau - Zisternen, heißt es bei Jeremia, Zisternen, in denen das Regenwasser gesammelt wird, damit man in Zeiten der Trockenheit genügend Wasser zum Leben hat. Aber oft versickert das Wasser durch Risse im Gemäuer, wird brackig und reicht hinten und vorne nicht.
Ähnlich beschwörend appelliert der Prophet Jesaja:
„Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser!
Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst!
Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!
Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist,
und sauren Verdienst für das, was nicht satt macht?
Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen
und euch am Köstlichen laben.
Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir!
Höret, so werdet ihr leben!" (Jes.55,1-3b)
Hier klingt schon die Jahreslosung mit all ihren Aspekten an:
Gott hält bereit, was den Durst nach sinnvollem Leben stillen kann, das Wasser des Lebens. Jeder und jede soll sich damit laben können, auch die, die sich für unwert, für arm und unbedeutend halten, die nichts darstellen in den Augen der anderen - die kein Geld haben. Bei Gott gelten andere Maßstäbe, da kann man ohne Geld kaufen - und das Wasser des Lebens, es ist eben nicht nur einfach Wasser zum schieren Überleben, sondern es bedeutet Fülle und Fest, Milch und Wein. Und diese Fülle verschenkt Gott, sie ist umsonst.
Es ist allerdings kein billiges Geschenk, sondern eines, das den Empfänger, die Empfängerin verwandelt und hineinzieht in das Wesen und die Lebensweise Gottes. Wer seinen Lebensdurst an dieser Quelle gestillt hat, der sieht sich in einer ganz neuen Beziehung nicht nur zu Gott, sondern auch zu seiner ganzen Mitwelt und er verortet sich selbst neu. Das ist die Erfahrung aller Mystikerinnen und Mystiker. Wer aus dieser Quelle getrunken hat, ist ein anderer Mensch, ein neuer Mensch, der über sich anders denkt und über seine Mitmenschen, seine Welt. Für den steht nicht mehr das Ich im Mittelpunkt mit all dem, was für den modernen Menschen so unverzichtbar erscheint: die stete Bemühung um Ansehen und Karriere, um Erfolg und Wohlstand. Sondern der erkennt: ich bin bei Gott zu Hause und geborgen, bin angesehen und geliebt; er hat mich eingepflanzt in den Garten seiner Schöpfung; er hat mich eingewebt als ein Muster im Gewebe des Lebens; er hat mich eingefügt als einen bunten Stein im Mosaik der Menschheitsfamilie; ich bin ein Ton in der großen Symphonie des Lebens. Egal welche Bilder wir hier malen, der Mensch, der von der Quelle des lebendigen Wassers getrunken hat, sieht sich geborgen in der Beziehung zu Gott und zu allen und allem. Dass er dazugehört, einfach weil er da ist, das ist seine Würde. Wer von der Quelle, die Gott ist, getrunken hat, für den wird das Du wichtig, der betrachtet sich nicht mehr selbst im Spiegel zwecks Selbstoptimierung, sondern der hat einen Blick für den anderen, für den Mitmenschen; er nimmt wahr, was sie einbringen können und freut sich, wenn es geschieht; und wenn sie es nicht können, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse ihnen keine Chance geben, dann setzt er sich dafür ein, dass sich diese Verhältnisse ändern. Ja, er nimmt wahr, wo den anderen Unrecht geschieht, wo sie leiden, er nimmt es wahr, als beträfe es ihn selbst. Er sieht sich selbst im Auge des anderen, das Ich im Du. Und das lässt ihn handeln, motiviert ihn, Gottes Werke zu tun, der will, dass allen geholfen wird, dass alle Leben in Fülle haben. Der stellt sich mit allem, was er ist, in den Dienst des Lebens, das aus Gott hervorquillt.
Davon sprechen die Verse aus Jesaja 58: „Du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt." (Jes.58,11)
Im Neuen Testament wird dieses Bild von der Quelle des Lebens oder dem lebendigen Wasser vor allen Dingen im Johannesevangelium aufgenommen. Im 4.Kapitel findet sich die Erzählung von der Begegnung Jesu mit der samaritanischen Frau am Jakobsbrunnen. Eine Erzählung, die in besonderer Weise die Symbolik von Wasser und Leben spirituell entfaltet. Das Wasser des Lebens, es sind die Worte, die Jesus verkündigt, es ist die Botschaft von der Liebe und Güte Gottes, die uns seelisch-geistlich leben lässt, unseren Durst nach Annahme und Geborgenheit stillt. Und auch bei Johannes ist deutlich: wer an dieser Quelle seinen Durst gestillt hat, der ist ein anderer, eine andere als vorher; er oder sie kann nicht bei sich bleiben, sondern wird hineingezogen in das Sein Gottes, in das Quelle des Lebens-Sein: „Wer von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, der wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt." (Joh.4,14) Ewiges Leben - Leben in Gemeinschaft und Beziehung, heiles Leben so, wie Gott es gedacht hat.
Und noch einmal mit Nachdruck ins Spiel gebracht im 7.Kapitel, wo Johannes Jesus sagen lässt: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen." (Joh.7,37-38) Wer an mich glaubt, das heißt: wer mir vertraut, wer wie ich darauf vertraut, dass Gottes Liebe jedem Menschen, jedem Lebewesen gilt, seine Güte alle einschließt, wer darauf sein Leben gründet und davon sein Handeln bestimmen lässt, der steht in diesem Lebensstrom, der aus Gott kommt.
Liebe Gemeinde, es gibt kein besseres Bild für diese Botschaft, keine bessere Auslegung für die Jahreslosung 2018 als das Bild des römischen Brunnens, das Sie auf dem ausgeteilten Blatt vorfinden.
Gottes Liebe und Güte, volles, heiles Leben sprudelt oben aus dem Brunnen heraus, unerschöpflich ergießt es sich in die oberste Brunnenschale. Für mich ein Symbol für Jesus von Nazareth. Er hat sich ganz und gar erfüllen lassen von Gottes Liebe. Und er hat die Fülle des Lebens nicht für sich behalten, sondern hat sie weitergegeben, wie das Wasser aus der oberen Schale weiterfließt. So gibt er die Lebenskraft an uns weiter, an mich, an dich, an jede und jeden, der sich seiner Liebe und Güte, seiner Botschaft öffnet. Und auch wir sind aufgerufen, diesen Fluss des Lebens nicht zu hindern, sondern unsererseits weiterzugeben, was wir empfangen haben. Gott hat Lebenswasser für alle, Gott ist reich für alle, wir leben alle buchstäblich vom „Über-Fluss" und im „Überfließen lassen".
„Gott spricht: Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst und das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt."
Was für eine verheißungsvolle Aussicht für unsere Wege im kommenden Jahr.
Amen.
Altjahrsabend 31.12.2017 Stadtkirche 2.Mose 13, 20-22, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2017
2.Mose 13, 20 - 22
Liebe Gemeinde!
Ungewöhnliche Umstände umgeben unsern Gottesdienst heute abend: Dunkelheit und eine Spannung, die Menschen nach der Gesellschaft anderer suchen lässt in den kommenden Stunden.
Auf ähnliche Weise erleben wir in diesen Mauern ein Zusammensein nach Sonnenuntergang nur sehr selten – am Abend des Gründonnerstag und am Reformationstag vielleicht –, und eine Gemeinde, die gar der Mitternacht entgegenblickt, versammelt sich nur noch zu zwei weiteren Anlässen: In der Heiligen und in der Osternacht … in denen es jeweils buchstäblich um’s Leben geht – das Jesus-Leben, in dem Gott weihnachtlich unsere irdische Lebensform zu Seiner und österlich Seinen ewigen Lebensraum zu unserem macht.
Neben diesen einzigartigen Nächten des Christenlebens bietet die heutige eigentlich keinen Grund zur Aufregung, denn ein der Menschwerdung Gottes oder Seinem Sieg über den Menschentod auch nur annähernd vergleichbares Wunder gilt es ja heute nicht zu feiern.
… Bloß das letzte Blättchen des Abreißkalenders wird nachher fallen und dann – meinetwegen symbolisch – seiner früher durchaus praktischen Bestimmung zugeführt: Alles was von 2017 bleibt, taugt nun nur noch, um das Verdaute wegzuwischen. Das Jahr ist abgenagt, sein letztes Blatt am stillen Örtchen ist bald voll. … Was also wäre das, was heute in der Luft liegt, …. weshalb die Leute sich in diesen Spätstunden suchen und besuchen, weshalb sie essen, trinken, tanzen, feiern, lärmen müssen?
… Ehrlichgesagt gibt es darauf keine christliche Antwort: Denn wegen einer reinen Zahlenumstellung, wegen einer Datumsverschiebung müssten wir wohl nicht wirklich hier zusammenkommen.
Als Menschen, die Psalm 90 kennen, steht uns auch sonst vor Augen, dass wir wie ein Gras sind, das am Morgen blüht und sproßt und des Abends welkt und verdorrt, und dass unser Leben schnell dahinfliegt, als flögen wir davon. Als Jünger Jesu könnten wir es zu jeder Stunde ja wissen, dass unser keiner seinem Leben auch nur eine Spanne zusetzen und also auch durch alle Zukunftssorge nichts erreichen kann (vgl.Matth6,27). Und unter den 365 Tagen unserer gewöhnlichen Jahre gibt es keinen, an dem es nicht sinnvoll wäre, die Mahnung des Jakobus (5,14) zu beherzigen: „Ihr wisset nicht, was morgen sein wird. Denn was ist euer Leben? Ein Dampf seid ihr, der eine kleine Zeit währt, danach aber verschwindet er.“
Die Ungewissheit des Zukünftigen und das Erinnern ebenso wie das Vergessen des Gewesenen sind Themen, die wir jeden Tag als Christen meditieren sollten.
Warum also heute abend ein Sondergottesdienst zum bloßen Weiterdrehen eines Zahnrads im Getriebe der Zeit, zum Rieseln des feinen Sternenstaubs, der seit der Stunde Null durch die Sanduhr dieses Universums fällt?
Am ehesten wohl als reine Übungssache.
Damit wir eben gerade das Gewöhnliche dieses aufgeregten Abends begreifen und damit das Alltägliche und „Jedenaugenblickliche“ des Zeitverlaufens, des Weitergehens unserer Tage, des Abnehmens unserer wahrscheinlichen Lebenserwartungen und des Zunehmens der Überraschungen Gottes.
Wir sind als Christen am Altjahrsabend hier, um es nicht zur Ausnahme, sondern zur Regel zu machen, dass wir unsere Existenz in der Zeit, unsere Zeitabhängigkeit und Zeitgebundenheit betrachten und miteinander teilen und – vor allem das! – damit wir unsere Zeit und Zeitgenossen vor Gott bringen.
Und dazu bietet dieser Abend denn tatsächlich eine wunderbare Gelegenheit: Gerade weil er kein kirchliches Gepräge trägt, kein heilsgeschichtliches Datum markiert, sondern ein ganz weltlicher Feierabend ist, ein säkulares, ein internationales und globales und völlig unreligiöses Spektakel voller Vergnügen, kaffeesatzlesendem Aberglauben, voller Rausch, dumpfer Angst und Dummheit, voll auch von Psychohygiene und Reflektion, v.a. voller weltweiter Vernetzung, … einer Vernetzung, die den Staffelstab des Jahres 2018 von Samoa aus – um 15.00h unserer Ortszeit – über Neuseeland, Japan, Nordkorea, China, Myanmar – das undurchschaubare, zwischen Friedensnobelpreis und Völkermord schwankende Land, das gerade in dieser Minute Neujahr feiert – Bangladesch, Nepal, Indien, Afghanistan, Aserbeidschan, Iran, Russland, Griechenland weiterreicht an uns, die wir „2018“ mit Gruß an unsere sich entfernenden britischen Freunde übergeben, um es dann – wenn wir müde in die Kissen sinken – die Kapverden, Brasilien, Argentinien, Neufundland und schließlich morgen früh auch noch die ganze Breite der USA durchziehen zu sehen.
…Und damit rundet sich dann der Kreis, den schon ein einziger Tag um diese ganze Erde knüpft, und wir sind mit dem flächendeckenden Umschlagen des neuen Kalenderblattes einmal in allen Zeitzonen gewesen und haben die Zeitgenossen getroffen und können uns eigentlich wirklich nicht wundern, dass wie die Sonnenbahn eines Tages auch der Lauf der Geschichte inzwischen alles – Nachrichten und Menschen, Glück und Not, Güter und Seuchen, Großes und Kleines – so rasch und rund zu uns allen trägt und wir alle mit allen zusammenhängen. ——
….... Aber bloß um daraus ein „Seid umschlungen, Millionen“-Gefühl abzuleiten, sind wir doch nicht auf der Sylvester-Zeitreise um den Erdball gewesen.
Wir hätten nämlich ein Wesentliches vergessen, wenn wir die Folge der vierundzwanzig Stunden eines Weltentags im Sonnenjahr als hinreichenden Zusammenhalt der Menschen ausmachen wollten.
Denn der Radius der Sonne, die Gott über Böse und Gute aufgehen lässt (vgl. Matth5,45), hat eine Achse ……. und diese Mitte haben wir eben abseits liegen lassen. Alles was Zeit hat und Zeit ist, alle Zeit selber dreht sich – wenn wir jetzt als Christen in dieser Nacht des völkerverbindenden Zeitwechsels darüber nachdenken – … alle Zeiten also drehen sich um die „Gottesfrage“:
Stellt Gott der Zeit die Uhren? Lenkt Er sie? Umfasst Er sie? Ist Gott über oder in oder neben aller Zeit? Ist Er neben oder in oder über aller Welt?
… Die - überraschende - Antwort auf diese zentrale Frage aber können wir hören, wenn wir heute abend inmitten aller Völker der Erde an den Lagerfeuern des wandernden Volkes, des Volks auf dem Umweg aus der Knechtschaft in die Verheißung der Freiheit einkehren.
Denn in jener Wüste, in die Gott die Seinen schickte, weil er ihnen unmittelbar nach dem Aufbruch aus Ägypten noch nicht zumuten wollte, sich sofort dem zu stellen, was sie im Gegenüber zu den anderen Völkern erleben sollten (vgl.2.Mose 13,17), … in jenem toten Winkel der Welt, der bis heute, an Sylvester 2017 umgeben ist von den heißesten Konfliktherden der Geschichte, da ist ein Bild zu sehen und ein Gedanke zu fassen, der die Frage nach Gottes Verhältnis zur Zeit neu ordnet.
Wenn überhaupt, dann vermuten und sagen die Völker ja, dass Gott oder ein Göttliches der Ursprung sei. In tausend Mythen vom Anfang, in allen Philosophien und aufgeklärten Weltmechaniken wird der, der den Beginn setzt, die erste aller Ursachen, der außerhalb aller Veränderung unbewegte Beweger, der urvordenklich lang vergangene Urknall ja irgendwie benannt und eingeordnet, … eingeordnet unter das „Es war einmal“.
Gott erscheint also dem Fernglas des Denkens, Forschens und Phantasierens, wenn es scharf auf „Rückblick“ geschraubt wird.
Und solche Rückschau, solches Versenken und Vertrauen in Vergangenes ist ja kein schlechter, kein falscher Zug des Menschengeistes: Wir alle blicken – nicht nur am Altjahrsabend – oft nostalgisch in die guten alten Zeitzonen zurück, als wir jung waren und die Probleme des Lebens uns vertraut erschienen. Wie reibungslos das damals war, … als die Gewählten noch regieren mochten, … als man noch nicht überall die Falschen wählte, … als noch nicht die unsichtbaren Terrorismus-Maulwürfe die Welt untergruben, sondern nur staatlich gesteuerte Bedrohung den Horizont der Weltmächte absteckte, … als man noch gewissenlos alles verpesten konnte, … als es noch klare Geschlechtergrenzen und zwischen ihnen schön gewohnte Gewalt gab, … als alles noch so lief, wie wir es uns dachten und man wusste, dass nicht nur früher alles besser war, sondern auch das Heute noch bruchlos zum Früher gehörte und man dafür nicht einmal alte, gebrauchte Möbel und ein wenig museale Pfarrhaus-Atmosphäre in die Zeitung setzen musste, weil alles sowieso blieb, wie’s schon immer war. …....
Und ausgerechnet dort (möchten wir ernsthaft wieder dorthin zurück?) … ausgerechnet dort im Alten oder im Nebel davor: Da haben die meisten unserer Zeitgenossen auch noch Platz für Gott. … Bei den Erinnerungen, beim Gewesenen! ———
Aber heute endet nun endgültig und für immer dasjenige Jahr, in dem unsere evangelische Kirche einen – wenn wir ehrlich sind: schon zehnjährigen! – Überfluss an Rückblick gefeiert hat. Heute endet das ganze „Weißt du noch?“, mit dem man nochmal ein halbes Jahrtausend abgeschritten ist, um die Spuren, die Schlachten und Siege und das Versickern und Verschwinden und auch das Wieder-Auftauchen oder einfach Immer-noch-da-Sein und Weitergehen der reformatorischen Entdeckungen und Bekenntnisse und Ausrichtung zu feiern.
2018 wird kein Rückblicks-, kein Jubiläumsjahr mehr sein, sondern die reine, ungeheuer verworrene Gegenwart.
Und gerade dafür ist es ein Segen – in des Wortes vollstem Sinn! –, dass wir heute an Israels langer, anscheinend zielloser und doch von so bleibender Bedeutung erfüllter Wüstenwanderung teilhaben sollen.
Denn auf den Endlosschleifen und labyrinthischen Beschwerdewegen des in die Zukunft ziehenden Volkes zeigt sich ein biblisches Bild, das die Zeit- und Denkverhältnisse in Sachen Gottes umkrempelt: Er ist nicht unsere Rückversicherung, auf Den verfällt, wer alles haben will, wie’s war. Gott ist nicht das verschüttete Fundament, das im Urgrund dazu dient aufrechtzuhalten, was uns bequem und vertraut ist.
Gott ist nicht in der Vergangenheit.
Wir haben Gott nicht hinter uns!
Sondern – das zeigen die Wolken- und die Feuersäule anschaulicher, als jede Theorie es könnte - … sondern wir haben Gott noch vor uns! Immer ist Er uns voraus. Er gehört nicht in die Himmelsrichtung des „Es war einmal“, Er ist nicht die Windrichtung des „Woher“, sondern nur wer das Kommende, nur wer die Zukunft erwartet, soll sich auf Gott beziehen.
Nicht Ewiggestriges, sondern Ewigverheißungsvolles ist es also, wenn Menschen ihr Leben auf Gott ausrichten! —
Diese Wegweisung, diese Lebensrichtung gibt die Erfahrung Israels mit seinem voranziehenden Gott, mit dem Gott, der nicht des alten, sondern des neuen Lebens Zeichen aufrichtet, uns mit in das kommende Jahr: Blickt voraus! Ihr habt Gott noch lange nicht eingeholt: Er ist schon viel weiter und zeigt Euch, dass es auch für Euch, … dass es für alle, … dass es für die Welt insgesamt weiter geht!
… Wenn wir aber am Volk Gottes diese Haltung sehen und mit ihm Gott folgen in seiner Bewegung in’s Unbekannte hinüber, dann drängt wohl etwas von dem Sturm durch unser Denken und Glauben, der nach einem berühmten Philosophenwort „vom Paradiese her weht.“*
Nur dass diese Worte, mit denen Walter Benjamin einst die Idee des Fortschritts in ihrer ganzen Tödlichkeit bezeichnete, sich ändern, wenn man vor sich die Wolken- und die Feuersäule Gottes sieht.
Die katastrophale Weiterentwicklung des Tötens und des Todes, die der wundervolle jüdische Denker Benjamin im 20.Jahrhundert erlebte, das seine ungebremste Wucht dem ebenso fortschritts- wie geschichtsversessenen Erbe des 19.Jahrhunderts verdankte, liegt hinter uns.
Gewiss: Der Sturm der Geschichte, die alles unaufhaltsam zerwirbelt und zerstört, braust immer noch – auch wenn wir scheinbar im Windschatten liegen. Es wirbelt immer noch von Japan, Nordkorea, China, Indien, Afghanistan, Iran, Russland, von Libyen, Sudan, Ägypten, Syrien, der Türkei und Griechenland her, … weiter durch ganz Europa und rüber in die Neue Welt.
Aber anders als das 20.Jahrhundert, das gebannt auf die entfesselten Kräfte der Menschheit starrte, die eigentlich doch als Heilsversprechen galten und sich als Katastrophe erwiesen, … anders als damals ahnen wir Menschen des 21. Jahrhunderts, das heute Nacht seine Volljährigkeit antritt, inzwischen doch dass die Fortschritts- und die Fluchkräfte der Menschheitsgeschichte nicht die einzige Erklärung unserer Herkunft und erst recht nicht unsere letzte Rettung sein können.
Die Geschichte allein, die bloße Zeit, das Aufeinanderfolgen der Kalenderblätter, der Wechsel von Tag und Nacht im Vierundzwanzigstundenrhythmus … sie wären tatsächlich ohne Sinn und vermutlich katastrophal bis zum Ende, wenn sie nur vom Gewesenen her zu sehen, wenn sie nur vom verlorenen Paradiese her zu begreifen wären.
Die Feuersäule in der Nacht, die Wolkensäule im Licht aber zeigen: Nicht die Vergangenheit, sondern das Künftige müssen wir zu suchen lernen.
Gott war nicht, nein, … Gott wird das Heil der Welt!
Darum kann dieser Abend, an dem alle Menschen feiern oder sich fürchten, für uns nur eins bedeuten: Dass wir den Wind und den Sonnenaufgang und den neuen Weg und den aufbrechenden Tag verfolgen, die über uns hinweg und vor uns weiter herziehen. In ihrer Spur werden wir Gott nachkommen.
Denn heute abend gilt, was der Apostel sagt (Phil3,13):
„Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist und jage ihm nach …….“ ———
Und etwas Besseres als eine christliche Kirche, die sich so, bei Tag und Nacht voll Zuversicht auf die Zukunft richtet, … die nicht um das Alte fürchtet, sondern Gott im Neuen vertraut … etwas Besseres können wir keinem Menschen und keinem Volk der Erde geben.
Darum sind wir heute hier.
Amen.
* Auf dem Gottesdienstblatt war die IX. der geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins abgedruckt:
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ (Walter Benjamim, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. I.2, [hgg v. R.Tiedemann u. H.Schweppenhäuser], Frankfurt/M 3.Aufl. 1990, S.697f.)
Heiligabend, Christvesper, Mutterhauskirche, "Rom oder Bethlehem", Ulrike Heimann
Thema: „Rom oder Bethlehem - Augustus oder Jesus"
Liebe Gemeinde,
jedes Jahr hören wir sie wieder, die Weihnachtsgeschichte des Lukas, die gute Nachricht schlechthin; eine Geschichte angefüllt mit Bildern, die zu uns sprechen - auch ohne Auslegung; eine Geschichte - erdacht und aufgeschrieben, um eine Botschaft zu den Menschen zu bringen, die sie betrifft mit Haut und Haaren, als Wesen mit Verstand und Gefühl.
Kein Märchen für verträumte Stunden am Kamin, sondern der - wie ich meine - gelungene Versuch, die Geschichte Gottes, die Heilsgeschichte, einzuwurzeln in unsere profane Weltgeschichte, die Wirklichkeit Gottes aufleuchten zu lassen in der Realität unseres Alltags.
Die Weihnachtsgeschichte antwortet auf die tiefste Sehnsucht des menschlichen Herzens nach einer Heilung der Zerrissenheit unseres Lebens, nach Wiederbringung des Paradieses nicht als weltfremde Idylle, sondern als Ort in dieser Welt, wo Gott und Mensch sich begegnen.
Ich lade sie ein, mit mir nachzuspüren, wie diese Begegnung Gott und Mensch aussieht, das Aufeinandertreffen von Heilszeit und Weltzeit - und was sie für beide Teile bedeuten.
„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot ausging von dem Kaiser Augustus ..." Mit dieser Weltzeit-Ansage beginnt der Evangelist seine Geschichte. Es ist die Zeit des Kaisers Augustus. Augustus ist nun nicht irgendein Herrscher vor 2000 Jahren, sondern er ist der Herrscher der damaligen Welt. Er ist der Repräsentant aller denkbaren Macht - was sich ja in seinem zum Eigennamen gewordenen Titel niederschlägt: „Augustus" - der Erhabene, der Anzubetende. Der erste „Gott-Kaiser". Bei ihm lief nicht nur alle weltliche Macht zusammen, sondern er war auch Träger religiöser Hoffnungen und Erwartungen. Das macht eine Inschrift, die 1890 in der Stadt Priene in Kleinasien entdeckt wurde, eindrücklich klar. Dort heißt es anlässlich der Einführung des julianischen Kalenders am Neujahrstag des Jahres 9 v.Chr., der gleichzeitig Geburtstag des Kaisers war: „Dieser Tag, der Geburtstag des Kaisers, hat der Welt ein anderes Gesicht gegeben. Sie wäre dem Untergang verfallen, wenn nicht in dem heute Geborenen für alle Menschen ein gemeinsames Heil aufgestrahlt wäre .... Wer richtig urteilt, wird in diesem Geburtstag den Anfang des Lebens und der Lebenskräfte für sich erkennen ... Die Vorsehung, die über allem Leben waltet, hat diesen Mann zum Heile der Menschen mit solchen Gaben erfüllt, dass er uns und den kommenden Geschlechtern als Heiland gesandt ist. Jedem Krieg wird er ein Ende setzen und alles herrlich machen. In seiner Erscheinung sind die Hoffnungen der Vorfahren erfüllt. Er hat nicht nur die früheren Wohltäter der Menschheit allesamt übertroffen, es ist unmöglich, dass je ein größerer käme. Mit dem Geburtstag des Gottes beginnt für die Welt das Evangelium, das sich mit seinem Namen verbindet."
Ich denke, wer diesen Text zum ersten Mal gehört hat, ist genauso überrascht, wie ich es war, als ich ihn zum ersten Mal gelesen habe. Die Wortwahl weist unübersehbare Parallelen zu den Texten der biblischen Verkündigung an Weihnachten auf. „Heil strahlt auf", Augustus wird „Heiland" genannt, er bringt ein „Ende des Krieges", in ihm erfüllen sich die „Hoffnungen der Vorfahren", mit seinem Namen verbindet sich das „Evangelium". Diese Worte haben auch eine Entsprechung in der bildenden Kunst. Auf dem Deckblatt des Gottesdienstprogramms sehen sie die Statue des Augustus. Ins Auge fallen der prachtvoll dekorierte Brustharnisch, die gebieterisch die Richtung weisende Hand, die Lässigkeit, mit der er das lanzenförmige Zepter hält. Einsam und unnahbar steht er auf seinem Sockel, steht er da als Herr der Welt, die ihm zu Füßen liegt.
Zu allen Zeiten haben solche Herrschergestalten die Menschen gleichzeitig erschreckt und fasziniert. Ihre unermessliche Macht, diese Macht über Wohl und Wehe der ihnen untergebenen Menschen, diese Macht über Leben und Tod - sie ließ sie über das menschliche Maß hinauswachsen, machte sie zu Trägern göttlicher Verehrung. Wer, wenn nicht sie, wären in der Lage, aus ihrer Machtfülle heraus die Missstände und Nöte der Zeit und Geschichte zu beheben? Wer, wenn nicht der, der die größten Heere unter seinem Oberbefehl hat, kann der Welt den Frieden bringen?
Und damals, zur Zeit des Augustus, herrschte da nicht „Pax augustana", war seine Zeit nicht eine Zeit des Friedens - alle Aufstände niedergeworfen, alle Provinzen eingegliedert in die römische Verwaltung, die Grenzen des riesigen Reiches befestigt und von vielen Legionen gesichert?
War es also ein Wunder, dass die Menschen in ihm den göttlichen Heilsbringer sahen?
Die politischen Entwicklungen in den letzten Jahren halten uns doch klar vor Augen, dass offensichtlich keine Gesellschaft, auch keine der Demokratien in der westlichen Welt davor gefeit ist, dass nicht in ihrer Mitte auf einmal einer auftritt, der sich als starker Mann präsentiert, der's schon richten wird, der sich die Wirklichkeit so zurechtbiegt, wie es ihm passt; und wenn er nur dreist genug ist und dabei auch noch über das nötige Kleingeld verfügt, dann wird ihm „geglaubt". Der Verstand bleibt außen vor.
Ist solch eine Gestalt nicht eine immerwährende Versuchung in unserem Denken? Einfach deshalb, weil „Groß-Sein", „Mächtig-Sein", „Reich-Sein" für uns Werte sind, die uns anziehen? Werte, an die wir glauben, weshalb sie für uns zu göttlichen Werten geworden sind. Sodass Menschen geradezu Gott in denen zu begegnen meinen, die in großem Maße über Macht, Ansehen und Reichtum verfügen. Denn darin haben sie ja Anteil an Gott, an seiner Macht, an seinem Reichtum. Darum strecken sie sich aus nach Macht, Ansehen und Reichtum, streben sie nach oben.
Wie hieß es in der Inschrift: „Mit dem Geburtstag des Gottes beginnt für die Welt das Evangelium, das sich mit seinem Namen verbindet."
Wir merken: die Zeit des Augustus ist eben mehr als nur eine historische Zeitangabe. Sie steht vielmehr für ein Menschen- und Gottesbild, das geboren ist aus der Liebe zur Macht.
Das Evangelium des Augustus - ein Evangelium, eine frohe Botschaft für die, die an solcher Macht Anteil haben, die davon ziemlich ungeniert profitieren. Aber das war damals und ist es bis heute eine kleine Minderheit, global wie lokal. Für die überwältigende Mehrheit sah und sieht das Evangelium des Augustus ganz anders aus. Darüber gibt z.B. der Bericht des Römers Laktanz über den Ablauf römischer „Volkszählungen" Auskunft. Dort heißt es:
„Die Steuerbeamten erschienen allerorts und brachten alles in Aufruhr. Die Äcker wurden Scholle für Scholle vermessen; jeder Weinstock und Obstbaum wurde gezählt, jedes Stück Vieh registriert, die Kopfzahl der Menschen wurde notiert. In den Städten wurde die Bevölkerung zusammengetrieben, alle Marktplätze waren verstopft von herdenweise aufmarschierenden Familien. Überall hörte man das Schreien derer, die mit Folter und Stockschlägen verhört wurden; man spielte Söhne gegen Väter aus, die Frauen gegen ihre Ehemänner. Wenn alles vergeblich durchprobiert war, folterte man die Steuerpflichtigen, bis sie gegen sich selbst aussagten. Und wenn der Schmerz gesiegt hatte, schrieb man steuerpflichtigen Besitz auf, der gar nicht existierte. Es gab keine Rücksichtnahme auf Alter und Gesundheitszustand."
Dagegen setzt Lukas sein Evangelium - ein Evangelium für die, die unter der Machtentfaltung des römischen Imperiums leiden, die sich nicht im Glanz von Ansehen und Reichtum sonnen können. Ein Evangelium für die, die von den römischen Steuereintreibern ausgepresst werden, für die, die von den anständigen Bürgern gemieden als Hirten ihr kümmerliches Dasein fristen, Gestalten der Nacht, Menschen auf der Schattenseite des Lebens. Ein Evangelium unter völlig anderen Vor-Zeichen: nicht ein Mann ausgestattet mit Macht, Reichtum und Ansehen, sondern ein Säugling, hilflos, ganz und gar angewiesen. „Das habt zum Zeichen: ihr werdet finden ein Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen." Während sich dem Kaiser Augustus als Sohn Gottes die Welt zu Füßen legt, legt sich in diesem Kind Gott selbst der Welt zu Füßen. Ohne Harnisch, ohne Zepter, ohne Lanze - wehrlos in einem Futtertrog.
Wahrhaftig - ein anderes Evangelium!
Die Begegnung Gott - Mensch, eine Begegnung der anderen Art. Ganz anders als bis dahin Menschen sie gedacht haben. Beileibe keine Idylle, wie viele Krippendarstellungen sie hervorrufen, sondern für die Zeitgenossen des Lukas eine unerhörte Provokation. Das Evangelium, das sich mit diesem Namen, mit Jesus, verbindet, das ihn den Heiland nennt, es stellt alle bis dahin gültigen Werte und Vorstellungen von göttlicher Macht auf den Kopf. Rom, auf das alle Straßen der Welt zulaufen, rückt an den Rand - und ein Stall im Rande der kleinen Siedlung Bethlehem in der judäischen Provinz rückt in den Mittelpunkt. Und mit ihm alle die, über deren Existenz die Weltgeschichte achtlos hinweggeht - damals wie heute. Und das deshalb, weil sich Gott so überraschend anders zu erkennen gibt.
Gott wird schwach in dem Kind - damit wir uns unserer Schwachheit nicht mehr schämen brauchen.
Er wird verletzlich und verwundbar - damit wir nicht mehr Stärke vorspielen müssen.
Er wird hilfsbedürftig - damit wir fähig werden, unsere Hilfsbedürftigkeit anzunehmen.
Er wird klein und unscheinbar, damit wir unseren „Gotteskomplex" loswerden, d.h. unser krampfhaftes Bemühen, uns immer nach oben hin zu orientieren. Wir brauchen nicht mehr alles darum zu geben, in die erste Reihe zu kommen, auf den ersten Platz, auf die Titelseite, weil wir glauben, dass sich da unser Lebenstraum erfüllt. Wir brauchen uns nicht selbst zu inszenieren wie Augustus, wie heute Donald Trump, Wladimir Putin und Recep Erdogan. Da oben gibt es nichts zu gewinnen, da verlieren wir uns nur selbst, auf jeden Fall unseren Anstand, jedes ethische Maß und unsere Fähigkeit zur Empathie.
Das Evangelium, das sich mit dem Namen Jesus verbindet, macht das Kleine groß, befreit uns weg von dem Streben nach Größe hin zu den Menschen an unserem Weg. Der, der da in der Krippe liegt, wird einmal von sich sagen: „Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich bekleidet; ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu Essen gegeben, ich war einsam, und ihr habt mich besucht. Denn was immer ihr irgendeinem der Kleinen und Geringen getan habt, das habt ihr mir getan."
Das Evangelium des Lukas, es ist eine Geschichte von der Macht der Liebe, die er den Menschen einer Welt und Zeit erzählt, deren Geschichte geprägt ist von der Liebe zur Macht.
Und das ist - Gott sei es geklagt - nicht nur die Welt und Zeit des Augustus vor 2000 Jahren, sondern das ist auch unsere Welt heute. Es ist das Evangelium für alle die, die am Rande leben - global wie lokal - und für die, die die Menschen am Rande und im Abseits in ihre Hoffnungen auf Heil und Frieden miteinschließen. Es ist das Evangelium für die, die nicht nach oben streben, sondern die sehen und wissen, was „unten" geschieht. Diese Menschen hören: Gott begegnet euch in eurer Dunkelheit, in eurer Schwachheit, in eurer Not. Da unten, da ist er, da legt er sich in seiner Liebe euch zu Füßen und schenkt euch damit Würde und Ansehen. Diese Botschaft ist so unerhört neu, dass Lukas sie nur verstehen kann als Botschaft von Engeln gesagt. Wie hätte sie auch von Menschen, die eingebunden, ja ausgeliefert sind in die Sehweise und in die Wertevorstellungen ihrer Zeit, wie hätte sie von diesen erdacht werden können?
Und so kommt sie heute Abend auch an uns heran als ein Evangelium aus einer anderen Welt, in der andere Maßstäbe, andere Werte gelten als in der Welt des Augustus, als eine Botschaft aus Engelmund. Und auch uns rufen sie zu: Fürchtet euch nicht! Lasst euch ein auf etwas ganz anderes, auf etwas völlig Neues: auf die Heiligung des Kleinen, auf die Bewegung hin zu denen, die schwach sind und hilfsbedürftig. Betrachtet die Welt aus der Perspektive Gottes, nämlich von unten. Entdeckt in den Kleinen und Schwachen, in den Armen und an den Rand gedrängten Gottes Macht als Macht der Liebe, die Heil schafft von unten her.
Und wie die Hirten gilt es auch für uns: dass wir hingehen müssen, um zu sehen, was geschehen ist. Dass wir uns auf den Weg machen müssen, Gott in seiner Verletzlichkeit zu finden, mit der er uns aufruft zur Liebe und Zuwendung. Und indem wir zur Liebe finden, indem wir unser Herz anrühren lassen zur Liebe gegenüber dem, der schwach und verletzlich ist, wie ja ein neugeborenes Kind ein einziger Anruf an fürsorgende Liebe ist, werden uns ungeahnte Kräfte und Möglichkeiten zuwachsen. Indem wir tatkräftig lieben, ehren wir Gott und lassen wir den Gott der Liebe wahrhaft mächtig und groß unter uns sein.
Amen.
2.Christtag 2017 Stadtkirche Offenbarung 7, 9 - 12 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Christtag 2017
Offenbarung 7, 9 – 12
Liebe Gemeinde!
Pfingsten ist nicht Weihnachten.
Der Hauptunterschied dabei dürfte sein, dass eine Publikumsbefragung auch heute noch zutage brächte, dass viele Menschen die Weihnachtsgeschichte – die Ursache des Festes mithin – kennen. Bei Pfingsten – das lehrt eine Erkundigung auch unter den Getauften auf’s Ernüchterndste – ist alles andere der Fall.
Und doch lassen sie sich nicht trennen, sondern verhalten sich wie das Wasser und die Gießkanne oder das Guthaben und der Geldautomat: Weihnachten ohne Pfingsten käme nicht an, schlüge nicht ein, erreichte gar nichts.
Denn Weihnachten ohne Pfingsten wäre bloß:
Ἐγένετο δὲ ἐν ταῖς ἡμέραις ἐκείναις ἐξῆλθεν δόγμα παρὰ Καίσαρος Αὐγούστου ἀπογράφεσθαι πᾶσαν τὴν οἰκουμένην. αὕτη ἀπογραφὴ πρώτη ἐγένετο ἡγεμονεύοντος τῆς Συρίας Κυρηνίου. καὶ ἐπορεύοντο πάντες ἀπογράφεσθαι, ἕκαστος εἰς τὴν ἑαυτοῦ πόλιν. Ἀνέβη δὲ καὶ Ἰωσὴφ ἀπὸ τῆς Γαλιλαίας ἐκ πόλεως Ναζαρὲθ εἰς τὴν Ἰουδαίαν εἰς πόλιν Δαυὶδ ἥτις καλεῖται Βηθλέεμ, διὰ τὸ εἶναι αὐτὸν ἐξ οἴκου καὶ πατριᾶς Δαυίδ, ἀπογράψασθαι σὺν Μαριὰμ τῇ ἐμνηστευμένῃ αὐτῷ, οὔσῃ ἐγκύῳ. ἐγένετο δὲ ἐν τῷ εἶναι αὐτοὺς ἐκεῖ ἐπλήσθησαν αἱ ἡμέραι τοῦ τεκεῖν αὐτήν, καὶ ἔτεκεν τὸν υἱὸν αὐτῆς τὸν πρωτότοκον, καὶ ἐσπαργάνωσεν αὐτὸν καὶ ἀνέκλινεν αὐτὸν ἐν φάτνῃ, διότι οὐκ ἦν αὐτοῖς τόπος ἐν τῷ καταλύματι.
… Es wäre einfach nicht das selbe und hätte sich kaum durchgesetzt.
Dass Weihnachten Weihnachten ist, liegt nicht zuletzt nämlich auch am vertrauten, kanzlei-sächsischen, großvater-seligen, weihnachtoratorischen, kindheitsvollen, heilig-heimeligen:
„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde, und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger von Syrien war. Da machte such auf auch Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth in das jüdische Land … (heißt seit der Bibelrevision dieses Jahres wieder geographisch-korrekt das „judäische“ Land und verwirrt doch nur [so viel zum Vertrauten] …).
Ohne dass es also Eingang in unsere Sprache und durch die Sprache in unser Bewusstsein und unsere Kultur gefunden hätte, wäre aus dem Ereignis von Bethlehem in des Augustus Tagen nie etwas so Bleibendes, so Zivilisationsstiftendes, so seelisch tief Entscheidendes geworden.
Doch so wunderbar und wichtig demnach Pfingsten – der geistvolle Vorgang der Übersetzung und Aneignung – auch ist und immer sein wird, … so lässt sich doch nicht übersehen, dass die notwendige Tatsache der Eindeutschung von Weihnachten auch dessen allmähliche Verwandlung bedeutet.
Denn das Evangelium von Christi Geburt und deren Feier sind ja nicht nur „verdeutscht“ worden, sondern auch in alle anderen Sprachen und Sitten der Völker übertragen. …. Und was für uns seitdem der Kern und das Wesentliche an Weihnachten sein mag, ist für unsere Nachbarn, für unsere christlichen Geschwister überall nur sonderbare Eigentümlichkeit und unerklärliche Ablenkung. Der Schmuck und die Melodien, der Duft und die Erinnerungen, die uns nach Bethlehem oder in den Himmel versetzen oder an die Hand unserer Toten, die alles das einst mit uns teilten, … sie sind von Landstrich zu Landstrich, von Erdteil zu Erdteil, von Geschlecht zu Geschlecht verschieden und sie bleiben unvermittelbar, … fremd.
Allein schon, wenn unsere allernächsten Mitchristen im Hirtenamt oder in ihren Weihnachts-messen die sog. „Einheitsübersetzung“ aufschlagen und man vernimmt:
„Es geschah aber in jenen Tagen, dass Kaiser Augustus den Befehl erließ, den ganzen Erdkreis in Steuerlisten einzutragen. Diese Aufzeichnung war die erste; damals war Quirinius Statthalter von Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete. Es geschah, als sie dort waren, da erfüllten sich die Tage, dass sie gebären sollte, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war …“
… allein dann schon fragen wir uns ja unwillkürlich: Ist das noch das Hochfest der Geburt des Herrn oder nicht doch eher ein Abendschulkurs in Bürokratendeutsch? —
So hat also der pfingstliche Weg zu den Völkern der Welt zu volkstümlicher Vervielfältigung der Weihnachten geführt, und keine Weihnacht – gemeint ist: kein christliches Weihnachtsfest –, die doch zur selben Zeit gefeiert wird, gleicht dem anderen. …….
Welches Weihnachten aber wäre denn dann das echte?
Streng liturgische Feiern oder das traute hochheilige Wohnzimmer-Fest?
Die kirchliche Straßenfrömmigkeit des Südens, die musikalische Hochkultur der Mitte, die herb-heidnische Freude an den Winter-Lichtern im Norden Europas?
Gibt es eine unter diesen vielen deutenden, spielerischen, tiefsinnigen Aneignungen des Christfestes, die dem Original besonders nahe käme? … Und wie können wir uns überhaupt dieses eigentliche Weihnachten und seine ursprüngliche frohe Botschaft, wie können wir uns die Urfassung dessen vorstellen, was wir vorgestern, gestern und heute gottesdienstlich nachvollziehen? … So, dass das Aramäisch, das in jener ersten heiligen Nacht gebraucht worden sein muss, als das gesprochene Wort gilt, … oder doch eher das griechisch geschriebene Wort der Evangelien … oder jene gedolmetschten Texte, die für jeweils ein Volk, eine Kirche kanonisch geworden sind? ……. ———
Alle diese Nachforschungen nach dem Wortlaut der Weihnacht sind jedenfalls mehr als Haarspalterei, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass wir hier die Fleischwerdung des Wortes betrachten.
Denn dass Gottes Wort Mensch wurde: Das ist die erste und fundamentalste Übersetzung, mit der unser Glaube beginnt.
Doch dieser Übergang aus dem unsäglichen Geheimnis des Gotteswortes in die Menschenwirklichkeit stellt uns ja sofort auch vor Augen, dass die Suche nach dem einen, einzigen, ersten und ewigen Sinn, auf den alle Übertragungen zurück verweisen, aussichtslos ist!
Weil Gottes Wort schlicht alles ist und alles umfasst, weil es alles enthält und alles vermittelt, darum kann es keine allein angemessene Übersetzung dafür geben, sondern nur ein „Weihnachtspfingsten“, das die menschlich gewordene Geschichte Gottes, das die Geschichte des einen Menschen Jesus in den Glauben und das Leben unzähliger anderer Menschenkinder einträgt und jedem davon sein eigenes Verstehen, seinen eigenen Reim darauf eröffnet.
Gottes Wort wurde ja genau deshalb Mensch, dass nicht alle unsere Erfahrungen und Überzeugungen und Gebete und Hoffnungen zurückgeführt werden müssen in eine einzige Urform, sondern dass es tausend Echos und Antworten, tausend Aneignungen und Entwicklungen geben solle, die alle von diesem einen lebendigen und als Mensch den Menschen verständlichen Jesus Christus ausgelöst werden.
Darum geben ihn die zeit- und endlosen Gesänge der griechischen Mönche genauso wieder wie der Andachtsjodler der frommen Tiroler; ihn preist der vollorchestrierte Händel’sche „Messias“ ebenso gut und getreu wie der monotone Trommelrhythmus des äthiopischen Priesters im Hochland von Abessinien; von ihm zeugen einfachste Tagebucheintragungen voller Stoßseufzer der Not nicht minder zuverlässig als ausgefeilteste literarische Kompositionen und Lehrgebäude.
Das eine Wort Gottes, das in Jesus Christus zum schreienden Neugeborenen und zum lachenden Kind, zum tröstenden Meister und zum predigenden Rabbi, zum betenden Nachtwacher und zum schweigenden Opfer, zum winselnden Todeskandidaten und zum segensjauchzenden Sieger geworden ist – das eine Wort Gottes kann niemals aufhören, sich durch den Menschen mit allen seinen Ausdrucksmitteln mitzuteilen, … unbegrenzt, … von Neufassung zu Neufassung, … von Akzentverschiebung zu Akzentverschiebung, … von anhänglich auswendig gelernter Weitergabe zu neuer sprachschöpferischer Begeisterung … und fort und weiter … und darüber hinaus.
……. Immer wird das Wort übernommen und übersetzt und überliefert werden und darum kann es keine christliche Einheitssprache und auch keine Einheitsübersetzung geben und auch keine Einheitsweihnacht, sondern nur den Formen- und Gestaltreichtum der Menschheit auf den vielen Wegen zur Krippe, auf den vielen Wegen zu Gott. ——
Aber was, wenn die deutsche Ordnungsliebe und wenn der Wunsch nach sauberer theologischer Systematik uns immer noch die Frage stellen, ob es denn dann gar nichts eindeutig Gemeinsames in der Christenheit geben werde, ob denn gar keine Aussicht auf Gleichlaut und Übereinstimmung bestehe? – Nun, dann blicken wir heute, am zweiten Tag der Weihnachtsfeier auf, … dorthin, von wo die Weihnachtsbotschaft zuerst zu den Analphabeten kam, die sie hören und glauben und mündlich, nach ihrer Façon und zum Kopfschütteln ihrer Hörer weitersagen sollten.
Und was sehen und hören wir dort, … im Himmel hoch, wo wir die eine Form und Fassung der Wahrheit, die dann bitte schön für alle stimmen soll, wo wir die „Einstimmigkeit“ vermuten könnten?
… Was hören und sehen wir im Himmel, in der Menge der himmlischen Heerscharen?
Nun, das was Ihnen auf dem Gottesdienstblatt in der Muttersprache vieler Russlanddeutscher – dem „Plautdietschen“ – und auf Portugiesisch und Finnisch und Hindi und Ungarisch und Thai und Maori vorliegt*. Wir hören und erleben im Himmel die himmlische Vielstimmigkeit und die menschheitliche Mehrsprachigkeit, wenn es dort heißt:
Danach sah ich, und siehe, eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen in ihren Händen, und riefen mit großer Stimme: Das Heil ist bei unserm Gott, der auf dem Thron sitzt, und bei dem Lamm!
Und alle Engel standen rings um den Thron und um die Ältesten und um die vier Wesen und fielen nieder vor dem Thron auf ihr Angesicht und beteten Gott an und sprachen: Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.
In Gottes eigener Gegenwart löst sich der Chor der unüberschaubar vielen, mal harmonischen, mal sich reibenden Stimmen der Menschheit nicht auf in homophones Wohlgefallen, sondern was immer an Irdischem dort nicht mehr hinreicht und nicht mehr gilt: Jene menschlichen Unterschiede, die wir ethnisch und kulturell nennen, sie bezeichnen offenkundig immer noch auch die Gemeinde, die schon bei Gott ist. Dass wir verschiedene Sprachen sprechen und unterschiedliche Bräuche pflegen, dass wir nicht alle die gleiche Geschichte und vergleichbare Erfahrungen mitbringen, das also hindert nicht, dass alle dennoch den einen wahren Gott anbeten und ihm mit großer Mehrstimmigkeit das Lob der Völker und Engel bringen.
Für diese Schar, die niemand zählen kann, wie sie vor dem Thron und dem Lamm stehen, … für diese Schar muss man sich im Namen des Christentums den blauäugig verhackstückten Begriff des „Multikulturellen“ zurückwünschen.
Wohlgemerkt nicht im Sinne der großen Gleichgültigkeit, die nichts ändern, die keinen befreien und niemanden erziehen will, sondern in der christlichen Orientierung, die keinem Menschen das Seine nehmen, aber jeden Menschen mit all dem Seinigen von Herzen gern am Throne Gottes und des Lammes sehen will.
Denn auch wenn es in die Zeit der Entchristlichung Deutschlands nicht passen mag, in der unsere eigenen Traditionen und unser eigenen Formen – seien’s gottesdienstliche, seien’s geistliche – immer fremder werden: Es bleibt dennoch der frömmste aller Wünsche, dass sich andere Völker und andere Sitten mit allem ihrem Reichtum nicht ebenso auflösen, sondern dass sie Wege finden, die das Abwechslungsreiche und Andersartige der Menschenkinder friedlich auf die bleibende Mitte, auf die überreiche Fülle Gottes hin lenken.
Das Ziel der Welt ist nämlich kein Einheitshimmel, sondern das Gotteslob aus der Vollzahl heller und tiefer Stimmen von Kindern, Männern und Frauen; das Ziel der Heilsgeschichte ist die bleibende Mischung der Temperamente und Kulturen aus allen vier Winden, weil sie allein die Größe Gottes wiedergeben kann; und dem äußeren Ziel der Versöhnung durch Christus entspricht im Herzen der Gemeinde die Durchdringung des Leidenschaftlichen und Besinnlichen, … des Geliebt-Gewohnten mit dem Sonder-Wunderbaren, … die Gegenseitigkeit des Gebens und des Nehmens dort, wo aller Segen ist.
Weihnachten will also pfingstlich vollendet werden. Und jeder Vorgeschmack, dass Christus, das Heil der Welt der Heiland aller Völker ist, kann uns nur freuen.
Die vielen persisch sprechenden Glaubensgeschwister an unserem Tisch im Pfarrhaus am diesjährigen Heiligabend, … die bunte Kinderschar, mit Wurzeln auf allen Kontinenten, die in der diesjährigen Weihnachtsansprache der britischen Königin als Chor zu hören war, … die zunehmende Vertrautheit der Jugendlichen unserer Gemeinde, die Weihnachten jetzt zu Hause verbringen, mit vielen, vielen andern Ländern, andern Sitten … das alles zeigt uns:
Die Schar wächst!
Weihnachten verbreitet sich!
Das Lied, das alle Nationen und Stämme und Völker und Sprachen miteinander singen werden, wird immer stärker:
„Amen. Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“
– Oder wie es in einer Sprache, die längst nicht mehr den Zwang zur Einheit bedeutet, sondern die Mutter vieler Sprachen geworden ist, lautet:
„Amen benedictio et claritas et sapientia et gratiarum actio et honor et virtus et fortitudo Deo nostro in saecula saeculorum amen.”
* Der Bibeltext Offenbarung 7, 9-12 war auf dem Gottesdienstblatt in diesen Sprachen – kommentarlos – abgedruckt-
1.Christtag 2017 Stadtkirche 1.Johannes 3, 1 - 6 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Christtag 2017
1.Johannes 3, 1 – 6
Liebe Gemeinde!
Christi Geburt ist der Anfang vom Ende des Glaubens.
Das ist ein ganz biblischer Satz, insofern ja beide Teile der Bibel sich darin einig sind, dass Glauben - wie der Hebräerbrief es ausdrückt - ein Nichtzweifeln an dem bedeutet, was man nicht sieht (vgl.Heb.11,1), und die Unsichtbarkeit nun einmal - wie die Zehn Gebote uns lehren - das Wesen Gottes ausmacht.
Der unabbildbare und unvorstellbare Gott ist also wirklich nur dem Gehör und dem Gehorsam zugänglich, nicht aber dem Gesicht und der Anschauung.
Doch diese sinnvolle und sachgemäße Ordnung – dass in geistlichen und ethischen Frau-gen nichts Äußeres, sondern nur Inhaltliches zählt – diese Ordnung, die Israel und der Islam bis heute in anspruchsvoll abstrakter Bilderlosigkeit wahren, sie ist durcheinander gebracht, sie lässt sich nicht mehr durchhalten seit Christi Geburt.
… Wundern sollte einen das zunächst nicht. … Jede Geburt bedeutet ja Anarchie: Was bisher ehernes Gesetz oder geheiligte Gewohnheit war, wird durch ein Neugeborenes so ungerührt außer Kraft gesetzt, als gäbe es kein Gestern. Geburten sind immer eine Zeitachse, die das Vorher und das Nachher trennt. Und heute erleben wir in nie dagewesener Weise, dass das gerade auch für die Bilderfrage zutrifft: Wer bisher sparsam aufmerksam durch’s Leben ging, wird durch sein Kleinkind scheinbar hormonell umprogrammiert und verhält sich alsobald wie ein wilder Papparazzo, dem keine Nebensache zu albern für das verschwenderische Alles-Abbilden ist.
Wer je einen Kindergartengottesdienst erlebt hat, weiß wie Kinder jedes Bilderverbot aufheben. Auf Teufel komm raus wird da geknipst, gefilmt, geschossen und gezoomt.
… Und auch wenn es fern liegen sollte, diese rücksichts- und sinnlose Praxis schönzureden, lässt sich doch nur verblüfft feststellen, dass etwas Ähnliches in der Bibel vor sich zu gehen scheint und seitdem die Kirche prägt. Aus der dem Buchstaben nach völlig bilderlosen Welt Israels – von der wir zwischen den Zeilen der Bibel allerdings auch schon hören, dass sie sich immer neue Bildnisse machte –, … aus der Welt der zweiten Gebotes vom Sinai wird mit dem Augenblick von Christi Geburt eine andere.
… Nicht dass irgendjemand dort dem Kind von Bethlehem oder dem Mann aus Galiläa auf Schritt und Tritt gefolgt wäre, um alle seine großen Augenblicke auch bildlich zu fixieren, – viel zu sehr waren seine Zeugen ja durch ihr Hinhören, durch ihr Staunen, ihr Fragen, ihr Begreifen, ihre Dankbarkeit, ihre Zweifel, ihren Glauben in Anspruch genommen. Und dennoch: Jesus, der Menschensohn, Jesus, das Krippenkind, Jesus der Gekreuzigte, ja, auch Jesus der Auferstandene war sichtbar!
Das war in der Hör- und Denkwelt der Bibel etwas Revolutionäres.
Ein neuer Sinn wurde angesprochen, die Augen ließen sich einfach nicht mehr verschließen davor, dass hier in Sehweite und im Blickkontakt begegnete, was bisher gestaltlos hatte sein müssen und wollen: Die Heiligkeit, die Barmherzigkeit, die Ewigkeit, die Menschenliebe Gottes.
Und auch wenn die Jünger in den Sternstunden ihres Herrn geblendet waren oder fehlten – keiner hatte den Stern von Bethlehem selber erblickt, niemand vermochte den Glanz der Verklärung auszuhalten, kein Auge hatte gesehen, wie der Blitz der Auferweckung die Finsternis des Grabes durchbrach – das Evangelium von Jesus Christus hatte doch dem Glauben die Augen aufgetan: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“, so lautet der Kernsatz des Menschwerdungshymnus im Johannesevangelium (1,14), der für uns so unlöslich zu Christi Geburt gehört und der es sofort auf den Punkt bringt: Göttliche Gnade und Wahrheit im Fleisch schafft etwas Niedagewesenes: Augenzeugen des wahren Gottes.
Diese Urerfahrung der apostolischen Zeit aber wirkt seither durch alle Zeiten weiter.
Schon Paulus, der erste und zentrale Nicht-mehr-Augenzeuge, der durch eine Vision, die ihn zwar blendete, aber eben doch sein Gesicht betraf, zu Christus kam, konnte die von ihm für den Glauben gewonnenen Galater mahnen: „O ihr unverständigen Galater! Wer hat euch bezaubert, denen doch Jesus Christus vor die Augen gemalt war als der Gekreuzigte?“ (Gal3,1).
Mit anderen Worten: Was bisher als unangemessen ausgeschlossen war, ist durch Christi Geburt zu einer nötigen Form der Gottesbeziehung geworden: Hinschauen! Sehen! Sinnliche und körperliche, also auch weltliche und praktische und in alledem empathische Wahrnehmung gehört zu unserer Bindung an den in’s Menschliche gekommenen Gott dazu!
Niemals können Christen, denen Gott sich mit zwei Ärmchen und zwei Beinchen zeigt und einem uns verwechselbar ähnlichen Gesicht und den gleichen Organen und den selben Symptomen wie wir …, niemals können Christen mehr anders, als die Züge und Spuren Gottes im Nächsten, im Fremden und in sich selbst zu entdecken – sei’s im Christkind oder im Flüchtlingskind, sei’s im Toten des Turiner Grabtuches oder in der Auferstehungsrakete des Isenheimer Altars! ——
Diese „ästhetische“, also anschauliche Ader des Christentums, diese Indienstnahme des Sehsinnes hat nun aber nicht nur die visionäre Kraft und die künstlerische Phantasie und die gestaltete Schönheit in der Kirchengeschichte gestärkt, sondern noch eine viel tiefere Quelle freigelegt:
Wenn wir uns an der Krippe oder dem Kreuz Jesu in Gottes Antlitz – lachend, leidend – einsehen, wenn wir uns darein vertiefen, dann geschieht etwas, das man in unserer Sprache früher – vor den Papparazzi – ganz anders ausgedrückt hat, als es uns heute geläufig ist. Heute sprechen wir von „Abbildungen“, die wirklichkeitsnah und von „Einbildungen“, die unwirklich sind. Früher aber, als man das nutzbringende Werk des Töpfers und die rechtliche Notwendigkeit des Siegelns in heißem Wachs noch alltäglich vor Augen hatte, sprach man hingegen vom „Einbilden“, wenn man eine ganz unzerstörbare, prägende Form des Wahrnehmens meinte!
Und so ist keinerlei Täuschung, sondern der wirklich bleibende Eindruck gemeint, wenn es heißt, dass der stete Blick auf Jesus, die ständige Schau des Menschgewordenen uns mit der Zeit und Ruhe Gott tatsächlich einbildet!
Wer meditierend, lesend, betend, betrachtend auf Jesus sieht, der wird nicht wie bei Abbildern von Gott abgebracht, sondern dem prägt sich Gott ein, der nimmt in sich selber allmählich die Form der reinen, hingegebenen Liebe an, wie der nasse Lehm, aus dem wir ursprünglich geformt wurden zu Gottes Ebenbild.
Und aus dieser Beziehung zwischen der Sichtbarkeit Jesu und der neuen – alten! – Form, zu der die Anschauung Jesu uns umschaffen und heranbilden kann, ist der sonderbare Dreiklang erklärlich, den wir heute im Ersten Johannesbrief vernehmen:
„Sünde – Sehen – Sein“.
Diese Verknüpfung von Wahr-Nehmen und Richtig-Werden, diese Verbindung zwischen der Ansicht und dem An-Sich hat Johannes schon im weihnachtlichen Beginn seines Evangeliums beschrieben (1,12): „Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden“.
Wer die Fleischwerdung des Wortes Gottes wirklich wahrnimmt, wer seinen geistlichen Blick schult und schärft an der Menschheit des eingeborenen Sohnes, der wird dadurch selbst zum Gotteskind gebildet.
Das ist der „Bildungs“weg, die praktisch zu befolgende Schule der Anschauung, die mit Weihnachten beginnt: Die Einsicht, dass Gott ein Mensch wurde, um sich uns und uns Ihm in tiefster Gemeinschaft, in letzter Einheit zu verbinden, führt über unsere Erkenntnis seines Sohnes zu unserer eigenen Veränderung und Gleichwerdung mit Christus.
Wir Menschen sind entworfen als Gottes Kinder – das sehen wir an der verwirklichten Sohnschaft Jesu –, und wenn wir das, was wir ihm, dem Sohn ansehen können, ihm auch abgucken, dann verwandelt das uns selbst.
Das ist jener Prozess der Transformation, der Umbildung, den Johannes in die Worte fasst: „Es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden … wir werden ihm aber gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“
Für uns Menschen auf dem Weg dieser Nachfolge und Nachahmung – man könnte in der Bildersprache eben auch von „Nachbildung“ sprechen – ist das Ziel jenes letzte Wiederfinden, jenes Wiedererkennen, das uns bevorsteht, wenn wir Jesus Christus endlich von Angesicht zu Angesicht sehen werden und in ihm die ganze Menschheit und die vollste Menschlichkeit und zuletzt auch einen Spiegel unsers eigenen, noch nie so schönen und richtigen Bildes.
Dann wird alles, was unsere Ähnlichkeit mit ihm – das heißt aber eben auch unser eigenes Spiegelbild – noch verunstaltet, nicht mehr das Bild beherrschen: Die Sünde, das Unrecht, der verzerrte und verschandelte und unfertige Anblick des Menschlichen, den wir bieten.
Dieser Anblick, der nicht dem menschgewordenen Jesus entspricht, zeigt nach Johannes schlicht, dass wir die falschen Vorbilder haben und das wirklich Sehenswerte übersehen: „Wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt“.
Diese Beschreibung der Sünde und ihrer Ursache halte ich für eine der hilfreichsten der ganzen Bibel. Denn sie zerstört und zerbricht die Sünder nicht, sondern öffnet ihnen gezielt die Augen: Verguckt euch nicht immer in die Kaiser Augustusse dieser Welt, die alles zählen oder die Herodesse, die alles selbst sein wollen oder die Pilatusse, die alles und jeden rasch erledigen; nehmt nicht immer bloß die Merkmale der Mächtigen oder die Selbstdarstellungen der Geltungsverrückten zur Vorlage; seid nicht immer nur auf Ähnlichkeit mit denen bedacht, die in den Augen der Öffentlichkeit schillern, denn das tut faules Fleisch, wenn es verwest auch.
Seht lieber die Liebe an, die der Vater uns erzeigt – besonders heute, liebe Weihnachtsgemeinde, heute, da wir buchstäblich die Geburt dieser Liebe feiern.
Seht’s und seid’s, was euch da vor Augen liegt in der Krippe.
Seht das Kind an, das Menschenkind Gottes, das nicht größer tut, als es ist, das nicht verbirgt, was ihm fehlt und nicht versteckt, was es freut, das nichts verlangt, was ihm schadet und niemand etwas geben kann außer Freude.
Seht’s an und sündigt nicht mehr, sondern bildet euch dieses Bild des Menschseins ein, nehmt’s in euch auf und entwickelt euch in diese Richtung: In die Gotteskindschaft, die keine Show ist, sondern die es verdient, geschaut zu werden.
Wenn ihr nämlich diesem Kind Gottes zuschaut, wenn eure Visionen vom Leben und euer Idealbild diesen Gottesmenschen nachvollziehen, dann wird geschehen, dass ihr werdet, was ihr glaubt. ——
So, wie Paulus es – sehr weihnachtlich und obendrein auch noch ganz ohne die vermeintlich bösen biblischen Geschlechterklischees – auch seinen Galatern wünschte: „Meine lieben Kinder – schrieb er ihnen – ich gebäre euch abermals unter Wehen, bis Christus Gestalt in euch gewinne!“ (Gal4,19).
Christus Gestalt in uns gewinnen zu lassen: Das ist das Ziel unseres Lebens nach seiner Geburt.
Bis nicht mehr der Glaube, sondern das Schauen uns ganz geformt und erfüllt hat. ——
Und ein wunderbares, schlichtes, geschmacklos wahrheitsgemäßes Sinnbild dafür ist mir vor vier Tagen auf dem Nordfriedhof vor Augen gestellt worden:
Ein herzensguter Mitarbeiter dort, mit wenigen Zähnen und auch nicht vielen Worten zwischen den Lippen nahm mich berührend aufgewühlt in Empfang. Dann drückte er mir das beliebteste Werkzeug der heutigen privaten Papparazzi-Unsitte in die Hand und zeigte mir mit Feuereifer ein Bild auf seinem Handy, dem ein polnischer Spruch vorgeschaltet war.
… Zunächst war ich ein wenig verwirrt, denn was er mir da so dringlich vor’s Gesicht hielt, war das Röntgenbild eines Brustkorbs.
Diese Ansicht der weißen Rippen auf schwarzem Grund berührte im Augenblick vor einer Beerdigung tatsächlich erst einmal befremdlich. … Doch dann erkannte ich den Sinn: Denn da, wo zwischen den Rippen schattenhaft das Herz zu erwarten wäre, prangte in der Photomontage ein polnisches Christkindl, volkstümlich niedlich aufgedonnert nach allen Regeln der Kunst.
Und das ist es!
Wenn wir zu durchschauen wären, wenn unser Leben transparent gemacht werden könnte, dann müsste es bei uns allen so aussehen, wie auf dem Handy des polnischen Totengräbers, dem dieses Weihnachtsbild so wichtig war, dass er es mir mit an die Gräber und an die Krippe gab:
Man sollte in uns das neugeborene Kind Gottes entdecken können, dem wir gleich sein werden, wenn wir ihn sehen dürfen, wie er ist.
Amen.
Christmette 2017 Stadtkirche Lukas 2,19 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christmette 2017
Lukas 2,19
Liebe Gemeinde!
Lukas – der einzige Zeuge der Weihnachtsgeschichte – ist zugleich der Herzspezialist unter den Evangelisten. Während bei Matthäus und Markus das Herz leider überwiegend in seiner Verhärtung, in seiner Verstocktheit begegnet und bei Johannes als trüber, angsterfüllter Ort, hat Lukas ganz andere Vorstellungen.
Sein Evangelium ist erkennbar Herzenssache, denn es wird gerahmt von kardiologischen Vorkommnissen: Am Anfang des Lukasevangeliums hören wir, dass schon die Geburt Johannes des Täufers den Menschen zu Herzen ging (Lk1,66) und an seinem Ende, auf dem österlichen Weg nach Emmaus treffen wir auf zwei Jünger, die in der Gegenwart des Auferstandenen bei sich selbst brennende Herzen diagnostizieren müssen (Lk24,32).
Auf die Gefahr hindaher , ein wenig nach Groschenroman oder Vorabendfernsehen zu klingen: Lukas hat tatsächlich das Evangelium des Herzens geschrieben. Nicht gefühlig, aber gemütvoll; nicht romantisch, aber emotional. Es ist halt doch kein Zufall, dass wir das eine Fest, das alle Herzen ein wenig weicher und wärmer macht, gerade seinem Bericht verdanken. —
Wie aber kommt es, dass Lukas den Vorgängen im Inneren der Menschen solche Beachtung schenkt? (Wobei wir ihn – trotz dieser berechtigten Frage – nicht zum Fachmann für’s Schnulzige machen wollen, sondern bedenken müssen, dass nach dem Verständnis der gesamten Bibel das Herz der Sitz nicht bloß der Gefühle, sondern auch des Verstandes ist.)
War es etwa die medizinische Vorbildung, die Lukas, den die Tradition ja zum griechischen Reisearzt des Paulus macht, in psychosomatisch-psychologischer Hinsicht sensibilisierte?
War es vielleicht überhaupt etwas spezifisch Griechisches an ihm, das ihn die harmonische Balance von Intellekt und Affekt so häufig registrieren ließ?
Oder war Lukas einfach von weicherem Schlag, … ein Mann von der Sorte, die man bis zum Ausbruch der jüngsten Geschlechterdebatte als „Frauenversteher“ bezeichnet hätte? …
Letzteres – ein „Frauenversteher“, was ja Schimpf und Auszeichnung zugleich sein dürfte – ein Mann also, der auch das weibliche Denken und Empfinden zu verstehen suchte, war Lukas eindeutig.
Denn in einer rein männlichen Welt würde sein Evangelium wohl erst bei Kapitel 3 anfangen, und die wirksamsten Abschnitte, die den Kalender und die Liturgie und das Zeit- und Lebensgefühl der Kirche mehr geprägt haben als fast alle anderen Teile des Neuen Testaments, fielen weg. Der Anfang der Geschichte nämlich ist – wie bei jedem von uns – ohne eine Frau nicht möglich. Und bei Jesus, dessen Geburt wir heute feiern, war es sogar einzig und allein eine junge Frau, deren Bereitschaft, Verantwortung und Sorge es oblag, den wichtigsten Menschen aller Zeiten in ihrem Leben aufzunehmen, zur Welt und durchzubringen und ihn dann seinen einzigartigen Weg in den Ruhm und den Tod und das Leben auch ziehen zu lassen.
Diese junge Frau und wie sie von Gottes Vaterschaft und ihrer eigenen wundersamen Mutterschaft überrascht wird, und wie sie eine andere vom - späten - Mutterglück überraschte Verwandte besucht, und wie diese wunderlichen Schwangerschaften und Entbindungen verlaufen – lauter weibliche Erfahrungen also –, schildert Lukas in den beiden eröffnenden Kapiteln seines Evangeliums und bringt darin drei der - neben dem Vaterunser - zentralsten Gebete des Christentums unter: Das „Benedictus“, das „Magnifikat“ und das „Nunc dimittis“, oder das Morgen-, Abend- und Nachtgebet der Kirche. ———
Doch ausgerechnet von diesem Mädchen Maria habe ich – wie wahrscheinlich die meisten von uns evangelischen Theologen – bisher viel geringer gedacht als der Frauenversteher Lukas.
In der Meinung, sie vorm bevormundenden Jungfräulichkeitsideal der katholischen Überlieferung zu retten, in der sie ja allgegenwärtig ist, haben wir so getan, als wäre es am sinnvollsten, die Erwähnungen Mariens so weit wie möglich auszublenden, und also weder eine Männerphantasie vom naiven Dummchen, noch einen Mythos von der Himmelskönigin zu befördern.
Das aber ist wie eine Geburtsstation, auf der Frauen keinen Zutritt haben. Die weihnachtliche Geburt ohne die daran beteiligte Mutter feiern zu wollen, ist allenfalls Talibanlogik.
Und darum ist jede Gelegenheit wichtig, die uns an Weihnachten nicht nur einen Waisenknaben vorführt, neben dessen Krippe eine Art Kindermädchen aus Nazareth kniet und im Hintergrund schiebt noch ein guter alter Onkel ein bisschen Nachtwache.
Jede Gelegenheit also ist willkommen, die uns zeigt, dass wir Evangelischen an Weihnachten ganz tapfer sein müssen und erkennen, dass die Geburt Christi … eine Geschichte von Maria ist.
Und zwar buchstäblich.
Denn es gibt nur eine einzige Stimme, eine einzige Quelle, die das Fest des heutigen Abends und der nun folgenden Tage von einer Legende des feinsinnigen und gebildeten Herrn Lukas unterscheidet.
… Erstickt man diese Stimme, verstopft man diese Quelle, dann ist es ein hübscher Einfall, auch mal einen netten Kindergeburtstag in die Kirche zu verlegen und dort Wohlfühlfeiern im Kerzenschein auszurichten. ……. Ein solches Fest des Wohlgefühls, der liebevollen Stimmung und der eindeutigen Emotion gemeinsamen Glücklichseins ist ja wahrhaftig auch schön und bleibt uns unbenommen. Aber nötig wäre Weihnachten für die christliche Gemeinde trotz des herzensguten Lukas nicht: Das beweisen die drei anderen Evangelien, die ohne die weibliche Sicht auf Verkündigung und Heimsuchung und Herbergssuche und ohne die herzbeweglichen Szenen von Stallgeburt und Sternenweide und Hirtenlob auskommen, ja unzweifelhaft.
Wenn es aber doch eine Stimme gibt, die dem etwas steifen Stammbaum bei Matthäus und der Josephsverwirrung und den morgenländischen Pilgern, die unfreiwillig einem Kindsmörder die Spur zum Jesusknäblein weisen, unser Weihnachten an die Seite stellt, … wenn es eine Stimme gibt, die unser Weihnachtsfest erfordert, obwohl Markus es doch ohne das leiseste Bedauern übergeht, … wenn es eine Stimme gibt, die unsere Art der Weihnachtsgefühle stark genug machen kann, um sogar neben dem stärksten theologischen Text des Christentums – dem mystischen Johannes-Anfang – zu bestehen, … wenn es also eine Stimme gibt, der wir das verdanken, was uns hier zusammenbringt, dann liegt in dieser Stimme die Antwort auf die Frage, die die Kantorei uns eben so eindringlich gesungen hat*!
„Mary, did you know?“ – Wusstest Du’s, Maria?
„Ja!“, lautet die Antwort. Niemand sonst wusste es. Niemand konnte es wissen. … Einzig und allein die eine, die den Weg Jesu von vor seiner Geburt bis nach seiner Himmelfahrt miterlebt hat, weil sie ihn anfänglich in sich trug und ihn schließlich ziehen lassen, aber nicht aufgeben konnte; sie, die Schmerzen des Gebärens und Schmerzen des Sterben-Sehens seinetwegen aushielt, weil sie – mit oder ohne die entsprechenden Worte – erfahren und erlaubt hatte, dass das größte Geheimnis der Welt ein Teil ihres Lebens, ja ein lebendiges Stück ihrer selbst werden sollte.
Seit der Engel ihr die Botschaft brachte, dass die Kraft des Höchsten gemeinsam mit ihrer jugendlichen Natur ein einzigartiges Kind hervorbringen würde, muss sie ja wachsam und in höchster Spannung gelebt haben: Nichts kann ihr mehr gewöhnlich vorgekommen sein. Sie war ja für alle Zeiten eingebunden in das Geschehen, das diese Welt nicht bloß verbessern, sondern von Sünde und Tod erlösen sollte.
Wo andere Mütter – Lukas, der Arzt wird’s gewusst haben – schon durch die körperlichen Botenstoffe der Schwangerschaft und der Wehen in einen paradoxen Zustand zwischen Alarm und Euphorie versetzt werden, da kamen bei Maria seit der Verkündigung Hormone und Heiliger Geist zusammen, um sie auf die Besonderheit, auf die Gaben und Gefährdungen ihres Kindes in unvergleichlicher Weise aufmerksam zu machen.
Wenn es nicht so despektierlich spaßig klingen würde – aber Spaß muss an Weihnachten ja wirklich auch sein! –, so sollte man sagen dürfen: Die Jungfrau Maria wurde am heutigen Abend zwar leiblich von ihrem Sohn entbunden, aber ihr Geist trug ihn und sein Leben weiter, ….ihre körperliche Schwangerschaft hatte also ein Ziel, ihr Elefantengedächtnis dagegen wuchs unendlich in die Breite und Tiefe und Höhe.
Denn obwohl es in unseren Ohren – je jünger sie sein mögen, desto schriller – ganz unwahrscheinlich klingt: Menschen können sich alles merken!
… Wenn man keinen externen Speicher hat, in den alles sofort geschoben werden kann, dann sammelt und trägt man eben alles in jenem Speicher, den die Bibel unter dem für unsere Gedanken und Gefühle angemessenen Namen des „Herzens“ kennt.
Denn das ist die dritte Funktion, die jenem Organ, jenem Ort zukommt, von dem Lukas so viel mehr zu sagen weiß, als die anderen Evangelisten: Es verarbeitet die Erfahrungen, es verwirklicht die Einfälle und es bewahrt die Erinnerungen des Menschen. Das Herz ist dem Verstehen, der Liebe und dem Gedächtnis gewidmet. Es ist also wirklich der zentrale, der mächtigste und nötigste Teil eines jeden von uns. … Und ein volleres Herz als dasjenige, unter dem Gottes Sohn, unser Heiland heranwuchs, kann man sich schlicht nicht ausmalen.
Dass es aber auch tatsächlich nicht ausgemalt, dass es tatsächlich keine Fiktion, keine Erfindung des sanften Lukas ist, der sonst ja allmählich wirkte wie ein kinderlieber, phantasiebegabter Junggeselle à la Hans Christian Andersen, dem die Welt schönste Weihnachtsdichtungen verdankt, aber ihre Kinder doch nicht unbedingt anvertrauen würde –, … dass Weihnachten also keine Märchenonkel-Mär ist, das macht der Frauenversteher Lukas mit einer eigentlich unmissverständlichen Wendung deutlich. Denn er beantwortet ja die unausgesprochene Frage, woher er das, was kein anderer Evangelist aufzeichnet, denn alles wisse, ganz klar.
“Luke, how’d ya know?” – “Mary!” ———
Diese klare Antwort, dieser eigentlich unüberhörbare Hinweis findet sich nämlich im Weihnachtskapitel seines Evangeliums gleich doppelt. Nach der Geburtsgeschichte aus Bethlehem und nach der Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Temple von Jerusalem heißt es nämlich zweimal gleichlautend:
„Maria aber behielt alle diese Dinge (und bewegte sie) in ihrem Herzen“ (Lk2,19 + 51).
Da also, in diesem Hinweis auf den größten Speicher allen direkten Wissens um das Kind und den Gekreuzigten und Auferstandenen und Aufgefahrenen und Geistausgießenden, in diesem Hinweis – um es ganz schrecklich zeitgemäß zu sagen – auf den zentralen Datenträger, die zentrale Datenträgerin des Neuen Testaments zeigt Lukas seine Quelle an.
Dieser an sich ja scheinbar überflüssige Satz des Herzspezialisten ist seine Fußnote, die sein Werk vom Vorwurf des Plagiats ebenso wie von der Unterstellung schweifender Phantasie freispricht. Diese „wissenschaftliche“ Quellenangabe**, diese Fußnote, die zeigt, worauf, auf wem das Evangelium von Christi Geburt fußt und gründet und wem wir es gleich zweifach verdanken können, dass wir heute Weihnachten feiern, ist allzu lange überlesen worden, weil man eben gerade bei uns Evangelischen und Kritischen und Modernen nicht wahrhaben wollte, dass es eine Geschichte von Maria ist. … Buchstäblich!
Eine Geschichte, in der ihr körperlicher und intellektueller Beitrag entscheidend ist, weil ohne sie weder diese einmalige Geburt noch deren bleibende Erinnerung möglich gewesen wären. —
Und wieviel mehr Format als unsere platte Erklärung, Weihnachten sei auf dem Mist des Lukas gewachsen, hat doch dieser selbst – der „Frauenversteher“ – , der sich unumwunden als Schuldner, ja als Sekretär der Einzigen, die es wissen konnte, zu erkennen gibt.
Lukas dreht damit die Feigheit Adams um, der das Interesse an allem Neuen nur auf Eva schob: „Das Weib, das du mir zugesellt hast, - die war’s …“ (1.Mose 3,12).
Lukas, der Mann, der sich für das Herz der Dinge interessiert, lässt die Welt die Lösung des Weihnachtskrimis um die entscheidende Information erfahren, indem er nicht die Schuld, sondern das Wissen einer Frau (!) zuschreibt: „Wer also ist hier die Kronzeugin für das herzallerliebste Fest der Welt?“ – Maria!
“Mary, did you know?” – “I sure did!”
Amen.
* Die Jugendkantorei sang in der von anspruchsvollen „marianischen“ Musikbeiträgen geprägten Mette an zentraler Stelle den von Mark Lowry 1984 gedichteten und später von Buddy Greene vertonten, bis heute vielfach gecoverten Song „Mary, did you know?“.
Dem Gottesdienstblatt war die eigene Prosa-Übersetzung beigefügt:
Wusstest du, Maria, dass dein Kleiner auf dem Wasser geh’n wird?
Dass er unsre Kinder einst erretten wird?
Wusstest du, dass dieser Neugebor’ne alles hier erneuern wird
und den du entbunden, dich entbindet und erlöst?
Wusstest du, Maria, dass dein Kleiner blinde Augen sehend macht
und den Sturm mit seiner Hand zur Ruhe bringt?
Wusstest du, dass er schon ging, wo Engel schreiten,
und wenn du ihn küsst, dann küsst du Gott?!
Wusstest du’s, Maria? Wusstest du’s ……?
Die Blinden sollen sehen, Taube hören, Tote leben,
Lahme springen, Stumme sprechen vom Ruhm des reinen Lammes.
Wusstest du, dass dein Kind Herr der ganzen Schöpfung ist
und dass er die Völker alle einst regieren wird?
Wusstest du, dass dein Kind das vollkomm’ne Lamm des Himmels ist,
und auf deinem Schoß da ruht der große „Ich bin, der ich bin“?!
Wusstest du’s, Maria? Wusstest du’s ……
** Von einem aufmerksamen Hörer wurde dieser „Wissenschafts“-Begriff kritisch hinterfragt. Eine empirische, evidenzbasierte Validierung kann natürlich nicht behauptet werden; allerdings ist der doppelte Vers zu Marias Gedächtnisarbeit als für die Antike entscheidender Hinweis auf die externe Basis des Wiedergegebenen ernst zu nehmen: Hier wird nicht „erfunden“, sondern Kunde, die von dritter Seite stammt, weitergegeben.
Christvesper 2017 Stadtkirche Jesaja 9,1 - 6 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christmette 2017
Jesaja 9, 1 – 6
Liebe Gemeinde!
„Uns ist ein Kind geboren“ – „Puer natus est nobis“: Dieser Vers aus dem Propheten Jesaja, diese uralte Antiphon der Weihnachtsmesse ist schlicht und ergreifend eine Geburtsanzeige.
… Eine Geburtsanzeige, die ich im Blick auf den heutigen Abend am liebsten in die gestrige Zeitung setzen lassen wollte, unter alle anderen Freud- und Leidannoncen, in deren Mitte sie eindeutig von Anfang an gehört; … allerdings stellten die Anzeigengebühren sich als prohibitiv heraus.
Und dennoch wäre eine Zeitung mit ihrem Gemisch von schrecklichen und schmalzigen Weltgeschichten auch 2017 der wirklich angemessene Rahmen für die Nachricht, die Gott durch seinen Propheten Jesaja mehr als sieben Jahrhunderte vor dem eigentlichen Ereignis von Bethlehem annoncieren ließ. Damals – so vergegenwärtigt uns jede Lesung dieser ältesten noch gültigen Royalty- und Gossipmeldung –, damals musste man ein junges Leben zwischen dröhnenden Stiefeln und blutigen Soldatenmänteln ankündigen, zwischen Fron- und Folterwerkzeug, die die Welt beherrschen. Zwar war die Erinnerung an die Unabhägigkeitskämpfe, die Israel einst gegen Midian geführt hatte, in Jesajas Tagen so weit weg, wie für uns der demnächst wieder erinnerungsträchtige Dreißigjährige Krieg, … doch schon wieder stand Jerusalem am Vorabend einer neuen Schlacht um die Weltordnung, so dass gewesene und drohende Gewalt ineins flossen … und die Nachwuchsmeldung aus dem Königshaus Davids in unheimlichen Zeiten schon ausreichte, um das große, fast fromme Aufatmen zu erzeugen, das so nur eine Geburt im Schatten des Todes bei allen Zeugen auslöst:
Auch der kleine Prinz, dessen glücklichen Lebensbeginn der Prophet damals meldete, als Assur sich anschickte, die Hauptstadt Jerusalem und das Reich Juda durch seine schützende Umarmung zu ersticken, … auch dieser kleine Prinz, dem große, allergrößte Verheißungsnamen beigelegt wurden, schien den Zeitgenossen offenkundig ein Hoffnungszeichen zu sein, ein winziger, aber lebendiger Zukunftsbeweis, eine schreiende, hilflose und doch wachsende Bestätigung, dass es irgendwie, … allem zum Trotz doch weiter und aufwärts geht in ihrer tiefdüsteren, zum Verderben welken Welt. ——
Aber nicht wegen des Knaben Hiskia, der ein gottesfürchtiger König und ein Beschützer Jerusalems vor dem Untergang wurde, wollte ich seine damalige Geburtsanzeige am 23.Dezember 2017 wieder schalten. Denn die lichtvolle Freudenmeldung des Propheten Jesaja war eine schichtenreichere Botschaft; sie war nicht so unwiederholbar und also rasch überholt wie es die Drucksachen sind, auf denen wir einmalig einen neuen Erdenbürger avisieren, sondern sie blieb über den ursprünglichen historischen Anlass hinaus geheimnisvoll sinnvoll; ja, eine stets größere, tiefere, eine in’s Endlose und Ewige wachsende Bedeutung begann aus ihr hervorzutreten. Das zu allen Zeiten unvergleichlich trostreiche Wunder einer Geburt mitten im Schwarzen, eines Neubeginns im Abwärtskreisen aller menschlicher Lebenserwartungen, das Schöpfergeschenk des Lebens in dieser Welt des Todes blieb der biblischen Gemeinde ein Licht über allem Wandeln in der Finsternis.
Man könnte sogar sagen, dass die biblische Glaubensgemeinde, dass das Volk Israel selber in den Jahrhunderten seit Jesaja so etwas wie der Mutterleib einer wachsenden Erlösungszuversicht war; Israel trug das Licht in sich, spürte es zunehmen, hegte es in seinem Schoß, in seiner Mitte zärtlich und ängstlich und wiederum auch trotzig, wie jede Schwangere das Geheimnis, das in ihr der Zukunft entgegenreift.
Und dann, nach Jahrhunderten der Erwartung des Heils, nach Jahrhunderten, in denen kein Volk der Erde so schwanger ging, ... so „in der Hoffnung war“, wie Gottes Israel, da geschah das Wunder, für das es schlicht keine treffendere Beschreibung gab als die alten Jesaja-Worte von der Prinzengeburt.
Nur dass diese Worte inzwischen nicht mehr bloß in feierlicher Weise ein freudiges biologisches Ereignis mit Folgen für die menschliche Geschichte bezeichneten, sondern dass sich etwas in ihnen angereichert hatte und fest und dicht und kostbar geworden war, das nun aufbrach und einen völlig verwandelten Kern zeigte: Ein Sohn ist uns geboren, ein Kind ist uns gegeben, … das tatsächlich der Wunder-Rat, der Gott-Held, der Ewig-Vater, der Friede-Fürst ist!!! …….
Diese Erfahrung, die die ersten Zeugen Jesu machten und die in den Evangelien von seiner Geburt bis zu seiner Auferweckung sich immer wieder bestätigt, ist typisch für das Christentum. Das Christentum bekennt sich zu einer sonderbaren Umkehrung. Während überall sonst aus Tatsachen und Erlebnissen im langen Lauf der Zeiten Symbole und Bilder werden, verhält es sich in der Urkunde unseres Glaubens genau anders herum: Was zunächst blumige Poesie und Metapher war – dass ein kleiner Judenprinz die höchsten Namen im Himmel tragen soll und man ihn im Überschwang der Hoffnung in übertragenem Sinn als einen Ratgeber, ja wie einen Vater, am Ende gar mit dem Titel Gottes selber anzusprechen neigte –, das wird im Bekenntnis zu Jesus Christus als Wirklichkeit erfahren und benannt!
Aus einem uralten Bild wird an Weihnachten ein lebendiges Wesen, … das Wort wird Fleisch.
Was vor langer Zeit als Vergleich begann, gipfelt in einer … Tatsache.
Dieses christliche Grundmuster – dass etwas, das in der biblischen Sprache und in der menschlichen Hoffnung und in den Verheißungen Israels schon anwesend war, sich als irre real, als verwirrend verwirklicht, nicht mehr als reine Vorstellung, sondern als leibliche Gegenwart zeigt* –, dieses Muster ist der Grund, weshalb die Jesaja-Worte von damals eigentlich wirklich auch gestern in die Zeitung gemusst hätten:
Als Anzeige, dass hier unter allen Arten von Wirklichkeitsverdrehung und Wirklichkeitsnachahmung etwas in Wirklichkeit geschehen ist und gilt, das wir noch längst nicht erkannt und ergriffen haben. ——
Aber wenn es in der Zeitung erschienen wäre, und also auch „stimmt“, ohne dass am 27.Dezember eine Richtigstellung fällig würde, dann muss man natürlich fragen, ob denn wenigstens hier im Saal die Botschaft in ihrer Tragweite auch erfasst wird?
… Die Botschaft, dass es eine Geburt gab – vor ungefähr 2020 Jahren – , die akuten Neuigkeitswert für heute besitzt?! Buchstäbliche „Neuigkeit“ sogar, denn diese Geburt beendet etwas Ehrwürdiges und Altüberliefertes.
Diese Geburt, die in zwei Jahrtausenden nicht veraltet ist, weil der Tod sie nicht – wie bei uns – endgültig in die Vergangenheit verdrängen und versetzen konnte, diese Geburt hat etwas wahr gemacht, das wir immer nur für eine Redewendung, eben „ein Bild“ hielten, … ein Lieblingsbild sogar bei den klassisch-antikisch geschulten Deutschen: Immer noch – lange nach Winckelmann und Goethe und Schiller und Herder – sprechen wir ja davon, dass jemand uns vorkomme „wie ein junger Gott“, … und gemeint ist das Ideal eines von der Natur begünstigten und von Lessing unterrichteten und von Turnvater Jahn trainierten Jung-Siegfrieds.
Aber an Weihnachten wird uns tatsächlich ohne alle bildungsbürgerliche Sprachbilder, schlicht in Erfüllung der alten Geburtsanzeige verkündigt, dass wir einen „jungen Gott“ haben! Nicht an den Zügen des Alters und seiner Weisheit, nicht an der Aura von Autorität und Gewalt der Ältesten, nicht in den unausrottbaren Stereotypen eines erhaben lenkenden Greises, der Zeus oder Väterchen Zar oder Herrgott heißt, sollen wir also den wahren Gott erkennen, sondern in der schutz- und nutzlosen Schlichtheit, mit der ein neugeborenes Kind da ist und nichts kann.
In diesem einfachen Wunder des bloßen Am-Leben-Seins wäre demnach Gott zu finden – im nackten Leben und Leben-Wollen, und nicht in Mächten oder Fähigkeiten oder Geheimnissen. …….
Ein kleines Kind ist da zu Bethlehem geboren … und wir sollen unsere Maßstäbe an ihm ausrichten, sollen uns von ihm raten lassen, obwohl es nichts Verständliches oder gar Verständiges von sich gibt.
Ein Kind ist da im Stall geboren … und wir sollen es „Gott-Held“ nennen sollen, obwohl es nichts, überhaupt nichts vermag, außer mit Glück und Liebe zu erfüllen.
Ein Kind ist da bei Nacht und Nebel in der Armut geboren, … ein Kind aber, das uns nicht weniger als ein „Vater“ sein will, … und selbst doch so zerbrechlich wirkt und angewiesen.
Ein Kind ist da geboren, von Hirten bestaunt und Herodes verfolgt – und wir sollen uns seinetwegen nicht fürchten, sondern Frieden bei ihm finden, bei diesem hilflos Zarten?! …….
Wenn nun aber wirklich Jesus Christus die leibhaftige Erfüllung dieser tönend orientalischen Königstitel bringt, die man symbolisch einst einem seiner Vorfahren aus Davids Haus beilegte, … wenn er das wirklich alles ist, dann bedeutet die Verkündigung dieses jungen Gottes eine nicht enden wollende Umkehrung aller Weltmaßstäbe!
Wenn Der, Den wir Gott nennen, nämlich wirklich nicht alt und thronend entrückt, sondern blutjung und in Kleinigkeiten verwickelt ist, dann muss alles, was wir von Gott erwarten und Ihm überlassen, ja wohl völlig neu und gänzlich anders betrachtet werden, als wir’s gewohnt sind: Die Wirklichkeit und Wahrheit eines tatsächlich jungen Gottes, eines Gottes, der nicht überlegen überwältigt, sondern erschütternd rührend ist … nun, entweder verändert sie schließlich auch uns … oder sie lässt uns alt und kalt und sucht nach anderen, die ihr entsprechen könnten. ———
Und auch darum – darum vielleicht viel mehr noch, als wegen der Tarife! – wäre es vermutlich voreilig gewesen, hätte ich die Geburt Jesu tatsächlich gestern in die Zeitung gesetzt.
… Denn wessen Namen wäre drunter zu setzen gewesen? In wessen Auftrag hätte ich entsprechend annonciert? Wer wäre bereit, unter der Geburtsanzeige Jesu Christi, des buchstäblich „jungen Gottes“, selber in Erscheinung zu treten und die ideellen Kosten zu tragen? …….
Darin sind wir uns nämlich ja wohl einig: Unter der Anzeige einer Geburt sollten die Namen derer stehen, die sich dem neugeborenen Leben auf Gedeih und Verderb verantwortlich wissen. Eine solche Annonce voller Freude und Stolz verbreiten die, denen das Glück der Kindsgeburt zugleich eine restlose Verpflichtung darstellt.
In diesem ganz besonderen Fall wäre also die Bedingung für die veröffentlichte Mitteilung, dass uns gemeinsam ein Kind geboren und ein Sohn gegeben sei, auf dessen Schultern die Herrschaft und auf dessen Leben unser Leben ruht, dass wir miteinander die gleiche Pflicht, die gleiche Haftung übernähmen.
Die Verpflichtung nämlich, keine alten Götter zu haben neben ihm: Keine Götter der Macht, keine Götter der Schlacht, keine Götter der Einschüchterung, keine Götter der Selbstbehauptung, keinen „Deus iræ“, wie er heute die Welt-politik so blutig beherrscht, sondern nur das Kind, das eins von uns geworden ist, um uns wieder werden zu lassen wie es selbst.
Wenn wir uns diesem Kind und seinen klaren, unmittelbaren Bedürfnissen widmen, wenn wir das, was es bringt und was es braucht – herzliche Freude und reine Liebe und geduldige Rücksicht und zugewandte Zeit –, als die Prinzipien und Orientierung der Gemeinschaft mit ihm beherzigen, dann fängt das Neugeborene tatsächlich an, seine Herrschaft auszuüben. Wenn Gott uns durch das weihnachtliche Glück Seines Daseins bei uns auch verpflichtet, das Kinderleben, in das er kam, – das Menschenkinderleben – zu hüten und zu bewahren, dann verwandeln der Dienst und die Ehrfurcht vor dem schwachen Kleinen uns Große mehr als jeder andere Zwang es könnte.
Wenn wir also wirklich den Schutz dieses wehrlosen jungen Gottes übernehmen, dann schützt Er uns tatsächlich. Vor dem alten, falschen Wesen nämlich, das wir sonst so oft verkörpern und mit höchsten Weihen und letzter Notwendigkeit verinnerlichen: So als müsse man mächtig und süchtig und wichtig sein, um für sich und die Welt etwas bewegen zu können.
Wenn uns dagegen wirklich das Kind bewegt – so dass wir sein Wohl vor unser Wohl setzen und seinen Willen über unseren Willen stellen und damit etwas Fremdes an Stelle des Eigenen bestehen lassen, so wie es ja alle, die Verantwortung für ein kleines Kind tragen, gelegentlich müssen –, … wenn also das Kind uns wirklich bewegt und wir uns in seine Pflicht nehmen lassen, dann wird es die Überraschung dieser und aller Weihnachten!
Wir würden nämlich verblüfft erleben, dass man Weihnachten nichts von dem geschenkt kriegt, was wir wünschen, sondern vielmehr noch hergibt.
Aber wer das Kind annimmt, das der Menschheit da geboren ist, der empfängt damit eine neue Welt: Einen jungen Gott, Der uns verändert, indem Er uns für sich und die Menschenkinder in die Pflicht nimmt und Der durch die zwanglose Gewalt Seiner Liebe auch alles andere im finstern Land hell machen wird. Denn Er ist geboren worden und seine Herrschaft wird groß werden und das Friedens kein Ende!
Das ist es wert annonciert zu werden.
Und wer sich unter dieser Geburtsanzeige wiederfindet, der darf wissen, dass sein Name auch wirklich da steht … nicht im Tagblatt, sondern im Buch des Lebens!
Amen.
* Dieses (christologische) Grundmuster der materiellen Realisierung des biblischen Sprachinhalts sollte im Blick auf das Sakramentsverständnis evangelischerseits wieder zu vertieftem Verstehen Anlass geben.
1.Advent 03.12.2017 stadtkirche Offenbarung 5,1-12 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent – 3.XII.2017
Offenbarung 5, 1 – 14
Liebe Gemeinde!
Erlösungshoffnung ist der Advent, … Rettungssehnsucht und Heilserwartung.
Jedes Kirchenjahr fängt damit an, dass wir wieder auf’s Neue spüren und begreifen, wie wir Christen ein kleiner Teil einer großen Welt sind, deren Not und Verlangen auf’s Ganze gehen: Versöhnung und Heilung und Frieden und Gerechtigkeit mangelt der Menschheit in unendlichem Maß, und Schonung und Wiederherstellung und Liebe braucht alles Lebendige. Das sollen wir nun wieder erfahren und gerade in den dunkelsten Stunden des Jahres zu unserer eigenen Lebens- und Gebets- und Erwartungshaltung machen.
Wir sollen stellvertretend und anteilnehmenden für Rohingyas und Somalis und Jemeniten und Palästinenser und Sinti und Syrer und Nordkoreaner zu einer Gemeinschaft werden, die nicht mit den eigenen Polstern und hinter den eigenen Zäunen vorliebnimmt und ihre siebzig, wenn’s hoch kommt achtzig Jahre wie einen Raub genießt, sondern wir sollen weite Herzen für die Not der Andern und blutende Gewissen angesichts des vielen Leidens und heiße Hoffnung mitten in der kalten Gleichgültigkeit der Welt haben.
Wir sollen jene Gemeinschaft werden, die am Anfang des Lukasevangeliums begegnet, wo eine aus eigener Erfahrung stocknüchterne, aber im Glauben immer noch zukunftshungrige alte Frau von dem kleinen Anfang spricht, der in dem Kinde Jesus erschienen ist: Von ihm redete die Prophetin Hanna nämlich zu „allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten“ (Lk2,38).
Auf die Erlösung Jerusalems zu warten, auf den Schmuck und das Freudenöl und den Lobgesang der Trauernden zu Zion zu hoffen (vgl. Jes.61,3): Das ist der Sinn des Advent.
Das wissen wir.
……. Das wissen wir??
Aber ja doch! Wir wissen es, und wir üben es.
……. Wir üben es???
Nun, wenn nicht wir, dann immerhin doch unsere Kinder. … Wobei freilich die Spannung der Hoffnung bei ihnen zum Papptörchen und die endlos herbeigebangte Erlösung zur … Schokolade geworden ist. Aber auf dieser lächerlichen, beinah lästerlichen Schwundstufe lebt sie gleichwohl immer noch fort: Die einzig wahre, unersetzliche, beherrschende Haltung des Glaubens, … die Haltung frommer Sehnsucht und heiliger Ungeduld, dass Gottes Wort erfüllt und das Verborgene aufgedeckt und aller Welt Verlangen gestillt werde.
Das will der Glaube nämlich vor allem anderen: Er will aufhören.
… Weil er ein Hunger ist und Sättigung braucht. Weil er ein Fragen ist und auf Antwort drängt. Weil er ein Schmerz ist und Linderung sucht. Weil er ein Nachtlicht ist und den Morgen erwartet. Weil er Glaube ist, Glaube an die Verheißung, einst schauen zu dürfen. …
Darum ist das alberne Kinderspiel mit den Türchen, das scheinbar sinnlose Einwickeln und Auspacken, das den Advent noch in den geistlosesten Parodien auszeichnet, mit denen unsere Gegenwart ihn nachäfft, eine ernstzunehmende und beherzigenswerte Botschaft: Wir, die wir Schokolade und Marzipan und Süßes und Schnickschnack zu jeder Zeit und in beliebiger Menge verschlingen und verschwenden können, … wir werden durch jedes Kalendertürchen, durch jede zu entknotende Schleife, die den direkten Genuss aufhalten, dran erinnert, dass die Welt auf eine schier grenzenlos wichtige Lösung, ein buchstäblich notwendiges Entwirren und Eröffnen wartet, … dass wir warten auf die Erlösung Jerusalems und die Aufhebung der schwarzen Rätsel, die der Menschheit Gottes Wahrheit und Gerechtigkeit verhüllen.
Jedes der 24 Pappklapptörchen bis Weihnachten erinnert uns also daran, dass der Sinn aller Dinge nicht aufgedeckt, sondern verborgen ist und das große Buch der Klarheit in der Welt bis heute unzugänglich bleibt.
Noch immer wird’s verschlossen von den sieben ungelösten Siegeln: „WARUM?“, „WOZU?“, „WIESO?“, „WOFÜR?“, „WOHER?“, „WESHALB?“ … und endlich „WANN?“ ——
An diesen Kinderfragen, an diesen Menschheitsrätseln versucht sich jede Epoche, jede Generation, jeder Einzelne irgendwann mit Sicherheit.
Manchmal – wenn es im guten Sinne spannende Zeiten sind und sich frische Einsichten und neue Horizonte auftun, die eine Renaissance, eine Wiedergeburt, eine Aufklärung, einen gesellschaftlichen Fortschritt verheißen – … manchmal also scheint der Durchbruch unmittelbar bevorzustehen: Dann verbinden sich Philosophien, Techniken, Forscherdrang und Lebensgefühle zu einer Hochspannung, dass nun bald geklärt und festgehalten werden könne, was die Welt zusammenhält und wie sie auf den Gipfel der Vollkommenheit zu heben sei.
Doch leider haben weder die Renaissance mit ihrem frühlingshaften Tauwetter für alte Weisheit und ihrem Muskelspiel der geistigen Kräfte noch die menschheitliche Befreiungsfreude der Aufklärung noch die idealistisch-utopischen Aufbrüche der neuen Gesellschaftsentwürfe noch das Ende der Zivilisationsvergiftungen des ideologischen 20.Jahrhunderts zur Lösung der Leidens- und Schuld- und Verzweiflungs- und Angst- und Trieb- und Sinn- und Gottesfragen des Menschengeschlechts geführt: Die wiedergeborene Antike wurde zu Intoleranz und Alchemie, die Aufklärung führte zum Revolutionsterror, die säkulare und soziale Emanzipation führte über die Gleichbewertung alles Einzelnen zur völligen Vereinzelung und zur globalen Zusammenhangslosigkeit, auf die heute die aggressiv rückwärtsgewandten Religions- und Nationalitätsbewegungen sich einschießen.
Und wer auf Einsicht und Vernunft, auf Maß und Recht, auf Schutz und Frieden, wer auf Leben für die Kinder und Geschöpfe Gottes hofft, … dem können heute noch die gleichen Tränen kommen, wie einst dem Seher von Patmos, mit dem unser altes Kirchenjahr schloss und nun das neue beginnt.
Dieser Lieblingsjünger Jesu, … in der Einsamkeit seiner Verbannung stellt er sich am Anfang der geheimen Offenbarung (1,9) ganz adventlich wartend mit den Worten vor:
„Ich Johannes, euer Bruder und Mitgenosse an der Trübsal und am Reich und im Ausharren bei Jesus, ich war auf der Insel, die da heißt Patmos, um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses von Jesus.“
… Und dann schildert er die gewaltigen ersten Enthüllungen, in denen sich ihm sein vermisster und wieder erwarteter Herr Jesus zeigt.
… Und schon beginnt man zu ahnen, dass diesem alten, isolierten Zeugen des Nazareners in der Stille der steilen, sichelförmigen Bucht von Patmos, wo er in einer Höhle hoch über dem Meer hausen musste und Wind und Wellen und seinem Herzen und dem Himmel lauscht, eines der größten, mysteriösesten Dokumente der Welt anvertraut wurde, ein Schlüssel zu Abgründen, ein Spiegel der Zukunft, ein rätselhaft gefügtes Mosaik aus Bruchstücken der ersten und letzten Dinge.
… Und dann schreibt Johannes als Sekretär des ewigen Seelsorgers auf dem Thron sieben Sendschreiben an die Kirche in der verrückten und unsinnigen Zerstreuung, die das Leben in dieser Welt darstellt.
… Und er empfindet Schrecken und Schönheiten der Welt Gottes – denn „siehe, eine Tür war aufgetan im Himmel“ (4,1) – und er späht die Geheimnisse der Thronwächter und der Ältesten, die ganz dicht am Kern der Wahrheit sind, und er erträgt, ja er verschlingt das alles, saugt es auf und wird trotz seiner Fesseln und seines Hungers und seiner Schmerzen auf Patmos in eine höhere Wirklichkeit aufgehoben, und eigentlich müsste er schon verjenseitigt und vergeistigt und entrückt und entkoppelt sein, denn das ganze atemberaubende Szenario wirkt wie bei einer delphischen Weihehandlung oder einer Wagner-Oper oder einem überwältigenden Fantasy-Film –, ……. doch dann begegnet dem Johannes in jener Höhe und Herrlichkeit plötzlich eine Schrift, inwendig und auswendig beschrieben und da, … da muss er zum ersten Mal inmitten aller dieser Wunder weinen.
Denn diese Schriftrolle ist es, die ihn wirklich berührt und bewegt.
Dabei enthält sie aber gar nicht die Orakel eines Mediums der Unterwelt und auch nicht das Raunen eines Mysterienspiels und nicht einmal die Sensationen eines Science-Fiction-Spektakels – alle solche geheimnisvollen Dinge gehen dem Seher in seiner Vision ja gerade auf! –, sondern die beidseitig erkennbar vollgeschriebene und dem Verständnis dennoch versiegelte Schriftrolle dürfte genau das sein, was ein solches Bild uns vor Augen stellt: Es ist die Zeitung der Welt, die alltägliche Chronik der Zeit, die Aufzeichnung der menschlichen Geschichte. Es ist das Buch des Lebens, das Journal unserer Tage.
Diese von allwissender Seite geführte Mitschrift unseres Daseins, die zwar nichts enthält, was wir nicht kennen, enthält doch endlos Vieles, das wir nicht verstehen. … Warum und wozu, weshalb und wofür, wieso und woher die Einzelheiten und Tage und Jahre und Ereignisse so sind, wie sie sind, und wie lange sie so noch bleiben werden: Verstehen wir das?
Verstehen wir, was wir anrichten, obwohl wir wissen, was wir anrichten?
Verstehen wir überhaupt, wo Leben hinführt, obwohl wir doch zu wissen meinen, wofür wir leben?
Verstehen wir, wozu das geschieht, was wir nicht wollen und weshalb wir nicht wollen können, was wir geschehen lassen?
Verstehen wir unseren Streit?
Verstehen wir das Sterben?
Verstehen wir welche Verantwortung wir haben?
Verstehen wir, dass alles Folgen hat, obwohl wir nicht an sie denken mögen?
Verstehen wir, dass wir aber unbegrenzt denken sollen, obwohl wir in den Grenzen unserer selbst stecken? …….
Wer kann diese Geheimnisse des Menschen auflösen? Wer kann seine Fragen, wer kann die Fraglichkeit alles Menschlichen beantworten?
Müsste das nicht ein überirdischer Geist sein, der die Rätsel bewältigt, die uns Irdische überfordern? Müsste es nicht ein messerscharfer, durchdringender Geistesblitz sein, dessen übermenschliche Kraft zersprengt, was uns Menschen zu schwer ist?
…Wenn Johannes weint – aus Frustration weint, die an Verzweiflung über alle Sinnlosigkeit grenzt –, weil kein Über- und kein Unterirdischer und auch niemand auf Erden würdig und fähig ist, ihm Grund und Wahrheit alles Geschehenen und aller Geschichte zu eröffnen, dann müsste doch in diesem Augenblick etwas immens Großes sich anbahnen.
… Und der Älteste im himmlischen Rat, der ihn tröstet und versichert, dass es doch eine Antwort, eine Lösung, einen Sinn hinter allen Widersprüchen und allem Unerklärlichen gibt, der weist ihn ja auch tatsächlich auf den siegreichen Löwen aus Juda hin, dem es gegeben ist, die Siegel zu brechen und das Weltgeheimnis zu lüften.
……. Also doch ein Bezwingen, doch ein ultimativer Kraftakt! Also doch ein Zupacken, das nicht locker lässt, ein Verbeißen in die widerspenstige Wirklichkeit, ein Zerfetzen der widerständigen Verhältnisse. Also doch ein sehr, sehr menschliches „Bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt“-Vorgehen, um allem in der Welt das göttliche Geheimnis des „Warum“ zu entreißen?
Fast meint man, dass es so sein wird.
Doch dann begegnet im Himmel der Offenbarung, wo die Geschicke der Erde endlich ganz klar sein und stimmen werden, zum ersten Mal die entscheidende Instanz, der sich alles gerecht Gerichtete und Richtige am Ziel verdanken wird.
Und siehe da!, der Sinn unseres Lebens und der sinnvolle Zusammenhang aller Dinge und der entschlüsselte Grund der Welt, sie kommen nicht durch messerscharfe Schlüsse oder gewaltsame Eingriffe zustande. Kein gigantisches Konstrukt bringt irgendwann Licht ins Dunkel, kein Riesenapparat errechnet aus den komplizierten Brüchen und Teilen der Welt deren stimmende Summe.
Sondern aufgelöst und aufgehoben wird die ganze Not, das ganze Schlamassel, die fuchsende Unsinnigkeit und das schreiende Unrecht des Lebens ausgerechnet durch jenes kleine Wesen, das hier zum ersten Mal in der geheimen Offenbarung genannt wird und inmitten der himmlischen Mysterien ganz albern erbärmlich, alltäglich und allerweltsmäßig wirkt.
Und tatsächlich war es dem Johannes bisher unter den patriarchalischen Ältesten und den schillernden Cherubim und Seraphim gar nicht aufgefallen, dass da ein missgestaltetes und missbrauchtes Geschöpf steht, wie es tausendfach in jedem Stall und auf allen staubigen Fluren und in den unzähligen Schlacht- und Hinterhöfen der Erde herumspringt und blökt und zittert und stirbt: Ein Lamm, …noch dazu eines, das sieben Hörner und Augen hat, das sich also noch öfter verheddern und irgendwo in den Dornen verfangen und noch angstvoller auf seine Feinde und Scherer und Schlachter blicken kann als ein gewöhnliches gesundes Tier.
Doch dieses Lamm – das Tier der Unschuld, das Allerweltstier, das Opfertier – dieses kleine, unscheinbare Lamm deckt den Sinn auf: Es nimmt aus Gottes Hand das Buch unserer offenen Fragen, das Rätsel unserer unbegründeten Schuld, die zähen Geheimnisse menschlicher Untröstlichkeit und wird mit ihnen fertig.
Weil es nicht ausweicht und nicht überlegen tut.
Weil es die ganze, ungeschönte, ungemilderte Wirklichkeit annimmt.
Weil es nicht über den Rätseln steht, sondern sich ihnen unterwirft.
Es unterzieht sich allen Fragen. Es nimmt teil an allen Schwierigkeiten, … auch den tiefsten und letzten.
Und darum ist allein das Lamm würdig Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob anzunehmen: Weil es die Heilssehnsucht im Unheil der Welt und die Rettungshoffnung in ihrer Hoffnungslosigkeit geteilt hat – darum gebührt ihm auch aller Dank und aller Ruhm.
Denn das kleine Lamm, das kleine Kind, auf das der Advent uns vorausweist: Das ist das aufgelöste Leid, es ist die von Innen überwundene Not, es ist der durch Sterben beendete Tod.
Das kleine Lamm, das kleine Kind ist das Ziel.
Und jetzt ist der Advent, der uns Tag für Tag daran erinnert, dass wir dieses Ziel und diese Zukunft mit der ganzen Welt suchen und finden sollen.
Amen.
Gedenktag der Entschlafenen 26.11.2017 Stadtkirche Offenbarung 14,13 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 26.XI. 2017
Offenbarung 14,13
Liebe Gemeinde!
Man solle nicht „Totensonntag“ sagen, heißt es immer.
Der eigentlich korrekte Begriff für diesen letzten Auferstehungsfeiertag im Kirchenjahr sei „Ewigkeitssonntag“:
… Auf die, die dann anbricht, wenn alles abbricht, sollen wir schauen.
Auf das Ufer, an dem unsere schäumende und zu Gischt verwehende Zeit anbrandet.
Auf das Größte, Festeste und Unendlichste.
… Doch auch wenn wir das von Herzen gerne wollen – hinüber auf das gelobte Land dort im unwandelbaren Licht zu blicken –, reicht das im Sturm und Strudel der Vergänglichkeit manchem Seefahrer einfach nicht. Zu zerzaust, zu zerrissen sind die Gefühle und Wahrnehmungen, wenn man einmal Schiffbruch erlebt hat, wenn man Zeuge wurde, wie die Tiefe und das Dunkel Mitreisende und Gefährten verschlingen. Versunken sind sie, die eben noch an unsrer Seite durch das Leben zogen. … Wir sind hier, immer noch oben, immer noch Luft und Wind ausgesetzt, mal im Tosen, mal in schrecklich stummer, quälender Flaute.
… Doch sie? Hat ein Abgrund sie geschluckt? Sind sie von der Urflut, dem Chaos oder dem Schweigen erfasst worden und uns für immer entrissen?
… Lohnt sich da unsere Überfahrt überhaupt noch? Wartet denn irgendwo wirklich ein Hafen? Gibt es das Land, das sie die „Ewigkeit“ nennen tatsächlich – oder irren wir bloß ohne Leitstern und ohne Ziel vergeblich über einer trügerischen Finsternis, die früher oder später aufreißen und auch uns in sich einsaugen wird? ——
Wer sich mit solchen Fragen trägt, … mit Fragen, die den jenseitigen weiten Horizont der Ewigkeit verblassen lassen, weil das einzelne Bild eines Abwesenden, eines Vermissten so sehr in den Gedanken brennt – wer sich mit solchen Fragen trägt, der kann verstehen, dass der große, ernste Abschluss des Kirchenjahres mit seiner Botschaft vom Ende und vom Ewigen nicht nur vom Volksmund einen anderen Namen empfangen hat: Es war ein sentimentaler, aber auch tatsächlich frommer König – der immer etwas gehemmte und von seiner Verantwortung in den Befreiungskriegen und ihren massakerartigen Völkerschlachten belastete Friedrich Wilhelm III. von Preußen, – der den Ewigkeitssonntag 1816 offiziell zum „Gedenktag der Entschlafenen“ bestimmte.
Und nicht nur die Abertausende Opfer der napoleonischen Konflikte, sondern auch die Trauer und Erinnerung, die immer noch seiner früh verstorbenen Gemahlin Luise galten, ließen die königlich angeordnete Erinnerungsfeier für die Toten sehr rasch zu einem Tag werden, den die evangelischen Kirchen aus Überzeugung begingen. Die Bitterkeit von Witwen und Waisen, die das große Blutvergießen hinterlassen hatte, aber auch der Schmerz jeder anderen Familie um ihre Angehörigen fand an diesem Tag den Anlass, mit dem Gedanken an die verlorenen Geliebten vor den ewigen Gott zu treten und zu erfahren, dass dort nicht nur Unermessliches und Endgültiges zählt und zu finden ist, sondern jeder Einzelne, jeder Einsame.
Die allgemeine, ungerührte, hohe Ewigkeit und die persönliche, unruhige Sehnsucht nach den nächsten Menschen verbinden sich also in diesem historisch bedingten und seelisch doch so unbedingten letzten Gottesdienst des Kirchenjahres.
Weil wir aber keine abstrakten Ideen, keine Konzepte oder Dogmen brauchen, wenn uns Tränen, Traurigkeit und Tragik das Hoffen und das Glauben schwer machen, darum ist es nur recht und menschlich, dass die Gemeinde sich seit zweihundert Jahren nicht die korrekte Bezeichnung, sondern das Herzensanliegen dieses Tages zu eigen gemacht hat, und wenn sie ihn benennt, dann auch diejenigen mit anspricht, um die es schon 1816 ging und immer gehen wird, solange wir Sterblichen noch leben. Es geht uns um die Toten, die wenn ihr Leben im Sterben verlischt ja nicht auch zugleich aus unserem Leben gelöscht werden.
…Wir tragen sie mit uns, sie bewegen und begleiten uns innerlich weiter.
… Wenn jedoch ihre Gesichter und Namen, ihre Gestalt und Geschichte vor Gott keinen Ort mehr hätten, wenn wir im Gottesdienst nicht von ihnen sprächen und nicht mit ihnen im Herzen beten und singen, predigen und bekennen dürften, … dann wäre es schlimm um die Kirche bestellt. Dann wäre es unmenschlich im Haus des menschgewordenen Gottes.
… Und so dürfen wir dankbar sein, dass alle theologische Vorsicht, die dem Tod nicht zu viel Macht einräumen mag, es nicht vermocht hat, die Tiefe lebendiger Verbundenheit zuzuschütten, die im landläufigen Namen „Totensonntag“ steckt. Denn Verbundenheit ist es und bleibt es, dass wir an diesem Tag nicht alleine für uns nach drüben, in die Ewigkeit blicken, sondern dass wir es mit jenen Gedanken und jenem Verlangen tun, die den Toten gelten … und sie auch nennen. ———
… Dann aber sind wir wieder in jenem Bild und jener Wirklichkeit der ungewissen Überfahrt, des bedrohten und unheimlichen, des von Nebelbänken und rückwärtsgewandter Angst erschwerten Weges durch die Zeit:
Liegt vor uns wirklich etwas oder rechnen wir nicht statt mit der Entdeckung einer neuen Welt wie die Seefahrer des Mittelalters damit, dass man am Ende auf nichts mehr stößt, sondern einfach herausfällt aus der Wirklichkeit?
Und ist unseren Toten nicht genau das widerfahren, … dass sie zwar verschwunden, aber nirgends angekommen sind?
… Wo sind sie also, … die, deren Name und Bild und Gedächtnis der heutige Schluss des Glaubensjahres lebendig hält?
Wo sind sie?
Wie steht es um sie? ……. ———
Und da hören wir von ganz weit vorne, vom Bug des christlichen Zeitkreuzers, vom Ausguck des Anfangs einen Seher rufen, den Seher Johannes.
Und was er uns zur Antwort auf alle Fragen der Trauer und der Traurigkeit zuruft, das ist wie der Entdeckerruf der Pilgerväter und wie der Strahl des höchsten Leuchtturms über dem fernsten der sieben Weltmeere!
Denn der Seher Johannes, der noch zur ersten Generation der Apostel gehörte, die im Licht des Ostersieges den Tod schon für endgültig entwaffnet hielten und hofften, lebend zum Reich Gottes eingehen zu dürfen, … dieser Johannes, der nicht erwartete, was kam – nämlich dass Leiden und Verfolgung und Martyrium und Trübsal mit aller Macht über die Auferstehungs-Gläubigen losbrachen …dieser Johannes sieht, dass das Land der Lebenden dennoch in Sicht ist, auch wenn der Tod seine Glaubensgeschwister verschlingt.
Und diese Entdeckung schreit er kräftig durch die Nacht und sie trägt bis zu uns heute.
Gekleidet aber ist die Meldung über das Schicksal der Verstorbenen in die Urform der Heilszusagen Christi, in die alt-ehrwürdige und kräftige Gestalt der Seligpreisungen. Mit Seligpreisungen fängt also nicht nur Jesu Verkündigung bei der Bergpredigt an – nach dem biblischen Vorbild des Psalters, der den gleichen Auftakt hat –, sondern Seligpreisungen durchziehen auch das letzte Buch der Bibel. …
Seligpreisungen: Eigentlich aber sind das doch Eröffnungen, die einen Zugang schaffen und Lust machen sollen, sich einem Lebensweg anzuschließen und in eine Lebensweise ein-zuüben.
„Selig ist, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen, noch tritt auf den Weg der Sünder, … sondern hat seine Lust am Gesetz des HERRN; … der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen.“ (Psalm1)
Seligpreisungen sind Aufrufe, mit denen der Beter David und der Messias Jesus den Sinn und den Lohn eines Lebens nach Gottes Wegweisung offenbaren und zur Nachfolge ermutigen.
Seligpreisungen sind Verheißungen eines Anfangs, dem der Zauber echten „Segens“ innewohnt. … „Versucht’s, befolgt’s, ahmt’s nach – und Ihr werdet die Fülle, den Frieden, die Freude finden“: So öffnet sich der Horizont der Zukunft, wo immer uns eine biblische Seligpreisung ermutigt und bestärkt.—
Und darum ist es tatsächlich ein echter Durchbruch, eine endgültige Entdeckung wenn am Schluss des Neuen Testaments, an der Schwelle der himmlischen Welt sich genau das wieder findet, womit die irdischen Lebens- und Glaubenswege anheben.
Ende und Anfang entsprechen sich also!
Was Gott durch seine Boten, was er durch seinen Sohn verheißen hat – dass es wirklich möglich ist, Segen und Seligkeit zu finden –, das erfüllt sich tatsächlich.
Wer mit Gott anfängt, findet bei Gott auch Vollendung!
Wer auf Gott hin aufbrach und lebte, der gelangt auch zum Gott der Lebendigen.
Wer sich von Gott hat leiten lassen, den nimmt Er am Ende zu Ehren an.
Es ist tatsächlich so!, ruft der Seher Johannes, der am Anfang in die schwarze Nacht des Todes stiert: Nichts ist verloren bei den Toten, sondern die in dem Herrn sterben, der sie ursprünglich einst rief, an denen wird Gottes Zusage des sinnvoll gesegneten, seligen Lebens trotz allem unzweifelhaft wahr!
Nichts fehlt mehr, nichts quält mehr, wo eine Lebensreise im Zeichen des Glaubens, im Vertrauen auf Segen wie auch immer an ihr Ziel kommt.
… Dort, wo das Suchen und Versuchen, dort, wo das Wollen und Wirken eines Menschen nicht mehr fort zu führen sind, da ist dennoch nicht etwa alles zu ende, sondern da findet es alles zur Ruhe, die verheißen ist. ——
Darum müssen wir vielleicht diesen Tag, an dem wir aus Liebe zu unseren Verstorbenen nach ihnen fragen und mit ihnen im Herzen nach Trost begehren, einmal wirklich ganz so begehen, dass wir mit ihren - nicht unseren! - Augen und Ohren nach dem Guten forschen, und müssen darum vielleicht unsere - nicht ihre! - Lage als das in Wahrheit Ungewisse betrachten, als das, was nicht dauerhaft aufgeklärt ist, sondern immer noch angefochten und rätselhaft.
Denn auf unserer Lebensreise sind bisher nur die Rufe zum Einsatz, die Winke und Signale, dass alles eine Richtung und einen Sinn haben soll, erklungen, … auf unserer Lebensreise sind bisher nur die Seligpreisungen, die dem Dasein seinen Anstoß und seine Dynamik geben, laut geworden: Wir sind getauft, wir haben unsere Aufgaben und Erfahrungen ergriffen, wir leisten und wir leiden, wir lieben und lassen einander, wir sind auf dem richtigen Kurs oder vollkommen verwirrt, wir hoffen, zweifeln, kämpfen, kapitulieren, … wir wünschen und neiden und vermissen und träumen und kommen zuweilen voran und bleiben auch wieder zurück, wir wären gern treu und scheuen den Schmerz und scheitern an der Sanftmut und bemühen uns um Barmherzigkeit und jagen dem Frieden nach und wünschten uns stärker oder getroster und bangen und hoffen und drehen uns im Kreis und wissen nicht aus, noch ein. …
Kein Wunder also, dass wir verstört und voller Not sind. Unser Leben ist im Lauf, es rast oder hängt fest, … es ist voller Anfänge und halber Sachen und mancher Erträge, doch hat es dabei keine unzerstörbare Gestalt und keine unumkehrbar gefestigte Prägung. ……. Immer kann’s anders kommen, immer kann es zerstoßen werden oder sich verfangen, alles kann sich noch auflösen, alles kann sich verselbständigen. …….
Wir sind im Fluß, das Leben läuft, wir rudern gegen seine Strömungen oder reiten seine Wellen, es wiegt und schaukelt uns harmlos und heimlich und spült uns mit einem Mal völlig anderswo hin, treibt ganz verkehrt oder schwindelerregend vorbei und wir wüssten so gerne, ob und wie es gelingen und festgehalten werden wird.
Der eine Ruf aber, das eine Licht, das große Ziel, die uns erreichen und erscheinen, wenn vorne im Schiffsbug der ersten Christen der Seher sich hören lässt, … der Ruf und das Licht, die zeigen uns plötzlich unsere Toten ganz neu: Sie sind nicht mehr hin- und hergeworfen, … sie sind nicht mehr im Strudel der Zeit, … sie schwimmen nicht.
Ihre Mühe und ihr Tun verlieren sich nicht mehr wie unsere verschwommenen Tage und Taten.
Ihr Aufbruch hat zum Ziel geführt!
Ihr gelungenes – auch ihr verschwendetes – Menschsein ist zu einem Ganzen geworden: Alle Einzelheiten des Stückwerks, das wir erleben, sind bei den Toten zu Teilen der Einheit geworden, die ein Mensch erreicht, wenn er ganz dem Herrn gehört und in Ihm bleiben darf.
Da, wo nichts mehr zerfällt.
Wo niemand mehr in tausend Richtungen kreuz und quer will und doch nicht kann, wo man sich selber nicht mehr widersprechen muss, sondern Gott das Urteil und die Wahrheit anvertrauen und überlassen darf.
Da, wo aus dem Mancher- und Allerlei, aus dem Wenigen und Vorübergehenden das geworden ist, als was Jesus Christus es von Anfang gepriesen hat: Ein im Segen gerundetes, ein im Glücken zusammengefasstes, ein von Gott gehaltenes und begnadetes Leben, ein seliges Einkehren in heiles, … geheiltes, … geheiligtes Dasein. Nicht gewirkt und gemacht und wieder verwirkt und verdorben durch uns – sondern vollkommen geborgen und verschont im endlos großen Frieden, den die Kinder Gottes, die Werke seiner Hände erfahren, wenn sie nicht mehr ohne und gegen Ihn, sondern in Ihm sind.
Da folgt alles andere nach – das, was uns selber zu tun und zu bringen gegeben war –, …. alles folgt nach.
Aber der Friede Gottes: Der ist da und bleibt!
Da, wo die Toten sind, die in Ihm leben!
Da wo sie leben, deren Sterben die Seligpreisung verwirklicht: „Im Herrn sein“.
Das ist der „Sabbat“, der „Sonntag der Toten“: Ihre herrlich Ruhe, der Glanz und der Frieden ihrer Gegenwart in Gottes Gegenwart.
Und dahin – nirgendwo sonst – wollen und kommen auch wir mit ihnen!
Amen.
Drittletzter Sonntag, 12.11.2017 Stadtkirche Lukas 11,14-23 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Drittletzter So. 12.XI.2017
Lukas 11, 14-23
Liebe Gemeinde!
Alles darf man denken, sagen und vertreten – nur mit dem E-Wort darf es sich nicht berühren!
Einzige Ausnahme: Wenn man einen pseudo-aufklärerischen Thriller mit Bestseller-Qualität schreiben oder einen Kassenschlager-Gruselfilm drehen will, der uralte Klischees bestätigt, … dann muss man das E-Wort plakatieren: Triefend Rot und weiße Zackensilhouette auf schwarzem Grund.
…Ansonsten aber gilt: Finger weg davon. Es ist verpönt, verboten und vergessen.
… Alles andere darf man behaupten: Dass Duftbäumchen aus Pressplastik Wohlgeruch ver-breiten, dass das Herumrücken von Möbeln Energieströme im Wohnzimmer freisetzt oder dass ein Bad in Eselsmilch und eine Liegekur in Alufolie ewige Jugend verleihen.
Nur das E-Wort ist tabu: „Exorzismus“.
… Sagt man nicht.
… Kennt man nicht. …….
- Der Einsatz gegen Besessenheit von Menschen wird – wenn überhaupt – nur noch als Ausdruck kirchlicher Besessenheit durch Macht gesehen.
- Die Erlösung von dunklen Mächten wird als Machenschaft obskurer Dunkelmänner gedeutet.
- Die Entbindung von geistlichen Zwängen wird als Zwangsverhalten der Geistlichen gedeutet.
… Weil es das alles gab und gibt: Zwielichtige, unaufgeklärte, fanatische Manipulationen, bei denen im Namen der Befreiung vom Bösen seelische Abhängigkeit in sinisterer Weise missbraucht wird und nicht zu rechtfertigende Praktiken des Aberglaubens und der Anti-Wissenschaft bei Menschen zu quälender, verletzender Verstrickung statt zur Therapie führten.
Solche Fälle kirchlicher oder laienhafter Geisteraustreibung und Besessenheitsbehandlung, die es in die Schlagzeilen und in das kollektive Bewusstsein geschafft haben, weil sie so brutal und unverantwortlich waren, dürfen aber dennoch nicht den Blick für zweierlei verstellen: Jesu Wirken ist – neben vielem anderen – auch das Wirken eines Exorzisten. Und seine Gemeinde hat den Auftrag und das Charisma, ihrerseits gegen Mächte des Bösen und Geister der Verfinsterung zu kämpfen und sie zu überwinden.
Das ist zweifellos innerhalb dessen, was sich „Landeskirche“ nennt, inzwischen eine völlige Brache. In diesen Winkel des Rettungshandelns Jesu leuchten wir nicht einmal mehr mit der Taschenlampe: So fremd, ja, peinlich und unheimlich ist es uns geworden, dass dort tatsächlich Phänomene auf uns warten, die man als „Dämonen“ kennt, dass Hilfe dort ganz anders aussieht als die Prozesse, die wir verstehen und dass manche Vorgänge geradezu para-psychologisch oder spiritistisch anmuten.
Es ist, als sei Jesus, der Exorzist für uns genauso zweifelhaft wie für seine Skeptiker, Kritiker und Gegner vor zweitausend Jahren. Nur dass wir ihn nicht mit dem „Beelzebul“, dem alten Erzbösen in Verbindung bringen, sondern mit Formen der Unkenntnis und des Unmodernen, die wir verachten.
Allerdings ging auch das den Angreifern Jesu ähnlich: Dass sie seine offenkundigen Heilungserfolge bei Menschen mit besessenen, fremdgesteuerten, vergewaltigten Seelen auf den Beelzebul zurückführten – einen kanaanäischen Obergötzen vom Beginn des letzten vor-christlichen Jahrtausends, den schon Elia bekämpfte (vgl. 2.Könige 1,2f) – … dieser Rückgriff beweist ja, dass sie etwas Vergangenes, etwas in tiefer historischer Ferne längst Vergessenes in Jesu Siegen über die Dämonen witterten. Als eine gegenwärtige Wirklichkeit, als etwas heute Mögliches erschien die Erlösung vom mysteriös Bösen also schon damals nicht mehr. ——
Doch hinter der damaligen Abwehr und Verunglimpfung dieser Wunder steckt das Gleiche wie hinter unserer heutigen Verdrängung und Ignoranz. In einem Wort nämlich: Befremden.
Es ist fremd, es ist unheimlich, es macht Angst, wenn plötzlich Dinge geschehen, die in unserem Weltbild und Erfahrungshorizont nicht vorgesehen sind.
Und darum erklären wir das Befremdende automatisch für hoffnungslos veraltet und lächerlich überholt: Da trifft der Vorwurf der sogenannten „Welt- oder Lebensfremdheit“ heute immer wieder die Kirche und das Christentum, und der verwandte Vorwurf der barbarischen Primitivität wird gegenüber allen Kulturen, Religionen und Lebensweisen erhoben, die wir nicht als bekannt und heimisch ansehen. Doch gerade deshalb – weil wir als Christen heute insgesamt einer Einstellung begegnen, dass unser Glaube etwas befremdlich Überholtes sei – sollten wir unsererseits nichts so rasch als unvertraut, nicht-mehr-zeitgemäß oder nur noch gestrig verwerfen.
Als die Spötter und Zweifler die Geisteraustreibungen Jesu mit der ältesten, verschütteten Vergangenheit, mit dem Kult des Beelzebul in Verbindung brachten, da hatten sie nämlich den Anschluss an ihre Gegenwart verloren.
Denn tatsächlich ist die Wahrnehmung dessen, was es für die einzelne, individuelle Person an dämonischen Angriffen, Blockaden und Fehlsteuerungen geben kann, geradezu ein Ausweis der Modernität in römischer Zeit: Während tausend Jahre zuvor alle geistigen Erfahrungen und Konflikte noch ganz und gar auf der übergeordneten, der transzendenten Ebene Gottes und der Gegengötter stattfanden und das Volk des einen lebendigen Erlösers den Anhängern der vielen toten Götzen gegenüberstand, trat erst Jahrhunderte später auch die Einzelseele als Schauplatz und Beteiligte des Kampfes um Freiheit und Wahrheit in den Blick. … Nicht nur in der großen Welt- und Religionsgeschichte, sondern in Lebensläufen und psychischen Erfahrungen kleiner Menschen sind der Zusammenstoß von Gut und Böse, das Ringen von Recht und Betrug zu erleben. Dieses neue Gespür für die eigene Geschichte und Angreifbarkeit und Not jedes Menschen verdichtet sich in der Zeit Jesu zu der Israel und den heidnischen Kulturen gemeinsamen Erkenntnis, dass es Mächte und Gewalten - geheimnisvolle und offensichtliche - gibt, die Männern, Frauen und Kindern den Frieden, die Selbständigkeit und alle seelischen Kräfte rauben. Der gemeinsame Name für diese unsichtbaren, oft genug in seinem Inneren wirkenden Feinde des Menschen lautet in der Antike: „Dämonen“.
Und dass er diese – die wir heute wahlweise: Prägung, Störung, Trauma, Sucht oder ähnlich nennen – dass er die als die großen Geißeln und Quälgeister der Menschen erkannte und bekämpfte, das macht Jesu Erlösungswerk erst vollständig: Er ist seinem heilsgeschichtlichen Auftrag nach der Heiland der Welt; seine innere Sendung dabei aber ist das Seelenheil, die Heilung der angegriffenen, bedrängten und besetzten Seelen aller Menschen.
Und offensichtlich ergriff gerade diese zweite Seite – die Rettung auch des Einzelnen aus der Gewalt des Bösen – besonders die jungen Leute seiner Zeit, da ja auch die Söhne seiner Verleumder sich als Exorzisten, als Austreiber und Befreier erweisen.
Was aber ist das Geheimnis dieses Heilands und dieser Generation seiner Anhänger und Nachfolger, die sich so leidenschaftlich um befreite Seelen, um unbesetzte Herzen, um innerlich erlöste Menschen kümmerten?
– Nun, im wahrsten Sinne des Wortes „kein Hexenwerk“. Es darf gerade nichts Okkultes, nichts Obskures, nichts Paranormales daran sein, wenn Menschen von ihrem fürchterlichen Ausgeliefertsein an sie beherrschende Fremdmächte loskommen sollen. Sondern dabei gilt die ganz einfache und klare Regel: Heil und Gutes kommen nur vom Heiligen und Guten.
Wo Menschen ihren Lebenssinn, ihren Frieden, ihr Recht durch andere Mittel suchen oder wieder erlangen sollen, wo also Kompromisse mit Kräften, die schaden können, wo Bündnisse mit dem Bösen eingegangen werden, da wird nichts Gutes draus.
Das was Menschen quält, kann man ihnen nicht mit Gewalt austreiben.
Wo Angst, wo Hass, wo zerstörerische Kräfte sich in Herz und Hirn festgesetzt haben, da hilft kein aggressiver Gegenangriff, da zieht der negative Ungeist nur Energie aus der Furcht und den Schrecken, die er zu wecken vermochte.
Wenn wir es mit dem Schlimmen zu tun bekommen, mit den Verneinungen des Menschlichen, die sich alles unterwerfen, alles versklaven wollen, was noch menschliche Züge hat und widersteht, da helfen keine Koalitionen mit der Härte, kein Liebäugeln mit einem Gleichgewicht des Schreckens.
Gegen die teuflische Anfechtung und die teuflische Vernichtungsbereitschaft mitten im Herzen der Menschen hilft keine Teufelei.
Da hilft ausschließlich das Eine, das einzig wirksame und nicht vom Bösen infizierte Mittel: Das unerschütterlich in sich ruhende Vertrauen auf den Stärkeren.
Darum sind landläufige Vorstellungen und Vorurteile über den Exorzismus meistens völlig falsch: Die Idee einer dramatischen, schweißtriefenden Beschwörung, einer wilden, schmerzhaften Austreibung, die bis zum Äußersten geht und in einer Entladung der heftig gegeneinander aufgestauten Spannung des Plus- und des Minuspols gipfelt, … alle die Bilder von frenetisch verbissenem Ringkampf um die Seele und brutalen äußeren Riten treffen nicht das Eigentliche, das sich dabei tatsächlich vollzieht[i].
Tatsächlich ist der Durchbruch durch die Zwänge und Gefangenschaften, die das Gottesebenbild im Menschen entmachten und bis zur Unkenntlichkeit entstellen, zuletzt ein Moment reiner Klarheit: Der Stärkere ist da.
Die Türen gehen auf.
Atemluft geht.
Das Reich Gottes geschieht.
… Das kann nicht ohne Widerstand passieren. Es kann heftige Erschütterungen und erschreckende Umstände geben, wenn in einem Menschen alle ihn ergreifenden und zeichnenden Einflüsse sich lösen und er sein wahres Ich, sein eigenes Leben, sein unverfälschtes Gesicht und Geschick wiedererlangt.
Aber dass ein Umgetriebener, ein innerlich niemals friedlicher, ein verstörter, ein zerrissener, ein unfreier Mensch, den Anderes und Andere steuerten, sich selbst als freies Kind Gottes empfängt und erfährt: Das verdankt sich nicht den bitteren und erschöpfenden Wegen zur Heilung, sondern zuerst und zuletzt dem Ziel, dem Heil selbst.
… Und das gibt es wirklich:
Es gibt Freiheit für jeden noch so entmündigten und passiv gemachten Menschen.
Es gibt ein Unbeschwertsein auch für die grausam Belasteten.
Es gibt die Verheißung aufrechter Haltung für die bis zum Zusammenbruch Gestauchten und Gebeutelten.
Es gibt eine Kraft, die alle Mächte und Gewalten übertrifft, denen Menschen ausgeliefert und verfallen sind.
Und diese Kraft ist die Kraft Gottes, der sich sein Recht an den Menschen nicht nehmen lassen kann.
Gott holt sich den Menschen wieder … wer auch immer sonst ihn beansprucht.
Und der von Gott befreite Mensch, der von nichts und niemand anderem besessene Mensch, der nicht mehr benutzte, nicht mehr verzweckte Mensch, der sich wirklich alleine seinem Schöpfer und Erlöser verdankt: Der ist heil.
Dieses Heilsein ist sein Ziel.
Wie es dazu aber wirklich kommt? … Eben nicht durch Druck. Nicht mit Angst. Nicht indem man Zwang oder Kampf übt.
Sondern das ist ein Exorzismus, dass wir uns sagen und sagen lassen, dass wir für uns selbst und für andere die Sicherheit haben: Der Stärkere ist da!
Das Leid ist schwächer.
Die Angst ist machtlos.
Das Böse ist unterlegen. ———
….... Klingt vielleicht nach Autosuggestion, nach Wunschdenken, nach einem Mantra.
Aber auch von solchen Unterstellungen, Verwechslungen, Ähnlichkeiten gibt es nichts zu fürchten.
Denn die Wahrheit ist das große Entweder-Oder: Entweder alles, was Menschen angreift, zermürbt und zerstört ist so mächtig, so unausweichlich und so endgültig, wie es scheint und wie wir fürchten. Oder aber alles Böse ist tatsächlich wehrlos gegen Den, Den es nicht böse machen, nicht anstecken, nicht verderben, sich nicht unterwerfen kann.
Wenn es einen Stärkeren gibt, hat das Böse seine Übermacht verloren.
Dass es diesen Stärkeren gibt, an dessen Güte das Böse scheitert, sagt unser Glaube.
Und indem das gesagt wird und wir es glauben, geschieht das E-Wort.
Unser Glaube also ist der Exorzismus, die Entmachtung und Ablösung aller Gegenmächte durch die Erkenntnis und das Bekenntnis, dass sie uns und die anderen nicht unbegrenzt beherrschen.
Wer dem Bösen etwas zutraut, stärkt es nur.
Wer ihm aber einfach nur nicht mehr zutraut, dass es immer bleiben wird, der besiegelt, dass sein Ende gekommen ist.
Und so ist unser Glaube der Sieg (vgl. (1.Joh.5,4) und die Befreiung.
Ein Moment reiner Klarheit: Der Stärkere ist da.
Die Türen gehen auf.
Atemluft geht.
Denn die Menschheit gehört dem, der sie von allem anderen löst und für sich befreit.
Jesus.
Amen.
[i] Wobei weder vergessen, noch im Gottesdienst verschwiegen wurde, dass es in der evangelischen Kirche noch immer - hier und da - Erinnerungen an den großen, ernsten und dramatischen Geisterkampf gibt, den Pfarrer Joh.Chr.Blumhardt bis zum Ende des Jahres 1843 austrug, als Gottliebin Dittus – eine von bösen Geistern unglaublich gequälte und entmenschte Angehörige der Möttlinger Kirchengemeinde – endlich aus der Gewalt der sie beherrschenden Anti-Kräfte erlöst wurde (vgl. dazu umfassend: Friedrich Zündel, Pfarrer Johann Christoph Blumhardt – Ein Lebensbild,4.Aufl., Zürich 1883, bes.S.117-160).
Blumhardts auch auf diese epochale Erfahrung zurückgehendes Lied „Dass Jesus siegt, bleibt ewig ausgemacht“ (EG 375) wurde nach der Predigt gesungen.
21.n.Trin. 05.11.2017 Stadtkirche Matthäus 10,34-39 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 4.XI.2017 - 21.n.Trin.
Matthäus 10,34-39
Liebe Gemeinde!
Ein splitternackter Mann rennt durch die Straßen, trieft, prustet und johlt – und die Welt erinnert sich noch nach mehr als zweitausend Jahren daran. Denn als der antike Forscher Archimedes sich einmal ins Bad gleiten ließ und dabei plötzlich begriff, wie seine Körpermasse, die das Wasser verdrängt, dem Auftrieb des Wassers im Becken entspricht, … als Archimedes also nicht zur Sauberkeit, aber zur Erkenntnis kam und als er seine Entdeckung tropfnass und in professoraler Schusseligkeit den Mitbürgern sofort im Adamskostüm mitteilen musste, da hat er einen begeisterten Ausruf getan, dessen Echo in Europa bis heute nachhallt: Das berühmte „Heureka!“ des Archimedes, der Entdeckungsschrei aus der Badewanne ist in unserem Weltteil zu einem populären Selbstbild geworden. Kritisches Nachdenken und überraschende Erkenntnis haben im Laufe der Zeit zu einer Art europäischem Nationalstolz beigetragen. Als Erforscher und Erfinder haben wir Europäer nach eigenem Dafürhalten zur Geistes- und Menschheitsgeschichte Wesentliches beigetragen: Die Philosophie und das Christentum, der stärkste räumliche und wissenschaftliche Expansionsdrang der Menschheit, die Reformation und die Aufklärung, die Menschenrechte und die Freiheitsideale und die klassischen Künste und die Industrie und die Emanzipation und die Toleranz und der Individualismus haben ja nach verbreiteter Auffassung abendländische DNA, sind uns jedenfalls am vertrautesten in ihrer europäischen Gestalt.
Das große „Heureka!“-Geschrei, die Durchbrüche und Wendepunkte, an denen einem etwas aufging, an denen etwas entdeckt wurde, an denen ein Rätsel sich löste oder ein Beweisstück, eine bisher fehlende, aber sinnstiftende Gedankenverbindung endlich auftauchte, … diese „Heureka!“-Momente haben unsere Geschichte gemacht: Archimedes im Bad, Luther im Turm, Newton unterm Apfelbaum, Schliemann in Troja, Armstrong auf dem Mond … jeweils wurde etwas sehnsüchtig Gesuchtes endlich gefunden.
Und wir Nachgeborenen, die nicht wühlen und uns den Kopf zerbrechen oder die Haare raufen mussten, wir können uns ein Leben ohne die großen Fundstücke der glorreichen Sucher gar nicht mehr vorstellen: Wenn der Irrtum des Kolumbus und die Schufterei der italienischen Gastarbeiter im Steinbruch des Neandertals vor 150 Jahren folgenlos geblieben wären, wenn die Tüftelei eines Alessandro Volta, eines Michael Farady, eines Thomas Edison, oder die Überraschung, die Conrad Röntgen mit den unbekannten Strahlen erlebte, nicht stattgefunden hätten, wenn die geistigen und praktischen Untersuchungen einer Marie Curie oder eines Konrad Zuse keine moralischen und technischen Quantensprünge gebracht hätten, dann säßen wir krank im Dunkeln und wüssten ungleich weniger über unsere Welt. ———
Wie angenehm es also ist, sich die Forschungen und Entdeckungen und Errungenschaften der Vergangenheit zueigen machen zu können.
Wie bequem und sicher es ist, das Erbe großer Zivilisationen anzutreten.
Wie frei wir dadurch werden – da die Welt erklärt zu sein scheint und für die nächsten Jahrzehnte auch noch leidlich funktionieren könnte – … wie frei wir also werden, uns ganz um uns selbst zu drehen und nichts anderes mehr zu verteidigen und zu vertiefen, als das, was ist.
So jedenfalls stellt sich das Lebensgefühl vielerorts ja dar. Man ahnt, dass ungeheure Herausforderungen bevorstehen, für deren Bewältigung wir das Genie eines Leonardo da Vinci, die Begabung eines Carl Benz, die Geisteskraft eines Albert Einstein und die Neugierde einer Florence Nightingale brauchen werden … und also wendet man sich lieber nur noch dem Vertrauten zu.
Das Zauberwort bei diesem enger werdenden, die Welt ausblendenden Rückgriff auf’s Bewährte ist derzeit überall das Wort von der „Identität“. Man will wissen und bleiben, was man ist. Man will beanspruchen und alleine nutzen dürfen, was war. Man will um sich und für sich besorgt sein bei dem, was kommt: … Inländer statt Ausländer. Amerika statt der Welt. Unabhängige Provinzen statt föderaler Staaten. Nationen statt Europa. Floskeln vom Christlichen statt Herausforderungen eines eigenen oder gar fremden Glaubens.
……. Und da kommt das Wort vom Kreuz, das Schwertwort, das Evangelium von der Entzweiung und den Konflikten, das wir heute – ungläubig staunend – aus Jesu Mund hören müssen!
Und trifft uns genau!
Lange nicht mehr hat die Botschaft Jesu Christi so zugeschlagen, so eingeschlagen wie der Blitz. Doch heute, in einer Zeit, in der die Menschheit vor lauter uneingestandener Angst alles ganz heimelig und fest und schallgedämpft haben will, platzt die Bombe umso lärmend verstörender.
…….. Wo wir doch immer meinen, Jesus Christus sei die Garantie für etwas Gutes, also etwas Gemeinschaftliches und Gewaltfreies und Christentum sei eine Einrichtung für Menschen, denen an Zusammenhalt und Zuversicht gelegen sei, da kommt diese zerstörerische Zuspitzung des Rufs in Jesu Nachfolge wie ein überraschender Überfall: Nicht Frieden, sondern das Schwert bringt er, … nicht Harmonie, sondern Zwietracht, … nicht Gemeinsamkeit, sondern Trennung, … nicht den Schutz der Familie, sondern deren Zerbrechen?!
Klingt das nicht wie eine Verzerrung, wie eine verrückte Parodie auf alle Werte, die wir sonst verteidigen? Ist das nicht so etwas wie ein Negativ des Evangeliums, beim dem die hellen Stellen trüb und die Schatten plötzlich zu Leuchtflächen werden? Ist diese offensive und negative Predigt, dieser Angriff und diese Schmerzansage also vielleicht gar nicht echt? Muss man sie also nicht weiter ernst nehmen? …….
Andererseits: Wer hätte so etwas nachträglich erfunden? Wer hätte Jesus solche völlig unerwarteten Widersprüche gegen die pazifistische und radikal versöhnliche Ethik der Bergpredigt wohl eigenmächtig in den Mund gelegt?
… Gerade der Bruch mit dem, woran wir uns längst gewöhnt haben, spricht also für die Echtheit dieser bestürzenden Worte.
Und dass wir sie heute so erschreckend gut verstehen – auch wenn wir sie nicht im Denksystem, im Lehrgebäude, in der Dogmatik, die wir für Jesus zurecht gemacht haben, unterbringen können – …, dass wir den Angriff Jesu heute so ungebremst abkriegen und so wuchtig spüren, gerade das zeigt wie originell und original, wie echt er ist:
„Gebt’s auf, Euch an Eure Identität zu klammern, warnt Jesus uns.
Gebt’s auf, Euch auf das Gewesene und das Erreichte festzulegen! Ich bin nicht dazu da, dass alles bleibt, wie Ihr es gerne habt, … dass alles weitergeht, wie Ihr es Euch vorstellt, … dass alle Sicherheiten unerschüttert bleiben. Im Gegenteil: Ich komme, weil alles anders werden muss. Weil Ihr nicht die Alten und auch die Welt nicht beim Alten bleiben darf. Ich komme, um alle Gewiss- und Gewohnheiten abzulösen durch die neue Wahrheit des werdenden Reiches Gottes.
Darum schlage ich mit dem Schwert des Geistes die Vorstellungen, die Ihr Euch von mir und von Euch und von allen andern macht, entzwei … so wie einst Gideon das Götzenbild seiner Sippe (vgl. Richter 6, 25ff) zerbrach und wie nach mir Paulus die Heiligtümer Griechenlands enttarnte (vgl. z.B. Apg.19,23ff)und Luther die starre Automatik des Kirchenapparats und wie überhaupt alles, das sich im Glauben verfestigt und verabsolutiert, beseitigt werden muss.“
Es kann und es darf also niemals der Eindruck des Endgültigen entstehen, solange wir noch im Glauben und nicht im Schauen wandeln: Das ist der grundsätzliche Sinn der überraschenden Zerstörungsbereitschaft Jesu.
So lange wir noch im Vorletzten sind, gibt es keine letzten Bilder oder Worte oder Wahrheiten. So lange wir noch in der Zeit und ihrer Veränderlichkeit leben, wird niemals das Ziel, niemals das Ganze erreicht sein.
Wo immer aber dieser Anspruch erhoben werden sollte, da wird sich Jesu glatter Widerspruch, sein starker Widerstand, ja sein unwiderstehliches Eingreifen gegen das erweisen, das total sein will.
Wo immer Menschen und Zustände in der Wirklichkeit völlige Identität, ausnahmslose Übereinstimmung, restloses Sich-Einfügen verlangen, da wird das von Jesus gebrachte und genutzte Schwert dreinschlagen: Nichts und niemand vermag uns jemals so zu binden, vermag uns so verbindlich zu werden, dass Jesus uns nicht wieder entzweien und also befreien könnte! …….
Eben das verheißt ja gerade auch die Ankündigung der familiären Konflikte: Die heiligsten Ordnungen, die tiefsten Traditionen der Welt kann derjenige aufheben, der allein Gottes Ziele verwirklichen wird. Während nämlich alle anderen eigenmächtigen Propheten und Kämpfer und Gesetzgeber, während alle anderen menschlichen Ideologien – heute allen voran die Ideologie des Islamismus – Menschen auf etwas Altehrwürdiges festlegen und unter abgeschlossene Autorität und ausnahmslose Abhängigkeit zwingen, löst Jesus Christus die Macht und die Muster aller bisherigen Menschheitsgeschichte auf, um den Menschen zu befreien.
Was immer galt, muss nicht immer gelten.
Was alle lehrten, muss nicht allen eine Lehre sein.
Was immer gesucht wurde, muss sich nicht für immer als das Gesuchte herausstellen.
Wir müssen und wir dürfen also nicht die Sitten und die Weisheit, die Vormacht und die Vorbilder, die Werte und die Wissenschaft der Vergangenheit übernehmen!
Sondern erst wenn wir Vater und Mutter, erst wenn wir Vorfahren und Vordenker nicht mehr vorbehaltlos als Verkörperungen und Willensbekundungen der Wahrheit betrachten, … erst wenn wir es uns nicht mehr in ihren Bahnen und in ihrer Gesellschaft leicht machen, vertraute Überzeugungen und gewohnte Besitzstände für selbstverständlich zu nehmen, … erst wenn wir wirklich ohne die Vormundschaft der Alten und außerhalb ihres Schutzbereiches sind, … erst dann können wir als Jesu Leute leben, … als Leute, die ein Kreuz selber zu tragen lernen.
Denn das ist ja die größte und verwickeltste Schwierigkeit unseres Einigelns im vertrauten Rahmen, unseres Festklammerns an den Erfahrungen und den Gewissheiten, die unsere Identität stiften: Die Schwierigkeit nämlich, dass unsere Eltern und Lehrer uns Fehler ersparen und leidvolle Erfahrungen abnehmen wollen. … Alle Durchbrüche, alle Schmerzen und Erleuchtungen und Gefechte und Mühen, die andere schon gesammelt und erlitten haben, dienen ja zu unserer Schonung: Wir sollen die Umwege der Entdecker, die Entbehrungen der Pioniere, die Durststrecken der Suchenden und die unverhofften Abenteuer der Ahnungslosen ja alle nicht mehr machen müssen.
……. Wenn wir uns aber auf den Fortschritten der Früheren und in den Grenzen des Gesicherten ausruhen, wenn wir die Not der Welt und die drängenden, gefährlichen Forderungen der Zukunft nicht ernstnehmen, sondern beim Stand der Forschung und bei den bekannten Verhältnissen unserer Wirtschafts- und Lebensformen, unserer Staatgrenzen und pragmatischen Prinzipien bleiben … wenn wir also im Windschatten der einstigen „Heureka!“-Rufe verharren und kein Wagnis mehr eingehen, keine offenen, alternativen Möglichkeiten in der Politik, in den persönlichen Erwartungen und den materiellen Ansprüchen unseres Daseins mehr ergreifen, dann werden wir erleben, wie wir das schön gesicherte, scheinbar selbstverständliche Leben, das uns doch garantiert schien, verlieren.
Wenn wir nur das, was Technik und Weltanschauung bisher können und bieten, fortsetzen, wenn wir nur die Modelle und Meinungen der vermeintlich lebenserfahrenen Väter und Mütter befolgen und uns nicht – jeder für sich und im Miteinander der Menschen – auf tatsächlich große Gefahren und erkennbar letzte Bedrohungen um- und einstellen, dann wird Jesu Wort sich schlicht erschütternd bestätigen. Wenn wir glauben, dass die großen Heureka-Ergebnisse der Vergangenheit – das Gleichgewicht der Kräfte in des Archimedes Badewanne, die Rationalität des naturwissenschaftlichen Zeitalters, die Logik des Geschäfts- und Gewinnstrebens der ökonomisierten Wissensgesellschaft – dass diese Funde und Erfindungen uns tatsächlich den Schlüssel zum Leben, zum Überleben in die Hand gegeben haben, dann sind wir des Todes!
Denn keiner der großen Denker und Forscher, die bisher ausrufen ließen, dass sie’s gefunden hätten – „Heureka!“ – ist auf das Leben selber, auf das Leben aus Gottes Hand und auf Sein Ziel hin gestoßen.
Das zu finden, geht anders.
Es geht tatsächlich nur durch’s Kreuz.
Es geht nur, wenn wir das, wovor man sich fürchten muss, nicht verleugnen und vergessen, sondern wenn wir es bejahen und annehmen.
Wir müssen jeder sein Kreuz aufgreifen!
Und so werden wir lernen und auszuhalten üben, dass Verzichten und Verlieren nicht Verlust oder Verlorensein bedeuten müssen.
Wir werden Selbstverleugnung – also das Aufgeben von Ansprüchen und das Absehen von Wünschen – nicht als Entbehrung, sondern als Befreiung zu erleben lernen.
Wir werden Abschied vom Vertrauten als Anfang dessen zu sehen beginnen, was mehr ist, als Menschen bisher kannten und hatten.
Wir werden das Leiden, das Mitleiden als die größte gemeinsame Menschenwürde zu ehren und dann mit eigenem Leben und Leiden zu bezeugen haben.
Wir werden gar nichts mehr als selbstverständlich, als rechtens oder sicher betrachten und erst recht nichts als sicher für uns mehr erfahren.
Doch je mehr wir das Kreuz der Verantwortung und der Liebe auf uns nehmen, je mehr wir dafür hergeben und lassen, desto mehr werden wir Jesus kennen lernen.
Er wird uns führen und Kräfte schenken!
Er allein muss das Ziel sein und der Weg, auf dem wir ihm unser Kreuz entgegentragen.
Und dann – wenn wir das Sichere und Bewährte und das Eigene und Begehrte gar nicht mehr verfolgen und verlangen –, dann werden wir finden, was man nicht ohne Schuld und Wahnwitz zu suchen beginnen kann: Das ewige Leben bei Gott!
Amen.
19.n.Trin 22.10.2017 Stadtkirche Markus 1,32-39 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 19.n.Trin. - 22.X.2017
Markus 1, 32-39
Liebe Gemeinde!
Wird der Mensch überflüssig? Macht die Maschine menschliche Fähigkeiten sinnlos?
Werden wir alle eines Tages nur schlechtere und langsamere Vorbilder der viel fähigeren Automaten sein? Und wird es dann nur noch eine Erinnerung bleiben, was alles einst von uns endlichen Wesen gesteuert und erledigt wurde, die von einer unbegrenzten Technik abgelöst wurden?
… Vermutlich nicht. … Vielleicht aber auch doch. … ——
Nur einer wird niemals arbeitslos werden, solange es noch die geschäftigen und die nutzlosen Menschenkinder gibt. Einer von ihnen wird niemals ohne Aufgabe sein. Mit seinen Taten und Kräften und Gaben und Worten wird dieser Eine nämlich nötig bleiben, bis der Sabbat kommt, an dem alles, alles ruhen darf und die Welt heil sein wird.
Das ist Jesus. Jesus, dessen Beruf und Beschäftigung bis zum Jüngsten Tag andauern werden, weil sein Arbeitsfeld die Menschen sind. —
Niemals wird Jesus tatenlos sein, niemals wird er nachlassen können. Denn was immer mit der Menschheit geschieht – einerlei ob der Fortschritt sie alle Sorgen vergessen lässt oder die Gier sie allen Leiden der Apokalypse unterwirft – … was immer mit der Menschheit geschieht: Sie wird Jesus zu allen Zeiten brauchen.
Sie wird den Heiler, den Sieger über das Böse, den Bringer des kommenden Gottesreiches ohne jeden Zweifel unverändert nötig haben bis die Weltgeschichte und alle unsere Lebensgeschichten in ihr vollendet sind. —
Genau von dieser Notwendigkeit Jesu aber und seinem bleibenden, rastlosen Heilswerk, von seiner Erlösungsarbeit und seinem endgültigen Rettungseinsatz spricht nun der kleine Abschnitt zu Beginn des Markusevangeliums, den wir heute meditieren.
Solche zusammenfassenden Schilderungen, die keine einzelne Tat, kein bestimmtes Wunder, keine seiner Lehren im Wortlaut überliefern, sondern all dieses überblicksweise aufzählen und bündeln, nennt man „Summarien“. … Manchen scheinen derartige Listen und Querschnitte vielleicht langweilig, weil sie kein Detail enthalten.
Andere dagegen spüren, dass gerade in solchen Andeutungen unüberschaubarer Fülle sich das beweist, was wir von jedem Aufzählungsergebnis immer sagen: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“
Die kleinen Summarien, in denen Jesu unzählige Rettungen und Gnadentaten beispielhaft erwähnt werden, erinnern uns also daran, dass Jesus nicht nur ein gutes Dutzend Aussätzige, zahlreiche Blinde, den einen oder anderen Lahmen, eine blutflüssige Frau, eine gekrümmte Frau, eine Greisin mit Fieber, ein besessenes Mädchen, einen epileptischen Knaben, einen Mann mit einer verdorrten Hand, einen Wassersüchtigen, etliche Stumme oder Taubstumme und viele seelisch Gequälte und Erkrankte geheilt und überdies 3 Tote auferweckt hat.
… Gäbe es wirklich bloß diese nicht einmal vierzig Menschen, von denen uns ausdrücklich berichtet wird, welche physischen oder psychischen Wohltaten sie Jesus verdankten, dann würde man den Mann aus Nazareth gewiss nicht als Heiland der Welt verehren und verkündigen können.
Doch die Summarien (vgl. Matth.4,23ff; 14,14; 15,29ff; 19,2; Mk1,32ff; 3,10f; 6,53ff; Lk.6,17ff) – diese schmucklosen Notizen dessen, was wir nicht im Einzelnen erfahren sollen – öffnen uns die Augen dafür, dass die Taten Jesu viel, viel umfangreicher sind, als das, was man von ihnen bei Markus etwa lesen kann.
Die Summarien sind also Hinweise darauf, dass das Ganze des Heils und der Heilungen, die Jesus bringt, sich nicht in einem und auch nicht in den vier Berichten, die wir Evangelien nennen, erschöpfen. Ja, das Ganze – die Summe aus allen kleinen und geheimen und auch aus allen großen, spektakulären Rettungswundern Jesu – endet nicht etwa an den Grenzen des Neuen Testaments, es erschöpft sich nicht in den Erinnerungen der Alten Kirche oder den uferlosen Legenden und Berichten der wundergläubigen christlichen Vergangenheit, sondern jeder Tag und jede Stunde – auch die gegenwärtige – die noch sind und die noch kommen werden, setzen fort, was in den Summarien aufleuchtet:
Jesus ist niemals arbeitslos gewesen und sein Tun geht weiter, weiter, weiter.
Der handelnde, helfende, heilende Jesus ist also die eine Kontinuität der mit Brüchen und Zerstörung so befrachteten Menschheitsgeschichte; er ist die eine Gestalt des Menschlichen, die sich in allem durchhält und -zieht. ——
Das mag zunächst beinah wie ein Hohn klingen, da doch Verletzung und Vernichtung und Rettungslosigkeit die Bühne beherrschen, auf der sich die Geschichte abspielt.
… Wo wäre denn in allen Kriegen und Katastrophen der Jahrtausende der dauerhafte, unermüdliche Rettungsdienst Jesu zu erkennen? Hat die Menschheit nicht vielmehr gerade niemanden so arbeits- und sinnlos gemacht wie ihren „Heiland“, … den Linderer aller Schmerzen und Verbinder aller Wunden und Hersteller alles Zerbrochenen? Ist es nicht an der Zeit, die Überlieferungen vom wundertätigen, praktisch-therapeutischen Sohn Gottes preiszugeben und ein bloß spirituelles Verständnis vom Heil als Kompromiss zwischen der brutalen Realität und der schönen religiösen Behauptung zu vertreten? —
Im Wesentlichen haben sich die Christen des Westens ja längst darauf verständigt, dass sie von den allzu krassen, körperlich klingenden aber wissenschaftlich überhaupt nicht nachvollziehbaren Heilungshoffnungen und -zeugnissen Abschied nehmen. Wirkliches Heilmachen, Handauflegen, Gesundbeten sind Vorstellungen, die der Südhälfte oder dem fernen Osten der Welt überlassen werden … und natürlich den grimmigen Verweigerungen aufgeklärten Denkens bei Charismatikern und Evangelikalen. Zeitgemäße Kirchen dagegen kennen keinen Einfluss der geglaubten Wahrheit auf die greifbare Materie. Wer meint, Christsein könne auch leibhaftig wirkungsvoll sein, der gehört schon nicht mehr auf Seiten der Kirche, sondern bei dem beginnt das Sektiererische, … das, was schon Luther zu dämpfen versuchte bei denen, die er „Schwärmer“ nannte, … Enthusiasten. ———
Aber ein Glaube ohne Enthusiasmus – ohne das Leben packende und wärmende Kraft –, ist wie ein körperloses Hirngespinst. Ein Heil, das nicht den Kaputten dient, eine frohe Botschaft, die die Tragödien nicht beheben will, ein Helfer in der Vollmacht Gottes, der Tränen nicht trocknen und Unheil nicht wenden und die Toten nicht auferwecken wird … was wäre das??? … Schall und Rauch, erfunden aus Verzweiflung und wieder zerstreut und aufgelöst aus noch mehr Verzweiflung. …
Umgekehrt aber bedeutet das auch: Wenn Jesus nur manchen wenigen, fernen und vergangenen Einzelfällen wirklich ganze, … also auch leibliche Rettung vor Hunger, Krankheit, Qual und Tod gebracht hätte, dann wäre er nicht der wahre Heiland, sondern ein besonders begabter Schamane oder ein gerüchteumwobener Quacksalber. Als der Bringer des Lebens, als Träger der Gottesherrschaft wird Jesus sich also erst dann endgültig und ewig bestätigt haben, wenn das Ganze seines Helfens und Erlösungswerkes sich offenbart.
Und darum sind die „Summarien“ – diese anonymen Aufzählungen, diese an sich zurückhaltenden Hinweise auf das Viele, das im Stillen verborgen oder in der Masse einzeln kaum mehr benennbar an Gesundheit und Trost und Kraft und Rettung durch Jesus zu den Menschen kam und kommt – … darum sind also die „Summarien“ so wesentliche Fingerzeige auf das Reich Gottes, das durch die Zeiten hindurch gebaut, erweitert und schließlich vollendet wird.
Es passiert mitten unter tausend anderen Ereignissen.
Es geschieht geheim, anonym, … wohl auch missverstanden.
Es geschieht ohne Öffentlichkeit. … Es geschieht aber auch mitten im Rampenlicht der Welt.
Es ereignet sich in Wundern: Wundern, die wir leugnen, … Wundern, die wir verschlafen.
Es vollzieht sich aber auch in jedem „rein natürlichen“, den Regeln der Kunst und Wissenschaft folgenden Heilen und Operieren und Therapieren und Regenerieren.
Der Wundertäter Jesus ist in jedem Wohltäter, in allen, die anderen wohltun, vertreten und zur Stelle.
Seine Arbeit ist endlos bis zu dem Tag, an dem die gesamte Menschheit aus ihrer Mühsal, aus ihren Anstrengungen und Leiden, aus ihre Not- und Todverfallenheit in die herrliche Unbekümmertheit, in das leichte und wunderbare Wohlgefühl der wiederhergestellten, der neuen Welt Gottes getreten ist.
Darum also werden Jesus Christus und seine Christen, werden der Heiland und seine Mitarbeiter nie ohne Aufgabe sein.
Wer hilft, weil er den Heiland – den Heiler der Welt! – kennt, wird immer zu tun haben.
Diese Gewissheit einer weltgeschichtlich dauerhaften, einer sinnvollen, einer – wie man in heutigem Beraterdeutsch sagt – „zielführenden“ Aufgabe im Mithelfen des Helfers, als Heilsassistenten der Menschheit, kann uns Christen immer wieder neu, trotz aller Rückschläge bei Heilung und Heil, trotz allen Unheils motivieren, aufrichten und erbauen. ——
Dass sich also in den kleinen Summarien, die so viel enthalten, neben der unendlichen Rolle und Aufgabe Jesu Christi in der Weltgeschichte auch ein Dienstplan für die Gemeinde des nimmermüden, immernötigen Menschenretters findet und also ein Heilsplan darin steckt, der alles, was geschieht, bis zum endgültigen Anbruch des Reiches Gottes umfasst: Das ist dem ersten Summarium, das wir heute betrachten bei genauerem Hinsehen wohl zu entnehmen.
Denn es berichtet ja programmatisch vom ersten Samstagabend – will sagen: von der ersten Arbeitsschicht – in Jesu öffentlicher Wirksamkeit.
Voran ging die Vorbereitung seines Tuns durch die Berufung der vier Jünger aus Kapernaum. Dem folgte die Zurüstung der am Kommen des Gottesreichs beteiligten Schar und die feierliche Ankündigung der beginnenden Heilszeit im Sabbatgottesdienst. Von dort zog es die Vorhut des Heils mit dem Messias zum Sabbatausklang in das Haus des Petrus, wo eine kranke alte Frau – des Fischers Schwiegermutter – die erste Geheilte des Neuen Testaments wurde. … Und dann, … dann ist der Sabbat vorbei und die große Arbeit kann losgehen, die Weltarbeit, die schließlich zur Erlösung aller führen wird! … Da setzt das Summarium ein: Nach Sabbatende, am Beginn der großen Arbeitswoche, die so lange dauern wird wie die jetzige Welt. Heilen, Helfen, Hoffen, das wird jetzt die Tage und die Nächte, die Jahre und Jahrzehnte, die Lebenszeit und die Zukunft ausfüllen. Hoffen, Helfen, Heilen: Das ist die Geschichte Jesu und der Seinen seitdem. Und der erste Tag der neuen Woche – der Sonntag also, der hier gut jüdisch-biblisch wirklich der Beginn des Dienstes und des Arbeitens ist – der erste Tag der Heilswoche steht im Zeichen des Betens und dann des rastlosen, unermüdlichen Kämpfens und Siegens, die sich von Ort zu Ort ausbreiten.
Eine Zeitrechnung wird uns hier mit diesem Arbeitstag des Heilands unterbreitet, die dann auch bewusst über die Grenzen des Markusevangeliums und der Bibel und der bisherigen Kirchengeschichte hinausgeht.
Denn der Sonntagmorgen, an dem Jesus nach den vielen Heilungen und Dämonenaustreibungen des Vorabends erst im Gebet Kräfte sammelt und dann weiterzieht, um in den Synagogen von ganz Galiläa zu predigen und durch seine Seelsorge und Seelentherapie Geister der Bosheit auszutreiben, … dieser Sonntagmorgen wird mit genau der Wendung erwähnt – „am frühen Morgen, noch vor Tage“ – mit dem der Evangelist später die Ereignisse eines anderen Sonntagmorgens beschreiben wird: Jenes ersten Tages der Woche, an dem Christus von den Toten auferweckt wurde!
… Und siehe da!, auch im Osterkapitel, in dem zum zweiten Mal die Sonntagsfrühe genannt wird, ist Jesus ja wieder unterwegs, … weiter unterwegs.
Weil er gebraucht wird.
Weil in seinem wunderbaren, unendlichen Lebenswerk, in seiner Lebensarbeit, in seinem Dienst an allem Leben noch so vieles nötig ist und auf ihn wartet.
Seit diesem Sonntagmorgen, „sehr früh, noch vor Tag“ ist er ja wirklich unablässig überall in der Welt am Werk, um aus vielen, vielen kleinen, einzelnen, unverbundenen Wohltaten und Wundern endlich die Summe werden zu lassen: Das Heil der Menschheit im Reich Gottes.
Und keiner, der das weiß und daran glaubt, wird jemals selber nutzlos oder ohne Sinn mehr sein können. Denn die Arbeit der Menschlichkeit, die Aufgabe des Helfens, die äußere und innere Teilnahme an dem, was Jesus zum Heiland macht, hört nie auf.
Nie werden wir arbeitslos solange wir Glauben haben.
Nie, bis alle Welt bekennen und singen wird, was wir jetzt anstimmen wollen;
Das Lied der Geheilten, das Lob der durch Jesus Christus Genesenen und Geretteten[i]!
Amen.
[i] EG 383: „Herr, du hast mich angerührt / lange lag ich krank darnieder“ von Svein Ellingsen in der Übersetzung von Jürgen Henkys
20.S.n.Tr., 29.10.2017, Mutterhauskirche, Mt.5,2-10, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
der Predigttext heute Morgen ist das Evangelium des Reformationstages, die Seligpreisungen. Ich habe sie für alle kopiert, weil die einzelnen Seligpreisungen in besonderer Beziehung zueinander stehen - nicht einfach eine nach der anderen, sondern jeweils im Gegenüber (1. mit 5., 2. mit 6., 3. mit 7., 4. mit 8.).
Ich lese Mt.5,1-10
„Als Jesus aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:
(1)Selig sind, die Bettler sind um den Geist, denn ihrer ist das Königreich der Himmel.
(2)Selig die Trauernden, denn sie werden Trost finden von Gott.
(3)Selig die Gewaltlosen, denn sie werden das Land erben.
(4)Selig die hungernd und dürstend sind nach richtigem Leben vor Gott, denn sie werden gesättigt werden.
(5)Selig die sich Erbarmenden, denn sie werden Erbarmen finden.
(6)Selig die im Herzen Reinen, denn sie werden Gott schauen.
(7)Selig die Friedfertigen, denn sie werden Söhne und Töchter Gottes heißen.
(8)Selig die Verfolgung leiden um des rechten Lebens vor Gott willen, denn ihrer ist das Königreich der Himmel."
Die acht Seligpreisungen, sie sind wie einzelne Glocken eines Glockenspiels, die im Zusammenklingen eine unverwechselbare Melodie christlichen Geistes darstellen. Jesus führt uns mit den Seligpreisungen wie auf einen Berg - heraus aus den Wirrnissen unseres alltäglichen Lebens - und lässt uns von dort einen Blick tun auf eine Welt, wie sie Gott für uns gedacht hat. Wir wollen ihm folgen mit Herzen und Ohren; vielleicht gewinnen wir den Mut - gebe es Gott - , ihm auch mit Händen und Füßen zu folgen, mit unserem Leben und Tun; damit sich zuletzt unseren Augen die Wahrheit dessen erschließt, was hier gesagt wird.
„Selig sind, die Bettler sind um den Geist, denn ihrer ist das Königreich der Himmel." Die „geistlich Armen" - so heißt es in der Lutherbibel - das sind die, die wissen, dass sie vor Gott mit leeren Händen stehen. Die ihre Bedürftigkeit anerkennen und nicht mehr sein wollen, als sie sind. Es sind die, die so auch zu ihren eigenen Unzulänglichkeiten und Fehlern stehen können; denn so hat uns Gott geschaffen und so gehören wir zu Gott ins Reich der Himmel.
Die eigene Armut vor Gott anerkennen - Jesus weiß: ohne Vertrauen in Gott geht das nicht. Ohne das Vertrauen, dass Gott die leeren Hände füllen wird, ist der Mensch bemüht, seine Armseligkeit hinter den Fassaden von Erfolg und Tüchtigkeit zu verstecken. Ein Wettrennen gegen sich selbst, das einen nie zum Ziel kommen lässt. Denn wenn wir ehrlich sind, dann bleibt die Erkenntnis Martin Luthers die Wahrheit über jedes Leben: Wir sind Bettler, das ist wahr.
Kein Grund zum Verzweifeln. Das ist die gute Nachricht Jesu. Steht doch zu eurer Bedürftigkeit nach Leib und Seele. Nur in diesem Bewusstsein könnt ihr wahrhaft menschlich leben - und denen Nächste sein, deren Ungesichertheit und Angewiesenheit augenfällig ist. „Glücklich, die ihre Armut von Gott her anerkennen, denn sie sind fähig zum Erbarmen."
Das bringt uns zu der nächsten Seligpreisung: „Selig die sich Erbarmenden, denn sie werden Erbarmen finden."
Nur wer seine eigene Bedürftigkeit kennt und anerkennt, nur wer weiß, dass er auf Verständnis und Erbarmen angewiesen ist, nur der wird Verständnis anderen gegenüber zeigen, sich ihrer erbarmen. Nur der wird sich ihnen zuwenden können, sie annehmen mit ihren Schwächen und Grenzen, in ihrer Hilfsbedürftigkeit. Auf diese Weise ergibt sich eine Kette der Solidarität und des Mitgefühls, des gegenseitigen Annehmens und Verstehens, eine Kette der Barmherzigkeit, die uns verbindet mit dem Herzen Gottes.
„Selig die Trauernden/die Weinenden, denn sie werden Trost finden von Gott." Diese Seligpreisung widerspricht eigentlich allem, worauf es in unserer Gesellschaft gemeinhin ankommt: Haltung bewahren, keep smiling, coolness. Allenfalls erlaubt sind noch Tränen der Rührung bei Erfolg: z.B. bei der Siegerehrung, wenn die Nationalhymne erklingt. Aber unmöglich sind Tränen der Empörung, Tränen der Verzweiflung. Denn sie sind Zeichen des Unterlegenen, gelten als Zeichen der Schwäche und Ohnmacht. Glücklich die Trauernden, die Weinenden, sagt Jesus, die menschlich sind und Schmerz und Verzweiflung, Trauer und Leid wahrnehmen und zulassen in ihrem Leben; denn all das gehört zum Menschsein dazu! Und ein glücklicher Mensch ist nur ein ganzer Mensch. Trauer und Tränen sind in Jesu Augen Zeichen dafür, ansprechbar zu sein für die dunklen Seiten des Lebens. Und es ist doch so: vieles in unserer Welt, in unserem Leben ist doch zum Weinen, ist doch Grund zum Trauern. Veränderung und Verwandlung hin zum Besseren, hin zur Freude ist aber ohne Leiderfahrung, ohne das Sich-hautnah-darauf-Einlassen nicht möglich. Denen, die solches wagen, verheißt Jesus die Erfahrung der Nähe Gottes, seinen Trost.
Um Menschen, die in Unglück und Leid wahrhaftig sind, geht es auch in der nächsten Seligpreisung: „Selig die im Herzen Reinen, denn sie werden Gott schauen." Die im Herzen Reinen - das sind Menschen, die durch eigene Leiderfahrung und Trauerarbeit hellsichtig geworden sind für das Leid anderer; die aufgehört haben, andere nach äußerlichen Kriterien in falsch und richtig einzuteilen und auszusortieren, sondern die sich dem oft mühseligen und Geduld erfordernden Geschäft unterziehen, die Wahrheit des anderen herauszufinden. Diese Wahrheit beinhaltet immer. Jeder ist Kind Gottes, geschaffen nach seinem Bild; vielleicht oft kaum erkennbar - verzerrt durch erlittenes Unrecht und durch eigene Schuld. Aber all das wird die, die um menschliches Leid wissen, um Schuld und Schuldverstrickung, nicht davon abhalten, in ihnen „Gott zu sehen" und zu versuchen, die Verzerrungen und Verbiegungen zu lösen.
„Selig die Gewaltlosen, die den Mut haben, auf Gewalt zu verzichten, denn sie werden das Land erben." Erez Israel - das Land Israel, das war für die jüdischen Zeitgenossen Jesu das verheißene Gut schlechthin - und ist es für viele Israeli bis heute. Erez Israel zu verteidigen - für viele Juden das höchste Gebot, denn es ist ja von Gott her ihr Land. Eine Haltung freilich, die nicht nur in Israel zu finden ist, sondern von vielen Völkern vertreten wird, wo Landbesitz zu einem national-religiösen Heilsgut verklärt wird. Und die Realität in dieser Welt besagt bis heute: wer die besseren Waffen hat, besitzt das Land. Eine Realität des Unrechts und des Leides. Ein Kreislauf der Gewalt und des zerstörerischen Hasses.
Jesus entwirft in dieser Seligpreisung das Gegenmodell, das unsere Realität auf den Kopf stellt: von Gott her erbt das Land, wer auf Gewalt verzichtet. Er ererbt das Land nicht als Besitz, sondern als Wohn- und Heimstatt, in der Leben möglich ist in Frieden und Gerechtigkeit in Gemeinschaft mit anderen.
Es ist offensichtlich: zu einer solchen Einstellung braucht es Mut. Und den, der solchen Mut aufbringt, den nennt Jesus selig. Und es ist auch klar: solcher Mut braucht eine Kraftquelle, aus der er sich speist. Mahatma Ghandi, der zwar nominell kein Christ war, der aber Jesus in seinem Leben und Handeln näher gekommen ist als die meisten Christen aller Zeiten, erkannte nüchtern: „Gewaltlosigkeit ist unmöglich ohne einen lebendigen Glauben an Gott. Ein gewaltloser Mensch kann nichts tun ohne die Kraft und Gnade Gottes."
Das ist wichtig auch für das Verständnis der siebten Seligpreisung: „Selig die Friedfertigen/die Friedensstifter, denn sie werden Söhne und Töchter Gottes heißen." Nur ein Mensch, der von innen her bereit und fähig ist zum Frieden, der „fertig" ist für einen auf Gewalt verzichtenden Umgang mit den Menschen, der nicht mehr zuschlagen muss, um mit seiner Angst fertig zu werden, sondern der seine ganzen Verlustängste, seine ganze Lebensangst vor Gott gebracht hat, nur der kann Frieden stiften. Nur wenn auf Gewaltanwendung und Gewaltandrohung verzichtet wird, gibt es -nach Jesus - Frieden, der den Namen verdient.
Utopisch? Hoffnungslos wirklichkeitsfremd? Das wird Jesus an dieser Stelle schon immer vorgeworfen. Nur: ist er deshalb schon widerlegt? Könnte es sich nicht lohnen - für uns, für diese Welt, gerade heute, wo wieder mit Atomwaffen gedroht wird -, ihn beim Wort zu nehmen?
Worauf es entscheidend ankommt, das sagt die nächste (4.) Seligpreisung, die in gewisser Weise alle anderen umgreift: „Selig, die hungernd und dürstend sind nach Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden." Hier wird nicht Gerechtigkeitsfanatikern das Wort geredet, die koste es, was es wolle, ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit durchsetzen wollen. Davon hat es schon genug gegeben, und sie haben mehr Unheil als alles andere angerichtet. Der Hunger und Durst nach Gerechtigkeit, das ist der Hunger und Durst nach einem richtigen Leben vor Gott. Und das beinhaltet mit Rückblick auf die anderen Seligpreisungen:
Glücklich, wer aufhört Rollen zu spielen,
wer sich so einbringt in das Leben, wie er ist - immer stark und schwach zugleich,
glücklich, wer zu seiner Bedürftigkeit steht und dann auch nachsichtig, behutsam und barmherzig mit den Schwächen der anderen umgeht,
wer sich nicht abfindet mit dem vielfältigen Unrecht, wer sich nicht arrangiert mit der angeblich unabänderlichen Realität, wo sie einem wahrhaft menschlichen Leben entgegensteht,
glücklich, wer mehr Leben, mehr Lebensqualität will für alle - aus Liebe zu den Menschen. Gott wird solchen Hunger und Durst stillen.
Liebe Gemeinde, wo ist solcher Hunger und Durst bei uns zu sehen und zu spüren? Hunger nach richtigem, vollem Leben - für uns, für alle, für die Menschen hier in Kaiserswerth?
Wie weit haben wir diesen Hunger und Durst zurückgedrängt, betäubt mit Drogen, Alkohol und Karriere?
Ich frage das auch mit Blick auf unsere Gemeinde, auf unsere Kirche: wie weit wirken wir mit unserem Reden von Gott - ich schließe mich da mit ein -, mit unserer Art, Nächstenliebe zu praktizieren bis hin in die organisierte Diakonie hinein, wie weit wirken wir da eher als Appetitzügler? Um lebendige Gemeinde zu sein brauchen wir „hungrige" Menschen. Auch die Diakonie braucht, um lebendige Diakonie zu sein, „hungrige" Menschen als Mitarbeitende, nicht als Klienten und Patienten.
Jesus fordert uns heraus, unseren Hunger zuzulassen und wahrzunehmen, nicht zu dämpfen - durch den Blick nach vorne, durch eine Vision von morgen.
Einen Hunger nach neuen Formen von Gemeindearbeit, nach Gemeinschaft mit den Menschen in unserem Stadtteil, nach neuer Arbeitsweise kirchlicher Diakonie.
Könnte es sein, dass wir Christen heutzutage deshalb die seelisch und leiblich Hungernden nicht mehr speisen können, weil wir selbst zu satt sind?
Gewiss, wer solchen Hunger zulässt, wer ihm nachgeht, der hat keinen leichten Weg vor sich; dessen war sich Jesus sehr wohl bewusst. Nicht von ungefähr lautet die letzte Seligpreisung:
„Selig die Verfolgung leiden um des rechten Lebens vor Gott willen, denn ihrer ist das Königreich der Himmel."
Jesus verklärt hier nicht das Leiden, sondern er ermutigt die Menschen, Leiden, Widerstände, problematische Situationen und Konflikte nicht zu scheuen, wenn es darum geht, dem Hunger nach richtigem Leben für sich und für andere nachzugehen. Widerstände und Schwierigkeiten bei dem Versuch, gewaltfrei, liebevoll und kompromisslos für volles Leben einzutreten, können geradezu ein Zeichen sein, auf dem richtigen Weg zu sein.
Sich gegenseitig auf diesem Weg zu bestärken, das ist die Aufgabe der christlichen Gemeinde. Und auf diese Weise soll und kann sie dann der Ort sein, wo wir Gott erfahren können, ein Stück Sichtbarwerden des „Königreiches der Himmel", ein Reich, das - wie Jesus es sagte - nicht hier und dort ist, sondern inwendig in uns, aber das von innen her aus einzelnen Menschen herauswächst, um Welt und Gesellschaft zu gestalten, zu verändern hin auf Gottes Reich.
In dieses Reich wollte Jesus uns mit seinen Seligpreisungen einladen. Dass wir den Mut finden, die Einladung anzunehmen, das wünsche ich uns allen. Amen.
15.S.n.Tr., 24.09.2017, Mutterhauskirche, Rö.11,33.36+Texte aus „Prüft alles, und das Gute behaltet“, Ulrike Heimann
Text/Thema: Rö.11,33.36 und Texte Nr.70-79 aus „Prüft alles, und das Gute behaltet"; Beginn der interkulturellen Woche
Liebe Gemeinde,
heute beginnt die interkulturelle Woche, die unter dem Motto „Vielfalt verbindet" steht. Die IKW wird seid 1975 jedes Jahr im September begangen, getragen von der Deutschen Bischofskonferenz, der EKD und der griech.-orth. Metropolie. Sie ist eine Reaktion auf die seit den 60er Jahren offensichtliche Veränderung der Zusammensetzung unserer Gesellschaft durch Arbeitsmigration und Fluchtgeschehen. Aber sie will mehr: sie will nicht nur reagieren, sondern die Veränderungen, die einfach da sind, mitgestalten, gerade die Christen einladen, sich nicht zurückzuziehen und von vergangenen Zeiten kultureller Einheitlichkeit zu träumen, sondern die Vielfalt als von Gott gegeben zu bejahen und durch uns im Miteinander zu gestalten. Ein ausgesprochen reformatorisches Anliegen: sich zu öffnen für die erfahrbare Wirklichkeit und sie mit dem zu verbinden, was die biblischen Traditionen uns zu bedenken geben. Nach vorne zu sehen und auf neuen Wegen in unbekanntes Land aufbrechen - wie z.B. Abraham und Sara -, und nicht zurück zu sehen und zur Salzsäule zu erstarren, unbeweglich und geistlich tot - wie Lots Frau beim Blick auf das untergehende - nein, nicht Abendland, sondern Sodom und Gomorrha.
Und genau das ist die Aufgabe, vor der die europäischen Gesellschaften heute stehen, und mit den Gesellschaften die Kirchen. „Siehe, ich will ein Neues schaffen", hörte schon Jesaja den Anruf Gottes, als er die ganzen Probleme und politischen Wirrnisse seiner Zeit in den Blick nahm, „ich will ein Neues schaffen; jetzt fängt es an; merkt ihr's denn nicht?" Nein, die meisten Zeitgenossen des Jesaja haben es nicht gemerkt, lange nicht gemerkt; erst im Rückblick haben sie dann gemerkt: die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems, die Verschleppung ins babylonische Exil, das war nicht Ende, sondern da ist tatsächlich Neues möglich geworden, nicht auf einen Schlag, sondern das Neue ist gewachsen. Neue Einsichten über Gott, neue Einsichten über den Menschen, über seine Verantwortung gegenüber Gott und seinen Mitmenschen. Der Glaube Israels war dabei einbezogen in dieses Wachsen des Neuen, denn Israels Gott, unser Gott ist nicht ein Gott über der Welt und jenseits der Wirklichkeit, sondern er will unser Gott sein in der Wirklichkeit, wie sie jeweils für uns ist. In gewissem Sinne gilt so nicht nur „ecclesia semper reformanda" (die Kirche muss immer wieder reformiert/erneuert werden), sondern auch „fides semper reformanda" (der Glaube muss immer wieder reformiert/erneuert werden), weil Gott das Neue schafft und liebt - und das nicht nur einmal oder dreimal, nicht nur 580 v.Chr. und 1517 n.Chr., sondern immer wieder, bis heute. Immer wieder lässt sich - ganz menschlich gesprochen - Gott etwas Neues einfallen, um die Menschen, um seine Menschenkinder anzusprechen, einzuladen, an seinem Projekt einer gerechten, friedlichen und barmherzigen Welt mitzuarbeiten, sich mit ihm an der Vielfalt des Lebens in allen Bereichen zu freuen und miteinander ohne Angst zu leben, ohne den Krampf, dass doch alle nur auf eine Weise zu leben, zu denken und zu glauben hätten. Wer sich für die neuen Wege Gottes öffnet, der wird mit Paulus staunen können:
„O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! ... Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit!"
Liebe Gemeinde, als ich im letzten Jahr die „95 bedenkenswerten Worte zum Reformationsjubiläum" zusammengestellt habe, da ist es mir vor allen Dingen um dieses Anliegen gegangen: möglichst viele Leserinnen und Leser auf die Spuren Gottes zu locken, der viel zu groß ist, als dass er in die Schublade einer Konfession oder Religion passt, sondern der sich überall da vernehmen lässt, wo Menschen nach ihm fragen, wo sie sich um das bemühen, was ihm wichtig ist: Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Frieden, Liebe.
Deshalb finden sich in dieser Broschüre neben Versen aus der Bibel auch solche aus dem Koran, dem Tao Te King und dem Brahma-Upanishad, einer heiligen Schrift der hinduistischen Religion. Und ich denke, es tut uns gut, wenn wir gerade an einem Sonntag wie heute, dem Beginn der interkulturellen Woche, uns mit einigen dieser „fremden" Texte befreunden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch Sie dazu kommen, festzustellen: es ist der eine Geist des Lebens, der eine Heilige Geist Gottes, der durch alle zu uns spricht. Wenn Sie die Texte mitlesen wollen, dann schlagen Sie bitte S.12 auf.
70. Für jede Gemeinschaft haben Wir einen Ritus festgelegt, den sie zu vollziehen haben. So sollen sie nicht mit dir über die Angelegenheit Streit führen... Und wenn sie doch mit dir streiten, dann sprich: Gott wird am Tag der Auferstehung zwischen euch über das urteilen, worüber ihr uneins wart. (Sure 22,67-69)
72. Streitet mit den Leuten des Buches nur auf die beste Art, mit Ausnahme derer von ihnen, die Unrecht tun. Und sagt: „Wir glauben an das, was zu uns herabgesandt und zu euch herabgesandt wurde. Unser Gott und euer Gott ist einer. Und ihm sind wir ergeben." (Sure 29,46)
Was mich an diesen Versen beeindruckt, ist die Wertschätzung gegenüber den Juden und Christen, den Leuten des Buches. Jeder hat seine Berufung erfahren, jeder ist unmittelbar zu Gott. Dass der Gott Israels und der Gott Jesu und der Gott Mohammeds ein und derselbe ist, das wird hier ganz klar ausgesprochen. Christen und Juden tun sich damit bis heute - leider - schwer. Die Streitereien darüber werden genauso offen angesprochen, aber nicht debattiert. Die Unterschiedlichkeit im Ritus, in den Frömmigkeitsformen, sie werden einfach stehengelassen. Eine Gelassenheit gegenüber der Vielfalt religiöser Lebensformen, die jedem Menschen gut täte - egal ob Muslim, Jude, Christ oder auch Buddhist oder Agnostiker. Und wer trotz allem und immer noch meint, dass die Vielfalt nicht dem Willen Gottes entspricht, der möge doch bitte nicht dem Urteilsspruch Gottes vorgreifen, sondern es ihm allein überlassen, wie er am Ende der Zeiten sich dazu verhalten wird.
71. Diejenigen, die glauben, und diejenigen, die Juden sind, und die Christen und die Sabier, all die, die an Gott und den jüngsten Tag glauben und Gutes tun, erhalten ihren Lohn bei ihrem Herrn, sie haben nichts zu befürchten. (Sure 2,62)
73. Jeder hat eine Richtung, zu der er sich wendet. So eilt zu den guten Dingen um die Wette. Wo immer ihr euch befindet, Gott wird euch alle zusammenbringen. Gott hat Macht zu allen Dingen. (Sure 2,148)
Erinnern Sie sich noch daran, dass bis vor wenigen Jahrzehnten eigentlich in allen Kirchen gepredigt wurde, dass nur, wer an Jesus Christus glaubt, gerettet wird, in den Himmel kommt und nicht der ewigen Verdammnis anheimfällt? In der katholischen Kirche hieß es gar: „Extra ecclesia nulla salus." (Außerhalb der Kirche, der römisch-katholischen selbvstredend, gibt es kein Heil.) Da waren selbst wir evangelische Christen rettungslos verloren. Ich habe schon früh meine Bauchschmerzen bei diesen Vorstellungen gehabt. Wie konnte es sein, dass alle, die zum Beispiel in China oder in Indien, in einer ganz anderen Kultur geboren und aufgewachsen sind, wie konnte es sein, dass alle diese Menschen verloren sind? Hatte Gott sie nicht genauso ins Leben gerufen wie mich, sie an ihren Ort gestellt? Die beiden eben vorgelesenen Koranverse zeigen da eine ganz andere Haltung: es kommt nicht darauf an, dass jeder dasselbe glaubt, aber es kommt darauf an, dass der Glaube, der einen erfüllt, gute Früchte trägt. Das Wetteifern um die guten Dinge, das ist etwas ganz anderes als das Streiten darum, wer nun die bessere Lehre hat. Und was für eine wunderbare Hoffnung: Gott wird uns alle zusammenbringen. Es korrespondiert mit dem biblischen Bild vom endzeitlichen Hochzeitsmahl, zu dem wir alle geladen sind.
74. Die Leute des Buches sollen wissen, dass sie nicht über die Güte Gottes verfügen, sondern dass die Güte in Gottes Hand liegt. Er lässt sie zukommen, wem Er will. Und Gottes Güte ist groß. (Sure 57,29)
Dieser Vers erzählt auf der einen Seite davon, dass offensichtlich „die Leute des Buches", also Juden und Christen ihren Glauben dazu missbraucht haben, sich selbst in der Rolle zu sehen, zu beurteilen, wem gegenüber Gott gütig ist oder eben nicht, wem er sich zuwendet und wem nicht. Gerade wir Christen sollten es aber besser wissen, denn so hat es schon Jesus selbst seinen Jüngerinnen und Jüngern gegenüber klargestellt: „Gott lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte." In seiner Barmherzigkeit und Güte, die allen das Leben ermöglicht, darin liegt Gottes Vollkommenheit. (Mt.5,44ff)
75. Wenn ihr euch abwendet, dann wird Gott Menschen bringen, die er liebt und die ihn lieben. (Sure 5,54)
76. Sprich: Ruft Gott oder ruft den Erbarmer an. Welchen ihr auch anruft, Ihm gehören die schönsten Namen. Und sei nicht laut beim Gebet, und auch nicht leise dabei. Suche einen Weg dazwischen. (Sure 17,110)
Der Weg des rechten Maßes, Frömmigkeit, die nicht aufdringlich ist und auch nicht verschämt. Die einfach aus dem Herzen kommt und gleichzeitig den anderen nicht bedrängen will. Der Weg dazwischen - ihn zu finden, eine immer neue Herausforderung. Besonders in einer Umgebung und Gesellschaft, die für religiöse Formen nicht viel übrig hat, die meint, sie überwunden zu haben durch Aufklärung und Fortschritt. Suche einen Weg dazwischen - nicht entweder oder, nicht Nikab oder bauchfreies Top. Einen Weg dazwischen suchen, das ist nicht nur eine Aufgabe für die, die zu uns kommen aus einer anderen Kultur, mit einer anderen Religion; das ist auch eine Aufgabe für uns, die „Einheimischen". Der Weg dazwischen - das ist der Weg des Ausgleichs zwischen den überkommenen Traditionen und Lebensausformungen, der Verabredung um des Friedens und eines gedeihlichen Miteinander willens.
77. Sagbar das Tao, doch nicht das ewige Tao; nennbar der Name, doch nicht der ewige Name. Namenlos des Himmels, der Erde Beginn, namhaft erst der zahllosen Dinge Urmutter. Darum: immer begehrlos und schaubar wird der Dinge Geheimnis, immer begehrlich und schaubar wird der Dinge Umrandung, beide gemeinsam entsprungen dem Einen, sind sie nur anders im Namen. Gemeinsam gehören sie dem Tiefen; dort, wo am tiefsten das Tiefe, liegt aller Geheimnisse Pforte. (Tao-Te-King)
Ein Text voller Demut. Wo der Mensch sich eingesteht, immer nur ein Teil, nie das Ganze zu sehen und zu verstehen. Wie Paulus es im 1.Kor.13 sagt: Unser Wissen ist Stückwerk. Was wir sehen, was wir benennen, definieren, das ist die Oberfläche der Dinge, im Text: die Umrandung, nicht der Inhalt. Nicht die Fülle, nicht die Tiefe. Israel wusste das auch: der Name Gottes ist nicht nennbar, weil Gott nicht verfügbar ist durch den Menschen. Der Islam spricht von den 99 schönsten Namen Gottes, doch den eigentlichen, den 100.Namen, der ist dem Menschen verborgen; denn: Gott ist und bleibt ein Geheimnis, nicht fassbar für den menschlichen Geist. Für mich ein wunderbarer Satz voller Weisheit:
„Dort, wo am tiefsten das Tiefe, liegt aller Geheimnisse Pforte." Um sich Gott wenigstens zu nähern, müssen wir vom hohen Ross absteigen, müssen wir uns hinabbeugen, weil es Gott gefällt, nicht oben, sondern unten zu sein. Was anderes feiern wir denn Weihnachten?
79. Der einzige Gott ist in allen Wesen verborgen, durchdringt alles und wohnt als Seele in allen Wesen, er wacht über alle Werke, wohnt über allen Wesen, ist Zeuge, Wächter, ganz für sich allein. Der einzige Herr wohnt in allen Wesen; er macht die eine Form vielfach. Die Weisen, die ihn in ihrem Inneren wahrnehmen, haben ewiges Glück, nicht andere. (aus dem Brahma-Upanishad)
Ja, darauf kommt es an: Gott im eigenen Herzen wahrzunehmen, sich ihm zu öffnen, leer zu werden für ihn, wie es die Mystiker und Mystikerinnen aller Religionen nicht müde wurden zu bezeugen, nicht irgendeine metaphysische Lehre über Gott festzuschreiben, irgendwelche Dogmen und Glaubenssätze. Denn die führen letztlich nur dazu, dass diejenigen, die diesen Sätzen nicht zustimmen, ihnen nicht Folge leisten, ausgegrenzt, abgewertet und sogar gewaltsam bekämpft werden.
Nicht alles ist Gott, aber Gott ist in allem.
Wird ein Rabbi von seinem Schüler gefragt: Meister, zeig mir, wo ist Gott, wo kann ich ihn finden? Der Rabbi denkt nach und antwortet: Zeig du mir erst, wo er nicht ist.
Entscheidend sind die Augen des Betrachters: sind sie bereit, Gott wahrzunehmen, dann können sie ihn überall sehen.
„O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! ... Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge - jede Religion, sofern sie von seiner Güte und Barmherzigkeit Zeugnis gibt, jede Form der Frömmigkeit, sofern sie dem friedlichen Miteinander der Menschen nicht entgegensteht, jede Kultur, sofern sie offen ist und lernbereit, mehr Zelt als festes Haus, unterwegs durch die Zeiten, der Zukunft Gottes entgegen. Ihm, dem Einen Gott, sei Ehre in Ewigkeit!"
Die interkulturelle Woche, eine gute Gelegenheit, aus aller christlichen Selbstgenügsamkeit und Selbstbezogenheit aufzuwachen und sich mit der Vielfalt der religiösen Anschauungen zu beschäftigen, zur Kenntnis zu nehmen: die Erkenntnis Gottes ist nicht abhängig vom Taufschein, er hat nicht nur durch Mose und Jesus gesprochen, sondern seine Wahrheit auf vielfältigen Wegen unter seine Menschenkinder gebracht. Entscheidend ist für alle: was machen sie aus ihren Erkenntnissen, welche Früchte bringt ihr Glaube für das Leben und das Miteinander der Menschen. Wetteifern wir ruhig darum, die allerbesten zu bringen.
Amen.
14.n.Trin., 17.09.2017, Stadtkirche, Markus 1,40-45 (im Rahmen der Predigtreihe: "Reformation und Diakonie), Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 14.n.Trin. - 17.IX.2017
Markus 1, 40-45
Liebe Gemeinde!
In den Randbemerkungen Luthers zur letzten Ausgabe seiner deutschen Bibelübersetzung findet sich zum ersten Kapitel des Markusevangeliums ein einziger Kommentar.
Das ist erstaunlich wenig, denn dieses erste Markuskapitel – von dem wir heute wissen, dass damit überhaupt die Gattung eines „Evangeliums“ erfunden wurde – ist so rasant angefüllt wie ein Spielfilm im Zeitraffer oder ein Comic, bei dem auf einer Seite zwanzig Szenen begegnen: Das Wirken Johannes des Täufers und die Epiphanie bei Jesu eigener Taufe, die vierzig Tage, die der Christus vor seinem Tun in der Wüsteneinsamkeit verbrachte und dann das Scheitern des Satan an ihm, die Verkündigung Jesu, seine ersten Jüngerberufungen und Sabbatpredigten und Dämonenaustreibungen und Wunderheilungen und Erfolge drängen sich da in nicht einmal vierzig Versen zu einem furiosen Auftakt der Erlösung der bösen, traurigen und kranken Welt.
Doch in dieser aufwühlenden Bild- und Handlungsflut hat Luther nur eine feste Stelle gefunden, an der er den Anker eines Kommentars auswerfen und festmachen konnte: Es ist die Notiz, dass „Jesus gewaltig lehrte und nicht wie die Schriftgelehrten“ (Mk1,22).
Zu diesem Urteil über Jesu Predigt in Vollmacht schreibt Luther also nun:
„Das ist / seine predigt war als eines der es mit ernst meinet / Vnd was er sagte / das hatte ein gewalt / vnd lebet / als hette es hende und füsse. Nicht wie die Lumpenprediger / die da her speien vnd geifern / das man drüber vunlust vnd grewel gewinnet.“
Man sieht sofort, dass der Punkt, an dem Luther mit allem Nachdruck und Nachahmungstrieb einhakt, genau jene Gabe, jenes Charisma ist, durch das er die evangelische Kirche weckte: Ernste, unabweisbar vollmächtige Verkündigung, auf der Glaube und Gemeinde beruhen, … eine lebendige Predigt, die anders als die hölzern schematische Drohkunst seiner Gegner Lust und Freude weckt. ———
Diese Grundlage der Kirche – die Vollmacht, „die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“ (Barmen VI) – diese Grundlage der Kirche des Wortes findet Luther also auch im ersten Kapitel des ältesten Evangeliums. Und sie steht dort ja wirklich auch. …
Aber viel klarer und ausführlicher schildert uns der Anfang aller Überlieferungen von Jesus doch eigentlich eine andere Seite seines Auftretens. Nicht als reinen Prediger oder Lehrer stellt Markus uns den Sohn Gottes vor, sondern als einen, dessen Worte Taten sind und dessen Botschaft spürbare Kraftübertragung. Jesus bewirkt nicht nur die Lebensveränderung, die die Nachfolge für seine ersten Jünger bedeutet und nicht nur die Buße und Umkehr, zu der seine Reich-Gottes-Mission ruft, sondern mit Jesu Erscheinen beginnt eine Kette von gezielten, aber auch von unbeabsichtigten physischen Wohltaten und Wundern.
Jesu Kraft und Vollmacht sind nämlich keine seelischen Phänomene allein und sie gelten auch nicht nur den Seelen, sondern sie greifen genauso in den Bereich des Stofflichen hinein: Er verändert, ja, er erlöst doch die Welt … wie sollte er da also nicht auch den physischen Leib und das irdische Leben derer verändern, die er berührt oder die ihn berühren?! …
Diese uns fremde, praktische Grunderfahrung mit Jesus Christus schlägt uns nun aber gerade im Markusevangelium besonders entgegen, in dem es ein sonderbares Geheimhaltungsgebot gibt: Wieder und wieder beschwört Jesus hier die Menschen, ihn nicht zu verraten und seine Bewegungen nicht preiszugeben.
Er will zunächst unerkannt und frei seinen Weg gehen, der unaufhaltsam an das Kreuz führt, an dem die Leiden und die Schmerzen aller Welt ihn treffen sollen.
Doch während man im Markusevangelium nirgends hört, dass jemand die diskreten Worte, die seelsorgliche Einzelzuwendung, die geheimnisvolle und einstweilen geheime Lehre des galiläischen Wanderpredigers ausplaudert, wird vom ersten Kapitel an deutlich, dass die praktischen Wirkungen, die seine Gegenwart, sein helfendes Eingreifen, seine Machtworte gegen Krankheit und Not entfalten, sich einfach nicht verschweigen lassen!
Während die Verkündigung Jesu also noch verborgen bleiben konnte, durchdrangen seine Taten schon die Welt.
Und mit dieser Beobachtung des Evangelisten Markus – dass die Leute nicht durch Predigten, wohl aber durch Heilung und Hilfe unwiderstehlich bewegt werden – … mit dieser Erkenntnis von der ansteckenden Wirkung dessen, was man Menschen Gutes tut, hätte die Kirche eigentlich auch zu Luthers Zeiten und für Luther eine ganz konkrete, ganz praktische Richtung nehmen müssen!
Wir sind eben nicht nur die Kirche des Wortes, sondern durch die Taufe werden wir zum Leib jenes Wortes gemacht, das Fleisch wurde.
Eben nicht bloß die Botschaft der Wahrheit begründet uns, trägt uns und lebt in uns, sondern ebenso die Erfahrung von Befreiung und Rettung aus Unrecht, Krankheit, Hunger und Trübsal. … Eine bloß predigende und bezeugende Kirche, eine Kirche der Thesen und Theorien allein hat es nie gegeben und soll es auch nie geben.
Wo Christus lebendig ist und wirkt, da müssen sich seine Liebe und Barmherzigkeit auch wirklich in Menschenleben in Gestalt von Gesundheit und Stärkung, von Nahrung und Schutz auswirken. ——
Jesus ist ja der Sohn Dessen, Der heißt „Ich werde sein, der ich sein werde“ (2.Mose 3,14), und er trägt – wenn wir dem Urevangelium nach Markus folgen – einen ähnlichen Namen wie der Vater. Als ihn der Aussätzige nämlich mit dem Satz „Willst du, so kannst du“ um Heilung bittet, da antwortet Jesus: „Ich will’s“. Und so müssen wir ihn seitdem immer neu ungläubig-gläubig anrufen: „Willst du, so kannst du“, um immer wieder neu zu hören: „Ich will ja, ich will!“
Jesus ist der große helfende „Ich will“.
Sein ganzes Geheimnis und auch seine ganze Offenbarung sind seinem Hilfswillen geschuldet, seine Sendung und sein Dasein dienen einzig und allein dazu, der hilflosen Menschheit der Helfer zu sein.
Er, dessen Name „Jeschu’a“ schon buchstäblich nichts anderes als „Nothelfer“ und „Retter“ bedeutet, ist ja gekommen, damit das menschliche Los in allem leichter, damit es frei und hoffnungsvoll und würdig und ein Lob des Schöpfers werden könne und nicht mehr von Sünde zerfressen, von Leiden vergiftet und vom Tod endgültig ausgelöscht wird.
Diesem einen Ziel aber dient alles in seinem Leben vor und nach seinem Tod am Kreuz: Jeder satte Magen, jeder versöhnte Feind, jeder begnadigte Schuldige, jeder getröstete Traurige, jeder laufende Lahme, jeder hörende Taube, sehende Blinde, gereinigte Leprakranke, jedes lachende Kind, jeder genesene Todeskandidat, jeder von den Toten auferweckte Mensch zeigt es ja, dass Jesus nicht nur als Prophet oder Offenbarer gekommen ist wie Zarathustra oder Mohammed – oder Luther –, sondern dass er der wahre Heiland ist, der wirkliche Messias, der tatsächliche Erlöser. ——
Und nun steht Luther plötzlich da, … zwischen den eindrucksvollen Lehrern, den Stiftern großer Denkschulen und religiöser Bewegungen.
Das hat er vielleicht nicht verdient, … auch nicht, dass man ihn zwischen Sokrates und Jesus Sirach, zwischen Thomas von Aquin und Georg Wilhelm Friedrich Hegel – oder wie die Erneuerer, die Reformer und Vollender des menschlichen Denkens sonst noch heißen mögen – einfach mit den Philosophen und Scharlatanen und Blendern und Geistesgrößen durcheinanderwirft.
……. Doch eines haben sie alle gemeinsam: Sie setzten bei der Weltanschauung an – während Jesus Brot bricht, wo man hungert, Dämonen austreibt, die Menschen verbiegen und Spucke und Erde anrührt, um Ausgelaugte und Gezeichnete mit der Heilsalbe des helfenden Schöpfers zu kurieren, … um schließlich dann sein Blut und Leben für die ganze Welt zu geben.
Jesus – der „Ich will“ und „Ich kann“ – hat also das schlichteste Mittel, um seine Wahrheit zu erweisen: Sein Tun.
Und eben das war Luthers Not:
Dass die Wahrheit Jesu auch in unserem Tun Schule machen will, dass der Beweis des Geistes und der Kraft in den Unternehmungen und Anstrengungen der Christen für die Anderen, die Angewiesenen bestätigt und geleistet werden soll … das war ihm zutiefst unheimlich – obwohl er es genau erkannte.
Luther wusste, dass die Liebe den Christenmenschen ebenso zu einem dienstbaren Knecht aller Dinge und jedermann untertan macht, wie ihn der Glaube zu einem freien Herrn über alles und alle erhebt.
Selbstverständlich wusste Luther das und meinte es niemals anders, als dass die Gerechtfertigten auch ein dankbar tätiges Leben und Streben nach Heiligung beweisen würden. … Und doch war es ihm unmöglich, die notwendigen Tatfolgen des Glaubensgehorsams beim Menschen ohne Sorge um das alleinseligmachende Werk Jesu zu fordern.
Immer lauerte beim Reden vom Tun des Glaubens der für ihn schreckliche Gedanke, dass dieses Tun als Müssen und das Gemusste dann als Leistung und die Leistung schließlich als Verdienst verstanden werden könnte. … Ehe er aber irgendeiner Praxis das Wort redete, die wie eine zweite Quelle des Guten neben der einzigartigen Gerechtigkeit Jesu Christi hätte wirken können, hielt Luther sich lieber zwanghaft zurück.
Die Hauptsache für ihn war das Vertrauen auf das, was kein Mensch selber machen und erreichen, sondern nur passiv annehmen und empfangen kann. Daneben duldete er keine missverständliche Erwartung an die eigenen Aktivitäten des Menschen.
Und so versagte er – aus Liebe zu Jesu einzigartiger Liebe – der lutherischen Kirche ein Amt ihrer Nächstenliebe.
Dass schon zur Urgemeinde in Jerusalem die sieben Armenpfleger, die Diakone gehörten, um die soziale Verantwortung auszuüben, die sich in der Nachfolge Jesu selbstverständlich ergibt (vgl. Apg.6): Von der calvinistischen Reformation wurde diese Notwendigkeit des Helfens im Namen des „Ich will“ immer schon als wesentliche Lebensäußerung der Kirche Jesu Christi verstanden.
Die lutherische Kirche dagegen blieb dreihundert Jahre lang im Helfen und Lieben gelähmt, eine auf Verkündigung und Glauben beschränkte Gemeinschaft, deren Einzelne Gutes tun sollten ohne doch einen verbindlichen Dienst der Gemeinde an der Menschheit und ihren Bedürfnissen zu kennen: Auch das gehört zu den Wahrheiten, an die wir uns dieses Jahr erinnern müssen.
Und es ist eine alte, selbstkritische Erkenntnis des Luthertums selber, dessen strammer Vertreter Wilhelm Löhe – der Diakonissenvater in Neuendettelsau – schon vor anderthalb Jahrhunderten schrieb: In der Nachfolge Luthers hatte man „gar viel zu tun mit Aufrechterhaltung der reinen Lehre, und es ist aus diesen und andern Gründen, wenn schon nicht zu rechtfertigen, doch zu entschuldigen, dass die Kirche der Reformation ihrer Lehre und Einsicht nicht alsbald das praktische Leben und den Glanz der Werke der Barmherzigkeit folgen ließ.“ ——
Nein, lieber Bruder Löhe, lieber Vater Luther.
Nein!
Es ist nicht zu entschuldigen, dass man in Jesu Namen nicht seinen Willen zur Hilfe, nicht seine ganze Lebens- und Sterbensmission als die unmittelbare Regung erkannte, die auf uns über- und in seiner Kraft auch durch uns weitergehen muss!
Es ist nicht zu entschuldigen, dass aus Angst vor dem Müssen das heilige Wollen gedämpft und erstickt worden ist!
Es ist nicht zu entschuldigen, dass die Diakonie, die originäre Lebensäußerung der Kirche des großen Helfers dreimal hundert Jahre brauchte, ehe sie nicht mehr als Ablenkung oder Versuchung zu angemaßter Werkgerechtigkeit, sondern als das Leben und Wollen und Tun Jesu in seiner Gemeinde betrachtet wurde.
Beinahe schämt man sich ja gegenüber den katholischen Kirchenlehrern und Denkern und Vorbildern, deren Heiligkeit niemals durch ihre Dogmatik oder ihre Predigt bestätigt wurde, sondern ausschließlich durch Hilfe und Heilung, die sie in Jesu Namen wirkten und weitergaben.
Tun, nicht Reden ist Zeugnis der herrlichen Gegenwart Jesu Christi unter uns.
Und du, Vater Luther, hast es doch selber in deiner kleinen, hellen Randnotiz zum ersten Kapitel des ältesten Evangelium so ausgedrückt:
„Vnd was Christus sagte / das hatte ein gewalt / vnd lebet / als hette es hende und füsse!“
Hände und Füsse muss daher auch der Glaube an ihn haben, Hände und Füsse müssen sich in seiner Nachfolge regen: Durch Helfen und Heilen, durch Pflegen und Trösten, durch Stärken und Eintreten für die Schwachen!
Hände und Füsse des Glaubens.
Hände und Füsse der Liebe.
Hände und Füsse der Hilfe.
Hände und Füsse, von deren Wirkung und Wohltaten eine mächtigere Kraft und Kunde ausgehen, als von allen Gedanken und Worten.
… So stark, dass Jesus Christus schließlich wirklich niemandem und nirgends mehr verborgen bleiben wird – denn „sie kommen zu ihm von allen Enden“ … zu ihm, dem Helfer, der will und der kann.
Amen.
Fürbitten
Herr, dazu soll es nie wieder kommen:
Dass wir wissen, was nottut,
dass wir einsehen, was Dein Wille und unsere Nachfolge wären
und dass wir dann nicht handeln, sondern abseits stehen.
Du hast mit Deinem Leben,
mit Deinem Wollen und Können,
mit Deiner Allmacht und Ohnmacht,
mit Deiner Liebe und Deinem Mitleid das Los aller Menschen wenden wollen
und liebst und wirkst und rettest auch heute,
bis endlich alle Welt Dich loben wird und niemals vergessen,
was Du ihr Gutes getan hast.
Darum bitten wir Dich, dass Dein Geist in unsere Hände und Füße,
in unsere Herzen und Gedanken fährt,
und uns auf Wegen des Friedens
zu den Aufgaben des Helfens
an die Orte des Leidens
in den Dienst an den Anderen führt!
Lass überall, wo Deine Kirche ist
auch Licht für die Verirrten,
Brot für die Hungrigen,
Fürsprache für die Unterdrückten,
Trost für die Leidtragenden,
Heilung für die Kranken,
Hoffnung für die Verzweifelten,
Liebe für die Vergessenen,
Versöhnung für die Feinde zu finden sein.
Lass uns die Gnade, von der wir leben,
das Wunder Deiner Barmherzigkeit, das wir durch Christus empfangen
und die herrliche Zuversicht des Lebens, das Du uns schenken willst,
nicht umsonst und nicht vergebens genießen,
sondern lass den Glauben, die Hoffnung, die Liebe in uns Frucht bringen.
Den Schmerz der ganzen Welt,
die Gewalt und die Dunkelheit unserer Gegenwart,
die ausweglosen Konflikte der Religionen und Völker
und die herzlose Selbstsucht unserer ganzen Kultur
wollen wir auf uns nehmen,
wollen wir nicht schweigend verschlimmern,
sondern angreifen und abbauen, wo es in unserer Macht steht
und bittend und hoffend aushaltend,
weil Du sie nicht dulden,
sondern auflösen und für immer beenden willst.
Lass uns in diesem Vertrauen auf Dich
den Dienst der dankbaren Liebe,
das Leben der heilenden Hoffnung,
die Gewissheit des tragenden Glaubens
auf allen Wegen mit den Menschen
und Dir, ihrem treuen Erlöser teilen,
bis wir am Ziel sind
und Dich loben in Ewigkeit!
12.n.Trin. 03.09.2017 Kaiserswerth, Elternschaft bei Luther (im Rahmen der Predigtreihe "Familie bei und nach Luther"), Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 12.n.Trin. - 3.IX.2017
Elternschaft bei Luther
Liebe Gemeinde!
Martin Luther war kein Wunderkind.
Anders als bei andern Großen der Glaubensgeschichte wird vom kleinen Luther nichts Außergewöhnliches, kein Vorzeichen, kein fertiges Heiligenbildchen überliefert. Der Dreikäsehoch in Mansfeld fiel nicht besonders auf und auch der Schüler, der in Eisenach Heimweh, Hunger und die Pubertät erlebte, war weder hochbegabt, noch sonst eine Ausnahme.
Erst der Erfurter Mönch glänzte mit geistiger und geistlicher Schärfe, die sich ebenso als Feuereifer wie eiskalte Verzweiflung zeigen konnte.
Als Erwachsener erst war Luther also bei sich angekommen, erfüllt von den Gewissensfragen und dem Gewissheitsdrang, die sein Leben und die Kirche verändern sollten.
Weit vom Wunderkindlichen entfernt, war er demnach eher ein Verzögerter, einer, der nur allmählich, dann aber völlig klar erfasst, worauf es ihm ankommt. Er war – wie wir letzte Woche am Beispiel seiner Eheschließung sahen – ein echter Spätzünder.
… Man könnte aber auch sagen: Luther war ein Mensch der Entwicklung. Und genau diese Seite seiner Persönlichkeit macht ihn zu einem der modernen Welt Verwandten, zu einem ernsthaften Gegenüber für uns, die wir alle nicht mehr in Selbstverständlichkeiten und unwandelbaren Überlieferungen stehen, sondern deren Denken und Wollen, deren Meinung und auch Glauben heranreifen, sich entfalten und auf den Lebenswegen ändern, je nach den Fragen, die Zeit und Horizont uns stellen.
Die Entwicklungsfähigkeit Luthers, diese Bereitschaft zum Neudenken und Andersmachen, zum Ablegen und zum Hinzulernen – Luther hätte das alles übrigens „Buße“ genannt –, …diese Entwicklungsfähigkeit Luthers, die ihn tatsächlich zu einem Vater der Moderne macht, machte ihn auch zu einem durchaus bemerkenswerten Vater für seine leiblichen Kinder[i].
Wie im Fall der Ehe, so hatte Luther auch in Sachen des menschlichen Nachwuchses zunächst lange schon die biblische Botschaft von der Familie empfangen, gedeutet und vertreten, ehe er selber zum Vater wurde und erlebte, was die praktische Wirklichkeit des biblischen Kinder-Segens ist. Als aber Katharina 1526 den ersten Sohn, Johannes – später Hensichen genannt – , zur Welt brachte und Luther kurz drauf einen schrecklichen kardiologischen Anfall, einen Hörsturz und eine tiefe Depression, die ihn todesreif gemacht hatten, überwand, da begann ein Leben im ehemaligen Augustinerkloster, das sich die dort vor kurzem noch heimischen Mönche nicht hätten träumen lassen. Mindestens sieben Schwangerschaften erlebten die Klostermauern in 14 Jahren, die meistens noch in der für Käthe besonders mühsamen Stillzeit begannen, … sechs glückliche Hausgeburten, … mehr als eine für die Mutter bedrohliche Fehlgeburt, … das viele Wickeln und Waschen, das Plärren und Gurgeln der Kleinkinder, das Singen, Spielen und Jagen, das keinerlei Tabus kannte und auch in Luthers Arbeitsstube gut bezeugt ist, … das Schelten, Zanken und Lachen der Hausgenossen, die dank der mitaufgenommenen Waisenkinder aus der Verwandtschaft manchmal die Stärke einer heutigen Kindergartengruppe erreichten, als zeitweilig mehr als ein Dutzend Kinder unter dem selben Dach lebte, ……. diese ungeordnete Brutstätte der jungen Kirche, dieser Stall voll kleiner Rasselbande und wissbegieriger Studentenschaft, diese zusammengewürfelten Großtanten, Gelehrten und Gäste, diese lebensfrohen und immer wieder fast unangekündigt vom Tod ereilten Mitglieder einer Großfamilie aus Fleisch und Blut und Glaubensgenossen: Sie waren Schauplatz und Hintergrund, Ausgleich und Ablenkung für 20 entscheidende Jahre der luther’schen Reformation.
Ohne die Tatsache, dass er seine Kleinen auch während seiner Arbeit um sich herum duldete, … ohne die Tatsache, dass er ebenso herzergreifende Kinderbriefe wie Katechismen oder Schmähschriften schreiben konnte, … ohne die Tatsache, dass er ein Bildnis seiner geliebten Magdalene mit auf der Veste Coburg hatte, wo er die zähe Zeit des Abwartens auf die Wirkung des Augsburger Bekenntnisses nicht zuletzt mit dem Gedanken an dieses Lieblingstöchterlein verkürzte, … ohne die Tatsache, dass er mitunter verzückt und gelegentlich verhärtet auf die Art und die Unartigkeiten der kleinen Luthers reagierte, … ohne alle diese Tatsachen ist der Übersetzer der Bibel, der Dichter unserer Lieder, der Lehrer des Katechismus, der Tröster der Betrübten, der Schlächter der Bauern, der Prophet der Deutschen, der Speichellecker der Obrigkeit, der Künder der Freiheit und Rächer der gequälten Gewissen, die Geißel des Papstes und der ekelhafte Propagandist gegen die Juden, ……. ohne diese Vaterfreuden und Vaterfehler ist Martin Luther nicht zu verstehen. Er war eben alles andere als ein Elfenbeinturm-Mensch; er steckte mit allen Sinnen und Wesenszügen je länger, desto tiefer in der Wirklichkeit des Lebens.
Insofern war es schlicht unumgänglich, dass er stets auch Entwicklungen erleben und begleiten und wieder und wieder selbst vollziehen musste: Wie das Wachstum der Kinder, so war auch seine Selbstwahrnehmung, waren auch sein Gottesverhältnis und Menschenbild in fortwährender Vertiefung und Neuausrichtung begriffen.
Der Anfang eines durchaus revolutionären Wandels in den festgefügten Rollenbildern der Menschen machte sich bei Luther schon bemerkbar noch ehe er selber Vater geworden war. Mit der festen Absicht, in der Kirche keine Zweiständegesellschaft mehr zu dulden, die zwischen den vermeintlich heiligmäßigen Geistlichen und Ordensleuten und den Weltbürgern trennt, hatte Luther ja begonnen, auch weltliche Berufe und ordinäre Alltäglichkeit als köstliche Berufungen und treue Bewährungsaufgaben der Gerechtfertigten zu preisen. Er ging dabei so weit, dass er den Männern und Vätern ins Stammbuch schrieb[ii]: „Wenn ein Mann die Windeln waschen oder sonst etwas für das Kind tun würde, das verachtet ist, und jedermann würde über ihn spotten und hielte ihn für einen Maulhelden und Frauenmann, wenn er es aber […] im christlichen Glauben täte, sage mir, mein Lieber, wer würde hier über den anderen zuletzt spotten? Gott freut sich mit seinen Engeln und Geschöpfen nicht darüber, dass er die Windeln wäscht, sondern dass er es im Glauben tut. Seine Spötter aber, die nur die Tat und nicht den Glauben sehen, werden von Gott mit allen Geschöpfen verspottet als größte Narren auf Erden. Ja, sie machen sich selbst zum Gespött und sind mit ihrer Klugheit des Teufels Maulhelden!“
Solche radikalen Ablösungen von alten Mustern sind typisch für den Neuerfinder einer bis dato beispiellosen Welt, in der die Gottesgegenwart nicht in den exklusiven Heiligkeitsgrenzen, sondern in der inklusiven Gestalt des Mütter-, Väter- und Kinderlebens, des Arbeitens, Schlafens und Spielens der gesamten Gesellschaft seinen Ort finden sollte.
Doch nicht nur in seinen gewagten und öffentlich bahnbrechenden Vorstellungen von der Heiligkeit des Alltags, die auf Bonhoeffers religionsloses Christentum in einer mündigen Welt vorausweisen, hat Luther sich als lernfähig und -willig erwiesen. Er war gerade auch im häuslichen Kreis nicht nur der derbe pater familias, den die Seinen bei gutem Humor am Kachelofen erleben, wo sie nach seinem Dirigat ein Liedchen schmettern, um den wackeren Papa dann wieder welthistorische Geschäfte erledigen zu lassen.
… Obwohl er viele Züge des harten, strafenden Vateramtes fortsetzte, das die Welt nicht nur immer schon, sondern immer noch prägt, hat der späte junge Vater in Wittenberg durchaus etwas Neuartiges und Untypisches getan:
Er hat nämlich ganz bewusst durch seine Kinder und von seinen Kindern gelernt!
Dafür musste er sie zunächst natürlich tatsächlich in seiner Nähe haben, sie begleiten und beobachten und anders als alle seine Zeitgenossen in ihnen nicht nur die fehlerhaften, unvollständigen Miniaturerwachsenen sehen, die sich nach dem Vorbild der wirklich Großen zu richten hätten. Luther gelang es nämlich gegen die allgemeine Tendenz, Kinder bloß als Mängelwesen einzustufen, sie wirklich in ihrer Andersartigkeit, in ihrer unvoreingenommenen inneren Freiheit zu erfassen und dann sogar festzustellen, wie das auf ihn, den fertigen Erwachsenen zurück wirkte: Im Licht seiner Kinder kam er so zu Fragen an sich selbst, zum Nachdenken über die eigenen Möglichkeiten.
Diese überaus ungewöhnliche Umkehrperspektive, die in den Kindern Träger einer Erkenntnis und Wahrheit findet, die der hochgelehrte Doctor nicht selber erreichen kann, macht die scheinbaren Plaudereien über seine spielenden, singenden, kabbelnden Söhne und Töchter dabei zu Dokumenten der Geistesgeschichte: Ein Erbe der abendländischen scholastischen Theologie, ein humanistischer Sprachforscher, begnadeter Schriftsteller, scharfzüngiger Provokateur, sensibler Seelsorger und wirklich biblischer Menschenkenner begreift da eine ganz neue Dimension des Lebens, … weil er seine Kinder ernst nimmt!
In den Tischreden etwa hören wir:
„Luther sah seinem Sohn zu und pries seine Einfalt und Unschuld, die auch im Glauben gelehrter sei; denn sie glauben aufs einfältigste ohne alle Disputation an den gnädigen Gott und das ewige Leben.“[iii] … Genial und unabhängig wie er ist, zieht der weltberühmte Gottesgelehrte den Hut vor seinen Kindern!
Oder bei dem, der unerbittlich lehrt, dass wir immer gleichzeitig Gerechte und Sünder sind, die Bereitschaft, diese hart erkämpfte Überzeugung angesichts von Kinderkram nicht mehr die einzige Regel sein zu lassen:
„Am 17.August 1538 hörte [Luther] die Zänkereien und Händel seiner Kinder mit an. Als er bemerkte, daß sie wieder miteinander gut wurden, sagte er: »Lieber Herr Gott, wie mag dir das Leben und Spielen solcher Kinder gefallen! Ja, alle ihre Sünden sind nichts anderes als Vergebung der Sünden.«“[iv]
… Ein andermal versicherte er einem der Kinder sogar ausdrücklich das, was er sonst sich selber und allen andern Menschen absprach: „Wie dus machst, so ists vnverderbt“[v]! … Sogar glatten Widerspruch zur eigenen Lehre konnte Luther also am Beispiel von Hänschen, Lenchen, Martin, Paul und Grete erstaunt zur Kenntnis und erst nehmen. ——
Dass es dem lernfähigen Vater dabei aber nicht etwa nur um die bezaubernde ursprüngliche Unschuld von Kleinkindern ging, die er mit dem halb neidischen Ehrentitel „unsers Herr Gots nerlein“ zu bedenken pflegte[vi], das beweisen seine nimmermüden Appelle an die Obrigkeit, alles zu tun, um den Mädchen und Jungen der evangelischen Städte und Stände Bildung zu ermöglichen.
Luther wollte die Jugend nicht naiv halten – selbst um den Preis, dass sie dann nicht mehr ihre anschauliche Überlegenheit über die erwachsene Zerrissenheitserfahrung bewahrt.
Das luther’sche Beharren auf dem Vorrang von öffentlicher Bildungsverantwortung vor allen elterlichen und ökonomischen Bedenken – ein Anspruch, der verblüffend zeitgenössisch wirkt, auch wenn damals nicht der Arbeitsmarkt, sondern die Sorge um die Zukunft des Evangeliums die staatlich gelenkte Bildungs- und Betreuungspolitik diktierte[vii] – … das luther’sche Bildungsethos also zeigt, dass kein sentimentales Bild vom unverdorben niedlichen Hosenmatz den Reformator bewog, die Erfahrungen mit seinen Kindern als Ergänzungen und Korrektiv aller seiner theologischen Erkenntnisse wahrzunehmen. Luther wurde durch seine Kinder schlicht tatsächlich über Möglichkeiten und Wahrheiten belehrt, die sein sonstiges Denken und Meinen auflockerten, … die es sozusagen in Klammern setzten und ihm ganz andere Einblicke in Gottes Walten und Willen eröffneten.
Das ging so weit, dass er sogar den Glaubensgehorsam – das tiefe Vertrauen in Gottes retten-de Gerechtigkeit, das ihn zu dem machte, der er geworden war –, im Blick auf die Bindung seines Herzens an die Kinder einschränken musste. Er verstand das „Herzpochen Abrahams, als [d]er hinging, um seinen einzigen Sohn zu töten. […] Ich wollte wahrlich mit Gott disputieren, wenn er mir solches vorlegen sollte.“[viii]
….... Umso tiefer traf ihn dann tatsächlich der Schmerz, als auch Käthe und Martin Luther am Sarg und Grab ihrer Kinder stehen mussten. Schon ihre Zweite, die kleine Elisabeth starb als Säugling. Damals überraschte die Wucht seiner Trauer den Vater; weil Käthe jedoch schon wieder schwanger war, überkam ihn gleichzeitig eine ganz eigentümlich prophetische und überhaupt nicht patriarchale Gewissheit, die in einem Jauchzer greifbar wird, der eine seltene Identifikation des Mannes mit seiner Frau belegt: „Ich habe ein anderes Töchterlein im Uterus!“[ix] schrieb er, noch ehe er wissen konnte, dass ihnen tatsächlich ein weiteres Mädchen – Magdalena – geschenkt werden sollte.
Sie wurde sein Augenstern, das Kind, an dem er ganz unaussprechlich hing.
Mit kaum dreizehn Jahren aber wurde auch sie auf’s Totenbett gerufen.
Die damals minutiös aufgezeichneten Schmerzens- und Trostworte des im Innersten getroffenen Vaters, das letzte kleine Katechismusgespräch, das Luther mit seinem leise, … selig verlöschenden Liebling führte, die schonungslose Aufdeckung seiner Betrübnis und die Prüfung seines Glaubens bei Lenchens Tod haben seitdem vielen Generationen vor uns geholfen, … geholfen, sich nicht als unerschütterliche Helden, sondern als weinende Eltern und zugleich als Christen zu betragen, wenn ihnen das Schwerste widerfuhr. …….
Sein Wort an ihrem offenen Sarg gilt aber nicht nur im Schrecklichen des letzten irdischen Abschieds, sondern fasst den Blick des lernwilligen Vaters, der durch seine Kinder Neues und Großes erfuhr, wunderbar zusammen:
„Du liebes Lennichen! Wie wol ist dir geschehen! Ach, du liebes kint, dass du auffstehen müssest und leuchten wie die sternen, ja wie die sonne!“ [x] ——
Wenn es so etwas wie ein Vermächtnis des ersten evangelischen Kirchenvaters im Blick auf die Nachgeborenen gibt, dann ist es nicht das starke, aber immer auch in der Gefahr letzter Selbstgerechtigkeit und Spießigkeit stehende Urbild des Pfarrers, des Pfarrhauses, der Pfarrfamilie.
Viele wissen und die Kultur eines ganzen Volkes kann es immer noch nicht vergessen, was das evangelische Pfarrhaus durchaus war und was wir ihm wahrhaftig verdanken.
Indes ist das familiäre Idyll immer auch der enge Rahmen einer bestimmten Selbstgenügsamkeit gewesen. Ein geistreich böser Verächter des lutherischen Pfarrhauses schrieb nicht ganz unzutreffend: Seine „Grundlage … war das Sechskindersystem und die Bequemlichkeit auf halber Treppe; … die mit Kohl und Karnickel begnadete Diesseitigkeit“[xi].
Doch das Vermächtnis des ersten evangelischen Kirchenvaters ist genau das nicht, sondern der wunderbare Horizont eines Glaubens, der sich nicht einfach genügt und feststeht, sondern von den Kommenden verändern und vertiefen lässt.
Dass die Alten von den Jungen lernen, dass die Gläubigen vertrauensvoll sehen und bekennen, dass andere unter ihren Händen anders zu glauben lernen und doch auf eigene Weise gewiss glauben werden: Das ist der Segen des Vaters und der Mutter in unserer Kirche für ihre Kinder. Ein Segen, der den nächsten Generationen Zukunft hier und in Ewigkeit schafft, … dass die, die nach uns kommen, „aufstehen müssten und leuchten wie die Sterne, ja wie die Sonne!“
Amen.
Offene Schuld vor der Predigt
Herr, das Geheimnis kennen wir.
Wir wissen, was alle Rätsel lösen würde.
Es ist uns offenbart, dass wir Leichtes und Schweres, Großes und Kleines, Lasten und Lieder, Freuden und Leiden teilen sollen!
Wir wissen, dass wir durch Teilen reich machen und reich würden.
Aber wir teilen nicht.
Wir behalten’s für uns.
… Die Güte, die Dinge, die Einfälle.
Wir behalten alles für uns.
… Sogar den Glauben, die Hoffnung, die Liebe.
Wir geben und sagen’s nicht weiter: Die Offenbarung Deiner Güte, die Lösung aller Rätsel, das Geheimnis des Teilens.
… Welcher Vater lehrt es seine Kinder?
… Welche Mutter teilt es ihnen mit?
… Welche Kirche teilt dein Wort aus?
… Welche Gemeinde gibt den Glauben weiter?
Wer von uns lebt so, dass er dem Geheimnis, dem Gebot, der Offenbarung dient?
Fürbitten nach der Predigt
Vater, segne die Kinder!
Die Kinder dieser Welt – die morgige Menschheit!
In ihnen liegen die Schlüssel zu jenen Probleme, die wir hinterlassen.
Darum ist es so nötig, dass die Entwicklung, die innere Kraft, die äußere Sicherheit der jungen Generation nicht willkürlich auf dem Spiel stehen.
Und so bitten wir Dich, dass Du überall auf dieser Welt Zeiten und Verhältnisse gewährst, die das Leid und die Opfer der Kinder abschaffen!
Hilf, dass wir Großen der Kinder-Arbeit ein Ende setzen!
Hilf, dass wir Großen den Kleinen das Recht und die Freude der Bildung eröffnen.
Hilf, dass wir Großen die Neugier und genauso die Gewissheit der Jungen ernstnehmen.
Hilf, dass wir Großen nicht schuldig an den Schwachen und Unschuldigen werden, sondern lernen, mit Freuden in ihrer Schuld zu stehen.
Lass Eltern mit den Augen ihrer Kinder die Welt entdecken:
die fremde Welt des ersten Blickes;
die bunte Welt der selbstverständlichen Technik;
die große Welt des Träumens und des Wollens;
die bittere Welt aller Enttäuschungen und Schmerzen.
Lass Alte und Junge in gegenseitigem Geben und Nehmen stehen, und bewahre uns vor der Selbstsucht des Alters genauso wie vor dem Ichsinn der Jugend.
Und so lass uns miteinander in dieser müden Welt, die den ererbten Hass und die alten Kriege und das ewige Bluten doch nicht mehr tragen kann, … lass uns miteinander werden wie die Kinder: Dass wir staunend und jubelnd und fröhlich und frei in Dein Vaterhaus kommen und uns daran und darin nie satt freuen werden!
[i] Zu den biographischen Einzelheiten vgl. die zur letzten Predigt genannten neueren Lebensbeschreibungen des Reformators.
[ii] M.Luther, Vom ehelichen Leben 1522, in: Martin Luther, Deutsch-deutsche Studienausgabe – Bd.3: Christ und Welt, hg.v.H.Zschoch, Leipzig 2016, S.203.
[iii] Martin Luther, Ausgewählte Werke (Münchner Ausgabe) Ergänzungsreihe 3.Bd.: Tischreden, hgg.v. H.H.Borchert und G.Merz, 3.Aufl., München 1963, S.227.
[iv] AaO, S.228.
[v] Martin Luther, Tischreden, Ausgew. und erl. v. Chr.Lehnert, (Insel-Bücherei Nr.1421), Berlin 2016, S.84.
[vi] Ebd.
[vii] Auf dem Gottesdienstblatt des Sonntags war in diesem Zusammenhang ein längerer Abschnitt aus Luthers „An die Ratsherren aller Städte im deutschen Land, dass sie christliche Schulen errichten und unterhalten sollen“ (1524) abgedruckt.
[viii] Tischreden (Münchner Ausgabe – vgl. Anm. iii), S. 226.
[ix] Zitiert bei Heinz Schilling, Martin Luther – Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2012, S.347.
[x] Luthers Werke in Auswahl („Clemen’sche Ausgabe“), Bd.8: Tischreden, Nachdruck: Berlin 1962, S.312.
[xi] Hugo Ball, Sämtliche Werke und Briefe, Bd.5: Die Folgen der Reformation – Zur Kritik der deutschen Intelligenz, hg.v. H.D.Zimmermann, 2.Aufl, Göttingen 2011, S.44 = S.193. Dieser Frontalangriff und Totalverriss des Protestantismus durch den katholisch gewordenen Vater der Dada-Bewegung dürfte das Geistreichste sein, was man sich zum Reformationsjubiläum durch den Kopf gehen lassen kann!
11.So.n.Trin.,27.08.2017, Stadt- und Jonakirche,Ehe bei Luther (in der Predigtreihe "Familie bei und nach Martin Luther"), Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 11.n.Trin. - 27.08.2017
Ehe bei Luther
Liebe Gemeinde!
Vermutlich sind nicht Viele hier – inzwischen muss man ja ergänzen: weder Weib noch Mann … –, die wie einst Käthe bereit wären, mit Martin Luther die Ehe einzugehen.
Er mag faszinierend gewesen sein und bleiben – ob allerdings alltagstauglich oder in unserem Sinne partnerschaftstauglich … das darf getrost bezweifelt werden.
Nicht nur seine zeit- und kulturbedingte, krachledern patriarchale Weltanschauung lässt ihn als Rat- und Beispielgeber in Sachen Ehe heute scheinbar ausscheiden. Auch seine berüchtigte Zart-Grobheit, sein totales Sendungsbewusstsein, das jegliches Privatleben ausschloss und seine unerreichbar hemmungslose Ichbezogenheit legen nahe, dass Katharina von Bora im Schwarzen Kloster von Wittenberg einen Hausstand und eine Familie gründen musste, die sie manchmal ihrem vermiedenen Schicksal im Nonnenkloster Nimbschen nachsinnen ließen.
… „Die Lutherin“ zu sein, war gewiss kein leichtes Los.
Andererseits – und diese Seite der Medaille ist von bleibendem Interesse – andererseits war das luther’sche Eheleben ja auch bewusst völlig unbeschwert durch anfängliche Glücks- und Liebesansprüche: Weder Braut noch Bräutigam heirateten einander in der Meinung, sie müssten etwa den perfekten Partner, das ideale Ich-Gegenstück gefunden haben. Denn – das ist der allesentscheidende Unterschied zu späteren Vorstellungen vom Heiraten! –, denn die reformatorischen Ehen dienten nicht dem guten Gefühl, sondern sie entsprachen einem Gefühl für das Richtige. ……. ——
Zunächst klingt das dürr und spröde.
Und es bedeutet ja auch tatsächlich, dass das, was wir heute „Beziehungen“ nennen, vor fünfhundert Jahren kein Selbstzweck war. Die erhofften Folgen einer Hochzeit wurden jedenfalls nicht mit emotionalem Wohlbefinden gleichgesetzt oder als Erfüllung individueller Bedürfnisse gesehen. Man trug einander darum auch nicht die Erwartung an, der jeweils Andere müsse das ideal personifizierte Glück abgeben.
Nicht allein die Person nämlich, sondern tatsächlich die „Ordnung“, also die Institution der Ehe machte das Heiraten sinnvoll und zum Segen.
Dass Katharina von Bora nach eigenem Bekunden sich ihrerseits vorgenommen hatte, nicht jeden, mit dem man sie verkuppeln wollte, sondern entweder nur Nikolaus von Amsdorf oder Dr.Martin Luther selber zu heiraten, bezeugt also nicht, dass diese in ihren Augen die romantischsten Reformatoren waren, sondern dass sie mit ihnen die Rollen eines verheirateten Paares in der neuen Freiheit aller Christenmenschen am besten ausfüllen zu können hoffte.
Andere Vorzüge als die überzeugend sachliche Gemeinsamkeit, das Eheleben ernsthaft evangeliumsgemäß ausrichten zu wollen, dürfte Luther wahrlich nicht besessen haben, der immerhin die Vierzig bereits überschritten, die Mönchskutte immer noch nicht abgelegt, nach dem Zeugnis seines letzten Mitbewohners in der verkommenen Junggesellen-WG des verlassenen Wittenberger Klosters sein Bettstroh zwei Jahre lang nicht mehr gewechselt und überdies auch noch öffentlich erklärt hatte, dass er Käthe von Bora für hochmütig und kaum mehr vermittelbar hielt.
… Sie wollte ihn dennoch zum Ehemann. Und er nahm sie zuletzt auch. …
Beide waren vollkommen mittellos: Die Braut, die in der Heringstonne aus dem Kloster entschlüpft war; der Bräutigam, der damit rechnete, über kurz oder lang am Pfahl auf dem Scheiterhaufen zu landen.
Ihre doppelt verbotene Ehe – Mönchs- und Nonnengelübde untersagten sie! – war nach mittelalterlichem Aberglauben ein Sakrileg, in dem der Antichrist selber gezeugt werden würde. Verachtung, Ekel und Verfolgung waren ihnen somit gewiss.
Was bewegte sie also zur Hochzeit? … Zu einer Zeremonie, die für zartbesaitete Zögerliche und auch für diese zwei Zölibatere sicherlich eine echte Zumutung war, da der eigentliche Vorgang, der ihr Verlöbnis zur gültigen Ehe machte, nicht die Spende des Trausegens und auch nicht der spätere öffentliche Kirchgang war, sondern das Beilager vor Zeugen … und sei’s auch noch so symbolisch.
……. War es also etwa das? Wie die gesamte gegenreformatorische Öffentlichkeit genüsslich und schmutzig lästerte: War es der Sexualtrieb?
Im Klartext: Ja. — Doch nicht so, wie die lüsternen Verleumder es sich einbildeten.
Die Keuschheit war für Luther, der seit seiner Jugend dreißig Mannesjahre enthaltsam gelebt hatte, keine besondere Anfechtung. Dagegen war das Geschlechtsleben für ihn allerdings mit Offenbarung verbunden – und zwar im buchstäblichen Sinn! … und auch schon deutlich ehe er selbst es erfuhr. In den Sprüchen Salomos, des Weisen übersetzte Luther selber später einen (wirklich!) wegweisenden Vers so (Spr.30,18f):
„Drey sind mir zu wünderlich / vnd das Vierde weis ich nicht /
des Adelers weg im Himel / Der Schlangen weg auff eim Felsen /
Des Schiffes weg mitten im Meer / Vnd eins Mans weg an einer Magd“.
An diesem alten Bibelstaunen über die nachvollziehbare Bestimmung und das dennoch bleibende Geheimnis geschlechtlicher Vereinigung wurde der ganze Mönchsabscheu vor dem Weiblichen zuschanden. … So sehr zuschanden, dass Luther als gedruckte Randbemerkung neben diesen Vers vom Wunder der Sexualität den Satz setzte:
„Das ist / Liebe ist nicht aus zu dencken noch zusprechen.“
Und ein Kapitel weiter in den Sprüchen lautet seine zum Sprichwort gewordene Anmerkung:
„Nichts liebers ist auff Erden Denn Frawlieb / wems kann werden“!
Mit anderen Worten: Trotz einer beinah anderthalbtausendjährigen Kultur der Frauen- und Leibfeindlichkeit und des ganz sexuell bestimmten Sündendogmas stieß Luther, als er das Wort Gottes in der Bibel zu entdecken begann, auf eine völlig andere Sicht des Menschlichen. Man könnte und sollte sich deren Besonderes vielleicht klar machen, indem man sie die hebräische, die jüdische Sicht nennt. Trotz aller Züge des orientalischen Patriarchates hat nämlich das Alte Testament schon an seinem Anfang eine einzigartige Botschaft: Zum Bilde Gottes wurden die Menschen geschaffen, indem Gott sie als Mann und Frau schuf! Diese grundsätzliche und theologische Notwendigkeit und Würde der beiden menschlichen Geschlechter, hat im biblischen Israel und noch viel betonter im nachbiblischen Judentum etwas hervorgebracht, das keine sonstige antike oder mittelalterliche Kultur derart akzeptierte: Die Angewiesenheit eines Mannes auf seine Frau, die neben der patriarchalen Abhängigkeit der Frau vom Mann eben so sehr dazu beitrug, dass das eheliche Miteinander nirgends höher geschätzt wurde.
Das biblische Menschenbild bedeutet ja, dass mit der Ehe nicht zuerst ein Rechts- oder Besitzverhältnis abgebildet und bestätigt wird, sondern die zu einander hin geschaffene Offenheit beider Geschlechter. Nicht in der Einzahl, nicht im abgeschlossenen Individuum, sondern im Miteinander, in der Verbindung von Männlich und Weiblich finden die menschlichen Möglichkeiten die ihnen gesetzte Entsprechung und ihre entfaltete Vollendung. ——
Diese biblische Sicht, die heute wieder ein riesiges Reizthema darstellt, wenn man sie als Anzeige eines Mangels oder Defizits bei denen deutet, die anders leben, … dieses biblische Bild vom Menschenpaar, das einander nötig hat, um gottgemäß zu sein, war jedenfalls vor fünfhundert Jahren ebenfalls ein Ärgernis und beinah ganz verdrängt: Der Mann vergötzte sich selber als das auserwählte Geschlecht, dem Weib sprachen die Gelehrten wahlweise die Seele oder das volle Menschsein ab und die gegenseitige Anziehung und Verbindung wurde als Fleischeslust derart verteufelt, dass entweder gröbste, männlich dominierte Brutalität oder neurotische Störungen die sexuelle Norm darstellten.
In dieser Lage aber war die Entdeckung, dass in der Ehe eine gute Anordnung des Schöpfers zu sehen sei, eine aufwühlende Befreiung – eine Befreiung des Glaubens und der Körper!
… Wer mit biblischen Augen und Ohren den sinn- und freudenreichen Weg des Mannes bei der Frau und die leib-seelische Übereinstimmung zweier Menschen dabei wahrnahm, … wer die eben vernommene Mahnung des Apostels ernstnahm, dass die Männer ihre Frauen lieben sollten (vhl.Eph5,25ff) – eine Mahnung, über die Griechen und Römer schlicht lachen mussten –, … wer vor diesem Hintergrund die eheliche Liebe als das älteste auf uns gekommene Gebot Gottes erkannte – „Seid fruchtbar und mehret Euch“ als die erste gesegnete Verbindung von Verheißung und Gebot –, … wer alle diese schwindelerregenden Gegensätze zur altkirchlichen und mittelalterlichen Sexualfeindlichkeit tatsächlich als Einsetzung und Zulassungen Gottes zu betrachten lernte: Der wurde von einem Heiratsfieber gepackt, das heilsgeschichtliche Züge annahm. Heiraten wurde dadurch zu einem wirklichen Schritt der Befreiung und Erlösung von der totalen, psycho-somatischen Fremdsteuerung des Menschlichen im Menschen. Heiraten wurde zur Befreiung aus einer babylonischen Knechtschaft der männlichen und weiblichen Natur.
Und trotz des anerzogenen Abscheus vor allem Sexuellen und trotz der einzigartigen Radikalität seiner Sündenerkenntnis erfuhren Luther und die Seine mit der Zeit, dass die Ehe nicht die Beschränkung eines bösen Triebes auf das unvermeidliche Minimum sei, sondern dass es tatsächlich ein Begehren und eine Lust gibt – beides ja die Hauptmerkmale aller Sünde! –, die durch ein Gnadenwunder Gottes, des Schöpfers dem Richtigen im Leben dienen, die der Heiligung förderlich sind. ———
Durch diese Erkenntnis, der die Erfahrung erst folgte, wurde also im Jahr 1525 die Hochzeit zu so etwas wie Luthers berühmtem Apfelbäumchen: Sie wurde ein Zeichen des völligen Vertrauens auf Gottes Wort und Weisung gegen alle Welt. Wie das Apfelbäumchen, das noch am Vorabend des Weltuntergangs zu pflanzen wäre, sollte die Luther-Hochzeit ein letzter Ausdruck der Hoffnung, der Überzeugung und der inneren Freiheit im Angesicht des jüngsten Tages sein. … Denn tatsächlich – und auch nicht ohne das unverzeihliche Zutun Luthers! – war die Zeit damals so unheilvoll und bluttriefend, dass man landauf, landab apokalyptische Erwartungen hegte: Die Bauernkriege schienen mit ihrer Hoffnung und Enttäuschung, mit ihrer Brutalität und Aussichtslosigkeit und ihrem massenweisen Morden die gegenwärtigen Vorboten der Endzeit zu sein.
Mitten aber in dieses grausame Leiden, mitten in die himmelschreiende Härte der Niederschlagung der Bauern hinein fiel nun der Abend des 13.Juni, an dem gegen 17:00h die Verlobung zwischen Käthe und Luther und sofort darauf die sog. „Kopulation“ vollzogen wurden, also die Einsegnung der Ehe durch Johannes Bugenhagen und das öffentliche, symbolische Brautlager in der Schlafkammer, das unter anderen die Eheleute Cranach als Zeugen miterlebten. ——
Das Hochzeits-Zeichen des Trotzes und der Zuversicht vollzog sich also als mehrfaches Ärgernis: Sowieso unüberbietbar skandalös für die Altgläubigen und sagenhaft peinlich für die Anhänger der Reformation, denen der Rückzug in die Schlafkammer während der ersten großen Schuld und Bedrohung der Sache Luthers unerklärlich schien.
Ist mit der Eheschließung, die Luther dem Teufel und allen seinen Todfeinden als De-monstration seiner unerschrockenen Bibel- und Zukunfts-, Lebens- und Leibesbejahung entgegenhielt, aber nicht auch wirklich Verrat an der größeren, der gesellschaftlichen und politischen Verantwortung des Glaubens begangen worden? …
……. Zu beschönigen gibt es an dieser Stelle gewiss nichts. Auch nicht zu entschuldigen.
Nur zu fragen: Da er kein Tugendheld und kein Heiliger war und auch nicht sein wollte – wäre Luther denn dann wohl im Zölibat ein besserer, ein gerechterer Vertreter und Verhandler der sozialen und ökonomischen Fragen seiner Zeit gewesen? — Gewiss doch nicht. ———
Vielleicht aber wird man, wenn man die Befreiung zum Miteinander der Geschlechter und Generationen betrachtet, die sein biblisches Eheverständnis brachte, unsere heutige Ausgangsüberlegung etwas anders fassen wollen:
Vermutlich sind wirklich nicht Viele hier – weder Weib noch Mann … –, die in Martin Luthers Welt leben und seine Weltanschauung teilen wollten.
Vieles davon hat sich nämlich gründlich überlebt, vieles hat sich selbst das Urteil gesprochen oder ist von Veränderungen und Fortschritten allmählich verschluckt worden.
In der durch Luther befreiten und Käthe und ihn befreienden Ordnung aber, in der Institution der Ehe, die nicht das ungetrübte Glück und nicht das Ideal eines Traumpartners, sondern die nüchterne Verheißung bedeutet, dass zwei unterschiedliche Menschen sich ergänzen und gemeinsam etwas Gutes und Gewolltes und Gerechtes leben können und die Last und Lust der Liebe teilen – in dieser von den Luthers belebten und immer noch lebendigen Lebensform, da ist auch gegenwärtig wahrhaft gut leben!
Seit neben der erstickende Askese der alten Kirche und der verrohenden Frauenverachtung der vormodernen Welt in den evangelischen Ehen nach biblisch-jüdischem Vorbild ein von Gott gegebener Ort für die Gefühle und Genüsse, für die Sexualität und Sorgen, für das zeitliche und geistliche Zusammenwirken von Männern und Frauen eröffnet wurde, ist die Welt um ein Gutes reicher: Um das hohe, freie, zeitlose Geschenk der Ehe.
Es ist nicht unbedroht – weil es kostbar ist.
Es ist nicht garantiert – weil es menschlich ist.
Aber es ist immer noch gültig und wird es immer sein – weil es Gottes Segen in sich trägt.
Nicht jeder kann und niemand muss es suchen oder finden.
Aber wem es zufällt, der sollte von Stolz und Vorurteil frei sein, als habe er selbst es verdient oder gemacht. Wenn es sie gibt – die Ehe –, dann sola gratia, … allein aus der Gnade Dessen, Der alles Menschliche rechtfertigt und Ihm gerecht macht: Auch den Weg des Mannes und der Frau miteinander! ———
Am allerwichtigsten aber bleibt, was Luther mit der schönen Grußformel des Neuen Testaments drei Tage vor seinem unerwarteten Tod über einen der allerletzten Brief an Käthe setzte:
„Gnade und Friede in Christo zuvor!“
Doch damals, am 1.Februar 1546 ergänzte er: „Gnade und Friede in Christo, und meine alte arme (…) und wie ich weiß unkräftige [Liebe] zuvor.“
Unterzeichnet war dieser Brief an seine Doctorin und Saumärkterin und Bierbrauerin und wie er sie sonst noch neckte und schätzte, mit:
„M. Luth., dein altes Liebichen.“
……. Also doch eine zwar unfaire, aber treue, eine leidenschaftliche und leidgeprüfte, eine alltägliche und darin geheiligte, eine von Narrheit und Liebe, von Schwäche und Miteinander, von nüchternem Vertrauen und frommer Dickfelligkeit geformte, … eine echte, Gott wohlgefällige Menschenehe!
Und damit: Gnade und Friede und Liebe in Christo uns allen zuvor und zuletzt und für immer!
Amen.
Die Einzelheiten zu Luthers Lebensumständen, zum Beginn der Beziehung zwischen Katharina und Luther und zu ihrer Hochzeit und Gemeinsamkeit sind aus den z.Zt. gängigen Biographien von Heinz Schilling (M.L., Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2012), Martin Brecht (M.L., Zweiter Band: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521-1532, Stuttgart 1986) und Lyndal Roper (Luther – Der Mensch Martin Luther, Frankfurt/M 2016) entnommen.
10.n.Trinitatis 20.08.2017 Stadt- und Jonakirche Kindschaft bei Martin Luther (im Rahmen der Predigtreihe: "Familie bei und nach Luther") Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 10.n.Trin. - 20.VIII.2017
Kindschaft der Christen bei Luther
Liebe Gemeinde!
Aller Anfang ist Kindschaft.
So gewiss wir alle einmal als Leiche enden werden, so gewiss haben wir alle als Kinder begonnen.
Dazwischen unterscheiden sich die Abläufe des Lebens so vielfältig wie wir es einzeln sind, aber dass wir Menschenkinder Sterbliche sind, dass wir einmal hilflos waren und wieder sein werden, das ist die eine umfassende, allgemeine Bedingung unseres Daseins.
Gegen beides aber – gegen die Bedingtheit des abhängigen Kindseins und gegen die Bedingtheit des unerbittlichen Sterbenmüssens – erhebt sich zu allen Zeiten Widerstand: Mal wollen Menschen nicht wahrhaben, dass sie der Bevormundung, der Erziehung, des Schutzes, der Fürsorge bedurften und bedürfen; dann wieder weisen sie die Tatsache weit von sich, dass ihre Tage gezählt, ihr Tun vorübergehend und ihr Tod bestimmt sind. —
Für uns Heutige, die wir uns in einer Kultur der freiwilligen Selbstentmündigung durch Sicherheitsversprechen und Risikovermeidung wie dicke, missmutige, verzogene Kinder eingerichtet haben und deshalb den erwachsenen Ernst des Todes nicht an uns heranlassen können, ist Martin Luther deshalb ein ziemlicher Schulhofschreck.
Denn seine Haltung zu den beiden Eckpunkten des Lebens, zur allgemein menschlichen Bedingtheit durch Herkunft und Heimgang widerstrebt uns völlig: Das Lebensende ist für ihn nämlich kein Problem; aber die Last einer frühen Festlegung unseres Lebens durch die Alten: die macht ihn rastlos widerspenstig.
Man wird daher sogar ohne Übertreibung sagen können, dass Luther in der menschlichen und kirchlichen Geschichte einer der großen, einer der allergrößten Elternmörder im übertragenen Sinne war. …
……. „Elternmord“: Das scheint zunächst zwar ein hartes Wort zu sein, aber ein derart verstörender Begriff gibt zumindest einen Eindruck von der Schärfe und Not der seelischen und moralischen Verwicklung, die Luthers Los war und uns heute beschäftigt.
Dabei ist nicht allein das psychologische Phänomen in der persönlichen Entwicklung gemeint, das innere Ablösung und äußeren Widerstand gegen die leiblichen Eltern bedeutet, sondern ein noch tieferer Bruch.
Immerhin war der Hauptgegner Luthers, derjenige, dem er seine tiefe Unrast, seine bleibende Anfechtung verdankte und dem er schließlich totale Aversion, ja ausdrücklichen Hass entgegenbrachte, ein Mann, den die ganze Weltkirche „il Papa“ nannte!
… Gegen diesen kulturellen, politischen, religiösen Übervater schlechthin, gegen diese einzigartige patriarchale Instanz einer ganzen Zivilisation wandte sich Luther tatsächlich ja zeitlebens!
… Was für ein Konflikt dahinter steht und welche schier unfassbare Spannung das bedeutet, können wir heute kaum noch ermessen. Die Tatsache, dass einer nicht nur verbittert für sich, sondern mit einer Aufforderung an Viele das Band zerreißt, das gedanklich und geistlich eine vermeintlich heile, ja heilige Familie aus der christlichen Menschheit Europas und ihrem dreifach gekrönten „Papa“ macht, war ein ungeheuerlicher, ein monströser Skandal.
Aber Luther konnte scheinbar in seiner Suche nach Freiheit und Selbstverantwortung, die zugleich eine Suche nach bitterer Wahrheit und kritischer Blöße war, … Luther konnte nicht anders, als in seiner Suche nach dem Menschen, wie Gott ihn wirklich sieht, jede ihn deckende und schützende, aber auch für ihn denkende und entscheidende Instanz aus dem Weg zu räumen.
Dabei musste er sich nicht nur gegen den Willen und die Wahrheit seines irdischen Vaters stellen.
Das allein wäre weder psychologisch auffallend, noch theologisch eine Neuigkeit.
Ungehorsam gegen die leiblichen Eltern ist seit Jesu Ruf in die Nachfolge ein Vorbild und ein Muster christlicher Bekehrungen. Das Evangelium, das einem Menschen Vater und Mutter und Weib und Kind und Haus und Hof und Leib und Leben aufwiegen kann, hat nie die Kleinfamilie begünstigen wollen.
Unter den Heiligen der Kirche ist ein Muttersöhnchen wie Augustinus die Ausnahme, und das Bild eines harmonischen Ehepaars wie beim Kirchenvater Gregor von Nazianz und seiner Gattin Nonna ist eigentlich gar nicht vorgesehen:
Typisch christlich ist vielmehr der Trotz, mit dem junge Römerinnen durch ihre Glaubenstreue reihenweise die Absichten und Karrieren ihrer Väter zerstörten – selbst wenn diese die Widerspenstigen dadurch zu zähmen suchten, dass sie sie etwa bei lebendigem Leib einmauern ließen, wie es der Märtyrerin Barbara geschah.
Typisch christlich ist auch das Drama des Franz von Assisi, der sich noch den letzten Faden und Stich, die ihn mit seinem Elternhaus verknüpften, in einer spektakulären Wiedergeburtshandlung vom Leib riss und öffentlich splitterfasernackt das Leben als Jünger Jesu antrat. ———
Solchen Knatsch mit den Alten gab und gibt es immer.
Er ist nötig, schrecklich und heilsam, solange wir dem Herrn nachfolgen, der nicht nur Alpha, sondern auch Omega, nicht nur alter Anfang, sondern auch offene Zukunft ist.
Aber Luther befreite sich nicht nur von Mutter und Vater, die ihn beide „stäupten“ – also mit Stock und Gerte traktierten – bis er ihnen „gram wurde“, und die es doch „herzlich gut meinten“, wie er rückblickend festhielt[i].
Viel entscheidender war, dass Luther gegen die ganze heilige Ordnung und Sippe rebellierte, die damals das Gefüge der Menschheit ausmachten. Neben dem heiligen Vater – dem Papst – entzog er sich ja auch der Obhut und Fürsorge der heiligen Mutter und Jungfrau, als deren Kinder sich alle Welt damals fühlte, und brach auch mit der sonstigen Vormund- und Verwandtschaft, die das Daseins der Glaubenden vom Himmel her regelte.
Besonderer Stellenwert war ja in seiner Jugend und Umgebung der Hl. Anna zugekommen, Patronin der Bergleute, Großmutter des Heilands und erste Hilfe, nach der er an seinem Damaskus-Tag rief, als das Stotternheimer Gewitter ihn zum Mönch verdonnerte. Diese Oma Anna, die Matriarchin der Heiligen Familie hat Luther einmal den „Abgott“ seines Vaters und seiner eigenen Frühzeit genannt: So zentral schien deren zuverlässige Zuwendung[ii].
… Doch auch sie schlug Luther schließlich aus.
……. Keine Großmütter, keine Patroninnen, keine Schutzheiligen, keine Vaterfiguren mehr!!!
Niemand.
Nur ein einzelner Mensch, der sich alleine weiß, außerhalb des Nestes, nicht mehr unter irgendwelchen Fittichen. Radikale Individualität statt des Schoßes einer auf einander eingespielten, voneinander abhängigen Großfamilie.
In dieser irgendwo zwischen Jugendrebellion und Alterseinsamkeit schwankenden Entscheidung zum Alleinstehen begegnet uns tatsächlich ein Vorbote und Vorbild des europäischen Menschenschlags der Gegenwart, der kein Kollektiv mehr kennt, dem seine Eigenheiten, Eigenarten und sein Eigentum so oft über Gemeinsames und Verbindendes und Verbindliches gehen.
… Luther, der sich von den Autoritäten und aus den Bruderschaften und der kindlichen Unterordnung der familiären Welt löst, also als Pate unserer Zeit der Singles?? …——
Das wäre ein gründliches Missverständnis, auch wenn manche ihn so feiern und verklären wollten, damit ihm wenigstens irgendein Verdienst in den Augen unserer Tage bleibt. —
Aber Luther hat die Abhängigkeit und Unterordnung des Kindseins nicht aus dem Drang nach individueller Selbständigkeit und Selbstverwirklichung heraus abgelehnt.
Tatsächlich hat er sie gar nicht abgelehnt.
Vielmehr hat er nur sehr, sehr lange gebraucht, bis er endlich ihren einzigen Grund und ihren wahren Träger gefunden hatte.
Durch den groben und den feinen, den familiären und den spirituellen Missbrauch von Macht und Verantwortung, die ihm im Vaterhaus und in der Mutter Kirche begegneten, war er nämlich verzweifelt, war gedemütigt, geschädigt und vergiftet worden. Wie jedes Opfer von seelischer oder körperlicher Gewalt hatte ihn das Vertrauen verlassen: Das Vertrauen in die, die es gut mit uns meinen sollen und deren Güte unser eigenes Vertrauen ins Leben und in uns selber nährt oder zerstört.
Dieses Grundvertrauen, ohne das Gott nur beängstigend, überwältigend, lebensbedrohlich für ein Menschenkind sein kann, hat Luther spätestens dann verloren, als er merkte, dass „il Papa“, den die Maler mit der gleichen Krone wie Gottvater darstellten, die Menschheit nutzte und nicht schützte.
Er wäre in dieser Not, die der „Stellvertreter“ ihm bereitete, vermutlich aber auch an Gott selbst für immer irre geworden, wenn ihm nicht ein Wunder widerfahren wäre, das ihn zum Vater zurück führte: Endlich erkannte er den Sohn!
D.h.: Zunächst erkannte Luther, dass er nicht selber und unmittelbar das Kind Gottes sei, auf das sich die Wünsche und Erwartungen, die Hoffnungen und Ansprüche des Vaters richten.
Wäre er das nämlich wirklich allein gewesen – so direkt und unvermittelt der Erbe und Erwählte wie seine Absage an alle Vermittler und Vormünder es hätte erwarten lassen –, dann wäre Luther an seiner Unfähigkeit, ein guter Sohn Gottes, ein Hoffnungsträger des himmlischen Vaters zu sein, zugrunde gegangen und jede Möglichkeit eines Gottesverhältnisses für die, die sich ungeschützt selber erkennen, ebenfalls.
… Doch dann stand da Christus. Der wahre Sohn. Das Kind, zu dem Gott spricht und es geschieht, das lebendige Ebenbild des Vaters, der in seiner Einigkeit mit dem Vater auch unter der Last von Schmerz und Schrecken, von Sünde und Sterben etwas Wunderbares erkennen lässt: Nämlich dass der Vater ein Liebender ist!
Diese väterliche Wirklichkeit – die persönliche Erfahrung und kirchliche Lehre so vielen Menschen vorenthalten und die auch Luther zunächst kaum glauben und fassen konnte –, wurde ihm ernsthaft erst durch die Erkenntnis Jesu Christi klar.
Den Vater an sich hat Luther wohl zeitlebens nie mehr ganz unbefangen, nie rein unmittelbar begreifen können; die verborgenen Seiten, die Majestät der unerforschlichen Macht ließen ihn Abstand wahren.
Doch am Sohn, da erfuhr und erlebte Luther den Vater in so überraschender, ungeahnt zärtlicher Weise – zärtlich trotz des Kreuzes von Golgatha und durch dieses Kreuz hindurch! –, dass sich ihm zuweilen sprachliche und gedankliche Freiheiten aufdrängten, die bis heute verblüffen können[iii]: Als er die Liebe erkannte, die in Gott lebt und deren Ergebnis das erlösende Werk Christi ist, das nie aufhört, stellte Luther fest, dass Gott von Ewigkeit „in seiner Majestät und Natur schwanger geht“ mit dem, „der sein eigenes Herz ist“. Gott ist also so voller produktiver Gnade, dass sie ihn erfüllt und ihm verbunden ist, wie ein Kind im Mutterleib, denn die eigene Liebe hat tatsächlich Gott selber geschwängert …….!
Solche und andere bizarr kühne, geradezu prophetische Ausdrücke belegen, wie Luther zu einem neuen Verständnis von Kindschaft und Elternliebe fand, als er den Blick auf Christus richtete, als er nicht durch die Vaterfigur, sondern durch das Bild freiwilliger Sohnschaft in Gott zum Vertrauen zurückkehren konnte.
Denn dort fand Luther den Anblick einer Verbindung, die auf unzerstörbarer Gegenseitigkeit beruht: Der Sohn geht den Weg, den die Liebe seines Vaters weist, konsequent und treu – auch da, wo sie in Leiden und Tod führt – und der Vater ist dem Sohn so unverbrüchlich verbunden, dass weder Tod noch irgendeine andere Entfernung sie trennen können.
So stark ist die Vaterliebe, so aufrichtig die Sohnesliebe, dass alles machtlos bleibt, sie zu trüben oder zu zerstören! Noch im tiefsten Gegenteil, im scheinbaren unlöslichen Widerspruch des grausamen Leidens für die Sünder und des opferbereiten Kampfes um die Gerechtigkeit bleibt es zwischen Vater und Sohn bei dem für Luther unüberbietbar seligen Bild, dass der eine den andern „im Arm sitzen hat und ihn herzet“. ——
„Brünstig“ ist diese Liebe, „viel größer denn das höllische Feuer“ und so überschwenglich, dass kein Menschenherz sie begreifen kann, nach Luther. ——
Aber das allergrößte Wunder an dieser Liebe ist, dass in ihr zugleich Platz und Raum für jeden Menschen ist!
Denn die innergöttliche Vaters- und Sohnesliebe hat ja dieses Ziel und bietet diese Möglichkeit: Alle in sie einzubeziehen!
„Eine Liebe in Christo und um Christi willen“ begegnete Luther und begegnet auch uns, in der alle anderen Gestalten und Enttäuschungen der menschlichen Innigkeit und Abhängigkeit, der familiären und emotionalen Unterordnung oder Zusammenhalts ganz nebensächlich, jedenfalls kein letzter Sinn und Endzweck mehr werden.
Denn alle, die sie erkennen und auf sie trauen, sind ja in diese vollkommene Bindung des eingebornen Sohnes und seines Vater mit eingebunden.
Durch diese Liebe „schüttet“ Gott sich – in Luthers Worten – „über uns aus, er geußt sich in uns und zeucht uns in sich, so dass er ganz und gar vermenschet und wir ganz und gar vergottet werden.“ ——
Und in dieser Liebe erlebt der, der alle anderen Formen der Entmündigung und der Fremdbestimmung, aber auch der Fürsorge und des Schutzes durch die Anderen und Älteren abschütteln musste, ganz glaubhaft und echt wahrhaftig das Gegenteil von Einsamkeit und Vereinzelung.
Durch diese Liebe nämlich geschieht es – so versichert uns Luther – dass „nun du und Gott sammt seinem lieben Sohn in dir ganz und gar ist und du ganz und gar in ihm bist, und alles miteinander ein Ding ist: Gott, Christus und du.“———
Damit aber ist Kindschaft wahrhaftig nicht unsere Vergangenheit und Herkunft, sondern das Höchste und Ungeahnteste, zu dem unser Leben und Glauben durch Christus führen wird.
Kindschaft ist eine Gnadengabe Gottes.
Kindschaft ist unser Ziel!
Amen.
Offene Schuld (vor der Predigt)
Herr, wir wissen nicht mehr, wie und wem wir vertrauen sollen.
Zeiten der Weltverunsicherung umgeben uns.
Feindschaft und Wahnsinn brechen überall hervor,
Gewöhntes und Zuverlässiges löst sich auf,
während dunkle Rätsel und überwundene Irrtümer wiederkehren und wachsen.
Wir klagen Dir das Leid von Terror und Krieg,
wir bringen Dir die Not einer in Unvernunft und Hetze versinkenden Menschheit,
wir bekennen uns inmitten aller Verrücktheit und Verzweiflung auch selber schuldig, nicht mutig und klar urteilen und handeln zu können, sondern verzagt und angstvoll und selbstsüchtig zu verharren und zu verhandeln.
Herr, könnten wir doch auch heute, … könnten wir doch gerade jetzt
nicht an unsere, sondern an Deine Ziele denken,
nicht unsere Sicherheit, sondern Deine Ehre suchen,
nicht unsern Mitteln, sondern Deiner Macht vertrauen!
… Herr, wandle uns,
dass wir Deine Kinder werden!
Fürbitten (nach der Predigt)
Herr, Du liebst den Sohn und seine Geschwister, die Menschen!
Darum bringen wir Dir vertrauensvoll wie die Kinder ihr Leid.
Es gibt so furchtbare falsche Patriarchen und mörderische Überväter, deren Gewissenlosigkeit und Brutalität sprachlos machen:
Machthaber, die ihr Volk schlachten,
„Präsidenten“, die sich als Sultan oder Zar gebärden und Recht und Frieden mutwillig zerstören,
„Kalifen“, die Terror befehlen,
„Revolutionsführer“, die Hunger und Elend einsetzen,
„Priester“, „Lehrer“, „Helfer“, die Vertrauen missbrauchen.
Alle diese Sünden, alles diese Not bringen wir zu Dir:
Du bist eins mit Deinem Sohn im Kampf gegen die Feinde des Lebens;
Dein Sohn ist stark in Dir, um endlich doch die Rettung und das Heil zu bringen!
Darum aber bitten wir Dich jetzt, Vater:
Dass dem Blutvergießen und der offenen, ebenso wie der heimlichen Gewalt ein Ende gesetzt wird.
Wir flehen Dich an, dass die Tage der Zerstörung und des Unrechts nicht endlos weitergehen,
dass Leib und Seele so vieler Menschenkinder nicht endlos gefoltert und geschändet werden,
sondern dass die Diener Deiner väterlichen Güte, dass die Zeugen ungetrübten und unbetrogenen Vertrauens sich zeigen und Deine Herrlichkeit erweisen können!
In der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes ist das Ziel der Menschheit fest vor unsern Augen.
In Glauben und Dankbarkeit haben wir das Unterpfand dafür im Herzen:
Den Geist, der uns Deiner Liebe gewiss und von Herzen willig und bereit macht, als Deine Kinder Dich mit allen unseren Geschwistern und im Namen Deines lieben Sohnes „Abba“ zu nennen,
denn Du bist unser aller Vater!
[i] Hier zitiert nach Erik H.Erikson, Der junge Mann Luther, Eine psychoanalytische und historische Studie, Reinbek 1970. S. 69.
[ii] AaO, S.65.
[iii] Die nachfolgenden (kursiv gesetzten) Zitate sind entnommen aus Theodosius Harnack, Luthers Theologie mit besonderer Beziehung auf seine Versöhnungs- und Erlösungslehre, Erste Abteilung: Luthers theologische Grundanschauungen [1862], Neue Ausgabe, München 1927, insbesondere S. 352ff.
9.S.n.Tr., 13.08.2017, Stadt- und Mutterhauskirche, „Wo die Seele ist, da ist Gott.", Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
„Und willst du nicht mein Bruder sein...- Religion und Gewalt", so lautet die Überschrift des 5.Themenheftes zum Mitreden, das die Evangelische Kirche im Rheinland im Mai herausgegeben hat. Ein Thema, das wirklich brennend aktuell und beileibe nicht nur ein Problem des fundamentalistischen Islam ist, sondern das in allen Religionen „lauert", wie es ja in allen Religionen Fundamentalisten und Fanatiker gab und gibt. Da wird als Ergebnis der Langzeitstudie „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Europa" (2002-2012) festgestellt: Je religiöser Menschen sind, desto stärker ausgeprägt sind ihre Vorurteile. „Wer meint, der eigene Glaube sei anderen überlegen, erweist sich als feindseliger gegenüber fast allen schwachen Gruppen." Nicht nur Andersgläubigen gegenüber, sondern auch z.B. gegenüber Homosexuellen. Die Suche „nach einer Dimension von Religiosität, die nicht positiv mit Vorurteilen zusammenhängt, sondern vielmehr vor ihnen schützt", dauere an. Positiv wirke sich aus, wenn Religiosität mit einer pluralistischen Weltanschauung einhergehe, die keine absoluten Wahrheiten für sich beanspruche. (S.9 Themenheft)
Wie steht es da um die real existierenden Religionen unserer Zeit? Gerade den monotheistischen Religionen wird immer wieder der Vorwurf gemacht, besonders gewaltanfällig zu sein, weil jede für sich ganz radikal beansprucht, den einzig wahren Glauben zu verkündigen. Gläubige der anderen Religionen sind da schnell „Ungläubige", die entweder zu bekehren oder zu bekämpfen sind.
Entsprechende Texte finden sich nicht nur im Koran, sondern auch in der Bibel. Und diese Haltung hat sich dann auch in den Lehrtexten niedergeschlagen, in den Bekenntnissen und in den Dogmen. Ob es das Judentum ist, der Islam oder das Christentum - in ihrer jeweiligen Lehre vertreten sie einen exklusiven Anspruch auf die göttliche Wahrheit. Und aller Exklusivität wohnt Gewalt inne, wobei sie sich nicht nur in handfesten physischen Formen zeigt, sondern auch psychisch und sozial auftritt - als Ausgrenzung und Verächtlichmachung des Anderen. Dabei richtet sie sich nicht nur gegen Anhänger einer anderen Religion, gegen die man in den Heiligen Krieg zieht, wie die Kreuzfahrer im 12.Jahrhundert, oder in den Dschihad, wie die Islamisten ihn ausgerufen haben. Die Gewalt wendet sich auch gegen die Anhänger der eigenen Religion, wenn sie nur in dem, was sie glauben oder von Gott denken, von der herrschenden, der wahren, richtigen Lehre abweichen. So konnte es zu den Konfessionskriegen kommen, wo Christen gegen Christen standen. Und so geht es bis heute, wenn zum Beispiel die Fundamentalisten von „Kein anderes Evangelium" anderen Christen das wahre Christsein absprechen, weil diese vor allen Dingen nicht die buchstabengetreue Auslegung der biblischen Schriften teilen.
Der wahre Glaube, wie ihn die offiziellen Kirchen lehren, ist ein Glaube an „Bibel und Bekenntnis". Es geht um die wahre, die reine Lehre, die man haben muss. Die Gott ja offenbart hat ein für alle Mal - in der Bibel und durch Jesus. Wer dieser Lehre nicht folgt, ist verloren, verdammt.
Ich denke, alle merken jetzt, welches Gewaltpotential in solch einem Religions- und Glaubenskonzept steckt.
Doch es muss nicht zwangsweise so mit der Religiosität und dem Glauben sein. Religion und Glaube können auch ganz anders gelebt und verstanden werden. Und danach braucht man eigentlich auch gar nicht zu suchen, denn es gibt schon längst in allen Weltreligionen eine Spiritualität, die pluralistisch ist und offen, die keine absolute Wahrheit für sich beansprucht, die eben nicht exklusiv daherkommt, sondern inklusiv. Es ist die Mystik.
Die meisten Zeitgenossen können mit dem Begriff der Mystik nicht viel anfangen. Andere haben ein sehr einseitiges Bild von Mystikerinnen oder Mystikern vor Augen: für sie sind es leicht oder stark abgedrehte Personen, die Visionen haben und in Ekstase geraten. Und auch die offizielle Theologie und Kirche gehen beim Thema Mystik schnell auf Distanz: die Mystikerinnen und Mystiker des Mittelalters standen immer im Verdacht der Ketzerei und nicht wenige endeten auf dem Scheiterhaufen, weil sie gegen die rechte Lehre verstießen - im Christentum und auch im Islam.
Und in der Tat: mit Dogmatik, mit theologischen Lehrgebäuden hat die Mystik nichts zu tun.
Es geht in der Mystik nicht um die richtige Lehre, die man kennen und lernen und glauben muss, sondern es geht um das Erleben der Beziehung zu Gott, um Erfahrungen des Herzens. „Wo die Seele ist, da ist Gott." formulierte es der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart.
Eine der Kernüberzeugungen der Mystikerinnen und Mystiker ist: Gott ist nicht irgendwo in einem Jenseits, einem transzendenten Himmel, sondern er ist überall und deshalb auch in einem jeden Wesen, in einem jeden Menschen - und dort will er gefunden werden. Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis gehören zusammen. Und das ist bei den Mystikerinnen und Mystikern aller Religionen so, auch im Islam und im Judentum.
Glaube im klassischen, kirchlichen Verständnis ist in großen Teilen ein „Glaube an", ein „Wahrhalten von" - von Gottesvorstellungen, von Glaubenssätzen. So heißt es ja auch in unserem apostolischen Glaubensbekenntnis: „Ich glaube an Gott den Vater ..., und an Jesus Christus, ...an den Heiligen Geist." Und die Sätze, die darin stehen, die „muss man glauben", wenn man ein Christ, eine Christin sein will. So jedenfalls verstehen es die meisten Christen selbst. Wie sehr es damals, als diese Glaubenssätze und Lehren festgeschrieben wurden, um Macht und Einfluss und darum, Christen, die anderes glaubten, andere Vorstellungen von Gott hatten, auszugrenzen, ja zu verteufeln, das wissen die allermeisten heute nicht.
Dabei meint „Glaube" eigentlich viel mehr „Vertrauen". Die Frage ist nicht, an wen ich glaube und was ich glaube, sondern wem ich vertraue. Glaube als Vertrauen - nur in dem Sinn ist das reformatorische „Sola Fide" zu verstehen. Und indem er sich ganz auf Gott verließ, zeigte sich Martin Luther als einer, der von den Mystikern gelernt hatte. Wobei er dieser Tradition dann - leider - nicht gefolgt ist, sondern sich ganz der Auseinandersetzung um die rechte Lehre verschrieben hat.
Allerdings gab es auch im Protestantismus Christenmenschen, die den mystischen Glaubensweg gegangen sind. Einer der bekanntesten ist Gerhard Tersteegen, der in seinem Lied „Gott ist gegenwärtig" (EG 165) die Haltung des Mystikers so beschreibt: „Wie die zarten Blumen willig sich entfalten und der Sonne stille halten, lass mich so still und froh deine Strahlen fassen und dich wirken lassen."
Gott ist da, immer und überall da, und es kommt darauf an, sich für ihn zu öffnen, leer zu werden im Innern, um ihm Raum zu geben, sich von ihm füllen zu lassen, seine Liebe in sich aufzunehmen und so einen neuen Blick, ein neues Verhältnis zu seiner Mitwelt zu bekommen. Bestimmt von Liebe und Mitgefühl.
Ein Mensch, der im Glauben den mystischen Weg geht, kennt beides: die Ekstase, die unbändige Seligkeit im Herzen, von Gott geküsst zu sein, wie es eine Mystikerin formulierte und die weltzugewandte Nüchternheit, der es darum zu tun ist, im Alltag der Liebe Gottes Hand und Fuß zu geben; und so sollte er beides pflegen: Herz und Verstand, die Fähigkeit zur Empathie und die Freude an Erkenntnisgewinn.
Damit der mystische Weg einen nicht in die Irre führt, braucht es die stete Auseinandersetzung mit den eigenen religiösen Wurzeln, in erster Linie mit der jeweiligen Heiligen Schrift der eigenen Religion. Für einen Christen ist das die Bibel. Allerdings liest der Mystiker, die Mystikerin sie nicht in der Weise wie ein Biblizist oder Fundamentalist und auch nicht wie ein Dogmatiker, der aus ihr ein Lehrgebäude zusammenstellt, nach dem sich alle richten müssen. Die Bibel ist für den Mystiker/in nicht Richtschnur, sondern Wegbegleiter, Gesprächspartner, und zwar einer, der durchaus kritische Anfragen stellt, aber nicht, um den anderen „auf Linie zu bringen", sondern zu ermutigen, den eigenen Glaubensweg zu gehen, auch wenn keine kirchlichen Autoritäten bisher diesen Weg gegangen sind. Aber Gott hat uns ja auch als Originale geschaffen und nicht als Kopien.
Wer auf diese Weise das Gespräch mit der Bibel neu aufnimmt, der wird schon bald überrascht feststellen, wie viele Texte und Verse davon sprechen, dass das Innere des Menschen, sein Herz der Ort der Gottesbegegnung ist; wie wichtig es ist, den Weg von außen nach innen zu gehen, nicht um der Welt, den Mitmenschen den Rücken zu kehren, sondern um so überhaupt erst ein Mensch zu werden, der auf rechte Weise seiner Aufgabe in dieser Welt und Zeit gerecht werden kann. „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zu seiner Ikone", damit er die Schöpfung bewahre, damit er das Leben in Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit befördere. Im Islam heißt es, Gott habe den Menschen geschaffen und zum Kalifen bestimmt, zum Statthalter Gottes, der sich darum bemühen muss, den Willen und die Werke Gottes zu tun. Die Sufis, die Mystiker des Islam, leiten daraus ab, dass der Mensch sich mit den Qualitäten Gottes qualifizieren muss. Und Jesus fordert seine Nachfolgerinnen und Nachfolger auf: „Ihr sollt ganz sein - die Lutherbibel übersetzt „seid vollkommen" - wie euer Vater im Himmel ganz/vollkommen ist."
Die Vollkommenheit Gottes, die zeigt sich nicht als Allmacht, als Allwissenheit und nicht als Größe, sondern: als Liebe und Güte, die allen Menschen gilt, allen Geschöpfen, den Gerechten wie den Ungerechten, den Einheimischen wie den Fremden, den Frommen wie den Sündern, den Menschen aller Religionen und Kulturen. „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel." Jesus war selbst ein Mystiker, der seine Heilige Schrift kannte, der davon sprechen konnte, dass kein Jota aus der Thora gestrichen werden sollte, und der doch in besonderer Weise die Worte in seinem Leben zur Entfaltung brachte, die ihn dazu brachten, Grenzen zu überwinden, auf Außenseiter zuzugehen und allen Gott als liebenden Vater zu verkündigen - wie es im Buch Jesus Sirach heißt: „Die Barmherzigkeit eines Menschen gilt allein seinem Nächsten; aber Gottes Barmherzigkeit gilt der ganzen Welt." (18,12) Jesus trug Gott als diesen liebenden Vater in seinem Herzen, und wenn er zu den Menschen sprach, dann spürten sie, dass er nicht über Gott sprach - wie die Schriftgelehrten oder Frommen seiner Zeit - sondern dass er der Liebe Gottes die Stimme lieh, seine Stimme. Er redet mit Vollmacht, er steht ganz dahinter, er glaubt und lebt, was er sagt, stellten seine Zeitgenossen fest.
Der Weg der Mystik, das ist der Weg, Gottes Liebe ins eigene Herz aufzunehmen und sich von ihr verwandeln zu lassen; immer mehr Gottes Willen und seine Werke im Alltag zu tun, um so mit Gott die Welt zu verwandeln, Werke der Gerechtigkeit, der Bewahrung der Schöpfung und des Friedens.
Der Weg der Mystik kann nicht verordnet werden, sondern jeder muss sich dafür öffnen, muss Gott sein Herz hinhalten.
Dabei wird man schmerzlich feststellen, dass vieles, was die eigene religiöse, christlich-kirchliche Tradition einem so verordnet hat an Glaubenswahrheiten eher hinderlich als hilfreich ist. Man wird überall an Grenzen und Mauern stoßen, von denen gesagt wird, dass sie einen schützen sollen, den eigenen Glauben vor dem falschen fremden Glauben. Aber sie schützen nicht, sondern sie engen ein, sie machen Angst, sie fördern Feindschaft und letztlich Gewalt.
Das macht den Weg der Mystik in unseren Tagen ja auch so dringend nötig. Wer Gott wirklich im Herzen spürt, der braucht keine Angst vor dem Anderen, dem Fremden zu haben. „Furcht ist nicht in der Liebe." (1.Joh.4,17c)
Im Koran findet sich in Sure 20,26 ein wunderbarer Gebetsruf, den Fundamentalisten sicher nie sprechen werden. „O Herr, mach mir Raum in meiner engen Brust!" Als ich diesen Vers vor Jahren bewusst zur Kenntnis nahm, fiel mir sofort ein Vers aus dem 51.Psalm ein, mit dem ich eine sehr lange Dialoggeschichte habe. Er heißt: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist." Das „rein" hatte bei mir schon immer Unbehagen ausgelöst, rein und unrein sind für mich Kategorien, die schrecklich viel Unheil gebracht haben und bis heute bringen. Ich hatte darum diesen Psalmvers für mich neu formuliert: „Schaffe in mir, Gott, ein weites Herz" - ein Herz, dass offen ist für dich und in allem erst einmal grundsätzlich mit Spuren und Zeichen deiner Liebe und Güte rechnet, im Fremden den Bruder und die Schwester sieht und dir zutraut, auf unterschiedlichste Weise Menschen für eine gerechtere, friedlichere Welt, für die Arbeit an deinem Reich zu gewinnen.
Liebe Gemeinde, ich kann nur aus eigener Erfahrung sagen: solch ein weites Herz ist eine köstliche Sache. Darum zu bitten, lohnt sich. Es entspricht der Erfahrung der Freiheit der Kinder Gottes, eine Freiheit von allem, was uns bedrücken und ängstigen und einengen will, und eine Freiheit, sich allen Menschen und Geschöpfen in Offenheit, Gelassenheit und Liebe zuzuwenden. Zu dieser Freiheit sind wir berufen. Nehmen wir sie also dankbar und verantwortlich wahr.
Amen.
8.n.Trinitatis 06.08.2017 Stadt- und Jonakirche Jesaja 2,1-5 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 8.n.Trin. - 6.VIII.2017
Jesaja 2, 1- 5
Liebe Gemeinde!
Die schöne, schöne Sommerferien-Zeit ist auch Geschichte. … Allerdings nicht etwa, weil sie vorüber wäre, … zum Glück ist ja noch wochenlang schulfrei. Vielmehr sind auch die schönen, schönen Sommerferien Geschichte, weil es nun einmal in der sog. „Freizeit“ doch keinen Augenblick und keinen Ort gibt, die nicht getränkt oder gefärbt oder beansprucht oder besetzt oder belastet wären eben durch die menschliche Geschichte … die einstige wie die heutige.
Es gibt kein Fleckchen Erde und kein Stündchen Zeit, die das große Ganze unberührt ließe, die für sich nur paradiesisch unschuldig und himmelblau unberührt wären:
Das Mittelmeer ist ein Todesbecken; die exotischen Strände Asiens oder Afrikas sind sämtlich einmal Schauplätze von Sklaverei und kolonialer Ausbeutung gewesen; das quirlige Südamerika frisst die Korruption; die Urlandschaften an den Polen zerstört der Klimawandel; die alten Schätze und Heiligtümer aller Kulturen versinken im Müll oder im Ramsch.
…So war auch unser diesjähriger Weg in’s abseits liegende Sommeridyll von Burgund keine Spur harmloser. Schon die Schilder auf den Straßen berichten nicht nur von Entfernungen in Kilometern, sondern von den Abständen, die die Geschichte zwischen Greueln und deren Wiederholung einzuhalten pflegt: In Lothringen liest man erst „Mars-la-Tour“ – das Schlachtfeld, auf dem der Grund des blutigen deutschen Sieges von 1870/71 gelegt wurde –, dann folgt der Abzweig nach Verdun, wo vor hundert Jahren der Blutrausch Europas sich im Krieg der Welt austobte, und am Ziel – im ländlichen, geschichtsträchtigen Burgund – gibt es kein Städtchen, nicht einmal einen Weiler, in denen nicht auf dem Hauptplatz neben den Denkmälern der Gefallenen von 1870/71 und 1914-18 die Namen jener stehen, die von den Besatzern zwischen 1940 und 1945 deportiert oder an Ort und Stelle exekutiert wurden, als jede Provinz des Abendlandes Schauplatz einer deutschen Apokalypse werden konnte.
Die schöne, schöne Zeit der Sommerferien ist also auch Geschichte.
Und wenn man das merkt – wie wir immer und überall von einer Geschichte der Gewalt und des Hasses, des Tötens und der Verwüstung umgeben sind – , …. wenn man das merkt, dann erst gehen einem die Schönheit und Kostbarkeit, die Größe und Freude des Glaubens auf!
Der Glaube an Israels lebendigen Gott hat ja seit den Tagen des Jesaja alle diese Geschichte durchgestanden. Ob Flaute oder Völkersturm herrschte, ob das Barometer dunkle oder aufgeklärte Jahrhunderte anzeigte, ob es Freizeit oder Fronzeit bei den Gläubigen war … der Glaube an Gottes Verheißung ist geblieben, hat angehalten, hat weitergewiesen, hat vorwärts gehofft.
Das ist und bleibt spektakulär!
Wie viel Aufgeben, Hinschmeißen, wieviel Schlappmachen und Stabbrechen hätte da nicht eigentlich eintreten können, wenn man den Weg des Glaubens durch die Geschichte verfolgt.
Die Hoffnung, dass die untereinander so tief verfeindete Menschheit einmal einen gemeinsamen Weg gehen könnte, hätte eigentlich an jedem Meilenstein und Wegweiser in der Geschichte zuschanden werden müssen:
Hier geht’s nach Salamis, dort in den Teutoburger Wald, da liegen die Katalaunischen Felder und drüben das Lechfeld, da weist ein Schild nach Tannenberg und da nach Pavia, Mühlberg, Lepanto, Lützen, Fehrbellin, Hohenfriedberg, Roßbach, Kunersdorf, Jena und Auerstedt, Waterloo, Königgrätz, Sedan, Ypern, Guadalajara, Guernica, Westernplatte, Smolensk, El-Alamein, Pearl Harbour, Stalingrad, Hürtgenwald, Dünnkirchen, Berlin, Hiroshima (heute!), Schweinebucht, Algier, Vietnam, Dubrovnik, Bagdad, Mossul, Raqqa …….
Deir-es-Zor. Swakopmund. Gulag. Guantanamo.
Auschwitz. ———
„Alle Heiden werden herzulaufen und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen.“
Gewiss ist es besser – wenn man die Landkarte und die Zeitschiene so vor sich hat – … gewiss ist es besser, wenn die Völker sich nach neuen Wegen und besseren Wegweisern umsehen!
Gewiss ist es dringend und lebensnotwendig, dass von der Menschheit endlich andere Ziele und eine neue Richtung verfolgt werden!
... Doch angesichts des Schilderwalds, von dem wir herkommen und in dem wir immer noch umherirren, ist und bleibt es wahrhaftig ein Wunder, dass Menschen nicht in jeder Richtung und hinter jeder Ecke nur eine Sackgasse sehen, sondern dass es zu allen Zeiten und immer wieder, bis heute und auch in Zukunft solche gibt, deren Kompass ausgerichtet ist auf Zion.
Was immer sonst noch auf den Plänen und den Hinweistafeln und Gedenksteinen am Weg steht – immer gab und gibt es jemanden, der trotzdem sagt: „Von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem! ... Darum kommt nun, lasst uns wandeln im Lichte des HERRN!“ …
Und auf deren Pfaden, an deren Seite können wir mitreisen.
Die Sommerzeit, die Lebenszeit, die Wüstenwanderung unserer Kirche, der Zug der ganzen Geschichte der Menschheit und jeder einzelne Weg ist nämlich am besten und schönsten, am sinnvollsten und heilsamsten, wenn wir mit Gerhard Tersteegen die alte, unerschöpfliche Losung aus seinem „Ermunterungslied für die Pilger“ befolgen: „Ein jeder sein Gesichte / Mit ganzer Wendung richte / Steif nach Jerusalem!“ ———
Wie aber sieht es aus, wenn man bei aller Orts- und Geschichtskenntnis durch diese Welt mit einer solchen Navigation reist, die über Schlachtfelder und Todesstreifen und Massengräber hinweg die Orientierung an Gottes Versöhnungsziel und dem verheißenen Menschheitsfrieden beibehält?
… Ist das nicht zwingend weltfremd und verschroben? Bedeutet es nicht, freiwillig Scheuklappen zu tragen, die die Realität ausblenden und den verengten Blick allenfalls auf einen völlig verschwommenen Horizont fokussieren? Gehen solche Reisenden, die dem Gott Israels die Lenkung der Welt und die Versöhnung der Völker und eine Vereinigung aller Nationen zutrauen, nicht blind durch’s Leben und zynisch über das Leiden hinweg? …….
… Oder sehen sie weiter?
… Hören sie feiner?
… Erkennen sie Vorzeichen, Hinweise, Hoffnungsschimmer nur besser als andere? ———
Wer einen Blick für Zion, die Stadt des Friedens hat, die unerkannt und unsichtbar trotzdem auf jedem x-beliebigen Autobahnschild mitgelesen werden will, der merkt plötzlich, dass sie ihre kleinen Botschaften, ihre Honorarkonsuln, ihre künftigen Bürger überall hat.
Im hässlich verödeten ehemaligen Industriestandort St.Étienne-du-Rouvray war am vorletzten Sonntag, mitten in der trost- und arbeitslosen Normandie ein Vorort Jerusalems zu finden: Vor einem Jahr hatten zwei islamistische Mörder dort am Altar der Kirche einen alten Priester, Pater Jacques Hamel erstochen. Zum Gedenken an ihn – einen der ersten christlichen Märtyrer des 21.Jahrhunderts in Europa! – kamen vor vierzehn Tagen im streng laizistischen Frankreich Vertreter von Staat und Klerus und Moscheegemeinde in der Kirche zusammen und stellten einmütig erstaunt fest, dass das Naheliegende und hochwahrscheinlich Unvermeidliche nicht eingetreten ist: Der Hass hat nicht triumphiert, … im Gegenteil … er war vergebens! Stattdessen haben die verschiedenen Gläubigen und die vielen Glaubenslosen der Stadt im vergangenen Jahr den Weg zueinander und den Weg miteinander gesucht.
Die Wurzel dieses Zionwunders des Friedens und der Versöhnung aber wollte der französische Staatspräsident, dessen Amt ihm doch religiöse Neutralität vorschreibt, deutlich beim Namen nennen: „Ich bedanke mich bei der Kirche in Frankreich dafür, dass Sie in ihrem Glauben und den Gebeten die Macht der Vergebung gefunden haben“ sagte Emmanuel Macron. ——
„Kommt, lasst uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen.“
Auch andere, leicht übersehene und doch deutliche Winke und Lichter, die von Jerusalem her auf die Landschaft der Gegenwart fallen, können uns aufgehen: An vielen der zahllosen Kriegerdenkmäler, die in Frankreich so gegenwärtig sind, hingen noch die Wimpel und Fahnen des Nationalfeiertages. … Doch neben der Trikolore flattert immer wieder auch etwas anderes im Wind über den Namen der Opfer des 1. und des 2.Weltkriegs: Die blaue Flagge mit den 12 gelben Judensternen der Söhne Jakobs und der Apostel der Kirche.
… Wie selten denken wir uns etwas bei diesem uns schon wieder gleichgültig gewordenen Symbol Europas! … Aber dass eine Fahne, die die einst bitter verfeindeten Völker unseres Kontinents – noch dazu in biblischen Bildern! – verbindet, … dass eine solche Fahne über dem Gedächtnis der an der Marne und der Somme und in Flandern und am Skagerrak Gefallenen weht, … dass eine solche Fahne auch über dem Gedächtnis der Soldaten und Ermordeten und Vergewaltigten und Vertriebenen der 2.Hälfte des 20.Jahrhunderts weht: Das ist ein völlig anderes Licht, als es irgendwelche Nationalfarben zurück in die Vergangenheit werfen könnten, … ist es doch das Licht der blanken Hoffnung, dass endloses Blutvergießen und eingefleischter Hass und ererbte Vorurteile und verdammte Ideologien und teuflische „Gott-mit-uns“-Parolen allesamt überwunden werden können.
Europa, das Schlachtfeld unserer Geschichte ist ein Erdteil geworden, in dem tatsächlich das alte Handwerk des gegenseitigen Tötens, die jahrtausendealte Barbarei des Kräftemessens im Dienst des grimmen Sensemanns nicht mehr – zumindest nicht an den ewigen Nachbarn, die bis vorgestern auch noch die ewigen Gegner waren … – ausgeübt wird.
Auch wenn auf dem gefährlichen Weltgelände immer noch nicht alle Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet werden können, so ist doch immerhin unser blutgetränktes Abendland langsam, leidvoll aber lebendig zu einer Kultur des Friedens untereinander, des Ausgleichs und der Gemeinschaftlichkeit herangereift. ——
Dass es so lange gebraucht hat, bis die in allen Synagogen und Kirchen seit Jahrtausenden bekannte Ausrichtung auf das Jerusalem der Völkerverständigung endlich, endlich keine ortlose Verheißung, keine landlose Hoffnung mehr ist, sondern eine allmähliche Bejahung und Befolgung auf breiter Linie fand, … das allerdings sollte uns zwei Dinge bewusst und ein drittes wichtig machen.
Bewusst wird uns einerseits sein, wie fern das Europa der Rüstungsgeschäfte und der notwendigen Verteidigungsbündnisse, das Europa der Flüchtlingskrise und der Wirtschaftsinteressen von einer Rolle als wirklicher Erfüllung der prophetischen Verheißung ist und bleibt.
Andererseits wird uns zweitens bewusst sein, wie wenig dieses erst allmählich biblisch belehrte und in Frieden zivilisierte Abendland Anlass hat, den Islam mit seinen Gewaltverstrickungen und seiner Gewaltverherrlichung für hoffnungs- oder gar rettungslos zu halten: Immerhin haben wir seit Jahrtausenden die Wegweisung des Jesaja und das herrliche Versprechen des ewigen Friedens vor Augen und im Herzen und haben es dennoch allzu lange nicht vermocht, ihnen zu trauen und zu folgen. Man kann die Muslime mit dem wahrlich nicht vergleichbaren Qor’an, in dem die Verheißung des endgültigen Friedensreiches auffallend fehlt, wirklich nur bedauern … und einschließen in die mühsame, herrliche, hoffnungsvolle Selbstermunterung der Pilger auf den Wegen der Weltgeschichte:
„Kommt, lasst uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen.“
Und darum kann uns – drittens – wirklich nur eines wichtig und kostbar und teuer und lieb sein: Nämlich dass es nicht in Menschenmacht liegt, dass das Haus des HERRN fest und höher steht als alle Berge, … dass also die Verheißung und Erfüllung, die wir in Jerusalem suchen sollen und finden werden, nicht an uns alleine hängen oder scheitern können.
Gottes Wort und Weisung, die von Zion ausgehen und die Menschheit dort versammeln und schlichten werden, sind Seine Ehre und Seine Macht. Er wird das Gericht über unsere Gewaltgeschichte vollziehen und unsere Füße richten auf den Weg des Friedens, heraus aus der Finsternis und dem Schatten des Todes (vgl. Lk1,79).
Wir aber müssen und können alle Winke und Wegweiser beachten, die die Heiden und das Volk Gottes mitten in der Geschichte schon gen Zion, zum Ziel lenken.
Denn wie sagt Tersteegen im Ermutigungslied? —
„Ein jeder munter eile, / Wir sind vom Ziel noch fern;
Schaut auf die Feuersäule, / Die Gegenwart des Herrn!“
Um aber ganz weltlich auf den Wegen der Geschichte voran zu kommen, soll Fontane das letzte Wort haben, … der Schlachtenbummler und Kriegsberichterstatter und Poet des preußischen Militärs.
Sein Gedicht auf die Heimkehr der Sieger von 1870/71, in dem die Regimenter, die in Mars-la-Tour und andernorts gekämpft hatten nun Unter den Linden nur darin wetteifern, wie viele von ihnen fehlen, weil sie den Tod fanden, … dieses schreckliche Gedicht von der Gewaltgeschichte und ihrer scheinbar endlosen Verherrlichung und Fortsetzung endet ganz unerwartet, zu Füßen des Alte-Fritzen-Denkmals.
„Bei dem Fritzen-Denkmal stehen sie wieder;
Sie blicken hinauf, der Alte blickt nieder;
Er neigt sich leise über den Bug:
Bon soir, Messieurs, nun ist es genug.“
Jawohl!
„Kommt, lasst uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen.“
Amen.
Die Liste einiger weniger Schlachtfelder, Kriegsschauplätze und Stätten von Völkermord und Menschenrechtsverletzungen beansprucht weder Vollständigkeit noch Logik oder strenge Chronologie, da für jeden genannten Ort Hundert nicht-erwähnte stehen müssten. Bei Tannenberg ist allerdings hier an die Schlacht von 1410 gedacht, in der der Deutsche Orden gegen Polen-Litauen unterlag, was in Polen bis heute als Sieg bei „Grunwald“ in der Geschichtsschreibung wichtig ist.
2.n.Trin. 25.06.2017 Stadt- und Jonakirche Matthäus 22,1-14 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 2.n.Trin. - 25.VI.2017
Matthäus 22,1-14
Liebe Gemeinde!
Auf Jesus ist Verlass.
… Nur er kann so zuverlässig eine Geschichte verdrehen, die eigentlich doch ideal für den Kindergottesdienst oder den Kirchentag wäre.
Wir kennen das Gleichnis von den gleichgültigen Gästen und den überraschten Nachrückern aus dem Lukasevangelium schließlich alle als soziale Wohlfühlgeschichte: Wohlhabende ziehen der Einladung Gottes Geschäftliches vor, während die Mittellosen von den Hecken und Zäunen staunend an den bereiteten Tisch des Herrn geführt werden. Die doofen Vertreter einer blasierten „Wer-nicht-will-der-hat-schon“-Schicht schmieren also ab, und am Ende sind die Außenseiter und Verlierer plötzlich VIPs.
Damit ist es natürlich auch eine Geschichte für die politisch korrekten Selbstgerechten, … eine Geschichte, die bestätigt, dass die ökonomisch aktiven ursprünglichen Ehrengäste vor lauter Egoismus unfähig zum Miteinander im Haus Gottes sind und darum eher hilflose Randgruppen, … Leistungsverweigerer, … Opfer der Selbstbedienungsgesellschaft die wahren Reich-Gottes-Erben sein werden. In dieser beruhigenden Gestalt passt am Gleichnis von Undank und Überraschung alles zusammen: Die Reichen gehören raus – weil sie sowieso zu sehr mit sich beschäftigt sind, um sich wirklich Wichtigeres zu wünschen –, und die Armen kommen rein, weil sie sich ahnungslos auf alles, … auch das Beste einlassen können. ——
Man kann übrigens mit Sicherheit auch sagen, dass diese Moral dem Geist des Christentums entspricht: Die Gemeinde Dessen, Der die Geächteten und Verhöhnten, die Zurückgelassenen und Abgelehnten als Seine Aufgabe und Seine Weggenossen betrachtete, Der beim Abschaum ein- und ausging, Der von Idioten und Gaunern umgeben lebte und dann für jeden Halunken und Bösewicht starb – also auch für mich! –, … die Gemeinde dieses Großzügigsten und Gnädigsten der Gnädigen und Großzügigen: Die kann wohl wissen, wie es um sie steht und was in ihr gilt. …
Gesund ist diese Gemeinde Jesu Christi dann, wenn zu ihr die Kranken gehören.
In Ordnung ist das Leben der Gemeinde dort, wo ihr die Unordentlichen wichtig sind.
Heil ist die Kirche, wenn sie den Heilungsbedürftigen und Unheiligen Heimat bietet.
Frieden hat die Kirche darum nur, wenn die Streitenden dazu gehören.
Trost hat sie nur, wenn sie die Trostlosen aufnimmt.
Gut steht’s um sie, wenn sie die Schlechten erträgt.
Denn die große Einladung an die sonst immer und überall Ausgeladenen ist tatsächlich die Gründungsurkunde und Eröffnung der Kirche, die nicht die Gemeinschaft der Schönen, Reichen und Gebildeten, sondern der Haufe der Mühsamen, Bedrückten und Nervenaufreibenden sein sollte, … die Festgemeinschaft derer, die nichts zu feiern haben und keinen finden, der sie beachtet!
… In dieser Kirche sind wir hier.
Nicht unter uns!
Nicht die bildungsbürgerliche, volkskirchliche Crème de la crème, als die wir uns vielleicht sehen, … nicht die ungestörten Kreise, die uns behagen!
Wenn die Penner und Spinner, die Wirren und Irren, die Verachteten und Verdächtigen nicht hier sind, wenn die seelisch und körperlich Gezeichneten, die von Unrecht und Brutalität Geschädigten hier nicht sichtbar sind, dann zeigt unser Kirchenbesuch, unsere Sonntagsgemeinde sich bloß als der schmale, unvollständige Ausschnitt eines viel größeren Ganzen, der sie nur ist und sein kann.
… Zu und mit uns gehören noch so viele andere in die Gemeinschaft des kommenden Reiches, die heute in geschlossenen Einrichtungen und gammeliger Verwahrlosung, in grässlichen Flüchtlingscamps und allen möglichen Parallelwelten fern von uns sind und trotzdem unlöslich eins mit uns sein werden: Gäste Gottes, die bunte, unwahrscheinliche Tischgesellschaft des Lebendigen. ———
So weit, so kindergottesdienst- und kirchentagskonform.
So hat ja auch Lukas das Gleichnis in seinem Missionsevangelium für die Hinterhöfe der griechischen Hafenstädte, für die Mietskasernen Roms, für die gemischten Paulusgemeinden mit ihrem Sprengstoff aus proletarischem und philosophischem Volk und jüdischen Frommen überliefert. …….
Matthäus allerdings schreibt für eine viel weniger offene und wachsende Gemeinde als diejenige von Lukas und Paulus. Sein Evangelium ist ursprünglich der judenchristlichen Kirche gewidmet, die zunächst in Galiläa und dann v.a. in Syrien entstanden war und die die Klugheit und den heiligen Ernst der vertrauten Synagogengemeinden zum Maßstab nahm. Darum beginnt Matthäus mit der langen, anspruchsvollen Tora-Auslegung, mit der praktischen Heiligkeitslehre Jesu in der Bergpredigt und bündelt seine Verkündigung, die Israel erneuern und die Heiden in die Ethik der erwählten Gottesgemeinde einbeziehen will bis zum: „Lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe; denn siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende“ (Matth28).
Und in dieser Kirche des ethischen Ernstes und des heiligen Anspruchs, in dieser Kirche des praktischen Gehorsams da bekommt das Gleichnis von den buntzusammengewürfelten Gästen, von den Nischenbewohnern und Außenseitern, die nach Seiner geheimnisvollen Gnade auch zu Gottes Erwählten zählen werden, eine überraschende, geradezu widersinnig erscheinende Wendung.
Denn nicht nur, dass der königliche Gastgeber scharfe Rache an denen nimmt, die sich um seine Einladung einen Dreck scheren, sondern danach – als Böse und Gute von den Straßen zusammengebracht worden sind und die unvorhergesehene Öffnung des hochzeitlichen Fest-saals staunend überraschte Gäste zu unverhofften Ehren bringt! –, da wird noch einmal ein scharfer Ton angeschlagen, der überhaupt nicht in’s Bild der großmütigen Universaleinladung passen will.
… Wenn doch nun Gesocks und Gesindel, Ahnungslose und Unverdiente in den Genuss einer zuvor exklusiv beschränkten Einladung kommen sollen – warum kann dann eine Frage der Kleiderordnung, eine pingelige Äußerlichkeit so ausschlaggeben werden?
… Ein armer Kerl von der Straße, ein überrumpelter Tagträumer, ein Mensch, der von Krankheit oder Trauer bis eben noch isoliert war: Wie sollte der vorbereitet sein für ein Galadinner? Woher soll ein ewig übersehener Vergessener denn eigentlich wissen, was die tragen, die sich sehen lassen können? … Und wenn er’s wüsste: Woher nehmen und nicht stehlen? ……. ——
Ist das nicht alles völliger Unsinn? Gemeine, sinnlose Vergeltung, die alle Gnade Lügen straft??
… Wie konnte diese Geschichte nur so verdreht werden? Wie kann Matthäus sie nur so verdreht verstanden haben? ———
Durch Jesus ist sie so verdreht worden.
Denn wenn Jesus ein Gleichnis erzählt, ergibt sich mehr und anderes, als bei allen sonstigen Erzählern. Jesu schöpferische Erzählungen schildern ja nicht nur besondere Handlungen oder Ereignisse, wie das jeder mündliche oder literarische Bericht sonst auch tut.
Die Gleichnisse, wie Jesus sie findet und prägt, geben nämlich nicht einfach ein Geschehen wider, sondern sie lösen es aus!
Sie wiederholen nicht Vergangenes, sondern sie beschleunigen und entscheiden Zukünftiges.
Vom großen Gastmahl, von der königlichen Hochzeit wird ja nicht rückblickend erzählt, ... das ist keine Anekdote, keine Pointe, die im Nachhinein zur Unterhaltung dient, wenn man sich wundert oder staunt, wie es ehedem am Hofe König Davids oder bei den Festmählern Alexanders d.Gr. zuging …, sondern in dem Augenblick, in dem Jesus das Fest erwähnt, werden die Hörenden zu Angesprochenen und Eingeladenen: Das Gleichnis schafft seine Situation im Jetzt! Zum Gastmahl Gottes gehen in Jesu Namen die Einladungen in Echtzeit heraus, ……. gerade eben sind sie hier abgeliefert worden.
Und seit 10 Minuten wirkt das Gleichnis; … seit 10 Minuten passiert es: Dass wir merken, wie sich in uns die Bilder und Möglichkeiten sortieren. Dass wir spüren, wie der Anruf Gottes, Seine Aufforderung zum Tanz unsere Kreise und Planungen stört. …….
Dabei sind wir ja nicht irgendeine neue Gemeinde, die Paulus und sein Reisegefährte Lukas gerade zum ersten Mal zusammengetrommelt oder bei ihrer Neugier gepackt haben. Uns flattert ja nicht unangekündigt die Botschaft ins Leben und ins Haus, dass Gott uns ruft und unser Wurschteln und Wirtschaften unterbrechen wird, weil Seine Zeit kommt. Wir werden wahrlich nicht überraschend gefragt, ob wir Lust haben, uns demnächst auf die Nähe Gottes und das Miteinander aller Menschen einzulassen und grenzenlose Freiheit und Fülle nicht in unseren Ansprüchen und Vorhaben, sondern in der großzügigen Gnade des ewigen Gastgebers zu finden. … Und als Kirchenmenschen, als getaufte Christen, ja als anständige Zeitgenossen setzen wir insgeheim ja sogar geradezu voraus, dass wir sicherlich schon irgendwie auf der Gästeliste des Lebens stehen werden, … was immer das heißt …….
Und genau deshalb sind wir die Richtigen für das verdrehte Gleichnis aus dem Matthäusevangelium, bei dem sich sogar an den außenstehenden und unwahrscheinlichen Gästen zeigt, dass Gottes Einladung zwar in Vielem unvorhersehbar sein wird und dass sie dennoch Bereitschaft – unsere Bereitschaft! – voraussetzt, … Bereitschaft eben für das Unwahrscheinliche, Bereitschaft für das, was eigentlich ausgeschlossen und immer ungeplant ist. ——
Wie die Gemeinde, für die Matthäus die Erinnerung an den Herrn und sein Fest wachhielt, sind wir also keine Neulinge im Umgang mit Gott, sondern überraschungsmüde Gewohnheitstiere geworden: Für uns gibt es die eine Wirklichkeit - das ist unsere -, in der wir heimisch, nötig und mit Kopf und Herz ausgelastet sind, und dann gibt es daneben noch das fromme Reich der Hoffnungen, der Wünsche, der Bilder, der Geschichten, der Gleichnisse, die sonntags vielleicht etwas in uns ansprechen mögen, die im Ernst aber keinen Anspruch an uns haben.
……. Aber genau das ändert sich durch das verdrehte Gleichnis radikal: Diese verrückte Geschichte vom armen Kerl, der an einer Kleiderordnung scheitert, die doch in seinem Leben gar keinen Platz hat, macht uns dingfest: Wir mögen zwar in unserer Realität, in ihren Zwängen, ihren Bilanzen und Erfolgen aufgehen wie viel zu viele Gäste des großen Königs – und wahrscheinlich wissen wir als Christen sogar, dass alle diese Dinge und Werte nebensächlich sind. … Aber das Schrecklichste, das uns das Gleichnis mit allen unseren ausweichenden, faul entschuldigten, lieber in Ruhe gelassenen Spiegelbildern und deren Alltagsgeschäften, wichtigen Nichtigkeiten, dummen Prioritäten vorhält, … das Schrecklichste ist nicht der heillose Stumpfsinn, der Gottes Einladung verspielt, sondern die Armut der Erwartungslosigkeit! Darum ist es ein von der Straße Aufgesammelter, über den wir am meisten erschrecken müssen, obwohl wir viel eher in den Überbeschäftigten, die sich durch Gott gestört fühlen, unseresgleichen haben. … Erschrecken sollen und werden wir über den, der rausfliegt, weil er einfach gar nicht ernsthaft erwartet hatte, hineinzukommen bei Gott!
Dieser erbarmungswürdige Glückspilz, der schon an der Tafel sitzt, dem schon tatsächlich der volle Becher glänzt, … der stürzt nachträglich noch über das völlige Fehlen von Erwartung in seinem Leben, er stürzt über die Abwesenheit der tollkühn grundlosen Hoffnung, er stürzt über den Mangel an unerklärlicher Bereitschaft für das Beste, die ein Hochzeitskleid in seinem Bettelsack bedeutet hätte. …
Und dieser Sturz ist es, in den das verwirrende, verwunderliche, vernunftwidrige Gleichnis uns schubst:
Erwartest Du selber – trotz allem?! – erwartest Du, dass Du demnächst Gott sehen wirst, dass Du mit dem Volk der ganzen schmutzigen, willkommenen, seligen Welt zu Tisch bei Ihm sein darfst?
Hörst Du nur immer wieder davon … oder bist Du dafür bereit?
Dämmert Dir, dass das nicht nur eine Kindergottesdienstgeschichte oder die Sozialromantik der Kirchentage ist, wenn von der königlichen Hochzeit der Gerechtigkeit und des Friedens und vom Mahl der Erlösten gesprochen wird, sondern dass es darum geht, sich trotz aller Unwahrscheinlichkeit auf diese unvorstellbare Freude einzustellen?
Hat diese Hoffnung für alle ihren Anspruch auch auf und für Dich?
Kannst Du Dir vorstellen, dass nicht nur Adam und Abraham und Achmed und Abdul-lah und Aischa und Anna und Alle die Andern, sondern tatsächlich auch Du ewig ein-geladen bist, bei Gott zu sein, … weil Jesus Dich einlädt, weil Er Deine Einladung ist, Dein Hochzeitskleid, Deine Hoffnung, Dein Heil?!
Und auf ihn ist Verlass.
Er bringt dieses verworrene Gleichnis, das das verdruckste, das verdorbene Glauben und Leben ohne Hoffnung auf Gottes Reich zeigt, ins Lot und zum Ziel.
Viele sind berufen.
Hörst Du das Echo, das überall und an den seltsamsten Orten die unglaublichsten Menschen ruft und trifft?
Viele sind berufen.
Das ist das Gleichnis, in dem wir jetzt drin sind.
Und trifft’s uns denn nicht bis zum letzten Wort? … Dem Wort „auserwählt“?!
Amen.
Pfingstmontag, 05.06.2017, St.Lambertus, Joh.20,19-22, Ulrike Heimann
"Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen. Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den Heiligen Geist!"
Predigt-Gedanke
„Gott existiert - ich bin ihm begegnet", so lautet ein bekanntes Buch von André Frossard.
„Der Heilige Geist ist Realität - das können wir spüren" - heute und hier. Pfingsten life und keine Wiederholung, kein Abspielen einer Konserve.
Dass ausgerechnet im 500.Jubiläumsjahr der Reformation die Ökumene in Deutschland so aufgeblüht ist, das ist ein kleines, großes Wunder, das Gottes Geist in Gang gesetzt hat. Auf allen kirchlichen Ebenen tut sich was, bewegt sich was. Ein Dank an Papst Franziskus für seine vielfachen Impulse, ein Dank an die Deutsche Bischofskonferenz und den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland für ihr gemeinsames Wort „Erinnerungen heilen - Jesus Christus bezeugen", ein Dank an alle, die hier vor Ort in den Gemeinden ökumenische Durststrecken ausgehalten haben und einfach weiter daran gearbeitet haben - in der ökumenischen Hospizgruppe, in der ökumenischen Flüchtlingsarbeit, im ökumenischen Weltgebetstags-Team - die geglaubt haben, dass Einheit und Vielfalt im Glauben und Tun zusammengehören wie Wellen und Korpuskeln in der physikalischen Struktur des Lichtes.
Worauf es in der christlichen Ökumene ankommt, das zeigt das Evangelium, das wir gerade gehört haben.
Wo Christus in die Mitte kommt, wo er die Mitte ist, da gibt es keinen Grund mehr, sich in den eigenen Traditionsräumen zu verschanzen - voller Sorge, das jeweils eigene Profil zu verlieren.
Wo Christus in die Mitte kommt, wo er die Mitte ist, da können seine Nachfolgerinnen und Nachfolger Fenster und Türen öffnen, können in ihre Traditionsräume einladen und selber neugierig andere, bisher fremde Räume und Orte aufsuchen, am Reichtum der anderen teilnehmen und den eigenen Reichtum einbringen.
Die Einheit, die schenkt Christus, die Vielfalt der Heilige Geist.
Dabei ist wichtig, das der, der da als der Lebendige in die Mitte tritt, derjenige ist, der vom Tod, vom Leiden gezeichnet ist. Er zeigt seinen Jüngern seine Wundmale. Die Vergangenheit ist nicht einfach weggewischt. Die Erinnerung an alles Leidvolle gehört zum neuen, österlichen Leben dazu.
Gerade die Geschichte der Konfessionen hat viel Leidvolles über die Christenheit gebracht - seelisch und körperlich sind unzählige Wunden geschlagen worden. Nur auf die Wunden zu starren, das würde nur weiter zu Narbenschmerzen führen. Sie gemeinsam zu betrachten, sich die Geschichten gegenseitig zu erzählen, wo man verletzt worden ist genauso wie die, wo man selber munter mitgemacht hat, die Trennung zu verteidigen und zu vertiefen - und sich dann gemeinsam der Mitte, Christus zuwenden - das lässt die Wunden heilen, die Narben zwar nicht verschwinden, aber immer mehr verblassen.
Und dann werden wir gemeinsam hören können: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch - in aller Vielfalt, mit allem Reichtum, der euch jeweils geschenkt und anvertraut ist. Wie das Licht, das seine Strahlen in alle Richtungen aussendet. Seid gemeinsam Zeugen für das Leben.
Und wenn wir das tun, dann deshalb, weil der Heilige Geist uns dazu beflügelt, uns dazu treibt.
Wie sagte es die Kirchentagspräsidentin Christina Aus der Au nach dem Abschlussgottesdienst in Wittenberg am letzten Sonntag in Anlehnung und gleichzeitig kreativer Fortführung des berühmten Satzes von Martin Luther „Hier stehe ich - ich kann nicht anders" :
„Hier stehen wir - wir wollen anders.
Jetzt gehen wir und können anders."
Weil uns Gottes Geist auf einen neuen Weg führt und ruft!
Danke, Heiliger Geist!
Amen.
Pfingstmontag, 05.06.2017, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text/Thema: „Nicht in den Zweigen, in der Wurzel steckt des Baumes Kraft." - Geburtstag der Kirche in Einheit und Vielfalt.
Liebe Gemeinde,
Pfingsten zu bedenken und zu feiern im Jahr des 500.Reformationsjubiläums, das ist schon eine Herausforderung der besonderen Art. Gestern haben wir vor allen Dingen Pfingsten unter dem Aspekt der Gabe des Heiligen Geistes in den Blick genommen. Heute geht es um den Aspekt „Pfingsten - der Geburtstag der Kirche".
Ein Theologe hat einmal geschrieben: „Jesus predigte das Reich Gottes - und gekommen ist ... die Kirche." Eine Stellungnahme, die schon deutlich macht, dass das recht betagte Geburtstagskind immer wieder, ja immer schon auch Anlass zu sorgenvollen Gedanken gegeben hat. Aber keine Angst: ich möchte heute morgen das Geburtstagskind feiern - frei nach dem Lied von Ralf Zuckowski: wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst; wie schön, dass wir beisammen sind; wir gratulieren dir, Geburtstagskind.
Mir ist an einer Geburtstagsfeier jenseits von Kirchenschelte und Schwärmerei gelegen.
„Geburtstag der Kirche in Einheit und Vielfalt", so lautet das Thema des Gottesdienstes.
Wie denn das, mögen Sie fragen. Von Einheit kann doch nun wirklich nicht die Rede sein. Da gibt es die evangelische Kirche und die katholische Kirche, da gibt es die griechisch orthodoxe Kirche und die russisch orthodoxe Kirche, da gibt es die Anglikanische Kirche und die Baptisten, die Herrnhuter Brüdergemeine und die Quäker, da sind die Methodisten und die Kopten, die Syrisch-aramäische Kirche und die unzähligen Pfingstkirchen und und und. Da gibt es doch eine unüberschaubar große Zahl von Kirchen.
Stimmt - das zeigt ja auch das Bild von Tiki Küstenmacher, das sie auf dem Gottesdienstblatt vorfinden.
Der „große Kirchenbaum Christi", ein Baum, der sich immer mehr verzweigt und jeder Ast ist eine neue Konfession oder Kirche. Der Betrachter, die Betrachterin steht davor und fühlt sich sicher der Bemerkung in der Sprechblase unten links verbunden, wo es heißt: „Die Kirche spaltet sich immer weiter, als wär's eine ansteckende Krankheit."
Ja, dieses Empfinden teilen bis heute die meisten Christen und zwar egal welcher Konfession. Jede neue Kirche, jede neue Konfession - eine Abspaltung von der einen Kirche. Und eine Abspaltung ist auf jeden Fall von Übel - diese Wertung steckt schon in dem Wort selber.
Dahinter steht ein ganz bestimmtes Verständnis von Einheit.
Einheit im Sinne von Einheitlichkeit. Einheit als feste Größe, als Monolith.
Einheit der Christen ist dann nur möglich, wenn alle sich zu einer Konfession bekennen. Platt ausgedrückt: wenn alle wieder in den Schoß der einen Mutter Kirche, der römisch-katholischen Kirche zurückkehren. Das ist natürlich undenkbar nicht nur für überzeugte Protestanten, sondern auch für orthodoxe Christen oder für die Kopten.
Nein, so kann Einheit nicht gemeint sein. Vielmehr geht es um eine Einheit, die in der Vielfalt lebendig ist. Einheit und Vielfalt sind nämlich keine Gegensätze, die sich ausschließen, sondern sie sind notwendig für das Leben der Kirche.
Das macht das Bild vom Kirchenbaum deutlich.
Stellen wir uns einmal einen Baum vor, dem alle Äste fehlen, der nur aus einem Stamm besteht. Ein Baum, der nicht lebensfähig wäre. Ja, eigentlich gar kein Baum, sondern eher ein Obelisk, ein toter Stein.
Der Kirchenbaum Christi aber ist lebendig - und das durch die Jahrhunderte. Immer wieder treibt er aus, seine Krone ist wie ein schützendes Dach, er bietet den unterschiedlichsten Menschen Herberge und Heimat.
Alle werden eben nicht durch das Gleiche angesprochen. Die einen brauchen nur die intellektuelle Ansprache durch eine Predigt, andere möchten eintauchen in himmlische Gesänge, wieder andere brauchen Bilder, um sich meditierend für das Göttliche zu öffnen, und noch einmal andere suchen die Begegnung mit Gott in der Ekstase. Wie gut, dass nicht jede Kirche alles bieten muss. Wie gut, dass der Heilige Geist unterschiedliche Räume und Anlaufstellen durch die Jahrhunderte geschaffen hat - und sie noch weiter schaffen wird.
Und wie gut, dass er es in unseren Tagen immer besser schafft, die Christen in den unterschiedlichen Kirchen zu einem wahrhaft christlichen Einheitsverständnis zu bekehren.
Einheit eben nicht als Einheitlichkeit, sondern als Einheit in Vielfalt. Die Wurzel, der Wurzelgrund - Jesus Christus: er ist uns allen gemeinsam. In ihm sind wir eins. Diese Einheit ist vorgegeben. Die Vielfalt der Kirchen tut dieser Einheit keinen Abbruch. Einen Abbruch bedeutet es allerdings, wenn jede Kirche sich für die einzig richtige und wahre Kirche hält bzw. ihre Art, den Glauben zu leben, für unhinterfragbar.
Jeder Ast an dem Kirchenbaum Christi darf so da sein, wie er ist. Ökumene hießt eben nicht: Vereinheitlichung, sondern die anderen in ihrer Art, Kirche Christi zu sein, zu würdigen und wertzuschätzen und sich gemeinsam an der Buntheit des Kircheseins zu erfreuen. Dazu gehört auch, sich gegenseitig zu erzählen, was die jeweils eigene Tradition für die Menschen in den Kirchen bedeutet, wo und wie sie den Zuspruch und den Trost, die Kraft und den Anruf Gottes vernehmen.
Wir können voneinander so viel lernen; und wo eine Lern- und Weggemeinschaft besteht, da können wir auch kritisch nachfragen bzw. da sind wir bereit, auch kritisch angefragt zu werden. Damit wir alle zusammen glaubwürdige Zeugen Jesu in der Welt unserer Zeit sind.
Ökumenische Weggemeinschaft, das sollte nicht mehr die Ausnahme sein, sondern die Regel - nach dem Grundsatz: wir machen alles, was irgend möglich ist, zusammen. Und lassen dabei jedem seine konfessionelle Beheimatung als den Ort, wo er geistlich auftankt.
Pfingsten, der Geburtstag der Kirche in Einheit und Vielfalt. So betrachtet können wir ihr gratulieren und wünschen: „Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen, die Einheit schenkt Christus, die Vielfalt der Geist."
Amen.
Pfingstsonntag 04.06.2017 Stadtkirche Johannes 16,5-15 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Pfingsten 4.VI.2017- im Rahmen der Feier der "Deutschen Messe" nach M.Luther (1526)
Johannes 16,5-15
Liebe Gemeinde!
Konrad Cordatus, Veit Dietrich, Anton Lauterbach, Johannes Aurifaber waren nur ein paar der hilfreichen Zuhörer, die – statt zu essen wie ihr Gastgeber – sogar vor bestückten Tellern und Humpen lieber mitkritzelten, wenn Martin Luther seinen vollen Mund auftat.
Die „Tischreden“ aber, die aus den Notizen, den Stenographien und Gedächtnisprotokollen der eifrigen Krumenpicker und Brockensammler entstanden, haben den damals gern und unbekümmert Speisenden viel lebendiger erhalten, als Essen und Trinken selbst es konnten.
Denn aus den Aufzeichnungen von Luthers Gesprächen und Streit und Einfällen und Witz in den Tischreden speist sich seinerseits etwas, das für die Rolle des Reformators ebenso wichtig werden würde, wie sein eigenes Wirken. … Aus seinem Wirken wurde nämlich seine Nachwirkung. Aus seinem Leben wurde sein Lebensbericht. Seine akuten Entscheidungen und Äußerungen und Überzeugungen und Ideen wurden geschichtlich mächtig.
Und damit entstand der zweite Martin Luther aus dem lebhaft und bisweilen vielleicht auch übermäßig Genießenden, der erst hungrig, dann heiter bei Tisch war: Der kauende und verdauende und dabei von seinen theologischen Leidenschaften und täglichen Erfahrungen getriebene und befeuerte Leib-Seelen-Organismus des im Augenblick lebenden Luther wurde zum Gegenstand von überaus langlebigen Überlieferungen, Denkmälern, Abbildungen, Gerüchten, Anekdoten, Predigten.
Luther, wie er lebte, wurde der Luther seiner Biographie.
Und ohne die Zuhörer bei Tisch, ohne die Zeugen, die den schlürfenden, schmatzenden, dozierenden, improvisierenden, tröstenden, beichtenden, lebendigen Luther so festhielten und fortsetzten, dass man ihn auch heute noch kennt und erlebt, wäre er nichts mehr als Staub und Asche.
Biographen, Lebensbeschreiber, Erinnerungsschilderer, Lebendigkeitszeugen sind also stärker als alle biologischen Lebensgrundlagen: Ihre Worte schenken mehr Dasein und erhalten lebendiger, als Trank und Speise es könnten.
Biographen sind so etwas wie Geburtshelfer, die einen Menschen ein zweites Mal dauerhaft zur Welt bringen können – nicht unsterblich zwar, aber doch unvergesslich: Was Platon dabei für Sokrates und Boswell für Dr.Johnson und Eckermann für Goethe und Max Brod für Franz Kafka taten, ist also unvergleichlich wichtig und lohnend.
… Und es ist pfingstlich!
Denn Pfingsten ist der Tag, an dem für Jesus, den gekreuzigten und auferweckten Herrn die Biographie beginnt: Die nie wieder abbrechende Überlieferung seines Lebens, seiner Lehre, seines Leidens und seiner Lebendigkeit durch ein Zeugnis, das zu allen Zeiten bleiben wird.
Für diese Möglichkeit einer Bezeugung, die Christus immer und an jedem Ort vergegenwärtigt, musste er aber tatsächlich aus der an Flecken und Stunden gebundenen Daseinsweise unseres irdischen Lebens fortgehen. Er musste aus der Beschränkung des Hiesigen in die Weite und Dauer der Verkündigung, der Predigt und des Glaubens übergehen, aus den physikalischen Grenzen der Raum-Zeit musste er zu unendlichen Wirkweisen in Gebet und Sakrament und Erwartung gelangen.
Jesus musste also wahrhaftig über das Kind von Bethlehem und den Schmerzensmann von Golgatha hinaus wachsen in die weltumspannende Rolle Christi, … hinein in die ewige Bestimmung, als Mensch zugleich vollkommen an der Herrlichkeit Gottes teilzuhaben.
Das ist der Grund, weshalb es gut ist, dass er die drei Dimensionen, die wir beherrschen und die uns ausmachen, überschritten hat und in die neue, unbegrenzte Wirklichkeit eingezogen ist, die uns umfängt und übertrifft und bevorsteht: So nämlich kann sich niemand mehr seiner willkürlich bemächtigen, ihn bedrohen oder verdrehen, ihn benutzen oder einschränken.
Dort hat er und herrscht er in Freiheit. ———
Wie aber bleibt er dann nun, nach seiner Himmelfahrt dennoch der Herr bei uns, der Lehrer, der Helfer, der Retter, … Mittelpunkt der Gemeinde, Zentrum des Denkens, Ziel des Lebens?
Eben das geschieht durch Pfingsten: Dadurch, dass seit der Ausgießung des Heiligen Geistes Jesus von Nazareth, der Christus, der Sohn Gottes einen Biographen hat, der seine Worte und Gebote, seinen Trost und seine Verheißung, sein Evangelium und seinen Richterspruch weiterträgt in alle Welt, durch alle Generationen und in das Inneres eines jeden empfänglichen Menschen.
Durch diesen Zeugen, durch seine packenden Schilderungen und immer neu eindringlichen Zuspitzungen wird Jesus Christus im wahrsten Sinne wahrheitsgemäß präsentiert …; seine Wahrheit wird präsent gemacht, er wird jeder Zeit zum Zeitgenossen, jedem Menschen zum Menschenfreund, jedem Suchenden zur Entdeckung, jedem Fremden zum Vertrauten, … den Zweifelnden zur Herausforderung, den Hoffenden zur Kraftquelle, … den Unsicheren begegnet er durch seinen Zeugen zuverlässig, den Vergesslichen macht sein Zeuge ihn anschaulich, … die Gleichgültigen kann der Zeuge erschüttern, die Zyniker will der Zeuge anklagen, die Verständnislosen werden von diesem Zeugen überzeugt.
Dieser Zeuge ist also der Geist der Wahrheit.
Das macht ihn zur kritischen Instanz für alle, die nach Christus forschen. Es macht ihn zum Tröster für alle, denen der Abstand und die Freiheit des Herrn unheimlich sind. Es macht ihn zum Aufklärer und Erleuchter in den vielen Missverständnissen und Fehldeutungen, die Jesus, der zur Rechten Gottes ist, vernebeln und ausblenden. —
Und darum ist Pfingsten ein unermesslich großes und kraftvolles Fest: Weil das Ausströmen des Geistes Gottes kein abgeschlossener Vorgang, sondern aktuelles Ereignis, momentanes Geschehen ist, durch das es hier und jetzt möglich wird, nicht von Vergangenem zu reden, wenn wir „Jesus Christus“ sagen, sondern dabei Gegenwart zu erleben und darin von ihm erfasst zu werden und ihm in unserer Mitte neu zu begegnen: Hat er doch einen so zuverlässigen Berichterstatter, einen so vertrauenswürdigen Chronisten wie kein Zweiter. …….
Denn in der Tat – und das unterscheidet den Lebensbericht und die Wirkungsgeschichte Jesu Christi ja wahrhaftig von allen anderen Überlieferungen und Erinnerungen, die unter uns gepflegt werden – … in der Tat hat Jesus Christus keinen Zweiten als Biographen. Es ist kein Außenstehender, der uns seine Botschaft und sein Tun vermittelt, es ist kein von fremder Feder verfasstes Dokument, durch das er der Nachwelt nahegebracht würde. Sondern er ist sein eigener Biograph, sein eigener Übersetzer und Deuter und Auffrischer für all jene, die ihn nicht aus eigener Anschauung kennen lernen konnten!
Zwischen Gottes Heiligem Geist und Gottes Sohn besteht nämlich kein zeitlicher oder persönlicher Abstand wie sonst dort, wo einer sein Bild und Wissen von einem anderen weitergibt! … In diesem einzigartigen Fall sind der wahrhaftige Mensch Jesus und seine wahrheitsgemäße Nachwirkung tatsächlich zu allen Zeiten eins.
Die Unterscheidung zwischen einer ursprünglichen Existenz und der getreuen Erinnerung, deren Gegenstand sie werden kann, kann zwischen Gottes Sohn und Geist einfach nicht greifen. Vielmehr – und das ist das Herz unseres Glaubens an den einen Gott in den drei Seinsweisen! – … vielmehr redet der Geist nicht aus sich – also unabhängig vom Sohn –, sondern er redet Jesu Worte selber, … denn er selber ist ja Jesu Geist, der Geist dessen, der eins ist mit dem Vater (vgl.Joh10,30). Nichts trennt sie – außer den Weisen und Wegen ihres Wirkens: Geist und Sohn und Vater sind und bleiben im Wesen ungeschieden. ———
Das mag zwar nun nach theologischer Spitzfindigkeit, nach alten Denkmustern ohne Gegenwartslogik klingen.
Doch die Probe auf’s Exempel zeigt, dass die Einheit zwischen dem vor zweitausend Jahren geborenen Jesus Christus und dem am heutigen Pfingsttag wirksamen Gottesgeist sich geradezu simpel überprüfen lässt.
Denn wenn der, der Christus aktuell akut bezeugt, das übliche Geschäft der Biographen, der geneigten Chronisten, der interessierten Schönfinder und Schönfärber und Schönredner betriebe, … dann müsste dabei ja ein gefeiltes und gefälliges Bild entstehen: Die Erinnerung wird zur Steigerung der Tatsachen, die Fortschreibung zur Verbesserung des Originals, die Zusatzschichten tünchen und glätten die Unvollkommenheit des Urgesteins.
… Und schließlich entsteht aus den ganz lebensnahen Erinnerungen der Tischgesellen Luthers ein Bild, das idealisierte Züge, mustergültige Eigenschaften aufweist, die sich verfestigen und dann verselbständigen; … und sei es nur, um jener Griffigkeit willen, der wir das berühmteste und dennoch erdichtete Zitat vom Wittenberger Tisch verdanken, das die beliebte luther‘sche Grobheit übertreibt, um ihn volkstümlich zu halten, weil „Rülpsen und Furzen“ nun einmal das Kerngeschäft und wahre Wesen des Populären und des Populismus sind.
… Oder aber es kommt ein unglaubhaft verklärtes Bild zustande, wo die Überlieferung werkelt: Wir kennen das ja besonders gut, wenn wir an die vielen wenig ansprechenden, aber natürlichen Bildnisse Theodor Fliedners denken und dann an jene Marmorbüste im Gartenhäuschen, die seine Schroffheit in jeder Hinsicht aufpoliert.
Ist also das Bild, das der Heilige Geist durch sein inneres Zeugnis bei jedem von uns von Jesus entstehen lässt, eine Idealisierung, eine Glorifizierung, eine Täuschung? … Ist Pfingsten der Beginn von Photoshop? …….
Wohl kaum, wenn wir die Konturen, die Details und Perspektive betrachten, die der pfingstliche Zeuge seinem Profilbild von Jesus Christus verleiht. Drei Gesichtspunkte zeichnen die Darstellung Christi aus, die der Heilige Geist entwirft, indem er sie aus dessen eigenem Stoff nimmt.
… Drei immer schon ausgesprochen harte Züge sind es, an denen sich tatsächlich die Selbstdarstellung Jesu Christi im Geist beweist. Und diese drei Züge, diese drei Akzente sind damit ein schlichter, schlagender Beweis, dass hier nicht die Suche nach dem Gefälligen oder die Versuchung zum aufgehübschten Verharmlosen das Bild beherrschen, sondern ungeschminkte Wahrheit: „Sünde“, „Gerechtigkeit“ und „Gericht“ sind die drei störend sperrigen, spröden und abstoßenden Merkmale, die ins Auge springen und im Nachdenken widerhakig haften bleiben, wenn wir aufnehmen, was der Geist uns wirklich zeigen soll!
„Sünde“, „Gerechtigkeit“ und „Gericht“: Ein Zustand, ein Mangel und eine Drohung, die die Menschheit nach Möglichkeit immer retouchiert, immer übersieht und leugnet, wenn sie etwas für sich Erbauliches, wenn sie eine Bestätigung oder einen ergreifenden Eindruck sucht.
… Wer aus dem Bild Jesu Christi also diese Elemente nicht tunlichst ausschneidet, wer Christus vielmehr in seinem Kampf und seiner Freiheit und seinem Sieg betont und ungemindert auch die menschliche Verlorenheit und die Unerreichbarkeit des Guten und die restlose Angewiesenheit aller auf ihn sehen lässt: Der will nicht schmeicheln und es niemandem leicht machen; der will nur die Wahrheit sehen lassen!
Auch das … ja, gerade das bedeutet und bringt also Pfingsten: Nicht, dass wir nun ein Wunder der problemlosen, aufregenden, enthusiastischen Gottesnähe und Christusbegeisterung feiern sollen …. sondern dass wir immer und überall und tatsächlich und ewig die Wahrheit erkennen können:
Jesus Christus ist um unserer Sünde willen gekreuzigt worden; Jesus Christus lebt in völliger Freiheit; und schließlich bringt Jesus Christus aus lauter Gnade auch unserem Leben die wahre und letzte Befreiung.
Das ist keine Sache von gestern, keine Botschaft der Vergangenheit, keine Erinnerung an Gewesenes.
Das ist jetzt und heute ebenso existentiell wichtig und richtig, wie es am ersten Pfingsten in der apostolischen Urgemeinde war, wie es in Luthers Tagen und zu Fliedners Zeiten gewesen ist und bleiben wird solange der Geist Gottes Menschen in alle Wahrheit leiten will.
Ein Pfingstfest in dieser Wahrheit, … ein Pfingstfest in der rettenden Erkenntnis der Gegenwart des Vaters, Sohnes und Geistes sei darum auch uns beschieden!
Amen.
Christi Himmelfahrt 25.05.2017 Stadtkirche 1.Könige 8,22-30 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christi Himmelfahrt - 25.V.2017
1.Könige 8,22-30
Liebe Gemeinde!
Eine nicht ganz abwegige Zusammenfassung des Alten Testaments wäre, dass es von einem Bauprojekt handelt.
So wie sich manche Romanzen vor allem durch die Vision und Planung eines gemeinsam erträumten Eigenheims ergeben, so wie manchen Ehen sich in den Mühen und Opfern und Etappen und Rückschlägen und Durchbrüchen des Häuslebaus vollziehen und so wie manche Ehekräche und Ehebrüche immer noch von der Sorge um und dem Anspruch auf eine begehrte Immobilie befeuert werden, so dreht sich auch in der biblischen Liebesgeschichte zwischen Gott und seinem Volk alles, alles um ein Haus.
Am Anfang wird der Grund und Boden gesucht: Generationen der Väter ziehen im Land umher, rasten hier, ruhen dort, aber über ein Grab hinaus wird noch nichts festgemacht. Die Nachkommen verschlägt’s in Fron und Fremde, doch auf den Baustellen der Pharaonen wird ihnen die Verheißung nur immer wichtiger, einst in die Freiheit und Festigkeit eines Lebens geführt zu werden, in dem Gott selbst sich bei ihnen niederlassen will: „Ihr werdet über den Jordan gehen und ihr werdet in dem Lande wohnen, das euch der HERR, euer Gott, zum Erbe austeilen wird, und er wird euch Ruhe geben vor allen euren Feinden um euch her, und ihr werdet sicher wohnen. Dort wird der HERR, dein Gott, eine Stätte erwählen, dass sein Name daselbst wohne …“ (5.Mose13,10f)
Das ist das Ziel der Befreiung und Sesshaftwerdung Israels: Gottes Gegenwart soll aus dem freischwebenden, ungreifbaren Zustand reiner Metaphysik – also Überweltlichkeit – zu einem lokalisierbaren, realen Bestandteil des irdischen, des menschlichen Lebens werden. Israels Gott strebt in die Wirklichkeit, will wohnhaft in der Welt werden. Israels Gott will Nachbar seines Volkes sein, auffindbar und anrufbar und eben im eigentlichsten Sinne „nahbar“: Darum braucht er einen Stammplatz, einen zuverlässigen Ort, eine Adresse.
Diese Bedeutung, ja Zentralität des Tempels von Jerusalem für die ganze Bibel Israels ist eine Tatsache, die dem Christentum fern gerückt ist.
Gerne hat man sich – weil Geschichtsschreibung auf Seiten der Sieger immer die sorglosere Sicht gewährt – mit dem Abbruch des Tempels und seinen Zerstörern angefreundet. Dass die Römer in einer brutalen Totalvernichtung Jerusalem schleiften, das Heiligtum bis auf die Klagemauer abfackelten – die gerade diese Woche von einem Bauunternehmer nicht ohne Geschäftsinteresse besucht worden ist, – und den geraubten Tempelschatz an den Tiber schleppten, wo sich alle heiligen Geräte, Tische, Leuchter und Symbole verlieren:
Die Christen hat’s nicht gejuckt. Stattdessen steht bei uns – zumal in unseren evangelischen Pfarrhäusern – zwischen Sofas und Nippesecken garantiert irgendwo eine siebenarmige Menorah und verleiht unserer Häuslichkeit auch noch den nostalgischen Glanz biblischer Folklore. … Aber auch den üblen Geschmack einer Ausstellung von Beutekunst. ……. Jerusalems Heiligtum ist futsch. Sein Licht strahlt jetzt bei uns. ——
Was aber ist denn dann mit dem Bewohner des Tempels, der im Allerheiligsten seinen ureigensten Raum gefunden hatte?
„Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt“, besingt Jochen Klepper diesen privaten Gottesraum zwischen Boden, Decke und vier Wänden (EG 16,5). … „Denn dieser arme Raum birgt doch so viel“, wie es in einem Lied auf den Stall von Bethlehem heißt (EG 546, 3).
Was bedeutet es also, dass die lange Herbergssuche Gottes, die schließlich zum Tempelbau Salomos führte, von solchen Katastrophen gefolgt wurde wie der Zerstörung durch die Babylonier, dem erbarmungswürdigen Wiederaufbau unter Esra und Nehemia und einer nur kurzen zweiten Glanzzeit unter den Makkabäern, bis nach der letzten, bombastischen Renovierung unter Herodes aus dem HERRN der Welt, der in Jerusalem Seinen Ort hatte, ein obdachloser Trümmerflüchtling wurde, Der auf Erden kein Zuhause mehr fand? …….
Immerhin bedeutet es, dass wir – wenn am heutigen Himmelfahrtstag noch einmal die Frage der irdischen Verortung, des innerweltlichen Aufenthalts Gottes gestellt wird – mit mehr Anteilnahme als üblich auf den Tempel schauen.
Denn nicht umsonst haben wir eben aus dem großen Einweihungsgebet Salomos gehört, dem längsten und feierlichsten biblischen Gebet außerhalb des Psalters.
Es sind Worte des Staunens und der Dankbarkeit und der Hoffnung angesichts der Gegenwart des unendlichen, unfassbaren Gottes in unserer vertrauten räumlichen und zeitlichen Umgebung: „Sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?“
… Auf unerhörte Weise ist Gott aber tatsächlich eingezogen in den Dimensionen und Koordinaten der menschlichen Welt. Anbetend rühmt Salomo das Wunder, dass der unermessliche Himmlische sich eine Stätte erwählt hat, an der sein Name sein soll, dass Gott alle Seine Eigenschaften also und Seine ansprechbare Wirklichkeit so zusammengezogen und verdichtet hat, dass sie konkret bei den Menschen sein können.
Dieses Wunder kennen wir allerdings in einer weiteren Gestalt.
Was für Israel und seinen König Salomo der Tempel ist, das finden die Kirche und die Heiden in einem noch kleineren Gehäuse, einem noch hinfälligeren, von Erde genommenen und aus Staub geformten Gebilde: In den Menschen Jesus von Nazareth ist Gottes Gegenwart ja auch irdisch und stofflich und immanent eingegangen!
Jesus ist das, was in den Tagen der Unsicherheit Israels die Stiftshütte, das Zelt der Begegnung war und was dann fest und herrlich der Tempel auf dem Zion wurde: Jesus ist wie der Tempel der Ort der Einwohnung Gottes.
Der Augenblick aber, in dem Gottes Einwohnung sich vollzieht und bekannt wird – der Augenblick des großen Lobpreises Salomos –, ist buchstäblich wie Weihnachten.
Nicht von ungefähr fällt das Fest der erneuten Tempelweihe – Channukah – ja auch tatsäch-lich mit dem Fest Christi Geburt zusammen.
Ebenso lässt sich als der Karfreitag Israels der Trauertag um die Tempelzerstörung zunächst durch Nebukadnezar und später, ein zweites Mal durch die römischen Mörder Christi jeweils am 9. Tag des Monats Ab betrachten: Der Ort, an dem Gott zu finden war, wurde von Brandschatzern und Folterern einmal im Bau und einmal im Fleisch entstellt, entwürdigt und schließlich entseelt. ——
Als Stätte der Gottesgegenwart also verbindet der Tempel die beiden Bibelteile zutiefst, die jeweils von Gottes Bereitschaft zur Einwohnung, die jeweils von der Weltannäherung, von der Herbergssuche, von der Einkehr, von der Inkarnation Gottes Zeugnis geben. ———
Bloß: Die Fortsetzung …, die Fortsetzung …! …….
Früh ist die Sehnsucht nach einem Gottesort gewesen, nach einem Raum Gottes, nach einer realen Gottesnähe, … so früh, dass sie schon aus so alten Berichten wie jenem vom Nachtlager auf Jakobs Flucht spricht, wo er einmal einen Felsbrocken als Kopfkissen nutzte und nach einem ermutigenden Traum von der Himmelsleiter, von der durchlässigen Verbindung zwischen Gottes und der Menschen Welt den unauffälligen Stein am Morgen „Gotteshaus“ nannte, … Beth-El (vgl.1.Mose28,19) .
Stetig ist die Freude an der Präsenz Gottes in Jerusalem: „Ich freute mich über die, die zu mir sagten: Lasset uns ziehen zum Hause des HERRN!“ (Ps.122,1).
Bitter ist die Klage um das entweihte Heiligtum; prophetisch glühend bleibt die Erwartung eines unzerstörbaren Bauwerks als Herz der erneuerten Schöpfung, in das Gottes Herrlichkeit für immer zurückkehren wird (vgl. bes. Hesekiel 40-48!).
Tief bleibt die Erinnerung auch bei den Urchristen, die den Untergang des Tempels zwar als Strafgericht zu deuten geneigt waren, aber doch ihrerseits „einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel“ ersehnten und erstrebten (2.Korinther5,1).
Geschichtsmächtig ist der ganze Tempelberg schließlich auch als Ruine, als Stätte eines Marienheiligtums, einer Moschee, einer Kreuzfahrerkirche immer geblieben – bis zu den heutigen, unentwirrbaren Konflikten zwischen den Weltreligionen, die um diesen einen kleinen, einzigartigen Flecken bangen und ringen, dessen Wurzeln bis auf die salomonische Gründung, bis zu David, dem Käufer jenes Bauplatzes, auf den die Bibel so gezielt zusteuert, zurückgehen.
… Doch die Fortsetzung, … die Fortsetzung!!! Was soll die Fortsetzung sein?
… Ein Sturm auf die al-Aqsa? Die von ultraorthodoxen Juden erhoffte, teilweise auch gewaltsam forcierte Errichtung des Dritten Tempels? Die Utopie eines Gebetshauses aller Völker, … wenigstens der drei erbittert gespaltenen Geschwisterreligionen im derzeitigen Kampf der Weltanschauungen, die in Jerusalem als ihrer Mutter zusammenfinden (vgl.Ps.87)? …….
Was ist also die Fortsetzung?
Nun, der Bericht von Christi Himmelfahrt bringt uns doch wohl auf die Spur:
Gerade vor seinem Abschied hat Christus die Seinen ja angewiesen, Jerusalem nicht zu verlassen, bis nicht dort, am Ort der Gottesgegenwart der Gottesgeist seinen Einzug in den Jüngern und den Jüngerinnen halten wird (vgl. Apg.1, 4).
Während also der Tempelberg und der menschliche Leib Jesu von Nazareth in ihrer Bedeutung als Behausung Gottes für Juden und Christen zurücktreten müssen, gehen doch die Herbergssuche, die Annäherung und Eingliederung Gottes unter den Erdbewohnern immer weiter: Viele, viele Quartiere, viele, viele bewegliche Gehäuse wird Gott noch mit seiner Einwohnung erfüllen, in vielen, vielen Menschen wird Gott noch ein- und umherziehen.
Die Bewegung, zu der Gott von jeher, vom Ursprung her, aufgebrochen ist – diese Bewegung, die Ihn zur Welt brachte, zu den Menschen, in ihr Dasein, in ihre Gegenwart –, sie ist nicht gescheitert, als jener Bau und jener Körper der irdischen Wahrnehmung entzogen wurden, in denen Gott bisher zu finden war.
Der Einzug Gottes, seine Weltreise, seine Menschheitseinkehr geht auch nach dem Untergang des Tempels und der Himmelfahrt Jesu weiter: In den ungezählten Gotteszelten, die in jedem Getauften entstehen, … in allen Herzkammern, die Gott aufnehmen, … in den Oberstübchen, den Gedanken, in denen Gott ein- und ausgeht, … in den Handlungsräumen der Christen, in denen Gott tatkräftig anwesend ist, … in den Ruheorten der Seele eines Glaubenden, des Gewissens eines Christenmenschen. Überall dort wohnt Gott. Überall dort wirkt Er weiter hinein in die Menschheit, mit der Er unlösbar verbunden und vereint sein will.
Doch gerade indem nach Christi Himmelfahrt die Gegenwartsweisen Gottes im Irdischen nicht ab-, sondern zunehmen, … gerade indem Gottes Einwohnung durch den Heiligen Geist vervielfältigt und mannigfacher denn je zuvor wird, zeigt sich erst richtig das letzte Ziel Seiner Einkehr auf Erden und in der Menschheit: Es liegt ja nicht darin, dass Gott aufgehen wollte unter den vielen Geschöpfen, sondern darin dass Er den Geschaffenen festen Halt und bleibende Heimat schenken will.
Gottes Einkehr hier in dieser Welt ist also nicht ein Weg des Exils, sondern Seine Einkehr dient unserer Heimkehr:
Unter uns kam Er zu wohnen und zu leben, damit wir bei Ihm leben und bleiben könnten. Gott durchdringt die Welt und teilt ihr Leben, damit sie Seines teilen möge..
Der Tempel Gottes und Sein Leib hier sind daher nicht der letzte Sinn und Zweck Seiner Annäherung an uns, sondern sie sind Botschaften und Kraftquellen, um uns mit Leib und Leben in Richtung Seines realen Reiches zu wenden, in dem Er uns die Stätte bereitet. ——
Wenn darum nun das Haus, das Salomo errichten ließ, nicht mehr steht, … wenn nun der Leib, den Maria geboren hat, nicht mehr auf Erden ist, … wenn aber der Geist in uns allen die Wirklichkeit Gottes einfließen lässt, dann werden dadurch wir unsererseits auf den Weg der Einkehr und der Heimkehr, der Annährung und der Eingliederung bei Gott gebracht.
Gott kam also wahrhaftig zur Welt, damit wir in den Himmel kommen.
Und so ist Christi Himmelfahrt nicht das Ende seiner Gegenwart unter uns, sondern der Beginn unserer Zukunft bei ihm. Seine Himmelfahrt führt uns auf den Weg heim.
Amen.
Rogate 21.05.2017 Konfirmation Mutterhauskirche Lukas 11,9f Jonas Marquardt
Predigt Mutterhauskirche Konfirmation Rogate - 21.Mai 2017
Lukas 11, 9f
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Sagen wir’s mal ganz platt und ohne dass Ihr meinen müsst, ich spräche von Euren Feiertagsklamotten oder Konfirmationsfrisuren! Sagen wir’s einfach so mal ganz platt: Ihr seid begehrt.
Ihr, als 13-, 14-jährige, als Jugendliche insgesamt. Ihr seid begehrt, weil alle auf Euch hoffen: Manche politischen Parteien würden am liebsten glatt das Wahlalter senken, nur damit auch Ihr Euer X oder Y in ihrem Kästchen auf dem Stimmzettel machen könntet. Manche Fernsehfuzzis und Marktforscher sind so verrückt nach Euch, dass sie zittern, ob Ihr ihre Formate gut und ihre Sachen trendy findet: Wenn Ihr als Zielgruppe etwas annehmt, dann laufen ihre Geschäfte. Sagt Ihr Nein, dann können Designer, Produzenten und Laufstegakrobatinnen sich Dosenpizza besorgen und Stellenanzeigen studieren.
Ihr seid begehrt, weil Ihr die Rente von morgen und die Volkswirtschaft der nächsten paar Jahrzehnte zustande bringen werdet.
Ihr seid begehrt, weil Ihr - Bitteschön! - Ideen haben sollt, die noch nie da waren, und Dinge schaffen könntet, für die man heute noch einen Vollrausch braucht.
… Ihr seid begehrt, weil Ihr die Zukunft seid.
Und natürlich, weil Ihr – und jetzt rede ich von harten Fakten – eine so pracht- und temperamentvolle, herzensgute, lernwillige, tiefenentspannte und zugleich unvorhersehbare Mischung an Gaben und Persönlichkeit mitbringt, dass Eure Eltern und Familien bis heute noch nie auf den Gedanken gekommen sind, Euch umzutauschen. Und jetzt, wo sie Euch in derartiger Vorzeigeform, schokoladig von allen Seiten, honigkuchenpferdehaft und weltmeisternett in stilvoller Garderobe und mit kleinen Aufregungsfeuerwerken unterm Hemd- und Blusenkragen sehen, … jetzt könnten Eure Angehörigen sich glatt neu in Euch verlieben, obwohl sie haargenau wissen, wie Ihr beim Wickeln und beim Wutanfall und beim Wilde-13-Werden wirkt.
Ihr seid begehrt, meine Lieben. —— Aber das ist nicht die Konfirmation.
Vielmehr im Gegenteil.
Bei Eurer Konfirmation geht’s nicht darum, wer alles was von Euch will oder wie andere sich Euer Leben vielleicht denken.
Sondern um Eure Wünsche, um Eure Hoffnung, um Euer Wollen geht es.
Es geht darum, was Ihr im Leben wirklich wichtig nehmt, wonach Ihr Euch sehnen, was Ihr begehren werdet in einem Land und einer Zeit, die erstaunlich viele Eurer Bedürfnisse und Träume in Erfüllung gehen lassen könnten.
Wenn das der Sinn der Konfirmation ist – dass Ihr und wir nach dem fragen, was wohl Euer Herz begehrt –, dann ist der heutige Sonntag Rogate, der vom Beten geprägt ist, ein guter Termin. Denn trotz der vielen Wege, die Euch offen stehen, trotz der vielen Möglichkeiten, die Euch blühen, ist ja klar, dass Ihr dennoch suchen und versuchen, dass Ihr erproben und ausprobieren müsst, was für ein Leben eigentlich, welche Menschen, welche Vorbilder, welche Ziele, welche Aufgaben für Euch die richtigen sein könnten?
Nicht, dass Ihr begehrt werdet, ist also wichtig, sondern dass Ihr erkennt, wo das liegt, was für Euch nötig ist und wohltuend und heilsam:
– Sport? Bestimmt!
– Handies? … Ich bitte Euch! …. Wobei: Ohne könnt Ihr ja nicht mal mehr wissen, wie spät es ist oder in welcher Richtung vorne liegt …
– Liebe? Wie das täglich Brot!
– Geld? Prasselt im Ofen, schmiert die Verdauung, hat aber weder Humor, noch macht’s erfinderisch.
– Musik? Und ob!
– Freiheit? Bloß nicht verachten!
– Ach so, Ihr habt „Freizeit“ verstanden?! Natürlich auch, … am besten in Bad Berleburg.
…. Und nun könnte man weiter und weiter fragen. Und überlegen. Und Vieles, Vieles für Euch hoffen. Denn es ist eben wirklich nicht vorhersehbar, was, wo, wie, weshalb das jeweils Beste für Euch, das Sinnvollste und eigentlich Entscheidende sein wird.
Aber einen Wink gibt Euch die Konfirmation am heutigen Bete-Sonntag auf alle Fälle.
Dieser Tag erinnert Euch nämlich daran, dass Ihr nichts, wirklich gar nichts für selbstverständlich nehmen sollt. Weil nichts Selbstverständliches uns je wertvoll ist.
Das Selbstverständliche ist für uns nämlich auch wenn wir drin sitzen oder schwimmen unsichtbar. Es ist überhaupt nicht da. Die Luft, die wir nötig haben, das Licht, ohne das wir gegen die Mauer laufen, die Wahrheit, die wir im Gespräch voraussetzen müssen, um nicht verrückt zu werden: Die alle merken wir nicht. Wahrheit, Licht und Luft sind die Elemente unseres Lebens, aber wir vergessen sie, obwohl sie so elementar sind. …
In ihnen allen aber winkt uns noch ein Anderer.
Einer, Den wir meistens entweder wirklich nicht erkennen oder Den wir genauso für selbstverständlich nehmen und darum nicht bemerken. Aber wenn wir mit Dem so umgehen, wenn uns Gott also so gleichgültig ist, dann passiert etwas Erstaunliches. Und darauf hat Luther uns hingewiesen.
Luther hat nämlich begriffen, dass Glauben eine Form der Suche ist, eine freiwillige Suche*!
Eine Suche wie in dem berühmten Wort Jesu, das wir eben in der Schriftlesung (Lukas 11) hörten: „Bittet, sucht und klopft!“
Das bedeutet: Ihr dürft Euch nie zu schade sein, noch einmal neu anzufangen! Ihr dürft nicht zu träge sein, Euch noch einmal anzustrengen! Ihr dürft Euch nie zu sicher sein, sondern sollt gespannt und offen bleiben!
Denn das macht das Leben erst wertvoll: Wenn uns klar wird, dass es nichts einfach bloß Selbstverständliches gibt. Dass alles, worum wir bitten, letztlich viel wichtiger sein wird, als das, was man schlicht befehlen kann. Dass Suchen viel aufmerksamer macht als Haben. Dass Anklopfen-Müssen viel aufregender ist als Reinplatzen. Und dass Gott genau deshalb nicht gesagt hat, wir sollten Ihn als fertige Antwort, als gefundenes Fressen oder offenes Geheimnis betrachten, sondern dass Er uns, dass Er Euch zum Nachdenken und Nachforschen und Nachhaken ruft. —
Wenn wir dazu aber keine Lust hätten, dann hat Luther das Erstaunliche entdeckt: Wo Gott nicht mehr gesucht wird, da ist Er nicht mehr auffindbar. Wo Gott nicht mehr gefragt wird, da wird Er unhörbar. Wo niemand mehr zu Ihm will, da ist Er auch nicht mehr.
„Denn – so hat Luther es formuliert – das sollt ihr wissen: Gottes Wort und Gnade ist ein fahrender Platzregen, der nicht wiederkommt, wo er einmal gewesen ist.“†
Und das bedeutet ganz praktisch zwei Dinge:
Erstens, dass Ihr unmöglich sehr viel im Konfirmandenunterricht gelernt haben könnt. Ja, es wäre sogar ganz schlimm, wenn Ihr den Eindruck hättet, jetzt über Gott Bescheid zu wissen. Ihr werdet Ihn nämlich nur dann weiter erleben, wenn Ihr auch weiter nach Ihm forscht und fragt!
Und zweitens bedeutet es: Wenn Ihr in Eurem Leben dann mal wirklich etwas braucht, wenn Euch etwas nötig ist, weil Ihr vor einem Rätsel steht oder Euch in ein Abenteuer verwickelt, wenn Ihr gar keine Ahnung mehr habt oder gerade eine Entdeckung wie Galileo oder Einstein macht, wenn Ihr richtig gespannt, richtig gefordert seid, wenn Ihr richtig in Hoffnung schwebt oder in Nöten steckt und überhaupt nicht sicher wisst, was, wie, warum, …dann geht Eure heutige Konfirmation weiter! Dann ist wieder der Bete-Sonntag, der Tag der Fragen, die Stunde des Bittens, Suchens und Anklopfens. … Denn es könnte sehr, sehr gut Gott sein, Den Ihr dann nötig habt, Den Ihr gerade erlebt, Den Ihr braucht, Der sich von Euch entdecken und von Euch rufen lassen will. … An Freudentagen oder in tiefen Sorgen. … Wenn Ihr platzt vor unglaublichen Glückgefühlen. Wenn Euer ganzes Leben wie ein Eiswürfel in der Sonne zur Pfütze wird. … Wenn Ihr singen, schreien oder bloß schweigen müsst. … Es wird Gott sein, Den Ihr dann im Ernst braucht und nach Dem Ihr dann wirklich suchen und auf Den Ihr dann tatsächlich stoßen werdet!
Denn Gott will eben nicht fertig abgepackt nach diesem Tag in Eurem Tiefkühlfach oder in einer gespeicherten und nie wieder geöffneten Datei lagern. Er will nicht, dass Ihr Ihn hinter Euch habt, sondern vor Euch in den spannenden, weiten, verlockenden, unbekannten, zahllosen Erfahrungen, die kommen.
Gott will nämlich – das wissen wir, seit Er in Jesus Mensch wurde! – Gott will werden, was Ihr seid.
Wisst Ihr noch, was es war? …….
Genau! Ihr seid begehrt: Man guckt auf Euch. Man freut sich an Euch. Eure Eltern und Familien sind stolz, Eure Gemeinde ist glücklich über Euch, die Welt ist gespannt, die Zukunft wartet.
Und genau das will Gott: Dabei sein im Leben, das da vor Euch liegt. Er will dort gefragt, gesucht und begehrt werden!
Bis Eure Erfahrungen so viele, Eure Leben so reich, Eure Versuche und Erfolge so sinnvoll waren, dass Ihr am Ziel seid. Da wo wir auf Gott stoßen und Ihn finden und halten können. Da, wo wir alle mit Ihm und miteinander zusammen sein werden.
Sucht Ihn also!
Bittet Ihn!
Bleibt gespannt!
Dann wird das, was Euer Herz begehrt, Euch in Gott selbst bevorstehen und begegnen und geschenkt werden!
Amen.
* Dass Luther das Suchen als Grundform des Glaubens ernst nimmt, kann man gewiss schon an seiner pädagogischen Zentralfigur der Frage „Was ist das?“ sehen, die den Kleinen Katechismus zu einer Urkunde echter Wahrheitssuche macht.
† Martin Luther, „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes…“ (WA 15, 32, 6f).
Jubilate 07.05.2017 Stadtkirche Johannes 16,16 + 20-22 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Jubilate – 7.V.2017
Johannes 16,16+20-23a
Liebe Gemeinde!
Gelegentlich fragt man sich, wie es wäre, zufällig an jenem sonderbaren Punkt zu stehen, an dem Vorher und Nachher sich berühren.
… Die Stelle muss es ja geben: Den Flecken, auf dessen rechter Seite schon der Regen fällt, während es links noch trocken ist. Den Augenblick muss es ebenfalls geben, in dem man als einer einatmet, der noch mehr vor als hinter sich hat, doch beim Ausatmen wird schon der nur noch kleiner werdende Rest angebrochen. Es muss den Tag, die Stunde geben, die aus dem zerbrechlichen Zustand der Hoffnung die Gewissheit des Kummers machen; es muss den Moment geben, in dem aus krank gesund wird oder Fremdheit in Vertrautsein umgeschlagen ist. …….
Unser ganzes Leben besteht letztlich aus solchen Wendepunkten, Übergängen, Wandlungen: Für sich jeweils unmerklich und allmählich … aber irgendwann eben doch vollzogen und geschehen. Alles am Leben ist Prozess und doch verdanken wir es alles ebenso den großen, scharfen Eckpunkten, den Zeitgrenzen und Wasserscheiden, hinter die es kein Zurück gibt: Geburt und Tod sind die markantesten solcher rätselhafter Einschnitte, aber letztlich ist jeder Abschied, jede Entscheidung, jede Erkenntnis, jedes gesprochene Wort ein solcher Grenzpunkt, der das Vorherige - „Bis hierher“ - vom Nachmaligen - „Von hier an“ - endgültig absetzt.
Immer stehen wir also an der Grenze.
Immer wird die Zeit, wird das Leben in Gewesenes und Künftiges geschieden. Jeder Lidschlag, jeder Atemzug markieren es: „Es war – es wird. Es war – es wird. Es war – es wird …“
Sollte uns das nun leicht- oder trübsinnig machen, dass wir so zwischen Vergangenheit und Zukunft stecken? Wird es besser oder schwerer, wenn man sich vergegenwärtigt, dass wir also immer nur zwischen „Wurde“ und „Werde“ sind? ———
Als Christen können wir diese Frage heute beantworten.
Denn heute nimmt uns Christus bei der Hand und stellt sich mit uns auf die Trennlinie: Hüben und drüben, das Vorige und das Dermaleinst berühren sich genau dort, wo er jetzt spricht. Und er gibt der Messerschneide, der haarfeinen Grenze zwischen Erlebtem und Erwartetem ihren Namen, … ein Name ist das, den wir sogar dann verstehen, wenn wir ihn im Griechischen des Johannesevangeliums hören: „Mikron“ heißt es da. Μικρόν …
„Über ein kleines“ hat Luther es ursprünglich verdeutscht.
Ein Kleines, ein Weilchen, einen Augenblick – „Mikron, Mikron“: so nennt Christus das, was sein leibliches Bei-den-Menschen-Sein vom menschlichen Bei-Christus-Sein trennt.
… Genau genommen aber ist das ja doch nichts anderes als unsere Gegenwart: Sie ist es ja, die das Ende des Sehens und das Wiedersehen mit ihm trennt. Noch ist der, der da spricht, bei seinen Jüngern, aber doch nicht endlos, sondern einstweilen auf Widerruf. Die Mikro-Zeit kommt, da werden sie ihn nicht mehr mit leiblichen Augen und von Angesicht zu Angesicht schauen.
Diese Zeit der Entzogenheit Jesu aber, die ihn uns nicht zeigen, sondern verbergen wird, … diese Zeit, in der die Augenweide derer, die in Jesus das Leben finden, zur Wüste wird oder zur Brache, … diese Zeit, in der Jesu Leute nicht die Angesehenen, sondern die Missachteten sein werden: Dem aufgeklärten, scharfen Blick der Geschichtsbetrachtung scheint sie – weiß Gott! – wahrhaftig lang und breit und ausgedehnt genug. Sie ist inzwischen – um ihr ihre genauen Maße zu geben – 1984 Jahre lang.
… In der biblischen Heilsgeschichte ist sie damit die längste Epoche. Diese Zeit, in der kein Mensch Jesus Christus, den gekreuzigten, auferweckten und erhöhten Sohn Gottes hat sehen können, ist zweifellos also auch die Hauptperiode der Theologie, … denn sie ist in jedem Sinne die Zeit des Glaubens. Und weil sie unsere Geschichte so wesentlich ausmacht, weil sie die gesamte Kirchengeschichte darstellt, neigen wir auch theoretisch dazu, diese Jesus-ferne Zeit, diese Jahrhunderte und Jahrtausende der indirekten, im Abendmahl zwar leiblichen, aber nicht sichtbaren und im Geist zwar machtvollen, aber nicht physischen Gegenwart Jesu als den eigentlichen Maßstab zu nehmen.
Christsein stellen wir uns eben so vor: Da ist einer, von dem wir hören und auf den wir harren und an dem wir halten …, doch er ist nicht real in dem Sinne, in dem wir sonst Atome und Planeten für real halten und alle, die wir sehen und selbst jene, die wir nicht leiblich, sondern nur optisch-virtuell vor Augen haben.
Jesus, der Ungesehene ist uns meist nur in der Gestalt vertraut, dass wir ihn in seine Lehre und seine beispielhafte Liebe auflösen und in der guten Nachricht finden. Sichtbarkeit und Unmittelbarkeit aber gehören halt nicht zu Jesus von Nazareth, … obwohl er der einzige Mensch der Antike ist, dessen Geburts- und Todestag auch heute noch weltweit im öffentlichen Bewusstsein sind.
Dass das so ist, ist Ausdruck der langen 1984 Jahre, die das Christentum für uns zu einer Ansichtssache ohne Blickkontakt gemacht haben, an die wir uns – die meisten jedenfalls – gewöhnt haben. Eine Einsicht oder auch Aussicht ist also aus unserem Glauben geworden, für die wir unsere Augen gar nicht mehr bräuchten. ……. ———
Ob Jesus selber das so gar nicht vorhersah?
Er behauptete doch, seinen Jünger, seinen Nachfolgern und Anhängern stehe Weinen und Heulen bevor in der Zeit seiner Unsichtbarkeit.
…Hat er sich darin also wohl getäuscht? Ist es uns Christen nicht erstaunlich leicht gefallen, auf seinen Anblick zu verzichten und unsere eigenen Eindrücke und Bilder an dessen Stelle zu setzen?
Aber hat sich nicht immerhin die andere Hälfte seiner Vorhersage bewahrheitet: Dass die Welt sich freuen werde … auch an Jesu Abwesenheit, an seinem Ausgeliefertsein an die Abzieh- und Zerrbilder von ihm?
… Das ist ja tatsächlich eingetreten: Eine Witzfigur wurde aus dem wehrlosen Gekreuzigten schon in der römischen Antike, und eine harmlose Karikatur sandalentragender Flower-Power ist der Herr der Gemeinde für viele Menschen bis heute. Und dazwischen haben unzählige Sünden der Kirche, Blutbäder und Machtschlachten und Verlogenheiten und Vergesslichkeiten und Verrätereien sein Bild beschmutzt, verdunkelt und entstellt.
Jesus, der menschgewordene Gott hat nicht mehr die Züge dessen, der er ist, sondern dessen, den die Kirche aus ihm gemacht hat: Der Versöhner wurde zum drohenden Richter, der dienende Menschensohn zum Machtvorbild des weißen Mannes, der König aus Davids Haus zum blonden Heimatschutzgeist. …….
Die Welt hatte in der Tat gut lachen über die biegsame, formbare, wandlungsfähige Puppe, die aus dem lebenden Jesus Christus ein Maskottchen für Eitle oder Wahnsinnige, für Törichte oder Unbeholfene machte.
… Und so könnten uns tatsächlich doch noch die Wut und die Tränen kommen, wenn wir bedenken, was in seinem Namen und doch wahrhaftig nicht in seinem Geist und gewiss auch nicht auf sein Geheiß alles geschehen ist.
……. Wie fern er uns also scheinen kann, wenn wir die Welt und sein Fehlen und seinen schlechten Ersatz darin betrachten. ……. Wie fern er uns scheinen kann, wenn wir unser Leben ansehen und die unwirkliche, entrückte Rolle, die Jesus für unseren Glauben nur noch spielt. ……. Wie fern er uns scheinen kann, wenn wir ihn uns vorstellen und als wahren Gott und wahren Menschen ansehen wollen, von dem wir doch so keinerlei Begriff oder eigentlichen Eindruck haben. ……. Ihn nicht zu sehen: Ist das nicht doch ein Fluch, ein Verhängnis, … ist das nicht doch das Problem der Kirchengeschichte und der Knackpunkt unseres angeknacksten Glaubens? ……. ——
……. Und mir nichts, dir nichts sind wir in jener madigen Stimmung, in jener Verstimmung, die jetzt eigentlich nur noch zu marxistischen Seminaren, zu kirchenkritischen Feuilletonbeiträgen oder zu protestantischem Selbstzweifel führen kann: Hat die Kirche Jesus Christus verfehlt? Haben wir uns ihm entfremdet und es nicht bemerkt? Müssen wir aufhören? …….
— „Mikron! Mikron!“: Das war doch das eigentlich unglaubliche Wort, mit dem Jesus den Zwischenraum, den Raum des Abstands zwischen seinem ersten und seinem künftigen sichtbaren Sein unter den Menschen bezeichnete:
Alle Schrecken und Schande, alle Lasten und Längen der Zeit zwischen damals und einst – also die gesamte Erfolgs- und Schuldgeschichte der Kirche und sämtliche Durststrecken oder Dramen unseres eigenen Christenlebens – hat er in diesen einzigen, winzigen Begriff gefasst.
Was uns bei näherer Betrachtung als düster, besorgniserregend und unlösbar erschien und was wir bestimmt weder verharmlosen noch wegreden können: Bei Jesus wird es trotz seiner Ausdehnung und Bedeutung zum „Mikron“, zur „Kurzzeit“, die zwischen dem Nicht-mehr-Sehen und dem Wiedersehen liegt.
Dass diese Kurzzeit, diese kleine Weile trotz ihres geringen Maßes bestimmt keine belanglose Spanne ist, macht allerding der Vergleich deutlich, den Jesus für die Geschichte und also auch für unsere Gegenwart auf Erden wählt:
Er vergleicht diese vorübergehende Phase mit einer Geburt. Eine Geburt – so quälend sie auch andauern, so kräfteraubend und gefahrvoll sie auch immer sein mag – … ist sie erst einmal glücklich bestanden, dann verblasst und verringert sich ihr Schrecken im Verhältnis zu ihrem Segensziel in unvorstellbarer Weise. Die namenlosen Wehen, der nur hauchdünne Vorsprung der Lebenskräfte vor den Todesnöten, die auch heute noch über einem Kindbett so unübersehbar Seite an Seite, bloß von einem seidenen Faden getrennt schweben, … sie vergehen – selbst wenn sie der Gebärdenden endlos erschienen – … sie vergehen gegenüber den siebzig, wenn’s hoch kommt achtzig Jahren, die damit eröffnet werden, zu beinahe Garnichts.
„Mikron“, ein Kleines ist diese gewaltige Urerschütterung der Geburt angesichts des folgenden Lebens.
„Mikron“, ein Kleines sind die Erfahrungen und Krisen, die Verirrungen und Katastrophen der Geschichte der letzten 1984 Jahre angesichts der Lebensaussichten und der Lebensfülle, die sich einstellen werden, wenn wir Jesus wiedersehen!
Das ist der steilste Satz, den man sich denken kann und der erste Satz, den man sich verkneifen müsste, wenn er nur unsere teilnahmslose, oberflächliche, unverantwortliche Position angesichts der menschheitlichen Abgründe und ungezählter Einzelschicksale ausdrückte.
Sagbar und voller Hoffnung, … ein Glaubens- und ein ungetrübter Freudensatz ist dieses „Es ist alles ein Kleines“ nur im Munde Jesu.
Denn Jesus allein hat den schmerzhaften Prozess der Gegenwart, bei dem wir immer aus einer unumkehrbaren Vergangenheit in eine ungewisse Zukunft durch den schmalen Spalt des „Jetzt“ gepresst werden, hinter sich.
Wir andern alle stecken drin, … sind eingezwängt in jenen eigentlich unpassierbaren Kanal, in dem wir verheddert in der Nabelschnur des Ehedem den Ausgang ins Endgültige nicht aus eigenen Kräften erreichen könnten. …Wir sind daher nicht frei, die Geschichte, in der wir noch eingeschlossen, an der wir noch beteiligt sind, in ihren Dimensionen, in ihrer Tragweite oder Relativität zu beurteilen. … Wir müssten die Zukunft schon haben, um das Gewicht der Gegenwart leicht zu nehmen und der Vergangenheit ledig zu werden.
…In dieser Lage ist aber nur Einer!
Nur Jesus ist von allem Gewesenen entbunden, in der Gegenwart nicht gefangen und der Zukunft nicht mehr hilflos ausgeliefert. Denn Jesus ist in der Zukunft, ja, Jesus IST die Zukunft: Deine Zukunft und meine und alle Zukunft!!!
Und dieser Jesus, der unsere Zukunft ist, macht darum in seiner überlegenen Freiheit unser aller Gegenwart leicht und alles Vergangene ebenso: „Mikron, Mikron“ … Es ist klein, es ist begrenzt, es ist nicht erdrückend oder endlos oder wie immer es Euch jetzt erscheint …
Es ist ein Kleines – alle derzeitige Wirklichkeit, alle Traurigkeit.
Es ist ein Kleines!
Das ist die Botschaft dieses Sonntags „Jubilate!“, der uns auf die Wasserscheide der Zeit stellt, wo die Gegenwart hauchdünn ist.
Denn vor uns liegt das ewige Wiedersehen mit dem, der uns nur während eines einzigen Augenblicks, währen der Mikro-Zeit der Gegenwart fehlen kann, weil er ja selbst die ganze Zukunft ist.
Bald – Mikron, Mikron! – also werden wir ihn sehen und unser Herz wird sich freuen und diese Freude kann niemand jemals von uns nehmen!
Amen.
Misericordias Domini / Konfirmation 30.04.2017 Stadtkirche Römer 1,16f Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Misericordias Domini 30.IV.2017 – Konfirmation
Römer 1,16f
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
§ Eine goldene Tabaksdose und Taschenuhr mit Westminsterschlag, eingraviertem Namenszug und Bluetooth-Verbindung kriegt von mir heute, wer spontan und korrekt beantworten kann, was Ihr alle gerade mit Rotkäppchen gemeinsam habt.
§ Eine silberne Taschenuhr ohne eingravierten Namenszug, aber mit integriertem GPS-Empfänger erhält, wer auf der Landkarte wenigstens – ohne zu suchen! – den Schwalm-Eder-Kreis zeigen kann; eingravierter Namenszug extra, wer dabei sofort das Städtchen Ziegenhain trifft.
§ Armbanduhr aus Leichtmetall mit Gummibärchenspender-Funktion soll haben, wer intelligent rät, weshalb heute unbedingt ein Politiker erwähnt werden muss, der mit zwei Frauen gleich-zeitig verheiratet war und deshalb nun wirklich keinen zusätzlichen Ärger mehr brauchen konnte … weder mit der katholischen Kirche, noch mit gewissen ultrafrommen Spinnern. —
Wenn Ihr alle drei Fragen nicht beantworten könnt, bin ich entweder verrückt …, oder die Konfirmation und die Reformation – beides also ausgesprochen evangelische Dinge! – sind viel, viel interessanter, als man sich normalerweise vorstellt und denkt. …….
… Ohne mich nun gleich für geistig gesund erklären zu wollen, glaube ich doch: „Letzteres.“
Denn worum es geht, ist einfach dies: Der nordhessische Schwalm-Eder-Kreis im Knüllgebirge, in dem die Trachtenhauben der jungen Mädchen aus rotem Samt bestehen, ist nicht nur die Gegend, in der die Brüder Grimm das Märchen vom Rotkäppchen aufzeichneten, sondern auch die Heimat der Konfirmation.
Der hessische Landgraf zu Luthers Zeiten hatte nämlich wegen einer völlig unmöglichen Doppelehe sowieso schon so viel Ärger, dass es ihm gar nicht passte, als sich in seinem Gebiet Leute sammelten, die behaupteten, das Taufen von kleinen Kindern sei sinnlos und falsch und man solle nur Erwachsene, die sich bewusst entscheiden können, als Täuflinge zulassen. Damit diese sog. „Wiedertäufer“ nicht einen noch größeren Shitstorm gegen die evangelische Bewegung in Hessen in Gang setzten, da ja auch die evangelische Kirche offensichtlich weiterhin Säuglinge taufen lassen wollte, … deshalb musste Landgraf Philipp einen Kompromiss suchen, der auch Jene mit dem strengen Taufverständnis zufrieden stellen würde.
Philipp von Hessen rief also einen Reformator, den diese Frage mehr interessierte als Martin Luther – einen Mann namens Martin Bucer –, um zu erreichen, dass trotz Taufe im Kleinkindalter der Glaube der Getauften nicht zufällig entsteht oder einfach entfällt, sondern sich entwickeln und dann in einer bewussten Entscheidung bestätigt werden kann.
Diese spätere, mündige und bewusste Entscheidung für’s Getauftsein wurde dann im Jahr 1539 als Einrichtung festgehalten und tatsächlich auch umgesetzt in der sog. »Ziegenhainer Zuchtordnung«.
Die »Ziegenhainer Zuchtordnung«: ……. Darum also seid Ihr heute hier?!
……. Es ist furchtbar, oder?
… Wenn Ihr das vorher gewusst hättet, dass etwas so spießig und brutal klingendes wie eine Zuchtordnung aus Ziegenhain als Ursprung der Konfirmation gilt … dann hättet Ihr heut vielleicht besser den perfekten Sonntag gefeiert, den Ihr Euch vorletztes Jahr, als es um den Sabbat, den Ruhetag ging, ausgemalt habt. Bei Euch war da viel die Rede von Schlafen und Chillen und Frühstück gegen 14:45h und Abhängen und Zocken und Quatschen mit Freunden und Familie und Glotzen und gegen 23:00h eine plötzliche Erinnerung an die Hausaufgaben.
Wäre der 30.April 2017 so evt. besser verbracht worden?
Quatsch!
Guckt Euch um: Ordnung, Zucht und Ziegen treffen es nun doch nicht so ganz, worum es jetzt geht.
Und das, was Martin Bucer damals in Ziegenhain entwickelte, war in Wirklichkeit doch eine nötige und gute Sache. Denn wenn es die Konfirmation nicht gäbe, dann würde der Zufall und nicht Ihr selber darüber entscheiden, ob Ihr Christen seid. … Vielleicht gäbe es einige Begegnungen, die Euch für den christlichen Glauben offen machten, oder weil Eure Familie das nun einmal so gewohnt ist, würdet Ihr Euch als Getaufte vorfinden oder weil man in Kaiserswerth für das Abi scheinbar die Taufe als Zulassungsbedingung braucht, würdet Ihr in irgendwelche Listen als Kirchenmitglieder stehen. …
Das wäre dann die wirkliche Ziegen- und Karteileichen-Zucht.
Dagegen ist die Konfirmation eine frische und eine freie Sache: Denn sie ist Eure Gelegenheit, das Christentum wirklich zu einem Teil Eures Lebens zu machen.
Die Konfirmation macht altes Taufwasser frisch, indem sie denen, die eben noch Säuglinge und kleine Kinder waren, zum ersten Mal das Recht zuspricht, rückwirkend eine Entscheidung ihrer Eltern und Paten zu überprüfen. Plötzlich liegt also der Füller in Eurer Hand, plötzlich könnt Ihr eine Unterschrift, die andere gegeben haben, einen Vertrag, der noch zustimmungspflichtig war, für gültig oder für gefälscht erklären. … Das allein hebt Euch schon weit über Zucht- und Ordnungszwänge heraus und beweist, wie frei Ihr jetzt seid.
Und diese Freiheit, die Ihr heute genießt und die Ihr eben genutzt habt, ist ganz und gar in Gottes Sinn. Denn Gott will keinen Menschen nur durch Gewohnheiten der Familie oder durch Traditionen der Glaubensgemeinschaften oder durch andere Vorschriften, Vorentscheidungen, Festlegungen, Zwänge an sich binden. Gott will niemandem durch eine vorgegebene, unausweichliche Ordnung aufgedrängt oder wegen einer anderen Form des Müssens von Menschen angenommen werden! …
Sondern nur durch Vertrauen, nur durch freiwillige Zustimmung, nur durch ihr Einverständnis lässt Gott sich von Menschen finden und halten.
Nur wer Ihn sucht, darf Ihn also haben; nur wer Ihn möchte, wird Ihn je erkennen; nur wer zu Ihm will, wird einst bei Ihm sein.
Einen Gott, den man ungefragt übernehmen müsste, einen Gott, der einem aufgezwungen werden könnte, einen Gott, zu dem man verdonnert wird, … den gibt es nämlich nicht.
Denn der wäre ja selbst nicht frei, wenn er nur von unfreien Menschen angenommen würde!
Nur wer in Freiheit an Ihn glaubt, kann also auch wirklich den lebendigen Gott finden.
Das ist die Entdeckung Martin Luthers und der Reformation gewesen: Dass jeder von uns durch den eigenen Glauben nicht nur die Entscheidung für sich treffen kann, wovon und wofür er leben will, sondern dass unser Glaube für Gott selbst Bedeutung hat.
Haltet Ihr Ihn für einen Zwang, für eine Vorstellung, die Ihr übernehmen müsst, weil Eure Taufe nun einmal passiert ist, dann wird tatsächlich Gott selber zum Gefangenen unserer Verkrampfung. … Sagt Ihr dagegen aus freien Stücken, dass Ihr Ihm glaubt, dass Ihr Ihm in Jesus Christus begegnet, Ihm vertraut und Ihm gehören wollt, dann befreit Ihr Gott von allem Missbrauch und gebt Ihm Recht. ——
Das klingt kompliziert und gewaltig.
Und das ist es auch!
Es macht aus Euch nämlich plötzlich Leute, die an Gott beteiligt sind, die Gott aus der Vergangenheit, aus der Geschichte, aus den Büchern herausholen und in die Gegenwart, in’s Leben versetzen! …
Was für eine Macht Ihr damit habt, wie wichtig Ihr nun seid! … Fünfhundert Jahre evangelische Glaubensgeschichte, ein halbes Jahrtausend christliche Freiheit sind heute, in dieser Stunde in Euren Händen!
Wenn Ihr sagt, Ihr würdet lieber nicht, … würdet lieber zocken oder chillen oder abhängen und in zwei, drei Stunden frühstücken, … dann könnte kein Mensch und kein Gott Euch mehr zwingen, Euch anders zu entscheiden.
Aber weil Ihr „Ja“ gesagt habt, kann Gott Euch alles geben und übertragen, was Er zu schenken hat. Er kann Euch jetzt zu einem Teil der unendlichen Geschichte Seiner Liebe zur Welt, Seiner Sorge für Seine Menschen, Seiner Barmherzigkeit und Seines kommenden Reiches machen.
Wie Maria kann Gott Euch jetzt betrachten, die bei der Ankündigung der Geburt Jesu zum Engel Gabriel sprach: „Mir geschehe, wie du gesagt hast.“ (Lk1,38)
Gott kann und will darum nun mit Euch den Reichtum und die Gerechtigkeit Jesu Christi in den Rest des 21.Jahrhunderts, des 6.Jahrhunderts der evangelischen Glaubensfreiheit tragen.
Und damit gewinnt Euer Leben eine unglaubliche Tiefe und Weite und Hoffnung.
Es wird ein Leben, das seinen Ursprung und sein Ziel in Gott hat.
Es wird ewiges Leben!
Nix also mit Zucht oder Ziegenordnung …! Stattdessen: Freiheit und Leben!!!
……. Übrigens: Spät frühstücken und es Euch gut gehen lassen, könnt Ihr heute immer noch!
Aber erst einmal sollt Ihr jetzt den ganzen Segen Eurer Taufe, Eurer Freiheit, Eures Glaubens frei und unbegrenzt empfangen und dadurch genauso unbegrenzt, … dadurch ewig leben!
Amen.
Konfirmation 29.04.2017 Stadtkirche Römer 1,16f Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Konfirmation - 29.IV.2017
Römer 1, 16f
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
… Aufregender Tag, heute!
Man könnte – spaßeshalber – deshalb mal Eure Körpertemperatur messen … und würde bei Euch allen ein ziemlich vergleichbares Ergebnis feststellen.
Euren Puls könnte man ebenfalls nehmen … und würde an diesem Tag vielleicht bemerken, dass manche von Euch mehr den Kaltblutpferden ähneln und andere nervös wie hochgezüchtete Windhunde sind.
Demnächst soll man dann sogar Eure Gehirnströme aufzeichnen und direkt in Schreibbefehle für Textnachrichten umwandeln können. … Ziemlich dicht kommt man also an den Menschen ran, rückt ihm fast bis auf die Pelle und noch tiefer in’s Innerste.
… Aber was da eigentlich los ist, kann doch kein Test und keine Technik erkennen und beweisen.
Denn schon bei einem ziemlich schlichten Gefühl versagen alle Messgeräte und anderen Nachweise. Sonst – Ihr kennt mich! – würde ich es heute tatsächlich gerne mal probieren: Ob man einwandfrei herausfinden kann, worauf Ihr stolz seid.
… Eure Eltern z.B. sind heute auch für den Nichtfachmann einfache Versuchskaninchen. Wenn man sie mit dem Ultraschall, der den Stolz nachweist, abtasten könnte, würden sich bei ihnen gesundheitsgefährdende Werte in Herz und Nieren zeigen: So bewegt und erfüllt sind Sie gerade jetzt von der Tatsache, dass sie und ihre liebevolle Anstrengung aus kleinen, niedlichen, aber buchstäblich nichtssagenden Rohlingen solche Diamanten gepresst haben, die selbständig gehen, stehen, denken, sprechen, Tasten bedienen (lauter Klavierspieler!) und einen überwältigend glücklich machen können.
Eure Eltern also haben den Stolz auf Euch heute in den Knopflöchern.
… Doch Ihr selbst: Worauf seid Ihr stolz? Auf Eure Art und Eigenarten? Auf Eure schönen festen Haare oder auf Euer loses Mundwerk? Auf Einsen oder Fünfen, die man auch erstmal schaffen muss? Seid Ihr auf irgendwelche Gegenstände stolz oder strikt nur auf Eure Fähigkeiten und Erfolge, auf das Sportskanonige und Techniknärrische und Supertalentierte, das in Euch schlummert und vom Fernsehen erst entdeckt werden muss? Oder seid Ihr stolze Schüler Eurer Schulen, Jugendliche dieser Stadt, Angehörige dieses Volkes – also stolz im großen Stil und Rahmen?
Auf irgendetwas jedenfalls wird hoffentlich jeder von Euch befriedigt und beteiligt blicken. Irgendetwas gibt Euch dieses gute Gefühl des Könnens und Gelingens und Genießens und Gewinnens. …
Und beinah ist das ja auch genauso schön wie Liebe: Wenn man sich sicher ist, irgendetwas Hervorragendes, Besonderes, Beachtliches, Beneidenswertes an sich zu haben oder beanspruchen zu dürfen! ……. ——
Es könnte allerdings gut sein, dass ich Euch jetzt in einer feierlichen Predigt eigentlich sagen sollte: „Woooaaah! Langsam! Haltet die Pferde! Stolz kommt vor Knall. Bleibt mal lieber ein bisschen bescheiden – wofür die Leute hier in unserer Gegend ja nicht gerade berühmt sind.“ … Aber das wäre ehrlich gesagt auch extrem langweilig.
Besser ist es, wenn’s Euch einfach langsam aufgeht, dass manche Rekorde, die man selber aufstellt, von andern Leuten spielend gebrochen werden und Dinge, die einen vor Selbstbewusstsein platzen ließen, plötzlich ganz normal wirken, wenn man mehr von der Welt sieht.
Darum ist mein Vorschlag am Tag Eurer Konfirmation ein anderer.
Nicht: „Gebt Euren Stolz, Eure Freude an Tun und Können und Besonderheit auf!“
Sondern: „Werdet heute mal so stolz, wie Ihr es noch nie wart! Werdet grenzenlos selbstbewusst und siegessicher und stimmt mit etwas so sehr überein, dass Euch das Gefühl nie wieder loslässt: Das bin ich! Das ist meins!“
Natürlich wünsche ich Euch nämlich, dass Ihr dieses gute, sichere Gefühl der Übereinstimmung mit dem Evangelium, mit der Botschaft von Jesus Christus haben könnt!
Denn schließlich habt Ihr heute genau diesen Zug Eures Lebens in persönlicher Entscheidung bekräftigt und behauptet. Ihr hättet zwar alle möglichen anderen Ideen und Vorstellungen und Glaubensweisen oder einfach den Unglauben wählen können; Ihr hättet Euch selbst oder Euren Erfolg oder Eure Zukunft vergötzen und zur Hauptsache machen können. …….
Stattdessen aber habt Ihr eben gesagt: Ich will evangelisch sein. Ich erkenne also die Botschaft von Jesus Christus als etwas an, das mich und mein Leben persönlich betrifft. …
Wenn das nun so ist … dann wäre es ja Blödsinn, wenn Ihr Euch des Evangeliums schämen würdet.
Wem es peinlich wäre, der könnte und sollte es nicht glauben.
Glauben soll das Evangelium nur, wer stolz darauf sein kann. …….
Doch einen Augenblick mal: Was gibt’s denn im Evangelium, auf das wir uns selbst etwas einbilden könnten? Wir haben doch gar nichts von alledem geleistet: Für andere geboren zu werden, sie zu heilen, ihnen überall und zu allen Zeiten Mut zu machen, Menschen zu lieben, die unsere schlimmsten Feinde sind, Geduld zu haben mit der Sturheit der Leute, Verständnis zu haben für die menschliche Schwäche, Vergebung zu suchen für fremde Sünden … Das alles sind nicht wir gewesen, sondern Jesus Christus. Er hat durch seine Liebe und sein Lebensopfer am Kreuz die Welt gerettet! … Wie sollten dann aber wir stolz darauf sein dürfen? ——
Komisch ist das schon. …
Aber auch der Witz des Christentums: Das Christentum hat nämlich Schluss gemacht mit der Pest und Plage, dass alle Leute nur sich selber als die Besten, die wahren Helden, die eigentlichen Könner und die echten Retter sehen und darstellen. Denn dieses ganze Die-Welt-Retten oder Sieger-sein-Müssen oder Amerika-wieder-groß-Machen oder Lieblingsschwiegersohn-werden-Wollen löst so viel Unheil und Unfrieden und Zerstörung und Druck aus, dass das Evangelium von der Tat Jesu Christi und der Erlösung durch Ihn dagegen eine ganz einzigartige Freiheit bietet:
Die Freiheit, eben nicht ein Mensch zu sein, der mehr machen will, als er kann, sondern jemand zu werden, der annimmt, was ohne Hilfe des richtigen Helfers unmöglich wäre. Unsere Freiheit als Christen besteht genau darin, kein einsamer Idiot zu sein, der alles alleine schaffen will, sondern sich das geben zu lassen, was uns fehlt.
Und diese eigentlich kinderleichte, aber je erwachsener man wird, desto schwierigere Haltung nennt man „Evangelisch sein“.
Evangelisch ist man, wenn man sich den Sinn des Lebens und den Segen Gottes schenken lässt und nicht dafür zahlen will. Evangelisch ist man, wenn man es aushält, Empfänger zu sein und nicht Verdiener, wenn’s einem also nicht peinlich ist, mehr zu bekommen, als logisch erscheint.
…Würden wir nämlich nur das mathematisch und logisch Gerechtfertigte erhalten können, dann müssten wir ja ständig schummeln und andere ausschalten, um einen Spitzenplatz zu halten. Dann wäre unser Stolz ein überlebensnotwendiger Trieb!
… Genau das ist er aber nicht: Weil Gott uns aus Seiner grenzenlosen Gnade mehr als das Nötige und mehr als das Angemessene und mehr als das Vorstellbare schenkt – Er gibt uns ja alles, was wir an Liebe und Hoffnung und Zukunft nötig haben!!! –, darum kann unser größter und berechtigtster Stolz als Evangelische ja der sein, dass wir eben gar keinen Stolz mehr brauchen. … Nichts, auf das wir uns viel einbilden, nichts, das wir für uns selber rausschlagen müssen.
Stattdessen können wir – heute genau wie einst Martin Luther – froh und glücklich und erleichtert und zufrieden sein, dass Kampf und Lüge und Verzweiflung für uns vorbei und unnötig sind. Weil wir ohne sie längst schon das Beste haben: Die Kraft Gottes, die uns und unser Leben zurecht bringt … heute, morgen und für immer.
Das ist der Glaube an Jesus Christ, den Helfer für alle. Unseren Helfer und Erlöser.
Dieser Glaube ist unser Leben!
Und dass wir dafür keine Gewalt und keine Feindschaft und keine Tricks und keine Lügen brauchen – nichts, auf das Menschen sonst oft ihr Selbstwertgefühl gründen müssen – darauf wiederum können und sollen wir mit Dank und Frieden blicken, und deswegen könnt und sollt auch Ihr wirklich für alle Zeiten befreit und stolz sein dürfen!
Denn das hebt uns wirklich hervor vor so vielen Menschen, die bloß ihren Stolz haben: Dass unser Glaube bedeutet, Gottes Segen ohne alles Getue annehmen zu dürfen – ein Geschenk, dessen Wert unendlich ist. Eine Gabe, die für immer bleibt. Und dass wir uns dessen nicht schämen, sondern freuen in Ewigkeit!
Das ist die Konfirmation.
Amen.
(P.S. Eure Eltern haben natürlich Recht!)
Quasimodogeniti 23.04.2017 Stadt- & Jonakirche Johannes 21, 1- 14 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 23.IV.2017 – Quasimodogeniti
Johannes 21,1-14
Liebe Gemeinde!
Vielleicht erinnert sich noch jemand an den Anfang. Großgeschrieben. … Den Uranfang, mit dem das wunderbare Johannesevangelium beginnt, … die Schriftlesung des Christfestes, die so mystisch und geheimnisvoll und erhaben und hymnisch ist, dass man zwischen den einzel-nen Worten auch die Pausen hört und die grenzenlosen Tiefe des Universums und der Vorgeschichte, aus der diese Botschaft sich erhebt, bis sie auf Raum und Zeit trifft.
Einen gewaltigeren Vorspann kann kein Drama haben als dieses Ausholen bis in’s Ewige: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.“
Von unermesslicher Großartigkeit ist ja diese Ouvertüre zur Fleischwerdung des Wortes Gottes in Jesus Christus, und seine Verkündigung und seine Zeichen, seine Passion und seine Erhöhung tragen im Evangelium des Johannes überall den Stempel dieses göttlichen Ursprungs.
Die Ostkirche nennt den vierten Evangelisten darum immer nur mit seinem Ehrentitel „Johannes, der Theologe“, und ehrt damit einen Zeugen Christi, der nirgends die überirdische Dimension der Heilsgeschichte vergessen lässt.
Umso spannender natürlich die Frage, wie ein Werk endet, das so überwältigend anhebt und dessen hoher Ton so unverkennbar ist? …Wie also wird es Ostern in der von Ewigkeit zu Ewigkeit reichenden Schilderung des Schöpferwortes, das den eigenen Tod als Siegel unter die Geschichte setzt, deren Höhepunkt und Rettung sich auf Golgatha in dem Ruf ereignen: „Es ist vollbracht!“?
Wozu ist Christus nach Johannes also ins Fleisch gekommen und ans Kreuz erhöht und über den Tod mächtig geworden?
… Wozu? — Zum Frühstück!
… Man kann es nicht banaler und ernüchternder sagen.
Allen hochgespannten, feierlichen Erwartungen, die das mystische Evangelium weckt und die in den Begegnungen mit dem aus Gott zu Gott zurückkehrenden Auferweckten einen Gipfel erreichen müssten, wird von Johannes ja in gezielter Überraschung die Luft rausgelassen.
Es geht gerade nicht in höchste Höhen, es wird nun nicht erst recht verklärt oder metaphysisch, sondern das Evangelium vom wesentlichen Gott in Jesus mündet in ein liebevolles Bild detaillierter Wirklichkeit.
Am Anfang zwar hat Johannes eine Ikone gemalt – auf geheimnisvollem Goldgrund –, doch das Ziel führt ihn zu einer niederländischen Landschafts- und Genredarstellung: Genau beobachtete Wirklichkeit, kräftige Naturnähe, ein ungeschöntes, nicht ideales, sondern reales Schildern dessen, was Menschsein im Alltagslicht bedeutet.
Ostersonne und Erlösung verkitschen also nichts, sie sind keine Weichzeichner und machen nichts verschwimmen, …vielmehr lassen sie uns die von Gott geliebte, von Gott nicht aufgegebene, sondern mit dem eigenen Opfer gerettete Welt in heller Deutlichkeit erkennen.
Und es ist ein Blick der Liebe, die das Ganze in jeder seiner Kleinigkeiten erfasst, der da vor uns aufgeht. Ein Blick, der die Welt liebt. Ein Blick ist das, der nicht den Olymp oder den Parnass oder das Goldene Jerusalem des Himmels braucht, um sich daran zu entzünden, sondern die vertraute Landschaft am See Tiberias, wo auch nach der Weltwende von Ostern, als das Passafest vorüber ist Menschen wieder arbeiten und Glück oder Pech bei ihrem Mühen haben und die Sonne über den Bergen aufgeht und der blanke Wasserspiegel mit den kopfstehenden sanften Bergrücken darin schöner ist, als man für möglich halten soll.
Diese heimatliche Gegend, in der Männer wie Petrus halbnackt schuften und manchmal trotzdem nichts erreichen, und wo der Ruf eines Fremden, der Hunger hat, ein bisschen nach der Schicksals- und Tischgemeinschaft der armen Tagelöhner oder Hafenarbeiter oder Bettler klingt – „Kinder, habt ihr nix zu frühstücken?“ –; und da legt man dann halt eine Extraschicht, ein, und es geschehen schöne Fügungen, doch das Allerschönste ist, dass da am Ufer, aus dem Morgendunst, wie er sich so hebt, eine herrliche, kerzengerade Rauchsäule vom Kohlenfeuer in den Himmel steigt, und es riecht bis auf’s Wasser hinaus nach Frühstück, was da bruzelt!
Das ist also die Entsprechung zur Nacht des Weltraums und zur Macht des Schöpferwortes und zum heiligen Geheimnis der Menschwerdung am Anfang: Nachtschicht im Boot, Frust und überraschende Fangfülle, schließlich Frühstück.
Die Wissenschaft hat darum gerne dem Theologen Johannes, dem Mystiker das Kapitel mit der prosaischen Arbeit und dem Räucherfisch abgesprochen und behauptet, hier habe ein ungeeigneter Ergänzer etwas an die Offenbarung angeflickt.
Dagegen sprechen allerdings alle genaueren Blicke auf den Fischfang auf dem See Tiberias. Denn obwohl es ein niederländisches Bild ganz gewöhnlicher Verhältnisse sein mag, auf dem die handelnden Personen Lumpen tragen – wenn überhaupt – und Schwielen haben und Fischschuppen die Glanzpunkte in ihren Bärten darstellen und das Kohlenfeuer am Ufer vermutlich auch aus brennendem Treibholz und Kehricht besteht und im Hintergrund die Eitelkeit der Welt in tausend nebensächlichen Szenen versammelt ist, so ist das Wunder solcher Bilder und Erfahrungen des Wirklichen doch nicht zu verkennen.
Im ganz Gewöhnlichen spiegeln sich ja Symbole und blitzt Wahrheit durch das grobe, löcherige Kostüm des sinnlich Wahrgenommenen:
Sieben Männer also schwanken und schnaufen da in ihrem Kahn. Sieben! Die volle Zahl der Zeit: In Tagen gerechnet als Woche das Maß des Alltags, in Jahrzehnten gezählt die Summe des Lebens, in Weltaltern betrachtet die Fülle der Geschichte.
Sieben Menschen also, die in ein Paar Frühstunden alles vertreten, was Menschendasein war und ist und werden soll. Denn diesen Sieben widerfährt im Morgengrauen das Urdatum, der Auslöser aller Menschengeschichte nach biblischer Überzeugung. Die Sieben werden gefragt. Gott fragt sie. Gott fordert sie. „Habt Ihr nichts für mich?“ Das ist die Schuld- und Schutz- und Sendungsfrage an die Sünder (vgl.1.Mose 3,9): „Adam, Eva, Simon, Thomas, Nathanael: Wo seid Ihr? Wollt Ihr Euch wirklich vor mir verbergen, … oder teilen wir nicht doch das Leben?“
So werden die Menschen aller Zeiten von Gott gefragt: Was sie für Ihn übrig haben. Ob sie Ihm Anteil an Ihrem Dasein geben, oder ob Gott von ihnen aus verhungern kann. Viele weisen Ihn ab.
… Die Ehrlichen fragen sich und Ihn wie die erfolglosen Fischer: „Was hätten wir Dir schon zu bieten?“
Doch unter ihnen gibt es solche, die trotz aller Unsicherheit einen guten Rat, einen stärkenden Zuspruch durchaus aufnehmen können und es dann eben versuchen, da wo sie gefragt wurden, auch zu helfen. … In ihrem eigenen, alltäglichen Dasein. Indem sie eine Zusatzrunde drehen, einen zweiten Anlauf nehmen, Geduld und Hoffnung noch einmal aufbringen, auch wenn ein Gelingen alles andere als wahrscheinlich scheint. Indem sie nicht die Gründe, die dagegen sprechen herbeten, sondern die Netze noch einmal auswerfen. ——
Solche Helfer, solche nicht mutlos gewordenen wiederholt Einsatzbereiten, solche Menschen des erneuerten Versuchs und des abermaligen Beginnens im Guten – sie sind womöglich keine Heroen und keine Engel. Sie haben bisweilen die knubbeligen Gelenke und die einfältigen Gesichter und das schlichte Gemüt des Volks auf den Brueghelgemälden oder den Rembrandtkupferstichen. Schön sind sie nicht unbedingt und klassische Lichtgestalten sehen anders aus. …
Und dennoch zählen sie zu den Aposteln des Osterlichtes!
Durch welche Glanzleistung?
Durch die eine Helligkeit, die jeden von uns seit Ostern erfüllen und durchwärmen kann: Dass man es nicht verschleiert oder auslöscht, wenn am helllichten Tag im gewöhnlichen Leben plötzlich die Erkenntnis aufstrahlt „Es ist der Herr!“
Denn das ist die ungeahnte und unerschöpfliche Lichtquelle, in die diese Welt getaucht wurde, seit die Auferweckung Jesus Christus zum Lebendigen gemacht hat.
„In ihm ist das Leben und das Leben ist das Licht der Menschen“ (Joh1,4)
So hatte Johannes ja begonnen, und so ist es seit Ostern – dem endgültigen Sieg des Lebens Jesu – immer und überall möglich: Jesus, der Lebendige kann uns jederzeit, immer und überall aufgehen … in unsern schlichtesten, alltäglichsten, mühsamsten, unwahrscheinlichsten Erfahrungen.
Ostern bedeutet nämlich, dass er da sein kann.
Dass er da sein will.
Dass er da sein wird.
Mit seiner Frage und Bitte, dass wir unser Leben mit ihm teilen und Er Seines mit uns.
Und wer – wie die Fischer bei ihrem Tun – wer es merkt, dass der Herr da ist, hier und jetzt, der erfährt Ostertage zu jeder Jahreszeit und ein Leben, das dadurch anders wird.
Denn wer Jesus Christus nicht nur einmal im Jahr zu Weihnachten oder einmal wöchentlich im Gottesdienst begegnet, sondern Ihn in den Gesprächen und der stillen Zeit des Tages findet, in den Nachrichten und in der Nachbarschaft auf Ihn stößt, gemeinsam mit Ihm auf den Straßen und in den Einrichtungen dieser Stadt unterwegs ist, in Routine und Zufall, in Langeweile und Überraschungen Seine Gegenwart nicht ausschließt, sondern bereit ist, Ihn zu hören, Seine Bitten, Seinen Ruf ernst zu nehmen, … bereit, Seinetwegen andere Wege und weitere Strecken einzuschlagen, … wer den auferweckten Herrn also in der Welt zu erkennen und zu empfangen bereit ist, der findet sich in einer anderen Wirklichkeit wieder.
… Ist es eine übernatürliche Wirklichkeit? Eine Welt der Phantasie, des Wunschdenkens, des religiösen Realitätsverlustes? Eine Welt, in der die Schrecken, Zweifel und Leiden der Menschheit nicht mehr vorkommen, weil man den Kopf in den Wolken und die Augen zwischen frommen Scheuklappen hat?
– Nein, es ist immer noch die Welt, in der Wasser nass ist und man „mit derselben Speise genährt wird wie bisher, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer“*. …Es ist immer noch die Welt, in der allen Menschen das Menschliche gemeinsam ist.
… Aber manche ziehen in dieser Welt jetzt die Kleider an, ehe sie in’s Wasser springen, … und nicht – wie’s bisher vernünftig war – aus; … und auch diese Handlung, diese Umkehrung ist ein Symbol: Kleidung, die beim Sprung in den See klatschnass wird, überzustreifen, wenn man Jesus am trockenen Ufer erreichen will, das ist die schönste, dichteste Beschreibung dessen, was wir in österlicher Weise in der Wirklichkeit erleben können.
Denn auch wenn alles so wirkt wie bisher – die Ziele sind andere geworden. Ostermenschen gehen leise in den Lärm, ruhig in den Streit, fröhlich in den Kummer, langmütig in die Enttäuschung, hoffnungsvoll in’s Leiden – sie werfen sich also angezogen ins Wasser – weil sie durch alles das hindurch und über alles das hinaus erkennen, dass der Herr da ist.
Weil der Frieden und der Sieg, der Tröster und das Leben gegenwärtig sind, darum ist alles anders geworden, auch wenn es äußerlich bei Arbeit, Enttäuschung, Anstrengung, bei Nasswerden und beinah Untergehen bleibt.
Aber es ist doch der Herr, dem man entgegenschwimmt oder –strampelt! Es ist der lebendige Herr, der am Ufer wirklich schon da ist und unser Ziel sein will! Es ist das Schwimmen und Strampeln, das Schleppen und Schuften, das Schnauben und Prusten der Erlösung, das in der Morgenfrühe dieses österlichen Arbeitstages zu hören und zu sehen und zu teilen ist.
Denn das ist das dritte und letzte Symbol des Arbeiter- und Fischer- und Bauernosterbildes, in dem Johannes die Erschaffung der Welt und den Sinn des ewigen Lebens gipfeln lässt: Sinn und Ziel der erlösenden Auferweckung Jesu Christi ist nämlich, dass die ursprüngliche große und die in tausend kleinen Schritten andauernde Schöpfung weitergeht, bis das Leben und das Licht und das Wort Gottes durch allen Tod und alle Finsternis und alles Schweigen hindurch die Welt und was in ihr ist aufrichten und heilen und erfüllen.
Und jeder österlich berührte und erweckte Mensch wird selber – wenn er den Herrn am Ufer sieht! – ein Berührer und Beweger und Begleiter auf Wegen zum Leben, auf Wegen zum lebendigen Herrn. Jeder, dem in seinem Leben Jesus, der Lebende begegnet, wird ja andere mitnehmen, mitreißen und einbeziehen wollen in die Bewegung, die zu Ihm führt. —
Im Matthäusevangelium trägt dieses Mitreißen zur Erlösung, das die Glaubenden an ihren Mitmenschen üben sollen, die Gestalt des Missionsbefehles.
Johannes lässt uns den selben Zug, der ins Leben holt, im Fischnetz, in den 153 von den Fischern Eingeholten und Mitgebrachten erkennen.
Dieses kleine Detail – augenzeugengetreu berichtet – hat gelehrte Deutungen noch und nöcher hervorgerufen: 153 Fische… ist es ein mathematisches Geheimnis, stehen Pythagoras oder Archimedes dahinter oder Naturforscher, die zu römischen Zeiten von genau 153 Arten Fisch-en gewusst haben sollen? ……. ——
Aber ist es nicht vielleicht am allernaheliegendsten, einen Anreiz, eine Verheißung, eine Aufforderung darin zu sehen: Wir alle könnten Menschen mit einbeziehen in Jesu Auferweckung und sein Dasein in unserer Welt, … wir alle sollten Menschen in Jesu Leben und Gegenwart bringen!
Viele Menschen.
So viele, dass durch alle seine Jüngerinnen und Jünger schließlich die Vielzahl, ja die Vollzahl der Lebenden ins Leben gelangt.
Das ist das Ziel der Welt! Darum kam Jesus ins Fleisch, ging durch sein Leiden, durchlitt und besiegte den Tod… er kam nicht, um die Welt abzuschließen und die Dinge zu Ende zu bringen, sondern – wären wir nur nicht so gewöhnt an den Begriff des Abendmahls, dann könnten wir es vielleicht besser hören und bezeugen … er kam zum Morgenmahl, zum Frühstück, zum Anfang des neuen Tages, den Gottes Reich zu allen bringt:
„Denn in ihm ist das Leben und das Leben ist das Licht der Menschen“
Amen.
* Nirgends wird besser als in diesen (die weitaus bekannteren rhetorischen Fragen nach Bluten und Stechen einleitenden) Wendungen des Juden Shylock die grundlegende Gemeinsamkeit aller Menschen ausgedrückt vgl. Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig, III.Akt (1.Aufzug).
Ostersonntag, 16.04.2017 Stadtkirche Matthäus 28,1-10 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ostersonntag 16.IV.2017
Matthäus 28, 1-10
Liebe Gemeinde!
Wer dem Zug der Zeit trotzt und zu Ostern nicht wie alle Welt verreist, … kann auch nicht daheim bleiben.
Doch ehe wir aufbrechen – so wie die Christenheit an diesem Tag immer schon aufzubrechen geheißen wurde – wollen wir erst noch einmal zurückblicken in die Zeit vor dem Aufbruch, vor den vielen österlichen Reisen auf zahllosen Routen und Richtungen, aus denen alles zusammenkommen soll, wenn man das Osterevangelium gehört und verstanden hat.
Damals also waren die Grenzen noch sicher, obwohl die römischen Verkehrswege schon einen schwunghaften Welthandel ermöglichten. Man konnte skandinavischen Bernstein in Nordafrika als Schmuck und arabischen Weihrauch als Teil des politischen Kultus in Gallien nutzen. Die Welt war mobil, Völker im Aufbruch, Edessa in Mesopotamien und die Kastelle in der Ebene an der Donau hatten die selben Münzen und Maße und Machteliten.
Nur die Schutzzölle, … die gab es noch und mit ihnen die Schlagbäume und Torschranken und an ihnen die Wärter und Zöllner, die niemand leiden konnte und die man verachtete, weil sie die Leute für die römischen Ausbeuter und für sich selber schindeten, und einer von ihnen saß abweisend in seiner abgebrühten Ruhe irgendwo mit Blick auf den See Genezareth und hinderte das Volk am schnellen Fischverkauf in Sepphoris oder Tiberias und wurde immer unbeliebter und bärbeißiger und verfluchte insgeheim die grölenden lateinischen Truppen und wischte den Armen von Kapernaum und den umliegenden Dörfern je mehr er sie im Stillen in ihrer Sorge verstand, umso lieber eins aus, indem er übertriebene Zölle für ihren Fang und ihre Ernte kassierte, bis es ein verfluchtes Leben war, so ein einsamer, jüdischer Steuereintreiber auf einer windigen Landstraße über dem See zu sein und nirgends mehr hingehen und niemanden mehr grüßen zu können und immer das Unrechte zu tun, obwohl man die Macht auf seiner Seite hatte, und dann kam Jesus.
Jesus kam und rief ihn; „Folge mir nach!“ (Matth9,9)
Und das war das erste Österliche, was dieser Mensch an seinem Schlagbaum, mit seinem völlig verstrickten und verworrenen Leben erfuhr.
Denn er folgte ihm … folgte Jesus, und uns begegnet er seitdem, wann immer wir das Neue Testament aufschlagen als der erste Evangelist Matthäus.
Und dieser Matthäus, der etwas von Bürokratie versteht und wie man Listen ausfüllt und Ordnung schafft und wie man einer allzu großen Freizügigkeit Hindernisse in den Weg legt und Menschen in die Schranken weist, wenn sie zu dränglerisch und unbekümmert sind, … dieser Zöllner, den Jesus erlöst und zu einem Schlepper für’s Himmelreich und zu einem Schreiber für die Gerechtigkeit und die Seligkeit gemacht hat, … dieser Matthäus hat nun also die größte, schönste, verrückteste, göttlichste Unordnung der Welt protokollieren und expedieren sollen, als er das von ihm mit Jesus erlebte Evangelium aufschrieb und dessen letzte Ereignisse verzeichnete, im berühmten Matthäi am Letzten.
In diesem Oster- und Himmelfahrtskapitel sind nämlich drei Aufbruchs- und Marschbefehle, drei Wander- und Reiseaufforderungen, die es in sich haben.
Einmal ist es ein Engel – die ja ohnehin die regsten Geschäftsreisenden Gottes sind – und zweimal der lebendige, von den Toten auferweckte, in das Reich des Vaters aufbrechende Jesus, die da den österlichen „Rührt euch!“-Ruf laut werden lassen.
„Rührt euch und werdet lebendig! Bleibt nicht wie angewurzelt stehen, sondern setzt euch und eure Herzen und Köpfe und euer ganzes Leben in Trab! Denn Er ist nicht hier, sondern auf den Beinen und unterwegs, und lebendig läuft Er vor Euch durch die Zeit und über die Straßen, und Ihr könnt hier zwar noch sehen, wo Er gelegen hat, wo Er starr und gebunden und reglos und tot war, aber längst ist Er wieder auf dem Vormarsch und zieht vor Euch her und nun seht zu, dass Ihr nachkommt und bleibt nicht zurück, sondern macht, dass Ihr vorwärts kommt nach Galiläa zu Jesus Christus, dem Lebendigen!“
Das ist zweimal die Hauptbotschaft des großen, in aller Weltgeschichte einzigartigen Ostermorgens in den Aufzeichnungen des Matthäus.
Erstaunlicherweise nicht der Imperativ „Glaubt!“, sondern die Aufforderung: „Geht!“
Sollte die Auferweckung Jesu also neben den Organen von Furcht und Staunen und Freude und Glauben – wo auch immer die sitzen – auch die …Beine meinen und treffen und in sie fahren? — Offenkundig.
Und dass es einen nicht stillsitzen und kalt lassen kann – dieses Fest mit dem Namen „Auferstehung“! – das ist eigentlich ja klar: Wenn tatsächlich die Tunnelreise ohne Wiederkehr, der immer schon so genannte „letzte Weg“, die Sackgasse, die in’s Jenseits oder in’s Nichts führt, … wenn alle diese Einbahnstraßen am Ostermorgen in Durchgangswege und Wendemöglichkeiten verwandelt worden sind, dann muss das sich in Bewegung und Reiselust und Aufbruchsstimmung spürbar machen.
Und davon ist das Evangelium des Zöllners, der das Wegenetz und Schranken- und Grenzsystem seiner Zeit ja so klar wie kein anderer im Kopf hatte, voll.
Kaum zufällig wird aber das erste Reiseziel der Osterbewegten, der Auferstehungswanderer, der Evangeliums-Lauffeuerträger ausgerechnet bei Matthäus gleich doppelt genannt, … während es bei Markus nur einmal Erwähnung findet (16,7).
„Geht nach Galiläa“ +. „Geht nach Galiläa“
Und was für einen Spaß muss Matthäus dabei gehabt haben, wie muss er gelacht haben, wenn er damit genau seine frühere Aufgabe unterlief und seinen einstigen Kollegen eine haarsträubende Verlegenheit bescherte: Die Jünger Jesu und seine Anhänger und dann auch noch die Leser des Evangeliums alle hinauf in den Norden zu schicken, dorthin, wo Matthäus selbst einst den Handel und Wandel beschränkte, … das muss ihn gekitzelt haben. Denn abgesehen von der Hektik, ja dem Chaos, das Männer und Frauen an den Zollstationen verursachen dürften, die möglichst rasch, am liebsten blitzschnell dem wunderbarsten Wiedersehen aller Zeiten entgegenströmten, erhob sich ja die Frage nach dem, was sie bei sich trugen: Dutzende, Hunderte von Jesusmenschen, die alle nach Galiläa wollen … etwas muss sie doch antreiben, anlocken, etwas müssen sie doch beim Hin und Her im Gepäck mitnehmen?
Doch alle Zöllner und alle Ordner und Schnüffler und Beschränker von Freizügigkeit mussten irre werden, wenn sie die Menge der Galiläawanderer, die nach der Auferstehung und in allen Jahrhunderten seitdem auf den Spuren des Ostermarschbefehls dorthin reisten, kontrollieren wollten: Auf die Botschaft vom Leben, das den Tod besiegt hat, auf die Wiedersehensfreude mit dem Auferweckten, auf die Nachricht vom ewigen Leben für alle Kinder des Todes … da lässt sich nämlich kein Zoll und keine Abgabe erheben: Die sind frei und werden freizügig bleiben und müssen freigebig geteilt werden.
Als Zöllner hat Matthäus mit dem Bericht vom Anfang des österlichen Lebens und Webens also die Sinnlosigkeit seines Berufsstandes und damit auch das Ende einer Welt der ängstlichen und feindseligen Begrenzung, der Nachrichten- und Menschensperren beglaubigt.
Wo immer seitdem Freiheit des Reisens und Redens, des Glaubens und der Meinung, des Austauschs und der Menschen gefordert wird, da rührt der erste Schwung und die unermüdliche Kraft solcher Forderungen aus der österlichen Grenzüberwindung zwischen Tod und Leben, zwischen Trauer und Jubel, Süd und Nord, zwischen Jerusalem und Galiläa her! ——
Doch was bedeutet Galiläa als Kristallisationspunkt am Anfang dieser Weltbewegung?
Dass es lediglich – wie man überall hören und lesen kann – heiße, zurück an den Anfang des Evangeliums zu blättern und das Leben des Jesus von Nazareth noch einmal im bereits Berichteten zu entdecken und zu bedenken, kann man getrost als öde, unösterliche Langweiligkeit ausschließen. … Es muss etwas Lebendigeres, Zukunftsweisenderes sein!
Für Matthäus und seine Zeitgenossen bedeutete es zunächst jedenfalls ganz konkret dreierlei: Habt keine Angst vor Lächerlichkeit und keine Angst vor zweifelhafter Gesellschaft und keine Angst vor Begegnungen mit der Welt und ihren Mächten.
Galiläa war aus Jerusalemer Sicht zunächst nämlich v.a. ein rückständiges Pflaster, dessen rustikales Volk man belächelte, weil schon sein Tonfall so hinterwäldlerisch klang: Das galt für Jesus ebenso wie seine Jünger, … nicht umsonst konnte man Petrus in der Nacht nach Jesu Gefangennahme an seinem breiten Dialekt auch im Dunkeln erkennen, weil er klang wie ein Texaner in New York oder ein englischsprechender Schwabe in Brüssel: Seltsam Peinlich.
Doch die wahre Osterbotschaft verlangt nun einmal, dass wir nach Galiläa gehen, …dass es uns also nicht unwohl wird oder wir uns genieren, wenn die Auferstehungsnachricht in den Ohren der Blasierten primitiv, gestrig, anspruchslos volkstümlich und einfältig schräg klingt. … Wurscht! Hinauf nach Galiläa! Hinauf in Zusammenhänge und Verhältnisse, in denen es nur noch einfach oder gar nicht mehr möglich ist zu reden. „Christus ist auferstanden von den Toten, wie er gesagt hat!“: Das zum Beispiel ist gut galiläisch geredet! —
Das Zweite, wofür Galiläa steht, ist neben der derben Schlichtheit zugleich ein zwielichtiger Mix der Kulte und der Rassen. Denn schon 1000 Jahre vor Christus hatten sich die Wege des Südens um Jerusalem und des israelitischen Nordens in einer Reichsteilung getrennt, und nur vierhundert Jahre später fiel der Norden dem Assyrersturm zum Opfer, wurde entvölkert und seitdem neben den jüdischen Heimkehrern besiedelt von zahlreichen heidnischen, samaritanischen und sonstwie suspekten Parallelgesellschaften.
Wer dorthin gehen soll, um den Auferweckten zu treffen, der darf also keine Berührungsängste haben, sondern muss gewillt und geübt darin sein, unvertrauten Menschen über den Weg zu laufen und gerade das als Annäherungen an Jenen zu betrachten, der aus der tiefsten Fremde, dem Reich des Todes zurückgekehrt ist und seine Scharen aus allen Ecken, Winkeln, Himmels- und Höllenrichtungen sammelt. —
Drittens ist Galiläa ein Zentrum der römerfreundlichen, griechischsprachigen Politik der Herodes-Dynastie gewesen, ein Labor der bewusst betriebenen und darum oft genug übertriebenen Anpassung an den Zeitgeist. Seine Hauptstadt Tiberias zum Beispiel war eine am Reißbrett entworfene, mit einem Kaisernamen geschmückte Schablone neureicher römischer Palazzo-Prozzo-Architektur, in der kein Jude hätten wohnen wollen, weil sie rücksichtlos auch jüdische Friedhöfe überbaute. Solche politischen und militärischen Bastionen einer aggressiven Moderne mitten im idyllischen Bergland am Genezareth verdeutlichen ebenfalls, dass die Reise nach Galiläa auf den Spuren der Osterbotschaft keinen Rückzug, sondern einen bewussten Schritt hinein in die Welt und ihre Strömungen, in ihren Streit und ihr Streben bedeutet. ———
Diese drei Offenheiten – für das Einfache und für das Fremde und für die Gegenwart – sind also nötig, wenn wir dem Evangelium von der Auferstehung Jesu Christi so folgen wollen, wie Matthäus es uns lehrt, …der ehemalige Zöllner, der begriffen hat, dass sowieso kein Schlagbaum und kein Denkverbot und keine Gewalt den Aufbruch hindern oder bremsen können, der an Ostern in der Menschheit geschehen ist.
Grenzen und Ablehnung, Zweifel und Verachtung können auf Dauer nichts aufhalten, das sich auf den Weg in die Welt macht.
Das gilt in vieler Hinsicht, und wir sind gut beraten, es nicht nur mit feiger Sorge zu sehen, sondern im österlichen Licht.
Denn vor aller Flucht und abgesehen von allen Fluchten auf dieser Erde sind das Wunder der Befreiung vom Tod und der Auftrag zur freien, weltweiten Verbreitung dieses Wunders die Urgeschichte und das Herzstück unseres Glaubens.
Unser Osterglaube fängt an mit den Beinen, die er uns macht.
Er kann sich nicht einfach nur in Menschen verfestigen und setzen, sondern er muss hinaus in’s Weite, muss Kreise ziehen und in die Menschheit Bewegung bringen.
Das Osterbekenntnis fordert Freiheit der Rede und des Reisens, weil – und das ist ja der eigentliche Gipfel des Osterkapitels „Matthäi Am Letzten“ – … das Osterbekenntnis drängt zur Reise- und Redefreiheit, weil es auf den Missionsbefehl zielt!
Denn Galiläa und die dort anzutreffende Bereitschaft für eine einfache Rede und für die Begegnung mit den Fremden und für das Wahrnehmen der jeweiligen Gegenwart … dieses Galiläa dient ja als Ausgangspunkt des großen verbindenden, versöhnenden Verkündigungs-auftrages, der den dritten Befehl zum endgültigen österlichen Aufbruch darstellt:
„Gehet hin in alle Welt und machet zu Jüngern aller Völker und taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe, denn siehe ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ (Matth.28,19f)
Noch haben wir heute Morgen also gar nicht Ostern gefeiert, sondern erst wenn wir es ganz schlicht und ohne Vorurteil den Menschen von heute, die aus aller Herren Länder kommen mögen, sagen und zeigen, dass Jesus Christus lebt und dass wir darum Boten der Freiheit und der Zuversicht für alle sind, … erst dann ist heute Ostern.
Christus hat die Grenze des Todes durchbrochen und Matthäus darum den Schlagbäume auf Erden alles Recht und allen Sinn abgesprochen: Nun müssen also nur noch wir aufbrechen und hindurchgehen und nicht ruhen, bis wir das Wunder überall bezeugt und geteilt haben, dass die Menschheit frei und versöhnt ist.
Und dann werden wir IHN sehen!
Amen.
Karfreitag, 14.04.2017 Stadtkirche Lukas 23,33-49 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag 14.IV.2017
Lukas 23,33-49
Liebe Gemeinde!
Karfreitag. Heute.
Schwärzester Tag von allen.
Weltsterbe-Tag.
All-Todestag. —
„Kar“-Freitag. ……. Im Englischen – viel zu milde – noch immer in der Umgangssprache geläufig: „Kara“ … „Care“ … Tag der Sorgenmüh. … Als wäre das alles?!
Im Althochdeutschen: „Sorge, Leid und Trauer“ … im Mittelhochdeutschen „Kara“: „Wehklage“. ……. Klagetag der Menschheit also, Totenklage der ganzen Welt. —
„Kara“, … ein einziger Silbentausch und wir hören etwas, das das schreckliche Seufzen und Schluchzen sofort grausam gegenwärtig macht: „Kara“ ~ „Raqqa“ – Hauptstadt des Todesterrors nicht nur in Syrien, Zentrum der schwarzen IS-Truppen, die Gewalt und Mord in alle Himmelsrichtungen tragen. Und die Klageorte, die Stätten des Traumas und des Tötens, die Orte voller Wehklagen – Khan Sheikhoun, Stockholm, Alexandria – , die Kartmontage und Kardienstage und Karmittwochs und Kardonnerstage vervielfachen sich auf Erden ja tatsächlich immer weiter: Der Hunger wütet so, dass es fassungslos machen muss, wie man ihn zwar jedem Zeitgenossen in Echtzeit zeigen, aber bei den Leidenden anscheinend nicht stillen kann. Die Gewalt mäht durch sämtliche Länder als offener Krieg oder schleichender Konflikt oder anonymer Anschlag. Vertreibung und Entwurzelung reißen die Menschheit aus allem, was Halt gibt, und breiten bittres Elend aus, doch die noch Verankerten sehen in den bereits Losgebrochenen bloß lästige Bedrohung, keine Warnung, keine Vorzeichen eines großen Wehe!, das über alle Welt kommen wird.
Karfeitag. Heute. Überall.
Nicht eine alte Überlieferung, nicht ein seit Jahrtausenden verjährtes Einzelschicksal, sondern Neuestes, … Nachricht an alle, … Gegenwart der Welt.
Kreuz. Barbarei. Tod.
Nur dass es keinen Schmerz gibt für alle.
Tränen sind seltener Rohstoff. Wir haben nicht genug. Sie bleiben uns nur für Wenige.
Die überwältigende Mehrheit quält sich, leidet und wird verstümmelt, stirbt unbeweint. Mitgefühl ist bei den Menschen endlich.
Reichlicher haben sie Grausamkeit.
Unbegrenzt ihr Instinkt des Selbstschutzes.
Allgemeingut: Elend … und dabei Einsamkeit.
Auch wenn Viele gleichzeitig leiden. Meistens noch im Ertrinken der Kampf aller gegen alle. Menschenwölfe gegen Menschenwölfe, auch wenn keiner mehr gewinnen kann. Auch wenn man sich gegenseitig das Wasser abgräbt und die Luft nimmt und das grabgroße letzte Fleckchen Erde streitig macht. Nur nicht als Verlieren sterben. Als Sieger untergehen! ————
Karfreitag, wie wir ihn feiern – … feiern! –, sind’s aber drei Opfer: Mitten auf dem Felsenschädel der Eine und einer zur Rechten und einer zur Linken.
Schon das ist also zu … feiern, dass dort nicht das übliche Grauen der Vereinzelung herrscht, wo Tausende nebeneinander in ihrer dicht verpechten Bienenwabe des Für-sich-allein-Sorgens und Für-sich-allein-Leidens isoliert der je eigenen Katastrophe begegnen.
Denn das haben wir – nach dem Jahrhundert der Massenmorde – nicht mehr denken können: Es ist ja wirklich besser, nicht alleine zu sterben.
„Solus Christus“ – „Christus allein“ – mag als theologisches Schlagwort gelten: Auf Golgatha und in aller unserer Not bleibt es verkehrt. Wieviel besser, … ach, wie notwendig ist es nicht, dass Christus bei anderen war, dass wir anderen bei Christus sein werden in den letzten, schwersten, längsten Zügen. Nicht Christus allein stirbt darum auf Golgatha.
Einen gemeinsamen Tod stirbt er da, … Gemeinschaftstod, … den Menschheits-Tod.
Und so wie sein Schreien dort der Menschheits-Schrei ist und sein Blut dort das Blut für alle und seine Angst jede Angst einschließt und sein Sterben alle Tode sprengt, so ist sein Wort dort Menschheits-Wort, Wort eines jeden für jeden, Wort aller für alle. …….
„Vergib ihnen“ schreit er zwischen den anderen dort für alle.
Wenn er aber wirklich dort nicht als Solo-Christus, als einsamer Dulder, als einzelnes Opfer stirbt, sondern der Mensch für alle ist, der Vertreter an jedes Menschen Stelle, dort wo Sünde, Tod und Teufel triumphieren, … dann ist das ja eine Kollektiv-Vergebung!
Im Namen aller bittet er!
Alles soll allen vergeben werden. …
Darf er das aber?
Kann er alle Opfer so in einer Vergebungs-Bitte zusammenfassen?
Alle, die so unschuldig sind wie dieser?
Auch die, die sich mit ihrem Leid nicht versöhnen und nicht versöhnt sterben können, weil sie so abgründig sinnlos leiden müssen wie gerade er?
… Als gäbe es „sinnvolleres“ Leiden.
Als wäre nicht das genau der Sinn seines Leidens für alle, dass er für jeden diesen unmöglichen, unaussprechlichen, unentbehrlichen Schrei tut als der unschuldig, sinnlos Leidende! —
Diesen Schrei schreien können die Wenigsten. Niemand von uns lustig Lebenden darf’s.
Aber dass es diese Bitte, dieses Gebet von der Schädelstätte der Menschheit herab gibt … das ist der erste Schritt auf dem Weg zur Rettung der rettungslosen Welt.
In der Bitterkeit des Universums wird’s durch diesen Karfreitags-Ruf, der zwar nur aus einer Kehle kommt, aber doch seit zweitausend Jahren immer wieder in der ganzen Welt als Gottes eigenes Wort gehört und gehofft und geglaubt wird, unerstickbar: Vergebung als das Vermächtnis des den Menschen ein Mensch gewordener und von den Menschen als Mensch ermordeten Gottes.
„Vergib ihnen!“ am Karfreitag. … Heute. … Vergib ihnen den Karfreitag. …….
Im Namen der syrischen Kinder von Khan Sheikhoun, der Bummler von Stockholm, der Betenden Alexandrias ……. im Namen von Muslimen, Glaubenslosen und Getauften!
Ungeheuerlich.
Schwerer noch als sein Kreuzestod fordert die Vergebungsbitte des Gekreuzigten die Menschheit heraus.
Anmaßend wie sie bleibt, … überwältigend.
Ohnmächtig. ……. Mächtig!
Diese Bitte ist die Seitenwunde der Welt. Das gärende Gemisch von Gewalttrieb und Rachedurst, das in menschlichen Adern strömt, fließt dort ab.
Sterbend wird Christus sein Ventil. Sein Gebet und sein Blut reißen jeden – noch unfreiwillig – mit in den fremden, unbekannten Katarakt, in den Strom der Vergebungsbereitschaft.
Und nichts hält diese Strömung auf: Nicht der Allerweltsappell, das Glaubensbekenntnis der Antike und der Moderne und der Zukunft: „Hilf dir selber!“. Die Vergebungsbitte strömt einfach darüber hin. Christus wird sich nicht wehren, befreien, bestätigen.
… Er will Vergebung für alle!
……. Nichts hält diese Strömung auf: Nicht der Appell der Menge, aber auch nicht die Steigerung des „Hilf dir selber“-Spottes durch die Moral: „Nur wer sich selbst hilft, kann auch andern helfen.“ …….
Es muss etwas Großes um die Vergebung sein – ein Geheimnis, das wir verloren oder verraten haben –, wenn sie sogar wichtiger ist, als jemanden, der voller Verzweiflung und Hohn danach verlangt, vom Kreuz herunter zu holen. Nicht einmal der ironische Moralappell des Galgenbruders Jesu dämmt also die Flut seines Betens um Vergebung ein.
Das Geschäft des Leidens und Sterbens ist so wichtig – so wichtig für wen aber, wenn nicht für die Welt?! –, dass der in der Mitte Gekreuzigte nicht davon abzubringen ist: Nicht mit Drohen, nicht mit Flehen.
Sein erstes Wort vom Kreuz und das dritte und letzte sind dabei wie die Quelle und die Mündung dieses unaufhaltsam-unumkehrbaren Stromes, gegen den man nicht anschwimmen kann:
„Vater vergib!“: Da drängt es hervor.
„Vater, in deine Hände“: Da ist es am Ziel.
Der schreckliche Tag des Zornes und der Tränen, der Tag des ganzen Weltleids ist ein Tag, an dem die Hoffnung auf Gott und das Vertrauen in Ihn das Geschehen auf unerklärliche Weise mitten durch die Schuld und Grausamkeit des Vordergrunds hindurch vorantreiben.
Diese Rufe am Kreuz, die die eigentliche Macht in diesem Drama haben, diese Gottesschreie nach Gnade, dieser Gottesfrieden des vergebungsbereiten Sterbenkönnens: die wirken noch stärker als Todesurteile und Hinrichtungskommandos und Balken und eiserne Nägel.
Sie haben eine Kraft, die wahrhaftig überwältigend ist.
Daneben versinken alle unsere Kräfte genauso wie unsere Ängste, wenn das maßlose Vergeben und Vertrauen Jesu drüberhin strömen. Die Gräben der Unversöhnlichkeit, die Löcher, die die Angst sich gräbt, die Wunden, die die Brutalität und Schwäche von Menschen in die Menschlichkeit reißen, … in sie alle dringt das am Kreuz unter sinnlosen Schmerzen unaufhaltsam hervorbrechende Beten und Glauben Jesu.
Wo wir nichts haben und fühlen – in den Hohlformen dessen, was negativ und leer bei uns ist –, dort sammelt sich das grenzenlose Gute, das noch Martyrium und Tod in ihm freisetzen.
Diese Gewissheit, dass auf Golgatha wirklich der starb, dessen Glaube und Gerechtigkeit die ganze Welt erfüllen und einschließen, schildert Lukas, der Schüler des Apostels Paulus unmissverständlich in seinem Karfreitagsbericht.
Die schwarzen Schatten des sechsstündigen Todeskampfes, die grausamen Quälmomente, in denen der Durst und die Verlassenheit den Gekreuzigten besaßen und beherrschten – jene Augenblicke, in denen man sich selbst viel eher in ihn hineinzuversetzen vermag –, die hat Lukas dagegen nicht überliefert. … Weil er – der welterfahrene Heide, der die europäische Zivilisation und die römische Justiz und die antiken Folterpraktiken und den heidnischen Antisemitismus und die ganze Wahrheit kennt – … weil er die Wucht des Karfreitags eben nicht im Anteil der Hölle an dieser Tragödie, sondern im Blick auf den Himmel sieht.
Nicht die Richter, die Soldaten, die Mörder, sondern der Schöpfer, der Heiland, der Geist der Gnade haben hier Weltgeschichte geschrieben.
Am Karfreitag.
Dem Tag, der uns solches Leiden zeigt.
Uns heute auf die Gegenwart des Leidens stößt. Auf seine klaustrophobisch katastrophale Sinnlosigkeit.
Heute, … an diesem Sterbetag und Klagetag.
… Heute! Obwohl wir das Gute nicht sehen können. Weil scheinbar ja alles ist, wie es gestern war und morgen bleibt: Die Weltgolgathageschichte. Die Menschheitskreuzigung in der Zeit. Die Passionswirklichkeit der Erde. ……. —
Doch diese schreckliche Wirklichkeit hat einen Riss bekommen.
So wie aus Jesu Leidenserfahrungen sein Vergebungsvertrauen hinein in den Hass und die Not der Menschen fließt und uns alle zur Hoffnung auf Versöhnung mitreißt, so strahlt aus seiner Sterbestunden ein Licht in unsere vergehende Welt.
Denn der Hintergrund hat sich gezeigt.
Das, was jenseits des Kommens und Verweilens und Fortmüssens liegt, … jenseits der Augenblicke unseres Glücks und der Ausdehnung unserer Schmerzen, … dort, wo alles Zeitliche – das allzu Rasche und das allzu Unabänderliche – sich nicht mehr verflüchtigt oder festsetzt, sondern Leben unverkürzt und unverdorben besteht.
Der Spalt, durch den das Licht einer reinen Wirklichkeit fällt, in der alles gut ist und bleibt, tut sich am Karfreitagskreuz mit einem Lieblingswort des Lukas auf.
Zum dritten Mal hören wir es in seinem Evangelium.
Am Anfang rief’s der Engel überm Hirtenfeld aller Welt zu:
„Heute, … euch ist heute der Heiland geboren!“ (Lk2,11).
Danach hat Jesus es einem durch die Sünde in seinem Leben völlig beziehungslos gewordenen Menschen gesagt, als der die ausgestreckte Hand der Gnade zur Umkehr ergriff:
„Heute, … heute ist diesem Hause Heil wiederfahren.“ (Lk19,9).
Und ein drittes Mal, … endgültig hören wir es in der letzten Stunde Jesu.
Da, wo wir aller Tage Abend, … Abbruch, …. Vergehen und Vergangenheit erwarten.
Da hat er das große Wort „Heute“ noch einmal auf den Lippen.
„Heute – an diesem Tag, am Karfreitag.“
„Heute“.
… Das heißt: „Jetzt.“ Und es heißt: „Nun“. Heißt: „Gegenwart“. Heißt: „Lebensgefühl.“ Heißt: „Nähe“, „Wirklichkeit“, „Unmittelbares“.
An diesem „Heute“ des Karfreitag – das an sich ja schon ein Wunder des Glaubens darstellt –, … an diesem „Heute“ des Karfreitag fällt aber auch noch ein anderes, ein im Munde Jesu und im Evangelium des Lukas einmaliges Wort.
„Heute wirst du mit mir im Paradiese sein!“
Mehr Zuversicht und Lebensgewissheit aber geht nicht!
Dieses Heute des Heils, diese Gegenwart des Guten, diese Präsenz des Paradieses: Auf Golgatha bricht sie durch. Sie überstrahlt den Schmerz Jesu in seinen verrinnenden letzten Stunden und zeigt dahinter das helle, unvergängliche Jetzt, und so durchflutet sie das schrecklichste Kapitel des Evangeliums für immer. ……..
Und da zerreißt der Vorhang!
Und wir hören es und es fließt auch durch unseren Augenblick hier, jetzt am Karfreitag:
Das Leiden und die Schmerzen und der Tod, die diese Geschichte und alle Geschichte prägen, werden Geschichte.
Denn Jesus hat am Kreuz die einzige ewig bleibende Gegenwart herbeigebetet und herbeigeglaubt durch sein Sterben hindurch:
Vergebung allen!
Das Paradies nicht mehr verloren, sondern jetzt mit Jesus ganz gewiss!
Und über und hinter den Schrecken und der Sehnsucht der Welt stehen die Hände Gottes, in die alles hineinströmt und -gehört.
Karfreitag.
Heute.
Amen.
Palmsonntag / Goldkonfirmation 09.04.2017 Stadtkirche Markus 14,3-9 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Palmarum - 9.IV.2017/ Goldkonfirmation
Markus 14, 3-9
Liebe Gemeinde!
Da Glaube und Selbsterkenntnis nach reformatorischer Überzeugung zusammengehören, darf man heute, fünfzig Jahre danach vielleicht die für Teenager überaus sensible Frage nach Ihrer Selbstwahrnehmung bei der Konfirmation stellen.
… Allerdings nicht bloß allgemein, à la: „Wie fühlte man sich als Konfirmandin, als Konfirmand in jener Epoche, in der die 60er Jahre blumig und befreit und aufregend und auf-wühlend wurden? Wie war man gestimmt? … Aufmüpfig und schon auf dem Weg zur Revolution? Oder war man noch ganz bieder und brav in der Provinz, wo Knaben noch lange keine langen Haare und Mädel noch immer knielange Röcke trugen? … War man Twiggy? … War man Pilzkopf? … Oder war man einfach nur ein unbeholfener Nicht-Fisch-nicht-Fleisch-Vertreter, der das Ganze eher unwillig über sich ergehen ließ und es seitdem vergessen hat?“
— Solche Fragen ließen sich viele stellen, und sie wären wahrlich spannend; ob sie sich auch beantworten lassen, ohne an Spannung einzubüßen, mag der Verlauf des heutigen Tages noch zeigen.
Aber die Palmsonntagsfrage an die diesjährigen Goldkonfirmanden und ihre diamantenen, gar ihre eisernen Vorgänger soll etwas einfacher, allerdings kaum gemütlicher lauten, indem sie uns nach Bethanien, in’s Haus Simons des Aussätzigen versetzt, wo sich zunächst einmal alles um die Nase dreht. Sie lautet also: „Wie roch die Konfirmation?“
— Ist der Duft, den Sie mit dem damaligen Tag verbinden, ganz und gar verflogen? Oder steigt es – wenn Sie sich erinnern – wieder in die Nase: Dass bei den Vorbereitungen zuhause dicke Luft herrschte? Dass Frühjahrputz und ein gewisser Blumenschmuck eine Rolle spielten … womöglich die damals so beliebten Nelken? Roch es nach Braten und nach Bohnenkaffee? Wurde bei Familienfesten damals nicht unglaublich viel gequalmt, … an ganz besonderen Tagen gegen Spätnachmittag sogar aus der Zigarrendose?
— Erinnern Sie sich womöglich an den Geruch Ihrer Konfirmationskirche?
… In der mächtigen, mittelalterlichen Dorfkirche meiner Kindheit war der seit Jahrhunderten feuchte Stein unter dem Kalkputz mit dem uralten, ochsenblutroten Gebälk der Emporen und dem Atem der Gemeinde eine solche Verbindung eingegangen, dass man mich dort mit zugehaltenen Augen aussetzen könnte: Dieser Geruch würde den Ort sofort, ohne jeden Zweifel verraten. ... Würde Ihre Sinneswahrnehmung auch ein so heimatliches, altvertrautes, unverwechselbares Signal empfangen dort, wo Sie einst knieten?
— Doch die Frage, mit der man den Konfirmanden von damals am allerunverschämtesten auf die Haut rückt, wäre noch peinlicher, … nämlich: „Wie roch man selbst als junger Mensch im Mittelpunkt des Tages?“
Das tägliche Brausebad war nicht derart allgemein wie heute selbstverständlich, wenn auch die samstägliche Zinkwanne für alle Generationen ausgedient haben dürfte. Das Schrubben und Strieglen und Odol-Gurgeln und die Mühen um eine fesche Frisur mit Brillantine oder Haarspray und die steif gebügelten Klamotten und das Aufkommen der praktischen Lycratecxtilien und der nervöse Schweiß des Tages und der ganze körperliche Apparat von Halbstarken und Teenies werden schon eine ganz eigene Atmosphäre geschaffen haben. … Und dann gab und gibt es ja obendrein noch die Nachhilfe, das Programm zum Übertönen und zum Anlocken, das so ungefähr im Konfirmationsalter wichtig wird: Heutige Konfirmandinnen und Konfirmanden sind jedenfalls Fachleute beim allergroßzügigsten, ja verschwenderischen Gebrauch von Düften und Essenzen! Die Schwaden und Wolken an Wohlgeruch, die eine heutige Herde junger Leute umschmeicheln, sind märchenhaft. Doch auch wenn man vor fünfzig Jahren gerade bei Knaben noch auf dem Standpunk verharrte, sie seien keine Blumen und wären deshalb nicht zum Duften geschaffen und auch bei jungen Mädchen sei zu viel des Guten ein Anzeichen fragwürdiger Lockerheit, so haben doch die Kosmetikbranche wie die Modewelt dafür gesorgt, dass man durchaus nicht nur 4711 für den Duft hielt, der eine schöne Frau begleitet. Vielmehr kamen Ende der 60er Jahre zahllose Parfüms auf den Markt, und 1967 – denn das Internet weiß alles – wurden unter anderen drei Düfte kreiert, deren Namen sich wie ein Programm lesen: „Miss Lolly-pop“, „Pagan“ und „Futur“ – Bezeichnungen, die man deuten kann als den zeittypischen Drei-klang von Rock-’n-Roll, Entkirchlichung („Pagan“ bedeutet wörtlich ja: „heidnisch“) und Zukunftseuphorie.
… „Miss Lollypop” also, „Pagan” und „Futur”.
Es ist wenig wahrscheinlich, … aber vielleicht rochen die Konfirmandinnen und Konfirmanden von 1966, 1967 ja so: Poppig, schon ein bisschen psychedelisch und ein Hauch von Politisierung.
Nur dass man an der Schwelle der Mündigkeit nicht ahnen konnte, was einem da bevorsteht. Dass eine Jugend im Zeichen radikaler Generationenkonflikte und freier Selbstbestimmung und lässiger Lebensgefühle sich ankündigte, … etwas, das revolutionäres Aufbegehren werden und in Terror umschlagen konnte … oder doch nur neckischer Blumenkinder-Ringelpietz … oder angewiderte Abgrenzung von den Hippie-Zeitgenossen und spießige Zielstrebigkeit in sozial-liberalem Wohlfahrtswohlstand. ——
Wie immer die Konfirmandenjahrgänge vor einem halben Jahrhundert rochen, was immer sie noch für Nachkriegsmief oder für friedensbewegte Frühlingsaromen verströmten, welchen Geist und Wind sie auch immer einsogen in den Nebelschwaden ihrer Selbstgedrehten oder Räucherstäbchen oder Mofa-Abgase … man konnte so oder so nicht riechen, was kommen würde und werden sollte. ———
Und schon das ist eine der großen Botschaften des Palmsonntag.
Dieser Tag zeigt uns wie kaum ein anderer, dass wir für die Zukunft kein gutes Näschen haben.
Selten, fast nie wissen wir wirklich, woher der Wind weht und wohin er treibt.
Der Tag des Jerusalemer Großstadtjubels über den verheißungsvollen Fremden, der mit seinem Einzug auf einem Eselsrücken die Weichen in Richtung eines Friedensreiches zu stellen schien, … dieser Tag der fröhlichen Zuversicht und Hochstimmung der Massen verflog ebenso schnell, wie er über sie kam. … Keine Arbeitswoche später und die Freude war in Zorn, der Empfang in Ablehnung, das Willkommen in Verwerfung umgeschlagen, … den man als die verkörperte Zukunft gefeiert hatte, verurteilte man zum schnellen Tod.
Und niemand hatte es kommen sehen, keiner hatte Lunte gerochen.
Alle Sinne versagten im Wirbel des heißen Straßen- und Menschendunstes, an dem die feiernde, palmwedelnde, brodelnde Menge sich selbst berauschte. Baumharz und „Hosianna!“-Brüllen: Großes lag in der Luft! —
Und dann zwei Tage später in Bethanien, in Simons Haus plötzlich der schwüle Duft des Luxus.
Unverfälschtes Nardenöl in Strömen: Ein Parfüm, dessen Herkunft wohl weder dem Gesalbten selber deutlich sein konnte, noch der verschwenderischen Gönnerin, die solche Süßigkeit zum exorbitanten Preis eines ganzen gewöhnlichen Jahreslohnes vielleicht wegen eines tiefen inneren Harms verschleuderte.
Woher sollten die arme-reiche Frau im römischen Palästina und der junge Mann aus Nazareth in Galiläa auch wissen, dass die Nardenpflanze, deren Extrakt so unvergleichlich köstlich und kostbar ist, aus sagenhafter Ferne importiert worden war?
… Heimisch ist die Narde auf dem Dach der Welt, auf den Höhen des Himalya. Aus dieser unzugänglichen, unwirtlichen Weite, aus Landstrichen ferner Bergdämonen und safrangelb gekleideter Mönche und Schamanen muss die seltene Narde über die Seidenstraße und Umschlaghäfen Arabiens nach Palästina verschafft und dann zu sagenhaft teurer Kosmetik veredelt worden sein.
Vom höchsten Punkt der Erde also gelangte sie auf des Höchsten Haupt, das Haupt des Königs, der doch bloß als barfüßiger Bettler an einem fremden Tisch in einem jüdischen Dorf zu Gast war und drei Tage später am Galgen hingerichtet würde. …….
Was für ein völlig sinnloser Überfluss! Welche Vergeudung: Eine halbe Weltreise und ein ganzes Vermögen, nur um für ein paar Augenblicke einen Todgeweihten zu erfreuen und zu schmücken und dessen Umgebung zu irritieren.
……. Denn die hatten wieder den falschen Riecher.
Den Jüngern verriet der teure Exotenduft aus 5000 Höhenmetern nur ganz platt seinen Preis, nicht seinen Wert. ——
Wozu dann aber die Parfümpredigt dieses Palmsonntags und die Geruchsfragen, mit denen wir uns zu Beginn an die eigene Nase fassten?
… Wenn dabei doch nur herauskommt, dass wir keine gute Witterung besitzen, dass wir wenig bis gar keinen Sinn für die feinen Botenstoffe haben, die uns unsichtbar erreichen und berühren, die uns betörend anziehen, beißend warnen oder unmerklich umgeben?!
Nun, gewiss ist der wenig entwickelte Geruchssinn des Menschen, in dem jeder Hund und jedes Insekt uns übertreffen, nur als Symbol zu verstehen: Dass wir Schwierigkeiten bei der Orientierung in unserem Leben haben können, dass wir Vieles nicht wahrnehmen und anderes nicht riechen mögen, weil es uns zu sehr ärgert, … das ist so.
Aber womöglich ist das gar nicht das Wesentliche heute, am Beginn der Karwoche und im Blick auf 50, 60, 70 Jahre in der Gemeinde Jesu Christi.
Denn die Duftwolke, die an jenem Dienstag vor dem Passafest in Bethanien das Haus eines wahrhaftig übelriechenden Menschen – Simons, des Aussätzigen! – so opulent durchflutete, … diese Schwaden des Wohlgeruchs galten einem und trafen auf einen, dessen Sinne feiner geschärft und untrüglicher sind, als die unseren.
Das aber liegt daran, dass Jesus – der so reichlich Gesalbte – über die eigene Nasenspitze hinaussieht und -fühlt und -denkt und teilnimmt.
Jesu Wahrnehmung ist offener und durchlässiger als die meine – und vielleicht ja auch die Deine –, weil er sich nicht beschränkt auf das, was ihn selber bewegt und trifft.
Denn genau das ist ja das Geheimnis seines Daseins: Getroffen und berührt zu werden von dem, was nicht seine eigenen Probleme, seine eigene Schuld, sein eigenes Schicksal, seine eigenen Freuden und Leiden, seine eigenen Schmerzen und Hoffnungen sind.
Jesus ist von Gott gesandt, um etwas zu tun, das wir bloß vermeintlich aus vornehmer Zurückhaltung verschmähen, während es in Wahrheit faule Zurückweisung ist: Er ist von Gott gesandt, um seine Nase in anderer Leute Leben zu stecken … und sein Herz, seine Kraft, seine Treue, sein Blut, seine Liebe gleich mit. Seine Mission ist reine Bereitschaft für Andere, seine Mission ist das Gespür für das, was wir nie über die Lippen brächten, was wir nie eingestehen, bekennen, … erkennen und äußern werden. Das, wofür es keine Worte, keine Bezeichnung, keinen oberflächlichen Ausdruck gibt: Sünde in ihrer eingenisteten, verdrängten Form, … Leid in seiner starren, tränenlosen Vergrabenheit, … Krankheit im Verborgenen, … Angst in nackter, tiefer, elementarer Primitivität.
... Alles, was man nicht sehen, nicht hören, nicht fühlen, sondern allenfalls wittern kann: Das geht Jesus an.
Er nimmt es wahr.
Und nimmt es auf sich.
Und wird ihm gerecht.
Das ist der Grund, weshalb wir ihn so sehr brauchen: Weil wir uns selber nicht bis in Letzte erklären und nicht vollkommen vermitteln können. … Denn alle wissen wir, dass es Dinge gibt, die unerklärlich und unausgesprochen und wortlos bleiben. Nicht alles muss und wird ja an unserem Leben einst logisch und nachvollziehbar und klar verständlich und einleuchtend sein.
Jesus aber, der Gesandte und Gesalbte Gottes kann es dennoch erfassen und auch an unserem Unerklärlichen teilnehmen. … So wie er in der verschwenderischen Geste der Frau damals in Bethanien, die den Jüngern mit ihrer scheinbar amoralischen Haltung stank, die Wahrheit erkannte: Dass hier ein Mensch sich an ihn hängte, obwohl die eigene Not der Frau und der kommende Tod Jesu das eigentlich so sinnlos, so nichtsversprechend machte.
Wenn und wie wir nämlich in unserem Leben zu Jesus kommen, wenn und wie wir an ihm hängen, das ist auf jedem Weg und in jeder Weise immer entscheidend und richtig: Ob es früh oder spät, bei der Konfirmation am Beginn unserer Mündigkeit oder in Bethanien am Endes seines Weges, ob es zwischendurch in kleinen Schritten oder mit großem Elan geschieht, ob es nur ein Hauch oder eine Flut von Zuwendung zu ihm ist, ob wir es jedermann erklären oder bloß wortlos ihm alleine zeigen können … das alles sind nur Fragen nach Menschenmaßstäben, nach viel Parfüm oder wenig, nach Allerweltsduft oder exotischem Flair …
Er jedenfalls spürt in und hinter allem das, was uns bewegt, plagt, umtreibt, fehlt oder anfeuert. Ihm entgeht es nicht, er nimmt wirklich alles auf, was uns betrifft.
Und so beantwortet sich die Frage nach unserer Selbsterkenntnis, unserer Selbstwahrnehmung am Ende auch nicht aus unseren Erinnerungen und Erfahrungen allein.
Wir können das, was wir damals waren und inzwischen wurden, was wir wollen und sind vermutlich alle nicht letztlich so erörtern, dass es anderen ohne Weiteres nachvollziehbar würde.
… Und wir müssen es ja auch nicht.
Denn das Eine haben wir an diesem Palmsonntag wieder gehört: So leicht wir uns vertun und täuschen bei der Frage danach, ob wir ahnen, ob wir’s riechen können, woher und wohin unser Leben strömt, und so sehr wir uns genieren und winden mögen bei der Frage, was andere wohl finden, wenn sie uns beschnuppern … das alles ist letztlich unerheblich.
Unser ganzes Leben nämlich – mit seinen herrlichen und seinen heimlichen Geschichten und Geschehnissen – ist dem verständlich und vertraut, der gekommen ist, um aus jedem Einzigen das zu machen, was der Apostel Paulus „einen Wohlgeruch für Gott“ nennt (2.Kor2,15).
Gottes Wohlgefallen an uns aber: Das ist es, was nie vergehen wird, wenn wir an Jesus Christus hängen, wenn wir ihm verbunden sind wie jene Frau, die mit einer einzigen Geste und Handlung für immer zu einem Teil des Evangeliums, der Botschaft von ihm in aller Welt wurde.
Diese Antwort des Glaubens auf die Frage nach uns selber – dass wir Gott angenehm sind durch unsere Verbindung mit Christus –, die ist der Grund, weshalb wir in diesem Jahr die Reformation und in der heute beginnenden Woche die Passion Jesu Christi und in diesem Gottesdienst Ihre Konfirmation feiern.
Weil es so gut ist, dass Jesus Christus gekommen ist, der unser Leben zu seiner Sache macht, der uns wahrnimmt und kennt wie nicht einmal wir selber und der damit auch uns für immer in sein Evangelium, in die Frohe Botschaft von Gottes Gnade und Liebe einbezieht.
Amen.
Laetare 26.03.2017 Stadtkirche Johannes 6,55-65 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Lætare - 25.III.2017
Johannes 6,55-65
Liebe Gemeinde!
„Jesus essen“: Das ist nicht nur eine harte Rede, … sondern das ist der allerhärteste Skandal des Christentums, ein Urärgernis der Botschaft des Neuen Testaments.
Sogar die Jünger schon wurden davon abgestoßen, denn nicht umsonst berichtet der Evangelist Johannes zugleich mit seiner ersten Andeutung, dass es eine solche Communio, eine solche leibliche Vergemeinschaftung zwischen Jesus und den Seinen geben könne, sofort von reflexhaftem apostolischen Ekel: „Wer kann diese harte Rede hören …, ohne dass es ihn würgt und in Hals und Magen schnürt und widert?“ … Undenkbar, untragbar.
„Jesus essen“: Das ist nach dem Empfinden Vieler auch der frevelhafteste und widerlichste Ansatz in der Überlieferung und in der Praxis der christlichen Gemeinde bis heute geblieben.
Und wessen Ohren und Vorstellungskraft nicht verstopft sind von Gewöhnung oder Gleichgültigkeit, wer nicht beim Abendmahl entweder gar nichts denkt oder bloß die „Aberkadaver“-Formeln der Theologen abspulen lässt, der müsste tatsächlich ja eigentlich jedes Mal erbleichend schlucken und dann feststellen, dass er Brechreiz verspürt und sein Kiefer eingerastet ist, wenn dort Leib und Blut nicht etwa eines Tieres, … eines Lammes,… sondern eines Menschen als Speise bezeichnet und begriffen werden.
Und dennoch ist „Jesus essen“ – dieser unverdauliche, Übelkeit erregende Brocken harter Rede und abstoßender Bildhaftigkeit – keine entbehrliche Nebensache, kein zeitbedingtes, nunmehr überholtes Stück orientalisch-antiker Verschwurbelung.
Denn es war immer schon ein unvorstellbarer Vorgang, ein totales Tabu und eine gefühlsverletzende Zumutung, so im Raum Israels und der Bibel zu reden, wo das Menschenopfer verabscheut und die Reinheit und Gottgefälligkeit aller Speisen heilig gehalten werden. Es hat also wirklich niemals eine Zeit gegeben, in der man anders als befremdet und schockiert auf die kannibalistisch-blutig klingende Rede Jesu reagiert hätte, der vom Lebensbrot spricht, das vom Himmel kommt, und dabei dann seinen eigenen Körper zum Gegenstand macht. ——
Trotzdem aber ist nichts Krankhaftes, nichts Grausames, nichts Dunkles an der Brotrede zu finden, in der Jesus sich zur Lebensgrundlage der Glaubenden macht.
Alle die beklemmenden Züge, alle unvorstellbaren Untertöne und verschleierten Abgründe darin, dass wir von Mord und Menschenfresserei zu hören meinen, sind unsere Zutat und nicht der eigentliche Gehalt der Rede, die Jesus am See von Tiberias hielt*.
Dort hatte er am Vortag mit fünf Gerstenbroten, zwei Fischen und einem Gebet fünftausend Menschen gesättigt. Alsbald waren ein Begeisterungssturm und dann ein abendliches Wetter über die galiläische Landschaft gefegt, und als am nächsten Morgen nun wieder Windstille und ein blankes, blaues Frühlingsleuchten über den vorösterlichen Gefilden lagen, da wollte Jesus den immer noch aufgewühlten Menschen, denen erst der Hunger und dann ein Wunder und ein Gewitter und die Atmosphäre eines Volksfestes den Kopf schwummerig machten, die klare, einfache Unterscheidung erklären zwischen dem, was sich an Energie und Lebendigkeit im Menschen abnutzt, und dem, was ihm unendliche Kraft und Aussichten schenken kann: Verbraucht werden Kalorien; Fett und Kohlehydrate, Proteine und Eiweiß werden umgesetzt, werden verbrannt. Das Brot, das sie da an der frischen Luft geteilt hatten, die Fische, die es für sie alle dort am Genezareth gegeben hatte – gesunde Hausmannskost fürwahr (wenn auch nicht vegan)! –, die sind gewiss nötig, köstlich und gut.
… Aber durch sie – diese appetitlichen und leider oft nicht ausreichend vorhandenen oder von uns nicht annährend gewürdigten einfachen Grundnahrungsmittel – … durch sie speist der Organismus seinen Stoffwechsel, … einen Stoffwechsel, der Leben bedeutet, – aber auch ein Leben, das Sterben ist.
Denn das ist unzweifelhaft: Noch die beste, ausgewogenste, ballaststoffreichste und grenzenlos gesundheitsfördernde Diät dient zum Erhalt eines Kreislaufs, der sich irgendwann totge-laufen, der sich erschöpft und verzehrt haben wird. Alle Jünger der Rohkost und der Trennkost und des Vegetarismus und der Kohlsuppe und des Vollkorns und des FdH und sämtlicher anderer Speisepläne dieser Erde sind inzwischen Staub geworden oder werden demnächst wieder zu Staub.
Nahrung, die uns ewig lebendig erhielte, gibt es nicht. Es gibt nur Essen, das – so gesund es sein und machen mag – doch nur bis zum Tode führt.
Und dennoch – nur deshalb kommt Jesus ja an jenem Frühlingsmorgen in Galiläa vor den wunderbar gesättigten Fünftausend drauf zurück – und dennoch ist das Leben, das wir durch’s Essen unseres täglichen Brotes vorübergehend erhalten können, nicht zum Tode bestimmt!
Leben ist die große, erste, letzte Gabe Gottes.
Sterben dagegen nur ein Fluch, der nicht als Sinn und nicht als Ziel der Schöpfung gesehen werden darf! …….
Nur wie und woher kämen denn die Blüte und die Fülle, die Fähigkeit und Farbe, der Duft und der Geschmack, die Kraft und Hoffnung dauerhaften Lebens in unsere sterblichen Organismen, in denen alles Schöne, Starke und Süße doch zwangsläufig immer nur zu Kot wird?
Milch und Honig, Fleisch und Fett, Brot und Wein verwandeln sich in uns, wenn sie uns satt und fröhlich gemacht haben, doch immer wieder bloß in Faules und verwesenden Abfall. …
Wie also könnten wir da denn reines, echtes, wirkliches Leben aufnehmen?
Wie könnten wir solches Leben speichern, aufbewahren, davon zehren?
Wie könnte das Leben uns so in die Glieder und unter die Haut fahren, wie könnte es uns so zu Herzen gehen und so in den Adern rauschen und so in Fleisch und Blut verwandelt werden, dass diese Prozesse nicht nur die Vorbereitung und Vorgeschichte unseres letztlichen Sterbens wären, sondern dass sie Leben bewahren und Leben bewirken?? ……. ———
Dass das nicht durch Ernährungsgewohnheiten und nicht durch Stoffwechsel möglich werden wird, dürfte klar sein.
Da gilt das zweite harte Wort der Brot- und Leib-und-Blut-Rede Jesu:
„Der Geist ist’s, der lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze.“
Ganz unmissverständlich macht dieses Wort ja doch deutlich, dass Jesus an keiner Stelle seiner Predigt über die wahren Lebensmittel und die wirkliche Lebensspeise vom gewöhnlichen Weg der Ernährung und noch weniger vom undenkbaren Verschlingen von Menschenfleisch gesprochen hat.
Vielmehr unterläuft er mit seiner Rede voller Fleisch und Blut und Geist die übliche Unterscheidung, ja Trennung der körperlichen und der seelischen Energiezufuhr und Kraftquellen. Und macht umgekehrt Ernst, buchstäblichen und körperlichen Ernst mit dem Grundsatz, dass „der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Mund Gottes geht“ (Matth4,4).
Neben die lebensnotwendigen Nährstoffe und die materiellen Bestandteile der physischen Daseinserhaltung rückt Jesus also die wirklich leibhaftige Wahrheit, die uns füttern und stärken und speisen kann mit einem Inhalt, der nicht seinerseits für Verfall und Verfaulen anfällig ist.
Nicht ein körperloses Wesen, nicht die abstrakte Potenz des Gehirns in einer Behelfsmechanik namens Leib wollte Gott ja haben, als er den Menschen ursprünglich schuf … – und ebenso wenig wird seine Erlösung nur dem virtuellen, immateriellen Kern des Erdensohnes Heil schaffen, denn gerade die Verbindung von Stoff und Seele, von Lehm und Geisthauch war es und bleibt es auch, in denen Gott sein Bildnis und seinen Segen verkörpern will!
Es ist also grundsätzlich zu wenig und im Blick auf Hoffnung und Heil erst recht viel zu bescheiden und zu dünn gedacht, wenn wir nur fragen und erfahren wollen, welche Rezepte, welche Elemente, welche Inhalte unser Körper nötig hat, um über die Runden und zur Entfaltung und zu seinem Recht und in Schwung und Blüte zu kommen.
Wir dürfen vielmehr auch nach Organen und Vorgängen und Verwandlungen forschen, die dazu führen, dass wir nicht bloß vorübergehend zwischen Scheitel und Sohle Wärme, Wohlbehagen und Wahrheit erfahren, sondern an ihnen für immer Gottes Schöpfer- und Erlösergüte erleben können.
Dazu aber gibt es nur das eine Mittel: Dass wir Anteil bekommen an einem Leben, an dem der Tod gescheitert ist; dass wir einbezogen werden in ein Dasein, das der Bestimmung zu verrotten und zersetzt zu werden nicht mehr unterliegt; dass wir körperlich und geistlich erfüllt und durchdrungen werden von einer menschlichen Natur, die mit Haut und Haaren aus den Zerfallsprozessen heraus- und in die Lebendigkeit hineingezogen wird.
Wenn uns das widerfährt – dass wir verbunden werden und verschmelzen mit dem, der für uns starb, um uns vorm Tod zu retten –, dann passiert etwas, das sonst nur Muttermilch† vermag: Die Abwehrkräfte des einen Körpers, den Schutz vor den längst überstandenen Krankheiten und überwundenen Bedrohungen des einen Organismus auf einen anderen zu übertragen.
Wenn wir also Jesus mit allen bewussten und allen unterschwelligen, vegetativen Fähigkeiten des leib-seelischen Menschen an- und aufnehmen, wenn sein Einfluss, seine Eigenart und seine Eigenschaften in uns wirken, wenn sie sich in uns verbreiten und verankern, wenn sie eine neue DNA, ein neues Muster unserer inneren und äußeren Vorgänge und Reaktionen in uns einschreiben und ausprägen, wenn wir Fleisch von seinem Fleisch und Stoff aus seinem Stoff werden, wenn durch unsere Gefäße sein Herzblut fließt, wenn wir in unseren Gliedern seine Bewegungen sich wiederholen sehen, wenn wir dünnhäutig werden an den Stellen, an denen er empfindlich ist, und stark und standhaft dort, wo er zu tragen und zu ertragen vermag, wenn wir sehen und hören wie er, wenn unsere Zunge und unser Mund seine Worte und seinen Geist formen und ausatmen, wenn unsere Glieder unbewusst die Werke und Gewohnheit seiner Hände nachahmen, wenn wir spüren, wie er uns in Herz und Nieren übergeht, wie wir in allem auf seinen Geschmack stoßen, wie er uns erfüllt und wir in ihm wachsen und wie wir von ihm nehmen, was wir brauchen und was wir sind, …wenn wir ihn in uns tragen, weil er lebensnotwendig ist, uns stärkt und gesund macht und froh macht und lebendig macht, … wenn wir ihn genießen und wenn er unser tägliches Brot wird, … wenn wir Jesus schmecken und nach ihm verlangen, weil sonst nichts nach Leben und Wahrheit und Gerechtigkeit und Zukunft schmeckt ……. dann essen wir ihn.
Dann essen wir ihn, so wie Menschen Licht essen und Musik; so wie Menschen die Willenskraft, die Kraft einer Entscheidung aufnehmen und sie zu Muskelfasern in ihnen wird; so wie Menschen wachsen und auch körperlich widerstandsfähig werden einfach durch Liebe; so wie Menschen das wunderbarste Behagen und die vitalsten Fähigkeiten gewinnen, indem sie den unsichtbaren Strom des Segens auffangen und speichern, der sich von Gott ergießt.
So vieles kann man ja essen und trinken, aufsaugen und in sich einschmelzen, ohne dass man dabei die Zähne oder den Schluckreflex oder sonst einen stofflichen Vorgang anwendet.
Diese von uns nur oft nicht wahrgenommen und noch öfter nicht benennbaren Austausch- und Einverleibungswunder sorgen dafür, dass wir alle nicht vom Brot allein, sondern eben buchstäblich und körperlich auch von Stoffwechseln und Stärkungen leben, die nicht im herkömmlichen Fressen und Gefressenwerden aufgehen. …….
Und so können wir gar nicht anders und werden wenn wir erst einmal auf den Geschmack gekommen sind auch gar nicht anders wollen, als Jesu Fleisch und Blut – seine Wirklichkeit und seine Lebendigkeit – immer wieder zu essen und zu trinken, sie zu kosten und aus ihnen alle Kräfte und Reserven und alles Wachstum und alle Verheißung zu ziehen, die unser Menschenleben überhaupt nur haben kann.
Nirgends kommen wir ja so auf den Geschmack des Lebens, nirgends begegnen wir derart rein und stark der eigentlichen, unerschöpflichen Energie des Lebens, nirgends können wir so unmittelbaren Anteil an der unbegrenzten Bestimmung zum Leben erfahren, als dort, wo Jesus uns für Leib und Seele zum Stoff und Inhalt, zur Quelle und zum ewigen Vorrat wird.
Wie er selber sein Dasein als die verstofflichte, verleiblichte, verwirklichte Gegenwart des lebendigen Vaters, der ihn gesandt hat, erfuhr, so gilt eben auch von uns, wenn wir uns aus der Lebendigkeit Jesu speisen und nähren lassen, dass wir leben um seinetwillen.
Denn so wird das Gottesleben in Jesus zum Jesusleben in uns: Aus der wahren, ursprünglichen Quelle des Lebens getränkt und durchströmt, fließt mit Jesus auch unser Dasein nicht ins Nichts, sondern dorthin, wo es zuvor und immer war und bleiben wird … in das Leben hinein, das Gottes ist.
Das also heißt es, Jesus zu essen, … was er den Jüngern mit ihrem apostolischen Ekel zu erklären versuchte, als er sie nach der Rede auf dem Frühlingsfeld am See in der Synagoge von Kapernaum lehrte. … Es heißt, sogar mehr als Manna zu erhalten und zu verzehren, … mehr sogar noch als das, was wir im Sakrament des Abendmahls ja immerhin mit Händen greifen und mit dem Gaumen schmecken und in Leib und Eingeweiden aufnehmen können.
Jesus zu essen ist tatsächlich noch mehr als das, … mehr als Manna und Abendmahl …!
Denn es bedeutet die Möglichkeit, bei jedem einzigen Gedanken und in jeder leiblichen, jeder geistigen, jeder seelischen, ja selbst jeder unbewussten Regung seine Gegenwart, seine Verheißung, seine Fülle zu erfahren, durch die der Geist uns wirklich, unverlierbar, ewig lebendig macht.
Darum schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist, der ihn uns gegeben hat!
Amen.
* Das 6.Kapitel des Johannesevangeliums mit seinem Bericht von der Speisung der 5000, dem nächtlichen Seewandel Christi im Sturm und der großen Brot-Rede am folgenden Morgen ist eine festverklammerte Einheit, die zum Verständnis des letzten Abschnitts – des Predigttextes am Sonntag Laetare – nötig ist: Dieser letzte Abschnitt besteht aus einem Nachgespräch zur Brot-Rede, das Jesus in der Synagoge von Kapernaum in Form eines Kommentars zur Manna-Überlieferung (einem Passa-Motiv!) mit seinen befremdeten und überforderten Jüngern führt. Doch auch diese Einbettung des „Nachgesprächs“ in die Debatte über die alttestamentliche Tradition zeigt - ebenso wie der Rückbezug der ganzen Brot-Rede auf das Speisungswunder - , dass eine bloß sakramentale Auslegung der Brot- und Blut-Worte Jesu zu kurz greift. Er offenbart tatsächlich noch mehr und noch grundlegender seine allgegenwärtige Notwendigkeit als Lebensmittler, als dass wir hier allein die Feier des Abendmahles und des Gedenkens an sein Opfer erkennen dürften.
† Eine höchst unverkrampfte theologische Symbolik der Lust an der labenden Muttermilch liegt über dem ganzen Sonntag Laetare allein schon durch den Abschnitt aus Jesaja 66,10ff, dem er seinen Namen verdankt.
Invokavit 05.03.2017 Stadtkirche 1.Mose 3,1-19 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Invokavit - 5.III.2017
1.Mose 3,1-19
Liebe Gemeinde!
Man stelle sich den Bericht vom Sündenfall auf der Bühne des Kasperletheaters vor. … Anders als wenn er in der Kirche verlesen oder in weltanschaulichen Diskussionen vorausgesetzt wird, würde er dort auf der Puppenbühne ehrliche Leidenschaft wecken: Grausen und Mitgefühl durchfluten das kleine Publikum, keiner glotzt nur gelangweilt, sondern alle schreien ihre Ahnungen, ihre Befürchtungen und Erkenntnisse durcheinander den Figuren zu, die da umgarnt und geleimt werden, die blind oder gierig oder hilflos oder verlogen das tragikomische Spiel darbieten müssen: „Nein, Eva! Nimm ihn nicht!“ … „Pfui, Schlange! Das ist ja gar nicht wahr!“ … „Da, Gott, da hat er sich versteckt!“ …….
Im Kasperletheater, wo die Handlungen und Geschichten alle bekannt sind, wo jeder weiß, dass es in Wirklichkeit der Mann mit der roten Nase ist, dessen Hände die Körper und Köpfe wackeln lassen und der selbst mit seinem Bass und seiner Fistelstimme die Gestalten ihre Dialoge sprechen und ihre Missverständnisse ausfechten lässt, … im Kasperletheater reißt es alle mit und sie nehmen Anteil und fürchten sich und feixen und sind verwickelt, obwohl es so uralte und durchschaubare Possen sind.
Das Kasperletheater wäre darum vielleicht der letzte passende Rahmen für eine Handlung, die man nicht unbeteiligt und überlegen, sondern nur berührt und bewegt und in das Treiben ganz hineingezogen betrachten kann.
Das soll nicht bedeuten, dass sich im Spiel vom Sündenfall nichts Ernstes, nichts Echtes, sondern nur etwas Kindisches und Lächerliches zeigte. Im Gegenteil: Nur noch die Volksbühne für kleine Leute ist übriggeblieben, wenn es um das „So ihr nicht werdet wie die Kinder“ (vgl. Matth18,3) und um dessen Wahrheit geht.
Überall sonst wird die erste Erfahrung des Menschen mit sich allein nämlich wirklich zur Farce: Die übliche Kälte und Langeweile, die die Überlieferung vom Sündenfall bei denen auslöst, die sich in keiner Weise dadurch betroffen sehen und die es in jeder Hinsicht ablehnen, ein so überholtes und schädliches Menschenbild auf sich zu beziehen – diese übliche Unzuständigkeitserklärung, wenn man auf etwas allen Menschen Gemeinsame zu sprechen kommt, … die sind längst kein Beweis der Freiheit und des klaren Denkens mehr, sondern bloß unsolidarische Manöver, um sich in Ruhe einen Entwurf der Welt leisten zu können, in dem die Schuld nicht vorkommt, sondern höchstens das Pech. …….
Denn das ist der zentrale Unterschied zwischen dem Hören und Sehen und Mitgehen der Kinder und jenem Missverstehen und Durchschauen und Dichtmachen der vermeintlich Erwachsenen: Die einen erleben auch in Geschichte und Märchen und Spiel Personen, die sie persönlich, Menschen, die sie menschlich, Subjekte, die sie subjektiv erfassen – und die anderen betrachten Objekte objektiv und kommen immer wieder lau davon mit ihrem „Mich trifft’s nicht …“.
Halten wir also fest: Die uralte Überlieferung davon, wie anfällig uns Menschen das Verlangen nach Übermenschlichem macht, ist eine Erfahrung und Wahrheit von und für Vollblutmenschen. Wer sich darin nicht spiegeln, wer sich in ihr nicht verheddern lässt, wer darin nichts Verwandtes, wer in den Handelnden und Versteckten und Verlegenen und Fallenden und Entwurzelten von Eden nicht Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein er-lickt, wer keinen Zusammenhang mit dieser Wurzel findet und ihren Saft nicht auch durch sein Inneres pulsen fühlt: Der ist feine raus.
Nicht verloren.
… Nicht zu retten. …
… Ein solcher würde also nicht wollen. Nicht wissen wollen, … nicht seine Möglichkeiten erweitern, … seine Möglichkeiten nicht ausschöpfen wollen?!
– Sonderbar.
Denn je mehr Menschen heute die Idee von einem ursprünglichen Scheitern unseres Geschlechtes an seinen Höhenflügen und Megaträumen ablehnen, desto steiler wird doch das Streben und desto gigantischer fallen die Beherrschungs- und Vervollkommnungsvorhaben der Menschheit aus. Genau der Reiz, der die offenbar ohnehin schon kluge und für sich und ihre Nachkommen ehrgeizige Eva ansprach – „Ihr könntet die Grenzenlosigkeit anpeilen!“ – … genau dieser Reiz verfängt auch heute und befeuert uns. … Schranken sollen ja grundsätzlich nicht mehr gelten, Geheimnisse nicht mehr unaufgelöst bleiben, das Unergründliche und der Abgrund sollen uns nicht mehr aufhalten … Respekt und Scheu, Gehorsam und Liebe aber ebenso wenig.
… Denn wir können mehr! Wir können es besser. Wir wollen es besser haben. … Wir wollen, was ein populärwissenschaftlicher Historiker aus Israel jüngst als die Überschrift seiner „kurzen Geschichte der Zukunft“* gewählt hat: Wir wollen der »Homo Deus« werden, der Mensch-Gott, der Gottwerdende Mensch.
Das ist also auch weiterhin die Musik unserer Zukunft. … Aber die Uraufführung dieses Dramas von denen, die mehr als das Menschliche wollten, fand am Anfang aller Zeiten in Eden statt.
Dass wir aber inzwischen gar nichts anderes mehr können können, seit wir nicht mehr im guten Garten Gottes, sondern in der weiten Welt der Krankheiten, des Hungers, der Kälte und des Todes leben: Das macht uns zu zwangsläufigen Wiederholern, zu Nachahmern Evas und Adams, zu deren Kindern, die seither tatsächlich erfinderisch und rücksichtslos und kämpferisch und verzweifelt wagemutig sein müssen, um den Bedrohungen und dem Zerstörerischen der Wirklichkeit den schönen Traum und auch den Erfolg eines besseren Lebens immer wieder abzuringen. Bloß um welchen Preis?
… Schuldenfrei?
… Schuldlos?
Niemals.
Dann wenigstens ehrlich?
Nein. Ehrlich ist unsere Zwangsverbindung mit dem überlebensnotwendigen Ehrgeiz nicht.
Denn dass unser Kampf um Fortschritt, unsere Todesverachtung und Gottesvergessenheit dabei, unsere riskanten Versuche und bitteren Opfer nur dafür, dass es weiter und besser geht, Kosten und Schäden und Leiden und Fluch verursachen, das gestehen wir allzu selten ehrlich ein. Verduckt, versteckt, verlogen wie der feige Adam, sind es nie die Folgen unseres Tuns, die das menschliche Streben in menschliches Sterben verdrehen. … Immer sind es andere: „Die Frau“, die Zeiten, der dumme Zufall; … der Rufmord durch die Justiz von Frankreich, die Lügen der Medien in Amerika, die gegen die Türkei gerichtete Sabotage durch die deutschen Behörden, die als Ursache der eigenen haarsträubenden Verstrickung und Entgleisung verantwortlich gemacht werden. Dass das eigene Tun – und sei es noch so nützlich – von der Gefahr bösen Missbrauchs und einem steten Kern von Schuld, die es jederzeit freisetzen kann, gezeichnet ist, das geben die Wenigsten zu. ……. Und wenn sie es doch bekennen – so wie etwa die erschrockenen Mahner zu Verantwortung und Umkehr im Nutzen der Kernspaltung, Otto Hahn und Carl Friedrich von Weizsäcker –, dann gilt solche Einsicht in die physische Realität der Sünde als Bange- und Madigmachen.
Doch die, die nichts von ihrer und unserer und aller Sünde wissen wollen, weil es die Um-stände und die Verhältnisse, aber nie die Menschen sind, die müssen noch mehr, als nur sich selber schönfärben. … Sie müssen auch den Fluch der Sünde verdrängen, was nichts anderes bedeutet, als Tatsachen zu leugnen: Tatsächliche Erfahrungen der Angst und der Spannung, Tatsachen der Not und des Kampfes. … Leben in der jetzigen Welt bedeutet für zahllose Lebendige nämlich immer noch genau das, was die letzten Worte im Paradies befürchten ließen: Unser Miteinander bringt Abhängigkeiten hervor, unsere Fortpflanzung führt zu Mütter- und Kindersterblichkeit, unser Glück schafft Kummer, unser Überleben verlangt Härte, und alles menschliche Elend und aller menschliche Ehrgeiz belasten ganz eindeutig und unheilvoll auch die Erde selbst, die ihren Schutz an Luft und Pflanzen, ihre Schätze im Wasser und im Boden und ihre schöpfungsreiche Schönheit immer mehr einbüßt. ————
Das alles sind nüchterne Blicke auf die andauernde Realität und die übliche Verdrängung und die unleugbaren Folgen der Sünde.
Sie ist kein Mythos aus der Urzeit, sondern ein Blick in den Spiegel, ein Bericht aus der Zeitung, ein Phänomen mit wissenschaftlich nachweisbaren Konsequenzen:
Der Sündenfall ist der Normalfall.
Wo Menschen sind, ist auch die Sünde der Fall. ——
Dennoch aber mag man sich fragen, wo da der unmittelbare Zugang, die kindlich-menschliche Teilnahme bleiben soll, von der wir eben sprachen? Ist nicht schon eine solche fünfminütige Bestandsaufnahme von Hochmut, Lüge und Verhängnis so ermüdend, dass man eigentlich wirklich kein Interesse mehr am sattsam Bekannten und Unvermeidlichen haben kann? …
Wie sollte denn nun jene innere Beteiligung, jenes unverbrauchte Mitgefühl denkbar sein, das die Geschichte vom Fall der Menschen in die uns vertraute Welt angeblich immer noch wecken kann? … Sollte man sich da allen Ernstes wie im Kasperletheater in die unumkehrbar bekannte Handlung hineinsteigern und Eva warnen, die Schlange ausbuhen, Adam aus seinem sinnlosen Versteck locken und die Folgen des Ganzen durch Betteln oder Protestieren abzuwenden versuchen??? ——
Nun, dass ein kindliches Publikum das tatsächlich wagt, liegt an zweierlei: Erstens an einem Überschuss an Hoffnung, zweitens an unverschlissenem Vertrauen … beides auf der Grundlage unzweifelhafter Identifikation mit den handelnden Figuren.
Kindliche Betrachter müssen so lange auf die rettende Wendung im Drama und auf sein glückliches Ende warten, wie sie sich von den Gestalten einer Geschichte nicht einfach ablösen können. So lange sie sich selbst ineinssetzen mit denen, deren Abenteuer sie ergreift, so lange müssen sie glühend, atemlos, mit Herzklopfen, lautstark und unbeirrt auf einen guten Ausgang hinfiebern.
Wenn wir das aber nicht tun – obwohl wir in der Erzählung vom Sündenfall eine so unwiderlegliche Schilderung von Realem erkennen müssen –, … wenn wir dennoch teilnahmslos eine bloße Sage darin sehen wollen, dann weil wir keine Solidarität und keinen Glauben haben, weil wir nicht hoffen und uns nicht identifizieren können!
Wer nämlich wirklich erkannt hat, wie schädlich das menschliche Streben, wie schändlich das menschliche Verhalten und wie schrecklich das irdische Verderben ist, der muss als Mensch unter Menschen dagegen aufbegehren, der muss hoffen und bangen und innerlich zittern und mitgehen im aufwühlenden Wunsch, dass das nicht unwidersprochen und unwiderruflich so sein müsse.
Denn wenn wir auch vielleicht tatsächlich nicht ungebremst die Früchte und den Fluch des Sündenfalls kosten und auslöffeln müssen, so ist es doch eine Frage reiner Mitmenschlichkeit, dass wir uns dennoch in jene versetzen, deren Leben von Gier und Gottlosigkeit und Gefahr vergewaltigt und verdorben wird!
Darum sollte jeder von uns sich eine unter Schmerzen geborene Tochter Evas, einen auf dem dornigen Acker des Fluches sich plagenden Sohn Adams vor Augen stellen und noch einmal fragen, wie es dazu kam, dass ihre Welt und Leben sind, wie sie sind!
Nehmen wir uns jeder ein Kind dieser Erde zu Herzen – eine Asylwaise, deren Eltern aufbrachen, um das bessere Leben zu finden und unterwegs umkamen, … einen kurdischen Knaben, der ohne Terrorphantasien davon träumt, dass Wahrheit und Gerechtigkeit und Demokratie auch seine Heimat irgendwann erreichen, … eines der geschlechtslosen kleinen Skelette an der trockenen Mutterbrust, die im Südsudan, in Somalia, Äthiopien, Kenia durch Dürre und Hunger in wenigen Wochen wieder zu dem Staub werden könnten, aus dem sie – genau wie wir! – erschaffen waren. …….
Und dann müssen wir im Blick auf diese Kinder werden wie die Kinder, … werden wie die Kinder, die das Grauenerregende und Furchtbare, das sie sehen, ernst nehmen und die deshalb lautstark und völlig selbstverständlich und aus der unerschöpften Tiefe ihres Ur- und Grundvertrauens sich einmischen und dazwischenrufen und sehen wollen, dass alles gut wird und dass das Böse nicht gewinnt, … niemals gewinnt, sondern dass die Dinge endlich so enden, wie sie das anders einfach nicht für möglich halten.
Nur wenn wir das Drama von der Urschuld also so wie die Kinder, mit deren restlos teilnehmendem, parteiergreifendem Urvertrauen begleiten, … nur dann werden wir es wirklich verstehen, weil wir auch nur dann wahrnehmen können, was wir da von wo sehen und hören: Nämlich eben nicht vom Kasperletheater her, ja überhaupt nicht von einer Spielstätte oder Bühne, sondern aus der Bibel.
Und die ist von Anfang an sowieso das Buch der Teilnahme, der restlosen Identifikation:
Auch vom Sündenfall und von der Wirklichkeit der Menschen erzählt die Bibel uns ja eben nicht aus einem objektiven, unbewegten, ungerührten Abstand, sondern aus der Sicht Desjenigen, Der die menschliche Herkunft und Entwicklung und Entgleisung und Vertreibung und Verlorenheit und Verzweiflung … und Hoffnung nicht als eine Ihm gleichgültige Geschichte sehen und verfolgen kann.
Denn sie trifft Ihn! Er leidet vom ersten Moment der menschlichen Fatalität an mit. Er kann das alles nicht einfach nur laufen lassen, Sich abwenden und dann vergessen, wie es um Adam und Eva steht. …….
Nein! Wie ein mitleidendes, völlig in den Sog der Handlung eingewickeltes Kind ist Er beteiligt.
Er wird das Bild der verlorenen Menschheit einfach nicht los.
Er muss hinein in das Drama, in die zwangsläufige Abfolge dieser Geschichte.
Er selber muss ein Teil dieser Ereignisse werden, … muss Mensch werden.
… So sehr fesselt Ihn das Mitleiden mit denen, um die es da fast geschehen ist.
Und so ist die Geschichte vom menschlichen Fall niemals eine objektiv Überlieferte gewesen, irgendein kühler Tatsachenbericht oder eine bloße Erklärung.
… Nein, vom Ursprung her ist es die heiße, leidenschaftliche Geschichte einer brennend mitleidigen Verwicklung, … die Geschichte einer Passion.
Die Leidensgeschichte Gottes.
Dessen, der Evas Nachkomme wurde, der im Schoß der Menschenmutter mit den Vertriebenen in all das ging, was durch sie der Fall wurde, um die Werke des Teufels und die Wirklichkeit ihrer Sünde zu zerbrechen und zu zerstören†.
Um vertrieben unter Vertriebenen und Verlassen unter Verlassenen und verloren unter Verlorenen und leidend unter Leidenden uns alle zu retten.
Amen
Sexagesimae 19.02.2017 Stadtkirche Markus 4,26-29 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Sexagesimæ 19.II.2017
Markus 4,26-29
Liebe Gemeinde!
Vergangenes Jahr war für uns als Familie das Jahr des Scharlach. So regelmäßig hatte immer einer von uns mit den Streptokokken im Rachen zu tun, dass wir beim Arzt auf die entsprechende Untersuchung beinah schon ein Abonnement hatten. Als ich wieder einmal an der Reihe war und im Wartezimmer unter lauter vornehm gewordenen ehemaligen Konfirmandinnen, kirchlicher Laufkundschaft und sonstigen Mitmenschen des Schlages „Man kennt sich, man hustet sich an“ saß, hatte eine Praxismitarbeiterin mit besonders sonorer Stimme das Ergebnis meines Tests und rief vom Empfang aus erfreut durch sämtliche Räume: „Herr Marquardt – keine Schwangerschaft!“
Das war unter den Umständen des Verdachts auf Scharlach eine erfreuliche, wenn auch etwas delikate Botschaft. Seitdem haben wir öfters über die Formulierung gelacht. …….
Heute fällt sie mir wieder einmal ein.
… Allerdings nicht als das entlastende Wort aus der Hals-Nasen-Ohren-Arzt-Praxis, sondern in der tausendfach bedrückenden und enttäuschenden Form, mit der diese Feststellung – „Keine Schwangerschaft!“ – die Zukunftshoffnungen und Träume von Menschen zerbricht. Und an diesem Tag – dem Tag des Herrn – und in dieser Versammlung – der Gemeinde Jesu Christi –, … da steht ein noch größeres Hoffen und eine noch tiefere Enttäuschung vor unseren Augen. Da geht es nicht um Halsschmerzen des Einzelnen und auch nicht um den Kinderwunsch eines Paares, sondern um die grundsätzliche Diagnose der Menschheit und ihres Daseins in dieser Welt: Schwanger oder nicht?
Hat das, was wir als das Leben erfahren und verwursten und ausquetschen oder wegschmeißen, … hat das noch eine Verheißung, liegt ein Potential darin, das über die reine Gegenwart hinausweist, oder ist es auf lange Sicht unfruchtbar und ohne Perspektiven? Wird was aus unserem Leben oder verbraucht es sich einfach und verschwindet ohne Fortsetzung?
Man könnte diese Schwangerschafts- oder Segensfrage auch einfach übersetzen in die uralte, mit jedem Neugeborenen und jedem Sonnenaufgang wiederkehrende Überlegung: „Hat dieses Leben einen Sinn? Erwarten wir etwas durch das Leben? Oder läuft hier nur Selbstverbrennung durch Stoffwechsel ab?“ ———
Was dieses alte Rätsel betrifft, hält das Evangelium ein bauernschlaues Geschenk für jeden Menschen bereit: Jesus, der des Rätsels Lösung weiß und ist, … Jesus, unser Lehrer und Tröster, unser Ratgeber und Hoffnungsspender, … Jesus, der Grund unseres Daseins und die Quelle unserer Freude … Jesus erklärt den Fall nicht einfach für gelöst. Er lehrt nicht einfach: „Leben hat Sinn, also Schnauze halten!“
Sondern er brockt uns eine Erwartung ein, aus der wir bei Lebzeiten nicht mehr herauskommen, indem er die Sinn-Frage nicht erledigt, sondern sich entwickeln lässt.
So im Gewöhnlichen gedehnt wie das menschliche Leben sein kann, fällt die Antwort Jesu aus:
„Werfen … schlafen … aufstehen … Tag und Nacht … aufgehen … wachsen … und nicht wissen wie.“
In dieser Miniatur aus sieben unscheinbaren Selbstverständlichkeiten fasst er den Rhythmus und das Gesetz und die Unklarheit des Lebens beinah ebenso existentiell und wirklichkeitsnah zusammen wie der erste biblische Schöpfungsbericht oder das salomonische Lied von der Zeit für ein jegliches Ding (vgl.Prediger 3!) oder wie das unergründliche Grübel- und Glaubenstraktat im 7. und 8. Kapitel des Römerbriefes.
Jesus redet vom Einfachsten der Welt – von dem, was die Vögel unter dem Himmel ganz acht- und absichtslos tun, wenn sie Samen und Kerne fallen lassen und nicht wissen, dass sie pflanzen und für morgen sorgen.
Jesus redet vom Säen, das begann als der Mensch sesshaft wurde und zum allerersten Mal nicht mehr nur nach dem kommenden Tag seiner Wanderschaft fragte, sondern nach dem, was von ihm bleiben und was er zurücklassen werde, wenn er den Ort des Daseins mit dem Nichtsein vertauschte.
Jesus redet vom bäuerlichen Zeitmaß und den Gegebenheiten, die Jahrtausende geformt haben und die selbst in Zeiten der Agrarindustrie noch immer nicht ausschließlich und allein in menschlicher Gewalt liegen – denn trotz aller Eingriffe in die Natur und ihr Erbgut hat noch keine Technik das Bindeglied zwischen Aussaat und Ernte völlig abschaffen können: Immer noch muss Tag und Nacht, muss Zeit darüber hingehen – auch wenn die Kresse in der Watte und die Salatköpfe im Granulat und der Spargel unter Plastikfolie und die Blumen unter Kunstlicht beschleunigt herangezogen werden.
Zeit ist und bleibt notwendig, unentbehrlich, unumgänglich, wenn etwas auf Erden werden soll. Dauer und Weile, Warten und Ruhen sind die verborgenen Geheimnisse in dieser Welt, in der der Mensch sich doch so gern für einen Macher hält!
Das große Stichwort unserer Tage – das Wachstum! – hat diesen unverfügbaren Kern: „Tag und Nacht, … schlafen, aufstehen … und nicht wissen wie.“ …….
So atemlos wir also auch sein mögen, so rasant wir schaffen und mehren, so geschwind alles auch hin- und herzuckt, so panisch alles auch galoppiert und hechelt: Nichts wächst, wenn es nicht Weile hat. Langeweile sogar. … Lange, lange Weile, die sich nur um den Preis der Festigkeit verkürzen lässt!
Diese Bremse bleibt dem sich selbst überholenden, überbietenden Menschen angelegt: Wenn er seine Kinder noch so schnell durch die Schule jagt, wenn er seine Botschaften noch so halsbrecherisch abkürzt und fernfunkt, wenn er seine Geschäfte noch so schwindlerisch im Nu vorantreibt und in Millisekunden spart und spekuliert: Echte Reife schenkt kein Zeitraffer, Wahrheit gibt es nicht in der Verdünnung, Ertrag sammelt sich nicht in der Blase.
„Werfen, … schlafen, … aufstehen, … aufgehen, …wachsen.“
Nichts geschieht ohne die Zeit.
Und Sinn gibt es außerhalb der Zeit und ihres langsamen, manchmal schwerfällig, zähen, dickflüssigen Verlaufs, außerhalb aber auch ihres unbemerkten, stetigen Perlens und Gluckerns und Davonsickerns, …. Sinn gibt es außerhalb der lebenslang verlaufenden und doch so flüchtigen Zeit eben auch nicht. Wer den Sinn sucht, muss ihm Zeit geben. Wer ihn finden will, darf ihn nicht jetzt für sich fordern, sondern muss ihn zu erwarten lernen. …….
Und da knirschen wir mit den Zähnen!
Denn wir sind die trotzigen Kinder der Zeit, die meinen, sie könnten sie endlich entbehren, … die meinen, sie könnten ihre Bevormundung und das Stillhalten, das die Zeit uns verordnet, endlich abschütteln und ohne sie viel eher glücklich werden. ……. —
Als junger Mensch hatte ich viel Sympathie für die Ungeduldigen, weil ich ihre Veranlagung teile. Die Friedensbewegung in Israel, die sich „Schalom achschav“ – „Frieden jetzt, sofort!“ – nennt, traf für mich genau den Ton. Und die ultrafrommen Kreise in Israel fand ich noch aufregender. In Anlehnung und Abgrenzung zur politischen Friedensbewegung sprach man bei ihnen von einer „Maschiach achschav“-Fraktion, von einer „Messias sofort“-Hoffnung, … von einem Glühen, das Gottes Reich und die Erfüllung seiner Verheißungen in unseren Tagen – am besten heute!!! – herbeibeten und -zwingen wollte.
Dieser „Achschav“-Impuls, dieses „Hier-und-jetzt-und gleich“-Gefühl gehört auch zum Leben.
Wen es nie drängte, wer nie stürmte, wem nicht alles einmal auch zu langsam ging, der war nicht jung.
Wenn aber die Alten immer noch so dränglerisch, so ungezügelt sind, wenn sie in vier Wochen alle ihre unsinnigen Dekrete auf einmal unterzeichnen und Widerspruch dagegen nicht aushalten und den Widerstand der Wirklichkeit nicht dulden wollen, dann sind sie derart reifeverzögert und unterentwickelt, dass es einen anwidert und graust.
So abstoßend wie das Schauspiel des verwöhnten Kleinkindes im Weißen Haus ist es, wenn Menschen nicht dazu lernen, wenn sie dem Leben keine Entwicklung einräumen, sondern nur Gewalt antun können.
Gegen diesen Ungeist der Unreife, gegen diesen Kleingeist des Unglaubens, der nur Sofortiges anerkennt und keine Ziele findet, stellt Jesus die Bauern-Geduld.
Die Geduld des Bauern ist aber keine Bequemlichkeit. Sie ist nicht Däumchendrehen und Nichtstun, sondern sie ist zähes Aushalten im Wagnis des Wartens: Es darf ja nichts – auch das Reich Gottes nicht – über’s Knie gebrochen werden. Wer zu früh erntet, den bestraft das Leben. Wer aus Ungeduld und Angst das Risiko der Ausdauer abbricht, wenn das Korn eigentlich noch Zeit auf dem Halm bräuchte – man aber doch nicht weiß, wie das Wetter bleibt oder wird –, der kann alles zerstören.
Das also ist die Lage, in die Jesus uns leitet, wenn wir nach Sinn und Hoffnung, nach Perspektiven und Verheißungen unseres Daseins, unserer Welt fragen. Er fordert uns heraus: Entweder unausgegorene, unvollständige, unreife Kurzschlüsse – oder aber die Bereitschaft bis zum Ende der nötigen Entfaltung durchzuhalten!
Angesichts dieses klaren Gleichnisses, das jeden Hörenden dauerhaft und zustimmend in ein weites, tiefes Warten im Leben und in der Geschichte einbezieht und dabei die Hyperaktivität, die keine Zeit für Wachsen, Schlafen, Aufstehen, Aufgehen und Ernten hat, schlicht vom Acker jagt, … angesichts dieses Gleichnisses fragt man sich allerdings, wie es kam, dass die Menschheit seit einigen Generationen Gericht über Jesus hält, der sich angeblich in der Ansage und Erwartung des Reiches Gottes zeitlich so total vertan hätte? … Da Jesu Naherwartung, sein „Schalom-Achschav“- / „Reich-Gottes-jetzt“-Evangelium angeblich nicht eintraf, soll das ganze Neue Testament ein Bericht der Enttäuschung, der unerfüllten Hoffnung, der bloßen Scheinschwangerschaft sein.
Aber diese Lesart, die nur die unmittelbaren Anzeichen der nahenden Zukunft und nicht den weitgespannten Bogen der Geduld Gottes mit allem Fleisch in Jesu Verkündigung aufdeckt, ist am ehesten doch wohl ein Anzeichen der Ungeduld, die Menschen im Maschinenzeitalter mit Adrenalin vollpumpt. Seitdem sind wir in allen Gliedern zappelig … nur der Glaubensmuskel, die regelmäßige Spannkraft einer Hoffnung, die die ganze Lebenszeit durchzieht – … da wird nichts mehr trainiert, … alles erlahmt.
Doch genau dieses Training, diese Dehnübung eines lebenslangen In-der-Spannung-Bleibens beginnt mit dem kleinen, bauernschlauen Gleichnis Jesu.
Wer von der Saat hört, die im Verborgenen keimt und draus zum Vorscheinen kommen kann – und der Bauer weiß nicht wie –, der hat plötzlich auch Saat auf dem Acker: Den geht es an, der will es wissen, der muss mitwarten auf das mögliche Wunder.
… „Von selbst bringt die Ähre Frucht“.
……. Kann das sein?
Sollte es wirklich so vor sich gehen?
Ohne unser ständiges Zutun, nach einer eigenen, nicht steuerbaren Geschwindigkeit, unbemerkt, im Abseits, außerhalb dessen, was wir beeinflussen und betreiben können, … da wächst der größte Segen der Welt?!
Im Stillen, im Dunklen, im Unbekannten … da wird alles gut?!
In dem, von dem wir nichts wissen … da reift, was man nur wünschen und wollen kann? ——
Wenn diese Fragen mit dem Samen des Gleichnisses erst einmal eingesät sind im Ohr, im Kopf, in Geist und Herz eines Hörenden …, dann wirkt das Gleichnis und fängt an zu wurzeln. Es nimmt uns nicht den Alltag, es löst uns nicht aus der Routine, aus dem Rhythmus und den Unterbrechungen der ganz gewöhnlichen Zeit unseres Lebens. Christenleben ist Normalität. Aber unterschwellig wächst darin etwas und verspricht aufzugehen: Gottes Reich!
Kommt das vielleicht wirklich?!
Erwartet es uns wahrhaftig?!
Steht das tatsächlich bevor?!
Halten wir diese Fragen aus? … Behalten sie ihren Hoffnungshorizont? … Treibt die untergründige Unbeirrbarkeit und die verdeckte Beharrlichkeit solcher Erwartung womöglich tatsächlich seit Christi Erdentagen durch alle Lebensgeschichten und Zeitläufte der Menschheit das Reich Gottes voran?!
Ist die gefährdete, verschlissene, verbrauchte Schöpfung immer noch zukunftsschwanger? Kommt endlich tatsächlich das Reich Gottes hervor und alles Leben wird sich gelohnt haben und jedes Getane und jedes Vertane wird seinen Sinn tragen und wir werden es empfangen und teilen, dass wir von allem, was war, nun leben und zehren können und in Gottes Gegenwart fassen sollen, wie alles fruchtete?
… Kann das so sein?
Das Bauerngleichnis sagt: Wartet und seht.
Schlaft, steht auf, arbeitet, lebt, liebt, leidet, schafft, ruht, betet, schweigt.
Von selbst wird Frucht daraus.
Lasst Euch das sagen.
Und auch wenn Ihr’s nicht seht: Wie viele von Euch glauben schon ihr halbes oder ein ganzes Leben lang, dass es nur so sein kann! Dass etwas wächst und werden will, trotz und unter allem Gegenteil und Widerspruch.
„Liebe wächst wie Weizen und ihr Halm ist grün.“ (vgl. EG 98)
Ist das nicht die Geschichte Eures Lebens … und die Weltgeschichte?
Deren Ausgang wir jeweils noch nicht kennen. …….
Aber es wächst, und der Mensch weiß nicht wie. …
Nur dass das winzige Gleichnis noch nicht zuende ist, das Jesus in unsere Gemeinschaft, in mein Dasein, in Deins gesät hat.
Die Sprechstundenhilfe – „Herr Marquardt: Keine Schwangerschaft!“ – oder Jesus: Wer also Recht hat, wird sich zeigen.
Der Same jedenfalls ist auf dem Acker!
Amen.
Letzter n.Epiphan. 05.02.2107 Stadtkirche "Herr Christ, der einig Gotts Sohn" (EG 67) Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Letzter n.Epiphan.- 5.II.2017
„Herr Christ, der einig Gotts Sohn“
Liebe Gemeinde!
Jeder Erwachsene kennt die Bilder, Briefe, Andeutungen, die das bisweilen Befremdliche und Faszinierende belegen: Unsere Eltern und Großeltern … sie waren einmal viel jünger als wir es heute sind. Die für uns immer reif und unverbesserlich erschienen: Einst waren sie ihrer eignen Entwicklung völlig unsicher und bloß voller Drang und Verheißung. Was wir als festes Ergebnis kennen, das war einmal ein aufregendes Kapitel Jugend. …….
Nicht anders aber müssten wir doch auch die Reformation wieder sehen. Denn sie ist keineswegs nur die Geschichte nörgelnder alter Doctoren in ihren Pelzschauben und Baretten, sie ist nicht die Geschichte des feist gewordenen Madensacks namens Luther und der anderen bulligen Männer, die uns aus den Autorenbildern des frühen, groben Buchdrucks oder von ihren staubigen Grabplatten entgegenstieren, … nein: Die Erneuerung der Kirche vor fünfhundert Jahren war eine hitzige, leidenschaftliche, mitreißende Jugendbewegung, vor der die Alten in Kirche und Welt auf der Hut waren und in die sich diejenigen stürzten, die spürten, dass es um ihr Leben und um ihre Freiheit und um den Aufbruch zu wirklicher Wahrheit ging:
Als Luther 1518 in Heidelberg an der Universität unglaublich steile, radikale Thesen vortrug*, die die hartnäckige Verschwörung entlarvten, mit der die bisherige Theologie den Menschen schönredete, da entsetzten sich die älteren Gelehrten und Ordensleute zutiefst: Ihr Bild vom Menschen war viel optimistischer als das kompromisslose Urteil des jungen Mönchs, der die kleinen Schritte, die alten Mittel, die mancherlei Behelfe, mit denen die Kirche am Menschen herumdokterte, in Bausch und Bogen ablehnte. Wütend und ungeschützt erklärte Luther den Menschen einfach für verloren. Flickschusterei und pingelige Betreuungs- und Besserungs-übungen des Buß- und Beichtwesens waren für ihn kirchliche Bevormundung. Das Eingeständnis der menschlichen Wirklichkeit als Sünder ließ ihn viel freier atmen und klarer sehen, als die übliche Dauerbehandlung mit Werken, Strafen, Ersatzleistungen und Wallfahrten. … …. Plötzlich sah er nämlich Christus!
Und die Jugendlichen unter seinen Zuhörern, die neugierigen Studenten, die suchende und hungrige Pioniergeneration, an deren Wiege die neuen Lieder von Amerika und Renaissance und Humanismus gesungen worden waren, … die begeisterten sich für das schockierende existentielle Experiment, den Menschen nicht als unreifes Mündel zu betrachten, das die Kirche zähmen müsse, sondern als ganz Verlorenen, den nur Christus retten kann.
Man musste einmal also jung sein, um die Reformation und ihr Wagnis, ihre Radikalität zu erfassen. … Im Vergleich dazu sind wir nach einem halben Jahrtausend Geborenen geradezu alt und abgeklärt. ——
Aber heute haben wir – im Gewand eines uns alt und fern erscheinenden Liedes (nämlich des Wochenliedes EG 67) – in Wirklichkeit noch einmal ein frisches Zeugnis der damaligen Jugendkultur und ihrer kompromisslosen Leidenschaft vor uns.
Eine junge Frau vom Ende der Welt hat es geschrieben, und schon das macht deutlich, welche Bewegung damals mit dem Aufbruch der reformatorischen Jugend in Gang kam: Plötzlich hört man eine weibliche Stimme nicht nur im geschützten Raum der Klöster, weil ihre Dichtung in der Volkssprache tatsächlich für die Gemeinde, für die Andacht von Alt und Jung, Mann und Weib, Groß und Klein gedacht ist; … und dann kommt diese erste evangelische Dichterin auch nicht aus Nürnberg oder einer der anderen großen, stolzen, südwestdeutschen freien Reichsstädte, sondern aus dem entfernten, randständigen, wenig kultivierten Pommern! Dort in der stillen Weite des deutschen und slawischen Ostens ist Elisabeth von Meseritz in der Nähe von Schivelbein zur Welt gekommen … und alsbald wieder aus der Welt geschieden, als sie ganz jung ins Kloster Marienbusch in Treptow an der Rega eintrat**.
… Tiefer kann die Provinz nicht schweigen, sicherer kann das Vergessen nicht über einem Mädchenleben beschlossen sein, als wenn so ein junges Fräulein aus pommer’schem Adel um 1515 bei den Prämonstratenserinnen verschwindet.
Doch Elisabeth von Meseritz taucht auf!
Angesteckt vom Rektor der Treptower Stadtschule – Johannes Bugenhagen, dem späteren Reformator Pommerns – wird sie in die aufregende Lese-, Sing- und Glaubensbewegung hineingerissen, die von Wittenberg aus die jungen Köpfe und Herzen ergreift und die Kirche verjüngen und befreien will.
Elisabeth von Meseritz lernt bei Johannes Bugenhagen, dass Gott durch Wort und Geist alle Getauften ruft und in ihnen allen Antwort und Vertrauen sucht: Sie selber soll Ihn unmittelbar hören, sie muss, nein … sie darf selber an Ihn glauben und dann kann auch sie nicht anders, als davon zu reden und darum zu handeln und mit beidem zu bezeugen, dass sie – die Jungfer Elisabeth – eine von Gott Berufene und Befreite und Begnadete ist. Das hat sie noch in Treptow zur Seelsorgerin gemacht – man kennt von ihr einen warmherzigen und freimütigen Brief an einen in Berlin getauften Juden namens Joachim –, und es hat sie bald aus ihrem pommerschen Kloster getrieben.
1521 macht sie sich davon.
Ihr Ziel: Wittenberg, wo Bugenhagen gerade Pfarrer an der Stadtkirche wird und sie in sein Haus – bald das Haus eines verheirateten Predigers! – aufnimmt.
Dort also, im Zentrum der reformatorischen Anfänge, als Augen- und Ohrenzeugin dessen, was christliche Freiheit und Christusbindung bedeuten, dichtet die junge Elsa Meseritz (wie Luther sie nennt) das älteste Christuslied des evangelischen Glaubens.
Luther nahm es schon 1524 in sein Erfurter Handbüchlein für die singende Gemeinde auf, … wenngleich ohne die Verfasserin zu nennen, die erst 6 Jahre später in einem Gesangbuch namentliche Erwähnung findet. Auf alle Fälle aber gehört seit den ersten Anfängen unseres Gemeindegesangs dieser „Lobsanck von Christo“ der jungen Elisabeth aus Pommern zu den unveräußerlichen Kostbarkeiten unserer Kirche†.
Denn was die Dichterin da zu einem großen Bekenntnis- und Gebetslied für jeden Glaubenden verschmolzen hat, das stammt aus dem geistlichen und künstlerischen Reichtum, aus den biblischen und liturgischen Schatzkammern des gesamten Christentums; und genau das ist ja die unbekümmerte, vitale Leistung der Generation junger Reformatorinnen und Reformatoren: Dass sie, was verschlossen und geheim gehalten und den Spezialisten und dem Staub überlassen war, radikal für jedermann zugänglich und greifbar und eindringlich und lieb machten.
In unserer demokratieverachtenden Zeit ist es darum keine belanglose Selbstverständlichkeit mehr, zu betonen, dass tatsächlich der Aufbruch zum Priestertum aller Gläubigen eine Demokratisierung brachte: Nicht nur Gelehrte oder Kleriker, nicht nur heiligmäßige Ordensleute oder privilegierte Einzelne, sondern alle Getauften insgesamt sollten ein echtes, freies, grundlegendes Christusverhältnis finden, und dazu gehörten das Recht und die Fähigkeit, Christus auch selber anzusprechen, ihn in Gedanken und Worten zu begreifen und zu erschließen und ihm dann in allen Erfahrungen und Anliegen des Lebens zu begegnen und zu folgen!
Damit das aber die Grundbeziehung des Lebens und eine natürliche Ausdrucksmöglichkeit unseres Bewusstseins werden kann, müssen wir solche Kommunikation, solchen Austausch, solche Zuwendung und ihre Muster lernen.
Ein solches Urvertrauen – und um nichts anderes geht es! – muss das rationale und das emotionale System erfüllen, muss also in Empfinden und Sprache über- und aufgehen.
Diesen Dienst auch an anderen zu leisten, hat nun Elisabeth von Meseritz mit dem hemmungslos kühnen Selbstvertrauen einer Zwanzigjährigen gewagt. Alles, was sie gelernt hat, alles, was es an großartiger Überlieferung in den Gottesdiensten und der Meditation ihres Lebens hinter Klostermauern gab, hat diese junge Frau in die Kirchen, die Gassen und Häuser der neuen evangelischen Welt gebracht: Da sind Anklänge an einen feierlichen Weihnachtshymnus aus dem 5.Jahrhundert auf den Grundstock der vielen biblischen Zitate gepflanzt, da gibt es Vorwegnahmen von Luthers Katechismusformulierungen und es gibt unbeirrte und ganzheitliche Rückgriffe auf die Bekenntnistexte der Alten Kirche*†.
Getränkt, gefärbt und durchdrungen aber ist das alles, was sie da den Leuten vermitteln und im besten Sinne gemein machen will, durch die persönlichste Mitgift unserer ersten Dichterin: Sie hatte in Marienbusch als Ordensfrau ja das mystische Gebet zu üben gelernt, das eigentlich nichts anderes als die unverkrampfte, fließende, offene, wortlose Sprache des menschlichen Herzens ist, wenn es sich zu Gott wendet.
Und genauso singt sie nun auch, und es gelingt ihr dadurch Erstaunliches:
I. Ganz und gar überirdisch, ja astral fängt ihr Christussang an, … in einer mysteriösen Höhe, im Innersten Gottes, im vorzeitlichen Schweigen der universalen Schöpfungsenergie. Von dieser eigentlich unzugänglichen Ebene jenseits von Raum und Zeit aber, in der das Geheimnis aller Wirklichkeit noch in Gottes Herz verschlossen ist, gleitet das Lob in der Stille zwischen der ersten und der zweiten Strophe durch die gesamte Ur- und Welt- und Heilsgeschichte bis an die Schwelle kurz vor deren Ziel: Da, wo Gottes uranfängliche Liebe wie ein Sternennebel, der sich zu Materie verdichtet, Mensch werden will.
II. Es ist ungeheuer, was sich da zwischen dem schöpferischen Mysterium und dem vorletzten Akt der Menschheitsgeschichte tut und wie Elisabeth von Meseritz es in vier Schritte konzentriert: Als Gottes Sohn Mensch wurde, da entlud sich die gewaltig in der Ewigkeit angestaute Liebe in drei geradezu explosiven Durchbrüchen. Der Tod wurde vernichtet, der für die Menschen unzugängliche Himmel wurde aufgesprengt und das zum Aussterben verurteilte geschöpfliche Leben erfuhr eine Transformation, die es wieder zukunftsfähig machte. Doch diese endgültige Dynamik, diese machtvollen Geschehnisse haben auf den Menschen bezogen eine ganz zarte Seite. Was immer dabei zerstört werden muss: Es geschieht „für uns“, bekennt die Sängerin. Unsere schutzlose sterbliche Verletzlichkeit bedroht der kosmische Triumph des Lebens und das Sterben des Todes also in keiner Weise; für eine junge Frau des 16.Jahrhunderts wird diese Verschonung wunderbar und zugleich physisch real nachvollziehbar in der jungfräulichen Keuschheit der Mutter des Gottessohnes, die es nicht zerriss, als sie der leibliche Schutzschild eines menschwerdenden Sternes wurde††.
III. Darum kann auch die junge Sängerin ohne alle Furcht sich die physische Erfahrung, die Einverleibung Christi wünschen: Als geistige Erkenntnis und körperliches Empfinden will sie seine Gegenwart erleben, will zunehmen und sich ernähren von der Beziehung zu Christus … und gleichzeitig sich danach verzehren. Ihren Verstand und ihre Leiblichkeit stellt sie ihm also zur Verfügung, weil sie überzeugt ist, dass nichts an unserem Leben ohne ihn stimmt und schmeckt. Umgekehrt aber nimmt sie ihn so sehr auch in allem ganz Profanen und Zeitlichen wahr, dass sie ihn in ihrem Herzen „hier“ schmecken kann … auf den Straßen Wittenbergs, im sächsischen Alltag, im Abenteuer des neuen evangelischen Glaubens mitten in der Welt!
IV. Damit allerdings diese wirkliche Herausforderung eines Gottesdienstes im Alltag der Welt gelingen kann – eine Herausforderung, in die sich die jungen Wilden damals stürzten, als sie die alten pädagogischen Regeln und die klaren Strukturen des klösterlichen, des geweihten Lebens verließen – … damit also das evangelische Leben nicht einfach in der Fläche von Gewohnheiten und Pflichten des weltlichen Berufs und Daseins versandet, kehrt Elisabeth in ihrer Bitte noch einmal zur väterlichen, schöpferischen Macht, die in Christus zu erfahren ist, zurück. Sie bittet ihn um Orientierung, um die ständige Anziehungskraft, die er auf die innere Kompassnadel eines jeden von uns ausüben muss, damit wir uns nicht nur im Kreis um uns selber drehen.
V. Das Vertrauen darauf, dass ein auf Christus konzentriertes Leben für jeden Menschen wirklich möglich ist – und das war und bleibt ja die Faszination der reformatorischen Entdeckung! – das Vertrauen darauf, dass wir tatsächlich in der Welt anders und immer wieder neu verändert, verjüngt und frei leben können: Davon spricht die letzte Strophe mit ihrem radikalen Impuls, dass die Taufe tagtägliche Konsequenzen hat. Paulus ist es, der das Ende und den Anfang, die die Taufe bedeutet, als Erster ausgesprochen hat (vgl.Rö6!). Für Luther und für Elisabeth von Meseritz aber, in ihrer jugendlichen Hartnäckigkeit war das Bild vom Mitsterben und Mitauferwecktwerden kein Symbol mehr, sondern für sie drückt es die Tagesaktualität der Christusgemeinschaft aus: Immer wieder und immer weiter, ununterbrochen, fort und fort im zeitlichen Fluß des Lebens passiert uns Christen Christus, teilen wir ganz akut und ganz konkret seinen Weg. Wir gehen von Sterben zu Sterben und von Auferweckung zu Auferweckung, weil unser ganzes Leben eben das ist: Eine Einbindung in die Umkehrung der todverfallenen Welt zum Leben, eine ständige, radikale Erneuerung, die aus der Kraft des Gottes Sohn, aus der Kraft der uranfänglichen, schöpferischen und rettenden Liebe Gottes lebt.
In diesem gewaltigen Bogen verläuft das erste Christuslied der evangelischen Kirche: Aus dem himmlischen Mysterium durch die Geburt Christi hinunter bis zum Tod, in den uns die Taufe mit Christus wirft, um dann in wunderbarer Gemeinsamkeit mit ihm die Freiheit zum neuen Leben zu erfahren, die hier schon anfängt und in die himmlische Gegenwart zurückführen wird.
Aus dem Herzen des Vaters kommt Christus, der „für uns“ ist, wie „geschrieben steht“, denn er weist uns den Weg, den die drei letzten Strophen so kunstvoll beschreiben: „Nach dir“, „von dir“ und „zu dir“! ———
Derart dicht und echt und groß und glühend haben wenige nach Elisabeth von Meseritz das ganze christliche Bekenntnis in biblischen und klassisch theologischen Wendungen besungen.
Man spürt an diesem Lied tatsächlich die Kraft des Anfangs, das ausgreifende und leidenschaftliche Pathos des Jungseins.
Sehr viel mehr blieb seiner Dichterin auch nicht.
1525 heiratete sie Caspar Cruciger, einen jungen Theologen, der wie sie für die evangelische Sache brannte. Doch sie selber starb bereits mit knapp dreißig Jahren. Lange nach ihrem Tod wurde sie durch die Heirat ihrer Tochter Elisabeth mit Hans Luther zur Großmutter der Reformatorenenkel. …….
Sie selber aber blieb so jung wie ihr Lied.
Etwas seinerzeit jugendlich Verwegenes wird von ihr allerdings tatsächlich noch überliefert:
„Des Herrn D.Casp. Creutzigers erster Haußfrau traumete / wie sie in der Kirchen zu Wittenberg öffentlich predigte. Als sie nun solchen Traum ihrem Herrn erzehlete / hat er darauf gelacht / sagend / vielleicht will unser lieber Gott euch so würdig achten / daß euer Gesänge / damit ihr zu Hause umgehet / in der Kirchen sollen gesungen werden.“‡
Heute war sie auf der Kanzel zu hören.
Und sie ist würdig, dass wir sie und den frischen Anfang unseres Bekenntnisses in ihrem Lied lebendig und jung halten.
Amen.
* Dass Luther selbst die Disputation in Heidelberg als einen Generationenbruch empfand, belegt Lyndal Roper (dies., Der Mensch Martin Luther – Die Biographie, Frankfurt 2016, S.142): „Er lasse die »wahnerfüllten Greise« jetzt hinter sich wie Christus die Juden, schrieb Luther in einem bösen Vergleich am 18.Mai an Spalatin.“
** Über Elisabeth Cruciger informiert umfassend (nach dem bedauerlich geringen Kenntnisstand, der gesichert sein dürfte) z.B.: Martin Rößler, Liedermacher im Gesangbuch – Liedgeschichte in Lebensbildern, Stuttgart 2001, S.127-145.
† Zu „Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ vgl. den Beitrag der Cruciger-Expertin Christa Reich in: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, hgg v. G.Hahn und J.Henkys, Heft 2, Göttingen 2001, S.48-54.
*† Einen Eindruck der verschiedenen Quellen und impliziten Zitate hinter dem Lied – die vom Hymnus „Corde natus ex parentis“ und Anleihen am Nicänoconstantinopolitanum über Anklänge bernhardinischer Mystik und Aufnahmen Luther’scher Formulierungen reichen – versuchte eine im Gottesdienst verteilte Collage anschaulich zu vermitteln.
†† In der zweiten Strophe finden sich in der heutigen Fassung im EG die stärksten Abweichungen von Elisabeths Original, in dem es heißt: „Fur uns ein Mensch geboren / ym letzten teil der zeyt, / Der mutter unverloren / yhr yungfrewlich keuscheyt / …“.
‡ Hier zitiert nach dem Beitrag zu Elisabeth Cruciger den Ulrike Grüneklee im Rahmen des Projektes „Musik und Gender im Internet“ (Hochschule für Musik und Theater, Hamburg) veröffentlicht hat. Zugänglich unter: mugi.hfmt-hamburg.de/artikel/Elisabeth_Cruciger.pdf
4.n.Epiphan. 29.01.2017 Stadt- und Mutterhauskirche Matthäus 14,22-33 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 4.n.Epiphan. - 29.I.2017
Matthäus 14, 22-33
Liebe Gemeinde!
Außer der Wissenschaft hat niemals ein Christ den Seewandel des Petrus wörtlich genommen. Niemals ist ein Christ aus einem Boot gestiegen oder von der Hafenmauer geklettert, um dann weiter über das Wasser zu marschieren, weil das doch schließlich im Evangelium vorgeführt wird.
… Nur die sog. Wissenschaft hat versucht, den aberwitzigen Weg über die Wogen des Genezareth irgendwie wasserdicht plausibel zu machen. Im 18.Jahrhundert erklärte man nüchtern-findig, warum es Jesus gelang trockenen Fußes über geheime Steine im See oder einen ihm bei Trockenheit aufgefallenen Wall unter dem Wasserspiegel zu gehen. Im 19.Jahrhundert stellte man dann kritisch fest, dass Jesus in Wahrheit überhaupt nirgends – folglich weder zu Wasser noch zu Land! – unterwegs war, weil er ja doch nur eine obskure Phantasiegestalt darstellte. Und im 20.Jahrhundert schließlich entdeckte man, dass alles, was die Evangelien enthielten, starke Bilder und tiefsinnige Symbole seien, die bei den alten Ägyptern, den griechischen Heroen, den buddhistischen Legenden genauso vorkamen und eine menschliche Ur- und Allerweltswahrheit bedeuten, in die man auch Jesus einzeichnete.
Demnach wäre Jesus also über das Wasser gegangen, weil er entweder schlau war oder eine Fiktion oder weil es sich für Religionsstifter und spirituelle Lichtgestalten einfach so gehört.
Doch so wörtlich wie solche abstrusen Erklärungen hat niemals ein Christ diesen Bericht genommen. Alle verstanden ganz ohne Aufklärung und Nachhilfe, dass es nicht um Veränderungen der physikalischen Eigenschaften von H2O unter Einwirkung der Schwerkraft eines soliden Körpers ging. … Denn alle Christen wussten ja, dass Paulus vor Malta ersoffen wäre, hätte er nicht ein Wrackteil gegriffen und wie die anderen Schiffbrüchigen prustend und kämpfend an den Strand gerudert (vgl.Apg27,43f). Und sogar vom Patron der Seeleute, dem großen ökumenischen Heiligen Sankt Nikolaus wusste man im Mittelalter zu erzählen, dass zwar eine Erscheinung wie die des Bischofs einst eine ganze ertrinkende Schiffsmannschaft gerettet habe, … doch als die dankbaren Matrosen auf weichen Knien an Land den Heiligen aufsuchten, lehrte er sie, das erlebte Wunder „der Barmherzigkeit Gottes und ihrem Glauben, nicht aber seinem Eingreifen zuzuschreiben“*.
Christen wussten also immer, dass Wasser nicht trägt. Selbst den ersten Jünger Petrus, in dem man den Felsen der Kirche sehen durfte, hatte ja als sein Mut sank der See verschluckt. Auch ein Papst geht also baden. Wer auf’s Wasser tritt, geht darin unter. Amen.———
Und dennoch sind das Christen, die den Seewandel Petri, den Weg hinaus auf den gähnenden Abgrund immer, immer wieder gewagt haben.
Denn so viel war und bleibt klar: Das Wunder und das Abenteuer und das Scheitern und die Rettung, deren Zeuge man auf den Schaumkronen des stürmischen galiläischen Gewässers werden kann, sie sind keine Anekdote, keine Schilderung einer einmaligen Begebenheit, sondern ein Grundkurs im Glauben, eine Einführung ins Christentum.
Wort für Wort und Sequenz für Sequenz führt dieser Bericht uns selber also ein in das, was uns erwartet oder was wir vermeiden, wenn wir uns Jesus Christus ausliefern oder ihm verweigern:
Da ist zunächst die Unnahbarkeit Jesu, der seine treusten Freunde abschüttelt und alleine lässt.
Wie er sich entzieht und wie er verschwindet, wie er die Seinen von sich weist und sie sich selber überlässt, das ist die ernüchternde erste Erfahrung, die alle machen, die eigentlich einen Vormund, einen Aufpasser, einen allmächtigen Beschützer in ihm suchen. Wer meint, man könne sich durch Glauben die behütete Unselbständigkeit eines kleinen Kindes zurückholen, der irrt. Jesus ist kein Kindermädchen. Christen müssen ohne seine Hand am Kragen, ohne seine Lenkung das Steuer selber übernehmen. … Und immer wieder haben sie und müssen sie erfahren, dass der Wind ihnen dabei entgegensteht, dass die Welt wetterwendisch ist und die glatte Sicherheit, in der man sich noch eben wiegte, umschlägt in tosende Verwirrung.
Will man das? Bleibt man nicht besser im bekannten Leben – ganz bei sich –, als so unsichere Fahrt zu wagen? —
Denn wenn die Verunsicherung erst einmal da ist, wenn die Orientierung uns erst einmal schwerfällt und um uns herum Erschütterung und Schwanken einsetzen – wir werden in den nächsten Jahren alle Gelegenheit genug haben, das zu erfahren! – … wenn erste Strudel, erste Sturmböen einen ergreifen, dann ist die Jesus-Erfahrung, die Jesus-Sentimentalität, die Jesus-Harmlosigkeit auf einmal wie weggeblasen. Das ganze vertraute Gefühl, auf dem rechten Kurs zu sein, verfliegt. Und der, an dem sich unsere Sicherheit festmachte, .. der, der moralisch und seelisch unser vermeintlicher Kompass war: Der löst sich auf. Bei Gegenwind, wenn wir das Flattern kriegen, gerät so viel durcheinander, dass Gewissheit schnell über Bord geht, … die Gewissheit, dass es diesen Jesus gibt, dessen Ausrichtung man auch in Turbulenzen trauen kann. Und wenn er in den Stunden tiefster Dunkelheit dann doch tatsächlich auftaucht – der, dessen Möglichkeiten wir längst in den Wind geschlagen hatten –, … dann ist er für viele bereits erschreckend fremd geworden. „Ein Gespenst“ … ein beunruhigender Gast aus der Unwirklichkeit. Jesus, der den Gefährdeten zur Gefahr zu werden scheint.
Will man das? Ist es in wirklicher Bedrohung nicht besser, sich auf sich selbst und eigene Mittel zu verlassen, als den undenkbaren Weg zu gehen? —
Wenn aber einer doch den unmöglichen Weg, den Jesus geht, zu gehen bereit ist – den Weg über’s Nichts, den Weg durch lauter Tod –, dann kommt das Schlimmste, … dann muss er das Boot – kaum noch sicher, aber doch immer noch ein paar Bretter und Nägel und Leinwandfetzen – … dann muss er tatsächlich das trudelnde Boot, in dem doch alle miteinander sitzen, verlassen. … Falls es da draußen auf dem Meer, das Untergang droht … falls es da draußen wirklich einen gibt, der Jesus heißt und wie Gott selber sich durch das Heulen meldet als der „Ich bin“, ……. falls man sich das überhaupt vorstellen kann, sich so ins Ungeheure gähnender Gefahr zu stürzen, weil man Jesus dort vermuten muss …, dann kann man auch das nicht selber schaffen, dann braucht es auch noch die Bitte: Befiehl mir, dass ich mich von allen anderen löse. Befiehl mir, dass ich mich völlig alleine traue. Befiehl mir, dass ich Dir glaube, denn ich kann es alleine nicht.
… Und dann der Schritt hinaus.
Der Mensch, der auf’s Bodenlose tritt.
Füße, unter denen nur Abgrund bleibt. …….
Will man das? Ist das nicht als Risiko zu hoch, einen Weg ohne Weg, einen Schritt ohne Halt, einen Sprung ins Leere zu unternehmen? —
… Und doch haben Christen Petri Ausstieg immer so verstanden und beherzigt.
Es ging nie um nasse Füße, nie um ein physikalisches Wunder. Es ging nie darum, dass sicherlich einmal zwei Menschen auf dem See Genezareth etwas erlebt haben, das niemand je erklären konnte und erklären wird. Sondern es ging immer darum, dass Petrus, der dort über das Wasser taumelte, auf dem Jesus ihn erwartete, uns etwas ahnen lässt von unser aller Bestimmung als Christen. … Nämlich den Halt aufzugeben, der uns vermeintlich hält. Und auf Jesu Wort hin auszusteigen und von nichts mehr gehalten zu werden.
Nicht das Wunder des Wandelns auf dem Wasser wird uns hier also vor Augen gestellt. Sondern der Abgrund, den wir Glauben nennen. ——
Wir wissen sonst, was uns trägt. Wir können es untersuchen und beweisen, wir können uns darauf verlassen und können uns sogar leisten, schon gar nicht mehr nachzudenken über die Tragfähigkeit des Bodens, auf dem wir selbstverständlich leben, gehen, stehen und bleiben. Er ist einfach da und bricht nicht weg. Er gibt uns so viel wünschenswerte Sicherheit, dass wir tatsächlich vergessen, worauf wir fußen und welche Schwerkraft uns beständig beisammenhält. Wer so unausweichlich auf dem Boden der Tatsachen lebt wie wir, der muss sich keine Rechenschaft mehr geben, was sein Fundament ist. Er hat schlicht Haftung – denn auf und davon flattern wir ja doch nicht … auch wenn uns manchmal ist, „als flögen wir davon“ (Ps.90,10).
Aber Glauben führt weiter.
Er kennt Tatsachen.
Er wurzelt in der wirklichen Geschichte Gottes mit Israel und im Leben, Sterben, Auferstehen Jesu.
Der Glaube kann auf diesem Grund weite, weite, sichere Strecken zurücklegen.
Doch irgendwann ist der längste Weg der Glaubenssicherheit durchmessen.
Dann führt nur noch ein breiter Steg, der schon Tausende Christen vor uns fraglos gehalten hat, weit hinaus über das Ufer aller unserer Tatsachen und Erkenntnisse. … Wer auf diesen Steg tritt, der hat das Festland des Wissens hinter sich gelassen und unter seinen Füßen spülen und spielen Zweifel und Hoffnung wie Ebbe und Flut. … Allerdings: Auf den Steg, den die anderen errichtet haben, die sich weit in das Gebreit der Möglichkeiten, auf das Meer der Verheißung, den Ozean der Zukunft vorarbeiteten … auf den Steg ist lange Verlass. Da haben so viele schon es gewagt, sich von der irdischen Begrenzung unsrer Sicherheit nicht festlegen zu lassen, … so viele sind schon hinaus auf die endlose Fläche des Wassers gegangen, ihre Hand auf einem Geländer, das die Sehnsucht nach Gott, nach Gerechtigkeit, nach der Wahrheit gebaut hat, ihre Füße auf den Brettern, die die Überlieferung für uns zimmert, und sie haben etwas vom großen, freien, stürmischen Atem, sie haben etwas von der Weite der Wirklichkeit gefunden.
Und außerdem zeigt sich von dort aus – von dieser Brücke in das Unbekannte – plötzlich auch die feste Landschaft des Ufers ganz anders, so dass man sich fragt, warum es denn auf dem Boden der Tatsachen und des Verstehens so eng, so ohne Weitsicht, so starr, so stickig zugeht, … warum Hass dort stärker als Vertrauen wirkt, warum Angst beständiger ist als Großzügigkeit, warum Menschen einander mehr Leid zufügen, als Gnade erweisen können, wenn es doch bloß ein wenig außerhalb des Festgefügten schon so unverständlich ist.
Und dann erreicht man das Ende des Steges.
Wissen und Verstehen, Hoffen und Zweifel sind dann so weit abgeschritten wie nur möglich.
Dort draußen, an der Abschlusskante dessen, wohin alle Weisheit und Erkenntnis der Menschheit und ihrer Errungenschaften reichen, … dort draußen ist nichts mehr selbstverständlich: Dass die Welt unumstößlich so sein und bleiben müsse wie an Land, wo alles in Stein gemeißelt ist, … das kann man von dort draußen nicht gelten lassen. Dazu ist die Welt zu böse und das Leiden in ihr zu schwer. Sich auf die alten Standpunkte dort zurück zu ziehen, den Weg über den Wassern einfach wieder rückwärts zu gehen und so zu tun, als müsse man fest in der Totenstarre dessen, was schon immer so war, hängen: Das ist unmöglich.
Zwar ist das Brausen über den Wassern schrecklich.
Das aufgewühlte Element ist furchtbar, die Verlassenheit mitten im Unbekannten auch. …….
Aber immer haben Christen – ob als furchtlose Märtyrer oder innerlich freie Mystiker oder mutige Revolutionäre oder selbstlose Täter des Gerechten – immer haben Christen gespürt, dass ihr Weg sie fort von den Verankerungen und Beschränkungen und Verkettungen des Bekannten trägt und dass sie über die Sicherheit der Welt und ihr Misstrauen hinausgehen müssen, … können. Dabei war es entweder letzte Not oder auch grenzenlose Hilfsbereitschaft, manchmal auch schlicht eine Liebe, die alles Schwere und alle Fesseln abwirft, die dazu führten, dass Christen vor uns – obwohl sie wussten, dass Wasser sie nicht tragen kann – den Schritt in die reine, endlose Offenheit getan haben.
Sie waren voller Furcht und ihnen allen war klar – seit Petrus auf dem See Genezareth den Schritt tat, der trotz des Auftriebs seines Glaubens sein Verderben bedeutet hätte – … ihnen allen war klar, dass nichts sie dort auffangen, nichts ihren jähen Sturz hindern würde … sie alle wussten, dass jenseits des letzten Festen der freie Fall droht.
Nichts fängt uns auf, wenn wir den Schritt über alles hinausgehen müssen, weil die Zeit es von uns verlangt oder das Leben keine andere Wahl lässt oder der Glaube es fordert.
Nichts fängt uns auf im Nichts.
Glauben ist der Schritt in dieses Nichts, in diese ungesicherte, unermessliche Offenheit, von der wir nichts wissen, in der uns nichts aufhalten kann.
Nichts fängt uns auf.
……. Nur jemand: Der uns im freien Fall, in der grenzenlosen Fremdheit, in der Öffnung der Tiefe, im Brüllen der Angst und sogar im Schweigen des Todes hört.
Und das nehmen Christen wörtlich.
Wenn wir den Schritt auf Ihn zu wagen – selbst, wenn nichts trägt, nicht einmal unser Glaube … dann ist da doch Er!
Seine Hand, Sein Arm sind da über dem Wasser, über der Tiefe.
In sie hinüber zu gehen über das Nichts, ist das wahre Ziel.
Von ihm gehalten zu werden in der allergrenzenlosesten Offenheit: Das ist das Leben.
Denn Er ist wahrhaftig Gottes Sohn.
Herr, rette mich!
Amen.
* So in der Legenda aurea des Jacobus de Voragine (zitiert nach: Legenda aurea, ausgew., übers. und hg. von R.Nickel, Stuttgart 1988 [Reclams Universal-Bibliothek Nr.8464], S.41).
3.n.Epiphan. 22.01.2017 Stadtkirche Johannes 4,46-54 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.n.Epiphan. - 22.I.2017
Johannes 4,46-54
Liebe Gemeinde!
Wir haben Glück beim Reformationsjubiläums: Die Predigttexte dieses Jahres stammen nämlich überwiegend aus den Evangelien und dem Alten Testament, nicht aus den Paulusbriefen. Daher werden wir nicht die gegenseitige Verstärkung erleben, dass wir Luther durch Paulus und Paulus durch Luther erklären und eine einzige evangelische Selbstverständlichkeit dabei herauskommt. Stattdessen finden wir – gerade zum Zentralbegriff der evangelischen Konfessionen, … zum Begriff des „Glaubens“ – ganz andere Fährten gelegt, als jene Spur, der wir gewohnheitsmäßig nachgehen: An deren Anfang steht immer der Zweifel und die Not, ob Gott gnädig gestimmt werden könne, und an ihrem Ziel übernehmen wir das luther’sche Bekenntnis, dass wir durch Vertrauen auf die uns zugesagte Gerechtigkeit Jesu Christi aus der tödlichen Unsicherheit erlöst und in die herzliche Gewissheit der Gerechtfertigten versetzt werden. … Das ist evangelischer Glaube in seiner inneren Verlaufsform.
Heute hören wir aber von einem anderen Laufen und Verlaufen auf den Wegen zum Glauben und von Abläufen und Zuläufen zur Schar der Gläubigen, die nicht nach luther’schem Lehr- und Drehbuch vor sich gehen: Nicht innere Not steht dabei am Anfang, sondern äußerste Krankheit, … nicht Zweifel, sondern Verzweiflung. Und nicht das persönliche Ergehen, sondern ein sterbendes Kind.
Dieses sterbende Kind, das verlöscht wie das Morgenlicht an einem Sturmtag, diese verblutende Hoffnung löst blanke Panik aus, … keine komplizierten, verschlungenen, theoretischen Skrupel, sondern den Aufschrei von Eltern und Angehörigen, den Widerstand gegen die schreiende Ungerechtigkeit des Todes.
Und getragen von diesem völlig unmittelbaren Leidensdruck kommt ein von den Furien verfolgter Mann aus dem Jesus wohl vertrauten Kapernaum – das übrigens buchstäblich „Mitleidshausen“ oder „Erbarmensdorf“ heißt – … kommt also ein untröstlich Gequälter nach Kana gelaufen, wo der Mann aus Nazareth sein erstes Wunderchen tat.
… Denn im Vergleich zu dem Schmerz, den der Vater des todgeweihten Sohnes nach einem halben Tagesmarsch fort vom Sterbelager in seiner Seite stechen fühlt, ist die kleine gastronomische Verlegenheit damals bei der Hochzeit, als der Wein zu rasch ausgesoffen war, ja lächerlich. Damals aber hat Jesus Mitleid gehabt, hat sich von seiner mitleidigen Mutter jedenfalls schubsen lassen. Und danach, in Jerusalem, im Haus seines himmlischen Vaters, dem Tempel, da hat er auch Leidenschaft bewiesen: Wie er da den Geschäftemachern, den Händlern und Wechslern alles kurz und klein schlug und das heilige Haus von den Hehlern, die einen Deal aus allem machen, reinigte, das berichtet der Evangelist Johannes als das zweite öffentliche Ereignis im Leben Jesu (vgl.Joh2!).
Jesus kann also helfen und er kann zerstören.
Und als Drittes ist nun sein starkes Eingreifen gefragt, sein Eingreifen dort, wo es nicht mehr um Konventionen, wie bei der Gästebewirtung einer Hochzeitsgesellschaft und auch nicht mehr um Richtig oder Falsch, Rein oder Unrein wie bei der Ehrfurcht vor dem Heiligen geht, sondern auf Leben und Tod.
Tod oder Leben stehen nunmehr auf dem Spiel. In Kana, wo die wunderbare Nähe Jesu zum ersten Mal plätschernd in Krug und Becher zu erleben war, da geht es nun also nicht plätschernd weiter, sondern ganz oder gar nicht.
Versteht dann aber jemand den Seufzer oder den Vorwurf Jesu, mit dem er den atemlosen, verzweifelten Vater anredet: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht!“?
Will Jesus nach dem Weinwunder und der Tempelreinigung etwa nur noch Seelsorger und Lehrer sein, so wie er es inzwischen für Nikodemus, den theologisch Verwirrten und für die Samariterin, die Therapie-Bedürftige war (vgl.Joh3 und 4,1-42)?
Ist der Glaube, der aus dem Hören kommt, anders, … ist er wertvoller als der, der aus der Panik und dem Staunen kommt?
Das meinen wir zwar immer mit unserem Paulus-Training.
Das behauptet auch ein so guter Paulus-Kenner wie der berühmte Rudolf Bultmann, dessen „Entmythologisierung“ natürlich die Zeichen und Wunder als Nebensachen, als naive Vorstufen des eigentlichen Glaubens beiseiteschiebt.
Glaube beruht nicht auf Erfahrungen des wirklichen Handelns Gottes, sondern auf der Erkenntnis, wer dieser Gott ist, der sich in Jesus Christus offenbart: So kann man das allgemein verbreitete, sehr von Paulus, stark von Luther, mehr noch aber von Bultmann geprägte Verständnis der klassischen evangelischen Theologie beschreiben. Das ist ihr aufgeklärter Grundzug, ihr entmythologisiertes, dadurch aber auch abstrakt gewordenes Grundmuster.
… In der Sprache unserer verunsicherten Zeit müsste man dieses Verständnis eigentlich „postfaktisch“ nennen.
Tatsachen und Ereignisse als Glaubensgrund und Glaubensstütze sind dem eigentlichen Glauben entbehrliche Hilfsmittel. Er braucht sie nicht. Im Gegenteil: Ein verächtlicher Unterton hat sich eingeschlichen, wenn wir vom „Wunderglauben“ als einer mittelalterlichen oder kindlichen oder katholischen oder fundamentalistischen Vorstufe des abstraktionsfähigen rationalen Glaubens reden, der nicht mehr „an etwas“ glaubt, sondern bedingungsloses – d.h. aber auch unbegründetes – Vertrauen ist, … reines Glauben, …Glaube als solcher und an sich.
Diese Theologie, diese Theorie hat für uns moderne Leute zweifellos, … besser: wegen unseres Zweifel-Loses viel für sich. … Nur nicht die Bibel!
Denn vom Auszug aus Ägypten an sind die machtvollen Taten, die Zeichen und Wunder Gottes der Boden, der Tatsachengrund für den Bund. Und Israel hat sich selbst immer wieder angeklagt, nicht dass es irgendeinem Dogma in seiner Geschichte untreu wurde, sondern weil es ausgerechnet geschichtliche Erfahrungen, das Eingreifen Gottes in dieser Welt vergaß: „Sie hielten den Bund Gottes nicht und wollten nicht in seinen Gesetzen wandeln und vergaßen seine Taten und Wunder, die er sie hatte sehen lassen“ heißt es im Psalm (78,10f).
Und wenn tatsächlich einmal etwas im Nebel der Geschichte verschwamm – so wie die nachbiblischen Ereignisse am Jerusalemer Tempel unter den Nachfolgern Alexanders d.Gr., die beim jüdischen Chanukka-Fest gefeiert werden –, … wenn also wirklich einmal niemand mehr Genaues sagen konnte vom rettenden Eingreifen Gottes, dann blieb doch die Grundbotschaft der eine Satz, auf dem die Chanukka-Tradition bis heute beruht: „Ein großes Wunder geschah dort“.* ———
So sehr das also in unseren Köpfen knirscht, die von Gott nichts wirklich erwarten, weil wir das Naturgesetz und die Wahrscheinlichkeit und den Zufall als die Dreieinigkeit des wissenschaftlichen Zeitalters verehren, … so sehr es in unseren Köpfen also Anstoß und Wirbel erregt, die Realität und Gott einander berühren und durcheinander bringen zu lassen, so stehen wir hier doch auf einer Kreuzung, vor einem vexierenden Wegweiser. Wir können in die uns vertraute, schnurgerade Richtung der reinen Rationalität gehen … und erleben, wie wir plötzlich doch bloß in unserer eigenen Theorie landen, oder wir folgen dem Arm, der uns in die Wirklichkeit weist, …dort lauern allerdings Überraschungen, womöglich sogar Wunder!
… Biblisch aber werden wir zu letzterem Weg ermutigt. Wer ihm folgt, kann sich nie sicher sein, dass alles so kommt, wie vorhersehbar und erwartet. Aber nach dem Zeugnis Israels und der Gemeinde Jesu Christi begegnet Gott dort, wo wir nicht das Naturgesetz, die Wahrscheinlichkeit, den Zufall walten lassen, sondern uns trauen, gegen deren geballte und erwiesene Übermacht aufzubegehren und gegen sie anzuhoffen, anzubeten, anzulaufen..
Der Satz Jesu, der helfen und zerstören kann, dass ohne Zeichen und Wunder bei den Menschen kein Glaube entsteht, der Satz, dass Wunder und Glaube „zuhauf gehören“†, ist also – bedenkt man die tiefe biblische Verbindung beider – vielleicht gar nicht der Rüffel, als den wir ihn mit unseren von Paulus geschulten Bultmann-Ohren immer hören. Vielleicht tadelt Jesus den Vater, dessen letzte Hoffnung er ist, gar nicht dafür (… wie sollte er denn auch?)**.
Vielleicht verspricht Jesus ihm nur etwas, das über die Rettungs-Bitte des Verzweifelten hinausgeht: Der Vater hatte ja nur gefleht, dass sein eindeutig todgeweihtes Kind leben bleiben dürfe. Doch Jesus schenkt ihm nicht nur das Leben, sondern auch dessen Sinn.
Er verspricht dem Vater also ein Doppeltes: Nicht nur das Glück der Gesundheit, das der so händeringend sucht, … sondern auch das Geschenk des Glaubens.
Glauben: Das ist jedenfalls nicht das, was der Vater zu suchen kam. Doch er soll es finden.
Zunächst – ganz und gar in der Todesnot gefangen, aus der keine Menschenkraft retten kann – … schreit er noch einmal um das Eingreifen Jesu: „Komm herab … komm herab, ehe mein Kind stirbt!“ – so wie Israel in seiner Gefangenschaft klagte: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab…“ (Jes63,19) und so wie wir im Advent singen (EG 7): „O Heiland reiß die Himmel auf, / herab, herab vom Himmel lauf …….“
Diese Bitte, die doch bloß einen Himmel voller Schloss und Riegel kennt, ist ja in Wahrheit das Geschrei derer, die nicht glauben können, … sie ist der Ausbruch des Unglaubens derer, für die Gottes Wirklichkeit völlig unerreichbar, völlig versperrt ist.
Und es gibt kein zwingenderes Gebet, keine den Himmel mehr erschütternde und bewegende Kraft als diesen Schrei des Atheismus, der stockverzweifelten Verlassenheit. … Zu Einem zu schreien, den man nicht kennt, …Einen um Hilfe anzuflehen, auf den man keinerlei Anspruch, zu dem man keinerlei Vertrauen haben kann: Das lässt sich nicht vergleichen mit den verwickelten inneren Zweifeln der Theologie, sondern das ist wirklich die äußerste Not.
Ihr antwortet Jesus.
„Geh hin, dein Sohn lebt.“
……. Und der Vater spürt plötzlich etwas, das keine Theologie und keine Theorie so hervorzubringen vermöchte.
Er glaubt und geht.
……. Sonderbarer Glaube, der fortführt von Jesus! Wunderbarer Glaube, der hineinführt in’s Leben, in Hoffnungen, für die die Wahrscheinlichkeit und die Gesetzmäßigkeit der Welt sonst keinen Raum hatten. … Er glaubt und geht in die Wirklichkeit zurück, in der ihn Zeugen empfangen, die gar nicht wissen, dass sie von Gott, von Jesus reden, wenn sie dem Vater von seinem Glück erzählen, von der sonderbaren Heilung des aufgegebenen Kleinen.
Aber für ihn – der sich plötzlich mitten in einer Gottesgeschichte wiederfindet, obwohl es doch als Albtraum, als Nacht, als Qual, als Todesgeschichte anfing, … – für ihn ist da kein sonderbarer Zufall, keine unverhoffte Ausnahme von den üblichen Ursachen-Verkettungen:
Er ist aus der totalen Gottverlassenheit seiner Ängste, aus dem Atheismus, den das Leben schreibt mit seiner Todesnähe, in die Nähe Gottes geraten. Die Verzweiflung hat ihn in Berührung mit Gott selber in Jesus gebracht, er ist durch den Horror der Wirklichkeit auf die Wirklichkeit von Zeichen und Wundern gestoßen worden.
Und sein Glaube aus dem Unglauben, sein Wunderglaube, der Taten und Tatsachen erlebt hat, führt auch andere, führt ihn selber immer weiter. Denn in ein und derselben Geschichte heißt es von ihm gleich ein zweites Mal: „Und er glaubte“, … „er glaubte mit seinem ganzen Hause.“ Glaube geht weiter, … weiter als nur bis zum Wunder. ——
Und vielleicht ist das der wichtigste Unterschied zu dem theoretischen, theologischen Glaubensbegriff, den wir uns angewöhnt haben. Solcher abstrakte Glaube ist entweder gegeben, gewohnheitsmäßig, grundsätzlich da … – oder aber schlicht sinnlos und völlig stumm für uns.
Jener Glaube, von dem wir heute hörten, ist dagegen selber ein Wunder und lebendig. Sein Gegenstück dabei ist aber nicht irgendein erklärter, bewiesener Unglaube. Denn gerade mitten in verzweifelten Lagen des Unglaubens kann er aufleuchten. Katastrophen und Enttäuschungen machen ihn nämlich nicht unmöglich … so unmöglich wie vorgefasste Überzeugen und Weltanschauungen ohne Überraschung den Glauben machen.
Der Glaube, von dem wir heute hörten, passiert dort, wo Gottes Wirklichkeit geschieht. Man kann ihn ebenso wenig erzwingen wie herbeireden.
Manchmal schreit das Leben, manchmal schreit das Sterben danach.
Sie schreien aber eben nicht nach Erkenntnis, nach Beweisen oder Offenbarung. Sie schreien schlicht nach den Taten und Wundern, nach der Hilfe und Rettung Gottes. .......
Doch während sich die Theologen von Paulus bis Luther bis Bultmann einig sind, dass die grundlegende Offenbarung Gottes in Seinem Wort abgeschlossen ist, hat es noch keine Generation, … hat es noch kein Leben eines zum Glauben gekommenen Einzelnen gegeben, in dem nicht Gottes Taten sich neu und unverhofft gezeigt hätten, … hat es noch kein Einzelschicksal eines schließlich Glaubenden und keine Zeit in der menschlichen Geschichte gegeben, in der Gott nicht in Zeichen und Wundern gegenwärtig war.
Gottes Wunder und Zeichen sind wilder und freier als die Theologie.
Sie sind nämlich Seine Wirklichkeit.
… Unsere Wirklichkeit.
„Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht.“
Amen.
* Chanukka ist dasjenige Fest des jüdischen Kalenders, das keinen innerbiblischen Ursprung hat. Die Ereignisse des Jahres 164 v.Chr., die dabei gefeiert werden, sind am klarsten zu erkennen in den griechischen Makkabäerbüchern, die die evangelische Kirche unter die Apokryphen rechnet. Dass das Fest dennoch am Tempel von Jerusalem eine feste Institution war, belegt gerade auch das Johannesevangelium (vgl.Johannes 10,22). Das rabbinische und talmudische Schrifttum hielt die historischen Ereignisse der Tempelweihe durch die Makkabäer nicht mehr in Einzelheiten wach – wohl auch, weil das nach der Zerstörung des 2.Tempels durch die Römer als politisch zu gefährlich galt. Doch der Satz „Ein großes Wunder geschah dort“ ist als Festätiologie, d.h. als Erklärung zu dessen Entstehung ausreichend gewesen. Mit diesem Satz verbindet sich bis heute einer der beliebtesten Festbräuche: Das Dreidel- oder Kreiselspiel der Kinder, die einen viereckigen Kreisel mit den Anfangsbuchstaben dieses Satzes in Bewegung setzen und warten, welche seiner vier Buchstabenseiten zuoberst liegen bleibt.
† Vgl. die Formulierung Luthers im Gr.Katechismus zum 1.Gebot, dass Gott und der Glaube zuhauf gehören (vgl. Die Bekenntnisschriften der ev.-luther. Kirche, 11.Aufl. Göttingen 1992, S.560).
** Den Durchbruch zu einem auf dieser Linie gelagerten Verständnis von Johannes 4,48 bringt der Kommentar von Hartwig Thyen, der auch aus grammatischen Gründen die vermeintlich vorwurfsvolle Frage vielmehr als „solenne Verheißung“, ja, als eine Form der jesuanischen Formel „Wahrlich, ich sage euch“ zu verstehen hilft (vgl. H.Thyen, Das Johannesevangelium HNT 6, Tübingen 2005, S.291).
2.n.Epiphanias 15.01.2017 Stadtkirche 2.Mose 33,18-23 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.n.Epiphan. 15.I.2017
2.Mose 33,17b-23
Liebe Gemeinde!
Warum soll „Kleines dir in die Augen schauen“, Humphrey Bogart? … Auch wenn das in Casablanca, Nordafrika nie so gesagt wurde …….
Warum nur fasziniert uns das Gesicht so sehr …uns in Europa, … aber nicht geringer war die Faszination durch das Antlitz ja auch auf den Osterinseln mit ihren übergroßen steinernen Kopffiguren oder bei den afrikanischen Yoruba, deren Masken seit Jahrhunderten atemberaubend individuell sind, oder bei den Völkern Indonesiens mit ihren vollendet edlen und ebenso vollendet fratzenhaften Puppen, ehe der Islam das Zeigen der Figuren mit ihren ausdrucksstarken Charakterköpfen verbot und nur noch das Betrachten ihrer Schatten erlaubte?
Weniger anspruchsvoll gefragt: Warum werden die Horden in Feierlaune bald wieder überall das primitive Lied von Schatzis Photo-Geschenk grölen? …….
Warum will ich Dich nur so gerne sehen, Mensch? Warum leide ich „Sehnsucht“?
Was macht den Augen-Blick, was macht das einander nicht bloß Ansprechen, sondern dabei auch Ansehen zu so viel mehr als Höflichkeit?
Warum brauchen Nachrichten Gesichter und das Denken Bilder? …….
Was also hat es mit Mose und der Burka Gottes auf sich?
Denn darum geht es: Der Gott, der sich dem Mose offenbart, ist verhüllt.
Israels Gott, der in Seinen zehn verdichteten Geboten uns Menschen die göttliche Unabbildbarkeit als wesentliche Wahrheit einprägt, entzieht sich ganz anders als die sichtbaren Götter der Welt. Er ist „fürwahr ein verborgener Gott“, wie Jesaja (45,15) sagt.
Er ist der »Deus absconditus«, von dem Luthers Glauben und Zweifeln so tief geprägt sind, … ein zurückgezogener, ein versteckter Gott!
Und es ist zu billig, wenn wir uns über dieses echte Problem der Unsichtbarkeit, der Selbstverschleierung Gottes forsch hinwegsetzen, indem wir brav mit Paulus unser Einverständnis erklären, einstweilen eben nur im Glauben und dafür nicht im Schauen (vgl.2.Kor5,7) zu wandeln.
… Gewiss gibt es die Stunden, in denen wir mit der Naivität unseres beliebtesten Beerdigungsliedes singen können (EG 376,2): „Laß ruhn zu deinen Füßen / dein armes Kind: / es will die Augen schließen / und glauben blind.“ … Doch es ist wohl gut, dass solches Ausruhen in blindem Glauben unser Trost bei Verlassenheit, aber nicht das Belassen bei Vertröstungen sein will.
Dafür dass Glauben sich nicht einfach mit dem Verzicht auf Einsicht und Erkennen zufrieden geben kann, steht nun aber die bemerkenswerte Bitte des Mose, als er zu Gott zurückkehrt, nachdem er unmittelbar zuvor am Fuß des Sinai die Tafeln mit den Geboten Gottes zerbrochen hat.
Dort in der Wüste, beim Warten auf den in Wolken und Dunkel verschwundenen Mose hatte in Israel ja die Sehnsucht nach Sichtbarem, das Bedürfnis nach Anschaulichkeit sich Bahn gebrochen. Die ständig in’s Leere schweifenden Blicke des Volkes, das von der für uns Zivilisationskranke erstrebenswerten, unendlichen Gegenstandslosigkeit der Wüste umgeben war, brauchten dringend Anhaltspunkte. Etwas musste ihnen vor Augen gestellt werden, das der nackten, lähmenden Abstraktion des ungefüllten Raumes standhielt, in die ihr verschwundener Anführer diese Menschen geführt hatte. Und so diente das Goldene Stierbild gewiss nicht nur dem niederen Instinkt, der Materielles vergötzt, sondern es orientierte das im Düstern tappende Israel, es hielt sie bei Verstand, indem es die totale Ungreifbarkeit, die wir die „Virtualität“ nennen, mit etwas Konkretem, etwas Realem erfüllte.
So sehr Mose also auch in Rage geraten musste über den verzweifelten Götzendienst seiner Leute, so sehr beeindruckte ihn andererseits doch ihre Not mit dem virtuellen, dem ins Unwirkliche aufgelösten Gott, ja so sehr scheint er ihre Not geteilt und zurück in die Stiftshütte, zu Gott selbst getragen zu haben.
Denn nichts anderes ist ja seine Bitte um’s Sehen-Dürfen, … nicht anderes als das Echo der Angst, dass da, wo wir „Gott“ sagen, hoffentlich wirklich auch Etwas und nicht Nichts sei.
… „Lass mich Dich sehen!“ Mit diesem Bitten und Drängen macht Mose sich zum Sprecher aller, die der Gedanke und das Wort „Gott“, … aber auch die Worte und Gedanken Gottes durch ihre Unfassbarkeit verunsichern.
„Lass mich Dich sehen!“ das ist also keine dumm-neugierige Anmaßung eines Gaffers, sondern das ist urmenschliches Bedürfnis und Bedürfen!
Aus zwei Gründen nämlich muss ich Dich sehen können: Aus Liebe … und aus Zweifel.
Diese beiden Grundbefindlichkeiten – die Verbindung, die Leben schafft und die Vorsicht, die Leben schützt –, … diese beiden Grundtriebe der Zuneigung und der Angst entstehen und kommunizieren über das Gesicht, das klare und klärende Erfassen des Aus- und Ansehens eines Anderen.
Bloß blinde Zuneigung wäre ja ebenso unheilvoll wie blinde Wut, weil sie beide nicht begründen können, worauf sie sich richten.
Wer den Geliebten nicht mit eigenen Augen sieht, sondern es bei Einreden und Einbilden belässt, der geht einer Täuschung entgegen, wie Heinrich VIII. sie erlebte, dem Holbein hier am Niederrhein eine properer Braut proträtierte. Als er sie allerdings bei ihrer Hochzeit zum ersten Mal selbst erblickte, schüttelte es den englischen König und er trennte sich rasch wieder von Anna von Kleve, die in seinen Augen kein Weib, sondern ein Pferd war.
Keine Katze sollte man also im Sack, keine Geliebte, keinen Geliebten sollte man unbesehen nehmen. ……. Einen Gott aber doch?
Das ist die Frage des Mose bei seinem zweiten Stelldichein mit Gott im Zelt am Sinai. …
… Und Gott?
… Verweigert sich? Entzieht sich dem sehnsüchtigen Blick, der den Geliebten so gerne sähe, … entzieht sich dem kritisch-forschenden Blick des Zweifels? Vermummt sich? Verhüllt sich wie nur irgendeine der uns provozierenden Formen der Vollverschleierung es hergibt?
Nein und Ja.
Gott schlägt den Herzens- und Zweifelswunsch des sehnsüchtigen, des seh-süchtigen Menschen nicht aus, doch Er erfüllt ihn ebensowenig. Das ist Seine Tat und Seine Botschaft als Mose Ihn zur Gegenüberstellung, zum Blickkontakt, zur Gesichtskontrolle bewegen will.
Nicht dass Gott sich tatsächlich in reiner Unsichtbarkeit, in spröder, prüder Verhüllung einigelte. Aber auch nicht so, dass Er sich bloßstellte, sich entblätterte.
Er versagt sich dem Blick des Menschen in Wirklichkeit also nicht – obwohl wir das immer so im Kopf haben –, aber Er gibt sich dem menschlichen Blick auch nicht etwa preis.
…Was Er von sich sehen lässt, ist allerdings eben nicht Seine Herrlichkeit, nach der Mose Ihn fragte. Denn Gottes Herrlichkeit ist zu überwältigend. Seine durch und durch nur Ihn auszeichnende, Ihn ausmachende heilige, strahlende, glühende, verzehrende Herrlichkeit – heller als die gewaltigsten, verheerendsten, schöpferischsten Energieballungen im Kosmos –,… Seine Herrlichkeit würde alle anderen Stoffe und Kräfte atomisieren, die ihr unverhüllt und frontal ausgeliefert wären. Seine Macht mit ihren unergründlichen Entladungen und ihrer erschütternden Intensität, mit ihrer komplexen Tausendseitigkeit, mit ihrer spiegelnd-abweisenden Geheimnisstruktur und den buchstäblich unendlichen Facetten, die alle Dinge in ein jeweils eigenes Licht tauchen, …Seine Macht ließe sich nie und nimmer von einem Betrachter aus nur einem Bickwinkel begreifen. Das Auge würde schmelzen, der Kopf zerspringen, das Herz verglühen, die Gott auf einmal und ganz erfassen wollten!
Darum aber gibt Gott sich dem Mose nur durch die Schutzbrille Seines Namens, durch den Ausschnitt, den dieser aufdeckt, zu erkennen.
Man kann es auch so sagen: Gottes geoffenbarter Name wahrt sein Geheimnis.
Der Name – „WEM ICH GNÄDIG BIN, DEM BIN ICH GNÄDIG, UND WESSEN ICH MICH ERBARME, DESSEN ERBARME ICH MICH“ – dieser schönste, tröstlichste, gnadenreichste, anbetungswürdigste Name entfaltet die Wahrheit Gottes, ohne sie zu erschöpfen:
Hilfe und Liebe deckt dieser Name auf, zeigt Nähe und Zuwendung und doch wird Gott durch ihn nicht platt, nicht eindimensional, nicht bloß zu einer Oberfläche ohne Tiefe gemacht.
„WEM ICH GNÄDIG BIN, DEM BIN ICH GNÄDIG, UND WESSEN ICH MICH ERBARME, DESSEN ERBARME ICH MICH“ zeigt das, was wir ohne Gefahr und Schaden für Hirn und Hornhaut wahrnehmen und ernstnehmen dürfen … und doch wird der falsche Eindruck eines bloß „lieben“ Gottes, eines reinen Trost- und Seifenspenders, eines automatischen Glücklich- und Heilmachers nicht geweckt.
Das, was an Gottes Freiheit, Seiner Eigenheit, Seiner Entzogenheit von uns unmöglich durchdrungen werden könnte, … das, was uns an Gottes vollkommener Heiligkeit blenden würde und was wir im schweigenden Dunkel der Urweisheit und des Endziels überhaupt nicht sehen können: Das bleibt verborgen und zeigt sich nicht.
Sondern genau wie Gott es dem Mose sagt, so darf er es auch sehen: Statt des erbetenen Blicks auf die übergroße „Herrlichkeit“ gewährt ihm Gott, ausschließlich Seiner „Güte“ ansichtig zu werden.
Gottes Güte aber ist nicht alles. … Und ist doch alles, was uns angeht.
Mehr als die Güte Gottes können und sollen wir nicht erkennen. ———
Das ist kein Widerspruch und auch keine Anzeige eines beunruhigenden Geheimnisses. Sondern es ist das Recht, das Gott an Seinem eigenen Bild behält.
Und nicht anders halten ja auch wir es.
Wir, die wir uns so sehr auf’s Gesicht des Anderen, auf den Anblick des Gegenübers angewiesen wissen, wir suchen doch – wenn wir gescheit sind und wenn wir anständig sind – in Wahrheit nicht das bloße Gesicht, nicht die ausdruckslos nackte Fassade, sondern darin suchen wir den Ausdruck, wir brauchen die Regung und Ausstrahlung, die sich in der Miene, der Gestalt eines Menschen abzeichnen.
Wir suchen auch beieinander also über das, was wir sehen, das Unsichtbare, die Haltung und das Wesen, die sich für das Auge zwar ausprägen und doch nicht optisch sind.
Genau darum aber ist auch uns nicht einfach alles anzusehen: Wir wenden uns schließlich ab, wenn wir ergriffen oder erregt sind; wir lassen uns nicht ins Gesicht geschrieben stehen, was vorüber- oder einen anderen nicht angeht. Wir wollen sehen und doch nicht alles zeigen; wir müssen schauen und wissen doch zugleich, dass längst nicht alles zu erblicken ist.
Und eben das bestätigt Gott dem Mose … ausgerechnet nachdem das Bilderverbot auf den zwei Tafeln oben auf dem Sinai festgehalten und zur gleichen Zeit unten an seinem Fuß schon übertreten war.
Ausgerechnet als Israel schon sein eigenes Bild gemacht hatte, lässt Gott Sich schauen!
Und was zeigt Er nun?
Die Wut, die Ihn ankommt angesichts des Bilderzwangs unserer Seh-Sucht? Oder erteilt Gott eine raffinierte, denkwürdige Lehre in Sachen optische Täuschung?
– Im Gegenteil! Seine Güte, die aus Seinem Namen leuchtet, die ist damals am Sinai für alle Zeiten aufgegangen über der Welt. … Und Seinen Schmerz, die Tiefe Seiner Traurigkeit, die Unbegreiflichkeit Seiner Geduld, die Dunkelheit Seines Zornes, die Strahlkraft Seiner alles erhellenden Gerechtigkeit, die Überforderung, die Seine Ganzheit darstellt …, die hält Er uns gnädig nicht vor Augen.
Nur Güte!
Wo immer wir aber nunmehr Gott, der an Mose vorüberging, betrachten, wo immer wir seitdem dem Augenblick der sichtbaren Offenbarung Gottes nachschauen, da zieht sich die Leuchtspur Seiner Güte durch die Zeiten.
Andere Götter dagegen haben sich vermeintlich immer von ihrer mächtigen, der herrlichen, … der tödlichen Seite gezeigt, zumindest wurden sie unweigerlich so dargestellt.
Nur der Gott, Dessen Vollkommenheit, Dessen Lebendigkeit und Geheimnis, Dessen Wesen und Wahrheit kein Bild wiedergeben kann, Der alle Bilder und alle Dinge auslöschen könnte, wenn Er Sich in Seinem Schmuck und Seiner Fülle zeigen wollte … Der hinterlässt den Schimmer reiner Güte, das Licht der Gnade, den Glanz des Erbarmens, als Er an Mose, den Er in der Spalte birgt, vorüberzieht.
Und eine Glanzspur, ein Gnadenschein, ein gütiges Leuchten sind seitdem Seine Erkennungszeichen, Seine Reflektion auf und über allem, das auf Erden zu sehen ist.
… Nicht Gottes Verborgenheit, nicht Seine Unsichtbarkeit, nicht die Bildlosigkeit springen also in’s Auge dessen, der Ihm mit Mose nachsieht. Sondern das Hellste, Schönste, Beste zeigt sich da, wo Gott uns bei Sich birgt, um klar erkennen zu lassen:
Seine Gnade, Seine Barmherzigkeit sind es, die Er sehen lassen will. Sie sind es, nach denen wir uns im Sehen sehnen und die unsere Sehnsucht – unser Zweifel, unsere Liebe – sehen darf!
Und wenn wir jetzt auf das neue Jahr blicken, dann wollen wir es in seiner ganzen Breite und Weite, in seiner Leere und Offenheit, in seiner rätselhaften Zukunftsgestalt genauso sehen: Beschienen und besonnt. Denn Gott ist schon hindurchgegangen durch alles, was da vor uns liegt. Und hinter Ihm leuchtet es im Glanz Seiner Güte.
Das sehen wir, wenn wir jetzt aus der Felsenhöhle treten, wo wir dem Kleinen in die Augen sahen. Und es soll uns immer vor Augen stehen. Denn wir werden es einst in Ewigkeit schauen.
Amen.
Altjahrsabend 31.12.2016 Stadtkirche Jesaja 30,15-17 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2016
Jesaja 30,15-17
Liebe Gemeinde!
Das wundervolle Wort der ruhigen Hoffnung, … ist es nicht zum Träumen schön?
„Stillesein und Hoffen“: So ungefähr wäre doch die perfekte Stimmung für den Silvesterabend eines schrillen Jahres voller Enttäuschungen. …
„Stillesein und Hoffen“. Das ist so etwas wie die dezente, positiv entspannte Haltung, für die es heute – im Klirren der weltweiten Kriegs- und Krisenjahre – einen eigenen Lebensstil gibt: Die Lounge-Kultur, die sich aus der Berieselungsmusik, dem gedämpftem Licht, dem bequemen Mobiliar und den prickelnden Getränken der gehobenen Wartesäle entwickelt hat.
Und genau so – weltläufig-lässig, grundsätzlich trotz allem lebenszugewandt und unbeschwert, v.a. aber in Erwartung der Weiterfahrt und neuer Erfahrungen an den nächsten Stationen – … so in der gepflegten Zeittotschlägerei des Durchreisenden, der in der Lounge ein bisschen redet und ein wenig ruht und mal hin und her wippt und dann wieder zu anspruchslosen Hintergrundklängen seinen Träumen nachhängt, … so angenehm nicht-beunruhigt und zuversichtlich zivilisiert würden wir doch gerne das Propheten-Wort vom stillen Hoffen selbst erfüllen an diesem letzten von 366 insgesamt unentspannten Tagen.
… Zum Träumen schön, dieses Wort von der optimistischen Gelassenheit. …
Es verheißt doch wohl denen das Heil, die man einst die „Stillen im Lande“ nannte, und auch in den ganz unfrommen Ohren von heute klingt es wie eine Verheißung für alle, die chillen im Land. Ein Lob auf die Seelenruhe. Ein Versprechen, das den Unaufgeregten Genugtuung ver-schafft. Eine Devise für entschleunigtes, aber nicht depressives, sondern souveränes Abwartenkönnen.
… Oder nicht?
Leider nein.
Denn so schön das Zitat vom Stillesein und Hoffen auch ist – und es dürfte zu den 20 bekanntesten Versen aus Jesaja zählen –, so eindeutig hat es nichts von einer biblischen Yoga-Übung. Und so eindeutig ist es nicht blutdrucksenkend oder sonstwie beruhigend.
… Denn dieser Satz steht nicht als Lebensmaxime wie jeder Kalenderspruch einfach da– wahlweise auf dem Topflappen eingestickt oder in den Sozialen Medien „gepostet“ – , sondern er steht – wohlgemerkt! –in der Verneinungsform da. Es ist ein Satz – so schön und richtig er uns anrührt – der unseligerweise im Irrealis begegnet: „Durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein. Aber ihr wollt nicht.“
Wir haben es hier also nicht mit einem guten Vorsatz zu tun, sondern mit einem Urteil:
Die Chance der Seelenruhe ist verstrichen, die Perspektive der Gelassenheit ist vorbei.
„Ihr habt anders entschieden“, sagt Jesaja seinen Hörern, die es seinerzeit vorzogen, statt auf Israels HERRN zu vertrauen, gegen die Bedrohung durch die Supermacht Assur lieber auf die ägyptische Kavallerie zu setzen. „Ihr habt gewählt und nun ist es geschehen: Ihr hättet Durchhalten wählen können, jetzt steht Euch stattdessen das selbstverantwortete Unheil in’s Haus. Die ägyptischen Pferde – Tornados der Alten Welt – , die Euch als blitzschnelle Wunderwaffen vorschwebten, werden die Katastrophe rasant beschleunigen. Ihr habt zwar ein Sicherheitssystem gewählt, das alles verunsichern kann, doch seine ersten Opfer werdet Ihr selber sein, deren Angst die Nähe der Ägypter nicht nehmen, sondern nur unermesslich verstärken wird.“ … So stark, dass Tausende sich vor dem „Terror“ eines Einzelnen fürchten werden, wie es seit mehr als fünfzehnhundert Jahren an dieser Stelle in der lateinischen Bibel heißt*. ……. ——
Dieser furchtbare Ausflug in die politische und militärische Wirklichkeit vor 2800 Jahren ist von geradezu entmutigender Aktualität oder Zeitlosigkeit: Kurzschlüsse bei der Wahl des vermeintlichen Helfers, kopflose, von panischer Furcht und törichter Naivität gesteuerte Entscheidungen, die schnell gefällt und bitter bereut werden, hat dieses Jahr uns reichlich gezeigt. Und die Zunahme gefährlich beschleunigter Unruhe, die verzweifelte Abkehr von anstrengendem Recht hin zu täuschend müheloser Gewalt, prägt sich bei Potentaten wie Populisten, bei Betrügern und Betrogenen seuchenhaft flächendeckend aus.
Da ist es eine der bittersten Lektionen eines bitteren Lehrjahres, nun auch noch am letzten Abend aus dem Mund des Propheten, aus versunkener Vergangenheit und doch in der Gegenwart des lebendigen Gottes zu hören: Weil Ihr es nicht anders wolltet, hilft Euch nun auch keine Ruhe mehr, kein Rückzug ins Innere und in die Weltflucht. Ihr werdet wegen Eurer Weigerung zu glauben, bald nach Eurer eigenen Entscheidung dran glauben müssen.
Das ist die Last Jesajas … denn genau so: „Last“ wird die Verkündigung der Propheten von diesen selbst genannt (vgl. zuletzt Jes30,6).
Belastet mit dem Gerichtswort, in dem der schöne Ruhe-und-Hoffnungsvers wie eine versteinerte Blüte eingeschlossen ist, sollen wir nun also aus dem Jahr, in dem die Menschheit sich selber so viel Zuversicht und Frieden schuldig geblieben ist, hinüber in das neue? … Zur Strafe dafür, dass wir in dramatischer Zeit die falsche Art von Ruhe, ein liebloses, unbeteiligtes Raushalten, ein verantwortungsloses Abstandwahren, ein pessimistisches Nichtstun gewählt haben … wir, die reichen, großen, noch intakten Nationen und Staaten?
… Das mag ein Gedanke sein, der uns schwer eingeht. … Denn die Ratlosigkeit und Furcht sind ja echt, die uns zur Zuschauerrolle verdammen bei so blutigen, bedrohlichen Ereignissen wie der Selbstzerstörung Syriens, der Barbarisierung der Türkei, der gespenstischen Wiederkehr russischer Weltreichsträume, dem Beginn der längst prophezeiten Völkerwanderungen und dem Aufziehen der Dämmerung, die sich über die Demokratien senkt, in denen das Denken, das einmal erwachsenes Wissen und Müssen berücksichtigte, sich in unreifes Wollen und Mögen auflöst.
Nirgends sind Lösungen einfach. Nirgends ist Handeln wohlfeil in dieser Welt, die von Krämpfen und Lähmung zerrissen wird. Sollte Gott uns dafür aber bestrafen? Sollte Gott uns deswegen mit diesem Denkzettel aus dem alten Jahr in’s neue treiben? Wäre denn militärischer Aktionismus, wären Machtdemonstrationen etwa bessere Heilmittel angesichts der Weltkrankheiten?
Bestimmt nicht!
Dass aber Abschottung und der Selbstbetrug der inneren Sicherheit uns falschen Frieden und Sorglosigkeit vorgaukeln, das leuchtet jedem Freund Gottes ein, der bedenkt, dass Gottes Sorge nicht ein individuelles Glück und nicht eine einzelne Jahresbilanz, sondern die Menschheit und die Geschichte insgesamt sind. Die Nöte aber, die dort herrschen, die werden wir nicht beheben, indem wir sie uns vom Leib oder an unserer Grenze für den Augenblick aufhalten.
Die Mahnung, dass wir wie die Generation Jesajas also die falschen Lösungen, garantierte Enttäuschung und Risiken, die auf uns zurückfallen müssen, wählen, statt Krisen aus- und Vertrauen durchzuhalten, … diese Mahnung müssen wir uns tatsächlich gefallen lassen, um zum Schluss des einen und zu Beginn des neuen Zeitabschnitts unsere Maßstäbe zurechtrücken zu lassen.
Ruhe und Hoffnung, Stille und Frieden haben wir nicht im richtigen Sinn, sondern an verkehrter Stelle gesucht und darum fehlen sie uns nun und werden uns noch lange fehlen.
Was aber war denn unser Fehler, wenn Dreinschlagen doch auch mörderisch wäre und wir uns mit unserem Selbstschutz doch gerade als friedliebende Abwiegler und Bewahrer erwiesen haben?
Wir haben einfach den Kern verloren.
Wir haben das Wichtige, das Ge-Wichtige, das allein uns ausgewogen und balanciert machen konnte, verloren.
Wir Europäer oder Westler – und verstohlen oder bewusst ja doch immer mitgemeint: wir Christen – …wir sind hohl und darum gefährlich geworden, weil wir wackeln und in jede Richtung kippen ohne das Gewicht, das uns aufrecht und sicher hielt.
Dieses Gewicht aber …. muss man es aussprechen? … dieses Allergewichtigste ist genau das, was uns kein Grenzzaun und kein Präsident aus dem Kasperletheater und kein Rückfall in die Zeit der Kosaken oder der Kreuzzüge je geben kann:
Es ist das Fundament des Stilleseins und Hoffens, … es ist das Ruhen im Glauben. …….
… Es ist das Ruhen im Glauben, … aber nicht im Glauben an uns und unsere Weisheit oder unsere besondere kulturelle Sendung oder unsere aufgeblähten Werte, die nur beschworen, sonderbarerweise aber nie angewandt werden. Nicht ums Ruhen in Sonntagsreden oder in einem Überlegenheitsgefühl oder einer Psychotechnik des Optimismus oder in der Gewitztheit irgendeiner Taktik geht es, … auch nicht um die zynische Ruhe, die so viele unserer Haltungen derzeit verraten, die immer wieder voraussetzen, dass es für uns gerade noch reichen wird und wir zuletzt dran kommen.
Verlorengegangen ist die Ruhe, in der wir selber nicht das Subjekt sind. Verlorengegangen ist uns die Ruhe, die alles und alle umfasst weiß … auch die unlösbarsten, die ärgerlichsten, die schwärzesten Probleme, bei denen uns unser Irrtum, unsere Schuld und Endlichkeit lähmen. Diese große, tiefe Ruhe ist aber nur dann echt und wahr, wenn sie sich nicht bloß auf andere, auf fremde oder allgemeine Probleme und Anfechtungen und Zweifel und Katastrophen beschränkt, sondern wenn sie unsere eigenen Sorgen, Wünsche und Bedürfnisse ganz und gar genauso gelassen betrachten und auf sich beruhen lassen kann.
Dass Gott einen Plan hat: Darauf können wir ruhen!
Aber nicht nur, wenn die Politik, die Konflikte und Krisen der Welt uns überfordern, sondern auch wenn es uns an Pelz und Kragen geht, wenn es uns um Butter und Brot, um Geld und Gut, um Leben oder Tod geht.
Dann ist das Ruhen nicht mehr eine fromme oder gleichgültige äußere Haltung, dann hat es nichts mehr mit der Unberührtheit der Lounge-Atmosphäre eines desinteressierten Durchreisenden zu tun, sondern dann geht es tief, dann wird diese Ruhe das Gewicht, das uns bei Verstand und Trost und in der Hoffnung hält. Und dieses Gewicht, dieses allein Wichtige lässt uns ruhig darauf gründen, dass Gott Frieden und Zukunft hat … und dass wir Zukunft und Frieden nie an sich, nie nur für uns, sondern allein durch Ihn – dort aber für alle! – finden können! ———
Können wir aber so ruhen?
Können wir solchen Frieden finden?
Können wir stark sein in dieser Hoffnung und Stille?
....... Wenn doch vielleicht 2017 wieder ein so bewegtes, so empörendes, so deprimierendes Jahr werden könnte?! Wenn es für viele Völker ein weiteres Schicksalsjahr werden könnte, für die Menschheit eine weitere Zerreißprobe?!
Können wir gelassen-ruhig und voller Hoffnung auf den großen Plan Gottes sein, wenn doch 2017 auch persönlich ein Schicksalsjahr werden könnte: Ein Jahr von Aufbruch oder Abschied, ein Jahr von Glück oder Unheil, … ein Jahr, das unser Leben entscheidet, … ein Jahr des Scheiterns, … ein Jahr der Liebe, … ein Jahr der Mühe, … ein Jahr des Reifens, … ein Jahr der Zufriedenheit … oder ein Jahr zum Sterben?! …
Können wir alles das getrost annehmen und dabei „dankbar, ohne Zittern“ (D.Bonhoeffer [EG 65,3]) bleiben? Haben wir die Kraft und sind wir gefasst genug, so von uns abzusehen und konzentriert bloß auf Gott zu schauen, nur Ihm zu vertrauen??
……. Ich weiß es nicht.
Wünschte es. Allen.
Wage es kaum zu denken. …….
Wenn aber nicht?
Wenn Chaos und Hass und Flucht und große und kleine Erlebnisse unseren Glauben, unser Stillsein, unsere Hoffnung ihrerseits untergraben und in die Flucht schlagen?
Wenn wir „übrig bleiben wie ein Mast oben auf einem Berge und wie ein Banner auf einem Hügel“? – Hat Jesaja in diesem Bild des schutzlosen, allseits sichtbaren, nutzlosen Feldzeichens nicht genau das Gefühl des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit, des Flatterns im Wind getroffen, das uns zuweilen überkommt, wenn das Lebensgefühl, wenn die Zukunftsungewissheit nicht mehr bloß Fracksausen, sondern ein Albtraum aus festgefrorener Panik ist?
†Doch gerade bei diesem letzten Bild des Gerichtswortes, mit dem wir 2016 verlassen, werde ich tatsächlich vollkommen ruhig. Gerade der Mastbaum oben auf dem Berg, gerade das verlassen und wie aufgegeben wirkende Zeichen, das auf dem Hügel emporragt, macht mich und jeden von uns, der es wiedererkennt, still.
Da, auf dem Hügel, einsam und erschütternd zeichnet sich vor unseren Augen ein Stamm, ein Querbalken ab, die das Schlimmste, … das Allerschlimmste sehen lassen und dennoch Frieden schenken. Es ist das Banner von Golgatha, das Kreuz Jesu Christi.
Denn der Teufel wird die Menschheit auch 2017 auf keinen Berg führen und der Tod sie in keinen Abgrund reißen, von denen aus dieser Hügel und sein Zeichen nicht sichtbar blieben.
Was auch immer kommt und bleibt und vergeht und zerbricht …….: Auf dem Berg steht das Zeichen, dass Gott nicht über uns Menschen und unser Leid, nicht über die Welt und ihren Schmerz, über ihr Pandämonium hinweggeht, sondern sie an Sich und auf Sich nimmt.
Sein Plan nimmt es auf mit dem Schlimmsten, mit dem Bösesten, mit dem Tod.
Sein Plan weicht nicht aus und bricht nicht ab, wo alles das zusammen- und dazwischen kommt.
Gott hat es ja längst übernommen – und durch Seine Übernahme wird es auch für jeden Menschen ganz persönlich überwunden!
Was immer 2017 also bevorsteht: Das Zeichen auf Golgatha zeigt, dass Unfriede und Zerstörung und Gewalt nicht siegen werden. Sondern Der, Der die Welt von alledem erlöst.
In Ihm still zu sein und auf Ihn zu hoffen und dadurch Seine Kraft für den Frieden und die Menschheit zu erfahren: Das möge das neue Jahr uns allen bringen!
Amen.
* „Mille homines a facie terroris unius … fugietis“ (Vulgata-Fassung von Jesaja 30,17).
† Der letzte Teil der Predigt verdankt sich dem auffallenden, in sich rätselhaften Bild vom Übrigbleiben wie ein (Feld-)Zeichen auf einem Hügel. Dass ausgerechnet ein Banner – militärisches Identifikationssymbol für Freund und Feind! – auf einem so exponierten Terrain „übrigbleiben“, d.h. aufragend stehen bleiben sollte, ist nicht schlüssig: Es würde entweder bis zuletzt verteidigt und von den weichenden Truppen beim Rückzug in Sicherheit gebracht oder aber von den Siegern als Beute im Triumph davongetragen werden. Was immer Jesaja – abgesehen von der starken optischen Wirkung des „Mastes auf einem Berg“ – damit meinte: Das Bild löst Assoziationen aus, nicht zuletzt starke visuelle. Was auf den Bergen unserer Welt so exponiert steht, sind Gipfelkreuze. Daher drängt sich – nicht auf dem Weg eines glatten Erfüllungsschemas, aber eben umso stärker bildlich – an dieser Stelle das Kreuz geradezu zwingend auf. Das Sprachbild, das Jesaja geschaffen hat, verschmilzt mit dem mächtigsten aller Wahrzeichen unserer inneren wie äußeren Topographie.
2.Christtag/Stephanustag 26.12.2016 Stadtkirche Johannes 8,12-16 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth II.Christtag 2016
Johannes 8,12-16
Liebe Gemeinde!
Wie hell waren die Weihnachtslichter dieses Jahr? So hell, dass sie das große Dunkel überstrahlen konnten? So hell, dass man gar keine Schatten mehr sehen musste, sondern alles funkelte und blitzte? War Weihnachten so hell, dass man eine Skibrille brauchte? …….
Manchmal weist nicht nur der Lichterkettenbeleuchtungswahnsinn in diese Richtung: Als müssten die paar Stunden von Heiligabend bis zur Ladenöffnung am 1.Umtauschtag für viele Menschen eine solche Wattstärke, eine solche Strahlkraft entfalten, dass ihr seelischer Stoffwechsel, die Photosynthese ihres Gefühlshaushaltes nach dieser Bestrahlungstherapie wieder für ein gutes Jahr auf Vordermann ist.
Dass das nicht reichen kann, selbst wenn man sich vom 24. bis 27. Dezember um die sechzig Stunden Weihnachtsdauerbrenner antut, dürfte klar sein. Wer sich dem Licht der Weihnacht, das das Licht der Welt ist, nur in einer solchen unnatürlichen Überdosis aussetzt, dem tränen nicht nur alsbald die Augen, sondern den verschluckt das Grau des Alltags so schnell, dass sein Inneres schon Ende Januar wie eine Büropflanze während der Betriebsferien welkt.
Dass wir Licht nicht speichern können, ist aber nur das eine. Dass ein Mensch, der das wahre Licht nur einmal jährlich wahrnimmt, unterjährig eine innere Verfassung wie die Sonnenblume im skandinavischen Winter hat, für die es monatelang keinen Grund geben könnte, den Kopf zu heben, das ahnt man wohl.
Doch der andere Nachteil, der bei zu hoher Weihnachtsstrahlenbelastung entsteht, betrifft die Wirkung von Licht.
Wozu ist es eigentlich da? Doch nicht um zu blenden. Nicht um alles zu fluten und zu er-tränken, nur damit keine Dunkelheit mehr bleibt, nur damit alles in gleißende, sterile Helligkeit getaucht wird und leblos erstarrt wie das Wild im Scheinwerferkegel.
Licht ist vielmehr nötig, um das sehen zu lassen, was das Dunkel sonst verbirgt. Licht bringt Schatten an den Tag und Wahrheiten. Licht zeigt Gefahren und offenbart die Lage. Licht mag schmeicheln, aber lügen kann es nicht, … es sei denn, es schlägt um und geht über in die Grelligkeit, vor der wir die Augen kneifend schützen müssen.
Wenn Jesus also das Licht der Welt ist, dann dient er nicht dazu, des Lebens dunkle Seiten zu überblenden, sondern um sie sichtbar zu machen, um sie zu zeigen und so den Weg derer zu erhellen, die dort Wunden verbinden, Löcher stopfen, Schäden ausbessern und Schlimmes verhindern. Jesus, das Licht der Welt, will und wird uns also auch Düsteres sehen machen, das wir ohne ihn unmöglich erblicken könnten.
Jesus will das Licht sein, das uns die Welt wahrnehmen macht.
Darum ist es nur gut, wenn Weihnachten nicht nur gut war, nicht nur glanzvoll hell, sondern ein Fest, das die Schatten sehen ließ, das den Schrei nach Frieden hören ließ, das das Heilsverlangen wachsen ließ, ein Fest, das durch die Nachricht einer Geburt das Ende des Todes umso nötiger machte.
… Und all’ das hat die diesjährige Feier von Christi Geburt ja tatsächlich gebracht: Kaum jemand von uns hat Licht und Wärme gespürt und genossen, dem nicht die Vielen in der Finsternis und Kälte eingefallen wären. Niemand hat das Leuchten von Stern und Kind gesehen, der sich nicht nach dem ewigen Licht gefragt hätte, das einmal für die ganze Welt Tag und Sicherheit und Freude bringen wird. ——
Doch wie sollen wir in der Dunkelheit dieser Zeit denn nun weiter mit dem Licht Jesu leben und haushalten, wie sollen wir es vor dem Verlöschen und vor der Verschwendung schützen und es nutzen, wie es genutzt werden will?
Es gibt ein Wort des Propheten Jeremia, das mich immer schon gepackt hat. Heute, am letzten Tag der Weihnachtsfeier weist es auf seine dramatische Weise genau die Richtung, wenn wir fragen, wie wir denn das Wesentliche der Heiligen Nacht, wie wir denn den Segen von Christi Geburt bewahren sollen. Jeremia mahnt nämlich (13,16): „Gebt dem HERRN, eurem Gott die Ehre, ehe es finster wird und ehe eure Füße sich an den dunklen Bergen stoßen und ihr das Licht wartet, während er es doch finster und dunkel machen wird.“
Diese Weisung des Propheten ruft das Wichtigste von Weihnachten und das Geheimnis, wie wir wirklich weihnachtlich leben können, in klarer Weise ins Gedächtnis. Es geht nicht darum, dass wir Baum und Krippe und Kerze und Kinderfreude nicht aus den Augen lassen oder angstvoll speichern sollten. Alles das, was man mit einem ziemlich verdächtigen Wort den „Weihnachtszauber“ nennt, kann und darf auch wieder der gewöhnlichen Beleuchtung, der grauen oder grellen Alltagsansicht des Lebens weichen. Mit nichts von alledem steht oder fällt ja Weihnachten als Fest des Erlösers der Welt.
Viel entscheidender ist und bleibt das erste Wort, mit dem die Menge der himmlischen Heerscharen die Verkündigung von Jesu Geburt besiegelt und bekräftigt hat: „Ehre sei Gott in der Höhe!“ (Lk2,14)
Dieses „Gloria“ – das ja nicht bloß ein pausbäckiger Jubelruf lustiger Putten, sondern eine Ethik des praktischen Lebens ist – dieses „Gloria“ ist nun auch Jeremias erstes Wort: Gott die Ehre zu geben, das ist die einzige, aber auch die umfassende Lichtquelle eines Lebens, das nicht in trüber Finsternis verlaufen soll. Jesus, der der Welt das Licht bringt, tut das wenn und indem wir Gott die Ehre geben, das heißt, wenn und indem wir alltäglich Ernst damit machen, dass wir Ihn kennen, Ihm gehorchen und unser Tun in den Dienst Seines Reiches stellen.
Gott die Ehre zu geben, das hindert die Finsternis an ihrer Ausbreitung.
Gott als Schöpfer, Erlöser und Richter in den Handlungen und Entscheidungen, in den Gewohnheiten wie im Außergewöhnlichen unseres Daseins nicht von anderen Kräften, Einflüssen und Motiven ablösen zu lassen, das hält die Nacht auf, die sich so deutlich immer wieder neu um die Menschheit zusammenziehen will. Voller Vertrauen zu wissen, wem wir uns verdanken, wem die erste Liebe gilt und vor wem wir verantwortlich sind, das bedeutet Weihnachten treu zu bleiben. Und die so leben …, denen wird das Weihnachtslicht nicht mangeln auch wenn Weihnachten lange vorüber, ja auch wenn alles Festliche und Freudige weit entfernt ist.
Denn – das wollen wir nicht vergessen – der zweite Weihnachtstag ist auch darin der Übergang vom Glanz einer Feier zum Tageslicht der Gewöhnlichkeit, als er zwei große Gegensätze gleichzeitig bedenkt: Der zweite Tag der Geburtsfeier Jesu ist zugleich der erste Tag, an dem wir eines christlichen Toten gedenken – des Erz- und Protomärtyrers Stephanus (vgl. dazu Apg6+7).
Stephanus, einer der sieben Diakone von Jerusalem ist der allererste Mensch auf Erden gewesen, dem das Licht der Jesus-Nachfolge in seiner praktischen Gestalt, in seinem Dienst der Menschenfreundlichkeit zum Morgenglanz der Ewigkeit wurde. Er musste sterben, weil er so von der Ausstrahlung Jesu erfüllt war und weil er dessen Licht nicht unter den Scheffel stellen konnte. Als das Widerspruch und Ärgernis hervorrief – und wie leicht tut es das, weil das Licht ja unweigerlich auch Schatten zeigt! – da blieb Stephanus dem Licht seines Lebens treu und ließ sich auf keine Verschleierung ein. Das Leben konnte man ihm wohl nehmen – aber nicht dessen Leuchtkraft, nicht die Energie, die nie versiegt und die im Tod ein neues, unauslöschliches, herrliches Leben entzündet.
Diese Kraft, die den Stephanus im Augenblick seiner Steinigung umfloss, als er „zum Himmel aufsah und die Herrlichkeit Gottes und Jesus stehend zu seiner Rechten“ (Apg7,55) erblickte, … diese Kraft ist die letzte und längste, die grenzenloseste Wirkung des Lichtes der Welt, das in Bethlehem in einer Krippe erschienen und nach der Karfreitagsfinsternis im Gartengrab von Jerusalem für immer entfacht worden ist.
Das Licht zeigt uns also die jetzige Welt, es lässt in unserem Alltag und dessen alltäglichem Tun die Ehre Gottes aufstrahlen und es erwartet uns an der Schwelle des Todes, um uns auch die kommende Welt Gottes zu zeigen, in der es kein Dunkel, keinen Sonnenuntergang, keinen Schatten, keine Trübsal, kein Verborgenes mehr geben wird … weil dort wahrhaftig nur Glanz und Leuchten und Schauen und Erkennen und Strahlen sein wird.
Es ist also das Licht von Zeit und Ewigkeit, das Licht der Normalität ebenso wie das Licht des jüngsten Tages, es ist das Weihnachtslicht von 2016 und das Jahreslicht von 2017 und es wird in Zukunft auch und erst recht das Licht des Weltwunders sein, als das wir das Reich Gottes erwarten dürfen. ——
Doch welche Zeugen haben wir für ein solches Licht in Zeiten der Verblendung, in Zeiten des globalen Flimmerns, der moralischen Nebelkerzen und der vollständigen Gewöhnung an kaltes, energiesparendes Kunstlicht?
Was spricht dafür, dass die Worte Jesu, sein Zeugnis von sich selbst als Licht für Welt und Leben uns nicht gerade hinter’s Licht führen, in obskure, unaufgeklärte Regionen dunkelsten Aberglaubens!?
Ich würde gerne viele in den Zeugenstand rufen:
Angefangen bei den Zahllosen, für uns meist auch Namenlosen, die den heutigen Stephanustag zum aktuellsten Gedenktag des Kirchenkalenders machen. Denn die Erfahrung des Martyriums, die Leidens- und die Lichterfahrung des Stephanus, die wir als Erzählung aus dem Altertum, die wir als Untergattung biblischer Literatur anerkennen mögen … diese Erfahrung des Sterbens um des Namens Jesu willen und des immer heller werdenden Aufblicks in sein Licht mitten aus einem Inferno pechschwarzer Brutalität, … die ist keine Erfindung der primitiven Alten, die sich nur nicht aufgeklärter ausdrücken konnten, sondern sie ist Tagesliteratur, mit der wahrheitsgetreuer Journalismus unsere primitive Gegenwart aufdeckt. Tag für Tag wird so gestorben wie damals Stephanus starb: In Ägypten, im Irak, in Syrien, im ganzen Vorderen Orient und nördlichen Afrika werden die ältesten Gemeinden der Christenheit unter unseren nutzlosen Augen ausgerottet. Und was viel seltener erwähnt wird: Nicht nur die Islamisten schlachten Kirchen, sondern unter den Fäusten und Waffen von Hindus wird etwa auch in Indien dem Christentum ein Blutzoll abverlangt, der immer grausiger zu werden droht.
Die Wirklichkeit des geöffneten Himmels über den Stätten der Qual und des Sterbens von Christen gehört zu den Erscheinungen des Christfestes unserer Zeit wieder unlöslich dazu: Was wir optisch als Kerzenlicht und Weihnachtszeit wahrnehmen, geht andernorts als Verklärung über die Gesichter derer, die im letzten Atemzug erleben, dass das Weihnachtslicht wirklich ist und treu.
Doch neben den Märtyrern begegnen uns auch viel näher, in unserer Nachbarschaft immer wieder Menschen, aus deren weit entrückten Blicken im Sterben schon der Sonnenaufgang des Lebendigen leuchtet. Da gibt es in den Heimen und Krankenhäusern und Wohnungen immer wieder Gesichter, über die man das innere Licht gehen sehen muss, wenn man Angst oder Zweifel hat. Stumme Zeugen für ein Lebensende, das kein Wandeln in der Finsternis, sondern ein Aufglühen der reinsten Klarheit ist.
Und noch eine ganze Zeugenschar fällt uns an diesem Weihnachtstag, an dem wir immer noch das Neugeborene betrachten, in’s Auge. Denn genau da – bei denen, die neu auf dieser Erde, unter der Sonne sind – da kann man es zuweilen beim besten Willen kaum übersehen: In den gerade noch ganz dumpfen, wohlig-vegetativen Blicken der Allerjüngsten erscheint plötzlich eine restlose Hellsichtigkeit, eine Spiegelung zumindest ihres eben noch unmittelbaren Augenkontakts mit dem Ursprung des Lebens und Vater des Lichts (Jak1,17). Sie haben Ihn in der Finsternis Seiner Gegenwart, die doch nicht finster ist (vgl.Ps139,12), von Angesicht zu Angesicht gesehen, Der sie beim Namen rief und ihnen das Leben gab, …und es zeigt sich!
Nun mag man sicher alle diese Zeugen des wahren Lichtes getrost untheologisch nennen. Die wenigen Augenblicke – buchstäbliche Blicke ihrer Augen –, in denen sie uns den Glanz Jesu Christi und die Herrlichkeit Gottes ahnen lassen, sind tröstlich und vergewissernd, aber keine Offenbarung.
Wahr ist das Wort vom Licht nämlich auch ohne alle menschlichen Prismen und Linsen.
Denn auf das, was wir sehen und einsehen, was uns einleuchtet oder auch verborgen bleibt, lässt sich nichts Umfassendes gründen … sind unsere Gesichtspunkte und Blickwinkel doch zwangsläufig zu verschieden und zu einseitig.
Der Stern Seines Kindes und die Herrlichkeit Gottes sind keine Reflektoren, die Licht aus anderer Quelle bräuchten, um zu glänzen.
Sie bezeugen sich alleine gegenseitig, … wie der Vater und der Sohn!
Für einander sprechen sie für sich in jenem Wort, das hell über der Krippe und über dem Kreuz am geöffneten Himmel in alle Welt leuchtet; sie sprechen wie Jesus, der dort liegt und hängt und herrscht, es sagt:
„Ich weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe.“
Das aber ist nichts anderes, als eine Einladung auch an uns, in diesem Licht zu wandeln (vgl. Jes2,5) – hier und heute, an Festtag und Alltag … und endlich durch Sterben ins Leben.
Amen.
Fürbitten (vgl. EG 23,3)
Du wunderschönes, wohltätiges, herzwärmendes Licht von Weihnachten!
Wie gerne sehen wir Dich und wie wundervoll erscheint uns die Welt – mit allen ihren Sorgen, mit ihrem Grauen, mit ihrem Abgrund des Todes! – wie wundervoll erscheint uns diese Welt, wenn wir es glauben dürfen, dass Du nie vergehst – Du neues Licht –, sondern zunimmst, bis alles sichtbar wird und niemand mehr übersehen und alle Deine Geschöpfe und Geschwister ansehnlich sind durch Dich!
Du ew’ges Licht gehst da herein, / gibst der Welt ein’ neuen Schein!
Weil wir uns nicht satt sehen können, nicht satt sehen werden an Dir, darum bitten wir Dich aber umso mehr, dass Du allen erscheinst, die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes!
Werde hell über den dunklen Seiten der Erde.
Vertreibe die Nacht der Sünde und ihre Werke.
Mach’ Höhlen und Gräben, mach’ Gräber und Hölle endlich zu Orten, an denen das Wort des Anfangs ewig wird: Es werde Licht!
Gib allen von uns – uns Glücklichen und Ahnungslosen und den Leidgeprüften und Märtyrern, den Zeugen Deiner Treue – ,… gib allen von uns die Aussicht, die nicht trügt.
Lass es leuchten über uns … Dein Antlitz voller Segen.
Und gemeinsam mit den Kindern Israel, die es genau in diesen Tagen feiern*, lass das Wunder von Chanukka uns begleiten, bis wir alle davon singen können: Dein Licht verlöscht nicht. Es ist Öl genug in Deinem Leuchter. Es ist Glanz die Fülle um Dich herum, um uns immer und überall Augen, Geist und Herz zu erleuchten.
Das leuchtet mitten in der Nacht / und uns des Lichtes Kinder macht.
Wir danken Dir, Du wunderschönes, wohltätiges, herzwärmendes Licht von Weihnachten!
* Denkwürdigerweise wird das jüdische Lichterfest Channuka 2016 exakt vom 25.Dezember bis zum Neujahrstag gefeiert, liegt also mit der Weihnachtsoktav vollkommen parallel, da sein jüdischer Stichtag – der 25.Kislew – zufällig mit dem 1.Weihnachtstag zusammenfällt.
Heiligabend 2016, Christvesper Mutterhauskirche, Bild von B.Heinen „Christ, der Retter ist da", Ulrike Heimann
„Fürchtet euch nicht!" und Bild von B.Heinen „Christ, der Retter ist da"
Liebe Gemeinde,
die Weihnachtsgeschichte des Lukas, die wir gerade gehört haben, sie steht im Zentrum jedes Gottesdienstes am Heiligen Abend, eine Geschichte, die wirklich generationenübergreifend alle anspricht und uns mit ihrer Poesie zum Denken und Mitfühlen einlädt. Vorhin im Familiengottesdienst beim Krippenspiel war das ganz offensichtlich, da wurde Weihnachten erlebt, da wurde die Botschaft lebendig in den Akteuren der Erzählung. Da war man zum Beispiel mit Maria und Josef auf Herbergssuche und spürte, wie schmerzhaft Ablehnung und verschlossene Türen sind. Da wurde deutlich, dass Weihnachten kein Kuschelfest ist, nicht zum Abtauchen in eine heile Welt einlädt, sondern dass es die ganze Wirklichkeit im Blick hat, gerade auch all das, was das Leben der Menschen bedrückt und bedrängt - und das durch alle Zeiten. Die Hirten, die nachts auf den Feldern Bethlehems ihre Schafe hüten, sie stehen für alle, die irgendwie versuchen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, die dabei abhängig sind - von den Herdenbesitzern, von der politischen Großwetterlage, den Unwägbarkeiten der Witterung ausgeliefert; Menschen, die real ohne Frage große Schwierigkeiten haben, mit ihrem Leben zurechtzukommen - und die dermaßen unter Anspannung und verunsichert in der Nacht Gefahr laufen, jeden Schattenwurf eines Baumes oder jedes Knacken im Gebüsch für eine Bedrohung zu halten. Die Hirten auf den Feldern Bethlehems, so gesehen stehen sie gerade heute für viele Zeitgenossen, ja für uns alle, die wir uns immer wieder nur als kleine Rädchen im Getriebe der Geschichte vorkommen und seit etwa zwei Jahren alle Mühe haben, Realität und Stimmungsmache voneinander zu unterscheiden.
Es ist Nacht auf den Feldern von Kaiserswerth.
1. „Todesfahrt in Berlin: 12 Menschen sterben".... „Fürchtet euch nicht!"
2. „Zwölfjähriger unter Terrorverdacht. Ein Junge aus Ludwigshafen soll versucht haben, eine Bombe zu zünden" .... .. „Fürchtet euch nicht!"
3. „Der Drache greift an - China kauft aggressiv europäische und amerikanische Hightech-Unternehmen. Der Westen droht zurückzufallen"..... „Fürchtet euch nicht!"
4. „Hängt ihn am Baum auf - Immer mehr Kommunalpolitiker werden im Internet beschimpft und beleidigt. Auch vor Morddrohungen schrecken die Absender nicht zurück"..... „Fürchtet euch nicht!"
5. „Deutsche schätzen Zahl der Muslime im Land viel zu hoch ein"....,. „Fürchtet euch nicht!"
6. „Rechtsextremisten besetzen Kirchturm" .... „Fürchtet euch nicht!"
- das waren Artikelüberschriften regionaler Tageszeitungen der vergangenen Woche, Nachrichten aus unserer Welt, die sich global weiterdreht und auch Weihnachten keine Pause einlegt. Nachrichten, die uns mit Tatsachen und Fakten konfrontieren - und meistens sind sie wenig ermutigend.
Vor 1940 Jahren waren die Nachrichten, die Botschaften, die den normalen Menschen in der römischen Provinz erreichten, nicht weniger deprimierend: Steuererhöhungen, permanente Übergriffe der Besatzungsmacht, Terror und Gegenterror - das war die Wirklichkeit für die Bewohnerinnen und Bewohner von Judäa und Galiläa. Nachrichten zum Fürchten machten die Runde. Und eine der letzten Nachrichten vermeldete: Jerusalem ist von den Römern erobert und zerstört worden mitsamt dem Tempel.
In dieser Zeit setzt sich der Arzt Lukas, ein Grieche, hin und schreibt an seinen Freund Theophilus einen Bericht von all dem, was Jesus von Anfang an tat und lehrte. Keine History a la Guido Knopp, sondern ein Euangelion, eine gute Botschaft. Eine Botschaft, die stark genug sein musste, die Menschen trotz aller äußeren Bedrängnis und aller Sorgen froh und zuversichtlich zu machen. Eine Geschichte mit der Kraft, die Wirklichkeit nicht einfach zu ertragen, sondern sie zu verändern. Es ging um nichts weniger als um das Heil, die Heilung der Welt.
Die Botschaft, die Lukas weitergegeben hat, ist eine Botschaft vom Himmel, weshalb Engel die Überbringer sind. Aber sie ist nicht zum Träumen schön, sondern aufrüttelnd neu, eben ganz anders als erwartet, weshalb es zunächst heißt „Fürchtet euch nicht!" Gemeint ist nicht einfach, dass die Hirten sich vor den plötzlich aufgetauchten Lichtgestalten nicht erschrecken sollen. Gemeint ist vielmehr: fürchtet euch nicht davor, wie Gott die Welt zu heilen, zu retten gedenkt. Da kommt eben kein Held oder starker Mann, der es richten wird, kein Experte, Wissenschaftler oder Spezialist, sondern da ist ein Kind geboren. Da muss sich der Retter noch entwickeln, muss noch werden und wachsen. „Euch ist heute der Heiland geboren."
Das Heil für die Welt, es ist im Werden. Mit der Geburt Jesu feiern wir den Anfang des Heils, das sich entwickeln will. Das Kind in der Krippe - Bild für diesen Anfang.
„Fürchtet euch nicht!"
Liebe Gemeinde, dieser Ruf, dieser Aufruf ist an diesem Heiligen Abend so nötig wie schon lange nicht mehr. Im September stellte das Allensbachinstitut über die Stimmungslage der deutschen Bürgerinnen und Bürger fest, dass trotz materieller Zufriedenheit und einer recht großen Sicherheit hinsichtlich der Arbeitsplätze eine große Zukunftsunsicherheit sich quer durch alle Bevölkerungsschichten zieht. Die „Deutsche Angst" kommt zurück, Angst vor Terroranschlägen, Angst vor Islamisten, Angst vor Fremden; eine große Mehrheit wünscht mehr Polizei; die Planungen für den Sylvesterabend in allen großen Städten sprechen eine deutliche Sprache. Ausgangspunkt all dieser Ängste und Verunsicherungen ist das Gefühl, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein, überrollt zu werden von Entwicklungen, die man nicht will und die man nicht beeinflussen kann. Das Vertraute, Bekannte, das Herkömmliche - das löst sich auf, Veränderungen überall - eben nicht nur, was den Zuzug von Flüchtlingen angeht. Da ist auch die Digitalisierung in der Arbeitswelt, im Alltag, immer weniger hat man es mit konkreten Menschen zu tun, sondern überall stößt man auf Hotlines und Computer als „Ansprechpartner". Da wird der Wunsch danach, es möge wieder so sein wie früher, übermächtig. Den so bedrängten Zeitgenossen gilt der Ruf der Engel:
„Fürchtet euch nicht!"
Vielmehr, wenn sie hier und heute erscheinen würden, sie würden rufen: „Entängstigt euch!"
Entängstigt euch - das trifft das, worum es wirklich geht, viel mehr als ein „Fürchtet euch nicht!"
Entängstigt euch - das ist kein wohlfeiler Zuruf wie „Habt keine Angst!". Sondern das ist ein Aufruf, aktiv zu werden, sich zu entängstigen.
Angst, das hat sprachlich etwas mit Enge zu tun; eine Enge, die einem den Atem nehmen will, die lähmend wirkt, die einen daran hindert, sich in dem Raum zu bewegen, der einem offensteht. Das ist die eine Wirkung von Angst.
Von unseren Geschwistern, den Tieren, wissen wir ziemlich genau um die zweite Wirkung. Wenn sie in die Enge getrieben werden, werden sie aggressiv und beißen oder stechen einfach zu, auch wenn ihnen das am Ende nicht nur nichts hilft, sondern sogar das Leben kostet.
Entängstigt euch! Das ist beides: Zumutung und Verheißung.
Es steckt die Verheißung drin, dass man der Angst, der Enge entrinnen kann, dass sie nicht den Takt für das Leben vorgibt.
Doch die Angst kann nicht weggepustet oder wie eine Lampe ausgeknipst werden. Gefordert ist, genau hinzusehen, sich der Mühe zu unterziehen, ihren Ursachen wirklich auf den Grund zu gehen. Sich zu entängstigen heißt, sich selbst, seine Umwelt und die gesellschaftlichen Zusammenhänge kritisch-selbstkritisch zu sehen und zu durchdenken. Das macht Mühe und Arbeit.
Worum es bei dem „Entängstigt euch!" geht, das bringt uns das Bild von Beate Heinen nahe, das sie als Karte auf dem Gottesdienstprogramm vorgefunden haben. Beate Heinen malt seit mehr als 30 Jahren jedes Jahr ein Weihnachtsbild, das sie im Sommer fertigstellt, damit es ab Oktober als Reproduktion über den Buch- und Kunsthandel vertrieben werden kann. In diesen Bildern finden sich immer aktuelle zeitgeschichtliche Bezüge, um so zu zeigen: Weihnachten hat mit unserem Leben heute zu tun. Die Geburt Jesu, das, was mit ihm in die Welt gekommen ist, seine Art, das Leben zu sehen und entsprechend zu handeln, ist relevant für die Menschen aller Zeiten. (Licht anschalten)
Das Bild zeigt drei Personen, links sehen wir Maria, vor ihr das Jesus-Kind, das allerdings nichts Kindliches mehr an sich hat, sondern eher die Züge eines kleinen Erwachsenen trägt. Rechts kommt eine Gestalt ins Bild, die auf ihren Händen die Erdkugel nicht so sehr trägt, sondern sie dem Jesus-Kind hinhält - eine Erdkugel, die durchzogen ist von Rissen, eine verwundete Welt. Marias Hand stützt diese Erdkugel, während das Jesus-Kind seine Hände darauflegt - tröstend, heilend.
In einem unterscheiden sich die drei Personen deutlich:
während das Jesus-Kind die Augen weit geöffnet hat und genau die Wunden der Erdkugel betrachtet, sind die Augen dessen, der die verwundete Welt hinhält, geschlossen. Als könnte oder wollte er all das Elend und das Leiden nicht mehr sehen: „Hier nimm, Jesus, sieh du zu. Ich bin mit meinem Latein am Ende. Die Heilung, die Rettung der Welt, das ist deine Sache." So könnte man seine Haltung und Geste verstehen; gerade auch, wenn man den Titel, den Beate Heinen ihrem Bild gegeben hat, dazu nimmt: „Christ, der Retter ist da".
Ja, er ist da, aber er rettet eben anders als gedacht. Denn die Rettung, die Heilung der Welt ist keine One-Man-Show, sondern sie ist Teamwork. Alle Menschenkinder, alle Gotteskinder sind dazu aufgerufen. Allen wird Heilsames zugetraut - das zeigt der Kopfschmuck, den alle drei Personen unterschiedslos tragen: alle sind gekrönt.
Aber um heilsam wirken zu können, ist es unerlässlich, die Augen zu öffnen, hinzusehen, was Sache ist. Maria ist da schon weiter als die Person rechts auf dem Bild. Sie hat schon den Mut, das Leid der Welt in den Blick zu nehmen, ermutigt von ihrem Kind.
Als Beate Heinen dieses Bild malte, lagen schwere Schatten über der Welt. In Lateinamerika war nicht nur Argentinien wirtschaftlich bankrott, sondern auch die anderen Volkswirtschaften kämpften ums Überleben. In China hatte das Regime am 4.Juni die friedlich auf dem Platz des himmlischen Friedens demonstrierenden Studenten zu tausenden massakriert - ein böses Omen gerade auch für die immer weiter um sich greifenden Protestbewegungen in den Ländern Osteuropas. Die Welt war aus dem Fugen. Wohin würde die Reise gehen?
Ja, liebe Gemeinde, unsere Welt ist eine Welt, die tatsächlich nicht fest und ehern ist. Wenn wir die Augen auf machen, dann ist das offensichtlich. Schon physikalisch ist der Boden unter unseren Füßen eben nicht unbeweglich fest und sicher. Es handelt sich vielmehr um nur wenige Kilometer dicke Erdplatten, die auf einer feurigen Kugel schwimmen, die permanent in Bewegung sind, immer wieder Risse produzieren, die sich in Erdbeben, Vulkanismus und Tsunamis zeigen. Das verursacht auf der einen Seite immer wieder schrecklich viel Leid; auf der anderen Seite wäre ohne alle diese Bewegungen Leben auf dieser Erde nicht denkbar.
Und ähnlich verhält es sich mit der menschlichen Geschichte. Auch da ist alles in Bewegung, gab und gibt es immer wieder Brüche, Ausbrüche von Gewalt und Hass, die mit viel Leid und Ungerechtigkeit verbunden sind. Der Terroranschlag am Montag in Berlin, er hat schreckliche Wunden gerissen.
Aber es gibt eben auch Brüche, die Neues im Guten ermöglichen. Beate Heinens Bild gibt davon Zeugnis: hatte sie vor allen Dingen das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens vor Augen mit all dem blutigen Leid, so öffnete sich Ende August erst der Eiserne Vorhang zwischen Österreich und Ungarn und fiel am 9.November die Mauer in Berlin - heilsame Brüche. Möglich, weil Menschen, die eigentlich nur kleine Rädchen im großen Weltgetriebe sind, sich entängstigt hatten, mit offenen Augen und oft zitternden Knien aufgestanden sind für Freiheit und Selbstbestimmung, die dieses Risiko eingegangen sind, ohne das Veränderungen nie zu haben sind. Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, all das will erstritten werden.
Entängstigt euch! Geht nicht denen auf den Leim, die Stimmung machen, bewusst die Unwahrheit verbreiten, Vorurteile und Hass schüren. Misstraut allen, die auf Emotionen setzen und Fakten gar nicht zur Kenntnis nehmen.
Macht die Augen auf, seht hin und denkt nach.
Gefühle ohne Verstand sind gefährlich.
Entängstigt euch! Dann könnt ihr heilsam sein für die Wunden der Gesellschaft.
Das christliche Abendland geht weder unter noch wird es islamisiert. Es ist allerdings im Wandel begriffen. Aber solch ein Wandel ist erst einmal nichts Schlechtes. Dazu eine kleine wahre Begebenheit. 1985 war ich als Pastorin in die Gemeinde Großenbaum-Rahm gekommen. Mit meiner Pfarrkollegin und meinem Pfarrkollegen - wir waren zu dritt in der Gemeinde - besuchten wir den katholischen Pfarrer, um die Ökumene voranzubringen. Meine Kollegin fragte ihn während dieses Treffens, was er denn dazu sage, dass er es jetzt in Großenbaum nicht nur mit einem Pfarrer, sondern auch mit zwei Pfarrerinnen zu tun hätte. Daraufhin sah er sie und mich ziemlich durchdringend an und sagte dann: Dass es so etwas wie sie gibt, ist für mich ein Zeichen des Untergangs der abendländischen Kultur.
Für mich war es ein absolut unverzichtbarer Wandel der abendländischen Kultur. Und darum: Entängstigt euch!
Christ, der Retter ist da. Welchen Wandel hat er nicht angestoßen; wieviel Heilsames und Aufrichtendes! Und er hat uns gezeigt, wie wir mit unserer Angst umgehen können:
„Entängstet euch!", ruft er uns zu, „Gott ist da, in allen Brüchen, in allem Wandel; bei ihm seid ihr geborgen, so wie ich bei ihm geborgen bin. Er weiß um eure Schwäche, aber er hat euch mit vielen Kräften und Möglichkeiten ausgestattet, er hat euch mit Gnade und Wahrheit gekrönt."
Liebe Gemeinde, erinnern wir uns an diese Kronen, wenn die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen uns wieder Angst einjagen wollen. Begegnen wir allen Lügen mit der Wahrheit, und tragen wir die Güte und Menschenfreundlichkeit unseres Gottes in alle Dunkelheiten dieser Zeit. Amen.
1.Christtag 25.12.2016 Stadtkirche Micha 5,1-4a Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Christtag 2016
Micha 5,1-4a
Die Predigt nimmt ausführlich Bezug auf zwei englische Weihnachtslieder des amerikanischen Theologen Phillips Brooks (1835-1893), die darum hier vorangestellt werden, einschließlich einer Prosa-Übersetzung wichtiger Verse (eine deutsche Fassung des Liedes „O little town of Bethlehem“, die dem Original allerdings nur sehr begrenzt gerecht wird, ist im EG unter Nr.55 zu finden und wurde vor der Predigt gesungen).
O little town of Bethlehem
1. O little town of Bethlehem,
How still we see thee lie!
Above thy deep and dreamless sleep
The silent stars go by.
Yet in thy dark streets shineth
The everlasting Light;
The hopes and fears of all the years
Are met in thee to-night.
2. O morning stars, together
Proclaim the holy birth!
And praises sing to God the King,
And peace to men on earth.
For Christ is born of Mary
And gathered all above,
While mortals sleep the Angels keep
Their watch of wondering love.
3. How silently, how silently,
The wondrous gift is given;
So God imparts to human hearts
The blessings of His Heaven.
No ear may hear His coming,
But in this world of sin,
Where meek souls will receive Him still,
The dear Christ enters in.
4. Where children pure and happy
Pray to the blessed Child,
Where misery cries out to Thee,
Son of the Mother mild;1
Where Charity stands watching
And Faith holds wide the door,
The dark night wakes, the glory breaks,
And Christmas comes once more.
5. O holy Child of Bethlehem,
Descend to us, we pray!
Cast out our sin and enter in,
Be born in us to-day.
We hear the Christmas angels,
The great glad tidings tell;
O come to us, abide with us,
Our Lord Emmanuel!
The Voice of the Christ Child
1. The earth has grown old with its burden of care,
But at Christmas it always is young,
The heart of the jewel burns lustrous and fair,
And its soul full of music breaks forth on the air,
When the song of the Angels is sung.
2. It is coming, old earth, it is coming to-night,
On the snowflakes which cover thy sod,
The feet of the Christ-child fall gently and white,
And the voice of the Christ-child tells out with delight
That mankind are the children of God.
3. On the sad and the lonely, the wretched and poor,
That voice of the Christ-child shall fall;
And to every blind wanderer opens the door
Of a hope which he dared not dream of before,
With a sunshine of welcome for all.
4. The feet of the humblest may walk in the field
Where the feet of the holiest have trod,
This, this is the marvel to mortals revealed,
When the silvery trumpets of Christmas have pealed,
That mankind are the children of God.
[Wörtliche Übersetzung der ursprünglichen 4.Strophe von
O little town of Bethlehem
Wo fröhliche Kinder einfach
zum Segenskind beten,
wo die Not dich anruft,
du Sohn einer gütigen Mutter,
wo Nächstenliebe aufmerksam ist
und der Glaube die Tür weit öffnet,
da erwacht die Nacht, da geht Herrlichkeit auf,
da wird es wieder Weihnachten.
Wörtliche Übersetzung der 3. und 4. Strophe von
The voice of the Christ-Child
Die Traurigen und Einsamen, die Erbärmlichen und Armen
soll die Stimme des Christkindes treffen,
und im Sonnenschein eines Willkommens für alle
wird sie jedem blinden Wanderer die Tür zu einer Hoffnung öffnen,
von der er nicht zu träumen wagte.
Dann dürfen die Füße der Bescheidensten
auf den Weiden der Heiligsten gehen,
denn das ist ja das Wunder, das sich beim Klang
der silbernen Weihnachtsposaunen den Sterblichen offenbart:
Die Menschheit besteht aus den Kindern Gottes.]
Liebe Gemeinde!
Der Dichter des amerikanischen Weihnachtsliedes, das wir eben gesungen haben, war das Gegenteil der kleinen Stadt Bethlehem: Ein imponierend großer Mann mit einem Leibesumfang, den das 19.Jahrhundert als besonders würdig empfand, wurde er nicht nur in den USA zu seinen Lebzeiten schon sehr verehrt, sondern auch im viktorianischen England als ergreifender Prediger hoch geschätzt, dem selbst die ihrerseits stattliche Königin Victoria beifällig lauschte, als er als erster Amerikaner die Kanzel von Windsor betreten durfte .
Unter dem Gardemaß und hinter dem höchst gravitätischen Äußeren dürfte Phillips Brooks durchaus auch Schwächen verborgen haben, … war er doch ehe er ins kirchliche Amt wechselte in nur wenigen Wochen als Lehrer an einer Knabenschule krachend gescheitert.
Zeitlebens blieb ihm der Schimpf, einer Klasse von Halbstarken disziplinarisch nicht gewachsen gewesen zu sein, schmerzlich gegenwärtig. … Doch einen krampfhaften Prinzipienreiter hinterließ das frühe Trauma nicht. Dazu war er in seiner Grundhaltung viel zu liberal – im besten, … theologisch allerdings auch immer etwas problematischen Sinn:
Er nahm im amerikanischen Bürgerkrieg politisch jedenfalls eine Haltung ein, die ihn zu einem glühenden Vertreter der nordstaatlichen Freiheits- und Gleichberechtigungswerte gegen die besonders bibelfesten Sklavenhalter des Südens machte. Sein Kampf für das Wahl-recht der schwarzen Bevölkerung, seine Predigt zum Tode Abraham Lincolns und seine tolerant großzügige Haltung in den zahllosen Fehden der amerikanischen Denominationen machten ihn zum Meinungsführer der Institutionen der intellektuellen Ostküste, wo in Harvard bis heute ein Gebäude seinen Namen trägt, das er bewusst als gemeinsamen Andachtsraum und als Diskussionsforum der verschiedenen Glaubensgemeinschaften im Rahmen der Universität gründete. In Harvard hätte man Brooks im Übrigen gerne einen Lehrstuhls angeboten, den er zugunsten der Kanzel in seiner Heimat Boston allerdings ablehnte, wo er kurz nach seiner Ernennung zum Bischof der anglikanischen Episkopalkirche von Massachusetts im Jahr 1893 im Alter von nur 57 starb. Sein Leichenzug wurde von mehr als 20 000 Menschen gesäumt, unter ihnen Angehörige aller Konfessionen, denn auch Katholiken und Unitarier teilten – wie ein zeitgenössischer Bericht es formuliert – das Bewusstsein, wie bedeutungslos alle Schranken wurden vor dem Unglück, dass „einer der Großen in Israel gefallen war“. —
Blickt man zurück auf diesen Mann des 19.Jahrhunderts, auf seine ausgewogene, versöhnliche und integre Person und sein Bemühen um Recht und Rationalität, so wird der Kontrast zu den heutigen Maßstäben und Gepflogenheiten gerade im Land der Freiheitsverheißung beklemmend deutlich. …….
Doch nicht um diesen Wink aus der Geschichte geht es heute.
Sondern um eine andere Ironie, die schlicht noch viel schöner ist. Denn trotz seiner nicht unbeträchtlichen Verdienste ist der hochgewachsene Gelehrte aus den ältesten Honoratiorenkreisen der Neuen Welt wegen einer fast abwegigen Geringfügigkeit berühmt geblieben. Nicht seine hochgepriesenen, zeitbedingten Vorlesungen, nicht seine überaus eindrücklichen Predigten, nicht sein ehrenwertes politisches Programm haben sein Nachleben im Gedächtnis der englischsprachigen, inzwischen auch der deutschsprachigen Welt gesichert, sondern ein schlichtes Lied, das er ausgerechnet für den Kindergottesdienst seiner Gemeinde dichtete.
Phillips Brooks war am Heiligen Abend 1865 auf einer Bildungsreise ins Heilige Land in der „kleinen Stadt Bethlehem“ gewesen und hatte in der durchaus eindrucksvollen konstantinischen Basilika über der Geburtsgrotte das fünfstündige orthodoxe Hochamt mitgefeiert. Er war gebührend ergriffen … aber erleuchtet hatte ihn die Erfahrung nicht.
Erst drei Jahre später, als er die weihnachtlichen Gottesdienste in seiner Gemeinde in Philadelphia vorbereitete, erinnerte er sich, in Bethlehem mitten unter den ehrwürdigen Hymnen des alten Ritus Stimmen gehört zu haben, deren Freude über die Heilige Nacht ihn nicht mehr losließ.
Er musste ihnen selber Worte verleihen, und so entstand ein Kinderlied für die jüngsten Gemeindeglieder, das sein Kantor auf Brooks’ Drängen hin unmittelbar vertonte und das nach dem ersten Gebrauch in Brooks’ eigener Gemeinde bald nach seinem gedruckten Erscheinen einen regelrechten Triumphzug durch die evangelischen Kirchen Nordamerikas antrat.
Warum? – Ist dieser Nachklang einer typischen Orientreise des 19.Jahrhunderts viel-leicht der besonders inspirierende, authentische, archäologisch beglaubigte Bekenntnis-Bericht eines Forschers?
Leider nein.
Es ist eine mittelmäßig originelle Reimerei, die eher wenig vom Lokalkolorit des verschlafenen, arabisch-besiedelten Kleinstädtchens im osmanischen Palästina verrät, dafür aber sentimental genug ist, um das Gemüt zuverlässig anzusprechen.
Ist das aber nicht schrecklich wenig?
Ist es nicht bedauerlich, dass die Wirklichkeit der biblischen Welt, dass die Geschichtlichkeit der Geburt des Messias Israels selbst einem Augenzeugen von Ort und Stelle so wenig konkrete Anregung zu bieten scheint, dass man auch ebenso gut wie der „Stille-Nacht“-Gruber niemals aus dem Salzburgerland fortgekommen sein muss, um Herzen ähnlich rühren zu können? …
Das ist eine echte Frage.
Muss, wer Bethlehem als wirklichen Ort und Weihnachten als historisches Geschehen erfährt, nicht immerhin etwas von den Lebensumständen des jüdischen Volkes unter römischer Besatzung in der Antike vermitteln können, muss er nicht etwas von der Bedrängnis und Hoffnung zu sagen wissen, in die hinein Jesus geboren wurde?
Und müsste der dann nicht auch die alte, vom Propheten Micha im 8.Jahrhundert vor Christus unvergesslich stark gemachte Erwartung erwähnen, dass nicht aus der einflussreichen Stadt Jerusalem mit ihrer Nobilität und ihrem Militär, sondern aus dem dörflichen Bethlehem, wo die Vorfahren der Könige von Juda einst Viehzucht trieben, wirklich Heil und Zukunft kommen sollen?!
Müssten wir nicht immer wieder – poetisch oder akribisch, sozialgeschichtlich oder auf dem Weg der Einfühlung – uns an die Ursprünge der biblischen Überlieferung versetzen, das historisch einmalige Umfeld, den Zusammenhang und den Sinn der einzelnen Teile der Heiligen Schrift im unverwechselbaren Damals, im uns unvertrauten Ehedem suchen und den Quellen ihre eigene Sprache, der Vergangenheit ihre aparte Würde, dem frischen Bibelwort seine fremde Freiheit von all unserer Vereinnahmung einräumen?
Hat also Phillips Brooks nicht schlicht als Bethlehem-Reisender und Bibelforscher versagt, … versagt nach einem Muster, das uns in sämtlichen Zugriffen auf das Weihnachtsfest überall und immer begegnet, bei denen jedermann draus macht, was ihm gefällt und was er mag?
Hat Brooks versagt?
– Das ist die gleiche Frage, die wir dem Propheten Micha stellen müssten.
Denn auch der hat es getan:
Er hat ein altes, geheiligtes und vielfach gepflegtes und umgedeutetes Erbe schlicht aufgegriffen und es ist – unter Gottes Verheißung, wie wir glauben – etwas ganz Neues, etwas ganz dringlich Sprechendes und Unmittelbares daraus geworden.
Micha, der Arme-Leute-Prophet in einer Zeit der abenteuerlichen Oberschichtenpolitik in Juda hat die Tradition der großen Davidsfamilie, die sich in Jerusalem zwischen Thron und Tempel eingerichtet hatte, gegen den Strich gebürstet. Nicht das korrupte und religiös unverbindlich in alle Richtungen sich verbündende Jerusalem, sondern die belächelte, vielleicht im Rückblick verklärte, vielleicht auch von den späteren Davidnachkommen verleugnete Herkunft aus Bethlehem erklärte Micha zum Kristallisationspunkt neuer, endgültiger Hoffnungen auf Frieden und Recht. Niemand sprach damals in den tonangebenden Kreisen mehr anders von Bethlehem, als im fernen, musealen Rückblick auf die graue Vorzeit. Bethlehem war einmal; nunmehr galt Jerusalem, das zwischen Assur und Ägypten wählen, Komplotte schmieden und Vorteile suchen konnte.
Vorbei die kleine, unseriöse Bauernwelt von Bethlehem.
Doch nicht indem er rückblickend eintaucht in die sagenhafte Chronik des jungen Bauernsohnes und Hirtenknaben David, sondern indem er selbst mit seiner Gemeinde in die Zukunft schaut, knüpft Micha an die Vorgeschichte an.
Nicht das Vergangene als solches also, sondern Der, Der Gewesenes durch Gegenwart an Künftiges knüpft, weil Er einen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her bestimmen und bewegen kann, … Der ist es, durch Den Micha Erinnerung und Hoffnung lebendig und kräftig werden sieht. Weil Gott den Anfängen treu bleibt, weil Er nicht vergisst, dass Er Heil und Sicherheit und Versöhnung und Frieden verheißen hat, … darum lebt das kleine Bethlehem, lebt sein Name und seine inzwischen verdrängte, aber trotzdem unverlierbare Hoffnung weiter.
Gott wird wie im Anfang, so auch jetzt und zukünftig nicht die Geschichtsschreibung der Mächtigen, sondern das Recht und den Segen der Erniedrigten und der Entmündigten fortsetzen, Gott wird die Geschichte der Hilfsbedürftigen, Gott wird die Geschichte der Hoffnung begleiten und erfüllen.
… Dafür steht Bethlehem. Das leuchtet im Namen und im Gedächtnis und in der gegenwärtigen Kümmerlichkeit über dem alten Örtchen für Micha geradezu strahlend hell.
Aus dieser unmittelbaren Erwartung, aus diesem Eigensinn, der dem Kommenden als Lebenszeichen und guter Botschaft Gottes entgegensieht, speist sich Michas Aktualisierung, seine Aufnahme der vergessenen oder von den Mächtigen missbrauchten Bethlehem-Tradition. ——
Das ist für uns nun gewiss kein Freibrief, aus der Bibel Alten und Neuen Testaments, aus den Ereignissen der Geschichte Israels und dem Leben Jesu, aus den Schauplätzen und Gegenständen der heiligen Überlieferung beliebige Stichworte, Stimmungsbilder oder Versatzstücke auszulösen und zu verwursten.
....... Jedoch wenn das entfiele … dass die Worte und Erzählungen der Bibel, dass die Erinnerungen und Traditionen des Glaubens uns lebendige neue Erwartungen, berührende und bewegende Ermutigung und Hoffnung geben, dass sie uns glauben und singen und fröhlich machen … wenn das entfiele, dann würde aus dem Bethlehem des historischen David und aus dem Bethlehem Michas und aus dem Bethlehem des Davidssohnes Jesus und aus dem Bethlehem, das Phillips Brooks einst sah und aus dem von ihm und uns besungenen Bethlehem unserer weihnachtlichen Frömmigkeit ein Ort, der mal dreitausend, mal zweitausend, mal zweihundert Jahre von uns entfernt läge und der rein gar nichts für das palästinensische Bethlehem von heute bedeutete und für das heutige Israel und für die Vereinten Nationen dieser Erde mit ihren teils hinterhältigen und teils notwendigen Friedensresolutionen und für unser eigenes Leben im Land der Todesschatten und für unsere Hoffnung auf das sichere Wohnen aller Menschen und auf die weltweite Herrlichkeit des Namens Gottes und auf den Frieden, der er sein wird!!! …….
Doch Du, Bethehem Ephrata, die Du klein und sehr vergangen und auch heute sehr bedrängt und oft vergessen bist … Du gehörst nicht dem „Es war einmal“, sondern Dir verdanken wir das befreiende und aufrichtende, das glücklich- und seligmachende „Es wird einmal“.
Du Bethlehem, kleine, ferne, wirkliche Stadt der Verheißung: Wir singen von Dir und unser Herz geht auf.
Es öffnet sich wie die Türen sich öffnen in der 4.Strophe der ursprünglichen Dichtung von Phillips Brooks.
Diese Strophe, in der Glaube und Nächstenliebe wie selbstverständlich die praktischen, lebendigen Konsequenzen dessen ziehen, was in Bethlehem für die Welt geschah, … diese Strophe ist die eigentliche Beglaubigung der kleinen, anspruchslosen Liedmeditation, die wenig vom wirklichen Bethlehem vermittelt, aber dafür umso mehr den Geist der Hoffnung und Menschenliebe atmet, der dort in Jesus Wirklichkeit und Gestalt annahm.
Dass es Brooks dank seines aufgeschlossenen Denkens und großzügigen Herzens auch mit der freigiebigen Hand und mit einer Kultur des Willkommens, einer Haltung des herzlichen Entgegenkommens ernst war, wo immer man dem Kind von Bethlehem vertraut und nachfolgt, bestätigen die Worte eines weiteren kindlichen Weihnachtsliedes aus seiner Feder:
Da tut sich in einem abermals herzbewegend sentimentalen Gedicht durch das Kind von Bethlehem für jeden erschöpften Wanderer dieser Welt eine Tür weit auf, durch die der „Sonnenschein eines Willkommens für alle“ fällt.
Und dass wir diese Tür, diese Offenheit zu einer allgemeinen Willkommenskultur finden, … das ist mehr als der amerikanische Traum: Es ist die Verheißung von Bethlehem, es ist das Geschenk, das jedes noch so kleine Lied uns in dieser kleinen Stadt zeigt, in der wir Christus finden.
„Lasset uns nun gehen nach Bethlehem!“ (Lk2,15)
Amen.
Um sich über Phillips Brooks zu informieren, bietet das Internet reichliche Möglichkeiten. Ein erster, seriöser Zugang findet sich unter: https://harvardmagazine.com/1996/05/vita.html.
Beispielhaft für die Grundhaltung von Brooks sei folgendes Zitat angeführt: “If you limit the search for truth and forbid men anywhere, in any way, to seek knowledge, you paralyze the vital force of truth itself.
In the best sense of the word, Jesus was a radical. His religion has been so long identified with conservation -- often with conservatism of the obstinate and unyielding sort -- that it is almost startling for us sometimes to remember that all of the conservatism of his own times was against him; that it was the young, free, restless, sanguine, progressive part of the people who flocked to him.” Zitiert nach http://www.goodreads.com/quotes/305158-if-you-limit-the-search-for-truth-and-forbid-men
In seinen bis heute im angelsächsischen Bereich rezipierten Homiletik-Vorlesungen (d.h. seiner Theorie des Predigens) begegnet die Definition, die für angelsächsisches Verständnis immer noch plausibel ist, für Theologen aus der Tradition Karl Barths indes die Zusammenfassung des liberalen Holzweges darstellt: Preaching is the communication of truth through personality („Predigen ist die Kommunikation der Wahrheit mittels Persönlichkeit“). Vgl. dazu https://www.paulbeasleymurray.com/2014/04/03/truth-through-personality/
Christmette 2016 Stadtkirche Martin Luther: "Vom Himmel kam der Engel Schar" (EG 25) Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christmette 2016
Martin Luther: „Vom Himmel kam der Engel Schar“ (EG 25)
Liebe Gemeinde!
Unsere traditionsreichsten Weihnachtsworte sind oft – und sachlich auch ganz angemessen – Verkleinerungen: Das „Jesulein“ und das „Kripplein“, das „Öchslein“ und das „Blümelein“ und wie die Verniedlichungen und Diminutive sonst noch heißen mögen, die ja gar nicht auf dem Grund des Kitsches gedeihen, sondern schlicht das zentrale Geschehen des Festes nachbilden: Die Selbstverkleinerung Gottes.
Gott, der Umfassende, von dem das Mittelalter die Faustregel aufstellte, etwas Größeres als Ihn könne man unmöglich denken, … Gott also hat auf unerhörte, die Physik und die Philosophie umstürzende Weise das Format gewechselt, als der Maximale Mini wurde.
In gewissem Sinn hätte Luther darum auch auf dieser Spur zu seinem Lieblingsbegriff kommen können: Wenn Der, Der das Universum durchdringt und sogar übertrifft, Sich plötzlich mit der Kleinheit und Feinheit eines Säuglings bescheidet, dann wird aus dem All das … „Allein“; und für diese Formel ist die Reformation ja berühmt, … für die sola-Formeln und ihr „All-lein“, das man ausnahmsweise auch einmal als weihnachtliche Koseform für das Weltall und seinen Formgeber hören kann ……. ——
Doch eine solche Spielerei hat sich der sprachwitzige und wortschöpferische Luther denn doch nicht geleistet, in keinem seiner Lieder von der Selbsterniedrigung und Menschwerdung Gottes, des Ewigen und Allmächtigen.
Dabei hat Weihnachten ihn gleichwohl mehr singen gemacht als alle anderen Feste und Glaubensartikel der Kirche. Und bis heute beginnt die Weihnachtsrubrik unseres Evangelischen Gesangbuchs drum auch mit einem Dreiklang an Luther-Chorälen, … drei sehr verschiedenen hymnischen, erzählerischen und dogmatischen Weihnachtsliedern.
Das erste stammt aus Luthers berühmtem „Liederjahr“ 1523/24, als er den gottesdienstlichen Gesang in die Gemeinde zurückholte und die überlieferte Liturgie volkssprachlich umschuf. Damals dichtete und ergänzte er im altkirchlichen Ton einen Hymnus für die nunmehr deutsche Messe: „Gelobet seist du, Jesu Christ“, in dem die theologische Überlieferung der Väterzeit tief und geläutert weiterklingt*.
Zehn Jahre später war aus dem Mönch Martinus dann ein häuslicher Familienvater geworden, und für den reinen Hausgebrauch entstand ein Kinderlied, das tatsächlich jedem der Wittenberger Pfarrerskinder eine eigene, kindgerechte Strophe zuordnet. In den kurzen, innig andächtigen Versen des „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ erlebt man den eigentlichen Ursprung des Kinderfestes, das wir heute noch kennen, … nur dass die Bescherung, von der ausdrücklich gesungen wird, damals das Eigentliche und das Wahre ist: Gottes lieber Sohn selbst.
Heute abend aber bedenken wir weder das feierliche erste noch das intime zweite Weihnachtslied Luthers, sondern ein drittes, … sein letztes. Er schrieb es in einer Zeit, in der ihm das Singen eigentlich gründlich vergangen war, in einer Zeit, in der seine Missstimmung, seine depressive und cholerische Neigung zu Schwarzseherei und Unflätigkeit aus dem Propheten und Prediger von einst einen bitteren Polemiker und Provokateur gemacht hatten.
Und tatsächlich kommt der große Schlachtruf, mit dem Luther wie unlöslich verbunden scheint, in diesem jüngsten seiner Weihnachtslieder wahrhaftig auch vor, obwohl eine so bärbeißige Parole in der Nähe der Kindelein und Windelein unpassend anmutet.
… Doch in seinem abschließenden Lied auf Christi Geburt brüllt oder brummelt Luther sein berühmtes „Trotz!“-Wort wirklich.
Es ist also ein Lied des Widerstands, mit dem der Reformator von seinem und der Deutschen liebstem Fest Abschied nimmt.
Was ihn in diesem Lied so angespannt und trotzig machte, ist schnell zu verstehen: Nicht nur die Druckwellen, die seine evangelische Wiederherstellung der Kirche ausgelöst hatten, brandeten auf ihn zurück, sondern seine Welt und sein Leben waren in den Grundfesten erschüttert und bedroht. Sein Lieblingstöchterlein – weihnachtliche Verniedlichung! – das kleine Lenchen, die 1535 als einziges Mädchen bei der familiären Urraufführung von „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ mitgesungen hatte, war im Herbst 1542 gerade in seinen Armen gestorben. Und Europa blickte 1543 gebannt auf das Schauspiel, wie der französische König und der osmanische Sultan eine Allianz formten, die einen türkischen Sieg über Habsburg zeitweilig sehr wahrscheinlich machte.
Luthers eigenes und das Weltvertrauen seiner Zeitgenossen insgesamt war also hinfällig geworden.
Alles – das Haus und das Reich und die Einheit der Kirche – löste sich auf.
Umso wichtiger daher, dass Engelsgruß und Weihnachtsbotschaft von Bethlehem blieben, was sie waren. Sie in ihrer Grundgestalt auch für die Gegenwart festzuhalten, ist daher der Sinn der drei ersten Strophen des späten Luther-Liedes zum Evangelium des Christfestes.
Gemeindegesang: EG 25, 1- 3
Auffällig an der schlichten Erzählform dieser Strophen ist Luthers Einschub in den Wortlaut des Lukasevangeliums. Dort wird die Wegweisung der Engel zum Geburtsort Bethlehem ja nicht ausdrücklich mit dem Propheten Micha verbunden.
Bei Luther aber werden die himmlischen Heerscharen ganz klar zu einem Chor, der die Worte des alttestamentlichen Vorsängers aufgreift.
… Ausgerechnet 1543, im skandalösen Jahr der Schande, in dem seine allgemeine Verunsicherung Luther zu den boshaftesten und abscheulichsten antisemitischen Hetzschriften aus seiner gefährlichen Feder hinreißt, kann er von Christi Geburt nicht singen, ohne den Heiden vom Himmel her das Jüdische ihres Retters zu bescheinigen.
Es ist, als setze sich die hebräische Hoffnung, die judäische Wurzel des Heils fast gegen den Willen des zum unversöhnlichen Judenfeind gewordenen Reformators durch. Er kann es einfach nicht unterschlagen, dass die Verheißung, die wir haben, die Hilfe, auf die wir Menschen angewiesen sind, kein Eigengewächs ist. Nicht von uns selber, nicht aus unserer Mitte kommt das, was uns in der radikalen Ungewissheit und Gefährdung der Welt trägt, sondern aus einem Bereich, der uns fern und fremd ist.
Das ist in der Tat ja auch Luthers grundsätzliche Erkenntnis:
Wir verfügen nicht selbst über die Täuschungs- oder Heilungs- oder Leistungskräfte, die uns gut und gerecht machen. Wir sind angewiesen auf fremden Beistand, auf eine von jenseits unserer selbst kommende Kraft, auf die Gerechtigkeit und Gnade eines anderen. … Wer sich etwas davon oder gar das alles ausschließlich selbst zutraut und an die Brust heftet, der kann mit seinem Hochmut, mit seiner Illusion vom persönlichen Verdienst und Recht nur scheitern. Denn wir sind nicht Gott und können ohne Ihn nicht einmal richtige Menschen sein. Wir brauchen Ihn für beides – für die Maßstäbe des Menschseins und für die Maßstäbe, die vor Gott gelten, … wir brauchen Den, Der tatsächlich beides ist, was wirklich zählt: Wahrer Mensch und wahrer Gott!
Aus dieser extremen, konsequenten Angewiesenheit des Menschen ergibt sich aber gerade die Ur-Spannung, die aufsehenerregende Paradoxie des Weihnachtswunders. Denn in der Geburt Jesu ereignet sich das, was nicht mehr menschenmöglich war, in reiner Menschlichkeit. In der Menschheit selbst, als Teil von ihr, eingemeindet, inkulturiert, eingefleischt und eingebürgert in die ordinäre Hinz-und-Kunz-Natur, in das Wesen mit den Allerwelts-Mängeln Adams und Evas erscheint Gott. Seine Gerechtigkeit wird Materie und Körper. Die Wahrheit wird human. Das Gute hat zehn Finger, die Liebe kriegt Zähne, das Leben trägt Windeln. …
„Er ist gebor’n eu’r Fleisch und Blut, / eu’r Bruder ist das ewig Gut“!
Diese völlig unwahrscheinliche, unlogische, unverdiente Geburtsgemeinsamkeit, diese Blutsverwandtschaft zwischen Dem Vollkommenen und den Unvollkommenen reizt Luther besonders aus, indem er die Engel in der zweiten Hälfte des Liedes geradezu kopfschüttelnd, beinah ungläubig wiederholen lässt, was für eine unvorstellbare, widernatürliche Verbrüderung sie da erleben:
„Gott’s Sohn ist worden eu’r Gesell … ihr seid nun worden Gotts Geschlecht“,
so kommentieren sie eine Verbindung, die ihnen nicht recht geheuer zu sein scheint.
Es wächst an Weihnachten also offenbar zusammen, was zumindest für die Engel nicht zusammen gehört.
Gemeindegesang EG 25,4-6
Nun wäre Luther, der berühmte Quadratschädel nicht Luther, wenn ihn nicht gerade das vermeintlich Unvereinbare besonders erfreut und mit Genugtuung erfüllt hätte.
Das, was uns natürlicherweise nahezuliegen scheint – jeder soll seines eigenen Glückes Schmied sein und sich selbst gerecht werden –, hat Luther aus guten, biblischen Gründen als Sünde enttarnt.
Aber das, was auf uns – und sogar die himmlischen Heerscharen! – unsinnig und unnatürlich wirkt, das bekräftigt er genussvoll und strahlend: Ihr könnt nicht vollkommen menschlich sein, Ihr Menschen, … aber Gott kann es! Und wird es! Und in Ihm, in dem menschlichen Gottessohn, da findet Ihr Euer Bestes! Alles, was Euch auszeichnet, alles, was Euch wohltut, alles, was Euch nötig und Eure Pflicht ist, alles, was zu Eurem Lob und Stolz gereicht – sucht das alles in Zukunft nicht mehr vorm Spiegel, grabt nicht in Eurem faszinierenden Inneren danach, pflegt es nicht als Eure Besonderheit und gebt nicht damit an, wie mit einem höchstpersönlichen Geheimnis, sondern geht Jesus angucken, staunt über ihn, nehmt seine Gaben an, als wären sie Eure, und nehmt an seinen Worten und Taten, an seinem Weg und Tod, an seiner Mission und Herrlichkeit teil!
… Dann können alle Gemeinheiten und Katastrophen, die Ihr zu verantworten habt und alle Schäden und Leiden, deren Opfer Ihr werden könnt, Euch nicht mehr vom wahren Leben und von Gottes Liebe scheiden.
… Dann mag alles brechen – das Reich und die Kirche und auch das Private und Eigene –, alles kann drunter gehen oder drüber, alles kann sich auflösen und Niedergang oder Neuanfang bedeuten: „Trotz!“ Ihr werdet Euch dabei jedenfalls nicht verlieren, denn Ihr seid gefunden! Ihr werdet Euch nicht abhandenkommen, denn Ihr seid in der sichersten Leib- und Lebensverbindung mit Einem, Der allen Angriffen standhält und alle Angst besiegt. Ihr werdet nicht untergehen und verschwinden, denn durch Seine Menschwerdung hat der ewige Gott Euch zu Seinen Teilhabern, zu Seinen Art- und Reichsgenossen gemacht! „Das Reich muss uns doch bleiben“ (EG 362,4)! Trotz! Trotz! ———
Gerade der pessimistische, wohl auch schlicht ausgebrannte und enttäuschte späte Luther, sensibel für Weltuntergangszeichen und fürchterlich irrational in seiner Frustration – gerade er hat also in dem Weihnachtslied Mut und Widerstandskraft gebündelt, indem er die Engel das singen lässt, was wir seither „die Rechtfertigungslehre“ nennen, … das Bekenntnis zum Leben, das dann gut wird, wenn wir es als Geschenk der Gnade Gottes annehmen und nicht als unsere eigene Leistung vergewaltigen und verkaufen. —
Doch wirklich sprechend – in diesem Fall: klingend – wird ein Lied ja erst durch seine Melodie.
Wir haben die uns wenig vertraute, schlicht erzählende Melodie gesungen, die Luther ursprünglich für sein Kinder- und Hauslied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ übernommen hatte.
Sie war ihm und seiner Zeit als ein sog. „Kranzlied“ vertraut, eine Sing-, Tanz- und Spielweise, die die Jugend beim Reigen und Rätseln, beim Wettkampf um Siegeskränze nutzte. Vielleicht hat der Eisenacher Schüler in seinen unbeschwerten Tagen zu dieser Weise auch den einen oder anderen Hüpfer getan, dazu geklatscht, gepfiffen und gewalzt. … Jedenfalls aber muss ihm die erste Zeile der weltlichen Moritat im Hinterkopf geblieben sein. Denn als er die Weihnachtsgeschichte – den Bericht vom Heil, das nicht von uns aus besteht, sondern von außen zu uns kommt – ins Lied setzte, da griff er auf eine Melodie zurück, die seinerzeit mit den Worten anhob: „Aus fremden Landen komm ich her“**.
Und mit dieser Entlehnung und Anlehnung greift der zum alten Antisemiten gewordene Luther zurück in seine jüngeren Tage, als er ganz anders davon singen und sagen konnte, „dass unser Herr Jesus Christus ein geborener Jude sei“†.
In seiner ganzen eng und alt gewordenen biographischen Ängstlichkeit weitet die Melodie des letzten Luther’schen Weihnachtsgesangs also wie von selbst den Blick und Horizont:
Wenn es auch scheint, als bräche alles – das Haus und das Reich, das eigene und das öffentliche Leben zusammen – so steht doch eine eindeutige, klare, tröstende Botschaft zu allen Zeiten über denen, die Christi Geburt erfahren und feiern:
„Fürchtet euch nicht! Fürchtet nicht, Euch selber oder das Eigene zu verlieren, fürchtet Euch nicht vor dem Fremden und Unbekannten, vor Veränderungen, vor Feinden, vorm Tod!
Denn aus der Fremde kommt Der, Der Ihr nicht seid und sein könnt und Der doch Euereiner wird, um Euch und alle zu retten.
Seid eins mit Ihm, dann werdet Ihr Furcht vor keinem und Hoffnung für alle haben. Für alle Zeiten gilt nämlich: Ihr habt mit Euch den wahren Gott.“
Damit aber endet alle Verkleinerung, alle Verniedlichung und jede Vereinzelung – und die gesamte Menschenwelt wird groß und erhaben in ihrer gemeinsamen Ehre, die Gnade ist: Wir Menschen alle sind es, an denen Gott Wohlgefallen hat, derengleichen zu werden Er erwählt. Wir sind durch Jesus die MENSCHHEIT GOTTES!
Amen.
* Das gilt noch mehr für Luthers Übertragung des altkirchlichen Weihnachtshymnus „A solis ortus cardine“ aus dem gleichen „Liederjahr“, der im Rheinisch-Westfälischen EG unter Nr.539 („Christum wir sollen loben schon“) bedauerlicherweise ein Schattendasein fristet.
** Zur Geschichte und Verwendung der Melodie vgl. u.a. den Beitrag von Hans-Otto Korth zu EG 25 in: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, Heft 12, Göttingen 2005, S. 29-31.
† So der Titel seiner bis heute bahnbrechenden Schrift – aus dem Liederjahr 1523! – in dem tatsächlich der kirchliche Antisemitismus auf einzigartige Weise verschwindet, weil Luther in der Anfangszeit der Reformation so von der Wahrheit und Klarheit seiner Erkenntnisse erfüllt ist, dass er jenseits der Konfrontation mit Rom keinerlei Feindschaften unterhalten und auf der Grundlage biblischer Eindeutigkeit sich keine Konflikte mehr denken kann mit den älteren Geschwistern, die doch auch die Schrift lieben wie er.
Christvesper 2016 Stadtkirche Johannes 3,16 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christvesper 2016
Johannes 3,16
Liebe Gemeinde!
Pastoren wird seit jeher empfohlen, etwaige tiefe Blicke aus den Augen von Konfirmandinnen gar nicht erst zu registrieren. Wo’s einmal aber partout nicht anders geht, quittiert man sie am besten mit dem Stoßseufzer: „Herr der Heerscharen, zieh deinen großen heiligen Schutzengel der Ironie nicht von mir ab!“ ——
Mich hat in der vergangenen Woche leider dennoch ein Blick getroffen, und der schützende Seraph des distanzierten Humors hat dabei kläglich Fahnenflucht begangen.
Nach der letzten vorweihnachtlichen Stunde, die noch einmal schön grundsätzlich war, kam ein wunderbar gescheites Mädel sehr ernsthaft auf mich zu: „Sie haben eben gesagt, Christus wurde geboren, um der Welt Frieden zu bringen. … Jetzt mal im Ernst, Herr Marquardt: Frieden auf der Welt?? …….“
Und mit dem unverwandt bohrenden Blick der Frage „Für wie dumm halten Sie uns eigentlich?“, mit dem Ausdruck kluger und reiner Enttäuschung ging sie freundlich weiter, hinaus in die Ferien, hinüber in die Weihnachtstage. …….
Ich hatte aber nicht nur ihre Augen, sondern die Frage der Menschheit gesehen.
So dass es sich eingeprägt hat.
Verletzung und ungestillter Hoffnungsschmerz. Erlöschende Augen aus Aleppo und den Kellern der Ukraine mit ihrer Weihnachtswaffenruhe; Fragen aus allen Himmelsrichtungen unserer gärenden, brodelnden Welt; Anklagen aus dem sommerlichen Nizza und dem winterlichen Berlin, … wo sie in der Gedächtniskirche jetzt in dieser Stunde trotzdem auch singen „Welt zu versühnen: Christ der Retter ist da“. ——
Neben dem Bitteren der scheinbar antwortlosen Frage nach dem Frieden steht jedoch auch das andere, das das junge Mädchen einklagte: „Jetzt mal im Ernst.“
Das immerhin will ich ihr und können wir einander wohl bieten und bezeugen.
Dieses Jahr feiern wir Weihnachten nämlich im Ernst oder gar nicht.
Flocken, Zucker, Wattebäusche und alles sonstwie Dekorative sind überflüssige Schlacken, die jedenfalls unter uns Christen weggeschmolzen sein dürften. Was übrig bleibt, ist harter Kern, … ist das Doppelgewicht der Frage nach dem, was wir glauben und was wir davon greifen können.
Dass uns sichtbare Begriffe und Beweise für die Rettungsbotschaft von Weihnachten in diesem Jahr nicht zu Gebote stehen, führt aber in die Irre: Weil man so leicht feststellen kann, dass von einer geretteten Menschheit nichts zu sehen ist, darum vergessen wir zu überlegen, wie schwer es wohl sein mag, an die menschliche Rettung zu glauben.
… Sehen oder nicht sehen, entscheidet sich schließlich einfach; glauben oder nicht glauben ist dagegen die größere Herausforderung.
Denn an dem einen Satz, in dem die ganze Weihnachtswahrheit und das ganze Evangelium in höchster Verdichtung begegnen, da scheitert in diesem Jahr nicht nur unsere sinnliche Wahrnehmung, sondern lange davor macht schon das Organ des Glaubens schlapp. Weder emotional, noch intellektuell lässt es sich ja nachvollziehen, wenn es heißt: „Also hat Gott die Welt geliebt“. …….
Wenn dieser Satz wahr sein sollte – ein Satz, den man in der Evidenz weder belegen, noch bestreiten kann – … wenn dieser Satz wahr sein sollte, dann ist er allein doch wohl schon zu hoch für unser menschliches Fassungsvermögen.
Selten zu unseren Lebzeiten haben wir es ja so deutlich gesehen und erlebt, welche Kapazitäten für den Hass der Mensch hat und welches Maß an Lieblosigkeit die weitsichtigste und am besten unterrichtete und technisch am höchsten entwickelte Generation der Menschheit – unsere Generation – aufweist. Die menschliche Gabe, unmenschlich zu sein, können wir alle mit Staunen – etliche von uns leider wohl auch mit Gefühlen der Befreiung und Befriedigung – sich völlig uneingeschränkt entfalten sehen. Wut und Grausamkeit und hüllenlose Verachtung haben das Bild der Weltgeschichte in diesem Jahr derart beherrscht, es verändert und getrübt, dass man wahrhaftig einmal, zweimal, dreimal stocken und mit den Gedanken und Fragen hängen bleiben muss, wenn tatsächlich von der Liebe Gottes zur Welt die Rede ist. ……. Kann das wahr sein?
…Lässt sich das wirklich auch nur denken, dass diese Welt in ihrer Totalität, in ihrem unentwirrbaren Gemisch aus Gutem und Abscheulichem, aus Zärtlichkeit und Gewalt, aus Recht und Chaos, aus Reinheit und Kloake von Gottes Liebe umfasst sein sollte? Können wir in Zeiten des schnellen, leichten Hasses überhaupt noch so still und ruhig sein, so unbeeindruckt von der Panik öffentlicher Erregung, sich überschlagender Ereignisse und ihrer verzerrten Echos, dass wir für einen Augenblick, für die Dauer eines tiefen Schweigens eine solche ungeteilte, wahrhaftige und grenzenlose Liebe im Blick auf alle und jeden annehmen und gelten lassen? Können wir die Vorsicht und Enttäuschung und Verantwortung und Vernunft – und wie unsere beklommenen Ratgeber und mühsamen Maßstäbe sonst noch heißen mögen – … können wir sie der Liebe Gottes gegenüber wohl als klein und nebensächlich, als begrenzt und vorübergehend erkennen? Sind wir überhaupt fähig, uns auf so andere Größenordnungen und Grundwahrheiten einzulassen, als die uns sonst geläufigen und unentbehrlichen? …
Gelingt es uns in Zeiten von Terror und Furcht auch nur in den Ansätzen der Freiheit zum Glauben, eine Weltordnung zu denken, die anderen Gesetzen gehorcht als Schreck und Vergeltung? ———
Solche fundamentalen Denkanstöße, solche Umschichtungen und Verwandlungen des an die reale Brutalität und an die moralische Ernüchterung angepassten Blicks auf die Wirklichkeit erzwingt der altbekannte Satz von der Weltliebe Gottes!
Wenn Gott die Welt liebt: Können wir das auch – oder müssen wir schon diese Voraussetzung von Weihnachten, von Gottes Hinneigung zur Welt und seiner Integration in die Ordnung von Geburt und Tod als zu hoch, zu unwahrscheinlich ablehnen?
– An der Antwort auf diese Frage hängt vieles, ja alles den Ernst von Weihnachten betreffend.
Sollten wir zu dem Ergebnis kommen, dass nur Einzelnes und Einzelne in unserer Welterfahrung als liebenswürdig – und das heißt in letzter, praktischer Konsequenz meistens auch: als lebenswürdig – zu gelten hätten, dann fällt die Feier der Geburt des Welterlösers in sich zusammen.
Wenn wir uns durch die Erfahrungen der jüngsten Zeit also genötigt sähen, den Hassgeist, der unzweifelhaft in Menschen existiert, auch uns schwängern und Hass gebären zu lassen, und sähen wir uns in der allgemeinen Empfänglichkeit für Verwerfungen und Vernichtung berechtigt, auch Gott solches Aushecken und Ausbrüten von Hass und Vergeltung zuzutrauen, dann gäbe es keinen triftigen Grund mehr, Weihnachten zu feiern, … Weihnachten, das Fest der Geburt eines Vertreters der Menschheit aus dem Geist der Liebe Gottes. —
Das also ist die große, ernsthafte Herausforderung des Evangeliums von Christi Geburt: Die Welt anders zu sehen und anders zu denken, als alle Politik und alle Geschichte und Psychologie und Jurisprudenz, anders auch als alle Instinkte sonst es uns lehren.
Das erfordert aber auch, an der Krippe des neugeborenen Christus selber noch unbelasteter, noch unvoreingenommener als das Neugeborene dort zu werden, … bedeutet es doch, alle Gewissheiten und Erkenntnisse und Folgerungen aufzugeben, die sonst unumstößlich sind.
Anders kann man der Liebe Gottes nämlich nicht begegnen, als indem man das bisher Gewisse vergisst und den Erfahrungsschatz des gesamten Menschengeschlechtes ausschlägt. … Sonst wüssten wir doch wieder nur allzu gut, dass Liebe es mit dem Hass nicht aufnehmen kann und ein einzelnes Kind gegen ein Heer von Mächtigen und gegen die Strömung von Jahrtausenden nichts ausrichtet.
… Dieses Kind ist doch dahingegeben … das Evangelium sagt es ja selbst. Es ist vom ersten Augenblick an ausgeliefert, sein Körper kämpft schon in der Krippe gegen Not und Hunger, die es von Anfang an bedrohen, es wird vom Strudel der Befehle eines Augustus, vom Verfolgungswahn eines Herodes mitgerissen und fortgespült, es wird unter den Autoritäten seiner Zeit übersehen und nicht ernst genommen werden und die eine Nacht, in der es der Macht ganz nahe kommt, besiegelt sein Todesurteil.
……. All das war zu ahnen. Alles das konnten wir kommen sehen.
……. Wenn Gott schon den ganzen Kosmos, wenn Gott schon so total liebt, dann müsste Er wenigstens auch totalitär lieben, dann müsste Seine Liebe überwältigend machtvoll und unwiderstehlich absolut sein.
Sonst ist es doch zwingend, dass die an Zahl und Kräften überlegenen Nicht-Liebenden die wehrlose Liebe ausnutzen und auslöschen.
Gottes Liebe in Kindsgestalt ist nicht groß genug für … und auch nicht groß genug gegen diese Welt! ……. Oder?
Oder erleben wir zu Weihnachten nicht allem zum Trotz immer wieder das Gegenteil?
Ist nicht die bloße Tatsache, dass auch unsere Zeit von diesem Kind, von seiner schlichten Unschuld und Ohnmacht nicht loskommt, ein Gegenbeweis, ein Aufleuchten anderer Hoffnung, ein Ausdruck der in zweitausend Jahren unerschöpften Reserven der Liebe Gottes?
Und ist nicht gerade unsere Gegenwart, in deren Entfesselung und Ratlosigkeit die Weihnachtsbotschaft so gar nicht passen will, gerade dadurch deren allerkräftigste Hervorhebung?
… Denn tatsächlich ist es inzwischen ja alles ernst:
Eine Weltordnung des Hasses, ein Angriff auf allen Alltag, ein Kult und eine Kultur der rohen Gewalt, ein Glaube an rücksichtslose physische Durchsetzung sind ja keine phantastischen, irren Theorien mehr, sondern zeigen sich real. ……. Und dennoch spüren, nein wissen wir alle, dass deren Logik keine Zukunft, keine Aussicht auf Dauer hat!!! …
Und mit dieser Nacht des Neugeborenen, mit unserem Evangelium von dem, was stärker ist als alle Zerstörungsmächte, mit unserem hilflosen Hilfesuchen bei einem kleinen Kind und bei der reinen Liebe Seines Vaters, … mit allem, was wir also „Weihnachten“ nennen, treten wir den Gegenweg an: Wer sich heute in eine Kirche begibt und wer sich einreiht unter die Millionen, die das Heil in winzigkleinen Händen suchen und ihre Hoffnung auf die geglaubte Liebe anstelle des sichtbaren Hasses setzen, … wer das heute tut, der wird vom ratlosen Zuschauer zum eingebundenen Teilnehmer der großen, der wahren Bestimmung der Menschheit. Die Bestimmung, von der wir im Grund-Satz der Christusbotschaft hören: „Dass sie nicht verloren werden!“
Genau das aber und nichts anderes ist Christentum und als solches das Heil der Welt – die im Ernst und in Anfechtung ergriffene und bewahrte Zusage: „Dass sie nicht verloren werden“.
… Welche andere Lehre oder Weltanschauung, welche andere Bewegung, Religion oder Utopie hält ein solch universales Heilsziel, eine so ausnahmslos umfassende Hoffnung für alle so lange schon offen?
Alle anderen großen und kleinen Weltveränderungs-, Weltverbesserungs- und Weltzerstörungsideologien haben ihr Anliegen stets im Gegensatz, im Ausschlussverfahren, im Kampf gegen das Abweichende und Unvereinbare verfolgt. In der Kirche Jesu Christi dagegen – trotz aller ihrer Schuld und Untaten! – hat je und je, immer wieder die unwiderstehliche „Einschließlichkeit“, die Einladung zur Einheit aller im Leben, im ewigen Leben sich durchgesetzt! Immer hat ja die Kirche seit Weihnachten die gemeinsame Berufung der ungehobelten Hirten vom Feld, der Exoten und esoterischen Wissenschaftler aus dem Orient, des erwählten Volkes Israel und aller Heiden weltweit anerkannt, gelehrt und fördern wollen.
Denn es gibt einfach kein Freund-Feind-Denken, wenn man die göttliche Liebe des Vaters kennt.
Es gibt kein Wir-gegen-Sie-Gefühl, wenn man das universale Opfer des göttlichen Sohnes bejaht.
Es gibt keine Bist-du-nicht-willig-so-brauch’-ich-Gewalt, wenn man die Freiheit des Gottesgeistes anbetet, der Glauben sät und Glauben weckt und Glauben verbreitet auch ohne alle zwingende Mission … schlicht durch das Schützen und Schonen und Suchen und Segnen der Menschen.
Dass sie nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben: Das ist das Ziel der absoluten, allumfassenden Liebe.
Ein Größeres, ein Besseres kann es nicht geben. Und diesem Ziel begegnen wir nur hier, in der Gemeinde des Kindes Gottes, an seiner Krippe, in seiner Gegenwart.
Da haben wir zwar den Zustand des Friedens für die Welt noch nicht erreicht, aber den Geist, den Weg, die Wahrheit, die dahin führen.
Wir haben das Reich des Friedens noch nicht betreten, aber seinen König gefunden.
Wir sind noch nicht ans Ende der Wirklichkeit dieser Welt gelangt, aber wir haben ihre Verheißung vernommen.
Und so blicken wir den Menschen, … ihnen allen! … und der Zukunft im Ernst in die Augen.
DENN ALSO HAT GOTT DIE WELT GELIEBT, DASS ER SEINEN EINGEBORENEN SOHN GAB, AUF DASS ALLE, DIE AN IHN GLAUBEN, NICHT VERLOREN WERDEN, SONDERN DAS EWIGE LEBEN HABEN!
Amen.
Fürbitten
Herr, weil Liebe Dein Ziel und weil Liebe Dein Weg ist, bitten wir Dich im Namen der Ungeliebten, der Lieblosen und der Unliebsamen, dass es anders werde mit ihnen.
Lass die unendliche Liebe, die in Christus unter uns wahrgeworden ist, sie alle erreichen und wandeln.
Lass den, der aus Liebe zur Welt den Tod ertragen hat, die Leidenden und Sterbenden heute an seinem Sieg beteiligen.
Lass den, der für seine Feinde betete und der sie lieben lehrte, die Verhärteten und Verblendeten das Ende des Hasses erleben.
Nimm ihnen ihren kranken Zorn; öffne ihre Augen für die Sinnlosigkeit ihrer blinden Wut; zeige ihren gefangenen Gedanken den Ausweg aus dem Teufelskreis ihres Wahns.
Lass den, der Deine Liebe verkörpert und der darum allen Hunger stillen, alle Krankheiten heilen, alle Qualen beenden und den Tod bezwingen will, … lass ihn unter uns und für die Menschheit groß werden.
Aus dem Kinde Jesus mache unseren Herrn, dem wir gehören und folgen wollen, den wir bekennen und in dessen Dienst und Gnade wir als seine Gemeinde stehen dürfen.
Lass Zeichen und Wunder des Friedens dadurch wahr und glaubhaft werden.
Stärke die Besonnenen und Treuen.
Segen das tausendfältige Tun derer, die ihre Nächsten lieben und da Recht des Menschen achten und das Wort der Wahrheit nicht preisgeben.
Herr, barmherziger Gott dieser Menschheit:
Bring Deine Kinder, bring diese Welt ans Ziel. Und dann lass unsere Augen schauen, wie Deine Liebe in Christus Jesus stärker und schöner und stetiger ist als alles andere und wie wir in ihr das Leben haben in Ewigkeit.
3.Advent 11.12.2016 Stadtkirche Lukas 3,1-14 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.Advent - 11.XII.2016
Lukas 3,1-14
Liebe Gemeinde!
Am Knecht Ruprecht vorbei hat sich schon manches Kerlchen direkt zum Nikolaus gemogelt, weil es den alten Kinderschreck durchschaute als das, was er ist: Eine pädagogische Attrappe. Dass da wirklich mal die Rute zum Einsatz oder gar ein Übeltäter in den Sack gekommen wäre, das berichten höchstens mahnende Gedichte aus der Struwwelpeter-Zeit; die Erfahrung dagegen lehrt, dass der rauhe Geselle, der Krampus oder Hans Muff nur der Abschreckung dient und niemals ernst macht, … die Schokolade, die bunten Gaben, das bestellte Geschenk sind sicher. Spielverderbende Strafe und erzieherischen Verzicht gibt’s nicht mehr; im Dezember wird schließlich Umsatz gemacht, da herrschen Wunscherfüllung, Kriegen und Noch-mehr-Kriegen und bloß keine langen Gesichter. —
Der Zeitgenosse im Talar hat da nichts auszusetzen.
Wir kennen und teilen inzwischen alle die Einschätzung, dass Belohnung und Zuspruch viel mehr als Bestrafung und Tadel bewirken.
Doch eine theologische Wahrheit bleibt zu bedenken, ehe wir allzu schnell den Mann mit der Rute überspringen, um dem Weihnachtsmann in die Arme zu laufen: An Christus und am Christentum werden wir nicht durch eine Bescherung, sondern durch unsere Bekehrung beteiligt. Ein Leben mit Christus ergibt sich tatsächlich nicht einfach so wie randvoll bestückte Schuhe sich für viele Kinder am 6.Dezember ergeben. Vorher kommt für uns die Umstellung und die Einstellung, für die Johannes der Täufer steht.
Das ist ein wichtiges Bedenken, wenn wir mit der üblichen Selbstverständlichkeit auf den Heiligen Abend zusteuern, an dem – zu Recht! – das unermesslich reiche, unverdienbare Geschenk der Gottesgegenwart im Nachtgewühl dieser Welt gefeiert werden will: … In der dreckigen Krippe, … da liegt doch das hingepurzelte Kind. Da hat niemand ihm tüchtig den Weg bereitet oder das Bett fein bezogen; niemand hat die Täler erhöht oder das Höckerige niedrig gemacht: Gott ist einfach angekommen, hat Vorlieb genommen und dann hat er sich anglotzen und anfassen lassen und jeder durfte ihn mal streicheln und alle, die mühselig und beladen waren, durften sich satt sehen – Gucken kost’ ja nix – und waren zwar verfroren, aber eben auch glücklich wie die Schneekönige. …. Zeigt also nicht gerade Weihnachten, wie die Menschheit ohne irgendwelche Vorkehrungen und Vorleistungen in den Genuss der freien, grenzenlosen Güte und Herablassung Gottes kommt? Was soll also das ganze lästige Geschwätz von Anstrengungen und Änderungen auf menschlicher Seite? Ist das denn nicht der Witz am Evangelisch-Sein, dass man nichts mehr muss und nur noch kann und keine Angst mehr kennt und nur noch auf dem für einen selbst Erbaulichen aufbaut?
……. Ja und Nein! ——
Jedenfalls aber sind das Fragen, die am 3.Advent – dem Täufersonntag, dem Buß- und Gerichtstag in der Mitte der Vorweihnachtszeit – gestellt werden müssen.
Und es kann nicht schaden, neben den volkstümlichen Kerl mit der Rute und den letzten der biblischen Propheten im Fellmantel unten am Jordan noch einen dritten Knecht Ruprecht zu stellen, der wahrhaftig auch kein billiger Kinderschreck sein wollte, sondern ein Bote und Wegbereiter der Wahrheit. Luther selber, der heute nur noch als großer Entdecker des Evangeliums vom „Ich bin okay und Du bist okay“ betrachtet wird, hat bekanntlich seinen Daumen und seinen Hals riskiert, als er mit dem berühmten – vielleicht wirklichen, vielleicht auch erdichteten – Hammer seiner Kirche reichlich Thesen auf die Tür haute, deren erste lautet: „Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus sagt ʻTut Bußeʼ, so wollte er, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei.“
Bloße Bequemlichkeit und tatenloses Bedientwerden durch Gott verspricht die reformatorische Entdeckung der großen Gnade also wohl doch nicht. Vielmehr scheint es – entgegen landläufiger Meinung und Verflachung – eine echt evangelische Lehre von der Umkehr , vom Umkehren-Müssen und dem Umgekehrt-Werden zu geben.
Es ist also nicht so, dass die klar biblische, prophetische Botschaft von der Kehre, die alles nehmen muss, uns nichts anginge, weil der Rechtfertigungstrick uns aus dem Schneider zaubert.
Im Gegenteil. Die Tat Gottes, mit der Er die von Ihm abgekehrte, abgewandte Menschheit Sich wieder zuwendet, ist so wundervoll, … es ist so wundervoll, wie Gott die auf sich selbst fixierte, in sich selbst verkrümmte Menschheit so in Seine Richtung wendet wie wir, wenn wir ein auf links gedrehtes Kleidungsstück wieder umkrempeln – nur dass Gott nicht Hemd oder Rock, sondern Herz und Geist Seiner Kinder aus ihrer Verbogenheit wieder richtig macht! –, … diese wundervolle Tat, mit der Gott den Ihm gehörenden und Ihm entsprechenden Menschen wiederherstellt, den Menschen, der Ihn frei ansieht und nicht wegläuft, um sich zu verbergen, den Menschen, der in Jesus seine unzerstörte, umfassende, uns dauerhaft miteinbeziehende Gestalt annimmt, … es ist so wunderbar, in einer Welt zu leben, in der Gott trotz aller Unmöglichkeit des Menschen Menschen wieder möglich macht, dass jeder, der von Gottes wunderbarem Zuvor- und Entgegenkommen wirklich hört, dem wahrhaftig auch nah- und nachkommen will!
Das bedeutet aber, dass wir nicht deshalb büßen und umkehren werden, um dadurch Gottes Gnadenreflex auszulösen, sondern dass Gottes Gnade die Voraussetzung unserer Umkehr und Aufrichtung, unserer Reue und Richtigstellung ist. Dann aber geht Bekehrung gar nicht der Zuwendung Gottes zum Sünder voraus, sondern sie antwortet darauf. Nicht um Gott zu gefallen, sondern weil Ihm unsere Rettung gefällt, müssen wir also unser Leben ändern. ——
Das ist schön und treibt uns im Guten zum Guten an – ganz anders als die Androhung von Prügel, Strafe oder Hölle es vermag.
Aber steht dieses evangelische Verständnis von Buße – nicht als verdienst- und verzweiflungsvollem Versuch des Menschen, Gott gnädig zu stimmen, sondern als Antwort auf seine Gnade und als Folge der göttlichen Gnadentat – … steht dieses evangelische Verständnis von Buße nicht in grellem Widerspruch zu dem, was wir heute vom Täufer und seiner Gerichtsbotschaft hören?
Ist der donnernde Angriff auf das Otterngezücht, auf die sich selbstgefällig ausruhenden Abrahamskinder, auf die angeknacksten Bäume am Rand des Flammenmeeres nicht eine geradezu mustergültige Drohbotschaft, die als einziges Motiv, um vielleicht doch noch gerettet zu werden, die heiße und die kalte Angst bemüht?
Ist im Bericht über Johannes, den Vorboten Jesu nicht doch eindeutig die bange, bebende Buße gefordert, die aus der mittelalterlichen Seelenführung durch Furcht so bekannt wurde?
……. Es lohnt sich - wie immer! - genau zu lesen und zu hören.
Dazu aber muss man mehr als bloß unsern heutigen kleinen Ausschnitt des Evangeliums betrachten. Denn wenn wir das Buch des Evangelisten Lukas wirklich zur Hand nehmen, wenn wir das große Ganze des Evangeliums anschauen, dann sehen wir die Umkehrbotschaft des Täufers in ihrem eigentlichen, eigentümlichen Rahmen. Und siehe da: Der ist alles andere als drohend düster, ja er ist nicht einmal adventlich-nüchtern, nein … er leuchtet, er strahlt.
Das Kapitel, das vor der Täufererzählung genauso weltgeschichtsträchtig mit Daten und Akteuren des römischen Weltreiches beginnt, kennen wir genau: Es ist der Glanz des Weihnachtsevangeliums, der da erscheint, und es ist die schöne Miniatur aus Jesu Kindheit, von dem es zweimal im Rückblick auf seine ersten Lebensjahre heißt: Er wuchs und nahm immer mehr zu an Weisheit und Gnade bei Gott und den Menschen (vgl.Lk2,40+52).
Das Licht der Herrlichkeit des Herrn und der menschgewordenen Gnade Gottes strömt also überreichlich aus den Textpassagen, die dem Täufer den Weg bereiten. Zum Auftritt des warnenden Predigers Johannes kommt man im Lukasevangelium eben nur mit Augen voll von Weihnachtsglanz und Gottesnähe.
Und was folgt dann auf den Bußprediger mit seinen klaren Forderungen an alle Tauf- und Umkehrwilligen?
Tritt da nicht endlich die erwartbare Verweigerung, das Zurückschrecken und Abwinken ein, das wir unbußfertigen modernen Menschen, die Gott in ihrer letzten Weisheit bitte nicht stören soll, erwarten, wenn wirklich Verzicht und Wiedergutmachung von
Schuld und Schaden verlangt werden?
Erstaunlicherweise: Nein.
Die Volksbewegung, die der Mann mit der Umkehrbotschaft auslöste, kippt nicht um in große Enttäuschung oder höhnische Abwendung von einem lächerlich radikalen Gutmenschen ……. Was haben dagegen wir und unsere Zeitgenossen in den letzten Monaten an Wankelmut beweisen, als bei uns erst der Applaus für konsequente Mitmenschlichkeit und dann der blindwütige Hass auf das Gutmenschentum laut wurden …....
Auf die lästig klare Haltung des Johannes indes, auf die irritierende Besserwisserei dessen, der tatsächlich Antwort gibt auf die Scherzfrage „Wie sollen wir denn nun unser Leben verbessern?“ – da folgt tatsächlich keiner jener Schimpfstürme, die man in unserer Zeit ernten kann, wenn man nicht postfaktisch, sondern ernsthaft entgegnet. Im Gegenteil: Johannes gibt unmissverständliche und unpopuläre Anleitung zum Besserwerden, … und was fragen sich die Leute direkt im nächsten Vers? — Da war „das Volk voller Erwartung und alle dachten in ihren Herzen, ob Johannes vielleicht der Christus wäre …“ (Lk3,15)!!!
Und auf dieses an Hochstimmung kaum noch zu überbietende optimistische Wohlwollen in der Bußgemeinde folgt tatsächlich das Eintreffen des Erwarteten! Während die Menschen noch nach dem Christus fragen, ist eigereiht mitten unter ihnen einer, bei dessen Taufe sich der Himmel öffnet und Geist und Stimme Gottes bezeugen: „Dieser ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe“ (Lk3,22).
So also, eingebettet zwischen Geburt und Erscheinung des Retters, umflossen vom Glanz der Weihnacht und der Epiphanie begegnet uns bei Lukas der Täufer mit der starken, eindringlichen, klaren Umkehrpredigt. Sein Ruf zur Vergebung der Sünden, zur Bereitung auf das kommende Heil und seine packenden Fragen nach dem Entrinnen vom künftigen Zorn und dem veränderbaren Leben kommen von Christus her und führen zu ihm hin. Sie sind weihnachtliche Predigt und Ankündigung der öffentlichen Akklamation und Herrschaft Christi.
Sie sind also bestimmt nicht richtig eingeordnet und verstanden, wenn man sie als noterweckende und Druck ausübende Angriffe deutet oder als Manipulation der Gewissen durch die Fragezeichen von Schuldgefühl und Endzeitschrecken.
Vielmehr steht die gewiss erschütternde, Menschen ergreifende und bewegende Verkündigung des Täufers bewusst und angemessen zwischen der Botschaft der Engel von Bethlehem und dem Geistwort von der Gottessohnschaft.
… Denn so eingereiht erkennen wir, was Buße wirklich ist: Eine Tat der Zuversicht, eine Antwort des Vertrauens auf den herrlichen und dabei doch nahen, auf den gerechten und dabei doch rettenden Gott.
Buße ist also das Zeichen größter Hoffnung!
Hoffnung, dass unser Leben und unsere Welt, dass die Geschichte der Menschheit und wir selber nicht zum Scheitern, nicht zum Untergang, sondern zu neuem Anfang und zu Rettung und Gerechtigkeit bestimmt sind.
Wer sich und sein Leben ändert, hat Hoffnung.
Wer sich nicht ändert, der dagegen hat aufgegeben. ———
Wir aber, die wir wie die Gestalt des Johannes im Lukasevangelium nach Weihnachten hören und handeln – … auch dann, wenn ein Advent voller Sorge und Sünde, voller Zweifel und Verzweiflung uns berühren und umgeben und beschweren mag! … – wir aber, nach Weihnachten können doch nicht ohne Hoffnung sein! Und also auch nicht ohne Buße.
Es gibt eine Hoffnung – auch in der katastrophalen und widersinnigen und grauenerregend apokalyptischen Wirklichkeit, in der unser Advent hier in Aleppo schon der Jüngste Tag ist.
Es gibt eine Hoffnung!
……. Es gibt eine Hoffnung! Allein das zu sagen und noch mehr das zu glauben, raubt der Hoffnungslosigkeit etwas von ihrer Herrschaft, untergräbt ihren unausweichlich scheinenden Sieg.
Es gibt eine Hoffnung! Wer das aufnimmt und mit sich trägt und weitergib, der ist dem Zwang zum Aufgaben, zum Vergessen der Leiden und zum Verraten der Leidenden durch Gleichgültigkeit entronnen.
Wer die Hoffnung, die mit Christus geboren wurde, fasst, der ist der Tatenlosigkeit der Unbeteiligten entronnen und hat die Umkehr begonnen. Er ist umgekehrt von den Wegen der Fatalisten und Zyniker und Egoisten. Er ist umgekehrt von den Wegen der Sünde und des Todes. ——
Und wenn wir fragen: Was sollen wir nun tun? Was wird unsere Buße, unsere Tat der Hoffnung sein, Johannes?, dann antwortet er auch uns:
– Teilen. Hoffnung und Vernunft mit allen teilen, die sie aufgegeben oder verloren haben.
– Verzichten. Verzichten auf alles, was nicht Vertrauen ist; verzichten auf den tödlichen Selbstschutz, der uns unverzichtbar scheint und doch gegen den wirklichen Todeskampf der Menschheit nicht helfen könnte.
– Und uns genügen lassen. Daran dass wir eine Hoffnung haben, die allen Menschen offen steht und die das Leid der Welt überdauern und es endlich überwinden und heilen und vergehen machen wird. Diese Hoffnung ist mehr als uns zusteht; aber weil sie allen gilt, darum ist sie das Ein und das Alles, über das hinaus man nichts mehr suchen oder begehren kann, sie ist das Geschenk, neben dem nichts anderes je ebenso nötig sein kann.
Wer diese Hoffnung hat und sie sein Leben verändern lässt, der ist am Ruprecht vorbei und beim Menschen der Weihnacht, … bei Christus. Und dessen Leben bringt rechtschaffene Frucht der Buße, indem es das Geschenk der Hoffnung in der Welt groß macht und herrlich.
Amen.
1.Advent 27.11.2016 Stadtkirche Jeremia 23,5-8 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent 27.XI.2016
Jeremia 23,5-8
Liebe Gemeinde!
Die Erwartung eines Kindes – also der Advent – ist häufig eine Zeit für weiche, zuckerige Täuschung. Weil die Wenigsten von uns sich dabei etwas anderes vornehmen als süße Träume: Es wird ein hübsches Kind und ein liebes Kind. Es soll ein Kind werden, das es gut hat und dem man’s schön machen wird. Es soll ein glückliches und sorgenfreies Leben werden. Süß, süß, süß.
…. Kaum ein werdendes Elternteil, kaum ein Angehöriger aus der vorfreudig erregten Familie denkt ja während der Erwartung auch schon an die Wirklichkeit: Dass das niedliche Kleine einmal rotzfrech, dass das Würmchen einmal ein Trampeltier, dass die Knospe einmal ein Stück Fallobst, dass der Säugling einmal ein Querkopf, ein Eigenbrötler, ein Chaot, ein Revolutionär, … kurzum ein ausgewachsener Mensch mit seinem Widerspruch werden könnte.
Unsere Hoffnungen und Träume in der Erwartungszeit, im Advent machen also aus dem Kind, das alsbald geboren werden soll, ein Wunschbild, ein Püppchen. Das Ergebnis dabei ist das Christkind nach dem Babyschema: Schmollmündchen, Kulleräuglein, Ringellocken und insgesamt viel weniger als eine halbe Portion, … ein Hosenmatz im Elfenkleid.
… Und der soll dann die Welt retten!? …….
Um nicht in die Falle solcher Kindchenseligkeit zu tappen, die viel holden Himmelsknaben, aber wenig handfesten Heiland verspricht, können wir froh sein, in die strenge Schule des Jeremia gehen zu dürfen: Er steht – gemeinsam mit den anderen Propheten Israels – am Anfang des menschheitlichen Advent, am Anfang der gespannten Hoffnung und Ausrichtung des Lebens nicht auf den Tod, sondern auf dauerhafte Heilung und endgültige Rettung.
Diese anfänglichen und ältesten Adventsboten, die sozusagen erst das Embryonalstadium des heiligen Helfers Gottes und der Menschheit erwarten und bezeugen konnten, … diese frühesten Vorglüher und Anzünder des bis heute brennenden Optimismusfeuers haben allerdings nichts, gar nichts mit dem niedlichen Wonnebild vom neugeborenen Wunderkind zu tun.
Im Gegenteil.
So unausgereift die Einzelheiten der Messiaserwartung auf dieser ersten Stufe auch sein mussten ... : Der Messias, den Israel seit den Tagen der Propheten erwartet, war stets das, was das Christkind als Kind eben nicht sein kann.
Der Messias, der Christus, der Erlöser, den uns die biblischen Propheten zeigen, ist reif! Kein Wickelkind und kein weicher Knabe, sondern ein Mann. Ein Nachfolger Davids. Eine Autorität. Und damit eine erkennbare, eine bedrohlich spürbare Herausforderung aller anderen Herrscherfiguren und Vätergestalten und Amtsträger und Machthaber dieser Welt!
Mit dem Messias erwartet Israel keinen Kindheitsmythos, keine Träumerei am Bettchen, keine Legende vom kleinen Liebling, sondern Taten und Wahrheit und den Anspruch und dessen Durchsetzung, dass nun nicht mehr irgendwelche anderen Kräfte, sondern Gott selbst die Herrschaft unter den Menschen und über die Welt ausübt.
Diese Hoffnung aber war daher stets die Hoffnung auf allergrößte, bitternötige, letztgültige Veränderung des Weltlaufs und der Lebenswirklichkeit auf Erden.
… Weshalb allerdings der Advent des Jeremia bestimmt kein Volksfest wurde, sondern der zähe, einsame Auftritt Aufruf eines einzelnen Mannes, dessen dünne Stimme der höhnisch-wütende Chor seiner Zeitgenossen letztlich unterdrückte.
… Was Jeremia im Namen Gottes als Zukunft versprechen sollte, das war eben kein Weihnachtsgeschenk für’s Gemüt, sondern die Rechnung für die verfehlte und verwerfliche Eigenmächtigkeit seines Volkes.
Dazu muss man wissen, dass die beiden großen Katastrophen des alten Israel – die Zerstörung des Nordreichs durch die Assyrer und mehr als hundert Jahre danach, in den Tagen Jeremias die Vernichtung des Reiches Juda, die Plünderung und Verwüstung des Tempels und die babylonische Gefangenschaft der Einwohner Jerusalems und des Südens – eine ähnliche, eine gemeinsame Vorgeschichte hatten:
In beiden Fällen meinten die Menschen, es werde schon so schlimm nicht kommen. Mit den Assyrern und den Babyloniern werde man sich irgendwie schon arrangieren können und
außerdem – so predigten gerade die vermeintlich Frommen – …. und außerdem hätte man ja Gott auf seiner Seite. Und der sei doch der Garant dafür, dass ruhig Blut und Cleverness im Schatten fremder Vorherrschaft den Fortbestand alles Gewohnten brächten.
So kungelten also die Könige von Israel und Juda mit ihren eigenen Feinden, nahmen nichts mehr ernst außer dem kurzfristigen Machterhalt und schenkten niemandem Gehör (am wenigsten den Propheten!), der Umkehr vom Trott, Abkehr von der Sünde und einen neuen Weg der Gerechtigkeit predigte. Das Festhalten am Bisherigen und ein Pakt mit den jeweils herrschenden Reichen – Königreichen und Schwerreichen – war die vom Haus Davids und den Priestersippen Jerusalems betriebene Politik.
… Wer da nun von einem ganz anderen Nachkommen Davids, wer da von einer Herrschaft des Rechts und der Gerechtigkeit im Namen des HERRN statt der Vetternwirtschaft von Babels Gnaden sprach, der griff die Politik frontal an!
Dazu musste man die Regierung nicht einmal so grob beleidigen wie Jeremia es tat, der im Namen Gottes Konja, den Kronprinzen von Juda und feigen Babylonscharwenzler, schlichtweg auf den Müllhaufen der Geschichte entsorgte mit den Worten (Jer22,24ff):
„So wahr ich lebe, spricht der HERR: Wenn Konja … ein Siegelring wäre an meiner rechten Hand, so wollte ich dich doch ausreißen und in die Hände derer geben, die dir nach dem Leben trachten und vor denen du dich fürchtest: In die Hände Nebukadnezars, des Königs von Babel … Und ich will dich und deine Mutter, die dich geboren hat, in ein anderes Land schleudern, in dem ihr nicht geboren seid; dort sollt ihr sterben. Aber in das Land, wohin sie von Herzen gern wiederkämen, sollen sich nicht zurückkehren.“
Das also ist der Advent des Jeremia: Kein Schwangerschaftsidyll, kein Wiegenlied vom süßen Künftigen, sondern eine Kampfansage gegen die verderbenbringenden Verdorbenen, die die Menschen um alle Zukunft bringen.
Die Messiaserwartung der Propheten, die biblische Christushoffnung ist also kein Rückzug aus der Wirklichkeit in eine Traumwelt, sondern das Gegenteil:
Wer auf den „Messias“ vertraut, der stellt die Machtfrage auf Erden.
Das jedoch macht den Advent spannend und dringend in Zeiten, in denen aus dem faulen Frieden und der schimmeligen Sicherheit unserer Verhältnisse plötzlich wie die Giftpilze lauter Gestalten sprießen, die etwas „wieder groß machen“ wollen. Die gewählten und die selbsternannten Gernegroße, die versteckt lauernden und die offen angreifenden Gewalttäter der Gegenwart haben die Watte gründlich zerzaust, in die der schöne, satte, zynische Teil der Welt, den wir den „Westen“ nennen, lang genug gewickelt war.
Es wird immer deutlicher, wie die Vorstellung trügt, dass unsere Technik, der allgemeine Fortschritt, die Aufklärung und die Freiheit gewaltlose, vernünftige und unumkehrbare Entwicklungen hervorgebracht hätten, die die Lage der Menschheit endgültig verbessern.
Es wird immer deutlicher, dass die Bibel mit ihrer Erfahrung der altorientalischen und antiken Kampf- und Eroberungskultur nicht von einem fernen Gestern, sondern leider auch von heute und morgen spricht.
Es wird immer deutlicher, dass wir mit der apolitischen, der sentimentalen Christkindltheologie die Spur der Erwartung und der Nachfolge des Messias zu verfehlen drohen.
Ja, immer deutlicher wird es, dass wir Christen die längst abgeschaffte Machtfrage gefragt werden!
… Denn wer „Messias“ sagt, der fragt eben nach der Macht. Und wer sich zum Messias, dem Davidssohn, dem „Der HERR ist unsere Gerechtigkeit“ bekennt, der tut nichts harmlos Privates, sondern der beantwortet die Machtfrage!
……. Natürlich nicht in der nassforschen Art mancher Kirchenleute, die politisch in Fragen militärischer Strategie, internationaler Beziehungen und der Schwerter-oder-Pflugscharen-Produktion alles von vornherein besser wissen.
Dass unser Glaube uns vor die Machtfrage stellt und dass er uns zu einer Antwort leitet, das bedeutet nicht, dass wir die Macht oder die Bevormundung der Mächtigen für uns beanspruchen dürften. Aber es zwingt uns umso mehr dazu, nicht einfach die Mächtigen machen und die Ohnmächtigen unbeachtet leiden zu lassen.
Wir sind die Gemeinde dessen, den die Propheten als den Gegenkönig, als den Andersherrscher, als den rechtens Mächtigen verheißen haben.
Wir sind die Gemeinde dessen, der die alten Systeme und das alte Denken und die alten Kriege und das alte Leid wirklich endgültig überwinden wird.
Wir sind die Gemeinde dessen, der nicht zum Kinderspiel, sondern im Todernst geboren wurde, um die Herrschaft anzutreten, die ihm Mächte und Gewalten, irdische und unterirdische Despoten bis heute streitig machen und die er doch zugunsten der ganzen Welt verteidigen und behalten wird.
Wir sind die Gemeinde nicht allein des Christkindes, sondern des Christkönig! ———
Das heißt, dass wir allen Mächten und jedem Mächtigen gegenüber den Abstand wahren können, der den Jeremia so auszeichnete … und so ausgrenzte.
Jeremia, der Kronprinzen und Königinnen zu wertlosen Siegeln, ungültig gewordenen Stempeln erklärte, steht für den Vorbehalt, den wir Christen gegen alles haben, was sich größer macht, als es ist: Ob gekrönte Häupter oder Präsidenten oder Revolutionsführer – sie alle verkörpern und verdienen nichts an letztem Respekt! Die Macht ihrer Mauern, die Geltung ihrer Grenzen, der Sieg ihrer sinnvollen oder unsinnigen Politik ist nicht das, worauf man bauen soll!
Und noch etwas lässt sich gerade bei Jeremia lernen, … bei diesem Majestätsbeleidiger, der nicht nur die königliche Familie der Davididen, sondern das ganze Volk der kurzsichtigen Patrioten gegen sich aufbrachte, die alle nicht wahrhaben wollten, dass ihre kleine Welt des Selbstverständlichen und der Selbstverteidigung nicht dauerhaft und nicht gesegnet sei. Von Jeremia kann man lernen, dass Prophetie und Popularität sich ausschließen.
Und dass darum die wahre Messiashoffnung und die wahren Messiasanhänger niemals Massenbewegungen sein werden.
……. Die Massenbewegungen, die wir derzeit sehen, die im Morgen- und im Abendland angehäuften und geballten Aufgebote des nationalistischen und fanatischen und islamistischen Massenhassens erinnern uns ja daran, wie rücksichtslos massenuntauglich das Vertrauen auf die Kraft des Retters sein kann.
Denn das ist doch die schärfste und schmerzhafteste Spitze der Messiasverkündigung bei Jeremia: Das unerschütterliche Zutrauen in die Zukunft löscht tatsächlich die von der Masse mit Gewissheit und Stolz gepflegte Tradition der Erinnerung an Vergangenes aus. Man wird einst nicht mehr auf die Rettung aus Ägypten zurückblicken – auf das Ur-Datum des Nationalbewusstseins Israels! –, wenn Gott erst das Wunder vollbracht hat, aus dem Chaos und der Schuld der Gegenwart zu retten: Das wagt Jeremia im Namen der Hoffnung auf den Messias zu sagen! …….
Damit erschüttert die Verheißung alles, was man als heilig beschwor und zur Garantie der eigenen Bedeutung und Geschichte und Identität erklärt hatte.
So nimmt die Zukunft Gottes der Masse ihre liebgewonnene und gedankenlos eingefleischte Herkunft.
Das Messias-Wunder, das kommt, wird die Wunder, die waren, vergessen lassen.
Dann wird nichts und niemand mehr so sein oder das darstellen, was sie bisher waren. Und dann? …………
…. Dann wird die Machtfrage geklärt sein: Weil Gottes Retter alles Bisherige überbietet und alles Alte neu macht. Da wird Er allein herrschen und heilen und Heimat geben.
Wenn wir das ernst nehmen – diesen Überschuss dessen, was Gott verspricht, über alles uns schon Gewährte und Vertraute hinaus –, … wenn wir also den Advent des Jeremia ernstnehmen, dann müsste die Predigt zum 1.Advent schließen mit dem Satz:
Wenn die Zeit reif ist, dann wird man einst nicht mehr Weihnachten feiern und Jesu Geburt, sondern seine letzte, endgültige Ankunft und seinen ewigen Sieg. …………
Und so ist es! Gott sei Dank!
Amen.
Ewigkeitssonntag 20.11.2016 Stadtkirche Offenbarung 21,1-7 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 20.XI.2016
Offenbarung 21, 1-7
Liebe Gemeinde!
Ziellose Wege.
Das scheint in aller Kürze ein Bild unserer Wirklichkeit zu sein: Menschen auf endlosen Straßen, auf Strecken, die lang und länger werden, Jahre und Jahrzehnte dauern, Meilen über Meilen ausmessen, geführt von Geräten, die jeden Winkel, jede Sackgasse, jeden verwunschenen Pfad dieser Erde kennen … und dennoch ziellos.
Ziellos wie die Wanderer, die in den vergangenen Jahren in unser Leben getreten sind: Flüge und Fußmärsche, erschöpfende Weiten, Abschied im Rücken, drohende Grenzen überm Weg, namenlose, wortlose, ortlose, rettende Fremdheit vor sich.
Ziellose Wege.
Alles läuft, alles strömt atemlos über die Verbindungsrouten, gleitet immer geschwinder auf den Schneisen, die alles in der Welt verknüpfen, alles fließt und reist und rast, alles bewegt und beschleunigt sich … auf ziellosen Wegen.
… Kommt wer an? Und wenn er meint, am Endpunkt, am Sehnsuchtsziel eingetroffen zu sein: Wo ist er dann? Geht dort alles weiter? Hört dort alles auf? Gibt es einen Halt oder dreht sich das Ganze wieder von vorn … wie die Kugel, auf der wir leben?
Geschäftig … und doch ziellos.
Auf der Bahn … aber ziellos.
Nie in Ruhe … immer nur ziellos. ……..
Gibt es denn überhaupt ein Ziel für uns, die wir unstet und flüchtig leben (1.Mose4,12)? ——
Vor uns ziehen die Heere der anderen Rastlosen, die eigentlich längst schon am Punkt ohne Wiederkehr angekommen sein müssten.
… Doch immer noch hören wir ihr Murmeln, ihren Singsang, ihre Klage vom Weitermüssen, Noch-nicht-da-Sein, vom Suchen in endloser Ferne, von der Irrfahrt ohne Hafen.
„Weder Anfang noch Ende ergründet der Mensch“, hadert da der König Salomo (Pred.3,11).
„Wohin denn sollen wir gehen?“, rätselt der große Apostel (Joh6,68).
„Ruhelos ist unser Herz“, seufzt Augustinus, Vater der Kirche*.
„Ich wollt, dass ich daheime wär“, sehnt sich der mittelalterliche Gottesfreund Heinrich von Laufenberg (EG 517).
„O Welt, ich muss dich lassen“ bricht es in der chorälesingenden Gemeinde auf (EG 521).
„Ich bin ein Gast auf Erden“, zerstört Paul Gerhardt die Täuschung der behaglich eingelebten Weltbürger (EG 529).
„Kommt Kinder, lasst uns gehen“ mahnt an seinem Webstuhl der grübelnde Tersteegen (EG 393), denn jeder Schritt bestätigt’s ja: „Ein Tag, der sagt dem andern / mein Leben sei ein Wandern“ (EG 481).
Und noch der größte Künstler und Weltkundige unserer Sprache gesteht†:
„Ach, ich bin des Treibens müde. / Was soll all der Schmerz und Lust?“
So dass schließlich – nachdem die menschliche Ziellosigkeit als Sehnsucht und Orientierungsschwäche und Weltschmerz und Zerstörungsdrang alles durchtränkt hat – … so dass schließlich eine Jugend auf Wanderschaft ihr deutsches Untergangslied anstimmt, brünstig wie heute der Todestaumel der Terroristen: „Unstete Fahrt, habt Acht, habt Acht, die Welt ist voller Morden.“** …….
Und in dem müden, hochfahrenden, endlich aber umso enttäuschter scheiternden Entdeckertross schlurft eine alte Dichterin, die im Tal der Wupper geboren wurde und sich als Flüchtling bis zum Ölberg von Jerusalem schleppte, wo sie ihr Grab fand.
Die bringt das ganze irrende, haltlose Elend der Odyssee unseres Lebens in zwei Zeilen unter: „Ich suche allerlanden eine Stadt, die einen Engel vor der Pforte hat“.‡ …………
Genau um diese Stadt aber geht es.
Diese Stadt, an deren Toren wir erwartet werden, wo Friedensboten uns empfangen, wo die Starken uns nicht mehr in den Abgrund der Leere, des Vergeblichen stürzen lassen, sondern jeden Wanderer, jeden Flüchtling über die Schwelle tragen und hineingeleiten, … diese Stadt wäre das Ziel.
Kennt man sie? Hat einer sie auf der Karte? Zeigt unser Kompass dorthin?
– Wir sollten nicht meinen, wir lebten in dieser Stadt.
… So gut wir es haben, so sicher wir sind, so wohl wir uns fühlen: Wir sind nicht am Ziel!
Jeder von uns wird weiterziehen, auf uns alle wartet noch die Reise.
Und die, die schon vor uns den Aufbruch erproben mussten, die es nicht auf unsre angenehme Art, sondern todernst zur Mobilität zwingt, die finden hier auch nicht die Stadt der Engel.
… Wie überhaupt die Finder und Gründer, die Eroberer und Werber, die alle ja wirklich geglaubt haben mögen, sie seien auf den idealen Ort, auf die Wohnstatt der Freiheit, auf das Reich der Zufriedenheit, auf die künftige Heimat des Menschenglücks gestoßen, … wie sie alle nacheinander doch erleben mussten, dass vorübergeht, was wir an Endgültigem entdeckt, erreicht und aufgebaut zu haben meinen.
Die vielen Traumorte, aber auch die allergewöhnlichste Alltagskulisse der Menschheit erweisen sich über kurz oder lang sämtlich als Oasen, die zurückgelassen werden müssen. …
Der Weg geht weiter. Der Aufbruch kommt. Die Unruhe treibt uns. Der Hunger. Die Gier. Die Phantasie, die Politik, der Krieg. Katastrophen. Der Tod.
Und wo ist dann die Stadt, die wir suchen, die uns ein Ziel, die unsere Bleibe sein könnte? ……. ————
Sie ist in der Schwebe.
Sie ist also - genau wie wir - auf dem Weg. Nur ziellos ist sie nicht! Die Stadt nämlich, in der alle Wege der Verlaufenen, der Heil- und Heimatlosen, aber auch alle Wege der Ungerührten und Eingegrabenen münden werden, ist selber nicht fix und nicht fertig, sie ist kein statischer Ort, der tief unterm Staub ausgegraben oder hoch auf dem Gipfel erobert werden könnte, denn sie lebt. Des Lebens Stadt ist sie, die Baustelle des ewigen Lebensschöpfers und Todesbesiegers, die wachsende und sich erweiternde Stadt der Kinder Gottes aus Israel und allen Völkern. Eine Stadt, deren Mauern wie Säume sind, die weit und weiter ausgelassen werden, je mehr die Wanderer sich in ihr sammeln und niederlassen dürfen: „Mach den Raum deines Zeltes weit und breite aus die Decken deiner Wohnstatt, spare nicht! Spann deine Seile lang und stecke deine Pflöcke fest! Denn du wirst dich ausbrei-ten zur Rechten und zur Linken …“ (Jes54,2f), so lautet die Aufforderung Gottes an die hochbeweglich sich dehnende und gedeihende Gemeinschaftsunterkunft für sein Volk.
Und in der Mitte dieses Zeltlagers, im Herzen der bewegten und beweglichen Stadt aller Menschen da hat Gott sein eigenes Zelt, so wie er einst die Stiftshütte unter der wandernden Schar hatte, die auf Wüstenwegen zum gelobten Land zog.
Er ist von alters her ja selbst ein Gott auf Wanderschaft, ein Gott der Pilger und der Verjagten, ein Gott, der mit gefangenen Priestern, Königen und Handwerkern in’s Elend und mit obdachlosen Eltern in einen Viehstall zieht, ein Gott, der an den Hecken und den Zäunen im Freien lagert und auf dem Feld seine Sprechstunde hat, ein Gott der schiffbrüchigen Apostel und der vagabundierenden Prediger, ein Gott der Verstecke und Unterschlupfe, ein Gott, der Notunterkünfte und der Todesmärsche, ein Gott, der in Auschwitz und in Sibirien, auf der Balkanroute und auf dem Mittelmeer mitgehangen und mitgefangen, mitmarschiert und als blinder Passagier an Bord mit im Boot ist.
Er ist der Gott des Überall!
Und darum ist Er – Er allein – der Gott der Ziellosen.
Die anderen nämlich, die festgelegt sind und festhängen, haben andere Götter: Sie ehren die Kräfte der Berge oder der Quellen ihrer Heimat, sie dienen den Geistern ihrer Erde, ihrer Gräber, sie vergötzen das, was sie haben und halten, sie opfern alles dem großen Abgott, der ihnen scheinbar freies Geleit, Wechsel auf die Zukunft und allgegenwärtige Mittel der Sicher-heit bietet, …dem Abgott Mammon, der für viele Ziel und Hort und Hoffnung zu sein vorgibt.
Die aber, die nicht an den Dingen kleben, sich nicht im Gegebenen verwickeln und die darum in ihrem Leben etwas spüren von der Unsicherheit der Freiheit und der Freiheit der Unsicheren, … diese Ziellosen, als die auch wir hier leben, weil wir uns zum wandernden Gottesvolk zählen, weil wir von den Eltern und Großeltern her das Erbteil der Vertriebenen und Flüchtlinge haben, weil der Tod uns auf seine harte, fühllose Weise an den Abbruch aller Gewissheit und das noch Offene unserer Bestimmung erinnert hat … wir Ziellosen sind selber das Ziel!
Das ist der einzigartige Trost der Bibel: Sie nimmt uns nichts von unserer Orientierungslosigkeit.
Sie lehrt uns keine Mondrakete zu basteln, mit der wir uns aus allem irdischen Kummer und aller Verwirrung und allen Gefahren und der großen Todesangst einfach in die Höhe schießen könnten.
Im Gegenteil: „Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes“ (Apg.14,22) lehren uns Paulus und Barnabas.
Und noch weniger macht Jesus uns vor, wenn er uns verspricht: „Ihr werdet weinen und heulen (Joh16,20) …, denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren“ (Lk9,24).
Leichte Sicherheit, billige, schmerzlose, falsche Sicherheit, … Opium für das Volk bietet die Bibel eben gerade nicht!
Aber sie versichert uns einer anderen Wahrheit … nämlich dieser:
Wieviel Ihr auch leidet, wie traurig und verzweifelt, wie rätselhaft Euer Leben auch ist und wie sinnlos, wie ziellos alles auch scheint, so seid doch genau Ihr Suchenden diejenigen, die Gott finden wird; gerade Ihr Verlassenen seid die, bei denen Gott selber einkehrt; Ihr Leute auf den Umwegen, in der Sackgasse, auf dem Holzweg, auf dem Abstieg, im freien Fall, Ihr Menschen, die stürzen und versinken und sich auflösen … Ihr vergeht, aber zu Euch kommt dennoch Gott selbst.
Ihr könnt also deshalb das Ziel nicht irgendwo anders erkennen und erreichen, weil das Ziel ja nirgends sonst sein will, als nur bei Euch: Die Stadt, die Ihr ziellos sucht, ist auf dem Weg in Eurer Richtung! Der Gott, an dessen Erreichbarkeit Ihr zweifelt, macht sich in jedem Augenblick, macht sich genau jetzt bereit, Euch für immer zu begegnen! Ihr weint, Ihr leidet, Ihr sterbt – aber Gott wird mit Euch leben … ER bei Euch und Ihr bei IHM!
Das aber wird dann der neue Himmel und die neue Erde in einem sein: Wenn wir nichts mehr vermissen, nach nichts mehr suchen und uns sehnen, niemanden mehr entbehren und keine Trennung mehr erleiden, weil Gott nicht alleine kommt, Der ja auch nicht alleine lebt: In der Lebendigkeit Gottes, in Seinem Lebensraum, im Reich Seines Lebens sind ja doch alle lebendig und kommen sie alle auf uns zu und kehren sie alle bei uns ein, die uns fehlen und die wir meinen nicht finden zu können. Gott kommt mit den Scharen der Lebenden, im Schwarm aller unserer Geliebten und Vermissten, Gott, der Herr der Heerscharen, Der sie alle bei sich hat und keinen, … niemanden verlieren oder fehlen lassen wird.
Und darum gibt es keinen Weg, den wir gehen könnten, keinen Weg, den wir gehen müssen, keinen Weg, den wir irgendwann einmal gehen werden, der uns nicht geradewegs zielgerichtet führt.
Nur, dass wir nicht so bang fragen, so ängstlich kontrollieren, so zaghaft auf dem Weg sein sollten: Denn es liegt nicht an der Richtung, in die wir laufen, am Kurs, den wir bestimmen, an den Weichen, die wir stellen. Wo und wie auch immer wir sein mögen: Nicht wir müssen das Ziel ja aus eigener Kraft erreichen, sondern es erreicht uns!
Das ist nämlich die Mitte und die Kraft unseres Glaubens: Nicht, dass er uns zu Himmelsstürmern macht, nicht dass er uns verrät, wie wir aus Leid und Schuld in den Himmel kommen, sondern vielmehr dass er uns verheißt, wie der Gott des Himmels und des Lebens auf unsre Erde, in unsre Sterblichkeit kommt, um aufzuheben und auszulöschen, was uns von Ihm scheidet und uns zu schaffen und zu schenken, was uns ohne Ihn nie zuteilwürde!
Gott also siegt und darum werden alle Tränen versiegen!
Gott lebt und darum stirbt der Tod!
Gott kommt und darum vergehen Trauer und Klage!
Gott liebt und darum wird die Liebe bei Ihm vollkommen sein und keiner der Lieben uns fehlen!
Das ist unsere Erwartung, unser Trost, unser unglaubliches Glück: Dass diese wunderbare Aussicht uns immer und überall näher kommt und dass in aller Trost- und Ziellosigkeit der Zeit diese Zukunft nicht abnimmt, sondern dichter und dichter heranrückt.
„Siehe, ich mache alles neu!“ ist das Wort dessen auf dem Thron, das Wort des geschlachteten und auferweckten Lammes Jesus vom uns allen ganz nah bevorstehenden Leben.
Ein Ziel als Ende also gibt es nicht, sondern der Anfang erwartet uns, der Beginn des Lebens, das ewig sein wird, … bei Gott, … mit allen, … in der heiligen Stadt, dem neuen Jerusalem, das aus dem Himmel herabkommt.
Siehe!
Alles neu!
Amen.
* Aurelius Augustinus, Confessiones – Bekenntnisse, Lat. & dt., Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart, 4.Aufl., München 1980, 1.Buch I,1, S.13.
† J.W.v.Goethe, Wandrers Nachtlied (Der du von dem Himmel bist), in: Goethes Gedichte in zeitlicher Folge, hg.v. H.Nicolai, 7.Aufl. Frankfurt/M 1990, S.199.
** Aus dem Lied „Wildgänse rauschen durch die Nacht“ von Walter Flex, das im Wandervogel zu größter Verbreitung fand.
‡ „Gebet“ von Else Lasker-Schüler aus der Sammlung „Meine schöne Mutter blickte“, in: Sämtliche Gedichte, hg.v. F.Kemp, 5.Aufl., München 1991, S. 167.
Volkstrauertag, 13.11.2016, Thema: "Märtyrer", Stadtkirche und Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Thema: „Märtyrer - Wofür es sich zu leben und zu sterben lohnt"
Liebe Gemeinde,
am heutigen Tag - Volkstrauertag - wird in so manchen Veranstaltungen an die unzähligen Toten von Krieg und Verfolgung erinnert. Viele der älteren unter uns haben sie sicher noch vor Augen, die Anzeigen in den Zeitungen seit September 1939, wo bekannt gemacht wurde: „Es fiel für Führer und Vaterland" und dann die Namen, immer mehr Namen, je länger der Krieg dauerte. So mancher hier hat möglicherweise sogar eine solche Anzeige, die die eigene Familie betraf, noch in seinen Unterlagen.
Heute wissen wir: der Krieg war ein Verbrechen, für Führer und Vaterland zu sterben, war nichts Ehrenwertes. Die meisten Soldaten waren Verführte und Mitläufer, die der Krieg zu beidem machte: zu Tätern und Opfern.
Die allermeisten deutschen Männer können heute - zum Glück - mit dem berühmt-berüchtigten Satz des römischen Dichters Horaz nichts mehr anfangen, der pathetisch tönte „Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben."
Überhaupt: für irgendetwas zu sterben, auf sein Leben zu verzichten, das ist uns heutigen Menschen hier in unserer Gesellschaft zutiefst suspekt und fremd. Wir wollen einfach leben, gut und möglichst immer besser und länger. In Frieden - natürlich; in Freiheit - keiner möchte eingeschränkt werden in dem, was er oder sie will; in Wohlstand - Hauptsache, ich habe alles, was ich zu brauchen meine.
Kein Wunder, dass die meisten von uns völlig irritiert sind, wenn sie seit 15 Jahren immer wieder damit konfrontiert werden, dass vor allen Dingen junge, radikalisierte Männer aus der islamischen Welt offensichtlich kein höheres Ziel für sich sehen, kein größeres Glück, als unter dem Einsatz des eigenen Lebens möglichst vielen Mitmenschen den Tod zu bringen. Und noch mehr befremdet es, dass sie von ihren Gesinnungsgenossen, manchmal sogar von ihren eigenen Müttern, als Märtyrer gefeiert werden - direkt eingegangen in die Freuden des Paradieses.
Kaum ein Begriff ist in diesen letzten Jahren so in Verruf geraten wie der des „Märtyrers". Und doch ist er viel zu wichtig, um ihn einfach den Fundamentalisten jeglicher Religion zu überlassen. Für uns Christen ist es dabei wichtig, dass wir uns selbst darüber Rechenschaft geben, in welcher Weise er im christlichen Kontext gebraucht wurde und wie er im Geist Jesu gebraucht werden will.
Martys oder martyros heißt übersetzt aus dem Griechischen schlicht „Zeuge", martyrein „etwas bezeugen". Zunächst ist dabei an den Auftritt vor einem Gericht gedacht. So finden sich diese Begriffe auch im Neuen Testament. Daneben tauchen sie dann auf, wenn es darum geht, dass anderen eine Botschaft, eine Glaubensbotschaft bezeugt wird. In diesem Sinn lässt Lukas den auferstandenen Jesus zu seinen Jüngern sagen: „Ihr sollt meine Zeugen sein bis ans Ende der Welt." (Apg.1,8) Die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu sollen seine Botschaft überall weitersagen und so bezeugen. Bezeugen vor allen Dingen, dass seine Botschaft nicht die eines Verstorbenen ist, sondern eines Lebendigen, eine Botschaft, die auf das Leben ausgerichtet ist und nicht auf den Tod.
Doch es gibt noch eine zweite Traditionslinie, und die ist in der Geschichte ungleich stärker geworden als die eben angeführte. In der frühen Kirche wurde der Begriff des Märtyrers fast ausschließlich für die Christen gebraucht, die ihr Bekenntnis zu Jesus als dem Kyrios - ein Titel, der damals dem Kaiser vorbehalten war - und ihre Weigerung, am staatlich verordneten Kaiserkult teilzunehmen, mit ihrem Leben bezahlten. Der Märtyrer war der Blutzeuge. Als Erzmärtyrer wurde Stephanus gefeiert. Im liturgischen Kalender ist ihm der 2.Weihnachtstag gewidmet. Blutzeuge für den Glauben an Jesus zu werden, galt als Auszeichnung. Eine paradoxe Situation ergab sich so für die Kirche der ersten 3 Jahrhunderte: auf der einen Seite nahmen Christen unter dem Druck der Verfolgung am Kaiserkult teil - Eltern, die ihre Kinder nicht allein lassen wollten; Männer und Frauen, die einfach Angst vor der Folter und Hinrichtung hatten. Und auf der anderen Seite provozierten Christen geradezu die staatlichen Behörden, um vor Gericht gestellt und verurteilt zu werden und um es so als Blutzeugen Jesus nachzumachen, der ja auch den gewaltsamen Tod durch die Römer am Kreuz gestorben war. Und wie es von Jesus überliefert war, baten nicht wenige unter der Tortur noch Gott um Vergebung für ihre Henker. Dieses todesverachtende Verhalten erregte natürlich große Aufmerksamkeit und brachte den jungen Gemeinden viele neue Mitglieder. „Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche" stellte nicht ohne Grund um 200 der Kirchenvater Tertullian fest. Die Märtyrer wurden als Heilige verehrt, die durch ihren Tod ja unmittelbar zu Christus in den Himmel gekommen waren. Alle Heiligen der alten Kirche waren Blutzeugen. Ihr Sterben, ihr Tod für Christus war das entscheidende Zeugnis. Eine Verschiebung - weg vom Lebenszeugnis, hin zum Sterbens-Zeugnis. Das Zeuge-Sein für die Botschaft Jesu, die sich im oft kleinteiligen Alltagsleben zu bewähren hat ist natürlich längst nicht so spektakulär, wiegt scheinbar nicht so viel, wie wenn man sein Leben „opfert". (An dieser Stelle der Hinweis: der erste Heilige, der kein Blutzeuge war, das war Martin von Tours; Liebe und Einsatz für den Nächsten, das war sein Lebens-Zeugnis.)
Es ist übrigens interessant, dass diese Hochschätzung des Blutzeugnisses keine christliche Erfindung ist, sondern sie hat ihren Ursprung im 2.Jahrhundert v.Chr. im Judentum. Damals herrschten die Nachfolger Alexanders des Großen über den gesamten Vorderen Orient. Sie wollten die von ihnen beherrschte Welt am „griechischen Wesen genesen" lassen. Unter diesem Vorzeichen verbot König Antiochos IV. den jüdischen Gottesdienst und die Beschneidung und ordnete an, im Jerusalemer Tempel heidnische Opfer darzubringen. Darauf brach der sog. Makkabäeraufstand aus, für die Juden ein Befreiungskrieg, für die Besatzer ein terroristischer Aufstand, ein Krieg jedenfalls, der von beiden Seiten mit großer Härte geführt wurde. In den Makkabäerbüchern wird an diese Zeit erinnert. Eine besondere Bedeutung - gerade in der christlichen Tradition - gewann das Kapitel 7 im 2.Makkabäerbuch, in dem sehr ausführlich der Folter-Tod von 7 Brüdern und ihrer Mutter geschildert wird, die lieber grausam sterben, als ihrem Glauben untreu werden wollen, wobei sie erfüllt sind von der Überzeugung, nach dem Tod im ewigen Leben bei Gott zu sein.
Doch egal, ob Lebens-Zeuge oder Blut-Zeuge: auf keinen Fall geht es an, dass andere, unschuldige Menschen durch dieses Zeugnis zu Schaden kommen, gar um ihr Leben gebracht werden. Mit den Selbstmord-Attentätern aus der islamistischen Szene, die sich selbst als Märtyrer stilisieren, haben diese Märtyrer nichts gemein. Durch den Tod von anderen, unschuldigen Menschen will und kann der eine Gott, der sich in der Thora Israel zuwandte, und den Jesus als den Vater aller Menschen bezeichnete, und von dem sich Mohammed gerufen sah, dieser eine Gott kann und will so nicht bezeugt werden - weil er ein Gott des Lebens ist und nicht des Todes, der selbst am Tod des Gottlosen keinen Gefallen hat, wie es bei Hesekiel (33,11) zu lesen ist.
„Ihr werdet meine Zeugen, meine Märtyrer sein bis an das Ende der Erde", dieses ist in der Apostelgeschichte das letzte Wort, das Testament des Auferstandenen an seine Nachfolgerinnen und Nachfolger; und als Getaufte stehen wir mit in dieser Reihe. In diesem Zeugendienst stehen wir, nicht nur sonntags als Gottesdienstbesucher, sondern im Alltag unseres Lebens, Tag für Tag, in jeder Lebenslage - bis zum letzten Atemzug. Und genauso wie ein Bonmot sagt, der Ernstfall ist der Frieden, nicht der Krieg - um deutlich zu machen, dass man für den Frieden jede Anstrengung unternehmen muss -, genauso gilt: der Ernstfall für unser Christsein ist das Leben, nicht der Tod, wir müssen wissen, wofür wir leben; erst wenn einem das klar ist, kann man sich damit auseinandersetzen, ob man dann auch - im äußersten Fall - bereit ist, dafür zu sterben. Wer erfüllt ist von der Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Frieden und Menschlichkeit, so wie Jesus erfüllt war von der Sehnsucht nach Gottes Reich, der wird wie er alles daran setzen, so zu leben und so mit seinen Mitmenschen umzugehen, dass er diese Sehnsucht nicht verrät. Er oder sie wird dann aber schnell erleben, dass sie damit auf Widerstand stößt. Dass einem Steine in den Weg gelegt werden, weil man den Status Quo in Frage stellt, weil man für Veränderungen eintritt, von denen sich viele in Frage gestellt und bedroht fühlen. Wir haben in unserer Kirche zwar keinen offiziellen Heiligenkalender, aber nicht von ungefähr sind uns doch gerade solche Menschen gegenwärtig, die aufgrund ihres Zeugendienstes, ihrer Sehnsucht nach Gerechtigkeit, ihrem Einsatz für den Frieden, in viele Schwierigkeiten gerieten und am Ende Blut-Zeugen geworden sind. Ich nenne nur einige: Martin Luther King, Dietrich Bonhoeffer, Sophie Scholl, Oscar Romero. Keiner von ihnen wollte sterben. Aber genauso wenig war einer bereit, seine Überzeugungen aufzugeben - aus Angst vor Verfolgung und Tod. Sie wussten, wofür sie lebten. Sie waren Zeugen des Lebens, wie Gott es für uns Menschen will, wie Jesus es verkündet hat - mit aller Konsequenz.
Liebe Gemeinde, ich hoffe, dass wir Christen heute im Jahr 2016 uns auch darüber im Klaren sind, wofür wir leben, dass wir Zeugen Jesu sind, zeugen seines Evangeliums von der Liebe und dem Reich Gottes, seiner Menschenfreundlichkeit. Und dass wir dieses Zeugnis leben. Unsere Situation heute ist nicht vergleichbar mit der Situation, in der sich ein Dietrich Bonhoeffer oder eine Sophie Scholl in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts befanden. Sie lebten in einer faschistischen Diktatur. Wir leben in einem Rechtsstaat, wie haben alle Möglichkeiten, uns in der Öffentlichkeit zu äußern, für unsere Überzeugungen zu werben und einzutreten. Allerdings ziehen - nicht nur bei uns - sondern in vielen Ländern Europas - dunkle Wolken auf; der Populismus vergiftet immer mehr die politische Diskussion, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit können sich so ungeniert zeigen, wie ich mir das vor 30 Jahren nicht hätte träumen lassen. Die Bereitschaft zu Hass und Gewalt, verbal und handgreiflich, ist enorm gestiegen. Dass jemand wie Donald Trump mit seinen unsäglichen Verbalinjurien zum Präsidenten gewählt wurde, zeigt doch nur, wie schnell eine Mehrheit heute bereit ist, sich Hass und Dummheit offensichtlich freiwillig auszuliefern.
Ich erinnere mich noch gut, als Ende 2014 die Flüchtlingsarbeit auch hier in Kaiserswerth in Gang kam und ich klar erkennbar für alle mich dafür einsetzte, dass hier vor Ort Flüchtlings willkommen geheißen werden, dass mich ein Gemeindeglied besorgt fragte, ob ich nicht Angst hätte, dass mir da einer aus der rechten Szene die Reifen zerstechen würde. In der Tat, in den letzten Jahren sind viele, die sich für Flüchtlinge engagiert haben, nicht nur beschimpft worden, sondern auch handfest bedroht und attackiert worden. Doch deshalb seine Überzeugung aufgeben, seinen Einsatz für Menschlichkeit? Für mich kommt das nicht in Frage. Vielmehr sehe ich für uns als Zeugen Jesu den Ernstfall gegeben, gerade heute umso entschlossener „Gesicht zu zeigen", damit nicht fremdenfeindliche Positionen auf einmal in unserer Gesellschaft mehrheitsfähig sind und unsere Gesellschaft ihre freiheitliche und rechtsstaatliche Gestalt verliert.
Die Geschichte wiederholt sich zwar nicht 1:1, aber auch heute gilt: wehret den Anfängen, damit nicht auf einmal jedes Lebens-Zeugnis im Blut-Zeugnis endet - wie für Dietrich Bonhoeffer und Sophie Scholl - und spätere Generationen über neue Opfer von Gewalt und Krieg trauern müssen.
Setzen wir also alle Energie darein, Lebens-Zeugen Jesu zu sein, der versprochen hat, uns dazu mit seinem Geist auszurüsten.
Amen.
Reformationstag 31.10.2016 Stadtkirche Römer 3,21-28 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Reformationstag 2016
Römer 3,21-28
Liebe Gemeinde!
„Die Zaubertinte des Paulus“ müsste dieser welt- und kirchengeschichtlich einzigartige Abschnitt aus dem Römerbrief eigentlich angekündigt werden, wenn wir ihn heute wieder in einer Sondervorstellung zum Reformationstag anschauen.
… Und wenn es einen solchen Film gäbe, der uns den zentralen Text der luther’schen Entdeckung und Gewissheit wie eins der gängigen Mystery- und Fantasyspektakel vor-führte, dann wäre die entscheidende Szene wohl in etwa diese:
Da ist ein Mensch, der sich nichts vormachen lässt. Er kann nicht akzeptieren, wie schwierige Fragen des Daseins weggelogen werden oder man sich einfach von ihnen freikauft. Dieser grübelnde, ja dieser leidende Mann, dem unsere Erfolgsabhängigkeit Probleme macht, weil sie dazu führt, dass wir immer unschuldig und schuldlos sein wollen und daher Täuschung über alles, besonders aber über uns selber brauchen und Gutes immer schlechter machen, weil wir das Schlechte meist so gut machen … dieser Mann, der darunter leidet, dass er sich und andere in einem einzigen Netz und Knäuel aus Versagen und Eitelkeit und Verzweiflung und vorgetäuschtem Selbstbewusstsein verwickelt und verwirrt sieht, … dieser Mann wird langsam wahnsinnig, wenn er hört, wie idiotisch die Leute beruhigt werden und wie leicht man sie verstummen macht: Entweder sie lassen sich vom Geldtrick einwickeln und bezahlen vermeintliche Experten für’s Lösen von Lebens- und Sterbensproblemen … man nannte es damals „Ablass“; oder sie lassen sich weismachen, es gäbe ohnehin keine Hoffnung auf echtes Gelingen des Lebens und also werden sie Opfer tausender Phobien und Traumata und Störungen und schwelgen in krankhaften Phantasien von Zerstörung, Schmerz und Sadismus … was heute unser Internet kann, das konnte damals die spätgotische Morbidität in Kunst und Kirche genauso gut.
Doch der unzufriedene Mann, der sich angesichts der menschlichen Lage weder mit dem Bezahlen, noch mit der Hoffnungslosigkeit anfreunden kann: Der erwartet, … der ersehnt eine andere Lösung. Und in der entscheidenden Szene, in der er schon ganz blass und zerknautscht, fieberhaft nervös und bereit zum Aufgeben grübelt, ob denn Gott wirklich keinen anderen als den Geschäftsweg oder den Weg zur Hölle für seine Menschen und ihre Schwierigkeiten aufgetan habe … in dieser entscheidenden Szene – in einem sturmumtosten, düstern Turm, bei schaurig flackerndem Licht (… das natürlich nur für den Film: In Wirklichkeit war’s der Erker eines klösterlichen Hinterhofes) – als der Sucher und Haderer wieder einmal den größten Brief aus den Anfängen des Christentums, den Hauptstadtbrief hin- und herwälzt, weil in ihm doch irgendwo ein Hinweis, ein Lösungswort für die festgefahrene Menschheitsmisere enthalten sein muss, … da pfeift er plötzlich durch die Zähne. Er ist nämlich mit dem von ihm hingebungsvoll durchkämmten Römerbrief, dieser Urkunde eines Glaubens, der die ganze Welt auf Gottes Wege führt, gefährlich dicht an die Kerze geraten. Feuer hat das Schriftstück dabei zwar nicht gefangen …, aber dafür schimmern plötzlich bislang unsichtbare Buchstaben im Lichtschein auf! Was das bloße Auge nicht entdecken konnte, zeigt sich in diesem unerwarteten Licht so klar, als habe man die Formel gefunden, die die Zaubertinte wieder lesbar macht. Und was sich dabei zeigt, ist das eine Wörtchen „allein“.
……. Diese Entdeckung klärt alles auf. Auch wenn niemand sonst die geheime Schrift entziffern konnte: Jetzt, da Luther sie erkannt hat, ist das Rätsel für ihn vorbei. Es gibt keine anderen Möglichkeiten mehr …, kein möglicherweise nötiges Bezahlen, kein unumgängliches Verzweifeln. Es gibt nur noch dies große, großartige, grundlegende „Allein“!
Der Zwiespalt und die Unsicherheit sind von ihm genommen: „Sola fide“!
Auch wenn Paulus das so nicht geschrieben hat – die exklusive Einschränkung des alleinwirksamen Glaubens kommt beim Apostel wortwörtlich nirgends vor – … auch wenn Paulus das nie so geschrieben hat: Seit Luthers Entdeckung und Entscheidung ist das evangelische Verständnis der Wahrheit, der Befreiung und Rettung eine Solonummer, eine einzige unmissverständliche, kompromisslose Feier des Solistischen. Allein, allein, allein allein: Nur Glaube, Gnade, Schrift und Christus. Sola, … sola, … sola, … solus!
Es ist ungeheuerlich, wie stark und eindeutig das klingt, wie dieser Durchbruch zu scharfer, reiner, konzentrierter Unterscheidung zwischen allem Überflüssigen und Zugefügten und dem Alleintragfähigen, Alleinausschlaggebenden bis heute befreiend und vergewissernd wirkt.
Luthers eigenmächtige Einfügung des Adjektivs „allein“ in den Vers darüber, wie der Mensch vor Gott und der Welt ins Reine kommt und der ewigen Täuschung und Verdammung zu Ehrgeiz und Unvollkommenheit entgeht, ist folgerichtig und folgenmächtig bis heute. Sie hat eine Geschichte und einen Menschenschlag geprägt, die tatsächlich von größter Solokraft, von bewunderns- und beneidenswerter Eindeutigkeit und Einheitlichkeit sein konnten. Evangelisch zu sein hieß, zu wissen auf was es alles nicht ankommt, was nicht zählt, aber auch nicht stört, was Nebensache und was Lebensnerv ist.
Evangelisch-Sein hieß stark und stur und zur Not eben auch getrost Solist zu sein.
Mündig, demütig, unbeeindruckt, gehorsam, dabei aber unverbogen und also frei.
… Dass es daneben eine fürchterliche Art der Buckelei und des Kriechens vor der Obrigkeit, der Blindheit und Hörigkeit gab, wissen wir natürlich auch zu unserer Schande. …….
Aber die große Linie des Solos, des allein durch Christi Blut und Gerechtigkeit belebten und befähigten Menschen ist unser bestes Erbe gewesen. Entschieden und bewusst unabhängig und nur auf den Glauben und das eigene Gewissen gestützt und bloß vor Gott rechenschaftspflichtig: Das ist der vom Sola-sola-sola-solus-Prinzip geformte Sünder, der ohne Verdienst, aus Gnade Gerechtfertigte, der sich dessen nicht rühmt, was er selber gar nicht machen, sondern nur glauben kann.
Diesen Weg evangelischer Konsequenz weiter zu gehen, wäre die einzig angemessene Weise, das halbe Jahrtausend ernst zu nehmen, durch das er schon führt.
Bloß stellen sich zwei Hindernisse in den Weg … ein inneres und ein äußeres.
Zunächst die zu allen Zeiten akute Frage, ob wir uns wohl so viel aus der Hand nehmen lassen, dass wir verzichten auf alle Beweise unserer hochentwickelten Technik der Selbstdarstellung und Selbstverbesserung und Selbsterlösung?
Sind wir wirklich bereit, uns nicht selber gut zu finden, selber gut zu erfinden, selber immer besser zu machen, sondern Gott das letzte Wort über uns haben und fällen zu lassen? Und sind wir in der Lage, diese allesentscheidende Frage – wer und was wir sind und welchen Wert wir haben – … sind wir in der Lage, diese Frage beantworten zu lassen ohne dabei selbst im Mittelpunkt zu stehen, ohne uns vor- und darzustellen und angemessen unser Besonderes hervorzukehren? Genügt es uns, dass Gott im Blut Jesu Christi eine einzige Bestätigung unserer Unersetzlichkeit gegeben hat, indem Er dieses ihm unendlich kostbare Blut und Leben uns zurechnet, uns zugutehält, mit unserem eigenen also gleichsetzt? Sind wir Individualisten dazu nicht allzu solistisch geworden, als dass wir uns so im Chor der anderen, in der Gemeinschaft aller gerechtfertigten Sünder einordnen ließen? Die großen Solokünstler, die wir sind, die wir so gerne auf andere und uns selber wirken und also die alte Werkgerechtigkeit als Abhängigkeit von unserer eigenen Wirkung wahrhaftig immer noch verkörpern: Können wir statt wichtig zu tun, einfach glauben?
… Das ist die zentrale Frage, die uns innerlich hindert, die Reformation nicht als Event, sondern als Ernst zu betrachten.
Äußerlich dagegen ist es das gegenteilige Hindernis, das uns das Evangelisch-Sein erschwert:
Inzwischen haben wir nämlich alle begriffen, dass wir eben nie solo sind, jedenfalls nicht im öffentlichen und also auch nicht im weltanschaulichen Leben. Es gibt die alte Isolation nicht mehr, in der man sich ehedem einbilden konnte, Evangelische würden „allein durch den Glauben gerecht“, da sie ohnehin „allein“ und unter sich lebten. Die konfessionellen Grenzen, die unsere Vorfahren seit dem Augsburger Religionsfrieden scharf von allen anderen Glaubens- und Lebensweisen trennten und die dem evangelisch-exklusiven Solo-Prinzip auch äußerlich entgegenkamen, sind gefallen. Und so ist die evangelische Verselbständigung in lauter kleine, abgeschlossene Landeskirchen, die sich selbst genügten, – zum Glück! – Vergangenheit. Stattdessen erleben wir um uns herum, in der Nachbarschaft und selbst in der Familie, dass es sehr, sehr viele andere Vorstellungen und Hoffnungen, Gewissheiten und Ernsthaftigkeiten gibt, als nur unser „Allein aus Glauben“.
So dass die Frage sich ergibt: Ist das „Allein“, das Luther in den Text des Römerbriefes und in sein Denken und Predigen so erleichtert und erhellend eingefügt hat, … ist diese „Allein“-Bestimmung, die uns prägt und fordert, von letztgültiger Exklusivität?
Ist es so, dass „allein“ die, die Paulus mit den Augen Luthers lesen, die also die Geheimtinte des Apostels entziffern, … ist es so, dass die „allein“ gerecht und gerettet werden? Sind alle anderen, die das von Luther eingeschaltete Wort und sein Verständnis nicht kennen, nicht anerkennen oder teilen, auf dem Holzweg, blind, dumm … verloren?
Ist das Sola-fide-Prinzip, das jede Tradition des frommen Ritus, der ethischen Zielvorgaben, des moralischen Anspruchs zu einem Seitenzweig der eigentlichen Frömmigkeit, wenn nicht gar zu einer Verirrung vom einzigen Heilsweg des Glaubens macht, ein ausschließliches und ausschließendes Prinzip?
Ist der evangelische Glaube allein seligmachend? ———
Im Film und in allen Erzeugnissen der Fantasy- und Sensationsmoden, die nicht nur an diesem grellen Abend der Gruseleffekte, sondern in unserem ganzen Denken und Debattieren den Stil immer mehr beeinflussen, ist klar, wie die Antwort lautet:
Was der grübelnde Mönch in so überraschender, aufwühlender Weise fast zufällig entdeckt hat, ist der Dreh- und Angelpunkt des Drehbuchs. Mit der Entdeckung ist die Handlung entschieden, ist eindeutig und unwiderruflich der Coup gelandet: Das Geheimwort „Allein“ bringt die story zum happy end. … ——
Doch die Reformation, die Frage nach Gottes Wort, nach seiner Gerechtigkeit und seinem Gericht in der Welt, ist kein Historienschinken und kein magischer Kinofilm!
… Die Reformation geht weiter, der Weg des Glaubens setzt sich über alle Jubiläen und Neuverfilmungen und Wiederholungen und überarbeiteten Fassungen hinaus fort.
Darum ist mit dem Solo-Prinzip, das einst den Anfang echter, eigener Glaubensmöglichkeiten bereitete, das gläubige Leben aus Gottes Gnade aber nicht ein für allemal ausschließlich zu einer Sache geworden, deren Star Luther und deren Stil sein großes, exklusives Solo als Allein-Glaubender ist.
Vielmehr werden wir – je weniger wir das Evangelische in Reinkultur erleben und beanspruchen können – umso aufmerksamer für das, was Paulus und Luther und jedem Christen tatsächlich das Zentrale, das Allesentscheidende, das einzig Wichtige sein kann.
… Wichtig ist nicht, dass unsere Prinzipien unverändert, steril und steil und starr beibehalten werden. Wichtig ist nicht, dass der große Solo-Auftritt des Glaubens und des Gläubigen unsere Vorstellung von Gott und unsere Bewegung zu Ihm hin bestimmt.
… Es gab Zeiten, in denen sich der Glaube wie Feuer ausbreitete – unaufhaltsam, lebendig, wärmend und verzehrend –, und ebenso gab es Zeiten, in denen die Gläubigen, ja in denen ganz konkret die Evangelischen so abstoßend, hochmütig, verführt oder orientierungslos wirkten, dass der Glaube an ihnen irrewurde und einen solchen Dämpfer erhielt, dass er scheiterte.
Nun können wir solche Glanz- und Jubelzeiten des Glaubens nicht erzwingen und wollen die ärgerlichen und vernichtenden Seiten der Geschichte evangelischen Glaubens nicht fortsetzen.
Gewiss ist für uns der Ruf zum Glauben und die Freiheit, nichts anderes an dessen Stelle treten zu lassen, weil er allein uns genügt, für immer die große, ergreifende Botschaft des Evangeliums, des Römerbriefes, des Gesangbuchs und der eigenen Erkenntnisse.
Aber dass wir damit die Einzigen und alleine auf dem Weg zu Gott seien, in das Reich, das er durch Jesus Christi Blut und Gerechtigkeit für alle Welt gegründet hat, … das werden wir nicht behaupten und vertreten! Es wäre ein falsch verengtes Solo, es wäre die verkehrte Exklusivpartikel.
Wir leben zwar allein durch den Glauben und werden durch ihn allein auch selig. Aber weder leben wir allein, noch werden wir alleine selig.
Denn das Zentrale, das Allesentscheidende, das einzig Wichtige ist Der, Der uns aus Seiner grundlosen Gnade rechtfertigt und Der viel tausend Weisen hat, um aus dem Tod zu retten.
Der allein ist Gott und darum das Ein und Alles, einzige Wahre, Entscheidende: Der Richter, Retter, Rechfertiger.
Der Gott, von dem Israel bekennt, dass der HERR Einer ist (vgl.5.Mose 6,4), der Gott, Den die Apostel und Evangelisten im Eingeborenen erkennen und bezeugen (vgl. Joh17,3), und den die Christenheit immer und überall in der Einheit des Heiligen Geistes (vgl. Eph 4,3-6) anruft und verherrlicht.
Soli Deo Gloria!
Amen.
In dieser Fiktion zur Übersetzung von Römer 3 durch Luther ist das sog. „Turmerlebnis“ unhistorisch mit der Auseinandersetzung mit dem 3.Kapitel dieser Epistel zusammengezogen worden. Der sog. „reformatorische Durchbruch“, den die Überlieferung als das schillernde Erlebnis im Turm kennt, war tatsächlich aber v.a. dem Ringen mit Römer 1,17 zu verdanken und damit – um ganz genau zu sein – dem alttestamentlichen Zitat aus Habakuk 2,4, das Paulus dort nutzt und dem Luther letztlich seine befreiende Erkenntnis entnimmt.
In der Vorrede zur Wittenberger Ausgabe seiner Lateinischen Werken von 1545 schildert Luther diese Erfahrung wie folgt (Hervorhebung des Habakuk-Zitates: J.M.)
»Tag und Nacht dachte ich unablässig darüber nach, bis Gott sich meiner erbarmte und ich auf den Zusammenhang der Worte achtete, nämlich: Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbar, wie geschrieben steht: 'Der Gerechte lebt aus Glauben'. Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als die Gerechtigkeit zu verstehen, durch die der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus dem Glauben, und begriff, dass dies der Sinn sei: Durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbar, und zwar die passive, durch die uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: 'Der Gerechte lebt aus Glauben'. Da fühlte ich, dass ich geradezu neugeboren und durch die geöffneten Pforten in das Paradies selbst eingetreten war. Da erschien mir durchgehend ein anderes Gesicht der ganzen Schrift. Ich durchlief danach die Schrift, soweit ich sie im Gedächtnis hatte, und fand auch in anderen Ausdrücken einen ähnlichen Sinn: Werk Gottes, d.h. durch das Gott in uns wirkt; Kraft Gottes, durch die er uns kräftig macht; Weisheit Gottes, durch die er uns weise macht; Stärke Gottes; Rettung Gottes; Herrlichkeit Gottes.
Und mit welchem Hass ich vorher das Wort 'Gerechtigkeit Gottes' hasste, mit solcher Liebe schätzte ich es nun als allerliebstes Wort. So wurde mir jene Stelle bei Paulus wahrhaft Pforte des Paradieses. «
Gerade zu Beginn des Jubiläumsjahres 2017 und angesichts des klassisch-reformatorischen Predigttextes aus Römer 3, den die Ordnung der Texte turnusgemäß vorsieht, ist es ein notwendiger Stachel im allzu gemütlichen Sitzfleisch des evangelischen Gewohnheitstieres sich daran zu erinnern, dass Albert Schweitzer ursprünglich bereits vor über hundert Jahren die Paulusforschung und die Paulusvereinnahmung der evangelischen Dogmatik über den Haufen warf mit der Erkenntnis: „Die Lehre von der Gerechtigkeit aus Glauben ist … ein Nebenkrater, der sich im Hauptkrater der Erlösungslehre der Mystik des Seins in Christo bildet.“ (A.Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1930, S.220).
20.n.Trin 09.10.2016 Stadtkirche 1.Thessalonicher 4,1-8 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 20.n.Trin. - 9.X.2016
1.Thessalonicher 4, 1-8
Liebe Gemeinde!
Der 20.Sonntag nach Trinitatis ist der Sonntag vom guten Benehmen*.
Das finden wir als Eltern gar nicht verkehrt, dass die Kirche sich einmal um solche Dinge kümmert, die irgendwie in unserm alltäglichen Wurschteln und den Lehrplänen der Schule und den Anstrengungen und Erfordernissen des Vorankommens ein bisschen zu sehr in den Hintergrund geraten. Dass mal laut über den menschlichen Anstand nachgedacht und halbwegs feierlich in der Fibel der Umgangsformen geblättert wird, ist eigentlich immer begrüßenswert ……. und in Zeiten des Pöbelns, der Unflätigkeit, der falsch buchstabierten, aber weltweit herausgetexteten Hass- und Stänkerbotschaften, ist es doch geradezu beruhigend zu sehen, dass die christliche Gemeinde alle die Missstände nicht unkommentiert lässt: Dass so selten jemand aufsteht, wenn ein älterer Mensch in die Bahn steigt; dass die älteren Menschen so unverschämt und ohne Rücksicht auf Verluste auf ihren Rennrädern durch den gehetzten Tag des sportlichen Rentners düsen; dass so viel freche Klappe überall beherrschend wird; dass der gute Geschmack häufig ein Opfer dummer Mode ist und man - zumal im Sommer - viel zu viel über die körperliche Beschaffenheit seiner jugendlichen Mitmenschen erfährt, als dass man ohne ästhetischen Schmerz durch’s Land ziehen könnte; … ach, ja, …und, …und, …und!
Gut, wenn da jemand mal wieder über den Benimm spricht. … Oder Moral. … Oder Ethik. …Ist alles ja wirklich wichtig und kommt zu kurz.
Nur vielleicht ist es ein bisschen übertrieben, das Ganze dann gleich „Heiligung“ zu nennen. Denn eigentlich geht’s uns beim guten Benehmen doch eher um nette Umgangsformen und eine gepflegte Kinderstube, … Sachen, mit denen man Ärger vermeidet und selbst im Leben gut klarkommt. …….. Aber sinnvoll ist es natürlich, das mal zu bedenken, mal zu betonen, dass man einfach viel mehr erwarten darf, wenn man selber auch angenehm auftritt und wirkt. Man hat mehr davon, wenn man sich benimmt. ………… ———
Stimmt nicht!
Jedenfalls nicht, wenn wir hier nicht von der aalglatten, fassadenhaften Kunst der gediegenen Betrüger und wohlerzogenen Lügner reden, die so viele Ehrenmänner und Vorzeigefrauen in Wirklichkeit sind. Namen zu nennen ist dabei überflüssig. Gutes Benehmen, das sich auszahlt und das wir uns, unseren Kindern und der Gesellschaft insgesamt nur darum nahelegen, ist nichts anderes als die üblichen Schmiermittel der Korruption und des Einseifens, mit denen wir das Geschäft unseres Lebens und unseren Marktwert unter den Leuten befördern.
Gutes Benehmen, von dem man für sich mehr hofft oder hat, ist jedenfalls bestimmt nicht das, was christlich „Heiligung“ genannt wird.
Denn diese Grundlektion ist ganz und gar, ja brutal einfach: Das, was die Bibel in Gottes Namen als Verhalten von uns fordert, dient ganz gewiss nicht dazu, dass wir mehr kriegen. Im Gegenteil: Gutes Benehmen nach Gottes Maßstab heißt, weniger zu wollen und zu haben.
Dass das so einfach ist, kann man an der uralten, in Judentum und Christentum völlig gleichen Basis des Benimm-Katechismus, der gemeindlichen Lebensordnung, des Grundgesetzes der Heiligung ablesen: „Was verbietet Gott? – Drei Dinge, die jeweils reines Mehrhabenwollen bedeuten: Gott verbietet Götzendienst, Unzucht und Habgier.“†
Diese drei glasklaren Regeln, die seit Jahrtausenden gelten, sind allerdings zu allen Zeiten die gleiche Zumutung gewesen. Ob sie den Griechen und Römern mit ihrem Göttergewimmel, den Stämmen der Franken, der Germanen, der Normannen, der Araber mit ihrer Vielehe oder dem europäischen Menschenschlag der Neuzeit mit seinem Gewinnstreben vorgehalten wurden und werden: Das Ergebnis bleibt immer das Gleiche … nämlich die instinktive Ablehnung eines Angriffs, der als vernichtend empfunden wird.
Und so hat das Christentum seit der Antike seinen Ruf weg – einen Ruf, der heute noch im allgemeinen kirchenkritischen Vorurteil fortbesteht:
Das Christentum wurde in der Antike als so unduldsam erfahren, dass man es gar nicht mehr als Religion, sondern nur noch als zerstörerischen Atheismus sah. Es wurde im frühen Mittelalter als eine solche Einschränkung der männlichen Triebe und Freiheiten erlebt, dass es seitdem oft genug als reine Frauensache betrachtet wird. Und nach dem Aufkommen des Kapitalismus wirkte das Christentum so geschäftsschädigend, dass man es bloß noch als weltfremde Rechenschwäche oder später als militanten Kommunismus verdächtigte.
Intolerant, sexualfeindlich, fortschrittshemmend: So sieht Heiligung – also die aktive Ablehnung von Götzendienst, Unzucht und Gier – in den Augen vieler bis heute aus. Und darum darf sich allgemeinen Beifalls sicher sein, wer laut erklärt, dass die Kirche sich doch bitte heraushalten solle aus den individuellen Gottesbildern und erst recht den Betten und den Finanzen der Menschheit. …….
Wie dann aber? Ist es denn nun trotzdem gut, wenn wir heute hier über gutes Benehmen reden wollen, oder ist es eher doch ein Übergriff, bei dem nicht bloß Spielregeln für die Kleinen besprochen, sondern die herrlichen Wahlfreiheiten der Erwachsenen bedroht werden?
… Nun, … weiß man’s?
Ist es gut, sich in Frage gestellt zu sehen? Ist es gut, nachdenken zu müssen über die selbstverständlichsten Gewohnheiten und die stolzesten Ansprüche? Ist es gut, ein Urteil zu hören, das der eigenen Meinung zuwiderläuft? Ist es gut, aus dem Trott der Selbstgefälligkeit gebracht zu werden und die Beruhigungsmittel abzusetzen und die Brille geputzt zu kriegen?? ———
Gott will also unsere „Heiligung“.
In diesem biblischen Grundwort könnten für uns einstweilen zwei Buchstaben zu viel sein. Vielleicht verstehen wir zunächst mehr, wenn wir Gottes Wunsch nach unserer „Heilung“ bedenken. Gott will uns heilen von einem Grundschaden, … nämlich dass wir zerrissen sind und gespalten.
Ständig sind wir hin- und hergerissen zwischen so vielen, so verlockenden, verführerischen und verfänglichen „Vielleichts“: Vielleicht wäre es besser, dies oder jenes zu tun, zu denken, zu haben, zu wollen. Vielleicht wäre es lohnender, wenn wir nicht nur eine, sondern zwei, drei, vier Möglichkeiten gleichzeitig verfolgten. Vielleicht könnten wir uns wohler fühlen oder sicherer sein oder mehr erreichen, wenn wir das große Sowohl-als-auch ergreifen würden. Vielleicht ist es morgen zu spät, um noch etwas ganz anderes zu erleben, … vielleicht komme ich zu kurz, wenn ich nicht alles probiere, was die anderen vormachen, … vielleicht fehlt mir ja genau nur das, was mir bisher einfach noch nicht zugänglich war. ……. Vielleicht dies, vielleicht das. Vielleicht so, vielleicht anders. Vielleicht nein, vielleicht ja.
Das reibt auf.
Das macht seelisch wund.
Das spannt auf die Folter.
Das raubt die Ruhe.
Das kostet Nerven.
Das zerstört Ehen und Familien.
Das hindert den Frieden.
Das quält zu Tode und erschwert doch das Sterben. ——
Doch dagegen gibt es Hilfe.
Nicht den Holzhammer der Leugnung, als gäbe es erst gar kein Entweder-Oder. … Natürlich gibt es immer viel, viel mehr als man auf einmal ergreifen oder auch nur nacheinander nutzen und erleben kann.
Doch gerade weil wir immer unter tausend Möglichkeiten leben und vor unzähligen Entscheidungen stehen, ist es eine Hilfe, dass der eine Gott uns den inneren Frieden der Einheit anbietet.
Und das zeichnet die im 1.Thessalonicherbrief enthaltene allererste christliche Predigt vom guten Benehmen aus, dass der Apostel Paulus in seinem ältesten Brief der Gemeinde nicht mit dem Holzhammer der Verdrängung, sondern mit dem linden, freundlichen Rat zur Konzentration kommt: Er behauptet eben nicht, dass es keine Reize und Lockungen außerhalb des ehelichen Lebens und keine Gelegenheiten und Chancen außerhalb des ehrlichen Lebens gäbe. …
Es gibt sie!
Tausendfach.
Unbegrenzt.
Wer das abstreitet oder mit einem schlichten Generalverbot belegt, der hat die Not des Menschen nicht verstanden. Die eigentliche Zerreißprobe entsteht ja daraus, dass wirklich so Vieles angenehm und vielversprechend und vorhanden ist.
Doch Gottes Medizin, die heilige Hilfe angesichts der unbegrenzten Verlegenheiten unseres unbegrenzten Verlangens ist nicht das strikte Versagen, sondern das heilsame Innehalten.
Gott weiß ja, dass wir alles Mögliche wollen. Genau darum aber lässt er eben nicht die gesamte Vielfalt verbieten, sondern ermutigt mitten in der Fülle zu Einem!
Diese seelsorgliche Feinheit und Weisheit kann man bei Paulus wunderbar erkennen.
Er untersagt in sexueller Hinsicht ja nicht einfach den Blick auf die Vielen, sondern er lenkt ihn zurück auf den einen Menschen. Unzucht meiden allein ist eben noch keine Lebenshilfe.
Doch der Rat, jeder Mann solle die eigene Frau in Heiligkeit und Respekt zu gewinnen suchen – ein Rat, der umgekehrt nicht minder gültig ist –, der heilt und hilft tatsächlich in der ständigen Ablenkung und Aufteilung und Zerstückelung unserer Aufmerksamkeit und Zuwendung: Konzentriert Euch!, rät der Apostel. Seid nicht so fahrig und zerfasert, seid nicht so unverbindlich bei der Sache, sondern gebt Euch mit aller Entschiedenheit und gesammelten Bereitschaft der einen Bindung hin. … Liebäugelt nicht, sondern liebt!
Dieser Ruf zur Hinwendung rettet vor der Zerstreuung.
Und der gleiche Ruf, der die Liebe von den tausend Oberflächen auf das eine Wesentliche lenkt – nämlich auf den einen anderen Menschen und nicht das gesamte Menschheitsangebot –, …dieser gleiche Ruf gilt auch im Umgang mit dem nicht geliebten, sondern schlicht gegebenen Mitmenschen, im Umgang also mit „dem Bruder“.
Wer da zu weit geht und im Andern bloß ein Mittel sieht zu „mehr“, … wer hinter dem Menschen nur die vielen Nutz- und Lustmöglichkeiten flirren sieht, die sich aus jeder Begegnung, jedem Austausch, jedem Geschäft, jeder Leistung ergeben könnten … der zerstückelt und zergliedert nicht nur das Gegenüber, das zum Objekt wird, sondern auch sein eigenes Dasein. Denn dem zerrinnt jeder Augenblick des eigenen Lebens doch in unrealistischer Begier, enttäuschten Hoffnungen, frustriertem Ehrgeiz. Wer nicht den tatsächlichen Anderen, sondern immer nur die verpassten Chancen oder erträumten Möglichkeiten vor Augen hat, der löst sich auf: Was an seinen Erfahrungen dabei nicht zu Ärger führt, das führt nämlich zu Schuld.
Daher gilt auch im Miteinander des Alltags, der Nachbarschaft, der Gemeinde und des Geschäftes: Sieh’ und suche nicht „mehr“ im Anderen. Nimm’ ihn so wahr, wie er ist. Denn kein Mensch darf Dir bloß dazu dienen, Dir zu irgendeinem Mehr zu verhelfen, … ist er doch in sich vollkommen und vollendet als Dein Mitmensch, als Dein Bruder. ——
In dieser Mahnung zur Konzentration, zum Absehen vom bloß Möglichen und zum Einsehen des Wirklichen und seiner Gnade, liegt das ganze Geheimnis der biblischen Heiligung.
Sie ist tatsächlich Heilung vom Wahn der unbegrenzt denkbaren „Wäre-schön“s und „Hätte-doch“s und „Wollte-gern“s und „Sollte-nicht“s und „Würde-nur“s und „Könnte-auch“s.
Heiligung als das Einlassen auf das Eine – auf den einzigen Gott und die eine Liebe und das einheitliche Recht – Heiligung als dieses Einlassen auf das Eine heilt die an ihrer Vielfaltssucht, ihrem Vervielfachungsdrang völlig auseinanderbrechende, heillos zusammenhaltlose Welt der Wünsche und Begierden.
Heiligung erlöst vom Zwiespalt und vom Zerreißen. Denn sie befreit von jenem Schwindel, in den gerät, wer sich immer nur nach mehr und noch mehr und mehr und mehr und mehr umsehen muss.
Der Ruf, die vielen Götterbilder und die vielen Menschen und die vielen Güter zugunsten des jeweils Einen auf sich beruhen zu lassen, ist darum die reine Befreiung und Befriedung. Denn wo die Götzen und die Geilheit und die Gier den Menschen nicht mehr zwischen sich aufteilen, weil dieser Mensch Halt an Gott, dem Einen, weil dieser Mensch Freude an der Einheit der Liebe und Genügen am Eigenen gefunden hat: Da ist es gut.
Da hat der Mensch zwar nicht mehr den erträumten Zugriff auf grenzenlos Vieles. Im Gegenteil: Er hat dann weniger, weil er viel weniger als alles Mögliche braucht. Aber dieses Weniger, das ist im Glauben, Lieben und Haben das Eine, das nottut (vgl.Lk10,41).
Und so wird aus dem Getriebenen und Zerriebenen durch die Heiligung wieder ein ganzer Mensch, einer, der genau das hat, liebt und glaubt, was heil und heilsam und heilig ist.
Was also ist gutes Benehmen? – Das Hergeben des zerstörerischen Traums vom vielen Möglichen. Das Genügen an dem wirklichen Einen. Und damit Heilsein, dem nichts fehlt. Denn das ist der Wille Gottes: Eure Heilung. Eure Heiligung.
Amen.
Erntedankfest (Familiengottesdienst) 02.10.2016 Stadtkirche 1.Mose 3,19 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.X.2016 – Erntedank
1.Mose 3,19
Liebe Gemeinde!
In unserer Familie gab es lange einen komischen Vornamen, der von Generation zu Generation weiter vererbt wurde. Am liebsten hätte auch ich meinen Sohn so genannt, aber meine Frau hat’s verhindern können. Und mein Onkel, der als letzter beinahe diesen Namen erhalten hätte, wenn nicht schon seine Mutter dagegen gewesen wäre, empört sich bis heute:
„Wenn ich »Erdmann« hätte heißen sollen, dann hätte man mich auch gleich »Maulwurf« nennen können.“
Aber es gab ihn tatsächlich – den Vornamen „Erdmann“.
Entstanden ist er im Zeitalter des Pietismus, als man seine Kinder gern auf Namen taufte, die gleich eine kleine Predigt waren: „Traugott“, „Christliebe“ oder – noch so ein Marquardt’scher Vorname – „Leberecht“.
Was aber war dann die Botschaft des Namens „Erdmann“?
– Nun, zunächst die Erinnerung an den Namen, dessen Übersetzung er ist. Adam, der Stammvater aller Menschen, trägt im Hebräischen genau diesen Namen: Der Irdische, der Lehmkloß, der Erdmann.
Mit dieser Benennung ist also ein für allemal festgehalten, dass wir uns zwar einbilden mögen oder von Aminosäuren auf Kometen sogar bewiesen haben wollen, wir seien aus Sternenstaub oder sonstwie himmlisch, … doch in Wahrheit sind wir Menschen vollständig aus Erdenstoff und darum auch ganz handfest und im Ernst an die Erde gebunden. Wir können und wir sollen nicht einfach so tun, als ginge uns das alles nichts an, was hier im Dreck und Schlamm und in den Tiefen des Erdreichs oder auf der Erdoberfläche geschieht. Sich buchstäblich aus dem Staub zu machen und nicht mehr nach dem Boden und dem Wetter und den Abläufen der Natur zu fragen, das wird uns unmöglich, wenn wir bedenken, dass wir alle gemeinsame Vorfahren haben, die Erdmann hießen oder Adam.
Wen es nicht kümmert, ob weite Landstriche vertrocknen oder versteinern, wen es nicht kümmert, wenn in Gärten und Ackerfurchen nur noch behandelter Same und giftige Schutzmittel ausgebracht werden, wen es nicht kümmert, dass die Vielfalt der Schöpfung erlischt und der Kreislauf von Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter vom Menschen völlig aus der Bahn gebracht wird, – … wer in allen diesen Dingen nichts erkennt, das ihn betrifft, nun, der sollte vielleicht überlegen, ob er sein Kind „Marsmännchen“, „Luftikus“ oder „Strahlensohn“ nennen möchte. … Und dann sollte er sich überlegen, wie man dem kleinen Marsmännchen, dem kleinen Kind der Unwirklichkeit eines Tages die zweite Lektion seines Namens nahe bringen soll?
Denn der Erdmann-Name, die Verbindung zu Adam und der Erde … darin ist eine zweite Predigt enthalten: Nicht nur der Rückblick, dass wir alle keine Überflieger und Höhenmenschen, sondern Zeit- und Weltgenossen sind, die von Anfang an das Kleid der Erde tragen und ihre Erdverbundenheit als Erbe und Auftrag vorfinden! Nein, neben diesen Rückblick tritt im Erdmann-Namen tatsächlich auch die Ausschau, der Aufblick auf etwas Neues, … nämlich darauf dass der Mensch aus Erde auch immer wieder neu von der Erde leben und zehren darf. Schließlich ist der Matsch und Modder, aus dem Gott uns schuf, auch unsere Nahrungsquelle, unser Lebensunterhalt, unser Jungbrunnen und Kraftspeicher. Immer wieder neu trägt die Erde, in deren Haut wir stecken, aus deren Elementen unser Fleisch und Bein hervorgehen, ja Frucht. Es ist eine blühende, reiche, kräftige Herkunft, an die der Erdensohn erinnert wird, und sie ist Jahr für Jahr, Ernte für Ernte auch seine Zukunft. Und das feiern wir heute, dass die alte Erde, die wir vergessen oder verachten, die uns selten anders als schmutzig erscheint und die wir auslaugen und sinnlos zerstören, dennoch immer wieder ungeahnte, vorwurfslose Geschenke und Gaben auftischt, von denen alle Kinder Adams und Evas ihr Leben fristen und Freude, Energie und Schönheit ernten können und die trotz aller unserer Fortschritte und Verselbständigungen doch die einzig wahre und sichere Grundlage unseres Daseins sind. So verdanken wir der Erde, auf der wir leben und aus der wir bestehen, eben auch dass unser Leben fortbesteht.
– Kann man das aber von den außerirdischen, den ungreifbaren, den virtuellen Größen sagen? Könnte man das einem Kind versprechen und zeigen, das nach Techniken, Träumen oder Theorien heißt, die auf die greifbare Wirklichkeit verzichten wollen?
Nein, uns ernähren und erhalten kann nur die Erde. Es ist darum gut ein Erdmann zu sein.
Und wenn man bedenkt, an welcher Stelle das unseren Vorfahren ursprünglich gesagt wurde, dann umso mehr.
Denn da, wo Adam zum ersten Mal ausdrücklich so angesprochen wird – „Du bist Erde!“ – da hat er vorher zusammen mit Eva schon den größten Fehler der Welt gemacht: Er mochte die Welt nicht so nehmen, wie sie ist. Er war nicht davon zu überzeugen, dass es Grenzen gibt, jenseits derer sich nichts Gutes für ihn zeigt. Und als er darum restlos alles versucht hatte – auch die Ausnahme, die ihm etwas Überirdisches zu versprechen schien –, da hätte es dann eigentlich vorbei sein müssen mit dem Segen und der Geduld und dem Ertrag der Erde. …….
Und tatsächlich sagte Gott ihm damals, dass er von nun an sein Brot im Schweiße seines Angesichts und unter ganz anderen Mühen und Anstrengungen essen werde, bis er selber wieder zur Erde zurückkehren sollte, von der er stammte und zu der er gehörte (1.Mose 3,19).
……. Ist es dann aber nicht doch ein Fluch, eine Strafe, dass wir Kinder der Erde sind und sie uns festhält und zurückverlangt?
Diese Frage an Erntedank zu stellen, heißt sie zu beantworten: Nein! Es ist und bleibt ein Glück, dass wir nicht in den Wolken und nicht im Dunst, dass wir nicht in der Welt des Ungefähren und der reinen Vorstellung wurzeln und schaffen und leben und ernten müssen.
Denn die Erde ist uns treu geblieben. Auch den Menschen, der sie vergisst und vernachlässigt, ernährt sie weiter. Durch Jahrtausende, ja durch alle Zeiten hindurch hat sie immer wieder Korn und Frucht, Nahrung und Genuss für uns alle getragen, die wir uns doch so gerne von ihr lösen und ihre Grenzen überschreiten würden.
Wenn wir heute darum hören und feiern, dass die Pflanzen und die Lebewesen und wir Menschen alle gemeinsam aus dem einen Grundstoff stammen, in dem das Leben sich regt, der das Leben trägt und in den man es wieder legt, … wenn wir also heute betrachten, dass wir von Erde genommen wurden, aus der Erde ernährt werden und zur Erde zurückkehren, dann bedeutet das für uns zweierlei, … zweierlei Gutes:
Einmal, dass wir der Erde treu bleiben müssen, die uns so treu dient und hilft. Sie braucht unsern Schutz und unsre Verantwortung, unsre Schonung und unsre Rücksicht wahrhaftig auch.
Aber zum anderen zeigt uns unsere Erde etwas ganz Wunderbares, … nämlich wie sehr Gott das Leben liebt und wie viel Segen Er dem Leben verleiht. Er hat ja unsere ersten Eltern durch ihre Erdenbindung nicht gestraft, sondern gerettet und hält ihre Nachkommen, hält uns bis heute dadurch am Leben!
Jeder Apfel, jede Wurzel, jedes Blatt und jeder Kern erinnern uns daran, dass in ihnen Gottes Segen, Seine Geduld und Seine Fürsorge alle Seine Enttäuschung und alle Erschöpfung irdischer Kraft überwiegen: Denn immer neu, immer frisch, immer grün, immer verheißungsvoll ist das Geschenk, das die Erde uns Menschen macht, bis heute geblieben. Jede Ernte zeigt uns auch heute wie im Anfang, dass Gott dem Leben und nicht dem Sterben, dass Er der Freude und nicht der Last, dass Er der Fülle und nicht dem Hunger mit Langmut, Treue und Wundern zur Reife und zum Bestehen verhilft!
Dass wir Erde sind und wieder werden, ist also wie alles andere, was die Erde hervorbringt und wiederum empfängt, ein Teil der lebendigen Segensverheißung, die Gott trotz allem und in allem für seine Menschenkinder, für die Erdmänner und -frauen, für die Söhne und Töchter Adams aufrecht hält.
Denn so wie in Garten und Acker jetzt nach dem Erntedankfest das Wieder-zu-Erde-Werden der Pflanzen den Grund für neues Sprießen, Gedeihen und Fruchtbarsein legen wird, so führt auch unsere Rückkehr zur Erde nicht aus dem Leben heraus, sondern nur tiefer und endgültiger hinein.
Schließlich werden wir nämlich zu Erde, die uns irdisch leben ließ, nur damit wir ewig leben dürfen.
Denn das ist die dritte und letzte Predigt des Adam-und-Eva-Namens, des Erde-und-Leben-Namens, den wir tragen: Wir sollen immer schon … und wir werden immer leben!
Das zeigt uns die Ernte, das zeigt uns die Erde.
Das verheißt uns Gott!
Amen
18.n.Trin. 25.09.2016 Stadtkirche Römer 14,17-19 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 18.n.Trin. - 25.IX. 2016
Römer 14,17-19
Liebe Gemeinde!
Mit das Schlimmste an der Welt ist, dass der Friede in ihr so viel Krieg macht.
Denn ausgerechnet die Frage „Mit wem und unter welchen Umständen kann ich friedlich zusammen leben?“ .... – ausgerechnet diese Frage führt ja zu endlosem Hass und zu Aus-brüchen grenzenloser Gewalt.
Da schlagen Nachbarn Nachbarn den Schädel ein, weil sie nach Jahrzehnten des Miteinanders entdecken, dass nebenan anders gebetet, gekocht oder gesprochen wird: Bosnien, Rwanda, Nigeria.
Da fallen Völker in abgründiger Menschenverachtung und rasend geweckter Rache über ein-ander her, obwohl sie die Klaviermusik der jeweils anderen, die gleiche Dichtung, die selben Heiligen und die nämlichen Freiheitskämpfer auf beiden Seiten der Sprachgrenzen verehrt haben: Deutschland und Polen.
Da sind alle gekrönten Häupter und obersten Feldherren eines ganzen Erdteils miteinander verwandt, feiern Kindstaufe und Hochzeiten als wechselseitige Paten und Schwiegereltern und stellen wortwörtlich eine einzige Sippe dar, …doch Gier und Misstrauen führen gerade in der miteinander so verwandten Völkerfamilie Europas zum schrecklichen Gemetzel des 1.Weltkriegs.
Es ist müßig es weiter aufzuzählen, wie das Allen heilige Bekenntnis zu Christus, dem Friedensgruß Gottes, unter den Kirchen des Abendlandes eine gegenseitige Verfolgung bis aufs Blut auslöste, die genauso lange währte wie das irdische Leben Jesu; müßig aufzuzählen, wie die Spannungen innerhalb der Umma – der islamischen Glaubensgemeinschaft – die ganze Welt verunsichern und bedrohen, … wie dort, wo Liebe und Harmonie herrschten, ätzende Wut und Grausamkeit entfesselt werden können, wenn Paare sich trennen, Erbschaften Geschwister spalten, innige Vertrautheit zur Mobbing-Waffe und zum seelischen Folter-instrument wird.
Aus dem Frieden wird der bitterste Krieg – nicht aus Fremdheit oder Feindschaft.
Das muss man mit schwerem Herzen nach dieser schwarzen Woche festhalten, in der Ban Ki-moon, der scheidende UN-Generalsekretär die versammelten Vertreter der Weltgemeinschaft ansprach mit den Worten „Mächtige Schutzherren, die die Kriegsmaschine weiter füttern, haben auch Blut an ihren Händen … und sie sitzen hier im Saal.“: In jenem Saal der vereinten Nationen, vor dem die Skulptur eines verknoteten Revolvers, dessen unbrauchbarer Lauf gen Himmel ragt, uns erinnert, welche innerweltliche Friedenshoffnung heute zur Kulisse eines Saals von Mördern geworden ist. ———
Mit diesem Horizont vor Augen betrachten wir das scheinbar harmlose Wort des Paulus wohl anders, wenn er sagt: Nicht Essen oder Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist sind das Reich Gottes.
Denn das Essen und Trinken, um die es dabei geht, die sind genau der Streitpunkt, der aus dem engen menschlichen Miteinander nur allzu oft entsteht. Essen und Trinken sind Auslöser jenes Drucks, in den gerade Nahestehende sich gegenseitig viel zu oft bringen: Es fängt an bei den Reibungen, die jede Familie – sofern sie noch den Segen und den Nervenkitzel gemeinsamer Mahlzeiten kennt – an ihrem Tisch erlebt, und die Spannung nimmt zu, wenn die Essgewohnheiten und Tischsitten, die häuslichen Bräuche und kulturellen Verschiedenheiten der Generationen, der Gesellschaftsschichten und der Glaubensgemeinschaften aufeinander stoßen. Da wird aus dem allgemeinsten menschlichen Bedürfnis – wir alle müssen uns nun mal ernähren! – … da wird aus diesem allgemeinsten Bedürfnis sofort das Merkmal einer geschmäcklerischen Unterscheidung und unverträglicher Gewohnheitssachen und einer aus Vorurteil und Ekel gespeisten Unverdaulichkeit fremder Vorlieben.
Neben aller Ideologie aber, die die Speisen und Geschmäcker und Lebensweise anderer bitter von sich weist, kommt auch der blanke Futterneid – d.h. die grundsätzliche menschliche Raubtierhaftigkeit – nirgends so zum Tragen, wie wenn es um Lebensmittel und -erhalt geht.
Und genau alle diese Konflikte führten dazu, dass in der ersten christlichen Gemeinde Roms die Gruppen unversöhnlich gegeneinanderstanden, die entweder das biblisch-jüdische Speisegesetz oder aber eine allgemeine Freigabe aller Lebensmittel oder aber eine Verweigerung aller heidnisch geschlachteten Fleischprodukte verkündeten. … Obwohl sie also alle in den Tod Christi hineingetauft wurden und gemeinsam als sein Leib lebten und von seinem Tisch Unsterbliches aßen, konnten unsere ersten Glaubensgeschwister die Tücke des Miteinanders, den Streit, der aus der Nähe entsteht, den Krieg, der auf dem Grund des Friedens wächst, nicht bezähmen.
… Denn das ist wahrhaftig schwer. … Bedeutet es doch, sich nicht auf Frieden als Ergebnis von Handlungen oder Verhandlungen, sondern auf Frieden als die Bedingungslosigkeit des Miteinanders einzulassen!
Friede, der nicht im Essen und Trinken besteht, besteht also gerade im Verzicht auf den eigenen Geschmack und – noch schwerer, wobei die Grenzen aber fließend sind – auch im Verzicht auf das eigene Recht: Nicht, was ich richtig und bekömmlich finde, … nicht, was nach unserer Gewohnheit und Fassungskraft nötig und gut ist, soll dann gelten, sondern der Friede, der höher ist als alle Vernunft (vgl.Phil.4,7) und jedes Vorurteil.
In diesem Frieden, der den Streit der menschlichen Reibung und Spannung so weit überschreitet, ist die Frage eben nicht mehr, wie, wodurch und mit wem wir friedlich leben und das Leben teilen können und wollen, sondern dieser Friede des Reiches Gottes geht allen derartigen Fragen voraus.
Wo Menschen Frieden hart erarbeiten und aushandeln, leider Gottes auch immer wieder erkämpfen und dann gefährden und brechen, da ist immer noch viel von Essen und Trinken: Von der gemütlichen Verträglichkeit des Miteinanders, die in gemeinsamem Feiern und Essen ihren sichtbarsten Ausdruck findet, … aber eben auch von all den Streitmöglichkeiten, die aus nichtigem Grund das Zusammengehören zerreißen und die Gesellschaft, die eben noch sicher und friedlich wirkte, in Zwietracht und Untat stürzen.
Die Gerechtigkeit Gottes aber und der Friede, die Freude seines Heiligen Geistes, die sind ohne solche Störanfälligkeit, ohne alles Misstrauen, ohne die brüchige Oberfläche des menschlichen Friedens. Gottes Friede gilt eben auch den Feinden, seine Gerechtigkeit den Sündern, seine Freude den Betrübten! ————
—— Hier jedoch endet die Sonntagsrede.
Hier endet die Predigt mit ihrem erbaulichen und allgemeingültigen Rechthaben.
Jetzt kommt der Klartext für den Alltag … und der zeigt, wie – Gott selber sei’s geklagt! – auch der unermessliche Friede des Reiches Gottes in dieser irdischen, fehlerhaften und unheilvollen Geschichte der Menschheit teilhat an der furchtbaren Tendenz, dass das Gute das Böse, das Licht die Finsternis, die Ruhe den Sturm weckt.
Der Reich-Gottes-Friede, zu dem wir von Paulus genauso gerufen werden wie die über die christlich zulässige Ernährungsweise verfeindeten ersten Gemeinden, … der Reich-Gottes-Friede hat das Zeug dazu, unendlich viele Reizungen und Irritationen und Angriffe und Zerwürfnisse und scheußliche Konflikte zu wecken. … Und zwar nicht irgendwo, … sondern bei uns. Ja, in uns! … Zumindest dann, wenn mit ihm ernst gemacht wird.
Es ist nämlich erschreckend zu sehen, wie viele Friedensengel und Friedensbotschafter innerhalb des Christentums Prügel bezogen und Maulkörbe erhalten haben, wie vielen Friedensmahnern und Friedensbewegungen Verrücktheit oder Verrat vorgeworfen wurde und wie oft Menschen für die Verheißung des Friedens mit ihrem Leben bezahlten. …….
Durch das Rheinland etwa zieht sich eine Spur christlicher Soldatenheiliger aus Ägypten, die auf die eine oder andere Weise zu Befehls- oder Wehrdienstverweigerern in den römischen Streitkräften wurden und dafür mit dem Martyrium büßten: Zu ihnen zählen der in ganz Deutschland teilweise als Reichspatron verehrte dunkelhäutige St.Mauritius, Cassius und Florentius in Bonn, Gereon in Köln, Viktor in Xanten, aber ebenso der zum Pazifismus bekehrte St.Martin.
Im ritterlich militarisierten Mittelalter traten das gewaltlose Erbe dieser frühchristlichen Bewegung die blutrünstig ausgerotteten Häretiker – Albigenser und Waldenser – an, ehe die franziskanische Wiedergewinnung des Evangeliums ein ganz anderes als das heroische Ideal zu Ehren brachte.
Seit der Reformation waren es dann beinah nur noch die mennonitischen Friedenskirchen, die mitten unter dem Kriegslärm und Waffensegnen und Hurrageschrei in der sogenannten Neuzeit stumm und klar immer wieder die Seligpreisung der Friedensstifter befolgten und teuer bezahlten. Und dann die belächelten Figuren eines grummelig-altersstarren Tolstoi, eines nicht für ganz voll genommenen, hinterwäldlerischen Urwalddoktors und die wenigen Friedenszeugen des letzten albtraumhaften Krieges: Der pietistische Rechtsanwalt Martin Gauger aus Wuppertal, der schlicht fahnenflüchtig wurde, weil er „diesen Krieg nicht fördern“ konnte und nicht wollte, „dass das Meer von Blut und Tränen noch andere Länder überflutete.“* Auf seine Wehrdienstverweigerung hin hatte der lutherische Bischof Meiser ihn schlicht entlassen, und nach seiner Gefangennahme in Holland, wohin er durch den Rhein geflohen war, versuchten die Bischöfe Bayerns und Württembergs, deren Möglichkeiten noch ausgereicht hätten, erst gar nicht, ihn aus der Ulmer Höh, hier in Düsseldorf zu befreien. Stattdessen ließ unsere evangelische Kirche bei ihrem einzigen in Sachen Kriegsdienst konsequenten Juristen zu, dass er vergast wurde.
Und nach dem Krieg?
Der Hass, der Hans-Joachim Iwand galt, der als ehemaliger Leiter des ostpreußischen Predigerseminars den „Frieden mit dem Osten“† suchte, … die wutschäumende Verachtung, die Reinhold Schneider, der Tröster deutscher Leser während des 3.Reiches erntete, als er die Wiederbewaffnung unerbittlich ablehnte**, … die vielen Zerwürfnisse, die der Vietnam-Krieg und die Atomwaffen der Nato und die neuen, nötigen Einsätze der Bundeswehr seitdem auslösten … sie alle beweisen nur: Der Friede Gottes ist keine Sonntagsrede, kein harmloses Sprach- oder Traumbild, sondern ein Stachel, der allergische Aggression im Fleisch und im Geist der Menschheit auslöst. ———
Und nun sind wir dran: „Wer in der Gerechtigkeit und im Frieden und in der Freude des Heiligen Geistes Christus dient, der ist Gott gefällig und den Menschen wert.“
Dieser klare Satz, in dem der Vater, der Sohn und der Heilige Geist uns als die Quelle und der Maßstab jener anderen Trinität des Rechts, des Gewaltverzichts und der geistlichen Ausgeglichenheit gezeigt werden, ist der Auftrag der Gemeinde: „Lasset uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Auferbauung untereinander.“
Wenn wir das ernst nehmen, ….... dann werden wir über so viele Schatten springen müssen und so weite Herzen kriegen und so unvorstellbare Entscheidungen treffen und so einsam und wiederum so gemeinsam sein, so viel Ärger und so viel Segen werden wir erleben, dass uns von nun an bis zum Feierabend, bis zum Anbruch des Reiches selbst nicht langweilig werden wird.
Wenn es nicht um Essen und Trinken – also nicht um Geschmack und Vorlieben und auch nicht um Ekel und Fremdheit – geht, dann werden wir z.B. das, was die großen religiösen Anführer diese Woche wieder in Assisi taten, lernen müssen, … dort, wo neben Papst Franziskus und dem orthodoxen Patriarchen Bartholomaios und dem anglikanischen Erzbischof auch Rabbiner und die muslimischen Gelehrten der angesehenen Al-Azhar-Universität von Kairo, ebenso aber auch buddhistische Vertreter ihren „Durst nach Frieden“ in gemeinsamen Gebeten hören ließen.
Einerlei, wie ungeübt und wie unwillig wir sein mögen, ein solches Gebet zu wagen, dessen Vertrauen in den Gott des Friedens stärker ist, als der Krieg der verschiedenen Glaubensgemeinschaften … es muss sein‡!
… Mag mir das auch nicht schmecken oder leicht eingehen, so steht doch fest, dass es eben wirklich nicht um unsere Rezepte geht, sondern um das biblische Gebot: Suchet den Frieden und jagt ihm nach (vgl.1.Petr3,11)!
Denn wenn wir sehen, wohin die weltlichen Friedensbemühungen führen – wie nur noch die Weißhelme, die die Verletzten bergen oder die Toten, unsere Unterstützung verdienen, und wie unser eigenes Land in Kleinmut und Verfolgungswahn versinkt –… wenn wir das sehen, dann gibt es noch genau zwei Möglichkeiten:
Entweder wir überlassen unsere Zeit und unsere Zukunft jenem Krieg, den zu führen unsere Politik sich aus gutem Grund nicht traut und den unsere Vorurteile und Ängste doch schüren und dessen Brandherde sich unaufhaltsam vervielfachen.
… Dabei wissen wir genau, dass dieser Weltkrieg des Islamismus ein einziges Grauen wird, und wir sehen, dass er mit Mitteln der Vernunft und der Vorsicht dennoch nicht aufgehalten, nicht beherrscht werden kann.
Oder? – Gibt es ein „Oder“? ……. Scheinbar nicht.
In Wahrheit aber doch.
Denn dieser Krieg kommt ja aus dem Verhängnis, dass wir Menschen uns immer wieder fragen „Mit wem und unter welchen Umständen kann ich friedlich zusammen leben?“
Aus diesem Verhängnis des Krieges aber, das so klar vor und um uns steht, weist uns Gott einen Weg: Den für uns unvorstellbaren, von uns instinktiv abgewehrten, ungeheuerlichen, aller Klugheit widersprechenden, der Natur widerstrebenden, der Mehrheit völlig unvermittelbaren Weg, nicht nach dem friedlichen Leben zu fragen … denn das führt nur zu Hass und Ausbrüchen grenzenloser Gewalt.
Nicht danach fragen also. … Sondern es tun!
„Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist. Wer darin Christus dient, der ist Gott gefällig und den Menschen wert. Darum lasset uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Auferbauung untereinander.“
Amen.
* http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/persoenlichkeiten/G/Seiten/MartinGauger.aspx Vgl. zu Gauger außerdem: Hartmut Ludwig, Kriegsdienstverweigerer und „Staatsfeind“ – Der konsequente Weg des Kirchen-Juristen und Widerstandskämpfers Martin Gauger, in: Sie schwammen gegen den Strom -Widersetzlichkeit und Verfolgung rheinischer Protestanten im „Dritten Reich“, hg.v. G.van Norden und K.Schmidt, Köln, o.J. [2006], S.123-126
† Vgl. Hans-Joachim Iwand, Frieden mit dem Osten, Texte 1933-1959, hg.v. G.C.den Hertog u.a., München 1988.
** Zur Reaktion auf Schneiders Ablehnung der Remilitarisierung in den frühen 50er Jahren schreibt ein Biograph: „Man erklärt den Dichter für »geistesumnachtet«, das Westberliner katholische »Petrusblatt« verschreit ihn als Kommunisten und hält sogar seine Exkommunikation für angebracht, Zeitungen und Rundfunkanstalten kündigen ihm die Mitarbeit, und Buchhändler wagen seine Bücher kaum noch auszustellen.“ (Franz Baumer, Reinhold Schneider, [Köpfe des 20.Jahrhunderts], Berlin 1987, S.64).
‡ Wenn man liest, wie in konservativen katholischen Kreisen gegen das Gebetstreffen von Assisi gegeifert wird – „Ich war der Überzeugung, daß das Heil und das ewige Leben für einen wirklich religiösen Mann wichtiger sei als der Frieden, der seine kurze irdische Existenz betrifft“ (http://www.katholisches.info/2016/09/17/assisi-iv-neuauflage-des-umstrittenen-treffens-der-religionen-mit-papst-franziskus/), oder: „Was am 20. September in Assisi geschehen ist, ist der öffentliche Versuch, dem einzigen, wahren und dreieinen Gott von politischer Korrektheit diktierte, menschliche Spielregeln aufzuzwingen. Das erkennbare Ziel scheint ein Allreligionenabkommen, eine Art weltweites, interreligiöses Konkordat, um »Frieden« zu erlangen. Nicht der Mensch hat sein Knie vor Gott zu beugen und Frieden zu erbitten, sondern Gott soll sich einem menschlichen Abkommen beugen, auf dieselbe Stufe mit irgendwelchen Göttern, Gottheiten, Götzen … anderer Religionen.
(http://www.katholisches.info/2016/09/23/welcher-gott-und-welcher-frieden-nachbetrachtungen-zu-assisi-iv/), dann wird erkennbar, dass das gemeinsame Gebet für den Frieden tatsächlich notwendig ist, um dem Hass und dem Unfrieden auch christlicherseits Zeichen, Hoffnung und Verheißung entgegenzusetzen – bspw. die Verheißung aus Lukas 2,14: „Friede auf Erden den Menschen, die guten Willens sind“!
17.n.Trin. 18.09.2016 Stadtkirche Römer 10,9-17 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 17n.Trin. - 18.IX.2016
Römer 10, 9-17
Liebe Gemeinde!
Mit etwa 330 m/s, d.h. mit ungefähr 1200 Stundenkilometern kommt der Glaube bei uns an!
Diese extreme Geschwindigkeit, mit der das Evangelium auf den Menschen trifft, ist kein albernes Gedankenspiel, sondern eine der physikalischen Grundlagen, die das Christentum mit aller Wahrheit und aller Lüge, mit aller Harmonie und allen Schreckereignissen der Welt mehr oder weniger gemeinsam hat: Es geht um die Schallgeschwindigkeit, die den Weg eines jeden Tones ausmacht, die Schallgeschwindigkeit, die jedes Wort und jede Note und jedes Flüstern und jeden Schuss jeweils überträgt und endlich wahrnehmbar macht.
Doch wenn wir heute den Weg des Glaubens, der von Verkündigung zu Verständnis und Bekenntnis führt, nachgehen wollen, dann tun wir das unter schweren Bedingungen, ja schwerem Beschuss. … Nicht dass die Welt jemals ein Trappistenkloster gewesen wäre, in dem reines Schweigen herrscht; doch trotz der Lichtgeschwindigkeit, mit der heute die stumme Flut an virtuellen Daten sich überallhin ergießt, ist doch auch bei den Lärmquellen und Schallwellen keinesfalls Flaute, sondern Dauertosen zu verzeichnen: Wir leben in stetig steigendem Geräuschpegel und sind selbst die Verursacher dieser Überschwemmung. Es dröhnt und schwirrt nur so um uns herum.
Wenn nun aber in einer so lautstarken Welt wie der unseren, mit ihrem maschinellen Krach und ihrem kommunikativen Gekreische tatsächlich im schönen, stillen Meditationsbuch, das wir Bibel nennen, ausdrücklich gesagt wird: Nicht vom tiefversunkenen Lesen, sondern vom lauten Klang des ausgesprochenen Wortes kommt der Glaube …. nun, dann ist das Risiko erkennbar, mit dem wir leben und gegen das die Glaubensverkündigung sich entweder durchsetzen oder an dem sie scheitern muss.
Das Evangelium will und muss hörbar werden – oder aber der Glaube verstummt und verschwindet.
Denn ein lebendiger Glaube ist akustischen Ursprungs.
So muss man jene Aussage wohl übersetzen, die bei Luther zu einer etwas platten Faustregel gemacht wurde, wenn er in seiner Fassung dieses Paulus-Satzes schlicht festlegt: Nun „kommt der Glaube aus der Predigt.“
Das ist reformatorische Trotzrede und eine Kampftheologie gegen die allzu glatte Mechanik, mit der die vollzogene Messe angeblich automatisch das Heil vermittele.
Doch die Sentenz, nach der ausdrücklich und ausschließlich die „Predigt“ der Grund des Glaubens sei, ist nicht nur sprachlich falsch. … Wissen wir doch nur zu gut, was neben dem Glauben noch alles aus der Predigt kommen kann: Langeweile und ein tiefer Schlaf ebenso wie Unfug und Ärger. Predigten können Unheil stiften und glatt lügen, genauso wie sie zuweilen Erkenntnis und Trost und Schönheit und Frieden eröffnen. Und auch dass ein und dieselbe Predigt ziemlich vieles davon sogar gleichzeitig auslösen kann, spricht immer noch nicht dafür, dass eine Predigt von Rechts wegen dafür sorgt, dass ihre Hörenden – Bumms! – sogleich den Glauben am Hals haben.
—— Besser ist’s darum, beim eigentlichen Wortlaut zu bleiben, der besagt, dass nicht die gehaltene Kanzelrede, sondern das gehörte Wort zum Entstehen und zum Wachsen unseres Glaubens führt. Aus dem Hören also geht unsere Rettung, unser Bekenntnis, unser Jesus-Glaube und vor Gott Gerecht-Sein hervor. … Aus dem Hören in einer so lärmenden, abwechslungs- und ablenkungsreichen Welt. —
Wenn das aber so ist, wenn es nicht der Stopftrichter der Predigt ist, die aus der ausgelieferten Gemeinde Mastgänse des Glaubens macht, dann versteht man besser den Einwurf des Apostels, der sich selbst bei seiner Schilderung der Rettung durch die Botschaft der Glaubensboten in die Parade fährt: „Aber nicht alle sind dem Evangelium gehorsam“. …
Genau! … Es gibt keinen geschmierten Automatismus, als reiche es seit Luthers Zeiten, morgens die einstündige Predigt und nachmittags die Katechese abzusitzen oder seit der Erweckung abends noch in die „Stund“ zu gehen, um dadurch auf alle Fälle zu den Geretteten zu zählen!
Denn Hören und Zuhören sind ebenso verschieden oder verbunden wie Horchen und Gehorchen.
Spätestens also wenn man den gelingenden Weg von der Verkündigung zum Verständnis verfolgt, stößt man auf ein Moment, das die klassische evangelische Theologie regelmäßig in Verlegenheit gebracht hat: Das Moment des menschlichen Willens und seiner Freiheit. … Dass man sich entziehen kann, sogar wenn Luther selbst oder John Wesley oder Schleiermacher oder William Booth, der Vater der Heilsarmee oder Jörg Zink, der jüngst verstorbene Magnet der Kirchentage predigen, … dass man dicht machen kann, auch wenn die gewaltigste Verkündigung, das glaubwürdigste Zeugnis, die persönlich treffendste Seel-sorge uns ansprechen …: Das ist eine Erfahrung, die schlechterdings beweist, dass wir die Entstehung des Glaubens dem Geschenk wirklicher Kommunikation und nicht dem Vorgang irgendeiner überirdischen Technik verdanken.
Die liebliche Botschaft, das schöne Evangelium kommt also mit der Schallgeschwindigkeit aller anderer Informationen und Störungen und Überraschungen an unser Ohr gebraust. Und da es prallt auf eine Ohrmuschel, die mehr Durchgangsverkehr dirigieren muss, als über und durch den Brenner drängt. Was nun aber in unsere Gehörgänge, in den Kanal von außen zu unserm Inneren vordringt und was wir herausfiltern, das wird zur ersten Entstehungs- und Überlebensfrage des Glaubens.
Denn ob das Wort der Freudenboten mit den behenden Füßen zum Ziel kommt, ist eben eine Aktion und hat eine Dynamik, die von zwei Seiten abhängen: Bote und Empfänger müssen jeweils ihr Teil dazu beitragen, dass die Nachricht sich nicht im Nirvana verliert, sondern einen Eingang in Gehör, Gehirn, Gedanken und Gehorsam findet. …….
... Und also haben Matthäus, Markus, Lukas und Johannes bloß biblische Altertümer verfasst und hat Paulus nur Staubfänger für die Ablage und das Archiv geschrieben und haben alle Prediger und Zeugen der letzten zweitausend Jahre nur Stimmübungen für den Stummfilm vollzogen, wenn in meinem Ohr und Deinem Ohr etwa Wellensalat oder ein Schmalzpfropfen oder der Tinnitus oder bloß Durchzug den langen Weg des Wortes ins Leere laufen lassen.
Unser Ohr – das wir nur vermeintlich viel weniger als Auge und Mund und die anderen Sinne beherrschen können – unser Ohr wäre demnach das Organ, auf das die Heilsgeschichte und das Wort vom Heil zielen.
Und es wird plötzlich deutlich, warum Jesus seine Verkündigung mit dem Kehrvers durchzogen hat: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ (vgl. Mk4,9 / Matth11,15 ; 13,43 usw.) Noch im letzten Buch der Bibel begegnet uns ja diese Mahnung wiederholt (zuletzt Offb13,9) und nimmt damit das entscheidende Bekenntnis und das entscheidende Gebot der Bibel feierlich auf: „Höre Israel! Sh’ma Jisrael“ (5.Mose6,4).
Die Wahrheit Gottes und sein Wort, … sie sind also in Israel und in der Kirche offenbar geworden unter ganz besonderem Vorzeichen: Sie sind nämlich von Gottes Seite eine einzige Erhörungsbitte. Gott – dessen schöpferisches Wort sonst gebietet und schon steht’s da (vgl.Ps33,9) – Gott hat den Glauben an eben dieses Wort nicht durch die Machtwunder und Kraftakte seiner Allmacht entstehen lassen wollen, sondern hat ihn in menschlicher Weise, in der Ohnmacht der Bittenden, auf den Fußwegen der Wandernden, in der Zerstreutheit der Hörenden und inmitten aller Zweifel der endlich von Herzen Begreifenden und mit offenem Mund Bekennenden unter uns gebracht.
Menschlich, … menschlich muss von Gott gesprochen und auf Ihn gewiesen und von Ihm Zeugnis gegeben und Botschaft ausgerichtet werden.
…Menschlich, menschlich muss das geschehen, vom einem zum anderen, von Mund zu Ohr und Ohr zu Herz und Herz zu Mund.
Weiter – menschlich, menschlich – reist das Wort durch die Zeiten und klopft und bittet und lässt Wunder geschehen, die verborgen sind und krempelt Menschen und manchmal ganze Völker und Künste und Horizonte um.
Menschlich, menschlich. … Nicht mit Gewalt. … Nicht mit Magie. … Nicht ohne Rückschläge. … Nicht ohne Gegenrede, Sturm im Gesicht, Sintflut oder Dürre, die alles wegreißen und vernichten, was vom Glauben da war. … Aber menschlich – zu Fuß, auf guten Wegen der Freudenboten, mit ihren wohltuend unaufdringlichen Schritten auf die Menschheit zu.
Immer kann es übertönt und überboten werden, was Mose und die Propheten und die Evangelisten und Apostel da ausrichten. Es kann auch im Geplärr frommer Lieder und im Gezänk großer Lehrer immer verschluckt und unverständlich gemacht werden.
Aber noch ist diese stille Post immer weiter gegangen, – und weil wir glauben, dass auch uns nicht irgendeine Entstellung, sondern der Atem Gottes, der so viele Menschen erfüllt und bewegt hat, erreiche – , …weil wir glauben, dass es Zeugen und Botschafter waren und sind, die uns ein glaubhaftes, ein wahres Wort ausrichten: Darum sind wir hier.
Wenn wir es so betrachten, dann geht uns – ohne dass wir deshalb größenwahnsinnig oder überheblich werden könnten – … dann geht uns auf, dass wir heute und in diesem Augenblick gewissermaßen das Ende einer unglaublich langen, mühsamen und gefährlichen, gesegneten und einzigartigen Reise darstellen: Gottes Wort, das Wort Christi, die Verkündigung aller Missionare und Apostel und Sendboten der Jahrtausende ist unterwegs gewesen – mit Schallgeschwindigkeit und doch durch Jahrtausende hindurch – um jetzt anzukommen, um trotz aller Rufe und Signale und Mitteilungen, die uns sonst beschäftigen mögen, gehört zu werden.
Bis jetzt ist das Wort in seiner rasanten Bewegung gewesen, durch alle, die es persönlich übernahmen, es weiterzusagen. Bis jetzt war es ein aktives und weltgeschichtlich unvergleichbar dynamisches Geschehen, dass diese Nachricht niemals nur ein Schriftstück, eine alte Urkunde, sondern lebendig vorgetragene, mündlich fortgepflanzte, klingend ausgesprochene Mitteilung geblieben ist, … seit jenem Tag, an dem Gott rief und Adam antwortete und Gott selber später aus dem Menschenmund des Sohnes der geliebten, gefallenen Welt Rede und Antwort stand und dann, seit jenem Morgen als der Mund der Frauen von der Sensation fast stumm, aber schließlich doch aufgetan wurde, dass dieser – inzwischen getötete – Sohn Gottes lebt und Gerechtigkeit und Leben schenkt, wenn man ihn und seine reiche Gnade anruft.
… Bis jetzt ist das aktiv und dynamisch, menschlich und leiblich und innerweltlich mitten im Gebrüll und Geheul, im Flüstern und Lästern und Locken und Lachen der Menschheit weitergegangen. … „Und“, wie es bei den Brüdern Grimm einmal heißt, „der es zuletzt erzählt hat, dem ist der Mund noch warm davon.“
Und jetzt ist sie– wieder einmal – an’s Ziel gekommen: Die Mund-zu-Mund-Rettungsaktion, die durch die ganze Welt ging bis zum18.September 2016.
Wir haben den alten Botenbrief neu gelesen und es dabei laut gesagt und darum auch hören können, dass Jesus der Herr ist und dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat.
Das klingt uns jetzt in den Ohren.
……. Dabei ist es gerade natürlich ziemlich laut: Wahl und Wahlkampf aus Berlin und Gedröhne aus Washington und das Wehklagen Syriens und wiederum die gespenstischen, trügerisch normalen Klänge aus der Todeszone Aleppo in ihrer Waffenruhe, … Betrieb und Lärm unseres Lebens, unserer Familie, unserer Gemeinde, … Openair-Musik aus der Kaiserpfalz … Es ist alles ziemlich laut. ……..
Doch dem Priester Aaron und seinen Nachkommen wurde bei ihrer Salbung an das Ohrläppchen das Blut eines Opferwidders gestrichen (vgl.3.Mose8,23!) und in der katholischen Kirche berührt der Priester den Täuflingen noch heute ebenfalls die Ohren und spricht das Wort Jesu nach: „Hephata! Öffne dich!“ (Mk7,34)
Das Wort Jesu jetzt an uns. … Denn an unserem Ohr ist er jetzt ja. Gibt keine Ruhe. Will nicht umsonst ausgerichtet und weitergesagt worden sein. Bittet uns, zu hören. Der Herr, der Auferweckte.
Bis vor unser Ohr ist er gekommen. …………..
Von dort will er nun weiter. … Weiter, wenn wir ihn einlassen und aufnehmen.
… Dann kommt er wirklich an’s Ziel:
Denn wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet.
Amen.
15.n.Trin., 04.09.2016 Stadtkirche 1-Petrus 5,5c-9 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 15.n.Trin. – 4.IX.2016
1.Petrus 5,5c-9
Liebe Gemeinde!
Was Petrus als Grundregel des christlichen Überlebens festhält, lässt sich auch als Rezept verstehen: Womit kann man dem Anti-Christen die Suppe versalzen? Was - mit Verlaub - „kotzt“ den Feind Christi und der Christen derart „an“, dass sie dadurch für ihn ungenießbar werden? Welche Zutat des Christentums verdirbt dem Teufel seinen Scheunendrescher-Appetit auf die Menschheit?
—Nun, offenbar ist es ein ganz bestimmter Geschmack, der dem Christen-Fresser sauer aufstößt: Der Geschmack der Demut.
……. „Demut“? Komische Pflanze. Eher könnte man die sieben Kräuter einer Frankfurter Grünen Soß aufzählen und fragen, wer uns deren Geschmack wohl beschreiben kann: Kerbel, Borretsch, Pimpinelle – wem sind sie vertraut? …
… Aber jetzt die „Demut“: Wie schmeckt denn die?
– Nach Staub und Sand? … Nein, das ist die Kriecherei, aber nicht die Demut.
– Füllt sie den Mund mit dem Geruch nach saurem Hunger? Nein, das ist der nagende Selbstzweifel, nicht die Demut.
– Schmeckt sie nach Salz und Bitternis? … Nein, so ist die Depression und nicht die Demut. …….
Wer wirklich das seltene Kräutlein der Demut zu pflücken und zu kosten weiß, der trifft zu seinem größten Erstaunen auf einen ganz unerwarteten Geschmack: Die Demut ist süß. Nicht süßlich wie Sirup und Kleister, sondern süß wie reife Frucht. Und diese gesunde Süße, die Herz und Mund wärmt und stillt ohne zu betäuben … die ist Gift für den Feind Gottes!
Denn daran können wir ihn erkennen, von Anfang an, in der ganzen Welt und in unserm eignen Fleisch: Die unersättliche Gier, der allesverschlingende Hunger nach immer stärkerem Genuss und immer schärferes Empfinden und immer fetterer Beute, die Urgeschichte von der Verlockung durch das, was man sich einverleiben können will, … die sind der Teufels-beweis. —
Ja, es „gibt“ ihn wirklich – den Feind –, es „gibt“ ihn, aber man kann ihn nicht festnageln, nicht handhaben, nicht definieren, also begrenzen, weil er es eben so grenzenlos auf Verbreitung und Erweiterung abgesehen hat.
Am Anfang kitzelte er die Lust auf eine einzige Frucht und wie die wohl munden und anschlagen würde? Und seitdem frisst der Böse, frisst die Bosheit sich durch das Menschengeschlecht und dessen Geschichte hindurch ohne jemals einen Zustand der Sättigung zu erreichen. Es genügt nie! Immer mehr könnte noch verbraucht und verdaut werden, immer mehr könnte noch angesaugt und ausprobiert, anprobiert und ausgesaugt werden. Das Böse will Frischfleisch. Bosheit will nicht wiederkäuen – was sie einmal kräftig eingespeichelt hat, das spuckt sie gerne wieder aus –, denn sie weiß, dass ein Biss in jedes neue Opfer genügt, um das eigene Gift zu verbreiten: Wen der Gier-Vampir sich gekrallt hat, der fängt selber an mit der Suche nach Beute. Und schon ist der Mensch – ungeheuer nur, dass unsere Sprache sich dabei so gar nicht versteckt! – schon ist der Mensch nicht mehr der Hüter und Pfleger, als der er gewollt war, sondern das glatte Gegenteil: Der einst die Welt hegen sollte, wird in ihr zum „Verbraucher“.
Dieser Begriff des Verbrauchers aber, auf dem so viele unserer wirtschaftlichen Selbstverständlichkeiten und Notwendigkeiten beruhen, …er kann uns durchaus Gänsehaut erregen, wenn wir im 1.Petrusbrief auf eine der ganz wenigen ausdrücklichen biblischen Beschrei-bungen des Teufels stoßen, als dessen, der brüllend wie ein Löwe umhergeht auf der Suche, wen er verschlinge.
Ist dieser Brunftschrei, dieses Jagdgeheul nicht die Hymne unserer Zeit: „Ich will viel! Ich brauch’ mehr! Gib mir alles!“? ——
Das mag in unsern Ohren wie das alte Lied der christlichen Konsumkritik klingen.
Aber abgesehen von der Erwägung, ob nicht auch alte Lieder ihr Recht und ihren Rang behalten, müssen wir doch noch einmal genauer fragen, weshalb die christliche Kirche seit den Anfängen sich diesen undankbaren Refrain zu eigen gemacht hat, dass sie immerzu warnend und spielverderbend und sinnenfeindlich wirkte mit ihrer Kritik an der Maßlosigkeit des menschlichen Lustgewinnstrebens?
Ist das wirklich nur das Erbe der halb-philosophischen, halb-neurotischen Asketen der Frühzeit, deren Leib- und Weibfeindlichkeit die Botschaft von der Umkehr zum Reich Gottes zu einer freudlosen, selbstquälerischen Sportart büßerischer Hungerkunst entwickelte?
Oder steckt in der uralten, weiter gültigen Feindschaft der Kirche gegen die bloßen „Verbraucher“ nicht ein wunderbares, gärtnerisches, hoffnungsvolles Stück Schöpfungstheologie?
Geht es nicht darum, dass der Boden und die Natur nicht einfach ausgelaugt und die ganze Fülle der irdischen Köstlichkeiten nicht verschwendet, nicht von Wenigen veruntreut werden dürfen?
Geht es also nicht um das beste konservative Anliegen der Welt, … dass nämlich erhalten werden soll, was von Gottes Wunderwerken und auch von seiner Gerechtigkeit uns begegnet? Geht es nicht um den alten Auftrag aus dem Garten Eden, der in den landwirtschaftlichen und ökonomischen Gesetzen der Bibel und den Gleichnissen Jesu immer wieder aufleuchtet, dass der Mensch wirklich nur Treuhänder und Verwalter, niemals aber eigenmächtiger Grundherr oder letzter Selbstzweck auf Erden ist?
Und geht es damit zuletzt nicht einfach um den Schutz des Menschen davor, die ganze Welt vermeintlich zu „gewinnen“ … und dabei doch in Wahrheit alles zu verlieren (vgl.Mk8,36)?! ———
Die Ablehnung des Selbstmords, den „Verbraucher“ begehen, wenn sie keine Pfleger und Heger sind, ist also nicht spielverderberische Moral, sondern eine Haltung des Lebensschutz-es, … vernünftig und nachvollziehbar.
Aber wie alle Vernunft – die ja eigentlich die Welt längst hätte retten und vollkommen machen sollen –, … wie alle Vernunft ist die nüchterne Einsicht in die Dummheit des ständigen Mehr-Wollens, Viel-Habens und Alles-Verbrauchens am Ende ohnmächtig gegen unsere Leidenschaft!
… Ich mag noch so klar durchschauen, wie gefährlich der unwiederbringliche Verlust durch unser Umweltfressen ist: … Wenn aber der Teufel und alle seine Brut röhrend ankündigen, dass sie weiter Appetit verspüren und gefräßig auf Raub aus sind, … dann verliert die Vernunft die Oberhand, … denn eh’ alle anderen sich bedienen und nur ich aus Vernunft verzichte, greif’ ich lieber selber zu.
… Der Teufel brüllt, und jeder will beißen und verschlingen wie er! … Selbst wenn es keinen Grund dafür gibt, selbst wenn es offenkundig blöd und schlimm ist: Der Futterneid, die Erfolgseifersucht, der Konkurrenztrieb dienen dem Teufel bei seiner Steigerungs- und Mehrungswut besinnungslos. … Und von den zusätzlichen Glühbirnen am Fenster, die den Weihnachtsschmuck des Nachbarn verblassen lassen, über die unnützen zusätzlichen Pferdestärken, die unter der Motorhaube schnauben, bis zum unanständigen Krieg der Nationen, die Krims und Krams und Meeresgründe und Mondlandeplätze beanspruchen – … ohne irgendeine Verheißung, … nur um nicht zurückzustehen –, führt der Überappetit der anderen zu unsrer eigenen Unersättlichkeit.
Wie ein brüllender Löwe geht der Teufel um mehr umher. ……. ——
Aber genau da kommt wieder die Demut ins Spiel.
Denn die ist ein starker Widerstand gegen den kranken Reiz der teuflischen Bulimie, gegen den ewigen Heißhunger und das dauernde Würgen der menschlichen Unzufriedenheit.
Demut ist vielleicht sogar der allerstärkste Widerstand, den es gegen die ungeschriebenen Gesetze dieser Welt gibt. Denn wer den süßen Geschmack der Demut kennt, der leidet nicht mehr an jenem schrecklichen Reflex und Phantomschmerz: Den Hals nie und nimmer voll zu kriegen.
Die Demütigen plagt das gigantische Mangelgefühl derer, die immer mehr brauchen, nicht: … Wozu dies immer mehr? Wozu das immer Neueste? Weshalb denn nur das Allerbeste? Wofür die dicksten Zu- und Nachschläge, wofür die Qualen des Nie-Genug, des Kein-Ende-Findens?
In einer Welt, in der Genuss, Verzehr und Verbrauch die Organe des Selbstwertgefühls speisen, … in einer solchen Welt sind die Demütigen die, die einen kleinen Magen besitzen.
Sie haben genug und brauchen nicht mehr. Es quält sie nicht die Sorge, zu kurz zu kommen, etwas nicht auch zu besitzen, nicht mitreden zu können, das nächste große Ding zu verpassen.
Warum auch? Sind sie denn etwa so unerfüllt wie die Giergetriebenen?
Demut ist so gesehen also kein leisetreterisches Selbstverleugnen, sondern genau umgekehrt: Demut ist die innere Stärke derer, die sich selbst nicht wertvoller zu machen versuchen, weil ihnen das Selbstwertgefühl nicht über alles geht. Die Demütigen sind gesund, weil ihnen der übersteigerte Habedrang genauso fremd ist wie die übersteigerte Geltungssucht schnuppe.
Die Demütigen sind also stark, sie sind gesund und sie sind frei: Sich selbst nicht am wichtigsten und auch nicht immer ernst nehmen zu müssen – das ist ihre wunderbare Gelassenheit. Und sie kommt aus der Herz und Mund wärmenden und stillenden Süße, nach der die Demut schmeckt, … nach der sie schmeckt, weil sich in ihr des Lebens reifster Segen verkörpert und auswirkt: „Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch.“
Mehr Frieden, mehr wohltuende Unabhängigkeit von den Plagen und Spaltungen der Welt kann es nicht geben: Wenn wir uns nicht als abhängig von sofortiger Befriedigung erleben, sondern Gegenwart und Zukunft außerhalb der eigenen Reichweite treu und sicher aufgehoben wissen … dann lebt es sich unaufgeregt, ohne Kampf und ohne Bitterkeit!
Sich so unter der gewaltigen Hand Gottes, die nichts verliert und nichts verdirbt, zu fühlen, ist der Inbegriff dessen, wonach so viele streben: Gleichgewicht. Weil nicht alles an ihm hängt, sondern bei Gott liegt, darum verliert der Demütige nicht seine Balance. Er ist und nimmt es leicht, weil die Last der schweren Lebensfragen Gott überlassen bleibt. ——
Und so sind die Demütigen tatsächlich die Glücklichen, die Ausgewogenen, die In-sich-Ruhenden, die der Teufel zum Kotzen findet, weil sie seinem makabren Spiel des Verbrauchens, des Verzehrens und Vernichtens für sich nichts abgewinnen können.
Schade nur, dass ausgerechnet die Demut bei uns in Deutschland einen so verzerrten, so abschätzigen Ruf hat, weil sie mit dem Duckmäusertum, mit dem devoten Obrigkeitsgehorsam verwechselt wird, zu dem Kirchenleute und Bürgertum bei uns so lange neigten.
Dass die von Petrus den Christen in der Welt vorgelebte und ans Herz gelegte Haltung der Demut mit Kuscherei nichts zu tun hat, sondern mit jenem Widerstand, den Gott selber gegen die Hochmütigen übt, das lässt sich viel besser als im landeskirchlichen deutschen Raum ausgerechnet an der Kirchen- und Sektengeschichte Nordamerikas ablesen:
Diese Geschichte des Christentums in Nordamerika ist in all ihren bizarren Ausprägungen nämlich immer auch ein Stück Freiheits- und Unabhängigkeitsgeschichte und also ein immer neues Blatt aus den Chroniken der von ängstlichen Anpassungen und Sorgen und von materiellen Gelüsten befreiten Demütigen. Zu Tausenden und Abertausenden sind die, die sich dem teuflischen Betrieb von Macht- und Prachtentfaltung der Kirchen Europas entziehen wollten, übers Meer geströmt und haben dort unter Entbehrungen – aber oft genug auch in einer geradezu kindlichen Freude an der Freiheit – ihre Kolonien und Kommunen, ihre kleinen Republiken und Pflanzungen der Gerechtigkeit gegründet.
Als Wiedertäufer oder Reich-Gottes-Leute haben sie alles verwirklicht, was auch unsere Reformation verfolgte und verbot: Gütergemeinschaft und strengen Pazifismus, ämterlose Brüderlichkeit, konsequente Naherwartung des wiederkehrenden Herrn und hier und da sogar die Ehelosigkeit und das Verschwinden aller Geschlechterunterschiede, auf dass ihre Sorgenfreiheit und ihre Selbstvergessenheit vollkommen würden.
Da mag manches Krankhafte und viel Vorübergehendes drunter gemischt sein, und doch ist an der Geschichte und Gegenwart dieser “plain people”, wie sich die Frommen gerne nennen – also die „äußerlich schlichten, anspruchslos uneitlen Leute“, die oft eine betont bescheidene, beharrlich-altmodische Tracht tragen –, … manches an ihrer Geschichte und Gegenwart ist zeitlos vorbildlich: Mich jedenfalls tröstet es, dass in jenem Amerika, in dem der dümmste Löwenmähnige seit Langem seinen hässlichen Appetit auf Hass und seine allesverschlingende Gier so ekelhaft öffentlich zur Schau stellt, nicht nur schreckliche konservative Christen diesem niedriggesinnten Schwätzer nachlaufen, sondern dass die ganz und gar Konservativen unter ihnen, die, die den Frieden um jeden Preis erhalten und das uralte Ideal der Demut leben wollen, sich von diesem Missbrauch unseres Glaubens scharf und klar abheben.
Die plain people brauchen keinen Volksverhetzer, der sie zum Futterneid anstachelt.
Ihnen reicht es, dass ihre und alle Sorgen in eigener Sache und um die Not der leidenden Brüder in der Welt auf Gott geworfen sind. Und dass der große Demütige, dessen Geheimnis den Klugen und Mächtigen entzogen ist (vgl.Matth 11,25-30), besser für uns alle sorgen wird, als alle Weisheit, alle Güter und Aggression der Welt es je vermöchten.
Darum – im Vertrauen darauf, dass in der aberwitzigen Lage der Welt heute die stille Kraft der Demütigen trotz allem nicht weniger und ihre Hoffnung nicht sinnloser geworden ist – … darum wollen wir gleich mit den Worten eines Tanzliedes fortfahren, dass die Gruppe der Shaker in ihren Gottesdiensten zu singen und zu befolgen pflegte.
Diese “Shaker”* oder „Schüttler“ trugen ihren Namen nach den lebhaften Bewegungen, mit denen die ansonsten innig friedlichen Brüder und Schwestern sich nach Gott ausstreckten, um seinen Geist zu empfangen. Ihre Geschichte ist bewegend – davon ein andermal –; ihre gegenwärtige Zahl ist auf zwei Brüder und zwei Schwestern zurückgegangen; ihr Handwerk, ihre schlichten, formvollendeten Möbel genießen bei heutigen Designern Kultstatus.
Doch das alles ist nebensächlich gegenüber der ungekünstelten Eindringlichkeit ihrer Worte und des inneren Friedens, den sie ausstrahlen:
Das schlichte Geschenk der Demut besingen diese Worte und wie sie von allem befreit und wie sie heilt.
Weniger kann man kaum sagen und einfältig singen.
Aber mehr kann kein Mensch wünschen, und die Welt kann nichts Besseres erfahren, als diese Gabe, dem Teufel schrecklich zu sein und Gott ganz zu gehören.
Amen.
Das Shaker-Lied „Simple Gifts“†
'Tis the gift to be simple, 'tis the gift to be free
'Tis the gift to come down where we ought to be,
And when we find ourselves in the place just right,
'Twill be in the valley of love and delight.
When true simplicity is gained,
To bow and to bend we shan't be ashamed,
To turn, turn will be our delight,
Till by turning, turning we come 'round right.
Es ist eine Gabe, einfach zu sein,
es ist eine Gabe, frei zu sein.
Es ist eine Gabe, herunter zu kommen,
an den Ort, der für uns bestimmt ist.
Und finden wir uns an diesem rechten Ort,
dann wird’s im Tal der Liebe und Freude sein.
Hat man die wahre Einfachheit erreicht,
dann ist es nicht mehr peinlich,
sich zu beugen und zu knien.
Dann macht es Freude, sich zu drehen, zu drehen
und schließlich stellt das Drehen uns richtig.
(Übersetzung J.M.)
* Um sich über die heutige kleine Gemeinschaft der Shaker und ihr Erbe einen Eindruck aus einer möglichst direkten Perspektive zu verschaffen, lohnt sich – für den der englischen Sprache Kundigen – ein Zugang über die Homepage der letzten verbliebenen Shaker-Gemeinschaft in Sabbathday Lake /Maine: www.maineshakers.com.
† Die berühmte Melodie dieses Liedes hat u.a. der amerikanische Komponist Aaaron Copland (1900-1990) in seinem Ballett „Appalachian Spring“ verwendet. Bekannter noch ist es in der englischsprachigen Welt als die Weise des Kirchenliedes „The Lord of the Dance“ von Sydney Carter, das in deutscher Übersetzung als „Ich tanzte im Himmel, als die Welt begann“ unter der Nr. 103 im Gesangbuchzusatz „Singt Jubilate – Lieder und Gesänge für die Gemeinde“ der Ev.Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz begegnet.
14.n.Trin 28.08.2016 Stadtkirche Römer 8,14-17 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 28.VIII.2016 – 14.n.Trin.
Römer 8,14-17
Liebe Gemeinde!
Lipa Schmeltzer* ist ein gemütlich rundlicher Mann Ende dreißig, dessen erkennbarer Humor nicht hindert, dass man viel Traurigkeit in seinen Augen lesen kann.
Diese Traurigkeit hat wie all unser Kummer noch Züge seiner Kindheit an sich:
Er wuchs in einer völlig abgeschlossenen, ultraorthodoxen Gemeinde westlich von New York auf, wo in den fünfziger Jahren das erste ost-jüdische Stetl in den USA als eigene kommunale Gründung errichtet wurde. Sein Vater war als einziges Kind der ungarischen Großfamilie lebend aus den Vernichtungslagern gekommen und hat den eigenen zwölf Kindern wenig anderes als unnahbare Besorgnis mitgeben können: Sie wussten immer nur, dass er um sie bangt und ihnen strenge Grenzen setzt, um sie zu schützen. Aber das elfte Kind, der kleine Lipa, der sich in der religiösen Schule kaum konzentrieren konnte, gehänselt und gehemmt wurde, … dieser kleine Lipa drohte zu verkümmern an dem sprachlosen Leid, in das die Liebe seines Vaters sich verschloss. Als er mit zwanzig Jahren verheiratet worden war und - um den Lebensunterhalt zu verdienen - für eine Bäckerei und Metzgerei im Lieferwagen durch die streng religiöse Nachbarschaft fuhr, da entdeckte er in der alten Klapperkiste das Radio und hörte erstmals Musik, wie sie die Mehrheit der amerikanischen Teenager Ende der 90er Jahre begeisterte.
… Und Lipa Schmeltzer, der unsichere, weltfremde junge Ehemann und Vater und Lieferwagenfahrer aus dem amerikanischen Ghetto musste mitpfeifen und nachsingen und umdichten, was er da hörte.
Bald wurde er Musikant und Unterhalter in der frommen Welt seiner Herkunft, und obwohl er traditionelle jiddische, hebräische Texte suchte und sich alle Liebeslieder, die er kennen lernte, für ihn wie von selber auf Gott richteten, zog er sich doch wegen der Klangsprache und des Beat seiner Musik den Zorn der rabbinischen Autoritäten zu: Rap, Hip-Hop oder Techno-Einflüsse wollte man auf den großen chassidischen Hochzeitsfesten nicht hören und bunte Musikvideos voll seelischer Energie und schelmischer Lebenslust sollten nicht in die Gemeinde dringen.
Lipa Schmeltzer litt und gab klein bei, weil er merkte, wie sein Vater sich schämte und seine Frau in Verlegenheit gebracht wurde.
Aber es rappte, es pulsierte weiter in ihm, und er verließ die enge Welt, die ihm vertraut war, unternahm als vierfacher Vater ohne anerkannten Schulabschluss die Ochsentour einer Universitätsausbildung und machte sich nebenbei einen weit über das heimische Ghetto hinausreichenden Namen als witzigster, originellster und auch erfolgreichster Musikstar der jüdischen Gemeinschaft: Zu den mitreißenden, oft urkomischen Songs von Lipa Schmeltzer tanzen junge jüdische Leute überall auf der Welt, seine zwischen Klamauk und Ironie funkelnden Videos kann man im Internet jederzeit anschauen, und die das beides nicht dürfen, die sitzen hinterm Steuer ihrer rostigen Lieferwagen, schieben sich den schwarzen Hut hoch in die Stirn und wippen mit den Füßen, schnippen mit den Fingern, schnalzen die Zunge wenn Lipas Hits im Radio laufen. —
Jetzt kommt das „Aber“: Lipa Schmeltzer selber aber hat nicht gebrochen mit seiner Tradition und ihrer Liebe, die keine Worte und ihrer schweren Erinnerung, die keine laute Lebenslust kennt. Er hat dem Glauben Israels nicht den Rücken gekehrt, sondern hat in New York selber eine Synagoge** gebaut, in der heute eine Gemeinde aus Zweiflern und Schmerzensreichen, aus Heimkehrern und Neugierigen, aus Verunsicherten und Querköpfen zusammenkommt. Denn Lipa kann noch immer kein noch so derbes oder hartes oder seichtes Liebeslied hören, ohne dass es von Gott erzählt.
Und sein womöglich größer Hit, wummernd wie ein aufgedrehter Disco-Ohr-wurm hat den eingängigen Refrain: „Hejb oif dane Hentalech zim Tatte im Himmel“*** – also: „Erheb Deine Hände zum Vater im Himmel.“
Und so bringt Lipa Schmeltzer – ohne dass er das weiß – in den Tanzclubs von Brooklyn, Israel und Melbourne entfesselte Abzappler zum Stampfen mit Zitaten aus einem ganz anderen Lied vom „Vater im Himmel“, in dem es heißt: „Erhebet die Hände und danket wie sie …“ (vgl. EG 43,1+4). ……. „Hejbt oif aire Hentalech zim Tatte im Himmel“ ————
Warum ich das so lächerlich ausführlich erzähle?
Weil es ein Gottesbeweis ist.
Denn üblicherweise hören wir ja, dass es unmöglich sei, in einer Welt der zerstörten und zerstörerischen Vaterverhältnisse und Vaterfiguren Gott noch so nennen zu wollen … oder zu sollen.
Die bittere Erfahrung, dass der Urschutz eines Vaters bisweilen nicht weniger als einen Albtraum bedeutet und dass die Vaterverantwortung zu unreifen, freiheitverweigernden Kindern führen kann, hat eine breite Vorsicht ausgelöst: Gott mit dem Begriff für den männlich-menschlich-mächtigen Vormund in Verbindung zu sehen, wird inzwischen als geradezu unanständig patriarchal betrachtet; … und selber das Vatersein als ein Amt auszuüben, gilt vollends als die Entwicklungsstufe des Höhlenmenschen, wenn man über das Biologische hinaus doch einfach auch Alpha-Kumpel, Mutti II oder Versorger, der für die Erziehung professionelle Dienstleister organisiert, sein könnte.
Väter sind mögliche Gefährder und Vaterbeziehungen gelten als Wechselbalg zwischen Abhängigkeit und Diktatur. ——
Das ist natürlich eine Polemik.
……. Aber eine uralte Geschichte ist es obendrein!
Oder meint irgendjemand ernsthaft, in irgendeiner guten alten Zeit seien die Väter harmloser und unangefochtener gewesen?
Musste nicht Abraham schon dramatisch aus dem Schatten seines Vaterhauses ausbrechen, um Licht und Wahrheit erkennen zu können? Ist das nicht überhaupt das erste Wort Gottes an einen wirklich Glaubenden in dieser Welt: „Geh, geh aus deinem Vaterhaus“ (1.Mose12,1)?!
Und ist nicht der vaterlandslose Geselle der biblische Mensch, der Erwählte schlechthin:
§ Mose, den Mutter und Schwester, Ammen und Prinzessinnen retten und der seinen biologischen Vater nicht kennen und seinem pharaonischen Adoptivgroßvater nicht gehorchen konnte?
§ Und zuvor Joseph, das Vatersöhnchen, den die Vaterliebe durch den Bruderzwist fast das Leben kostete?
§ Und dieser törichte Vater mit Vorlieben selbst: Jakob, der auf mütterlichen Rat hin seinen hilflosen Vater betrog und das bisschen Erbteil verlor, das der blinde alte Mann besaß?
§ Und dann dieser blinde alte Mann, Isaak, durch dessen altersschwache Leidenserfahrungen zwischen seinen ungleichen Söhnen immer wieder der schreckliche Traum aus der eigenen Jugend geistern mochte, als sein Vater ihn im Gebirge mit dem blanken Messer die Gewalt des Glaubens fürchten und zugleich als Erlösung lieben lehrte? …
Als Väter haben die Erzväter jedenfalls nicht glücklich werden können.
Und für ihre Kinder und Erben gilt: Vaterwerden ist nicht schwer, Väter-Haben aber sehr!
Nicht jeder pater familias mag von der monströsen Gnadenlosigkeit des tieffrommen preußischen Soldatenkönigs sein, jenes Königs, der seinen Sohn so bewusst demütigte, quälte, entehrte und zum Erben einsetzte, dass dieser selber ein wahrhaft großer König, aber niemals ein Vater werden konnte: Über dieses patriarchale Monster hat der zarte Jochen Klepper einen großen Rettungsroman zu schreiben versucht, in dessen Titel „Der Vater“ anklingt, was Klepper seinerseits in Zeiten eines „Führers“, der sich nicht einmal mehr den Anschein von Väter-lichkeit anmaßte, verteidigen und erhalten wollte ……., aber irgendwo zwischen Friedrich Wilhelm I. und Adolf Hitler muss der seit Abrahams Tagen zweideutige Vatersname ganz zerbrochen und verdunkelt worden sein. …….
Darum eben: Der Schatten der Väter und die Tragik des Patriarchats sind lang und alt.
Und dennoch – oder auch: Deshalb? – ist ebenso alt der energische Trotz und Wagemut, die unzerstörbare Vertrauenskraft, mit der biblische Menschen immer wieder … wissend um schlechte Väter, leidend an väterlichem Machtmissbrauch … zum Himmel, in die Höhe, über der nichts Höheres mehr lauern und lasten kann, geblickt haben und dann sagten: „Vater!“
Seit Abraham und seine Söhne und Erben so viele Vater-Sohn- und Mutter-Tochter- und Eltern-Kinder-Leidenserfahrungen sammelten, dass man wahrhaftig meinen sollte, die Bibel tauge nur als Handbuch des Vatermords, geht dieser große, widerspenstige und dabei doch so befreiende Zug durch die Gemeinde Gottes: Gerade sie, die Kinder überwältigender oder ganz hilfloser – in beidem aber erschreckender – Väter haben alle Furcht und alle Bitterkeit abwerfen können und durften frei, in heiligem, heilendem Vertrauen einen Anderen anrufen:
„Du bist doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater!“ (Jes63,16)
Dieser immer wieder erschütternde Schrei des Volkes in der babylonischen Verlassenheit zeigt, was es heißt, wenn der Geist Gottes uns treibt und zu Dessen Kindern macht:
Es heißt nicht, kindisch oder unmündig und aus Mangel an Selbstvertrauen mit den Augen zu klimpern und „Papa!“ zu greinen, weil man selbst nicht mehr Verantwortung tragen kann und mag.
Sondern es heißt umgekehrt: Alle Erfahrungen menschlichen Versagens, geschichtlicher Schuld und wirklicher Gefahr haben die letzte Freiheit in uns reifen lassen. … Nichts hält einen mehr fest, nichts wiegt einen mehr in falscher Sicherheit, nirgends ein breiter Rücken, hinter dem man bequem Deckung sucht; kein einfaches Kinderspiel mehr angesichts der tödlichen Entwicklungen des Lebens.
… Alle diese Bindungen sind gelöst und der Mensch tritt aus ihnen heraus, … nackt wie Franziskus, als er den perversen Luxus seines Vaters, des Modezaren von Assisi dem verdatterten Alten vor die Füße schmiss und sein Erbe einfach auszog, wegwarf, um splitterfasernackt das wirkliche Leben, das Leben des Jüngers, das Leben der Nachfolge Jesu Christi, des Jungfrauensohnes ohne Menschenvater anzutreten.
Wen der Geist Gottes treibt, der hat und braucht keine anderen Beschützer und Vorbilder, keine Vormünder und Erziehungsberechtigten mehr. Wen der Geist Gottes treibt, der kennt das nicht mehr, was die Antike so hochschätzte: „Pietät“ im Sinne von letzter Ehrfurcht vor Autorität und Ahnen. Wen der Geist Gottes treibt, der hofft auf nichts Überliefertes, Verbürgtes und Naheliegendes mehr, weil er dessen Brüchigkeit und Betrug längst am eigenen Leib erlebt und -litten hat. Wen der Geist Gottes treibt, so dass er Abraham und Luther und den eigenen Vater und die eigene Mutter nicht mehr als Hort und Garant, nicht mehr als Maßstab und Instanz erfährt, … wen der Geist Gottes treibt, der tritt in die letzte Freiheit: Die Freiheit aus allen sonstigen Begründungs-, Abhängigkeits- und Gehorsamsverhältnissen heraus in die einzige, letzte und größte Hoffnung zu treten: Dass alles, was war, verloren und verschmerzt werden kann, weil wir nicht von der Herkunft, sondern vom Ziel gehalten werden.
Wer so frei ist, dass er das durch Gottes Geist weiß – wir leben nicht von dem, was immer schon hinter uns, sondern von dem, was erst vor uns liegt – … wer so frei ist, dass er das weiß, der erkennt den Vater! Und der darf ihn so nennen.
Wer Gott auf diese Weise „Vater“ nennt, der ist nicht einer bestimmten Herkunft verhaftet, sondern der ist ein Kind des Zukünftigen, ein Sohn, eine Tochter des kommen-den Reiches. Denn er ist von allem frei – vor allem von aller Angst – und kann allem begegnen, weil er den Vater, die Quelle der Liebe und des Lebens ja vor sich sieht!
Diese beiden allesentscheidenden Umstände dürfen wir nie vergessen, wenn die „Abba“-Anrede heilig und wichtig bleiben soll.
Sie ist eben keine niedliche, harmlose babyhafte Sache.
Allzu oft wird ja betont, wie sonder- und wie wunderbar Jesu Gebrauch dieser „Abba“-Anrede sei in dem selben Ton, in dem man von einem lallenden Säugling entzückt erklärt: „Er hat »Papi« gesagt!“
– Aber es handelt sich dabei um kein trivial-vertrauliches Kindergeplapper, sondern es ist der Gethsemane-Ruf (vgl. Mk14,36) , das Gebet letzter, gereifter Freiheit, die unter Schweiß und Tränen endlich sogar die Angst hinter sich lässt und über alles hinausgeht, alles verlässt, alles wagt, indem sie zu Gott und seiner Zukunft „Vater“ sagt.
Und gerade darin ist sie selber Zukunft und Freiheit und nicht autoritäre oder infantile Rückbindung.
Diese Anrede unendlichen Vertrauens, dass wir Gott „Vater“ nennen dürfen, ist also schon unser Erbe, sie ist unser vorweg in Anspruch genommener Anteil an der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. ———
Das ist das Wunderbarste am Glauben des Volkes Israel und der durch Jesus Christus hinzuberufenen Geschwisterschaft der Kirche.
Und dieses Wunder kann man nicht nur an dem Mann sehen, der in Gethsemane für uns alle den Weg der letzten Freiheit, den Weg durch den Tod in die herrliche Zukunft, die wir mit ihm erben dürfen, ging. Da, an ihm – Jesus Christus – … da sieht man unsere Kindschaft und Gottes Vaterliebe vor allem und wie nie und nimmer sonst!
Aber wem das einmal vor Augen steht, der erkennt sie an vielen Orten und in vielen Gesichtern und Geschichten der Kinder Gottes immer wieder: Die Freiheit von aller Angst und das Vertrauen in den Vater, der über uns trotz allem Leid seine Arme ausbreitet und uns zu sich zieht.
… Warum also nicht auch an dem pummeligen Sänger, Lipa Schmeltzer, der sich von keiner Traurigkeit und keinem Schweigen die Zuversicht hat nehmen lassen, dass alle – die Frommen und die Fragenden, die Erben der alten Tradition genau wie die Freidenkenden – nur eins wirklich tun sollen, um Gott und das Leben zu finden:
„Hejb oif dane Hentalech zim Tatte im Himmel“.
Erheb Deine Hände zum Vater im Himmel!
Amen.
* Der religiöse Sänger und Entertainer Lipa Schmeltzer ist mit verschiedensten Videos auf der ganz säkularen You-tube-site vertreten. Wer ihn von seiner anspruchsvollen und auch für „Outsider“ am ehesten zugänglichen Seite kennenlernen will, kann das sehr geglückte Video „The Reveal“ auswählen, das das ausgelassene, karnevalistische Purimfest in gelungener Chaplin-Optik feiert. Von berührender Kraft sind auch die beiden Videos, in denen Schmeltzer mit The Holocaust Survivor Band zusammen musiziert – also mit Überlebenden der deutschen Vernichtungslager –, nämlich „Belz“ und „Shain Vi Di Levone“. In die bunte (religiöse und säkulare) Gesellschaft des heutigen Israel entführt sein Video „Mizrach“. Eine besondere, „zeitgemäße“ Variante der chassidischen Frömmigkeit zeigt das Video „Ben Fayga“ (gemeinsam mit Matt Dubb), das den bis heute wie einen Lebenden verehrten Rabbi Nachman von Bratzlaw (1772-1810), den Sohn der Feyge feiert. Dessen Anhänger haben eine ekstatische und anarchische Form des öffentlichen Kultus entwickelt, die besonders in Israel von frenetischen tanzenden Flash-mobs mit sehr zeitgenössischer Techno-Musik ausgelebt wird.
** The Airmont Shul
*** Trotz der schlechten Qualität muss man diesen Song, bzw. dieses Video bei Interesse unbedingt in dieser You-Tube-Fassung ansehen: „Oorah‘s Shmorg: Lipa’s Hentelach Around the World“. So ähnlich war wohl Pfingsten.
Bleibt anzumerken, dass es auffällt, wie in diesem jiddischen Lied nicht der hebräische Begriff, sondern das umgangssprachliche, aus dem Slawischen stammende Wort „Tatte“ für „Vater" gebraucht wird: Diese Anrede entzieht sich eben aller liturgischen Feierlichkeit und spricht die jeweilige Sprache des Herzens.
13.n.Trin. 21.08.2016 Stadt- und Jonakirche Jesaja 25,6-8 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 13.n.Trin. - 21.VIII.2016
Jesaja 25,6-8
Liebe Gemeinde!
… Werden wir oder werden wir nicht?
… Was denn? – Na: Essen! – Wann denn? – Na: Dann! Einst! An jenem Tag! ……. ——
……. Peinliche Frage. Jedenfalls für uns.
Das ist nun doch zu naiv, zu grob-materialistisch. Eine so stoffliche, stoffwechselhafte Frage fällt eindeutig außerhalb des theologischen Horizonts, … gibt uns außer Unbehagen in geistlicher Hinsicht nichts zu denken, nichts zu hoffen, nichts zu glauben.
– Was ja gewiss stimmt, … auch leiblich! Schließlich müssen wir uns meistens vorsehen, dass alles, was wir essen, uns nicht zu sehr zu Leibe rückt. Spirituell können wir uns dafür aber wenigstens ganz auf Höheres konzentrieren und würden nach zwei Küchenzettel-Sonntagen vielleicht auch bald mal wieder gern zum Eigentlichen der Bibel und des Glaubens kommen.
Doch: Pustekuchen! …Was ja auch schon wieder ein Ausdruck für echte Hungerkünstler und -leider ist: Ein Gebäck aus Atem, ein Leckerbissen aus Luft … - das ist so traurig und hoff-nungslos appetitanregend, wie wir es gar nicht mehr nachfühlen können: „Pustekuchen“…
Womit wir bei einer tatsächlichen Hürde, einer Sperre zwischen uns und dem angekommen sind, was Gott der Menschheit verheißt:
„Ihr sollt satt werden“ (Lk6,21) – so könnte man ja das ganze Evangelium zusammenfassen.
„Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden; und die nach dem HERRN fragen, werden ihn preisen; euer Herz soll ewiglich leben.“ (Ps22,27) – Diese Worte aus dem prophetischen Leidenspsalm Jesu fassen doch in unglaublicher Dichte die Dinge zusammen, denen wir gerade nachdenken: Die Sicherheit der Nahrung, das Ziel des theologischen Fragens und Forschens und die Verheißung ewigen Lebens! Offensichtlich kann man sie nicht auseinanderreißen, sondern muss sie verbinden und in ihrem Zusammenhang begreifen, wenn man dem lebendigen Gott, der Fleisch und Brot wird, treu sein will. … Wenn wir aber die Frage nach der Vollendung von Gottes Reich und dem menschlichen Grundbedürfnis nach Speise nicht als drängend und heilig begreifen, dann werden wir eben nicht daran teilnehmen – nicht hier und heute, nicht in der Zukunft. —
Diese Hürde, diese Sperre, dass wir keinen nach dem Reich Gottes knurrenden Magen, keinen Speichelreflex mehr haben, wenn wir vom Himmelreich hören, könnte tatsächlich verhindern, dass wir einst etwas davon mit- und abbekommen, … weil wir das sind, was meine österreichische Nichte als wenig schmeichelhafte Bezeichnung der Verwöhnten unter ihren Klassenkameraden in unseren Wortschatz eingeführt hat: „Dös san d’ G’stopften!“
– Trifft’s genau: Wir sind genudelt und gestopft mit so vielem, dass wir das Beste gar nicht mehr begehren können. Es ist einfach kein Platz in unseren vollgetrichterten, überquellenden äußeren und inneren Lebensbereichen, um noch einen wirklichen Heißhunger auf Gott, auf Gerechtigkeit, auf bleibendes Leben aufkommen zu lassen.
… Es ist einfach kein Platz: Aber zum Glück gibt es da noch das Eine, das Medizin und Diät zwar nur bedingt als Ratgeber empfehlen, aber das man trotzdem nicht immer verachten soll: Es gibt ja noch den ungezügelten Appetit. Und wer weiß? – Am Ende rettet uns nicht unsere Not, sondern unsere Neugier. …
Könnte es also sein, dass es auch für die Pappsatten einen Geschmack gibt, den sie noch nicht kennen, der sie aber verlocken und begeistern würde, wenn sie ihn nur einmal wirklich erlebten? Ein Geschmack, von dem sogar wir dekadenten Übersättigten nicht genug bekämen, wenn wir ihn je erführen?!
— Gibt’s!
Nur muss jetzt einmal noch – ganz unzart und geschmacklos – in die bisherigen Kochtöpfe geguckt und gespuckt werden. Denn darin blubbert und brutzelt bekanntlich der Tod, seit der Mensch Fleisch schlachten darf; … und greulicher noch außerhalb Israels, wo – jedenfalls bis in die jüngste Vergangenheit – bei uns die ungebrochene Vorliebe gehegt wurde, nicht nur Geschlachtetes, sondern dazu auch noch unbedingt Gemolkenes zu genießen.
… Friede den verstreuten Gebeinen meiner und aller ostpreußischer und pommerscher Vorfahren! Aber was sie mir da für ein geschmackliches Erbteil hinterlassen haben, weil ihnen das Braten in Öl armselig schien und neben der Butter allemal noch Schmand und Sahne Fleisch für sie überhaupt erst genießbar machten: … Völlig unbiblisch ist dieser, mein Geschmack jedenfalls! Juden schaudert es nämlich bis heute, wenn sie den Anfang und das Ende, die lebenspendende Milch für die Neugeborenen und das blutige Fleisch, aus dem das Leben gerade entweicht, so auf einmal, so vermischt und durcheinander vor sich sehen.
Und auch wenn uns davor keinesfalls ekelt, auch wenn wir das für köstlich bekömmlich halten: Unsere Küche, in der Leben und Tod so unterschiedslos vermengt werden, ist ja nur ein Zeichen dafür, dass wir gar keine Ahnung davon haben, wie Essen ohne Schuld, wie Frucht der Gerechtigkeit wirklich schmecken würde. Wir Heutigen können uns tatsächlich einfach gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn alles, was wir zum Leben brauchen und bekommen, gut wäre, … ohne dass daran chemisches oder moralisches Gift haftet:
... Wenn kein Bissen, der uns sättigt, vom Hunger anderer verdorben, wenn kein Genuss, den wir verspüren, verbittert wäre durch die Entbehrung eines anderen Menschen, … dann würde alles, was wir zum Munde führen und woraus wir Kraft ziehen, das reine, unverfälschte Vergnügen nicht nur, …sondern es würde als Essen und beim Essen zum unverfälschten, reinen Lob Gottes, des reichen, guten Schöpfers, der „alles sättigt, was da lebet, mit Wohlgefallen“ (Ps145,16). Ist es doch Gottes Ehre – wie bei jeder guten Köchin, bei jedem wohlwollenden Padrone –, dass alle Seine Kostgänger satt und zufrieden werden.
Solange also noch ein Mensch hungert, solange unterernährte Kinder und andere Opfer des Mangels aus Ungerechtigkeit auf dieser Erde leben und sterben, solange wird alles, was auf unsern Tellern liegt und sorglos von uns verdaut wird, nicht das sein, was es ursprünglich war: Nie wird es „sehr gut“ sein und tatsächlich darum auch nie „sehr gut“ schmecken, bis Essen endlich wieder Leben und nicht gleichzeitig Tod bedeutet.
Bis Weizen kein Spekulationsobjekt an den Kapitalmärkten und Wegwerfen kein Lebensstil ganzer Kontinente mehr ist, werden auch Äpfel und Honig und Milch nie so rein, nie so herrlich, nie so gut sein, wie sie einst geschaffen waren. … Das mögen uns Zunge und Gaumen zwar nicht anzeigen … und doch ist es uns verheißen, dass erst mit dem Ende aller Leiden auch alle Freuden vollkommen sein werden. Erst mit dem Ende des Hungers wird es Erdbeeren und Trauben geben, die paradiesisch sind; erst wenn der Tod keine Macht mehr hat, wird es wieder Lebensmittel geben, die himmlisch schmecken. ——
Das ist der Grund dafür, dass in der Bibel das Essen eine solche Bedeutung hat.
Nicht weil sie ein Handbuch für Schlemmer wäre, sondern weil sie alles Gute, alles Gesunde und Genießbare als Erinnerungen an den buchstäblichen Heilswillen des Schöpfers betrachtet und natürlich auch als Verheißungen – oft genug sagen wir: als „Vorgeschmack“ – des kommenden Heils und Rechts und Segens im Reich Gottes. ——
„Denn sie sollen satt werden“ – diese Seligpreisung für alle, die noch den Hunger nach Gerechtigkeit in sich spüren (Matth5,6) – ist das Ziel des geschichtlichen Heilsplans Gottes.
Im Übrigen ist es auch das Ziel jenes Leidenspsalms Jesu, den er mit dem furchtbaren Ruf des Verdurstenden, Verschmachtenden im Sterben auf den Lippen hatte. Am Ende dieses Psalmes begegnet nämlich ein Satz, den die neueren Übersetzungen völlig umgehen und umdeuten*. Luther aber hat ihn wörtlich wiedergegeben als die Prophezeiung (Ps 22,29f+32):
„Der HERR hat ein Reich / Vnd er herrschet vnter den Heiden.
Alle Fetten auff Erden werden essen und anbeten / Fur jm werden knie beugen / alle die im Staube ligen / Vnd die so koemerlich leben. […]
Sie werden komen vnd seine Gerechtigkeit predigen / Dem Volck das geborn wird. Das Ers thut.“
Dieses Ziel – Gottes kommende Gerechtigkeit, durch die Mächtige und Ohnmächtige, die einst Gewaltigen und die einstigen Opfer in Essen und Anbetung verbunden werden, verbunden im gemeinsamen gottesdienstlichen Mahl –, dieses Ziel also hatte Jesus, der Psalmbeter bei seinem Tod vor Augen! Dem hungerte und dürstete er entgegen!
Und damit kommen wir zum Eigentlichen der Bibel: Dass sie nicht nur eine Schrift ist, die gegen alle Siegerliteratur der Welt im Namen der Armen und Notleidenden verfasst wurde; sie ist nicht nur eine Flugblattsammlung der großen Hungerleider der Welt, sondern sie ist das Wort eines hungrigen Gottes – unseres Gottes, der sich verzehrt nach dem Recht der Armen und der Rechtfertigung der Sünder und also nach dem Festmahl der Darbenden und dem Leben der Toten. Gott ist der große Hungerleider, der erst zufrieden sein wird, wenn alle seine Kinder es sein können!
Und darum lohnt es sich am Ende der Beschäftigung mit dem biblischen Speiseplan, dem Hunger des lebendigen Gottes nachzudenken, dem Schmacht und Verlangen Dessen, Den in Wahrheit „hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit“ (Matth5,6).
Und wen sehen wir da?
Christus in seinem ganzen Geheimnis: Ist er doch der menschgewordene Hunger Gottes, … ja, der zum nackten Hunger gewordene Gott.
Das hat schon seine Mutter gesungen, als sie ihn empfing. Dass der Sohn der reinen Magd auch das Kind des reinen Hungers sein würde, das empfand sie leiblich, und jubelte als sein armes, klappriges, entbehrungsreiches Dasein gerade begann, doch schon von der Zukunft (Lk1,52f):
„Der Herr stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“
Welch ein Bettler er aber werden sollte, mag Maria vielleicht nicht geahnt haben – sogar als sie ihn in einen leeren Futtertrog bettete, wird es ihr hoffentlich noch verborgen gewesen sein –, doch der Weg führte von Entbehrung zu Entbehrung, immer tiefer in die Not: Selbst um einen bloßen Schluck Wasser musste er die Samariterin bitten (vgl.Joh4,7); und wenn es galt, den Hunger von Tausenden zu lindern, dann konnte ihm nur ein Kind mit seinem kleinen Vorrat helfen (vgl.Joh6,4), da weder er, noch seine Begleiter auch nur einen Krümel hatten, … aßen sie sonst offenbar doch rohes, ungemahlenes Korn, eben vom Halm gestreift (vgl.Matth 12,1).
So unterernährt ist der gewesen, der die Welt erlösen sollte!
Und als er sterben musste, kurz vor jener Henkersmahlzeit, bei der er noch den letzten Bissen gemeinsam mit seinem Verräter in die gleiche Schüssel tauchte (vgl.Mk14,20), da brach das viele Fasten und Entbehren endlich einmal aus ihm heraus (Lk22,15f): „Mich hat herzlich verlangt, dies Passalamm mit euch zu essen, ehe denn ich leide. Denn ich sage euch, dass ich es nicht mehr essen werde, bis es erfüllt wird im Reich Gottes.“
Selbst der Lanzenstich aber, mit dem am Kreuz sein Tod festgestellt wurde, zeigt uns noch einmal den ihn durchbohrenden Hunger, denn das Wasser, das dadurch aus seiner Seite floss (vgl.Joh19,34), erinnert nicht zufällig an die Ödeme der Mangelernährung. …….
Und dann …, als alles Irdische, alles Schwere und Stoffliche und grausige Verwesliche vorüber war: Was war dann? Da steht er – aus dem Reich des Todes triumphierend ausgebrochen! – und ist nicht vergeistigt und ist nicht entstofflicht, … sondern ruft über den See: „Kinder, habt ihr nichts zu essen?“ (Joh21,5) und befiehlt ihnen ungeduldig „Kommt und haltet das Mahl“ (21,12) und wird von den Seinen erkannt, als er ihnen mit eigener Hand das kostbare Brot – so unnachahmlich wie nur einer, der den Hunger kennt, das kann – bricht und reicht (vgl.Lk24,30f).
So hungrig hat die Überwindung des Todes, so hungrig hat der Durchbruch zum Reich des Lebens und der Gerechtigkeit ihn also gemacht, dass sein österlicher Appetit auf‘s Brotbrechen und die Mahlgemeinschaft mit den Seinen so unersättlich ist! ———
Das mag nicht passen zu unseren vornehm spirituellen, fleischlosen, entmaterialisierten Ideen von Reich Gottes, neuem Leben und Ewigkeit.
Doch wie in der Niedrigkeit des alten, so auch in der Herrlichkeit des neuen Lebens bleibt Jesus der, als den seine Zeitgenossen ihn verspotteten, weil er den Hungrigen und Ausgeschlossenen zu nahe kam mit seiner bedenkenlosen Teilnahme an ihren Einladungen zu Tisch (Lk7,34): „Er ist gekommen, isst und trinkt und ihr sagt: Siehe, dieser Mensch ist ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Sünder und Zöllner!“…….
Doch genau das ist die Decke, mit der alle Heiden zugedeckt sind: Dass wir das Geistige und Göttliche als das Wesenlose und rein Gedankliche uns vorstellen.
Aber diese Ignoranz, die sich nur der Überfluss leisten kann, – diese Vorstellung, das Leibliche und Fühlbare, das was man riechen und tasten, halten und kosten kann, sei eine niedere Stufe und erst das Ungreifbare sei der Wahrheit näher –, … diese Verachtung der Bedürftigen, diese Verleugnung echter Hilfe, dieses Vergessen des Hungers: Das ist nicht Gottes Spiel und auch nicht Gottes Ziel.
Schmecken und sehen, wie freundlich Er ist (vgl.Ps.35,9): Das ist Sein Wille und Sein Weg, denn Er gibt Speise denen, die Ihn fürchten; Er gedenkt ewig Seines Bundes (Ps.111,5).
Seine Verheißung ist darum auch nicht die Substanzlosigkeit, die wir sonst so materialistischen Menschen von heute Ihm noch allenfalls zubilligen. Sondern Er ruft zu dem wirklichen Fest, zu dem großen Abendmahl, zu der Hochzeitsfeier, von der Jesus wieder und wieder erzählt hat, um uns den Mund danach wässrig zu machen.
Er ruft zum Schlachtfest in der neuen Wirklichkeit, in der es Fett und Mark und Wein geben wird ohne Tod und Schlachtung und die Fäulnis der Hefe.
Er bereitet vor uns einen Tisch (vgl.Ps23)! Gott selber, der durch die ganze Geschichte der Welt hindurch gehungert hat nach diesem Freudenmahl, wird alle Tränen abwischen und sich endlich mit uns an dem weiden und laben können (vgl.Jes25,6-8 + Offenb7,16f!), was so gut war und dann wieder so gut sein wird.
Selig, die zu diesem Mahl berufen sind (vgl.Offenb19,9)!
Selig, der das Brot isst im Reich Gottes (Lk14,15)!
Wohl dem, der darauf Appetit hat!
Amen.
* Besonders ärgerlich die ansonsten zuverlässige (Neue) Zürcher Bibel von 2007, die zu diesem Vers ohne weitere Angabe von Gründen folgende Fußnote setzt: „Der Massoretische (d.i. der überlieferte hebräische – [Anm.: J.M.]) Text wurde korrigiert; er lautet übersetzt: »30 Es assen und warfen sich nieder alle Mächtigen (wörtlich: Fetten) der Erde, vor ihm beugen sich alle, die in den Staub sinken [….]« Diese offenkundige doppelte Verlegenheit vor dem Essen als solchem und erst recht vor der nur in Klammer überhaupt erträglichen Drastik der Sprache – obwohl für beides der Befund eindeutig ist – mutet im 21.Jahrhundert befremdlich an.
12.n.Trin. 14.08.2016 Stadt- und Jonakirche 3.Mose 24,5-9 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 12.n.Trin. - 14.VIII.2016
Predigtreihe: Reine Bibel Speise - Zur biblischen Nahrung ("Das tägliche Brot")
3.Mose 24,5 – 9
Liebe Gemeinde!
Was ist Brot? – Heimat.
… Das weiß jeder Deutsche, der länger im Ausland gelebt hat: Auch wer allen nationalen Dünkel entbehren kann, beginnt sich bei Weiß- und bei Weichbrot nach dem zu verzehren, was daheim der Bäcker backt. Und wenn man in der Ferne vom Roggen, vom Sauerteig, vom Schwarzbrot zu schwärmen anfängt, dann merkt man, dass der Geruch und der Geschmack des Alleralltäglichsten köstlicher sind als fast alles andere.
… Zwar glaubte man nach dem Krieg eine Zeitlang sogar auf den Dörfern, nun müsse alles, was in Folie schön verschweißt und acht Tage lang schaumstoffnachgiebig ist, den reinen Fortschritt bedeuten. Aber schon in meine Kindheit fiel in Hessen die Rückbesinnung auf die vernachlässigten gemeinschaftlichen Backhäuser, und tatsächlich trugen die Frauen wieder auf dem Kopf die großen Bretter mit den Laiben aus Teig von allen Seiten ins alte „Backes“, und dann zog ein Duft durch alle Straßen und in jedes Haus und um die Kirche, … ein Duft, der fromm machte, wenn das Dorf und sein Brot so zum Himmel aufstiegen.
Und wenn dann die alten Bäuerinnen – ich habe es wirklich gesehen! – die unerklärliche alte Abenteuerkunst des Brotschneidens vor der Brust, … auf die Brust hin anwandten, … dann konnte man merken, dass Brot nicht nur Heimat und Himmel ist, sondern auch ganz nah an der Muttermilch und nur um Messers Schneide vom Herzblut entfernt. Denn was Goethe bei der brotschneidenden Lotte ergriffÄ, wird in dieser Geste einfache Tatsache: Brot ist Liebe. —
Noch etwas aber hat es mit dem Brot auf sich: Auch wenn es uns anspricht wie das Allervertrauteste – wie Mutterbrust und Vaterland –, ist es doch eine Sprache, die für viele Völker das Lebensgeheimnis bezeichnet. Nicht überall auf der Welt mag es das wichtigste Lebensmittel sein – andernorts ist das der Reis –, aber wir haben das Glück, gemeinsam mit den Menschen der Bibel auf dieser Wurzel zu fußen: Nordafrika und der Nahe Osten und Europa – der Erdkreis um das Mittelmeer – sind dadurch verbunden, dass ihnen das Bild vom „täglichen Brot“ nirgends übersetzt werden muss. Sie alle – die Fladen und Stangen und Laibe und trockene Räder backen – sie alle leben seit Menschengedenken ja sämtlich vom Brot. Die Flüchtlinge aus Eritrea, aus Syrien und dem Irak empfinden genau wie wir: Brot ist Heimat und es ist heilig und es ist Liebe.
Und so gibt es auch eine Ökumene des Brotes. ———
Doch auch ganz anderes ist wahr. Ich wusste als junger Mensch, ehe ich Dantes Göttliche Komödie kennenlernte,0 früher nie, wer eigentlich genau in der Hölle sein sollte – mit einer Ausnahme: Dass H. Chr. Andersen „das Mädchen, das auf’s Brot trat“, weil sie sich Schuh und Strümpfe nicht beschmutzen wollte, schließlich in die Hölle sinken ließ – „Dorthin fahren die Leute nicht immer auf geradem Wege hinab, sie können auch auf einem Umweg hineinkommen, wenn sie Anlagen haben“* …–, dass also das Mädchen, das auf’s Brot trat, eine Verdammte war, das leuchtete mir ein.
Brot ist eine große Verantwortung in der Welt.
Doch noch mehr. Brot verkörpert nicht nur die moralische Berufung des Menschen, sondern auch seine tiefe Verlorenheit. Noch letzte Woche erzählte mir ein alter Herr, der als Minderjähriger in russische Kriegsgefangenschaft geraten war, von seinem Erleben. In einer Baracke voll blutjunger Mitgefangener war es tägliche und nächtliche Normalität, dass auf den Strohsäcken ringsumher die Bürschchen ganz laut- und klaglos starr wurden und starben. Doch das Einzige, was einen, der noch Leben in sich spürte, dabei bewegte, war der verstohlene Gedanke und die blitzschnelle Vergewisserung, ob die Leiche des toten Kameraden in der Faust oder seine Pritsche unter den schmutzigen Lumpen wohl noch einen versteckten Kanten des steinharten Lagerbrotes hergäbe.
Im Brot begegnet also auch die nackte Gier, der übermächtige, alles andere Gefühl vernichtende Lebenshunger des Menschen.
Und ein Letztes, …das immer das Letzte ist. Das köstliche, lebenspendende Brot hat auch seine Schattenseite, sein Grauen. Das ist mir auf einem sonderbaren Umweg klar geworden:
Es gibt nämlich eine ganz herrliche Verfilmung der Lausbubenstreiche von Max und Moritz.
Sie ist das, was man eine werkgetreue Wiedergabe nennen darf: Die biedermeierliche kleine Welt des Wilhelm Busch wird darin mit allem, was wir aus den Federzeichnungen kennen, bunt und lebendig; Kostüm und Schauspieler erscheinen so harmlos und grotesk provinziell wie die Witwe Bolte, Schneider Böck, der Onkel Fritze, Lehrer Lämpel es je waren.
… Doch im sechsten Streich packt einen das verzweifelte Entsetzen, als der dicke Bäckermeister die beiden Brezeldiebe, die in den Trog voll Kuchenteig gefallen sind, mit satanisch ordnungsliebender Handwerkskunst knetet, rollt und pudert und dann grinsend in den prasselnden Ofen schiebt. … Da verschwindet aller grobschlächtige Humor des schaumburgischen Volksschriftstellers, … denn durch den Buntfilm von 1956 lodern die Menschenöfen von Auschwitz. ... Wie konnte man kaum ein Jahrzehnt danach das Einfahren von wehrlosen Menschenkindern in’s Feuer so realistisch detailverliebt darstellen und dabei nicht von namenloser Erschütterung überwältigt werden??! …….
Und so hat unser tägliches Brot immer auch einen Brandgeruch aus der Hölle an sich: Nicht etwa nur, weil Max und Moritz schließlich in geradezu lästerlicher Weise tatsächlich ja in der Mühle zu Staub zermahlen werden, sondern weil das Sterben des Weizenkorns (vgl.Joh 12,24) und das Zerstoßenwerden zwischen den Steinen und das Gerettetwerden durchs Feuer hindurch (vgl.1.Kor3,15) die letzte Verbindung beweist: Zwischen dem Brot und dem Tod.
Wenn wir sie aber nun so vor Augen haben – die Vielgestaltigkeit, die Sinnfülle des bloßen Brotes, das Heimat, Heil und Liebe, aber auch Verantwortung, Sünde und Tod umfasst – …wenn wir also das Brot in seiner ganzen Menschheitsbedeutung vor Augen haben, dann können wir nun in die Stiftshütte, in das Zelt Gottes eintreten.
Denn dort treffen wir ein Bild, das merkwürdig, denkwürdig und vor allem andern schließlich glaubwürdig ist: Zeigt sich doch, dass Israels Gott seit der Wüstenwanderung, seit den Tagen der Obdachlosigkeit und Armut nie ohne dieses beredte Symbol der Menschheit hat sein wollen.
Gott hat das Brot dazu bestimmt, dass es immer und überall vor Ihm und für Ihn ein Zeichen sein sollte: Das, was der Mensch am dringendsten braucht, steht Gott seit dem Aufbruch aus Ägypten in den Schaubroten vor Augen. Das, was der Mensch am dringendsten braucht, findet er in den Schaubroten, sobald er in die Gegenwart Gottes tritt.
Diese Verbindung Gottes und des Brotes wird im 3.Buch Mose (24,8) mit dem höchsten theologischen Begriff bezeichnet, den die Bibel kennt: Das Auflegen des Brotes vor Gottes Augen, dieser Brotduft Seiner Gegenwart wird ein „ewiger Bund“ genannt, wie sonst nur der Regenbogen in Noahs Tagen (vgl. 1.Mose 9,16) und die Beschneidung bei den verheißenen Nachkommen Abrahams (vgl. 1Mose17,13) und der Sabbat für die Gemeinde Moses’ (vgl.2.Mose 31,16f).
Ein Bundeszeichen Gottes also ist in unserem elementarsten Lebensmittel zu sehen.
Sehr viel mehr müsste man über den Gott Israels daher eigentlich nicht wissen, als dass Er Seine Nähe so an das bindet, was der Mensch unmittelbar nötig hat. Gottes ganze barmherzige Menschenliebe ergibt sich ja aus dieser Wahl: Er fordert nicht die Kinder der Menschen zum Opfer, er beansprucht weder Kostbarkeiten noch Leistungen, sondern Er will in Seinem Heiligtum erinnert werden an die Bedürfnisse Seiner Geschöpfe.
….... Und wenn die Forschung tatsächlich meint, in den Schaubroten werde der primitive Brauch fortgeführt, dass man Götzenbilder fütterte†, so ist die Bibel weiter als ihre modernen Ausleger: Denn die Brote, die allein durch den über sie gestreuten Weihrauch ihre liturgische Funktion erfüllen, unsichtbar zum Unsichtbaren aufzusteigen, – diese Brote werden in der Bibel eben nicht als Speise eines gefräßigen Götzen, sondern als Versorgung der Priester bestimmt, … als Versorgung des einen Stammes im Volk Israel, dem kein Stück des gelobten Landes zufallen würde, sondern der in seiner Mittellosigkeit von der Gnade leben sollte.
Zuallererst aber sind diese zwölf Brote Gedenkzeichen, konkrete Erinnerungen an jeden Einzelnen der zwölf Stämme, an alle Israeliten also, deren Hunger und Lebenswünsche, deren Suche nach Heim und Herd, nach Geborgenheit und Segen auf diese Weise beständig vor Gottes Angesicht ihren Ort finden.
Jedes Brot vertritt also die Not bestimmter Menschen.
Und aus dieser Stellvertretung, die die Schaubrote üben, indem sie Gott um Ernährung und Erhaltung für Ruben, für Simeon, für Levi, für Juda, für Ephraim, Manasse und all die anderen bitten, … aus diesem stellvertretenden Symbol- und Zeugnisdienst der Brote ergibt sich das größte Geheimnis und die größte Offenbarung, die im Brot zu entdecken sind.
Denn ein Brot gibt es, das den Dienst und Zweck der Schaubrote der Stiftshütte und später des Jerusalemer Tempels bis heute fortführt, … ein Brot, in dem die ganze Fülle an Bedeutung und Erwartung und Bedürftigkeit versammelt ist, die wir uns heute vergegenwärtigt haben – dass Brot von Heimat und Liebe und Hoffnung spricht, aber eben auch von Not und Schuld und Glut.
… Und dieses eine Brot ist wahrhaftig allezeit vor Gottes Augen und in Seiner Gegenwart.
Dieses eine Brot, das die Welt vertritt, die ohne Brot nicht leben kann, dieses eine Brot, ohne das Gott aber auch nicht leben kann – denn so wahr der Mensch nicht vom Brot allein lebt, so wahr lebt Gott nicht allein ohne Brot! – … dieses eine Brot ist Jesus Christus, von dem wir im Evangelium hören und im Sakrament feiern, dass er Lebensbrot für alle ist. ——
Dieses Mysterium haben wir Evangelischen inzwischen so sehr vergessen und verdrängt, dass es Zeit für uns wird, es wieder von den Ursprüngen in der Stiftshütte her zu lernen: Gott hat sich so ganz auf den Menschen mit Leib und Seele, mit Mund und Magen eingeschworen, dass Er wirklich niemals nur ein Denk-Gott, ein Deute-Gott, ein Debattier-Gott sein will, sondern der Gott unseres Lebens, Gott unseres Daseins, Gott unseres Brotes … Er will von jeher der Gott sein, Der es den Seinen gibt … und wird!!!
Denn das ist ja das Herzstück unseres Glaubens und Gottesdienstes, die in der Mahlfeier erst ihren Kern erreichen: Gott wird Fleisch, um Brot zu werden; Er teilt das menschliche Leben, um Menschen das Leben auszuteilen.
Und so ist es kein Zufall, sondern das Ziel von Weihnacht und Passion, von Ostern und Himmelfahrt, dass wir Christus selber in der Gestalt des Brotes greifbar, fühlbar, wirklich verinnerlichen können und sollen. ———
Womöglich mutet uns das fremd an, weil die Jahrhunderte der inneren Abendmahlsstreitigkeiten uns gleichgültig gemacht haben gegen eine Wahrheit, die unter uns als Hokuspokus*† verschrien wurde. Doch heute dürfte es nicht mehr um trotzige Unterscheidungen, die das Hinhören und Mitdenken verweigern, gehen. Solche Haltungen des „Wir machen es extra anders“ oder des „Uns bestätigt doch der klare Menschenverstand“, die zur Vernachlässigung des Abendmahls geführt haben, sind nicht nur unreif, sondern schädlich für uns selbst … verhindern sie doch, dass wir regelmäßig empfangen, was unser Leben leiblich und geistlich bereichert und trägt.
Denn dass Hören und Schmecken verschiedene Weisen des Aufnehmens und darum beide für den ganzen Menschen unentbehrlich sind, ist doch unbestreitbar.
Wenn wir aber erkennen müssen, dass das Brot von Anfang an die Sorge Gottes um den ganzen Menschen und Seine treue Fürsorge für ihn verkörpert, und wenn wir es erfassen, dass wir im Brot ganz unmittelbar Dem begegnen können, Der uns nicht nur zeitliches, sondern auch unzerstörbares Leben schenken will, ... dann ist es Hochmut, diese Gabe nicht konkret, sondern lieber gedanklich, sie nicht materiell, sondern lieber abstrakt annehmen zu wollen.
Unsere Abendmahlspraxis, die ihm so wenig Notwendigkeit zumisst, ist Hochmut. Es ist Hochmut, das Brot gering zu schätzen, das doch die Welt vor Gott verkörpert und Seine Stellvertretung unter uns, … denn es bezeugt nur, dass wir keine Sorge um unser Leben empfinden – weder irdisch, noch ewig.
Doch diese Marie-Antoinette’sche Haltung des „Wer braucht schon Brot, wenn er noch Ku-chen hat?“ sollte uns buchstäblich den Hals zuschnüren, wenn wir hören, wie Gott im ewigen Bundeszeichen der Brote den Hunger und das Leid, aber auch die Hoffnung und die Heilung aller Menschen vor Sein Angesicht stellt.
Auf jedem Stück Brot steht heute doch ganz konkret: „Aleppo“, … steht die tödliche Qual der Menschen, die im Kessel verschmachten und verderben, aber auch die unendliche Verheißung, dass Gott selber Mensch und Brot geworden ist, um die Verlorenen zu retten und ihnen ewiges Leben zu schenken.
Auf jedem Stück Brot steht: „Ihr sollt leben! Tod, Schuld und Versagen sollen vergehen, Liebe, Himmel und Heimat teile ich Euch zu!“
Wer das verachten kann, der mag darauf verzichten.
Wer aber davon empfangen und dadurch die Lebenszusage für sich und für die Welt leiblich verspüren darf, der wird nichts anderes zu beten und zu tun wissen als „Unser tägliches Brot gib uns heute! Ja, gib uns allewege solch Brot!“ (Matth6,11;Joh6,34).
Amen.
Ä Die ihren jüngeren Geschwistern aus der Hand Brot schneidende Lotte fällt dem empfänglichen Werther als „das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe“ (J.W.Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, in: Goethes Sämtliche Werke, hg. v. Karl Goedeke, Stuttgart 1894, Bd.15, S.17).
* Hans Christian Andersen, Das Mädchen, das auf das Brot trat, in: Sämtliche Märchen und Geschichten in zwei Bänden, hg. v. Leopold Magon, Leipzig 1953, Bd.I, S.140.
† Vgl. z.B. Herbert Niehr, Götterbilder und Bilderverbot, in: Der eine Gott und die Götter – Polytheismus und Monotheismus im antiken Israel, hg.v. Manfred Oeming und Klaus Schmidt, Zürich 2003, S.232: „Die Niederlegung der Schaubrote ist zu verstehen als ein Versorgungsakt der in der Statue anwesenden Gottheit.“ Interessant dafür, wie die sog. „kritische“ Wissenschaft arbeitet, ist die Voraussetzung des Autors, es müsse im Tempel von Jerusalem eine Götterstatue gegeben haben, denn „(f)ür den Fall eines anikonischen (d.h. »bilderlosen« – Anm. J.M.) JHWH-Kultes hätten die Schaubrote überhaupt keinen Sinn in den Tempelritualen.“
*† Dass hinter der sinnlosen Zauberformel das lateinische Satzgefüge „Hoc est [enim] corpus meum“ (1.Kor.11,24) aus dem Messkanon steht, ist allgemein bekannt.
10.n.Trinitatis 31.07.2016 Stadt- und Jonakirche 1.Mose 9,1-7 Jonas Marquardt
Predigtreihe: Reine Bibel Speise - Zur biblischen Nahrung
Predigt Kaiserswerth 10.n.Trin. - 31. VIII. 2016
1.Mose 9, 1 – 7
Liebe Gemeinde!
Entfernte baltische Verwandte unternahmen Anfang des letzten Jahrhunderts große Anstrengungen, ihren Leuten auf den Gütern eine gesunde Ernährung beizubringen. Auf besondere Ablehnung stieß dabei unter den estnischen Instleuten, die sich unter „Gemüse“ Kartoffeln und Kohl, aber sonst nichts vorstellen mochten, der Verzehr von Blattsalat.
Als dann die Bolschewiken nach der Revolution die Deutschen bitter demütigten und verschleppten, riefen die Gutsarbeiter den Drangsalierern ihrer ehemaligen Herrschaft nach: „Und dass Ihr denen man bloß immer nur Gras und Grünes zum Fressen gebt ….!“
Das sollte ihre letzte Rache sein.
…Und war doch tatsächlich der Speiseplan des Paradieses.
Denn auch wenn wir es noch nie zur Kenntnis genommen haben: Der biblische Schöpfungsbericht schildert eine Welt, in der Mensch und Tier sich an Saat und Früchten, an Kraut und Pflanzen als Nahrung genügen lassen (vgl. 1.Mose 1,29f).
Der kategorische Unterschied zwischen der ursprünglichen Schöpfung und der Welt, die uns heute umgibt, ist im unangefochtenen Grundgesetz der uns inzwischen natürlich scheinenden Natur zu suchen. Für uns beruht die Ökonomie, der Haushalt und Kreislauf des Lebens ja auf dem universalen Prinzip des „Fressens und Gefressenwerdens“.
Dieses Prinzip, das uns jede Mietzekatze am Mauseloch und jedes putzige Eichhörnchen am Amselnest auf zwar ungemütliche, aber doch auch unvermeidliche Weise vor Augen führt, ist aber eben nicht die Weltformel, ist nicht das Grundmodell des Lebens in biblischer Sicht!
Darin ist die Bibel vom ersten Kapitel an nämlich konsequent: Sie schildert nichts um der reinen Erkenntnis, sondern alles um einer praktischen Moral willen. Wir sollen aus dem Bericht von Gottes Schaffen nicht die Erklärung gewinnen, woher und wodurch die Dinge sind, wie sie sind, sondern wer den Schöpfungsbericht hört und glaubt, soll erfahren, wie und wozu Gott sie wollte. Und dabei wird klar: Die Kreatur empfängt von Stufe zu Stufe, von Tag zu Tag immer mehr Lebendigkeit … von den Elementen und Substanzen des Anfangs über die dienenden Himmelskörper der Gestirne bis zu den selbst wachsenden und frei beweglichen Lebensformen der Flora und der Fauna, um zum Schluss im Menschen das lebendige Bild des lebendigen Gottes und den Segen zu dessen fruchtbarer Verbreitung in eigenständiger Verantwortung zu empfangen.
Das Leben wächst also und wird immer stärker im Zuge der Schöpfung. Doch eindeutig nicht durch Vernichtung anderen Lebens, da von den Pflanzen ja wieder und wieder hervorgehoben wird, dass sie „Samen hervorbringen“, dass sie also – obwohl sie von Tier und Mensch gebraucht werden sollen – das eigene Fortleben sichern. Schlachten und Ausweiden dagegen ist nicht die Energiequelle, die Gott der Welt der Lebewesen eingestiftet hat. —
Das macht uns allerdings geneigt, den biblischen Schöpfungsbericht nicht nur wegen seiner vermeintlichen Unwissenschaftlichkeit, sondern mehr noch wegen seiner weltfremden Utopie zu übergehen.
Was sollen wir mit einer Botschaft anfangen, die doch so ganz und gar an der Realität vorbeizugehen scheint, die sich nicht nur philosophisch, sondern auch in den meisten Fällen durch den ganz unmittelbaren Geschmackssinn und Appetit für uns in lebenverzehrender Lebenserhaltung bestätigt?
Ist es nicht blanker Unsinn, von einer Welt zu träumen, in der - wie wir alljährlich an Weihnachten beim Propheten Jesaja (11,6f) hören!! - „ein kleiner Knabe Kälber und junge Löwen miteinander treiben wird und Kühe und Bären zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen Stroh fressen werden wie die Rinder“?!
Ist diese ursprünglich und zukünftig von Gott vermeintlich unblutig, gewaltfrei und friedlich geschaffene und verheißene Welt nicht einfach nur Phantasie?! ———
An dieser Stelle merken wir, wohin die Frage nach der Ernährung, nach den Quellen unserer Kraft und den Mitteln, mit denen wir Leib und Leben fristen, uns führt:
Es geht nicht um die von der deutschen Wurstliebe so leidenschaftlich zur heiligen Handlung erhobene Zeremonie des Grillens und auch nicht um die Ersatzreligion, die die Apostel der veganen Lebensweise stiften und missionarisch vorantreiben.
Bei der Frage, wie Gottes Geschöpfe sich am Leben erhalten dürfen, … sollen, … müssen, geht es tatsächlich um alles! Nämlich darum, ob wir uns die Wirklichkeit einfach auftischen lassen, oder ob wir uns bis in’s Innerste hinein, sogar in den Eingeweiden, in Herz und Leber, Galle und Nieren frei vom Gewohnten und Gewohnheit halten können und den Geschmack am Neuen und Heilsamen bewahren.
– Dass alles ist, wie es ist, und dass Mensch und Tier essen, was sie essen, heißt nämlich ja nicht, dass alles so gut wäre … oder bleiben müsste!
Wer sich dagegen nichts erzählen lassen will von einer Welt, in der nicht jeder mehr frisst, was er gerade frisst, wer also die biblische Erinnerung an und Hoffnung auf ein Leben ohne Blutvergießen für sinnlos hält, … der hat den IS gewählt. ……. ——
Das mag extrem klingen.
Aber es ist ja gerade in allem immer wieder neuen Schock und Schrecken in den Tagen des Terrors das Allererschütterndste, wenn uns auffällt, dass die Rede vom „Extremismus“ und von den „Extremisten“ auch eine große Verdrängung ist. … Denn der Schein, als habe es noch nie so viel blutige Verbrechen, so öffentliche Grausamkeit und einen solchen Hunger auf sinnlos gemetzelte Menschen gegeben, … dieser Schein trügt … auch wenn uns die ratlose Frage beschleicht, ob mit den Menschenschlächtern nicht etwas Endzeitliches in unseren Alltag eingebrochen sei. …….
In Wirklichkeit ist es seit Menschengedenken so, dass immer wieder gewürgt und feierlich oder in rasendem Rachedurst getötet wurde, … nur dass es die Krone und die Kirche, die Ordnungsmächte also waren, die das Abstechen und Ausbluten der Opfer vorführten: Jede Femelinde, jeder Galgenberg, jedes Hochgericht in unserer Landschaft, jeder Markplatz in unseren Städten bezeugt es.
Und auch in den Friedensjahrzehnten, die hinter uns liegen, ist der menschliche Blutzoll nicht geringer gewesen … nur dass wir lange nicht mehr Zuschauer sein mussten beim Verhungern und Verschwinden und Verrecken der Opfer jenseits des Äquators oder hinter den praktischen Vorhängen aus Eisen. ——
Und dennoch, … dennoch … trotz aller Gewohnheit und Tradition würde kein Christ von diesen schrecklichen, jahrtausendealten Zuständen sagen wollen: Es ist nun einmal so, wie es ist. … Sondern jeder, der den unschuldig Hingerichteten vom Hügel Golgatha, den herrlich wieder aufgerichteten Toten aus dem Garten liebt, muss hoffen, nein muss glauben und eilen, dass es so nicht bleibt.
So kann es nicht bleiben.
Und wird es auch nicht:
Weil es eben nicht immer so war …!!!
Das ist der Sinn der Schöpfungsgeschichte mit ihrem Bericht von einer uns unvorstellbaren Welt, in der das Leben niemals genommen, sondern immer nur geschenkt und gesät wurde.
Dieser Rückblick, der zugleich ja ein Ausblick ist, sagt uns, dass es nicht gewollt und nicht verhängt ist, sondern von Gott schließlich und bis auf Weiteres nur zugelassen wurde, dass Lebendiges zur Beute wird.
Diese Zulassung geschah, nachdem der Mensch – wirklich der Mensch allein – sich derart rücksichts- und schamlos am Leben anderer bediente und am liebsten der Allein-Lebendige geworden wäre, dass Gott damals dreinfuhr mit der Sintflut, die das gierige und gottlose Treiben der Menschen davonschwemmte und die durch den Menschen verschmutzte und verseuchte Erde furchtbar von ihm reinigte.
Aber weil Gott einen solchen Abscheu, eine solche Feindschaft gegen den Tod hegt, dass Er den Selbstmord der Menschheit – also die Sünde – sich nicht einfach sich vollenden lassen konnte, hat er am Ende des Gerichtes zugelassen, dass Menschen nun zwar Lebewesen, aber nicht das Leben selber, dass sie also Fleisch, aber nicht Blut nutzen dürfen, um in der gefährlich gewordenen Wildnis der beschädigten Welt zu überleben.
Diese Zulassung, zu der sich Gott gegen seinen ursprünglichen Willen durchringt, ist demnach aber beides: Sie ist ein Zeichen der Gnade für den hungrigen Menschen in seiner Not und Unersättlichkeit – doch zugleich ist sie auch eine ständige Erinnerung daran, dass dieser Zustand, in dem der Menschen immer noch ein Wolf bleibt, nicht der wahre ist.
Dass sich auf unserem Teller und in unserer Nahrung im Geschlachteten Leben und Tod immer wieder berühren und durchdringen, das erinnert tagtäglich, alltäglich daran, wie wir hier und jetzt nur von der Gnade und Zulassung Gottes existieren, der allen seinen Geschöpfen eigentlich ein anderes Dasein, ein heiles, unverletztes und nicht verletzendes Leben bestimmt hatte.
Dass es in der Welt, die wir kennen und verantworten, gegenwärtig so nicht sein kann, ist aber eben nicht unabänderlich in die Natur eingeschrieben. Denn da, wo das blutige Geschehen, das uns ernährt und das Gott nur um unseretwillen zulässt, zu seinem letzten Ziel und Ende kommt – wir werden in zwei Wochen davon sprechen und es am Tisch gleich miteinander feiern –, … dort wird aus Fleisch wiederum und endgültig ja Brot, das wahre Brot des Lebens!
Es ist also tatsächlich nur eine Zwischenzeit, ein vergehender Zustand, dass sich Leben durch Sterben erhalten muss.
Und diese Verheißung, dass wie im Anfang so auch in der vollendeten Welt das reine Leben vom Nachwachsenden und Reifenden, von den Gewächsen und Früchten zehren soll und kein Opfer – weder im übertragenen, noch im buchstäblichen Sinn – mehr kosten wird, … diese Verheißung will und muss unser Leben als Christen bis in die so ganz und gar nebensächlich erscheinenden Bereiche des Essens und Trinkens hinein prägen.
Weil biblisch gesprochen jedes Stück Fleisch eine ernste und jede Mahlzeit ohne Fleisch eine kleine paradiesische Predigt enthält, sollten wir uns wirklich nicht zu schade sein, auch auf diese Zeichen und Mahnungen dessen zu achten, was uns am Leben hält.
Wir sollten also aus Gründen des Glaubens und der Hoffnung den maßlosen, ungesunden Verzehr dessen, was heute so billig und so minderwertig geworden ist, begrenzen.
Die Weisheit früherer Armut, als die Kost des Menschen nicht von seinem schmatzenden Appetit, sondern von den Zeiten der Saat, der Ernte, des Vorrats und des Mangels vorgegeben wurde, kann auch uns Heutige noch bei jedem Essen wieder erleuchten:
Wenn die Natur frisch und üppig das schenkt, was uns schmeckt, wenn die Kirschen reif und Obst und Trauben voll sind, wenn Feld und Garten, Strauch und Bäume tragen, dann erleben wir den unzerstörbaren Schöpfungssegen Gottes wie am Anfang.
Und wenn wir das besondere, dem Menschen zugestandene Recht beanspruchen, uns auf Kosten eines anderen Geschöpfes zu stärken und zu sättigen, dann sollte uns vor Augen stehen, was wir da erfahren: Die Gnade Gottes, der uns vorübergehend zugesteht, was uns nicht wirklich zusteht – nur damit unser Tod nicht endgültig das Werk zerstöre, das im lebendigen Bild des Schöpfers gipfelt. ——
Und so schwer es dem estnischen Bauern, dem feisten Germanen in uns auch fallen mag: Wir sollten den Gaumen und den Bauch daran gewöhnen, dass wir im Essen bei beinah jeder Gelegenheit Zweierlei auf der Zunge haben: Den Geschmack der Vergänglichkeit, der uns gebraten und gesotten, fett und knusprig, zart und rosig zwar sehr lieb sein mag, den wir aber doch einst hinter uns lassen werden, … und das zuweilen kaum wahrgenommene Aroma des richtigen, des gewollten und für immer erhaltenen Lebens, das uns in jedem Korn und jedem Blatt begegnet, die uns ursprünglich genügen sollten und zukünftig genesen lassen werden. —
Und so können wir wählen und sogar mit unseren Mahlzeiten uns mehr dem alten oder eher dem neuen Leben zuwenden.
……. Wobei alle, die wie ich keine Vegetarier sein mögen, sondern das lutherische Prinzip des tapferen Sündigens nicht loswerden, … wobei wir uns also von der Erfahrung des Propheten Daniel und seiner Gefährten belehren lassen sollten: Die versagten sich die unreinen Köstlichkeiten von der Tafel Nebukadnezars und lebten bloß von Gemüse und Wasser – und „sahen doch kräftiger und schöner aus als alle jungen Leute, die von des Königs Speise aßen“ und „Gott gab ihnen Einsicht und Verstand für jede Art von Schrift und Weisheit.“ (Daniel 1,15+17)*
Denn am Ende lebt der Mensch nicht vom Grünem und Gras und auch nicht vom Fleisch allein, sondern von dem, was der Segen und die Gnade, was der Geist Gottes ihm schenkt und beschert!
Amen.
* Auf dem Liedblatt des Gottesdienstes fand sich folgender in das etwas spröde Thema einleitender Text:
Vegetarische Christen und Heiden
Der Verzicht auf Fleisch – in den östlichen Kulturen des Buddhismus und Hinduismus ein wichtiger Bestandteil der Selbstverleugnungs- und Reinigungsübungen – hat auch im Abendland eine lange, philosophisch-religiöse Tradition. In der Antike lehrte Pythagoras die „Enthaltung von Beseeltem“ und fand viele Nachfolger.
Wegen der Bedeutung der biblischen Speisegebote und des unmissverständlichen neutestamentlichen Verbots auch für Heidenchristen den Verzehr von Blut betreffend (d.h. nicht-geschächtetes Fleisch – vgl. das „Aposteldekret“ in Apostelgeschichte 15,20!) neigten große Kreise des Urchristentums zu einer vegetarischen Lebensordnung. Paulus ließ den Genuss von heidnisch geschlachtetem Fleisch zwar zu, Jesu Bruder Jakobus aber, der in der Urgemeinde von Jerusalem tonangebend war, war der Erste in einer langen Reihe streng vegetarischer Größen der alten Kirche. Im Osten waren der berühmte Kirchenvater Johannes Chrysostomus – schon wegen seiner scharfen Kritik am Leben der reichen Oberschicht Konstantinopels – und auch der milde Mystiker-Bischof Basilius von Cäsarea „Vegetarier“.
Der hervorragende lateinische Kirchenvater Hieronymus lehrte, dass die durch Christus Erlösten keinesfalls mehr Fleisch verzehren dürften, da sie doch das Leben der Engel vorweg zu nehmen gewürdigt seien. In seiner Schrift Adversus Iovinianum (I,18) schreibt er:
„Seit dem Anfang des menschlichen Daseins ernährten wir uns nicht von Fleisch. … In dieser Weise verhielt es sich bis zur Sintflut. Nach der Sintflut jedoch …. wurde dem Menschen die Abschaffung (des Fleischverbots) aufgrund seiner Gefühllosigkeit zugestanden. Nachdem jedoch Christus am Ende der Zeiten in die Welt gekommen sein und das Omega zum Alpha und das Äußerste wieder zum Anfang zurückgerollt haben wird, … dann werden wir kein Fleisch mehr essen.“
Hieronymus und den griechischen Vätern folgten die Asketen und das Mönchtum allgemein – um so der Buße und der Überwindung ihrer Triebe zu dienen. In der Ordensregel des Hl.Benedikt, des Mönchsvaters ist Fleisch nur Kranken gestattet. Dieser Regel folgten während des Mittelalters viele Ordensgemeinschaften, besonders die Zisterzienser und die Kartäuser (die bis heute konsequent daran festhalten). Auf dem Athos ist der Fleischverzehr ebenfalls bis in die Gegenwart nicht gestattet.
Unter den späteren Vertretern einer fleischlosen Ernährung verdient der Gründer des Methodismus, John Wesley (der darin allerdings keine Frage des durch den Glauben gebundenen Gewissens, sondern eine medizinische Weisheit sah) Erwähnung, sowie der entschieden unchristliche Arthur Schopenhauer und der radikal-christliche Leo Tolstoi, nicht zu vergessen das Beispiel Gandhis. Allerdings reiht sich – aus anderen Motiven – auch Hitler in diese Ahnengalerie einer heute ganz säkularen Großbewegung ein.
5.S.n.Tr., 26.06.2016, Lk.13,29, Ulrike Heimann, Gemeindefest
„Es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes." (Lk.13,29)
Liebe Festgemeinde, liebe Schwestern und Brüder, liebe Gäste!
Dass wir heute und hier miteinander ein Fest feiern, das tut gut. Das tut gut, gerade nach den ganzen Vorkommnissen der letzten drei Tage („Brexit"). Denn eines ist nicht nur mir, sondern ich denke auch sehr vielen anderen bewusst: die Völker Europas, die Menschen Europas stehen vor einer Zerreißprobe. Die hat sich schon länger angebahnt und ist durch das Flüchtlingselend, das sich nicht mehr nur weit weg in fremden Ländern abspielt, sondern mittlerweile in unseren Städten und Kommunen angekommen ist, verschärft worden. Urängste sind aufgebrochen: die Angst vor dem Fremden, die Angst vor Kontrollverlust, und eben auch die Angst, abgeben zu müssen, selbst zu kurz zu kommen. Und weil einem diese Ängste eher unheimlich und auch peinlich sind, werden sie umetikettiert zur Sorge um das „christliche Abendland", zur Sorge um die eigene Nation „British first".
Enger, ängstlicher sind viele Menschen in Europa geworden, wenn wie an die Zukunft denken. Nationalistische Töne bestimmen in vielen Ländern die Politik. Populisten haben Zulauf wie seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts nicht mehr.
Selbst viele Kirchen und Kirchenführer pflegen die nationalistischen Töne. Was man da z.B. von Vertretern der russisch-orthodoxen Kirche und anderer orthodoxer Kirchen im östlichen Europa in den letzten Jahren hören konnte, macht mich fassungslos. Der Islam ist dabei meistens ein willkommenes Feindbild - neben den ach so unmoralischen westlichen Gesellschaften.
Es ist einfach nur traurig, welches Bild Europa heute abgibt. Wo jeder immer mehr bestrebt ist, sein eigenes Süppchen zu kochen, den Tisch nur für das eigene Wohlergehen zu decken.
Es ist traurig, dass offensichtlich viel zu viele vergessen haben, dass Europa nicht Bürokratie in Brüssel ist, sondern die Frucht einer Vision von Freiheit und Frieden nach zwei fürchterlichen Kriegen mit zig-Millionen Toten, Ermordeten, Verwundeten, Traumatisierten und Vertriebenen.
„Ein Volk ohne Vision geht zugrunde." , so heißt es im Buch der Sprüche (29,18). Und genau an dieser Wegmarke stehen wir, stehen die Völker Europas heute:
Die gemeinsame Vision ist abhandengekommen. Und eben da haben - eigentlich - die Kirchen, die Gemeinden, haben wir Christen unseren Platz und Auftrag. Denn wir alle verdanken uns einer Vision, einer Vision, die Jesus von Nazareth erfüllte und antrieb: die Erwartung des Reiches Gottes. „Es ist so weit: das Reich Gottes ist herbeigekommen. Kehrt um und vertraut dieser Botschaft." (Mk.1,15) Jesus verkündigte und lebte diese Vision in einer Zeit, in der Gewalt und Unterdrückung durch das Imperium, durch Rom, den Alltag der Menschen in Judäa und Galiläa bestimmten. Die Vision des nahen Reiches Gottes, das mitten unter den Menschen beginnt, war sein Gegenentwurf zum Imperium Roms, sein Evangelium.
Das Reich Gottes, ein Reich nicht von dieser Welt,
das nicht ihren scheinbar alternativlosen Mechanismen unterworfen ist,
wo die politisch Verantwortlichen auf militärische Stärke und fiskalische Ausbeutung setzten und setzen,
aber ein Reich, das in dieser Welt und Zeit Wirklichkeit werden wollte, Wirklichkeit werden will zum Wohl der Menschen.
Jesus hat dieses Reich Gottes in immer neuen Bildern umschrieben,
in Bildern vom Wachsen und Werden - eine Saat geht auf, bringt Frucht, auch wenn vieles von Dornen erstickt, von Füßen zertreten wird -
und im Besonderen im Bild eines großen Festmahles. Nicht Absonderung, sondern Zusammenkommen, Gemeinschaft, Teilhabe. Der Tisch Gottes, ein großer runder Tisch ohne Oben und Unten, keine Stammplätze, sondern jeder ist überall willkommen, jeder mit seiner Geschichte, seinen Stärken und Schwächen, mit seiner Kultur und Sprache, mit seiner Art und Weise, Gott anzurufen, sich ihm vertrauensvoll zu nähern. „Es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes."
Das Bild des großen Festmales hat Jesus aus der prophetischen Tradition Israels übernommen. Bei Jesaja heißt es im 25.Kapitel: „Und der Ewige wird auf dem Berg Zion allen Völkern ein reiches Mahl machen. Und er wird die Decke wegnehmen, mit der bis dahin alle Völker zugedeckt sind. Er wird den Tod verschlingen auf ewig. Zu der Zeit wird man sagen: Das ist unser Gott, auf den wir hofften, dass er uns helfe."
Die Tischgemeinschaft des Reiches Gottes ist ökumenisch: die Einladung gilt allen Menschen. Und alle, die sich einladen lassen, gewinnen neue Einsichten. Die Decke, die bis dahin die Sicht auf Gott und seinen Heilswillen verhüllte, wird weggenommen. Wo wir uns von Gott einladen lassen, gewinnen wir einen neuen Blick - auf Gott, auf uns selbst und auf unsere Tischnachbarn. Wir alle sind Gäste, keiner mehr und keiner weniger. Keiner mit größerer Nähe zum Gastgeber als der andere.
Die Vision Jesu ist meines Erachtens genau die, die wir heute dringend brauchen. Sein Evangelium vom Reich Gottes, das mitten unter uns Wirklichkeit werden will, ist die Botschaft, die uns kraftvoll und zuversichtlich gegen alle Ängste und Sorgen aufstehen lassen kann. Eine Vision von Frieden und Freiheit, von Solidarität, Gemeinschaft und Gerechtigkeit, nach der sich die Menschen überall auf der Welt sehnen.
Eine Vision, die sich ja schon immer wieder einmal realisiert hat - und das gerade auch im Zusammenhang mit gemeinsamem Essen, mit einer offenen Tischgemeinschaft. Ich erinnere an das Paneuropäische Picknick in Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze am 19.August 1989, wo sich zum ersten Mal der Eiserne Vorhang auftat und hunderte Menschen in die Freiheit, in den Westen liefen - der Auftakt zum 9.November 1989.
Ich denke auch an das Fastenbrechen im Gemeindehaus Fliednerstraße vor 2 Wochen, zu dem uns unsere syrischen Mitbürger eingeladen haben, wo wir in bunten Reihen zusammensaßen, Muslime und Christen, und miteinander das Leben gefeiert haben.
Wer das so erlebt, dem wird einfach die Decke von den Augen, oder wir können auch sagen: die Scheuklappen der Vorurteile von den Augen genommen. Der kann sehen: Einer ist der Gastgeber, Gott, und wir alle sind seine Gäste, Gäste des Lebens.
Ja, die Welt ist heute im Umbruch, gar keine Frage. Es liegt aber an uns, ob der Umbruch in einen aggressiven Zusammenbruch führt, wo jeder nur noch versucht, sein eigenes kleines Reich gegen die fremden Anderen zu verteidigen, ober ob es einen Aufbruch gibt in eine Zukunft, die uns heute noch fremd und sehr anders vorkommen muss, eine Zukunft, die wir als Europäer, ja Weltbürger, Gotteskinder, Brüder und Schwestern gemeinsam gestalten, in die jeder einbringt, was er oder sie hat und wo am Ende alle die Erfahrung machen: alle werden satt - an Leib und Seele.
Liebe Festgemeinde, wir feiern heute miteinander.
Auf dem Plakat steht: es laden ein - die ev.Kirchengemeinde Kaiserswerth, Spectrum International Church und die koreanische Missionskirchengemeinde. Aber eigentlich, und das wollen wir nicht vergessen, sind wir alle Gäste, Eingeladene zum Fest des Lebens in versöhnter Verschiedenheit. Und Gott ist der Gastgeber, der sich freut, wenn alle die Einladung annehmen, der uns die Gelegenheit schenkt, uns gegenseitig als Brüder und Schwestern, als Freundinnen und Weggefährten wahrzunehmen, und so ein Stück weit sein Reich in dieser Welt zu verwirklichen.
Amen.
3.n.Trin. 12.06.2016 Stadtkirche 1.Timotheus 1,12-17 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.n.Trin. - 12.VI.2016
1.Timotheus 1,12-17
Liebe Gemeinde!
Diesen Text vom seliggemachten Sünder nehme ich persönlich.
… Schließlich hab ich ihn in einer Lotterie namens Perikopenordnung – also „Ordnung festgelegter Predigttexte“ – einmal an entscheidender Stelle gewonnen. An einem dritten Sonntag nach Trinitatis vor achtzehn Jahren nämlich sollte ich ordiniert werden.
… Und da war er: Der Abschnitt, in dem ein sündiger Verkündiger im Blick auf sich selber Gott rühmt und preist!?
… Eigentlich ein unmöglicher Text für eine öffentliche Amtsübertragung. Ohne Perikopenordnung wäre das ja völlig unzulässig gewesen, dass so ein Endzwanziger die Backen aufbläst und vor Superintendent und Assessor und Professoren und Gemeinde und Verwandtschaft derartig selbstgewiss anfängt zu tröten: „Ich danke unserem Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und treu geachtet hat und gesetzt in das Amt“. …….
„Peinlich, peinlich“, wird es etliche geschüttelt haben, als es dann doch so losging. Und die anderen haben vermutlich „O je, die arme Sau“ gedacht: „Muss er direkt den ganzen Wahnsinn auslegen, der bloß zu pastoralen Neurosen und so einem aufgeschwollenen Ego führt, dass es den Talar ausfüllt! Ein Paar Nummern kleiner, wär’ bestimmt gesünder gewesen.“ —
Zum Glück aber konnte ich vor achtzehn Jahren noch weniger als heute übersehen, aus welchem Brief mir da zu meiner Ordination eine Lektion zugedacht worden war: Nicht so sehr aus dem Brief des PAULUS an Timotheus, sondern viel eher aus dem Brief des Paulus an Timotheus! Das heißt: Es war nicht zum Größenwahnsinnig-Werden, sich solche Worte eines eitlen Meisters seines Faches an die Brust heften zu sollen, … sondern es war ein Trost, die Solidarität eines großen Apostels mit einem kleinen Anfänger hören und betrachten zu dürfen.
Aber das eigentlich Ergreifende und Treffende, die eigentliche Spitze und Mitte dieser Botschaft, die ich nicht anders als persönlich nehmen kann, ist ja die schlichte Feststellung des Apostels: Ich bin der Sünder. Der Sünder in Reinkultur. Das Paradebeispiel eines Sünders. ——
Der Satz ist doppelt schwierig.
Erstens lässt er uns kalt. Wir haben einen Panzer gegen solche Aussagen entwickelt. Im Namen des Fortschritts und der individuellen Freiheit, im Namen der Aufklärung und des Optimismus ist die Sünde zu einer ausgestopften Erinnerung gemacht worden: Wie den Säbelzahntiger und das Mammut dürfen Theologen, die sie zufällig ausgraben, sie präparieren und konservieren … aber doch nicht ernsthaft behaupten, es gebe lebende Exemplare in freier Wildbahn. Sünder kennen wir heute nicht mehr. Sie gehören zu dem, was sich im Lauf der Zeiten verliert: Gemordet, gelogen, gehurt und geneidet, betrogen, gelästert und gehasst wird zwar immer noch, aber das hat nichts mehr mit der Sünde zu tun …; genauso wenig wie das, was wir essen, noch mit dem, was auf Erden wächst, zu tun hat …; genauso wenig wie das, was man heute einen Text nennt, mit seinen 140 Zeichen noch mit der ursprünglichen Kraft der Schrift begegnet, die Geist einst transportfähig machte; genauso wenig wie das, was wir Meinung nennen und was sich dem Querschnitt durch die Vorurteile der Mehrheit verdankt, noch mit Erkenntnis und Haltung zu verwechseln wäre. …
Dass wir keine Sünde mehr kennen, ist also womöglich eher ein Ausdruck der Selbstentfremdung, als der Höherentwicklung der Menschheit. Doch sei’s drum.
Ich nehme den Satz trotzdem persönlich.
„Es ist gewisslich wahr und ein Wort des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.“
Aber die zweite Schwierigkeit dabei, wenn jemand das so bewusst gegen den Zeitgeist und das Lebensgefühl sagt – „Ich bin ein Sünder“ – … die zweite Schwierigkeit ist, dass als letzte Erklärung für einen so seltsam verschrobenen Satz eigentlich nur gelten kann: Man macht sich interessant damit. …….
Und das ist eine verflixte Verlegenheit. Wenn ich jetzt zu persönlich würde bei dem, was ich ganz persönlich meine, … was würde das für eine seltsam lüsterne und lächerliche Beichte:
Als wollte oder könnte man vor einander aufschneiden oder sich aneinander messen in puncto Sündenbewusstsein, Schuldregister und Markierungen auf dem Kerbholz, … als wäre es von objektivem Interesse die höchstpersönlichen und völlig allerweltsmäßigen Unehrlichkeiten, Versuchlichkeiten und Versäumnisse, die Schanden und Schmutzschichten und Schäden eines anderen ausgebreitet anzustarren.
Solche vermeintlich theologischen Papparazzimethoden verraten in Wahrheit nur die verantwortungslose Verwechslung von Sünde und Sensation.
Was aber Sünde ist, erfasst man nicht, indem man sich oder andere bloßstellt und beschämt. … Gewiss: Das ist stets die flache, einfache und missbräuchliche Tradition gewesen und besonders im Katholizismus auch geblieben: Sünde schlicht an schlechter Moral oder laxer Sinnlichkeit oder offenkundiger Gier festzumachen.
Aber dass ich ein Sünder bin, erlebe ich bestimmt nicht nur an meinen peinlichen und geheimen Regungen. Nicht bloß, wenn ich mit schlechtem Gewissen und gegen den Anstand handele, nicht nur wenn ich einem Trieb erliege oder mich einer Pflicht entziehe, sondern auch in den ehrlichen und untadeligen Stücken meines Lebens bin ich Jonas Marquardt, der ohne Gottes Barmherzigkeit und Geduld kein lebenswertes Leben führen könnte, sondern sinnlos, ohne Verheißung und ohne Zukunft existieren und bald nicht mehr da sein würde.
Die Sünde ist eben nicht nur schmuddelig und schrecklich und skandalträchtig, sie ist nicht nur das, was im Dunklen getan und worüber hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wird. Vielmehr ist sie haargenau so beteiligt an dem, was an mir und jedem anderen positiv gewertet wird und den Täter selber und sein Gewissen höchst zufrieden stimmt.
Das ist ja die erschütternde Erfahrung und Erklärung des apostolischen Erzverworfenen und auserwählten Obersünders Paulus: Wo er sich jetzt als Lästerer, Verfolger und Frevler sieht, da war er gerade noch Musterknabe und Ehrenmann! Seine Sünde geschah ja eben nicht im Haus des Lasters oder im Rausch des Unterbewussten, sondern in heiliger Absicht und mit selbstbewusstem Entschluss. Paulus wollte etwas Gutes, und er empfand sich als gerecht in seiner wütenden, knallharten Minderheitenpolitik gegen die Anhänger des Gekreuzigten.
Er hatte Glaube, Sitte, Heimat auf seiner Seite; er fühlte sich von noblen Motiven bewegt und öffentlich anerkannt, als er die Verwirrung bekämpfte und ihre Ausbreitung radikal verhindern wollte, die sich durch die Versöhnungsbotschaft Jesu ergab.
Paulus, der Fromme war also der Sünder schlechthin! ———
Ist das jetzt wieder so eine theologische Spitzfindigkeit, die am natürlichen Empfinden total vorbeigeht?
Nein.
Wer das so abtut, mag sich zwar die Erkenntnis der Wahrheit vom Leib halten, aber nicht die Tatsachen. Tatsache ist, dass ich persönlich genommen ein Sünder bin auch im Guten. Vielleicht, weil ich so unbeweglich starr an Denkmustern, Glaubenssätzen, Lebensformen festhalte, die längst überholt sind. Vielleicht auch weil ich so nachgiebig bin, wenn es menschlich verpflichtend wird. Will ich’s zu vielen recht machen – und bin charakterlos? Oder fixiere ich mich auf zu wenige – und bin elitär? Folge ich in guter Absicht zu selten einer Linie und nenne es Weitherzigkeit? Oder vernachlässige ich zu oft, dass Viele keiner Linie folgen, sondern ihren eigenen Vorstellungen trauen wollen und bin nur ein Dogmatiker?
... Und Du? Bist Du vielleicht aus reiner Vernünftigkeit und Rationalität taub für andere? Ist das, was an Dir wichtig und in Deinem Leben die Hauptsache ist, das, wofür man Dich kennt und beachtet, womöglich einfach ein Schutz vor etwas viel Dringlicherem? Willst Du mit Deinem Einsatz und Erfolg Positives und übersiehst den Preis und Schaden? Respektiert man Dich für etwas, das Du selber gar nicht sein oder tun würdest, wenn es nur anders ginge? Bist Du aus zweifelhaften Gründen freundlich? Aus Verlogenheit ehrlich? Aus Eigennutz hilfreich? Zu unanständigen Zwecken anständig? Aus reinem Kalkül keine Bestie? …….
Bist Du also am Ende auch nur das, was C. F. Meyer so unnachahmlich lakonisch an mir und Dir diagnostiziert: „Ein Mensch mit seinem Widerspruch“?!
Doch was ist die Sünde dabei, dass wir so sind? Anders, als wir müssten und wollten. —
Sünde ist nicht Schuld. Schuld begehen wir, schuldig werden wir. Sündig aber sind wir!
Genau an dieser Stelle aber kommt’s jetzt darauf an, dass wir scharf hinhören.
Weil unsere Sünde nicht das Register unserer Laus- oder Spitzbubenstreiche, unserer dämlichen Unterlassungen oder raffinierten Tricks und Trügereien ist, sondern unser Dasein an sich bestimmt, darum ist mein persönlicher Satz „Ich bin ein Sünder“ am ehesten zu vergleichen, vielleicht sogar zu erläutern durch ähnliche Sätze wie – ganz vorsichtig jetzt!!!! – „Ich bin ein Flüchtling“, „Ich bin abhängig“, „Ich bin ein Sklave“, „Ich bin Gefangener“.
Natürlich nicht, weil Flüchtlinge oder Junkies, nicht weil Kranke oder Ohnmächtige schuld an ihrer Misere wären! Im Gegenteil: Weil es über ihre Macht geht, sich selber zu helfen!
Und das ist der springende Punkt der Sünde, an den wir uns einfach nicht gewöhnen können: Wir allesbeherrschenden, endlos verbessernden, grenzenlos selbstvertrauenden, tapfer eigenverantwortlichen, disziplinierten Optimierungsgläubigen … wir hassen die Sünde und leugnen sie, weil wir sie nicht wegtrainieren, nicht kurieren, nicht bearbeiten und bewältigen können. Alles kriegen wir hin. Überall gelingt uns Unglaubliches. Nur hier sollte eine Grenze sein? Hier sollten wir scheitern? Obwohl wir so viele mentale Strategien und positive Übungen kennen, obwohl wir uns coachen lassen und abrackern und Fortschritte machen und Techniken haben und individuell wie kollektiv so irre viel vermögen …....?
Exakt!!!
Oder meint jemand ernsthaft, der ewige König, der Unvergängliche und Unsichtbare, der allein Gott ist, wäre in Christus Jesus in die Welt gekommen, um ein Problem unserer Selbstdisziplin zu beheben? Hätte er Mensch werden sollen, um uns ein Motivationspro-gramm nahe zu bringen? Hätte er Leid und Schmerz ertragen sollen, um uns das workout gegen den inneren Schweinehund vorzuturnen? Hätte er sich kreuzigen lassen müssen, um uns zu etwas mehr sozialer Anstrengung, zu irgendwie besseren moralischen Leistungen und einem kernigeren, gesünderen, ausbalancierteren Lebensstil zu bewegen?
Nein.
Dafür gibt es alles das, was wir lernen, üben, korrigieren, therapieren und aus Selbsterhaltungstrieb anders machen können.
Gegen selbstsüchtige Bequemlichkeit und unbarmherzige Gedankenlosigkeit kämen wir an. Deren Folgen sehen wir tagtäglich, wenn wir die Welt anschauen und glasklar erkennen, dass wir wirtschaftsethisch und ökologisch ihr Schicksal in unseren Händen halten und – weiß Gott! – verbessern könnten und sollten und hoffentlich eines Tages auch werden!
Im Blick auf die Welt und unser Leben erkenne ich also nur, dass ich und Du und erdrückend viele von uns Idioten sind und uns ändern könnten. ……. ———
Dagegen ist es ein ganz anderer Blick, der mir die Sünde offenbart.
Es ist der Blick auf Jesus. Wenn ich den sehe, wenn ich ihn erfasse, seine Bereitschaft, nicht irgendwen oder -was zu verbessern, sondern stellvertretend das Hoffnungsloseste von allem anzunehmen – den Tod der Verlorenen –, dann erst erkenne ich wirklich, dass ich ein Sünder sein muss.
Im Blick auf Jesus erkenne ich, dass ich ein Problem haben muss, das über alle meine Kräfte geht und auch von meinen besten Bestrebungen und Fähigkeiten nicht gelöst werden kann.
Und dieses Problem, das ich eigentlich nur dort erkenne, wo es schon nicht mehr bedrohlich, sondern durch Christus gelöst ist, … dieses Problem ist die Sünde, die darin besteht, dass ich mit meinen schlechten und mit meinen guten Eigenschaften nicht das bin, wofür Paulus zu Anfang Gott dankt: Ich bin nicht stark und treu im Dienst.
Dieser Dienst aber, den ich bei meiner Ordination vor achtzehn Jahren glaubte, im Predigtamt anzutreten, … der hat einen anderen Namen. Er heißt griechisch: «Diakonia» (1.Tim1,12).
… Es geht also gar nicht um die Kanzel, sondern um die Berufung aller Christen, ja um die gottgefälligste Grundlage des Menschseins überhaupt: Um ein Dasein für andere, um ein Leben, das nicht um sich selber kreist, sondern sich auf Gott und den anderen Menschen richtet.
Ein solches Leben, das dient, das teilt und schenkt und fürbittend und stellvertretend und hingebend ist bis zum Letzten – ein solches Leben ist das Leben Jesu.
… Und ich darf es persönlich nehmen, ……. und Du auch.
Zwar zeigt es uns, wie anders wir sind.
Sünder.
Aber gerade so dient es ja uns und allen. Denn es gibt uns Anteil an der Gnade samt dem Glauben und der Liebe, die in ihm ist. Und die sind so groß, so reich, so stark, so lebendig und umfassend, dass sie für uns alle reichen.
Wenn wir an Jesus und seinem Leben und seinem Tod erkennen, was uns fehlt … dann haben wir es schon gefunden: Den starken Gottes-Dienst für alle Menschen, den treuen menschlichen Dienst für Gott. Und alle, die daran glauben, bindet ihr Glaube ein in das Ganze, er gibt ihnen Anteil an Allem, … an der Rettung der Menschen und am Reich Gottes.
Das ist ein teuer wertes Wort.
Und es gilt.
Uns.
Amen.
1.n.Trinitatis 29.05.2016 Stadtkirche 1.Johannes 4,16b-21 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.n.Trin. - 29.V.2016
1.Johannes 4,16b-21
Liebe Gemeinde!
Wenn man sagt, die eigene Auffassung werde ja belegt im „Mangoldt-Klein-Starck“ oder bei „Maunz-Dürig“ oder durch „Hamann-Lenz“, dann klingt das angenehm wichtig und Kenner der Materie wissen, dass man auf bekannte Kommentare anspielt, die unser Grundgesetz erfahren hat, in denen es gedeutet und ausgelegt wird. —
Sagt man dagegen, man folge in seinen Überzeugungen der Scharī'a, dann greifen viele heimlich bereits zum Handy, um die Terrorabwehr zu rufen, denn die gesammelte Auslegungs- und Rechtsschöpfungspraxis, die sich unter diesem weiten Begriff um den Qur'an herum kristallisiert, steht in üblem Ruf, … was gewiss eine ungebildete Verallgemeinerung ist. —
Stellte man wiederum fest, dass man seine Standpunkte aus dem Talmud bezieht, so wird man heute wohl nicht mehr von den Antisemiten als rabulistischer Textklauber verleumdet; aber die gewaltige Kommentarleistung, die das Judentum um das heilige Gesetz Gottes herum im Talmud versammelt hat, gilt häufig immer noch als viel zu lebensfern und so verwirrend dialektisch, dass man diese höchste Summe des Denkens und Diskutierens in praktischer Absicht außerhalb der rabbinischen Welt allzu selten ernst nimmt. —
So aber haftet dem Geschäft des Kommentierens und Deutens, des Auslegens und Anwendens, das doch so nötig ist, wenn man von Grundsatz und Prinzip zu Praxis und Einzelfall gelangen will, fast überall ein G’schmäckle an. Ein bisschen hochgeschraubt und lächerlich ist es in den Augen der Meisten halt doch, wenn schöne, klare, eindeutige Grundsätze lästigerweise der Bearbeitung, Durchdringung und Übersetzung bedürfen.
„Kann man das den nicht gleich sagen? Müssen die denn immer so kompliziert drum rum reden?“: So meckert der Stammtisch, der ja bekanntlich die klaren Lösungen instinktiv erfasst und das überflüssige Drüber- und Vor- und Nachdenken entbehren kann.
Daher ist es vielleicht heilsam, wenn wir uns etwas Grundsätzliches zu unserem Neuen Testament klar machen: Das Neue Testament ist ein Kommentar, es ist eine Auslegung, eine ebenso geistliche wie rechtliche Deutung dessen, was wir das Alte Testament nennen und was z.B. Luther schlicht mit dem Ausdruck Jesajas das „Wort Gottes“ (Jes40,8) nannte.
Das Neue Testament deutet und kommentiert das Wort Gottes.
— Wie? Wir Christen glauben: Indem das Wort Gottes selber Mensch wurde und so eine herrlich menschliche, aber auch eine den Menschen als Herr begegnende Stimme. Diese Stimme, die Gottes Wort auslegt und anwendet, ist die Stimme Jesu Christi, und deren praktische und lebendige und ansprechend-anspruchsvolle Deutung des Wortes und Willens des Vaters nennen wir „Evangelium“.
So weit so gut.
Was wir damit allerdings sagen – und das sollten wir dem Stammtisch in Gemeinde und Welt immer wieder klar machen! – ist Folgendes: Gottes Wort ist nicht die Selbstverständlichkeit, es ist nicht das knappe Kommando für Doofe und auch nicht die fraglos jedermann einleuchtende Stimme der Natur oder des Gewissens, als die wir es gerne zurechtlegen und -biegen. Gottes Wort braucht Deutung.
Unser grundsätzlicher Deuter, unser Lehrer, unser Erklärer – man kann auch sagen: unser „Rabbi“ – ist dabei Gottes anderes Ich, Jesus. ……. (Hören Sie, dass da ein „Aber“ kommt?) ……. Aber - und das vergessen wir häufig! - aber auch das Evangelium ist kein automatisches Programm, das überall da, wo es auf eine seelische Festplatte aufgespielt wurde, andere Betriebssysteme löscht und andere Funktionen ersetzt, so dass fortan alles nur nach dieser Fassung läuft. …….
Auch das Evangelium ist eine Botschaft und kein System. Auch das Evangelium ist Wort, das der Auslegung, der Deutung, der praktischen Anwendung bedarf.
Und darum besteht das Neue Testament eben nicht allein aus dem Evangelium, sondern auch aus den Taten und Offenbarungen und vor allem aus den Briefen der Apostel. Diese aber sind nichts anderes als Kommentare des Kommentars.
Was Paulus und Petrus, was Johannes und Jakobus und Judas und der Hebräerbrief darstellen, ist also die dritte Schicht: Die Erläuterung des Evangelium-Kommentars zur Verheißung und zum Gebot Gottes. Sie sind ihrem Anspruch und ihrer Funktion nach der „Maunz-Dürig“, der Talmud, die Schar'īa – wörtlich: „der Weg zur Quelle“ – des von Jesus gelehrten und gelebten und erfüllten ewigen göttlichen Wortes. ———
So. Das war jetzt umständlich genug.
Aber umständlich musste es sein, damit wir das sattsam bekannte und erfreuliche Wort aus dem 1.Johannesbrief richtig einordnen.
Denn diese eingängige und leicht verständliche Prägung nach Art eines sentimentalen Albumblatts – „Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ –, … diese populäre Sentenz des Lieblingsjüngers Jesu steht eben nicht irgendwo für sich allein als Spitzensatz frommer Unmittelbarkeit, sondern sie ist das geistgewirkte Ergebnis tiefen Sinnens, heftigen Leidens und praktischer Entscheidungen.
Darum müssen wir uns hüten vor unseren voreiligen emotionalen Vorlieben für dieses scheinbar schlichte und jedermann sympathische Wort.
… Persönlich bin ich davon besonders gebrannt, denn es wurde mit äußerster Penetranz als einziger Bibelvers wieder und wieder pathetisch deklamiert von meiner Großmutter, die ausdrücklich keinen Judengott und keinen Juden Jesus und überhaupt kein wirklich lebendiges Gegenüber gelten ließ, sondern nur ihr eigenes Blut und ihre eigene Phantasie vergötzte.
In dem johanneischen Allgemeinplatz von der Liebe konnte indes auch eine Nazi-Seele selig zu werden meinen. ——
….... An dieser universal vulgären und doch nur scheinbaren Verständlichkeit des Satzes hat sich allerdings bis heute wenig geändert.
Doch es ist schlichter Missbrauch, wenn wir ihn so verstehen, als sage er: „Herz ist Trumpf!“ oder als ermächtige er uns, unseren Gefühlen zu vertrauen, weil sie der erleuchtete Funken in uns seien.
Wohlweislich hat Johannes eben nicht gesagt, dass Eros oder Amor der wahre Gott sei! Der Apostel hat nicht behauptet: „Die Liebe ist Gott“, sondern – um so umständlich zu formulieren wie wir begonnen haben, aber dafür auch exakt wörtlich –, …sondern Johannes hält fest: „Der Gott ist Liebe“.
Gott also ist der Bestimmte und Bestimmende … und nicht etwa die Liebe! ——
Was das aber praktisch bedeutet, erläutert Johannes in einem zweiten Satz, den kein Liebhaber des bekannten Satzes davor je mitzitiert: „Darin ist die Liebe bei uns vollkommen, dass wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts.“
……. Und so spontan wie der Grundsatz von der Liebe einzuleuchten schien, ebenso spontan wird er völlig fremd.
Denn hier begegnet Liebe plötzlich unter juristischem Gesichtspunkt, ja geradezu als das entscheidende Kriterium der Rechtsprechung. Liebe, die Gott entspricht, ist also Liebe, die der Gerechtigkeit entspricht. Sie hat ihren Ursprung und ihr Ziel nicht im menschlichen Affekt, sondern im Gesetz und Urteil Gottes.
Dieser Zusammenhang aber muss klar sein, damit wir aus dem Apostel Johannes nicht nur den Gefühlsonkel machen, der die Gemütsmenschen seligpreist; denn das ist er nicht, sondern er war und bleibt der Zeuge einer Liebe, die sich hinrichten ließ, um die gefallene Welt aufzurichten, … und mit dieser Liebe bezeugt Johannes zugleich die Forderung, dass auch wir das Recht und die Menschen wie diese Liebe, durch diese Liebe, mit dieser Liebe aufrichten.
Gott, der Liebe ist, ist also nicht im Gemüt, sondern in der Gemeinschaft zu finden: Dort, wo die anderen Menschen sind, dort wo wir sie sehen und fühlen können, wo sie uns ans Herz und auf die Nerven gehen, wo sie uns brauchen und wo sie uns gebrauchen, … dort, wo wir folglich mit allen Kleinigkeiten und mit der gesamten Ausrichtung unseres Lebens gerecht oder aber lieblos sein können und beides ganz praktisch geschieht … dort ist Gott, die Liebe zu finden. Dort, wo es überhaupt keine Kunst, aber eine echte Probe ist, die Brüder – will sagen: Die Nächsten, will aber auch sagen. Die Fremden, … will sagen: Meinesgleichen, will aber auch sagen: Meine Gegenteile – dort also, wo es eine echte Probe, aber keine Kunst ist, die Brüder zu lieben, dort erfüllt sich das Gebot Gottes, das Liebe ist. ——
Das alles – diese Konzentration auf das praktische Liebesgebot, auf die Ethik der Menschenliebe – das alles aber ist ja nicht neu: Ist es doch der Kern und Stern sowohl des Gotteswortes in der Torah des Mose (5.Mose 6,5 + 3.Mose19,18), als auch der Auslegung Jesu, der dieses Doppelgebot zum Tor des Reiches Gottes erklärte (vgl. Mk12,30+34).
Was aber wird denn dann durch den apostolischen Kommentar zusätzlich gewonnen und geklärt?
— Vor allem dieses: Durch das rückblickenden Zeugnis des Jüngers wird ein für allemal der Widerstand besiegt, der gegen die Gebote Gottes, gegen die Lehre des Heilands erhoben werden kann, … der rotzfreche und angeborene Widerstand des Stammtisches in uns:
„Gott hat ja gut reden und der Herr Jesus kann schön predigen – aber am Ende haben wir den Salat mit der Liebe: Schon unsere Familie ist manchmal anstrengend genug, … und unsere Freunde lieben uns und wir sie am meisten in Glück und Sonnenschein, … unsere Nachbarn brauchen wir erst recht nicht allzu nah … und die vielen anderen, die Fremden und natürlich erst recht die Feinde, die wir als Christen immer hatten und mehr denn je bekommen dürften …. was soll uns im Blick auf dieses bunte Bouquet des Krautes und des Unkrautes denn die Liebe nützen? Geht doch gar nicht! Typisch theoretisch! Gott hat wirklich immer nur gut reden. … Und wir haben die Bescherung!“
Gewiss ist das nur eine Karikatur des motzenden Egoisten.
Gewiss hat Johannes in seinem Brief ganz andere, viel ernstere Anfechtungen vor Augen in einer Gemeinde, die in Todesgefahr durch Verfolgung schwebte und darum zum Bersten angespannt war, so dass alle zwischenmenschlichen Konflikte letzte Schärfe gewannen und das allgegenwärtige Misstrauen sie immer enger, immer ausschließender machte, bis die äußere Bedrohung durch das Martyrium nicht mehr gefährlicher war als die innere Bedrohung durch das Verweigern der Liebe. …
Doch einerlei, ob es sich um unsere spätchristliche Bequemlichkeit oder um die Leiden der frühen Christen handelt: Das Zeugnis des Apostels, sein Kommentar zum Liebesgebot hält uns allen eines vor Augen. Johannes hat den Sohn Gottes, er hat Gott selbst beobachtet und erlebt. Und darum kann er klarstellen, was unbedingt klargestellt werden muss:
Nämlich dass Gott nicht etwa nur redet und fordert. Gott ist nicht bloß der Gebieter, und was Er von den Menschen verlangt, entspringt nicht Seiner schönen Theorie. Sondern was Er verlangt, das tut Er auch; was Er gebietet, das erfüllt Er selber.
Gott, der Gebieter ist selbst und tut Sein Gebot!
Wenn wir also das Alte und das Neue Testament – den Vater und den Sohn – Liebe fordern hören, dann begegnet uns damit nicht ein Prinzip, das von hoher Warte herab Dritten auferlegt würde, sondern dann begegnet uns im Gebot der Liebe das schöpferische Wort, das aktive Prinzip, der weltverändernde Geist der Liebe selber.
Gott will, dass wir werden, was Er ist!
Das ist die Höhe und Herausforderung, aber auch die Zusage und Gnade des beileibe nicht bloß gefühlsduseligen Satzes, dass Gott Liebe ist und dass ein Leben und Bleiben in der Liebe den unlösbaren Zusammenhang und Bund mit Gott ausmacht.
Ist uns das einmal klar geworden – dass wir nicht aus Gründen des Gefühls, aber ebensowenig aus Gründen der Moral, des politisch Korrekten, des Anstands oder der Ethik zu lieben berufen sind –, … ist uns das einmal klar geworden, dann klärt sich das Leben und das Lieben ganz. Denn dann wird die Liebe nicht mehr verzweckt, so dass sie bestimmten Zielen einer humanen Politik, einer tugendhaften Selbstdarstellung oder der vorwurfsvollen Selbstgerechtigkeit so vieler Christen dienen müsste.
Wenn wir begreifen, dass wir mitten unter den Menschen im Lieben Gott einfach unmittelbar nahe sind, dann brechen die menschlichen Vergleichsmaßstäbe und Schaukämpfe und Wettbewerbe und Leistungszwänge in sich zusammen.
Dann geht es nicht mehr um das, was das Lieben erreichen soll, sondern um das, was uns Menschen im Lieben konkret angeboten wird: „Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in Ihm!“
Und da endet alle Furcht: ……. Ob wir es schaffen? Ob wir gut und gerecht und erfolgreich genug dabei sind? Ob wir überhaupt die Richtigen sind …….?
— Gott ist der Richtige, der uns vollkommen Liebende!
Und Seine Liebe treibt alle unsere Furcht aus.
Darum lasst uns lieben, denn Er hat uns zuerst geliebt!
Amen.
Trinitatis 22.05.2016 Stadtkirche Römer 11,33-36 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Trinitatis 22.V.2016 ב״ה
Römer 11,33-36
Liebe Gemeinde!
Vor einer Woche – an Pfingsten –, da haben wir uns noch mit der ganzen weltweiten Kirche ergötzen und erfreuen können an Sprachakrobatik und Wortwitz, an Zungenfertigkeit und Wortgewalt, am Zauber der angeborenen und geistlich beseelten Ausdruckskraft des Wesens, „das den Logos hat“ – also beides das Wort und die Vernunft –, wie Aristoteles den beredten und bedachten Menschen gegenüber dem sprach- und gedankenlosen Tier beschreibt.
Pfingsten ist und bleibt das Fest der Redenden, derer, die dank des Gottesgeistes in eigenen und übersetzten und neuen Sprachen die wirkliche Wirklichkeit auffangen und prägen und verwandeln. Pfingsten: Die Sprechstunde Gottes, in der auch der begnadete Mensch zu Worte kommt.
Und nun Trinitatis. Die Feier der Fülle Gottes, des Redenden, Gebietenden und Schaffenden, des Herrschenden und Handelnden und Leidenden, des Tröstenden und Lehrenden und Heilenden. Die Feier der Fülle Gottes, die uns … stumm macht.
Denn dafür reichen unsere Kräfte und Begriffe, unsere Erkenntnisse und Worte eben doch nicht aus. Gott sprengt sie alle eben doch. Er überbietet sie, und durch Seine Unvergleichbarkeit höhlt Er sie aus. Es gibt kein Wort und keine Vorstellung, die wirklich angemessen und aussagekräftig, die tatsächlich treffend wären, wenn es um Gott geht.
Doch wir müssen gar nicht die manchen zunächst verdächtige Mystik, sondern wir können die glasklare Philosophie bemühen, wenn wir an solche Grenzen des Verstehens und Denkens und Sagens stoßen. Der berühmte Satz des Philosophen Ludwig Wittgenstein (von dem freilich viele sagen werden, er sei ein Mystiker durch und durch gewesen), … der berühmte Satz Wittgensteins also wäre heute vor Gott dem Vater, vor Gott dem Sohn, vor Gott dem Heiligen Geist schon die einzige angemessene Haltung angesichts der geheimnisvollen Wahrheit des Dreieinen. Wittgenstein hat bekanntlich gesagt: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“* ——
Nachdem nun Paulus in seinem Römerbrief das ungelöste Rätsel lange meditiert hat, dass Gott mit seinem Volk Israel und den anderen Völkern der Erde nicht einen gleichzeitigen, sondern ein zeitversetzten Weg zum Friedensreich des Messias geht, mündet sein leidenschaftliches Nachdenken in den Ausruf der Anbetung: O welche Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes. Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!
Worte sind’s zwar, aber doch letzte Worte, Worte vor der Grenze des Nicht-mehr-Nennbaren. Dieser Stoßseufzer der Andacht, dieser Gipfel des sprachlosen Rühmens, das höher führt als alle unsere Vernunft (vgl.Phil4,7), ist wie eine Anwendung des Wittgenstein’schen Prinzips von der schweigenden Ehrfurcht vor dem Unsagbaren. Und es ist zugleich im Verklingen der sonst so geschwätzigen menschlichen Stimme ein Echo der Begegnung des Propheten Elia mit Gott selber, der ja nicht im Getöse und nicht in der Überwältigung des Orkans über ihn kam, sondern in der „Stimme verschwebenden Schweigens“ an ihm in der tiefsten Einsamkeit vorüberzog (1.Könige 19,12: Buber-Rosenzweig’sche Übersetzung).
Nur für eine evangelische Predigt ist es ein ungewöhnliches Unterfangen, der stillen Verschwiegenheit Gottes und dem lautlosen Anbeten dieses in sich ruhenden, grundlosen Geheimnisses gerecht werden zu wollen. Zu sehr sind wir an die Register der Beredsamkeit, an rhetorische Mittel, die unser Mitdenken und Mitfühlen erregen, gewöhnt. Schweigen ist nach unseren Maßstäben keine Verkündigung. … Obwohl es im Psalm (19,2ff) von der allergewaltigsten Predigt der Welt – vom Zeugnis der gesamten Schöpfung – doch heißt:
„Die Himmel erzählen die Ehre Gottes / und die Feste verkündigt seiner Hände Werk.
Ein Tag sagt’s dem andern / und eine Nacht tut’s kund der anderen,
ohne Sprache und ohne Worte, / unhörbar ist ihre Stimme.
Ihr Schall [aber] geht aus in alle Lande / und ihr Reden bis an die Enden der Erde“.
Doch wenn es uns auch fremd ist …: Erste Schritte hinunter und hinein in das Schweigen müssen wir doch machen, wenn wir uns die Begrenztheit aller Ausdruckskräfte angesichts der völligen Grenzenlosigkeit Gottes vergegenwärtigen.
Wagen wir’s also.
I Fangen wir mit den unlösbaren Rätseln an, mit der Tiefe des Lebens und des Todes.
Bedenken wir das, was uns nicht zu begreifen und zu verstehen gegeben ist: Die Tiefe der Angst, des Schmerzes. Die nicht zu beantwortenden Fragen des Leidens. Die von uns nicht zu entwirrenden Knoten und Schlingen der Weltgeschichte. Ganz nah an unserem Herzen, ganz fern, über unseren Horizont hinaus bohrt die Not in die Tiefe, … tief, … tiefer, … hinunter in einen unauslotbaren Abgrund.
Wie wenig kriegen wir zusammen: Das Glück, das wir kennen und gern festhielten, und den Strich, den das Leben da durch macht. Das unerklärliche Nebeneinander von Lachen und Weinen auf einer und derselben Straßenseite, bei unseren Nachbarn. Die Ungeheuerlichkeit des Wirklichen, das dem einen alles gewährt und dem anderen alles verweigert, was der Mensch braucht und will. Das kopfzerreißende Drama der Menschheit, die vom Himmel träumt und die Hölle errichtet. … Woher das alles? … Wozu?
Heiliger Hiob, Du Dulder und Haderer, der Du ewig aus den Seiten der Bibel zu den Seelen der Menschen sprichst und der große Patron aller bleibst: Keine Antwort hast Du gefunden, aber die Frage des gesamten menschlichen Geschlechtes zu stellen gewagt: „Warum ist alles ungerecht?“ … Aus deinem Buch des Urschreis nach dem fernen, verhüllten Gott nimmt Paulus die Feststellung, die unsere Weisheit und Erklärungen, unsere Logik von Ursachen und Wirkungen dann endgültig atomisiert: „Niemand hat dem HERRN ja etwas zuvor gegeben, nichts können wir darum beanspruchen“ …....
Grenzenlos ist Gott erhaben über uns und unser Verhandeln und Verstehen.
So schlägt uns keiner auf’s Maul, … nur die Bibel, … nur die in ihr laut und wieder leise werdende menschliche Grundfrage, … nur der Apostel. …….
O, welch eine Tiefe …….
II Doch so stumm uns das Kreisen und Tauchen in solche Untiefen auch macht … Paulus schöpft im Schweigen Atem. Und über die Pupille, die den vernichtenden Blick in’s Nichts wagte, zieht sich ein Lichtschimmer; auf der erlahmenden Zunge, die nichts mehr zu sagen weiß, liegt plötzlich eine Köstlichkeit und Kostbarkeit. In der tonlosen Tiefe, die alles Denken und Verstehen schluckt, verbirgt sich offenkundig ein namenloser Reichtum: Unser Latein ist zwar lang schon am Ende; wir wissen uns auf die großen Qualen in dieser Welt keinen Reim zu machen; für uns brechen Einsicht und Sinn oft ab und laufen in’s Leere.
Und dennoch: Paulus stößt im freien Fall unserer end- und ergebnislosen Fragen auf den Reichtum der Weisheit und der Erkenntnis Gottes. …
… Gewiss ist dieser Schatz gewaltiger, als dass wir ihn heben, gewichtiger, als dass wir ihn mit unserem Fassungsvermögen bergen könnten. Aber ganz unten im Unerklärlichen, in allem, was uns nicht trägt und was wir nicht aushalten, ist es zu ahnen: Das kristallklare Leuchten, zu dem sich unter dem Druck aller Rätsel die Wahrheit und Gerechtigkeit Gottes verdichten. Nicht in sonniger Höhe sind sie zu suchen, man kann sie nicht aus der Luft greifen und im Umherschweifen haschen. Aber in der Schwärze des Grundes, … unter, nicht über allen Hinder- und Beschwernissen des Irdischen! – liegt das Wunder und wartet auf uns!!!
Die Tiefen des Todes und des Lebens führen nicht fort von Gott, sondern zu Ihm hin!
Die Fragen, zu denen wir keine Lösung finden, verneinen Gott nicht, sondern sie öffnen die uns im harmlos-oberflächlichen Alltag sonst unzugängliche Schicht, in der Gott hält und trägt, was ohne Ihn haltlos und unerträglich ist.
Der Schmerz und das Leid sind nicht die Widerlegung Gottes.
Sie legen ihn vielmehr frei.
Was oder wer käme denn sonst noch, unten am Ende der menschlichen Suchen und Abstürze?
……. Auch das ist eine Ahnung, die uns in ihrer glatten, unbegreiflichen Einfachheit niemand zumutet.
Und auch dieser Weg in’s Tiefe macht ganz still: Wieder hält man den Atem an, ob die Geduld uns reißt, ob uns der Verstand oder das Herz stillstehen, wenn wir es so von ferne mit-bekommen, dass wir immer mit dem Falschen rechnen: Immer meinen wir doch, wenn’s glatt auf- und gut ausgeht, dann stießen wir auf Gott. … Dabei ist Er mindestens so nah, wenn nicht noch viel näher dort, wo es keine einfache Lösung, kein rundes Ergebnis, sondern Brüche gibt, ungerade Zahlen, unbefriedigende Reste.
O welche Tiefe des Reichtums in der Wirklichkeit, dass Gott sich nicht an das Vollkommene gebunden hat, sondern im Fehlerhaften und im Rätsel, im Unklaren und im Unheilen begegnet. … Grenzenlos eben.
… Wenn wir Ihn auch nicht fassen können, können wir Ihn doch auch nicht verfehlen!
III Und aus dieser zweifachen, doppelten Tiefe – dass Gott unsere Grenzen sprengt und darum unbegrenzt gegenwärtig ist –, aus dieser doppelten Tiefe strömt ein unglaublicher, unsagbarer Trost.
So erschüttert wir sein mögen, wenn Gottes Unerforschlichkeit uns entgegenschlägt, so berührt werden wir sein, wenn uns aus dem gleichen Grund die schrankenlose Gegenwart Gottes entgegentritt.
Das Rätsel Seiner Nähe ist ja nicht geringer als das Geheimnis Seiner Höhe. Weil Er erhaben unabhängig ist von allen unseren Denk- und Wahrheitsmustern, nur darum schließt rein gar nichts Gott aus. Er ist immer noch mehr und immer noch dichter bei uns, als jedes Gegenteil und aller Abstand zu Ihm vermuten lassen. …….
Da kommt nun tatsächlich keine Logik und kein System des menschlichen Feststellens und Mitteilens mehr mit. Gott, der Lebendige umfasst sogar den Tod, der Ihn doch zu verneinen scheint. Gott, der Ewige erfüllt jedes Splitterchen und jede schmelzende Flocke der Zeit ganz. Gott, der Einzige ist Teil von allem. Gott, der Alleinige hat die chaotische Vielfalt aller Dinge in nichts zusammengefasst, als in Sich.
……. Dieses Reden in Rätseln, dieses Tasten hinüber in die Spekulation, dieses knirschende Aneinander-Reiben von Paradoxien … das ist der letzte, aber wohl kaum der klügste Versuch des menschlichen Redens.
Dahinter öffnet sich in viel wohltuenderer Freiheit und Offenheit das weite, vom Geist durchatmete und pulsierende Reich des Schweigens. …….Nicht des betretenen oder ratlosen Verstummens, nicht der erstickten Sprachlosigkeit oder der resignierten Überforderung, sondern die Stille, die Fülle ist und darum keines Gefäßes, nicht einmal des Wortes als Medium mehr bedarf.
An der Schwelle aber, wo man aufgeht in diesem Ganzen der Vollkommenheit, in dieser randlosen Mitte und ungeteilten Gegenwart, an der Schwelle, wo wir mit Geist und Seele und allen unseren Sinnen übergehen in Gott, da hören wir das letzte aussprechbare und darin erste ganz geistige Lob auf den Lippen des Paulus:
„Von Ihm und durch Ihn und zu Ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit!“
Und mit diesen Grundübungen, die das Unsagbare umkreisten – nämlich die unendliche Erhabenheit Gottes über alles und so auch seine unfassbare Gegenwart in allem bis in’s Letzte und den unermesslichen Trost, der daraus rührt –, mit dieser dreifachen Denkübung bis an die Grenze des Nicht-mehr-Mitteilbaren, da hat Paulus durch das Rätsel und das ihm folgende Schweigen Gott selbst umschrieben.
Gott im Geheimnis, Gott in der Tiefe, Gott im Trost – der Vater, der Sohn, der Heilige Geist!
O welch eine Tiefe des Reichtums, beides der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn „wer hat des HERRN Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?“ (Jesaja 40,13) oder „wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste?“ (Hiob 41,3) Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
* Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus , Werkausgabe Bd. 1 [Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft], 7.Aufl. Frankfurt/M 1990, S 85.
Pfingstsonntag 15.05.2016 Stadtkirche Apostelgeschichte 2,1-18 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Pfingstsonntag - 15.V.2016 ב״ה
Apostelgeschichte 2, 1-18
Liebe Gemeinde!
Die zungenbrecherischen Völkernamen im Pfingstbericht: Erinnern sie nicht auf herrlich unbeschwerte Weise an eine Tabelle der Fußballliga zur römischen Kaiserszeit? Oder an die verwirrende Teilnehmer-Liste eines großen Schlagerwettbewerbs, bei dem auch aus den hintersten Provinzen des Balkan, des Kaukasus und der Levante kleine Sängerinnen und Tänzer herbeigeflattert kommen, um neben den großen Stämmen und Völkern vorzuträllern?
Oder ist es nicht zumindest die Poesie eines Reiseprospektes nach dem Gusto der Bildungsreisenden, in dem die Begegnung mit der verschonten Völkervielfalt einer Welt vor der großen Gleichschaltung versprochen wird?
Weckt sie nicht in jedem von uns irgendein abenteuerliches Fernweh oder eine Reiselust hin zu altehrwürdigen Hinterwäldern … diese beinah lautmalerische Liturgie: „Parther, Meder und Elamiter und die wir wohnen in Mesopotamien und Judäa, Kappadozien, Pontus und der Provinz Asien, Phrygien, Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen“?!
Das alles mag man sicher hören in der alljährlich begegnenden, von den Lektoren ein wenig gefürchteten bunt gemischten Geographie der geistbegabten Glaubenserstlinge.
Aber es steckt – weiß Gott! – mehr darin, wenn das erste ausführliche Kapitel der christlichen Geisterfüllung oder Spiritualität, wie wir heute sagen, mit einem Grundkurs in Erd- und Völkerkunde anhebt.
Der pfingstliche Augenblick, in dem die Geschichte Gottes und der Menschen zum ersten Mal absichtlich aus dem heiligen Bezirk Israels hinüber in das Mosaik der gottlosen Völker schwappt, dieser Augenblick der Eingemeindung aller Welt hat gewaltige Konsequenzen.
Von diesem Tag an geht’s nicht mehr um das übersichtliche Thema „Gott und Mensch“, das immer so schön paarweise vorkommt als Gott und Israel im Bund der Erwählung und als Gottsein und Menschwerden in der Person des versöhnenden Gottmenschen Jesus Christus, … nein, von Pfingsten an geht es um Chaos und Triumph im Verhältnis von Gott und Menschheit. Nichts Überschaubares zeigt sich uns jetzt mehr, sondern ab sofort das Gewirr und Gemisch, das Gedränge und Geplärre, Gefälle und Geschiebe des ganzen Menschengeschlechts. Ungeordnet und unvereinbar, universal und urban, urig und unlogisch prallen und wirbeln plötzlich alle Gestalten des Menschlichen auf- und durcheinander: Älteste Zivilisation und ödeste Barbarei, schicksalhaft verfeindete und sprachlich streng geschiedene Stämme, Glückspilze und Parias, Schwätzer und Schweiger, Zischer und Schnalzer, Jodler und Faucher, verschwiegene Beduinen und elegante Halbwilde, hieroglyphische Gelehrte und hellenistische Kolonialherren, fromme Beter und staatenlose Freibeuter und alles, was im Sud der Menschheit noch zwischen Würze und Abschaum brodelt. … Gottes Geist erwählt und ergreift, Gottes Geist elektrisiert und „energetisiert“ sie alle und macht aus der Völkersuppe ein neues Menschengeschlecht. ———
Wem das nun wie humanistische Poesie oder Sowjet-Schwulst von der Völkerfreundschaft vorkommt, der darf sich gerne aufklären lassen. Das bunte Panorama von der weltweiten Gottesmenschheit ist keine idealistische Utopie, sondern die krause und doch faktische Gründungsurkunde der Kirche des Heiligen Geistes. So begann sie: International, multiethnisch und -kulturell, gewürfelt aus geistlicher Pilgerschaft und gesellschaftlicher Migration, polyglott – also vielsprachig –, bei alledem aber in ihrer ursprünglichen Spannung durch den Geist Gottes gesegnet mit der Gabe des gegenseitigen und gemeinsamen Verstehens.
Um alle Reiz- und Zauberworte von einst und jetzt auf einen Nenner zu bringen:
Am Tag der Pfingsten ereignete sich in Jerusalem die Urgemeinde als göttliches Wunder der Integration! ——
Das freilich muss uns doppelt hellhörig machen, dass wir hören, wie Integration das alleranfänglichste Erbteil der Kirche und zugleich ein Wunder Gottes ist.
Sie ist nie selbstverständlich und zugleich kann es die Kirche niemals geben, ohne dass in ihr dies Wunder geschieht: Dass die Träume und Wünsche aller Alter und Geschlechter und die Weissagungen und Hoffnungen aller Menschen dort zur Erfüllung kommen und man sich gegenseitig weder für unernst noch lächerlich noch gefährlich unzurechnungsfähig hält. ——
Nun könnten wir natürlich Klage erheben, wie geist- und gottlos es dann doch um unsre Kirche bestellt sein mag, in der schon Junge und Alte wahrlich nicht die Visionen und Erinnerungen der anderen in Ehren zu halten wissen.
Es wäre wahrhaftig auch entsetzt und mit lautem Widerspruch zu klagen über einen vermeintlich „christlichen“ Kontinent, der sein Heil nur noch antipfingstlich im Trennen, Scheiden und Fernhalten des Fremden unter den Menschen und in der Verständnisverweigerung sucht.
Betrachtet man diese Vorgänge, kann man eigentlich nur noch traurig feststellen, dass das Christentum eindeutig nicht zu Europa gehört.
Doch abgesehen davon, dass darum kein anständiger Mensch mehr die Zusammennennung von Abendland und Christentum für etwas anderes als eine Selbstanklage halten kann, müssten wir Evangelischen dann auch endlich die allerschärfsten Vorwürfe an uns selber richten und uns lösen von unseren eingefleischten Gewohnheiten, Denkmustern und Sünden:
Denn wir waren und sind es, die den Skandal der weltlichen Herrschaftsgelüste der Papstkirche durch das Krebsgeschwür der Nationalkirchentümer ersetzt haben, das weiterwuchert, auch wo längst keine Kirche, sondern nur noch Nationalismus übrig ist.
Wir haben die Grenzen der Glaubensgemeinschaft an sprachliche und kulturelle Heimattraditionen gebunden und werden nur furchtbar mühsam locker und warm mit dem, was anders lautet und klingt als z.B. unsere kirchenmusikalische und kanzelrednerische Überlieferung.
… Und ja: Ich bin es, der die Bibelübersetzung Luthers beinah für etwas Heiliges und Notwendiges hält, … doch was weiß ich schon und was kümmert’s mich, ob es wohl eine gute Übersetzung der Bibel ins Arabische oder auf Farsi gibt und ob man das Evangelium nicht ebenso gut tanzen, wie als Rechtfertigungstheologie darlegen kann? …….
Viel gäbe es also anzuklagen und abzuändern, wenn wir heute die Entstehung der Kirche aus der Vielfalt von Sprachen und Horizonten und Sitten der Völker feiern. ——
Aber das wäre kein Pfingstfest, sondern es gehörte in eine vorpfingstliche Fastenzeit; die aber gibt es nicht, weil ja vor Pfingsten Ostern und Himmelfahrt alles beherrschen und hell und heiter und hoffnungsvoll machen.
Darum also blicken wir – statt das Trauerspiel und Jammerbild, das wir abgeben, weiter zu vertiefen – doch auf, dorthin, woher der Wind weht und das Feuer der schöpferischen und erlösenden und weltbeherrschenden Liebe herabfällt. Blicken wir empor und in die Weite, die vom Rauschen des Lebensatems Gottes und dem Sausen der Taube, Friedensbotin, Heilsbringerin erfüllt ist. Und wohin wir auch sehen, da begegnen sie uns: Die fremden Völker, die durcheinander wirbelnden, zueinander strömenden Heimischen und Heimatlosen, Eingeweihten und Ausgegrenzten, Stammverwandten und seelisch Entfremdeten, Gottsucher und Glaubensflüchtlinge.
… Seht doch, wie pfingstlich! ……. Aber versteht mich nicht falsch: Das ist kein schöner, feiertäglicher Anblick. Das sind keine Spaziergänger, und verboten ist es, die Umwälzungen, Entwurzelungen, Hungersnöte und Religionsverfolgungen, die die Menschheit geißeln, für lauter geschickt gelenkte, absichtsvolle Schachzüge des Himmels zu halten.
Nicht, was in der Welt da gerade passiert, ist das Gute, Erbauliche der Pfingstbotschaft. Aber die Pfingstereignisse wollen und werden die gute, die buchstäblich erbauliche Antwort auf das Grauen sein, das in unserer Zeit geschieht!
Die Völkerwanderung des 21.Jahrhunderts, der Blut- und Menschenstrom der islamistischen und der globalökonomischen und der ökologischen Krise … sie alle machen gewiss nicht Pfingsten aus! Aber die Tatsache, dass der Heilige Geist seit Pfingsten die Weltgeschichte – nach dem Willen Gottes und noch immer gegen allen Augenschein – nicht in Richtung des endgültigen Zerfalls, sondern in Richtung des bleibenden Zusammenhalts der Menschheit bewegt, … diese geschichtliche Glaubenstatsache macht uns das Bild der Gegenwart ganz anders sehen, als schwarz.
Die Katastrophen und Risiken unserer Zeit – und aller Zeiten! – haben einen unfassbaren, aber darum wahrhaftig auch unzerstörbaren pfingstlichen Grund.
Sie mögen heute noch so sehr im Zeichen von Mord und Totschlag stehen. Dennoch werden wir einst bezeugen müssen, dass sie dem Geist und dem Leben mehr dienten.
Wir erleben in ihnen Zerfall. Die verborgenen Strömungen und Durchbrüche des Gottesgeistes aber formen daraus neues Wachstum.
Wir spüren Chaos. In dessen Tiefe aber bringt der Schöpfergeist Neues hervor.
Wir werden von Furcht gelähmt. In der Höhe aber sammelt sich die Geisteskraft zur Inspiration und zum Mut, die miteinander das Zukünftige erschaffen.
Insofern waren die Zeiten seit langem nicht mehr so pfingstlich wie heute in der tiefen Verwirrung und dumpfen, rostigen Starre, die der sich ankündigende unumkehrbare Wandel der Welt auslöst. Alles ächzt zwar und wehrt mit der Hilflosigkeit des Erschöpften das Herannahende ab.
……. Wir Christen aber könnten wahrhaftig wissen, wen wir da seit dem Tag, an dem die vielsprachige und vielverstehende Kirche geboren wurde, gemeinsam herbeirufen:
»VENI CREATOR SPIRITUS« … so weht es durch die Zeiten; so haben die Christen des lateinischen Westens schon gebetet, als die Goten und Wandalen, als die Hunnen und die Ungarn, als die Mongolen und die Mauren und die Türken und die Kosaken und die Deutschen über sie kamen.
Und im griechischen und syrischen Osten haben sie gebetet: „HEILIGER PARAKLET, TRÖSTER UND BEISTAND, IN ALLEM BIST DU DOCH DA“ … auch wenn das Joch des Kalifen, des Sultans, der Kreuzritter, der Osmanen, der völkermordenden Jungtürken, endlich des christenverfolgenden Stalinismus und nun des Islamismus über sie kam.
Und tatsächlich: Jedes Jahr wieder wurde es Pfingsten, und durch alle Schrecken, Brüche und Untergänge hindurch schafft der gegenwärtige Geist des Vaters und des Sohnes Neues – neue Hoffnung, neue Christen, neue Heilige, neue Vollendete.
Wo dieser Geist ist, da ist Zukunft. Und wo Gottes Geist die Zukunft ist, da ist Freiheit.
Wie also könnte es sein, dass wir – ausgerechnet wir am Wohlergehen krankenden und durch Wohlstand verarmten Nutznießer des Friedens und der Ungleichheit in der Welt?! – … wie also könnte es sein, dass ausgerechnet wir uns in’s Hemd machen und vor dem kräftigen Wind des Wandels in der Welt uns bibbernd verstecken sollten?
… Gewiss: Wir können uns die Welt, die da durch unsere Schuld und auch ganz ohne unser Zutun entsteht, nicht vorstellen. Wir können uns die Länder und Bevölkerungen, die Verhältnisse, die in dreißig Jahren Wirklichkeit geworden sein werden, nicht ausmalen. …Wir wissen auch, dass wir uns in ihnen von heute herkommend nicht auskennen würden.
… Aber welcher der Apostel des Auferweckten, der zur Rechten Gottes sitzt und herrscht – welcher von diesen geistigen Galiläern, die schon in Judäa und Jerusalem staunten und am Pfingsttag - wären sie allein gewesen - gezittert und gezappelt hätten vor der überwältigenden und bedrohlichen Fremdheit der vielen unvertrauten, unverständlichen, unerhörten Formen und Äußerungen des Menschlichen … welcher dieser Männer, welche dieser Frauen hätten sich träumen lassen, dass sie von Jerusalem aus die Migration der Weltmission antreten würden? Welcher von ihnen hätte damals im Zentrum der Masse geglaubt, dass er selber die Landschaften Kappadoziens und des Pontus, die Welt Vorderasiens und Griechenlands durchwandern würde? Wer hätte es für möglich gehalten, dass es ihn nach Ägypten oder zu den Kretern verschlagen, dass es ihn in die märchenhafte Monsterwelt jenseits von Persien ziehen oder endlich sogar in den Schoß der großen Hure Babylon, nach Rom verwehen könnte?
— Doch was widerfuhr ihnen dort? Wen trafen sie in den Ebenen des Zweistromlandes und im pamphylischen Bergland und in der Steinwüste von Damaskus oder Rom?
Sie trafen dort überall Geschwister! Sie trafen Menschen, die in Christi Namen ihre Brüder und Schwestern wurden, ja, die die Missionare Jesu als Väter und seine Mutter als ihre Mutter verehrten!
Sie trafen die Gemeinde, die Kirche, die aus allen Völkern gerufen, in aller Verschiedenheit als ein Volk lebt. Und sie trugen dazu bei, indem sie – die hilflosen, ungebildeten Menschen aus den Seedörfern Galiläas! – durch die Kraft des Heiligen Geistes die Ökumene der einen, heiligen, christlichen Kirche stifteten, … die einzige weltweite Menschengemeinschaft, die seit zweitausend Jahren lebt und deren Ende nicht kommen kann.
Gewiss sie stifteten das Zeugnis und Leben der Christenheit in verschiedene Sprachen und Kulturen hinein: Paulus in die philosophische Tradition des Westens; Petrus in den stadt-römischen Stolz hinein; Andreas durch ganz Griechenland; Johannes pflanzte es in die mystische Tradition Kleinasiens um Ephesus herum; Thomas in Syrien und in weiten, sagenhaften Bögen bis Indien; Markus in der trockenen Klarheit Alexandriens und Unterägyptens, von wo es in das tiefe Schweigen der Wüste und in abenteuerlichen Wendungen in die Einsamkeit Irlands und Schottlands sickerte, von dort aber mit der Brandung der Nordsee wieder auf das europäische Festland sich kehrte, stromaufwärts bis zu uns dringend, wo hier, auf diesem Fleck das keltische, später angelsächsische Christentum jenseits des Rheins seine römische Schwester wiedersah; die geistlichen Erben des Andreas aber, Kyrill und Methodios führten es in die slawische Welt, … und weiter, weiter auf Land- und Seewegen, mal versteckt und mal gedungen, aber in aller Schuld, Schwäche und Sorglosigkeit immer wieder neu ermutigt zu Aufbruch und Treue reiste es, … weiter, … weiter – das große, endlose Christentum, das auf seinem Migrationsdaseinsgrund den Völkern seine Wunder und Schönheit schenkte.
Und wo es nicht von der Gier der Welteroberer missbraucht wurde, sondern vom Geist der Liebe zur Welt getrieben war, da ließ es sich von den Völkern vereinnahmen und in ihre Herzen eingemeinden und umgestalten … und dennoch sammelt und verbindet es sie alle zur Ökumene der Weltkirche.
Denn das Christentum kann sich nicht verlieren.
Es hat ja nichts zu verlieren.
Es ist ja selbst nur ein Geschenk, die Gabe des Geistes.
Verlieren kann sich allenfalls das Christentum des glaubensüberdrüssigen und darum glaubensschwachen Europa, des Westens. Es könnte tatsächlich ein Ende damit haben, dass wir unsere Kirchengebäude, unsere Choräle, unsere Museen, unsere Nostalgie oder einen bestimmten Wortschatz unserer Sprache für das Christliche an sich halten.
Aber würde damit die Gemeinde Jesu Christi sterben?
– Nein. Tot wäre bloß eine Gemeinde, die bei uns in dreißig Jahren allen Ernstes glaubte, immer noch nur in unserer Sprache und nur in Gesellschaft unserer Landsleute ein glaubhaftes Zeugnis für den Gott aller Menschen geben zu können.
Wir anderen aber werden leben und Gott in vielen Zungen und auf mancherlei Weise preisen.
Und wer sich davor fürchtet – der komme und feiere Pfingsten!
Der komme und bitte und empfange den Heiligen Geist!
Denn solches wird geschehen in den letzten Tagen, dass Gott ausgießt von seinem Geist auf alles Fleisch!
Amen.
Exaudi 08.05.2016 Stadtkirche Konfirmationspredigt zu Epheser 3,14-19 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Konfirmation Exaudi - 8.V.2016
Epheser 3, 14-19
„Ich kann nicht anders, als anbetend vor dem Vater niederzuknien. Er, dem jede Familie im Himmel und auf Erden ihr Dasein verdankt und der unerschöpflich reich ist an Macht und Herrlichkeit, gebe euch durch seinen Geist innere Kraft und Stärke. Es ist mein Gebet, dass Christus aufgrund des Glaubens in euren Herzen wohnt und dass euer Leben in der Liebe verwurzelt und auf das Fundament der Liebe gegründet ist. Das wird euch dazu befähigen, zusammen mit allen anderen, die zu Gottes heiligem Volk gehören, die Liebe Christi in allen ihren Dimensionen zu erfassen – in ihrer Breite, in ihrer Länge, in ihrer Höhe und in ihrer Tiefe. Ja, ich bete darum, dass ihr seine Liebe versteht, die doch weit über alles Verstehen hinausreicht und dass ihr auf diese Weise mehr und mehr mit der ganzen Fülle des Lebens erfüllt werdet, das bei Gott zu finden ist.“ (Epheser 3,14-19: Neue Genfer Übersetzung)
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Reden wir von etwas Körperlichem, … etwas in Eurem Alter peinlich Beliebtem:
Komisch – oder? –, dass wir hier vorgestern (mit und ohne hohe Absätze) das Knien geübt haben … weil es nun einmal zur Konfirmation gehört.
Eigentlich ist das ja abwegig: Da seid Ihr heute so groß und aufrecht, … um Eure Scheitel spielt der Schimmer des Erwachsenseins … – und welche Geste hebt diesen Tag der Reife und der Mündigkeit vor allen anderen Tagen hervor? Ausgerechnet das kleinmachende Knien, das bei uns sonst so selten vorkommt. …
Ist das etwa gedacht als eine Erniedrigung, ein Runterdrücken, ein Zurückstoßen in die Kindlichkeit von „Häschen in der Grube“?
— Nein, glaubt mir: Ganz bestimmt nicht!
Ihr kniet nicht deshalb gleich nieder, weil wir etwa nicht sehen oder wahrhaben wollten, wie frei Ihr Euch entfaltet habt und wie kerzengerade neben Euren Körpern auch Euer Verstand sich inzwischen in die luftigen Höhen streckt, in denen klares Denken möglich ist.
… Im Gegenteil: Alle wissen, dass Knien ein gymnastischer Balanceankt ist. … Kleinkinder kippen schließlich vornüber, wenn man sie beim Knien nicht am Schlafittchen hält. —
Warum also gehört die erwachsene Kunst des Kniens zu Konfirmation? – Weil Ihr damit bestätigt, dass Ihr gerade in dem Augenblick, in dem Ihr ausseht wie die Großen, wirkliche Größe, ja den Allergrößten kennengelernt habt.
Denn auf die Knie gehen Menschen nur in solchen Augenblicken, in denen ihnen etwas begegnet, das sie überwältigt:
- Die Erfüllung eines Wunsches z.B. – so wie der biblische König Salomo sich hinkniete, als in Jerusalem endlich der Tempel vollendet war, in dem Gott wohnen wollte (vgl.2.Chronik 6,13).
- Oder es geht um große Schwierigkeiten: Da kniete einmal ein Mann, der in Kaiserswerth als Kind in der Kaiserpfalz gespielt hatte, nächtelang im Schnee vor einer italienischen Burg, weil er - Kaiser Heinrich IV. - damit den Papst in einem bitteren Streit umstimmen wollte.
- Oder es geht um große Schuld: Unvergessen ist, wie einmal ein deutscher Bundeskanzler in der polnischen Hauptstadt Warschau, wo der Name Deutschlands für grausame Verbrechen stand, auf den Pflastersteinen kniete und still um Vergebung bat.
- Oder es geht um das höchste der Gefühle: Plötzlich kniet ein Mann vor einer Frau und bittet sie, seine Liebe und Treue zu erwidern und ihn zu heiraten.
- Oder es geht um höchste Ehre: So musste die Königin von England – vor der doch die allermeisten Menschen einen Knicks und Diener machen – bei ihrer eigenen Krönung auch knien, denn die Krone und die Salbung, die sie empfing, sollen nicht sie, sondern Gott selber ehren.
- Oder es geht um das Kostbarste auf der Welt: Kein gescheiter Mensch würde ja, wenn er ein geliebtes Kind vor sich hat, von oben herab auf es einreden, sondern man kniet sich hin und spricht von Angesicht zu Angesicht mit dem Kleinen. Das ist die Verantwortung, die man dafür hat, dass jeder Mensch seine Würde erfährt. ——
Das alles sind zusammengenommen nun aber auch genau die Gründe, weshalb Ihr gleich da vorne knien werdet. Weil in dem Moment, in dem Euch Gottes Segen versprochen wird, Euer ganzes Leben, Eure Zukunft und alle Verheißungen Gottes für Euch sich so verdichten, dass sie alle auf einmal da sein wollen, damit Ihr dann einst vorbereitet und bestärkt seid: Ihr kniet gleich vor Gott, weil Er Euch Glück und Gnade und Vergebung und Liebe und Ehre und Kindschaft verspricht!
Das alles sollt Ihr – jedes zu seiner Zeit und manches immer wieder – noch erleben.
Aber wenn dann Eure Kniescheiben tatsächlich wieder einmal den Boden berühren, weil Ihr so dankbar oder beschämt, so schuldig oder verliebt, so ernst oder so hingerissen seid – dann denkt daran, dass das alles kein Zufall ist …. egal wie lange diese Tag Eurer Konfirmation auch schon zurück liegt.
Denkt daran, dass Gottes Hand da über Euch und in Eurem Leben zu bemerken ist.
Denkt daran, dass Ihr den Weg zu allen diesen und tausend weiteren Erfahrungen angefangen habt mit dem Bekenntnis zu Gott und unter Seinem Versprechen an Euch.
Und dann macht es wie der Apostel Paulus es Euch an Eurem Konfirmationstag vorgemacht hat: Dankt Gott und bittet Ihn von ganzem Herzen, … je nachdem.
Dankt Ihm, dass Er Euch mit Gaben des Alltäglichen oder mit großen Abenteuern beschenkt hat. Dankt Ihm, dass Ihr Männer und Frauen, Menschen mit Segen und Menschen mit Sorgen, Künstler und Kämpfer, freie und verantwortliche und nötige Leute habt werden dürfen!
Und bittet Ihn um alles, was Euch wichtig ist und alles, was Euch fehlt.
Denn Gottes Geist hält nicht nur den Zufriedenen und Glücklichen die Treue, sondern Er verbindet sich gerade mit denen, die Ihn wirklich brauchen, die sich im Leben anstrengen und zusammenreißen, die auf Erden hoffen und bangen müssen.
Das ist nämlich das Gute und Wahre an Eurem heutigen Konfirmationssonntag: Dieser Sonntag Exaudi ist ein Tag dazwischen, ein Tag der Zwischentöne, ein Tag, der nicht nur Himmelhochjauchzende oder zu Tode Betrübte kennt, weil er ein Tag ist für Menschen, die Wunder und Langeweile, Glauben und Zweifel, Lachen und Weinen erfahren und vereinbaren müssen.
… An diesem Sonntag zwischen Himmelfahrt und Pfingsten ist nämlich die ganze Kirche das, was gerade Euch jungen Christinnen und Christen vertraut sein dürfte: Zwischen Himmelfahrt und Pfingsten sind wir alle in einem Schwebezustand, der noch lange nichts Endgültiges ergibt. Jesus ist nicht mehr sichtbar tröstlich anwesend. Und der ermutigende Geist Gottes ist noch nicht gewaltig durchgebrochen und ausgegossen über der Menschheit.
… Aber zwischen der herrlichen Weihnachts- und Oster-Vergangenheit und der kraftvollen pfingstlichen Zukunft, da ist das Leben eben wie auf einer Brücke: Was wir von Jesus wissen, führt uns darüber hinaus in’s Offene, … Gott entgegen, dem Geist des Glaubens, der Liebe, der Hoffnung immer näher.
Und so seid Ihr ja wirklich heute dran. … Nicht ganz Fisch, nicht ganz Fleisch. Nicht vollkommen sicher aus Erfahrung, aber auch nicht mehr ahnungslos und ohne Antworten im Blick auf Gott. Und genau darum gehört Ihr eben wirklich zu Dem, Den Euer Dank und Eure Bitten angehen! Ihr gehört zu Dem, Der Eure Hoch-Zeiten und Euren Kummer teilen wird! Ihr gehört zu Dem, Der selber im doppelten Zeichen der Taube und des Fisches*, im Zeichen des Himmels und der Tiefe zu erkennen ist. Ihr gehört zu Dem, Der Mensch und Gott in sich vereint!
Und das ist genau die einzigartige Größe unseres lebendigen Gottes: Dass Er gerade nicht nur das Eine oder das Andere kennt und versteht, sondern beides:
Eure Lieblingsgedanken und das, was Ihr ablehnt, sind Ihm vertraut. Er weiß, wonach Ihr Euch sehnt und wovor Ihr Euch fürchtet. Er wird Euch in den besten und in den schwärzesten Stunden Eures Lebens gleich nahe sein. Darum ist Er der wirkliche, der einzige, der ewige Vater und Freund, Helfer und Heiland, Geber und Empfänger Eures Lebens.
Weil Er – unser Gott, Jesus Christus, unser Herr – weil Er so grenzenlos und so untrennbar mit Euch verbunden sein will: Als das Fundament und der Horizont, als das Licht und der Raum Eures Lebens!
Das ist die göttliche Liebe, die Christus-Liebe, in der Ihr wurzeln könnt.
Das sind ihre Dimensionen. Wie breit sie ist? – Unendlich! Wie lang? – Vollkommen! Wie hoch? – Höher! Wie tief? – Unbeschreiblich.
Vor dieser Liebe geht Ihr in die Knie. Um Euch von Ihr umhüllen und aufrichten zu lassen; um Euch mit dieser Liebe Gottes zu verbinden und von ihr in die Zukunft senden zu lassen; um diese Liebe anzubeten und um sie in Zukunft selbst auf Euch zu nehmen und weiterzutragen.
Das ist Euer großer Augenblick, in dem Ihr Euch zum Allergrößten bekennt, zu Jesus Christus, der Euch die Fülle des Lebens schenkt. ——
…… Was Ihr Ihm dafür zum Dank schenken, was Ihr Ihm zurückgeben könnt?
Macht Euch keine Gedanken! Das hat diese Woche schon jemand für Euch erledigt:
Am Dienstag stand nämlich plötzlich oben auf der Freitreppe der Stadtkirche, an der Schwelle des Portals – als sei das hier eine x-beliebige Adresse – das neue Telefonbuch.
— Erst wollte ich mich ärgern über den Deppen, der eine Kirche nicht von einer Wohnung unterscheiden kann und dafür auch noch Treppen steigt.
Aber dann habe ich begriffen, wie richtig dieser Bote, der Verbindungen verteilt, gehandelt hat.
Denn auch wenn Ihr kaum noch in diesem Telefonbuch steht – obwohl Ihr ja alle im Zweifelsfall mehrere Nummern habt, unter den Ihr auf Knopfdruck erreichbar seid –, dass Gott Zugang zu Euch hat, dass Er Euch finden und rufen kann, wann immer es nötig ist: Dessen bin ich gewiss!
Und darum ist das Telefonbuch – das Gott zufällig auswendig kann und niemals braucht – doch ein passendes Zeichen Eurer Verbundenheit!
Wenn Ihr gleich vor Gott kniet, dann heißt das nämlich, dass Er Zugang zu Eurem Geheimsten haben soll: Zu Eurem Herzen.
… Und Gott darf und wird davon Gebrauch machen.
Ihr werdet Nachrichten von Ihm kriegen, immer wieder.
Ihr werdet von Ihm hören.
Weil Er Euch so unendlich liebt, dass der Kontakt zwischen Euch nie abreißen wird. … Nicht hier, nicht dort. … Nicht jetzt, in der Zeit, und nicht künftig, in der Ewigkeit. Im Leben nicht und nicht im Tod.
Gott wird Euch immer erreichen und Ihr Ihn!
Und darum können wir nicht anders, als anbetend vor dem Vater niederzuknien!
Amen.
Rogate 01.05.2016 Stadtkirche 1.Timotheus 2,1-6a Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Rogate 1.V.2016
1.Timotheus 2, 1-6a
Liebe Gemeinde!
In Anatevka – dem fiktiven russisch-jüdischen Schtetl des Milchmanns Tewje – wurde in der Synagoge für den Zaren so gebetet, als befolge der chassidische Rabbi von Anatevka die Anweisungen des Apostels Paulus: „Gott erhalte den Zaren …. und er halte ihn uns vom Leibe!“
So ist beidem Genüge getan: Der Fürbitte für die Obrigkeit ebenso wie dem Bedürfnis, sich fern von ihren Ansprüchen und ihren Drohungen einem Leben in Frieden widmen zu können. —
Beteiligt an der Welt und doch nicht von ihr vereinnahmt: Genau so sollte das Beten und Leben der Gemeinde sein! …….
Das klingt klar und selbstverständlich, … aber das ist es nie gewesen und wird’s auch selten sein: Denn das Gebet für die Anliegen der Welt und die gleichzeitige Bitte, das Dasein der Glaubenden in der Welt möge ohne Zerreißproben und ohne Zerstreuung möglich bleiben, … das waren meistens nicht die zwei Seiten einer Medaille, sondern die zwei Extreme innerhalb einer großen Spannung.
Entweder die Kirche leckte den Speichel der Starken und Reichen und kroch unter ihre Throne – hin und wieder spuckte sie ihnen allerdings auch in die Suppe und sägte begeistert an ihren Stühlen – … entweder also, die Kirche wurde - meist reaktionär, von Mal zu Mal aber auch revolutionär - politisch pervertiert oder sie pflegte die Sünder der politischen Apathie, der Gleichgültigkeit gegenüber dieser Welt und ihren Vorgängen.
Entweder es war alles „Gott erhalte Konrad den Adenauer“, bzw. „Che Guevara ist Christus heute“ oder es hieß bloß „Wir haben nichts mit der Gesellschaft zu tun; wir wollen nur still sein, … und Politik ist für geistliche Menschen igitt!“ ——
Dabei ist uns aus der frühesten Zeit durch den Apostel doch unmissverständlich aufgegeben, nicht derart einfältig zu leben, sondern im vielfältigen Dienst des Glaubens, der das Weltliche und das Geistliche, das politische Zeitgeschehen und die ewige Hoffnung des Himmelreichs verbindet. Wir sollen Bürger dieser vergehenden Welt sein, die mit Taten und Gebeten dafür sorgen, dass für das Jetzige und darüber hinaus die Verheißung des neuen Himmels und der neuen Erde (vgl.Offenb.21,1) hell und heilig bleibt. Und eben weil sie eine Verheißung hat – die größte sogar: nämlich dass allen Menschen geholfen werde und sie alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen sollen – … weil sie diese Verheißung hat, darum muss uns Christen die gesamte Menschheit und ihre Geschichte brennend bewegen, berühren, belasten und beflügeln:
Wer vom Reich Gottes gehört hat und auf dieses Reich hin glaubt und hofft, der kann sich schlechterdings nicht damit begnügen, haarscharf an der Welt vorbei, nur so vor sich hin zu leben und nichts mit denen zu tun zu kriegen, denen doch das kommende Reich Gottes gilt und helfen wird.
Wer glaubt, den juckt die Welt, weil sie – die Schöpfung Gottes – auch seine Neuschöpfung sein wird.
Wer glaubt, der hat’s mit den Menschen, weil sie – die Sünder gegen Gott – die Empfänger seiner beispiellosen Gnade sein sollen.
Wer glaubt, den kümmert diese Weltwirklichkeit viel mehr als alle Weltmenschen, weil deren Gebiet in 99% aller Fälle ja nur die eigene Familie, ihre Firma, ihre Branche oder Partei, das eigene Land, Volk oder Geld sind.
Den Christen allerdings ist solche Einseitigkeit, solche – nennen wir sie beim Namen! – „Selektion“ der Anteilnahme unmöglich. Darum ist der älteste ausführliche Ruf zum Gebet im Neuen Testament eben auch eingebettet in die ganz grundsätzlich universale, unbegrenzte Grundbotschaft, dass Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung der Christen allen Menschen zugutekommen sollen: Ohne Ausnahme, ohne Unterschied. Ja, selbst für die Könige und Herrscher – die seinerzeit Claudius, Nero oder Domitian hießen und die Anhänger Christi verfolgten und töteten! – … selbst für die soll die Gemeinde beten! ——
Es ist also wahrlich nicht die spätere Ranschmeiße der Kirche, die sich so gerne den Machthabern andiente, sondern es ist die praktische Umsetzung des Grundgebots Jesu: „Liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen!“(Matth.5,44), wenn die apostolische Lehre vom Gebet bei den Spitzen von Politik und Staat anfängt. ——
Unser Muezzin Paulus ruft also tatsächlich auch „Gott ist groß und darum kommt zum Gebet“ – aber die wahre Größe Gottes, die uns zu Betenden für die Welt macht, ist eben Seine Großzügigkeit, Seine Weitherzigkeit, Sein unendlicher Heilswille, der allen Menschen gilt.
„Gott ist groß“, das heißt auf Christlich: „Gott ist ohne Grenze gnädig“ – und dieser Gebetsruf ist nie verklungen und darf nie verklingen und wird nie verklingen. ——
Allerdings beschämt es uns heut, wenn wir diese ursprüngliche Verbindung von Gnade und Gebet und Politik hören.
Es muss uns ganz gewaltig beschämen zu hören, dass wir als christliche Gemeinde die Hüter und Beter der Grenzenlosigkeit sind, die vor allen anderen jene in ihr Gebet einschließen sollen, die Macht und Möglichkeiten hätten, Schaden anzurichten. Noch einmal sei’s nämlich gesagt: Die Könige und die Obrigkeiten, von denen Paulus spricht, sind in erster Linie für die Generation des Timotheus nicht Ordnungshüter, sondern Gefährder. Nicht Protektion, nein Aggression ist das, was die Gemeinde bei den Mächtigen erntet. ——
Um vergleichbar kritische, ja gefährliche Verhältnisse in unserer Gegenwart zu finden, müssen wir schon weit suchen. … Wirkliche, lebensbedrohliche Feinde des Christentums kennen wir aus eigener Betroffenheit jedenfalls wohl kaum. … Würden wir sie aber kennenlernen – so wie unsere Glaubensgeschwister in der Welt sie auch heute ja noch durchaus kennen –, dann führte diese Erfahrung uns unmittelbar in die Bewährungsprobe, nämlich in die Entscheidung: Könnten und würden wir für sie beten? Würden wir, indem wir dem großen Gebetsauftrag treu bleiben, Ernst damit machen, dass Christen schlicht keine Feinde haben können? … Denn solche, die wir lieben und für die wir gemäß dem Gebot des Herrn beten, sind allein dadurch ja keine Gegner mehr, sondern zu unseren Schutzbefohlenen geworden!
Wer’s gerne praktischer hat, mag sich fragen: Könntest Du für die beten, die Dir jedes Recht absprechen, die Deinem Geist jede Wahrheit bestreiten und Deinem Leben jeden inneren und äußeren Frieden rauben? Könntest Du als Ukrainer für Putin, als aramäischer Christ für die IS-Anführer, als bosnischer Muslim für die serbische Führung, als Urenkel armenischer Völkermordopfer für den türkischen Staatspräsidenten beten, dessen Ehre auch bei uns so besonders schützenswert ist?
… Könntest Du auch nur als der unbeteiligte Zuschauer, der jeder von uns nun einmal ist, so großzügig, so selbstlos und gerade darin so durch und durch christlich und politisch beten?
……. Das geht kaum, oder? Alles sträubt sich. Die Last der Kompromisse mit Erdogan, das schwache Gekusche vor Putin, der angstvolle Hass, den der IS in uns auslöst, das alles zeigt uns, dass entweder der Apostel Unmögliches verlangt oder dass wir keine Ahnung davon haben, was und wie wir als Christen beten sollen, … dass wir keine Ahnung davon haben, welche Möglichkeiten unser Beten eröffnet!
… Könnte es vielleicht wirklich sein, dass wir so gut wie nichts vom Beten verstehen? Dass wir nicht begriffen haben, dass das Gebet die Welt verändert und dass es beginnt, indem es die Betenden verwandelt?!
Wir dürften nämlich ganz falsch herum an’s Beten gehen. Es ist – wo es überhaupt noch regelmäßig geschieht – bei uns viel zu sehr zum Absacker, zur Entspannungsübung geworden: In dem Augenblick, wo man sich zu Tisch setzt und verschnauft oder kurz vorm Einschlafen im müden Rückblick …da beten wir, da „erledigen“ wir das Gebet. Und dann haben wir Ruhe, können genießen, können träumen. Denn es ist durch unser Beten ja alles auf den Weg gebracht. … Nur wir selber, die Betenden nicht. Wir sind die Bitten und Anliegen los und bleiben dann ganz und gar bei uns selber, mampfen und schnarchen und „gut is’“. …
Doch das ist bestimmt nicht der Sinn des ruhigen und stillen Lebens in Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Hinter diesen klassisch gewordenen Formeln, die tatsächlich nach Nachtmütze und Duckmäusertum, nach bigotter Spießigkeit und schwäbischer Rechtschaffenheit klingen, steht nicht der Gedanke, dass Beten vor allem den Zweck habe, der Gemeinde ihre ungestörte, unauffällige, selbstgenügsame Lebensweise irgendwo im Winkel zu sichern.
Wenn wir für die Regierenden und ihre Entscheidungen, ihre Verantwortung, ihre Fehler, ihre Absichten, ihre Einsamkeit, ihre Weisheit, ihre Anfälligkeit, ihre Blindheit, ihre Pflicht, ihr Verbrechen, ihre Hoffnung beten, … dann erweitert sich der Kreis, in dem wir Betenden stehen, doch unendlich.
… Dann schickt unser gebotenes Gebet für alle uns doch auf den Posten, der über die ganze Welt blickt und für jedes nahe, jedes ferne Detail ein Auge, ein Wort, eine Träne, einen Wunsch hat. … Wenn wir für alle und jeden von der Spitze bis zur Basis, von den Furchtbaren bis zu den Frömmsten beten sollen, dann muss unser Herz jedes Mal so weit werden, wie die Wolken gehen und unsere Hoffnung so stark wie die Berge Gottes und unsere Erwartung muss kühn und hoch hinauf bis an das Firmament reichen.
… Betende können keine Kleingeister, keine Parteigenossen, keine Engstirnen, keine phantasielosen Provinzler mit weltanschaulichem Putzfimmel sein, die alles wollen, wie es war.
Betende müssen laut sagen, müssen bis in Gottes Ohr schreien, was andere nicht einmal stumm zu träumen wagen. Betende müssen aussprechen, dass der König kein Blutsauger, sondern ein Menschenfreund sein möge; dass der Zar kein Pogrom, sondern Fortschritt anzuordnen hätte; dass der Betrieb der Bürokratie nicht der Aktenablage, sondern der Freiheit des Heiligen Geistes dienen soll; dass die Wirtschaft nicht als Herrin, sondern als Magd der Lebendigen gewollt ist; dass die heilige christliche Kirche ihren Gliedern nicht Baldrian, sondern eine eiskalte Dusche schuldet, damit sie wach werden und dem Anbruch des kommenden Reiches entgegeneilen; dass das Elend der Kriege und Vertreibungen – obwohl es zu allen Zeiten zur menschlichen Geschichte gehörte –, keine Konstante, sondern ein Skandal ist, der in Christi Namen beendet und bezwungen werden wird, … „und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen“*, wie Goethe am Vorabend einer vermeintlich neuen Epoche der Weltgeschichte orakelt haben will.
Genau so sollen wir beten: Jedes Mal, wenn wir die Hände falten oder zu Gott aufheben, jedes Mal, wenn wir uns sammeln oder hinknien zum Gebet (das sollten wir übrigens viel ernster und viel öfter tun, denn es ist biblisch!†) … jedes Mal wenn wir beten, sollen wir die Welt und ihre Wirklichkeit durchbuchstabieren wie am Vorabend der Entscheidung:
Sie wird nämlich ja nicht bleiben, wie sie ist, wenn wir wirklich beten! Sie wird von den Königen und von den Straßenkehrern, von den Gewählten und den Diktatoren, für die wir bitten, mit denen wir bangen, auf die wir blicken, ja gelenkt und getragen und verändert … und wer betet, kann sich sagen: Du bist mit dabei. Es saust nicht einfach so an Dir vorüber, sondern die ganze Welt geht durch Dein Gebet, durch Dein Leben, Dein Handeln, Dein Herz! ——
So verändert das Beten uns. Macht uns zu Teilhabern an allem, zu Fürsprechern und Freunden von Nachbarn und Feinden, zu Ratgebern und Warnern der rechtmäßig und der zu Unrecht Mächtigen.
Das Beten macht uns also weltlich!
Und gerade das ist unser geistliches Amt: Dass wir nicht locker lassen und nicht abschalten, nicht Ruhe geben und nicht still bleiben, so lange es auf Erden Gebetsanliegen, … so lange es Hoffnung, … so lange es eine Weltgeschichte gibt! ——
Was aber ist denn dann nun mit dem ruhigen und zurückgezogenen Leben, mit der leisen Frömmigkeit und dem gemessenen Anstand, mit der Muße der Spiritualität und der Spiritualität der Muße, die wir uns als das verinnerlichte Wesen des idealen Christentums vorstellen?
… Hat der Muezzin etwa noch immer nicht laut genug in unsere Ohren geplärrt?
Gibt es wirklich die Idee, wir Christen könnten in vornehmem Abstand zur schnöden Wirklichkeit uns die Not und den Tod, die Schande und Schuld der Menschen den Buckel runterrutschen lassen und bloß zu unserer Entspannung ein bissl beten?
Wie wäre das möglich, wenn es doch nur ein einziges Anliegen des einen Herrn und Heiland gibt?
Wie könnten wir abschalten und in innerer Einkehr meditieren, wenn doch der eine Gott, der eine Mittler zwischen Gott und den Menschen sich selbst verlässt, aus allem göttlichen Frieden herausgeht und sich hingibt zur Erlösung für alle?
Wie könnten wir irgendetwas Wichtigeres und Wahreres tun, als Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen solange der eine Gott dieses Eine will: Dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen?!
…. Solange Gott das will – die Hilfe für alle! – solange können, solange wollen und solange werden wir keinen anderen Frieden finden, als dass wir eben darum beten!
Solange Gott will, dass allen geholfen werde, solange wird also unsere Unruhe unsere Ruhe sein, … solange wird unser Geschrei unser Schweigen sein, … solange wird unser Verlangen nach Gott unsere Gottseligkeit sein, … solange wird unser Anfechtung unsere Ehre sein.
Wenn wir also wirklich das innere Leben in Gott suchen, … dann lasst uns beten für die ganze Welt da draußen!
Amen.
Fürbittengebet
Herr, Du kennst die Albträume aller Menschen.
Du weißt, wovor sich die Gewaltherrscher fürchten und was die Armen quält;
Du siehts, was die Kriegstreiber und Terroristen ausbrüten und was die Friedliebenden und Wehrlosen hoffen.
Darum schreien wir zu Dir mit der Kraft unseres Glaubens und der Wucht unserer Zweifel:
Lenke die Herzen der Verantwortlichen und der Verstrickten und der Verrückten und hilf den Menschen guten Willens, dass sie an den tausend Knoten zupfen, dass sie die verworrenen Verläufe und die verborgenen Fallstricke entflechten, die das Netz der Gewalt so eng um die Menschheit legt!
Gib den Mördern des IS Reue und schlage die Waffennarren mit Feigheit!
Assad schicke in die Wüste und das syrische Volk in die Freiheit!
Mache Putin schüchtern und mache sein Volk an ihrem heutigen Osterfest gewiss, dass es Wunder nur gibt, wo die Soldaten und Wachen einschlafen!
Erhalte unserer Bundeskanzlerin die Stärke ihrer Nerven und die Kraft ihres tätigen Glaubens!
Sei Du der Ratgeber all jener Politiker, die das Haus Europa nicht als Schneckenhaus sehen können, weil sie die Stadt mit den zwölf goldenen Toren kennen, die Du aller Welt offenhältst!
Gib dem amerikanischen Volk Urteilskraft und nüchternen Verstand!
Lass Benjamin Netanjahu nicht das Verderben, sondern Versöhnung zwischen Israel und den Palästinensern suchen!
Nimm den Papst um seines Mutes willen in Schutz!
Gib dem iranischen Volk Hoffnung auf Veränderung!
Save the Queen!
Erneuere die evangelische Kirche!
Schaffe Südamerika Stabilität; Nordkorea schaffe Zukunft!
Hilf uns in den tausend und abertausend Nöten!
Hilf allen Menschen!
Zieh’ uns!
Wandle uns!
Erlöse uns!
Schenke uns Frieden!
* Nach der Kanonade von Valmy am 20.September 1792, wo französische Truppen das Heer der antifranzösischen Koalition zerstreuten, wurde Goethe als Augenzeuge nach seinem Eindruck des Ereignisses gefragt. „Endlich rief man mich auf, was ich dazu denke? denn ich hatte die Schar gewöhnlich mit kurzen Sprüchen erheitert und erquickt; diesmal sagte ich: Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“ (J.W. Goethe, Kampagne in Frankreich 1792, in: Sämtliche Werke in 36 Bänden, [Cotta’sche Ausgabe], Stuttgart 1895, Bd. 24, S.55).
† Das kniende Gebet verbindet die Beter des Alten und des Neuen Testaments, vgl. z.B. Daniel 6,11 und Apostelgeschichte 20,36.
Jubilate 17.04.2016 Graf-Recke-Kirche 1.Johannes 5,1-4 Pfr. Falk Schöller
Die Kraft unserer Gottesliebe!
Predigt zum Sonntag Jubilate über 1. Joh. 5, 1-4
Kanzelgruß
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.
Predigttext 1. Joh. 5, 1-4 (Luther 1984)
Wer glaubt, dass Jesus der Christus ist, der ist von Gott geboren;
und wer den liebt, der ihn geboren hat, der liebt auch den, der von ihm geboren ist.
Daran erkennen wir, dass wir Gottes Kinder lieben,
wenn wir Gott lieben und seine Gebote halten.
Denn das ist die Liebe zu Gott, dass wir seine Gebote halten;
und seine Gebote sind nicht schwer.
Denn alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt;
und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.
Predigt
Die Kraft des Glaubens, so überschreibt die Lutherbibel diese Verse aus dem 1. Johannesbrief. Die Kraft der Liebe, so würde ich ihn überschreiben, die Kraft unserer Gottesliebe, geboren aus Gott selbst.
Als Gott sich die Erde und den Menschen ausgedacht und alles ins Leben gerufen hat, da spielte die Liebe das erste Mal ihr wunderbares Spiel. Gottes Liebe setzt Leben frei, vielfältig, bunt, kräftig. Es gibt in diesen nachösterlichen Tagen wahrlich genug Anlass, sich am Leben, seiner Vielfalt und Kraft zu freuen, ganz abzusehen einmal vom eigenen Befinden und der eigenen Befindlichkeit. Der Winter atmet seine letzten lebensfeindlichen Züge, das neue Leben bricht sich seine Bahn, saftig grün die Wiesen, strahlend weiß die Blüten der Kirschen, betörend gelb die Narzissen und der Raps. Und die Wege füllen sich mit all denen, die die Sonnenstrahlen einfangen und ihre Füße auf weiten Raum stellen, auf den Marktplätzen stehen Menschen, strahlend lachend, das Tageslicht wird ausgeschöpft. „Herr, ich werfe meine Freude wie Vögel an den Himmel, die Nacht ist verflattert, ein neuer Tag, von deiner Liebe, Herr, wir danken dir.“
Jubilate, jubelt, freut euch, ihr Menschen! Das ist das Motto dieses Sonntags. Wir haben allen Grund dazu, weil wir selber Geschöpfe von Gottes kreativer, schöpferischer Liebe sind, weil wir das Leben im Hier und Jetzt ausschöpfen und genießen können. Erinnern wir uns daran, liebe Gemeinde.
Heute geht es um eine andere als diese schöpferische Liebe, einen anderen Akzent als den des fortdauernden Liebesspiels, das durch Gottes Liebe von Anbeginn der Welt an freigesetzt ist. Eigentlich wäre es aber gut, bei dieser schöpferischen Liebe noch ein wenig zu verharren, denn wie viel positive Kraft sie entfalten kann, im Spiel der Liebenden ebenso wie in der Zuwendung zum Leidenden, hat jüngst auch Papst Franziskus aufgenommen:“Amoris laetitia“, Freude an der Liebe, ergänzt das Schreiben von Papst Benedikt „Deus caritas est“, Gott ist Liebe – und gibt dem menschlichen Liebesspiel eine aus katholischer Sicht noch nie gekannte Freiheit, die Gewissensfreiheit. Im Vordergrund steht nicht die Moral, sondern die Freude, nicht die Grenze, sondern die Freiheit. Liebt mutig, das ist die wunderbare Botschaft Gottes an uns Menschen.
Liebt Gott mutig! Wie wäre es denn damit, liebe Gemeinde?
Seid mutig in eurer Liebe zu Gott! Seid kräftig in der Gottesliebe, tapfer, fröhlich, stark.
Eine solche Aufforderung muss man uns manches Mal doch eher liebesmüden als liebestollen Christen ins Stammbuch schreiben. Zumindest macht dies der Johannesbrief, der nichts anderes ist als ein einziger, großartiger Liebensbrief.
Liebesmüde Christenmenschen, ich stelle diese mir als Hörer dieser Zeilen vor. „Langweilige Gottesdienste mit öden Predigten in lieblos hergerichteten Räumen sind keine Liebeserklärung für Gott. Mit einer langweiligen, phantasielosen Theologie werden nicht nur Menschen, sondern auch Gott und die Engel gelangweilt“, so schreibt es der Theologe Michael Beintker zum Abschied den evangelischen Studierenden im katholischen Münster ins Stammbuch. Langeweile ist der Todfeind der Liebe – das gilt auch für die Gottesliebe. Und wie in jeder Partnerschaft so gilt das auch für die Gottespartnerschaft von uns Menschen: Langeweile treibt die Liebe aus!
Lieben wir Gott also mutig, kräftig, bunt, seien wir einmal verrückt vor Gottesliebe!
„Wie soll das gehen?“ Schaut nicht so entgeistert, liebe Mitliebenden. Lassen wir einmal unserer Phantasie freien Lauf, denn nicht Red Bull, sondern die Liebe verleiht Flügel. So zumindest meint es der Schreiber des Johannesbriefs: Wer liebt, überwindet die Welt. Wer liebt, reißt Mauern nieder und übersteigt Grenzen – nicht um sich selbst willen, sondern um der Liebe willen.
Ich erinnere mich an eine fantastische Beerdigung. „Für dich soll’s rote Rosen regnen“, das war das eine. Eine irdische Liebeserklärung. Und dann, nach der Grablegung, stiegen weiße Luftballons in den Himmel. „Schaut in den Himmel, da bin ich wirklich!“ Beides hat sich die Frau gewünscht, sie hat um ihren kommenden Tod gewusst, um ihre kommende Auferweckung gehofft, um eine liebevolle Trauergemeinde gebetet. Sie war sich Gottes sicher – und ist so in den Tod gegangen im Wissen darum, dass nun bald diese Welt wahrlich besiegt ist. „Nicht der Krebs siegt über mich, ich siege über den Krebs“, dies war ihr Glaube, ihre Liebe, ihre Hoffnung. Welch eine Glaubenskraft, welch eine Liebeskraft! Phantasievoll, mutig, kreativ – das hat die Gottesliebe dieser Frau ausgezeichnet, eine Hingabe und Nähe. In einer Situation, in der manch anderem der Glaube schwindet, ist ihr Glaube gewachsen.
Es war im Übrigen gar keine fromme Frau im herkömmlichen Sinne. Sie hat viele im besten Sinne überrascht, gerade auch Menschen, die sie zu kennen glaubten. Sie hat ihren Glauben nicht nach außen getragen, aber nach innen, ganz tief drinnen, da hat er sie getragen. Es war kein augenscheinlicher, öffentlicher Glaube, aber ein zutiefst herzlicher Glaube, der dann, am Ende, doch ans Licht trat.
Suchen wir weiter nach den Spuren der Gottesliebe unter uns Menschen, liebe Gemeinde, eine lohnende Suche, für uns als Gemeinde, für uns als Einzelne. Wo habe ich einen liebevollen Glauben erlebt, wo hat der Glaube eine Liebeskraft entfaltet, die mich zum Staunen gebracht hat?
Vergangenen Freitag war ich in der Mutterhauskirche in Kaiserwerth. Gedacht wurde von Familie, Freunde, Wegbegleitern dem 100. Geburtstag von Professor Kurt Wolff, der von 1949 bis 1989 Künstlerischer Leiter der Paramentikwerkstatt war. Paramente übersieht man oft, doch Kurt Wolff hat es meisterhaft verstanden, Glaube und Kunst in liebevolle Stoffstücke zu übersetzen. Kurt Wolff war Autodidakt, als Künstler wie als Theologe. In beeindruckender Weise war er aber mit seinem Glauben, seinem Lieben und seinem Schaffen auf der Höhe der Zeit. Er liebte so, dass er tief eindrang in das, was es zu verkündigen galt, er ließ sich den Glauben liebevoll zu Herzen gehen. Überwunden hat er damit so manchen Schmerz auch seiner eigenen geraubten Jugend – und aus seinem Sohn, Christian Wolff, der 1992 an die Thomaskirche nach Leipzig wechselte, ist ein ganz besonderer Brückenbauer des Friedens und der Versöhnung zwischen Ost und West geworden. Es ist spürbar ins Leben hinein übersetzt worden, was der erste Johannesbrief behauptet: „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat!“
„Wer glaubt, dass Jesus der Christus ist, der ist von Gott geboren.“ Ich will zum Anfang zurückkehren. Denn die Gottesliebe ist nicht einfach etwas beliebiges, ein Glaube an eine höhere Macht oder so etwas. Es ist ein Glaube, der im höchsten Maß bestimmt ist: der Glaube an Jesus, den Christus. So wie Liebe nicht unbestimmt sein kann, sondern sich auf eine bestimmte, benennbare, fassbare Person bezieht, die wir lieben, so bindet sich der Gottesglaube an einen bestimmten, benennbaren, fassbaren Gott: an den Gott, der in Jesus Mensch wurde, um mit ihm für uns und mit uns die Welt zu überwinden. Der österlich Auferstandene, der den Tod überwunden hat, ist der karfreitäglich Gestorbene: „Es ist vollbracht!“ ruft Jesus im Moment des Todes – und nimmt in sein Leid unser aller Leid mit hinein, in seinem Sterben liegt unser aller Sterben. Das Leben ist nicht einfach schön und grenzenlos, sondern kennt das Dunkel, die Grenze, den Tod. Realistisch sind Angst und Schmerz, wer das leugnet, schwebt auf Wolke 7, hat eine rosarote Brille auf, der ist verliebt. Aber das ist ein Zustand, der vergeht. Das ist menschlich, sehr menschlich, wie ich finde. Doch die wahre Liebe schwebt nicht auf Wolke 7, sondern entwickelt sich mitten im Leben – und wird dann doch dieser Welt enthoben. Wahrer Glaube und wahre Liebe hat Bodenhaftung, leugnet den Alltag nicht. Aber sie liebt über den Alltag auf den Sonntag, über den Tod ins Leben, durch die Feindschaft hindurch den Frieden. Das hat doch enorme Konsequenzen, jeden Tag neu. Und wahrer Glaube ist nicht blind für das Lebensgrau, aber die Sehschärfe liebenden Glaubens ist so stark, dass man weiter blicken und tiefer hoffen und inniger lieben kann. Wie Jesus, mit Jesus, unserem Christus, dem Grund unseres Glaubens.
Insofern leben wir nach Ostern auf Himmelfahrt zu, liebe Gemeinde. Als Menschen, die von Gott durchdrungen sind, oder dabei sind, durchdrungen zu werden. Denn es ist zwar ein zweifelndes, zögerliches, ängstliches Herz in uns – aber zugleich ist der Same einer Liebe gesät, die aufgehen will, in uns und unserem Leben.
Jubilate, freut euch, liebe Mitchristinnen und Mitchristen. Denn wir gehören gemeinsam zu dem Gott, der vor uns und für uns mit seiner Liebe den Tod, ja die ganze Welt überwunden hat. Die Nacht ist verflattert, ich freue mich am Licht. Ich freue mich, Herr, ich freue mich und freue mich. Amen.
Kanzelsegen
Und so sei die Liebe Gottes, die uns jeden Tag aufs Neue ergreifen will, in uns und mit uns, heute und alle Tage unseres Lebens. Amen.
Konfirmation Jubilate 17.04.2016 Stadtkirche 1.Johannes 5,1-4 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Konfirmation Jubilate – 17.IV.2016
1.Johannes 5,1–4
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Liebe Gemeinde!
Jesus ist kein Teddybär!
Die Mitteilung werdet Ihr verkraften, denn das Kuscheltieralter ist für Euch dinosaurisch weit entfernt.
Aber Jesus ist auch ziemlich viel anderes nicht, das wir ihm eher zutrauen. Er ist nicht immer nur nett und nicht immer nur liebevoll und nicht immer nur widerstandslos zur Verfügung. Denn – obwohl wir es in allen möglichen gymnastischen und sonstigen Tonlagen zu singen geübt haben – es ist nicht damit getan, dass wir ihn als ein Lamm kennen, als das „Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt“. Jesus ist nämlich auch das glatte Gegenteil dieses doch eher harmlosen, unschuldigen Tierchens. Er hat durchaus seinen eigenen Kopf und seine eigenen Kräfte.
Er wird nämlich von solchen, die es wissen müssen, allen voran von seinem Lieblingsjünger Johannes bei passender Gelegenheit auch als ein Löwe beschrieben (vgl.Offenb.55).
Und das ist wirklich überraschend, denn wir sind ja alle so dran gewöhnt, uns den Mann aus Nazareth ganz sanft vorzustellen: Schließlich wurde er „für uns“ geboren, obwohl er doch längst vorher schon lebte, und dann starb er auch noch „für uns“, obwohl er das unter gar keinen Umständen gemusst hätte und nur aus lauter Gnade tat, damit wir nicht eines Tages alleine und endgültig bei den Toten landen!
…Er muss eigentlich der freundlichste Mensch der Menschheit gewesen sein. … Ehrlichgesagt bin ich sogar sicher, dass er es war. Ich bin völlig gewiss, dass es niemals jemanden mit einem größeren Herzen, einer echteren Liebe, einem besseren Plan gegeben hat oder geben kann. …
Aber er ist trotzdem kein Plüschtier, sondern wenn’s sein muss von ungezähmter Wildheit. —
Doch weshalb erzähle ich Euch das heute, an diesem fröhlichen, wichtigen Tag Eures Lebens, an dem Ihr die Entscheidung trefft oder - besser noch - bestätigt, dass Ihr diesen wunder- und geheimnisvollen, diesen guten, aber eben auch überraschenden Jesus Christus als Euren Lehrer, Euer Vorbild, Euren Maßstab, Euren Freund, Euren Retter, Euren Herrn annehmt?
Ich erzähle Euch von der weniger bekannten, der starken und gefährlichen Seite Jesu, weil Ihr selber gerade an der Gefahrenschwelle steht: Bisher wart Ihr nett, manche von Euch waren süß, manche putzig, manche verspielt, verträumt, manche meinetwegen hin und wieder auch verpeilt.
Aber aus solchen Entwürfen werden bei Euch demnächst ausgewachsene Exemplare.
… Was bisher eine Frisur bei Euch war, wird dann plötzlich eine Botschaft, eine Kampfansage oder ein Geheimzeichen. Eure Zimmer werden Sperrgebiet, Eure Kreise verlagern sich, Eure Nächte werden Tage, Euer Wissen wird unheimlich, Eure Zukunft geht los.
Und wenn Ihr dann bunt und zottelig und vollbärtig oder elegant und großstädtisch daherkommt, dann sollt Ihr daran denken, dass der Lieblingsjünger Jesu, der sehr leise, sehr liebevolle Botschaften seines Herrn aufbewahrt hat, Euch am Tag Eurer Konfirmation auch einen ganz zackigen, harten, irritierenden Satz in seinem Brief mitgegeben hat, … den Satz vom Sieg.
In’s Hier und Heute übertragen, jetzt, wo Ihr selbst bald das volle Leben auf die Hörner nehmen werdet, könnte dieser Satz vielleicht heißen: „Euer Glaube macht die Welt fertig!“?
Weil aber immer, wenn vom Glauben zu reden ist, zuerst und zuletzt von Jesus Christus gesprochen werden muss, wollen wir zunächst überlegen, was es bedeuten könnte, wenn wir darin also tatsächlich auch hören: „Jesus macht die Welt fertig!“
Dass das ein ziemlich erschreckender Satz ist, in dem es um eine Situation des Unfriedens, ja um einen Kampf geht, das ist sofort klar: Wer fertiggemacht wird, der ist am Ende. Der hat nichts mehr zu lachen, sondern geht kaputt. … Das ist auch gar nicht so weit weg von Jesus, ja eigentlich ist das immer wieder sogar das, was wir mit ihm selbst verbinden, … allerdings so, dass es heißen müsste: „Die Welt hat Jesus fertig gemacht!“
Radikal.
Völlig.
Seiner Liebe haben sie in’s Gesicht gespuckt, seine Hände und deren Wohltaten haben sie zertrümmert, sein Herz haben sie gebrochen.
Ihn selbst ließen sie hängen.
Da war er also fertig. Fertig mit der Welt, in die wir gehören, zu der wir gehören, die wir sind.
Oder nicht?
– Nein, natürlich war Jesus nicht mit uns Menschen fertig, als wir es umgekehrt mit ihm längst waren.
Er war tot, aber nicht am Ende. … Und was dann kam: Darauf kommt es an!
Denn wenn wir das gewesen wären – die so von allem und jedem kaputtgemacht worden wären –, was wäre wohl geschehen: Wenn wir eine zweite Chance bekommen hätten, einen neuen Anfang?! … Der Gegenschlag, wette ich. Wir hätten dafür gesorgt, dass die Gerechtigkeit wiederhergestellt wird, weil man das doch nicht so einfach mit uns machen kann: Uns demütigen, uns schlagen, uns besiegen. …….
Und auch Jesus wurde nach seiner Auferweckung ja zum Löwen.
Auch er nutzt seitdem die Chance, die Welt gegen alle Widerstände, die Welt trotz aller Unwahrscheinlichkeit „fertig zu machen“. … Aber das, was er vorhat und was er durchsetzen wird, ist eben doch ganz anders als alles, was wir vorhaben, ja auch als alles, was wir uns nur vorstellen könnten: Jesus will und wird die Welt nämlich buchstäblich „fertig“ machen, er wird sie so behandeln und bearbeiten, er wird sie so in Angriff nehmen und damit schließlich auch zum Ziele kommen, dass sie dann wirklich fertig – also: „vollendet“, „vollkommen“ ist.
Jesus wird alle Fehler, die wir gerade an seiner Kreuzigung so überdeutlich sehen können – das Problem, das die Menschheit mit der Gewalt und mit der Schuld, das Problem, das die Menschheit mit dem Leiden und dem Tod hat –, … Jesus wird alle diese Fehler der Welt beenden … bis sie nicht mehr herrschen, bis sie wirklich vergangen und vorüber sind.
Dass das keine Kleinigkeit ist, sondern die größte Herausforderung, aber auch die herrlichste Verheißung der Menschheit, das ist unbestreitbar. Aber gerade das und nichts anderes ist der Sinn sowohl seines Sterbens und seiner Auferweckung, wie heute auch Eurer Konfirmation und unseres christlichen Glaubens zu allen Zeiten!
Es geht darum, dass die Dinge, alle Dinge noch nicht endgültig sind – am wenigsten von allen sind der Tod und die Sünde endgültig!
Es geht also darum, dass noch so vieles geschehen kann, geschehen wird und muss, dass man wirklich begreift, wieso das Ziel der Welt und Eure Konfirmation zusammenhängen:
Jesus Christus hat so viel vor, von ihm wird noch so viel Gutes erwartet und zu erleben sein, dass er einfach immer wieder neue Begleiter, neue Helfer, neue Zeugen braucht, … dass er immer wieder Menschen mit Zukunft sucht, die weitersagen und auf ihre Weise dazu beitragen, dass er die Welt fertig macht.
Ihr sollt also – und hoffentlich wollt Ihr es auch! – … Ihr sollt also dabei mitmachen, dass das Lamm, das sich für alles Schlechte schlachten ließ, als der Löwe erfahren wird, der alles Gute erreicht und sicher macht.
Zugegeben: Das klingt eher nach fulltime-job. So als ob Ihr die Schule und alles andere eigentlich hinschmeißen könntet, wenn Ihr nun Christen sein wollt, ....... was für den Augenblick vielleicht gar nicht die schlechteste Nachricht für Euch wäre.
Aber so ist es dann doch nicht!
… Macht Ihr ruhig die Schule fertig und was immer dann kommt auch … und das nächste dann auch noch. — Inzwischen macht Jesus die Welt fertig!
Und was immer Ihr gerade vorhabt (und stellt Euch vor: Es muss nicht mal auf whatsapp mit-geteilt werden oder auf Facebook zu sehen sein!) … was immer Ihr also irgendwann in Eurem Leben vorhabt: Ihr könnt und werdet dabei trotzdem unauffällig, aber selbstverständlich mit Jesus mitmachen, wenn Ihr bloß zwei ganz klar, ganz einfache Dinge nicht vergesst: Vergesst nicht zu lieben und vergesst nicht, nach Gott zu fragen.
Wenn Ihr das beides beibehaltet – wenn Ihr also nicht unmenschlich und nicht gottlos werdet –, dann geschehen große Dinge durch Euch und mit Euch: Dann verändert sich das kleine Klima um Euch herum, … es kommt dann zu einer guten Erwärmung, wenn Ihr warmherzig seid und bleibt. Und der Geist der Zeit verändert sich auch, wenn Ihr dafür sorgt, dass auch zukünftig die nicht verschwinden, die nicht nur sich selbst und ihre angeblich wichtigen, dabei aber so kleinen Wünsche und Ziele vor Augen haben, sondern das große Ganze, die Hoffnung für alle.
Und wenn sich Euch und Eurem Glauben – was nicht anders zu erwarten ist – dabei auch vieles in den Weg stellt, müsst Ihr doch gar nicht selber wütend oder bitter oder verzagt werden: Jesus wird in Gottes Namen, Jesus wird in Gottes Kraft schon damit fertig werden. Wie ein Löwe!
Denn dazu ist er gestorben und wieder lebendig geworden: Dass er das schafft.
Und weil er siegen wird, werdet auch Ihr alles gewinnen!
Ihr werdet das Leben, die Freude, die Zukunft, die Gott durch ihn für seine Welt erkämpft und erreicht, für immer gewinnen.
Weshalb Ihr merkt, dass Jesus wirklich kein Kinderspielzeug, kein Kuscheltier ist, sondern der Schlüssel zum Großen, zu Eurer Zukunft, zur Welt und zum Himmel.
Und daher gilt von ihm, was heute auch von Euch gilt: „So sehen Sieger aus……!“*
Amen.
Konfirmation 16.04.2016 Stadtkirche 1.Johannes 5,1-4 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Konfirmation 16.IV.2016
1.Johannes 5,1–4
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Liebe Gemeinde!
Glauben heißt Siegen! Christsein heißt Siegersein! ——
……. Das ist starker Tobak. Noch dazu, wo Ihr doch gar nicht raucht, … und auf unserer Herbstfreizeit seid Ihr obendrein ja in die Chronik dieser Gemeinde eingegangen als der Jahrgang, der die wenigsten Wettkämpfe und Pokalspiele austragen wollte.
Auf’s Siegen wart Ihr – ausgerechnet im Siegerland! – überhaupt nicht scharf.
Das kann einen tatsächlich in’s Grübeln bringen.
… Liegt’s eventuell daran, dass Ihr so derart davon überzeugt seid, die geborenen Gewinner zu sein, dass Ihr den Hintern für billige Plastikmedaillen nicht bewegt? Aber ehrlichgesagt: So bequem und arrogant wirkt Ihr überhaupt nicht. Und unsportlich seid Ihr gewiss nicht. … Wieso also konnte man Euch nicht anstacheln und in Kampfeslaune bringen? War unser Drill nicht hart genug? War der Ton zu zivil?
Vermutlich lag es an zwei anderen Faktoren, … und einem dritten Geheimnis:
Dass Ihr es nicht nötig hattet, über einander mit blutunterlaufenen Augen auf dem Basketballfeld oder – noch martialischer! – in kriegsbemalten Horden auf dem Minigolfplatz herzufallen und bis zum Untergang zu kämpfen, lag vermutlich daran, dass das sonstige Programm so gelungen war.
Mehr aber noch vertraue ich darauf, dass Ihr deshalb nicht andauernd kämpft, weil Ihr in Eurem Leben etwas spürt, das die Konkurrenz eines Kriegs ums Überleben überflüssig macht: Ihr werdet geliebt. Keiner von Euch geht bisher als einsamer Wolf durch’s Leben, keiner muss wie ein Raubtier, wie ein Nomade und Einsiedler allein gegen alle klarkommen. Dafür sorgen bis heute und noch lange Eure Eltern und Familien, Eure Freunde, Eure Mitmenschen, Eure Gemeinde. Ihr sitzt hier und wisst – trotz allem, in allem! –: Ihr werdet geliebt!
Das ist wunderbar so und möge so bleiben! —
Aber als letzte Erklärung für das, was Ihr mit Eurer Unlust am Kämpfen zeigt, reicht mir das immer noch nicht. Denn über eines sind wir uns vermutlich alle im Klaren: Streit und Aggression, ja auch bewaffneter Konflikt und Kampf sind nicht verschwunden aus dieser Welt, in der Ihr so geliebt und so behütet lebt.
Im Gegenteil: Während Eure Großeltern in Ihrer Kindheit eine Nachkriegszeit erlebten und Eure Eltern als junge Leute eine Zeit, in der zwei Supermächte einander hochbewaffnet in Schach hielten, steht Eure Jugend plötzlich und unübersehbar im Zeichen des Kampfes. Auch wer es nie gedacht hätte, erfährt, dass Krieg und Gewalt und Flucht und Unsicherheit nicht nur in den Geschichtsbüchern vorkommen, sondern hier und heute auf unserer Erde, in unserem Europa, in unserer Mitte. Es sind gewalttätigere Zeiten als früher: Diese Jahre, in denen Ihr so geliebt werdet und so friedlich sein dürft.
Und gerade darum ist es eigentlich umso schwieriger und gefährlicher, wenn Eure Konfirmationspredigt in solchen Zeiten mit so einem säbelrasselnden Satz beginnt: „Glauben heißt Siegen!“ Denn die Verbindung von Gewalt und Religion und die tödliche Saat des Siegerwillens im Namen von Glaubensüberzeugungen sind uns heute furchtbar deutlich. In dieses Feuer sollte man wohl besser kein Öl gießen. —
Aber darum geht es auch nicht.
Ihr friedliebenden, unkämpferischen Christen sollt hier bestimmt nicht zu Gotteskriegern umerzogen werden. Das war nie das Ziel unseres Unterrichts.
Wir haben nämlich ein besseres Ziel vor Augen … in allem Ernst, von dem wir ja auch oft und intensiv geredet haben. Das, was unseren Glauben so einzigartig, für die ganze Welt so wertvoll und für jeden von uns so optimistisch macht, ist dass er gerade nicht aus Kampf geboren und mit Gewalt bezeugt wird und dass er das auch gar nicht braucht.
Zwar hat es viel zu viel Blutvergießen im Namen des Christentums gegeben, … doch Ihr wisst alle: Das war nie im Sinne Jesu. Jedes Mal war das ein Anschlag gegen ihn selbst.
Denn ER ist gekommen als Zeichen und Botschafter und Versprechen des Friedens.
Er hat Versöhnung gepredigt und im Geist der Vergebung gehandelt, und sein Leben hat er schließlich geopfert, um den uralten Konflikt zwischen Gott und der Sünde und den Sündern für immer zu beenden.
Freiwillig hat er sich dem Bösen und dem Tod ausgeliefert und hat sie dabei um jedes Recht gebracht. Mit ihm hatte der Tod nämlich den Falschen erwischt: Gottes Sohn, Gott selbst ließ sich nicht festhalten und von der Gewalt des Todes und der Brutalität, die in uns Menschen schlummert, zerstören. Stattdessen hat er sie lächerlich gemacht und leer.
Seit Ostern wissen wir, dass es auf der Welt überhaupt keinen anderen Sieg mehr gibt, als den des Lebens, das Gott schenkt und schafft. Und wenn Mord und Terror noch so sehr die Welt beherrschen wollen – wenn sie nie sicher sein können, weil Gott eben doch stärker als sie ist, dann haben sie schon verloren. Dann hat mit Jesus Christus der große Sieg schon angefangen, der eines wunderschönen Tages jeden einzigen Menschen zu dem machen wird, was wir an Euch sehen konnten: Leute, die im „Siegerland“ ihre Freude haben können ganz ohne zu kämpfen, ganz ohne andre vom Platz fegen zu müssen, um schließlich allein auf irgendein Treppchen klettern zu dürfen. Leute, die davon leben, dass sie geliebt und gesegnet sind und Frieden halten und Vergebung haben.
– Schön, …. oder?
… Nur was ist dann das Leben, wenn man sogar in so schwierigen Zeiten wie den jetzigen – Kriegs- und Krisenzeiten – sich darauf verlassen darf, dass das Gute, der Frieden, die Liebe, dass also Gott eines Tages der Sieger sein wird über alle Übel, Leiden und Ängste?
Ist das Leben darum dann jetzt schon eine einzige Konfifreizeit – ohne den Stress, den Schweiß und den Einsatz eines Kampfes, zumindest eines Wettlaufs, einer Kraftanstrengung?
Soll man als froher und getroster Christ einfach schon Däumchen drehen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, wie man früher sagte, … „chillen“, wie Ihr sagt („abschimmeln“ sagen übrigens die Schweizer…..)?
Meine Lieben – da ist der Haken.
… Nein, kein Haken eigentlich. Sondern der Segen und der Sinn der Konfirmation.
Wenn unser Glaube und unsere Zuversicht uns zu tatenlosen Rumhängern machen würden … dreimal dürft Ihr raten, ob wir dann heute Euer klares, bewusstes, öffentliches Ja zum Glauben feiern würden?!
Nein! … Rumhängen würden wir. … Abschimmeln.
Da wir aber stattdessen Euch feiern, erkennt man mit bloßem Auge, dass Ihr heute nicht die Hängematte bezogen, sondern einen denkwürdigen und fruchtbaren Entschluss gefasst habt:
Ihr habt nämlich gewählt, dem wirklichen Sieger, Dem, Der das Gute endgültig durchsetzen und für die ganze Welt erreichen wird, nicht einfach zuzugucken und hinterher zu glotzen, sondern dabei zu sein, Ihn zu begleiten, Ihm zu folgen, Seine Mannschaft zu werden, Sein Spiel zu machen. … Nicht verbissen und verbittert; weder mit Gewalt noch mit der Panik der Unsicheren, die heute ihrerseits die Welt so verunsichern. Sondern in der für Euch – und für uns Christen hoffentlich alle – so typischen Art: Nämlich als die Geliebten, die niemanden aus dem Rennen schmeißen und keinen schlagen müssen, weil sie gar nicht erst im Freund-Feind-Denken leben.
… Das ist der eine, weitaus bessere Sport der Christen, der alle anderen Wettkämpfe und Disziplinen an Herausforderung, aber auch an Sinn übertrifft:
Dass wir nicht zeigen müssen, wie gut wir sind, sondern wie gut wir alle es bei Gott haben.
Dass wir darum nicht die Konkurrenten der anderen sind, sondern stets ihre Mitmenschen – mal mit ihnen befreundet, mal auch nicht, aber niemals bereit, andere zu vergessen oder gar zu vernichten.
Der Sport daran ist: Durchzuhalten. … Mit und für die anderen zu glauben, zu hoffen, zu lieben. Zu beten und zu handeln. Gottes Güte und Gottes Gebote im eigenen Dasein mit Leben zu erfüllen.
Und das könnt Ihr! Wenn Ihr nämlich auch keine killermäßig ausgeprägten Kämpfernaturen bewiesen habt: Die Berge seid Ihr doch bei Tag und bei Nacht gut hochgekommen da im Siegerland. Und das ist Christentum: Nicht auf der Strecke zu bleiben, sondern den Frieden und die Hoffnung hochzuhalten, die Hoffnung auf das, was kommt, auf den, der wiederkommt. Jesus.
Denn Der, an Den wir glauben, zu Dem Ihr Euch heute bekennt, Der ist wirklich der Sieger.
Er bringt Euer Leben und jedes Leben, Er bringt die Welt und die Geschichte zum Ziel und zur Blüte. Und ab heute bleibt Ihr dabei! Bleibt bei Ihm und auf Seiner Seite!
Bis wir es wieder feiern: Dass der Tod und das Böse verloren haben und dass wir alle durch Jesus Christus das Beste von allem gewonnen haben: Zeit und Ewigkeit.
Bis dahin also: Seid von Herzen willkommen und macht bis zum Himmelreich weiter so!
Amen.
Misericordias Domini 10.04.2016 Stadtkirche 1.Petrus 2,21b-25 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Misericordias Domini 10.IV.2016
1.Petrus 2, 21b-25
Liebe Gemeinde!
Die Brille möchte man sich putzen, … die Augen reiben, … den Scheibenwischer anmachen:
War uns nicht eben auf dem Friedhof vor Jerusalem ein Wunder begegnet? Licht und Glanz des Lebens, die alles überfluteten – sogar am trübsten Ort der Erde, im Grab der Hoffnung?
……. Woher kommt plötzlich die Wolke? Weshalb wieder die Melodie der tiefsten Passion*? Warum ein Briefabschnitt, der so deutlich wie nur möglich zeigt, dass Petrus, der Erzapostel seinen eigenen Herrn nur verstand, wenn er ihn mit der dunklen Brille des Jesaja betrachtete?!
Bei Jesaja im berühmten 53.Kapitel, im Gottesknechtslied, das auf Golgatha gehört, sind nämlich beinahe sämtliche Wendungen über den Hiob, über den Dulder zu finden, als den Petrus uns zwei Wochen nach Ostern Christus schildert: Er gab keine Widerworte; er leistete keine Gegenwehr; er ließ sich ohne Sträuben ans Holz schlagen. …….
Zug um Zug, Satz um Satz wiederholt Petrus die Liturgie des Karfreitag.
Und verdutzt, nein verstört fragen wir uns, was passiert ist, dass es uns so zurückschleudert in den Abgrund, aus dem nur noch die Auferweckung der Toten retten konnte?
Wie froh waren wir, dass es endlich vorbei war: Das makabre Gedenken an die Leiden des Messias, an den Schmerz des Mannes am Kreuz. Wie satt hat die Welt, … haben wir die Botschaft vom Tod unseres Stellvertreters. …….
Wie schön ist dagegen der Frühling! Wie schön sind seine Boten! Wie lieblich sind doch die hoppelnden, mümmelnden, tummelnden, rammelnden Hasen! … Ach ja, die Hasen sind über-haupt das Allerschönste an Ostern – und auch das Allerbeste. Denn sie verkörpern genau das, was wir eigentlich brauchen. Schon ihr Name sagt es ja: …. „Ich weiß von nix!“
Das ist es doch, was wir wirklich nötig haben und im Frühling feiern: Das Verschwinden des Gedächtnisses! Knospen und Blüten und grünendes Wachstum sind unsere Verbündeten beim großen Zudecken, beim weltweiten Gras-drüber-wachsen-Lassen und neu anfangen. Der Taumel des keimenden Frühjahrs rührt ja nicht zuletzt daher, dass die Übermacht des tausendgestaltigen Lebens unsere Erinnerungen löscht: Was früher war, ist vergangen. So schön wie jetzt war’s noch nie! … Schwärmt! Saugt! Singt! Feiert! Vermehrt Euch! Totes kehrt nicht wieder! Lasst Neues wimmeln!
Das Frühjahr macht untreu. Es verdrängt und begräbt das welke Vorjahr. Es weckt den paradiesischen Anschein, als wäre vorher nichts gewesen.
Doch eine solche Feier der Stunde Null ist Ostern eben nicht.
Denn – und das ruft Petrus uns heute unüberhörbar in’s Gedächtnis – … denn es ist die Auferweckung des Gekreuzigten (!), die wir an Ostern und grundsätzlich an jedem einzigen Sonntag feiern.
Und in dieser nötigen Näherbestimmung findet sich das entscheidende Motiv unseres Jubels, unseres Glaubens, unserer Haltung: Es geht für uns nicht um das Auswischen und Verdrängen des Schrecklichen, sondern um die Gnade, die trotz der Sünde, um die Befreiung, die trotz des Zwangs, um das Geschenk des Lebens, das trotz des Todesschicksals mächtiger ist.
Wir Christen sollen und wollen also nicht vergessen, was hinter Jesus Christus und hinter uns allen liegt.
Die Erinnerung daran ist es ja, die das Ausmaß der Erlösung allererst zeigt.
....... Ohne den Rückblick auf die Passion, ihre Ursachen, Rätsel und Erschütterungen wäre der auferweckte Christus ja nur ein Davongekommener, schlimmer noch: Er wäre ein einzelner Emporkömmling aus dem Grab, einer, der wie auch immer geschafft hat, wovon andere nur träumen.
Christus nach Ostern ohne Passionsgedenken zu betrachten, heißt aus dem Auferstandenen einen reinen „Aufsteiger“ zu machen, einen Parvenu, wie man einst voller Verachtung sagte: Einen Menschen, der seine Vergangenheit abgeschüttelt hat und sich rein im Glanz seines Erfolgs sonnt, … sei der auch noch so schmutzig oder halbseiden zustande gekommen.
Eine solche Feier des siegreichen, glücklichen, strahlenden Aufsteigers, hinter dem sich die Wand der Erinnerung schließt, mag bewusst nur in der Absicht weniger ekelerregender Verkündiger des Wohlstandsevangeliums liegen, die mit der Botschaft unterwegs sind, jeder könne es schaffen, sein elendes Gestern hinter sich zu lassen und ab dann das Leben einfach in vollen Zügen zu genießen.
So plump wie diese nord- und südamerikanischen Betrüger im Namen Christi sind wir vielleicht nicht unterwegs. Aber die Gefahr, dass wir das Unangenehme am Evangelium verdrängen und nur die positiven Impulse, seine österliche Unbeschwertheit ausschlachten, ist bei uns immer gegeben, … ja, sie wird immer stärker. Weil natürlich auch wir – mit Verlaub – ein Haufen Parvenus sind, Begünstigte, die’s nach oben geschwemmt hat, wo die Fettaugen blinkern. Dass wir wie der größte Teil der Menschensuppe eine ganz und gar unschöne, leidvolle Vergangenheit haben – und ich meine in diesem Fall wirklich nicht nur „schuldvoll“, sondern ich meine eine Vergangenheit des Mangels und der Entbehrungen und Not – das ist vergessen und tut nichts mehr zu Sache. Wir schaukeln obenauf …….
Doch das waren wir nicht immer.
Es ist kein Rückgriff in das Zeitalter der Sage, wenn wir uns an’s Darben und Frieren, an schäbigste, nackteste, sittenverderbende Not erinnern: Diese graue Zeit des Grauens, diese kalte Zeit der Habenichtse, die vor und nach dem Ende des Krieges herrschte, ist ja noch zu Menschengedenken gewesen. Wir selber oder die, die am nächsten vor uns waren, sind noch ganz alltäglich dem Verrecken begegnet, das auf Schlachtfeldern und in der Heimat, den Flüchtlingen, den Besiegten auf Schritt und Tritt folgte. Zähnefletschende Hungergier, die Abgebrühtheit des Albtraums, die Gespenster mörderischer Gewalt waren die Paten unserer Alten, sind die verschwiegenen, aber nicht gebannten Schatten auch über den Nachgeborenen.
Alle, die hier sitzen, stammen von Verlierern, von Verirrten, von Opfern ab.
Schön wäre es daher wohl nicht, aber wahrheitsgemäß und richtig, wenn wir uns das immer wieder vor Augen hielten: Dass unsere Gesellschaft keine andere Vergangenheit hat als dieses Elend, aus dem wir ohne fremde Hilfe weder wirtschaftlich noch menschlich hätten herausfinden können. ——
Ein deutscher Diplomat, Botschafter in London und New York, von dem in unserer Familie oft erzählt wurde, der aus schlichten Verhältnissen in die Welt der schönen Namen und schönen Damen eingeheiratet hatte, verblüffte Bedienstete und andere Gäste immer wieder, wenn er in mondänen Hotels oder etwa den breiten Gängen der Eisenbahncoupés I.Klasse mit weitausschwingenden Armbewegungen und gleichmäßigem Tritt entlangschritt. Befriedigt erklärte er dabei den verwirrten Zeugen seiner Schnitte in die Luft, dass er mit der Sense mähe, wie als Dorfkind: „Und ich hab’s nicht verlernt!“ Ihm war das bäuerliche Handwerk im Glanz seines neuen Lebens keine Spur peinlich, vielmehr brauchten seine Glieder die Erinnerung an sein Herkommen.
…Wie schwach sind dagegen die, die ihre Anfänge verlieren, die vergessen, dass sie nicht immer Fettauge waren, sondern bis in die Gegenwart vom trocknen Brot der frühen Jahre leben! ———
Doch nicht nur, weil wir uns wirklich besinnen können müssten, wie es ist, recht- und hoffnungslos zu sein, ist die immerwährende Erinnerung an die Passion des Auferweckten ein unverzichtbarer Bestandteil unseres nachösterlichen Glaubens. … Nicht um uns geht es ja vor allem. … Sondern um das bleibende Bekenntnis, dass Jesus als Opfer, als geprügeltes, misshandeltes, gequältes Stück Mensch, als zweibeiniges Schlachtvieh für zweibeinige Schlächter auferweckt wurde.
Und dass er darum auch in der Lebendigkeit und Herrlichkeit des Auferweckungslebens dieser bleibt, der er war: Der Bruder der Verhungernden und Leidensgenosse der Unterdrückten. Der Zellennachbar der öffentlichen Sündenböcke, das Glied der verhassten Minderheit, der unschuldige Zufallstote der großen Hassausbrüche, der Sympathisant – d.h. der an Leib und Seele Mitfühlende, Mitleidende – aller Schwachen, Stummen, Stigmatisierten.
Er hat dem Thomas letzte Woche an dem neuen Leib, der durch verschlossene Türen treten kann, tiefe Fleischwunden und frische Narben entgegengehalten (vgl.Joh20,27).
Nicht makellos und unberührbar begegnet uns der lebendige Herr also, sondern er herrscht und siegt durch seine Auferweckung gerade als der leidende Gottesknecht, als der Wehrlose, der alle Sünden trägt und spürt und auffängt, der alles erleidet, teilt und aushält, was Menschen immer schon und heute noch auszuhalten, zu dulden und zu leiden haben. ——
Es ist wie mit der Fähigkeit zum Sensen:
Er hat’s nicht verlernt, es ist ihm nicht fremd geworden, er schämt und entzieht sich den alten, lebensnotwendigen Handgriffen und Anstrengungen nicht.
… Einmal gewaltlos, immer gewaltlos.
Einmal bereit zum Opfer, ewig opferbereit.
Einmaliger Racheverzicht, endgültiger Racheverzicht.
Einmal Stellvertretung für die Sünder, endloses Vertreten aller Sünder.
Einmal verwundet, um durch die Blut- und Segensspende Leben zu retten, für alle Zeiten Heil durch die Wunden. ——
In dieser Treue Jesu zu seiner vorösterlichen Aufgabe, in dieser Treue des Auferstandenen zu seiner Passion, liegt der Schlüssel zu Christus und uns Christen, … ja, dies ist der Schlüssel: Treue zur Passion, Leidenschaft für sie, Passion für die Passion!
Weil nur so die Verbindung nicht abreißt, die verhindert, dass der einzige Auferstandene losgelöst, … entrückt, …. abgehoben über den Rest der sterblichen und sterbenden Menschheit hinaus und an ihr vorbei lebt.
Jesus Christus ist deshalb kein Emporkömmling, kein vergangenheitsloser Mensch des reinen Augenblicks weil seine Treue denen gilt und bei denen bleibt, die weiter erfahren und ertragen, was für ihn vergangen ist.
Er bleibt der Kreuzträger und Schmerzensmann an der Seite der Vielen.
Er bleibt das geopferte Lamm, das die Sünden der Welt trägt.
….… Und das macht ihn zum Guten Hirten! – Dass er ein Schaf ist!
Das ist das tiefste Geheimnis des Glaubens, das in der Melodie (EG81), auf die wir eben den 23.Psalm gesungen haben und nachher noch einmal singen werden, so mitklingt:
„Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe! / Der gute Hirte leidet für die Schafe“!
Der einzig wahre Hirt ist kein Hund und kein Herr, sondern ein Lämmlein.
… Sein Stecken und Stab sind nicht die Waffen, die er schwingt, sondern die er selbst in aller ihrer tödlichen Härte erfuhr.
Darum kann er trösten, führen, heilen und laben: Weil er genau wie seine Herde im finsteren Tal und unter den Augen seiner Feinde litt; weil er kein gesalbtes, sondern ein geschorenes, geschundenes Haupt hat; weil er nicht mit dem überströmenden Kelch, sondern mit dem Todesröcheln „Mich dürstet“ vertraut ist und bleibt! ——
Das ist Jesus Christus!
Das ist das Vorbild, das sind die Fußtapfen, denen wir Christen folgen sollen und werden, wenn wir seine Stimme hören.
Schaf unter Schafen, Lamm unter Lämmern: So finden wir den Hirten und Bischof unserer Seelen.
… Nicht als den Befehlshaber vorne oben, sondern als den stummen, … als den willigen Leidensgenossen der Armen und Verlorenen. Als den Erhöhten, der den Erniedrigten treu bleibt. Als den für alle Zeit Lebendigen, dessen Ort immer nur bei den Todeskandidaten ist.
Er hat es nicht verlernt und wird es nie verlernen.
Und unser Amt – ob als Presbyter oder Prediger† – unser allgemeines Amt der Getauften und Glaubenden in der Herde Christi ist, es auch nicht zu verlernen.
Nie wollen wir das Elend vergessen: Unser eigenes Elend, unsere Armut, unseren Hunger, unseren Mangel an allem, vor allem aber an Gerechtigkeit, unsere Sünde, in der wir waren und sind wie die irrenden Schafe.
Da kommen wir her, das sind wir!
Noch weniger aber dürfen und können wir die anderen vergessen, … die vielen, vielen andern Schafe seiner Herde (vgl.Joh10,16), die noch täglich zur Schlachtbank geführt werden (vgl. Jes53,7/Ps.44,23/Rö8,36), wo sie das Leben finden, das er für sie gelassen hat (vgl.Joh10,11).
Die sind sein und unser Schicksal.
Derentwegen ist er auferweckt worden und feiern wir Ostern:
Weil das Leid dieser Erde und ihre Not nicht der Widerspruch zur Auferweckung, sondern ihr Grund sind.
Weil unser Hirt und Bischof alle, die sich an ihn hängen, hindurchreißt.
Weil er das Lamm ist, das für immer zur Herde gehört: Hier und dort, in Schmerz und in Herrlichkeit, in Sünde und Gerechtigkeit, in Sterben und Leben.
Amen.
* Vor der Predigt wurden die ersten vier Strophen des Liedes „Der Herr, mein Hirt, läßt mir nichts Gutes fehlen“ von Johann Andreas Rothe (1688-1758) auf die Melodie „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen?“ (von Johann Crüger: EG 81) gesungen.
† In diesem Gottesdienst wurde vor der Predigt die Einführung dreier Mitglieder des neuen Presbyteriums in ihr Amt nachgeholt.
Quasimodogeniti 03.04.2016 Stadt- und Jonakirche 1.Petrus1,3-9 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Quasimodogeniti - 3.IV.2016
1.Petrus 1, 3-9
Liebe Gemeinde!
Was weiß ein alter Mann vom Wasser, den sie später einst den Papst des ewigen Rom nennen werden, über das Gebären, über’s Geborenwerden?
… Was kann er davon wissen in seiner Kultur der klaren Geschlechtertrennung?
In der Tat: Was wussten noch unsere Großväter von solchen Sachen? —
Nun, der alte Fischer, der keine Hebamme war, dafür aber in einer Welt ohne Fensterscheiben aufwuchs und schließlich in der würdelosen Enge des römischen Proletariats und seiner Massenquartiere lebte, …dieser alte Mann wusste vielleicht einiges andere und manches mehr als wir.
Er wusste etwa, dass Geburtstage oft Todestage wurden. Er kannte das Stöhnen und Schreien der Gebärenden in den Wehen und hatte im Ohr, wie es nahtlos in das Röcheln und gewaltsame Aufbäumen des Sterbens übergehen kann oder – nicht minder grausam – wie eine entsetzliche Stille an Stelle des Schreis der Neugeborenen und des glücklichen Schluchzens einer Mutter eintreten kann.
……. Leben, wenn es anfangen will, kostet oft Leben: Das wusste Petrus.
Also bedeutet Geborenwerden Tod.
Das hat sich trotz des gnädigen weltweiten Rückgangs der Säuglings- und Müttersterblichkeit auch heute nicht geändert.
Wo immer ein Leben beginnt, kommt das Sterben mit in die Welt.
Und darum ist die Rede von Wiedergeburt auch unter fast allen Umständen unvollständiger Blödsinn: Wenn Menschen wie ich, denen der Rücken wehtut, glaubhaft versichern, schon die Morgendusche, die die Knochen zurechtrüttelt, mache, dass man sich „wie neugeboren“ fühlt, dann ist das gedankenlos billig. Und wenn andere Mittel und Kuren für Leib und Seele verheißen, man werde rundum erneuert und pfirsichhaft frisch und im Kopf elastisch und vital wie am Anfang, dann ist dabei allenfalls die Rede von Aufschub, vom bewussten Zurückdrehen einer Uhr, die gegen das große Ticken des Sterbeweckers doch nicht ankommt. Wenn aber gar die fast nie verstandene und doch in letzter Zeit so beliebt gewordene buddhistische Mühle der Wiedergeburt bemüht wird, dann hält sich kaum einer, der gerne als Schmetterling oder Schulkind wiederkehrte, vor Augen, dass er damit neues Sterben, endloses Werden, Leiden und Vergehen wählen würde.
……. Noch einmal geboren werden, heißt noch einmal sterben …….
Wiedergeburt ist also ein mehr als seltsames, illusorisches, bestenfalls paradoxes Gedankenspiel. Und darum ist Wiedergeborenwerden – trotz der heutzutage buddhistisch wirkenden Beliebtheit der Rede von den Wiedergeborenen unter den Christen – darum ist „Wiedergeborenwerden“ alles andere als ein zentraler neutestamentlicher Gedanke. ——
Das gilt es zu bedenken, wenn wir Petrus – an einer von drei entsprechenden neutestamentlichen Stellen (vgl.Joh3,3; Titus 3,5) – von der Wiedergeburt sprechen hören.
Ganz wichtig ist, dass Wiedergeburt – anders als unsre Dusch- und Therapieerfolge – niemals ein abgeschlossenes Ergebnis bedeutet. So sehr die Fundamentalisten das auch beschwören mögen: Es gibt keine fertigen Wiedergeborenen. Es gibt keinen Zustand, der endgültig und unveränderlich aus der geistlichen Wiedergeburt folgt.
Denn das wusste Petrus, der alte Mann vom galiläischen Dorf und spätere Bewohner der Weltstadt, der ja übrigens vermutlich selbst auch Vater war, … das wusste Petrus so gut wie wir alle: Geborenwerden bedeutet das Gegenteil von Fertigsein … es ist ein Anfang. Und so gewiss mit jeder gewöhnlichen Geburt ein Sterben anfängt, so fängt ja noch viel eindeutiger auch das Leben damit an. Geborenwerden heißt also, mit allem zu beginnen, nicht alles hinter sich zu haben!
Für uns Christen bedeutet die Wiedergeburt daher, dass wir ein zweites Mal zu Anfängern, zu unfertigen, entwicklungsfähigen, zukunftsoffenen Menschen werden, die dem Neuen, dem Ungewissen, dem Kommenden entgegenleben.
Der radikale Unterschied aber, den gerade der dörflich stocknüchterne Weltstadtmensch Petrus betont: Als Christen haben wir beim zweiten Mal das Leben vor uns. … Nur das Leben. Leben in und trotz allem, was kommt. Nur Leben. Nicht den Tod! —
Dann aber muss die christliche Wiedergeburt zu einer lebendigen Hoffnung, diese reine Lebensoffenheit der Neugeburt aus Glauben sich ja doch grundlegend von allen sonstigen Schmerzen, Wehen, Freuden und Aussichten beim Anfang unterscheiden:
Nur in dieser Geburt nämlich entsteht Leben, das nicht mehr sterben soll.
Und selbst wenn dieses Leben, das da anfangen will, wie alles andere Leben auch Leben kostet …, so sind diese Kosten doch nicht mehr seine Zukunft! Sie liegen vielmehr hinter dem Neuanfang. Denn der war an Ostern: Durch Ostern sind neugeboren, die daran glauben und daraus leben. Der Preis des Todes, der auf jedes Leben entrichtet werden muss – ein Preis, den Menschen je nachdem dem materiellen Verschleiß oder dem Malstrom der Zeit oder dem Fluch der Sünde zuschreiben – …, der Preis ist bereits bezahlt worden.
Wir dürfen schuldenfrei und ohne Limitierung leben, weil der Tod sein Pfand gegen uns verloren hat. Jesu Auferweckung ist ein unbegrenzter Kredit an Lebendigkeit für alle, die sie in Anspruch nehmen. … ——
Das sind vielleicht genug der geradezu geschäftsmäßigen, der prosaisch-technischen Bilder.
Es wird wohl auffallen, dass Petrus solche kaufmännischen Bilder vom Zahlungsverkehr an dieser Stelle ja auch gar nicht nutzt. Doch einen Vorteil haben sie: Sie zeigen uns, wie durch und durch unpathetisch, ja trocken von der Wiedergeburt zu reden ist. …Man muss nicht in zuckende Krämpfe oder große seelische Aufwallung geraten, um wiedergeboren zu werden. Das ist in den meisten Fällen eine subjektiv erzwungene oder herbeigehechelte Aneignung, wie sie seit dem Beginn der Pfingstbewegung unter sog. „Charismatikern“ gang und gäbe ist.
Wirkliche Geburten aber sind ja nichts, das die Geborenen subjektiv erleben oder gar beeinflussen könnten. Sie gehören auch nicht in den inneren Erfahrungsraum des Menschen. Geborensein ist schlicht unsere allerobjektivste Vorgabe, die niemandem bewusst widerfuhr.
Wir wurden geboren. Basta.
Und wir wurden – genauso: Basta! – wiedergeboren ohne irgendein Zutun unsererseits, ja, ohne selbst irgendeine entsprechende Erfahrung zu machen, schlicht indem der Vater Jesu Christi diesen vor zwei Jahrtausenden aus den Toten auferweckt hat und damit die ausnahmslos gültige Reihenfolge »Geborenwerden-Leben-Sterben« auch für uns durchbrach und abschaffte.
Das ist ohne irgendeinen enthusiastischen Exzess schlicht „Sache“.
Aber so nüchtern-objektiv das festzuhalten ist, so unmissverständlich bedeutet diese Voraussetzung dreierlei für unser Leben, das nicht mehr hin zum Tod, sondern weg von ihm führt:
Dieses Leben will stark sein im Durchhalten – und Lieben – und in seiner Seelenruhe.
Diese drei Züge – Festigkeit, Treue und Freudigkeit – … die allerdings beschreibt Petrus nun doch mit angemessen lebensbejahendem und alles andere als alltäglichem Überschwang, mit dem Hochgefühl, das so nur die bewussten, erleichterten, himmelhochjauchzenden Zeugen einer glücklichen Geburt kennen.
„Unvergänglich, unbefleckt und unverwelklich“ ist das Erbe, das unser Leben ansteuert.
Diese schmückende Sprache, die irgendwo zwischen Floristen-Poesie und Polit-Jubel her zu stammen scheint, hat tiefe Wurzeln in den ältesten Zukunfts-Verheißungen der Bibel: So haben die Kundschafter vom gelobten Land geschwärmt, von seiner Üppigkeit und seiner Schönheit. So haben sie Appetit auf eine in der Wüste kaum glaublich erscheinende Fülle gemacht. So ermuntert Petrus seine Gemeinde, trotz der andauernden Miseren des Daseins nicht rückfällig zu werden in die alte bleierne Haltung, dass nichts tatsächlich lohnend, dass alles im Leben vergebens, sinnlos, negativ, unabänderlich, matt, welk, dem Tode geweiht sei.
Nein!
Alles vor uns blüht! Nichts an der Zukunft wird verderben, ehe man es tatsächlich schmecken, sehen und teilen kann. Es wird nie zu spät sein, niemand wird etwas verpassen, denn was immer auch altert und zerfällt: Das Lebensziel Gottes für die Welt ist immerwährend frisch! Es hat Moder, Staub und Verwesung hinter sich. Nie mehr wird es sich auflösen.
Darum geht es um’s Durchhalten.
Mitten in mitunter unerträglichen und unabsehbaren Anfechtungen und Zweifeln wird das christliche Leben angetrieben und aufrechterhalten von einer Zuversicht, die sich nicht abknicken lässt.
Das aber darf kein Allgemeinplatz werden, sondern soll die Tageslosung sein!
Bangemachen gilt nicht!, hieß das einst.
Und wenn wir die Abschottung und Abschreckung und Abschiebung betrachten, die gegenwärtig alle wiederkehren, wo Menschen der Not von Menschen begegnen, dann wissen wir, wie nötig es ist, dass unser Glaube sich bewährt … gerade in der Hitze der Konflikte und der Kälte der Unmenschlichkeit unserer Tage.
Wir dürfen uns nicht der Schwerkraft des Pessimismus überlassen, sondern müssen jenem beflügelnden Lebensdrang, jener strömenden Lebenskraft folgen, die unsere Wiedergeburt freigesetzt hat: Tod und Ende sind überholt – die Zukunft bringt Leben, das Leben bringt Zukunft! Darum halten wir durch. Machen und glauben weiter.
Und lieben Jesus. – Aber nicht mit dem alten Gefühl, das wir kindlich so ausdrückten, dass es dabei um’s „Liebhaben“ gehe. Denn Lieb-„Haben“ ist viel zu unbewegt, viel zu gesetzt für die Neugeborenen, die sich Streckenden, die entwicklungsbereiten neuen Menschen, die wir nach Ostern sind und bleiben dürfen.
Mit solchem regungslosen „Haben“ Jesu ist es also nicht getan, wenn wir nicht gestrig bleiben wollen. Statt vom „Liebhaben“ müsste man vielleicht eher vom Lieb-„Kriegen“ sprechen, vom Weiterwachsen und Mehrerfahren in der Bindung an den, der uns das neue Leben eröffnet hat; … man sollte auch viel buchstäblicher von Jesu „Anziehungskraft“ sprechen, die uns immer weiter zu sich in die Hoffnung, in das Neue, in das Kommende zieht.
Diese Anziehungskraft Jesu, der uns Christen nicht loslässt auch wenn wir ihn nicht sehen, ist das neue Lebensgefühl, die Vitalität, die die neugeborenen Osterkinder erfüllt.
Nicht nur eine wegweisende Durchhaltekraft, sondern auch diese beflügelnde emotionale Stärke lieben zu können, gehören so zur DNA der aus der Auferweckung Lebenden. ————
Das beides ist aber in gewisser Weise tatsächlich ……. „unaussprechlich herrlich“.
Uns fehlen nicht nur die Worte, sondern immer wieder auch die Überzeugung, dass wir wirklich so leben, so fühlen, … dass wir uns wirklich selbst so sehen dürften.
… Sind wir seelisch und geistlich nicht viel zu lahm und zag, um so unbeirrt, um so fest und feurig von unserem Glaubensleben sprechen zu können?
Quälen wir uns nicht beinah ununterbrochen mit der unglücklichen Eigenschaft des Glaubens, immer wenn wir ihn zu fassen nötig haben wie ein Stück Seife aus der Hand wegzurutschen?
Ist der Glaube wirklich ein Teil unseres Lebens? Betrifft, berührt, begeistert uns das wirklich so??? —
Nun.
Das ist doch nichts anderes als die Frage: Sind wir wirklich geboren worden?
……. Wir selber können uns das ja tatsächlich nicht bestätigen. Aber an einem subjektiven Beweis ist ja auch nichts gelegen. Rein objektiv sind wir ja da.
Und ebenso rein objektiv steht das Bekenntnis im Raum, dass Gott in der Auferstehung Jesu Christi von den Toten nicht zum Urheber eines Einzelfalls, eines Zufalls geworden ist, sondern einer Entscheidung, einer neuen Regel zum Durchbruch verholfen hat: Die Herrschaft des Todes kommt nicht mehr, sondern sie schwindet.
Wenn wir also Anlass haben, aus unserem reinen Vorhandensein auf die Tatsache unserer Geburt zu schließen, dann müssen wir ebenso annehmen, dass da, wo die Auferstehung Jesu Christi verkündigt wird, sich als die Grundlage und prägende, treibende Kraft des Lebens … Ostern herausstellen wird.
Und das hängt nicht von uns ab. Wir können und müssen das nicht machen. Zuweilen können und müssen wir das auch nicht spüren. Trotzdem ist’s und bleibt’s an dem: Das Leben ist unumkehrbar anders, völlig umgewandelt, gänzlich neu geworden durch Ostern.
Nicht mehr sterblich, sondern … „leblich“.
Weil sein Ziel nichts anderes mehr als sein Anfang ist: Durchbruch zum Leben.
Petrus nennt das die Seelenseligkeit. D
ieses alte Wort, das er uns mit der ganzen abgeklärten, klaren, jubelnden Nüchternheit des alten Mannes sagt, der weiß, dass die Dinge zu seinen Lebzeiten anders als je zuvor geworden sind und immer bleiben werden, seit das Ende der Anfang und die Zukunft wie der Beginn geworden ist.
Seelenseligkeit: Das ist das Nest, das die Schwalbe gefunden hat (vgl.Ps84,4).
Seelenseligkeit: Das ist das tiefe Heimatgefühl im noch unbekannten Neuen.
Seelenseligkeit: Das ist die reine, unaufgeregte, grenzenlose Vorfreude, die alles durchsteht und treu bleibt und im Leben und Sterben und Auferstehen dabei völlig ruhig.
„Fürwahr, wie ein kleines Kind bei seiner Mutter, so ist meine Seele in mir!“ (Ps.131,2) ——
Was für ein Geburtshelfer der alte Mann doch ist, der weiß, dass Geborenwerden und Leben nicht mehr zum Sterbenmüssen und Totsein führen seit es Ostern wurde, weil wir aus Gnade leben dürfen, um zu leben!
Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesu Christi, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung!
Amen.
Gründonnerstag 24.03.2016 Stadtkirche Johannes 12,1-8 stud.theol. Jan Homann
Liebe Gemeinde!
Jesus hat seinen Passionsweg angetreten. Er ist auf seinem letzten Weg, ein letztes Mal unterwegs auf den staubigen Straßen von Galiläa hinauf nach Jerusalem. Bevor es in die Stadt Davids geht, wo das Passahfest alljährlich groß gefeiert wird, liegt ein kleines Dorf am Pilgerweg. Viele mögen damals um diese Jahreszeit hier unterwegs gewesen sein, als Jesus sein letztes Quartier bezog. Es geht auf sein Ende zu. Er sieht es kommen, blickt dieser Tatsache ins Auge.
Die Geschichte führt uns einige Tage zurück, zum Samstag, bevor Jesus von Palmwedeln begleitet nach Jerusalem einzieht. Während der vor ihm liegenden ereignisreichen Karwoche wird Jesus bei seinen Freunden in Bethanien zu Gast sein.
Lazarus erwartet ihn schon, zusammen mit seinen Schwestern Maria und Martha. Ein großes Hallo! Was gibt es nicht wieder alles zu erzählen! Und dann erfährt Jesus eine besonders schöne Geste von Freundschaft: "Da machten sie ihm ein Abendmahl." Wie außerordentlich, dass gerade diese kleine, unscheinbare Szene als besonders wertvoll für die Überlieferung erachtet wurde!
Während Martha sich fleißig nützlich macht, hat Maria anders im Sinn. Sie arbeitet nicht, sondern – im Gegenteil – verschleudert und verschüttet buchstäblich das Produkt harter Arbeit!
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· Was sind 300 Denare? Auf welchen Wert schätzt Judas den Inhalt des Fläschchens Öl?
Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16) nennt einen Denar als Tageslohn, der wohl für Erntehelfer üblich war. Bei dieser schweren körperlichen Arbeit, hätte man damals also etwa ein Jahr – abzüglich Feiertage – schuften müssen, um diesen kostbaren Tropfen zu erwerben. Auf heutige Verhältnisse umgerechnet sprechen wir dann von mehr oder weniger 20.000€!
· Klingt erstmal völlig übertrieben. So viel Geld für etwas Parfüm ausgeben?
Man soll es nicht für möglich halten, aber Düfte sind eine ganz eigene Welt, deren Preis keine Grenzen kennt. Ich habe mich mal in einer Kaiserswerther Parfümerie erkundigt, was denn hier so das teuerste Wässerchen ist. Das waren gut 200ml für fast 250€ – und das war eine maskuline Note, meine Herren. Die hilfsbereite Dame versicherte mir, dass die Artikel besonders exklusiver Marken ohne Weiteres 1000€ erreichen und die Flacons dabei nach wie vor zu etwa 90% Alkohol enthalten! Die eigentlichen Ingredienzen werden verdünnt, weil die duftende Essez so stark ist. Die hier genannte Narde ist eine Pflanze aus Indien, die zu Öl verarbeitet wurde und als Importgut mit Karawanen nach Israel kam. Bei guter Qualität war die Essenz Unsummen wert und mit einem Pfund hätte man hunderte Flaschen von Parfüm hätte herstellen können. Schnell wird klar, was mir auch die Dame in der Parfümerie über die Verwendung so teurer Produkte sagte: "Mehr als ein, zwei Spritzer wären Verschwendung!"
Fragt sich nur noch, wie Maria an eine so groß Menge, so wertvoller Essenz kam. Eine mögliche Erklärung: Es war ihr Erbe ... und damit auch ihre Mitgift. Ohne Mann hatte eine Frau damals keinen sozialen und rechtlichen Status. Somit lag in dieser Flasche ihre Lebensversicherung! Können wir die Bedeutung dieser Geldanlage für Maria ermessen?
Was für eine Verschwendung! Ja, was für eine Verschwendung geht hier vor sich?! Recht hat Judas, ganz gleich, was seine Motivation gewesen sein mag. Das würde doch jeder vernünftige Mensch blind erkennen – zumal der betörende Duft ja sofort das ganze Haus erfüllte!
· Wie kommt Maria dazu, derart unvernünftig zu handeln? Warum lässt sie sich diesen Moment so viel kosten? Was ist ihr Spaß dabei, wenn er schon so teurer ist?
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"Für dich würde ich alles tun!" Haben Sie so einen Satz schon mal gehört? Ich wünsche es Ihnen, das vielleicht mal ... oder auch öfter von Ihrem Partner zu hören, wenn es auch kitschig klingt.
· Die entscheidende Frage scheint mir hier zu sein: Für wen, setzt Maria all das ein? Wer ist Jesus? Welche Bedeutung, welchen Wert hat ER?
Danach hat Jesus seine Jünger einmal selbst gefragt: (Mk 8,27ff) "Wer, sagen die Leute, dass ich sei?" Sie antworteten ihm: "Einige sagen, du seist Johannes der Täufer; einige sagen, du seist Elia; andere, du seist einer der Propheten." Und er fragte sie: "Ihr aber, wer, sagt ihr, dass ich sei?"
Es gibt zwei Arten, eine Person, im besonderen Jesus, zu beurteilen.
· Entweder aus sachlicher Distanz betrachtet: ein guter Lehrer, ein großer Prophet, der zweitwichtigste, vielleicht auch einfach ein Spinner, oder gar ein Lügner...
· Oder aber aus einer persönlichen Begegnung heraus...
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· Wie also hätte Maria die Frage nach Jesus beantwortet? Was bedeutete Er ihr?
Als Maria und Martha Jesus erstmals in ihr Haus einladen, zeichnet sich schon etwas von dem ab, was ihre jeweilige Beziehung zu ihm prägen sollte (Lk 10,39-42): Maria setzte sich zu Jesu Füßen und hörte seiner Rede zu. Martha aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: "HERR, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester allein dienen lässt? Sag ihr doch, dass sie mir helfen soll!" Jesus aber antwortete und sprach zu ihr: "Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe; eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden."
Hier besteht offenbar ein qualitativer Unterschied. Martha kümmert sich um Jesu leibliches Wohl – was wunderbar ihrer Begabung und Neigung und Vernunft entsprechen mag. Aber Jesus lobt ihre aufmerksame Mühe nicht, sondern verteilt die Werte anders: Genau eines ist notwendig! Und das hat Maria gewählt, wenn sie Zeit mit ihm verbringt und den Alltag ruhen lässt, um ganz Ohr zu sein für Gottes Wort. Sie ist nicht besorgt um ihr Leben, sondern trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner, so anderen, Gerechtigkeit – im Vertrauen darauf, dass ihr alles Übrige dazugegeben wird, um es mit meinem Konfirmationsspruch zu sagen.
Wir gehen zurück ins Johannesevangelium, noch vor die Salbungs-Szene: Lazarus ist gestorben und Jesus stößt mit seinen Jüngern und einiger Verspätung endlich auch zur trauernden Gemeinde dazu.
Als erste kommt Martha ihm entgegen und beweist in einigen Sätzen, dass sie durchaus etwas von Theologie verstanden hat. Jesus nimmt ihre Aussagen auf und scheint den Katechismus abzufragen: "Wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?" Sie spricht zu ihm: "HERR, ja, ich glaube, dass du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist."
Trotz dieses erstaunlichen christologischen Bekenntnisses, zeigt sich Jesus nicht beeindruckt. Erst als Maria herzu rennt und sich ihm weinend vor die Füße schmeißt, lässt er seinen Emotionen freien Lauf – und erweckt prompt den schon stinkenden Lazarus vom Tod.
Martha gab Jesus eine korrekte Antwort. Maria wurde persönlich. Wenig später zieht Jesus als König in Jerusalem ein und wird als ebensolcher gekreuzigt. Welch ein König, der sich bewegen lässt von den einfältig verschwendeten Herzen unscheinbarer Menschen!
Die Liebe, die Maria für Jesus hat, führt sie zu einem beispiellosen Akt der Hingabe. Das Beste der Welt war ihr gerade gut genug für Jesu Niedrigstes. Ihre freimütige Verschwendung ist Ausdruck eines Lebens in der Nachfolge. Es ist der Lebensstil Jesu.
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· Welcher Stil prägt unser Leben? Nach welchen Wertmaßstäben richten wir Christen uns aus?
Worüber sprechen wir z.B. wenn wir den Gottesdienst verlassen? Wie schön die Orgel wieder gespielt hat? Wie übermütig der Praktikant gepredigt hat? Wie wir aber im Großen und Ganzen doch etwas mitnehmen konnten? Das setzt doch die Annahme voraus, dass es im Gottesdienst darum geht, den Menschen etwas zu bieten. Kirche als Dienstleistung. Glaube als Hilfe für den Alltag des Einzelnen. Als Ressource in einem stressigen Leben, als Verzierung bei Feierlichkeiten, als Anlass zur Besinnung beim Burnout. Und wenn ich schon ein gesichertes Leben genieße, mein Fittness-Müsli frühstücke und orthopädische Schuheinlagen trage, dann fehlt mir nur noch ein bisschen Religion... zur Bestärkung, Tröstung und Inspiration des – Ego.*
Wir von der um sich greifenden "Generation Selfie", wir pflegen einen Lebensstil von radikaler Ich-Bezogeheit. Luther und vor ihm schon Augustinus nannten diesen grundlegenden, fatalen Zustand des Menschen "incurvatus in se ipsum" – in sich selbst hinein verdreht. Überall betonen wir mittlerweile die Bedeutung des eigenen Selbst, z.B. im Zusammenhang mit Bewusstsein, Führung, Erfahrung, Wertgefühl, Verwirklichung, Sicherheit, Erkenntnis und der weiteren mehr.
Und wenig von dem, was nach Nächstenliebe aussiehst, ist so selbst-los wie das, was Jesus Liebe nennt. Denn überall haben wir uns Belohnungssysteme eingerichtet, durch die jede noch so kleine Großzügigkeit unser Selbstwertgefühl steigert oder unserer Selbsterfahrung dient. Jesu Lebensstil ist das genaue Gegenteil davon. Es ist ein Leben im Paradox. Und es wird der Tag kommen, wenn Gott ... das Wertesystem der Welt auf den Prüfstand stellen und für völlig verdreht befinden wird.
Denn Liebe nach Gottes Maßstab heißt, keine Gegenleistung zu bekommen! Jesus sagt: Mach dich drauf gefasst, dein Leben zu verlieren – und du wirst erstmal nichts zurückbekommen! Wir sind aufgefordert uns selbst zu verlassen, uns auf Gott zu verlassen. Das Leben mit Gott – es kostet alles und macht mich doch reicher, als ich je zu träumen wage. Öl muss vergossen werden, um zu duften.
Maria hatte keinerlei Aussicht auf Belohnung für ihren Dienst. Selbst als das Johannesevangelium geschrieben wurde, war sie für nichts anderes bekannt geworden, als dass sie dem Herrn die Füße gesalbt hatte! Diese Geschichte aber ist – ohne dass sie es ahnen konnte – heute überall auf der Welt bekannt, wo Menschen Jesu gute Botschaft vom Reich Gottes gehört haben! Mich begeistert das!!
Denn was Gott bewegt ist nicht ein genügendes Maß an guten Werken und religiöser Aktivität, von der es so viel gibt in unserer Zeit. Wir wissen, wie dringend Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung Hilfe brauchen im Leben. Dazu bedurfte es nicht erst der aus Syrien Geflüchteten. Aber während die Kirche das Outsourcing der diakonischen Arbeit in ein professionelles Unternehmen feiert, feiert Gott Marias unberechenbare, nicht berechnende Liebe. Liebe, ohne die wir und unsere Werke Schall und Rauch bleiben. Liebe, die über alles Verstehen hinaus geht. Die Maschinerie der Wohltätigkeit kann die Seele auslaugen, bis alle Barmherzigkeit verbraucht ist. Wir mögen mit Effektivität glänzen und gehen doch zurunde ohne die Gnade eines in Gott verborgenen Lebens.
Arme gibt es immer, sagt Jesus. Es wird immer genügend gute und dringende Gründe geben, mich nicht an Jesus zu verschwenden! Ich kann nicht berechnend darauf warten, bis sich eine gute Gelegenheit dazu bietet. Das verschwendete Herz schreit: ER ist es wert!
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Es war wenige Tage später. Seine Haare und sein Gewandt waren nicht mehr gewaschen worden. Es war der Tag vor dem Pessach. In seinem dichten, lockigen Haar hielt sich noch Marias Narde, als sein Haupt von dem ersten Schlag des Stockes getroffen wurde. Seine Stirn schien noch von jenem Öl zu schimmern, als sich die langen Dornen bis zum Schädelknochen durch die Kopfhaut stachen. Als man das Kleid von seinem zerschundenen Leib riss, da dufteten seine Gewänder nach Würzöl, wie Psalm 45 es verheißen hatten. Als seine Füße vom Nagel durchbohrt wurden, erinnerten sie sich noch daran, als ihre Haare sie umschlangen. Und noch im letzten Augenblick, bevor Jesus am Kreuz die Sinne schwanden, roch er Nardenöl auf seiner Haut.**
Am Kreuz begibt sich Jesus in die Gottverlassenheit der Welt. "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Wer dabei war, hat es aus der Matthäuspassion noch im Ohr. Gott ist die Quelle allen Lebens. Unsere Ich-Bezogenheit bedeutet, ohne Gott als Herr leben zu wollen, seine Autorität und Wahrheit nicht anzuerkennen. Wir begeben uns freiwillig in diese Trennung vom Lebensquell! Wo kein Leben ist, da bleibt nur Tod zurück. Ohne die Verbindung, die Abhängigkeit von Gott, dem Vater, sind wir geistlich tot und können die Fülle des Lebens nicht genießen. Der Tod ist der Sünde Sold: Wir haben ihn gewählt und verdient zugleich.
Als Essenz des Lebens, als Lebenssaft beschreibt die Bibel unser Blut. Unser Leben, unser Blut ist verwirkt, eingefordert durch unsere Schuldhaftigkeit. Welcher Mitmensch könnte da für jeden von uns in die Bresche springen? Wer ist schon ohne Sünde, sodass er nicht selbst zur Rechenschaft gezogen werden müsste? Nur einer blieb ohne Schuld. Er wurde ein Mensch, so wie wir, um als Mensch für uns Menschen sterben zu können. Jesu Blut ist geflossen, um die vom Tod geforderte Kaution zu zahlen. Er hat sich verlassen – auf Gott. Er hat sich verlassen lassen – von Gott. Damit ich von neuem geboren werden kann, hinein in ein Leben mit Gott.
"Was für eine Verschwendung!" ...
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Mein Herz wird immer freudiger, je mehr ich verstehe, aus welcher Tiefe Gott mich gezogen und auf welche Höhe er mich gestellt hat. Ein verschwendetes Herz ist immer die Reaktion auf Vergebung. Denn, "wem viel vergeben ist, der liebt auch viel", sagt Jesus. (Lk 7,47) So sind Sie und ich bereit gemacht, wie Maria zu sein und Jesus alles zu geben, weil er ja alles für uns gegeben hat!
Die Herzenshaltung, einen Menschen zu lieben, ohne eine Gegenleistung zu bekommen, ist dieselbe, wie an einen Gott zu glauben, den ich nicht sehe, und ihm zu dienen. Zu beten – ohne gleich zu erkennen, was passiert. In der Fürbitte zu ringen – da bedankt sich niemand. Umso mehr gilt uns der Zuspruch aus 1Ptr 1,8f: "Ihn liebt ihr ja, obwohl ihr ihn noch nie gesehen habt, an ihn glaubt ihr, obgleich ihr ihn auch jetzt nicht seht, und jubelt in unsagbarer, von Herrlichkeit erfüllter Freude. So werdet ihr das Ziel eures Glaubens erreichen: eure Rettung."
Nachdem Jesus mit Nardenöl übergossen wurde, gießt er selbst in der folgenden Woche noch so einiges aus: Wasser, um seinen Jüngern als Diener die dreckigen Füße zu waschen. Danach Wein, mit den Worten: "Das ist mein Blut des neuen Bundes, das für Viele zur Vergebung der Sünden vergossen ist." Und schließlich auch sein Leben. Und das alles dürfen wir genießen!
Amen.
* Johannes Hartl, Gott ungezähmt, Herder 2015, 39.
** Johannes Hartl, In meinem Herzen Feuer (Kapitel "Die Verschwendung"), SCM-Verlag 2014.
Ostersonntag 27.03.2016 Stadtkirche 1.Korinther 15,1-11 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ostersonntag 27.III.2016
1.Korinther 15, 1-11
Liebe Gemeinde!
Sie ist alt und hat einen langen Bart und ich gebe sie zu oft wieder und vermutlich hab’ ich sie auch bloß von Tucholsky geklaut …...., aber sie ist nun ’mal eine meiner Lieblingspointen. Darf ich also ausnahmsweise nochmal?
— Ditt alte Balin in der Droschken-Zeit, … Zille-Zeit. Riesenmenschentraube anner Kreuzung. Kleena, dicka Kerl kommt anjeschossen und boxt und knufft sich durch die Menge, die jaa keenen Platz macht. Aba der Kleene brüllt von hinten schon: „Herr Wachtmeista! Herr Wachtmeista! Watt war’n los? Ick bin Zeuje!“ —
… So ungefähr ist ja wohl Ostern. … Denkt man. … Meint man:
Keiner hat etwas gesehen. Niemand kann berichten, was da geschah am dritten Tage, … was da geschah, das für uns und unzählige Menschen überall zu allen Zeiten das größte Wunder des Geschichte, ja das Ende der bisherigen Welt und der Beginn endloser Zuversicht und ewigen Lebens geworden ist. Schwindelerregend wichtig ist also das Ereignis der Auferweckung Jesu – und gänzlich unbekannt.
Es ist das Zentrum des Christentums – und bleibt verschlossen wie ein Kirschkern, von dem wir immer hörten, es sei auch gefährlich darauf zu kauen, weil dann die Zähne abbrächen und man schließlich Blausäure im Mund hätte, die den Mund für immer verschlösse.
Sind wir also in unserem Osterglauben einer Illusion gefolgt – und mit uns Millionen über Millionen von Christen in der Geschichte und noch heute?
Sind wir dem Gerücht aufgesessen, das man in Jerusalem bereits am Tag nach Jesu Beerdigung fürchtete (vgl.Matth27,64) – dem Gerücht, es werde dieser sonderbare Heilige aus Nazareth von den Toten auferstehen, wie er gesagt hatte … und wenn nicht, würde nachgeholfen?
Wer dieser Möglichkeit noch nie in’s Auge geblickt hat, sollte es möglichst jetzt und möglichst ernsthaft tun. Sonst kommen das Fernsehen oder irgendeine Postille daher und pusten ihn um, weil die Archäologen in den Schuttschichten Jerusalems tatsächlich einen Sarkophag finden, auf dem der Name „Jeschua“ steht – Ätsch! Das ist jedes Mal immerhin so sensationell wie die Entdeckung, dass der Hohenzollern’sche Name „Friedrich“ sogar bei Bürgerlichen begegnet!?
Doch zurück zu unserem Fall, zur Beweislast in der Akte „Evangelium versus Wahrscheinlichkeit“.
Wie sieht die Faktenlage, wie die Zuverlässigkeit und Belastbarkeit der vorliegenden Zeugenaussagen aus?
Verheerend!
Niemals hat jemand den klärenden Anspruch erhoben, die Auferstehung als Augenzeuge zuverlässig schildern und so den massiven Zweifel an ihrem Vorkommen und Hergang ausräumen zu können.
Das ist mehr als bemerkenswert. Eigentlich ist es sogar unfassbar, dass eine so eklatante Lücke in den Protokollen der Welt- und Heilsgeschichte nicht zu füllen unternommen wurde.
Und wiederum spricht es geradezu eine eindeutige Sprache, wenn das angefochtene, verspottete, der Lächerlichkeit und dem strengsten geistigen Wettbewerb mit seinen religiösen und philosophischen Widersachern ausgesetzte Christentum der ersten Generation diesen so naheliegenden Versuch nicht unternommen hat!
Niemand von ihnen hat damals je versucht, weiszumachen, er könne bezeugen, was an Ostern geschah. Niemand von den Aposteln, keine der allersten Botinnen hat je dieses Zentrum, das Geheimnis, das Allerheiligste des Evangeliums zu betreten gewagt.
Sie haben das tiefe, göttliche Schweigen des unergründlichen Wunders vom dritten Tage nicht angetastet.
Sie haben nicht ausgeplaudert, was doch ein Menschenmund nie wiedergeben könnte.
Stattdessen haben sie die gebieterische Verheißung des Retters Israels geheiligt: „Der HERR wird für euch streiten und ihr werdet stille sein!“ (2.Mose14,14). ——
Das Christentum gründet also auf einer Botschaft, die niemand aussprechen kann und die niemand je belegen und beweisen wollte. …….
Das kann man nun für den Bankerott unseres Glaubens halten oder für seine eigentliche Kraft.
Wer in jener selektiven, obgleich tonangebend Sondersicht der Dinge verharrt, die nur das Greifbare auch „begreifbar“ nennt – also der materialistischen Ideologie und Wissenschaft –, der wird auf den christlichen Glauben gewiss verzichten, um weiter sein kindliches Gemüt zu befriedigen, das nur für wahr nimmt, was es auch berühren und dadurch selbst entweder sortieren oder kaputtmachen kann.
Die Stärke der christlichen Glaubensbotschaft liegt andersherum.
Sie führt nicht zum Triumph des Kleinkinds, das die Wirklichkeit in’s Fäustchen zu stecken gelernt hat, sondern in die Reife des Menschen, der sich selbst ohne Verlust an Würde beschränken kann, wo er an die Grenze der eigenen Gewalt stößt.
Die Botschaft, die unseren Glauben weckt und trägt, hilft also nicht dabei, die Welt nach unserem Vermögen zu sortieren, sondern sie gilt nur dem, der sich auf Unbekanntes einlässt, das uns und unser Weltbild neu sortiert.
Für diese geistige – und geistliche! – Offenheit aber, die alles Vorwissen und Vorurteil preisgeben konnte, sind wir den ältesten, den biblischen Zeugen den höchsten Dank und die tiefste Ehrerbietung schuldig: Sie alle verwarfen ja Gewissheiten und ergriffen Unerhörtes, obwohl die praktische Vernunft und messerscharfe Skepsis der menschlichen Natur auch zu ihrer Zeit davor genauso ängstlich und ärgerlich auf der Hut waren wie heute.
Am ungesichertsten und konsequentesten von ihnen allen aber wagte es Paulus, sein Leben in den Dienst der Verkündigung einer Sache zu stellen, die er nicht beweisen konnte. Dass der Mann aus Nazareth kein Schwindler und seine Erwählung, sein Tod, seine Auferweckung, seine Erhöhung keine ketzerische Phantasie waren, das fügte sich doch an keiner Ecke, keinem Ende in das fertige und planvolle Weltbild des Paulus. Umgekehrt war’s.
Paulus seinerseits lernte sich zu fügen. Er erlebte, dass nicht mehr er der Herr seines Weltbildes war, sondern dass sein Weltbild einen neuen Herrn und darum Kratzer und eine völlig ungeahnte Ausrichtung bekam! —
Davon handelt der heutige Abschnitt seines großen Auferweckungskapitels aus dem 1.Korintherbrief, in dem wir zwanzig Jahre nach Ostern die erste geordnete Übersicht über den Ursprung und die Weitergabe des Osterglaubens finden.
Wir hören darin von lauter Menschen, die nie erfuhren, was Ostern war, aber alle erfuhren, dass Jesus, der Gekreuzigte und Gestorbene lebt.
Keiner von ihnen konnte es erklären, aber genauso wenig konnte einer von ihnen es leugnen, dass der, dessen Tod gewiss war, ihnen ebenso gewiss und lebendig begegnete.
„Er wurde von ihnen gesehen“ – diese Wendung, die ja so dürr und spröde ist und als missionarisch reißerische Schlagzeile so völlig untauglich – diese Wendung ist alles.
Aber in diesem Passiv – „er wurde gesehen“ – steckt ja wahrhaftig das ganze Drama derer, die das niemals für möglich gehalten hätten und dann doch nicht verhindern, sich doch nicht dagegen wehren konnten, dass Jesus sie zu seinen Zeugen machte:
Für Petrus, der hier Aramäisch als „Kephas“, der Felsen begegnet, war es ein peinigendes Wiedersehen mit dem, den er feige im Stich gelassen hatte.
Für fünfhundert Männer aus dem Dunstkreis des Nazareners war es eine völlig unwahrscheinliche, allerdings unabweisbare, gleichzeitige Übereinstimmung in der Wahrnehmung, wenn man bedenkt wie vernagelt und unerreichbar etwa die beiden Emmaus-Jünger in ihrem Schmerz für den Auferweckten waren (vgl.Lk24,16).
Für Jakobus schließlich, den leiblichen Bruder Jesu, war es geradezu ein Hohn, seinem getöteten Bruder wieder in die Arme laufen zu müssen, denn vor nicht langer Zeit hatte der selbe Jakobus ihn noch für einen Geisteskranken erklärt (vgl.Mk3,21).
Und nun Paulus gar: Alles hätte der sehen und einsehen wollen, als er noch die Gemeinde Gottes verfolgte, – alles, … nur bitte nicht die verstörende, unpassende, völlig unsinnige Tatsache, dass Jesus, den er für schuldig und verdientermaßen bestraft hielt, ewig lebendig sein sollte.
……. Niemand war also bereit dafür, niemandem passte es, Jesus wieder zu sehen.
… Hätten sie gekonnt, so hätten sie alle ihn vergessen oder ihn in der Erinnerung nach ihrem eigenen Bild geformt und verklärt.
… Aber so wurde er von ihnen gesehen! ——
Ostern ist demnach etwas Unbeschreibliches, das dennoch unübersehbar wurde.
Man kann es nicht beweisen, und kann’s doch auch nicht verneinen; es lässt sich schlicht nicht ausblenden.
So unwillig und unwahrscheinlich das Zeugnis von der Auferweckung, vom wiedergewonnen und unverlierbaren Leben Jesu Christi, des Gekreuzigten auch ergeht: Gerade die karge, fast verschlossen wirkende Bestätigung, dass er nicht zu übersehen war, dass er sich nicht auf unsere Träume oder Erinnerungen beschränken, nicht in unsere Bilder und Wahrheiten einpferchen ließ, sondern dass er munter sein eigenes Leben vor den Augen dieser Welt führt, dass er in’s Auge springt, auch wo man ihn unter den Lebenden gar nicht für möglich hält … das ist die wirklich entwaffnende Zuversicht des biblischen Osterzeugnisses: Jesus ist so eindeutig auferstanden, dass es zur Klärung dieser Tatsache keiner Gerichtsverhandlung, keines vereidigten Sachverständigen, keiner forensischen Analyse bedarf. Weil er sich eben sehen lässt – sogar von solchen kategorischen Ausblendern, Schwärzern und Weg-guckern wie Paulus einer war. ———
Natürlich gilt indessen auch an dieser Stelle, dass jeder dennoch wegsehen kann: Wie oft laufen wir einem über den Weg, den wir mit abgewandtem Hals und Blick dann eben nicht grüßen mussten. Wie oft schauen wir uns in die Augen und obwohl wir erkennen können, was wir da sehen, beschließen wir willkürlich, blind zu sein, um die lange Geschichte eines Schmerzes, die mühsame Wiederholung eines Missverständnisses, die kurze Erklärung einer Liebe nicht erleben zu müssen. Wie oft hat sich in Geschichte und Gegenwart erwiesen, dass wir klarste Tatsachen leugnen. Man kann alles sehenden Auges, wachen Sinnes an der Netz-haut oder an der Hirnrinde oder am Herzmuskel abprallen und sich in Nichts auflösen lassen.
Schließlich man kann ja auch umsonst gläubig werden – das sind die, die Beweise wollen, obwohl sie doch eigentlich die Wahrheit traf, die keines weiteren Beweises bedarf, weil sie ja selbst begegnet. ——
Aber das unbeweisbare und unbeschreibliche und unübersehbare Osterevangelium lebt seit zwei Jahrtausenden, weil der Lebendige sich seit seinen ersten Zeugen noch so unglaublich vielen anderen gezeigt hat und sie zu Glaubenden machte.
Oder meint man im Ernst, in einer Welt, die physikalisch dem Kollaps entgegenschnurrt und in der die Philosophen den Menschen zum Wolf des Menschen erklären und in dem die Biologen lehren, dass die Starken die Schwachen fressen, … meint man im Ernst, in einer solchen Welt hielte ein unbegründet positives Gerücht, eine optimistische Fabel sich so lange?
Nein!
Das, was die Schrift vom Sterben und Auferstehen Jesu ohne weitere Erklärung schon bezeugte, ehe es geschah, das hat sich seit es geschehen ist ohne weitere Erklärung tatsächlich einen endlosen, fortwährenden Reigen von Zeugen geschaffen: Jesus, der Auferweckte ist gesehen worden!
Sonst wären auch wir nicht hier.
… Die Kirche wäre – weiß Gott! – doch längst tot, wenn Er nicht lebte!
Stephanus hat ihn gesehen und Bonhoeffer hat ihn gesehen.
Franz von Assisi und Fritz von Bodelschwingh haben ihn gesehen.
Die Märtyrer im Kolosseum haben ihn gesehen und die nachtwachenden Diakonissen in den Lazaretten.
Elisabeth von Marburg hat ihn gesehen und die blinde, taube Helen Keller, die nachdem sie zu kommunizieren gelernt hatte bekannte: „Ich wusste immer, dass er da ist; nur seinen Namen wusste ich nicht“.
Johann Sebastian Bach hat ihn gesehen und besungen und Elsa Brändström, genannt „Engel von Sibirien“, die von ihrem Glauben fast nur schwieg.
Thomas von Aquin und Luther sahen ihn und genauso auch der Sohn jener fremden alten Dame, die mir zu meiner Konfirmation aus dessen letztem Brief aus Stalingrad zitierte: „Mutterchen, mein kindlicher Glaube wird mich hier durch-tragen. Ich werde einst verstehen, warum.“
Und viele sitzen hier, die nicht davon reden, weil sie die Worte nicht finden und weil es mit Worten ja tatsächlich auch kaum anzudeuten ist, … viele sitzen hier, die den lebendigen Jesus Christus gesehen haben und immer wieder sehen, ahnen, ergreifen. ———
… Du nicht? – Wirklich nicht? …
Wärest Du noch da, wärest Du bis heute gekommen und würdest Ostern zu verstehen und zu feiern suchen, wenn Er nicht längst schon auch in Deinem Leben, wenn Er nicht wirklich in dieser verrückten, erschütternden, bedrohten, verzweifelten ………………….. und dennoch geretteten Welt gegenwärtig wäre??!! — Er, der der lebende Beweis dafür ist, dass nicht das Grauen und die Not und das Grab und der Tod das letzte Kapitel des Lebens und der Menschheit schreiben, weil es kein letzte Kapitel gibt, … weil Gott so liebt und so stark ist und so wunderbar und so undurchschaubar und doch so eindeutig, so zwingend klar und endgültig der Retter und das Heil, dass er den Tod und das Grab und die Not und das Grauen zerreißt und für immer neu mit uns anfängt: Ohne Tränen, ohne Angst, keine Trennung, kein Schmerz, nie mehr Abschied, nirgends mehr Leid – nur noch Leben und Gutes und Barmherzigkeit immerdar!
Das ist unbeschreiblich. Aber Du hast es angenommen und stehst darin und darfst es fest-halten und dadurch selig werden.
Das ist die Gnade und das Geheimnis von Ostern, die Du jetzt vielleicht sprach- und wortlos noch immer kaum fassen kannst. Aber es bestimmt längst Dein Leben, es bestimmt uns alle längst und unumkehrbar.
— Und der kleene Dicke, der da anjesaust kommt und knufft und pufft und krakeelt und ooch watt mitjekriecht und uffjeschnappt hat, … Menschenskinder, … ditt bist ja Du!
Du bist ditt, der da plötzlich ruft: „Watt war’n los? Ick bin Zeuje!“
Amen.
Osternacht 26.03.2016 Stadtkirche Kolosser 3,1-4 Pfr.Dr.Sascha Flüchter
Dunkel ist die Welt geworden,
als du um die sechste Stunde,
Herr, das harte Kreuz bestiegst.[i]
Mit diesen Worten begann der Hymnus der Laudes, das Eingangslied des Morgengebets der Kirche, am vergangenen Dienstag. Ich habe es in der Frühe gesungen, ohne besondere innere Beteiligung. Theologisch versiert habe ich den Text eingeordnet in die Woche vor Ostern. Er meint natürlich die sechste Stunde am Freitag, dem Karfreitag, die Stunde der Kreuzigung. Erst als an diesem Dienstag um kurz nach acht die ersten Nachrichten aus Brüssel kamen, wurde mir bewusst, was ich da in der Frühe eigentlich gesungen hatte.
Dunkel ist die Welt geworden,
als um die dritte Stunde
in Brüssel Attentäter Sprengsätze zündeten,
31 Menschen töteten und 300 verletzten.
Dunkel ist die Welt geworden,
als von der AfD-Chefin zu hören war,
dass „der Traum vom bunten Europa (…) kaputt (ist), weggebombt“
und es deshalb „Zeit (ist) für Veränderungen“.
Dunkel ist die Welt geworden,
als die AfD bei den Landtagswahlen zwischen
12,6 und 24,2 Prozent der Stimmen bekam
und im DeutschlandTrend von Donnerstag 13 Prozent erreichte.
Dunkel ist die Welt geworden,
wo durchaus berechtigte Ängste vor sozialem Abstieg
mit rassistischen Argumentationsmustern verbunden werden,
so dass Abschottung und menschenverachtende Härte
zu einer Alternative für Deutschland und Europa wird.
Ja, dunkel ist die Welt geworden,
so dass du um die dritte Stunde,
Herr, das harte Kreuz bestiegst.
Im Dunkeln sind wir heute zusammengekommen. Ohne dass die Glocken läuteten, ohne dass die Orgel erklang. Die Osternacht begann mit Schweigen angesichts des Dunkels in der Welt. Doch es blieb nicht stumm. In der Osternacht führt das Schweigen zum Hören, das Hören zum Beten und das Beten zum Loben und Singen. In der Osternacht finden wir Orientierung im Dunkeln. Orientierung in Raum und Zeit.
Orient-tierung – Die Ausrichtung zum ‚Orient’, nach Osten hin, dem Morgenland, aus dem nach dem Dunkel der Nacht das Licht der Sonne erwartet wird.[ii]
Orientierung – Die Ausrichtung auf das Licht des Ostermorgens und die Herrlichkeit des Auferstandenen, der auf Dauer keine Dunkelheit standhält. Davon spricht auch der Predigttext für die Osternacht:
Seid ihr nun mit Christus auferstanden, so sucht, was droben ist, wo Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist. Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott. Wenn aber Christus, euer Leben, sich offenbaren wird, dann werdet ihr auch offenbar werden mit ihm in Herrlichkeit. (Kolosser 3,1–4)
„Es gibt einen Text, der die Auferstehung Jesu sehr fantasievoll beschreibt. Der runde Stein, der sein Grab verschlossen hat, rollt von selbst zur Seite. Zwei leuchtend helle Männer, die kurz zuvor vom Himmel herabgestiegen sind, holen den ins Leben Zurückkehrenden aus dem Grab ab. Sie stützen ihn beim Herausgehen. Hinter der Gruppe folgt eigenständig ein Kreuz. Die drei sind übermenschlich groß, doch der Auferstandene in der Mitte überragt die beiden Helfer dramatisch. Sein Kopf reicht über den Himmel hinaus. Die Quelle dieses Textes (ist) das (sogenannte) Evangelium des Petrus. Es wurde vermutlich erst 120 Jahre nach dem Tod Jesu verfasst. Die Kirche hat dieses Evangelium nie als kanonisch, als offiziell, anerkannt. Es war ihr wohl zu fantasievoll und bemühte sich allzu drastisch darum, mit erfundenen Einzelheiten die Auferstehung zu beweisen.“[iii]
Mich hat diese Darstellung von der Auferweckung Jesu in diesem Jahr sehr angesprochen – wegen ihrer auffälligen Spannungen.
Jesus, der Auferweckte muss gestützt werden auf seinem Weg heraus aus dem Grab. Die Macht des Todes hat hin geschwächt, das Kreuz kann er nicht so leicht abschütteln. Es ist noch da, aber jetzt folgt es ihm und nicht umgekehrt. Jesus, der Auferweckte, ist noch schwach, aber er ist unübersehbar lebendig! Denn der Auferweckte ist hier riesengroß. Sein Kopf reicht über den Himmel hinaus. Das neue Leben des Auferweckten kennt offenbar keine irdischen Grenzen, es reicht bis in den Himmel und darüber hinaus, und bleibt doch mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Hier gibt es keine Himmelfahrt. Jesus, der Auferweckte, verbindet Himmel und Erde, oben und unten, Gott und Mensch.
Die fantasievoll ausgestaltete Darstellung der Auferweckung Jesu ist vielleicht sogar ein Echo unseres Predigttextes. „IHR“ und „MIT“ sind die entscheidenden Stichworte: IHR seid MIT CHRISTUS auferstanden. EUER Leben ist MIT CHRISTUS in Gott ver- und damit geborgen. IHR werdet MIT IHM offenbar werden in Herrlichkeit. Das heißt doch: Hier geht es nicht um Jesus als VOR-Bild. Hier geht es auch nicht um uns als Jesu NACH-Folger. Hier geht es um UNSER MIT-Erleben der Auferweckung Jesu und um UNSEREN AN-Teil an seiner Herrlichkeit. – Das hat Folgen!
Als MIT-CHRISTUS-AUFERWECKTE sind wir so voller Leben, dass die Erfahrung des Todes uns zwar vorübergehend erschrecken und schwächen kann, der Tod aber keine Macht mehr über uns hat. Als MIT-CHRISTUS-AUFERWECKTE sind wir so voller Leben, dass wir uns – mit beiden Beinen fest auf der Erde – den Herausforderungen diese Zeit und dieser Welt mutig und zuversichtlich stellen. Als MIT-CHRISTUS-AUFERWECKTE sind wir so voller Leben, dass wir – mit Kopf und Herz im Himmel – bedingungslos an Menschlichkeit und Liebe als Maßstab festhalten, weil es dazu für Deutschland, Europa und die Welt keine Alternative gibt. Als MIT-CHRISTUS-AUFERWECKTE finden wir Orientierung im Dunkeln, in der Ausrichtung auf das Licht des Ostermorgens und die Herrlichkeit des Auferstandenen, der auf Dauer keine Dunkelheit standhält.
Dunkel ist die Welt geworden,
als du um die sechste Stunde,
Herr, das harte Kreuz bestiegst.
Schenk uns Licht von deinem Lichte,
wenn wir selbst in diesem Dunkel
mühsam deine Wege gehn.
Schenk uns Kraft aus deiner Gnade,
die dein (Sieg) uns (hat) erworben,
dass wir immer zu dir stehn.[iv]
[i] Bernardin Schellenberger: Hymnus zur Laudes am 22.03.2016, in: Te Deum. Das Stundengebet im Alltag. März 2016, hg.v. der Benediktinerabtei Maria Laach u. dem Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2016, 233.
[ii] Vgl. Gerhard Marcel Martin: Die Nacht der Verborgenheit. Osternacht, 26./27.3.2016, Kol 3,1–4, in: GPM 70 (2016), 208–213, 208.
[iii] Eduard Kopp: Nicht beschreibbar und trotzdem real. Wie entstand der Auferstehungsglaube?,http://chrismon.evangelisch.de/artikel/2016/32014/wie-entstand-der-auferstehungsglaube.
[iv] Bernardin Schellenberger: Hymnus zur Laudes am 22.03.2016, in: Te Deum. Das Stundengebet im Alltag. März 2016, hg.v. der Benediktinerabtei Maria Laach u. dem Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2016, 233.
Karfreitag 25.03.2016 Stadtkirche 2.Korinther 5,19-21 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag 25.III.2016
2.Korinther 5,19-21
»Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete und unter uns das Wort von der Versöhnung aufgerichtet hat. So treten wir nun als Gesandte Christi auf, denn durch uns lässt Gott seine Einladung ergehen. Wir bitten an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Den, der von keiner Sünde wusste, hat er für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm zur Gerechtigkeit Gottes würden.« (2.Korinther 5,19-21: Neue Zürcher Übersetzung)
Liebe Gemeinde!
Schatten liegen über unserer Welt.
Sie wirken auf uns wieder tiefer, weil wir aus der eigenartigen Konstellation herausrücken, bei der die Sonne über Europa stillgestanden zu haben schien, wie einst am Tage Gibeons, als Josua die Gestirne aufhielt, damit Gott für sein Volk Israel streiten konnte (vgl. Josua 10,12ff) …….
Nun aber rückt die Weltuhr erkennbar weiter, die im kalten Krieg durch das aberwitzige Massenvernichtungsgleichgewicht eingefroren war, und es wird wieder so wie früher:
Not und Unrecht verbreiten Schrecken, Schrecken wird Gewalt, Gewalt entzündet Mord und Mord und Tod vergiften menschliches Leben. … Schatten ziehen herauf, die auch auf die Sonnenseite fallen. Und wir, die wir uns in Behagen eingerichtet hatten, spüren wieder Kälte und Dunkelheit: Es ist gefährlich zu leben, denn nur eine winzige Verschiebung, ein Feder-strich, ein Pünktchen nur und aus „Leben“ wird „Leiden“. Leiden, das wir nicht hinter schall-dichte Türen, in saubere, eigens eingerichtete und abgeschirmte Räume verlegen können, weil es unter heiterem Himmel, auf der Straße einbricht, weil es zu Land, zu Wasser und zur See kommt und weil es sich in seiner schieren Zahl und Größe zurückmeldet nicht mehr als Ausnahme-, sondern als Begleiterscheinung des Lebens in dieser Welt.
……. Wir haben uns lange davon fernhalten können – und wir haben den schönen, den edlen Traum uns leisten dürfen, dass es sich überall verdrängen und besiegen ließe. …….
Doch was wir auch gegen das Leid ausrichten mochten und ausrichten müssen: … seine tiefste Wurzel bleibt unerreichbar für uns.
Wir können Frieden, Gleichheit und Toleranz nach Leibeskräften fördern: In der Seele aber bleiben Kräfte, die sie jederzeit zerreißen und zerstören werden.
Politisch und sozial lässt sich vieles zwar bekämpfen – und wo es möglich ist, da sind wir auch verantwortlich dafür! –, aber eines werden wir niemals abschaffen und lösen: Das, was schon im Paradies in uns aufbrach und seitdem selbst in paradiesischen Zu-ständen nicht abklingt. Wir nennen es die Sünde.
Es ist die Bosheit, die Menschen anfrisst und aus ihnen Monster machen kann. Monster, die sich die ganze Welt einverleiben wollen und dennoch unersättlich bleiben auf der Jagd nach schönem, schädlichem Gift: Besitz, Macht, Rausch und Bewunderung.
Gegen die Sünde, die sich nicht nur in Explosionen des Terrors, sondern auch im ganz sachten Treiben unseres allesverschlingenden privaten Lebensanspruchs beweist, sind wir hoffnungs- und kraftlos. Obwohl wir sie kennen, sind wir blind und taub für sie. Im Spiegel fällt sie uns nicht auf, wir schmecken, fühlen und fassen sie nicht in unserer Umgebung, in unserem Körper, im Stoff unseres Alltags. Nur im grellen Blitz eines Unheils zuckt es auch uns durch Kopf und Herz, dass die Welt nicht stimmt, dass wir Menschen uns täuschen, dass wir auf einer spinnwebenartigen Lüge balancieren, die sich unangekündigt auflösen und uns in’s Bodenlose stürzen lassen kann. …………
Das ist der Augenblick der Wahrheit, den wir umso häufiger erleben, je dichter die Schatten fallen und das Leid heraufzieht.
Das ist Karfreitag. Der Anblick der Sünde, der da aufflammt, wo wir den gequälten, ohnmächtigen, von Schmerz und Verzweiflung durchbohrten und auf der Brutalität der anderen wehrlos aufgespießten nackten, sterbenden Jesus sehen.
Dazu ist er gemacht worden – zum schonungslosen Fahndungsplakat, zum blutigen Tatortbild, zum Beweismaterial … zur Anklage, … zur Klage: „So ist sie! Seht: Die Sünde!“
Gott hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht. ——
Doch warum hat Er das gemacht? Warum hat Er in diesem Wimmelbild eines einzigen Opfers die unzähligen Details, die grenzenlosen Kosten des Bösen und Folgen der Schuld geballt?
Geht es dabei wirklich bloß um Veranschaulichung dessen, was wir sonst großzügig geschickt ausblenden?
Warum musste Jesus derart zum Anschauungsunterricht des Schrecklichen, zum Konzentrat aller Leiden werden? ——
Diese „Warum?“-Frage fliegt uns ja immer wieder zu. Jede blutige Nachricht, jeder neue Kranke in unserer Umgebung, jede kleine oder große Katastrophe, jeder Vogel, der sich an der Fensterscheibe mitten im Lied das Genick bricht, macht uns so fragen. …….
Und der heutige Tag fragt uns gleich doppelt so bohrend wie sonst. Denn heute stehen wir unter dem Kreuz, gehüllt in Schatten, umschwirrt von der letzten Frage ……. und doch geht zu gleicher Zeit gerade die Sonne auf, fängt das Morgenlied eben erst an.
Denn es ist der 25.März:
Heute vor drei Monaten erst haben wir lebhaft und lebendig an das Kind in der Krippe gedacht. Und gerade heute fängt nach landläufiger Zählung und alter Überlieferung ja die Hoffnung an, die uns in neun Monaten wieder Christi Geburt feiern lässt.
Es ist der immerhin in unseren ev. Gesangbüchern – wenn auch nirgends sonst – lebendig gebliebene „Tag der Ankündigung der Geburt des Herrn“* den der Volksmund als „Mariä Verkündigung“ kennt.
… Ein Wundertag ist das, an dem ein einfaches Mädchen für die ganze Menschheit „Ja“ zum Leben sagt, „Ja“ zu einem Leben ganz aus Gott und ganz für die Welt.
Seit dieses Mädchen Maria und mit ihr die Menschheit in die große Hoffnung kam, dass Gott das Menschenleben zu seiner Sache machen will, ist die Welt dem Urstand, dem Frieden des Paradieses, der versöhnten Gemeinschaft des Schöpfers mit Seinem ebenbildlichen Geschöpf doch viel näher gekommen als je zuvor.
… Ein frühlingshafter Zug der Zuversicht und des Aufblühens liegt also an diesem Tag in der Luft: Die Natur sprießt dem neuen Leben entgegen und der kirchliche Kalender gedenkt des Keims der Erlösung in der Menschheit.
So spürbar war die Helligkeit, war der Aufwind dieses von Weihnachten abgeleiteten Datums, dass es im Lauf der Zeiten zu einem heilsgeschichtlich einzigartig aufgeladenen Zeitpunkt wurde. In vielen Teilen Europas blieb dieser 25.März darum bis ins 18.Jahrhundert hinein der Neujahrstag**.
Überragend aber war die Dichte der biblischen Ereignisse, die seit dem Mittelalter diesem einen Tag im biblisch bezeugten Monat des Exodus und der Befreiung liturgisch zugeordnet wurden: An diesem Tag ereigneten sich nach ältestem Glauben die Erschaffung des Menschen und der Sündenfall. Am gleichen Datum ermordete Kain den Abel, huldigte Melchisedek dem Abraham, führte Abraham seinen Sohn Isaak auf den Berg, wo er ihn hätte opfern müssen; an eben diesem Tag wurde der Vorläufer Jesu, Johannes der Täufer geköpft. An keinem anderen Tag des Jahres ließ sich je so viel Entscheidendes und miteinander für immer Verwobenes gleichzeitig betrachten†.
Die Ankündigung der Geburt Christi als der geschichtliche Wendepunkt, an dem Gottes Sohn die winzige Gestalt des werdenden Menschen im Mutterleib annahm, fasst mithin nur zusammen, dass der 25.März die Daten von Schöpfung, Fall und Erlösung vereint.
So sind sein Leben, seine Sünde und die befreiende Hoffnungsverheißung für den Menschen wieder im Lot.
……… Wenn nur nicht immer wieder durch die Jahrhunderte hin auch das Kreuz über diesem Tag stünde.†† …..
Wie ein Schatten fällt es auf junge Mädchenblüte; wie ein Speer stößt der Schaft des Kreuzes am 25.März, dem Tag des „Empfangen durch den Heiligen Geist“ in den gebenedeiten Leib der Jungfrau und trifft das werdende Leben im Augenblick seines Entstehens!
Sie wird heute schwanger, damit das versprochene, bejahte Leben so grausam zerstört, so widerlich geschändet werden kann?!------ Maria in der Hoffnung, die keine Hoffnung bleibt, sondern reißender Schmerz werden wird.
……. Was für eine Tag- und Nachtgleiche es ist, wenn Karfreitag sich am 25.März wiederholt!!! … Empfängnis und Tötung. … —
Würden wir ein Kind zeugen, würden wir es zur Welt bringen, wenn wir auch nur sein gewöhnliches, uns alle nicht verschonendes Leid vorhersähen? Würden wir die Eltern unserer Kinder werden wollen, wenn wir ahnten, was sie treffen kann, … wenn wir es uns vor Augen führten, was ihnen bevorstehen wird? …….
Kein Kind der Welt ist je im Hinblick auf das Schwere seines Schicksals ersehnt und mit Lust empfangen worden. Vom Guten im werdenden Leben träumen die Eltern, nicht aber von jener Sünde, von jenem Leid, vom Tod, die Ihren Kindern von der Empfängnis an gewiss sind. —
So rein, so unberührt, so ahnungslos und liebend, … so naiv Maria daher auch war an jenem Verkündigungstag: Auch sie hätte dazu nicht „Ja“ gesagt! Sie hat dazu nicht „Ja“ gesagt, sondern von der Macht und Wundertat ihres Gottes und Heilandes gesungen, der die Gewaltigen vom Thron stößt und die Niedrigen erhebt (Lk1,52)! …….
Nicht die Wärterin eines Gefangenen, nicht die Pflegerin eines Todgeweihten, sondern die freudige, freiwillige Mutter des Gotteskindes wollte sie werden, als sie mit ihrem schöpferischen Wort dem Wort ihres Schöpfers antwortete: „Fiat! Es geschehe!“ (Lk1,38)——
Wenn’s demnach aber nicht der Wille seiner Mutter war, der das Kind des heutigen Tages auch zum Toten dieses Tages bestimmte … war es also doch der Vater? Hat Gott dieses Kind entstehen lassen, um es aus pädagogischen oder aus uns unnachvollziehbaren juristischen Gründen „zur Sünde zu machen“ und exemplarisch zu strafen?
Wurde Jesus aus diesem Grunde geboren: … Um hingerichtet zu werden?? ——
Um diese zentrale Crux, dieses ewige Kreuz unseres Glaubens verstehen zu können, ist es entscheidend, den berühmten und doch immer wieder unerwogenen Satz ernst und wörtlich zu nehmen, mit dem Paulus heute begann. Es ist der zentrale Satz des Christentums … und zudem ein Satz, der zugleich das eigentliche Wunder der Empfängnis wie des Sterbens Jesu benennt. Es ist dieser Satz: „Gott war in Christus.“‡
An diesem Satz entscheiden sich alle Schicksale: Die Schicksale der Menschheit, … aber auch das Schicksal Gottes.
Wenn Er nicht in Christus war bei den Ereignissen, die das Evangelium bezeugt und die wir im Gottesdienst bekennen, … wenn Er nicht in Christus war, dann ist Gott bei der Jungfrauengeburt der willkürliche Verursacher eines medizinischen Experiments der Vaterlosigkeit und bei der Kreuzigung der eiskalte Täter eines Verbrechens reiner Sinnlosigkeit geworden. Dann ist Jesus von Nazareth das Opfer Gottes. …….
Oder aber Gott ist vom reinen Anfang bis zum blutigen Ende in ihm: Dann ist Jesus nicht das Opfer Gottes, … sondern dann ist er Gott, das Opfer.
Nun bekennen wir Christen aber Letzteres.
Wir bekennen, dass Gott in der Tat von der Empfängnis an in Jesus war. Mit diesem Augenblick begann also sein Sprung in die Tiefe. Er war es, der für Sich selbst die Ehr-, Recht- und Schutzlosigkeit wählte, die darin lag, allein Maria anvertraut zu sein; Der aus Seinem Reich in die Enge und Gefahr der Geburtswege zog; Der den Lebensweg aller Sterblichen unter den Schatten teilte; Der ihren Leidens- und Todesweg ging, auf dem die Sünde schließlich derart über Ihn herfiel, auf dem sie derart Besitz von Ihm ergriff und Ihn so zurichtete, dass man Ihn künftig am Kreuz weder als Gottes-, noch als Menschenbild mehr betrachten, sondern nur noch als Mahnmal des Bösen und des Leidens in der Welt sehen sollte. ——
……. Noch einmal aber: Warum?
Weil das die Versöhnung bedeutete.
Wir dürfen an diesem Tag auch ruhig sagen: Die Verbrüderung. Nur so jedenfalls war die unüberbrückbar abgeschnittene, die verbindungslose Spaltung zu überwinden, die uns Menschen im Schattenreich, im Leidensland, im Todesleben der Sünde von Gott trennte.
Wir, die entweder wie unsere Zeitgenossen mit dem tagtäglichen Abwehrkampf gegen die Katastrophen des Menschseins beschäftigt sind, oder wie die meisten von uns mit dem zur zweiten Natur gewordenen Täuschungsmanöver, nichts sei böse, alles sei gut, … wir hätten niemals wieder die Verbindung mit Gott suchen, finden, anknüpfen können. Dazu bedurfte es der umgekehrten Bewegung Gottes, die von der Bereitschaft, sich winzig im Mutterleib zu machen, bis zur Freiwilligkeit reichte, sich wehrlos dem Todeskampf aller Kreatur auszuliefern.
Gott, der von keiner Sünde wusste, hat sich ihr selbst so ausgeliefert, um Gemeinschaft mit den Seinen zu behalten, auch wo sie unmöglich, … ja, wo sie ausgeschlossen war!
Darum ist das Licht in den Schatten, die Wahrheit in die Lüge, die Freiheit in die Fesseln, die Seligkeit in die Qual, die Herrlichkeit in’s Blutbad, die Allmacht in die Folter, die Liebe in den Hass, das Leben in den Tod getaucht:
Um der Verbindung willen, um der Untrennbarkeit des Zusammenhalts, um der Versöhnung willen!
Das alles nahm Gott auf sich und an sich, damit wir nicht für immer in getrennten Welten, in unversöhnlich verschiedenen Wirklichkeiten leben müssten. Und damit wir alles, was wir erleben – die Dunkelheit, die Angst, das Leiden, die die Sünde jedem Menschen dieser Erde bereitet – nicht als Bestätigung der Trennung, nicht als Begründung für weitere Abwendung nehmen.
Sondern Ihn, Gott selber in Christus als den Versöhner erkennen und seine gnädige, heilende, rettende Versöhnung ergreifen! ———
Das ist die Einladung, mit der Apostel und Boten, Verkündiger, Hörende, Glaubende ausgesandt sind.
Doch so wie heute begegnet uns diese Einladung zu unseren Lebzeiten nicht noch einmal. Während im 18., 19. und 20.Jahrhundert jeweils mindestens dreimal das besondere heilsgeschichtliche Datum begegnete*†, an dem Beginn und Vollendung der selbsterniedrigenden, bedingungslosen Versöhnung durch Gott in Christus am 25.März im Kalender standen, wird erst der Karfreitag des Jahres 2157 wieder zusammenfallen mit dem Tag, an dem die Menschwerdung begann.
Mit letzter Dringlichkeit also ruft uns der heutige Tag dazu, die Wirklichkeit der von Gott gewollten und eröffneten Versöhnung anzunehmen.
„Gott war in Christus!“
In dem werdenden Wesen, das seine Mutter so freudig annahm.
In dem wunderbaren Leben, das da in Vollmacht und Demut und heiliger Hilfsbereitschaft und Aufopferung prophetisch, priesterlich, königlich gelebt wurde.
In dem furchtbaren Sterben, das uns für immer den Gott zeigt, der die Schuldigen nicht vernichtet, sondern bis zum Tod unter den Terroristen an ihre Stelle tritt.
So nah war Gott uns allen. Und bleibt es bis zuletzt. Wird’s immer sein.
Denn Er bleibt ja in Christus. Für uns. Für immer.
Und darum nehmt das Wort von der Versöhnung, nehmt Gottes Werden, Leben und Sterben in Christus als Versöhnung an!
Nehmt die Versöhnung an: In Euren Leiden und allen Leidenden, in den Schatten und der Dunkelheit der Welt, … nehmt die Versöhnung an, dass Gott die Sünde und den Tod mit uns teilte, damit wir Seine Gerechtigkeit und Sein Leben erlangen!
Amen.
Fürbitten
Sohn der Jungfrau, Mann am Kreuz –
Gott mit uns in Niedrigkeit und Leiden!
Unser Entstehen und unsere Vergänglichkeit hast Du gewählt.
Wir sind dessen nie würdig gewesen, und je älter die Welt wird, je selbstherrlicher ein Teil der Menschheit sich gebärdet, desto weniger können wir’s fassen.
Doch unumkehrbar wie Deine Liebe ist Dein Entschluss, ist Deine Tat der Erniedrigung und des Leidens für uns.
Sohn der Jungfrau, Mann am Kreuz –
wir sind dessen nicht wert, wovon wir leben.
Weil Du es aber aufgerichtet und fest gemacht hast – da Wort von Deiner Versöhnung –, darum vertrauen wir unsere Sünde, unsere Angst, unser Leid an:
Dass wir nicht versöhnlich sind und meinen, ohne Hilfe, ohne Gnade, ohne Dich bestehen zu können.
Dass wir voller Hochmut auf Deine Boten blicken, die in den tausend Gestalten Deiner Not, auf den unbemessenen Wegen Deines Elends, in den massenhaften Leiden, die Du teilst, vor uns stehen.
Herr, so hart wie wir sind ist Dein Kreuz.
So bitter wie unsere Bosheit ist die Galle.
So schrecklich wie unsere Selbstsucht ist Dein Tod.
Sohn der Jungfrau, Mann am Kreuz –
Versöhner der Verlorenen:
Verwandle uns durch Dein heiliges Mitleid.
Lass uns mitleiden und mitstreiten, mittragen und mitbeten:
Für das ungeborene Leben
für die Kinder dieser Erde
für die bedrohten, verfolgten, entwurzelten Menschen aller Völker
für die Opfer und Täter des Bösen
für Leidende in allen Gestalten
für die Sterbenden.
Mann am Kreuz, Sohn der Jungfrau –
erlöse sie alle, rette sie, rette uns und nimm uns auf in Dein Reich!
* Vgl. den Liturgischen Kalender im EG (Rheinland) S.1507.
** Eine Erinnerung an diesen (auch vorchristlich vorgegebenen) Jahresbeginn stellen die unlogischen Namen der Monate ab September dar: Sie träfen nur dann zu, wenn wir die Monate ab März zählten.
† In der „Legenda aurea“ begegnet eine umfassende Aufführung der heilsgeschichtlichen Ereignisse, die das Mittelalter am 25.März verankerte: „Gegrüßet seist du, hochgelobter Tag, der unsere Wunden hat geheilt. / Heute hat Maria den englischen Gruß von Gott erworben. / Heute ist Christus an dem Kreuze gestroebn. Heute ward Adam aus Nichts geschöpfet. / Heute ward Sanct Johann Baptista geköpfet. / Heute brachte Melchisedek sein Ofer, der oberste Priester. / Heute ward Sanct Peter erlöset aus dem Kerker. / Heute hat der Schächer an dem Kreuze Gnade erworben. / Heute ist de gerechte Abel unter seines Bruder Händen erstorben. / Heute war geopfert Isaak von seinem Vater Abraham. / Heute fiel Adam. / Heute ist Sanct Jacob gemartert unter dem König, Herodes genannt. / Heute sind die Toten erstanden mit Christus, die hat er geleitet in sein ewiges Vaterland.“ (Zitiert nach: Günter Lange, Christusbilder sehen und verstehen, München 2011, S.32.)
†† Die Koinzidenz beider Daten ist selten (obwohl z.B. Augustinus den 25.März zum historischen Datum der Kreuzigung erklärte). Im katholischen Ritus verdrängt der Karfreitag Mariä Verkündigung, die in der Regel nachgeholt wird. Nach orthodoxem Brauch werden beide Tage aber sehr wohl gleichzeitig begangen, so dass wenn Karfreitag auf den 25.März fällt wegen des Hohen Festes der Verkündigung auch eine eucharistische Feier stattfindet.
‡ Leider ist die Luther-Übersetzung an dieser Stelle nicht wörtlich und gibt dem seltenen Hilfsverb – „Gott war in Christus“ – in der Wiedergabe nicht das gebührende Gewicht.
*† Nämlich 1701, 1712, 1785, 1796, 1842, 1853, 1864, 1910, 1921,1932 und dann 2005 und 2016.
Judika 13.03.2016 Stadtkirche Hebräer 5,7-10 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Judika 13.III.2016
Hebräer 5,7–9
Liebe Gemeinde!
Jesus der Primus, der Klassenbeste.
Er hat gelernt wie alle anderen, die gleiche Schule besucht wie jeder von uns, und hat dabei seine Lektionen in einer Vollständigkeit durchbuchstabiert und seine Hausaufgaben so ganz und gar erledigt, dass der Stundenplan tatsächlich irgendwann abgearbeitet und schließlich alles vollbracht war. …
Ein Musterschüler also. Einer, neben dem andere sich ungenügend vorkommen. Einer, der von den Klassenkameraden mit jener eigentümlich schulischen Mischung aus Neid, Nützlichkeitsdenken und Verachtung betrachtet wird, die schwankt zwischen dem Hass auf den Streber und der kumpeligen Beanspruchung seiner Lösungen, die man ja tunlichst abschreibt und übernimmt. ……. Leiden kann ihn keiner, aber brauchen tun ihn alle. —
Nun ja, wie soll man auch unvoreingenommen jenem begegnen, der vom ersten Tag seiner Einschulung an sich sonnen konnte im Glanz einer großen Stimme, die durch den Lautsprecher verkündete „Der Neue da: Das ist mein Liebling! Achtet auf ihn; macht, was er will!“
Das ist kein leichter Einstand unter den Menschenkindern, wenn jemand so unangenehm auf-fällt und raussticht.
… Und dann gelten plötzlich für ihn die Regeln alle nicht mehr. Er darf die Schulordnung scheinbar ganz ungestraft beugen und übertreten: Wenn er will, dann ist der Sabbat nicht mehr der Sabbat und das Wasser nicht mehr ein nasses Grab und fünf sind kein Bruchteil von Fünftausend mehr und die Maßstäbe des Richtigen und Falschen und das Empfinden für Gerechtigkeit und Unrecht werden auf den Kopf gestellt, und die Klassenkamera-den, die wirklich untragbar sind, sollen plötzlich wichtig sein und Schutz genießen, und für die übrigen, netten, unauffälligen, mal mehr, mal weniger anstrengenden Anderen heißt es, sich von diesem Musterknaben und seinen absonderlichen, freundlosen Freunden die Rang- und Hackordnung durcheinander bringen und völlig sinnlose Spielregeln vorschreiben zu lassen, die dem Pausenhof und seiner uralten Tradition des sportlichen Rechts des Stärkeren einfach unnatürlich zuwiderlaufen. … Dieser langweilige Vorzeigeschüler, dieser eingebildete Klassensprecher, dieses Hätschelkind des fernen Rektors … der ist ein Ärgernis.
Mit dem muss es irgendwann in einer entlegenen Ecke des Hofes oder vielleicht gerade auch mitten unter allen anderen mal eine Abrechnung geben. Der hat eine Abreibung verdient und dass ihm jemand des Maul stopft und dass er am Besten nie wieder auftaucht und möglichst bald vergessen wird. ———
So sehen die anderen den Primus, den Klassenbesten.
… Und der Fortgang der Geschichte ist bekannt. Sie haben ihn gestellt, … fertig gemacht … und sind davon gegangen.
Doch er ist immer noch der beste Schüler.
Weshalb es ihm immer wieder und wieder passiert, dass andere ihn für unerträglich, für einen Angeber oder einen Langweiler, für einen Konkurrenten oder ein leichtes Opfer halten. Er kriegt die selben Prügel wie damals, der nämliche Hass, die gleiche Klassenkeile, unveränderte Verachtung begegnen ihm, wo immer er heute gelobt und gerühmt wird: „Jesus, Du Streber, Du meinst wohl, Du seiest besonders hochbegabt?!“
Und heute ebenso wie gestern, bei uns genauso wie bei seinen Landsleuten und Glaubensgeschwistern guckt niemand wirklich auf sein Zeugnis, … niemand sieht den Schulabschluss an, den der Hebräerbrief doch für alle Zeiten aufbewahrt hat.
Dort aber steht in großen, alten Buchstaben: „Tränen-Diplom“ oder „Leidens-Matura“ oder „Sterbens-Abitur“.
Wie immer wir es nun entziffern: Schnell wird jedenfalls klar, dass der vermeintliche Musterschüler eine Schulbank gedrückt hat, um die ihn in Wirklichkeit niemand beneidet … – war es doch viel buchstäblicher die Folter, als alle noch so schlimmen Schulerinnerungen unsererseits sie beschwören könnten.
Wohl wahr: Jesus hat einen Bildungsweg zurückgelegt, der ein reiner Kreuzweg war.
Er hat Fremdsprachen gelernt, die man im Reich Gottes nicht nutzt, ja dort eigentlich nicht einmal vom Hörensagen kennt: Bitten, Flehen, Schreien, Weinen.
Er ist in die Lehre gegangen in einer Kunst, die niemandem leicht fällt, … am wenigsten denen, die Macht haben, … – wie also mag sich Gott in diese Übung geschickt haben: In die Übung des Gehorsams?
Und dann hat Jesus tatsächlich einen Abschluss gemacht auf der höheren und abgrundtiefen Schule des Leidens; … er hat seinen Abschluss gemacht: Das war der Tod. ——
Zusammengenommen ist das also der Lern-, Lebens- und Leidensweg, auf dem Jesus sich so unglaublich gelehrig, so aufnahmefähig und begabt erwiesen hat, dass in seinem Zeugnis im Hebräerbrief die Bestnote steht: Er war darin vollkommen, er beherrschte sie vollendet – die schwierigen Lektionen des Menschseins, die Proben und Prüfungen der Gerechtigkeit, des Glaubens, der Liebe und zuletzt die größte Aufgabe, … die „Aufgabe“ des Lebens, die Hingabe seiner selbst. ——
… Will jemand da tauschen? Will einer behaupten, er könne das besser, er habe davon mehr verstanden, … ihm stehe der Titel zu: „Primus“, „Erster“, „Hoherpriester“?
Ich kann mir’s kaum vorstellen. Und wenn schon. Es gilt die alte Devise der Erziehung in solchen Streitfragen: „Dann kloppt euch halt …….“
Vermutlich wird der, den der Hebräerbrief den Vollendeten, den Größten nennt, sich nicht prügeln wollen: Von ihm aus kann jeder seinen Titel übernehmen. Er lässt freiwillig bei sich abschreiben. Er hat die Aufgabe gelöst und vollbracht, gerade damit alle seine Mitschüler davon profitieren und das gleiche Ergebnis erzielen, wie er. ——
Das ist die Botschaft der Evangelien, von denen ein großer Bibelforscher einst ganz im Sinne des Hebräerbriefes festgestellt hat, man könne diese vier Berichte auch „Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung“ nennen*.
Auch in dieser Zusammenfassung hören wir, dass das, was Jesus wirklich gebildet und geformt hat, dass das, was ihn ausmacht und auszeichnet, in den bitterschweren, todernsten Etappen und Stadien seines Weges in die Nacht, die Not und den Tod liegt.
Das Leidenlernen hat ihn zum Christus gemacht.
Für uns allerdings bleibt es bemerkens- und bedenkenswert, dass wir ihn in seiner Leidenszeit so ganz ausdrücklich in seiner Lehrzeit erkennen sollen! Denn der Gedanke eines lernenden Erlösers, eines übenden Heilands scheint uns meistens eher fremd.
Obwohl es Unsinn ist zu meinen, der einzigartige Fall eines Allmächtigen in der tiefsten Ohnmacht sei selbstverständlich, denken wir doch selten darüber nach, was da geschah. Dass der Heilige die Hölle erleben musste, dass der Schöpfer des Lebens am eigenen Leib den Tod erfuhr – das alles ist nun wirklich nicht folgerichtig und natürlich, sondern eine mehr als mühsame, mehr als harte Schule, in der Jesus zunächst nichts als ein blutiger Anfänger war:
Seine Passion ist darum so etwas wie seine Entwicklung, seine Reifung, seine Verwandlung vom unfertigen, zum vollkommenen Heiland, Heilsmittler, Urheber des Heils, wie der Hebräerbrief sagt.
Und gerade darin ergibt sich nun eine wichtige Verbindung zwischen uns anderen und ihm. Dort, wo wir von Christus in der Mache hören, hören wir nämlich das gleiche Wort, das für alle gebraucht wird, die ihm nachfolgen wollen: Es ist das Wort, das wir mit „Jünger“ zu übersetzen gewohnt sind, während es doch eigentlich viel wörtlicher und treffender mit „Schüler“ wiedergeben werden sollte†. Es ist der Wortstamm für die Belehrbaren, der sie verbindet – die Nachahmer Jesu und ihn selber, der an dem, was er litt, Gehorsam lernte.
Und so ist es merk- und denkwürdig und eines der Wunder der Bibel, dass sie nicht nur uns Menschen, sondern auch Gott zu Lernenden erklärt!
Wenn wir nach dem Wahrheitsbeweis der Heiligen Schrift gefragt werden, sollten wir das nicht unterschlagen, dass sie eine Botschaft enthält, die so neu und fremd ist, dass nicht nur die sterblichen Menschen, sondern auch der ewige Sohn Gottes, Gott selber also zunächst üben und trainieren musste, ehe diese Botschaft begriffen und umgesetzt werden konnte.
Hier also haben wir die grundsätzliche, bleibende und typisch biblische Gemeinsamkeit zwischen allem, was je in die Menschheitsschule des Lebens und Glaubens und Leidens gegangen ist: Wir sind alle keine vom Himmel gefallenen Meister – nicht mal unser Primus.
Und so buchstabieren wir miteinander nach, was auch Gott selber sich erst beibringen musste. —
Das ist das wunderbar aufmunternde, ermutigende Ergebnis des düsteren und befremdlichen Abschnitts von Jesu Leidenslehre und Tränendiplom. Wir sind tatsächlich seine Klassenkameraden, seine Lerngenossen, und er gibt uns Nachhilfe wann immer und wie immer wir sie brauchen: In Glück und Unglück, in guten und in bösen Tagen. Mitten im Leben und mitten im Tod! ——
Würden wir das beherzigen – dass wir Mitschüler des Höchsten und Kommilitonen Gottes sind –, so würde es uns oft und viel besser gehen. Wir krampfen und kämpfen doch alle immer noch zu sehr im Wahn des Perfekten, des eindeutig Gelungenen.
…Wann endlich erkennen wir aber den übermenschlichen und widergöttlichen Irrsinn jener Teufelei, dass wir alles können müssten?
Nicht einmal der Sohn Gottes konnte das.
Auch er konnte nicht verstehen, sich nicht vorstellen, meinte nicht ertragen zu können, was ihm begegnen würde. Auch er war rat-, mut- und hilflos. Und von seinem Trotz und Trübsinn, von seinem Wehren und Weigern hörten wir die Eingangs- und die Abschlussprüfung: „Er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und Tränen dar-gebracht……., … so hat er Gehorsam gelernt.“
Da wollen wir klüger sein oder weiter? Sicherer oder wenigstens vor den Leuten forscher?
Blödsinn.
Gegen alle solche Allüren, gegen allen falschen Ehrgeiz spricht die eine Gegenfrage: Verstehen Sie Gott? … Verstehen Sie Gott?
–Wenn ja, dann ist es nicht der Gott Jesu Christi, des Lernenden, dem das Verständnis seines Vaters und die Übereinstimmung mit dessen Willen solche Schwierigkeiten bereiteten.
Lassen wir uns darum lieber gesagt sein, dass Entwicklung und Vertiefung, Nachbohren und Zweifel, Sträuben und Unlust und Ablenkung und Schwankung und Schrecken und Widerstände nichts Verkehrtes, sondern unumgänglich sind, wenn sogar Jesus lernen musste der Christus zu sein.
Dass auch wir im Christsein immer wieder nachsitzen und schwänzen und pauken und wiederholen müssen, dass wir heute und zu jeder Zeit unser Christsein einüben müssen, um es ausüben zu können: Das sollte uns wahrhaftig nicht entmutigen, sondern wird uns zur Bestätigung und zum Anreiz, wenn wir sehen, wer dieselbe Schulbank gedrückt hat.
Da steht’s – wie im Karzer des Tübinger Stiftes, wo zeitweilig die Namen einiger der größten Geister Deutschlands als Graffiti eingeritzt waren, die man dort allesamt diszipliniert hatte –da steht’s ja im Hebräerbrief: Christus war hier, in der Leidensschule, in allen Klassen von den Anfängern in Sachen Traurigkeit bis zu den allerschwersten Prüfungen des Todes.
Christus war hier und ist der Anfänger und Vollender des Glaubens geworden (vgl.Heb12,2).
Christus, unser Mitschüler, unser Mitstreiter, unser Primus. ———
Das wollen wir uns auch im neuen Presbyterium und durch unser Presbyterium sagen und zeigen lassen: Dass wir nicht fertig sind – keiner von uns – und nicht vollkommen. Dass wir zeit unseres Lebens nur Lernende, Fehler Vermeidende, Vertiefende, Umdenkende und Fortschreitende sein können, aber nicht Besser-, … schon gar nicht Alleswisser!
Das ist ein Lieblingsgedanke der Reformatoren gewesen, den Melanchthons Schüler Nikolaus Selnecker so ausgedrückt hat:
»Wir sollen forschen so lang wir leben/ Das ist / Wir bleiben Schüler und Catechsimus und Alphabeth Kinder / in der Himmlischen lehre Göttlichs worts. / … Darumb sollen wir nicht Richter und Schetzer darüber sein / wie die Ketzer thun. Sollen auch hierinnen mercken den spruch eines Philosophi / der da sagt: Das gröste unter den dingen / die wir wissen / ist das geringste derer ding / die wir nicht wissen.«**
Wir dürfen und wir werden lernen – mit und von und für einander.
Das ist unsere beste Nachfolge als Gemeinde des Schülers Christus, der dadurch zum Urheber des ewigen Heils geworden ist.
Und das Ziel? – Das hat in dieser Woche ein Sohn am Sarg seines englischen Vaters ausgesprochen, der nach hundertjährigem Lernen in der hiesigen Schule des Lebens an die himmlische Hochschule versetzt worden war:
„No doubt, Dad’s in heaven now, and he’s probably having a friendly argument with God.“‡
Das walte Gott, dass auch wir dorthin kommen, wo wir von Angesicht zu Angesicht die Wahrheit herausfordern und erkennen dürfen und wo Christus selbst uns lehren wird, was wir dann erst verstehen können.
Amen.
* Martin Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus (1892), neu hg.v. E.Wolf, München 1956 (Theologische Bücherei Bd.2), S.60.
† Das Verbum manthánein wird nur an dieser Stelle so auf Jesus als Subjekt angewandt, dass man ihm hier selbst als „Lernendem“, d.h. in unserem traditionellen Sprachgebrauch als „Jünger“ (=mathetès) begegnet. Die jüdische Wurzel einer solchen Theologie des Lernens und der Schülerschaft sollten uns bewusst sein.
** Paedagogiae Christianæ Pars secunda – Der ander Theil des christlichen Catechismi / der Kirchen Gottes / zur unterweisung in den Heuptstücken der Lehr des heiligen Euangelij/ begreifft in sich die Auslegung Dreyer Symbolorum oder Bekenntnis des Christlichen Glaubens / der Apostel / des Nicenischen Concilij und Athanasij …. durch Nicolaum Selneccerum, 1569, S. 3 (b).
‡ „Bestimmt ist unser Vater jetzt im Himmel – und hat einen freundlichen Streit mit Gott.“
Laetare 06.03.2016 Stadtkirche 2.Korinther 1,3-7 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Lætare 6.III.2016
2.Korinther 1, 3-7
Liebe Gemeinde!
Selber essen macht fett. Und selber lernen macht klug. Selber haben macht reich. Und selber schlafen erfrischt. …….
Mit diesen und tausend ähnlichen Wahrheiten ist das Christentum widerlegt.
Denn mit tausend und mehr ähnlichen Wahrheiten ist jeder Zaun in Europa gerechtfertigt. Und jeder von uns, der im Herzen doch auch nur einer von denen ist, die zwischen sich und den anderen, zwischen Rock und Hemd, zwischen der eigenen heilen Haut und dem durchlöcherten Pelz eines Fremden auf gesunde Weise unterscheiden können, … jeder von uns ist bestätigt.
… Nur der Preis bleibt.
Jeder Zaun, jedes völlig richtige Abgrenzen und Unterscheiden zwischen dem, was mich betrifft und dem, was mich nicht betrifft, kostet dasselbe: Es kostet das Christentum. …….
Das mag man verrückt und unrealistisch finden, überzogen oder einfach nur blauäugig. Dann steht dem Austritt aus dem ganz gewiss nicht unseren Bedürfnissen angepassten Christentum wirklich nicht nur nichts im Weg, sondern dann ist er zu empfehlen. Wir leben in Zeiten, die an diesem Punkt die Ehrlichkeit fördern: Wer an sich selber denkt und weiter nicht, der handelt folgerichtig, wenn er aus der Kirche austritt.
Denn das ist in aller Verwirrung und Verwaschenheit unserer Gegenwart ja erstaunlich klar geworden – so klar wie die eisern aufrechte Haltung einer unserer plumpen norddeutschen Pastorentöchter oder eines kugeligen Kardinals aus Bayern –: Wer Christ sein und bleiben will, gibt damit den Anspruch auf, nur selber essen und trinken, haben und leben und sicher sein zu wollen. Denn das Christentum lässt sich schlicht nicht vereinbaren mit dem einfachen, nachweislich wahren Satz vom selber Essen, das fett macht.
… Demnach beruht das Christentum also auf Unwahrheit, auf falschen Sätzen, auf Annahmen, die der Erfahrung widersprechen?
– So ist es! Die Wahrheiten dieser Welt sind nicht die des Christentums. Und die Erfahrung des Glaubens widerspricht der sog. „Realität“, mehr aber noch dem vermeintlichen „Realismus“.
Ich selbst habe es letzten Sonntag in einem radikalen dogmatischen Streitgespräch wieder erlebt, das zwischen einer hochkultivierten, lebenserfahrenen Dame aus Persien und mir drüben im Gemeindehaus in exakt zwei Sätzen stattfand, als Flüchtlinge und Einheimische, Katholiken, Muslime, Evangelische und Agnostiker um uns herum wie in einer lustigen Großfamilie bei Kaffee und Kuchen alle gleichzeitig lautstark drauflos palaverten.
Für mich war dieses versöhnliche Menschenmiteinander eine Verheißung:
– „So wird’s einmal überall sein, wenn die Völker Frieden schließen.“
– „So wird’s niemals sein; denn so sind die Menschen einfach nicht!“
……. Sie hatte Recht. Und ich hatte Hoffnung.
Und Christentum ist eben nicht Recht-Haben, sondern … Hoffnung. Hoffnung größer als die Wirklichkeit. Hoffnung größer als die Erfahrung. Hoffnung größer als die Wahrscheinlichkeit. Hoffnung, die allem widerspricht, was feststeht und alles unterläuft, was wir mit Sicherheit wissen und erleben.
Christentum heißt nämlich tatsächlich zu glauben, dass die Welt aus den Angeln gehoben und die menschliche - und mit ihr auch alle andere - Natur auf den Kopf gestellt werden kann!
... Und bei unserer allerunmittelbarsten, allerursprünglichsten Erfahrung fängt es an: Als Christen sollen wir uns an den Gedanken gewöhnen, dass unser Mund nicht nur zu unserem Magen führt und dass auch alles andere an uns nicht nur mit uns zusammenhängt!
Vielmehr sollen wir für möglich halten, dass das, was andere aufnehmen, uns sättigt, … dass das, was wir empfangen, andere genießen, … kurzum: dass das, was die einen bekommen und haben, nach Gottes Vorsehung dazu bestimmt ist, den anderen zu dienen.
Nun ist es natürlich auf den ersten Blick ein verwirrendes Bild, wenn die einfachen, eindeutigen Wege und Bahnen nicht mehr die einzigen Verbindungen sind, sondern wenn es kreuz und quer vom Nehmen und Haben hier zum Bedürfen und Nutzen dort geht.
Doch genau solche schrecklich unfachmännisch verlegten Leitungen nutzt Gott am liebsten und am häufigsten. Er streut an der einen Stelle aus, damit an der anderen geerntet werden kann. Er beschüttet und begabt jene, … dabei sollen den Segen und die Gaben aber dann diese haben.
Und um es noch verwickelter zu machen, gilt auch: Hier oder dort nimmt Gott etwas fort, hält Gott etwas zurück, damit es unter uns von anderer Seite ergänzt und ausgeglichen werde.
Nimmt man das alles zusammen, so fragt sich tatsächlich, wo da die Ordnung, die Übersicht, das erkennbare Muster sein sollen?
Antwort - seit Hiob weltweit bekannt! - : Es gibt sie nicht! … Das primitive Verfahren der Zuordnung, dass alles Gelingen und Gedeihen der Lohn für Gutes und alles Unheil und Leid die Strafe für Böses sein sollten, … dieses holzschnittartige Muster ergibt keinen Sinn.
Das ist verstörend für uns alle, die mit ihrem Leben zufrieden sein können: Offenbar zeigt sich in unserem Lebensglück nicht schon die gültige Antwort auf die Frage, wie wir vor Gott bestehen.
Aber für alle Heimgesuchten und Geplagten ist es eine einzige Befreiung zu hören, dass Not und Schmerzen ihres Daseins vor Gott nicht schuld- und dauerhaft sind. —
Wenn dem aber tatsächlich so ist – wenn unsere Verhältnisse im Leben sich nicht von uns her erklären, nicht aus uns heraus begründen lassen und sich auch nicht im Blick auf uns alleine erschöpfen – , …wenn dem also so ist, dass unser Leben an sich unerklärlich und nichtssagend ist und erst zu seiner Bestimmung findet, wenn wir es im Rahmen jener Verbundenheit sehen, in die Gott uns stellt: Dann verstehen wir den ungewöhnlichen Austausch, von dem Paulus heute spricht.
Meine Lebenserfahrung, meine Glaubenserfahrung – so sagt Paulus – , die mache ich nicht für mich, … sondern für Euch. Ich erlebe Schreckliches und Wunderbares - beides! -, nicht um selbst dadurch weiter zu kommen oder sicherer zu werden, sondern damit ich Euch dadurch nützlich werden kann! Ich mache Anfechtungen und Prüfungen durch, ich erlebe Gnade und Wunder, nicht um das alles als meine Entwicklung, meinen Erfolg verbuchen zu können, sondern weil es Euch hilfreich sein wird. Mein Leben hat also positiv wie negativ seinen Sinn nicht in sich, sondern nur im Weitergeben, im Weiterleiten, nur in der „Kommunikation“. …
Allerdings ist dieses Grundmuster des Lebens als Austausch nicht mit jener Kommunikation zu verwechseln, bei der heute jeder meint, er selbst und seine Eigenheiten seien für jedermann interessant genug, um sie zu verbreiten. Gerade nicht das sich ausbreitende Ich steht bei Paulus im Mittelpunkt, sondern noch in den intensivsten, empfindlichsten und höchsten Erfahrungen, die er erleidet und empfängt, bleibt alles auf seine Geschwister bezogen: „Was hilft es den anderen, was ich erlebe? Wie haben andere etwas von dem, was mir wohl tat? Welche Bedeutung hat mein Heil für die Hoffnung meiner Mitmenschen?“
In diesen Grundfragen des Apostels ist ein Doppeltes zu erkennen: Wir Christen können nur diakonisch und wir können nur missionarisch leben. Das eine nicht ohne das andere und keines davon mehr oder weniger, sondern beides ganz.
Wenn unsere Grundfrage nämlich die ist, wie anderen geholfen werden könne, dann werden unser tätiges Mit-Gefühl und unsere tröstende Mit-Teilung zum Grundimpuls, zum Atem unseres Lebens. Bei jedem Atemholen gilt es dann, die Not der anderen aufzunehmen und mit jedem Ausatmen gilt es zu sagen, was die eigene Not gelindert, den eigenen Scherz geheilt, das eigene Herz leicht und stark gemacht hat. … Und das immer wieder in dieser unlöslichen Folge: Sehen, was quält, und sagen, was heilt. Erleben, was hilft und tun, was erleichtert. Glauben und dienen, … das Heil annehmen und heilen, … retten als Geretteter.
In dieser Doppelbewegung lebt das Christentum … und lebt nach anderen Gesetzen, als alles sonst Lebendige, eben weil es mit dem natürlichen System des Nürnberger Trichters bricht.
Während sonst tatsächlich bloß da, wo etwas aufgenommen wird, es sich auch anreichert, sorgt das christliche Leben für eine andere Verteilung: Was Paulus an Leiden durchmacht und an Trost dabei kennenlernt, das geht geradewegs durch ihn hindurch. Er ist nur das Sieb, durch das es fällt, um andere zu erreichen und zu trösten. Sein Trost bleibt nicht bei ihm, sondern strömt durch den Apostel wie aus einer Gießkanne weiter. ——
… Selber essen macht also fett? – O nein, geistlich nicht!
Und eigener Trost macht ruhig? – Auch nicht.
Durch Christus Gerettete sollen ihren Glauben eben nicht wie einen Rettungsring mit sich herumschleppen, sondern ihn weiter auswerfen.
Durch Gottes Gnade Bewahrte sollen ihre Bewahrung nicht festhalten und verstauen, sondern sie gleich wieder und immer wieder weiterreichen.
Vom Leiden Verschonte sollen sich nicht schonen, sondern auf’s Spiel setzen.
Vom Geist Erfüllte sollen ihn ausschütten.
Vom Glück Verwöhnte sollen es riskieren.
Aus Trübsal Entkommene sollen die Trübseligen suchen.
Trostempfänger sollen Trostverleiher werden.
Doch das ist immer noch nur die halbe Wahrheit.
Die ganze Wahrheit bei Paulus und den Christen ist, dass sie als die Geretteten retten wollen; dass sie als selber Bewahrte andere bewahren wollen; dass sie als Verschonte sich hingeben und als Erfüllte sich verschenken wollen … und das Glück riskieren und die Trübsal teilen und ihren Trost nicht verschließen, sondern verschenken. ————
Sind wir aber nun Christen??
Ich fürchte: Nein.
Denn der Zaun, der jetzt kommt und die Grenzen auf der Landkarte und die Begrenzung der Höchstzahl von rettbaren Menschenleben sprechen dagegen.
Und natürlich spricht die Vernunft einwandfrei gegen das völlig unnatürliche Christentum, das nicht selber satt werden, sondern eher teilen, das nicht selber sicher sein, sondern lieber die Unsicherheit wagen will. …….
Wir sind also keine Christen im biblischen Sinne, keine Brüder und Schwestern des Paulus. Wir sind die Menschen, die meine iranische Gesprächspartnerin kennt. Die Menschen, die nicht zusammenleben können und werden, weil sie wissen, dass „selber essen, … blablablablabla …...“ ———
Das macht – in seiner ganzen natürlichen, vernünftigen Unumgänglichkeit und unbestreitbaren Wahrheit beklommen traurig! …………
… Doch ist diese Traurigkeit das letzte Wort, … heute, am mittleren Passionssonntag, der von alters her die Fastenden ja ein wenig erheitern und die Büßenden ein wenig aufrichten soll?
Ist die tiefe Traurigkeit, die sich über uns legen will, wenn wir betrachten, wie unvereinbar uns der Glaube und die Wirklichkeit erscheinen, das Ende?
Oder ist diese Traurigkeit vielleicht der Punkt, an dem wir überhaupt erst in die Lage kommen, von Paulus angesprochen zu werden?
Denn eines ist leider – oder zum Glück? – wahr: Wenn wir jetzt nicht die Krise unseres Christentums so schmerzhaft spüren müssten, dann wäre das wichtigste Stichwort der heutigen Predigt ja beinah an uns vorübergeglitten, ohne uns zu treffen.
… Sind doch die allermeisten von uns derart mit der Haben-Seite des Lebens, mit den Erfolgsgeschichten und dem Ehrgeiz derer, die etwas verlieren könnten, beschäftigt, dass wir eines gar nicht sehen, … gar nicht zugestehen, … auf gar keinen Fall mit uns selber in Verbindung bringen würden: Dass wir Trost brauchen; dass wir nicht bei Trost sind; dass wir trostlos leben.
….... Wir doch nicht! … Uns fehlt doch nichts!! … Wir kriegen das doch hin!!! … Wir sind doch nicht angewiesen!!? … Wir schaffen es ja wohl!??
Da ist sie wieder: Die stämmige, sture, spröde Pastorentochter, die es schaffen will.
… Aber wir können die Gewissheit, dass die Aufgaben des Lebens und der Wirklichkeit und der Geschichte „zu schaffen“ seien, wohl doch nicht einfach vollmundig nachbeten, wenn wir erkennen, wie tragisch sie aufeinanderprallen: Die Realität und das Richtige.
Wir können uns nur das tiefe, unergründete, tragende Wort Gottes, das die Bibel bezeugt, sagen lassen. … Dass es nämlich immer ein Wort an jene ist, die es nach allen Regeln der Kunst und Bedingungen des Wahrscheinlichen bisher nicht schaffen konnten: Das Richtige einfach in Realität umzusetzen.
… Immer wieder kam die Natur des Menschen, der Lauf der Geschichte, der Zwang alles Irdischen dazwischen: Auf die Schöpfung folgte der Sündenfall; auf die Befreiung aus Ägypten das goldene Kalb; auf die schönen Gottesdienste im Tempel die Hurerei mit Baal; auf die Glanzzeit Jerusalems das Exil in Babylon; auf das „Hosianna!“ das „Kreuzige!“; auf die Freude der ersten Täuflinge die Zerwürfnisse der Urgemeinde.
… Auf das hochgejubelte Europa des Friedens und der Menschenrechte folgt die Niedertracht seiner Selbstverteidigung und seines Selbstverrates.
Doch was ist das Bibelwort, das Gotteswort zu allen Zeiten gewesen?
„Tröstet, tröstet mein Volk!“ (Jesaja 40,1) und: „Ich will den Vater bitten, der wird euch einen andern Tröster geben, dass er bei euch sei ewiglich!“ (Joh14,16)
Traurigkeit ist also nicht das letzte, sondern sie ist der Anfang aller Worte Gottes.
Denn er ist der Gott alles Trostes.
Und in unserer Trübsal, die die Trübsal der leidenden Welt ist, da wird Er uns und alle trösten. Mit dem Trost, der Hoffnung weckt, … Hoffnung größer als die Wirklichkeit. Hoffnung größer als die Erfahrung. Hoffnung größer als die Wahrscheinlichkeit. Hoffnung, die allem widerspricht, was sonst feststeht und alles unterläuft, was wir mit Sicherheit wissen und erleben.
Denn fest steht nur unsere Hoffnung auf Gott, … den Tröster, … den Trost!
Amen.
Okuli 28.02.2016 Stadtkirche Epheser 5,1-9 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Okuli - 28.II.2016
Epheser 5,1-9
Liebe Gemeinde!
Wir sind Licht in Kilo Lebendgewicht. … Nicht in Kilowatt, sondern in Kragenweite und Kleidergröße und Körperlänge bemessenes Licht. Wobei es nicht auf die Masse und nicht auf die Maße ankommt, wieviel und wie hell es da leuchtet. Sondern darauf kommt es an, dass wir Christen neben allem anderen den einzigartigen Beruf und die wunderbare Gnade haben, Haut und Haare und Herz und Hirn durchscheinend werden zu lassen: Aus Pupille und Pore, aus Mimik, Gestik und jeder Mitteilung kann bei uns etwas blitzen, das nicht unser Ansehen, sondern das das Wesen Gottes reflektiert. ——
– „Na, das hätt’ste wohl gern?!“, sagt da die Religionskritik. „So funktioniert das immer: Erst redet Ihr vom lieben Gott und schließlich wollt Ihr’s selber sein. Aber dazu sind wir inzwischen zu klug, als dass man uns was von Gott erzählen und Ihn dann am lebenden Objekt auch noch demonstrieren könnte. Geht mal wieder schön nach Hause, Ihr verrückten Gottesspiegler, die einleuchten wollen, als ob sie selbst der Höchste wären. Raus aus dem Spiegelkabinett Eurer aufpolierten Gottebenbildlichkeit, und marsch, marsch zurück in den ollen Pissputt zum Fischer syner Fru, wo Ihr feststellt, wie ungeschönt menschlich Ihr wart und seid und bleibt.“
… Und meistens kuschen wir Christen dann ja, wenn uns der Verstand und die öffentliche Meinung zeigen, wie lachhaft durchschaubar unsere überlieferten Bilder und Gedanken sind.
„Kinder des Lichts“ sein zu wollen, das wird dann ganz schnell erkennbar als eine vermessene, verdeckt aggressive und heillos überfordernde Phantasie des Durchschnittsmenschen, der mindestens so viele dunkle wie helle Anteile hat. „Kinder des Lichts“ sein zu wollen, wäre also gleichbedeutend mit einem übersteigerten Geltungsdrang, der sich göttliche Eigenschaften anmaßt, um andere dadurch in den Schatten zu stellen.
Darum also: Rückzug und Ende der Lichtspiele? …….
Nein! Auf keinen Fall!
Denn damit kämen wir nur genau dahin, wo die Religionskritik und die Feinde des Christentums uns am liebsten sähen und wo viel zu viele der Anwesenden und 90% der Kirchenmitglieder ohnehin schon am liebsten selber sitzen: Auf die Zuschauerplätze.
Sobald es nämlich um Gott geht, um die Gerechtigkeit, die Sein Name und Sein Wesen ist, um die Wahrheit, die Ihn auszeichnet, … sobald es um Gott geht, lässt alle Welt sich am liebsten ins Polster fallen und will mit verschränkten Armen abwarten: Er kann sich ja zeigen, falls es Ihn gibt. Er kann sich ruhig bemerkbar machen, kann gern auf die eine oder andere Weise zu erkennen geben, wer und was Er sein soll. Wir aber schauen solange zu und rühren keinen Finger, regen kein Glied. Gott ist eine Sache wie das Fernsehen: Entweder es kommt was oder es kommt nichts. An der Haltung derer, die drumherum hocken, ändert das wenig: Sie schauen eh bloß zu. Und meistens sind sie auch – im altmodischen, im geistigen Sinne – genau das: Sie sind „zu“, … dichtgemacht, unbeteiligt, nasebohrendes, schnarchendes Publikum im Trance der Berieselung und Langeweile.
Doch das glatte Gegenteil dieser schrecklichen Unbeteiligung, dieser bloß vermeintlich kritischen Distanz zu allem übertriebenen missionarischen und moralischen Eifer ist nötig und richtig.
Gott will keine Zuschauer.
Gott hat kein Kino eröffnet für die glotzende Menge.
Gott hat das Licht gerufen, damit wirkliches Leben erwache.
Und dieses Licht stellt jeden von uns vor ein Entweder-Oder: Entweder wir lassen das Licht vor unseren dösigen Augen flimmern. Dann sind wir selber die Finsternis. Oder wir teilen die Helligkeit, … nehmen Anteil an der Helligkeit, ……. dann aber leuchten wir selber. Und genau darum geht es!
Wir sollen – so sagt Paulus es mit einem ziemlich verblüffenden Ausdruck wörtlich! – wir sollen Gott nachempfinden, Ihn nachahmen, meinetwegen auch: nachäffen!; wir sollen Ihn kopieren, uns Ihm angleichen, von Seiner Art und Seinem Wesen übernehmen und einstudieren und verkörpern, was immer nur geht. Wörtlich fällt hier der Begriff „Mimesis“.
Wir hören darin – mit wachsender Aufmerksamkeit und zunehmendem Staunen – wohl noch das etwas verstaubte Bühnenwort vom „Mimen“, vom großen, völlig überzeugenden Schauspieler, dessen Kunst einen anderen so vollkommen vergegenwärtigt, dass man die Erfahrung macht, tatsächlich dem zerrissenen Hamlet, dem widersprüchlichen Posa, der entfesselten Penthesilea oder der unverwüstlichen Mutter Courage zu begegnen.
Solche Mimen Gottes sollen wir also sein! Schauspieler, die Ihn repräsentieren wie Er leibt und lebt.
……. Das mag uns zunächst unangemessen vorkommen: Weil wir uns scheuen, Gott und die Schein- und Trugwelt des Theaters in einem Atemzug zu nennen, und weil wir Nachahmung immer für die kleine Schwester der Fälschung oder das uneheliche Kind des Echten halten.
Aber dass die Wahrheit im Drama nach den Menschen greift und dass durch die Darsteller im Amphitheater etwas Erhabenes begegnet, das war in der heidnischen Welt, die den Paulus umgab, selbstverständlich. … Nur was da gegeben wird, welche Botschaft verlebendigt wird in der Komödie oder der Tragödie: Das macht den Unterschied. ——
Wir sollten also nicht ausschließen, dass wir dem Leben eines wahren Christen dadurch nahe kommen, dass wir seine Rolle lernen und uns aneignen. … Wäre es denn wirklich so verwerflich, nein, wäre es überhaupt verwunderlich, wenn man es durch Textlernen und Einfühlung eben einstudieren müsste: Das Christsein?
Ist nicht unsere ganze Erziehung, sind nicht Kindergarten und -gottesdienst, Konfirmandenunterricht und Katechismus, sind nicht Studium und Meditation nichts anderes, als das Eindringen in das Geheimnis des Christseins, … ein Geheimnis, das niemandem angeboren wird und auch nicht in fertiger Meisterschaft vom Himmel fällt, sondern des Übens, des Vertiefens, des stetigen und gleichwohl unmerklichen Durchformens bedarf?!
……. Und ist nicht die Passionszeit die eigentliche Zeit solchen Rollenstudiums, solchen konzentrierten, intensiven, meditierenden Aneignens dessen, was das Christentum ausmacht, … dessen, was Christus ausmacht?!
Wer durch die Passionsberichte liest und betet, wer sie durchdenkt, wer ihnen in diesen kahlen, kargen anderthalb Passionsmonaten folgt, in denen das Verzichten, das Fasten und Einschränken ja auch körperlich die Einübung in die fremde Rolle zu ermöglichen hilft, dem weist der Epheserbrief des Paulus eine besondere Spur:
Es geht nicht darum, Harm und Härte, Leid und Bitternis als das Wesentliche an der Person Christi zu übernehmen, sondern durch alle Schmerzen und Kränkungen und Sterbensnot hindurch strahlt Christi Person etwas ganz anderes aus.
Paulus beschreibt das mit einem eigenartigen Vorgang, den jeder von uns kennt, ohne dass wir dabei im Entferntesten an Gott oder an den Gottesdienst dächten:
Vor Frischgeschlachtetem, Rohem, Blutigem haben wir einen instinktiven Ekel. Kommt es aber in Berührung mit dem Licht in seiner Urgestalt – mit dem Feuer also – dann wird’s zu dem, was in der Bibel wieder und wieder - auch hier im Epheserbrief - ein „lieblicher Geruch“ genannt wird.
Diese gegenseitige Durchdringung von Stoff und Licht, von Fleisch und Feuer, die man im Tempel am Altar beim Opfer immer wieder erleben konnte und die beim Braten rohen Fleisches aus dem Abstoßenden das Anziehende, aus dem Würgereflex einen Duft des Sättigenden macht, die vollzieht sich in der Passion in einzigartiger Weise: Denn in Christi grauenerregendem Leiden bemerken wir die vollste, ursprünglichste Macht des Lichtes – des Lichtes, das in seiner eigentlichen Glut nichts anderes als die Liebe ist. Die Liebe, die Christus verzehrt, die Liebe, die innerlich in ihm brennt und sein Fleisch und Blut äußerlich schwinden lässt, … die Liebe, dieses Licht lässt ihn wunderbar leuchten und strahlen. Sie macht, dass noch sein Kreuz und Tod Ausstrahlung besitzen und Leuchtkraft. Sie macht, dass noch das Fürchterlichste an der Passion das Gute, das Beste durchscheinen und spüren lässt! Die Liebe Christi macht sogar sein Leiden liebevoll und also lieblich!
Und so ist sie der Kern seiner Passion und seiner Person.
Die Liebe ist also das Licht, in dem wir ihn sehen sollen.
Und folglich ist sie es, zu deren Nachahmung wir aufgerufen werden.
Wir sollen gelehrige Schauspielschüler der Liebe werden; wir sollen uns so in sie einfinden, dass sie uns zu dem wird, was die Kunst des Mimen, der Mimikry tatsächlich werden kann: Zur zweiten Natur.
Der Begriff der „Mimikry“, der ja immerhin aus der Biologie stammt, kann uns dabei helfen, den Vorbehalt vor dem vermeintlich Künstlichen der Nachahmung abzubauen. Denn wo immer in der Natur ein Lebewesen die Farbe oder eine sonstige Eigenschaft seiner Umgebung nachahmend annimmt, da dient diese Anverwandlung dem sonst bedrohten Leben.
Zu einer solchen lebensdienlichen, rettenden Mimikry, zu einer solchen Nachahmung dessen, was uns vor dem Verderben bewahren kann, ruft Paulus uns also auf mit dem Imperativ „Macht Gott nach!“:
Wenn Ihr das Böse nachahmt und ihm gleichgestaltet werdet, so wird das Euch verderben, nein, es wird Euer Verderben selbst. Ahmt Ihr aber das Gute, … den Guten, … ahmt Ihr in seiner Liebe Christus selber nach, so wird Euch das retten!
Das ist das Evangelium in aller Kürze, mit seinem Inhalt, Maßstab und Ziel.
Und in diesem Sinne verstehen wir die uns heute oft so fremden praktisch-ethischen Anweisungen, dass wir die verschiedenen Muster des für das Leben und für die Liebe Zerstörerischen meiden und auf gar keinen Fall annehmen sollen. Die Gier nach sexueller und materieller Grenzenlosigkeit, die zwiespältige Lust des Ansammelns und Wegwerfens von Menschen und von Gütern ist der sicherste Weg, dem Leben seinen Sinn und der Liebe ihre Lebendigkeit zu nehmen.
Unzucht und Habsucht zerstören den Menschen: Das ist eine ebenso zeitgenössische wie antike Erfahrung. Die immer mehr begehren, werden immer weniger Freude haben, denn Unersättlichkeit und Genuss schließen einander aus. ——
Und darum gilt es, die Passionszeit zu nutzen: Sich mit dem Wenigen, das guttut, anstelle des schädigenden Zuviel vertraut zu machen; sich dem Nachäffen der herrschenden Meinung zu verweigern, sich dem Druck zur Mimikry der Mehrheit nicht anzupassen, sondern sich von der einen Gestalt verändern und umwandeln zu lassen, deren Liebe einzigartig ist, … so einzigartig, dass durch diese Liebe aus einer Tötung ein lebendiges, Gott wohlgefälliges Opfer …, dass durch diese Liebe aus dem Sterben das Leben …, dass durch diese Liebe aus schwärzester Finsternis ewiges Licht geworden ist.
Eine solche Liebe gibt es nur einmal: Sie ist Fleisch geworden in Jesus Christus und Siegerin geworden in seinem Tod und sie hat das beides – seine Sterblichkeit und seinen Leib – für immer zum Leuchten gebracht.
Und so steht er vor uns:
Der Mann, der uns liebt und für uns sterben wollte, damit wir nicht in der Nacht des Todes verschwänden. Und wenn wir ihn so sehen, so begleiten, so Anteil nehmen an seinem Kreuzweg in diesen vier Wochen bis zu seinem Todestag …, dann können wir nicht einfach Zuschauer, ungerührte Betrachter dessen sein, was da geschieht!
… Dann arbeitet sich das in uns hinein, es durchdringt unser Denken und Fühlen, unsere Haltung und unsere Hoffnung. Es stellt uns vor die gar nicht einfältige, sondern allesentscheidende Frage, die wir nicht den amerikanischen Fundamentalisten überlassen dürfen:
„What would Jesus do? Was würde Jesus tun, … jetzt … mit seiner Liebe in meinem Leben? Was will er jetzt tun: durch seine Liebe in meinem Leben? … Was wird er jetzt tun, dank seiner Liebe durch mein Leben?“
Denn er liebt heute ja genau wie in den Tagen vor seiner Kreuzigung. Er liebt die Welt und ihre Kinder genauso wie einst.
Und unsere schweren Probleme, die uns eigentlich alle nur kopfschüttelnd und ratlos machen und angewidert und überdrüssig, … unsere schweren Probleme in einer brodelnden, bangen Zeit: Sie fangen an in der Hitze seiner Liebe, in der Glut seiner Gnade nicht nach faulen, blutigen, fürchterlichen Entwicklungen zu stinken, sondern der liebliche Geruch der Klarheit durchzieht sie, wenn wir sie mit Jesus bewegen, wenn wir seine Augen und sein Herz darauf richten und unsere Köpfe und Hände mit dem füllen, was ihn erfüllt.
Gewiss: Das ist nicht Politik … und soll’s auch gar nicht werden.
Aber es ist unsere Rolle als Christen im Kleinen und Großen so zu fragen und danach zu handeln.
Es ist die Rolle, die wir an Christus in Vollendung studieren können und die wir immer lebensechter, überzeugender und überzeugter nachahmen sollen … bis wir selber werden, was er ist: Lebendiges Licht in einer sich verdüsternden Welt.
Die Frucht des Lichts aber ist lauter Gütigkeit und Gerechtigkeit und Wahrheit.
Amen.
Estomihi 07.02.2016 Stadtkirche 1.Korinther 13, Pfr.Falk Schöller, Vorstand Graf-Recke-Stiftung
Maßstab Liebe!
Predigt zum Sonntag Estomihi über 1. Korinther 13
Kanzelgruß
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.
Predigt
Ich weiß, die Liebe lebt
scheintot im Leichentuch aus Vorbehalten
begraben unter dem Stein.
Nicht wegzuwälzen ist er
und redete ich mit Engelszungen.
In den Windungen des Labyrinths gingen wir irr
von fernher tönt die Flöte
doch der Ariadnefaden
- gerissen.
Spiele, spiel
mich hinauf aus der Finsternis
oder steige herunter ins Todesschattental
denn ich weiß, die Liebe lebt.
Liebe Gemeinde,
Cornelia Edvardson hat dieses Gedicht geschrieben. Ein anderes, modernes Hohelied auf die Liebe. „Ich weiß, die Liebe lebt: spiele, spiel mich hinauf aus der Finsternis oder steige herunter ins Todesschattental.“ Das schreibt eine Frau, die als uneheliche Tochter der halbjüdischen Schriftstellerin Elisabeth Langgässer 1929 in München geboren wurde und die mit gerade einmal 14 Jahren zunächst nach Theresienstadt und dann nach Ausschwitz deportiert wurde. Getrennt von der Mutter, die sie durch eine Adoption durch ein spanisches Ehepaar schützen wollte und doch nicht konnte, produzierte sie Glühbirnen, wurde dann Schreibkraft und arbeitete wohl auch für den Lagerarzt Josef Mengele. Sie wusste um die Schrecken im Konzentrationslager, um die Maschinerie des grausamen Todes, und um die Auswegslosigkeit dieses Vernichtungslagers, das einem Labyrinth ohne Ausweg gleicht: nicht einmal einem Gott hätte ein Faden den Ausweg gewiesen, selbst dieser ist gerissen.
„Ich weiß, die Liebe lebt“: das ist mit den Erfahrungen dieser Jugend ein starkes, ein mächtiges Bekenntnis. Cornelia Edvardson ist geradezu überwältigt von einer Liebe, einer lebendigen Liebe, die jedes Dunkel und jeden Tod überstrahlt, die nicht zu begraben ist, die nicht beerdigt werden kann. Nur scheintot ist der ins Leichentuch gewickelte, dessen Liebe so viel stärker ist als der Tod, dessen Liebe alle menschlichen Vorbehalte überwindet.
„Ich weiß, die Liebe lebt“: es ist heute, am Sonntag der Woche, in der die Passionszeit beginnt, ein Ausblick auf Leiden, Tod und Auferstehung geboten. Noch beginnt der Weg ans Kreuz allererst, noch ist Ostern fern, doch ein wenig schon ist heute zu sehen, zusammengefasst in einem Wort: Liebe! Damit ist der Maßstab gesetzt, unter dem wir den Passionsweg mit beschreiten sollen in den kommenden Wochen, einem Passionsweg, der sich ja auch heute immer und immer wieder ereignet. Wie viel Leid und wie viel Schmerz gibt es in unserer Welt und in unserem Leben, wie oft droht auch uns in den Windungen unseres Lebens, den Irrungen und Wirrungen der Hoffnungsfaden auf den Ausweg aus dem Labyrinth durchschnitten zu werden, wie selten glauben wir noch daran, dass die Lasten des Lebens einmal von uns weggewälzt werden: wo Hoffnung und Glaube verloren gehen ist die Liebe die größte, die bleibende. „Ich weiß, die Liebe lebt.“
Liebe Gemeinde,
wenn wir in der Kirche von Liebe sprechen, in der Tradition des Gottes, der seinem auserwählten Volk seine Treue zugesagt hat, dann ist diese Liebe unglaublich unfassbar groß. Sie entzieht sich menschlichen Maßstäben und wird doch zugleich zu unserem Maßstab, wenn wir wie Cornelia Edvardson der Liebe alles zutrauen. Die Liebe überlebt alles – und wird von uns geglaubt, gehofft, gelebt. Der Apostel Paulus singt auf diese Liebe ein hohes Lied, gleichsam wie ein Engel und doch ganz gefangen im Alltag dieser Welt. Es ist gleichsam ein Gegenlied, eine Antimelodie zu all den Kakophonien, die uns jeden Tag aufs Neue begegnen. Wie dringend brauchen wir heute in diesen Tagen hörbare, vernehmbare, durchdringende Liebeslieder, die sich aller Ausgrenzung und Ausbeutung widersetzen, die jeden Gedanken an Lager verwerfen, jede Selektion nach Rasse und Herkunft ad absurdum führen. Das Hohelied der Liebe braucht heute unsere Stimme und unsere Worte und unsere Kraft – um Gottes willen, denn diese Liebe ist stärker und größer als die Todesgrenzen, die wir uns immer wieder aufs Neue ausmalen.
Ein Liebeslied sollten wir auch in unseren Gemeinden singen, unisono wäre es lauter und stärker. Es sollte kein Lied der Spaltung und der Trennung von uns Christenmenschen ausgehen, darauf weist uns schon Paulus hin. Denn obwohl der Grund der Liebe gelegt ist, gegründet im Glauben an den Christus, der trotz aller irdischen Kreuzwege den himmlischen Liebesweg gegangen ist, obwohl der Grund der Liebe gelegt ist, herrscht Streit, Entzweiung, Uneinigkeit, Trennung. Der Apostel schreibt an eine Gemeinde in Korinth, die beseelt ist von der Liebe Gottes, durchdrungen vom Heiligen Geist, ausstrahlend in die Bürger- und Stadtgesellschaft, Menschen aus allen Schichten und allen Völkern erreicht, Paulus schreibt an eine bunte, lebendige, vielfältige Gemeinde. Sie könnte das Hohelied der Liebe wirkmächtig und laut singen, doch sie ist gefangen in alltäglichen Streitigkeiten; reich gegen arm, Herren gegen Sklaven, Begeisterte gegen Nachdenkliche, Extrovertierte gegen Introvertierte, Liberale gegen Konservative – man scheint in der christlichen Gemeinde von Korinth keinem Streit aus dem Weg gegangen zu sein. Zerrissen und zerstritten aber ist kein Staat zu machen, und schon gar keine Kirche, keine Gemeinschaft, die Liebe empfangen hat und weitergibt. Da ist keine leibhaftige Kraft mehr, wo die Liebe nicht der Maßstab ist. Liebe muss der gemeinsame Maßstab sein, sonst hätte Christus umsonst gelitten, wäre umsonst gestorben, umsonst begraben worden, hätte umsonst den Tod besiegt. Das aber darf und kann nicht sein: deswegen gibt es nur einen Maßstab – die Liebe.
Wie wunderbar wäre das, wenn wir uns in der Passionszeit an jedem Tag neu uns selber und uns gegenseitig vergewissern könnten: die Liebe lebt. Sie spielt mich hinauf aus der Finsternis, sie steigt hinunter ins Todesschattental. Die Liebe lebt.
In der Passionszeit geht es ja in die Finsternis und ins Todesschattental. Mit Jesus hinein in die Finsternisse und Todesschattentäler dieser Zeit. Wir haben in diesen Tagen die Wahl, liebe Gemeinde, nicht ob, sondern wie wir in die Finsternisse und Todesschattentäler gehen, die uns auf unseren Wegen begegnen, denen wir auch selber ausgesetzt sind. Eine Liebe, die mich überzeugt und erhellt, und die auch für andere überzeugend und erhellend ist, trägt und begleitet uns, entfaltet ihre ganze Strahlkraft. Sie steht am Anfang, vor dem Beginn der Passionszeit. Darauf wird heute unser Blick gerichtet, unser Herz ausgerichtet: auf diese Liebe.
Es ist gut, wenn am Ende das Hohelied der Liebe noch einmal erklingt, damit es uns ganz durchdringt. Ich lese es in der Übertragung von Jörg Zink. Hört es mit der Gewissheit: Ich weiß, diese Liebe lebt und ist stark, auch unter uns.
Kanzelsegen
Und so sei der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bei uns heute und alle Tage unseres Lebens, bin an dem Tag, an dem Gott selbst mitten unter uns ist. Der Herr ist nahe – das ist gewißlich wahr. Amen.
Sexagesimae, 31.01.2016, 2.Tim.1,7, Ulrike Heimann, Mutterhauskirche
„Glaube überwindet Angst" (2.Tim.1,7)
Liebe Gemeinde,
Sie alle kennen sicher den berühmten Ausspruch von Martin Luther, den er auf dem Konzil in Worms getan hat, nach seiner Befragung durch die päpstlichen Würdenträger, die ihn aufgrund seiner Schriften der Ketzerei beschuldigten - eine ausgesprochen heikle Lage, in der Luther da war. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir." Nicht wenige sehen in diesem Augenblick eine Geburtsstunde des modernen Menschen, der „ich" sagt und sich nicht hinter dem versteckt, was „man" so sagt. Der seiner Überzeugung, seinem Gewissen treu ist und dafür alles riskiert, sein Leben in Zeit und Ewigkeit.
„Hier stehe ich, ich kann nicht anders."
Auch wenn dieser Ausspruch, der ja ein wahrhaftiges „Statement" gewesen ist, immer wieder einmal verballhornt wird in dem Sinne „Hier stehe ich, ich kann auch anders" und der Standhaftigkeit die Flexibilität vorgezogen wird, so kommen wir doch nicht daran vorbei, dass es tatsächlich Situationen gibt, in denen man wissen muss, „wo man steht", wo man nicht weichen kann - als Mensch, dessen Gewissen gebunden ist an den Mann aus Nazareth und an den Gott, den er verkündigte.
Eine solche Situation ist in meinen Augen in unserer Zeit vor allen Dingen in den Auseinandersetzungen um den Umgang mit den vor Krieg und Verfolgung zu uns geflüchteten Menschen gegeben. Dass die meisten von ihnen Muslime sind, hat diese Auseinandersetzung enorm verschärft. Das Stichwort von der „Islamisierung des christlichen Abendlandes" geistert durch viele Medien und Gehirne. Die Vorkommnisse in der Sylvesternacht in Köln haben die Wirkung von Brandbeschleunigern. Es ist schwer geworden, sachlich und argumentativ mit allen ins Gespräch zu kommen, um Lösungen für die Probleme zu finden, die es zweifelsohne gibt. Die Vernunft scheint bei vielen vor den Emotionen kapituliert zu haben, Ängste und Befürchtungen geben den Takt vor. Der Fremde, der Mensch mit einer anderen Religion, selbst seine Not - alles wird zur Bedrohung. Aus dem heiteren Himmel ist dieses alles allerdings nicht gefallen. Es hat eine Geschichte - gerade in unserem Land. Es ist der unaufgearbeitete Schatten der Wiedervereinigung. Der Euphorie im November 1989 folgte recht bald - spätestens seit 1991 die Ernüchterung und dann die Gewaltexesse gegen die Fremden - in Hoyerswerda, Moelln, Solingen - um nur einige zu nennen. Die politische Großwetterlage nach dem Ende des Kalten Krieges (Krieg im Libanon, die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Iran und Irak, der 1.Golfkrieg) brachte es mit sich, dass der Islam immer mehr in die Rolle des Feindbildes schlechthin geriet - vorher war es der Kommunismus. Ich erinnere mich noch gut an das Jahr 1996. Damals hatten zwei Duisburger Moscheevereine den Antrag an die zuständige Stadtverwaltung gestellt, ihren Gebetsruf freitags während des Fastenmonats Ramadan lautsprecherverstärkt erschallen lassen zu können.
An und für sich eine Frage, die sachlich erörtert werden könnte, wo es dann darum ginge, die Lautstärke des Lautsprechers in einem verträglichen Rahmen zu halten oder auch einen Zeitrahmen für die Dauer des Rufes festzulegen nach bundesdeutschen Gesetzen, die z.B. auch den Rahmen abgeben für das kirchliche Glockenläuten.
Aber eine sachliche Auseinandersetzung fand praktisch nicht statt. Die Wortbeiträge und Stellungnahmen damals machten vielmehr deutlich, dass bei vielen, bei sehr vielen Menschen Urängste aufgebrochen waren. Man fühlte sich bedroht. Schon damals hieß es, unsere Gesellschaft würde „islamisiert", unsere christlich-abendländische Kultur stünde vor dem Aus, Freiheit und Demokratie würden auf dem Spiel stehen. Fremdenfeindlichkeit, Ignoranz und Intoleranz gingen und gehen Hand in Hand.
Und was besonders bedenklich war und ist: viele sahen und sehen sich dabei als Verteidiger des christlichen Glaubens. Damals waren es ausgerechnet ein Pfarrer und ein Presbyterium einer evangelischen Gemeinde, die in der Auseinandersetzung führend und polarisierend zu Gange waren. Überall schalteten sie in der Presse ganzseitige Anzeigen. Da wurde dann viel vom Glauben gesprochen und eigentlich alles getan, dass nicht der Glauben wächst, sondern die Angst. Da wurde von Gott geredet, als sei er ein Besitz der einen gegen die anderen. Da wurde der Glaube anderer diffamiert und entwertet. Und dann der Aufruf: „Wir rufen alle Christen auf, sich verstärkt ihres eigenen Glaubensbekenntnisses zu vergewissern."
Das war der einzige Satz, dem ich damals und auch heute noch zustimmen kann. Um nicht seinen Ängsten und Befürchtungen ausgeliefert zu sein und dem demagogischen Gerede anderer zum Opfer zu fallen - auch wenn es im frommen Gewande daherkommt -, ist es tatsächlich unbedingt erforderlich, sich Rechenschaft über den eigenen Glauben zu geben, nachzufragen, was bzw. wer mich eigentlich hält und trägt.
Die Frage heißt deshalb nicht „Was glaube ich?" - im Sinne von „Welche Sätze halte ich für wahr?" - sondern vielmehr „Wem glaube ich? Wem vertraue ich?"
Diese Frage kann jeder nur ganz persönlich beantworten. Jede und jeder vor dem Hintergrund der eigenen religiösen Tradition. Für uns als Christen sind die Schriften des Alten und Neuen Testamentes Grundlagen unseres eigenverantwortlichen Nachdenkens. Sie bieten uns eine Fülle von Bildern und Bekenntnissen, die alle einmal ganz persönliche Antwortversuche waren auf die immer gleiche Frage „Wem glaube ich? Wem vertraue ich?" Diese Bilder und Bekenntnisse sind sehr verschieden, sogar widersprüchlich. Wer sich mit der Bibel beschäftigt, weiß, dass sie ihn in die eigene Entscheidung des Glaubens führt.
Ich möchte an dieser Stelle einmal sagen, zu welcher Antwort auf die Frage „Wem vertraue ich?" ich persönlich gekommen bin aufgrund der Beschäftigung mit dem biblischen Zeugnis und vor dem Hintergrund der angesprochenen Auseinandersetzungen. Wo ich sage: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders."
Ich vertraue dem einen Gott, dem Schöpfer und Erhalter des Lebens. Ich will mich von ihm an die Hand nehmen und durchs Leben führen lassen. Ich stelle mir vor, dass er meine Füße „in den weiten Raum" stellt, wie es in Ps.31,9 heißt, frei und ungesichert zugleich. Mir ist wichtig, dass ich darauf vertrauen kann, dass er mich durch seinen Geist in alle Wahrheit führen will (Joh.16,13), ohne dass ich den Weg im Voraus kenne, eben als Suchende und nicht als Besitzende. Ich vertraue darauf, dass er mich hält und liebt, da, wo ich stark bin, aber auch da, wo ich schwach bin, im Gelingen und Scheitern und auch dann, wenn ich schuldig werde. So erfahre ich Gott als meinen „Abba", meinen Vater - wie Jesus ihn in einzigartiger Weise erfahren und uns bezeugt hat.
Dieser Glaube ist - weiß Gott! - kein Besitz, den ich in der Tasche habe. Glaube muss zu jeder Zeit immer wieder neu gesucht und gefunden werden. Er verhindert auch nicht, dass ich immer wieder Angst verspüre. Die Angst vor dem Fremden, Unbekannten ist ja etwas, was wir evolutionsmäßig und genetisch irgendwie alle in uns tragen. Und doch: die Freiheit, zu der Gott mich berufen hat, macht es mir möglich, mit diesen Ängsten umzugehen; ich bin ihnen nicht ausgeliefert. Dazu hat er uns seinen Geist gegeben. Im 2.Timotheusbrief lesen wir: „Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit." (Das ist übrigens der Monatsspruch für den Januar.)
Liebe Gemeinde, wenn ich lese und höre und in den Medien sehe, wieviel Gewalt und Unterdrückung in unserer Zeit von islamistischen Fundamentalisten ausgeht, dann lässt mich das nicht kalt. Aber der Glaube im Sinne eines Grundvertrauens in Gott ist für mich die Möglichkeit, allen Ängsten standzuhalten, die in mir hochkommen oder die von außen an mich herangetragen werden. So kann das Psalmwort für mich lebendig werden, das da fragt: „Gott ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Gott ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen?" (Ps.27,1)
Wer Gott nun als seinen Vater im Sinne und Geist Jesu entdeckt hat, der entdeckt ihn aber gleichzeitig auch als Vater aller Menschen. Als den Gott, dessen Liebe alle Menschen umschließt und uns untereinander zu Geschwistern macht.
Von Gott her gehören so Glaube als Vertrauen und Liebe zusammen. Ohne Liebe, so schreibt Paulus im 1.Korintherbrief (13,2), bin ich mit allem Glauben nichts. Nur der Glaube zählt, der zur Liebe befähigt. Das höchste Gebot, die alles begründende Wahrheit unseres Glaubens lautet deshalb: „Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst."
Was heißt aber nun, den Nächsten zu lieben wie sich selbst? Für mich gehört unbedingt dazu, dass ich den anderen in seinem Anderssein stehen lasse, ohne ihn abzuwerten. Dass ich mit ihm nach der „goldenen Regel" umgehe, wie sie uns aus dem Mund Jesu überliefert ist: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist (so heißt es ausdrücklich) das Gesetz und die Propheten." (Mt.7,12)
Was heißt das nun vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um den Islam und seine Verortung in unserer Gesellschaft? Ob er zu Deutschland gehört, welchen Raum muslimische Menschen, muslimische Gemeinden in unserer Gesellschaft einnehmen können, dürfen?
Zunächst einmal verbietet sich eine Argumentation nach dem Muster „solange in Saudi-Arabien keine Kirchen gebaut werden dürfen, können auch keine Moscheen bei uns errichtet werden". Wer so redet, begibt sich in die Gefangenschaft des Negativen, hat sich - um mit Paulus zu sprechen - vom Bösen überwinden lassen, anstatt selbst zu versuchen, mit dem Guten die Zeit und das Leben zu gestalten und so Böses zu überwinden.
Gott hat uns den Geist der Besonnenheit gegeben. Und zur Besonnenheit gehört auch, dass wir uns zum Beispiel eingestehen, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass die evangelischen Christen in katholischen Städten keine eigenen Kirchen bauen durften, und wenn, dann bitte nur in den Hinterhöfen - siehe Neanderkirche oder die Diakoniekirche auf der Bolkerstraße - oder nur so, dass sie von außen als solche nicht klar zu identifizieren war - siehe Stadtkirche. Auch den Evangelischen wurde unterstellt, sie wären keine verlässlichen Bürgerinnen und Bürger. Ähnliches erlebten katholische Einwanderer in den USA; Katholiken wurde grundsätzlich unterstellt, sie wären nicht demokratiefähig, weil sie ja auf den Papst in Rom hören würden.
Gott hat uns gegeben den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.
Für das Gespräch mit den Muslimen ist wichtig, dass wir die Ernsthaftigkeit ihres Glaubens nicht in Zweifel ziehen, vor allen Dingen, dass wir ihnen nicht absprechen, dass sich ihr Bekenntnis an den einen Gott richtet, von dem auch wir sagen, dass er Himmel und Erde gemacht hat. Auch sollten wir nicht alle Muslime über einen Kamm scheren und kollektiv für den Fundamentalismus in bestimmten Staaten und Ländern verantwortlich machen. Jede Religion und Konfession kennt Fundamentalismen. Jede Religion hat ihre Licht- und Schattenseiten. Es ist absolut unredlich, so zu tun, als sei das Christentum die Religion der Liebe und Güte und der Islam die Religion von Unterwerfung und Gewalt. So wie wir nicht wollen, dass andere den christlichen Glauben gleichsetzen mit den Kreuzzügen, der Inquisition und dem Antijudaismus, so sollen auch wir nicht den Islam mit den faschistischen und terroristischen Auswüchsen des Islamischen Staates, von Terrorgruppen wie Boko Haram und Al Schabab oder auch mit reaktionären Regimen wie in Saudi Arabien, im Sudan und im Iran gleichsetzen. Das Gebot der Liebe sollte uns vielmehr dazu ermuntern, die jeweils besten Seiten jeder Religion miteinander ins Gespräch zu bringen. Ich glaube wirklich, dass es gerade heute eine Chance gibt für einen aufgeklärten, menschenfreundlichen europäischen Islam. Mut machen mir dabei nicht nur viele „einfache" Muslime, die ich in den letzten Jahren kennenlernte, sondern auch Leute wie Navid Kermani oder der islamische Theologe Mouhanad Korchide, der islamische Theologie in Münster lehrt, und der innerhalb seiner eigenen Community erlebt, was Martin Luther mit seinem reformatorischen Aufbruch erlebt hat: dass er angefeindet wird; und dennoch sagt er wie Luther „Hier stehe ich, ich kann nicht anders." Aufbrüche im Glauben haben eigentlich immer erst Anfeindung und Widerstand hervorgerufen, sie mussten sich bewähren - und die Neuerer haben oft einen hohen persönlichen Preis bezahlen müssen. Johannes Hus lässt da grüßen. Übrigens: das neueste Buch von Mouhanad Korchide heißt „Gott glaubt an den Menschen - Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus". Ich kann es nur wärmstens empfehlen; auch für uns Christen ein ausgesprochen weiterführender Ansatz.
„Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten." Das ist die Weise des Miteinanderumgehens, die uns von unserem Glauben her ansteht. Darauf ruhen der Segen und die Verheißungen Gottes.
Lassen Sie mich noch einmal zurückkommen auf die immer wieder aufgestellte Behauptung, unser Gott, den Jesus seinen Vater genannt hat, wäre nicht der Allah der Muslime und deshalb sei eine interreligiöse Ökumene, eine „Geschwisterschaft" im Glauben zwischen Christen, Juden und Muslimen unmöglich.
Zunächst einmal ist die „Geschwisterschaft" keine Sache, die wir uns aussuchen können. Freunde kann man sich aussuchen, Geschwister nicht. Die Geschwisterschaft ist uns aufgegeben von dem einen Schöpfer und Vater aller Menschen. Nicht nur was die Juden betrifft, auch im Hinblick auf die Muslime ist sie biblisch belegt. Abraham ist unser gemeinsamer „Vater im Glauben". Ismael, der Sohn Abrahams, auf den sich die Muslime zurückführen, ist ebenso wie Isaak Träger von Gottes Verheißung. „Und Gott war mit dem Knaben." heißt es im 1.Buch Mose (21,20). Derselbe Gott wie der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, derselbe Gott wie der Gott Jesu. Derselbe Gott, von dem es in Psalm 145,18 heißt: „Gott ist nahe allen, die ihn anrufen, allen, die ihn ernsthaft anrufen."
Ob Juden, Christen oder Muslime - jeder, der Gott ernsthaft anruft, wird von ihm erhört. Dabei ruft jeder in seiner Sprache, jeder nennt ihn mit Namen, die sich ihm jeweils nahelegen. Namen, die für Gott stehen und die Gott doch niemals ganz abbilden können. Allmächtiger, König, Herr, auch Vater - alles nur Annäherungen an den, der der Grund und die Quelle allen Lebens ist. Gott hält solch menschliches Stammeln aus, er lässt die Unterschiedlichkeit zu. Also sollten wir sie auch aushalten und zulassen können.
Und wenn uns dann inmitten der Vielfältigkeit und Vielstimmigkeit der Bekenntnisse wieder einmal die Angst beschleicht und uns dazu bringen will, in der Einheitlichkeit das Heil zu sehen und zu suchen, dann können wir uns ermutigen und stärken lassen von dem wunderbaren Bild aus Offenbarung 21, wo es heißt, dass zuletzt Gott bei den Menschen wohnen wird; „Sie werden seine Völker sein und er wird ihr Gott sein" heißt es wörtlich. Die Vielfalt der Völker, ihre Verschiedenheit in Kultur und auch in den Formen ihres religiösen Bekenntnisses wird sich in der Ewigkeit als Reichtum vor Gott erweisen. Auf dieses Ziel hin sind wir unterwegs - wir als Christen und die meisten unserer türkischen, syrischen, afghanischen, marokkanischen Nachbarn als Muslime. Unser Wegweiser ist Jesus mit dem, was er uns von Gott als dem Vater aller Menschen gesagt und vorgelebt hat. Darin dürfen wir ihn nicht aus den Augen verlieren. Menschen anderer Völker, anderer Religionen haben andere Wegweiser, mit denen Gott sie zu sich führen will, denn er will ja, dass allen Menschen geholfen wird.
Als Gerufene Gottes sind wir einander das Lebens-Zeugnis unseres jeweiligen Glaubensweges schuldig, ein Zeugnis, das wir mit unserem ganzen Leben, unserem Reden, Verhalten und Tun ablegen. Das Bekennen einer Formel nützt gar nichts. Denn für alle gilt: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen." Insofern sollten wir alles daran setzen, dass Muslime an unserem Verhalten und Handeln erkennen und ablesen können, dass wir Gott vertrauen als unserem Vater - und deshalb unseren Mitmenschen mit furchtloser Liebe begegnen - so wie wir es an Jesu Verhalten und Handeln erkannt und abgelesen haben. Dass er uns beschenkt hat mit einem Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.
Amen.
Sexagesimae 31.01.2016 Stadtkirche Hebräer 4,12f Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 31.I.2016 - Sexagesimæ
Hebräer 4,12f
Liebe Gemeinde!
Lebhafte Bilder werden in mir wach, wenn ich das scharfe, durchdringende, scheidende, richtende Wort Gottes meditiere. Eine Generation, die fast ausgestorben ist, weckt dieses Wort vom Wort wieder auf, … eine Generation, die vor dreißig Jahren noch den Maßstab bildete. … Ein schnörkelloses Geschlecht mit Kanten war das. Weil durch ihre Altersweisheit oder ihren Altersstarrsinn hindurch etwas nüchtern und gleichmäßig hell leuchtete: Ein Kampf und eine Festigkeit, die man spürte … einerlei, ob sie noch bewusst grau und pastoral auftraten oder ob sie sich wegen ihres Sinns für den Widerstand ganz unkonventionell und antibürgerlich gaben.
In beiden Gruppen – den unauffällig biederen und den linken Revoluzzern – gab es (obwohl sie das niemals hätten zugestehen wollen) erkennbar Gemeinsames: Sie wussten richtig und falsch messerscharf zu trennen. Und sie richteten ihr Leben mit großem Ernst und manchmal vorwurfsvollem Ingrimm nach der glasklaren Unterscheidung aus, die ihnen heilig war. Die Wurzel dieser Gemeinsamkeit selbst zwischen späteren politischen Gegnern aber – Helmut Gollwitzer und Helmut Thielicke zum Beispiel oder Martin Niemöller und Eugen Gerstenmaier – … die Wurzel dieser Gemeinsamkeit lag in der Erfahrung ihrer Kindheit und Jugend: Sie waren die Beteiligten oder die Söhne und Töchter des Kirchenkampfes.
Ihnen brauchte man darum nicht weiszumachen, dass es im Glauben um Wohlfühlen und positive Erlebnisse gehen könne. Sie hatten in Entbehrung und Verschwörung, in Zucht und Gefahr, von Kindesbeinen an durch ihre starken Väter und Mütter, durch ihre Geschwister und Kameraden und in gemeinsamer, früher Todesnähe jeder für sich allein eines gelernt: Bei der Frage nach Gottes Wort geht es niemals um unser eigenes wankelmütiges Befinden, sondern um mehr, um Wichtigeres, um das Allesentscheidende: Um Sünde oder Gnade. Um Lug oder Recht. Um Verdammnis oder das Heil. ——
Diese eindeutigen, leidenschaftlichen Strengen im Lande werden also plötzlich spürbar, wenn der markige Vers vom lebendigen Gerichts- und Wahrheitswort Gottes zu hören ist. Und man spürt, was mit ihnen verloren geht: Die herbe Geradlinigkeit, die sie aus lebensbedrohlichen Prüfungen ihrer Gewissen gewonnen hatten und die bei ihnen Gewissheit wurde.
Sie waren sicher nicht immer sehr sympathisch, weil sie weder mit sich noch anderen Zimperlichkeit kannten und auch keine Schonung. Aber sie hatten Klarheit für sich. Klarheit in Gehorsam. Und durch den Gehorsam, an den sie gebunden blieben, waren sie frei von allem anderen. … Das merkte man oft auch an ihrem Sterben.
....... Mir jedenfalls fehlen sie: Die bekannten und provokanten Kirchenleute der Nachkriegszeit, aber auch die stillen Frommen, die in der Wahrheit lebten; mir fehlen die, die mitten in den politischen Kämpfen der Welt standen, ebenso wie die, die in echter Verborgenheit in Treue und Glauben ihr Leben vollendeten. ———
Doch ein weiteres Bild gerade auch von diesen überzeugten und profilierten Christen der jüngsten Vergangenheit weckt das Wort aus dem Hebräerbrief. Nicht nur ihre Charakterköpfe und ihre betont sachliche Erscheinung, die nüchterne, ein bißchen muffige Kluft uneitler Genügsamkeit, die vor kurzem noch so typisch für den kernevangelischen Menschenschlag war. Nein, der Hebräerbrief zeigt sie uns nämlich nackt, …alle diese handfesten, anspruchslosen alten Kämpfer und Bekennerinnen von Württemberg über das Bergische Land bis zu den hanseatischen und preußischen Hochburgen des Protestantismus. … Nackt stehen sie da, bloß und aufgedeckt.
… Und das ist nicht obszön gemeint und hat nichts mit Voyeurismus zu tun. Es ist vielmehr die Weise, in der sie selbst sich sahen. Denn neben der festen Haltung war das zweite Ergebnis des Kirchenkampfs, den eine Minderheit in Deutschland vertrat und wagte, beinah das Gegenteil der erreichten Sicherheit. Die echten Vertreter des Kirchenkampfes – nicht seine Trittbrettfahrer – waren allesamt gedemütigt worden. Jeder von ihnen hatte nicht nur die Gewalt von Gottes Wort und Forderung erlebt, sondern auch die eigene Schwäche. Jeder von ihnen hatte Erpressbarkeit und Leidensscheu am eigenen Leib erfahren, hatte Kompromisse geschlossen, das geringere Übel gewählt, die Grenzen des eigenen Mutes viel enger gefunden, als den moralischen Anspruch. Jeder, der die absolute Wahrheit Gottes anerkannt und bezeugt hatte, war auch des Keims der Falschheit und des gefährlichen Gifts der Sünde in sich selbst gewahr geworden – und wäre er ein Bonhoeffer, ein Moltke gewesen. Sie waren allesamt – zumindest in den eigenen Augen – keine Helden, keine Heiligen.
Dafür waren sie und Ihresgleichen es, die nach dem fremden Sieg über Hitler ihre Mitschuld und die Kollektivschuld und das Schuldbekenntnis ernst nahmen. Eben weil sie sich nackt erlebt hatten, ungerüstet und unverhüllt, aufgedeckt vor Gott ……. ——
Doch warum dieser Rückblick auf die letzte todernste Bewährungsprobe des evangelischen Glaubens? … Als Geschichtsstunde, wegen des gestrigen 83.Jahrestages der Machtergreifung Adolf Hitlers – eine „Ergreifung“, die nicht von Hitler allein, sondern von der durch ihn ergriffenen Mehrheit unseres Volkes ausging?
Nein.
Wir haben zurückgeschaut auf die Letzten, die das Schwert des Wortes Gottes als ihre Waffe und zugleich als ihr Gerichtsurteil erlebten, um uns aufzuwärmen.
Denn die Botschaft von der Schärfe des einschneidenden Wortes Gottes in unserem Leben ist nicht historisch. Sie ist akut aktuell. Sie ist, was sie war und bleibt: Das, was uns zu evangelischen Christen macht.
§ Für Luther war es der Freispruch und die Erlösung, Gottes Wort in seiner ganzen unverfälschten, rechtfertigenden Klarheit zu vernehmen: „Das Wort sie sollen lassen stahn!“ (EG 362,4)
§ Für die nach Luthers Tod bedrängten Evangelischen, besonders für die Reformierten in den Jahrzehnten ihrer bitteren Verfolgung war es der Anker und das Siegel ihrer Hoffnung, dass sie für ihren Wahlspruch aus Jesaja (40,8) fochten und litten: „Gottes Wort bleibt ewiglich!“
§ Und in allen Herausforderungen des Lernens und des Überlebens von der Aufklärung bis zu den Diktaturen hielten sich gefestigte Christen singend und betend an der bleibenden Gabe fest, die keine Zeitströmung davonspülen konnte: „Herr, dein Wort, die edle Gabe, diesen Schatz erhalte mir.“ (EG 198,1)
§ Im 20.Jahrhundert aber reichte es 1934, bloß zu bekennen, dass Jesus Christus „das eine Wort Gottes ist, das wir zu hören und dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben“ (Barmen I), um die Kirche vor die letzte Entscheidung zu stellen: Gott oder Menschen?
§ Als Erbe und Verpflichtung aus der Zeit der illegalen Theologenausbildung der Bekennenden Kirche in diesem Kampf um die Wahrheit stand schließlich noch in meiner Studentenzeit an der Stirnwand des Audimax der Kirchlichen Hochschule Wuppertal: „Im Anfang war das Wort“ (Joh1,1). Heute ist das übertüncht, woraus wir schließen müssen, dass wir nicht mehr am Anfang sind, sondern am Ende …….
Wenn wir aber im Brei der vielen Botschaften, im Ameisenhaufen der veröffentlichten Privatmeinungen, im Geflecht der vielen dummen kleinen Lügen und im Gefecht der Welt- und Glaubensdeutungen unserer Gegenwart aufgeben, auf Gottes Wort zu hören und zu hoffen, … wenn wir es gar für gestrig oder fundamentalistisch halten, Gott überhaupt noch Rederecht in einer sich gehirntot kommunizierenden Gesellschaft zu gewähren, … wenn wir Gott also nicht mehr selber mitreden lassen, sondern als Seine Kirche allenfalls noch über Ihn sabbeln, dann passiert uns …nichts! Dann haben wir es bloß fertig gebracht, als Kirche Seines Wortes uns selbst völlig zu entleeren und damit völlig überflüssig, aber immerhin wenigstens völlig zeitgemäß zu sein.
Denn wenn Religionen ja bekanntlich die Wurzel allen Übels sind, muss eine Religion, die freiwillig ihren Wirkstoff entsorgt, die sich freiwillig ihrer Substanz entledigt, ja empfohlen werden.
Eine solche empfehlenswert harmlose Religion vertritt nun offenkundig unsere Kirche, in der Gottes Wort erst durch die sogenannte historische Kritik stumpf, dann durch die vielen selbstreinigenden Anpassungsprozesse an den Mainstream hauchdünn gemacht wurde und zuletzt durch eine geradezu mitleiderregende Ungeschicklichkeit bei der Jagd nach Sympathien schlicht abhandengekommen ist*.
Aber ehe man es gar nicht mehr wiederfinden konnte, ist es immerhin ordentlicher Mülltrennung zugeführt worden: Die Sprengköpfe wurden alle entschärft, die Spitzen abgebrochen, die gefährlichen Ladungen sachgemäß endgelagert und wo immer noch Verletzungsgefahr bestand, fehlte es jedenfalls selten an Warnhinweisen.
Wieso die tendenziell gewaltverherrlichenden Wendungen aus dem Hebräerbrief – selbstverständlich in entmilitarisierter Fassung! – 2007 noch als Motto des Kirchentages Verwendung finden konnten, bleibt ein Rätsel …; damals hieß es übrigens ohne Subjekt und ohne Objekt, einfach nur so: „lebendig und kräftig und schärfer“. ……. ——
Doch heute ist das Schwert-Wort, das Wort-Schwert für einen kurzen Augenblick aus dem Giftschrank zur waffenscheinpflichtigen Predigt freigegeben.
Nutzen wir ihn denn:
Wenn wir nicht allen Unsinn glauben und doch nicht nichts glauben, dann sollten wir uns für das, was Gott sagt, bereit machen.
Was Gott uns zu sagen hat, tut allerdings weh.
Denn von Gott kommt nichts Oberflächliches, sondern ungewohnt Schmerzhaftes.
Nämlich der Anspruch eines Entweder-Oder.
Wir können uns also nicht alles vom Leib halten: Wir werden entweder nichts von allem ernsthaft aufnehmen, dann bleiben wir leer …; oder aber wir öffnen unser Leben, unser Denken, Fühlen und Handeln für etwas Falsches, Schlechtes.
… Oder für Gott.
Dann spaltet Er uns in das, was bleiben und das, was vernichtet werden muss.
Sein ein- und aufdringliches Wort legt messerscharf alles in uns bloß.
Es trennt Verbindungen durch, an denen wir hingen.
Wir hängen an Schläuchen und Ketten:
Unser Reichtum ist das zerstörerischste Gift, weil wir ihn für lebensnotwendig halten.
Wir haben Dinge zu Lebensmitteln und Lebensmittelpunkten gemacht, Steine zu Brot und Betrug zur Selbstbelohnung.
Das ist der Krebs unserer Kultur.
Wir wachsen noch, weil dies in uns wächst. … Wir stellen ihm nichts entgegen. …Wir sehen, wie die Welt und andere Menschen sterben an den Auswüchsen unseres ungebremst gierigen Geschwürs. … Aber wir schaffen den Entzug nicht.
Gottes Wort aber schneidet es frei:
„Wollt Ihr von dem leben, was Ihr Menschen Euch machen oder nehmen könnt? – Dann werdet Ihr auch daran sterben.
Oder wollt Ihr leben von dem, was nicht in Eurer Macht steht und nicht nach Eurem Willen geht und was Euer Tod darum auch nicht zerstören kann?“
Das trifft ins Mark.
Leben aus einer anderen Quelle als der von uns beherrschten: Für viele ist das Lähmung, wenn sie selber nicht die Macht und nicht das Recht und nicht den Ruhm und nicht die Entscheidung haben sollen.
Ich ist für sie alles. Nicht-Ich ist nichts für sie.
Gottes Wort aber heißt nicht „Ich“.
Sondern Jesus Christus.
Für jeden von uns ist das erst ein Fremdwort, denn es redet als Erstes nicht von mir.
Dieses Wort, das alles retten kann, macht also denen alles kaputt, die dauerhaft nur ihr Eigenes suchen.
Denn es behauptet einen Anspruch auf uns, den wir nicht haben.
Es stößt uns zu mit der Wucht, die das HEIL DER WELT hat, das viel größer, viel schwerer ist als unsere Eigenliebe.
So verletzt es uns, es zieht dem Leben die eigene Haut ab, wenn Jesus Christus uns ins Herz gepflanzt und wir selbst aus der eigenen Mitte rausoperiert werden.
Es macht empfindlich.
Es höhlt uns aus, die wir randvoll nur mit eigenen Wünschen waren.
Und in dem, was da entblößt liegt, in dem, was da an Leere klafft, wenn wir getroffen wurden, … da lässt das Wort vom Retter der ganzen Welt nicht einfach wieder die alten Gewohnheiten wuchern, sondern hält die Wunde offen:
Wir können nach dem Einschnitt dieses Wortes, dass das Reich Gottes nahe herbeigekommen ist und wir darum umkehren und neu werden müssen, nur heil werden, wenn wir nie wieder selbstgenügsam bleiben wollen.
Gott hat uns freigeschnitten aus dem alten Wesen, in dem das Ich einen Kreislauf nur für sich darstellte.
Wir teilen jetzt das Leben der durch Gottes Wort geschaffenen und von seinem fleischgewordenen Wort erlösten Welt.
Rechenschaft vor Gott abzulegen, heißt also, nicht mehr abzufallen von diesem Gesamtkörper der Erlösten, … heißt den Einschnitt des Wortes in unser Herz und Dasein nicht mehr vernarben zu lassen, sondern das lebendige, kräftige Wort wirken zu lassen, was nur es allein kann:
Die Operation, die alles rettet.
So klar ist das.
Und so nackt und angewiesen sind wir auf das mächtige, richtende, heilende Wort Gottes.
Amen.
* Man hätte spießigerweise, aber nicht ganz unsachlich z.B. erwarten können, dass das Reformationsgedenken des nächsten Jahres ein biblisches Leitwort erhielte. Wie man sich allerdings täuschen kann. Die Evangelische Kirche im Rheinland jedenfalls hat eine andere Quelle bevorzugt und stellt das Jahr 2017 unter die Losung eines zugegebenermaßen nicht zu Unrecht hierzulande beliebten Kabarettisten: „Ich bin vergnügt, erlöst, befreit“. Viel Vergnügen also mit H.D.Hüsch!
Septuagesimae 24.01.2016 Stadtkirche 1.Korinther 9,24-27 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 24.01.2016 - Septuagesimæ
1.Korinther 9,24-27
Liebe Gemeinde!
Fangen wir mit einer antisemitischen Karikatur an: Er ist beinah bucklig – so trichterförmig ist die Brust, so hohl das Kreuz – außerdem ist er triefäugig, und der kahle, wulstige Hinterkopf hat nur durch den schmutzig-buschigen Bart, der das angespannte Gesicht vorne um-wölkt, ein Gegengewicht; seine Gelenke sind steif, die Glieder schlenkern unbeholfen um den dürren Körper und seine Bewegungen gleichen dem unruhigen Staksen eines großen Vogels.
… Dieser Inbegriff eines lächerlichen Männchens ohne jede athletische Geschmeidigkeit und Kraft, dieser armselige Schneidergeselle und Stubenhocker und Kellerbewohner und Ghettoträumer, den man im Abendland wieder und wieder verhöhnt und lebensuntüchtig, unterlegen, ehrlos genannt hätte, … dieser typisch antisemitisch betrachtete Untermensch: Wer ist es und was tut er?
Es ist der geistige Vater des Abendlandes, dessen Schüler von Augustinus bis zu den Reformatoren, von Hegel bis Bultmann sich ihren Meister Paulus immer nur intellektuell, nicht körperlich vergegenwärtigt haben.
Dabei ist dieser krumme, kurzatmige kleine Kerl mit den knotigen Beinchen per pedes apostolorum – also auf den sprichwörtlichen Apostellatschen – dennoch durch die halbe damalige Welt gewandert.
Und in den großen Städten, in den glänzenden Zentren der griechischen Kultur, da hat er sie gesehen, seine äußerlichen Gegenbilder: Die schimmernden, muskelbepackten Körper der wehrhaften Jugend, der trainierten Wettkämpfer, die jedes heidnische Fest, jede städtisch-staatliche Feier zu einem leichtfüßigen, gelenkigen, kraftstrotzenden Theater der Gymnastik und des Scheinkampfs machen … bei den Isthmischen Spielen von Korinth und den sportlich-religiösen Darbietungen, die von Ephesus bis Athen den antiken Mittelmeerraum erfüllten, … nicht ganz so marmorweiß, wie wir uns das dank der abgewaschenen klassischen Skulpturen vorstellen, sondern mit bronzener Haut, bunten Schurzen, Schminke und Körperbemalung, die aus den Athleten Griechenlands schrille, schöne Superhelden werden lassen.
Aber wie reagiert nun Paulus, der reisende Bote einer ganz anderen Welt und Wahrheit auf diese Begegnung mit einem Körperideal, dessen geölte Aggressivität und Erotik ihm moralisch abstoßend, dessen Nacktheit ihm ein Greuel war? Hält er sich abwehrend die Augen zu, geifert er gegen diese sitten- und sinnlose Parade der Fleischlichkeit? …
Nein, den Weg der Salafisten geht er keinesfalls.
Erstaunlich anders ist sein Blick auf die körperverliebten, sportlichen Leitbilder Griechenlands. Zwar ist Paulus mit seinen Plattfüßen und seiner Botschaft von der Erlösung durch den gekreuzigten Jesus Christus erkennbar für alle Zeiten ausgeschlossen von dieser olympischen Leitkultur. … Seine Begegnungen damit dürften ungefähr so verlaufen sein, wie man es in diesen Monaten von Sylt etwa hört: Dort, wo die Flüchtlingsunterkunft unmittelbar an einem Golfplatz liegt, der nicht betreten werden soll und wo die Kurtaxe mittellose Menschen von Strand und Meer fernhält, dort wird der syrische Blick auf Sylt und seine Sonnenseiten gewiss nicht ungetrübt ausfallen. …….
Wie aber blickt Paulus durch den Maschendrahtzaun und die gläserne Mauer, die sein Volk und seine Ideale von der abendländischen Freizügigkeits- und Wettbewerbskultur trennen?
– Er unternimmt etwas Gewitztes und Gewagtes, … etwas, das wir alle uns verdeutlichen sollten, wenn wir – zu Recht – nach Integration von Fremden verlangen.
Paulus Blick auf die sportlich-spielerische Welt der Hellenen ist nämlich eine erstaunliche Integrationsleistung: Er lehnt die komische Hüpf-, Box- und Laufleidenschaft der Heiden nicht ab, sondern er eignet sie sich an … und er deutet sie um!
Weder Ironie noch Neid sprechen aus seinem plötzlichen Rückgriff auf die Spielregeln von Stadion und Arena, sondern der kühn entwaffnende Vorsatz: „Wenn bei Euch nur Olympia gilt, … gut: Dann werd’ ich halt Olympier!“ Und so wird Paulus, der pharisäisch-sittenstrenge Bewegungsmuffel mir nichts, dir nichts zum Sportreporter und fachsimpelt aus der Sandgrube und der Sprintbahn, dass es eine wahre Wonne ist!
Bloß darf sich niemand wundern, wenn dabei unter der Hand aus den hellenistischen Wettkämpfen eine ganz andere Sportart wird. Etliche Denker haben es Paulus vorgemacht, als sie das Wehrhaftigkeits- und Mannbarkeitstraining zu einem philosophischen Bilde umschufen; der Apostel aber tauft gleich das ganze Fit- und Wellnesswesen in einem Zug.
„Was Ihr für eine Begeisterung, für eine Ausdauer, für eine Konzentration, für eine Disziplin, für einen Elan im Ring und auf dem Platz aufbringt, … das ist eindrucksvoll“, sagt er ohne Unterton.
„Ich kenne das genau“, sagt er – ohne sich irritieren zu lassen von den höhnisch taxierenden Blicken, die sich den hageren, windschiefen Juden erfolglos im Adamskostüm unter den anderen Athleten vorzustellen versuchen.
„Ich kenne das genau: Den Fokus, die geballte Energie, das Pochen in allen Adern, die Spannung in jeder Faser. Ich kenne es und liebe es! Es ist das großartigste Gefühl von allen, wenn nichts anderes als das Ziel zählt, wenn nichts sich mehr dazwischenschieben kann und alles hinausläuft auf das Eine, für das man sich schinden und starkmachen will, weil es sich lohnt. Ich kenne das genau. Ich kämpfe, wie Ihr. Und ich fordre Euch auf, macht mit! Tretet auch an! Lasst die Kinderspiele! Lauft endlich einen wirklichen Marathon! Wagt die eigentliche Olympiade!“ …….
Da werden die hochmütigen Heroen, denen der linkische Christus-Prediger eigentlich nur als Witzfigur erschien, schließlich doch aufmerksam: Denn der Ton, in dem der unsportliche Paulus hier spricht, er ist unverkennbar echt. In ihm glüht die große, ausschließliche Leidenschaft, die vielleicht nur der Sport so direkt von den Haarwurzeln bis in die Zehenspitzen entzünden kann, weil alle Botenstoffe ausgeschüttet werden, die den ganzen Menschen elektrisieren: Adrenalin, Testosteron, Dopamin. … Wach und stark und zum Bersten glücklich klingt das, wenn ein wirklicher Kämpfer von seiner Herausforderung, wenn ein wirklicher Anhänger von seiner Mannschaft, wenn ein Profi von seiner Passion spricht.
Und diesen Ton und diese Entschlossenheit, diese Hingabe, dieses Hochgefühl … die hat das Christentum verdient!!! Die hat das Christentum verdient vor zweitausend Jahren … und keinen Deut weniger auch heute. Und es löst sie aus, es pumpt und strömt sie in jede Blutbahn, in die Herzkammern und zurück, es weitet die Lungen und es kräftigt den Puls, es vertieft den Atem und es bündelt den Geist, wenn wir es nur endlich als das erkennen, was es ist: Unser Christentum, unser Glaube ist kein dünnes, kleines Mikadospiel, mit dem sich Spargeltarzan ab und zu einen dösigen Nachmittag vertreibt, nein, unser Glaube, unser Christentum ist ein Krafttraining, das das Beste und Stärkste aus uns und unseren Kräften rausholt und uns wiederum das Beste und Schönste schenkt.
Diese Überzeugung ist der originelle und unumkehrbare Integrationscoup, mit dem Paulus die griechische Gymnastikreligion und ihre Freude an der menschlichen Natur und allem, was sie übt und kann, ganz ungeniert gekapert hat:
Unser Glaube kann stärker motivieren, als jener Siegeswille, der zum reinen Schaukampf gehört; unser Glaube verspricht psychosomatisch ein höheres Wohlbefinden als die erfolgreichste Körperertüchtigung; unser Glaube schenkt – um es einmal so boulevardesk wie eine Fußballfachzeitschrift zu erklären – unser Glaube schenkt den herrlichsten „Kick“ im Himmel und auf Erden! ——
Wem das jetzt zu dummdreist und nassforsch, zu sehr nach Kurklinikprospekt oder Turnvater-Jahn-Lyrik und zu wenig nach seriöser Theologie klingt, der kann ja weiter Mikado spielen. Die Sache ist allerdings zu schade, als dass wir sie einfach vergessen sollten.
Es geht dabei nicht um Gesundbeten, nicht um die Abkürzung, als schüfe Glauben automatisch falten- und sorgenfreie Frische. Sondern darum geht es wirklich:
Wir haben als Christen ein Ziel.
Dieses Ziel ist das endgültige und nicht mehr bestrittene, bedrohte, geschmälerte Leben in Gottes Gegenwart.
Wer von diesem Ziel aber wirklich hört, wer diese Verheißung kennenlernt und wer das will – leben bei Gott und nie mehr sterben –, in dessen Körper geschieht genauso etwas, wie in seinem Kopf, in seinem Bewusstsein, in den Gefühlen, in den Entscheidungen. Alles kriegt von Gott und dem Lebensgeschenk her eine Spannung, eine Energie, eine Kraft, die nicht einfach verlottern und verpuffen dürfen.
Wenn es nämlich tatsächlich diesen Punkt gibt, an dem alles, was wir hoffen, wünschen und lieben zusammenkommt und nie mehr auseinanderfällt, dann sammelt sich an diesem Punkt der Sinn und das Ergebnis aller Anstrengungen und Aktivitäten unseres Lebens. … Was immer uns in eine völlig andere Richtung führt, was immer uns diese Aussicht verwackelt oder verstellt, das nützt uns nicht, das schadet. … Weshalb wir uns tatsächlich geduldig – manchmal schleppend und mit Überwindung, manchmal mit Eifer und dem Gefühl, dass es immer besser gelingt – einstellen und einüben sollten auf dieses Ziel:
Wir können unserem Leben seine Richtung auf Gott erhalten.
Wir können das auf Gott gerichtete Leben seinem letzten Ziel schritt- und stoßweise, durch Wiederholung und Ausdauer in richtungsweisendem Tun und Denken näherbringen.
Ohne Kraft, Zeit und Regelmäßigkeit aber geht das nicht. Bringen wir sie nicht auf, dann schwächeln wir, der Hoffnung geht die Puste aus, das Beten wird ungelenk, die Freude erschlafft, die Gerechtigkeit bleibt in der Stube hocken, das Herz verstockt und verliert jene Kondition, die es stark werden ließ … die Liebe.
Ohne Regelmäßigkeit und Zeit und Kraft, werden wir kraftlos und verlieren Zukunft und Sinn. Halten wir sie hingegen durch, dann sind die Schwächungen und Zweifel, die Ablenkungen und Veränderungen, die zu jeder Lebensäußerung gehören, keine Gefahren, sondern Erinnerungen, warum wir immer wieder einüben, fortsetzen und durchhalten, was uns dem Glaubensziel näher bringt. ——
Wer das jetzt gesetzlich versteht – als sei hier ein lästiges Programm abzuspulen –, der kann sich von mir gesagt sein lassen, dass Sport so nicht funktioniert. Der Arzt kann verordnen, der Ehrgeiz kann angestachelt, der innere Schweinehund kann kujoniert werden – am Ende siegen immer die Lethargie und die Unlust im Namen des Sofas. … Es sei denn – und das ist der Wendepunkt – … es sei denn, Leib und Seele begreifen innerlich, was gesund ist. Dann suchen sie selbst nach dem Mittel, das heilsam aufbaut und immer mehr zum Bedürfnis wird, je mehr es ein Segen ist.
Aus diesem dankbaren Gespür für die Wohltat des aktiven Glaubens ist der stramme Sportsgeist des Paulus und aller Frommen zu erklären, die sich und uns trainieren und mobil machen wollen. … Wo uns der Glaube bloß drohend empfohlen oder verbissen diktiert wird, da ist es nicht der befreiende, der aufrichtende, der bewegende und die seelische und geistige Beweglichkeit fördernde Glaube, der uns zum Ziel des ungehinderten Lebens führt, sondern eine Zwangsjacke, die verbiegt und lähmt.
Solchen Glauben darf man nicht fordern, weil er schiefe Seelen und geduckte Menschen macht.
Aber der andere Glaube, der Glaube, der uns mit dem Glück, das Leben erreichen zu können, durchfährt und in allen Gliedern kribbelt, der unserem Leben die Richtung gibt und das Durchhalten befeuert, der lohnt sich – nicht, weil wir dabei die Konkurrenz aus dem Feld schlagen, sondern weil wir durch solchen Glauben mit Haut und Haaren ins Ziel gelangen und seine Erfüllung erleben, seinen Siegespreis empfangen können!
Diesen Glauben hat Paulus so gewandt und durchschlagend an die Stelle irgendwelcher Sportfeste und Stadtspiele der alten Griechen gesetzt, dass deren politischer Körperkult nicht mal im Body-Narzissmus der Gegenwart mehr wirklich fortlebt, während die zielsichere Vorfreude auf das unvergängliche Leben – trotz der riesigen Spanne und Strecke seither – noch immer durch die Menschheit läuft und läuft und mitreißt!
Darum gilt es, diesen olympischen, entschlossenen, ermutigten Glauben weiter zu üben und auf Belastbarkeit zu trainieren: Froh und hartnäckig, forsch und mit einem Kampfgeist, der dabei nicht Killefitz und Kamelle gewinnen will, sondern weiß, dass ihm das echte Ziel unendlich herrlichen Lebens winkt.
Die nächste Etappe treten wir heute, mit diesem Sonntag an, der den Staffellauf des Glaubens ab jetzt über die Hürden und durch die Hindernisse der Passion schickt.
Siebzig Tage noch.
Tage, an denen in der Welt und in unserem Leben wer weiß was geschehen oder – eher unwahrscheinlich – auch gar nichts Bemerkenswertes vorkommen kann.
Aber selbst wenn wir uns nur dieses Zwischenziel, diesen Rundlauf durch die tiefsten und höchsten Punkte dessen, was wir glauben, hoffen und erwarten dürfen, vornehmen, so weckt das doch wieder den Sportsgeist und alle Lebensgeister in uns:
Wir laufen auf Ostern zu!
Wir traben der Auferstehung entgegen!
Wir werden im ewigen Leben ankommen!
Amen.
Letzter n.Epiphan. 17.01.2016 Stadtkirche 2.Korinther 4,6-10 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Letzter n.Epiphan. 17.I.2016
2.Korinther 4, 6-10
Liebe Gemeinde!
Fachgespräch am Abendbrottisch: Die Kinder stellen kopfschüttelnd fest, dass beinah ausnahmslos alle Klassenkameraden die große Schöpfungsfrage für sich mit einem voraus-setzungslosen Urknall zu lösen bereit sind. Welche Liebe, Kraft und Weisheit denn für diesen Zündfunken und das Zusammenschießen aller Unwahrscheinlichkeit zum lebensfähigen und auch belebten Kosmos, sogar zum Bewusstsein darin geführt haben mag, bleibt im Modell der Mitschüler halt unbeantwortet. Auch die Jüngste - noch im Kindergarten - scheint schon erlebt zu haben, mit welchen verzerrenden Einwänden gegen den christlichen Schöpfungsglauben gerechnet werden muss. „Ja, sie sagen immer, wenn sie die Bibel hören: ʽHat Gott da irgendwie gezaubert? Wie soll das denn gehen?ʼ…“
Pause. Mutter und Vater räuspern sich. … Gleich wird’s dogmatisch. Der Vater kaut an einem Satz, den er theologisch nicht ganz ausgereift findet und deshalb nicht auszuspucken wagt. Doch die Kleinste hat genau den Satz, der dem Vater auf der Zunge liegt und an den Zähnen hängen bleibt, wie selbstverständlich für sich gefunden: „Gott hat ja auch gezaubert … mit Seiner Liebe!“ …….
Gott hat mit Seiner Liebe gezaubert.
Die Magie der Schöpfung und das Geheimnis der Liebe.
„Gott, der da hieß das Licht aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben“: Besser kann man es eigentlich nicht ausdrücken, als dass wir in der undurchdringlichen Verborgenheit des Anfangs die erleuchtende Energie der Liebe Gottes erkennen.
Von diesem uranfänglichen Licht ist die Welt bis in jeden Winkel, die Zeit bis zum entferntesten Punkt durchdrungen: Das ist der Sinn jener Verbindung zwischen dem Wunder der Schöpfung und der seit Weihnachten jedem Menschen zugänglichen Gestalt Christi, die Paulus in einem seiner der Sache angemessenen, schier anfangs- und endlosen Sätze nennt: „Gott, der da hieß das Licht aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.“
Wo immer Menschen Glauben unter vier Augen versuchen – indem sie das menschliche Angesicht Jesu aus ihren Ansichten nicht ausblenden – … wo immer Menschen solchen Glauben unter vier Augen versuchen, da zeigt sich ihnen etwas, das man sonst unmöglich sehen könnte: Das Licht des Lebens, die Energie, die den Kosmos hervorgebracht hat und die alle Vorgänge, Kräfte und Erscheinungen in ihm bewegt. In Jesus leuchtet und lebt die Liebe, der sich unser Universum verdankt.
Das ist eine so einzigartige Kraft und Glut, ein so gewaltiger Strahl der anfänglichen und immerwährenden Impulse Gottes, die Er gegen alle Verfinsterung, Vernachtung und Vernichtung ausstrahlt, um allem Lebenden Leuchtkraft und Wärme zu schenken, dass wir vor diesem Überlicht eigentlich Angst haben müssten, in der Furcht, es könne uns überfordern und blenden. Gegen das Licht, das ALLES erleuchtet, schützt keine Sonnenbrille. Es ist so verzehrend, wie Gott selbst genannt wird (vgl.Ps50,3) und so gefährlich, dass Mose Ihm nicht nahekommen (vgl. 2.Mose33,18-23) und Elia Ihm nicht unverhüllt begegnen (vgl.1.Könige19,12f) und die Jünger bei der Verklärung zu Ihm nicht den Blick erheben konnten (vgl.Matth17,6).
… Und doch ist unser Glaube von dieser Klarheit durchdrungen. Und doch leuchtet diese Gottesherrlichkeit ohne ihnen zu schaden den Christen ein, die eingesehen haben, wer Jesus ist, … die sich eingesehen haben in den Christus. ——
Wie ist das möglich?
Wie können unsere Augen dieses brennende Geheimnis der göttlichen Liebe, diesen flammenden Kern Gottes, aus dessen Gewalt heraus die Wesen und die Zeit explodieren und zum Feuerwerk der Schöpfung und Geschichte freigesetzt werden, …wie können unsere Augen diese Dinge wahrnehmen – die uns ja nicht zufällig zugleich an die schrecklichste Waffe der Welt, an die fürchterlichste Kraft der Energie erinnern! –, ohne zu schmelzen?
Von Paulus selber wissen wir, dass einst vor Damaskus der aufblitzende Glanz Jesu Christi vom Himmel her ihn seiner Sehkraft beraubte (vgl.Apg9,3+9) und er der körperlichen Blindheit nur knapp entging.
Diese gewaltige Lichtentladung feiert die evangelische Kirche – jedenfalls nach ihrem Kalender! – in acht Tagen, am 25.Januar, genau einen Monat nach Christi Geburt: Einen Monat nach der Anbetung des in tiefster Erniedrigung Fleischgewordenen begeht die Kirche also die Erscheinung des selben Jesus, nur diesmal als des himmlischen Herrn, vor dessen Glast – als der ihm aufging – dem Völkerapostel die Augen zugingen. …
Wie aber konnte Paulus dann dennoch das ewige und lebendige und letzte Licht, das in Jesus Christus war und ist und bleibt, weitertragen, wie konnte er ihn verkündigen und zeigen und sehen lassen, ohne dass der Menschheit die Augen aus dem Kopf traten und sie geblendet und blind durch den Glauben wurde?
Es liegt am Gefäß, in dem der Glanz von Gottes Schöpfungs- und Erlösungskraft sich uns zu erkennen gibt. Wer das Licht Gottes in diesem Gefäß ansieht, der wird nicht davon ausgelöscht und zu Staub, sondern umgekehrt: In diesem Gefäß fängt sogar der Staub an zu leuchten.
Das Schutzgefäß heißt nämlich schlicht und einfach: Erde und Asche. Es ist das irdene Gefäß aus dem einfachen Töpferlehm, den Gott vom Acker nahm, um Seinen Liebling daraus zu formen (1.Mose2,7): Den Menschen, der Sein Bild trägt (1.Mose1,27).
Licht im Lehm, Licht im Leib. Das ist das Geheimnis des Menschen. Jedes Menschen.
Wir sind aus Stoff, aus Schlamm sind wir – und können dennoch leuchten, überirdisch leuchten, wenn wir die Liebe reflektieren, die uns schuf. Nur dass sich das aus unserem leiblichen Dasein verloren hat: Durch die unerleuchtete Gottesferne des Sünderseins, das aus der Bahn geraten ist und sich nicht mehr um den Schöpfer dreht, da hat sich der Glanz verloren, der uns ursprünglich zu von Gott durchsonnten, Seine Liebe ausstrahlenden Wesen machte.
„Wir haben solchen Schatz in irdenen Gefäßen“: Etwas ist verhärtet und versiegelt ins uns.
Wir könnten Gott reflektieren, wir könnten Sein Licht aufnehmen und wiedergeben, aber wir sind scheinbar allzu ausgebrannt und ausgetrocknet. Wir sind verloschene Lichter, Lampengefäße, in denen es nicht mehr zündet.
Um aber in der Menschheit das ausgegangene Licht wieder zu entfachen, um es hell und klar in und um uns werden zu lassen, hat Gott mit Seiner Liebe ein Gefäß so randvoll angefüllt, dass es überströmt, und sein Schein bleibt wie die Flammen am Channukah-Leuchter, die trotz des Mangels an heiligem Öl im Tempel von Jerusalem einfach weiter brannten.
Dieser Lichtquell, der uns andere alle anstecken kann und schließlich auch wird, … dieser Lichtquell Jesus ist aber deshalb nicht schädlich für unsere Augen, weil er eben in der tönernen Lampe, im irdischen Gefäß, im gewöhnlichen Menschenleib erscheint.
Doch wie erreicht uns denn nun von ihm her – aus der Jesus-Lampe – das mächtige Ausströmen von Licht und Liebe?
Indem das Unvermeidliche geschieht: Die Helligkeit, die in diesem Menschen brennt, wird durch Risse und Sprünge im Gefäß sichtbar.
Die Schale wird durchlässig, der getöpferte Schutzkörper wird angeschlagen, vom dem Lampenschirm brechen Teile ab, die das Licht durch Kratzer und aus Löchern durchscheinen lassen. Dass das Gefäß seine Vollkommenheit verliert, dass es gebraucht und beschädigt wird, das setzt die Herrlichkeit darin und darunter erst frei!
Und so wird es – während wir noch die leibliche Geburt Jesu in unmittelbarer Erinnerung haben und unter dem Epiphanias-Stern das Licht feiern, das erschienen ist, „zu erleuchten die Heiden und zum Preis seines Volkes Israel“ (Lk2,32), – so wird es, während wir noch vom schönsten Kerzenschein und dem wärmsten Weihnachtsgefühl nachglühen plötzlich und unvermeidlich vor unseren Augen … Passionszeit.
Denn ohne die Tatsache, dass Jesus – das Gefäß voll unverlöschlichen Gotteslichts – zermürbt und schließlich zerbrochen wurde, wäre sein Inhalt nie deutlich kenntlich geworden, wäre das Licht uns nicht wirklich aufgegangen.
Wäre er einfach nur ein schöner und ein guter Mensch gewesen, hinter dessen Stirn einleuchtende Gedanken, Bilder und Geistesblitze funkelten, in dessen Augen Güte oder Schalk aufstrahlten, in dessen Herz die Begeisterung für Gerechtigkeit loderte und dessen Erscheinung und Gedächtnis etwas Aufklärendes, Erhellendes hatten und behielten – dann wäre dieser Jesus eine Lichtgestalt unter anderen gewesen.
Aber das war er nicht. …….
Er war das wahrhaftige Licht (Joh1,9).
Und was mit diesem Licht passierte, das ist und bleibt brennend. Es ist „brennend“, das heißt: Es tut weh. Es ist „brennend“ bedeutet aber auch: Es geht weiter und es steckt an.
Denn dass das große Licht der schöpferischen Liebe nicht nur die Welt im Innersten zusammenhält, sondern dass es sich der Auslöschung ausliefert, dass das Schöpfungslicht sich in seinem Gefäß seinem eigenen Gegenteil preisgibt, wo die Welt zusammenfällt: Das ist das Einzigartige an ihm.
Erst in seiner Passion wird dieses Licht also ganz freigesetzt und sichtbar. In der Nacht wird es am hellsten – wie alles Licht. Doch anders als bei anderem Licht wird es am Mächtigsten gerade im Verlöschen. Denn wenn wir sehen und erkennen, wie das wahre Licht, das Lebenslicht, das unsere ganze Wirklichkeit erleuchtet und befeuert, ausgepustet wird – dann springt der Funke über, dann brennen auch wir: Das ist das Paradox des christlichen Glaubens.
Die Auslöschung, die er riskierte, entzündet den Glanz Jesu Christi endgültig, weil in ihr deutlich wird, dass dieses Feuer nichts anderes verbrennt, sondern für alle anderen brennt. Er ist tatsächlich nicht gekommen, um selbst auf Kosten anderer zu funkeln und zu strahlen, sondern um es für alle anderen in der Finsternis durch sein Verglühen hell zu machen.
…Aus den Scherben dieses irdenen Gefäßes tritt also wirklich die unermessliche Liebe Gottes zur Welt in Nacht und Nebel und Niedergang und Tod sichtbar hervor! ——
Das aber hat für uns als Kinder dieses Lichtes, als Träger dieser Flamme unmittelbare Bedeutung:
Letzte Woche schien es noch, als sei unser Christentum dank der menschlichen Geburt Christi vor allem eine schöne, eine eingefleischte und natürliche Möglichkeit im Einklang mit Gott zu leben. Heute erkennen wir den Preis – der allerdings auch und vor allem Gnade ist.
Wenn wir nämlich wirklich erst dann richtig erkennen können, wer da zu Weihnachten geboren wurde, wenn wir ihn am Kreuz sterben sehen, … dann kann unsere ganzheitliche Gemeinschaft mit ihm, unsere Leib-und-Leben-Verbindung zu ihm tatsächlich nichts Glänzendes, nichts für Strahlemänner und Porzellanfigürchen sein.
Die irdenen Gefäße, die Pötte und die Deckel, die auch wir sind, werden ja erst sinnvoll und angemessen gebraucht, wenn sie im Feuer stehen, wenn sie benötigt und benutzt werden.
Erst wenn wir Macken kriegen und hier oder da eine „Kitsche“, wie man im Rheinland sagt, … erst dann geht das mit der Ausstrahlung dessen, was in uns ist, wirklich weiter.
Glatte, geschlossene Oberflächen über dem Leben eines Christen sind Verdunkelungen. Heile, unbeschädigte Gefäße sperren das Licht bloß ein. Erst ein Knacks, erst der sprichwörtliche „Sprung in der Schüssel“ geben etwas vom inneren Leuchten frei, lassen Wärme, Trost und Herrlichkeit des Glaubens unter der angeschlagenen Fassade durchschimmern!
Das ist es, woran Paulus uns mit der Aufzählung der Trübsale und Ängste, der Verfolgungen und Unterdrückung erinnert, die er und seine Gemeinden in weit gefährlicherem Maß als es uns jemals treffen wird erleiden mussten.
Aber auch für uns gilt: Erst wenn wir nicht vergessen, dass Enttäuschungen und Bitternis, dass Not und Nachteil, Schmerz und Sterben Öffnungen sein können, durch die das lebendige Licht unseres Glaubens andern zu Gesicht kommt, erst dann können wir wirklich, glaubhaft, einleuchtend und ausstrahlend Christen sein: Menschen, in deren Leben durch Brüche und Risse die große Liebe fließt. Menschen, die nicht dadurch überzeugen und anziehen, dass ihre Erfahrungen den blanken Neid erwecken, sondern dass sie echt und dass sie transparent sind für das herrliche Licht im Gefäß der Alltäglichkeit unserer Welt.
Nur als solche, die Furcht kennen, können wir zeigen, dass unser Glaube Mut macht. Nur als solche, die Schwierigkeiten erfahren, können wir sehen lassen, welche Hilfe wir bei Gott finden.
Nur als solche, die ihre Tränen nicht verbergen, kann sich auf unseren Gesichtern auch der Trost spiegeln, den Gott spendet.
Nur wenn wir – mit dem großen, lebenswichtigen Wort des Paulus – nur wenn wir das Sterben Jesu an unserem Leib tragen, kann auch sein Leben, sein Licht, seine Liebe offenbar werden.
Nicht ein Glanzbildchen soll die Gemeinschaft der Christen also zeigen, sondern ihr wirkliches Leben – mit allem Unheil, allen Scherben, allem, was zerbricht: Nur so führt sie ja die Welt zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi, der für uns geboren wurde und für uns starb, damit durch sein Licht alles – das Glatte und das Schroffe, das Geschenkte und das Geplatzte, das Ganze und das Kaputte – hell und gut würde und leuchtend wie am Anfang.
Denn mit seiner Liebe kann Gott … sagen wir nicht: „zaubern“, … sagen wir: „alles vollenden“!
Amen.
1.n.Epiphanias 10.01.2016 Stadt- und Jonakirche Römer 12,1-3 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 1.n.Epiphan. - 10.I.2016
Römer 12,1-3
Liebe Gemeinde!
Unsere Körper sind aufgeteilt in konfessionelle Kolonien
Die Ohren sind dabei evangelisch besetzt: Konzentriertes Verfolgen von Predigt und Diskussion, akustisch-intellektuelle Aufnahme des lebendigen Wortes und Tröstung durch Kirchenmusik sind die Lebensformen im reformatorischen Hör-Reich.
Die Augen dagegen, die Nase und der Mund stehen unter römisch-katholischer Hoheit: Wo es etwas Schönes zu sehen, wo es den biblischen Weihrauch bis heute zu riechen, wo es das lebendige Brot zu schmecken gibt, da feiert die alte Kirche den kurzen Weg, der nicht über Gehirnwindungen, sondern über Reize geht, die auch ohne Auslegung Gegebenes erleben lassen.
Die Knie wiederum und die Glieder sind das Gebiet der Orthodoxie: Jeder Muskel wird dort bewegt, der ganze Knochenapparat wird gebraucht, um in den Zeichen der Ehrfurcht und der Hingabe Fleisch und Blut unter die Herrschaft Christi zu stellen, dem die vielen Bekreuzigungen und das Beugen und Niederwerfen leiblich huldigen, indem sie ihn verkörpern.
… Um das Bild biblisch zu vervollständigen, müssen aber auch noch das vegetative und das schöpferische Zentrum, die Organe der Nahrungsaufnahme und der Fortpflanzung benannt werden, die vom Judentum in besonderer Weise geheiligt werden: Rituelle Speisegebote und die Pflicht zum ehelichen Umgang binden für Israel den menschlichen Körper ja gerade in seinen Vitalfunktionen in den immerwährenden Gottesdienst des Alltags ein.
Der Mensch besteht also mit allem, was ihn ausmacht, aus geistlich notwendigen Körperteilen.
Wer dennoch von der Leibfeindlichkeit des Glaubens spricht, hat demnach keine Ahnung.
Allerdings lässt die zerstückelte Anatomie, die der Blick auf die von einer Konfession jeweils besonders bevorzugten Organe ergibt, auch ein bedrückendes Bild zurück: Wie ein Schaubild beim Metzger wirkt die unterschiedliche Einfärbung der verschiedenen Körperregionen – und uns Evangelischen müsste eigentlich auffallen, dass insbesondere wir nicht viel Anspruch auf die physischen Sinne und Äußerungen des Menschen erheben.
Es ist ein furchtbar amputierter Körper, eigentlich nur ein Fragment, das wir im Glauben beanspruchen. Für den Leib insgesamt hat das evangelische Bekenntnis anscheinend wenig Bedeutung: Das fällt unter „reformatorische Freiheit“, und seinerzeit war es in Fragen des Fastens, der Sexualmoral und der Freigabe rein weltlicher Belange ja auch tatsäch-lich eine Erlösung aus großen Zwängen, dass die kirchliche Bevormundung und Gängelung der Menschennatur aufhörte.
Heute aber sehen wir einen verkümmerten Schrumpfmenschen als Ergebnis dieser Konzentration auf Gehör und Gehirn. Was die körperlose Cyberwelt an Unwirklichem erzwingt, das fing auch damit an, dass nichts Menschliches mehr dem gelebten Glauben vertraut sein sollte: Kein Duft, keine Augenweide, keine Gaumenfreude, keine Gebetshaltung, keine Anstrengung, kein Tanz sollten mehr zu ihrem Recht kommen, kein Puls, keine Atmung, kein Nerv, kein Eingeweide, kein Zwerchfell, keine Tränendrüse, keine Gänsehaut, kein Schienbein, keine Wirbelsäule, kein Kreuz, kein Nacken, sollten mehr beteiligt sein, wenn es um die Begegnung mit Gott ging. Der Mensch ohne seine nunmehr freigestellte, säkularisierte und dadurch doch irgendwie nebensächlich gewordene Physis sollte aus der Taufe kriechen … oder schweben.
Doch so abstrakt, so unsinnlich und unstofflich ist der Mensch allenfalls im Film oder am Bildschirm.
Der wirkliche Mensch ist leibhaftig.
Und so sollen wir uns selber auch sehen und so sollen wir unseren Glauben auch leben.
Aus zwei Gründen:
Erstens, weil wir gerade Weihnachten gefeiert haben – das saftige, farben- und geruchssatte, handfeste, sinnenfrohe Fest der Fleischwerdung. Seit Weihnachten wissen wir, welche Körpertemperatur Gott hat und dass er auf Muttermilch angewiesen war! Wie könnten wir da nur die Ohren und nicht den ganzen Menschen aus Haut und Haar und Speck und Mark und Herz und Nieren für das Mittel und das Ziel der Gottesbeziehung halten?
Weihnachten also verlangt unseren Körpereinsatz: Dass wir den Glauben an den menschgewordenen Gott eingefleischt leben und ihn leiblich ausdrücken.
Das andere, was uns zwingt weniger blutleer und theoretisch, sondern ganzheitlich Christen zu sein, ist die heutige Mahnung des Paulus.
Nachdem er in den berühmten Israel-Kapiteln des Römerbriefs (Kap.9-11) den Heilswillen und Rettungsplan Gottes für das auserwählte Volk und die ganze Menschheit so tiefsinnig und hochgeistig durchmeditiert hat, dass sich zum Schluss ein geradezu überirdischer Hymnus daraus ergibt – „Welche Tiefe des Reichtums der Weisheit und der Erkenntnis Gottes / ……./ denn von Ihm und durch Ihn und zu Ihm sind alle Dinge!“ … nachdem Paulus also in himmlischer Andacht das Mysterium der Heilsgeschichte besungen hat, kommt er unmittelbar im nächsten Satz zur praktischen Bedeutung der Herrschaft von Israels Gott im heutigen Leben der Gemeinde. Und siehe da! Eben weil Paulus gerade das ewigherrliche Ziel der vollendeten Versöhnung und Erlösung der Welt gerühmt hat, wird es sofort sehr direkt. … Wenn der eine Gott alles ist, wenn der ewige Gott gegenwärtig ist, wenn der heilige Gott Weltpläne hat, dann heißt das für uns: Diesem Gott könnt Ihr nicht nur im Kopf dienen, ihr müsst es auch mit Herzen, Mund und Händen tun. Ihr müsst Seinem allumfassenden, geistlichen wie weltlichen Anspruch ungeteilt und mit allen Euren Kräften zuleben und nachkommen. Wenn ihr Ihn wirklich kennen und Ihm wirklich vertrauen wollt, dann wird Er euch nicht nur in müßigen Augenblicken beschäftigen, sondern euer Gefühl und euren Geschmack, eure Bewegungen und euren Schlaf mit Sich ausfüllen. Gott wird den Weg vom Ohr zu allen anderen Organen, vom Geist ins Fleisch, vom Kopf bis zu den Füßen auch in euch finden und gehen.
Das sollte klar sein – und es ist gut, ein so umfassendes, unbescheidenes, reichlich anstrengendes, aber noch reicher lohnendes Programm am Jahresanfang klar vor Augen zu haben! Wochenendglaube ist Aberglaube. Wenn Glauben, dann mitten im Alltag, mit Gehirnschmalz und Herzblut und echtem Schweiß und echten Tränen und Rausch und Kater und blauen Flecken und geschmeidigem Training. … Wenn es nicht so blödsinnig banal klänge, könnte man tatsächlich vom Fitness-Programm, vom work-out der Christen sprechen oder welche Vorbilder der ganze Mucki- und stretching- und Zumba-Kult von Pontius zu Pilates sonst noch liefert, … quälende Ansprüche, denen man sich allgemein ja klaglos und leidensfähig hingibt. Glaube will, nein muss trainiert werden! Wer ihn auch nur um ein weniges leichter und lockerer nimmt als die vielen Bauch-, Beine-, Po-Seligmacher, denen wir Freizeit und Kraft und Enthusiasmus und Energie opfern, … wer den Glauben – also den Frieden mit Gott und das ewige Wohl! – lockerer nimmt als die Balance seines Stoffwechsels und die Optik seiner Oberarme und seines Hinterns, der ist nicht fit für die Zukunft, der fängt 2016 mit einem Bein im Grab an.
……. Das heißt nicht, dass man an Glaubensträgheit stirbt, sondern dass man daran vergeht.
Wer zwischen Scheitel und Sohle, zwischen Sonnenauf- und -untergang nicht Raum für Gott hat, der welkt und wird hohl. Dabei kann man natürlich von außen sehr ansehnlich, sehr rosig und straff und sehr tough und erfolgreich und entscheidend sein, aber so unfreundlich das klingt: Man bleibt doch taube Nuss. … Wo kein Gotteskern im Leben steckt, wo nichts angelegt ist, das das Leben langsam, aber sicher durchdringt, bis es sich zeigt, bis es in die Übung und Haltung und Gestaltung des menschlichen Daseins wächst und Saat wird und Frucht bringt, die bleibt (vgl.Joh15,16), … wo kein Gotteskern im Leben steckt, da wird das Beste und Nützlichste der Kompost werden, den ja auch die fauligen Kartoffelschalen ergeben.
Aber ist das vernünftig? … Wenn man sinn- und segenerfüllt werden und leben könnte, dann die Vergeblichkeit, den Unsinn, den Schaum und Traum zu wählen?
Wir können Gott in unserem Leben, wir können Gott in unserem Leib aufnehmen. Wir können – weil doch Gott im Fleisch ist – in Gemeinschaft mit dem Menschgewordenen in unserem eigenen Körper hineinwachsen in das Ganze und Unvergängliche des Lebens. Wir können ein christliches Leib- und Lebensgefühl üben, das uns lebendig, heilig und Gott wohlgefällig werden lässt.
Wir können das, wenn wir Gott aus dem schmalen Gehörgang und dem hochgelegenen Dachstübchen, durch das Er bei uns Evangelischen einsteigen darf, in den ganzen Hohlraum des Körpers übersiedeln und sich dort ausbreiten lassen.
Wenn Gott in unserem Leben dann auf diese Weise verkörpert ist, dann erfüllt sich die zweite Forderung des Apostels mehr und mehr: Dann prüfen wir unser Handeln und unsere Gewohnheiten, unsere Arten und Unarten immer deutlicher, ob sie Ihm, Dessen Medium, Dessen Träger wir werden, angemessen sind.
Wenn Gott nämlich nicht mehr nur durch unsere Gedanken gleitet, sondern in unseren Fingerspitzen sitzt, in unserer Magengrube schmerzt und unser Herz erweicht, wenn Er unsere Arme ausbreitet und unsere Schritte lenkt, wenn Er in und durch uns gegenwärtig ist, dann verändert sich das Dasein!
Wie wir uns verhalten, wie wir anderen begegnen, was wir uns rausnehmen und was wir reingeben, was wir fordern und was wir schulden, was wir lassen und was wir leisten, was wir uns an- und was wir uns abtrainieren … das alles wird dann nicht mehr von meiner Lust und meinem Vorteil, sondern vom Willen Gottes abhängig.
Was das heißt?
– Nun, wer Gott in sich weiß, schickt niemand andern zum Teufel.
Wer Gott im eigenen Hunger und Sattsein spürt, der ehrt den Genuss und verabscheut den Überfluss.
Wer Gott an der eigenen Atmung beteiligt, der holt umso tiefer Luft, je mehr er platzen will.
Wem Gott unter die Haut gegangen ist, der verteidigt die Unversehrtheit eines jeden Menschen.
Wer in der Kraft Gottes die eigenen Glieder regt, der kann die Unfreiheit anderer nicht in Kauf nehmen.
Wem der eigene Puls ein ständiges Signal der Treue Gottes gibt, der wehrt sich gegen alles Blutvergießen.
Wen Gott bis in’s Mark durchdringt, der lässt sich genauso tief treffen vom Mitleid.
Und wem Gott in den Knochen sitzt, der wird sich stemmen und reinknien, wenn es um Gerechtigkeit geht.
Wo also Gott in einem Menschen steckt, da zeigt sich’s unweigerlich. Da wird ein andrer Typus, ein anderes Modell vom Menschen wirklich, als es sonst für ideal gehalten wird.
Das hat uns ja schon die Freude und Ehrfurcht vor dem kleinen Kind in der Krippe gezeigt: Das sabbernde, ohnmächtige, hilfsbedürftige Leben, vor dem alle Erwachsenen sich fürchten, wenn sie an ihr Alter denken: An Weihnachten hat Gott sich darin offenbart!
Und man täusche sich nicht: Die eigentliche Botschaft, die durch’s wickel- und fütterungsbedürftige Jesuskind so stark auf uns wirkt, ist nicht die Niedlichkeit des Babys, sondern dieses Kleinkind, in dem Gott ist, macht gerade durch alles, was ihm fehlt, möglich dass wir lieben lernen, was wir sonst scheuen: Abhängigkeit, Bedürftigkeit, Ohnmacht.
In diesem Kind von Bethlehem macht Gott also die Schwäche unwiderstehlich!
Wie sieht er demnach aus: Der Menschentyp, dem Gott in Leib und Seele steckt? …Nicht wie vom Laufsteg, nicht vorzüglich vorzeigbar, nicht blendend. Auch wenn der Glaube stark ist, wenn er durchtrainiert, wenn er eingefleischt, ausgewachsen, spürbar, lebendig und leibhaftig ist, wird ein Christ dadurch nicht äußerlich makellos oder das, was man „sexy“ nennt.
Denn mit dem Trieb, der Terror werden kann – wie die ungeheuerliche Silvesternacht von Köln gezeigt hat – mit dem Trieb, der Terror werden kann, hat die andersartige Schönheit und Lebendigkeit eines christlichen Manns- oder Weibsbildes nichts zu tun.
Anders als die Attraktivität nach dem Schema dieser Welt ist die Schönheit des christlichen Lebens und Leibes nämlich … ein „Opfer“: So sagt es Paulus. … Ein Opfer! Und das ist alles andere als brutal, blutrünstig oder menschenfresserisch. Ein Opfer ist nämlich nach biblischem Verständnis ja zuerst und zuletzt das, woran Gott Wohlgefallen hat, was Gott mit Freuden und Genuss annimmt! Wenn wir unser körperliches und vernünftiges Leben Gott also als Opfer darbringen können, dann bedeutet das, dass wir Ihm genehm sind. Er nimmt uns mit Leib und Seele an, weil wir Ihm gefallen, ....... mit unseren Schwächen und Mängeln, mit dem, was unschön an uns ist und dem, was unauffällig ist.
Wer wirklich sein Inneres von Gott durchdringen lässt, wer den Glauben trainiert, so dass er unser Dasein nicht theoretisch, sondern praktisch, bis in alle Glieder und Winkel prägt, … was hat er davon? … Wird er wer weiß welchen Einbildungen erliegen und hoch von sich halten? … Wird er wie so viele Anhänger des Körperkults zum Narzissten, zum Götzendiener vorm Spiegel?
Ach Quatsch.
Wer den Glauben in sich einlässt und von Kopf bis Fuß spürt, der weiß nur eins: Ich bin Gott genehm. Er liebt mich und darum kann ich lieben. Ich gefalle ihm wohl und darum kann ich andern zu Gefallen leben. Gott ist barmherzig mit mir und darum geht mir mein Herz auf!
Das ist das ganze Training des Glaubens: Sich der Liebe Gottes hin- und sie mit Hand und Herz her zu geben!
Amen.
Altjahrsabend 31.12.2015 Stadtkirche Römer 8,31b-39 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2015
Römer 8, 31b-39
Liebe Gemeinde!
Scheidungsgründe.
Gibt’s so viele: Kleine, alberne, zähe, die zusammen das Fass trotzdem überlaufen lassen. Große, die so schwer wiegen und sprachlos machen, dass man einfach nicht anders könnte, selbst wenn das Wollen noch bliebe ……. Das Leben ist voller Scheidungsgründe. … Und die Welt voller Scheidungsmenschen.
… Die meisten sind’s, wenn wir ehrlich wären.
Jedenfalls die Trennung von Tisch und Bett haben wir größtenteils vollzogen, seit wir erwachsen wurden: Oder sitzt Gott noch mit bei jeder Mahlzeit? Wird er eingeladen - „Komm, sei unser Gast“ - wenn wir’s uns gut gehen lassen? Schmeckt das Brot noch nach Seinem Segen? … Und das Bett, der Ort, der fast jedem von uns das Leben schenkte und wo fast jeder von uns sterben wird: Geht Gott dort noch mit uns zur Ruhe – an diesen Ort des Behagens, der Lust, der Sorgen und des Todes? … Was fangen wir mit Gott denn noch an? Was bringen wir mit Ihm noch zu Ende? Sind wir nicht längst in der Praxis geschiedene Leute, die sich ein Leben ohne Ihn geschaffen haben? Auch wenn wir es nicht offiziell machen … wir leben alleinstehend. So weit, so alltäglich im Privaten: Lauter Getrennte sind wir. ————
Und im Großen, auf das wir heute blicken, wenn wir abermals ein Jahr der Weltgeschichte zusammenwickeln und ihm ein Aktenzeichen und den Vermerk „Erledigt“ beifügen:
Gibt es Hinweise, dass die Entfremdung zwischen der mündigen Welt und Dem, Der sie lieb hat, in diesem Jahr wuchs, … oder sollte sie sich verringert haben?
Nun, gewiss ist, dass wir es wieder finden werden – dieses Jahr 2015 –, … in den Büchern der Geschichte.
Dort steht es einst aber nicht als das, was wir erlebt haben, sondern als das, was es bedeutete. Wenn wir heute schon die Weisheit unserer Enkel – oder zumindest ihre Erfahrung – hätten, so würden wir es zu bezeichnen wissen: Als das Jahr, mit dem ein staunenswert mutiger Aufschwung der Menschlichkeit oder ein fataler politischer Irrtum verbunden blieben; als das Jahr, in dem etwas sehr Gutes oder etwas sehr Folgenschweres geschah; ein Jubeljahr oder eines der Kalamität. Dieses Jahr, vom dem man vielleicht einst staunend sagen wird, dass trotz aller rohen Gewalt die beste Überschrift für die große Flucht und das große Willkommen tatsächlich seine evangelische Jahreslosung gewesen sein könnte: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob“ (Röm.15,7).
War es also ein Jahr der zaghaften Wiederannäherung zwischen den einander gleichgültig gewordenen Partnern Gott und Mensch? Hat eine gemeinsame Aufgabe sie wieder spüren lassen, was sie verbindet und warum sie zusammengehören?
– Das werden die Enkel sehen, … aber man sollte sich nicht darauf verlassen.
Denn aus Sicht unzähliger Zeitgenossen überwiegen die Scheidungsgründe jede etwaige Neigung zur Versöhnung zwischen einer Menschheit, die endlich ihr Treueversprechen losgeworden ist, und dem Tyrannen, als der Gott gilt.
…Wie vielen kommt es da nicht gerade recht, dass auch das große Blutvergießen dieses Terror-Jahres sich in grober Vereinfachung der Religion zur Last legen lässt. …
Der vor einigen Jahren ausgerufene zweite Frühling zwischen unserer westlichen Welt und ihrem alten Herzallerliebsten – dem Glauben – war also allenfalls ein Wiedersehen wie mit Lotte in Weimar, keine Wiederkehr der einstigen Leidenschaft.
Paulus’ Seufzer im Rückblick auf die Anfänge einer besonders wankelmütigen Gemeinde – „Wie waret ihr dazumal so selig“ (Gal.4,15) – mag daher im Blick auf das ehedem christlich gebundene Abendland gelten oder auch nicht, … heute jedenfalls trifft den Lebensnerv eher die Nüchternheit des: „So lange es Spaß macht“ und das abenteuerliche Gefühl des großen Angebots, aus dem man immer wieder mal Neues probieren muss. Ein Zurück zur alten Ausschließlichkeit ist nicht absehbar, solange so viel Beunruhigendes am Glauben und seinem Lebensanspruch uns abschreckt und so viel Praktisches am Unglauben uns verlockt.
Wir sind als Gesellschaft angesichts Gottes schlicht nicht mehr beziehungswillig, weil wir kein Angewiesensein erleben und nicht feststellen können, was genau am Christentum
unsere Probleme lösen sollte, wenn es denn nicht als Hexenwerk oder Rundumschadensversicherung funktioniert.
… Scheidungsgründe – triviale, vorgeschobene, aber auch tief-reichende und existentielle – gibt’s eben viele. ———
Da klingt das unvergesslich dunkelschwere, lichtglühende Trostlied des Paulus ganz eigentümlich in unseren Ohren – als wisse er von diesen Hindernissen und Abnutzungen und Veränderungen des Glaubens nichts! Obwohl sein Lied die Katastrophen und Leiden des Daseins wie die sieben Wochentage aufzählt, wie die Töne der Tonleiter aneinanderreiht, wie die sieben Planeten des alten Weltbildes nennt, … trotz dieser Alltäglichkeit, dieser Grundmelodie, dieses Horoskops der irdischen Schwierigkeiten gibt es für Paulus nichts Trennendes zwischen den Zeugen, den Opfern von psychischem und physischem Schmerz, politischem und sozialem Unrecht, natürlicher und menschlicher Gewalt und rätselhafter Lebensfurcht, … es gibt für Paulus nichts Trennendes zwischen denen, die eine solche Wirklichkeit erleben, und Gott!? … Wie ist das möglich?
…Wenn uns schon unsere oft genug gesuchten, willkürlichen, unreifen, unlustigen Gründe gegen eine Lebensbeziehung mit Gott reichen, um mit Ihm zu brechen – wieso singt das Lied von der Unlöslichkeit der Bindung über die tatsächlichen Krisen und Erschütterungen einfach so hinweg?
Ist es ein Lied ausschließlich für Hochbegabte, für Glaubenskünstler und seelische Spitzenleister, für eiserne Christen?
Ist ein Lied nur für die, die uns in der Fürbitte und in Gedanken dieses Jahr besonders beschäftigt haben … oder hätten beschäftigen müssen: Unsere Glaubensgeschwister, die uns durch ihr Leiden so unvorstellbar weit entrückt sind, als sei ihre Verfolgung unwirklich … und nicht etwa unsere kosten-und mühelose Erfahrung in der Nachfolge des Gekreuzigten.
Wenn Paulus beharrt, dass Gefahr und Schwert und das tägliche Schicksal als Schlachtschafe nicht von Gott trennen können, dann mag das eine höhere Weisheit, ja die höchste Wahrheit sein, die die eingekreisten und verlorenen Kirchen des Orients bezeugen können … die letzten Sprecher und Beter der aramäischen Muttersprache Jesu in Syrien oder die berühmten 20 koptischen Märtyrer und ihr ghanaischer Leidensgenosse, die am 15.Februar dieses Jahres vom IS enthauptet wurden und deren sterbendes Bekenntnis zu Jesus Christus der Propaganda-Horror-Film der Mörder in aller Welt erschütternd eindrücklich bewies.
Solche Blutzeugen, solche Christen unter den extremen Bedingungen, von denen das Neue Testament eigentlich Seite für Seite spricht: Sie dürfen und können sich das Trostlied zueigen machen, das alle Nöte schmelzen und Gottes Gegenwart so ruhig und groß macht.
Wie aber kommen wir – mit unserem Abstand zu Gott, mit unserer inneren und äußeren Entfernung von Ihm – … wie kommen wir dazu, mit diesem Lied das alte Jahr zu beschließen und dem kommenden entgegen zu sehen?
Besteht denn ein Recht oder eine Aussicht darauf, dass wir uns 2016 Gott näher wissen könnten durch die Fortsetzung der diesjährigen weltgeschichtlichen Umbrüche, … durch die nächste Welle von Flüchtlingen, … durch die Entwicklung ihrer Integration, … durch die Kriege und Morde und Versöhnungen zwischen Religionen und Völkern, … durch die Veränderungen von Wind und Wetter und Welt, die wir ahnen mögen und die uns überraschend erwischen werden, … durch die mancherlei hoffentlich guten und nicht minder durch die zweifellos auch schweren Erfahrungen, die uns im nächsten Jahr bevorstehen?
Werden wir apostolischer leben und glauben können: Grundfester, getroster, gelassener und gottgefälliger? Werden wir Gewissheiten finden, die uns bisher fehlten; werden wir zu bezeugen lernen, was wir bisher bezweifelten; werden wir näher zum Glauben, zur Hoffnung, zur Liebe rücken oder rutschen oder fliehen? Werden wir christlicher, echter, mutiger und verheißungsvoller handeln, beten, dienen?
Wird es eine Wiederannäherung geben, eine zweite Chance für uns als Gottes Liebende und Geliebte? —— Wie sehr das zu wünschen ist, weiß Gott.
……. Wie sehr das zu wünschen ist!
Doch auch wenn es ein Jahr der Dürre, ein Jahr des Alleinseins und des Liebesverzichts, der Gesprächsverweigerung, der Kontaktsperre, der Hilfsablehung vonseiten der Menschen werden sollte, dürfen wir eines nicht vergessen: Ebenso wie zum Schließen eines Bundes zwei Seiten gehören, gehören auch zur Aufhebung beide!
Und da treffen wir auf den Mittelpunkt des Liedes vom ewigen Trost und Halt, da ist sein cantus firmus, seine feste tragende Grundstimme, da ist die Sonne, um die alle Bahnen der Planeten schnurrend laufen oder kreischend aus den Fugen geraten mögen.
Das Herzstück darin heißt: Nichts kann uns scheiden. … Und die „uns“, um die es geht – das sind eben nicht wir allein, sondern damit ist auch Der genannt, Dem wir derart unaufhebbar verbunden sind. „Nichts kann uns scheiden“ … wenn das als menschlicher Entschluss wankt oder wegfällt, so bleibt’s als Gottes Versprechen dennoch bestehen!
Ich lasse mich nicht scheiden!, ist Gottes Grund- und Schlusswort. Ich lasse mich nicht scheiden!, ist das Alpha und Omega unter den Tröstungen und Geboten und Segnungen Gottes. Er ist unbeweglich und unumkehrbar der HERR, Dein Gott. Er ist und Er bleibt es – was immer Du an den zehn Geboten und den sechs Bitten des Vaterunsers und den drei Artikeln des Glaubens und den 365 Tagen des letzten, den 366 Tagen des nächsten Jahres auch schuldig bleibst und nicht verstehst und nicht glaubst und nicht hältst und nicht annimmst: Du kannst Gott nicht dazu bringen, dass Er Sein Wort null und nichtig macht, dass Er den Schwur bricht, die Zusage löst, dass Er wieder ledig wird.
Es steht nicht in unserer Macht, dass wir Gott zum Loslassen und Aufgeben bringen könnten!
„Sind wir untreu, so bleibt er doch treu; er kann sich selbst nicht verleugnen“ (2.Tim2,13)!
Unter dieser überwölbenden und überwältigenden Gewissheit steht das Leben auf dieser Erde in allen Wirbeln und Strudeln der Angst, in allem Sog der Ereignisse, in aller Nacht der Schuld. Wir haben einen Gott, dessen Treue zu Seinem Trotz gehört und Der darum nicht loslässt das Werk Seiner Hände. Zu allem Möglichen lässt Er sich herausfordern – zu den ungeahnten Ereignissen, die wir gerade an Weihnachten gefeiert haben, zu den unerfindlichen Schmerzen, die wir in der frühen Passionszeit bald wieder versuchen werden, zu betrachten –, … Gott lässt sich für uns Menschen auf noch viel größere Wagnisse ein, als wir es in diesem Jahr der ungeplanten Menschlichkeit getan haben, indem Er für uns ist!
Da ist keine Neutralität, kein Abstand, kein Wägen und Warten und hier und da Weitersuchen, wie es unsere Verhältnisse prägt: Da ist nur die unwiderrufliche Bindung, die über alles Bitten und Verstehen geht und die gilt, wer und was immer auch beschuldigen, verdammen und scheiden will.
Wenn wir auch nur ahnten, wie groß eine solche Liebe ist, die nicht aufhört, obwohl die Wirklichkeit dieser Welt und unseres Lebens so sehr gegen uns spricht, obwohl wir nichts, gar nichts tun, um solche Liebe zu erwidern, sie weiterzugeben, sie zu verwirklichen!
Wenn wir es nur ahnten: … Wir könnten geradezu eitel drüber werden, dass Gott so an uns festhält, auch wenn alle Dimensionen der irdischen Realität – Höhe mal Breite mal Tiefe –…, auch wenn alle ideellen Ordnungen der Geschichte – Engel, Fürstentümer, Gewalten – …, auch wenn alle Ecken und Enden unserer Biographie – Leben und Gegenwärtiges, Zukünftiges und Tod – eindeutig nicht zu unseren Gunsten sprechen! Sie alle – der Zustand der Welt und ihrer Kultur und unseres persönlichen Daseins – … sie alle wären ja Scheidungsgründe: Wo ist denn die Gerechtigkeit, wo der Friede, wo der Glaube, zu denen wir berufen sind?? ———
……. Aber Gott trennt sich nicht, lässt uns nicht allein.
Derselbe, für den wir weder Tisch noch Bett noch Wiege noch Grab noch Ohr noch Herz noch Hände haben: Er schenkt uns alles und bleibt uns treu!
Wer das wirklich ermisst, wird aber nicht ernsthaft eitel, sondern glücklich und stark und froh und freundlich und mutig und hoffnungsvoll und frei.
Nichts kann uns scheiden!
Es ist eigentlich – wenn auch nicht „wie einst im Mai“ – doch ein besonderer Tag, an dem uns das aufgeht! Ein wunderbarer Tag des neuen Anfangs des neuen Ernstes, neuer Liebe, dieser letzte Tag des Jahres. Ein Tag für’s „Ja, ich will“.
Weil nichts uns scheidet.
Amen.
Fürbitte
Herr, weil Du uns nicht verlässt, sondern Deine Welt und Deine Menschen trägst und liebst,
darum bitten wir Dich an der Schwelle des alten Jahres für alle Länder und Völker des Erdkreises um Segen im neuen:
Für Syrien bitten wir um das Ende des Blutvergießens,
für Israel, Dein Volk, um Gerechtigkeit,
für Palästina um Gedeihen,
für Ägypten um Vertrauen,
für Libyen um Zusammenhalt,
für Jemen um Waffenruhe,
für Somalia um Ausgleich,
für Äthiopien um Regen,
für Burundi um Versöhnung,
für Kenia um Festigkeit,
für Guinea, Liberia, Sierra Leone um Gesundheit,
für Afghanistan um Wandel,
für Tibet um Freiheit,
für Myanmar um Gleichgewicht,
für Indonesien um Dialog,
für Korea um Wiedervereinigung,
für China um Vorsicht,
für Russland um Mäßigung,
für die Ukraine um Entspannung,
für Polen um Courage,
für uns um Besonnenheit,
für Frankreich um Brüderlichkeit,
für Griechenland um Stabilität,
für Spanien um Optimismus,
für Großbritannien um Sonne,
für Kuba um Öffnung,
für Venezuela um einen Neuanfang,
für Brasilien um das Ende des Raubbaus,
für Mexiko um Sicherheit,
für die USA um Konsens,
für alle Staaten- und Heimatlosen um Einkehr in Geborgenheit,
für uns Sesshafte alle um Großzügigkeit,
für unsere Familien um Segen,
für unsere Kinder um Schutz,
für unsere Sterbenden um Beistand
und für uns alle um Dein Reich!
Von Dir lass uns nichts scheiden in Zeit und Ewigkeit!
2.Christtag (Stephanustag) 26.12.2015 Stadtkirche Hebräer 1,1-14 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Christfest 2015
Hebräer 1, 1 – 14
Liebe Gemeinde!
Hand auf’s Herz: Wer könnte heute Morgen, nach 40 Stunden Weihnachten nicht auch sagen, dass das Fest - zumal im Kreis der Familie - wieder einmal genau der treffsicheren Analyse eines Feuerwerks durch Karl Valentin entsprach: „Schee war’s … und kracht hat’s oft“?!
Natürlich redet man nicht so gern davon. Weihnachten ist ja Hausmusikpflicht. Mehrstimmig gern, aber bitte recht harmonisch. Und wo gebrüllt wird oder geflennt, wo Ärger sich Luft macht oder Spannung sich entlädt oder Trauer, wo es mehr „in dulci nur so-so“ war und die Glocken durchaus zu anderen Zeiten sehr viel süßer klingen, … da war dann eben nicht richtig Weihnachten. Denn das ist ja bekanntlich das Fest des Friedens. …….
Ach ja?
Tatsächlich dürfte es doch überflüssig sein, den gesammelten Sprengstoff der biblischen Weihnachtsgeschichte nochmal eigens aufzuzählen: Die explosive Stimmung im Reich eines größenwahnsinnigen Kaisers, der alle Welt kurzerhand durchnummerieren wollte; das brandgefährlich schwelende Gewaltpotential einer Völkerwanderung, die zurück in ihre Herkunftsorte strömt und sich die viel zu wenigen Unterkünfte, die knappen Schlafplätze argwöhnisch streitig macht; die barbarischen Schreckensstunden einer Erstgeburt im provisorischen Unterstand; das Misstrauen, das eine glücklich entbundene junge Mutter empfindet, wenn Wildfremde sofort nach ihrem neugeborenen Stillkind greifen; die von Wahnsinn vergiftete Stimmung in der Umgebung des Herodes, dessen Eifersucht und Unsicherheit ihn zum hundertfachen Kindsmörder werden lassen; die Zermürbung, die ein Asylverfahren für den jüdischen Etagenadel vom Stamm Jakobs aus dem Hause Davids ausgerechnet in Ägypten bedeutet; die innere Entfremdung, die die Hoffnungen und Träume der Mutter und der duldende Zynismus des Ziehvaters und die Gasseneinflüsse aus Gosen, denen der kleine jüdische Prinz in seinen ersten Lebensjahren ausgesetzt ist, in dieser Familienzelle anrichten.
Das Fest des Friedens? Im glatten Gegenteil: „Kracht hat’s oft!“ …….
Doch all diese irdischen Konflikte, die Weihnachten prägen, sollten uns einen letzten, großen Knatsch, ja die allergrößte Auseinandersetzung, die zu Christi Geburt gehört, nicht vergessen lassen:
Dieses riesige, himmlische Donnerwetter, das dann die Luft tatsächlich endgültig reinigt, ist uns völlig fern und fremd.
Dem Hebräerbrief allerdings – dem wiederum die Überlieferung von Jesu historischer Geburt und das, was wir draus gemacht haben, völlig unbekannt sind – dem Hebräerbrief also gelingt es doch, uns diesen Krach hinter der Bühne immerhin als Ahnung zu vermitteln. In den mühsam langen Schriftzitaten, die wir eben vernahmen und die jeweils mit der rhetorischen Frage eingeleitet wurden, ob Gott etwas ähnliches wohl jemals zu einem Engel gesagt habe, kriegen wir zumindest Wind von der Sache.
Und im unverkennbar schadenfroh vorweggenommenen, triumphalen Fazit, wird das rätselhafte Drama eigentlich ganz deutlich: Der Sohn Gottes ist viel höher geworden als die Engel und sein Name genießt einen uneinholbaren Vorrang vor ihrem Namen! … Man hört den Apostel förmlich „Ätsch!“ machen … auch wenn man sich immer noch kopfkratzend fragt, welche mythologische Märchenwelt sich hinter diesen Andeutungen verbergen mag.
— Bloß: Ist das wirklich mythisch, dass es immer und überall Konkurrenz gibt? Ist es wirklich nur das Reich der Sage, in dem der Neid regiert?
Oder ist es nicht ein unglaublich realistischer, lebensnaher Zug, dass zu der einzigartigen Bedeutung und Beliebtheit Jesu Christi, des eingeborenen Sohnes, des wahren Abglanzes und Ebenbildes Gottes auch gehört, welche Schatten diese Hervorhebung wirft?
Nichts anderes steht doch hinter der offenkundigen Eifersucht zwischen den Engeln und dem Gottessohn, als die unvermeidliche Gegenreaktion gegen den Erwählungsskandal von Weihnachten.
Wenn Weihnachten nämlich bedeutet, dass ein einzelnes Geschöpf in einer völlig singulären Nähe zu Gott gesehen und bekannt wird, dann kann das ja nur Streit auslösen und Bestreitung herausfordern. Genau wie das Bekenntnis zum einen und alleinigen Gott Israels einen Sturm des Widerstands entfesselte, weil so viele andere Mächte und Gewalten damit bloßgestellt und entlarvt oder bewusst entmachtet und gestürzt worden sind, – genauso musste das Bekenntnis zu einem einzigen Menschen als dem wirklichen Gottesbild und -boten grenzenlose Gegenwehr wecken: Warum dieser? Was zeichnet ihn aus? Wodurch unterscheidet er sich? Was ist das, was heute jedes Seifenstück und jeder Pfefferminzbonbon beansprucht: Was ist sein „Markenkern“, sein „Alleinstellungsmerkmal“?
Dieser wütende Weihnachtsstreit ist überhaupt nicht abwegig oder lächerlich. Im Gegenteil: Er ist notwendig … und er ist keinesfalls erledigt, auch wenn die Engel sich geschlagen geben mussten.
Dieser Streit nämlich bezeugt im Umkehrschluss ja deutlicher als alles gelangweilte Schweigen, dass vernommen und verstanden wurde, wer Jesus Christus sein soll: Dieses Kind soll das letzte Wort sein?! Dieses Etwas soll Alles, … dieser Anfang soll die Krönung sein?!
Wer das ohne stutzig zu werden und ohne Widerspruch hinnimmt, nimmt es nicht ernst! … Da müssen sich alle anderen Kräfte und Größen, alle anderen Einflüsse und Wohltäter, alle anderen Instanzen und Bezugspunkte der Welt gefallen lassen, dass ein Baby sie infrage stellt, dass ein einfacher Mensch sie an endgültiger Bedeutung für hier und heute und für die Zukunft und die Ewigkeit übertreffen soll??! Wie kann das sein?
……. Für einen solchen Größenwahnwitz gibt es eigentlich nur den schönen türkischen Gefühlsausbruch: „Krass!“ ——
Und wer immer noch nicht nachfühlen kann, wie groß die Irritation, ja die Provokation von Weihnachten ist, den wollen wir weiter reizen, …bis auf’s Blut reizen, damit sich etwas in ihm rührt, damit etwas in ihm auf Jesu Geburt reagiert:
Dieses kleine Kind also, das vor zweitausend Jahren im Orient auf dem Fußboden zwischen Exkrementen und gestoßenem Lehm zur Welt kam, … das nicht das Geringste von irgendeiner Kultur oder Technik kannte, die uns auszeichnen, … das keine Erfindung gemacht und keinen Erfolg gewollt hat, … das im Vergleich zu heutigen Grundschülern keinerlei ernsthafte Information und Orientierung besaß, … das kein römischer Zeitzeuge der schriftlichen Erwähnung für wert befand, … das so grotesk bedeutungslos nach allen rationalen Maßstäben war, … mit diesem Kind, mit dieser Ameise von einst, soll’s nicht nur etwas auf sich haben, o nein!: Dieses Kind soll angeblich unendlich viel wichtiger und weltbewegender, soll verantwortlicher und notwendiger sein, als jede andere vernunftbegabte Kreatur und körperlose Intelligenz des Universums??!! Mehr als Alexander und mehr als Cäsar, mehr als Leonardo und Kopernikus, mehr als Kant und Hegel, mehr als Louis Pasteur und Robert Koch, mehr als Werner Heisenberg und Walter Disney, mehr als Bill Gates und Mark Zuckerberg oder wie der Junge, der die geheime Wirkung einer heißen Luftpumpe auf das Internet entdeckt hat, sonst heißt, … heller als alle diese Sterne am Firmament der Menschheit soll das lausige Bürschchen von Bethlehem strahlen???
… Na, bei wem tut sich was? Noch nicht klar genug? Dann also weiter:
Jesus ist der Wichtigste! Er ist wichtiger als Buddha! – Aua! Der saß! … Er ist wichtiger als Mohammed! – Jetzt wird’s aber heikel! Da zuckt fast jeder. … Jesus ist wichtiger als Trotzki (der ist wirkungslos), und wichtiger als Gandhi (das ist schon wieder ganz sensibel; da haben wir empfindliche Reflexe) und wichtiger als Messi (… jetzt werden die Sportsfreunde wach!) und wichtiger als Mutti (da kommt’s dann wieder sehr drauf an …).
Aber trotzdem. Jetzt spüren wir’s: Den Unmut, die ungläubige Wut, die Emotion, die der hanebüchene Anspruch Jesu Christi auslöst; dieser Anspruch, der als eigentlicher Sinn dem Weihnachtsfest zugrunde liegt. ——
Letzte Runde! Jetzt das K.o. – Weihnachten bedeutet, dass Du in Sachen Wichtigkeit den Kürzeren ziehst im Vergleich zu einem Kurzen – wie man die Kinder in Duisburg nennt – , der vor Jahrtausenden lebte und jetzt nicht hier ist! —
Und nun der letzte wegknickende Strohhalm: Jesus bedeutet daher auch mehr als ich! Unendlich viel mehr! Er ist der Erbe. Er ist das Leben. Er ist Gott, der Gesalbte. ——
Wer jetzt wirklich noch immer nicht merkt, dass Weihnachten auch wehtut, wenn man es ernst nimmt, der sollte Profiboxer werden … oder die Betäubungsmittel absetzen. ——
Doch warum drängt der Hebräerbrief uns derart in die Enge? Warum ist es ihm so wichtig, den Engeln im Gegenüber zu Jesus die Flügel zu stutzen – und uns Menschen erst recht?
Der Hebräerbrief wurde verfasst zu einer Zeit, die den Überirdischen näher stand als wir, weil sie in ihnen geistige Stärken ehrte, zu Wesen verdichtete Schutz- und Widerstandskräfte, die besten und heiligsten Züge der Menschheit und die herrlichsten Zeugen des Himmlischen.
Allerdings: Gerade als Idealvorstellungen und zwingende innerliche Mächte, die unser Denken und Dasein „positiv“ beeinflussen und regieren können, sind die Engel auch gefährlich. Denn sie sind in der Tat das, was wir für unser Teil gerne wären: Perfekt. Die Engel sind für ihren Dienst und ihre Aufgaben vollkommen.
Würden wir uns aber an ihnen ausrichten, würden wir auf ihren Grad an idealer Freiheit von allen Mängeln spekulieren, würden wir uns weismachen, engelhafte Vollendung sei menschenmöglich, dann würde sich unsere Hoffnung und unsere Einbildung dahin verirren, wo schon Adam und Eva stürzten: Wir würden höher wollen, als wir können.
Und so ist es ja bis heute wirklich um uns bestellt. Die alte Vergottungsfalle schnappt zu, wo immer wir Höchstes suchen und verehren und begehren. Was immer es ist, das uns packt und begeistert: Wir machen aus allem immer wieder neue Götterbilder, Sternbilder, Engelsbilder, die wir für uns beanspruchen und denen wir uns ausliefern. Unser Hang zur Vollkommenheit – zu vollkommenem Glück, vollkommenem Erfolg, vollkommener Beherrschung, vollkommener Entspannung, vollkommenem Respekt – ist unser Verderben! Denn es ist immer noch das Fieber, wie Gott sein zu wollen: Zu können, zu dürfen, zu haben und zu sein, was Ihm möglich ist!
Und eben auf diesen Zug, auf unseren Hang nach oben, ist Weihnachten der Frontalangriff: Gott, der sich durch jeden Engel vermitteln, von jedem seiner vollkommenen Dienstbotengeister vertreten lassen könnte, hat gegen die menschliche Bereitschaft zu immer neuen Idealisierungen das Eindeutigste gewählt: Nicht in und durch die Engel oder die großen Väter und Propheten kommt Seine Herrschaft endgültig, sondern durch ein kleines Menschenkind! Nicht durch Perfektion wird die Welt schließlich gerettet, sondern durch die Wirklichkeit des Menschen Jesus, durch seine wirkliche Menschlichkeit.
Das Höchste im Reich Gottes ist nämlich nicht das Ideale, sondern das Reale. Kein Engel könnte uns je erlösen, weil er kein eigenes Verhältnis zur Schwäche haben kann – und dabei ist doch Schwäche das Kennzeichen der Realität wie sie uns umgibt.
Und gerade sie – seine ausgeprägte Schwäche, seine höchsteigene, ganz leibliche Erfahrung der Unvollkommenheit, seine Begegnung mit aller Not der Erde, sein Unterworfensein unter die furchtbaren Mängel und Kosten der Wirklichkeit, in der Krankheit, Sünde und Tod wüten, – gerade das macht Jesus nicht nur zum höchsten, sondern zum einzigen Retter und Überwinder. Nur Gottes Menschwerdung konnte den auf Gottwerdung versessenen Menschen vor sich selber retten, … hätten wir doch sonst immer gemeint, nur wer kein Leid kenne und wer nicht scheitern könne, sei der ideale Helfer und Maßstab, … während es doch wahrhaftig umgekehrt ist! ———
Genau darum aber wird Jesus auch infrage gestellt und Weihnachten lächerlich gemacht wer-den und das Christ-und Krippenkind wird macht- und sinnlos erscheinen, solange es überhaupt noch Anhänger der großen Mächte gibt, die auf Gewalt und Herrschaft setzen.
Nicht umsonst ist heute ja der Gedenktag des Ersten unserer von Tag zu Tag mehr werdenden christlichen Märtyrer. So wie Stephanus (vgl.Apg6+7), der hingerichtete Sozialarbeiter, der im Namen des Erlösers gegen die Unerlöstheit der hungernden Christen in Jerusalem kämpfte, … so wie Stephanus müssen alle die Hunderttausende verfolgten Christen leiden um der Schwäche – damit aber auch um der Wirklichkeit willen! – , die Jesus Christus heute noch mit uns Menschen teilt und trägt.
Aber ganz bewusst hat Gott ja zu keinem unanfechtbaren Engel, sondern zu dem leidens- und mitleidensfähigen Menschenkind gesagt:
„Du bist mein Sohn. […] Du hast geliebt die Gerechtigkeit und gehasst die Ungerechtigkeit. […] Darum setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße mache.“——
Wer immer kann und will, mag das bestreiten.
Gewiss wird’s darum auch oft noch krachen in einer Welt voll großer Machtansprüche und großen Gewalthungers!
Aber am Ende wird der, der in seiner Schwäche für die Welt wichtiger und besser war als wir alle mit unseren guten Seiten, unseren Stärken und hohen Ansprüchen, der besser war als alle zuverlässigen und unbeirrten Engel und Fürstentümer und Throne und Gewalten … am Ende wird er doch der Höchste sein, weil er nicht seine eigene Vollkommenheit suchte und bewies, sondern die Not aller anderen teilte und linderte und mit dem Zepter seiner Gerechtigkeit und mit dem Freudenöl seines Geistes überwand.
In seiner Schwäche und Wirklichkeit nämlich, in dem kleinen Kind, dessen Geburt wir als Erlösung preisen, zeigt sich Gottes Erbarmen. Und das ist höher als alle unsere Vernunft und es bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!
Amen.
Heiligabend 2015, Bild „Heilige Nacht", Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
kaum einem anderen Ereignis im Leben Jesu wurde in der christlichen Kunst so viel Aufmerksamkeit gewidmet wie seiner Geburt. Bilder in allen Größen, die nicht nur Kirchen und Museen schmücken, sondern abgedruckt in Bibeln und anderen Büchern längst den Weg in unsere Wohnungen gefunden haben und alle Jahre wieder als Weihnachtskarten ihren Dienst tun.
Die Menschen aller Zeiten und Epochen haben sich immer wieder bemüht, das Besondere dieser Geburt zum Ausdruck zu bringen, es ins Bild zu setzen oder in Worte zu fassen. Mit durchaus unterschiedlichen Akzentsetzungen und natürlich auch abhängig von den Vorstellungen und Glaubensüberzeugungen ihrer jeweiligen Zeit, von denen nicht wenige uns heutigen Zeitgenossen eher befremdlich vorkommen: z.B. eine Maria, die vor ihrem auf der Erde oder auch in einer Holzkrippe liegenden Kind kniet, die Hände zum Gebet gefaltet. Die Besonderheit des Kindes ist ausgedrückt durch den Heiligenschein, und oft macht es den Eindruck eines Kleinkindes und nicht eines Neugeborenen, so wie es gemalt ist. Da ist Jesus ganz und gar der Gottessohn. Und das unterscheidet, ja trennt ihn von allen anderen, die je das Licht der Welt erblickt haben.
Welche ganz anderen Gedanken verbinden sich da mit dem Weihnachtsbild, das für mich das Weihnachtsbild schlechthin geworden ist, seitdem es mir vor vielen Jahren eher zufällig unter die Augen kam. Welche anderen Zugänge ermöglicht es zu dem Geheimnis der Weihnacht, befreiende und heilsame Verstehensmöglichkeiten! Es ist die „Heilige Nacht" von Emil Nolde.
Dieses Bild, das Sie mit Ihrem Gottesdienstprogramm auf Ihren Plätzen vorgefunden haben, gehört zu einem neunteiligen Altar, der Szenen aus dem Leben Jesu zeigt und der heute im Nolde-Museum in Seebüll zu finden ist, einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein, 1 km von der Dänischen Grenze entfernt auf der Höhe des Hindenburgdammes, der Sylt mit dem Festland verbindet. 1912, als Nolde das Bild malte, fand er für seinen Blick auf die Geburt Jesu bei den meisten Zeitgenossen kein Verständnis, auch nicht bei den Vertretern der Kirche; „aus Platzgründen" wurde es bei Ausstellungen in Brüssel und Köln zurückgewiesen. Schon 1934 führten die Nationalsozialisten seine Werke als entartete Kunst, wurden über 1000 seiner Bilder beschlagnahmt, teilweise zerstört und ins Ausland verkauft. Die „Heilige Nacht" überlebte abseits der großen Museen in Seebüll, wo Nolde seit 1926 lebte und arbeitete.
In seinem Tagebuch von 1912 notierte Emil Nolde: „Und dann malte ich die „Heilige Nacht", der Stern leuchtend am Nachthimmel und Maria mit ausgestreckten Armen ihren gottgeborenen Sohn, das Jesuskind, haltend, in höchstem Mutterglück."
Noch nie wurde vorher das Kind so gemalt, in dieser Kreatürlichkeit. Mit wenig Schönheit. Kein holder Knabe im lockigen Haar, sondern eine Handvoll Mensch. Die Formulierung aus dem Johannesevangelium „Das Wort wurde Fleisch" - hier wird sie ins Bild gesetzt.
Die Diagonale „Maria - Kind - Stern" bestimmt das Bild.
Keine andere Frau hat Emil Nolde auf seinen Bildern so leuchtend weiß angezogen wie Maria. Sie bringt festliche Helligkeit in die Dämmerung von Stall und Weide und Nachthimmel. Dabei sieht sie gar nicht aus wie eine Frau aus dem Schleswiger Land. Sie gleicht eher einfachen Menschen aus südlichen oder nahöstlichen Gegenden. So sehen Türkinnen aus, Syrerinnen, Roma-Frauen aus dem Kosovo.
Marias Haltung wirkt vornehm, sehr gerade, aufgerichtet, voll angespannter Freude. Die atmen auch die Farben: das satte Rot des Rockes, darüber das Weiß der Bluse, sogar das Schwarz des Haares scheint zu leuchten. Es ist die Maria des Magnificat: „Meine Seele erhebt den Herren und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes." Nicht verhuscht-demütig, sondern selbstbewusst und freudig-würdevoll.
Ihr Mund lächelt, ihre Augen leuchten, als sie ihren Sohn betrachtet und hochhebt. Dem Himmel entgegen. Und der Himmel scheint zu antworten: das Licht des Morgensterns fällt auf das Kind; der Morgenstern, der Neues anzeigt.
Eine neue Zeit will anbrechen für die Erde und ihre Bewohner, für Mensch und Tier, für alle, auch für die, die am Rande stehen, für die Hirten. Der Diagonale „Maria-Kind-Stern" entspricht die andere Diagonale „Esel-Hirten-Josef" - gemalt in Erdfarben, grün, braun, ein wenig rot.
Bleiben wir noch eine Weile bei Maria, ihrer Geste und ihren leuchtenden Augen. Liebe und eine große Erwartung liegen in ihrem Blick. Eigentlich ist das etwas, was in den Augen jeder Mutter aufleuchtet, wenn sie ihr neugeborenes Kind betrachtet. Da ist das Staunen über dieses kleine Wesen, das zwar völlig hilflos und angewiesen ist, aber doch ein eigener Mensch mit eigener Würde und Ausstrahlung. Jedes Kind ein kleines großes Wunder. Psychologen haben festgestellt, wie entscheidend dieses Leuchten in den Augen der Mutter für das Kind ist. Es besagt nichts weniger als: ich liebe dich und ich achte dich; du sollst werden, wer du bist.
Maria hebt ihr Kind hoch, dem Stern, dem Himmel entgegen. Eine Geste, die zum Ausdruck bringt, dass sie weiß: mein Sohn gehört mir nicht; er ist ein Kind der Erde, ein Kind seiner Eltern, aber das ist nicht alles: er ist auch ein Kind des Himmels, ein Kind der Sterne (Astrophysiker lehren uns, dass der Mensch aus Sternenstaub besteht), und - er ist ein Kind Gottes. Ein Geschenk, mir anvertraut.
Genau dieses Verständnis, das sich in Blick und Geste, ausdrückt, zeichnet Maria aus. Das ist das Besondere ihrer Mutterschaft; nicht das biologische Mirakel einer jungfräulichen Geburt. Maria steht selbst in einer lebendigen Beziehung zu Gott. Eine Beziehung, die sie nicht herauslöst aus ihrem ganz alltäglichen Menschsein. Nein, Maria ist keine Himmelskönigin, sie ist eine einfache Frau aus dem jüdischen Volk, die Anteil hat an seinem Ergehen. Wieviel Leid und Ungerechtigkeit mögen ihre Augen schon erblickt haben. Wie oft mögen Tränen über ihr Gesicht gelaufen sein angesichts der Unterdrückung und Gewalt, mit der die römische Besatzung das Land auspresste, unter der vor allen Dingen die einfachen Menschen litten. Maria, so wie Lukas sie uns beschreibt, träumt sich nicht weg in eine heile Welt, ihre Gedanken sind nicht auf das kleine persönliche Glück ausgerichtet. Sondern sie ist hellwach, sie nimmt die Bitternis des Alltags der kleinen Leute wahr. Maria, das heißt übersetzt so viel wie „Bitternis", aber auch: „die Widerspenstige", die „Widerständige". Was Maria im tiefsten bewegt und was ihr Wesen bestimmt, das teilt Lukas uns in dem Lied mit, das er ihr in den Mund legt. Es ist kein Wiegenlied, kein erbaulicher, frommer Gesang, sondern ein wahres Revolutionslied.
Gott, der sie angesehen und angenommen hat, der mit ihr und ihrem Kind seinen Weg gehen wird, dem sind auch all die anderen Menschen nicht gleichgültig. Er wird nicht zulassen, dass alles bleibt, wie es ist, dass die, die unten sind, die immer wieder unter die Räder kommen, dass diese unten bleiben, den Interessen der Mächtigen und Einflussreichen geopfert werden. „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen."
Maria preist Gottes Gerechtigkeit und seine Barmherzigkeit. Gott ist für sie nicht der liebe Gott, sondern der Gott, der liebt, dem es nicht nur um das Seelenheil des Einzelnen, sondern um das Heilwerden der Gemeinschaft, der Menschheit geht.
Diese Maria gerät Weihnachten oft völlig aus dem Blick - die kämpferische, leidenschaftliche Frau, der es nicht nur um ihr Kind zu tun ist, sondern darum, dass alle Kinder ein Leben in Würde und Geborgenheit führen können.
„Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen." Maria wird ihren Sohn nicht nur gestillt und gewindelt haben, nicht nur gebadet und mit Kleidung versorgt haben; sie wird ihm auch Lieder vorgesungen haben, bestimmt nicht nur Wiegenlieder, sondern auch Lieder wie das Magnificat. Und sie wird ihn nicht nur sprechen gelehrt haben und laufen, sondern sie wird ihm erzählt haben, was ihr wichtig ist, sie wird ihn vertraut gemacht haben mit der Geschichte Israels und den Geschichten des Glaubens. Sie wird ihm Gott bekannt gemacht haben als den, dem es um Gerechtigkeit und Barmherzigkeit geht. Und sie wird ihm von ihrer Hoffnung erzählt haben, ihrer Hoffnung, dass alles Leiden, alle Not nicht endlos sind, sondern dass sie ihr Ende finden, weil Gott dafür einsteht. Und dass es sich lohnt, diese Hoffnung im Herzen wach zu halten.
Und auch Josef wird sich nicht darauf beschränkt haben, das für den Lebensunterhalt nötige Geld für seinen Erstgeborenen herbeizuschaffen und ihn in späteren Jahren mit seinem Handwerk vertraut zu machen. Er wird ihm auch vermittelt haben, was ihn in allen Schwierigkeiten trägt und welche Hoffnungen ihn trotz allem erfüllen. Emil Nolde hat nicht ohne Hintersinn die Augen Josefs grün ummalt - grün die Farbe des Lebens und der Hoffnung - und seine Lippen und Wangen leuchtend rot - die Farbe der brennenden, der streitbaren Liebe.
Dass Jesus der wurde, der er war und für uns bis heute ist, daran sind Maria und Josef auf jeden Fall beteiligt. Sie haben ihn mit dem Gott Israels bekannt gemacht, sie haben die Basis für sein revolutionär neues Gottesverständnis gelegt, dass Gott nicht der Herr und König in einem jenseitigen Himmel ist, sondern der Vater, der Abba, der jedem Menschenkind in Liebe nah ist. Und dass diese Nähe die Wirklichkeit verwandeln kann. Jesus hat begriffen, dass das Brot, das die Hungrigen satt macht, nicht vom Himmel her erwartet werden darf, weil Gott es uns ja längst in die Hände gelegt hat, dass es vielmehr auf uns ankommt, ob wir es festhalten oder austeilen. Das Reich Gottes, in dem Heil und Leben sich ausbreiten, Gerechtigkeit und Frieden, es ist nicht in einem Jenseits, sondern mitten unter uns. Und es wird da wirklich, wo wir es unter den Menschen wirklich werden lassen. Gottes Liebe ist handfest, ist Tat, nicht religiöse, fromme Theorie. Gottes Liebe kommt zur Welt, wo Menschen lieben. Nichts anderes als das hat Jesus von Nazareth verkündigt und selber gelebt. Und damit hat er die Welt verwandelt. Einfach durch seine Weise, sein Menschsein und Mitmenschsein zu leben.
Viele Hoheitstitel haben die ersten Christen Jesus beigelegt, Messias und Sohn Davids beispielsweise. Und eben Sohn Gottes haben sie ihn genannt. Jesus selbst hat sich eigentlich nur mit einem Titel identifiziert: Menschensohn. Ein Titel, mit dem er sich nicht erhoben hat, sondern mit dem er sich bewusst an die Seite aller anderen Menschensöhne und Menschentöchter gestellt hat.
„Seht, ich bin einer von euch.
Was mir möglich ist, ist euch auch möglich.
Einfach deshalb, weil Gott unser aller Vater ist.
Entdeckt all die guten Möglichkeiten, die Gott euch mitgegeben hat in dieses Leben, und nutzt sie - für euch und für die Menschen, die euch begegnen.
Vergesst nie: ihr seid Söhne und Töchter Gottes.
Gewiss, ihr seid auch Kinder eurer Eltern, Kinder der Erde, verstrickt in alle Ungerechtigkeiten und alle Nöte eurer Zeit; das war ich auch.
Und vieles, was damals so bedrückend war, das liegt auch heute wie eine unheilvolle Wolke über der Welt:
Da geht es um Geld, um Profite; da werden die Lebensgrundlagen ganzer Völker ruiniert und brechen überall bewaffnete Konflikte auf; die Dekadenz der Reichen und der Fanatismus der Zukurzgekommenen befeuern sich gegenseitig. Und wie vielen bleibt nur die Flucht, um das nackte Leben zu retten. Meinen Eltern ging es mit mir nicht anders.
Ja, das alles kann Angst machen, das Herz wird eng und die Hände halten fest.
Darum erinnert euch - gerade an Weihnachten:
Der Morgenstern ist aufgegangen, das Neue, das Heilvolle, es ist da.
Auch euer Leben steht unter diesem Stern.
Darum fürchtet euch nicht!
Ihr seid Kinder des Lichts.
Und wie ich das Licht der Welt bin, so seid ihr es auch - wenn ihr euch nur entschließen könnt, euer Licht leuchten zu lassen,
das Licht der Barmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit,
das Licht der Liebe und des Friedens.
Nehmt Licht von der Krippe und tragt es weiter, gebt es weiter. Und teilt mit ihm aus Liebe und Brot und baut so mit an Gottes neuer Welt.
Vertraut darauf: dieses Licht wird nie verlöschen."
Weihnachten - das Fest des Vaters und seiner Menschensöhne und Menschentöchter. Alle Jahre wieder eine Einladung, mit Blick auf den Menschenbruder Jesus das eigene Menschsein zu bedenken, bereit zu werden, Gottes Liebe im eigenen Leben neu zur Welt zu bringen.
Amen.
1.Christtag 25.12.2015 Stadtkirche 1.Johannes 3,1+2 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Christfest 2015
1.Johannes 3, 1 + 2
Liebe Gemeinde!
Wir auch.
Das ist die ganze Botschaft des heutigen Schriftwortes, das nach der neuen Ordnung unserer Predigttexte künftig nicht mehr am Sonntag nach Weihnachten, sondern am 1.Christtag selber, am Geburtstag des Gottessohnes ausgelegt werden soll. …….
Eigentlich ist diese Verlegung der Epistel ein Affront. Statt dessen, für den der Tisch gedeckt, der Raum geschmückt und der Ehrenplatz bereitgestellt ist, wird mit der johanneischen Erklärung, wir alle hießen, nein wir alle seien Kinder Gottes ja plötzlich eine unüberschaubare Menge gefeiert, ein wahres Gemeinde-, um nicht zu sagen: ein Volks- und Menschheitsfest ausgerufen. Nicht „derjenige, welcher“, sondern wir Vielen, nicht der eingeborene Sohn, sondern sämtliche Dahergelaufenen sollen plötzlich die Hochlebenden des Jubeltages sein?!
— … Beim Kaiser von Japan würde es im Zweifelsfall bis heute einen regelrechten Verstoß gegen das Zeremoniell darstellen, wenn an seinem Wiegenfest öffentlich behauptet würde, an diesem Tag dürfe jeder im Volk sich persönlich als Geburtstagskind betrachten. Stünde vor dem kaiserlichen Palast in Tokio ein gewöhnlicher Bürger, der sich die Blumen und Fähnchen der Gratulanten selbst ans Revers steckte, wäre das zumindest eine Pietätlosigkeit. Schließlich gilt der Feiertag dem obersten Repräsentanten des japanischen Volkes in Person. … Und wer sollte bedeutsamer sein, als der letzte Kaiser der Welt? …
… Na ja, mir fiele da schon jemand ein. Schließlich wurde der arme Tennō Akihito am 23.Dezember 1933 geboren. So dass Kaisersgeburtstag im Japan unserer Zeit immer einen Tag vor dem allergrößten Geburtsfest auf Erden begangen wird, einem Fest, das der christlichen Kaiserin Japans - wer weiß? - vielleicht sogar mehr als der Geburtstag ihres Gatten bedeutet. … Kaiserpech!
Aber auch das eine Botschaft: Der letzte Mensch, dessen Vater noch als gottgleich galt, grenzt mit seinem einsamen Geburtstag an den Feiertag desjenigen, der „es nicht als Raub nahm, Gott gleich zu sein“(Phil2,6), sondern der durch seine Geburt den Vielen Kindesrecht bei Gott eröffnete.
Man spürt dabei sofort, womit man es an Weihnachten zu tun bekommt: Nicht mit einem schnöseligen Kronprinzen, dessen Erscheinen böllernde Salutschüsse ankündigen, sondern mit einem Kind aus dem Flüchtlingslager, dessen räudige Geburtsumstände ihn wahrhaftig mehrheitsfähig machen in einer Welt, in der die Pyramide – die berühmteste Form eines Grabmals – zu allen Zeiten auch das treffendste Wahrzeichen der Gesellschaft abgab.
Bei denen unten im Sockel, dort, wo das Massenelend aller Zeiten und sog. „Zivilisationen“ die breiteste Basis dieser Welt abgibt, … bei denen im untersten Absatz, am Grund der Welt ist ja das Gotteskind geboren worden, an dessen Seite uns Johannes heute mit seiner großzügig erweiterten Gotteskindschaft stellt.
Vielleicht ist es also doch nicht ganz derjenige Affront, von dem wir ausgingen, wenn wir Christi Geburt und unsere eigene kindliche Bindung an Gott in einem Atemzug nennen hören.
Vielleicht ist es sogar eher umgekehrt: Nicht dass wir ihm zu nahe treten, wenn wir uns unvermittelt unter den Kindern Gottes eingereiht sehen, sondern vielleicht ist es uns ein wenig zu bescheiden, ein wenig ehrenrührig gar, ein Geschwisterkind anerkennen zu sollen, das aus der Gosse stammt und genauso wohnsitzlos wie zu Beginn in Bethlehem leben und schließlich schimpflich verurteilt und verspottet wieder einmal draußen vor der Stadt sterben soll?! ——
So betrachtet ist das Geburtsrecht, das Johannes so freigebig an die Gläubigen austeilt, ganz gewiss kein Privileg, ja nicht einmal nur ein demokratisches Symbol der großen Gleichheit, sondern geradezu eine Demütigung:
Kannst Du in diesem Kind, auf dessen Wangen schmutzige Spuren die Küsse des viehhütenden Landstreichergesindels bezeugen, Deinen Bruder sehen?
Hältst Du es aus, als Angehöriger eines Sonderlings und Galgenvogels zu gelten, dem die Schwachsinnigen und Leichtfertigen, die Kaputten und die Bösen und die Kranken und die Hoffnungslosen landauf, landab nachliefen, um sich von ihm füttern und verteidigen zu lassen?
… Wir „Gotteskinder“. … Sollen wir dahin, … sollen wir dazu gehören? Wir auch? ——
Die Antwort ist ein ungeteiltes … Ja und Nein.
Wer wollte – wenn er weiß, was das heißt – denn wohl nicht auch Gottes Kind sein?!
Und wer würde – wenn er weiß, was das heißt – wohl ohne Bedenken die Gemeinschaft mit dem beglaubigten, dem wahren Gottessohn und seiner Schwäche, seiner Schande, seinem Sterben eingehen?!
Wollen, dürfen, können wir also Gottes Kinder heißen … und nicht nur heißen, sondern auch sein? — Die Frage stellen, heißt sie verjeinen. ……. ———
Aber die Frage zu stellen, heißt ja auch, sie zur Theorie zu machen, zum irrealen Zeitvertreib, zum spannenden Als-Ob. … Doch dann wäre heute nicht Weihnachten, sondern allenfalls der Nachklang von Kaisersgeburtstag, an dem sich Republikaner und Royalisten vorgestern in Japan beim albernen Gesellschaftsspiel hätten treffen können: „Stell Dir vor, man wäre plötzlich auf dem Chrysanthementhron“. ——
Nun wird allerdings heute die Geburt des Sohnes Gottes gefeiert, und uns beschäftigt kein vages Gedankenexperiment der Zugehörigkeit zu ihm, sondern die unmissverständliche Botschaft des Apostels: Es ist auch Euer Leben, das Ihr vor Augen habt, wann immer Ihr Jesus, das Krippen- und das Straßenkind des himmlischen Vaters bedenkt. Das müsst Ihr nicht abklopfen, ob es Euch behagt oder abschreckt; nein, darüber ist entschieden. Gott hat Euch bei diesem Namen gerufen und den Ruf zu einer Tatsache gemacht! Ihr auch! ——
… Wir also auch. Kein Vielleicht, kein: Zur Probe. Kein Umtausch. Wir auch. …….. Das ist groß und ungewohnt.
Aber es ist nicht Willkür und es kommt ja auch nicht als fertiges Erbe, als vorgeschneiderter, viel zu brokatig schwerer Thronmantel über uns. Sondern vor allem anderen ist es ein Geschenk der Liebe: Dass auch wir die Kinder Dessen sein dürfen, Der Seinem Sohn im abwegigem Elend doch den hellsten aller Sterne zu Häupten stellte; dass wir die Angehörigen Dessen sein dürfen, Der Sein Kind nicht verleugnete, als niemand mehr den offenkundig Gescheiterten anerkennen oder trösten mochte; dass wir die Erben Dessen sein sollen, Der Seinen Sohn als Erstling vieler Geschwister aus dem Reich des Todes befreite und ihm die Fülle des Lebens für immer schenkte!
Welch eine Liebe also ist es, dass Gott Seine Gläubigen als Kinder annimmt, … eine Liebe ist das, die Abgrund und Gipfel, Hölle und Himmel umfasst und sich nirgends verliert!
Weil sie aber eben so umfassend ist und nichts sie ausschließt, gerade darum ist sie auch noch lange nicht fertig und vollendet: So wie sie das Kind in der Krippe bis zum Kreuz, wie sie es vom Tod zum Leben, wie sie es in Tiefen und Höhen begleitete, so wird sie es auch bei jedem, der sich so von ihr lieben lässt und wieder liebt, tun.
Darum ist trotz aller Sicherheit, dass wir Gottes Kinder sein dürfen, weder erschienen, noch bestimmt, wie wir sein werden auf den langen Wegen und in den weiten Räumen, die diese Liebe und wir noch vor uns haben.
Es ist alles möglich in einem Kinderleben mit Gott: Anhänglichkeit und Urvertrauen; Rebellion und Entfremdung; immer stärker, tiefer werdende Gemeinsamkeiten im Lauf der Zeit und immer bewusstere Besinnung auf das, was uns auszeichnet und aufgetragen ist als Kinder eines solchen Vaters. Wir können uns pflegeleichte Kindheitsmuster bewahren, als blieben wir immer nur in Nazareth, wo das Kind von Bethlehem seine am wenigsten stürmischen, seine verborgenen, behüteten Jahre verbrachte*. Oder wir können Sorgenkinder der Liebe Gottes sein, die in ständiger Spannung und Leid ein tägliches Gethsemane, ein Golgatha erdulden, die zwischen palmsonntäglicher Popularität und karfreitäglicher Verzweiflung hin und her taumeln. Es ist nichts auszuschließen, nichts festgelegt auf den Wegen Gottes mit Seinen Kindern; ebenso wie ihre Kindschaft für sie eine Auszeichnung und eine Verpflichtung zur demütigen Geschwisterliebe bedeutet, ebenso können sie genau darin ihrem Vater Ehre und Kummer machen: So oder so sind und bleiben sie auf allen Wegen doch die Seinen!
Das Einzige, was es unter Gottes Söhnen und Töchtern nicht gibt, sind Waisenkinder!
… Und das Einzige, was sie nicht sollen, ist das weihnachtliche „Wir auch“ zu vergessen, das sie verbindet und verpflichtet, das sie tröstet und segnet.
Daran aber fehlt es so oft. Haben wir doch in diesem Jahr, in dem die Kinder Gottes, die kleinen Brüder und Schwestern Jesu so nötig waren und gebraucht wurden, in diesem Jahr, in dem plötzlich viele Gotteskinder, die längst auf Abstand zu ihrem Vater lebten, sich Seinem Gebot der Nächstenliebe wie selbstverständlich zur Verfügung stellten, … haben wir also doch in diesem Jahr auch die wachsende Gegenmacht erlebt.
… Das sind die, die anders als Gottes Kinder nicht „Wir auch“ sagen, sondern „Ohne mich!“; die Türen, ja ganze Länder für andere verschlossen hielten, und die darüber hinaus mit ihrem immer dumpfer und böser werdenden „Wir, nur wir allein“ sich von allen Gemeinsamkeiten, von Werten und Wahlen und allem, was ein gelingendes Gemeinwesen ausmacht, zurückziehen.
Dabei muss man kein Kind des Kindergottesdienstes sein, um zu erkennen, dass die „Ohne mich“-, die „Wir allein“-Menschheit zum Tode verurteilt ist. Wer niemals eine Last des anderen trägt (vgl.Gal.6,2), der wird zuletzt unter der Bürde begraben, die seine hilflose Einsamkeit ihm auferlegt.
In Wahrheit gilt nämlich, was ein durchaus skeptisches Kind Gottes – der längst vergessene Schriftsteller und Kritiker Theodor Vischer („mit Vogel-V“), der übrigens gerne unter dem Namen „Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky“ schrieb – in größter Klarheit festgestellt hat. In seinem für die „Wir auch“-Gemeinde wie geschaffenen autobiographischen Schelmen- und Bildungsroman „Auch einer“ heißt es schlicht und herausfordernd: „Das Moralische versteht sich immer von selbst.“
Wie aber versteht es sich? – Ganz einfach.
Der „Wir auch“-Gemeinde hat Karl Barth ja be-kanntermaßen auf die Frage, ob wir uns wohl im Himmel wiedersehen, mit Emphase und Hintersinn geantwortet: „Ja, aber die anderen auch!“. Das ist das Moralische, das sich überall und immer ergibt, wo wir nicht nach der „Ohne-uns-und-erst-recht-ohne-die-anderen“-Devise leben: „Die anderen auch“.
Auch darin ist aber noch lange nicht erschienen, wie wir sein werden, denn wie die Geschichte weitergeht, … die Geschichte zwischen uns und den anderen, zwischen den Weihnachtskindern Gottes und denen, die längst nicht mehr dran denken, dass auch sie heute neu mit dem Sohn Gottes geboren wurden, und schließlich auch noch jenen, die nie gehört haben, dass mit dem heutigen Tag eine Familie gegründet wurde, die alle Menschenkinder verbinden will, … wie diese Geschichte weitergeht, in der wir auch und die anderen auch ihre Rollen und Aufgaben übernehmen müssen, damit das Geburtstagsgeschenk der Liebe, das Geburtstagsgeschenk der Ehre Gottes in der Höhe und des Friedens auf Erden und des Wohlgefallens bei den Menschen jeden gleich froh und gleich dankbar machen kann, … wie diese Geschichte weitergeht, das wissen wir nicht und das braucht uns heute auch nicht zu bekümmern.
Heute ist es wie am biblischen Tage Nehemias (Neh8.10), der dem ratlosen und gerührten und über die eigenen Unterlassungen traurigen Volk befahl: „Geht hin und esst fette Speisen und trinkt süße Getränke und sendet davon auch denen, die nichts für sich bereitet haben, denn dieser Tag ist heilig unserm Herrn. Und seid nicht bekümmert; denn die Freude am HERRN ist eure Stärke.“——
Die Geschichte der Kinder Gottes, unsere eigene Gotteskindschaft wird gut werden: Das ist uns verheißen! Dafür kam Gottes eingeborener Sohn in unsere Menschheit, damit von ihm und seiner Liebe, von seinem Gehorsam, seiner Gerechtigkeit, seiner Gnade alle Kinder Gottes nehmen können, damit sie mit ihm teilen, ihm nachfolgen, ihm gleich seien.
So dass am Ende eigentlich alles gesagt und alles gefeiert und alles bekannt und alles vollbracht ist, wenn wir nur das eine sagen und singen: „Jesus! Jesus allein!“
Das sollte doch für jedes Gotteskind, das weiß, wer es dadurch wird und was es dadurch empfängt, reichen! ————————————
Wenn da nicht Sophie Scholl wäre. Die ging getrost wie nur ein Gotteskind, nur eine Schwester Jesu das kann, nach ihrem Todesurteil aus dem Gerichtssaal zum Sterben.
In der letzten Umarmung vor der Ewigkeit flüsterte ihre Mutter ihr das letzte Wort zu, an dem alles hängt und auf dem alles ruht: „Gelt, Sophie? Jesus!“
Und mein Leben lang werde ich irritiert bleiben, dass Sophie keck erwiderte: „Ja, aber Du auch!“ …….
Dennoch ist es so: Heute an Weihnachten, morgen wenn die Geschichten weitergehen, einst, wenn der letzte Weg kommt und wir am Ziel sein werden: Jesus! Und auch Du! Und wir auch! —
„Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder sollen heißen; und es auch sind! Darum kennt uns die Welt nicht; denn sie kennt ihn nicht. Meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder; und es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, dass wir ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“
Amen.
* Diesen Gedanken hat vor allem der Mystiker Charles de Foucauld (1858-1916) in die Tat umzusetzen versucht – und zwar indem er eine Zeitlang ein völlig verborgenes, unbeachtetes Leben buchstäblich im galiläischen Nazareth führte.
Christemette 24.12.2015 Stadtkirche Jesaja 60,1-3 (Buber-Rosenzweig Übersetzung) Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christmette 2015
Jesaja 60, 1-3
„Erhebe dich, werde licht, denn dein Licht ist gekommen, SEIN Ehrenschein, über dir ist er erstrahlt.
Denn da hüllt Finsternis noch die Erde, Wetterdunkel die Nationen, aber über dir strahlt ER auf, sein Ehrenschein läßt über dir sich sehn. Weltstämme gehen in deinem Licht, Könige im Glanz deines Strahlens.“
(Übersetzung: Martin Buber)
Liebe Gemeinde!
In diesem Jahr, in dem der Deutschunterricht nach Deutschland zurückgekehrt ist, in dem wir plötzlich Menschen über Menschen erleben, die lernen wollen, wie man von links nach rechts lateinische Lettern schreibt und wie man Sätze bastelt, bei denen das Achtergewicht halsbrecherische Entfernungen zwischen dem Handelnden und seiner Tat entstehen lässt, … in diesem Jahr, in dem mich etliche junge Syrer in peinliche Verwirrung stürzten, weil sie nach einer hitzigen arabischen Diskussion wissen wollten, ob „brauchen“ ein Modalverb sei – was ich nicht mit letzter Sicherheit beantworten konnte, weil ich ja anders als sie niemals ordentlich Deutsch gelernt habe, sondern mein Schnabel nur danach gewachsen ist –, … in diesem Jahr der sprachlichen und sonstigen Akrobatik und der mancherlei durcheinanderpurzelnden oder gleich ganz gestrichenen Gesetze und Regeln, … in diesem Jahr einer Anarchie und eines Wurschtelns, die bisweilen auch die Sprache verschlagen konnten und nur noch Fragezeichen in die Zunge knoteten, als blubbere man ein Gedicht von Christian Morgenstern vor sich hin, … in diesem viel zu überladenen und unverständlichen und unerhörten Jahr, in dem die Christmette mit dem längsten und überladensten und vielleicht auch unverständlichsten Satz aller Zeit beginnt, der noch immer nicht zu Ende ist, … in diesem Jahr der Verwirrung und ihrer unübersichtlichen Folgen, … da erteilt der Pastor der klaren Ordnung halber einfach mal gleich zu Beginn des liebsten unserer Feiertage Noten:
Und „Mangelhaft!“ lautet die weihnachtlich entscheidende Note.
„Deutsch, Du kannst es nicht!“
– „Was kann ich denn nicht?“, fragt die deutsche Sprache da pikiert zurück. „Ich bin so frei und passe mich so an und ordne mich so unter und schmeiße mich beim Englischen so ran und lass’ fast jeden mit mir machen, …was bitt‘ schön kann ich denn nicht, Du neunmalkluger Kanzelsalbaderer?“
– „Ach, Alte! Sei doch nicht gleich so schnippisch“, gebe ich zurück. „Liebe Muttersprache, ich will Dir doch gar nichts. Ich will Dich ja auch weiterhin heimlich - und gern auch vor allen Leuten – für die Schönste und Zuherzengehendste halten …, aber Weihnachten kannst Du nicht!“
– „Und so was muss ich mir von Dir sagen lassen“, raunzt meine Sprache mich schmollend an, „und das ausgerechnet heute! Wo doch keine andere Sprache so innige und gemütvolle Töne, so herrliche und reiche Weihnachtslieder gesponnen und gewoben und für die Feiertage aufgebügelt hat! Ich soll Weihnachten nicht können? Pah!“
– „Nu hör’ mir doch wenigstens mal zu, wenn ich Dich rede“, beschwichtige ich unsere treueste Gehilfin auf der Kanzel, unsere Amme und Patin im Glauben. „Liebe deutsche Sprache: Du hast das falsche Hilfsverb, wenn’s um Weihnachten geht … oder das falsche Subjekt.“
– Da wird die Sprache stumm vor Entrüstung, … sagt keinen Brumm mehr, sondern lauert nur noch verbissen herausfordernd. Aber ich meine es ernst mit ihr! …….
Das Deutsche sagt das Verkehrte über Weihnachten! Denn wenn Du oder ich den gewöhnlichsten Satz vom Christfest bilden, wie lautet er dann? Wie kündigen wir es an? – Sagen wir nicht immer wieder den völligen Schmarr’n: „Es wird Weihnachten“?!
E s w i r d W e i h n a c h t e n!?
Es?
Es wird? …….
Wie vollkommen unpersönlich das klingt. Dieses rein mechanische Passiv, das losgelöst von irgendeinem Verantwortlichen im leeren Raum hängt. „Es wird“……. Zwar ist heute gewiss nicht der Ort und nicht die Stunde, um unser aller mangelhafte Vertrautheit mit der deutschen Grammatik-Theorie wettzumachen, aber so viel sei immerhin zu diesem häufigsten Weihnachtssatz nachgeholt: Bei „Es wird Weihnachten“ liegt ein subjektloses Verb vor, das ein sog. Expletivpronomen des Vorfeldes nutzt, um etwas zu sagen, dass eigentlich niemandem nix Genaues zuschreibt.
Und auch wenn wir die Grammatiklektion damit alsbald schließen, geht uns vielleicht doch auf, was für ein schrecklich gedankenloser oder aber was für ein skandalös raffinierter und unchristlicher Satz das ist, unser: „Es wird Weihnachten“.
Es „wird“ ja nicht einfach Weihnachten. Das funktioniert nicht irgendwie so vor sich hin, … es läuft nicht ab wie jede x-beliebige Gesetzmäßigkeit, die man sich auch ohne Handelnden vorstellen mag. Weihnachten ist kein automatischer Vorgang, kein passives Passieren.
Oh nein! Weihnachten ist verantwortet worden! Es ist eine Entscheidung, eine Tat, es ist ein Durchbruch und ein Wunder. Weihnachten ist das Geschehen mit dem größten Subjekt der Welt – auch wenn das dadurch winzig wird.
Wir sollten das Ereignis der Weihnacht also wirklich niemals als eine selbstverständliche Routine denken und beschreiben, denn es ist und bleibt die alle menschlichen Phantasien und Wünsche noch übertreffende, einzigartige Großtat Gottes, … allerdings wirklich Seine Tat, die nicht per Hilfsverb vonstattengeht.
Gott hat Weihnachten getan! Und zwar was?
– Das Unerhörte: Er hat sich selbst – nicht uns! – verlassen; Er hat sich selbst – nicht uns! – verleugnet; Er hat sich selbst – nicht uns! – dem Wohl seiner Schöpfungsziele untergeordnet; Er hat sich selbst – nicht uns! – den Dunkelheiten ausgeliefert; Er hat sich selbst – nicht uns! – ( …Verzeihung!) neu erfunden.
Gott hat Weihnachten getan, indem Er sich selbst vollkommen Neues, Anderes, Unglaubliches, Atemberaubendes, Unverschämtes antat und zumutete. Gott hat mit Weihnachten ein beispielloses Wunder vollbracht: Ein Verzichts- und Erniedrigungswunder, ein Wunder an Mitgefühl und Opferbereitschaft, ein Wunder der Liebe, die alles Schöne hergibt und alles Schwere übernimmt, weil sie eins nicht kann: Sie kann in der Sorge um den Geliebten nicht kleinbeigeben. … Dann zur Not eben selber klein werden, unscheinbar, lächerlich, arm und mickrig und unbemerkt.
Das ist die überwältigende Tat von Weihnachten: So sehr hat Gott geliebt, dass Er die gleich-gültige Welt nicht verbrannte, sondern selbst aus Liebe zu ihr dahinschmolz. … Und in der Krippe finden wir den Rest. Mehr hat die Liebe nicht übriglassen können, als nur diesen Hauch, dieses schwache Etwas! ——
Wer das spürt, dass wir heute eine solche galaktische Erschütterung, eine Selbstverbrennung der stärksten Kraft des Kosmos, ein lebensrettendes Sich-Zusammennehmen der universalen Ausstrahlung betrachten und feiern …, der dürfte nicht mehr so ungerührt maschinell sagen können: „Es ʽwirdʼ Weihnachten“, sondern voller Furcht und Stammeln bekennen müssen:
„Weihnachten ist geschehen, indem die Sonne sich zu Staub machte, … indem Gott sich zum Menschenkind werden ließ.“
Und wem das klar geworden ist – dass Weihnachten ein Subjekt hat! und wer Dieser ist! und was Er da für jeden von uns getan hat in Seinem Sich-selber-fremd-und-uns-ähnlich-Werden! – … wem das klar geworden ist, der kann in aller Vorsicht und Anfängerschwierigkeit einen anderen Weihnachtssatz bilden, einen Satz, dessen Subjekt plötzlich wir selber sind und zu dem schon Jesaja, der Tröster und Trainer der Hoffnungslosen ein halbes Jahrtausend vor Christi Geburt aufrief.
„Erhebe dich, werde licht!“ schiebt Jesaja die müden, welken, lahmen Glieder der Gemeinde an. Rührt euch doch endlich einmal vom Fleck, ihr in Gewohnheit schlaff gewordenen, glaubensrostigen, vor euch hin dämmernden Gestalten, die so dumme Sätze wie den, dass es Weihnachten werde, lallen: Es wird nicht einfach so Weihnachten, denn was da geschieht, das geht nicht im Passiv vor sich, sondern als die ungeheure Aktion, in der Gott das unbegrenzte Licht in die widerstrebende Engigkeit der Nacht presst und sich selbst in die kleine Hütte dieser Welt, in die Haut eines Säuglings.
Wenn Gott das aber macht, wenn Er sich so zusammennimmt, dass das geht – Sein Licht in der dicken Luft und in den tiefen Schatten der irdischen Beschränktheit –, dann sollt, … dann müsst Ihr mitmachen!
Macht Weihnachten mit, Ihr Menschen! Auf, werdet licht!
Wobei das Schöne an Martin Bubers Verdeutschung dieses uns wohlvertrauten Satzes ist, dass er kein Hauptwort, sondern ein Adjektiv setzt: Ihr müsst nicht selbst der Fixstern oder Glutkern sein wollen, Ihr müsst nicht selbst das großgeschriebene Licht sein, es reicht völlig, wenn Ihr kleingeschrieben „licht“ werdet, wenn Ihr reflektiert und es Euch durchstrahlt, was Gott getan hat, als Er Weihnachten tat.
Werdet leuchtend!, sagt Jesaja. „Er das Licht und wir der Schein“, singt Zinzendorf (EG 251,1).
Bei Buber aber, der die deutsche Sprache so sagenhaft zu läutern und zu prägen verstand, dass sie wie zu Luthers Zeiten wieder eine unmittelbar biblische Glut, eine hebräische Wärme und Klarheit gewinnt, … bei Buber wird die Ermutigung, dass auch wir das tun, was Gott weihnachtlich tut, noch sprechender. Denn das Adjektiv, zu dem Buber uns drängt, um das wunderbare Ehrenscheinen Gottes in der irdischen Finsternis, im Wetterdunkel der Nationen einen angemessenen Widerschein entzünden zu lassen, … dieses Adjektiv „Werdet licht!“ muss man auch norddeutsch, ja, man muss es plattdeutsch hören. Wenn nämlich Gott das kann, dann könnt Ihr das auch: Lichten! Also Euch erleichtern. Leicht werden.
Werdet schwerelos, Ihr Menschen! Werft den allzu großen Ballast über Bord. Ihr seid nicht so gewichtig, Ihr seid nicht so aus Erz, Ihr seid nicht so gewaltig und solide und festgegossen in der Erde, wie Ihr gerne glauben macht. Ihr könnt Euch „losschälen“ – so sagt man in der Sprache der Mystiker –, Ihr könnt Euch genauso leicht und beweglich und gering und frei wie Gott machen! Wenn Gott Weihnachten tun konnte – aufbrechen und alles, alles zurücklassen und mit mehr oder weniger gar nichts ankommen und vorlieb nehmen und da sein, … wenn Gott das kann, der Herr der Heerscharen, der König der Ehren: Dann solltet Ihr das nicht können? Macht’s Euch doch nicht so künstlich schwer. Werdet licht! Macht Euch leicht! ——
Geschenkt: Sich leicht machen, ist schwer. Weil wir uns gerne wichtig nehmen, … lieber sogar tragisch nehmen, als auf die leichte Schulter. Aber wir müssen und wir können es trotz allem lernen, wenn wir Weihnachten feiern wollen.
Nicht nur, indem wir in diesem verrückten und verwirrten Jahr die Zahllosen bedenken, die gar keine andere Wahl hatten, als sich federleicht dem Wind anzuvertrauen, weil der Krieg und die Not, deren Spielball sie wurden, sie ohnehin entwurzelt und auf die Flucht getrieben hatten. Nicht nur die Flüchtlinge, die uns die ungewohnte, uns gar nicht eingängige Lehre erteilen, dass unser Land und Leben für sie eine Verheißung sind – eine Lektion, die andere Völker übrigens zu ihrem Gründungsmythos und größten Stolz machen – nicht nur die Flüchtlinge lehren uns solches, … so schwer wir sie auch verstehen mögen.
Sondern Gott selber zeigt es uns in dieser Nacht: Sein Aufbruch in Richtung des Nichts, vor dem wir ohne Ihn stehen, ist unser Heil! Sein Aufgeben aller Seiner Reiche und Rechte ist unsere Rettung geworden! Sein bescheidenes Genügen am Allerkleinsten bringt unsere Befreiung von so vielen Lasten! Gottes Weniger ist unser aller Mehr geworden! Wovon Er sich löste, das erlöst auch uns.
Gott ist Licht und er wurde licht – leicht, lütt und locker.
Gott, unser Licht wurde für uns leicht, damit auch wir es leicht haben und werden. Nicht gebunden, nicht beschwert. Licht auf allen unseren Wegen. ——
… Wovor fürchten wir uns noch? Vor welchem Aufbruch, vor welchem Abschied, welchem Weg? Werdet licht, liebe Christen, denn der Gott Eurer Erleichterung, der leicht gewordene und licht- und liebreiche Gott geht mit, geht vor, macht das Unmögliche möglich und das Schwere ……… — — —
– „Liebe deutsche Sprache! Wie gut Du Weihnachten kannst! Wie tröstlich, dass Du sie verbindest: Licht und Leichtigkeit!“*
Gott macht es beides wahr für alle, die sich nicht losreißen können, die festhängen und festhalten und finster sind und verfangen.
Gott macht Weihnachten, indem Er das Schwere leicht macht – bei sich und bei uns.
Leicht und licht auf allen Wegen, durch das Kind, das uns geboren und geschenkt ist!
Amen.
* Ganz leise – so dass die empfindliche, leicht zu beleidigende deutsche Sprache es möglichst nicht mitkriegt! – sei hinzugefügt: Das Englische kann’s noch besser! Light = light! Psssssst!
Christvesper 24.12.2015 Stadtkirche 1.Johannes 1,1-4 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christvesper 2015
1.Johannes 1, 1-4
Liebe Gemeinde!
Kann, wer Weihnachten feiert, fröhlich an die Evolution glauben? Kann ein Weihnachtschrist, der ja bekanntlich die letzte Stufe der getauften Spezies darstellt, … kann ein Weihnachtschrist unbekümmert an den Progress vom Baumhocker zum Geistwesen denken?
… Oder müsste es uns Weihnachtschristen alle nicht nachdenklich machen, zu sehen wie das höchste Fest der Menschwerdung zum Affentheater geworden ist? ——
Wie dem auch sei, … das spricht nicht gegen den wackeren Charles Darwin, der seine ersten förderlichen Anregungen in theologischen Werken fand und dann seine Augen und seinen Verstand gebrauchte in einer heute nicht mehr erreichbaren Weise, weil er Neues sah und Eigenes dachte und lieber jahrelang seekrank war, als bequem abhängig zu bleiben von dem, was andere gesammelt und behauptet hatten.
Nichts also gegen Darwin, den man verehren kann, allein weil er die Erbanlangen zweier großer Großväter trug, die sich beide durch ihren freisinnigen Kampf gegen die Sklaverei einen Namen machten. Außerdem muss man seine Inkonsequenz lieben. Als er nach reichlicher, schriftlicher Abwägung heiratete, weil die Argumente dafür („steter Begleiter und Freund im Alter - jedenfalls besser als ein Hund“) die Gegengründe überwogen („weniger Geld für Bücher - furchtbarer Zeitverlust“), … als Darwin also heiratete, da war er nicht auf eine möglichst breite genetische Selektionsbasis bedacht, sondern beförderte den Ahnenschwund durch die Ehe mit seiner Cousine, der Tochter des stilbildenden Keramikherstellers Josiah Wedgwood. —
Charles Darwin also gibt als freier, menschenfreundlicher, grundehrlicher Denker und überdies als ungewöhnlich besorgter, liebevoll zärtlicher zehnfacher Vater keinen Anlass, die Geschichte vom Ursprung unserer Art, wie er sie ahnte und nachzeichnete, ablehnend zu bestreiten.
Das sollte unter uns weihnachtlichen Christen auch kein redlicher Mensch versuchen. ——
Aber das Ohr, den Kopf, das Herz gilt es heute, an Weihnachten dennoch einem anderen zu leihen, der vom Ursprung eine andere Kunde, der eine Erkenntnis des Uranfangs weitergibt, die Darwins nicht überbieten, sondern überstrahlen.
Dass unser Verkündiger vom Anfang aller Dinge es tatsächlich so grundsätzlich meint, dass er so hoch greift und so prinzipiell ansetzt, belegt der Wortlaut seiner Botschaft:
Zwar ist es nur der Brief eines alten Mannes an seine geistlichen Kinder und Erben, aber der feierliche Beginn lässt keinen Zweifel zu, dass der Apostel Johannes auch seiner Altersepistel genau wie seinem Evangelium eine Ouvertüre mit universalem Thema und in kosmischer Dimension voranstellt.
„Was von Anfang an war“: Mit diesem vollen Akkord eröffnet Johannes seinen Brief und stellt ihn damit für jedes geschulte Ohr nicht nur selbstbewusst neben die großen Schöpfungsspekulationen Platons und der griechischen Dichter, stellt ihn nicht nur kurz und bündig gegen die vielerlei prometheischen Mythen und Urzeitsagen der Völker, sondern schlägt den erhabenen, resonanten Grundton an, mit dem die ganze Bibel beginnt: „Ἐν ἀρχῇ“ – Genesis I.
Das aber ist nicht nur kühn – an Kühnheit mangelt es den wirklichen Jüngern des nach drei Jahren gekreuzigten und nach zweitausend Jahren lebendigen Meisters nur selten! – das ist nicht nur kühn, sondern gefährlich. Denn ein so weitausholender, weihevoll epischer Ton macht zuweilen ja auch schläfrig, … wie ein im Zweifelsfall hochgelehrter Vortrag über die kosmologische Konstante als Teil der allgemeinen Relativitätstheorie. … Alles bestimmt richtig und wichtig und grundgescheit, … nur vielleicht doch von des Gedankens Blässe angekränkelt, … mehr für Kenner und Spezialisten.
… Aber bitte schön! Dann halt hochgestochene Abstraktion und metaphysische Theorie. …
„Was von Anfang an war“…….:
Wie das einlullt! Wie nicht nur der schwindelnde Abgrund der Vor- und Früh- und Urzeit jenseits dieser Worte zu gähnen beginnt, sondern man selber!
— Doch da knirscht es plötzlich und ruckt und obwohl es einen hellwach rüttelt, traut man seinen Sinnen kaum: Hat der Apostel mit dem hohen Ton da nicht eben „sehen“, „schauen“ und „anfassen“ gesagt?
Hat er den protologischen Tiefsinn, den urständlichen Rückgriff auf den letzten Grund da nicht gerade haarscharf umgelenkt und bei diesem jähen Manöver die Orientierung verloren, so dass, was hochgeistig anhub, plötzlich im Alltäglichen landete?
…Wir müssen uns wohl verhört haben.
Das kosmische Prinzip ist doch nicht greifbar!
Der Urkraft kann man nicht begegnen!
… Das ist als würde Platon behaupten, er habe die Ideen besucht oder Galilei, er habe die Planeten gestreichelt; am Ende ist es gar, als ließe Stephen Hawking vom grenzenlosen Universum selber grüßen. …….
So lachhaft kindisch wird aber doch nicht reden, wer so volltönend philosophisch begann?!
Johannes indes tut’s: „Wir haben der ersten Ursache in’s Gesicht gesehen. Wir haben am unergründlichen Geheimnis der Welt unsere Augen geweidet. Wir haben den Kern der Wirklichkeit angefasst. Wir haben das Leben berührt.“
Er meint es tatsächlich so! Er schämt sich nicht, die selben Worte wie alle Dichter und Denker der Welt, die wissenschaftlichen Grundbegriffe der Menschheit, die Formeln von der theologischen Transzendenz zu nutzen und zu erklären, sie seien mit Händen zu greifen!
Johannes also schämt sich nicht, einerseits wie einer der ganz großen Geister zu sprechen und andererseits nicht klüger ein kleines Kind. …….
Und diese Verwirrung und Vermengung der Ebenen – des Sublimen mit dem Schlichten – ist sachgemäß unvermeidlich, wenn man vom Schöpfungswunder Weihnachten Zeugnis geben will. Denn tatsächlich ist das Ereignis, das wir heute feiern, die größte physikalisch-philosophische Sensation: Die Krümmung von Raum und Zeit vollendet sich, die Kausalität läuft rückwärts auf ihren eigenen Grund zurück – so würde der hochgeistige Johannes es uns heute sagen.
Und der selbe als einfacher Augenzeuge dieses Wunders sagt: „Der Anfang ist wieder da. Das, aus dem alles herkommt, ist in unserer Mitte!“ —
Dieses Staunen dessen, der Jesus gesehen, erlebt und angefasst hat, der ihn beobachtet, gehört und gespürt hat, dieser Jubel, dass das Wunder, aus dem alle Wirklichkeit hervorgeht, sich in einer vertrauten Gestalt so handfest begreiflich macht, diese Freude von Hirn und Herz ist der gemeinsame Quell allen christlichen Denkens und Fühlens.
Das eine führt zum andern, indem die ganz direkte Erfahrung dieses Menschen Jesus die beispiellose Einsicht bringt: Hier hat sich der Auslöser von Allem selbst verursacht; hier hat die schöpferische Kraft des Schöpfers sich als ihr eigenes Geschöpf entfaltet; hier hat der wahrhaft Lebendige sein Leben selber gezeugt! … Hier, in diesem Menschen, … heute abend genauer: Hier, in diesem Kind! —
Solche tiefe, gleichzeitige Bewegung von Intellekt und Emotion, die in Jesus, dem neugeborenen Kind den uranfänglichen, ewigen Gott findet, solche unlösliche Verbindung von kühler Komplexität und herzenswarmem Kitsch: die schenkt uns nur der christliche Glaube, die ereignet sich nur und immer wieder an der Krippe, die zufällig die Wiege des unvordenklichen Gottes ist. —
Nirgends sonst kann man etwas erleben oder denken, das so harmonisch aus beidem besteht – aus Höhenluft und Nestwärme, aus Offenbarung und Instinkt, aus Mysterium und Menschlichkeit – , wie wenn wir die weihnachtliche Geburt des von Anfang an Gewesenen feiern!
Und es ist höchste Zeit, dass wir es wirklich und wirksam fassen und festhalten: Unser Glaube ist heilstiftender Glaube, ist ein Glaube, der das Auseinandergerissene verbindet und das Zerbrochene heilt, weil in ihm die beiden Pole von Nachdenklichkeit und Unmittelbarkeit verschmelzen, zwischen denen sonst Misstrauen und Widerspruch klaffen.
Diese alte Feindschaft zwischen ruhiger Reflektion und rascher Regung wird ja schlicht in beiden Richtungen außer Kraft gesetzt, wenn das Abstrakte so konkret, wenn das Gegrübelte so gegenwärtig wird, wie Gott in den Windeln. ——
Den einen nämlich ist Er ein Hirngespinst – „Gott“, der sinnlose Gedanke –; den andern ist es ein Hosenscheißer – so ein lästiges Menschenwürmchen – ; uns Christen allein aber ist es gegeben, sie gleichzeitig in ihrer gemeinsamen Wirklichkeit zu erkennen: Gott leibhaftig … und den Menschen göttlich zu finden.
Solche synchrone Erkenntnis ist die wahre Wissenschaft, derer die Menschheit bedarf.
Sie ist der einzigartige Beitrag, den wir als Christen nicht nur zum alten Darwin’schen Rätsel vom “Origin of Species”, sondern auch zur noch viel brennenderen Frage der “Future of Species”, zur Frage der Zukunft des Lebens leisten können.
Unsere weihnachtliche Evolutionslehre, die Schöpfer und Geschöpf nicht getrennt wie Ursache und Wirkung, sondern in ihrer unlöslichen Gemeinsamkeit, ja Einheit in Christus erkennt, hat dabei eine zweifache Konsequenz.
Zunächst zeigt sie uns die seit Darwins Tagen etwas verblichene, etwas glanzlos gewordene Herrlichkeit hinter den veränderlichen Entwicklungen des Lebens: Wenn „Evolution“ nicht nur bedeutet, dass Affen Menschen werden können, sondern dass Gott selber dieses Ziel für sich gewählt hat, dann müsste jeder, der das ist, was Gott wurde, wohl anders durch’s Leben gehen: Staunend, behutsam, frei und aufrecht! … In mir schlummert nicht nur das sagenhafte Gedächtnis, das alle Wesen von der Amöbe bis zum künftige Menschen auf dem Mars sich teilen, sondern in allen unsern Gliedern steckt Gottesnähe, in jedem Gen gibt’s ein Erbteil, das das Kind von Bethlehem und uns Heutige mit dem Ewigen verknüpft! …
Was die viel beschworene Menschenwürde bedeutet und wozu sie verpflichtet, wird so fast biologisch eindringlich klar: Jedes Menschenantlitz gehört zur leiblichen Familie des Stellvertreters und Erlösers aller; wir sind nicht nur die Bundesgenossen Gottes – als wäre solch eine freiwillige Verbindung etwas Geringes! – nein, Gott hat den Menschen zu Seinem Artgenossen gemacht! Darum aber ist jede Unmenschlichkeit auch schlicht Sünde wider Gott! —
Das andere, was aus der Herkunft des Menschen von unserem väterlichen Gott und aus der Abstammung Gottes von einer menschlichen Mutter folgt, ist allerdings beinahe noch überraschender. Denn dass unsere verbreitete und immer noch zunehmende Unmenschlichkeit und unser Umgang mit der Schöpfung insgesamt schrecklich schädlich, menschen-, gottes- und selbstmörderisch sind, das ist sattsam bekannt. Das erkennen und spüren im Übrigen auch nicht nur die Christen. …….
Aber was wir als Christen aus der Erkenntnis gewinnen, dass Gottes Leben und unser Leben eine Gemeinschaft, ja geradezu eine Symbiose bilden, … das ist doch anders als alle sorgenvollen Anmerkungen zu Klimawandel und Migration und sozialer Lage, die so oft in den Weihnachtsbotschaften im Vordergrund stehen.
Denn dass es diese Gemeinschaft zwischen Gott dem Vater und dem Sohn und uns gibt, das schreibt der Apostel ja ausdrücklich nicht als Warnung, sondern damit unsere Freude vollkommen sei!
Die weihnachtliche Schöpfungsgeschichte erzählt nämlich zwar von der physischen Geburt eines Menschen, den man ansehen und anfassen kann, dessen Körper, Stimme, Gang und ganze Beschaffenheit gewöhnlich sein werden und sterblich, wie die unseren – dennoch aber ist in ihm das Leben, das ewig ist, zur Welt gekommen!
Und dadurch, dass in der Geburt und im Tod Jesu tatsächlich das ewige Leben die beiden Grenzen unseres sterblichen Daseins durchschritten hat, … dadurch ist alles anders geworden:
Wie bedroht und hinfällig, wie verkürzt oder unvollständig, wie schmerzhaft, wie eigen oder wie gewöhnlich das Leben eines Menschen nun auch immer sein mag, es ist doch ein evolutionär entscheidend verwandeltes Leben geworden. Wir alle existieren und florieren und jonglieren und triumphieren und lavieren und demissionieren nicht mehr als die zwangsläufig zum Tode seienden Sterblichen, sondern als Glieder einer Menschheit, in der unwiderruflich unzerstörbares, dauerhaftes Leben zum Durchbruch gekommen ist!
Weihnachten hat den finalen evolutionären Schub gebracht, als in der Biologie des Menschenkinds von Bethlehem das nicht mehr beliebig bedingte und bedrohte und befristete Leben, sondern ein bedrohtes, befristetes, bedingtes Leben erschienen ist, das dennoch nicht verloren gehen kann!
In der Gelehrtensprache, die noch Luther nutzte, wird dieser Durchbruch auf die Formel gebracht: „Finitum capax infiniti“ … das endlich Begrenzte unseres Daseins als Menschen hat tatsächlich das Unendliche aufnehmen können*! Das Leben Gottes ist für immer in das menschliche und das Menschenleben unzerstörbar in Gottes Lebens integriert. —
Doch besser ist es in der anspruchslosen, aber buchstäblich ergreifend greifbaren, unfassbar fasslichen Sprache des zupackenden Frohboten Johannes und seiner weihnachtlichen Evolutionstheologie ausgedrückt:
„Das Leben, wie es wirklich sein soll, ist in Jesus erschienen, … man kann es sehen und berühren und wir geben es weiter, damit Eure Freude vollkommen sei!“
Bless you, Charles Darwin – and merry Christmas!
Amen.
* Wichtig ist die Wendung, die Bonhoeffer den etwas starren, sklerotisch kontroversen Formeln gegeben hat, die zwischen Reformierten und Lutheranern besonders in der Abendmahlslehre umstritten waren (D.Bonhoeffer, Christologie Vorlesung, in : Dietrich Bonhoeffer Werke Bd.12 – Berlin 1932-1933, Gütersloh 1997, S. 332): „Finitum capax infiniti non per se sed per infinitum“ (Das Endliche kann das Unendliche aufnehmen, jedoch nicht aus sich selber, sondern durch das Unendliche).
2.Advent 06.12.2015 Stadtkirche Jakobus 5,7-8 Pfr.Falk Schöller, Theolog.Vorstand der Graf-Recke-Stiftung
Vom Warten
Predigt zum Zweiten Advent über Jakobus 5, 7-8
Kanzelgruß
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.
Predigt
Eine Gnade ist es, liebe Gemeinde, ohne Kinder einkaufen zu gehen. Das zumindest habe ich gedacht, als ich ein Elternpaar beobachtete, oder eher, beobachten musste, als ihr Kind dringend und mit großem Nachdruck genau jetzt etwas völlig überflüssiges haben wollte. „Ich will das aber“, schrie das Kind durch den ganzen Raum. „Ich will das, und zwar jetzt!“
Die Köpfe drehten sich um, manche blickten verstohlen hin, aber die Eltern spürten genau, wie sie unter Beobachtung standen. Das Gesicht des Kindes war rot, die Stimme gepresst, der Atem kurz: wenn die Eltern nicht nachgeben, den Wunsch jetzt und sofort erfüllen, dann würde das Kind platzen. Ein Kind in der Trotzphase – und ich war gottfroh, nur Zuschauer zu sein und ältere Kinder zu haben.
Doch mal Hand auf’s Herz: glauben sie, dass ihre Trotzphase vorbei ist, glaubt ihr das, liebe Konfirmandinnen und Konfimanden?
Ich – alles – jetzt – sofort: sonst platze ich, sonst platzt es aus mir heraus, meine Wut, meine Enttäuschung, meine Verbitterung, und es zieht ein meine Trostlosigkeit, völlige Leere, tiefe Verletzung. Haben wir das wirklich schon überwunden?
Heute bestellen, heute geliefert. Bei Nichtgefallen einfach zurück an den Absender. Amazon und Zalando überspitzen nur, was wir selber auf die Spitze treiben. Ich sehe uns in einer Trotzgesellschaft. Ich – alles – jetzt – sofort: nichts hat mehr seine Zeit, schon gar nicht das Warten, die Geduld, die Ausdauer. Manche Worte scheinen verschwunden zu sein: beharrlich, ausharren, verweilen. Vielleicht ist sogar die Langeweile verschwunden und damit Ruhe, Stille, Schweigen. Zumindest ist vieles davon im Advent verschwunden, obwohl genau das der Advent war, der eigentliche Advent. Wartende Menschen in einer Trostgemeinschaft, statt drängende Menschen in einer Trotzgesellschaft. Der wahre Advent ist eine Trostgemeinschaft, keine Trotzgesellschaft.
Unser heutiger Predigttext jedenfalls entspringt einer Trostgemeinschaft, einem tiefen Verständnis von Advent, einer lebendigen Hoffnung auf etwas, das noch nicht ist – und das wir Menschen gar nicht machen, schon gar nicht kaufen können. Im 5. Kapitel des Jakobusbriefes stehen folgende zwei Verse:
So seid nun geduldig, liebe Brüder und Schwestern im Herrn, bis zum Kommen des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde, und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen.
Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe.
Liebe Gemeinde, dieser Advent von dem Jakobus schreibt, ist nicht unser Advent, den wir erleben. Aber dieser Advent ist der wahre, der eigentliche Advent. Der Advent einer christlichen Trostgemeinde, die auf den wartet, der in die Zukunft, in die Weite, in die Offenheit führt. Der wahre, der zweite Advent wartet nicht auf ein Wiederkehren des Kindes in uns, sondern auf das Wiedereinkehren Gottes in diese Welt.
Ein solches Warten kann ganz verschieden aussehen. Jakobus schreibt an die Christen in der Zerstreuung, die bedrängt und angefeindet werden. Ihr Warten ist bedroht, zu lange haben sie umsonst und vergeblich gewartet, dass Gott wieder kommt und der Not in der Welt und ihrer Not ein Ende macht. „Seid geduldig“, so müssen sie ermahnt werden.
Aber nicht immer können wir geduldig warten. Mitten im Krieg bekommt das Warten eher bedrängenden Charakter, Gottes Kommen wird mit Macht gefordert, ein nachdrückliches Warten. So haben wir es eben gesungen:
„O Heiland, reiß den Himmel auf, herab vom Himmel lauf,
reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloß und Riegel für.“
Mitten im 30-jährigen Krieg dichtet Friedrich Spee diese Zeilen. In der Not von Krieg und Elend, Flucht und Vertreibung, geht es nicht um ein geduldiges Warten, nicht um ein Hände in den Schoß legen und Gott einen guten Mann sein lassen, sondern um ein Warten, das zugleich ein Pressieren ist. Da ist Druck dahinter, spürbarer Druck, da sind alle „under pressure“. Es ist ein getriebenes, ein treibendes Warten – aber zugleich ein Warten auf den, der den Himmel aufreißt, der die Not und das Elend sieht, der das Dunkel kennt und selber nicht mehr erträgt. „Brecht ihr Wolken, regnet aus. Schlag aus, o Erd.“ Welch ein druckvolles Warten, welch ein drängendes und dringliches Warten – welch ein Advent, liebe Gemeinde.
Auch bei uns herrscht Krieg, in manchen Regionen seit vielen Jahren, ja auch Jahrzehnten, in Afghanistan, Syrien, Palästina. Vielleicht können wir solch ein adventliches Warten heute auch bei uns wieder hören und spüren. Bei den Menschen, die sich nach dem Warten auf bessere Zeiten, oft nach langem, geduldigen, jahre-, ja jahrzehntelangen Warten auf bessere Zeiten auf den Weg zu uns gemacht haben. Sie haben oft lange geduldig gewartet, manche sind in der Heimat geblieben, manche haben vor den Toren der Heimat in Zeltstädten auf bessere Zeiten gewartet, haben geduldig gewartet und gebetet, dass der Krieg ein Ende nimmt.
Vielleicht können wir auf diese Menschen hören und mit ihnen erspüren, wie denn der offene Himmel, die neue Welt, das verheißene gelobte Land für sie aussehen soll. Und uns einmal überlegen, warum sie ihren Advent gerade bei uns suchen, warum sie denn glauben, dass bei uns der Himmel offen, die Zukunft vorhanden, die Menschlichkeit gelebt wird.
Wenn wir ihr Warten und ihre Erwartungen verstehen, das würde unser Bild vom Advent sicher verändern. Wir würden uns im Hören, im Zuhören und Hinhören zu einer Trostgemeinschaft verwandeln, die das offene Herz und das weite Land und den neuen Himmel miteinander suchen, geduldig und drängend zugleich. Unser christliches Abendland als eine christliche Trostgemeinschaft:
„O Heiland, reiß den Himmel auf, herab vom Himmel lauf,
reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloß und Riegel für.“
Doch auf wir kennen ein Warten, das keine Geduld kennt. Ein drängendes Warten ist auch uns nicht fremd. Im Krankenhaus sitzt ein Mensch, ein unklarer Befund liegt vor. Alles ist möglich, auch das schlimmste. Die Gedanken sind gefangen, drehen sich im Kreis. Dieses Warten sucht ein Ende, lieber ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende. Ein solches Warten macht wahnsinnig – wie wäre es, wenn mitten in einem solchen wahnsinnigen Warten das adventliche Warten einstellt? Welch ein Segen könnte es sein, wenn dieses Warten unterbrochen wird, und sich die Blicke auf den Himmel richten, auf Gott sich die Hoffnung setzt, sich festmacht an den Geschichten und Erzählungen, vom ersten Advent, vom Kommen Gottes in Jesus Christus. Und miteinander erzählt und vertraut wird auf den Gott, der dem Leben den Vorzug vor dem Tod gibt, der Menschen an Leib und Seele gesund macht, der selbst den Tod überwindet und ihm den Stachel zieht. Ein tröstliches, tröstendes Warten, ein gemeinsames Ausharren. Und wenn dass der Arzt kommt, der Befund vorliegt: wie oft ist es, als ob Regen fällt und dann neues Leben entsteht und wächst. Heilung geschieht so oft, mitten unter uns – wir haben so viele gute Gründe, geduldig und voller Vertrauen zu warten. Die Sehnsucht nach einer wahren Trostgemeinschaft erfülle uns an diesem zweiten Advent.
Noch einmal zurück zu den Worten des Jakobus an uns als christliche Gemeinde:
„So seid nun geduldig, liebe Brüder und Schwestern im Herrn, bis zum Kommen des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde, und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen.“
Das Warten des Jakobus ist gefüllt mit Bildern aus dem Kreislauf der Natur, aus dem Werden und Vergehen, dem Warten und dem Handeln. Die Natur und der Bauer können Vorbilder für das Warten sein, ist Jakobus überzeugt. Doch mal ehrlich: Dieser Blick des Bauern ist in Zeiten der industriellen Landwirtschaft und der globalen Nahrungsmittelproduktion uns als Bezugspunkt verloren gegangen. Es gibt immer alles – aber das kostet einen hohen Preis. Keiner will zurück zur Not und zum Elend früherer Jahre, keiner sehnt sich danach, um Essen betteln zu müssen und an Leib und Seele ausgezehrt zu werden. Noch immer ist das für zu viele Menschen alltäglich, ist die Bitte um das tägliche Brot notwendig. Und der Klimawandel verschärft das noch, ein einfaches weiter so verbietet sich – deswegen blickt die Welt in diesen Tagen mit spannungsvollem Warten auf den Weltklimagipfel in Paris.
Wer als Christenmensch in dieser Situation einfach die Hände in den Schoß legt, versündigt sich. Christliches Warten ist ein handelndes Warten, da wird angepackt und zugepackt, nach seinen Möglichkeiten gearbeitet und geleistet. Die protestantische Arbeitsethik darf nicht sterben, ihr Ziel muss die Überwindung von Leid und Not an Leib und Seele hier und überall sein. Da gibt es genug zu tun, wahrlich. Der Rhythmus des Lebens, der die kleinbäuerliche Landwirtschaft prägt, in dem Menschen über Jahrtausende gelebt haben, er ist wichtig für das rechte Warten. Der Frühregen nach dem Winter schließt den Boden auf, Saat ist möglich, dann Wachsen und Gedeihen. Und der Spätregen lässt die Trauben wachsen, die Körner voll werden, macht die Kürbisse groß, die Äpfel füllig. Dann erst kommt die Ernte – bis dahin braucht es Geduld – und die rechte Tat zur rechten Zeit. Das ist die menschliche Kunst und die menschliche Arbeit: zur rechten Zeit das rechte Tun.
Doch alles Warten und alles Tun hat ein Ziel, den zweiten Advent. Der erste Advent war das Kommen Gottes in Christus: „Das Licht kam in die Finsternis. Doch die Finsternis hat es nicht ergriffen.“ Der erste Advent führt an Kreuz – und doch darüber hinaus. Denn aus dem ersten Advent wird die Hoffnung auf den zweiten Advent, auf Gottes endgültige Ankunft. Das gilt es, nicht aus den Augen zu verlieren.
Christenmenschen sind aktive Menschen im Hier und Jetzt, und warten zugleich geduldig voller Ungeduld auf das größte Geschenk, dass es gibt: Auf das Gottesreich, in dem der Himmel aufgeht über allen Menschen. Auf Christus, der Kranke heilt, Verirrten Heimat, Verirrten Orientierung. Auf sein Licht, das in das Dunkel scheint, unseres Lebens und unserer Erde. Als Trostgemeinschaft warten wir auf den zweiten Advent, wenn der Trost zum Alltag in Ewigkeit wird.
Im Advent werden wir so eine Trostgemeinschaft, im gemeinsamen Warten auf den rechten Advent. Gesegnet sei dein Advent, gesegnet sei unser Advent.
Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe.
Kanzelsegen
Und so sei der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bei uns heute und alle Tage unseres Lebens, bin an dem Tag, an dem Gott selbst mitten unter uns ist. Der Herr ist nahe – das ist gewißlich wahr. Amen.
1.Advent 29.11.2015 Stadtkirche Römer 13,8-14 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent - 29.XI.2015
Römer 13,8-14
Liebe Gemeinde!
Es ist eine alte Komödie und doch zuckt man jedes Mal neu zusammen, wenn sie gespielt wird: Gerade wenn wir besinnlich werden wollen, wenn Kerzenlicht und Dämmerstunde, geschmückte Zimmer und traute Gemütlichkeit, leise Lieder und alte Bilder uns hinter den Fensterscheiben im warmen Duft des Advent winken und alles aussperren, was sich nicht auf Zimt und Zucker reimt oder den Geruch von Bienenwachs, Bratapfel und Tannengrün verströmt, … gerade wo das Hochamt der Innerlichkeit und einer inzwischen reichlich nuttig gewordenen Gefühlsduselei beginnt, klopft es zum 1.Advent gebieterisch an unserer Tür, ohne Aufforderung wird sie aufgerissen, jemand marschiert mit reichlich selbstgewissem Schwung schnurstracks durch, löscht mit tadelndem Pfiff die bunten Kerzen, verabschiedet mit einem einzigen verächtlichen Blick die ganze Dekoration, klatscht unmissverständlich in die harten, trockenen Hände und kommandiert uns - ohne Widerspruch zu dulden - unter zackigem Klopfen auf die Uhr: „Los, vorwärts! Es gibt Wichtigeres zu tun als das hier!“ ——
… Nein, es ist nicht Mary Poppins, das resolute Kindermädchen mit ihrem Spleen und ihrer Magie. … Fast möchte man sagen: Schlimmer. …
Der da kommt und erst einmal alle Lichtlein auspustet und alle Süßigkeiten wegsperrt, um dann gefälligst zu eiligem Eifer zu treiben, der ist zwar auch ein rigoroser Erzieher, eine Art unangekündigte Gouvernante wie Mary Poppins, die kommt und geht und immer wieder Wirbel verbreitet, aber heute, am 1.Advent eines neuen Kirchen- und Predigtjahrgangs kommt dieser jedenfalls mit der festen Absicht, uns in den nächsten zwölf Monaten hartnäckig auf den Fersen zu bleiben: Paulus ist es, der Kindergärtner der Gemeinden, dessen Mission es war und bleibt, Christen und Christinnen selbständig, flügge zu machen.
Weil’s aber rasch gehen muss und weil’s kein Kinderspiel ist, sondern Lebenstraining für Menschen, die mehr als nur ein Leben leben wollen, darum sind die Mittel und Methoden des Paulus bei seinen Schnellkursen im Christsein nicht gerade erlebnispädagogisch.
Er bastelt mit der Gemeinde keine Strohsterne, in die sie dann eigene Erfahrungen verweben, er malt keine Fensterbilder, auf denen man sich selbst in Transparentpapier durchsichtig machen soll, er backt keine Plätzchen, um beim Kneten, Rollen und Stechen unsere Frustrationen abzuleiten.
Er kommt schlicht zur Sache: Was ist zu tun, wenn wir Christen sein wollen?
Und … warum!?
Die Antwort auf die erste Frage kennen wir selbstverständlich, so kurz und riesengroß sie auch ist. Das Ganze und Große des Glaubens und Handelns der Christen konzentriert sich ja in dem einen Wort und Wesen: „Liebe“!
Paulus schärft die Liebe mit der glasklaren rabbinischen Schlussfolgerung ein, die er schon als junger Student der Schriftgelehrten gelernt hat: In allen auf den Menschen bezogenen Geboten Gottes muss es einen Nenner, muss es ein Prinzip geben. „Verantwortung“ wäre dabei zu einseitig, „Ehrfurcht“ zu distanziert, „Ordnung“ zu verzweckt. …
Was das menschliche Miteinander in Geben und Nehmen, in Lassen und Tun, in praktischer wie in psychischer Hinsicht bestimmen und erfüllen soll, ist biblisch immer schon ganz klar: Damit niemand sich bloß als leistungsstarken Erfüller und nicht zugleich als dankbaren Nutznießer des moralischen Gesetzes sehen kann, wird es nicht an sein Ergebnis, sondern an seine Motivation gebunden. Nicht erst die guten Folgen unserer Taten fordert Gottes Gesetz also von uns, sondern ihren guten Geist, ihre gütige Entstehung und Entwicklung.
… Wer immer nur das Richtige tun will, ist bei Gott darum falsch.
Sein Maßstab ist vielmehr, ob wir aus dem Geist der Liebe Entscheidungen treffen, Taten wagen und Recht und Gerechtigkeit suchen.
Das ist die einfach schwere, schwer einfache Leitlinie unseres Glaubens. Dass wir damit und darin groß werden, ist das Ziel des Paulus, der die Gemeinden mit seinem Lern- und Erziehungsprogramm ebenso wie mit seiner frohen Botschaft unermüdlich bereist und bearbeitet.
Weil aber alle Bildung und Prägung eben nur dann gelingen, wenn sie im Zögling etwas Positives wecken, wenn sie ihr Ziel also nicht in verstockender, sondern in verlockender Weise hochhalten, darum haben Mary Poppins und Paulus und Pestalozzi und alle Pädagogen der Welt immer neben der bestimmten Forderung auch das berühmte Löffelchen voll Zucker dabei, … das, was den Geschmack am Guten, den Appetit auf’s Lernen, die Freude am Fortschritt fördert.
Damit aber niemand sagen möge, das sei ein billiger Trick der Schulmeister, können wir es bei Paulus heute in seiner grundlegenden, lebenswichtigen, menschenfreundlichen Heiligkeit erfahren, wie das, was wir sollen und das, was uns schmeckt, zusammengehören: Man nennt diese unlösliche Verbindung in der Theologie die Verbindung von Gesetz und Evangelium, besser noch: das Zusammenwirken von Evangelium und Gesetz.
Paulus lehrt uns zu Beginn dieses Kirchenjahres nämlich ja nicht nur, dass wir den Flitterkram des kulissenhaften und kulinarischen Advent beiseitelegen und das wirklich Wichtige anpacken sollen, sondern er zündet uns dabei das schönste, hellste, frohste Licht auf Erden an!
„Hört auf, Euch selbst den Herbst und Winter zu versüßen“, mahnt er, „und liebt die, die heut wirklich hungern und frieren im Kalten!“
„Hört auf, Euch selbst die heile Welt vorweihnachtlichen Kitsches zu arrangieren“, fordert er, „und liebt die Opfer der kaputten Gegenwart!“
„Hört auf, Euch selbst in nostalgische, nicht ernstgemeinte Attrappen des Christentums zu flüchten“, mahnt Paulus, „und werdet Christen, indem ihr die wahren Flüchtlinge liebt!“
— So weit, so typisch! … Danke, Mary Poppins für das Spiel- und Spaßverderben!
……. Wir lassen uns doch den Advent nicht miesmachen! Futtern wir halt heimlich unser Marzipan, … saufen wir den Glühwein eben ohne Deinen Segen. …….
Doch genau so töricht ist der Apostel der Völker eben nicht: Er weiß, was für Kindsköpfe sich unter jeder Hutkrempe, jeder Geltolle, jeder Gelehrtenstirn und jeder Glamourfrisur verbergen können: Man will das Gute nicht müssen. So einfach ist es. Wir wollen nicht sollen.
Gott aber weiß das auch.
Das Ammenmärchen, Gottes Gesetz sei eine Zwangsveranstaltung, die Menschen unter Strafandrohung zur Moral nötigen wolle, war immer schon verkehrt.
Gott gibt Gnade, ehe er Gebote gibt: Zuerst befreit Er sein Volk, ehe es am Sinai in den Bund eines gottgemäßen Lebens eintritt. Bevor man die Gerechtigkeit und Heiligkeit eines christlichen Lebenswandels erreichen kann, muss uns frohe Befreiung aus allen gottlosen Bindungen widerfahren (Barmen II).
Genau diese Verbindung von Gottes Wohltat und unserem Gutestun bringt aber Paulus heute zum Leuchten mit seiner Aufforderung, das Gesetz zu erfüllen, indem wir uns unserer einzigen und zugleich ganzen Schuldigkeit stellen, … indem wir lieben!
…Dass solches Lieben lästig ist, weil’s nicht als Aufgabe erledigt und abgehakt werden kann, sondern bis in unser Denken, Fühlen und Reden hinein uns verändert: … das haben wir eben empfunden. Bequemer wäre es gewesen, Paulus hätte uns wie jeder andere Störenfried dieser Adventszeit um eine Spende gebeten, eine Unterschrift oder sonst eine milde Wohltätigkeitsleistung.
….. Aber er will in Gottes Namen mehr, er will uns mit dem einen Grundgebot ganz.
… Bloß: Wo bleibt jetzt das Leuchten, wo bleibt der Zucker, wo finden wir das, was eben nicht wie ein moralpädagogisches Mammutprogramm, sondern wie das Riesengeschenk Gottes wirkt, das hier angeblich zu erkennen sein soll?
Na, … eben da!
— Wo??
—— Genau da: Im Erkennen!
——— Wie bitte??? …….
Nun, Paulus hält uns in seinen Worten offenkundig trotz allem für so reif und mündig, dass in diesem höchst erzieherischen Abschnitt seines Briefes nirgends das Wort „müssen“ fällt, … ja außerhalb der Zitate aus den Zehn Geboten begegnet nicht einmal das Wort „sollen“.
Vielmehr legt er uns das allumfassende, allesentscheidende Tun der Liebe, die Erfüllung des ganzen Gesetzes darum an’s Herz, „weil“, so sagt Paulus, „weil ihr die Zeit erkennt“.
Allein aus dieser eigenen Erkenntnis, die er uns zutraut, folgen ja alle starken, klaren, grundsätzlichen Ansprüche des Paulus an eine Gemeinde, die nicht im Fressen und Saufen, in Hader und Eifersucht der Kleinkinder, sondern in der Beherrschung und nüchternen Klarheit eines erwachsenen Christentums lebt.
Wie ernst uns Paulus also nimmt! Wie wenig er von seinem Recht als katechetischer Vormund und Erzieher Gebrauch macht, seinen Gemeinden den Bling-Bling und Blödsinn ihrer adventlichen und sonstigen Ausschweifungen mit einem bloßen Basta! zu verbieten.
„Ihr erkennt die Zeit!“, das ist sein Credo, aus dem das rechte, gute Tun bei uns folgt.
Das Credo von der aufschlussreichen Zeit, das Bekenntnis, dass wir die Zeit deuten und sie sowohl hilfreich auslegen, wie ausnutzen können, ist das große Licht, das Paulus uns anstelle aller trügerisch-idyllischer Nebelkerzen und Stimmungsfunzeln aufsteckt.
„Die Zeit ist klar, ja sie klärt sich immer mehr“, versichert er uns!
— Ist das aber nicht wirklich ein Leuchten, wie wir es überhaupt nicht mehr kennen, vielleicht noch nie auch nur ahnten? Dass die Zeit sich aufkläre, dass sie heller und deutlicher, dass sie immer lichter und besser werde … das wirkt fast blendend, wenn wir das Halbdunkel unserer Kerzenfeiern und die Orientierungslosigkeit unserer gegenwärtigen Lage betrachten!
……. Man reibt sich die Augen, man juckt sich die Ohren: Hat Paulus uns wirklich darum den Schimmer des Advent genommen und uns auf die Hausaufgabe des Liebens, auf diese große Kirchen-, Menschen-, Weltaufgabe gestoßen, weil ihm unsere Art der Gotteserwartung, unsere Vorbereitung auf die Nacht der Nächte, den Tag der innerirdischen Gegenwart Gottes nicht hell genug, nicht strahlend genug, nicht heiter genug erschien? ——
„Unser Heil ist näher als je zuvor! Die Nacht ist fast vorüber! Euer Leben wird unwiderstehlich leuchtend“: das ist das Angebinde, das Paulus uns zum richtigen Advent schenkt! —
Als Zeitungsleser und Zeitgenosse, als Zweifler und Zauderer mag ich das alles kaum sehen, kaum ahnen. Umso herrlicher und ermutigender ist darum der Vertrauensvorschuss, den unser Lehrer Paulus uns einräumt.
Paulus traut unserm kleinen Schüler- und Anfänger-Glauben zu, dass er die Dinge anders, dass er sie klarer und wärmer, dass er sie in reinerem Glanz sieht als der übliche müde, übernächtigte, stumpfe Blick der Menschheit!
Paulus traut unserm Glauben zu, dass er uns frisch und rege macht, dass er uns morgendlich munter, nicht schlaftrunken und angstlahm handeln lässt!
Paulus traut unserem Glauben zu, dass er die Antwort auf die Fragen der Welt und des Lebens in dem einen Grundsatz findet: „Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses“!
Das ist ein Zuspruch und ein Anspruch (vgl.Barmen II), über den wir aus dem Häuschen geraten müssten in einer Zeit, in der Vernunfterfahrung und öffentliche Willensbildung in eine ganz und gar gegenteilige Richtung drängen:
Seit der vergangenen Woche ist der „Krieg“ nicht mehr nur ein säbelrasselndes Bildwort für die Konflikte unserer Tage, sondern ein womöglich erforderliches Instrument unserer Politik geworden.
Unglaublich.
Ein Instrument, das wir zu unserer Verteidigung, zum Bewahren angst- und zwangloser Freiheit und zum Verhindern infernalischer Brutalität einsetzen. … Aber: Ein Mordinstrument! ………….
Und darum wird einmal mehr, einmal schärfer noch als in den Monaten, die nunmehr das alte Kirchenjahr sind, die Unterschiedenheit von christlichem und rein innerweltlichem Blick sich zeigen. Man wird das Christentum der naiven Dummheit, man wird die Christen des albernen Gutmenschentums, man wird die Gemeinde mit den Waffen des Lichts der wehrzersetzenden Weltfremdheit bezichtigen und nicht ernst nehmen, was nach dem einen Gebot des einen Gottes gegen die so unumgängliche Gewaltlösung spricht. ——
Wie gut daher, dass wir keinen zimperlichen, keinen allzu nachgiebigen, butterweichen Lehrmeister haben, sondern einen Erzieher aus der alten Schule der unverbiegbaren Mary Poppins:
„Haltet euch gerade, ihr Lieben!“, ist die Devise in der Zucht des Paulus.
„Ihr wisst, dass der Tag nahe herbeigekommen ist, der das Heil bringt!
Ihr erkennt die Zeit, in der Helligkeit und Klarheit gefragt sind, weil gerade das doch kommt: Das Licht ist im Aufzug!“
Meint Ihr also wirklich, man könne, man solle, man müsse jetzt hassen, vergelten, Gewalt üben, man müsse jetzt die sinistere Logik der Dunkelmänner, der schwarzen Schergen übernehmen??
Jetzt, wo die Stunde da ist, vom Schlaf aufzustehen und den Tag zu begrüßen und DEN, den er bringt?!
Das Heil ist doch näher als zu allen früheren Zeiten! Darum seid niemand etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt.
Amen.
Ewigkeitssonntag 22.11.2015 Stadtkirche Matthäus 25,1-13 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag 22.XI.2015
Matthäus 25,1-13
Der Männerchor "vox plena" sang in diesem Gottesdienst das Requiem von Lorenzo Perosi (1872-1956)
Liebe Gemeinde!
Hochzeitstag …, — wir sollen von nichts anderem heute sprechen, als dass ein großer Hochzeitstag bevorsteht, zu dem wir alle eingeladen sind: „Gott und die Welt“ – so steht’s auf der Einladung für die Gäste insgesamt – „Gott und die Welt“ werden verbunden in ewiger Liebe, die nicht mehr zu scheiden sein wird.
Die Freunde aber und Nachbarn, die das Fest aus der Nähe begleiten und bereiten dürfen, die als Hochzeitsbitter die Einladung verbreiten und als Brautjungfern das Geleit geben und als Angehörige des Hauses mit richten und mit helfen – … die Nachbarn und die Freunde also nennen den Bräutigam beim Namen – Jesus heißt er – und wissen, dass die Erwählte, die er nicht mehr von seiner Seite lässt, den schönen Allerweltsnamen „Menschheit“ hat.
Hochzeitstag. Schönstes, größtes, erstes und letztes aller wahren Feste der Menschen!——
Doch wie vollkommen fern liegt er nicht heute! Was immer wir hochzeitlich singen und hören mögen, das überbrückt ja doch den Graben nicht, der zwischen allen einst gefeierten oder noch zu feiernden Hochzeiten liegt und dem, was uns heute hier bewegt: Abschiedstage, Sterbetage, Begräbnistage stehen uns vor Augen und machen das Herz wie seitdem allzu oft nur schwer. … Da kann doch kein irdisches, kein himmlisches Hochzeitsgeläut uns aus der Traurigkeit reißen; … der Nachklang, ja auch die Ankündigung irgendeiner Hochzeit überbrückt doch den Graben, überbrückt doch die Gräber nicht: So wird etlichen unter uns heute zumute sein. ………… ——
Und so falten wir sie wieder zusammen – die Einladung, die uns da so beinah anstößig zugeflattert ist – und legen sie fort. … Briefe mit schwarzem Rand, Bilder aus den Tagen, ehe das Dasein so schwer und trüb wurde: Die liegen näher. … Oder einfach der mühsam wieder in Gang gekommene Alltag, dessen Mühle weiter mahlt und ablenkt und alles in Schwung hält – egal, ob’s plätschert oder vernehmlich knirscht, weil es ja weder so noch so das Schweigen darunter, die Leere dahinter vergessen lässt. ——
Keine Hochzeit, … noch nicht. Das ist noch zu schwer, zu weit weg. ……..
Warum sollten wir uns solchen zwiespältigen Gefühlen, solchen Irritationen aussetzen?
… Ist das die übliche Verständnislosigkeit einer Umwelt, die gar nicht laut und schnodderig genug zur Gewohnheit übergehen kann, … wenn sie nicht beklommen und spürbar unsicher für Trauernde immer diese behutsam gesenkte Stimme anwendet, die doch nicht verbirgt, wie lästig die Traurigkeit ist? ———
Warum also hält Jesus die Hochzeitsgeschichte nicht zurück, sondern platzt mit ihr immer wieder in die dunkle, ernste Zeit des Totenmonats November?
Warum kommt es immer wieder zu diesem seltsamen Durcheinander – als seien im Radio zwei Sender gleichzeitig eingestellt –, dass wir das Requiem hören und zugleich den Reigen der klugen Jungfrauen?
Ist es einer jener Widersprüche, mit denen man zu leben lernen muss … oder, die man sogar zu verstehen lernen könnte? ……. ———
Die Trauerliturgie und der Lichtertanz: Vielleicht schließen sie einander in Wahrheit ja wirklich nicht aus, auch wenn sie für unser Gefühl noch so weit von einander entfernt wären? … Beide sind zumindest Nachtmusiken: Denn die innere Dunkelheit, die jeden Hinterbliebenen erfasst, wenn der Abschiedsgottesdienst und das Begräbnis uns wieder in Erinnerung gerufen werden, … diese innere Nacht der Trauer verschmilzt im hochzeitlichen Gleichnis mit den äußeren Umständen.
Jesus führt uns ja nicht etwa in die romantische Maienzeit, sondern in die zähen Wartestunden einer niedergeschlagenen, immer enttäuschter werdenden Mädchenschar:
Lebenslustig und voller Erlebnishunger sind sie ausgezogen: frisch die Haare, frisch die Blumen, frisch das Kleid. Schmuck und schön stehen sie im milden Sonnenschein, der ihre Lampen zu nutzlosen Accessoires macht, zu einem fast lächerlichen Unfug in der Tageshelle. Wer braucht so kleine Lichter wenn das Urlicht leuchtet? Wer denkt an den Abend, wenn das Leben reif zur Hoch-Zeit ist?
– Doch die Dämmerung fällt, und die aufgeregten, lebhaften jungen Stimmen werden zusehends stiller. Vielleicht ist es in der grauen Stunde des Zwielichts ein kleiner Trost, dass sie die Lämpchen haben, die aufglimmen und an das versprochene Fest, an den immerhin nicht abgesagten Tanz erinnern.
… Und schon ist es dunkel: Die rasche, fast unangekündigte Nacht des Orients. Zehn junge Frauen stehen draußen vor dem Tor der Stadt, … ausgesetzt, vergessen, bang. Sie warten wie nur das junge Leben warten kann, … fast fiebrig warten sie herbei, worauf sie sich so freuten, … aber alles bleibt schwarz und schweigend. Nichts tut und regt sich. Nichts geschieht.
…Bis ihre Energie verbraucht ist. Erschöpft von der Vorfreude, die in’s Leere lief, kauern sie sich nieder und werden matt wie die blakenden Flämmchen.
Und dann gehen sie aus. Kalt ist es in den heißen Herzen geworden. Bitter.
Die Nacht ist hereingebrochen und sie sinken alle, alle in ihre Finsternis.
Nicht einmal Mendelssohns tief, tief ergreifender, einsamer Klageruf aus dem „Lobgesang“ weht mehr über der schwarzen Szene. … Kein „Hüter, ist die Nacht bald hin? … Hüter, ist die Nacht bald hin?“ ——
Was ist mit den Jungfrauen?
Was ist mit denen, die allen Grund zur Freude hatten, … die so rege waren, … die eilten, weil sie den empfangen sollten, mit dem es dann endlich wirklich und wahrhaftig hoch hergehen, wunderbar, ausgelassen und ansteckend fröhlich sein würde?
Was ist mit ihnen, den Vorbotinnen des großen Jubels, den Heroldinnen der Hochzeit? ——
Die Ruhe des Requiems ist über sie gebreitet. Sie sind eingeschlafen.
Sagen wir‘s aber doch so biblisch, dass wir’s auch verstehen: „Entschlafen“ sind sie.
Denn das ist biblische und christliche Redeweise. Im ältesten Stück des Neuen Testaments, dem 1.Brief an die Thessalonicher, in dem zum ersten Mal überhaupt der eigentlich unmögliche Zusammenhang begegnet, dass unter den Hochzeitsgästen, die Jesu baldige Wiederkunft nach seiner Himmelfahrt erwarteten, tatsächlich etliche vor Beginn des herrlichen Ereignisse verstarben … – im 1.Thessalonicherbrief (4,13) also schreibt Paulus: „Wir wollen euch nicht im Ungewissen lassen über die, die entschlafen sind, damit ihr nicht traurig seid wie die andern, die keine Hoffnung haben.“ —
Die eingeschlafenen Jungfrauen sind also keine dummen Gänschen, die erst aufgedreht schnatterten und dann aus purer Langeweile die Köpfe unter den Flügel steckten, weil ihnen sonst nichts mehr einfiel. Die sehnsüchtig – aber vergeblich! – Wartenden sind die, deren Bereitschaft zum Glücklichsein sie getrogen zu haben scheint; es sind die, deren Zeit nicht reichte, um die Fülle zu erleben, die sie so greifbar nahe wähnten. Alle Kräfte erschöpften sich, ehe das Fest ihres Lebens eigentlich begann. Was Spiel werden wollte, versiegte im Schlaf; was Tanz werden sollte, wurde Tod. ——
Das ist der Ernst dieser Nacht vor der Hochzeit und ihres Einschlafens.
Umgekehrt ist das aber auch immer wieder die ungeheure Lebenskraft an Widerspruch und Trotz, mit der die Christenheit von Anfang an vom Tode redet: So bitter der Tod ist, so tief sein Schweigen und seine Schwärze – so einhellig haben doch schon unsere ersten Brüder und Schwestern ihm noch nicht einmal mehr den eigenen Namen zuerkannt, sondern ihn bis in die Sprache hinein enteignet und um seinen unangefochtenen Ruf gebracht..
„Lazarus, unser Freund schläft“ sagte auch Jesus ja bei der einzigen Gelegenheit, die ihn nach biblischem Bericht auf einen Friedhof, an ein frisches Grab führte (Joh11,11), nachdem der Tod diesen treuen Lazarus überwältigte, der doch so sehr auf Jesu Eintreffen gewartet haben muss, um das seine Schwestern Martha und Maria den Meister flehentlich baten.
Und seit Paulus hält dieser fast erschütternde Starrsinn sich durch, dem scheinbar unwiderleglichen Sieg des Todes die Nennung zu verweigern.
„Sie schlafen“: so heißt es immer, immer wieder von allen, die doch noch nicht wieder gekommen sind, die anders als den Lazarus noch kein Ruf, kein Strahl hat aus dem Schlafe reißen können.
……. Sie schlafen! ……. ——
Doch im tiefsten Schlaf, am totesten Punkt – so erzählt es Jesus wiederum in seinem hochzeitlichen Gleichnis, in dem der Tod uns noch vor dem lang erwarteten Freudenfest begegnet – im tiefsten Schlaf um Mitternacht erhob sich lautes Rufen.
… Ein Ruf, der den Schlaf beendet. Ein Ruf, der die Schläfer erweckt.
Und sie fahren hoch, sie stehen auf – die Jungfrauen, die hier einmal ein ganz weibliches Bild von uns allen zeigen.
Es ist der Ruf, der damals an dem eben erst zugemauerten Grab erscholl, an dem Jesus „mit lauter Stimme rief: »Lazarus, komm heraus!«“ (Joh11,43)
— Unmöglich nicht zu hören, nicht aufzufahren, unmöglich dass man liegen bliebe; unmöglich, dass eine Einzige der fest eingeschlafenen Festgäste so festgelegt und festgelegen wäre in jener lähmenden Enttäuschung, in ihrer versteinerten Erschöpfung, da sich vorher nichts, nichts, nichts getan hatte.
… In jede von ihnen kommt nun Leben.
— Nur was ist mit ihren Lampen? Was ist mit ihren Gefäßen und deren Inhalt?
Bei den einen hat sich alles erschöpft in der überschaubaren Spanne, mit der sie rechneten. Ihre Lebenslust und -energie standen unterm Vorzeichen des Vorhersehbaren, des Kurzfristigen. Sie hatten sich den Hochzeitstag und ihre Beteiligung daran gedacht, wie man sich so etwas eben denkt: Glatt und gleich und gelungen … genau wie das Leben meistens allerdings gerade nicht spielt und läuft. ……. Kein Hindernis war ihnen in den leichten Sinn gekommen. Und darum hatten sie nichts für später übrig: Ein Danach wird’s schon nicht geben, wenn alles doch so schön im Nu, im Jetzt, im Hier sich abzeichnet. —
Die anderen aber, die Klugen, die erwiesen sich zwar auch nicht als gegen den Schlaf gefeit, aber sie waren gerüstet für das, was im Leben das Häufigste ist … und darum auch im Tod niemals auszuschließen bleibt: Sie waren gerüstet für Überraschungen.
Das aber ist Weisheit im höchsten und im praktischsten Sinne: Dass wir niemals meinen, zu wissen, wie es weitergeht; dass wir uns niemals weismachen lassen, nichts könne später erst kommen, sondern alles sei jetzt zu erwarten. Weise sind die, die dem Überraschenden entgegensehen, die im Angesicht des Überraschenden zu leben wissen und die sterben können, ohne das Überraschende aufzugeben.
In deren Lampen ist Öl genug für die unerwartete Zeit nach dem Schlaf.
Das sind die klugen Jungfrauen.
Das christliche Wort aber für deren Bereitschaft, unter allen erwünschten und ersehnten und befürchteten und bedrohlichen Umständen nichts für ausgemacht, sondern alles für dennoch möglich zu halten, ist Hoffnung.
Hoffnung ist der Brennstoff, der neue Flammen schlägt, selbst wo der Tod alles dämpft und verzehrt, was uns sonst Licht war und spendete. Hoffnung zu haben heißt also, auch um Mitternacht – wenn der Lebenstag, den wir kannten, verklungen und vergangen ist – beim Anbruch eines ganz neuen Tages die große Überraschung nicht auszuschließen! … Wenn sie auch nicht eintraf, als wir sie erwarteten, heißt das doch nicht, dass sie niemals sich einstellt!
Nein! Die große Erwartung, die in unseren Herzen zünden, die ein Funke entfachen und die brennen kann, auch wenn nichts von ihr sich in den Stunden und Zeiten erfüllte, in denen wir es vermuteten, … diese große Erwartung ist das, woran es uns Christen niemals fehlen soll.
Sie ist das, woran es uns niemals fehlen muss – selbst wenn die Dunkelheit alles verhüllt und wir selber merken, dass wir verlöschen. ———
Viele Jahre haben wir zwar so getan, als hieße Christentum, kein Öl für die Lampen in der dunklen Nacht der Welt zu haben. Wir haben so getan, als sei es unser Auftrag, immer nur die fallenden Schatten zu beschwören, schrill auf die ausgehenden Lichter hinzuweisen und vorm endgültigen Verschwinden allen Glanzes und Glücks in Kälte und Finsternis zu warnen. Wir haben geredet und gehandelt, als wäre das Ausbleiben des Bräutigams die wirklich grundlegende Gewissheit für die Menschen. ……. Aber jetzt, in trüber Zeit, in Zeiten, in denen das Licht kaum bis zum nächsten Schritt den Weg mehr erhellt und alles, was am Horizont er-scheinen mag, sich unserer klaren Erkenntnis entzieht, jetzt in diesen Zeiten des weltweiten und immer wieder ja auch des eigenen Kleinmuts vor Nacht und Nebel – jetzt wird uns das Öl der Hoffnung nicht nur kostbar, sondern jetzt fließt es uns tatsächlich nur so zu. …
Oder hat irgendeiner von uns gewusst, was, wann, wie so kommen würde, wie es kam oder so ausbleiben würde, wie es ausbleibt?
Sind neben so vielen Hoffnungen nicht auch so viele Sorgen unseres Lebens unerfüllt geblieben?
Sind unsere Zeiten, sind die Jahrzehnte und die Wechselfälle unseres Lebens, die langen Stufen und der schmerzhafte Schwund geschehenden Sterbens, die letzten Minuten, der Hauch des Abschieds – sind sie nicht alle immer wieder eine einzige Kette des Überraschenden, des Unerwarteten, des Unvorstellbaren gewesen?
Wenn uns das aber unter Lachen und Tränen, Hoffen und Bangen, Requiem und Reigen so deutlich wurde – dass nichts nach unseren Erwartungen, sondern alles unversehens kommt –, dann füllen wir unser Lämpchen doch mit diesem Öl, das da aus dem Leben gepresst wird: Was nämlich unterm Druck der Erfahrung vom Leben übrig bleibt, das ist das Unvermutete. Wo sich das aber in der Presse gesammelt hat – diese sattsame Erfahrung des Unverhofften – da wird’s zum Öl, zum Öl der weisen Bereitschaft für Überraschendes, zum Öl der Hoffnung: Es kommt anders! ………… ER kommt anders!
Das ist Glaube, das ist Hoffnung, das ist Licht.
Denn die größte Überraschung ist es nach wie vor, dass wir vom Hochzeitstag reden dürfen: Dass Gottes Jawort uns verheißen bleibt, anstelle der Verneinung, die der Tod bewirkt. Dass Jesus kommt und mit ihm – trotz allem! – seine ungebrochene und unverbrüchliche Treue zu uns scheinbar hoffnungslosen, sterblichen und bald verloschenen Menschen.
Er kommt … und wir …, wir sind und bleiben seine Hochzeitsgäste!
Mögen wir darum leben, hoffen, uns verausgaben oder still werden, müde und entschlafen: Wir bleiben eingeladen zur Hochzeit der Liebe zwischen Gott und der Menschheit.
Und so haben wir Hoffnung!
Und so haben wir Zukunft!
Und so werden wir leben!
Amen.
Vorletzter Sonntag, 15.11.2015 Stadtkirche Matthäus 25,31-46 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Vorletzter Sonntag 15.XI.2015
Matthäus 25,31-46
Liebe Gemeinde!
„Media vita in morte sumus“, … dass wir mitten im Leben immer in Reichweite des Todes stehen, dass unser Ende uns von jeder Seite zum Greifen nahe ist, das singt und meditiert die Christenheit seit dem 8. oder 9.Jahrhundert mit der uralten Antiphon aus Frankreich.
„Media vita in morte sumus“ … wir wissen’s! Wir wissen’s nicht! Spüren’s. Spüren’s nicht. Tragen’s. Ertragen’s nicht.
……. Und dann reißt hin und wieder alles, was verleugnet und verdrängt ist, auf, … und der Tod ist da und seine furchtbaren Kräfte – der Hass und der Blutrausch und die Verführung und das Böse – … und sie tragen alle, alle nichts anderes als ein Menschengesicht.
… Es ist nicht der Knochenmann, nicht der Gehörnte, nicht die Fratze eines Dämons oder sonst eines gespenstischen Feindes, sondern genau wie mein Gesicht.
… Junge Menschen, fanatische Menschen, missbrauchte Menschen, bis zur Willenlosigkeit ausgehöhlte Menschen. Aber je nachdem welche Verkleidung, welche Uniform, welche Fahne, welchen Schlachtruf sie wählen, … je nachdem vergessen wir wieder den Tod und auch das Erschrecken über den Menschen mit meinem Gesicht, und Furcht und Wut richten sich gegen das, was sie vermeintlich so klar von uns unterscheidet. Und statt des mitfühlenden Schmerzes wächst auch in uns nur der rächende Hass; an die Stelle der Trauer um andere schiebt sich die Angst um uns selber; … und dann sehen wir Gespenster und atmen Gerüchte und brauen trübe Gedanken und ergeben uns dem Jagdfieber und dem Wahn der Verfolgten. ———
Aber Jesus lässt uns nicht!
Er reißt uns aus dem Druck der Gegenwart und ihrer undeutlichen Eindrücke in die Weite und Helligkeit des großen, klaren, endgültigen Gerichtes, wo alles sich zeigt und alles sich scheidet.
Da wird er uns aber nicht fragen: „Wart ihr hart und wart ihr vorsichtig? Habt ihr etwas verteidigt und habt ihr euch behauptet? Habt ihr die Gefahr erkannt und war euch klar, wem ihr nicht trauen konntet?“ ……………..
Er wird anders fragen. Nicht nach unserem Abstand zum Bösen, nicht nach der Trennung, nicht nach der Sicherheit. Sondern nach dem, was uns verband, nach dem Gefühl, dass wir von überall her zum Guten gefordert sind, dass sich das Gute uns auf allen Seiten, mitten in der Not, mitten im Tod, aus jedem Winkel entgegenstreckt. …
Doch was ist das? Gibt es das denn: Einen solchen guten Verfolgungswahn, ein segensreiches Gefühl davon, dass uns jemand immer und überall seine Blicke nachschickt, seine Hand hinhält?
Gibt es einen guten Verfolgunsgwahn, der uns nicht in Ruhe, der uns nicht allein sein lässt, sondern eine stete Gegenwart spüren, eine ständige Nähe fühlen macht?
Oder ist das krank: Ein solches Gefühl für andere überall, ohne dass wir uns sofort von ihnen absetzen?
…. Vielleicht ist es krank, wenn die Abwehr nicht funktioniert.
Vielleicht ist es schwach, wenn man eine Wahrnehmung nicht unterdrücken, einen nahegehenden Gedanken, eine uns verfolgende Bitte nicht abschütteln kann.
Bestimmt versagt das Immunsystem, wenn man sie unter die Haut, an Herz und Nieren lässt: Die Empfindungen, die andere auslösen, die Berührungen und Schmerzen, die von außen kommen.
„Immun“ heißt wörtlich ja: Steuerfrei, ohne die Schuldigkeit, Abgaben zu entrichten.
Unser Immunsystem ist ein einziges großes Bollwerk gegen Tribute an’s Miteinander, ein einziger Mechanismus zur Vermeidung von Zoll und Beiträgen, die um anderer willen entstehen. Wer gesund ist, zahlt nicht für die Krankheiten, Schwierigkeiten und Nöte anderer. Wer gesund ist, hält sie sich vom Leib, wird von ihnen nicht angegriffen …den Plagen anderer Leute.
Nur ohnehin schon geschwächte Menschen fallen unter die seltsame Schuldenlast, das Leiden anderer mit auszubaden, den Frost, der andere schüttelt, am eigenen Leib zu erleben, den fremden Mangel ebenfalls zu durchleiden. Nur ohnehin schon anfällige Naturen entrichten von sich aus diese seltsame Steuer auf das Gemeinsame.
… Wer stark genug ist, sich selbst zu verteidigen, wer Grenzen hat, die dicht genug sind, um Eindringendes abzuwehren, der bleibt verschont von der Pflicht zu bezahlen, was nicht seins ist.
Machen wir uns also nichts vor, lügen wir uns nichts in die Tasche. Christentum ist nichts für Selbstverteidiger. Wer sich an seiner eigenen Macht und Kraft berauscht, der wird nie Christ sein können. Denn – wie Nietzsche im „Anti-Christ“ sagt – „es steht niemandem frei, Christ zu werden […] – man muß krank genug dazu sein.“
Was der Philosoph dabei vollständig vernichtend meinte, ist trotzdem vollständig richtig. Menschen, die sich nichts angehen lassen, Menschen ohne Empfänglichkeit für die Krankheiten anderer, werden immer zu gesund sein, um sich von Jesus anstecken zu lassen.
Ihre Immunität, die Abgabefreiheit des Leibes und der Seele bei diesen Vitalen ist in Stunden wie den jetzigen, ist in Unsicherheit, Schmerz und Zorn scheinbar das Gebotene: Lasst die Anderen nicht ran! Meidet den Kontakt! Zieht euch zurück! Bleibt auf Abstand! ——
Dagegen wer sich hier einfindet, dem ist’s schon schwummerig um’s Herz, schwindelig im Kopf und es saust ihm in den Ohren, wenn er wieder und wieder von den Leiden der Brüder in der Welt hört (vgl.1.Petrus5,9), … von den Leiden des französischen Volks, von den Leiden der Männer, Frauen und Kinder Syriens.
Wer sich hier also ungeschützt hineinbegibt in den Dunstkreis der Infizierten, die das so leicht vermeidbare Leid – das Mitleid – haben, … nun der ist vielleicht schon so erweicht und so berührt, dass er sich statt des aussperrenden Selbstschutzes sogar einen „guten Verfolgungswahn“ vorstellen kann. …………
Jedenfalls geht es genau darum. Es geht um die Bereitschaft, sich nicht mehr zu immunisieren, sondern anfällig und empfänglich zu werden für eine Gegenwart, die unendlich ist und uns von jeder Seite gleich nahe. Sie ist dabei aber eben nicht bedrohlich, sie übt keinen Zwang aus – so unwirklich uns das gerade heute auch erscheinen mag. … Diese Gegenwart ist einfach nur da und umgibt uns wie Luft und Licht, … durch die wir einzig dann atmen und sehen können, wenn wir sie an uns heranlassen. Wer das aber merkt, dass wir – trotz allem! – so auf jeder einzigen Seite von etwas umgeben sind, das nicht feindlich, … nein, das gut ist, … der hat das Gespür für die allseitige Gemeinsamkeit: Luft, Leben - und Leid - sind überall um uns herum und keinem, … niemanden gelten sie alleine! Immer und überall zeigt das Licht und verbirgt die Dunkelheit, dass da andere leben und leiden genau wie ich. —
Für viele Menschen reicht schon diese Einsicht, um sie eine moralische Offenbarung erfahren zu lassen: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ hat Albert Schweitzer diese Erleuchtung zusammengefasst.
Eine Erleuchtung, deren anonymes Christentum am jüngsten Tag der Grund sein wird, weshalb ganz absichts- und ahnungslose Menschen das Himmelreich und sein immerwährendes Leben erleben werden. Sie haben nur getan, was der Aufruf des Lebens in ihnen und um sie herum nahelegte: Gespeist, getränkt, beherbergt, gekleidet, getröstet, besucht. Sie begegneten dem Leben mit Lebensbejahung.
Dieses anonyme Christentum aber, diese lebensbejahende Haltung ist uns in den vergangenen Wochen und Monaten so vielfach und von so vielen Seiten begegnet, wie seit langem nicht! Welche Bereitschaft hat sich gezeigt, dass so viele Menschen nicht mehr immun sein wollten, sondern sich anstecken ließen vom Leiden anderer. Welchen Lebensdienst haben die Ehrenamtlichen und alle anderen Helfer bewiesen … und wie viel Lebenshunger und Lebenssehnsucht und wie viel erstaunliche Lebenskraft und Lebensmut sind nicht zu uns gekommen in Gestalt der Flüchtlinge.
Diese kostbare Erfahrung vom Leben inmitten von Leben, ja eines Lebens, das mitten aus dem Würgegriff des Todes flieht, … diese Erfahrung wird kein Terror und kein Leid ungeschehen machen. Im Gegenteil: Wir werden die Gemeinschaft, die uns miteinander Lebende verbindet, nur den lebensvernichtenden Gewalten zum Trotz stärken! Und darum bin ich dankbar und geehrt, dass B….. al-H…… heute hier in unserer Gemeinde ist und stellvertretend für seine syrischen Schicksalsgenossen berichten wird vom Leben, das leben will.
Der junge syrische Medizinstudent B.al-H. berichtete in eindrucksvollster Weise von der Flucht aus seiner Heimat Raqqa, von deren Zerstörung und der Zerstreuung seiner Familie, vom Schmerz der Trennung, der Hoffnung auf ein Wiedersehen und der dringenden Bereitschaft, sich in Deutschland zu integrieren, um die Zukunft hier und in Syrien mit bauen zu können.
Seine Ansprache begann er mit den Sätzen:
„Liebe Gemeinde! Leider bin ich es gewöhnt, immer wieder Todesnachrichten von Freunden oder Verwandten zu bekommen. Heute fühlen wir uns alle so. Darum bin ich hier.“
Und er schloss: „Unser Zusammenleben hier muss uns Hoffnung machen auch für den Frieden in Syrien.“
Als wäre solche Begegnung mit dem Leben, das uns umgibt aber noch nicht Erleuchtung und Anreiz genug, selber verständnisvoll und verbindend zu leben, schenkt Jesus uns noch eine tiefere und weitere Einsicht in das Allgemeine, das uns überall umfängt.
Indem er uns heute nämlich schon das Geheimnis aufdeckt, das erst der Jüngste Tag endgültig lüften wird, macht er uns Christen geradezu widerstandslos gegen das Teilen der Gaben und Güter des Lebens: Denn die Überraschung, die die anonymen, die unabsichtlichen Christen erwartet, wenn sie einst auf dem Thron den finden, den sie versorgt und gepflegt, gestützt und gestärkt haben , … diese Überraschung gibt es für uns nicht mehr.
Uns ist es durch den Geheimnisverrat Jesu ja heute schon eingeimpft und eingegossen, dass wir nirgends und nie von einer anderen Wirklichkeit umgeben sein werden, als von der Seinen: Er hat es uns anvertraut, Er hat es wirklich auf uns übertragen, dass Er selbst uns überall erwartet, dass Er uns unmittelbar und unverhofft nahe ist, dass Er uns anspricht und anbettelt, dass Er uns braucht und aufsucht, dass Er uns mit allen lauten und leisen Bitten und sämtlichen Wünschen, Bedürfnissen und Besorgnissen in der Welt ruft.
Es gibt keine Lebenserfahrung und keine Lebenserwartung, in der nicht Jesus uns begegnet: Allgegenwärtig in jedem bisschen, das das Leben nötig hat!
Wo immer wir sind, können wir Seinem Leben helfen; wir können Ihn nähren und erquicken, wir können Ihn aufnehmen und ausstatten, wir können Seine Hand halten und Ihm Recht schaffen. … Jede Lebensäußerung, jede Lebensforderung, die uns möglich und nahe sind, erweitern und vertiefen die Lebensgemeinschaft, die uns mit Jesus verbindet.
Für uns kann darum eben nichts und niemand namen- oder gesichtslos, hoffnungs- oder anspruchs-oder rechtlos sein: Jeder Lebende, der uns begegnet und berührt, stellt uns direkt, hautnah, greifbar, sinnenfällig, praktisch, intuitiv, elementar vor Jesus! Wir können nichts tun, das Ihn nicht beträfe. Jede noch so kleine Handlung, jede winzige, unwillkürliche Geste, jedes Gute für den geringsten Bruder dient Ihm.
Überall und allezeit ist unser eigenes Leben also zum Höchsten fähig, das es überhaupt geben kann: Wir sind von der Möglichkeit umgeben, unser Leben mit Gott zu teilen! —
Das ist der Radius des Guten, in dessen Mitte wir stehen. Wir stehen mitten in der Gelegenheit, alle unsere Kräfte und Neigungen dem ewigen Leben zuzuwenden! ——
Darum werden der Hass und alles, was das Leben verneint, uns aber auch unmöglich in eine andere Lage versetzen. Es ist einfach kein Raum für die Mächte der Zerstörung, weil wir von jeder Seite umfangen sind von Jesus.
… Selbst in tiefster Traurigkeit – wie heute – ist jedes Trostwort, das wir wagen, ist jede Umarmung, jedes Zeichen der Menschlichkeit eine Gemeinsamkeit zwischen uns und demjenigen, in dem das Wunderbarste zu finden ist: Das Leben, das mitten im Tod begann und besteht. ——
Das also ist unser Glaube, unsere fixe, unverrückbare Überzeugung von der Allgegenwart des Guten in Glück und Leid, … in aller Kraft, aber nicht weniger auch noch unter Schmerzen, … in der Schönheit ebenso wie in aller Schwierigkeit des Lebens.
Das ist unser guter Verfolgungswahn, der uns noch in schlimmsten Erfahrungen begleitet.
Das ist unsere Krankheit, … dass wir nie nur uns erleben und berücksichtigen, sondern immer auch teilen und mitleiden werden, was andere trifft.
Diese Krankheit hat im Übrigen einen Namen.
Sie heißt Liebe. Liebe ist unlösbare Gemeinsamkeit als unumgängliche Verwundbarkeit durch unzweifelhaftes Zusammengehören.
Liebe leidet mit und sie lebt mit. Und sie wird leben mitten im Tod.
Denn wir sind mitten im Tod vom Leben umfangen durch die Auferweckung und Allgegenwart Jesu, dem wir geben können und wollen, was er uns gibt: Das Leben.
Amen.
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, Abschnitt 51, in: ders., Werke in drei Bänden, Darmstadt 1997, S.1216.
Die anthropologische Besonderheit des Willens zum Leben – das Bewusstsein für den Lebenswillen der anderen – beschreibt Schweitzer in seiner Schrift „Kultur und Ethik“ in Kapitel XXI „Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“ wie folgt: „Ich kann nicht anders, als mich an die Tatsache zu halten, daß der Wille zum Leben in mir als Wille zum Leben auftritt, der mit anderm Willen zum Leben eins sein will. Sie ist mir das Licht, das in der Finsternis scheint“ (zitiert nach: A.Schweitzer, Kultur und Ethik [Sonderausgabe mit Einschluß von „Verfall und Wiederaufbau der Kultur“], München 1960, S. 334).
Drittletzter Sonntag 08.11.2015 Stadtkirche Lukas 17,20-30 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Drittletzter So. - 8.XI.2015
Lukas 17, 20-30
Liebe Gemeinde!
Als Kind bescherte mir meine erste Verliebtheit in eine Klassenkameradin, die mit zehn Jahren schon eine begnadete Pianistin war, einen intensiven Doppeleindruck:
Ihre herrliche Musik zeigte mir, was Worte nicht sagen können, und ihre Frömmigkeit übertrug sich auf mich in Gestalt einer glühenden Reich-Gottes-Erwartung.
Sie war nämlich Mitglied der Plymouth Brethren oder Darbysten, die man bei uns als die „geschlossene“ Brüder-Gemeinde kennt, und durfte das gar nicht, was uns verband: Eigentlich war ihr selbst auf dem Schulhof der Umgang mit Außenstehenden verboten, und weltliche Musik – sei sie noch so klassisch – hätten die Ältesten der Gemeinde gewiss nicht gutgeheißen. … Aber sie spielte eben doch - brillant -, und wir verbrachten Pause um Pause in Gesprächen über die Zeichen der Apokalypse und das tausendjährige Reich.
Seitdem bin ich vermutlich einer der wenigen Menschen, in deren Ohren Chopin wie ein Vorbote der Endzeit klingt. …….
Um die fromme Virtuosin ist es inzwischen ganz still geworden, und die Wiederkunft Christi und die Entrückung der Glaubenden, der wir als Kinder entgegenfieberten, wird una nun allenfalls als Erwachsene antreffen. … Ich weiß, dass dann nicht Chopin erklingen wird. Ich hoffe aber weiterhin, dass ich das Signal – wie immer es ergehen mag – vernehmen und bereit sein werde. ——
Aber ich weiß inzwischen auch, dass unsere abenteuerlichen, phantasievollen Spekulationen über die Vorzeichen des Weltuntergangs, unsere Verschwörungstheorien und filmreifen Verknüpfungen einzelner pessimistischer Beobachtungen zu einem lückenlosen Beweis, dass die Dinge reif seien und das Gericht vor der Tür, eine zu einfache, eine zu unschuldige Beschäftigung mit der Schuld und dem Jüngsten Gericht waren.
Das haben andere vor uns auch getan und tun es wieder und weiter.
Luther wurde gegen Ende seines Lebens vor Mürrischkeit, aber auch vor Müdigkeit immer apokalyptischer: „Bald muss es brechen den letzten Bruch!“, war sein Stoßseufzer voller Genugtuung, aber auch seine enttäuschte Abrechnung mit der Welt, die sich als ebenso starr und dickköpfig erwies wie er selber.
Andere haben voll hochgemuter Hoffnung das Reich Christi sich ankündigen, haben gefährliche und doch herrliche Zeiten heraufdämmern sehen: Der Schwabenvater Johann Albrecht Bengel errechnete dessen Anbruch sogar genau für 1836, und vom Ländle bis an die Wolga strömten die Frommen, die teilweise allen irdischen Besitz verkauften, dem wiederkehrenden Christus entgegen bis nach Palästina. …….
Die Zeit war damals gewiss reif … und war es seitdem oft … und ist es heute ganz bestimmt genauso.
Aber die Ungeduld, mit der wir das feststellen mögen, ist etwas anderes als ein untrüglicher Hinweis auf das, was wirklich kommt.
Nicht jede Katastrophe, nicht jedes böse Vorzeichen bringt die Wendung, die wir fürchten oder wünschen.
Denn – so hat es einer der wichtigsten Philosophen des 20.Jahrhunderts, Walter Benjamin beobachtet – „in dem Schatze jener Redewendungen, mit welchen die aus Dummheit und Feigheit zusammengeschweißte Lebensart des deutschen Bürgers sich alltäglich verrät, ist die von der bevorstehenden Katastrophe – indem es ja »nicht mehr so weitergehen« könne – besonders denkwürdig.“ Dagegen hält der Philosoph dem Denken nämlich umgekehrt vor Augen: „Daß es »so weiter« geht, [das] ist die Katastrophe.“ ——
Das schlichte Weitergehen, die unveränderte Fortsetzung des altbekannten Laufs der Dinge als die eigentliche Katastrophe zeigt uns nun aber auch Jesus in seiner Warnung vor allzu viel apokalyptischer Sensationslust. Nicht alles, was in Aufregung versetzt, nicht jede Hiobsbotschaft, nicht einmal eine noch so spektakuläre Drohkulisse oder entsprechend brodelnde Gerüchte sollen uns Christen erschüttern und unsere Erwartung schüren.
Sonst kämen wir nie aus der Habachtstellung des sichernden Murmeltiers heraus, das jeden verdächtigen Vorgang meldet und seine Genossen mit schrillem Warnpfiff in Windeseile in den Bau treibt.
Diese Sportart des Endzeitpunktesammelns, des hektischen Zusammentragens von Mutmaßungen und Übertreibungen, diese genussvolle oder überspannte Dauerwette auf den Weltuntergang ist kein Zeichen wahren Christentums.
… Überlassen wir es darum lieber den Filmemachern, den Wachtturm-Eckenstehern und den falschen Propheten, ständig neue Szenarien des Endes auszuschmücken, um das Bedürfnis nach Schauder und den Mechanismus der Angst zu bedienen.
Dagegen empfiehl uns Jesus nämlich eine gehörige Abgebrühtheit:
„Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach!“
Haltet es stattdessen mit dem unechten Lutherzitat vom Apfelbäumchen, das sich immer zu pflanzen lohnt. Bleibt britisch und werdet nicht gleich hysterisch: Der berühmte „Blitz“, der zur Bezeichnung des wahrlich apokalyptischen Bombenkrieges als deutsches Fremdwort in’s kollektive Gedächtnis der Engländer eingegangen ist, wurde vor allem durch Teetrinken im Luftschutzkeller überstanden und nicht durch Beschwörungen der Götterdämmerung und des Weltenbrandes.
So wiegelt Jesus die zu allen Zeiten große menschheitliche Bereitschaft für den Ausnahmezustand ab. Panik ist kein christlicher Reflex. Sie dient auch dort, wo sie unumgänglich ist, nicht dem Anbruch des Reiches Gottes. Nüchternheit dagegen schon.
Denn zweierlei gilt es zu beachten und zu beherzigen:
Als Erstes das vielfach ausgedeutete Rätselwort vom Reich Gottes, das mitten unter uns ist. Ob damit vor allem die Gegenwart der Gottesherrschaft in Jesus Christus selber betont wird oder ob der Sinn tatsächlich der Verweis auf das Innere eines jeden Menschen ist, muss uns jetzt nicht quälen.
Vielmehr wird doch gerade die Haltung der christlichen Unaufgeregtheit bestärkt, wenn Jesus uns versichert, dass die letzten Dinge und das Endgültige für uns jedenfalls keine schrecklichen Fremdkörper sein können, weil wir sie als etwas Vertrautes wiedererkennen werden, wenn sich das Reich Gottes bleibend offenbart.
Christen, die den Anbruch von Gottes Zukunft erwarten, sind also nicht auf der Jagd nach geschichtlichen oder kosmischen Knalleffekten und nie dagewesenen Horrorereignissen. Sie sammeln nicht Katastrophen wie andere Leute Treuepunkte, um mit vollgeklebtem Heft endlich das zu kriegen, was ihnen in der Nase sticht.
Im Gegenteil … und das ist das Zweite: Der christliche Gleichmut, der auch und gerade in Katastrophen sich tausendfältig bewährt hat und bewähren kann, rührt daher, dass die Christen von ihrem Herrn lernen, wie das eigentliche Unglück dieser Welt nicht in den Feuerwerksereignissen, sondern im grauen Immergleichen besteht.
Endzeitlich schlimm ist es nicht, wenn auch uns einmal das tägliche Brot ausgehen wird, sondern das Endgericht droht, weil seit Menschengedenken unzählige Menschen nie satt wurden, während andere die finanzielle Fresssucht für ihr gutes Recht halten.
Nicht das jähe und unvermeidliche Leiden, das allerspätestens im Tode jeden treffen mag, ist der Grund, weshalb nur Gottes Neuschöpfung wahre Hoffnung bedeutet, sondern die lebenslangen, unverändert schmerzhaften Qualen, die das Los so vieler Kinder Gottes sind.
Nicht die großen Ausbrüche und Schauspiele des Bösen zeigen also, dass diese Welt reif zum Finale ist, sondern die in unsere Gewohnheit und unser Unbewusstes und in’s Allgemeine übergangenen Betrügereien, Lügen und tausend unbemerkten Unbarmherzigkeiten.
Denn genau das – diese Banalität des Bösen in der Alltäglichkeit – ist es, was Jesus als den eigentlichen Rahmen, Hintergrund und heimlichen Auslöser der Tage des Menschensohnes, also der Zeit des gewaltigen Übergangs aus dem jetzigen in den von Gott gerichteten Zustand nennt: Wie sie aßen, tranken, heirateten und sich heiraten ließen, wie sie kauften und verkauften, wie sie pflanzten und bauten in unerschüttertem Stumpfsinn und geschäftiger Spießbürgerlichkeit bis das Firmament brach oder die Erde aufriss, bis Flut und Glut sich entluden in Noahs Tagen und Sodoms, … das ist das wirkliche Problem, das ist der wirkliche Abfall von allem Guten und Tragbaren und Zukunftweisenden.
Das ist die Apokalypse:
Das geordnete Treiben, der behäbige Fortschritt, der ganz gewöhnliche Apparat des Lebens, das sich breit und bedenkenlos dahinwälzt, … die sind die Vorboten des Endes.
… Wobei so viel doch noch zu den Leuten Sodoms zu sagen ist (weil die Bibel immer wieder mit ihrem Finger auf uns zeigt und uns sagt, dass wir gemeint sind!!!): Der todeswürdige Frevel der Sodomiten ist nicht bloß jene Triebbefriedigung, die wir mit ihrem Namen verbinden, sondern der für den Orient maßlose Skandal, dass es Gäste und Fremdlinge waren, die die Leute von Sodom missbrauchen wollten (vgl.1.Mose19,5!) Der Bruch des geheiligten Gastrechtes, der Verrat an wehrlosen Fremdlingen – die in Wahrheit sogar Engel Gottes sind! –, die haben den nach der Sintflut zweiten Weltuntergang der Urgeschichte ausgelöst! … Wer Ohren hat zu hören, der höre! ———
Zurück aber zu Jesu Ruf zum Vertrauen auf die unspektakuläre Nähe des Reiches Gottes und zur Alltäglichkeit der Endzeit.
Was lehrt uns denn nun Jesu zwiefache Warnung zunächst vor der unsinnigen Panikmache der Apokalyptiker und sodann vor der Gedankenlosigkeit der stupiden Weitermacher in dieser angezählten Welt?
— Wenn wir Christen keine solchen Weitermacher, aber auch keine kopflosen Abbrecher innerhalb der Weltgeschichte sein sollen, … was dann?
Nun, das hat Luther direkt dort, wo er den berühmten Nagel auf den Kopf traf, ganz oben auf dem 95-Thesen-Blatt, in These 1 gesagt:
„Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht "Tut Buße" usw. (Matth.4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“
Wenn wir Christen nämlich wirklich wissen, dass Gottes Reich nicht an den großen Umwälzungen abzulesen, nicht an Knalleffekten festzumachen, sondern mitten in unserem eigenen Leben zu bezeugen ist, wenn es also dicht bei uns und dennoch nicht im einfachen „Weiter so!“ zu erwarten bleibt, dann bedarf es immer wieder dieser Bewegung: Dass wir uns nicht ablenken lassen durch Krach und Krisen und dass wir dennoch nicht bloß starr verharren, sondern dass wir uns wenden und umkehren, dass wir uns wandeln und ändern, dass wir immer und immer wieder etwas anders machen als zuvor und drumherum.
Genau darin ist ja doch das Reich mitten unter uns, ist die Zukunft Gottes, die so anders sein wird, als die Gegenwart, uns nahe: Auch wir können jeden Tag dem tauben Wahn der Generation Noahs, dem blinden Trieb der Leute Sodoms – den Mächten der Gewohnheit und der Masse – etwas entreißen. Wir müssen nichts so weiter machen wie bisher!
Wir können - und wir sollen! - dem breiten Strom und Zug der Zeit unser eigenes Leben in den Weg stellen: Was uns gestern noch selbstverständlich war, können wir heute ablegen. Was wir immer gedacht haben, können wir morgen ganz neu verstehen. Wo wir immer nur Gegengründe wussten, tut sich uns einst das „Dafür!“ auf.
… Was wir von Hause aus nie waren, – als Jünger Jesu können wir’s werden!
So lange wir leben, können wir dem Gericht, das dem bloßen „Weiter so!“ droht, entgehen, indem wir uns der herrlichen Verwandlung und Erneuerung, die das Reich Gottes bringen wird, nicht entziehen: Ändern wir uns also, üben wir innere und äußere Umkehr, lernen wir dazu, begreifen wir ernsthafter, lassen wir uns weniger irreleiten, handeln wir freier, verzichten wir mehr, benötigen wir weniger, teilen wir lieber, schenken wir herzlicher, erwarten wir bescheidener, beten wir kindlicher, handeln wir tapferer, lieben wir vollkommener, glauben wir fröhlicher, hoffen wir stärker, … leben wir anders, ganz anders, ganz verändert aus dem Reich Gottes, das mitten unter uns ist.
Dann erfahren wir in jeder solchen Veränderung, die mitten in unserem Leben angelegt und möglich, ja geboten ist, wie wunderbar, wie nahvertraut und doch völlig befreiend es werden wird … Gottes kommendes Reich!
Auch wenn wir nicht jeder dadurch schon hier und heute so gänzlich verwandelt werden wie Leo Tolstoi, der vom Grafen zum Landstreicher wurde, als er das Reich Gottes fand – wir müssen keinen Tag länger rätseln, wo und wann es wohl zu erwarten sei. Wir können dem Reich Gottes in unseren Tagen näher kommen!
Und genau darum haben wir wie alle Jünger Jesu Sehnsucht nach dem Tag des Menschensohns.
Weil wir nicht mehr ratlos spekulieren, sondern sehen und erleben, dass wir ihm immer näher kommen, je weniger wir weiter machen wie bisher, je mehr wir uns verändern lassen ….. ; und zugleich glauben und erfahren wir auch, dass Gottes Reich umso rascher näher kommt, je mehr die Dinge einfach weitergehen, je mehr die Katastrophe der unveränderten Unmenschlichkeit der Menschen sich fortsetzt.
Es ist also mitten unter uns, und wir können uns tagtäglich in sein Kommen einüben, — und können’s doch zugleich weder beschleunigen noch aufhalten.
Es kommt … bald ist es da. … Und wir … was tun wir? Einfach stillhalten? Weitermachen?
Alles bleibenlassen? Alles ändern? ———
Ist das Reich Gottes nicht vielleicht doch wie Chopins Musik … wie der „Minutenwalzer“?
Ein Ansturm, der nicht kalt lässt, in jeden Nerv fährt, ein flinkes, scheinbar mühe- und schwerelos mitreißendes Werk, ein spürbar zugängliches Geheimnis, ein überraschend einfaches Rätsel, das in Menschenhände drängt. … Und wenn wir auch das Geschick dazu nicht haben, nicht wissen, wie’s zugeht … es geht, es ist möglich!
Das Reich Gottes ist mitten unter uns.
Glauben wir’s! Tun wir’s! Freuen wir uns!
Leben wir mit den Menschen darauf los!
Amen.
Gedenktag der Heiligen 01.11.2015 Stadtkirche Offenbarung 7,9-17 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Gedenktag der Heiligen – 1.XI.2015
Offenbarung 7,9-17
Liebe Gemeinde!
Die anscheinend wichtigste Frage 2015: Wie viele? – „Eine große Schar, die niemand zählen konnte“
Und: Woher? – „Aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen“. —
Allein diese beiden kleinen Sätze aus der Offenbarung des Johannes, die immer schon das Gedächtnis der Heiligen einleiteten, reichen aus, um uns begreifen zu lassen, was wir mit diesem Gedenktag verdrängt haben.
Die landläufige evangelische Sicht auf die sog. „Heiligen“ war stets geprägt vom kleinkarierten Zug unserer Kirche, der sich bereits an ihrem Namen zeigt: Aus der Entdeckung des weltweit freien und befreienden Evangeliums wurde ……. die „Landeskirche“! … Eine Gemeinschaft, die sich begrenzen und mehr als nur äußerlich festlegen ließ durch lachhafte kleine Zufälle und Gebilde des Feudalismus oder – wenn es etwas größer sein durfte – des Nationalismus: Eine anhaltische Landeskirche und eine für Kurhessen-Waldeck und eine schwedische Reichskirche, eine anglikanische Staatskirche und eine Kirche des Kantons Zürich!?! Wie armselig provinziell, wie geistlos innerirdisch sind solche Zwitter, die das Volk Gottes in winzige, einander ausstechende Backförmchen pressen und durch verschiedene Gesangbücher und Obrigkeiten ihre geistliche Selbstgenügsamkeit bewiesen und beweisen.
Und als sei solche räumliche Zwergstaaterei nicht schon beschränkt genug, hat sich in der evangelischen Welt im Lauf der Jahrhunderte auch noch eine zeitliche Eingrenzung ergeben: Zur heiligen christlichen Kirche, der Gemeinschaft der Heiligen rechnete man nach allgemeinem Missverständnis nur noch die Zeitgenossen.
Christen außerhalb der engen Schranken von Schlagbaum und Kartei gingen einen nichts an.
Das ist das Ergebnis einer erschreckenden Protestkultur im Protestantismus, die alles verwarf, was irgendwie „römisch“ wirkte und dabei in echten geistigen Provinzialismus und wahrhaftige Bibelvergessenheit geriet.
Biblisch ist nämlich die Hoffnung auf das menschheitsgroße Reich Gottes und das Festhalten an der universalen Weite der neuen Menschenwelt, die durch die Taufe zusammengehört.
Biblisch ist die Gewissheit, dass weder räumliche, noch zeitliche Grenzen uns von unseren Glaubensgeschwistern trennen können, weil sie für Gott alle leben (vgl.Lk2038b) und in ihm alle eins sind (vgl.Joh1721).
Biblisch ist die Rede Jesu vom armen Lazarus, der nach dem Tod in Abrahams Schoß getragen wurde (vgl.Lk1622) und ebenso biblisch ist die Verheißung an den Schächer auf Golgatha, dem Jesus „heute“ noch, am Tag seiner Hinrichtung das Paradies versprach (vgl.Lk2343).
Biblisch also ist die den Tod und alle Trennung übergreifende Gemeinsamkeit zwischen Menschen und Gott: Wie im zeitlichen Leben überall, so sind Gottes Menschen auch jenseits der Zeit mit Ihm und untereinander unlöslich verbunden. ——
Wenn die Lebenden demnach in den Toten nicht mehr volle Mitglieder der Gemeinschaft der Heiligen zu erkennen vermögen, dann ist etwas faul. Dann wird es Zeit, das Gedächtnis der Heiligen, die Gemeinschaft der Gott Gehörenden wieder bewusst und dankbar zu feiern – nicht zuletzt, damit wir die große Schar aus allen Nationen, Stämmen, Völkern und Sprachen an beiden Orten zu erkennen und zu begrüßen lernen: Hier wie dort, unten und oben!
Das ist übrigens – zum Glück! – kein neuer Gedanke und keine fremde Erkenntnis in der evangelischen Welt. Seit die reformatorischen Kirchen im 17.Jahhrundert fast an ihrer eigenen Rechtgläubigkeit erstickt wären, gibt es immer wieder Aufbrüche aus allen erstarrten Systemen des Glaubens, der Verfassung und der weltanschaulichen Anbiederung.
Und die dabei treibenden Kräfte mit freiem, weitem Geist waren und sind – trotz ihres anderslautenden Rufs! – … die Pietisten.
Die ließen sich bald durch keine Konfessionsschranken mehr einschüchtern und schufen etwa im Wittgensteiner Land – der Landschaft unserer großen Konfifreizeiten um Bad Berleburg – Gebiete echter religiöser Vielfalt und Toleranz, wo wahrer Glaube allen ein Bürgerrecht gab.
Auch in Herrnhut verwirklichte man die volle, Zeit und Raum umfassende Ökumene, indem man aus jedem christlichen Taufbecken Geschwister annahm und aus allen Kontinenten und Kulturen nach Täuflingen suchte – allerdings nicht um ganze Stämme zu missionieren, sondern um durch die sog. „Erstlinge“ aus den Heiden sich und der Welt zu zeigen, dass die Kirche, die Braut Jesu Christi die eine, allgemeine Vielfaltsgestalt der Menschheit hat*.
Mit eben dieser völligen Selbstverständlichkeit aber bezog die von England nach Amerika, von Dänemark nach Grönland, von der Lausitz bis in die Karibik pilgernde Gemeine Herrnhuts auch jene ein, die auf ihrem Gottesacker nebeneinander ausruhten, … einerlei ob sie Mähren oder Mohren, Sklaven oder Reichsgrafen gewesen sein mochten. Die obere und die untere Gemeinde sind eine Einheit. Nur gemeinsam sind sie, sind wir alle Heiligen!
Es ist also an der Zeit, dass wir es wieder feiern: Das Fest der Universalität, das Fest der unbegrenzten Zusammengehörigkeit. Das Fest, das die Festung Europa in ihrer ganzen tiefen, erbärmlichen, gottlosen Angst zeigt.
Denn davor scheint ein abgeschlossenes Europa sich doch zu fürchten, ……. dass nicht nur zu viele Lebende, die nicht in unsere Stammbücher und Melderegister gehören, plötzlich da sind, sondern dass auch die Toten, unsere Gemeinschaft der Heiligen sich zeigen und uns vor die Entscheidung stellen: Mit oder ohne? Drinnen oder draußen?
Ist der Mann aus der Donauebene, der in Gallien diente und seinen Mantel teilte und das Christentum annahm und lebte, einer von uns? Ist der türkische Wohltäter der Armen, der Helfer der Hungernden und Hilflosen, der an einem 6.Dezember das ewige Leben erlangte, uns fremd oder Freund? Wissen die Schwachsinn grölenden Mitteldeutschen eigentlich, dass Stift und Stadt Magdeburg zu Ehren eines schwarzen Heiligen errichtet wurden und dass die deutschen Reichskleinodien angeblich Speer und Schwert dieses - mit Verlaub - „Negers“, des heiligen Mauritius einschlossen? Die geistlichen Väter, die uns Christen lehrten, Gottes Einheit in den drei Personen anzubeten: Türken allesamt! Der Begründer des abendländischen Glaubenswissens und der christlichen Theologie des Westens: Augustinus, der Nordafrikaner!
……. Ach, es ist müßig sie immer wieder aufzuzählen: Unsere morgenländischen Väter, Mütter und Patrone.
Es ist müßig, immer wieder daran zu erinnern, dass der Apostel, dem wir Heiden die Bekehrung und wir Evangelischen insonderheit die Botschaft des rechtfertigenden Glaubens verdanken, … es ist müßig immer wieder daran zu erinnern, dass dieser Saulus-Paulus Christus unterm heute rauchschwarzen, kriegsdröhnenden Himmel von Damaskus erfuhr und dass der Name, mit dem wir uns nennen – „Christen“ –, zuerst im syrischen Antiochien geprägt wurde.
Es ist müßig, weil die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit: Wenn der Westen Werte hat, dann sind die höchsten unter ihnen eingewandert; wenn wir eine Kultur besitzen, die nicht barbarisch ist, dann kommt sie von jenseits unserer Heimat.
… Das heißt nicht, dass wir uns jedem Licht vom Osten oder jeder Wetterfront von dort ergeben und ausliefern sollten. Sondern es heißt, dass wir festhalten und teilen und wahr machen müssen, was auch wir nur empfangen haben: Dass es eine große Schar ist, die niemand zählen kann, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen, die vor dem Thron und vor dem Lamm stehen. ——
Ich hätte nicht für sehr wahrscheinlich gehalten, dass ich sagen würde, was nun zu sagen ist; zu stockend geht die missbrauchte Parole von den Lippen. Aber die Schar, die im Himmel anbetet und bekennt, zwingt uns es zu begreifen: Die heilige christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen aller Zeiten und Räume, die Gott in seinem himmlischen Tempel dienen Tag und Nacht … sie ist die Internationale, sie ist das alle Grenzen entkräftende, ad absurdum führende Weltvolk Gottes. „International“ und „heilig“, „grenzenlos“ und „Gottgehörig“: Das deutet sich vom Himmel her gegenseitig.
Wenn wir aber nicht wieder diese Weltzugewandtheit, diese Weltläufigkeit des Glaubens der christlichen Kirche zurückgewinnen, dann werden wir nicht nur eine Gemeinde in der Nische – das an sich wäre gar nicht zu fürchten! –, sondern eine Gemeinde der geistlichen Enge, eine Gemeinde, die nichts mit der Welt und mit der die Welt nichts anzufangen weiß.
Da aber sei Gott davor! Und Seine Heiligen.
Freuen wir also uns an ihnen, mit ihnen und auf sie!
Freuen wir uns, dass auch wir in diese unvergleichlich mannigfaltige und doch einige Schar gehören, dass wir inmitten des denkbar vielgestaltigen Reichtums der Gott Gehörenden unseren Platz ahnen können, dass wir hier nie ohne sie sein können und dort niemand ohne uns!
Halten wir darum ihr Gedenken wach und unsere Zusammengehörigkeit wie die Mitglieder einer weitverzweigten Familie lebendig.
Erzählen wir von ihnen:
- Von Thekla, der eigensinnigen Schülerin des Paulus, die im syrischen Volk bis heute so gegenwärtig ist, dass die muslimischen Flüchtlinge in Kaiserswerth unsere jüngste Tochter immer nur strahlend mit dem Ehrentitel „Mar Ta’la“ – „Herr Thekla“ – ansprechen;
- erzählen wir von Franziskus, dem mildesten Radikalen aller Zeiten, dessen strenge Gnade heute noch das Geld welken und die Schöpfung heilig macht;
- hören wir von Bruder Klaus – Nikolaus von Flüe – , dem einst reichen Bauern und zehnfachen Familienvater, dessen friedfertiges Gebetsleben als Einsiedler nah bei seiner Familie bis heute Menschen zur Suche nach dem Sinn des Lebens ermutigt;
- lernen wir von der großen Teresa, die Gott in ihrem Herzen wie einen Freund zu besuchen wusste und die gleiche Gnade empfand wie der, den wir gestern vor Augen hatten und dem wir für alle Zeiten allein schon für das Gotteswort in unserer deutschen Sprachen danken werden;
- freuen wir uns, dass unter den Sängern am Thron Paul Gerhard und Johann Sebastian zu hören sind;
- freuen wir uns, dass eine Friederike Fliedner mit ihrer heiligen Tatkraft uns ebenso erwartet wie jene kleine, eindrucksvoll Araberin, Mirjam Baouardy, die jüngst zur Schutzpatronin des Nahost-Friedensprozesses erhoben wurde† – ein Mädchen aus Galiläa, die als Analphabetin und Mystikerin in Bethlehem ein Karmelkloster baute zu einer Zeit, als auch schon Kaiserswerther Schwestern im Heiligen Land arbeiteten.
Vergessen wir sie alle nicht, die Freunde Gottes und der Menschen, die uns vorangegangen sind und nun am Thron stehen in ihren Kleidern aus Gerechtigkeit:
- Christa von Viebahn, die Frau, die das fromme Stuttgart schockierte, als sie vor hundert Jahren auf eigene Faust Evangelisationen durchführte, wie sie es bei den Stettiner Proletariern gelernt hatte und die später die Mutter der Aidlinger Schwesternschaft wurde;
- Hermann Stöhr, der Staatsrechtler, der als Freiwilliger von 1914 so unter dem Grauen des Krieges litt, dass er 1941 zum einzigen (!) evangelischen Wehrdienstverweigerer wurde, der für seinen Pazifismus in Plötzensee geköpft wurde;
- Madeleine Delbrêl, die kommunistische Gründerin eines französischen Laienordens, der unter den Industriearbeitern leben und die Mystik des Straße pflegen sollte;
- Dag Hammarskjöld, den tieffrommen ersten UN-Generalsekretär;
- Pater Thair Sa’adallah und Pater Wasseem Sabb’ieh, die beiden katholischen Priester, die gemeinsam mit mehr als fünfzig ihrer chaldäischen Glaubensgeschwister gestern vor fünf Jahren, am Vorabend von Allerheiligen in der Liebfrauenkathedrale von Bagdad vom IS ermordet wurden … dabei hatte Pater Sa’adallah die Terroristen, als sie die Kirche stürmten noch für seine Gemeinde angefleht: „Im Namen des Evangeliums des Friedens: Nehmt mich, nicht diese“.
Es war eines der ersten großen Massaker an Christen, die der IS beging.
Viele sind seitdem gefolgt. Die Zahl der Märtyrer unseres Glaubens nimmt zu, wie seit den ersten Generationen der heiligen christlichen Kirche, der Gemeinschaft der Heiligen nicht mehr!
Aber diese sind gekommen aus der großen Trübsal und haben ihre Kleider gewaschen und hell gemacht im Blut des Lammes. … Sie werden nicht mehr hungern und dürsten, … denn das Lamm mitten auf dem Thron wird sie weiden und leiten zu den Quellen des lebendigen Wassers, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.
Das also sind die Heiligen, unsere obere Gemeinde, unsere Geschwister und Verwandten, unsere Freunde und Vertrauten, unsere Vorbilder und Mistreiter und künftigen Nächsten.
Wenn wir ihrer gedenken und auf sie schauen, wie sie Gott umgeben und den Trost und das Licht seiner Nähe genießen …, dann fällt uns die vermeintlich wichtigste Frage unserer Zeit, in der so viele Menschen auf dem Weg sind, wieder ein:
Wie viele? – „Eine große Schar, die niemand zählen konnte“
Und: Woher? – „Aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen“.
Aber es geht nicht um die Abwehr dieser Menschenmenge; es sind nicht die Flüchtlinge, derentwegen wir diesmal so misstrauisch und kleingläubig fragen.
Sondern mit Erschrecken und Vorfreude erkennen wir, dass wir selbst es ja sind auf dem Weg, … dorthin zu ihnen. Dorthin, wo es keine Grenzen gibt, kein Ende der Aufnahme.
Und wenn wir dort ankommen, dann werden wir erwartet sein und willkommen!
Was für eine Gnade, dass wir dort zugehörig sein dürfen!
Amen. Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.
Offene Schuld
Herr, die Angst nicht zu wissen, wo man hingehört, … die ist groß!
So viele sind unsicher unter uns:
Fürchten ihren Platz, ihre Stellung in der Welt zu verlieren.
Fürchten Sicherheit einzubüßen.
Wissen nicht: Woher?, nicht: Wohin?
Haben auf Erden keinen Halt, im Himmel kein Ziel.
Das ist unsere Schuld. Weil wir so tun, als wüssten auch wir nichts. Weil wir vielleicht wirklich nicht mehr glauben, dass wir sicher und getrost wandern können und dass wir eine Heimat haben, die uns alle erwartet.
Herr, verzeihe uns den Kleinglauben, der sich in einer Gegenwart einrichtet, die vergeht, und der zweifelt an der bleibenden Herrlichkeit, die kommt.
Fürbitten
Hab’ Dank, Herr, für die Wolke von Zeugen, die uns umgibt und die Dich umgibt.
Mit ihnen allen sind wir verbunden und freuen uns in allen Nöten der Gegenwart auf den Frieden, der bei Dir herrscht.
In den Leiden und Kämpfen der Welt braucht die Menschheit immer mehr den Maßstab und die Verheißung der Heiligkeit.
Gib darum unseren Geschwistern, die Verfolgung und Heimsuchung ertragen müssen, Geduld und festen Glauben.
Die Christen in Syrien und ihre Nachbarn befehlen wir unter deinen Schutz.
Die Märtyrerkirchen, die im Nahen Osten und in Afrika Gewalt leiden, tragen wir gemeinsam mit allen Heiligen an Dein barmherziges Ohr.
Die schrecklich verfeindeten Völker im Heiligen Land, die machtbesessenen Herrscher und Kriegstreiber aller Himmelsrichtungen, die mutlosen und selbstsüchtigen Nationalisten überall auf Erden lassen und klagen und Dich drängen:
Stürze Du die Tyrannen, versöhne die Verfeindeten, lass die entfesselten Mächte der Menschheit nicht unendlich wüten.
Gib Du Deinen Geist allen, die Verantwortung tragen und einer geschichtlichen Entwicklung Bahnen weisen wollen, die uns daran mahnt, dass wir nur mit-, nicht gegeneinander leben können.
Bereite dem Frieden den Weg.
Lass den Segen der Gemeinschaft die Kirchen stärken und zusammenführen.
Nimm Dich jedes Einzelnen an, der Einheimischen ebenso wie der Fremden.
Mache die Schritte der Flüchtlinge in Kaiserswerth fest und lass sie getrost in ein neues Leben gehen. Gib denen, die in Lohausen ankommen sollen, Geleit und Willkomm.
Und endlich: Führe uns alle zu der großen Schar aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen, die Dich lobt in Ewigkeit!
* Das Ölgemälde von Johann Valentin Haidt (1700-1780) im Unitätsarchiv Herrnhut (GS 463) zeigt Menschen verschiedener Herkunft und Hautfarbe – teils in der barocken Tracht der damaligen Brüdergemeine, aber auch in der traditionellen Kleidung indigener Völker, die Christus in der Herrlichkeit umgeben. Es handelt sich sowohl um Porträts farbiger Glieder der Gemeine, die in Herrnhut lebten und starben, als auch um völkerkundlich interessante Darstellungen von Vertretern außereuropäischer Kulturen.
† Mirjam von I’billin (bei Nazareth) wurde am 17.Mai 2015 von Papst Franziskus kanonisiert.
22.S.n.Tr., 01.11.2015, Teresa von Avila, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Thema: „Gott allein genügt: Teresa von Ávila(1515-1582) - Mystikerin und Reformerin zur Zeit der Reformation"
Liebe Gemeinde,
als Martin Luther vor 498 Jahren am 31.Oktober seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlug, die damals so eine Art „Schwarzes Brett" für die Professoren und Studenten der Wittenberger Universität war, da wollte er keinen neuen Feiertag begründen, sondern er hoffte lediglich, dass möglichst viele am nächsten Tag vor oder auch nach dem Besuch der Heiligen Messe sich mit seinen Gedanken auseinandersetzen würden. Denn der 1.November war Allerheiligen - und das garantierte einen sehr hohen Messbesuch.
Dass in der Folgezeit der 31.Oktober und der 1.November einmal diametral einander gegenüberstehen würden - der eine ein hoher Festtag der Reformatorischen Kirchen, der andere dagegen Festtag der Katholischen Kirche - das konnte er 1517 nicht ahnen. Und irgendwie ist Allerheiligen uns Protestanten fremd und suspekt geblieben. Hatte Luther nicht alle Heiligen abgeschafft? Ich muss gestehen, wenn ich seit nunmehr 17 Jahren bei der Suitbertus Schrein- und Lichterprozession mitgehe und gegen Ende des Rundgangs die Heiligen-Litanei gebetet wird - „Heilige Apostel und Märtyrer, bittet für uns" - dann ist mir das immer noch so fremd, dass ich es nicht mitsprechen kann, obwohl ja zum Beispiel der Hebräerbrief von der „Wolke der Zeugen" spricht, zu der wir gehören und die unseren Weg begleitet. Aber ich kann es mittlerweile gut hören. Was ich weniger gut hören kann, ist die Tatsache, dass zwar ganz viele Männernamen vorgetragen werden, aber nur sehr wenige Frauennamen. Offensichtlich setzt sich hier die Geschlechterhierarchie im Himmel fort. Übrigens ist das auch im inoffiziellen evangelischen „Heiligenkalender" so: da gibt es Martin Luther und Johannes Calvin, Theodor Fliedner und Friedrich von Bodelschwingh, Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer. Dorothee Sölle kommt den wenigsten in den Sinn.
Da es der Kalender mit sich gebracht hat, dass der 1.November, Allerheiligen, in diesem Jahr ein Sonntag ist, möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen, eine Heilige in der Predigt vorzustellen. Eine wahrhaft große Frau, die am 28.März 1515 in Spanien das Licht der Welt erblickte, zur Zeit Martin Luthers. Ich spreche von Teresa von Avila, Mystikerin und Reformerin. Es gibt nicht wenige Berührungspunkte zu Martin Luther, obwohl sie ihm nie begegnet ist und nie eine seiner Schriften in den Händen gehalten hat. Teresa ist ihren ganz eigenen geistlichen Weg gegangen - mit vielen Schwierigkeiten und Anfechtungen; eine Mystikerin, die mit beiden Beinen stets fest auf der Erde stand. Ihre Schriften haben die klassische spanische Sprache und Literatur mindestens ebenso beeinflusst wie Martin Luthers Bibelübersetzung die Deutsche Sprache. Dass sie in der evangelischen Kirche derart übersehen wurde, ist jammerschade; aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Teresa erblickt 1515 in Kastilien in Avila das Licht der Welt zu einer Zeit, die noch immer geprägt war von der Reconquista, der Rückeroberung Spaniens von den Mauren, die 1492 von den katholischen Majestäten Philipp und Isabella nach fast 100jährigem Krieg erfolgreich abgeschlossen wurde. Das brachte das Ende eines Jahrhundertelangen Zusammenlebens von Christen, Muslimen und Juden in Spanien mit sich. Während die Muslime sich auf den afrikanischen Kontinent zurückzogen, gab es für die jüdische Bevölkerung nur die Wahl zwischen Auswanderung oder Taufe. Teresas Großvater entschied sich 1485 mit seiner Familie für die Zwangstaufe, weil er die Heimat nicht verlieren wollte. Doch diesen so Bekehrten - von ihren christlichen Mitbürgern Conversos genannt - begegnete man mit stetem Misstrauen, ob sie nicht doch versteckt ihr Judentum weiterlebten. Die Inquisition blühte in Spanien auf mit all den Schrecken, die sie mit sich brachte. Das religiöse Empfinden jener Zeit war geprägt von Angst: Angst vor der Hölle, Angst vor der ewigen Verdammnis. Rettung sah man vor allen Dingen in einem frommen tugendsamen Leben. Teresa, die ihre Mutter mit 13 Jahren verloren hatte, beneidete ihre Brüder, von denen die meisten sich nach Amerika einschifften, um dort für den Heiland Seelen zu gewinnen und so Sündenschuld zu tilgen. Als Frau blieb ihr dieser Weg versperrt. So trat sie - allerdings gegen den Willen ihres Vaters - am 2.11.1535 ins Menschwerdungskloster der Karmelitinnen in Avila ein. Wer sieht da nicht eine auffällige Parallele zu einem gewissen Martin Luther in Wittenberg. Doch dieses Kloster in Avila gleicht damals eher einem Taubenschlag als einem spirituellen Rückzugsort. Etwa 180 Nonnen, die meisten aus sehr begüterten Verhältnissen, lebten dort teilweise sogar mit ihren Dienerinnen. Auch Teresa wohnte zunächst sehr komfortabel in zwei Räumen mit eigener Küche. Plauderstunden im Sprechzimmer brachten viele Gönner dazu, großzügig zu spenden. Teresa, die über eine gehörige Portion Charme verfügte, kam sehr gut an und geriet genau darüber in einen Zwiespalt: warum war sie denn ins Kloster gegangen? Wollte sie anderen gefallen oder nicht doch Gott dienen? Zugleich stellte sie fest: das geistliche Angebot des Klosterlebens brachte sie keinen Schritt weiter. Da wurde montags die Sünde, dienstags der Tod, mittwochs die Hölle, donnerstags das Gericht, freitags die Passion Christi, samstags Unsere Liebe Frau und sonntags die Herrlichkeit des ewigen Lebens meditiert. Teresa erkrankte schwer und sollte bis zu ihrem Tod immer wieder mit vielen Krankheitszeiten geschlagen bleiben. Fast 20 Jahre ist sie eine Suchende und Fragende, bis ihr Blick 1554 eher zufällig auf das Bild eines „Schmerzensmannes" fällt und sie bis in die Tiefen ihrer Seele erschüttert. Für sie ist nun klar: Mittelpunkt ihrer Andacht kann nur die Menschheit Jesu sein und Gott ihr ein und alles. In dieser Erkenntnis wird sie bestärkt durch visionäres Erleben, vor allen Dingen aber durch eine ganz tiefe Gebetspraxis, die sie das „innere Gebet" nennt. Sie selbst schreibt: „Das innere Gebet ist nichts anderes als ein Gespräch mit einem Freund, mit dem wir oft und gern allein zusammenkommen, um mit ihm zu reden, weil wir sicher sind, dass er uns liebt." Im Gebet pflegt Teresa eine innige, intime Freundschaft mit Jesus, mit Gott. Und aus dieser Beziehung wächst ihr die Kraft und der Mut zu, ganz neue Gedanken zu entwickeln über Gott und seine Gegenwart, ganz neu über seine Nähe zu sprechen. Auch hier - wir werden es gleich noch hören - durchaus eine Schwester Martin Luthers im Geist, aber mit einem sehr eigenen Akzent - eben als Frau und Nonne und das in Spanien.
Ihre Gedanken jedenfalls waren für ihre Ordensoberen - und das waren Männer - verstörend. Nur wenige Geistliche ihrer Zeit verstanden ihre Anliegen, darunter der Karmeliter Johannes vom Kreuz. Diese forderten sie auf, ihre Gedanken aufzuschreiben. Und so entstand ihre „Vida", in der sie ihren Werdegang beschrieb mit allen Anfechtungen und allen Schwierigkeiten auf ihrem Lebensweg seit Kindertagen, über ihre Erfahrungen im Kloster, die Zerrissenheit und Ratlosigkeit über lange Jahre, welchen Weg sie nun gehen sollte, die Anfeindungen, die sie erlebte und die Erfahrungen, die sie mit Gott in diesen Zeiten gemacht hatte. „Gott erfahren", das macht den Kern von Teresas Spiritualität aus, Gott in der eigenen Seele erfahren, ihn nicht irgendwo, in Büchern oder einer Lehre, zu suchen und zu finden, sondern in sich selber. Da ist Teresa ganz Mystikerin - und genau da unterscheidet sie sich von Martin Luther, dessen reformatorische Erkenntnis eben eine intellektuelle Erkenntnis war; ihm war ein Licht aufgegangen, während Teresa in sich ein brennendes Feuer, das Feuer der Liebe Gottes, spürte. Ihre Erfahrungen mit dem inneren Beten hat sie in einer weiteren Schrift festgehalten; sie heißt „Die Wohnungen der inneren Burg".
Das Bild, das Teresa damit für ihre Gebetslehre wählt, ist ein im altorientalischen und christlichen Kulturraum sehr vertrautes Bild. Es kommt immer wieder in den Psalmen zur Sprache, besonders in Ps.46, der Martin Luther zu seinem berühmten Lied „Ein feste Burg ist unser Gott" inspirierte. Vor Augen hat man da die wehrhaften mittelalterlichen Burgen wie die Wartburg, die ihren Bewohnern Schutz boten, wenn Feinde sie bedrohten. Allerdings ist die Burg in Teresas Bild-Gleichnis nicht aus Stein, sondern aus einem Diamanten oder aus Kristall. Sie schreibt: „Als ich heute unseren Herrn anflehte, er möge durch mich reden, bot sich mir an, was ich jetzt sagen will, sozusagen als eine Art Ausgangspunkt, nämlich unsere Seele als eine gänzlich aus einem einzigen Diamanten oder sehr klaren Kristall bestehende Burg zu betrachten, in der es viele Gemächer gibt, so wie es im Himmel viele Wohnungen gibt (Joh.14,2). ... Ich finde nichts, womit ich die gewaltige Schönheit einer Seele und ihre riesige Fassungskraft vergleichen könnte."
Mit diesem Bild betont Teresa einerseits die Festigkeit und Beständigkeit, andererseits das Lichthaft-Strahlende der menschlichen Seele - die nach Teresas Vorstellung für den Menschen als Ganzes steht. Damit vertritt sie ein zu ihrer Zeit ungewöhnliches, durch und durch positives Bild vom Menschen. Ganz anders als zum Beispiel Martin Luther, der in seinem Lied „Nun freut euch, liebe Christengemein" mit Blick auf sich dichtete: „Dem Teufel ich gefangen lag" und „Es war kein Guts am Leben mein, die Sünd hat mich besessen." Bei Teresa hingegen spiegelt die menschliche Seele die Schönheit und Güte Gottes - und indem der Betende sich dessen mehr und mehr bewusst wird und Gott in seiner Seele aufsucht, zieht ihn Gott in sich hinein als dem Ursprung und Ziel alles Seins.
In der inneren Burg beschreibt Teresa den Weg der Seele, die durch das innere Gebet bis zur Wohnung in der Mitte der Burg gelangt und sich dort mit Gott vereint. Der lange, verschlungene Weg in das Innere steht für die allmähliche geistliche Reifung der Persönlichkeit, die Befreiung vom alten, um sich selbst kreisenden Ich zu einem Menschen, der eins ist mit dem Willen Gottes und dadurch zur eigentlichen, gottgewollten Freiheit gelangt. Jeder Mensch muss sein Inneres verstehen, das in Teresas Verständnis ganz und gar in Gott verwurzelt ist und allein aus ihm die Identität und menschliche Würde erlangt.
Um überhaupt den ersten Schritt in dieses Innere tun zu können, muss die Seele die Ringmauer der Burg überwinden: die weltlichen, äußeren Dinge, die den Menschen davon abhalten, sich mit seiner Identität und seiner Beziehung zu Gott zu beschäftigen. Das Eingangstor in die Burg ist das Gebet, das Gespräch mit Gott, das Gott selbst anstößt. So anstrengend der Weg durch die sieben Ringe bzw. Wohnungen der Burg oft auch erscheint, es ist ein Weg, den Gott und Mensch gemeinsam gehen, auf dem Gott den Menschen anzieht, ihm aber auch seine Individualität und freie Wahl lässt. Da ist nicht eine Gebetsstrecke abzugehen nach fester Regel. Wesentlich ist allein die Ausrichtung auf die Mitte, „die der Raum ist, wo der König weilt." Teresa schreibt:
„Für jede Seele, die sich dem inneren Beten wenig oder viel hingibt, ist es wichtig, dass man sie nie in einen Winkel einzwängt oder einengt. Man lasse sie durch diese Wohnungen streifen, aufwärts und abwärts und nach den Seiten hin. Da ihr Gott eine so große Würde verliehen hat, soll sie sich nicht zwingen, lange Zeit in einem einzigen Raum zu bleiben, und sei es in dem der Selbsterkenntnis."
Die Weite und Vielfalt auf dem Weg mit Gott, das ist der Kern der teresianischen Reformation. Ihr ging es stets darum, die Individualität und somit die Würde des Menschen zu achten. Damit aber ist ihre Mystik zutiefst menschlich, ein Abbild der Menschlichkeit Jesu, die sie aus den Evangelien kannte: „Der Herr führt jede Seele so, wie er sieht, dass sie es braucht." In diesem Ansatz ist Teresa ungemein modern.
Die Burg mit ihren sieben Ringen und deren zahlreichen Wohnungen stellt ein sehr flexibles Modell dar, das jeder Betende, jede Betende auf ihrem Weg zum inneren Gebet individuell erlebt. Die ersten bis dritten Wohnungen stehen dabei für die ersten Schritte, die noch primär die Anstrengung des Betenden erfordern. Die vierten bis sechsten Wohnungen sind der Weg ins kontemplative Gebet, in dem Gott die Initiative übernimmt, wobei der Betende, die Betende zunächst ansatzhaft, später immer häufiger die Vereinigung mit Gott erlebt. In der siebten Wohnung, im Innersten der Burg, erfährt die Seele ihre geistliche Vermählung mit Gott. Doch das bedeutet nicht eine Dauer-Ekstase im religiösen siebten Himmel, sondern dieses Einswerden mit Gott führt bei Teresa den Betenden paradoxerweise zurück in die Normalität, in den ganz gewöhnlichen, aber sehr aktiven Alltag, der nun als ganz und gar mit Gott gefüllt erlebt wird, durchdrungen ist von Gottesliebe: eine Haltung innerer Stille und Zufriedenheit auch unter schwierigen äußeren Bedingungen, und gleichzeitig ein Leben ganz dem anderen Menschen zugewandt in aktiver Nächstenliebe.
Teresa schreibt: „Dazu ist das innere Beten da, dazu dient diese geistliche Vermählung, dass ihr immerfort Werke entsprießen, Werke!"
Die Einung der Seele mit Gott ist eine Befreiung und ein Gesundwerden, das reiche Früchte trägt, für die Mitmenschen, für die Welt. Und die Nächstenliebe ist dabei der Prüfstein, ob die Seele wirklich in der Gottesliebe verankert ist.
Teresa schreibt: „Ich möchte, dass ihr nur dieses eine begreift: es geht auf diesem geistlichen Weg nicht darum, viel zu denken, sondern viel zu lieben. Was am meisten Liebe in euch weckt, das tut." Und: „Abschließend, meine Schwestern, möchte ich euch sagen: Wir wollen keine Türme bauen ohne Fundament, denn der Herr sieht nicht so sehr auf die Größe der Werke, sondern auf die Liebe, mit der sie vollbracht werden. Wenn wir tun, was in unseren Kräften steht, so wird der Herr uns von Tag zu Tag mehr Kraft geben, so dass wir nicht ermüden."
Das beeindruckt mich so sehr bei Teresa: dass ihre Spiritualität so ganz und gar auf das Leben in der Welt ausgerichtet bleibt, dass sie eine Mystikerin ist, die mit beiden Beinen im Leben steht, keine Träumerin, keine Schwärmerin. Durch die Beschäftigung mit ihr ist mir diese Mystik lieb geworden. Und mit ihrem positiven Menschenbild ist sie mir eh eine Schwester im Geist, viel mehr als ein Martin Luther mit seiner Betonung des Sünderseins.
Teresa hat für sich das Leben im Kloster nicht in Frage gestellt, anders als Martin Luther. Aber ihr stand als Frau und als Abkömmling einer ehemals jüdischen Familie im Spanien des 16.Jahrhunderts kaum ein anderer Weg offen, um ihrem Herzen zu folgen. Und dennoch ist ihre Frömmigkeit keineswegs nur im Kloster zu leben. Sie zielt auf jede Lebensform ab, ist absolut alltagsbezogen.
Teresa schreibt: „Auf, meine Töchter, verzagt nicht! Wenn euch der Gehorsam viele äußere Verrichtungen auferlegt, etwa in der Küche, so wisst: inmitten der Töpfe ist der Herr zugegen, um euch innerlich und äußerlich beizustehen. Ich möchte noch einmal betonen, Schwestern, dass der Mangel an äußerer Ruhe die Unio mystica (das Einswerden mit Gott) keineswegs hindert, ist sie doch Einswerden mit dem Willen Gottes. Dieses ist die Vereinigung, die ich euch allen wünsche, nicht die hingerissenen Verzückungen, die man auch mit dem Namen Unio belegt hat."
Wer sich mit Teresas Leben beschäftigt, der entdeckt eine Frau, die geborgen in Gott ihren Weg gegen 1000 Schwierigkeiten gesucht und gefunden hat und ihn weitergegangen ist bis zum Schluss, bis sie mit 67 Jahren in der Nacht vom 4. auf den 5.Oktober 1582 stirbt. In ihren persönlichen Unterlagen fand sich ein Zettel mit einem Gedicht, das zwar höchstwahrscheinlich nicht von ihr stammt, das aber ihre Lebenshaltung wie kaum ein anderes wiedergibt:
„Nichts soll dich ängstigen,
nichts dich erschrecken.
Alles vergeht -
Gott ändert sich nicht.
Geduld erreicht alles.
Wer Gott besitzt, dem mangelt nichts.
Gott allein genügt."
Oder in einer Übersetzung, die die Poesie des spanischen Textes viel besser wiedergibt:
„Nichts soll dich verwirren
nichts soll dich beirren
alles vergeht.
Gott wird sich stets gleichen
Geduld kann erreichen,
was nicht verweht.
Wer Gott kann erwählen,
nichts wird solchem fehlen:
Gott nur besteht."
Und der Friede Gottes, der höher und weiter und größer und kleiner ist als alles, was wir nur denken können - der bewahre unsere Herzen und unsere Sinne in dem Christus Jesus. Amen.
25.10.2015 21.So.n.Trin Stadtkirche Matthäus 5,38-48 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 21.n.Trin. 25.X.2015
Matthäus 5,38-48
Liebe Gemeinde!
Nehmen Sie’s nicht als Prophetie, … aber nehmen Sie’s auch nicht auf die leichte Schulter:
In drei Generationen vielleicht könnten die geliebten Feinde des Christentums oder die lauen Enkel der letzten Getauften auf den Gedanken kommen, man müsse den Glauben und das Leben der Kirche Jesu Christi im Museum vor dem endgültigen Vergessen bewahren.
Es wird ein virtuelles Museum sein, in dem kein Taufstein und kein Abendmahlskelch in Vitrinen stehen, sondern multimediale Animationen und Audioschnipsel diese exotische Vergangenheit ahnen lassen sollen. Und wenn die Kuratoren des Ganzen halbwegs unterrichtet sind, dann wird zu Beginn der Präsentation eine Tonspur zu hören sein, die die einzigartig bezeichnenden Worte der Bergpredigt enthält.
Wenn nämlich auch alles andere am Christentum ein Erbe oder eine Leihgabe, ein Raub oder ein Missverständnis sein sollte: Die Stimme des Predigers, der seine Hörer zu Kindern des himmlischen Vaters auf Wegen der bedingungslosen Liebe und Vergebung beruft, … diese Stimme ist das Original, sie ist das Unverwechselbare, das tiefste Eigene des christlichen Glaubens.
Der da einst sprach und noch in den Archiven der nachchristlichen Welt nicht verstummen wird, das ist Jesus: Jesus, der vom sanften Bergrücken in Galiläa her die Welt entwaffnet und den Hörenden einen Weg weist, der überweltlich mitten in Streit und Streben dieser Welt hineinführt, … Jesus, der Liebhaber aller Hassenden, … Jesus, der freiwillig anhängliche Begleiter aller, die ihn verlassen und verleugnen, … Jesus, der barmherzige Wohltäter aller, die ihn nackt ausziehen und bloßstellen, … Jesus, der die Betrüger beschenkt und die Totschläger heilt, … Jesus, der lebendige Inhalt der Bergpredigt, der Sohn des sonnigen Vaters, der Böse und Gute das Licht schauen lässt und Gerechte und Ungerechte erquickt, … Jesus also ist selbst die Verkündigung, die uns trägt, er selber ist die Ethik, die er uns aufträgt. ——
Und darum täten die dereinstigen Museumsleute wahrlich gut daran, wenn sie die Erinnerung an das Christentum tatsächlich mit dieser Hauptrede, mit dieser Kernbotschaft, mit der auf dem Berg predigenden Stimme Jesu Christi selber beginnen ließen.
… Die Erinnerung nämlich an die Christen in ihrem beklemmenden Streit, in ihrem lieblosen Dünkel und hasserfüllten Eigensinn, diese Erinnerung ist ein zweites Kapitel, eine verwirrend trübe und endlose Kette von Widersprüchen gegen den Prediger und die Predigt, mit der alles anfing. Wegen dieser Fortsetzung werden vermutlich so viele sich nicht mehr an den Beginn erinnern wollen. Wegen dieser Fortsetzung, durch die die Christen aus Christus das Christentum gemacht und ihn darin entmündigt haben, verhallen und versickern die größte Hoffnung und Möglichkeit, die der Welt je geboten wurden und werden. —
Doch noch ist nicht die Zeit des virtuellen Museums!
Noch spricht uns der, der die Forderung der Bergpredigt erhebt und zugleich selber als Erster erfüllt, mündlich und unmittelbar an – durch das Evangelium, durch die Predigt.
Noch ist es eben keine Erinnerung, sondern gegenwärtige Wegweisung in eine lebenswerte Zukunft für die Welt. Noch können wir tatsächlich unsere Feinde zu lieben üben und lernen, noch können wir mehr geben und tun, als irgendwo für möglich gehalten wird, noch können wir Kinder unseres Vaters im Himmel werden; … noch kann Christus die Zukunft und das Christentum lang nicht am Ende sein! ……. ——
Aber wir wissen, was auf dem Spiel steht. Wir wissen, was die Stunde geschlagen hat.
Die virtuellen Museumsleute von morgen warten schon am Horizont, ob nicht vielleicht bald die Zeit des Christentums abläuft oder ob sich zeigt, dass die Welt Christus ihre Zukunft verdankt.
Das macht die immer wieder neue Versammlung der christlichen Gemeinde um den Bergprediger so wichtig:
Dass in der Frage der Feindesliebe und freiwilligen Vergebungsbereitschaft tatsächlich dreierlei auf dem Spiel steht – Christus, die Kirche und die Welt!
… Aber jetzt mal Hand auf’s Herz: Das ist nun doch irgendwie reine Rhetorik, … oder?
Die Welt wird ja schon nicht untergehen: Selbst wenn jetzt, bei einer der größten Menschlichkeits- und Menschheitsfragen seit langem alle Sicherungen durchbrennen und nur noch Dunkles über Deutschland läge. Selbst wenn wir alle – weil wir es einfach nicht schaffen – jedes christliche und jedes humane Gebot verleugnen sollten und nur noch abendländisch schwätzen und vom Volk geifern und das arme, arme Kreuz, an dem die Menschenliebe Gottes sich für alle Welt schlachten ließ, in unseren Stammesfarben anpinseln und damit Schindluder treiben würden, … selbst wenn Hundertausende Flüchtlinge umkehren und die Nachfolgenden tottrampeln oder im Schlamm stecken bleiben und auf dem Balkan erfrieren müssten, … selbst wenn das Schrecklichste geschähe, das im Augenblick durch Chaos und Risiko verhindert wird – selbst dann würde die Welt nicht untergehen.
– Die echte Kirche? – Meinetwegen. Die vielleicht.
– Die Ehre Christi? Ach nun! Die auch.
– Aber die Welt würde sich genauso weiter drehen, als seien anstatt der Menschen nur die vielen Marienkäfer verreckt, die derzeit in taumeligen Scharen benommen in einen kollektiven Schlaf hinüberschwärmen, der sehr nach Tod aussieht.
„Gewitter reinigen die Luft. Auf Regen folgt Sonne. … Und nach einem richtig ordentlichen Sturm, da wächst ein ganz neuer Wald.“: Das sind die eiskalten Sprüche, mit denen sich die Vernunft des bloßen Zaungastes angesichts von Katastrophen immer wieder hart gibt.
Und so könnte auch Realpolitik begründet werden. Oder Notstand. Vor allem die bestialische Selbstsucht des zweibeinigen Tieres, das Gott allerdings schon in der grunzenden, triebhaft mordenden Urzeit Kains und Abels als erstes nach dem Bruder und dessen Blut fragte (vgl.1.Mose 49f). …….
Die Welt als Welt geht also nicht unter, wenn wir uns anständig verteidigen und abriegeln und behaupten; sie geht nicht unter, wenn wir den Bittstellern das Bitten verwehren, den Bettlern das Betteln und den Lebenshungrigen das Weiterleben.
Die Welt bleibt auch dann die Welt, die sie ist.
Aber sie ist nicht mehr die Welt, die sie sein sollte.
Doch das – wie die Welt sein sollte – , das ist gar keine so komplizierte Frage, keine erdrückende universale Problematik, die man nur mit den Vereinten Nationen und dem Weltrat der Kirchen, mit Putin und Assad und Obama, mit Juncker und Cameron und Hollande und Merkel, mit Hans Küng und dem Dalai Lama und dem Papst und Margot Käßmann und den zwölf weisen Frauen aus dem Märchen zu durchdringen hoffen könnte. —
„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.«“
Das immerhin wäre ja schon eine bessere Welt: Wenn sich Schuld und Sühne, Tat und Rache, Aktion und Gegen-reaktion auf diese biblische Weise die Waage hielten, wenn sie also nicht mehr nach dem Gesetz des Wachstums und der Steigerung in Spiralen emporschnellten und einander überträfen.
Aber wie die Welt eigentlich sein soll, das ist noch einfacher und klarer.
Nicht nur soll unser Böses die Bosheit der anderen nicht überbieten und sich stattdessen auf gleiches Maß beschränken, sondern nichts Böses soll durch uns gemehrt und getan werden. Und um die Masse des Bösen in den Menschen und der Welt wirklich zu mindern, sollen wir es tatsächlich hinnehmen:
Jede Bosheit nämlich, die wir uns bieten lassen und auf die wir nicht in gleicher Weise böse entgegnen, jede Bosheit, die nicht auf uns übergreift und nichts Entflammbares in uns findet, um es anzuzünden, die verbrennt etwas vom großen Giftdepot der Menschheit.
Es läuft etwas Böses aus, wenn wir ihm nicht mit unserer Gegenwut widerstehen und es darin auffangen, … es läuft aus und läuft sich tot. —
Niemals!, höhnen die Sachverständigen: Das ist die läppische Lieblingslüge der Christen. Das ist der Grund, warum selbst Luther, der leicht Entflammbare, behauptet hat, mit der Bergpredigt ließe sich keine Politik machen.
Ach, lieber cholerischer Prediger von Wittenberg, hast Du’s denn auch wirklich versucht? —
Ich zum Beispiel weiß zufällig, dass ich nur darum lebe:
Es war einmal eine Flüchtlingsfrau, die lief unvermutet und völlig schutzlos auf einem eisigen Feldweg vor die Gewehrmündung eines bestimmt nicht zimperlich Feindes, der sich weidete am Bild der zu Tode erschrockenen Mutter mit ihren Kleinen.
Hätte sie wie eine Wölfin reagiert, hätte sie geschrien oder gekratzt oder gebissen …….
Aber sie hielt das eine fest im Arm und das andere an der Hand und sagte nur: „Schieß doch!“
……. Und dass der bewaffnete, bluttrunkene Mann den gekrümmten Finger vom Abzug nahm, weil sie ihm die andere Wange hinhielt, das hat selbst der Enkel nicht vergessen, der es heute predigt: „Schieß doch!“
Diese entwaffnende Wehrlosigkeit der hingehaltenen Wange! ——
Da war sie …. die Stimme, die niemals in’s virtuelle Museum geraten darf!
Die Stimme, die den Himmel und die Erde zusammenhält und alle unsere Urteile und Vorurteile und Falschurteile erschüttern kann, wenn wir sie hören und ihr folgen: „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel.“ ———
Das also ist die Stimme, …keine rekonstruierte Tonspur, kein Klangeffekt, sondern die lebendige, heute uns geltende Stimme vom Berg.
Dass wir sie nicht verhallen lassen können und dass wir mit dem Ernstnehmen dieser Stimme, die uns trifft, auch das Beste und Stärkste und Höchste an der Kirche Jesu Christi vor dem Verfall bewahren, ist uns vielleicht deutlich.
… Doch wie steht es mit der Rettung der Welt, um die es sich beim Leben unter, in und mit der Bergpredigt angeblich handelt?
Ist das nicht eben doch eine aufgeblasene Kanzelübertreibung?
… Selbst wenn alle Christen das große Werk der Nachfolge, die lebenslange Herausforderung der Feindesliebe übten, selbst wenn sie alle so großzügig und freigiebig wie der Vater im Himmel würden … das würde das ganz große Ganze nicht ändern, oder? … Wir würden doch keine Sonne der Gerechtigkeit für alle Menschen aufgehen lassen; wir wüssten doch nicht zu bewerkstelligen, dass überall hin gleichmäßig Gutes und Barmherzigkeit ausströmten.
Wir würden doch die Welt nicht retten …. ?! Weder die Lösung der Flüchtlingskrise, noch den Weltfrieden, noch das Ende aller Gewalt würden wir ja herbeiführen, selbst wenn wir lernten, nicht nur unsere Nächsten, sondern auch unsere Feinde zu lieben ……. ———
Das alles stimmt zweifellos.
Und es bleibt tatsächlich für alle Zeiten unvorstellbar, dass wir erreichen sollten, was nur das Reich Gottes bringen und sein wird.
Nun ist allerdings die Bibel das letzte Buch, das den Unterschied zwischen unseren Möglichkeiten und denjenigen Gottes verwechseln und verwischen würde. Das Ganze vom Bösen erlösen und vollenden wird Gott.
Und dennoch ruft uns die Stimme, uns als Seine Kinder zu bewähren. … Was aber hätten wir denn an Möglichkeiten und Mitteln gemeinsam?
Das Eine. Das, was uns vor die Füße gelegt ist.
So wie Gott sich der ganzen Welt erbarmt und sie durch Vergebung, Geduld und Liebe heilen wird, weil sie Ihm insgesamt so nahe ist, so sollen wir es mit allem halten, was uns unmittelbar begegnet.
Wenn wir nämlich einem Einzigen seine Bosheit nehmen, wenn wir an Einem das Schreckliche nicht noch schrecklicher machen, sondern es lieber an uns wirken und aus dem anderen heraustreten, sich von ihm lösen lassen, dann wird die Welt besser.
Und dann greift die Überzeugung, die auch die Rabbinen seiner Zeit schon mit Jesus, dem Lehrer und Erlöser auf dem Berg teilten*:
Einen einzigen Menschen nur hat Gott unmittelbar geschaffen, um den einzigartigen Wert eines jeden weiteren Menschen zu lehren. Wer also einem Menschen schadet, einen nur vernichtet, dem wird es angerechnet, als habe er eine ganze Welt vernichtet.
Und umgekehrt: Wer einen rettet, wer einem hilft, aus den Verstrickungen in’s Unrecht und die engen Maschen der Gier, der Gewalt, des Hasses zu entkommen, der hat tatsächlich nach seinen Möglichkeiten die Welt bewahrt, der hat der Welt einen erlösenden Liebesdienst getan.
Das ist der Kern und das Ziel der Bergpredigt:
Dass wir Christen mit Christus genau dort, wo wir sind, genau in unserem Alltag, genau mit denen, die uns umgeben und anvertraut werden, so leben, wie der Vater im Himmel es für die ganze Welt will: Auf dem Weg, der das Zerrissene und Aussichtslose, das Bedrohte und Zerstörte verändert, es wiederherstellt.
Jeder Schritt auf diesem Weg, der gelingt, zählt für die Welt, … zählt wie die ganze Welt.
Wird nun die Welt in allem ihren Jammer und ihrer Not es zwar nicht erleben, dass wir das Rad der Geschichte dadurch im Handumdrehen vorkurbeln bis zum Ziel, … wenn wir nur Christus nicht in’s Museum geraten lassen, sondern auf seinen Wegen bleiben, seiner Stimme folgen, nach seiner Bergpredigt leben: Dann werden wir und wird die Welt doch voran-kommen.
Und eben das bedeutet der Ausdruck, auf den die Feindesliebe vorausweist: Auf Griechisch bedeutet „Vollkommenheit“ die „Bindung an’s Ziel“.
Das aber soll für uns gelten: Wir sollen vollkommen sein – gebunden an Sein Ziel –, wie unser himmlischer Vater.
Gebunden an das Ziel, dass die Liebe den Hass und die Vergebung die Schuld und das Leben den Tod und die Verheißung den Fluch und die Ewigkeit das Vergängliche überwindet bei allen und für alle.
Das ist das Ziel, das wir mit Jesus Christus, mit seinem und unserem Vater teilen:
Heute und morgen und für immer, … vollkommen!
Amen.
************
Offene Schuld
Herr, Schlimmes geht um in der Welt und böse Saat geht auf auf Erden.
Vernunft und Instinkt brüten gemeinsam ein Ungeheuer aus, wenn sie übereinkommen, dass es zuerst um’s Eigene gehen muss.
Wieder wachsen zwischen den Menschen und Völkern die Abstände, der Hass und die Mauern.
Angst und Erfahrung lähmen das Leben, - und wo sie noch von Mut und von Hoffnung an ihrem betäubenden Unheil gehindert werden, da sickert das Gift ein:
Das Gift der Lüge und Verführung, das sich schmutzig ausbreitet.
Menschenverachtung und unverfrorene Bosheit werden geschürt und sollen um sich greifen.
… Es ist zum Speien:
Aber nicht um Anderer willen, sondern um uns selber zu reinigen von den kleinmütigen, üblen, ansteckenden Anwandlungen und Auswirkungen der Selbstsucht.
Hole das aus uns heraus. Lass es nicht gären in unseren Gedanken. Heile und säubere uns.
Und dann nimm uns in Deinen Dienst.
* Zusammengefasst begegnet diese rabbinische Basis der Menschenwürde im Traktat Sanhedrin 4,5 des babylonischen Talmud.
19.S.n.Tr., 11.10.2015, Jes. 41,10, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
Von dem Schweizer Pädagogen Pestalozzi wird folgendes berichtet, als sein erstes Kind zur Welt kam: Beim Anblick seines kleinen Jungen hat er voller Freude ausgerufen: „Mein Sohn!" Nach einer kleinen Weile, in der er sich wohl bewusst wurde, welche Gefahren diese Welt birgt - neben all den Wundern, die sie uns zeigt - , welche Schwierigkeiten auf dem gerade begonnenen Lebensweg sich auftun können - noch einmal nun mit großer Betroffenheit: „Mein Sohn!"
Vielleicht haben sie das auch bei der Geburt ihres kleinen Elias erlebt: Freude und Betroffenheit, zumindest Nachdenklichkeit liegen so nahe beieinander, wenn ein Kind das Licht der Welt erblickt. Freude empfinden sie vor allem, weil ihr Sohn gesund zur Welt gekommen ist. Das ist ja nichts Selbstverständliches! Sie freuen sich auch darüber, dass Elias ihr Leben bereichert. Dass sie mit seinen Augen selber noch einmal das Wunder des Lebens auf dieser Welt entdecken können. Auch wenn ihr Alltag anstrengender geworden ist, vieles nicht mehr so spontan gemacht werden kann, sondern sorgfältiger Planung bedarf, die aber immer wieder auch über den Haufen geworfen wird, weil das Leben mit einem Kind nicht gänzlich planbar ist - trotzdem möchten sie den Kleinen nicht mehr missen. Ein Lächeln von ihm entschädigt für alle Mühen.
Neben aller Freude in der Gegenwart kennen Sie natürlich auch die eher sorgenvollen Momente, wenn es um die Zukunft ihres Sohnes geht. In was für einer Gesellschaft wird er groß werden, wie wird sie sich in den nächsten Jahren angesichts der ganzen Krisen, die wir gerade erleben, entwickeln? Ich selbst bin noch unter dem Vorsatz meiner Eltern großgeworden „Unseren Kindern soll es mal besser gehen." So durften mein Bruder und ich Klavierspielen lernen, aufs Gymnasium gehen und später studieren. Ob Eltern heute - besonders hier im Düsseldorfer Norden - sich und ihren Kindern einen Gefallen damit tun, den gleichen Vorsatz für die Erziehung ihrer Kinder zu Grunde zulegen, das wage ich ernsthaft zu bezweifeln. In der letzten Ausgabe des Spiegel konnte man unter dem Titel „Operation Wunderkind" nachlesen, wie groß heute in unserer satten Wohlstandsgesellschaft die Gefahr ist, dass das Kind zu einem „Projekt" seiner Eltern wird, die es mit allem vollstopfen, was mit Geld zu kaufen und zu arrangieren ist, um es so vermeintlich für das Leben, das als Karrierelauf verstanden wird, fit zu machen. Nein, es kann nicht darum gehen, dass es Kindern von heute einmal besser geht; es kommt darauf an, dass es ihnen heute gut geht und dass sie glücklich werden. Und dazu braucht es kein chinesisch-sprechendes Au-pair-Mädchen und vieles andere, was heute als so schrecklich wichtig angesehen wird, auch nicht. Was Eltern ihren Kindern allerdings geben sollten, mitgeben auf ihren Weg ins Leben, das ist unbezahlbar und unendlich wertvoll. Johann Wolfgang von Goethe hat das so auf den Punkt gebracht: „Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel."
Was ist damit gemeint?
Um was geht es bei den Wurzeln?
Wurzeln sind ein Symbol für Stabilität und Bodenhaftung. Ein Baum kann nur dann in die Höhe wachsen, wenn er über seine Wurzeln sicher in der Erde verankert ist. Halt und Nahrungsaufnahme, für beides braucht der Baum, die Pflanze Wurzeln. Sie sind die Verbindung zum Leben.
Kindern Wurzeln zu geben, will sagen: sie auf den Grund ihres Lebens hinzuweisen. Ihnen zu vermitteln, was dem Leben Halt gibt, was einen behütet und beheimatet sein lässt in dieser Wirklichkeit.
Für mich heißt das vor allen Dingen, ihnen zu sagen und zu vermitteln, dass sie Gottes Geschöpfe sind - wie wir alle. Gottes Kinder, seine Söhne und Töchter - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Keine Supermänner und -frauen, aber auch keine Nummern im Melderegister, nicht die Krone der Schöpfung, aber auch kein Zufallsprodukt der Evolution.
Es kommt unendlich viel darauf an, Kindern Gott als den nahezubringen, der sie gewollt hat hier auf dieser Erde. Der ihnen Gaben und Fähigkeiten mitgegeben hat, die sie entdecken und entwickeln können. Und der bei ihnen ist, Tag für Tag, dem sie vertrauen können, ihr ganzes Leben anvertrauen können.
Religiöse Erziehung meint als erstes, ihnen in Wort und Tat zu vermitteln, dass Gott sie lieb und wert achtet.
Solches Vertrauen in Gott ist unser Wurzelboden. In ihn hinein sollen sich unsere Lebenswurzeln ausbreiten, auch die Lebenswurzeln von Elias.
Dabei ist das Gottesbild, das vermittelt wird, von enormer Bedeutung. Obwohl der biblische Glaube ja eigentlich klar vorgibt im 2. Gebot „Du sollst dir kein Bild von Gott machen." ist die Bibel selbst voll von Sprach-Bildern, die uns Gott in sehr unterschiedlicher Weise vorstellen. Wir Menschen kommen ohne solche Bilder nicht aus; aber wir sind uns Rechenschaft darüber schuldig, welche Bilder wir mit Gott verbinden. Alle Gottes-Sprach-Bilder können wir menschlich-geschichtlich verstehen: dass Gott z.B. König genannt wird, war doch in früheren Zeiten der König der höchste Repräsentant des Göttlichen auf Erden. Der eigentliche König und Herrscher, das war Gott. Der menschliche Herrscher war König „von Gottes Gnaden". So lässt sich auch verstehen, wie es dazu kommen konnte, Gott als Herrn der Heerscharen, als Heerführer zu bezeichnen. Denn natürlich hatte jeder König ein Heer; also musste Gott im Himmel doch auch eines haben. Wie gesagt, es gibt viele Sprach-Bilder, viele Namen Gottes - der Islam kennt die Tradition der 99 schönsten Namen Gottes. Aber es gibt sicher Bilder, die heute eher guttun als andere. Gott hat mit den Menschen und die Menschen haben mit Gott ja eine Geschichte, da hat sich etwas entwickelt. Und wie Kinder in ihrer Entwicklung immer wieder aus ihrer Kleidung herauswachsen, so sind auch die Menschen, die sich mit dem Gott Abrahams auf den Weg gemacht haben, immer wieder aus alten Vorstellungen herausgewachsen. Gott ist für mich und ich hoffe auch für Sie nicht der alte Mann mit Rauschebart hinter den Wolken, wie ihn noch Michelangelo in der sixtinischen Kapelle gemalt hat, er ist nicht der König und auch nicht der Heerführer; und er ist auch kein Richter, dessen Zorn jeden bedroht, der auf Abwege gerät. Wenn ich überhaupt Bilder aus der Rubrik menschliche Gestalten wählen möchte, dann ist es tatsächlich eher das Bild des Hirten, der mit seiner Herde unterwegs ist und für sie sorgt oder das Bild des guten Vaters und der guten Mutter, deren Herz und Tür immer offen steht für ihre Kinder, egal was sie auch anstellen. Ein Bild, das sich auch in dem Taufspruch, den Sie für Elias ausgesucht haben, entdecken lässt.
Er heißt: „Fürchte dich nicht, ich bin mit dir, weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit."
Immer wieder ist in der Bibel von der „Hand Gottes" die Rede. Und auch in der christlichen Kunst taucht die Hand als Symbol für Gott auf. Zum Beispiel findet sich über dem Westportal der Suitbertusbasilika eine solche Hand - Zeichen des Segens für alle, die eintreten in das Gotteshaus, aber auch machtvolle Geste des „Halt!" gegenüber allen, die sich nicht mit guten Absichten dem Gotteshaus nähern. Gottes Hand - zum Segen über uns, über Elias erhoben.
Gottes Hand - Zeichen der Ermutigung: er stärkt uns den Rücken. Zeichen der Hilfe - er fängt uns auf, wenn wir fallen, wenn wir ins Stolpern kommen.
Gottes Hand - eine offene Hand, uns entgegengestreckt, damit wir sie ergreifen können, in sie einschlagen können: ja, ich will mein Leben mit dir leben.
Gottes Hand - Zeichen dafür, dass Gott uns hält, uns aushält auch mit all unserem Kleinglauben und unserer Selbstsucht, mit all unseren Unzulänglichkeiten und Fehlern.
Gott hält uns, aber er hält uns nicht fest. Er lässt uns gehen, wenn wir gehen wollen. Er wartet auf uns. Er will unsere Freiheit - im Kommen und Gehen und Bleiben. Und egal wie lange es dauert: seine Hand schließt sich nie zur Faust.
Und genau darin will er uns ein Beispiel geben. Dass auch unsere Hände offene Hände werden, mit denen wir anderen zu Hilfe kommen, wenn sie in Not sind, Hände, die zupacken können, um was wegzuschaffen, ohne dabei den anderen klein zu machen. Hände, die Gottes Liebe weitergeben.
Denn: ob der Gott der Liebe mächtig ist unter uns und auf dieser Erde, das liegt tatsächlich an uns. Wo wir lieben, zeigt er seine Macht; wenn wir es nicht tun, ist er ohnmächtig.
Auch das gehört zu der Wurzelpflege dazu: dass wir uns selbst und unseren Kindern bewusst machen, dass Gott auch uns vertraut, uns zutraut, ihm Raum zu verschaffen unter den Menschen und auf der Erde. Das ist unsere Würde und Aufgabe.
Ja, Eltern und Paten und uns allen als Gemeinde ist die Sorge für die Wurzeln, die Lebens- und Glaubenswurzeln unserer Kinder anvertraut.
Wie stark dann der Stamm des Lebensbäumchens der Kinder wird, wie hoch er hinaufwächst, wie viel Äste sich bilden, welche Form die Krone annimmt: das ist nicht die Sache der Eltern, der Gemeinde. Das ist dann die Sache der Kinder. Dafür trägt letztlich jeder selbst die Verantwortung.
Ich kann mir gut vorstellen, dass es für Eltern eine starke Versuchung ist, Form und Richtung der Lebensbäumchen ihrer Kinder vorzugeben, eigene Wünsche auf sie zu übertragen, in ihnen zu verwirklichen. Aber: wo an einem Bäumchen zu viel herumgeschnitten wird, da nimmt es leicht Schaden. Uns allen sei es ins Gedächtnis gerufen: Gott hat uns nicht zum Spalierobst-Dasein bestimmt!
„Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel."
Flügel sind Sinnbild für Freiheit. Für die Freiheit, das Leben zu wagen. Während die Wurzeln auf die Tiefendimension des Lebens hinweisen, deuten die Flügel auf die Höhe, die es zu gewinnen gilt.
Wir sollen Kindern den Mut vermitteln, ihr Leben so zu gestalten, wie es ihnen jeweils angemessen ist. Ihre Gaben und Fähigkeiten zu entfalten und zu nutzen - für sich und ihre Mitmenschen. Dazu gehören auch: Phantasie und Zivilcourage, eine tüchtige Portion Selbstvertrauen und Beständigkeit. Ein Leben in solcher Freiheit ist immer ein Wagnis. Ich denke: für beide Seiten. Mut brauchen dazu nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen, besonders die Eltern, die ihre Kinder loslassen, die sie fliegen lassen müssen.
Der goldene Käfig ist auf den ersten Blick der viel angenehmere und sicherere Ort. Aber er ist dem Wesen des Menschen, seiner Bestimmung zur Freiheit der Kinder Gottes nicht angemessen.
Seit Pfingsten, seit der Ausgießung des Heiligen Geistes als Gabe Gottes an seine Menschenkinder in dieser Welt, ist diese Freiheit nachdrücklich ins Spiel gebracht. Und es ist nicht von ungefähr, dass die Taube, die frei schwebende Taube das Symbol des Heiligen Geistes ist. Gott will unsere Freiheit. Er macht sie möglich. Und er gibt allen den Mut dazu.
Den Kindern, heute Elias, das eigene Leben zu wagen - mit allen Risiken, trotz aller Gefährdungen.
Den Eltern, ihren Sohn nicht festzuhalten, sondern ihn zum Fliegen zu ermutigen.
„Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel."
„Wenn du nur Glauben hast, nur Vertrauen hast, ist alles möglich", sagt Jesus im Markusevangelium zu einem Vater, der voller Sorge ist um sein Kind.
Wenn du nur Vertrauen hast - wenn du wirklich weißt, woher du kommst, wer du als Mensch bist, nämlich Gottes geliebter Sohn, Gottes geliebte Tochter, wenn du darin dein Leben gründest und dich daran festhältst -
dann ist alles möglich, dann steht deiner Freiheit nichts mehr im Wege, dann kannst du dein Leben entdecken, dich dorthin wagen, wohin du dich gerufen fühlst. Alle, die Elias in den nächsten Jahren begleiten, werden sicher gespannt sein, wohin er sich einmal gerufen fühlt, welchen Weg er einschlagen wird. Gespannt dürfen sie auch sein, aber nicht voller Sorge angespannt, sondern in freudiger Erwartung und entspannter Gelassenheit. Dazu gebe Gott ihnen seinen Geist.
Amen.
18.So.n.Trin. 04.10.2015 Stadtkirche Markus 12,28-34 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 18.n.Trin. - 4.X.2015
Markus 12, 28-34
Liebe Gemeinde!
„Kennen wir doch längst; … muss ’ne Wiederholung sein …..“: So ähnlich geht es uns immer häufiger, wenn wir wieder einmal auf diese frühe Form eines Ratespiels, einer Quizveranstaltung stoßen.
… Natürlich scheitert Jesus nicht an der Fragestellung des Schrift-gelehrten. Natürlich weiß er eine gute Antwort.
Jedes Kind in Israel weiß diese Antwort, denn schließlich lebt und handelt man dort danach, dass es heißt:
„Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERRR allein. Und du sollst den HERRN, deinen Gott liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst“ (5.Mose64ff)
Das hat Jesus also von Kindesbeinen an in Nazareth gehört, hat es an den Türpfosten seines Elternhauses in den kleinen Kapseln eingeschlossen gewusst, die er wie jeder beim Verlassen und Betreten des Gebäudes küsste; er hat an Joseph gesehen und nach dem zwölften Lebensjahr selber geübt, wie man die Gebetskapseln mit diesen Worten auf die Stirn bindet und wie man sich zum Beten die Riemen um die Arme schnürt, um in Gedanken und Taten leibhaftig eins zu werden mit diesem höchsten Gebot der Gottesliebe.
Und das andere, das Gebot der Nächstenliebe hat er aus dem Grundgesetz der jüdischen Heiligkeit, aus dem 19.Kapitel der priesterlichen Ordnung des 3.Buchs Mose ebenfalls in frühster Kindheit auswendig gelernt und zu befolgen begonnen.
Eigentlich also lächerlich, dass er mit diesem Allgemeinwissen, mit dieser Schmalspurantwort eines durchschnittlich gebildeten Juden das Frage-Antwort-Spiel, das typisch geistreich-intellektuelle Kräftemessen unter Schriftgelehrten so gelungen besteht.
Er hat nichts gesagt, was eine Überraschung wäre.
„Kennen wir längst ….“, stöhnen wir Getauften ja, wenn wir es wieder hören. „Immer wieder die Liebe. … Kalter Kirchenkaffee.“ ——
Immerhin: Jesu Befrager schmeckt diese Antwort besser als uns. Wahrscheinlich, weil er merkt, dass es durchaus Zweierlei ist, die korrekte Antwort zu kennen und sie zu beherrschen.
Jeder, der bei Tage nach dem Stand der Sonne gefragt wird, kann in ihre Richtung weisen … doch wer kann sie dabei betrachten? Wir alle kennen das große Geheimnis, das am Ende des Lebens auf uns wartet: Aber wer könnte sagen, dass er weiß, was der Tod ist?
So auch mit dem Allgemeinplatz von der doppelt notwendigen Liebe: Hersagen, dass Liebe wichtig und sinnig ist, können wir alle. … Aber auch Lieben?
… Da wird die Luft dünn und die Aufgabe schwer.
– Vor allem weil wir sämtlich ein riesiges Missverständnis, geradezu einen Missbrauch der Liebe teilen. Denn die Liebe haben wir schlicht falsch eingeordnet.
Sie fällt bei uns unter die große Überschrift: „Gefühle“, und dann – wo die Einteilung der menschlichen Möglichkeiten noch beamtenhafter registriert wird –, dann also fällt sie innerhalb der großen Akte „Gefühle“ unter die Rubrik „angenehme“. Und da wiederum unterteilen wir sie in die instinktive, die familiale, die sexuelle, die sublimierte, die konventionelle, die metaphorische Spielart. Wir sortieren die Liebe also was das Zeug hält nach verschiedenen Mustern und lassen sie sich gern von Lust bis Laster auffächern. ……. Aber wie immer wir ihre Definition auch wählen: Immer stellen wir uns die Liebe gerne als positive Größe vor.
Es würde uns nicht einfallen, sie dort einzuordnen, wo sie im gelehrten Gespräch zwischen Jesus und dem klugen Kopf zu stehen kommt.
Da fällt sie nämlich nicht unter die berühmte „Gefällt mir“-Kategorie; da zählt sie nicht zu dem, was mir etwas gibt und gut tut.
Im glatten Gegenteil: Liebe übertrifft sogar noch Brand- und Schlachtopfer!
…Sie ist also nichts, wovon ich „etwas habe“, sondern etwas, das mir viel nimmt und mich kostet, das mich verzichten und hergeben macht.
Liebe ist nach diesem Verständnis nicht ein süßes, heißes, irrationales Gefühl, sondern ein klarer, reiner, bewusster Entschluss. Nicht sie geschieht uns, sondern wir entscheiden uns zu ihr. Sie ist demnach nicht das Glück, das jeder gern hat und auskostet, sondern das Opfer, das man bringt und sich selbst entzieht. ——
So betrachtet ist es vielleicht doch keine Wiederholung einer schmalzigen Seifenoper, wenn uns die Liebe als doppeltes Gebot aufgetischt wird. „Satt“ dürften wir das jedenfalls nicht haben, denn wenn wir wirklich an’s Lieben gewöhnt, wenn wir wirklich so tief mit dem Lieben vertraut wären, dann müsste ja der freiwillige Hunger in uns sitzen, dann müssten wir einen gewollten Mangel erleben. Dann müssten wir uns jetzt erinnern, was wir warum aufgegeben haben. Dann müsste die Antwort vom Lieben, das uns abverlangt wird, uns nicht müde anöden, sondern in Tatbereitschaft versetzen, müsste uns beseelen mit dem Willen zum Geben. ……. ———
Und darum ist es keine müßige Übung, den gestrigen Feier- und Jubiläumstag noch einmal zu bedenken:
War die Geschichte der Wiedervereinigung unseres schuldig gewordenen und zerrissenen Volkes vor fünfundzwanzig Jahren etwa Neigungssache, gar eine Liebesheirat?
… Man muss nicht sehr tief in seinem Gedächtnis graben, um sich an die herzliche Gleichgültigkeit zu erinnern, mit der die Mehrheit der materiell und ideell bevorzugten Deutschen die Minderheit in der Enge und Bedrückung betrachtete. Wenn es überhaupt eine Erinnerung an das Gemeinsame gab, dann reichte sie bei den meisten nicht aus, um sich das Schicksal der anderen angehen zu lassen. Allenfalls gönnerhafte Züge überwogen im Westen gegenüber den weniger Verwöhnten. Oft genug hatte man sich aus Ideologie oder Ignoranz gegenseitig auch schlicht ausgeblendet.
Insofern trifft ein Vorwurf auch im historischen Rückblick die Zeitgenossen der Wiedervereinigung am allerwenigsten: Damals war – von der nicht zu leugnenden Freude einerseits und dem nicht zu leugnenden wirtschaftlichen Zwang andererseits einmal abgesehen – … damals also war bestimmt nicht bloß irrationale Emotion am Werk.
Insofern darf man wohl – bei aller gebotenen Zurückhaltung in der Erinnerung an die peinliche D-Mark-Vergötzung und die Frechheit der Wendehälse nicht weniger als die der Treuhand-Gewinner …, – man darf also wohl bei aller gebotenen Zurückhaltung vielleicht sagen, dass die Wiedervereinigung dem biblischen Gebot der Liebe in gewissem Sinne entsprach:
Sie bediente nicht ein blindes Gefühl, sondern sie folgte einer bewussten Entscheidung und sie bedeutete für die Beteiligten nicht eitel Harmonie, sondern erkennbare und gewollte Kraftanstrengung, Ausgleich und Rücksicht.
… So jedenfalls kann man die Weichenstellung von damals betrachten: Wohlwissend, wie viel Versagen und Irrtum, wie viel Täuschung und Enttäuschung seitdem eingetreten sind!
Dass dennoch eine Solidarität gewollt wurde, die nicht einfach einer Laune, sondern der Not-wendigkeit entsprach, das war in den Zweideutigkeiten der Geschichte ein Funke des Wahren: Lieben heißt nicht gewinnen oder bekommen, sondern teilen und loslassen!
Ohne Opfer keine Liebe. … Jedenfalls nicht biblisch. … Jedenfalls nicht geistlich. Denn da ist Liebe noch besser, noch größer, noch lebensfördernder als alle anderen Gaben und Verzichte, als alle anderen Opfer des Menschen! ———
Damit verlassen wir das heikle und unklare Feld des geschichtlich gewordenen Politischen.
Nur um es sofort wieder unsicher und tastend zu betreten, da, wo es noch schwankender, noch unklarer wird … am Horizont der Zukunft.
Denn wenn die Liebe, die Gott für sich und für die Menschen fordert, kein Privatgefühl und kein Gemeinplatz aus der Mottenkiste erbaulicher Redewendungen ist, sondern eine Tat des Menschen und eine Frucht seines Willens sein soll, dann müssen wir sie eben auch für die Zukunft politisch, öffentlich, allgemein bedenken und befolgen – oder sie löst sich wieder im Missbrauch und Missverständnis des Gefühligen auf.
Blicken wir also um uns und nach vorne, so erkennen wir, dass die kluge Frage des Schriftgelehrten nichts von ihrer Bedeutung verloren hat.
Die Welt ist innerhalb der letzten Monate verwandelt worden, und unsere Stadt, unser Land, dieser Kontinent haben eine so gewaltige Veränderung vor sich, dass man alle Ratschläge auf einmal hören und befolgen kann:
„Eine Vollbremsung brauchen wird!“/ – / „Wir müssen einfach blindlings weiter geschehen lassen, was geschieht!“ / – / „Es reicht! Alles muss zurückgedreht werden!“ / – /„Es ist der Anfang! Nichts wird mehr bleiben: Richten wir uns drauf ein!“ - - - - - - -
Was also tun? Was denken? Wie handeln? Welcher Stimme trauen? Wer weiß es? Wer klärt uns auf?
– „Welches ist das vornehmste Gebot in dieser Stunde?“
Es ist keine Wiederholung, wenn so gefragt wird! Keine Wiederholung, wenn wir den Richtigen fragen. Es ist keine Wiederholung, sondern es ist das Gebot der Zeit, wenn ER uns heute antwortet: „Gott den HERRN lieben – und deinen Nächsten wie dich selbst!“
Wohlgemerkt: Das ist keine Duselei! Kein Appell an irgendein Gefühl! Das ist der klare Ansatz am Willen und am Gehorsam aller, die Gottes Recht fürchten und halten wollen.
Nicht eine breiige Hochstimmung von der Verschwisterung aller Menschen, nicht ein hand- und fußloser Traum von der Weltrettung wird hier befördert, sondern wir werden aufgerufen, da wo das Gefühl taub bleibt und die Phantasie benommen, uns bewusst zu entscheiden:
In vertrauensvoller Hingabe an Gott und unter Absehung von allen persönlich emotionalen Beweggründen gilt es jetzt zu lieben: … Sich selber mit Herz, Seele und Gemüt, mit allen Kräften also einzusetzen.
Nicht, weil unsere Sentimentalität uns so weich macht – das ist Käsekuchen –, oder weil unser gutmütiger evangelischer Idealismus uns vorzugsweise solchen naiven Ringelreihen tanzen lässt, in der Hoffnung, die alte Klapperschlange der Weltwirklichkeit zu betören.
Nein!
Sondern weil es der unbequeme, erkennbar anstrengende, ganz gewiss nicht verlustlose Weg ist, den Gott unmissverständlich weist.
Eine Gemeinschaft, die jetzt nicht bereit zum Lieben ist, – das heißt: in der jetzt keine Bereitschaft wäre, mehr als gewöhnliche Opfer zu bringen –, der werden über kurz oder lang alle Antworten fehlen.
Die wird nicht mehr sagen können, was ihr lieb ist. Die wird nicht mehr fordern dürfen, das Gebot der Liebe zu halten. Die wird keine Hoffnung mehr haben, dass auf Gottes- und Menschenliebe die jeweilige Erwiderung Gegenliebe sei.
Wer jetzt das höchste Gebot nicht befolgt, wer sich weigert und drückt vor der Herausforderung der Liebe, der verhindert also nicht das Chaos fremder Kräfte in dieser Welt, sondern arbeitet ihm in die Hände.
Denn Liebe ist die souveräne Antwort der Christen auf die Tatsachen der Geschichte.
Das lehren uns die beiden großen Toten dieses 4.Oktober: Nie zuvor ist mir nämlich auf-gefallen, dass am heutigen Datum nicht nur vor 151 Jahren Theodor Fliedner gestorben ist, sondern fast dreihundert Jahre früher auch die große spanische Lehrerin der Kirche und Liebhaberin Gottes und der Menschen, Teresa von Avila.
Wie tiefe Frömmigkeit und nüchterne Tatkraft, wie Leidenschaft für das Recht und Reich Gottes und ein wacher Sinn für die Not der Menschheit zusammengehören und wie sie mit Entschlossenheit und Hingabe das christliche Leben formen, ist an beiden gleichermaßen zu beobachten: An der Nonne und dem Pfarrer, die beide ein Selbstbewusstsein und ein Sündenbewusstsein besaßen, die sich sehen lassen konnten, und gerade darum alles, was sie unternahmen, nicht aus Schwächlichkeit, sondern in vollem Ernst taten.
Sie zeigen uns, was auch heute gilt:
Wir sollen lieben – nicht, weil wir nicht anders könnten, sondern weil wir nicht anders wollen!
Das ist unsere Stärke. Das ist unser Weg.
Es ist die richtige Antwort auf die Fragen, die das Leben und die Welt uns stellen.
Es ist die unwiederholbare Aufforderung im Jetzt, Gott zu gehorchen und den Menschen zu begegnen.
Der Meister, der es uns das lehrt, redet wahrlich recht!
Amen.
16.n.Trin. 20.09.2015 Stadtkirche Johannes 11,1ff+17ff Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 16.n.Trin. - 20.IX.2015
Johannes 11, 1ff + 17ff
Liebe Gemeinde!
Stinken wie Lazarus’ Leichnam soll die Predigt heute.
Wenn sie nämlich keine Reizung, keine Abwehr hervorriefe – unsere Meditation über das Drama von Bethanien –, dann hätten wir wohl nur fromm geplaudert oder eine klassische Novelle erzählt, das was Goethe „eine unerhörte Begebenheit“ nennt.
…Nichts gegen Neuigkeiten, nicht mal was gegen Goethe.
Aber eine fromme Erzählung, eine Denkwürdigkeit ist nicht ausreichend, um das zu bezeichnen, was mit Lazarus geschehen ist.
Was mit Lazarus geschah, ist so aufwühlend und zugleich so betäubend, es elektrisiert und es paralysiert so sehr, es geht durch die Decke und ist doch auch so völlig unmöglich, dass man nur nach Luft schnappen und sich schütteln kann.
Das Erste aber, das uns stinkt, wenn es uns hier so plötzlich trifft, ist die Tatsache, dass wir heute am Grab des Lazarus deutlich wie sonst kaum ahnen:
Es gibt keine Auferstehung der Toten. Es gibt sie nicht!
Zwar gibt es Geburtenkontrolle und Schwangerschaftsabbrüche, Kaiserschnitte und Zangenentbindungen, es gibt Transplantationsmedizin und Strahlenbehandlung, es gibt Palliativtherapie und Sterbehilfe. Das alles sind segensreiche oder grässliche Erfindungen und Möglichkeiten in Sachen Körper, die es für viele Menschen unserer Tage gibt.
Aber eine Auferstehung der Toten gibt es nicht.
Es gibt Schulpflicht und Ehrfurcht vor dem Leben, es gibt Menschenwürde und Religionsfreiheit, es gibt eine Flüchtlingskonvention und das Asylrecht, es gibt Demokratie und sogar noch öffentliche Sammlungen, Bibliotheken und Bühnen. Das alles sind geistige Errungenschaften und Grundrechte, auf die ebenso viele Menschen ihre Hoffnung setzen, wie andere sie mit Füßen treten.
Aber eine Auferstehung der Toten gibt es nicht.
…. Und es kann sie auch gar nicht geben, denn wie sollte sie auch eine Fähigkeit oder eine Idee des Menschen sein? Sie lässt sich ja nicht erfinden oder entwickeln; man kann sie nicht entwerfen oder einklagen; Auferstehung kann man nicht ein- und nicht ausüben, man kann sie nicht fordern und nicht fördern. …….
Eine Auferstehung der Toten gibt es schlicht nicht. ———
Wer da nun merkt, dass er schlucken muss, wem die Kehle da eng wird, wem es in den Augen zu jucken und zu brennen beginnt, weil ihm so bittere Sätze auf der Kanzel wehtun, weil sie ihn buchstäblich stechen, … der beginnt etwas von Lazarus zu riechen. …
Es schmerzt, wenn wir uns einmal die Wirklichkeit um die Nase wehen lassen.
Wobei: Dass das die Wirklichkeit ist und dass überhaupt niemand anders denken und urteilen wird, wenn er die Leichenberge der Gegenwart vor Augen hat, die im Licht der Weltöffentlichkeit verreckten namenlosen Kinder und Frauen und Männer, die nur heute, an diesem Sonntag in dieser Welt, zuhause oder auf der Flucht sterben, … das ist eigentlich unstrittig.
Der Tod ist groß – nicht nur in Rilkes Gedicht – und wir die Seinen*.
Er lässt uns in unserer Wahrnehmung und also auch in unserer Wahrheit keine Wahl, denn der Tod schafft und beherrscht nun einmal die Fakten. Auferstehung ist darunter nicht vorgesehen, sie kommt nicht vor … und sie wird auch von den Anwesenden nicht mehr vorausgesetzt
Dass man in der Kirche gelegentlich noch der blumigen Rede von der Auferstehung begegnet, ist eine Art Duftstäbchen-Ritual: Da darf uns, wenn wir die Nase von den Schrecken der Welt einmal voll haben, ein Parfüm-Schwaden ruhig benebeln, … aber in Wirklichkeit ist es wie mit den billigen Bäumchen am Rückspiegel. Der kalte Qualm und der nasse Hund sind von der vulgären Kunstvanille kein bisschen zu übertünchen. Im Gegenteil: Das Bäumchen weckt künftig nur umso mehr die Assoziation des Gestanks. So wie die kirchliche Redensart von der Auferstehung immer deutlicher an den Friedhof und Beerdigungen erinnert.
Auferstehung gibt es nicht. ——
Das ist nun, nach der wiederholten Äußerung ein fast abgestandener Satz geworden, beinah faulig.
……. Aber es ist ein biblischer Satz!
Denn darin ist die Bibel unfassbar wahrhaftig, dass sie den Moder und Dunst der Welt nicht mit irgendeinem Raumspray, mit irgendeinem süß-salbungsvollen Weihrauch zusätzlich verpestet.
Wer es wirklich aushält, die Bibel zu lesen, wird immer wieder entsetzt oder ergriffen darüber sein, wie sie die Erfahrung des Todes und seine restlose Hoffnungslosigkeit ausspricht, wie die biblischen Beter verzweifelt und doch nüchtern bis auf die Knochen feststellen, dass es keine Auferstehung gibt:
„Wirst du an den Toten Wunder tun“, so wird Gott im Psalm gefragt, „oder werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken?/ Wird man im Grabe erzählen deine Güte / und deine Treue bei den Toten? / Werden denn deine Wunder in der Finsternis erkannt / oder deine Gerechtigkeit im Lande des Vergessens?“(Ps8811ff)
Und die Antwort hören wir aus dem Mund des Königs Hiskia, eines der Gerechten unter den Vorfahren Jesu (Jes3818f):
„Die Toten loben dich nicht, und der Tod rühmt dich nicht, und die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Treue, sondern allein, die da leben, loben dich…“
Auferstehung gibt es nicht. Allenfalls eine Hoffnung, die weit jenseits dessen liegt, was trösten kann; eine Hoffnung, die das ungestillte Verlangen nach Leben mit in’s Grab und darüber hinaus nimmt und die die ungeminderte Sehnsucht der Verlassenen auf den Gräbern fast wie eine Frage wiederholt:
„Deine Toten werden leben, deine Leichname werden auferstehen … Dann wird die Erde offenbar machen das Blut, das auf ihr vergossen ist, und nicht weiter verbergen, die auf ihr getötet sind“ (Jes2619+21) ……. nur wann, … wann, …….wann? ———
Und so stirbt Lazarus. Der doch hätte gerettet werden, der doch hätte verschont werden können, wenn Jesus da gewesen wäre.
Was bleibt da? — Ach, … der „Jüngste Tag“, mit dem Martha, die trauernde Schwester das Stichwort von der Auferstehung verbindet.
Man muss das hören vor dem Hintergrund der unendlichen Ferne und Fraglichkeit, die diese jenseitige Verheißung in biblischen Ohren hat. Der „Jüngste Tag“, das ist jene Hoffnung, die man nicht mit dieser Welt und diesem Leben, die man nicht mit der Erfahrung und der Wahrheit unseres Menschseins verbinden kann. Der „Jüngste Tag“, die fernste Zukunft also, das letzte Geheimnis … das sind alles Dinge, die uns entzogen sind und bleiben, die uns nicht nahe gehen, die uns nicht wärmen und trösten können, unseren Hunger nicht stillen, unsere Schmerzen nicht lindern: Sie sind uns einfach nicht gegeben.
Es gibt sie nicht, … auch wenn man einmal von ihnen spricht, … auch wenn ein, zwei, vielleicht drei Propheten Israels unangekündigt plötzlich auf sie weisen und die Frommen seitdem lieber mit diesem Wenigen, als mit gar nichts leben und sterben.
Aber es gibt sie doch nicht …….
Nein, sagt Jesus. Es gibt die Auferstehung nicht.
Aber, sagt Jesus – ICH BIN die Auferstehung!!!
—— Und in diesem Augenblick beginnt eine neue Welt!
Da, in Bethanien, an dem Grab, in dem Lazarus noch in der Verwesung liegt, beginnt eine ganz andere Welt.
Da beginnt die Welt, in der es nicht das gibt, was es gibt – die Fakten des Todes – , sondern in der das geschieht, was Jesus ist: Das lebendige Ereignis neuer Schöpfung.
Das aber ist mehr als ein Sprachspiel!
Es ist eine andere Wirklichkeit, wenn aus der Frage ganz allgemeiner Erfahrungen und Erwartungen – etwa, dass es Geburt gibt und Leben und Tod und sonst nichts – , … es ist eine andere Wirklichkeit, wenn aus diesen greifbaren Tatsachen, die alle betreffen und allen bevorstehen, ein Versprechen wird, in dem eine Person sich einer anderen Person zu erkennen gibt und verpflichtet.
Der unpersönliche Charakter, das maschinenhaft allgemeinverbindliche Muster fällt plötzlich weg. Natürlich gibt es noch das, was wir Menschen sämtlich als die Tatsachen unseres Lebens vorfinden – die vielen leiblichen und geschichtlichen Bedingungen, die uns begrenzen –, aber zumindest im Blick auf die endgültigen Dinge gilt nun kein unverbrüchliches Naturgesetz mehr!
Der Vorgang, dass – wenn nichts den Lauf der Welt stört – aus der Empfängnis das Wachstum, aus der Geburt das Leben, aus dem Sterben der Tod folgt, …dieser Vorgang der Notwendigkeit wird durch Jesu „Ich bin die Auferstehung“ um seinen krönenden Abschluss gebracht: Nur weil es das Sterben gibt, muss eben nicht für alle und für immer daraus der Tod folgen.
Aber umgekehrt ebenso: Aus dem Tod folgt eben nicht automatisch als nächster Schritt auch eine Auferstehung.
Denn nicht ein unumkehrbares Fließband scheint das Schicksal und die Hoffnung, das Woher und das Wohin der Menschheit zu regeln und zu lenken, sondern all das – Schicksal und Hoffnung – wird offenbar möglich und wahr nur durch eine persönliche Beziehung!
Nicht das, was es gibt, bestimmt uns also, sondern wer Jesus ist, wird zu unserer Bestimmung.
Das ist die atemberaubende Wende, die uns am Grab des Lazarus in Bethanien aufgeht.
Der Jüngste Tag mag also damals wie heute noch so fern, lieber natürlich: noch so nah sein …. aber die Frage, ob es ihn gibt und was er uns einst bringt, ist tatsächlich gegenstandslos geworden.
Denn die Zukunft entscheidet sich nicht erst dann, sondern sie entscheidet sich mitten in der Geschichte, in der Jesus Fleisch annahm und wirklich wurde!
Wenn wir nämlich diesem wirklichen, wahren Menschen und in ihm dem wahren, wirklichen Gott begegnen, … wenn wir ihn nicht unter das dumme, geistlose, herzensträge und denkstinkfaule Urteil fallen lassen, da er vor uns geboren wurde und nicht mehr sichtbar unter uns ist, darum „gäbe es ihn nicht“, … wenn wir also seine Lebendigkeit anerkennen, dann begegnen wir dem, der die Auferstehung ist, ja dann stoßen wir auf die Auferstehung selbst, und zwar persönlich, hier und jetzt!
Wo wir ihm aber nicht begegnen, da kann keine Auferstehung sein.
Noch klarer und stärker ausgedrückt: Wer jetzt mit Jesus lebt, wird auch künftig leben, wer aber nicht mit ihm lebt, lebt ohnehin nicht. ——
Das sind Sätze, die in ihrer ausschließenden Härte in Zeiten wie unseren besonders auffallen. Auf solche Ausschließlichkeit reagieren wir zusehends verschnupft. Wenn wir eben noch die Nase davon voll hatten, wiederholt zu hören, dass es keine Auferstehung an sich gibt, so stinkt es uns jetzt plötzlich, dass Jesus allein die Auferstehung ist.
Wie kann man nur so exklusiv reden, denken und glauben? Wo bleibt da die Offenheit?
Ist das im geistlichen Sinn nicht genau jene verhärtete, wirklichkeitsferne und unsichere Haltung, die sich in allen alt-neuen Grenzziehungen unserer Tage zeigt?
Werden da nicht Mauern errichtet und Menschen außen vorgelassen, wenn sich das Leben und die Zukunft an Jesus allein entscheiden sollen? … … …
Nein.
In Bethanien wird mit den Worten: „Wer an mich glaubt, wird leben“ im Gegenteil nur der Weg frei gemacht.
… Dabei ist es gewiss nicht nötig, niemand kann einen anderen zwingen, diesen Weg zu gehen.
Es gibt tatsächlich keinen Automatismus, keine Flutwelle, die alle Menschen unterschiedslos mit sich fort reißt und an das Ufer der Auferstehung spült. …….
So habe nicht nur ich mir die Sache, nein, so hat die Menschheit sie sich zwar lange gedacht, seit über den Westportalen der mittelalterlichen Dome, Stifts- und Stadtkirchen überall die gleiche Darstellung im Tympanon erschien: Das Bild von der Auferstehung und vom Jüngsten Gericht.
Unter der Übermacht dieses allgegenwärtigen Bildprogramms konnte man tatsächlich meinen, hier werde am Eingang zur Kirche der schnurgerade, unumstößliche Lauf der Dinge am Ausgang der Zeit geschildert. Man konnte meinen, alles rase auf die unweigerlich sich ankündigende Auferstehung der Toten zu ……..
So habe ich immer gedacht.
Was aber, wenn das falsch wäre?
Was wenn das Bild über den Türen keine ausnahmslose Feststellung sein, sondern wirklich nur den Weg zeigen, wirklich nur auf die Hauptsache weisen wollte?
Diese Hauptsache, diese Mitte ist in jeder einzelnen Darstellung Christus, … Christus, der Entscheidende, … Christus, die Entscheidung, … Christus, die Auferstehung und das Leben**.
Auf den richtet sich entweder alles an und in uns aus … oder wir sind eben anders gerichtet.
Zu ihm darf jedenfalls lebendig kommen, wer immer mag … und wer nicht mag, ist tot.
Wer also leben will, der kann das Leben und die Auferstehung in ihm finden.
Das ist nicht exklusiv … im Gegenteil: Das ist die große Öffnung, das ist der Durchbruch, das ist die Rettung.
Niemand muss ja leben.
Niemand muss es als Dekret hinnehmen, dass es eine Auferstehung gibt und sein Leben Zukunft hat.
Wer die Auferstehung aber sucht, dem verweigert sie sich nicht, dem enthält sie sich nicht vor. Nein, sie handelt selbst an denen, die auf sie hoffen. Sie kommt ihnen entgegen und ermutigt sie herrlich: „Komm heraus!“
Es gibt sie also nicht … die Auferstehung. …Sondern sie gibt sich.
Denn sie ist längst schon gegenwärtig da in aller Macht und Herrlichkeit und Gnade.
Sie ist da! Weil Jesus die Auferstehung ist!
Amen.
* Rilkes bekanntes Gedicht aus dem Zweiten Buch der Bilder ist überschrieben „Schlußstück“.
** Kunstgeschichtlich ist das Zentrum aller Darstellungen an den Westwerken tatsächlich auch als „Maiestas Domini“ zu verstehen, also als durchaus selbständiges Motiv, das die unvergleichliche Bedeutung Christi als des Weltherrschers unterstreicht.
15.So.n.Trin 13.09.2015 Stadtkirche Matthäus 6,25-34 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 15.n.Trin. - 13.IX.2015
Matthäus 6, 25-34
Liebe Gemeinde!
Willkommen im Land der Blumenkinder! ……… Und das ist ausnahmsweise gar keine Ironie auf der Kanzel, sondern der ungerührte Ernst Jesu.
Denn ausgerechnet in diesen Tagen atemberaubender Geschehnisse, … in diesen Tagen, in denen das Herz sich zusammenkrampft vor lauter Mitleid und Sorge und Zorn, in denen es aber auch voll wird von Dankbarkeit für Ströme der Hilfsbereitschaft, … in diesen Tagen, in denen man hin- und hergerissen wird von Energie und Verzagen im Angesicht einer weltgeschichtlichen Wendung, die wie das Versinken Europas an der Schwelle der dunklen Jahrhunderte der Völkerwanderung anmutet oder wie der langangestaute Aufbruch eines ganzen Erdteils an die Ufer einer neuen, besseren Welt, … in diesen Tagen, die uns je nachdem mit der Beklommenheit des letzten Zwielichts oder der Lebensbejahung des Morgenrots durchdringen, … in diesen Tagen, die so vor historischer Spannung bersten wollen, – da erfüllt Jesus wieder einmal keine politische Erwartung.
Er sagt nicht, was man hören will. Er bestätigt nicht, was man denkt. Er liefert nicht das Stichwort, das wir brauchten und erhofften.
Er sagt nicht: Schaut auf die Autobahnen, wo der Menschheit ganzer Jammer auf zertretenen Sohlen einher stolpert! Er sagt nicht: Seht die Heere der Verzweifelten und Unerlösten und Begehrenden und opfert endlich Eure goldenen Götzen! Er sagt nicht: Alle, die in den Lagern und unter freiem Himmel schlafen, sind Eure Geschwister. Wer seid denn Ihr, dass Ihr Eure Dächer und Daunen, Euer Hab und Gut bewacht und umstellt, jetzt wo meine hungrigen, frierenden Kinder sie brauchen?! ……. ——
Jetzt, wo Jesus uns mit der heißen Sprache solcher Tatsachen entweder zu seinen wirklichen Nachfolgern schmieden oder vor aller Welt eiskalt klarstellen könnte, dass wir altes Eisen und nutzlos sind – jetzt geht er mit uns weder ins Gericht, noch an die Öffentlichkeit, …. sondern auf die Blumenwiese.
Die ist in seiner Heimat ja durchaus etwas Seltenes: Anders als im schwedischen Sommer, den wir dieses Jahr genossen haben, wo Lupinen und Königskerzen, Pfingst- und Heckenrosen, Margeriten und Glockenblumen, Akelei und Wollgras auf allen Flächen gleichzeitig ihre Feld-, Wald- und Wiesenpracht im Überfluss ausbreiten und Flieder und Jasmin auf einmal duften, … anders als dort ist das Blühen in Israel kein verschwenderischer Vorgang, sondern immer wieder bloß ein Wink, ein Durchbruch, ein Zeichen, eine Spur.
Fels und Erde, Gelb und Grau, Ocker, Weiß und Braun überziehen sich nicht lückenlos mit Grün und einem satten Farbkleid, sondern sie gestatten hier und da eine kleine bunte Insel, die vorm Hintergrund der Erde noch leuchtender, noch lebendiger wirken mag.
Und allenfalls in Jesu Heimat, oben in den Hügeln Galiläas um den Genezareth kann das Auge sich einmal weiden an einer Landschaft, die ganz mit Gras bedeckt und von wilden Narzissen und Mohn, von bunten Taubnesseln und Enzian-Nachtschatten, von Iris und Cyclamen gesäumt, sogar gesprenkelt ist.
Dort also, in diesem beinah unwirklichen Idyll will Jesus in diesen wahrlich nicht idyllischen Tagen zu uns sprechen: Im seltenen Land der Blumenkinder, wo sie Lieder singen, wie das zunächst kitschig wirkende geistliche Volkslied, das wir eben versucht oder gelassen haben.
Um uns zur Weltflucht zu ermuntern? Aus versponnener Gleichgültigkeit gegenüber der politischen Wirklichkeit? Aus ungerührter Allmacht über’s Universum, in dem ihm Halm und Heu und Mensch und Staubkorn alle gleich viel, … gleich wenig bedeuten?
Wohl kaum.
Jesu Blumenandacht und Vogelpredigt sind kein Gedicht, keine Traummeditation, kein entgrenzter Hippie-Trip, bei dem sich das menschliche Bewusstsein mit der Natur vermengt und darin verschwimmt.
Im Gegenteil:
Wie immer wenn uns in der Bibel die Schöpfung als Gegenstand der Betrachtung begegnet, ist auch Jesu Aufmerksamkeit für das verwurzelte und beflügelte Leben der Kreatur eine praktisch Übung in jener Lebenskunst, die man biblisch „Weisheit“ nennt.
Weisheit in diesem biblischen Sinn ist keine neutrale Philosophie, sondern sie hat einen Erkenntnisgrund, der einzigartig ist. Statt der Überwältigung, mit der Menschen auf das vertrackte Puzzle unserer Wirklichkeit reagieren, indem sie überall Mysteriöses, Dämonisches, Unheimliches zu entdecken meinen, gründet die biblische Weisheit auf einem gegensätzlichen Ausgangspunkt: Es gibt nichts zu fürchten in dieser Welt!
Nichts auf Erden kann die Klarheit hindern oder verdunkeln, die sich aus dem biblischen Prinzip ergibt, dass nur Gott Ansprüche an uns hat, dass nichts außer Gott unser Denken, Antworten und Dienen fordert. Nichts Undurchschaubares kann uns lähmen oder schaden, nichts anderes kann uns drohen, nichts anderes kann uns lohnen, denn alles erhält seinen Sinn bloß von der einen Freiheit, die der Geist hat: Dass wir unsere Wirklichkeit von Gott her sehen und ergreifen.
„Die Furcht des HERRN ist der Weisheit Anfang“ (Ps.111,10 /Sprüche1,7), so entsteht die angstlose Sicht auf alle Gegebenheiten und Geschöpfe: Auf Gott allein als Grund und Wesen der Welt gilt es zu achten, zu hoffen und zu hören.
Mit solcher Freiheit von aller Einschüchterung, mit solcher Einfachheit in der Fülle des Kosmos tritt die Weisheit an die Welt heran: Zuversichtlich, gespannt bis zur Versenkung in das Einzelne und dabei doch nie verschüchtert durch das Fremde und das Viele. ——
So und nicht anders ist aber auch Jesu wunderbare Seelsorge und Lebenshilfe von der grünen Wiese zu verstehen: Sie führt uns seelenruhig vor Augen, wie alle Teilchen des großen Ganzen, wie jeder kleine Zug im Mosaik des Lebendigen uns den Frieden der Geschöpflichkeit lehren können.
In jeder Blume blüht es, in jedem Vogel singt es – das zwanglose Da-Sein, die Entsprechung zu dem wunderbaren Entwurf einer Welt, von der ihr Schöpfer weiß: „Siehe, sie war sehr gut.“
… Und ausgerechnet Jesus zeigt uns diese Stimmung, diese Stimmigkeit, diese Übereinstimmung zwischen dem Geber und den Gaben des Lebens in der Welt.
… Ausgerechnet Jesus, in dessen Leben und Sterben sich doch die Unvollkommenheit so schrecklich zu erkennen gab, die der zerbrochene Welt- und Menschenfrieden bedeutet.
… Ausgerechnet Jesus, der gejagt und gequält, gefordert und geopfert wurde, weil kein Frieden, keine Zufriedenheit den Menschen möglich sind, die selber Schöpfer, selber Erlöser, selber Vollender sein wollen.
… Ausgerechnet Jesus, der Leidtragende aller jener krankhaften, zerstörerischen, eigennützigen Sorgen, die den Menschen zum Verräter und Verächter des Lebensgeschenkes machen.
… Menschen wollen besitzen.
… Sie wollen Rechte.
… Sie wollen als Verdienst betrachten, was sie haben.
Sie ertragen es nicht, von der Gabe eines anderen und in dessen gerechter Ordnung zu leben. Ihr Machtanspruch ist totaler: Weltgestaltung und Lebensglück wollen Menschen ausschließlich sich selber zuschreiben. Und verfehlen im unerbittlich eigenmächtigen Zugriff auf ihr Dasein alles.
Denn man kann es nicht „machen“ - das Leben.
Weder im biologischen, medizinischen, technischen Sinn, noch in seinem unvergleichlichen Wert als das, was der lebendige Gott inmitten der unbelebten Materie einigen wenigen erwählten Geschöpfen als Teilhabe an Seiner Seinsweise zugemessen hat.
Leben ist ein Privileg, eine seltene, erhabene Auszeichnung, die nicht erworben und nicht erzwungen werden kann.
Im ganzen schwindelerregenden Universum, das die Weisheit ahnt, aber nicht auslotet, haben nur die allerseltensten Erzeugnisse der göttlichen Kunst diesen ungeheuren Vorzug, dass sie nicht in der Schwärze des Raums, nicht in der Kälte des Sternenstaubs, nicht in der Glut der Energiewirbel dahintreiben, sondern dass sie leben!
Nur die Pflanzen sind das, die Lilien auf dem Felde und die Gebilde, die vom Einzeller bis zum Säugetier den Reigen seliger Lebewesen tanzen dürfen … unter ihnen die singenden, klingenden Vögel, der schöne, der ungeschickte, der schreckliche Mensch! … Nur diese wenigen herrlich begnadeten und freigesprochenen Kreaturen unter den unzähligen reglosen Werken Gottes dürfen leben!
Ist das nicht eine Offenbarung, die die schlichte, zuversichtliche Weisheit aufdeckt, wenn sie die Gemeinsamkeit der absichtslosen Vogelfreiheit und des zweckfreien Blumenblühens mit unserm Menschendasein berührt: Ihr alle lebt, … ihr Erdwurzler, ihr Luftsegler, ihr Menschen auf der Erde, unter dem Himmel!
Ihr lebt!
… Euretwegen? Aus eigener Vollkommenheit? Zum Dank für Eure Pläne und Anstrengungen? Als Ergebnis Eurer klugen Haushalterschaft, die das Essen und Trinken, das Kleiden und Schützen so unfehlbar erreicht und eingerichtet hat?
… Ach, was! — Ihr lebt trotz Eures Scharfsinns und Besserwissens.
Ihr lebt, weil es weder in Euren Kräften steht, das Wunder des geschaffenen Lebens nachzuahmen, noch es zu tilgen – auch wenn Ihr Euch durch die Auslese vermeintlich lebenswerten und unwerten Lebens, durch Verlängerungs- und Verkürzungsabsichten, durch Eingriffe am offenen Herzen der Schöpfung und durch Wagnisse am Rand des Grabes aller Dinge noch und noch am Geschenk des Lebens vergreift.
Dennoch bleibt Gott der Herr des Lebens und das Leben bleibt das Lieblingswerk Gottes. ——
Etwas Schöneres kann uns also nicht widerfahren, als dass wir das – die grundlose und endlose Verantwortung Gottes für das Leben und die Lebendigen – erkennen und zu Herzen nehmen. Wer diese Predigt im Land der Blumenkinder hört, wer sich von der Weisheit Jesu den wirklichen Blick auf die Dinge eröffnen lässt, dem kommen die Nebensachen abhanden, der sieht nicht in verschwommenem Mystizismus, sondern in tagheller Klarheit, wie der gute, fürsorgliche Wille Gottes alle Kreaturen gemeinsam umfasst: Gott sorgt für’s Leben!
… Wovor also sollten wir uns fürchten? Wofür also sollten wir sorgen?
Statt wie die trostlos auf sich und ihr vergebliches Tun allein gestellten Lebenspfuscher, Lebensfälscher zu verfahren, die tatsächlich hoffen, durch Vermehrung und Verwaltung und Verweigerung von Sachen zum Sinn und zur Dauer des Daseins vorzustoßen, dürfen wir viel weiser werden: Jedes Blatt und jede Blume, jeder Flügelschlag und jedes Lied beweisen es uns doch, dass Gott dem wohl will, was wächst und sich regt und lebt.
Und wer in solchem Wohlwollen Gottes seinen eigenen Ort, seine Sicherheit und seine Zukunft schauen darf, wer also aus der Lebensangst der Heiden zur Lebensfreude des Glaubens kommen durfte, … – was sollte der dadurch anderes werden, als Lebensfreund und Lebenskünstler?!
Gott ist dem Leben hold: Also kann auch ich es nur von ganzem Herzen begrüßen.
Gott stellt das Leben frei: Also kann auch ich ihm nicht eng und abweisend begegnen.
Gott hält das Leben aufrecht: Wie sollte ich es also beugen oder unterdrücken?
Gott schafft dem Leben täglich neue Anfänge: Wie sollte ich ihm Grenzen setzen oder gar ein Ende?
Gott dient in allem und mit allem dem Leben: Wie sollte ich mich ihm da entziehen, … wie sollte ich mich beschränken nur auf meins oder manches, nur auf hier oder jetzt?! ——
Wenn’s aber so ist, … wie sollten wir da noch etwas anderes suchen, als das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit?!
Wie könnten wir weniger, wie könnten wir geringer, wie könnten wir geiziger denken und handeln, lieben und glauben?!
Die Allgegenwart der Lebensliebe und der Lebensverheißung Gottes, die in jeder Farbe leuchten, in jedem Blättchen winken, die ihre Spuren in jedem Flügelschlag an den Himmel schreiben, … die Allgegenwart der Lebensverheißung und der Lebensliebe Gottes sind so universal, dass sie allen Zweifel, alle Angst und Sorge schlicht schrumpfen und schwinden lassen.
Weil jede Blume im Reich der Blumenkinder Gottes die große, gültige, gewisse Botschaft verkündet, dass sie leben sollen, leben dürfen, leben werden … Seine Menschenkinder überall.
So dass Jesus zuletzt wohl nichts Deutlicheres, nichts Treffenderes, nichts Wichtigeres hätte sagen können, in diesen Tagen atemberaubender Geschehnisse, … in diesen Tagen, in denen das Herz sich zusammenkrampft vor lauter Mitleid und Sorge und Zorn, in denen es aber auch voll wird von Dankbarkeit für Ströme der Hilfsbereitschaft, … in diesen Tagen, in denen man hin- und hergerissen wird von Energie und Verzagen …….
Nichts Wichtigeres hätte Jesus sagen können, als das, was er durch die Blume zeigt:
Das Lebensgeschenk für alle. Das Geschenk seines Lebens.
Das nimmt alle Ungewissheit, das gibt alle nötige Klarheit.
Darüber hinaus ist nichts zu sagen, nichts zu sorgen.
……. Und morgen? – Auch morgen nichts: Nichts als das Leben.
Sein Leben!
Amen.
14.n.Trin. 06.09.2015 Stadtkirche Lukas 17,11-19 Pfr.Falk Schöller (Theolog.Vorstand der Graf-Recke-Stiftung)
Kanzelgruß:
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Lukas, der Verfasser des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte, ist ein Meister der Erzählkunst. Er schafft es, in wenigen Zeilen das Wesentliche so zur Sprache zu bringen, dass es den Verstand und das Herz gleichermaßen berührt. Manch kleine Episode ist ein wahres Schatzkästlein, einmal geöffnet füllt sie den ganzen Raum und nimmt alles für sich ein.
Ein solches Schatzkästlein ist uns heute Morgen geschenkt, aus dem 17. Kapitel des Evangeliums nach Lukas lese ich die Verse 11 bis 17:
Und es begab sich, als Jesus nach Jerusalem wandert, dass er durch Samarien und Galiläa hin zog.
Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser!
Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern!
Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein.
Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter.
Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde?
Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.
Dein Glaube hat dir geholfen. So sagt es Jesus, spricht er es ihm zu.
Einen hilfreichen Glauben hat dieser fremde Mann, von dem uns heute erzählt wird.
Ich bleibe am Ende an diesem hilfreichen Glauben hängen, ein Fremder hat ihn! Ich auch? Wir auch? Was hilft der Glaube, was hat er geholfen? Und was hat dieser dem Einen geholfen, was den Neunen nicht geholfen hat?
Ich bin, liebe Gemeinde, schon zu sehr verstrickt in diese Begebenheit, in diese Begegnung, in die wenige, dürren und doch so vollen Worte. Ich höre schon nur noch auf die Worte, und will doch sehen, hinsehen. Ich will die Bilder entdecken, die damals und die heute.
Hinsehen, wohin man eigentlich nicht sehen will. Zehn Mal, zehnfach, zehnfältig ist da etwas, was unansehnlich ist. Eine Krankheit, ein Elend, eine Not. Sie grenzt aus, führt zur Ausgrenzung. Mit diesem Leid und diesem Elend will keiner etwas zu tun haben. Man muss wegsehen, Abstand gewinnen, diese Not und diese Menschen von sich fern halten – sonst stecken sich alle an, sonst breitet sich die Seuche aus und macht aus der ansehnlichen Stadt- oder Dorfgesellschaft eine hässliche Ansammlung kranker Menschen. Wer will das schon?
Zehn aussätzige Männer, von ferne, abständig, auf Abstand gehalten. Medizinisch haben Fachleute Lepra diagnostiziert, Priester haben diese Zehn als unrein beurteilt, von nun an müssen sie außen vor bleiben. Jetzt sind sie verurteilt, lebenslänglich, ohne Chance auf Resozialisierung, sie werden bis zum Tod unter sich bleiben müssen. Menschen haben das Todesurteil gesprochen, Begnadigung ist nicht vorgesehen. Niemand muss diese Menschen ansehen, sie haben jedes Ansehen verloren.
„Die Würde des Menschen ist antastbar“, das steht im Raum. Hier wird die Menschenwürde mit Füßen getreten - und es gibt tausend gute Gründe dies so zu tun. Nach menschlichen Maßstäben, nach menschlicher Logik ist es geradezu zwingend, diesen Menschen die Würde zu rauben, sie aus der Gemeinschaft auszuschließen. Nicht auszudenken, wenn die Krankheit sich ausbreitet, zur Epidemie, gar zur Pandemie zu werden droht. Es gilt, durch menschliches Urteil die Menschheit zu schützen. Das ist die bittere harte menschliche Logik.
Das scheint fern, weit weg von uns zu sein. Doch ist es das wirklich? Wer hat denn heute kein Ansehen – und wird es auch niemals wieder zurückbekommen?
Bei einem Unfall hat sich vor vielen Jahren ein Verwandter das Gesicht verbrannt. Das Gesicht war zerfurcht, vernarbt, weil der Kopf verbrannt war, wuchsen keine Haare auf dem Kopf. Es begann ein Absturz auf allen Ebenen, beruflich, familiär, alles ist zerbrochen, am Ende ist er selber als gebrochener Mann in den Tod gestürzt. Eine Ausnahme?
In den Klassenzimmern gibt es eine Benotung auch nach dem Aussehen. Die entscheidenden, die lebensentscheidenden Noten, die der Anerkennung und der Würde durch die Mitmenschen, stehen nicht im Zeugnis, sondern im Spiegel undin den Augen der anderen. Der Druck, ansehnlich zu sein, ist riesig, viele bleiben außen vor – wer ist der Medizinmann in der Klasse, der dieses Urteil fällt, wer sind heute die Priester, die über drinnen und draußen entscheidem?
Lepra war die Krankheit der zehn Aussätzigen damals, heute trägt diese Krankheit andere Namen.
Untersuchungen zeigen, dass Bewerbungsbilder wesentlich die Vorauswahl steuern. Wer da wohl außen vor bleibt? Wer keinen Zugang zu Arbeit, Beschäftigung, Mitarbeit, Kolleginnen und Kollegen erhält? Für wen bleiben die Türen der Betriebe verschlossen? Auch Namen entscheiden. Es gibt Grenzen und Schranken, Verurteilungen und Ausgrenzungen in unserem Alltag, in unseren Köpfen. Manches Mal sind auch wir die Fachkräfte, deren Urteil zu Ausgrenzung führt. Manches Mal sind wir die Priester, die entscheiden, wer zur Gemeinschaft dazu gehören darf und wer nicht. Das ist die bittere Realität, die menschliche Gemeinschaft zunächst und zuallererst ausmacht. Es ist diese bittere Realität, die mit dem Begriff der Sünde theologisch bezeichnet wird, einer Realität, der man sich besser erst gar nicht stellt.
Jesu, lieber Meister, erbarme dich unser!
Die Menschen, die außen vor sind, wollen nicht außen vor bleiben. Deswegen unterbrechen sie den schönen, geruhsamen, friedvollen Alltag. Zehn Menschen stören mit ihrem Geschrei den stillen und reibungslosen Gang der Welt. Zehn Männer rufen ihren Hilfeschrei an unsere Ohren, die sich abschotten wollen von dem Elend. Doch Jesu Ohr hat keinen Schließmuskel. Er hört, was andere überhören, was wir überhören wollen. Die Stimme des Elends geht durch das Ohr an Herz und Seele. Menschlich ist das nicht – menschlich ist doch die Verstopfung unserer Gehörgänge, taube Ohren zu haben scheint eine Volkskrankheit zu sein.
Doch das Wunder, das eigentliche Wunder geschieht jetzt. Nicht wegsehen, sondern hinsehen, zuhören statt weghören, sich hinwenden statt sich wegzudrehen, begegnen statt weglaufen – das ist der Beginn einer wundersamen Heilung. Diesem Anfang liegt wahrlich ein Zauber inne.
Es muss wohl so gewesen sein, denn weil Jesus diesen Menschen sein Ansehen gibt, weil er ihren flehentlichen Ruf nach Erbarmung hört, werden Menschen rein, werden stark und gesund. Diese Menschen überwinden nun die Grenze zum Dorf und zu den Menschen, sie setzen sich über das ausgrenzende Urteil hinweg, sie sind auf einmal beim Priester und wollen die Eintrittskarte in die Gemeinschaft: den Freispruch des Richters, das amtliche Zeugnis, die freimachende Bescheinigung – ihr dürft wieder unter uns sein, dazu gehören, mittendrin sein.
Dazu gehören, mitten drin sein – und das mit dieser Lebensgeschichte, mit diesen Vorurteilen, nach aussichtsloser Perspektive. Welch eine gute Nachricht, welch ein Evangelium! Ich glaube ja, dass es solche Erfahrungen zuhauf gibt, mitten unter uns, dass wir im Kern eine Gesellschaft der Gnade sind. Es gibt die Kraft, den ungnädigen Vorurteilen zu widersprechen, mitten unter uns. Aber es braucht die Kraft, den Willen, den Mut, den alten Adam in uns täglich zu ersäufen, wie Luther es drastisch ausgedrückt hat. In der Graf Recke Stiftung haben wir viele Menschen, die mit ihrer Lebensgeschichte, mit vielen Vorverurteilungen, mit aussichtsloser Perspektive eigentlich keine Chance haben, die aber in unsere Gemeinschaft aufgenommen werden. Und auch wenn wir um lange, mühsame Wege wissen, Scheitern und Rückschläge nicht ausblenden, ist die Grundhaltung Barmherzigkeit, Erbarmen. Ja, es gibt die Kraft, ungnädigen Vorurteilen zu widersprechen. Das gilt auch in der Begegnung mit Flüchtlingen, das ist spürbar in Kaiserswerth in diesen Tagen und Wochen. Auch in der Graf Recke Stiftung finden viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Freunde und Heimat. Wunder geschehen – unter uns, jeden Tag.
Und doch gibt es genügend Aussätzige, die kein Ansehen haben – oft wegen Äußerlichkeiten. Noch nie war das Ansehen eines Menschen so von seinem Aussehen geprägt. Lepra, Aussatz, beginnt bei uns schon viel früher und hat viele Namen: zu dick, zu unsportlich, zu unmodisch. Wir müssen über die Maßstäbe nachdenken, liebe Gemeinde, im Licht des Evangeliums uns gegen jede Form von Aussatz einsetzen. Es braucht eine diakonische Kultur des Ansehens, die jedem Menschen gilt – ich denke nicht, dass dies hier in der Fliedner- und Reckestadt im Düsseldorfer Norden ein für alle Mal erledigt wäre. „Hier leben nur die Schönen und Reichen“, hat letztens ein Anwohner unserer Stiftung erzählt. Wir dürfen nicht blind sein für unsere alltäglichen Ausgrenzungen, für das Ausblenden unserer Realität, über den Zaun schauen ist notwendig.
Denn unsere Realität ist allzu oft eine bittere – auch eine bitter machende. Jesus weiß das, spürt das, muss das am eigenen Leib erfahren. Zehnmal wird auf wunderbare Weise eine Grenze überwunden, gewinnen Menschen ihr Ansehen, ihre Würde zurück – nur einer aber, ein Fremder zudem, ist Jesus, dem menschenfreundlichen Gottessohn, dankbar und kehrt um. „Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung deren ich nicht wert; das zähl ich zu dem Wunderbaren, mein stolzes Herz hat’s nie begehrt“, so verdichtet Philipp Friedrich Hiller vor 250 Jahren den samaritanischen Dank in ein evangelisches Lied. „Das muss ich dir, mein Gott, bekennen, / das rühm ich, wenn ein Mensch mich fragt; ich kann es nur Erbarmung nennen, so ist mein ganzes Herz gesagt. Ich beuge mich und bin erfreut und rühme die Barmherzigkeit.“
Die Antwort Jesu auf diese Umkehr hat mich zutiefst überrascht. Nicht der Ärger über die neun, das ist nur allzu menschlich. Sondern das Gottesurteil im Namen Jesu das dem Menschenurteil endgültig den Garaus macht: „Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen!“ Dieser Eine nimmt nicht selbstverständlich hin, was ihm widerfahren ist.
Nicht selbstverständlich hinnehmen, nichts selbstverständlich annehmen: das ist eine hilfreiche Haltung. Sie findet auf den Knien statt, ist bereit, sich klein zu machen, ist sich für den Dank nicht zu fein. Das erfordert Mut zur Demut. Hier gibt einer Gott die Ehre – und kniet dazu vor Jesus nieder: weil in Jesu Handeln Gott selbst sich zeigt.
Und in diesem Handeln Jesu kommt uns Gott so nah, dass wir selber daraufhin im Glauben aus Glauben so wie Gott handeln können. Das ist, so hat es Luther gesagt, ein fröhlicher Wechsel und Tausch, wenn aus dem ausgesetzten, dem Tod geweihten Fremden ein Mensch wird, der Gott die Ehre gibt. „Steh auf! Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen.“ Dieser Fremde ist auf Augenhöhe mit Jesus, der das Wunder vollbracht hat, menschliche Grenzen und Begrenzungen zu überwinden. Und er wird nun mit aufrechtem Gang, ausgestattet mit Würde, in die Gemeinschaft zurück gesandt. Was er wohl als Nächstes tun wird?
Wunderbare Heilungsgeschichten, in denen solcher Aussatz überwunden wird, erleben wir heute und derer bedürfen wir heute – mehr denn je. Denn unsere Ausgrenzungen sind oft subtil, folgen äußerst oberflächlichen Kriterien. Diesen Ausgrenzungen zu widersprechen, zu widerstehen, ihnen entgegen zu handeln bedarf enormer Kraftanstrengungen, ja fast übermenschlicher Kraftanstrengungen, um überwunden zu werden. Es geht aber, mit Gottes Hilfe. Im Glauben haben wir diese Kraft, mitten unter uns. Und so gilt im Namen Jesu damals dem Einen wie heute uns allen: „Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen.“
Und so sei der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bei uns auf all unseren Wegen von nun an bis in Ewigkeit. Amen.
13.n.Trin. 30.08.2015 Stadtkirche Lukas 10,25-37, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 13.n.Trin. 30.VIII.2015
Lukas 10, 25-37
Liebe Gemeinde!
Die Straße von Jerusalem hinab nach Jericho führt über Wien, über die ungarische Grenze, durch Serbien und Mazedonien, über Griechenlands Inseln und das trügerische Mittelmeer.
Die Straße von Jerusalem hinab nach Jericho ist gepflastert mit Liegengebliebenen und Ausgeraubten, mit vom Stacheldraht Verletzten und von Schleppern Verlassenen, mit Kindern, die ihre Eltern verloren und mit Greisen, die ihre Kräfte eingebüßt haben.
Sie ist voller gequälter, gedemütigter, gejagter Opfer.
Manche stinken nach Verwesung mitten auf der Straße.
Manche gieren so nach Rettung, dass sie selbst zu Räubern werden.
Manche schleppen sich wie lebende Tote weiter, deren Seele daheim in Syrien, am Euphrat, in den Farben Afrikas zurückgeblieben ist und den Körper allein in den Albtraum stieß.
Aber sie alle müssen sie ziehen, … diese Straße, deren Beschreibung Jesus anfängt mit den Worten: „Es war ein Mensch …“
Denn diese Straße von Jerusalem hinab nach Jericho ist die Hauptstraße unserer Welt.
Nur ist sie falsch beschildert.
In der einen Richtung weist ein Zeichen den Weg: „Hier geht’s zum besseren Leben“.
Am entgegengesetzten Ende errichtet man ein Schild: „Kein Eintritt.“
Und beides ist Lüge.
In Wahrheit gibt es nur ein Ziel, das aus beiden Richtungen erreicht werden kann.
Über der tödlich gefährlichen Hauptstraße mit den irreführenden Verkehrszeichen steht: „Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“——
Verlassen wir aber die Straße einmal.
Lassen wir sie liegen, mit ihren Opfern und Verwundeten, mit ihren unübersehbaren und ihren verborgenen Schrecken. Wir sind schließlich ja weder Wanderer noch Reisende auf dieser Straße, die das nackte Leben kosten kann. … Und dass wir das ewige Leben suchten, ist ehrlich gesagt auch eher selten.
Was hat die Straße des Horrors also mit uns zu tun, den Sesshaften, den Flugreisenden, den Glücklichen?
— Nun, auch wer nicht an der Autobahn wohnen muss und mag, nutzt sie. Ja, selbst wer nicht auf ihr fährt, lebt von den Gütern und Gästen, die dort brausen. Wenn wir also auch noch so abseits stünden und die Flüchtlingsströme, die Leidenswege der Erde gingen an uns - noch - weit vorüber, so entscheidet sich dennoch dort für uns alles.
Denn so viel steht fest: Durch das, was derzeit über die Seerouten und die Landstrecken an Not und an Hoffnung aufbricht, verändert sich unsere Welt tief.
Nicht nur durch die Umwälzungen von Bevölkerungen, nicht nur durch das Lernen und Verstehen, das nun allerseits nötig wird, nicht nur durch die wirtschaftlichen Probleme, die das fraglos fällige Teilen unseres Reichtums und das dringend nötige Versorgen der Mittellosen bedeuten, … sondern unsere Welt verändert sich seelisch:
Hass und Hilfsbereitschaft springen in’s Auge.
Aber im Hintergrund kriecht etwas herauf, das noch schlimmer ist als der ekelhafte Auswurf an Tücke und niederster Missgunst, der uns allen Schande macht im bezeichnend- und verdientermaßen „Heidenau“ geheißenen Ort.
Ganz Europa wird nämlich eine barbarische Heiden-Au werden, wenn die schleichende Pest des Zynismus uns befällt, die die eigentliche Gefahr der großen Flucht ist:
Wir gewöhnen uns an’s Verrecken.
Wir können die illegalen Seelenverkäufer und alle, die sich ihnen anvertrauen, ja nicht steuern.
Wir können die Kriege und den Terror nicht beenden.
Wir können und wollen die Korruption und die Chancenlosigkeit Afrikas nicht ändern, denn an beidem verdient unsere Wirtschaft kräftig mit.
Unsere Vorstellungskraft reicht überhaupt ja nicht aus, um mehr als Zahlen zu begreifen … und die Zahlen sind schwindelerregend. Sie machen uns dumpf und kalt.
Wenn Ungarn dort, wo zuerst der Freiheit eine Gasse durch Zaun und Mauer gebahnt wurde, heute (!) wieder Mauern und Stacheldrähte hochzieht, finden wir es zwar hässlich, … aber irgendeine Umleitung, irgendeine Abschreckung, irgendein möglichst fernes, sauberes Erledigen eines gärenden Problems gebietet die Vernunft ja doch!? …....
Und durch solche kaum zu entkräftenden Überlegungen kriegt der Glaube reptilienhafte Schuppen, das Herz einen Panzer, die Menschlichkeit verledert.
Erst gewöhnen wir uns allmählich an unerträgliche Bilder, dann an himmelschreiende Zustände, schließlich an finstere Folgerungen und Gedanken, die tödlich sind in ihrer tiefkühlen Logik. —
Das mag noch nicht so gekommen sein. Noch ist nicht überall Heiden-Au. Aber der Zynismus marschiert. Er wird uns schneller erreichen, als die vielbeschworene Vollzahl der 800 000. Er und er allein könnte uns tatsächlich überfluten. Und dann wären Welt und Menschheit das, was der unflätige Hund auf Rembrandts Barmherzigkeits-Radierung ausdrückt*. ——
Darum kehren wir jetzt zurück an die Straße von Jerusalem hinab nach Jericho. Auf ihr spazieren die Monster, zu denen wir werden könnten, wie ein warnendes Vorzeichen, wie ein Blick in den Spiegel von morgen:
„Guten Tag, priesterliche Hochwürden: Sind Sie ich?“
„Der abweisende Levit: Unser Gesicht der Zukunft?“
Dass diese geschäftig alle Hilfeleistung Unterlassenden ausgerechnet aus Jericho stammen, ist eine zusätzliche Spitze: War Jericho doch die seinerzeit berühmteste Priester-Siedlung, – eine blühende Pastorenoase, eine wunderbar in sich geschlossene, nach außen abgeschirmte Welt der Hochgeachteten und Wohlversorgten†. Dorthin traben der eilige Priester und der ebenso zielstrebige Levit. Denn auch sie gehen die Straße ja wohlgemerkt hinab, nicht hinauf zum heiligen Dienst, wie wir oft fälschlich annehmen. Nicht der Altar ruft sie, sondern der Feier-abend!
Und so sind sie wahrlich unser Zerr- und Abbild: Die Begünstigten haben nur ihren sicheren Komfort vor Augen … und für die Verlierer nichts, gar nichts übrig.
Das aber ist der sichere Tod … für diese Blinden, Herzbehinderten, Gnadenlosen, die nach Jericho rennen, um es behaglich zu haben und einen, dessen Jammer einfach nach Leben schreit, keines Blickes würdigen.
Die gutbürgerlichen Bewohner Jerichos werden sterben … hinter den diesmal vielleicht standhaltenden Mauern ihrer uralten Stadt. Ihr Tod wird aus Mangel an Gerechtigkeit eintreten: Der geistliche und damit endgültige Tod wird das sein. —
Womit sich die Frage erhebt, was uns – den Erben der Jerichoer Elite! – eigentlich die Erzählung vom beispielhaften Samariter nützt?
— Eine Geschichte davon, wie ein satter, sorgloser Bonze sein Herz wiederfand, wie er sich berufen ließ durch den kategorischen Imperativ eines Hilfeschreis, … eine solche Bekehrungsgeschichte hätte uns vielleicht beim Schlafittchen erwischt.
Doch der Hörende, Sehende, Handelnde in der Geschichte vom ewigen Leben ist keiner von uns, sondern ein Außenseiter. Nicht Stammes- und nicht Glaubensgenosse Jesu und seines schriftgelehrten Gegenübers ist der Samariter, sondern Fremdling und Fossil in ihrer Welt. Ein Nachkomme der vor Jahrhunderten abgespaltenen Bevölkerung Nordisraels, Angehöriger einer seltsamen Religion, die das alte Gesetz und das verschrobenste Heidentum, die Mose und das Mondkalb mischt. So wie viele von uns den Islam sehen – als unheimlichen, nicht zeitgemäßen Schatten des eigenen, einleuchtenden Glaubens – so erschien das Samaritertum zumal demjenigen, der Jesus zu diesem Gleichnis herausforderte.
Der Schriftgelehrte, dessen Frage Jesus zu der provokanten Geschichte reizte, kann angesichts des barmherzigen Samariters daher nur echten Abscheu und himmelweite Entfernung empfunden haben. Dieses „Vorbild“ befremdete ihn viel mehr, stieß ihn gar ab, als dass es ihn etwa inspiriert und angezogen hätte.
Was aber will Jesus dann damit? Wenn das Beispielhafte der zentralen Gestalt dank der gewählten Figur gar nicht recht wirken kann, … was ist dann das Ziel? …….
Eigentlich wird es aber doch ganz klar:
„Wer ist denn mein Nächster?“ hatte der Schriftgelehrte wissen wollen.
Und Jesus bietet ihm drei denkbare Nächste an: Den ungerührten Priester auf dem Heimweg, den ebenso selbstsüchtigen Leviten… und den Exoten, das unregelmäßige samaritanische Verb mit dem ansprechbaren Gewissen. „Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“, so endet Jesu berühmtes Gleichnis.
Und wenn damit die Antwort auf die Ausgangsfrage gesucht wird, so muss sie lauten:
„Lieber Kollege Schriftgelehrter: Nicht nur die rhetorische Antwort trifft zu, dass es natürlich der Helfer war, der dem Opfer mit Nächstenliebe begegnete, sondern da hast Du auch gleich Deinen eigenen Nächsten, mit dem Du Dich innerlich anfreunden, mit dem Du das Gemeinsame suchen musst: Der barmherzige Samariter, der Dir immer verdächtig sein wird, so gut seine Taten auch sein mögen … das ist Dein Nächster, lieber Schriftgelehrter.“
Es geht beim Gleichnis vom selbstlos zupackenden – und zahlenden! – Samariter also nicht nur um das gefeierte Vorbild der Diakonie, sondern auch um die Achtung anderer vor solcher Nächstenliebe, es geht um die Anerkennung, die den Mitmenschlichen, den Helfenden, den Humanen gebührt – gerade über sonstige Abstände und Schranken und Berührungsängste und Missverständnisse hinweg!
Wenn Du also auch nicht selber auf jener schrecklichen Straße der Gewalt und der Verzweiflung einzugreifen vermagst, … wenn Du also auch nicht selbst Not- und Ersthelfer bei den Opfern sein kannst: In denen, die das tun, in den Freiwilligen, deren Bereitschaft zum Guten vielleicht aus Dir fremden Motiven herrührt, in den immer und überall so leicht und wohlfeil zu verspottenden „Gutmenschen“, da sollst Du hochnäsiger Unberührbarer Deine Nächsten erkennen. Das ist für Dich schon Lektion und Anfang genug! ——
Wenn das aber stimmt, dann beschert uns das Gleichnis mit seiner „Moral“ mehr, als wir erwarteten.
Dann beschert es uns eine zwiefache Gemeinschaft: Die Opfer und alle, die sie verbinden und bergen, die sie retten und pflegen sind dann unsere Nächsten. Und wir haben dann die doppelte Aufgabe, Helfenden und Hilfsbedürftigen mit der Ehrfurcht zu begegnen, die das Doppelgebot der Liebe uns aufträgt.
… Das ist nun allerdings keine Spitzfindigkeit für Bequeme: Als hätten wir hier die Erleichterung entdeckt, nicht selbst tätig werden zu müssen, sondern lediglich mit etwas Applaus und Schulterklopfen den Einsatz anderer zu bedenken.
Im Gegenteil. Wo der Samariter – das echte Gegenstück, der innere Antipode des frommen Schriftgelehrten –, … wo der Samartiter als dessen Nächster vorgestellt wird, da erhebt sich der Vorrang und der Überschuss des gerechten Tuns über alle unsere Meinungen und Vorlieben.
Nicht unsere Gesinnungs- und Glaubensgenossen, sondern alle Täter des Gerechten und Gebotenen sollen unsere Geschwister sein! Mit ihnen allen sollen wir Gemeinsamkeit üben und halten, weil es auf den Straßen der Erde so unterschiedslos grausam, so unmenschlich zugeht.
Diese dem Gebot der Not gehorchende Notgemeinschaft ist etwas, das uns heilsam wäre: Wenn die Misstrauischen und Schwarzseher, wenn die Selbstsüchtigen und die Verunsicherten lernen könnten, dass es nicht ihre weltanschaulichen Gegner, sondern ihre Geschwister sind, die – anders als sie – das Vertrauen und den Optimismus zu helfen aufbringen, dann wäre ein Anfang gemacht.
Dann würden die Samariter die doppelte Verbindung herstellen, sie würden die Brücke schlagen von den Tatenlosen und Zweiflern über die Helfer zu den Hilflosen.
Und es würde uns deutlich, was auf der Straße von Jerusalem hinab nach Jericho, was auf der Straße des Horrors geschieht und geleistet wird: Die vielen Samariter dort kämpfen nicht nur um das Leben und das Recht der Opfer, sondern auch um die Seele der Zuschauer, um die Seele der Priester und Leviten und Schriftgelehrten, um die Seele der gleichgültigen, der wütenden Bürger und der hoffnungslos Hassenden!
Die Samariter bauen Brücken:
Brücken von den Schiffbrüchigen zu den Häfen, von den Verletzten zu den Ärzten, von den Heimatlosen zu den Wirten – und eine Brücke, über die jene, die nichts tun, nichts unternehmen wollen zu ihrer eigenen Rettung gehen könnten.
Denn alle, die sich in ihrem Jericho, in ihrer heilen Welt verschanzen wollen, werden untergehen, wenn der Zynismus sie überschwemmt und erstickt.
Wer sich von den Samaritern nicht an die Hand nehmen und auf die Straße lotsen lässt, wo Menschen einander zu Nächsten werden müssen, wird sich in der Gesellschaft des Todes vorfinden.
Wer aber den Samaritern, die unsere Nächsten sind, auf die Schauplätze der großen Not, auf die Straße der großen Wanderschaft folgt, über dem steht der Wegweiser:
„Ihr werdet das ewige Leben ererben!“
Amen.
* Auf einer großen Rembrandt’schen Radierung von 1633, die die Ankunft des verwundeten Opfers vor der Herberge und die Verhandlung des Samariters mit dem Wirt zeigt, ist im rechten Vordergrund bewusst auffällig ein defäkierender Hund platziert. In der derben emblematischen Tradition der niederländischen Kunst ist dieser Verweis auf die Zustände der Welt und der Menschheit sprechend!
† „Daß Jesus aber einen Priester u. einen Leviten als Repräsentanten menschlicher Herzlosigkeit hinstellt, hat schwerlich seinen Grund darin, daß man von ihnen als Dienern Gottes ganz besonders werktätige Nächstenliebe in seinen Tagen erwartet hätte; (……) der Grund liegt vielmehr darin, daß der Priester- u. Levitenstand nach allgemeinem Urteil als erster u. bevorzugter Stand galt …“ (Hermann Strack u. Paul Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 2.Bd., München 1925 [Nachdruck 1974], S.182.)
11.n.Trin. 16.08.2015 Stadt- und Jonakirche Richter 8,18-23 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 11.n.Trin. – 16.VIII.2015
Richter 8, 18-23
Liebe Gemeinde!
„Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“, heißt es bei Bertolt Brecht*.
In jener geistigen Provinz, der Brecht einst besonders nahestand, sind allerdings die Helden des Volkes, die werktätigen, die sozialistischen Vorkämpfer des Fortschritts furchtbar martialisch und bombastisch gefeiert worden, … aber montags sind die Helden dort wie andernorts müde:
Es muss ein Montag vor zwei Jahren gewesen sein, als wir durch das thüringische Mühlhausen trotteten, auf der grimmigen Suche nach Bratwürsten und Bauernkrieg.
Die landestypische Wurst vom Rost war den Kindern versprochen worden als Entschädigung für geduldiges Besichtigen der Bach-Orgel und der Altstadt. Und außerdem wollten wir Großen doch noch die Spuren des reformatorischen Agitators und Aufrührers Thomas Müntzer suchen, der in Mühlhausen die rechtlosen Bauern nicht nur mit der geglaubten Rechtfertigung, sondern mit irdisch greifbarer Gerechtigkeit versehen wollte.
… Aber eine Bratwurst ließ sich über Stunden nicht auftreiben … und die 1975 zur Müntzer-Gedenkstätte umgewandelte gotische Marienkirche blieb montags geschlossen.
Dafür war allerdings der nahe Markt voll vom Brummen einer Menschenmenge. Der Sprecher auf der dortigen Tribüne sprach dabei erkennbar über die Köpfe hinweg, war aber ebenso erkennbar ihr Mann: Deutschlands mit Abstand komischster Politiker, Gregor Gysi, witzig wie ein Hofnarr, spöttisch wie ein französischer Satiriker, amüssant großmäulig wie jeder waschechte Berliner. ……. Nur ich wurde unter der Menge seiner Anhänger wütend: Anstelle Thomas Müntzers, des radikalen Predigers, den die DDR einst nachträglich zu ihrem Idol verbogen hatte, bot Mühlhausen mir nun einen begnadeten Schwätzer, der jetzt seinerseits nachträglich das Erbe der DDR zum Ideal der Masse verbog.
- „Keine Bratwurst!“: der Chor der enttäuschten Kinder.
- „Wie sind die Helden gefallen!“ (2.Sam.119): die Klage des enttäuschten Vaters: Nicht den selbsternannten Propheten Müntzer, der Luthers Flucht unter die Rockschöße der Fürstenmacht leidenschaftlich ablehnte und seine eigenen Sendschreiben deshalb mit Bedacht unterzeichnete als „Thomas Muntzer mit dem schwerthe Gydeonis“**… nicht den schäumenden und schillernden Propheten trafen wir also, sondern nur diesen populistischen Possenreißer… . —
Indes kann man fragen: Wäre denn wohl eine Begegnung mit Thomas Müntzer, dem Helden der DDR-Kirchengeschichtsschreibung wirklich eindrücklicher oder eindeutiger gewesen?
… Und schließlich: Wäre eine Begegnung mit Müntzers selbst beanspruchtem Vorbild, mit Gideon, dem Feldherrn eines Heeres, dessen Strategie aus Gottvertrauen und Faxenmachen gemischt war, wohl umso vieles bedeutender ausgefallen? ——
Der Geist Gideons, gewiss: Der bleibt ein leuchtender Eindruck dessen, was Gott an Festigkeit und Friedenskraft erwecken kann, wann und wo Er dessen bedarf!
Aber das Fleisch Gideons, seine Geschichte als Mensch bleibt ebenso bunt und peinlich wie alle unsere Erlebnisse, wenn man sie von ihren schönen Umhüllungen und nur verliehenen Würden entkleidet: Denn der aggressive Zweifler, den Gott allen Ernstes als Zeugen jenes Friedens, der höher ist als alle unsere Vernunft (vgl.Phil47), in den Kampf schickte – der ist trotz seiner überwältigenden Erfahrungen nicht zu einem ganz anderen Geschöpf geworden, in dessen Adern nun Milch statt Blut geflossen wäre.
Gideon erlebte zwar, dass Gott mitten im menschlichen Gewühle viel mehr und ganz anderes ausrichtet, als wir; Gideon erlebte, dass Gott der Gewalt nicht als Gegengewalt begegnet, sondern als ihr Ende; … er erlebte, dass Gott Angriffe nicht erwidert, sondern sie in’s Leere laufen und verkümmern lässt; … er erlebte, dass Stimmen und Lichter mehr als jede Waffe vermögen – als wäre Gideon am Tag von Midian ein Vorbote der friedlichen Revolution in der DDR geworden – …; doch als die Gelegenheit sich bot, die friedlich Besiegten zu verfolgen, da geriet auch Gideon, der Richter in den Blutrausch des Rächers.
… „Wie sind die Helden gefallen!“
Eine Ikone des gläubigen Pazifismus, ein Muster ethischer Konfliktlösung ist dieser Gideon also nicht geworden. Vielmehr bleibt er ein ergreifender Zeuge für die Macht Gottes, ohne die wir blind und böse sind, … eine Macht, die aber dennoch auch durch schlechte Hände das Gute, durch gewaltbereite Fäuste den Frieden durchsetzen kann, wenn wir ihr trauen!
Diese Wundererfahrung des Friedens in einer Welt, deren gewöhnliche Wirklichkeit der Kampf ist, die hat sich ausgerechnet mit dem mühsam gewonnenen und schnell zerronnenen Glauben und Vertrauen Gideons für immer verbunden, und sie leuchtet als Verheißung durch die ganze Opfer- und Tätergeschichte Israels bis in jeden Advent hinein, den die wahrlich unfriedliche Christenheit alle Jahre wieder feiert:
„Wie am Tage Midians, damals in der Ernte, wird es sein, wenn endlich alle Soldatenstiefel und Militärmäntel ausgemustert und eingemottet werden“, so hat Jesaja das Bild von Gideons Sieg in die Zukunft ausgedehnt (vgl.Jes91-6). „Und dann wird das Kind geboren werden, in dem Gottes Wunder-Rat und seine unheroische Heldenkraft der Fürsorge und des Friedens endgültig über die Gewalt triumphieren!“ ——
Doch damit sind wir weit von Gideon entfernt und weit über Weihnachten hinaus, an die Schwelle des Reiches Gottes getreten, in dem endlich des Friedens kein Ende sein wird. …
War denn aber nun Gideons Licht- und Friedenssieg gegen Midian dabei nur eine winzige Etappe, nur ein kurzes Verschnaufen in der endlos sich steigernden Kriegsgeschichte, die uns heute so in Atem hält, dass wir vor Terror, Flüchtlingstragödien und religiösem Kampf kaum noch eine Seligpreisung der Friedensstifter hören und glauben können?
Waren die Fackeln des unblutigen Schreckens, den Gideons dreihundert Männer weckten, nur ein Strohfeuer, das in der langen Nacht des Blutvergießens keinerlei Hoffnungsstrahl bedeutet?
Nein!
Denn auf dem Höhepunkt der Entladung seines angestauten Gewalttriebes, als Gideon eigenhändig die beiden Midianiterfürsten Sebach und Zalmunna massakriert hat, da stellte ausgerechnet der Mörder Gideon die Weichen, die uns das Heil herbeiführen werden!
Sein Gemetzel hatte ihn zum Helden in den Augen der Zuschauer gemacht.
Das ist kein Zufall, sondern System. Helden werden meistens geboren, wenn das Publikum ihnen Blut von den Händen lecken kann: Thomas Müntzer, der Held des materialistischen Fortschritts und der emanzipatorischen Theologie auf der einen Seite, bei der Linken; auf der anderen Gustav Adolf, den seine Anhänger im dreißigjährigen Krieg ebenfalls einen „neuen Gideon“ nannten*** und von dessen heldenhaftem Kampfeinsatz für die schon verlorene Sache der Evangelischen ich meinen Kindern noch in diesem Jahr in Schweden vorgeraunt haben.
Helden sind also in aller Regel Mörder: das ist ihr Reiz und Rang.
Kein Volk – weder Israel, noch ein anderes – hätte Gideon bloß für das Wunder am Tag von Midian dauerhaft verehrt. Doch seine Untat an den Midianiterfürsten, die zündete:
„Sei Herrscher über uns, du und dein Sohn und deines Sohnes Sohn, weil du uns aus der Hand der Midianiter errettet hast!“
Und da stellt Gideon die Weichen.
Da verändert er die Weltgeschichte, indem er es bestätigt: Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.
„Ich will nicht Herrscher über euch sein“, ist vielleicht die weitreichendste Entscheidung und die größte Friedenstat Gideons.
Er hätte ein Napoleon werden, es hätte seine Stunde im Spiegelsaal sein können, als ihm zu den Kriegstrophäen auch noch die Krone Israels in die blutigen Hände gelegt werden sollte. Aber es wurde die unspektakuläre, völlig kultfreie Geburtsstunde für etwas anderes:
Die Gottesherrschaft wird hier zum ersten Mal denkbar, das was Jesus wieder und wieder die „Königsherrschaft der Himmel“ nennt.
Gideons Kronverzicht ist ein Wendepunkt und eine Sternstunde, in der mitten im alten Israel etwas aufscheint, das kein Volk der Antike in dieser Freiheit von der Welt kannte und das wir Heutigen wieder verkennen, obwohl es die Zukunft ist, auf die wir hoffen: Man nennt es „Theokratie“.
… Aber der Begriff ist verdorben und zerstört, wenn wir ihn mit Priesterherrschaft oder einer anderen Autoritätsausübung im Namen Gottes verbinden! Nicht das Mischgebilde von Cäsaren und Päpsten, das im Abendland so lange Heiligkeit und Herrschaft vermengte, nicht die maskenhaften Puppenspiele asiatischer Gott-Kaiser, nicht der iranische Gottesstaat oder die Unterdrückung im Zeichen einer Orthodoxie, einer Wahrheit, von der russische Popen und Kalifatsterroristen und jüdische Siedler jeweils träumen mögen, ist die Gottesherrschaft, die seit Gideons Entscheidung aufzustrahlen beginnt!
Denn am Anfang steht mit dem Verzicht Gideons auf die erbliche Macht eines Heldengeschlechtes die schlichte Selbstkritik aller Menschen.
Gideons Abwinken ist ein Freigeben, ein Zurücktreten des Menschen und aller seiner Ansprüche, um die wirkliche Herrschaft Gott einzuräumen. Denn nur in einem solchen Freiraum kann die wirkliche Herrschaft Gottes wachsen: Indem niemand hintritt und sich das Gottesmäntelchen umhängt, indem niemand sich selbst als den Stellvertreter ausruft, indem sich niemand das Höchste anmaßt oder zutraut, ergibt sich die Leerstelle, der unbesetzte Thron, die nicht beanspruchte absolute Macht, der freigelassene Mittelpunkt der Welt.
Gottesherrschaft setzt also die Selbstbeschränkung des Menschen voraus – und damit ein Vertrauen, das uns allen fehlt, die wir im Kleinen wie im Großen, hochverantwortlich und lebenserfahren, preußisch pflichtbewusst und calvinistisch nüchtern nach dem Leitsatz leben:
Wenn’s niemand sonst tut, muss man’s eben selber tun!
… Doch es dann eben nicht selbst zu tun, auch wenn man doch insgeheim von der eigenen Lauterkeit und Vortrefflichkeit die sichersten Beweise hat, … es nicht selbst zu tun, sondern zu vertrauen: Das ist beinahe übermenschlich schwer.
Auch alle Helden, die wir wirklich als solche anerkennen mögen, haben ja nicht damit begonnen, dass sie’s alles selbst erledigen, aushalten, durchfechten und endlich entscheiden wollten. … Nur als es keine Wahl mehr gab, als Müntzer das gerade erst freigesetzte Evangelium schon wieder um alle Kräfte kommen und zum Knecht der Unfreiheit werden sah, da hat er’s eben selbst gemacht: das Befreien. … Und das Blutvergießen! … Genau wie die Fürsten, genau wie Luther, der im Bauernkrieg den Fürsten riet: „Man soll die Aufrührer zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund erschlagen muss.“†
Man wird es beiden glauben dürfen, dass sie ungern taten, was sie taten und nur, weil sie meinten, dass es getan werden musste.
Und wie viele kennen wir, denen es ähnlich ging: Dass der Tischler Georg Elser oder ein Graf Stauffenberg von vornherein Mörder hätten werden wollen, ist absurd. Dass sie aber bereit wurden, Helden und Mörder in einem zu werden, liegt daran, dass niemand sonst es war. … Unglücklich die Helden, die ein Land nötig hat!!! ——
Demnach ist aber der unheldenhafte Machtverzicht Gideons nichts anderes, als ein schier unermessliches Vertrauen darauf, dass Gott tatsächlich handeln und helfen, dass Er tatsächlich herrschen kann!
In Gideon also bleibt ein Mensch kein Held und wird kein König, weil er einen Herrscher, einen Helfer hat!
Und damit ist der herrschaftsfreie Raum des Menschen offen für das Glück des Glaubens!!! ——
Martin Buber, der jüdische Philosoph hat ausgehend von Gideons Entscheidung ein Buch zum Königtum Gottes geschrieben, in dem er es auf einen für uns Christen kostbaren Punkt bringt.
„Durch Gideons Mund sagt der Mensch, auf dem der Geist ruht, dass er nicht herrschen wolle. … JHWH ermächtigt ihn [nur] zu tun, was er in [einer bestimmten] Stunde zu tun hat; er ermächtigt ihn nicht, mächtig zu sein“, so fasst Buber es zusammen‡.
Wenn der Mensch aber nicht zur Macht ermächtigt wird, dann kann er sich auch nicht so heillos überfordern, wie es der eingebildete Herrscher, der Mensch der Machtphantasie stets tut … und dann herrscht der Mensch - zu seinem Glück! - auch nicht über sein eigenes Heil. Dann ist auch das der freien Macht Dessen eingeräumt und anvertraut, Der wirklich und alleine herrscht.
Wenn aber einer auch das eigene Heil nicht beherrschen will, sondern freigibt, dann lebt er in solchem Vertrauen zuletzt von nichts als … Gnade! ———
Von daher wundert es vielleicht auch nicht so sehr, dass wir von Gideon zum Schluß nichts Heldenhaftes und nichts Heiliges mehr hören, sondern nur noch Anzeichen jenes Kleinmuts, jener Anfälligkeit, die uns bei großen Gestalten immer wieder irritieren – wenn sie tatsächlich
so unglücklich wären, reine Helden sein zu müssen und folglich ohne Gnade auszukommen!
Und vielleicht wundert es uns auch nicht, dass Bubers Buch vom Königtum Gottes, das so viel menschliches Vertrauen in die gnädige Freiheit Gottes erfordert, mit Worten schließt, die uns als Christen in’s Mark treffen: dem hebräischen und griechischen Wort vom Messias! „Meschiach JHWH, χριστòς κυρίου“ – das ist Bubers letztes Wort vom Königtum Gottes‡‡. ———
Was mich dagegen immer mehr verwundert und beunruhigt, ist unsere christliche Rat- und Lustlosigkeit, wenn es um diese den Gideon befreiende, tröstende und rettende Gewissheit geht, dass wir nicht herrschen müssen, weil ein anderer herrscht!
Ist es denn etwa nicht das größte Glück der Welt, dass uns in Jesus Christus der begegnet, in dem die Menschheit auf alle Macht verzichtet, um völlig frei für Gottes Herrsein zu werden?!
Ist es nicht entlastende Gnade, dass wir in diesem Jesus einen Stellvertreter haben, der der Herrschaft Gottes unwiderruflich ihren Freiraum unter uns Menschen offenhält?
Ist es nicht herrlich, dass wir im Vertrauen leben dürfen, hier, in Jesus Christus hält, hilft und führt Gott selbst uns Menschen in den Frieden Seines Reiches?
Und ist das darum nicht die wahre Freiheit und die wirkliche Zukunft und die reine Seligkeit, dass Jesus Christus diese Königsherrschaft trägt und das Reich der Himmel – und nicht wir selbst und unsere Kinder?!!! ———
Und so nehmen wir Abschied von Gideon, der nicht König werden wollte und konnte, weil er den wahren König kannte.
Wir nehmen Abschied mit dem Vertrauensbekenntnis des Psalmisten (452-5):
„Mein Herz dichtet ein feines Lied, einem König will ich es singen:
Du bist der Schönste unter den Menschenkindern, voller Huld sind deine Lippen;
wahrlich, Gott hat dich gesegnet für ewig.
Gürte dein Schwert an die Seite, du Held, und schmücke dich herrlich!
Es möge dir gelingen in deiner Herrlichkeit.
Zieh einher für die Wahrheit, in Sanftmut und Gerechtigkeit,
so wird deine rechte Hand Wunder vollbringen.“
Amen!
* B.Brecht, Das Leben des Galilei, 13.Szene, in: Gesammelte Werke 3, Frankfurt 1967, S. 1329.
** Zitiert nach Walter Elliger, Thomas Müntzer – Leben und Werk, Göttingen 1975, S.728.
*** Auf Gustav Adolfs Eingreifen zugunsten der evangelischen Seite bezieht sich die Strophe von Jakob Fabricius: „Gott wird durch einen Gideon, / den er wohl weiß, dir helfen schon,/ dich und dein Wort erhalten“ aus dem Jahr 1632, die noch heute im EG zu finden ist (Nr.249, 2). Gustav Adolfs Tod in der (entscheidenden) Schlacht bei Lützen im November 1632 hatte also durchaus das Potential heilsgeschichtlicher Erschütterung für die evangelischen Stände – und schuf die Verklärung des Helden gleich mit.
† Martin Luther, Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern. 1525. , in: Bonner Ausgabe, hg. v. Otto Clemen, 3.Bd: Schriften von 1524-1528, S.70, Z.29ff: „Drumb soll hie zuschmeyssen / wurgen und stechen / heymlich odder offentlich / wer da kann / vn gedencken / das nicht giffttigers / schedtlichers / teufelischers seyn kann / denn eyn auffrurischer mensch / gleich als wenn man eynen tollen hund todschlahe mus / schlegstu nicht / so schlegt er dich und eyn gantz land mit dyr.“
‡ Martin Buber, Königtum Gottes, 3., vermehrte Auflage, Heidelberg 1956, S.146.
‡‡ AaO, S.149.
10.nTrin. 09.08.2015 Stadt- und Jonakirche Richter 7,1-22 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserwerth & Jona 10.n.Trin. – 9.VIII.2015
Richter 7 i.A.
Liebe Gemeinde!
Und nun also zum Heiligen Krieg, zu einem Kampf, in dem es um Gott geht, bei dem Er teilnimmt, den Er gebietet, der Seinetwegen geführt wird.
… Lieber würden wir ja dem Gedanken ausweichen, dass es irgendeine biblisch begründete, christlich zu denkende Verbindung zwischen Gott und Krieg gebe.
An einem Tag, wie dem heutigen*, der das Unvorstellbare im letzten Weltkrieg zur Wirklichkeit machte, kann man nicht davon reden wollen!
Vor siebzig Jahren – genau der Spanne eines Menschenlebens – wurde die menschliche Verfügung über Leben und Tod ja so beispiellos massenhaft geballt, dass man angesichts des größten Mordens, das je in einem einzigen Augenblick geschah, die Erde und die Hölle nicht mehr auseinander halten kann.
Der Krieg, den die Alten noch einen Vater aller Dinge nannten**, zeigt sich seitdem als aller Dinge mögliches Ende. Der geschaffene Mensch zeigt sich seitdem als der wahrscheinliche Auslöscher aller Schöpfung. …——
Und wir hoffen so sehr, gelernt und uns gewandelt zu haben, dass wir fast froh sind, wo es um Glauben und Gewalt, um Schwert oder Schwäche, um den Krieg und den Frieden geht, seit einiger Zeit auf die anderen weisen zu können: „Heiliger Krieg“ ist das fanatisch ansteckende Fieber des Islam, die Seuche, die er verbreitet und gegen die wir zum Glück immun sind, … wir, die Gesunden, … die sich trotzdem lieber vor jedem Kontakt mit den möglichen Überträgern schützen ……. ——
Dabei gibt es keine Gesunden. Nur eigebildete Immunität, nur vorgetäuschte und sich selbst betrügende Abwehrkräfte gibt es. Den Keim der Gewalttätigkeit, den Virus tödlicher Aggressivität tragen wir alle. Keine Blut- und keine Gehirnwäsche spült das aus dem Menschen.
Es kommt aber darauf an, wie wir damit umgehen: Wie wir also die Wirksamkeit des Glaubens einsetzen, der kein sofortiges Allheilmittel gegen die Krankheit namens Sünde ist und auch kein benebelndes Narkotikum, sondern eine lebenslange Therapie, durch die man einst genesen, einst heil werden kann. ——
Wenn diese beiden Voraussetzungen stimmen – dass niemand ohne den Trieb der Gewalt geboren wird und dass der Glaube dagegen kein operatives Heil-, sondern ein stetes Hilfs-mittel bietet –, dann müssen wir ein Drittes erwägen:
Kann es sein, dass eine im Glauben behandelte und begleitete Aggressivität zum biblisch verstandenen und gebotenen Menschsein dazu gehört? Dass wir also die Gemeinde Gottes nicht schon dort versagen sehen, wo sie streitet, sondern erst wenn sie gottlos, glaubenslos, unmenschlich streitet?
Kann es sein – weil das Kommen des Reiches Gottes nicht einfach dem Ablauf der Welt einprogrammiert ist, sondern der Welt all’ ihren Abläufen zum Trotz verheißen bleibt – … kann es sein, dass harte und echte Auseinandersetzungen, dass Ringen und Widerstand, dass klare Gegensätze und offene Kampfansagen nötig sind, wenn wir die Sache Gottes übernehmen und auf der Seite Seiner Freunde, nicht Seiner Feinde stehen wollen?
……. Das kann nicht nur sein. Es ist unvermeidlich so.
Denn sonst wäre die Weltgeschichte entweder das Würfelspiel Gottes oder Seine Maschine. Ist sie das beides aber nicht, sondern der Raum, in dem die Freiheit und Treue Gottes und der Menschen sich im Israelbund, im Taufbund finden und verbünden sollen, dann verstehen wir, weshalb Jesus selber sagt:
„Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen sei, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ (Matth1034) ——
Mit diesem schrillen Wort Jesu werden wir auf absehbare Zeit wohl nicht fertig werden können: Doch solange die Mörder weiter morden, die Metzger weiter metzeln, die Blutsauger weiter bluten lassen und der alt böse Feind weiter Hass und Krieg stiftet, so lange wird Jesus eben auch nicht fertig sein und friedlich, … der doch gekommen ist, um Partei zu ergreifen, um zu verteidigen und zu retten, um zu schützen und zu siegen und die Welt auf keinen Fall kampflos der Zerstörung, dem Bösen, dem Tod zu überlassen!
Und so sind wir also tatsächlich beim „Heiligen Krieg“ gelandet, bei dem Kampf, in dem es um Gott geht, an dem Er teilnimmt, den Er gebietet, der Seinetwegen geführt wird.
… Was wir im Blick auf Gideon ahnten und fürchteten, ist also wahr geworden. Wir sitzen nicht mehr behaglich in einer geistlichen Schweiz, wo wir wie der Biedermann im Faust straf- und ahnungslos faseln könnten:
„Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus,
Und segnet Fried und Friedenszeiten.Ҡ
Nein! Was der IS „hinten, weit in der Türkei“ anzettelt, das ist auch für uns „Heiliger Krieg“, bei dem es um das geht, was für uns heilig ist – und also nicht mehr um nervenschonende Neutralität und moralische Sauberkeit, wenn es doch um Gottes Sache geht, wenn es um Seine Teilnahme an jedem - wirklich jedem! - Menschenleben geht, um Seine bedingungslose Bündnistreue zu den Schwachen, um die blutige Uniform, die Gott trägt, bestehend aus der Menschenhaut, fünf Wunden und einer Dornenkrone. ——
Wer als Christ meint, die Opfer von Hiroshima und Nagasaki, die Opfer von Syrien und Somalia und alle ihre ehemaligen, ihre gegenwärtigen und ihre kommenden Leidensgenossen erlaubten uns eine teilnahmslose Zuschauerhaltung – der möge nach Hause gehen!
Jetzt sofort!
… Er muss sich nicht einmal schämen.
Auf dem Nachhauseweg vor ihm, auf dem Weg des Osterspaziergangs, auf dem die Bürger „Fried und Friedenszeiten segnen“, herrscht Stau. 22 000 sind schon am Tage Gideons heimmarschiert, weil sie ängstlich und verzagt waren … und gleichzeitig zu denen gehörten, die allen Fortschritt und Erfolg auf’s eigene Konto buchen.
Genau wie die meisten von uns auch nach dem Atombombenabwurf kreuzbieder die moralische Überlegenheit des Westens auf ihre Fahnen geheftet hatten; genau wie die völlig glaubenslosen Verächter des Islam eines Tages dessen Eintritt in die Relativität der Neuzeit als einen Sieg des Abendlandes feiern werden.
„Israel könnte sich rühmen wider mich und sagen: Meine Hand hat mich errettet….“
So ist es, weiß Gott! Israel ebenso wie die Kirche rühmen sich wider Gott und halten sich für die eigentlichen Strategen und Kriegsgewinnler, wann immer es etwas zum Strunzen gibt:
Wir haben die Aufklärung gemacht!
Wir haben Hitler besiegt!
Wir haben den Kommunismus gestürzt!
„Wir, wir, wir…“!
…. Selbst Rudolf Schäfer, der knarzdeutsche Bibelholzschnitzer konnte die Männer, die Gideon gegen Midian zur Seite stehen wollten, da nur noch als Karikatur zeigen‡: Die schnaufende Mischung aus Bismarck und Kaninchenzuchtvereinsvorsitzendem, dem Mutti vor dem Feldzug die Pickelhaube gewienert und das Taschentuch gestärkt hat, macht schon beim Biwak schlapp … so stramm er dem Anschein nach auch noch kniet. ——
Aber Gott ist ein Anti-Clausewitz!
Wer am Heiligen Krieg für die von Gott geliebte Menschheit, am Einsatz für die Bedrohten, an der Verteidigung der von den Menschen Verlassenen und Verfolgten teilnehmen will, dem werden weder Mut noch Muskeln am meisten nötig sein. Der wird auch nicht durch Exerzieren und Planen einsetzbar.
Der braucht vor allem anderen nur eines: Vertrauen.
Das lachhafte, unsoldatisch kindliche Vertrauen der Leute, die am Bach wie Hunde schlabberten. Dass die in Reih und Glied gelegen hätten, dass sie in strenger Formation schlürften und nach eingeübtem Drill dann zackig abgetreten wären, ist undenkbar. Wie die jungen Hunde werden sie hingewuselt sein und sich über das Wasser geworfen haben.
Selbstvergessen bloß mit der Wohltat des Durstlöschens befasst, haben diese Männer eine Ruhe weg, die im Kriege sträflich ist.
… Es sei denn …...., es sei denn …!
… „Wohlan alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! (Jes551) Die ihr mühselig und beladen seid: Ich will euch erquicken! (Matth1128) Ich will dem Durstigen geben von dem Brunnen des lebendigen Wassers umsonst. Wer überwindet, der wird es alles ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein! (Offenb216)“
Eins seltsames Kriegsvolk – die Schlürfer, die mitten im Unheil mit Freuden aus den Heilsbrunnen schöpfen (vgl.Jes123) und nicht bedenken, wie leicht sie von hinten zu überwältigen sind von den Pfeilen, die des Tages fliegen (vgl. Ps915). ———
Mit diesen dreihundert vertrauensseligen Grobmotorikern, die sich in die Wonne des labenden Augenblicks versenken, soll Gideon siegen?
Ihr Vertrauen soll er teilen?
– Er kann das nicht.
Ihn treibt bei Tag und Nacht weiter der Zweifel um: Sollte Gott wirklich für uns sein?
Oder nicht doch eher bei den straffen, militärisch organisierten und an kalkulierter Beute so interessierten Midianitern?
Sind die nicht der Chaostruppe meiner jungen Hunde, die nur spielen wollen, heillos überlegen? So schwant ihm.
Und er nimmt in zittriger Verzagtheit seinen Diener zur Verstärkung mit, als er das feindliche Lager der insektenhaft ausgebreiteten Gegner im Dunkeln erkunden soll.
Doch dort, wo sie nicht den Augenblick schlürfen, sondern ihre Zähne nachts schon mahlen, weil sie vom Getreide träumen, dass sie morgen raffen wollen, da hört Gideon den Traum, den Albtraum einer gierigen Heuschrecke. Fressen will sie, aber der Frass kehrt das Blatt um. Nicht die Heuschrecke wird das Korn stehlen, sondern das Brot den Räuber zermahlen! …
Ein Gerstenlaib wird sie überrollen!
Das ist das Ende und der Sieg der unglaublichen Heerfahrt des starken, schwachen Richters, Retters und Zweiflers Gideon: Nicht die Zehntausende, die lieber ihre Haut davontragen und nicht die dreihundert, die wie die anhänglichen Hunde durch Dick und Dünn gehen würden … und ebenso wenig Gideon selber wird die Auseinandersetzung auf Leben und Tod gewinnen.
Siegen wird ein Brot! Siegen wird das Lebensmittel schlechthin. Keine zerstörerische Gewalt des Tötens, sondern jene kraftspendende Grundlage des Daseins, um die wir glaubend bitten: „Gib uns das Tägliche heute“! ——
Die Angst vor dem Brot von oben.
Das Vertrauen auf das Himmelsbrot.
Die sind es, die einst die Entscheidung im Ringen zwischen den Mächten des Gegebenen und der Kraft des Künftigen bringen werden. Der Gott, Der Sein Volk Israel mit Manna speiste und Seine Gemeinde selber als Brot stärken kann, … Der allein genügt in dem mit letztem Ernst und letzter Zuversicht zu bestehenden Kampf gegen alle Feinde des Glaubens, der Freiheit und der Liebe! ——
Und darum ist der erste Sieg Gideons ein buchstäbliches Scherbengericht über die militärischen Mittel, mit denen zwar Unheil verhindert, aber Heil niemals geschaffen werden kann.
Aus dem für ihn verheißungsvollen Brottraum ersieht er ja, dass die Macht des HERRN so einzigartig ist, dass man sie nicht zu verstärken, nicht zu ergänzen und nicht nachzuahmen vermag: Wir können diesen HERRN, Dessen Sieg den Frieden bringen wird, nur bezeugen. Wir können Sein unverhofftes Erscheinen, wir können die Durchschlagekraft Seines Willens und das Licht Seiner Gegenwart nur zeichenhaft feiern.
Solche Zeichen aber, in denen die ureigene Herrlichkeit Gottes durchscheint und durchbricht, haben Gideon und seine dreihundert Männer im Schall ihrer Posaunen, im Zerschmettern der Tonkrüge, im urplötzlichen Aufflammen des verborgenen Lichtes vollzogen.
Ohne selbst eine Waffe der Vernichtung zu zücken, ohne Angriff und ohne Blutvergießen haben sie den Kriegen der Welt den Krieg erklärt und das Ein- und Anbrechen der Wirklichkeit und Wahrheit des lebendigen Gottes vergegenwärtigen dürfen. …….
Und wie das wirkt! Wie völlig verunsichert, wie erschüttert, wie entmachtet und bloßgestellt, wie verwirrt und verloren die Truppen der gewöhnlichen Macht- und Schlachtordnung sind!
… Ein Überfall mit Wehr und Waffen hätte ihre Gegenwehr geweckt.
Der helle Posaunenton des grundlos scheinenden Jubels dagegen und das bloße Zerbrechen irdener Gefäße haben sie überwältigt.
Denn diese Signale, dass die alte Welt zerfällt und das Licht einer neuen anbricht, … die schmeißen alles über den Haufen, verkehren alle Dinge, versetzen der Sicherheit der vermeintlichen Herrscher über die Tatsachen den Todesstoß.
Und so bedarf es nur des Brotes, des täglich zu erbittenden und dankbar zu genießenden Lebensgeschenkes vom Himmel, um den Heiligen Krieg, den Kampf, in dem es um Gott geht, bei dem Er teilnimmt, den Er gebietet, der Seinetwegen geführt wird, zu entscheiden!
Und wir … wir dürfen trotz aller Angst und Verworrenheit dabei sein, indem wir es hören lassen und in aller Finsternis unerschrocken Sein Licht und Seine Wahrheit bezeugen:
„Wir danken dir Herr, allmächtiger Gott, der du bist und der du warst, dass du hast an dich genommen deine große Macht und herrschest! Die Völker sind zornig geworden; da ist gekommen dein Zorn und die Zeit, zu richten die Toten und zu geben den Lohn deinen Knechten, den Propheten und den Heiligen und denen, die deinen Namen fürchten, den Kleinen und den Großen, und zu verderben, die die Erde verderbt haben.“ (Offenb1117f)
Amen.
* 70.Jahrestag des Atombombenabwurfs über Nagasaki.
** Der vorsokratische Philosoph und Forscher Heraklit von Ephesus (ca.520-460 v.Chr.) meinte mit dieser Formel, dass Gegensätze und Spannungen die Dynamik aller Entwicklungsprozesse im Kosmos vorantreiben.
† Faust I, „Vor dem Tor“ (Z.860-867)
‡ Die Illustration zur Textstelle war auf dem Gottesdienstblatt abgebildet. Auch hier ist – wie in der vergangenen Woche – die Satire kaum allein im Auge des Betrachters entstanden. Die Geschichten von Gideon scheinen immer wieder eine tiefgründige Komik zu bergen, indem sie typische Erwartungen an Heldensagen so regelmäßig unterlaufen.
02.08.2015 9.So.n.Trin. Stadtkirche und Jonakirche Richter 6,33-40 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 9.n.Trin. - 2.VIII.2015
Richter 6, 33-40
Liebe Gemeinde!
Endlich wird bei uns wieder gekämpft und gesiegt!
Und weil die Gemeinschaft, die ihre Kämpfer entsendet, insgesamt so lang als wehrlos und schwach, als unbeholfen und ungeeignet im handfesten Kräftemessen galt, darum werden wir uns als Deutsche nur dran freuen können, wie hitzig und begeistert jetzt angegriffen und wie demonstrativ durchgehalten und triumphiert wird: Gottes Volk und Mannschaft sind kampfeslustig angetreten und sie zeigen ihre Stärke vor der Welt.
… Und ich wäre da gerne wenigstens Zaungast: … bei der sog. europäischen „Makkabiade“, der jüdischen Olympiade, die zum ersten Mal seit dem Grauen des Holocaust in Berlin stattfindet, wo Bundespräsident Gauck sie am Dienstag in der Waldbühne eröffnet hat.
Da beweisen jüdische Wettkämpfer nun ihre Vitalität, ihre Lebendigkeit, ihren siegreichen Lebensmut mitten unter den Bauwerken, die einst den Massenspektakeln der Mörder dienen sollten. Herrlich ist das und schräg … und die einzige vergleichbare Veranstaltung, bei der Chile Europameister werden könnte?!
Oder noch schräger: Deutschland hat am Freitag, kurz vor Sabbatbeginn beim Fußball der Männer die Schweden 9:0 vom Platz gefegt, und dann – als es beinahe schon Zeit für den Gottesdienst war – hat die deutsche Mannschaft beim Hockey seelenruhig auch noch Israel 6:2 geschlagen! Gejubelt wurde natürlich auf Russisch.
Meldungen sind das mit Seltenheitswert. Meldungen, die bei aller glühenden Wettkampfstimmung im Verborgenen eine Friedensbotschaft enthalten, eine beinah biblische Verheißung von anderen Zeiten und einer neuen Welt.
……. Schließlich haben die jüdischen Kämpfer am Freitagabend auch noch den Weltrekord im Sabbatfeiern geholt: Die größte freitägliche Liturgie mit Gebet und Brotbrechen außerhalb einer Synagoge – von der Guinness-Redaktion anerkannte 2322 Teilnehmern aus aller Herren Länder – wurde vorgestern in Berlin begangen.
Unser gottloses Berlin: Welthauptstadt der Prinzessin Sabbat. Amen! ———
Doch jetzt aus dem Sabbatfrieden noch einmal zurück zu den Kämpfern, zur knisternden Stimmung ehe es hart auf hart losgeht, zur gespannten Konzentration vor dem Signal.
Bei der Makkabiade singen die jüdischen Athleten in den verschiedenen Kabinen womöglich ähnliche Lieder, und die, die beten können, sagen die selben Psalmen.
Auch das herrlich und schräg … Aber auf jeden Fall bringt’s uns zum Herzklopfen und Schweißausbrechen, die uns heute bewegen. Es bringt uns zu den sogenannten „Augenblicken oder Stunden der Wahrheit“, die wir ja meistens in der Ruhe vor dem Sturm, in der Sammlung vor der Entscheidung empfinden und tatsächlich nicht etwa dann, wenn die Dinge längst ihren unaufhaltsamen Lauf laufen. …
– Was also tun, wenn’s brenzlig und ernst wird?
– Was tun, wenn bald nichts mehr gesteuert, sondern bloß noch ertragen, erlebt, bestanden werden kann?
– Was tun… auf der Schwelle, am Vorabend, in den letzten freien Minuten, ehe die Geburt beginnt oder die Schmerzen uns überwältigen oder der Eifer des Gefechts, die Hitze der Prüfung, die Unumkehrbarkeit der Tat uns alle Freiheit aus der Hand nehmen und für immer an die Folgen des Geschehenen ketten?
Früher, in Zeiten der Schlachten verbrachten die Krieger die Stunden ehe ihr Schicksal sich entladen sollte auf gegensätzliche Weise: Entweder in Kapellen oder Bordellen, … seelisch tief hingegeben oder physisch ein letztes Mal zügellos.
Und bewusste Einkehr oder stumpfe Flucht sind bis heute die Grundmuster unserer Vorbereitung auf letzten Ernst und gewaltige Ereignisse. Die einen werden ganz und klar Geist, die andern berauschen sich an der Betäubung. Jeder von uns aber kennt das auch ganz ohne martialische Abenteuer und Anwandlungen: Vor den Wendepunkten des Daseins nimmt man entweder gedanklich schon alles vorweg oder man lässt alles blindlings auf sich zukommen.
Das eine wie das andere kann dabei wie Glauben wirken!
Denn am Ende ist es schließlich sogar gleich, ob ich meditierend bereit werde, einzuwilligen in jede denkbare Entwicklung, oder ob ich mich ungeprüft in’s Unvermeidliche schicke. Beides kann kindliches Vertrauen bedeuten, gefasstes und getrostes Christsein wie bei Mörike: „Herr! schicke, was du willt, / ein Liebes oder Leides; / ich bin vergnügt, dass beides / aus deinen Händen quillt.“
… Wobei natürlich nicht vergessen werden darf, dass die Buddhisten diese Haltung ebenso beherrschen und die alten Stoiker uns darin sowieso immer schon meisterhaft voraus waren.
Was uns endlich zu Gideon führt, dem Rüpel und Retter, dem wir vergangene Woche beim Glauben-Lernen begegneten. Dessen Zweifel an Gott führten ihn schließlich ja zu einer so kräftigen Begegnung mit dem tatsächlich Lebendigen, dass sie ihn unter Strom setzte:
Weil Gott wirklich ist, muss Schluss sein mit den unwirklichen, den starren, leblosen Götterbildern, die Menschen sich formen, um darin den Dosenöffner zum Glück oder die Brechstange des Erfolgs zu besitzen. Also wurde Gideon zum Hacker – wie nach ihm der Heilige Martin oder der Glaubensbote Bonifatius – und hieb auf dem eigenen Hof die bäuerlichen Kultbilder des Baal und der Aschera um. …….
Nach seiner Befreiung von den toten Bildern sollte er allerdings weitergehen: Er sollte Israel nicht nur von der Faszination der starren, platten Götzenschablonen erlösen, sondern auch die sehr wirklichen, sehr lebendigen und kräftigen Quälgeister abschütteln, die dem Volk die Seele und die Kehle abzuschnüren drohten.
Gideon sollte den Terror Midians beantworten, er sollte der Einschüchterung und Ausplünderung durch die Nomaden und der freiwilligen Anbiederung Israels an die sieghaften Heiden ein Ende setzen!
Kein größerer, kein gefährlicherer Auftrag war denkbar; aber es hätte auch nichts wichtiger sein können, wenn Israel nicht schon vor jeder Verfassung zu einem gescheiterten Staat und die Gemeinde der durch Gott Befreiten zum willigen Opfer brutaler Gehirnwäsche werden sollte.
Gideon steht mithin am Vorabend der Schlacht. Kapelle oder Bordell, fromme oder gleich-gültige Sorglosigkeit, letztes Gebet oder letzter Genuss … das müssten nun seine Wahlmöglichkeiten sein.
Stattdessen verblüfft er wieder, tut, was nun gar nicht vorbildlich wirkt – weder unter Juden, noch unter Heiden. Gideon fragt zurück – obwohl doch ausdrücklich festgehalten wurde, dass der Geist Gottes ihn bereits erfüllt hatte, … oder wie es wörtlich sogar heißt: Gottes Geist hatte sich mit Gideon „umhüllt“. Sie sind eine äußerlich-innerliche Einheit geworden. Gideons Muskeln und Sehnen sind jetzt als der Stoff zu sehen, mit dem der Heilige Geist sich umkleidet; Gott hat Gideon also buchstäblich angezogen, sich in ihm eingenistet.
Sicherer kann ein Mensch also eigentlich gar nicht sein, als durch dieses abermalige Vorbild des Wunders, das später Maria widerfahren würde: Wie das Wort aus ihr Fleisch annehmen sollte, so hat Gott es bei Gideon vorgebildet, als dieser Mensch den Geist aufnehmen durfte.
… Aber er wäre eben nicht Gideon, wenn er sich nahtlos fügte.
Obwohl die Zeichenforderung geradezu aus der Welt Baals, des Gottes alles Greifbaren zu kommen scheint, unterdrückt Gideon sie nicht.
Zu ungewohnt ist es für ihn, dass Gott wirklich sein …, zu fraglich ist es ihm, dass Gott mit ihm sein solle. … Zu fremd fühlt Gideon sich nun erst recht in seiner eigenen Haut, seit Gott selbst darin stecken und in seinem Leben handeln soll.
„Gott mit uns“: Das ist eben keine Selbstverständlichkeit! Und Gegenwart des Gottesgeistes im sterblichen Menschen, ist alles andere als eine naheliegende Nachbarschaft! Wer sich an die Einwohnung Gottes daher gemütlich glaubt gewöhnen zu können, der ist vermutlich längst schon wieder verlassen und leer. …….
Gideon voll der Gnaden jedenfalls nimmt das Wunder nicht ohne Wundern an.
Er geht nicht einfach davon aus, dass er für Gott passen, dass er für Gott maßgeschneidert sein könnte, sondern er kommt schwerfällig und furchtsam mehrfach auf diese Frage zurück.
„Bist du wirklich mit mir?“ fragt er zurück.
Und da fällt ihm der abgezogene Balg, das schlaffe Schaffell, auf dem er vielleicht gewöhnlich sein Nickerchen auf der Tenne zu machen pflegte, ins Auge:
So eine Hülle soll auch ich sein? Wie in eine solche Haut, so sollte Gott in mich schlüpfen können und mich erfüllen?
Das muss er bezweifeln – und jeder vernünftige Mensch unter uns muss das auch bezweifeln … wohlgemerkt im Blick auf sich selber! Gott und ich: Geht das, … geht mir das ein? Ich und Gott: Steht mir das … steht mir das zu?
Gideon weigert sich schlicht anzunehmen, dass er gottvoll sein könne, dass Gott gezielt ihn meinen, wollen und mit Beschlag belegen könne.
Und folgerichtig ersinnt er das Tauwunder: Wenn das Wirklichkeit sein sollte – dass Gott in mir aufschlägt, nicht durch Zufall, sondern zielvoll! – dann muss ich mich überzeugen dürfen, wie klein Gott werden, wie fein er handeln kann.
– Den reichen Tau der kalten Nächte des Gebirges nur in der Wolle zu finden: Das wäre ein Zeichen, dass Gott nicht mit der groben Gießkanne streut, sondern mit Maß und Weisheit steuert.
– Und siehe da! ——
… Doch immer noch weigert sich Gideon, zu schnell zu schließen: Wenn Gott den Pelz waschen kann, dann bleib auch ich nicht trocken, wenn Gott die Wolle einweicht, erweicht’s auch mich.
– Und so kehrt er die Zeichenforderung um: Kannst Du ebenso bewusst aussparen, wie Du treffen kannst?
Noch einmal aber: Mit beiden Fragen zweifelt Gideon nicht an Gott als solchem, sondern an sich selbst als Gottes wirklichem, nicht bloß zufälligem Ziel. Nicht Glaubens-, sondern Selbstzweifel also lähmen ihn. … Kann ich gemeint sein? Trifft wirklich auf mich zu, was ich von Gott da höre? Oder geht’s nicht doch an mir vorbei? ——
Noch schlichter und noch verbotener – wenn wir an die uns irgendwie ja imponierende Haltung der vertrauenden Sorglosigkeit denken, die sich dem Schicksal einfach überlässt – … noch verbotener kann man Gideons Bitte um das zweifache Tauwunder auch so erklären: Nicht um Bestätigung Gottes geht es ihm, sondern darum, dass Gott ihn bestätigt, ihm zeigt, wie er, Gideon nicht einfach von ungefähr, sondern mit bewusstem Bedacht und Willen von Gott getroffen und gebraucht wird. —
Ist das nicht schrecklich, … diese Sucht nach Selbstbestätigung?
Und ist es nicht tröstlich?
Tröstlich für uns, die wir ja alle vom Tauwunder der Taufe herkommen, die wir alle gezielt vom Himmel her empfangen haben, was dort für uns gespeichert war und unser Leben erquicklich machen soll?
Ist es nicht tröstlich, dass schon unter den ersten und ältesten der Helden Israels einer so dickfellig und widerborstig war, dass er nicht anzunehmen wagte, er könne wirklich erwählt und von Gott durchdrungen sein?
Denn es ist ja wahrhaftig schwer den lebendigen Gott an uns heran zu lassen! Es fällt viel leichter, Ihn immer wieder abzuschütteln wie der Hund, wenn er aus dem Wasser kommt, als unser eigenes Leben wirklich vom Tauwunder, von der Ausgießung des Heiligen Geistes her zu fassen und zu leben! … Wie oft fühlen, wie oft sagen und klagen wir: Gott ist bei mir nicht angekommen. Ich merke nichts von Ihm, es gibt keine Spuren, keine Anhaltspunkte Seines viel größeren, viel höheren, viel abstrakteren Seins in meinem öden Dasein.
Das ist die geistliche Trockenheit, von der die großen Mystiker und Mystikerinnen als von der größten Not des geistlichen Lebens sprechen: Kein Tröpfchen Gottes, kein Anzeichen dafür, dass Seine Wirklichkeit hinunter bis zu mir wirksam wird.
„O Gott, ein’ Tau vom Himmel gieß“, wie Friedrich von Spee seufzt … nicht nur zur Weihnachtszeit. „Im Tau herab, o Heiland fließ…“ ——
Und doch wäre es zu früh, jetzt mit der tragischen Anfechtung zu schließen, für die Gideons hartnäckiges Bitten um stärkende Zeichen für schwache Menschen so ein anschauliches Bild bietet.
Denn wenn wir uns die Bilder Gideons wirklich anschauen*, dann geben sie jedes für sich etwas Urkomisches preis.
Mehr noch als alle Worte reizen schon die bildlichen Darstellungen aus den mittelalterlichen Armenbibeln zum Lachen, wenn sie einen Ritter in voller Montur zeigen, der vor einem Knäuel stinknasser Wolle kniet. Was für eine Farce, was für eine derbe Heldenparodie!
Oder der herrliche Stich, auf dem schon ein ganzes antikes Heer kampfbereit im Hintergrund versammelt ist und Gideon im Vordergrund als heroischer Recke erscheint, den blanken Schild, die todbringende Lanze neben sich.
Doch was tut dieser Feldherr am Vorabend der Schlacht? Wenn wir das Bild nur sprechen lassen, wird’s zum Witz: Er wäscht wohl Windeln!†
Oder die fromme amerikanische Bibelzeichnung, mit dem olympischen Athleten … wie einer der Teilnehmer der Makkabiade, im Gladiatorenkostüm. Doch statt sich durch gebrüllte Schlachtrufe mit Selbstvertrauen aufzupumpen wie es im amerikanischen Sport üblich ist, gilt seine tumbe Andacht unverkennbar einer Kuscheldecke! …….
Der Geharnischte vor dem Kadaver, der Heroische beim Wäschewringen, der Muskelmann mit dem Schnuffeltuch: Was ist es, was diese seltsamen Bilder aufdecken?
– Es ist die klare, unzweideutige Botschaft: Wenn Du Mensch wirklich meinst, Zeichen zu brauchen dafür, dass Du der von Gott Gemeinte bist …, dann nimmst Du Dich schon sehr ernst. Ernster noch, als es am Ende ist. Dann fehlen Dir Glaube und Humor.
Darum suche nicht zu lange und zu feierlich, suche nicht zu tiefsinnig, zu groß oder zu fern! Nimm das Kleine wahr, das Alltägliche, das Lächerliche: In allen Nebensächlichkeiten, in allem bloßen Kram, im Kissen Deines Mittagsschlafes und im Lappen, der am Boden liegt, würdest Du finden, was Dich umtreibt: Zeichen von Gottes geheimer Kraft und reinem Segen.
Wende sie nur hin und her! Klar wie Wasser wirst Du dann sehen:
Gott, der wirklich ist, meint wirklich Dich! … Hab’ keine Angst!
Amen.
* Auf dem Liedblatt des Gottesdienstes waren ein Holzschnitt (15.Jhdt.) aus einer Biblia pauperum, ein Stich (Ende 16./Anfang 17.Jhdt) und eine Zeichnung aus erbaulicher amerikanischer Massenproduktion abgebildet, die jeweils Gideon mit dem Vlies zeigten.
† Dass dies keine Überinterpretation ist, ergibt sich aus den ikonographischen Konventionen der Zeit. Der in Renaissance-Manier antikisierend dargestellte Krieger steht in eklatantem Widerspruch zur Geste des Wäschewringens, in der er gezeigt wird. Diese Tätigkeit ist als Genre-Szene ausschließlich weiblich besetzt. Einzige Ausnahme seit dem Spätmittelalter: Der Windeln waschende Joseph auf volkstümlichen Geburtsdarstellungen, in dem sich ein gewisses Maß an Spott über den so gar nicht maskulinen Alten (der ja auch so überflüssig ist am Kindbett der Jungfrau) verdichtet. Auf diesem Weg wird Gideon durch das Attribut der nassen Wäsche zusätzlich auch zu einem Vorbild Josephs, des sanftmütigen Nährvaters Christi. Daneben und viel stärker gilt das Tauwunder auf Gideons Vlies als Durchbrechung der gewöhnlichen Naturgesetze in der allegorischen Typologie mittelalterlicher Kunst und Liturgie immer schon als Verweis auf das Mysterium der Jungfrauengeburt.
8.n.Trin. 26.07.2015 Richter 6,11-32 Stadt- und Jonakirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 8.n.Trin. - 26.VII.2015
Richter 6,11-32
Liebe Gemeinde!
Das zweithäufigste Gebet der weltweiten Christenheit beginnt gut römisch mit „Hallo“ … „Ave!“. „Grüß dich, Maria“, nickt der Verkündigungsengel der Jungfrau zu – er wird „Schalom!“ gesagt haben – und dann perlen die Worte lateinisch-liturgisch so schön paarweise, … die Worte, die alles verändern werden, … der Anfang unserer Erlösung:
„Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum ...“ ——
…. Aber wie so oft ist das Ave Maria heute eigentlich gar nicht unser Anliegen.
Sondern sein biblisches Vorbild beschäftigt uns. Jener Engelsgruß in der Sommerzeit, mit dem eine der großen Rettergestalten Israels aus der Alltäglichkeit in eine Hauptrolle der Heilsgeschichte berufen wird: „Ave Gideon“ also.
Dieser Gideon ist ein mutiger und missmutiger Bauernbursche aus dem buchstäblich hinterletzten Stamm Israels, aus dem Stamm Manasse, dessen Gebiet zur Hälfte schon außerhalb des Heiligen Landes, jenseits des Jordan lag.
… Aber auch in Israels Mecklenburg – wo ja nach Bismarck bekanntlich das Ende der Welt 50 Jahre später eintreffen wird – auch in Israels Zonenrandgebieten spürt man die neue Zeit und ihre Geschwindigkeit: Die Nomaden Midians fallen rasend über das sesshaft gewordene Israel her und plündern jeden Sommer seine Ernten radikal, weshalb die Bibel sie tatsächlich mit dem Wort aus der globalkapitalistischen Kriminalität belegt: Sie sind „Heuschrecken“ (vgl.Richter65), die den kleinen Mann vernichten.
Und so gibt es selbst in Ophra, der verschlafenen Heimat Gideons keine Sicherheit mehr.
Selbst hier muss der Ackerbauer statt auf dem freien Feld, wo der Wind ihm helfen könnte, sein Getreide in der halbunterirdischen Kelter dreschen, damit die gierigen Midianiter es ihm nicht gleich abjagen.
Entsprechend bitter sind seine Gefühle: Ohnmacht und Wut … und etwas, was wir vielleicht Politikverdrossenheit nennen würden, wenn wir nicht hinter jeder Politikverdrossenheit eine noch tiefere Not ahnten: Diejenigen, die keine Erwartungen mehr haben, haben meistens nämlich keinen Gott mehr, … keinen, auf den sie hoffen. Allenfalls haben sie noch einen Götzen. Der Götze unterscheidet sich von Gott ja genau darin: Wo der wahre Gott erhaben ist und ein Geheimnis, dem wir vertrauen müssen, ist der Götze ganz praktisch und klein und hat einen Zweck wie jeder andere Gebrauchsgegenstand auch.
Auf Gottes unsichtbares großes Heil kann man nur hoffen, aber das Versprechen des schnellen Erfolgs kann man vergötzen, weil es sichtbar werden kann.
Darum haben die unterdrückten und hungernden Opfer der midianitischen Heuschrecken den ungesehenen Gott der Väter aufgegeben und sich dem Baal zugewandt, dessen Funktion ganz einfach ist: Baal soll fett und fruchtbar machen, er ist der Götze des Bettes und des Tisches, er verspricht angeblich Kraft an Leib und Lenden … Dinge, die man schließlich spürt und sieht! ——
Und nun beginnt die Geschichte Gideons, indem zu einem verbissenen, wütend dreschenden jungen Mann aus dieser Schicht, die nur noch Baal – den Trost von Sex und Bodybuilding – hat, ein Engel tritt und den Gruß der Jungfrauengeburt spricht.
… Tatsächlich! Es sind genau die gleichen Worte, mit denen Jahrhunderte später die reine Magd Maria gegrüßt wird, die hier dem verschwitzten und grimmigen Gideon gelten: „Dominus tecum! Der HERR ist mit dir, du streitbarer Held!“ …….
Was für ein Kontrast in unseren Ohren: Gott nicht nur mit der Milden, sondern genauso mit dem Wilden! Gott nicht nur voller Gnaden mit dem schnell gehorsamen, frommen jungen Mädchen, … sondern Gott mit dem bitterbösen, bissigen Halbstarken, der tatsächlich als Erstes seine ganze Hoffnungslosigkeit, seinen Verdruss, seinen abgebrühten, schon eiskalt gewordenen Zweifel dahinrotzt: „Ave Gideon. Dominus tecum? Von wegen! …Ist der HERR mit uns, warum ist uns das alles widerfahren? Und wo sind alle seine Wunder, die uns unsere Väter erzählten…?!“
… Das ist vor dreitausend und mehr Jahren der ewigjunge Ton des desperaten Rebellen, der Ton des kaputten Kinderglaubens, des enttäuschten Frühreifen, das ist der Ton des zum Atheismus verdammten Verlierers der geschichtlichen Entwicklung:
Gott mit mir? – Niemals!
Doch was antwortet der HERR (denn vom Engel ist plötzlich gar nicht mehr die Rede) dem jugendlichen, zügellosen Wutmenschen, der Gott für ein Märchen der Alten, für eine verblasste Gestalt der Vergangenheit hält?
Was antwortet Er ihm? – „Geh hin in dieser deiner Kraft!“———
Wenn es eines Gottesbeweises bedürfte, eines Beweises, dass Er lebendig und herrlich und großzügiger ist und weiser und wahrer, als wir Menschen, dann wäre er für mich in diesem unglaublichen Dreiklang des: „Ave Gideon / – Wo ist denn der HERR? / – Geh hin in dieser Kraft!“ zu finden!“
Vielleicht erliegt Gott nicht ganz so der schieren Wucht des Zweifels, wie die expressionistische Dichterin und Angehörige einer verlorenen Generation Hedwig Caspari ihn in ihrem Gideon-Gedicht schildert*. … Es ist wohl nicht so, dass Gott die gewalttätige Leidenschaft, die Gideon auch in der Leugnung verkörpert, braucht.
Aber es ist eben doch so, dass Gott zu Seinem Bündnispartner wahre Menschen, wahre Menschheit sucht: Nicht zurechtgemachte, sondern ungehobelte, echte Menschlichkeit, die ihre Zweifel und ihren Zorn nicht verbirgt, weil Er ja sowieso der Allwissende ist und der ganz Wahre.
Darum beruft Er Gideon zum Richter, zum Kämpfer und Retter. Einen Menschen, der nicht auf der Hut ist, als könne man Gott täuschen, sondern dessen Herz und Wort, dessen Taten und Leben in Licht und Schatten, in Recht und Unrecht übereinstimmen. Diesen Gideon, für den Gott nicht mehr wahr zu sein schien, nimmt und findet Gott Seinerseits völlig wahr.
Und weil er von Gott als wirklicher Mensch gefunden wird, kann er den wirklichen Gott finden.
Für uns bedeutet das: Erst wenn wir ehrlich sind, erst wenn wir wirklich sind, können wir also glauben. Diplomatie, Vorsicht und Betrug sind wirklich kein Weg zu lebendiger Gottesbegegnung … und darum auch nicht abgewogene Dogmatik, leere Gewohnheit oder Heuchelei.
Nein. Gideons starker Zweifel und seine darin ebenso kraftvolle Wahrhaftigkeit bescheren ihm das direkte, das unleugbare, das im Zeichen und Ereignis des Opfers bis in Fleisch und Feuer und Stein sich bewahrheitende Gegenüber Gottes.
Und als es sich in dieser Stofflichkeit, dieser täuschungslosen Tatsächlichkeit auch für Gideon zeigt, dass Gott echt ist, dass Er die Kraft und die Wärme, die Wirklichkeit des Lebens hat, … da überwältigt es ihn gleich zweimal: Gott wirklich sehen und erleben und vor so viel Wirklichkeit als Mensch nicht ganz vergehen … ist das möglich?
Es ist möglich, denn – und das ist die zweite Überwältigung Gideons – denn der HERR ist Friede!
Dieser Satz, diese Erfahrung, die Gideon leibhaftig gemacht hat, als er Gott spontan so unverblümt leugnete und gerade dadurch Dessen langmütige Wirklichkeit so unmittelbar erfuhr, … das ist die Grundlage aller Vorhaben und Taten Gideons, die nun folgen.
Der HERR ist der Friede: Er ist da und Er will auch mein Dasein.
Das ist die Voraussetzung dessen, was dann folgt.—
Und spätestens jetzt wird es für uns noch einmal schwierig … so schwierig wie es ist, wenn es um lebendige Menschen, so schwierig wie es ist, wenn es um’s Leben geht.
Denn aus der wunderbaren, grundlegenden Erfahrung, dass Gott der Friede ist, weil Er uns sein lässt – „Ave Gideon! Ave Maria! Seid gegrüßt, ihr wahren Menschen!“ – aus dieser Erfahrung der Wirklichkeit gewährenden Güte des HERRN würden wir natürlich instinktiv und gern lauter gute Grundsätze und Geschichten folgern: Dann müssten die wirklichen Menschen Gottes doch auch alle friedvoll und friedlich, gewaltfrei und aggressionslos werden, wenn sie Ihm begegnet, wenn sie von Ihm begleitet und erfüllt sind. Dann müsste eine echte Gottesbindung, dann müsste das rechte Leben mit Gott also doch daran erkennbar werden, dass es keine Konflikte, jedenfalls keine Beteiligung an ihnen mehr bringt.
.. Wenn Gott der Friede ist, dann erweist sich aller Unfriede, aller Kampf und Streit von vornherein ja als Gegensatz, als Widerstand gegen das wahre Wesen Gottes.
Und dann könnten wir die Frage dieses Sommers, nein die Frage dieses Jahres und unserer weltpolitischen Gegenwart seit Längerem also getrost beantworten:
Bezeugt das Schwert oder die Schwäche Gott angemessener … kann unser biblischer Glaube demnach irgendwie zu Recht oder unter gar keinen Umständen in Auseinandersetzungen, ja in Kampfsituationen führen?
Nein, so möchten wir vielleicht jetzt antworten, kann er nicht. Nein. Gott ist Friede und also ist Unfriede in Seinem Namen unmöglich. Gott als der Friede ist alternativlos.
Doch wer so antwortet, sollte auch wissen, dass Alternativlosigkeit das Kennzeichen des Todes ist.
Nur tote Formeln liegen und legen so fest, dass sie keine Bewegung freisetzen, keinen Spielraum übrig lassen; … die lebendige Wahrheit dagegen übersteht auch den eigenen Widerspruch.
Dass der HERR der Friede ist, der unser Dasein ermöglicht und will, das ist darum auch eine Wahrheit, für die man streiten kann und muss!
Der Friede Gottes wird ja nicht durch unsere Apathie bezeugt, sondern durch Leidenschaft.
Und darum führt die Begegnung mit dem lebendigen Friedensgott seines Volkes Israel Gideon auch in den Streit: In den ganz furchtbar unrühmlichen und gerade darin so lebensecht menschlichen Streit, den er halb tollkühn und halb eingeschüchtert angeht, als er im eigenen Vaterhaus dem billigen Kult Baals und der Fruchtbarkeitsgöttin Aschera den Kampf ansagt. Er beseitigt ihre plumpen Bilder im Auftrag dessen, der der Friede ist.
Diese unhinterfragten Götzen, von denen verzweifelte Menschen so viel wollen, vernichtet er im Auftrag des Gottes, Der Seinerseits nur den Zweifler so will.
Dabei muss man sehen, was Gideon da tut: Er nimmt seiner Sippe das, worauf sie gezielt hofften, um den Gott, mit Dem sie keinesfalls mehr rechneten, Sein unverhofftes Heil wirken zu lassen. Er zerstört ihnen viele, viele Hoffnungen, um eine einzige zu wecken. Er demontiert die viehischen Vervielfältigungskräfte, um das Eine zu stärken, das nottut, auch wo niemand es mehr erwartet.
Indem er den Segen des Baal und die Lust der Aschera pulverisiert und Dem einen Altar errichtet, an Dem niemand mehr hängt, an Den niemand mehr glaubt, vollzieht er dabei auf radikale Weise das, was biblischer Glaube immer war und ist und bleibt:
Unser Glaube ist und bleibt der Kampf gegen das, was sich haben und halten lässt, zugunsten dessen, worauf man hofft.
Denn Glaube ist eine gewisse Zuversicht des, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das nicht sieht (Hebr111)! Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man des hoffen, was man sieht (Rö824)?
Das ist die in nächtlicher Dunkelheit und Feigheit besiegelte Botschaft von Gideons Gewaltstreich: Der Gott, Den er bisher nie sah und Der ihm auch nur einen Augenblick des wirklichen Friedens gewährte, … Der ist wahr. Der Kult des sinnlich immer wieder Greifbaren dagegen – der Baalskult des Geldes und der Geilheit, die doch so packend und so zu packen sind – das ist trotz allem Täuschung, trotz aller Fülle ist das Leere! ——
Ob Gideons Vater das verstanden hat, als er ihn am nächsten Morgen verteidigte?
Ob seine Erklärung, falls Baal ein wirklicher Gott sei, müsse er sich nun selber beweisen, tatsächlich schon bedeuten, dass er begriffen hat, was Leben wirklich ist und wer wirklich lebt?
Oder ob er nicht einfach die alte heidnische Sprache der Tatsachen meint, die Baal nun endlich sprechen müsste, wenn er so herausgefordert wird? – Man weiß es nicht.
Baal ist ja mächtig, bis heute. Die Gewalt des Greifbaren ist zwingend. Und auch Gideon – dessen Name „der Fäller“ heißt – entkommt dem Baal nicht ohne Weiteres: Schließlich hängt der Name dessen, den er entzaubern und überwinden, den er endgültig fällen wollte, ihm lebenslang wie eine Klette an, wenn er forthin der Baalsstreiter – „Jerubbaal“ – genannt wird. ——
Doch das Wesentliche ist, dass Gott mit Gideon, diesem zornigen jungen Mann, der Hunger und Verdruss wie nur irgendein Opfer der Weltgeschichte erlebte, einen Richter berufen hat, der den Streit begann: Den Streit gegen die alternativlose Übermacht dessen, was wir Tatsachen und Fakten nennen. Nicht Fakten als solche machen heil und geben Recht, nicht Tatsachen sind die Wahrheit an sich. Nicht Baal soll der Herr sein:
Denn wie schnell versklaven die greifbaren, naheliegenden, verlockenden, erwartbaren Dinge uns! Wie schnell macht ihre Macht aus uns willenlos Begehrenden was immer sie will. Wie gefügig werden wir alle der Gewalt des Gegebenen!
Wie nötig ist der Streit des Gideon, der an Gott nicht glauben konnte … bis Gott ihm die Kraft des Zweifels offenbarte … doch nicht am Unsichtbaren, sondern an Baal!
Auch wir müssen darum kämpfen!
Kämpfen dagegen, dass wir an Gott, aber nicht am Sichtbaren und seiner Vorhersehbarkeit zweifeln.
Wir müssen kämpfen, denn alles was wir hier in unserem Waffenstillstand mit der Welt erleben und für sicher halten, ist doch in Wahrheit unsicher, … sogar die Lähmung, mit der es uns bezwingen will.
… Wir müssen also streiten, weil nur der HERR der Friede ist – und nichts sonst.
Amen.
* Die jüdische Dichterin Hedwig Caspari (1882-1922) hat in ihrem durch alttestamentliche Stoffe inspirierten Gedichtband „Elohim“ (1919) ein Gedicht „Jerubbaal“ veröffentlicht, das auf dem Gottesdienstblatt abgedruckt war.
7.S.n.Tr., 19.07.2015, Lk. 13, 29, Gr.-Recke-Kirche + Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
„Aus Ost und West, aus Nord und Süd werden Menschen kommen und an Gottes Tisch Platz nehmen." Lk.13,29
Liebe Gemeinde,
jedes Jahr freue ich mich auf den 4.Advent. Den Wochenspruch dieses Tages, den kann ich immer aus ganzem Herzen mitsprechen: „Freuet euch in dem Herrn alle Wege, und abermals sage ich: Freuet euch! Der Herr ist nahe!" In Erwartung des Weihnachtsfestes wird dieses Wort zur Ouvertüre großer Freude mit seiner doppelten Aufforderung: „Freuet euch!" Einmal ist offenbar zu wenig.
So erlebten es unsere muslimischen Geschwister, als sich in der letzten Woche das Ende des Fastenmonats nahte - in diesem Jahr eine besondere Herausforderung, da die Tage sehr lang und oft heiß und die Nächte als Zeit der Erholung recht kurz waren. In gespannter Vorfreude fieberten sie dem Tag des großen Fastenbrechens am letzten Freitag entgegen. Für sie ist dieses Fest - türkisch „Bayram" - nach dem Opferfest das Bedeutendste im islamischen Festkreis. In der Nacht auf den 17.Juli, dem 27.Tag des Ramadan, erinnerten sie sich daran, dass Mohammed in dieser Nacht im Jahr 610 die erste Koranbotschaft empfangen hat. Diese Nacht ist für alle Muslime die geheiligte Nacht, in der die Mondsichel des folgenden Monats sichtbar wird. In islamischer Überlieferung steigen in dieser Nacht die Engel vom Himmel auf die Erde hinab. Darum ist die Nacht voller Heil, Frieden und Segen. Wer denkt von uns dabei nicht an unsere Heilige Nacht, daran, dass die Engel in der Weihnachtsgeschichte des Lukas zu den Hirten auf die Felder Bethlehems kamen mit ihrem Lobpreis: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens"?
Das Fasten wie das große Fest sind für die Muslime geheiligte Zeiten - wer weiß heute noch, dass die Adventszeit auch einmal Fastenzeit auf Weihnachten hin war? Erwartung und Erfüllung, Vorfreude und festliche Freude rhythmisieren die Zeit und prägen das Jahr. Erst Verzicht und die Konzentration mit allen Sinnen auf das einfache Leben und dann - die Fülle des Lebens. Es ist wie eine Versöhnung gegensätzlicher Erfahrungen, wie wir alle das kennen. Zum Leben, wie wir es leben, gehören die Gegensätze, die von Tag und Nacht, von Licht und Finsternis, von Freude und Trauer, von Hoch- und Tiefzeiten. Aber dann, wenn sie bewusst erlebt und begangen werden, verlieren sie ihre Schrecken. Sie werden zu einer Einladung, sich mit den Gegensätzen immer wieder vertraut zu machen und zu versöhnen. Wie der Apostel Paulus es erfahren hatte: „Ich habe gelernt, mich in jede Lage zu fügen; ich kann leben wie ein Bettler und auch wie ein König; mit allem bin ich vertraut. Ich kenne Sattsein und Hungern, ich kenne Mangel und Überfluss. Allem bin ich gewachsen - dank meiner Bindung an Gott." (Phil.4,12-13)
In den letzten Tagen des Ramadan bereiten sich die Gläubigen intensiv auf das Fest vor. Es werden besondere Speisen eingekauft und die Mahlzeiten vorbereitet. Vor allem aber werden viele Süßigkeiten besorgt oder selbst zubereitet. Deshalb nennen sie das Fastenbrechen auch das Zuckerfest. Das Haus wird vollkommen aufgeräumt und geputzt. Alles soll schön und rein sein. Das steigert die Erwartung. Äußerliche und innere Vorbereitung gehören zusammen.
In der Frühe ist es eine willkommene Pflicht, eine Ganzkörperwaschung vorzunehmen. Eine Stunde vor Sonnenaufgang gehen die Gläubigen in die Moschee zum Festgebet. Sie berufen sich dafür auf Mohammed, der das selbst so getan hat. Noch vor dem Fastengebet wird die Fastenbrechen-Zakat entrichtet. Zakat ist eine freiwillige Almosen- und Armensteuer. Mir fällt dabei unsere Aktion Brot für die Welt ein; viele Christen überweisen in der Adventszeit Spenden oder geben deutlich mehr Kollekten am Heiligen Abend, wenn überall in den evangelischen Gottesdiensten für Brot für die Welt gesammelt wird. Ihre Motivation ist der der Muslime durchaus verwandt.
Muslime beherzigen, dass der ganze Monat Ramadan von der Güte und Barmherzigkeit Gottes lebt. Gottes Barmherzigkeit ist eine Quelle, die nie versiegt. Und die Gläubigen schöpfen aus dieser Quelle. Und weil sie sich reichlich beschenkt fühlen, geben sie mit ihrer Gabe die Barmherzigkeit Gottes an Bedürftige weiter. Muslime können wie wir sagen: „Was hast du, Mensch, das du nicht empfangen hast?" und „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb."
Nach der Rückkehr aus der Moschee versammeln sich die Familien zu einem ausgiebigen Frühstück - das Osterfrühstück lässt grüßen! Die Kinder fiebern diesem Frühstück entgegen; denn sie werden dabei beschenkt - wie bei uns am Heiligen Abend. Die Großen erhalten Geld, die Kleinen Süßigkeiten, und Spielsachen mittlerweile auch. In der Bescherung haben sich die Religionen sehr angeglichen.
Der erste Tag des dreitägigen Festes - auch da ist die Parallele zu Weihnachten und zum Osterfest unübersehbar - ist der Familientag. Die Familie hat für gläubige Muslime eine große Bedeutung. Viele gehen gemeinsam auf Friedhöfe, um der Verstorbenen Angehörigen zu gedenken. Auch dort lesen und hören sie Koranverse und beten für ihre Verstorbenen. An den beiden folgenden Tagen - das war gestern und das ist der heutige Tag - werden Verwandte und Bekannte besucht. Dabei werden zum gemeinsamen Essen vor allem süße Speisen gereicht. Die Sinne sollen es wieder spüren, wie süß und schön das Leben und die Freude sind.
Das große Fastenbrechen, es ist wie unsere kirchlichen und persönlichen Feste, wie Taufen, Trauungen, Jubiläen, eine hochwillkommene Gelegenheit, das Leben und die Welt als gut und schön zu erfahren. Am Zuckerfest leuchten wie in unseren Festen Freude, Frieden und tiefe Verbundenheit auf. Die Muslime erinnern sich daran, dass der Wert eines Menschen und seine Würde nicht durch Arbeit, Fleiß und Karriere bestimmt werden, aber auch nicht durch Erfolg und Geld. Muslime zehren dann wie wir Christen von der Güte Gottes, der uns die Fülle des Lebens schenkt, und genießen sie in vollen Zügen. In dieser Bindung an Gott können wir gemeinsam, Muslime und Christen, begreifen, dass die Liebe uns miteinander und mit allen Menschen verbindet - trotz Hass und Gewalt, Unrecht und Kriegen. Und dass Frieden und Versöhnung von unten her zu wachsen anfangen - zwischen Mensch und Mensch, zwischen Muslim und Christ und Atheist. In unseren Festen nehmen wir feiernd und spielend vorweg, was einmal sein wird: „Aus Ost und West, aus Nord und Süd werden Menschen kommen und an Gottes Tisch Platz nehmen."
Bei dem Dichterpfarrer Kurt Marti fand ich den Hinweis auf die Geschichte von einem Fest, die der kretische Dichter Nikos Katzantzakis geschrieben hat: Zwei Männer sitzen beieinander. Sie entstammen zwei verschiedenen Völkern, der eine ist Moslem, der andere Christ. Die beiden hocken in der Kneipe und schwatzen miteinander, trinken ein Gläschen Raki. Und plötzlich sagt der eine, der Aga von Likovrisi, ein Türke, zu seinem griechischen Freund, dem Kapitän Fourtounas: „Wenn unser Mohammed und euer Jesus beisammensäßen, Raki tränken und anstießen wie du und ich, würden sie richtige, gute Freunde werden und sich nicht gegenseitig die Augen auskratzen ..."
Bei einem freundschaftlichen Beisammensein wie bei großen Festen, wenn man gemeinsam isst, trinkt, tanzt, lacht und spielt, kann plötzlich die Vision vom Frieden aufleuchten. Die Vision festlicher Versöhnung zwischen verfeindeten Völkern und Religionen. Kurt Marti sagt dazu: Das ist der tiefere Sinn von Festen: die Hoffnung zu stärken auf eine menschlichere Welt. „Herzliche Festlichkeit ist bereits die Vorwegnahme solch besserer Zukunft."
Die Muslime teilen unsere Hoffnung. Sie betonen, dass sowohl das Fasten wie das gemeinsame Feiern die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen zeigt und das Gefühl von Geschwisterlichkeit und Liebe lebendig macht. Erfahrbar wird das für viele, auch für Nicht-Muslime, in der hochgehaltenen Kultur der Gastfreundschaft. In vielen Gemeinden wird während des Ramadan abends in den Moscheen gemeinsam nach Sonnenuntergang gegessen und dazu sind Gäste ausdrücklich willkommen. Im gemeinsamen Essen Frieden, Freude und Versöhnung erleben - das verbindet Menschen über Religionsgrenzen hinweg. Das zeigt auch: eine Religion hat ihren Wert und Sinn als Weggemeinschaft, die ihren Gläubigen ein Stück Heimat und Orientierung in einer unüberschaubar großen Welt schenken kann. Aber eine Religion ist niemals die einzig mögliche Weggemeinschaft. Sondern auf den Sinn-Straßen der Welt sind viele solche Weggemeinschaften unterwegs, unterwegs hin auf ein Ziel; unsere christliche Tradition benennt es mit verschiedenen Worten: Himmel, Ewigkeit, Gottes Reich. Im Islam ist es das Paradies. Auf jeden Fall ist es Gott, der auf uns, auf seine Menschenkinder, wartet, dem wir begegnen werden - ganz anders, als wir ihm hier in Zeit und Raum begegnen können. „Aus Ost und West, aus Nord und Süd werden Menschen kommen und an Gottes Tisch Platz nehmen." Christen und Muslime, Juden und Hindus, Buddhisten und Aleviten, Bahai und Jesiden, Menschen mit ganz unterschiedlichen Frömmigkeitsformen - für alle wird Platz sein. Die Frage ist nur: werden sie Platz nehmen, werden sie sich in diese bunte Gesellschaft einreihen? Und da wird deutlich, worauf es letztlich nur ankommt: ob wir ein weites Herz haben, so weit wie Gottes Herz ist. Ob wir so großzügig sind, den anderen anders sein zu lassen, weil Gott ihn so geschaffen hat, und ihn so an unserer Seite zu akzeptieren - als Schwester und Bruder, die ihren eigenen Weg gehen und gehen dürfen, Gott auf ihre Weise lieben und ehren dürfen. Für uns hier und heute ist nur wichtig, dass wir uns für unser Zusammenleben in unserer Gesellschaft an unser gemeinsames ethisches Fundament halten, an Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, um so eine gute, eine bessere Zukunft für uns alle zu gestalten. Die Jahreslosung sagt es mit den Worten: Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob." In einer anderen Übersetzung heißt es. „Das ehrt Gott." Zum Ehren Gottes sind wir nicht nur verbunden, sondern aneinander gewiesen und aufeinander angewiesen. Damit „alle Lande seiner Ehre voll werden". (Ps.72,19)
Ich möchte schließen mit einem Gebet, das im Januar dieses Jahres anlässlich eines Friedensmarsches in Ratingen, an dem 5000 Menschen teilnahmen, Emin Arslan von der türkisch-islamischen Gemeinde zu Ratingen vor der Moschee gesprochen hat:
„Lieber Gott,
schenk uns die Fähigkeit, überall wo wir leben, Frieden, Liebe und Schönheit zu entfalten.
Wir bitten dich,
lege deine Gnade und Liebe in unsere Herzen,
damit wir einander lieben können.
Schenke uns die Fähigkeit,
Freude in betrübte Herzen zu tragen.
Schenke uns die Fähigkeit, unsere Fehler zu überwinden,
auf dass wir einander um deinetwillen lieben können.
Schenke uns die Fähigkeit, gleich dem Regen ohne Unterschied an jeden Ort Segen und Leben zu bringen.
Schenke uns die Fähigkeit, gleich der Sonne ohne Unterschied alle Geschöpfe zu erleuchten.
Schenke uns die Fähigkeit, gleich der Erde ohne Unterschied jedem deine Gaben zuteilwerden zu lassen.
Hilf uns und allen Menschen mit deiner Gnade,
auf dass wir gemeinsam stets das Gute und Schöne bewirken.
Gott schütze jede und jeden von euch.
Friede sei mit allen!
Und der Friede Gottes, der höher ist und weiter als unsere Vernunft und größer als unser Herz - der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
28.06.2015 4.n.Trinitatis Stadtkirche Lukas 6,36-42 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 28.06.2015 - 4.n.Trin.
Lukas 6, 36-42
Liebe Gemeinde!
Hier und da begegnet uns in Kirchen mit Kunstwerken ein besonderes Angebot. Eine junge Frau – anmutig oder züchtig, je nach dem Geschmack der Zeit und Gegend – lächelt den Betrachter vom Altarflügel oder einer Säule aus an und streckt ihm auf einem Silbertablett ein verstörendes Angebinde entgegen: Auf der Servierschale reicht sie unverkennbar ihre Augen dar, die gleichwohl ebenso aus ihrem Gesicht blicken.
Die ausgestochenen, von den Künstlern meist übergroß wiedergegebenen Augen auf der Schale gehören einer Heiligen Siziliens, Lucia. Sie wollte die Freuden der Welt, mit denen ein Brautwerber sie zu faszinieren suchte, nicht mehr erblicken und wurde von ihm darum aus Rache geblendet, schließlich gar wegen ihres sturen Christenglaubens gefoltert und getötet. Als Märtyrerin der diokletianischen Verfolgung wird sie in ihrer Heimatstadt Syrakus und weit darüber hinaus verehrt. ……. —
Heute landen im Hafen der augenlosen Heiligen, deren Name „Lucia“ doch im Lateinischen Licht und Leuchten andeutet, … heute landen in Siracusa und an der sizilischen Küste täglich und nächtlich die Flüchtlingsströme.
Und Lucia hält uns immer noch ihre Augen hin – auf einem schön ziselierten Tablett –, … aber wenn wir diese angebotenen Augen der Sizilianerin ausschlagen und angewidert auf ihrem Teller liegen lassen, dann bestimmt nicht, weil wir die Freuden der Welt nicht betrachten wollen, sondern weil wir das Elend von Syrakus nicht mit ansehen mögen.
Blinder Glaube ist inzwischen also bequemer Glaube geworden, Glaube, der das ausblendet, was er ungerne wahrnimmt.
Darum ist Jesus auch ganz und gar Augenarzt, Sehschärfer, Helfer der Hingucker.
Und sein wichtigstes optisches Instrument setzt er uns heute auf die Nase: „Seid barmherzig“ – das ist die erste und einschneidendste Korrektur unserer Sehgewohnheiten und Ansichten, aus der alle anderen christlichen Einsichten sich ergeben. Barmherzigkeit ist die Linse, durch die blicken muss, wer lernen will, Gottes Sichtweise zu teilen. – Wobei es gleich fest zu halten gilt, dass der barmherzige Blick nicht Weichzeichner und Verschwommenheit bedeutet. Wer die Brille der Barmherzigkeit aufsetzt, sieht die Dinge nicht etwa unklar oder verfließend, sondern zum ersten Mal wirklich.
Wer die Brille der Barmherzigkeit aufsetzt, sieht wie klein das Große und wie arm das Anspruchsvolle ist; er sieht die Wirklichkeit und nicht die Täuschung, sieht die Angst der Angeber und die sorgsam übermalten Spuren des Lebens bei den Lebendigen; wer die Brille der Barmherzigkeit aufsetzt, sieht wie hässlich die Schönheit ist und wie schlecht die Guten sind und wie sehr alles Schlechte, Traurige und Böse, wie sehr alles Abstoßende gerade unser Herz braucht in seiner abgründigen Haltlosigkeit.
„Seid barmherzig“ heißt also nicht: Lasst Fünfe grade sein, macht einen „kölschen Wisch“, der den Dreck der Welt unter das Mobiliar fegt, und seht großzügig über die verlaufene Wimpern-tusche Eurer Tanzpartnerin hinweg, – sondern im Gegenteil: Fragt Euch, weshalb sie weint und woher der viele Unrat wohl kommt und warum bei genauem Hinsehen fast alles Menschliche ungerade, krumm und schief ist …….
Denn wenn Ihr so seht und fragt, dann hört das schreckliche Richten von selber auf: Schließlich sind fast alle unsere Meinungen und Urteile ja nicht aufgrund wirklicher Erkenntnis gewonnen, sondern oft genug dienen sie nur der Vermeidung ehrlicher Annäherung und Anteilnahme. – Je mehr ich jedenfalls die Menschen erlebe und kennenlerne, desto weniger kann ich mir jedenfalls meine Urteile erlauben. Fast alle Einordnungen, die sich ergeben, fast alle Einschätzungen erweisen sich als bestenfalls halbwahr, oft auch schlicht haltlos. Die meisten Eindrücke und Bilder, die wir von einander haben, sind schneller fertig als das Leben gelebt wird und bedenken nie dessen Kern und Hintergrund. …
Wer wirklich erlebt und erfährt, wie viel Traurigkeit und Schmutz, wieviel Schmerz und Schuld einen anderen beladen und begleiten, der merkt, dass unter uns Menschen gewöhnlich mehr Schausachen als Tatsachen begegnen. Und dass alles, was wir von einander wissen, nicht aus der Summe des anderen Lebens, sondern aus dem eigenen Vorurteil herrührt.
Die Anderen sind andere als wir denken.
Wir sehen sie nur kaum wirklich.
Wir sehen sie nicht in der Transparenz, die aus der Barmherzigkeit kommt, sondern im angenehmen Dämmerlicht unserer Bequemlichkeit.
So wie wir auch uns ja oft lieber nicht im klaren Licht der Barmherzigkeit, sondern in der Schmeichel-Optik der Bewunderung sehen wollen. … Oder fällt es uns etwa spontan leicht, beim Blick in den Spiegel zu sagen: „Na, da bist Du ja wieder, … der Du nicht von rechts-, sondern von Barmherzigkeits wegen atmest, futterst und bleibst …“. ——
Es liegen doch Welten zwischen der Visitenkarte, die der Graf Zinzendorf überall abgab, mit seinem inzwischen aus dem Gesangbuch im hohen Bogen rausgeschmissenen Vers: „Hier kommt ein armer Sünder her, der gern um’s Lösgeld selig wär’“ und dem, was wir unseren Kindern heute als Tauflied singen: „Du bist Du, das ist der Clou!“.
Wenn aber unsere Selbsterkenntnis nicht von der Barmherzigkeit, sondern von der Einbildung lebt, dann werden wir uns selbst ebenso wenig gerecht, wie einander.
Denn dann wird uns die schönste und befreiendste Erfahrung immer fehlen: Solange wir nämlich von Verdiensten und Verdienen leben, werden wir nie die Freude des Unverdienten, werden wir nie die Gnade des Beschenktwerdens erfahren. Diese Freude – die Weihnachtsfreude, das Glück der Überraschten, das Nehmen-Dürfen des Geburtstagskindes – kennt ja nur der Empfänger einer Gabe, nicht aber der Käufer einer Ware oder der Besitzer einer Sache.
„Gebt, so wird euch gegeben“, sagt Jesus. Lebt im Schenken, wie auch Euer Leben Geschenk ist. Das ist die überfließende, die verschwenderisch großzügige Folge des Lebens in Barmherzigkeit: Gottes klare Sicht auf das, was wir nötig haben und ohne Sein Spendieren doch nie bekämen, kann auch unsern Blick auf die Dinge klären.
Wer durch Gottes Augen die menschlichen Mängel sieht, wer die Bedürfnisse und Dürftigkeiten des Lebens erkennt, dem geht das Licht auf: Wenn Lebende Beschenkte sind, dann ist wahres Leben Teilnahme an dieser Großzügigkeit, dann ist Geben Lebendigkeit – und umgekehrt ist alles Festhalten der Beginn der Totenstarre.
… Die Frage ist nur, ob wir Gottes Augen, ob wir Seine Sicht annehmen? …….
Gelingt es uns – auch wenn wir ab und zu erkennen, wie beschenkt, wie begütert und begabt, wie begnadet und begünstigt wir sind – gelingt es uns, wirklich Gottes Blickwinkel einzunehmen?
Gelingt es uns, den Stolz auf uns selbst und den teilnahmslos stumpfen Blick auf die anderen gleichermaßen durch Barmherzigkeit zu ersetzen?
Gelingt es uns, weder im Blick auf uns selber das berühmte Auge zuzudrücken noch im Blick auf das Verlangen der anderen die Augen zu verschließen?
Gelingt es uns, hier wie dort – bei mir und bei allen – einzusehen, dass nur Barmherzigkeit die Wahrheit entdecken kann und jede andere Betrachtungsweise sie ausblendet?
Wie die leuchtende Lichtheilige Lucia bietet Gott uns seine Augen an: „Habt Ihr selbst keine im Kopf, dann nehmt meine … und es werden sich Euch Dinge zeigen, die Ihr nie für möglich gehalten hättet. Ihr werdet sehen, wer Euch braucht und was Ihr nötig habt. … Und beides wird Euch maßlos überraschen!“
Denn durch die Augen Gottes gesehen erscheint plötzlich klar und scharf, was wir gerne vernebeln: Dass die Völkerwanderung der Afrikaner uns braucht, und dass die zerbrechende Welt des Vorderen Orients uns braucht. Dass der Islam – den ich je länger, desto weniger vorurteilslos betrachten kann – uns mit der Klarsicht Gottes braucht. Dass die ungeborenen Kinder, die nie das Licht der Welt werden sehen dürfen, uns brauchen, und dass die verlöschenden Augen der Alten uns brauchen. Dass die fernsten Zeitgenossen unserer weltverkleinernden Gegenwart uns brauchen, und dass die Generation von übermorgen unsere vernünftige Einsicht heute braucht.
Dass wir gebraucht werden und wie wir gebraucht werden, wie engherzig wir sind und wie nötig wir es haben, weitherzig zu werden … das alles springt in’s Auge, wenn uns in Gottes Sichtweise, wenn uns im Licht der Barmherzigkeit die Wahrheit aufleuchtet.
… Doch nehmen wir die angebotenen Augen Gottes, nehmen wir den Perspektivwechsel an?
Jesus antwortet im skeptischen Gleichnis: „Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen?“ – Es scheint keine einfache Übung zu sein, aus der selbstverschuldeten Blindheit zum aufklärenden Licht der Gottes-Sicht zu kommen. Viele, viele Gruben säumen den Weg derer, die sich und die Welt nur mit ihren eigenen Maulwurfsorganen – also gar nicht! – betrachten wollen.
Und doch gibt es eine Operation, eine Behandlung des Sehvermögens, die unseren Blick klären und uns erleuchten kann.
Jeder von uns kennt diesen Eingriff. Niemand begehrt ihn freiwillig. Allein das aber empfiehlt ihn schon als vermutlich medizinisch wirksam und erfolgreich.
… Es ist die bewährte Heilmethode der tätigen Selbstbesinnung, der praktischen Veränderung… mit einem Wort: Es ist die Sündenerkenntnis und die ihr folgende Umkehr.
… Nimm Dich selbst wahr und glotz nicht immer die anderen an. Willst Du Kritik üben und Dein Besserwissen beweisen, dann predige Aug’ in Aug’ Deinem Spiegelbild und sieh‘ nicht auf andere Menschen herab. Du musst erst Dich ändern, eh Dein Rat und Beispiel andere ändern könnten.
Das ist die grundlegende, nein grundstürzende erste und heilsamste Botschaft des christlichen Glaubens: Nicht – wie wir uns immer wieder weismachen – die bequeme Einstellung, dass wir alle zwar fehlerhaft sein mögen, aber Hauptsache dabei originell und in unserer Eigenart von Gott beglaubigt und entschuldigt!
Wir sind nicht in Ordnung, wir sind nicht prima, so wie wir nun mal sind, weshalb wir nichts befürchten und erst recht nichts zu ändern hätten: Das ist das gemütliche Evangelium des Kölschen Karneval und des zahnlosen Bibeltigers, den wir inzwischen mit dem Protestantismus verwechseln.
Aber die Wahrheit ist das noch lange nicht und wird es auch nie werden.
Die Wahrheit bleibt ein Eingriff in’s offene Auge. Die Wahrheit reißt uns die blinden Flecken unbetäubt von der Linse, … vor allem jene satte, breite Fettschliere auf unsern sämtlichen Einsichten und Ansichten, die fast alles andere verdeckt. Diese zentrale Störung und Verhinderung unseres Sehens heißt schlicht: „Ich“.
Ich bin der Balken in meinem Auge und vor meiner Stirn; Ich bin der Schlagbaum, der meine Grenzen schützt und der Riegel vor meiner Zugänglichkeit. Ich bin der Tragbalken aller meiner Erkenntnisse und Wünsche; Ich bin der Mastbaum, dessen Segel allein mich zu Hoffnungen und Zielen trägt. …….
Ich bin meine Sichtweise. Ich bin all’ das, was ich sehe. Ich bin mein Augenstern. Ich.
– Und jetzt zieh’ es Dir aus dem Auge, aus Deiner Sicht der Dinge, aus Deinem ganzen Wahrnehmen: Diese Achse, diese Stütze, diese Bildmitte Deiner Weltanschauung. …….
Na? ………
Wie groß die Welt plötzlich ist!
Wie vordergründig leer und erschreckend, wenn nicht mehr der riesige Fremdkörper (oder sein Gegenteil) – das „Ich“ – den Horizont verdeckt und den freien Blick nimmt.
Wie weit dieser Blick gehen, wie viel er schauen kann!
Was da plötzlich alles auffällt und einleuchtet, was sonst der Sehstörung, der extremen Kurzsichtigkeit der „Ich“-Sicht entging.
Wie wunderbar und offen, wie einladend und unverkennbar der Anspruch der Ferne wird, wie sehr mit einem Mal auch Fremdes anzieht und man Anderes aufnimmt: Da wird überall geweint und gehofft, da will alles Trost und Freiheit, da wimmelt es vor Menschen wie Dir, die suchen, was Du suchst, denen gehört, was Dir gehört, die brauchen, was Du brauchst.
Sie alle, die da sichtbar und erkennbar werden, wo früher nur der tiefe Schatten lag, der sie verhüllte, … sie alle, die nun in den Fokus geraten mit Einzelheiten und ansehnlich, dass man sich gar nicht an ihnen und ihrem Mienenspiel, ihren Bedürfnissen und Freuden, ihrer Besorgnis und ihrer Dankbarkeit satt sehen kann, … sie alle, die Du da siehst: Wer sind sie?
Seine Kinder.
Kinder Deines Vaters, im Licht seiner Erwählung.
Er hat sie alle für Seine Welt und Sein Reich vorgesehen. Auf ihnen allen ruhen Seine Augen und als die von Ihm liebend Angesehenen sind sie „der goldene Überfluß der Welt“.
– „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält!“*
Seht sie mit Seinem Blick, in Seiner Vorsehung.
Und dann seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!
Amen.
1.n.Trinitatis 07.06.2015 Stadtkirche Das Apostolische Glaubensbekenntnis (2.Artikel) Dr.Sascha Flüchter
Das Glaubensbekenntnis als Brühwürfel
Haben Sie/habt Ihr schon einmal einen Brühwürfel gelutscht? – Wahrscheinlich eher nicht ... und das ist auch gut so. Denn seine Bestandteile sind extrem hoch konzentriert, dann getrocknet und zusammengepresst, damit sie Platz sparend lange Zeit auf bewahrt werden können. Das macht den Brühwürfel robust und praktisch, aber leider auch – in dieser Form wenigstens – nur schwer genießbar.
Vielleicht fragen Sie sich jetzt: Was redet der von Brühwürfeln und wir wissen noch nicht mal, was der Predigttext für heute ist.
Nun, ich will heute über das Glaubensbekenntnis predigen. Und ich finde, das Glaubensbekenntnis große Ähnlichkeiten mit einem Brühwürfel.
Es ist eine Art getrockneter Nahrung für eine lange Reise. Die Wirkstoffe werden hoch konzentriert, damit sie lange Zeit bewahrt werden können. Das Glaubensbekenntnis ist ein Extrakt des Glaubens. Im Glaubensbekenntnis hält die Kirche in sehr kurzer und verdichteter Form fest, woran sie glaubt.[i]
Wie beim Brühwürfel hat sich das auch beim Glaubensbekenntnis durchaus bewährt: Über 1600 wechselvolle Jahre hinweg hat es die Grundpfeiler des christlichen Glaubens bewahrt: Es ist und bleibt das gemeinsame Bekenntnis aller christlichen Kirchen.
Andererseits teilt es aber auch die Nachteile mit seinem Verwandten, dem Brühwürfel. Wie andere Extrakte kann man das Glaubensbekenntnis nicht einfach unverdünnt zu sich nehmen. Man muss diesen Brühwürfel auflösen – in den Erzählungen der Bibel aus dem Alten und Neuen Testament und dann auch in der eigenen Lebensgeschichte. Glauben lernt man durch Erzählungen, alten und neuen; Erzählungen von Menschen, die Erfahrungen gemacht haben mit Gott und dem Glauben an ihn.
Nur wenn es uns gelingt, den Brühwürfel aufzulösen, dann kann das Glaubensbekenntnis verständlich und erfahrbar werden.
Das, liebe Gemeinde, möchte ich in der Predigt heute versuchen, zumindest für den zweiten und längsten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses. Ich lese ihn uns noch einmal vor:
Ich glaube an Jesus Christus,
Gottes eingeborenen Sohn,
unsern Herrn,
empfangen durch den Heiligen Geist,
geboren von der Jungfrau Maria,
gelitten unter Pontius Pilatus,
gekreuzigt, gestorben und begraben,
hinab gestiegen in das Reich des Todes,
am dritten Tage auferstanden von den Toten,
aufgefahren in den Himmel;
er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters;
von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.
Das ist schon ein ganz schöner Brühwürfel. Ich will versuchen, in drei Abschnitten ein bisschen davon aufzulösen, damit wir davon kosten können:
I. Jesus Christus, der eingeborene Sohn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria
Der Anfang des zweiten Artikels ist schon allein von der Sprache her gewöhnungsbedürftig. Denn was, bitte schön, soll man sich unter Jesus als dem »eingeborenen Sohn« vorstellen, wenn wir das Wort »Eingeborener« eigentlich nur für die Ureinwohner einer Gegend kennen. Wie soll kann Jesus der »Eingeborene« Gottes sein?
In der lateinischen Fassung, die unserer deutschen Übersetzung zugrunde liegt, steht an der betreffenden Stelle das Wort »unicum«.
Auch das Wort Unikum benutzen wir ja durchaus heute manchmal, wenn wir von etwas Einzigartigem reden, etwas, das es in der ganzen Welt so nur ein einziges Mal gibt.
Und damit sind wir ganz nahe dran an der lateinischen Wortbedeutung. Wenn die Verfasser des Glaubensbekenntnisses von Jesus als dem filium unicum reden, dann meinen sie zunächst einmal Gottes einzigen Sohn.
Den aber macht ja nicht seine Stellung als Einzelkind zu einem wirklichen Unicum, sondern die Tatsache, dass es sich bei Jesus Christus um den Sohn Gottes handelt. Gezeugt vom Heiligen Geist, das heißt von Gott selber hervorgebracht und damit selber Gott, ja mehr noch: Gott selbst.
Das ist einer der schwierigsten Gedanken der christlichen Gotteslehre: Der eine Gott tritt uns in dreifacher Gestalt entgegen: Als Vater, als Sohn und als Heiliger Geist. Und bleibt dabei doch stets der eine Gott.
Den Schülern sage ich immer, wenn sie danach fragen: Es ist wie mit dem Wasser und seinen Aggregatzuständen: Wir erleben das Wasser fest als Eis, flüssig als Wasser und gasförmig als Dampf. Und dabei ist es doch stets das eine Wasser.
So kann man sich das auch bei Gott vorstellen: Er begegnet der Welt und uns Menschen als Schöpfer, das ist der Vater; als Erlöser, das ist der Sohn; und als Bewahrer, das ist der Heilige Geist.
Damit ist Jesus tatsächlich ein unüberbietbares Unikum: Als Mensch geboren ist er gleichzeitig wahrer Gott. In dem kleinen Kind in der Krippe von Bethlehem kommt der große Gott selber in diese Welt. Jesus, der wahre Gott, wird als Mensch geboren, von der Jungfrau Maria.
Und die macht uns das Glauben und Bekennen doch ganz schön schwer. Als Jugendlicher hatte ich mir selber auferlegt, beim Glaubensbekenntnis und auch sonst im Gottesdienst nur die Worte und Sätze mitzusprechen, die ich voll und ganz bejahen kann. Sie ahnen es sicher schon, an der Stelle mit der Jungfrau Maria habe ich beharrlich geschwiegen. Zu sehr widersprach das meinem rationalen Denken und meiner naturwissenschaftlichen Weltsicht.
Erst an der Universität habe ich einen Zugang zu diesem Teil des Glaubensbekenntnisses gefunden.
Zum einen habe ich gelernt, dass an der Bibelstelle aus dem Matthäusevangelium, auf der die Lehre von der Jungfrau Maria beruht, ein Übersetzungsfehler zu finden ist. Matthäus hat eine Verheißung des Propheten Jesaja aufgenommen, in der es im hebräischen Text heißt, dass eine alma – eine junge Frau, die noch keine Kinder hat – einen Sohn gebären soll.
In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments aber, die der Evangelist Matthäus für sein Zitat benutzt hat, steht an Stelle von alma das Wort parthenos. Und das heißt nun wirklich Jungfrau in dem Sinne, wie wir es auch heute noch verwenden. – Alles also nur ein Übersetzungsfehler?
Ja und Nein, würde ich sagen. Ja, weil sich offensichtlich eine Bedeutungsverschiebung ergeben hat, die zur Rede von der Jungfrauengeburt geführt hat. Nein, aber weil es sich bei jeder Übersetzung immer auch um eine Interpretation handelt, ein neues aktuelles Verstehen alter Texte.
Wenn also Matthäus die Verheißung des Propheten Jesaja so versteht, dass Jesus, der Sohn Gottes, auf geradezu wundersame Weise geboren wird, dann kann man das nicht einfach als Übersetzungsfehler abtun. Matthäus hat mir seiner Auslegung des Prophetenwortes dem Unikum Jesus Christus zu einer einzigartigen Geburt verholfen.
Und das ist es auch, worum es an dieser Stelle des Glaubens-bekenntnisses geht: Nicht ob wir uns vorstellen können und wollen, dass Maria Jungfrau war, als sie Jesus empfangen hat. Nicht ob wir das für historisch wahr halten, ist hier die entscheidende Frage.
Denn Glauben bedeutet ja im biblisch-christlichen Sinne nicht, etwas für historisch wahr zu halten. Glauben bedeutet vielmehr vertrauen. Die Frage lautet daher: Setzen wir unser Vertrauen in Jesus Christus, weil er ein wirkliches Unikum ist: Gott selber in menschlicher Gestalt. Gott mit uns und an unserer Seite. Gott auf unseren menschlichen Wegen mit allen ihren Höhen und Tiefen.
Ist dieser Jesus, dieses Unikum, unser einziger Trost im Leben und im Sterben? – Das ist die entscheidende Frage!
Der nächste Abschnitt des zweiten Artikels macht das deutlich:
II. Jesus Christus, der gekreuzigte Sohn, gelitten unter Pilatus, gestorben und begraben, hinab gestiegen in das Reich des Todes
Das Einzigartige an Jesus Christus liegt nicht allein darin, dass er Gott ist, sondern auch und vor allem darin, dass er gleichzeitig auch ganz und gar Mensch ist.
In Jesus wird Gott selber Mensch, um den Menschen nahe zu sein. Deshalb lebt er in Jesus unser Leben, mit allen Konsequenzen. Teilt unsere Ohnmacht, unsere Furcht und unsere Hoffnungslosigkeit. Geht unseren Lebensweg mit bis ans Ende, geht bis hinein in unseren Tod. – Und vollbringt damit das größte Wunder seit Menschengedenken:
In der Person des gekreuzigten Jesus ist Gott sogar in unserem Tod an unserer Seite. Das heißt aber: selbst wenn im Sterben die Sünden unseres ganzen Lebens über uns herfallen sollten, können wir in kein Gericht, in keinen Tod und keine Gottverlassenheit geraten, in der nicht der gekreuzigte Jesus an unserer Seite ist – und mit ihm Gott selbst!
Jesus selber ist das »Sakrament in Person« in dem Gott in die gefallene Welt kommt. Ein Kommen, das in der Krippe beginnt und am Kreuz zur Vollendung gebracht wird.
Dass das Glaubensbekenntnis extra erwähnt, dass Jesus nach seinem Begräbnis in das Reich des Todes – früher sagte man: in die Hölle – hinab gestiegen ist, führt das konsequent weiter.
Die einzige Rettung für uns Menschen, die wir uns trotz aller guter Absichten und ernsthaftem Bemühen immer wieder in Schuld und Sünde verstricken, ist es, dass Jesus diejenigen sucht und findet, die Vergebung und Neubeginn nötig haben.
Diesem Bemühen Jesu um die Seelen der Menschen, kann auch der Tod keine Grenze setzen. Der erste Petrusbrief hat die Vorstellung aufbewahrt, dass Jesus die drei Tage im Grab dazu genutzt hat, den Verstorbenen in der Unterwelt nahe zu sein.
Ich finde das einen tröstlichen Gedanken: Wie oft müssen wir erleben, dass es im Leben ein »zu spät« gibt. Zu spät für ein klärendes Gespräch. Zu spät für eine Umkehr, einen Richtungswechsel. Zu spät für ein »entschuldige bitte« oder ein »ich vergebe dir«.
Gut, dass im Glaubensbekenntnis festgehalten ist, dass es für Gottes Barmherzigkeit kein »zu spät« gibt. Jesus Christus – die Gestalt gewordenen Liebe und Barmherzigkeit Gottes – deckt zu, was wir Menschen einander und was wir Gott schuldig bleiben.
Wenn wir das Glaubensbekenntnis sprechen, dann bringen wir zum Ausdruck, dass wir darauf vertrauen; vertrauen auf Gottes Nähe. Eine Nähe die ihren Höhepunkt findet am Kreuz auf Golgatha.
In diesem Vertrauen wird Jesus tatsächlich unser einziger Trost im Leben und im Sterben. Weil das in letzter Konsequenz bedeutet, sich in den eigenen Tod fallen zu lassen, weil wir durch das Kreuz nicht in die Gottverlassenheit, sondern in das Leben hinein sterben werden. In das Leben des Auferstandenen!
Davon handelt der dritte Abschnitt:
III. Jesus Christus, der auferstandene Sohn, aufgefahren in den Himmel, Richter der Lebenden und der Toten
Durch Jesu Tod und Auferstehung hat Gott dem Tod die Macht über uns genommen. Auch was menschlich unmöglich erscheint ist nicht mehr die Grenze unsere Hoffnung. – Und das hat Konsequenzen!
Inmitten dieser Welt hat Jesus die Menschen zu einem Leben gerufen, das all die irdische und menschliche Begrenztheit zwar kennt, aber nicht zu fürchten braucht. Er hat sie herausgerufen aus den Gefängnissen ihres Lebens:
Wie den Zöllner Zachäus, den er herausgerufen hat aus Einsamkeit und Schuld: Steig eilend herunter, denn ich muss heute in deinem Haus einkehren!
Wie den Kranken am Teich Bethesda, den er herausgerufen hat aus dem lähmenden Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!
Wie die Lazarus, den er herausgerufen hat aus seinem Grab, vom Tod ins Leben: Lazarus, komm heraus!
Der Auferstandene stellt uns unüberhörbar die Frage: »Was würdest Du tun, wenn Du nicht so traurig, nicht so ängstlich, nicht so verzweifelt wärst? Wie würdest du leben?«
Und dann sagt er uns genauso deutlich: »Ich lebe und ihr sollt auch leben! – Deshalb kannst Du das jetzt tun! Deshalb kannst Du jetzt so leben!«
Deshalb lohnt es sich, an das Leben zu glauben, an Menschlichkeit, Versöhnung, Frieden, Gerechtigkeit und Glück. Und zwar gerade da wo von alldem nichts zu spüren ist.
Denn jeder noch so kleine Schritt auf dem Weg dorthin macht dann Sinn und hat Zukunft, weil er Gottes Willen nämlich entspricht. Darum sollen wir nicht müde werden, sondern alles daran setzen, diesem Willen zu folgen.
Wir brauchen uns dabei aber nicht zu überfordern, denn der Erfolg hängt ja nicht allein von uns und unserer Anstrengung ab. Aber wir dürfen und sollen wissen: Nichts ist umsonst, nichts gleichgültig, nichts vergeblich, was im Namen und im Sinne Jesu Christi geschieht!
Darum können wir leben, ohne alles zu wissen, alles zu durchschauen, ohne alle Träume verwirklichen und alle Probleme lösen zu müssen. Wir können die Widersprüche und Begrenztheiten unseres Lebens annehmen und lernen mit Gottes unbegrenzten Möglichkeiten zu rechnen. Dass er nämlich das vollendet, was bei uns Stückwerk bleibt.
Denn das letzte Urteil über uns, über unser Leben und über diese Welt, spricht weder die Geschichte, noch das Schicksal, sondern Jesus Christus, der zur Rechten Gottes sitzt, des allmächtigen Vaters und von dort kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten.
Und darum liebe Gemeinde wird das letzte Wort über unser Leben und die Geschichte der Menschheit und der Welt ein Wort der Gnade sein.
Schluss
Soviel, liebe Gemeinde, zum zweiten Artikel des Glaubensbekenntnisses, diesem Brühwürfel des Glaubens.
Als ich heute Morgen noch mal über meine Predigtvorbereitung drübergeschaut habe, hatte ich den Eindruck, dass ich den Brühwürfel vielleicht doch nur in kleinere Bröckchen zerbröselt habe, ohne ihn wirklich aufzulösen.
Aber vielleicht ist ja auch das schon eine Hilfe. Und sie machen mit den Bröckchen weiter und erzählen bei Gelegenheit, wie es ihnen damit ergangen ist.
Denn das Glaubensbekenntnis, wenn es zu einem persönlichen werden soll, ist eine lebenslange Aufgabe. – Und: Es ist ein Wagnis!
Ja, liebe Gemeinde, das Glaubensbekenntnis zu sprechen ist immer ein Wagnis. Denn es ist Ausdruck eines unbedingten Vertrauens.
Vertrauen aber, ist immer ein Sprung ins Ungewisse. Und wer nicht springt, der wird nie erfahren, ob der Glaube, der im Bekenntnis seinen Ausdruck findet, ihn trägt.
Wer aber das Wagnis des Glaubens eingeht, der erlebt, dass er nicht ins bodenlose fällt. Wer es wagt und springt, der erfährt, dass er nicht tiefer fällt, als in die Arme Christi, unseres Herrn.
Denn das ist der Kern des zweiten Artikels: Ich glaube an Jesus Christus, unseren Herrn. Meinen einzigen Trost im Leben und Sterben.
Amen.
[i]Vgl. Reinhard Schmidt-Rost, Kirchentag 2005 (http://www.kirchentag2005.de/s9y/index.php?/archives/80-Das-Credo-Bruehwuerfel-des-Glaubens.html)
Trinitatis, 31.05.2015, Ps. 90, 12, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text: Ps.90,12 (...damit wir klug werden)
Liebe Gemeinde,
am Mittwoch machen sich wieder Zehntausende auf den Weg, Menschen von 8 bis 80, mindestens, um in Stuttgart am Evangelischen Kirchentag teilzunehmen. Auch aus Kaiserswerth werden eine ganze Reihe dabei sein, nicht nur als Teilnehmende, sondern auch als Mitgestalter - aus unserer Gemeinde wie auch aus der Schwesternschaft. 5 ereignisreiche, interessante und auch anstrengende Tage liegen vor ihnen - gefüllt mit Bibelarbeiten und Vorträgen, Gottesdiensten und Konzerten, voller Begegnungen und Gespräche und mit ziemlich wenig Schlaf. Dass das Wetter es gut mit ihnen meint, das wünsche ich allen Teilnehmenden sehr. Der Segen möge reichlich vom Himmel kommen, aber nicht in Form von Wasser.
Wie jeder Kirchentag hat auch der kommende ein Thema. Es ist dem 90. Psalm entnommen und lautet „ ... damit wir klug werden". Ein Thema, das viele Anstöße zum Nachdenken gibt. An einigen Überlegungen, die mir dabei gekommen sind, möchte ich sie gerne teilnehmen lassen.
Das Stichwort „klug" begegnet uns ja in den unterschiedlichsten Lebensbereichen. Als Bildungsziel, wo Eltern hoffen, dass ihre Kinder viel lernen und in dem Sinne klug werden. Da treten die klügsten Köpfe dann zum Leistungswettbewerb von Schulen gegeneinander an. Aber „klug" hat manchmal auch einen eher negativen Beigeschmack, wenn es von einem Schüler dann heißt, er sei so ein richtig neunmal kluger. Dann heißt es in dem Sprichwort durchaus anerkennend „Der Klügere gibt nach", für Marie von Ebner Eschenbach allerdings kein Grund zum Jubeln, sondern „eine traurige Wahrheit, sie begründet die Weltherrschaft der Dummheit."
Von Jesus ist das Wort überliefert: seid klug wie die Schlangen - von der Schlange heißt es ja in der Paradieseserzählung, dass sie klüger war als alle anderen Tiere; allerdings: etwas Gutes hat diese Klugheit nicht zur Folge gehabt.
Was also bedeutet eigentlich „klug"?
Welchen Wert hat „klug sein"?
Wie werden wir „klug"?
Und ist „klug" vernünftig?
Ist „klug" gebildet?
Was ist „kluges" Handeln?
Es lohnt sich, das Motto des Kirchentages einmal in seinem biblischen Zusammenhang zu betrachten.
Der 90.Psalm ist einer der „Schwergewichte" im Psalter. Um seine Bedeutsamkeit zu betonen, ist er Mose zugeschrieben worden, ein Gebet des Mose, des Mannes Gottes - so lautet die erste Zeile.
Das Thema, das den Beter bewegt, ist die Vergänglichkeit alles Lebens und im Besonderen die Kürze des menschlichen Lebens. In der Luther-Übersetzung sind einige der Verse geradezu sprichwörtlich bekannt: „Unser Leben währet 70 Jahre und wenn's hoch kommt, so sind es 80 Jahre." Und „Das Leben fähret schnell dahin, als flögen wir davon." Diese Gedanken, die einen ja ziemlich depressiv machen können, bewegt der Beter allerdings nicht einfach so ins Blaue hinein, sondern er befindet sich mental an einem Ort der Geborgenheit, im Gespräch mit Gott: „Gott, du bist unsere Zuflucht für und für, du bist von Ewigkeit zu Ewigkeit." Die Kürze und Vergänglichkeit des Lebens, sie sind aufgehoben in Gott.
Und das macht schon einen gewaltigen Unterschied: ob ich über die Kürze und Vergänglichkeit meines Lebens an und für sich nachdenke - oder ob ich diese Vergänglichkeit eingebettet sehe in die Ewigkeit Gottes.
Zunächst einmal schulde ich Ihnen noch die erste Satzhälfte des Kirchentagsmottos. Martin Luther hat übersetzt: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden." Förderlicher für unser Nachdenken ist allerdings die wörtliche Übersetzung aus dem Hebräischen: „Unsere Tage zu zählen, das lehre uns, damit wir ein weises Herz erlangen."
Das hebräische Wort, das Luther mit klug wiedergegeben hat, wird auch und sogar viel öfter mit Weisheit übersetzt. Und Weisheit ist keine Sache ausschließlich des Verstandes, sondern das Herz gehört dazu, das Herz als Symbol des empathischen Vermögens des Menschen.
Ein weises Herz ist also klug genug, die Endlichkeit des Lebens zu bedenken und nicht zu verdrängen. Es ist klug genug, die Begrenztheit des Lebens zu akzeptieren. Und Begrenztheit des Lebens meint ja nicht nur, dass jeder Mensch nur eine bestimmte Anzahl von Jahren oder auch Tagen zwischen Geburt und Tod zur Verfügung hat. Diese eine überhaupt nicht wegzudiskutierende Grenze „Tod", sie steht stellvertretend für die Tatsache, dass Leben überhaupt nur innerhalb von Grenzen auf dieser Erde, in dieser Zeit möglich ist.
Aber genau das will der Mensch offenbar nicht akzeptieren. Jedenfalls erzählen die Mythen vieler Völker davon, dass schon in den Anfängen der menschlichen Geschichte der Tabubruch steht, das Überschreiten von göttlich gegebenen Grenzen. Die alten Griechen erzählten sich dazu die Geschichte von Prometheus, der gegen das ausdrückliche Verbot der Götter den Menschen das Feuer brachte - Grundlage für allen Fortschritt und alle geistige Entwicklung - und der dafür von Zeus mit einer schrecklichen, nie endenden Strafe belegt wurde. Die Bibel erzählt die Geschichte vom Adam und Eva im Paradies, die sich von der Schlange verführen ließen und vom verbotenen Baum aßen - weil sie sein wollten wie Gott, unzufrieden mit ihrem Stand als Geschöpfe nach der Würde des Schöpfers strebten. Das Ergebnis: die Vertreibung aus dem Paradies oder entwicklungspsychologisch ausgedrückt: sie fielen heraus aus der Einheit mit dem Leben, wie es war und ist, die Dankbarkeit für das, was ihnen die Erde an Lebensmöglichkeiten bot, verschwand aus den Herzen; das Leben verwandelte sich in einen Lebenskampf, den man am Ende immer verlor; der Tod wurde zur Strafe. Dass Gott ihnen doch immer nahe war und innewohnte, dass es doch sein Atem, sein Geist war, der sie beseelte, das war ihnen nicht genug. Mehr, höher, weiter - das scheint fast in unsere Gene eingeschrieben zu sein. Und tatsächlich lässt sich die Geschichte des Menschen als ein fortwährendes Überschreiten von Grenzen darstellen. Geschah dieses in der Frühzeit noch in dem Bewusstsein, dass dieses nicht nur Gutes, sondern auch Böses zur Folge haben könnte, so schwanden diese Vorbehalte immer mehr: die Grenzüberschreitung war keine Grenzverletzung mehr, kein Tabubruch, sondern „Fortschritt".
Liebe Gemeinde, um nicht missverstanden zu werden: nicht der „Fortschritt" ist das Problem, sondern das Bewusstsein, mit dem „fortgeschritten" wird. Ich bin dankbar dafür, dass der menschliche Geist zum Beispiel in der medizinischen Forschung Schmerzmittel entwickelt hat, die mir konkret dazu verhelfen, mich heute ohne große Angst in eine zahnärztliche Behandlung zu begeben. Meine Großmutter konnte in ihrer Zeit davon nur träumen. Wieviel Leid konnte die Entdeckung des Penicillins abwenden.
Aber es gab und gibt eben diesen aus einem anderen Geist geborenen Fortschritt, dem es nicht darum zu tun ist, sich dienend in das Gesamtgefüge des Lebens, der Schöpfung einzubringen, einen Fortschritt ohne „Ehrfurcht vor dem Leben", das uns anvertraut ist, um es zu bewahren und behutsam darin zu gestalten, sondern dem es um die „Forscher-Ehre" geht, als Erster etwas zu entdecken oder um Geld und Macht damit zu erlangen. Die negativen Seiten solchen Fortschritts, die sollten möglichst immer die anderen erleben müssen - die wurden und werden „outgesourced", wie es so schön heute heißt. So landet der gefährliche Müll zum Beispiel von den unzähligen Elektro- und Elektronikgeräten, die wir - der Fortschritt beschert uns ja mindestens alle halbe Jahr neue Geräte - dann unbedingt meinen, haben zu müssen, auf Müllhalden in Afrika und Asien und ruinieren dort nicht nur die Umwelt, sondern auch die Gesundheit unzähliger Menschen, vor allen Dingen von Kindern, die die wiederverwertbaren Teile und Metalle ohne jeden Schutz herauspuhlen und einem Rohstoffmarkt zuführen, der uns den Wohlstand bringt und ihnen oft den Tod.
„Unsere Tage zu zählen, das lehre uns, damit wir ein weises Herz bekommen." Wenn sie sich diese Worte nur einmal wirklich zu Herzen genommen hätten, dann, liebe Gemeinde, hätte es den in meinen Augen schrecklichsten Tabubruch in der menschlichen Geschichte nicht gegeben, dessen negative Folgen völlig unabsehbar sind und die wir alle im Grunde genommen nur verdrängen können. Mit „sie" meine ich die Forscher, die es nicht dabei beließen, zu wissen, dass und wie man ein Atom spalten kann, sondern die daran mitgearbeitet haben, die Atombombe zu entwickeln - um Militärs und Politikern einen Vorsprung in der Machtausübung zu geben. Ein perverser Fortschritt, der nicht nur heute alles Leben bedroht; übrigens auch in der zivilen Nutzung der Kernenergie. Denn abgesehen von jederzeit möglichen katastrophalen Unfällen wie in Tschernobyl und Fukushima: der atomare Müll bedroht alles Leben länger als es menschliche Geschichte gibt. Wie viele Kulturen sind in den letzten 10.000 Jahren aufgeblüht und untergegangen. Einige haben uns wunderbare Bauwerke hinterlassen. Und wir - wir Kinder des 20.Jahrhunderts - wir, deren Kultur genauso der Vergänglichkeit unterworfen ist, die auch nur eine begrenzte Zeit auf dieser wunderbaren Erde haben, wir hinterlassen denen, die nach uns kommen werden und deren Lebensweise wir uns überhaupt nicht vorstellen können, strahlenden, todbringenden Müll noch in 30.000 Jahren.
Ein weises Herz zu gewinnen, das ist kein Luxus für die Anständigen, sondern es geht ums Ganze, um das Leben für alle auf dieser Erde. Es lehrt uns vor allem, Grenzen zu respektieren. Weil es kein Leben ohne Grenzen gibt. Das menschliche Leben ist begrenzt - ob es nun 70, 80 oder auch 90 Jahre sind, egal wie weit der medizinische Fortschritt - ist es überhaupt immer ein solcher? - diese Grenze noch hinaustreibt. Aber das ist weder bedrohlich noch kommen wir dabei zu kurz mit unserem Hunger nach Leben. Das Leben ist ja viel größer als das Individuum. Doch genauso ist das individuelle Leben nicht weniger wert. Die Zeit ist ja ein Teil der Ewigkeit. Und so wie Gott, der Schöpfer des Lebens, das Leben in der Zeit durch uns erfährt, erlebt, erleidet, so erfahren und erleben wir in ihm Ewigkeit, Leben in Einheit mit allem.
Wer seine Endlichkeit bejaht, der erfährt dadurch eine große Freiheit. Er wird fähig, in seinen ihm zur Verfügung stehenden Tagen und Jahren so zu handeln, dass es auf das Ganze des Lebens, auf alle Mitgeschöpfe bezogen gelebt wird. Und so schon in der Zeit möglichst viel von der Fülle und Freude des Lebens in der Ewigkeit zur Geltung gebracht wird.
Und wer die Begrenztheit seiner Lebenszeit bejaht, der wird auch andere Grenzen respektieren, wo sie darauf ausgerichtet sind, dem Leben als Ganzem, dem Wohlergehen aller zu dienen.
Grenzen des Konsums - wieviel Handys braucht ein Mensch? Und wie oft muss in der Woche Fleisch auf dem Teller liegen?
Grenzen der Mobilität - zum Shoppen braucht keine(r) nach London oder New York zu fliegen.
Grenzen des Wachstums - diese Erde ist nicht aufblasbar und auch nicht duplizierbar. Ihre Ressourcen sind begrenzt und endlich.
Von daher auch: Grenzen des Wohlstands, der auf ein immer Mehr ausgerichtet wird.
Stattdessen: ein Wechsel vom Wohlstandsstreben zum Wohlergehen aller auf dieser Erde.
Dafür lohnt es sich, alle Kräfte zu mobilisieren, alle Geisteskräfte und alle wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen.
Dafür lohnt sich auch ein Zurückfahren der Ansprüche, die unsereiner hier in Europa, in Kaiserswerth entwickelt hat.
Wohlergehen statt Wohlstand.
Wohlergehen - Sich gemeinsam auf den Weg machen.
Es kommt nicht darauf an, das Bruttosozialprodukt zu steigern, sondern eine lebenswerte Gesellschaft zu gestalten, in der jeder seinen Platz findet und jede ihre Gaben einbringen kann; wo jeder geborgen leben kann, auch wenn er alt und krank und hilflos ist. Weil das dem heilvollen Willen Gottes entspricht, der sich unbändig freuen würde, wenn wir denn endlich klug werden. Ich möchte schließen mit den Worten, mit denen der Beter des 90.Psalmes sein Nachdenken über die Endlichkeit und Begrenztheit menschlichen Lebens beschlossen hat:
„Der Ewige, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das Werk unsrer Hände bei uns. Ja, das Werk unsrer Hände wollest du fördern!"
Amen.
Trinitatis 31.05.2015 Stadtkirche Johannes 3,1-8 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Trinitatis - 31.V.2015
Johannes 3,1-8
Liebe Gemeinde!
Trinitatis zu feiern ist eigentlich indiskret.
Schließlich ist die Dreieinigkeit ja das innerste Geheimnis Gottes, sein Innenleben. Wo wir das aber zelebrieren, da untersuchen und verfolgen wir Dinge, die eigentlich verborgen und geschützt sind.
Trinitatis ist – dank des manchmal fast aufdringlich investigativen, neugierigen theologischen Journalismus der Alten Kirche – tatsächlich ja so etwas wie die „homestory“ Gottes, eine Ansicht, ein paar Schnappschüsse, die verbreiten, was eigentlich nur die Eingeweihten und Eingeladenen anginge. —
Da wir aber – und nicht zu Unrecht! – glauben dürfen, dass wir tatsächlich so nah dran sein, so tief einbezogen sein könnten in Gottes Innerstes, ist dieser indiskrete Sonntag wahrhaftig wichtig; so wichtig, dass wir nach ihm dann sogar den Rest des Kirchenjahres bis zu den letzten Zügen des Menschseins am Ende datieren werden: … Als wollten wir uns vom kommenden 1. bis zum 22.Sonntag nach Trinitatis daran erinnern, dass wir nach Pfingsten wirklich hinter den Kulissen des Gottesreiches schnüffeln durften und mitbekommen haben, wie es bei Gott daheim zugeht.
Die Sonntage nach Trinitatis sind in ihrer zunächst monotonen Zählung also eine ständige Erinnerung daran, wie es im innersten Bezirk, im Kreis des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes aussieht, wie da Allmacht und Gnade und Liebe und Weisheit alles prägen und wie sie als Vorzeichen vor unseren Tagen und Wochen stehen, um uns immer wieder dahin einzuladen: In die vertraute Umgebung Gottes, dorthin, wo Gott ganz Er selber und alles in allem ist. ———
Heute allerdings feiern wir das Fest der Neugier-Nähe zu Gott anders.
Heute geht es weniger drum, wie Gott sich in Seinem Dreisein einrichtet, wie Er das Bei- und Ineinander seiner herrlichen und heilenden und heiligenden Seiten unterbringt in dem einen Wesen, das wir als Schöpfer, Erlöser und Vollender anbeten. An diesem Trinitatissonntag mit Johannes also gucken wir nicht durch das Schlüsselloch, sondern bleiben ein wenig pietätvoller draußen, sozusagen im Vorflur vor dem Allerheiligsten Gottes.
Aber indiskret wird’s trotzdem!
Denn der Vorflur ist so etwas wie das Wartezimmer, aus dem heraus dann der Zugang in Gottes unmittelbare Gegenwart gewährt wird, ... ein Wartezimmer, in dem links und rechts, vor und neben uns zahllose andere sitzen, die ebenfalls eines Tages eine Audienz, einen persönlichen Termin, eine Ortsbegehung im Reiche Gottes erwarten:
Genau diese Situation aber, die Situation des angespannten, unbehaglich geteilten Wartens, in der jeder bei äußerster Gemeinsamkeit mit den Nachbarn doch auch seine ganz eigenen Hoffnungen und Befürchtungen erlebt, die kennen wir haargenau aus jeder Arztpraxis.
Es gibt dazu sogar ein absurd komisches Bilderbuch nach einem Gedicht Ernst Jandls*, in dem eine Ansammlung zerfledderter und abgenutzter Spielzeuge aufgereiht vor dem Sprechzimmer sitzt und die Spannung jedes Mal wächst, so oft die Tür sich öffnet, ein frisch repariertes Wesen aus dem rätselhaften Raum herausspaziert und dafür einer der draußen fieberhaft wartenden Invaliden hinter der Tür verschwindet, während alle anderen aufrücken:
„Tür auf / einer raus / einer rein / vierter sein.“
So nutzen wir heute also den Trinitatissonntag, indem wir uns ganz ungeniert umsehen, was die anderen Patienten in der Warteschlange vor Gottes geheimnisvoller Tür wohl haben und bei Ihm drinnen zu erleben hoffen.
Am auffälligsten unter ihnen ist der Erste in der Reihe, der uns heute überhaupt auf den Gedanken der Sprechstunde unter vier Augen bei Gott gebracht hat. Nicht alle Tage wird ja ein geistlicher Würdenträger und judäischer Patrizier den Arzt und Lehrer aus Nazareth konsultieren wollen, … nicht alle Tage und auch nicht alle Nächte, in deren Schutz Nikodemus sich nun doch eingefunden hat. Es muss ein peinliches Leiden sein oder immerhin doch etwas Intimes, das so im Stillen vor Jesus ausgebreitet und mit ihm erörtert werden soll.
Nikodemus hat offenkundig Wahrnehmungsstörungen, sein Gleichgewichtssinn ist betroffen: Er kann seine bisherigen Lebens- und Denkgewohnheiten jedenfalls nicht aufrechterhalten und ist der Meinung, eine gründliche Untersuchung werde ihm helfen, wieder klar zu sehen.
Es kann doch nicht sein, dass die Anzeichen und Symptome, die Jesus bei ihm auslöst, tat-sächlich zu bedeuten haben, was Nikodemus schwant:
„Ein großer Lehrer, von Gott gekommen …. das ist’s doch, was deine Wunder bedeuten, …. oder?“ Mit zitternder Stimme und halb gesenktem Blick wird der kluge alte Herr gleich stottern, wenn er drinnen bei Jesus seine Fragen stellt. …….
– Lassen wir ihn aber ruhig noch ein wenig auf der langen Bank sitzen und schauen uns die anderen Neugierigen und Ratsuchenden, die anderen erwartungsvollen Patienten in Gottes großem Vorzimmer an.
Manche sind in hellen Scharen angerückt, andere kommen verstohlen und widerwillig angeschlichen oder tasten sich unsicher auf Zehenspitzen heran.
Die einen erklären lautstark, dass sie genau wüssten, was jeden erwartet, der endlich in Gottes Gegenwart eintreten darf, … sie kennen die Kur und das Rezept, die dort eingesetzt werden: Es ist das Mirakel der Bekehrung. Jeder kann es anwenden, wenn er nur die Anweisung haargenau befolgt: Man muss ein bestimmtes Gebet sprechen, in dem die Sünden bekannt und das eigene Leben dem Herrn übergeben wird und dann geht alles wie geschmiert. … Simsalabim! wird man verwandelt und aus dem Sprechzimmer heraus kommt ein neuer Mensch, ein wiedergeborener Christ: So wissen es die Massen besonders der nordamerikanischen Drängler im Warteraum. Die Wiedergeburt, durch die man ein ordentlicher Texaner oder wenigstens ein zuverlässiger Republikaner wird, erledigt sich nach ihrer Erwartung – ist man erst einmal „drin“ – quasi mechanisch.
„Tür auf, einer raus, einer rein, wiedergeboren sein“!? —
Daneben gibt es ihre südamerikanischen Geschwister. Die trommeln aufgeregt vor sich hin, denn sie erwarten eine härtere Behandlung, aber dafür auch eine stärkere Wirkung. Wenn sie zu Gott kommen, dann ist es häufig ein Entzug: Drogen und Alkohol, Gewalt und die Zügellosigkeit des Machismo sind dann tabu. Gott setzt sie auf strenge Diät, aber wer mitmacht, dem verheißt der pfingstlerische Sportsgeist echten Lohn: Am Ende der moralisch radikalen Therapie winken Medaillen, winkt tatsächlich Gold. Denn – das ist das Versprechen der wie Pilze sprießenden Pfingstkirchen in den Schwellenländern! – denn echtes Christentum macht reich. Der Segen Gottes ist das wirksamste Mittel gegen Armut: Diese Botschaft des rasant sich ausbreitenden Wohlstandsevangeliums sorgt für das weltweite Wachstum der Kirche.
Uns ist es fremd, denn wir können es uns leisten, Glauben und Geld zu trennen. Andere hingegen müssen in ihrer Not beides bei Gott suchen, und die Soziologen bestätigen ihre Hoffnung obendrein: Funktionierende Familien und der Gruppendruck der Großgemeinden schaffen gerade in Lateinamerika sicherere Lebensläufe. Gottes Sprechstunde als Schuldner- und Anlageberatung …….. für uns sonderbar verkehrt.
„Tür auf, einer raus, einer rein, reicher sein“!? —
Und neben den evangelikalen und charismatischen Patienten sitzen hunderte weitere mit anderen Gebrechen und Wünschen: Die einen, die sich bei Gott ganz schlicht Hoffnung auf Heilung der eigenen Verletzungen, auf Einrenken der verschobenen Teile ihres Lebens machen, die ein Pflaster für’s blutende Herz, Salbe auf eine seelische Narbe, ein Wundermittel gegen unheilbare Zustände suchen oder die beste aller Gesprächstherapien erwarten. Andere wiederum sind stellvertretend in der Warteschlange. Ihre Schutzbefohlenen sind der Weltfrieden und die Ökologie, die Menschenwürde, die gerechte Wirtschaftsordnung: Für alle diese teils chronisch, teils lebensbedrohlich Erkrankten hofft man auf Rat und Abhilfe bei dem dreifach spezialisierten Arzt, der das Geheimnis der ursprünglichen Schöpfung, das Geheimnis des rettenden Mitleids und das Geheimnis der endgültigen Wiederherstellung praktiziert wie kein Helfer sonst es vermag.
„Tür auf, einer raus, einer rein, genesen sein“!? —
Eine riesige Praxisgemeinschaft also ist das Haus Gottes, ein Hilfszentrum für alle Fragen der Entstehung, der Bewahrung und der Erneuerung des Menschenlebens.
Und wir sollten keinen unsrer Mitpatienten, keinen der vielen Ratlosen und Erwartungsvollen von vornherein für schief gewickelt oder einen aussichtslosen Fall halten, der sein Herzensanliegen vor die falsche Tür getragen habe: Wenn sie nur etwas suchen bei Gott, sind sie alle bei ihm richtig – so breit wie die Möglichkeiten und Mittel des Vaters und des Sohnes und des beiden gemeinsamen Geistes nun einmal gefächert sind! ——
Doch nun kehren wir zurück zu dem spätabendlichen Patienten, der mit seinem Arzt die ganze Nacht hindurch erörtern wird, was der ihm für eine Diagnose stellt.
Denn so viel ist sicher: Indem der Evangelist Johannes uns die geheime Sprechstunde Jesu mit Nikodemus belauschen lässt, zeigt er uns, dass dieser kein Einzel- oder Sonderfall ist.
Und so wenig wir auch sonst mit einem ehrwürdigen Pharisäer der Antike gemeinsam haben … wir müssen seine Konsultation beim Heiland wohl so hören, als beträfe sie uns mit, als werde unser Puls da gefühlt und unsere Prognose dort ausgesprochen.
Die aber hat es in sich!
Denn drei Dinge stellt Jesus bei Nikodemus fest, die den trafen … und uns treffen werden:
„Du bist nicht lebensfähig. Dafür erwartest du allerdings ein Kind. Und das wird leben.“
……. Lächerlich, oder?
Ein alter Theologe, der am Ende seines Lebens gerne gewusst hätte, was genau sich hinter dem großen Ruf des Unbekannten verbirgt, der da aus dem galiläischen Nichts aufgetaucht ist, … ein alter Mann und Glaubender also wird nicht nur selber vom Reich Gottes ausgeschlossen, sondern er wird zur Geburtsvorbereitung geschickt. …Er selbst soll angeblich keine Möglichkeit mehr haben, Gott zu erleben, – aber ein Würmchen, ein Wesen, das noch gar nicht da ist, sondern erst schlüpfen soll: Das soll dann in seinem Namen einmal wirklich Gottes Reich und Gegenwart erfahren. … Er nicht, ein Kind aber doch! Seine tiefe, langsam herangereifte Weisheit soll nicht taugen, ihn weiter zu bringen, aber ein Babyverstand, eine Säuglingsseele, die soll geeignet sein für den Durchbruch zur letzten Wahrheit und in die herrliche Freiheit der Gemeinschaft mit Gott. …….
Ist das nicht ein Todesurteil, das da über Nikodemus fällt … und über mich? Und hörte man das wohl recht? … Ist da zugleich eine Schwangerschaft festgestellt worden, … jedenfalls die Möglichkeit, dass ein ungeahntes, unerwartetes, ungewohntes, unverhofftes, unbekanntes, ungewolltes, ungehindertes neues Leben entsteht und gedeiht? …
Soll Nikodemus jetzt weinen oder lachen? Soll er zum Zimmermann gehen, um einen Sarg oder eine Wiege zu bestellen? Ist ihm da nun der Toten- oder der Geburtsschein ausgestellt worden von diesem Zimmermann, bei dem er ja sitzt und der ihm Dinge sagt, die kein Arzt oder Lehrer, kein Priester und Prophet sonst je gesagt hätten?
… Du musst sterben!
… Du hast Zukunft!
… Es gibt eine Neugeburt!
… Wie unerhört!
Wie unvernünftig!
Wie unsinnig!
Wie unfassbar!
Wie undenkbar!
Wie unglaublich!
Wie unverdient!
Wie unbezahlbar!
Wie unvergleichlich!
Wie unerlässlich!
Wie unentbehrlich!
Wie unübertroffen!
………… ———
So also geht es zu, wenn man wahrhaftig in die Nähe dieses Gottes, dieses Menschen, dieses Geistes kommt: Man wollte nur eben ein paar Fragen, ein paar Sorgen und Probleme klären: Seine Seele oder seine Finanzen oder halt sein Leben in Ordnung bringen lassen. Man wollte rein und raus gehen, erhalten, woran es einem gerade fehlt, los werden, was einen gerade drückt, finden, was man gerade sucht, vergessen, was einen eben noch peinigte.
Doch so einfach und glatt, nach dieser schlichten Haltung und Erwartung „Hier werden sie geholfen“, geht es bei Gott nicht zu.
Der falsche Ausspruch zur menschlichen Anspruchshaltung muss ja eher noch verkürzt werden, um die wahre Möglichkeit Gottes für den Menschen zu beschreiben: Wer sich auf den Weg zu Gott begibt, soll wissen, dass es dort nicht heißt: „Hier werden Sie geholfen“, sondern bloß: „Hier werden Sie!“
Wer tatsächlich – sei’s zu Trinitatis, sei’s zu jeder anderen Jahres- und Lebenszeit – zu Gott nach Hause will, dorthin, wo man Gott wirklich kennenlernen und erfahren kann, wo man Ihn hören und sprechen darf, wie Er ist, wo man mit Gottes Nähe und Seinem Wesen vertraut wird, … wer das will, der sollte nicht den abgenutzten Vers aus dem Wartezimmer anwenden wollen: „Tür auf, einer raus, einer rein ….“
Wer zu Gott kommen will, der sollte im Gegenteil erwarten, dass am Ziel der Reise, beim Aufgehen der Tür ein ganz anderer als der Aufbrechende eintreten darf, weil schon der Weg zu Gott, schon das Warten auf Ihn, das Stillsitzen und Nachdenken, die Ausdauer auf Seiner Schwelle, das Hoffen und Trauen auf den noch nicht Geschauten, aber Gesuchten den neugierigen, den hilfesuchenden, den bedürftigen Menschen verändern und verwandeln.
—— …Wie?
… Kannst Du sehen, wie aus dem Kind plötzlich der Jugendliche wurde? Kannst Du sehen, wie beim Erwachsenen die Falten kommen oder die grauen Haare? Kannst Du sehen wie das Sterben sich unmerklich angekündigt hat, ehe es in den Augen, in den Mundwinkeln, im Gesicht und allen Gliedern da ist? Du siehst es nicht – und doch ist das alles nur Stoffwechsel, nur Fleisch.
Meinst Du also Du könnest sehen, wie Gott Dir schon hier und jetzt – im Wehen des Windes, beim Ticken der Uhr, beim Rauschen der Zeit – zum neuen Leben verhilft?
„Der Wind bläst, wo er will und du hörst sein Sausen wohl; und du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist.“
Es wird sein.
Du wirst das neugeborene Leben des Geistes empfangen.
Aus Wasser und Geist, Taufe und Glaube wird es geschehen.
Und dann wird es nicht mehr indiskret sein: Wissen zu wollen, wer, wie und wo Gott ist.
Sondern dein Reich wird es sein – das Reich Gottes, zu dem Du wiedergeboren wirst. Und nie mehr geht die Tür auf, nie mehr raus und rein. … Daheim beim Dreieinen.
Amen.
Rogate 10.05.2015 Stadtkirche Johannes 16,23b-28+33 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Rogate - 10.V.2015
Johannes 16,23b-28+33
Liebe Gemeinde!
Jetzt im Frühjahr, wenn zwischen Ostern und Pfingsten die Welt im Wachstum ist, sollen auch die Christen immer wieder groß werden und reif. Die geschenkte Zeit, die zwischen der Auferweckung Jesu und seiner Himmelfahrt liegt und dann die neue Zeit, die mit der Geistausgießung beginnt, setzen lauter Wachstumsschübe der Gemeinde frei, … Kirschbaumblüte und das Austreiben von Laub und Saat auf dem Boden des Glaubens! Wunderbar saftstrotzende, blühende, schwirrende Zeit, in der im Sonnenschein alle Nektar saugen, festen Halt finden und zum Licht steigen: Zeit, in der die Gemeinde es lernt, von Jesus zu übernehmen und zu behalten, was immer nur möglich ist; Zeit, in der wir Christen in mehr und mehr Verantwortung und Mut hineinwachsen im warmen Licht seiner Gegenwart; Zeit, in der er uns und alle unsere Kräfte anregt und wir uns entfalten.
… Frühling mit Christus! ——
Aber so verführerisch schön es sein mag, sich im blumigen – und vor allem kapitalistischen! – Bild des Wachstums zu sonnen … so eigenartig geht doch das Wachsen der Christen vor sich. Stellenweise wirkt es sogar, als verlaufe unser Reifen in einer allem Übrigen entgegengesetzten Richtung:
Üblich wäre es ja, dass die frühlingshafte Entwicklung im Lauf der Zeit zum Ausprägen oder Abkapseln eines Samenstandes und schließlich zur Loslösung einer ausgereiften Hervorbringung, einer Frucht führt. Mit dem Frühling fängt also schon die Trennung an: Der abgepflückte Apfel beginnt mit der Knospe, die herunterfallende Kastanie entfernt sich schon in der aufgesteckten Kerze ein wenig vom Stamm, im ersten Erblühen des gelben Löwenzahns geht die weite Reise der Pusteblume los. Wachstum heißt also auch Wegstreben.
Und genau da unterscheidet sich unser Aufblühen und Emporstreben als Christen: Wir wachsen im Glauben nicht aus Christus hinaus, sondern in Christus hinein.
Wenn nämlich bei einem von uns der Glaube zu reifen beginnt, dann bereitet sich da gerade nicht das einzelne Ausbrechen und Abheben vor, sondern genau umgekehrt das Eingebunden-Werden und Verwachsen mit einem anderen. So dass sich die alte Kaiserswerther Überzeugung bestätigt, dass ein Christ im Wachstum weniger wird … weniger an und von sich, mehr von und an einem anderen! ——
Diese Entwicklung zum Verwachsen und Verweben kann man an der Frage unseres eigenen und des Namens Jesu gut greifen.
Für gewöhnlich bedeutet Erwachsenwerden ja das Recht, im eigenen Namen zu handeln und bekannt zu werden unter dem Namen, den man sich selbst inzwischen gemacht hat. Und wie schwer fällt manchmal das Warten auf diese Stufe … wenn man endlich zeichnungsberechtigt ist und nicht mehr in Versuchung kommt, unter Entschuldigungen für die Schule eine Unterschrift zu fälschen! Wie stolz kann’s einen machen, das erste Mal ein Dokument mit eigenem Namenszug zu unterzeichnen oder den neuen Ehenamen bewusst auszusprechen; wie ungern haben wir’s, wenn ein Fremder unter unserem Namen auftritt, und wie schwer fällt’s, wenn mit dem eigenen Namens eines Tages nichts mehr anzufangen ist, weil andere wieder Verantwortung für uns übernehmen mussten und unser eigener Name uns abhandenkommt.
Das Erwachsensein hängt also landläufig am eigenen Namen!
Doch Jesus erklärt aus gerechnet das zum Fortschritt, wenn wir eines Tages nicht mehr in unserem, sondern in seinem Namen zu beten lernen!
… Skandal!? Entmündigung!? Bevormundung!?
… Werden wir in der Kirche also doch mundtot gemacht oder entpersönlicht?
Sollen wir das Selbstbewusstsein des freien Individuums an den Nagel hängen und bloß unfreiwilliges Anhängsel eines anderen sein, hinter dem wir uns verstecken? Mit anderen Worten: Zwingt uns das Christentum eine zweite Kindheit auf, … macht es uns infantil?
Vielleicht ja.
Es sei denn, dass diejenigen, deren wichtigstes Wort und wirksamste Waffe das „Ich“ ist, ihrerseits infantil wären, also unreif und nicht ganz für voll zu nehmen?!
Darum: Wer ist kindlicher? – Derjenige, dessen erstes und letztes Gequake „Ich will“ lautet oder „Ich auch!“ oder „Was ist mit mir?“ Oder ist derjenige kindisch, der sagt: „Mach Dir um mich keine Sorgen! Was ist Dir gerade wichtig? Wer - außer mir - braucht jetzt etwas?“
… Wie es scheint, ist das Verzichten auf die eigenen Ansprüche also doch nicht unbedingt unreif; und wenn aus solchem Zurücktreten des kleinen Erstmal-Ich das Eintreten für das große Ganze wird, dann kann Erwachsensein tatsächlich mit weniger Ego auskommen als die Kindheit, die ihr Eigenes ja erst entfalten muss.
Im Beten allerdings – so darf man gefahrlos wetten – gibt es wenige Erwachsene und viele Kinder: Wenn überhaupt, so regt sich nämlich das Gebet ja immer dann in uns, wenn wir wie die Allerkleinsten von einem ganz dringlichen Wunsch, einer ganz unmittelbaren Gefahr, einem ganz unerklärlichen Schmerz gepackt werden: „Hilf mir weiter! Lass mich durchkommen! Schenk mir, was ich doch so gerne hätte“. ——
„Bisher habt Ihr nichts gebeten in meinem Namen!“, sagt Jesus.
Und tatsächlich: Es stimmt!
Es ist meistens, es ist fast immer der eigene Name, in dem unsere heißen Stoßseufzer, unsere erschütterten oder verbissenen Beschwörungen hervorbrechen: „Hier bin ich!“, rufen eigentlich alle unsere Kurzgebete. Sie sind Ich-Botschaften.
Aber wenn uns geschieht, was Jesus seinen Jüngern als vollkommene Freude ankündigt – nämlich dass wir aus den Ich-Botschaften herauswachsen und stattdessen in eine andere Botschaft hinein – wenn das geschieht, dann kommt wirklich ein zweiter Frühling in unsere Seele: Nicht mehr der Frühling, bei dem wir verlangen und hoffen, dass wir selbst jetzt endlich einmal ganz aufblühen und gesegnet und fruchtbar und reif sein werden, sondern in den Gottes-Frühling kommen wir dann, in das Wachsen und Aufgehen des Reiches Gottes, das so viel größer ist, als alle rein persönlichen Anliegen … und seien es die tiefsten Herzenswünsche! ——
……. Das klingt hoch … gewiss!
Aber ist es nicht auch beinah schwindelerregend, wenn Jesus sagt, dass eine Zeit kommt, in der er uns so frei heraus mit seinem Vater vertraut machen wird, dass für ihn dann nichts mehr zu tun bleibt, weil jeder von uns dem Vater so vollständig nahe und verbunden sein wird wie er, der Sohn, in dessen Name wir sprechen und beten dürfen? „Ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde, denn er selbst, der Vater hat euch lieb.“
Die Freiheit vom eigenen Ich und das betende Hineinwachsen in Jesus Christus bedeuten also ganz bestimmt keine Geringschätzung oder Missachtung des Menschen, der wir sind, sondern sie eröffnen uns eine schier grenzenlos große Berufung:
Als Beter und Beterinnen werden wir selbst in den Christus-Dienst gestellt, werden wir mit in die Aufgabe berufen, alles vor Gott zu sagen und alles von Gott zu erbitten, was der Welt nötig ist! — …….
Dabei ist es doch gerade die Welt – diese undurchsichtige Welt, mit ihren Vergangenheitslasten, ihren Gegenwartssorgen, ihren Zukunftsfragen – die uns so viel Furcht erregen kann:
„In der Welt habt ihr Angst“, das weiß Jesus Christus, dessen Bet-Bruder, dessen Bet-Schwester wir werden dürfen, ja genau.
…Angst, die in den Träumen umgeht und morgens mit uns wieder erwacht, wenn wir zurückblicken auf das Leid und die Schuld, die der Mai vor siebzig Jahren beendet, aber nicht aufgehoben hat.
… Angst haben wir in dieser Welt jedoch ebenso, wenn wir uns bei Tageslicht umschauen: Die Katastrophen in schwarz-weiß verschmelzen mit den bunten Bildern von neuen Völkermorden und neuen Kriegen zwischen kopflosen Weltreichen von Wahnsinnigen und neuen Tragödien von Vertreibung und Flucht.
… Und blicken wir nach vorne, in das Kommende, so liegt der Schatten der Angst auch über der Zukunft dieser Welt: Wird sie immer mehr gespalten und verrohen? Werden mit neuen Mitteln nur alte Sünden leichter? Haben der Frühling und seine Bienenvölker, das Gras und Kraut, das Samen bringt, ein jedes nach seiner Art (1.Mose111) überhaupt noch Fortbestand, oder verbessert die Menschheit sie und sich weg? ——
Das ist die Welt. Das ist die Angst.
… Kein Wunder, wenn wir beten wollten: „Gott – falls es Dich gibt – : Hier bin ich! Rette mich doch! Wenn ich doch schon zu denen gehöre, deren Welt sich noch nicht aufgelöst hat, dann gib nur noch ein paar Jährchen Ruhe! Wenn ich halt zufällig noch nicht sinke, dann lass eben die Sintflut hier, bei mir bloß noch etwas auf sich warten …….“
Es wäre so natürlich, wenn wir alle immer nur so weiter beteten … oder das Horoskop oder den Kaffeesatz befragten … lauter Selbstberuhigungen, lauter Botschaften, die von unserem Ich ausgehen, sich dreimal um das eigene Ich drehen und zum Schluss auch nur dem Ich gelten. …….
Wenn da nicht die andere Botschaft wäre, der andere Botschafter, der uns sagt: „Ihr habt doch Frieden in mir! Ich habe die Welt überwunden!“
Wenn diese Botschaft wahr ist – und ist sie’s nicht, dann verschwenden wir wieder einmal einen Vormittag, der auf dem Fußballplatz, im Bett, im Museum oder im Tiergarten viel sinnvoller vertrödelt würde …, – wenn diese Botschaft wahr ist, dann haben wir allerdings tatsächlich nichts mehr, um das wir dauernd im eigenen Namen beten müssten: Dann gibt es nichts mehr, was uns in der Angst und also im Ich gefangen hält. Ist die Angst überflüssig geworden, dann ist es das Gebet, das nur meinen Namen und meine Nöte nennt, auch!
Doch das Beten im Namen Jesu Christi, das große Welt-Gebet, das die ganze Welt wieder und wieder dem Vater übergibt, das Gebet, das den Vater bittet, mehr und mehr den Sieg und den Frieden des Erlösers, des Messias Jesus auszubreiten, … dieses Gebet, in dem wir alle den Christus-Dienst aufgreifen und mittragen dürfen, wodurch der ganzen Welt Waffenstillstand, Versöhnung, Neuanfang und Leben angeboten wird: Das ist unsere Aufgabe! Dafür werden wir zu Botschaftern, zu Vertretern, die im Beten den Jesus-Namen auf die Welt legen und in allem in der Welt die Spuren und die Zukunft Jesu aufdecken, der zur Welt kam und von ihr ging, um Gott als Anfang und Ziel zu erweisen. ———
Wie aber geht das: In der Angst dieser Welt zu beten und gleichzeitig zu wissen, dass – so sicher sie überwunden ist – die Angst dennoch nicht kleingeredet, sondern durch’s Gebet wirklich vor Gott gebracht und von Ihm allein außer Kraft gesetzt werden soll?
Es gibt dafür – für dieses Gebet in und aus der Angst, das zugleich über und ohne alle Angst ist – ein unumstößliches Beispiel:
Als der wahre Mensch sich in seiner eigenen Todesfurcht dem wahren Gott in seiner allen Menschen geltenden Lebensabsicht gegenüber fand, da hat er – Jesus – gebetet: „Nicht mein, sondern dein!“ (vgl.Mk1436)… Erfülle mein Gebet mit Deinem Sinn und nach Deiner Weisheit und nicht nach meinem Sinn und Suchen. … Deins, nicht meins! Du, nicht ich! …
Das also ist das Gebet, in das wir hineinwachsen sollen, indem wir aus allen unseren seelischen Kurzschlüssen und aller unserer geistigen Kleinkunst herauswachsen: „Dein großes, nicht mein kleines Ziel. Dein bleibendes, nicht mein brüchiges Wollen. Dein allgemeines, nicht mein spezielles Wohl. Dein Wille als meiner – nicht meiner als Deiner.“ ———
Geht das?
Oder ist das Selbstabtötung, Askese, Verrat am Menschsein?
Ruth von Kleist-Retzow, die Freundin Bonhoeffers und Großmutter seiner Braut, die Verwandte und wohl auch der Maßstab vieler Widerstandskämpfer vor 70 Jahren hat so gebetet.
Von ihrer Fürbitte für die Inhaftierten schrieb sie:
„Ich kann nicht mehr beten »Befreie sie!«, denn ich glaube, dass Gott, der ja weiß, wie heiß dieser Wunsch ist, sie absichtlich dort sein lässt. Sondern: Gib ihnen die Kraft alles so zu tragen, dass sie sagen können: In dem allen überwinden wir weit, ja so weit, dass sie die Leiden nicht mehr spüren, weil Jesus neben ihnen steht und sie selbst trägt.“*
Und ihren vielen unmittelbaren Angehörigen einschließlich der Neffen, Patensöhne und jungen Freunde schrieb Ruth von Kleist-Retzow im Mai vor 75 Jahren in’s Feld, an die Front:
„Was kann ich denn anderes für Euch tun, als Euch in meine Gebete einzuschließen. Es ist etwas Wunderbares – die Gebete und das Versprechen, dass Gott sie hört. Natürlich kann ich nicht einfach beten, »Bitte lass meine Lieben nicht im Krieg fallen«. … Deshalb beten wir, Gott möge Euch zu jeder Zeit behüten, und die Kraft, die von Ihm kommt, möge immer stärker sein als Euer Leid, Eure Gefahr, Eure Ängste ….“
… So könnten wir nicht beten, … siebzig Jahre später?
……. Wir können aber hineinwachsen.
Es ist ja Frühling.
Die Angst ist ja überwunden.
Wir können ja getrost sein.
Denn der Vater liebt uns.
Amen.
* Aus den Briefen von Ruth von Kleist-Retzow (1867-1945) wird zitiert nach Peter Zimmerling, Starke fromme Frauen, 4.Aufl., Gießen 2009, S.158 und 160.
Kantate, 03.05.2015, Mt.11, 25-30, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
am 16.Mai ist es wieder soweit: da treffen sich viele zum Public Viewing - nein, nicht um ein Fußballspiel der deutschen Nationalelf zu sehen, sondern den Eurovision Song Contest, der in diesem Jahr zum 60.Mal ausgetragen wird, eine Art Europameisterschaft der Schlagerbranche. Dabei geht es leider immer mehr um Show und Kommerz - was zuletzt Andreas Kümmert, der Sänger, der eigentlich den deutschen Vorentscheid klar gewonnen hatte, allen mit seinem Verzicht auf den großen Auftritt in Wien noch einmal sehr deutlich gemacht hat. Und doch dürfen wir nicht übersehen: in Wien wird die vielleicht älteste Menschheitskunst und - lust modern belebt: das Singen. Dass das Singen einst in der Religion beheimatet und verwurzelt war, das wird allerdings den allermeisten ESC-Fans völlig fremd sein.
Kantate - Singt; so heißt der heutige Sonntag.
Nicht: musica audite - Hört Musik.
Nein - es geht um das, was aus uns, aus unseren Kehlen und Mündern heraus kommt.
Die Melodien sind dabei das eine.
Ein anderes ist, ob wir die richtigen Töne treffen, den Takt und das Tempo halten.
Da mag es Vorlieben geben: Volkslieder, Operetten, Schlager, Rock n Roll, Jazz, Gospel; vielleicht sogar Choräle.
Hauptsache man singt aus vollem Herzen!
Kantate - singt!
Doch halt. Es ist schon wichtig, welche Lieder wir singen.
Und das betrifft nicht nur den gottesdienstlichen Gesang.
Die Lieder, die wir singen, die wir mögen, die verraten eine ganze Menge über uns. Sie geben Einblick in unser Denken und in unsere Einstellungen dem Leben gegenüber. Natürlich auch über unsere Stimmungslage.
Lieder begleiten uns von Kindheit an.
Die Gute-Nacht-Lieder, die Eltern ihren Kindern singen, prägen diese mehr als es vorgelesene Geschichten können.
Solche Lieder lassen Vertrauen wachsen, beruhigen Verlassenheitsängste. Sie sind wie kleine Lichter in der Dunkelheit, die für Kinder zunächst immer bedrohlich ist.
Es ist nie egal, welche Lieder wir singen.
Denn mit der Musik werden die Texte uns noch tiefer als durch das gesprochene Wort ins Herz geschrieben.
Das gesungene Wort bewegt viel stärker. Das hat immer wieder auch dazu geführt, dass Lieder dazu eingesetzt wurden, Menschen im negativen zu beeinflussen, zu verführen.
Sie aufzuhetzen, ihre Gedanken zu vergiften.
Die „liturgischen Gesänge" in vielen Fußballstadien zeigen, wie schmal der Grad ist zwischen gesungener Begeisterung für den eigenen Verein und der Beschimpfung und Dämonisierung des Gegners. Ganz zu schweigen von den offen rassistischen Hassgesängen der ganzen rechten Musikszene.
Kantate - singt!
Singt Lieder, die euch guttun und den anderen auch, die trösten und ermutigen, Gemeinschaft stiften und das Miteinander fördern.
Singt Lieder, die in diesem Sinne aktuell sind, neu sind; Lieder für heute!
Genau so will auch der Anfang des 98.Psalmes verstanden werden, der auffordert:
„Singt dem Herrn ein neues Lied".
Da geht es eben nicht in erster Linie um eine moderne Melodie - mehr Pop und Rock statt Gospel und Choral. Es geht auch nicht um die Performance. Es geht um den Inhalt, um den Text, um die Botschaft.
Ein wirklich ganz neues Lied präsentiert uns der Predigttext dieses Sonntags. Es war damals, als es der Mann aus Nazareth zum ersten Mal angestimmt hat, brandneu - er hat da von keinem abgekupfert. Und obwohl es seitdem unzählige Male zum Beispiel in Gottesdiensten vorgetragen wurde, ist es immer noch aktuell. Woran wir merken können, dass sich die menschlichen Verhältnisse, die Rahmenbedingungen des Lebens durch die Jahrhunderte, ja Jahrtausende herzlich wenig verändert haben - ganz anders als die Technik und die Wissenschaften.
Ich lese dieses Lied in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache:
„Ich singe dir Loblieder, Gott, Vater und Mutter für mich und mächtig im Himmel und auf der Erde! Ich singe davon, dass du das vor den Klugen und Gebildeten verborgen und es für die einfachen Menschen aufgedeckt hast. Ja, mein Gott, denn so hast du es gewollt. Du hast mir alles mitgeteilt. Niemand kennt mich als dein Kind so wie du. Niemand kennt dich so väterlich und mütterlich wie ich als dein Kind, und wie alle Geschwister, die ich darüber aufkläre.
So kommt doch alle zu mir, die ihr euch abmüht und belastet seid: Ich will euch ausruhen lassen. Nehmt meine Last auf euch und lernt von mir: ich brauche keine Gewalt, und mein Herz ist nicht auf Herrschaft aus. So werdet ihr für euer Leben Ruhe finden. Denn meine Weisungen unterdrücken nicht und meine Last ist leicht."
„So kommt doch alle zu mir, die ihr euch abmüht und belastet seid: Ich will euch ausruhen lassen."
Ich stelle mir vor, Jesus geht mit diesem Lied auf Tournee - über die Hinterhöfe der Problemviertel in Paris wie in Duisburg, durch die Straßen in Athen und an die Anlegestelle von Lampedusa. Überall dort wird sein Lied gehört: „So kommt doch alle zu mir, die ihr euch abmüht und belastet seid: Ich will euch ausruhen lassen." Zumindest diese erste Strophe seines Liedes werden sie lieben: die arbeitslosen Jugendlichen in den Randbezirken von Paris, die sich dutzende Male um einen Ausbildungslatz bemüht haben; die teilzeitarbeitende alleinerziehende Mutter in Marxloh, die nicht weiß, wie sie für ihren 13jährigen Sohn den Beitrag für die Klassenfahrt zusammenkriegen soll; die Rechtsanwältin aus Athen, die sich seit einem Jahr keine Krankenversicherung mehr leisten kann und verschämt Mülltonnen daraufhin untersucht, ob nicht irgendetwas Essbares zu finden ist; der 19jährige Ahmad auf Lampedusa - vorlaufiger Endpunkt seiner 7 Monate dauernden Flucht aus Syrien.
Dann singt Jesus die zweite Strophe: „Nehmt meine Last auf euch und lernt von mir: ich brauche keine Gewalt, und mein Herz ist nicht auf Herrschaft aus. So werdet ihr für euer Leben Ruhe finden. Denn meine Weisungen unterdrücken nicht und meine Last ist leicht."
Diese Strophe wird die Zuhörerinnen und Zuhörer nun doch irritieren. Wollten sie nicht ihre Belastungen loswerden?
Und wollte sich Jesus nicht gerade dafür stark machen?
Wieso sollten sie jetzt seine Last auf sich nehmen?
Wie kann eine Last leicht sein?
Dass Jesus selbst keine Gewalt anwendet, dass er nicht auf Herrschaft aus ist, das ist ja nett; aber was soll ihnen das helfen in ihren Lebenssituationen, in denen sie so viel Gewalt erfahren, so vielen Herrschaftsansprüchen unterworfen sind - von der IS bis zum Internationalen Währungsfond?
So schön die erste Strophe ist, die Botschaft der zweiten Strophe, die löst Kopfschütteln aus.
Ich stelle mir vor, Jesus kommt mit seinem Lied auch in Kaiserswerth und Wittlaer vorbei. Die soziale Wirklichkeit hier sieht wirklich anders aus; die Menschen hier stehen materiell meist gut bis sehr gut da, haben Erfolg im Leben. Ob sie sich von der ersten Strophe angesprochen fühlen? „Kommt alle zu mir, die ihr euch abmüht und belastet seid: Ich will euch ausruhen lassen." Doch, ja: auch wir hier spüren den Druck, den der Erfolg macht; der immer stärker wird und mit ihm die Sorge, kann ich mithalten? Wem es gut geht, der hat auch viel zu verlieren; ja selbst wer relativ wenig hat, kann immer noch verlieren; diese Angst ist eine der heute prägendsten in unserer Gesellschaft. Pegida lässt grüßen.
Kommt alle zu mir - Jesus hat auch Menschen wie uns im Blick. Sein Lied ist ein Lied für alle, nicht nur für die sozial Randständigen. Ein Lied mit einer Botschaft, die allen guttut.
Deshalb ist es auch nicht als solistisches Lied konzipiert, da singt eben nicht der eine Ausnahme-Lebens-Künstler und alle anderen bleibt nur das andächtige Lauschen. Sondern da geht es um den einen großen Chorgesang der Menschheitsfamilie. Genau darum geht es in der zweiten Strophe.
Da geht es um das große „Wir" und um eine neue Welt, die wirklich werden kann, wenn wir es miteinander nur wollen und tun. Es geht um eine Welt, in der neue, andere Regeln das Leben bestimmen: nicht das Recht des Stärkeren, nicht das Diktat des Geldes, nicht die Macht der Banken und Konzerne. Unter diesen Belastungen gehen immer mehr Menschen in die Knie, geht die Menschlichkeit den Bach runter. Dagegen bietet Jesus seine Last, die leicht ist, seine Weisungen, die nicht unterdrücken, sondern aufrichten, Zukunft eröffnen. Für alle, wobei sicher die, die heute am meisten Lasten zu tragen haben, am sehnsüchtigsten einen Lastenwechsel erwarten.
Die Last, die in der Nachfolge Jesu zu schultern ist, heißt: keine Gewalt und kein Herrschaftsanspruch. Für die einen heißt das: kein Rennen und Hasten mehr, um immer weiter nach oben zu kommen; aber auch Verzicht auf Privilegien, auf Macht (weshalb dieses Lied bei ihnen oft gar nicht gut ankommt; in der Sprache der ESC-Fans: es erhält keine Punkte.)
Für die anderen heißt das: aufatmen können, keine Angst mehr haben müssen, Hoffnung schöpfen.
Eine Gesellschaft, in der sich die Menschen auf Augenhöhe begegnen. Nach Jesu Verständnis legt sich das geradezu selbstverständlich nahe, denn: alle haben den einen mütterlichen Vater, der für alle seine Kinder Leben in Fülle will; und wir alle sind deshalb Geschwister, keiner steht über dem anderen, keiner gehört nicht dazu, keiner ist fremd.
Dass es allen gut geht, dass alle leben können, sollte uns deshalb unser Herzensanliegen sein.
Jesus hat damals ein revolutionäres, neues Lied angestimmt. Einen großen Erfolg hat er damit zu seinen Lebzeiten nicht landen können. Aber es ist nie mehr verstummt, dieses Lied. Seine Einladung, es mitzusingen und zu leben, die ist nicht mehr aus der Welt zu kriegen. Immer wieder haben einzelne Menschen, Künstler, Musiker sich dieses Liedes angenommen, neue Noten zu der alten Botschaft gesetzt, sich eine neue Performance ausgedacht, um möglichst heute viele zu erreichen, sie über das Mitsingen zum Mittun zu animieren, um die Welt im Positiven zu verändern und zu erneuern. Hören wir zum Abschluss in eine dieser Neufassungen hinein
(eingespielt von CD „We are the world, we are the children").
Amen.
Songwriters: RICHIE, LIONEL / JACKSON, MICHAEL
Jubilate 26.04.2015 Konfirmation Stadtkirche Johannes 15,5f Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Konfirmation Jubilate - 26.IV.2015
Johannes 15,5f
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
An diesem Tag – bei der Konfirmation – hatte mein Vater als junger Dorfpfarrer vor vielen Jahren abends immer noch eine besonders feierliche Aufgabe. Die Bauern erwarteten, dass er die Konfirmanden vom Vormittag in der Dämmerung ein letztes Mal besuchte, nein eher nur suchte. Denn die lehnten irgendwo zwischen Scheune und Schuppen, lagen malerisch hingegossen unter den Stachelbeeren, waren verfärbt und wortkarg, nur den Hund an ihrer Seite, weil der spürte - oder roch?! -, dass das Festessen wiederverwertet werden könne.
… Sie hatten einen Rausch, den ersten genehmigten. Dafür aber kam ja dann der Pfarrer und sollte ihnen einen Wassereimer und eine Standpauke angedeihen lassen, zu der die Väter und Verwandten nicht mehr ganz das innere und äußere Gleichgewicht fanden.
Warum ich das erzähle? – Nicht damit Ihr heute Eure Gäste genau im Auge behaltet.
Auch nicht um mich für heute abend mit Euch zu verabreden: Da werde ich Euch enttäuschen.
Nicht einmal, um Euch noch zum Schluss grundsätzlich vor den Gefahren von Suff und Drogen zu warnen. Wenn Ihr irgendetwas vom Evangelisch-Sein verstanden habt, dann hoffentlich doch das: Der Anfang aller Glaubensweisheit sind tiefe Ehrfurcht vor Gott, reine Nächstenliebe — und zu beidem ein klarer Kopf!
Aber ich erzähle Euch trotzdem von den besäuselten Vorgängern, weil wir ja spüren, dass das Bild vom Weinstock und den Reben, mit dem Jesus den Zusammenhang zwischen sich und uns beschreibt, ein ganz erstaunliches ist. Er hätte ja z.B. auch vom Feigenbaum und seinen Früchten sprechen können. Dann wäre der Gedanke an die besonderen, auffälligen Wirkungen des Weines uns nicht gekommen. Ähnlich wie die Rosinen - die getrockneten Weintrauben - waren ja auch die Feigen die Schokolade und der Zucker und das Dessert der biblischen Zeit.
Wenn die Botschaft an Jesu Anhänger – also die heutige Botschaft an Euch – nur bedeutet hätte, dass Ihr süß oder harmlos genießbar seid, dann hätten es Feigen wirklich getan! …
Aber erstens seid Ihr nicht mehr einfach nur süß, sondern Euer Witz ist teilweise schon ganz trocken und Eure Erfahrungen sind teilweise schon recht herb.
Und außerdem ist das Christentum auch nichts, das man einfach mal so naschen oder in die Backmischung des Alltags kneten kann, damit hier und da ein paar Korinthen und Sultaninen aus dem Kuchen zu picken wären.
Unser Glauben und Leben als Christen sind keine Süßigkeiten, kein Puderzucker oben drüber, kein Kaugummi für zwischendurch.
Christentum ist mehr als Schnickschnack.
Es ist unser Brot, also unser Lebensmittel und unser Wein: Die starke, nicht ungefährliche Kraft, die Freude und Mut freisetzt – für die man aber auch groß genug sein muss!
Dass es etwas ganz Echtes und manchmal auch ganz Ernstes ist, als Christ zu leben, das hat uns ja immer wieder beschäftigt … ohne dass dadurch alles negativ geworden wäre.
Aber wie viele Christen gerade heute kein Zuckerschlecken haben, weil ihr Glaube für sie Verfolgung und Leiden bringt, das ist nun einmal wahr. Von den ägyptischen Märtyrern, die am Strand von Libyen Anfang des Jahres für ein schreckliches Video hingerichtet wurden, war die Rede, und in den letzten Tagen haben wir noch einmal gehört, wie das erste insgesamt christliche Volk in der Menschheit - die Armenier - vor hundert Jahren gequält und ermordet wurde. —
Jetzt werden allerdings die ersten Eurer Verwandten und Gäste ein bisschen zappelig.
Ihr tut ihnen leid, dass Ihr so einen spielverderberischen Pastor haben müsst, der Euch anscheinend die Stimmung vermiesen will.
Doch ehrlichgesagt ist das Gegenteil der Fall: Ich will Euch gar kein Wasser in den Wein schütten, … aber genauso wenig will ich, dass Ihr aus unserer gemeinsamen Zeit bloß Limonade mitnehmt, die schlecht für die Zähne ist, klebt und nach Kindergeburtstag riecht. Das ist einfach zu billig.
Und jemand wie Dietrich Bonhoeffer, von dem wir öfter geredet haben – wobei unsere Konzentration dann immer besonders gut und das Interesse hoch und die Stimmung irgendwie beeindruckend erwachsen wurde – jemand wie Bonhoeffer also war der Meinung es gebe nichts Schlimmeres, als „billige Gnade“*.
„Billige Gnade“ – man könnte auch sagen: „Trash-Trost“ oder „Plastik-Segen“ – „billige Gnade“ ist es, wenn man sich vormacht, als Christen hätten wir einen idiotensicheren Trick, um etwas Gutes aus unserem Leben werden zu lassen.
Haben wir nicht!
Was wir aber haben, ist das Versprechen: Wer in die Gemeinschaft mit Jesus Christus eingepflanzt bleibt, wer sich davon nicht losreißt, der kann darin wachsen und reifen. Und mit allem was dazugehört – Hitze, Regen, langes, manchmal lästiges Warten, Stillhalten, Durchhalten, Festhalten – mit allem was dazu gehört, wird dann an uns etwas geschehen, wird etwas aus uns entstehen, das nicht mehr Zuckerwasser, sondern Feuerwasser ist.
Dann wird aus unserem Leben nämlich Frucht. Die aber ist beim Weinstock nun einmal Wein. Und der Wein hat laut Bibel die wunderbare Wirkung (Ps10415):, „dass er des Menschen Herz erfreue“! Euer Glaube kann und wird in Euch also die Eigenschaften entwickeln, die Euch selber und anderen das Herz erleichtern, es aber auch fest machen … und festlich!
Wer als eine Rebe am Weinstock Jesus wächst, der ist dazu bestimmt, in einer oft genug verdrießlichen Welt wirkliche, bleibende Freude zu mehren – nicht immer auf einfachen, idiotensicheren Wegen, dafür aber ernsthaft und stark! ——
Das klingt vielleicht ganz schlicht, und Eure Eltern und Großeltern, die Euch schon immer gekannt und seit dem ersten Atemzug geliebt haben, werden sich erinnern, dass und wie Ihr Eure Bestimmung – Herzen zu erfreuen – seit Jahren lebt.
Aber Ihr habt Euch dabei doch wahrhaftig auch entwickelt: Als Ihr frisch wart wie Federweiser – ganz junger Traubenmost – und aussaht wie der sprichwörtliche Wein aus Mosellage, bei dem das poetische Wort Nektar zu „Nacktarsch“ verballhornt ist, da habt Ihr natürlich auch schon Freude gemacht. Und Kopfschmerzen. … Das ist Euern Eltern vielleicht auch geblieben, dass ihnen zuweilen der Schädel brummt und die Glieder schwer werden, wenn sie ausnahmsweise mal zu viel Saures von Euch schlucken müssen. Aber sie merken es ja schon, wie alles Unausgegorene sich da setzt, wie Ihr – um in der Weinsprache zu bleiben – ganz klare, schöne Kopf- und Herznoten entwickelt, wie Ihr Bouquet bekommt (da sieht man Euch schon fast beim Heiraten!) und wie Ihr im Abgang und Nachhall sein werdet, wenn Ihr in vier, fünf Jahren ein fertiger Jahrgang, ausgereift seid.
……. Doch dann beginnt eigentlich erst die wirkliche Geschichte der Frucht, die durch Jesus in Euch ausreifen wird!
Denn für Jesus war das Gewächs des Weinstocks – das hat er bei seinem letzten Abendmahl (vgl.Matth.2629) ausdrücklich gesagt – ein Zeichen, ein Vorgeschmack für den allumfassenden, restlosen, ungetrübten Trost, den wir im Reich Gottes erfahren sollen: Dort, in der geheilten, erneuerten, geretteten, erlösten Welt, dort wird Jesus den Kelch des Heils mit uns teilen und wir werden Gottes ganze Freundlichkeit rein und ohne Beigeschmack genießen.
……. Dafür aber allmählich bereit zu werden: Das ist die Entwicklung guter Früchte am Weinstock des Glaubens, und diese Entwicklung besteht vor allem darin, auch andere zu ermutigen, dass sie in den manchmal bitteren Erfahrungen der Welt nicht verzweifeln, sondern weiter auf die Verheißung hoffen (Ps23), dass wir an einen Tisch kommen sollen im Angesicht unserer Feinde, wo Gott uns voll einschenken und Gutes und Barmherzigkeit erfahren lassen wird.
Wenn Ihr solche Menschen werdet, die der Welt in Tat und Wort, im kleinen Alltäglichen und in der großen Lebensleistung Freude und Frieden bezeugen, ihr Mut und Hoffnung machen und die Gegenwart Gottes und seine Verheißung in vielen Herzen wach halten, dann kann man auf Euch nur voll Wohlgefallen anstoßen und sagen: „Prosit!“ – das heißt ja nichts anderes als „Es nütze!“.
Aber dass Ihr so nützen und helfen, dass Ihr Menschen so erfreuen und bestärken, dass Ihr zum Wohl in der Welt beitragen könnt, … dass Ihr mit anderen Worten ein guter Jahrgang seid und mit der Zeit immer besser zu werden versprecht: Das spüren alle, die Euch hier umgeben, kennen und lieben.
Aber wir können es auch wissen und glauben, denn heute wird es „konfirmiert“, bekräftigt, besiegelt und für immer bestätigt: Ihr seid nicht irgendein Gewächs, ein billiger Verschnitt, ein gefärbtes Wasser.
Nein, Ihr gehört zum Besten, weil Ihr als Christen wurzelt und wachst im wahren Weinstock – Jesus – und weil Ihr dessen Reben seid!
Amen.
Misericordias Domini 19.04.2015 Konfirmation Stadtkirche 1.Petrus 2,25 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Konfirmation Misericordias Domini - 19.IV.2015
1.Petrus 2,25: „Ihr seid beim Hirten, beim Beschützer Eurer Seelen!“
Liebe Gemeinde!
Einer meiner Konfirmanden hier in der Gemeinde hat sich vor vielen Jahren ein ganz einzigartiges Geschenk zur Konfirmation gewünscht … und es bekommen:
Eine Sau. Eine Prachtsau, kolossaler als alle Schweine meiner Bekanntschaft.
Damals war sie noch vergleichsweise zart und handlich, aber heute ist sie so stattlich, dass man ganz ehrfürchtig in ihrer Nähe wird.
Vielleicht ist sie auch wegen ihres enormen Umfangs nie geschlachtet worden, obwohl das immer wieder im Gespräch war. Jedenfalls hat der damalige Konfirmand sein Geschenk – im Gegensatz zu vielen Konfirmandinnen, die sich Ohrringe und Schmuck gewünscht haben – nie verloren.
… Und das werdet Ihr alle kennen: Je kleiner etwas ist, desto verzweifelter kann man es alle naslang suchen. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass man früher den Brockhaus in 24 schweinsledernen Bänden andauernd verlegt hätte: Das smartphone hingegen scheint ständig – trotz aller Verwünschungen – unauffindbar.
Nicht nur, aber auch deshalb gibt es dem Vernehmen nach ernsthaft eine gruselige Bereitschaft mancher Menschen, sich einen Chip unter der Haut implantieren zu lassen, der für immer alle digitalen Funktionen übernehmen kann. Das indes ist zweifellos – und nicht nur aus christlichen Gründen – der blanke Irrsinn. ——
Reden wir aber trotzdem von sehr kleinen, sehr leicht verbummelten Dingen. Je winziger, desto gefährdeter.
Wenn zum Beispiel jemand es gut mit Euch meinen würde und beschlossen hätte, Euch an diesem Tag ganz altmodisch zu beschenken – vor hundert Jahren waren die Patengeschenke häufig noch von solcher Art –, und er wollte Euch reines Gold präsentieren: Wisst Ihr, wie sich dabei dann die erste Maßeinheit bemessen würde?
Von einer „Feinunze“ habt Ihr womöglich schon gehört. Sie ist etwas anderes als ein echter Gold-Barren, aber immerhin wird ihr Preis offiziell gehandelt und festgelegt.
Nur darf man sich nichts Großes darunter vorstellen. So eine Apothekerunze Feingold bringt gerade einmal 31 Gramm auf die Waage!
Wie schnell ein solcher Fingerhut-voll verschütt gehen kann, wird man sich denken können.
Aber das ist immer noch nicht die winzigkleine Einheit, von der ich reden will. Die ist etwas, das ich mit früheren Konfirmanden einmal bei einem gemeinsamen Kinoabend – der Film war nur geringfügig jugendgefährdend, und die ehemaligen Konfirmanden waren auch schon 16! – gelernt habe: Zu Beginn des 20.Jahrhunderts gab es einen amerikanischen Arzt, der Sterbende vor und nach dem Eintritt des Todes wog und feststellte, ein Mensch verliere im Sterben durchschnittlich 21 Gramm. Etwas vorschnell verkündete der Forscher damals, nun endlich wisse man, wieviel die Menschenseele wiege.
Das war natürlich Unsinn. Man kann die Seele nicht wiegen und der gleiche Forscher scheiterte auch, als er die menschliche Seele auf Röntgenbildern nachweisen wollte.
… Und trotzdem komme ich nicht los von den 21 Gramm. Sie sind natürlich keine wissenschaftliche, sondern eine symbolische Zahl.
Wenn wir bedenken, wie wir uns dieser Zahl eben angenähert haben – vom kapitalen Schwein über das feine Kapital bis zu dem Hauch, dem Klacks, der unser Wichtigstes ist, … von Sau zu Gold zu Seele! – dann wird eines deutlich: Das Kostbarste muss nicht das Dickste sein. Es kann womöglich völlig gewichtslos sein.
Und darum – weil wir ja die Faustregel sahen, dass etwas umso eher verloren geht, je kleiner es ist – … darum also ist es am Ende doch einfach nur gut und wichtig und beruhigend und richtig, dass wir heute, am zweiten Sonntag nach Ostern ganz viel vom Gottes-Hirten, vom Hüte-Gott hören!
Dieser Sonntag des Guten Hirten ist nämlich vielleicht ja ein bisschen problematisch für Euch Konfirmandinnen und Konfirmanden.
Als Ihr noch in den Schulgottesdienst unserer Grundschulen ginget, da war Psalm 23 Euch selbstverständlich ganz vertraut: Fast alle von Euch kannten ihn auswendig noch ehe wir ihn in unserem Unterricht – Lukas: Kapitel 15! – aufgefrischt haben.
Dieser Psalm ist das Allerbeste, um Vertrauen zu lernen, ja um überhaupt das Reden mit Gott zu üben.
Und Ihr werdet feststellen, dass dieses Gebet vom Hirten, der auf rechter Straße zu frischem Wasser und grünen Auen führt und auch im finstern Tal nicht weicht, sondern uns bis an den Tisch der Erquickung und des Lebens bringt, … Ihr werdet feststellen, dass dieses Gebet Euch nicht loslässt. Eines Tages werdet Ihr es unbewusst in Angst oder ganz bewusst und fest und froh aufgreifen, an Wiegen und an Särgen wird es Euch Trost und Frieden, wird es Euch das Glück des Glaubens schenken.
… Aber gerade jetzt sitzt es am schlechtesten auf Euren breit werdenden Schultern und selbstbewusst hoch und hübsch getragenen Scheiteln. Wer Euch heut sieht, der versteht, dass Ihr keine zu hütenden Kleinkinder mehr seid, die Aufsicht und Betreuung, die einen Wächter und Schäfer bräuchten.
Selten habe ich Euch schließlich ganz lammfromm, selten ganz bockig erlebt.
Eher seid Ihr irgendetwas zwischen Borstenvieh und Schmetterling, als so eine wollige, willige Herde, die milde blökt und dann hinter dem Hirten herzottelt.
… War’s das also mit „Der HERR ist mein Hirte“?
Nein! Zum Glück nicht.
Denn bei Gottes Herdehüten geht es ja nicht darum, dass Ihr alle brav in Reih und Glied marschieren sollt auf einem vorgetrampelten Pfad und auch sonst über einen Kamm geschoren würdet.
Gott spielt nicht Kindermädchen oder Pausenaufsicht in Eurem Leben.
… Wenn Ihr Euch mit anderen in die Wolle kriegen wollt: „Bitte sehr!“
Wenn Ihr Schaf im Wolfspelz sein möchtet: „Na gut: … Versucht’s halt!“
Wenn Ihr keine Herdentiere, sondern Einzelgänger werdet: „Juhu!“
Lebt als Unschuldslämmer oder Leithammel, sucht die schönsten Schäfchen auf dem gold’nen Mond oder verzichtet auf alle Schäferstündchen und arbeitet Euch schnell zusammen, wofür eine alte Frau sonst lang stricken muss.
… Macht dies oder jenes aus Eurem Leben – und seid dabei unbekümmert um alle Bilder von Schafen und Hirten, falls sie Euch stören.
Denn Gott überlässt Euch und Eurem Verstand, Eurer Freiheit gerne die großen - oder vermeintlich großen - Fragen und Entscheidungen, die Ihr jetzt beim Heranwachsen treffen und vielleicht auch einmal wieder ändern müsst.
… Gott hütet unterdessen etwas anderes. Und weil Gott das behütet, wird Euch alles, was Ihr sonst als mündige Christenmenschen unternehmt, zum Besten dienen.
Gott passt auf die 21 Gramm auf, die vielleicht noch weniger, noch luftiger und feiner … und dennoch unermesslich kostbar sind:
Dass wir einen „Hüter und Beschützer unserer Seelen“ haben – wie es der 1.Petrusbrief sagt –, das ist nämlich die alles entscheidende Verheißung des Glaubens!
— Nicht als ob der Körper unwichtiger als die Seele sei, nicht als ob Angelegenheiten des Herzens, Möglichkeiten des Denkens, nicht als ob die Verantwortung für unsere Taten, die Verwurzelung in unserer Umwelt eine geringere Bedeutung hätten! Nicht darum steht unsere Seele unter der besonderen Hut Gottes – sondern schlicht deshalb, weil sie so schnell verloren gehen kann: Man sieht sie nicht, man kann ihr Gedeihen oder Verkümmern nicht sofort erkennen, man stößt nicht auf den ersten Blick auf ihre Not oder ihren gesunden Kern. Darum vergessen und vernachlässigen wir sie so oft. …….
Aber trotzdem –obwohl sie geheimer und uns selber rätselhafter sein mag, als alles, was es sonst an leiblichen und mentalen Organen und Zuständen beim Menschen gibt – trotzdem ist die Seele nicht mit nutzlosem Gold oder Silber aufzuwiegen (vgl.1.Petr118) und sogar wenn man sie gegen alles in der Welt eintauschte, würde man ein schlechtes Geschäft machen (vgl.Matth1626)!
Denn die Seele ist der kleine Punkt, sie ist das Fünklein in uns, wo einfach alles stimmen kann – und an keiner anderen Stelle des Lebens gibt es das sonst!
Friede mit Gott, Ruhe in uns selber, Liebe zu anderen: Das alles hat Platz in der so oft übersehenen, weil unsichtbaren Seele.
Doch wo Gott sie hütet – die winzige, allerwichtigste Gabe des Menschseins – da ist sie sicher!
Denn wenn es um Eure Seele gut steht, dann braucht Ihr vieles nicht … am allerwenigsten aber einen Chip unter der Haut:
Wo Eure Seele nämlich ist, da seid auch Ihr zu orten; wenn Eure Seele empfänglich bleibt, dann habt Ihr immer Kontakt mit Gott und den Menschen; wenn Eure Seele ein Speicher wird, dann werdet Ihr an Wissen und Erfahrung, an Glauben, Lieben, Hoffen reicher als durch jedes andere Medium!
Und dann ist es auch gar nicht nötig oder richtig, dass sie immer und überall im Vordergrund stehen müssten: … die vollkommene Wahrheit und Klarheit unseres Glaubens, das Heil unserer Seele.
Die Seele wird schon kein Übergewicht kriegen, solange auch andere Dinge – der Sinn des Lebens, die Gerechtigkeit auf Erden, die Aufgaben unserer Zeit, das Gute und Selbstverständliche am Alltag – uns fordern; rein äußerlich muss das Konfirmationsferkel also nicht zwangsgemästet werden.
Aber ohne Euer Innerstes und Wichtigstes würde alles für Euch verloren sein und verderben:
Ohne unseren Glauben, ohne unseren Gott, ohne Seine Sorge für unsere Seele blieben uns eben nur Gold und Sauereien zum Leben.
Wie gut darum, dass Ihr anders entscheiden konntet: Dass Ihr den Schatz Eures Lebens in sicherer Obhut wisst und es heute vor uns, vor einander und vor Euch selbst bestätigt:
„Ihr seid beim Hirten, beim Beschützer Eurer Seelen!“
Ihr seid bei Jesus Christus, dem Lamm Gottes, der uns wie kein anderer hüten kann.
Und durch ihn segnet Gott Euch darum an Leib und Seele hier und in Ewigkeit!
Amen.
18.04.2015 Konfirmation Stadtkirche Jesaja 43,1 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 18.IV.2015 Konfirmation
Jesaja 43,1
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Zu den zehn beliebtesten Vorurteilen über Dreizehn-, Vierzehnjährige gehört auch die fixe Idee der Erwachsenen, dass gerade Ihr völlig mit Euch selber beschäftigt seiet. Weil Ihr angeblich entweder unsicher oder übertrieben auf Äußerlichkeiten erpicht sein sollt, glauben viele Menschen, Euer Spiegelbild, Eure „Likes“ und Eure Zukunft seien das Einzige, was Euch leidenschaftlich interessiere. —
Wer das glaubt, sollte wahrscheinlich selbst mal streng in den Spiegel blicken, und wenn er dann feststellt, dass man sich als Erwachsener das eigene Gesicht noch immer schlechter merken kann als alle anderen Visagen, dann liegt’s jedenfalls nicht an mangelnder Aufmerksamkeit: Alles, was Euch an Ichbezogenheit nachgesagt wird, wird Euch schließlich vorgelebt.
Mit dem Unterschied: Bei Euch ist es ja wirklich noch spannend, zu sehen und zu erleben, wer da so schüchtern war und so selbstbewusst wird, wer da auf die eine oder andere Weise selber zu staunen lernt über eigene Fähigkeiten und Schmerzgrenzen; bei Euch ist es tatsächlich einfach noch eine neue Geschichte – selbst wenn sie nach menschheitsalten Drehbüchern vor sich geht –, wie Verstehen und Verantwortung, wie Liebesglück und Bescheidenheit, wie Kraft und Tränen, Glanz und Enttäuschung, Überraschung und Balance sich herauskristallisieren und Charaktere, Persönlichkeiten, Lebenswege prägen.
Darum fände ich es nicht nur schade, sondern schlimm, wenn Ihr nicht frei und eifrig Interesse für Euch selber hättet. … Dass es dabei dann aber natürlich nicht nur um Klamotten, Noten oder das andere Geschlecht geht, das könnte – wenn niemand sonst es tut – Euch ja Euer Pastor noch einmal bei der Konfirmation sagen. ……. ——
Lasst Euch also das Spannende daran, dass man sich selber kennenlernen und ausprobieren will, nicht nehmen!
— Ich habe bei der Überlegung, ob es eigentlich überhaupt möglich wäre, nicht von sich zu reden und nicht von sich her zu denken, getan, was Ihr alle tut: Ich habe das Orakel Internet befragt und stieß in dessen verborgenen Parallelwelten auf ein Chat-Forum (!), in dem offensichtlich Latein- und Griechischlehrer und andere Prachtexemplare der guten alten Bildung Geheimnisse austauschen. Eine Frage, die dort bewegt wird, war die, ob man sich eine Sprache vorstellen kann, in der die erste Person Singular und die zweite Singular gar nicht vorkommen. Dazu schreibt ein sehr kluger Kopf und Kauz kurz und knackig: Eine Sprache ohne "ich" und "du" erscheint mir wie der Verzicht auf Unterhose und Socken. Kann man machen, beeinträchtigt aber das Wohlbefinden.*—
Nun habt Ihr auf beide Textilien heute (mutmaßlich) nicht verzichtet und solltet also auch die anderen Verpackungen des Menschen – und dazu zählt zuletzt ja auch das „Ich“ – genauso auf Hochglanz und festlich halten wie Eure augenblickliche Garderobe.
Dazu muss man allerdings eines wissen: Kleider und Frisuren, Unterhosen und Socken, Stil und Geschmack lassen sich wechseln. Sie sind käuflich; … und sie können entsorgt werden.
Ihr dagegen unterliegt keiner Mode. Ihr seid ewige Schöpfungen.
Und was immer sich an Euch im Laufe der Zeit bis heute und noch dreimal so viel auch in Zukunft als veränderlich zeigt: Ihr seid nicht einfach eine Geschmackssache, die genauso gut wegfallen oder total neu entwickelt werden könnte. Ihr seid Gottes Werk, das sich entfalten und aufblühen soll, aber Ihr gefallt Ihm als die, die Ihr seid! Aus der Nummer mit dem Immer-besser-werden-Müssen, sind Gottes Geschöpfe raus. Sonst würde Gott sich selber ja als schlechten Künstler und halben Anfänger zeigen, wenn der Mensch Ihm nur als Marathon-Läufer oder als geschminktes Mannequin Ehre machte.
Gott ist Euer Ursprung und Erfinder, Euer Kenner, Der, der Euch am besten beurteilen kann, auch dann, wenn Ihr selbst zu Recht feststellt, dass Ihr unvollkommen seid.
… Das seid Ihr in der Tat. … Das sind wir nämlich alle!
Einmal, weil Gott uns nicht als perfekt, sondern als „sehr gut“ geschaffen und befunden hat.
Und dann wegen der Mängel und des Fehlenden, die uns wirkliche Menschen vom vollkommenen Menschsein trennen: Immer brauchen wir etwas, das wir nicht haben und nicht sind. Die einen brauchen Geduld, die anderen Rückgrat, manche brauchen Ehrlichkeit und viele Einfühlungsvermögen.
Und alle brauchen wegen ihrer Mängel – ihrer Sünde – immer wieder Hilfe und Vergebung!
Aber ein Ich, an dem immerzu rumgebastelt wird, damit es schicker, windschnittiger oder dem allerneuesten Muster angepasst wird: Das braucht keiner!
Und darum ist die Konfirmation – die bewusste Verbindung mit Gott – eine Art Gütesiegel. Ein Gütesiegel, das besagt: Dieses menschliche Ich - Euer Ich, das heute vor Gott steht -, … das ist nicht perfekt, aber es hat trotzdem eine Garantie! Gott garantiert nämlich dem Menschen, der Ihn sucht: „Ich trenne Dich und kenne Dich und nenne Dich!“ – oder in den Worten des Propheten: „So spricht der HERR: Ich habe dich erlöst; ich habe dich beim Namen gerufen; du bist mein.“
Ich trenne Dich von allem, wovor Du Dich ängstigst und von Deinen Mängeln! Du bist besser, als Deine Fehler und Sünde ahnen lassen, und Du bist sicherer, als Du fürchtest.
Ich kenne Dich nämlich: Schon wie Du als Ungeborenes begannst, ich kenne Dich, wie Du heute als Jugendlicher bist, wie Du als Erwachsener sein wirst und am Ende einmal warst. Immer und überall bist Du mir vertraut, bist Du mir lieb!
Und ich nenne Dich: Zwar wird Gott nie „Madame“ oder „Herr Doktor“ zu einem von uns sagen, sondern er wird immer auf Du und Du mit uns bleiben. Berühmtheit oder Langeweile, Unglück oder Erfolge werden das Verhältnis von seiner Seite nicht ändern. Immer wird es bei Ihm einfach genauso heißen wie jetzt: „Du bist mein!“
Aber das ist ja eine umwerfende, eine atemberaubende Zusage! Es kann geschehen, was will: Wir werden trotzdem Gottes Eigentum sein! Wir werden trotzdem unwandelbar von Gottes Wort und Liebe beansprucht werden, weil Er unsere Zugehörigkeit zu Sich in Ewigkeit besiegelt hat: Mit Blut am Kreuz, mit Geist und Wasser in der Taufe, mit Verheißungen und Wundern, Zeichen und Segen immer und überall, wieder und wieder.
Gott lässt uns nicht los, … hält an uns fest, … gibt uns nicht auf!
Das ist die wirkliche Konfirmation, die wir heute feiern: Gott „konfirmiert“ uns – Er bestätigt Seine unendlich kostbare, unwiderrufliche Zusage: „Du bist mein!“ ———
Daneben ist die Frage, wer und wie wir denn nun eigentlich sind, wirklich nicht mehr das Allerwichtigste – obwohl an dieser Frage und an uns ja irgendetwas dran sein muss, denn sonst würde Gott uns wohl nicht so zäh so wichtig nehmen.
Aber das ist eben auch die einzig wirklich wahre Antwort: Wichtig sind wir, weil wir es für Gott sind!
Was diese Antwort nun bedeutet, das buchstabieren wir evangelischen Christen ein Leben lang. Denn klar ist, dass wir vieles und verschiedenes sein können – und dabei nur eines müssen:
Wir müssen uns immer wieder klar machen und hören, wie ernst Gott uns nimmt, wie stark wir Ihn interessieren!
Wenn uns das nämlich deutlich ist … dann können wir alles versuchen und tun, können alles erstreben und erfahren, denn wir werden dabei nie vergessen, dass wir einen Gott haben und dass Er uns hat. ———
Erinnert Ihr Euch eigentlich noch, wie still es wurde, als wir ziemlich am Anfang unseres Unterrichtes – da, wo Jesus zum ersten Mal vor den Augen seiner vertrauten Umgebung in Nazareth auftritt – … wie still es wurde, als wir bei diesem spannenden Moment, voller Unsicherheit und Fragen nach der Zukunft von Dietrich Bonhoeffer hörten?
Bonhoeffer hat bei seiner Konfirmation einen Vers aus dem Römerbrief (1,16) als Konfirmationsspruch erhalten: „Ich schäme mich des Evangeliums von Christo nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben“.
Sein Pfarrer hat ihm das sogar im griechischen Original auf die Urkunde geschrieben … als ob der Fünfzehnjährige ein richtiger Apostel wäre!
Damals wussten sie beide - der Pfarrer und der Konfirmand - natürlich nicht, dass Dietrich Bonhoeffer wirklich einmal ein kerzengerader, heller, klarer Zeuge des Evangeliums werden sollte, ein Blutzeuge, der mit dem Leben dafür bezahlte, dass er Gott ernster nahm, als alle anderen Mächte der Welt.
Aber dass er von Gott ernst genommen wurde und dass er sich darum so wenig jemals für Gott schämen könnte, wie Gott sich für ihn: Das war Bonhoeffer spätestens seit seiner Konfirmation gewiss.
… Das wusste er auch in seinen schlimmsten Stunden, als er gefangen und in ständiger Todesgefahr war.
Alles andere war damals für ihn offen: Ob er ein Mensch mit großer Zukunft sein würde oder bloß einer mit echter Schuld in seinem Widerstand gegen Mord und Hass und Lüge, … ob er jemals heiraten und lieben oder nur viel zu früh aufrecht und getrost sterben sollte … nichts von alledem war sicher.
Aber das eine war und blieb für Bonhoeffer unumstößlich:
„Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.“
Jetzt wird es wieder still. …. Weil das zu große Worte für Euch sind? – Sind es nicht!
Es sind wahre Worte.
Es sind die Worte, die Euer Leben enthalten und formen und tragen werden.
Wie immer es im Einzelnen wird. Wer immer Ihr werdet: Ihr seid Gottes!
Heute wird es für immer bestätigt!
Amen.
Ostersonntag 05.04.2015 Stadtkirche Markus 16,1-8 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ostersonntag - 5.IV.2015
Markus 16,1-8
Liebe Gemeinde!
Ostern ist ein Kinderspiel.
Auch wenn es wirklich nicht so anfängt und wirklich nicht so aufhört, ist es doch das erste und vielleicht älteste aller Spiele, das die Kinder treiben, weil sie dazu nichts weiter brauchen – keinen Gegenstand, keine Figuren, kein Gerät –, als bloß ein paar Gesellen und eine Welt.
… Drei Kinder und eine beliebige Umgebung und es kann losgehen!
Einer muss die Augen schließen, die Zeit beim Verstreichen zählen und wenn er sie wieder öffnet, dann hat sich die Welt verändert: Niemand ist mehr da, der Garten ist leer, das Zimmer verlassen. Irgendwo müssen sie zwar sein. … Aber wer weiß, ob man sie finden kann: die Versteckten.
… Es ist das erste Spiel.
Schon mit den ganz Kleinen spielen wir’s: „Kuckuck! Wo bin ich?“
Erstaunlich nur, dass wir es selten in seiner Doppelbödigkeit, in seinem Grauen begreifen, wie da mit Verlassensängsten, wie da mit der Erfahrung gespielt wird, dass tatsächlich im Handumdrehen alles leergefegt sein kann: Sie sind weg, die eben noch da waren und wir können auf und ab suchen, ob wir sie wohl irgendwo … - wo sie noch nie waren! - finden.
Wirklich ein seltsames Spiel!
Erträglich eigentlich nur dadurch, dass Kinder so wenig Geduld haben und sich durch Kichern und voreiliges Wiederauftauchen aus dem Verborgenen selber als lebendig verraten.
Wer dagegen je erlebt hat, dass eine halbe Stunde verstreicht und der Verschwundene bleibt verschwunden, wer selber jemals so lange mucksmäuschenstill irgendwo unter einem Bett, flach am Boden oder in einem dunklen Loch verharrt hat, der ahnt, was für ein Abwehrzauber dieses Spiel beherrscht: Dass sie niemals Ernst werde, diese atemlose Spannung ohne Lebenszeichen, ohne Laut. … Und dann doch das große Hallo! …endlich, beim Stolpern über die Fußspitze unterm Bett, beim Rausplatzen aus dem stickig gewordenen Winkel. Hurra! Gefunden! … Weiterspielen! So ein herrlicher Grusel. ——
Doch es wurde Wirklichkeit – das atemlose Schweigen, das einen von ihnen geschluckt und eingemauert hatte.
Der beste Freund, der Meister, der Sohn war der Versteckte. Kein Kinderspiel mehr. Todernst.
Den Sabbat über mussten sie still halten. Zählen wie die Kinder, die den Kopf in die Hände legen und beides an der Wand abstützen. … Die meisten schummeln. Und sind ganz schnell bei „Hundert!“, weil es so kribbelt, los zu laufen und zu suchen. Die drei Frauen dagegen konnten die Zeit nicht beschleunigen.
Von dem Augenblick am Nachmittag, als die Männer den Toten hastig davontrugen, bis in die frühen Morgenstunden des dritten Tages verging für sie eine Ewigkeit. Genug, dass sich das Bild in ihnen einbrannte, das Bild, auf das jeder ihrer Gedanken zitternd wies, wie die Magnetnadel nach dem Pol: Der Verletzte, der Geschundene, der Tote.
Es zieht sie an mit aller Gewalt. Sie müssen zu ihm.
In diesem Zwang liegt mehr als Pietät.
Wir haben in den letzten Wochen entsetzliche und urkomische Beispiele erlebt für solche Anziehungskraft des Körpers eines Menschen, mit dem man nicht fertig ist: Die herzzerreißende Suche in den französischen Alpen lässt uns die Tragik ahnen. Die skurrile Anteilnahme an der feierlichen Bestattung des vor fünfhundert Jahren verschollenen buckligen Königs Richard III. von England bezeugt neben allem anderen auch die Unruhe, die ein nicht auffindbarer Leichnam schürt.
Die Frauen müssen ihn darum suchen. Um dem Schmerz zu begegnen. Um der Unruhe beizukommen. Tote brauchen ihren Ort! … Sonst suchen sie uns heim. …Wenn wir sie nicht aufsuchen können, dann spielen sie Verstecken mit uns.
Und darum ist der Schreck so eisig, so grausam, so schwindelerregend als sie suchen … und nicht finden können!
Die aufgebrochene Grabkammer, der Fremde darin, den sie nicht kennen und nicht verstehen.
Er allerdings weiß offenkundig, was hier gespielt wird: „Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten.“ — Ja, den suchen wir! Wo ist er? Wo ist er? Wo ist er?
Nicht hier. Nicht zu finden. Verschwunden. Versteckt. ——
… Was mag da zwischen dem benommenen Schädel und den weichen Knien der drei Frauen vor sich gegangen sein, ehe sie aus dem Gab hinaustorkelten und davonflatterten?
Ob sie so bibelfest waren, dass sie den Fluch aus dem Propheten Hesekiel (2621) im Herzen hämmern fühlten, in dem es heißt: „Ja, tödlichem Schrecken gebe ich dich preis, dass es aus ist mit dir und man dich nie mehr findet, wenn man nach dir sucht, spricht Gott der HERR“?
Oder sollten sie sich gar erinnert haben, wie es in der Schrift heißt, nachdem der große und heilige Prophet Elia vor den Augen seines Jüngers Elisa lebendig in den Himmel aufgenommen wurde: „Man sandte hin fünfzig Männer und diese suchten Elia drei (!) Tage; aber sie fanden ihn nicht. Und sie kamen zu Elisa zurück … und er sprach zu ihnen: Sagte ich euch nicht, ihr solltet nicht hingehen?“ (2.Könige217f)? ——
Wie auch immer – ob sie in der Unauffindbarkeit Jesu ein Zeichen seiner endgültigen Verwerfung oder aber die Spur eines rätselhaften, uns Sterblichen entzogenen Handelns Gottes gesehen haben mögen – …wie auch immer: Die niederschmetternde Vergeblichkeit ihrer Suche fährt uns noch nach zweitausend Jahren in die Glieder. …………
Es ist der beinahe nihilistische Schmerz, den ein so menschlicher, vermeintlich heiterer Dichter wie Matthias Claudius (†1815) in der verhaltenen, aber umso schnürenderen Klage um seine Lieblingstochter Christiane ausdrückt, den Augenstern seines Alters:
„Das Sternlein ist verschwunden;
Ich suche hin und her,
Wo ich es sonst gefunden,
Und find’ es nun nicht mehr.“
Unmittelbar nach der Totenklage auf die Tochter, die sich nicht mehr finden lässt, heißt es im Wandsbecker Boten, den gesammelten Schriften des frommen und ehrlichen Claudius:
„Ach, es ist so finster in des Todes Kammer,
Und so traurig, wenn er sich bewegt
Und nun aufhebt seinen schweren Hammer,
Und die Stunde schlägt.“
Und ungefähr so, … so trostlos scheint das Markusevangelium enden zu wollen, nein, abzubrechen.
Die Osterstunde, die hier schlägt, verhallt in der Ferne wie ein schriller Misston, der als verzerrtes Echo von den Wänden des leeren Grabes her scheppert: „…denn sie fürchteten sich, …denn sie fürchteten sich, …denn sie fürchteten sich … fürchteten sich …sich …ich …“
……. Aber der Gesuchte, der nicht zu finden war, war eben wirklich nicht mehr begraben, war wirklich nicht mehr dort, wo der Tod erstarrte, willen- und leblose Leichname verbirgt, bis ein Archäologe kommt und sie ausbuddelt.
Sein Nicht-Dasein, wo der Tod ihn unter Verschluss hatte, ist daher ein erstes, ernst zu nehmendes Lebenszeichen!
Aber noch wichtiger ist das, was der Engel den Frauen sagte: „Ihr sucht ihn – er ist nicht hier – er geht vor euch hin“, … bloß an diesem Ort und dieser Stelle konnten sie das unmöglich begreifen.
Sie waren ja so völlig durchdrungen von der Gewissheit, den Ort des Findens betreten zu haben … wenn nur der Stein sie nicht hinderte. …Und nun war der Stein nicht mehr im Weg gewesen … aber statt zu finden und im Finden das Schrecklichste hart auf hart - Leiche auf Stein - bestätigt zu sehen, sollten sie … weiter suchen!? … Sollten nun erst recht, sollten mit den kaum noch vorhandenen Resten an Neugierde und Entdeckerbereitschaft, sollten wie mit Abenteuer- und Lebenslust suchen!?
… Es war ihnen unmöglich an jenem Tag, … es wäre uns unmöglich!
Und doch ist etwas geschehen, … geschehen, so dass Markus überhaupt die Geschichte der äußerlich verstummten und innerlich gelähmten Frauen erfahren und als letztes Wunder in seinem Evangelium aufschreiben konnte: Denn ein Wunder ist es ja, dass wir heute diese Geschichte hören können, die endet mit den Worten: „Und sie sagten niemand etwas“!
Was ist geschehen? — Die Suche ging weiter!
Nicht als Kinderspiel, aber im Geist derer, die es endlich doch verstanden und wagten, dass wir Gottes Reich und Wahrheit wie die Kinder empfangen müssen (vgl.Mk1015)!
Wenn wir das Gesuchte nämlich nicht finden, wo es unserer Überzeugung nach, nach den Feststellungen der Wissenschaft, nach der Gesetzmäßigkeit unserer Erfahrungen sein muss – dann heißt es eben, entweder die Suche aufzugeben, weil wir logisch mit keinem Ergebnis mehr rechnen, … oder es bedeutet andernorts weiter zu suchen.
Und da scheiden sich nun die Geister.
Die einen sagen: Man wird nichts finden! Die andern sagen: Noch nicht genug gesucht!
Die Frauen, deren Suche am leeren Grab zunächst scheiterte, die Jünger Jesu insgesamt, Markus, der das Evangelium mit der Suchmeldung zum Schluss verfasste: Sie werden letztlich vom Schlag der Unbeirrten gewesen sein – sonst kämen heute nicht Millionen Menschen in der Welt zusammen, um an Ostern die beste Botschaft der Welt zu hören: Die Botschaft, dass die Suche nach Jesus, dem Gekreuzigten zu Jesus dem Lebendigen führt, und dass diese Suche das ganze Leben wert ist, weil man dabei nichts verlieren, aber immerwährendes Leben gewinnen kann! —
Sie haben also weiter gesucht nach dem furchtbaren, wunderbaren Ostermorgen, an dem die Sonne aufging und sie doch noch gar nichts erkennen und fassen konnten.
Es ging weiter, … so wie ganz am Anfang in Galiläa, damals als Jesu Weg und Wunder gerade begannen! Da heißt es nämlich: „Er ging an eine einsame Stätte und betete daselbst. Und Simon mit denen, die bei ihm waren, eilte ihm nach. Und da sie ihn fanden, sprachen sie zu ihm: Jedermann sucht dich. Und er sprach zu ihnen: Laßt uns anderswohin in die nächsten Städte gehen, dass ich daselbst auch predige; denn dazu bin ich gekommen.“ (Mk135ff)
Merken wir’s nun vielleicht? Geht uns vielleicht auch die österliche Sonne auf?
— Jesus ist gekommen, um gesucht zu werden! Und er wurde auferweckt, damit er weiter, weiter, immer weiter ziehen und gesucht werden könne!
Es ist also kein Unfall, kein Versehen, dass Jesus uns nicht als der Gefundene an diesem Ostermorgen begegnet, sondern als der GESUCHTE! Denn es zeigt uns, dass wir heute an Ostern eben nicht das Ende der Geschichte, sondern einen Anfang feiern, dessen Fortsetzung bis heute und weit darüber hinaus führt.
Jesus lebt, damit Menschen überall dazu bewegt werden, nicht klein bei-, nicht aufzugeben, sondern in Hoffnung und Vertrauen weiter zu sehen, weiter zu suchen und weiter zu gehen als üblich und als sie selber oft für möglich halten! —
Matthias Claudius hat diesen Auftrag und diese Zuversicht, dass es sich lohnt, zu suchen, weil es mehr gibt und weil es weiter geht, als der menschliche Horizont verspricht, nicht den Schriftgelehrten, nicht den Philosophen, nicht den von Berufs wegen Aufgeklärten überlassen.
Er konnte ebenso gut an eine Prinzessin schreiben:
„Dass der Mensch nicht bloß hier lebe
Für den Dunkelblick
Und es bessre Weisheit gebe
Und ein bessres Glück“*,
wie er der einfältigen Hausmagd und Sternseherin Lise den selben österlichen Forscherdrang abspürte:
„Es saget unterm Himmelszelt
Mein Herz mir in der Brust:
Es gibt noch Bess’res in der Welt
Als all ihr Schmerz und Lust.»
Ich werf mich auf mein Lager hin
Und liege lange wach
Und suche es in meinem Sinn
Und sehne mich danach.“**
Das ist nicht so trivial, wie es uns zunächst scheinen mag.
Es ist auch nicht Ausdruck eines bloß naiven Glaubens, mit dem Claudius’ Stil immer wieder verwechselt wird. Und auch die unzähligen Putten, die Claudius’ Freund Runge dem Licht des wirklichen Morgenrotes entgegen drängen sieht†, sprechen nicht von kindischer Harmlosigkeit, sondern von einer lebensnotwendigen und lebensfähigen Erwartung des Neuen. —
Es gibt „noch Bess’res“ in der Welt!!!
„Etwas Besseres als den Tod findest du überall“: Diese Gewissheit der Bremer Stadtmusikanten ist das reine Evangelium in der Verkleidung des Märchens. Und sie ist zugleich ein so starker, klarer Widerspruch gegen die Logik der gesamten Welt … auch gegen unsere eigene Logik, die immer noch nicht wagt, mehr zu suchen als den Tod.
Erst wenn wir diese Trostlosigkeit bedenken, die tatsächlich überall nur auf den Tod und auf Tote zu stoßen erwartet, erkennen wir, was Ostern wirklich ist:
Ein ganz neues Licht!
Eine ganz andere Welt!
Eine Welt der Verheißung.
Eine Welt voller Aussichten.
Eine Welt, die weiter geht.
Eine Welt, durch die der auferweckte Jesus Christus weiter zieht.
Eine Welt, in der wir nie am Ende sein werden, solange er uns vorangeht!
Eine Welt, in der wir mehr finden sollen, als je gesucht wurde:
Wir werden das wahre Leben finden, …die Herrlichkeit des Lebens, …die unzerstörbare Freude des Lebens, das Gott dem Auferweckten verliehen hat, damit er alle so anziehe, wie es Israel verheißen und nach Ostern der Menschheit, die sich von ihren eigenen Erfindungen zu lösen bereit ist, eröffnet wurde:
„Suchet mich, so werdet ihr leben!“ (Amos54)!
— Sucht ihn!
Sucht Jesus!
Helft mit, dass es wirklich bald heißt: „Jedermann sucht dich!“
Dann wird Ostern so in Erfüllung gehen, wie Jeremia (2913f) es versprochen und Markus es mit dem Schluss seines Evangeliums zum dringlichsten Anliegen des Glaubens gemacht hat:
„Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen!, spricht der HERR.“
Amen.
* Wandsbecker Bote Jahrgang 1792: Wiegenlied für die neugeborene Prinzessin von Dänemark mit einer Schlußapostrophe an Se.K.H. den Kronprinzen.
** Wandsbecker Bote Jahrgang 1803.
† Auf dem Liedblatt waren Ausschnitte einer Vorstudie Philipp Otto Runges zu seinem großen Werk „Aurora“ abgebildet, verbunden mit dem die „Aurora“ deutenden Zitat Runges in einem Brief an seinen Bruder: „Sieh’, so freut sich die Welt des Lichts, das Gott ausgehen ließ.“
Karfreitag 03.04.2015 Stadtkirche Johannes 19,16b-30 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag - 3.IV.2015
Johannes 19,16-30
Liebe Gemeinde!
Wer in diesem Jahr an Karfreitag nichts von Trauer spürt, der spürt gar nichts mehr.
Die Zeit hat uns das Traurigsein wieder gelehrt – und der Glaube widerspricht heute nicht.
Gewalt beherrscht die Welt in nackter Gestalt. Dabei kannten wir sie doch seit langem nur verhüllt und versteckt. Darum ist alle Erschütterung, die uns jetzt heimsucht, wenn Terror in bekannten Gefilden losschlägt und Flüchtlingsschicksale in der Nachbarschaft herrschen und Unglück über der Stadt liegt, auch eine Spur zu sehr von Selbstmitleid geprägt:
Besonders würgt uns nun einmal jene Not, die wir nicht übersehen, nicht leugnen können. Und dann ist unser Traurigsein über die Welt, über ihr Leid eben oft mit dem Gedanken an unsre größte Sorge verbunden: Könnte alles, was zu beklagen und zu befürchten ist, nicht auch mich treffen? Könnte der Rauch am Horizont schon der Brand sein, der mein Glück vernichten wird? Könnte der Sturm in der Ferne auch schwenken und meine Welt davontragen? Könnten die immer noch unbekannten Opfer von heute nur darauf warten, dass in der gleichen Fußnote der Geschichte neben ihnen bald auch unser Unglück oder das Unglück unserer Kinder verzeichnet wird? —
Eine eigentümlich karfreitägliche Anekdote überliefert der Diplomat und Schriftsteller Carl J. Burckhardt aus dem April 1919, als im Nachkriegs-Wien die Grippe Menschen in Schwaden wie Heu dahinmähte. Er saß im leeren, stillen Prater und neben ihm grantelte ein philosophischer Strizzi: „«Daß die da droben», er zeigte zum Himmel, «jetzt nach allem, was geschehen ist, ein Frühjahr mochen, dös soll verstehn, wer will!» Dann setzte er das Wundervolle hinzu, das den ganzen Wiener Barock enthält: «Wern jetzt vüll Feierlichkeiten hobn dort obn mit die vülln neuen Totn!» Und er meinte: «An uns zu denken, hobn’s keine Zeit!»“ *
… Die noch das Leben und sogar den Frühling haben, sind trotzdem unzufrieden … für die Toten wird zuviel getan!
… Wir, die immer noch so viel Sicherheit haben und von Schrecken meist nur hören, … wir sind inzwischen beunruhigt, weil das weltweite Grauen die heiße Luft der Nachrichten in eine ungewohnte Richtung – hinüber zu uns, nicht hinweg auf’s offene Meer – weht.
Denn wirklich weh tut nur, was mich anweht. Alles andere ist unwirklich unwichtig. —
– Das ist furchtbar! Und doch wahr! ……. Der Glaube widerspricht heute nicht.
Sondern sagt:
Geh zur Schädelstätte Golgatha. Da siehst Du die Gewalt nun wirklich aus nächster Nähe. Da kannst Du Schmerz erleben und Sterben sehen.
Und siehe da!: Es weht tatsächlich in Deine Richtung! Es geht Dich an.
… Wenn Du Dir vorstellst, dass das Dein Sterben sein könnte – und das stellst Du Dir ja immer vor, wenn Du etwas überhaupt wahrnimmst und es nicht gleich weg lügst –, … wenn Du Dir da vorstellst, es könnte Dein Sterben sein, dann schau es Dir genau an. … Aber es wird wehtun!
Dazu hat Dein Seelsorger Johannes es allerding auch beschrieben, damit Du ahnst, dass Dich Dinge betreffen werden, die Du gern und lange für fremde Geschichten, andererleuts Sorgen hieltest.
Johannes hat das Sterben Jesu so geschildert, dass es Dich bei aller Unvergleichlichkeit trotzdem erkennen lässt, wie auch Du sterben wirst … wie und wann auch immer.
Es sind vier Stufen, die immer näher an den Tod führen:
(1) Am Anfang stirbt die große Welt für Dich.
Die große Welt, die Jesus noch einmal berührt in Gestalt des Pilatus und seines Einordnungsversuches. Die Welt macht sich auf jeden einen Reim; irgendwie hat jeder in ihr seinen Platz. Die Wenigsten suchen sich ihn selber aus.
Und nicht vielen wird es so schwarz-auf-weiß noch aufgezwungen wie Jesus, dass andere ausgerechnet das Beste an uns unerträglich finden: Bei ihm jedoch wird gerade der Ehrentitel – „König der Juden : Fürst über Gottes Volk“ – zum Spottgedicht und zum Beweggrund seiner Vernichtung.
Aber eine Erinnerung, die wir nicht mehr ändern können, und eine Lücke, in die anderweitig nachgefüllt wird, was mit uns verloren geht: die hinterlässt jeder.
Ob es dabei sinnvoll oder unwahr ist, was dann übrigbleibt, ob unser Zusammenhang mit dem großen Ganzen erkannt wurde oder unbeachtet bleibt … das spielt schon keine Rolle mehr. Alles, was über uns in der Chronik der Menschheit geschrieben werden könnte, erlischt noch während wir atmen.
Es trifft Jesus schlicht nicht mehr, was über ihn von höchster Stelle, von Pilatus her verbreitet wird.
Die große Welt hat als Erstes ihre Bedeutung verloren. ——
(2) Danach verlieren die Kleinigkeiten ihr Gewicht.
Das, was uns wie Ernst begegnet und doch bloß ein Spiel ist: Dinge wie Kleiderfragen, Verteilungsfragen, Gewinnfragen, der ganze dumpfe Eifer der Soldaten, in deren Verhalten Widersprüche sich so nahtlos verbinden, … kühle Berechnung und Glücksspiel … und beides gilt bloß einem Fetzen Stoff, einem Rock!
Was Du wert bist und wie andere Deine Hinterlassenschaft einschätzen, was sie begehren und wie sie es sich aneignen: Auch das Gezerre geht schon los, wenn Du noch da bist.
Das ganze Spiel um Sein und Haben, das so nebensächlich, so unverständlich scheint, wenn man es nicht mehr treiben kann und will, … es findet trotzdem statt.
Es wird gewürfelt um die leere Hülle, obwohl über deren Inhalt die Würfel längst gefallen sind …….
Wie furchtbare wäre es, wenn diese Dinge, diese Nichtigkeiten den Sterbenden noch quälten! Aber sie sind ihm längst wertlos geworden. Gestorben wird nackt.
Das Äußerliche ist als Zweites zerronnen. ——
(3) Als Drittes – auch wenn der Gedanke bis zuletzt schmerzt – als Drittes verlässt Du die Liebe.
Die, die Dir nahestehen, deren Liebe Anfang und Beweggrund Deines Lebens sein kann, die, für die Du Verantwortung und Mitgefühl trägst wie das höchste Amt, das Deinem Dasein Sinn verlieh … ihr Anspruch weicht. Sie können Dich nicht festhalten – und Du sie nicht.
Sie abzugeben, sie zu verlassen fällt schwer, … keiner will es.
Und doch: Noch während sie dastehen – die Mutter, die Frauen, der Freund, … alle, die treu waren – verschwinden sie schon.
Jesus, der Fürsorger aller Menschen, überlässt seine Nächsten einander.
Das ist der Abschied: Ich kann nicht mehr für Euch da sein; seid Ihr’s füreinander. Wir müssen uns lösen. Alle Bindung vergeht. …….
Das Große, das Kleine und nun auch noch das Allernächste sind unaufhaltsam vergangen. ——
(4) Als Letztes geht das Ich dahin.
Es ist ja schon zusammengeschrumpft, eingedörrt bis auf den lodernden, unauslöschlichen Durst. In dem Herzen, in dem die ganze Welt aufgehoben war, ist nur noch das eine entsetzliche Gefühl des eigenen Erstickens.
Nie dachte er an sich. Jetzt nur noch: „Ich verschmachte.“
… Er verliert sich. … Du verlierst Dich.
Das ist saurer als aller Essig der Welt.
Jesus, der Erlöser ist selber nur noch ein unstillbares Bedürfnis.
Er zerfällt wie sein Leib am Kreuz, wie sein Leben in diesen unendlich trägen Kreuzesstunden. Er fällt hinter sich zurück. Was war er alles, …. und jetzt ist nur noch die Not, mit der ein Neugeborenes völlig unbewusst den ersten Schrei tut: Mich dürstet!
Aber der Durst am Ende weist den Sterbenden nicht zur Quelle des Lebens, wie das Kind zur Brust, sondern in die Betäubung und Bewusstlosigkeit.
Er selbst verdunstet in dieser Höllenqual.
Zum Schluss ist das Ich verdampft. ——
Das also ist das Sterben.
So bitter und so trostlos kann es mir, kann es Dir auch bevorstehen.
Johannes, den sie den Mystiker nennen und der doch in diesem Protokoll des Todes ein ungerührter Realist zu sein scheint, schont uns nicht.
Doch seine wahrheitsgemäße Schilderung der aufeinander folgenden Schritte, in denen sich das alles vollzieht, unterschlägt auch das Allerletzte nicht.
Und da stoßen wir auf ein Wort, das uns in höchste Verwunderung und Verwirrung versetzt.
Der da eins nach dem anderen hergeben und verlassen musste, der die Aufgaben und Würde des Menschenlebens eine nach der anderen sich nehmen lassen musste, stirbt als einer, der das Ziel erreicht hat: „Es ist vollbracht“.
Dieses Wort, in dem Dankbarkeit und Sicherheit so eine starke Verbindung eingehen, dieses Wort, das wie ein tiefes, friedvolles „Amen“ unter den Abschied von sich selbst und den Seinen und vom Alltag und von der Welt gesetzt ist – dieses Ausatmen in Vollendung … das verändert rückblickend alles, was wir da eben als eine uns zutiefst betreffende Schilderung des Absterbens verstanden haben: Uns schien es Schritt für Schritt eine Steigerung der Katastrophe, eine sich mehrende Bestätigung der Ängste, die uns bewegen.
Aber auf dem Gipfel, da wo uns Hören und Sehen, Fühlen, Denken und Tun vergehen – und Ihm ja auch! –, da ist dennoch nicht die Zerstörung vollständig, da triumphiert nicht die Kraft, die alles zergliedert und zermalmt, sondern da steht das Wort des Ohnmächtigen: „So sollte es sein! Nun ist es vollbracht.“
……. Was aber heißt das?
Ist er doch nicht so gestorben, wie wir sterben werden? Hat er einen übermenschlichen Ausweg, einen Rückzug, eine Abkürzung gewusst, die uns nicht zugänglich sind, weshalb die Schrecken ihn nicht wirklich trafen?
– Würden wir das letzte Wort so verstehen, dann wäre der Karfreitag der Tag des großen Betruges. Dann ginge uns das Elend des Gekreuzigten, seine Passion nichts an und wir müssten uns nicht Jahr für Jahr solchen seelischen und geistlichen Mühen aussetzen, sondern könnten getrost abschalten: „Das ist eine dieser Geschichten, die fern und bedeutungslos für uns sind, in denen wir uns nie wiederfinden können.“ —
Nein, es ist schon richtig, dass wir das alles auf uns beziehen, dass wir immer wieder mit Beteiligung und Beklommenheit ahnen, wie sehr es unsere Situation, unsere Zukunft, unser Los sind, die uns da begegnen.
Sie sind es nämlich tatsächlich, ebenso tatsächlich wie Jesus sie ausgehalten, sie durchlitten hat und schließlich kraft- und hilflos über sich ergehen ließ.
… Nur dass Er das nicht gemusst hätte.
Ihm hätte das alles völlig erspart bleiben können.
Er war frei darin. Freiwillig.
Denn der Schmerz daran, aus der großen Welt gerissen, von den kleinen Dingen getrennt, von den Liebsten geschieden, in sich selbst zerstört zu werden … dieser Schmerz, diese Schmerzen, das waren nicht seine allein: Er, der Sohn Gottes, das fleischgewordene Wort, in dem das Leben war, durch den die Welt gemacht ist (vgl.Joh14+10), Er, der erhaben, unabhängig, unerreichbar sich alledem nicht hätte beugen und ausliefern müssen: Er hat dabei in aller Realität und Bitterkeit zwar die Erfahrungen des Menschen übernommen, aber ihr Grund lag nicht in Ihm, sondern in uns, in Dir, in mir.
In Tat und Wahrheit, in gelähmter Angst und körperlicher Schwäche bis zum Zer-brechen hat Jesus an sich selber meine Geschichte erlebt: Welche Angst ich vor der großen Weltwirklichkeit habe und wie ich trotzdem an meinem Platz darin, meiner Rolle darin eisern festhalte; wie ich den Unfug und das Unrecht durchschaue, die wir Menschen treiben und wie ich dennoch mit vollem Ernst dabei bleibe, obwohl nur mit ein paar Knöchelchen um ein paar Fetzen gespielt wird; wie ich mich von Menschen abhängig mache und sie von mir, und wie das wohltut und wehtut und Glück und Pein bedeutet, wie es mich heiligt und wie es mich hindert; und wie ich an mir selber hänge, wie ich einfach nichts anderen sein will und kann, als der Mensch, der sich instinktiv selbst verteidigt und selbst erhält, weil er sich selbst der Nächste ist, und der sich schließlich doch nicht wird retten können.
Das alles hat Jesus für Dich und für jeden anderen Menschen am seinem eigenen Leib gespürt, in seinem eigenen Innersten erlebt. Einmal für Dich ganz, einmal ganz für mich und genauso für die neben uns und für die gegen uns und für die, deren Not und Leid uns bewusst sind und für alle anderen ebenso. Für alle!
Das ist ein unglaublicher Druck, eine ungeheuerliche Menge an Lebenslast und Todesnot.
Er wollte es.
Er musste es.
Es war sein Weg und Ziel.
Warum?
— Damit der Glaube doch widersprechen lernte!
Damit es einen Grund gäbe, dass der Glaube nicht uneingeschränkt den großen Egoismus, die Ich-Bezogenheit aller unserer Welterfahrung und menschlichen Verantwortung teilte.
Damit Menschen des Glaubens an allem Leid der Welt und aller Trauer der Geschichte nicht nur deshalb teilnähmen, weil sie sich davon bedroht sehen und Angst um sich selber haben.
Denn nun wissen wir doch: Die Schrecken, die ich erleben kann, die Schmerzen, die ich leiden muss, der Tod, den ich sterben werde – die sind ein Teil dessen, was durch Jesus Christus vollbracht ist. Sie sind nicht aussichts- und nicht endlos, sondern sie gehören
Sie sind nicht aussichts- und nicht endlos, sondern sie gehören nach Golgatha, sie gehören zu Christus, sie gehören Ihm viel eher als mir und Er hat sie längst überwunden.
Mich aber macht das frei von ihnen. Frei von der Sorge, frei von der Angst, frei für die Ängstlichen, frei für die Traurigen, frei für die Schwachen, frei für die Vielen, die sich fürchten und entsetzen, frei für die, die weinen und bluten.
Befreit vom Wahn, alles als Drohung auf uns beziehen zu müssen, werden unsere Sorge und Angst vor dem Leiden am Karfreitag zu Mitleid.
Zu einem Mitleid in Freiheit.
Zu einer Kraft der Freiheit, die davon lebt, dass uns nichts bevorsteht, von dem wir nicht schon längst gehört und geglaubt hätten: „Es ist vollbracht“.
Und so werden der Glaube, das Mitleid und die Freiheit derer, die dem für alle Welt Gekreuzigten gehören, zu Vorboten des neuen Lebens.
Denn das – das neue Leben! – hat Er im Sterben vollbracht!
Amen.
Gründonnerstag 02.04.2015 Stadtkirche Johannes 13,1-12 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Gründonnerstag - 2.IV.2015
Johannes 13,1-15
Liebe Gemeinde!
Am Gründonnerstag, bei der letzten Passafeier, die wir das „Abendmahl“ nennen, wurden die Jünger zur Gemeinde. ——
Das ist schon sonderbar, denn der Kreis der Zwölfe und der anderen Männer und Frauen, die Jesus von Nazareth nachfolgten und anhingen, scheint uns eigentlich von Anfang an das Urbild und der Ursprung unserer Gemeinschaft zu sein.
Was soll da – nachdem sie während dreier Jahre auf Schritt und Tritt (sofern er sie ließ) in Jesu Nähe geblieben waren – … was soll da am Abend vor seinem Tod geschehen sein, das sie zu mehr als seinen eifrigsten Schülern und Lebensgenossen gemacht hätte? – Es war Berührung.
Berührung ist ja etwas ganz heikles. Oft genug wirkt sie auf uns gênant oder herablassend, oft wirkt sie aufdringlich, zweideutig. Wir haben es nicht gern, wenn der unsichtbare Bannkreis, in dessen nach allen Seiten gleichmäßigem Abstand wir für uns sind, durchstoßen wird. Geschieht das unvermutet, so haben viele europäische Sprachen gleich ein psychisches Bild daraus gemacht: Wer „angefasst“ ist, der ist seelisch schon arg erschüttert, wen die Engländer „touchy“ nennen, der ist berührungsempfindlich in jedem Sinne des Wortes, dessen Nerven liegen blank.
Berührung also bedeutet mehr als nur ein Begegnen zweier Körper, mehr als das Gefühl, das der Händedruck, der Schulterklopfer, der Rempler oder der angelehnte Kopf, die gestreifte Wange sinnlich hinterlassen. Berührungen werden leiblich und geistig zugleich entschlüsselt und dabei immer als mehr, als nur ein Zusammenstoß zweier Objekte verstanden: Sie sind Botschaften der Körpersprache, sie sind eine eigene Kommunikation von Subjekten, um es einmal hochtrabend zu sagen. Einfach ausgedrückt: Es gibt kein noch so beiläufiges Anstoßen unter Passanten auf der Straße, bei dem sich nicht sofort die Frage im Hinterkopf regt: „Wollte der was von mir? War das ein Dieb? Hat der mich herausgefordert?“
Mögen das alles zwar im Besonderen nordeuropäische, vielleicht sogar komische englische Hemmungen sein, die in eine Welt gehören, in der man einander weder die Hände schüttelt, noch körperliche Zärtlichkeit gestattet – selbst zwischen Eltern und Kindern nicht–, und mögen folglich südliche Kulturen, orientalische Sitten viel körperbetonteren kameradschaftlichen, unmittelbaren Umgang kennen, so bleibt doch auffällig, dass Jesu Jünger ihn stets wie aus einer scheuen Distanz umgaben: Sie sahen und hörten seine Worte und Zeichen, doch nichts wird von direkter Berührung gesagt.
Dabei ist es unter Brüdern in der Bibel ja durchaus denkbar, dass man sich um den Hals fällt und auf des anderen Schulter weint, (vgl. 1.Mose 4514f), es ist durchaus nicht unüblich, dass man den Schlaf des anderen aus nächster Nähe erlebt (vgl.1.Sam.267), und selbstverständlich ist es – und für uns ja sprichwörtlich geworden –, dass man bei Erschöpfung einem anderen unter die Arme greift, wie Aaron und Hur es bei den zum Sieg segnenden, aber erschlaffenden Armen Moses taten (vgl. 2.Mose1712).
Doch solche alltäglichen Äußerungen und Gesten des Miteinanders werden von Jesus und seinen Jüngern nicht überliefert:
Er beruft sie weder durch Salbung noch Handauflegung und sie selbst greifen niemals ein, wenn er handelt. Zum Beten entfernt er sich; schlafen tut er – sogar noch im gefährlichen Sturm – nicht unmittelbar bei ihnen, sondern „hinten auf dem Schiff“ (Mk438); und es ist eine tödliche Ausnahme, wenn er einen seiner Jünger wirklich packen und vor dem Untergang bewahren muss (vgl.Matth1431), … eine Ausnahme, die den sinkenden Petrus und die anderen Jünger mit schaudernder Ehrfurcht erfüllt.
Aber unnahbar ist der von den Jüngern kaum je berührte und begriffene Jesus andererseits nun gar nicht.
Menschen fassen ihn häufig an und werden schon dadurch gesund (vgl.Matth1436); er selbst greift zu und packt kräftig an, um Petri Schwiegermutter und Jaïri Töchterlein zu retten (vgl.Matth815+925) … wo fremde Frauen dem Frommen doch eigentlich als unberührbar gelten; und ist es erforderlich, so legt er die Finger auf und in erkrankte Organe, ja er berührt mit seinem Speichel sogar die Zunge eines anderen (vgl.Mk733+823).Die Kinder herzt Jesus ganz selbstverständlich (vgl.Mk1016); Brote und Fische nimmt er selber in die Hand, um sie alsdann unter den Fünftausend austeilen zu lassen (vgl.Mk641); er überwindet allen Ekel, der uns sonst auf Abstand hält, als er den Leprakranken bewusst berührt (vgl.Lk513); und er wehrt auch derjenigen nicht, die sich förmlich an ihm vergreift, indem sie ihn mit Salbe und Symbolhandlungen überschüttet (vgl. Lk738). —
Er ist also wahrhaftig mit Haut und Haaren Heiland, … Heiland zum Anfassen, Heiland ohne Berührungsscheu. — Doch umso auffallender bleibt es, dass der Körpereinsatz des menschgewordenen Erlösers den dahergelaufenen Hilfsbedürftigen, den Feld-, Wald- und Wiesen-Menschen gilt und seine unmittelbare Jüngerschaft daneben nur als Zeugen begegnen, die sehen und hören, aber nicht erfasst werden.
Doch gerade das macht die Zwölf ja tatsächlich zu unseresgleichen: Genau wie sie erfahren wir das Werk und die Wirkung Jesu ja nicht direkt und buchstäblich aus erster Hand. Auch wir hören und betrachten wohl wie sie seine Taten und Wunder, doch davon „ergriffen“ im wörtlichen Sinne werden wir ebenfalls nicht. …….
Wenn das aber zutrifft, dann bringt dieser Abend für uns miteinander die Wende! Und dann verstehen wir, warum Petrus und die anderen Jünger so fassungslos reagieren, als Jesus zum ersten und entscheidenden Mal auch sie anrührt.
Es heißt da: „Er liebte sie bis ans Ende“.
… Das hatten sie bisher nur beobachten können: Wie väterlich, wie mütterlich, wie leiblich, menschlich, sinnenfällig seine Liebe Verletzte anfasste, Kranke pflegte, Traurige tröstete, Kinder beruhigte, Schwache hob, Hungernde fütterte, Verwirrten Halt bot, Entstellte reinigte. Sie hatten ihn sorgen, streicheln, stillen, stützen, schenken und besänftigen sehen. Sie kannten alle seine Handgriffe, sein ganzes Handwerk des Helfens, das allem anderen voranging und den Bedürftigen und ihrem grenzenlosen Zutrauen zugutekam. …
Und nun, im letzten Augenblick, kurz bevor seine helfenden Hände hilflos werden sollten, … nun kniet er vor ihnen – den Augenzeugen – und sie selber sollen es spüren: Die Hilfe Gottes, die durch jede Pore dringt, die Nähe Gottes, die in Mark und Bein zieht, die Sprache der Liebe Gottes, die anders als das Geistige und Gedankliche nicht über den Verstand, nicht über das Gehör oder Gesicht oder Gemüt, sondern von Grund auf begriffen werden kann, die sogar die Füße, die da gewaschen werden, verstehen.
Petrus bringt es aus der Fassung, dass nun auch er wie ein Kind, ein Schutzbefohlener, wie irgendeiner der vielen ahnungslosen Menschen sich und seinen Weg, sein Leben einfach und unmittelbar in Jesu Hände geben soll.
… Er wagt es erst nicht, dann überwältigt es ihn, er stammelt und verliert sich im Überschwang der Erfahrung, dass aus allem Gesehenen und Gehörten nun das andere werden soll … das Fremde, das ihm und den Jüngern bisher nicht Gegebene: Aus dem Gesehenen, Gehörten, Gedachten und Gespeicherten wird bei der Fußwaschung Gefühltes.
Wohl gemerkt: In dieser Reihenfolge!
Das Gefühl ist nicht der Grund. Der Glaube der Jüngerschar und ihre Verwandlung zur Gemeinde beginnen nicht im Gefühligen, sondern umgekehrt: Drei Jahre lang ist ihr Kopf, ihr Geist gefordert und am Ende erst wird alles sozusagen auf die Füße gestellt, am Ende wird es von den Füßen her spürbar: Die Wohltaten des Christus, die Zuwendung Gottes, das leib-seelische Heil, das in die Welt gekommen ist, das will und muss auch seine Zeugen schließlich ganz körperlich, ganz greifbar, ganz fühlbar durchdringen.
Wenn man alles gesehen und sich gemerkt hat, wenn man alles mitbekommen und in Gedanken und Gedächtnis aufgenommen hat … dann ist es Zeit, dass das alles auch in seiner Wirklichkeit begegnet, dass der Körper es ebenso wahrnimmt wie die Seele, dann ist es Zeit zum Berührtwerden!
Nach und mit dem Erkennen und Bekennen kommt also die physische Kommunikation mit dem Heiland: Sie ist es, die aus seiner Hörerschaft, dem Kreis der Gleichgesinnten mit gemeinsamen Erfahrungen und Erinnerungen tatsächlich seine Gemeinde macht!
In dieser Hinsicht ergänzen und vertiefen sich die beiden Berichte vom Gründonnerstag gegenseitig. Sowohl die Fußwaschung als auch die Einsetzung des Abendmahls zeigen uns, dass es eine leibliche Nähe zwischen Jesus und den Seinen gibt, die alle anderen Verbindungen krönt und zusammenfasst:
Nach allem, was uns von Jesus bewusst sein kann und soll, darf … muss schließlich auch das, was ursprünglicher als alles Bewusstsein ist, mit ihm kommunizieren. Das ist jener Teil unseres Wesens, bei dem wir vom Säugling bis in’s Greisenalter zugleich abhängig und empfänglich bleiben für Pflege und Nahrung und Zuneigung.
Dort, wo wir ehe wir zu sprechen und zu verstehen anfingen, schon ansprechbar waren für alle Güte, die sich uns widmet, dort, wo wir auch nach dem Vergehen des klaren Verstandes dennoch die Zeichen und Taten brauchen und fassen, die uns das Leben ermöglichen … dort wird diese Verbindung mit Jesus geknüpft und gefestigt, erhalten und zum größten möglichen Segen! Dort, im Grund des Menschseins, im kreatürlichen Fühlen, wo Nahrung und Wasser alles sind: Dort begegnet uns Jesus heute in Waschung und Abendmahl!
Es ist eine unaussprechliche Gnade, dass es diese grundlegende Kommunikation zwischen ihm und uns gibt!
Es ist eine unaussprechliche Gabe, dass wir Jesus Christus so elementar, so zum Greifen nahe haben, … dass wir ihn – um zu leben – so ergreifen können, … dass er uns eine so schlichte, allumfassende Berührung gewährt!
Sie ist es, die uns wirklich zu seiner Gemeinde macht: Nicht zu denen, die seiner Meinung sind, nicht zu denen, die bestimmte Vorstellungen oder Regeln einüben und hochhalten, sondern zu denen, die subjektiv mit ihm kommunizieren, die ihn spüren, in sich aufnehmen und erfahren dürfen, dass sie von ihm leben.
Das also ist das Abendmahl: Jene Berührung, die aus dem allgemein und mit Abstand Erkannten das macht, was mich mit Haut und Haaren angeht, weil es das Begriffene in die Sprache des ganzen Menschen, in die Erfahrung von Seele und Leib, von Fleisch und Blut übersetzt.
Es ist das einfache Werk, von dem Luther spricht, „die fröhlich, süße und liebliche Mahlzeit“*, in der wir dem Heiland, dem Tröster, dem Schöpfer des Menschen begegnen, dem Gott, aus dessen Wort und Tat jeder Mensch hier und in Ewigkeit alles empfängt.
Wohl uns, dass Jesus uns so berührt!
Wohl uns, dass wir in seinen Händen sind und immer sein werden!
In diesen Händen, die er allen Menschen reicht, die im Norden und im Süden, im Osten wie im Westen ausgestreckt sind, um jeden Menschen zu fassen und das Heil schlicht spüren zu lassen.
Fassen wir sie und lassen wir uns von ihnen erfassen und erfüllen!
Amen.
* Martin Luther, Haus- und Kirchenpostille: Predigt zu Lukas 22,7-16 gehalten in der Pfarrkirche zu Wittenberg am 22.April 1534: „Man sehe auf die Frucht, Nutzen und Freude dieses Sakraments. Christus hat es auf das allerleichteste und lieblichste geordnet und eingesetzt. … Er nimmt nicht ein schwer Werk. Denn Essen und Trinken ist ein leichtes, nötiges Werk, das hat man bald gelernt, ja kann’s von selbst. Dasselbe Werk nimmt unser lieber Herr Christus, und spricht: Ich habe eine fröhliche, süße und liebliche Mahlzeit zubereitet, ich will euch kein hartes, schweres Werk auflegen, … sondern ein Abendmahl setze ich ein; wenn ihr in meinem Namen zusammen kommt, und wollt von mir predigen und lehren, so nehmt Brot und Wein, und sprecht diese meine Worte darüber, so soll mein Leib und Blut da sein, wahrhaftig und wesentlich.“
Palmsonntag 29.03.2015 Stadtkirche Feier der Goldenen Konfirmation Johannes 12,12-19 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 29.III.2015 Palmarum &Goldkonfirmation
Johannes 12,12-19
Liebe Goldkonfirmandinnen und Goldkonfirmanden, liebe Gemeinde!
Ein jubelnder Auflauf der Menge und Bewegungen des Volkes wie sie im Evangelium des Palmsonntags vor uns stehen, haben für Jugendliche der sechziger Jahre eine eigentümliche Zweischneidigkeit: Sie waren die Kinder einer Elterngeneration, die den gelenkten Marschschritt und das dröhnende Grüßen aus tausend Kehlen einst als Teil der eigenen Jugend erfahren hatten. Manchen ihrer Eltern begegnete das Erlebnis des Volkskörpers und der Riesenorganisationen als Zwang, andere werden die Begeisterung der Massen als Hochgefühl des Jungseins in Erinnerung behalten und Eingliederung und Unterordnung im großen Ganzen als autoritäre Züge der Erziehung weitergeben haben.
Für die Jugend der sechziger Jahre sind Palmsonntag und „Hosianna“-Chöre womöglich also eine zweifelhafte Erinnerung an die verführbare Willenlosigkeit von Massen, die immer unmittelbar in Grausamkeit übergehen kann.
Und andererseits sind viele Angehörige Ihrer Konfirmationsjahrgänge bald nachdem sie flügge und unabhängig waren eine Generation der spontanen Willensbekundung, eine Generation des öffentlichen Protestes und der Meinungsbildung auf der Straße geworden. In den chaotischen und von den Herrschenden beargwöhnten Sprechchören der Jesus-Begeisterung scheint in dieser Sichtweise etwas vom kollektiven Revolutionsgefühl der späteren 60er Jahre vorweggenommen: Ein Aufbruch, ein Freiheitsgefühl, das sich gegen alle Regeln wehrte und schließlich ebenfalls allzu häufig in Zerstörerischem oder dessen Billigung entlud.
Der Empfang Jesu in Jerusalem ist also als Bericht von der kurzfristigen Verbindung, die zwischen der Öffentlichkeit und dem zum Volkshelden gewordenen Christus bestand, zwiespältig.
Die überschwengliche Begrüßung ist nicht wirklich nur zu begrüßen, vielmehr kann sie uns Gänsehaut machen: Die Gefahr des Missbrauchs der Masse durch den Einen, die Gefahr ihrer Entfesselung ebenso wie die ihrer Gefügigkeit liegt in der Luft. Und umgekehrt die Bedrohung, die den Einzelnen einkreist, in dem die Vielen sich kurz und eitel spiegeln, um ihn dann zu entwürdigen und zu zerstören, weil er für sie doch erst nur Seifenblase und dann Blitzableiter sein soll. ……. —
Man muss daher nicht einmal wissen, wie es weitergeht, muss nicht geprägt sein vom Neuen Testament oder heimisch in der Tradition der Karwoche, um zu ahnen, dass der tosende Auftakt mehr verspricht, als gehalten werden kann. Auf die breite Bewegung folgt die beklemmende Stille; auf den Beifall der Menge folgt ihr Buhen; auf den Applaus das Todesurteil.
So geschieht’s in der Geschichte der Menschheit nur allzu oft.
So wird es darum auch in der Geschichte des Gottesmenschen sein.
… Weh denen, die in der Menschen Hände fallen (vgl.2.Sam2414)!
Das hat uns die vergangene Woche auf bestürzende Weise gezeigt: Auch ohne dass wir etwa schon wissen könnten oder müssten, was genau geschehen ist, weist alles darauf hin, dass wir nicht nur jäh zu sehen bekamen, wie dünn das Eis des Alltags, wie fein der seidene Faden unseres Lebens immer sind, sondern wie erschreckend der Mensch ist … in seiner Not, in seinem Wahn, in seiner Bosheit und Einsamkeit.
Es kann jeder Tag, jede Stunde, jeder Weg und jede Gewohnheit vom einen auf den andern Augenblick umschlagen und zerreißen: So dass, was eben noch himmelhoch jauchzte, in die Betrübnis des Todes geschleudert wird. Und dabei wird es oft, … es wird leider oft nicht so sein, dass blindes Schicksal oder die berühmte „höhere Gewalt“ allein den Umsturz, das Unheil herbeiführten.
Es werden oft Menschenhände und Menschenschuld dazu beitragen, dass alle vorgetäuschte Sicherheit hinfällig und die Gefährdung des Lebens unverkennbar wird: Unfall, Unbedacht, Gewissenlosigkeit, Krankheit, Schwäche, Nachteil, ja überhaupt unzählige Gestalten des Unvorhersehbaren sind nun einmal jederzeit stumme, starre Statisten in den Kulissen unserer Welt. Doch irgendwann wird die eine oder andere dieser Gestalten lebendig, rührt sich, wird losgelassen, ausgeschickt, tritt auf die Bühne und wirkt mit im Spiel unserer Tage, in dem ihr eigentlich gar keine Rolle zugedacht war.
Dann verändert sich das Stück: Aus einer Komödie wird ein Drama, aus bunter Oper schwarz-weiße Pantomime, von vielen lebhaften Dialogen bleibt ein bohrender Monolog übrig. …
Natürlich ebenso auch umgekehrt – das haben Sie zum Glück in fünfzig Jahren auch erleben können: Pathos wird Heiterkeit, der Widerspenstige wird unversehens gezähmt und wo eben noch das strebende Bemüh’n kaum zugängliche Erlösung suchte, da herrschen plötzlich das lustige Varieté, der Flohzirkus des Alltags von Jedermann und Musterfrau … wie es euch gefällt. ——
So ist – mit aller Schuld und aller Unsicherheit des Menschen – … so ist das Leben.
… Aber ist das noch eine Palmsonntagspredigt?
Zumindest ist es die Geschichte des Palmsonntag.
An keinem andern biblischen Bericht wird doch die Offenheit unserer Erfahrungen so deutlich, kein anderer Vorgang lehrt uns derart mit der Kurzlebigkeit des Augenblicks zu rechnen und zurückhaltend zu bleiben mit endgültigen Feststellungen über Sinn und Bilanz unseres Lebens.
Denn die herrliche Prophezeiung des Friedenskönigs, der auf dem allerunsportlichsten, gemächlichsten Reittier in die hohe Stadt Jerusalem hineinschaukelt, klingt so erfreulich nach Entwarnung und Erholung … und läutete doch statt der endgültigen Waffenruhe die Entscheidungsschlacht zwischen Gott und denen, die Gott sein wollen, ein.
Und die Zeugen damals – vor allem die Jünger Jesu – verstanden unterdessen überhaupt nicht, was geschah.
Nur die Sensationslust, die alles aufwühlte und tränkte, die Aufmerksamkeit, die dem Phänomen des Wundertäters galt, der den toten Lazarus auferweckt hatte, … die war allgegenwärtig.
Ein Medienereignis also … und Missverständnis, ein Rummel ohne klare Erkenntnis.
Palmsonntag: der Tag der einstweiligen Halbwahrheit, des Lebens in der Schwebe, ein Tag der jederzeitigen Umschwungsmöglichkeit.
Das wäre – gerade im Blick auf die Goldene Konfirmation – vor nicht allzu langer Zeit womöglich besonders ernüchternd gewesen. Wenn der neutestamentliche Bericht so wenig Gelegenheit bietet, abschließende Ergebnisse und gesicherte Erkenntnisse zu verkünden, wenn der biblische Text statt feierlicher Schlussfolgerungen nurmehr den Hinweis nahelegt, dass der Empfang Jesu in Jerusalem dringend auf Fortsetzung, auf späteres besseres Verständnis angelegt ist, dann wären Konfirmationsjubilare ehedem vielleicht enttäuscht worden: Weil kein Summe gezogen werden kann, weil den in Ehren Ergrauten kein bleibendes Zeugnis mitzugeben ist auf den weiteren Weg zum Endgültigen, sondern bloß eine Zwischenbilanz vorliegt, ein Dokument des Übergangs. —
Doch gerade das trifft heute viel eher den lebensgeschichtlichen Nerv mit Mitte sechzig:
Eine Schwelle ist beruflich vielleicht in Sichtweite oder bereits überschritten, aber das Gefühl, nun ginge es an’s Unveränderliche, an dauerhafte, letzte Zustände, liegt vermutlich so fern wie je.
Wechsel und Wandel, die Überraschungen und Neugierde des Lebens sind unvermindert spürbar und sollen es auch bleiben.
Und darum ist der Palmsonntag als Station auf Jesu Weg, als Evangelium des Durch-gangs wohl auch zur Feier des Konfirmationsgedenkens nicht fremd oder unangemessen.
Im Gegenteil: Seine Herausforderung gilt in beweglicheren Zeiten als früher umso mehr.
So wenig wie sich beim scheinbaren Triumph unter den „Hosianna!“-Rufen schon abzeichnete, was aus der Begeisterung noch werden würde, so wenig steht irgendeiner von Ihnen, irgendeiner von uns schon an einem klaren Ziel.
Wir alle wissen vielmehr, dass das Auf und Ab, die unvorhergesehenen und freien Entwicklungen des Lebens uns noch weiterführen und dabei auch weiter formen werden: Es ist eben – wie es im 1.Johannesbrief (32), dem Brief des heutigen Evangelisten heißt – „noch nicht erschienen, was wir sein werden.“
„Wir wissen aber,“ heißt es an dieser Stelle der Bibel weiter – „wir wissen aber, wenn es erscheint, dass wir ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“
Und an dieser Stelle kriegen wir den einzigen festen Grund unter die Füße, wenn alles Sonstige am Geschehen des Palmsonntag und an unseren Erwartungen auch im Fluss bleibt: Wir können über uns selbst nur Klarheit gewinnen, wenn wir intensiv auf den sehen, der beim Einzug in der heiligen Stadt noch so undeutlich oder so mehrdeutig zu sehen ist: Willkommen zwar, aber zugleich auch missverstanden; gefeiert, aber dabei doch keinem von seinen Anhängern wirklich vertraut.
Wenn wir den sehen, wie er ist, dann können wir auch für uns selber Klarheit der Aussichten, Wegweisung und Orientierung erwarten.
Der Palmsonntag und die Palmsonntagsgemeinde leben also allein von der Fortsetzung, von dem, was folgen wird.
Das aber – so betreten es uns auch macht, wieder davon zu hören, wieder dran zu denken –, die Fortsetzung aber ist die Geschichte eines Absturzes. … Anders kann man es nicht nennen … auch nicht in diesen Tagen, die dem Begriff so eine schreckliche Anschaulichkeit geben.
Vom Gipfel der Gunst bis nach Golgatha, in den Abgrund des Grauens führte ein jäher, unerwarteter, unumkehrbarer Weg. Doch nur wenn wir den heute Bejubelten auch als den schon in der gleichen Woche dort Gekreuzigten zu sehen lernen, können wir wirklich in die Zukunft und in’s Kommende aufbrechen.
– Wie aber das?
Hieß es denn eben nicht, das Kreuz auf Golgatha sei der Absturz, sei das unwiderrufliche, fürchterliche Ende??? …………
In Haltern am See musste der Schulleiter jenes Gymnasiums, das der Tod von Schülerinnen, Schülern und Lehrerinnen so unvorstellbar getroffen hat, am Mittwoch eine Pressekonferenz geben. ……. Nichts aber konnte den Schmerz, den er zu bekunden hatte, besser ausdrücken als ein stummes Bild an der Wand hinter ihm. Dort hing ein Kruzifixus in spätromanischer Gestalt: Starr und mit vornüber geneigtem Haupt, die gewölbten Rippen des Toten wie Furchen über den entblößten Leib gezogen.
Dieses Zeugnis tiefsten Leidens hinter dem gequält um Fassung ringenden Schuldirektor ist das Bild einer doppelten Tragödie: So wie es zu sehen war, war es nämlich einerseits der Beweis letzter Übereinstimmung und Gemeinschaft zwischen dem Menschen unserer Tage und dem ewigen Gott, der in der Marter Christi alles mit uns teilt bis in den unsagbaren, den letzten Horror.
Die andere Tragödie aber, die in dieser Verbindung, ja Verschmelzung von Gottes- und Menschenschmerz aufschien, besteht im sich ankündigenden Verbot solcher sichtbaren Übereinstimmung!
Das Bundesverfassungsgericht hat im sog. „Kopftuch-Urteil“ jüngst ja entschieden, dass es verfassungswidrig sei, „Kinder auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte in Offenheit für die christlichen Bekenntnisse und für andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen“ zu erziehen*. Schluss mit der Privilegierung des Christentums!
Nach dem Willen unseres obersten Gerichtes wird demnächst das Leid, das uns jederzeit treffen kann, also nicht mehr öffentlich erkennbar mit dem Leid, das Gott längst getroffen hat, in Verbindung stehen sollen.
Es wird kein Kreuz mehr zeigen, dass auf dieser Erde niemand alleine leidet seit Jesus Christus der Menschheit eine Leidens- und eine Lebensgemeinschaft mit Gott eröffnet hat.
Wo aber diese Gemeinsamkeit des Leidens nicht mehr sicht- und sagbar wäre, da würde es auch stumm und dunkel um das, was das Kreuz von Golgatha ja noch bedeutet.
Das Kreuz Jesu Christi, der tiefste Punkt, der Abgrund der Gemeinsamkeit mit uns ist ja auch der Wendepunkt allen Leides, der Ausgangspunkt der Auferweckung.
Darum: Nur wenn wir den Bejubelten von Palmsonntag als den Gekreuzigten erkennen, … nur dann können wir auch auf Ostern blicken, können seine Auferweckung und sein Leben, unsere Hoffnung und unseren Trost sehen und feiern!
Wenn wir ihn so sehen, wie er ist – dann können wir tatsächlich in der Offenheit und den unbekannten, unvorhersehbaren Fortsetzungen unseres eigenen Lebens eine Klarheit und Richtung erkennen und wahrnehmen.
Je mehr aber von der Politik oder von unserer privaten Bequemlichkeit der Blick auf die Fortsetzung des heutigen Evangeliums, je mehr also der Blick auf das Kreuz eingeschränkt wird, desto mehr müssen wir den Palmsonntag erweitern und vertiefen!
Es wird immer wichtiger – für uns und für die Welt! –, dass wir Jesus Christus bewusst empfangen und ihm dann unser Leben und Denken auftun, ihm unsere Anteilnahme und Treue erhalten, ihn ganz in unserer Zeit und unserem ganzen Dasein aufnehmen!
Tun wir das nämlich – feiern wir heute das Evangelium seines Einzugs und Durchgangs, bleiben wir auf seiner Spur, halten wir auch sein Kreuz hoch und fest und nähern uns so der unendlichen Freude und Verheißung von Ostern – … tun wir das, dann können und werden wir leben! Weiterleben – komme, was will.
Denn dann hat das Leben in all seiner Offenheit keine Grenze, sondern ein Ziel: „Dass wir ihm gleich sein werden wenn wir ihn sehen, wie er ist!“
Das wünsche ich Ihnen, liebe Goldkonfirmanden, liebe Goldkonfirmandinnen!
Das wünsche ich uns allen!
Dass wir Palmsonntag feiern und mit Jesus weiterziehen, … weiterziehen, weiterziehen in Tod und Leben!
Amen.
* Artikel 12 Abs.6 der Landesverfassung NRW, zitiert nach: Wolfgang Sander, Mit Kopftuch, aber ohne Weihnachtsfeier, in: FAZ vom 26.03.2015, S.6.
Judika 22.03.2015 Stadtkirche Markus10,35-45 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Judika - 22.III.2015
Markus 10, 35-45
Liebe Gemeinde!
Zwei Wochen bis Karfreitag.
...Und sie hacken wie auf dem Hühnerhof: Krähen um die Wette, … gockeln, … liefern sich Hahnenkämpfe. Schließlich müssen sie sich ja beweisen: Klein-Alexander gegen Klein-Cäsar, Fritzchen gegen Fränzchen, Putin versus Poroschenko, Netanjahu contra Ahmedinedschad, Tsipras und Varoufakis gegen den Rest der Welt. Kerl gegen Kerl, Mann gegen Mann.
Dabei können wir beinah jeden beliebigen Namen einsetzen … leider auch die Knallköppe – die „Donnersöhne“ wie Jesus sie nennt –, seine Jünger Johannes und Jakobus, die beiden Klabautermänner vom See Genezareth, die gern die Größten, die Besten, die Ersten und Stärksten sein wollen in der neuen Welt.
Wir können also fast jeden Namen einsetzen, wenn es um Ehrgeiz und Wichtigtuerei geht, um den Anspruch auf Aufmerksamkeit und um die Durchsetzung dieses Anspruchs.
Etwas von der männlichen Möchtegern-Macke, etwas menschlich Großspuriges durchzieht heute beide Geschlechter und alle Gruppen der Menschheit. Nicht mehr Herkunft oder Heldentaten oder Heiligkeit versprechen dabei den Platz in der ersten Reihe, den Rang, der mit Neid gesehen wird und das Anrecht auf besondere Anerkennung, sondern noch das, was wir kaufen, noch unsere belanglosesten Gebrauchsgegenstände und unsere törichtesten Angewohnheiten sollen unterstreichen, was Jakobus und Johannes an sich selbst beobachteten: „Wir sind vorne“. —
Mag ja sein.
Aber ein Christusplatz ist das nicht. Vorne und oben – die herausragenden Stellen – sind aller Wahrscheinlichkeit nach die am ehesten christusfreie Zonen.
Christus selbst ist nämlich anderswo. Bei denen, die sich zurücknehmen oder zurückbleiben müssen und die darum für viele schlicht unsichtbar sind. Christus ist bei ihnen, im Unbeachteten, im Nichtöffentlichen, im blinden Fleck einer auf sichtbare Wichtigkeit fixierten Welt. Christus ist da, wo niemand mehr vorn dabei sein will, weil er so zielstrebig tief in den Hintergrund, in die Schatten tritt, in die Bezirke der Vergessenen und Erniedrigten.
Da, wo niemand mehr wahr- und darum auch nicht mehr ernstgenommen wird, da kann man seinen Kelch empfangen und seine Taufe erleben – die beiden Sakramente, die uns zur Gemeinde Jesu Christi machen. … Ehrenplätze in dieser Gemeinschaft, eine Loge ganz unten, ein Siegertreppchen in tiefster Dunkelheit ……. will die jemand haben? Bei Jesus Christus jedenfalls könnte man sie finden. ——
Letzte Woche ist mir von zwei Männern erzählt worden, die solche Plätze einzunehmen bereit waren.
Dabei ist einer meiner blinden Flecken so plötzlich mit mir fremden Bildern und Gesichtern bevölkert worden, dass es mir ein wenig so vorkommt, als seien mein Verstand und mein Herz entführt worden.
Man muss wissen: Vom asiatischen Christentum verstehe ich rein gar nichts und für die Missionsgeschichte des 19.Jarhunderts habe ich mich kaum interessiert. Nun saß ich vergangene Woche auf der Heimreise von einer Beerdigung im Zug, groß, breit, selbstzufrieden, am schwarzen Zwirn wahrscheinlich obendrein als Pfarrer erkennbar, … als sich eine ganz unscheinbare Frau neben mich setzte. Die hat mir den Kopf und die Gedanken mit einer Welt erfüllt, die ich nie zuvor wahrgenommen hatte. Seit dreißig Jahren nämlich lebt und wirkt sie als Seelsorgerin und theologische Dozentin in Indonesien. Und unter dem Vielen, das sie mir in nur drei Stunden geschenkt und aus Gottes Gnaden- und Wunder-Reichtum mitgeteilt hat, blieben mir die zwei Männer gleich haften, die wie Gegenbilder gegen die wichtigtuerischen Donnersöhne Jakobus und Johannes wirken.
Der eine war ein mittelloser Knabe von der Schleswig’schen Küste, der bei einem Unfall in seiner Kindheit seine Beine so verletzte, dass sie ihm abgenommen werden sollten. Der 12-jährige Ludwig Ingwer Nommensen wollte sie aber nicht verlieren und versprach Gott, er werde Sein Laufbursche, wenn Er ihn nur gesund machte.
Nommensen genas mühsam, schlug sich als junger Mann nach Barmen zur Rheinischen Mission durch, ließ sich dort ausbilden und aussenden und kam 1862 nach Sumatra, wo er im Gebiet des Batak-Stammes den Anhängern des Ahnen- und Geisterglaubens das Evangelium bringen wollte. Als der hinkende Norddeutsche zum ersten Mal von einer Anhöhe auf den riesigen Tobasee und das ihn weit umspannende Tal blickte – auf Siedlungen und Urwälder, in denen tatsächlich Kannibalismus herrschte – da war ihm, als höre er durch die einzigartige Landschaft Kirchenglocken läuten, die ein ganzes Volk zu Jesus Christus riefen.
Er wurde zum Apostel der Batak.
Und tatsächlich: 180 000 Batak-Christen trauerten bei seinem Tod fast sechzig Jahre später um ihren geistlichen Vater; heute sind es zweieinhalb Millionen Mitglieder, die zur größten evangelischen Kirche Asiens gehören.
Wie aber gelang es Nommensen – dem womöglich größten Missionar aller Zeiten –, ein ganzes Volk zu Christus zu führen? – Indem er auf allen Hochmut, allen Eigensinn jenseits seiner Bindung an Jesus verzichtete. Er lebte unter den Batak als einer der ihren, sprach ihre Sprache, übernahm ihre Kultur, teilte für den Rest seiner Tage ihre Erfahrungen.
Nommensen machte dadurch aber die Batak nicht zu etwas, das sie nicht sein und werden konnten, weil es Nachahmung eines Fremden gewesen wäre, sondern er brachte Jesus Christus heim zu ihnen, in ihre Welt, in ihr Leben. Er passte sie nicht an, sondern sich.
Das war schwer… nicht nur weil er tückischen Mord-, Gift- und Geisteranschlägen ausgesetzt war, sondern weil so vieles an der Batak-Welt Nommensen und seinen eigenen Maßstäben widerstrebte.
Besonders sein Freund und Beschützer, der Häuptling (Radja) Pontas Lumban-tobing forderte ihn heraus. Lumbantobing hatte erkannt, dass die Zeit des Dämonen- und Ahnenkultes abgelaufen war und die Zukunft der Batak entweder ein eigener Weg als Christen oder die Unterwerfung unter den aggressiven Islam sein werde, der die indonesische Welt damals stark erfasste. Aber taufen lassen wollte Lumbantobing sich trotzdem nicht.
Bis Nommensen ihm schließlich entgegenkam, indem er vorschlug, die Taufe vom Ausgang eines unglaublich populären, kulturell tief verankerten Glücksspiels abhängig zu machen. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit!
Aber Nommensen wusste, dass kein äußerer Druck und keine Gewalt erreichen, was aus dem Eigenen kommen muss.
Er überwand sich, gewann das fragliche Spiel. ...Lumbantobing wurde Christ. Und zwar bedingungslos! Nach seiner Taufe machten konkurrierende Häuptlinge ihm sofort seine bisherige Würde streitig. In der streng hierarchischen Gesellschaft der Batak-Krieger hatte Lumbantobing seine Stellung verloren. Aber bis heute ist in Indonesien sein Wort im Umlauf: „Mir genügt Jesus“.
Und gemeinsam mit Ludwig Ingwer Nommensen sah Radja Pontas Lumbantobing später die Kirche seines Volkes im Segen. ——
Was für eine reiche, volle Welt das Christentum uns doch bietet, in der alles mit allem innerlich zusammengehört: Die ehrgeizigen ersten Jünger vom See Genezareth mit den beiden Jüngern vom Toba-See auf Sumatra, die aus den Fehlern der Zebedäus-Söhne gelernt hatten. Was für eine weite, lohnende Welt, der wir angehören: Diese Welt, in der ahnungslose Pfarrer sich neben Glaubensschwestern von der anderen Seite der Erde sitzen finden und merken, wie und was und wen Gott alles erfüllt! Diese Welt, die sich für mich so plötzlich um Menschen und Bilder und Wahrheiten aus Südostasien erweitert hat! ———
Aber begreifen wir, was diese Welt unseres Glaubens, diese weltweite Kirche tatsächlich im Innersten zusammenhält?
In der schöpferischen Vielfalt der Völker, in der wechselseitigen Angewiesenheit und Ausbeutung innerhalb ihres globalen Netzes, in den Errungenschaften und den Problemen der großen Welt-Strukturen finden sich gewiss zahllose Verknüpfungen der Menschheit.
Aber wir Christen werden in allen wirtschaftlichen und politischen, in allen kulturellen und geschichtlichen Querverbindungen und Beziehungen nicht das Tragende finden und auch keine zuverlässige Verheißung erkennen können.
Was diese Welt, in der Macht und Gewalt offen oder verdeckt alles beherrschen, wirklich zusammenhält, ist nicht erkennbar. Es ist nicht vorne, es steht nicht an der Spitze. Es zeigt sich nicht.
Denn keine internationale, keine humanitäre, keine ideologische Klammer verbindet in der Mann-gegen-Mann-, in der Mensch-gegen-Mensch-Realität wirklich dauerhaft die vielen im Wettstreit um die Vorherrschaft ringenden Kräfte. Die vielen Antriebe, die um den ersten Platz buhlen – sei es, dass sie Ruhm oder Rohstoffe begehren, sei es, dass sie nach Gold oder nach Information schürfen – die vielen Antriebe, die die Menschheit beherrschen, sind noch allesamt irgendwann neidisch, mörderisch und tödlich geworden.
Dass in dieser Welt aber trotzdem weiterhin Menschen leben, dass sie trotz aller Sünde unschuldige Kinder und nicht nur vorbelastete Erben gebären, dass unter uns der Sehnsucht, der Liebe, der Hoffnung immer auf’s Neue Türen geöffnet und Helfer gewonnen werden … das liegt also nicht an den Mächten, die erkennbar herrschen.
Sondern es liegt daran, dass Jesus, der Menschensohn die Dinge auf den Kopf gestellt hat:
Er ist buchstäblich der Erste und der Letzte (vgl.Offenb2213).
Er ist der Höchste und der Allerverachtetste und Unwerteste (vgl.Jes533).
Er ist der Herr und der Knecht (vgl.Phil27).
Er ist der lebendige Sieger und der Durchbohrte, über den weltweit die Totenklage wie über ein einziges Kind gehalten wird (vgl.Sacharja1210ff).
Jesus Christus hat also die gewohnte Anordnung unseres Weltbildes, das einen eindeutigen Vordergrund und einen eindeutigen Hintergrund voraussetzt, zum Einsturz gebracht. Wer ihn wirklich kennen lernt, der verlernt zugleich die Einteilung in Wichtige und Geringe, der kann sich nicht mehr einfinden in den scheinbar klaren Verhältnissen von oben und unten, von Häuptling und Fußvolk, der kann sich nicht mehr einrichten im selbstverständlichen Gegensatz zwischen Ansehen und Übersehen-Werden.
Denn alles das verkehrt sich, wenn wir Jesus betrachten und gehorchen, … es verkehrt sich und dreht sich um, wenn wir seinen Weg gehen, … es dreht sich alles, ja es schwankt und torkelt geradezu durcheinander, wenn wir seinen Kelch trinken.
Weil der kleine Dienst, den Jesus hier an einem sterbenden Kind und da an einer kranken Frau und dort an einem einsamen Betrüger übt, in der Menschheit so viel mehr bewirkt hat als ganze Indien-Feldzüge und Amerika-Entdeckungen und Mondlandungen.
Dass Jesus Sünden vergibt, hat in der Weltgeschichte mehr geholfen, als das ganze römische Wegenetz.
Dass Jesus die Armen seligpreist, das hat endgültigere Bedeutung als die Relativitätstheorie.
Dass in Jesus das Reich Gottes naheherbeigekommen ist, das hat auf’s Ganze gesehen mehr verändert als die technischen Quantensprünge der letzten zweihundert Jahre.
Und dass Jesus in seiner ungeteilten Hingabe an die Kleinen und in seinem freiwilligen Opfer für die Verlorenen sich schließlich alles nehmen ließ – das hat uns allen alles geschenkt. Es hat die Werte der Welt vollkommen umgewertet. Es hat die Gnade stärker als den Hass, es hat die Nächstenliebe wahrer als die Selbstsucht, es hat die Zukunft möglich gemacht und durch das Sterben den Tod entmachtet.
Alles ist umgekehrt worden: Schwache wurden die Wichtigsten, Unbedeutende wurden der Mittelpunkt, Verzicht wurde Gewinn, Erleiden wurde Freiheit, Demütige wurden Maßstäbe.
Der Besiegte wurde der Retter.
Und selbst die frühesten Jünger mit ihrem Ehrgeiz, im Reich Gottes Ehrenplätze einzunehmen, wurden verwandelt: Jakobus, dem stürmischen Donnersohn wurde der Vorzug zuteil, nicht durch Erhabenheit, sondern als Erster schlicht und beinah beiläufig durch Sterben seine Zugehörigkeit zu Jesus zu besiegeln (vgl.Apg122), während sein Bruder Johannes bis ganz zuletzt warten und übrig bleiben musste, als alle anderen Jünger schon längst in die Herrlichkeit gerufen worden waren (vgl.Joh2121f).
Das sind der Kelch und die Taufe, die Zeichen der Gemeinschaft mit Jesus:
Die Bereitschaft dafür, dass alles ganz anders kommt, als wir wünschten und alles ganz anders gilt, als man meint.
Weil unser Herr ein Knecht ist, der der Erlösung der Welt dient!
Amen.
Offene Schuld
Herr, uns ist das Kreuz nicht lieb. Es überfordert uns – in jeder Hinsicht, jeder Richtung.
Allein schon, weil es zu viele Hinweise enthält.
Wir sehen alles am liebsten ja nur von einem einzigen Punkt aus. Von uns aus.
Weil wir uns zum Mittelpunkt machen.
Da wird uns das Kreuz schon zur Anfechtung:
Weil es mit seinen Armen nach rechts und nach links, zu denen auf beiden Seiten zeigt.
Und weil sein Stamm den Blick herunter lenkt und wieder hinauf weist.
… Aber so viel wollten wir ja gar nicht sehen!
Wir wollen nicht erkennen, wer und was alles neben und, unter uns, über uns zu sehen wäre.
Wir wollen, dass sich alles um uns dreht. …
Doch das Kreuz zeigt mehr: Mehr Tiefe, mehr Höhe, mehr Weite.
Darum ist und das Kreuz nicht lieb.
Und darum bitten wir Dich im Zeichen des Kreuzes um Vergebung.
Kyrie eleison!
Fürbitten
Herr, allen Deinen Gläubigen bist Du nah!
Um Dich herum, zur Rechten und zur Linken hältst Du sie durch Deine große Liebe zusammen.
Keiner von uns allen steht Dir fern – allen stehst Du zur Seite.
Besonders um die Erniedrigten, um die Verdrängten und Übersehenen aber kämpfst Du.
In ihre Dunkelheit trägst Du Dein Licht;
in ihrer Traurigkeit weckst Du Deine Freude;
in ihre Wunden strömt Deine Heilung;
ihre Lasten des Lebens und Sterbens willst Du leichter machen.
Darum bitten wir Dich, Herr: Mach’ uns würdig, dass wir diesen Dienst teilen dürfen.
Bewahre uns vor dem Hochmut und vor der Dummheit, die fremde Not nicht wahrnehmen.
Unterweise und verwandle uns in der Kunst der Umkehrung.
Hilf uns, das Blendende zu durchschauen und das Kümmerliche zu sehen.
Hilf uns, den Zwang unserer Hochstapelei abzuwerfen und die Freiwilligkeit der Ehrlichen kennen zu lernen.
Lass uns unsere eigene Misere erkennen und mit den Miserablen der Erde Gemeinschaft halten.
Nimm die bösen Geister der Trennung und der Unterscheidung aus unseren Herzen und gib uns den Geist der Demut und der Menschlichkeit.
Mache uns taub für das hohle Gesäusel der Anerkennung und empfänglich für die klaren Anweisungen Deines Wortes.
Zerstöre unsere Einbildungen und schenke uns aus dem Kelch der bitteren Wahrheit ein.
Schone uns nicht, sondern taufe uns mit den Wassern, mit denen Deine Zeugen gewaschen werden.
Nimm uns den inneren und äußeren Mächten, die uns formen wollen, und stelle uns für Dich frei.
Denn Du genügst!
Und in Deiner Herrlichkeit, inmitten der Deinen wollen wir Dir danken, dass Du uns erlöst hast!
Okuli 08.03.2015 Stadtkirche Lukas 9,57-62 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Okuli - 8.III.2015
Lukas 9,57-62
Liebe Gemeinde!
Merke: Christus ist nichts für Weicheier, denn das Christentum ist nicht romantisch. Sonst wäre der Blick zurück erlaubt.
Das wäre nämlich doch wirklich eine treffende Formel für alles Romantische:
„Der Blick zurück“. … Der Blick zurück in eine als unverdorben und heil empfundene Zeit, der Blick zurück auf ein Leben und eine Kunst, die tiefer waren als die Oberflächlichkeit des Tages, der Blick zurück auf eigene Erfahrungen von Unschuld und Jugend, die immer vollkommener werden, je unvollkommener man sich ihrer erinnern kann.
Diese Haltung des Rückblicks, diese Feier der Sehnsucht, des Abschieds, der Wehmut – sie sind nicht nur kulturell das Lebensgefühl alles dessen, was wir als „romantisch“ bezeichnen können, sondern sie können auch seelisch, ja sogar politisch einen ganzen Lebensstil bestimmen.
Eine Kultur des Blicks zurück, manchmal sogar ein Kultus des letzten Blicks hat viele von uns – sicher nicht nur meine Familie – geprägt, seit Vertreibung und Flucht es zu einer traumatisch wiederkehrenden und beschworenen Erinnerung machten: Als man ein letztes Mal über die Schwelle musste, als man Haus und Hof auf Nimmerwiedersehen verließ, als hinterm Horizont die Heimat versank. So hat es sich vererbt, dass das nicht nur sentimentale Motive der Hochromantik und des Kunstliedes sind – der wehmütig in die Runde schweifende Blick über’s stille Tal und dann das Scheiden, das „herbste Leiden, der letzte Gang“ –; es hat sich vererbt, dass das nicht nur Kitsch, sondern Krieg und Krise, dass es nicht nur Gefühl, sondern reale Gefahr sein kann, alles abbrechen und endgültig verlassen zu müssen.
In mir etwa sitzt es darum tief, nahezu jeden Abschiedsblick bis an die letzte Wegbiegung bewusst aufzunehmen.
……. Was für eine Weicheierei! Dafür wäre ein romantisches Christentum nun natürlich wie geschaffen! … Ein romantisches Christentum, das uns die Bitterkeit auskosten lässt, das sie uns gestattet – und dann hilft, mit den Erfahrungen von Verlusten und Verlassen behutsam, verständnisvoll und allmählich heilsam umzugehen.
… Stattdessen aber ereilt uns eine eiskalte Dusche, ein Kinnhaken der heiligen Faust Jesu!
– Wumm!
Wer immer sich da noch über die vermeintlich feminine Ausrichtung der Kirche, über Gefühligkeit oder Weichheit des Christentums moquiert, weiß nicht wovon er spricht: Härter können die Rambos vom IS kaum sein, denen derzeit die Mädchenherzen in vorbildlich assimilierten pakistanischen Familien Englands derart zufliegen, dass es einen regelrechten, den Menschenverstand beleidigenden Strom von Schülerinnen gibt, die zum Heldenheiraten nach Syrien fliehen.
Härter als die Zumutungen, die Jesus hier eine nach der anderen austeilt, sind die steinzeitlichen Blutbäder und die brachiale Aufmerksamkeitsbalz der Terroristen gewiss nicht – und dennoch ganz anders!!
Die ganze unbedingte Härte Jesu, die uns hier trifft, die sitzt, wie eine Ohrfeige, zielt nämlich von Anfang an nicht auf andere. Sie zielt aber auch nicht wie die selbstquälerischen Methoden der alten Buße und der neuen Eitelkeit auf Schmerzpunkte des Ich, die gereizt und überwunden werden müssen, um irgendeinen Triumph feiern zu können. Jesu Härte ist nicht mehr und nicht weniger als eine Bevormundung, die wir gar nicht erst zu unserer eigenen Leistung, zu unserm eigenen sportlichen oder seelischen Erfolg ummünzen können.
Jesus ist knallhart, weil er ohne alle Feinheiten und Rücksichten Freiheit schaffen will: Und die kommt nicht aus der Hundeschule mit der langen Leine und nicht aus dem Gesprächskreis mit den langen Leitungen. Man schämt sich zwar, es zu bemerken, aber die Jesus-Freiheit ist untherapeutisch und unpädagogisch, weder einfühlsam, noch eine Massage der Selbstheilungskräfte. Sie ist stattdessen eine Freiheit, die uns sagt:
„Was schadet, werde los. Was fesselt, zerreiße.“ – Und wenn es das gute Leben ist: Werd’ es los! Und wenn es die Familie ist: Reiß’ aus! Und ist es der Tod: Laß’ liegen!
…………. ??? — Schrecklich, einfach schrecklich ist diese Freiheit – oder?
Jeder von uns kämpft ja an einer anderen Stelle genau gegen solche Freiheitspropaganda, die verantwortungslose Männer in den besten Jahren ohne Gewissensbisse beanspruchen, um ihre Familien sitzen zu lassen; die eine ohnehin prekär stehende Generation junger Erwachsener zwingt, frei von Bindungen zu nomadisieren; die eine Vitalitäts-vergötzende Kultur zu Engelmachern für Alte treibt,… wenn nichts mehr winkt, dann rasch zum Sterbehilfe-Schnellimbiss und weiter zur anonymen Ascheentsorgung. …….
Brauchen wir angesichts derart perverser Autonomie wirklich einen Befreier, der alle Stabilität zerstört und weniger soziale Sicherheit als im Fuchsbau oder Krähenschwarm bietet?
Braucht die von schneller Illusion und virtueller Allgegenwart berauschte Welt wirklich einen Befreier, der andeutet, das unkreative Sterben könne seinetwegen aussterben und der Tod den nutzlosen Toten überlassen werden?
Braucht die haltlose Menschheit von heute wirklich noch einen Befreier, der ihr untersagt, sich umzudrehen und vom Ursprung her zu denken? ——
Natürlich nicht.
Solch einen Befreier braucht niemand … einen, der die weiche Freiheit predigt, die immer das gleiche Rezept nutzt: „Lass Dir’s gut gehen, dann bist Du frei.“ —
Jesus dagegen predigt harte Freiheit: „Frei bist Du, wenn Du das Gutgehen nicht brauchst!“
Frei ist der Mensch, der nicht das für ihn Erstbeste mit dem für ihn Nächstbesten ersetzt, weil er verzichten kann auf äußere und innere Glücksbringer, … der das Haus nicht braucht, der die Herkunft nicht braucht, der den Stolz auf das Zurückliegende nicht braucht.
Frei ist der Mensch, der bloß und nackt und schlicht sein kann, … bloß unterwegs, nicht am Ziel, … einfach ein nackter Gottesmensch, ohne die Rolle von Lieblingskind oder Übervater oder Traummann, die sonst unsere Nachrufe füllen, … frei ist der Mensch, der schlicht heute und hier sein kann, ohne mit dem Rattenschwanz all dessen, was er schon gemacht hat und geworden ist, ständig hinter sich her zu wedeln.
–— Und wenn wir uns in diesem Bild des freien Menschen nicht wiedererkennen, wenn wir aber wenigstens den Unterschied erfassen zu jener weichen Freiheit, die sich im Leben nach Gutdünken alles gönnt und zu jener aggressiven Härte, die anderen im Leben alles verweigert – dann beginnen wir zu verstehen, weshalb Jesus in seiner Härte zu uns als Befreier gesandt ist.
Weil es hart und nötig ist, dass uns gesagt wird: „Vergiss den Ort, an dem Du Dich verkriechen willst. Hör auf, Dich in der Verantwortung zu täuschen, an die Du Dich klammerst - wirst Du doch von der Verantwortung viel weniger gebraucht … Du gebrauchst sie. Und die große Spur schließlich, die Du hinterlassen willst, … die ist verweht, eh’ Du Dich umdrehst. Lös’ Dich von ihnen, willst Du frei sein und mir in die Freiheit folgen.“ —
Wer redet uns denn sonst so an?
Die Schmeichler und Verehrer, die in und um uns wirken, nicht. Die Ratgeber und vorsichtigen Helfer, die wir an uns ranlassen, ebenso wenig. Die Freunde und die Wohlgesonnenen, die uns schonen und anschmieren, auch nicht.
So spricht nur derjenige zu uns, dessen Galle am Ende unsere Medizin, dessen Verbot unsere Befreiung, dessen Härte unsere Erleichterung wird. So spricht nur Jesus. ——
Das macht die Zumutungen nicht einfacher: Selbst wenn es uns dämmert, dass der ganz und gar unromantische Verzicht auf Rücksicht und Rückblicke und alle vorsichtigen Vorbereitungen zur Freiheit uns nicht schaden, sondern bewegen will, erschreckt die schroffe Art Jesu trotzdem.
Denn so klar und barsch spricht unsere Kirche, sprechen unsere Seelsorger, sprechen wir Predigenden seit Menschengedenken jedenfalls nicht mehr: Wir machen Angebote und üben Verständnis. Wir bieten Selbsterfahrung und beschwören Offenheit.
Kurz und kantig können wir darum nicht mehr. Wehtun auch nicht. Ernsthaft vor die Wahl stellen und nicht das Gegenteil genauso wichtig und richtig finden, ist bei uns verpönt.
Und also bleibt nur noch eine Stimme zu hören, wenn wir andern uns verhaspeln und beklommen schweigen.
……. Wenn ich darum auch längst zu feige bin – weil ich doch selbst und in eigener Sache so windelweich nach Diplomatie, nach Verstehen, nach Schlupflöchern, nach romantischer Beschäftigung mit den verwickelten und strahlenden, den großen und belastenden Dingen, die hinter uns liegen, suche - … wenn ich darum auch längst zu feige bin, bleibt eine Stimme doch zu hören, die allen Mut und keine Scheu hat: „Gib her! Lass sein! Hör auf! Rück raus! Verzichte! Folge mir!“
Und diese Stimme hat trotz der unverhandelbaren Knappheit keinen Kommandoton.
Selbst wo sie Komfort nimmt und Pietät abschneidet und sich über Gefühle hinwegsetzt, ist sie nicht unmenschlich.
Sondern sie deckt etwas Größeres auf, als wir gewöhnlich kennen und merken.
Ihre Befehle, die Herrschaft und die Kraft, die in Jesu Stimme liegen, machen die, die sie hören und ihr folgen, tatsächlich zu freien Menschen.
Das will sich uns allen in diesem Jahr in eindringlicher Weise noch einmal am Beispiel Dietrich Bonhoeffers zeigen, der wie vielleicht kein zweiter Zeuge Jesu in der evangelischen Kirche den klaren Ernst der Nachfolge begriffen, beschrieben und bestanden hat.
Die Stimme, die sagte: „Der Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlege“, hat ihn schon früh nicht etwa zaghaft, sondern kühn gemacht. In einer vor militaristischer Kameradschaftlichkeit nur so strotzenden, für Konfirmanden in der „Emil-und-die-Detektive“-Welt Groß-Berlins entworfenen Examenskatechese über die drei harten Nachfolgeworte hat der zwanzigjährige Bonhoeffer das Ganze so zusammengefasst:
„Also drei Dinge haben wir gelernt, die im Heere Christi gelten; in drei kurzen Worten wollen wir die Parole im Heer zusammenfassen. Bei der ersten Geschichte: Erst wäg’s, dann wag’s! Bei der zweiten: »Alles oder nichts!« Bei der dritten: »Voran an den Feind! Pfui über den, der zurückblickt.« Alles das gilt für heute, so wie damals. Kommt, Jungens, laßt uns tapfere Streiter werden! Wer bleibt zurück?“*
Die Stimme dessen, der befahl, die Toten sollten ihre Toten bestatten, die Lebenden aber ihm nachfolgen, hat dann den Bonhoeffer der gesammelten Jahre, in denen sein Widerstand gegen die Nazi-Greuel geistlich kristallklar wurde, nüchtern und unumstößlich feststellen lassen:
„Nachfolgen heißt bestimmte Schritte tun. Bereits der erste Schritt, der auf den Ruf hin erfolgt, trennt den Nachfolgenden von seiner bisherigen Existenz. So schafft sich der Ruf in die Nachfolge sofort eine neue Situation. In der alten Situation bleiben und nachfolgen schließt sich aus. […… ] Weil Jesus … der Christus ist, darum mußte es von vornherein deutlich werden, daß sein Wort nicht eine Lehre, sondern eine Neuschöpfung der Existenz ist.“**
Und die schnurgerade Faustregel, die den Pflügenden am Umschauen hindert, hat Bonhoeffer an der Schwelle seines leidenschaftlichen, nie widerrufbaren Entschlusses zu völliger Lebens- und Sterbensbereitschaft für Christus, im Neujahrsgottesdienst 1934 die Orientierung gegeben, die bis zu den letzten Stufen des Todesweges in die Wahrheit und in die Freiheit wies:
„…nicht zurück, aber auch nicht in unübersehbare Fernen schaut der Mann, der den Pflug führt, sondern auf den nächsten Schritt, den er tun muß. Rückblicke sind keine christliche Sache. Laß dahinten Angst, Kummer, Schuld. Du aber sieh auf den, der dir einen neuen Anfang gegeben. Über ihm vergißt du alles.“*** ——
Das machen die harten Zumutungen Jesu möglich!
Solche Klarheit, Schlichtheit, Geradheit!
So bestärken, so bewahren, so befreien diese harten Worte, wenn es ernst wird!
Darum sollten wir sie nie vergessen … und wenn sie noch so fremd, noch so hoch und noch so unerschlossen über unsere begrenzten Köpfe und an unserem festgelegten Leben vorbei zu ziehen scheinen … und uns – weil sie uns überfordern – ausweichen lassen.
Diese Worte werden trotzdem – wenn die Stunde kommt – wie alle Worte Gottes da sein: Ganz nahe bei dir, in deinem Mund und in deinem Herzen, daß du sie tust (5.Mose3014)!
Gar nicht romantisch, … ganz real. Ungeheuer hart – unendlich befreiend.
Keins dieser Worte wird vergangen, keins wird versunken sein.
Sondern in diesen Worten wird die Zukunft „aktuell“ sein, wird also „tatsächlich“ sein, wird als Tatsache unsere Gegenwart prägen:
Als die Entscheidung für Christus, als die Freiheit durch Christus, als das Ziel bei Christus.
Um das aber zu erfahren, gibt es keine Bestätigung im Rückblick, sondern nur den einen Weg, der geradeaus führt.
Den Weg der Nachfolge.
Amen.
* Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW) Bd.9: Jugend und Studium 1918-1927, S. 532.
** DBW Bd.4:Nachfolge, S. 50.
*** DBW Bd.13: London 1933-1935, S. 346.
Reminiscere, 01.03.2015, Mk 12, 1-12, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
„Reminiszere" heißt dieser 2.Sonntag in der Passionszeit heute - eine Aufforderung zur Erinnerung. Seinen Namen hat er vom ersten Wort des 6.Verses des Psalms 25: „Erinnere dich, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind. Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretungen, gedenke aber meiner nach deiner Barmherzigkeit."
„Reminiszere" - Erinnere dich! Wenn wir Menschen daran gehen, uns zu erinnern, dann fallen uns ja meistens gerade im Zusammenhang mit unseren lieben Mitmenschen deren Sünden und Übertretungen ein, die sie sich uns gegenüber zuschulden haben kommen lassen. Es ist schon erstaunlich, über welche Speicherkapazität unsere kleinen grauen Zellen da verfügen und wie gnadenlos schnell die Erinnerungen bei nicht wenigen immer wieder hochgeladen werden. So verhindern die Sünden der „Jugendzeit", missglückte Erstbegegnungen zum Beispiel, dass sich in späteren Jahren ein vernünftiges Miteinander entwickeln kann - sei es in der Nachbarschaft, in der Familie, im Beruf. Ein „gutes Gedächtnis" - hier ist es fatal. Und weil er um den Fluch solcher Erinnerungsfähigkeiten weiß, bittet der Psalmist, dass die Erinnerung Gottes einen anderen Bezugspunkt haben möge, wenn er an seine Menschenkinder denkt: „Erinnere dich an deine Barmherzigkeit und Güte." Dass Gott seine Barmherzigkeit und Güte im Umgang mit uns doch nicht vergessen möge - egal, was wir Menschen unsererseits tun und lassen - das ist das Thema dieses Sonntages, das in unterschiedlichen Facetten in den Texten, die heute verlesen werden, immer wieder auftaucht. Auch im Predigttext aus dem Markusevangelium. Es ist ein provozierender, unbequemer Text, der so, wie er im Markusevangelium zu finden ist - ohne jeden Kommentar - erst einmal kein Evangelium ist.
Ich lese nun vor Markus 12,1-12.
„Und er fing an, zu ihnen in Gleichnissen zu reden:
Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und führte einen Zaun darum und grub eine Kelter und baute einen Turm und gab ihn an Weingärtner zur Pacht und zog außer Landes.
Und er sandte einen Knecht, da die Zeit kam, zu den Weingärtnern, dass er von den Weingärtnern nähme von den Früchten des Weinbergs. Sie nahmen ihn aber und schlugen ihn und ließen ihn leer von sich. Abermals sandte er zu ihnen einen andern Knecht; dem zerschlugen sie den Kopf und schmähten ihn. Abermals sandte er einen andern; den töteten sie. Und viele andere; etliche schlugen sie, etliche töteten sie. Da hatte er noch einen, den geliebten Sohn; den sandte er zuletzt auch zu ihnen und sprach: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen.
Aber die Weingärtner sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein.
Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg.
Was wird nun der Herr des Weinbergs tun?
Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg anderen geben. Habt ihr nicht gelesen in der Schrift: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Von dem Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen" (Ps.118,22f)?
Und sie trachteten danach, wie sie ihn griffen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass er auf sie das Gleichnis geredet hatte. Und sie ließen ihn und gingen davon."
Eine unglaubliche Geschichte von eskalierender Gewalt. Wo am Ende die Gewalt des Stärkeren, des Weinbergbesitzers siegen wird: Er wird kommen und die Weinbergpächter umbringen und den Weinberg anderen geben.
Diese Geschichte, die Lutherbibel nennt sie „Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern", hat sich die urchristliche Gemeinde erzählt. Es war eine bedrängte Gemeinde, eine aus der Synagoge gedrängte Gemeinde. Nach der Zerstörung Jerusalems duldeten die Juden ihre judenchristlichen Glaubensgeschwister nicht mehr bei sich, da diese sich nicht an der Verteidigung Jerusalems gegen die Römer beteiligt hatten. Die Judenchristen waren damals die klare Minderheit, die Juden die große Mehrheit. Die Judenchristen sahen sich in doppelter Weise ins Abseits gedrängt: nicht nur räumlich - aus der Synagoge - sondern auch glaubensmäßig aus dem Volk Gottes, aus dem Bundesvolk Israel, dem Gottes Verheißungen galten. Was sollten sie tun? Die Raumfrage ließ sich dabei am leichtesten lösen, indem man eigene Versammlungsorte schuf. Folgenschwerer sollte das Zweite sein: hatte der Apostel Paulus noch betont, die Christen seien ein Zweig, eingepfropft in den Stamm Israel, so hieß es jetzt: die Christen sind das neue, das eigentliche Israel; das alte Israel ist von Gott verworfen. Gottes neuer Bund ist mit den Christen geschlossen worden. Diese neue Glaubenshaltung ist an unserem Predigttext deutlich abzulesen: der Weinberg - hier zum Sinnbild geworden für die Verheißungen Gottes - wird anderen gegeben. Ja, die bösen Weingärtner - zunächst mit den Schriftgelehrten identifiziert, später mit „den Juden", werden umgebracht werden - schließlich haben sie den geliebten Sohn, Jesus, getötet. Der Weinbergbesitzer, Gott, tritt in ihrer Überlieferung als Rächer auf, der das Heil ihnen, den Christen, gibt. Menschlich-psychologisch kann man die Entstehung dieser Erzählung verstehen. Und solange die christliche Gemeinde eine schwache Minderheit war, blieb diese Glaubensgeschichte ohne weitere Auswirkung. Dann aber, im Jahr 380, waren die Christen auf einmal nicht mehr die Schwachen, sondern die Starken, war das Christentum zur Staatsreligion des römischen Reiches geworden. Nun zeigte die Glaubensgeschichte ihre Wirkung im Alltag. Es begann die öffentliche Denunzierung und Verfolgung der Juden als Gottesmörder. Unser Predigttext hat unsagbares Leid für die Juden zur Folge gehabt. Nein, so wie er da steht, ist er kein Evangelium. Und ich finde es schlimm, dass diese Verse aus dem Markusevangelium so unkommentiert bis heute als Evangeliumslesung für diesen Sonntag in der Perikopenordnung stehen. Allerdings, diese Erzählung gleich ganz aus der Perikopenordnung zu entfernen, wie es wohl demnächst bei einer Neuordnung dieser Ordnung beabsichtigt ist, halte ich für genauso verkehrt. Indem man das, was ärgerlich ist und auf die Schuldgeschichte der Kirche hinweist, einfach streicht, verpasst man die Gelegenheit, sich mit genau dieser Schuldgeschichte aktiv immer wieder auseinandersetzen zu müssen.
An diesem Gleichnis wird ja deutlich, wie problematisch es ist, von der Bibel insgesamt als Wort Gottes zu sprechen und von dem Evangelium als „Guter Nachricht". Die gute Nachricht muss oft erst den Texten abgerungen werden, sie muss freigelegt werden, befreit werden von all dem, was Menschen in der Überlieferung dazugetan haben. Das ist gerade bei unserem Predigttext nötig, um zu dem vorzudringen, was mit Recht „Evangelium" heißt, zu einer Botschaft, über die nachzudenken sich lohnt.
Ich möchte ihnen nun das Gleichnis so vorlesen, wie Jesus es wohl erzählt hat - ohne die christologische und heilsgeschichtliche Eintragungen der frühchristlichen Gemeinde, die verantwortlich sind für die schrecklichen Folgen unseres Predigttextes.
„Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und führte einen Zaun darum und grub eine Kelter und baute einen Turm und gab ihn an Weingärtner zur Pacht und zog außer Landes.
Und er sandte einen Knecht, da die Zeit kam, zu den Weingärtnern, dass er von den Weingärtnern nähme von den Früchten des Weinbergs. Sie nahmen ihn aber und schlugen ihn und ließen ihn leer von sich. Abermals sandte er zu ihnen einen andern Knecht; dem zerschlugen sie den Kopf und schmähten ihn. Abermals sandte er einen andern; den töteten sie. Und viele andere; etliche schlugen sie, etliche töteten sie.
Was wird nun der Herr des Weinbergs tun?"
Jesus erzählt hier ein Gleichnis vom Verhältnis des Menschen zu Gott. Der Mensch als Pächter, als Weingärtner in Gottes Welt. Es ist die Geschichte einer Bemächtigung, die er erzählt, in welcher der Mensch immer gewalttätiger wird, nicht mehr seine Rolle als Bewahrer und Bebauer des Weinbergs akzeptiert, sondern sich zum Besitzer aufschwingt. Das Verhältnis des Menschen zu Gott - aufgrund des Gleichnisses kann man nur sagen: es ist hoffnungslos zerstört. Da ist nichts mehr zu retten. Oder etwa doch?
„Was wird nun der Herr des Weinbergs tun?" Mit dieser Frage endet das Gleichnis. Eine Frage auch an uns, liebe Gemeinde.
„Was wird nun der Herr des Weinbergs tun?" Wie wird Gott handeln? Wird er auf die Bosheit der Menschen re-agieren? Dann wird er auch zur Gewalt greifen und zeigen, dass er eben noch stärker ist, über noch mehr Gewalt verfügt, dass er eben der Allmächtige ist. Dann wird er kommen und die Pächter umbringen. So steht es ja auch bei Markus.
Ich denke nicht, dass diese Fortführung im Geist und Sinne Jesu ist. Der Heilige Geist lehrt uns eine andere Sprache sprechen, er lässt uns anders von dem Weinbergbesitzer, von Gott denken.
Nein, Gott re-agiert nicht, sondern er agiert. Er lässt sich nicht das Gesetz des Handelns aufdrängen, sondern er hat die freie Wahl. Er geht nicht auf unseren Wegen, sondern auf seinem Weg. Er vergilt nicht Böses mit Bösem, sondern er überwindet das Böse mit Gutem.
Unser Glaube schenkt uns die Antwort vor dem Hintergrund der Erinnerung an die Passion Jesu, den Tod des Sohnes. Reminiszere - erinnert euch!
Gott handelt, indem er Leben aus dem Tod schafft. Indem er den Sohn aus dem Tod auferweckt. Indem er die Gottlosen rechtfertigt - so die Epistel, die wir vorhin gehört haben. Rechtfertigung für die Menschen, für die bösen Weingärtner. Nein, Gott hat nicht Gefallen am Tod des Sünders, sondern er will, dass er sich bekehrt. Gott will, dass der Sünder sich bekehrt. Ja: Vergebung, Rechtfertigung auch für die mörderischen Weingärtner. Auch z.B. für die Dschihadisten, die aus Syrien zurückkommen, sofern sie einsehen, dass der Weg des sogenannten Islamischen Staates und des Terrors heillos ist.
„Was wird nun der Herr des Weinbergs tun?"
Aus allem, was ich meine von Jesus über Gott erfahren zu haben, weiß ich: Gott wird niemals kommen und die Weingärtner umbringen. Diese „Lösung" der Situation ist sehr menschlich gedacht und bleibt der menschlichen Gewalttätigkeit und Gewaltverfallenheit verhaftet. So lösen wir Menschen unsere Konflikte oder meinen zumindest, sie lösen zu können. Und so sind sie eben nicht zu lösen! So werden sie immer schlimmer.
Aus menschlicher Gewalttätigkeit - da „erlöst" Gott - indem er tatsächlich in Jesus, in dem geliebten Sohn, lieber Böses erleidet, als selber tut und indem er neues Leben aus dem Tod schafft in der Auferstehung.
„Reminiszere" - Mensch, erinnere dich an Gottes Barmherzigkeit.
Kreuz und Auferstehung - ein Modell, das Gott nur in Jesus zu Gesichte steht? Das überhaupt nur Gott möglich ist? Oder ist es uns auch möglich? Können wir von ihm lernen für unsere menschlichen, für unsere derzeitigen politischen Konflikte? Welche Wege stehen uns offen? Fragen, denen wir nicht ausweichen sollten. Lassen wir uns von Gottes Geist zu Antworten führen, die dem Leben dienen und ihm die Ehre geben.
Amen.
Reminiscere 01.03.2015 Stadtkirche Markus 12,1-12 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserwerth Reminiscere - 1.III.2015
Markus 12, 1- 12
Liebe Gemeinde!
Manchmal verlässt mich die Jesus-Lust beim Gleichnis von den bösen Weingärtnern. Meistens bin ich bereit, seine Geschichten ganz neu, sein Wort wie zum ersten Mal zu hören. Nur wenn es die alte Geschichte, die uralte Geschichte ist, … die Spirale der Gewalt, von der Jesu rabenschwarze Ballade berichtet, dann wirkt alles zuweilen ganz bedrückend.
Schon in der Geschichte selber, deren stummer, wehrloser Held eigentlich der mühsam kultivierte und heiß begehrte Weinberg ist, kann man ja nur mitleiden angesichts der Steigerung von Abschreckung über Gemeinheit bis hin zur offenen Brutalität. —
Noch furchtbarer wirkt das Gleichnis aber in seiner entschlüsselten Gestalt, wenn die Deutung unweigerlich dahin führt, dem Volk Israel insgesamt eine einzige Schuldgeschichte, eine Blutspur der widergöttlichen Revolte anzuhängen.
In diesem Sinne hält die hebräische Bibel selbst ihrer eigenen Gemeinde tatsächlich immer wieder den Spiegel vor und zeigt, dass die Heilsgeschichte des erwählten Volkes von einer ständigen Tiefenströmung des ruppigen Zweifels, der erbitterten Gottesverweigerung und des grausam aktiven Ungehorsams durchzogen wird. Und als ein Nachfolger der weisen Lehrer und der schonungslosen Propheten in Israel hat Jesus in der Tat schmerzende und scheltende Anklage gehalten: Ein Mahner und Zürnender, der seinem Volk nichts erspart, um es zur Einsicht in seine Abkehr von Gott und so zur Umkehr zu Ihm zu bewegen. —
Doch was der Messias Jesus seinem Volk mit göttlichem Recht predigt, das wird zu einem menschlichen Verbrechen, wenn in allen Kirchen der Welt daraus das Schema folgt: Zuerst waren die Juden Leugner, dann verfolgten sie mit Gewalt die Propheten und schließlich begingen sie den Gottesmord von Golgatha.
Das war der bisherige Ertrag des Gleichnisses von den bösen Weingärtnern: Auf diesem Weinberg reifte das Gift des Judenhasses, gelesen und gekeltert direkt im Neuen Testament. Jahr um Jahr machte es die Passionszeit für jüdische Gemeinden lebensgefährlich; Jahr um Jahr brachte es dem leidenden und sterbenden König der Juden neue Leidensgenossen aus dem Stamme Juda. ——
Doch als wäre das alles nicht schon schlimm genug, weist die Geschichte von der Eifersucht der Weinberg-Hüter – in denen man ja sicherlich einen religiös besitzergreifenden Anspruch erkennen darf – auf eine unheilvolle Verallgemeinerung: Sollten am Ende jene Recht haben, die heute vermehrt behaupten, der tödliche Eifer des Allein-Haben-Wollens sei die todsichere, typische Konsequenz der Religion?
Sollten die bestätigt werden, die behaupten jeder Glaube, zumal jeder Glaube an einen Gott führe unweigerlich zu solchem tödlichen Allein-Recht-Haben-Wollen, Allein-die-Wahrheit-Besitzen-Wollen, Gott-allein-Beanspruchen? Ist es zwangsläufig so, dass die exklusive Beziehung zu dem Einen, die unbedingte Bindung an den wahren Gott eine Gemeinde gemeingefährlich macht? Ist Intoleranz, nein ist eine missionarische Sendung zur Vernichtung aller andersartigen, aller fremden Ansprüche die unausweichliche Folge eines Gehorsams, einer Liebe, die ausschließlich dem einen Gott gelten?
Natürlich!, sagt der Chor der Kritiker, der Modeatheisten und der Gottesvergifteten, die philosophisch und psychologisch den Schatten der Religion nachspüren und sie in der Geschichte, ja in der Gegenwart überall auf der Welt lasten sehen.
Religion tötet, sagen sie. Ihr wisst es doch selbst!, sagen sie. Das Alte Testament ist ja so blutrünstig – sagen sie – und hat den Gedanken des eifrigen Ausmerzens allen Götzendienstes an-geblich gesteigert bis zur Ausrottung der Sünder. Sagen sie. Und dann die Kirche!, sagen sie. Was für eine gewaltsame Bewegung, die sich bei erster Gelegenheit der Macht an den Hals warf, um künftig mit Gewalt, mit Schwert und Obrigkeit und Zwang zu missionieren. Sagen sie. ……. Sage - ganz leise - ich. Die Kirche hat zwar tausend Jahre lang nur einen Ketzer-prozess geführt – in Trier, wo damals der Heilige Martin erfolglos versuchte, die Angeklagten zu retten – aber Karl der Große taufte die Sachsen mit Blut und bis auf’s Blut verfolgte er die Mauren; die Kreuzzüge haben Mord und Grausamkeit in furchtbaren Wellen den Rhein hinunter, über das Mittelmeer, durch die byzantinische Welt bis zu den Heiligen Stätten unserer Erlösung gespült. Sagen sie; … sage ich, immer kleinlauter. Hexenprozesse!, sagen sie. Ich weiß, sage ich. Der Dreißigjährige Krieg, sage ich … fast flüsternd. Eben!, sagen sie. Die Sklaverei und die Ausbeutung der Kolonien, denen die christliche Mission nicht wider-, sondern unterstand. Sagen sie. Und ich sage nichts mehr, … nicke nur. Das 19.Jahrhundert!, wollen sie sagen. Das 20.Jahrhundert, sage ich schnell. „1.Weltkrieg … Koppelschlösser: »Gott mit uns«“, sage ich, … während sie schon: „2.Weltkrieg … Auschwitz“ sagen. —
Und sie haben Recht:
Wie abgerichtete, blutrünstige, tollwütige Hunde des Herrn haben Christen unendlich viele Fremde vom Hof weggebissen, unendlich viele Träger neuer Gedanken durch die Welt gehetzt und gejagt, unendlich viele Schutzlose einfach zerfleischt. Und es nützt nichts – es widerlegt die Schuld der Kirche nicht – ,wenn man sich erinnert, dass die Inquisition erst vom weitsichtigsten, freigeistigsten Herrscher des Mittelalters, dem vielgepriesenen Friedrich II. die Blutgerichtsbarkeit erhielt. Es nützt nichts, daran zu erinnern, was für eine Menschenmetzelei die Aufklärung in der französischen Revolution auslöste; es nützt nichts, daran zu erinnern, wie die großen Fortschritte der Humanität weg vom alten Gott, hin zur freien Menschheit in Gestalt von sozialistischer und kommunistischer Ideologie zuletzt vor allem barbarische Verbrechen, allesverschlingende Massenmorde hervorbrachten.
……. Und es ändert auch nichts, wenn wir aufzählen, was uns heute so namenlos erschüttert: Die abscheulichen, verdammenswerten Greuel von Taliban, al-Qaida, Boko Haram, al-Shabaab und das sog. „Kalifat“ des IS. ——
Wir können uns also winden und aalen, wir können – obwohl es uns längst endgültig vergangen sein müsste!! – auf die Juden zeigen, wir können die Gottlosen anklagen, wir müssen den Islam endlich nicht verschwommen, sondern klar auch in seiner brandgefährlichen Aufspaltung in friedlich und tödlich betrachten … und trotzdem kommen wir nicht raus aus dem Gleichnis von den Weingärtnern.
Es ist unser Fleckchen Erde, vom dem hier die Rede ist, es ist unser unrechtmäßig gesicherter Anteil am Erbe der Heiligen, es sind unsere Abschreckung, unsere Anschläge auf die, die unseren Alleinansprüchen in die Quere kommen.
Wir hören nicht von den bösen Weingärtnern ……. wir sind sie!
——— Ach so?! ………….. Du nicht!? Du siehst in dieser schwarzen Legende von denen, die das Beste alleine haben wollten, ein spielverderberisches Stück pessimistischer Phantasie, eine erzählerische Erfindung, die der Mann aus Nazareth in Umlauf brachte, als er sich allmählich so angefeindet und eingekesselt sah, dass er seine schlechte Laune und Enttäuschung in dunkle Mythen kleidete.
…………. Aha! … Ach so! … Du bist ja auch kein Pächter. Alles, was Du besitzt und betreibst, gehört Dir von Rechts wegen und geht in Ordnung.
Und dass auch Du so große Schwierigkeiten hattest, als Kind die Bonbons zu teilen, das ist ja nicht verwunderlich. Schließlich: … Ein Kind!
Und dass es Dir nicht leicht fallen wird, da wo Du liebst und Dich geliebt glaubst, andere an Deine Stelle treten zu lassen, … dass Du natürlich kämpfen und nicht einfach hergeben würdest, wenn es um etwas einzigartig Wichtiges in Deinem Leben geht: Das ist ja hier kein fairer Einwand, denn diesen Instinkt haben wir nun einmal!
Und dass Deine Großzügigkeit - und meine auch - vielleicht schon überanstrengt wird von ein paar irritierend dreisten griechischen Politikern am Bildschirm und von ein paar Armutsflüchtlingen in der Nachbarschaft, die außer trocken Brot und billigen Zigaretten auch noch gern Schlagsahne aus der Sprühdose und den sonstigen Segen der Plastikwelt in ihrem Leben hätten – na ja, … ist das denn etwa nicht ganz und gar verständlich?
Und dass wir in zehn Jahren oder in zwanzig, wenn es um frisches, sauberes Wasser auf dieser Erde gehen wird, zehnmal so viele Menschen wie die fünfzig Millionen Flüchtlinge des letzten Jahres von unseren Grenzen, von unseren Wasserleitungen und Schwimmbädern fernhalten werden … das ist sowieso Schwarzmalerei … und wenn schon, dann soll einer bitte ein bessere Lösung vorweisen, als Dich und mich hier wegen Bonbons und Wasser schlecht zu machen! ——
…. So - oder ähnlich - haben sich noch alle gewehrt, die das Weingärtner-Gleichnis hörten: „Denn sie verstanden, dass er auf sie dies Gleichnis geredet hatte.“ ———
Wie aber ist es nun mit der Jesus-Lust, die einen bei diesem Gleichnis zunächst verlassen kann?
Immer noch können wir es womöglich nicht sagen; denn dass unsere Scheu vor so viel hartem Wirklichkeitssinn, vor solchen ungeschminkten Menschenbildern nachgelassen habe auf der Reise aus dem Neuen Testament durch die Kirchengeschichte bis zum Zeitungsblatt von gestern, ist nicht wahrscheinlich. Die Bedrückung weicht nicht, die sich einstellt, wenn wir die alte Mär im jetzigen Zustand der Dinge wiedererkennen: Was Gott uns überantwortet und überlässt, das reißen wir bis hin zum letzten Aufstand gegen Ihn an uns … und verlieren dabei alles: Gott und Welt und Leben! —
Wie also ist es da mit der Jesus-Lust?
— Sie ist am Ende das Einzige, das überhaupt in dieser tiefen, alten, dunklen Sinnlosigkeit noch schimmert und uns Hoffnung machen kann.
Denn nicht von Ungefähr hat die Unheilsgeschichte von den Gärtnern, die immer die Mörder sind, einen doppelten Schluss, … einen glatten Widerspruch zu böser Letzt:
Zunächst könnte die Geschichte uns ja mit ihrem typisch menschlichen Abschluss in Erinnerung bleiben, auf den Jesus die Erzählung zuzusteuern scheint. Nach der brutalen Selbstermächtigung der Pächter „wird der Herr kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg anderen geben“!? … Sollte dies demnach das Ende mit Schrecken sein?
Oder wird nicht vielmehr das Gegenteil der Fall sein, das sich in dem Psalmwort andeutet, mit dem – als die Geschichte schon vorbei und rettungslos zu sein verspricht – Jesus wider Erwarten die Rachelogik von Gewalt und Gegengewalt doch noch durchbricht:
„Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden.
Von dem Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen“ (Ps11822f)?!
Da ist plötzlich – als man wirklich nur noch verstört und zynisch den Geschmack der Brutalität kostet, die nun auch das Evangelium, den Gottesdienst, den Glauben zu durchtränken und zu vergiften scheint – … da ist plötzlich Wein der Freude in unserem Kelch:
Der schaurig blutgetränkte Weinberg des Tötens und des Todes ist nicht das letzte Bild!
Sondern ausgerechnet dort, wo Unrecht und Rache wuchsen und wucherten, ausgerechnet dort macht Gott einen neuen Anfang!
Der Sohn, den die Menschheit ergriff und umbrachte, der Erbe, den sie beseitigen wollte – dessen Tod verstärkt und krönt die prähistorische Wahnvorstellung vom Allein-Übrig-Bleiben-und Sieger-Sein nicht, sondern er entzieht diesem Wahn den Boden. Der Tod des Sohnes setzt die alte Geschichte der Menschheit nicht weiter fort, sondern er wird ihr Ende werden.
Mögen die Menschen auch immer noch Wege des Mordes beschreiten – dennoch wird Gott nicht töten wie sie! Er wird nicht rächen, sondern Gerechtigkeit schaffen!
Denn Gottes Gerechtigkeit … die ist der wahre Wein von diesem missbrauchten Weinberg. Sie ist dort, am Ort des Schreckens, in der Welt der Sünder gelesen und gekeltert worden und nun reift sie, … reift sie lange, … reift sie immer wunderbarer heran.
… Noch ist sie nicht in aller Munde, nicht in allen Herzen, Händen, Taten.
Aber da wo Jesus starb, da ist das Leben angelegt!
Sein Ende wird aller Anfang werden!
Er ist getötet worden von allen Menschen und für alle Menschen, damit kein Einziger ein Recht an ihm behaupten und behalten könne!!! … Sondern alle nur Gnade, Leben, Segen und Vergebung erhielten auf dem Weinberg der Welt, auf Golgatha.
O welche Lust wir doch auf Jesus haben müssen!
Amen.
Invokavit 22.02.2015 Stadtkirche Matthäus 4,1-11 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Invocavit - 22.II.2015 Matthäus 4,1-11
Als Predigttext gesungen:
Als Jesus von der Taufe kam
und wollt zum Kampf sich rüsten,
da, siehe: Gottes Geist ihn nahm
und führt ihn in die Wüsten.
Und da er vierzig Tag und Nacht
mit Fasten hatte zugebracht,
kam Satans voll Listen.
Und sprach: „So du bist Gottes Kind
als du dich lässt bedünken –
wie dass ich dich hier hungrig find?
Und musst in Not versinken?
Erweise dich als einen Gott /
und mach aus diesen Steinen Brot.
Das kannst du durch ein Winken.“
„Nein“, sprach der Herr, „das darf nicht sein.
Es stehet klar geschrieben:
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.
Gott kann auch, die ihn lieben
mit einem Wörtlein machen satt.
Das jetzt sein Mund geredet hat!
Ich will mich nichts betrüben.“
Der Teufel führet ihn mit sich
hoch auf des Tempels Zinnen
Und sprach: „Wohlan, erzeige dich
als Gott und spring von hinnen.
Obgleich des Tempels Turm ist hoch,
das Pflaster hart, so wird dir doch
kein Fall je schaden können.“
Der Herre sprach: „Dies ist nicht not,
weil ich in Mose finde:
Es sei den Herren, seinen Gott
versuchen schwere Sünde!“
Da führet ihn der Teufel fort
auf einen hohen Berg und Ort
im Augenblick geschwinde.
Er zeiget ihm ein jedes Reich
mit prächtigen Gebärden
und sprach: „So du mich Gotte gleich
anbeten wirst auf Erden
und vor mir fallen auf die Knie,
soll dir dies alles ohne Müh
zuteil und eigen werden.“
„Pfui,“ sprach der Herr, „du stolzer Geist
heb dich hinweg zur Höllen.
Man kennet dich wohl, wer du seist!
Du wirst mich nimmer fällen.
Die Ehre, die du heischst von mir,
gebühret Gott allein! Nicht dir,
noch deinen Rottgesellen.“
aus: Johann Heermann (1585-1647), Sonntags- und Fest-Evangelia durchs gantze Jahr auff bekandte Weisen gesetzt, Leipzig 1636
Liebe Gemeinde!
Nun hat Jesus nicht mehr lang zu leben.
In sieben Wochen steht sein Tod vor uns. Und im Bericht der Evangelien beginnt nun, nach etwa dreißig verborgenen Lebensjahren eigentlich schon sein Sterben mit den etwa dreißig Monaten unter den Menschen; … sein Sterben beginnt mit dem Ende seiner Einsamkeit.
… Die hat ihn tief in die Wüste geführt.
Dort hat der Heilige Geist das Wort, das der Vater bei der Taufe zum Sohn sprach, den Menschen Jesus durchdringen lassen. Er war vierzig Tage in der erbarmungslos lebensfeindlichen Hitze, aber ausgerechnet dort hat ihn das Wunder seiner Taufe, das Wunder des Wassers und des Geistes gestärkt, erfrischt und mit Leben erfüllt wie die Flüssigkeit den Schwamm.
Mit den alten Begriffen des Glaubens könnte man sagen: Die sterbliche Natur Jesu hat im Reich der staubigen Knochentrockenheit von der göttlichen Natur trinken dürfen, bis er ein Gefäß voller Gottesleben wurde, … voller Gottesleben, bereit auszuströmen für die Welt. —
Doch die alten Begriffe von den zwei Naturen, die einander in Jesus von Nazareth tragen und erfüllen, diese Begriffe sind fremd geworden unter uns. Jesus selber ist mitten unter uns ja fremd geworden – denn auch bei uns fängt sein Sterben genau in dem Augenblick an, in dem er unter die Menschen tritt:
„Wir brauchen Dich schon ewig nicht! Du störst nur noch mit Deiner Botschaft vom Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit! Kein Mensch sucht mehr Rechtfertigung oder Erlösung, und von Kreuz und Sünden lassen wir uns erst recht nichts mehr erzählen. Die Idee, jemand sollte für uns sterben, ist für uns gestorben. Jesus, Du bist nicht gefragt!“
… So fängt seine Passion an, heute, … immer. ——
Doch gerade die, die nicht nach ihm fragen, ihn nicht kennen und nichts wissen, können ihn jetzt noch einmal aus der Nähe erleben.
Hakt Euch also ein bei dem großen Paparazzo, der gern in den intimsten Augenblicken aufkreuzt und Menschen mit Blitzlicht überfällt. Lasst Euch vom Teufel zum Überraschungs-Stelldichein entführen: Blind Date mit einem Unbekannten! … Der gnadenlose Versucher wird es vor aller Augen aufdecken, wer der geheimnisvolle Einsame im Schweigen der Wüste nun wirklich ist. Wie anfällig, wie verführbar er wohl sein mag. —
Dabei ist es doch interessant- nicht wahr? - wie alt die Show ist, bei der Menschen auf ihre Schwächen geprüft werden wie sabbernde Hunde: Ob ihr Speichelfluss durch Fleischeslust oder durch Machtphantasie oder durch den billigen Zauber vermeintlichen Ruhms am meisten anzuregen ist. … Sehr alt ist diese Show, die auch heute noch so blendend unterhält; und nun wissen wir auch, wer ihr Erfinder ist!
Es ist der, der wie jeder von uns weiß, dass ein Mensch ein Mensch ist und folglich auch mit den Ködern aller Menschen gefangen wird, weil er von der Korruption aller Menschen befallen ist. Und dass es eine Verbindung von Gott und Mensch nur in schwacher, ungreifbarer geistiger Weise geben kann, ab und an ein Strahl, hin und wieder ein Funke, je und dann ein Energiestrom oder -stoß, aber selten ein kräftiger Austausch und niemals etwas, das in Fleisch und Blut übergeht, … wer hätte davon je gehört? ——
… Der Täuschung, dass Gott in diesem Menschen Jesus sei, bereitet der große Unterhaltungskünstler, der Menschen tanzen und dann fallen lässt, bald ein Ende.
Er muss ihn nur jetzt rasch vorführen: In der Schwäche des langen Fastens, im leichten Schwindel, den die Entbehrung verursacht und im leisen Grauen, das den in tiefstes Lauschen und Beten Versunkenen bei jeder äußeren Störung überfallen wird.
… „Iss, … lass Dich tragen, … nimm die Welt in Besitz“!
Typische Verlockungen des Rausches, der übliche Ansturm der groben und der feinen Appetite und der übliche Wahn der Leichtigkeit, wann immer ein Mensch sich durch künstliches Gift oder durch eigene Reinigungsübungen selber in überirdische Zustände versetzen will.
Jesus soll also als bloßer Mensch vorgeführt werden, indem er sich auf die Halluzinationen der Spiritualität und des Drogenrausches einlässt, die versprechen, wie Gott werden zu lassen. … „Beiß’ an, nasch’ den Apfel, katapultier’ Dich in die nächste Sphäre: Zauber doch! Riskiere das Unmögliche! Durchbrich die Grenzen! Los – spiele Gott ……. und entlarv’ Dich so als der schlichte Mensch, der Du bist und bleibst, Du Spinner aus Nazareth, Du Sonderling der Wüste!“, so feixt der Teufel. … Den Menschen mit dem Versprechen von Göttlichkeit seines Menschseins zu überführen, um Gott damit bloßzustellen: Darin hat er schließlich Übung. ——
Doch der, dessen vermeintlich angemaßte unmittelbare Verbindung mit Gott platzen soll, wenn er endlich die Gottesprobe machen würde: Der macht sie nicht.
Zaubern und Fliegen und Herrschen sind keinerlei Verlockung für ihn.
Der Kitzel des Außergewöhnlichen, der andere Menschen leichtsinnig und übermütig macht, verfehlt an ihm seine Wirkung. Und genau das, was er hat und um was er von seinem Prüfer beneidet wird, obwohl der daran wahrhaftig nicht glauben mag – die Übereinstimmung mit Gott bis in Fleisch und Blut –, … genau das beweist er nicht – jedenfalls nicht aktiv.
Der Teufel wird am Ende zappeln müssen mit seiner Wette: „Zeig mir, wie nahe Du Dich am Göttlichen wähnst und ich zeige Dir, wie Du Dich täuschst, wie viel Euch trennt!“
Hier kriegt der große, schlüpfrige Voyeur, der sadistische Bloßsteller der Gottesträume der Menschen nichts zu sehen. Hier gelingt die alte Showeinlage aus dem Paradies nicht, wo Adam und Eva ihrem Trieb erlagen, sich immer dichter an Gott ran zu mogeln und plötzlich – als sie glaubten, nun seien sie selbst vergottet –… plötzlich waren sie nackt. Darüber lacht die Welt bis heute. Es war der größte Triumph der satanischen Kuppel-, Lock- und Beschämungsspiele – und nur die Folge mit dem neuen Adam wäre ein noch größerer Coup geworden.
Doch der setzt dem teuflischen Hunger nach menschlichen Gottesspielen eine Grenze. Weil er selber Gott ist, spielt er ihn nicht.
Stattdessen hält er seine Gottheit verborgen und bleibt in den Schranken der Menschheit, … einer neuen Menschheit, die ihre Verbundenheit mit Gott nicht dafür ausschlachtet, selber satt, beliebt und groß zu werden. Gerade Jesus, der Einsame, der Mann aus der Wüste bleibt ganz in den Schranken einer solidarischen, einer Menschheit des Miteinander, indem er nichts, indem er Null für sich unternimmt.
……. Und ob er hätte Wunder wirken können! Und ob er Einzigartigkeit hätte beweisen und universale Ehrfurcht ernten können!
Er hätte Machtworte und Herrlichkeit vor aller Augen sehen lassen können.
Er war der geborene Held und Sieger in der Spielshow Satans, die Selbstbeweihräucherung zum Prinzip und Bloßstellung zum Ziel der Menschheit macht.
Doch der, der als Einziger die Lösung kannte, der allein über den siegreichen Ausgang der Wette gebot, weil sie ihn nur ein Wort seines Mundes gekostet hätte – er schnippt nicht mit den Fingern und spricht nicht gelassen das Unerhörte aus, sondern er gehorcht und trägt die Schwachheit aller Menschen in unendlicher Demut. —
Dabei hat er die vom Teufel vorgeschlagenen sensationell unlösbaren Herausforderungen später sämtlich bewerkstelligt! ……. Bloß nicht nach den Spielregeln des Bösen.
- Sondern als er tatsächlich dann Nahrung in der Wüste (Matth1413: Griechisch!) schuf, da war es nicht um sich selbst zu sättigen, sondern um fünftausend Hungrige zu speisen.
- Und als er tatsächlich in die heilige Stadt und zum Heiligtum dort kam, da hat er sich wahrhaftig in die Arme Gottes geworfen – aber nicht in gespielt selbstmörderischer Absicht, nur um dann doch gerettet zu werden, sondern weil er bereit war, sich unter den Händen seiner Mörder in die tiefste Gottesferne stürzen zu lassen, um den Fall der Verlorenen bis auf den Grund zu teilen.
- Und seit sein Name über alle Namen erhöht ist und er unter allen Nationen und Völkern verehrt und gepriesen wird, seit die Zukunft der Welt zur Fortsetzung der Geschichte des gekreuzigten und auferweckten Jesus von Nazareth wurde – seitdem ist er der Herr der Herren.
Aber doch nicht, um seine Eitelkeit oder seine Lust an der Macht zu befriedigen – er ist und bleibt schließlich der, der in der Wüste die Quelle des Lebens und volles Genügen hatte –, sondern seine Herrschaft wird am Ziel der Geschichte schließlich eine Wohltat für alle sein und sein Reich den Menschen endlich die erste und die letzte Freiheit bringen.——
Er konnte also alles, mit dem er genarrt und ver- und vorgeführt werden sollte!
Aber weil es niemandem genützt hätte, weil es unbrauchbare Taten, unbenötigte Wunder bedeutet hätte, seine Macht und Möglichkeiten bloß dem Spieltrieb, der verfehlten, unernsten Schaulust des Teufels zur Verfügung zu stellen – darum hat Jesus ihn am langen Arm in der Wüste verhungern lassen.
Der erste Kandidat, der dem Spielleiter einen Korb gab!
Der Erste, der dem Schmeichler und Verdreher zu verstehen gab, dass der Einsatz wunderbarer Möglichkeiten nur für sich selbst … Missbrauch ist.
Der Erste, der uns zeigte, wie wir alle – seine Nachfolger, seine getauften Brüder und Schwestern – die mannigfachen, die wunderbaren Möglichkeiten, die kleinen und die großen Gaben unseres Lebens nutzen und gebrauchen sollen:
Was wir nur für uns haben, hat nämlich keine Bedeutung vor Gott.
Was wir nur für uns nutzen, das ist – so sehr wir das auch bezweifeln mögen – verschwendet und verloren.
Denn was wir nur alleine besitzen wollen, wird unserer Seele schaden und uns zu Besessenen machen. Was wir hingegen anderen geben wollen, das wird uns ja eben nicht genommen, das macht uns nicht ärmer, sondern es trägt dreifach Segen: Es hilft den Menschen, es beschämt den Teufel, es verherrlicht Gott!
Lieber sollen wir also verschenken, als verschimmeln zu lassen; eher sollen unsere Güter schmelzen, als dass unsere Güte verhärtet. Denn – so hat es Luther hart und bündig erklärt – „wo etwas nicht im Dienst steht, so stehet’s im Raub!“ ——
Das ist die ganz praktische Lehre aus der bestandenen teuflischen Versuchung Jesu, der alles hätte sein und haben können und der stattdessen der Geringste wurde und alles hergab.
Eine Lehre ist das, die an den Anfang der Passionszeit passen will, in der wir mit mehr oder minder Bedacht und Bedeutung auf etwas Strenge, auf Verzicht und Disziplin, auf einen kleinen, vorübergehenden Schub der Selbstverleugnung eingestimmt sind.
Der eine frisst, der andere säuft ein bisschen weniger als üblich, hier und da meint man vielleicht auch, durch seelische Zucht und Selbstbeherrschung die üppigen Triebe unserer unerfreulichen Angewohnheiten etwas stutzen und in Fassung bringen zu sollen:
Besser denken, besser leben, sich besser ernähren und besser fühlen.
……... Wie sonderbar nur, dass auf diese Weise die Passionszeit zu einer Wohlfühl-Kur, zu einer Übung in der Steigerung der Lebensqualität gemacht wird!?
Wie unverbesserlich wir Menschen doch darin sind, alles auf uns und unsere Verbesserung zu beziehen! Selbst das Fasten, selbst die Selbstlosigkeit, selbst die Selbstentäußerung kriegt bei uns noch einen Zug der Selbstsucht.
Nicht einmal an etwas anderes als an uns, nicht einmal an andere können wir denken, ohne dass es zu guter Letzt dem Eigennutz, dem Bessern unserer selbst dienen soll. ——
Dabei gibt Jesus unseren Gedanken gerade im Verzicht auf alle eigenen Möglichkeiten eine viel bessere, eine weitere, eine freiere Richtung, als nur zu überlegen, inwiefern alles Gutes-Tun zugunsten anderer nicht letztlich auch uns gut tut.
Seine Entgegnung auf alle Aufforderungen des Vorführers, doch große Dinge zu tun, lautet nämlich nicht, dass Brotvermehrung und Opfertod und Weltherrschaft nur der Nächstenliebe und nicht der Selbsterhaltung dienen dürfen, sondern jedes Mal weist er immer nur auf einen Punkt – auf den Punkt, an dem die Liebe zu anderen und zu uns selber sich treffen.
Dreimal zeigt Jesus mit biblischen Worten nämlich auf Gott: So sinnlos es ist, alles für sich selber nutzen zu wollen und so aussichtslos es ist, zu erkunden, ob wir tatsächlich ohne alle Selbstsucht den anderen dienen – so sinnvoll und gesegnet ist es, stattdessen Gott zu betrachten und Seinem Wort zu folgen.
Mit den biblischen Worten an Mose bestätigt Jesus uns, dass es tatsächlich ein Drittes gibt, das das Erste und Wichtigste ist: Dass wir uns weder auf uns, noch auf andere allein konzentrieren, sondern bei allem Unterlassen wie bei allem Tun auf Gott blicken!
Ihm können wir vertrauen: In eigenem und in allem Hunger, in eigener und aller Not, für unsere und alle Zukunft.
Sein Wort, von dem wir mehr noch als vom Brot leben, Seine Wahrheit, die wir nicht prüfen, sondern voraussetzen können, und Seine Anbetung, der alles dient: Die sind es, die uns leiten können und sollen.
Wissen wir das – dass unser Leben sich nicht um uns selbst, aber auch nicht nur um unsere Selbstlosigkeit dreht, sondern um Gott –, dann soll der Versucher nur versuchen, uns zu versuchen. Weder unsere Schuld, noch unsere Nächstenliebe werden dann so stark sein, dass sie das Zentrum verdecken.
Gott, der in Jesus so demütig und wunderbar ist, dass Er uns von all unserm Schlechten und Guten befreit und zu Seinem Eigentum macht.
Amen!
31.01.2015, Freiheit im biblischen Sinn, Vortrag zur Gemeindeversammlung, Ulrike Heimann
Freiheit - ein schillernder Begriff: was sagt die Bibel dazu?
Freiheit - Meinungsfreiheit - Redefreiheit - Religionsfreiheit; in unseren Tagen ist darüber wieder eine heftige Debatte im Gange. Viele sehen diese Freiheiten, die uns so selbstverständlich geworden sind, in Gefahr vor allen Dingen durch islamistische Fundamentalisten. Nach dem Anschlag auf die Redaktion des franz. Satiremagazins „Charlie Hebdo" kommen dazu auch die Auseinandersetzungen darum, wie umfänglich Freiheiten genommen werden können und in wie weit Rücksicht zu nehmen ist.
Und überhaupt, was haben all diese Freiheiten mit unserem Glauben zu tun? Wer eine Konkordanz zur Hand nimmt, ist überrascht, wie wenig Stellen sie aufführt unter dem Stichwort „Freiheit". In der hebräischen Sprache gibt es das Wort „Freiheit" gar nicht. „DeROR" heißt genau genommen „Freilassung". Freilassung aus der Knechtschaft, Befreiung aus der Sklaverei. Das ist ja das Kernbekenntnis Israels: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus der Knechtschaft befreit hat. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben." Frei ist hier der Mensch, der in der Beziehung zu Gott steht und nur von ihm her alles erwartet und nach seinem Willen lebt.
Das ist schon ein ganz anderer Freiheitsbegriff als derjenige, der in unseren Tagen immer wieder bemüht wird.
So ist der Gedanke der Religionsfreiheit wie überhaupt die moderne Menschenrechtsidee, die sich dem Individuum verpflichtet sieht, der Freiheit des Einzelnen, der biblischen Tradition fern. Zwar kann und muss das Volk Israel zweimal wählen - nämlich am Ende der Wüstenwanderung und am Ende der Landnahme - ob es nun den Bund mit Gott halten oder anderen Göttern nachfolgen will; aber so richtig eine freie Wahl ist das auch nicht, denn wenn das Volk den Bund brechen würde, wäre das sein Untergang, droht ihm die Vernichtung. Und auf Glaubensabfall steht für den Einzelnen die Todesstrafe, die Steinigung (5.Mose 17,2-5).
Auch in der griechischen Bibel taucht das Wort „Freiheit" kaum auf; in den Evangelien gar nicht, nur in den Briefen, vornehmlich bei Paulus. Doch auch bei Paulus geht es nicht um individuelle Freiheit im modernen Sinn, sondern um Freiheit, die aus der Bindung an Gott, an Jesus Christus erwächst. Auch hier ist vor allem die befreiende Tat Gottes im Blick. Weil er uns liebt und uns das Leben in Fülle schenkt, befreit er uns von aller Angst, nicht zu genügen, von aller Angst, zu kurz zu kommen und deshalb verzweifelt gegen den Tod, die Endlichkeit anzukämpfen. Die herrliche Freiheit der Kinder Gottes ist an Gott gebunden. Sie meint nicht, jeder, jede kann machen, was er, was sie will. „Tu was du willst - soll sein das ganze Gesetz." Dieser Satz ist das Glaubensbekenntnis Aleister Crowleys, des „Vaters" der modernen Satanisten.
Wer sich als Kind Gottes, als Sohn, als Tochter Gottes versteht, der ist gebunden an den Gott der Liebe. Der ist gebunden an den Gott, dem kein Weg zu weit war, um auch noch den letzten Verlorenen in seine Arme zu schließen. Der ist verbunden mit dem, der die Auseinandersetzung mit den führenden Kreisen in Tempel und Staat nicht scheute genauso wenig wie den Kontakt zu gesellschaftlichen Außenseitern und der wohl in seinen engsten Jüngerkreis auch einen Sikarier berufen hatte, einen religiösen Freiheitskämpfer, einen antiken Taliban. Er war so frei, allen die Botschaft vom Reich Gottes nahezubringen, alle einzuladen in dieses Reich einer anderen und größeren Gerechtigkeit, eines anderen und größeren Friedens. Diese Freiheit bezahlte er mit seinem Leben. Und blieb sich treu, als er Vergebung gewährte - demjenigen, der sein verkehrtes Tun bereute, aber auch all denen, die Böses taten ohne Reue, „die doch nicht wissen, was sie tun."
Im Geist Jesu ist Freiheit ohne Liebe nicht zu denken. Der Apostel Paulus hat das in seinen Briefen immer wieder angemahnt. Auch damals schon ging es um Freiheiten, die einzelne Gruppen in den Gemeinden von Fundamentalisten bedroht sahen, genauer: die Christen, die vor ihrer Taufe Heiden gewesen waren, sahen sich in ihren Freiheiten beschnitten von den Christen, die aus dem Judentum kamen. Für uns heute mögen sie läppisch klingen, aber für viele Christen damals waren es kostbare Errungenschaften. Zum Beispiel, dass man sich von heidnischen Nachbarn zum Essen einladen lassen und ohne Gewissensbisse die angebotenen Speisen zu sich nehmen konnte, auch wenn die besten Stücke möglicherweise von Tieren stammten, die vorher im Tempel den Göttern geopfert worden waren. Für Paulus ist klar: Es gibt nur einen Gott, der alles geschaffen hat. Götzenopferfleisch ist einfach Fleisch von einem Tier, das Gott geschaffen hat. „Aber", so schreibt er an die Gemeinde in Korinth, „nicht jeder hat die Erkenntnis. Einige, weil sie bisher an die Götzen gewöhnt waren, essen's als Götzenopfer und dadurch wird ihr Gewissen, weil es schwach ist, beschwert. ... Seht zu, dass eure Freiheit für die Schwachen nicht zum Anstoß wird!" (1.Kor.8,4-9) „Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern was dem andern dient. Ob ihr nun esst oder trinkt oder was ihr auch tut, das tut alles zu Gottes Ehre." (1.Kor.10,23-24.31)
Die Freiheit der Kinder Gottes ruft diese zum verantwortungsvollen Umgang mit ihrer Freiheit. Da müssen wir immer wieder von Neuem abwägen, ob das, was wir sagen, was wir tun, aufbaut, dem Frieden dient, gar Gott die Ehre gibt.
Der Dichter Matthias Claudius befand: „Die Freiheit besteht darin, dass man alles tun kann, was einem anderen nicht schadet."
Und ein Albert Camus stellte fest: „Es gibt keine Freiheit ohne gegenseitiges Verständnis." Wir müssen immer den anderen mit im Blick haben, wenn wir unsere Freiheit leben, wenn wir uns unsere Freiheiten nehmen. Unser Verständnis von Freiheit ist nicht selbstverständlich das Verständnis des anderen. Das Ziel des Gebrauchs der Freiheit muss eine bessere Welt für alle sein. Wir sind aufgerufen, am Reich Gottes mitzubauen. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Freiheit der Kunst - alle diese Freiheiten stehen für uns als Christen unter dem Vorbehalt der Liebe, sollen dem Guten dienen, dem Frieden, der Gerechtigkeit. Sollen aufbauen und nicht sinnlos Hass sähen. Sollen das gegenseitige Verständnis fördern und nicht Vorurteile verfestigen.
Gewiss, auch das kann nötig sein: „Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen." (George Orwell) Jesus selber hat das getan - den Einflussreichen und Mächtigen gegenüber ins Angesicht. Und Stephanus hat es getan. Und Martin Luther. Und Oskar Romero. Und viele andere auch. Sie haben Unrecht und Heuchelei beim Namen genannt, weil sie sich gebunden sahen an den Gott der Liebe, der Barmherzigkeit, der Gerechtigkeit.
Der Kirchenvater Augustinus hat unseren Freiheitswunsch und Gottes heilsamen Willen für alle seine Menschenkinder da sehr gut zusammengebracht: „Ama et fac quod vis."
„Liebe und dann tu, was du willst."
Letzter So.n.Epiphanias 25.01.2015 Stadtkirche Matthäus 17,1-9 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Letzter So.n.Epiphan. - 25.I.2015
Matthäus 17, 1- 9
Liebe Gemeinde!
Das Schlimmste, was uns geschehen könnte, wäre die Gleichheit:
Wenn wir alle alles gleich sähen und uns einander einfach anglichen. Wenn es nur einerlei Aussehen und einerlei Ansicht unter uns gäbe; wenn nur möglich und richtig wäre, was wir einsehen, und wir von der eigenen Anschauung nie absähen. Wenn wir nichts Fremdes mehr begreifen, sondern nur noch längst Bekanntes hoch- und runterwürgen müssten.
„Ich sehe was, was Du nicht siehst“, ist der Anfang lohnender Gemeinschaft in Gespräch und Denken. Völlige Übereinstimmung, restlose Deckung der Blickwinkel dagegen ist das Ende – nicht nur des Austauschs, sondern auch des Lebens. …Denn wo Menschen wirklich unterschiedslos geworden sind, da hat der Tod das Altwiener Couplet erfüllt: „Das Schicksal setzt den Hobel an … und hobelt alles gleich“.
Wir werden also immer ärmer mit der Ähnlichkeit.
Und sollten uns fürchten nicht vor dem Unbekannten, sondern vorm Allzuvertrauten.
Denn Hans braucht nun einmal Grete und Alt braucht Jung. Die Waterkant ist nur platt und die Alm ist nur schräg, wenn sie allein den Horizont ausmachen, und ohne die Juden sind wir Christen nie möglich und nie gemeint gewesen. Und so geht es immer feiner immer weiter: Immer neue Gegensatzpaare und Pendants zur Ergänzung, immer wieder die Zuordnung von tief Vertrautem und hoch Spannendem, immer und überall gibt es Erkenntnis nur durch Unbekanntes und Bewegung nur durch Anstoß. ———
Darum sollten allerdings gerade wir Christen in diesen Monaten ständig auf den Knien vor Gott liegen und darum flehen, dass wir nicht alle gestraft werden durch das Ende der großen und notwendigen Verschiedenheit und Ergänzung innerhalb unserer Geschwisterschaft: Unsere andere Hälfte ist nämlich tödlich bedroht.
Das östliche, das orthodoxe Christentum liegt auf den Tod.
In seiner slawischen Gestalt wird es vom Krebs des Nationalismus und der Geschlechtskrankheit der Polithurerei zerfressen, und in seiner orientalischen Gestalt wird es von Islamisten erdrosselt und geschlachtet oder aus dem Mutterboden der Kirche ausgerissen und auf den Kehricht geworfen, wo es verdursten und verbrennen soll.
Das aber sind – wohlgemerkt – keine schauderwirksamen apokalyptischen Bilder, sondern das ist das Tagesgeschehen im Jahr des Heils 2015!
Dort, wo die Anhänger des gekreuzigten Messias nach neutestamentlichem Bericht zuerst „Christen“ genannt wurden – in Antiochien in Syrien (vgl.Apg1119-26!!), am Ort also, „wo unsre Wiege stand“ – dort gehen zwei Jahrtausende christlicher Anfänge, Blüte und Treue in Tränen und Blut zu Ende. ——
Darum wollen wir heute mit ihren Augen – mit den Augen der alten, orientalischen Kirchen der Orthodoxie – auf die Verklärung des Herrn blicken.
Denn noch leben sie, wenn auch in unvorstellbarer Angst und Verlassenheit, als Flüchtlinge, wo immer man sie aufnimmt, als Gestrandete in den Häfen der Menschenschlepper und als Sinkende auf Geisterschiffen vor den Ufern des immer wieder montags verteidigten christlichen Abendlands. ——
Die Augen der Orthodoxen sehen die Verklärung Jesu ganz anders als wir Westler.
Ihnen ist dieses flüchtige Ereignis so eine Offenbarung, so eine Sehhilfe, dass sie ihm in allen verschiedenen Kirchen des Morgenlandes und in allen Traditionen von Byzanz einen eigenen Feiertag widmen: Am 6. August begehen sie das Verklärungsfest, das im griechischen Raum den schönen und auch uns ansprechenden Namen „Metamorphōsis“ trägt.
Es ist die Feier einer ganz wunderbaren Verwandlung, die alle gewohnten Bilder und Eindrücke von Jesus gründlich verrückt.
Die Metamorphōsis ist ein heiliges „Ich sehe was, was Du nicht siehst“, das sich in den Augen jedes Betrachters vollzieht, …die Metamorphōsis, bei der jener Mann, den seine drei nächsten Begleiter so gut kannten, dass sie ihn jederzeit genauestens für ein Phantombild hätten schildern können, sich ganz und gar anders zeigte als je zuvor.
Es ist ein ungewohnter, mit nichts zu vergleichender Anblick: Doch die Orthodoxen beharren darauf, dass wer Christus sehen und zeigen will, ihn auch so … gerade so sehen muss!
Darum haben sie es auch all denen, die Ikonen fertigen, zur Verpflichtung gemacht, dass das erste Stück eines Ikonenschreibers – Ikonen werden nämlich nicht gemalt, was ja Erfindungsreichtum voraussetzt, sondern „geschrieben“, was getreue Wiederholung des Vorbildes schafft – …. das erste Stück eines Ikonenschreibers also soll stets eine Verklärungs-Ikone sein, denn wer die betrachtet, der erblickt mehr, als gewöhnliche Augen sehen können.
Die Verklärung offenbart uns den Menschen Jesus im Lichte Gottes:
Obwohl er in unserer Leiblichkeit bleibend die Eigenschaften hat, die wir mit ihm teilen – sein Körper ist stofflich und also verletzbar, … sein Körper ist fest und also intransparent, nicht zu durchschauen, … sein Körper ist fleischlich und also den Mächten von Verfall und Verwesung ausgeliefert – strahlt dieser Menschenkörper dennoch bei der Verklärung ein Licht aus, das nicht zerstört werden kann und das seinerseits alles durchdringt, weil es ewig ist.
Diese Gottes-Ausstrahlung, die Jesu menschlicher Leib hier entwickelt, diese Metamorphose, in der anschaulich wird, dass er Mensch und mehr ist, ereignet sich, indem er in der dauerhaften Gemeinschaft mit den größten Zeugen Gottes erscheint:
Verbunden mit Mose, dem Lehrer der Gerechtigkeit und Elia, dem Propheten des Reiches Gottes.
Deren wegweisend erhellendes Gesetz und strahlende Verheißung werden in der lichtumflossenen Leuchtkraft Jesu ebenso bestätigt, wie umgekehrt Jesus durch ihr Erscheinen verherrlicht wird.
Doch was dem Augenblick auf dem Berg die wirkliche Klarheit gibt, ist nicht nur dass die Heiligen Israels und die Apostel der Kirche versammelt sind, auch nicht nur, dass mit Mose alle, die durch den Tod und mit Elia alle, die ohne zu sterben in’s Leben kamen, hier stellvertretend beieinander stehen, sondern dass die Dreieinigkeit Gottes sich hier offenbart:
Die Stimme des Vaters, das Licht des Sohnes, die Gegenwart des Geistes, von der alles durch den Glanz der Wolke durchwaltet und überflutet wird.
Diese dreifache Klarheit der ursprünglichen und der menschlichen und der spirituellen Gegenwart Gottes, die mehr ist als unsere Augen sehen können, macht die Verklärung für die Christen des Orients und des europäischen Ostens so wichtig.
Auf ihren Ikonen zeigt die Mandorla, das streng geometrische Gebilde aus ausströmendem Licht oft sogar, dass im Zentrum, um das Geheimnis der Dreifaltigkeit herum das Leuchten schwarz wird: So undurchdringlich tief ist die Quelle, aus der das lebendige Geheimnis unseres Gottes hervorbricht.
– Und so überwältigend ist es, dass die drei anwesenden Jünger in verschiedener Weise davon geblendet werden: Petrus, indem er es zwar in’s Auge fasst, aber doch irre geht, wenn er jetzt schon drei Hütten in diesem Licht errichten will; Jakobus, der es nicht ungefiltert zu schauen vermag und das Gesicht verhüllt; Johannes, der Jüngste der drei wird vom Durchbruch der göttlichen Herrlichkeit so ergriffen und zu Boden geschleudert, dass es oft fast wirkt, als wolle er auf allen Vieren fliehen.
Und doch – das ist der Kern der ostchristlichen Theologie der Verklärung – und doch ist eben diese überirdische und überfordernde Erfahrung zuerst und zuletzt den Jüngern zugute gekommen: Denn bisher kannten und sahen sie Jesus nur als ihren Meister und Lehrer und Freund, als den, der ihr Leben, ihr Denken, ihr Hoffen, ihr Tun so verändert hatte, dass sie sich ganz und gar von ihm abhängig machten. Wäre ihnen dieser Jesus aber – wie es ihm bevorstand – bald mit Gewalt und Brutalität genommen worden, hätten sie seine Passion, sein Scheitern und Sterben unvorbereitet erfahren, dann hätten sie sofort und endgültig zerbrechen müssen, wenn der Mittel- und Wendepunkt ihres eigenen neuen Lebens als Jünger zerstört wurde.
Darum war der Blick auf seine Herrlichkeit – so unerklärlich und unerträglich er ihnen einstweilen auch sein möchte –, darum war der Blick auf seine Herrlichkeit ihre Rettung:
Dämmerte ihnen nun doch im Licht dieses strahlenden Augenblicks, dass ihr Herr und Meister nicht einfach unterliegen und von seinen Feinden wider alles Hoffen vernichtet werden sollte, sondern dass er freiwillig und in klarer Weitsicht seinen Weg des Opfers zur Erlösung ging.
So stärkte die Verklärung die Jünger, indem sie das Kreuz von vornherein nicht als den Sieg der mörderischen Welt über Gott, sondern als den Sieg der machtvollen Liebesbereitschaft Gottes über das Böse erkennen ließ. ——
Und darum hat die Ostkirche – seit Kaiserin Helena im 4.Jahrhundet auf dem Tabor in Galiläa eine Verklärungskirche errichten und weihen ließ – diesen entscheidenden Augenblick, diese Aufklärung über die Einheit Jesu mit der unauslöschlichen Herrlichkeit Gottes nach Kräften angebetet und gefeiert. ———
Das ist nun wahrlich ein anderes Bild, als es sich unseren Augen bietet, wenn wir die Verklärung betrachten.
„Ich sehe was, was du nicht siehst.“
Uns ist es immer wieder naheliegend gewesen, das Vorübergehende dieser Ausnahmeerscheinung zu betonen.
Fast hämisch wird ja oft auf den dummen Häuslebauer-Eifer des Petrus gewiesen, der mit seinen drei Kirmesbuden gleich zementieren will, was sich ja doch nicht festhalten lässt.
Die Sinnlosigkeit des Gedankens, man könne durch eine besondere Stätte, durch einen festen Kultus etwas binden, das flüchtig und ungreifbar ist, wird immer wieder herausgehoben, wenn wir von der Verklärung reden. Denn tausendundeine Predigt haben uns zu verinnerlichen gelehrt, dass es eigentlich ja darauf ankomme, wieder von den Höhen herab zu gelangen, dass man von den übernatürlichen Gipfeln der Gottesschau behend in die Mühen der Ebene hinabsteigen und in völlig unverklärte Bereiche des Lebens zurückkehren müsse, um sich keinesfalls auf sinnliche Züge der Gegenwart Gottes zu versteifen.
Los von den Überhöhungen, los von den theologischen Geheimnissen, die sich der Nach-prüfung und sozialen Nachahmung entziehen; weg vom Geistlichen, runter zum Sachlichen. Schluss mit dem Lichterzauber, heute ist „Letzter nach Epiphanias“ … ab nächster Woche endlich wieder Alltagsbeleuchtung, … das nüchterne Tageslicht der Ratio!
Oder reformatorisch gewendet: Die Schlusspointe des ganzen, nicht recht greifbaren und etwas mystischen Erlebnisses ist ein Satz wie ein Prinzip. Als die Vision vorüber und alles verflogen war, da „sahen sie niemand als Jesus allein“.
……. Ein herrlicher Satz!
Ganz meine Brille.
So sehe ich die Dinge.
Das könnte ich mir auf meinem Grabstein in Granit gemeißelt denken: „Jesus allein“.
……. Aber dann fallen mir die syrischen Christen ein, ihre verlorene Heimat, ihre zerstörten Kirchen und Klöster und Träume.
Und dann ist mir, als sei meine Brille vielleicht nur vom Besserwissereifer protestantischer Theologie beschlagen gewesen, oder als sei ich allzu lange wie eines jener bemitleidenswerten Grundschulkinder mit einem Hang zum Schielen herum gelaufen, … mit einem zugeklebten Auge.
Denn wie soll das möglich sein: Jesus allein zu sehen?
Wie kann man ihn trennen von seinem Vater, wie kann man seine Silhouette aus dem unergründlichen Licht, das der Heilige Geist überall in der Schöpfung und in der Menschheit entzündet, ausschneiden oder herauslösen?
Die syrischen, die orientalischen, die orthodoxen Christen jedenfalls werden überleben durch ihr Festhalten an Christus als dem, in dem sich die ganze Gottheit zeigt.
Oder sie werden nacheinander – vielleicht ganz dicht bei uns oder fern von hier, irgendwo im Nebel einer Welt, zu deren Alltag Völkermord, Religionskrieg und die Gleichgültigkeit der Verschonten gehören – … oder sie werden nacheinander sterben, bis die letzten Lichter aus der Heimat unseres Christentums verloschen und die letzten Wurzeln der alten Kirche verloren sind ……. aber auch dann noch wird ihr Blick auf das ewige Licht gehen, dessen Mitte schwarz ist, weil dort Gott selber – der heilige Schöpfer, der menschgewordene Erlöser, der lebensspendende Tröster – in Seinem Geheimnis von Ursprung und ewiger Vollendung sie erwartet und sie zur verklärten Teilhabe daran in Sein Mysterium aufnimmt. ——
Lasst uns beten und helfen, dass sie nicht untergehen, deren Augen so anders auf die Verklärung, die Offenbarung und Verherrlichung unseres Herrn schauen!
Und lasst uns ebenso beten, dass auch wir mit unserer Kurzsichtigkeit verwandelt werden und auf unsere Weise zum Schauen des unerschaffenen und unvergänglichen Lichtes kommen, das der dreieinige Gott in Christus erstrahlen lässt, um seine Gläubigen überall zu trösten und zu retten!
Amen.
2.So.n.Epiphan. 18.01.2015 Stadt- und Mutterhauskirche Johannes 2,1-11 Jonas Marquardt
[Vorbemerkung: Diese Predigt ist das Ergebnis unerwarteter Denk- und Lernanstöße der letzten Tage. Als reformierter Christ mit enger Bindung an die jüdische Theologie war ich mir immer sicher, recht klar zu verstehen, was das Bilderverbot – beruhend auf dem 2.Gebot des Dekalogs nach unserer biblischen Zählung – bedeute. In kürzester Zeit habe ich es anders betrachten gelernt: Denn die Vehemenz mit der die (zugegeben verletzend provokante) Darstellung des Propheten Mohammed abgelehnt wird – der immerhin doch unbestreitbar „nur“ ein Mensch war –, ließ mich aufhorchen. Die Bilder vom Menschensohn, die Darstellungen des Menschen Jesus von Nazareth, in denen die Menschwerdung Gottes zum Ausdruck kommt, haben christlicher Kunst seit Jahrtausenden einen humanen Kern, eine mehr als bloß artistische Beschäftigung mit dem Menschenbild ermöglicht. Mir scheint es plötzlich zentral –obwohl das meilenweit von allen zeitgenössischen Kunsttheorien und erst recht von politisch korrekten Äußerungen entfernt ist –, dass die christliche Kunst so auf den Menschen konzentriert, an ihm interessiert, in ihn versenkt ist. Christus, „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ (Kolosser1,15) ist Auftrag und Verheißung dafür, dass wir uns theologisch wie künstlerisch auch weiterhin um das Bild des Menschen bemühen sollten … auch wo wir „keine Gestalt sehen, die uns gefällt“(Jesaja 53,2f). Plötzlich treten die alten Bilderstreitigkeiten, die zur karolingischen Zeit und im Byzanz des 8. und 9. Jahrhunderts erbittert aufflammten, als die erste Begegnung mit dem Islam die Kirche verunsicherte, wieder in die Aktualität. Und ich bin – trotz des reformierten Bildersturms – den Bildern, den gemalten, geschnitzten, gezeichneten Bildern der Menschlichkeit des Menschgewordenen dankbar und verpflichtet. ]
Predigt Kaiserswerth & Mutterhauskirche 2.n.Epiphanias - 18.I.2015
Johannes 2, 1-11
Liebe Gemeinde!
Was ist das?
Ein erwachsener Mann - Junggeselle -, der mit seiner Mutter zu einer Hochzeit gehen muss, auf die er keine Lust hat. Und dann ist sie auch noch so stolz auf ihren vollbärtigen Nachwuchs, dass sie seine Begabung unbedingt öffentlich und unter seinen Freunden vorführen will, als habe er gerade das große Einmaleins gelernt. Was folgt ist der unvermeidliche Auftritt, bei dem er sie erinnert, dass er eben nicht mehr an Mutterns Rockzipfel hängt und seine Fähigkeiten darum nicht auf Kommando unter Beweis stellt. Zu allem Überfluss aber entlädt sich das ganze spannungsgeladene Geknister zwischen Übermutti und Sohnemann ausgerechnet im Rahmen einer enttäuscht-gelangweilten Gesellschaft, der eben der Alkohol ausgegangen ist.
Was ist das?
Es ist ein perfekt neurotisches Drehbuch für großes amerikanisch-jüdisches Kino! ——
Und was ist das?
Die Verborgenheit der göttlichen Allmacht unter der gewöhnlichen Menschheit des Erlösers ist eine Hochzeit der ganz besonderen Art: Vermählt und vereint sind hier die Ewigkeit und die Sterblichen. Doch in das Geheimnis einzudringen sollten wir uns unterstehen, weil es den Gästen der mystischen Hochzeit nur ausgeteilt und eingeschenkt wird, wenn die Mutter, Hüterin des Geheimnisses und Fürsprecherin aller, die es erfahren sollen, das Ausfließen veranlasst. Auch die Mutter der Gläubigen gebietet aber nicht darüber, wann und wie ihnen der starke, reine Wein der Wahrheit eingeschenkt wird; auch sie kann nur bitten, dass das Geheimnis geschehe und man die Wunderkraft ihres Sohnes empfängt. Doch ihr Gehorsam dem Sohn gegenüber und ihre Bitten werden belohnt: Schließlich schenkt er aus, was seine Mutter den Menschen gönnt.
Was das ist? Es ist die alte Tradition gläubiger Erklärung, die in Maria wahlweise die Kirche als Heilsvermittlerin oder allgemeiner die Verkörperung der menschlichen Empfänglichkeit für das Wunder Christi erblickt. ——
Und ist es nicht sonderbar? ……. Beides – die durchaus berechtigt satirische und die tiefsinnig allegorische Deutung – beides gibt ein Bild der uns vertrauten Hochzeit zu Kana wider: Es ist beide Male jenes ganz irdische galiläische Fest, bei dem unter der verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Menge ein junger Handwerker mit seiner vermutlich verwitweten Mutter zugegen ist, als die ganz irdische Sorge um die durch Armut oder Geiz oder Unerfahrenheit gefährdete Bewirtung eintritt.
Und weil das lebenserfahrene Auge Marias die Verlegenheit erkennt und weil sie offensichtlich auf geradezu selbstverständliche Weise mit dem lebt, was in ihrem ältesten Sohn an Segen, Hilfe und Verheißung ruht, darum wird die erste für alle Zeiten im Gedächtnis der Menschheit festgehaltene Tat dieses Sohnes etwas so Irdisches: Ein Fest, das zuende gefeiert werden kann, eine Freude, die nicht abgebrochen und ein Gastgeber, der nicht bloßgestellt werden muss.
… Wozu kam der Heiland? – Damit die Lampen nicht verlöschen und die Musik nicht verstummt. Damit die, die in ihrer Blüte stehen und jubeln können, nicht vor der Zeit ihr Lachen verlieren und beschwert werden. ——
Dieses Vorzeichen seines Wirkens vergessen wir allzu oft, weil die Erlösungsmission so groß und die Passion zu bitter war, durch die er das Elend der Welt aus einer menschlichen zu einer göttlichen Sache machte. Doch es gilt festzuhalten, dass gerade das besonders theologische, tiefe Johannesevangelium eine feuchtfröhliche Hochzeitsfeier – in der jüdischen Welt bis heute Inbegriff der festlich und sinnlich vorweggenommenen Erlösungshoffnung – als den geeignetsten Ausgangspunkt zum Betrachten des Werkes Christi zeigt.
Was uns aber derzeit besonders interessiert, ist die anfängliche Beobachtung, dass die Ereignisse beim Zuprosten auf der galiläischen Bauernhochzeit auf so verschiedene Weise gesehen und geschildert werden können.
Ohne Willkür und ohne Täuschung kann man das, was damals zwischen ein Paar Gästen und dem Oberkellner und einem ahnungslosen Bräutigam passierte, entweder als urkomisch oder als hochheilig oder einfach als herzbeweglich verstehen … und es bleibt doch immer der gleiche Bericht des Evangeliums. Weshalb sogleich die Frage folgt: Welches ist dessen richtiges Verständnis? Welches die wahre Deutung?
Das ist die Frage, über der so jämmerlich viel Blut vergossen wurde, seit Menschen denken und glauben wollen, und es ist eine Frage, die uns in absehbarer Zeit in Atem halten wird, weil die Antworten darauf so abweichend sind. Denn auch wenn uns gesagt wird – von unserem eigenen Herzen oder bloß durch einen vermeintlichen Vordenker und Fachmann – : „Hier hast Du die Wahrheit; hier ist sie geschrieben!“, so stellen wir doch fest, dass der eine Mensch darauf mit Lachen, ein anderer mit Beten und ein dritter nicht mit dem einen, nicht mit dem andern, sondern schlicht mit Dankbarkeit reagiert. … Und was ist daran zu ändern?
Wer will das Lachen über die hilfreiche Aufdringlichkeit der Mutter und deren spröden Sohn verbieten und stattdessen die Anbetung des geistlichen Geheimnisses der neutestamentlichen Wunder befehlen? Wer will, wer kann hier etwas vorschreiben?
… Nein, anders gefragt: Darf hier überhaupt etwas vorgeschrieben werden?
Kann man die Erkenntnis einer Wahrheit ernsthaft befehlen oder ihre Anerkennung wirklich erzwingen?
Jeder, der an die Wahrheit glaubt, muss diese Frage beantworten: Ist die Wahrheit ein Stein, auf den ich andere mit der Nase stoßen und mit dem ich umgekehrt einen anderen erschlagen kann? Oder ist die Wahrheit Geist und Leben (vgl.Joh663)? …….
Nun, für andere können wir nicht antworten. Gewiss auch nicht für die, die alle Welt zu recht jetzt fragt, ob die Wahrheit ihres Koran nach ihrer Überzeugung ein Geschenk oder eine Waffe sei?
Aber als Christen kennen und feiern wir wahrhaftig die uns gegebene Antwort!
Und die besteht darin, dass unser Gott alles, aber ganz bestimmt kein Stein ist. Er hat die Wahrheit und sich selbst niemals grob wie einen scharfkantigen Gegenstand gezeigt, an dem man sich bestenfalls wundreiben und schlimmstenfalls das Gehirn zerschmettern kann, sondern immer und zu allen Zeiten ist er so erschienen, wie niemand es vermutete und so zu vernehmen gewesen, dass jedermann sich wundern musste.
Nie wird Gott so bezeugt, dass man sagen muss: „Hier ist es mit Händen zu greifen und vom Blinden mit dem Krückstock zu besichtigen! Hier kann man Gott gar nicht verfehlen. Hier klingt’s und riecht’s und schmeckt’s unverkennbar nach Gott!“
Nein. Unser Gott kocht mit Wasser.
Er schmeißt sich nicht auf die Leute und springt niemanden auf freiem Feld an, … es sei denn in seltenen Ausnahmen, wo es tatsächlich einmal handgreiflich zugeht und Er mit Jakob im Dunkeln ringt (vgl.1.Mose3225ff) oder fast heimtückisch über Mose furchtbar herfällt (vgl.2.Mose424), … doch da wird Sein Geheimnis nur tiefer und Seine Freunde werden ganz still.
Unser Gott offenbart sich aber allemal so, dass man es auch übersehen, dass man es auch nicht erkennen, dass man es oft kaum glauben kann.
Die allzu offensichtlichen Beweise und Wege verschmäht Er. Die allzu weit verbreiteten Ab-zeichen und Begleiterscheinungen des Göttertheaters hat Er nicht nötig.
Er bleibt am Rand, lässt Ägypten, Babylon und Griechenland die Religion, die Wissenschaft und die Kultur erfinden und begnügt sich stattdessen mit Nomaden ohne Land, mit einem kleinen Gebirgsvolk, das zwischen Meer und Wüste eingezwängt lebt und dort wahrlich nicht immer glänzt.
Aber einem hundertjährigen Wanderer und einem Hirtenjungen schenkt Gott alles, was Er an Liebe und an Segen zu verleihen hat; den letzten Bürgern Jerusalems, den weinenden Juden in Babylon vertraut Er Seine Zukunftspläne, Seine ewige Hoffnung, Seine unumstößliche Verheißung für die Welt an.
Er ist so bescheiden, so unbemerkt, so heimlich Gott, dass man Ihn oft nicht ahnt, nicht riecht, nicht schmeckt, nicht sieht, obwohl Er wahrhaftig auf Erden, mitten unter den Seinen ist.
Das ist das biblische Zeugnis von Gottes Offenbarung: Ein Ruf dazu, nicht Gott zu sehen, sondern Ihn zu suchen; ein Ruf dazu, die Wahrheit des Gottes Israels nicht einfach festzustellen, sondern ihr nachzugehen, nachzufolgen im Leben der Menschen, im eigenen Leben.
Und dann kommt die Offenbarung, die das Neue Testament uns bringt – und sie unterscheidet uns tatsächlich tief und auf Erden dauerhaft von Gottes Volk und ebenso von der muslimischen Gemeinschaft. Denn im Evangelium setzt sich der überraschende Weg Gottes in stillster Unauffälligkeit und leisester Verborgenheit noch weiter fort:
Das ursprüngliche Licht der Welt wird zu einem kleinen Körper darin, der Schatten wirft wie Millionen andere und bei Dunkelheit nicht mehr zu sehen ist. Der Schöpfer wird eins Seiner Werke: Kind, Mann und Leiche.
Jetzt gibt es tatsächlich und endgültig nichts Göttliches mehr zu ahnen: Keinen äußersten Lichthof, dessen Abglanz auf Moses Zügen haftete (vgl.2.Mose3429), keinen Saum, der die Schwellen des Tempels erfüllt (vgl. Jes61ff), keine himmlischen Botschafter und Thronwachen mehr (vgl.Hes14ff)!
Nur noch ein menschliches Antlitz in der Menge der Menschengesichter; Augen, Ohren, Nase, Mund wie bei Dir und mir, vielleicht mit dunklen Ringen der Müdigkeit, mit hohler werdenden Wangen, wie bei allen, die Leid und Sorgen kennen.
Aber gar nichts Besonderes mehr.
Alles Hohe, alles Herrliche, aller Rausch und alles Feuer sind verflogen, sind verloschen. ……. Alltägliches, sonst nichts.
Es ist kein Wein mehr da.
Nur noch das reine Wasser, in dem schlicht jeder sich spiegeln kann. ——
Aber wie kostbar, wie köstlich ist dieses Wasser, dieser allergewöhnlichste Stoff, in dem und aus dem das Leben ist. Wie kostbar, wie köstlich ist das Menschenantlitz geworden durch das Wunder, das in Kana begann: Dass aus Wasser Wein, dass aus dem ganz Gewöhnlichen das Wunder selber werden kann!
Denn die Geschichte von der Besorgnis, dass es nichts Belebendes, dass es nichts mehr geben könnte, das die Stimmung hebt und zur Freude verhilft, … die Geschichte von der Angst, das Fest könne abbrechen und die graue Trostlosigkeit könne uns wieder haben, weil die Vorräte an Gutem, Teurem, Außergewöhnlichem zur Neige gegangen sind und alle Reserven leer: Das ist nicht nur die Erfahrung der Brautleute und Gastgeber von Kana, sondern unsere stets wiederholte Geschichte als Menschen. Viel zu rar sind doch die himmelhochjauchzenden Stunden, viel zu selten schäumt in uns der Perlwein der Hochstimmung, der Hoch-Zeit, der uns beflügelt und scheinbar in Gottes erreichbare Nähe versetzt.
Wie oft sind alle seelische Sicherheit, alle Zuversicht, alle Glaubensgewißheit, alle Menschenliebe, alle Hoffnungen erschöpft …….
… Nur noch Wasser!
Doch das erste Wunder Jesu, das er immer wieder, immer wieder erneuert, das er wiederholt so lange, bis wir bei der Hochzeit des Lammes sein werden, das soll uns ein Zeichen sein!
Aus dem ganz Gleichgültigen, aus dem, was wir im Überfluss haben und darum gering-schätzen, aus dem Allereinfachsten, das weder Geschmack noch Wirkung zu haben scheint, kann und wird uns das Heil blühen! Aus dem, worin niemand mehr etwas sieht, geht es hervor, im Ordinären offenbart sich seine Herrlichkeit!
Es ist das Menschenbild, das uns immer umgibt, vorne, hinten, rechts und links; das Menschenbild, das wir so massenhaft zur Verfügung haben, das es uns oft kaum noch interessiert, das wir verunstalten oder vernachlässigen, das wir beim Traum von außerirdischer Wuchtigkeit und Erhabenheit glattweg übersehen.
Es ist das Menschenbild – über das man bestimmt auch jederzeit lachen kann oder liebevoll oder ungerührt den Blick schweifen lässt – an dem sich das Wunder vollzieht, das uns anders als Juden und Muslime immer prägen wird: Immer wieder müssen wir den Menschen ansehen, ihn in seiner ganzen Alltäglichkeit betrachten, ihn zeigen und studieren, ihn in seiner Durchschnittlichkeit, seiner Langeweile, in seinem scheinbar völlig nichtssagenden Äußeren – „Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Allerweltsgesicht“ – bemerken.
Denn aus dem Menschenbild – so achtlos vertraut wie Leitungswasser – kann der Anblick entstehen, der uns die Wahrheit zeigt. —
Und darum ist es ein Segen, dass die evangelische Kirche in diesem Jahr als Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum 2017 das Thema „Bild und Bibel“ gewählt hat! Ich persönlich fand das bis vor einigen Tagen einen eher belanglosen, harmlosen Schwerpunkt. Nun aber wissen wir, was wir an diesem Thema haben: Wir können und wir sollen das Bild des Menschen pflegen, erforschen, gestalten, wiedergeben und lieben und dürfen es aus keinem Grund mit einem Tabu belegen.
Anders als in der Überlieferung Israels und der Welt Mohammeds ist die Kunst, den Menschen nicht auszublenden und nicht zu übersehen, eine bleibende Übung für uns: Gewiss sollen wir ihn nicht vergötzen … und vom Karikieren reden wir auch nicht. Aber wenn wir das entwickeln, was Bettine von Arnim „Andacht zum Menschenbild“ nennt, dann kann uns das Wunder von Kana widerfahren und uns unendlich froh machen:
Aus dem Einfachsten wird dann das Erhoffte.
In dem, was wir haargenau kennen, enthüllt sich das Unglaubliche.
Es ist nur ein Mensch – doch uns offenbart sich in ihm Gott!
Amen.
Altjahrsabend 2014 "Von guten Mächten" (D.Bonhoeffer) Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2014
„Von guten Mächten“ (Bonhoeffer)
Liebe Gemeinde!
Auch Silvesterböller und Krach und Schwefel werden sie nicht vertreiben und zerstreuen:
Die bösen Mächte des Jahres 2014, die als Krieg und Krankheit, als geschichtliches Unheil und geschichtlicher Ungeist ihr Spiel und Wesen mit der Menschheit trieben.
Was wir mit Ebola und auf der Krim, bei den Horden des Islamischen Staates und zwischen dem Pöbel der „Pegida“ an Gespenstern und an totgeglaubten Plagen auf die Bühne unserer Tage zurückkehren sahen, hat uns abermals gelehrt, dass wir im Heutigen ganz nah am Gestern siedeln, und dass die Zukunft sich nicht zwingend von ihrer Vorgängerin, der Vergangenheit unterscheiden wird: Schließlich bringt die eine ja die andere hervor.
Und dennoch ist es – Gott lob! – nun keineswegs so, dass zwischen dem, was war und dem, was wird, nur ein Mutter-Tochter-Verhältnis, nur eine Erb- und Nachfolgelinie verliefe. Tausendfältig sind die die Kräfte des Gewesenen, tausendfältig die Kinder der Möglichkeit, die heranwachsen. Es gibt so ungezählte Mächte und ein so frisches Morgen, dass wir heute ebenso wenig ahnen, wie die Welt von 2015 sein wird, wie uns vor 365 Tagen noch das Jahr fremd war, dessen letzte Stunde bald schlägt.
Und weil wir eben nicht nur eine Vergangenheit und eine Zukunft haben, weil die Zeiten und ihr jeweiliges Leben sich eben nicht einfach ablösen, sondern verbinden und verweben, darum gehört es zu den großen Möglichkeiten gerade solcher Nähte im Gewebe der Zeit wie es der Altjahrsabend ist, dass wir das spüren und hören, was darunter liegt. Und wenn es nach biblischem Zeitmaß genau ein Menschenalter ist, das die Geschichte gewebt und ausgebreitet und mit unserer Gegenwart verbunden hat, dann wird unter dieser Stoffbahn von 70 Jahren das Bleibende sehr deutlich erkennbar. —
70 Jahre sind es, seit man in der Marienburger Straße in Berlin – am Ende eines schweren Jahres und am Ende eines grauenerregenden Krieges und Zeitalters schrecklichster Verbrechen – in einer alten Familie noch einmal Weihnachten und am vorletzten Tag des Jahres den Geburtstag der Mutter feierte.
Zwei Söhne, zwei Schwiegersöhne waren in der Gewalt der verzweifelten Vollstrecker des massenhaften und des eigenen Untergangs im Namen des deutschen Volkes. Sie alle sollten den kommenden Sommer nicht mehr erleben.
Ein Brief aus der Prinz-Albrecht-Straße, wo die Gestapo im Reichssicherheitshauptamt die Gefangenen zermürbte, wurde insgeheim der Braut eines der Häftlinge übergeben, die bei den Schwiegereltern in spe zwischen Hoffnung und tödlicher Furcht die Feiertage und die schicksalhafte Jahreswende verlebte. Das kurze handschriftliche Blatt enthielt den letzten theologischen Text eines der bedeutendsten Zeugen des Christentums in der Mördergrube Nazi-Deutschlands, … doch das wussten die ersten Leser damals in der Marienburger Straße nicht.
Der Bräutigam, der Sohn, der da schrieb, war kein Dichter und wollte es auch nicht sein.
Er hatte die Braut zu trösten, die Eltern zu trösten. Er teilte seinen Trost aus der Todeszelle, sein Lebensvertrauen im Angesicht des Wahrscheinlichen seinen Liebsten mit und auf.
Ihnen war das Gedicht aus der Haft sein ganz eigener Gruß, sein persönliches Weihnachts- und Geburtstagsgeschenk, ……. rückblickend wurde es gar sein letztes Vermächtnis. ——
Dieses durch und durch besondere, individuelle, biographisch und geschichtlich unvergleichliche Zeugnis ist nun aber etwas geworden, was es eigentlich unter keinen Umständen sein kann: Es ist ein verallgemeinertes, verallgemeinerungsfähiges, allseits beliebtes, immer probates, ganz und gar unverfängliches, jedermann zugängliches Stück Populärkultur geworden. …
Man scheut sich zwar, es auszusprechen, … aber die Tatsache ist nicht zu leugnen: Spätestens mit der heute geläufigen Vertonung (EG Rheinland/Westf. 652), die einen eingängigen Refrain aus der siebenten und letzten Strophe eines Testaments macht, ist es ein Schlager geworden.
Der von den deutschen Nazis einst zum Tode geschleifte Dietrich Bonhoeffer, … heute wird er von deutschen Christen und Nicht-mehr-Christen zu Tode gesungen und geliebt. ——
Das ist nicht leicht zu hören, … auch nicht einfach zu sagen, siebzig Jahre nachdem ein einsamer, gefasster und klug gewordener Mensch, der bedacht hatte, dass er streben müsse und trotz seiner Haft doch so gewiss mit Gott und seiner Familie lebte, etwas ganz unverwechselbar Eigenes in Worte fasste.
Höchstes geistiges Eigentum, ein durch Erfahrung und Haltung bewährtes Glaubenszeugnis, der Ausdruck intimer Sehnsucht nach dem Beisammensein und Weiterleben, die Bereitschaft, das Schwerste anzunehmen und über alledem ein unzerstörbares Vertrauen: Können solche Regungen und Errungenschaften eines ganz bestimmten Menschen wirklich Gemeingut werden? Ja, werden sie es überhaupt wirklich? …..
Das ist nicht die Frage einer exklusiven Elite, die ihr Wesen nicht preisgeben will, nicht der Wunsch, ein vermeintliches Denkmal vor dem Zugriff der Menge zu bewahren, es ist nicht der Dünkel, der Besonderes nur den Gesonderten zutraut und zumutet.
Es ist eine andere Frage, die durch das massenhafte, wohlfeile und gedankenlose Abnutzen, aber ebenso durch das übereifrige, übergreifende, vereinnahmende Annähern und Ausnutzen aufkommt, ……. nicht so sehr die Frage nach Dietrich Bonhoeffer, seiner Braut Maria von Wedemeyer oder der im Lied insgesamt angesprochenen Großfamilie. Diese Frage, ob hier etwas Privates zu schützen sei, ist von den Angehörigen, von Bonhoeffers Freund Eberhard Bethge und schließlich auch von der damaligen Verlobten des in „Widerstand und Ergebung“ entschiedenen Häftlings beantwortet worden … mindestens ebenso sehr freilich von der Geschichte und der Gemeinde, die sich die Verse besonders in der sowjetisch besetzten Zone derart aneignete, dass sie schon Anfang der 50er Jahre zu einem eisernen Bestand des Betens und Bekennens wurden. ——
Die Frage, die zu stellen bleibt, ist ob die durch und durch Wirklichkeits-gesättigten und sparsam nüchternen Zeilen, in denen die Fülle der Bonhoeffer’schen Theologie und seines Glaubens verdichtet sind, angemessen verstanden oder billig verkleinert und verwässert werden durch beliebigen Gebrauch.
Die Gefahr ist so groß wie die Beliebtheit der Worte.
Und um sie zu erkennen, muss man kein Gralshüter der ursprünglichen Bedeutung eines Textes sein, sondern den Text selber nur genau und unvoreingenommen lesen:
Er wird gerahmt von der ganz persönlichen und der ganz überpersönlichen Strophe, in der Bonhoeffer am Beginn seine unverbrüchliche Gemeinschaft mit den geliebten Menschen auch im kommenden Jahr, das sein Todesjahr werden sollte, festhält, und worin er zum Schluss mit der Gemeinde aller daran Glaubenden die alltägliche und immerwährende Gegenwart Gottes als bleibenden, bergenden Trost bekennt.
Zwischen diesen Polen des unerschütterlichen Vertrauens entfalten sich der Rückblick auf das Leiden, die große Gefasstheit vor der Zukunft, die unmittelbar gegenseitigen Lebens- und Wiedersehenswünsche in fünf Strophen, die so ganz persönlich sind, dass ihre theologische Botschaft uns erstaunen muss!
Denn den biographischen – und bei späterem Gebrauch oft ausgelassenen oder nur teilweise gewählten – Strophen sind tatsächlich die Grundbekenntnisse des Liedes zu entnehmen:
Der Herr hat seine Menschen zum Heil bestimmt, und auch wo Er Unheil zulässt wird Er doch kein Fremder, sondern bleibt dankenswerte Liebe; diesen Herrn ehrt man am besten, indem Ihm gerade das irdische Leben bewusst überlassen wird; Seine Verborgenheit und Seine unerkannte Gegenwart aber erinnern daran, dass Sein Reich nicht jenseitig, sondern universal ist, die Verbindung von Zeit und Ewigkeit, von irdisch und himmlisch, von denen, die noch angefochten und denen, die schon vollendet sind. —
Das sind in dichter Beziehung auf den Augenblick und die eigene Situation die Grundlagen des christlichen Glaubens an Gottes gnädigen Ratschluss zur Schöpfung und Erlösung; das ist in persönlicher Abkürzung und Konzentration das Bekenntnis zu Gottes gnädiger Allwissenheit (wenn Hitler das Wort von der „Vorsehung“ nur nicht so unmöglich gemacht hätte …!).
Doch etwas fehlt bei diesen so ganz gezielt und unpathetisch ergriffenen Hinweisen auf das, was trägt und hält.
…….Vielleicht bin ich ja nur ein theologischer Erbsenzähler oder ein eifersüchtiger Liebhaber oder ein engstirniger Verwalter dogmatischer Strichlisten ……. aber seit ich Bonhoeffers Verse kenne und singe fehlt mir ein Name und damit die eigentliche Mitte in seinem Lied – und das ist meine Frage daran:
Ist das Lied von den guten Mächten und der Güte Gottes nicht deshalb so populär, so eine Wunderwaffe im seelischen Verbandskasten, so ein euphorisierende Wohlfühldroge, weil es den Namen Jesu ausspart? Weil es zwar von Gott viel Gemütsbewegendes und Hilfreiches, aber von seiner Erniedrigung, von Gottes Schmerz um uns, vom Opfer auf Golgatha, von der Verlorenheit und von der Rettung, die alle Welt in dem Einen allein findet, niemanden etwas zumutet?
Ich weiß, wie ungebührlich, wie kleinkariert und geistlos pedantisch das für alle klingt, die aus diesen Worten schon solchen Trost, solche Ermutigung, solche Hilfe geschöpft haben.
Und ich weiß erst recht, wie abwegig der säuerliche Vorwurf ausgerechnet in Bonhoeffers Richtung ausgerechnet aus meinem Munde wirkt.
Ich weiß ja auch, dass er an Bonhoeffer schlicht völlig vorbeigeht, ihn nicht im Entferntesten trifft.
Aber trotzdem werde ich von Jahr zu Jahr - und also auch 2014 wieder - empfindlicher und ratloser, wenn ich erlebe, wie die Religionen alle über einen Kamm geschoren werden – ihr Wahrheitsanspruch mache sie angeblich alle todgefährlich für die vielgestalte Menschheit – und wie sie ineinander gerührt werden, gerade auch von ihren wohlwollenden Vertretern … als meinten sie zutiefst alle eben nur den Konsens der Guten von den guten Mächten, die guten Menschen gute Motive liefern für gute Absichten.
Das aber ist weder im Bösen noch im Guten die Botschaft des Christentums. Wir stehen und wir fallen mit einem anderen, ganz unverwechselbaren, einzigen Namen und Menschen: Jesus Christus, der diese Welt in ihrer abgrundtiefen Gottesferne und Unmenschlichkeit mit seiner göttlichen Menschlichkeit, mit seiner menschgewordenen Gottheit erfüllt und versöhnt, gerettet und zum Leben gebracht hat. Das in Wort und Tat zu bekennen, ist der Dreh- und Angelpunkt alles dessen, was Evangelium und Lebensweg für uns sind und sein sollen. ——
Das sah Bonhoeffer nicht anders.
Nur hat er diesen Mittelpunkt in einer großzügig unsentimentalen Klarheit sondergleichen betrachten können, denn in seiner Haft erkannte er, dass diese Selbstverständlichkeit für ihn als Nachfolger Christi für die Welt der Gegenwart beides nicht mehr war: Weder selbst-, noch überhaupt verständlich.
Da dran war die Kirche der Unglaubwürdigen und Kompromissler schuld. Sie hat das Evangelium verraten und die christliche Religion in ihrer eigenen Kultur bodenlos erniedrigt und gründlich vernichtet.
Darum ahnte Bonhoeffer die Aufgabe, einer kommenden religionslosen Welt den christlichen Glauben sozusagen anonym, ohne die verwirkten Ansprüche, ohne die entleerten Worte zu bezeugen. In der Auseinandersetzung mit der modernen Welt um der Zukunft willen wollte er daher konsequent auf alles verzichten, was bisher das christliche Erbe war: Um für andere existieren und sich einsetzen zu können, sollte das Eigene aufgegeben werden. Namen- und anspruchslos würde die Existenz Jesu und seiner Nachfolger werden. Und darin ein unbenannter, womöglich buchstäblich unbekannter Einsatz aller guten Mächte, die immer schon und ewig Sündern und Frommen, Gerechteten und Verlorenen nahe und treu waren und bleiben.
Sein persönliches Lied von den guten Mächten zeigt uns also einen Bonhoeffer, der in der eigenen Vergewisserung und in der Seelsorge an den Seinen nichts anderes übt, als in seinem sachlichen theologischen Einkehren, Denken, Weichenstellen und Bilanzziehen in den isolierten Monaten vor dem Ende, das für ihn der Anfang des Lebens war.
Nichts an seinem Lied, das auf den Namen Jesu verzichtet, ist billig. Es ist alles in äußerster Zucht und Zurückhaltung darin gesagt … und so gesagt, dass eben nicht nur Christen, sondern auch Heiden, nicht nur Gewohnheitsgläubige, sondern auch des Glaubens Entwöhnte es hören, sagen, singen können. Das ist die Stärke dieses Liedes, das macht es so ansprechend auch für die religiös längst nicht mehr Sprachfähigen.
Aber nach siebzig Jahren der von Bonhoeffer vorhergesehenen, der von seinen wirklichen oder vermeintlichen Schülern vorangetriebenen und unwidersprochenen Religionslosigkeit, der selber säkularisierten, also weltlich gewordenen Kirche und Gesellschaft, bewegt mich die Frage nach seinem Lied mehr denn je.
Verliert es nicht doch seinen Inhalt, wenn das in Buße und Zurückhaltung Unausgesprochene gar nicht mehr bekannt, nirgends mehr lebendig ist? …….
Und darum habe ich nur einen Neujahrwunsch für Dich, liebe Gemeinde und für mich ganz persönlich, für meine Familie und Freunde, für die Kirche in der Welt und die Welt jenseits der Kirche: Möge es ein bewusstes Christusjahr werden … 2015!!!
Möge das Bonhoeffer-Gedenkjahr so wie alle Gedenkjahre, die kommen und zu feiern sind, aber auch wie aller Alltag in aller verbleibenden Zeit ein bewusstes Jahr unter dem Namen und in der Gegenwart Jesu Christi sein: Sein Name unsere Losung, unser Erkennungszeichen, unser Schatz und Ziel!
Machen wir Jesus groß als den Christus, den Heiland der Welt!
Geben wir ihm die Ehre, verkünden wir seine Macht, predigen wir Seine Liebe und Herrschaft, üben wir ihm gegenüber Gehorsam, zählen wir die Tage bis zu Seinem Erscheinen, beginnen und schließen wir unsere Zeit mit ihm vor Augen.
Und vertrauen wir der offenbaren und der im Stillen wirkenden Macht dieses Versöhners und Erlösers die Welt an, „am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag“!
Amen.
1.So.n.Epiphanias 11.01.2015 Matthäus 3,13-17 Stadt- und Jonakirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 1.n.Epiphanias - 11.I.2015
Matthäus 3, 13–17
Liebe Gemeinde!
Weihnachten, das überflüssige Fest liegt hinter uns.
Es hat uns lehren wollen, dass wir wirklich vom Überfluss leben, von dem, was weder nötig, noch selbstverständlich ist. Die viel zu üppige, viel zu verschwenderische und viel zu gedankenlose Feier des Nicht-Zwingenden, des Zusätzlichen, des Geschenkten hat nämlich in allen ihren sinnlosen und oft genug unappetitlichen Schleifen, Dekorationen, Luxusvergnügen und Speckfalten einen ganz harten Kern: Die immer wieder hingeworfene Dankesfloskel „Das wäre aber doch gar nicht nötig gewesen“ trifft genau in’s Schwarze!
In der Tat: Würde je einer von uns nicht nur den lieben Verwandten, den ehrgeizigen Gastgebern, den großzügigen Gönnern mit einem „Das wär’ ja nicht nötig“ begegnen, sondern dem Vater Jesu Christi, dann hätte derjenige Recht!
Bei unserem Getue untereinander verlassen wir uns nämlich doch darauf, dass die Spielregeln der Höflichkeit weitestgehend gewahrt werden und niemand ernsthaft antwortet: „Ich fand’s eigentlich auch völlig unnötig, Dir diese oder jene Freude zu machen“.
Solcher Art Direktheit ist nicht vorgesehen, … obwohl sie in Wahrheit nach etwas Nachdenken ja ebenfalls dazu verhelfen könnte, dass wir die reine Absicht, Freude zu stiften, vom unlauteren Wettbewerb, sich gegenseitig bloß die Gaben haargenau aufzuwiegen, zu unterscheiden lernten.
Bedenken wir aber einmal wie übergroß, wie unerwartet, wie überwältigend die weihnachtliche Großzügigkeit, das Weihnachtsgeschenk des Vaters Jesu Christi war, dann wird es sich uns tiefer als irgend sonst bestätigen: Es war wahrhaftig nicht nötig, dass Er in dem kleinen Kind von Bethlehem Teil der irdischen Wirklichkeit geworden ist.
Er hätte ohne Weiteres überirdisch, außerweltlich, unsterblich und heil bleiben können, anstatt sich an der Luft und auf dem Land im Schmutz und Schrecken der Weltgeschichte als nackter Mensch einzustellen und dabei kaum helfen und wehren zu können.
Es war nicht nötig, dass Gott das unternahm, wahrhaftig nicht; es geschah ohne Not, dass Gott sich so in Not brachte. ……. Weihnachten, das überflüssige Fest. ——
Warum aber dieser Überfluss, warum diese unnötige Geschichte von der Selbstgefährdung Gottes, von Seiner unerklärlichen Selbstzurücknahme, von Seinem fast spurlosen Verschwinden aus den großen Zusammenhängen und Seinem Sich-Verlieren in Kleinigkeiten, … in einem Baby, in einem Einzelschicksal, in einem kurzen Lebensweg, in einem hilflosen Leiden, in einem grässlichen Tod unter so vielen anderen?
Wer kann uns sagen, warum es Weihnachten im Stall von Bethlehem wurde und nicht zwischen den sieben Hügeln Roms auf dem Forum Romanum, wo die große Geschichte geschrieben wurde?
Wieso das kleine Evangelium mit Kind und Windeln und armen Augenzeugen und fremder, frommer Neugier?
Wieso das lächerliche Kreuz von Golgatha, wenn selbst die Schurken auf der Weltbühne wenigstens mit einem großem Knall verschwinden und sich nicht einfach an einem Vormittag im Frühling so misshandeln lassen, dass sie am Nachmittag schon unkenntlich abgehängt und ihre Überreste in einem Tuch davongetragen werden? ——
Musste das alles sein? War es nötig?
– Nein: Es war nicht nötig. … Es war notwendig!
Diese Notwendigkeit – nicht irgendein guter Grund, den Gott hatte, um auf originelle Weise Seiner Menschheit nahe zu kommen – ……. diese Notwendigkeit, die etwas anderes ist als eine einleuchtende Erklärung, ein gelungener Einfall oder ein bisher übersehener Zusammenhang, … diese Notwendigkeit aber lernen wir bei der Taufe Jesu kennen.
Sie beginnt damit, dass Johannes der Täufer, Größter der Propheten, unmittelbarster Botschafter des Reiches Gottes, Jesus auf- und fernhalten will bei dieser allzu menschlichen Sache:
Die Taufe der Buße und Umkehr, die im Jordan durch das freiwillige Untertauchen unterm Wasserspiegel geschah, bedeutet ja nun einmal, dass einer buchstäblich baden geht, dass er sich sichtbar runterziehen, unterkriegen lässt von der Schwere des eigenen Menschseins.
Und dass ihn dann ein Bote, eine ausgestreckte fremde Hand aufrichtet und damit also ein neuer Anfang aus einer andern als der eigenen Kraft gemacht wird.
Taufe bedeutet: In’s Wasser gehen und ersaufen … und dann wiederbelebt werden. Sie ist das Zeichen des Scheiterns und der Begnadigung.
Man kann darum durchaus verstehen, weshalb Johannes in Jesus keinen Täufling sehen konnte: Wenn er ahnte, dass dort der Messias, der Heiland, die Gnade Gottes selber kamen, … dann musste er dieses Missverständnis, diese überflüssige, unnötige Verwirrung verhindern:
Wieso sollte die große Gnade Gottes sich bei den Verurteilten einreihen?
Wieso sollte das Heil sich dort anstellen, wo das massenhafte Unheil nach Besserung und Befreiung suchte?
„Hör’ auf Jesus! Das bist nicht Du! Du bist nicht normal wie unsereiner!
Wenn Du von Gott bist, wenn Er mit Dir ist, dann hast Du das nicht nötig, was wir brauchen! Dann bedürfen wir Deiner, aber Du kannst nicht dasselbe wie wir gebrauchen! … Du bist schließlich nicht einer von uns!“ ————
Nun ist es schrecklich und traurig und rührend zugleich – alles auf einmal –, dass wir gerade in diesen Tagen erleben müssen, was für die Menschheit der Gedanke des Gemeinsamen bedeutet. Wie er sich schlagartig einstellen und im Angesicht des Grauens verbreiten kann. Und wie dabei eine ganz und gar weltliche Öffentlichkeit plötzlich als Letztes, aber auch als Stärkstes das Wort entdeckt, das Wort, das die Gemeinsamkeit nicht nur ausdrückt und beschwört, sondern auf hilflos-geheimnisvolle Weise tatsächlich herstellt, bis aus vielen verschiedenen Menschen ein Zusammengehöriges wird, bis das Wort – zwar machtlos vor dem Tod, und doch mächtig über den Tod hinaus – Stellvertretung schafft:
„Je suis Charlie“ … erst war es peinlich, dann wurde es merkwürdig, schließlich ging von diesem zunächst wohlfeilen, stummen Mahnen und weltweiten Nachplappern von Mund zu Mund ein Zeichen aus: So groß ist die Sehnsucht und Hoffnung, dass wir nicht teilnahms- und zusammenhangslos jeder für sich wurschteln, Weisheiten oder Plattheiten verbreiten, unsere Bahnen ziehen, unser Schicksal erleiden, … sondern dass uns gegenseitig dabei etwas verbindet. Dass wir teilen und mitteilen, dass wir unsere Gedanken und sogar unser leichtes oder schweres Dasein austauschen und füreinander übernehmen können.
Es ist immer wieder das gleiche Phänomen, dass ein unvermutet schlichtes Wort unglaubliche Dankbarkeit wecken und lösende Kraft entfalten kann, wenn es nur besagt: Keiner ist allein; wir sind einander so stark verpflichtet und verschwistert, dass wir die Last des anderen zu unserer, dass wir ein anderes Leben zu unserer eigenen Sache machen können.
„Ich bin eine Berliner“ war ein solches Wort der Solidarität, das Tausende und Abertausende zusammenschloss. Rhetorik der Stellvertretung, die nichts ändert und doch durch die ausgesprochene Gemeinsamkeit wahrhaftig hilft.
„Je suis Charlie“ oder – mit dem Namen des auf der Straße getöteten Polizisten muslimischen Glaubens ebenfalls nun häufig gebraucht – „Je suis Ahmed“: Anrufungen, Feststellungen des geteilten Menschseins. ——
Man wird nicht fehlgehen, allein in diesen beiden plakativen jüngsten Sätzen ein unterschwelliges Erbe des Christentums zu sehen: Denn sie vollziehen die Identifikation mit den Opfern ja nicht im Geist der Rache, sondern in der Gewissheit, dass der Einzelne auch als wehrloses Individuum, auch als Unterlegener der eigentliche Maßstab ist und bleibt und dass im Namen der scheinbar Besiegten die Kraft der Menschlichkeit sich behauptet.
Das ist christlich durch und durch.
Heidnisch war es immer umgekehrt: Wenn der einzelne Mächtige sich erdreistete zu beanspruchen: „Ich, Cäsar, bin als sein Gottkönig Rom selbst!“ Oder um bei Frankreich zu bleiben: „L’état c’est moi.“
Etwas von dieser heidnischen Missachtung der vielen Einzelnen begegnet heute unseligerweise ja auch in dem vor fünfundzwanzig Jahren noch frischen und kühnen Satz: „Wir sind das Volk“.
Inzwischen ist der befreiende Anspruch auf das Gemeinsame und die Zukunft nämlich zum dreisten und drohenden Anspruch des geballten Stumpfsinns gegen die geschichtlichen Veränderungen in der Welt geworden. ——
So viel zur Hoffnung, die die Menschheit insgeheim auf ihr gegenseitiges Mitgefühl und ihre wechselseitige Fürsorge richtet und die sie in ihrem derzeitigen Schmerz sogar laut benennt.
Die erste Stunde aber, in der die Stellvertretung, in der das Hintreten an die Stelle eines anderen, die Übernahme fremden Lebens und fremder Lasten nicht nur ein Wort der Sehnsucht und Verheißung, sondern erfüllte Tatsache wurde, die erste Stunde, in der wir wirklich eine geeinte, untrennbar verbundene Menschheit wurden, das war die Stunde, in der Johannes Jesus am Jordan zurief: „Du hast nicht nötig, was wir nötig haben; du bist nicht wir“. Denn durch seine Antwort, durch sein Eintauchen in die Taufe, die wir so bitter, bitter nötig haben, offenbarte Jesus eben doch: „Ich bin Ihr!“
„Ich trete nicht zufällig und auch nicht zeichenhaft oder symbolisch unter die stinknormalen Menschen, dort, wo sie das Scheitern und Sterben, dort, wo sie den Untergang erleben, wenn das Wasser über ihnen zusammenschlägt und nur ein anderer sie retten kann, … sondern ich bin notwendigerweise hier. Es muss so sein!
So ist es recht. So wird Gerechtigkeit überhaupt erst erreichbar und erfüllt: Indem ich das teile, das übernehme, das erleide und ausübe, was Ihr nötig habt und was Eure Not ist. Ich muss ganz und gar Euren Weg gehen, Euer Verhängnis, Eure Hoffnung, Eure Umkehr, Euern Neuanfang ohne Vorbehalt und ohne Ausnahme auf mich laden. Ich, Jesus muss Du – Jedermann – werden. Ich, Jesus muss jedermanns, muss Deins teilen. So gebührt es sich. Es ist notwendig.“
Jesus muss machen, was unsere Sache wäre. Er muss mitmachen, was immer uns betrifft und gilt. Er kann und will sich an keiner Stelle unterscheiden von uns Menschen. Er reiht sich bis zum Verwischen, bis zur Unkenntlichkeit, bis in die letzte, grauenvollste Konsequenz in unser verbogenes und verbotenes, in unser uns selbst verschlüsseltes, in unser verlorenes Menschsein ein: Das ist notwendig, weil wir sonst keine Möglichkeit, keine Aussicht auf Gerechtigkeit in der Welt hätten. Das ist notwendig, weil wir sonst nie und nimmer erfahren, glauben und befolgen würden, dass es tatsächlich das gibt, worauf so viele hoffen: Eine menschliche Gemeinsamkeit, eine Gemeinschaft aller Menschen.
Diese unglaubliche Tatsache, diese erfüllte Hoffnung, diese gelebte und durch Sterben besiegelte Gerechtigkeit für alle: Sie entsteht als Jesus in die Brühe eintaucht, mit der alle Menschen gewaschen werden, in der der Dreck und die Angst aller Menschen schwimmen und im Untergehen davongespült werden.
In diesem Augenblick, in dem er in die völlig unerwartete, völlig unvorstellbare Gemeinschaft mit uns eintaucht, hört die Welt die Stimme Gottes: „Dieser – der da, unter Euch allen, in Eurem Sud, in Eurer Sünde, in Eurer Todestiefe – dieser ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe!“ ——
Das war nicht nötig. Das ist der reine, grundlose, abgründige Überfluss der Gnade, mit der Gott im Jordangraben, auf dem Weg zum niedrigsten Punkt der Erde unsere Not wendet. —
Für die alte Kirche war diese Stunde die Offenbarung des heiligen Wunders der Herablassung, die wahrlich nicht nötig, aber für unsere Erlösung wahrhaft notwendig war.
Für die alte Kirche war die Taufe des Herrn daher Weihnachten, das überflüssige Fest, die Stunde, aus der alles fließt und kommt, was uns helfen und retten wird. ——
Die Stunde, als er unser Stellvertreter wurde, unser Leben mit aller Last, allem Fluch, aller Sünde, allem Tod durch jede Pore in sich aufnahm: Diese Stunde seiner Taufe zu meditieren, das ist ein Weihnachtsfest für Erwachsene. Unableitbar, unerwartbar, ungeheuerlich, unsagbar: ……. Er trat an die Stelle der Sünder, weil das für deren Gerechtigkeit und Zukunft notwendig war.
Wer meint, das zu verstehen, der bedenke eines: Bei Ihm heißt es nicht bloß „Je suis Charlie“ … das können wir schließlich alle sagen.
Bei Ihm heißt es (kaum, dass man es auch nur zu denken wagte ….): „Je suis Chérif et Saïd Kouachi“ … weil Er das Heil der Sünder, die Rettung der Verlorenen, die ganz und gar nicht notwendige Gnade Gottes ist!
Wer’s glauben kann, der fasse das Geheimnis Christi!
Amen.
2.S.n.Weihn., 04.01.2015, Röm.15,7, Stadtkirche + Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
mit dem neuen Jahr ist es wie mit einem großen, neuen, noch leeren Haus. Es ist spannend, ein neues Haus zum ersten Mal zu betreten. Wohin geht der Blick aus den unterschiedlichen Fenstern? Es gibt so viele Möglichkeiten, den neuen Lebensraum zu gestalten. Wo wird was stehen und seinen Platz finden? Lasse ich alte Stücke zurück? Wovon will ich mich verabschieden, wovon muss ich mich verabschieden? Was muss dagegen unbedingt wieder Raum finden? In diesem Jahreshaus gibt es viele Zeit-Räume, die darauf warten, eingerichtet und bewohnt zu werden.
Als vor gut 11 Jahren mein Umzug von Angermund nach Kaiserswerth anstand, da hatte ich viele Wochen vor dem Einzug einen Wohnungsgrundriss erhalten und konnte so überlegen, wo welches Möbelstück seinen Platz bekommen sollte. Vergleichbares gibt es für das Jahres-Haus 2015 nicht. Vor allen Dingen: es wird ja nicht nur von mir bewohnt, sondern es ist eine Gemeinschaftsunterkunft. Da werden viele einziehen, und jede und jeder bringt so seine Vorstellungen mit, seine Wünsche und Vorlieben. Dieses Haus wird für so manche alte Schätzchen Platz haben müssen und über Neuanschaffungen wird man sich immer wieder verständigen müssen. Wichtig ist da vor allen Dingen frische Luft und ein guter Geist, der das Zusammenleben in diesem Haus befördert. Deshalb bin ich glücklich, dass über der Eingangstür ein Wort des Apostel Paulus steht, das mir Mut macht, einzuziehen. Es ist die Jahreslosung aus dem Römerbrief. Sie heißt „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob."
Einander annehmen! Das ist schon eine echte Aufgabe, eine Herausforderung. Ich muss zugeben, das fällt mir manchmal mit Menschen, die weiter entfernt sind, leichter als mit denen, die ganz nahe sind. Jeder Hausbewohner hat ja so seine Eigenheiten. Der Morgenmuffel gähnt über der Kaffeetasse und schaut lustlos in die Runde. Die Frühaufsteherin singt schon unter der Dusche und dreht gut gelaunt das Radio auf, dass auch ja alle etwas davon haben. Der Ordentliche räumt alles sofort an seinen Platz. Der Gelassene hält sich mit solchen Kleinigkeiten nicht auf. Warum abspülen, wenn es noch eine saubere Tasse im Schrank gibt? Gerade diese kleinen Alltagssituationen machen es gar nicht einfach, den anderen so anzunehmen, wie er ist. Wahrscheinlich geht es den anderen, die mir nahe sind, mit meinen Eigenheiten genauso. Und das sind ja nur die oberflächlichen Beispiele. Jede und jeder hat ja auch noch sein ganz eigenes Temperament, seine Ansichten und Überzeugungen.
Einander annehmen! Ich spüre diesen Worten nach. Es fühlt sich für mich gut an, wenn ich in Gesellschaft von Menschen bin, die mich kennen und mögen mit all meinen Eigenheiten. Und ich weiß genau, dass es anstrengend ist, wenn Menschen mich dauernd anders haben möchten, als ich bin. Das geht wohl allen so. Einander annehmen, wie wir sind, einander nicht dauernd ändern wollen.
Das macht das Zusammenleben bestimmt einfacher.
Einander annehmen! Dazu gehört auch, dass wir Grenzen und Freiräume kennen und respektieren müssen, unsere eigenen und die der anderen.
Einander annehmen! Da muss jeder auch wissen, dass er ehrlich seine Meinung und Gefühle äußern darf, ihre Grenzen ziehen und ihre Freiräume erobern und gestalten darf, ohne den Rückhalt der anderen zu verlieren, ohne Angst, aus dem gemeinsamen Haus herausgeworfen zu werden.
Einander annehmen! Das ist eine Lebensaufgabe.
Wie gut, dass es ein Vorbild gibt, eine Orientierungshilfe, wie das gehen könnte.
„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat."
Paulus spricht von Christus, von dem Christus Jesus, dem Mann aus Nazareth.
Wie hat dieser Jesus seine Mitmenschen angenommen und damit uns alle?
Wie hat er das gemacht? Die Evangelien geben uns viele Hinweise.
Zunächst ist Jesus ganz offen auf Menschen zugegangen, hat sie angesprochen. Und hat damit schon viele völlig überrascht, die nie und nimmer damit gerechnet haben, dass dieser Rabbi aus Nazareth mit ihnen etwas zu tun haben wollte.
Ich denke an den Zolleinnehmer Levi/Matthäus, den Jesus aufforderte: „Komm und folge mir nach!"
Sein Berufskollege Zachäus fiel vor Überraschung fast vom Baum, als Jesus sich bei ihm zum Essen einlud.
Nein, Jesus hatte keinerlei Berührungsängste und ihm war schnurzegal, was die anderen von ihm dachten.
Es waren oft die in jeder Hinsicht Aussätzigen, die aus der Gesellschaft ausgeschlossenen, die er in seine Nähe rief, mit denen er gemeinsam zu Tisch saß und denen er einen Neuanfang mitten im Leben ermöglichte.
Wenn wir Jesus fragen könnten, warum er das denn getan hat, warum er sich so verhalten hat, dann würde er sagen:
„Ich tut doch nur das, was Gott auch tut: er erbarmt sich aller seiner Menschenkinder - ohne Unterschied."
„Nehmt einander an, ihr seid doch alle Gottes Kinder." - so würde er uns die Jahreslosung ans Herz legen.
Nehmt einander an - dazu gehört:
hört einander zu; erzählt euch eure Lebensgeschichten;
teilt einander mit, was euch jeweils wichtig ist, woran ihr glaubt, worauf ihr hofft;
seht genau hin und verschließt nicht eure Augen, wenn ihr mitbekommt, dass es dem anderen nicht gut geht;
helft einander, jeder nach seinen Möglichkeiten.
„Nehmt einander an!"
Das heißt nicht: findet alles richtig, was der andere macht.
Das heißt nicht: sagt zu allem Ja und Amen, sondern durchaus entschieden Nein, wenn etwas nicht in Ordnung ist, nicht in die Lebensordnung Gottes passt und die besagt, jeder ist frei, sein Leben nach seinen Möglichkeiten zu gestalten, solange er dabei die Freiheit des anderen genauso achtet.
Jesus hat seine Mitmenschen angenommen und sie gleichzeitig so manches Mal aufgefordert, umzukehren, nicht mehr zu sündigen. Er unterschied dabei immer zwischen der verkehrten Handlung und dem Menschen, den er nie pauschal verurteilte. Und dem er immer einen neuen Anfang zugestand.
Nehmt einander an! Bei Jesus ist das besonders sinnenfällig bei seinen Mahlgemeinschaften und bei den Fest-Geschichten, die er erzählte. Am Tisch seines Vaters, da würden alle Menschen Platz finden, vom Norden und Süden, vom Osten und Westen, Gesunde und Kranke, Arme und Reiche.
Nehmt einander an! Was mir ganz wichtig ist: Jesus ist selber Lernender gewesen auf diesem Weg. Auch er musste dabei eigene Vorurteile überwinden, sein Herz weiten. Zu Beginn seiner Verkündigungs- und Heilungstätigkeit war für ihn ganz klar: ich bin gesandt zu den Menschen des Volkes Israel, als Jude bin ich für die Juden da. Nehmt einander an, das war klar begrenzt auf die Volks- und Glaubensgemeinschaft Israels.
Doch dann erlebte sozusagen auch Jesus eine Bekehrung, ausgerechnet durch eine Frau, eine Ausländerin, eine Ungläubige, eine Frau, die aus Liebe zu ihrer kranken Tochter sich sogar von Jesus als Hund beschimpfen ließ und die dennoch nicht von ihrer Bitte um Hilfe abließ und die so Jesus dazu verhalf, zu erkennen, dass die Menschlichkeit keine Volks- und Religionsgrenzen kennt und dass Gottes Liebe wirklich allen Menschen gilt.
Nehmt einander an!
Liebe Gemeinde, auch wir sind heute Lernende auf diesem Weg. Wie Jesus damals müssen auch wir Vorurteile überwinden und unsere Herzen weiten. Denn es ist keinem Menschen einfach in die Wiege gelegt worden, seinen Mitmenschen anzunehmen. Und auch die Biologen haben bislang noch kein entsprechendes Gen gefunden. Unsere Natur scheint es uns eher nahezulegen, nur solche Menschen anzunehmen, die uns ähnlich sind - die gleiche Sprache sprechen, aus dem gleichen sozialen Milieu kommen, die gleichen kulturellen und religiösen Rituale pflegen, die gleiche Hautfarbe haben. Alles, was anders ist, fremd, unbekannt, stößt eher auf Abwehr, wird mit Sorge, mit Argwohn, mit Furcht betrachtet. Aber die Aufgabe heißt eben nicht „Nehmt diejenigen an, die euch gleich oder ähnlich sind" und auch nicht „Nehmt die an, die euch sympathisch sind." Sondern es geht darum, den anderen anzunehmen so wie er ist. Ihn gerade auch in seinem Anderssein zu akzeptieren und nicht darauf zu spekulieren, dass er schon mir ähnlich wird.
Das ist jedenfalls die große Aufgabe, vor der wir, liebe Gemeinde, heute stehen, als Christen und als Bürgerinnen und Bürger unserer Gesellschaft. Ich bin sehr dankbar für die Jahreslosung, weil sie uns unmissverständlich klar macht, was Sache ist angesichts einer Flüchtlingsnot, wie es sie seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gegeben hat. Auch wenn ich sonst eher zurückhaltend in diesen Fragen bin, so glaube ich doch, dass bei der Auslosung dieses Verses aus dem Römerbrief der Heilige Geist seine Hände in Herrnhut im Spiel hatte.
Wir können uns unsere Nächsten nicht aussuchen. Sie werden uns von Gott vor die Füße gelegt. Da kommen Menschen in unser Land, die oft Schreckliches erlebt haben; sie hoffen auf Hilfe, auf Aufnahme, auf Verständnis, auf Annahme. Und Gott hofft mit ihnen, und seine einzige Hoffnung sind wir. „Nehmt einander an wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob." Gott bindet sein Ansehen daran, wie wir mit Fremden umgehen. Das ist eine der zentralen Aussagen der biblischen Tradition. Der Glaube an den Gott Abrahams, den Gott Jesu ist nicht davon zu trennen, wie wir mit den Fremden, den Anderen, den Flüchtlingen unter uns umgehen.
Immer wieder können wir die Mahnungen finden, den Fremdling nicht zu bedrücken - verknüpft mit der Erinnerung, doch nicht zu vergessen, dass man selbst einmal Flüchtling und Fremdling war. Dass man doch tunlichst nicht vergessen soll, wie schwer dieses Schicksal ist. Gott hat die Fremdlinge lieb, das ist die Grundüberzeugung der biblischen Tradition. Und weil Gott die Fremdlinge lieb hat, darum sollt auch ihr die Fremdlinge lieben - so zu lesen in 5.Mose 10,19.
Eine klare Anweisung, aber keine leichte, selbstverständliche Sache. Zu keiner Zeit. Die hebräische Bibel gibt auch davon Zeugnis, wie Israel an diesem Gebot gescheitert ist. Es waren Zeiten der Verunsicherung, wo man glaubte, das Eigene nur sauber getrennt von allem Fremden bewahren zu können - den eigenen Glauben, die eigene Kultur, die eigene Identität. Die Folge waren unmenschliche Gesetze, die z.B. jüdische Männer dazu zwangen, ihre aus anderen Völkern stammenden Frauen und Kinder zu verstoßen. Die Bücher Esra und Nehemia erzählen von diesen dunklen Zeiten. Was man in diesen Zeiten offensichtlich total verdrängt hatte: gerade Fremde hatten in der Vergangenheit die Heilsgeschichte mit- und weitergeschrieben - die Kedesche Rahab, die die Kundschafter in Jericho vor dem Tod bewahrt hat und die nach dem Fall ihrer Heimatstadt einen Israeliten geheiratet hat, ganz selbstverständlich aufgenommen wurde in die Gemeinschaft. Oder die Moabiterin Ruth, die durch die Heirat mit Boas zur Stammmutter Davids wurde. Der Evangelist Matthäus hat übrigens diese Fremden Frauen in seinen Stammbaum Jesu aufgenommen und so deutlich gemacht, dass Gott, um sein Heil zu verbreiten, keinen Unterschied macht zwischen einheimisch und fremd.
Die frühe Christenheit und Kirche rang auch immer wieder mit diesem Gebot, den Fremdling zu lieben. Spätestens seit Paulus war zwar klar, dass in Christus nicht mehr unterschieden werden kann zwischen Mann und Frau, Jude und Grieche, sondern dass in Christus alle eines sind. Aber das theoretisch so zu bekennen und praktisch zu leben, das war immer ein Unterschied. In einer Anweisung, die Paulus an die Galater schreibt, wird das deutlich. Dort heißt es: „Lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen." (Gal.6,10) Christen, die heute in Bezug auf die Flüchtlingsfrage ihr Engagement vor allen Dingen verfolgten Christen aus dem Irak und Syrien zugutekommen lassen wollen, sehen sich von Paulus da unterstützt. Aber es ist doch eine gegenüber dem Mann aus Nazareth und seiner Botschaft verkürzte Haltung. In Anlehnung an das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter ist nicht die Volks- oder Religionszugehörigkeit entscheidend dafür, wem wir zu Hilfe kommen sollen, sondern ausschließlich die Not der unter die Räuber gefallenen Menschen sollte uns in Bewegung bringen. Wenn wir unsere Mitmenschen so offen begegnen und sie so annehmen, wie sie eben sind, dann loben wir damit Gott, geben ihm damit die Ehre, weil wir zeigen, dass wir seine Menschenfreundlichkeit, die alle umschließt, ernstnehmen und selber leben.
„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob." Möge Gott im kommenden Jahr von uns auf diese Weise sehr viel Lob erfahren.
Amen.
Altjahresabend 2014, Gen. 15,1-6, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
in wenigen Stunden, um Mitternacht, wenn die Glocken das neue Jahr einläuten, dann lohnt sich der Blick zum Himmel ganz besonders. Dann gibt es ein ganzes Meer von bunten Feuerblumen, von gleißenden Sternregen am nächtlichen Himmel zu sehen - und leider pfeift und knallt es am Boden dazu laut. Unter diesem Licht- und Feuerzauber stimmen sich viele, vielleicht auch einige von Ihnen, auf das neue Jahr ein.
Verborgen hinter den ganzen Feiern sind viele jedoch auch empfindsam für das, was war und was kommt. Während die einen dankbar sind, weil sich etwas zum Guten gewendet hat - in der Familie, im Beruf -, empfinden andere Traurigkeit; mussten sie doch in diesem Jahr Abschied nehmen von einem lieben Menschen, sich damit abfinden, dass ihre körperlichen Kräfte ihnen engere Grenzen ziehen. So geht jeder mit ganz eigenen Gefühlen in das neue Jahr hinüber. Und verbunden damit mit vielen Fragen: Wie wird es wohl werden, das Jahr 2015? Was wird auf mich zukommen, was auf unsere Gemeinde, auf unsere Gemeinschaften, auf unsere Gesellschaft? Werden wir den Herausforderungen standhalten - zum Beispiel was die Flüchtlingsfrage in Europa angeht, wie werden wir uns den Fremden unter uns gegenüber verhalten? Und wie gegenüber denen, die immer aggressiver gegen Menschen in Stellung gehen, die anders sind, von woanders herkommen? Manches, was kommt, lässt sich erahnen. Das Meiste aber bleibt ungewiss. Bleibt Herausforderung.
Möglich, dass einige auch deshalb in dieser Nacht den Blick in den Himmel richten, nicht nur wegen des Feuerwerks. Der Blick nach oben, der ist seit je her verbunden mit der Hoffnung auf Halt und Orientierung. „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe?" haben wir zu Beginn des Gottesdienstes gesprochen. Wünsche für die Zukunft werden an Luftballons gebunden und in den Himmel geschickt. In einer Zeitschrift fand ich die Idee, dass man heute Abend Zettel mit Wünschen an die Raketen binden soll, bevor diese abgeschossen werden. Ob damit freilich die Hoffnung verbunden ist, dass es da oben eine Kraft gibt, die meine Sehnsüchte und Wünsche ernst nimmt, bei der ich mit allem, was mir auf dem Herzen liegt, gut aufgehoben bin - das steht auf einem anderen Blatt.
Und doch - der Blick nach oben lohnt sich, nicht nur heute Abend. Um dem nachzugehen, bitte ich Sie, die Karte zur Hand zu nehmen, die Sie mit dem Gottesdienstprogramm erhalten haben. Da ist jemand drauf zu sehen, der zum Himmel schaut.
Es ist Abraham. Er schaut zu den Sternen, die im dunklen Schwarz der Nacht am Himmel funkeln. Von oben leuchtet ihn dabei ein geheimnisvolles Licht an. Es fällt auf sein Gesicht und macht auch den kahlen Boden rings um ihn hell. Seine Arme sind ausgestreckt, die Hände nach vorne geöffnet. Sieger Köder hat in seinem Bild eine Begebenheit in Hebron festgehalten. Im 15.Kapitel des 1.Mose heißt es: „Es erging das Wort des Ewigen an Abraham in folgender Vision: Fürchte dich nicht, Abraham! Ich bin dein Schild; dein überaus großer Lohn. Abraham aber sprach: Mein Herr, was willst du mir geben, gehe ich doch kinderlos dahin ....Und Abraham sprach weiter: Siehe, mir hast du keine Nachkommen gegeben, und so wird einer von meinen Knechten mich beerben.
Und siehe da, der Ewige sprach zu ihm: Nicht einer deiner Knechte wird dich beerben, sondern der aus deinem Leib hervorgehen wird, der wird dich beerben.
Er hieß ihn aus dem Zelt treten und sprach: Blicke doch zum Himmel hinauf und zähle die Sterne, wenn du sie zu zählen vermagst! Und sprach zu ihm weiter: So zahlreich sollen deine Nachkommen sein!
Abraham vertraute dem Ewigen. Und er rechnete ihm das zur Gerechtigkeit."
Abraham in der Nacht von Hebron. Wenn ich auf die Gestalt blicke, die Sieger Köder da in Szene gesetzt hat, dann fällt mir ein Gedicht von Huub Oosterhuis ein, das als Lied vertont auch in unserem Gesangbuch steht. Es beginnt mit den Worten „Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr".
In der Tat, Abrahams Hände in der Nacht von Hebron sind leer. Viel Zeit ist vergangen, seit er dem Ruf Gottes folgte und seine Heimat verließ, die Brücken abbrach zu seiner Verwandtschaft, seinem Vaterhaus. Allein aufgrund der Zusage Gottes, ihm Nachkommenschaft zu geben, ein neues Heimatland und ihn zum Segen für alle Menschen auf Erden zu machen. Doch Jahre sind ins Land gegangen und kein Kind ist bisher geboren worden. Es geht ihm zwar - wie wir sagen würden - wirtschaftlich nicht schlecht, aber wofür strengt er sich eigentlich an? Wer wird seinen Besitz einmal erben? Was ist aus der Zusage Gottes geworden? Zahlreiche Nachkommenschaft - nichts ist davon zu sehen.
Und dann hört er „Fürchte dich nicht, Abraham! Ich bin dein Schild; dein überaus großer Lohn." Die Antwort Abrahams lässt an Deutlichkeit nichts offen: Lohn, Reichtum, was soll ich damit? Für wen soll ich Reichtümer ansammeln? Ich habe doch keine Kinder; diesen Reichtum hast du, Gott, mir ja nicht gegeben. Was ich habe, wird mal mein Knecht erben.
Ohne Kinder zu sterben, in der damaligen Zeit mit das Schrecklichste, was sich ein Mensch vorstellen konnte.
Abrahams Hände sind wirklich leer.
Aber: er winkt nicht ab, er ballt sie auch nicht zur Faust.
Er hält sie offen. Ausgestreckt. Und so vernimmt er noch einmal die Zusage leiblicher Nachkommenschaft. Er vergräbt sich nicht in seinem Kummer, sondern er lässt sich vor das Zelt rufen. Er steht nicht mit gebeugtem Haupt da, sondern er blickt nach oben, in den Sternenhimmel. Wer je in der Wüste zum Beispiel des Sinai in einer Nacht in den Sternenhimmel geschaut hat, weiß, was für ein unglaubliches Schauspiel das ist. In der Nachbarschaft des Flughafens ist das ja eine leichte Sache, die Sterne zu zählen; aber in der Wüstennacht - unmöglich. Der Sternenhimmel - ein überwältigendes Zeugnis der Größe Gottes, eine Einladung, sich diesem Gott ganz anheimzugeben, sich in seiner Nähe zu bergen. Und genau das tut Abraham. Er vertraute dem Ewigen - obwohl seine Hände ja in dem Moment immer noch leer waren. Das Vertrauen in Gott ist stärker geworden als das Gefühl der Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit.
Dieser Abraham, wie ihn Sieger Köder da gemalt hat, der ist eine Einladung an uns. Er könnte uns heute Abend ein Bruder sein - nicht nur im Glauben, sondern auch im Erleben.
Geht es uns nicht ziemlich ähnlich wie ihm?
Wenn ich daran zurückdenke, mit wie viel Begeisterung und Hoffnung wir vor 25 Jahren in unserem Land Sylvester gefeiert haben; meine Cousine aus Magdeburg war über den Jahreswechsel mit Partner und Tochter zu uns nach Angermund gekommen, im Trabi. Unvorstellbar noch wenige Wochen vorher. Die Mauer war gefallen, der Eiserne Vorhang weg, der Kalte Krieg zu Ende. Die Zukunft für die Völker Europas war einfach verheißungsvoll.
Heute, 25 Jahre danach, sieht alles sehr viel anders aus. Keine blühenden Landschaften, sondern viele Regionen, in denen Menschen für sich keine Perspektive mehr sehen. Hohe Jugendarbeitslosigkeit in vielen Ländern Europas, überall, auch in unserem Land, gibt es Plätze, an denen Arbeitsmigranten ihre Arbeitskraft zu lächerlichen Löhnen anbieten - ohne Krankenversicherung, ohne jeden Arbeitsschutz, moderne Tagelöhner. Sie halten uns vor Augen, auf welch dünnem Eis unser eigener Wohlstand steht, zeigen uns, wie schnell man aus gesicherten Lebensverhältnissen ganz unten landen kann. Das, liebe Gemeinde, ist der eigentliche Grund, weshalb so viele in unserer Gesellschaft fast panisch auf die Flüchtlinge blicken, die seit geraumer Zeit in immer größerer Zahl nach Europa kommen. In der überwältigenden Mehrheit keine ungebildeten Analphabeten, sondern Menschen wie wir, die in Syrien Lehrer waren oder Apothekerin, Ingenieurin oder Kraftfahrzeugmechaniker, die eine Eigentumswohnung hatten und jedes Jahr mit ihren Kindern in den Urlaub fuhren, die Wert darauf legten, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung erhalten. Und jetzt sitzen sie nur mit dem, was sie auf dem Leib haben, in den Notunterkünften - Männer, Frauen, Kinder, Menschen wie wir - die aber oft Schreckliches erlebt haben. Sie stehen wirklich mit leeren Händen da.
Und wir?
Nein, unsere Hände sind nicht leer. Uns geht es immer noch unwahrscheinlich gut. Unvergleichlich viel besser als unseren Eltern und Großeltern nach dem letzten Krieg, als 12 Millionen reichsdeutsche Flüchtlinge in den 3 westlichen Besatzungszonen untergebracht werden mussten. Dass sie Deutsche waren, deutsch sprachen und Christen waren, das hat ihnen allerdings in ihren Aufnahmeorten wenig geholfen. Sie waren die armen Schlucker, die den Einheimischen etwas wegnehmen wollten, was ihnen nicht zustand. Sie waren anders, fremd und erfuhren oft viel Feindschaft.
Nein, unsere Hände sind nicht leer, aber sie sind auch nicht offen. Unsere Hände sind eher verschlossen, versuchen festzuhalten. Und wie leicht wird die Hand, die festhält, zur Faust gegen den anderen. Wir sehen voller Sorgen in die Zukunft, sehen Wüste um uns und bedrohliche Dunkelheit. Von den Verheißungen und Hoffnungen der Sylvesternacht 1989 ist keine Spur zu sehen.
Und in dieser Gefühlslage sollen wir - wie Abraham - die Aufforderung Gottes an uns hören: Kommt heraus aus euren Wohnungen und Häusern, kommt heraus und blickt nach oben. Schaut in den Himmel. Nehmt wahr, wie unfasslich groß das Universum ist und wie schön. Ihr seid ein Teil davon, ihr seid nicht nur Kinder der Erde, sondern auch Kinder der Sterne. Ihr seid eingebettet in das Leben.
Die Astrophysik, liebe Gemeinde, lehrt uns, dass die Materie, die wir im Kosmos sehen können, nur einen kleinen Teil dessen ausmacht, was wirklich da ist. Wissenschaftler sprechen von der dunklen Materie, die sozusagen die schwarze Leere füllt und das Sichtbare zusammenhält. Wie diese dunkle Materie aussieht, das weiß keiner. Es ist eben eine Denkfigur. Für mich entscheidend an dieser Denkfigur ist die Vorstellung, dass sie alles zusammenhält. Ich bin darum so frei, zu sagen: das, was alles zusammenhält, das ist die Liebe, die Liebe, die Beziehung schafft und ermöglicht, dass sich alles, was ist, entfalten und verbinden kann. Die Liebe, das Wesen Gottes. Wenn ich in den Himmel hinaufsehe, dann sehe ich die Sterne und kann über die ungeheure Größe des Universums staunen. Aber vor allen Dingen kann ich spüren, ahnen, dass ich mit allem, was um mich herum ist, eingebettet bin in eine alles umschließende Wirklichkeit, die mir nicht gleichgültig gegenübersteht, sondern die mich meint und sieht und wertschätzt als unverzichtbares Teil ihrer selbst. Der Apostel Paulus brachte diesen Gedanken in seiner Rede auf dem Areopag in Athen, dem Zentrum der damaligen kritischen Wissenschaft, so auf den Punkt. Er sagte von Gott „In ihm leben, weben und sind wir." (Apg.17,28)
In der Tat, beim Blick in den Himmel, gerade auch in den Nachthimmel, kann uns ein Licht aufgehen, das uns - wie der Stern von Bethlehem die Männer aus dem Orient - in Bewegung bringt, unser Denken, unser Fühlen. Wenn wir aus dem Zelt unserer Sorgen und Befürchtungen hinaustreten und uns einfach mit Haut und Haaren hineinstellen in Gottes Wirklichkeit, den Blick heben, die Hände öffnen, empfänglich werden für das, was er uns schenken will: Leben in Gerechtigkeit, Leben in Gemeinschaft, Leben im Frieden. Er will es uns schenken, uns und auch den anderen, den Menschen, die aufgrund der menschlichen Gewaltverfallenheit aus ihrem Leben herausgerissen und vertrieben wurden, auf der Wanderschaft wie einst Abraham, Isaak und Jakob, von dem das jüdische Bekenntnis bis heute sagt: „Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling." (Dtn.26,5).
Worauf es einzig für uns ankommt: Gott zu vertrauen, damit wir die Erfahrung machen können, dass es stimmt, was der Mann aus Nazareth, dessen Geburtstag wir gerade erst gefeiert haben, gesagt hat: Dass Gott, der Vater im Himmel, weiß, was wir brauchen und dass er genug für alle seine Menschenkinder hat.
Die Jahreslosung für das kommende Jahr ist wirklich so aktuell wie kaum eine andere es je war: „Nehmt einander an wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob."
Nehmt einander an und erlebt, wie Gottes Lebensfülle euer Leben reicher macht.
Amen.
2. Christtag 2014, Joh. 1,1.14, Jonakirche, Daniel Kaufmann
„Was kommt eigentlich zuerst? Die Kunst oder der Mensch?"
Predigt am zweiten Weihnachtsfeiertag 2014 zu Johannes 1,1.14
„Ich bin im Moment,
da ja in unseren Breitengraden und Tagen
alles drunter und drüber geht
etwas durcheinander
und habe seit einigen Tagen den Überblick verloren
Zu viele Geschenke
Zu viele Festtagsbraten
Zu viele Gefühle
Zu viele Termine
Sagen Sie mir doch bitte:
Was kommt eigentlich zuerst?
Die Kunst oder der Mensch?
Oder der Mensch und dann die Kunst?
Zuerst kommt doch das Fressen
Und dann die Moral!
Also
Zuerst kommt das Fressen
Dann die Moral
Und dann die Kunst
Und dann...
Wobei ja eigentlich zuerst das Wort kommt
Am Anfang war das Wort
Heißt es schon in der Bibel
Also zuerst kommt das Wort
Und dann kommt der Glaube
Und dann die Hoffnung
Und dann die Liebe
Wie oberflächlich man doch manchmal ist...
Also nochmal
Zuerst kommt das Wort
Oder der Sinn
Das Wort
Oder die Kraft
Das Wort
Der Rat
Das Wort
Die Tat
Das Wort
Du willst doch jetzt nichts gegen Johann Wolfgang von Goethe
Der deutsche Dichterfürst
Faust 1, Prolog
Also wegen mir
Am Anfang war die Tat
Der Rat,
die Kraft
und der Sinn
Und das Wort natürlich
Nach dem Wort kommt der Glaube
Und dann die Hoffnung
Und dann die Liebe
Und dann das Fressen
Und dann die Moral
Und dann die Kunst
Eigentlich kommt ja zuerst der Frieden
Natürlich
Der Weltfrieden
Zuerst kommt der Weltfrieden
Dann der nationale Frieden
Dann der regionale Frieden
Dann der Weihnachtsfrieden
Dann der Osterfrieden
Dann der Beziehungsfrieden
Und dann kommt der Frieden im Allgemeinen
Und dann der Frieden im Besonderen
Und dann kommt der Welthandel
Das heißt, wir dürfen die Einzelhändler nicht verbittern
Gerade jetzt zur Weihnachtszeit
Wo das vom Umsatz aufs Jahr gerechnet so entscheidend ist
Also zuerst kommt der Einzelhandel
Dann der Welthandel
Dann die Tat,
Der Rat,
die Kraft,
der Sinn
Und das Wort
Dann das Fressen
Dann die Moral
Dann der Glaube
Dann die Hoffnung
Ich würde sagen,
Verzeihen sie
Zuerst kommt ja eigentlich die Gesundheit
Sagt man doch so beim Geburtstag
Und wir feiern doch Weihnachten auch Geburtstag
Also den von dem Jesuskind.
Herzlichen Glückwunsch
Und dann vor allem Gesundheit
Das ist ja das Wichtigste
Was nützt einem das Alter
Ohne Gesundheit
Also das ist ja wie
Das Fressen ohne Moral
Oder das Wort ohne die Tat
Oder Frieden ohne Versöhnung
Oder der Welthandel ohne den Einzelhandel
Das heißt ich schweife ab
Also zuerst kommt die Gesundheit
Und dann der Wald
Und dann die Atmung
Also ohne Wald keine Atmung
Ohne Atmung keine Gesundheit
Ohne Gesundheit ist alles nichts
Das heißt was ist eigentlich mit dem Auto
Das sollten wir nicht vergessen
Also bei allem Verständnis für die Natur
Da kämen wir ja gar nicht erst zum Baum
Ohne Auto, da würden wir ja vor allem
In unseren Betonwüsten sitzen und bleiben
Wie konnte ich das vergessen
Also nochmal
Zuerst kommt die Gesundheit
Dann der Wald
Dann die Atmung
Dann das Auto
Dann der Einzelhandel
Dann das Geld!
Mein Güte,
das haben wir bisher ja völlig übersehen.
Zuerst kommt natürlich das Geld.
Ohne Moos nix los heißt es doch
Nein
Zuerst kommt die Gesundheit
Zuerst kommt das Geld
Ohne Geld keine Behandlung
Und kein Arzttermin
Ohne Gesundheit ist alles Geld für die Katz
Also bitte,
Wenn Sie unbedingt wollen.
Dann kommt eben zuerst das Geld
Und dann kommt die Gewerkschaft
Dann die soziale Marktwirtschaft
Dann die freie Marktwirtschaft
Dann der Turbo Kapitalismus
Dann die Weltwirtschaft
Und dann der Welthandel
Und was ist mit der Zellteilung
Der Welthandel
Nein. Die Zellteilung
Wie bitte
Die Zellteilung
Sie meinen
Die Selbstverwirklichung
Nein, ich meine die Zellteilung
Was soll das denn jetzt
Ohne Zellteilung kein Leben
Ist doch klare Sache
Evolution hin oder her.
Also gut,
dann kommt zuerst die Zellteilung
Und dann der Welthandel
Und dann die Weltwirtschaft
Und dann die freie Marktwirtschaft
Und dann die soziale Marktwirtschaft
Dann kommt die Gewerkschaft
Dann das Geld
Dann die Gesundheit
Und dann der Einzelhandel
Und dann der Weltfrieden
Und dann der Frieden
Und dann die Gesundheit
Dann der Wald
Und dann die Atmung
Dann das Auto
Dann der Einzelhandel
Dann das Fressen
Dann die Moral
Dann der Glaube
Dann die Hoffnung
Dann die Liebe
Dann die Kunst
Dann der Sinn
Dann die Kraft
Dann die Tat
Dann der Rat
Dann das Wort
Na also,
Jetzt haben wird dann doch noch alles auf die Reihe gebracht
Danke vielen herzlichen Dank für Ihre Unterstützung
Ja, aber
Und was kommt zuletzt?
Dumme Frage
Der Mensch natürlich
Das heißt
Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen
Also vielleicht ändert sich da noch was in der Reihenfolge
Erst Mensch dann Wort
Muss ich noch mal drüber nachdenken...
Nächstes Jahr" *
Liebe Gemeinde,
was kommt eigentlich zuerst?
Unser heutiger Text zum zweiten Weihnachtstag
ist da selten eindeutig und klar:
„Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns."
Soviel ist also schon mal klar und deutlich.
Diese Welt hat ihren Grund und hat ihr Ziel in diesem Logos,
wie es im Griechischen heißt.
Da mag es noch so viele andersartige Einlassungen und Betonungen geben.
Da mag so mancher Festtagsbraten dazwischen kommen.
Oder der Einzelhandel.
Oder die Gesundheit.
Oder die Moral.
Oder die Finanzen.
Oder der Weltfrieden im Allgemeinen und im Besonderen.
Oder viele andere durchweg wichtige Momente und Aspekte dieser Weltgeschichte.
Da mögen sich auch kirchlicherseits ein paar Schräglagen melden.
Das Zentrum unseres Glaubens liegt nicht in der Tradition,
(Das gilt es gegenüber den römisch-katholischen Geschwistern zu sagen)
so wichtig es ist, dass wir in einem Zusammenhang unterwegs sind
und nicht zeit- und geschichtslos auf diese Welt gekommen sind.
Das Zentrum des Glaubens liegt auch nicht in der Liturgie,
(Das gilt es gegenüber den orthodoxen Geschwistern zu sagen)
so schön, erhebend und göttlich die auch immer sein mag.
Das Zentrum unseres Glaubens liegt auch nicht in der Bibel oder heiligen Schriften,
(Das gilt es gegenüber uns Evangelischen selbst zu sagen)
so wichtig diese Schriften für unseren Glauben und unsere Kirche auch sein mögen.
Es hat sich in unserer „jungen evangelische Geschichte" jedenfalls nicht bewährt,
Gotteswort und Menschenwort unkritisch gleichzusetzen. Die Bibel ist nun mal
kein Rezeptbuch, weder wenn es um Krieg und Frieden noch wenn es um Ehe,
Familie oder den bedürftigen Fernsten und „ungnädigen" Nächsten geht.
Das Zentrum unseres Glaubens liegt in dem Wort vom Anfang, im Anfang,
dort, wo alles seinen Ausgangspunkt und sein Ziel hat und bekommt.
Wer nach dem Grund des Daseins sucht, wird beim Logos Gottes fündig.
Der alles und jedes durchdringt und allem Leben seine Substanz gibt.
In diesem Logos begegnen wir nämlich dem Leben selbst.
Durch dieses Wort ist alles geschaffen worden:
Das Licht, die Sonne, das Wasser, das Land, die Bäume, die Blumen, die Gräser,
die Tiere in Luft, Meer und auf dem Land
und der Mensch selbst,
Du und ich sind durch Gottes schöpferische Wort zum Leben erwacht,
Evolution hin oder her, Zellteilung hin oder her.
Alles hat von ihm her und ihm Bestand.
Dieses Wort ist Leben, bedeutet Leben,
bringt Licht und Wärme, Geborgenheit und Tiefe in unser Dasein hinein.
Dieses Wort ist Kompass und Ziel allen Nachdenkens.
Dieses Wort ist Wegweisung und Wegzehrung zugleich
dieses Wort ist Kraftquelle und Energiespeicher,
gibt uns alles, was zum Leben notwendig ist.
Dieses Wort ist Fleisch geworden und wohnte unter uns.
Es hat einen Ausdruck angenommen,
den jeder Mensch verstehen kann.
Es ist als Baby in diese Welt gekommen,
es ist als Mensch wie du und ich mit unterwegs gewesen.
Es ist in Jesus Christus erschienen.
Und hat in ihm sämtliche Hoch- und Tiefpunkte des Lebens
an eigenem Leibe gespürt und erlebt.
An ihm ist die Herrlichkeit Gottes auf Erden erschienen.
Und in ihm hat sich das Elend dieser Welt versammelt.
Es hat sich auf den Sonnenseiten des Lebens
und dann auch in den Schattenbereichen von Sterben und Tod als tröstlich erwiesen.
„Wir haben von ihm genommen Gnade um Gnade", schreibt Johannes.
„Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?"
heißt die erste Frage des Heidelberger Katechismus.
Und antwortet dann:
„Dass ich mit Leib und Seele
im Leben und im Sterben nicht mir,
sondern meinem getreuen Heiland
Jesus Christus gehöre.
Er hat mit seinem teuren Blut
für alle meine Sünden vollkommen bezahlt
und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst;
und er bewahrt mich so,
dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel
kein Haar von meinem Haupt kann fallen
ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss.
Darum macht er mich auch
durch seinen Heiligen Geist
des ewigen Lebens gewiss
und von Herzen willig und bereit,
ihm forthin zu leben."
Diese Antwort gefällt mir nicht nur wegen der Passage mit den Haaren,
obwohl auch das sehr tröstlich ist.
Diese Antwort ist letzte Verankerung von allem,
was mich ausmacht und was ich bin. Soviel ist gewiss.
Wenn wir heute Morgen danach fragen,
was eigentlich zuerst kommt,
dann fragen wir letztlich nach dem,
was bzw. wer unser Leben bestimmt und bestimmen soll.
Wir fragen nach dem letzten Halt von allem, was ist.
Und wir hören dazu:
Zuerst und immer wieder zuerst kommt
die Verbindung mit dem, der uns in dieses Dasein hineingerufen hat.
Zuerst und immer wieder zuerst kommt
die Nachfolge hinter dem her, der dieser Welt ein neues Aussehen gegeben hat.
Zuerst und immer wieder zuerst kommt
der Logos Gottes, der allem Dasein und Leben
Dauer und Stabilität verleiht.
Dieser rote Faden ist keine Dekoration
Diese substantielle Ausrichtung ist kein Luxus.
Diese grundsätzliche Bestimmung ist keine philosophische Gedankenakrobatik.
Das scheint ja zuweilen bei dem einen oder anderen Zeitgenossen so anzukommen,
wenn da etwas genervt angemerkt wird:
was ihr da immer habt, mit eurem Jesus Christus...
In der Frage, was und wer da zuerst kommt gibt es kein Multitasking, kein Multikulti
und keine Verschiedenheit als wunderbare Bereicherung.
Da geht es um Eindeutigkeit und Klarheit und letzte Verbindlichkeit.
Es geht bei diesem Logos Gottes
Um Gewissheit, Glück- und Seligkeit in Ewigkeit.
Es geht bei diesem Logos Gottes um Dich und mich.
Es geht um uns Menschen.
Nicht mehr.
Und nicht weniger.
„Sagen Sie mir doch bitte
Was kommt eigentlich zuerst
Am Anfang war das Wort.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.
Und wir sahen seine Herrlichkeit.
Die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater
voller Gnade und voller Wahrheit.
Von seiner Fülle haben wir alle genommen.
Und von seiner Fülle dürfen wir weiter alle nehmen:
Heute und alle Tage, die Gott uns noch schenken will."
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere menschliche Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.
Pfr. Daniel Kaufmann
*Die Eingangspassage basiert
in freier Gestaltung auf einen Text von Hans Dieter Hüsch
(„Eine Frage für zwei").
2.Christtag 2014 Johannes 1,(1-5+9-)14 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth - 2.Christtag 2014
Johannes 1,1-5+9-14
Liebe Gemeinde!
Es war ein Haus – ein schöneres glaube ich nicht zu kennen, aber wer bin ich? –, … es war ein Haus, dessen Besitzer es so wunderbar baute, dass es endlich auch in der Wirklichkeit seinen Träumen vollkommen entsprach. Und dann, als das einladende Haus so frisch und fertig war, dass jeder Winkel, jede Einzelheit dem Geschmack und Können dessen, der den großen Entwurf geschaffen hatte, Ehre machte, … dann ließ der Hausherr es von Fremden beziehen. Alles, was zu seinem Vergnügen und seiner Zufriedenheit hätte dienen können, ließ dieser Haus- und Grundbesitzer von anderen bewohnen und benutzen. Sie sollten schalten und walten unter seinem Dach wie dessen Eigentümer. Sie durften alle Räume seines Reiches nach eigenem Gutdünken gestalten und gebrauchen, und sie nutzten das großzügig gewährte Hausrecht großzügig aus. Erst hier, dann da, erst allmählich, dann immer gewaltiger nahmen sie es vom Keller bis zum Speicher in Besitz, füllten es mit ihrem Leben, räumten und bauten um, bis schließlich kaum ein Eckchen der Fläche noch mit dem Bauplan des Liebhaber-Architekten übereinstimmte. Die tragenden Wände verschoben sie nach Laune, brachen hier etwas durch oder gleich ab, sperrten da etwas zu, verlegten die Fenster, vertauschten die Türen, machten Wohnraum zur Werkstatt und holten Geschäfte in die innersten Gemächer. Kaum eine Spur des großen alten Gebäudes erinnerte noch an seine einstige Bestimmung, Heim und Herberge von Glück und Frieden zu sein, – so verbaut und zerstückt, so umgemodelt und verschandelt war es in der Zwischenzeit geworden. Nicht, dass es verkam: Sie hielten viel auf Glätte und Gelecktheit, die in dem Haus nun ihre eigene Welt erschufen; aber je mehr sie das Haus verwandelten, je nützlicher, je zweckdienlicher es wurde, je mehr es ein Gerät, eine getriebene und treibende Maschine wurde, desto weniger war es eine Heimat, … aber das wussten seine Bewohner nicht, denn sie kannten das nicht mehr, was früher der Sinn ihres Hauses gewesen war. Sie hausten nur noch darin, denn sie waren so tüchtig geworden und vermochten inzwischen so genau und so reibungslos immer kleinere, unsichtbarere, gegenstandlose Räume zu schaffen; sie waren selber solche Baumeister einer ganz anderen Welt geworden, dass sie sich traumwandelnd aus dem alten Haus entfernten, das ihnen eigentlich nur noch eine Anschrift bot. Und man merkte es dem einst schönen Haus, das sein Erbauer ihnen zur freien Verfügung gestellt hatte, allmählich eben doch an. Es war kein Gebäude mehr, nur noch ein Bau, keine Wohnung, nur noch eine Adresse, kein Zuhause, kein Zusammenhang, nur noch Einheiten ohne Zentrum. Und darum zogen sich, die es so lange bewohnt hatten, schließlich ohne Absicht, aber auch ohne Halten zurück, verließen das Haus, in das sie auf eine gemeinsame Einladung hin einst gekommen waren. Als es aber beinahe leer stand, verödet und aufgegeben ......., da bemerkte man plötzlich und bestürzt, dass ja gar nicht nur die Gäste und unentgeltlichen, weil willkommenen Mieter darin gelebt hatten: denn mitten im sinnwidrig entfremdeten, von Grund auf umgestülpten, bis zur Unkenntlichkeit verschlimmbesserten Haus fand sich ein Zimmer, in dem der Bauherr, der Hausherr selber wohnte. Er musste heimlich eingezogen sein, als das eigenmächtige Verlegen, das Herausbrechen und Einreißen, das Zergliedern und Zerfleddern, das Auseinandernehmen und planlose Kleinteilen begonnen hatte.
Damals war Weihnachten.
Damals, als in’s Haus der Menschen-Welt ihr Herr einzog, ……. unter Umständen, unter denen jeder andere Grundherr und Eigentümer die eigenmächtigen Untermieter wegen ihrer zahllosen Verstöße gegen jede gute Hausordnung, wegen ihrer groben Vernachlässigung und Veruntreuung seines Schmuckstückes achtkant rausgeworfen hätte. Doch der Herr des Weltgebäudes setzte die zu Schmarotzern gewordenen Schützlinge seiner großen Gastgebergunst nicht etwa vor die Tür, sondern es gefiel ihm stattdessen, in das, was sie zerstörten, selber einzuziehen, … mit dem, was sie zu verachten begannen, selbst vorlieb zu nehmen, … es gefiel ihm, sich selbst auf das, was ihnen zu gering wurde, gänzlich zu beschränken.
So wollen wir uns bildlich dem berühmten Teilsatz aus der Meditation des Johannes über Gottes Menschwerdung nähern:
„Er wohnte unter uns.“
Diese Geschichte von der heimlichen Herbergssuche Gottes, diese Geschichte von seinem Asylantrag in der Welt aus Raum und Zeit ist ja immer schon erstaunlich genug gewesen: Haben wir Menschen unsererseits doch stets einen Hang zu Höherem empfunden, zog es uns doch immer schon über die Grenze der bekannten Welt hinaus, auf das Gebiet dort draußen, das sich wörtlich die „Transzendenz“ schimpft, das weite Reich der „Überschreitung“, in dem wir uns ausbreiten und einrichten, oder einfach nur umtun und austoben würden wie nichts Gutes …, wenn wir bloß könnten.
Uns also zog’s immer schon hinüber und hinaus in’s Himmelweite – und darum hat’s uns lange schon befremdet und verstimmt, dass Gott so gegenteilig geneigt sein sollte, dass er solch einen Hang hinab zur Erde haben, solch eine lachhafte Selbstverstümmelung wählen sollte, die ihn aus völliger Unbeschränktheit in die domestizierte Haustierhaltung der drei Dimensionen eines festen Körpers zwingt.
Ein Erscheinen Gottes in der Welt hat ihn daher immer schon viel Anerkennung bei allen freiheitshungrigen, grenzgängerischen Köpfen gekostet, die wissen, was hier los ist und sich darum - wenn überhaupt - mehr für Neuland, für die Welt jenseits der Dinge interessieren.
Mit einem Gott im Hier können Neugier und Spekulation nichts anfangen. Verführerisch – das ist die alte Erkenntnis der Erotik – ist allein das Unbekannte.
Und so ist die Geschichte des Geistes – des Menschengeistes –, wenn man so will, von Anfang an anti-weihnachtlich. Wir denken, seit wir denken, von Weihnachten weg: Hoch, nicht runter.
Weiter fort, statt näher ran.
EXodus, nicht ……. ja, was ist das Gegenteil des geistigen Auszugs, des intellektuellen Fort-Schritts, auf dem der Mensch seit eh und je begriffen ist?
Das Gegenteil jenes Exodus, mit dem wir raus aus der vertrauten Umgebung in neue Galaxien, in Traumwelten, in die Meta-Physik (die „Über-Natur“), in die Virtualität streben, … dieses Gegenteil unseres gedanklichen Ausbruchs hat seit Weihnachten, so wie Johannes es meditiert, einen sehr treffenden Namen:
Es heißt „INkarnation“.
Und Inkarnation bedeutet eben nicht nur Menschwerdung!
Das könnten wir ja immer noch so verstehen, als ginge es um den Menschen als brillanten Geist, der alle Schranken seiner hohen Berufung gemäß durchbricht und zumindest theoretisch die Unsterblichkeit erschwingt, ……. sondern „Inkarnation“ heißt roh und rotzig „Fleischwerdung“!
Autsch!
Wir wollen „auswelten“ und Gott „fleischt ein“.
Frontalzusammenstoß!
Und weil die Wege so gegenläufig sind – der Menschenweg, der aus der bekannten Wirklichkeit hinaus, der Gottesweg, der in sie hineinführt –, darum ist es eigentlich kaum verwunderlich, dass es den auf ihr Denken stolzen Menschen selten gelingt, die Frommen zu verstehen, und dass umgekehrt Menschen, die auf ihre Frömmigkeit bedacht sind, selten den Denkenden allzu nahe kommen mögen. …….
Und dennoch ist es eine Tragödie und ein Irrtum, den wir nie besser als zu Weihnachten zu korrigieren versuchen sollten: Denn die Meditation des Johannes über die Fleischwerdung ist der gottgewollte, beispielhafte Glücksfall nicht für den Zusammenstoß, sondern für die Begegnung beider Wege.
Johannes nennt Gott auf dem Weg in die Welt des Fleisches nämlich nicht einfach den Schöpfer, den Herrn, den Vater, sondern er nennt ihn mit jenem einen Bibelwort, das auch in der Welt außerhalb der Bibel ganz und gar kein Fremd-, sondern ein wahres Hauptwort ist: „Logos“ nennt Johannes Gott, „Wort“, „Vernunft“, „Denken“.
Da können die klugen Köpfe dann doch nicht mehr einfach ohne Weiteres und unwidersprochen behaupten, dass Gott eine Form des Gefühls oder ein Vorurteil und Kurzschluss sei.
Gott – so richtet Johannes es aus – ist nicht das Gegenteil der Logik oder ihr Ersatz. Sondern Gott ist derjenige, der das Denken, der die Vernunft, der den Geist, der die Weisheit auf die Welt bezieht.
Und ein Denken, ein Geist, der sich demgegenüber von den Verbindungen und Einbindungen in die ganz reale, stinknormale Welt zurückzieht, kommt plötzlich in Begründungsnot:
„Bist Du wirklich Geist, bist Du wirkliches Denken, wenn Du nicht in die Wirklichkeit, sondern aus ihr heraus zielst?“
Nur dass Johannes es noch viel besser und noch viel echter sagt.
Weil er es eben „Fleisch“ nennt und damit uns Heutige, hier im Augenblick der Gegenwart anspricht, als sei seine Botschaft aus unseren aktuellen Anfragen hervorgegangen:
Wollt ihr wirklich weiter machen mit der Verlagerung des Denkens und des Geistes aus dem Leiblichen? Wollt Ihr alle inneren Werte wirklich außerhalb Eurer Körper speichern? Wollt Ihr ernsthaft „künstliche Intelligenzen“ verschmelzen mit den schöpferischen Anlagen, die nur Euch verliehen sind – allerdings um den Preis, dass Ihr nun einmal biologisch existiert? Wollt ihr das Mischwesen züchten, auf das sich Eure vermeintlich klugen Köpfe zubewegen: Wollt Ihr den Cyber-Menschen, der seinen Körper als „Erdenrest, zu tragen peinlich“ betrachtet und ihn deshalb verknüpft mit nicht-körperlichen Hilfen und Herrschern, die ihm Herz und Hirn abhorchen und sie verarbeiten, verwandeln zu Organen eines körperlosen Phantoms?
Wollt Ihr wirklich die Grundbeschaffenheit des Fleisches, in dem ihr west und besteht, umwandeln und die beiden Gesetze und Grenzen des Fleisches aufheben: Fleisch entsteht vom Fleisch und es muss wiederum vergehen! Geborenwerden und Sterblichkeit und machtlos zu sein beidem gegenüber: das ist des Fleisches Grundgestalt und Grundgebot! Das wollt Ihr lösen? Das soll fallen? Es soll ausgelagert werden in die Macht von Wünschen und Wähnen? Leben soll zuletzt verdinglicht werden, indem man es vom Fleischlichen befreit?
Menschen, Menschen – Gott wurde MENSCH!
FLEISCH wurde Er, wie Ihr es noch seid!
Wenn Ihr das verlasst und verratet bei Eurem Höhenflug zur Hölle, dann werdet Ihr da oben, im luftleeren Raum der Freiheit, außerhalb des Hauses, das Gott für Euer Leben baute, ……. dann werdet Ihr da oben Euch auflösen! Nicht finden und vervollkommnen, sondern vollkommen verlieren!
Denn die Wahrheit über Euch, das Denken und Erkennen, die kommen zu sich nur im Leib – nicht jenseits!
„Das Wort wurde Fleisch und wohnt unter uns“: Wollen wir da wirklich ausziehen? …….
Um Gottes willen: Nein! Um Jesu willen: Nein!
Bleiben wir in den Grenzen des Fleisches, in den Grenzen der unverwechselbaren, unwiederholbaren Gemeinsamkeit, die Gott an Weihnachten mit uns begonnen hat!
Lösen wir die Menschheit und das Leben nicht weiter auf, gefährden wir uns nicht selber, indem wir dem den Rücken kehren, in dem Gott sich ganz bei uns eingebürgert hat! ———
Früher glaubte ich, der wunderbare, viel gelobte Satz des Württembergischen Pietistenvaters Friedrich Oettinger: „Das Ende aller Wege Gottes ist die Leiblichkeit“ rede stark und ausschließlich von Ostern und der Gewissheit unserer vollständigen Auferweckung, nicht als halbe, sondern als ganze Menschen.
… Heute aber höre ich den weihnachtlichen Ruf darin, dass wir erkennen, welcher Schatz schon vor der ewigen Auferweckung uns mit unseren sterblichen Leibern, mit unserem Leben als Sterbliche geschenkt ist: Wir leben hier im Rahmen Jesu!
Vergessen und verlieren wir da nie, wie gottvoll unser Leben hier auf Erden ist!
Denn „das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit,
eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit!“
Es gibt ein – altes, humanistisches (!) – Sprichwort »Juvat vivere«!
Es ist eine Lust Mensch zu sein! Die Lust Gottes!
Amen.
1.Christtag Lukas 2,15-20 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth - 1.Christtag 2014
Lukas 2,15-20
Liebe Gemeinde!
Zweierlei Weihnachtsfeiern begegnen uns bei Lukas auf dem engen Raum des Berichts von Christi Geburt nebeneinander – und Lukas hat sie bewusst in Gegensatz gestellt.
Das eine ist die kindliche Weihnachtserfahrung, die alle möglichen Gefühlszustände durchläuft – von panischer Angst bis zu platzender Neugierde, von kribbelnder Vorahnung bis zu lärmendem Juchhei: Diese extrovertierte, sich Luft machende Spannung und Hochstimmung, diese mitteilsame und ansteckende Fröhlichkeit, die wir unsern Kindern am Christfest wünschen und gönnen, wird allerdings gerade von Erwachsenen verkörpert und erlebt.
Es sind die Hirten, die nach dem Besuch der Engel schnattern und drängeln wie eine Kinderschar vor den geheimnisvollen Türen. Sie – die Männer mit dem schlechten Ruf und dem weichen Herzen – sie sind es, die losstürmen und dann von Ehrfurcht ergriffen werden und dann wieder auf und davon müssen und sich unter die Leute, die sie sonst meiden, mischen und reden wie die Wasserfälle, … grüßen, loslegen, sprudeln, überlaufen.
Das andere, das tiefernste Weihnachtsfest aber, das wortlose, schweigende Fest der Meditation und Versenkung – nun, das feiert beinahe noch ein Kind, ein Mädchen, dem schon körperlich alles eigentlich zu fremd, zu viel, zu beklemmend und zu beseligend geworden sein muss in der heiligen, schrecklichen Nacht der Schmerzen und Schreie und des ersten Atmens und der ersten Züge an der Brust.
Stumme Weihnachten sind von Maria überliefert. Weihnachten der Innerlichkeit. Christi Geburt und Verkündigung im Herzen.
– Und so scheint alles ja auch aufzugehen, wie wir es bei Lukas gewohnt sind, der den Kontrast von Geschäftigkeit und Seelenruhe immer wieder in seinen Schriften hervorhebt: Man denke an die konzentrierte Schilderung der Urgemeinde, die täglich einmütig im Tempel beieinander waren und brachen das Brot hin und her in den Häusern und die Speise mit Freuden und lauterem Herzen nahmen, Gott lobten und Gnade hatten bei dem ganzen Volk (Apg246f). Was für ein Muster an innerer Sammlung, an kontemplativer Lebensform – und wie stark der karikaturhafte Gegensatz zu dem anderen Bild aus jener Zeit, dem hektischen, hyperaktiven Berserkertum des Saulus, der mit Drohen und Morden schnaubte (vgl. Apg91).
Allein dieser Vergleich zeigt die Neigung des Lukas zu den Stillen im Lande, zu spiritueller und philosophischer Denkarbeit und Anbetung.
Noch beispielhafter, ja geradezu sprichwörtlich hat Lukas diese beiden Lebensentwürfe ja in der berühmten Schilderung der ungleichen Schwestern hervorgehoben, in deren Haus Jesus später einmal einkehrte (vgl. Lk1038ff).
Bei der einen löste er dadurch einen fieberhaften Aktivitätsschub aus, einen generalstabsmäßigen Großeinsatz des Küchen- und Haushaltskommandos, wie wir uns heutige Weihnachtsvorbereitungen in großem Stil nicht nervenaufreibender vorstellen können: Martha rotierte und unzählige, ganz säkulare Menschen tun es ihr nach, wenn das Erscheinen des Herrn Jesus am 25.Dezember sich so unverhofft ankündigt.
Dagegen die andere – die Namensschwester des an der Krippe meditierenden Mädchens mit dem Erstgeborenen – zieht sich ungerührt zurück, hat gar keine Anstrengung nötig und hält in ihrem Kämmerlein einfach nur gepflegte, abgeschirmte Zwiesprache mit dem Gast.
… Man muss nicht einmal Gewerkschafter sein, um so viel dreistes Salonchristentum, so viel hochgeistige Blasiertheit zuweilen als einen Angriff auf die notwendige Werktätigkeit, auf das Praktische, das dem Leben zugrunde liegt, zu empfinden. ————
Um aber zurück zum Stall und zur Krippe zu kommen:
Ist denn der Konflikt, ist die für Lukas so eindeutige Alternative zwischen Innerem und Äußerem, zwischen Reflektieren und Agieren damit bereits zu Weihnachten entschieden?
Sollen wir aus dem betonten Gegenüber von denen, die das Wort auf den Gassen ausbreiteten, und derjenigen, die es nur fein in ihrem Herzen behält und bewegt, endgültige Schlüsse ziehen?
Sollen wir folgern, dass die aufdringliche, auf die Massen zielende Redseligkeit der Hirten weniger angemessen ist, als die private Andacht und geistliche Sammlung Mariens?
Sollen wir – mit Maria und Martha vor Augen, bei denen Jesus selbst so eindeutig Partei für die ruhende und gegen die wirbelnde Geisteshaltung ergriff – die Hirten belächeln, weil sie eben narrisch, kindisch, ein bisschen undicht sind in ihrer Hyperventilation der Freude? Sollen wir innerlich und schrecklich vornehm uns auf das Genießen und Schweigen der Kenner zurückziehen, die dem geschwätzigen Rededrang des einfachen Volkes ihre höchsten Gefühle durch Diskretion vorenthalten?
Quatsch!
Denn obwohl Lukas als Grieche sonst so viel für die seelische Dimension, für den intellektuellen Zugang zum Glauben übrig hat und ihm gegen den religiösen Betrieb den Vorrang einräumt, haben wir alle es dennoch immer schon zurecht empfunden, dass im Weihnachtsevangelium eine andere, eine noch höhere Ordnung herrscht.
Denn mit den Hirten wird deutlich:
Am Anfang war die Freude.
Ungehobelte, kinderleichte, um alles Tiefe unbekümmerte Freude, die aufgeht wie die Sonne in ihrer Pracht, die über Gerechte und Ungerechte gleichermaßen strahlt, die ansteckt wie das unbändige Lachen, die mitreißt wie der heißblütigste Tanz, die Grenzen ignoriert und Verhältnisse auf den Kopf stellt, die Einfaches zentral und Kompliziertes gleichgültig macht, die Stotternde zu begnadeten Botschaftern und Toren zu den weisesten Ratgebern der Welt werden lässt.
Am Anfang war die Freude, die übergeht von einem zum anderen, die sich verbreitet, die hüpft von Herz zu Herz, die klingt von Mund zu Mund, die schwingt von Berührung zu Berührung, die weht in alle Himmelsrichtungen, die wächst und nicht zu fangen ist, die webt und schwebt und Menschen so packt, dass aus Fröhlichen selber Freude, dass aus Erzählenden selber Evangelium, dass aus Gesegneten selber Segen wird.
Am Anfang war die Freude, die Hässliche engelhaft schön und Schüchterne stolz wie ein König macht.
Am Anfang war die Freude, die stärker ist als jede Not und Angst, die stärker ist als jede Hemmung und Gegenwehr, stärker als Gewohnheit und Skepsis, stärker als gestern und morgen, stärker als Du oder Ich, stärker als Leben und Tod.
Am Anfang war die Freude, die die Welt erneut, die die Schöpfung wiederholt und wiederherstellt.
Am Anfang war die Freude, die Gottes ist.
Und gegen diese Urgewalt der Fröhlichkeit, gegen die grenzenlose Macht, die die Engel in das Hirtenvolk gepflanzt haben, gegen den Schwung und die Geschwindigkeit und die Schwingen dieses ersten und besten Gefühls … nun, dagegen gilt einfach gar nichts, dem hält nichts stand!
Da mag Lukas, da mag das Christentum sonst noch so viel von bedachter und besonnener, von geistig durchdrungener und seelisch geläuterter Erkenntnis an sich haben: Das ist und bleibt ein Zweites gegenüber dem Ersten, gegenüber dem Anfang.
Am Anfang steht gerade beim gelehrigen Apostelschüler Lukas, beim wissenschaftlich gebildeten Begleiter des Paulus die Freude des kleinen Mannes. Denn kein anderer Zeuge des Evangeliums macht es so unmissverständlich klar, dass der Ursprung des Christentums, das die Welt und ihren geistigen Horizont für immer verändert hat, seit es sie wie ein Lauffeuer durchdrang, im wahrsten Sinne des Wortes eine kinderleichte Sache ist.
Lauf zur Krippe, sieh das Kind an …. und was Dir dann passiert: Das ist Christentum!
Und es gilt jede Wette in neun von zehn Fällen, dass selbst die steifsten und brummigsten, dass selbst die abstraktesten und theoretischsten Köpfe, die sich über diese etwas unorthodoxe Wiege beugen, … die dabei die Brille hochschieben und anfänglich noch die Nase rümpfen, … die unbeholfen und unwillig sind, …… plötzlich gekitzelt werden, plötzlich etwas begreifen, das sie bis dato für ein Gerücht, für ausgeschlossen, für Nobel-Preis-verdächtig hielten.
Plötzlich werden zerfurchte Stirnen glatt und verkniffene Augen blank.
Plötzlich werden andere Menschen aus den alten Knaben, aus den weisen Frauen. ——
Was ist das, was dieses Kind da hat und macht? Was geschieht da?
Da tut sich der verhängte und verschüttete, der längst verlorene Blick auf den Ursprung, auf den Plan Gottes, auf Seine Ziele und Seine Mittel auf:
So, so ist es gemeint … das Leben.
So, so hast Du, habe ich sein sollen.
So kann ich, so kannst Du plötzlich sein, hier angesichts dieses Kindes.
Das ist unglaublich. Das ist tiefer, als die tiefste Tiefe.
Das ist der Gipfel.
Das ist der Anfang. Das ist das Ende!
Das ist Magie, …. nein, … Wirklichkeit!
Das ist Gott – tatsächlich, so dicht war man noch nie am sagenumwobenen, längst erledigten Zentralgestirn des geistigen Kosmos. … Das ist Gott!?! – Oder ein Mensch?!!
Es ist, was es ist.
Es ist Freude!
Ist es darum logisch?
Ist es Philosophie?
Ist es Mystik?
Ist es die Lösung?
Ist es das Geheimnis?
— Es ist Jesus. Das ist es.
Und sein Name ist Freude.
Und seine Wirkung das Staunen.
Und sein Leben ist mehr, als man durch Denken und Grübeln und Forschen und Bohren wird fassen können. Sein Leben ist so, dass nicht einmal seine eigene Mutter darauf oder dahinter-kommen wird. Maria wird es nie begreifen, … das Wunder, das da neben ihr liegt, Fleisch von ihrem Fleisch, Augen wie ihre, ein Mund, der so vertraut ist und so zu ihr gehört.
… Maria wird es nie begreifen können, was dieses Leben da ist.
Es ist nämlich Deins! Gott schenkt es Dir! ——
Und da staunst Du gewiss – einerlei ob Du der Wurzelsepp oder Hildegard von Bingen, ob Du das dumme Gänslein oder der Dr.Faustus bist: Da staunst Du, …. und das Nachdenken kommt in Herz und Hirn ganz von selber.
Aber es kommt aus dem, was eher war, was die Hirten hatten, konnten und austeilten.
Es kommt vom ersten Anfang her – und am Anfang war und ist und bleibt die Freude!
Amen.
Christmette 2014 "Geht ein Kind im tiefen Schnee" (Heinrich Vogel) Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christmette 2014
„Geht ein Kind im tiefen Schnee“ (Heinrich Vogel)
Liebe Gemeinde!
Weihnachtslieder sind Winterlieder:
Das erscheint uns wie ein schlüssiger innerer Zusammenhang.
So entschieden wir zwar das germanische Heidentum längst nicht mehr beim Fest der Wintersonnenwende mitraunen lassen, wie unsere Groß- und Urgroßeltern das hemmungslos taten, so alt ist doch die jahreszeitliche Verbindung der Bilder vor unserem inneren Auge: Das blaugefrorene Neugeborene und die weißen Matten der frostigen Flur – das ist beinahe ein Stück Theologie geworden.
„Mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht“: So heißt es schon im 16.Jahrhundert, übrigens während jener „kleinen Eiszeit“, der Breughel und andere Landschaftsschilderer ihre Schneebilder verdanken. Spätestens seitdem ist es eine unausgesprochene Glaubensvoraussetzung, dass Gottes Selbsterniedrigung in der Menschwerdung auch das Opfer einschloss, ausgerechnet in der bittersten Kälte zur Welt zu kommen.
Und ein leiser, irrationaler Zweifel am ganzen Weihnachtsgeheimnis speist sich auch dieses Jahr ja wieder aus der viel zu milden meteorologischen Lage: … Kann ja wohl nicht so viel dran sein am Wunder der armen Geburt, wenn draußen Frühlingstemperaturen und erste Knospen zu verzeichnen sind.
Ja, … wo Weihnachten sich auf Winterzauber reimen sollte, da können wir es in den nächsten Jahren der gnadenlosen Klimaerwärmung vermutlich zum Wettrennen bringen, was eher abschmilzt: Die Polkappen oder der Schneeflöckchen-Klimbim.
Da allerdings das Lukasevangelium ganz ohne Datumsangabe auskommt, dafür allerdings sehr Genaues von den örtlichen Gegebenheiten der Geburt des Herrn weiß, dürfte es keinem biblisch bewanderten Christen schwerfallen, sich die Umstände, unter denen Jesus von Nazareth zur Welt kam, ganz ohne Kunstschnee vorzustellen. Gut möglich, dass es knochentrocken im Land war, stickig in den überfüllten Gassen, gut möglich, dass selbst in einer sommerlich abgekühlten Nacht die Luft im Stall wie Schmirgelpapier rauh vor Staub und Dunst war und dass der kleine Erdenbürger japsen und nach Atem ringen musste, weil die Hitze des Tages und der Tiere schweißtreibend zäh über seiner Krippe lag.
Und ob das Kind von Bethlehem später jemals den Schnee kennenlernte, den man aus seiner Heimat in Galiläa immerhin zuweilen hoch im Norden auf dem Hermon blitzen sehen kann, ist ungewiss.
Zwar hat man im vergangenen Winter geradezu karnevaleske Bilder von besonders reichlichem Schnee in Israel gesehen, Bilder auf denen stattliche Ultraorthodoxe mit wehenden Schläfenlocken neben arabischen Matronen auf Plastiktüten die Hänge hinuntersausten und eine gemeinsame Gaudi hatten, die fast prophetische Dimensionen besaß – so wird’s im Reich Gottes also auch sein, wenn Feinde miteinander juchzend Schlitten fahren!!! –, aber die Seligpreisung der Skifahrer in Jesu Mund* ist dennoch apokrypher Filmklamauk.
Wie aber kommt das Kind Gottes dann in den Schnee? ———
WEIHNACHTSLIED
Geht ein Kind im tiefen Schnee,
Geht auf bloßen Füßen;
Kalter Wind, du tust ihm weh,
Sag, was soll es büßen?
Welt, o weite Welt, du hast
Nicht ein Bettlein für den Gast,
Den dir Gott beschieden.
Geht ein Kind im dunklen Graus,
Geht durch tausend Speere,
Schläft wohl in verbranntem Haus,
Geht durch blutge Meere;
Welt, o Welt, was kriegest du?
Arme Welt, wann findst du Ruh
In des Kindes Frieden?
Kind, o Kind, dein Augenlicht
Strahlt wie tausend Sonnen;
Blinde Welt, ach siehst du nicht,
Wen dir Gott gewonnen?
Kindlein, geh, dein Weg ist weit,
Und das Kreuz ist schon bereit
Deiner Lieb hienieden.
(Worte & Weise: Heinrich Vogel, 1902-1989)
Der Schnee, durch den Heinrich Vogel** das Kind mühsam vorankämpfen sieht, ist jedenfalls nicht das idyllische Gestöber der weißen Weihnacht, wenn „der Wind im Winterwalde die Flockenherde wie ein Hirt“ treibt.
So urig es aus Rilkes versponnenem „Advents“-Gedicht auch in sanften Schleiern herüberweht, so unvereinbar bleibt diese Stimmung doch mit dem Lied vom Kind in der Kälte, das keinen Hirten und keinen Herd hat, weil es selbst der Hirte und die Lebensglut der Welt wäre, …. wenn, ja wenn diese Welt nicht so unfassbar, so eiskalt wäre.
Als Heinrich Vogel sein Weihnachtslied schrieb, da war die heile Welt, die in der ästhetischen Generation davor noch einmal beschworen werden konnte, in der verschneite Tannen „fromm und lichterheilig … der einen Nacht der Herrlichkeit“ entgegenwuchsen, erloschen, … in sich zusammengebrochen – nicht zuletzt unter der Wucht der Brandbomben, die den flackernden, bunt schimmernden Markierungsbomben, den sog. „Christbäumen“ vom Himmel folgten. —
Heinrich Vogel selber war ein Theologe mit ausgeprägten musischen Gaben, dem es unter anderen Umständen vielleicht nahe gelegen hätte, an die beschauliche Erbaulichkeit der bürgerlichen Poesie, an die helle Durchsichtigkeit der Kammermusik eines Pfarrhauses, an die heilsame Schönheit des klassisch Sakralen nahtlos anzuknüpfen:
Diese vielen idealen Rückbezüge seiner Herkunft und seines Stilempfindens waren ihm indes zerstört worden durch die Zeit des Kirchenkampfes, die unendliche Teile der evangelischen Überlieferung als faul und brüchig erwiesen hatte, und durch die heraufziehende Zerreißprobe des Kalten Krieges, der über Berlin schon im ersten Nachkriegswinter eisige Schatten warf, die Vogel selbst noch lange als Hochschullehrer in beiden Teilen der Frontstadt im Kampf der Systeme ertragen musste.
Sein in Form und Sprache immer noch stark und bewusst dem Herkommen verpflichtetes Weihnachtslied reiht sich darum mit seinen Bildern und Botschaften unter die herben, die strengen und bitteren Dichtungen ein†, die in den Jahren des 2.Weltkrieges der mitteleuropäischen Kultur in einem altmeisterlich geschliffenen Spiegel ihre eigene ungeheuerliche Fratze vorhielten. Reim und Repertoire wie in den Hochzeiten geistlicher Lyrik – aber die Trostlosigkeit so modern, so grenzenlos, wie es selbst im dreißigjährigen Krieg bei Paul Gerhardts Zeit- und Dichtergenossen nicht denkbar war.
Heinrich Vogels Weihnachtslied hat einen berühmten Vorläufer.
Das ist Friedrich Rückerts ergreifende, moralische Schauerballade:
„Es läuft ein fremdes Kind / am Abend vor Weihnachten /
durch eine Stadt geschwind, / die Lichter zu betrachten, /
die angezündet sind“.
Dort stirbt das ausgestoßene Kind wie Andersens Schwefelholzverkäuferin unter den Fenstern der Weihnachtfeiernden: Aber sterbend wird es vom Christkind selber heimgeholt und im Himmel zu einem Lichterbaum und einer Bescherung geführt, die das Erdenleid vergessen machen. …….
Hundertfünfzig Jahre später aber, bei Heinrich Vogel ist es das Christkind selbst, das obdachlos auf seinem Todesmarsch durch die Eiswüste stolpert.
Es hat den lichterschimmernden Himmel nun endgültig verlassen und droht im Schnee begraben zu werden.
– Wie kommt das Kind Gottes in den Schnee?
Nun, weil dort die Menschen sind:
Die KZ-Häftlinge auf den Märschen von Todesort zu Todesort und Todesart zu Todesart; die Belagerer und die Belagerten, die vor und in Stalingrad verhungerten und erfroren; die zahllosen Vertriebenen und Flüchtlinge, die über’s Eis und in’s Elend trecken mussten, die ausgebombten, zähneklappernden Großstädter, die in ganz Europa nur mit dem nackten Leben in den Trümmern hausten.
Das ist die Winterlandschaft des Weihnachtsliedes von Vogel††.
Es ist kein meteorologischer Winter, sondern ein psychischer, ein zivilisatorischer.
Der unbarmherzige Schnee, die starrenden Speere, die Ruinen im dunklen Graus – sie alle sind auch bei Sonnenlicht und in wärmerer Witterung so, dass sie das Blut gefrieren machen. Und - das muss nun doch gesagt werden, obwohl es ja überdeutlich ist! - sie sind nicht mit der Nachkriegszeit vergangen:
Es ist uns in diesem Jahr wohl nur näher und deutlicher auf die Haut gerückt, wie sehr es Winter auf der Welt ist – selbst wenn sie immer heißer wird –, … wie sehr Dauerfrost das Klima unter den Menschen beherrscht, wie ähnlich das zerschossene Gaza und die Schlachtfelder der Ukraine, die vom Islamischen Staat terrorisierten Landstriche und die unwirtlichen Megalopolen der Ausbeutung jener Kriegs- und Eiszeit vor siebzig Jahren geblieben sind, … wie sich allenfalls die geographischen Koordinaten verschoben und die Ausmaße des Elends noch vervielfacht haben.
Nach wie vor aber ist es eine Winterwelt, in der wir Weihnachten feiern, eine Welt, der die Wärme fehlt, eine Welt der spiegelglatten, eisigen Oberfläche, unter der fühllose Erstarrung herrscht. —
Das ist als Wetterbericht von der Kanzel unerfreulich genug, vielleicht sogar so, dass man in’s Grübeln geraten mag und überlegen, ob sich nicht doch nach neuesten Moden exotische oder karibische oder irgendwie warme Weihnachten feiern ließen, …. jedenfalls solche, die nicht so winterlich, so trüb, so schwermütig, so wetterfühlig, was die Weltlage betrifft, wären?
Gewiss! Warme Weihnachten wären unbedingt eine Antwort!
So sehr sogar, dass eine Quintessenz unserer heutigen Mette vielleicht ganz einsam unter den vielen anderen Kanzelreden aus dem Rahmen fallen könnte, in denen sich die Heilandsgeburt auf Integrationslieder und Energiesparlampen reimt, auf grüne oder rote oder andere weihnachtsfarbig schillernde Signale guten Willens.
Warme Weihnachten wären gut in dieser kalten Welt!
Darum – so die seltsame Quintessenz – darum tut etwas für die Klimaerwärmung, … helft ihr nach, … heizt den eiskalt Ungerührten ein, … macht denen, die die Südhalbkugel für zu warm halten, als dass sie etwa noch unsere Energie verdiente, die Hölle heiß, … schmelzt die harten Herzkappen ab, … legt denen, die an sich selbst nichts ändern wollen, Feuer unterm Hintern, … schafft das ab, was Menschen so schrecklich isoliert, … reißt die Dämme nieder, hinter denen sich die Sicheren mit den Schäfchen im Trockenen verschanzen wollen, … wenn ihr nicht glüht für die Menschheit, dann bittet Gott um Zunder, … verhindert den rasanten Temperaturabfall, der einen frieren lässt, wenn man an die eingefrorenen Kinder von morgen denkt!!!
Tut etwas für die Klimaerwärmung!
Denn mit allem, was es auf Erden wärmer macht, erwärmt Ihr auch das blaugefrorene, bar-füßige Kind im Schnee auf seinem Buß- und Opfergang, den es den Frierenden und Kaltgestellten der Erde zuliebe geht und geht und weiter geht.
Darum ist alles, was weniger Heulen und Zähneklappern unter den Menschen bedeutet, alles, was das Frösteln und Zittern der Ungeschützten mindert, wahrlich gut.
Nur eines – das sollte uns inzwischen klar geworden sein –, nur eines werden wir nicht leisten können: Wir werden es nicht dahin bringen, dass das Kind seine Winterreise für die Welt abbrechen und auf und davon in die Sommerfrische kann.
Das Gotteskind, dessen Geburt wir in dieser Winternacht feiern, die auf der anderen Seite der Erde eine Sommernacht ist, das Gotteskind ist eben darum geboren worden, weil diese Welt sich so kalt stellt, so eiskalt nicht nur untereinander, sondern ebenso in Richtung dessen, der in dem Kind erschienen ist.
Es herrscht seit grauer Vorzeit nämlich Gotteskälte, Eiszeit zwischen uns und der gesunden Lebenswärme unseres Schöpfers.
Die erste rein menschliche Wärme dagegen, von der die Bibel berichtet, die erste Temperaturmessung bei unseresgleichen hier auf Erden ist nämlich schon gleich eine kranke Fieberanzeige:
Kain – der erste Geborene – „entflammte“ (1.Mose45), heißt es, als er sich ursprünglich gegenüber seinem Bruder Abel benachteiligt wähnte.
Und seitdem der erste Mensch so Gewalt über das Feuer bekam – weil es als Zorn in ihm selber zündete –, seitdem ist der Mensch ein eiskalter Brandstifter: kühl in seinen Motiven, aber bis zur Weißglut bereit, sie durchzusetzen gegen alle, … auch gegen Gott!
In den brandgefährlichen Händen dieses Geschöpfs mit dem kalten Herzen aber liegt die Welt schlecht.
Und darum ist das Kind gekommen, das eine Menschenkind, Jesus, das Gotteskind, das mit der Wärme seiner göttlichen Liebe die winterliche Menschheit, die kriegerische Menschheit, die geblendete Menschheit umschmelzen, entwaffnen und erleuchten kann.
Es ist und bleibt ein unglaublich schwerer Weg, diese wirkliche und wahrhaftige Energie-wende, die das kalte Feuer und den tödlichen Strahl der von Gott gelösten Menschenmacht in jene lebendige Liebe, jene fruchtbaren Flammen des Geistes, jene herzerwärmende Wahrheit verwandelt, in denen Gott sich an uns verherrlichen will. …….
Für die beiden frierenden Füße und das winzige Händepaar, auf denen dabei unsere ganze Hoffnung ruht, führt der Weg, der wirklich Sommer aus dem lebensfeindlichen Winter macht, über das Kreuz.
Aber Heinrich Vogel lässt uns doch ahnen:
So schmerzhaft der Weg auch ist, auf dem es dieser Welt alle Kälte aus den Knochen zieht und ihr dafür sein Licht schenkt, ……. das kleine Kind mit tausend Sonnen in den Augen hat zuletzt genug Energie, genug der Kraft und Wärme Gottes dazu!
Und darum leuchtet Weihnachten so!
Amen.
* So vernimmt die Hörerschaft eine Sentenz der Bergpredigt in Monty Python’s Film „Life of Brian“ (1979).
** Heinrich Vogel war ein märkischer Pfarrer und Berliner Hochschullehrer, der im Kirchenkampf während des 3.Reiches in enger Verbindung zu Karl Barth, aber mit dezidiert kämpferischer lutherischer Haltung nicht schwieg und dafür Haft und Verfolgung in Kauf nahm. Nach dem Krieg zeichnete er sich durch sein geradezu störrisches Festhalten an der Gemeinsamkeit der Christen in beiden deutschen Teilstaaten und innerhalb der zerrissenen Stadt Berlin aus. Akademisch-theologisch lag der Schwerpunkt seiner Arbeit auf intensiver Meditation und Durchdringung der überlieferten Christologie. Daneben wirkte er mit kleineren Formaten der Poesie und Prosa und durch seine hochgeschätzte, lebenslang treu versehene Predigttätigkeit auf weite Kreise gerade der Berliner evangelischen Kirche. Er starb kurz nach dem von ihm ersehnten Fall der Mauer.
† Seine Dichtung lässt Vogel als Zeit- und Gesinnungsgenossen etwa R.A.Schröders, und Jochen Kleppers erkennen.
†† Insofern reiht die Christmette, in der die Kantorei Vogels „Weihnachtslied“ als Teil der Predigt sang, sich in das kirchenmusikalische Thema des Gedenkjahres 2014 mit seinen Rückblicken auf den Beginn der Weltkriege ein.
Christvesper 2014 Lukas 2,1-14 Stadtkirche Kaiserswerth Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth - Christvesper 2014
Lukas 2, 1-14
Liebe Gemeinde!
Niemand weiß, wann sie aufkamen – war es nach dem Krieg, als erste Vervielfältigungsmethoden wie das „Hektographieren“ sich anboten um die Verbindung unter zerstreuten Landsleuten und versprengten Angehörigen aufrecht zu erhalten? – … niemand also weiß, wann sie aufkamen, aber sie sind jedenfalls auch in den Tagen der Hochgeschwindigkeitsnachrichten nicht ausgestorben: Die berühmten, beliebten, gefürchteten Weihnachtsrundbriefe.
Manche voller Neuigkeiten, manche reine Wiederholungen. Manche so beschaffen, dass sie das weihnachtliche Licht bis zu ihren Empfängern strahlen lassen, andere so, dass ihre Leser völlig im langen Schatten des Absenders verschwinden. Manche Rundbriefe berühren uns mit der Körpertemperatur des in ihnen enthaltenen Lebens, andere sind wie die Krippe: Hölzern und voller Stroh.
Doch sie alle können nicht an das Vorbild reichen, das Jahrtausende älter und immer noch lebendiger ist als jede andere weihnachtliche Epistel der Welt.
Dieses Vorbild haben wir eben gehört, … das erste Rundschreiben zu Christi Geburt: Nichts anderes ist nämlich das Weihnachtsevangelium.
Als Teil der neutestamentlichen Sammlung von Berichten über Jesus Christus sticht das Werk des Lukas bekanntlich dadurch heraus, dass es zweiteilig ist – neben dem Evangelium umfasst es auch die Geschichte der Apostel –, und dass beide Teile durch ihre Vorworte brieflichen Charakter tragen.
Das Evangelium des Lukas und seine Apostelgeschichte sind Rundbriefe an die ganze christliche Großfamilie, die darin sogar einen gemeinsamen Namen und Nenner erhält durch die Anrede, mit der die Schreiben jeweils beginnen: „Edler Theo-Philos, …. erweitert also: Lieber »Freund-Gottes«-Clan!“ (vgl.Lk13/Apg11)
Demnach lesen wir alljährlich also unter allen anderen Weihnachtsgrüßen hier gemeinsam die Post an unseren geistlichen Stammvater oder unseren gemeinsamen Patenonkel Theophil, dem Lukas als Erstem für die ganze Sippe die guten Nachrichten vom Heiland schreibt.
… Und Jahr um Jahr ist darum zu fragen, wie uns wohl dieser Brief erreicht?
Wird er als papierner Schmuck aufgehängt, wie es in England die Bestimmung der massenhaft versandten Weihnachtskarten ist, um dann zusammengeknüllt und weggeworfen zu werden? Oder legen wir die weihnachtliche Ergüsse achtlos beiseite, weil sie in bekannten Floskeln das immergleiche Einerlei enthalten … schließlich wird in einer großen Verwandtschaft ja immer irgendwo ein Kind geboren und irgendjemand ist immer ein Sonderling, und Hochzeiten und Wanderschaften, Todesfälle und Neuanfänge berichtet die Weihnachtskorrespondenz mit eintönigster Regelmäßigkeit.
Oder gelingt und geschieht es uns, dass wir mitten unter vielen Schriftstücken, unter banalen und extravaganten Drucksachen gerade im Weihnachtsrundbrief des Evangelisten Lukas den Ton, der aufhorchen macht, das Wort, das trifft, erfassen?
Die Freude, die allem Volke widerfahren soll, das Zeichen der gewickelten Erbärmlichkeit des Retters, das Kopfschütteln aller, die sich wundern über die nächtliche Erfahrung der Hirten an einem notdürftigen Kindbett: Erreichen die uns als ernstgemeinter Sendbrief mit einer wirklich uns geltenden Botschaft oder verpuffen sie wie sonstige jahreszeitliche Phrasen?
… Schwer zu sagen, wenn wir ehrlich sind. …….
In mancher Hinsicht kommt der Abschnitt aus dem 2.Kapitel des Lukasevangeliums uns tatsächlich arg „hektographiert“ vor – wörtlich: hundertmal abgeschrieben –, und bei jedem neuen Abnudeln nimmt die Gefahr des Verblassens durchaus zu.
Außerdem liegt es ja gar nicht so einfach mit den persönlichen Reaktionen, selbst wenn die Botschaft bei uns auf keinen toten Briefkasten trifft, sondern auf einen lebendigen Empfänger.
Können wir uns wirklich freuen über eine Geburtsgeschichte, die so eingebettet ist in weltgeschichtliche Not? Immerhin erzählt sie uns vom ersten weltweiten Griff nach den Daten aller Menschen und kündigt so die offenkundigen und die verborgenen Unterwerfungspläne und Aussaugungsabsichten zahlloser Wissbegieriger und Machthungriger bis in die Gegenwart an!
Können wir uns ungetrübt freuen über einen Geburtsbericht, dessen Muster aus goldenen und aschgrauen Fäden gleichzeitig gewirkt ist? Am Anfang die verzweifelten Ängste und Schmerzen einer obdachlosen werdenden Mutter und dann – nach dem Himmel-und-Hirten-Zwischenspiel – die bedrohlich brütende Nachdenklichkeit der gewordenen mater dolorosa?!
Und würden wir selbst auf Geheiß eines Erzengels wohl wie die Hirten hineilen, um dabei zu sein, um Zuschauer, aufdringliche Zeugen einer Intimität zu werden, die kostbarer und schützenswerter nicht sein kann? … Und selbst wenn wir impulsiv wären und kinderlieb und trostbedürftig, … würden wir wirklich hineilen, wenn uns einfiele, was für ein Quartier das ist: So eine Baracke, ein Unterstand, ein sanitär katastrophales Feldlazarett für eine Flüchtlingsfrau? Da bremsen wir schon wieder mitten im Lauf, denn das ist in seiner Problematik ein paar Nummern größer, als jede verheißene Freude es überhaupt sein könnte ….. !
Es spricht also vieles dagegen, dass wir die Weihnachtspost des Lukas mit echter innerer Beteiligung und wirklich als gezielte Mitteilung an uns lesen sollten.
Gut denkbar daher, dass wir sie – wenn wir ihre Brisanz, ihre Komplikationen verstanden haben – zu den anderen Spendenaufrufen und Tränendrüsenschreiben sortierten, die uns im Dezember einen solchen Vorrat an Altpapier verschaffen. ———
Doch irgendetwas stimmt bei der Sache nicht.
Denn zu viele Menschen einst und heute, zu viele von uns hier haben es schon anders erfahren: Die Nachricht von der durchaus beängstigenden Notgeburt Jesu hat uns im Lauf der Jahre doch schon so viel Angst genommen. Der Weihnachtsbrief, in dem ein kurzes, leidenschaftliches, kämpferisch-menschliches Leben angekündigt wurde, hat vielen Menschen Jahrzehnte voller Mut und Nächstenliebe, Jahrzehnte voller Kraft und Güte geschenkt. Sie standen vor eigenen und fremden Sorgen, sie trugen große und schwere Lasten, sie waren Gefahren und Anfechtungen ausgesetzt und traten für Gerechtigkeit und Wahrheit mitten in den Katastrophen der Geschichte ein – und schöpften immer neu lebendiges Vertrauen und feste Gewissheit aus dem Brief, dessen Inhalt ihr Erhalt wurde:
„Große Freude ist euch widerfahren – Euch ist der Heiland geboren – es wird Frieden auf Erden werden und den Menschen ein Wohlgefallen!“
Aber wie kann das sein, dass unser Kaiserswerther Dichter und Hexenseelsorger, Friedrich von Spee in Folterkerkern und bei Hinrichtungen Angstschweiß und Schlottern und Kotzen und ein Weißwerden der Haare über Nacht erlebte und ihn dennoch bei alledem die freudige Geburtsnachricht des Lukas trug:
„O Kindelein von Herzen / will ich dich lieben sehr /
in Freuden und in Schmerzen, / je länger und je mehr“ ?! (EG 32,3) —
Wie kann das sein, dass Dietrich Bonhoeffer im langen Vorzimmer des Todes, in der Tegeler Zelle seiner Schwester Ursula als Weihnachtsgruß 1943 eine Zusammenstellung von Choral-versen, in die er sich versenkt hatte, zukommen ließ, die reinen Jubel enthält:
„Wie schön sind deine Strahlen – ich sehe dich mit Freuden an –
Freude, Freude über Freude / Christus wehret allem Leide, /
Wonne, Wonne über Wonne / Christus ist die Gnadensonne“?! —
Wie kann das sein, dass mein Weihnachtsbild in diesem Jahr eine große, hier und da löcherige Kopie einer Anbetung der Hirten aus der Rubensschule ist. Vor diesem geerbten Bild an seiner Wand lebte und starb ein Mensch aus unserer Gemeinde unter echter, immer tiefer werdender seelischer Qual. Aber eines stand trotz aller Dunkelheit für ihn fest: Sein Weg würde durch die zerlöcherte Leinwand führen … aus dem Reich des traurigen Betrachtens vor dem abblätternden Bild hinüber in die Gegenwart des Gezeigten, wo das Kind aus der Armut die Leidtragenden und Weinenden, die Verlorenen und doch Friedfertigen so froh machen wird, wie wir das nicht einmal im Traum ahnen. ……. Wie kann das sein, dass eine Beerdigung so weihnachtlich wird? ———
Nun, es liegt an dem Rundbrief des Lukas, der uns die Weihnachtsbotschaft schickt.
Wir sollten dieses Schreiben eben wirklich nicht mit den anderen Postsachen überfliegen und zusammenfalten. Denn trotz seines vertraut-verwechselbaren Anfangs, den wir eben lasen, ist dieses Evangelium in Rundschreibengestalt eben nicht bloß ein Weihnachtsgruß.
Wer weiter liest, wer mehr von der Freude und den Zeichen, wer mehr vom Staunen und den Verheißungen über dieses Kind erfahren will, wird auf eine so wunderbare und erschütternde Lebensreise mitgenommen, liest von so viel Liebe und so viel Hass, von so mächtigen Worten und so ohnmächtigen Waffen, liest von solchen Triumphen der Phantasie Gottes und dagegen einem solchen Scheitern des Erfindungsreichtums menschlicher Sünde, dass man bei der Lektüre tatsächlich gepackt wird von diesem Kind der Weihnacht.
Es ist seinen erbärmlichen Anfängen, seinen ersten Besuchern treu geblieben: Es hat weder die Engel noch die Hirten enttäuscht, auch wenn Augustus, dessen Nachfolger und Vasallen kaum etwas davon spürten, wie zu ihrer Zeit in einem Viehstall eine neue Welt begonnen hat. Aber einer von den Großen, ja der Größte überhaupt hat es doch erfahren:
Der Tod, der kurzen Prozess über alles macht, was je geboren wurde, ist mit diesem Kind nicht fertig geworden. Er stand zwar mit Hunger und Kälte, mit zynischem Gleichmut und sozialer Apathie als Geleit an der Krippe und reckte als Vorbote aller Konflikte um das Ende der Ungerechtigkeit und um Rücksicht für jeden seine knochige Hand schon damals nach dem Kleinen aus.
Aber die Todeshand ist zu schwach gewesen, selbst als sie am Kreuz zupackte und ihm den Garaus machte. Die Krippe war stärker als die Gruft: Sie trug das wunderbare kleine Kind ohne zu ächzen, während das Grab unter der Wucht des von Gott gewollten Lebens zerbrach!
Und so fällt schon auf die Geschichte seiner elend gefährdeten Geburt, wenn wir das ganze Schreiben des Lukas nur richtig lesen, mehr als das Sternenlicht dieser Nacht – ja, es ist Ostersonne, in der die armen Schlucker auf Bethlehems Flur blinzeln und genauso die beiden blassen, übernächtigten Menschen, die das herzzerreißende Wunder von Tod und Leben, das wir eine Geburt nennen, gerade hinter sich haben.
Ostersonne überm Stall, Sonne, die nicht sinken wird, Leben, das den Tod entmachtet und vergehen lässt, ist dort zur Welt gekommen.
Der liebe lange Brief, den Lukas uns so regelmäßig zum 24.Dezember schickt, ist also ebenso, nein noch mehr ein Osterrundbrief: Er berichtet nicht nur vom Anfang eines Lebens, sondern vom Beginn des Lebens aller Leben, der Verlebendigung aller Sterblichen, er erzählt von der Geburt der neuen Menschheit, die nicht mehr unter den Schatten des Todes, sondern in Gottes Gegenwart leben wird!
Und wer dann noch weiter liest im Werk des Lukas, wer über Ostern und Himmelfahrt hinaus sich auf die Abenteuer der ersten Christen einlässt und wie sie von Bethlehem und Golgatha erzählten, wie sie in der Türkei und Griechenland, in Ephesus und Athen von einem dreckigen Säugling im Stroh und einem Hingerichteten in grenzenloser Herrlichkeit predigten, wie sie die Klugen und Feinen, die Kultivierten und religiös Übersättigten der Antike mit dieser groben jüdischen Hausmannkost herausforderten und wie sie dabei einen solchen Hunger nach mehr weckten und eine solche Gemeinde versammelten, die aus allen möglichen Völkern und Hintergründen zusammenfanden in einer Liebe, die im Stallmist begann und am Kreuz unüberwindlich wurde – wer also den Pfingstbrief, der dem Weihnachts- und Osterevangelium folgt, unterm Tannenbaum auch noch bis zum Schluss durchliest, der findet ganz am Ende ein durch und durch ermunterndes, ermutigendes Weihnachtsgeschenk.
Wie endet der große Rundumbrief an die Christenfamilie, mit dem wir von Lukas so zuverlässig Jahr um Jahr versorgt werden?
Stößt er überhaupt an eine Grenze, findet er einen angemessenen Abschluss, nachdem er Paulus, den Briefträger Gottes die Höhle des Löwen, die christenfeindliche Hauptstadt Rom hat erreichen lassen?
Nein!
Der Weihnachts-, Oster- und Pfingstbrief endet nicht, sondern schenkt uns zum Schluss einfach Offenheit. Statt in einer tragischen oder pathetischen oder moralischen Wendung mit dem Martyrium des Paulus zu schließen, bricht die Apostelgeschichte schlicht mitten in seiner Verkündigung ab, und ihre letzten Worte heißen: „Ungehinderter Freimut.“
Und in dieser Wort- und Sachverbindung liegt alles, was wir uns wünschen und alles was wir weitertragen können, wenn wir die wirkliche Weihnachtspost gelesen haben.
Nicht die Angst und der verduckte, engstirnige Kleingeist derer, die sich als vermeintliche Verteidiger des Abendlandes aufführen, bezeichnen die Grundhaltung christlicher Menschen, sondern ungehinderter Freimut: Das ist das wirkliche Weihnachts- und Oster- und Pfingstgeschenk der Christenheit.
Weil Furcht nicht in der Liebe ist (1.Joh418) und weil wir an Den glauben, der unsere Macht nicht braucht, da seine Liebe allein schon mächtiger ist als alles!
Wir haben einen Freibrief erhalten, der Glauben und Ungläubige umfasst und der Angst und Einschüchterung auf keiner Seite mehr gelten lässt:
Das Kind von Bethlehem ist dieser Freibrief für uns.
Denn wer dieses Kind an Weihnachten feiert und es im Osterlicht vor sich stehen sieht, der weiß:
Hier ist Freude, die allem Volk widerfahren wird! Hier ist das unbezwingbare Leben erschienen, und ihm gehört die ganze Welt!
Amen
Heiligabend 2014, Christvesper, "Stille Nacht, Heilige Nacht", Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
Freude und Wehmut mischen sich heute, wenn die alten Lieder, die so viel Kindheit in sich bergen, erklingen - hier im Gottesdienst und hoffentlich auch zu Hause. In einem Lied, das es erst 1994 in den Stammteil des Evangelischen Kirchengesangbuches geschafft hat, verdichtet sich all das, was sich an Gefühlen, Erinnerungen und Sehnsüchten mit Weihnachten verbindet: der Duft von Kerzen und Tannengrün, leuchtende Kindergesichter und Tränen in den Augen der Großmütter und Mütter. All das verbindet sich mit dem Lied, das buchstäblich um die Welt ging und heute Abend in unzähligen Sprachen erklingt.
Orgel intoniert „Stille Nacht, heilige Nacht".
Manche mögen es nicht besonders. Gerade in evangelischen Gottesdiensten wird es kaum angestimmt. Zu süßlich, zu kitschig, theologisch zu flach, lautet bei vielen das Urteil, und sie denken dabei vor allem an den Halbsatz vom „holden Knaben im lockigen Haar".
Über Vorlieben lässt sich bekanntlich nicht oder trefflich streiten. Und ich erlebe es immer wieder, dass Menschen es mit echter Andacht singen, wenn es angestimmt wird. Vielleicht, weil sich darin die Sehnsucht nach Ruhe und Stille ausdrückt, die wir in unseren immer hektischeren Zeiten oft schmerzlich vermissen. Vielleicht, weil gerade dann, wenn wir mitbekommen, wieviel Leid und Not um uns herum die Menschen gefangen halten, die Sehnsucht nach Heilung, nach Heilwerden in uns wächst.
„Stille Nacht, heilige Nacht" - so still, wie sie das Lied besingt, war die Nacht, die Lukas in seinem Evangelium beschreibt, wahrhaftig nicht. Wir kennen aus zeitgenössischen Zeugnissen die Wirklichkeit zur Zeit der Geburt Jesu. Der römische Geschichtsschreiber Laktanz hat die Methoden der brutalen Steuereintreibung festgehalten: „Die Steuerbeamten erschienen allerorts und brachten alles in Aufruhr. Die Äcker wurden Scholle für Scholle vermessen, jeder Weinstock und Obstbaum wurde gezählt, jedes Vieh registriert, die Kopfzahl der Menschen notiert. In den Städten wurde die Bevölkerung zusammengetrieben. Alle Marktplätze waren verstopft von herdenweise aufmarschierenden Familien. Überall hörte man das Schreien derer, die mit Folter und Stockschlägen verhört wurden. Man folterte die Steuerpflichtigen, bis sie gegen sich selbst aussagten. Wenn der Schmerz gesiegt hatte, trieb man steuerpflichtigen Besitz auf. Es gab keine Rücksichtnahme auf Alter und Gesundheitszustand." Die „Stille Nacht" war himmelschreiend laut vom Schrei des Elends und der Unterdrückung. Der „holde Knabe" im Lied: ein hilfloses, armes Flüchtlingskind. Nichts Verklärtes, raue, harte Wirklichkeit. Deshalb allerdings feiern wir Weihnachten, weil Gott uns eben in der Welt, wie sie ist, aufgesucht hat, uns begegnen will: gerade dort ist er zu finden, wo Not und Leid die Menschen bedrängen. Und wenn, dann ist es nur darum eine „stille Nacht", weil Gott kommt, um den Jammer seiner Menschenkinder zu stillen. Weil er erhebt, was niedrig ist und die Gewaltigen, die Gewalttätigen vom Thron stößt, wie es Maria im Magnificat besingt.
Weihnachten, da feiern wir den Geburtstag eines Kindes in dunkler, notvoller Nacht. Und auf seine Weise passt das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht" sehr gut dazu, denn es ist ein Lied, das aus einer Not geboren wurde; und das auch eine leidvolle Geschichte hinter sich hat, hat man doch versucht, die Hälfte seiner Strophen der Vergessenheit anheimfallen zu lassen und hat bei zwei weiteren textliche Veränderungen vorgenommen. Im Gottesdienstprogramm finden sie alle 6 Strophen in ihrer ursprünglichen Fassung.
Ich lade Sie ein, ganz neu der Weihnachtsbotschaft in den Strophen dieses Liedes auf die Spur zu kommen - jenseits von Kitsch und falschem Weihnachtsglitter.
1. Stille Nacht, heilige Nacht!
Alles schläft, einsam wacht
nur das traute, heilige Paar.
Holder Knabe im lockigen Haar,
schlaf in himmlischer Ruh,
schlaf in himmlischer Ruh.
Das Jahr 1816 wurde das Jahr ohne Sommer genannt. Es ist in Europa, aber auch in Nordamerika ungewöhnlich kalt. Selbst im Juni schneit es hinab bis ins Flachland. Folge einer Naturkatastrophe im April 1815, als der Vulkan Tambora auf Sumbawa in Indonesien explodierte, dessen Staubmassen das Sonnenlicht nachhaltig von der Erdoberfläche abhielten. In Mitteleuropa fallen die Ernten aus. Millionen leiden an Hunger. Und dann ist es noch die Zeit, in der der ganze Kontinent unter den Folgen der napoleonischen Kriege zu leiden hat. Finstere, schwere Jahre. Wie zur Zeit des Kaisers Augustus.
Aber sind es nicht oft gerade die dunklen Stunden, die die Sehnsucht nach Licht und Besserung besonders stark aufleuchten lassen? Und sind es nicht gerade die Armen, diese Marias und Josefs der Welt, die dazu besonders prädestiniert sind?
In der Kärglichkeit des Dorfes Mariapfarr, südlich von Salzburg, schreibt im Dezember 1816 der Hilfspriester Joseph Mohr, 23 Jahre alt, unehelicher Sohn eines Soldaten und einer Strickerin, der seinen Vater nie kennengelernt hat, getrieben von jener unstillbaren Sehnsucht nach Geborgenheit und Heilwerden, ein Gedicht. Er nennt es „Stille Nacht, heilige Nacht". Er schreibt es und legt es in die Schublade des Schreibtisches, der als einziges Möbelstück neben dem Bett in seiner Stube steht. Anschließend geht er ins Wirtshaus und macht sich damit, wie so oft, bei seinem vorgesetzten Pfarrer unbeliebt. Der es missbilligt, dass Mohr ständig die Nähe der einfachen Leute sucht, Gitarre spielt und dazu deutsche Volkslieder singt, statt die lateinischen Messgesänge zu studieren.
2. Stille Nacht, heilige Nacht!
Gottes Sohn! O wie lacht
Lieb aus deinem göttlichen Mund.
Da schlägt uns die rettende Stund‘;
Jesus! In deiner Geburt!
Jesus! In deiner Geburt!
Joseph Mohr wird zwangsversetzt. Später übrigens noch weitere sieben Mal. Ein gescheiterter Geistlicher. Die einzige Konstante in seinem rastlosen Leben blieb das angeborene, schwere Lungenleiden. Im Jahr der Märzrevolution 1848 stirbt er. Unbekannt. Aber da sind wir jetzt noch nicht. Gott sei Dank. Denn eine Sternstunde der Menschheit steht bevor. Als Folge des Sterns über dem Stall von Bethlehem.
In Oberndorf, dem nächsten Versetzungsort, siebzehn Kilometer nördlich von Salzburg, begegnen sich zwei Menschen, die Weltgeschichte schreiben werden. Ausgerechnet am Heiligen Abend des Jahres 1818 versagt die Orgel der Pfarrkirche Sankt Nikolaus ihren Dienst. Es klingt banal, aber die Geburtsstunde des berühmtesten Liedes der Welt ist auf einen kaputten Blasebalg zurückzuführen. Zweieinhalb Milliarden Menschen werden in späteren Zeiten in aller Welt das singen, was jetzt entsteht. Zweieinhalb Milliarden, die bei aller Verschiedenheit in Sprache, Kultur und sozialem Umfeld eines gemeinsam haben: die Sehnsucht nach Frieden und Geborgenheit, nach Annahme und Heilwerden.
3. Stille Nacht, heilige Nacht!
Die der Welt Heil gebracht,
aus des Himmels goldenen Höh'n
uns der Gnaden Fülle lässt seh'n:
Jesus in Menschengestalt!
Jesus in Menschengestalt!
Schon vor gut 150 Jahren wurde diese Strophe unterschlagen. Mit der Begründung, das wäre doch alles für die einfachen Leute theologisch viel zu kompliziert. Aber das war nur vorgeschoben und stimmte hinten und vorne nicht. Vielmehr kommen im ganzen Liedtext keine spezifisch religiösen Elemente vor. Vor allen Dingen fehlt die gerade für die Katholiken so wichtige Marienverehrung ganz. Die Verse-Streicher spürten wohl eher, dass sich hier ein Aufstand anbahnte, der weit über Napoleon, Freiheitskriege und Revolutionen hinausging: Gott selbst verlässt seine goldenen Höhen, um unten, unter uns, im Krippenstall Mensch zu werden. Das roch unwiderstehlich nach Freiheit und Gleichheit für alle Geschöpfe. Das war gefährlich für den Status Quo, und musste deshalb gestrichen werden.
Doch zurück zur defekten Orgel. Zum Glück war das Malheur bereits vormittags festgestellt worden. Für Joseph Mohr war bei all seiner Eigenart und Unzuverlässigkeit völlig klar: am wichtigsten Kirch-Tag des Jahres musste es doch für seine Gemeinde Musik geben. Gerade in diesen bitteren, schweren Zeiten brauchten die überarbeiteten, ausgelaugten und hungernden Menschen doch hoffnungsfrohe Erbauung. Da erinnerte er sich. An seine Verse von vor zwei Jahren. „Stille Nacht, heilige Nacht". Könnte daraus nicht ein Lied zumindest mit Gitarrenbegleitung entstehen? Mit diesen Gedanken im Kopf und dem Papier in der Hand eilte er zum Haus des Organisten von Oberndorf, Franz Xaver Gruber. Ein begabter Musiker. Bevor dieser 1863 stirbt, bekommt er in Ansätzen noch mit, was für Auswirkungen die Zusammenarbeit der beiden für die Welt haben wird. Auch wenn er später noch 70 Kompositionen, Messen, Choräle und Kantaten schreibt, sein Meisterwerk bleibt die Vertonung von „Stille Nacht". Von ihm selber wissen wir, wie alles tatsächlich war, denn er hat die Entstehungsgeschichte des Weihnachtsliedes aufgeschrieben.
4. Stille Nacht, heilige Nacht!
Wo sich heut alle Macht
väterlicher Liebe ergoss
und als Bruder huldvoll umschloss
Jesus die Völker der Welt!
Jesus die Völker der Welt!
Joseph Mohr und Franz Gruber sahen sie jetzt vor sich: die Glieder ihrer Gemeinde, Arbeiter, Bauern, Schiffer, armselig gekleidet, sehnsüchtig hoffend auf ein anderes, besseres Leben; so verbunden mit allen leidenden Geschwistern auf Erden. Etwas wie eine leise Vorahnung auf die „Internationale". Auf Solidarität der Bedrängten in der Nähe und in der Ferne. Verständlich, dass deshalb auch sehr rasch die vierte Strophe gestrichen wurde. Vertrug sich doch das Bild von Jesus als dem Bruder aller Menschen und Völker schon mal gar nicht mit den Herrschaftsansprüchen der Machthaber in der Donaumonarchie oder in Preußen, später mit den Großmachtträumen des Deutschen Reiches. Zensur eines Textes, die heute noch wirkt. Im Jahr 1900, während schwerer industrieller Umwälzungen, ließ diese Missachtung der wahren Lebenssituation dem Dichter Boleslaw Strzelewicz so lange keine Ruhe, bis er die „Stille Nacht der Arbeiter und Arbeiterinnen" verfasst hatte. Darin heißt es unter anderem:
Stille Nacht, traurige Nacht,
rings umher Lichterpracht!
In der Hütte nur Elend und Not,
kalt und öde, kein Licht und kein Brot,
schläft die Armut auf Stroh, schläft die Armut auf Stroh!
Stille Nacht, traurige Nacht,
hast du Brot mitgebracht?,
fragen hungrige Kinderlein.
Seufzend spricht der Vater: Nein.
Bin noch arbeitslos. Bin noch arbeitslos.
Diese Molltöne des Lebens gab es auch bei den Besuchern der Christmette 1818 in Oberndorf. Die Bäcker mussten das Brot mit Sägemehl strecken. Säuglinge starben reihenweise. Nein, Mohr und Gruber riefen nicht zu sozialem Umsturz auf. Aber sie beriefen sich auf den konsequenten Abstieg des Herrn aller Herren zu den Kleinen im Stall. Erfolg war noch nie ein Name Gottes, wohl aber Gnade, Liebe und Trost.
Die Melodie musste deshalb in Dur sein. Mohr singt die Tenorstimme, Gruber den Bass, begleitet nur durch Mohrs Gitarrenspiel.
5. Stille Nacht, heilige Nacht!
Lange schon uns bedacht,
als der Herr vom Grimme befreit,
in der Väter urgrauer Zeit
aller Welt Schonung verhieß!
aller Welt Schonung verhieß!
6. Stille Nacht, heilige Nacht!
Hirten erst kundgemacht,
durch der Engel Halleluja
tönt es laut von ferne und nah:
Jesus der Retter ist da!
Jesus der Retter ist da!
Schonung statt Grimm, Heilung statt Strafgericht, das sollten die Besucher der Christmette erfahren. Schon bei den ersten Akkorden, so berichtet Gruber, ist die Gemeinde beseelt. Neben Bauern und Arbeitern sind es vor allem Salzach-Schiffer, verarmtes Volk. Bei der Schlusszeile stimmen alle mit ein: „Jesus der Retter ist da!" Auch für sie. Nicht nur bei den Hirten auf den Feldern in Bethlehem, sondern auch bei ihnen, in ihren elenden Hütten am Flussufer.
„Jesus der Retter ist da!" Und dann? Dann gerät das Lied zunächst in Vergessenheit. Erst 1832 wird es in Leipzig im Rahmen eines Tiroler Liederabends wieder auf geführt. Dann war der Siegeszug nicht mehr zu stoppen. Es verbreitet sich auf Jahrmärkten in Österreich, der Schweiz und Deutschland. Auswanderer nehmen es mit in die Neue Welt, wo es 1839 zum ersten Mal in der New Yorker Trinity Church erklingt. Heute ist es in 350 Sprachen und Dialekte übersetzt. Sechs Strophen über Jesu Kommen für alle - und für die Armen und Benachteiligten, für die, die unten sind, in den Slums, in den Flüchtlingslagern, in den Ställen dieser Welt an vorderster Front. Keine Komposition von Bach oder Beethoven kennen so viele Menschen, keine von Mozart, keine von den Rolling Stones, den Beatles oder Michael Jackson.
„Jesus der Retter ist da!"
In der heute verbreiteten Fassung heißt es: „Christ der Retter ist da!" - genauso wie es in der zweiten Strophe heißt „Christ in deiner Geburt".
Ursprünglich aber heißt es beide Male „Jesus", nicht „Christ". Wie ja auch in den „vergessenen" Strophen von Jesus gesungen wird, Jesus in Menschengestalt und dass Jesus als Bruder die Völker der Welt umarmt. Für Joseph Mohr war ganz klar, dass es genau darum in der Weihnachtsbotschaft ging: dass der Mensch Jesus sich unmissverständlich an die Seite derer stellt, die auf der Welt nichts gelten. Nichts anderes hat Jesus von Nazareth in seinem Leben getan und dabei immer wieder betont, dass er damit genau das tut, was Gottes Wille ist. Weil Gott ein Herz für die Gebeugten und Bedrängten hat. Weil er ihr Vater ist, genauso wie sein Vater. Gott will nichts anderes von uns, als dass wir Menschen sind, die einander als Schwestern und Brüder betrachten. Und da, wo wir das tun, werden wir, was wir sein sollen: Bilder, Ikonen Gottes, da leuchtet Gottes Wesen in uns auf.
„Jesus der Retter ist da!" Der Mensch, der uns den rettenden Weg zeigt - hin zu unseren Brüdern und Schwestern und damit zu unserem gemeinsamen Vater.
„Christ der Retter ist da!" - da schwingt ganz anders eher hohe Theologie mit, dogmatische Formeln vom Gottessohn, der sozusagen in einer anderen Liga spielt als wir alle. Oder da droht die Gefahr der Verniedlichung hin zum Christkind, das gerade in den gut bürgerlichen Wohnstuben für die Lieferung der Geschenke an die Kinder sorgt.
Nein, seitdem ich das Original dieses Liedes kenne, liebe ich es - gerade für seine handfeste Menschlichkeit, mit der es Weihnachten bedenkt, dafür, dass es unverblümt ausspricht, wo Gott zu suchen und zu finden ist, wem seine Liebe, seine Sorge zugedacht ist.
Für mich ist es eine weihnachtliche Kostbarkeit geworden: Dass Jesus als Bruder die Völker der Welt umschließt, dass er in seiner Menschlichkeit einen rettenden Weg aufzeigt, der zur Heilung aller Nöte führen kann, zur Versöhnung selbst da, wo unsere Vernunft kaum eine Chance sieht - man denke nur an die Situation in der Ukraine, in Syrien und im Irak, und auch in Israel und Palästina.
„Jesus der Retter ist da!" - auch heute, auch für uns; es kommt nur darauf an, dass wir diese Botschaft in unserem Leben, in unserem Alltag wahr sein und immer wieder neu wahr werden lassen.
Amen.
2.Advent 07.12.2014 Jesaja 35,3-10 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Advent - 7.XII.2014
Jesaja 35,3-10
Liebe Gemeinde!
Es hat vermutlich noch nie eine schönere Verheißung gegeben als das Wort an die müden Hände und wankenden Knie, an die verzagten Herzen und blinden Augen, an die Gehörlosen und Lahmen, an die stummen Zungen und die verdorrte Erde.
Wie der Prophet Jesaja da in wenigen Sätzen das Bild eines lebensunfähigen Köpers und einer lebensfeindlichen Welt zeichnet und wie er den abgestorbenen Gliedern neue Kräfte und neues Leben einhaucht und wie er in die unwirtliche Mond- und Monsterlandschaft zu einem herrlichen Spaziergang im Sonnenschein einlädt …, das ist meisterhaft und hinreißend.
So trösten wie diese Botschaft, so zünden wie dieses innere Hoffnungsfeuer können Worte eigentlich kaum je.
Wer die Verheißung Jesajas auf sich wirken lässt als Klang und Farbe, wer die wohltuende Aussicht in das behütete Land geheilten Lebens einfach fröhlich genießt, dem geht es allerdings wie manchem Betrachter großartiger Kunst: Er ahnt nicht, woraus die Schöpfungen hervorgegangen sind, die so entzücken.
Dass hinter schönen Bildern oft der Schrecken lauert, dass Albträume sich in den Augenweiden verbergen: das enthüllt sich dem ersten Blick des Wohlgefallens ja häufig nicht.
Man muss es schon anderswoher erfahren als vom spontanen Eindruck schöner Körper auf alten Bildern, dass deren Maler eigentlich nur an Leichen Hingerichteter den Menschenleib studieren konnten. Man muss schon wissen, wie viele Madonnen und himmlische Gestalten nicht einem musischen Ideal, sondern Bordellen entsprungen sind, in denen Huren und Stricher gegen Geld Modell für sie saßen. Man versteht es erst heute, warum ausgerechnet die schönsten Salons englischer Landhäuser zu tödlichen Aufenthalten wurden: Weil das betörend lebendige Grün der Wände und Tapeten so unglaublich viel Blei enthielt. Und wer es nicht gelesen hat, dass das in Kaiserswerth verbreitete Portrait Friederike Fliedners erst an ihrer Leiche gezeichnet wurde, der käme nicht darauf.
Hinterm Schönen steht in der Kunst also erstaunlich oft dessen Gegenteil.
Und das schöne Wort Gottes, das üppige, bunte, reiche Evangelium des Jesaja ist womöglich genau so ein Bild, dessen Leuchtkraft und Glanz, dessen unvergleichliche Perspektive und vollkommene Gestaltung erst richtig wahrzunehmen und wertzuschätzen vermag, wer auch das Schreckliche erkennt, das hinter dem Herrlichen liegt.
Dazu gibt der Prophet, der das strahlende Bild malt, ja selber den stärksten Hinweis.
Denn mit immer neuem Befremden hören und merken wir es wohl, wie er das Kommen, wie er die Erscheinung Gottes, die alles einrenken und geraderücken, die alles heil und heilsam machen soll, beschreibt: Nämlich mit dem einen - ganz störenden - Wort, dass Er kommt „zur Rache“?!
—— O weh! ……. Was soll denn das?
Wäre die frohe Botschaft nicht ein viel reinerer Klang, wäre das Bild der Erlösung nicht viel mehr aus einem Guss, wenn dieser Misston, dieser Fremdkörper nicht drunter gemengt wäre?
Wir würden uns an den hellen Aussichten auf ein gelingendes Leben und eine sichere Welt doch viel ungetrübter weiden und freuen, wenn da nicht solche Erinnerungen an die längst überwundenen, spätestens aber mit dem Eintreffen Gottes endgültig abgeschafften Vergeltungsbedürfnisse dazwischenfunkten. Kann man denn nicht einmal vom Himmelreich, vom höchsten Ziel der Weltgeschichte sprechen, ohne steinzeitliche Instinkte zu wecken?
Wir können das doch schließlich. Wir leben so lange in friedlichen Einrichtungen und Formen, dass wir gewaltfreie, ausgewogene Vermittlungsprozesse für das einzig mögliche Verfahren halten. Wer unter uns anderen etwas heimzahlen, wer ihnen einen Denkzettel mitgeben will oder die Umkehrung ihrer Lebensverhältnisse und Erfahrungen wünscht, den betrachten wir als primitiven Analphabeten.
Und die nicht entschärfte Bibel, die nicht windelweichgewaschene Verkündigung der Propheten und Apostel von den Umwälzungen der Endzeit im Zeichen der Gerechtigkeit Gottes, die wirkt auf uns wie ein provokantes Manifest der Taliban. ——
Doch ist unseres eben nur das halbe Bild, so wie wir es sehen:
In unserm Bild herrscht Frühlingswetter, Wachstumswetter, das gemäßigte Klima geordneter Entwicklungen, die das Gute schon hervorbringen werden. Unser Acker ist voll von Unkrautvernichter, der Unerwünschtes im Keim erstickt, unsere Hilfsnetze fangen auf, so dass Unheil kontrolliert verläuft und ansonsten verdeckt unser Bildausschnitt glücklicherweise fast alles andere, das sich nicht halbwegs harmonisch darein einfügt.
Aber dieses Bild zeigt nicht die Wirklichkeit, sondern allenfalls deren Sonnenseite, retouchiert und koloriert.
Bei uns gilt es dem eigenen Anspruch nach ja nicht müde Hände und wankende Knie zu kräftigen und zu stützen, sondern Gesunde noch abwehrkräftiger, Starke noch robuster, Trainierte noch leistungsfähiger, Ansehnliche noch schöner zu füttern und zu ertüchtigen.
Das aber ist nun einmal eine gekünstelte Welt, die wir vor Augen haben, in der alles immer hübsch besser und bestimmt nichts genau anders herum werden soll.
Das Gesamtbild dagegen, in dem die tatsächlich restlos Erschöpften, die zum Sterben Hinfälligen, die untröstlich Verzagten vorkommen, das Bild, das uns zeigt, wie die Welt ohne jeden Hoffnungsschimmer aussieht, … wie zum Verrücktwerden feindselig, wie zum Rasendwerden ausweglos das Leben als Teil der Masse an Verdammten sein muss, die mit uns den Erdkreis bewohnen, … dieses Gesamtbild, das sich den Augen der ärmsten Milliarden bietet: das verdrängen wir nicht etwa nur, …. nein, das können unsere Augen tatsächlich gar nicht sehen! ——
Weshalb das so ist, habe ich als Kind beobachtet … und staune bis heute darüber.
Unser Nachbar in England war nämlich Dozent für angewandte Kunst … mit anderen Worten: Künstler. Für mich – das deutsche Heimwehkind – war Kunst damals der Blick, der die Wirklichkeit verklärt und ihre verschandelte Schönheit wiederherstellt. Sie sollte und sie konnte Ideale zeigen, sie konnte das Deutschland meiner Träume schöner machen, als es tatsächlich war: Schließlich verschlang und speicherte ich alles, was kitschig und anheimelnd von dem erzählte, was ich vermisste. Und wenn die Wälder und Menschen bei Schnorr von Carolsfeld und Ludwig Richter, bei Moritz von Schwind und dem Zigarettenbilder-Märchenmaler Paul Hey, bei Sulamith Wülfing und in der Häschenschule von Fritz Koch-Gotha so herzallerliebst waren ……. warum zum Kuckuck sahen die wunderbaren Landschaften, die unser Nachbar malte, so eckig und fleckig, so geometrisch und fehlfarbig, so verzogen und entstellt aus?
Ich vermutete, er könne es halt nicht besser.
Stutzig machte mich allerdings, dass er auch das Fach Landschaftsphotographie vertrat und ein bedeutender Photokünstler ist. Auf seinen Aufnahmen allerdings sahen Küsten und Moore, die ich kannte, ebenfalls durch und durch fremd, schief angeschnitten, sinnlos zergliedert, düster gerastert, … eben ganz und gar nicht „schön“ aus.
Dabei weiß doch jedes Kind, dass man die Kamera einfach nur auf das Sehenswürdige halten muss, das jeden Prospekt und jedes Album füllt, und wenn dann keiner wackelt oder durch’s Bild läuft, kann man selbst beinahe einen röhrenden Hirschen, ein Schwarzwälder Mühlrad, ein Alpenglühen mit Vordergrundedelweiß, ein Capri im Mondschein festhalten, das jedem Kunstliebhaber Tränen in die Augen treibt.
Warum konnte er das nicht? …….
Ich kam dahinter.
Er hatte nämlich ein Zimmer in seinem Haus, das wir nicht betreten durften. Ein nachtschwarzes Zimmer, das er einmal zeigte. Einen Raum der Finsternis.
Kein Wunder, dass die Wiedergabe der schönen Welt ihm selbst auf Photographien misslang. Er zog sie durch die Tinte. Er schwärzte sie ein. Er entzog der schönen Welt das Licht.
Ich misstraute seither seinen Bildern einer an sich doch taghellen Wirklichkeit, … kamen seine Bilder doch aus der Dunkelkammer! ———
Inzwischen ist mir allerdings klar geworden: Jedes Bild, das wir uns von den Dingen machen – sei’s ein bloßer Schnappschuss oder sei es wirklich der Versuch, den Horizont dieser Welt insgesamt zu erfassen – jedes Bild also, das wir uns von der Welt machen, muss durch die Dunkelkammer!
Die Wahrheit können wir nur erkennen, wenn ihre Darstellung auch die Finsternis durchlaufen hat. Ohne eine Entwicklung unserer Ansichten, die das schwärzeste Schwarz nicht ausspart, wird die Welt von uns nie wirklich gesehen werden.
Und darum werden wir nicht wissen und erkennen, was Gottes Heil der Welt hinzufügen und aus ihr tilgen wird, so lange wir nur ihre Sonnenseite vor Augen haben! ——
Das ist der tiefe Grund des leichthin gesagten Satzes, Not lehre Beten.
Das ist das heimliche - wenn auch unerträglich zynische - Recht an dem Satz, es ginge uns viel zu gut und erst eine Katastrophe werde uns wieder Frömmigkeit und Nächstenliebe lehren und die Kirchen füllen.
Es ist auch der Grund, wieso die Nacht der Völkerwanderung so viel Licht in den Klöstern und das Sterben des dreißigjährigen Krieges so viel Innigkeit des Glaubens entzündet hat, der selbe Grund, aus dem das Elend der Industrialisierung so viele diakonische Taten frommer Welt-Verantwortung hervorrief und die letzte Blüte evangelischen Lebens auf den Trümmern von Schuld, Krieg und Vertreibung aufging:
Das ganze Bild der Verheißungen Gottes erschließt sich eben erst denen, die in die Dunkelkammern geführt wurden und dort zum vollen Sehen kamen.
Erst Leid und Finsternis bringen dann nämlich jene Farben, jenes Leuchten hervor, die wir einstweilen in ihrer ganzen Schärfe, in ihrem wirklichen Kontrast einfach noch nicht erkennen können.
Daran erinnert uns das unheimliche Wort von der Rache, das mitten unter den sanften, therapeutischen Wohltaten, die Jesaja ankündigt und entwirft, wie ein Einsprengsel, ein Überbleibsel wirkt.
Doch die Rache Gottes ist kein zufälliger, sinnloser Zusatz zu dem ansonsten so friedlichen Bild vom heiligen Weg der singenden Heimkehrer. Sie ist der eigentliche Fluchtpunkt, der dem Panorama der wieder guten, wieder schönen Welt Tiefenschärfe verleiht!
Darum begegnet uns der Ausblick auf Gottes richtende, rechtende Rache bei Jesaja immer gerade dann am zuverlässigsten, wenn es am adventlichsten wird, etwa (Jes611f):
„Der Geist des HERRN ist auf mir,… zu verkündigen ein gnädiges Jahr des HERRN
und einen Tag der Vergeltung unsres Gottes, zu trösten alle Trauernden.“
Oder in der Einleitung zum ursprünglichen prophetischen Adventshymnus „O Heiland, reiß die Himmel auf“, wenn’s dort bei Jesaja (634; vgl.Micha 51 + 14!) heißt:
„Ich hatte einen Tag der Vergeltung mir vorgenommen,
das Jahr, die Meinen zu erlösen, war gekommen.“
Advent ist daher die Zeit, in der wir nicht nur das viele Schöne, das bevorsteht, sondern ebenso das versprochene Ende aller Schrecken und Qualen vor Augen haben sollten: Denn nicht nur auf das Nette bereitet der Advent uns vor, sondern mehr noch auf das Erschütternde, … dass das ganze Bild der Wirklichkeit, so wie die Dunkelkammer des Leidens es zeigt, in Gottes Licht getaucht wird.
Dass wir diese Dunkelkammer als Gemeinde im reichsten, sichersten Teil der Erde derzeit nicht kennen, ist nicht unsere Schuld, … ebenso wenig wie es ein Vorzug wird, wenn wir einzeln durchaus in’s Säurebad der Anfechtung und Not geworfen werden.
Aber eines wird uns doch durch die wunderschöne Aussicht in’s Land der sehenden Blinden und laufenden Lahmen, in’s Land der singenden Stummen und wasserrauschenden Wüsten offenbar:
Dort, wo die wirklich Lebensmüden und zu Tode Gehetzten, dort, wo die unendlich Geängsteten sind und keine Hoffnung mehr haben … dort beginnt der Advent, der Triumph der Rache Gottes, der die Verlierer und Verlorenen wieder einsetzen und die Hochmütigen und Gottlosen kleinlaut und vergebungsbedürftig machen wird.
Ihnen – für die er die Welt ganz verändern, ganz wiederherstellen wird – Ihnen flüstert und ruft Gott es heute schon zu, und sie sehen Ihn mit ihren blinden Augen, hören Ihn mit tauben Ohren, spüren Ihn in längst erstorbenen Herzen.
Da, in den Dunkelkammern beginnt sich das ganze Bild im Licht zu zeigen.
… Unten, am Grund des Mittelmeeres, wo die liegen, die es nicht nach Europa geschafft haben, weil Europa sie abdrängt. Da kommt der HERR hin und sagt ihnen: „Es gibt eine heiligen Weg, der nicht in den Tod, sondern ans Ziel führt. Kommt heim nach Zion!“
… Auf dem kurdischen Sindschar-Gebirge, wo die Jesiden eingekesselt waren und überall, wo die Flüchtlinge vor dem IS – seien es Christen oder Muslime – der eiskalten Witterung hilflos ausgesetzt sein werden, da ruft der HERR lauter als die Winterstürme: „Freude und Wonne erwarten euch und werden über euren Häuptern aufgehen, ohne je wieder zurück in die Nacht zu versinken.“
… Auf den Schlachtfeldern der Ukraine, in den Trümmern Gazas, in den nigerianischen Häusern und Hütten, wo sie auf Lebenszeichen der verschleppten Mädchen warten, überall in den Dunkelkammern lässt der HERR es hören: „Schmerz und Seufzen werden entfliehen, denn ich komme, zu vergelten und euch zu helfen.“ ——
Das halten manche für billige Vertröstung, für Weltflucht gar?
Vielleicht muss man so urteilen, wenn man immer noch nur die Sonnenseite sieht, wo gut schwadronieren ist, weil man dort die Hoffnung weder kennt noch braucht. …………
Das ist das halbe Bild.
Aber der zu Weihnachten, zur Tag-und-Nachtgleiche zwischen Helligkeit und Finsternis Geborene, der also denen im Licht kein bisschen mehr gehört, als denen in den Dunkelkammern, … der wird hoffentlich auch unsere blinden Augen öffnen und uns das Ganze sehen lassen!
Wie schön das wird!
Amen.
1.Advent 30.11.2014 Matthäus 21,1- 9 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent – 30.XI.2014
Matthäus 21, 1-9
Liebe Gemeinde!
Es gibt in der deutschen Sprache Delikatessen, die auf dem Gaumen ausländischer Gourmets ein Aroma verströmen, von dem wir nichts ahnen, weil wir unsere heimischen Wortfrüchte so unbedacht in den Mund nehmen und wieder ausspucken.
Unter diesen Delikatessen der deutschen Sprache also gibt es eine ganz und gar unverwechselbare Komposition, die uns flüssig über die Zunge rinnt und die wir trotzdem kaum auskosten. Fremdsprachige Menschen dagegen geraten in Entzücken über unsere Bezeichnung für Topflappen und Nachttische, für Mobiliar und Nippes, für Plunder und Designobjekte: Ich habe Amerikaner jedenfalls schon wollüstig schmatzen gehört, wenn ihnen das exquisite Wort „Habseligkeiten“ in seinen gewagten Zutaten klar wurde.
„Habseligkeit“ … Was für eine Verbindung: Materielles und Spirituelles, dingliches Besitztum und höchstes Gefühl, Mammon und Gottesgabe!
„Habseligkeit“: Natürlich wissen wir, dass es dabei gar nicht um Habe und Seligkeit, sondern um eine doppelte Verkleinerung geht – um „Habsel“ und z.B. „Kleinigkeiten“.
Aber wie die Seligkeit sich da einfach in den irdischen Hausrat eingeschlichen hat, wie in die Ärmlichkeit unseres Zeugs hinein das ewige Licht drängt …. das ist schon ein breiter adventlicher Fingerabdruck des Heiligen Geistes auf jeder einzigen Oberfläche. Die äußere Habe des Menschen wird da innerlich von der letzten Bestimmung seiner Seele unterwandert. Ein raffinierter Schmuggler hat das Ewige in unsere Banalitäten eingeschleust und dem Kram, den wir ernst nehmen, ein viel Ernsteres untergeschoben. ———
… Hab Seligkeit! ……… Vielleicht ist das ein Appell? …—
Aber bleiben wir zunächst doch bei den Dingen. Bei den Dingen, von denen wir überflutet werden, weil sie so überflüssig sind. Wenn es allerdings auf das wirklich Wichtige ankommt, wenn die unentbehrlichen Gerätschaften und Gegenstände des Hausrates zusammengelesen werden sollten, dann ergibt sich für uns heute ein fremd anmutendes Gedankenspiel, weil fast alles, das wir benutzen, auf schnelle Reparaturanfälligkeit und damit raschen Ersatz, auf Moden und maßlose Möglichkeiten angelegt ist. Und überhaupt haben wir ja alles selbst bei leichtestem Gepäck zwischen den Deckeln und Tasten des Zugangs zur virtuellen Welt: Auf Knopfdruck lässt sich bis übermorgen eine komplette Lebensausstattung beschaffen.
Aber das Gefühl, das den auf Abruf lebenden Menschen mit seinen Habseligkeiten verbinden kann, die er eines Tages doch wird loslassen und verteilen müssen, … auch das Gefühl, wie es wäre, wenn man auswählen und nur ganz wenige dieser Habseligkeiten mühselig mit sich fortbringen könnte, … dieses Gefühl ist als menschheitliches Urbild vielleicht noch nicht ganz aus den Abstellkammern des Bewusstseins verschwunden: Die Flüchtlingsströme, die dieses Jahr vor jedem Blick auftauchten, den man in’s Rund dieser Welt warf, haben es uns erneut in die Augen gestochen, dass nacktes, barfüßiges Leben, gebeulte Plastiksäcke und beliebiger Bettelkram auf krummem Rücken schon Bilder der Rettung sind.
Und wer Langsamkeit und Schmerzen erträgt, der konnte im Kino - sogar in Cannes - vier Stunden lang den Exodus aus Alt-Europa verfolgen, den Edgar Reitz unter dem Titel „Die andere Heimat“ gezeigt hat, als wäre 1840 gestern. Das stumme Sehnsuchts- und Abschiedsleiden, die wortlosen Trennungen, mit denen die Auswanderer nach Südamerika sich losreißen, die herzbeklemmenden Gepäckfuhren, in denen Aussteuer und Leichenhemden, alte windschiefe Erbstücke und völlig unnützer Ballast halsbrecherisch auf schwankenden Pferdefuhrwerken vertäut werden, die in endloser Reihe vorm weiten Horizont des ausblutenden Hunsrück ins Nimmerwiedersehen aufbrechen ……. Wer das gesehen hat, der weiß, was für eine pathetische Bewandtnis es mit unseren „Habseligkeiten“ haben kann. Wie ein paar alte Bretter am anderen Ende der Welt die Heimat verkörpern werden und wie eine Handbreit Leinwand, ein Krug, ein Topf von zuhause das Herz berühren müssen. ———
…….. Komische Nebenschauplätze für den 1.Advent! Wo bleibt da das Eigentliche?
Wie kommen wir da jetzt zur Sache? ……. Aber vielleicht ist das doch die Sache.
Vielleicht geht’s heute ja wirklich um einen Umzugswagen, der bereitsteht. Keine riesige Spedition - gewiss - , ……. aber ein Aufbruch und Ortswechsel, der seinesgleichen sucht.
Wenn nämlich traditionell seit Jahrhunderten der 1.Advent im Zeichen des Einzugs in Jerusalem gefeiert wird, … und wenn ausgerechnet dieses Ereignis des überraschenden, irritierenden und trotzdem lauthals bejubelten Einzugs eines Eselreiters in der Heiligen Stadt als einziger Bericht der Evangelien an zwei besonderen Tagen der kirchlichen Bußzeiten – zu Beginn der Advents- und zum Ende der Passionswochen gefeiert wird – , … wenn also der Empfang, der Jesus beim Eintreffen bereitet wird, so überragend bedeutsam ist – dann muss neben dem Einzug ja wohl auch der Auszug bemerkenswert sein! ——
Diesen Auszug allerdings, diesen Aufbruch hinein in den Geburtskanal des Adventstunnels und hinaus in das Weihnachtslicht an dessen Ende zu bedenken, ist ein zugegebenermaßen rutschiger Weg, auf dem man mir nichts, dir nichts in der nebligsten Spekulation landen kann und den festen Boden des offenbaren Wortes der Bibel verlässt. —
Und trotzdem wagen wir’s, indem wir uns den Einzugsbericht vor Augen halten, uns den Auszug vorzustellen. —
Da ist also der Möbelwagen am Urquell und Ziel aller Dinge.
Der Möbelwagen, auf den Gott seine Habseligkeiten packen wird.
Doch was kommt mit?
— Die Herrlichkeit Gottes, für die in der biblischen Sprache das hebräische Wort „Kavod“ steht, was so viel wie Würde, Gewicht, Anziehungskraft, ja Schwerkraft bedeutet?
Nein. Die Herrlichkeit bleibt da.
… Leichtes Gepäck, nichts, das schwerer wiegt als eine winzige menschliche Zelle. In die hinein – in den kleinsten Kern des Menschseins – wird die ganze gewichtige Gottheit Gottes gepackt werden: In eine Eizelle im Mutterleib! Wie wenig Platz das braucht! …….
— Kommt dafür wenigstens die Macht mit, die schöpferische Allkraft Gottes, die Überlegenheit über alle Feinde, die Gewalt, die Recht setzt und Urteil geben kann?
Nein. Die Allmacht in ihrem unendlichen Umfang wird auch nicht mit auf die Reise gehen. Sie bleibt verwahrt zurück; der lange Weg wird ja überhaupt erst möglich durch den Verzicht darauf. Ungeschützt und ohnmächtig bricht Er auf und wird Er ankommen. Ein Lufthauch, ein Keim, ein Stein, ein Messer können Ihm lebensgefährlich werden – und am Ende werden drei Nägel und der rostige Kopf einer Lanze stärker sein als Der, der die Allmacht daheim ließ! …….
— Wie steht es dann aber mit dem Mysterium, das Ihn in Seinem Reich einhüllt, … mit dem fressenden Feuer, das vor Ihm hergeht (vgl.Ps503), mit der Furcht, die sich ausbreitet, wo immer Er Seine Stimme hören lässt, Seinen Arm ausstreckt? Wie steht es mit der Heiligkeit, die Ihn durchdringt und tiefer zu Ihm gehört, reicher ist, vollkommener, als wir es je ahnen werden?
Nein, auch sie – Seine ureigenste Eigenschaft, Sein alleiniges Eigentum – findet sich nicht bei dem, was Ihn nun in die Fremde begleitet. Sie bleibt Ihm zwar treu und Er wird sie mit jeder Heilung, ja mit jeder Handauflegung verschenken, … aber freiwillig kommt Er dennoch ohne den Schutz und Schatz Seiner Heiligkeit an. Und Seine Feinde sollen in ihrem Hass und Hohn Recht behalten, wenn sie meinen, Ihn erniedrigt, verdorben, kontaminiert, infiziert, ja schließlich vernichtet zu sehen durch alles, was unheilig ist! …….
Was aber nimmt Er dann mit, was ist bei jenem Auszug dabei, der Seinem Advent, Seinem Eintreffen auf Erden vorangeht? – Die biblischen Eigenschaften und Werke Gottes, Seine Gerechtigkeit, Seine Hoheit, Sein Ruhm, Seine Herrschaft, Sein Name, Seine Weisheit, Seine Ehre: Sie alle lässt Er zurück …….! Und ebenso alles, was das Dichten und Denken der Menschheit sich als Hab und Gut, als Pfand und Siegel echter Gottheit vorstellen mag: Die Leidensunfähigkeit und Überlegenheit, die Jenseitigkeit und Unsterblichkeit Gottes, den ganzen Zierrat und Komfort, die Kronjuwelen und Statussymbole des menschlichen Gottes-bildes …, sie alle suchen wir vergebens im Inventar Seiner Übersiedlung, Seines Ortswechsels aus der Herrlichkeit in’s Irdische.
Gott reist mit bloßem Handgepäck aus. Ihm reicht Herzgepäck.
Liebe!
— Kein sonstiges Machtmittel, kein weiteres Werkzeug, kein Schutz, kein Vorrat, kein Kapital. Keine einzige Habseligkeit!
Mittellos und blank kommt Er an.
Nichts weist Ihn aus als den Herrn der Herrn. Nichts bringt Er in Seiner neugeborenen Gestalt, in Seiner Kinderarmut, in Seinem ruhelosen Wanderleben, in Seiner Großzügigkeit eines Habenichts, in Seinem schutzlosen Menschsein mit.
Denn genauso ist er auch schon aufgebrochen: Wie einer, der abhängig ist von denen, die ihn schließlich aufnehmen.
… Wie Johnny Trotz im „Fliegenden Klassenzimmer“, der vom Vater über den Ozean geschickt wurde und dann im Hafen sehen musste, ob und wer ihn etwa in Empfang nahm.
Dieser ungeheuerliche Auszug, bei dem einer sich aller seiner Habe entäußerte, bei dem keine Sicherheit, kein Rückfahrschein zurückbehalten wurden, sondern alles auf die Karte eines möglichen Willkommens am fernen Ziel gesetzt wurde, ……. dieser ungeheuerliche Auszug, angetrieben und ausgestattet mit nichts als der Liebe, ist der Hintergrund, vor dem wir Advent und Palmsonntag erst richtig einordnen können.
Denn eigentlich ist es ja kurios, dass die Gemeinde Jesu zweimal im Jahr an ein Ereignis zurückdenken soll, das – wenn’s hoch kommt – einen halben Vormittag, vielleicht auch noch kürzer dauerte.
Das „Hosianna!“ für den Bettler auf dem geliehenen Lasttier, der leicht entfachte und ebenso leicht verwehte Volksfestjubel, die stürmische Zuneigung, mit der die Straße ihre Helden feiert und alsbald vergisst, … diese ganze Geschichte von den flüchtigen Augenblicken, in denen Jesu Erscheinen einfach nur ungeteilte Hochstimmung auslöste und ungetrübte Freude hervorrief: sie wird wirklich bedeutsam vor allem, wenn man weiß, in welchem Missverhältnis dieser kurze Glücksmoment der Begrüßung zum unumkehrbaren Entschluss des Aufbruches steht!
Gott hat alles verlassen, um bei uns zu sein – und anderthalb Stunden lang wurde es Ihm im Licht der Öffentlichkeit ungeteilt und allgemein gedankt!
Gott hat sich auf Gedeih und Verderb dem Empfang ausgeliefert, den Er bei uns Menschen finden würde, … Er hat sich auf Schusters Rappen und einem geborgten Müllervieh aus der Unsichtbarkeit Seines Reiches aus lauter Liebe auf den roten Flickenteppich der menschlichen Gegenliebe begeben … und am Ende der Woche war der Gefeierte tot. ———
Wenn darum immer, immer wieder verkündigt, betrachtet und besungen wird, wie Er damals auf dem gutmütigen Esel als ein kurz beachtetes und schnell verdrängtes Zeichen des Friedens, der bedingungslosen Versöhnung und rückhaltlosen Hingabe erschien, dann hat diese Erinnerung an den Einzug in Jerusalem jedes Mal das Zeug zur echten Bußpredigt.
Denn jedes Mal stellt sie uns vor die Frage, ob wir Ihn jetzt angemessen aufnehmen, ob wir Ihn endlich empfangen, wie es Seinem Aufbruch und Auszug entspräche, oder ob wir weiterhin ahnungslos ein bisschen gaffen, ein Weilchen klatschen, ein wenig kopfschüttelnd oder meinetwegen auch sentimental den Botschafter einer anderen Macht als der Macht betrachten und dann weiter machen wollen mit der Macht und den Machenschaften dieser Welt.
Der Einzug in Jerusalem, den wir zweimal jährlich feiern sollen, gibt uns jedes Mal Gelegenheit, den Botschafter der reinen Liebe, denjenigen, der auszog, um von der Welt und darum: von uns beherbergt und aufgenommen zu werden, so anzunehmen, wie es sein sollte.
Nicht vorübergehend, sondern für immer.
Weil Er ohne alles andere, nur mit seiner Liebe gekommen ist, um die Welt und darum: uns zu verändern.
Denn das ist die radikale Absicht Seines ganz auf uns angewiesenen und ausgerichteten Kommens: Zum Bleiben ist Er hier; und um den Verzicht auf alles, was nicht dem Frieden, nicht dem Leben, nicht der Gerechtigkeit und darum nicht dem Bleiben dient, durch Seine unendliche Liebe und zu unserem Besten zu ermöglichen.
Dieser bettelarme Mann auf dem Esel ist gekommen mit dem Angebot:
„Lass mich ein.
Wenn ich wirklich bei Dir bleiben darf, dann wirst Du erleben, wie die Welt neu wird.
……. Also komm, liebe Welt.
Nimm mich auf.
Und hab’ Seligkeit!“
Amen.
Ewigkeitssonntag 23.11.2014 2.Petrus 3,8-13 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 23.11.2014
2.Petrus 3, 8-13
Liebe Gemeinde!
„Es geht zuende“, ist ein Schreckenssatz, … meistens.
Einige von uns haben ihn noch im Ohr, als wäre er gestern geflüstert worden. Er klingt selbst dann wie ein Paukenschlag, wenn er bloß tonlos durch ein Nicken am Fußende des Bettes bestätigt wird, außerhalb des erlöschenden Blickes vom Kissen.
„Es geht zuende“, ist ein Schreckenssatz, der manchmal trotzdem der letzte Anker bleibt: Wenn alles so quälend wurde, dass im letzten Frieden letzter Trost liegen wird.
„Es geht zuende“, ist ein Schreckenssatz, der als unhörbarer Oberton jede Note der Lebensmusik begleitet: Vom ersten Pochen des ungeborenen neuen Herzens über jeden Schlag und Puls während der Tage, die kommen sollten, bis zu den Rhythmusstörungen, den Aussetzern, dem Stolpertakt, wenn’s ausklingt. Jeder Atemzug singt heimlich davon, dass dieses feine kleine Lebenslied von Herz und Lunge, von Leib und Seele nur endlich ist.
„Es geht zuende“, ist ein Schreckenssatz.
……. Und ist das Evangelium.
Denn das steht nun einmal fest: Das Evangelium von Jesus Christus, dem Erlöser der Menschen, ist das Finale der Welt und bringt sie an’s Ziel.
Daran erinnern wir uns zwar nur selten, aber heute, am Schlusspunkt dieses Kirchenjahres, in der Gegenwart der jüngst Leidtragenden und frisch Trauernden aus unserer Mitte, heute wird es uns tatsächlich nicht als Droh-, sondern als Frohbotschaft verkündet, dass alles Ding nur seine Zeit währt und dann vergeht.
Das versteht niemand besser als die, die den Schock der Endlichkeit und ihren Schmerz nicht mehr fürchten, sondern dulden müssen. Wo nämlich wirklich das Ende – oder was wir so nennen – eingetreten ist, da wird erst unmissverständlich klar, wie auch dies, nein gerade dieses nur zu ertragen ist, wenn alles zuende geht!
Wenn wir noch immer in der Welt der Heiden lebten, in der alles ewig ist – die Dinge und die Zeit, die Verhältnisse und die Erfahrungen – dann gäbe es ja keine Hoffnung: Wo alles für immer ist und bleibt, wo Dauer und Ausdehnung das Beste sind, was man sich wünschen kann, da ist der Tod als das Endgültigste die letzte Wahrheit.
Und für Menschen ohne Gott, für alle, die die vorgefundene Wirklichkeit verherrlichen und absolut setzen, ist ja tatsächlich die letzte Gewissheit in der Dauerhaftigkeit des Todes gegeben. Festhalten und festmachen können die, denen der Kosmos das Unendliche ist, sich eben nur am ewigen Nichts nach dem Sterben.
So dass die sonderbare Wahrheit sich ergibt, dass die Materialisten viel grenzenloser hinaus in die Ewigkeit denken als wir Christen. Während für sie die Wahrheit ihrer Anschauung unbefristet gilt, ja durch den Tod geradezu unerschütterlich gemacht wird, führt uns ausgerechnet die Vergänglichkeit einen ganz anderen Vorbehalt vor Augen:
Wenn die irdische Wirklichkeit, die wir erfahren, durch das Gesetz des Zuendegehens bestimmt ist, wie sollten wir dann ausgerechnet den Tod von dieser Regel ausnehmen?
Ist nicht gerade er – der Tod – ein Zeichen für das Vorübergehende der ganzen Schöpfung?
Ist nicht gerade er – der Tod – also eine Aufforderung, über die Einschnitte und Brüche, über die Bruchstücke und begrenzten Teilchen hinaus auf’s Ganze, auf’s Kommende, auf ein Neues zu hoffen?
Sollten wir wenn Petrus in seiner ersten Epistel schreibt, dass das Ende aller Dinge nahe herbeigekommen ist (1.Petrus47), also nicht eine ganz andere Ewigkeit erwarten, als jene Realisten, die sich mit der bekannten Welt abspeisen lassen?
… Nicht der Tod führt uns doch wohl in die Unendlichkeit, sondern die Ewigkeit wird den Tod beenden! ——
Wo uns aber diese entscheidende Umkehrung einmal aufgegangen ist – dass die Leute, die einvernehmliche Geduld mit der Wirklichkeit haben, Handlanger des Todes werden können, während jene, die deren Ende herbeisehnen, es um des Lebens willen tun mögen –… wo uns diese entscheidende Umkehrung aufgegangen ist, da lernen wir anders über einen verschämt unterdrückten Grundzug unseres Neuen Testaments zu denken.
Dieser uns peinlich dünkende Zug der biblischen Heilsbotschaft wird gerne und mit fachchinesischer Distanz „Apokalyptik“ genannt.
Als vor hundertfünfzig Jahren in der Kirche endlich mit den ungesunden Träumereien vom Himmel und den gefährlichen Schwärmereien derer, die ein besseres Leben herbeisehnten, aufgeräumt werden sollte, da begann man das Neue Testament so zu deuten, als sei es ganz auf’s Hier und Jetzt bezogen. Lebensbejahend, ethisch die erreichte Weltordnung stützend, nützliche Kräfte der Sittlichkeit und der seelischen Stabilität stärkend: so sollte das Evangelium wirken und gepredigt werden. Darüberhinaus Schweigen!
Dabei waren es keineswegs nur Verderber des Christentums, die ihm auf diese liberale Weise seine überweltlichen Schwingen stutzten.
Es waren auch edle, humane und große Gottes- und Menschenfreunde, die die Botschaft von der Endzeit und dem Vergehen dieser Welt beiseiteschoben, um sich ganz der „Ehrfurcht vor dem hiesigen Leben“ zu widmen: Allen voran Albert Schweitzer, dessen Gesinnung und Beispiel wir in höchsten Ehren zu halten haben. Ihm war die Hoffnung auf eine andere, eine neue Welt so fremd, dass er sie zu den unumkehrbar überwundenen, historischen Sonderbarkeiten der Bibel zählte. Eine Hoffnung und einen Trost, die die Wirklichkeit übersteigen, fand er in den seelischen Möglichkeiten der Kirchenmusik – eine tatsächliche Verheißung darüber aber besaß er nicht mehr. ———
Doch die Bibel hat sie trotzdem einfach nicht her- und aufgegeben, sondern behauptet und bewahrt: Ihr endgültige Hoffnung, ihre dem Ende geltende Hoffnung.
Und diese Hoffnung ist selbst neben dem, was Geist und Seele des Menschen auch an Gutem vermögen, noch besser; sie ist neben den hilfreichen Früchten von Moral und Kultur noch viel reicher und tragender. Sie ist nämlich das Vertrauen darauf, dass die Liebe Gottes trotz der allumfassenden Gewissheit und Gleichheit des Todes noch viel sicherer und stärker, viel gerechter und grenzenloser allen gilt.
Und weil sie eben das hofft – dass das tote Unendliche, das der Mensch kennt, von einem lebendigen Unendlichen, das er bisher nur ahnen mag, überboten und beendet werden soll – darum geht die christliche Hoffnung dorthin, wo alles andere fortläuft und aufgibt. ——
Darum sind wir heute, wo wir sind:
Im Geist an den Sterbebetten des letzten Jahres und aller Vergangenheit, die für uns noch nicht leer, sondern mit Schmerz erfüllt ist.
Wir sind an den Gräbern, die heute immer kleiner und gleichgültiger gemacht werden, und bedenken, besuchen sie einzeln.
Wir sehen sie noch einmal vor uns wie sie offen waren, in jenem Augenblick, der ein vorerst letzter sein sollte.
Wir sind mit Herzen voller Bewegung, mit Herzen, die sich nicht abstumpfen und verhärten lassen, sondern den gegenwärtigen, bitteren Kummer annehmen, bei denen, die dort ruhen.
Und von den vertrauten Orten, den Namen und Gefühlen, die nicht abgelöst und ausgelöscht werden sollen, wagen wir uns noch weiter in eine Richtung, die sonst niemand sucht.
Wir berühren in Gedanken und Gebeten die schrecklichen Orte, an denen Tod und Untergang in diesem Jahr so grausam gewütet und gewürgt haben wie lange nicht mehr. Die Schlachtplätze und Mordorte der heimgesuchten Menschheit, die vom Terror verwüsteten Landstriche, die Länder, die Häuser, die Herzen, in denen unnennbare Trauer Einzug gehalten haben, stehen uns vor Augen.
Überall, wo das Ende nahe ist, führt der Glaube uns hin!
Und wo wir dran stoßen, wo der eigene Verlust oder das Mitleid es uns deutlich machen, dass hier wirklich das Letzte eingetreten ist, da erhebt sich die biblische Botschaft der Hoffnung, des Trostes und Widerstandes und bezeugt dem Ende, dass sein Ende nahe ist!
Das ist die unvergleichliche, unbezwungene und unbezwingliche Kraft des christlichen Wandels und Tuns, die sich von der Macht der Vergänglichkeit niemals in den Irrtum der Vergeblichkeit treiben lässt:
Wäre der Tod nämlich wirklich das Endgültige, dann müsste man alle Trauer verkürzen und unterbinden, weil Trost und Hoffnung ihrerseits ja vom Endgültigen für immer beendet würden.
Und genau wie das Trauern um die Toten wäre auch das Sorgen für die Lebenden vergebens und alle Menschlichkeit und Menschenliebe müssten unweigerlich in absehbarer Zeit enden, wenn allen Menschen nur Vergessen und Vergessenwerden bevorstünden.
Eben das aber sehen wir ja auch überall und immer mehr: Dass Hoffnungslosigkeit für die Toten Gleichgültigkeit gegenüber den Lebenden hervorruft und dass wo den Fernen kein Gedanke mehr gilt, auch die Nahen nicht zählen.
Doch so schafft ausgerechnet die biblische, die apokalyptische Hoffnung auf das Vergehen der Sterblichkeit einen Eifer und Einsatz, einen Auftrag der Liebe, die sich in der verstreichenden Zeit nicht abwenden und ausruhen kann, sondern immer weiter wächst und aufgeht, je mehr Verlorenes zu retten ist, je mehr Verzweifelte zu trösten sind und Verschwindendes zu halten bleibt.
Das ist es, was uns Christen in jene einzigartige, widersprüchliche Doppelaufgabe treibt: Dass wir in unserem Wissen um das Ende Wartende und Eilende sein sollen.
Je länger der Tod nämlich währt – und das heißt ja: So lange die irdische Geschichte noch dauert – desto mehr müssen wir ausharren bei denen, die selber nichts anderes erwarten und uns nichts mehr hoffen lassen wollen.
Denn das Ende des Endes bleibt ja nicht aus, der Tod wird dem Tode ja nicht erspart, weil Gott sie nicht mehr herbeiführen könnte, sondern indem sie sich verschieben und die Schar derer, die den Tod für endgültig halten, immer größer wird, wird der Sieg Gottes immer unverzichtbarer und die Neuigkeit Seiner kommenden Welt immer strahlender.
Darum sollen wir aber keinen der Zweifelnden und keinen der Sicheren, keinen der Trost- und Hoffnungslosen, keinen der seelisch oder leiblich Toten je aufgeben, wie ja auch wir nicht aufgegeben, nicht verlassen werden.
Weil Gott es eines Tages schnell und für immer zuende bringen wird – das Trauerspiel der todverfallenen Menschheit – darum heißt es Warten, … Ausdauer, Hartnäckigkeit, Zuversicht für die Menschen Festhalten ……. und doch nicht der Dumpfheit verfallen, sondern Eilen, fröhlich, getrost und unbeirrt endlich das Ende des langen Atems Gottes in der alten Zeit herbeisehnen.
Wir sollen mit den erwartungslosen Menschen also verbunden bleiben und ihnen zugleich weit voraus sein!
Wir sollen am Vorübergehen des Todes nicht irre werden und dürfen es gerade darum unverzüglich herbeisehnen.
Uns ist in der Trauer treue Nähe zu den Verstorbenen und in der Vorfreude ein Überspringen aller Schmerzen, ein Vorsprung in das nie dagewesene Ewige gewährt.
Wir können in der alten Welt weit über sie hinaus der Verheißung einer neuen folgen.
Wir können unerschüttert alles vergehen lassen, weil noch viel mehr kommt.
Wir können in jenem alten Schreckenssatz, dass alles zuende geht, den Jubel über Gottes große Erneuerung hören.
Wir können die Schmerzen des Todes und die Katastrophe der Apokalypse als die Zeichen unendlichen Heils erkennen.
Wir können das Schrecklichste erleiden und das Beste empfangen.
Wir können sterben und leben, weil ein neuer Himmel und eine neue Erde uns erwarten, in denen Gerechtigkeit wohnt: In denen verbunden wird, was hier getrennt war, geheilt wird, was hier zerbrach, in denen gefunden wird, was hier verloren wurde und ewig werden darf, was hier vergänglich war. ——
Gewiss: Alles vergeht.
……. Gott aber kommt:
Der Vater, der den Tod vernichten wird, um die Schöpfung zu erneuern, der Sohn, der durch die Auferweckung der Erstling dieser Verheißung wurde, der Heilige Geist, dessen Atem wachküsst und lebendig macht, … Gott also kommt im Vergehen alles Alten, im Zerbrechen und Fortschmelzen alles Vergänglichen; Gott kommt an jenem Tag, der – wenn es sein soll – in Jahrtausenden von heute aus doch einfach morgen sein wird, … Gott kommt und schenkt uns allen neues Leben in Ewigkeit.
Amen!
Vorletzter Sonntag 16.11.2014 2.Korinther 5,1-10 Stadtkirche Jonas Marquardt - Im Rahmen einer Installation von Kriegsbildern und anderen Erinnerungsstücken an 1914-18 von Heinrich Brandt
Predigt Kaiserswerth Vorl.So. - 16.11.2014
2.Korinther 5, 1-10
Liebe Gemeinde!
Die jungen Gesichter – schneidig, schnöselig, schreckhaft – die den Krieg aufgeputscht herbei lächeln, ihn verschlossen abwehren, sich ihm finster ergeben anverwandeln oder von ihm sinnlos gezeichnet werden, ……. diese vielen Gesichter, die uns heute aus hundertjährigem Abstand ganz nahe kommen: Sie alle sind längst nicht mehr.
Obwohl sie meist namentlich bekannten Angehörigen der verlorenen Generation von 1914/18 gehören, weil darunter zahlreiche Bilder von Verwandten und Vorfahren aus unseren Reihen sind, obwohl uns also hie und da Züge begegnen, die sich vererbt haben und vertraut bleiben, sind es Fremdlinge, Portraits eines Geschlechtes, das uns entzogen ist.
Denn weder ihr Erleben, noch ihre Gefühlswelt teilen wir: Die Parolen und Propaganda – gerade auch der kirchliche Geifer –, von denen sie geprägt und verbraucht wurden, die echten Überzeugungen und die mörderischen Wetten, denen sie aufsaßen, können wir nicht nachfühlen. Dazwischen liegen so unendliche Ernüchterungen und Schmerzen, so viel Blut und Unheil, solche Abgründe des Entsetzens und der Sinnlosigkeit, dass die Einfühlung über die hundert Jahre hinweg beinahe versagt, genau wie sie kaum über die zweitausendfünfhundert Kilometer zwischen Düsseldorf und dem heutigen Donezk zu tragen vermag. ——
Todbereite, todgeweihte Menschen, Kanonenfutter und Beutetiere, geschwellte Heldenposen und im Regen rottende Schützengrabenkadaver: Das sind zwar geschichtliche und gegenwärtige Wirklichkeiten – uns aber berühren sie beinah nur wie albtraumhafte Gespenster.
……. Dass wir unsere Söhne in ganzen Jahrgängen dem Feind entgegenschicken sollten, dass jedes Milchgesicht von der Schulbank weg zum Töten abkommandiert und mit Hurra verabschiedet wird, dass uns halbstarke Jungs auf der anderen Seite einer Schlachtlinie als auslöschenswerte Gegner erscheinen sollten …….. unvorstellbar!
Und doch haben wehrhafte Verteidigungsbereitschaft und das letzte Mittel bewaffneten Eingreifens zum Schutz von Hilflosen ihre Notwendigkeit offenkundig bis heute nicht verloren.
Was für uns demnach bloß ein fernes Weltkriegsgedenken heraufbeschwört, das ist weltweit verbreitete Wirklichkeit und tagtägliche Tragik.
Wir blicken also nicht in den schwarz-weißen Nebel der Vergangenheit, sondern in die Schrecken des Lebens.
Und eben mit diesem Blick, der einerseits das ahnungs- und harmlose Davor betrachtet und andererseits den unwiederbringlichen Verlust im Danach schon kennt, … mit diesem Blick, der mehr sieht, als die Zeugen des Großen Krieges seinerzeit sehen konnten und mehr als die heute in Kämpfe Verstrickten, … mit diesem Blick wird uns gänzlich mulmig zumute in der bedrückenden und gleichzeitig entrückten Gegenwart ihrer aufgehängten, schwebenden, ungreifbaren Bilder.
Leben und Untergang, Zukunft und Vernichtung, Unbeschwertheit und Schuld über unseren Häuptern. ……. Blutige Schlachtfelder, giftiger Hass und perverse Sünden des Christentums hinter uns, geisteskranke Greuel des Islam, niederträchtiger Nationalismus, menschenverachtende Gewalt vor uns! ………… ————
„Darum seufzen wir auch und sehnen uns ….“ – Manchmal kann Paulus uns angesichts der ausweglosen Verhängnisse in diesem irdischen Leben direkt aus dem Herzen klagen!
Doch seine spürbare Reisemüdigkeit, sein Verlangen, aus den Lebensverhältnissen der Sterblichkeit auszuziehen, die Zubehör seiner Wanderschaft abzulegen und dorthin heimzukehren, wo er mit himmlischem Behagen das Gewand der Erlösten anlegen wird – diese Sehnsucht ist bei Paulus nicht Resignation.
Er verkörpert nicht die matte und anämisch-blasse, die etwas welke Weltflucht, die häufig mit der Botschaft vom Himmelreich verbunden wird und die manche Zeitgenossen des 1.Weltkriegs in ersatzreligiöser Weise ergriff.
Dieses bisweilen larmoyante und affektierte tædium vitæ – also der Lebensekel – mit dem sensible Seelen auf die schonungslose Aggressivität und säbelrasselnde Verblödung Europas am Vorabend seiner Selbstverstümmelung reagierten, ist bestimmt nicht die Sache des Paulus!
Er flüchtet nicht in den Plüsch fürstlicher Schongemächer, wo er wie Rainer Maria Rilke Schönes findet und macht; er züchtet nicht in delikater Atmosphäre eine künstliche Welt wie Hugo v.Hofmannsthal; er überlässt sich nicht dem Zwiespalt zwischen verwirkter Unschuld und rauschhaftem Exzess, wie so viele der „Wanderer zwischen beiden Welten“*, die am Grauen ihrer heillosen Erfahrungen charakterlich, moralisch und physisch zerbrachen.
Das geschmackvoll arrangierte Leiden an der Brutalität und nackten Härte des Daseins, das mich als sechzehnjährigen poetischen Parfümschnüffler und Honigschlecker fast süchtig nach dem kleistrigen Sirup der Weltschmerzdichter machte, liegt Paulus fern.
Eine so mitleidlose Zeile wie diejenige, die in dem als elegischen Trost missverstandenen Herbsttag-Gedicht Rilkes begegnet, hat mit des Paulus Wanderweg nach Hause nichts gemeinsam: Bei Rilke heißt es - kühl und ungerührt! –
„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“.
Das ist in seiner vorgetäuschten Gefühligkeit umso verlogener, als unmittelbar darauf der schöngeistige Einsiedler in seinem Salon sich zeigt:
„Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, / wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben /
und wird in den Alleen hin und her / unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.“ …
Schnüffel!
Gegen dieses abartige Unbehagen aus zweiter Hand in der Sofaecke, das in den Privatbibliotheken und beim Medienkonsum sich über die bedauernswerte Störung des guten Geschmacks durch Giftgas und Leichenfleddern echauffiert, bietet Paulus einen groben Kontrast.
Er säuselt nichts von Ausweglosigkeit und Trauer, die er selber gar nicht ertragen muss.
Nicht „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“, sondern umgekehrt:
Völlige Obdachlosigkeit, völlige Ortlosigkeit, völlige Orientierungslosigkeit, völlige Ziellosigkeit kann es für den Apostel einfach nicht geben. Noch im schrecklichsten Leidensdruck und Weltweh, noch in der Sehnsucht nach dem Besseren und Bleibenden erinnert Paulus sich daran, dass jedem von uns tatsächlich zwei Wohnungen zugewiesen sind: Die mit der Zeit zwar immer morscher werdende, abgewohnte und verunstaltete Hütte dieser Wirklichkeit, die immer dürftigeren Fetzen dieses Lebens, durch die der Wind pfeift, bis nur noch das große Frieren bleibt – und dann die neue, in der Taufe angegossene und seitdem für uns maßgeschneidert bereitliegende Lebensdecke, das Lebensdach bei Gott, die uns ewigen Unterschlupf und ewige Geborgenheit finden lassen werden.
Doch auch wenn das eine grausam enttäuschen und beängstigend schwach werden kann – das geschichtliche Lebensgebäude, in das wir mit der Geburt einziehen und in dem wir alle unsere Tage zubringen –: Für Paulus ist es keine Möglichkeit, sich einfach aus dem Staub zu machen und gleich bei den Sternen einzuziehen.
Selbst in den Katastrophen des Lebens findet er nämlich noch ein Unterpfand für’s Durchhalten: den Geist, den Gott uns gegeben hat. Dieser Geist, der unser Dasein mitten in Anfechtungen, in Zweifeln und Verzweifeln mit uns teilt, der hält uns tatsächlich beim Leben; seine Wirkung und Botschaft sind so, dass sie uns sogar die bitterste, abgründigste Realität zu einem Ort machen, an dem wir Gott gehören.
So sehr man daher bisweilen von einem glatteren Weg durch das Dasein träumen und sich eine ganz andere, weniger böse, weniger schmerzliche Geschichte wünschen mag, so sehr hält Paulus daran fest, dass wir uns den Widersprüchen und Anstrengungen nicht einfach entziehen können: Sie sind der Raum, in den Gott uns gesetzt und gesandt hat.
Und wenn es also noch so viel zu seufzen, wenn es noch so viel Beschwernis gibt: Ausziehen und an den Nagel hängen, abstreifen und nicht mehr davon berührt werden, … das gilt nicht, wenn es um unsre Lebensgeschichte, um unser geschichtliches Leben geht. Wir müssen sie mit uns herum tragen mit allen ihren Flecken und Flicken; wie sehr wir auch herausgewachsen, wie schrecklich unpassend und abstoßend sie auch geworden sein mögen: Sie umgeben uns, so lange Gott will. Sie sind nicht abzulegen, – das ist bei allem Verlangen nach neuen Hüllen jene heilsame Angst davor, splitterfasernackt um bessere Einkleidung zu betteln – weil wir ohne unsere alte, lumpige und abscheuliche Vergangenheit und Gegenwart niemals zu der Zukunft kommen könnten, mit der wir einst überkleidet werden sollen.
Denn wir sollen ja nicht als unbeschriebene Blätter, als nackte Säuglinge in Gottes neuer Welt empfangen werden, sondern als bewanderte und bewährte Träger eines bestimmten Reisegewandes, auf dem die Spuren dessen eingezeichnet sind, was hinter uns liegt.
Wann immer wir also meinen, die unerträgliche Vorgeschichte unseres Lebens, die Altlasten unserer Herkunft und Vorgänger …, wann immer wir meinen, unsere eigenen Makel und Fehler abschütteln zu müssen, sagt Paulus uns deutlich:
Behaltet sie an, die Ihr doch nicht loswerdet. Ihr könnt nicht tun, als seien die Verbrechen Eurer Altvorderen, die Missetaten Eurer kriegshetzerischen Kirche und das ganze Elend Eurer Welt an der Garderobe abzugeben. Sie gehören tatsächlich auch auf Eure Schultern!
Aber – und nun erfahren wir, weshalb Paulus eben nicht resigniert, obwohl er es so genau kennt, dass man den alten Plunder manchmal verzweifelt gern hinter sich ließe – aber, so versichert uns der Apostel: Aber dran zerbrechen sollt Ihr dennoch nicht! Ich tu’s doch auch nicht. Vielmehr bin ich trotz allem getrost hier in diesem Leib, hier in Zeit und Raum, denn ich weiß: Dies ist noch fern vom Herrn!
—— Tatsächlich! Das ist der Trost des Paulus, dass er uns sagt: Die irdische Welt und ihre Geschichte sind nicht die Gegenwart Gottes, sondern Gott ist ihre Zukunft! ……
Noch sind wir nicht da, nicht fertig, nicht vollkommen, sondern unterwegs, auf Wanderschaft, in Irrtümern und Hoffnungen. Wir wallen, pilgern, schlagen uns durch, wir stolpern und schleppen uns ab, wir stöhnen und stammeln und stehen still.
Es ist aber alles noch nicht endgültig, nicht unveränderlich, nicht für allezeit vorüber, solange der Glaube uns und unsere Lasten trägt.
Denn dazu taugt er, dazu dürfen wir uns vom Glauben führen lassen: Dass wir eben nicht schon selber als Gestalten der Ewigkeit vortreten müssen, sondern noch in den vorübergehenden Erscheinungen der Zeit Fortschritte machen dürfen.
Noch ist durch den Glauben Zeit, unsere Fehler zu erkennen und unsere Grenzen.
Noch ist durch den Glauben Erlaubnis gegeben, die Abstände zur Wahrheit und Heiligkeit Gottes zu verringern.
Noch dürfen wir uns Ihm mit den bisherigen und wandelbaren, mit den schwierigen, schließlich zum Glück aber auch schwindenden Haken und Ösen, Schurzen und Fellen, mit all den stofflichen Verpackungen und Verschlingungen unseres Menschseins nähern, ohne in Seinem Licht schon verglühen und schmelzen zu müssen.
Hier glauben zu dürfen, einst aber zu schauen: Das ist die Erlaubnis, aber auch die Verpflichtung dazu, dass wir uns die Beschwernisse unserer Welt, die Lasten menschlicher Geschichte und Schuld, die vermaledeiten, tragischen Erlebnisse der Erdbewohner nicht so verdrießen lassen, dass wir sie schließlich leugnen und fliehen. Sondern mitnehmen müssen wir sie! Tragen und ertragen auf dem ganzen Weg bis wir endlich ankommen, wo wir hinwollen:
Aus unserer Vergangenheit und durch unsere Zeit in Gottes Gegenwart, daheim beim Herrn!
Das heißt aber auch: Unsere Heimat erreichen wir nicht ohne, sondern nur mit dem seltsam, ja unerträglich vermischten Gepäck aus Leben und Untergang, Zukunft und Vernichtung, Unbeschwertheit und Schuld.
Denn mit alledem müssen wir offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi und empfangen, was es wert ist.
Und mit allem, was uns zerrissen und verdorben ist, mit allem Zerstörten und Verlorenen wird unser Richter und Retter dann tatsächlich und für immer aufräumen!
Schließlich kann und wird ja nur Er an uns Menschen das Böse vernichten und das Gute bewahren.
Aber weil Er das kann, darum dürfen wir getrost sein, gerade wenn wir es vor Ihm nicht verbergen, sondern Ihm bringen. ———
Dazu wartet Er am Ziel der Geschichte ja auf uns!
Damit wir keinem Teil der Geschichte entrinnen. … Doch nur darum können wir sie ja überhaupt ertragen.
Weil sie uns selbst durch das Zerbrechen des Irdischen endlich nach Hause, zum Herrn führt.
Amen.
* So der Titel eines ungeheuer viel gelesenen und in der Zwischenkriegszeit bei den Erben der Jugendbewegung stilbildenden Kriegsberichtes von Walter Flex (1887-1917), der bereits 1916 erschien und durch Flex‘ „Heldentod“ zu einem Vermächtnis wurde, das bis auf die Urenkel kam.
Drittletzter Sonntag, 9.11.2014 1.Thessalonicher 5,1-6 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Drittletzter Sonntag - 9.XI.2014
1.Thessalonicher 5,1-6
Liebe Gemeinde!
Was wissen wir?
Können wir irgendetwas hieb- und stichfest erklären?
Können wir nachvollziehen, wie und warum es so gekommen ist?
– Gar nicht allgemein möchte ich fragen. Sondern ganz auf Tag und Stunde konzentriert: Wenn heute also der 9.November wiederkehrt und unsere Gedanken bloß das letzte Menschenalter abschreiten, dann stoßen wir so hart und namenlos an die Grenzen unseres Verstandes, dass Kopf und Herz bluten müssen.
Wer nämlich dürfte behaupten zu wissen, was diese jüngste Vergangenheit hervorbrachte, … deren Zeugen noch atmen und fühlen und doch die Wahrheit nicht kennen können. ——
Wann immer wir eine Erklärung hören oder glauben, stimmt nichts mehr:
- Sollte es wirklich einen germanischen Sonderweg des Untertanengeistes, der militaristisch kanalisierten Barbarei, des kulturellen Judenhasses gegeben haben, … eine verhängnisvolle Entartung, einen deutschen Defekt, der unter allen europäischen Nationen uns zu Mördern prägte?
- Sollte es ausschließlich der Irrsinn von Versailles, wo die Sieger von 1918 einem ganzen Land die Zukunft nehmen ließen, gewesen sein, der nicht nur rächende Bitterkeit, sondern den größten Blutrausch der Weltgeschichte auslöste?
- Kann man glauben, dass so wenige von dem wussten, was niemals aus dem Weltgedächtnis schwinden wird?
- Wiederum: Kann man glauben, dass so viele davon wussten? ——
…. Was wissen wir?
Wissen wir, weshalb in jenem Volk, das die schönste und vermutlich auch geliebteste und fruchtbarste Übersetzung der Bibel besitzt, die Heilige Schrift vor 76 Jahren öffentlich und ungehindert verbrannt wurde? — Nie, nie, nie wird das rational zu begründen sein.
Wissen wir, was vor sich geht in denen, die Menschenhaut gerben und Menschenköpfe stapeln und Menschenasche auf’s Stoppelfeld schütten? — Und dabei meinen wir nicht die Terrorschergen des Nordirak, die wir uns fremd und feindlich denken, sondern Männer, die mit uns die gleichen Jugendbücher gelesen haben, Kindergottesdienst besuchten wie wir, Kinderreime kannten, die wir heute noch am Bettchen singen.
…. Was wissen wir? ——————
Wäre also Achselzucken alles? Weil wir uns nicht erklären können, wie die Dinge wurden, was sie sind: Darum fragen wir nicht nach? Nehmen mit der Ahnungslosigkeit vorlieb? Überlassen uns geschichtlich gleichgültiger Apathie, die uns ungefähr so form- und ziellos leben lässt wie ein Fisch ohne Gräten, ein Vogel ohne Federkleid?
Nein! Wir fragen nach! Fragen immer wieder, … erwägen und beherzigen Erklärungen, … wenden und verwerfen sie zwar dann, … rätseln über all‘ das, was nie zu verstehen, nie zu wissen sein wird ….. aber wir fragen nach!
Fragen in jeder Generation neu bei den Alten, wie es aus ihrer Sicht und Weisheit war und wie sie mit der Unwissenheit und der Schuld leben.
Fragen jedes Jahr auf’s Neue, wenn sich festliche und wenn sich schwere Tage einstellen, fragen nach dem, was zu lernen und was zu hoffen ist, fragen nach dem, was sinnlos, ebenso wie nach dem, was sinnstiftend scheint, …. fragen, ohne je auf gültige, auf bleibende, auf letzte Antworten zu stoßen.
Wir fragen nach und mustern und sichten nicht nur die Alten, die Anderen, sondern auch uns selber: Kannst Du wissen, wie Du gewesen wärest oder sein würdest, da Du noch nicht einmal weißt, wer Du heute bist, Du ungewisser Mensch in Deinem Gewissen? ——
Fragen heißt Prüfen. Sich-Prüfen heißt Büßen. Büßen heißt Schweigen.
Fragen heißt Wenden. Sich-Wenden heißt Umkehren. Umkehren heißt Leben.
Wir wissen nichts! ……. Aber wir fragen!
Und solches Fragen ist die Eigenart christlichen Lebens in der Zeit, in der Geschichte.
Als Christen können wir nur Fragende sein.
– Wissende Christen sind irrende Christen. Und langweilig, todlangweilig sind sie obendrein:
Wenn sie uns erklären, wie genau sie Gott durchschauen, wie unmissverständlich sie Seine Gedanken lesen können, mit welcher Unfehlbarkeit sie Seine Entscheidungen vorhersagen, mit welcher Genauigkeit eines Schweizer Uhrmachers sie angeben können, wie was wann wo sich im Heilsplan Gottes ergeben wird, dann lügen unsere wissenden Geschwister.
Weil sie die zentrale Gewissheit, die seit Jesu Worten und den Tagen der Apostel unverändert gilt, verschweigen: Die zentrale Gewissheit, dass wir alle nicht wissen, wie und wann Gott Sein Gericht und Sein Heil endgültig wahrmachen wird.
Die zentrale Gewissheit, dass wir in Unsicherheit leben und alle Zufälle und Geheimnisse der Fügung immer nur daraufhin abklopfen können, was sie uns von der großen Spannung verraten, in der wir bis zuletzt schweben müssen: … Ein Dieb in der Nacht. … Ein unvermuteter Einbruch. … Ein Überfall aus dem Unsichtbaren. So wird es kommen – das Ziel der Geschichte, ihr Ausgang und Einmünden in Klarheit und Frieden.
Das ist die Grundlage alles dessen, was wir über Zeiten und Stunden, über Epochen und Daten, über Heute und Morgen wissen können:
Der treue Gott ist in allen Seinen großen Taten ein Gott der Überraschung.
So unbeirrt Er der Gleiche ist zu allen Zeiten, so wenig lassen sich Seine Geduld und Seine Entscheidungen, Seine Verborgenheit und Seine Offenbarung vorausberechnen. Er hält Seine Macht und Sein Eingreifen zurück und sendet Sein Wort und Seinen Geist aus, wenn man es am wenigsten ahnen und glauben mag. Er hinterlässt Spuren, wo man Ihn nicht vermutete, und hüllt sich in Rätsel, wo man Ihn am liebsten beschworen hätte.
Seine Wahrheit geht nicht auf in dem, was aus unserer Sicht Fakt und Logik ist.
Und darum sind die Fährtenleser, die Zeichendeuter, die Orakel und Feststeller bei Ihm immer auf dem Holzweg. Gott verrät sich nicht – was auch immer der Mensch glaubt, an völliger Eindeutigkeit in der Hand zu haben.
Die Sprache der Tatsachen bleibt Kauderwelsch, die Signale der Zeit bleiben trügerisch oder stumm in unserer menschlichen Übersetzung. Den Sinn, den sie bei Gott haben mögen, treffen wir Menschen in der Zeit nicht. ———
Doch das besagt nicht, dass sie allesamt sinnlos seien.
Zynisch und absurd wäre es, wenn wir Gott Zynismus und Absurdität unterstellten, weil wir nicht hinter das Geheimnis der Weltgeschichte kommen. Genau so amoralisch und unberechtigt wäre es allerdings auch, wenn wir die Katastrophen und Verbrechen unseres Geschlechtes alle von vornherein für letztlich von Gott gelenkt und verborgen entschärft hielten. …. Wäre es so harmlos, dann erwarteten wir Christen am Jüngsten Tag ja nur noch den heutigen Weihnachtsmann, der nichts als Lohn und Geschenke bringt. ——
Doch gerade die Kinder des Lichtes wissen, dass es ein Überfall und eine Erschütterung sein wird, wenn die Gerechtigkeit und Wahrheit Gottes endlich in dieser undurchdringlich unklaren Welt anbrechen. Und genau darum wachen sie und sind nüchtern – weil sie zu jeder Zeit und Stunde ahnen, dass es in schwärzester Nacht plötzlich tagen kann … und dass umgekehrt der hellste Glanz nicht ohne Todesschatten ist.
Darum also sind Christen Frager und Wächter:
Weil sie dem scheinbaren Frieden, der angeblichen Eindeutigkeit, den vollständigen Erklärungen und dem bequemen Vergessen nicht trauen.
Christen bleiben auf die erlösenden Überraschungen Gottes gerichtet selbst wenn alle anderen behaupten, ein Fall sei abgeschlossen, die Vergangenheit solle endgültig ruhen, die Hoffnung müsse wirklich begraben werden und der gewöhnliche Alltag der Unbekümmerten sei nunmehr das Gebot der Stunde.
Nein!
Wachet!
Seid nüchtern!
Bleibt unsicher, fragt weiter nach Gott, lasst Euch nicht einlullen und beruhigen. So wenig wir wissen und abschließend beurteilen können, was war, ebenso wenig können wir wissen, was wird.
Diese urchristliche Botschaft stellt das heutige Datum uns ja wie kein andres vor Augen!
Denn mitten hinein in die unerledigte Frage nach der Schuld unserer Vergangenheit hat der 9.November vor 25 Jahren die elementare Unvorhersehbarkeit der Geschichte bewiesen.
Was an diesem Tag vor einem Vierteljahrhundert geschah, das war so ungeheuer aufrüttelnd und bewegend, so maßlos beglückend für alle, die es erlebten und sich ihm nicht entzogen, dass man zweifellos sagen kann: Einen glücklicheren Unglückstag, mehr Gnade im Gericht, ein tieferes Aufatmen im Angesicht schrecklichen Unheils konnte und kann es nicht geben!
Dass die zweite deutsche Diktatur ausgerechnet an jenem Tag enden sollte, an dem die erste, unfassbar schlimmere vor Gott und der Welt den endgültigen, immerwährenden Fluch auf sich zog – das ist ebenso tief und namenlos rätselhaft wie das Unrecht dieser beiden Staaten, wie die Untaten zu denen unsere gar nicht ungeheuerlichen Verwandten und Vorfahren fähig waren und wir es folglich wären, … wie das gestörte, brüchige und abgründige Wesen Mensch insgesamt! ———
Was wissen wir darum?
Was können wir davon erklären und nachvollziehen?
Nur das: Dass es zum Himmel schreit, wenn die einen Leid und Schuld leugnen und vergessen wollen, die mit diesem 9.November einst begannen, und dass es ebenso zum Himmel schreit, wenn die anderen vergessen und leugnen wollen, welche Schuld und welches Leid mit diesem Tag einst endeten.
Dieses Ende und dieser Anfang hängen aber dennoch bis heute allenfalls unerforschlich und unergründlich zusammen. Dass eins dabei im andern aufginge, dass der verdiente Zusammen-bruch des kommunistischen Unrechts in irgendeiner Weise das Unrecht der Nazifrevel zu überwinden und vergehen zu lassen helfe, dass nun ein besseres, ein von Gott aus gesehen eindeutig gnädiges und gutes Vorzeichen über unserer Zukunft stehe …. wer das behaupten wollte, der wäre von jenen Lügengeistern, die sagen: „Es ist Friede, es hat keine Gefahr.“
Das Ende der Geschichte ist ja mit der Freiheit unseres ganzen Landes und Volkes beileibe nicht gekommen, und Gottes Urteile über unser Versagen und unser Bestehen sind noch nicht gesprochen.
Diese letzten Aufschlüsse über den Sinn aller Dinge, dieses endgültige Abschließen aller Schuld und Sünde – so wird uns immer wieder angekündigt –: Sie werden uns treffen wie ein Schlag! Alle Irrtümer und Lügen, alle falschen Sicherheiten wird Gott – der große Dieb und Plünderer in den verschwiegenen Verstecken des Menschen – uns entreißen! ————
Zwei Haltungen aber können die Fragenden und Wachenden, die wir sein sollen, schon heute einnehmen, weil nur sie heute schon zeigen, dass wir einst bereit sein wollen und werden für die ganze, verborgene Wahrheit. Das sind Scham und Dankbarkeit.
Was immer wir verstehen und was immer wir nicht verstehen: Wenn wir fähig werden uns auch des Unbegreiflichen, nicht selbst Verantworteten zu schämen und ebenso fähig bleiben, uns des nicht selbst Gewonnen und Unverhofften dankbar zu freuen, dann ist der 9.November ein Tag der Nüchternen und Vorbereiteten.
Das schrecklichste, was uns nämlich passieren kann, wäre dass wir tatsächlich verschlafen, wo, wie und wann die Dinge sich zutragen, indem wir keinen Anteil an ihnen nehmen.
Von der Thomasgemeinde in Kreuzberg, unmittelbar an der Berliner Mauer gelegen, war dieser Tage zu lesen, dass ihr Gemeindekirchenrat am 9.November 1989 tagte. In die Sitzung stürmte ein Augenzeuge, der von der plötzlichen wunderbaren Durchlässigkeit von Mauer und Todesstreifen stammelte. Man sah ihn – durch die Unterbrechung verwirrt – vorwurfsvoll an und beugte sich zurück über die Tagesordnung. —
So geht die Kirche an sich selbst zugrunde in der Stunde, in der sich die Welt bewegt!
Wachen wir, seien wir nüchtern, kritisch, skeptisch, lieber un-, als todsicher!
Doch das alles auf ein Ziel hin: Damit wir nämlich dankbar und beschämt, damit wir ratlos und hoffnungsvoll genug bleiben, um auf Gottes Einbrechen in die Wirklichkeit, auf Sein Gericht über die Geschichte der Sünder und Seine Gnade über die Sünder der Geschichte, um auf Seine Zukunft und Sein Heil, auf Seine Wahrheit und Vollendung zu warten!
Amen.
drittletzt. S.d.Kirchenj., 09.11.2014, Jona 3-4 i.A., Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Thema: „Wege und Umwege - die Umkehr Gottes"
Liebe Gemeinde,
kein Datum, kein Tag im Jahr ist für uns als Deutsche so besetzt wie der 9.November. Und gleichzeitig macht kein Tag die Zerrissenheit unserer Welt deutlicher als dieser eine, indem er uns beides in Erinnerung ruft : das absolute Grauen und die unerwartetste Freude.
9.November 1938: Reichsprogromnacht. Die Synagogen brennen, jüdische Mitbürger werden ermordet, in Konzentrationslager verschleppt, die Endlösung wird sichtbar.
9.November 1989 : fast nebenbei öffnet sich die Mauer; der Eiserne Vorhang - er ist nicht mehr; Menschen liegen sich in den Armen, sie lachen und weinen; die Buchstaben des Psalms 126 sind Fleisch geworden vor unseren Augen: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein." Wer hatte damals nicht das Gefühl teilzunehmen an dem Frühling einer neuen Weltgeschichte jenseits des Kalten Krieges, jenes Erbes des 9.November 1938?
Wer dachte nicht: endlich ein Sieg der Vernunft, der Friede kommt, endlich!
Doch die Ernüchterung kam schneller als gedacht: der Golfkrieg, das Völkermorden in Bosnien und Ruanda, die Eskalation des Terrors am 11.September 2001, die aussichtslos festgefahrene Situation in Palästina/Israel, und dann der Krieg in Syrien und wieder im Irak, das Schreckensregime des IS und dazu noch der Bürgerkrieg in der Ukraine, der die Welt an den Rand eines neuen kalten Krieges geführt hat. Da drängt sich die Feststellung auf: unsere Welt ist unverbesserlich.
Was lohnt es, sich für Menschlichkeit einzusetzen, auf Veränderungen hin zu arbeiten, wenn es einem am Ende geht wie Sysiphus in der griechischen Sage, der einen Stein mühsam bis zum Gipfel eines Berges empor wuchtet, um dann zu erleben, dass er ihm jedes Mal, wenn er gerade oben angekommen ist, aus den Händen gleitet und den Berg hinunterrollt? Ist der Lauf der Geschichte nicht eine Bestätigung für all jene, die irgendwann einmal den ganz großen Knall erwarten, den Weltuntergang, von Menschen heraufbeschworen? Gerade auch unter Christen gibt es nicht wenige, die so denken. Vor dem Hintergrund des kommenden Weltunterganges rufen sie auf, sich auf das „Eigentliche" zu konzentrieren, nämlich auf das Seelenheil, denn die Welt ist so und so verloren.
In der Bibel gibt es eine Geschichte, in der es auch um die Verlorenheit der Welt geht, um die Frage des offensichtlich unvermeidlichen Untergangs, die Geschichte von Jona und der Stadt Ninive.
Ninive war für die Juden des 5.Jahrhunderts, in dem die Geschichte entstand, die Stadt des Bösen schlechthin, Sinnbild der hoffnungslosen Verlorenheit und Verdorbenheit der nicht-jüdischen, heidnischen Welt.
Ninive - das ist eine Mischung aus Sodom und Auschwitz, moralisch verdorben, ansteckend böse, ein Zentrum der Tyrannei, ein Ort der Menschenquälerei, der Unfreiheit und Weltzerstörung.
Historisch war Ninive die Hauptstadt des assyrischen Reiches gewesen. Die assyrischen Herrscher waren sozusagen die Erfinder der Deportationspolitik gewesen, die auf diese Weise Kulturen und Völker auslöschten. Unter anderem auch das Nordreich Israel. Mit Ninive wollte und konnte kein Jude etwas zu tun haben. Ninive sollte dem Gericht Gottes gehören. Und dieses Gericht konnte nur heißen: Untergang, Vernichtung - um all des Bösen willen, was Ninive getan hatte. Der Untergang sollte die gerechte Strafe und Sühne sein.
Ich lese nun aus dem Jonabuch Kapitel 3.
„Danach erging das Wort Jahwes zum zweiten Mal an Jona: Auf, geh nach Ninive, der großen Stadt, und predige ihr, was ich dir sagen werde. Und Jona machte sich auf und ging nach Ninive, wie Jahwe gesagt hatte. Ninive aber war eine über die Maßen große Stadt, drei Tagereisen zu durchwandern. Und Jona begann, in die Stadt hineinzugehen, eine Tagereise weit. Dann predigte er: Noch 40 Tage, und Ninive wird untergehen.
Danach ging Jona zur Stadt hinaus und ließ sich östlich der Stadt nieder. Er baute sich dort eine Hütte und saß darunter im Schatten, bis er sähe, wie es der Stadt ergehen würde.
Und die Leute von Ninive glaubten Gott und riefen ein Fasten aus, und groß und klein legte Trauer an. Und die Kunde drang bis vor den König von Ninive. Da stand er auf von seinem Thron, tat seinen Mantel von sich und zog den Sack der Buße an und setzte sich in die Asche. Dann ließ er ausrufen und verkündigen in Ninive: Auf Befehl des Königs und seiner Regierung: Menschen und Vieh, Rinder und Schafe sollen nicht essen, nicht weiden und kein Wasser trinken. Sie sollen sich in Trauer hüllen, Menschen und Vieh, und mit Macht zu Gott rufen und sollen ein jeder umkehren von seinem bösen Weg und von dem Frevel, der an seinen Händen ist! Wer weiß, vielleicht gereut es Gott doch noch, und er läßt ab von der Glut seines Zorns, dass wir nicht umkommen.
Als aber Gott ihr Tun sah, dass sie sich abkehrten von ihrem bösen Weg, ließ er sich das Unheil gereuen, das er ihnen angedroht hatte, und er tat es nicht."
Aus der Geschichte vom Untergang wird eine Geschichte der Rettung, die Geschichte von der Rettung Ninives, von der Umkehr Ninives. Für uns eine schöne Geschichte, eine gute Wendung - vielleicht. Für die jüdischen Hörer und Hörerinnen im 5.Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung eine Zumutung, ein schlechter Witz: denn erstens ist Ninive real nicht umgekehrt; es wurde zerstört vom Nachfolge-Weltreich der Babylonier; Ninive wurde abgelöst von Babylon - auch als Symbolwort für Verderbtheit. Und zweitens musste es auch zerstört werden, denn das Böse konnte einfach kein anderes Ende nehmen, es musste doch eine ausgleichende Gerechtigkeit geben. Deshalb war es für jüdische Ohren unerhört, dass Gott ein Herz für Ninive hat, dass er sich der verderbten Welt zuwendet und das auch noch durch sein Volk Israel, dessen Repräsentant der Prophet Jona hier ist.
Israel muss sich damit sagen lassen: Ihr Juden seid nur dann das, was ihr sein sollt, nämlich Zeugen Gottes, wenn ihr es an der Seite der Welt seid, an der Seite Ninives, wenn ihr an die Veränderbarkeit der Welt glaubt und euch dafür einsetzt.
Das ist die Zumutung dieses Textes - damals an die Juden als das Volk Gottes - und heute auch an uns Christen.
Wer an den Gott Israels glaubt, der muss für die Welt hoffen. Der muss mit ihrer Veränderbarkeit rechnen. Der darf sie - um Himmels willen - nicht abschreiben, nicht aufgeben. Und schon gar nicht darf er auf ihren Untergang warten.
Eine Zumutung bis heute. Aber Gottes Zumutung an uns.
Wenn einer 1982, auf dem Höhepunkt der Nachrüstungsdebatte, gesagt hätte: der Warschauer Pakt kehrt um, er wird sich positiv verändern - wer hätte das damals für möglich gehalten? Moskau - das war für Ronald Reagen das Ninive der Neuzeit, das Reich des Bösen.
Doch das Undenkbare ist geschehen.
Und heute? Da heißt es an unsere Adresse: Hofft darauf, ja, erwartet und rechnet damit, dass sich in der islamischen Welt die Menschen durchsetzen werden, denen es einfach um Menschlichkeit und Gerechtigkeit geht. Ob die arabischen Völker den Weg der westlichen Parteiendemokratie wählen, das ist natürlich nicht klar. Aber: ist denn in unseren westlichen Parteiendemokratien alles so wunderbar? Könnte Beteiligung und freiheitliches Leben nicht auch andere Formen haben? Am westlichen Wesen wird die Welt - da bin ich mir ziemlich sicher - nicht genesen. Auf jeden Fall wäre es grundfalsch, die islamische Welt abzuschreiben. Weil sie auch Gottes Welt ist. Islam, Demokratie und Menschenrechte sind vereinbar, auch wenn viele es gerne anders sehen, weil es sich mit einem Feindbild bequemer leben lässt.
In unserem Text ist von völliger Umkehr Ninives die Rede - vom König bis zum Vieh. Und das Bemerkenswerte: es handelt sich nicht um eine religiöse Bewegung, es ist nicht von einer Änderung der Weltanschauung die Rede, sondern es geht um eine radikale Abkehr von dem Bösen: die Werke des Bösen werden nicht mehr getan. Keine Hinrichtungen mehr, keine Bombenattentate, keine Herstellung von Minen, keine Forschung mehr für den Krieg ...
„Ein jeder bekehre sich von seinem bösen Weg." Jeder einzelne ist angesprochen, die Taten Ninives nicht mehr zu tun. Jeder einzelne in seiner Verantwortung an seinem Platz, und so in seiner Verantwortung für das Ganze, für Ninive, für unsere Welt. Denn Ninive hat viele Ableger auch in unserer Gesellschaft.
Man kann fragen: macht das alles die Vergangenheit ungeschehen, die Untaten, das Unrecht von Gestern, für das es doch mit Recht nur die Ansage des Zornes Gottes geben konnte?
Nein - weder ungeschehen noch vergessen.
Aber unser Gott, davon ist der Schreiber des Jonabuches offensichtlich überzeugt, unser Gott ist kein Gott, der in seinem Zorn Recht behalten will, der auf seinem Zorn besteht.
Damit tut das Jona-Buch innerhalb des Alten Testamentes einen entscheidenden Schritt weg von einem Jahwe als Gott des Zornes hin zu Jahwe, dem Gott der Barmherzigkeit und Liebe.
Gott kehrt um!
Martin Buber formuliert in seiner Übersetzung: „Wer weiß, umkehren möchte der Gott, es möchte ihm leid sein, und er kehrt um vom Aufflammen seines Zornes und wir schwinden nicht." Und am Schluss wird dann diese demütige Hoffnung der Niniviten auf die Umkehr Gottes bestätigt: „Gott sah ihr Tun, dass sie umkehrten von ihrem bösen Weg, und - er bereute das Unheil, das er ihnen angedroht hatte, und er tat es nicht."
Ninive gibt Gott die Gelegenheit, sich als Gott der Liebe und Barmherzigkeit zu erweisen. Denn, so wird es fast 500 Jahre später von Paulus erkannt, Gott will, dass allen Menschen geholfen wird und dass sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.
Die Erkenntnis der Wahrheit beginnt nicht mit religiösen und theologischen Einsichten, sondern mit dem Erkennen des eigenen Weges, mit der Erkenntnis des Unrechtes der eigenen Hände.
Ninive bringt Gott dazu, sich als Gott der Barmherzigkeit zu erweisen. Eigentlich doch Grund zur Freude für Jona, für Israel, für uns. Jona hatte mit seiner Predigt „Erfolg". Wie hätten ihn Hosea und Jeremia beneidet, deren Predigtrufen zur Umkehr bei Israel und Juda kein Erfolg beschieden war und die den Untergang Israels erleben mussten.
Doch sehen wir uns die Reaktion Jonas an. Er hatte sich ja hingesetzt, um zu schauen, was mit Ninive geschehen würde.
Ich lese Kapitel 4,1-3.
„Das aber verdross Jona sehr, und er ward zornig und betete zu Jahwe und sprach: Ach, Gott, das ist's ja, was ich dachte, als ich noch in meinem Land war, weshalb ich auch eilends nach Tarsis fliehen wollte; denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen. So nimm nun, Gott, meine Seele von mir, denn ich möchte lieber tot sein als leben."
Eigentlich erschütternd: gerade das, was uns Gott doch groß macht, dass er gnädig, barmherzig, langmütig und gütig ist, das ist für Jona das Ärgernis. Von hierher entschlüsselt sich auch seine Gerichtspredigt an Ninive: sie sollte gar nicht zur Umkehr Ninives beitragen, sondern sie wollte nur Ninives Untergang herbeireden. Jona war erfüllt von Rache-, Zorn-, Straf- und Gerichtsphantasien. Und Gott sollte sie befriedigen.
Aber Gott widersteht Jona - und er widersteht auch uns, wo wir von solchen Vorstellungen erfüllt sind. Gott widersteht allen Versuchen, ihn aufzuspalten in eine „gute Seite", die er seinen Frommen zukehrt, und in eine „schreckenerregende Seite", mit der es die anderen, die Bösen zu tun bekommen. Es gibt - und Jona hatte es ja geahnt - nur eine Seite Gottes: Gott ist allen Menschen gegenüber gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte. Und als solcher geht er nun auch dem verärgerten, in seinem Zorn verbohrten Jona nach. Hören wir die pädagogische Einheit, die sich Gott für Jona einfallen ließ: „Gott ließ eine Staude wachsen; die wuchs über Jona und gab ihm Schatten und sollte ihn von seinem Unmut befreien. Und Jona freute sich sehr über die Staude. Aber am Morgen, als die Morgenröte anbrach, ließ Gott einen Wurm kommen; der stach die Staude und sie verdorrte. Als aber die Sonne aufgegangen war, ließ Gott einen heißen Ostwind kommen, und die Sonne stach Jona auf den Kopf, dass er matt wurde. Da wünschte er sich den Tod und sprach: Ich möchte lieber tot sein als leben. Da sprach Gott zu Jona: Meinst du, dass du mit Recht zürnst um der Staude willen? Und er sprach: Mit Recht zürne ich bis an den Tod. Und Jahwe sprach: Dir ist es Leid um die Staude, um die du dich nicht gemüht hast, die du nicht aufgezogen hast, die in einer Nacht aufwuchs und in einer Nacht verdorrte. Und mir sollte es nicht Leid sein um Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertundzwanzigtausend Menschen wohnen, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere?"
Gegen den Zorn Jonas kann Gott nichts anderes aufbieten als den Hinweis auf seine Liebe zu den Menschen, ja auch zu den Tieren, seine Liebe zu seiner Schöpfung. Und indem er darauf hinweist, lädt Gott Jona, Israel, seine Kirche ein, an seiner Schöpfungsliebe teilzuhaben.
Und wer wie Gott von solcher Liebe erfüllt ist, der wird an die Veränderbarkeit der Welt glauben, mit der möglichen Unmöglichkeit rechnen und dafür arbeiten. Der wird sich senden lassen wie Jona und sich - hoffentlich anders als Jona - über jede Veränderung hin zum Guten freuen.
Die Bekehrung Ninives meint: das Abwenden vom Bösen, das Tun des Guten; es meint erst einmal nicht: Ninive wird jüdisch oder christlich. „Jüdisch-christlich" ist allerdings unser Glaube daran, dass solches möglich ist aufgrund der Umkehr Gottes, der will, das allen, wirklich allen geholfen wird.
Amen.
Reformationstag, 31.10.2014, "Von der Freiheit eines Christenmenschen", Gr.-Recke-Kirche, Daniel Kaufmann
Von der Freiheit eines Christenmenschen oder: Nichts müssen - alles dürfen. Sprechmotette.
Alle: Wir evangelische Christen müssen nichts.
1: Zum Beispiel
Alle: Wir müssen nicht jeden Sonntag in den Gottesdienst.
1:Stimmt. Aber ihr dürft. So oft ihr wollt und immer wieder.
Alle Wir müssen auch nicht zur Beichte.
1:Stimmt. Aber ihr dürft. Zum Beispiel könnte ihr einem guten Freund oder Freundin euer Herz ausschütten.
Alle: Wir müssen auch nicht immer beten.
1:Stimmt. Aber ihr dürft. Zum Beispiel beim Essen.
Alle: Wir müssen auch nicht machen, was der Papst sagt.
1:Stimmt. Ihr habt keinen Papst. Ihr seid selber Papst.
Alle: Wir müssen auch nicht Kinder kriegen.
1:Stimmt. Aber wenn ihr welche habt, ist das auch in Ordnung.
Alle: Wir müssen uns nicht bekreuzigen.
1:Stimmt. Aber schaden tut´ s auch nicht. Ist nur ein bisschen ungewohnt.
Alle: Wir müssen nicht das Weihwasser nehmen, wenn wir in die Kirche kommen.
1:Stimmt. Aber ihr solltet die Mütze absetzen.
Alle: Wir müssen nicht in den Bänken knien.
1: Stimmt. Aber wenn ihr das bequem findet, geht das auch.
Alle:Wir müssen nicht im Zölibat leben.
1:Stimmt zumindest für die Pfarrer. Aber wenn ein evangelischer Pfarrer nicht heiraten will geht das auch.
Alle: Wir müssen auch nicht die Heiligen verehren.
1: Stimmt. Ihr seid selber Heilige. Und insofern auch eine Gemeinschaft von Heiligen.
Alle: Wir müssen auch nicht an Reliquien glauben
1:Stimmt. Das sind bestenfalls Erinnerungsstücke an frühere Zeiten der Kirche.
Alle: Wir müssen nicht zur Kommunion.
1:Stimmt. Aber ihr dürft zur Konfirmation.
Alle: Ihr müsst auch nicht gute Werke tun.
1:Stimmt. Aber ihr dürft dem Nächsten helfen.
Alle: Wir müssen nicht immer fromm sein.
1:Stimmt. Aber ihr solltet frommer werden.
Alle: Im Grunde genommen müssen wir Evangelische nichts und dürfen alles.
2:Stimmt nicht.
Alle: Wieso? Luther sagt doch: Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand untertan.
2: Ja, aber er sagt auch einen anderen Satz:
Alle: Welchen?
2: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Ding und jedermann untertan.
Alle: Und welcher stimmt jetzt?
2:Beide.
Alle: Verstehn wir nicht. Entweder man ist frei oder gebunden. Beides zusammen geht nicht.
2: Kommt drauf an.
Alle: Worauf?
2: Wenn die einzige Bindung Gott heißt, dann geht das gut zusammen.
Alle: Wieso?
2: Dann ist das wie mit einem Fundament, auf dem man steht. Oder wie mit einem Gurt, den ein Bergsteiger vor dem Absturz sichert. Oder wie mit einem Kompass, der einem den Weg zeigt.
Alle: Dann passen Freiheit und Bindung gut zusammen?
Evangelisch sein heißt: an Gott gebunden alles frei entscheiden. In Verantwortung vor Gott selbstbestimmt leben In der Bindung an Gott für alles frei sein.
Alle: Und?
2: Evangelisch sein heißt: Eigene Entscheidungen treffen. Entscheidungen, die einem keiner abnehmen kann.
Alle: Zum Beispiel?
2: Ob ich sonntags in die Kirche gehe oder nicht
Alle: Aha. Und was noch?
2: Ob ich meine Fehler bereue und um Verzeihung bitte oder nicht.
Alle: Aha. Und was noch?
2: Ob ich vor dem Essen bete oder nicht.
Alle: Aha. Und was noch?
2: Ob ich gut finde, was der Papst sagt oder nicht.
Alle: Aha. Und was noch?
2: Ob ich Kinder haben will oder nicht.
Alle: Aha. Und was noch?
2: Ob ich zum Beten knien oder stehen will.
Alle: Aha. Und was noch?
2: Ob ich heiraten will oder nicht.
Alle: Aha. Und was noch?
2: Ob ich mich danach richte, was die Kirchenleitung sagt oder nicht.
Alle: Aha. Und was noch?
2: Ob ich mir Gegenstände kaufe, die beim Glauben helfen oder nicht.
Alle: Aha. Und was noch?
2 :Ob ich zur Konfirmation gehe oder nicht.
Alle: Aha. Und was noch?
2: Ob ich dem Nächsten helfe oder nicht.
Alle: Aha. Und was noch?
2: Ob ich meinen Kindern von Gott und Jesus und dem Heiligen Geist erzähle oder nicht.
Alle: Aha. Und was noch?
2: Ob ich Menschen in Not helfe oder nicht.
Alle: Aha. Und was noch?
2: Ob ich politisch aktiv werde und meine Meinung sage oder nicht.
Alle: Aha. Und was noch?
2: Ob ich eine Gemeinschaft von Christen aufsuche oder nicht.
Alle: Aha. Und was noch?
2: Ob ich die Bibel lese oder nicht.
Alle: Aha. Und was noch?
2: Ob ich jemanden hindere, Böses zu tun oder nicht.
Alle: Aha. Und was noch?
2: Ob ich mein Leben für andere einsetze oder nicht.
Alle: Aha. Und was noch?
2: Ob ich glaube oder nicht. Ich entscheide selbst vor Gott und den Menschen, was für mich fromm sein meint. Und wie ich meinen Glauben in Verantwortung vor Gott und Menschen lebe.
Alle: Und dafür muss man evangelisch sein?
2: Dafür muss man evangelisch denken.
Alle: Kann man denn überhaupt anders denken?
2: Zu Martin Luthers Zeiten offenbar schon.
Alle: Wie haben die denn da gedacht?
2: Meistens eben eher weniger oder gar nicht.
Die haben das gemacht, was ihnen vorgeschrieben worden ist.
Alle: Aber heute ist alles anders?
2: Kommt drauf an.
Alle: Worauf?
2: Ob man evangelisch denkt. Ob man sein Leben vor Gott und den Menschen selbst verantwortet oder von anderen verantworten lässt.
Alle: Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand untertan.
2: Und?
Alle: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Ding und jedermann untertan.
2: Oder mit Augustin: Dilige et fac, quod vis.
Zu deutsch: Liebe Gott und dann mach, was du willst.
Alle: Na dann ist ja alles klar...
2: In der Tat. Und dann ist auch Zeit für ein klares Lied. Das singen wir jetzt: Ein feste Burg ist unser Gott...
Predigt zum Reformationstag: „Wir evangelische Christen müssen nichts und dürfen alles. Oder: Von der Freiheit eines Christenmenschen".
„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemanden untertan."
Diese Freiheit hat ihren Grund in dem Glauben, der uns das Herz Gottes erschließt, die Zuneigung und Zuwendung Gottes vergewissert und uns ohne jedes Werk gerecht spricht.
Diese Freiheit hat ihren Grund in dem Glauben, der wie ein Geschenk angenommen werden darf und kann und der uns die Freundschaft mit Gott ermöglicht. Diese Glaubensfreiheit ist nicht im 16. Jahrhundert erstmalig und neu vom Himmel gefallen. Sie hat ihre guten Vorläufer, wie Luther nicht müde wird mit zahlreichen biblischen Hinweisen und Belegstellen zu betonen.
Die Botschaft Jesu und sein Tun sind jedenfalls immer wieder davon geprägt, dass die Menschen die Freiheit der Kinder Gottes kennen lernen und dann auch einüben. Ähnlich deutlich ist dann bei dem Apostel Paulus von der Freiheit die Rede, die es gegen jede Form der Gesetzlichkeit und der Buchstabenknechtschaft zu verteidigen gilt.
Obwohl diese Glaubensfreiheit also eine stabile biblische Bezugsgröße war, ist sie über die Jahre zunehmend in den Hintergrund getreten, wie das schon mal vorkommt, wenn allzu Bekanntes von der Bildfläche verschwindet.
Und so musste Luther sie in seiner Zeit neu entdecken und ans Licht bringen. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemanden untertan."
Wenn es um die Glaubensfreiheit geht, dann kann und darf es nichts geben, was sich zwischen Gott und Menschen stellt. Kein Doktrin, keine kirchliche Lehrmeinung und Vorschrift, keine Zeremonien und Drohszenarien von Fegefeuer und Hölle, keine Bindung der Gewissen an was auch immer. Das haben die Protestanten bis auf den heutigen Tag bewahrt und ich denke auch zutiefst verstanden.
Ich gestehe, dass diese Glaubensfreiheit zu den kostbarsten gehört, was ich kenne und dass sie auch einen Großteil meiner christlichen Identität ausmacht. Vor nichts und niemand in die Knie zu gehen müssen, das ist wahrliche ein großes Vorrecht und Privileg. Das sorgt für eine Geradlinigkeit und Stärke und Zuversicht, die ihresgleichen sucht.
Das haben übrigens auch die katholischen Geschwister inzwischen sehr gut verstanden und aufgenommen, wie mir mein Lohauser Kollege in der Ökumene manchmal einigermaßen genervt zu verstehen gibt. „Ist ja gut mit Eurer Freiheit, die nehmen wir Katholiken uns inzwischen doch auch, unabhängig von Hirtenbriefen, Papst und dogmatischen Engführung sind wir der Meinung, dass es da Bereiche gibt, die durchaus auch in Widerspruch und in gegenteiliger Meinung zur Kirchenlehre stehen dürfen. Und wenn da eine Synode zu Familienfragen und Sexualmoral zwar eine Mehrheit, aber noch keine zwei Drittel Mehrheit bekommt, verbringen wir die nächsten Jahre eben in einer gewissen Spagathaltung, ohne das uns das Heil oder die Seligkeit dabei auch nur ansatzweise abhanden kommt."
Diese Sache mit der Freiheit ist großartig. Das haben auch die verstanden, die weder Protestanten noch Katholiken sind oder mit einen dieser beiden Konfessionen sympathisieren. Die Geschichte der Neuzeit, des sogenannten christlichen Abendlandes, ist eine Geschichte der Freiheit, die den Zugriff von Mächtigen, Herrschern, Königen und Kaisern und dann auch von staatlichen Einflüssen beschränkt, einschränkt, auf ein erträgliches Maß zurückschneidet und dem Einzelnen das Recht einräumt, dort Ja oder Nein zu sagen, wo er oder sie es für angemessen hält.
Das gilt neuerdings und einigermaßen aktuell auch für einen Kabarettisten wie Dieter Nuhr. Auch wenn sich die deutsche Toleranzgesellschaft in diesem Fall erstaunlich feige verhält, weil man ihr an den Lebensnerv, sprich an ihr existentielles Daseins- und Lebensrecht geht und in Aussicht stellt, dass man nicht nur mit den Füssen scharren will, sondern gegebenenfalls auch mit Terror oder anderen Angst auslösenden Aktionen tätig werden will. Dann soll um welchen faulen sozialen Frieden auch immer wegen geschwiegen und Rücksicht genommen werden. Obwohl es doch Sätze waren, die weniger zum Lachen als vielmehr zur Nachdenklichkeit Anlass gaben: „Der Islam ist ausschließlich dort tolerant, wo er keine Macht hat. Und da müssen wir unbedingt für sorgen, dass das so bleibt." Zu unser aller und vielleicht auch der Muslimen Trost sei hier übrigens angemerkt, dass dieser Satz lange Zeit analog auch für die christlichen Kirchen richtig war.
„Das Christentum war lange Zeit ausschließlich dort tolerant, wo es keine (Politische oder militärische) Macht hatte." Der von der Inquisition begleitete Missionsaufruf „Cogite intrare" (frei nach Lukas 14,23), zu deutsch: „Nötigt bzw. zwingt sie hereinzukommen!" hat jedenfalls auch im Gewand einer von Schwert und Fegefeuer begleiteten Nächstenliebe etliche Jahrhunderte für Angst und Schrecken im kirchlichen Kontext gesorgt.
Aber zurück zu unserem Ausgangspunkt: Mal abgesehen von diesen weniger mutigen Wegduckaktionen unserer Tage ist die Freiheit eines Christenmenschen nicht nur eine kleine, sondern eine grundsätzliche und elementare und fundamentale Errungenschaft unseres Daseins und unserer Gesellschaftsordnung und soll es auch bleiben.
Etwas anders, um nicht zu sagen komplett anders und weniger erfolgreich steht es mit dem zweiten Satz des Reformators.
„Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan."
Dieser Zweite Teil bezieht sich ja zweifelsohne auf die Tatseite des Glaubens und die hat bei den Protestanten einen ganz besonderen Ort gefunden. Die Werke sind beim Protestanten meist verborgen, sehr innerlich und auf jeden Fall ganz tief drinnen. Es mag ja sein, dass es da auch Einiges zu erzählen gäbe, und nicht zuletzt gehören ja die Diakonischen Werke hier in Deutschland schon rein quantitativ zu den größten Arbeitgebern. Aber, so haben wir es ja gelernt, das alles kann und soll und darf nicht den Weg zur Seligkeit verstellen, vernebeln, fraglich machen oder absichern wollen.
Der Weg zu Gott geht über den Glauben, und der ist ein Geschenk und da gibt es nichts, eben auch kein Werk der Nächstenliebe, was in dieser Hinsicht Gewicht gewinnen soll und darf. Und so ist es irgendwie bei uns Protestanten in Fleisch und Blut übergegangen, eine Art U-Boot Christentum zu pflegen: weitestgehend unsichtbar unter dem Wasser zu verharren und nur zu bestimmten Zeitenwie Weihnachten, Ostern, Taufe, Konfirmation, Trauung, Beerdigung aufzutauchen. Immer bemüht, nur nicht zu viel von dem zu zeigen, was den christlichen Lebensweg ausmacht, bestimmt und prägt. Es ist geradezu ein Ausweis der Rechtgläubigkeit, wenn uns der Satz begleitet: „Ohne das Konfessionsmerkmal auf Deiner Lohnsteuerkarte hätte ich nicht ansatzweise gemerkt, dass Du ein Christ bist, und schon gar nicht ein evangelischer."
Selbst diejenigen in unserem Staat, die sich eher außerhalb als innerhalb der kirchlichen Sozialisation wähnen, hätten es gerne bei dem, worum es bei diesem zweiten Punkt, nämlich der Dienstbarkeit, etwas konkreter. Bei den Philosophen hat sich weitestgehend die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Freiheit für den Menschen nie im absoluten Sinne gut ist, sondern nur in einer Beziehung zu etwas oder jemanden eine segensvolle Einrichtung sein kann.
Bei unserem Herrn Bundespräsidenten halten viele es für unbedingt erforderlich, neben der vielzitierten Freiheit und der durchweg auch betonten Verantwortlichkeit und Toleranz besonders auch noch die Gerechtigkeit anzumahnen. Ohne diese horizontale, stärker geerdete Ebene scheint die größte Freiheit, auch die Freiheit zu einer bestimmten Aufgabe doch vor allem zu einer Denksportart für die Privilegierten und Bessergestellten zu verkommen. Und deshalb soll die Freiheit also besser immer in Verbindung mit der Gerechtigkeit gedacht werden, einer Gerechtigkeit, die sich nicht nur, aber immer auch um einen Ausgleich der Schieflagen in einer Gesellschaft bemüht.
Martin Luther meinte noch, dies alles müsse sich doch organisch wie von selbst ergeben. Der gute Baum brächte gute Früchte. Ein guter Zimmermann macht gute Häuser, der Meister macht ein Meisterwerk. Wer im Glauben lebt, tut dem Glauben gemäß Gutes. Wer reich beschenkt worden ist, gibt davon doch gerne weiter. Wen Gott gerettet hat aus lauter Liebe, der dient Gott doch umsonst mit Freuden, freiwillig ohne Erwartung eines Lohnes, willig und eben aus jener Liebe, die ihn selbst so wunderbar frei gemacht hat.
„Mit Freude und Liebe geht der Christ an das Werk der freiesten Knechtschaft, wodurch er dem anderen umsonst und freiwillig dient, selbst überreichlich satt durch die Fülle und den Reichtum seines Glaubens." (Von der Freiheit eines Christenmenschen)
So ganz sicher war sich da allerdings auch Luther nicht. Die letzte 4-5 Seiten seiner Freiheitsschrift ermahnt er diejenigen, die ohne jede Konsequenz ihren Glauben leben wollten, die Libertinisten. Und gibt ihnen keinen Persilschein fürs wohlfeile Nichtstun, Vernachlässigen der Gebote oder der grundlegendsten Regeln des Zusammenlebens.
Er lässt vielmehr durchblicken, dass es neben der „billigen Gnade" möglicherweise auch eine billige Freiheit gibt, die sich zu wenig um den Anderen schert und kümmert und die die Gemeinschaft in ihren eigenen Saft verkommen lässt. Mag sein, dass zu Luthers Zeiten der erste Satz von der Freiheit eines Christenmenschen in besonderem Maße nötig und heilsam war, heute scheint es zunehmend dieser zweite Satz von der Dienstbarkeit zu sein, der uns vor ungleich höheren Herausforderungen stellt.
Es ist - um ein Wort von Margot Käßmann zu bemühen - nämlich noch lange nicht alles gut in unserem Lande. Nicht nur, weil irgendein Geheimdienst unsere am besten gehüteten Geheimnisse schon länger kennt. Auch nicht nur, weil Norbert Blüm mit unserer Justiz nicht zufrieden ist und ein Mindestmaß an Scham und Ehrgefühl vermisst. Und auch nicht nur, weil Flüchtlinge von wo auch immer von einem Unrechtstaat Deutschland sprechen oder mehr oder weniger berechtigt die Mitmenschlichkeit in unseren Breitengraden vermissen.
Als wären die Länder aus denen Sie unter Todesängsten dem Bombenhagel und der Terrorwillkür entkommen sind, Staaten der Nächstenliebe. Dies alles wird ja zuhauf und von unterschiedlicher Warte aus diskutiert, angeprangert und oft auch korrigiert.
Nein, es ist nicht alles gut in unserem Lande, unter anderem auch in unserer Kirche. Wir produzieren in den letzten Monaten einigermaßen merkwürdige Schlagzeilen:
Wir „schwimmen" wie man einerseits lesen kann „im Geld" und schleppen uns trotzdem wie man andererseits verlauten lässt von einer Sparsynode zur Nächsten. Wir sind ständig dabei zu regionalisieren, zu kooperieren und möglichst auch zu fusionieren, wollen alles noch effektiver und kostengünstiger machen und merken dann auf halber Strecke, dass uns dieser Weg nicht mehr, sondern weniger Gemeinschaft und noch weniger positiver Resonanz bei den Gemeindegliedern beschert. Wir hecheln der allgemeinen zunehmend bunter werdenden Sexualmoral einer modernen Patchworkfamilie hinterher und tun einigermaßen erstaunt, wenn uns in dieser Fragestellung kaum noch jemand als Wegweiser wahrnimmt, weil auch bei uns alles nach dem Motto geht: „anything goes." Irgendein Segen passt auch für Deinen Lebenszusammenhang.
Wir sind grundsätzlich für das Leben und Gott als letzten Erhalter des Lebens, lassen aber etwa bei der Frage nach der Sterbehilfe von oberster Stelle durchblicken, dass wir im konkreten Fall auch mal selber Schluss machen können und werden und dafür dann wie viele andere auch nach Holland oder in die Schweiz oder in ein Land fahren, in dem das geht.
Wir sind bei den großen politischen Fragen, etwa dem Einsatz von Waffen mehr oder weniger unsicher, ob wir uns darauf beschränken sollen, die Opfer zu verbinden oder doch „dem Rad in die Speichen zu greifen" (Dietrich Bonhoeffer) oder noch besser beides gleichzeitig in Angriff nehmen sollten.
Das Gemeindeglied sieht und hört diesen Ausführungen verwundert zu und fragt sich dennoch zurecht, ob es denn nicht doch noch etwas Substantielles und Wegweisendes von dieser Kirche zu erwarten gibt.
Auch in unserer Gemeinde sind wir in diesen Fragen der Dienstbarkeit noch lange nicht beim Stein der Weisen oder an einer Stelle angekommen, an der wir letzte Eindeutigkeit hätten oder über alles Bescheid wüssten. Wir sind vielmehr dabei, uns zusammen neu auf den Weg zu machen. Wenn man so will, sind wir gerade erst am Anfang.
Ehrenamtskoordinatoren sollen unserer Tatseite einen sichtbareren Ausdruck geben.
Damit wir hier nicht falsche Alternativen aufbauen:
Die institutionelle Diakonie ist gut und richtig und notwendig. Die Arbeit einer Reckestiftung, der Kaiserswerther Diakonie oder der Diakonie in Düsseldorf etwa, die ja auch in vielen Zusammenhängen schon gemeinsam geschieht, ist unersetzlich.
Und auch in unserer Gemeinde gibt es schon seit längerem viele ehrenamtlich tätige Menschen. Eine grobe Zählung weiß da von mindestens 400 Menschen zu berichten, die sich an vielen Stellen dieser Gemeinde einbringen.
Dennoch ist das Presbyterium der Auffassung, dass diese Tatseite mehr Aufmerksamkeit verdient. Was genau könnte es also mit der Dienstbarkeit eines Christenmenschen hier in Kaiserswerth auf sich haben?
Im Moment sind wir uns vor allem sicher, dass da jedenfalls noch Potential ist. Mehr als das, was wir auf vielen Zetteln und Konzeptpapieren als lohnenswerte Ziele schreiben könnten. Es wird gerade für die Zukunft unsere Kirchengemeinde hier in Kaiserswerth sehr davon abhängen, dass mehr Menschen als bisher vor Ort sich diese zweite Seite, nämlich die Dienstbarkeit eines Christenmenschen, wieder gesagt sein lassen und sich auf den Weg machen, sich zur Verfügung stellen, ihren konkreten Einsatzort und Stelle zum Engagieren und Mittun suchen und finden. Dabei wird es wichtig sein zu betonen, dass zum evangelischen Glauben die Verbindlichkeit, die Verantwortung, die Kontinuität in welchem Rahmen und in welchem Umfang auch immer zum Standard gehört und nicht zu eine exotischen Disziplin für christliche Workoholics verkommen darf.
„Die Evangelische Kirchengemeinde Kaiserswerth ist ein offener Garten, in den Jesus Christus alle Menschen zur Muße und Mitarbeit einlädt. Was wir hier empfangen, geben wir in der Tradition der Fliedners tatkräftig, praktisch, hoffnungsfroh und geduldig weiter."
(Leitsatz unserer Gemeindekonzeption)
Möge uns dieser für Muße und Mitarbeit in der Nachfolge Jesu gleichermaßen offene Garten heute einmal mehr und neu wichtig werden. Und im Anschluss an Luthers Freiheit und Dienstbarkeitsüberlegungen zu einer Gemeinschaft zusammenschweißen, die Salz und Licht hier in Kaiserswerth, Düsseldorf und Umgebung und warum eigentlich nicht auch für den Rest dieser Welt ist und immer wieder wird.
„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand untertan.
Und: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Ding und jedermann untertan."
Deshalb: „Dilige et fac, quod vis."
Liebe und dann mach was du willst, kannst, darfst, sollst, und ab und auch oder vielleicht auch das, was du tun musst.
Amen.
19.n.Trin. 26.10.2014 2.Mose 34,4-10 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 19.n.Trin. - 26.X.2014
2.Mose 34, 4-10
Liebe Gemeinde!
Entweder der wunderbare Gott Israels schließt auch uns in Sein Erbarmen…….
Oder Er überlässt uns dem Atheismus, in dem wir von Hause und Natur aus stecken, weil wir seit Jahrhunderten das dritte und vierte Glied nach Vorfahren sind,
- die erstens Gott zu einem finstern Aberglauben erklärten - das war im 18.Jhdt. -,
- die dann als Zweites Sein sogenanntes Wort als Literatur der orientalischen Antike bloßstellten - das war im 19.Jahrhundert -,
- und die dann endlich ein drittes Reich der Sünde wählten, in dem sie die letzten lebendigen Zeugen des biblischen Gottes vernichteten: Das war im 20.Jahrhundert, als das Volk des nicht erwiesenen Gottes, von dessen Offenbarung die Wissenschaft kein Wort mehr übrig gelassen hatte, in Auschwitz für seinen bereits ausgelöschten Gott mit dem eigenen Leben bezahlen musste. ———
Entweder also, dieser Gott Israels hat ein Erbarmen, das alles Erbarmen übersteigt und ist auch uns gnädig – oder wir kommen aus der Heimsuchung und Strafe, die uns gelten und gelten müssen, nie wieder an’s Licht, sondern bleiben wo unzählige unsrer Zeitgenossen verschuldet und unverschuldet stecken:
In der Finsternis nach dem Todes Gottes, in der Öde Seines Schweigens, in der Leere einer Welt ohne Horizont, eines Geistes ohne Gottesbezug.
— Aber wir werden unsere Väter doch nicht los?! …….
Ihre Art ist unsere, ihre Last tragen wir, ihre Kunst üben wir, ihr Wissen teilen wir. …
Wir müssen also wie sie – historisch und kritisch und voller Zweifel – an die Botschaft von Israels erbarmungsvollem Gott herantreten. ——
Und das Erste, was wir erfahren ist dieses: Sein Wort ist tatsächlich zerstört worden, ……. vernichtet und zerbrochen.
Das Original der göttlichen Urworte, die Welt und Menschheit für immer hätten ordnen sollen, ist unwiederbringlich verloren gegangen: Nicht im Getriebe der Jahrtausende, sondern im Blitz des Affektes.
Am ersten Tag, an dem die Wirklichkeit durch die zwei Tafeln der Gebote zum Aufbewahrungsort des Gotteswortes werden sollte, ist der Traum vom heiligen Wort in der Welt geplatzt.
Statt das, was Gott uns für alle Zeiten zu sagen hat, abzuwarten, haben die auserwählten Menschen gefeiert und angebetet, was sie selber eben gemacht hatten.
Das goldene Kalb des menschlichen Wahns hat das von Gottes eigenem Finger Geschriebene (vgl.2.Mose3216!) verdrängt.
So bitter sind tatsächlich die Folgen der in jeder Kinderbibel begegnenden Geschichte, die sich am Fuß des Sinai zutrug, während Gott zu Mose sprach und dabei selber festhielt, was Er sagte!
Wenn also die historisch-kritische Forschung seit zweihundert Jahren beharrt, dass man es bei der Bibel nicht mit heiliger Schrift, sondern mit Literatur von Menschen zu tun habe, … dann muss man ihr Recht geben!
Die Handschrift Gottes hat sich nirgends erhalten: das bestätigt die Bibel selbst. Wir leben seit dem Sinai ohne unwiderleglich echte, ursprüngliche Dokumente der Offenbarung!
Und dann das Zweite, das sich uns heute wie das Standbild einer berühmten Filmszene, wie eine jener unvergesslichen Photographien einprägen muss, die das Menschheitsgedächtnis bebildern und von denen die meisten beklemmend und schrecklich sind:
- Die verhärmte Mutter, die Dorothea Lange auf dem Höhepunkt der amerikanischen Depression 1936 photographierte;
- der im spanischen Bürgerkrieg gerade von der Kugel Getroffene, den Robert Capa im gleichen Jahr aufnahm;
- der kleine Junge, der sich mit erhobenen Armen und angstweiten Augen im Warschauer Ghetto den Gewehren der Wehrmacht ergibt;
- das schreiende vietnamesische Mädchen, dem die Napalmbomben die Kleider am Leib verbrannt haben;
- der Mann mit der weißen Plastiktüte, der unmittelbar vor die Panzer tritt, die auf den Platz des Himmlischen Friedens in Peking rollen
- .…… und der Mann, der mit zwei völlig leeren, nackten Tafeln auf dem Weg zu Gott ist!
Was für ein Sinnbild der Menschheit!
Der Mensch, dem der lebendige Gott auf Sinai so nahe kam, wie keinem anderen zuvor oder danach, hat die Botschaft nicht bewahren können – weder auf den Steintafeln, noch in seinem Geist. Beide Medien, die es damals gab, haben versagt. Äußerer und innerer Speicher konnten nicht festhalten, was ihnen Weltbewegendes, Entscheidendes, Ewiges anvertraut war. … Leere Tafeln. Keine Spuren. Keine Information. Nichts als blanke Oberfläche.
Erkennen wir uns darin wieder?
Ahnungslos, als gäbe es einfach keinerlei Möglichkeit, von und in Gottes Gegenwart irgendetwas zu wissen: So sind viele von uns auf dem Weg zu Ihm. … Stumme, unbeschriebene Blätter, wortlose Wanderer ohne Mitbringe – außer der beinahe schon provokativ freigelassenen Seite für etwaige Notizen, unter der Überschrift: „Sollte Gott womöglich geredet haben?“ (vgl.1.Mose31)
Ist das aber nicht genau, was unsere Väter des kritischen Denkens tatsächlich wollten?
Nur dass sie nicht zweieinhalb Jahrhunderte hätten drauf verwenden müssen, der Menschheit die fixen Ideen von Gott, die Erinnerungen an Ihn, die Aufzeichnungen Seiner Taten und Feststellungen Seines Willens auszureden und auszuradieren!
Die uralte Bibel selber zeigt uns ja, dass sogar Gottes bester Menschenfreund beim Aufstieg zu Ihm nicht anders unterwegs war als wir: Ahnungslos, … mit gelöschtem Gedächtnis.
Das Wort Gottes ist verloren und keine Erinnerung daran findet sich mehr.
Doch das ist nicht das Ergebnis der langen, schonungslosen Aufklärungsarbeit und ihrer entfesselten atheistischen Triumphe und tödlichen Folgen, sondern es ist das Bild, das die Bibel selber schon am Sinai, an Ort und Stelle der ersten Offenbarung schildert.
Wo immer es daher an uns liegt oder nach uns geht, da lässt sich nichts mit Gott verbinden, da bleibt einfach nichts von Ihm!
Noch einmal aber: Diese immer wieder schadenfroh als letzter Schrei der Vernunft und Wissenschaft gefeierte Vermisstenanzeige steht nicht am Ende der historischen Kritik des Glaubens, sondern sie ist der eigentliche und wahre Anfang der Überlieferung Israels und der Kirche!
… Denn dort, wo vom Menschen aus gesehen tatsächlich nichts ist und sein kann, … dort und nur dort zeigt sich Gott in Wahrheit!
Wenn es also möglich wäre oder wo es gar behauptet wird, dass wir die Wahrheit über Gott unumstößlich zur Verfügung haben, da hat man es immer mit Lüge zu tun.
Ehrlich sind wir nur, wo wir uns an unsere Goldenen Kälber erinnern, an die Ablenkungen und ausgetüftelten Selbsttäuschungen, an die Ersatzerlebnisse und Blendwerke, die wir vergötzen und bis zum Umfallen feiern, weil wir es eben nicht aushalten können ohne etwas Göttliches … und doch über nichts anderes verfügen, als nur das Selbstgemachte. —
Wenn wir so viel ehrliche Aufklärung über uns selbst, so viel Kritik an uns und unserer Art vertragen – dann sind wir vielleicht reif, vielleicht begnadigt genug, um mit Mose ohne alle sicheren Gewissheiten ein zweites Mal empor zu ziehen an die Stelle, von der Gottes verlorenes, weil vergessenes und verdrängtes Wort einst kam.
Und dabei müssen wir dann gar nicht leugnen, dass wir nicht mehr in ursprünglicher Direktheit unvermittelten Zugang zu Gottes Wort und Willen haben, wir müssen gar nicht so tun, als gäbe es da nicht die große Störung und Entfernung, die die Reinheit und Unmittelbarkeit zwischen Ihm und uns verdorben hat.
… Denn ausgerechnet durch die Störung, durch den Kälberdienst, durch die schreckliche, selbst- und fremdschädigende Gottespfuscherei, durch den ganzen Kult des menschlichen Atheismus, kommt es zur tiefsten Selbstvorstellung Gottes!
Ausgerechnet dadurch also, dass schon Mose und die Bibel nicht Gottes originalen, sondern Seinen zweiten Versuch, Sein Volk zu prägen und zu lehren, aufbewahren, tut sich vor uns eine anderweitig nicht erkennbare, verborgene Wahrheit Gottes auf.
Er selber spricht sie aus, als Er Mose in einer Wolke nahe kommt – dicht bei ihm und doch nicht sicht- oder greifbar.
Ja, Gott selber spricht sich aus, ruft laut Seinen eigenen Namen und beschreibt sich selbst in einer Eindringlichkeit und Offenheit, in einer ungefilterten Eindeutig- und Ausführlichkeit, die ansonsten überall in der Bibel ihresgleichen suchen.
Ist es nicht ein Paukenschlag nach so viel Negativem und Unbefriedigendem, nach so viel Unvollständigem und Verdorbenem, dass ausgerechnet hier und jetzt der größte, feierlichste Akt der Offenbarung des HERRN folgt, in dem Er Seine Barmherzigkeit und Gnade enthüllt, Seine Geduld und Treue und Seine tausendfältige Vergebung und gezielte, wohlweisliche Strafe an den drei, vier Geschlechtern, die vom Aufkommen bis zum Vergehen einer Wahnidee, eines Irrtums und Unheils verstreichen?!! ——
Was wäre also, wenn es kein Kalb, keinen Anti-Gott, keinen Atheismus gegeben hätte?
Wenn es einfach und endgültig bei alledem geblieben wäre, was Gott selbst verfasste und auf den ersten Tafeln beglaubigt hatte? Wenn wir also alles direkt von Gott zu wissen bekommen und auch tatsächlich für alle Zeiten gewusst hätten?
— Nun, …was immer man alles über Gott gewusst hätte: Nichts hätte man so von Ihm gewusst! Nichts hätten wir von Israels gnädigem Gott gewusst, wenn es beim ersten und ursprünglichen Anlauf geblieben wäre.
Man hätte nie erfahren, dass Er ein Gnadengott ist, dass die Barmherzigkeit des Gottes vom Sinai Seine unvergleichlich größte, herrlichste und für uns lebenswichtigste Eigenschaft ist!
Wenn nicht die Katastrophe der zerstörten Tafeln und der Fluch der verlorenen Gottes-schrift eingetreten wäre, – dann wäre es nie zum neuen Testament des Mose, zur zweiten sinaitischen Offenbarung gekommen.
Und diese Offenlegung des Gnadengeheimnisses, dieses Wort aus Gottes Mund, das die Schrift Seiner Hand für immer ersetzen sollte – es ist von erster und letzter Bedeutung für Israel und für uns und die Welt!
Für das jüdische Volk sind diese auch uns inzwischen so vertrauten, so unentbehrlichen und unverwechselbaren Klänge mit ihrer Melodie und ihrem Licht – „barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue“ … – für Israel sind diese Sätze die Hauptsumme, der Kern und das Gesamt seiner Theo-Logie, also seiner so sparsamen und zurückhaltenden Meditation über Gottes „Wie“, anstelle der Frage nach dem, „Was“ Gott will und fordert.
In ehrfürchtigem Nachsprechen und Nachdenken sind diese Sätze Silbe für Silbe, Wort für Wort zum gehüteten Augapfel, zum Herzstück des Vertrauens und Betens geworden.
Man nennt sie – nach der Zahl ihrer kleinen Sinneinheiten – die dreizehn „Middot“, sprich: Maße der Barmherzigkeit Gottes, und sie durchwehen den Gottesdienst der Synagoge … je ernster der Tag ist, desto inbrünstiger.
In diesen dreizehn Maßen der Barmherzigkeit, die Gott anders als bei den ersten Tafeln nicht mehr selber in den Stein grub, sondern die Er schließlich Mose aufzeichnen ließ (vgl. 2.Mose3427) – in diesen dreizehn Maßen der Barmherzigkeit Gottes ist also eine noch tiefere, wunderbarere Schicht der Wahrheit erkennbar, als in der Bezeichnung als „eifernder Gott“, die auf den verlorenen ersten Tafeln stand (vgl.2.Mose205).
Gott spricht diese Wahrheit nunmehr nur aus, … Er hält sie nicht mehr fest.
Das darf sein Schreiber Mose erledigen.
Doch nachdem wir historisch-kritisch erfasst haben, dass alle Schrift vergehen und zerlegt werden kann, bis sie keinen Inhalt mehr hat, erkennen wir nun den wahren Grund für Gottes gesprochene große, tiefe, erlösende Offenbarung. Steine und Pergament, Papier und alle anderen Träger der Wahrheit sind schließlich unzuverlässiger als das Eine, das nicht ver-geht: Das ist das Wort selber.
Des HERRN Wort bleibt in Ewigkeit (Jes408), und sie sollen es stehen lassen, und es wird stehen bleiben, wenn längst alles andere dahin und vorüber ist.
Und so wie kein Tag seit Sinai vergangen ist, an dem nicht Israel und die Welt davon gelebt hätten, so wird auch künftig nie ein Tag kommen, an dem nicht alles in allem in dem lebendigen Wort der Wahrheit gefasst, gegründet und gerettet wäre:
Wegen unseres Atheismus offenbart sich der wunderbare Gott Israels und schließt uns alle in Sein Erbarmen, das größer, weiter und herrlicher ist als alles sonst!
Amen.
18.So.n.Trin. 19.10.2104 Epheser 5,8-21 Jonakirche Jonas Marquardt
Predigt Jonakirche 19.X.2014 - 18.n.Trin.
Epheser 5, 8-21
Liebe Gemeinde!
Sind Aufwecker Sadisten?
— Wenn man auf unseren Konfirmandenfreizeiten morgens gegen halb acht eine Tür aufstößt und in die dunkle Stickigkeit eines Mehrbettzimmers die sportliche Einladung „Aufstehen!“ ruft - und dem Ganzen rein symbolisch durch das Anschalten des Lichtes nachhilft - , dann kann es geschehen, dass entweder gar kein Lebenszeichen sich einstellt …. oder aber ein zerzauster Kopf mit den festverschlossenen Augen eines neugeborenen Katers sich unter einem Kissen emporreckt und geradezu herzzerreißend zu klagen beginnt: „Ach, nööööööö!“
Wer solche elementare Not des Gewecktwerdens eine Woche lang erlebt, dem wird trotz aller eigenen Frühaufsteherei glaubhaft, dass das Wecken durchaus negativ besetzt sein kann: Denn tatsächlich ist es schon im Guten ja eher herablassend gemeint, wenn wir jemandem bescheinigen, er sei ein „aufgewecktes“ Kerlchen, und es wird schnell immer schlimmer, wenn gerade unter uns Kirchenleuten fast nur noch verächtlich von etwas „Erwecklichem“ oder von den „Erweckten“ die Rede ist; schließlich aber gipfelt die Abneigung gegen alles Störende und Appellative und sonstwie Anstrengende in der Feststellung, wie sehr uns dies oder jenes „auf den Wecker“ gehe.
Das Wecken wird also offenbar vielfach als grausam empfunden.
Wer weckt, ist lästig, und wer selber schon geweckt wurde, bedroht die Ruhe der anderen.
Darum ist das Christentum für alle bequemen Gemüter und für alle, die in ihrem Leben ein Grundrecht auf störungsfreies Weiterschlafen beanspruchen, tatsächlich und zu Recht unheimlich. Denn Christentum ist von Grund auf Weckdienst.
Das Gerücht, die Kirche sei ein verschnarchter Haufen und in der christlichen Gemeinde gehe es einschläfernd zu, ist lange nicht so durch Tatsachen gedeckt, wie es durch die Angst der Welt vor dem Erwachen geschürt wird: Wo nämlich wirklich der auferweckte Herr unter den Menschen lebt und wirkt, da endet die dumpfe Macht der Gewohnheit und läuten die Morgenglocken einer ganz anderen, ganz neuen Zeit und Wirklichkeit.
Das ist der Sinn jener seltsamen Aufforderung, dass wir die Zeit auskaufen sollen, die zu den originellsten und bekanntesten Grundsätzen des Epheserbriefes gehört:
Als Christen leben wir mit dem österlichen Geräusch des Auferweckungsweckers im Ohr. Der lässt uns hören und heißt uns zu feiern, dass wir nicht mehr im zeitlosen Stillstand und der endlosen Wiederholungsschleife des Unterbewussten und seiner Traumzustände leben, weil der jüngste Tag begonnen hat. Was uns als Christen umgibt und was uns aufmerksam macht und anspornt, ist tatsächlich das Ticken der Weltuhr nachdem das größte Wunder aller Zeiten stattfand: Es ist einer aufgestanden, von dem man sicher sein durfte, dass er für immer in seinem Grab liege bleiben würde.
Mit dieser Auferweckung Jesu Christi von den Toten ist aber tatsächlich die Tagesordnung völlig anders geworden als in der Zeit, die vom Schlaf der Ungeborenen und dem Schlaf der Vergessenen eingerahmt war und in der man daher mit Fug und Recht behaupten konnte, was die alten Griechen und Römer zum geflügelten Wort erhoben: „Vita somnium breve. Das Leben ist ein kurzer Traum“.
Nein! Ist es nicht.
Stattdessen ist unser Leben Teil des Auferweckungsgeschehens, Teil der großen Heilsgeschichte Gottes, die niemals Stillstand, sondern in jedem Augenblick zielgerichtet ist.
Darum können wir als Christen, als durch die Auferweckung Wachgerüttelte wirklich nicht durch die Welt trödeln und unsere Zeit totschlagen, als sei und bleibe alles sinnlos, sondern wir haben zu tun, …wir haben die Dinge zu verrichten, die den Morgen zum Morgen machen:
Licht anzünden, den Schlaf mit frischem Wasser aus den Augen spülen, etwas Belebendes zusammenbrauen, Kräfte für das sammeln, was vor uns liegt, eine starke Grundlage zu uns nehmen und dann mit dem Anfang anfangen.
Jeder Tag, jede Stunde eines Christen kann etwas von dieser verheißungsvollen Morgenfrühe an sich haben, wenn wir uns erinnern, dass es um diese Aufgaben geht:
Die innere und äußere Helligkeit zu befördern, indem wir in unserm Tun und Denken kein Zwielicht einreißen lassen, in dem alle Katzen grau sind, sondern Klarheit und Klärung fördern, Licht in die Dunkelheit und Wärme in den Nebel bringen, die die Welt undeutlich einspinnen und jeden nur für sich sorgen lassen.
Wir dagegen – weil wir geweckt sind durch den Ruf, der allen den endgültigen Tag Gottes bringt – wir waschen bei der Morgentoilette nicht nur uns selbst mit der Körperpflege des Narziss: Denn mit der Taufe wird ja nicht nur ein Mensch für sich, sondern jeder Einzelne als Glied der ganzen Menschheit erneuert und erfrischt und für die Gott wohlgefällige Menschlichkeit der Zukunft bereit.
Und wie wir nicht uns selber, sondern andere taufen, genauso in allen unseren Tätigkeiten, in denen wir der Zeit das Beste – nämlich die Zukunft – abgewinnen können: Was immer wir tun, soll wie das Gespräch untereinander in Psalmen, Lobgesängen und Liedern kommunikativ sein: Austausch, Verständigung, Mitteilung und Miteinander.
Das ist nämlich der eigentliche Unterschied zwischen dem schlafenden und dem wachenden Zustand: Im Schlaf ist jeder von uns allein – und wenn wir noch so sehr von anderen träumen, ihnen im Dämmerzustand der Wünsche und Ängste begegnen, auf den Leib rücken oder ausweichen …. ein Traum ist immer ein Solo, immer die Erfahrung eines Einzelnen, gesteuert bloß vom eigenen Ich.
Gemeinschaft mit einem wirklichen Gegenüber ist eben nur wachen Menschen möglich.
Und darum ist das Christentum die Lebensweise der Ausgeschlafenen, der Erweckten: Nicht um den Langschläfern und Morgenmuffeln schwäbischen Schaffenseifer, preußische Tugenden oder den sachsen-anhaltinischen Wahlspruch vom Land der Frühaufsteher unter die Nase zu reiben, sondern weil die Auferweckung Jesu von den Toten es zwingend erfordert, dass wir uns aus der Versenkung in uns selber und unsere privaten Traumwelten lösen und sehenden Auges, verständigen Herzens, wachen Geistes auch jeden anderen Menschen im Licht der Gnade und des anbrechenden Reiches Gottes wahrnehmen.
Diese Wachsamkeit für andere, diese Teilnahmsfähigkeit und Mitmenschlichkeit, die das Zeichen der erwachten Christen sind, strahlen durch den ganzen moralischen Abschnitt des Epheserbriefes, der uns die Werke des Lichtes, das Leben der zeitig munteren Morgenmenschen, ihr frisches, weises und anpackendes In-den-neuen-Tag-Hineinleben ans Herz legt.
Diese Wachsamkeit, die sich auf andere erstreckt, die andere in den Blick und damit in den Glauben, in die Hoffnung, in die Liebe nimmt – sie ist auch der biblische Hintergrund der Strophe, die Paulus hier zitiert und die damit eines der urtümlichsten Lieder der christlichen Gemeinde – wenn nicht das älteste überhaupt – sein dürfte.
Es ist – wie sollte es wohl anders sein? – ein Wecklied, ein Muntermacher, ein kregler Morgenpfiff:
„Wach auf, der du schläfst,
und steh auf von den Toten!“
Nun ist ein solcher Ruf in die Schlafkammer, die immer schon an den Bruder des Schlafes, also den Tod und dessen Grabesruhe erinnert hat, …. nun ist ein solcher urchristlicher Pfiff in das Dunkel der Schlafkammer zunächst eigentlich nur irritierend:
Konnten sich die allerersten Gläubigen und Getauften denn etwa so schnell an die unfassbare Auferweckung Jesu von den Toten gewöhnen, dass sie dieses einzigartige Wunder sofort im übertragenen, anwendbaren Sinn als Motivationsstichwort gebrauchten?
War es ihnen also nicht zu hoch und zu heilig, wenn sie in ihren Versammlungen von der wahrhaftigen und wirklichen Auferweckung des am Kreuz Getöteten hörten und zehrten, … war es ihnen nicht zu hoch und zu heilig, einander dann im Alltag mit Begriffen anzufeuern und zu ermutigen, die doch eine ganz unvergleichliche österliche Offenbarung beschrieben?
Nun lässt ihr Aufsteh-Lied allerdings erkennen, dass sie tatsächlich nicht meinten, Gott bezwecke und bewirke mit der Auferweckung Jesu bloß, dass wir nun etwas aufmerksamer werden sollten.
Sondern das Wunder der Auferweckung des endgültig in den Todesschlaf versetzten Christus und die unendliche Verheißung, die das Wort „Aufstehen“ von daher gewinnt, erinnerte die ersten Christen an zwei biblische Wecklieder, die sie beschämten.
Gott hat den Tod für uns besiegt – und wir bezwingen nicht einmal den Schlaf: So fiel es ihnen ein … womöglich gar in der ureigensten Stimme dessen, der zu Beginn seines Leidens die nach dem Essen Eingeschlafenen im Garten wachrütteln musste und ihnen ins Gesicht schrie: „Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?“ (Matth2640).
Er ist aus der übermächtigen, eisstarren, unauflöslichen Nacht des Todes auferstanden … und wir nicken am hellichten Tag ein, verbummeln die österliche Hoch-Zeit der Welt, ja, während Gott sein Reich herbeiführt, schnarchen wir und drehen uns auf die andere Seite!
Das ist ja genau das, was wir in den Sprüchen Salomos schon gehört und gelernt haben: So erinnerten sich unsere bibelfesten ersten Geschwister!
„Wie lange liegst du, du Fauler?
Wann willst du aufstehen von deinem Schlaf?
Ja, schlafe noch ein wenig,
schlummre ein wenig,
schlage die Hände ineinander ein wenig,
daß du schläfest ….“ (Spr.69f)
…. Dieses ironische Morgenmuffellied beschreibt nicht irgendeinen Faulpelz, sondern es schildert uns!
Und das andere – übrigens vielleicht die komischste und zugleich lebensnah traurigste Satire der Bibel – das salomonische Lied vom besoffenen Kopf (Spr.2330-34), … das trifft genauso auf uns und wie wir kaum munter zu kriegen sind, selbst wenn Gott dem Tod die Macht nimmt:
„Wo sind trübe Augen?
Wo man lange beim Wein sitzt und kommt auszusaufen, was eingeschenkt ist.
Sieh den Wein nicht an, wie er so rot ist und im Glase so schön steht:
Er geht glatt ein, aber danach beißt er wie eine Schlange und sticht wie eine Otter.
Da werden deine Augen seltsame Dinge sehen, und dein Herz wird Verkehrtes reden,
und du wirst sein wie einer, der auf hoher See sich schlafen legt,
und wie einer, der oben im Mastkorb liegt.
«Sie schlugen mich, aber es tat mir nicht weh;
sie prügelten mich, aber ich fühlte es nicht.
Wann werde ich aufwachen?
Dann will ich’s wieder so treiben.»“
So sind wir, wenn die Auferweckung Jesu uns nicht wachrüttelt und endlich zu Menschen des neuen Tages, zu empfindenden, klarsehenden, nüchternen, vernünftigen, handlungsfähigen, umsichtigen Menschen macht!
Sauft euch nicht voll Wein! Sondern wacht auf, steht auf und werdet von Christus erleuchtet!
Nur so endet der dumpfe Taumel, nur so werdet ihr zu Zeugen dessen, was die Stunde geschlagen und der Tag tatsächlich schon gebracht hat: Das Leben, das die Zeit nicht anfrisst und verschlingt, weil es keine Beute des Todes mehr werden kann. Das Leben Christi, des Auferweckten. Das Leben der Kinder des Lichtes.
Aufstehen! Erkennen und einander im Licht der klaren Ostersonne lieben! Und dafür mit allen Taten und Worten und Liedern danken und zu jeder Frist dranbleiben, morgendlich sein, mitmenschlich sein, wach sein!
Das ist die christliche Morgenstunde, das ist das Gold in ihrem Munde.
Wo und wann immer wir dazu ermuntert und erweckt werden, geschieht also wahrlich nicht nur uns, sondern der Menschheit wohl!
So dass festzuhalten bleibt: Aufwecker sind keine gemeinen Spielverderber, sondern Freunde der Welt, Singvögel der Zukunft und Spielleute der Ewigkeit. Sie sind Boten des Optimismus und Künder der guten Laune des Glaubens.
Darum – wie es in einem mittelalterlichen Tagelied heißt – „Wach auf, meins Herzens Schöne“, ... wach auf und lass uns wandeln im Lichte des HERRN! (Jesaja 25)
Amen.
13.So.n.Trin 14.09.2014 Apostelgeschichte 6,1-7 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 13.n.Trin. - 14.IX.2014
Apostelgeschichte 6, 1–7
Liebe Gemeinde!
Einer meiner Lieblingsbrüder war bei seinen Lebzeiten vor 250 Jahren nur als der „Pfarrer ohne Stimme“ bekannt: Der im alten Württemberg wurzelnde, von Württembergs bedeutendstem Pietisten, Johann Albrecht Bengel geprägte Dichterpfarrer Philipp Fr.Hiller.
Ein unheilbares Leiden hatte innerhalb von drei Jahre nach seinem Amtsantritt in Steinheim auf den Ausläufern der Schwäbischen Alb seine Stimmbänder völlig zerstört, so dass er allenfalls noch flüstern konnte. Das Predigen sollte dem früher stimmgewaltigen Redner nie wieder möglich sein und der Unmut seiner Gemeinde war groß. Auf eigene Kosten stellte Hiller für den Kanzeldienst einen Vikar an und übte künftig tonlose Seelsorge, indem er sich dicht an die Ohren der Ratsuchenden, Kranken und Sterbenden beugte und mit rauhem, kaum vernehmbarem Krächzen Verständigung versuchte.
Doch wie im Kopf des tauben Beethoven die Musik strömte, so blühte im Herzen des Pfarrers ohne Stimme der Gesang, und viele von uns haben ihm schon im Lauf ihres Lebens zu tönendem Ausdruck verholfen, wann immer wir z.B. „Jesus Christus herrscht als König“ oder „Mir ist Erbarmung widerfahren“ anstimmten.
Einem so schwergeprüften Mann, einem Pfarrer, der nicht sprechen konnte und dessen stiller Jubel und stumme Verkündigung dennoch bis heute fortklingen, … kann man dem böse sein?
– Leider bin ich’s heute.
Denn unter den bekanntesten seiner mehr als 1000 Lieder findet sich eines, das man eigentlich unbedingt singen muss, wenn uns die Geburtsstunde der Diakonie im heutigen Predigttext berühren soll. Es schildert ergreifend den Zusammenhalt der christlichen Gemeinde: „Ich glaube, dass die Heiligen im Geist Gemeinschaft haben“. …
Und es deckt zugleich unüberhörbar die Tragik, Schuld und Selbstverstümmelung des Christentums auf, wenn es in der zweiten ursprünglichen Strophe heißt:
„Zwar nicht das gleiche Schicksal fällt / hienieden jedem Gliede; /
es dauern noch in dieser Welt / die äußern Unterschiede; /
dem einen fällt ein armes Los, / der andre ist geehrt und groß; /
das will ein Christ nicht ändern.“
……. „Das will ein Christ nicht ändern?“:
Meinst Du das wirklich ernst, lieber Bruder Hiller?
Sag’s noch einmal laut und deutlich: Die so ganz verschiedenen Schicksale der Armen und der Reichen sollen unverändert bleiben?
— Ach, ich vergaß: Du bist ja der Pfarrer ohne Stimme, lieber Philipp.
… Das mag Dir manchmal wohl auch ganz gelegen sein, denn in unserer evangelischen Kirche, grad da, wo sie wie bei Dir im Schwabenländle am frommsten ist, da hat man immer am peinlichsten darauf geachtet, bloß ja nicht unruhig zu wirken, nur ja keine unliebsamen Veränderungen zu riskieren, um jeden Preis das feste soziale Gefüge, die gute alte Ordnung, die seit den Tagen Eures ersten württembergischen Herzogs, Eberhard im Barte (1445-1496) waltete, nicht zu stören.
Als dieser Herzog Eberhard zu Mantua heiratete, da haben seine hochmögenden Gäste 165 000 Laib Brot verzehrt und 150 000 Liter Wein genossen, und in diesen schwindelerregenden Zahlen einbegriffen war gewiss auch das Almosen, das zu solchen Feierlichkeiten dem Bettelvolk zufiel.
Mehr aber als gnädige Herablassung, zuweilen vielleicht auch rechtschaffene Verantwortung eines Landesvaters für die Schwachen konnte sich die lutherische Theologie eigentlich nie vorstellen. – Grundsätzlich wird nichts geändert an den Verhältnissen!
Das haben sie speichelleckerisch immer wieder beteuert, unsere Väter in Christo, haben sich dafür das Wohlwollen der Obrigkeit erkauft und alles im Keim erstickt, was Diakonie hätte werden sollen, aber nach ihrer orthodoxen Meinung doch nur unter die Gefahrenanzeige „gute Werke“ gehörte, … gute Taten, die einem Christ ja so gefährlich werden können, weil sie nach katholischer Werkgerechtigkeit riechen oder nach dem Aufruhr der Bauernrotten oder der blutigen Utopie eines Thomas Müntzer oder dem Rebellentum der Jakobiner und Aufklärer.
Fazit aus alle diesem war, dass die Kirch genau wie Philipp Hiller ihre Stimme verlor, sie jedenfalls nie erhob: „Das will ein Christ nicht ändern“. ——
Und unglücklicherweise klingt es aus den ersten Tagen der Christenheit ja beinah ebenso herüber: Als die anschwellende Gemeinde mit ihren unausweichlichen Reibereien anfängt, mit dem Hungerstreit, den jede mehr als dreiköpfige Familie kennt, wenn es bei Tisch um’s gerechte Aufteilen geht, – da schmeißen die zwölf Apostel das Handtuch:
Sind wir etwa Kellner, dass wir uns so beim Bedienen – wörtlich: „in der Diakonie“ – verzetteln sollen? Wir haben schließlich Wichtigeres zu tun, wir müssen am Wort dienen und nicht am Suppentopf!
Bei dieser unseligen Aufteilung – wichtig das Geistliche, überflüssig das Materielle – ist es nun leider Gottes geblieben, bis hierzulande, hier an diesem Ort der Leidensdruck der massenhaften Verelendung einmündete in die diakonische Bewegung des 19.Jahrhunderts, die ein letztes Mal versuchte, durch Mildtätigkeit und Nächstenliebe drohende große gesellschaftliche Umwälzungen aufzuhalten.
Doch vierhundert Jahre seit der Reformation waren verflossen, in denen der Dienst an den Hungrigen und Notleidenden, den Vernachlässigten und Ausgenutzten nicht zu den Wesensmerkmalen der landesherrlich regierten Kirchen gehört hatte.
Daher wurde die Diakonie bei uns nicht nur mit schändlicher Verzögerung als innerer Beruf der Kirche erkannt, sondern geschichtlich kam sie schlicht zu spät.
Was Christen so lange nicht hatten ändern wollen, das machten eine Generation später Bismarck und die Sozialdemokraten unter- und gegeneinander aus, und seitdem haben es der Liberalismus und der Kapitalismus und der Kommunismus auszufechten gesucht: Die Frage danach, wie die Ansprüche von Vermögenden und Habenichtsen, von Abhängigen und Unabhängigen, ja von gegensätzlichen sozialen Gruppen insgesamt ausgewogen oder gewaltsam entschieden werden können. ——
Aber stimmt es denn wirklich, dass schon die Apostel vor dieser Frage der irdischen Gerechtigkeit die Segel einfach gestrichen hätten und dass die lange kirchliche Gleichgültigkeit angesichts des irdischen Unrechts biblisch durch die Überordnung des lebensrettenden Wortes über das lebenserhaltende Brot begründet sei?
Nein, das stimmt keineswegs!
Stutzig machen sollte uns allein schon die denkwürdige Namensliste der sieben Diakone der Urgemeinde: Stephanus, Philippus, Prochorus, Nikanor, Timon, Parmenas und Nikolaus.
Ein ähnlich vollständiges Gedenken erfährt nun mal kein anderer Kreis aus diesen weichenstellenden Jahren des Christentums: Die elf Apostel und Jesu Mutter Maria werden zuletzt vor der Wahl des Matthias aufgezählt (Apg113). Nach Pfingsten aber – und das heißt nun tatsächlich im Zeitalter der Kirche – ist die stärkste Gruppe, deren Gedächtnis insgesamt der Nachwelt überliefert werden sollte, der Kreis der schlichtenden Anwälte, der unbestechlichen Fürsorger, der vertrauens- und glaubwürdigen Kümmerer, die niemandes Vorteil durchgehen lassen und keinen Hunger dulden sollten.
Aus der frühesten Kirchengeschichte ist also das älteste und ernsteste Amt das soziale – nicht das lehrende oder liturgische.
Doch zugleich – das fällt jedem auf, der das Neue Testament ein wenig kennt – ist unter den sieben Sozialarbeitern auch der erste Blutzeuge der Kirche, der erste Märtyrer für das Evangelium von Jesus Christus zu finden: Stephanus.
Eine saubere Scheidung in Seelsorge, Verkündigung und praktisch verantwortliches Christentum ist demnach geschichtlich unmöglich und biblisch nie vorgesehen gewesen.
So dass wir heute – nachdem die christliche Scheu vor gesellschaftlicher Verantwortung und sozialer Veränderung längst anderen Kräften das Feld geräumt hat und niemand auf den Gedanken käme, zu behaupten die sozialen Bewegungen der Gegenwart verträten bewusst das Christentum, während umgekehrt allerdings einiges an unserer Kirche seit fünfzig Jahren nur eine Verlängerung der Gesellschaftspolitik säkularer Sozialverheißungen war … – so dass wir heute also dennoch fragen müssen, ob wir wirklich in der Welt nichts mehr verändern und dem einen, dem „das arme Los fiel“ und dem andern, der „geehrt und groß“ ist, wirklich nur Schwerkraft, Sitzfleisch, Stillstand bezeugen wollen: Alles bleibt …. ?
Natürlich: Nein!
Christentum ist ja Veränderung von dem Augenblick an, in dem den Aus-gestoßenen in der Weihnacht ein Heiland verkündigt wurde.
Wo immer wir seitdem bekennen, dass der von den Mächten der Welt Gekreuzigte der Herr ist, da bezeugen wir eine Veränderung, die die größte und endgültigste sein wird: Da bezeugen wir das Reich Gottes, in dem kein Einfluss, kein Erbteil, kein Vermögen und kein Anspruch aus den heutigen Verhältnissen mehr etwas bedeuten oder ausrichten werden.
Und genau das – die Gerechtigkeit der kommenden Welt Gottes – genau das vertraten auch die Diakone von Jerusalem, die nichts mehr unterm Gesichtspunkt irdischer Zeiten und Zeichen sahen und beurteilten, sondern vielmehr im Licht und in der Weisheit des Heiligen Geistes!
Ob eine Witwe damals Judenchristin oder griechische Gottesfürchtige war, das machte faktisch und rechtlich ja einen Unterschied: Die eine war der Obhut der Jerusalemer Gemeinde als deren geborenes Mitglied anvertraut, die andere – die Griechin – ein zusammenhangsloser Fremdkörper, unheimlich und bei aller Bedürftigkeit womöglich gar arrogant.
Aber eben nicht nach diesen Kategorien – Gewohnheitsrecht, Konvention, Logik – richteten sich die Diakone, nicht nach verallgemeinerungsfähigen Maßstäben, sondern nach der Freiheit des ihnen mitgeteilten Heiligen Geistes, der keinerlei Allgemeinheit, sondern unmittelbar nur jeden Menschen kennt.
Doch diese Geltung des jeweiligen Menschen, dieses Licht und Recht, das den Einzelnen in seiner Eigenheit umstrahlt, … genau das ist es, was wir heute noch als Unterscheidungsmerkmal wirklich christlicher, wirklich diakonischer Hilfe fordern hören.
Der Geist, den Menschen in kirchlichen Einrichtungen suchen, der Geist, den Angewiesene in christlicher Begleitung und Pflege erhoffen, der Geist, in dem christliche Weltverantwortung und Weltveränderung geübt werden sollen, … dieser Geist, den die sieben Diakone hatten, ist aber nicht zu verwechseln mit dem allgemeinen Geist der Menschheitsbeglückung.
Denn seit es die großen sozialen Bewegungen und ihre Entartungen – den Kommunismus, den Kollektivismus, den Nationalismus, den Faschismus – gibt, seitdem herrscht ein einziges geist- und liebloses Prinzip überall dort, wo die Dinge verändert werden sollen: Es dient alles immer der Angleichung, der Vereinheitlichung, der Gleichmacherei unter den verschiedenen Verhältnissen der Menschen. Immer wird die Unterschiedslosigkeit als Heilmittel gegen alle Schäden der Menschheit gepriesen: Von den groben Umverteilungen mit dem Hobel bis hin zu den heutigen lächerlichen Leugnungen eines Unterschieds zwischen den Geschlechtern oder den Geschwindigkeiten und Bedürfnissen von Menschen auf mühelosen und mühevollen Wegen.
Doch der Traum – oder Albtraum?! –, dass alle gleich gemacht werden könnten und jedem mit dem Gleichen geholfen wäre, ist biblisch nicht begründet!
Denn gerade die Einsetzung der ersten diakonischen Helfer und ihrer Ersten Hilfe läuft nicht auf die banale Lösung hinaus, dass die sieben Armenpfleger im Gegensatz zu den zwölf Aposteln mathematisch in der Lage waren, in jede ausgestreckte Hand gleichviel Almosen zu legen oder die Suppe im Topf zu gleichen Teilen in jedes Schüsselchen zu löffeln.
Sondern dass es ein spirituelles Amt, eine Berufung des Heiligen Geistes selbst ist, jedem Menschen die ihm angemessene Hilfe zu geben, das wird anhand der besonderen Geistbegabung, der apostolischen Sendung und des geistlichen Erfolges der Sieben überdeutlich hervorgehoben. Sie konnten nicht bloß besser zählen, genauer dividieren oder exakter zuweisen als andere, sondern sie erfuhren und teilten den Heiligen Geist in der Begegnung mit den Bedürfnissen Anderer und im Dienst an ihnen.
Solche geistvolle Zuwendung, solches ganz am Menschen im Licht der göttlichen Gegenwart orientierte Handeln ist Diakonie.
Sie ist der ganzen Kirche als Segen des Heiligen Geistes verheißen.
Wir können um solche Diakonie immer wieder nur beten, wir können sie hoch in Ehren halten und unseren Glauben durch sie – wo immer sie gegeben wird – stärken lassen.
Und hoffen wollen wir, dass bei uns in der Gemeinde sich demnächst viele Menschen in dieses Ehrenamt rufen lassen; hoffen wollen wir auch, dass in unserer Kaiserswerther Diakonie, die heute ihr Jahresfest feiert, der Geist wie einst auch künftig wirkt und Kräfte weckt, die nicht nur tun, was alle tun, sondern die das Christliche möglich machen:
Mehr als das allgemein Menschliche im Menschen zu sehen, …… Gott im Menschen zu erkennen und Ihm zu dienen. ——
Aber was tun wir nun mit meinem Freund, dem Pfarrer ohne Stimme, der sich nicht traute für Veränderungen Verantwortung zu übernehmen?
Dem leihen wir auch heute wieder unsere Stimme und wissen, dass er jetzt ja mitsingt dort, wo die Stummen am hörbarsten und die Ängstlichen für immer unbeschwert sind und wo er selber es längst erkennt: Christen wollen die Dinge gewiss ändern, … ja, sie wollen sogar alles ändern, ….. nicht alles gleich – weder sofort, noch unterschiedslos –, aber doch im Glauben daran, dass die große Änderung einst alle erfasst:
Die große Änderung, die Gerechtigkeit und das Reich Gottes nämlich – das Eine, das niemandem gehört und für das jeder ganz arm werden muss … dessen unerschöpflich reiche Heilsfülle einst aber alle gemeinsam empfangen werden.
Amen.
Lied im Anschluss "Ich glaube, dass die Heiligen im Geist Gemeinschaft haben" von Ph.Fr.Hiller (1699-1769)
12.n.Trin. 07.09.2014 1.Korinther 3,9-15 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 12.n.Trin.- 7.IX.2014
1.Korinther 3, 9–15
Liebe Gemeinde!
Im 19.Jahrhundert haben Menschen wie Theodor Fliedner die christliche Gemeinde auf eine aufregende Wahrheitssuche mitgenommen: Zu entdecken war die Geschichte der biblischen Welt. Von Fliedner etwa wurde diese Spurensuche nach dem Tatsächlichen am Glauben durch die Mitbringsel-Mumie bestärkt, die er 1857 auf seiner Orientreise erwarb und die seitdem Generationen von Kaiserswerthern, von Schwestern, Schulkindern und Besuchern die uralte Wirklichkeit des Pharaonenreiches nahegebracht hat.
Solche Überbleibsel der Vergangenheit, die wie verschüttete Echtheitssiegel wirken, weil sie uns heute vor Augen stehen und auch schon von Menschen zur Zeit des 1.Buchs Mose, von Augen der Genesis angeschaut wurden, … solche ausgegrabenen Überbleibsel wirken bestätigend gegen den immer fragelustigen Zweifel, ob denn die Bibel ein ehrliches Buch oder ein Lügengebilde sei?
Sieh an, flüstert die ägyptische Leiche von Kaiserswerth durch ihren Lederbalg und ihre Binden hindurch, sieh an, ich habe einst vom Nil getrunken und habe den tierköpfigen Götzen geräuchert und bin unter Ziegeln begraben worden, die arme Sklaven aus Kanaan formten: Alles war so, wie die Schrift es sagt. Du kannst ihr trauen. ——
Dieses Zeugnis jedenfalls vernahm das 19.Jahrhundert überall, wo es auf tiefe Schichten des alten Orients stieß. Daraus wurde eine begeisterte neue Wissenschaft: Die biblische Archäologie, die Anfangskunde und Urforschung, die an Ort und Stelle die sichtbare Zuverlässigkeit der Bibel ausgrub.
Grundrisse von Orten und Bauwerken, die in’s Herz der Heilsgeschichte gehören; nachweisbare Zerstörungen an den Mauern von Jericho; verlockende Anhaltspunkte für die genauen Schauplätze des Davids-Dramas; Tonscherben mit Inschriften, die einem den Atem stocken lassen, wenn man zwei, drei Buchstaben ergänzt; Spuren Baals; ergreifende Schlachtfelder der Entscheidungskämpfe zwischen Gottes Volk und seinen Eroberern: „Hier ist’s! So war’s! Da hast Du’s!“
Mancher strenge Forscher des Kaiserreiches meinte wohl tatsächlich, er sei mit der Schaufel und dem Grabungswerkzeug bis ans tragende Fundament der Offenbarung vorgedrungen. —
Doch seine Kollegen schüttelten nur den Kopf:
Wie kann man die Brandspuren, die so viel Aufschluss geben, statt in die Bronzezeit in die Eisenzeit datieren? Wie willkürlich muss man dem Schutt seine Vorstellungen aufzwingen, wenn man überall nur salomonischen Glanz erkennen will und die spartanische Schlichtheit selbst des israelitischen Tempels ausblendet?….
Wer sich immer noch vorstellt, im Staub der Zeiten sei der Beweis der Wahrheit verborgen und warte nur darauf, von uns an’s Tageslicht gezogen zu werden, der sollte also vielleicht doch kein biblischer Archäologe werden, sondern Dichter oder Kulissenbauer in Disneyland.
……. Oder er geht bei Paulus in die Archäologenschule.
Denn jene reizvolle Schatzsuche, die uns tiefer und näher an das Zentrum des Glaubens führen könnte, ist ja nicht erledigt, bloß weil die Goldgräberstimmung der Altertumsforschung verflogen ist.
Es lohnt sich immer noch, der Sache auf den Grund zu gehen, es lohnt sich immer noch zu untersuchen, worauf der biblische Glaube ruht und steht und wodurch er getragen wird!
Doch wer mit Paulus auf Expedition zieht, muss auf zwei grundlegende Unterschiede zum Geschäft der christlichen Erben Schliemanns achten:
Geforscht, gegraben und gesiebt wird zunächst nicht, um Gottes Spuren sicherzustellen, sondern umgekehrt, um zu erkennen, was der Mensch gebaut und versaut hat, was also einer wie wir wohl an Hinfälligem oder Begründetem in die geistige Landschaft stellt und hinterlässt.
Und zweitens: Ergebnisse gibt es nicht wenn man ganz unten am Anfang auf die ältesten Schichten stößt, sondern erst ganz zuletzt, am Jüngsten Tage! ——
Das ist die menschliche Archäologie des Apostels Paulus, und wann immer wir uns in der Gemeinde einfinden, stehen wir mitten auf deren Grabungsfeld.
Das liegt daran, dass einst wie heute so unglaublich viele Menschen derart eitel und pompös, derart kurzsichtig und dennoch aufgebläht sind, dass sie immer schon ihre eigenen Triumphbögen und Ehrenpforten errichten.
Dabei haben wir gar nicht auf andere zu zeigen, sondern nur - mit Wahrhaftigkeit und Humor!! - unsere eigenen geheimen Baupläne zu betrachten:
Wie viele von uns haben nicht ein hübsches Denkmal für sich selbst unter Verschluss.
Und bei wie vielen wirkt der kleine Heldengedenkplatz, auf dem wir die eigenen Taten und Beiträge zum Leben der Mitmenschen verewigt sehen, nur aus dem Weltall betrachtet bescheiden. …Denn aus der Nahsicht erscheinen uns unsere eigenen Sachen nun einmal grundsätzlich groß. … Auch wenn wir’s gar nicht wollen. ….. Doch ob der Präsident von Frankreich seine dringlichen Aufgaben bewältigt kriegt, das verblasst nun einmal neben der Frage, ob ich mit meinen eigenen Vorhaben gut an- oder gut wegkomme. Der wirkliche Eiffelturm steht darum nicht in Paris, sondern auf meinem Mist. La tour c’est moi. Voilà!
Diese Form der menschlichen Architektur – von der der Bau zu Babel uns einen großartigen prähistorischen Eindruck verschafft – ist so alt wie das Geschlecht Adams und Evas.
Ein ganz besonders reger Baubetrieb herrschte aber seinerzeit in Korinth.
Jeder zweite korinthische Christ in den Tagen der Urgemeinde hegte jedenfalls die bemerkenswerte Überzeugung, selbst der höchste Kirchturm auf dem ganzen Peloponnes zu sein. Ein Ulmer Münster neben dem anderen: … „Was müssen das für Bäume sein, wo die großen …….?“
— Eine ganz eigene Landschaft ist es jedenfalls gewesen und geblieben, das Kirchenfeld, auf dem lauter gute Menschen mit edlen Absichten sich berühren mit ebenso beispielhaften Vertretern aufrechter Gesinnung und dann jeweils erstaunt feststellen, dass das nette, aber unbedeutende Gegenüber völlig unerklärliche Besonderheiten mitbringt: Wichtigkeit, Eitelkeit, Empfindlichkeit … !??
Wie also begegnet man einander unter lauter solchen schwindelerregend haushohen Christen?
Wenn Paulus ein Maßstab ist – und für uns darf er es wohl sein – dann vor allem: Hemdsärmelig! Weder vorwurfsvoll, noch ehrfürchtig, sondern praktisch:
„Wir sind Gottes Mitarbeiter“, so stellt Paulus sich vor und ist damit der erste mir bekannte Mensch aus der Türkei, der beinah wie ein waschechter Kumpel grüßt: „Kollega!“
Ob die Korinther den kollegialen Ton, das Von-gleich-zu-gleich sofort vernahmen, sei dahingestellt: Schließlich betont Paulus ganz forsch, dass er selbst immer noch Vorarbeiter, ein „weiser Baumeister“ sei und macht damit deutlich, in wessen Frühschicht unter wessen Leitung die Großbaustelle Weltkirche begonnen hat; aber die Fortsetzung zeigt gleichwohl, dass Paulus mit sehr vielen emsigen G’schaftlhubern, Häuslebauern, Hochstaplern und Klotzern rechnet, die neben-, mit- und gegeneinander in der Gemeinde ihre Gebilde errichten und sich gegenseitig am Bauplatz in die Quere kommen: „Wenn jemand hier baut, dann sehe er zu….!“, heißt es ja folgerichtig.
Der Hinweis auf die vielen Bauleute und Mitarbeiter Gottes ist für unsere Grabungsarbeit und Spurensuche in Sachen Glauben von großer Bedeutung:
Einmal mehr wird uns bestätigt, dass wir unterm Schutt der Zeit nirgends auf die blanken Überreste der Wahrheit, nirgends auf die sagenumwobene Kammer stoßen werden, in der Gott selber anzutreffen wäre, wie Tutanchamun in seinem Sarkophag oder Karl der Große auf dem Thronsessel, auf dem Otto III. ihn bei der Freilegung des Grabes im Jahre 1000 vorfand.
Es ist nämlich so viel Menschenwerk – gewolltes und unerwünschtes – in das Glaubens-gebäude von Bibel und Christentum eingeflossen, dass man mit menschlichen Mitteln nie und nimmer die reinen Anfänge freilegen wird.
Wer sich das auch nur anmaßen wollte, wer mit archäologischen Mitteln, die in der Theologie – im übrigen ganz ohne die alte Hoffnung für den Glauben – „historisch-kritische“ Methoden heißen, wer mit allen diesen Stemm- und Brecheisen, diesen Schaufeln, Hacken, Meißeln, Handfegern und Schippchen Dies und Das und Vieles wegräumen würde, um zuunterst die älteste Schicht, die unveränderte Urform zu erreichen, der hat nicht begriffen, dass Gott lebt und unter den Menschen seine berufenen und seine eingebildeten Mitarbeiter sucht!
Aber dürfen die das denn überhaupt? … Einfach wie die drei kleinen Schweinchen des englischen Märchens aus Stroh oder Holz oder Backstein irgendwelche Klitschen oder Imitatbarockkapellen errichten und behaupten, das Ergebnis sei nun etwas Kirchliches, sei ein Stück Gemeinde?
……. Sie dürfen das!
Weil Gottes Bescheidenheit – und das ist nur ein anderes Wort für Gottes unfassbare Neigung zum Menschen – gar nichts anderes mehr vorsieht, seit das spartanische Haus in Jerusalem, in dem Er eine nackte, dunkle Kammer einnahm, vom Erdboden verschwunden ist.
Gott lässt sich seitdem nicht anders als von vorsichtigen oder groben Menschen, von solchen mit sparsamer Handwerklichkeit, aber auch von jenen mit bombastisch schlechtem Stil unter die Leute bringen und einbürgern.
Weil Er versprochen hat, mitten unter uns zu sein: Im kolossalen Kitsch der allzumenschlichen Volksfrömmigkeit, im Plattenbau der durcheinandergerüttelten nachchristlichen Welt, im nüchternen Tageslicht des Kaiserswerther und des Herrnhuter Predigtsaals und im Kerzengeflacker der grottenartigen Klöster der orientalischen Christen, die mit ihren Kirchen gerade verbrannt und begraben werden und denen Gott mit Seinem Erbarmen darum näher, viel näher sein möge als uns anderen allen! Amen!
Gott ist also gewiss nicht wählerisch, was Seinen Aufenthalt betrifft.
Warum Er sich aber so wahllos Quartier bieten lässt unter Gold, Silber, Edelstein, Holz, Heu, Stroh?
Das beantwortet schon der Dichter (Th.Fontane), wenn er den Einsturz der großartigen technischen Leistung, der Eisenbahnbrücke über den Tay betrachtet: „Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand!“
Darum lässt Gott sich so viele und verschiedene menschliche Mitarbeit gefallen:
Weil alles, was wir vollbringen, auch wieder vergeht. Selbst das, was in Zement gegossen, in Granit gemeißelt, in Platin gefasst wäre.
Kein Mensch baut für die Ewigkeit, weder buchstäblich, noch im übertragenen Sinne.
Darum muss uns auch weder Stolz noch Sorge im Blick auf die vielen menschlichen Glanz- und Schattenleistungen in der Gemeinde erfüllen. Nichts von alledem bleibt!
Wir werden ja unsere evangelische Kirche in wenigen Jahrzehnten in einer so verwandelten Gestalt antreffen, dass uns sein wird, als hätte es die einstigen – jetzt noch heutigen – Pläne und Projekte alle nicht gegeben. Sämtliche meiner Lieblingsideen werden in fünfzig Jahren tot sein, und aller mich zur Weißglut bringende Schwachsinn aus anderen Quellen wird geschmolzen sein wie der Schnee.
Doch dann erst, … dann kommt die Aufdeckung, die endgültige Grabung und Festigkeitsprüfung, die wirklich zur Bewahrheitung unseres Glaubens führen soll.
Denn wenn alles sich wieder verloren und aufgelöst hat, was wir heute planvoll oder schlampig aufbauen und unbedingt festmachen wollen, wenn es weg ist, fortgespült, wie Asche verweht, wenn der letzte Atemzug auf Erden und dann der erste Blick in die Welt der Wahrheit alles Irdische vor unsern Augen und in unsern Händen verbrennen und zergehen ließen ....…, wenn Gottes unveränderliches Maß und Gewicht angelegt wurden und wir erleben, wie winzig und wie kostbar das ist, was uns ohne Betrug und Selbsttäuschung bleibt, ....... wenn das Gericht gehalten und jeder Mensch von seinen riesigen Ansprüchen und furchtbaren Illusionen befreit ist, ……. dann wird sich zeigen, was bleibt.
Dann wird jeder von uns auf den Grund stoßen.
Und wir werden erkennen, dass die himmelhohen Leistungen Maulwurfshügel und die unüberwindlichen Steine des Anstoßes Mäusedreck waren und dass selbst ein Augustinus und ein Luther, ein Schleiermacher und ein Bonhoeffer nur ein paar Spuren im Sand, ein paar Kratzer und Schleifbahnen hinterließen, die verwischt und verweht sind.
Aber der Grund, der trug und trägt, der hielt und hält, das Fundament dieser Welt und unseres Lebens wird sich uns endlich offenbaren:
Jesus Christus, wie er die Schöpfung seines Vaters vor der unausweichlich erscheinenden Selbstzerstörung bewahrte, ….. noch wissen wir nicht: Wie? …. nur: Dass!
Jesus Christus, dessen Geburt die Grundlage dafür wurde, dass alle Menschen Zukunft hatten, wird sich uns zeigen.
Und wir werden erkennen, wie unser dann vergangenes Leben schon das Muster aufwies, das nun im neuen Leben unverkennbar ausgeprägt und ausgeformt wird:
Der Grundriss des Kreuzes, an dem Jesu Tod den freien Fall des Menschengeschlechtes aufgehalten und fundamental auf Gott hin umgekehrt hat, wird sich zeigen.
Seine ausgebreiteten Arme, seine offenen Hände, seine Bereitschaft, alle Hoffnung allein auf sich ruhen zu lassen, alle Belasteten zu stützen, allem Halt zu geben – selbst den Unhaltbaren –, seine abgrundtiefe, nicht zu untergrabende, weltgeschichtliche, allumfassende Tragfähigkeit wird sich zeigen.
Wir werden also am Ende, in der Zukunft den letzten Grund des Glaubens entdecken und erkennen!
Und ihm dann mit ebenso ausgebreiteten Armen entgegenlaufen – ohne alles, was wir konnten, hatten, waren.
Und an seiner Umarmung werden wir merken:
Der hat uns ja schon immer getragen! Er allein und kein anderer!
Amen.
11.n.Trin. 31.08.2014 2.Samuel 12, 1-15 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 11.n.Trin. - 31.VIII.2014
2.Samuel 12, 1-15
Liebe Gemeinde!
Wenn’s doch nur so einfach wäre: Wenn nur das Rechtsempfinden stimmt und man den Leuten nicht allzu direkt an die Wäsche geht, sondern sie selbst ein wenig grübeln lässt über das Gute und das Schlechte, …schon finden sie von selbst zu ehrlicher Erkenntnis der eigenen Lage. …. Das wäre großartig!
Bei Gericht würde nur noch in anschaulichen Beispielgeschichten gepredigt, die von allein zur Besserung führen, in der Kirche könnten wir anschließend schweigend wie die Quaker in uns gehen und heilsam nachdenken, und nach der Mittleren Reife wäre Verlass drauf, dass jedes Menschenkind sich selber letztlich ein gerechter Mahner und gehorsamer Verbesserer sein wird. ———
Warum aber geht’s denn in Wahrheit nicht so wie am Schnürchen des Propheten Nathan, der seinem ehebrecherischen, heimtückischen, mörderischen König David anscheinend bloß einen gut erfundenen Skandal als Gardinenpredigt vorhalten musste und dadurch den verworfenen Machtmenschen wie am Zügel zu Einsicht und Umkehr lenkte?
Wieso können wir tagaus, tagein die wahrhaftigsten Skandale des Unrechts und der Bosheit erfahren und kommen doch im Traum nicht drauf, sie für etwas anderes als Nachrichten über Dritte zu halten, die uns räumlich und inhaltlich nicht berühren?
Warum sind es immer nur die anderen, die uns enttäuschen und entsetzen mit der menschlichen Fähigkeit, die innere Waage zu manipulieren, wenn Eigenes gegen Fremdes gewichtet werden soll? Warum meinen wir immer, es seien Barbaren auf einer anderen Zivilisationsstufe oder unerklärlich verformte Charaktere, wenn wir feststellen müssen, wie das Menschengeschlecht niederste Beweggründe hegt und tiefste Abgründe von bloßer Ahnung zur Tatsache werden lässt.
Es ist das alte Schichtenproblem. Wir können ja nicht leugnen, dass es da zwei Belegschaften in unserer Denk- und Entscheidungsfabrik, in Herz und Seele gibt: Die einen, die sich sehen lassen können und bei Tageslicht ihre weiße Hemdbrust präsentieren, und die anderen, die nicht sichtbar sind, weil sie im Dunkeln Drecksarbeit und Verbotenes verrichten und sich dabei vergiften und brutal abstumpfen. —
Nur glaubt unsereins ja allzu gern, wir seien dabei die Oberschicht, klar verantwortlich, Steuerleute, die Bevölkerung der menschlichen Belleetage.
Dabei sind wir alle unterkellert und der Keller lebt und keimt und brodelt.
Jeder von uns ist seine eigene Unterschicht – kein Anderer, kein Fremder, kein Verdächtiger: Ich bin die Nachseite der Menschheit ------- und Du auch.
Blöd nur, dass wir das eben nicht so einfach und widerspruchslos erkennen wie der blutig lüsterne David, als ihm die rührende Geschichte vom geliebten Lämmchen des armen Mannes erzählt wurde.
… Oder ist etwa jemandem hier seine Familienähnlichkeit mit dem Kotzbrocken aufgefallen, der ausgerechnet um gastfreundlich zu erscheinen lieber den Schatz von nebenan, gesotten in den heißen Tränen des hilflosen Nächsten serviert, als selbst irgendetwas herzugeben? …
Na eben. Der Schurke wohnt nicht hier. Wir sind sauber. ———
Als ich das erste Mal klaute, war ich sieben und eingeladen. Es war Kindergeburtstag, die Spiele gingen an mir vorüber, ich trollte mich auf die Terrasse hinter dem Haus und fand dort zu meiner Überraschung ein schlaraffisches Stilleben mit lauter Füllhörnern: Tüten voller Süßkram hingen an einem hölzernen Spalier, weil gerade die lachhafte Sitte aufkam, jedem kleinen Gast auch noch eine Ladung Schnickschnack hinterherzuwerfen, weil man sonst nach Saft und Kuchen und Würstchen auf dem Heimweg wohl verhungern müsste.
Da bediente ich mich: Moderat, nicht aus jedem Tütchen, aber ganz allein und vorzeitig.
Der Vater des Geburtstagskindes war im Vergleich zu meinem sehr viel älter und – was auf dem Dorf der siebziger Jahre schon beinahe pikant wirkte – während wir Pfarrhaus waren, war er: ….. Psychologe!
Ich wurde in sein Zimmer gebeten. Er ging das Ereignis mit mir durch. Bestimmt einfühlsam, aber eben sehr grauhaarig und rollkragengestützt und wallebärtig.
Und es ließ mich völlig kalt – das geschehene Ereignis. Nur die Rechenschaftspflicht, das Aufarbeiten, das Angesprochensein und Nachdenkensollen ….. das treibt mir heute noch das kindliche Kränkungsfieber auf die Stirn. ……. ——
Schlechtes Beispiel? Weil ich ein Kind war und keine hübsche Bathseba im Bade, sondern bloß Drops und Brause begehrte? — Ich bin gar nicht sicher.
Vielmehr vermute ich, dass das siebenjährige Kind von damals und ein siebenjähriges Kind von heute ungefähr ebenso deutliche oder lustlose Begriffe von Gemeinschaft und Eigennutz, von Vorteil und Zurückhaltung haben wie jeder Erwachsene: Selbstbedienung liegt so stark im Blut und der nebulöse Untermieter, der im Verborgenen an rascher Befriedigung arbeitet, empfindet jedes Bremsen dabei als Brechung oder zumindest Schwächung dieses allbeherrschenden Lebensgefühls. … Also als Angst.
Je erwachsener wir aber werden, desto weniger wollen und sollen wir uns schließlich von der Angst regieren lassen. Dass etwa ein Psychologe oder eine allgemeine Instanz – so etwas wie das Gewissen oder die Moral –, dass etwa das von außen institutionalisierte Recht oder der bezahlte Herr Pastor dazu eine bestimmte kleine Ansprache auf Lager haben: … Das kann einen selbständigen Menschen nun wirklich nicht beeindrucken.
Ganz erwachsen und ganz überlegen über die Angst betrügen und übervorteilen Menschen einander also. Weil wir nicht wissen, wer uns eigentlich etwas zu sagen hätte, das nicht unter Abschwächung des eigenen Lebenstriebes fiele… und wenn es nicht den Lebenstrieb bedroht, so doch die vielen Deckmäntel, die wir dem élan vital, unserm Appetit auf’s Gutgehen umhängen: Verantwortung, Fortschritt, Arbeitsplätze, Vorausschau, Vernunft.
An allen diesen Stellen aber lassen wir uns eben längst nicht mehr einschüchtern und weder Maß noch Ziel vorschreiben: Darum Pfoten weg, ihr Spielverderber! —
Und so sitzen die Propheten und Prediger, die Brüder und Schwestern Nathans in der Falle: Kann man denn ehrlichen Gewissens heute noch mit der Angst Druck ausüben wollen?
So wie es die katholische Kirche seit Menschengedenken mit der Furcht vor Strafe und die evangelische Kirche seit langen Jahren mit politisch-pessimistischen Horrorprognosen tut? Höllenfeuer und Klimaerwärmung, Verdammnis und Mitschuld an Kinderarbeit, Flüchtlingselend, Völkermord?
– Das alles stimmt ja theologisch wie politisch: Wir sind böse und wir sind verstrickt und können es einfach nicht leugnen. Bloß: Hat diese Wahrheit uns etwas zu sagen? Wird einer von uns besser, weil ihm die Erbsünde gepredigt wird; verändert irgendjemand von uns zuverlässig seinen Lebensstil wegen einer moralischen Schocktherapie? ————
Aber zuletzt noch einmal anders gefragt:
Ist das überhaupt die Methode Nathans, der mit seiner Erzählung, einer Parabel den gewissenlos gewordenen König zur Erneuerung brachte?
Die Ausleger streiten mit bewundernswerter Zähigkeit darüber, wer in der erfundenen Geschichte vom Reichen und vom Armen und dem Lamm dazwischen welche Rolle spiele? Ist der arme Mann jener brave Soldat Uria, dem David – der erdrückende Nachbar – trotz der eigenen Vielweiberei ohne mit der Wimper zu zucken die Ehefrau nahm?
Oder ist nicht Uria selbst in dem hoffnungslos ausgelieferten Tierchen zu sehen, das einfach nach dem Gutdünken des eiskalten Patrons über die Klinge springen muss … egal, wen’s schmerzt?
Und wer ist der seltsame nächtliche Gast, dessen Erscheinen das ganze Drama auslöst, weil der Wohlstandsmensch ihn zwar bewirten will … aber nicht vom Eigenen?
Ist es der böse Trieb – wie die Rabbiner das Gleichnis des Propheten schon vor zweitausend Jahren deuteten –, der uns im Verborgenen anschleicht und unversehens dazu verleitet, vermeintlich Gutes - nämlich Gastfreundschaft - mit verwerflichen Mitteln zu betreiben?
Oder ist womöglich die wehrlose Bathseba, der ein Mann einfach nehmen kann, woran sie mit aller Inbrunst hing, im betrogenen und beraubten Nachbarn zu finden?
Welche ist die rechte Lesart, welches das rechte Verständnis dieses zumindest in Davids Fall so wirksamen Mittels, dem Sünder Erkenntnis über sich selbst und Umkehr zu ermöglichen? —
Ich weiß es nicht.
Von den Holzhämmern halte ich nicht viel, meine ihre Unwirksamkeit nur immer stärker zu beobachten: Furchterwecken und die Erregung eines schlechten Gewissens können den gummiartig verdickten und verstockten Schutzhüllen des menschlichen Herzens jedenfalls kaum mehr empfindlich beikommen. ——
Doch was, wenn es damit auch gar nicht getan wäre?
Was, wenn wir die Nathansparabel gar nicht daraufhin abklopfen sollten, wie wir denn wohl eine ebenso treffend aktuelle, peinlich aufdeckende, pädagogisch wirkende Erfindung zur Hebung der Moral hinkriegen könnten?
Was, wenn die Geschichte nämlich – jedenfalls für uns und anders als zu Davids Zeiten – gar keine Erfindung, gar kein Entwurf mehr wäre?
… Sondern die Wahrheit?!
Wenn da wirklich einer wäre, der sein Lämmlein so liebt wie man sein Kind, seine Tochter nun einmal liebt?!
Wenn es keine absonderliche, überzogene Bildhaftigkeit wäre zu sagen, dass das Lamm alles mit seinem lieben Herrn teilte und in seinem Schoß schlief (vgl.Joh118!!!)?!
Das einzige Lamm, … das von ihm selbst unzertrennliche Lamm …………, und dann wird’s doch genommen, muss dran glauben, weil der eigentlich so reiche, stolze, selbstherrliche Mensch sonst irrsinnigerweise gar nichts findet, um einem anderen Menschen nicht mit leeren Händen begegnen zu müssen.
… Ob man’s nämlich versteht oder nicht: Tatsache scheint zu sein, dass mitten im Überfluss, der sie umgibt, der satte Mensch und sein Gast von nichts anderem leben und satt werden können als von dem Lamm eines andern!
Ist es nicht eine unglaubliche, vollkommen absurde Sache, dass dort, wo alles vorhanden und greifbar ist, ausgerechnet ein kleines fremdes Lamm, auf das niemand Anspruch erheben konnte, gefehlt haben sollte?!
— Und doch ist es so! …….
Wir haben noch weit mehr als David die Unschuld verloren – so weit, dass wir uns längst für ein Geschlecht halten, das mit der alten, umständlichen, naiv verallgemeinerten biblischen Idee von der Schuldhaftigkeit des Menschen nichts mehr zu tun hat.
Und in einer uns gewiss nicht bestätigenden, sondern mitleidig überbietenden Art und Weise erkennt das christliche Zeugnis genau das an: Dass wir einfach zu hochmütig, zu hartgesotten, zu blind und zu unfähig sind, uns überhaupt noch als Sünder ansprechen, zurechtweisen und verwandeln zu lassen.
Doch gerade darum ist die Botschaft an uns eben auch nicht, dass wir uns selber erkennen, in unseren Sünden wiedererkennen müssen – am Ende wären wir (wie man uns kennt) ja doch bloß stolz darauf oder würden uns unerbittlich rechthaberisch verteidigen! –, sondern die Botschaft lautet schlicht: Ihr, die Ihr alles habt und Euch den Rest noch nehmt, … leben und Gutes tun könnt auch Ihr trotzdem nur mit dem Lamm, das nicht Euch gehört!
Und darum hat sich der, der an seinem Lamm so innig hängt, es nehmen lassen!
Erkennt also das Lamm. Das Lamm! ——
Ob das eine sonderlich pädagogische Botschaft ist, mag man bezweifeln.
In erster Linie will sie das – anders als die Parabel Nathans – aber auch gar nicht sein.
Denn das Evangelium vom Lamm Gottes ist keine Beispielgeschichte, die uns besser machen will – und wo es nur so verkündigt wird, als ob es eine moralische, politische Aufforderung im Imperativ, im „Plakativ“ sei, da wird es verdunkelt! –, sondern das Evangelium von Gottes Lamm ist eine beschämende und beseligende Gabe an die, die es zunächst weder verlangt noch verdient haben.
Aber wo es gehört wird – dass einer sein Liebstes gab, weil wir so lieblos sind –, da wird und wirkt es stärker als aller moralische Druck je könnte.
Wenn es uns greift und in unser Verstehen und Empfinden, in unser Gewissen und unser Selbstverständnis übergeht und uns nicht mehr loslässt, wenn es uns die Einsicht und Erfahrung Davids eröffnet:
„Ich bin der Mensch, der das Lamm braucht!“,
dann geschieht etwas unendlich Großes mit uns.
Ein neues Leben fängt dann in uns an: Nicht weil wir plötzlich Musterschüler oder eifrige Moralapostel würden, sondern weil das schmerzliche Erlebnis Davids, nachdem er sich in der Geschichte mit dem Lamm erkannt hat, auch für uns zur Wahrheit wird. David erlebte es, dass sein Sohn starb.
Und genau das – unbegreiflich schrecklich und das tiefste aller Geheimnisse – ist auch unser Bekenntnis:
Der Sohn Davids ist gestorben, damit wir neue Menschen werden können. Menschen, die lieben und mitleiden können, Menschen, die durch das Opfer des Lammes ihre Selbstsucht loswerden und nicht mehr von ihrem eigenen Recht, sondern von Gottes Gerechtigkeit beherrscht werden.
Denn was tut Er, Dem wir sein Lamm genommen haben?
Er segnet uns dadurch!!!
Amen.
Israelsonntag, 24.08.2014, Jesaja 62, 6-12, Stadtkirche + Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text: Jes.62,6-12 und Bild von Paul Klee „Anfang eines Gedichts" (Das Alphabet ohne J)
„O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen." So, liebe Gemeinde, beginnt der Abschnitt aus dem Jesajabuch, den wir vorhin schon in der Lesung gehört haben.
„Ach Jerusalem", dieser Seufzer ist sicher nicht nur mir in den letzten Wochen immer wieder aus dem Herzen gekommen, wenn man die Nachrichten aus Israel und dem Gazastreifen hörte. Als wenn das Elend des Bürgerkrieges in Syrien und im Irak nicht schon groß genug ist, musste es Anfang Juli noch zu der erneuten Eskalation der Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern kommen. Ein neuer Waffengang ohne jede Aussicht auf Erfolg, auf Frieden. Einfach ein neues Drehen an der Gewaltspirale - noch mehr Tote, noch mehr Verletzte, noch mehr traumatisierte Kinder, noch mehr Hass und Unversöhnlichkeit. Um ganz andere Wächter geht es heute in Israel: da versucht Israels Armee, alle auf Israel abgeschossenen Raketen mit Anti-Raketen abzufangen. Alles menschlich verständlich, aber Frieden und Sicherheit wird es so für Israel nicht geben. Die militärische Option läuft ins Leere. „O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen." Ob irgendein Rabbiner diesen Text aus dem Jesajabuch in diesen Tagen gelesen hat? Die Wächter, von denen Jesaja spricht, haben eine ganz andere Aufgabe. Sie sichern nicht die Grenzen. „Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden."
Als dieser Text aufgeschrieben wurde, da ging es auch darum, ob Israel eine Zukunft hat. Da ging es auch ums Ganze. Nach dem Edikt des Kyros hatten sich die Exilierten aufgemacht, um wieder nach Israel zurückzukehren. Voller Hoffnung. Doch: die ersehnte Heimat lag in Trümmern. Die Felder waren verwüstet. Der Tempel zerstört. Und die Mauer, die die ersten Ankömmlinge notdürftig um Jerusalem gezogen haben, bot alles andere als wirklichen Schutz. Wie sollte Israel als Staat da wieder auferstehen? Welche Hilfe sollte es da sein, Gott keine Ruhe zu lassen, ihn Tag und Nacht im Gebet zu bedrängen „bis er Jerusalem wieder aufrichte"?
Musste man nicht selbst in die Hände spucken und sich dran machen, die Stadt wieder aufzubauen? Steine schleppen, Felder von Dornen und Gestrüpp befreien, Brunnen graben und vor allen Dingen eine hohe, dicke Mauer um Jerusalem herum aufbauen, bewehrt mit Verteidigungstürmen und Zinnen? Genau diesen Weg haben die Heimkehrenden dann auch gewählt; davon erzählt in der Bibel das Buch Nehemia. Die ersten 6 Kapitel handeln fast ausschließlich vom Mauerbau und der Herstellung der Verteidigungsfähigkeit Jerusalems. Und natürlich wurden Wächter eingesetzt. Mit Speer und Schwert bewaffnet, die kontrollierten, wer in die Stadt hinein kommen durfte und wer nicht.
Liebe Gemeinde, die Fragen, die der Predigttext aus dem Jesajabuch angesichts der existentiellen Bedrohung der Zukunft Israels anrührt, sind erschütternd aktuell. Und genauso, wie vor 2500 Jahren diese Fragen offensichtlich sehr unterschiedlich angegangen wurden, so werden sie es auch heute noch. Da gibt es mitten durch die israelische Gesellschaft diesen Riss. Die einen sind mit ihrem Denken sehr nah an Nehemia. Nach den Erfahrungen des Holocaust, dem Herumlavieren der Briten als Mandatsmacht in Palästina, die aus eigenen machtpolitischen Überlegungen mal die jüdische Seite, mal die arabisch-palästinensische Seite mit Versprechungen zu ködern versuchten und nach der Ausrufung des Staates Israel, worauf unmittelbar der 1.Nahostkrieg ausbrach, nach all diesen Erfahrungen ist es für die eine Hälfte der israelischen Gesellschaft klar: wir selbst müssen unser Schicksal in die Hand nehmen; wir müssen uns wehren, uns verteidigen - und dazu brauchen wir Waffen. Wir wollen niemals wieder Opfer, niemals wieder hilflos sein.
Doch es gibt auch eine ultra-orthodoxe Gruppierung, die ganz anders „tickt", was die Fragen der staatlichen Sicherheit betrifft. Nach der Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem im Jahr 70 unserer Zeitrechnung bleibt Israel, so ihre feste Überzeugung, nur noch die Hoffnung auf Gott und sein Handeln. Sie sind damit sehr nah an dem, was Jesaja in unserem Predigttext schreibt. Die Juden müssen Gott in den Ohren liegen, dürfen ihm keine Ruhe lassen, Tag und Nacht beten und die Heiligen Schriften studieren und die Weisungen der Thora bis zum I-Tüpfelchen erfüllen: dann kommt der Messias Gottes und errichtet das Reich Israel in Herrlichkeit. Für diese ultra-orthodoxen Juden ist menschlich-staatliches Handeln, das Sicherheit mit Waffen schaffen will, geradezu Gotteslästerung.
Wir können sehen: aus der Bibel lässt sich ganz Unterschiedliches begründen und ableiten: Mauerbau und ununterbrochenes Gebet um Gottes Eingreifen. Besondere Brisanz ergibt sich, wenn man sich von allem etwas zusammensucht, was einem gerade in den eigenen Kram passt. Das können wir an den militanten und zugleich religiösen Siedlern sehen: sie berufen sich darauf, das Recht auf alle Ländereien zu haben, die zum Großreich Davids um 1000 v.Chr. gehörten; dieses ganze Land hätte Gott Israel geschenkt und dieses Geschenk könnte Israel gar nicht abgeben - z.B. das Westjordanland an die Palästinenser. Aber allein auf das Eingreifen Gottes wollen sie dann doch nicht warten, sondern nehmen das Recht in ihre Hände, natürlich mit dem Einsatz von Waffengewalt.
„Ach, Jerusalem!"
Liebe Gemeinde, die Gemengelage in Israel heute ist wirklich zum Verzweifeln. Es gibt kein Rezept für einen Frieden, der diesen Namen verdient. Die israelische Gesellschaft selbst ist zutiefst gespalten; was sie zusammenhält, ist der äußere Feind. Das Verhältnis zu den Palästinensern ist damit doppelt belastet. Und die kleine Schar der Friedensaktivisten ist zur Zeit massiven Anfeindungen von den eigenen Landsleuten ausgesetzt.
Vor diesem Hintergrund können die biblischen Texte die Ratlosigkeit eher vergrößern als beheben. Auch unser Predigttext. Wie heißt es da: „Der HERR hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen, sondern die es einsammeln, sollen's auch essen und den HERRN rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums." Die Mauer, die heute die besetzten Gebiete vom Kernland Israels abschottet, die hat dazu geführt, dass palästinensische Bauern ihre Felder nicht mehr erreichen können, dass sie ihre Oliven nicht mehr ernten können. Die besten Böden beanspruchen die jüdischen Siedler für sich. Das Unrecht schreit zum Himmel. Wird Gott darauf hören - und was wird er tun? Das ist doch die Frage, die sich stellt - mit Blick auf den Text und mit Blick auf die reale politische Lage.
Liebe Gemeinde, wenn die Lektüre einzelner biblischer Texte uns so ratlos lässt, hilft es, sich darauf zu besinnen, was denn den Kern jüdischen Glaubens ausmacht, der auch für Jesus und damit doch auch für uns grundlegend ist. Für mich macht folgendes das Wesen des jüdischen Glaubens aus. Da erfahre ich:
- dass Gott immer an der Seite der Kleinen und Schwachen, der Unterdrückten und Verfolgten war.
- dass Gott ein Gott ist, der befreit, der aus Zwängen herausführt,
- der durch Vergebung Neuanfang ermöglicht,
- der niemanden auf die Vergangenheit festlegt,
- sondern heilvolle Zukunft eröffnet für alle Menschen.
Davon spricht ja auch Jesaja; besonders in den letzten Versen des Predigttextes wird das deutlich: „Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des HERRN«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.
Als diese Verse aufgeschrieben wurden, da war Israel ein kleines Häuflein, gerade dem Exil entronnen, wirtschaftlich am Nullpunkt, realistisch betrachtet ohne jede gute Zukunftsaussicht - ähnlich wie heute die Menschen im Südsudan oder in Somalia oder eben die Palästinenser. Oder wie die Juden während des 2.Weltkrieges - von den Deutschen der Vernichtung anheimgegeben, ungeliebt im Rest der Welt, seit Jahrhunderten ein beliebter Sündenbock.
Davon zeugt die Karte, die Sie alle in den Händen halten. Sie zeigt ein Gemälde von Paul Klee. Was aussieht wie eine Ansammlung zufällig hingeworfener Buchstaben, hat System. Jeder Buchstabe kommt genau zweimal vor - außer das „J". Paul Klee nimmt mit dieser Arbeit eines vom „J" bereinigten Alphabets Stellung zur Judenfrage im Nationalsozialismus. Er malte diese Bild im Jahr der Reichsprogromnacht 1938. Er war bereits im Schweizer Exil. Sein Atelier in Düsseldorf war von den Nationalsozialisten durchsucht und verwüstet worden. Als einer der international bedeutendsten Künstler seiner Zeit litt er unter der Diffamierung seiner Werke und der Aufnahme einiger seiner Bilder in die berüchtigte Ausstellung „Entartete Kunst".
Vor dem Hintergrund dieser Lebenserfahrung, in der bisher Vertrautes, Anerkanntes scheinbar bedeutungslos und unnötig geworden ist, wirken die verstreuten Buchstaben wie letzte Überbleibsel eines verlorenen Sinnzusammenhanges. Wo früher Worte waren, Texte, Literatur, sind nur einzelne Buchstaben übrig geblieben. Ein Bild des Zerfalls. Das ausgelöschte „J", es nimmt prophetisch den Holocaust in den Blick. „Jude" könnte nicht mehr aus den Buchstaben zusammengesetzt werden. Aber auch nicht mehr „Jerusalem" und „Jesaja" und - „Jesus". Und wenn wir den Blick heute in den Irak tun, dann drängt sich noch eine vom Untergang bedrohte Minderheit auf mit „J": die Jesiden.
Aber Paul Klee bleibt nicht bei der Analyse der Gegenwart stehen. Wie bei einem Puzzle, bei dem man zueinander passende Teile sortiert, hat er erste Buchstaben zusammengruppiert und mit Zahlen von 1 bis 5 versehen - als bestünde die Gefahr, man könnte den mühsam gefundenen Zusammenhang wieder verlieren. Liest man die Worte in dieser Reihenfolge, entsteht ein erster Satz: „So fang es heimlich an." Dieser Satz stammt aus einer Arie Johann Sebastian Bachs. In dem Text geht es um die Frage, wie können zwei Menschen, die einander lieben, zusammenfinden, auch wenn es die äußeren Verhältnisse nicht erlauben? Paul Klee will sich mit den realen Fakten nicht einfach zufrieden geben. Er will sich nicht mit der Zerstörung arrangieren und sich schon gar nicht die Deutung der Welt aus der Hand nehmen lassen. In aller Zerstörung beginnt er mit dem Wiederaufbau einer neuen, einer anderen Welt. Es ist ein eher mühseliges Unterfangen. Buchstabe für Buchstabe muss zusammengesucht werden, zu einem Wort, zu einem Satz. Wie es ja auch mühselig ist, mit Menschen, die sich fremd und feindselig gegenüberstehen eine gemeinsame Gesprächsbasis zu finden. Das gelingt im geschützten persönlichen Raum meistens besser als im Scheinwerferlicht des öffentlichen Interesses - eben so, wie Paul Klee es anspricht: „So fang es heimlich an." Ich wünsche den Menschen in Israel und Palästina zwei Frauen wie Betty Williams und Mairead Corrigan, die in den 60er Jahren, als (irische) Katholiken und (englische) Protestanten sich in Nordirland spinnefeind gegenüberstanden und blutig bekämpften, zueinander kamen - als Mütter, die einfach Angst um ihre Kinder hatten und sich als Streiterinnen für das Lebens verbündeten. Heimlich mussten sie es anfangen, um in ihren eigenen Communities nicht niedergemacht zu werden. Aber sie haben es geschafft. Ihre Bewegung hat maßgeblich zur Befriedung Nordirlands beigetragen.
Liebe Gemeinde, mein Gottesbild macht es mir nicht möglich zu glauben, dass da, wo schrecklich ungerechte, friedlose und heillose Verhältnisse herrschen, Gott erscheinen wird, um sozusagen von oben die Dinge zu richten. Aber ich glaube, dass die Liebe und in ihrem Gefolge Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Gewaltlosigkeit und Freundlichkeit die Kräfte sind, die Zukunft und Leben eröffnen. Wo Liebe ist, da ist Gott. Um es im Bild der Linguistik auszudrücken: Gott ist kein Subjekt, sondern ein Verb. Gottes Sein ist im Werden und Tun - und zwar auch in uns und durch uns. Wo wir lieben und das meint, wo wir auf den anderen zugehen, uns für ihn interessieren, seine Geschichte wahrnehmen und barmherzig miteinander umgehen, uns für Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit einsetzen, wo wir Vorurteile abbauen (auch in uns selbst!!!) und Verschiedenheiten bejahen, wo wir unseren Blick nicht durch die Brille der Angst verzerren lassen, wo wir alles daran setzen, das Böse mit Gutem zu überwinden (auch wenn es uns viel kostet), genau da ist Gott am Werk. Es wird kaum den großen Wurf geben, aber die vielen kleinen Schritte. Gottes Sein ist im Werden, Gottes Reich ist im Werden - aus kleinen Anfängen. Und ich glaube fest, dass das auch in Israel/Palästina geschieht. Wobei ich natürlich hoffe, dass das Senfkorn des Reiches Gottes nicht mehr mit allzuviel Blut und Tränen begossen wird, bevor es zum Baum wird, in dessen Zweige die Vögel des Himmels - Symbol für alle Menschen, die dort im „Heiligen Land" leben - nisten. Da, wo die Menschen in Israel und Palästina, nicht mehr Gott gegen ihre Feinde in Stellung bringen, sondern einfach Gottes Werke tun, heilen und trösten, um Vergebung bitten und Vergebung gewähren, sich miteinander versöhnen. Der Weg zum Frieden ist ein anstrengender und meist mühseliger Weg. Auch da mag uns die Karte mit dem Bild von Paul Klee ein Hinweis sein. Es sind „nur" einzelne Buchstaben da, aber: sie können zusammengesetzt werden. Es sind oft auf den ersten Blick nur Einzelinteressen da, aber: sie lassen sich sinnvoll verbinden. Entscheidend ist, dass wir die Hoffnung nicht aufgeben. Mit Blick auf Israel, Palästina und Jerusalem und mit Blick auf all die vielen anderen Orte gerade im Nahen Osten.
Amen.
9.n.Trin. 17.08.2014 Hohes Lied 3 und 8 (in Auswahl) Stadtkirche & Jonakirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jonakirche 9.n.Trin. - 17.VIII.2014
Hohes Lied 3 + 8 i.A.
Das Hohelied Salomos (3 und 8 in Auswahl)
Des Nachts auf meinem Lager suchte ich, den meine Seele liebt.
Ich suchte; aber ich fand ihn nicht.
Ich will aufstehen und in der Stadt umgehen auf den Gassen und Straßen und suchen, den meine Seele liebt.
Ich suchte; aber ich fand ihn nicht.
Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umgehen:
- "Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebt?"
Da ich ein wenig an ihnen vorüber war, da fand ich, den meine Seele liebt.
Ich halte ihn und will ihn nicht lassen, bis ich ihn bringe in meiner Mutter Haus, in die Kammer der, die mich geboren hat.
O, daß du mir gleich einem Bruder wärest, der meiner Mutter Brüste gesogen!
Fände ich dich draußen, so wollte ich dich küssen, und niemand dürfte mich höhnen!
Ich wollte dich führen und in meiner Mutter Haus bringen, in die Kammer derer, die mich gebar; da wollte ich dich tränken mit gewürztem Wein und mit dem Most meiner Granatäpfel.
- Seine Linke liegt unter meinem Haupt, und seine Rechte herzt mich. -
Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, daß ihr meine Liebe nicht aufweckt noch regt, bis es ihr selbst gefällt.
***********************
Wer ist die, die heraufsteigt von der Wüste und lehnt sich auf ihren Freund?
Unter dem Apfelbaum weckte ich dich; wo deine Mutter mit dir in Wehen kam, wo in Wehen kam, die dich geboren hat. Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz und wie ein Siegel auf deinen Arm.
Denn Liebe ist stark wie der Tod, und ihr Eifer ist fest wie die Hölle.
Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des HERRN, daß auch viele Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen noch die Ströme sie ertränken.
Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, so könnte das alles nicht genügen.
************
Liebe Gemeinde!
Als wir vor 25 Jahren Verlobung feierten, war ich so hingerissen von meiner Braut – was Gott und Laura Ashley aus ihr gemacht hatten –, dass ich meinte, wer immer sie erblicke und von dem vielleicht unvorteilhaften Knaben an ihrer Seite absähe, den würden der Ostertag mit seinem Veilchenduft und das Blumenkleid und seine Trägerin dazu bringen, in lauter Versen zu sprechen.
……. Doch mit an der Tafel saß die berühmte dreizehnte weise Frau in Gestalt einer Großmutter der Braut, die des seltenen Zaubers kundig war, noch das allerschönste Ding auf Erden augenblicks in Prosa zu verwandeln. Sie hatte ihre – gewiss bitteren – Erfahrungen und Gründe dafür, dass auf ihrer Zunge sich selbst Ambrosia in Nüchternheit auflöste.
Dem schwärmerischen Rausch des neunzehnjährigen Bräutigams jedenfalls begegnete sie mit volksmundartlicher Eiseskälte und streute Ascheregen auf den Zuckerguss der jungen Liebe, … gratulierte nämlich, wünschte Segen und sprach:
„Dat is wat, bis man sich hat. Wenn man sich hat, is man sich satt.“ ——
Nun, Salomo?
Stimmt’s??
Ist das der Grund, weshalb Du so blumig im „Hohenlied“ und so dürr im „Prediger“ redest?
Ist es einfach nur die Körpersprache des verführerischen Lockens, dem das missmutige Abwinken folgt, wenn das Mütchen gekühlt und der Trieb erloschen ist? Immer nur das alte Lied, das angeblich schon die Ärzte und Philosophen der Antike in die Weisheit kleideten, jedes Biest sei nach der Vereinigung traurig, … außer dem Hahn, der immer noch krähe?
— Nein. So ist es eben doch gerade nicht!
Es ist eben gerade nicht so, als müsse man die Pennäler-Lyrik des Hohen Liedes mit roten Ohren und stotternder Erregung irgendwann hinter sich gebracht haben, um alsdann zu den emotionsfreien Entmythologisierungen der menschlichen Bedürfnislosigkeit und des theologischen Zweifels fortzuschreiten.
So traurig mag das der aufgeklärte, verbeamtete Philister gedacht haben, der die Liebe für ein Studentenleiden hielt und später an irgendeinem blauen Engel zerbrach. …….
Um wieviel weiser und wahrer ist aber die Bibel, die uns in ihrem hohen Liebeslied erkennen lässt, dass die erfüllteste Liebe nicht zum Überdruss und Erlöschen führt, sondern dass Liebe gerade durch ihre Erwiderung die Unerfüllbarkeit kennen lernt.
Das ist nämlich der Sinn der mitten im biblischen Singsang der verliebten Stimmen immer wieder eingestreuten Unterbrechungen, der Motive von Trennung und Abschied, der bewegenden Szenen des Suchens und Sehnens – am eindringlichsten im 5.Kapitel, in dem es heißt (52+6):
„Ich schlief, aber mein Herz war wach. Da ist die Stimme meines Freundes, der anklopft. … Aber als ich meinem Freund aufgetan hatte, war er weg und fortgegangen. Meine Seele war außer sich, dass er sich abgewandt hatte. Ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht; ich rief, aber er antwortete nicht.“
— Würde man so schneidend traurige Momente gewöhnlich im Herzen der Hochzeitsgesänge suchen? Wird hier nicht nur noch das Leid der Liebe, ihr bitteres Weh beklagt? Ist es nicht zwingend, dass Bach den Chor der Matthäus-Passion zu Beginn des zweiten Teiles mit den klagenden Freundinnen der Braut verschmilzt, die im Hohen Lied (61) rufen: „Wo ist denn dein Freund hingegangen, o du Schönste unter den Weibern? Wo hat sich dein Freund hingewandt? So wollen wir ihn mit dir suchen.“
Endet so nicht die Liebe …immer, ……. tragisch?!
Nein, lehrt uns das Hohe Lied mit seiner Anordnung: Es ist kein seelisches Gesetz, keine Regel der Gefühle, dass nach der innig-tiefen Nähe der erfüllten Liebe das Genossene schal wird – vielmehr wächst im wirklichen Lieben die Erfahrung, dass man sich eben nie ganz bekommen und besitzen wird, sondern dass Liebende Suchende sind.
Je stärker uns das Geheimnis des Anderen berührt, je dichter und gemeinsamer das wurde, was man teilen darf, desto klarer und wahrer wird die Einsicht, dass man nie alles fassen und sich aneignen kann, was wir am Geliebten lieben, weil uns das grausam einsam machen würde:
Nur die fälschlicherweise sogenannte „Gottesanbeterin“ verschlingt ja ihr Gespons.
Alles, was sich sonst liebt und neckt erfährt auch im Atmen der Liebe die zweierlei Gnaden, dass – mit den Worten des Predigers Salomo (35) – nämlich ein jegliches seine Zeit hat: „Herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit“. ———
Doch was bedeutet es, nachdem wir im Hohen Lied eine so anschauliche und zugleich durchsichtige Doppelbotschaft finden, wie unser irdisches Lieben der Liebe zu Gott ähnelt, … was bedeutet es, dass wir nun hören: Wie auch immer wir uns in der Liebe Gott annähern – wir kommen damit an kein Ziel, wir bleiben in der Sehnsucht des Nie-Abgeschlossenen?
Nun, das ist eine gute Nachricht, vielleicht die Beste überhaupt – allein schon, wenn wir an die denken, die uns das Gegenteil weismachen wollen: Menschen, die felsenfest behaupten, sie hätten Gott im Fäustchen oder seien so dicke mit Ihm, dass Er durch sie spräche und sie für Ihn handelten.
Das ist die widerwärtige Begierde und Obszönität der Fundamentalisten, die man daran erkennt, dass sie Gott nicht lieben können, sondern ihn besitzen müssen.
Wir aber sollen Gott lieben wie die überglücklichen und immer wieder neu verwirrten Beiden des Hohen Liedes, die feststellen, dass sie den anderen trotz aller Begegnungen und Bindungen nicht wirklich kennen, sondern je und je vermissen und entdecken und versäumen und freigeben und abermals finden müssen.
Solche Enttäuschungen und Ernüchterungen, solche Neuanfänge und auch solche Kreisbewegungen sind Merkmale und Begleiterscheinungen der Liebe um ihrer Lebendigkeit willen: Wäre es anders – hätten Liebende jemals ein fertiges Bild, genügte ihnen je der zwei-dimensionale Eindruck, den man festhalten kann, gegenüber dem dreidimensionalen, der sich selbständig regt – dann hätte am Ende jene maliziöse Beschwörungsformel recht, die einst der Sahne der Verlobungstorte ihren Stich geben sollte, aber eigentlich nur Wahrheit obenauf streute: Wenn man sich einmal wirklich hätte, würde man einander wohl satt!
Welch’ ein Segen daher, dass wir alle nicht zu haben sind, sondern immer nur ahnungs- und genussvoll, leid- und liebevoll zu suchen! ———
Die Kinder Israel haben dieser Lehre des Hohen Liedes, in der Braut- und Sehnsuchtsreigen, Nähe und Rätsel des Geliebten ineinander übergehen auf besonders tiefsinnige Weise Rechnung getragen.
Schon dass sie das scheinbar schmalzig-schlüpfrige, salomonische Erotikon überhaupt in die Bibel aufnahmen – während es unseren Klassikerausgaben bis weit in die Nachkriegszeit vor lauter Prüderie nicht leicht fiel, Goethe oder Heine oder die großen Barockdichter unzensiert zu verbreiten, da die Matratze allenfalls als „Gruft“ schicklich zu nennen war – schon dies also, dass das Hohe Lied Bibel sein und bleiben sollte, ist eine starke Entscheidungstat der Synagoge gewesen, der die Kirche folgte.
Den Streit um das Hohe Lied hat damals der berühmte Rabbi Akiba entschieden mit den Worten, dass die ganze Welt nie so würdig war wie an dem Tage, an dem das Lied der Lieder verliehen wurde, denn von allen heiligen Schriften ist das Lied der Lieder hochheilig.*
Neben diese grundsätzliche Entscheidung, das Buch der Liebe hochheilig zu halten, kam als noch stärkere Tat aber die Erkenntnis seines Zweckes, denn das die Bibel absichtslose Kunst enthalte, war nie die Meinung ihrer Schüler.
Wozu ist also das rauschende und knirschende Lied vom wahren Zusammensein und dennoch Getrenntbleiben bestimmt?
Nun, es hat den höchsten denkbaren Ort im jüdischen Festjahr eingenommen: Es dient als Schriftlesung am Sabbat des Passahfestes!
— Denn eben das ist der Anfang aller Freiheit und Wahrheit, dass wir uns kein Verhältnis wie einen ewigen honeymoon ausmalen, dass wir uns nie endlose Ekstase oder eine ungebrochene Umarmung in der Schwerelosigkeit versprechen, sondern von Anfang an die Geschiedenheit als unaufhebbare Voraussetzung der Liebe erkennen:
Gott und Israel lieben sich leidenschaftlich, können und werden ohne einander nicht sein, begehren stürmisch gegen gewaltsame Trennung auf, fliehen in die Wüste, um dem andern frei begegnen zu können – das alles ist die Entführung aus dem Serail, von der das Passahfest handelt –, aber ihre widerstreitenden Eigenheiten, Trotz und Scheu, Erwartungen und deren Ausbleiben füllen bereits die Berichte von der Verlobungszeit des Exodus, von der ersten Liebe zwischen Gott und den Erwählten. ——
Und eben diese heiß-kalten Wechselbäder des Gefühls schildert das Hohe Lied unübertroffen.
„Wo ist er, den meine Seele liebt?“
Ja, liebe Seele …. er ist nicht dort, wo Du ihn gerne sähest – im trauten Heim.
Denn hier begegnet uns tatsächlich die erste Stelle, an der wir die Stimme der Geliebten nicht unwidersprochen stehen lassen können, wenn sie sich zurück in die Kindheit träumt und den Widersprüchen des mündigen Liebens entfliehen will, indem sie den Freund zu ihrem Brüderlein erklärt und ihn in der mütterlichen Stube als Spielkameraden haben möchte, wo Streit nur vorübergehende Differenzen auslöst … nichts Ernstes.
Aber Liebe – die Liebe zu einem Menschen, die Liebe zu Gott! – ist nun einmal ernst und schwer, kein Kinderspiel, sondern das Größte und Letzte, dessen wir fähig sind. —
Und selbst wenn uns einer – so wie Gott – in der Liebe entgegenkommt, und selbst wenn Er unsere kindlichen Wünsche nach Harmonie und Unschuld spürt, und wenn Er uns tatsächlich zärtlich wie ein Kind behandelt, das sich den Konflikten und Komplikationen der Liebe nicht gewachsen glaubt, so wie es der Freund am Ende des Hohen Liedes tut, … dann wird dadurch noch lange nicht alles einfach.
Denn der Liebende – Gott selbst – erinnert die geliebte Seele ausgerechnet unterm Apfelbaum an den Ursprung des Menschenlebens: Dass unsere Geburt – als die Mutter in Wehen kam – ja die erste Trennung, die erste Selbständigkeit brachte, die lebenswichtig ist, damit das Urbild mütterlicher Liebe überhaupt Gestalt annehmen kann. ——
Und mit dieser Mahnung – dass es wirklich keine einfache Einheit, sondern immer ein Suchen und Berühren, ein Finden und Verbinden über den Abstand hinweg bedeutet, wenn wir lieben –, mit dieser Mahnung sagt die Bibel ihr letztes hochheiliges Wort über die Liebe:
Liebe ist nicht der Traum vom Einswerden und Ineinanderaufgehen – jener Wunsch, den Ed.Mörike für uns alle ausspricht†: „Kann auch ein Mensch des andern auf der Erde / Ganz, wie er möchte, sein?“ – … Liebe ist nicht der Traum vom Einswerden und Ineinanderaufgehen, sondern die Bereitschaft zum Mitgehen an des anderen Seite für alle Zeiten.
Mitgehende Liebe bleibt also bereit zum Versuch und zum Verzeihen, sie will nicht, dass alles gefriert in jenem leblosen Zustand, den wir uns als „perfekten“ denken, sondern sie ist gerüstet für das ständige Auf und Ab des atmenden Herzens.
Dorthin nämlich, auf das Zentrum der lebendigen Bewegung, auf den Ort der ständig ein-und ausströmenden Pulse gehört das Siegel der Liebe.
Sie will keinen Stillstand, … Stillstand ist ja der Tod! Sie aber bleibt im Takt des Zueinanders und Voneinanders, des Haltens und Lösens, des Einkehrens und Aufbrechens.
Das ist die Stärke der Liebe: Ihre Ausdauer zwischen dem, was beruhigt und dem, was beschleunigt, zwischen dem, was in die eigene Tiefe dringt und wieder in’s Weite weist.
So ist Liebe wie Atem und Blut und Leben: Nie starr, immer bewegt, nie am Ende, sondern noch und noch im Lauf.
Darum aber kann man sie wirklich mit keinem Reichtum kaufen und keinem Opfer erwerben: Weil sie nichts ist, das man je haben könnte.
Allen, die die Liebe zu haben meinen, wird sie doch immer voraus sein … schon in der Gestalt des geliebten Menschen, über den wir nicht verfügen – um wieviel mehr aber in der vollkommen unbändigen Lebendigkeit Gottes!
Wenn aber die Liebe uns immer voraus ist – weil sie in der Schönheit und Freiheit des Lebendigen und nicht in den Fesseln des Todes gesucht werden muss! – , dann kann man ihr eben nur nachfolgen! ——
……. Und damit mag uns ahnungsweise aufgehen, wohin das Hohe Lied der Liebe – die Schriftlesung des Passahfestes der Befreiung – uns Christen führt:
Im Schatten des Todes – so ahnen wir es wohl –, da erfahren wir nur erst den Schatten, den Vorschein der Liebe. Solang wir diese Grenze vor uns sehen, solang kann unsere Bereitschaft, dem anderen nachzugehen, nachzuspüren, nachzufolgen ja noch nicht wirklich frei sein.
Doch wenn diese Begrenzung dahinfällt, wenn wir es tatsächlich erfahren, dass nichts den Weg der mitgehenden Liebe je aufhalten und ausbremsen kann, dass sie alle Welt und alle Zeit, dass sie alle Weite und alle Ewigkeit vor sich hat, um immer weiter mit dem Geliebten zu gehen, ihn zu suchen, ihm zu folgen – da wird die Liebe ganz und gar Sehnsucht und darin ganz und gar frei.
Da kann die Liebe – gerade in dem Augenblick, in dem sie die Füße umklammern will, die aus dem Grab hervorgegangen sind – Vorsicht, liebe Liebe! …. „wenn man sich hat, wird man sich satt“ …. – da kann die Liebe es ertragen, zu hören (vgl.Joh2017):
„Halt’ mich nicht auf! Rühr’ mich nicht an!
Ich fahre auf zum Vater! Ich ziehe dich nach, so laufen wir!“
Und die Liebe, die christliche Liebe, die österliche Liebe sie läuft ……. sie läuft ihm endlos nach, sucht ihn und findet ihn, lässt ihn frei und bleibt in seiner Nachfolge selbst in Ewigkeit unbezwinglich frei.
Sie weiß es nun: „Für immer werde ich auf den Wegen meines Freundes laufen und nichts wird mich davon abhalten können. Zwar werde ich ihn nie haben – aber immer werde ich wie ein Siegel an Seinem unermüdlich lebendigen Herzen sein!
Denn Liebe ist eine Flamme des HERRN, die strahlt in Ewigkeit.“
Und so ist das Hohe Lied am Ende das österliche Lied.
Es sagt: Der Herr lebt und die Ihn lieben, werden auch leben!
„Euer Herz soll ewiglich leben!“ (Ps2227)
Amen!
************
Gebet nach der Predigt
Du lebendiger Herr!
Wie herrlich weit und frei macht uns Deine Liebe!
Wie gnädig löst sie uns vom Klammern und vom Sorgen und führt uns in die Weite, holt uns über in die Ewigkeit.
Wie glücklich sind wir, dass wir Dich lieben dürfen; wie froh und unbeschwert können wir alle Dinge, alles woran wir hängen hingeben – nicht um Deine Liebe zu erzwingen, sondern um Dir leichter und beflügelter zu folgen.
Herr, schenke doch allen solche Schwingen:
Dass die Müden und Traurigen sich erheben und über den Scherbenhaufen auffahren wie Adler.
Gib den Gebundenen, die durch Gewalt oder Angst festgehalten werden, die wunderbare Leichtigkeit, die sich von Dir ziehen und tragen, heben und retten lässt.
Hilf denen, die schwer tragen und einen Menschen, einen Gedanken festhalten wollen … hilf ihnen, die Last loszulassen und zu erfahren, dass das Leben uns nicht hinunter-, sondern emporzieht!
Schenke allen, die lieben – als Eheleute, als Eltern, als Kinder, als Freunde, als Menschen – … schenke allen, die lieben, das Schweben, dass ihre Verantwortung nicht Blei, sondern Bewegung für sie wird.
Reiße uns alle – die Verzagten und die Voreiligen, die Frischen und die Matten, die Toten und die Lebenden – reiße uns alle Dir entgegen, wo wir Dich treffen sollen, in der Freiheit Deines Reiches, wo wir Dich umgeben werden, wo wir im Chor der Befreiten Dir unsere Liebeslieder singen werden im ewigen Licht!
8.n.Trin. 10.08.2014 Hohes Lied 4 + 5 i.A. Stadtkirche und Jonakirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jonakirche 8.n.Trin. - 10.VIII.2014
Hohes Lied 4 + 5 i.A.
Das Hohelied Salomos (4 und 5 in Auswahl)
»Siehe, meine Freundin, du bist schön! siehe, schön bist du!
Deine Augen sind wie Taubenaugen hinter deinem Schleier.
Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die gelagert sind am Berge Gilead herab.
Deine Zähne sind wie eine Herde geschorener Schafe, die aus der Schwemme kommen, die allzumal Zwillinge haben, und keines unter ihnen ist unfruchtbar.
Deine Lippen sind wie eine scharlachfarbene Schnur und dein Mund ist lieblich.
Deine Schläfen sind hinter deinem Schleier wie eine Scheibe vom Granatapfel.
Dein Hals ist wie der Turm Davids, mit Brustwehr gebaut, daran tausend Schilde hangen und allerlei Waffen der Starken.
Deine beiden Brüste sind wie zwei junge Zwillinge von Gazellen, die unter den Lilien weiden.
Bis der Tag kühl wird und die Schatten weichen, will ich zum Myrrhenberge gehen und zum Weihrauchhügel.
Du bist wunderbar schön, meine Freundin, und kein Makel ist an dir.
Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, findet ihr meinen Freund, so sagt ihm, daß ich vor Liebe krank liege.
Was hat dein Freund vor andern Freunden voraus, o du schönste unter den Weibern? Was hat dein Freund vor andern Freunden voraus, daß du uns so beschwörst?
Mein Freund ist weiß und rot, auserkoren unter vielen Tausenden.
Sein Haupt ist das feinste Gold.
Seine Locken sind kraus, schwarz wie ein Rabe.
Seine Augen sind wie Augen der Tauben an den Wasserbächen, sie baden in Milch und sitzen an reichen Wassern.
Seine Wangen sind wie Würzgärtlein, da Balsamkräuter wachsen.
Seine Lippen sind wie Lilien, die von fließender Myrrhe triefen.
Seine Hände sind wie goldene Ringe, voll Türkise.
Sein Leib ist wie reines Elfenbein, mit Saphiren geschmückt.
Seine Beine sind wie Marmorsäulen, gegründet auf goldenen Füßen.
Seine Gestalt ist wie der Libanon, auserwählt wie Zedern.
Sein Mund ist süß, und er ist ganz lieblich.
Ein solcher ist mein Freund; mein Freund ist ein solcher, ihr Töchter Jerusalems!«
************
Liebe Gemeinde!
„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“, hat der Philosoph Ludwig Wittgenstein befunden*. —
Nun war in den vergangenen beiden Wochen viel – vielleicht zu viel? – von etwas die Rede, das sich tatsächlich auf keinen Begriff und keinen Nenner bringen lässt, auch wenn ein Wortschwall ohne gleichen in dieser Sache durch Welt und Zeit strömt: Es ging um die Liebe – und darüber zu reden ist zugegebenermaßen nicht furchtbar sinnvoll, jedenfalls nicht im strengen Sinn einer verallgemeinerungsfähigen, objektiv nachvollziehbaren Aussage.
Denn der eine Mensch wird im selben Ton der Inbrunst sagen, dass er Wackelpudding liebe, mit dem ein anderer beteuert, dass er Wagner liebt. Doch selbst wenn man das Geschmacksurteil jeweils teilen würde, bleibt ja offenkundig, dass zwischen Götterspeise und Götterdämmerung ein so grundsätzlicher Unterschied besteht, dass man sie schlechthin nicht mit ein und demselben Gefühl verbinden kann, ……. oder?
– Nun, wie immer es sich mit den Emotionen um Bielefeld und Bayreuth auch verhalten mag, eines ist gewiss:
Selbst die ganz genau bestimmte Liebe, die Menschen zueinander zieht und beieinander hält, ist zur Beschreibung und Verständigung ungeeignet: Weil wir ihre Gründe, ihre Tiefe, ihr Entstehen, ihre Nahrung, ihren Reichtum, ihre Biegsamkeit und ihren Eisengehalt nicht wirklich benennen und wenig Schlüsse daraus ziehen können!
… Warum Du hier liebst und ich da, … weshalb ein Herz für rotes Haar höher schlägt und ein anderes sich an schwarz wie Ebenholz weidet, … wieso einer hingerissen ist, weil ein Mädchen auf ihn wie eine Elfe wirkt und ein anderer verzückt, wenn sie wie ein Erdapfel ist – „Schön rötlich die Kartoffeln sind und weiß wie Alabaster“ (M.Claudius) –, das alles entzieht sich dem vernünftigen Gespräch.
Und dass es töricht und manchmal geradezu tödlich sein kann, wenn bestimmte Ideale vermeintlich allgemein geteilt werden, das lehrt uns jede Mode: Die zerschnürten Innereien des Miederzeitalters ebenso wie die zu Tode gemästeten Bräute in Mauretanien, … ach, sämtliche unglücklichen Versuche der gefallsüchtigen Menschheit aller Zeiten.
Und trotzdem soll heute – so vergeblich und vereinzelt es auch immer sein muss – von dem geredet werden, was die meisten von uns als einen hinlänglichen, wenn auch je verschiedenen Auslöser der Liebe gelten lassen mögen: Von der Schönheit. ….Von der Schönheit, bei der sich sofort die eben durchbuchstabierte Schwierigkeit wiederholt, dass „dem een’ sin Uhl dem annern sin Nachtigall is“ und wir in diesen Dingen folglich gar nicht einig werden können – zum Glück aber auch nicht müssen. ——
Was aber soll dann die Schönheit auf der Kanzel?
Wie kann die schwärmerische Poesie des Hohen Liedes uns irgendetwas Gemeinsames bedeuten, da über den Gusto doch nicht zu disputieren ist?
Bloß weil ein altorientalisches Liebespaar sich gegenseitig mit kindlicher Entdeckerfreude in schönen Strophen abtastet und in frisch gebliebenen Farben und unverdorbenen Bildern den Abguss des jeweils anderen für alle Zeiten bewahrt, sollten wir darum plötzlich Glauben und Ästhetik vermengen und für einander vereinnahmen? …….
In meinem Elternhaus herrschte eine typisch protestantische Haltung zu diesen Dingen.
Allem bloß Ästhetischen war man misstrauisch abhold: Da kamen ein stinknüchterner preußischer Sinn und eine bewusst evangelische Blindheit – da der Glaube schließlich aus dem Hören kommt (vgl.Rö1017 im Griechischen) und nicht vom katholischen Glotzen und Gaffen! – zusammen mit der Abwehr gegen die in plakative Äußerlichkeiten verliebte Ideologie der älteren Generation, die blonde Zöpfe, saubere Scheitel und adrette Uniformen für den Ausweis höherer Daseinsberechtigung hielt. Schönheit taugte und galt nichts und sie sollte nach Möglichkeit vermieden oder zumindest kritisch-großzügig übersehen werden.
… Immerhin auch das im Geiste eines zutiefst biblischen Satzes, noch dazu von Salomo – dem augenscheinlich zeitweiligen Genießer der weiblichen Schönheit im Hohenlied! –, der in seinem großen und ergreifenden Lobpreis auf die tugendsame Ehefrau im Buch der Sprüche (3130) feststellt:
„Lieblich und schöne sein ist nichts; ein Weib, das den HERRN fürchtet, soll man loben“. ……. Wer diese Worte aber einmal in der betörenden, schmelzenden, typisch evangelisch-kirchenmusikalischen Fassung gehört hat, die Joh.Herm.Schein, der Thomaskantor 100 Jahre vor Bach ihnen in einer Motette gab†, der ist bereit, sich sofort die Augen ausstechen zu lassen und künftig durch’s Gehör allein selig zu werden! ——
Aber der Widerspruch ist dennoch nicht aus der Welt:
Die visuelle Lyrik des „Meine Freundin, du bist schön….“: das ist ansteckende Ästhetik im Herzen des Glaubens — und die feingeistige Musik des „Lieblich und schöne sein ist nichts“ … sie ist ebenso ästhetisch ergreifend und zwingend.
Wir können uns also drehen und wenden wie wir wollen und immer wieder feststellen, dass mit der Feststellung des Schönen rein gar nichts gesagt sei: Dennoch ist sie da – die Schönheit –, und sie packt uns und will uns etwas Theologisches verraten!
Denn das ist doch ihr Geheimnis: Jeden berührt sie, fast jeder erkennt sie für sich, … doch keiner erfasst sie ganz, niemand kann sie festhalten oder der Menschheit unwiderleglich demonstrieren, niemand kann ihr Geheimnis verraten, kein noch so magischer Meister oder Techniker wird sie je lebensecht kopieren und ersetzen können.
Sie ist namenlos da, sie erfüllt uns Ohren, Augen, alle Sinne, weil sie die Welt erfüllt – und doch entzieht sie sich unseren Worten und weicht unseren Sprüchen und Ansprüchen aus. ………….
Man muss also wahrhaftig kein alter Grieche und auch sonst kein oberflächlich dekadenter Genussmensch sein, um in dieser allgegenwärtigen und zugleich ungreifbaren Macht eine Botschafterin Dessen zu erfahren, Der wie die Schönheit ist: Unbeschreiblich und dabei doch keinem von uns fern, verwoben in jede Erscheinung und doch in keiner einzigen abgebildet.
Insofern hat es also sein Recht und seine Ordnung – trotz aller Vorbehalte gegen die leicht zu blendenden und verführenden Augen –, wenn in der christlichen Theologie immer wieder der Satz begegnet, dass Gott unaussprechlich schön sei.
Augustinus, der römisch-afrikanische Kirchenvater, der vor seiner Bekehrung wahrhaftig alle Spielarten des äußerlich und innerlich, des philosophisch und erotisch Schönen gekostet hatte, bekennt es in einem berühmten Seufzer**:
„Spät hab ich dich geliebt, Du ewig alte, ewig neue Schönheit, spät hab ich Dich geliebt!“
Und seit Augustinus haben selbst die abstraktesten christlichen Köpfe, die strengsten Denker es nicht mehr übersehen können, dass die anfängliche Begeisterung Gottes über seine Schöpfung sich nicht nur im Sinne des moralisch Guten übersetzen ließ, sondern auch ganz schlicht lauten dürfte: Und siehe, es war alles sehr schön!
Diese Erinnerung an Gottes Schönheitssinn und seine eigene, überragende Herrlichkeit durchzieht z.B. die Schriften eines Menschen, dem man das landläufig schlicht nicht zutraut, weil er als solcher Griesgram verschrien ist: Doch gerade bei Johannes Calvin werden wir immer wieder darauf gestoßen, dass Gott uns diese Welt als eine einzige Vorbereitung auf die überweltlich überwältigende Glorie der kommenden schenkt.
Und auch wenn das Calvin merklich zu weit gehen würde, ist doch das einem amerikanischen Naturphilosophen zugeschriebene Wort nicht ohne die christliche Vorschule der Ästhetik zu verstehen, wenn nämlich Ralph Waldo Emerson uns an’s Herz legt††:
„Versäume niemals, etwas Schönes zu betrachten, denn Schönheit ist die Handschrift Gottes – sein Sakrament am Wegesrand!“
… Schönheit als Handschrift Gottes, als Sein Wasserzeichen in Seinen Werken, als Seine Spur, der man folgen, als Sein flüchtiger Gruß, den man erwidern soll, als Sein eigenes Geheimnis, auf das man gespannt sein darf?! …….
Demnach wäre das sonderbare Bauch-Beine-Po-Programm des Hohen Liedes, wären der Granatapfel und die Zwillingsgazellen unter den Lilien, wären die Würzgärtlein und Marmorsäulen nicht nur der üppig blühende Orientalenschwulst, als den man sie schnell abtut, sondern sie hätten wenn auch nicht mit dem Inhalt, so doch mit der Form des Evangeliums zu tun: Daran erinnert uns kein Geringerer als Karl Barth‡!
Wenn Gott uns nicht in Schönheit nahegebracht wird, dann wird der Glaube an Ihn glanz- und humorlos und damit langweilig und verfälscht!
Das hat das Christentum selbst immer wieder bestätigt, denn so zugeknöpft es gegenüber den reichlich frivolen Götzen der Antike auch blieb, so sehr es den demütigen und armen Herrn anstelle der athletischen Halbgötter verkündete, so sehr es seit dem Mittelalter den verunstalteten Schmerzensmann, der weder Gestalt noch Hoheit hatte (vgl.Jes532), meditierte – der Schönheit entkam es selbst mit seinem zugespitzten, passionstheologischen, sozialkritischen Realismus nicht: Ob man gleich an die Makellosigkeit der Michelangelo’schen Pietà denkt oder bloß an das lebendige Wollknäuel des Gotteslammes auf dem Isenheimer Altar …. die Schönheit dieser gefallenen Golgatha-Welt lässt sich einfach trotz allen Grauens nicht auslöschen; sie wird Bild und Musik, sie wird Erfahrung und Wort, sie ist Traum und ist Wahrheit sogar in Zeiten von Ebola und Gazatragödie, von Weltkriegserinnerung und irakischer Passion.
Nicht nur Dürer hat schließlich selbst den apokalyptischen Reitern noch einen Eindruck abgewonnen, der die Gegenwart und Gefahr des Ästhetischen mitten im Horror bezeugt.
Oder weniger eindringlich, dafür aber mit den unbestechlichen Worten Fontanes gesagt, der die Streusandbüchse der Mark als Revier der Musen und Grazien entdeckte*†:
„Es ist mit der märkischen Natur wie mit manchen Frauen. »Auch die häßlichste – sagt das Sprichwort – hat immer noch sieben Schönheiten.«“ ….. Was selbstredend in der Welt des Hohenliedes auch für jenes Geschlecht gelten dürfte, das bei uns zulande seinerzeit nicht als das „schöne“ bezeichnet wurde. ——
Doch über die irdische, die menschliche Schönheit ist genug gesagt.
Hinter und über ihr ahnen wir ja vielmehr die namenlose, die entzogene und doch so anziehende Schönheit Gottes, zu der das Zeugnis der Bibel uns führen und jede rechte Predigt – weil sie so viel ohnmächtiger ist als die Offenbarung selber – uns verführen möchte.
— Wie schön also mag Gott sein, wenn Paul Gerhardt – noch so ein landschaftlich nicht eben verwöhnter Märker – seufzen musste (EG 503,9): „Ach, denk ich, bist Du hier so schön und lässt Du’s uns so lieblich gehn auf dieser armen Erden: was will doch wohl nach dieser Welt … draus werden?!“ …….
Ja, wie unbeschreiblich mag die Begegnung mit Gott von Angesicht zu Angesicht für uns einst werden?! Wie sehr wird unser bisheriges Hören und Sehen vergehen und ein ganz neues Hören und Sehen, ein noch nie mögliches Wahrnehmen, eine himmlische Ästhetik uns ergreifen, wenn wir nicht mehr durch einen Spiegel ein dunkles Bild (vgl.1.Kor1312), sondern die aufgedeckte, reine Herrlichkeit erblicken (vgl.2.Kor46)?! Wie werden wir schmelzen und glühen, zittern, erleuchtet und geläutert sein, wenn sich uns zeigt, „was kein Auge gesehen, kein Ohr gehört hat, was in keines Menschen Herz gekommen ist…“ (1.Kor39)!
Wie schön, wie einzigartig, leidenschaftlich, trunken-machend, heilig-nüchtern schön wird es sein bei Gott, wenn das Wort des Propheten Jesaja (3317) in Erfüllung geht: „Deine Augen werden den König sehen in seiner Schönheit“.
Da wir das aber erwarten – den bewusst, nicht benebelt genossenen Taumel, die befreite Befangenheit, die die beiden Verliebten des Hohen Liedes so eindeutig glücklich macht, als endlich die Verhüllungen fallen – da wir das erwarten ….. wie wäre es mit etwas ganz Blödem, ganz Gutem als Übung?
Sollten wir uns nicht täglich darauf einstellen, dass wir mit Gott einst Tango tanzen werden, dicht von Ihm und seiner Herrlichkeit berührt, indem wir tatsächlich üben, ihm Komplimente zu machen, auszudrücken, was Er uns bedeutet und wie wir Seine Gegenwart genießen? …….
Natürlich klingt das dämlich, affiger als alle Tanzstundenmanieren.
Aber stirbt die Liebe nicht, wenn sie nicht atmen, Wort finden, Schwüre wechseln, Gefallen leben darf? – Zumindest wird sie verklemmt, umständlich und furchtbar steif.
Will man das? Verlobt sein wie die Urgroßeltern, für die die am wenigsten peinliche Offenbarung von Intimität nach der Hochzeit der Wegfall des Siezens war?
Nicht im Ernst.
Und darum tatsächlich eine Übung für die kommende Woche:
- Machen wir Gott, dem Schönsten und Besten jeden Tag ein Kompliment!
- Sagen wir Ihm, wie herrlich Er ist, benennen wir Seine Wunder und Seine unvergleichlichen Eigenschaften.
- Wagen wir uns – verschämt, wenn keiner sonst es hört – vielleicht sogar zu einer Liebeserklärung?!
Und wenn die Worte uns nicht über die Lippen wollen oder verlassen, denken wir im Stillen an die ruhigen, festen, ungenierten Klänge des Hohen Liedes:
„Meine Freundin, du bist schön! Du bist wunderbar schön, meine Freundin, und kein Makel ist an dir. — Ein solcher ist mein Freund; mein Freund ist ein solcher, ihr Töchter Jerusalems!“
Loben wir Gott damit!
Amen.
* Ludwig Wittgenstein, Schlusssatz 7 des Tractatus logico-philosophicus, Werke Bd 1, Frankfurt/M 1990, S.85.
† Johann Hermann Schein (1586-1630), No.11 der „Fontana d’Israel. Israelis Brünnlein: Auserlesene Krafft-Sprüchlin altes und newen Testaments… auf einer … Italian madrigalische Manier“ (1623).
** Confessiones / Bekenntnisse X, 27 (lt.-dt. hg. und übers. v .J.Bernhart, München 1980, S.547).
†† Das Zitat “Never lose an opportunity of seeing anything beautiful. Beauty is God’s hand-writing—a way-side sacrament” wird in der angelsächsischen Welt üblicherweise dem Naturphilosophen und Zivilisationskritiker Ralph Waldo Emerson (1803-1882) zugeschrieben – auch wenn dessen Urheberschaft nicht gesichert zu sein scheint.
‡ K.Barth, Kirchliche Dogmatik II/1, Zürich 1940, S. 739 (auf dem Gottesdienstblatt für die Gemeinde ausführlich im Zusammenhang zitiert).
*† Th.Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Die Grafschaft Ruppin, Vorwort zur 2.Aufl., Berlin und Weimar 1987, S.5.
7.nTrin. 03.08.2014 Stadtkirche und Jonakirche Hohes Lied 2 Pfr.Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 7.n.Trin. - 3.VIII.2014
Hohes Lied 2
Das Hohelied Salomos (2)
Ich bin eine Blume zu Saron und eine Lilie im Tal.
Wie eine Lilie unter den Dornen, so ist meine Freundin unter den Mädchen.
Wie ein Apfelbaum unter den wilden Bäumen, so ist mein Freund unter den Jünglingen.
Ich sitze unter dem Schatten, des ich begehre, und seine Frucht ist meiner Kehle süß.
Er führt mich in den Weinkeller, und die Liebe ist sein Panier über mir.
Er erquickt mich mit Traubenkuchen und labt mich mit Äpfeln; denn ich bin krank vor Liebe.
Seine Linke liegt unter meinem Haupte, und seine Rechte herzt mich.
Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder bei den Hinden auf dem Felde, daß ihr die Liebe nicht aufweckt und nicht stört, bis es ihr selbst gefällt.
Da ist die Stimme meines Freundes!
Siehe, er kommt und hüpft auf den Bergen und springt auf den Hügeln. Mein Freund ist gleich einem Reh oder jungen Hirsch. Siehe, er steht hinter unsrer Wand, sieht durchs Fenster und schaut durchs Gitter.
Mein Freund antwortet und spricht zu mir: Stehe auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin; die Blumen sind aufgegangen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube läßt sich hören in unserm Lande; der Feigenbaum hat Knoten gewonnen, und die Reben duften mit ihren Blüten.
Stehe auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!
Meine Taube in den Felsklüften, im Versteck der Felswand, zeige mir deine Gestalt, laß mich hören deine Stimme; denn deine Stimme ist süß, und deine Gestalt ist lieblich.
Fanget uns die Füchse, die kleinen Füchse, die die Weinberge verderben; denn unsere Weinberge haben Blüten gewonnen.
Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Lilien weidet. Bis der Tag kühl wird und die Schatten weichen, wende dich her gleich einer Gazelle, mein Freund, oder wie ein junger Hirsch auf den Scheidebergen (oder: den „Balsambergen“?).
************
Liebe Gemeinde!
Ist das wohl noch moralisch ……, das Hohelied hier zu hören und auszulegen?
Wobei ja nicht etwa die erotische Bildlich- und Deutlichkeit des Büchleins, sondern die Unmoral der Gegenwart die wahre Anfechtung wäre! — Können wir hier, in der christlichen Gemeinde tatsächlich Liebeslyrik bedenken, während unsere ältesten Geschwister, die orientalischen Kirchen eine nach der anderen – in Syrien, im Irak, in Ägypten – ausgelöscht werden? Können wir Liebeslyrik lesen, während ein blutiger Krieg unser östliches Europa zerstört und uns ratlos erbleichen lässt? Können wir allen Ernstes Liebeslieder anstimmen, wenn Gottes erste Liebe, sein Volk Israel der satanischen Strategie seiner terroristischen Feinde erliegt und sich vor aller Welt ins Unrecht setzt und Halt und Rückhalt zu verlieren droht?
Ist nicht die Zeit gekommen, das Hohelied zuzuschlagen, eh wir es eigentlich wollten, um nicht dabei angetroffen zu werden, dass wir Regenbogenblätter studieren, dass wir uns in royale Romanze und königliche Seifenopern flüchten, während die Weltgeschichte mit Kanonenschlägen und einem Chor der Verzweifelten nach unserer Aufmerksamkeit, nach unserer Teilnahme und Fürbitte schreit?
Schluss also mit dem harmlosen Hohenlied? ———
Wenn man vor über fünfundzwanzig Jahren, noch im Kalten Krieg das Wahrzeichen West-Berlins, die zerstörte Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche besuchte, traf man in ihrer Umgebung mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine verschrobene Alte – eine groteske Mischung aus verlotterter Marketenderin und vergilbtem Blumenkind –, die ein Plakat hochhielt, auf dem mit primitiver Obszönität zum Geschlechtsverkehr für den Frieden aufgefordert wurde.
Die krude Provokation erreichte bei mir – dem Erstsemester vom Land – ihr Ziel: Ich war entrüstet über solche Geschmacklosigkeit.
…Aber ich bedachte nicht, was ich doch eigentlich so gut wissen konnte, dass in Berlin auf beiden Seiten der Mauer und in unserem ganzen Land, ja überall in Europa damals eine Generation von Frauen lebte, die es oft noch allnächtlich in den Albträumen heimsuchte, …. der gefürchtete Befehl, den die Träger fremder Uniform wahllos ausstießen: „Frau, komm!“
…. Ich kannte und kenne sie doch bis heute: Die jungen Mütter, die in einer einzigen Nacht grau wurden, weil es so schrecklich war, was an ihnen geschah, … die Mädchen, die noch gar nichts verstanden, aber in deren Erziehung die Reinheit – rassisch, hygienisch, moralisch – eine so beherrschende Rolle spielte, dass ihre Vergewaltiger sie für ein ganzes Leben mit Ekel an sich selbst vergiftet haben. ———
Wie anders ist da der Geist – der Heilige Geist! –, der uns aus dem Blumental von Saron, aus den Apfelgärten und Weinbergen des Hohen Liedes anweht.
Wie heil und heilsam, ja, wie heilig ist es, dass wir hier eine körperliche Zweisamkeit, dass wir hier die geschlechtliche Liebe kennenlernen, die nicht von den Dämonen der Aggression und Gewalt, die nicht von den Trieben der Gier und Selbstsucht entstellt wird.
Hier – „tief unten, im Tale der Demut“, wie es in einem frommen Lied heißt – hier, wo Menschen nicht wie Wölfe übereinander herfallen und nur die kleinen Füchse, die man leicht fangen und los werden kann, die Blüte und Frucht bedrohen, hier ist im biblischen Sinne „gut sein“ (Matth174) … beinahe ebenso wie auf dem Berg der Verklärung.
Darum also – weil in der hier geschilderten Liebe zweier Menschenkinder nicht eine verborgene, romantische Idylle besungen wird, sondern die Offenbarung dessen, was Menschen Menschen sein können. auch wenn es sich bei ihrer Liebe immer nur um Lilien unter Dornen, außerhalb des Paradieses, mitten in der Wirklichkeit handelt – … darum ist das Meditieren dieser Liebeslieder keine Weltflucht, sondern ein eigenes Evangelium für die Welt der Leidenden, der Verfolgten und Vergewaltigten.
Wichtig ist dabei aber, dass wir die anrührenden Leidenschaften und die herrlichen Bilder des Begehrens und seiner Erfüllung nicht als kleine, in sich verkapselte Momentaufnahme einer heiteren Gegenwalt verstehen, in der sich ein begünstigtes Paar seine Schäferstündchen leistet, während um sie herum die bitterste Brutalität herrscht.
Genau einem solchen furchtbaren, schuldbeladenen, zynischen Beilager verdankte nämlich König Salomo letztlich sein Dasein (vgl.2.Samuel 11+12):
Hatte sein Vater David seine Mutter Bathseba doch im Bade erblickt und begehrt, als deren Mann für König und Vaterland im Feld lag. Skrupellos sorgte David für den Soldatentod des störenden Getreuen, nachdem er dessen Weib bereits geschwängert hatte und der brave Soldat sich auch im Fronturlaub nicht als dummer Tölpel hatte missbrauchen lassen, dem das Kind unterzuschieben gewesen wäre.
Dieser ehebrecherisch gezeugte Sohn, der einem anderen Menschen noch vor der eigenen Geburt den Tod brachte, sollte nicht lange leben.
Die zweite Frucht dieser Verbindung aber war Salomo – und der Nachfolger des tragischen Unglückskindes!
Wie sollte ihm also nicht von frühester Jugend auf bewusst sein, dass das Gelüsten des Fleisches, seine Freuden und Folgen blutig ernst und überschattet sein können und dass es daher mehr bedarf als nur der Gelegenheit, um der Sinnlichkeit echten Segen abzugewinnen. … Genau darum jedoch feiert das Hohelied eben auch nicht die angenehmen Seiten des Lebens, die ein Sieger wie Salomo sich überall verschaffen kann, … sondern es besingt das kostbare Einvernehmen zwischen Mann und Frau, zwischen den ungleichen Kräften und Leidenschaften der Geschlechter.
Und damit besingt das Hohelied ganz gezielt eine Hoffnung der Menschen, die sich nicht einfach von einem flotten Gspusi aus erschließen lässt, sondern ganz bewusst und ausdrücklich dem bittersüßen Vorzeichen, dem zweischneidigen Vorwort, das die Bibel über die Verhältnisse der Geschlechter setzt, widerspricht.
Heißt es am Anfang in jenem harten Wort an Eva: „Dein Verlangen soll nach deinem Manne stehn, aber er soll dein Herr sein“ (1.Mose316), so wagt das Hohelied es tatsächlich nicht von diesem Ursprung her zu dichten, sondern einen anderen, einen zweiten Frühling auf der Erde zu beschreiben: Den Anbruch einer Zeit, in der die Schrecknisse und Rohheiten der Sünde dem zarten Glück der zwischenmenschlichen Gegenseitigkeit weichen. —
Es ist also Verheißung, es ist Evangelium, wenn wir hier nicht die derben Grunzlaute der Brunft hören, bei der Zeugen und Töten nur wenig voneinander entfernt liegen, sondern den Zwiegesang zweier Stimmen, die sich bedingungslos vertrauen und rückhaltlos aussprechen können in einer Liebe, die wohl-, nicht wehtut.
- Hörst Du das, Du Tierreich der Schlachtfelder und Fleischmärkte, der Schlafzimmer voller Fremdheit und der Pornographie ohne die Lebendigkeit der Seele?
- Hörst Du das, Du stummes Reich des wortlosen Fleisches, wie die menschliche Stimme spricht und klingt und singt? Wie da im Duett die Schönheit des anderen Menschen geschildert wird und das Erkennen?! …….
Und dann der Frieden!
Hörst Du das, Du hektische Welt des stumpfen Triebes, der allesverschlingenden Gefräßigkeit, die nicht gesättigt und zufrieden wird am anderen, sondern verbraucht und auswechselt, was immer sich gerade bietet?!
Frieden und Stille gehören zur Liebe, ein Ruhen in sich und im anderen, das sich nicht stören und trennen lassen mag. ——
Gewiss, es ist eigentümlich, hier auf der Kanzel von solchen Dingen zu reden, die wir sonst für gut gehütet halten, wenn wir sie verschweigen.
Und doch ist es so: Auch auf diesen Dingen – dem Geheimnis der Zweisamkeit – liegt wirkliche Verheißung des Glaubens, und als solche muss sie verkündigt werden!
Nicht allein aber um diejenigen, die das Glück jenes leiblichen Liebens erfahren, auf den eigentlichen Sinn des Geschlechtlichen zu weisen, sondern um uns allen – den Verliebten und Verheirateten ebenso wie den Wartenden und den in diesen Dingen Wunschlosen – ein Glück zu offenbaren, das alle körperlichen Erfahrungen übersteigt:
Das ist das ungetrübte Vertrauen, von dem die Stimme der Liebenden in diesem Wechsel-gesang Zeugnis ablegt: Wie sie sich in den Keller führen lässt und noch dabei – im Dunkeln und unter der Erde – weiß, dass sie nichts fürchten muss, weil die Liebe und sie allein über ihrem Haupt steht. ——
Dass die Liebe sein Panier über mir ist: das ist die tiefste Seelenerkenntnis des Anderen.
Wer das sagen kann, der kann bedingungslos leben.
Denn – und hier vollzieht sich die wahrhaftige Erfüllung allen Liebens – wer sich so führen lässt und anvertraut, der erfährt nicht mehr nur die stetige Zunahme des Wohlgefühls, die wir oft mit dem Lieben verwechseln, sondern der erfährt, dass wahre Liebe uns selbst überwindet und übereignet.
Indem sie uns verbindet, macht sie uns nämlich ledig: Nimmt sie uns doch dem Ich aus der Hand und überträgt uns ganz und gar einem anderen.
In der Liebe endet so das Eigene und beginnt wirklich ein anderes, … das neue Leben. ——
Solche Wiedergeburt in einem anderen Verhältnis als dem reinen Ich-Bezug ist nun aber die Verheißung, von der wir Glaubenden leben: Wir sollen es eines Tages alle erfahren, dass wir nicht nur der alte Mensch, „das Ich“ sind, sondern dass wir mit Haut und Haar, mit Herz und Hoffnung unauflöslich Teil eines anderen werden.
„Nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre ich mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben“ beschreibt das der Katechismus (Heidelberger Kat., Fr.1). ——
Salomo selber aber konnte genau diese Erfahrung, nicht nur derjenige zu sein, als den er selbst sich kannte, bereits früh in seinem Leben machen ……. so früh, wie wir es mit der Säuglingstaufe halten und glauben.
Nachdem wir in der vergangenen Woche nämlich so viel vom alten, abstoßenden, ichbesessenen Wesen Salomos als Lustmolch und kaltem Verächter hörten, ist es an der Zeit eine erstaunliche Erinnerung aus seiner Kindheit nachzutragen. Von demselben unerfreulich lieblosen Mann wird uns nämlich gleich nach der Geburt der einzigartige Satz mitgeteilt: „Und der HERR liebte ihn“ (2.Sam1224)! … Eine Liebe muss das gewesen sein, die so unerklärlich wie unbestreitbar war, so dass der unbestechliche Prophet Nathan, der den Knaben erziehen sollte, ihm einen zweiten, einen intimen Geheimnamen beilegte: „Jedidja“ – „der Geliebte des HERRN“ (2.Sam1225).—
… Sonderbare Liebe Gottes, die einem zwiespältigen, zerrissenen, unharmonischen Menschen schon vorab so bedingungslos gilt!
Sonderbare Liebe, die in dem sonderlichen Satz enthalten ist, in dem ihr letztes Wunder – dass sie uns zu einem anderen zählt, dass sie uns zu einem anderen macht! – ausgesprochen wird: „Mein Freund ist mein und ich bin sein“.
Das ist die höchste, sanfteste, geheimste und schönste Poesie der Bibel, die Salomo, der „Jedidja“, der Geliebte da im Hebräischen in vier einander lautlich und geistlich spiegelnde Worte fasst:
„דודי לי ואני לו – Dodi li ve-ani lo“.
Die Melodie dieses Satzes vernimmt jeder, … ganz gleich, ob die hebräische Sprache ihm vertraut ist oder nicht.
„דודי לי ואני לו – Dodi li ve-ani lo“: Ein anderer ist mein Mensch und ich des anderen. Er hat sich mir anvertraut und überlassen, … ich ihm.
Dieses Übergeben und Übernehmen, dieses Wechseln und Verwandeln, dieses Teil eines anderen werden und den anderen in sich bergen …… nun, muss man da viele Worte machen? …
Wird uns nicht deutlich, wie die körperliche Liebe auf die geistliche weisen kann, wie die menschliche Liebe die mystische abbildet?
Das ist die Verheißung, die zwischen der Freundin und dem Freund, den beiden Liebenden des Hohenliedes tatsächlich vorweggenommenes Ereignis wird.
Damit darf aber – wohlgemerkt – das Geschehen unter den Lilien, unter den Dornen, im Schatten der Bäume, auf dem Lager der Liebe nicht überhöht, nicht vergöttlicht … und auch nicht verkitscht werden:
Es wird kein Sakrament aus dem, was die Blume zu Saron, die Taube in den Felsklüften und der wie ein Hirsch behende Jüngling mit der Rechten und der Linken an Liebkosung tauschen.
Es wird das Menschliche, ganz Menschliche auch niemals zum Erlebnis der Bevorzugten oder zum Maß des Glaubens oder zum religiös geweihten Ausdruck des Inneren gemacht: Das alles sind Perversionen, die das alte und das neue Heidentum aller Spielarten so schauderhaft obszön werden lassen.
Nur dies ist dagegen die Botschaft für diesen bitteren Sommer des weltweiten Leidens und Schreckens: Wo immer wir Liebe oder Liebende sehen und erfahren, an denen wir uns freuen können – da blitzt tatsächlich ein echtes Vorzeichen dessen auf, dass der Hass und seine grausamen Kräfte nicht das letzte Wort in der Welt behalten werden!
Denn das gehört unwiderruflich Dem, Der sich an uns dahingegeben hat, damit wir für immer Sein wären!
„דודי לי ואני לו – Dodi li ve-ani lo“.
Amen!
6.n.Trin. 27.07.2014 Hohes Lied 1 Stadtkirche und Jonakirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 6.n.Trin. - 27.VII.2014
Hohes Lied 1
„Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes;
denn deine Liebe ist lieblicher als Wein.
Es riechen deine Salben köstlich; dein Name ist eine ausgeschüttete Salbe, darum lieben dich die Jungfrauen.
Zieh mich dir nach, so laufen wir.
Der König führte mich in seine Kammern.
Wir freuen uns und sind fröhlich über dir; wir gedenken an deine Liebe mehr denn an den Wein.
Die Frommen lieben dich.
Ich bin schwarz, aber gar lieblich, ihr Töchter Jerusalems, wie die Hütten Kedars, wie die Teppiche Salomos.
Seht mich nicht an, dass ich so schwarz bin; denn die Sonne hat mich so verbrannt.
Meiner Mutter Söhne zürnen mit mir.
Sie haben mich zur Hüterin der Weinberge gesetzt; aber meinen eigenen Weinberg habe ich nicht behütet.
Sage mir an, du, den meine Seele liebt, wo du weidest, wo du ruhest am Mittag, daß ich nicht hin und her gehen müsse bei den Herden deiner Gesellen.“
Weißt du es nicht, du schönste unter den Weibern, so gehe hinaus auf die Fußtapfen der Schafe und weide deine Zicklein bei den Zelten der Hirten.
Ich vergleiche dich, meine Freundin, meinem Gespann an den Wagen Pharaos.
Deine Wangen sind lieblich mit den Kettchen und dein Hals mit den Perlenschnüren.
Wir wollen dir goldene Kettchen machen mit kleinen silbernen Kugeln.
„Da der König sich herwandte, gab meine Narde ihren Duft.
Mein Freund ist mir ein Büschel Myrrhen, das zwischen meinen Brüsten hanget.
Mein Freund ist mir eine Traube von Zyperblumen in den Weinbergen zu En-Gedi.“
Siehe, meine Freundin, du bist schön; schön bist du, deine Augen sind wie Taubenaugen.
„Siehe, mein Freund, du bist schön und lieblich.
Unser Bett grünt, unserer Häuser Balken sind Zedern, unser Getäfel Zypressen.“
*************
Liebe Gemeinde!
Den Honig des ersten Kusses haben manche von uns vergessen, … manche nie gekostet, … einige haben ihn für alle Zeit auf den Lippen, … andern ist er verdorben.
Das Salz des letzten Kusses fürchten wir alle: Wenn es eine kalte fremde Maske sein wird, die wir ein letztes Mal berühren, oder ein noch lebender Fremdgewordener, von dem wir Abschied nehmen.
Zwischen Küssen verläuft – im Glücksfalls – also das Leben:
Aus der Liebe der Küssenden entstehen wir, mit dem Willkommen zärtlicher Küsse werden Neugeborene begrüßt, auf eigenes leidenschaftliches Küssen und Geküsstwerden richtet sich so viel spannende Erwartung und Entwicklung, vertuscht und verraten wird durch Küsse und schließlich haften sie nur noch auf Bildern, Erinnerungen, Strohblumen.
— „Ach, ich bin des Küssens müde, was soll all’ der Schmerz, die Lust….“ hätte der Erotomane Goethe in des Wandrers Nachtlied auch seufzen können, und Frau von Stein hätte wissend und fatiguiert den Brief geknickt … und sich gar nicht erinnern können.
Denn das Küssen ist von den Tagen der großen Gesangbuchdichter, deren einer - Paul Fleming - eine anzügliche poetische Anweisung „Wie er wolle geküsset seyn“ verfasste, bis in die Zeit der Petticoats ein Männervorrecht gewesen, das Frauen mit einer entrüsteten Ohrfeige oder allenfalls zaghaft verschämter Bereitschaft erwidern sollten. —
Umso umwerfender also, dass wir heute ein biblisches Buch aufgeschlagen haben, in dem uns eine lustige Frauenstimme unverblümt den Genuss am Küssen schildert, den sie – kein Kind von Traurigkeit – mit aller Entschiedenheit und zwanglos ohne Rücksichten in freier Wildbahn sucht!
Einzigartig ist sie allemal: Diese ohne alle Sittsamkeit einfach nur glühend Verliebte, die mit der eigenen Unschamhaftigkeit kokettiert, wenn sie vor aller Ohren ihren Liebesrausch, ihr trunkenes Verlangen nach dem Mund des Geliebten schildert. …….
Eine solche Stimme der weiblichen Leidenschaft, einen solchen Freimut der Lust eines Mädchens am Lieben finden wir in keinem heiligen Buch, ja kaum in den unheiligsten, weltlichsten Liedern der Menschheit.
Aber unsere Bibel schwelgt geradezu darin und reizt uns seit Jahrtausenden damit, indem sie die Sinne anspricht, so dass alle, die es hören und meditieren, nicht anders können als sich auszumalen, wie er wohl sein muss, … der salomonische Kuss?
Wie er wohl schmeckt und wirkt, dieser königliche Kuss, nach dem sich die Lippen leckt, wer immer das Hohe Lied aufschlägt? …….
— Sollte es wirklich der tausendfach abgenutzte Schmatzer des großen Liebhabers sein, der einen Harem von siebenhundert Haupt- und dreihundert Nebenfrauen (1.Könige 113) unterhielt, der die mächtigste, märchenhafteste Königin seiner Zeit anzog, und der doch in dieser Rolle des widerstandlos Verführenden geradezu erstickte am erotischen Überfluss, weil – wie er schließlich stumpf und lustlos philosophierte – auch hier „nichts Neues unter der Sonne“ sich finden lässt, sondern nur „Eitelkeit und Haschen nach Wind“ (Prediger Salomo 19+14) – so dass Salomo endlich der abgefeimteste Frauenverächter der Bibel wurde:
„Und ich fand, bitterer als der Tod sei ein Weib, das ein Fangnetz ist und Stricke ihr Herz und Fesseln ihre Hände. Wer Gott gefällt, der wird ihr entrinnen; aber der Sünder wird durch sie gefangen“ (Prediger 726).
Wenn man diesen widerwärtigen Zynismus eines verausgabten Lüstlings hört, möchte man fast wünschen, es habe tatsächlich jenes kesse Hirtenmädchen gegeben, die ihn das unverdorbene Lieben draußen auf den Fluren hätte lehren können – doch auch das ist womöglich noch ein unanständiger Männertraum … und sei’s im neckischen Gewand des anakreontischen Schäferspiels, des dichterischen Liebesabenteuers in der Travestie vermeintlicher Naturnähe.
Eben darum aber wollen wir nun das Hohe Lied auch ursprünglich nicht etwa nur als eine ländliche Phantasie für den überreizten Casanova auf Jerusalems Thron verstehen.
Sondern als eine Übung, die den alten Ziegenbock in ihm und in mir und in uns allen vor eine ganz eigentümliche, heikle und dennoch unschuldige Aufgabe stellt:
Sehen wir einmal ab von allen eigenen und angeeigneten Erfahrungen der verlorenen Unschuld im großen Spiel der Triebe und der Lust!
Kehren wir einmal zurück zu den kreatürlichen Leidenschaften und befreien sie von allem Missbrauch, der in ihnen eine Ablenkung, ein Abenteuer der Selbstbestätigung, eine Feier der geschickt gesteuerten Befriedigung sieht, und spüren wir die schöpferische Bestimmung des Menschseins, das mit Leib und Seele auf den anderen angewiesen ist und dessen Freude gipfelt in der äußeren und inneren Gemeinschaft. ———
Wenn das der Sinn des Hohen Liedes ist – dem Schürzenjäger Salomo, dem sein liebloser Geschlechtstrieb schließlich ja zum Verhängnis wurde (vgl.1.Kön114ff), einen Denkzettel und ein Denkmal des Andersdenkens über die Liebe zu widmen – … wenn das der Sinn des Hohen Liedes ist, dann wird gleich der Anfang des Ganzen zu einem wunderbaren Jungbrunnen, zu einer Art Taufe.
Denn dann bedeutet das offene Begehren der Hirtin, die nach Küssen hungert, ja vor allem die Erinnerung:
Auch Du sollst ein Mädchen in Arkadien sein, großer Herzensbrecher, auch Du kannst nicht ewig die Rolle des machtvollen Pascha, des eiskalten Überlegenen behalten!
Nur wenn Du Dich selber in dem Bild der einfachen Liebenden wiederfindest, nur wenn Du Dich in diesen neuen Menschen – das Mädchen, das den Liebsten sucht – verwandeln lässt, wirst Du nicht mutterseelenallein dem Tod des alten Mannes entgegensiechen, der alles hatte und nichts behält. —
Und nun ist die Frage: Auch wenn es uns an Weisheit und Reichtum Salomos mangelt – sind wir nicht dennoch seine Standesgenossen, sind wir nicht dennoch wie er?
Wem unter uns fällt es leicht, sich in dem leichtgläubigen Ding zu erkennen, das dem eigentlich unerreichbaren König entgegenfiebert; das jedermann seine hilflose Anhimmelei des Höchsten sehen lässt; das alle Vorsicht in den Wind schlägt und den finden will, auf den ihr ganzes Leben sich plötzlich richtet?
Wer von uns – von uns Männern zumal – kann das ohne weiteres nachfühlen und nach-vollziehen, wer kann das durchbuchstabieren und sich da hineinfinden?
Wer fände das nicht eigentlich läppisch und schwach?
Wer könnte wirklich – ohne sich vor Scham auf die Zunge zu beißen – laut wie das sonnenverbrannte Mädchen vom Land bekennen: „Ich brauche Dich! Ich werde wahnsinnig, wenn Du mich verstößt! Ich kann ohne Dich nicht weiter machen. Nur wenn Du Dich zu mir wendest, blühe ich auf!“?
Das ist uns doch bei Verlust der Selbstachtung verboten, auf solche Abhängig- und Anhänglichkeit uns einzulassen. Wir sind geeicht auf Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein und Selbstbehauptung und Selbstverbesserung. Wir wachen eifersüchtig über unsere kompromisslose Unabhängigkeit, wir gratulieren uns zu jedem Schritt der Emanzipation, der Überwindung alter Muster der Unselbständigkeit und träumen von einer Sicherheit, die uns völlig frei macht von fremder Hilfe.
Unser Vorbild dabei heißt letztlich insgeheim Sultan Salomo: Der ungerührte Gebieter, der gefühlskalte Mittelpunkt einer künstlichen Welt, die alle Bedürfnisse abdeckt, ohne dass wir irgendjemandem dafür „Danke“ sagen müssten.
Und gerade darum ist das Hohe Lied die Bußpredigt und Verwandlung, die uns so heilsam wäre, weil es uns zeigt, welche Umkehr dem zynisch gewordenen Großkönig verordnet wurde: Er, der Mächtige sollte wie ein Mädchen aus dem Volk werden. Don Juan soll sich in Elvira, Faust in Gretchen wiederfinden. … Und jeder Mann und jede Frau unter uns ebenso.
Denn das ist die Verwandlung des Glaubens: Wenn ein Mensch in seinem ganzen Stand und Stolz, im Hochgefühl seiner Kraft und seines Könnens zu bitten und zu verlangen lernt: „Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes!“
Und ob man es für möglich hält oder nicht: Da bricht dem Salomo kein Zacken aus der Krone, da muss ein Mann gar nicht seine Männlichkeit, da muss eine Frau gar nicht ihre Freiheit einbüßen, wenn jeder es tatsächlich übt und lernt und zulässt, dass wir vor uns selbst und vor den anderen tatsächlich genau das dürfen und können … um Liebe bitten, … um Gottes Liebe! ———
Die, die das immer wieder, Schritt für Schritt eingeübt haben und sich schließlich nicht mehr schämten, sondern dadurch selig wurden, nennt man gewöhnlich Mystiker.
Es wäre aber besser, wir vergäßen alles, was wir von diesen sonderbaren Heiligen vielleicht ganz irrtümlich im Kopf haben: Als seien sie alle weltfremde Zölibatäre mit entsprechend fehlgeleiteten Neigungen oder als hätten sie mit Schaum vor dem Mund in wimmernder Ekstase innere Visionen ausgebrütet.
Gewiss, manche waren große Mönchstheologen, wie Bernhard von Clairvaux und sein Freund Wilhelm von StThierry, die gemeinsam ein Gartenhäuschen teilten, in dem sie ein halbes Leben lang das Hohe Lied meditierten und auslegten. Bernhard hat allein 8 große Predigten nur über den Kuss des ersten Verses verfasst und das Hohe Lied als er starb nicht weiter als Kapitel 3 ausgelegt. Aber er hatte sich so in die Haltung der Gott bittenden und Ihn liebenden Seele eingelebt, dass er sich im Sarg ein Pergament auf’s Herz legen ließ: „Ein Myrrhenbüschel ist mein Geliebter, zwischen meinen Brüsten wird er weilen“ (Hoheslied1,12).
Andere Mystiker dagegen haben zeitlebens bloß am Webstuhl zwischen Velbert und Heiligenhaus gesessen, das Schiffchen hin- und hergeschickt, gebetet und einigen Menschen treue Briefe geschrieben – Gerhard Tersteegen nämlich –; wieder andere haben die Geschicke der Welt durch die Leitung der Vereinten Nationen beeinflusst: Ich denke an Dag Hammarskjöld.
— Doch Mystiker müssen weder Mönche noch Einsiedler sein, noch sonst wie wichtige Funktionen haben.
Nur eines haben sie gemeinsam, das ich jedem von uns wünschte:
Sie haben die Freiheit und die Unschuld, ihre tiefsten Regungen, ihr natürliches, leibhaftes, seelisches Menschenlos wie ein verliebtes Mädchen unbeirrt auf den Geliebten zu richten.
Sie bringen den verpönten Satz über die Lippen: „Mein Gott: Ich liebe Dich!“
Und dann haben sie keine Angst vor dem Küssen, obwohl man dabei ja nicht mehr bloß die eigenen Backen aufblasen kann, um große Töne zu spucken, sondern still halten und sich von einem anderen den Mund verschließen und das Innere beatmen lassen muss.
Doch solches Hängen an Gottes Mund, solche Abhängigkeit, die tatsächlich sagt: „Zieh mich Dir nach, so laufen wir“, die sind gar keine idiotischen Einschränkungen der Selbständigkeit, sondern die beglückendste, befreiendeste Erfahrung, die ein Menschenkind machen kann!
Da wird in der Liebe zu Gott nämlich wirklich nebensächlich, was die Brüder und die Leute für Vorstellungen von Schicklichkeit und Lebenssinn haben, da erhält das Dasein wirklich tagtäglich unverrückbar eine Richtung und ein Ziel, die uns bis an’s Ende der Welt führen können … einfach weil wir wissen: Der uns liebt wie kein anderer, der wartet auf uns!
Und dass er uns so sehr liebt, das macht das Leben schön, das macht uns selbst sogar – trotz aller Schwärze und Bescheidenheit – zu schönen Geliebten.
Wer aber auf diesem Weg – dem Weg der einfachen, vorbehaltlosen Liebe zu Gott – den Szepterstab und alle Zeichen und Gewohnheiten seines vermeintlich so wichtigen sonstigen Lebens ablegt, der macht wie im Hohen Lied eine weitere wunderbare Erfahrung:
Die junge Frau, die den König so liebt und begehrt – obwohl sie nichts weiter als ein gewöhnliches, offenherzig unbekümmertes Wesen ist – … sie findet in ihm nicht den Großmoghul, der ihr ein exotisches, überirdisches Taj Mahal errichtet, sondern schlicht einen Menschen gleichen Schlages. Der Geliebte entrückt sie nicht in kalte Marmorpracht, sondern bleibt auf der Erde, unter den Bäumen des Wäldchens, frei wie sie.
Wenn wir aber Gott so lieben, so suchen, so brauchen, … dann finden wir Ihn auch genau an der selben Stelle: Hier bei uns, als Unseresgleichen in unserm Fleisch und Blut, ganz nah, am Holz, im Bett der Erde, lebendig und schön und bereit, uns bei sich aufzunehmen und keine Trennung mehr zuzulassen.
Ihn hindern keine Herrschaftszeichen, so wie auch wir uns durch keine Unsicherheit vor Ihm kirre machen lassen sollen.
……. Und das ist die Sommerreise, auf die wir gemeinsam aufbrechen wollen in den kommenden Wochen:
Ohne Firlefanz, ohne Brimborium einfach nur der Liebe folgen, die unser Herz und Leben ganz zu Gott, dem geliebten Freund zieht.
Amen.
3. S.n.Tr., 06.07.2014, Ezechiel 18 i.A., Mutterhauskirche, Dr. Ulrich Lüders
Ablauf des Gottesdienstes und Predigt bei Kirche im WDR
Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und ein Wort für unser Herz.
Liebe Gemeinde,
es gibt Schuld, die schneidet einen vom Leben ab. Es gibt Schuld, die verfolgt und prägt Nachkommen bis heute. Doch das ist kein unabwendbares Schicksal. Jede und jeder kann ins Leben finden und es gestalten, meint der Prophet Ezechiel.
Hören Sie den Predigttext für den heutigen dritten Sonntag nach Trinitatis. Er steht bei Ezechiel im 18. Kapitel:
Lesung Predigttext:
Des HERRN Wort geschah zu mir: Warum habt ihr im Land Israel das Sprichwort: "Die Eltern haben saure Trauben gegessen, und den Kindern werden die Zähne stumpf "? „So wahr ich lebe", spricht Gott, der Herr, dieses Sprichwort soll in Israel nicht mehr gebraucht werden.
Sterben muss derjenige, der die Sünde begeht. Die Kinder werden nicht für die Sünden der Eltern bestraft und die Eltern nicht für die Sünden der Kinder. Die Gerechten werden für ihre Gerechtigkeit belohnt und die Gottlosen werden für ihre Gottlosigkeit bestraft. Und wenn der Gottlose von seinen Sünden umkehrt, die er begangen hat und anfängt mein Gesetz zu halten und zu tun, was recht und gerecht ist, wird er ganz sicher am Leben bleiben und nicht sterben.
„Glaubt ihr, fragt Gott der Herr, „dass ich Gefallen habe am Tod eines Gottlosen? Ich freue mich vielmehr darüber, wenn er sein Verhalten ändert und am Leben bleibt.
Darum will ich jeden Einzelnen von euch nach seinem Verhalten richten, Volk der Israeliten, spricht Gott der Herr. Kehrt um und hört auf zu sündigen! Lasst nicht zu, dass ihr Schuld auf euch ladet. Trennt euch von allen eure Verfehlungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, Volk der Isareliten? Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden", spricht Gott der HERR. „Kehrt also um, damit ihr am Leben bleibt!" (Übersetzungen: Luther 1984 / Neues Leben)
Liebe Gemeinde,
Die Stimme der Frau im Krankenzimmer klingt fast tonlos. Eigentlich sei sie nur wegen eines Routineeingriffs hier in Kaiserswerth im Florence-Nightingale-Krankenhaus gelandet, hatte sie mir zu Beginn unseres Gesprächs gesagt. Aber dann fasst sie plötzlich Mut, und ihre Stimme wird fester. Und ich spitze die Ohren, als sie loslegt. Und gar nicht mehr aufhören kann zu reden. Nicht über ihre Erkrankung. Nicht über den Eingriff, der notwendig wurde. Sondern über das, was sie als Kind erlebt und erlitten hat. Den schlagenden Vater, die schweigende Mutter. Die Nächte, in denen sie überlegt hat, wie das wäre, wenn sie einfach weglaufen würde. Das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Und wie sie gezweifelt hat, als sie selbst Kinder bekam, ob sie es schaffen würde, sich davon zu lösen. Sich zu lösen von ihrer Geschichte. Von den Bildern und Mustern ihrer Erziehung. Von all dem, was sie geprägt hat. Würde sie es schaffen, anders mit ihren Kindern umzugehen? Würde sie eine gute Mutter sein können?
Szenenwechsel:
Es ist die alte Story, dachte der Prophet Ezechiel. Immer wieder hatte er das Volk davor gewarnt, hatte aufopferungsvoll die Nähe zu Gott und seinen Geboten gefordert, und doch war er nicht gehört worden. Erst als die Oberschichten deportiert sind, als die Hauptstadt Jerusalem geschleift ist, als das Exil Realität geworden ist, da erinnern sie sich wieder an die alten Worte, die die Propheten Gott abgelauscht hatten. Und plötzlich geben die Jungen ihm Recht. „Ja genau, schon Jeremia hat das mit den Trauben gesagt: Die Eltern haben saure Trauben gegessen und den Kindern werden die Zähne stumpf. Er hatte Recht. Wir haben doch gar keine Chance, das ist uns doch alles schon in die Wiege gelegt worden."
Wer so auf die Geschichte zurückblickt, kann sich schnell in Ausreden flüchten. „Da können wir nichts dafür." „ Wir waren doch gar nicht beteiligt und nun stecken wir mit im Schlamassel." Ezechiel wirbt für ein anderes „Sich erinnern" und „zurückblicken".
Liebe Gemeinde, in diesem Jahr wimmelt es nur so vor Gedenktagen, Jubiläen und Jahrestagen. Der Trend dazu, diese Tage entsprechend medial, mit Büchern, Filmen und Tondokumenten zu begleiten, ist ungebrochen. Ja mehr noch, er hat sich fast verselbstständigt. Wir leben nicht im Jahr 2014, sondern viel eher 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, 75 Jahre nach Beginn des Zweiten, in einem Jahr, in dem mit der so genannten Babyboomergeneration so viele Menschen wie noch nie ihren 50. Geburtstag feiern oder feiern werden. Auf Schritt und Tritt meldet sich unsere Geschichte zu Wort. Wird beschrieben und dokumentiert. Wird zitiert und hoch geholt. Wird verfilmt und vertont. Wozu brauchen wir ein solches Erinnern?
„Des HERRN Wort geschah zu mir: Warum habt ihr im Land Israel das Sprichwort: `Die Eltern haben saure Trauben gegessen, und den Kindern werden die Zähne stumpf`? `So wahr ich lebe`, spricht Gott, der Herr, dieses Sprichwort soll in Israel nicht mehr gebraucht werden."
Ezechiel redet Tacheles mit uns. Von wegen - „wir können doch gar nichts für unsere heutigen Probleme und Fragen. Die Probleme haben wir ja schließlich geerbt! „
Nichts da, meint der Prophet Ezechiel: Weg mit diesem Sprichwort und Gerede! Gott legt den Finger mitten hinein in dieses Wundgeflecht aus Ausreden und Ausflüchten..
Kein schnelles Gerede von den Strukturen der Verstrickung und der unausweichlichen Last der Geschichte. Endlich mal ein Gegen-Wort: Du kannst es anders machen.
Ezechiel hat einen anderen Maßstab vor Augen. „Siehe alle Menschen gehören mir, die Eltern wie die Kinder." Und der Prophet sagt weiter, was er von Gott gehört hat: Ihr seid nicht an eure Geschichte gekettet!" Das ist befreiend, ja. Und gleichzeitig sagt er: Ihr könnt klar sehen, wo ihr nicht nach Gottes Willen handelt. Jede Zeit hat ihre Trauben und jede Zeit hat ihre stumpfen Zähne, so könnten wir auch sagen.
Instrumentalmusik Kyrie Bach
Als die Kinder geboren waren, sagt die Frau im Krankenzimmer, war das erst mal eine große Erleichterung. Aber da war schnell auch wieder die Angst. Mit dem Mann, ja in der ganzen Ehe ging es schon nach wenigen Monaten nicht so gut. Und als er ihr mitten in einem Streit droht mit erhobener Faust - da sieht sie ihren prügelnden Vater vor sich. Sie ist einfach gegangen und hat die Kinder mitgenommen. Irgendwie haben sie sich durchgekämpft durch diese Tage, Wochen und Monate. Trotz all der inneren Verletzungen. Und den bohrenden Fragen: Ist das jetzt der Preis, den du bezahlen musst? Während sie das erzählt, spielen ihre Hände die ganze Zeit mit der Bettdecke, dann lässt sie sie fallen. Und lacht. Und lacht, als könne sie gar nicht mehr aufhören. Und sagt: Wenn ich daran denke, wovor ich damals alles Angst hatte, heute lache ich darüber.
Der Prophet Ezechiel hat genau hingehört, als er Gott begegnete. Und so hat er auch verstanden, was Gott zur Schuld der Menschen meint, die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft überschattet. Die eigene und die der Nachkommen. „Glaubt ihr, fragt Gott, der HERR, dass ich Gefallen habe am Tod eines Gottlosen. Ich freue mich vielmehr daran, wenn er sein Verhalten ändert und am Leben bleibt."
Liebe Gemeinde,
diese Stelle berührt mich sehr, je mehr ich sie verstanden habe. Da eröffnet uns Gott erst das alte Trauerspiel von Schuld und Versagen. Und doch: mit dem nächsten Satz lässt er uns nicht allein damit im Regen stehen. Natürlich hat Gott keinen Gefallen am Tod des Schuldigen. Der Tod steht für all das, was wir falsch leben in unserem Leben. Womit wir uns vom Leben abschneiden
Gott will nicht, dass Menschen scheitern. Er will nicht, dass sie sich verstricken in den Folgen ihres Handelns und des Handelns ihrer Eltern. Gott will den Neuanfang. Er will Umkehr und Leben.
Umkehren und leben, das heißt: sich nicht einfach treiben lassen von dem, wie ich geprägt bin oder wie ich es irgendwann einmal mitbekommen habe: von der Tradition her, von meinen Verletzungen, von meinen Zwängen, von meinen Wünschen, von meinen Defiziten und meiner Schuld.
Umkehren und leben, das bedeutet für mich: sich nicht treiben lassen, sondern aktiv bewusst gehen. Es heißt selber gehen und Verantwortung übernehmen für mich selbst und andere. Darin stetig wachsen.
Umkehren und leben, das bedeutet letztendlich auch, Schuld nicht auf andere abzuschieben oder sie ausbaden zu lassen, was bei mir und durch mich offen bleibt.
Instrumentalmusik II Band Avalon
Solche Umkehr ist natürlich nicht leicht. Aber Gott schenkt uns diese Chance auf einen Neuanfang. „Macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist" fordert er uns auf. Das ist kein neuer Machbarkeitswahn. Ich kann das nur machen, weil Gott versprochen hat: Ich will euch erneuern, einen Neuanfang schenken. Gott selbst setzt den ewigen Kreislauf von sauren Trauben und stumpfen Zähnen außer Kraft. Denn: Das, wovon wir wirklich leben, können wir nicht selber herstellen: nicht die Liebe, nicht die Freundschaft, nicht die Vergebung, nicht die eigene Ganzheit und Unversehrtheit.
Auf dieser Grundlage, auf diesem Fundament können wir es versuchen: Herz und Geist zu erneuern. Jeden Tag neu. Wie genau?
Ein erster Schritt: Die Sehnsucht danach in mir stärken, dass mein Leben anders werden kann. Dass ich neu anfangen kann. Es immer wieder neu versuchen: mich aus einer gewalttätigen Beziehung lösen, aufhören zu rauchen, selbst keine Gewalt- psychische oder physische anzuwenden, andere nicht hintergehen und und und.
Ein zweiter Schritt: Ich kann Gott um einen Neuanfang bitten. Ich darf ihm mit meiner Sehnsucht in den Ohren liegen - sooft es geht. Mein Leben kann ich vor Gott bringen. Die Fehler meiner Eltern. Meine eigenen Fehler. Die Folgen, unter denen ich leide. Und die Hoffnung, wie es anders werden könnte. Auch das gehört in mein Lebensgespräch mit Gott.
Es hat lange gedauert, sagt die Frau, bis ich kapiert habe: Ich muss nicht alles anders und besser machen. Ich habe meine Geschichte, na klar. Aber jedes Mal, wenn es mir gelingt, Konflikte anders zu lösen, als mit Druck und Gewalt bin ich glücklich. Und jedes Mal, wenn ich es schaffe, mich einzumischen, wenn irgendwo ein Kind oder eine Frau Gewalt erfahren und Hilfe brauchen, bin ich sicher. Ich bin auf dem richtigen Weg.
Liebe Gemeinde,
Es gibt Schuld, die schneidet einen vom Leben ab. Es gibt Schuld, die verfolgt und prägt Nachkommen bis heute. Doch das ist kein unabwendbares Schicksal. Jede und jeder kann ins Leben finden und es gestalten. Gott ist unterwegs, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Einen solchen Wärmestrom der Liebe zu spüren und zu erfahren, das tut gut.
Dies ist die Perspektive des Glaubens. Darum: Anzusehen und auszusprechen, was mich gefangen hält im Leben, worunter ich leide, das hilft im Leben und im Glauben. Ob man das nun bei einem Krankenhausseelsorger tut oder bei einer Freundin. In einer Therapie oder ob man in aller Stille zu Gott betet und mit ihm Zwiesprache hält.
Ich wünsche Ihnen das von Herzen. Dass Sie den Stolperfallen und sauren Trauben ihrer eigenen Geschichte auf die Spur kommen. Dass Sie spüren: Gott sucht mich und findet mich. Dass Sie erfahren: Gott öffnet in meinem Leben neue Türen. Und dass Sie gewiss sind: Es lohnt sich, sich immer wieder neu zu entscheiden: Ich bleibe am Leben. Mit Gott an meiner Seite.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Trinitatis 15.06.2014 2.Korinther 13,11-13 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Trinitatis 15.VI.2014 2.Korinther 13,11-13
Liebe Gemeinde!
Das Dreieck ist unter uns heute vielleicht nicht umsonst als Warnzeichen eingebürgert.
Denn alles, was nicht vom einen zum andern, sondern über Dritte verläuft, ist und bleibt heikel. Was nämlich unbedingt vertraulich sein soll, ist ausdrücklich nicht für Dritte bestimmt.
Und der sprichwörtliche „Dritte im Bunde“ – Dionys, Tyrann von Syrakus – wird womöglich niemals vollständig in das Geheimnis der gegenseitigen Treue eingedrungen sein, das die beiden Freunde umwob, die in der Ballade ihr Leben für einander einsetzten.
Dreiecksgeschichten sind kompliziert: Ob es sich um das immer wieder delikate Dreieck von Mann und Weib und Kind handelt oder um amouröse menages à trois wie jene Friedrich Schillers, der zwischen den Lengefeld’schen Schwestern hin- und hergerissen war und schließlich die heiratete, die ihm mehr sein Geschöpf zu werden versprach.
Spannungen entstehen zwischen Dreien, die ein bloßes Duo nicht erzeugt: Das Kino etwa triumphiert, wenn es Jules und Jim und Catherine zeigen kann, während deren historische Vorbilder – darunter die Eltern des „Empört euch!“-Autors Stéphane Hessel – gewiss alles andere als glücklich in ihrem Trio waren.
Die Drei ist also die komplexe Steigerung der natürlichen Zwei:
Das lässt sich schon an den menschlichen Gliedern und Organen abzählen, die oft paarweise vorkommen und damit gerade hinlänglich sind, um einen Menschen zu orientieren, fortzubewegen oder zu ernähren.
Bereits die Dreiecksbeziehung zwischen einem Betrachter und den beiden Schadow’schen Prinzessinnen aber verwirrt fast, denn ob man sich Luise oder Friederike zuwendet: Beide zugleich zu gleichen Teilen kann niemand angemessen würdigen, ohne grotesk zu schielen.
Eins und eins geht also gut.
Darüber hinaus aber trifft der Kindervers den Nerv, wenn er nach der zweiten Zahl schon die Durchlässigkeit der Drei zum Unzählbaren ahnen lässt: „Eins, zwei, drei … ganz viele“.
Und darum ist wahrhaftig Kopfschütteln erlaubt, wenn wir bedenken, dass das christliche Bekenntnis den Schritt, nein den Sprung von eins zu zwei zu drei gewagt hat, indem es doch immer und unverändert den einzigen und alleinigen, den lebendigen und ewigen Gott bezeugen will.
Das große, einfache und gewaltige Zeugnis der hebräischen Bibel – „Sch’ma Jisrael (5.Mose64f)! Hört, ihr Herrn und lasst euch sagen: Ist nur ein Gott in der Welt, ihm sei all’s anheimgestellt…“ – diese tiefste Melodie der Wahrheit, ist der unteilbare Anfang aller Weisheit in Theologie und Philosophie.
Die einzige Erweiterung, die dieses unvergleichlich heilige Alleinstehen innerbiblisch erfährt, weist in vorsichtiger und vorläufiger Weise auf die Zweisamkeit hin, die im Verhältnis eines Vaters zu seinem Kind oder im Bild des Bräutigams und der Braut erkennen lassen, dass der einzige Gott ein Liebender ist.
Doch über dieses Geheimnis, dass aus Schöpfung und Ursprung das Zweite hervorgeht – das Kind, die Kreatur, der Erwählte –, reicht das biblische Zeugnis von Gott nicht hinaus:
Gott, der Liebende und der von Gott Geliebte in ihrer nicht zu scheidenden Bindung sind Gipfel und Grenze dessen, was die Heilige Schrift offenbart.
Atemlos also können wir immer wieder nur zu verfolgen und zu bejahen versuchen, wie die alte Kirche – die alleinerziehende Mutter der Getauften, die von ihrer Säugamme Israel und ihren Paten und Vormündern, den Aposteln und Evangelisten das monotheistische Zeugnis von Gott in der Einheit mit dem geliebten Sohn (Psalm27/ Joh1030) empfangen hatte – wie diese alleinerziehende Kirche mitten unter den Verächtern der monotheistischen Armut und den Propagandisten des pluralistischen Reichtums der Heiden es wagte, zum einen Gott und seiner Bindung an das menschliche Zweite noch ein Drittes hinzuzuzählen:
Erstens Gott, wie ihn die Schrift bezeugt, zweitens der göttliche Sohn, in dem Gott die Menschheit zu seiner Sache macht, wie es das Evangelium verkündet und drittens die Erfahrung und das Bekenntnis der Gemeinde, dass in ihrer und in aller Gegenwart Gott selbst im Geist handelt, herrscht und herrlich ist.
Kann und muss man da nun aber sagen, dass diese kirchlich gesuchte und gefundene Rede von der Dreieinheit tatsächlich so kompliziert und komplex sei wie sonstige Dreiecksgeschichten, die man gemeinhin kennt?
—— Das ist wohl der Fall!
Denn die ausdrückliche Ergänzung der Beziehung des liebenden Gottes und des geliebten Menschen um den Heiligen Geist, so wie die Kirche sie in der Trinitätstheologie geprägt hat, erweitert die durchaus biblische Rede vom Geist Gottes in einer entscheidenden Hinsicht. Indem nicht mehr nur von Einem und seinem Andern – also von Gott und seinem erwählten Volk, vom ewigen Vater und seinem Sohn, von Christus und der Gemeindebraut – gesprochen wurde, … indem zu diesen Paaren in ihrem ausschließlichen Gegenüber ein Drittes hinzutrat, wurde die Exklusivität, eben die Ausschließlichkeit bewusst aufgebrochen:
Die Kirche wollte nicht mehr nur bezeugen, dass der alleinige Gott in seiner Liebe exklusiv an Israel, an den Menschensohn, an die Erwählten gebunden ist und dass diese besondere Liebesbindung als unlöslicher Teil Seiner selbst zu Gott gehört, sondern sie wollte mit dem Liebenden und dem Geliebten auch von der Liebe als solcher predigen.
Und sie ist die dritte Seite des Dreiecks:
Die Liebe, die zwischen dem Einen und dem Anderen wirkt.
Doch in der schaffenden Regsamkeit des Geistes ist die Liebe mehr als nur der Pfeil, der von A nach B vermittelt, weil sie lebendige, wirksame, mächtige Liebe ist, die nicht nur zwei zueinander zieht und vereint, sondern weitergehen will und muss; und darum ist die Trinität, in der Gottes Liebe selbständig zwischen den Liebenden fließt und knüpft und wacht und wächst eben nicht mehr ein Paar in seiner Exklusivität, sondern sie ist inklusiv.
Die Dreieinigkeit Gottes bedeutet, dass Gott über sich und Seines hinauswächst, dass die Wirklichkeit der Gottesliebe offen dafür ist, andere einzuschließen, offen dafür, weite Kreise zu ziehen, die über die Vater-Sohn-Beziehung, über die gestiftete Gemeinschaft des Heiligen und der Geheiligten hinausgehen.
Der Heilige Geist, die dritte Weise der Wahrheit Gottes ist die Tür für die Vielzahl, ist die Öffnung für alle, ist der umarmende und umfassende, überwindende und unendliche Willkommensgruß an die ganze Welt im Leben Gottes . ———
Dass das allerdings spannender und spannungsreicher als alle überschaubaren Geschichten im Verhältnis Eins-zu-Eins ist, dass in dem „Eins-Zwei-Drei-Ganz-viele“ Stoff genug für Miss-verständnisse und Enttäuschungen sich verbirgt, dass es schwer und wirr sein kann, wenn Gott nicht in der Eindeutigkeit bleibt, sondern sein Herz und sein Wesen öffnet in der Bereitschaft Vielen Alles zu bedeuten und alle zu seiner Fülle zu laden … nun, das wird uns allen ohne Weiteres ersichtlich sein. ——
Schauen wir uns an und um: Könnten, wollten wir das …. allen, die uns hier umgeben, allen, die uns auf den Straßen des Alltags über den Weg laufen, mit solcher Offenheit und Zuwendung begegnen, dass wir in ihnen die uns Zugehörigen, ja, einen Teil unseres eigenen Lebens sehen?
So weitherzig steht unsere Liebe anderen wohl nicht offen. Wir wissen genau, wo die Grenze zwischen denen, die „Du“ für uns heißen und den Vielen, die wir siezen, verläuft.
Und so schön abständig wie unsere Sprache ist unser Denken und unser Dasein insgesamt: Ich und Du – das geht gut ……. und dann irgendwo in störungsfreiem Abstand die vielen, vielen anderen.
Da knirschen schon die biederen Benimmratschläge, mit denen Paulus den zweiten Brief an die bissige und streitsüchtige Gemeinde von Korinth abschließt: Freude aneinander und die Bereitschaft, sich zurechtbringen zu lassen, ein Berücksichtigen fremder Meinungen und Mahnungen und wirkliches Bemühen um Eintracht und Frieden … das lag den stürmischen und sturen Korinther himmelfern, die sich gegenseitig stattdessen vor den Kadi zerrten und aus der Kirche aussperrten und andere zu Anti-Aposteln erklärten, während sie selbst sich für Überflieger und geistliche Wunderkinder hielten.
Keine Spur also von der trinitarischen Großzügigkeit, die immer mehr in das göttliche Lieben einbeziehen will, als schon darin enthalten und geborgen sind.
Kaum ein Unterschied aber auch zu uns …. die wir ehrlichgesagt wie so viele selbstgenügsam geschlossene Gesellschaften in unseren Kreisen, Chören und Gruppen den Hang haben, Außenstehende nicht sehr unmittelbar aufzunehmen und gelten zu lassen.
Gewiss, die strahlend oberflächliche Nettigkeit, mit der in der angelsächsischen Welt jedermann begrüßt und wie ein alter Freund behandelt wird, dessen Lebensumstände zwar völlig uninteressant sind, was aber doch der Höflichkeit noch lange nicht im Wege stehen muss… diese Umgangsformen werden wir uns vielleicht nicht zum Maßstab machen wollen – aber wir könnten es ja einfach einmal mit der apostolisch-pädagogischen Frivolität versuchen:
Dem Vers vom Küssen, der im offiziellen Vorschlag für den heutigen Predigttext wohlweislich eingeklammert ist.
Paulus indes wird sich wohl etwas dabei gedacht haben, als er die spinnefeindlichen Korinther aufforderte, einander tatsächlich auf diese Weise zu grüßen.
Die Zumutung ist bewusst kalkuliert und hat – wie wir am verklemmten Textvorschlag sehen – nichts von ihrer Wirkung verloren.
Natürlich geht es dabei nicht um die ganz besonders exklusive Bussi-Bussi-Unsitte, die eine zur Schau gestellte Vertrautheit so inszeniert, dass man vor derartiger Verlogenheit schier zum Verächter werden möchte. Es geht auch nicht um französische Galanterie oder orientalische Devotion oder sozialistische Brüderlichkeitsrituale – sondern schlicht um die Erinnerung daran, dass wir einander im Zeichen der göttlichen Liebe, die sich nicht auf das Eigene und die Nächsten beschränkt, begegnen sollen.
Das nimmt dem Kuss alles Schlüpfrige und macht ihn zu einem Zeichen des herzlichsten Respektes in ehrerbietigem Zuvorkommen.
Und tatsächlich ist solche Zeichensprache der entgegenkommenden, liebevollen Achtung ja nicht ausgestorben unter uns:
Wer noch nie einen jener Küsse gesehen hätte, in denen etwas Geistliches – nicht etwas Sinnliches – vor sich geht, der konnte doch heute vor einer Woche nicht umhin, einen pfingstlichen und darum geschichtlichen Augenblick zu ahnen, als der israelische Präsident Shimon Peres und Mahmud Abbas, der Palästinenserpräsident bei Papst Franziskus zu einem Gebet um den Frieden auf einander trafen. Der in der Umarmung angedeutete Kuss der Feinde war die sichtbare Illustration jenes heiligen Kusses, zu dem Paulus aufruft: Ein Zeichen der Nähe und Demut, nicht der Lust und Laune.
Aber was das seltene Dreigestirn aus jüdischem und christlichem und islamischem Vertreter dann dort in den vatikanischen Gärten tat, war die eigentlich sachgemäße Art des geistlichen Kusses.
Denn der beste Gruß, den wir einander zuwenden können, geschieht nicht bloß mit den Lippen, sondern zugleich mit Geist und Atem, im Zusammenwirken des göttlichen Hauches in uns mit unserer Seele:
Der wirkliche Kuss des Glaubens ist das Gebet!
Darum muss niemand sich nun verstohlen umsehen, wem er in der Versammlung der Gemeinde wohl mit einem Handkuss oder einem flüchtigen Streifen der Wange oder Stirn begegnen wollte… Sondern einander unverbrüchlich in’s Gebet einschließen, in das Gespräch mit Gott einbeziehen, in die Zwiesprache und den großen Chor derer, die im Austausch mit Gott leben, einbinden: Das sollen und können wir immer!
Wenn Gott als der Dreieinige wirklich darum von uns angebetet und bekannt wird, weil Seine Liebe das Band zwischen dem Liebenden und den von Ihm Geliebten immer mehr erweitert, um immer mehr darin einzubeziehen, dann ist unser Glaubens- und Gebetsleben nur in dieser Weite angemessen:
Neben meine und die Anliegen meiner Nächsten werden die der anderen treten und mir immer wichtiger und lieber werden.
Weil der dreieinige Gott der Umfassende und Verbindende ist.
Weil Er nicht im engen Ich-und-Du-Verhältnis aufgeht, sondern alle einschließt.
Das ist die Unbegrenztheit und Fülle des dreifachen Gebetes und Segens, die uns versichern, dass die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes allen, …. uns allen, überall allen gelten und entgegenkommen.
Gnade, Liebe, Gemeinschaft: Dieses Leben aus der Trinität ist endlos und allgegenwärtig – und darum ehren, lieben und loben wir den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist!
Amen.
Pfingstsonntag, 08.06.2014, 4.Mose 11,11-25i.A., Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
Pfingsten ist nicht nur einmal gewesen. Es gibt durch die ganze Bibel hindurch Pfingstgeschichten. Nicht nur im Neuen, im Zweiten Testament, sondern schon im Ersten Testament. Eigentlich fängt alles sogar mit einem Pfingsten an. Am Anfang, so heißt es, schwebte, brütete der Geist über dem Urchaos und unter seiner Obhut wurde aus dem Chaos Kosmos, Raum für Leben. Der Geist Gottes ist immer schon da und immer schon dabei; aber leider hat er es oft mit seinen Geschöpfen schwer, sind sie geist-vergessen oder von Ungeistern besessen.
Ich möchte ihnen heute eine der Pfingstgeschichten, der Geistgeschichten aus dem Ersten Testament erzählen. Ähnlichkeiten und Vergleichsmomente aus unseren Tagen sind durchaus beabsichtigt.
Wenn Sie die biblische Fassung der Geschichte zu Hause nachlesen wollen: sie steht im 4.Buch Mose im 11.Kapitel.
Ich bin Zippora. Meine Heimat ist die Halbinsel Sinai. Von Geburt her bin ich eine Tochter Midians. Mein Vater Jitro war Priester des Gottes, der auf den Bergen des Sinai wohnte. Mit meinen 6 Schwestern hütete ich unsere Schafherde, als ich ihn traf, den Mann, der nicht nur mein Leben verändert hat. An seiner Kleidung sah ich, dass er wohl aus Ägypten kommen musste; allerdings sah er ziemlich abgerissen aus. Später hat er es mir erzählt: er hatte aus Ägypten fliehen müssen, weil er im Affekt einen Sklavenaufseher erschlagen hatte und dabei beobachtet worden war. Ich heiße Mose, stellte er sich mir vor, nachdem er ein paar Hirten, die unsere Herde von der Wasserstelle verdrängen wollten, um ihre Tiere zu tränken, unter Einsatz seines Wanderstabes vertrieben hatte. Ich muss sagen, das hat mir schon imponiert. Mein Vater bestand darauf, ihn als Gast in unsere Zelte einzuladen. Bald schon gehörte er einfach dazu; und als mein Vater ihn fragte, ob er mich zur Frau nehmen wollte, da war ich sehr einverstanden. Ich hatte mich längst in ihn verliebt. Mose zog nun mit unserer Herde regelmäßig auf dem Sinai umher. Am Anfang habe ich ihn begleitet, bis unser Sohn Gerschom geboren wurde. Da blieb ich dann meistens bei unseren Zelten. Zunächst sah alles nach einem ganz normalen Leben aus. Aber dann veränderte sich alles. Veränderte sich Mose. Manchmal frage ich mich heute noch: ist das der Mann, den du geheiratet hast?
Eines Tages - den Tag werde ich nie vergessen - kam er überraschend früh von seinem Weidegang aus den Bergen zurück. Er setzte sich an den Eingang unseres Zeltes. Er schaute merkwürdig abwesend. Ich musste ihn mehrmals ansprechen, bevor er reagierte. „Was ist mit dir, Mose", fragte ich. Es dauerte eine ganze Weile, bis er die Worte gefunden hatte, um mir etwas Merkwürdiges zu erzählen. Dass eine Stimme aus einem brennenden Dornbusch zu ihm gesprochen hätte. Eine Stimme, die er noch nie vorher gehört hatte. Erst war er nur erschrocken. Aber dann hatte sie ihn völlig in ihren Bann gezogen. Ich bin der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, hörte er, geh nach Ägypten und führe mein Volk in die Freiheit. Und Mose, mein Mann, er konnte nicht anders, als ihr zu folgen. Mein Vater hatte Verständnis; er hatte ja selbst immer wieder mit dem unbegreiflichen Gott des Sinai zu tun. Er wusste: man muss dem Anruf Gottes, seiner inneren Stimme folgen, auch wenn man manchmal nicht absehen kann, wohin das führt. Ich habe jedenfalls alles zusammengepackt, was wir für die Reise nach Ägypten brauchten. Und dann bin ich mit Mose und unseren beiden Söhnen losgezogen.
Als wir unterwegs eine Rast einlegten, habe ich Mose gefragt, wie er sich seine Mission in Ägypten denn vorstellen würde. Zum Pharao zu gehen und zu sagen, lass mein Volk ziehen, das stellte ich mir schon schwierig genug vor. Aber wie, Mose, willst du das Volk dazu bringen, dir zu folgen? Du magst ja viele Vorzüge haben, aber die Gabe der überzeugenden Rede, die hast du nun gerade nicht. Doch Mose konnte mich beruhigen: er hätte einen Bruder in Ägypten, Aaron, der wäre, das hätte die Stimme aus dem Dornbusch ihn wissen lassen, ein guter Redner. Mit dem würde er sich zusammentun, und gemeinsam würden sie es schon schaffen. Das hat mich sehr beruhigt.
Und die Geschichte hat das ja auch gezeigt: sie hatten es tatsächlich zusammen geschafft; zwar erst nach 10 Anläufen, aber dann ließ der Pharao das Volk tatsächlich ziehen. Auf den Sinai sollte es gehen, in die Wüste, dorthin, wo der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs wohnte; dorthin, wo er zu Mose aus dem Dornbusch gesprochen hatte. Dort wollte er zu seinem ganzen Volk sprechen.
Doch der Weg dorthin hatte es in sich. Nicht nur der Übergang über das Rote Meer. Im letzten Augenblick entkamen wir da den Verfolgern, die der Pharao losgeschickt hatte. Doch die Freude über die gelungene Flucht - ich sehe es noch vor mir, wie wir alle hinter der Pauke schlagenden Mirjam hertanzen und laut die Rettungstag Gottes besingen - doch diese Stimmung hielt nicht lange an. Der Weg durch die Wüste war eben kein Urlaubstrip. Immer im großen Tross zusammen zu wandern, das war nicht leicht. Der Weg war allen fremd. Keiner wusste so recht, wo es hin ging. Das zehrte an den Nerven. Und dann die Versorgungsprobleme - kein Wasser, kein Essen. Fast wären sie über Mose hergefallen. Mit Vorwürfen haben sie ihn überschüttet. Aber es gelang ihm immer wieder, die Situation zu retten und Abhilfe zu schaffen. Mit Gottes Hilfe. Ja, er war der Anführer, unentbehrlich. Ich habe ihn damals kaum einmal in unserem Zelt gesehen. Er hatte immer zu tun. Rund um die Uhr. Er war gefragt, stand stets im Mittelpunkt. Für mich und seine Kinder hatte er nie Zeit.
Eines Tages, wir waren schon recht weit auf dem Weg ins Innere des Sinai gekommen, kam mein Vater zu Besuch. Er blieb ein paar Tage in unserem Zelt und bekam mit, welches Arbeitspensum Moses zu bewältigen hatte. Als wir am Vorabend des Sabbats beim Essen zusammensaßen - das erste Mal, das Mose mit am Tisch saß in diesen Tagen - ergriff mein Vater das Wort: Mose, wenn ich so deinen Tagesablauf sehe, dann muss ich sagen: wie du deine Leitungsaufgabe wahrnimmst, das ist nicht gut. Für alles und jedes kommt man zu dir. Das überfordert dich, du machst dich müde. Und auch das Volk. Leitung ist keine Sache für einen Einzelkämpfer. Hör auf mich, ich meine es gut mit dir; und Gott wird mit dir sein. Sieh dich unter dem ganzen Volk nach tüchtigen und ehrlichen Menschen um, die jeweils in ihrem Umfeld für Recht und Ordnung sorgen. Nur wenn sie in einer Sache nicht weiterwissen, sollen sie damit zu dir kommen. Und tatsächlich fand mein Vater damit bei Mose Gehör. Die Entlastung tat ihm gut, und mir und unseren Kindern auch. Aber leider, leider stellten sich die unguten Verhältnisse im Laufe der nächsten Monate wieder ein. Viele kamen trotz anderer Regelung einfach mit ihren Anliegen zu Mose. Und mein lieber Mann, der merkte zwar, dass die wieder ansteigende Belastung ihm nicht gut tat, aber er war auch geschmeichelt. Ohne ihn ging es eben nicht. Mose wird's richten. Mose muss ran.
Irgendwie habe ich es kommen sehen, was dann geschah. Einige Tage war es bereits sehr warm gewesen. Ständig wehte ein heißer Wind. An ein Weiterziehen war dabei nicht zu denken. Die Menschen im Lager stöhnten unter der Hitze und fingen an, zu jammern. „Wieso hast du uns hierher gebracht, Mose? Immer diese Wasserknappheit und auch zu essen gibt es nichts Gescheites. In Ägypten, da ging es uns gut. Da hatten wir frischen Fisch aus dem Nil, ganz umsonst, und Kürbisse, Melonen, Lauch und Zwiebeln wuchsen in unseren Gärten. Und was haben wir hier? Nur dieses klebrige Zeug, dieses Manna." So jammerten sie in einem fort. Da war Mose auf einmal mit seinen Kräften am Ende. Er stürmte aus dem Lager hinaus und lief in die Wüste hinein. Ich bin ihm nach, denn ich machte mir richtige Sorgen um ihn. Ich fand ihn hinter einem Felsbrocken. Da stand er, das Gesicht zum Himmel, im Gebet. „Mein Gott, ich kann nicht mehr", hörte ich ihn, „alles soll ich regeln, für alles bin in verantwortlich. Was du mir da aufgebürdet hast, das ist zu viel. Ich bin doch nicht die Mutter deines Volkes, die jeden füttern und betutteln soll. Gib dies, gib das, mach dies, mach das. Als ob ich Fleisch und Fisch, Gemüse und Obst herbeizaubern kann. Ich kann nicht mehr und ich will nicht mehr, Gott. Lieber sterbe ich, als noch einen solchen Tag zu erleben." Dann sackte er zusammen und kauerte auf dem Boden, ein Häufchen Elend. Ich bin hin und habe ihn in den Arm genommen und gestreichelt - wie eine Mutter ihr Kind. „Du bist doch nicht allein", habe ich zu ihm gesagt, „Gott ist da und ich bin da; und so viele, die es gut mit dir meinen. Du brauchst doch nicht für alles allein den Kopf hinzuhalten. Da gibt es viele, die dir gerne zur Seite stehen würden, die gerne Verantwortung übernehmen würden. Erinnere dich doch, als mein Vater da war und dir geraten hat, die Verantwortung zu teilen. Da gab es doch auf einmal ganz viele, die mitmachten. Und du hattest endlich wieder Zeit - für dich, für mich, für die Kinder und für Gott. Da ist es dir und dem Volk doch gut gegangen." „Aber die haben doch nicht den Durchblick so wie ich", widersprach Mose matt, „die sind einfach keine Führungspersönlichkeiten." „Nun, sie mögen nicht deine Fähigkeiten haben, auch nicht dein Bedürfnis, immer in der ersten Reihe zu stehen, aber darauf kommt es nicht an. Jeder hat Gaben und Fähigkeiten, jeder ist von Gottes Geist belebt. Es ist derselbe Geist, der sich auf unterschiedliche Weise auswirkt. Mose, ich bitte dich, nimm dich einmal nicht so wichtig. Gib dem Geist Gottes die Chance, auch in anderen zur Entfaltung und zur Wirkung zu kommen. Tüchtigkeit kann erdrücken - zuerst die anderen und dann den Tüchtigen selbst. Du merkst es doch selbst, dass du als Einzelkämpfer niemals mit dem Volk ins Gelobte Land kommst. Es braucht ein gutes Team."
Mose schwieg lange. Dann sagte er langsam: „Du hast ja recht, Zippora. Komm, lass uns ins Lager gehen. Ich will die Mitarbeitertruppe, die dein Vater damals angeregt hatte, wiederbeleben. Hoffentlich sind sie noch einmal bereit, es mit mir zu versuchen. Ich weiß, ich hatte ihnen wenig Raum gelassen für ihren Einsatz." „Da bin ich mir sicher, Mose", ermutigte ich ihn, „sie wollen doch alle, dass unsere Wanderung an ihr Ziel kommt. Wir teilen doch alle die gleiche Hoffnung, den gleichen Glauben, wir leben doch alle vom gleichen Geist beseelt."
Und tatsächlich: als wir im Lager eintrafen, fand Mose die richtigen Worte und anders als er es befürchtet hatte, waren die Männer, die er damals hatte gewinnen können, wieder bereit, sich zusammen mit ihm um die Belange des Volkes zu kümmern. Es gab eine richtige Aufbruchstimmung. Sie setzten sich in großer Runde zusammen, verteilten Aufgaben, überlegten, was als nächstes zu bedenken sei. Mose sah richtig erleichtert aus. So gelassen und locker hatte ich ihn noch nie erlebt. Nur einmal, da wäre er beinahe wieder in sein altes Muster zurückgefallen. Da kamen auf einmal noch zwei Männer an, um mitzumachen. Zwei, die bisher eigentlich nie besonders aufgefallen waren und die damals nicht zum Leitungsteam gehört hatten. Aber jetzt hatten sie wohl allen Mut zusammengenommen und waren da, wollten mitmachen. Ich sah, wie Mose mit sich kämpfte. Zwei, die er nicht ausgesucht hatte, die vielleicht ganz andere Ideen einbrachten. Er blickte zu mir hinüber. Ich nickte ihm aufmunternd zu. „Also gut, setzt euch zu uns", sagte er da zu den beiden, „Wir brauchen jeden, der mitmachen will. Gott braucht jeden, um sein Volk ans Ziel zu führen."
So weit ich mich erinnere, hatten die beiden wirklich sehr gute Ideen; und vor allen Dingen haben sie nicht nur geredet, sondern auch angepackt. So begeistert waren jedenfalls die Männer des Leitungsteams, dass sie noch zusammen saßen, aßen und tranken, sangen und erzählten, als die Sonne längst untergegangen war und die Sterne am Himmel funkelten. Bevor sie ins Bett gingen, verabredeten sie sich für den nächsten Tag.
Als Mose zu mir in Zelt kam, lag ein Lächeln auf seinem Gesicht. „Weißt du, Zippora", sagte er leise zu mir, um unsere Kinder nicht aufzuwecken, „es stimmt, was unsere Väter und Mütter von der Schöpfung erzählen: der Geist Gottes schwebt über dem Chaos und schafft den Kosmos, das Leben. Und das nicht nur damals, sondern auch heute. Und ich glaube, er wird es immer tun. Immer wird er da sein, um das Leben zu befördern, um uns zu befreien - von Überforderung und vielen Sorgen, aus tausend Ängsten. Wo der Geist Gottes sich unter uns und manchmal gegen uns durchsetzt, da ist Freiheit."
Dem konnte ich nur aus vollem Herzen zustimmen.
Amen.
Pfingstsonntag, 08.06.2014 Stadtkirche 2.Korinther 3,6-18 (Marginaltext für Pfingstsonntag) Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Pfingstsonntag 8.VI.2014
2.Korinther 3,6-18
Liebe Gemeinde!
Weihnachten ist gewesen, Karfreitag und Ostern sind gewesen.
… Lang vergangen.
… Seit zweitausend Jahren historisch.
….. Du warst nicht dabei, ich war nicht dabei: Wir haben nicht auf kaltem Stroh ein winziges Würmchen berührt, wir haben nicht am finstern Mittag einen Gefolterten schreien und verstummen gehört. Keiner von uns heute Lebenden hat ihn am Anfang geküsst, keiner seinen Leichnam am Ende fortgeschafft, keiner seine Füße umschlungen, die das Grab verließen.
Das ist alles Kunde aus fernen Tagen, bemooste Erinnerung, ergraute Tradition; schön antiquiert wie Familiensilber, vertraut weihnachtliches „Weißt-Du-noch“, festlich alltagsfernes „War-einmal“ von Ostern.
Nostalgisches altes Christentum. Liebgewonnene Überlieferung, harmlose Gewohnheitssache, …. aber eben Rückblick, Wiederholung des längst nicht mehr Wahren.
Und selbst wenn das nicht vergilbt und abgenutzt wirkt, selbst wenn einer darin die Luft, die er atmet, das ABC seiner Seele, die Grundfesten seiner Gesinnung findet, …. machen wir uns nichts vor: Es bleibt ein Leben der Rückbesinnung, es bleibt ein Festhalten am guten Alten, am Sicherheitvermittelnden, an Formen und an Sitten, die älter, größer, stärker sind als nur die flüchtige Gegenwart: … unser stolzes christliches Erbe.
Das jedenfalls ist mein Bild, wenn ich ehrlich bin:
So wie ich mich am liebsten zwischen alten Mauern und Möbeln bewege, so wie ich am tiefsten greifen und begreifen kann, wenn ich aus Vergangenem schöpfe, so hängen viele von uns am Gewesenen, weil Vertrautes beruhigt und Bekanntes nicht verwirrt.
Darum Weihnachtsoratorium und Passionsmusik, darum Bayreuth und Rosenmontagszug, darum die immer gleichen Vorgänge und Wiederholungen auch noch und nun erst recht in den neuen Medien, in denen zwar alle mitmachen, aber niemand etwas anders.
Wir sind Wiederholungstäter und Gewohnheitstiere – einerlei, ob im konservativen Gewand des Traditionalisten oder im scheinbar kreativen Aufzug des virtuellen Massenindividuums.
Es ist alles längst dagewesen, gebraucht und gestrig: Unser kirchliches und kulturelles, unser politisches und seelisches Leben. Es hat im besten Falle Patina und Grünspan angesetzt, meist aber doch nur einen Grauschleier bekommen, unter dem die Farben ausbluten.
So pflegen wir es also … das Gemeindeleben, und behalten es bei … das öffentliche Pathos der Christlichkeit, so lieben wir sie wohl auch … unsere Nische der Gleichgesinnten, unsere liturgische oder linksliberale oder bildungsbürgerliche Spielart des Protestantismus.
Aber es ist nicht das Leben der Zukunft darin, sondern nur noch fossiler Brennstoff aus der Vergangenheit, und irgendwann wird’s da kein Öl, kein Gas mehr geben, wo die alten Ressourcen abgebaut und verpufft sind. Dann unterhält die Kirche nur noch Gebäude und Strukturen und Verwaltung – aber die Laterne, der weithin sichtbare Leuchter ist kalt und leer.
Nichts zündet, nichts lodert, nichts wärmt dort mehr.
Denn die Zeit der christlichen Kirche und ihrer Theologie ist abgelaufen. ………………………………………………
———— Ehrlich gesagt ist das Schlimmste an diesem schwarzen Bild allerdings, dass ich es hier so ermüdend entwerfen kann und niemand mir das Gesangbuch an den Kopf wirft, dass nicht gescharrt und „Buh!“ gerufen und der Pessimismus nicht von der Kanzel gejagt wird!
Ihr lieben Schwestern und Brüder!
Das tut doch weh, da krampft doch das Herz und frieren doch die Gedanken, wenn wir uns so unwidersprochen schildern lassen, dass wir dem Untergang des Evangeliums beiwohnen und die Agonie der Kirche bezeugen.
Verdammt und zugenäht: Es muss doch endlich etwas passieren, wenn man überall, selbst hier an diesem gesegneten Ort immer nur vom Verblassen und Verschwinden eines über-lebten Glaubens hören sollte, ……..denn eher werden Himmel und Erde vergehen, als dass Gottes Wort hinfällig werden könnte!!!
Wenn also wirklich Glaubensschwund und Kirchenschrumpfen einsetzen, wenn wir ein Veralten und Auflösen des christlichen Bekenntnisses nicht als Propaganda, sondern als Erfahrung feststellen sollten, dann muss sich jeder Getaufte fragen: Bist Du eigentlich schein-tot oder vor Besoffenheit schmerzunempfindlich, dass es Dich kalt lässt, wie der Leib verfault, zu dem Du gehörst, wie die Glieder schwinden und wegschmelzen, die in der Menschheit so notwendig sind, um das Leben und das Lieben zu üben und zu teilen, weil darin Kräfte wirken, die stärker sind als der Tod?
– Ärgere dich doch, Christenmensch!
Mensch, ärgere Dich!
Das wäre wenigstens ein erstes Lebenszeichen, wenn Du den Phantomschmerz spüren würdest, wo alles, was wir glauben und hoffen dürfen, verfällt und vergessen wird.
Wenn dieser Ärger über das Schlechtmachen des Besten, über das Kleinreden des Größten, über das Anschwärzen des Lichtes und das Leichtnehmen des überaus Gewichtigen jetzt also wirklich bei uns allen angeschürt sein sollte, wenn bei uns die Wut darüber köchelt, dass unser Glaube und seine Lebensäußerungen schwinden und als überholt beseitigt werden sollen, dann haben wir Betriebstemperatur erreicht.
Dann können wir den überaus ärgerlichen Pfingstbrief des Apostels Paulus lesen:
2.Korinther 3,6-18
Alles, was in diesen Zeilen über die vorübergehende Herrlichkeit des Buchstabens, über den einstweiligen Sinn dessen, was Mose und die Torah ausrichten können und wollen, gesagt wird ….. alles das haben wir eben gespürt:
Da wird nicht in trostlos brutalem Antisemitismus über das Alte Testament Gericht gehalten, sondern da stimmt jemand, der das selbst nie für möglich gehalten hätte, den Abgesang auf das an, was allem Leben bisher überhaupt Richtung und Ziel und Bedeutung und Herrlichkeit geben konnte. Da nimmt einer – und man merkt ihm den Zorn und Schmerz und die Verlegenheit und Freude dabei an – da nimmt einer öffentlich Abschied von der bisher geheiligten, in Ehrfurcht gehaltenen Prägung seines Glaubenslebens.
Doch warum? – Etwa weil die Torah des Mose, weil das Wort, das Gott selbst Buchstab für Buchstab in Stein meißelte und das in Zehn Geboten die Welt bis heute im Innersten zusammenhält, überholt und ungültig geworden wäre? Nein!
Sondern weil die Offenbarung vom Sinai nun einmal für Israel das ist, was für uns Weihnachten und Ostern sind: Ursprung und Höhepunkt der Heilsgeschichte … in der Vergangenheit!
Paulus aber hat etwas erfahren, das alle Juden und alle Christen, die vom Sinai, von Weihnachten und Ostern, also von der Tradition und deren beharrlicher Überlieferung her leben, immer wieder verunsichern, ärgern und aus der Fassung bringen wird.
Paulus hat erfahren, dass die großen, feststehenden Lebensworte und Lebenswege – sofern sie sich auf vergangene Wahrheit gründen und beziehen – tot sind.
Du kannst ihr so treu bleiben wie Du magst – der reinen Wahrheit der Urzeit und des Erbes –, Du kannst so hingebungsvoll wie sonst niemand Weihnachten und Ostern feiern, so stur und stolz den Kampf um die reine Lehre und das Bewahren des Guten führen: Das alles bleibt geliehener Glanz und ein erschwindelter Anschein von Heilsgegenwart, bleibt konservatives Sing- und Schauspiel für Nostalgiker und gediegenes Kirchen- und Musiktheater im Museumsdorf Kaiserswerth oder im Kölner Dom oder im Fernseh-Tempel der Megakirchen.
Lasst es sein, wenn es nur das ist. Es hat keine Zukunft! Es ist das Amt der vergehenden Herrlichkeit, über die man den Deckmantel des Schweigens breiten sollte, ehe es nur noch ein Gespensterreigen, die Wiederkehr einst lebendiger Schatten ist.
Die ganze beliebte Weihnachtsseligkeit, der hohe Ernst des Karfreitag, die in Blödsinn verfallende Unfähigkeit, an Ostern etwas anderes als Frühlingserwachen nach des Winters Schlaf zu begehen … das ist alles ein beschämend sinnloser Gottesdienst, dessen wahrer Sinn nicht aufgedeckt wird, eh nicht das passiert, was den Paulus so ärgerlich unverfroren gegenüber dem heiligen Kult macht:
Es ist alles nichtig und hohl ohne den Geist.
Der Geist allein kann die Decke über der alten Wahrheit, die Hülle über der unmittelbaren Gegenwart des Heils wegziehen!
Und darum ist das eigentliche Fest unseres Glaubens das heutige Pfingsten – aber nicht als Rückblick auf die Geschehnisse in Jerusalem beim Schavuot- oder Wochenfest, als die Jünger des Herrn verwandelt wurden und Verwandlung um sie herum ausgebreitet wurde ….., sondern unser Fest ist das Pfingsten, das kommt.
Pfingsten steht uns – den meisten von uns jedenfalls – nämlich anders als die altbekannten Feste und Bekenntnisse der Gemeinde noch bevor!
Aber es kann auch, … ja, es wird uns einst selber begegnen, was Pfingsten ist und schenkt: Nämlich alles andere, das Vergangenheit und Tradition war, lebendig zu machen, zu verheutigen, zu verhiesigen und gerade so zu verherrlichen!
Wo sich das nämlich ereignet – wann und wie Gott will! –, dass die großen Taten der geschichtlichen Erlösung aus ihrer Einbettung und harmlosen Verborgenheit im „Es war einmal“ herausbrechen und uns heute packen, hier auf und in uns eindringen, da passiert das, was wir nicht länger der belächelten Zeltmission oder den platten Eiferern des Fundamentalismus überlassen dürfen: Wo der Herr als der Geist kommt, wo der Geist unser Herr wird – da geschieht Bekehrung!
Solche Bekehrung aber, wie sie der Geist bewirkt und wie wir sie nötiger als alles andere brauchen … solche Bekehrung bedeutet nicht, dass eine Frau unterm Rock nur noch blaue Strümpfe oder ein Mann nur noch Leichenbitter im Gesicht trägt. Bekehrung führt nicht zum Lachen in den Keller und zum Leben ins Abseits, sondern zur völligen Freiheit.
Da hören die Krämpfe und die Zweifel auf: Der Krampf, so gern glauben zu wollen und Halt zu spüren, … der Zweifel, ob es zum Glauben überhaupt einen Anlass und wirklichen Halt in der Welt geben könne? … Das vergeht, wo Gott die Decke abtut. Aus dem Verwickelten und Verhüllten wird Offenbares. Aus Rückblicken und Festhalten wird Gegenwart und Freiheit.
Kein Zwang mehr, sondern die natürlichste Haltung der Welt: Die Herrlichkeit Gottes leuchtet uns ein und wir „reflektieren“ sie – spiegeln und strahlen sie aus.
So bedeutet Bekehrung also Befreiung von den Lasten und Hindernissen des Glaubens, so schenkt Bekehrung Begegnung: Was uns durch den Geist anstrahlt und einleuchtet, das verändert nicht nur unser Sehen, sondern sogar unser Aussehen.
Weil aus dem rückwärtsgewandten Christentum, das Jesus nur als Vergangenheit betrachtet, der klare Blick nach vorn und nach oben wird: Menschen, die nicht mehr die Welt und Wahrheit von gestern betrachten und seufzen „Ja, damals….“, weil Jesus Christus ihnen jeden Tag begegnet und gegenwärtig ist und weil ihnen an seiner Seite die Zukunft gehört.
Wie sollten also solche Menschen, denen Bekehrung widerfahren ist, nun nicht wirklich freie, zuversichtliche und frohe Menschen sein, die das lebendige Bild dessen abgeben, was sie erfahren: Dass zu Weihnachten Gott selbst unser Leben zu Seinem gemacht hat, dass am Karfreitag der Mann am Kreuz tatsächlich für mich die Sünde und den Tod auf sich genommen hat, um mich davor zu retten, und dass am Ostermorgen das Leben siegte und die Ewigkeit gewonnen wurde.
Wer die Freiheit des Geistes an Pfingsten empfängt, wem die Schutz- und Schonhüllen, in denen der Glaube eingemottet war, runtergerissen werden: ……. Der küsst tatsächlich das Kind, der kniet wahrhaftig unterm Kreuz, der folgt dem leibhaftig Auferstandenen nach und weiß, dass Er wiederkehren und sich von Angesicht zu Angesicht sehen und begreifen lassen wird! ——
Alles das ist selbst den Kirchlichsten unter uns sonst zu schwer, zu fremd, zu fromm.
Doch da hilft heute und künftig nun wirklich nur noch die Aussicht auf Pfingsten und die Sehnsucht nach Bekehrung und Freiheit von allen Fesseln der Vergangenheit! ——
… Natürlich können wir das nicht einfach selber machen. …
Aber je mehr landauf, landab daran gebastelt wird, die leere Hülle des Christentums und die bloßen Strukturen der Kirche zu flicken und aufzublasen, desto freier sollten wir werden, die Turniere auf diesen Nebenschauplätzen nicht mitzumachen und uns stattdessen vorzubereiten auf Pfingsten, das liebliche Fest, an dem geschehen wird, was wir nötig haben:
Wir werden bekehrt werden … und frei – durch den HErrn, der der Geist ist.
Ach, dass es doch heute geschähe!
Amen.
Exaudi 01.06.2014 Stadtkirche Römer 8 Dr.Ferdinand Schlingensiepen
1. Juni 2014 Gedanken zu Römer 8 Stadtkirche Kaiserswerth
Liebe Gemeinde,
heute ist ein Gedenktag unserer Kirche, und damit will ich beginnen. Gestern vor 80 Jahren, am 31. Mai 1934, ist die Bekenntnissynode von Barmen mit der feierlichen Verabschiedung der Barmer Theologischen Erklärung zu Ende gegangen. Diese Erklärung war ein gegen die hitlerhörigen „Deutschen Christen“ gerichtetes Bekenntnis. Sie steht heute zu Recht mit den altkirchlichen Bekenntnissen und den Bekenntnissen der Reformationszeit im Anhang unseres Gesangbuchs.
Kirchliche Bekenntnisse wollen nichts Neues sagen, sondern – in einer anders gewordenen Zeit und gegenüber neuen Gegnern – das Evangelium von Jesus Christus vor Verfälschungen bewahren.
Die Theologische Erklärung von Barmen besteht aus sechs Thesen, die jeweils mit einem Bibelwort beginnen. Dann erklären sie, woran die Kirche auch gegen Widerstände festhalten wird, um mit einer Verwerfung der deutschchristlichen Irrlehren zu schließen.
Lassen Sie uns auf die erste der sechs Thesen hören:
Jesus Christus spricht: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineinkommt in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und Räuber. Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, der wird selig werden.
Jesus Christus, wie er uns in der heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und ihm Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.
Das waren, wie gesagt, keine neuen Gedanken, sondern die schon in der Bibel proklamierte Wahrheit. Jesus Christus als das e i n e Wort Gottes steht auch im Mittelpunkt des Kapitels, aus dem der für heute vorgeschlagene Predigttext stammt. Es ist das 8. Kapitel des Römer-briefs, in dem der Apostel Paulus den Christen in der damaligen Welthauptstadt schreibt, was es für ihn und für sie bedeutet, dass sie zu Jesus Christus gehören. Ein passenderes Kapitel für einen Taufgottesdienst kann es kaum geben.
Erinnern Sie sich an Ihre Taufe? Ich soll an einem heißen Juli-Sonntag 1929 getauft worden sein; aber ich kann mich daran nicht erinnern, und den meisten von Ihnen wird es mit ihrer Taufe genau so gehen. Darum ist jeder Taufgottesdienst ein Tag, der uns daran erinnern soll, was damals, bei unserer Taufe ein für alle Mal geschehen ist: Gott hat uns angenommen als seine Kinder. Ich lese den Anfang von Römer 8: Es gibt keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind; denn das Gesetz des Geistes, der lebendig macht in Christus Jesus hat dich frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes. Paulus legt das im Verlauf des Kapitels aus, und Martin Luther hat gesagt, dass man die Verse in der Mitte des Kapitels mit güldenen Buchstaben schreiben solle. Da heißt es von den Getauften: Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht den Geist von Knechten empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind.
Wie schreibt man das mit goldenen Buchstaben? Und gemeint ist damit ja, wie schreibt man es so, dass es uns für immer im Gedächtnis bleibt? Luther konnte sowas. Er hat diesen Vers mit den Worten umschrieben: Christus will dein Bruder sein, so will Gott dein Vater sein. So müssen alle Engel deine Freunde sein, und es müssen sich freuen Sonne, Mond und alle Sterne. Das gilt ab heute für Etienne und Elea, die beiden Täuflinge im heutigen Gottesdienst.
Und es gilt seit unserer Taufe für jeden von uns hier in der Kirche. Christus will dein Bruder sein; so will Gott dein Vater sein, so müssen alle Engel deine Freunde sein; und es müssen sich freuen Sonne, Mond und alle Sterne.
Verändert uns das? Macht es uns zu neuen Menschen? Dass es dazu die Kraft hatte, als die nationalsozialistischen Ideen die Köpfe von Millionen von Deutschen verdreht hatten, das kann man bis heute nacherleben. Ein junger Offizier schrieb aus dem Kessel um Stalingrad im Oktober 1942 an seine Verlobte: Gestern habe ich mit meinen Kompanieoffizieren bis zwei Uhr nachts gestritten. Sie behaupteten, dass die Natur gut sei, da Gott sie ja geschaffen habe. Ein Gesetz der Natur sei aber der Kampf um die Selbsterhaltung. Nur aus dem Tod entstünde Leben. Es gehe um das ewige Stirb und Werde. So sei auch der Kampf Volk gegen Volk, die Unterdrückung oder Vernichtung des Schwächeren ein Gesetz der Natur und darum gut.
Was er da wiedergibt, ist einer der typischen Gedanken Hitlers und seiner Leute, der an die Stelle des Evangeliums treten sollte. Aber die Kirchen waren, als der Krieg begann, derart an den Rand gedrängt und entmutigt, dass sie es gar nicht mehr wagten, ihr eigenes feierliches Bekenntnis von 1934 dem Diktator entgegen zu halten.
Die Verlobte des Offiziers war da mutiger. Empört schreibt sie: Ich wünschte, ich könnte Dir in dem Streit mit den Offizierskameraden zur Seite stehen. Dass sich nicht ihr ganzes Inneres gegen dieses (angebliche) Naturgesetz, den Sieg des Mächtigeren über das Schwache, aufbäumt, scheint mir schrecklich und entweder entartet oder ganz und gar unempfindsam. ... Im 8. Kapitel des Römerbriefs heißt es: Das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes.
Liebe Gemeinde: das steht im Römerbrief für alle Getauften geschrieben. Die ganze Schöpfung soll mit uns, den von Gott geliebten Kindern zusammen, erlöst werden.
Dieses Kapitel soll der Verlobte in Stalingrad lesen und dann seinen Kameraden den Kopf zurecht rücken. Sie fährt fort: Lies dieses Kapitel unbedingt selbst durch, nach diesem Brief oder jetzt gleich. Und lies den herrlichen Satz zu Beginn: Das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christus Jesus, hat mich frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes. Sind die nicht entsetzlich arm, die das nicht wissen und glauben? Diese ihre Armut [und das Bewusstsein unserer eigenen Schwachheit, denn was wären wir, allein gelassen] müsste uns immer wieder geduldig machen ihnen gegenüber, selbst wenn ihr dummer Hochmut uns zornig machen möchte. Und dann gibt sie ihrem Verlobten genaue Anweisungen, wie er die Kameraden, wenn sie wieder mit diesen Nazithesen kommen, Schritt für Schritt in die Enge treiben kann. Ganz im Sinne der Barmer Theologischen Erklärung stellt sie den pseudoreligiösen Thesen das eine Wort Gottes gegenüber, das durch den Heiligen Geist in denen wirksam ist, die Jesus nachfolgen. Sein Geist gibt Zeugnis unserem Geiste, dass wir Gottes Kinder sind. Da gilt dann plötzlich selbst im Kessel von Stalingrad: Christus will dein Bruder sein; so will Gott dein Vater sein, und alle Engel müssen als Freunde helfen, die Torheit der Kameraden zu überwinden.
Die 21jährige Studentin, die das geschrieben hat, hat es anders als die beiden großen Kirchen in Deutschland gewagt, ihre Gedanken öffentlich zu machen. Es war Sophie Scholl, die mit ihrem Bruder Hans in München Flugblätter gegen den Krieg und den Ungeist der National-sozialisten verteilt hat und dafür hingerichtet worden ist.
Im Mittelpunkt von Römer 8 ist von dem Gesetz des Geistes
die Rede, das da lebendig macht in Christus Jesus; und es ist dieser Geist, der uns ergreifen und unser Leben im Glauben festhalten will, wenn wir schwach werden. Der Geist hilft unserer Schwachheit auf; denn wir wissen nicht (einmal) was wir beten sollen, wie es sich gebührt, sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen. Der aber die Herzen erforscht, der weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist; denn er vertritt die Heiligen, wie es Gott gefällt.
Es gibt große Beter und – soll ich sagen: es gibt uns? Dass unsere Gebete sehr rasch schwach sind, dass sie viel zu oft ausbleiben, das scheint schon Paulus vorausgesehen zu haben. Jedenfalls hat er gewusst, dass wir da auf Hilfe angewiesen sind. Aber er rüttelt uns nicht auf mit Appellen und Ermahnungen. Er stellt uns keine Bedingungen: Wehe euch, wenn ihr das nicht überwindet, dann seid ihr keine Christen mehr ...
Er sagt: Lasst Euch vom Geist helfen.
Der Geist – das ist die Kraft Jesu Christi in der Welt,
in der Kirche und in unseren Herzen. Der Geist ist der große Beweger, ohne den die Kirchen und selbst ihre treusten Mitglieder ganz schnell am Ende wären. Dieser Geist vertritt uns, wenn wir zu schwach sind. Das trägt uns; und so halten wir durch.
Sophie Scholl hat ihrem Verlobten damals auch einen Brief über das Gebet geschrieben. Ich bin Gott noch so ferne, dass ich ihn nicht einmal beim Gebet spüre, schreibt sie. Ja manchmal, wenn ich den Namen Gott ausspreche, will ich in ein Nichts versinken. Das ist nicht etwa schrecklich, oder schwindelerregend. Es ist gar nicht – und das ist noch viel entsetzlicher. Doch hilft dagegen nur das Gebet, und wenn in mir noch so viele Teufel rasen, ich will mich an das Seil klammern, das Gott mir in Jesus Christus zugeworfen hat, und wenn ich es nicht mehr in meinen erstarrten Händen fühle. Ich bitte Dich: denk an mich in deinem Gebet; ich will auch Dich nicht vergessen, Deine Sophie
Die Kirche kann Bekenntnisse formulieren. Daran halten, sie zur Geltung bringen, das müssen die vielen einzelnen Christen, aus denen die Kirche besteht.
Ich habe jetzt über eine Zeit gesprochen, die zwar die Alten unter uns noch erlebt haben, aber die lange vorbei ist. Wir können uns kaum noch vorstellen, wie das möglich war, dass ein einzelner Mann mit verbrecherischen Plänen ein ganzes Volk in einen Krieg und damit beinahe in den völligen Untergang führen konnte. Was das angeht, so leben wir in einer völlig anderen und weit besseren Zeit.
Braucht unsere Zeit das Barmer Bekenntnis noch? Ist es sinnvoll, in einem Gottesdienst daran zu erinnern? Wir würden uns ja etwas vormachen, wenn wir nicht merkten: Wir Christen, die sich zur Kirche halten, sind – gerade weil es uns Deutschen so gut geht – eine kleine Schar geworden, und die Planungsabteilungen im Landeskirchenamt sagen uns, dass unsere Schar in den kommenden Jahren noch weiter abnehmen wird.
Paulus hat seinen Römerbrief in einer Zeit geschrieben, als die Christen im römischen Reich eine winzige Minderheit waren. Es hat ihn keinen Augenblick entmutigt, dass er zu einer kleinen Schar gehört hat. Und Sophie Scholl hat mit wenigen anderen die Gedanken das Paulus als Wahrheit den Lügen Hitlers und seiner Leute entgegengesetzt.
Sie hat – wie der Dichter Novalis – als er in seiner Zeit den Abfall vom christlichen Glauben beobachtet hat, gesagt: Wenn alle untreu werden, so bleib ich dir doch treu. Es kommt nicht darauf an, dass wir zu irgendeiner Mehrheit gehören, sondern dass wir vom Geist Christi erfüllt werden und bei ihm bleiben, dann gelten uns die großen Verheißungen von Römer 8 uns und sichern uns zu, dass Christus bei und ist und bei uns bleiben wird im Leben und im Tod. Paulus schreibt: Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt.
Besser auslegen, was das für uns bedeutet, als Luther das getan hat, kann man das nicht; und so sage ich es noch einmal für die beiden Täuflinge und für uns alle: Christus will dein Bruder sein; so will Gott dein Vater sein, so müssen alle Engel dein Freunde sein, und es müssen sich freuen: Sonne Mond und alle Sterne. Amen.
Kantate 18.05.2014 Konfirmation Stadtkirche Apostelgeschichte 16,31 Jonas Marquardt
Konfirmationspredigt Kaiserswerth Kantate 18.V.2014
Apostelgeschichte 16,31
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Unser Unterricht begann – nach dem vielen, manchmal ein bisschen ausufernden Geschwätz am Anfang – regelmäßig mit einem Lied.
Dafür gibt es genug gute Gründe: Allein schon, weil dann wirklich alle mal gleichzeitig Krach machen sollen und man gemeinsam atmet und das Gehirn mit Sauerstoff versorgt wird und der Takt die ganz verschiedenen Pulse und Impulse in so einer Gruppe zu einer Einheit werden lässt. Allein schon darum haben wir also gesungen – aber wenn es dabei nur um eine körperliche Aufwärmübung gegangen wäre, hätten wir uns auch Liegestützt oder Spagat vornehmen können (rein vom klanglichen Ergebnis wäre es hin und wieder vielleicht sogar auf’s Gleiche rausgekommen).
Doch die Gemeinde Jesu Christi singt bestimmt nicht nur, um sich und ihre Muskeln ein bisschen zu pflegen und zu dehnen.
Dass wir eine singende Kirche sind, daran ist die Bibel schuld, die wir oft als das „Wort“ Gottes bezeichnen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Die Bibel ist nicht nur Gottes Wort, sondern auch Seine Melodie.
Aus ihr singt Gott uns an – und wir wissen, was es heißt, wenn jemand uns ein Ständchen bringt: Dann wird uns gratuliert und wir kriegen Geschenke und Kuchen oder wir sollen beruhigt werden und ohne Angst einschlafen können oder wir sollen endlich begreifen, dass dieser Gesang nichts anderes als eine Liebeserklärung bedeutet.
Und genau das alles ist sie ja auch, unsere Bibel:
Das Geburtstagslied Gottes, der uns seit der Schöpfung jeden Tag als seine Kinder begrüßt, Sein Schlaflied, das uns tröstet, wenn wir erschöpft sind und schließlich helfen wird, die Augen zuzumachen, bis Er uns wieder und endgültig auferweckt, … doch vor allem ist die Bibel das Liebeslied Gottes, der uns Menschen besingt und uns zeigt, dass wir an Ihm jemanden haben, der uns unumstößlich treu sein und Sein Leben mit uns teilen will.
Weil das Wort Gottes also so eine große Himmelsmusik ist, darum antworten die Menschen Ihm seit jeher auch nicht nur mit gesprochenen Worte und geleisteten Taten, sondern immer wieder eben auch mit ihren Liedern – seien es Psalmen, seien es die anderen Gesänge des Gottesdienstes in Israel und der Kirche, sei es das, was wir auf unserer Konfifahrt so ausdauernd und begeistert auf den Fluren, in den Zimmern und noch im Bus geschmettert haben.
Christen sind singende Menschen: Weil sie volle Herzen haben und weil sie mit ihrem Dank, mit ihrer Klage und ihrem Vertrauen, mit ihrer Anbetung, ihren Chorälen, ihren Gassenhauern … weil sie eigentlich immer ein einziges Echo dessen sind, was Gott ihnen zu allen Zeiten laut und leise in’s Ohr und in’s Herz schickt. ———
Und nun hoffe ich natürlich inständig, dass diese musikalische Ader in Euch – die Empfänglichkeit für den Grundton Gottes in der Welt – nicht gelitten hat in unseren lauten gemeinsamen Jahren, sondern dass Euer inneres Ohr sich einstellen konnte auf die Schwingung, die überallhin ausströmt, weil Gott tatsächlich mitten im Lärm und in der Leier unseres Lebens Seine Stimme erhebt. Gottes Stimme wird ja von allen Klingeltönen der Welt, von allen Lautsprechern und Kopfhörern, von allen Nebengeräuschen und allen Missklängen des Daseins niemals übertönt werden können. Sondern Gott bleibt ansprechend! Er bleibt der Rufer, der Euch warnen und gewinnen will. Die Melodie Seiner Liebe fließt endlos weiter, sie kennt kein Aufhören, kein Verstummen.
— Doch warum versichere ich Euch das heute so sehr?
Weil meine Strophe mit Euch – so vergnüglich und harmonisch es auch war – nun in gewisser Weise ausgesungen ist.
Wir haben das herrliche, musikalische Lukasevangelium durchgelesen, das mit so vielen Liedern anfängt:
Ihr erinnert Euch an den stummen Vater Zacharias, der plötzlich wieder singen konnte, … an das Magnifikat Marias, … an das Lied überm Hirtenfeld, … an den Gesang Simeons, der in seinen letzten Tagen das Christkind auf den Armen trug, … an die Chöre des Palmsonntag, die wir beim Abendmahl aufgreifen, … an das österliche Halleluja der letzten Wochen.
Das haben wir alles nun einmal gehört.
Und gleich hören wir Euch dazu feierlich „Ja“ sagen.
……Aber das – meine Lieben! – das ist kein Schlussakkord! Darum geht es! Dass niemand von uns meint, gleich komme der letzte Takt, der letzte Ton, der Rest sei Schweigen!
Nein, im Gegenteil! Jetzt geht Euer Echo auf das, was Gott uns hören lässt erst los.
Jetzt seid Ihr dran, die Melodie des Glaubens mit Eurem Leben zu füllen.
Was gemeinsam hinter uns liegt, war Probe.
Wir haben uns nur ein bisschen eingesungen, Ihr habt das Thema, das Motiv unseres Glaubens dabei gut genug kennengelernt, um jetzt hellhörig für Ihn zu bleiben und Gott in leichten Zeiten zu preisen und in bösen Tagen vor Ihm zu klagen.
Ihr seid jetzt also stimmberechtigt in der Gemeinde und werdet bald den Ton angeben, wenn in zehn, in fünfzehn Jahren Eure Generation, die 2000er ihre ganz persönlichen Zwanziger Jahre erleben – und Zwanziger Jahre, egal ob diejenigen eines Menschenlebens oder eines Jahrhunderts oder wie in Eurem Fall beides gleichzeitig, …. Zwanziger Jahre können sehr aufregend sein.
Zum Glück weiß ich nicht, wissen Eure Eltern, wisst Ihr selber nicht, wie aufregend die Zwanziger Jahre vor Euch sein werden: Vielleicht gar nicht; vielleicht arbeitet und lernt Ihr dann nur kreuzbrav vor Euch hin, singt die ersten Wiegenlieder, spart ein wenig oder seid verwöhnte Erben, und sonst ist nichts zu vermelden. …….
Aber wenn wir sehen, wie die Welt sich dreht, wie Überraschungen und Entwicklungen holterdiepolter als Durchbrüche und Katastrophen einander ablösen, vermute ich eher, dass auch Eure Zwanziger und alle nachfolgenden Jahrzehnte spannend genug bleiben.
Und dafür möchte ich Euch nur noch drei Klänge mitgeben, ehe ich gleich als Euer Konfirmator für immer verstumme und in Zukunft nur noch ein Glaubensbruder, ein Gesprächspartner, ein Mitsänger wie alle anderen sein werde. Drei Klänge, die uns immer und unter allen Umständen das Entscheidende hören lassen.
Sie stammen aus den zwanziger Jahren der christlichen Kirche, jener Zeit, von der Lukas, unser Evangelist in seinem zweiten Buch - der Apostelgeschichte - berichtet.
Darin wird weniger gesungen als im Evangelium, aber als es dem großen Apostel und Missionar Paulus am dreckigsten ging, als er mit seinem Gefährten Silas im Gefängnis, im Kerker von Philippi saß – da sangen sie und lobten Gott um Mitternacht …….
Und die Stimme der Christen, das Lied des Glaubens bewegt die Welt: Die Erde bebt, als die Christen im Loch trotz allem die Melodie des Vertrauens anstimmen, und Fesseln lösen sich, Türen gehen auf.
Das wirkliche Drama aber trifft den Gefängnisaufseher, dem die Häftlinge – so fürchtet er – durch diese wunderbare Befreiung entlaufen sein müssen. Er will Selbstmord begehen.
Als der fassungslose Wärter die singenden Christen und die anderen Gefangenen jedoch noch an Ort und Stelle in unverriegelten Zellen antrifft, weiß er überhaupt nicht mehr weiter. ——
Diese Dinge – ein Wunder, eine Tragödie und ein Selbstmordkandidat – sind also der unfassbar aufregende, an Spannung nicht zu überbietende Hintergrund meiner drei Klänge.
Denn in diese zugespitzte, wilde Situation, in diese Grenzerfahrung hinein lässt Paulus den entgeisterten, verzweifelten Menschen die drei Grundtöne hören:
„Glaube – Jesus – Rettung!“
Und das – Ihr Lieben – ist alles und wird immer alles bleiben. Egal, was kommt, egal was bricht. In Glück, in Panik, heute beim Fest, einst im Alltag, schließlich im Schwersten und Letzten: Das ist alles. Das macht uns singen, das macht uns selig.
Und ab jetzt ist das Euer Auftrag, darin soll Euer Lebenslied – bei allen eigenen Wendungen und Verzierungen – zuletzt kräftig mit dem aller Christen übereinstimmen.
In diesem Erd-und-Himmels-, in diesem Lebens-und-Hoffnungssatz, in diesem hellsten Ton für alle Zeit und Ewigkeit:
„Glaube an Jesus, den Herrn und du wirst gerettet werden!“
Amen.
Konfirmation 17.05.2014 Mutterhauskirche Römer 4, 10+21 Jonas Marquardt
Predigt Mutterhauskirche 17.V.2014 Konfirmation
Römer 4,10+21: "Abraham ist unser aller Vater, denn er wusste aufs allergewisseste: Was Gott verheißt, das kann er auch tun."
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Irgendwo in Düsseldorf oder Umgebung läuft einer rum, der doppelt so alt ist wie Ihr und mir einmal - ohne es zu wollen - richtig Schwierigkeiten bereitet hat.
Ich war damals an einer evangelischen Grundschule in dieser Stadt und sollte lernen, wie man als Pfarrer Kinder in Religion und biblischer Geschichte unterweist.
Euch ist klar, dass ich das immer noch lerne und lernen muss, aber damals dachte ich, ich hätte es raus. Ich hatte den Viertklässlern wochenlang die Geschichte von Abraham erzählt, dem Gott eine Familie versprach, die so zahlreich wie die Sterne und der Sand am Meer sein würde und für die Gott darum ein eigenes Land bestimmt hatte, in das Abraham aufbrechen und einwandern sollte. Und die Schulkinder hatten brav gelernt und auch gemalt, dass der endlose Sand und die unzählbaren Gestirne, die Abraham bei Tag und Nacht auf der Wanderschaft vor Augen standen, ihn stets an diese Verheißung erinnerten.
Endlich kam jemand, der mich beim Unterrichten prüfen sollte, und ich wiederholte den Wanderweg, auf dem Abraham voller Glauben in das fremde Land der Zukunft gezogen war. Jetzt lebte er dort und wartete darauf, dass Gott sein Wort ganz erfüllen würde.
„Also, liebe Kinder. Das versprochene Land hat Abraham schon betreten dürfen“, sagte ich der Klasse. „Und was muss nun noch aus Abraham werden?“, fragte ich sie. … Das war ja peinlich einfach – dass nun noch aus dem vereinzelten Menschen, der Gott gehorchte ein ganzes Volk werden sollte. … Die Frage konnte nicht schief gehen! Der Prüfer würde zufrieden sein!
Aber ein kleiner Dicker meldete sich, der seine Gedanken wer weiß wo hatte und erklärte vor den staunenden Ohren des Prüfers, was aus Abraham nun, da er am Ziel der Verheißung war und auf die versprochenen Nachkommen wartete, noch werden musste.
Strahlend verriet er es: „Ein Ei!“
Ich ahne nicht, ob der Junge biologisch besonders versiert war, ob er eine Eselsbrücke über Schokolade und Überraschungen bauen wollte oder ob der Geist der Prophetie von ihm Besitz ergriffen hatte: Dass Abraham ein Ei werden sollte, war mir jedenfalls bis dahin fremd – und dem Prüfer ebenso. Aber ich habe es – ohne es zu verstehen – doch nie vergessen.
Und dann kamt Ihr. ……. Und jetzt habe ich es begriffen. ……. Vielleicht. …….
Denn einige von Euch haben mir etwas geschenkt, mit dem ich nicht gerechnet hätte und für das ich so sensationell ungeeignet bin, wie man nur sein kann:
Dieses (Football-)Ei!
Dabei bin ich überhaupt nicht sportlich genug, um auf so etwas Seriöses auch nur das geringste Anrecht zu haben, und clever genug, um die Spielregeln des American Football wenigstens theoretisch zu begreifen, bin ich auch nicht.
Ich kann also weder praktisch noch geistig direkt etwas mit Eurem Geschenk anfangen …. und freue mich trotzdem so sehr darüber, wie ich mich selten über etwas gefreut habe.
Denn obwohl es keinen unmittelbaren Nutzen für mich hat und ich es bestimmt auch nicht verdient habe, macht dieses Football-Ei, in dem Eure Energie und Zuneigung stecken, mich zu jemand anderem, zu einer Art Ehren-Eckpfosten, zu einem reichlich ungewöhnlichen Cheerleader, zu jemandem, der beteiligt ist an Eurer ihm sonst so fernen Sportart.
Und da kommt Abraham wieder in’s Spiel:
Seine Glaubensgeschichte, sein Vertrauen auf Gott, seine Erfahrung, dass Gott ihm tatsächlich den verheißenen Sohn und Nachkommen und schließlich ein ganzes Volk und ein Gedenken bis heute bei allen, die der Bibel glauben, geschenkt hat … diese ganze Geschichte Abrahams macht ihn für uns alle zu einer durch und durch besonderen Gabe, die uns einbezieht und verwandelt, obwohl wir selbst sie nicht direkt und fachmännisch anwenden können.
Und genau das lässt sich nun auf alles ausdehnen, was wir in den vergangenen zwei Jahren miteinander erlebt haben: Von Hause aus sind die wenigsten von Euch vielleicht besonders religiös durchtrainiert – wo ich sportlich in schlechter Kondition bin, seid Ihr womöglich im Beten, Singen, Bibellesen nicht ganz olympisch.
Aber darum geht es auch gar nicht: Dass lauter furchtbar fromme und gelehrte Leute, lauter Helden oder Heilige hier auf’s Siegerpodest klettern, ist nicht der Sinn der Konfirmation, sondern nur, dass Ihr genauso ein Ei mitnehmt, wie ich eins von Euch erhalten habe:
In Euerm Fall ist das unser Glaube, das christliche Bekenntnis und die christliche Lebensweise.
Das Bekenntnis liegt Euch noch immer ungewohnt auf der Zunge, Ihr könnt es nicht so flott und locker hin- und herbewegen wie vieles andere.
Das sollt Ihr auch gar nicht anstreben.
Denn lässig muss man als Glaubender gar nicht werden, leicht fallen muss uns das nicht.
Und darum schadet es auch nichts, wenn die Hand, die Ihr beim Abendmahl gleich hinhaltet, um die Gegenwart Jesu zu fassen, sich ungewohnt und unbeholfen hinstreckt.
Es wäre viel verkehrter, wenn das alles zur Selbstverständlichkeit für Euch würde und Ihr es für das Normalste auf der Welt hieltet, dass Gott ein Mensch werden konnte, weil Er uns eitle und leichtfertige Leute so liebt.
Das soll uns vielmehr immer wieder ganz fremd und eigentümlich vorkommen, dass Gottes Liebe zu uns, zu Dir persönlich so tief und ernst ist, dass Er nicht mitansehen konnte, wie das Leben und erst recht der Tod Dich von Ihm entfernen: Darum ging Gott in Jesus ja die gesamte Strecke für Dich ab, um jederzeit und überall Dein Begleiter mit der ausgestreckten Hand, Dein Trost im finstern Tal, das Licht auf Deinem Wege zu sein!
Wenn wir das so hören und annehmen, dann erkennen wir, dass wir wirklich keine Alltäglichkeit hier geschenkt bekommen, sondern das Großartigste und Eindrücklichste, das es gibt:
Ein Geschenk, das uns immer wieder, zu unerwarteten Stunden, an hellen Tagen, in schwärzesten Nächten plötzlich aufstrahlen wird. Und dann werden wir es plötzlich in großer Freude oder in tiefer Not merken, wie das Geschenk des Glaubens uns immer beteiligt sein lässt an der endlosen Geschichte Gottes.
Dann wird das auch unseren Alltag und unser Handeln, unser Tun und Denken formen, dass wir wissen: Wir gehören dazu … zu den Kindern Abrahams, die fest glauben und drauf vertrauen dürfen, dass Gott alle Seine Versprechen erfüllt und hält!
Nehmt also das besondere, ungewohnte und gerade darum so vielversprechende Geschenk an, das Euch das Leben am Tag Eurer Konfirmation macht:
Nehmt die Bibel, nehmt das Gesangbuch, nehmt das Abendmahl, nehmt die Gebete und die Gemeinschaft der Getauften an und haltet sie kostbar in Ehren. In ihnen werdet Ihr immer so viel Liebe und so viel Lebendigkeit finden, wie ich in Eurem Geschenk spüre.
Und Ihr werdet sehen: Es wird Euch immer wichtiger und immer lieber werden, nicht am Rand des Spielfelds zu stehen, sondern tatsächlich mitzumachen, zu arbeiten und zu helfen, zu kämpfen und zu siegen, da wo Gottes Sache und Wort auf dem Spiele stehen.
Nehmt sie also an: Die Gaben, die Euch in die Mannschaft des lebendigen Gottes einbinden. Probiert sie aus – die Gottesdienste und den Willen Gottes –, verlasst Euch drauf, dass Ihr dabei seid: bei Seinen Verheißungen und einst in Seinem kommenden Reich!
Und schließlich tut mit dem, was ab heute Euers ist, das was ich mit Euerm Geschenk tun werde: Vererbt sie an Eure Kinder … die Gewissheit, dass Gott uns nicht enttäuscht, sondern Sein Wort und uns erfüllen kann!
Und so wollen wir alle miteinander, sportlich und weniger sportlich im übertragenen Sinne am Ball bleiben und alles, was uns von Gott gegeben ist und was uns zu Ihm führt nicht eher aus der Hand geben, als bis wir am Ziel sind:
Bei Jesus Christus, der uns stark macht (vgl. Philipper 4,13)*, weil Er der Anfänger und Vollender unseres Glaubens ist (vgl. Hebräer12,2).
Amen!
* Dieses Motto der TFG Typhoons – der Kaiserswerther Schulmannschaft im American Football – hat etliche der Konfirmanden bei der Wahl ihres Konfirmationsspruches angeregt. Auch das eine neue und dankenswerte Erfahrung: Dass der Sport direkt auf den Glauben der Konfirmanden einwirkt und umgekehrt!
Jubilate 11.05.2014 Konfirmation Stadtkirche Apostelgeschichte 17,27f Jonas Marquardt
Konfirmationspredigt Kaiserswerth Jubilate 11.V.2014
Apostelgeschichte 17,27f
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Wir haben ein Problem …. ein Luxusproblem zwar, aber doch ein Problem.
Es besteht darin, dass wir uns so besonders gut leiden konnten: Ihr und ich.
Ihr konntet rumnerven, ich konnte rumbrüllen, bis beides nicht mehr feierlich war … und am Ende waren wir uns – im Großen und Ganzen – immer noch rundum sympathisch (wobei es natürlich interessant wäre, wenn ich bei diesem oder jenem von Euch jetzt völlig daneben läge…..).
Ist das aber denn so verkehrt, wenn man sich trotz Pubertät einerseits und knallkonservativer Pastorenart andererseits nicht zum Kotzen findet? – Strenggenommen ist das nicht weiter schlimm, aber es könnte doch ein Missverständnis dabei entstehen: Nämlich der Trugschluss, dass Gott uns sympathisch wird, weil wir durch Ihn netten Menschen begegnen oder weil wir Ihn durch nette Menschen kennenlernen.
Das wäre nämlich dann doch schade, wenn wir unser Verhältnis zu Gott nur an freundschaftlichen und erfreulichen Kontakten festmachen könnten.
Denn so viel steht fest: Gott ist – Gott sei Dank! – viel, viel größer als unser Freundeskreis (selbst wenn Ihr jeden, der Euch in irgendwelchen sozialen Netzen ins Garn geht, gleich mit „Daumen hoch“ begrüßen würdet). Gott ist nämlich bestimmt der Gott Eurer Eltern und Geschwister, Er ist der Herr Eurer Freunde, der Schutz Eurer Liebsten … aber genauso ist Er auch der Gott unserer Gegenspieler, der Liebhaber unserer Feinde, der Wohltäter derer, die uns nie, nie, nie auch nur ein Quentchen interessieren könnten.
Darum ist es wichtig, dass wir bei allen Menschen, die wir mögen und schätzen, bei allen, die uns am Herzen liegen und deren Nähe wir suchen, wenn es um unseren Glauben geht uns gleich immer auch deren Gegenteil denken und klarmachen: Auf der anderen Seite, bei den unerfreulichen Gestalten – da ist Gott auch.
Dann begreifen wir wahrscheinlich schnell, dass es eben nicht mit menschlicher Sympathie allein getan ist, wenn wir miteinander die Gemeinde Gottes in der Welt sein wollen. Wir werden also als Christen nicht bloß als Club der Unzertrennlichen auftreten, die sich alle so sehr lieben, dass man Gänsehaut bei solchem „Wir-Gefühl“ bekommt, sondern wir werden es – bei aller gegenseitigen Liebe – gerade als Christen hoffentlich immer wieder und immer mehr mit Menschen zu tun bekommen, die uns überhaupt nicht nah und vertraut sind.
Das ist es, was Euch als Konfirmierte, also als die selbstständige Gemeinde Jesu in der Welt von morgen erwartet: Eine Menschheit, die nicht überall einfach nur liebenswürdig und pflegeleicht Eure Freundschaft sucht und Euch ähnlich ist, sondern viele, die ganz anders leben, denken und handeln als Ihr.
Denn auch das steht fest: Wer wie Ihr bewusst und klar in Jesus von Nazareth den Sohn Gottes, den König der Welt sieht, wer sich zu Seiner Botschaft des Friedens und der Barmherzigkeit und zur großen Hoffnung auf das Reich Gottes, in dem wir Jesus von Angesicht zu Angesicht sehen werden, bekennt, der passt nicht überall gut in die Zeit.
Ihr werdet es noch erleben, dass der christliche Glaube nicht billig und allseits beliebt, sondern ein seltener Rohstoff und eine fremde Sache in der Welt ist.
Aber dann – wenn Ihr wirklich einmal keinen der heutigen Freunde, keinen, der Euch nahe und lieb ist, bei Euch habt, wenn Euer Pastor längst nicht mehr locker daherredet, sondern (falls Gott ihm gnädig ist) irgendwo in einer Ecke der Ewigkeit staunen und anbeten darf, wenn alle, auf die Ihr Euch verlassen konntet und könnt, Eure Eltern, Eure Ehepartner, Eure Lehrer, Professoren, Teamchefs, Geschäftspartner … weiß der Kuckuck wer … nicht bei Euch sind – wenn also irgendwann mal niemand da ist, der Euch viel bedeutet, dann sollt Ihr an den einen Satz denken, der heute bei Eurer Konfirmation zu hören war: „Fürwahr, Gott ist nicht ferne von einem jeden unter uns; denn in IHM leben, weben und sind wir.“
Diesen Satz von der großen, grenzenlosen Nähe und Gegenwart Gottes hat der Apostel Paulus in ein höhnisches Pfeifkonzert hinein gerufen.
Damals war er bei den mit Abstand arrogantesten, dabei vermutlich halbwegs gebildeten, interessierten und gut informierten Leuten, die er je auf seinen Predigtreisen traf (und es war nicht Kaiserswerth oder Wittlaer …); er stand nämlich in Athen, in Blickweite der Akropolis und hatte die Bevölkerung der Welthauptstadt der Philosophie vor sich.
Nur auf einen kleinen Juden, der ihnen von einem Mann erzählen wollte, der wegen einiger ernster und unvergesslicher Worte, wegen großer Güte und Wundertaten an Kranken und Armen in Jerusalem umgebracht worden war und den sein unsichtbarer, unbekannter Gott dann doch nicht links liegen gelassen, sondern aus dem Grab in’s Leben geführt hatte, um ihm die ganze Welt zu Füßen zu legen … auf diese Botschaft des Paulus hatten die Athener jedenfalls ganz bestimmt nicht gewartet.
Sie zeigten ihm den Vogel und amüsierten sich über diese lächerliche Geschichte namens Evangelium.
Und was tut Paulus? Er sagt ihnen nicht, dass sie ihn auch mal gern haben oder ihm den Buckel runter rutschen können, sondern eben das: Gott ist euch nicht ferne – und wenn ihr Ihn noch so lächerlich macht oder leicht nehmt. Gott ist und bleibt bei Euch, unsichtbar, unerkannt, ohne dass ihr Ihm gehorcht, dankt, dient.
Gott ist so wahr und so groß, … Er ist so großzügig und so untrennbar mit allem verbunden, was Er gewollt und geschaffen hat, dass Er tatsächlich wie die Luft, die man atmet und das Licht, durch das man überhaupt etwas sieht und der Raum, in dem wir uns bewegen und die Zeit, die täglich mit uns mitgeht unser Leben ganz und gar bestimmt. Alles, was ihr tut und seid, alles, was bei Euch zu finden und für Euch wichtig ist: Das ist alles erfüllt und getragen von Gott. Ihr Menschen seid also durch und durch, rundherum die reinsten Gottesmenschen! ———
Das – wohlgemerkt! – ist die Botschaft des Paulus nicht an seine Lieblinge und Freunde, sondern an die Athener, die ihn nicht ernst nahmen und Gott auch nicht.
Und es zeigt uns, wie unabhängig wir durch Gott tatsächlich von den Sympathien und den Verbindungen werden, die wir sonst aus Gewohnheit und Neigung, aus Tradition und Treue pflegen.
Als Christen sind wir – so sehr man das genießen kann – nicht auf Beliebtheit oder Gleichgesinnte angewiesen, sondern überall und immer in der besten Gesellschaft, die es überhaupt geben kann, in der stärksten Liebe zuhause, an der Seite des Siegers!
Darum wünsche ich mir von Euch, die ich so gern mag und die ich jetzt schon vermisse: Natürlich auch Wiedersehen und Weiterso; aber noch mehr wünsche ich mir von Euch und für Euch, dass die ganz große Freundschaft und Verbindung, die Euer ganzes Leben erfüllen und sinnvoll machen wird, Euch Eurerseits nie zerbricht … auf der anderen Seite wird sie ohnehin für immer halten!
Nehmt aus den Tagen unserer vorübergehenden Freundschaft die alles entscheidende Sicherheit mit, dass Ihr niemals um einen Menschenfreund verlegen sein könnt, weil Er Euch immer umgeben und treu sein wird: Unser wunderbarer, mächtiger, gütiger, herrlicher Gott, der in Jesus Christus nicht nur nahe gekommen ist, sondern unser Verwandter wurde, Euer Bruder, der Mensch, der Euch so sehr liebt, dass er sein Leben eingesetzt hat, um Eures zu retten!
Bitte, bitte, meine Freundinnen, meine Freunde: Bleibt Seine Freunde und Freundinnen!
Und bleibt in Zukunft darum Teil und Helfer Seiner großen Menschenfreundlichkeit, denn das brauchen sie alle … die uns sympathisch sind und die, von denen wir meinen, die Welt habe nicht gerade auf sie gewartet. Das aber können und müssen wir zum Glück nicht entscheiden.
Hauptsache wir wissen, wen wir brauchen und wer uns braucht: Jesus!
Und in Ihm und durch Ihn sind wir alle miteinander heute und morgen, jeden Tag und jede Stunde und endlich auch in alle Ewigkeit verbunden:
Denn in IHM leben, weben und sind wir.
Amen!
Misericordias Domini 04.05.2014 Stadtkirche Hebräer 12,20+21 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Misericordias Domini - 4.V.2014
Hebräer 13,20f
Liebe Gemeinde!
Immer wenn ich von einem guten Hirten höre, werde ich ganz still.
… Und manchmal fällt das Schlucken dabei furchtbar schwer. —
Wie der gute Hirt rückwärts am Fensterkreuz aufgehängt wurde und wie er trotzdem seine Stimme laut erhob und predigte.
Wie er im schwarzen Bunker, wo es nur an jedem vierten Tag Essen und niemals ein Hinlegen gab, sich heiser schrie, um Trostworte in die angrenzenden Zellen zu tragen; wie er am Freitag nie auch nur die winzigste Essensration anrührte, weil das der Todestag seines Herrn war.
Wie er den Wahnsinnigen, der bei einer Massenerschießung den Verstand verloren hatte, in seiner Zelle ertrug, weil er dem folgte, der gesagt hat: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“.
Wie er es aushielt, als seine Peiniger ihn mit der Lüge grüßten: „Ihre Frau ist mit dem jüngsten Ihrer sechs Kinder tödlich verunglückt, geht Ihnen das nicht zu Herzen?“, und wie er den Sadisten furchtlos antwortete: „Gewiß, das geht mir sehr zu Herzen, aber noch weit mehr bedrückt mich die furchtbare Behandlung der Häftlinge durch Sie!“
Wie er mitten in allen Qualen so herzbewegend von seinem Erlöser Zeugnis gab, dass ein kommunistischer Gefangener, der sich nach seiner Befreiung aus der Haft taufen ließ, bekannte: Dass er diesen Prediger kennenlernte und durch ihn das Evangelium, das sei die sieben Jahre KZ wert gewesen.
Wie er am Ostersonntag aus seiner Zelle über den Innenhof des Lagers beim Zählappell dieses Morgens, dessen Abend längst nicht alle erleben würden, die mächtigen Worte hören ließ: „So spricht der Herr: Ich bin die Auferstehung und das Leben!“ – „Bis ins Innerste aufgewühlt durch den Mut und die Kraft dieses gewaltigen Willens, standen die langen Reihen der Gefangenen“, berichtete später einer, der den Ostertag überlebte. „Es war als hätte eine mahnende Stimme aus einer anderen Welt sie gerufen, als hörten wir die Stimme Johannes des Täufers aus den Kerkern des Herodes, die gewaltige Prophetenstimme des Rufenden in der Wüste.“
Weiter als bis zu den Grundworten des Trostes schaffte er es meistens nicht, ehe die Prügel auf ihn niederklatschten und er bewusstlos wurde. Man hat ihn aber zu Tode spritzen müssen, den guten Hirten, sonst wäre er nie verstummt.
Ich werde ganz still, wenn ich davon höre: Was für ein Hirte Paul Schneider war, der Prediger von Buchenwald*, der vor 75 Jahren zum Märtyrer wurde, zum Blutzeugen für unseren Herrn, den er seitdem herrlich schauen und preisen darf. ——
Oder wenn ich höre, wie der gute Hirte die Seinen nicht verließ – obwohl er es tatsächlich hätte können. Aber die Seinen vertrauten ihm ja … und geht er vor ihnen her, dann folgen sie ihm nach, denn sie kennen seine Stimme.
Darum geht er mitten durch die Hunde vor ihnen her; er geht langsam, Schritt für Schritt; die Kleinsten trägt er. Die Großen halten sich ebenso eng an ihn, aber sie gehen tapfer jedes auf dem Weg des Hirten. Er ist ja bei ihnen.
Und zum Trost singt er wie immer, … und die Seinen kennen das Lied des Herrn Doktor, denn wie oft hat es sie aufrecht gehalten, wenn sie in der schrecklichen Angst und Erniedrigung, in den Gefahren und Schrecken, die ihre Herde umzingeln und reißen, sonst schon längst zerbrochen wären. Sie singen mit: Die Stimme des guten Hirten, die Leben und volle Genüge besingt und ihre kleinen, heiseren, nacheinander verstummenden Stimmen.
Bis sie alle erstickt sind, Hand in Hand, Seite an Seite mit dem guten Hirten, der sein Leben für seine Schafe gelassen hat.
Ich werde ganz still, wenn ich davon höre: Was für ein guter Hirte Janusz Korczak war, der seine 2000 Waisenkinder aus dem Jüdischen Kinderheim von Warschau nicht im Stich lassen konnte, sondern sie im schönsten Putz, wie zu einem Ausflug und mit einem zwölfjährigen Geiger an der Spitze des Zuges in die Gaskammer von Treblinka begleitete, wo der treue Hirte sein Leben mit der ausgelieferten Herde verlor.
Das war kein Mietling.
Das war ein Heiliger des Hirten Israels, der Josef hütet wie die Schafe (vgl.Ps802). ——
Wie still es macht, vom guten Hirten zu hören!
Von den vielen Hirten, die sich in ihrer Verantwortung für ihre Herde, in ihrer Fürsorge und ihrer Rücksicht nicht geschont und nicht geschützt haben und es in großen und in kleinen Opfergängen bis heute so halten: Als geistliche und als politische Amtsträger, als Vorbilder in der Erziehung, als medizinische und rechtliche Beistände der Hilfesuchenden und Ohnmächtigen.
Es gibt ja unzählige bekannte und zahllose ungenannte solcher Hirten und Hirtinnen in der Welt. Berühmte, die ganze Völker zu Dankbarkeit und Mut inspirieren und völlig ahnungslose, die es nie erfahren, dass ein Mensch nur ihretwegen nicht vom Wege abgekommen, sondern behütet geblieben ist.
Vielleicht ist die Menge der guten Geister, die der Herde ein Segen wurden, selten so zahlreich beieinander zu finden wie hier in Kaiserswerth, an der Schleifergasse, wo im Laufe der Zeiten Hunderte versammelt wurden, die einst alles für andere gaben und die Schäflein weideten. Der Schwesternfriedhof ist jedenfalls ein echter Hirtinnenkonvent.
Aber auch er ist ein Ort der Stille angesichts der Vielen, deren Obhut Gottes Herde anvertraut war und deren Leben diese Herde war, der sie es gänzlich opferten. ——
Doch das muss anders werden – diese Stille, die uns beschleicht, wenn wir den guten Hirten begegnen!
Es ist auf Dauer zu wenig und zu beklemmend, dass wir von Leitfiguren und Vorbildern leben sollten, die auf Denkmälern und in Lesebüchern begegnen, deren Glanz und Wärme uns allenfalls in Marmor und auf geprägten Gedenkmünzen spürbar werden, deren Menschenliebe und Leidenschaft für Gerechtigkeit am deutlichsten vor dem Hintergrund ihres Martyriums, ihres Sterbens und Todes leuchten.
Gewiss: Sie alle haben unsere Teilnahme und Pietät geweckt, verdienen Nachahmung und Dank über das Grab hinaus und wirken auch durch ihr Gedächtnis Positives.
Aber sie erzählen die wunderbare, mitreißende, erbauliche Geschichte des Guten in der Welt als Tragödie; sie begeistern für das Richtige und lassen uns gleichzeitig weinen und bangen; sie ermutigen uns, aber sie zeigen zugleich die Grenze, die allem Heldentum und aller Heiligkeit gesetzt bleibt: dass die Wahrheit ihre Anhänger nämlich aufrichtet, um sie aufrecht sterben zu lehren.
… Das ist viel, unermesslich viel! Es soll uns Maßstab sein! Es soll unsere Kinder prägen, weil unsere Welt das braucht: unbeugsame Menschen, geradlinige Zeugen des Anstands!
Aber die Geschichte, in der wir stehen und von der wir leben, ist größer und heller!
Der gute Hirte, dem wir folgen und gehören, macht nicht still, sondern … lebendig!!!
Er heißt Jesus und er lebt!
Was das für eine Nachricht ist, wie das ergreift und erschüttert, wie umwälzend und aufregend das ist, das merken wir vielleicht, wenn wir die Galerie der anderen Wohltäter und Menschenfreunde, wenn wir die Mustersammlung aus der Gattung Predigtbeispiele und die Ahnenreihen der großen politischen Ideale betrachten: … Lauter Friedhöfe!
Weil man ja tatsächlich zu allen Zeiten fürchten musste, dass die Guten verfolgt, verbrannt, geächtet, mundtot gemacht, beseitigt und gemeuchelt werden. Oder aber den guten Kampf kämpfen (vgl.1.Tim612) und dann, wenn sie ihre Hände in den Schoß legen müssen und die Augen für immer schließen, … dann ist niemand mehr da, der ihnen nachfolgen könnte.
Diese Furcht musste alle, die Jesus auf grünen Auen Galiläas geweidet hatte, denen er im finsteren Tal als Trost begegnet war, die von ihm an den Tisch der Barmherzigkeit geladen wurden, die aus seinen Händen Salbung und Vergebung empfingen, … diese Furcht musste alle seine Schafe ja schon zu seinen Lebzeiten bis in ihre Träume verfolgen.
Und er selbst kündigte es ihnen mit den Worten des Propheten Sacharja (137) in seinen letzten Augenblicken in Freiheit an: „Es steht geschrieben: Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe der Herde werden sich zerstreuen“ (Matth2631).
Und dann kam die Nacht der Feinde und des Verrates, die Nacht der mörderischen Justiz und der Feigheit der Mächtigen, die Nacht der Wölfe und ihres Geheuls, der Trübsal und des bitteren Todes.
Der, den die stinkenden, lausigen Hirten in seinen ersten Stunden aufgesucht und in ihren armseligen Orden aufgenommen hatten, als sie an der Krippe knieten, … er war nicht mehr!
„Stille war es um die Herde“ (EG 52,2) …….
Aber was da vergossen wurde, als sie den Hirten ermordeten, das war nicht nur das Blut eines guten Menschen … sondern das Blut des ewigen Bundes. Das konnte nicht wie das Blut des ersten Hirten der Welt – wie das Blut des ermordeten Abel – einfach im Boden versickern und durch die Jahrtausende wimmernd schreien vom Unrecht, das seit Urzeiten wieder und wieder geschieht (vgl.Hebr1224)!
Das Blut des ewigen Bundes ist ja das Leben selber.
Und so schrecklich alle, die ihn liebten, auch um ihn bangten und zitterten, weil wieder einmal, weil endgültig ein guter Hirte zum Lamm und Opfer gemacht worden war – so befreiend und begeisternd, so wunderbar ist es bis heute und für immer, dass dieser Jesus durchgekommen ist und aus dem Reich des Todes wieder zurück in unsere Welt und in die Herrlichkeit Gottes und in die Zukunft aller Menschen gekehrt ist und dass er lebendig bleibt und angerufen werden kann und in die Geschichte der Menschheit hinein wirkt und uns allen einst in leibhaftiger Begegnung bevorsteht, wenn er kommt und mit ihm die Vollendung.
So ist er also der gute Hirte ohne Grabstein, und am besten wäre es, wir brächten auch keine Denkmäler mit ihm in Verbindung – keine Kirchen, keine Kunstwerke, keine riesigen Figuren, die über die Copacabana blicken und überhaupt nichts, was nach großer Vergangenheit und ehrwürdigem Vorbild wirkt.
Denn: Er lebt!
Und statt ihm Kränze mit Schleifen an Gedenktagen an sein Monument zu legen, statt ihn auf Briefmarken und in Lexikonartikeln zu würdigen, statt ihn in Festreden zu zitieren und feierliche Preise auszuloben, die sein Anliegen weitertragen, gibt es einen ganz anderen Weg, den Dank für ihn und die Gemeinsamkeit mit ihm auszudrücken.
Davon redet der Hebräerbrief in seinen letzten Worten ganz eindringlich schlicht:
Bitten wir Gott darum, dass Er uns in der Gemeinschaft des lebendigen Hirten tüchtig macht und dass Er uns schaffen lässt, was Ihm wohl gefällt.
Das heißt aber nichts anderes, als: Geh hin und hilf!
- Verbinde Wunden und wehre den Starken, die in der Herde die Schwächeren verdrängen; lass nicht zu, dass die, für die der gute Hirte alle Verantwortung in Zeit und Ewigkeit übernommen hat, wie Gebrauchsgegenstände behandelt werden, deren Nutzen man abwägt, als stünde ihr Wert nicht unumstößlich fest!
- Leg’ Dich an mit den Wölfen, die Mensch von Mensch trennen, um ungehindert über die Vereinzelten herzufallen!
- Sammele Dich selbst zur Herde und halte Dich nicht abseits, halte Dich nicht raus!
- Bilde Dir nicht ein, weil Du laut blökst, müsstest Du Leithammel sein, und wenn Dein Pelz dick ist und am wärmsten, gerade dann lass Dich willig scheren!
- Denke daran, dass Du nicht alleine lebst in Seiner Hut und dass Er für jedes andere Schaf Dich zurücklassen und hinter dem Verirrten herlaufen wird, bis Er es findet.
- Diene den anderen, denn so dienst Du Ihm!
- Sei lammfromm, wann immer Du bedenkst, dass Er uns gemacht hat und nicht wir selbst zu Seinem Volk und zu Schafen Seiner Weide (Ps1003).
- Werde Herdentier und hüte mit, wo immer andere Gefahr droht.
- Und schließlich folge der Stimme, die Dich und die anderen mit Namen ruft und durch die Tür ausführt. Beuge Dich und lass Dich vom Stecken des Guten Hirten lehren und von Seinem Stab durch die Nacht und durch die Tiefe lenken, bis die Schlucht der Todesschatten weicht.
Denn Er ist es: Der Gott des Friedens, der uns durch Jesus behütet und weidet und sammelt und heimführt.
Und wenn ich von Ihm höre – dem Guten Hirten – dann kann ich nicht still sein!
Dann muss ich loben und sagen:
„Ihm sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit!“ Amen.
* Die Einzelheiten aus Schneiders Zeit in Buchenwald sind eine Dornenlese von den Seiten 184-193 des durch seine Witwe, Margarete Schneider zusammengestellten Berichtes: „Der Prediger von Buchenwald – Das Martyrium Paul Schneiders“, Berlin 1953.
Quasimodogeniti, 27.04.2014, Jes.40, 31, Sebastian Heimann, Mutterhauskirche
müde - unkonzentriert - antriebslos - Vita Sprint - ein Tropfen genügt...
Liebe Gemeinde,
jeden Abend vor der Tagesschau können wir diese Reklame über uns ergehen lassen.
Sie will uns suggerieren, dass das, was heute so etwas wie ein Kennzeichen unserer Zeit ist, nämlich der sogenannte „Burn out" mit ein paar Tropfen zu bewältigen ist.
Ich möchte diesem „Burn out Syndrom" in dieser Predigt einmal nachgehen und fragen:
Woher kommt das eigentlich, dass die allgegenwärtige Energiekrise nicht nur ein wirtschaftliches Problem, sondern in erster Linie vielleicht ein seelisches Problem ist und woher wir eigentlich unsere „erneuerbaren Energien" beziehen?
Beginnen wir mit einer Fallstudie:
Andreas stammt aus guter Familie. Mit fünf Jahren kriegt er seine ersten Klavierstunden. Er ist ehrgeizig. Er versucht das Drehbuch seiner Eltern gewissenhaft zu erfüllen. Mit 17 verbringt er als Austauschschüler ein Jahr in Amerika. Hier hat er eine Schlüsselerkenntnis: Du bist nur das, was du aus dir machst.
Zurück in Deutschland, macht er sein Abitur mit Auszeichnung. Das Motto seiner Schule lautet nach dem berühmten Pädagogen Amos Comenius: „Omnes - omnia - omnino": Alle - alles - ganz. Alle sollen alles lernen und das ganz. Und wenn man ihn nach seinem Abitur gefragt hätte: Was willst du eigentlich? wäre die Antwort sehr einfach gewesen: Eben: alles.
Die Welt steht ihm offen - er hat grosse Pläne. Und - er ist von einem brennenden Ehrgeiz. Du bist nur das, was du aus dir machst. Diese Flamme brennt. Und trotzdem wundert er sich, woher diese unterschwellige Müdigkeit kommt. Er kämpft gegen sie an. Aber je mehr er sich anstrengt, umso grösser wird diese merkwürdige Schwerkraft. Alle - alles - ganz: diese Vision des Comenius nach dem „Ganzen" - dieser Traum wird nach und nach zum Alptraum. Idee und Wirklichkeit werden zweierlei. Ein verzweifelter Kampf beginnt: um beides - Idee und Wirklichkeit - zur Deckung zu bringen, braucht es unendlich viel Energie. Und so kommt es zu dem, was wir aus der Kernphysik kennen: wenn da die Brennelemente anfangen durchzuschmoren, kommt es zur sogenannten Kernschmelze. Die Physiker nennen das : Burn out.
Diesen Begriff haben die Psychologen übernommen wenn ein Mensch im wörtlichen Sinne ausgebrannt ist. Statt vom Burn out, kann man im Hinblick auf die Seele auch von De-Pression reden. 4 Millionen Menschen leiden in Deutschland an Depressionen. Wenn man Burn out als Anfangsstadium dazurechnet, sind es bis zu 7 Millionen Werktätige. Eine Therapie geht unter Umständen über Monate, wenn nicht über Jahre. Allein der volkswirtschaftliche Schaden geht jährlich in die zweimilliardenstelligen Euro.
Von hier aus gesehen ist die Energiekrise nicht nur ein wirtschaftliches Phänomen. Die Energiekrise ist gerade auch ein psychisches Problem. Die Grundfrage lautet auch hier: Leben wir von Energien, die irgendwann erschöpft sind? Oder leben wir von „erneuerbaren Energien", das heisst von Energien, die wir nicht „ausbeuten" dürfen.
Der Predigttext, der für den heutigen Sonntag vorgesehen ist, gibt darauf eine merkwürdige Antwort. Sie lautet:
„Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft." (Jes.40,31)
Auf deutsch gesagt: Diejenigen, die ihr Ur-Vertrauen von jener
„Ur-Energie" ableiten, die wir Gott nennen und die unsere Welt im Innersten zusammenhält, die können auch darauf vertrauen, dass verbrauchte Energie in einem bestimmten Sinn immer wieder erneuerbar ist. Die auf Gott vertrauen, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler. Während die De-Pression eine Kraft ist, die uns nach unten drückt, die uns zu Boden drücken will, scheint in dem Bild, das Deuterojesaja hier gebraucht, die Schwerkraft plötzlich ausser Kraft gesetzt.
Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, ein solches Schauspiel am Himmel über den Rheinwiesen zu beobachten. Da kreiste tatsächlich ein mächtiger Raubvogel in völliger Schwerelosigkeit und vollendeter Ruhe ohne auch nur einen einzigen Flügelschlag zu tun hoch und immer höher in den Himmel. „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie ein Adler."
Das Geheimnis scheinen diese 5 Worte zu sein: Die auf den Herrn harren...
Das hebräische Wort für Herr lautet Jahwe: Es heisst übersetzt: „Ich bin der Ich bin und ich werde sein, der ich sein werde."
Das 1. Testament erzählt, wie Mose ihm in der Wüsteim brennenden Dornbusch begegnet. Das auffällige war: Der Dornbusch brannte, aber er verbrannte nicht. Es war ein Feuer, eine Energie, die sich nicht verbrauchte. Jahwe selber ist diese Energie, er ist das Feuer, das nicht erlischt. „Ich bin der ich bin und ich werde sein, der ich sein werde."
Jahwe ist Gegenwart, die Zukunft hat, eine Zukunft, die nicht aufhören wird. Das soll nicht nur von diesem geheimnisvollen Jahwe gelten, sondern auch von jedem einzelnen von uns. Jeder soll von sich sagen dürfen- jeder soll das an sich erfahren:
„Ich bin der ich bin und ich werde sein, der ich sein werde."
Wir dürfen von einer Energie leben, die sich nicht verbraucht. Wir sollen von einer Energie leben, von der selbst die Physiker sagen: Energie kann nie verloren gehen.
Woran liegt es dann aber, dass unsere seelischen und physischen Resourcen so schnell unter Erschöpfung leiden? Kann es sein, dass wir eben nicht das sein wollen was wir sind, sondern dass wir mehr sein wollen, als wir sind. Dass wir Massstäbe an uns legen, die uns überfordern.Wir wollen zu viel.
Lautet nicht schon im Paradies die Ur-versuchung:
Ihr werdet sein wie Gott . Allwissend, allmächtig, allgegenwärtig
sein,in diese drei Richtungen bewegt sich doch unsere komputergesteuerte Welt von heute. Und jeder ahnt wohin das führen dürfte.
Mir kommt da die literarische deutsche Urgestalt in den Sinn, wie sie im Goethes Faust
beschrieben ist: „Habe nun,ach! Philosophie, Juristerei und Medizien, und leider auch Theologie durchaus studiert, mit heissem Bemühn. Da steh ich nun, ich armer Tor Und bin so klug als wie zuvor und sehe, dass wir nichts wissen können. Das will mir schier das Herz verbrennen." Dieses wortwörtliche „Burn out" führt ihn dahin, wo es fast kein zurück mehr gibt: er erblickt die mit Gift gefüllte Phiole, setzt sie an die Lippen und will sich das Leben nehmen. In dem Moment passiert etwas, was genau in die vergangene Woche passt: Er hört plötzlich das Läuten der Osterglocken. und ausgerechnet sie sind es, die wieder seine Lebensgeister wecken.
Eigentlich war sein inneres Drehbuch auch das von Amos Comenius: Zwar weiss ich viel, doch will ich alles wissen. Omnes - omnia - omnino. Und er spürte tief in seinem Inneren: Das Wissen kann uns nicht erlösen. Auch die Theologie als Bildung und Wissensvermittlung kann das nicht leisten, wie er zu seinem Schmerz fesstellen muss.
Niemand geringerer als der Apostel Paulus hat das auf geradezu geniale Weise erkannt, wenn er sagt: .... und wenn ich alles Wissen dieser Welt hätte und alle Erkenntnis hätte, hätte aber keine Liebe, dann wäre mir das alles nichts nütze. Alles können, alles wissen, allgegenwärtig sein, das sind noch nicht einmal Sekundärtugenden, selbst wenn wir sie Gott beilegen. Im Gegenteil, sie sind im höchsten Masse gefährlich und zerstörerisch, wenn das Allesentscheidende fehlt, nämlich die Liebe.
Die Liebe ist für Paulus das Feuer, die Energie, die nicht verloren geht und die unsere Welt im Innersten zusammenhält. Im Matthäusevangelium heisst es von Jesus: „Ich bin gekommen, ein Feuer auf die Erde zu bringen und wie sehr wünschte ich, es wäre schon entfacht."
Es kommt demnach darauf an, an der richtigen Stelle zu brennen, eben damit man nicht ausbrennt. Nichts hilft uns mehr dabei als: „Jahwe"
Ich bin der ich bin - ich werde sein, der ich sein werde."
Wenn das nicht nur von Jahwe, sondern auch von uns, bzw. von mir gilt, lerne ich, authentisch zu leben. Da lerne ich, immer mehr der oder die zu werden, der ich selber wirklich bin. Da erkenne ich auch, wie fremdbestimmt ich oft lebe, und wie gerade das an meinen Kräften zehrt. Ich höre auf, mich mit anderen zu vergleichen.
Denn da bin ich ständig auf der Lauer, wer hat das teurere Auto, wer ist erfolgreicher, wer kommt beim anderen besser an als ich etc. Genau das heisst aber, dass ich nicht in Kontakt mit mir bin, dass ich nicht bei mir sondern eben fremdbestimmt bin.
Was heisst jedoch: „...die auf Jahwe harren, bekommen neue Kraft." Das Wort harren ist ja sehr ungebräuchlich in der heutigen Sprache. Gemeint aber dürfte sein: Diejenigen, die den Kontakt zu Jahwe nicht abbrechen lassen, die an dieser Energiequelle angeschlossen bleiben. Bildlich gesprochen, die den Stecker nicht aus der Steckdose, aus dem Stromkreislauf herausziehen.
Das tuen die, die nicht aufgeben und resignieren, die vielmehr das tuen, was der Prophet emphiehlt: „Hebet eure Häupter empor: seht den gestirnten Himmel über euch. Erkennt, dass selbst die Nacht nicht anders kann, als Zeuge eines unendlichen Lichtermeeres sein."
Oder wie es der Psalm 139 sagt: „Finsternis ist eben nicht finster bei dir. Finsternis bei dir ist wie das Licht."
Das erfahren die, die auf Jahwe harren, die ihr Ur-Vertrauen von dem beziehen, von dem sie ihr ureigenstes Wesen haben:
Ich bin der ich bin - ich werde sein, der ich sein werde.
Auf diese Weise brennen wir, ohne zu verbrennen. Das ist das Geheimnis der erneuerbaren Energie Die uns vor Erschöpfung und Selbstausbeutung bewahrt.
Und - die uns davor bewahrt, auch mit unserer Erde so umzugehen, dass sie ausgebeutet und er-schöpft wird. Das allerdings wäre ein Fass, das ich jetzt nicht auch noch aufmachen möchte.
„Jahwe, der ewige Gott, - er hat die Enden der Erde geschaffen - sein Geist ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden."
Amen.
Karfreitag, 18.04.2014, Jes. 52 u.53 i.A., Graf-R.-Kirche u. Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text: Jes.52,13-15;53,1-12
Mirco schreibt in Facebook: „Ich hoffe, ihr könnt mir sagen, wie es weitergehen kann. Seit zwei Jahren kämpfe ich an meiner Schule um meine Akzeptanz. Ich werde gehänselt und ausgeschlossen. Ein Junge aus meiner Klasse stachelt die anderen gegen mich auf. Jetzt ist die Situation total hochgekocht. Vor der versammelten Klasse wurde ich beschuldigt, etwas weggenommen zu haben, was einem Lehrer gehört. Ich habe das nie gemacht. Der Lehrer will jetzt, dass ich über das Wochenende eine schriftliche Stellungnahme schreibe. Ich bin mittlerweile soweit, etwas zuzugeben, was ich nicht getan habe. Ich kann nicht beweisen, dass es nicht stimmt, was die anderen behaupten. Meine Eltern wissen auch schon nicht mehr, was sie glauben sollen. Sie zweifeln auch schon an mir. Habe bald keine Kraft mehr. Was soll ich machen?"
Von 100 Schülerinnen und Schülern an deutschen Schulen werden etwa vier Personen irgendwann in ihrer Schulzeit Opfer von Mobbing: Sie werden lächerlich gemacht; sie bekommen üble Spitznamen; es werden Gerüchte und Lügen in die Welt gesetzt; ihre Sachen werden absichtlich versteckt oder kaputt gemacht. Es kann so weit gehen, dass die Opfer von Mitschülern angefasst, gestoßen oder geschlagen werden. Manche werden erpresst und bedroht. Sie werden immer weiter aus der Gemeinschaft hinausgedrängt. In den meisten Klassen sind die Opfer allein. Das heißt dann aber auch, dass die meisten Klassen in irgendeiner Form, stark oder weniger stark, betroffen sein dürften. In den Klassen 5 bis 7 ist es besonders heftig.
Aber Mobbing gibt es in allen Altersstufen. Es hört nicht mit der Schule auf. Das gibt es auch in der Familie, in der Freundesclique, am Arbeitsplatz - auch in diakonischen Einrichtungen und in der Kirche; überall dort, wo Menschen in Zwangsgemeinschaften leben und sich nicht aus dem Weg gehen können.
Warum tun Menschen das anderen Menschen an?
Warum ist sämtliches Mitgefühl lahmgelegt?
Warum schauen so viele einfach weg und tun so, als ob sie nicht mitbekämen, was da passiert?
Diese Fragen, liebe Gemeinde, sind Karfreitags-Fragen.
Heute am Karfreitag haben wir das Kreuz Jesu vor Augen.
Sein Kreuz fordert mich dazu auf, hinzusehen: Wer sind die, die heute ihr Kreuz tragen? Die heute unter Spott und Hohn leiden? Wer sind die, die heute mit dem Finger zeigen und höhnisch sagen „Soll er sich doch selber helfen!"
Heute kann ich meine Augen nicht verschließen oder mich auf die Rolle eines unbeteiligten Zuschauers zurückziehen.
Wegsehen geht heute nicht.
Der Karfreitag fordert uns alle auf, in die Abgründe von Schuld mitten in unserer Gesellschaft zu blicken.
Der Predigttext für diesen Tag ist eine Geschichte von Tätern und Opfern und Zuschauern. Eine Geschichte von Schuld und Leid. Eine Geschichte von Gott und seinem Volk Israel, das fern der Heimat in Babylon leben muss. Es ist eine Geschichte vom Knecht Gottes, dem leidenden Propheten. Ich lese ihn nach der Übersetzung von Jörg Zink:
„Siehe, meinem Knecht wird sein Werk gelingen. Hoch über allen wird er stehen, die bedeutend sind unter den Menschen. Freilich, viele werden entsetzt sein, wenn sie ihn sehen, denn er ist entstellt und nicht schön wie andere Menschen. Seinetwegen werden sich Völker ereifern, Könige staunend den Mund verschließen. Nie Erzähltes schauen sie und erfahren nie Gehörtes.
Aber - wer glaubt dem, was Gott sprach, wer versteht, was Gott tat? Er wuchs mühsam auf wie ein Reis, das in dürrem Erdreich wurzelt. Er hatte keine erhabene Gestalt, keine Hoheit und keine Schönheit. Wie sahen ihn, aber er gefiel uns nicht. Ausgestoßen war er, von Menschen gemieden, ein Mann der Schmerzen, vertraut mit Krankheit, so verachtet, dass man das Antlitz vor ihm verbarg und wir ihn für nichts hielten.
Aber das ist wahr: Er trug unsere Krankheit und lud unsere Schmerzen sich auf. Wir meinten, Gott habe ihn gestraft. Um seiner eigenen Schuld willen habe Gott ihn geschlagen und gemartert. Aber er wurde durchbohrt um unserer Untreue willen, zerschlagen zur Sühne für unsere Verbrechen. Die Strafe liegt auf ihm, damit wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg, aber der Herr warf unser aller Verschulden auf ihn. Er wurde misshandelt und beugte sich und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das man zur Schlachtbank führt, wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer. Aus Kerker und Urteil wurde er abgeführt, doch wer bedenkt es unter den Seinen? Denn er ist weggerissen aus dem Land der Lebendigen, für die Missetat meines Volkes hingerichtet. Man gab ihm bei Gottlosen sein Grab, bei Übeltätern seine Grabstätte, obwohl er niemandem Unrecht getan hat und kein Trug in seinem Munde war.... Jedoch - weil seine Seele sich mühte, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Durch seine Leiden schafft er, der Gerechte, mein Knecht, die Rettung für viele und lädt ihre Sünden auf sich. Darum soll er Herr sein über die vielen und soll die Starken überwinden, weil er sein Leben in den Tod gab und sich zu den Empörern gesellte. Denn er trug die Sünden der vielen und trat für die Empörer ein."
Tobias erinnert sich: „In der 7.Klasse wechselte ich die Schule. Eigentlich habe ich es mir schon in der ersten Woche mit allen verscherzt. Ich trug komische Klamotten, so sagten sie. Dazu war ich der Jüngste in der Klasse, weil ich früh eingeschult worden bin. Ich konnte mich weder körperlich noch sprachlich wehren und war irgendwann das Opfer, das die Erniedrigung einfach hingenommen hat. Ich war eben der Tollpatsch, der beim Sport nur stolpert - wer denkt schon an üble Fouls und gezielte Ballschüsse ins Gesicht... Am schlimmsten waren das Gefühl der Ohnmacht und das Gefühl von Minderwertigkeit. Wenn alle auf dir rumhacken und dir erzählen und zeigen, wie lächerlich und peinlich du bist, glaubst du es irgendwann selber."
Ja, es fängt an mit Kleinigkeiten. Einer ist ein bisschen anders. Kleidung, Frisur, Aussehen, gute Leistungen - eigentlich Nebensächlichkeiten oder Dinge, die wirklich jede und jeder so handhaben kann, wie er oder sie will, Zeichen individueller Freiheit, auf die unsere Gesellschaft doch angeblich so stolz ist. Aber das kann ausreichen, um einen zum Mobbing-Opfer zu machen. Es kann jeden und jede treffen. Irgendetwas wird zum Anlass genommen - und dann nimmt der Gang der Dinge seinen Lauf. Wird das Opfer immer mehr an den Rand gedrängt und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Wie der Gottesknecht bei Jesaja ist er oder sie dann einer, um den die anderen in der Klasse, am Arbeitsplatz lieber einen Bogen machen. Man will ihm nicht in die Augen sehen, wenn man ihm begegnet, man schaut lieber weg, wenn man ihm begegnet, als wäre er Luft. In Schulklassen erkennt man die Opfer meist daran, dass sie still ihren Kopf gesenkt haben und nur auf den Tisch schauen. Sie sind verstummt, ihre Angst und Schamgefühle sind übermächtig. Wie das Lamm auf den Weg zur Schlachtbank sitzen sie im Klassenzimmer. Was sollen sie auch tun? Allein und ohne Hilfe kommen sie nicht aus ihrer Situation heraus. Das Schlimmste ist, dass ihnen auch noch die Schuld aufgeladen wird: „Der hat mich provoziert", heißt es oder „Das geschieht ihr ganz recht, warum trägt sie auch solch komische Klamotten" oder „Warum schleimt er so, ist Lehrers Liebling. Der ist selber schuld." So wie der Gottesknecht. Von dem nimmt das Volk Israel auch an, dass sein Leiden nur eine gerechte Strafe ist, dass er selber schuld ist. Er hat es sich selbst zuzuschreiben, dass er aus der Gemeinschaft ausgeschlossen ist, denken sie. Mobbing-Opfer werden richtig gehend krank, psychisch und körperlich. „Vertraut mit Krankheit", heißt es bei Jesaja vom Gottesknecht.
Warum, diese Fragen drängen sich mir auf, warum manipulieren da Täter und Täterinnen ihre Mitmenschen, Mitschüler, Eltern, Lehrer, Kolleginnen und Kollegen, Vorgesetzte und Untergebene in den unterschiedlichsten sozialen Lebensräumen? Warum werden Lügen verbreitet? Warum werden Gerüchte gestreut? Oft haben die Täter und Täterinnen selbst ein ziemlich geringes Selbstwertgefühl. Viele von ihnen sind selbst schon einmal Opfer gewesen. Sie buckeln nach oben und treten nach unten. Wenn sie jemand anderen klein machen, fühlen sie sich groß und stark.
Vielleicht war es damals auch so mit dem Volk Israel in Babylon im Exil. Israel war dort fremd. Es war dort anders als die Einheimischen. Es war dort ein Niemand. Suchten sie sich deshalb ihr Opfer, den Gottesknecht, den sie verachteten, um sich selber besser zu fühlen, stärker, größer?
Im Laufe der Zeit merken die Täter und Täterinnen: ich habe Macht. Die Gier nach Macht erstickt jedes Mitgefühl. Genauso wie die Angst jedes Mitgefühl absterben lässt.
„Franzi erzählt: Damals habe ich mich immer gefragt, warum diese Menschen das machen, und vor allem auch, warum die anderen nichts unternommen haben, selbst meine zwei, drei guten Freundinnen, die ich damals trotz alledem hatte. Meine eigene Antwort darauf war und ist, dass sie einfach zu feige sind. Deswegen kann ich heute nicht mehr an solchen Vorfällen vorbeilaufen, ohne mich einzumischen."
Mobbing ist kein Problem nur zwischen Täter/Täterin und Opfer. Denn hinter einigen wenigen Tätern stehen viele Mitläufer, die zulassen, was geschieht. Nicht nur das Opfer hat ein Problem, sondern die ganze Gruppe. Die Angst des Opfers ist gleichzeitig die Angst der Gruppe, der Gemeinschaft. Es ist, als ob die ganze Gemeinschaft krank ist. Aber sie tut so, als ob es nur den Einen/die Eine beträfe, nämlich das Opfer. Das ist ja auch viel einfacher, das so zu sehen, als sich damit auseinanderzusetzen, was jeder in der Gruppe an Schattenseiten mit sich schleppt, seinen je eigenen Ängsten ins Gesicht zu sehen. Das Volk Israel jedenfalls hat erst viel später begriffen, dass nicht der Gottesknecht schuld war, dass es nicht seine Krankheit war, die ihn zum Ausgegrenzten machte, sondern dass die Ursache seines Elends in der Gruppe, im Volk Israel, in seinem Ergehen und seinem Umgang miteinander zu suchen war. „Er trug unsere Krankheit und lud unsere Schmerzen sich auf."
Warum schweigt die Mehrheit? Die meisten haben wohl schlicht Angst, sich auf die Seite des Opfers zu stellen. Sie haben Angst, dann vielleicht das nächste Opfer zu sein, das fertiggemacht wird. Manche sind vielleicht sogar erstaunt, dass sie es bisher nicht sind, auf die eingetreten wird. Aber gerade diese schweigende Mehrheit ist die einzige Größe, die Macht hätte, etwas zu tun. Die Opfer allein können sich nicht helfen. Ohne die Solidarität der anderen kommen sie nicht aus der Situation heraus. Doch die meisten ziehen sich aus der Verantwortung. Sie versuchen, sich selbst zu rechtfertigen. Die anderen hätten ja auch etwas machen können. Ich bin ja schließlich nicht der Haupttäter/die Haupttäterin. Aber wird nicht auch der zum Täter/zur Täterin, die nicht einschreitet, wo die Menschlichkeit es gebieten würde?
Angst, Scham, Panikattacken, Minderwertigkeitsgefühle, Arbeitsunfähigkeit, Einsamkeit, Depression und Selbstmordgedanken - das sind Folgen von Mobbing für das Opfer. Wer ist schuld daran? Viele tragen die Verantwortung - auch wir. Wenn wir selbst zu Täterinnen und Tätern werden. Wenn wir den Täterinnen und Tätern die Munition liefern, Zustimmung bekunden. Und vor allem, wenn wir denken, wir könnten uns einfach raushalten.
Wie kann, und diese Frage drängt sich auf, wie kann es hier Heilung geben? Wie kann es zu einem Neuanfang kommen - für die Opfer, die Täter, die Mitläufer, die Wegschauer? Wie ist menschliche Gemeinschaft hier zu retten?
Das Lied vom Gottesknecht kann uns da eine Perspektive zeigen. Auch die frühen Christen haben sehr bald angesichts der Erfahrungen von Karfreitag diesen Text aus dem Jesajabuch zu Hilfe genommen, um für sich mit dem Leid und Kreuz Jesu irgendwie fertig zu werden, um allem einen Sinn abzuringen. Das, was vom Knecht Gottes da geschrieben stand, versuchten sie, mit Jesus und seinem Schicksal zusammenzubringen.
War er nicht auch ein unschuldiges Opfer wie der Gottesknecht? War er nicht auch aus der jüdischen Gemeinschaft ausgeschlossen worden, hatte man ihn nicht auf misshandelt und umgebracht? Hatte man nicht auch von ihm gesagt, er hätte selber Schuld, er hätte sich zum Sohn Gottes gemacht und damit den Tod verdient? Am Kreuz nimmt Jesus die Stelle der Opfer ein. Gott hält sich nicht raus aus dem Leid und dem Unrecht, das weltweit geschieht, das Menschen anderen Menschen antun. Er ist nicht im Himmel, er hängt am Kreuz. Auch wenn die Opfer von Gewalt oft allein sind. Gott lässt sie nicht allein.
Aber auch das steht bei Jesaja: gerade am Kreuz gesellte er sich zu den Empörern. Denn er trug die Sünden der vielen und trat für die Empörer ein - für die Täter. Dieses Denken, dass einer sein Leben geben muss als Sühne für die Schuld der anderen, der vielen, ist mir heute nicht mehr möglich. In früheren Zeiten war dieses Denken weltweit verbreitet. Was Jesaja mit diesen Versen sagen wollte, finde ich in klarerer Form im Lukasevangelium, wo Jesus bittet: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Auf diese Weise tritt er an die Seite der Täter - und an die Seite aller Mitläufer und Wegschauer.
Das Kreuz des Karfreitags durchbricht die Spirale von Schuld und Gewalt. Die Schuld der Täter wird nicht einfach ungeschehen gemacht, aber auch ihnen soll ein neuer Anfang möglich sein. Es soll für alle heilvolles Leben möglich sein, für Opfer und Täter. Vergebung, Versöhnung, Neuanfang. Dafür steht Jesus, dafür hat er sich eingesetzt bis ans Kreuz.
Möge auch uns das Kreuz auf diese Weise Wege in eine heilvolle menschliche Gemeinschaft öffnen.
Amen.
Ostersonntag, 20.04.2014 Stadtkirche 1.Korinther 15,19-28 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ostersonntag 20.IV.2014
1.Korinther 15,19-28
OSTERN: DER EWIGE SCHÖPFUNGSBERICHT
(1.Korinther 15, 19-28)
Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Menschen.
Nun aber ist CHRISTUS auferstanden von den Toten als ERSTLING unter denen, die entschlafen sind.
Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen
die Auferstehung der Toten.
Denn wie sie in ADAM alle sterben, so werden sie in CHRISTUS alle lebendig gemacht werden.
Ein jeder aber in seiner ORDNUNG:
I. als Erstling Christus;
II. danach, wenn er kommen wird, die, die Christus angehören;
III. danach das Ende, wenn er das Reich Gott, dem Vater, übergeben wird,
IV. nachdem er alle Herrschaft und alle Macht und Gewalt vernichtet hat. Denn er muss herrschen, bis Gott ihm »alle Feinde unter seine Füße legt« (Psalm 110,1).
V. Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod. Denn »alles hat er unter seine Füße getan« (Psalm 8,7) Wenn es aber heißt, "alles" sei ihm unterworfen, so ist offenbar, dass der ausgenommen ist, der ihm alles unterworfen hat.
VI. Wenn aber alles ihm untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat,
VII. damit GOTT sei ALLES IN ALLEM.
Liebe Gemeinde!
Jesu aufgebrochenes Grab ist genau das, was wir vermuten würden: Ein Herd der Ansteckung.
Allerdings einer Ansteckung, die wir auf dem Friedhof, im Reich des Moders und der Verwesung am wenigsten erwarten würden: Hier infiziert man sich nämlich mit Leben.
Wer seine Nase einmal wirklich tief hinein in das österliche Wunder gesteckt hat, wer es einatmete und seinem Glauben dabei keinen Filter, keinen Mundschutz umband, der trägt den Keim in sich! Und irgendwann – mag darauf auch eine noch so lange Inkubationszeit folgen – irgendwann bricht es aus … und wir werden selber zu Auferweckten. ——
Allerdings ist eben diese Latenz, dieser unbestimmte Zeitraum, der sich zwischen dem österlichen Glauben der christlichen Gemeinde und ihrem eigenen österlichen Leben erstreckt, immer schon eine Schwierigkeit gewesen. Denn nicht erst heute leben wir unter dem unheil-vollen Anspruch der Geschwindigkeit. Geduld hat zu allen Zeiten und in allen Dingen der Menschheit schon immer gemangelt.
Eine meiner Urgroßmütter – die einzige Rheinländerin im weitesten Sinne und daher für ihr unpreußisches Ungestüm bekannt – hat in geradezu gottloser Weise die Unerträglichkeit des Wartens bewiesen und Tod und Leben herausgefordert, nachdem ihr Erstgeborenes an einer bösen Kinderkrankheit starb: Statt bei der nächsten Krankheitswelle die bange Ungewissheit möglicher Ansteckung auszuhalten, legte sie ihre sämtlichen Kinder zur ersten kleinen Patientin unter ihnen in’s Bett und wollte fatalistisch und fatal ihrer aller wahrscheinliches Schicksal beschleunigen. Das Leben machte ihr allerdings einen Strich durch die Rechnung: Die Kinder überlebten – doch der Eindruck mütterlicher Ungeduld muss sich ihnen tief eingeprägt haben.
Ähnlich rheinisch-hysterisch waren nun die Korinther veranlagt, denen Paulus das große Rezept für österliches Leben ausstellt, das wir als das 15.Kapitel des 1.Briefes nach Korinth kennen. Darin wird uns allen die Auferstehung verschrieben als das beste Antidepressivum, als die kräftigste Nerven- und Herzarznei, als der geistliche Nährstoff, durch den wir einst den großen Formwandel erfahren werden, wenn aus verweslich unverweslich wird.
Aber weil die Korinther sind, wie sie sind – und wie wir sind –, darum ist ein langer Beipackzettel nötig, um die Auferstehungsbotschaft richtig zu gebrauchen.
Eines nämlich ist sie nicht: Sie ist kein Muntermacher, kein Aufputschmittel, das man einwirft und auf der Stelle tritt eine Wirkung ein.
So mögen die künstlichen Gifte, die synthetischen Drogen funktionieren, durch deren Vormarsch tatsächlich für immer mehr Menschen das langsam sich anreichernde Vitamin christlicher Hoffnung überflüssig wird: Wozu soll man auf Verheißung hoffen, wenn man sich doch gegenwärtige Erfüllung aller Kraftphantasien und Leistungswünsche, aller Leichtigkeitssehnsucht beim Stammdealer besorgen kann?
In dieser Weise aber wirkt die Osterbotschaft jedenfalls nicht.
Und die korinthische Gemeinde hat es schmerzhaft lernen müssen, dass man sich nicht auf ein spontanes „Auferstehung-hier-und-jetzt-Erlebnis“ versteifen sollte.
Hoffen wir allein in diesem Leben – hier und jetzt – auf Christus, so sind wir die Elendesten unter allen Menschen, ernüchtert Paulus die auf Soforteffekte spekulierende Gemeinde der Erlebnishungrigen. Hier in diesem Leben ist die Feier der Auferstehung nämlich – um es mit einem Vergleich zu sagen, der etwas aus der Mode gekommen und entsprechend aus der Wahrheit gerückt ist – hier in diesem Leben ist die Feier der Auferstehung nämlich eine Verlobung: Herrlich und fröhlich, heiter und beglückend als Fest, aber noch lang kein vollzogener Eintritt in Ewiges und kein leibliches Erlebnis. ———
Lange Gesichter in Korinth.
Dort war man natürlich immer schon der Zeit voraus und sprach rheinisch-direkt aus, was wir Heutigen still denken und zur lautlosen Abkehr vom Christentum nutzen: „Verlobung: Watt soll dä Quatsch? Janz odä jaa nitt!“ …….
Weil aber diese impulsive, fordernde Grundhaltung der feierwütigen Frohnaturen, die sich nicht lange abwimmeln und vertrösten lassen, sondern loslegen und ein Fässchen aufmachen wollen, … weil diese Grundhaltung in Sachen Osterbotschaft so gründlich schief und falsch ist, wird Paulus – vermutlich zur hellen Verzweiflung der Korinther – nun nicht etwa forsch in seiner Erwiderung, sondern ganz und gar langstielig und umständlich.
Statt „Basta! Auferstehen für alle kommt nun mal erst später“ zu sagen – das hätte man in Korinth immerhin verstanden –, fängt er eine Erläuterung an, die in beinahe komischem Widerspruch zur Ungeduld seiner Gemeinde steht: Sie wollen wissen, ob und wann die Sache für sie persönlich spruchreif werden soll – und er entwickelt einen buchstäblich ewigen Zeitplan.
Mit seiner Aufzählung von Erstens, Zweitens, Drittens, … mit seiner Darlegung, dass sich mit dem Erstling Christus ein weltgeschichtlicher Ablauf zu entfalten beginnt, der unabsehbare Ausmaße bis zur Vollendung aller Dinge haben wird, … mit seinem ein wenig beamtenhaften Strichlisteführen, wer wann was vor sich hat, … mit seinem Beharren darauf, dass alle diese Geschehnisse einer genauen „Ordnung“ folgen, wird Paulus das Humor- und das Hörzentrum der Korinther zweifellos verfehlt haben.
Und auch wir sind vielleicht doch eher befremdet, wenn ausgerechnet die Osterereignisse, in denen die lebendige Schöpfermacht in ihrer unerwarteten, einzigartigen und immer auch etwas anarchischen Kraft durchbricht, in ein solches Schema, in einen so folgerichtigen Fahrplan vom ursprünglichen Ostertag bis zum ewig-endgültigen Finale gepresst werden.
Viele Freunde hat die geordnete Skizze dessen, was uns zwischen Ostern und der Endzeit erwartet, daher nie gewonnen: „Zu dröge; zu spekulativ; zu einfallslos, weil sowas schließlich jeder Apokalyptiker kann; zu - sagen wir’s wegen der Adressaten ungehemmt -: korinthenkackig. Janz odä jaa nitt – aber bitte nicht scheibchenweise und in vorgefertigten Schritten!“, war stets die Reaktion auf diese erweiterte Deutung der Auferstehung im Horizont der letzten Dinge.
Doch in Wirklichkeit scheint Paulus mir hier etwas so Groß- und Eigenartiges zu unternehmen, dass meines Wissens erst eine Dichterin des 20.Jahrhunderts es ihm wieder gleichgetan hat:
Der Apostel erzählt im Blick auf die wunderbare Auferweckung des Gekreuzigten die Geschichte des Lebens rückwärts – von Christus, dem letzten Lebenskeim in der Welt bis zurück an den Ursprung, dort wo Gott die Quelle des Lebens ist und ewig bleibt. —
Die wichtigste Voraussetzung für diesen Rückwärtslauf ist dabei diese:
Leben – wirkliches Leben – ist nicht nur das, was wir hier kennen, wenn wir atmen und uns regen und behelfen können. Wirkliches Leben ist also nicht die von Geburt und Sterben eingeklammerte und vom Pulsschlag aufrecht erhaltene irdische Existenz, sondern wirkliches Leben ist Menschsein nach dem Bilde und im Bunde Gottes. Darum ist wirkliches Leben aber auch gewiss weder vom Geborensein noch vom letzten Atemzug begrenzt. Vorher wie nachher kann der Mensch im Bund mit Gott eben soviel Anteil am wirklichen Leben haben. Oder sollten wir besser sagen: Vorher wie nachher könnte er diesen Anteil haben?!
Denn eben das ist das Verhängnis, das mit dem Namen Adam bezeichnet wird:
Seit die Menschheit das Leben selbst beherrschen will, hat sie es schon verloren.
Adam und seine Nachkommen werden zwar geboren und atmen, ernähren sich, wirken, spielen, jubeln, leiden, wehren sich und sterben hier auf Erden – aber in allen ihren Lebensjahren gibt es wenig wirkliches Leben. Sie existieren – und „bringen doch ihre Jahre zu wie ein Geschwätz, denn wenn es köstlich gewesen ist, ist es Mühe und Arbeit gewesen“, sagt uns der Psalm (909f).
Es ist kein Leben aus der Quelle, kein Leben mit Gott, seit die Menschheit sich dagegen durch ihre Eigentherapieversuche, durch ihre Selbstschöpfung und Selbstzüchtung und Selbsterlösung immunisiert hat.
Das Leben – das wirkliche – ist selten geworden, eine bedrohte Art.
So bedroht, dass schließlich Gott selber es uns allen vorgelebt hat in Jesus Christus.
Denn so wie das bisschen Erdenwandel Jesu war – so wäre wirkliches Leben:
Dankbar in seiner Gotteskindschaft, ruhend im Vertrauen, selbst- und sorglos im Lieben, bedingungslos in der Wahrheit, gerecht, frei … und gefährlich.
Doch die Welt hat sich Abwehrkräfte gegen dieses wirkliche, ursprüngliche Leben aus Gottes Hand geschaffen und sie hat den Träger dieses Lebens isoliert und dann behandelt wie alle Schädlinge:
Sie hat ihn ausgerottet, um die Ausbreitung zu verhindern. …
Aber es war ein Beet, in das man ihn pflanzte, als sie ihn begruben!
Und als es aufbrach, das Grab, da war der Keim, der letzte kleine Setzling wahren Lebens, da war der Erstling Christus nicht vernichtet, sondern sein Gott gehörendes und Gott bezeugendes, sein Gott beglaubigendes und Gott verherrlichendes Leben war unendlich fruchtbar und stark geworden – so stark, dass seine Verbreitung und Durchsetzung seitdem unaufhaltsam sind:
Wie einst im Siebentagewerk der Schöpfung aus Chaos, aus Tohuwabohu allmählich die Stufen des stofflichen, des grünenden, des beweglichen, des beseelten Lebens wurden, wie es einst dem Wort Gottes gehorchend aus den geheimnisvollen Urelementen von Himmel und Erde bis in die Menschengestalt vordrang - das wahre Leben -, so läuft es seit Ostern in einem zweiten Siegeszug von dem einen Menschen Christus Stufe für Stufe wieder durch die gesamte Schöpfung und breitet sich aus.
Jesus Christus ist der Herd und wir sind die heute noch unauffälligen Träger dieses Lebens, das sich – gebe Gott bloß, dass wir’s befördern und nicht bekämpfen wollen! – unter uns und um uns herum in Wellen ausdehnt, bis es alle erfasst und erfüllt haben wird.
Denn nicht nur uns wird das Leben zu seiner Zeit leiblich und geistig vollkommen durchdrungen haben, sondern die tödlichen Anti-Körper, die Gegenkräfte, die Abwehr, die überall herrschen, werden den herrlichen Angriff durch’s ewige Leben nicht überstehen.
Was immer hier zwischen Himmel und Erde, in Raum und Zeit das Leben aufhält und begrenzt, wird sich ihm dauerhaft nicht entgegenstellen und entziehen können.
Von dem kleinen Anfang in Jerusalem vor zweitausend Jahren ausgehend wird der Siegeszug des Auferweckten und der großen Auferweckung in Lichtjahren und in Unendlichkeit ungebremst weitergehen. Alles, von dem wir meinten, da sei kein Leben, … da sei Leben unmöglich … wird kapitulieren und voll des Lebens sein müssen: Das Reich des Todes, die Weite des Universums, in der nirgendwo Leben aufzuspüren war, die Zonen des Vergessenen und des Unentdeckten. Alle Lebensfeindlichkeit wird weichen.
Jesus Christus wird also leben und Leben verbreiten so sehr, dass uns Hören und Sehen schier vergingen, wenn sie denn noch vergehen könnten, … so aber werden sie von Herrlichkeit zu Herrlichkeit sich erweitern!
Bis endlich jener Gipfel erreicht ist – unvorstellbar für mich Jesusliebhaber hier in der Zeit – an dem nichts mehr sein wird, als der reine Anfang. Da wird durch Jesus alles münden im urlebendigen, schöpferischen Ausgangspunkt des Lebens und aller Dinge:
Gott Gott Gott! ———
So viel zum rheinisch-korinthischen: „Janz odä jaa nitt“! Mehr geht nicht! ———
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Werden wir ihn dann nicht aber vermissen, den, mit dem das alles anfing, mit dem wir an Ostern Verlobung zu einer so rauschenden Hochzeit für’s Leben feiern?
- Noch denke ich natürlich: Ja. … Aber wir werden ja in ihm sein und mit ihm ganz und gar in Gott.
Und da kommt die Dichterin in’s Spiel – Ilse Aichinger, die große jüdische Stimme der Nachkriegsliteratur, deren Werk heute, im hohen Alter in bewusstem Schweigen besteht.
Sie hat 1949 unter dem Titel „Spiegelgeschichte“ das Leben einer Junggestorbenen rückwärts erzählt, von der Totenbahre bis zum Augenblick der Geburt.
Wie das aber endet, so dann einst und ohne Frage hoffentlich auch wir:
„Es ist der Tag deiner Geburt. Du kommst zur Welt und schlägst die Augen auf und schließt sie wieder vor dem starken Licht. Das Licht wärmt dir die Glieder, du regst dich in der Sonne, du bist da, du lebst. Dein Vater beugt sich über dich.
»Es ist zu Ende –« sagen die hinter dir, »sie ist tot!«
Still! Laß sie reden!“
Dein Vater beugt sich über dich.
Still!
Laß sie reden!
Gott Alles in Allem!
Amen!
Karfreitag 18.04.2014 Stadtkirche Jesaja 53, 1-12 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag 18.IV.2014
Jesaja 53, 1-12
Liebe Gemeinde!
Viele von uns verdanken ihr Leben ihren … geschlossenen Augen.
Mit offenen Augen wären wir ja womöglich nicht bis heute und hierhin gekommen:
Es hätten uns doch so viele Warnzeichen von allen unseren Vorhaben abbringen müssen; so viele erschrockene oder waidwunde Blicke wären uns unter die Haut gegangen; so viele Scherbenhaufen hätten wir wahrnehmen müssen; so viele Fragezeichen hätten wir erkannt; so viel Not hätte uns abgelenkt; so viele eigene und fremde Lügen hätten uns irr gemacht; so viel Täuschung hätte uns die Augen dafür geöffnet, wie wenig wir unseren Augen trauen sollten; so viel Dunkles hätte uns müde gemacht, … und würden wir klar sehen – das eigene Spiegelbild hätten wir zu fürchten und zu meiden gelernt.
Doch dank unserer verschlossenen Augen, unserer geübten Augenwinkel, die mit raschem Wimpernschlag das Nützliche erkennen und das Nutzlose wieder verwischen und ausblenden, sind wir so weit gekommen: Haben nicht gebremst vor den Gefahren, sondern sind rasend drüber weggeglitten; haben nie gezögert im Angesicht eines anderen Angesichtes, sondern seinen Eindruck gelöscht; mussten auf das Grauen nie hinsehen, weil wir so bewegliche Lider haben, die uns reflexhaft vor zu viel Wahrheit wie vor zu viel Licht schützen; dank unserer nichtsehenden Augen haben wir nie Halt zu machen brauchen, sondern uns in greller Verblendung über uns selber sonnen können und das eigene Bild schön phantasiert.
— Vor allem aber: Dank unserer geschlossenen Augen haben wir Jesus nie schauen müssen.
Im Geist war da ein netter, ein harmloser Mensch, den wir umso genüsslicher weichzeichnen, je härter wir sind; er trug die Blumen- und Lorbeerkränze der Sonntagsreden ; er hat die Züge, die wir einem Spielzeug, einer Puppe geben, die den Dummen und Leichtgläubigen helfen, hin und wieder heile Welt zu spielen; er war sympathisch wie unser Lieblingslehrer; schön wie ein Leinwandheld; unwirklich, aber nützlich – der Idiot des Guten; sein Name ein schmalziger Ohrwurm für die Flucht aus dem Alltag; seine Gestalt ein Marmorbild – heute sagt man: ein Avatar … die blanke Lüge des Virtuellen, jener unsichtbaren Welt der lieber Blinden.
Doch so sieht er nicht aus, wie wir ihn uns ausmalen, … so sieht er überhaupt nicht aus! —
Um aber unsere willkürlich verschlossenen christlichen Augen für Jesus zu öffnen, kann uns niemand so helfen wie das älteste Volk der Welt, dem die selbstgemachten Bilder immer schon verboten sind und das daher nie anderswohin als auf die Wirklichkeit schauen konnte.
Mit den Augen Israels, mit dem Blick des großen Sehers des Volkes Gottes also sollen auch wir heute hingucken und nicht mehr schlafen, träumen, verdrängen:
Seht ihn Euch darum an, wie Jesaja ihn sieht … den gerechten Knecht Gottes!
Er ist überhaupt nicht schön!
Die ganze Thorvaldsen’sche Ebenmäßigkeit, die ganze Aura des Gutmenschen, der Dackelblick des naiven Weltverbesserers, das nostalgische Flair, das so ein langhaariger Idealist in unpolitischer Zeit vor uns entfaltet … die sind alle bloß Trug- und Schattenbilder.
— Seht hin! Seht genau hin! ……. Man mag nicht wirklich, oder ? ….
…. Keine Gestalt und Hoheit,… nichts, das uns gefallen hätte.
Ein scheußlicher Anblick. Stimmt’s?
Lieber würden wir das Angesicht vor ihm verbergen.
— Aber guckt ihn Euch trotzdem an. Macht die Augen nicht zu!
… Was sehen wir?
Wir sehen einen geschändeten Leichnam. Doch auf seinen starren Zügen nicht etwa jenen letzten wächsernen Frieden, der uns noch irgendwie tröstet, sondern ein Bild ungemilderten Grauens: Krankheit, Schmerz, Plage, Marter, Strafe, Wunden, Angst, Gericht.
Eigentlich nicht auszuhalten, dieses verstörende Bild.
Dieses Bild, das die Gegenwart weitestgehend wegretuschiert haben will aus dem Evangelium und aus der Theologie, weil es so an die Nieren geht und weil uns die schier unglaublich banalen Atheisten, die sich zum „Hasenfest“ laut eigener Propaganda „freihoppeln“, womöglich abartige seelische Grausamkeit bescheinigen, wenn wir es tatsächlich betrachten: Anscheinend nämlich ist es viel humaner, nicht hinzusehen, wo immer das Leid der Welt begegnet, und offenkundig soll es auch für uns sensible Christen seelisch viel gesünder sein, die Augen vor dem Schmerz und Preis der Erlösung von allem Unheil zu verschließen.
……. Elend und Fluch wahrzunehmen, Schrecken und Sterben – das überlassen wir denen, die das Bild für uns bereinigen, indem sie die Toten, die uns anwidern, diskret beseitigen: Den Geiern und anderen Vögeln unter dem Himmel, den Müllleuten der Weltgeschichte. ———
Aber das Volk, das selber geschändet und verachtet war durch die Jahrtausende hindurch, vor dem man das Angesicht verbarg, von dessen Martyrium so schreiend geschwiegen und vor dessen Todeszügen so ungeheuer entschlossen in die andere Richtung geblickt wurde – dieses Volk Israel zwingt uns durch seinen Tröster Jesaja, heute hinzuschauen auf den, der als sein König auf Golgatha hingerichtet wird.
Zwar scheint man es in Israel eigentlich kaum mehr für möglich zu halten, dass die Welt und ihre Völker irgendwann mit der selbstgerechten Lüge, alles sei bestens, alles sei schön, aufhören könnten und der Wahrheit in’s Auge sehen:
— „Wer glaubt dem, was uns verkündet wurde?“, so fragen sie ja.
— Auch wir selbst schließlich „haben ihn für nichts geachtet“ bekennt der Prophet.
Dennoch aber haben sie ihn gesehen, … fünfhundert Jahre vor dem Tod auf Golgatha haben sie ihn schon geschaut und beschrieben und nichts ausgeblendet an eigener und an allgemeiner Verweigerung, dem Anblick dieses Getöteten standzuhalten. ———
Blicken darum auch wir jetzt endlich hin.
Sehen wir sie an, die Anatomie unserer Sünde.
Denn das ist es ja, was uns dort erwartet.
Tatsächlich hängt dort nicht irgendein zufälliges Opfer widriger Umstände oder irgendein bedauernswertes Einzelschicksal, das wir beklagen, aber schlicht nicht ändern könnten.
Sondern … so schonungslos und unbestechlich bohrt Jesajas Blick sich in das, was kein Mensch sehen will, … sondern – sagt Jesaja jedem von uns – da hängt der plastische Abdruck Deiner entstellten und verformten Menschlichkeit. Nicht auf fremdes Leiden siehst Du da, sondern direkt auf Deine eigene Verfassung. Diese abstoßenden Krankheitssymptome hat er sich bei Dir geholt, diese furchtbaren Folgen mörderischer und selbstmörderischer Sünde sind das ausgeprägte Ebenbild Deiner selbst, das Du mit den geschlossenen Augen ein Leben lang verdrängt hast!! ———
Wer von uns nun aber tatsächlich einen Blick riskiert hat auf den gefolterten Menschenleib am Kreuz, der reibt sich die Augen: Mein Ebenbild, ……. das da?
Ja, beharrt Jesaja, der noch immer nicht blinzelt oder wegschaut: „Unsre Krankheit, … unsre Schmerzen, … unsere Missetat, … unsere Sünde“.
— Nein, hören wir uns da stammeln. Das ist ein Irrtum. Muss Verwechslung sein. Sieh uns doch an, Prophet. Wir sind gesund. Durchschnittlich wohlgeformt. Es sind gar keine Umstände denkbar, die uns auch nur von ferne jemals so enden ließen. Es gibt – Gott sei Dank! – längst keine Folter mehr bei uns, und wir alle sind keine Verbrecher, und die Zeiten, in denen uns die Strafen Gottes als sadistische Quälerei angedroht werden konnten, nur weil die weltliche Obrigkeit durch menschenverachtende Züchtigung und Abschreckung wirkte, sind überwunden und werden nicht wiederkehren. Das alles betrifft uns also nicht. Der elende Tote da, sein furchterregender Anblick: das hat nichts, gar nichts mit uns zu tun.
— Genau, sagt Jesaja, ohne die Augen abzuwenden von dem, was wir schon wieder verdrängen: Ein jeder sieht auf seinen Weg.
Und die Strafe liegt auf ihm allein, damit wir Frieden hätten; damit wir geheilt würden von unseren Krankheiten, lenkt er die Hämatome und Verletzungen und Brüche, alle die infernalischen Gemeinheiten dieser Todesart auf sich, … nimmt er freiwillig die Agonie an.
Und sagt kein einziges Wort.
Klagt Dich nicht an, klagt mich nicht an, wie ein Schaf, das stumm zur Schlachtbank geführt wird. ———
… Kann man da aber immer noch weggucken? … Gewiss, ich höre: Man kann.
Doch diese Pein vor Augen, in einer Zeit, in der sich schon das Mitleid mit dem Vieh, das für uns gemästet und gequält und gemetzelt wird, immer mehr verbreitet …, diese Pein vor Augen und das Wort Jesajas im Herzen – dass das da für uns geschieht – … kann man da wirklich noch weggucken? — In Wahrheit wüsste ich nicht wie.
Wenn wir das nämlich ein einziges Mal tatsächlich betrachtet haben, so wie Jesaja es sieht, wenn wir es ein einziges Mal nur ausgehalten haben, dieses Bild von Kopf bis Fuß als eigenes Spiegelbild anzusehen, als Enthüllung dessen, was unter und hinter unserer Unversehrtheit und Selbstzufriedenheit mit uns los ist und auf uns wartet, verändert es uns und unser Dasein völlig!
- Das also ist die Anatomie des Menschen, der ich schon bin oder einst würde:
Diese geschundene Kopfhaut, in die tausend Dornen ritzen und stechen: Die zeigt mir, wie undurchlässig mein Dickschädel, mein zu Zement verhärteter Geist eigentlich ist, in den nichts eindringt, das mir unangenehm oder kritisch wäre. Doch die Abwehr aller Umkehrgedanken, die Schutzschicht, die alles, was von außerhalb, von Gott oder Menschen kommt, aufhält, ehe es in mein Denken einfließen kann: die ist durchlöchert, wenn ich den sehe, der für mich die Dornenkrone trägt und seinen Kopf hinhält, um meinen für Gott und Seinen Ruf zu retten! ——
Seine Hände, durchbohrt und todesstarr, … die treiben in meine müßigen, geizig verschlossenen, zur Faust geballten oder pausenlos mit Nebensachen beschäftigten Hände das Blut der Scham: Was hat Jesus mit diesen segnenden, heilenden, freigiebigen Händen nicht alles getan – und nun haben sie unterm Hammer still gehalten, damit alles, was einst durch sie hindurchging, jetzt in die Hände der Menschen käme. Hilfe, Liebe, Segen, die Schätze der Menschlichkeit, die in diesen nunmehr unbrauchbar gemachten Händen lagen, sind Jesus aus der Hand geschlagen … und jeder, der das sieht, muss doch selber zupacken, … von an nun dürfen, ja nun müssen wir das versöhnende, tröstende, wohltuende Handwerk des Gottesknechtes übernehmen, der unsere leeren Hände so mit sich selber und seinen Werken füllt. ——
Seine Füße – lieblich sind die Füße der Freudenboten, sagt Jesaja (527) –, diese unermüdlichen Schrittmacher auf dem Weg zu Gerechtigkeit und Frieden und Seligkeit, seine Füße sind ebenso gelähmt und zerstört. … Wenn deren Weg aber so unterbrochen wurde, wenn diese Füße hier am Kreuz zum Stillstand gebracht wurden: Wie ist es dann mit unserem Lauf? Wo führt unser Weg hin, wo liegt unser Ziel? … Ich meine zwar, ich ginge bewusst in selbstgewählter Richtung und verfolgte einen klaren Kurs, … aber was, wenn es doch nur blinde Panik ist, die uns wie Schafe in die Irre treibt, wenn wir einer Laufbahn, einem Lebensweg nachgehen, die zuletzt zerstreuen und nicht etwa sammeln? Jesu reglose Füße machen mich innehalten und den wahren Weg zum Leben suchen, und ich erkenne, dass ich nirgends hinfinden will, wo nicht seine Fußtapfen mir die Spur weisen. Seine unbewegten Füße bringen mich also auf Jesu Lebensweg. Auf dem geht es weiter … oder gar nicht. ——
Und die Seite. Jesu Herzwunde. Jesu Todesstoß in ein Herz, das für uns schlug – für die Undankbaren, die Blinden, die Hilflosen, die Eingebildeten, die Ungeheilten und Unbekehrten. Wie voll war sein Herz, wie weit! Und nun ist es zerrissen, das Herzblut für alle soll nicht mehr zirkulieren, sondern auslaufen! … Aber indem das einer Welt vor Augen gestellt wird, die Herzlosigkeit als Durchsetzungsvorteil heranzüchtet – geschieht da nicht doch etwas mit unseren kleinen, schrumpfenden, engen Herzen? Stolpern die da nicht oder ziehen sich zusammen? Klopft da nicht plötzlich das Herz in meiner Brust und fängt an zu rasen? Geht uns nicht auf erschütterte Weise am Ende das eigene Herz auf, wenn wir sehen, wie die Liebe Gottes in’s Herz getroffen wird? Und erkennen wir nicht: Das ist es, was wir alle miteinander auf dieser Welt brauchen, … das, was im Herzen Jesu so lebendig war und was in seinem Tod durch einen Lanzenstich freigesetzt wurde … die Liebe Gottes?!!! ———
Wenn wir ihn aber so tatsächlich ansehen – diesen mit Krankheit geschlagenen und von Wunden übersäten Leichnam, dessen Inneres unverkennbar durch Angst und Gericht ging – und wenn wir an ihm vom Scheitel bis zur Sohle die Bezugspunkte zu uns selbst erkennen: Dann haben wir endlich unseren freiwilligen Stellvertreter erkannt, dessen Leiden an Haupt und Gliedern jeweils heilsame Hoffnung für uns aufdeckt.
Wenn wir ihn wirklich so sehen, dann allerdings hat er uns durch seine qualvolle Mühe, durch sein Opfer nicht etwa abgestoßen und verloren, sondern gewonnen!
Denn nur sein Weg in das Gegenteil alles dessen, was wir gerne sehen, hat uns die Augen geöffnet für das, was er wirklich ist und tut, was er wirklich vermag und schenkt.
Er hat uns gewonnen, indem ausgerechnet sein Tod uns lebendig macht und Zukunft schenkt.
Er hat uns gewonnen, indem sein Ende als Schuldopfer uns zu Erben seiner Gerechtigkeit macht.
Denn indem wir sein schreckliches Bild am Kreuz und im Grab nicht leugnen oder ausblenden, sondern bewusst betrachten, streut es den Samen der Wahrheit über Jesus von Nazareth in unsere Leben. Und so beginnt er ausgerechnet als Gekreuzigter, uns zu seinen Nachkommen, zu seinen Kindern und Nachfolgern zu erwecken.
Das ist das Wunder der für Karfreitag geöffneten Augen.
Das ist die Botschaft Jesajas vom Tod des gerechten Gottesknechtes.
Sie deutet nicht etwa nur das Ereignis von Golgatha, das wir nicht an uns heran lassen mögen.
Sondern sie tut mitten im Rätsel der Stellvertretung die Tür auf zu einem Leben, in dem unsere Sünden davongetragen wurden und wir von dem Leichnam unterm Kreuz bekennen werden:
Er wird das Licht schauen und die Fülle haben,
er wird in die Länge leben
und des HERRN Plan wird durch seine Hand gelingen!
Amen.
Offene Schuld
Dies ist der Tag der Entscheidung.
Du hast sie getroffen. Für immer und ganz.
Alles hast Du gegeben. Wir nichts.
Du hast Leib und Seele drangesetzt, wo wir nicht einmal dran denken irgendetwas zu riskieren.
Aber obwohl es uns nichts wert zu sein scheint, war es Dir nicht zu teuer.
Du hast ohne uns für das Menschenleben bezahlt!
Damit es nicht ein Spielball bleibt.
Du hast unser Leben erlöst aus der Knechtschaft und von den Mächten, die es benutzen, besetzen und verderben.
Du hast gekämpft, und wir waren nicht einmal Zuschauer.
Du hast Dich ganz alleine für uns gewehrt, und wir nehmen nicht einmal zur Kenntnis, dass wir bedroht und verloren waren.
Alles hast Du gegeben. Wir nichts.
Hast Dich aufgegeben. … Wir Dich auch.
Hast den Tod – den leiblichen Tod, die seelische Vernichtung, die Hölle – auf Dich genommen.
Alles hast Du gegeben.
Und nun sind wir Dein!
Laetare 30.03.2014 Stadtkirche Jesaja 54,7-10 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Lætare - 30.III.2014
Jesaja 54, 7-10
Liebe Gemeinde!
Entschuldigungen können fauler Zauber … und sie können Sternstunden sein.
Die berühmten barfüßigen Schneenächte und Wintertage auf der Zugbrücke von Canossa sind das Paradebeispiel einer Entschuldigung, die für keinen der Beteiligten mehr war als ein strategisch kalkulierter Kraftakt in einem bitteren Kampf um die Macht. Weder der öffentlich büßende Kaiser Heinrich IV. noch sein Gegenspieler, Papst Gregor VII. haben nach dieser mittelalterlichen Entschuldigungsseifenoper mit dem befreiten Gefühl wahrer Begegnung und Vergebung leben können. Ihr Konflikt – das Ringen um die Dominanz von Kaiser oder Papsttum – war nicht bereinigt, sondern nur Spielräume seiner Fortsetzung eröffnet worden.
Ganz anders – so zumindest der Eindruck, der sich im Rückblick auf die jüngere Zeitgeschichte ergibt – stand es mit dem ungeplanten Kniefall des deutschen Kanzlers am Denkmal für das Warschauer Ghetto. Brandts demütiges Zeichen der Reue hat tatsächlich mehr als viele Verträge, Unterschriften, Erklärungen und Abkommen die Möglichkeiten vorsichtiger Versöhnung befördert. Kaum eine andere Entschuldigung ist so breitenwirksam im Gedächtnis der Menschheit lebendig geblieben. Kaum eine andere Entschuldigung hat es ihrerseits inzwischen zu einem Denkmal gebracht, das an sie erinnert. ——
Wirkliche Schulderkenntnis, wahrhaftige Vergebungsbitten, echte Verzeihung gehören zweifellos zu den wesentlichen und kostbarsten Erfahrungen des Lebens.
Wer es je erlebt hat, dass sein Leid über das eigene Versagen, seine Reue angesichts begangener Fehler zu einem Wieder-in-die-Augen-Schauen-Können führten, dass man sich die Hand reichen, dass man sich in den Arm nehmen konnte, dass man den Schlaf auf dem Kissen neben dem eigenen tatsächlich beruhigt und beruhigend als vertrauten Ausdruck des Seelenfriedens nach der Vergebung erleben konnte, in dem kein Rest von Zweifel, Vorwurf, Bitterkeit mehr waren – der weiß, wie himmlisch das Bewusstsein ist: Ich bin entschuldigt worden; meine Schuld ist von mir genommen und vergangen! …….
Ich kann es nicht oft genug sagen und rühmen, dass das für mich im Spiegel menschlicher Erfahrungen und im Verhältnis zu Gott das - nächst dem Leben selbst - wunderbarste Geschenk der Welt ist: Zu begreifen, dass wir als Christen von der Vergebung der Sünden leben!
„Das Alte ist vergangen, siehe Neues ist geworden!“ (2.Kor517b) ——
Wenn das aber eine so befreiende, beflügelnde Erfahrung ist, dass Missverständnis und Missverhältnis und Missetat nicht ewig schmerzen müssen, sondern aufgehoben und aufgelöst werden können … dann wäre diese Erfahrung doch wirklich jedem zu wünschen! Jeder sollte es erleben, wie wohl einem wird, wenn die Vergangenheit vergeht und sich die Zukunft vor uns frei auftut.
Von diesem wohlwollenden Wunsch ist die christliche Mission getragen und getrieben. Sie will anderen die gleiche, rettende, verwandelnde Freude ermöglichen, die ein Christ, der sich als Sünder erkennt in der göttlichen Vergebung findet.
Solches Aufatmen ist wirklich jedem zu gönnen!
… Bloß: Wie steht es dann mit Gott? ……. – Ja doch! Wie steht es mit Gott?
Sollte der nicht auch die Freude der Vergebung erfahren dürfen?
– Die braucht Gott doch nicht. So antwortet in den meisten von uns blitzschnell der kleine Großinquisitor, der die nichtvorgesehene Gedankenfreiheit abschneidet.
– Gott vergibt, aber Ihm wird nicht vergeben, spult der misstrauische alte Zensor einen Grundsatz herunter, der sich aus den dreieinhalb Absätzen des Katechismus ergibt, die er kennt und neben denen alle anderen Vorstellungen über Gott Unordnung sein sollen. —
… Aber stimmt das wirklich? Ist es so einfach, das wir behaupten dürften, Gott komme bei der Vergebung immer nur die Rolle des Gewährenden und nie die des Bittenden zu?
Bei uns ist es jedenfalls undenkbar, dass Vergebung eine Einbahnstraße sei:
Alle Mächtigen und Befehlshaber, alle Autoritäten und Lehrer, alle Eltern und Großen, die ihrerseits zwar vielleicht nachsichtig sein mögen, aber für die es unvorstellbar wäre, selber Fehler einzugestehen und um Verzeihung zu bitten, … alle solche eingebildeten Unfehlbaren sind und bleiben lächerliche, dumme, traurige Täuscher und Lügner.
Niemanden gibt’s, der vergeben könnte, der nicht auch selbst Vergebung nötig hätte!
Und gerade wo man am liebsten wirklich keine Fehler machte, gerade wo man am meisten bemüht und verantwortlich ist, gerecht und unanfechtbar zu sein … gerade dort wird man selbst sich oft am ehesten in der Rolle dessen finden, der Abbitte leisten muss.
Mir ist es allerspätestens seit ich selber Vater bin unmissverständlich klar geworden, dass ich meinen Kindern wohl nicht als Beispiel der Vergebungsbereitschaft, sondern der Vergebungsbedürftigkeit in Erinnerung bleiben werde.
Weil ich so völlig versage als Vater? – Hoffentlich nicht. Aber weil so viele Vaterwünsche und Vaterhilfe, weil so vieles vom Besten, das ein Vater meint und will, viel größer ist, als was die Kinder brauchen können: Zu viel Rat und zu viel Hilfe, zu viel Erklärung und zu viel Mitfreude vermitteln Kindern ja oft doch nur die Ahnung, dass Große und Kleine ganz verschiedene Maßstäbe haben, die sich nicht ergänzen, sondern verheddern.
Kann man von dort aus in einem hinkenden Vergleich nun aber aus den Missverständnissen in unseren Familien auf den rechten Vater über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden (Eph315) schließen?
Kann man wirklich – … zögerlich, da der Gedanke nun so fremd und eigenartig ist … –, kann man wirklich sagen: Weil Gottes Gerechtigkeit, weil Seine Vorstellungen von dem, was Menschenkindern wohltut, so viel größer sind als die menschlichen Möglichkeiten, sie zu fassen … darum erlebt auch Gott es, wie sich ein Vater fühlt, der sich für beste Absichten bei seinen Kindern entschuldigen muss?
Wäre das möglich, dass Gott seine Menschen um Verzeihung bittet, weil Sein guter Rat, Sein heilsames Geschenk der Gerechtigkeit deren Empfänger überfordern? — — — —
Oder wie kennen wir Gott?
Kennen wir Ihn umgekehrt: Als bitterbösen Rächer, der die undankbaren Geschöpfe verfolgt und verklagt, weil sie zu schwach, zu unbeholfen und zu ungeeignet sind, um Seine guten Absichten zu erkennen, Seine schönen Gaben anzuwenden, Seine wohlwollenden Hilfestellungen gelehrig aufzugreifen?
Schmollt Gott und schmiedet Er Pläne, weil die Erben Seiner Verheißung sich der großen Vorzüge nicht als würdig erweisen? Schmeißt Gott die Brocken hin, weil die Menschheit Seiner ungeheuren Güte nicht entsprechen kann?
……. Nun, Anzeichen solcher Beleidigung, solcher Verzweiflung Gottes, Anzeichen solcher Kurzschlüsse und Abbrüche gibt es wohl: Die Sintflut und die grimmigen Botschaften, die ein Amos und ein Jeremia auszurichten hatten, zeigen die Reiz- und Verletzbarkeit Gottes genau-so wie der Zorn Jesu über den nutzlosen Feigenbaum (vgl.Matth2119) und die erbarmungslos strengen moralischen Urteile, die Paulus in seinen Gemeinden vollstrecken ließ (vgl.1.Kor513). —
Doch ist das das gesamte Bild? – Das Bild eines Gottes, der die zerstört, die nicht wohl geraten, weil ihnen einfach misslingt, was Er von ihnen Schönes und Gutes verlangt?
Nein, Nein und dreimal Nein!
Berichtet uns die Bibel denn nicht unablässig von jenem Gott, der den begriffsstutzigen, den hilflosen, den durch die Sünde unbegabt gewordenen Menschen hilft, zurecht zu kommen?!
Der sie aus ihrer Schuld durch Seine Gottesdienste und die Opfer, die Er ermöglicht, immer wieder herausführt?!
Der sie immer wieder anfangen lässt und ihnen in den schmerzlichen Folgen ihres Ungenügens und Versagens zur Seite steht?!
Berichtet uns die Bibel nicht Seite für Seite, von Generation zu Generation von jenem Gott, der Sein Einfühlungsvermögen wieder und wieder aufbietet, um Seinen Kindern leidenschaftlich ein guter, ein gnädiger, ein verstehender, verzeihender, verzweifelnder, aber noch weit mehr unbeirrt das Gespräch suchender Vater zu sein … diesen halsstarrigen, ewig pubertären Kindern Israel, diesen unsicheren, hochfahrenden Heidenkindern, die nicht aus Israel, sondern aus der Taufe in die Gottesfamilie kommen?!
Ist die Bibel also nicht eigentlich auch das große Tagebuch eines Lehrers und Ratgebers, eines Freundes und Gönners, der stets auf’s Neue merkt, dass Seine Schützlinge sich schwer tun mit dem Lernstoff, dass sie noch immer nichts Genaues mit Seinen Winken anfangen können, dass Er noch immer nicht das richtige Wort gefunden hat, das ihnen ein Licht aufsteckt?!
Ist die Bibel also nicht eigentlich fantastisch voll von neuen Anläufen Gottes, Sich besser verständlich und Seinen Menschen das Vertrauen und Einlenken endlich möglich zu machen?!
Ist die Bibel darum also nicht als das Buch der Versöhnung zu sehen – der Versöhnung, die Gott mehr als alles andere will, … um die Er bittet, … die Er uns Menschen anzu-nehmen bittet?!!!
Und ist nicht – wie so oft – bei Jesaja der Höhepunkt dieses anrührenden Geschehens zu finden? Ist hier nicht das hohe Lied der Entschuldigungen Gottes in unvergänglicher Weise angestimmt? —
„Einen kleinen Augenblick“ nur habe ich gegrollt:
So wirbt und lockt der bekümmerte Vater im Himmel sein scheues, stures Kind.
Nur eben einmal kurz, im Handumdrehen musste ich mein „Angesicht ein wenig vor dir verbergen“, … aber Du weißt es doch selbst: Nachdem ich tief durch geatmet habe und der Ärger verraucht ist, gilt wie zu allen Zeiten „die ewige Gnade“ zwischen uns.
… Nun komm schon, nimm es doch nicht übel, leg’s doch nicht so falsch aus!
Mach doch kein Theater draus, wenn ich einmal die Geduld verliere, sondern erinnere Dich, wie ich schon ganz am Anfang, ein für alle Mal, zur Zeit Noahs geschworen habe, dass der Zorn nie die Oberhand gewinnen und dass „Schluss“ kein letztes Wort zwischen uns sein wird!
…….
Es könnte, ja es müsste einem Menschen eigentlich heiß und kalt den Rücken herunterlaufen, wenn wir diesen Ton, diese Gesten, dieses Bild ernsthaft an unser Gemüt und Herz dringen ließen: Der da so herzerweichend bittet, der sich da so reu- und demütig zeigt, so zart und so kindgemäß das verstörte Vertrauen wieder und wieder beschwört und befestigt … das ist kein Mensch – obschon eine so bescheidene und freimütige Bereitschaft zur Selbstkritik und zur Nennung eigener Fehler bei jedem Erwachsenen schon eine ergreifende Denkwürdigkeit wäre! …. doch ist es eben kein Mensch, der hier die Größe des Abbittens beweist, sondern es ist Gott selbst!!!
Hörst Du das – stolze Welt der Unfehlbaren, die lieber lügen, Ausflüchte nutzen und sich auf Biegen und Brechen immer nur ihr Recht zurecht legen und angeblich niemals Unrecht haben?
Hörst Du das – Du Welt der Uneinsichtigen und Selbstgewissen, die nur bei anderen, nie aber bei sich selbst den Fehler im System suchen?
Hörst Du das – Du Welt der unmenschlichen Perfektion und Anmaßung, ohne Fehl und Tadel? ……. Siehst Du’s, fühlst Du’s?
Dein Gott streckt dir die Hände hin und bittet dich, Ihn nicht abzuweisen, sondern Seine Worte und Sein Bitten, Seine Gegenwart und Seinen Trost wieder zuzulassen!!!
Dein Gott tut, was nur Er in solcher letzten, ungeminderten Konsequenz tut: Er nimmt die Schuld auf Sich!!!
Ist das nicht zum Staunen, zum Kopfschütteln und Danken? Ist das nicht unerhört und ungeheuerlich?
Gott geht in die Knie. Gott lässt sich als Schuldiger betrachten. Gott bittet Dich um Versöhnung!
– Und Du hörst nicht.
Eiskalt, steinhart, felsenfest willst Du Dich nicht anstecken lassen vom Jammer Gottes.
… Wer weiß nämlich, ob man nicht selbst am Ende noch zum Schuldgeständnis und zur Vergebungsbitte gebracht würde, wenn man sich drauf einließe, Gott ernst zu nehmen und die Schuld, die Er als Seine vorweist.
Felsenfest, steinhart, eiskalt verdrängen wir Menschen die Leidens-, Schuld- und Entschuldigungsgeschichte mit unserem Gott.
– Aber das größte aller Worte, die Krönung aller Versöhnung gilt auch uns:
Es sollen wohl steinharte Berge weichen und felsenfeste Hügel hinfallen – Gottes Gnade wird doch nicht weichen und der Bund Seines Friedens fällt nicht hin.
Nein: Die Versöhnung mit Gott wird das letzte Wort haben und die Gnade wird ewig sein.
Amen!
Okuli 23.03.2014 Stadtkirche 1.Könige 19, 1- 8 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Okuli - 23.III.2014
1.Könige 19, 1-8
Liebe Gemeinde!
Das ist Elias Gethsemane. Seine schwächste Stunde am tiefsten Punkt. ——
Dabei hat er doch gesiegt gegen die Baalspriester und ihre schamlose Vergötzung des Wachstums: Nicht nur das Reich Israel, sondern den ganzen Kulturkreis, der zwischen dem Taurusgebirge, dem Euphrat und dem Roten Meer liegt, den gesamten sogenannten „fruchtbaren Halbmond“ hat die Baalsreligion ja durchdrungen; überall wird der Herr des Donners und des Regens, der Herr des Ackers und der Frucht ekstatisch und begehrlich gefeiert.
Seine vermeintlich unbegrenzte Kraft, die überall das Begatten und Keimen vorantreibt und Saaten und Erträge steigert, steil aufwärts weisende Kurven der Zunahme erzeugt und in Wuchs und Nachwuchs schwimmen macht, versetzt die Zeitgenossen in triebhaften Rausch:
Ein Regentanz zu Ehren Baals lässt alles, was es an frenetischem Gezappel zu den Rhythmen heutigen Nachtlebens gibt, wie eine Aufwärmübung erscheinen.
Vor Elias Gethsemane-Stunde haben sich gerade eben noch vierhundertfünfzig völlig entfesselte, von Trance und Hysterie hypnotisch gleichgeschaltete Jünger Baals vor dem Volk von Israel und dessen König Ahab verausgabt, um Baals Kraft als Segen- und Regenspender nach einer dreijährigen Dürre und Hungersnot theatralisch herab zu beschwören.
Doch der vermeintlich todsichere Wachstumsgarant hat versagt.
Statt des spektakulären Großeinsatzes hat ein lächerlicher Außenseiter, der bloß den Namen des Gottes der Freiheit und nicht den Herrn der Natur anrief, die Not einer verschmachtenden Welt in das richtige Ohr geschrien.
Elias Vertrauen auf Israels Gott, der anders als alle Vegetations- und Kraftgottheiten ist, hat also gesiegt über die Magie dessen, der immer mehr aus allem macht.
Auf diese verkürzte und unserer Gegenwart geschuldete Formel könnte man es ja tatsächlich bringen, was da auf dem Karmelgebirge unter den Augen des Volkes für eine Entscheidung auszutragen war:
„Anders“ oder „mehr“ …. was rettet?
— Die Vielheit, für die Baal und sein Überfluss und seine begleitenden weiblichen Göttinnen, die Aschera und ihresgleichen sinnbildlich stehen?
— Oder die Einheit, die streng und ausschließlich, ohne Ventil und ohne Kompromiss den einzigen, alleinigen Herrn des Bundes vom Sinai auszeichnet?
… Seine Einheit, die Verzicht bedeutet, wenn man bedenkt, dass Er keine Brüste vorweist, die das Kind im Menschen ansprechen, dass Er sich keine pikanten Göttervatergeschichten im Harem der Elemente leistet, dass Er nicht zeugt und selbst sich nicht vermehrt, dass Er sein Volk zunächst nicht in den Luxus, sondern in die Wüste geführt hat, dass Er trotz allen Segens den Seinen nicht vornehmlich Reichtum, sondern Gerechtigkeit verheißt – dieser Gott der Einheit, der so wenig die urwüchsigen Instinkte anspricht: Hilft der? ———
… Elia hat in Seinem Namen gesiegt.
Der konzentrierte Gott Israels hat den vielseitigen Götzendienst der innerweltlichen Kräfte geschlagen! … Aber dieser Sieg des Gottes, dem er dient, kostet den Elia fast das Leben. Nicht etwa Triumph, sondern völlige Leere folgt ja dem Gottesurteil auf dem Karmel.
Denn der Prophet des unsichtbaren, des nur im Wort zu bewegenden und nur durch das Wort schöpferischen Gottes droht an der nicht-sinnlichen, rein geistigen Konzentration des wahren Gottes zu zerbrechen.
Nach dem bacchantischen – wenngleich ergebnislosen – Austoben auf Seiten der Baalsmeute und dem furchtbaren Gewaltausbruch, zu dem der Erfolg seines auf’s Äußerte verdichteten Gebetes Elia hinriss, als er eigenhändig die erschöpften und bloßgestellten Baalspriester schlachtete … nach diesem schrecklichen Doppelausbruch der beiden Haupttriebe des Menschen – Vitalität und Aggression – verfolgen wir Elia auf dem Weg, der der Weg seines Gottes ist: Das ist der Weg fort von den aufgestauten Mächten, die den Menschen zwischen den Leidenschaften des Lebens und des Todes zerreißen.
Der Weg dorthin, wo man von Baal nicht immer mehr erwartet, sondern in die äußerste Konzentration, in die dünne Luft der bilderlosen, handlungsarmen Geistigkeit gerät.
Der Urort dieses Verzichts auf naturgegebenen und kultisch gefeierten Reichtum, der Urort der seelischen Bescheidenheit, die sich mit dem Unsichtbaren und Unberührbaren begnügen muss, ist aber eben die Wüste:
In ihr, in der nichts wuchert, in der keine Gestalt und keine Bewegung Aufmerksamkeit an sich ziehen, in der keine Gewalt und kein Einfluss wirken als allein die Sonne, die man nicht anblicken darf und der Wind, den man nicht anschauen kann, in dieser völligen Askese für den Augenmenschen und die anderen unersättlichen Aufnahmeorgane - Mund und Magen -, in dieser grenzenlos weiten Landschaft, die doch nirgends hinführt, wenn nicht in das Innere … da geht Elia der Begegnung entgegen, die keine Begegnung sein wird, dem Augenblick, in dem seine Augen nichts erblicken, dem Ziel, das sich entfernt, je näher man ihm kommt.
Baal, der in allen prallen Formen des Lebens erscheint und fasziniert, ist hier nicht zuhause.
Hier, wo kein Geschöpf sich zeigt, ist das reine Reich des Gedankens an den Schöpfer, der Ort, an dem Er sich nicht sehen, aber hören und in Seiner schieren Unfassbarkeit anbeten lassen will. ——
So weit, so gut.
Das Hohelied auf die Wüste klingt als werbe „Biblisch Reisen“ um Individualtouristen mit spirituellem Selbsterfahrungsdrang. Doch ein spannender Ort für Wohlstandsmenschen, die zur Abwechslung das einfache Leben suchen, ist die verlassene Einsamkeit nicht.
Zwar gilt es nach der Hoffnungspredigt für die Riesenstädte, die vergangene Woche hier gehalten wurde, unbedingt daran zu erinnern, dass unser christlicher Glaube – so sehr er in den Städten der Antike Wurzeln schlug – seine verborgensten Kräfte aus den Wüsten zog:
Dort, wo Israel unter Mose vierzig Jahre geläutert wurde, wo der Täufer die Umkehr für das nahende Reich predigte und Jesus sich ins Gebet vertiefte (Lk516), dorthin – genauer: auf die arabische Halbinsel – zog es auch Paulus, um in der Stille sein Leben nach seiner Bekehrung zu ordnen (Gal117), …womöglich gar für Jahre (vgl.Gal21); dort überwinterte das Christentum vor seinen großen Durchbrüchen bei den ägyptischen Einsiedlern und Mönchen in der Natronwüste, die auch die ersten waren, die dank ihrer Wüstenerfahrungen der christlichen Seelsorge überhaupt Richtung und Gestalt gaben; und selbst nach der Reformationszeit – als über die Hugenotten die blutige Verfolgung hereinbrach – blieb als letzter Ort der Rettung und des Gottesdienstes oft nur die jenseits aller Zivilisation liegende Einöde, in der die französischen Protestanten ihre heimlichen Églises du désert – ihre „Wüstenkirchen“ – in der Wildnis aufsuchten.
Die Wüste ist also ohne Frage ein zentraler Ort und Ursprung, eine verborgene Schatzkammer unseres Glaubens. Doch obwohl sie so zu unserem Christentum gehört, bedroht sie es auch:
Denn wer sich Gott in der Wüste stellt, stellt sich Ihm ohne Ablenkungen, ohne Drumherum, ohne Zeremoniell und ohne die festen und mannigfachen Manöver, mit denen wir IHN sonst suchen, … aber auch filtern, ansprechen, … aber auch übertönen.
Wer sich in der Wüste, dem nackten Ort des Ausgeliefertseins vor Gott stellt, der hat keine Religion und keine Kultur, keine Regentänze, keine Rituale, keine Gewohnheiten, keine Gruppenerfahrungen, keine Gemeinde mehr, die ihn verpacken, schonen und vergewissern könnten.
Wer sich in der Wüste Gott stellt, steht wie ein Kind da, wie Adam am Anfang, … wie der letzte der Menschen.
Und an Elia können wir sehen, dass das Sterben heißt.
Denn Elia hat alles andere, was man für und mit und trotz und gegen Gott tun kann, hinter sich:
Er hat für Gott gelebt und gelitten, hat für Ihn gekämpft und geschwiegen; Elia hat während der Dürre und Hungersnot Zeichen und Wunder Gottes erfahren, hat täglich vom Tisch des HERRN gegessen und endlich so sehr mit Gott gerungen, dass er Ihn schließlich überwältigen und durch Ihn ein totes Kind zum Leben erwecken konnte.
Elia hat in Gottes Namen gesiegt und ist in Gottes Namen furchtbar schuldig geworden. ——
Und nun – nach allen diesen Gottesgeschichten unter Heiligem Volk und Baalsleuten –, nun nach diesem Menschenleben voller Glauben und Unglauben, voller Offenbarung und Leugnung, voller Religion und Anti-Religion …. nun läuft Elia in die Wüste. In’s Leere. In die tonlose Stille. In das blanke Nichts, nachdem das Viele und Vielfältige, das Wachstum und die Fruchtbarkeit, der Fress- und Lustkult Baals vorüber und erledigt sind. —
So mag es manchen Menschen gegangen sein, die in den Tagen der großen Reformbewegungen des Mittelalters in ein Zisterzienser-Kloster eintraten, gewöhnt an die bunte, plastisch anschauliche Welt der romanischen und gotischen Bischofs- und Pfarrkirchen: …Graue Fenster, schmucklos in den Himmel strebender Stein, Licht und Leere?!
So geht es bis zum heutigen Tage Menschen, die in eine echt evangelische, gar eine reformierte Kirche wie die unsrige hineingeraten: … Weiße Wände, tiefe Stille, auf den unsichtbaren Mittelpunkt hin gebündelte und versammelte Achsen und Zeichen des klaren Raumes. Alles fehlt, was den Sehnerv, die Schaulust, den Kitzel des Erhabenen und des Hübschen bedient.
Und so erinnert uns unsere schmucklose Gottesdienststätte an die Wüste, an das Gethsemane des großen, heftigen, starken, siegreichen, besiegten Propheten Elia. …….
Was aber widerfuhr dem in seiner restlosen Erschöpfung – als des Lebens und des Glaubens Höhe und Tiefe ausgemessen waren?
Als er sich unter einen Wachholder warf – in Wahrheit wohl einen Ginster … so oder so eine Dornenkrone über dem sterbensmatten Schmerzensmann.
– Elia erfuhr, dass wir tun und erreichen können, erleiden und erzwingen, was immer nur möglich sein mag …. aber am Ende, in der deckungslosen Auslieferung an Gott merken wir, dass Gott uns nicht braucht.
Gott braucht unsere Anstrengung nicht und auch nicht unser Scheitern. Er braucht unsere Blüte und Frucht nicht und unseren Durst, unser Welken ebenso wenig. Gott braucht uns nicht als Seine Helden und auch nicht als Seine Schurken. Er braucht unsere ganze Leidenschaft nicht und nicht unsere Schönheit, noch weniger unsere Hässlichkeit oder unser Böses.
Gott ist so klar – wir so verworren.
Gott ist so hell – wir sind so halb.
Gott ist so überaus einfach – wir sind so elend rätselhaft, widersprüchlich, unstimmig in uns selbst gefangen und zerrissen zwischen Wünschen und Taten, Worten und Gewohnheiten, Kraft und Angst.
Können wir IHM etwa dienen?
Können wir IHM folgen?
Können wir mit diesem Gott leben?
Elia kann es nicht mehr. Seine leere, matte Seele, durch die alles einmal hindurchgerauscht ist, will nur noch, dass es vorüber sei mit dem ermüdenden Dasein. Er hat alles eingesetzt, und kann doch selber gar nichts daraus machen, denn er merkt es: Ich bin nicht besser als alle meiner Art. Gott kann mich im Ernst nicht gebrauchen. ——
In diesem Gethsemane der Sinnlosigkeit endet der Glaubens- und Gerechtigkeitsweg des größten Gottesmannes nach Mose.
Das ist die Wüste seiner Seele.
Die Wüste unserer Seele.
Der Ort der ungeschönten Wahrheit über uns Menschen im hellsten Licht. ———
Und nun?
— Nun zeigt sich unverhüllt auch das Wesen des wahren, alleinigen, unbegreiflichen Gottes.
Er braucht uns tatsächlich nicht: Wie Er mit einem Elia vierhundertfünfzig Baalspriester und ihren Reigen des „Gib uns mehr! Mache mehr!“ besiegt hat, so könnte,…so wird Er alles auch ganz ohne einen einzigen Helfer und Verbündeten bestehen und überwinden und vollenden.
Weil Er aber tatsächlich keinen Einzigen von uns an sich braucht, darum ist die Wahrheit über Gott und uns um so Vieles ehrfurchtgebietender und beschämend beglückend:
Er braucht uns nicht, ……. Er will uns nur!
Wir können Ihm nichts sein – und Er will uns ALLES sein.
Elia meinte ja nach allen seinen Erfahrungen, er kleiner Mensch könne mit Ihm – dem großen Gott – nicht mehr leben.
Und erfährt durch den Engel der Wüste, dass der große Gott nichts anderes will als sein kleines Menschenleben, das Brot und Wasser, Trost und Schatten, Ziele und Verheißung braucht.
Nichts anderes will Gott, als dass wir leben.
Keinen unsrer Kämpfe und Triumphe braucht Er, keine unserer Hingaben, keins unserer Opfer.
Er will nur, dass wir aufstehen und uns von Ihm stärken lassen und auf Ihn zugehen.
Bei Tag und Nacht, in Licht und Schatten.
Dass wir leben … von IHM und durch IHN und zu IHM (vgl.Rö1136).
Das will der einzige Gott, der allein wahre Gott vom armen, ehrlichen, nackten, müden Menschen.
So stärkt Er Elia in seinem Gethsemane und uns in unserer Wüste:
Stirb nicht! Ich bin Dein Leben, sagt Er.
Amen.
Reminiscere 16.03.2014 Stadtkirche und Mutterhauskirche Hebräer 11,8-10 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Mutterhauskirche Reminiscere - 16.III.2014
Hebräer 11, 8 – 10
Liebe Gemeinde!
Dass Abraham ein großer Pfadfinder der Verheißung war, das wusste bis vor Kurzem jedes Kind: Wie er aus dem Vaterhaus und der Verwandtschaft loszog und dem unbeglaubigten Ruf Gottes westwärts folgte, ist eine den amerikanischen Traum und seine Urbilder aus dem Kino vorwegnehmende biblische Grundlage unseres gemeinsamen Gedächtnisses.
Szenen mit den mühsamen, aber hoffnungsgeladenen Planwagen-Karawanen tauchen dabei vor uns auf. Siedler, die der alten Welt den Rücken gekehrt haben und um jeden Preis, durch Hunger, Not, Einsamkeit und Gefahr der unbekannten Wildnis ungebrochen dem Versprechen einer neuen Heimat in echter Freiheit folgen, ziehen am inneren Auge vorüber: Kitsch und Pathos und nachkolorierte Prairie-Panoramen, durch die hinweg eine fast heilsgeschichtliche Sehnsucht zum Ziel findet. Der überlange Höhepunkt der Filmgattung – „Das war der Wilde Westen“ – gipfelt denn auch in Versen auf die unvergleichlich ergreifende „Greensleeves“-Melodie, die immer wieder als die heimliche Nationalhymne Amerikas bezeichnet werden:
„Komm mit, komm mit in ein herrlich’ Land / für ein off‘nes Herz, eine feste Hand,
komm mit, komm mit in ein herrlich’ Land, / und ich bau dir ein Haus auf der Wiese.“
Spätestens bei diesem Lied „I’ll build you a home in the meadow“ endet allerdings die Verwandtschaft zwischen dem biblischen Auswanderer und Siedler, den der Hebräerbrief uns heute bezeugt, und den Settlern und Goldgräbern auf ihrem weiten Weg über den Oregon trail. Denn die filmreife kleine Farm, die den amerikanischen Abenteurern irgendwo nach allen Strapazen mit jungen Obstgärten und offenen Viehweiden und einem rührenden Privatfriedhof voller Kindergräber winkt, ist nicht das Ziel des Vaters aller Glaubenden.
Auch nicht ein Hirtenlager mit weitgespannten Zelten und dem aufwendigen Zeremoniell eines Nomadenfürsten, der unterm Sternenhimmel Hof hält.
Sondern – mit den Worten des Hebräerbriefes – „die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist“.
Das ist allerdings einigermaßen überraschend nach allem, was wir aus dem 1.Buch Mose wissen, in dem Abraham nicht nur ein langes Leben hindurch vagabundieren muss, sondern schließlich nicht mehr als ein paar Hand- und Fußbreit bäuerlicher Erde erwirbt, um darin den tiefen Schlaf des Todes zu tun. —
Der Hebräerbrief dagegen spürt hinter diesem schicksalhaften Weg eines Einzelnen, der sich vielleicht sogar als Auswanderersaga nach Art Jürnjakob Swehns, des Amerikafahrers hätte verfilmen lassen, einer anderen Dimension nach.
Es geht nicht mehr nur um Abraham und die Seinen, sondern ausdrücklich um große Politik:
Denn dass das Wort „Polis“ hinter der sehnsüchtig erwarteten „Stadt“ steht, wissen viele von uns, die ansonsten kaum Griechisch verstehen. Abraham und seine Nachfahren sind also buchstäblich „politische“ Zielsucher, die nicht nur ein Fleckchen Erde für sich und ihre Familie erhoffen, sondern eine Zivilisation entdecken wollen, deren Begründer und Gestalter Gott sein wird. ——
Dieser seit Abraham gesuchte Lebensort und diese seit Abraham erhoffte Lebensart, die Gott eröffnen und einrichten wird, sind nun aber nicht – wie wir instinktiv denken mögen – ländliche Idyllen nach Art einer Laubenpieperkolonie, die dem Paradies nachempfunden ist, wo jeder am Busen der Natur in Unschuld und Harmonie Milch und Honig als Selbstversorger baut und saugt.
… Das Heil soll nämlich ja ausdrücklich nicht auf dem Land liegen, sondern in einer Stadt zu finden sein?! ——
Eine solche Absage an die Zurück-zur-Romantik-Bewegungen der Sinnsucher, ist irritierend … jedenfalls für mich, der ich nicht umsonst den Namen jenes Grantlers und Grollers trage, der unter seiner Kürbishütte saß und voller Kulturpessimismus von dort oben herab sehen wollte, wie der Moloch Ninive an sich selbst zugrunde geht.
Doch schon damals, bei Jona rettete Gott die Ehre der seelen- und gesichtslosen Megacity:
Nicht, weil Er die riesigen Ziegelsteinwüsten, die endlosen Ausmaße des Konsums und Kommerzes, die weiten Flächen mit den immer gleichen, einförmigen Straßen und Mauern und Vororthütten für erhaltenswert hielt, sondern – wie Er es Jona ausdrücklich als Sein letztes Wort entgegenruft – weil Er die Menschenmassen darin voller Rührung und Liebe betrachtet: „Mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertundzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch die vielen Tiere?“ (Jona 411) —
Gott ist also der Retter des ansonsten hoffnungslosen Lebensmodells der Menschenmassenstadt.
Und diese wahrhaftig politische Botschaft – dass Gottes Gnade nicht nur für ein Paar Einsiedler oder eine abgeschiedene Sekte in den Felsenhöhlen der Wüste Juda oder an den Salzseen des Staates Utah gilt, sondern für die verwirrende Ansammlung der Verschiedenen, die wir eine „Stadt“ nennen – diese wahrhaftig politische Botschaft ist nach dem Hebräerbrief bereits der Beginn aller Verheißungen:
Gott plant und baut ein Gemeinwesen, eine Polis, eine Weltstadt, die dem Glauben und dem Streben Seiner Treuen überhaupt erst Sinn und Ziel gibt!
Wer immer also zu den Kindern Abrahams, des treu Glaubenden gehören will, muss sich darauf einlassen, dass es große, allergrößte Erwartungen sind, die er von diesem Vater erbt und mit ihm teilen wird: Nicht die Zuflucht in den Hütten und Zelten der Gerechten, die abwarten, bis der Zorn vorübergehe (vgl.Jes2620), sondern eine auf Dauer gründende Gesellschaft, die gebaut wird „als eine Stadt, in der man zusammenkommen soll“ (Ps1223).
Abrahamskindschaft ist also urbaner Optimismus, ist die Zuversicht, dass die Häufung von Elend und Spannung, die Reibung zwischen Reichen und Hungerleidern, der Sumpf der Halbwelt, die Unruhe des süchtig-sehnsüchtigen Asphaltdschungels, die Verdichtung von Menschenglanz und Albtraum, die von altersher eine Stadt – jede Stadt – ausmachen, nicht zum Scheitern verdammt, sondern zukunftsträchtig sind!
Da aber wird es richtig spannend, … v.a. wohl auch für uns Kaiserswerther, die wir in einer so seltsamen, paradoxen Zwitterlage daheim sind, von dörflicher Vertrautheit und landschaftlichem Reiz umgeben, eingebettet in die realitätsferne Behaglichkeit eines Freilichtmuseums der guten alten Zeiten und zugleich bedacht mit den Errungenschaften und der Kultur einer nicht ganz unbedeutenden Stadt der Moderne.
Wie viele Pfifferlinge also geben wir in unserer komfortablen, geschichtssatten, gärtengesäumten Vorstadt-Urbanität mit Flughafenanschluss für die richtigen Monsterstädte des Globus, … für die Orte, an denen zwar unser Geschäfts- und Geldverkehr sich ballt, aber keiner von uns eine Familie erziehen wollte?
–Wie viel menschenwürdige Zukunft trauen wir Jakarta und Manila, Mexiko-City und São Paulo, Chongqing und Delhi, Kairo und Lagos wohl zu?
– Wie gerne würden wir selbst wohl dauerhaft auch nur unter den 13 Millionen Menschen des Londoner Großraums leben, oder – trotz aller Attraktionen – in New York, Tokio, Moskau? …
Abraham, Isaak und Jakob jedenfalls, diese Nomadenväter des Gott- und Zukunftsvertrauens haben in ihren Zelten nicht auf den Gott der wenigen Wohlhabenden in den Elbvororten oder den Hamptons gehofft und sie lebten und starben nicht in der Zuversicht, dass Gottes gutes Ziel mit der Menschheit einmal Martha’s Vineyard oder St.Tropez, St.Moritz oder Sylt gleichen würde.
Vielmehr standen ihnen sehr klar die grimmigen Hochkulturen der Stadtstaaten in sumerischer und hethitischer, in phönizischer und babylonischer Zeit vor Augen: Die bis an die Zähne gerüsteten Städte Uruk und Akkad, später Sidon und Tyros und deren Ableger, das macht-hungrige Karthago – Orte voller Elend, Sklaverei und Gier.
Und der Apostel des Hebräerbriefes, für den Abraham der Kronzeuge der Hoffnung auf den Gott der Städte war, kannte jene unglaubliche Metropole am Tiber aus eigener Anschauung, die damals mit Waffengewalt den Raum des europäischen und vorderorientalischen Mittelmeeres beherrschte und deren Name bis heute eine Weltkirche bezeichnet: Rom, … urbi et orbi die Mutter und das Muster einer weltweiten Zivilisation aus den Quellen einer Stadt.
Man wird darum davon ausgehen dürfen, dass der Hebräerapostel keineswegs von Rom fasziniert war, sondern wie alle anderen Zeugen des Neuen Testaments darin eher das neue Babylon, die große, grausame Hure der nackten Machtphantasien sah: Zumal seine seelische Hauptstadt – die heilige Stadt Jerusalem – erkennbar von Rom bedroht wurde und innerhalb eines Menschenalters auch zerstört werden sollte.
In diesem Widerspruch – einerseits die Unheilsmacht der Weltstadt lebensbedrohlich zu spüren und andererseits dennoch an einer städtischen, will sagen: gemeinschaftlichen Heilshoffnung festzuhalten – in diesem Widerspruch begegnen wir der Herausforderung und der Wahrheit des biblischen Glaubens seit Abraham:
Wir sind berufen, trotz aller Trostlosigkeit und Gefahr, die die Menschheit lähmen, daran festzuhalten, dass Gott keine kleinen, sondern riesige Pläne und Zusagen hat!
So unüberschaubar der Horizont der Slums und Ghettos, der wuchernden Straßennetze, der pilzartig emporschießenden Massenquartiere und der festungsähnlich abgeriegelten Viertel des Reichtums weltweit auch ist: Gottes Weg ist nicht der Rückzug von den Lebensorten der Menschen. Im Gegenteil: Gott will sie erreichen!
Darum ist die Landkarte des Glaubens – bei aller Notwendigkeit der inneren Einkehr in der Stille und des Verlassens von Lärm und Lust – trotz allem eine Karte der großen Zentren: Ninive und Babylon, Alexandrien und Athen, Korinth und Rom, Augsburg, Straßburg, Genf, Leipzig – lauter Kreuzungen, an denen Gott folgenreiche Begegnungen zwischen Seinen Boten und der damals zeitgenössischen Kultur herbeigeführt hat.
Und daher bleibt gewiss: Wir alle werden das himmlische Jerusalem – also das große, versprochene Menschenleben in Freiheit, in Fröhlichkeit und Fülle – niemals ohne unsere Geschwister aus Kalkutta und Johannesburg, aus Shanghai und Karatschi und Seoul betreten.
Doch nicht die zunehmende Bevölkerungsdichte auf Erden, in der bald 3/5 der Menschheit keine Dörfler mehr sein werden, macht uns dabei zu Nachbarn, sondern Gottes Weltplan.
Wer das aber begreift, der kann jederzeit nach Aufgaben im Stadtbauamt des Himmels fragen. Denn es gibt immer und überall zu tun, wo Gott für Seine Menschenkinder Wohnungen und Wege baut, wo Er für ihr leibliches und seelisches Wohlergehen sorgt, Schulen und Hospitäler eröffnet, um sie an Geist und Gliedern zu stärken, Gärten und Gotteshäuser für sie anlegt, damit sie den Lebendigen und Seine Gegenwart genießen und feiern können.
Es gibt immer und überall zu tun in der manchmal völlig unbekannten kleinen Weltverbesserungsagentur, bei der die anonymen Christen aller Länder gemeinsam oder verstreut arbeiten.
Es gibt immer und überall zu tun, wo die unverdrossenen Optimisten der Weltbank „Abraham & Söhne“ Kredit für die Schwachen aufbringen, wo sie in der einzigartigen Währung des Vertrauens die Unternehmungen von Menschenfreunden belohnen und wo man Hoffnung anlegen, wo man sie verzinsen, ja sogar vererben kann, … Hoffnung, die noch von keiner Krise der letzten dreieinhalb Jahrtausende hat entwertet werden können.
Das ist der unglaubliche Schatz, den die Nachkommen des Glaubenswanderers von ihrem Vorbild und Vorgänger überkommen haben: Sie gehen mitten in dieser unüberschaubaren Welt getrost einem Ziel entgegen. Denn wir wissen: Wie fremd uns Orte und Sitten, Spielstätte und Handlung unseres eigenen Lebens auf der Weltbühne auch sein mögen – überall in dieser befremdlichen, unwirtlichen, einschüchternden Wirklichkeit arbeitet Gott, der Gründer und Baumeister - der „Techniker und Macher“ wie es im Hebräerbrief wörtlich heißt - unumkehrbar und unermüdlich am Fundament und an den Schauplätzen gesegneten Lebens.
Überall im Tosen und Grauen des sich wandelnden Globus der Riesenstädte baut Gott für uns zwar unsichtbar – aber ebenso auch unaufhaltsam! – mit an Seinem Reich.
Darum sollten wir der Stadt Bestes, der Welt Bestes suchen (vgl.Jer297) mit aller Zuversicht des Glaubens und allen Taten unserer Hände, mit unseren Gebeten und unserer Gerechtigkeit.
Wir sollen mit Abraham und Isaak und Jakob Optimisten für die Welt und ihre Politik sein, Pfadfinder der Verheißung, die den festen Grund der Stadt Gottes suchen.
Und das Beste der Welt, das Beste der Stadt ist es ja schlicht, dass Gott ihr wohl will, weil Seine Kinder darin wohnen. Und wo die sind, wird auch Er zu finden sein. Immer und ewiglich!
Amen!
Estomihi, 02.03.2014, 1.Kor.13, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Einführung in das Thema des Gottesdienstes
„Von der erlösenden Kraft der Liebe" - unter dieses Thema habe ich den Gottesdienst gestellt, der vom Ablauf her anders ist als ein „normaler" Gottesdienst am Sonntag Vormittag. Vom Ablauf und auch von den Texten her, die vorgetragen werden. Eben nicht nur aus der Bibel, sondern auch aus „Grimms Märchen".
Einen Moment mal: Sie wollen uns hier Märchen erzählen?
Im Gottesdienst? Hier geht es doch um Gott! Um Gottes Wort. Um die Wahrheit!
Ganz richtig: es geht um die Wahrheit.
Dann haben Märchen nichts im Gottesdienst zu suchen. Märchen sind nämlich nicht wahr. Das sind nur erfundene Geschichten.
Kommt darauf an, was man unter „wahr" versteht.
Wenn für dich „wahr" nur das ist, was eins zu eins passiert ist, dann sind sie nicht „wahr". Aber das sind viele Geschichten in der Bibel auch nicht; zum Beispiel die Geschichte von der Arche Noah.
„Passieren" kommt von dem französischen Wort „passer", vorübergehen. Was nur passiert ist, ist nur von vorübergehender Bedeutung; heute passiert, morgen passé!
Das stimmt schon. Der Goldmedaillengewinn von ... ist nur von vorübergehender Bedeutung.
Das deutsche Wort „Wahrheit" kommt von „bewahren", und das griechische Wort „aletheia" (~ Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit), das wir auch im zuerst griechisch verfassten Neuen Testament finden, bedeutet auf seinen Wortstamm zurückgeführt „Das nicht zu vergessende", das, was wir nicht vergessen dürfen, weil es eben eine grundlegende Bedeutung für uns hat.
Interessant. So habe ich das mit der Wahrheit noch nicht gesehen. Wahr ist, was wir mit uns tragen, was in uns arbeitet, was uns im Leben helfen kann.
Und da gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen Geschichten aus der Bibel und Märchen. In beiden wird etwas bewahrt, was lohnt, erinnert und nicht vergessen zu werden.
Die Geschichte von Daniel, der sich nicht davon abbringen ließ, sich im Gebet an Gott zu wenden und der dann die Erfahrung machte, dass Gott ihn nicht im Stich ließ, als der König Darius ihn zur Strafe in die Löwengrube werfen ließ. Der erlebte: Gott schickt mir einen Engel, der mich vor den Löwen rettet.
An die Geschichte erinnere ich mich auch gut. Die habe ich schon als Kind im Kindergarten gehört. Die war spannend und hat richtig Mut gemacht.
So ist das mit vielen Märchen auch. Das mittelhochdeutsche Wort „Mär" bedeutet einfach „Botschaft". „Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch gute neue Mär", so dichtete Martin Luther. Die Weihnachtsgeschichte, wie Lukas sie aufgeschrieben hat, ist eine „große Mär". Ein Märchen ist eine kleine Botschaft, aber auch eine frohe Botschaft, sofern es gut endet. „Eventyr" heißt Märchen auf Norwegisch, „Aventuire", Abenteuer, und das Wort kommt wiederum von lateinisch adventus, Advent, das, was auf uns zukommt. Märchen erzählen vom Abenteuer Leben. Sie wollen ermutigen und Freude machen. Und das wollen auch die biblischen Geschichten. Das ist ja das Wesen des Glaubens: er möchte uns zum Leben helfen, er möchte uns froh machen.
Da ist was dran. Aber es ist schon ungewohnt - Märchen im Gottesdienst. Märchen haben halt einen schlechten Ruf - erfundene Geschichten für Kinder, oft brutal. Da werden Leute aufgefressen oder ihnen wird ein Körperteil abgehackt.
Aber, wenn ich ehrlich bin: in der Bibel gibt es ja auch brutale Geschichten, und unter uns Menschen geht es immer wieder sehr brutal zu. Keine Nachrichtensendung, die nicht wenigstens eine Gewalttat zu vermelden hat.
Entscheidend ist der Geist, den eine Geschichte atmet. Für mich ist klar: alles, was dem Leben dient, was ermutigt und Vertrauen stärkt, alles das ist von dem einen Geist Gottes inspiriert. Der weht uns nicht nur aus der Bibel entgegen, sondern aus vielen Büchern, und eben auch aus so manchem Märchen.
Und was ich besonders spannend finde, ist herauszufinden, wo biblische Erkenntnis und Wahrheit sich mit der Erkenntnis und Wahrheit eines Märchens oder eines anderen literarischen Werkes berühren. Darum geht es in diesem Gottesdienst.
„Von der erlösenden Kraft der Liebe". Von Erlösung und Liebe ist der Bibel ja viel die Rede. Wobei: erlösen tut ja immer Gott, eigentlich Jesus Christus. In der Passionszeit werden wir wieder daran erinnert, dass er uns durch seinen Tod am Kreuz erlöst hat. Wobei ich mich immer mal frage: warum soll ich erlöst sein, weil da einer vor 2000 Jahren am Kreuz gestorben ist? Diese Überlegungen machen mir schon Probleme.
Ich denke, da werden die Gedanken, die heute entfaltet werden, helfen können. Aber bevor wir nun die beiden Texte aus der Bibel und aus Grimms Märchen lesen, wollen wir zusammen singen
Lied EG 325,1+4+7 „Sollt ich meinem Gott nicht singen?"
Das Hohelied der Liebe (1.Kor.13)
Wenn ich die Sprachen aller Menschen spreche
und sogar die Sprache der Engel,
aber ich habe keine Liebe -
dann bin ich doch nur ein dröhnender Gong
oder eine lärmende Trommel.
Wenn ich prophetische Eingebungen habe
und alle himmlischen Geheimnisse weiß
und alle Erkenntnis besitze,
wenn ich einen so starken Glauben habe,
dass ich Berge versetzen kann,
aber ich habe keine Liebe -
dann bin ich nichts.
Und wenn ich all meinen Besitz verteile
und den Tod in den Flammen auf mich nehme,
aber ich habe keine Liebe -
dann nützt es mir nichts.
Die Liebe ist geduldig und gütig.
Die Liebe eifert nicht für den eigenen Standpunkt,
sie prahlt nicht und spielt sich nicht auf.
Die Liebe nimmt sich keine Freiheiten heraus,
sie sucht nicht den eigenen Vorteil.
Sie lässt sich nicht zum Zorn reizen
und trägt das Böse nicht nach.
Sie ist nicht schadenfroh,
wenn anderen Unrecht geschieht,
sondern freut sich mit,
wenn jemand das Rechte tut.
Die Liebe gibt nie jemand auf,
in jeder Lage vertraut und hofft sie für andere;
alles erträgt sie mit großer Geduld.
Niemals wird die Liebe vergehen.
Auch wenn alles einmal aufhört -
Glaube, Hoffnung und Liebe nicht.
Diese drei werden immer bleiben;
doch am höchsten steht die Liebe.
Die drei Raben
Es war einmal eine Mutter, die hatte drei Söhnlein, die spielten eines Sonntags unter der Kirche Karten. Und als die Predigt vorbei war, kam die Mutter nach Hause gegangen und sah, was sie getan hatten. Da fluchte sie ihren gottlosen Kindern, und alsobald wurden sie drei kohlschwarze Raben und flogen auf und davon.
Die drei Brüder hatten aber ein Schwesterlein, das sie von Herzen liebte, und es grämte sich so über ihre Verbannung, dass es keine Ruh mehr hatte und sich endlich aufmachte, sie zu suchen. Nichts nahm es mit sich auf die lange, lange Reise als ein Stühlchen, worauf es sich ruhte, wenn es zu müd‘ geworden war, und nichts aß es die ganze Zeit als wilde Äpfel und Birnen. Es konnte aber die drei Raben immer nicht finden, außer einmal waren sie über seinen Kopf weggeflogen, da hatte einer einen Ring fallen lassen. Wie es den aufhob, erkannte ihn das Schwesterchen als den Ring, den es einmal dem jüngsten Bruder geschenkt hatte.
Es ging aber immer so fort, so weit, so weit bis es an der Welt Ende kam, und es ging zur Sonne, die war aber gar zu heiß und fraß kleine Kinder. Darauf kam es zu dem Mond, der war aber gar zu kalt und auch bös, und wie er's merkte, sprach er: „Ich rieche, rieche Menschenfleisch." Da machte es sich geschwind fort und kam zu den Sternen. Die waren ihm gut und saßen alle jeder auf Stühlchen, und der Morgenstern stand auf und gab ihm ein Hinkelbeinchen. „Wenn du das Beinchen nicht hast, kannst du nicht in den Glasberg kommen, und in dem Glasberg, da sind deine Brüder."
Da nahm es das Hinkelbeinchen, wickelte es wohl in ein Tüchelchen und ging so lange fort, bis es an den Glasberg kam. Das Tor war aber verschlossen. Und wie es das Beinchen hervorholen wollte, da hatte es das Beinchen unterwegs verloren. Da wusste es sich gar nicht zu helfen, weil es gar keinen Schlüssel fand, nahm ein Messer und schnitt sich das kleine Fingerchen ab, steckte es in das Tor und schloss glücklich auf.
Da kam ihm ein Zwerglein entgegen und sagte: „Mein Kind, was suchst du hier?" - „Ich suche meine Brüder, die drei Raben." - „Die Herren Raben sind nicht zu Hause", sprach das Zwerglein, „willst du aber hierinnen warten, so tritt ein."
Und das Zwerglein brachte drei Tellerchen getragen u nd drei Becherchen, und von jedem Tellerchen aß Schwesterchen ein bisschen, und aus jedem Becherchen trank es ein Schlückchen, und in das letzte Becherchen ließ es das Ringlein fallen.
Auf einmal hörte es in der Luft ein Geschwirr und ein Geweh, da sagte das Zwerglein: „Die Herren Raben kommen heimgeflogen." Und die Raben fingen jeder an und sprachen: „Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Wer hat aus meinem Becherchen getrunken?" Wie der dritte Rabe aber seinem Becherchen auf den Grund kam, da fand er den Ring und sah wohl, dass Schwesterchen angekommen war. Da erkannten sie es am Ring, und von da an waren sie alle wieder erlöst und gingen fröhlich heim.
Musik
Predigt
Das Hohelied der Liebe, einer der bekanntesten Texte aus der Bibel. Kaum eine Trauung, in der er nicht verlesen wird. Und unzählige Brautpaare wünschen sich einen der Verse aus dem 13.Kapitel als Trauspruch. Vor allen Dingen den 8. oder den 13.Vers: „Die Liebe hört niemals auf." und „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe; aber die Liebe ist die größte unter ihnen." Wunderbare Sätze, in der Tat, die aber beim genauen Bedenken alles andere sind als eine Art geistlicher Zuckerguss oder himmlisches Sahnehäubchen. Dass etwas so Wunderbares wie die Liebe nicht einfach vom Himmel fällt, sondern dass sie mit Arbeit verbunden ist, dass sie ihren Preis hat und dass keiner daran vorbei kommt, den auch zu bezahlen, davon reden sowohl der Apostel Paulus als auch das Märchen.
Bei Paulus heißt es:
„Die Liebe ist geduldig und gütig.
Die Liebe eifert nicht für den eigenen Standpunkt,
sie prahlt nicht und spielt sich nicht auf.
Die Liebe nimmt sich keine Freiheiten heraus,
sie sucht nicht den eigenen Vorteil.
Sie lässt sich nicht zum Zorn reizen
und trägt das Böse nicht nach.
Sie ist nicht schadenfroh,
wenn anderen Unrecht geschieht,
sondern freut sich mit,
wenn jemand das Rechte tut.
Die Liebe gibt nie jemand auf,
in jeder Lage vertraut und hofft sie für andere;
alles erträgt sie mit großer Geduld."
In der Übersetzung Martin Luthers lautet der letzte Vers ganz knapp: „Sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles." Diesen Vers hat sich übrigens noch nie ein Brautpaar als Trauspruch ausgesucht. Ich denke, weil hier ziemlich schonungslos entfaltet wird, worum es bei der Liebe eigentlich geht, dass sie zwar ein Geschenk des Himmels ist, aber eben alles von einem fordert, dass Liebe Gabe und Aufgabe ist.
Es ist schon einige Jahre her, da traf ich eine gute Bekannte aus Studententagen. Wir setzten uns in ein Café, soviel Zeit musste sein, und jede erzählte, wie es ihr so in den Jahren seit damals ergangen war. Was ich von ihr zu hören bekam, war eine sehr wechselvolle Geschichte: Sie war Lehrerin an einem Gymnasium für Geschichte und Religion, mittlerweile Schulleiterin geworden; hatte früh geheiratet und 2 Kinder bekommen, die beide selbstbewusste, fröhliche Menschen seien und ihren Weg gehen würden. Als ich sie nach ihrem Mann fragte, atmete sie tief durch und sagte dann: Meine Ehe - das ist eine Geschichte für sich. Unser Eheleben - eine einzige Achterbahnfahrt. Aber jetzt sind wir in ruhigeren Gefilden; und hoffentlich bleibt es so. Und dann erzählte sie mir, dass ihre Beziehung während der Pubertät der Kinder ziemlich gelitten hätte; jeder hätte sich in seinen Beruf geflüchtet. Und dann habe ihr Mann eine andere Frau kennengelernt. Ich war drauf und dran, auszuziehen, sagte sie. Und, warum hast du es nicht getan? fragte ich. Als ich an einem Nachmittag aus der Schule kam, saß mein Mann am Esstisch. Sein Gesicht war kalkweiß. Was ist, fragte ich. Darmkrebs. Ich habe Darmkrebs. Mit einem Schlag war unser altes Leben vorbei. Und dann erzählte sie mir von drei Jahren mit OP's, Bestrahlung und Chemotherapien, von Zeit zwischen Hoffen und Bangen. Dass es eine wahnsinnige Belastung für sie war - und doch auch eine ganz wichtige Zeit, mit wichtigen Erfahrungen. Wir haben neu zueinander gefunden. Das gemeinsame Ertragen und Zueinander Stehen, das hat uns verändert und wachsen lassen. Unsere Liebe knistert nicht mehr, aber irgendwie leuchtet sie von innen. Sie ist tiefer als früher.
Ja, davon können viele erzählen: gemeinsam durchgestandene Schwierigkeiten, gemeinsames Ertragen von Krankheitszeiten, sich nicht kleinkriegen lassen von finanziellen Problemen, zueinander stehen - das alles kann eine Beziehung stärken und tiefer machen als alle Hoch-Zeiten des Lebens. Aber eine Garantie ist das nicht. Es gibt auch Menschen, deren Liebe in solchen Krisenzeiten erloschen, deren Beziehung daran zerbrochen ist. Die Liebe, mit der wir uns auf dieser Welt lieben, kann scheitern, kann misslingen; was allerdings kein Argument gegen sie sie. Sie ist trotzdem das Beste und Höchste, was uns auf dieser Welt passieren kann. Und wenn es etwas gibt, was uns hoffen lässt, dass das, was wir als leidvoll und ungerecht erfahren, auf unserer Welt zurückgedrängt und besser gemacht werden kann, dann ist es die Kraft der Liebe. Einer Liebe, die allerdings nicht alleine daherkommt, sondern von zwei Schwestern begleitet wird: dem Glauben/Vertrauen und der Hoffnung.
Davon erzählt sehr anschaulich, aber auch voller Tiefsinn das Grimmsche Märchen von den drei Raben.
Genauso wie jedes Märchen gut endet, so fängt es gewöhnlich an, dass eine Not, eine schlimme Lebenssituation geschildert wird. Auch bei unserem Märchen ist das so.
Die Not entsteht aus dem Verhalten der drei Jungen, die - statt sonntags in die Kirche zu gehen und am Gottesdienst teilzunehmen - sich vor der Kirche, wahrscheinlich auf den Kirchenstufen, zum Kartenspielen hinsetzen. Karten zu spielen galt in früheren Zeiten als Sünde; und hier wird auch noch am Sonntag und dann vor der Kirche gesündigt! Als die Mutter, die selbst im Gottesdienst, in der Messe war, aus der Kirche kommt und ihre Jungen da Karten spielen sieht, da verflucht sie ihre Kinder, die sich daraufhin in kohlschwarze Raben verwandeln und davonfliegen. Mit dem Bild der Mutter verbunden ist sicher auch die Erfahrung mit der „Mutter Kirche", die Fehlverhalten und Sünden unnachsichtig verfolgte und gerne mit dem Fegefeuer und der ewigen Verdammnis drohte, wenn ihre Gebote und Gesetze übertreten wurden. Zur Hölle mit ihnen - darauf weisen auch die schwarzen Vögel hin, die in vielen Märchen Begleiter oder Boten des Teufels oder von Hexen sind.
„Die drei Brüder hatten aber ein Schwesterlein, das sie von Herzen liebte, und es grämte sich so über ihre Verbannung, dass es keine Ruh‘ mehr hatte und sich endlich aufmachte, sie zu suchen."
Es ist die Liebe, die sich als Motor des Lebens erweist. Die Liebe, die sich nicht mit dem Ist-Zustand abfindet, die sich nicht im Jammern erschöpft, sondern die das Mädchen dazu treibt, aufzubrechen, aufzustehen. Ein Hauch von Auferstehung mitten im Leben ist immer dort zu finden, wo ein Mensch sich mit der Hölle und dem Tod, die unter den Menschen stark verbreitet sind, nicht abfindet. Dabei stehen die Chancen ziemlich schlecht: da zieht eben kein starker Held los, sondern ein „Schwesterlein", also ein Mädchen, von dem man allgemein eher hilflose Tränen erwartet als eine mutige Tat.
Doch genau dieses „schwache" Menschenkind macht sich auf den Weg, scheut keine Mühe und Not und auch keine Gefahr. Zwei Dinge nimmt sie mit: im Herzen die Hoffnung, die Brüder zu finden; und in der Hand „ein Stühlchen, worauf es sich ruhte, wenn es zu müd geworden war". Kein weiches Kissen oder eine warme Decke, nein ein eher hartes Stühlchen. Wofür mag es stehen? Ich denke, es ist Sinnbild dafür, dass das Mädchen weiß, wo sein Platz ist. Dass es weiß, wo es Halt bekommt auf der Wanderschaft des Lebens. Wo es immer wieder Kraft schöpfen kann, wenn es müde geworden ist. Das Stühlchen ist Bild für das Grundvertrauen, für den Glauben. Bild dafür, dass ich weiß, wo ich aufgehoben und zu Hause bin.
Wie gut, dass das Schwesterlein zu Beginn des Weges nicht weiß, wie lang die Reise wird. Einmal denkt es wahrscheinlich, es hätte die Brüder schon gefunden, wäre am Ziel seiner Suche, aber es bleibt ihm nur ein Ring, den einer der Raben beim Vorbeifliegen fallen lässt und den es erkennt als den Ring, den es dem jüngsten Bruder einmal geschenkt hat. Der Ring als Zeichen der innigen Verbundenheit, der unverbrüchlichen Treue. Aber diese Verbundenheit, diese Liebe wird auf eine harte Probe gestellt. „Es ging immer so fort, so weit, so weit bis es an der Welt Ende kam."
Die großen Leuchten, denen sie begegnet, sind ihr keine Hilfe. Im Gegenteil: von Sonne und Mond droht Gefahr. Es sind die kleinen Lichter, die Sterne, die sich als freundlich zugewandt und hilfreich erweisen. Und vom Morgenstern, das ist die Venus, der Stern der Liebe, übrigens auch ein Symbol für Christus - ich denke da an das Lied „Wie schön leuchtet der Morgenstern" - vom Morgenstern bekommt sie ein Hinkelbein, einen Hühnerknochen, wohl das Brustbein. Der Morgenstern sagt ihr auch, wo sie ihre Brüder finden kann: im Glasberg. „Wenn du das Beinchen nicht hast, kannst du nicht in den Glasberg kommen." Mit dem Hinkelbein, das sie sorgfältig einpackt, macht sie sich wieder voller Hoffnung auf den Weg - und kommt tatsächlich nach weiteren langen Tagen an ihrem Ziel an. Doch, o Schreck, als sie die verschlossene Tür ins Innere des Glasberges öffnen will, da ist das Hinkelbein weg. Sollte jetzt alles umsonst gewesen sein, die ganze lange Suchwanderung? Da nahm sie „ein Messer und schnitt sich das kleine Fingerchen ab, steckte es in das Tor und schloss glücklich auf."
Es ist wohl so: ohne ein uns mitgegebenes „Hinkelbein" würden wir viele Lebenswege wohl gar nicht zu gehen wagen; aber wenn es darauf ankommt, dann kostet es immer das Eigene. Dann müssen wir uns selbst wagen und einsetzen, um ans Ziel zu kommen. Dann geht es „ans Eingemachte", wie es der Volksmund treffend formuliert.
Die Szene im Glasberg erinnert sicher alle an ein anderes Märchen: an das Märchen von Schneewittchen und den sieben Zwergen. Der Zwerg taucht auch hier als hilfreiche Gestalt auf, lädt das Mädchen ein, einzutreten und auf die Raben-Brüder zu warten. Das tut sie und zwar in besonderer Weise: sie isst und trinkt aus dem Geschirr ihrer Brüder. Sie löffelt sozusagen die Suppe aus, die die Brüder sich eingebrockt haben, sie trinkt ihren Kelch aus.
Mir fällt dazu eine Szene aus dem Matthäusevangelium ein. Da bittet die Mutter zweier seiner Jünger Jesus darum, ihren Söhnen die wichtigsten Regierungsämter zu geben im Reich Gottes. Jesus sagt darauf: Ihr wisst nicht, um was ihr da bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde? Seid ihr bereit, den Preis zu bezahlen, den es kostet, ins Reich Gottes zu kommen?
Und in Gethsemane bittet Jesus Gott sogar noch einmal darum, dass der Kelch an ihm vorübergehen möge. Aber er hat ihn dann doch ausgetrunken. Er ist nicht davongerannt, er hat das Leiden in Kauf genommen, er hat es sich buchstäblich das Leben kosten lassen, um seinen Weg ans Ziel zu bringen: dafür einzustehen, dass Gott sich wirklich allen Menschen, auch den Verlorenen und Verachteten, den Kleinen und Schwachen, in Liebe zuwendet, keinen aufgibt. Er hat durchbuchstabiert, was Paulus im 1.Korintherbrief geschrieben hat:
Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf.
Es ist der Kelch der Liebe, den er seinen Jüngern, seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern als Bundeszeichen in die Hand gegeben hat: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut. Er bezeugt euch, dass der Weg in die Freiheit der Kinder Gottes aufgeschlossen ist. Die Liebe erlöst, nicht das Blut; das Blut ist der Preis, den Jesus bezahlt. Den Einsatz für die Liebe lässt er sich alles kosten, nicht nur den kleinen Finger.
Im Märchen von den drei Raben erkennen die Brüder am Ring, den sie im Becher des Jüngsten finden, dass ihre Schwester da ist, dass sie ihnen den Weg in die Freiheit aufgeschlossen hat. Sie hat sie aus der Hölle ihrer Einsamkeit befreit zu neuer Gemeinschaft und Menschlichkeit.
„Da erkannten sie es am Ring, und von da an waren sie alle wieder erlöst und gingen fröhlich heim."
Erlöst, befreit - nicht nur die Brüder, die ihre Rabengestalt ablegen können, sondern auch die Schwester; ihre Suche hat sie ans Ziel gebracht, was sie erlebt und erlitten hat, hat sie gewiss verändert, stärker gemacht, selbstbewusster, aber bestimmt auch verständnisvoller und gelassener. Die Liebe erlöst, befreit, verwandelt. Und sie lässt uns fröhlich heimgehen.
„Die Liebe gibt nie jemand auf,
in jeder Lage vertraut und hofft sie für andere;
alles erträgt sie mit großer Geduld.
Niemals wird die Liebe vergehen.
Auch wenn alles einmal aufhört -
Glaube, Hoffnung und Liebe nicht.
Diese drei werden immer bleiben;
doch am höchsten steht die Liebe."
Sehen wir zu, dass auch wir solche Erfahrungen mit der Liebe in unserem Leben machen. Schrecken wir nicht zurück vor der Mühe und Arbeit, die damit oft aufgegeben ist. Geben wir der Liebe die Chance, auch uns zu erlösen, zu befreien, zu verwandeln. Amen.
Sexagesimae 23.02.2014 Stadtkirche Apostelgeschichte 16,9-15 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Sexagesimæ - 23.II.2014
Apostelgeschichte 16, 9-15
Liebe Gemeinde!
Der erste Satz aus europäischem Mund auf den Seiten der Bibel gleicht verblüffend den letzten Worten Luthers: Beide Male hören wir nämlich eine unvermutete Bankrotterklärung.
„Wir sind Bettler. Das ist wahr!“, so hat Luther es auf dem finalen Schmierzettel seines Lebens festgehalten. Und am Anfang steht so ein Bettler an der europäischen Küste des Mittelmeeres, erscheint dem Apostel Paulus drüben, am kleinasiatischen Ufer im schweren Traum, und der biblisch bezeugte Urschrei unseres Erdteils rüttelt den Christusboten wild entschlossen, aber auch angstschweißnass wach, denn der Mann aus Makedonien fleht wie ein verlassenes Kind: „Komm herüber und hilf uns!“ —
Das ist eine erstaunliche Eröffnungsbilanz für jenen Kulturkreis, der alle anderen Kontinente später einmal das Denken, das Fürchten, die Wahrheit, die Wissenschaft … und den Wahnsinn lehren wollte.
„Komm herüber und hilf uns“: Wie wenig passt das zu jenem Europa, das später jahrhundertelang von seiner Überlegenheit überzeugt sein sollte und ein Sendungsbewusstsein zur Zivilisierung – mindestens aber zur Zähmung und Unterwerfung der Welt – empfand.
Die großen Geber als Nehmer:
Das ist eine bis heute irritierende Umkehrung der Blickwinkel und Selbstverständlichkeiten, die sich eingebürgert haben zwischen Nord und Süd, West und Ost, Okzident und Orient.
Die Hochkultur in der Rolle des Bittstellers?! Die Großmacht aufgedeckt in ihrer Ohnmacht?!
Aber schon zu Zeiten des Apostels Paulus schien dieser Gedanke lächerlich:
Dass ausgerechnet am Ursprung der griechischen Philosophie und Weltsprache, wo die Schönheit Muster entwickelte, die bis zu den schlafenden Buddahs von Afghanistan Nachahmung finden würden, dass ausgerechnet zu Zeiten der römischen Herrschaft, die von der Sahara bis zu den Hebriden ein sicheres Netz für Handel, Verkehr und Austausch knüpfte, dass ausgerechnet am Strand von Makedonien, in der Heimat des jungen Helden, dessen sagenhafter Siegeszug vom Nil bis an den Ganges führte ……. dass ausgerechnet in Europa ein Schrei nach Hilfe laut wurde, den ein kleiner Jude auf sich bezog, der im Namen eines anderen, hingerichteten kleinen Juden reiste: Das war schon vor zweitausend Jahren ein Witz!
Und der Witz geht so:
„Treffen sich zwei Türken auf Wanderschaft in Griechenland bei einer provisorischen Synagoge und gehen dabei baden. – Was wird daraus? – Das christliche Abendland!“
Das ist in einem Satz nicht nur der Bericht aus der Apostelgeschichte, den wir eben hörten, sondern tatsächlich auch die Gründungsurkunde der Tradition, in der wir als Europäer bis heute stehen. – Wobei gewiss ist, dass weder Paulus noch sein Begleiter Lukas noch Lydia, die Erstgetaufte Europas jemals an so etwas wie die Begründung eines christlichen Kontinents dachten: Zu nah war ihnen das Gottesreich gekommen, als dass sie mit langen und verwickelten Zukunftszeiträumen gerechnet oder gar nach der Mehrheit und Macht gegriffen hätten.
Dennoch wissen wir heute, dass mit jenem wie zufällig wirkenden Aufbruch des Heidenapostels hinüber in’s Land der Griechen und mit seiner wie zufällig wirkenden Sabbatpredigt vor Lydia und den anderen gottesfürchtigen Frauen von Philippi eine bis in unsere Gegenwart reichende Epoche begann.
Nennen wir sie aber vielleicht nicht so vollmundig wie ehedem die Ära des „christlichen Abendlandes“, sondern „die von Gott geschenkte Zeit des europäischen Umdenkens“.
Denn das ist nun allerdings ein typischer und ganz bewusster Zug an diesem Bericht darüber, wie das Evangelium aus der östlichen in die westliche, aus der biblischen in die der Bibel fremde Welt hinüberwechselte:
Typisch und ganz bewusst wird hier am Anfang gezeigt, dass mit dem unbekannten Gott Israels und seinem im Namen des römischen Friedens getöteten Sohn Jesus eine ungeheure, fremdartige Herausforderung nach Europa kam, … eine Herausforderung, der die selbstsicheren und in sich ruhenden Vertreter alteuropäischer Kultur nur gewachsen sein sollten, wenn sie bereit zur Transformation, zu Neugierde und Neuanfang sein würden.
Diese Bereitschaft zum Ungewohnten und Ungewöhnlichen, diese Freiheit, einen neuen Horizont kennenzulernen, verkörpert allerdings kein europäischer Feldherr, kein Alexander, kein Cäsar, kein Varus, die auf ihren Zügen ins Neuland in gewissem Sinn immer nur strebten, Europa auszubauen und zu vergrößern.
Lydia dagegen, selbst eine Einwanderin aus Thyatira in Kleinasien, die bei den Sabbatversammlungen am Fluss den Gott des Auszugs und der Wanderung in das verheißene Israel kennen und fürchten und lieben gelernt hatte, … Lydia geht in Europa voran auf dem Weg, der das Gesicht der Westwelt verändern sollte: Sie greift die Wandlung auf, die Umkehr heißt.
Weil Gott ihr das Herz auftat.
Und das, das ist die Operation, an der wir Europa seitdem erkennen sollen: Die Heilsgeschichte dieses Weltteils beginnt mit der Öffnung.
Offenherzig … oder verloren muss Europa seitdem sein. Verschlossen zu bleiben und verschlagen, barrikadiert und eingesperrt, seiner selbst nur sicher, wenn kein äußerer Einfluss es erreicht – so darf dieser Teil der Erde nicht mehr sein, wenn er nicht das Heidentum, die wunderschöne, mythenreiche, machtvolle Barbarei wählen will, die damals von einer Tuchhändlerin und einem Zeltmacher aus dem Vorderen Orient im Fluss vor Philippi durch die Taufe davongespült wurde.
Nun mag man einwenden, gerade das Heidentum seinerseits sei doch auch so offen gewesen, dass es für jeden eigenen Kult und anderen Gott einfach einen neuen Altar zuließ: Aber diese Offenheit der Antike war die Offenheit derer, die ohne Scheu, nur nach Gutdünken schlicht den Himmel erweiterten, wenn das der Erde und ihnen nützte.
Die Offenheit, die im Herzen Lydias begann, ist dagegen anders: Sie schafft sich nicht bequemen Platz auf dem Olymp, um neben den alten zusätzlich auch die neuen Götter unterzubringen, sondern sie räumt den Menschen selber auf und ordnet sein Leben, sein Denken, sein Tun und Lieben neu.
Als Zeichen dieses wirklichen Wandels der offenen Umkehr lädt Lydia den Paulus darum auch so dringlich in ihr Haus: Weil die Botschaft von Gottes Offenheit für sie nicht nur ihre Meinungen, sondern das Wesen der Lydia für eine tatsächliche, tatkräftige Erneuerung aufgeschlossen hat. Und also auch ihre Hilfsbereitschaft. Auch ihr Mitgefühl. Den Raum ihrer Verantwortung. Den Rahmen ihrer Zugehörigkeit. ———
Im Zeichen dieser Offenheit, die Gott den Herzen, Hirnen, Häusern schenkt, stehen seitdem die großen und die guten Geschichten in Europa – und seine Katastrophen, seine Schuld und Schande waren stets dem Geist der Ausschließung, der Ausschließlichkeit und der Verweigerung des Wandels zuzuschreiben.
Darum musste diese Woche tatsächlich das allzu unsicher und also mürrisch selbstgenügsam gewordene und in kleiner Eigensorge befangene Westeuropa auf so traurige Weise wachrütteln.
Welch’ eine Mahnung, dass wir nicht nur auf uns sehen, sondern im weiten Horizont am Segen der Offenheit beteiligt sein sollen, sind nicht die Toten von Kiew, die Tragödie der Ukraine, von der es in einer Zeitung hieß, dass „…die Beerdigung des europäischen Traums durch ein Volk, das noch daran glaubte, etwas an sich hat, das der Intelligenz ins Gesicht schlägt und das Herz zerbricht“[i]!
Doch wie es mit Zeitungsnotizen nun einmal ist: Noch die quälendste und traurigste Annonce eines Untergangs kennt nur die Nachrichten des Tages … und – Gott sei’s gedankt – noch lange nicht das Ende vom Lied.
Es hat sich über den blutroten Schnee auf dem Majdan ein vor drei Tagen nicht absehbarer kleiner Schimmer der Hoffnung, der Veränderung, des Wandels und der Umkehr gelegt.
Denn auch die Ereignisse der letzten 48 Stunden schlagen der pessimistischen Intelligenz in’s Gesicht.
Und so erinnern die – gewiss vorläufigen und vorübergehenden – Nachrichten der vergangenen beiden Tage uns daran, dass wir in jeder erdenklichen Weise in der Offenheit … oder gar nicht leben. —
Wir wissen nicht, wohin der Weg der einzelnen Völker Europas und des ganzen, einst so selbstverständlich und stolz als christlich empfundenen und dann so schmählich und verworfen vom Christentum praktisch abgefallenen Erdteils noch führen wird.
Wir wissen nur, dass es ohne offene Herzen, ohne aufgeschlossene Köpfe und ohne die Freiheit zur Umkehr nie begonnen hätte: Das Kapitel von der gottgegebenen Zeit des europäischen Umdenkens. ——
Am Anfang stand der Hilferuf aus einem damals schon Weltmaßstäbe setzenden und doch alleine nicht zukunftsfähigen Imperium.
Und eine fremde Frau, die sich nicht zu schade war, die Hilfe Gottes anzunehmen – als sei sie selbst die vom Bullen entführte und an Land geschleuderte Europa, die nur leben konnte, wenn sie in der neuen Umgebung wirklich Neues auch selber zu und an sich selbst heranließ:
Lydia, die ihr Herz nicht mehr verschließen konnte vor dem lebendigen Gott und seinen menschlichen Boten und die so die immer wieder neue Offenheit, die immer wieder offene Erneuerung Europas als Erste auf den Weg brachte.
Und wir – wir sind nicht, … noch lange nicht am Ende dieses Weges.
Weil Gottes Wege – nicht allein mit dem Abendland, sondern mit aller Welt – so weit und offen und so heilvoll sind und bleiben!
Darum – wenn unser Herz offen für Ihn und offen für seine Menschen ist – dürfen wir mit allen unseren Geschwistern, … mit denen auf dem Majdan, die um die Freiheit ringen, … mit denen in Griechenland, die um die Zukunft bangen, … mit denen in Syrien, die nach Frieden schreien, … mit denen in Südamerika und Zentralafrika und in Asien, die um Gerechtigkeit und Versöhnung und um’s nackte Leben flehen, den großen Schrei wagen:
„Komm und hilf uns!“
… Und das große Bekenntnis, das einst die deutschbaltischen Frommen aufrechterhielt und das wir mit den Menschen guten Willens in der Ukraine und überall auf Erden teilen:
„Du weißt den Weg ja doch, du weißt die Zeit,
dein Plan ist fertig schon und liegt bereit.
Ich preise dich für deiner Liebe Macht.
Ich rühm die Gnade, die mir Heil gebracht!“[ii]
Amen.
5.S.n.Epiphan., 09.02.2014, 2.Petrus 1,16-19, Jonakirche, Daniel Kaufmann
„ Dann können Sie ihn ja fragen!"
In der Grundschule wird die Geschichte von Jona und dem Wal erzählt. Der Lehrer: „Ja und dann kam dieser riesige Wal und verschlag Jona und spuckte ihn dann da, wo er hin sollte, wieder aus. So steht es in der Bibel - aber das müsst ihr nicht unbedingt glauben, manchmal erzählt die Bibel auch nur Märchen." Da meldet sich ein kleines Mädchen und sagt ganz fröhlich und sicher: „Herr Lehrer, ich glaub aber daran, dass das wirklich passiert ist! „Naja," wendet der Lehrer ein, „ du muss aber der Bibel nicht alles glauben, wirklich nicht". Aber das Mädchen ist sich immer noch sicher: „Na gut, dann werd ich den Jona halt fragen, wenn ich in den Himmel komme!" Da wird der Lehrer ungeduldig und auch ein bisschen fies: „Und wenn der Jona nicht im Himmel ist? Was dann, wenn er in der Hölle ist?" Daraufhin das Mädchen: „Dann können Sie ihn ja fragen!"
Liebe Gemeinde, soweit einmal eine einigermaßen heitere Anekdote aus dem Grundschulalltag. Vermutlich hat dieses Mädchen unsere volle Sympathie. Vor allem wegen der etwas unfairen und höchst fragwürdigen Art, wie der Lehrer ihr das Vertrauen zu den biblischen Wahrheiten madig zu machen droht. Schon wegen dieser fiesen Art hat er die etwas freche und schlagfertige Antwort verdient. Zumindest in diesem Alter darf und soll doch auch noch ein wenig unschuldig und ohne diese ewig Besserwisserei geglaubt werden dürfen. Und zumindest in diesem Alter muss nicht alles und ständig hinterfragt werden, ob das denn alles auch den historisch-kritischen Erkenntnissen entspricht, was da geschrieben steht.
Soweit so gut, möchte man meinen und auch denken. Aber was ist mit uns Erwachsenen in dieser Frage, was ist mit uns mehr oder weniger modernen Menschen, die lieber sehen als glauben, die lieber zweifeln als für bare Münze zu nehmen, die zunehmend darauf getrimmt werden, niemanden und nichts zu vertrauen:
- Keinem gelben Engel,
- keinem bombensicheren Antivirusprogramm, keiner Regierung, und mag sie auch noch so sehr beschwören, dass sie uns nur zu unserem Besten von morgens bis abends bewacht, ausspäht und Daten sichert,
- keiner Renditeversprechung weder von Ökostromunternehmungen noch der deutschen Bank,
- keinem Arzt, der uns erst nach unserer Kassenzugehörigkeit befragt, bevor er uns umfassend und gründlich behandelt,
- und keinem Kirchenvertreter, der behauptet, das Bodenpersonal des lieben Gottes hätte zwar ab und an auch ein paar moralische Aussetzer, wäre aber ansonsten vertrauenswürdig.
Was ist mit uns und dieser Frage, wieviel wir dem Wort Gottes, den Worten der Bibel zutrauen dürfen, können und sollen?
Zu dieser Vertrauenskrise gibt es schon bei den frühen Christen prominente Stellungnahmen. „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben", hören wir bei der Geschichte vom Zweifler Thomas (Joh. 20). Der Apostel Paulus wird nicht müde, sämtliche Zeugen der Auferstehung aufzuzählen (1. Kor. 15) um die Gemeinde in Korinth gewiss zu machen, dass der Herr Jesus den Tod überwunden hat und lebt. Und im 2. Petrusbrief widmet der Schreiber immerhin folgenden hörenswerten Abschnitt dieser Fragestellung, Kapitel 1:
16Denn wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen.
17Denn er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Preis durch eine Stimme, die zu ihm kam von der großen Herrlichkeit: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.
18Und diese Stimme haben wir gehört vom Himmel kommen, als wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge.
19 So gibt uns dieses Wort von Jesus Christus Gewissheit und Sicherheit, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen.
Wir sind nicht „ausgeklügelten Fabeln" gefogt (Volxbibel: „Lügen" / Einheitsübersetzung: „ausgedachten Geschichten"/Bibel in gerechter Sprache: „zusammengereimte Geschichten"/ Urtext(Griechisch): „Mythen") , hören wir da sehr vollmundig und zuversichtlich. Findige, vor allem fundamentalistische Bibelleser haben hier nahtlos ergänzt: Die ganze Bibel ist vom heiligen Geist inspirierte Rede ohne Fehl und Tadel, wortwörtlich und ohne Abstriche so zu nehmen, wie es geschrieben steht. Sie kündet anders als alle Märchenbücher von Grimm und Anderson oder in neuerer Zeit von J.R.R.Tollkien (Herr der Ringe), Joanne K. Rawling (Harry Potter) und Michael Ende (Unendliche Geschichte) eine Wahrheit, die real ist und in der Realität geschehen ist. Das sei ja gerade das Besondere, dass hier das Leben so wie es wirklich geschieht zu Wort kommt. Eben nicht so wie in Holly- oder Bollywood oder wie all die sonstige Phantasie- und Werbeindustrie es uns vorgaukelt.
Andere, die ihre Bibel auch gelesen haben, kommen darüber allerdings auch ins Stolpern: Keine Fabeln soll es da geben in der Heiligen Schrift? Und was ist mit der Schlange im Garten Eden, die plötzlich zu sprechen anfängt (Genesis 3)? Und was ist mit dem Esel Bileams, der nicht nur dem zornigen Engel Gottes aus dem Wege geht, sondern ebenfalls in Worte fassen kann, was der Prophet nicht hören will und sehen kann (Numeri 22-24)? Keine erfundenen und ausgedachten Geschichten soll es geben? Und was ist mit den Mauern von Jericho, die allein mit Posaunenklängen in die Knie gegangen sein sollen (Josua 6)? Was ist mit der Sonne über Gibeon, die auf Geheiß des Josua (Josua 10) stillsteht? Was ist mit Simson, der ein tonnenschweres Stadttor aus den Angeln hebt und alleine wegtransportiert (Richter 16)? Und es soll keine Mythen dort geben? Und was ist mit Elia, der mit feurigen Wagen in den Himmel entrückt worden ist (2. Köninge 2)? Was ist mit dem großen Fisch, der den Jona da verschluckt und für drei Tage Obdach, Nahrung und Wärme gespendet haben soll (Jona 2)?
Selbst Martin Luther, der zweifelsohne große Verdienste um einen neuen ernsthaften und gewissenhaften Umgang mit der Bibel und den biblischen Worten hatte, kapituliert bei der Geschichte vom Jona und weicht von seinem Grundprinzip, immer und vor allem und zuerst den „sensus literalis", den Wortsinn zu erheben, bei Jona ab. „Welch ein wunderlich werk ist das!" ruft er aus. Und folgt dann ohne Skrupel und geradewegs dem geistlichen Sinn, dem „sensus spiritualis":
„Jona heißt zu Deutsch: Taube. Die Taube ist ein Bild des Heiligen Geistes. Der Heilige Geist ist den Aposteln und Predigern gegeben, um Christus in aller Welt zu verkündigen. Das Meer ist die Welt, groß und mächtig mit ihrem Wüten und Toben. Der Fisch mit seinem zahnbewehrten Rachen ist der Welt Fürst und Gott, also der Teufel. Aber doch wird Jona durch Gottes Kraft erhalten, und der Teufel kann dessen Predigt nicht verhindern. Also, obwohl die Prediger schwach, die Welt gewaltig ist, so ist doch Gottes Wort, das heilige Evangelium, mächtiger, dringt durch und ist immer wieder an allen Orten dieser Welt am Werke." So wird selbst bei Luther aus dem abenteuerlichen Mittelmeertrip des Jona ein Trostwort für die Kirche.
Haben da vielleicht doch gegen alle Bibelgläubige und Bibelskeptiker nicht am Ende doch jene etwas bescheideneren und geerdeten, im jüdischen Lehrhaus geschulten Interpreten Recht, die sagen: Das größte Wunder des Lebens ist nicht ein geteiltes Meer, Manna in der Wüste und Wasser aus dem Felsen. Das Staunenswerteste ist nicht, dass Blinde sehend werden, Lahme gehen können, Aussätzige rein werden, Taube hören können. Das größte Wunder ist, dass Gott zu dem Menschen spricht, durch sein Wort, durch sein Gebot, durch seine Weisungen und eben auch durch diesen Jesus Christus, der ein Mensch mit Fleisch und Blut und zugleich Gottes geliebter Sohn war. Daran soll, kann und darf man sich halten, mehr jedenfalls an all die Mirakel und Wunderlichkeiten, die sich für die Event- und Sensationskultur aller Zeiten eignen, aber mit dem Glauben nur von ferne zu tun haben.
„Denn wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen. Denn er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Preis durch eine Stimme, die zu ihm kam von der großen Herrlichkeit: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Und diese Stimme haben wir gehört vom Himmel kommen, als wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge."
Der Schreiber dieser Worte reklamiert hier keine allgemeingültige Wahrheit für alles und jedes. Eben auch nicht für sämtliche Bücher und Schriften, die es vor ihm gegeben hat. Wenn man genauer hinhört und sieht, stellt man fest, dass er sogar nur sehr konkret und sehr begrenzt Vertrauenswürdigkeit beansprucht. Und zwar bei der Feststellung, dass dieser Jesus Christus gekommen ist und die Herrlichkeit Gottes, die „Doxa" Gottes in ihm aufgeleuchtet ist wie in keinem anderen. Genauer erinnert er an die Geschichte, die wir gerade in der Schriftlesung (Matthäus 17,1-9) schon gehört haben. Als Jesus mit den Jüngern auf dem Berg Tabor war. Dem Berg der Verklärung. Als Mose und Elia erscheinen, beide ebenfalls Platzhalter und Protagonisten für jenen Gott, der mit dem Menschen unterwegs ist, durch dick und dünn geht, der so zu ihm spricht, dass sein Leben durch alle Höhen und Tiefen hindurch in gute Bahnen kommt.
Erinnert wird daran, dass Gottes Herrlichkeit, genauer , seine Gewicht, seine „kabod", seine Gegenwart dort aufscheint, wo Menschen wie die Hirten auf dem Feld vor Bethlehem einen Engelchor sehen, die Weisen dem Stern folgen, der sie zum Stall führt, Maria und Josef auf wunderbare Weise auf der Flucht bewahrt und behütet werden und der Simeon und die Hanna ein Baby in den Armen halten, in dem sie den Heiland der Welt wiedererkennen. Soviel ist gewiss. Die Herrlichkeit Gottes scheint auf, wenn alles wunderbar und gut und richtig und glatt und harmonisch und friedlich verläuft.
Aber sie scheint genauso oder vielleicht noch mehr, noch viel mehr auf, und das dürfte auch der Grund sein, warum wir heute diesen Text und diese Botschaft zu hören bekommen, wenn die Fastenzeit beginnt, wenn die Passionszeit und die anderen weniger erfreulichen Themen des Lebens auf den Plan kommen. 19 So gibt uns dieses Wort/Botschaft von Jesus Christus eine große Gewissheit, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen.
Die Herrlichkeit Gottes scheint gerade dort auf, wo es dunkel ist oder dunkel wird, wo es auf den Spuren Jesu nach Jerusalem ans Kreuz geht, wo das Leben einsam, einsilbig, elend und erniedrigend ist, wo sich Menschen abwenden, die besten Freunde einen nicht mehr kennen wollen und einen verraten und der letzte Atemzug die ganze Ohnmacht des Lebens offenbar macht.
Die Geschichte von der Verklärung steht nicht zufällig auf der Nahtstelle und am Wendepunkt zwischen Galiläa und Jerusalem, Aktion und Passion. Als eine Geschichte, die sowohl im „Hosianna" als auch „Kreuzige ihn!" daran erinnert, was es mit der Gegenwart Gottes in dieser Welt auf sich hat. Die Herrlichkeit, die Gegenwart Gottes scheint in der Höhe und in der Tiefe auf, sie kann unübersehbar für alle und jeden erkennbar sein und sich bis zur Unkenntlichkeit verbergen. Und gerade diese gleichermaßen mächtige und ohnmächtige Art unterscheidet sie von allen anderen Herrlichkeiten dieser Welt. Die primär auf Erfolgsmeldungen, Glorienschein, Blitzlichtgewitter, Pressehype und monumentalen Inszenierungen aus sind.
Wir sind nicht Fabeln, Mythen und erfundenen Geschichten gefolgt, sondern diesem kraftvollen und ermutigenden Wort von Jesus Christus, das wir auf jenem Berg der Verklärung in großer Deutlichkeit vernommen haben, das bei den Hoch und Tiefpunkten des Lebens Trost und Halt gibt. Dieser Gott geht so wie mit Jesus auch mit dir durch alle Extreme des Lebens. Auf ihn ist Verlass, wenn alles wunderbar läuft und auf ihn ist Verlass, wenn nichts mehr geht.
Ich möchte schließen mit einer kleinen Geschichte, die das Gesagte zusammenfasst:
„Es war einmal ein frommer Mann, der las regelmäßig seine Bibel. Jeden Morgen einen Abschnitt. Er wusste, dass diese Wort voller Kraft und Wahrheit waren. Deshalb nahm er sich jeden Tag Zeit, dachte dann einen Moment darüber nach, sprach dann ein Gebet und ging frohgemut ans Werk. Und Gott segnete ihn.
Sein Sohn war ein aufrechter, aber nicht mehr ganz so frommer Mann. Er las nicht regelmäßig, sondern nur zu den großen Festen des Kirchenjahres ins seiner Bibel. Die Weihnachtsgeschichte, die Ostergeschichte, die Pfingstgeschichte. Von seinem Vater hatte er gehört, dass die Worte Kraft hatten und voller Wahrheit waren. So dachte er zu den großen Festzeiten einen Moment darüber nach, sprach aber kein Gebet und ging dann frohgemut ans Werk. Und Gott segnete ihn.
Sein Enkel wusste nicht mehr allzuviel von seinem Großvater. Er erinnerte sich nicht mehr an seine Frömmigkeit, Er wusste nicht mehr, welche Geschichten der Bibel besonders wichtig waren, wohl aber, dass sie voller Kraft sein konnten und auch viele Wahrheiten enthielten. Deshalb las er mehr oder weniger zufällig und nur dann, wenn sonst nichts anderes dazwischen kam, sprach kein Gebet und ging dann frohgemut ans Werk. Und Gott segnete ihn.
Sein Urenkel wusste von seinem Urgroßvater noch weniger als der Enkel. Weder von seiner Frömmigkeit noch von dem täglichen Bibellesen noch von dem Nachdenken noch von dem Beten. Er hatte nur gehört, dass es da eine Verbindung zu Gott gegeben hatte, die mit der Kraft des Wortes Gottes zu tun hatte. Und mit Wahrheiten, die sich segensreich auf seine Leben ausgewirkt hatte. So dachte er das eine oder andere Mal darüber nach, was Gott in seinem Leben bedeutete, ging dann frohgemut ans Werk und an die Herausforderung des Lebens. Und Gott segnete ihn.
Der Ururenkel wusste von seinem Ururgroßvater nur noch, dass es da eine alte Bibel gab. Und das machte ihn neugierig. Er fing an in der Familienbibel zu blättern, dann zu lesen, erst wenig, dann alles, mit und ohne Pause und schließlich mit einem großen Hunger nach mehr. Er nahm sich dafür Zeit, viel Zeit, morgens mittags abends, er nahm es zu sich wie das tägliche Brot. Er spürte die Kraft, die davon ausging und die Wahrheit, die sein Leben erhellte. Er betete jedes Mal kurz, aber ehrlich und ohne Schnörkel. Und ging dann seinen Aufgaben und Verpflichtungen wie gewohnt nach. Und Gott segnete ihn."
Möge uns diese Frömmigkeit, diese Liebe zum biblischen Wort, zum Nachdenken und Gebet in der einen oder anderen Form und Dynamik begleiten. Gott will und wird unser Leben dabei segnen.
Amen.
4.n.Epiphanias 02.02.2014 Stadtkirche 1.Mose 8,1-12 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 4.n.Trin. - 2.II.2014
1.Mose 8, 1-12
Liebe Gemeinde!
Um die Sintflut nicht nur in ihren Ursachen, sondern auch in ihrer Wirkung zu begreifen, fehlen uns oft genug die Möglichkeiten.
Viele von uns haben nämlich für beides – für Grund und Folgen – dieses Gottesgerichtes der Enttäuschung und Verzweiflung über die Menschheit kein Gespür mehr: Weil wir mit dem Wort „Sünde“ nichts verbinden und weil wir allzu häufig die zentrale Erfahrung der Sintflutüberlebenden nicht mehr kennenlernen…, das sind Warten und Langeweile.
Heute – im Bericht vom Rückgang der Zerstörungswasser und vom ersten Ausflug in die Welt des zweiten Anlaufs – rückt uns besonders diese Erfahrung der Davongekommenen auf den Leib. Denn das ist doch der größte Teil des heute zu bedenkenden Predigttextes und sein hauptsächlicher Inhalt:
- Nach vierzig Tagen des endlosen Dauerregens kommen 150 Tage im Kasten, unter dem die Welt erst grässlich und dann lautlos versunken ist;
- dann der siebzehnte Tag des siebten Monats und mit ihm ein Stillstand im verschwimmen-den Fluss des zeitlosen Schaukelns in Dunkel und Stickigkeit: Knirschen …. der Ararat;
- zweieinhalb Monate ohne Ereignis außer dem langsamen, unmerklichen Verlaufen der Fluten bis zum 1.Tag des zehnten Monats, als die Berge allmählich auftauchen und über allen ihren Gipfeln gespenstische Ruh ist;
- weitere vierzig Tage in der Dunkelheit auf dem Friedhof der bisherigen Welt;
- eine geöffnete Luke für den schwarzen Vogel, dann wieder lange kein Fortschritt, keine Veränderung;
- schließlich der Flug der Taube, ihre Rückkehr auf Noahs ausgestreckte Hand;
- sieben Tage Nichts;
- noch einmal das unwirkliche Bild einer aufsteigenden Taube unter hellem Himmel;
- der Abend mit dem nach über dreihundert Tagen – fast einem endlosen Jahr – vergessenen Anblick und Gefühl und Geruch des draußen, im Unerreichbaren lebendigen Grüns;
- zu guter Letzt abermals noch eine Woche ohne Regung, ohne Ausbruch. ———
12 Bibelverse nur für zwei unauslotbare Katastrophen: Die Schuld des Menschen, die zu seinem Untergang führt, und die zähe, lähmende Qual, in der … die Geretteten dahinvegetieren.
Dieses Zweite ist die wenig beachtete, aber sich geradezu aufdrängende Schwierigkeit, die ein Erwachsener, für den die Arche keinen Abenteuerbericht und kein buntes Spielzeug mehr darstellt, unterschwellig empfindet und verdrängt:
Was für eine grausame Beengtheit entsteht, wenn alles Leben sich tatsächlich konzentriert, wenn es nicht mehr im freien Spiel der Kräfte von Anziehung und Abstoßung seine Kreis zieht, sondern eingepfercht koexistieren, miteinander auskommen muss! Platzangst und Lagerkoller machen das geteilte Rettungsboot zu einem Käfig und Labor der mühsam angestauten Triebe, der einstweiligen Unterdrückung von Raubtierinstinkten und Freiheitsdrang. Es muss klaustrophobisch sein, wenn jede Form und Gattung, jede Gestalt des Lebens Raum, Luft und Nahrung mit allen anderen zugleich teilt.
Und dann die unabsehbare, weder zu schätzende, noch zu messende Dauer dieses mühsamen Miteinanders in der Gleichförmigkeit der langen Gefangenschaft auf der konturlosen Wasserfläche! …
Das alles wären vielleicht die Hirngespinste eines zimperlichen Einzelkabinenschnösels, … wenn nicht die Zeitangaben das Problem geradezu einhämmern würden!
Monate über Monate, schleichende Wochen, gähnende Zeiträume ohne die geringste nennenswerte Entwicklung werden uns ja nicht zufällig aufgezählt! Wir sollen die an Hoffnungslosigkeit grenzende Warterei der Archepassagiere spüren ……. und uns dann fragen, ob Theodor Fliedner und alle traditionellen christlichen Ausleger, auf die er sich stützt und bezieht, Recht haben können: Ist das die Kirche?
Kann das die Lage der gläubig Vertrauenden in ihrer rettenden, hoffenden Gemeinschaft sein?
Wenn die alte Kunst der Allegorie, die wir bei Fliedner so ausgeprägt finden und der die uralte Gleichsetzung von Arche und Kirche noch erweitert, indem auch die Taube Noahs nun eine ganz klare Entschlüsselung erfährt, wo sie zum Sinnbild der Diakonisse wird, … wenn diese alte Kunst der Allegorie, die grundsätzlich immer etwas Gegenwärtiges in einem ganz anderen Vorbild entdeckt und entziffert, geistlich tragfähig bleiben soll, dann müssen wir uns jedenfalls auf etliche Überraschungen gefasst machen.
Denn dann müssen wir die einschnürende, beklemmende Engigkeit der Kirche auch mit ins allegorische Bild nehmen: Dass wir in der Gemeinde immer wieder zusammengepfercht sind mit lauter seltsamen Mitgeschöpfen; dass wir zuweilen das Gefühl eines ewigen Still-stands im Kasten, der uns birgt, entwickeln; dass wir quälend lange, ununterbrochene Zeiträume erleben, in denen sich überhaupt nichts Frisches, Befreiendes und Zukunftsweisendes zeigt; dass wir zwar Grund zu der Zuversicht haben, wir würden von Gott getragen, aber dass Durststrecken, Monotonie und Geduldproben uns dabei hart prüfen!
Das alles muss wohl geradezu typisch für die Kirche sein, wenn eine solche Auslegung, wie sie jahrtausendelang geübt wurde, irgend ein Recht hat ……. ——
Und in der Tat trifft dieser Zug der Zähigkeit und des leerlaufenden Wartens für meine Begriffe ganz akut den Nerv der Sache.
Das meine ich allerdings nun gar nicht negativ als Kirchenschelte oder als Netzbeschmutzung – was im engen Raum der Arche ohnehin eine Sauerei ist, für die gewichtige Gründe vorliegen müssen.
Dass ein nieendenwollendes Warten und eine mühsame Ausdauer zur Glaubensreise derer gehören, die sich von Gott ins neue Leben holen lassen, ist eine Tatsache, die wir viel klarer, viel bewusster machen sollten! Denn nichts ist notwendiger als diese deutliche Wahrheit auszusprechen, ehe Menschen mit falschen Erwartungen bei uns an Bord kommen, weil sie sich von falschen Lotsen haben leiten lassen.
Wobei unsere ganze Kultur, unser ganzes Lebensgefühl ein einziger offener Konflikt mit den Bedingungen der Kirchenarche ist.
Wir alle leben ja – zumindest in unseren vermeintlich guten, starken Zeiten – wie im Tunnel des berühmten Teilchenbeschleunigers: Jede unserer Bewegungen, alles, was wir tun und sagen, was wir leisten und wünschen können, zielt nur noch in eine Richtung, nähert sich nur noch einem Maßstab an: „Sofort“ heißt die Devise.
Blitzschnell ist unser Denken auf allen Bildschirmen, blitzschnell hat jede Aufgabe erledigt zu sein, blitzschnell muss eine Bestellung geliefert, eine Idee umgesetzt werden.
Dass endlose Zeit verstreichen und ein Gespräch trotzdem gelingen und im Schweigen, im Warten auf das Eintreffen einer Antwort und im Aussenden eines neuen Lebenszeichens sich sogar vertiefen kann – das ahnen wir kaum noch.
Dass Jahre nötig sein können, …deren Einerlei und langer Atem …, um einen Charakter oder ein Verhältnis, um eine Vermutung oder ein Werk reifen zu lassen, die bei schneller Abrundung unkenntlich würden oder zerbrächen – das darf man uns nicht mehr sagen, weil unsere Schutzheilige St.Effizientia heißt und nicht „Wahrheit, die im Verborgenen liegt“ (Ps518).
Dass ein Leben voller Beständigkeit und ohne Bestätigung dahingehen kann, ohne dass ein Gefühl sich wandelte – das glauben wir nicht einmal mehr, wenn wir’s auf der Bühne sehen.
Dass es einseitig und andauernd bei der Hoffnung, beim Warten, auch bei Anfechtung und Leidensbereitschaft bleiben kann und dass dabei nichts greifbar wird, kein rasches Ergebnis eintritt, keine rekordverdächtige Erfolgsmeldung winkt, und dass man dennoch auf dem Kurs bleiben und die Enttäuschungen und die Schwierigkeiten und die Angstzustände und die Müdigkeit durchhält, weil der Weg nun einmal weit und das Ziel herrlich ist ……., das sind unzeitgemäße Betrachtungen in einer Epoche, die den Knalleffekt („big bang“!) für das Geheimnis der Schöpfung und das Blitzlicht für deren Verewigung und Vollendung hält.
Und so gibt es leider auch einen zunehmenden Hang im Christentum, das Sofortige zu predigen und zu befördern: Die spontane Gebetserhörung, das unfehlbare Wunder, die rasante Problemlösung, ja sogar das schnelle Geld. …….
Das mögen derzeit für uns noch eher ferne, amerikanische Akzente sein, aber je flächen-deckender wir in allen Lebensbereichen auf Geschwindigkeit als Erfolgsmodell einschwenken, desto wichtiger wird es uns klar zu machen:
Wir sind seid Jahrtausenden unterwegs und messen Gottes Zuverlässigkeit in Seinen Verheißungen nicht in Zeiteinheiten.
Statt der unheiligen Ungeduld gibt es unter uns eine große, nervenaufreibende und dennoch immer wieder weise und lohnende Bereitschaft, lang und länger mit Gott auf Seinem Weg zu bleiben und nicht auszusteigen, bloß weil Seine Zusage und Sein Reich, Seine Gerechtigkeit und unsere Vollendung nicht mit dem Tempo daher rauschen, das wir für selbstverständlich auf deutschen Autobahnen halten. ——
Gemach also, Freunde!
Wem es hier zu langsam, zu sehr wie gestern und wie vorgestern zugeht, wer nicht schnell genug sieht, was der Glaube bringt und wohin die christliche Kirche, das „Schiff, das sich Gemeinde nennt“ steuert, der möge an die Arche denken!
Wie viele der darin Treibenden, nein, wie vollzählig hätte deren menschliche und kreatürliche Besatzung nicht während des vierzigtägigen Gerichts und des hundertfünfzigtägigen Abebbens des Unheils, während der scheinbar sinn- und endlosen Station auf dem Ararat oder in den spannungsreichen Wochen der ersten Erkundungsflüge meuternd aussteigen und das Weite suchen wollen. … Und wie gut, dass sie es auf eigene Faust eben nicht taten!
Sondern dass sie die sprichwörtlichen Fenster zur Welt, die auch die katholische Kirche vor fünfzig Jahren wiederentdeck hat, so öffnen ließen, dass sie durchlässig wurden, ohne den tragenden Bau schon vor der endgültigen Landung zu zerstören. ——
Denn das ist nun die letzte allegorisch zu entschlüsselnde Botschaft des Arche-Bildes von der Christenreise über das Meer zum Ufer der neuen Welt Gottes: Gerade wenn man meint, es sich schlecht oder recht auf dem traditionsreichen, für langfristige Überquerungen angelegten Kreuzfahrtschiff der Kirche bequem gemacht zu haben, gerade wenn man sich das Nest-hocken angewöhnt und die vielen Anderen auf den Decks zu seiner vertrauten Schicksalsgemeinschaft erkoren hat, gerade wenn man bereit ist, die Mannschaft eines Geisterschiffs wie des Fliegenden Holländer zu werden, das nirgends in der Gegenwart vor Anker geht …. da wird nach dem Raben gerufen.
Der im Übrigen kein schlechter, nutzloser Gesell war, der bloß wegen seiner aasfressenden Natur als erster auf die trocknende Landschaft der Zerstörung losgelassen wurde – oder was für Missverständnisse ihn bei uns sonst noch begleiten, weil er in der Lutherbibel das Opfer einer Fehlübersetzung wurde.
Bei Luther heißt es: „Der Rabe flog immer hin und her, bis die Wasser vertrockneten“ – und es wirkt, als habe er sich keine Spur mehr um seine nach wie vor eingesperrten Leidens- und Rettungsgenossen gekümmert.
Tatsächlich aber heißt’s vom Raben: Er flog aus der Arche aus und kehrte immer wieder in sie zurück, bis die Erde trocken war.
Solche Vermittler, solche Verbindungen zwischen der Lage der Welt und den Reisenden Gottes braucht die Gemeinde viele und treue und ausdauernde und leidensfähige:
Eben im manchmal verleumdeten Federkleid des Raben, der auf keiner romantischen Hochzeitseinladung schnäbelt und keine idealistische Friedensplakette ziert, aber immer zu finden ist, wenn Elia später Hunger leidet (vgl.1Könige176) oder Jesus die gefiederten Freunde und Schützlinge Gottes beschreiben will (vgl.Lk1224).
Und Tauben braucht die Gemeinde in der Arche natürlich auch. Tauben, die gar nicht so sanft und gar nicht so einfältig sein werden, wie Fliedner sich die von Kaiserswerth aus entsandten Diakonissen womöglich dachte. Denn die Taube, die in jener erlösenden Dämmerung mit dem Ölzweig heimkehrte – die der Gemeinde das Ziel der geretteten Welt am Vorabend des Aufbruchs in die erneuerte Wirklichkeit anschaulich vor Augen hielt – die Taube ist von größerer Unternehmungslust und Unabhängigkeit als der stets kreisende Rabe.
Sie schwingt sich auf und davon, als die neue Welt steht … und wer von uns wollte es ihr verdenken?! ——
Am glücklichsten indes wird unsere Fahrt in der Arche Gottes verlaufen, wenn uns von allen deren ursprünglichen Reisenden zu lernen gelingt:
Die Geduld und Weisheit Noahs, die Treue zu Gemeinde und Welt, die der Rabe verkörpert und die große, freiheitliebende Verkündigungsbereitschaft und Reich-Gottes-Freude der Taube, die schließlich ausfliegt und nicht wieder zurück kam – weil sie am Ziel war.
Amen.
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Fliedner selber deutete die Symbolik der von ihm für die Kaiserswerther Diakonissen als Wahrzeichen gewählten Taube mit Ölzweig in bewusster Anlehnung an und allegorischer Auslegung von 1.Mose 8 so:
„… Die Taube ist ein Sinnbild der Friedensboten Jesu Christi.
Die Taube wird dort von Noah zum zweiten Mal aus der Arche gesandt, um zu sehen, ob sie in der verwüsteten Welt wieder finde, wo ihr Fuß ruhen könne; und siehe, da bringt sie ein Blatt von einem Oelbaum, der schon wieder sein Haupt über das Wasser emporstreckt, ein Oelblatt, ein Sinnbild des Friedens zum Trost für Noah, daß der treue Herr noch Friedensgedanken über ihn habe, wie über die neue Menschenwelt, die jetzt entstehen solle.
Die Arche ist das Bild der Kirche Gottes. So sollt ihr Diakonissen denn ausgehen, in die durch die Sünde und das Elend verwüstete Welt voll Kranker, Armer, Verwahrloster, Verlassener, Sterbender, als Friedensboten des Herrn; […….] Und wie jene Taube wieder zu Noah und zur Arche zurückkam, so sollt ihr auch eure Pfleglinge zur Kirche Gottes, ihrer geistlichen Mutter, näher zu bringen suchen und selbst zu der Kirche eure beständige Zuflucht nehmen, zum Haupt der Kirche und zu seinen Gliedern …“
1849/50 verfaßte Fliedner ein Diakonissenlied, das dieses Motiv aufgriff.
Hier sind die ersten drei und die beiden letzten Strophen dieses Liedes abgedruckt, in denen sich die allegorische Deutung der Taube aus der Arche Noahs findet. Die drei ausgelassenen Strophen behandeln den Dienst und die Seelsorge der Diakonissen, v.a. an Kranken und Kindern. Dieses Lied wurde nach der Predigt gesungen.
[Melodie: „Jesu geh voran“ EG 391]
Taube Christi schwing
Dich empor und bring
Allen, die auf Hülfe warten,
Friedensölzweig aus dem Garten
Gottes, ihres Herrn!
Er gibt ihn dir gern.
Als einst Noah lang
Harren mußte bang
Auf den Wassern in der Arche,
Wie in einem düstern Sarge,
Ob er Gnade find’
In der Flut der Sünd,
Bracht der Taube Mund
Gottes Friedensbund;
Zeigt’ Errettung aus den Nöten,
Denen, die heiß zu ihm flehten.
Heil und Gnade lacht
Nach der schwarzen Nacht.
Aufwärts, Taube, fleug,
Daß Gott Herzen neig’,
Diese Arch’ mit dir zu wählen,
Wo die Schar der gläub’gen Seelen
Aus der Sünden Flut
Froh erlöset, ruht!
Und wenn einst der Geist
Sich der Erd’ entreißt,
Nach Jerusalem dort oben
Steigt der Flug, wo Engel loben
In der ew’gen Ruh. —
Selig, Täublein, du!
[Quelle: Georg Fliedner, Theodor Fliedner. Sein Leben und Wirken – Bd.II, Kaiserswerth, 1910, S.179f. Das Lied findet sich unter der Überschrift „Aussendung von Diakonissen“ im Anhang des Diakonissen Liederbuch, 12.Aufl., Kaiserswerth, 1926, S.584f]
4.S.n. Epiph., 02.02.2014, 1.Kor.13.11, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text/Thema: 1.Kor.13,11 „Erwachsen glauben"
Liebe Gemeinde,
alles Lebendige ist nicht einfach, sondern es entwickelt sich. Der Mensch ist nicht einfach Mensch, sondern er ist es als Kind, dann als Jugendliche/r, dann als Erwachsene/r. Und zu jeder Entwicklungsstufe gehören sehr spezifische Entwicklungsschritte - körperliche, geistige und seelische. Der Horizont wird dabei immer weiter, der Radius eigener Verantwortlichkeit auch. Das ist spannend und schön, aber auch anstrengend und manchmal beängstigend.
Das, was da das Leben jedes einzelnen Menschen betrifft, betrifft auch die Menschheit als solche. Wissenschaftler sprechen von einer „Kindheit der Menschheit" und von entsprechenden Entwicklungsstufen, die unsere Vorfahren durchlaufen haben, bis die Menschheit eben im Heute angekommen ist. Ob wir uns da schon als „erwachsen" bezeichnen können oder nicht doch noch als mitten in der Pubertät steckend - darüber gehen die Meinungen auseinander. Aber eines ist sicher: wir als aktuelle Vertreter des Homo Sapiens Sapiens unterscheiden uns erheblich von unseren Vorfahren, die vor 10000 Jahren diese Erde bewohnt haben, und zwar weniger vom Aussehen her, als von unserem Denken und Verstehen.
Der Horizont der Erkenntnis ist immer weiter geworden, der Radius der eigenen, menschlichen Verantwortlichkeit auch. Und das ist spannend und schön, aber auch anstrengend und manchmal beängstigend. Denn: es geht nicht nur einfach darum, dass wir mehr wissen. Die Frage ist vielmehr: was macht dieses Wissen mit uns? Was verlangt es uns ab?
Der Apostel Paulus schreibt in seinem Brief an die Korinther von dieser Entwicklung: „Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber erwachsen war, tat ich ab, was kindlich war." Wie Paulus das hier schreibt, hört sich das ganz selbstverständlich an. Aber an dieser Stelle können wir sagen: Paulus hat auch noch gut reden, weil er eigentlich nur auf sein individuelles Leben blickt. Denn das Erwachsenwerden der Menschheit hat so richtig erst 1500 Jahre nach ihm angefangen. Und bis heute arbeitet sich die Menschheit daran ab.
Es gibt eine kleine Geschichte, die deutlich macht, worum es geht. Da fährt ein Sioux-Indianer zum ersten Mal mit einer Eisenbahn. Als die Bahn einen Zwischenstopp einlegt, steigt er aus und setzt sich an den Wegrand. Dort bleibt er auch sitzen, als die anderen Passagiere wieder einsteigen und der Lokführer das Signal zur Weiterfahrt gibt. Der Schaffner kommt und fordert ihn auf, einzusteigen. Der Zug würde nun weiterfahren. Das kann ich jetzt noch nicht, sagt der Sioux. Warum denn nicht, fragt der Schaffner. Meine Seele ist noch nicht nachgekommen.
Im Grunde genommen verhält es sich mit dem Erwachsenwerden der Menschheit in den letzten 500 Jahren genauso: unser Wissen hat enorme Fortschritte gemacht, da sind wir unglaublich schnell vorwärts gekommen; aber unsere Seele ist nicht mitgekommen und mit ihr unser Glaube. Wir sind innerlich zerrissen - und das bekommt uns nicht und unserer Welt nicht. Wir bauen Atomkraftwerke, bedienen uns des Internets, schicken Satelliten ins Weltall und haben gleichzeitig Gottesvorstellungen und Glaubensbekenntnisse aus der Antike und dem Mittelalter. Das hat viele dazu gebracht, den Glauben, die Religion als solche ad acta zu legen. Andere haben sich entschlossen, eben in zwei Welten zu leben: in der Welt des Alltags, wo Wissen und Wissenschaft das Sagen hat, und in der Welt der Religion, wo das Denken ausgeschaltet und eben geglaubt wird - so wie es in der Bibel steht oder im Koran oder in der Thora oder in den Veden. Und weil im Alltag der Welt alles zu unberechenbar und unsicher geworden ist, deshalb muss wenigstens in der Welt des Glaubens alles fest sein und bleiben. Der Globalisierung in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft steht fast zwangsläufig der Fundamentalismus im Bereich der Religionen gegenüber. Und das ist wahrhaft mörderisch. Die entscheidende Frage ist: wie bekommen wir beides wieder zusammen: unser Wissen und Denken, unser Glauben und Fühlen? Damit wir uns heimisch fühlen können auf dieser Erde, in unseren immer mehr zusammenwachsenden Gesellschaften.
Ich möchte Sie einladen, den Weg des Gott-Denkens einmal nachzugehen - aus den Zeiten der Kindheit der Menschheit bis heute, um nachzuvollziehen und verstehen zu können, woher wir kommen und wohin wir gehen können und müssen, um mit Gott auf dem Weg zu bleiben. Denn alles Lebendige ist im Wandel begriffen, auch ein lebendiger Glaube. Auch von ihm gilt: nur was sich verändert, bleibt.
Auf dem Blatt, das Sie beim Eintreten in die Kirche bekommen haben, können wir uns sozusagen komprimiert vor Augen führen, welchen Weg in Bezug auf ihr Weltverständnis die Menschheit in den letzten 2500 Jahren zurückgelegt hat; und gleichzeitig können wir uns ein wenig einfühlen, was dieser Erkenntniszuwachs für die Psyche und Seele unserer Vorfahren wohl bedeutet haben mag.
Für den prähistorischen Menschen und auch noch für den Menschen des alten Orient - und dazu gehörte auch das Volk Israel - waren Weltsicht und Glaube noch eines. Der Himmel war oben und die Erde unten. Und wenn es im ersten Buch der Bibel in der Erzählung von Noah heißt, die Brunnen der Tiefe taten sich auf und die Fenster des Himmels und die Wassermassen stiegen an, bis dass auch die höchsten Berge vom Wasser bedeckt waren, dann entsprach das einfach der Vorstellung, die die Menschen damals von der Gestalt des Himmels und der Erde hatten. Eine Käseglocke kann tatsächlich volllaufen - und so stellten sich die Menschen damals die Erde vor. Gott, der war für sie nicht in der Wirklichkeit, sondern er stand der Wirklichkeit gegenüber, die himmlische Welt war über der irdischen Welt. Beide streng voneinander getrennt. Schöpfer und Schöpfung zwei verschiedene Dinge. Gott konnte selbstverständlich Wunder wirken, die Naturkräfte außer Kraft setzen. Er war allmächtig. Die Regeln und Maßstäbe für diese Welt kamen aus der himmlischen Welt. Die 10 Gebote, all die Ermahnungen der Propheten - sie waren Gottes Worte - wie die Heilige Schrift als ganze dann Gottes Wort war. Der Mensch hatte nur die eine Bestimmung: auf dem ihm zugewiesenen Platz Gottes Willen zu tun. Wenn er das tat, ging es ihm gut. Wenn er es nicht tat, dann drohte die Strafe von oben - gerade auch in der Form von Naturkatastrophen.
Doch der Forscherdrang ist schon immer dem Menschen zu eigen gewesen, und er richtete sich nicht nur auf die Erfindung und Herstellung neuer Werkzeuge. Besonders früh in der Menschheitsgeschichte begann er, den Himmel zu beobachten, die Sterne und ihre Bewegungen. Und immer bemüht, das, was er sah und beobachtete, in sein Weltbild einzuordnen. Das Weltbild des Ptolemäus zeigt da einen deutlichen Fortschritt in der Erkenntnis: es unterscheidet zwischen Planeten und Fixsternen, es geht von einer Erdkugel aus, die allerdings das Zentrum des Universums ist, um die nicht nur der Mond, sondern auch die Sonne kreist. In solch einem Weltbild ist der Mensch noch unangefochten die Krone der Schöpfung. Etwa 1400 Jahre hielt dieses Weltbild: Gott war immer noch oben und der Welt gegenüber, die Menschen unten, aber doch das bevorzugte Wesen, mit Verstand und Gottesfurcht begabt. Es war einfach in dieser Zeit vernünftig, an Gott zu glauben. Vernunft und Glauben waren Zwillinge.
Das änderte sich dramatisch im 15. und 16.Jahrhundert.
Der Forscherdrang führte nun zu Erkenntnissen, die sich nicht mehr einordnen ließen in das von der Kirche gehütete Weltbild, die sich als Sachwalterin Gottes verstand, von Gott dazu ermächtigt. Das Bild rechts oben auf dem Blatt illustriert dieses Geschehen. Der Mensch in seinem Erkenntnisdrang bricht aus, er überschreitet die ihm gesetzte Grenze, er schaut hinter die Dinge und entdeckt eine neue Welt, faszinierend und von überraschend anderer Schönheit. Für diesen Aufbruch stehen Namen wie Nikolaus Kopernikus und Galileo Galilei. Ihre Entdeckung: die Erde ist ein Planet, der sich wie Mars und Jupiter um die Sonne dreht, lässt sich nicht mehr in das herrschende Weltbild einordnen, sondern es stellt dieses in Frage und damit auch die Ordnung von Herrschaft - und den Stellenwert des Menschen in der Schöpfung. Wenn die Erde aus dem Mittelpunkt rückt, dann ja auch der Mensch!
An dieser historischen Zeitenwende versagen die führenden und verantwortlichen Kirchenmänner jämmerlich. Statt Vernunft und Glauben beieinander zu halten und zu sehen, wie der Glaube die Vernunft weiter begleiten kann, um so dem Menschen zu dienen, ihm zu helfen, sich in dieser Welt behütet und geborgen zu fühlen, auch wenn er nun auf der Erde nicht mehr der Mittelpunkt des Universums ist, setzen sie gewaltsam durch, dass die Vernunft sich dem Glauben unterzuordnen hat. Was der Glaube, sprich: die herrschende Kirche mit ihrer Theologie nicht für richtig hält, das darf nicht sein und das ist dann auch nicht. Wir wissen: angesichts der drohenden Folter widerrief Galileo seine Erkenntnisse. Andere blieben standhaft und gingen dafür aufs Schafott oder auf den Scheiterhaufen. Doch das Denken, die Vernunft ließ sich nicht auf Dauer klein halten. Und schon gar nicht ließ sich auf Dauer leugnen, was einfach wirklich war, was erfahrbar und erforschbar war. Die Kirchenoberen der katholischen wie auch der reformatorischen Kirchen fochten einen Kampf aus, den sie verlieren mussten. Das betraf nicht nur die Bereiche der Naturwissenschaften - zum Beispiel auch die Entdeckungen, die Charles Darwin im 19.Jahrhundert machte - sondern auch die Geistes- und Geschichtswissenschaften, zu denen auch die Theologie gehörte. Groß war die Abwehr und sie ist es in vielen Kreisen bis heute, als im 19.Jahrhundert nachgewiesen werden konnte: die Bibel ist ein von Menschen über Jahrhunderte hin geschriebenes Buch, eine Schriftensammlung von ganz unterschiedlichen Schriftarten. Zwar konnten die Kirchenoberen die Wissenschaftler und Entdecker neuer Erkenntnisse nicht mehr physisch vernichten, dazu reichte ihre Macht nicht mehr, der Säkularisation sei Dank, aber sie bedrohten sie mit der ewigen Verdammnis - und auch alle die, die sich dem neuen Denken öffneten. Was wahr und wirklich war, das bestimmte die Kirche von oben her und sie setzte alles in Gang, dass wenigstens in ihren Reihen alles beim Alten blieb. Rechtgläubig war, wer die Glaubensvorstellungen der Antike und des Mittelalters eins zu eins teilte.
Der Preis, den das Christentum dafür bis heute zahlen muss, ist schrecklich hoch. Ich rede noch nicht einmal von den vielen, die den Glauben an Gott gänzlich aufgegeben haben, weil sie ihn nun nicht mehr brauchen, um die Welt und die Wirklichkeit zu verstehen. Und die ihn als Kraftquelle für ihre Seele nicht kennengelernt haben und folglich nicht vermissen. Ich rede auch nicht von denen, die beschlossen haben, die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften in Bezug auf die Entstehung des Kosmos und des Lebens auf dieser Erde schlicht zu ignorieren und weiter zu behaupten, Gott im Himmel habe die Erde in 6 Tagen vor etwa 6000 Jahren geschaffen, denn so würde es ja in der Bibel stehen und die Bibel hat recht. Ich rede von denen, die innerlich zerrissen sind. Die auf der einen Seite natürlich zur Kenntnis nehmen, was die Wissenschaften herausgefunden haben, die aber für ihr Leben in dieser Welt und Wirklichkeit eine Kraftquelle brauchen, die Beziehung zu Gott, für die der Glaube einfach unerlässlich ist. Und die sich dann gezwungen sehen, ihren Verstand, wenn es um Fragen des Glaubens geht, zu großen Teilen abzustellen, für die es zwei Welten gibt: die reale Welt und die Welt des Glaubens. Und was in der realen Welt ganz klar und logisch ist, das gilt in der Welt des Glaubens nicht. Ein Beispiel: wenn solch ein Mensch eine Tochter hat und die käme zu ihm und würde ihm gestehen, Mutter/Vater, ich bin schwanger, dann ist es für ihn/sie völlig selbstverständlich zu fragen, wer denn der Vater ist. Mit einer Antwort „Das war der Heilige Geist" würde er sich nie zufrieden geben. Aber gefragt, ob er denn glaube, dass Maria Jesus empfangen hat vom Heiligen Geist, dass sie Jungfrau gewesen sei, da wird er dann sagen: warum nicht; bei Gott ist doch nichts unmöglich. Eine schizophrene Welt! Oder freundlicher: solch ein Glaube ist im Kinder-Stadium des Glaubens stecken geblieben. Wenn der 4jährige Felix mir im Brustton der Überzeugung sagt, mein Papa kann alles, dann stimmt das für ihn. So erlebt er es. Wenn er das mit 10 Jahren noch immer sagt, dann würde ich mich schon sehr wundern. Und von einem Erwachsenen habe ich solch einen Satz noch nie gehört. So ist das auch mit dem Glauben. Der Glaube an einen allmächtigen Gott, der alles kann, auch gegen die Naturgesetze, der gehört in die Kindheit der Menschheit. Dort war er stimmig, weil die Menschen es so erlebten und erfuhren. Aber heute stimmt es so nicht mehr mit den Erfahrungen überein. Es kommt darauf an, erwachsen zu glauben. Glauben und Verstehen wieder zu Geschwistern zu machen.
Der biblische Glaube gibt uns dazu durchaus Hilfestellung. Alle Rede von Gott bedient sich ja der Bildersprache. Und diese Bilder sind Symbole, sind Fingerzeige auf Gott, aber nicht Gott selbst. Und diese Bilder sind abhängig von der Wirklichkeit, in der die Menschen, die sie brauchen, leben. Und so haben sie sich auch gewandelt, wenn sich die Lebenswirklichkeit der Menschen verändert hat; und das können, ja müssen sie auch heute noch. Sonst können sie ja nicht mehr auf den lebendigen Gott hinweisen, der ein mitgehender Gott ist, der uns durch die Zeiten begleitet auch in allen Veränderungen. Der hebräische Gottesname wird übersetzt mit „Ich bin, der ich bin; ich werde sein, der ich sein werde."
Und wenn wir schon das Bildwort von Gott als Vater haben, dann sollten wir es auch ernst nehmen in der Weise, dass doch jeder Vater möchte, dass sein Kind erwachsen wird, vernünftig und selbstverantwortlich. Ein Kind, das erwachsen geworden eben erkennen kann, dass sein Vater nicht alles kann und macht, sondern dass es selber gefragt ist.
Liebe Gemeinde, erwachsen zu glauben, das heißt für mich: Gott nicht jenseits dieser Welt und Wirklichkeit anzusiedeln, nicht über mir, sondern ihn in dieser Welt und Wirklichkeit zu erfahren, wo immer mir das möglich ist, ihn in mir zu suchen und wirksam werden zu lassen. Erwachsen zu glauben, das heißt für mich, meine Verantwortung wahrzunehmen für das gemeinsame Projekt „Reich Gottes": ob nämlich Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Güte, Frieden und Liebe wirk-mächtige Wesensäußerungen Gottes sind oder nur wohlfeiles frommes Gerede, das liegt auch an mir, an dir, an jedem von uns. Es liegt wirklich in der Verantwortung derer, die auf dieser Welt leben. Gott hat seinen Teil getan - er hat seine Gedanken in uns eingepflanzt, und nun ist es an uns, sie zu denken und danach zu handeln. Das heißt: erwachsen zu glauben.
„Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber erwachsen war, tat ich ab, was kindlich war."
Der Horizont unserer Erfahrungen, unseres Wissens und unserer Erkenntnisse ist in der Tat viel weiter als noch vor 200 Jahren, unendlich weiter als zur Zeit des Apostels Paulus, aber der Radius eigener Verantwortlichkeit eben auch. Das ist spannend und schön, aber auch anstrengend und manchmal beängstigend. Der Ruf nach dem Vater, dem starken Mann, der's richten soll in kritischen Zeiten, drängt sich immer wieder auf. Aber Hilfe ist von dort nicht zu erwarten. Wohl aber ist uns zugesagt, dass wir nicht alleingelassen sind, dass Gott seine Gedanken weiter in uns denken wird und dass er uns Kraft schenken will aus der Quelle, die in uns selbst von ihm angelegt ist. Suchen wir Gott da, wo allein er von uns gefunden werden kann - in der Tiefe unseres Herzens.
Amen
3.S.n.Epi., 26.01.2014, Apg.10,21-35, Mutterhauskirche, Ulrike Heinmann
„Es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes."
Das hört sich doch ganz gut an, was da der Wochenspruch aus dem Lukasevangelium ansagt. Mal eine positive Zukunftsansage, liebe Gemeinde, und die brauchen wir doch dringend. Auf der Landessynode unserer rheinischen Kirche waren solche positiven Zukunftsansagen nicht zu vernehmen. Da ging es ums Sparen, um die Aufgabe von Arbeitsfeldern der evangelischen Kirche... Denn unsere Kirche „schrumpft"; das liegt an der demographischen Entwicklung in unserer Gesellschaft und auch daran, dass immer noch viele Jahr für Jahr der Institution Kirche den Rücken kehren und weggehen.
Das wäre doch was, wenn wir heute genau das erleben könnten, was Lukas da geschrieben hat: „Es werden kommen ..."
Der heutige Predigttext nimmt diese Zukunftsansage auf. Aber er zeigt auch auf: das Wachsen des Reiches Gottes wurde und wird nicht immer und nicht überall mit Wohlgefallen gesehen. Denn es geht einher mit Grenzüberschreitungen und Tabubrüchen. Das Reich Gottes ist im wahrsten Sinne des Wortes eine „Zumutung" - besonders für die, die meinen, es ganz besonders ernst mit Gott und dem Glauben zu nehmen.
„Es werden kommen von Osten und Westen, von Norden und Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes."
Das Bild von der Tischgemeinschaft ist ein vertrautes Bild, das Jesus immer wieder in seinen Gleichnissen aufgegriffen hat, mit dem er die Zukunft des Reiches Gottes vor Augen malte. Miteinander zu essen, das war der Inbegriff einer „heilen Welt", in der alles Trennende, alle Feindschaft überwunden ist.
Aber das war zu Jesu Zeiten eben Zukunftsansage. Für das Judentum damals gab es strenge Vorschriften, mit wem man sich zusammen an einen Tisch setzen durfte. Nämlich nur mit Juden. Gastfreundschaft war wichtig, aber sie galt nur den eigenen Volks- und damit Glaubensgenossen. Tischgemeinschaft setzte Volks- und Glaubensgemeinschaft voraus. Das gab es übrigens auch bei anderen antiken Völkern; aber nirgends mit der Konsequenz, wie es das Judentum praktizierte. „Es werden kommen von Osten und Westen, von Norden und Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes" - dieser Satz war für fromme Juden eine Provokation, eine Bedrohung. Die Heidenvölker, sie waren doch unrein. Wer mit ihnen verkehrte, der schloss sich damit selbst vom Volk Gottes aus. Nein, lieber der heilige Rest sein, der sich für Gott rein bewahrte als ein Wachstum, das Fremde mit an den Tisch brachte.
Liebe Gemeinde, auch für die ersten christlichen Gemeinden, die ja aus Juden bestanden, die sich zu Jesus von Nazareth als ihrem Messias bekannten, war lange nicht ausgemacht, ob sie sich wirklich darüber freuen sollten, dass da Menschen von Osten und Westen, von Norden und Süden kommen, Fremde also, Gojim ~ Heiden, Unreine, mit denen man zusammen am Tisch im Reich Gottes sitzen würde. Gebot es ihnen nicht ihr Glaube, unter sich zu bleiben? Alle Regeln der religiösen Tradition? War das nicht Gottes Wille und sein Gebot? Ja, hatte es nicht auch Jesus selbst so gehalten, sah er sich nicht gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel? Der Predigttext aus der Apostelgeschichte setzt genau da an, an diesem Konfliktpunkt. Im 10.Kapitel ver-dichtet Lukas in wahrstem Sinne des Wortes die Auseinandersetzungen, die sich sicher über eine viel längere Zeit hingezogen haben, wo lange nicht klar war, wie sie enden würden.
Im Zentrum des 10.Kapitels stehen zwei Gestalten: Petrus, der Leiter der Jerusalemer Gemeinde, und der römische Hauptmann Kornelius. Mit diesem beginnt Lukas auch seine Geschichte. Kornelius „war fromm und gottesfürchtig mit seinem ganzen Haus und gab dem Volk viele Almosen und betete immer zu Gott." Für fromme Juden und Judenchristen ist er aber ein unreiner Heide. Da hilft ihm alles Frommsein und alle guten Taten nichts. Dieser Kornelius, erzählt Lukas weiter, hat an einem Nachmittag eine Vision. Ein Engel erscheint ihm: „Deine Gebete und deine Almosen sind vor Gott gekommen und er hat ihrer gedacht. Sende Männer nach Joppe und lass Simon genannt Petrus holen. Der ist zu Gast bei einem Gerber namens Simon, dessen Haus am Meer liegt." Ob Kornelius, der selbst nie eine Synagoge betreten hatte, nie eine Unterweisung in den Heiligen Schriften, in der jüdischen Tradition erhalten hat, ob er „richtig" geglaubt hat, ob seine Gebete und Gottesvorstellungen „richtig" waren, so wie es ein Rabbiner, ein Priester beurteilen würde, das wage ich zu bezweifeln. Aber Gott hat ihn gehört und seine Taten gesehen - und bei ihm sind sie gut angekommen.
An dieser Stelle wechselt Lukas nun die Szene. Wir befinden uns nun in Joppe, im Haus des Gerbers Simon, direkt am Meer. Keiner dieser Hinweise ist zufällig von Lukas so angeführt. Der Beruf eines Gerbers war bei den Juden alles andere als gut angesehen. Ein Gerber verarbeitet Tierhäute, es riecht, nein: es stinkt dort nach Aas und Urin. Dass Petrus dort zu Gast ist, zeigt an, dass er sich schon ein gutes Stück bewegt hat auf dem Weg der Auseinandersetzung um rein und unrein, dass er sich zumindest darum bemüht, das, was vielen eklig und widerwärtig ist, auszuhalten und zu ertragen. Dass er sich darum bemüht, einen anderen, weiteren Blick zu bekommen: der Horizont ist über dem Meer weiter als in den eigenen vier Wänden.
Es ist Mittag und Petrus steigt auf das Dach des Hauses, um das rituelle Mittagsgebet zu verrichten. Lukas schreibt: „Als er hungrig wurde, wollte er etwas essen. Während sie ihm aber etwas zubereiteten, geriet er in Ekstase; er sah den Himmel aufgetan und etwas wie ein großes leinenes Tuch herabkommen, an den vier Zipfeln niedergelassen auf die Erde. Darin waren alle vierfüßige und kriechende Tiere der Erde und Vögel des Himmels; und eine Stimme forderte ihn auf: „Steh auf, schlachte und iss!" Petrus aber sprach: O nein, Herr, ich habe noch nie etwas Verbotenes und Unreines gegessen." Und die Stimme sprach: „Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht verboten." Insgesamt dreimal hört er die Aufforderung und weist sie dreimal zurück. Dann verschwindet die Erscheinung und lässt Petrus zunächst ratlos zurück. Wollte Gott ihn versuchen? Schlachte und iss. Was da nicht alles in dem Tuch gewimmelt hat: Schwein und Schlange, Huhn und Hase, Salamander und Kröte. Schlachte und iss - das war sozusagen Dschungelcamp vor 2000 Jahren! Doch Petrus sieht sich nicht in der Lage; er kennt den Unterschied zwischen rein und unrein, zwischen erlaubt und verboten. Es geht eben nicht nur um ungewohnt und eklig, sondern um Gott-gewollt und von Gott verboten. Doch genau das wird hier in Frage gestellt: „Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht verboten." Das soll eine Stimme aus dem Himmel sein? Ist das nicht eher eine teuflische Versuchung?
Für fromme Juden, Muslime und auch Hindus bis heute ist es eher das zweite. Denn ihre religiösen Speisegesetze sind eindeutig.
Während Petrus nun noch über diese Erscheinung grübelt, klopfen die Abgesandten des Kornelius bei dem Gerber Simon an die Tür und fragen nach Petrus. Petrus kommt vom Dach herunter und sagt zu ihnen: „Ich bin's, den ihr sucht, warum seid ihr hier?" Sie berichten von den Erlebnissen ihres Hauptmannes Kornelius und bitten ihn, mit ihnen nach Cäsarea zu gehen. Daraufhin tut Petrus etwas, was er vorher noch nie getan hat: er bittet die heidnischen Römer ins jüdische Haus und beherbergt sie bis zum nächsten Morgen, um sich dann mit ihnen auf den Weg zu machen. Was hatte die Stimme in der Vision zu ihm gesagt: „Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht verboten." Dass ausgerechnet zu derselben Stunde diese Fremden, diese Heiden an die Tür geklopft haben, war das Zufall? Heiden - Unreine; oder nicht vielmehr Geschöpfe Gottes? In Petrus ist etwas in Bewegung geraten, es arbeitet in ihm, auch, als er sich mit den Fremden am nächsten Tag auf den Weg nach Cäsarea macht. „Und einige Brüder gingen mit ihm", schreibt Lukas. Ich kann mir gut vorstellen, dass nicht wenige in der Gemeinde über das Verhalten des Petrus, Heiden in ein jüdisches Haus zu lassen, vorsichtig formuliert irritiert waren: Hatte er vielleicht auf dem Dach einen Sonnenstich bekommen? Zumindest schien er von allen guten Geistern verlassen zu sein. Aber es war eben Petrus; doch eine Begleitung war auf jeden Fall angebracht; wer weiß, auf welche Ideen er sonst noch kommt.
Als die Reisenden am nächsten Tag in Cäsarea am Haus des römischen Hauptmanns ankommen, „ging Kornelius Petrus entgegen und fiel ihm zu Füßen. Petrus aber richtete ihn auf und sprach: Steh auf, ich bin auch nur ein Mensch."
Mir fällt dazu die Szene auf dem Balkon des Petersdoms ein, als der gerade neu gewählte Papst Franziskus die jubelnde Menschenmenge auf dem Petersplatz mit einem schlichten „Guten Abend" begrüßte - eben als Mensch zu Menschen, keine weihevolle Formelsprache - und dann um ein Gebet für sich bat, bevor er seinen Segen den Menschen zusprechen wollte. Petrus will Kornelius jedenfalls auf Augenhöhe begegnen. Nur so kann eine echte Begegnung überhaupt gelingen. „Steh auf, ich bin auch nur ein Mensch." Eine Erkenntnis, die man sich auch für Regierungschefs und Wirtschaftsbosse wünscht und für Amtsträger aller Couleur.
Und dann springt Petrus endgültig über seinen Schatten, über die Mauer, die seine jüdische Tradition in Jahrhunderten gebaut und gepflegt hat: er betritt das Haus eines Heiden. Das ist ihm selbst noch so unheimlich, dass er es Kornelius und den im Haus Anwesenden Verwandten und Freunden des römischen Hauptmanns sofort erklären muss: „Ihr wisst, dass es einem jüdischen Mann nicht erlaubt ist, mit einem Fremden umzugehen oder zu ihm zu kommen; aber Gott hat mir gezeigt, dass ich keinen Menschen meiden oder unrein nennen soll. Darum habe ich mich nicht geweigert zu kommen, als ich geholt wurde. So frage ich euch nun, warum ihr mich habt holen lassen." In diesem Moment hat sich Petrus entschieden: die Stimme in der Vision, es war keine teuflische Versuchung, sondern es war Offenbarung: ein neues Verständnis hatte sich aufgetan: nichts, was ist, ist unrein, verboten, böse. Wie es keine unreinen Speisen gibt, so gibt es auch keine unreinen Menschen. Eine revolutionäre Einsicht, erschütternd und durchaus beängstigend. Die Freiheit, die hinter dem „alles ist erlaubt" steckt, macht Angst, weil sie uns alle Stützen, die Ge- und Verbote der Tradition ja sind, aus den Händen schlägt.
Kornelius erzählt nun von seiner Vision und schließt seine Rede: „Nun sind wir alle hier vor Gott zugegen, um alles zu hören, was dir vom Herrn befohlen ist." Nun kann Petrus nichts anderes als zu bekennen: „Jetzt erfahre ich in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht; sondern in jedem Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm."
Bei Gott gibt es keine Reinheitsvorschriften, kein Mensch ist verboten. Keiner darf per se gemieden werden aufgrund seiner Volkszugehörigkeit, seiner Religion. Vielmehr: alle Menschen sind Gott angenehm, die ihm und ihren Mitmenschen in Liebe und mit Respekt begegnen. Wie es der Prophet Micha geschrieben hat: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Gott von dir fordert, nämlich Gottes Weisungen halten und Liebe üben und den Weg mit Gott gehen.
Liebe Gemeinde, Lukas gibt uns mit dieser Geschichte tiefen Einblick in die Konflikte, die die junge christliche Gemeinde, die ja aus Juden bestand, durchzustehen hatte, bis der Weg frei war, christliche Gemeinde als Gemeinde aus Juden und Heiden zu sein, so wie es das schöne Wort aus dem Galaterbrief formuliert: Hier ist nicht Jude noch Grieche, nicht Mann noch Frau, sondern alle sind eins in Christus. Ohne Tabubruch, ohne den Mut zur Grenzüberschreitung wären wir heute nicht hier als Gemeinde versammelt. Das war Schwerstarbeit für den Heiligen Geist, so jedenfalls erzählt es uns Lukas. Er schreibt: „Während Petrus noch diese Worte redete, fiel der heilige Geist auf alle, die dem Wort zuhörten. Und die gläubig gewordenen Juden, die mit Petrus gekommen waren, entsetzten sich, weil auch auf die Heiden die Gabe des heiligen Geistes ausgegossen wurde." Doch Petrus geht nicht hinter seine neue Erkenntnis zurück: die Gemeinde Jesu, sie wurde damals „Gemeinde des neuen Weges" genannt", steht allen offen und so tauft er alle die mit Wasser, die Gott selbst längst mit Geist getauft hat. Doch der Kampf um diesen neuen Weg war damit noch nicht beendet; wir wissen, dass Petrus selbst „rückfällig" geworden ist, die Tischgemeinschaft mit Nicht-Juden gemieden hat; solch fundamentale Veränderungen sind offensichtlich nur schwer durchzuhalten.
Liebe Gemeinde, die Auseinandersetzungen, die Lukas uns schildert, sind - Gott sei Dank - nicht mehr die unseren. Für uns stehen ganz andere Fragen zur Diskussion, weil sich die Welt weiterentwickelt hat. Doch das Konfliktpotential ist mindestens genauso hoch. Für unsere Kirche, für unsere Gesellschaft.
„Es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes." Wohl gemerkt: es geht um das Reich Gottes, nicht um die christliche Kirche. Es geht nicht um neue Kirchenmitglieder, sondern um das Zusammenleben und -arbeiten aller Menschen in der einen Welt Gottes. Und die kommen eben nicht nur aus allen Himmelsrichtungen, sondern sie haben auch sehr unterschiedliche kulturelle und religiöse Wurzeln und Traditionen. Und auch von ihnen gilt, was Petrus erkannt hat: sie sind so, wie sie sind und kommen, Gott recht, sofern sie ihren Mitmenschen in Liebe und Respekt begegnen und sich verantwortlich wissen vor Gott, gegenüber allem Lebendigen. Im Geist Jesu ist auch die Kirche nicht um ihrer selbst willen da, sondern nur, um die Arbeit am Reich Gottes voranzubringen. „Es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes." Für mich ist nach längerem Nachdenken klar - eine Vision habe ich leider nicht gehabt: es ist Zeit, das Abendmahl nicht nur als Mahlgemeinschaft der Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu zu begreifen und zu feiern, also mit denen, die getauft sind (für die katholische Kirche reicht das ja leider noch nicht einmal), sondern heute sollten wir das Abendmahl feiern als Tischgemeinschaft derer, die am Reich Gottes arbeiten - egal welcher Religion einer angehört. Sondern jeder, der sich eingeladen fühlt, soll kommen dürfen. Ich bin mir sehr bewusst, dass das ein Tabubruch ist, ein Verstoß gegen die Kirchenordnung. Aber wie es schon der Psalmist weiß: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen" (Ps.18,30) Ich glaube jedenfalls, dass es der Geist Gottes ist, der uns neue Wege wagen lässt im Dienst am Reich Gottes.
Amen.
3.So.n.Epiphan. 26.01.2014 Stadtkirche Apostelgeschichte 10,20-35 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.So.n.Epiphan. - 26.I.2014
Apostelgeschichte 10,20-35
Liebe Gemeinde!
Wir sind eklig! – Und das ist noch nicht einmal moralisch gemeint, sondern schlicht physisch.
Obwohl wir uns die Zähne putzen und diverse Mittel und Methoden der Körperpflege selbstverständlich nutzen, die noch zu den Zeiten, aus denen unsere schöne Kirche stammt, für arg frivol gegolten hätten – tägliche Ganzkörperwaschung, Rasur unterhalb des Kragens, Christen mit unnatürlicher Haarfarbe?! – sind wir physisch ekelerregend. Vielleicht nicht für einander, aber für viele unserer Artgenossen dennoch zweifellos.
Das hängt vordergründig oft genug mit unseren Speiseplänen zusammen.
Dazu ist für mich eine Kindheitserfahrung ungeheuer eindrücklich geblieben aus der Zeit, als die vietnamesischen Bootsflüchtlinge Europa erreichten. Die christlichen Kirchen in England organisierten sofort Gemeindepatenschaften für diese Menschen, und bald schon fanden wir uns am überreich gedeckten Tisch einer vietnamesischen Familie wieder, die nichts besaß und restlos entwurzelt war, aber die Essgewohnheiten und großzügige Gastfreundschaft ihrer Heimat auch im Unglück schlecht und recht behauptete. Als Achtjähriger saß ich zum ersten Mal vor einem Plastiktischtuch auf dem nackten Boden, dessen Schüsseln und Behälter Abenteuerliches vorwiesen. Mir gegenüber saß die Großmutter, sprachlos, zahnlos, heimatlos … und überschwenglich dankbar. Sie zwirbelte zwei Stäbe, die mich faszinierten und führte mit ihnen die durchsichtigen, scharfen, fremden Speisen zu einem Mund, dessen tiefschwarz gefaulte Gaumen mit einem einzigen gelben Stummel mich bannten. Nachdem sie die Stäbchen zielsicher dorthinein befördert hatte, war sie liebenswürdig und bediente mit den gerade wieder aufgetauchten Stäbchen auch meine Schüssel. Die Sitten, die Speisen, die Unmittelbarkeit: ……. Es bleibt unvergessen. ——
Doch wie leicht machen wir es uns, die fremden Sitten zu beanstanden: Den Knoblauch, den die Fremden ausdünsten; seltsame, unerhörte Gaumenfreuden, die dem Empfindsamen Übelkeit erregen; die ganze wohlfeile Widerlichkeit, bei der die Zuschauermeute des Dschungelcamp sich Gruselgenuss verschafft.
— Dabei sind unsere Gewohnheiten doch auch keine Kost für andere Mägen.
Das habe ich ebenfalls als Kind am eigenen Leib erfahren und lernen müssen.
Wir waren sieben Freunde, die alles gemeinsam hatten, was man mit 10, 11, 12 Jahren teilt. Nur: Wenn wir aßen, konnte ich keinem meiner liebsten Kameraden auch nur einen Bissen anbieten; sie hätten weder Brot, noch Süßes essen können, die von mir kamen; und wo sie selbst mich großzügig zu ihren feierlichen Sabbatmahlen und herrlichen Festen einluden, konnte bei mir zuhause keiner von ihnen auch nur ein Glas Wasser trinken.
Warum? Welcher Abscheu steht dahinter?
– Die tiefe, heilige Abneigung dagegen, wie wir Nichtjuden Blutiges verzehren und wie wir Blut und Unschuld mischen, indem wir das Getötete - Fleisch - und das Lebenspendende - Milch - nicht auseinanderhalten.
Freundschaften aber, die die Trennung am Tisch ertragen, weil sich dort wirklich nichts Verbindendes bietet, sind stark, da doch auch Liebe sprichwörtlich den Weg durch den Magen sucht und braucht.
Dass nun aber niemand so leicht und herablassend, wie wir gerne sind, sage: Die Gesetze und Rituale für koschere Speisen seien zeitbedingt, engstirnig oder willkürlich.
Das Grundgebot, das dabei dem Menschen den Genuss von Blut verbietet, ist mehr als nur ein urzeitliches Tabu. Es ist die biblisch elementare Ehrfurcht vor dem Leben, die den „ganz besonderen Saft“ der menschlichen Verfügung in jeder Hinsicht für immer entzieht, so dass im Grunde genommen aus der Küche der Bibel jene Rezepte stammen, die uns in Fragen des Tötungsverbotes und der Sterbehilfe, der Genmanipulation und des Tierschutzes das Heilsame und Heilige lehren: „Kein Blut gehört Euch; nie dürft Ihr Euch seiner bedienen!“ – wobei wir Christen umso hellhöriger werden für die eine große Ausnahme Dessen, Der Seines für uns hingibt … und im medizinischen Bereich für die Ausnahme der Blut- oder Organspende!
Eben darum aber gilt – ohne Übertreibung und ohne Abzug – dass wir eklig sind.
Jedes Stück Flönz, jedes rare Steak sind biblisch ein Greuel – übrigens nicht etwa nur alttestamentlich betrachtet! Denn kurz nachdem mit dem Hauptmann Cornelius das Heiden-christentum begann, entschieden die Apostel – in deren Namen wir eben noch unseren Glauben bekannt haben – dass für alle Christen weltweit vier Grundverbote unabdingbar seien:
Wir sollen den Kult und Dienst der Götzen meiden, kein Blut vergießen, die „Porneia“ – also die „Unzucht“ im umfassenden Sinn – unterlassen und Fleisch nur dann verzehren, wenn kein Blut in ihm mehr stockt, es also geschächtet wurde (vgl. Apg15,20+29 / 2125).
Wer immer fordert, ein Christ müsse und könne die Bibel selbstverständlich wörtlich befolgen, findet hier vier ganz schlichte, unmissverständliche Ausgangspunkte. …….
… Doch den möchte ich unter uns sehen, der nicht erkennen muss: Ich bin eklig – spätestens beim Metzger. ——
Und das ist – trotz der für uns völlig geschiedenen Bereiche von Küche und Kirche – keine vernachlässigenswerte Kleinigkeit, wie man spätestens am Wahlkampfthema der verordneten Gemüsekost merken konnte. Wenn wir aber bis heute allen Humor verlieren, wo die Bauch-Freiheit bedroht wird, dann könnte es ja auch theologisch immer noch um die Wurst gehen.
Zumindest insofern, als wir alle uns von der Bibel sagen lassen müssen: Wie und was ihr esst, das ist zweideutig, unsauber … es liegt ein ungeklärter Verdacht über aller eurer Nahrung, dass wer auf Blut und andere eingefleischte Vorlieben nicht verzichten kann, sich auch sonst nichts sagen lassen würde, wo’s um seinen Appetit und seine Triebe geht. Und so bleibt ihr in eurer elementarsten Kreatürlichkeit, beim Zusammenhalt von Leib und Seele vielleicht doch immer noch halbgare Wilde, die knurren, wenn man an ihre Beute will. ——
Nun ist genug vom Fressen geredet! — Endlich zur Moral! Die nun nicht unsere Moral ist. Sondern der erstaunliche Abschied und Verzicht der biblischen Heiligen, der Jünger und Apostel Jesu auf ihre Moral!
Sie waren erzogen, sie waren gespeist und durchtränkt mit der zur zweiten Natur gewordenen Abwehr gegen die zweifelhafte, zügellose Welt des Heidentums, in der die Dinge des Fleisches – also die Gelüste, das Geschlechtliche, das Körperliche mit seinen Bedürfnissen, die rohen Triebe der Seele – sich einfach durchsetzen. ——
Ob es uns also beleidigt oder nicht: Unsereins war den Boten Jesu Christi instinktiv widerlich – so wie das Gewimmel der unreinen Viecher, das dem Petrus in seinem Albtraum erschien.
Und diese Voraussetzung ist entscheidend für das Werden der Kirche!
Wenn wir also tatsächlich das Gespür für die verbindlichen und bis in tiefe Schichten des Unterbewusstseins reichenden Koscher-Gesetze verloren haben, dann müssen wir uns ehrlich fragen, was an deren Stelle bei uns sitzt und ähnlich wirkt.
Denn wir kommen nicht durch mit der Heuchelei, als seien wir vorurteilsfrei und jeder Mensch uns gleichermaßen genehm und willkommen. Das stimmt nicht.
Noch Karl Barth konnte – in einem berühmt-berüchtigten Brief an meinen Onkel gestehen, dass er „…in der persönlichen Begegnung mit dem lebendigen Juden (auch Judenchristen!), solange ich denken kann, immer so etwas wie eine völlig irrationale Aversion herunterzuschlucken hatte…“*, - was den großen Theologen zwar nicht ehrt, aber ehrlich macht.
Und ohne es im Einzelnen vertiefen zu wollen, wissen wir doch, dass hier um uns herum und in unserer eigenen Haut Leute sitzen, die von uneingestandenen Vorbehalten nur so strotzen: Einem geheimen Misstrauen gegenüber Katholiken, einem tiefen Ressentiment gegen Polen oder Russen, echter, offener Furcht vor Muslimen, verstohlener oder aggressiver Abscheu gegenüber homosexuellen Menschen und panischer Abwehr gegen die sog. „Zigeuner“, Bulgaren, Balkanbewohner. Das behaupte ich nicht, denn es ist eine Tatsache, … Deine Tatsache, meine Tatsache.
— Nur wenn wir uns das aber eingestehen, werden wir die Voraussetzungen erreichen, die auch uns zu Gliedern der Kirche machen.
Denn die Kirche Jesu Christi ist nicht der Kreis jener, die alles gleichermaßen großartig und natürlich, bereichernd und selbstverständlich finden: Dieser Menschenschlag wird ja erst demnächst in Baden-Württemberg gezüchtet und wird wie jede gute oder üble ideologische Schöpfung nur die Mechanik, nie aber das Menschliche am Menschen ändern können.
Die Kirche Jesu Christi ist also der Kreis der kultivierten und der bornierten, der hochgeistigen, frommen und der unbedachten, dumpfen Vorurteilsträger und Berührungsängstlichen.
Doch mitten in deren angestammte Abwehrgewohnheiten, mitten in deren naive, aber identitätsstiftende Abneigungen, mitten auch in deren reflexartige, kaum beherrschbare Spontanreaktionen hinein trifft das Wort des Petrus:
„Gott hat mir gezeigt, dass ich keinen Menschen meiden oder unrein nennen soll.“
Und die Christen, … die wahren Christen wissen, dass dieses Wort nicht nur viel verlangt, sondern noch mehr schenkt! Denn es ist der Grund unseres Heils, es ist die Rettung und Gnade, der wir es verdanken, dass wir heute hier sind!
Dass es kein Ansehen der Person bei Gott gibt, ist ja die Bedingung jener Möglichkeit, die man kaum für möglich halten sollte und die wir „die Kirche“ nennen: Ein Volk aus allen Völkern, eine heilige Gemeinschaft aus unheiligen Menschen, eine gute und gerechte Sammlung, die aus lauter Querköpfen und Sündern besteht!
Wir sind ja wahrlich von Natur aus nicht die liebsten Menschen hier … und dennoch Geliebte. Wir sind nicht die Hellsten … und dennoch strahlt das Licht der Welt über uns. Wir sind nicht die Selbstlosesten, nicht die Aufrichtigsten, nicht die Besten, die es unter den Menschenkindern gibt, aber dennoch hat Gott selbst uns Seine Wahrheit und Güte zugewendet.
Und das ist also die Kirche Jesu Christi:
Die Gemeinschaft solcher, die es wissen und verstehen, dass sie nicht darum an Gottes Herz und Tisch gehören, weil sie so nett und lecker sind, sondern dass sie dort sicher und satt sein dürfen, obwohl sie scheußlich sein mögen.
Denn – so haben es zahllose Männer und Frauen nach dem Hauptmann Cornelius erfahren – Gott sieht nicht auf mich und meine Vorzüge, meine Titel, Taten, Theologie: Für das alles ist Er farbenblind, die feinen Unterschiede und Nuancen, die wir da machen, interessieren Ihn nicht. …….
Stattdessen – so wurde es gerade den Heiden klar, die nach der von Petrus widerstrebend angenommene Einladung des Cornelius tatsächlich auch allmählich Platz und Stimme in der Kirche fanden – stattdessen sieht Gott in erster Linie immer wieder nur auf Einen, … auf Jesus. Dessen Gerechtigkeit und Treue, dessen Gottesliebe und Menschenart fesseln Gott; Er kann Seine Augen von diesem Jesus kaum wenden und sieht uns andere wie durch ihn, den Einen hindurch. …. Wenn Du das nun aber verträgst – dass Du nicht die ursprüngliche Attraktion und das Mittelstück bist, weil ein anderer, der Rabbi aus Nazareth die erste Geige spielt und Liebling bleibt – wenn Du das verträgst, dann glaubst Du.
Denn ja, - auch das ist Glaube: Zu begreifen, dass man nicht selbst den 1.Preis gewonnen hat, sondern unter anderen, unter angenehmen und unangenehmen Menschen ein „A-dabei“ ist, ein ebenfalls Mitgemeinter, ein willkommener Anhänger und Anhang, Teil einer riesigen Menge, die nicht aus lauter Hochkarätern und Solitären besteht und miteinander doch den Schatz des Himmelreiches darstellt. ——
Diese Kränkung des Narziss, der in seiner Eitelkeit nur von sich selbst und seinem Spiegelbild besoffen ist, tut weh. … Und gut. Denn sie lehrt uns, wie gelassen und unverkrampft wir als Gemeinde miteinander leben dürfen, wenn wir erkennen, dass niemand hier oder da oder irgendwo Gottes Liebe durch seine famose Mitgift und seine umwerfende Ausstrahlung gewonnen hat.
Zu wissen, dass Gott die anderen auch nicht ansieht und sie darauf hin erlöst, sondern uns alle sozusagen blind annimmt – weil Sehnsucht, guter Wille, ein bescheidener Grundzug, eine menschliche Ader uns zur Gottesfrage brachten, die den Cornelius einst zu Petrus und uns alle mit den beiden zu Jesus führte, und weil Jesus selbst unsere Empfehlung, unser Zutritt ist – … das zu wissen, nimmt den Neigungen und Abneigungen, die wir haben, ihre dogmatische und fundamentale Schärfe.
- Ich muss und kann nicht alle für bezaubernd und begehrenswert halten, die zu Gott gehören.
- Ich kann mich fragen, wie ausgerechnet diese oder jene Menschen in die Kirche kommen und was Gott an ihnen findet, das ich so völlig übersehe?
- Ich kann mich wohl wundern über Gottes Großzügigkeit, über Seinen starken Magen, Seine unempfindliche Allerweltsfreundschaft.
… So lange ich diese staunende, befremdete, amüsierte Sicht auch auf mich selbst anwende, so lange ich weiß, dass ich anderen, die mit mir in Gottes Reich gehören genauso rätselhaft und unliebsam erscheine wie sie mir, so lange ich weiß, dass auch ich nur deshalb nicht unrein bin und eklig und zu meiden, weil Jesus mich gut macht und recht – so lange ist die Kirche der Ort für mich.
Weil in ihr nicht die zusammenfinden, die sich auch außerhalb lieben würden.
Sondern jene, die verdutzt und immer gelassener lernen, von sich ebenso abzusehen, wie der Herr der Kirche das bei ihnen und bei allen andern kann, und stattdessen das zu üben, was wirklich hilft und nötig ist: Gott zu fürchten und recht zu tun.
Daneben ist die Frage, wer wir sind und wer die anderen, uninteressant.
Wir sind Gott angenehm, weil wir die Kirche Jesu Christi sind.
Amen.
* Karl Barth, Briefe 1961-1968 (hg. v. J.Fangmeier und H.Stoevesandt), Zürich 1975, Brief an F.-W.Marquardt vom 5.September 1967, S.421.
2.n.Epiphanias 19.01.2014 Stadtkirche Hebräer 12,12-24+28f Jonas Marquardt
Predigt Kaiserwerth 2.So.n.Epiphan. - 19.I.2014 Hebräer 12,12-24+28f
Liebe Gemeinde!
Im Namen Gottes, des Gefährlichen fangen wir das Jahr nun gemeinsam an, … und nicht etwa in dem beruhigenden Gefühl, das uns 2014 die insgesamt zu harmlose Übersetzung der Jahreslosung vermittelt, in der Gott sich plötzlich auf „Glück“ reimt.
Gewiss: Wohl denen, die mit Gott Glück haben, gar glücklich mit ihm werden! Doch für uns Menschen in der Zeit ist das beileibe nicht der einzige Zustand, in dem wir mit Gott leben und Gott mit uns. Da gibt es noch ganz andere und wechselvolle Erfahrungen: Die Sehnsucht nach mehr Gott und die Abneigung gegen zu viel von Ihm, das Leiden an Gott und den Zorn, den Er wahrhaftig auch wecken kann und aushalten muss. Wenn – was wir glauben und predigen – Gott der Lebendige ist, dann gilt von Ihm mit Sicherheit, was von allen belebten und lebhaften Erscheinungen gilt: Sie werden umso weniger zur Routine, je mehr Leben in ihnen ist, … weil sie sich verändern und entwickeln, weil der Atem der Eigenständigkeit und Überraschung aus allem weht, was kein Gegenstand, sondern ein Gegenüber ist.
Und der heiße Atem Gottes, der uns aus dem Hebräerbrief entgegenschlägt, erinnert uns – zu unserem unbedingten Heil – daran, dass der Lebendige selbst gefährlich herrlich und herrlich gefährlich ist!
Das ist die Kernbotschaft des Abschnittes, den wir eben hörten und der nichts anderes ist als ein klassisches Beispiel dafür, wie im 1.Jahrhundert in der Synagoge und in der christlichen Gemeinde gepredigt wurde: Nämlich indem Zitate aus der und Hinweise auf die Heilige Schrift – also die Hebräische Bibel – so verknüpft wurden, dass noch der Trägste unter den Hörenden merkte: Hier in diesen alten Geschichten spricht mich das Leben an, … hier wird nicht nur die heilige Vergangenheit bezeugt, sondern der heutige Tag meldet sich mit seinem Anspruch und sogar die Zukunft lässt sich - trotz uralter Vertrautheit mit den biblischen Worten - neu sehen. Und dann – so war es wirklich, und so kann es immer wieder werden – dann ergriff die unter dem Wort Versammelten Furcht und Zittern, weil sie zwar gern von Esau und von der Generation des Auszugs aus Ägypten hörten, aber das doch für religiöses Bildungsgut oder gesammelte theologische Dichtung hielten und erschüttert wurden, wenn es plötzlich um ihre Haut dabei ging.
Doch wenn jemals ein Prediger nicht nachgab und immer wieder darauf pochte, dass das bisherige Verstehen der Bibel nicht ausreichte, wenn es bloß beim ehrwürdig Überlieferten blieb, weil es uns heute dabei heiß und kalt, mulmig und selig werden muss, dann war das der Apostel der Hebräer, aus dessen Predigten und Meditationen und Mitteilungen der gleichnamige Brief entstand.
Und sein für uns umständlicher, streckenweise vielleicht sogar unverständlicher Versuch, uns aufzurütteln, indem er uns bei den Händen und Knien und Füßen packt und zwackt und uns Beine in Richtung Frieden und Heiligung macht, lässt sich nicht einfach abtun, obwohl uns die sogenannten „Schriftbeweise“ zunächst so abseitig und lebensfern vorkommen, dass sie aus dem für heute vorgeschlagenen Predigttext eigentlich entfernt worden sind.
Dass wir ein Leben in Übereinstimmung mit der Friedensbotschaft und dem Umkehrruf Jesu führen sollen, ist die nicht wirklich überraschende Mahnung, die damals wie heute, in der ersten Generation und auch jetzt, siebzig Generationen später fundamental bleibt; … und dass uns dazu mit dem berühmten, noch viel älteren Motivationswort des Jesaja verholfen wird – „Stärket die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!“ (Jes.353) –, das ist nicht ungewohnt, sondern seelsorglich und angenehm.
Allerdings: Gepflanzt und eingebettet ist der grundsätzliche Ruf zu einer Ethik des Friedens und der Heiligung in mehrere Schichten biblischen Mutterbodens.
Da ist zunächst die Warnung davor, dass nicht durch die innere Bequemlichkeit und Bockigkeit Einzelner – die ihrem Leben keine Konsequenzen des Glaubens einpflanzen – Unfrieden und Fäulnis in der Gemeinde insgesamt gestreut werden.
Diese Warnung vor dem Aufwachsen einer bitteren Wurzel ist indes eine wörtliche Anleihe beim letzten feierlichen Fluch des Mose, der am Ende ihrer Wüstenwanderung, beim Bundesschluß in Moab den Israeliten auf die Seele band:
„Laßt ja nicht einen Mann oder eine Frau, ein Geschlecht oder einen Stamm unter euch sein, dessen Herz sich von dem HERRN abwendet… . Laßt unter euch nicht eine Wurzel aufwachsen, die da Gift und Wermut hervorbringt.“ (5.Mose2917).
Der Apostel der Hebräer greift also ohne mit der Wimper zu zucken die alte Fluchandrohung auf und pflanzt das Evangelium mitten hinein! …….
Wie ernst die Sache mit der Gemeindeethik ist, wird ungemütlich klar. —
Sofort verstärkt wird dieser Ernst durch die eindringliche Erinnerung, wie untröstlich einst Esau war, als ihm klar wurde, dass seine seelische Kurzsichtigkeit – er konnte ja nicht weiter sehen und denken, als nur bis zum nächsten Eintopf – ihn dauerhaft aus der unmittelbaren Einbindung in die Gottesgemeinschaft ausgeschlossen hatte!
Ist das aber wirklich nur Esaus Frage: Linsensuppe oder Lebenssinn? Lieblingsgericht oder Gericht Gottes?
… Was jedem von uns als Mensch in der Gemeinde wichtig ist, das ist also wahrhaftig wichtig: Daran erinnern Esaus späte und frustrierte Tränen bis heute. —
Doch noch immer ist es nicht genug Nachdruck in Sachen: Wie wollt Ihr eigentlich leben?
Denn nun erinnert der Hebräerapostel die christliche Gemeinde an etwas ganz Kritisches:
Den Unterschied, der zwischen dem Berg Sinai und der dort gegebenen Lebensordnung einerseits und dem himmlischen Zion mit seiner Lebensgemeinschaft andererseits besteht.
Dieser Unterschied aber ist nicht das, was wir denken: Es geht eben nicht darum, dass auf dem Sinai ein unerbittlich strenges Gesetz erlassen wurde, das im neutestamentlich bezeugten Himmelreich plötzlich außer Kraft gesetzt wäre. Es geht nicht darum, dass man sich vor der durch Mose überbrachten Weisung fürchten musste und angesichts des nachsichtigen Evangeliums entspannt zurücklehnen könnte.
Sondern die Schlussfolgerung ist geradezu gegenläufig:
Schon am Sinai konnte man erleben, wie ernst und wichtig die Frage nach den menschlichen Lebensmaßstäben, nach Gerechtigkeit und Mäßigung, nach Gewaltverzicht und nach Beziehungsmoral ist. Schon dort also konnte die Israeliten, konnte Mose Furcht und Zittern ergreifen!
Dabei war Gott damals doch erst am Anfang!
Er war ein unbekannter Neuling unter den gebieterischen Stimmen in der Menschheit, Sein Gesetz wandte sich unter all den Offenbarungen, den Religionen und Geheimlehren der Völker nur an ein rein nebensächliches, eben erst erfundenes, völlig unbedeutendes Häuflein namens Israel.
Doch seit diesen mehr als bescheidenen, verborgenen Anfängen im kleinen Rahmen ist Gottes Heils- und Gerechtigkeitswerkstatt gewachsen! Seine Praxis für die Rat- und Hilfesuchenden hat sich immer mehr ausgedehnt, Seine Klassen im Himmel und auf Erden sind stetig größer geworden, Sein Ruf und Anspruch in der Menschheit haben sich Zug um Zug erweitert. Er ist nicht mehr der Heilige der Nische, sondern die Hand, die Israel befreite und die Stimme, die Israel gebietet, ist universal herrlich geworden!
Und darum – so müssen wir uns klar machen – und darum gilt in der weltweiten, irdischen und überirdischen Versammlung der Gemeinde, die bei Ihm angeschrieben ist, deren Richter Gott ist, deren Mittler Er ist, die Sterbliche und Unsterbliche, Lebendige und Vollendete umfasst ganz, ganz gewiss nicht weniger Ernst als in jener Zeit, in der die Frage nach dem richtigen Leben allein zwischen Gott und Israel galt.
Sondern es ist nun tatsächlich die Öffentlichkeit von Himmel und Erde, es ist nun die Generationen und Kulturen und Zeitalter und Weltanschauungen verbindende Gemeinsamkeit aller Menschen, die durch Gott wurden und vor Gott stehen und bei Gott Recht und Sinn suchen, in deren Gegenwart unser Tun und Treiben stattfindet und sich bewähren muss.
So dass der Imperativ der christlichen Gemeinde mit anderen Worten lautet: „Handle stets so, dass die Triebfeder Deines Wollens auch vor den Engeln und Seligen, vor den Verehrten und den Verletzten, vor den Gestrigen und den Künftigen als gerecht und gut gesehen werden kann!“
….. Tztztztztztztztztztztztztztztztztztztz …………..
O, Himmel! Ist das nicht wahnwitzig?!
… Dass wir unser bisschen Bocksmist und Verantwortung derart hoffnungslos überfrachten, als hinge die ganze Weltgeschichte daran?
Obwohl wir erfahrungsgemäß nicht einmal für nächstes Jahr planen, bürgen, rechnen können. Obwohl wir genau wissen, dass es vermessen und lachhaft ist, so zu tun, als ob ausgerechnet unsere Mülltrennung und unsere Frauenquote und unser Stimmzettel und unser Almosen und unsere Askese und unser Zorn und unser Spleen die Weltenuhr anhalten und den ewigen Lenz bewirken könnten.
Muss das alles denn wirklich auch noch so bis jenseits der Sterne, bis in die Gemeinschaft der Heiligen, bis in’s ewige Leben überdehnt und überspannt werden?
Warum?
Wegen der Gefährlichkeit unseres Gottes, die in etwas ganz Verwirrendem besteht:
Er wäre nämlich gar nicht gefährlich, wenn er ein großer Gedanke, eine Summe des Idealen, ein Spitzensatz der Philosophie wäre.
In allen theoretischen Gestalten, in allen abstrakten Formen ist „Gott“ als Hypothese oder sublime Forderung sch---egal, wenn’s zum Schwur kommt und um’s Leben geht. Dann erledigt sich jeder Begriff von „Gott“ nämlich von selbst.
… Wirklich gefährlich ist Gott also nur, wenn Er selber lebt … doch auch dann ist Er nicht etwa wegen Seiner Übermacht und Riesengröße zu fürchten, sondern wegen Seiner Gefährdung: Dem lebendigen Gott nämlich kann man wehtun! Ihn verletzt man nicht theoretisch, wie einen Lehrsatz, sondern praktisch und tief; wenn man Sein Gebot übertritt, dann bricht man kein Prinzip, sondern ein Herz; wenn man Ihn abschafft, verabschiedet man keine Idee, sondern nimmt ein Leben.
Das ist das Blut, das schreit – noch mehr als Abels Blut schrie, der als erster Zweiter, als erster Anderer auf Erden gleich das Ur-Opfer wurde.
Wo wir einander misshandeln, wo wir jemanden verwunden, wo wir einen Lebenden bedrängen oder quälen, wo wir gar mittelbar oder unmittelbar ein Leben auslöschen, da schreit das Blut des lebendigen Gottes, da schreit das Jesusblut „Zeter und Mordio!“ und „Hilfe!“
Weil Gott der Lebendige ist und sich von Kain und Abel an so tief in’s Menschliche und Unmenschliche eingelassen, verstrickt und ergeben hat, dass alles, was wir tun und alles, was wir lassen gefährlich dicht, gefährlich unmittelbar, gefährlich IHN trifft!
Das ist die Gefahr, die von unserem Gott ausgeht:
Dass Er nah und nicht fern ist; dass Er in menschlicher Gestalt und nicht in theoretisch-er Verschwommenheit erschienen ist; dass Er ein Knecht und Bruder Abels wurde und es nicht als Sein Vorrecht und Privileg beansprucht (vgl. Phil.26), unberührbar, unverwundbar, unbeteiligt wie die Götzens des Menschenhirns zu bleiben.
ER ist ein verzehrendes Feuer – weil die Liebe eine feurige Glut und eine Flamme des HERRN ist (Hohes Lied 86).
Wer sich an der Liebe vergreift, vergreift sich an Gott. Wer also den Menschen schneidet, schindet, schmälert, der trifft den liebenden Schöpfer, Erlöser und Richter des Menschen in all Seiner Verletzlichkeit … und in Seiner unwandelbaren Herrlichkeit.
Das ist es, was für uns Glaubende den Anspruch so groß, so ernst, so echt macht: Dass wir nie Gott an sich und dann auf Erden auch noch den lästigen Nachbarn, den liebenswürdigen Freund, den gleichgültigen Fremden betrachten können, sondern sie immer ineinanderfließen: Der Mensch und unser für den Menschen brennender Gott!
„Unvermischt und ungetrennt“ – so wie Gott und Mensch in Christus[i] – sind also auch unsere Pflichten und Verantwortung im Verhältnis zu unseren Geschwistern und im Verhältnis zu unserem Gott. Beide Seiten – Ethik und Frömmigkeit, praktische Lebensführung und geistliche Heiligung – gehören unlöslich zusammen.
Ist das aber wirklich zu viel? Dass alles, was wir als Menschen tun und den Menschen tun, vor Gott und für Gott gilt: Ist das wirklich ein übersteigerter Gedanke?
- Nein, es ist die Folge von Weihnachten, die Folge jener Verbindung, die da für immer offenbar wurde. Nach diesem Weihnachten gibt es also keinen Alltag mehr, in dem für die Menschensachen und die Gottesfrage verschiedene Gesetze gelten könnten.
Es bleibt für immer Weihnachten!
Es ist eine unerschütterliche Tatsache, dass die Menschwerdung Gottes uns alle betrifft, in und mit allem, was wir sind!
Verscherzen wir’s uns also nicht mit Seiner brennenden, verzehrenden Liebe!
Nehmen und machen wir sie ernst:
„Darum stärket die müden Hände und die wankenden Knie und macht sichere Schritte! Jagt dem Frieden nach und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird!“
Amen.
[i] Dies die Formel des Konzils von Chalcedon im Jahr 451 n.Chr., die die Zusammengehörigkeit der beiden Naturen Christi so bestimmte: „Unvermischt, unverändert, ungeteilt und ungetrennt“.
Altjahrsabend 2013 Stadtkirche Hebräer 13,8+9a Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2013
Hebräer 13, 8+9a
Liebe Gemeinde!
Eine kleine weihnachtliche Herzens- und Charakterkunde führt schnell zur Unterscheidung zweier Haupttypen unter den um Jesus versammelten Menschen bis heute:
Zunächst sind da jene, die wie Ochs und Esel die Krippe ihres Herrn kennen (vgl.Jes13) und also mit störrischer Hartnäckigkeit auch dabei bleiben; und dann gibt es die anderen, die wie die Engel und die Weisen aus Morgenland „neue Mär“ singen und sagen und neuen Sternen zum neugeborenen König folgen.
Grob gesagt also die Gattung der Gewohnheitstiere, die am ehesten und längsten in Jesu Nähe sein werden und das Volk der Bewegungsfreudigen, das immer wieder überraschende Entwicklungen und erstaunliche Durchbrüche in der Heilsgeschichte erkennt und feiert. ——
Kein Zweifel indes, dass die Gewohnheitstiere heute abend zunächst auf ihre Kosten zu kommen scheinen, wenn die Parole von der ungestörten, unveränderten Identität Jesu erklingt: Früher, jetzt und immer bleibt er, wie und was und wer er war.
Das tut den Veränderungsscheuen gut, zu denen ich mich selber zählen muss. Wir Rindviecher und Grautiere, die mit büffelträger Sturheit am liebsten vertraute Pfade trampeln, wir sind froh, wenn im Strudel der Zeiten Dinge einmal bleiben. Wir mögen es nicht, wenn auf der Zwiebackpackung plötzlich ein neues Kind lächelt, nachdem wir doch mit einem anderen Pausbackengesicht aufwuchsen; uns irritiert es auch, wenn auf den Keksen ein anderer Prinz als der gewohnte prangt. Einer wie ich findet es daher gar nicht schlecht, dass die ersten Erinnerungen an das England meiner Kindheit mit dem Silberjubiläum der Krönung Elisabeths II. zusammenfallen und dass meine eigenen Kinder nun von Ferne Zeugen ihres diamantenen Thronjubiläums werden konnten.
So vieles wechselt, … wie gut also, dass hier und da etwas Konstantes die Wiedererkennbarkeit und die Dauer von Erfahrungen und Lebensgefühlen vermittelt. Den leicht schreckhaften, leicht neurotischen Esel bindet eben die Macht des Altbekannten. Er ist kein Falter, der von Blüte zu Blüte gaukelt und überall das Gewächs der Saison verlockend findet. Der Hafer, den er stets schon malmte, bekommt ihm am besten, und wenn er mit Disteln gemengt ist, dann war auch das schon immer so und soll auch so bleiben, …. in Ewigkeit, Amen! ——
Armer alter Esel!
Solche wie Du machen sich einen schrecklichen Abgott, wenn sie tatsächlich glauben, ihr Glaube an den gestern, heute und in Ewigkeit beständigen Jesus Christus garantiere ihnen den Schutz vor allem Wandel und jeder Entwicklung. Dieser Irr- und Afterglaube, dass man Jesus Christus heute just genau wie ehedem und künftig auch nicht anders antreffen werde, macht einen toten Götzen aus dem Lebendigen, … ja, er kreuzigt Christus ein zweites, letztes Mal, indem er ihn am liebsten für alle Zeiten stillstellen würde.
Das aber ist ebenso verwerflich wie die Torheit der modesüchtigen Christen, die in Jesus Christus nie den Herrn der Lage, sondern immer nur den Knecht einer momentanen Laune, den revolutionären Vorboten eines neuen Windes entdecken, wie er gerade bläst.
Jesus Christus ist aber nicht heute so und morgen so und übermorgen wieder anders …, genauso wenig wie er für alle Zeiten gelähmt und zur Erstarrung in unseren einseitigen Vorstellungen verdammt wäre.
Sondern in jedem Augenblick, zu jeder Epoche ist Jesus „der Christus“ – „der Erlöser“; und für jeden Menschen in jeder Gegenwart ist der Christus, der Retter kein anderer als … Jesus!
Darum geht es, wenn wir den Kernsatz von gestern, von heute und von der Ewigkeit hören. Nicht um die Unbeweglichkeit, die Unwandelbarkeit des Erlösers, sondern um seine alle Veränderungen und alles Vergängliche weit hinter sich lassende Unabhängigkeit: Kein Zeitalter und keine Generation kann jemals behaupten, Jesus, den Heiland der Menschen, den Sohn Gottes nun endgültig gefasst und gefunden zu haben und ihm den letzten Schiff, die feste Form verliehen zu haben, in der er zu bleiben hätte.
……. Viel zu klein sind wir Menschen ja dazu. Viel zu kurz ist unsere Zeit bemessen, viel zu trübe sind unsere Erkenntnisse und viel zu ärmlich unser Gedankenreichtum, um auch nur annähernd die unendliche Fülle und die alle Maßstäbe zerbrechende Lebendigkeit dessen zu begreifen, der von Ewigkeit zu Ewigkeit das Menschengeschlecht mit dem Vater verbindet. ——
Uns Eseln aber sagt der Name des durch die Zeiten hinweg sich selber treubleibenden und dennoch immer gerade neu notwendigen, gerade eben vom Himmel geschickten, gerade den jeweiligen Einzelnen und Augenblick erfüllenden Herrn darum, dass wir nicht verkennen und nicht leugnen sollten, dass er immer wieder ungeahnt und ungewohnt in unsere Mitte tritt und handelt.
Immer ist ER es – Jesus Christus selber! –, aber die Begegnungen, die Zeugnisse und Bilder haben unterschiedliche Gestalt:
· In den Zeiten der frühen Heidenchristen war aus dem neugeborenen König der Juden ein Jüngling im Athletenkleid geworden, den sie an die Wände der Katakomben malten, weil er das Lamm so stark und sicher schultern und aus der Verfolgung und Finsternis so unangefochten in das ewige Licht tragen kann.
· Der selbe Helfer der antiken Mittelmeerwelt aber nahm bei den barbarischen Völkern des Nordens die Züge des Heliands an, dessen Kreuzesstab wie ein Schwert oder Zepter die Urschlange, die Lindwürmer und die gehörnten Geister der Wildnis vertreiben konnte und der die Seinen durch die Taufe wie einen Siegfried wappnen und schützen wollte.
· Im Mittelalter sahen sie ihn in erhabener Majestät auf dem Regenbogen thronen, das Schwert der Gerechtigkeit und die Lilie der Gnade gebrauchend am jüngsten Tag; dann wieder zerflossen gepeinigte Generationen in Tränen des Mitleids vor seinem unnennbar zugerichteten, über und über blutigen Marterbild, das ihn den Opfern der Pest so erschütternd gleichmachte.
· Die Reformation erkannte im Gekreuzigten das Zentrum der unaussprechlichen Gnade Gottes, die sich stellvertretend dem Fluch hingab, um für uns das Lebensgeschenk der Gerechtigkeit aus Glauben zu erwirken.
· Den Herrnhutern war seine Seitenwunde die Höhle und die Heimat, in der sie sich auf allen ihren Wanderschaften und Missionsreisen stets geborgen und unmittelbar am Herzen der ewigen Liebe wussten.
· Die ernsthaften Christen der Aufklärung sahen sein sittliches Vorbild, diejenigen des 19.Jahrhunderts seine brennende Fürsorge für die Verlassenen und Verlorenen, den Arzt der Kranken, den Anwalt der Arbeiter.
· Das 20.Jahrhundert vergaß ihn über seinen Räuschen von Volk und Weltherrschaft …. und erkannte erst vor kurzer Zeit, mit lähmender Verzögerung, dass nicht nur der alte biblische Stamm des Segens, die unschuldigen Kinder Abrahams, sondern inmitten seiner Geschwister auch der Erlöser der Welt unter dem Davidsstern in die Todesfabriken des 3.Reiches zur Auslöschung geschleppt worden war. …….
Das sind nur wenige der vielerlei Gestalten unter denen er zu verschiedenen Zeiten verschiedenen Menschen nahe kam und ihnen trotz der mancherlei fremden Lehren, die ihn umgaben und verhüllten, die Herzen fest machte.
Und so unterschiedlich die jeweiligen Sichtweisen und Erkenntnisse auch sein mögen, … wer würde bestreiten, dass Jesus Christus selber es war und ist und bleibt, der in der Welt an jedem von uns als Retter und Vollender handelt?!
Diese Gewissheit aber übersteigt alle unsere Gewohnheiten und lässt alle Vorstellungen, die wir haben und wiederholen wollen, veralten und vergehen:
Wir gehören nicht dem Bild, das uns zu Zeiten des Kindergottesdienstes beim Einschlafen und in der Angst leuchtete; ebenso wenig erlöst uns die Figur, die man zur Zeit unseres ersten, eigenen kritischen Denkens aus dem Mann von Nazareth geformt hatte: So streng konfessionell er uns auch vor fünfzig Jahren begegnet sein mag oder so umstürzlerisch er zehn Jahre später gedeutet wurde, so persönlich befreiend oder so ökologisch verpflichtend er seither bekannt wurde, so allgemein religiös, so verschwiegen biblisch, so ausgesprochen buddhistisch er heute auch immer beschrieben wird …; und wir werden auch im Himmel niemals der durch theologischen Steckbrief gesuchten Person des liberalen oder dialektischen, des entmythologisierten oder des feministischen oder des interkulturellen Jesus begegnen!
Wir waren und wir sind und wir werden immer nur selber die Erkannten, die Gesuchten … und niemals die Kenner und Kundigen sein.
Denn wir „gehn dahin und wandern“, und mit uns werden und vergehen unsere menschlichen Gedanken und Worte.
Das einzig Menschliche aber, das bleibt, das einzige Wort, dessen Inhalt und Wahrheit nie von seiner in menschlicher Gestalt lebendigen Wirklichkeit getrennt werden kann: Das ist Jesus, der Christus!
Der allein ist zu jedem Punkt der Zeit, solange die Erde steht und Frost und Hitze, Saat und Ernte, Sommer und Winter, Tag und Nacht sich weiter über dem Geborenwerden und dem Sterben der Geschöpfe abwechseln (vgl.1.Mose822) gegenwärtig und seine Frist verkürzt sich nicht. Denn Er – der Menschgewordene – ist schon vor allen Dingen der Mittelpunkt im Herzen Gottes gewesen und so, in dieser unlöslichen Einheit mit dem Vater wird er herrlich sein und bleiben über alle Grenzen, Schwellen, Untergänge, Brüche und Endzeiten hinaus.
Er, der Menschgewordene, an dessen Krippe wir vor einer Woche im Geist uns tief gebeugt haben, um die winzig-zarte Kindergestalt überhaupt auch nur zu ahnen; Er, dessen brutaler Tod uns im Schweigen der Glocken und im Schlagen des Gewissens am 18.April des kommenden Jahres wieder zum tiefsten Ort der göttlichen Liebe – an den Abgrund der Hölle!! – führen wird; Er, der so kalt und starr und tot und in Zersetzung begriffen wie nur irgendeine Leiche war, und den Gott nicht verwesen lassen, sondern gegen alle Gesetze, die zwischen der Zeit und der Materie eingehalten werden, nur auferwecken und für immer verherrlichen konnte … weil die Welt im Kern geschmolzen wäre, wenn Gottes anderes Ich zuschanden und verloren ginge. ER lebt!
Das ist die Vergangenheit, in der jedes unserer Jahre wurzelt. Es ist die Nachricht, die an jedem Datum auf unseren Kalendern die größte Wucht hat und entscheidet. Es ist die Verheißung, die alle Zukunft glücklich macht: Weil ER der Schöpfungsplan und die Liebe Gottes zu uns Menschen ist; weil ER – Jesus – in der allgegenwärtigen Ausdauer des Heiligen Geistes Alltag und Weltgeschichte erfüllt; weil ER die Hände ausstreckt, um anzunehmen, was wir IHM von unseren Freuden und mehr noch von unseren Lasten übergeben und weil ER sich zu unserem Gefährten gemacht hat auf den Wegen, die wir nicht kennen und doch werden gehen müssen, um endlich für immer durch IHN – durch die Tür zum Leben – einzukehren im Reich Gottes.
Das alles ist Jesus.
Und darum liebe ich ihn so und weiß, dass wir als seine Gemeinde darin verbunden sind.
Jesus ist es, dem wir verdanken, was uns das ausklingende Jahr gegeben hat.
Jesus ist es, der ertragen hilft, was dieses Jahr an Verlusten brachte.
Jesus ist es, der das neue Jahr aufschließt und uns darin erwartet, uns hindurch begleiten, uns führen und schützen wird, bis wir auch dieses Jahr oder unsere Zeit vollendet haben. ———
Das ist alles.
Keine Überraschung für alle, die immer schon schmunzeln mussten über die einfachen Losungen von „Jesus, der lebt“ und Jesus, „der Dich liebt“ und „Jesus, der kommt“.
……. Aber versuch’ es einfach!
Du wirst aus dem Staunen und den Überraschungen gar nicht mehr herausfinden, wenn Du die 365 Chancen annimmst, die ab morgen geboten werden:
Jesus als Kraft zu erfahren und mit Jesus zu brennen; Jesus Deine Ruhe sein zu lassen und Jesus zum Freund zu machen; Jesus, den Tröster zu erleben und Jesus als Stachel, der die Aufgeblasenheit platzen macht; Jesus – die Lebendigkeit Gottes – wird Dich bewegen, wenn Du nicht mehr magst; Jesus, die leibhaftige Weisheit will Dich festhalten, wenn Du alles wieder überstürzt; Jesus kann die Sonne in der Nacht wecken und Frieden im Chaos schenken; Jesus schüttelt Dich und tut Dir weh, wenn Du Dich abschirmst vor der Welt und der Wahrheit; Jesus macht Beine, wo der Teufel Sitzfleisch wünscht; Jesus stört die Lüge und lässt sie sich nicht weiter einnisten in Dir; Jesus schenkt Dir Erinnerungen, die an den Ursprung der Menschheit zurückreichen und steckt mit einer Freude an, die das Ende der Welt überstrahlt; Jesus wird Dich im Verborgenen, unter tausend Verhüllungen aufsuchen und Jesus wird Dir ganz einfach, ohne Umschweife in seinem Namen und Wort erscheinen und Dich für sich fordern; Jesus wird Dich nicht hergeben … und mich nicht; Jesus wird bis zuletzt wachen und für uns sorgen; Jesus wird uns Gott zeigen und uns zu Ihm bringen. ———
… Sie können Dir zwar vieles andere erzählen. Unser gesamtes Leben kann vollständig mit völlig entgegengesetzten Meinungen und Erfahrungen verzettelt und verstopft und vertan werden.
… Viel Sinn und noch mehr Unsinn kann gegen das Wort und gegen die Wahrheit Jesu gehalten werden.
Aber 2014 wird ein köstliches Jahr der Gnade, wenn wir uns nicht beirren lassen von den wahrscheinlichen, den anspruchsvollen und den hanebüchenen Zwischentönen, Gegenbotschaften und leeren Wiederholungen, die sich seit Menschengedenken erheben, um Jesus Christus nach unseren liebgewonnenen Gewohnheiten oder neuesten Erkenntnissen zu behaupten, zu bestreiten, zu behandeln, zu bezwingen.
… Machen wir dabei nicht mit.
Lassen wir IHN machen!
Halten wir IHM still!
ER kann und wird unsere Herzen selbst berühren und bewegen.
Und wird uns im Leben und im Sterben fest in dem Einen machen:
Dass ER, Jesus gestern, heute und in Ewigkeit der Christus bleibt.
Mehr ist nicht not.
Jesus genügt.
Amen.
Altjahresabend 2013, Ps. 73,28, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
da gibt es eine gezeichnete Mini-Geschichte von den berühmten Peanuts. Linus sitzt den Kopf auf die Hände gestützt auf einem Stuhl und denkt offensichtlich intensiv nach. Da kommt Charlie Brown daher und spricht ihn an: Sag mal, Linus, was willst du eigentlich mal werden? Linus denkt weiter nach. Dann kommt das Bild mit der Sprechblase aus seinem Mund: „Unwahrscheinlich glücklich."
Wer wäre das nicht auch gerne: so richtig glücklich. Wer hätte nicht für dieses Lebensziel Verständnis: unwahrscheinlich glücklich werden.
Das Glück - ein Gut, das jeder anstrebt und das doch nur schwer greifbar ist.
Eine Forschergruppe hatte im September dieses Jahres einen „Glücksatlas 2013" veröffentlicht. Über 20000 Personen wurden repräsentativ ausgesucht und befragt. Für die Studie teilten die Forscher das Glück in messbare Faktoren auf wie Einkommen, Berufs- und Familiensituation, Gesundheit und Freizeit.
Das Ergebnis: das Glück wohnt allem Anschein nach vor allem im Norden, in Schleswig-Holstein und Hamburg. Dort ist die Lebenszufriedenheit am größten. Am unglücklichsten, sprich unzufriedensten sind demnach die Menschen aus Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Noch glücklicher als die glücklichsten Deutschen sind nur noch die Dänen, Schweden und Niederländer in Europa. Und am unglücklichsten von allen die Griechen.
Das Streben nach Glück, es steckt im Menschen drin. In der amerikanischen Verfassung steht es sogar schwarz auf weiß zu lesen: jeder hat ein Recht, nach seinem Glück zu streben. Noch einen Schritt weiter gegangen ist man in Bhutan. Während sonst überall auf der Welt jedes Jahr gespannt darauf gesehen wird, wie sich das Bruttoinlandsprodukt entwickelt hat - also welche Wirtschaftsleistung erbracht wurde - und danach der Wohlstand der Gesellschaft bewertet wird, wird in Bhutan, diesem Land zwischen Indien und China gelegen, etwa so groß wie die Schweiz mit etwa 800000 Einwohnern, auf das „Bruttonationalglück" gesehen. Dahinter steht die - wie ich meine richtige - Einsicht, dass das Glück der Menschen in einer Gesellschaft nicht nur von der reinen Wirtschaftsleistung abhängt, sondern viel umfassender zu betrachten ist. Die vier Säulen des Bruttonationalglücks in Bhutan sind
- die Förderung einer sozial gerechten Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung,
- die Bewahrung und Förderung kultureller Werte.
- der Schutz der Umwelt
- und gute Regierungs- und Verwaltungsstrukturen.
Eine Heidelberger Schule hat 2007 als erste das Schulfach „Glück" eingeführt. Auf dem Stundenplan stehen das Zusammenspiel in der Gemeinschaft, sich das Glück im Alltag bewusst zu machen, die eigenen Stärken und Schwächen zu entdecken und sich selbst Ziele zu setzen, sich im eigenen Körper wohlzufühlen, Gesundheit und Ernährung, Sport ohne Leistungsdruck, Theaterspielen.
Während also jeden Samstag und Mittwoch viele Millionen Lottospieler noch auf das große Glück = Geld warten, ist umgekehrt doch bei vielen die Erkenntnis aufgedämmert, dass Geld eben nicht gleich Glück ist, sondern dass da einiges mehr zusammenkommen muss. Die Zahl der Glücks-Ratgeber in den Regalen der Buchhandlungen ist dabei mittlerweile kaum noch zu übersehen.
„Eine Handvoll Glück" bietet Tiki Küstenmacher an, Langenscheidt kommt gleich mit einem ganzen „Handbuch zum Glück" daher, Herr Hirschhausen hat entdeckt „Glück kommt selten allein" und auch - Verstorbene können sich nicht wehren - „Buddhas Anleitung zum Glücklichsein" ist käuflich zu erwerben. Selbst die Naturwissenschaftler sehen sich herausgefordert: Tobias Esch veröffentlichte im Oktober ein Buch unter dem Titel „Die Neurobiologie des Glücks: Wie die positive Psychologie die Medizin verändert".
Nein, dicke Ratgeber übers Glück und zum Glücklichwerden hat es früher nicht gegeben, aber nicht wenige Sprüche und Sinnverse, die vielen von ihnen sicher bekannt sind:
„Glück und Glas - wie schnell bricht das." oder
„Jeder ist seines Glückes Schmied." oder
„Glücklich ist, wer vergisst, was nun mal nicht zu ändern ist."
Und dann gibt es da noch Sätze, die wirklich bedenkenswert sind:
„Glücklich ist nicht, wer anderen so vorkommt, sondern wer sich selbst dafür hält." (Seneca)
„Das Geheimnis des Glücks liegt nicht im Besitzt, sondern im Geben. Wer andere glücklich macht, wird glücklich." (André Gide)
„Nicht die Glücklichen sind dankbar. Es sind die Dankbaren, die glücklich sind." (Francis Bacon)
„Das Glück wohnt nicht im Besitz und nicht im Golde, das Glücksgefühl ist in der Seele zu Hause." (Demokrit)
„Glück ist Liebe, nichts anderes. Wer lieben kann, ist glücklich." (Hermann Hesse)
„Es ist schwer, das Glück in uns zu finden, und es ist ganz unmöglich, es anderswo zu finden." (Nicolas Chamfort)
Liebe Gemeinde, zu diesen bedenkenswerten Sätzen zum Glück gehört auch die Jahreslosung für das kommende Jahr. „Gott nahe zu sein ist mein Glück." Ein Vers aus dem 73.Psalm. Die Überschrift des Psalmes in der Lutherbibel lautet „Anfechtung und Trost beim Glück des Gottlosen". Der Beter des Psalms schreibt sich in den ersten 20 Versen zunächst einmal seinen ganzen Frust von der Seele. Wo er auch hinschaut - überall muss er feststellen: anständig und fromm zu sein, lohnt sich nicht. Im Gegenteil: der Erfolg ist bei denen, die ganz ungeniert sich selbst bedienen, die alle Tricks kennen, sich Vorteile zu verschaffen auf Kosten der Allgemeinheit und vor allen Dingen der Armen, die das Recht beugen, um an ihre Ziele zu kommen, die vor Betrug und Bestechung nicht zurückschrecken. Unter Gewissensbissen leiden sie überhaupt nicht. Ihnen geht's gut und das zeigen sie auch in der Öffentlichkeit. Was, fragt sich der Psalmbeter, hat es mir gebracht, mich immer redlich bemüht zu haben? Sie sind reich - und glücklich; das sagen sie und leben sie und das denken wohl alle. Und ich: bin arm - und damit unglücklich? Nein, mein Glück, das geht ihm bei allem Nachdenken auf, das ist von anderer Qualität.
„Gott nahe zu sein ist mein Glück."
Gottesnähe und Glück - beide stehen in einer Beziehung, und diese Beziehung hat zur Folge, dass wir ganz neu über die Vorstellungen, die wir von beiden haben, nachdenken müssen.
Auf die richtige Spur kann uns ein Märchen bringen. Das Märchen von „Hans im Glück".
Warum heißt dieses Märchen nur so?, könnte man sich fragen. Es beginnt, wo andere enden. So hätte man es auch erzählen können: Von einem, der auszog, sein Glück zu machen.
Der hart gearbeitet hat; jeder ist ja seines Glückes Schmied. Und nach Jahren harter Arbeit erhält er seinen Lohn: ein Klumpen Gold, so groß wie sein Kopf, liegt in seinen Händen. Und so lebte er glücklich und zufrieden bis an sein Ende.
Das Märchen setzt aber ein hinter dem Punkt, der ein Happy End sein könnte. Vielleicht ist das Glück kein Zustand, sondern ein Weg.
Auf diesem Weg begleitet das Märchen Hans - und wir sehen ihm von ferne zu.
Hans trägt seinen Klumpen Gold auf der Schulter, für den er sieben Jahre geschuftet hat. Und nun beginnt er zu tauschen:
Das Gold gegen ein Pferd, das Pferd gegen eine Kuh, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans, die Gans gegen einen Wetzstein.
Und bei jedem Tausch möchte man ihm zurufen: „Halt, Hans! Überleg doch mal! Ist denn ein Schwein so viel wert wie eine Kuh? Wie kannst du nur so dumm sein und dich so übers Ohr hauen lassen!"
Hans aber hört es nicht. Er handelt spontan und - wie es uns scheinen muss - unüberlegt. So wird der Weg für ihn gewiss in Armut und Unglück enden und nicht im Glück. Zu guter Letzt fällt ihm der Wetzstein in einen Brunnen. Und Hans? Er weint und jammert nicht, sondern springt fröhlich davon, weil er seine Bürde los ist. Man möchte die Hände über dem Kopf zusammenschlagen: Hans, einen Klumpen Gold hast du gehabt, jetzt hast du gar nichts mehr!
Gehen wir etwas näher heran und begleiten Hans Seite an Seite, dann allerdings können wir etwas anderes wahrnehmen. Wenn wir die Sonne auf unseren Kopf brennen fühlen, die müden Füße auf steinigem Weg spüren, dann können wir Hans‘ Gedanken und Überlegungen ganz anders nachvollziehen.
Der Goldklumpen - ja er drückt auf den Schultern. Wie schön wäre es, auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen und den Wind in den Haaren zu spüren.
Das Pferd - herrlich auf ihm zu reiten. Doch dann wird es bockig. Eine Kuh mit ihrer ruhigen Art, die wäre schon besser und vor allen Dingen: die gibt auch noch Milch gegen den Durst. Käse und Butter.
Ihr Fleisch aber wird trocken schmecken. Und so geht es weiter. Kuh gegen Schwein. Schwein gegen Gans. Gans gegen Wetzstein.
Immer scheint das, was er im Tausch bekommt, von außen betrachtet, weniger wert zu sein als das, was er gibt. Aber geht man neben Hans, sieht es anders aus.
Etwas ist zu schwer, etwas passt nicht mehr zu mir. Ich brauche etwas gar nicht oder nicht mehr. Meine Lebenssituation ist eine andere. Mein Weg ist ein anderer. Da ist es gut, etwas auch loszulassen. Vielleicht ist es gegen die berechnende Vernunft, aber gut für mich, für mein Glück. Was sagte Seneca: „Glücklich ist nicht, wer anderen so vorkommt, sondern wer sich selbst dafür hält." Und auch Demokrit: „Das Glück wohnt nicht im Besitz und nicht im Golde, das Glücksgefühl ist in der Seele zu Hause."
Und Hans? Am Ende hat er gar nichts mehr als den Geschmack frischen Wassers auf seiner Zunge. Gut, dass er den Ort kennt, an den er kommen kann, ohne etwas vorzuweisen. Fröhlich läuft er nach Hause, zu seiner Mutter.
Das Märchen von Hans im Glück erinnert mich in besonderer Weise an eine Geschichte, die Jesus erzählt hat; wo auch einer ausgezogen ist, um sein Glück zu machen, was ihm dann gründlich misslang. Und wo er am Ende auch nach Hause fand, zu seinem Vater, um dort sein Glück zu finden. Beschenkt zu werden mit Liebe, mit Wertschätzung. Wie erkannte Hermann Hesse richtig: „Glück ist Liebe, nichts anderes. Wer lieben kann, ist glücklich." Und: wer geliebt wird.
„Gott nahe zu sein ist mein Glück."
Liebe Gemeinde, bei der Gottesnähe geht es um ganz fundamentale Erfahrungen. Wer sie macht, der ist Gott nahe.
Die erste ist die Erfahrung, um seiner selbst willen geliebt zu werden. Angenommen zu sein unabhängig davon, was einem bisher im Leben gelungen oder misslungen ist.
Wer geliebt wird, soll in seinem Herzen hören: Gut, dass du da bist. Und das kann ein Mensch eigentlich nur, wenn er es auch über sein Ohr hört, von anderen Menschen.
Das ist der erste Auftrag und die Würde, die wir mitbekommen haben in unser Leben: einander zu ermöglichen, die Nähe Gottes zu erfahren. Die Zusage: du, Mensch, bist geliebt und gewollt.
Das ist darum notwendig die zweite Erfahrung, in der sich die Gottesnähe zeigt: selber zu lieben, Liebe zu verschenken. Dazu gehört dann auch: Lebensmöglichkeiten, die man selber hat, mit anderen zu teilen. Und zu erfahren: das Leben blüht auf, wenn Gemeinschaft entsteht. Eine Gemeinschaft, in der man sich gegenseitig bestärkt und trägt. Wo keiner mehr Angst haben muss, fallengelassen zu werden. Eine Gemeinschaft, in der materielles Habenwollen, sich selbst absichern wollen unwichtig wird.
Im Dezember gab es in der Rheinischen Post eine kleine Artikelserie zu Taizé. Zehntausende Jugendliche pilgern jedes Jahr in den kleinen Ort. Untergebracht sind sie spartanisch einfach: Mehrbettzimmer, Gemeinschaftsduschen und Toiletten, keine Aufenthaltsräume außer dem Speisesaal und der Kirche; einfachstes Essen; Mitarbeit - zum Beispiel Toilettenputzen - ist erforderlich; ½ Stunde am Tag ist ein Kiosk mit ein paar wenigen Artikeln geöffnet. Ansonsten Stille, gemeinsames Singen, miteinander reden, einander näher kommen, gemeinsam Gottesdienst feiern. (Keiner dieser Jugendlichen würde sich in seinem Urlaub mit einem derartigen Komfort zufrieden geben.) Aber: die Einfachheit bringt Klarheit, lässt sie auf einmal unterscheiden zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem. Und macht sie glücklich. Die Jahreslosung für das kommende Jahr würde jeder sofort unterschreiben, einfach weil sie es so erfahren haben: „Gott nahe zu sein ist mein Glück."
Ich wünsche uns allen, dass wir spätestens bis Weihnachten des kommenden Jahres ebensolche Erfahrungen haben machen können - Erfahrungen von Gemeinschaft und Geborgenheit, von Lieben und Geliebt werden, von Freude am Einfachen. Dass auch wir loslassen können, was uns letztlich nur drückt und mit dem Geschmack von Brot und Wein auf der Zunge, von Gott selbst serviert, fröhlich in unser Leben hinausgehen.
Amen.
2.Christtag 26.12.2013 Stadtkirche Offenbarung 12, 1-6 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Christtag 2013
Offenbarung 12, 1-6
Liebe Gemeinde!
Wer immer uns vorwirft, wir seien eine Kuschelkirche geworden, sollte das Kleingedruckte lesen: Da steht in den liturgischen Kalendern nämlich tatsächlich für den 2.Weihnachtstag – und zwar unter der Rubrik: „Christfest“ und nicht etwa zum Gedenktag des Erzmärtyrers Stephanus, der ja ebenfalls heute gefeiert wird – als denkbarer Predigttext etwas, das wie die katholische Antwort auf das Fernsehprogramm der Feiertage wirkt … dieses Programm, in dem es vor Monstren und Orcs, vor Gollums und Jedis gewöhnlich nur so wimmelt. Folgendes Science-fiction-Gemälde mit interplanetaren Konflikten und brutalem Angriff der Fabelwesen ist uns als Weihnachtsbotschaft also aufgeschlagen:
Offenbarung 12, 1- 6
Wer die menschliche Natur und ihre Stil- und Phantasieblüten kennt, wird über diese tief in die sagenhaften Urgründe zurückreichende Vision kaum staunen: Wenn jemals, dann sind bei dieser Beschreibung der Himmelskönigin und des Drachenkampfes die religions- und kulturgeschichtlichen Gelehrten gefragte Deuter. Sie erkennen mit geübtem Blick, wie da älteste Mythen aus der Traumwelt des Heidentums aller Arten zusammenfließen und ein wirkungsvolles Symbol hervorrufen:
Die sterngekrönte Göttin Ischtar, deren Triumphtor uns in Berlin heute noch bannen kann, ihre ägyptische Schwester Isis, die oft gezeigt wurde, wie sie in ergreifender Liebe ihr neugeborenes und schon verfolgtes Söhnlein rettend birgt; hinter der babylonischen und der pharaonischen Muttergottheit taucht die Venus in sanftem Licht auf, und ihrer aller Gestalt und Ausstrahlung kehrt bis in unsere Zeit märchenhaft und seeleninnig überall dort wieder, wo das Köstlichste uns in seiner ganzen Bedrohtheit zu Herzen geht, wo wir nämlich erinnert werden, wie zerbrechlich zu allen Zeiten das höchste der Gefühle – das Mutterglück – dieser Welt des Todes ausgeliefert ist.
Das archetypische Bild der Gebärerin, dem die Völker und Künste immer wieder lyrische und verklärte Denkmäler setzen müssen, und das ebenso archetypische Bild des Würgers, das durch seinen existentiellen Schrecken die Antike und das Mittelalter nahtlos mit dem Zeitalter der Fantasy-Literatur verbindet: Hier haben sie ihr biblisches Stelldichein gefunden, in der Offenbarung des Sonnenweibes auf der Mondsichel, deren Niederkunft im Angesicht des alt bösen Feindes, des argen Drachen geschieht. — So weit, so mythologisch.
Und doch in nichts ein mythischer Allgemeinplatz, der ebensogut auch im babylonischen Kult, in einem keltischen Mysterienritual oder in einem tiefenpsychologischen Handbuch vorkommen könnte.
Denn was hier geschildert wird, ist bittere Realität, und deren Darstellung steigt nicht aus irgendwelchen verschütteten Tiefen der Menschheitsseele, sondern sie trägt Züge eines Erfahrungsberichtes.
Um diese Echtheit, diese Wirklichkeit des mythischen Bildes aber zu erfassen, müssen wir den Verfasser der Offenbarung näher bitten – Johannes, den Lieblingsjünger, in dem wir zugleich den vierten Evangelisten und den Seher der Apokalypse erkennen sollen … und dessen Gedenktag morgen im christlichen Kalender begangen werden wird.
Er kennt den siebenköpfigen Drachen selbst, trägt die Spuren seiner gefräßigen Grausamkeit am eigenen Leib in Gestalt der Misshandlungen und Fesseln, die ihn als den Gefangenen von Patmos, den verbannten Häftling begleiten.
Der Drache - oder das Drachenhaupt - dessen heißen Atem Johannes im Nacken spürte und dessen Spiel ihn – wie die Katze die gefangene Maus – auf dem Eiland Patmos mürbe machte, um ihn alsbald restlos zu verschlingen, hieß Domitian. Er war die römische Bestie, die den Jünger des von einem früheren Drachenhaupt gekreuzigten Messias verfolgte und vernichten wollte. ……..
In seiner Verbannung hatte Johannes daher allen Anlass, das eigene Leben und das eigene Sterben bewusst zu betrachten.
Und dabei muss ihm die Sonnenfrau vorm inneren Auge gestanden haben – doch nicht als das überirdische Trostsymbol, das der Dichter Novalis besang: „Ich sehe dich in tausend Bildern, Maria, lieblich ausgedrückt, doch keins von allen kann dich schildern, wie meine Seele dich erblickt“ –, sondern als entscheidender, vertrauter, verpflichtender Teil des eigenen Lebens.
Schließlich hatte der Sohn der Mondsichelmadonna in seinem eigenen Tod dem Johannes mit Blick auf Maria das schlichte Vermächtnis aufgetragen: „Das ist deine Mutter!“ (Joh1927) ———
Nun war sie tot, diese von Anfang an immerfort in Verhängnisse hineingerissene Maria, die als Mädchen Gottes Sohn zur Welt bringen musste, als reife Frau den damals wunderbar Empfangenen und Geborenen ermorden sah, seine Auferweckung von den Toten, seine himmlische Erhöhung, seine Verkündigung durch die Begeisterten erlebte und als schmer-zens-, wie als freudenreiche Mutter immer wieder erfuhr, dass dem Sohn Herzen und Hass zuflogen und folgten.
Nun war sie tot, und der Vize-Sohn, der nach dem Tag von Golgatha lange ihr Schicksal geteilt hatte und ihre sinnenden, unbestechlichen, weil tief besorgten Gedanken, in denen geistliches Unverständnis gegen mütterliches Verstehen stritt, … ihr Vize-Sohn war ebenfalls am Ende seines Lebens angekommen.
Er war uralt und auch in jeder anderen Hinsicht ein Todeskandidat.
Er hatte die Nüchternheit des Beinahe-Vollendeten.
Es gab keinen Grund, der ihn noch bewogen hätte, die Zustände und Ereignisse des irdischen Lebens zu verklären oder in gekünsteltes Licht zu tauchen. Warum also sollte er den höchst menschlichen Vorgang der Geburt seines Herrn, über den er den Bericht der unmittelbarsten Beteiligten gewiss mehr als einmal gehört hatte, unter dem Gewand eines geradezu klassischen mythologischen Dramas verfremden? Warum fehlen ihm die weihnachtlichen Worte, die inmitten des Wunders doch gerade das Gewöhnliche als das eigentlich Bewegende und Anrührende erkennen lassen … Worte, die Lukas fand?
Weil die Botschaft des Johannes, weil seine Vision, die auf Weihnachten zurückblickt, eine ganz andere Stoßrichtung hat:
Johannes zeigt uns Weihnachten von einer Seite, die uns fremd ist – trotz des Getöses der Volkszählung und des langen Schattens, den die Namen Augustus und Cyrenius von Anfang an darauf werfen. Johannes zeigt uns ein fremdes Weihnachtsbild, obwohl wir die politischen Predigten, die guten und richtigen Solidaritätserklärungen und die konsequente Parteinahme der Kirche für die armen Leute auf der Straße, für die Obdachlosen, die Asylsuchenden, die Habenichtse und die viehtreibenden Outlaws ja durchaus kennen.
Gewiss: Auch Johannes zeigt uns Weihnachten als durch und durch politisches Wunder… aber eben nicht mit dem gewohnten Blick, der darin – völlig zu Recht – Gottes Identifikation mit den Verlierern der Weltgeschichte erkennt. Statt dieser Parteilichkeit Gottes zeigt uns der Johannes-Blick auf Weihnachten nämlich die Kehrseite, zeigt wie diejenigen, die erfolgreich die Weltgeschichte zu schreiben scheinen, seit Weihnachten Partei gegen Gott ergreifen müssen.
Jesu Geburt – die frohe Botschaft für die Notleidenden – ist ja eine Katastrophenmeldung für die Feinde der Gerechtigkeit und Wahrheit! Weihnachten ist ein schwarzer Tag für die Sieger der menschlichen Politik. Denn das Glöcklein, das ihnen an diesem Tag geläutet wird, ist ein Vorbote ihres Scheiterns und Untergangs.
Um genau das aber zu unterstreichen, es grell und provozierend und unauslöschlich bis in’s Unterbewusste der Menschheit einzuprägen, erscheint das Weihnachtsevangelium dem todesreifen und dennoch siegessicheren Knecht des Messias in den plakativen Farben des Mythos.
……. Natürlich wusste Johannes, hatte es von den Lippen einer darüber grau und ernst gewordenen Frau gehört, unter welchem persönlichen Unheil das Heil der Welt aufging, wie große Qual sie hatte bei der Geburt.
Johannes wusste von der lausigen Unterkunft und der hundsgemeinen Unmenschlichkeit, die das Kind empfingen; er hatte von der Leidensgeschichte der treckenden Schwangeren und den Leidensgenossen gehört, die von den Hecken und Hürden in das unwürdige Notlager kamen, um ihre tränenlosen Augen mit einem Glanz und einer Rührung zu füllen, die allein schon ihre Welt verwandelte, obwohl ihr Lebenslos des Hirtenhungerlohns nicht im Geringsten dadurch gelindert wurde, dass sie einmal das zitternde Neugeborene einer Bettlerin scheu gegrüßt hatten.
Johannes wusste von Hunger und Todesgefahr, er wusste von den Häschern, die überall im jüdischen Land die Hoffnung auf Erlösung von der tödlichen Last des römischen Friedens aufspürten und erstickten … und wenn sie dafür den jüdischen Müttern die Kleinkinder vom Arm reißen und metzeln mussten, wie einst die Männer Pharaos in Ägypten.
Johannes wusste es und wusste auch wie es weiterging, wie der Drache, der Augustus und Cyrenius, der Herodes, der Pilatus und Nero und Vespasian und Domitian hieß, dem Kind und seinen Treuen, der Mutter und ihren Geschwistern auf den Fersen blieb und sie zu zerbrechen und zu verbrennen und zu verschlingen trachtete.
Das alles wusste er, das alles war so geschehen, das alles erwartete ihn auch noch auf Patmos.
Aber sein Blick bricht sich nicht an diesen schweren, schwarzen Hindernissen der Oberfläche, der bisherigen Erfahrung:
Er hat das Licht gesehen, das noch das Todesdunkel durchdringt. Er hat die Sonne gesehen, die im Reich der tiefsten Schatten den neuen Tag, den jüngsten Tag aufzuwecken vermochte.
Und darum sieht Johannes das bittere Elend der Weihnachtsgeschichte ganz anders, das ja auch wir nur deshalb so volkstümlich, so idyllisch-bajuwarisch, so sentimental-nazarenisch machen, weil seine Wirklichkeit mit ihrem Dreck, mit ihrem Mief, mit ihrer grausamen Gefährdung von Menschenleben kaum auszuhalten ist.
Doch Johannes sieht tatsächlich in dem Flüchtlingsmädchen vom Bahnhof Bethlehem, die Leben schenken soll, obwohl sie fast an der Endstation gestrandet ist, die Zeichen des Sieges; der Glanz, der mit ihrem Kind in die Welt kommt, gerade dort wo er am nötigsten ist, überstrahlt die beklemmende Trostlosigkeit so sehr, dass das Sonnengewand und die Sterne und die Mondsichel es nur von ferne und vergleichsweise ahnen lassen.
Und der Drache des Todes und die Mächte der Finsternis, die einen Stern nach dem anderen vom Himmel fegen und alles schwärzen wollen: Sie können diesen überwältigenden Hoffnungsschimmer nicht ungeboren machen, können ihn den Händen Dessen nicht entreißen, Der ihnen die Welt nie und nimmer überlässt.
Ist das Mythologie?
Ist es Kitsch?
– Nein, es ist Glaube in seiner nacktesten, ursprünglichsten Gestalt als Zuversicht dessen, was man hofft und als Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht (Hebr111)!
Wir glauben es aber nicht nur, dass die Gewalt und das Unrecht, der Schmerz und die Sünde, die Hölle und der Tod von diesem Kind der Maria überwunden und entmachtet werden – wir könnten es sogar immer wieder sehen …. in Lichtspuren und Zeichen und weltlichen Wundern unserer Tage:
Denken wir an Malala Yousafzai, das Mädchen, das dem Morden der Taliban widerstand und der Welt die sprichwörtliche Botschaft mitgibt, dass ein Stift stärker ist als ein Schwert.
Denken wir an den Mann, der fast solange Gefangenschaft litt, wie Jesus Erdenjahre lebte und dann – ohne Rache zu üben – Verantwortung auch für seine Feinde übernahm.
Denken wir an die unbesungenen Heldinnen und Helden des Menschenlebens, die erziehen und pflegen, die sich kümmern und einsetzen, die Hände halten, Briefe schreiben, die Trümmer wieder aufbauen, die Revolutionen herbei beten, die einfach eine Lampe ins Fenster stellen, so dass die Verirrten nachhause finden und die Müden zum Reich Gottes. ———
Die Augen des Johannes, die so viel Jesuslicht, so viel Weihnachtssonne, so viel Morgenglanz der Ewigkeit geschaut haben, die würden hier und an unzähligen Orten, bei unzähligen Menschen das gleiche Bild erkennen wie an dem müden Mädchen auf dem Misthaufen, das den Erlöser gebar und deren Bild so strahlend, so herrlich schön, so unverlierbar wurde – für ihren Vizesohn … und für uns alle, die hören und darauf vertrauen.
Denn das Bild, das Johannes im Stall und im Sterben sieht, am Himmel und im Staub ist schlicht die Erleuchtung, dass das Kind der Maria das Ende der Nacht bringt. Das kleine Kind der Maria ist selbst ja der große Tag Gottes. Es ist der Sieger.
Von ihm her und von seiner Geburt, von ihm her und von seinem Tod, von ihm her und von seiner herrlichen Errettung und Entrückung zur Gottes Thron fällt Helligkeit auf uns alle.
Er war das erste und er bleibt das ewige Licht. ——
Und wenn wir an ihn denken – auf dem Schoß seiner Mutter, umgeben von Todesgefahr, gejagt von den einst Mächtigen und bis heute von den Eigenmächtigen nicht ernst genommen und geschmäht –, wenn wir ihn so sehen, wie Johannes ihn sah, dann sehen wir die Zukunft und die Wahrheit.
Denn dann sehen wir den, dessen Erscheinen Entscheidung war: Die Entscheidung, dass der Drache verloren hat und untergeht und dass alle, die sich von dem Knäblein weiden lassen, leben werden bei Gott.
Das ist die Weihnacht des Johannes: Das größte Zeichen aller Zeiten. Unser Licht und unser Leben.
Amen.
1.Christtag 25.12.2013 Stadtkirche Galater 4,4-7 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Christtag 2013
Galater 4, 4-7
Liebe Gemeinde!
Zwei Überraschungen sind heute morgen aus dem Dünndruckpapier der Bibel auszuwickeln: Die eine Überraschung stellt die Philosophie auf den Kopf, die andere die Biologie, und alle beide verändern –wenn wir sie als Weihnachtsgeschenke fleißig in Gebrauch nehmen wollten, und sei’s nur dem freundlichen Geber zuliebe – unser Lebensgefühl in der Welt. —
Die erste Überraschung, die die Philosophie betrifft, ist in der Wendung des Paulus von der „erfüllten Zeit“ zu sehen. Denn so viel die klügsten Köpfe sich auch bemüht haben, das erstaunliche Phänomen der Zeit zu fassen, so einzigartig ist die Aussage des Paulus.
Am ehesten werden wir unser Wissen und Bewusstsein von der Zeit vielleicht wie der Kirchenvater Augustinus erleben, der schreibt:
„Was ist also ʻZeitʼ? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“*
Und noch eine allgemeine Erfahrung ließe sich vielleicht in unseren Vorstellungen von der Zeit wiederfinden: Den meisten von uns scheint sie linear – also wie ein Pfeil auf seiner Bahn oder wie am buchstäblichen „Schnürchen“ – sehr schnell und sehr geradeaus zu verlaufen, und ihr Ziel ist dann entweder die Zukunft, in deren Richtung sie ständig saust, ohne je dort anzukommen, oder die Vergangenheit, in die jeder Moment blitzartig eintaucht, kaum dass er auftauchte. ——
Aber dass die ganze Zeit, die Zeit insgesamt ein Kegel ist, auf den es von der einen Seite langsam und mühevoll hinaufgeht, um sich auf der anderen Seite dann ebenso mühsam und langwierig wieder in die Tiefe zu entfernen: Das ist schon eine sehr eigentümliche Vorstellung von der Zeit.
Sie passt uns eigentlich auch recht schlecht. Denn wenn die Zeit – d.h. ja aber immer auch: wenn die Geschichte – einem solchen Berganstieg und dann einer solchen Talfahrt gleicht, dann werden wir nie da sein, wo wir uns am liebsten sähen: Auf der Höhe der Zeit.
– Und genau das will Paulus uns heute ja sagen.
Es ist die erste Überraschung im biblischen Geschenkpapier: Ein Kalender, der rückwärts geht, der nicht mehr ansteigende Jahreszahlen in langer Reihe zusammenzählt und immer höhere Ziffern zeigt, weil die Jahre, die wir erleben vielmehr heruntergezählt werden müssen, immer niedriger, immer tiefer. ……
Die Höhe aber, von der dieser Kalender den Abstieg misst, die ist nicht als absolute Zahl zu fassen – schon gar nicht als das fiktive Jahr Null – , sondern als ein einziges Ereignis, das keineswegs 365 Tage lang währte, nicht einmal neun Monate dauerte und auch keinen anderen bestimmbaren Zeitraum, sondern einen einzigen Augenblick, ein Nu: In diesem Nu aber, in diesem Schlüsselmoment, da geschah es! ……. Gott schlug die Augen auf, schöpfte den ersten Atem, ließ seinen Urschrei durch die stille Nacht ertönen!
Natürlich war das nicht die Götterdämmerung an sich – als sei Gott vorher nicht gewesen. Aber in diesem einen, allerkleinsten Bruchteil der gesamten Zeit, da ging in der Zeit auf, was vorher nicht in ihr, sondern über und bei ihr, in der Freiheit vom zeitlichen Werden und Vergehen gewesen war: der Ewige.
Gott wurde Zeitgeschichte, weil er Mensch wurde. Er nahm eine Natur an, die eben gar nichts von Jahren und Tagen Unerschütterliches mehr hatte, sondern ihn zum Kind seiner Zeit machte, zum Sohn eines bestimmten Tages, zum Menschen jener Stunde.
Und da war die Zeit erfüllt – so dass auf diese Stunde, auf diesen Moment nichts Ähnliches mehr folgen konnte.
Und plötzlich zeigte sich auch in einem ganz neuen Licht, was vorher in Israels Geschichte, ja in der Weltzeit vor sich gegangen war: Die Schwangerschaft der zeitlichen Schöpfung. Nun war geboren, der vorher unsichtbar verborgen durch die Generationen Israels und die zeitgleichen Epochen der Menschheit getragen wurde.
Die Zeit war erfüllt, entbunden. Sie hatte Frucht getragen – die doch so oft so sinnlos leer, so totgeschlagen, so verbohrt zurückgedreht worden war in der Vergangenheit, in der Gottes Volk sich seine Maßstäbe vom morbiden Ägypten lieh oder von den bäurischen Kreisläufen diktieren ließ, mit denen immer neue Großmächte Frühling feierten, grausam ernteten und selbst verwelkten.
Die Zeit war erfüllt, als Maria ihren Erstgeborenen nass, blutig und verschmiert im Stroh an sich nahm und ihn herzte und seinen Namen zum allerersten Mal aussprach: „Jesus“.
Das war der Zenith, der reifste Augenblick der Welt. Da ging das große „Es werde!“ noch einmal so unglaublich – in der ungeahnten Gemeinsamkeit von Schöpfer und Geschöpf – in Erfüllung, dass wir seitdem im Nachklang stehen: Und das ist für eine Menschheit, die sich – zumal im sog. „Westen“ – ganz auf die Geschichte als Fortschritt eingestellt hat, denn doch eine etwas herbe Weihnachtsüberraschung, … dass wir nicht auf der Woge der Höherentwicklung reiten, sondern eine Nachgeschichte erleben?! —
Doch gerade diese Einsicht, dass der Gipfel seit dem Tag von Christi Geburt hinter uns liegt, ist für Paulus kein Grund zum Pessimismus, sondern im Gegenteil: Nun kommt die zweite, unvermutete Überraschung. ……..
Die schöne, eigen- und einzigartige weihnachtliche Wendung von der „erfüllten Zeit“ schreibt Paulus ja an die christliche Gemeinde unter den Galatern, eine Gemeinde, die fast gänzlich aus geborenen Heiden bestand und unter solchen lebte. Nicht wenige von ihnen hatten nun aber, seit sie zu Jesus, dem Messias fanden, einen Geburtskomplex erlitten.
Sie ließen sich verunsichern durch ihre Herkunft aus Volksstämmen und einer Kultur, die nirgends die Maßstäbe der Bibel erfüllten. Und aus einem Gefühl der Minderwertigkeit und aus einer frischgebackenen Begeisterung für das heilige Volk und seinen größten Sohn und König – den Mann aus Nazareth – spielten sie das Lieblingsspiel aller Neubekehrten: Sie wurden päpstlicher als der Papst … oder in diesem Fall: Jüdischer als der Messias.
Schnell ließen sie sich einreden, Taufe und Glaube seien für sie nur das Entréebillet in die volle jüdische Religionsausübung. Und bald ging es nirgends so koscher zu und so leidenschaftlich streng, wie unter den gesetzesfreudigen Christen Galatiens.
Und wenn es nicht so bitterböse traurig wäre, müsste man beinahe sagen: Wer unter den solchermaßen fromm gewordenen Galatern keine jüdische Urgroßmutter hatte – nun, der musste sie eben erfinden.
In diese Situation hinein also prägt Paulus den Satz:
„Als aber die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz getan“, …. und als sie’s lasen, da wurden die Galater ganz piquiert und sehr betrübt, weil nun mal nicht jeder das Glück und das Geburtsrecht hat, von Mutters Seite her als guter Jude zur Welt zu kommen und also von Anfang an zu Gottes Sabbatkindern zu gehören.
– Doch dann geht der Satz überraschend weiter: „Gott sandte seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz getan, auf dass er die, so unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen“ …. und als sie das in der Gemeinde lesen hörten, da wurden die Galater ganz stutzig und fragten ihren Vorleser, ob er sich da nicht vertan habe und Paulus nicht vielmehr schrieb, die Gesetzestreuen wurden erlöst, damit sie die Kindschaft empfingen.
Aber auch als der Vorleser sicherheitshalber noch einmal vorlas, hieß es wieder: „…., damit wir die Kindschaft empfingen“.
— Hat er wirklich „Wir“ geschrieben? – Er hat wirklich „wir“ geschrieben!
Und da wurde es den Galatern so sonderbar zumute – so, …. nun, es fehlte ihnen das richtige Wort, …. sie kannten nämlich auch die Sache noch nicht, ….. aber wir würden heute an ihrer Stelle wohl meinen: Da wurde den Galatern so „weihnachtlich“ zumute!!!
Sie rieben sich die Augen und packten sich an den Kopf, sie klopften einander die Schulter, sie schlugen sich auf die Schenkel und dann fassten sie sich an ihre eigenen – eben nicht wie im Klischee semitischen – Nasen: „Der Messias ist in Israel von einer jüdischen Mutter geboren worden, damit wir die Kindschaft empfingen!“ riefen sie sich gegenseitig zu. „Menschenskind!“, so hätten sie dabei begeistert gestaunt, wenn ihr Wortschatz dem unseren ähnlich gewesen wäre – „Menschenskind, der ist Menschenkind geworden, damit wir Gotteskinder werden!“
Und langsam gingen ihnen die Weihnachtslichter auf: Denn offenbar machte Paulus ihnen ja mit diesen Worten buchstäblich ein Geburtstags-Geschenk – einen Geburtstag als Geschenk, das Geschenk einer Neugeburt.
Er ließ sie wissen, dass die zentrale Geschichte aller Zeiten, der Wendepunkt der Schöpfung, von dem an es nicht mehr immer steiler hinauf, sondern immer weiter hinaus in’s Gelände zur Erlösung der Welt geht, auch für sie ein Geburtsfest ist – für sie, die heidnischen Galater, diese Gassenköter ohne Stammbaum, diese religiösen Anarchisten ohne Gesetz und Ordnung, diese Dahergelaufenen, Zuspätgekommenen, an den Hecken und Zäunen gezeugten Mischlinge der Menschheit, diese Nachgeborenen, die mit dem Gott der Bibel in ihrer Kindheit niemals in Berührung gekommen waren.
Der Höhepunkt aller Zeiten ist der Augenblick gewesen, an dem auch sie und mit ihnen die Menge der irdischen Heerscharen in die Wiege Jesu gelegt wurden. Ja doch, …. so herum: Nicht, wie wir vielleicht meinen sollten, dass den mancherlei Menschen, die nichts von Israels lebendigem Gott ahnten, Jesus in die Wiege gelegt wurde als eine unsichtbare Mitgift, die sie eines Tages entdecken und annehmen könnten. Sondern umgekehrt: Die mancherlei Menschen, die nicht im Entferntesten eine ererbte Verbindung zu Gott behaupten oder herstellen können und die wahrhaftig nicht nur in Galatien zu finden sind, diese Feld-, Wald- und Wiesenmenschen wie wir, sind mit dem Sohn Gottes in die gleiche Wiege gelegt worden. Seine Krippe war auch unsere.
Auf dem Berge, auf dem Gipfel der Zeit, dort wo nach dem Volkslied „der Wind weht und Maria ihr Kind wiegt“**, da war jeder einzige von uns eingebunden in die Windeln des Neugeborenen, mitgebettet, so wie Jesus lag, ein Milchbruder, eine Säugschwester des Heilands.
Denn der hat ja – wie schön die deutsche Sprache das hergibt, schöner als die Galater es je hören konnten! – der hat ja in seiner Gottheit und Menschsein verbindenden Geburt „die Menschheit“ angenommen: Nicht nur die Menschennatur, nicht nur die Menschenart und das Menschenschicksal, nicht nur die Menschlichkeit und Menschenliebe, sondern tatsächlich die kollektive Fülle und Vollzahl der Menschenkinder.
In seiner Geburt sind sie alle zu Gottes Kindern geworden.
Menschsein nach Weihnachten heißt also, den eigenen Ursprung nicht mehr in den Urkunden und Papieren zu suchen, die auf irgendwelche anderen Daten ausgestellt sind, sondern zu wissen: Als Jesus erschien, begann mein Leben! Ich war dabei, dazugezählt, eingeschlossen in die Wirklichkeit der Menschheit, die Gott zum Vater hat! Und die anderen waren es auch – die fröhlich Frommen, die Zweifler und Zänker, die Ahnungslosen und die Ablehnenden ….. die gesamte Menschheit: Auch darum war die Erfüllung der Zeit so überbordend, so unvergleichlich berstend voll, weil in Christi Geburt die Gesamtheit der Menschen den entscheidenden Durchbruch erfuhr, den Eintritt in das Leben als „Marienkinder“ – wie es im Märchen heißt*** – oder biblisch gesprochen als Kinder, die mit in die Wurzeln der Verheißung ge-pfropft sind, die Maria und den Stamm Davids und die Segensträger Abraham und Sarah als ihre geistlichen Eltern und Verwandten erkennen und bekennen sollen. ———
Das ist also die andere Überraschung, die im Papier des Galaterbriefes eingewickelt ist und die, wenn man sie entfaltet, tatsächlich von unserer Abstammung bis zu unseren Aussichten auf ein Erbe alles ändert und verwandelt:
„Du bist nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott!“
Diese Nachricht aber machte nicht nur die Galater aufhorchen, sondern sie ist bis heute noch immer unerhört: Wir sollen die Töchter und Söhne Gottes sein – die Geschwisterschar Jesu, die mit ihm die Mutter in Israel (vgl.Richter57) und den Vater im Himmel gemeinsam haben?!
Doch auch wenn wir es noch so gewohnt sind, heute nur einen Einzelgeburtstag zu feiern, müssen wir umdenken.
Das Weihnachtsfest bringt uns an die Wiege der neuen Menschheit, auf der Höhe aller Zeiten.
Wir stehen stumm und staunend dort und sehen, wie schon das Kind in der Krippe – trotz, nein wegen seiner Einzigartigkeit – nichts, gar nichts für sich alleine hat und behält. Es teilt Vater und Mutter mit uns, es teilt Anfang und Zukunft mit uns. Es verbindet sich bis in Innerste mit allen Menschen, es wird nicht nur fleisch- und-bluts-, sondern sogar seelenverwandt mit Galatern und Griechen, mit Barbaren und Banausen, mit Dir und mit mir.
„Denn weil ihr Kinder seid, hat Gott gesandt den Geist seines Sohnes in unsre Herzen, der schreit: Abba, lieber Vater!“
Dieses Weihnachtsgeschenk ist aber nun tatsächlich ein Gebrauchsgegenstand, eine Notwendigkeit für den täglichen Bedarf, eine Gabe, die wir jahraus, jahrein, immer und immer wieder dankbar, fleißig und mit dem unendlichen Staunen und der überwältigenden Freude und Freiheit, die die Galater überkam, nutzen und genießen sollen, wann immer wir es hören uns sprechen ……. das große Weihnachtsgeschenk, das beginnt:
„Vater unser ….“
Amen.
* Augustinus, Confessiones – Bekenntnisse, Lateinisch – Deutsch, Eingel., übersetzt & erläutert von Joseph Bernhart, München 1980, [Buch XI, 14], S.629)
** Schlesisches Weihnachtslied: „Auf dem Berge, da wehet der Wind“
*** „Marienkind“, in: Jacob und Wilhelm Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Bd.3
Christmette 24.12.2013 Stadtkirche Liedpredigt zu "In dulci jubilo" Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth - Christmette 2013
»In dulci jubilo«
Liebe satte Gemeinde!
Hier kommt der Dessert nach allem, was heute schon vertilgt wurde, … denn mit Schokolade oder Zuckernaschwerk geht es jetzt los: Wo immer nämlich die traditionell zweisprachige Fassung des ältesten uns noch geläufigen Weihnachtsliedes angestimmt wird, da springen die Süßigkeiten ja alle an modernen romanischen Sprachen geschulten Ohren geradezu an …. „dolce“, „dulce de leche“ ……. Konfekt und Nachspeise ist der süße Jubel – in dulci jubilo – für uns also. Ein kandiertes Betthupferl am Heiligen Abend.
– Doch bevor die Strengen und Bierernsten unter Ihnen gleich innerlich den ersten Leserbrief schreiben über so frivole Kanzellaunen, die das Erlösungs-Gloria der himmlischen Heerscharen zum Zuckerguss machen und die frohe Botschaft von der Heilandsgeburt zur mousse au chocolat verrühren, wollen wir vorsichtshalber noch hören, wo der Honigseim und die Kamellen des alten Weihnachtsjubels zum ersten Mal begegnen. Dann dürfen und werden Sie protestieren!
Denn das »In dulci jubilo« wird zum ersten Mal zitiert in einer wunderlichen Vision des Mystikers Heinrich Seuse (dessen Name in seiner süddeutschen Heimat im 14.Jahrhundert übrigens ebenfalls „Süß“ bedeutete…….).
Seuse war als junger Dominikanermönch in Köln und erlebte dort ein bezeichnend kölnisches Spektakel – allerdings deutlich vor der fünften Jahreszeit, nämlich am Hochfest aller Engel, dem Michaelistag (29.IX.): In einer inneren Schau trat ihm ein himmlischer Jüngling entgegen, der sich gebärdete wie ein Spielmann, was auch zu Seuses Zeiten – am Ende der Minnesängerepoche – gerade im rheinischen Brauchtum doch schon sehr an den Tambourmajor oder die Musikanten mit klingendem Spiel bei den karnevalistischen Umzügen denken lässt.
Dieser Spielmann, der sich als Fürst der Engel erweist und eine ganze corona anführt, lädt den zu grausamer Selbstkasteiung neigenden Seuse ein und spricht: „Er solle sein Leiden aus den Sinnen werfen, und ihnen Gesellschaft leisten, und er müßte auch mit ihnen himmlisch tanzen“.
Und der junge Mönch mit den eigenhändig zugefügten frischen Wunden tanzt, und als er dabei den geliebten Namen Jesu so süß nennen hört, vergisst er alle Schmerzen und tut die höchsten und freiesten Sprünge und erlebt ein Tanzen, nicht wie von dieser Welt, sondern es war „ein himmlisches Auswallen und Wiedereinwallen in den wilden Abgrund der göttlichen Verborgenheit“ … oder „Vollkommenheit“.
Die Begleitmusik zu diesem ekstatischen Walzer aber – den er um 1320 in der himmlischen Tanzgarde erlebte – hat Heinrich Seuse genau erkannt: Es war „ein fröhliches Gesänglein von dem Kindlein Jesus, das spricht also: in dulci jubilo etc.“ ——
Die erste Begegnung mit dem schokoladensüßen Weihnachtsjubel lehrt uns also, dass hier ein Dreivierteltakt gespielt wird, der jeden, den er ergreift, beinahe rauschhaft, völlig losgelöst in die Tanzschule der Engel versetzt.
Das ist auch verständlich, denn der Anlass, der die Begeisterten hier in den Takt und in die Figuren der großen Choreographie des Himmels holt, hängt tatsächlich mit dem ursprünglichen Ballett der Himmelskörper zusammen. Von den Planeten glaubte man nämlich seit der Antike, dass sie sich zu harmonischer Sphärenmusik auf ihren eigenen Bahnen wie bei einem feierlichen Reigen um das Zentralgestirn drehen. Und zu Weihnachten wurde die Mitte des Universums ja buchstäblich verlegt und die Achse des Himmels neu ausgerichtet: Oben wurde unten, Nebenschauplatz wurde Zentrum; das wonnigste aller Weltwunder tauschte den Himmelsthron mit der Ochsenkrippe – „leit in præsepio“.
Ja, die Sonne selbst ist „in matris gremio“ gefallen, in den Schoß einer jungen Frau, eines erschöpften, benommenen, aber glücklich entbundenen Mädchens.
Und mit diesem ersten Auftauchen eines kopernikanischen, sonnenzentrierten Weltbildes hebt der Tanz der Erlösten an, deren Glauben und Hoffen, deren Liebe und deren Leben sich künftig um jenes neugeborene Licht der Welt drehen werden, das auf den Knien seiner menschlichen Mutter zur Ruhe gewiegt wird.
Die Sonne der Welt also im Mutterschoß in der Mitte und drum herum der Reigen der Seligen und Fröhlichen, die von der Schokolade im Namen Jesu zu feierlichsten und zugleich heitersten Jubeltänzen animiert werden: Das ist die Konstellation der neuen Schöpfung, die das gotische Lied besingt, indem es einfach die große Formel vom Ende der Bibel auf das winzige Zentrum aller dieser weihnachtlichen Ausschweifungen anwendet: Alpha und Omega ist das Kind. Grund und Ziel des alten, Anfang und Vollendung des neuen Sonnensystems. ———
Doch so überschwänglich wie er anhebt, geht der Weihnachtstanz zu Ehren der Neuschöpfung nicht weiter.
In der zweiten Strophe folgt auf den süßen Rausch so etwas wie Ernüchterung.
Das ist typisch mittelalterlich. Und gehört heute ja immer noch genauso zu den elementaren Erfahrungen jedes gelungenen Festes … auch wenn wir vom Weihnachtskater an Heiligabend dann doch etwas verfrüht erwischt werden.
Doch ob er nach dem ersten Überfluss der Geschenke und nach dem ersten Gelage nicht längst unmerklich eingesetzt hat? …. Womöglich ist es ja ein Glück, nach dem Zuckerfest der Freude mit dem alten Lied auch das Weh auszusprechen, das noch den Jubel durchzieht.
Denn Heinrich Seuse hat den Tanz der Engel ja nur in einem Gesicht, in einer Vision und Audition erlebt. Und wir sind allenfalls in Gedanken und in liturgischer Vergegenwärtigung bis an die Krippe Jesu, zum Kern der Weihnachtsbotschaft gedrungen. Spätestens beim morgigen grauen Tageslicht wird es vielen darum auch wieder völlig ferngerückt sein, das Wickelkind, das für die ganze Welt die Hauptrolle der Heiland spielen soll.
Darum ist es so ehrlich und entwaffnend, dass auf den Jubel nun die Klage folgt: „O Jesu parvule“ … eben noch haben wir Dich „Sonne“ genannt, aber eigentlich bist Du ein schmächtiges, winziges Würmchen. Doch gerade danach, nach Deiner tatsächlichen Kindesgestalt, nach der fleisch- und haut- und knochengewordenen Realität des Gottessohnes haben wir letztes Heimweh. ……. So lange wir das nämlich nur hören und meditieren, so lange wir das allenfalls feiertäglich, aber eigentlich kaum je alltäglich erleben und begreifen, dass da ein kleiner Mensch Gott-mit-uns ist – so lange gibt es etwas tief, tief Trostbedürftiges in der Welt.
Und so fleht die zweite Strophe das kleine Hilfskind, den guten Jungen (puer optime) an, dass er uns mit der virtuellen, visionären, vorweggekosteten Weihnachtsfreude auf den Geschmack und Weg zur wahren, wirklichen Freude bringt, zur Begegnung von Angesicht zu Angesicht, wo aus dem Prinzip Hoffnung das Prinzip Glorie (o princeps gloriæ) werden soll.
Wie schön wäre es – so lehrt uns das Weihnachtsweh –, wie schön wird es, wenn wir einmal nicht mehr nur den Anfang, sondern endlich auch das fertige Gelingen der Heilsgeschichte feiern können! …….
Eben wurde uns Weihnachten schon als Nachtisch serviert … und nun ist es höchstens die Vorspeise, ein hors d’œuvre der Ewigkeit, das eine solche Sehnsucht, einen solchen Appetit auf das Zukünftige macht, das es schwer fällt, den letzten Satz nicht ganz ungestüm zu singen: „Trahe me post te!“ – „Zieh mich dir nach!“ … dieser Satz der Ungeduld, mit dem biblisch das Hohe Lied der Liebe beginnt (13) und in dem tatsächlich die ganze Spannung, die ganze Leidenschaft zittert, die der Erfüllung der Liebe vorausgeht. Zieh mich dir nach … spanne mich nicht auf die Folter … lass es wahr werden, was bisher nur Traum und Wunschbild war.
Auch diese Wendung vom Genuss in der ersten zum Verlangen in der zweiten Strophe ist ganz mittelalterlich, wie es dem Mittelalter – der Zeit der frühen Abschiede und des vielen Sterbens – ja auch nahe lag, Frömmigkeit und Erotik zu verschwistern, weil es so herzzerreißend selten gelang Liebe zu finden und sie dann auch noch auskosten zu dürfen.
Eben das aber unterscheidet die mittelalterliche Lust an Gaumen- und Liebesfreuden von unserem Hang zum Konsum. Uns gedankenlosen Kaufrauschmenschen tritt da kaum etwas auseinander: Haben-wollen und sich das Begehrte dann einfach Leisten sind für uns oft die beiden selbstverständlichen Seiten einer Medaille.
Da ist es eine verlernte und doch umso lebenswichtigere Lektion, die wir im süßen Weihnachtsjubel hören, dass wir nämlich lange nicht genug von dem werden kriegen können, das da am Anfang des Liedes so schmelzend warm und köstlich auf der Zunge lag.
Je satter man sich an Gottes Gegenwart und Liebe sehen und essen will, desto hungriger wird man – so erfahren es die Mystiker aller Zeiten.
Und je lieber man Weihnachten hat, desto vorläufiger, desto vorübergehender wird es, nur eine kurze Vorwegnahme, aber noch lange nicht das Ende der menschheitlichen Befreiungs- und Erlösungsgeschichte: Denn der Anfang der neuen Welt, die sich um Jesus, ihren Retter und Heiler dreht, ist ja eigentlich vor allem anderen ein Grund, umso brennend sehnsuchtsvoller auf ihren unwiderruflichen Durchbruch und ihr endgültiges Bestehen zu warten. ——
In dieser von uns verdrängten und also für uns fremden Erfahrung, dass wir nicht einfach kriegen, was wir wollen, dass Erwartung und Hoffnung geweckt sind, aber an allen Ecken und Enden zu erleben ist, was mangelt und fehlt und was wir uns auch nicht einfach anschaffen können, … in dieser fremden Erfahrung, die doch die Mehrheit der Menschheit Tag für Tag machen muss, übersingen und überspringen wir die dritte Strophe:
Sie atmet reformatorischen Geist und ist vielleicht von Luther selbst hinzugedichtet worden, um die ursprüngliche vierte Strophe zu verdrängen, die ganz auf Maria blickte.
Die dritte Strophe erinnert mit ihren stark dogmatischen Vokabeln daran, warum wir nicht im Selbstbedienungsladen des Paradieses sitzen, sondern im Wartesaal des Heils: Es ist Menschenschuld und göttliche Gnade, die da den Einschnitt und den Ausweg verursachen; es hätte ohne uns nicht Weihnachten werden müssen und es hätte ohne Gottes Liebe und angeborene Langmut nicht Weihnachten werden können. Das ist theologisch fundamental. ——
Aber Weihnachtstheologie muss in Fleisch und Blut gehen, unter die Haut, an die Nieren und an’s Herz! Und das tut die letzte, die Ubi?- und Eia!-Strophe wahrhaftig!
Zwischen diesen beiden Wörtlein verläuft nämlich eigentlich das Leben der Leute, die auf das endlose Weihnachtsfest des versöhnten Himmels und verbrüderten Gottes weltweit warten:
Ubi? – Wo wird das wahr? Wo können wir das wachsen sehen? Wo zeigen sich Anzeichen und Triebe des Weihnachtssamens, der in die Furchen der Geschichte gesät worden ist? Hast Du heute etwas Weihnachtliches in der Zeitung gelesen? Ist Dir ein inneres Kind unter den Menschen begegnet, das Weihnachten ausstrahlte im Kleinkram des zähen Heute? Hast Du selber ein Weihnachtswort gewusst im Geplapper der Gegenwart; hast Du die Ideen und die Energie eines Weihnachtsmenschen gehabt; hast Du eine Weihnachtsspur hinterlassen; war Dein Tun weihnachtlich getan? Wo? Wo wäre das gewesen? ——
Doch obwohl diese Fragen berechtigt sind – die Frage nach den praktischen Folgen von Christi Geburt für jeden von uns – macht das alte Lied von der Süßigkeit und der Sehnsucht der Weihnacht uns klar, dass wir hier nicht getrimmt werden zu Hochleistungen: Als müsse nun jeder von uns das gesamte Jahr hindurch Weihnachtsstimmung verbreiten – die doch zuweilen schon im Dezember so schwer fällt –, oder als müsse man jeden einzigen Schritt wie ein Weihnachtsengel abzirkeln, der allseits nur Freude auslöst, oder als müsse das Menschengeschlecht selber glänzen wie der überirdische Weihnachtsstern und den Frieden auf Erden, das Wohlgefallen und die Ehre Gottes auf eigene Verantwortung umsetzen – und wehe, wenn Ihr die Welt nicht nächstes Jahr viel, viel weihnachtlicher hingekriegt habt, als sie dies Jahr noch ist.
Das alles ist so freudetötend und auch so verhängnisvoll für die rechte Sehnsucht! Denn die spricht sich in ihrem mittelalterlichen Wortlaut so unverfälscht aus: Ubi sunt gaudia?
Wo ist die reine Freude, der Spaß an der Freude, der Lichterbaum, die Kuchenschlacht, das Geschenkemeer, die Wonnezeit, das große Glück, die Vollkommenheit, an der wir uns niemals werden satt sehen können, an der wir uns nie genug laben können – einerlei ob wir bisher schon verwöhnt und also abgestumpft oder ganz neugierig und unbefriedigt sind.
Wo ist also wirklich Weihnachten – die Gaudi, die uns schlichtweg selig macht?
Nicht hier. Denn das ist nicht in unsere Macht gestellt. Das gibt’s nicht durch Kämpfen oder Kaufen, auch nicht durch den Zauber aller Gottesdienste oder die Versprechen aller Politik.
Die ewige Gaudi – so singt es ausgerechnet das älteste Lied ganz kess – die ewige Gaudi kündigt sich in neuen Liedern – nova cantica – an.
Aber neue Lieder sind immer die Melodie eines Umsturzes, einer aufbrechenden Zeit, die Klänge von morgen. Sie sind also die Vorboten dessen, worüber wir heute nicht verfügen – und auch der Papst in Rom und die große Koalition in ihrem kuscheligen Burgfrieden und auch der kalte Wahn der mancherlei Tyrannen nicht und auch die gruselige Anarchie der Chaostruppen nicht, die vor zwei Jahren Frühling vom Atlas bis zur Weihrauchwüste einläuten wollten und doch mehr Sturm entfesselten.
Nein, lieber Papst, wir haben eine andere Kurie, lieber Kaiser, wir haben einen anderen König, von denen wir alles das erwarten, was das Blaue vom Himmel und das Schönste am Leben sein wird: So frech, so geradezu herausfordernd endet der Weihnachtsjubel derer, die auf etwas ganz Großes hoffen, seit sie in dem kleinen Kind den Beginn der umfassenden Gottesherrschaft erfasst haben.
In regis curia – „in den Höfen dieses Königs hat man das Recht lieb“ (vgl.Ps994) – mit dieser Protestnote gegen die Mächte der alten Welt schließt das dulci jubilo, das uns alle auf den Geschmack bringt, grenzenlos Großes zu hoffen: Weil wir ja erst seit Jesus da ist, ahnen was von Gott kommt!
Das heißt ….. eben weil Jesu Kommen uns so süchtig nach mehr Schokolade aus Gottes süßer Gnade und Liebe gemacht hat, endet das Lied doch noch mit einem Seufzer mehr ….. dem schönsten, den ich Dir wünschen kann, liebe hungrige Gemeinde!
Nimm diesen Seufzer als Dein Weihnachtsgeschenk mit.
Lass ihn nicht liegen – den Seufzer. Pflege ihn. Gebrauche ihn. Lebe den Seufzer!
Denn er erinnert uns daran, wieviel wir hoffen dürfen, seit Weihnachten wurde.
Der Seufzer: „Eia, wär’n wir da!“
Amen!
Christvesper 24.12.2013 Stadtkirche 1.Timotheus 3,16 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christvesper 2013
1.Timotheus 3,16
Liebe Gemeinde!
Wenn die ersten Christen sangen, dann klang ihr dissonanter Chor für unsere Ohren gewiss noch viel „böhmischer“, als das volkstümliche Lied, das wir eben angestimmt haben: Sprachlich war das Ganze gefärbt durch eine Promenadenmischung aus griechisch redenden Angehörigen vieler Völker, die ihre Muttersprache, ihre Dialekte und ihre sehr verschiedenen vulgären oder kultivierten Eigenheiten nicht leugnen konnten. Darüber hinaus ergaben die musikalischen Traditionen des Mittelmeerraumes, die rhythmischen Einflüsse der heidnischen Tempelmusik, der jüdische Singsang ein für uns vermutlich haarsträubendes ohrenbetäuben-des Geleier, und wenn sie sich in feierlicher Wiederholung, in meditativer oder jubelnder Bekräftigung wieder und wieder den selben melodischen Wendungen und Texten hingaben, dann hätten wir wahrscheinlich Reißaus genommen.
Warum wir allerdings annehmen sollten, die Engel über dem Hirtenfeld von Bethlehem hätten in unseren westlichen Ohren vertrauter geklungen, ist nicht zu sagen: In schöner tonaler Dur-Moll-Ordnung werden sie jedenfalls nicht gejauchzt und frohlockt haben, denn das wäre in den Ohren der wilden Burschen auf den judäischen Bergrücken so buchstäblich unerhört gewesen, dass sie schier gar nichts damit hätten anfangen können – von der einzigartigen Botschaft dieser Nacht ganz zu schweigen.
Denken wir uns also auch den gloriosen Chor der himmlischen Heerscharen lieber in pentatonischer, für uns „unreiner“ und offener orientalischer Schwingung schwebend, voller Melismen – „Schmierandi“ – und Modulationen – „Gejaule“ – , die uns unwillkürlich das Minarett suchen ließen..….. Und lassen wir uns eines Tages, wann immer Gott will schließlich überraschen, wie denn die Engel im Himmel nun wirklich singen und ob sie seit 1750 etliches oder alles von Johann Sebastian gelernt haben. ——
Die ersten Christen jedenfalls sangen wie ihnen der Schnabel gewachsen war, ein antikes Kauderwelsch, mit dem zitternden Zäpfchen der gutturalen Kehlgesänge semitischer Völker und mit der harten, gläsernen Intonation des Ostens.
Nicht schön. Und unermüdlich, als fände ein Taizé-Vers nie zum Ende.
Aber in dieser gewiss gewöhnungsbedürftigen Art sangen sie eben auch das erste Weihnachtslied der Welt, den ältesten Hymnus, der die Erscheinung des Heilands und Erlösers in feierlichen Versen rühmt und deutet.
Und siehe da: Ihre urtümliche, pausenlos wiederholte, auf geheimnisvolle Weise tiefinnige Litanei und Katzenmusik ist ein kleines Meisterwerk, eine theologische Miniatur, bei der man beinahe – wie bei filigraner alter Elfenbeinschnitzerei – die Lupe braucht, um zu würdigen, wie da auf kleinstem Raum alles versammelt ist:
Fleisch und Geist – die himmlischen Heerscharen und die Völker der Welt –
der irdische Kosmos und die ewige Herrlichkeit!
So exotisch und roh das zunächst also in unseren Ohren klingt, was die Alten sungen, so erstaunlich souverän und klar bei äußerster Verdichtung ist die Kühnheit, mit der sie Christus in alle Dimensionen, in sämtliche sichtbare und übersinnliche Kategorien hineinjubeln. Sie brauchen sechs kürzeste Zeilen, sechs packende Verben, sechs angedeutete räumliche und himmlische Sphären um die Welt zu einer durch und durch und durch und durch und durch und durch weihnachtlichen werden zu lassen.
Und nie wieder – wenn man sie einmal hat singen hören – , nie wieder – wenn man einmal mit ihnen diese Verse bis zur Ekstase wiederholt hat –, nie wieder wird diese Welt dann so sein, wie vorher, ehe die urchristliche Gemeinde ihren endlosen Hymnus angestimmt hat!
Denn es ist plötzlich alles voller Gegenwart Gottes, was immer es auch sonst sein mag:
Das FLEISCH – also Leib und Magen und „an Tagen wie diesen“ ihre festliche Speise, Kopf und Hals und Glieder und ihre Schmerzen, Schönheit und Gebrechen des menschlichen Körpers, Haut und Haar und Eitelkeit und Notdurft und Geburt und Kindheit und Schwäche und Sterben – das Fleisch ist nicht mehr einfach das Drumrum oder der Erdenrest zu tragen peinlich oder der große Lock- und Verkaufsstoff der Gegenwart, …. sondern seit das Kind namens Jesus darin erschien ist unser Menschenleib eine Gemeinsamkeit mit Gott:
Du hast Hunger … Gott in Jesus auch!
Du fühlst es kribbeln und in der Brust pochen … Gott in Jesus auch!
Du weißt, wie Nahrung und Denken, wie Atmen und Person zusammengehören … Gott in Jesus auch!
Das Körperliche ist weihnachtlich geworden, es ist ein Ort Gottes.
Groß … und doch so offenbar ist das Geheimnis!
So singen es die heiseren und zugleich glücklichen Christen der ersten Gemeinde wieder und wieder, ohne zu ermüden – und es ist fast noch vielsagender als das Lied aus Himmelshöhen! ———
Dann wechselt ihr meditativer Sprechgesang und wiederholt unablässig, dass auch der GEIST durch das Geschehen der Weihnacht für immer verändert und erfüllt worden ist.
Uns ist der Geist ja oft ein Rätsel: Unsichtbar und undefiniert kann er kühl und analytisch sein, das Reich der Logik … oder noch kristalliner: der Zahlen. Nach anderer Auffassung ist der Geist die ungestüme Macht, die im heiligen Einfall aufblitzt und den Menschen erleuchtet. Der Geist vermag die Materie zu durchdringen und die Stumme zum sprechen zu bringen, er ist die weltenschaffende Quelle der Kunst, der Hort der Weisheit, das Labor und die Werkstatt des menschlichen Griffs nach dem Universum.
Er ist unser Adel und unser Dämon.
Aber er kann uns nicht mehr von Gott trennen oder unterscheiden: Die den Menschen gegebenen Fähigkeiten des Geistes sind keine Gegenwelten zur Wahrheit Gottes mehr, sondern ein Weg ihrer Begegnung. So denken und dichten, so forschen und erkennen, so phantasieren und grübeln wir uns nicht mehr fort von Gott, sondern in Seine Richtung, wann immer wir Geistiges leisten und leben.
Du rechnest – und begegnest im Reich der Zahlen doch keinen Gesetzmäßigkeiten eigenen Rechtes, sondern Ziffern und Proportionen, die der menschenfreundliche Gott in der Dreidimensionalität, in der solaren Zeitmessung, in der quantenphysikalischen Wirklichkeit für ein Leben bereitet hat, das er in Jesus teilt.
Du zweifelst und analysierst – und nimmst mit und ohne Religion doch immer an einer geistigen Bewegung teil, die auch Gott in Jesus in ihrer humanen Allgemeinheit belebt.
Du begreifst, Du brennst, Du glaubst – und es sind die Schwellen und die Sternstunden, die auch Gott berühren in den Anfechtungen und Leiden, in den Diskussionen und Gebeten, in den Glückserfahrungen und im Lachen Jesu.
Der Geist also trägt die Verknüpfung zwischen Ewigkeit und Zeit, zwischen Himmel und Erde in jede Sekunde des Menschenlebens hinein. Der Geist ist ein ständiges Weihnachten, ein ständiges Gott-und-Mensch-Verbinden!
Groß ist das Geheimnis ... und doch so allgemein! ———
Als wäre das aber noch nicht genug – dass Gott körperlich geworden und der Intellekt des Menschen mit dem Atem Gottes ein Gemeinschaftswerk begonnen hat – singen die Alten weiter ihren großen Singsang!
Und aus den beengten Versammlungsräumen der psalmodierenden Urchristenheit steigt ein geschwisterlicher Ton hinan bis zu den Chören der ENGEL.
Denn mit erstaunlichem weihnachtlichem Selbstbewusstsein beziehen unsere ersten Glaubensgeschwister sich selbst mit den himmlischen Heerscharen in eins: Wir verkünden, was Ihr verkündet; wir bejubeln, was Euch jubeln lässt; wir erleben, was Ihr erfahren habt, singen die kleinen Leute den großen Cherubim und Seraphim vor!
Und es ist ein stimmiges, lauteres Echo des wirklichen Weihnachtswunders, bei dem Hoch und Niedrig die Plätze tauschten, die Rollen wechselten und den Rang verloren, wenn seit jener Nacht die Boten Gottes, die Stimmen der Geister über dem Wasser, die mächtigen Herolde und die heiligen Musen es sich von Hirten und Fischern, von Handwerkern und Sklaven, von Kindern und Greisen anhören müssen: Wir sind alle ein Ensemble; es gibt kein Gloria in Excelsis mehr, das nicht auch ein Gloria in der Tiefe wäre, kein himmlisch geharftes Halleluja, das nicht auch auf den Maultrommeln oder einem Ziegenbalg der Erde gleichberechtigt – wenn auch schnarrend und dumpf – begleitet würde.
Groß über alles Irdische hinaus und dennoch zur Freude der Menschen ist das Geheimnis dieser Gleichberechtigung von himmlischen und irdischen Stimmen! ———
Und doch ist die Verbrüderung der unsichtbaren und der sichtbaren, der Welt des reinen Gottesdienstes mit der Welt menschlicher Leidenschaften und Leiden für die antike Christengemeinde noch immer nicht alles: Ihr kreisendes Gotteslob, das die Überirdischen und die Sterblichen in einer einzigen Strophe zusammenbindet, schlägt den Bogen noch weiter, indem es schließlich sogar die HEIDEN als Zeugen der großen Übereinstimmung von Gottheit und Menschheit in Jesus anruft.
Sie alle – die Völker und Stämme, die Nationen und Kulturen des Weltkreises, den man damals „die Oikumene“ nannte – sind die Adressaten der Nachricht, dass Gott zur Welt und die Menschheit auf den Geistweg Gottes gebracht worden ist.
Diese schlicht wie eine Tatsache dahingesungene Weltwirkung von Weihnachten ist eine wunderbare Vision, denn sie kommt ohne den Zwang zur politischen Konsequenzmacherei aus.
Niemand muss es von offizieller Seite bestätigen, kein Barbarenstamm muss mit Gewalt missioniert werden, kein Glaubensbote muss mit Bekehrungserfolgen glänzen, wenn es so ist, wie die Timotheus-Gemeinde es besingt: Jesus ist allen Völkern gepredigt, die Botschaft von der großen Freude, von der Ehre Gottes, vom Frieden auf Erden, vom Wohlgefallen bei den Menschen ist eine universale Tatsache und verändert die Verhältnisse der Welt grundlegend.
Es gibt nur noch die eine Menschheit, die vorher wie nachher, fern wie nah aus Evangeliumsempfängern besteht.
Jeder Freund und jeder Feind, jeder römische Weltbürger und jeder Einsiedler in Kleinkleckersdorf hinterm Mondgebirge, jeder, der sich wild gibt und jeder, der sich zivilisiert anstreicht, … jeder Mensch ist bedingungslos weihnachtswürdig und weihnachtsfähig, weil weihnachtsbedürftig.
Und was über Bethlehems Feld ertönte und von den unermüdlichen Sängern der jungen, kleinen Glaubensgemeinschaft aufgegriffen wurde, hat tatsächlich die ganze Welt erreicht und durchdrungen: Kein Geburtsfest wird so global – innerhalb wie außerhalb des Glaubens – bedacht und begangen wie die Geburt Jesu. Und kein Leben und Sterben, kein Auferstehen haben und werden die Welt je so prägen und erfüllen, wie diejenigen des Kindes in der Krippe.
Vielen ist das bleibend ein großes Mysterium – aber ein öffentlicheres gab es in der Weltgeschichte nie! ———
Daher ist es auch keine Anmaßung, wenn nun das letzte Doppelglied des kurzen Urweihnachtshymnus zum Schluss die größte Verbindungslinie zieht, nachdem die Polarität zwischen Fleisch und Geist, zwischen himmlischen und irdischen Wesen fortgesungen ist und ihre durch Weihnachten gestiftete Harmonie, ihre gemeinsame Resonanz auf die Erscheinung des Christus Jesus hörbar und mitreißend wurde.
Die größte Verbindungslinie, der allumfassende Frieden ist die Musik der versöhnten Sphären WELT und HERRLICHKEIT.
Denn so weit haben die Alten sich mit so wenig Anlauf tatsächlich aufgeschwungen, dass sie nicht nur die höchsten Töne, sondern auch die allersteilsten Gedanken erreichen, obwohl keiner unter ihnen Philosoph oder Physiker war. Ihr kurzes, endlos großes Lied endet damit, dass sie dem ganzen Kosmos, der materiell und geschaffen ist, und der reinen Vollkommenheit gleichzeitig ihre Stimme leihen: Die vertraute Realität und das Reich Gottes sind zwei Strophen eines Liedes für unsere frühchristlichen Geschwister.
Sie haben einen Reim auf beides gefunden, auf die Rätsel des Menschenlebens in der Welt und auf die bisher ungelüfteten Geheimnisse dessen, was jenseits ist.
Der lautet: Jesus! ——
Jesus ist der gemeinsame Nenner, dessen Kraft und Wahrheit die Antipoden umspannt.
Jesus ist der gemeinsame Nenner, der die Antithesen aufhebt und zueinander führt.
Jesus ist der gemeinsame Nenner, der getrennte Wirklichkeiten und erlittene Widersprüchlichkeiten zusammenbringt. Nicht als geistreiches Paradox, sondern in einem Zeit und Zukünftiges, Gott und Geschöpf umfassenden und verknüpfenden Menschenleben.
Unglaublich groß ist dieses Geheimnis, aber zum Glück geht es uns nah, ist uns auf den Leib geschrieben, ist unserem Denken und Fragen geschichtlich eröffnet, hebt uns empor in die Transzendenz, setzt uns die Menschheit ins Herz, bindet uns in die Welt ein und lässt uns zugleich den Glanz der Ewigkeit als das Nächste und Beste schauen.
Jesus ist der gemeinsame Nenner, der nie genug genannt, nie ausreichend besungen werden kann.
Darum sind wir hier.
Darum singen die ersten Christen ihren Weihnachtshymnus trotz des Todes, als sei nachher nichts anders als vorher, noch heute und immer, immer weiter.
Und darum ist das auch unser Lied, von nun an in endloser Weihnachtlichkeit:
Er ist offenbart im Fleisch, - gerechtfertigt im Geist,
erschienen den Engeln, - gepredigt den Heiden,
geglaubt in der Welt, - aufgenommen in die Herrlichkeit!
Amen!
Heilgabend 2013, Christvesper, Lk 2,12, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
„Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen." Lk.2,12
Liebe Gemeinde,
die Geschichte, die uns der Evangelist Lukas ans Herz gelegt hat, die bietet die unterschiedlichsten Ansatzpunkte, um über das Geheimnis von Weihnachten zu meditieren. Da könnten wir darüber nachdenken, was es mit dem Ort der Geburt, mit Bethlehem, auf sich hat; oder dem Lobgesang der Engel nachsinnen; da stellt sich die Frage, warum die Eltern mit dem Kind keinen anderen Raum in der Herberge fanden und was das mit uns und den vielen, die in unserem Land Aufnahme suchen, zu tun hat. Die Weihnachtsgeschichte des Lukas, sie ist immer wieder neu aktuell, gerade weil sie einer Wahrheit verpflichtet ist, die weit größer ist als die vermeintlich objektive Historizität, auf die in unserer Gesellschaft so großer Wert gelegt wird. Nicht die Frage: „Ist das denn alles so passiert, wie es Lukas aufgeschrieben hat?" bringt uns weiter. Im Gegenteil: alles, was bloß „passiert" ist, das ist „passee", das ist Vergangenheit. Entscheidend ist die Frage: „Um was ist es Lukas gegangen, als er genau diese Geschichte geschrieben hat." Und genau dieser Frage will ich nachgehen - heute Abend mit Blick auf das Zeichen, das den Hirten auf den Weg mitgegeben wurde, damit sie den Heiland der Welt erkennen können: „Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen."
Die Windeln, liebe Gemeinde, kommen in der Weihnachtsgeschichte gleich zweimal vor; sie müssen also sehr wichtig sein. „Und wickelte ihn in Windeln" heißt es vom ersten Tun der jungen Mutter Maria an ihrem Erstgeborenen. Und nicht etwa: „Da herzte sie das Kind und sang ihm ein Wiegenlied." Wäre das nicht weihnachtlicher gewesen, lieber Lukas, wenn du es uns so erzählt hättest? Und dann sagt es der Engel den Hirten auf dem Feld: „Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt." Wieso soll das ein Zeichen sein? In Windeln gewickelt findet man in der Regel jedes neugeborene Kind. Was will uns Lukas mit diesem textilen Hinweis sagen?
Wir begreifen es, wenn wir die Geschichte vom Ende her ansehen. Nicht nur die Weihnachtsgeschichte, nein, die ganze Geschichte von ihrem Ende her. Die ganze Geschichte des Mannes aus Nazareth, dessen Geburtstag wir heute feiern.
Was heißt das?
Ich will es Ihnen an einer Erzählung aus unseren Tagen verdeutlichen, in der auch Windeln vorkommen. Ilse Aichinger hat sie geschrieben und „Spiegelgeschichte" genannt. In dieser Spiegelgeschichte rollt die Dichterin einen Lebenslauf von rückwärts auf:
Vom Augenblick der Bestattung an wird der Weg bis zur Geburt zurückverfolgt. Somit werden Anfang und Ende des Lebens - wie alles, was in einem Spiegel erscheint - vertauscht. Die Todesstunde wird zur Stunde der Geburt und die Stunde der Geburt zur Todesstunde. Der Sarg einer jungen Frau, die aufgrund einer misslungenen Abtreibung gestorben ist, wird aus dem Grab gehoben und der Kranz vom Sargdeckel dem jungen Mann, der mit gesenktem Kopf am Grab steht, zurückgegeben. Dann bewegt sich der Zug zur Friedhofskapelle, wo die Kerzen angezündet werden und der Vikar die Totengebete spricht. Gleich darauf fährt der Leichenwagen zum Spital. Man trägt den Sarg in die dortige Leichenhalle. Am nächsten Tag liegt die junge Frau in einem Krankenbett und beginnt zu atmen, schwer und tief. Sie bäumt sich auf und schreit nach ihrer Mutter. Später steht sie auf und legt sich zuhause zu Bett. Am siebten Tag jagen die Schmerzen sie auf den Weg zur Kurpfuscherin, die in der Nähe einer Kneipe wohnt. Alles ist hier schmutzig. „Mach mir mein Kind wieder lebendig!" schreit die junge Frau. Die Alte erschrickt und erfüllt den Befehl. Anschließend trifft sie den jungen Mann und fällt ihm in die Arme. Sie weiß, dass sie sich für immer von ihm trennen sollte, tut es aber nicht. Bevor er ihr sagt, dass er sie liebt, spricht er von jener alten Frau. Es kommt die Schulzeit. Ihre Mutter stirbt und kehrt ebenfalls ins Leben zurück. Doch das schlimmste bleibt noch zu tun: das Sprechen und Gehen zu verlernen und schließlich in die Windeln gewickelt zu werden. Im Augenblick ihrer Geburt beugt sich ihr Vater über sie. „Es ist zu Ende, sie ist tot!" sagen die Umstehenden hinter ihr. - Ilse Aichinger will mit dieser „Spiegelgeschichte" ihre Leserinnen und Leser verleiten zu einer intensiven Fragestellung nach dem, was Leben eigentlich ist. Ihre Antwort überrascht. Sie sagt, erst der Tod öffnet uns die Augen für den Wert und die Begrenztheit unseres Lebens.
Wir sollen erkennen, dass alles, was wir tun und erleben, in Wahrheit längst überschattet ist vom Ende. Alles bringt uns - ob wir es wollen oder nicht - dem Ende näher. Und zum ersten Mal in unserem Leben fällt dieser Schatten auf uns, wo man uns Menschen nach der Ent-Bindung von unserer Mutter windelt, ein-bindet. Windeln sind unsere ersten Fesseln. Das war damals in Bethlehem noch augenfälliger; da gab es keine soften Pampers und noch nicht mal Baumwollwindeln. Sondern „Windeln" waren zur Zeit Jesu das, als was Lukas sie auch wörtlich bezeichnet: „Binden" für den ganzen Leib - genauer beschrieben: ein quadratisches, meist leinernes Tuch mit einem 6 Meter langen Wickelband, in das das Neugeborene in früh-jüdischer Zeit während der ersten sieben Tage fest eingewickelt wurde. Erklärt wurde dieser Brauch damit, dass auf diese Weise ihre von Schwangerschaft und Geburt krummen Glieder gerichtet würden. Auf alten Krippendarstellungen finden wir ein solcherart verschnürtes Jesus-Bündel - so auch auf dem Bild vorne auf dem Gottesdienstprogramm.
Man ahnt, was für eine Tortur das für ein neugeborenes Kind bedeutete. Eine erste Ansage hinsichtlich der Zukunft bzw. des Endes eines Menschen: da wird er ein letztes Mal eingekleidet und eingebunden - und muss das genauso über sich ergehen lassen wie am Anfang als Neugeborener.
Dieser Bedeutung der Windeln oder Binden entsprechen die alten Darstellungen übrigens auch mit der Art der Krippe: sie ähnelt einem kleinen Sarkophag (siehe Gottesdienstprogramm). Anfang und Ende - sie lassen sich nicht unabhängig voneinander betrachten und bedenken.
„Das habt zum Zeichen: ihr werdet finden ein Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen." Gleich zweimal werden die Windeln in der Weihnachtsgeschichte genannt. Wenn wir Jesu Lebensgeschichte (wie die von Ilse Aichinger auch als Spiegelgeschichte) vom Ende der Evangelien her lesen, dann wissen wir schnell, warum:
Auch am Ende des Lebens Jesu steht die letzte „Einbindung", eine letzte „Wickelung". Wie am Anfang des Weges der Maria nach Bethlehem zur Geburt, so taucht auch am Ende von Jesu Lebensweg ein Mann auf mit Namen „Josef". Josef aus Arimathia. Wie vom Vater Jesu heißt es auch von ihm: „Er war ein guter und gerechter Mann" (Lk.23,50). Er ging an einem anderen „Heilig Abend", am Abend des Karfreitags zu Pilatus und holte sich dort die Erlaubnis, Jesus bestatten zu dürfen. Lukas schreibt: „Und er nahm ihn vom Kreuz ab, wickelte ihn in Binden aus Leinen und legte ihn in eine ausgehauene Gruft, worin noch niemand gelegen hatte." (Lk.24,53)
Unübersehbar sind die Parallelen zur Weihnachtsgeschichte:
Auch hier die „Bindung" - „in Windeln gewickelt"; auch hier eine ausgehauene Gruft; die Futterkrippe am Geburtstag jenes Toten war nichts anderes als auch eine kleine ausgehauene Vertiefung in den Steinen des Stalls: „und legten ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge."
Gewickelt und eingebunden - so beginnt unser Leben. Und so gehen wir wieder aus der Welt. Eingebunden und abgewickelt. Die Art und Weise unserer ersten und letzten Körpermomente und der ersten und letzten Taten, die Menschen an unserem Körper tun, enthüllen, wer wir Menschen in unserer nackten, hilflosen Kreatürlichkeit sind. Dafür sind die „Binden", hier „Windeln" genannt, Zeichen, enthüllende Zeichen.
„Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt." Man muss das hören in seiner unfeierlichen Härte. Die ersten Leser und Hörer der Weihnachtsgeschichte des Lukas werden das sofort begriffen und verstanden haben, als sie von diesem Kind zweimal hörten: „in Windeln gewickelt". Denn sie kannten ja die Geschichte jenes Neugeborenen von ihrem Ende her.
Und sie kannten noch mehr, nämlich ein Wort aus dem jüngsten Buch des griechischen Alten Testamentes, aus dem Buch der sog. „Weisheit Salomos". Dort wird sogar dem König Salomo - dem reichsten und erfolgreichsten, dem begehrtesten und angesehensten aller Könige Israels - ein Wort der Einsicht in den Mund gelegt, das man sich heute im Mund und vor allem in den Herzen all der Erfolgreichen, Wohlhabenden und Mächtigen unserer Zeit wünschte:
„Auch ich bin ein sterblicher Mensch wie alle andern,
Nachkomme der ersten, aus Erde gebildeten Menschen.
Im Schoß der Mutter wurde ich zu Fleisch geformt,
zu dem das Blut in neun Monaten gerann
durch den Samen des Mannes
und die Lust, die im Beischlaf hinzukam.
Geboren atmete auch ich die gemeinsame Luft,
ich fiel auf die Erde, die Gleiches von allen erduldet,
und Weinen war mein erster Laut wie bei allen.
In Windeln und mit Sorgen wurde ich aufgezogen.
Keiner der Könige hat einen anderen Anfang des Daseins.
Ein Eingang aller zum Leben, gleich auch der Ausgang."
(Weisheit Salomos 7,1-6)
So enthüllend und so weise ist das Zeichen der Heiligen Nacht, das erste Zeichen der Weihnacht vor allen anderen - vor Krippe und Stern, vor Christbaum und Kerzen, vor Gänsebraten und Geschenken, vor „Jauchzet, frohlocket" und „Stille Nacht, heilige Nacht".
Die Windeln als erstes, enthüllendes Zeichen.
Zeichen der Menschlichkeit, Zeichen der Verletzlichkeit und des Angewiesenseins.
Zeichen auch des Eingebundenseins in die Geschichte und die Geschicke der Menschen - in all ihre Nöte und Ängste, ihre Sorgen und Verzweiflung genauso wie in ihre Hoffnungen und Sehnsüchte. Wir sind als Menschen verwickelt, eingebunden, verstrickt in das, was auf dieser Erde geschieht, in alle Ungerechtigkeiten und Gewaltverhältnisse, ob wir es wollen oder nicht. Wir sind eingebunden vom ersten bis zum letzten Augenblick unseres Lebens.
Wer, das ist die Frage, wer kann uns aus dieser Bindung, aus diesen Verstrickungen „erlösen", losmachen?
Da muss doch einer von außen, von oben her kommen, der uns befreit; das war die große Erwartung, die Messiashoffnung Israels. Da muss einer kommen, der stark ist, der das Heft des Handelns in der Hand hat.
Die Weihnachtsbotschaft des Lukas gibt einer völlig anderen Messiashoffnung Raum: der Retter, der Heiland der Welt, er ist wie alle anderen eingebunden, hilflos und schwach. Er ist ganz Mensch - vom ersten bis zum letzten Atemzug. Und genau als solcher ist er Gott recht. Genau so hat Gott ihn gedacht. Genau als solchem gilt ihm Gottes Liebe. Genau so ist er Gottes Kind, Gottes Sohn. In aller Schwäche, allem Angewiesensein. In aller Verstrickung. Die Windeln Jesu - Zeichen der Solidarität Gottes mit jedem Menschenkind zu allen Zeiten - vom ersten bis zum letzten Atemzug.
Aber das war (und ist) nicht die einzige Erfahrung, die die Menschen, die das Leben Jesu begleitet haben, mit ihm gemacht haben. Da gab es eine Erfahrung, die sich nicht einwickeln und binden ließ. Der Evangelist Johannes hat das so umschrieben: „In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen." Ganzes Leben, Leben in Solidarität mit allen Menschen, Leben mit beiden Beinen auf der Erde, aber auch unter dem offenen Himmel, ein Leben voller Vertrauen, Hoffnung und Liebe. Trotz Ohnmacht und Schwäche.
Lukas kommt deshalb noch einmal in seinem Evangelium auf die Binden/Windeln zu sprechen. Ganz am Ende, das für ihn immer der Anfang war, von dem her das Leben und Wirken des Mannes aus Nazareth, des Kindes von Bethlehem zu bedenken ist.
Als die Frauen am Ostermorgen - unter ihnen zwei Marien - von den Engeln am Grab hörten „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferweckt worden." und sie diese Botschaft den Jüngern weitergaben, da heißt es: „Diese Worte aber kamen ihnen vor wie leeres Gerede, und sie glaubten ihnen nicht. Petrus jedoch machte sich auf" - so wie die Hirten sich „aufmachten" - „und lief zur Gruft" - so wie die Hirten eilend kamen - „und wie Petrus sich hineinbeugt in die Gruft" - wie die Hirten sich über die Krippe gebeugt haben - da heißt es: „Und Petrus sieht nur die leinenen Binden daliegen" (Lk.24,12). Sieht sie und begreift: das Kind in der Krippe, der Tote vom Kreuz - ER lebt,
in ihm ist das Leben, unbändiges Leben,
und er teilt es mit uns.
Mit jedem einzelnen Menschenkind.
„Und das habt zum Zeichen."
Liebe Gemeinde, das Weihnachtsbild von Beate Heinen, das sie auf der Karte in den Gottesdienst-Programmen vorgefunden haben, geht im Grunde genommen diesem Zeichen nach: Die Geburtsstätte ist die Begräbnisstätte, die Krippe der Sarkophag - und von dort führt der Weg über Golgatha, über den Tod hinaus in den Ostermorgen.
Mögen auch uns in all unseren Verstrickungen und allem Eingebundensein im Alltag unseres Lebens die Windeln ein Zeichen sein, zur Fülle des Lebens zu finden - schon in dieser Zeit und erst recht, wenn der neue Tag anbricht. Ein erstes Ahnen davon will uns dieser Abend schenken.
Amen.
2.Advent 08.12.2013 Stadtkirche Offenbarung 3,7-13 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Advent - 8.XII.2013
Offenbarung 3,7-13
Liebe Gemeinde!
Träumen und Trösten sind zwei Dinge, die nicht recht in die Öffentlichkeit gehören. —
Am wohlsten ist uns, wenn wir hinter geschlossenen Augenlidern träumen und wenn unser Trösten unter vier Augen geschieht. Und darum ist es auch immer wieder ein wenig ungewohnt, ein wenig unangenehm sogar, wenn auf der Kanzel die geheime Offenbarung des Johannes aufgeschlagen wird, diese Trost- und Traumschrift.
Eine wache, konzentrierte, vornehm zurückhaltende Sonntagsgemeinde ist halt nicht der Rahmen, in dem wir einander vom Kummer, von leisen Befürchtungen oder den von uns selbst kaum zugelassenen Hoffnungen berichten würden. Das klingt nach Therapie, die wir verschwiegen erledigen – wenn überhaupt –, und nach einer seelischen Gemeinsamkeit, die wir untereinander vielleicht gar nicht suchen und herstellen wollten.
Welche Sehnsucht wäre das schon, die alle hier teilen? Und welche Vision wäre das schon, die uns alle gleichermaßen getrost Mut fassen ließe?
Trost und Traum braucht jeder für sich! Und genau darum bitte nicht kollektiv: Nicht auch das noch aus einem Gemeinschaftskelch, der uns doch so schwer an die Lippen geht…….
Entsprechend schwer tut man sich eben mit der Seelsorge und den Verheißungsbildern des Apostels Johannes, die uns in der Offenbarung entgegenströmen. Mit ihrem Pathos berühren sie uns befremdlich, ein wenig peinlich, ein wenig indiskret, weil sie so gar nicht nach unseren Mustern zugeschnitten sind, sondern ausdrücklich die Nöte einer sehr fernen, sehr andersartigen Gemeinschaft betreffen.
Das war die vermutlich winzige Gemeinde Philadelphia in Kleinasien, die von allen Seiten umzingelt war: Die großen heidnischen Staats- und Naturkulte nahmen keine Glaubensbewegung ernst, die nicht auf politische Macht und biologische Fruchtbarkeit zielte, und die jüdische Gemeinschaft befürchtete, die messianische Sekte der Jesusjünger werde missliebige öffentliche Aufmerksamkeit und gefährliche innere Zersplitterung auslösen.
So bedrohten die griechische Weltkultur und der jüdische Gruppendruck die kleine Gemeinde, die dem mächtigen Gegenwind schlicht leidensfähige Geduld und Treue entgegensetzte: Übrigens mit so ernsthaftem Erfolg, dass Philadelphia nicht nur der allerletzte christliche Brückenkopf im längst islamisch gewordenen Kleinasien blieb, sondern auch nach 1390, als die Osmanen sie erobert und in Alaşehir – „Stadt Allahs“ - umbenannt hatten, weiterhin eine christliche Gemeinde beherbergte, deren letzte Reste sogar noch das 20.Jahrhundert erlebten!
Viel Treue und viel Bewahrung in der Stunde der Versuchung konnten die Christen Philadelphias im Laufe ihrer Geschichte also tatsächlich bezeugen.
Und dass Johannes sie so tief seelsorglich zurüstete für alle bevorstehenden Prüfungen und dass er ihnen Überwindermut einflößte mit den herrlich bildhaften Ausblicken des Sendschreibens, das ist und bleibt eine kraftvolle theologische Botschaft, wenn man die jahrhundertelange Wirkung und Nachgeschichte dieses Trostbriefes für die Christen in der Türkei erwägt. ——
Doch mit solchen historischen Betrachtungen ziehen wir uns letztlich ja aus der Affäre und vermeiden es, zu fragen, ob die Seelsorge, ob die Metaphern, ob die bildgewordene Hoffnung der alten Apokalypse uns wirklich nur in das Museum der Kirchengeschichte führen oder ob sie uns nicht auch eine Zukunftsfrage stellen? …….
Gewiss sind wir nicht die verfolgte kleine Schar.
Und gewiss würden wir sehr ungeschickt wirken, wenn eine große Hand uns jedem eine Krone auf den Scheitel setzte und riefe: „Halte sie fest und werde ein Überwinder!“
Das brächte uns nicht nur motorisch in Schwierigkeiten, sondern es würde unsere seelische Hilflosigkeit aufdecken: Ist das denn im restlos nachchristlichen 21.Jahrhundert nicht wirklich ausgeschlossen, sich ein künftiges Krönlein durch beharrliche Frömmigkeit verdienen zu wollen? Ist das nicht die plakative, optisch opulente Ideenwelt der Spätantike … und also nicht unsere?
Doch das ist zu kurz gesprungen!
Denn der reiche Trost der Offenbarung des Johannes redet kunstvoll in Bildern, die Bilder sind, …… wahre Bilder, heilige Bilder, rettende Bilder, aber eben Bilder.
Wir tun nämlich den Geschwistern, die unter dem Leidensdruck der armseligen Anfänge standen, bitter unrecht, wenn wir nicht staunend bemerken, wie hochgeistig der Trost ist, der sie auf dem Weg zum ewigen Leben erhielt.
Es ist ja beileibe nicht so, dass der Apostel Johannes seine Christen im alten Kleinasien mit der Aussicht stärkte, der himmlische Theaterfundus werde sie einst mit glitzernden Diademen oder protzigen Stirnreifen versehen, wie jeder römische Würdenträger und jede griechische Tempeldirne sie im Dutzend trugen.
Die Motive, mit denen das Seelsorgeschreiben den Geist der Philadelphier aufrichtet, sind vielmehr allesamt übertragene, geistliche Symbole und keine buchstäblich zu verstehenden Requisiten: Das gilt für den Schlüssel Davids in den Händen des Heiligen ebenso wie für die unschließbare Tür, die der Gemeinde aufgetan ist; es gilt für die Krone, die den Glaubenden nicht genommen werden soll, ebenso wie für die Stützpfeiler, die sie an der Behausung Gottes sein sollen. Sehnsuchtsbilder, Trostbilder, Verheißungsbilder allesamt. Damals nicht gegenständlich missverstanden und heute ebensowenig abzutun!
Denn das Trostgeheimnis der Apokalypse ist ja eben nicht, dass sie vorweg ahnen lässt, was später einmal sein wird, sondern die Gabe der Apokalypse ist es, für die suchende, wartende, zagende Seele des Glaubens das anschaulich zu machen, was dem Wesen nach unsichtbar ist. Nicht die Zukunft wird hier einem ablenkungsbedürftigen Premierenpublikum enthüllt, sondern die Gegenwart Gottes wird unübersehbar vor müde, kritisch zusammengekniffene, verweinte, flackernde Augen gestellt in realen Bildern: helfenden, seelenstärkende Metaphern, in Symbolen, die Segen werden. ——
Zieren wir uns also nicht und historisieren wir nicht aus vermeintlich wissenschaftlicher Redlichkeit oder aus der individuellen Überheblichkeit, die meint, der alte Trost und die wohltuenden Urbilder der Gemeinschaftsseele vor zweitausend Jahren hätten keine unmittelbare Bedeutung für uns komplizierte Heutige.
Wenn wir ein Fünkchen innerer Beteiligung an Jesus haben, wenn wir den Bann nicht leugnen können, den er auf unser Leben ausübt, wenn wir eine gelegentliche, heiße oder verschämte, beinah unterdrückte Regung spüren, dass wir uns seine Herrschaft wünschen, dass wir seine Herrlichkeit sehen möchten, dass wir seine Wiederkehr begrüßen würden … nun, dann sind wir zwar keine großen Heiligen, Märtyrer oder Bekenner, aber zur Gemeinde der kleinen Kraft dürfen wir uns dann wohl zählen, zu Philadelphiern zweiten Grades.
Und dann sollten wir es heute morgen, hier vor allen Leuten, als nüchterne, gescheite Persönlichkeiten einfach ungeniert wagen, uns die Wohltaten des Trostes und der Verheißungen Gottes auf den Kopf zu sagen zu lassen: Miteinander, alle auf einmal und ohne Unterschied, als die Adventsgemeinde Gottes, die kollektive Seelsorge und ein gemeinsames Ziel teilt. … Wer sich nämlich geniert und oder sich etwas dünken lässt, der kann sowieso weder Advent halten noch Weih-nachten feiern und soll’s auch gar nicht versuchen. ——
*Erstens also: Es gibt einen Schlüssel!
Es gibt für alles einen Schlüssel: Ob Du dabei an den ständig verlegten und verlorenen Schlüsselbund denkst, ohne den man nicht zünden und fortkommen, ohne den man nicht heim- und hineinkommen kann, … oder ob Du an die Zahlenkombination denkst, die Deine Gedanken und gespeicherten Notizen, Dein Soll und Haben, Deine Liebesbriefe, Deine alltäglichen Nachrichten entsperrt, … ob Du an die schweren Handschellen und Ketten denkst, die Dich innerlich fesseln, an die Gefängnistüren der Seele, … an die verschweißten, sittenpolizeilich verplombten Eingänge zu den Katakomben und zur Unterwelt Deines Lebens … an die Schatz- und Grabkammern Deines Herzens: Es gibt einen Schlüssel.
Der passt. Der nicht abhandenkommt und nicht in falsche Hände geraten kann.
Es gibt einen Schlüssel, der das Versperrte entriegeln und das Verwehrte zugänglich machen kann. Es gibt einen Schlüssel zu Dir und Deinem Schicksal.
Es gibt einen Schlüssel bei Gott. Den Davidsschlüssel. Den Hirten- und Königsschlüssel. Den Gebets- und den Gnadenschlüssel. Den Himmelsschlüssel. Den Heimatschlüssel. Den Schlüssel, der für alle Zeit wegschließen kann, was Dich quält und für immer auftun, wonach Du Dich sehnst. Es gibt einen Schlüssel! ——
*Und darum haben wir eine offene Tür.
Sperrangelweit haben wir Zugang. Keine Schwellenangst und keine Klaustrophobie können mehr verhindern, dass wir als Gemeinde Jesu Christi Zugang finden und zugänglich sind. Wir können eintreten: in Häuser und Lebensläufe und Gespräche. Wir können übertreten: Konventionen und Mauern und Grenzen. Wir können eingehen: Risiken und Bindungen und Dienste. Wir können durchdringen: Menschen und Epochen und Völker.
Wir können hinaus und hinüber und hinein, weil unser Gehen und Kommen ungehindert sein muss, da unser Herr die Tür selbst ist, der Durchbruch durch den Tod, die Verbindung zwischen geschiedenen Welten, die Pforte des Himmels, der Eingang zum Leben!
Was für eine Freiheit, was für eine Weite uns das einräumt: Wir sind eine Gemeinschaft, die keine Riegel kennt und keine Hindernisse fürchtet. Eine Gemeinschaft, die nicht aufzuhalten ist. Eine Gemeinschaft, der alle Wege offenstehen, alle Türen zur Welt und in der Welt und schließlich das verlorene, verbotene Tor, von dem wir bald singen werden:
„Heut schleußt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis!“ (Nikolaus Herman / EG 27,6) ——
Und weil es für und bei uns keine Ausgeschlossenen und keine Außenstehenden mehr gibt, weil wir allgemeinen Zutritt zur Gegenwart Gottes haben, darum sollen wir untereinander und in den eigenen Augen und vor dem Angesicht Gottes auch angesehen werden wie die Könige. *Das ist die Krone, die jeder von uns sein eigen nennen und als den schönsten Schatz hüten darf: Dass wir freie Gottesmenschen sind, die nichts und niemand mehr um diese Würde bringen kann, wenn wir uns selbst nicht aufgeben und zurück in die drückenden, fesselnden Abhängigkeiten fallen.
Wir haben die Krone der Gotteskindschaft. Wir tragen sie als Schmuck und als Schutz, als Ehren- und als Freundschaftszeichen.
Darum sollen wir erhobenen Hauptes gehen!
Sollen uns bewegen wie die, die „durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen“ (Jakb.212): Nicht hochmütig, aber gerade; nicht leichtfertig, aber mit der Anmut derer, die das Zeichen der siegreichen Liebe wie ein Licht durch dunkle Gänge untertage tragen.
Halten wir es hoch: das Licht, das den Glanz Gottes überall verbreitet, wo Gottes Kinder stehen und leben! Halten wir es sicher, weil es wie die Krone den Träger selber schützt! ——
Leben wir aber so, als Gottesträger, die Seine grenzenlose Liebe und seine Herrschaft unter den Menschen auszubreiten und zu festigen helfen, dann sind wir in Fleisch und Blut, trotz Schwäche und Begrenztheit auch heute schon fähig, Gott selbst zu nützen und zu stützen. Denn das ist unsere Berufung: Nicht dass wir erstarren und einfrieren, wie die sprichwörtliche Salzsäule, zu der Lots rückwärtsgewandtes Weib wurde (vgl.1.Mose1926), sondern dass wir fest werden und gegründet und zu Gott halten und Ihm Halt verschaffen.
*Seine Säulen zu sein, die Pfeiler, auf denen Er ruht, die Träger Seiner Herrschaft und Seines heiligen Namens: das ist unsere höchste Aufgabe, unser größte Möglichkeit, unsere endgültige Bestimmung! Und es ist wunderbar, befreiend, erhebend, herrlich, … nicht drückend oder eine Last. Wir dürfen – wie der architektonische Fachbegriff für kleine Pfeiler in der romanischen und gotischen Bauweise es nennt – wir dürfen „ein Dienst“ für Gott sein, Seine Helfer, die mit Ihm unlöslich verbunden sind: Er ruht auf uns, wir streben zu Ihm.
Und als solche Pfeiler und Streben und Dienste und Säulen sollen wir menschliche Wahrzeichen Seiner Einwohnung auf Erden sein: Wegweiser hinauf zu Seiner Ankunft und Zeichen Seines Willkommens.
Wo wir sind, wird man an uns also den Hinweis auf Jerusalem spüren und ablesen und alle Blicke werden durch uns unumkehrbar zur Erlösung, zum kommenden Reich Gottes gelenkt. ——
So also, als entschlossene und offene, als befreite und als dienende Menschen zeigen uns die Bilder der Offenbarung – mit einem Wort: als Überwinder, als Menschen, deren Gegenwart und Zukunft Gott ist.
Nichts könnte tröstlicher sein – auch wenn wir uns kaum wagen, diesen Trost und diese Vision tatsächlich auf uns zu beziehen. Aber wenn wir Gott vertrauen und seinem Wort, dann kann doch nichts wahrer sein – auch wenn alles Sichtbare dagegen sprechen mag.
Dafür spricht das Eine, das den Philadelphiern gesagt wurde und das wir an ihrer Seite auch hören und glauben dürfen:
Einst nämlich wird erkennbar werden, spricht Gott, dass ich Dich geliebt habe.
Wann wir das erkennen werden ?
In den wahren Bildern schon heute.
In den Versuchungen, die kommen mögen, gewiss auch zu ihrer Zeit.
Vor allem aber, so oder so: Bald! Denn Er selbst, Gott in Christus kommt ja bald!
Amen.
1.Advent 2013 Stadtkirche Hebräer 10,23-25 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent - 1.XII.2013
Rüstgebet
Unvorstellbar, Gott, ……. wenn Du nicht gekommen wärst.
Unvorstellbar, wenn Davids Stadt nicht jenen ersten Schrei gehört hätte, auf den wir bis Weihnachten hinfiebern.
Unvorstellbar, die Mauern und Tore Jerusalems hätten jenen Tag nicht erlebt, als der Esel den König Israels in die Thronstadt trug und alles jubelte.
Unvorstellbar, wenn der Gekreuzigte im Grab geblieben wäre und die Pforten des Totenreiches hätten ihm widerstanden. ——
Aber noch unvorstellbarer eine Welt, in die Du nicht wiederkämest!
Alles wartet auf Dich: wissentlich und unbewusst.
Wir sind noch nicht am Ende.
Wir sind noch nicht am Ziel, Gott!
So vieles um uns und in uns ist noch leer und lebensfeindlich wie die Wüste.
So vieles ist zerstört und trostlos wie die Heilige Stadt er einst war.
So vieles ist voller Unfrieden, Gewalt und Wahnsinn, wie es die Orte und Landschaften heute sind, in denen Du bei Deiner ersten Ankunft, bei Deinem Wandel auf Erden damals gegenwärtig warst.
Darum warten wir auf Dich, Herr Jesus!
Dass Du wiederkehrst!
Dass Du die Wunden heilst und die Lücken ausbesserst.
Dass Du das Kranke genesen und das Verirrte ankommen lässt.
Das Du vergibst und gerecht machst.
Dass Du Deine Menschen erlöst.
So warten wir auf Dich, der Du mit dem Vater und dem Heiligen Geist lebst und herrschst von Ewigkeit zu Ewigkeit!
Hebräer 10, 23-25
Liebe Gemeinde!
Wer „Advent“ sagt, der „jüdelt“ …. falls er nicht in Wirklichkeit bloß Winterzauber oder Glühweinrausch und Klimbim meint.
Der echte Advent macht jüdisch.
Er versetzt uns einerseits nämlich alle in die Zeit ante Christum natum – vor Christi Geburt. Doch das ist längst noch nicht alles … und es währt ja auch nur knapp 24 Tage in diesem Jahr. Vielmehr zielt echte Adventlichkeit auch bei uns auf eine Lebenshaltung, die ganz und gar verwandt ist mit der nie und nimmer ausgestorbenen Messiaserwartung Israels:
Der Advent zieht die schlaffen Saiten des christlichen Gewohnheitstieres straff, so dass unsere Herzen wieder in höchsten Tönen Lieder anstimmen können, die etwas suchen und begehren und erwarten.
Der Advent durchbricht die bequeme Ruhe derer, denen keine Überraschungen mehr blühen und macht erlösungssehnsüchtig und heilshungrig: Wer also nur Lebkuchen und Marzipan in sich hineinstopft, der weiß gar nicht, dass ihm der Appetit eigentlich nach dem Reich Gottes stehen könnte, nach dem Wasser des kristallnen Strom, nach den Früchten der heilenden Bäume (vgl.Offenb221f), angerichtet auf dem Tisch, der im Angesicht aller Feinde gedeckt ist und in jenem Kelch, den Gott selbst voll einschenken wird (vgl.Ps235).
Im Advent entsteht Spannung: Zukunft, die noch nicht ist, aber in die der Glaube schon versetzt; Hoffnung, heiß aus dem glühenden Backofen der Liebe, deren Duft wie bei Frischbrot, das man noch nicht essen kann, eine köstliche Ahnung der Sättigung verschafft; Vorfreude, die Gott beim Wort nimmt und die unsichtbaren Dinge über die gegenwärtigen setzen kann. Der Advent mit seiner Richtung nach vorn, der Advent mit seiner Fülle der Verheißung, der Advent mit seiner frohen, Tag und Nacht steigenden Aufregung: Er jüdelt.
* „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt macht hoch, dass der König der Ehre einziehe“ (Ps27/EG1) singt der Advent, wie es die festliche Gemeinde tausend Jahre lang seit Salomo am Jerusalemer Tempel sang.
* „Nun komm, der Heiden Heiland“ (EG4) singt der Advent, wie Jesaja, der Tröster es schon mitten in Babylon allen Völkern verhieß (z.B.Jes496).
* „Du treuer Heiland Jesu Christ, / dieweil die Zeit erfüllet ist, / die uns verkündet Daniel, / so komm lieber Immanuel“ (EG 6,3) singt der Advent und fängt an genauso hebräisch zu reden wie das Judenvolk.
* „Ihr Wolken brecht und regnet aus den König über Jakobs Haus“ (EG 7,2) singt der Advent, und er hat diese Worte sogar in Kaiserswerth gelernt, aber verstanden würde er genauso in Brooklyn und Antwerpen, in Mea Schearim oder im Pariser Marais, überall dort wo Schläfenlocken, lange Bärte, Pelzhüte und Gebetsfransen unter schwarzen Mänteln das ultraorthodoxe Straßenbild bestimmen.
* „Tochter Zion“ (EG13) – den schmissigen Chor aus den Händel’schen Judenopern über Josua, den Jerichotrompeter und über die Makkabäer – pfeift und jauchzt der Advent und man könnte blau-weiße Fähnchen mit Davidsstern dazu schwenken.
* „Die Nacht ist vorgedrungen … noch manche Nacht wird fallen“ (EG16) singt der Advent und erinnert uns mit diesem Lied an das ungeheure jüdische Leid, das auch Jochen Klepper und die Seinen litten, als sie eben bewusst im Advent nur noch den Tod wählen und dem Morgenstern entgegen sterben konnten. ………
Advent ist die jüdische Jahreszeit, Hoffnungszeit, Singezeit. ———
Darum fängt er dieses Jahr eben auch mit dem Hebräerbrief an, jenem Brief, der uns immer ein zweigleisiges Hören und Denken abverlangt, weil man zunächst etwas von den jüdischen Wurzeln und dann etwas von den judenchristlichen Früchten verstehen muss, um dieses Schreiben voller Tempelliturgie und Sühneopfer, voller priesterlicher Bilder und voller Diasporagefühl in der Welt zu würdigen und nicht zu entstellen.
Wobei die Grundsätze, die der Hebräerbrief uns heute auf die erste Kalenderseite des neuen Kirchenjahres setzt, zunächst eigentlich simpel wirken:
„Bleibt innerlich dabei wenn das Evangelium Euch Hoffnung verkündet; motiviert Euch gegenseitig in der Liebe; und lasst Euch auch äußerlich nicht vom Glauben entfremden und abbringen, denn wir sind ganz klar auf der Zielgeraden der Weltgeschichte.“
Das sind alles grundrichtige und hilfreiche Ermunterungen, und zumal der mittlere Satz – vom Achthaben aufeinander und vom gegenseitigen Anreiz zu guten Werken – wird von einer ehrgeizigen und strebsamen jüngeren Generation gern als Trauspruch ohne zu viel Welt-fremdheit gewählt, weil man ihn so versteht, als verspräche er beiden gleichmäßig erfolgreiche Verwirklichung im Beruf. ——
Aber nun muss man hier doch einmal fragen, wem und wie diese Sätze eigentlich gelten, um dabei zu erleben, wie viel uns – zum Glück! – neu und fremd daran ist. —
Beginnen wir mit dem „Bekenntnis der Hoffnung“.
Alle, die dieses Bekenntnis in der hebräischen Christengemeinde teilten, hatten noch eine Gemeinsamkeit: Jeder von ihnen hatte seine jüdische Mutter, seinen frommen Vater, den eigenen Ehepartner oder die eigenen Kinder, die entsetzt und tief getroffen waren, dass ihr Angehöriger seine Hoffnung ausgerechnet auf den gescheiterten Jesus von Nazareth richtete und damit schmerzlich ausscherte aus der Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft.
Die Zuversicht, um die es der getauften Hebräergemeinde geht, war also kein spielerischer Optimismus, sondern Stoff für echte Schicksale der Hoffnung. Sie verließen sich auf Gottes Festhalten in und an Jesus, obwohl sie spürten und erfuhren, dass das maßlos unklar, unwahrscheinlich und unbeliebt war.
Ihr eigenes Festhalten am Hoffnungsbekenntnis, das die Zukunft des Gekreuzigten und dann nach Ostern Verschwundenen für verheißungsvoll hielt, war daher wirklich ein Einsatz, ein Einstehen für die Aussichten Jesu. Nichts sprach dafür. Alles dagegen. Nur Gottes Treue, im Widerspruch zu allen anderen Fakten und Faktoren bewegte diese Menschen auf dem adventlichen Weg zur ersehnten Wiederbegegnung mit Jesus. —
Und darum hieß die Ermahnung, sich gegenseitig zum Lieben und Wohltun anzuspornen, damals auch nicht, nette Umgangsformen der Rücksicht und der Verantwortlichkeit zu üben. Denn unter den hebräischen Christen war eine Generation nach Ostern die Lähmung, das Aufgeben, das Nicht-Mehr-Können und einfach Loslassen eine so ernstzunehmende Anfechtung und Gefahr, dass ihr Alltag und ihre innere Haltung viel mehr Anstrengung, ja Entschiedenheit und sogar Druck erforderten, als wir das ahnen mögen.
Angesichts dessen, dass es wirklich nicht selbstverständlich für sie sein konnte, Botschaft und Vorbild Jesu in ihr Dasein zu übersetzen, mussten sie offensive Jüngerschaft üben, … gezielt, bewusst, programmatisch. Die Ermutigung dazu hat etwas beinahe krampfhaftes, wenn sie wörtlich besagt: „Motiviert einander zu einem Paroxysmus der Liebe“, d.h. zu einer anfallartigen Steigerung oder mit der weniger medizinischen, eher rechtlichen Bedeutung: „Heizt einander in der Provokation der Liebe an.“
Ohne diese für uns überspannt wirkende Entschlossenheit hätte die judenchristliche Gemeinde – Minderheit in der Minderheit am Vorabend des römischen Sieges über Jerusalem – niemals leben können. —
Denn ihre größte Not drückt der letzte der drei Grundsätze für’s neue Kirchenjahr aus: „Verlasst unsere Versammlungen nicht – buchstäblich: Verlasst unsere Episynagogē nicht!“
Lauft nicht über zu der wachsenden Mehrheit der Heidenchristen, die das Erbe Israels kaum kennen, und kehrt nicht zurück in die Reihen Eures Volkes, das jetzt, in der Stunde seiner letzten Not vielleicht mehr denn je Eure Solidarität und Verstärkung bräuchte. Bleibt in der kleinen Gemeinde, die hoffnungslos zwischen allen Stühlen sitzt, ja, die draußen vor dem Lager, im Niemandsland zwischen Freund und Feind Christi Schmach teilt (vgl.Heb1313). —
Das sind die ursprünglichen Hoffnungen und Härten in den flott wirkenden, eingängigen Programmsätzen vom Gemeinde-Sein und Gemeinde-Bleiben, mit denen wir heute einen neuen Anfang machen sollen.
…. Dabei passen sie wirklich nicht zu uns.
Sie haben einen ganz anderen Ernst, eine ganze andere Dringlichkeit, eine ganz andere innere und äußere Beteiligung der Gläubigen im Sinn als alles, was wir zu Lebzeiten der Jüngeren je an Notwendigkeit kennenlernten, unser Verhältnis zu unserem Glauben zu klären.
Wir leben in einer Kirche, deren Schwierigkeiten im Vergleich weniger als lachhaft sind und der als erste Hilfe gegen die selbstverschuldete finanzielle Klemme einfällt, dass eine eigene Zuständigkeit für Theologie und Diakonie in der Kirchenleitung nicht nötig sei. ………
— Und überhaupt spricht noch eines dagegen, dass wir Wesentliches aus dem Hebräerbrief in’s begonnene Kirchenjahr mitnehmen:
Er hat schließlich nichts geholfen! Das jüdische Christentum, die getauften Hebräer – und das heißt: unsere wirklichen Ursprünge – sind aus der Kirchengeschichte gründlich getilgt worden. Sie haben den Untergang des jüdischen Volkes und der Heiligen Stadt nur knapp überlebt … an ihren heidenchristlichen Geschwistern aber sind sie in weniger als zehn Generationen zugrunde gegangen.
Die festhielten am Bekenntnis der Hoffnung, die um des Überlebens willen einander provozierten, nicht lahm zu werden im Lieben, die ihrer Synagoge des Messias Jesus die Treue halten und sie bewahren wollten, sind erloschen, verschwunden.
Die Kirche wurde judenrein.
Der Hebräerbrief hat versagt.
Wir können anfangen ohne seine Mahnungen, ohne seinen tiefen, adventlich ernsten Ruf, nicht loszulassen, auszuharren. ———
Es sei denn, ….. es sei denn, wir ließen alle erfolgversprechenden strategischen, wirtschaftlichen und strukturreformerischen Schlagworte im alten Jahr zurück und täten etwas ganz Eigenwilliges:
Nämlich trotz allem bewusst auf die Stimme einer gescheiterten Gemeinde zu hören.
Wer sagt uns sagt uns nämlich eigentlich, dass jene Mittel helfen, die wir heute für dienlich halten, weil jede Bruchbude und jeder Weltkonzern sie anwenden? Erfolgsrezepte und eine Beratung wie sie landauf, landab gängig sind, verspricht der Hebräerbrief nicht.
Aber eben weil er so schlicht, so schnörkellos ernstgemeint, so altmodisch besitzergreifend und herzbeweglich daherkommt, wäre es da nicht womöglich unsere beste Eingebung, wenn wir es ebenso hielten wie jene Minderheit, die damals im Überlebenskampf zwar nicht siegte, aber treu blieb?!
Sie waren todgeweiht; wir sind allenfalls von galoppierender Unglaubwürdigkeit als die Gemeinde des kommenden Herrn bedroht. Sie wussten, dass alles für die ursprüngliche Gemeinschaft Jesu auf dem Spiel stand; wir sind von der Gleichgültigkeit, wenn nicht gar der Entbehrlichkeit unseres eigenen Kirchenlebens weitgehend bestimmt. Sie wollten überleben und die Zukunft Jesu bezeugen; wir hätten gerne unsere Ruhe. … Stimmt’s?
…. Wenn ich – was Gott geben möge!!! – nicht Recht habe, … dann allerdings sollten wir es wohl einfach mit den schlichten Grundsätzen des ersten Predigttextes 2013/2014 versuchen:
Entdecken und bezeugen wir, dass unser Glaube keine Weltanschauung, kein Sinnerklärungssystem, kein Gedankengebäude ist, sondern ein leidenschaftliches, zum Leben entschiedenes, den Tod überwindendes Bekenntnis zur Hoffnung, die Jesus heißt und Jesus bleibt und uns als Jesus erwartet.
Richten wir uns auf Jesus aus wie die Pflanze nach dem Licht, der Schatten nach der Sonne, das Segel nach dem Wind, die Melodie nach den Noten, die Schwalben nach dem Frühling, …….. wie die Hoffenden nach der Verheißung!
Und indem wir uns nach ihm ausrichten, richten auch wir etwas aus!
Steigern wir uns im Lieben und im Tun: Fort von den Sonntagsreden hin zu Spuren und Zeichen und Folgen und Weichenstellungen unsres Glaubens im gewöhnlichen Leben.
Bauen wir christliche Familien, stärken wir christliche Schulen, folgen wir christlichen Provokationen, wenn es um Wohlstand und Gerechtigkeit, um Verteilung und Bescheidenheit geht, aber auch um Ungeborene oder das vermeintliche Recht auf Leidensverkürzung und Gnadenstoß.
Lassen wir nicht – wie so lange – locker, sondern verdeutlichen und beweisen wir es, dass die christliche Gemeinde nicht schläft, sondern wacht und größere Erwartungen und bessere Aussichten für die Menschheit vertritt als jede andere Beglückungs- und Verblendungsmacht der Weltgeschichte.
Und weil dem so ist: Bleiben wir sichtbar und hörbar, entschieden und ernsthaft dabei!
Es ist ja nicht gleichgültig, wenn wir zur Gemeinde des Erlösers gehören und seine Zukunft erwarten, und das sollen auch nicht nur jene ahnen, denen wir hier in den Bänken oder in den üblicherweise verdächtigen Runden begegnen.
Es will öffentlich gemacht werden, dass wir glauben, der Herr dieser Welt und ihr Herzstück heißt Jesus, starb für alle, lebt in Ewigkeit und steht uns unmittelbar bevor!
Reden wir von ihm!
Erwarten wir ihn!
Freuen wir uns auf ihn!
Das war die Daseinsberechtigung und der letzte Trost der gescheiterten Gemeinde des Anfangs – das wird auch ihre Rechtfertigung und ihr großer Lohn und Segen in Ewigkeit sein.
Wer anderes will, muss es anders halten.
Wer nichts anderes will, sondern eben so zu leben, zu handeln, zu hoffen und zu warten bereit ist, der muss nur eines:
Nachdem so viel von „ihnen“ – den Hebräern – die Rede war und ebensoviel von „uns“ – der christlichen Gemeinde – muss man nur noch eines sagen:
„Ich“. – „Ich auch!“
Dann fängt er an: der Advent.
Amen.
Fürbitte
Wir vertrauen auf Deine Treue, Herr!
Darum gehören wir zur Gemeinde der Hoffnung und haben Zuversicht und empfinden Neugierde, wenn wir in die Zukunft schauen.
Von dort erwarten wir Dich und rufen Dir entgegen:
Komm bald und bring die Heilung der Völker voran!
Lass Gerechtigkeit tauen und den Frieden, den die Welt so nötig hat, endlich anbrechen!
Gehe auf wie die Sonne und verwandle alles und alle, die verfinstert sind und erstarrt!
Führe die neue Schöpfung herbei, in der das Alte keine Saat der Vergänglichkeit mehr streut!
Wecke das Leben, das bleiben wird!
Öffne die Quellen des Heils, aus denen Vergebung strömt!
Verbinde die Teile und Bruchstücke, in die alles unter unseren Händen zerfällt, zu einem guten Ganzen!
Erlöse die Leidenden – befreie die Gefangenen – erfreue alle Betrübten – erquicke die, die nur noch Staub lecken – verwandle die Verstockten – zerstöre das Böse – versammle die Verlorenen – richte die Menschen – gründe Dein Reich – lass Deinen Tag beginnen – vollende Dein Werk – komm und sei herrlich in unserer Mitte!
Ewigkeitssonntag, 24.11.2013, Heb.4, 9-11, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
Ewigkeitssonntag - Gedenken an unsere Toten, an schmerzliche Abschiede, ja auch Gedenken an unser eigenes Sterben und an das, was danach kommt.
Kommt überhaupt etwas danach?
Wir hoffen, aber wagen kaum zu fragen.
Und: Was kommt?
Wenn wir das nur wüssten.
Schon immer haben Menschen nach Bildern gesucht, nach angemessenen, ahnungsvollen Bildern und Worten für das, was nach der dunklen Tür des Todes auf uns wartet. Bilder, die uns Lebende und doch unweigerlich auf den Tod Zugehende hoffen lassen, uns vielleicht gelassener sein lassen und nicht ohne Trost im Hinblick auf jenes Danach.
Der heutige Predigttext ist auch ein solcher Versuch, unser Nachdenken über das, was kommt, mit Hoffnung zu begleiten. Ich lese aus dem 4.Kapitel des Hebräerbriefes die Verse 9 bis 11.
„Die versprochene Ruhe, der große Sabbat, steht dem Volk Gottes erst noch bevor. Denn wer in die Ruhe Gottes gelangt ist, ruht auch selbst aus von seiner Arbeit, so wie Gott ausruht von der seinen. Wir wollen also alles daransetzen, zu dieser Ruhe zu gelangen!"
Der Hebräerbrief umschreibt das Künftige mit dem Wort „Ruhe". Für unsere Ohren klingt das zunächst verdächtig: „Ruhe". Also Friedhofsruhe? Grabesruhe? Letzte, ewige Ruhe als freundliche Umschreibung für das endgültige Aus?
Da hätten wir den Hebräerbrief allerdings völlig missverstanden. Wenn er schreibt: „Die versprochene Ruhe, der große Sabbat, steht dem Volk Gottes erst noch bevor", oder wie es die Luther-Übersetzung formuliert „Es gibt noch eine Ruhe für Gottes Volk", dann will er an zwei biblische Geschichten erinnern.
Die erste ist die vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten: 40 Jahre zogen sie durch die Wüste, um dann endlich im verheißenen Land „zur Ruhe zu kommen". Verheißenes Land: ein zukünftiges Zuhause, eine künftige Heimat bei Gott nach diesem Leben, nach einem lebenslangen Weg von 40 oder 80 oder auch 97 Jahren, voller Bewährungen und Bewahrungen, voller Not und Scheitern, aber auch Erfahrungen an Führung und Rettung.
Im vergangenen Jahr habe ich an mehr als einem Sarg gestanden, in dem ein Mensch lag, der nicht nur einmal, sondern zwei oder gar dreimal in seinem Leben fort musste, ausziehen musste aus der Heimat - Exodus. Für Menschen meiner Generation und erst recht für die jüngeren unter uns haben sie oft Unvorstellbares durchgemacht, Hunger, Not, Ablehnung in der Fremde erfahren und doch immer auf der Suche nach einem Zuhause, einem neuen Zuhause. Die Heimat war verloren, aber ein Zuhause sollte es doch wieder geben. Und immer wieder wurde mir von Angehörigen erzählt, dass es in aller Not wieder Erfahrungen von Bewahrtwerden und Hoffnung gab, wo unerwartet fremde Menschen geholfen haben.
40 Jahre dauerte der Weg Israels durch die Wüste - dann endlich waren sie am Ziel. 40 Jahre - das war damals die durchschnittliche Lebenserwartung, also ein ganzes Leben.
Das - meint der Hebräerbief - gilt auch für jeden einzelnen des Gottesvolkes heute: jeder Lebenslauf soll an sein Ziel kommen, nicht ans Ziel aller unserer Wünsche, aber ans Ziel der Verheißungen Gottes. Von Gott beschenkt, erfüllt und gesegnet. Das ist die versprochene Ruhe, der große Sabbat, der uns noch bevorsteht, auf uns wartet. Wahrhaftig kein Nichts, sondern das endgültige Zuhause im weiten Land der Ewigkeit Gottes.
Die zweite biblische Geschichte, an die der Hebräerbrief erinnert, wenn er von der „Ruhe" spricht, ist der Schluss der ersten Schöpfungserzählung aus dem 1.Buch Mose.
„Gott vollendete am siebten Schöpfungstag seine Werke und ruhte. So segnete Gott den siebten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm von allen seinen Werken ruhte."
Die Ruhe, die auf uns jenseits der Tür des Todes wartet, ist also nicht Friedhofsruhe, sondern Sabbatruhe.
Bei dem Wort Sabbatruhe schwingt einiges mit: Zunächst ist diese Ruhe auf das Schaffen vorher bezogen, auf die Werke, auch wenn dann nicht weiter gewerkelt und geschafft wird. All das, was wir in unserem Leben tun und schaffen, das, was uns gut gelungen ist, aber auch all das, was ziemlich kümmerlich aussieht und von dem wir oft denken, das ist völlig danebengegangen, ist im Licht der Ewigkeit nicht vergessen, belanglos und bedeutungslos. Aber die Stückwerke unseres Lebens, Schaffens und Arbeitens bedürfen der Läuterung und der Vollendung. „So vollendete Gott am siebten Tag, dem Tag der Sabbat-Ruhe, alle seine Werke"; erst recht wird er am Ende der Zeit, am Tag der Neuschöpfung unsere unvollkommenen Werke vollenden - uns und ihm zur Freude.
Noch etwas ist wesentlich für die Sabbatruhe in Gottes Ewigkeit: Es ist nicht Ruhe für mich allein und für „meine Lieben" - und die anderen lassen mich gefälligst „in Ruhe"; sondern die Sabbatruhe bezieht die ganze Schöpfung mit ein. Sie ist gemeinsame Ruhe. Wir sind bei Gott und bei allen anderen auch. Das Volk Israel wusste immer, dass die Sabbatruhe die anderen mit einschließt: die Fremdlinge, sogar die Tiere. Nicht zufällig wird in den Erzählungen von Jesus und im Gesangbuch das Reich Gottes, die Ewigkeit als gemeinsames Fest verstanden. Da kommt man nicht wie zu einer Beerdigung zusammen, sondern wie zu einem Hochzeitsfest, da gibt es reichlich zu essen und zu trinken, die Gäste sind alle festlich gekleidet - alles Bilder für die „Ruhe" in Gottes Ewigkeit. Eine herrliche, fröhliche Ruhe für uns alle jenseits der Todesgrenze.
Allerdings, so meint der Hebräerbrief, sollte dieses Ziel des Lebensweges Konsequenzen haben für die Ausrichtung meines Lebens hier und jetzt schon.
Wäre der Tod das Ende, dem nichts folgt, dann wäre die Ausrichtung meines Lebens relativ belanglos. Gut und Böse wären gleich-gültig. Ist „diese Ruhe aber noch vorhanden", dann sollten die 40, 80 oder 95 Jahre meines Lebensweges auf dies Ziel hin ausgerichtet sein. Dann wäre es töricht, sich um sich selbst und im Kreis zu drehen und dumm, im Schilfmeer des Alltags zu versumpfen. Deswegen schließt unser Abschnitt aus dem Hebräerbrief mit dem Satz: „So lasst uns darauf ausgerichtet sein, zu dieser Ruhe zu kommen - damit nicht jemand scheitert wie jene aus dem Volk Israel damals in der Wüste auf dem Weg in das verheißene Land."
„Exitus" - so heißt es bis heute unter Medizinern, wenn ein Mensch gestorben ist. „Exitus" - Tod, Ende, so steht es im Fremdwörterbuch. Aber auch: „Ausgang". Der Mensch ist herausgegangen aus seiner leiblichen Existenz und eingegangen in eine neue Lebensweise, in die große, fröhliche Sabbatruhe Gottes. Und so hören wir auch bei jeder Beerdigung: „Der Herr segne und behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit."
Ich möchte schließen mit einer wunderbaren kleinen Geschichte, die uns an diesem Tag, der für viele so voller Trauer und Wehmut ist, einen tröstlichen Fingerzeig geben will auf das, was noch kommt, auf das große Fest, das Gott mit uns feiern will.
Als der Arzt ihr mitteilte, dass sie höchstens noch drei Monate zu leben hätte, beschloss sie, sofort alle Details ihrer Beerdigung festzulegen. Zusammen mit dem Pfarrer besprach sie, welche Lieder gesungen und welche Texte verlesen werden sollten und welche Kleider sie anhaben wollte.
„Und da gibt es noch eine sehr wichtige Sache! Ich will mit einer Gabel in der Hand begraben werden", sagte sie schließlich.
Der Pfarrer konnte seine Verwunderung nicht verbergen. Eine Gabel? „Darf ich wissen, warum?", fragte er vorsichtig.
„Das kann ich erklären", antwortete die Frau mit einem Lächeln. „Ich war in meinem Leben zu vielen verschiedenen Abendessen eingeladen. Und ich habe immer die Gänge am liebsten gemocht, wo diejenigen, die abgedeckt haben, gesagt haben: Die Gabel kannst du behalten. Da wusste ich, dass noch etwas Besseres kommen würde. Nicht nur Eis oder Pudding, sondern etwas Richtiges, ein Auflauf oder etwas Ähnliches. Ich will, dass die Leute auf mich schauen, wenn ich da in meinem Sarg liege mit einer Gabel in der Hand. Da werden sie sich fragen: Was hat es denn mit der Gabel auf sich? Und dann können Sie ihnen erklären, was ich gesagt habe. Und dann grüßen sie alle und sagen ihnen, dass sie auch die Gabel behalten sollen. Denn es kommt noch etwas Besseres, ganz bestimmt."
Und darauf dürfen wir uns alle freuen.
Amen.
Ewigkeitssonntag / Gedenktag der Entschlafenen 24.11.2013 Stadtkirche Matthäus 22,23-33 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 24.11.2013
Matthäus 22, 23-33
Liebe Gemeinde!
Die hämische Sadduzäer-Frage, wie etwas so Vorübergehendes wie eine Ehe denn bitte zu etwas Ewigem werden solle, … diese Frage ist geblieben.
Damals stellte sie sich, weil es den wenigsten Menschen vergönnt war, gemeinsam alt zu werden. Krankheit und Kindbett, Not und Härte beendeten alle irdischen Lebensverhältnisse so ungeahnt schnell, dass tatsächlich die Frage berechtigt war, was vom raschen Wechsel des flüchtigen, zeitlichen Daseins wohl übrig bleibe, wenn einst alles nicht mehr vorübergehend, sondern dauerhaft sein würde? Führt die Sterblichkeit der Menschenkinder nicht zu so vielen unsicheren, kurzen Episoden ihres Zusammenseins, dass diese sich in der Unsterblichkeit gar nicht mehr entwirren und ordnen und versöhnen lassen werden?
Und ist es also nicht eigentlich gut – so muss man die Skepsis der Sadduzäer verstehen –, ist es nicht doch ein Glück, dass dieses Chaos der menschlichen Lebens-, Liebes-, Leidens- und Verlassensgeschichten nicht endlos weiter geht, sondern irgendwann einmal endlich aus und vorbei ist?! —
Heute fragt man sich ebenfalls, ob und wie menschliche Bindungen von Dauer sein können.
Und auch wenn zunehmend aus ganz anderen Gründen gefragt wird, hat sich eines nicht geändert: Nie wird die Frage nach dem Übergang von vergehenden zu bleibenden Verhältnissen so dringend, wie wenn der Tod in unsere Mitte bricht und zerreißt, was für uns verbunden war.
Man muss kein philosophischer, kein sadduzäischer und auch kein zynischer Zweifler sein, um die große, bittere Frage zu empfinden: Lässt sich außer Erinnerungen noch irgendetwas anderes aufrechterhalten, wenn der Tod uns scheidet, oder müssen wir damit leben, dass wir nur für den Augenblick Gemeinschaft, Nähe, Liebe teilen können, aber nicht in Ewigkeit? —
Das ist keine böse Frage – einerlei, wer die Sadduäzer waren.
Es ist eine Herzfrage an die Hoffnung. – Und die Hoffnung, die Jesus heißt, scheint der Frage ausweichen zu wollen.
Mit Spannung und Bangen lausche ich jedesmal, wenn die Sadduzäer wieder nachbohren, und hoffe so sehr, dass auf die Pause eine Antwort folgen wird wie die berühmte, die Karl Barth der älteren Dame gab, die vielleicht bigott, vielleicht auch aus schwerstem Herzen sich bei ihm erkundigt hatte: „Herr Professor, werden wir droben unsere Lieben wiedersehen?“
Barth überlegte schweizerisch-bedächtig und erwiderte daraufhin liebenswürdig und nicht ohne die nötige theologische Sachlichkeit: „Ja, …. aber die anderen auch!“ ——
Einen Widerspruch gibt es zwischen Barths kluger, tröstlicher Antwort und der Antwort seines Herrn und Meisters nun wohl nicht – aber trotzdem fällt es wieder und wieder schwer zu verstehen, wie Jesus den Sadduzäern entgegnet.
Denn bei ihm fehlt das vorangestellte „Ja“, das die Wiedersehenshoffnung bündig bestätigt.
Stattdessen gibt Jesus zu bedenken, dass die äußeren Merkmale und Wendepunkte unserer Lebensläufe im Auferstehungsleben nicht wiederkehren: Liebeswerben und Romantik, Heirat und Ehestand bergen keine zukünftigen Verheißungen, sondern tragen den Segen und Stempel des Irdischen, des Diesseitigen, des täglichen Brotes, des Säens und Erntens, des Jungseins und Altwerdens. Sie sind darum keine Seiten aus dem Buch des ewigen Lebens.
Damit bin ich bis heute zwar noch nicht fertig, aber ich lerne ja nach wie vor dazu.
Und als Kaiserswerther ahne ich auch, wie die Frage ganz praktisch in der Herrlichkeit heikel werden könnte, wenn Fliedner plötzlich zwischen Friederike und Caroline………..
Es werden und es können also unsere hiesigen Verhältnisse, auch unsere besten, unsere Liebesverhältnisse nicht einfach bruchlos die Scheidung zwischen dem Reich des Zeitlichen und der ewigen Welt überstehen.
Das aber ändert gar nichts am Recht jener Herzensfrage, die so viele von uns – ob gläubig oder zweifelnd – der Hoffnung stellen, wenn wir an Gräbern stehen, jener Herzensfrage: Wenn es eine Zukunft jenseits des Todes gibt, werden wir sie dann unpersönlich, wesenlos, abstrakt erleben, oder werden das wir selbst sein … wir glücklich oder mittelprächtig oder kompliziert oder gar nicht Verheirateten, wir Eltern, wir Kinder, wir Geschwister und Freunde, wir Nachbarn und – man denke an „….aber die anderen auch!“ – wir Gegensätzlichen? Wird es eine Verbindung geben mit denen, die wir waren und denen, die uns nahe standen, oder wird dort, in der kommenden Welt nichts mehr von Erkennbarkeit, Zusammengehören und Fortsetzung zu spüren sein?
Auf diese Frage allerdings gibt Jesus eine spektakuläre Antwort, die einer Erschütterung gleichkommt, einer grundlegenden Offenbarung für alle, die Ohren haben, zu hören.
Aus unserer Herzensfrage, aus der Frage nach unseren Bindungen aneinander macht Jesus nämlich die Frage nach Gottes Bindung und Beziehungen.
„Ihr fragt Euch süffisant und spitzfindig, ob es über den Tod hinaus wohl Ehepartner oder andere menschliche Grundbeziehungen gibt: Dabei solltet Ihr Euch lieber fragen, ob der Tod denn die Partnerschaft Gottes zerbrechen und lösen kann! Daran liegt nämlich alles, …….. wenn Ihr nur begreifen würdet, wer Gott ist!“
Das ist Jesu Antwort auf die Frage nach der Auferstehung! Nicht die romanhaft verwickelten, familiär engen, menschlich aber oft so verzwickten Verhältnisse, die uns prägen, sind der alles entscheidende Gesichtspunkt, sondern die ganz einfach Frage: Könnte der Gott, der in Israel offenbar wurde und handelt, noch Gott sein ohne seine Partner?
Diese grundsätzliche Frage muss sich stellen, wer skeptisch und überlegen, ebenso aber auch wer verzweifelt und untröstlich der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten keinen Glauben schenken mag.
Was wissen wir vom lebendigen Gott, was sagt uns Sein Wort, wie stellt die Bibel Ihn vor?
Sind das große, tiefe, hohe, weite Sätze, poetische Titel, blumig sakrale Bezeichnungen?
Nein, die können wir alle getrost ihrer jeweiligen Zeit überlassen – und ihrem jeweiligen Verblassen und Vergessenheitsschlummer, bis sie wieder einmal nottun:
Kein Mensch muss Gott immer so feierlich bezeichnen wie Melchisedek, der mythische Urkönig von Salem es tat, als er den Landstreicher Abram segnete mit dem Segen des „Hohen Gottes, Stifter von Himmel und Erde“ (1.Mose1419: Buber-Rosenzweig). Aber Abraham – der ist unvergesslich und unerlässlich, wenn von Gott, von seinem, von unserem Gott die Rede sein soll.
Auch wird nicht jeder von uns die Redeweise kennen und gebrauchen wollen, die in den herrlichen Hoffnungsbildern des ersten Künders der Auferweckung der Toten begegnet, wenn der Prophet Daniel Gott fast kabbalistisch den „Alten der Tage“ nennt (vgl.Dan79ff), und den meisten von uns werden die machtvollen politischen Verheißungen des tausendjährigen Reiches und des himmlischen Jerusalem, die das letzte Buch der Bibel durchglühen, die dort so häufige Anrufung Gottes als „Pantokrator“ nicht vertrauter machen.
Doch das alles sind Worte.
Worte, die Kinder ihrer Zeit sind und bleiben.
Worte, die nicht darüber entscheiden, ob wir Gott kennen. Darüber entscheiden vielmehr die Namen – wohlgemerkt menschliche, historische, individuelle Namen. Namen, die so sicher „Schall und Rauch“ sind, wie wir Menschen Staub und Asche.
Aber unser Gott, der lebendige Gott, hat etwas so Anrührendes, etwas so Demütiges und Hingebungsvolles getan, dass die größten menschlichen Liebesgeschichten, die eindrucksvollsten – weil gehaltenen – Eheversprechen davor verblassen:
Gott hat seine Wahl getroffen und einen Eid getan, die besagen, dass wir Ihn nie mehr ohne die, die Er liebt, suchen sollen oder finden werden.
Alle üblichen mystischen Attribute, alle ordentlichen philosophischen Bestimmungen, alle religiös-jenseitigen Begleitumstände eines anständigen Gottes bedeuten Ihm nichts.
Aber die armen Leute auf dem Weg nach Kanaan, diese Wanderer in Seinem heiligen Namen, diese ruhelosen Seelen, die ihre Ruhe nicht etwa in einer neuen Heimat, sondern nur in den Gräbern fanden, die ihr einziger Besitz werden sollten, diese Reich-Gottes-Boten und Reich-Gottes-Laufburschen, deren Namen Abraham, Isaak und Jakob jedes Kind nun seit mehr als dreieinhalb Jahrtausenden kennt, die sind Gott unentbehrlich! Ohne die kann Er nicht sein!!!
— Und da fragt noch einer, ob es eine Hoffnung für die, die wir lieben, über den Tod hinaus gibt? Da macht sich der Verstand in seiner sadduzäischen Schadenfreude tatsächlich daran, nachzurechnen, nachzuweisen, dass das viel zu sehr verworren und viel zu wenig wahrscheinlich ist, wenn unser Herz sich an diese Hoffnung traut?
Wie gut indes, dass Jesus uns zeigt, was dabei wirklich auf dem Spiel steht!
Denn es mag ja sein, dass die exklusive Sekte der Sadduzäer einst und die gar nicht mehr exklusive, sondern wachsende Mehrheit ihrer seelischen Nachfahren heute tatsächlich keinen Sinn für die Frage der Hoffnung hat.
Auch ein Sadduzäer wird womöglich ruhig gestorben sein, ebenso wie viele unserer Zeitgenossen nach eigenem Bekunden den Auferstehungsglauben nicht vermissen.
Aber wer fragt dabei nach Gott? Wer bemerkt, dass Gott sich zu Tode grämen würde, wenn der Tod Ihm seine Freunde und Kinder endgültig fortnähme? Wer bedenkt, dass Gott so anhänglich, ja so abhängig ist, dass Er keine Zukunft haben wollte, ohne Seine Menschen?
Wer fühlt noch mit, wie sehr Gott sich ins eigene Fleisch zu schneiden bereit war, um nur die Sterblichen nicht zu verlieren?
Die Predigt von der Auferstehung der Toten ist also kein Opium für das Volk, keine Nostalgie für die, denen es vergönnt war, glücklich mit anderen zu leben und tatsächlich um sie zu trauern, sondern die Botschaft von der Auferstehung betrifft unmittelbar Gott selbst: ER will sie und ER wirkt sie.
Wem das aber aufgeht, dass hier nicht nur unsere, sondern vor allem Gottes Zukunft entschieden wird, der kann vielleicht ahnen, was Blaise Pascal widerfuhr, dem großen französischen Denker und „ letzten religiösen Genie der Neuzeit“, der gestern vor 359 Jahren (23.XI.1654) einen Augenblick der Klarheit und Offenbarung erlebte. Die wichtigsten Eindrücke dieser aufblitzenden, entrückten Stunde hielt Pascal auf einem Blättchen fest, das er in seine Kleider einnähen ließ, um sie als Denkzettel, als „Memorial“ stets bei sich zu haben.
Dort heißt es[i]:
„Seit ungefähr abends zehneinhalb bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht
FEUER
»Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs«, nicht der Philosophen und Gelehrten
Gewißheit Gewißheit Empfinden Freude Friede
Gott Jesu Christi,
Mein Gott und Euer Gott.“
Aus diesen stammelnden und doch überaus starken Worten geht nun aber dies wohl hervor: Pascal erkannte in einer sein Leben für immer verändernden Weise, dass die Treue Gottes, der sich an Abraham, Isaak und Jakob hängte und in Jesus Christus hing, alles übersteigt und widerlegt, was man gedanklich von ihm mutmaßen und erwarten würde.
Und diese brennende Liebe Gottes, der sich in Leben und Tod nicht von uns trennen lässt, diese himmlische Hingabe an die Menschen, diese ernstgemeinte Ewigkeit, die Gott schwört, wo Er Gemeinschaft hat, dieses unendliche Einbezogensein der Verbündeten Gottes in Seine Lebendigkeit, die schenken mehr Trost, mehr Freude und Frieden als alles, was es sonst an Erkenntnis und Weisheit und Richtigkeit gibt.
Gott hat das Leben mit Seinen Menschen zur Bedingung Seines eigenen Lebens gemacht: ….. Darauf kommt keiner von uns.
So groß von uns selbst und so schwach von Gott denken wir nicht ….
Aber es ist die Antwort Jesu auf die Frage nach der Auferstehung: Ohne Eure Gegenwart in Seiner Ewigkeit will Gott selbst nicht ewig bleiben.
Unlöslich ist das Band zwischen Abraham und Ihm, zwischen Isaak und Ihm, zwischen Jakob und Ihm, unlöslich ist das Band geknüpft auch zwischen denen, deren Namen wir heute hörten oder im Herzen bewegten und Gott. ——
Das mindert den Schmerz des Abschieds nicht, das nimmt der Trauer um das Fehlen unserer Verstorbenen nichts, das ändert an der Reue über Vertanes und der Sehnsucht nach Vertrautem gar nichts.
Aber es schließt den Sadduzäern in und um uns das Schandmaul, wann immer sie andeuten wollen, unsere Verhältnisse im Leben seien so eigentümlich, so irdisch, dass sie keine weitere Verheißung hätten. Jedes Leben hat die Verheißung – die Verheißung, die der Tod nicht zerstören, sondern nur verstärken kann –, dass es Gott unverzichtbar ist, ein Gott der Lebenden zu sein.
Also kann Er nicht auf uns verzichten, die Seinen Namen seit der Taufe tragen.
Also wird Er nicht verzichten.
Und wir werden uns wiedersehen: Nicht nur in der Nähe, die wir einst zueinander hatten und pflegten, sondern in der Nähe Dessen, Der das Leben selber ist und uns in Seine Lebendigkeit alle miteinander auf immer einbindet!
In der Nähe des Gottes Jesu Christi, an Seinem Herzen.
Abrahams Gott, Isaaks Gott, Jakobs Gott, ……. mein Gott, Euer Gott!
Amen!
[i] Blaise Pascal, Werke, Bd.I: PENSÉES, Über die Religion und über einige andere Gegenstände, Übertragen v. Ewald Wasmuth, 5.Aufl., Heidelberg 1954, S.248 (vorletzte Zeile dort mit redaktioneller Interpunktion; letzte Zeile des Zitats lateinisch).
Vorletzter Sonntag ("Volkstrauertag") 17.11.2013 Stadtkirche Jeremia 8,4-7 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Vorletzter Sonntag - 17.11.2013
Jeremia 8,4-7
Liebe Gemeinde!
Es gibt eine alte Allergie, die unter allen Bevölkerungsgruppen der Welt so häufig sein dürfte wie sonst kaum irgendeine Unverträglichkeit oder Erkrankung.
Medizinisch ist diese weitverbreitete Abwehrreaktion des Menschengeschlechts kaum dokumentiert, aber die Bibel ist eine einzige diesbezügliche Krankenakte.
Sie zeigt uns schreckliche, chronische, erbliche Krankheitsverläufe, bei denen sich ganze Völker gegen den Auslöser ihrer Allergie wehren und zuletzt doch zugrunde gehen und verschwinden, und darum warnt die Bibel auch unermüdlich vor dem Verschleppen oder Leugnen der Diagnose und der Kur.
Das wogegen sich der Menschheitsorganismus nämlich so vehement sträubt, ist eigentlich ein Heilmittel, … doch es wird gefürchtet, gemieden und abgestoßen und ist der menschlichen Natur inzwischen schließlich so unbekannt, dass sie ihm tatsächlich nicht mehr gewachsen ist.
Das, was den Schock auslöst, das, was der natürliche Mensch darum nicht an sich heran lassen will, ist nämlich schlicht ……. : die Umkehr.
„Umkehr“, das ist ein Toback, von dem ansonsten starken Mägen schwummerig wird, flau und übel. Wer die Umkehr an den Hals kriegt, wer nicht höllisch aufpasst und sie sich irgendwo holt, der fängt an zu torkeln und zu taumeln, der kriegt den Drehschwindel und verliert die Orientierung …. so geht es ja tatsächlich zu, wenn man im Anfangsstadium der Erkrankung ist.
Eben noch ging alles „Voller Kurs voraus“; mit Dampfen und Tuten zog man in der breiten Fahrrinne, mit dem Strom der Zeit und im Kielwasser der großen Schleppkähne – Mehrheit, Mode, Massenpublikum –, und dann soll ein Manöver wie das Wenden kommen? Undenkbar.
Umkehrkranke sind schlicht gefährliche und gefährdete Hindernisse. Sie bremsen die allgemeine Geschwindigkeit, schaffen störende Situationen für alle anderen, geben schlechte Beispiele, reden wirres Zeug, denken schräge Gedanken, bürsten gegen den Strich, wollen gegen den Strom, meinen hinten sei vorn und oben sei unten, verdrehen Gut und Böse, probieren, was längst gescheitert ist, beharren auf dem, was die Wissenschaft widerlegt hat, tun wichtig, wissen besser, drehen durch und sind vor allem eines nicht mehr, … sie sind nicht „normal“.
Doch da beißt sich die Katze in den Schwanz, mit der Gegenfrage: Ist denn wohl unsere Vorstellung von Normalität noch normal?
Ist es normal, wenn wir Menschen annehmen, es könne, nein, es müsse gar alles wie gewohnt weiter gehen? Ist es normal, dass wir unbeeindruckt, meistenteils sogar unbelehrbar schlicht mit keinerlei Abweichung, Alternative oder Gegenteil zu unseren lieben Gewohnheiten und eingefleischten Überzeugungen rechnen?
Ist es normal, wenn Kinder einfach darauf beharren, Rechtschreibung und Rechenaufgaben müssten so funktionieren, wie sie sich das in den Kopf gesetzt haben …? Ist es normal, wenn die Freizeitsportler immer schon auf der Talsperre Schlittschuh laufen, noch ehe sie in der Mitte zugefroren ist …?
Ist es normal, dass unsere Ururgroßväter bei Sedan, unsere Urgroßväter an der Somme, die Großväter in Stalingrad töten und getötet werden sollten, so wie es die Angehörigen unserer eigenen Jahrgänge unter den Augen der Welt in Sarajevo und Srebrenica einander antaten und wie es Bürschchen, die meine Söhne sein könnten, heute in Syrien tun und rund um den Erdkreis? Ist das alles normal?
So fragt sich …… ja, wer fragt sich so? Ab und an Du und ich, ….. vielleicht.
Aber ununterbrochen, seit Jahrtausenden fragt sich das einer, der einst die menschliche Normalität aus der Taufe gehoben hat. Der fragt sich: Gibt es das wirklich …. Bauchlandung und nicht der leiseste Versuch wieder aufzustehen? Kann das wahr sein: Am Ende der Sackgasse und doch kein Gedanke an ein Zurück? ——
So fragt Gott sich, so fragen Gottes Propheten.
Doch die Allergie ist stärker.
Wer zurückgeht, steht als Verlierer da.
Wer neu anfängt, gesteht einen Fehler ein.
Wer sich ändert, gibt einem andern Recht.
Darum die Angst vor den Umkehrkranken.
Die Angst und Abwehr, die sich gerade in Vielen hier zu regen beginnen mit der beschwichtigenden Frage, was genau denn nun ausgerechnet bei uns so verfahren sein soll, dass man immer wieder von der Umkehr anfangen müsste?
Merkt Ihr’s?
Da sträubt sich etwas.
Das hat sich gesträubt als Mose die Derwische am goldenen Kalb in ihrem Walzer störte; das hat sich gesträubt als Jeremia die Optimisten von Jerusalem angriff, die noch am Vorabend der babylonischen Gefangenschaft auf Diplomatie und Anpassung an die politische Großwetterlage bauten; das hat sich gesträubt als Johannes am Jordan aus ehrenwerten Leuten begossene Pudel machte; das hat sich gesträubt als der Junge aus Nazareth das Ende der alten Welt mit seinem Leben zu bezahlen bereit war; das hat sich gesträubt im Nacken jedes rauflustigen, sauflustigen Barbaren, Germanen, Goten, Sachsen, der sich zähneknirschend der Waschlappenbehandlung in der Taufe beugte; das hat sich gesträubt, als der unbekannte Mönch aus Sachsen Staub aufwirbelte und das Evangelium zur Bußübung und Rettungsbotschaft für alle erklärte, die statt ihres Geldes ihren Glauben investieren wollten; das hat sich gesträubt, wann immer die Frommen Frömmigkeit und die Fürsorglichen Verantwortlichkeit und die Friedlichen Pazifismus predigten in jenem furiosen 19.Jahrhundert, in dem der weiße Mann so mächtig wurde, dass er zwei Weltkriege vorbereiten und innerhalb von zwei Generationen seine eigenen Kinder und einen Haufen naher und ferner Völker sinnlos abschlachten konnte; es sträubt sich immer, ……. wenn die Ostpolitik erneuert werden sollte oder die geistig-moralische Wende ausgerufen oder die Energieversorgung umgestellt wurde.
Der menschliche Organismus blockiert, wenn’s an’s Umkehren geht.
Das ist so – außer bei denen, die immer schon alles besser wussten und darum im Stechschritt und Protestmarsch nach einem Bruch die neue Zeit fanatisch bejubeln, weil sie genau ihren eigenen Vorurteilen entspricht.
Rechte wie Linke, Fortschrittliche wie Traditionalisten, Pietisten wie Liberale sind sich also nirgends so einig wie darin, dass es nie in jene Richtung gehen darf, die ihren eigenen Plänen und Programmen zuwiderläuft.
Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt. ——
Aber sollte das – die ganze Menschheitsgeschichte, der ganz persönliche Starrsinn – sollte das ein Grund sein, immer nur auf den vertrauten Pfaden zu bleiben, immer bloß in eine, … die gewohnte Richtung zu schauen und zu denken?
Wäre es nicht das Abenteuer aller Abenteuer, wäre es nicht die Erfahrung aller Erfahrungen, die Freiheit, die über alle Freiheiten geht, die Wahrheit, die wider alle Natur und dafür umso mehr zum Leben führt, wenn wir uns anstecken und umwerfen ließen von der Idee der Umkehr? Von der kleinteiligen und von der ganz groben und umfassenden Einsicht: Unsere Gewohnheiten und unser Handeln sollen anders, wir selbst sollen neu werden?! ——
Vielleicht sind die meisten heute hierhin gekommen in dem beruhigenden Bewusstsein, dass das Leben – erst recht das Leben einer volkskirchlichen Gemeinde – keine Zeltmission sei.
Am Anfang unseres zwölften Jahres miteinander ist das darum womöglich doch noch eine echte Überraschung: Die Zeltmission mit ihrem festen Ablauf, mit ihrer Dramaturgie, die am Ende zur Bekehrung drängt …….. diese Zeltmission will nach meinem immer dringender werdenden Verständnis unser Leben formen, obwohl wir beinah dachten, wir seien immun und könnten uns gar nicht mehr infizieren bei den gefürchteten Trägern der Umkehrseuche.
Doch wie sagt der englische Dichter und Gelehrte C.S.Lewis[1]:
„Ein junger Mann, der ein braver Atheist bleiben will, kann sich bei der Lektüre gar nicht genug hüten! Überall lauern Gefahren – offene Bibeln, tausenderlei Überraschungen …. In dieser Hinsicht ist Gott – wenn ich so sagen darf – ja geradezu skrupellos.“
So ist es. Gott ist skrupellos darin, nachdem er den Glauben an seine Menschheit verloren hat, nun nicht auch noch die Menschheit als solche zu riskieren.
So unglaublich der menschliche Irrsinn auch sein mag, der sich verrennt und die Rettung verkennt, Gott lässt ihn dennoch nicht los und lässt nicht locker.
Er baut seine Zeltmission in den Mauern Sodoms und an den Flüssen Babels auf; er kommt den Verlorenen nach und nahe, selbst wenn sie am Kreuz hängen; er lässt predigen auf der Agora und dem Forum Romanum; er steckt jede Schuld und Schande und noch jeden Skandal seiner unheiligen, pseudochristlichen Kirchen weg; er lässt sich nicht abwimmeln von unserer Arroganz und Dreistigkeit; er lässt sein Wort auch durch die unflätigen Begleitgeräusche des Materialismus und das laute Schnarchen der Seelen in der sog. westlichen Welt nicht hindern. Die gute alte Zeltmission hat seit dreitausend Jahren ihre Pforten geöffnet und auf ihren Schildern liest man den schönen, herbstlichen Ruf:
„Storch und Turteltaube, Kranich und Schwalbe kehren heim – und wann kommst Du?“
Ja, das ist es.
Umkehren heißt vor allem anderen, was es in Ost-und Westpolitik, in Gesellschafts- und Friedensdienst, in Energiewende und Lebenswandel auch bedeuten kann und wird, ja dieses: Zu begreifen, dass wir auf dem Gipfel des Scheiterns sind, wenn wir Gott nicht erkennen und vertrauen. Und also von allen Gipfeln des Lebens und Denkens, aus allen Sackgassen des Eigensinns und der Weltanschauung schnell und meinetwegen rückwärts oder auf allen Vieren oder im salto mortale oder mit der Echternacher Springprozession herauszukommen und den HERRN zu finden und sein Recht.
Das ist alles.
Aber das ist eben auch alles.
Und diese Botschaft der Propheten an Israel und der Apostel an die Welt lautet so, wie es bei uns als der tragikomische Ruf einer Vorfahrin mit neun Kindern und ohne Personal überliefert wird, die durch Haus und Hof den lieben langen Tag unentwegt den ständig übereinander purzelnden und sich drängenden, stoßenden Kindern hinterherschrie, wenn sie schließlich heulten: „Komm her, ich heb Dich auf!“
In diesem Ruf ist es alles enthalten: Dass wir tatsächlich schon selber den Schritt machen müssen, der sich Umkehr nennt, und nicht einfach liegen bleiben können, wie es die neun ostpreußischen Kinder sicher am liebsten und bequemsten getan hätten.
Aber dann – dann wird geschehen, was alle Umkehr so herrlich und so lohnend macht: Nicht, dass wir ein moralisches Gebot erfüllt, eine ethische Entscheidung getroffen, uns einer Bedingung gefügt haben, sondern dass wir aufgehoben sein werden. ——
Und warum sollte da nicht gerade der Volkstrauertag der beste Tag für die Zeltmission, für den Ruf zur Kehre, zur Umkehr, zur Bekehrung sein?
Weil Umkehr aus einem Leben in der Sackgasse ohne Gott uns schlicht fröhlich machen kann.
C.S.Lewis, der eben erwähnte Dichter, der sich schlicht aus Verstandesgründen irgendwann dem Glauben nicht mehr entziehen konnte, schilderte seinen Weg der Umkehr zu einem lebendigen Glauben herrlich anschaulich – das wäre Stoff für eine eigene Predigt. Für heute aber wollen wir nur die Überschrift mitnehmen, die fortan über seinem Leben stand, nämlich: „Von der Freude überrascht“ (Surprised by Joy).
Genau dazu will der Volkstrauertag schließlich auch uns bringen, … im Übrigen wie jeder andere Tag, an dem wir die schrecklichen, zerstörerischen, mörderischen Folgen eines Lebens erkennen, in dem Menschen nicht dem Ruf und Recht Gottes, sondern ihren eigenen, ererbten, eingefleischten, starren, sturen Vorstellungen vom eigenen Recht und Vermögen folgen.
Der Volkstrauertag will uns zur Umkehr bringen, die zur Freude führt.
Denn Umkehr – so viel steht fest – ist keine Krankheit, sondern die Heilung.
Sie eröffnet uns die „Freude der Buße“ (J.Schniewind) und schenkt uns Glück und Leben.
Umkehr bringt uns – so wie das Frühjahr die Störche und Zugvögel heimführt – zu Jesus, der die Gefallenen aufhebt, die Verirrten nach Hause bringt, die Verstockten löst und die Unbelehrbaren in Recht und Wahrheit erleuchtet.
„Komm her, er hebt Dich auf!“
Amen!
Offene Schuld
Herr, wenn wir vor Dir stehen – dem Ewigen und Lebendigen –, dann müssen wir uns fragen lassen: Kann Schuld historisch werden?
Allmählich sinkt ja alles, was mit unseren Kriegen und Katastrophen verbunden ist, in die Vergangenheit: Die letzten Witwen des Krieges haben ausgeweint. Die Brüder und Schwestern der vernichteten Generation werden alt und werden weniger. Die Waisen, die der Krieg hinterließ, sind heute Großeltern. Und die Opfer und ihre Zeugen sterben aus ……..
Doch verlöschen damit etwa auch jene, die vor Jahrzehnten in ihrer Blüte abgemäht wurden? Verschwinden sie aus Deinem Gedächtnis, die damals lebten, litten und verdarben? Werden sie namenlos, werden sie zu Schatten ohne Gesicht, nur weil wir ihre Namen nicht mehr kennen, ihr Bild verlieren und sie für uns weder Gestalt noch Wesen haben?
Nein, Herr, so lange Du lebst, sind und bleiben sie alle ja Dein!
Bei Dir leben sie.
Darum wird weder Schuld noch Leid je historisch. – Weil Deine Gnade ewig ist und wir sie im Leben und im Tod mehr brauchen, mehr erfahren als alles andere.
Herr, sei uns gnädig!
Kollektengebet
Herr, gib dass wir Dein Wort hören, als sei es das erste Mal, und gib dass wir handeln, als sei es die letzte Stunde. Mache unseren Glauben bereit zu einem neuen Anfang, und lass uns leben wie wir es am Ende nicht bereuen werden. Erneuere uns an Geist, Sinn und Leib, und gib dass wir dem Evangelium zur Buße und zum Leben folgen, durch Jesus Christus, Deinen lieben Sohn, unsern Herrn, der mit Dir und dem Heiligen Geist lebt und herrscht von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Fürbitte
Herr, wir wissen dass Du allein aus Schuld und Bösem Gutes hervorgehen lassen kannst. Nur Du kannst Kummer und Tränen in Jubel und Hoffnung verwandeln. Nur Du kannst vom Tod zum Leben führen.
Darum kommen wir zu Dir und bitten Dich genau darum: Dass Du die Dinge umkehrst und allem voran auch uns! Dass Du uns Menschen von unseren Wegen des Verderbens auf den Weg des Friedens führst. Dass Du die seelische und die praktische Gottlosigkeit, die in und über der Menschheit herrschen, wendest und wir den verheißenen Geist erfahren, der überall auf dieser Erde eine Bewegung der Buße, ein Wachstum des Glaubens und ein Ausströmen der Liebe hervorrufen kann.
Wandle Du die Schmerzen dieser Weltzeit in Vorboten Deiner Zukunft.
Lass uns von den Irrwegen, die uns so zwingend erscheinen, loskommen und gib uns zu erkennen, wie Recht und Gerechtigkeit gefunden und geschützt werden können.
Mache Segen aus allem Fluch, der sich in Vergangenheit und Gegenwart in dieser Welt angesammelt hat.
Bringe Bewegung in die Lebenden, bringe Leben in die Toten; lass uns wie die Zugevögel den Anbruch der ersehnten Zeit erleben, die aus allen vier Himmelsrichtungen die Völker und die Scharen heimführen wird.
Bringe jeden von uns, jeden, jeden zu Jesus!
[1] A young man who wishes to remain a sound Atheist cannot be too careful of his reading. There are traps everywhere — 'Bibles laid open, millions of surprises' …….. God is, if I may say it, very unscrupulous.
Drittletzter Sonntag 10.11.2013 Stadtkirche Lukas 18,1-8 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Drittletzter Sonntag - 10.11.2013
Lukas 18,1-8
Liebe Gemeinde!
- Eine wartende Witwe, die vierundachtzigjährige Prophetin Hanna steht am Anfang des Lukasevangeliums mit ausgebreiteten Armen da und schweigt nicht etwa in der Gemeinde, sondern legt öffentlich die Heilige Schrift ganz tagesaktuell aus, indem sie von dem kleinen Knaben Jesus zu allen redet, die auf die Erlösung Jerusalems warteten (vgl.Lk236ff).
- Eine Witwe dürfte auch die erste gewesen sein, die durch die Kraft Jesu unmittelbar gerettet wurde: Die Schwiegermutter des Petrus, deren fiebrige Erkrankung er heilte (vgl.Lk438).
- Ebenfalls eine Witwe war es, für die Jesus das menschlich Unmögliche möglich machte, als er ihr den toten Sohn wiedergab, den man eben in der Stadt Nain zu Grabe trug (vgl.Lk711ff).
- Eine Witwe sollte es schließlich auch sein, deren ungeheurer Mut – als sie ihre gesamte materielle Habe in den Gotteskasten warf – Jesus auf seinem Weg zur völligen Hingabe aufrichtete und bestärkte (vgl.Lk211ff). —
Für Jesus sind Witwen also keine fremdartigen Wesen aus einer versunkenen Welt – während es allerdings für heutiges Empfinden inzwischen fast unanständiger sein kann, eine Frau mit dieser Bezeichnung bloß als hinterbliebene Partnerin ihres verstorbenen Mannes anzusprechen, als ihr zweifelhafte Titel aus dem Tingeltangel anzuhängen.
„Witwe“ ist also eine aussterbende Rolle: Lebenslange Trauer, erzwungene Zurückgezogenheit und die Pietät gegenüber dem Andenken eines längst Verblichenen ergeben keinen Lebensentwurf mehr ….. und niemand wird diesem Abschied nachtrauern. —
Wenn ich allerdings Bilder unserer Familienfeste vor 30 Jahren ansehe und kurz nachrechne, dann sind es 8, manchmal 10 Witwen, die für uns die ältere Generation, die Generation der gefallenen oder vermissten oder durch die Kriegsstrapazen jung verbrauchten Männer ausmachten. Aber bei allem Schicksals- und Lebensschmerz, bei aller Trauer, die sie in unterschiedlicher Heftigkeit gespürt und getragen haben, waren diese verwitweten Frauen doch von einer ganz eigenen Lebenserfahrenheit. So verschieden sich das ausdrückte und abzeichnete: Unsere Witwen waren die, die das Schlimmste schon erlebt hatten. Ihnen konnte nichts und niemand mehr irgendetwas vormachen, denn sie wussten, wie sich das anfühlt: das Schrecklichste und das Weiterleben, der Sturz ins Bodenlose und das seltsam schlafwandlerische Wiederaufrappeln, Zerreißen und Zusammenflicken, Weinen und Tränenlossein, namenlose Furcht und tödliche Gewissheit, Ende und Neubeginn.
Aus solchen Lebens- und Todeserfahrungen speist sich aber von altersher die besondere Bedeutung, die der Weisheit und Menschenkenntnis, dem Urteil und der Stimme jener beigelegt werden, die wir „Witwen“ nennen.
Weit entfernt davon nämlich, dass sie immer nur abgeschoben wie eine unbrauchbare Hinterlassenschaft, gebrandmarkt durch ihre schwarze Tracht und von den Glücklichen entmündigt und verachtet hätten leben müssen – das alles sind Erscheinungen, die es zweifellos gab –, hatte man gerade in der Frühzeit der Kirche eine derartige Hochschätzung der seelischen Lebens- und Überlebenstüchtigkeit von Witwen, dass sie einen eigenen geistlichen Stand, manche meinen gar: ein eigenes Amt begründete.
Die Erfahrung der Witwen verlieh ihnen seelsorgliches und soziales Charisma. Sie waren trotz aller patriarchalen Kultur der Bevormundung die offizielle weibliche Seite der Kirche (vgl.1.Timotheus53ff). Ihre fürsorgliche, diakonische Arbeit, aber auch der widerstandsfähige Geist der Witwen machten sie zu Helferinnen und Beterinnen, die den christlichen Glauben und die christliche Hoffnung praktisch verkörperten. Frei von allen rein persönlichen Verpflichtungen und Rücksichten und jenseits der Ängste, die andere lähmen, waren die Witwen also eine echte, eigenständige Macht im Urchristentum.
Und gerade die Männer fürchteten sie deshalb.
Das alles spricht nun aber auch schon aus dem Gleichnis, das Jesus von jener Witwe erzählt, die der Schrecken der Bürokratie und Justiz in ihrer selbstherrlichen Erstarrung wurde.
Diese bittende Witwe brachte Bewegung in das phlegmatische System, das der unbekümmerte Richter ohne ihre hartnäckigen Angriffe offensichtlich ungerührt und bei gesundem Schlaf weiter aufrechterhalten hätte:
Ein System, dessen Kennzeichen das völlige Fehlen der Gottesfurcht und der Menschenscheu sind und das darum zu allen Zeiten und in allen Gestalten die häufigste Verfassung der Welt ist, – sei’s im alten Palästina unter römischer Herrschaft, sei’s in den Geburtswehen der Moderne, als Kirche und Kapital alles verhökerten, von dem man bis dahin geglaubt hatte, es könne heilig sein ….. Seelen und Gnade und menschliche Wissenschaft, Weltteile, Völker und christliche Kronen.
Das völlige Fehlen von Gottesfurcht und Menschenscheu ist seitdem unter allerhand christlichen und humanistischen Theaterkostümen versteckt worden oder auch nicht: Es hat auf Guillotinen und Sklavenschiffen, unter Kolonialfahnen und roten Sternen, mit der Eisen-bahn und durch rasante Erz- und Waffentechnik Triumphe über Triumphe im Auftrag der Zivilisation gefeiert und es ist für immer mit dem Namen und der Geschichte Deutschlands verbunden worden seit jener gestrigen Nacht vor 75 Jahren, als beide, Gottes Wort und seine menschlichen Kinder sichtbar zum Freiwild gemacht wurden, zum Brennen und zum Sterben bestimmt.
Und wer hat dagegen hartnäckig, unbeirrbar, steinerweichend geklagt?
Und wer klagt heute, dass die Gottesvergessenheit und die unmenschliche Gleichgültigkeit aus jedem noch so kleinen Bestandteil unserer Lebensweise schreien: Wie wir essen und uns kleiden, wie wir genießen und wie wir wirtschaften, wie wir uns unterhalten und wie wir vergessen?
Wirklich die Klage über beides zu erheben – dass Gott und die Menschen nicht geehrt und gefürchtet werden – ist nämlich noch etwas anderes als politisch diese oder jene Forderung nach Verbesserung zu vertreten, diese oder jene Alternative oder Beschwichtigung oder Augenwischerei zu betreiben. Wirklich bei Tag und Nacht ruhelos im Namen des Schöpfers und im Namen seiner Geschöpfe Zeter und Mordio zu schreien, ist selbst für Berufspessimisten und Berufspolitiker unter uns nicht üblich; wirklich die Grundlagen, die Wurzel der vielen Übel in der globalen Welt aufzudecken und ein Ende dessen, was selbstverständlich hingenommen wird, herbeizurufen, ist uns allen fern und fremd, weil es eben nicht nur gesellschaftliches, sondern auch geistliches Elend ist, das zum Himmel schreit und den Himmel wachrütteln muss.
Warum wir dann aber nicht schreien?
Warum wir nicht das Klagelied von der Erderwärmung und das Erweckungslied gegen den seelischen Kältetod anstimmen?
Warum wir uns nur hier und da spezialisieren auf Gebrüll gegen Ungerechtigkeit oder Gejammer über den Glaubensschwund, aber nicht wirklich erschüttert sind und erschüttern?
Weil wir „verheiratet“ sind.
Natürlich nicht etwa nur mit denen, deren Namen in unseren Eheringen oder Herzen stehen, sondern mit vielen, vielen anderen Dingen und Größen und Annehmlichkeiten, die wir nicht missen möchten. So lange wir sie haben – unseren Wohlstand, unsere Überlegenheit, unsere Bequemlichkeit, unsere Unverbindlichkeit – solange wir sie haben und ihren Verlust noch fürchten müssen, so lange wird unser Suchen und Verlangen nach einer besseren Welt, nach der Gerechtigkeit Gottes nur halbherzig sein.
Noch sind wir ja so gebettet, wie wir ganz gern liegen. Noch fehlt uns selbst so wenig, noch sind wir ganz persönlich so zufrieden, dass wir lieber stillhalten. Jetzt nach einer neuen Wirklichkeit zu rufen, kommt uns also nicht in den Sinn, weil es so hysterisch und so abstrakt wirkt, wenn wir in Wahrheit doch gar nichts Entscheidendes entbehren müssen.
Das wird wohl stimmen. Es kann wohl kaum richtig überzeugt und überzeugend werden, wenn wir zwar die Welt verändert, aber das eigene Leben möglichst unberührt wünschten.
Aber aus diesem satten Selbstgenügen derer, die mit den eigenen Umständen glücklich verheiratet sind, folgt doch nur, dass Witwen der Gemeinde und der ganzen Welt nicht fehlen dürfen: Natürlich nicht nur jene Witwen oder Witwer, deren Ehegatten gestorben sind, sondern alle, die nichts mehr zu fürchten und nichts mehr festzuhalten, nichts mehr zu schonen und nichts mehr zu verlieren haben. ——
Das klingt schockierend: nach fauler Entschuldigung und brutalem Zynismus! …….
Und doch ist uns durch Jesu Witwengleichnis gesagt: Ihr Glücklichen erhaltet und bewahrt das Recht und das Reich Gottes ganz gewiss nicht! Nicht Eure süßen Sorgen, nicht Eure wohlgemeinten Vorschläge und Pläne werden erreichen, dass die Angriffe auf Gottes und der Menschen Recht nicht alles zerstören, was gut und heilsam ist.
Sondern auf scheinbar ganz schwachen Schultern ruht die Hoffnung, und die Zukunft liegt in den Händen und Gebeten derer, die überhaupt nicht zu zählen scheinen.
Das sind die Witwen dieser Welt: Diejenigen, die keine von den vielen anderen Sicherheiten und Gewohnheiten mehr haben, die uns noch umgeben und ruhig stellen.
Und nun gibt es gibt sie ja wirklich: Diese Menschen, die nur noch Tag und Nacht schreien können und deren Einziges, Letztes das Gebet ist.
… Wie oft allerdings bemitleiden wir die bloß. Wie oft bevormunden wir sie, wenn wir zwischen ihre Verzweiflung und uns selbst den Irrtum setzen, wir müssten für sie sprechen und handeln, da ihnen nur noch die Klage bleibt.
– Nun, gewiss sind wir haftbar für das Leid unserer Geschwister. Aber die Verantwortung für das Heil der Welt tragen dennoch nicht etwa wir, sondern sie, …sie, die Opfer, …. denn sie, sie tragen diese Verantwortung zu Gott.
Bitte: Versteht das nicht vorschnell, nicht zynisch! Nicht, als sollten die Ärmsten der Armen nun auch noch als die Packesel ihres eigenen Leids oder gar als die Schuldigen hingestellt werden!
Sondern umgekehrt: Dass diese Welt überhaupt noch besteht und dass in ihr Aussicht auf Gottes Reich und die Verheißung seiner Gerechtigkeit besteht, das verdanken wir Reichen, Starken, Freien nicht etwa uns selbst! Sondern ganz gewiss dem, was Gott tatsächlich erreicht und erweicht …. und das sind nicht unsere zögerlichen oder volltönenden Weltverbesserungspläne.
Sondern aus der Tiefe dringt der Ruf, den Gott erhört und immer wieder und weiter und schließlich ewig und endgültig erhören wird. Aus den Kehlen der Vergessenen, aus den Seufzern der Verlassenen, aus der Brust der Verfolgten, aus dem Herzen der Gequälten, aus den Kellern der Gefolterten, den Fabriken der Versklavten, den Lagern der Vertriebenen, den Slums und Einsamkeiten der Rechtlosen da steigt der millionenstimmige Chor der Hilferufe auf, da steigt das unwiderstehlich absolute Flehen um Rettung auf, das alles durchdringt.—
Das Volk Israel wusste, was es tat, als es in den zwei Jahrtausenden seiner weltweiten Rechtlosigkeit, die vor einem Dreivierteljahrhundert gipfelten, seine eigene Verkörperung so oft „die Witwe Tochter Zion“ nannte.
Dass Gott es auf die Brände der Synagogen, auf die Feuer der Menschenopfer von Auschwitz und auf das Volk und die Welt, in denen das geschah, nicht Schwefel regnen ließ – hat das wohl jemand von uns herbeirufen können?
Nein, die Witwe Tochter Zion war es, deren Gebet und Geschrei wir das Weltwunder verdanken, dass es diese Welt noch gibt.
Und dass sie heute noch steht und dass wir noch immer auf Gott hoffen, trotz aller zerstörerischen Sünde, in der wir leben …. ist das etwa uns und unserer Frömmigkeit oder unserer politischen Korrektheit geschuldet??
Wenn wir wüssten, … wenn wir sähen, was Gott dazu veranlasst, seiner Menschheit treu zu bleiben … würden wir dann nicht jener alleinerziehenden, aidskranken Flüchtlingsfrau danken, die als „Mama Afrika“ mit ihrer bedingungslosen Hoffnung und ihrem inbrünstigen Lebens- und Gebetsmut dafür sorgt, dass es weitergeht wider alle trostlose Wahrscheinlichkeit?!!
Wir leben von den Worten, von den Gebetskämpfen und den Gebetserhörungen der Schwachen, der Armen, der Witwen und Waisen!
Das ist eine unser Denken und Glauben weit überfordernde Wahrheit.
Darum schließt ja auch Jesus das Gleichnis von jener Witwe, der das menschlich betrachtet völlig Unwahrscheinliche gelingt, mit der Frage: „Wenn des Menschen Sohn kommen wird, meinst du, er werde den Glauben finden auf Erden?“
Aber auch diese Frage ändert nichts an der uns demütigenden und Gott befeuernden Tatsache, die ein unter uns – natürlich! – fremdes Lied[1] besingt; ich würde es das Lied vom „Unbekannten Beter“ und der „Unbekannten Beterin“ nennen:
„Beter sind Wundervollbringer,
einsam in finsterer Nacht.
Beter sind Weltenbezwinger,
wartend auf stiller Wacht.
….
Toben auch teuflische Kräfte,
kennst du den nächtlichen Schrei?
Beter tun Siegesgeschäfte,
beten den Tag herbei.“
Amen!
Reformationstag 31.10.2013 Stadtkirche Juliane Engert-Lavista
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen. (2. Thess 1,2)
Liebe Gemeinde,
wir feiern heute das Reformationsfest. Und wir feiern heute das 450. Jubiläum eines bedeutenden Textes.
Im März 1563, also vor 450 Jahren, erschien ein kleines Büchlein mit dem Titel „Katechismus oder christlicher Unterricht wie er in Kirchen und Schulen der kurfürstlichen Pfalz getrieben wird“. Jetzt ist dieser Text als Heidelberger Katechismus bekannt.
Es werden heute also zwei Jubiläen gefeiert: 496 Jahre Thesenanschlag Martin Luthers in Wittenberg und 450 Jahre Heidelberger Katechismus.
Wittenberg und Heidelberg, dass diese beiden Städte im Leben von Zacharias Ursinus, dem Hauptverfasser des Heidelberger Katechismus, eine bedeutende Rolle spielten, ist schon an seinem Lebenslauf zu sehen.
Als Sohn eines lutherischen Pastors in Breslau geboren zog Zacharias Ursinus mit 16 Jahren, im Jahr 1550, nach Wittenberg, um dort Philosophie und Theologie zu studieren. Dort, in einer der bedeutendsten Städte der Reformation, wurde Philipp Melanchthon sein wichtigster Lehrer. Melanchthon war ein enger theologischer Vertrauter Martin Luthers und interessierte sich sehr für Zacharias Ursinus. So lässt sich erklären, dass Melanchthon schon früh theologisches Potential in Ursinus erkannte und ihn förderte. Ursinus durfte Melanchthon sogar auf die Reise zu einem Religionsgespräch nach Worms im Jahr 1557 begleiten.
Von dort brach er dann mit einem Empfehlungsschreiben seines Lehrers zu einer Studienreise in die Schweiz und nach Frankreich auf.
Ursinus kannte nun die von Luther geprägten Gebiete der Reformation und wusste schon um die Streitigkeiten zwischen den Reformatoren.
In Zürich erlebte er dann reformiertes Kirchenleben und in Genf lernte er sogar Johannes Calvin, den einflussreichen Theologen der Schweiz, persönlich kennen. Nachhaltig beeinflusst von den Erfahrungen und Erlebnissen, die Zacharias Ursinus auf seiner Studienreise gemacht hatte, kehrte er 1558 nach Breslau als Lehrer an ein Gymnasium zurück.
Nun kannte Ursinus sowohl die lutherische, als auch die reformierte Lehre in ihren verschiedenen Ausprägungen. Die reformierte Sicht auf das Abendmahl, wie sie Calvin vertrat, hatte es ihm so sehr angetan, dass er sie in einem Gespräch über das rechte Abendmahlsverständnis im lutherischen Breslau 1559 vertrat. Dadurch kam er allerdings in den Verdacht reformierter Auffassung, was zu dieser Zeit in Breslau zu heftigen Streitigkeiten führte. Ursinus rechtfertigte sich, legte aber, um Streit zu vermeiden, sein Amt als Lehrer nieder und begab sich nach Zürich. Dort erreichte ihn 1561 eine Berufung des Kurfürsten nach Heidelberg als Professor der Dogmatik, einer Teildisziplin der Theologie. Und diesem Ruf folgte er gern. Nun erlebte Zacharias Ursinus dort erneut Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Richtungen der Reformation.
Der Kurfürst wünschte sich darum eine klare Lehrgrundlage in Kirchen und Schulen und eine erneuerte kirchliche Ordnung in der gesamten Kurpfalz.
Zacharias Einfluss auf die Erstellung dieses Katechismus ist beeindruckend. Er selbst war auch Teil der Kommission, die für die Endfassung dieser Lehrgrundlage verantwortlich war.
So gilt Zacharias Ursinus heute als Hauptverfasser des Heidelberger Katechismus, dieser einzigartigen Bekenntnisschrift, die die reformierten Kirchen prägt und die für den weltweiten Protestantismus bedeutsam ist.
Ältere Katechismen – reformierte und lutherische – zog Ursinus zu Rate. Die Heilsgewissheit des Gläubigen als theologischer Mittelpunkt war ihm dabei am wichtigsten.
Der Heidelberger Katechismus ist also die Auslegung des evangelisch-reformierten Glaubens. Es werden die 10 Gebote, das Glaubensbekenntnis und auch das Vaterunser einzeln und detailliert interpretiert und dazu je eine Erklärung angeboten.
Der Heidelberger Katechismus ist ein Meisterstück reformierter Lehre. Und so hat er auch heute noch für Christen große Bedeutung. Gerade inhaltlich geht es Christen an.
Die Fragen sind aktueller denn je. Es geht darum, was Glaube ist und was ihn ausmacht. Der Heidelberger Katechismus gibt Antworten auf existentielle menschliche Fragen und zeigt an den klassischen christlichen Lehrstücken auf, was christlicher Glaube ist und wie er verstanden werden kann.
Er gibt Orientierungshilfe in einer Zeit von Unsicherheit, an wen oder was man sein Herz hängen soll.
Die ersten beiden Fragen des Heidelberger Katechismus sind der Einstieg und gleichzeitig so etwas wie die Inhaltsangabe des gesamten Lehrstücks.
Und da heute das Reformationsfest gefeiert wird und sich die Veröffentlichung des Heidelberger Katechismus zum 450. Mal jährt, stehen diese beiden ersten Fragen nun als Predigttext in der Mitte dieser Predigt:
Ich lese die erste und die zweite Frage des Heidelberger Katechismus in der älteren Fassung:
„1.
Was ist dein einiger Trost im Leben und im Sterben?
Dass ich mit Leib und Seele beides, im Leben und im Sterben
nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin, der mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkömmlich bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst hat und also bewahrt, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen,
ja auch mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss.
Darum er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens versichert und ihm forthin zu leben von Herzen willig und bereit macht.
2.
Was musst du wissen, damit du in diesem Trost selig leben und sterben kannst?
Erstens:
Wie groß meine Sünde und Elend ist.
Zweitens:
Wie ich von allen meinen Sünden und Elend erlöst werde.
Drittens:
Wie ich Gott für solche Erlösung soll dankbar sein.“
Liebe Gemeinde,
Zacharias Ursinus und die Kommissionsmitglieder, die den Heidelberger Katechismus im Januar 1563 dem Kurfürsten zur Genehmigung vorlegten, wussten genau, was sie mit den Formulierungen in den Fragen und Antworten des Katechismus meinten.
Mir machte einer der Besuche bei der Großmutter einer guten Freundin klar, was Trost bedeutet. Dieses Wort, das in der ersten Frage im Heidelberger Katechismus genannt wird und das als Titelwort über dem gesamten Lehrstück stehen könnte. Trost.
Diesen Trost habe ich erst richtig verstanden als ich bei der Oma meiner Freundin zuhause auf dem Sofa saß und mit ihr ins Gespräch kam.
Wir waren bei ihr nur kurz vorbei gegangen, um „Guten Tag“ zu sagen und uns blicken zu lassen. Meine Freundin erzählte mir, dass ihre Großmutter sich immer sehr freute, wenn jemand aus der Familie vorbeikam. Seit dem Tod ihres Mannes lebte die Oma nun alleine in einer kleinen Wohnung. Sie hatte ihre eigenen Möbel und war auch noch ganz rüstig für ihre 82 Jahre.
Aber in letzter Zeit klagte die Großmutter schon immer häufiger über Schmerzen in der Schulter und im Bein. Und das schränkte sie dann doch ein. Sie konnte sich nicht mehr so häufig mit ihrer Freundin aus früheren Tagen treffen. Das Treppensteigen wurde beschwerlich und ohne Gehhilfe ging die Oma nicht mehr aus dem Haus.
Ich kannte die Großmutter meiner Freundin noch aus Kindertagen und erinnerte mich gerne daran, wie wir gemeinsam in den Park gingen und Kastanien sammelten. Danach gab es immer den wärmenden Kakao bei Oma zuhause.
So war meine Erinnerung an diese rüstige, ältere Dame, die für uns Kinder da war und uns Mädchen wie eine Mutter umkümmerte, wenn wir bei ihr waren.
Und jetzt einige Jahre später wollten wir diese Großmutter nun einmal kurz besuchen.
Ich hatte davor ein bisschen Angst. Ich wusste, dass der Opa, der dazugehörte und früher immer im Lehnsessel saß, nicht mehr da war. Früher stand er aus dem Lehnstuhl nur auf, um uns frierenden Mädchen die Decke über die Beine zu legen, wenn wir mit dem dampfenden Kakao auf dem uralten Sofa in den flauschigen Kissen buchstäblich versanken. Ich wusste also, dass dieser Opa nun nicht mehr lebte.
Das hatte mich sehr berührt. Natürlich weiß ich, dass das Leben endlich ist, dass der Opa ein stolzes Alter erreicht hat und dass das Älterwerden zum Leben von uns allen gehört. Und trotzdem betrat ich mit zitternden Knien das Treppenhaus, nachdem meine Freundin an der Klingel ihrer Oma geschellt hatte.
Ich wollte der Großmutter mit meinem Besuch etwas Gutes tun. In meinen Augen musste sie doch einsam und allein sein. Ohne Freunde, mit Schmerzen und als Witwe auch am eigenen Lebensende angekommen, da konnte ich es mir gar nicht anders vorstellen, als dass man unglücklich, traurig und einsam ist. Ich wollte die Großmutter mit unserem Besuch trösten. Der Besuch sollte ihr Trost spenden.
Die Großmutter öffnete uns also die Wohnungstür und bat uns herein. Wir setzten uns auf das Sofa, das wir noch von früher kannten, und Großmutter setzte sich in den Lehnstuhl, in dem früher ihr geliebter Mann immer Platz nahm.
„Ach, Kinder,“ sagte sie fröhlich und gut gelaunt, „wie schön, dass ihr da seid. Und gut, dass ihr so früh kommt, denn gleich kommt meine neue Nachbarin und wir wollen eine Runde Karten zusammen spielen. Ja, wisst ihr, wenn man älter wird, dann kann man nicht mehr so viele Ausflüge machen wie früher. Einfach so in den Park gehen, das geht halt nicht mehr. Das ist zwar schade, aber davon muss ich eben Abschied nehmen. Ich habe das alles so viele Jahre gemacht und erlebt – wisst ihr noch wie wir hier nach dem Kastaniensammeln auf dem Sofa Kakao tranken?“
Wir jungen Frauen wussten genau, was sie meinte, und so fuhr sie fort: „Seht ihr, das ist schon so viele Jahre her und wir erinnern uns noch so gerne daran. Wie ich euch als kleine Mädchen trösten musste, als einmal keine Kastanien mehr im Park lagen, weil ein Gärtner sie kurz vorher alle weggekehrt hatte und so eure Vorfreude auf das Kastaniensammeln auf einmal wie eine Seifenblase zerplatzte. Ihr wart so traurig und nicht einmal der warme Kakao konnte euch wirklich trösten. Und jetzt, jetzt steht ihr mit beiden Beinen im Leben und die ganze Welt steht euch offen. Wie sich doch die Zeiten ändern. Jetzt sehe ich, was hinter mir und was vor mir liegt. Da kommt für mich nun nicht mehr viel. Welche traurigen und einsamen Zeiten ich schon erlebt habe... Und auch jetzt fühle ich mich manchmal allein und ich merke, wie die Kräfte schwinden. Dann brauche auch ich Trost. Könnt ihr euch das vorstellen, dass ich getröstest werden will?“ Wir versuchten uns das vorstellen. Und ich musste sofort daran denken, wie es für mich war, das erste Mal alleine in meiner ersten Wohnung zu sein – ich war einsam und es war auch ein bisschen unheimlich in der Wohnung so ganz allein. Ich sehnte mich nach wirklichem Trost, danach, dass ich mit positivem Blick meine neue Situation annehmen konnte. Damals wünschte ich mir, dass ich mich irgendwie umhüllt und getragen fühlte. Und nun, nun hat auch Oma dieses Gefühl verspürt.
Ich fragte mich, wie häufig man wohl in so einem langen Leben Trost braucht. Mir wurde im Gespräch an diesem Nachmittag bewusst, dass wir Menschen in den unterschiedlichsten Lebensabschnitten Zuspruch nötig haben. Wie Oma am Lebensende, wenn sie irgendwie darauf wartet, dass das Leben zuende geht oder wie wir als kleine Mädchen, deren Traum vom Kastaniensammeln wie eine Seifenblase zerplatzte, oder wie am Anfang eines neuen Lebensabschnittes in einer neuen Wohnung mich die Einsamkeit überfiel.
Der Prediger Rudolf Bohren fasste dies einmal in folgende passenden Worte:
„Ein Mensch braucht Trost. Der Säugling, schreiend in seiner Wiege – der Greis, im Sterben eine liebe Hand umklammernd: der zur Welt kommt und der aus dem Leben geht, beide brauchen Trost. Anfang und Ende lassen ahnen, dass das Trostbrauchen zum Menschsein überhaupt gehört. An jedem Lebenstag zwischen Geburt und Tod ist Trost vonnöten, ob einem dies bewusst wird oder nicht.“
Und das stimmt. Diesen Trost brauchen Menschen. Und zwar in den unterschiedlichsten Lebenslagen. Es werden Trostpreise bei Gewinnspielen verteilt und tröstende Worte zugesprochen. Die aufmunternden Worte wie „es geht schon wieder vorbei“ und „komm, ich helfe dir und begleite dich durch die schwere Zeit“ oder „nach Regen kommt auch wieder Sonnenschein“ sowie das bekannte Lied „Heile, heile Gänschen“ kommen schnell über die Lippen und sollen trösten.
Doch können sie das wirklich? Geht es einem dann wirklich besser und fühlt man sich umhüllt und geschützt, womöglich sogar getragen von diesen Worten und Gesten?
Für einen kurzen Moment helfen sie vielleicht. Aber eben nicht immer. Man ist als Konfirmand trotzdem traurig, weil die schöne Zeit auf der Konfirmandenfreizeit vorbei ist. Sie fühlt sich dennoch allein, weil der geliebte Mensch nicht wiederkommt.
Da ist dieser Trost dann unzureichend. Da will man möglicherweise dann auch gar nicht von anderen getröstet werden und versucht es für sich allein. Man möchte sich dann vielleicht selber Tröster sein. Mit allen Mitteln nimmt man sich vor, sich selbst Trost zu schenken. Man spricht sich dann positive Worte zu und wendet den Blick auf die schönen Dinge im Leben.
Und wenn selbst das nicht klappt? Wenn es nicht funktioniert, dass man sich tröstet, dass man Trost verspürt?
Dann fängt das auf, was der Heidelberger Katechismus dir zusagt:
Mensch, du musst dir nicht selber Tröster sein. Es gibt einen, der das für dich ist: Das ist Jesus Christus. Er hält immer zu dir. Du kannst getrost sein, dass du dir nicht selber Tröster sein musst. Du weißt, dass du zu dem gehörst, der dir treu ist, im Leben und im Sterben: dein getreuer Heiland Jesus Christus.
So formuliert es der Heidelberger Katechismus. Er sagt zu dir: Egal wieviel Trost du nötig hast im Leben und im Sterben, ob du es weißt oder nicht, eines ist gewiss: Dass Jesus Christus für dich da ist und dich begleitet. Er hört dir zu, wenn du Angst um deine Familie hast. Jesus steht auf deiner Seite, wenn du Trost brauchst, wenn du nach einer Niederlage traurig bist. Er nimmt dich mit offenen Armen auf, wenn dich kein anderer und kein eigener Gedanke mehr tröstet. Er versteht dich und setzt sich für dich bei Gott ein. Jesus Christus ist dir nahe, wenn du einsam bist. Er hält seine schützenden Hände über dich, wenn du Herausforderungen im Leben meisterst.
Jesus geht mit dir auch Wege, die beschwerlich sind. Dann ist er an deiner Seite und begleitet dich. Egal, wohin du auch gehst und wohin du dich wendest, Jesus Christus ist da. Das ist dein Trost im Leben und im Sterben.
Und so endete auch das Gespräch bei der Großmutter im Wohnzimmer und verdeutlichte mir, dass dieser Trosts auch mich schon das ganze Leben trägt. Sie sagte zu uns:
„Und übrigens, das, was mir wirklich Trost spendet in großer Not und was mich jederzeit gewiss macht, dass ich getragen und gehalten werde, schon mein ganzes Leben lang, das finde ich in den Worten, die ich als Konfirmandin auswendig lernen musste. Es ist die Frage:
Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?
Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.
Er hat mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst;
und bewahrt mich so, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen,
ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss.
Darum macht er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens gewiss und von Herzen willig und bereit, ihm forthin zu leben.“
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
21.n.Trinitatis 20.10.2013 Stadtkirche Johannes 15,9-12 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 21.n.Trin. - 20.X.2013
Johannes 15 , 9-12
Liebe Gemeinde!
Wer kann schon in der Liebe bleiben?
Die Liebe ist doch so klein, dass man sie andauernd übertritt, so wie die Kinder, die über die Pflastersteine hopsen und dabei nicht auf die Fugen geraten dürfen.
Kaum hat das Spiel begonnen, landet man im Eifer sofort auf der verbotenen Grenze.
Wenn wir alle heute, nur an diesem Sonntag dieses Spiel spielen wollten, … dass wir uns einen Nachmittag lang vorsehen, wirklich in der Liebe zu bleiben und – unachtsam wie wir sind – die Lieblosigkeit wirklich nicht zu streifen, … was glaubt Ihr wohl, wie lange das Spiel gut ginge, ja, wie lange es überhaupt ein richtiges, fröhliches und sportliches Spiel wäre?
Wahrscheinlich keine drei Stunden.
Irgendeine Laus läuft uns garantiert über die Leber. Irgendein Gedanke, ein Zufall, eine Provokation, ein Blick, ein Haar in der Suppe, ein Stich im Herzen und das Spiel ist verloren: In der Liebe zu bleiben, geht nicht, oder aber es wird zum schrecklich verbissenen Krampf.
Schließlich – so sagte es eine Urgroßtante immer mit herzhafter Überzeugung und spürbarem Ekel vor allem Süßlichen – „schließlich will die Galle auch etwas haben!“ – Sonderbarerweise liebte ich die, die das sagte gerade wegen ihrer galligen, grundwahrhaftigen Unliebenswürdigkeit ganz besonders. —
Aber auch wenn wir nicht jene gezuckerte, klebrige Liebe meinen, die für viele Menschen aus den Gebärden und Redewendungen, aus den Liedern und dem Lächeln frommer Christen wie Sirup heraussuppt, selbst wenn wir uns die Liebe als die klare, helle, ernste Macht denken, die sich durch Ärger und Hass nicht selbst beflecken und beschmutzen lassen will, selbst wenn wir uns unter der Liebe die Höhenluft der Weisheit und den belastbaren Herzmuskel eines zum Dienen entschlossenen freien Menschen denken, selbst wenn die Liebe also nichts mit Kitsch und alles mit geistiger Übung und Haltung zu tun hat, ……. selbst dann können wir nicht in der Liebe bleiben – oder ……. ?
Nein, nicken wir traurig.
Nein; das ist wirklich schade.
Leider, leider müssen wir einsehen, dass wir die Liebe andauernd übertreten und verlassen und vergessen. Es geht einfach nicht. Funktioniert nicht. Zu viel anderes kommt dazwischen; zu verschieden sind die beruflichen und die geschäftlichen und die öffentlichen Sachen, die uns betreffen, von dem kleinen Bereich, den die Liebe darunter einnehmen kann. ————
……. So, so!
Wo habt Ihr das denn gelernt, lieber rechter und linker Stirnlappen im christlichen Dickschädel? Die Liebe ist also so schmal und eng begrenzt, sie ist so ein eingehegtes Feld, dass man – um freie Schritte zu tun und richtige Bewegungen machen zu können – immer wieder drauftrampeln und dann jenseits des Zaunes ohne Rücksicht wie die Wildsau wüten muss?!
Dann sag mir nur das eine, liebe Seele: „Wo endet die Liebe?“
– Das ist eine andere Frage als die, wie lange Du in der Liebe bleiben kannst.
Denn natürlich hältst Du Dich selbst für groß, liebe Seele. Für so groß, dass Du mit Deinen raumgreifenden Ansprüchen viel mehr Platz brauchst als nur das schmale Gebiet der Liebe.
Du bist so groß, dass Du neben der Liebe auch die Bewunderung brauchst; und dann willst Du natürlich auch dort Dich entfalten, wo man Dir respektvoll begegnet, und Du brauchst auch Bereiche, in denen Du wirklich nur nach den eigenen Bedürfnissen handelst, und ab und an willst Du auch auf jenem steilen Felsen stehen, der gar nichts mit der Liebe zu tun hat, sondern sie turmhoch überragt: der Felsen, auf dem für Dich „Sieg, Triumph, Egoismus“ eingemeißelt ist. ……. So groß bist Du, Menschengeist! So viel Platz brauchst Du! So weit musst Du über die Liebe hinausgehen, um Dich ungehindert zu entfalten.
Nur vergiss nicht: Die Frage war nicht, für wie groß Du Dich hältst, sondern wie groß wohl die Liebe ist? Zeig mir die Grenzen der Liebe!
Soll man denn wirklich glauben, dass man der Liebe davonklettern könne: Hoch hinauf auf die Wolkenkratzer der menschlichen Selbstüberschätzung und schon spuckst Du hinunter auf die Ameisenstraße der Liebe?
Vielleicht wenn die Rede von dem ist, was wir in unserem Herzen und unserem Verstand zulassen und aufbringen. Dann kann man schnell an’s Ende der Fahnenstange kommen und – so wie wir zu Beginn – feststellen, dass das geringe Liebesvermögen des Menschen manchmal schon gestreckt werden muss, wenn es nur weiter als bis zur eigenen Nasenspitze reichen soll.
Aber zum dritten und letzten Mal: Verwechseln wir doch die Dinge nicht!
Jesus ruft uns auf, in seiner Liebe zu bleiben!
Und was seine Liebe betrifft: Da kann man sich ins All schießen lassen – so wie unser Psalm (1398) vorhin es sagt –, … man kann sich in Türmen verschanzen, man kann sich in Bunkern verkriechen, man kann Stacheldraht vor das eigene Herz legen, sich einigeln in bitterbösem Zynismus, man kann seine Welt verspiegeln, bis man nur noch sich selbst sieht, man kann kopfüber in einen Abgrund der Gemeinheit und Kälte tauchen, man kann sich mit Technik oder mit Dummheit gewappnet aufführen wie ein Außerirdischer, den die Menschheit nichts angeht: Aber in alledem bleibt man dennoch immer und überall, wirklich überall und immer umgeben von jener Liebe, die grenzenlos ist.
Das ist die erstaunliche, für uns hinter allem Kitsch und aller Süßigkeit, hinter aller Gewöhnung allzu verschwommene Urbotschaft des Evangeliums: ER hat uns zuerst geliebt (1.Joh419).
Ehe wir liebenswürdig, ehe wir gut waren, ehe wir vielversprechend, ehe wir auch nur bedürftig waren: Gottes Liebe war da.
Niemand musste sie wecken, niemand musste sie locken. Sie war da und sie bleibt. Weil sie eben nichts Vorübergehendes, nichts Begrenztes in der Zeit, sondern Gottes tiefstes Wesen, Sein Geheimnis und Seine Vollkommenheit ist.
Sie ist Himmel und Erde. Gottes Liebe ist unsere Vergangenheit und Zukunft. Sie ist der Stoff, aus dem Blut und Fleisch, Haar und Haut hervorgingen; sie ist das unstoffliche Mittel, das Geist und Erkenntnis, Sprache und Kultur in uns weckt.
Gottes Liebe steckt im Blatt am Baum und im Eiszapfen an der Traufe. Gottes Liebe sprüht im Licht der Galaxien und schlummert im Atom. Das Mikroskop und das Teleskop lassen uns jeweils etwas von ihrer Größe ahnen. Gottes Liebe ist das Elementarteilchen des Kosmos und die Formel des Universums.
Zeige mir ihre Grenze! ….. Wenn Du das aber nicht kannst, wie willst Du sie dann verlassen?
Loswerden? Leugnen und Vergessen?
Wie willst Du es anstellen, nicht in Seiner Liebe zu bleiben?
Da wird es nun eng! Nicht die Liebe ist das, was knapp und selten ist, so dass man in ihr keinen Raum hätte zu leben, zu denken, zu fühlen und ihr zu entsprechen.
Nein. Die Liebe ist riesig. Gottes Liebe ist universal. Endlos. A und Ω.
Aber eng wird es, wenn man das Schlupfloch sucht.
Für manche von uns – die, die allergisch sind gegen den Honig des Christentums, denen das zu viel Gefühlsduselei, zu viel Trallala, zu viel Sentimentalität ist – für manche von uns, wird es klaustrophobisch, wenn die Liebe so allumfassend, so allgegenwärtig geschildert wird.
Sie spüren es – und spüren es zurecht –, dass es dann tatsächlich nicht mehr einfach möglich ist, sich auf seine Unempfänglichkeit herauszureden, so als sei das Lieben etwas für die wenigen, weichlichen Spezialisten, die obendrein auch noch einen Blumenstrauß richtig herum in eine Vase stellen und ein Kind trösten können und anderen Mädchenkram.
So einfach geht es nicht, abzuwinken und sich auf Wichtigeres zu berufen, wenn es um die Liebe geht.
„Stört mir meine Kreise nicht mit dem albernen Liebhaben!“, das kann man schlecht sagen, wenn man wirklich mitten in der Liebe sitzt und sich hüben wie drüben nichts anderes zeigt.
Es wird eng, wenn man der Liebe entkommen will!
……. Oder hör doch auf zu atmen, wenn Du die Luft nicht nötig hast!
Doch musst Du schließlich atmen: Auch wenn Du eigentlich nicht bereit bist, die selbe Mischung einzusaugen, die der leprakranke Inder auf seinem Müllberg und die drogenabhängige Göre, die Dir die Autoreifen zersticht, schon inhaliert und ausgeschnauft haben.
Du kommst nicht umhin, vom gleichen Sauerstoff zu leben wie alle anderen Geschöpfe, hoch und niedrig, recht und schlecht auch.
Nun aber sind Luft und Liebe eben wirklich nicht zufällig im Volksmund so sprichwörtlich vermählt. Denn mit der selben Notwendigkeit, mit der Du atmest, musst Du auch lieben, ob Du’s willst und glaubst oder nicht.
Die Liebe ist ein Gebot. Sie ist das göttliche Gebot schlechthin.
Obwohl uns das so unwahrscheinlich vorkommt und so widersprüchlich, weil wir alle von der Freiheit der Liebe, vom Festival der Liebe und von ihren überflüssigen, dekadenten Nebenerscheinungen einen getrübten Blick und ein vernebeltes Verständnis haben.
Allerdings: Die Liebe, die der Schlager besingt und die für uns eine Laune ist, ein Privatvergnügen, eine ganz individuelle Neigungssache – die ist in Wirklichkeit parfümierte Luft aus der Spraydose. Eine Liebe, die uns passt, eine Liebe nach unserem Geschmack, Liebe im perfekt zugeschnittenen Format nach eigenen Vorstellungen, die ist ein Kunstprodukt. Sie ist tatsächlich für den einen wichtig, weil er genussvoll davon abhängig ist, wohingegen ein anderer völlig immun dagegen bleibt. Sie hat mit Höflichkeit und mit Erotik, sie hat mit Familiensinn und Charme, sie hat mit Mitteilungsbedürfnis und mit Herzenswärme zu tun. Sie ist tatsächlich frei und wird jedermanns Pläsier und Eigenart folgen.
Aber die Liebe, mit der Gott uns umgibt, die Liebe, durch die wir Geschöpfe sind, die Liebe, die den Rahmen der Welt steckt, die Liebe, die den sündigen Menschen unfehlbar begleitet durch alle seine Katastrophen und Gerichte, die Liebe, die den Menschen nicht loslässt, auch wenn er seine Seele verkauft und zerstört, die Liebe, die triumphiert über alle Feinde der Menschheit – vor allem also: über den Menschen – die Liebe, die kein Ende hat, die bleiben und vollenden wird, wenn alles andere zerstört und vergeht, die große, große Liebe, die Jesus heißt und Gott ist: Die steht uns nicht frei. Die ist die erste und entscheidende Tatsache.
Die ist notwendig, weil alle Dinge eher zunichtewerden könnten, als dass diese Liebe sich auflöst. In dieser Liebe leben, weben und sind wir. In ihr suchen und sündigen wir, … versündigen uns an ihr und erfahren ohne unser Bitten und Verstehen Gnade und Vergebung.
Diese Liebe ist da. Fakt. Grund. Gesetz.
Ja doch! Diese Liebe ist das Gesetz, unter dem wir stehen: Und wenn wir uns noch so wundern, ob denn Liebe geboten sein kann! Sie ist das notwendige Gebot, das uns überhaupt leben lässt. Wer dieser Liebe nicht Folge leistet, der ist ein Selbstmörder, genau wie jeder, der zu atmen aufhört.
Es hat also mit süßlichem Kitsch nichts zu tun und mit weltfremder Weichheit ebensowenig, wenn wir von Jesus das Doppelgebot hören: Bleibt in meiner Liebe und liebt!
Sondern es heiß einfach: Werft Euer Leben als Menschen Gottes nicht weg! Lebt, atmet und handelt so, dass Ihr nicht in die Zerstörung aller Dinge, nicht in die Selbstvernichtung, nicht in den Tod lauft!
Genauso wie Ihr Luft holt, sollt Ihr meine Jünger sein und mit mir und dem Vater selbst das Eine Notwendige teilen: Die Liebe.
Lieben wie Atmen: Nicht bei jedem Schritt auf die Kästchen und ihre Grenzen achten. Nicht krampfhaft oder verspielt darüber nachdenken.
Sondern es einfach – weil Ihr Jesus gehört – als das Natürlichste, als das Beste, als den Grundvorgang des wirklichen Lebens tun: Immer, überall. Selber daraus schöpfen und es selbstlos, selbstverständlich wieder weitergeben.
Wie den lebendigen Odem.
Lieben und in der Liebe bleiben!
Dann wird eure Freude vollkommen.
Amen!
20.S.n.Tr., 13.10.2013, Mk.2,23-28, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Text: Mk.2,23-28
„Gast sein einmal / Nicht immer selbst seine Wünsche / bewirten mit kärglicher Kost. / Nicht immer feindlich nach allem fassen; / einmal sich alles geschehen lassen / und wissen: Was geschieht, ist gut." (Rainer Maria Rilke, Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke)
Treffender kann die Festtagsstimmung einer Sabbatfeier in einer jüdischen Familie nicht beschrieben werden, liebe Gemeinde. Am Sabbat, dem 7.Schöpfungstag, ist es nach den Worten jüdischer Gelehrter verboten zu fasten. Geheiligt werden soll der Sabbat vielmehr „durch Essen und Trinken und das Thorastudium". Die Sabbatmahlzeiten sind darum Festessen: Der festlich geschmückte Tisch mit dem Sabbatleuchter, den beiden frisch gebackenen Broten, den Challoth, die an die doppelte Menge Manna in der Wüste am sechsten Tag erinnern, der funkelnde Wein in den Gläsern, die vollen Schüsseln, das Singen der Festtagslieder, die Lesungen aus der Heiligen Schrift, alles erinnert am Sabbat daran, dass der Mensch als ein von Gott reichlich beschenkter eingeladen ist, sich an seinem Leben zu freuen, das Leben zu genießen. Den Sabbat feiern heißt: Leib und Seele zu erquicken, das Leben und in ihm Gottes Liebe und Fürsorge dankbar zu feiern.
Doch schon damals, zur Zeit Jesu, waren die Tische ungleich gedeckt: Während die einen aus übervollen Schüsseln schöpften, lebten viele am Rande absoluter Armut. Und zu denen gehörten auch die Jesusleute. Im Klartext: Sie schoben Hunger, nicht nur von Sonntag bis Freitag, sondern auch am Sabbat. Davon berichtet der Predigttext für den heutigen Sonntag:
„Und es begab sich, dass Jesus am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen.
Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?
Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren:
wie er in das Haus Gottes ging zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren?
Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.
So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat."
Den Hörerinnen und Hörern damals haben sicher die Ohren geklingelt: Ja, mit Jesus ist das Reich Gottes bereits angebrochen, so wie Jesus es im ersten Satz nach dem Markusevangelium sagt: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen." (Mk.1,15)
Während die Theologen noch leidenschaftlich darüber wachen, dass alle Menschen an zwei Sabbaten die heilige Sabbatruhe absolut einhalten - denn das, so glauben sie, ist die Voraussetzung dafür, dass der Messias kommt und mit ihm die Herrschaft Gottes anbricht - während sie sich mit großem Eifer um die Einhaltung der Regeln bemühen, feiert Jesus mit seinen Freunden und Freundinnen den Anbruch des Gottesreiches. Kein Wunder, dass es zum Streit kommt. Er entzündet sich am Verhalten der Jesusleute, die - um ihren Hunger am Sabbat zu stillen - durch Zerreiben der Ähren ihr spärliches Essen zubereiten und damit die Sabbatruhe verletzen.
Jesus, der sich selbst nicht an dieser „Arbeit" beteiligt, lenkt das Gespräch behutsam auf das tiefere Thema, so, als wolle er die Zuhörer davon überzeugen: Gottes Reich beginnt schon jetzt damit, dass der Hunger gestillt wird. Nicht die theologische Diskussion um die Sabbatgebote und ihre Einhaltung, sondern der Hunger der Armen ist jetzt das Thema. Auf den Punkt gebracht: ein knurrender Magen, dazu noch am Sabbat, entspricht nicht dem Willen Gottes. Das, so argumentiert Jesus, wird schon bei dem großen König David deutlich. Als er auf der Flucht vor Saul mit seinen Leuten in Bedrängnis geriet und sie nichts mehr zu essen hatten, da war er so frei, die Schaubrote aus dem Heiligtum zu nehmen und zu essen. Er verletzte damit ein religiöses Gebot - und doch: waren es nicht Brote, die anzeigen sollten, dass Gott den Hunger der Menschen stillt? Und er und seine Leute, sie hatten einfach Hunger ....
Es kann und darf darum kein Gebot geben, dass die Stillung des Hungers am Sabbat verhindert oder gar verbietet, denn Hunger verletzt die jedem Menschen von Gott zugesprochene Würde, die wir am Sabbat feiern. Der Hunger der Armen ist die Herausforderung, vor die Gott uns stellt. Gottes Gegenwart feiern, seine Zuwendung zu uns Menschen und den Hunger dulden, das schließt sich aus.
Wir erfahren nicht, ob sich die Gesprächspartner Jesu damals auf das Thema Hunger und Armut eingelassen haben. Vermutlich sind sie enttäuscht und verärgert weggegangen. Sie hätten viel lieber über den Sabbat diskutiert als über das unangenehme Thema Hunger und Armut. Sie hätten lieber über Gott in seiner Herrlichkeit und Größe gesprochen, über Theologie, statt über den Menschen in seiner sehr irdischen Not aufgrund von ungerechten Verhältnissen, statt über Politik und wirtschaftliche Strukturen. Doch Jesus versteht sich ganz als Anwalt des Menschen: „Der Menschensohn ist ein Herr auch über den Sabbat." Jedes Gebot, jede Regel ist daraufhin zu befragen, ob sie dem Menschen dient - und zwar gerade denen, die in Not sind. Für Jesus war klar: der Hunger der Armen, die Not der Ausgegrenzten stehen im Mittelpunkt von Gottes Interesse.
Was, liebe Gemeinde, ist heute für uns als Christen das zentrale Thema? Gleich in der Gemeindeversammlung, da geht es - um uns. Da beschäftigen wir uns mit der Standortplanung 2020/2030. Das mag alles seine Berechtigung haben. Aber vielleicht sollten wir einmal in uns gehen und uns - jeder für sich - fragen, warum wir allenthalben den Eindruck haben, als Kirche nicht mehr anders wahrgenommen zu werden wie ein x-beliebiges Unternehmen, das zwar einmal eine große Vergangenheit hatte, innovativ in die Gesellschaft hineingewirkt hatte, aber irgendwie den Anschluss an die gesellschaftlichen Entwicklungen verpasst hat und deshalb der Bedeutungslosigkeit bzw. der Insolvenz entgegenschliddert. „Leuchttürme" sollen her, Events, die uns als Gemeinden attraktiv machen, uns Zulauf bescheren.
Doch: wofür werden wir gebraucht? Wofür braucht Gott uns - als seine Haushalterinnen und Haushalter in der Nachfolge Jesu? Nein, als Eventmanager braucht er uns nicht. Aber als Anwälte für die, die in Not sind, die unter die Räder der wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen gekommen sind. Die ausgegrenzt werden im Großen wie im Kleinen. In unserer Gesellschaft wie weltweit. Ich denke an die Menschen in so vielen Regionen Afrikas, die hungern und ohne jede Zukunftsperspektive keine andere Hoffnung haben, als sich kriminellen Schleppern anzuvertrauen für einen Platz in einem kaum seetüchtigen Boot, um die Überfahrt von Afrika nach Europa zu wagen. Nach Europa, dessen führende Politikerinnen und Politiker so viel Wert darauf legen, dass es das christliche Abendland ist, dessen christliche Werte verteidigt werden müssen.
Eine Schande sei es, dass das christliche Europa es zulässt, dass ungezählte Flüchtlinge oft in Sichtweite der rettenden Küsten im Mittelmeer oder auch im Atlantik vor den Kanaren ertrinken, ließ ein sichtlich erschütterter Papst Franziskus sich angesichts von wieder weit mehr als dreihundert Toten vor Lampedusa in der letzten Woche hören. (Inzwischen sind weitere Boote gekentert, dutzende Menschen - Menschen wie du und ich - ertrunken.) Ebenso äußerte sich der Ratsvorsitzende der EKD Pfarrer Nikolaus Schneider. Gesetze müssten dringend auf den Prüfstand, die eine wirksame Hilfe verhindert hätten, forderte der italienische Staatspräsident betroffen. Allerdings, wie diese Hilfe aus der Sicht viel zu vieler dann aussehen soll, wurde sehr schnell deutlich: die Frontex-Einheiten sollten verstärkt werden, die Abschreckung erhöht, um potentielle Flüchtlinge von der Flucht abzuhalten. Geld soll eingesetzt werden, um die Elenden abzuwehren, nicht um das Elend von ihnen zu nehmen. Und dann konnte man auch hören, was man immer bei solchen Anlässen zu hören bekommt: wir in Europa können doch nicht Millionen Armutsflüchtlinge aufnehmen, uns ginge es doch selbst nicht gut. Wir sind ja schon völlig überfordert mit den Armuts-Migranten aus Bulgarien und Rumänien, mit den Roma und Sinti, die sich auf den Weg in den Westen gemacht haben.
Liebe Gemeinde, ich weiß, das sind unangenehme Themen, die wir uns alle lieber vom Leibe halten. Da sollen die Politiker doch machen; aber wenn sie dann wahrhaftig einmal die christlichen Werte als Maßstab ihres Handelns nehmen würden, dann würde die Mehrheit des Wähler in ganz Europa bei der nächsten Wahl - egal ob in Deutschland, Italien oder Dänemark - zu rechtspopulistischen Parteien überlaufen.
Nein, liebe Gemeinde, christliches Handeln können wir nur dann von den Politikern erwarten, wenn wir es selbst für uns wollen. Gott braucht uns, jeden von uns, als Anwälte für die, die Not sind. „Wer sich des Armen erbarmt, der ehrt Gott", heißt es in den Sprüchen Salomos (14,31). Und der Prophet Jeremia schreibt: „Er half dem Elenden und Armen zum Recht, und es ging ihm gut. Heißt dies nicht, mich erkennen? spricht der Herr." (Jer.22,16)
Wer sich dafür einsetzt, dass die Armen und Elenden zu ihrem Recht kommen, der braucht um sich und sein Ergehen keine Angst haben, sondern der wird daraus für sich einen Gewinn ziehen. Gutes Leben, ein Leben in der Nähe Gottes und Einsatz für Recht und Gerechtigkeit schließen sich nicht aus, sondern gehören zusammen. Es ist genug für alle da, für jeden und jede so viel, wie er oder sie braucht. Das gute Leben wartet darauf, von uns entdeckt zu werden. Was wir brauchen ist der Mut, Gott und seiner Verheißung zu trauen. Doch wir glauben eben vielfach nicht mehr, dass aus der Gemeinschaft einer Teilhabe aller Bedürftigen am Geschenk des Lebens etwas Zukunftsträchtiges und Gutes wachsen kann. In Europa glauben wir vielmehr in eine ganz andere Richtung: wir versuchen unsere großen und kleinen Probleme - zu Hause, in Deutschland, in Europa und weltweit - nicht durch Teilen zu lösen, sondern durch Zuteilen aus dem erwarteten Zuwachs, immer mit Blick auf den eigenen Vorteil.
Reichtum und Armut, Überfluss und Hunger, sie sind nicht gottgewollt, sondern menschengemacht. Reichtum hier und Armut dort; in unserer eigenen Gesellschaft genauso wie weltweit - sie gehören zusammen.
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Gottes Wille aber ist, dass alle zusammen gut leben sollen. Und dazu braucht er uns. Nicht als Leuchttürme, aber als Lichter, die die Dunkelheit erhellen und als Salz der Erde. Sein Geist möchte uns den Mut schenken, unsere eigenen Sorgen und Ängste, die uns angesichts der Nöte so vieler Menschen auf dieser Welt die Luft zum Atmen nehmen wollen, loszulassen und das Wagnis des Glaubens einzugehen und den Weg des Teilens einzuschlagen. Und da gilt, was Jesus sagt: wer viel hat, von dem wird viel gefordert werden - jedenfalls mehr als von dem, der wenig hat. Um die ungerechten Verhältnisse hin zum Reich Gottes zu verändern, braucht es ein Umdenken, eine Umkehr, zu der Jesus uns eingeladen hat.
Liebe Gemeinde, dann kann wirklich Großes geschehen.
Dann kann aus Verzweiflung und Perspektivlosigkeit dort, aus Sorgen und Ängsten hier Hoffnung und Aufbruch, Erneuerung und Befreiung werden. Unsere Gemeinde - gerade in der Verbindung mit den diakonischen Werken, sofern diese sich auf ihre Wurzeln, ihren Ursprungsgeist besinnen - , sie könnte doch ein Ort für solche Träume und Perspektiven werden, eine Geburtsstätte gemeinsam entwickelter Hoffnungen. Um zum Beispiel die dringenden Fragen anzugehen, wie Arbeit und Einkommen so verteilt, wie Geld so eingesetzt wird, dass alle aufatmen können; sinnvolles, gutes Leben hängt nicht in erster Linie von der Höhe des Einkommens ab. Wie schaffen wir ein Arbeitsklima, ein Miteinander, das jeden gerne seine Fähigkeiten zum Wohl des Ganzen einbringen lässt? Wo die Höhe des eigenen Einkommens nicht mehr das alles entscheidende Kriterium ist, sondern Erfüllung in der Arbeit, ein vertrauensvolles Miteinander auf Augenhöhe und genügend Zeit, für die Familie, für Angehörige da zu sein, sich kirchlich, sozial oder politisch zu engagieren mindestens genauso wichtig sind. Kirche, Gemeinde als Geburtsstätte gemeinsam entwickelter Perspektiven, die aufatmen lassen.
Ja, dazu braucht uns Gott. Da sind wir unverzichtbar.
Und dazu möge uns Gott segnen.
Amen.
Erntedank, 06.10.2013, "Soviel du brauchst", Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
„So viel du brauchst - Wie viel und was brauche ich denn?" Ex.16,2-18
Liebe Gemeinde, heute, am Erntedanktag, möchte ich noch einmal zurückblicken auf das Thema des Kirchentages in diesem Jahr „So viel du brauchst." Eine kurze Sequenz aus dem 2.Buch Mose, aus jener Geschichte, die wir gerade als Lesung gehört haben.
Erntedank - das soll einmal nicht ein Dank für die überfließende Fülle an Erntegaben sein, weshalb wir in diesem Jahr auch weniger Gemüse und Obst als Dekoration und Altarschmuck in der Mutterhauskirche vorfinden.
Erntedank - das soll unser Denken beflügeln, unser Nachdenken darüber, wie viel und was wir eigentlich brauchen - um zu leben, um glücklich und dankbar zu leben. Und gerade da kann uns die Geschichte des Volkes Israel auf die Spur bringen.
Israel ist auf dem Weg ins Gelobte Land. Ein Land, in dem Milch und Honig fließen sollen, so jedenfalls erzählt man es sich in den Zelten. Dort sollen sie frei leben können. Doch noch ist man unterwegs durch unwirtliches Gelände, durch Wüste und Steppe. Die Vorräte, die man aus Ägypten mitgenommen hatte, sind aufgebraucht. Man ist frei, aber die Menschen haben Hunger. Sie haben Angst, zu verhungern. Und machen dann die Erfahrung: Gott hat sie nicht vergessen. Sie bekommen, was sie brauchen: Manna - an jedem Morgen für jeden Tag so viel wie jeder und jede braucht. Und hin und wieder auch Fleisch, z.B. von Wachteln. 40 Jahre dauerte der Weg ins Gelobte Land, der Weg aus der Sklaverei in Ägypten in ein selbstbestimmtes, freies Leben in Kanaan. 40 Jahre lang eine Schule der Freiheit. Und dazu gehörte als Grund- und Pflichtfach die Lerneinheit rund um das Manna.
Der erste Lernschritt lautet: Jeder sammele, soviel er braucht.
Jeder und jede soll aktiv werden; da sammelt nicht die Mutter für die Kinder oder der Mann für die Frau oder die Kinder für die Eltern. Da sammeln auch nicht die armen Leute der unteren Schichten für die Reichen und Bedeutenden; nein: jede und jeder sammelt.
Was können wir daraus lernen?
Das, was uns alle miteinander am Leben hält, ist von Gott her ausgestreut, ist Geschenk des Natur, Geschenk des Lebens. Jedem ist es angeboten und jeder kann es nehmen, um sein Leben zu erhalten und zu gestalten.
Die Propheten Israels haben daraus geschlossen: Gott möchte, dass z.B. der Ertrag des Weinbergs dem zugutekommt, der darin arbeitet, nicht demjenigen, der sich den Weinberg als Besitz angeeignet hat. Jeder soll von seiner Hände Arbeit leben und leben können.
Der zweite Lernschritt lautet: Jeder sammele, soviel er oder sie braucht.
Da heißt es nicht: jeder sammele 2 Kilogramm. Es geht nicht darum, dass jeder das gleiche sammelt, gleich viel, sondern jeder nach seinem Bedarf. Gott möchte, dass jeder das durch seiner Hände Arbeit bekommt, was er zum Leben braucht. Und die Bedürfnisse sind einfach unterschiedlich.
Was können wir daraus lernen?
Dass die Bedürfnisse unterschiedlich sind, das betrifft nicht nur die schiere Menge des Essens. Das betrifft alle Bereiche unseres Lebens. Gewiss, es gibt elementare, allgemeine Grundbedürfnisse, die jeder hat: jeder Mensch braucht Nahrung und sauberes Wasser zum Trinken; und jedes Kind braucht, um heranwachsen zu können, die nötige Fürsorge - am besten durch seine Eltern - , es braucht Ansprache, um überhaupt überleben zu können. Das weiß man spätestens seit dem in der Tat makabren Experiment von Kaiser Friedrich II., der - weil er herausfinden wollte, was die Ursprache des Menschen ist, den Ammen, die sich um neugeborene Waisenkinder kümmerten, verbot, mit ihren Zöglingen zu sprechen. Alle Kinder starben, bevor sie noch ein Jahr alt waren.
Nahrung, Wasser, Ansprache - Grundbedürfnisse, die jeder hat. Die darüber hinausgehenden Bedürfnisse können sich aber sehr voneinander unterscheiden. Kleidung mag für uns ein Grundbedarf sein. Ein Sadu-Yogi einer bestimmten religiösen Richtung des Hinduismus würde das weit von sich weisen. Er verbringt sein Leben nackt.
Ohne Literatur, ohne Zugang zu Büchern hätte ein Marcel Reich-Ranicki nicht überlebt, hätte nicht leben können. Andere brauchen Sport, um Mensch zu sein. Oder die Musik.
„So viel du brauchst" - das Motto des Kirchentages fordert dazu auf, sich selbst Rechenschaft darüber zu geben, was und wie viel ich denn brauche, um glücklich und dankbar zu leben. Welche individuellen Grundbedürfnisse ich habe, was ich unbedingt brauche - was natürlich auch heißt, sich darüber klar zu werden, was alles zum Überfluss gehört, auf den ich durchaus verzichten könnte.
Einmal abgesehen von meinem Mann und unserem Dackel, ohne die ich mir mein Leben gar nicht vorstellen kann, gehören für mich zum Beispiel Bücher, so richtige aus Papier, einfach zum Leben. Aufs Fernsehen könnte ich viel eher verzichten als aufs Radio. Ein Smartphone hab ich nicht und brauche ich nicht, aber auf die Möglichkeit, mich jeden morgen warm zu duschen, möchte ich nicht verzichten müssen. Wobei ich weiß: für unzählige Menschen ist das ein unerreichbarer Luxus. Und so gerne ich mich mit anderen unterhalte, ich brauche auch die Einsamkeit von Spaziergängen, in der ich meine Gedanken laufen lassen kann.
Ich habe andere Gemeindeglieder gebeten, darüber nachzudenken, was sie ganz konkret brauchen - materiell und ideell - und uns an ihren Gedanken teilnehmen zu lassen.
(Beiträge von Bettina Alzner, Anne Klaemmt und Ingrid Bohlinger)
So viel du brauchst. Jeder braucht Unterschiedliches in Art und Menge. Entscheidend ist aber, dass jeder nicht nur auf sich und seine Bedürfnisse achtet, sondern auch darauf, dass der Mitmensch in der Nähe wie in der Ferne auch die Chance hat, seine Bedürfnisse zu erfüllen. Die Erfüllung meiner Bedürfnisse geschieht nämlich immer im Zusammenhang mit den Bedürfnissen anderer Menschen. Diese Erde hat unwahrscheinlich reiche Gaben für uns bereit; das hat Gott so gewollt. Aber alles ist - auch in der Fülle - begrenzt; weil das Leben auf dieser Erde begrenzt ist. Um sinnvoll und glücklich zu leben, brauche ich nicht immer mehr, sondern einfach „genug". Das eigentliche Wunder, von dem die Geschichte mit dem Manna in der Wüste erzählt, ist das „Wunder des Genügens", das sich dann einstellt, wenn ich ganz bei mir selber bin, wenn ich das sammele, was ich brauche - nicht mit dem Blick auf den anderen, ob der vielleicht mehr hat. Und: wenn ich sammele mit dem Blick auf den heutigen Tag, nicht voller Sorge für Morgen und Übermorgen und anfange zu hamstern. In solchem Bemühen ist buchstäblich der Wurm drin (siehe Ex.16,19f).
Dem christlichen Glauben machen ja viele den Vorwurf, er würde alle auf die Ewigkeit vertrösten. Eigentlich ist es umgekehrt: der Mensch, der Gott vertraut, soll frei werden, ganz hier und heute zu leben und zu tun, was heute getan werden muss, um miteinander auf dieser Erde in Gerechtigkeit und Frieden und mit Freude zu leben. Dabei können wir entdecken, dass es oft überraschend wenig ist, was glücklich macht. Ohne dass wir knausern und kargen müssen.
Gott ist kein Asket. Jesus war es auch nicht. Und wir dürfen auch mit gutem Gewissen immer wieder aus der Fülle leben, uns nehmen, was wir wirklich brauchen.
In den Gleichnissen Jesu lädt Gott immer wieder zu großen Gast- und Festmählern ein. Das Abendmahl will uns auch daran erinnern. Gott deckt uns den Tisch des Lebens mit allem, was wir brauchen. Hier vorne im Altar steht heute solch ein Tisch. Darauf liegt ein Brot - Zeichen für den Grundbedarf an Nahrung, den jeder Mensch hat, weshalb das Brot ja auch geteilt werden muss. Dann steht da ein Krug mit Wasser - Wasser , das Zeichen des Lebens; der Zugang zu sauberem Wasser ist ein Menschenrecht und eine der größten Herausforderungen an uns alle. Brot und Wasser - sie stehen für das Lebensnotwendige, das wir alle brauchen. Aber es steht noch mehr auf dem Tisch. Nämlich ein Krug mit Wein bzw. mit rotem Traubensaft und eine Flasche Öl. Sie sind in der biblischen Tradition Zeichen für alles das, was unser Leben so richtig schön und festlich macht. Auch dazu sind wir von Gott eingeladen. Und noch etwas findet sich: ein Schälchen mit Salz. Das Salz will uns daran erinnern, dass wir in der Nachfolge Jesu eine Aufgabe haben, nämlich Salz der Erde zu sein, die Schöpfung zu bewahren und für Gerechtigkeit, für Gemeinschaftsgerechtigkeit zu sorgen, dass eben alle Menschen die Chance haben, satt und froh zu werden an dem, was Gott uns aufgetischt hat.
Amen.
Erntedank 06.10.2013 Stadtkirche Matthäus 6,19-21 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth
Familien- und Taufgottesdienst zu Erntedank / Silbernes Dienstjubiläum von Kantorin Susanne Hiekel - 6.X.2013
Matthäus 6, 19-21
Liebe Gemeinde!
Eine nicht unbedingt philosophische, aber wahrhaftig ziemlich entscheidende Frage der Menschheit ist die altbekannte Alternative: Haben oder Nicht-Haben?
Und zunächst scheint es ja immer, als sei das Erntedankfest eine Art Antwort auf diese Frage: - Wenn Haben, dann Danken! Und wenn Danken, dann Teilen!
So können wir ¾ der Botschaft dieses Tages zusammenfassen. Was man hat, das kommt vom Segen und wer den Segen Gottes erkennt, der muss ihn weitergeben. —
Aber an diesem Feiertag der Habenden, die in die Scheune gucken oder in die Tiefkühltruhe oder auf den Kontoauszug und sehen, wie reich gesegnet sie mal wieder sind, an diesem Feiertag der Habenden kommt Jesus uns – wie so oft, aber vielleicht nicht oft genug – dazwischen und sagt:
Ätsch! Es ist bestimmt beruhigend und es ist noch viel bestimmter ein Grund Gott zu loben und anderen Menschen Speis und Trank und Hilfe zu geben, wenn wir den Segen der Felder, die Geschenke der fruchtbaren Erde und des guten Wetters, die Früchte des Glücks und des Fleißes ernten und sammeln dürfen aber.
Aber – hier kommt das Ätsch! – aber, sagt Jesus, alles, was man auf diese Weise zusammenkriegt und festhält, das geht rasend schnell wieder verloren. Das eine verbraucht Ihr und das andere verbrauchen andere, manches schimmelt und anderes verfault, hier wird ’was geklaut und da geht ’was verloren, und bald ist gar nichts mehr übrig von allen kostbaren, mühsam erworbenen, sündhaft teuren und bitter begehrten, beneideten und verteidigten Dingen.
Das ist eine Erfahrung, die jeder von uns schon gemacht.
Unsere Habe – um die sich oft das ganze Leben drehen will – ist ein Blatt im Wind. Sie löst sich auf oder schmilzt, sie veraltet und gefällt niemandem mehr, sie belastet uns mit Sorgen und die ganze Gier und Freude nutzen sich viel schneller ab, als man meinen sollte.
Ich kannte früher einen alten Mann, einen Deutschen aus Rußland, der von seinem Großvater eine wunderbare Geschichte in Erinnerung behielt.
Dieser Großvater hatte vier Söhne, zu der Zeit, als es den Deutschen an der fruchtbaren Wolga noch herrlich ging.
Darum nannte der Großbauer seine Söhne nach den Königen der vier großen Völker: David für das heilige Volk Israel, Alexander für das griechische Weltreich, Nikolaus für den Zaren und Wilhelm für den Kaiser auf dem deutschen Thron.
Aber David, Alexander, Nikolaus und Wilhelm Henze wurden vom Krieg, vom I.Weltkrieg weit von ihrer Heimat fortgespült und ihr Vater hatte kaum noch Hoffnung für sie.
Er selbst konnte den Hof alleine nicht bewirtschaften, und so verkaufte er ihn – in der allerletzten Zeit, als man in Rußland noch etwas verkaufen konnte – und versteckte die vielen tausend Rubel unter den Dachbalken seines Häuschens, in dem er nur noch auf ein bitteres Alter und auf die Todesnachrichten der jungen Soldaten hinlebte. Insgeheim hoffte er natürlich, wenigstens einem der vier Burschen mit dem verborgenen Vermögen ein neues Leben nach dem grausamen Morden zu ermöglichen, ……. aber wer weiß?
Nun ahnt man, wie solche Geschichten weiter zu gehen pflegen:
Keiner kehrte von den Schlachtfeldern heim und der betrübte Vater konnte seines Geldes natürlich nicht froh werden.
Ätsch! Unfassbarerweise kehrten die Söhne einer nach dem anderen alle heim: David, Alexander, Nikolaus und Wilhelm. Grau, still, hungrig und schrecklich verändert …. aber sie waren da, lebendig.
Nur das schöne Geld, die vielen tausend Rubelchen unter den Dachbalken! Hätte man mit denen noch etwas kaufen können – aber das konnte man nicht mehr …. nun, hätte man sie wenigstens noch zählen können und erkennen, wie wertvoll der Grundbesitz, der Viehbestand einmal waren …. aber auch das konnte man nicht mehr ……:
Denn als der Vater mit zitternden Händen vor den vier mageren Soldaten auf einen Stuhl stieg und zwischen die Balken griff, da fand er zwar den Geldkasten, doch der war federleicht geworden und wo die dichtgebündelten Scheine zusammengestopft gewesen waren, da rappelte es jetzt von ein Paar Kötteln, die die Mäuse dort als Dankeschön hinterlassen hatten.
… Das Papiervermögen aus dem zusammengebrochenen Zarenreich, das hatte in den Hungerwintern des Krieges das Ungeziefer restlos gefressen!
Und dann kamen dunkle Jahrzehnte über den alten Mann und die jungen Heimkehrer. Schrecken und Leiden und Not, wie wir sie uns überhaupt nicht vorstellen können.
Sie hatten nichts mehr.
Überhaupt nichts.
Nicht mal das Schwarze unter dem Fingernagel.
Für Geld hätten sie nirgends etwas kaufen können und auf Mitleid brauchten sie nicht zu hoffen: Ärmer und gejagter und heimatloser als die Ratten und die Mäuse waren sie geworden.
Aber einen Schatz, den sie zwar nicht sahen und nicht anfassen und nicht zählen konnten, einen Schatz, den sie nicht hatten, den gab es doch.
Dieser Schatz – nochmal: den man nicht haben kann – dieser Schatz hielt sie am Leben, bis sie starben. Und als sie starben, schenkte er ihnen das Leben.
Dieser Schatz, den wir nie begreifen werden, den wir nicht gesät und nicht geerntet haben, von dem wir zehren, ohne ihn zu verbrauchen, den wir im Brot schmecken, im Wein spüren können, diesen Schatz, der aus fremden Händen kommt und nie unser Eigentum werden wird, weil er allen gehört, die ihn suchen …….: Dieser Schatz ist zehntausendmal mehr wert, als alles, alles andere.
Von diesem Schatz hören wir hier von Kindesbeinen an.
Von diesem Schatz singen alle, die in der Gemeinde singen und jubeln.
Den suchen alle, die mehr wollen, als nur etwas zu haben:
Diesen Schatz suchen alle, die leben wollen.
Die leben wollen ohne Neid auf andere, die auch leben wollen.
Ohne Sorgen, jemand könne unseren Schatz wegnehmen, fressen, stehlen, verschwinden lassen.
Unser verborgener Lebensreichtum.
Die unzerstörbare Grundlage für alles, was es gibt und geben kann.
Das Geheimnis der sichtbaren und der unsichtbaren Fülle.
Die Antwort, die mehr als ausreicht auf die Frage: Haben oder Nicht-Haben.
Denn dieser Schatz, den niemand haben kann und der doch allen geschenkt wird und auf den alle sich freuen und für den alle danken können, der wird heute am Erntedankfest, heute am Anfang eines neu getauften Christenlebens, heute mitten aus dem Dienst der singenden und Leib und Seele immer wieder aufrichtenden und stärkenden Kirchenmusik heraus gefeiert!
Wohl allen, die diesen Schatz suchen!
Aber …. wo – oder wie – oder wer ist dieser Schatz?
(Folgt die Schatzsuche der Kinder in der Kirche, die in zwei Schatztruhen den Schlusssatz zutage fördern)
Dass Glaube und Liebe und Hoffnung in uns Jesus entgegenwachsen!
Das führt ans Ziel!
Amen.
Michaelistag, 29.09.2013, "Engel", Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Thema „Engel an meiner Seite"
Liebe Gemeinde,
über meinem Kinderbett hing viele Jahre ein Bild, 30x30 cm, Öldruck. Zu sehen war ein in seinem Bett schlafendes Kind und drum herum 14 Engel, wobei die Hälfte eher Engelchen waren, sehr kindliche Gestalten. 14 Engel, die den Schlaf des Kindes bewachten. Wer denkt da nicht an das bekannte Lied aus Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel" „Abends wenn ich schlafen geh/ 14 Engel um mich stehn/ zwei zu meinen Häupten...". Und dann sangen meine Eltern abends mit mir und meinem Bruder sehr oft ein Lied vor dem Schlafengehen, in dem es auch Flügel und Engel gab „Breit aus die Flügel beide, o Jesu meine Freude, und nimm dein Küchlein ein; will Satan mich verschlingen, so lass die Englein singen: Dies Kind soll unverletzet sein." Ich erinnere mich allerdings, dass es mir immer seltsam anmutete, dass Jesus hier Flügel hat wie ein Engel; dass Jesus hier sogar im Bild der Henne gedacht ist und das Kind als Küken, habe ich erst viel später begriffen. Flügel gehörten einfach zu den Engeln. Und unter ihren Flügeln Schutz zu finden, das war eine wunderschöne, beruhigende und tröstliche Vorstellung.
Vielleicht haben Sie, liebe Schwestern und Brüder, ähnliche Erinnerungen. Für mich jedenfalls gab es Engel. Sie waren nie nur weihnachtliches Dekor. Und als ich in den Konfirmandenunterricht kam, lernte ich Luthers Morgen- und Abendsegen kennen und stellte fest: auch Martin Luther rechnete fest mit Engeln, denn er betete „Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde."
Später dann im Studium wurden mir Engel eine Zeit lang suspekt: waren sie nicht nur der Ausdruck eines völlig überholten Weltbildes? Längst hing über meinem Bett meine Konfirmationsurkunde und nicht mehr die Engelschar. Musste man da nicht auch als Glaubender einmal erwachsen werden und den ganzen Engelkram ablegen? War nicht jeder, der sich als Erwachsener noch allen Ernstes mit Engeln abgab, ein esoterischer Spinner? Denn in der Tat, in den esoterischen Buchläden der 70er und 80er Jahre boomte die Engelliteratur, wurden einem Einführungen in die himmlischen Hierarchien gegeben und Rezepte an die Hand, wie man mit seinem ganz persönlichen Engel Kontakt aufnehmen könnte. Allgegenwärtig waren Engel auch in der katholischen Kirche, nicht nur auf Bildchen wie diesem. In den Gottesdiensten wurden sie als Helfer angerufen, in den Litaneien ihre Fürsprache erbeten. Als evangelischer Christ wollte man aber aufgeklärt und vernünftig sein. Das Gedicht von Rudolf Otto Wiemer steht für solch einen aufgeklärten Protestantismus: „Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein, die Engel" ..."Sie haben kein Schwert, kein weißes Gewand. Vielleicht ist einer, der gibt dir die Hand oder er wohnt neben dir, Wand an Wand. ...Dem Hungernden hat er Brot gebracht. Dem Kranken hat er das Bett gemacht ..." War das die Lösung der Engelfrage? Die Menschwerdung der Engel? Wunderbar, wenn wir für unsere Nachbarn, für Menschen, die Hilfe brauchen, zu Engeln werden. Aber ist es das? Und vor allen Dingen? Ist uns das genug? Ich habe jedenfalls im Laufe der Jahre festgestellt: mir ist das nicht genug. Und mir sind viele begegnet, denen das auch nicht genug war.
„Breit aus die Flügel beide" - natürlich ist das für mich schon seit Jahrzehnten kein Abendgebet/-lied mehr. Aber das Lied von Dietrich Bonhoeffer „Von guten Mächten wunderbar geborgen", das ist mir in den unterschiedlichsten Situationen lieb und wert. Nein, von Engeln spricht er nicht, aber was sind die guten Mächte anderes?
Der heutige Festtag „Michaelis", der in der liturgischen Ordnung der Kirche dem Gedächtnis der Engel gewidmet ist, ist eine gute Gelegenheit, einmal über uns und unsere Vorstellungen und Beziehungen zu Engeln nachzudenken. Und zwar auf der Grundlage der biblischen Tradition.
Malach im Hebräischen, angelos im Griechischen wird übersetzt mit Bote, Engel. Der Engel ist Bote Gottes, untrennbar mit seinem Auftraggeber verbunden und nichts ohne ihn. Wenn ich im Schulgottesdienst oder Kindergottesdienst nachfragte, in welchen Geschichten Engel denn vorkommen, dann fielen den meisten die Weihnachtsgeschichte und mit Abstand die Ostererzählungen ein. Hier taucht der Engel als Verkünder der Botschaft Gottes, seines Evangeliums auf, das sich mit seinem „Fürchtet euch nicht!" gerade an die Schwachen und Hilflosen wendet. Bei Lukas hat er in seiner Begegnung mit Maria einen Namen: „Gabriel", d.h. „Gott ist Stärke".
Weniger bekannt ist der Engel, der dem heutigen Sonntag seinen Namen verliehen hat: Michael. Er taucht zuerst im Buch Daniel auf als Engel-Fürst und dann im Zweiten Testament im Judasbrief und in der Offenbarung des Johannes. Dort wird er Erzengel genannt und ist Anführer der himmlischen Streitmacht; wir haben die Geschichte vorhin in der Lesung gehört. Michael kämpft gegen den Drachen, den Teufel, gegen Satan - und siegt. Auf dem Gottesdienstprogramm sehen sie eine entsprechende Darstellung. Michael - der Kämpfer und Sieger über das Böse, über Tod und Teufel. In der kirchlichen Tradition ist die Gestalt des Michael fast verschmolzen mit der Gestalt des Christus. Es gibt Osterbilder, da steht der Auferstandene vor dem leeren Grab - und zu seinen Füßen niedergetreten ein Drache. Man kann fast sagen: Michael ist der Alter Ego des Christus, seine kämpfende Seite. Das entspricht auch der Bedeutung des Engel-Namens: Michael ~ Wer ist wie Gott? Und weil Michael so eng mit dem über den Tod siegenden Christus verbunden ist, werden an Michaelis auch die weißen Paramente aufgehängt - wie zu Ostern.
Michael, Gabriel; wer sich etwas mit Engeln beschäftigt hat, der wird womöglich sagen: Da fehlt noch einer, es gibt drei Erzengel. Der dritte im Bunde, das ist doch Raphael.
Nun, wer eine Bibelausgabe ohne Apokryphen hat, der wird Raphael nirgends finden. Denn von ihm ist nur im Buch Tobit namentlich die Rede. Dort allerdings spielt er eine wesentliche Rolle als Begleiter des jugendlichen Tobias. Er ist sozusagen der Urahn aller Schutzengel. Wobei er Tobias nicht nur auf dem Weg in gefährlichen Situationen beisteht, sondern ihn auch unterrichtet und so dazu beiträgt, dass Tobias in die Lage versetzt wird, seinen kranken Vater zu heilen. Das drückt sich in dem Engelnamen aus: Raphael ~ Gott heilt.
Michael, Gabriel, Raphael ~ biblische Engelgestalten, die in unterschiedlicher Weise Gottes Gegenwart verkörpern: seine streitende, kämpfende und siegende Macht, seinen Zuspruch und seine Wegweisung, seine heilende und beschützende Nähe.
Engel kommen noch in weiteren Texten und Geschichten der Bibel vor. Sie sind dort namenlos, aber verkörpern immer die gerade genannten Aspekte der Gegenwart Gottes.
Da lesen wir von dem Engel, der den Propheten Elia stärkt und ihn auf seinen Weg weist, als dieser voller Verzweiflung nicht mehr leben will (1.Kö.19).
Oder da stellt sich ein streitbarer Engel dem Propheten Bileam in den Weg, als dieser gegen besseres Wissen drauf und dran ist, Israel zu verfluchen, statt es zu segnen (Num.22).
Oder denken wir an Daniel, der von König Darius aufgrund einer Intrige neidischer Höflinge in die Löwengrube geworfen wurde, dem die Löwen aber nichts antun konnten. „Mein Gott hat seinen Engel gesandt, der den Löwen den Rachen zugehalten hat" bekennt Daniel (Dan.6).
Oder nehmen wir die Geschichte aus der Apostelgeschichte (Kap. 12), wo Petrus von König Herodes ins Gefängnis geworfen wurde und seine Hinrichtung drohte. Doch mitten in der Nacht erschien ihm ein Engel, löste seine Ketten, öffnete die Kerkertüren und führte ihn ins Freie.
Aber es gibt auch eine Engel-Geschichte, die kein Happyend kennt, wo der Engel einfach Kraft und Stärke schenkt, Trost und Beistand, um dem unvermeidbaren Leid standzuhalten. Lukas erzählt, dass ein Engel Jesus erschien und ihn stärkte, als er in Gethsemane war - in vollem Bewusstsein, welches Schicksal ihm bevorstand (Lk.22).
Liebe Gemeinde, sie merken, Engel begegnen uns in der Bibel beileibe nicht nur Weihnachten, sondern in ganz unterschiedlichen Zeiten und Situationen. Sie waren damals auch keine Gestalten, die nur in der jüdischen oder christlichen Religion eine Rolle spielten. Engel gab es in allen antiken Religionen. Doch während in den anderen Religionen Engel eigenständige himmlische Wesen sind, durchaus Göttern vergleichbar, ist das in der biblischen Tradition anders. All die Eigenschaften, die Engel verkörpern - beschützen, geleiten, streiten/kämpfen, stärken, trösten - all das sind Weisen, wie Gott selbst uns begegnet.
Wie ist das für dich mit den Engeln, fragte ich meinen Mann, als ich an der Predigt arbeitete. Nein, er könne mit Engeln nichts anfangen; er würde sich immer direkt an den „Chef" wenden.
Nun, in der Gestalt der Engel begegnet uns ja im Grunde genommen Gott selbst mit seiner uns Menschen zugewandten, an uns Menschen interessierten Seite. Gott, in dem wir leben, weben und sind. Meistens merken wir das nur nicht. Weil die Vorstellung von Gott als einer geistigen Kraft, die alles miteinander verbindet und erfüllt, die in uns wirkt und genauso durch uns und mit uns, für sehr viele schwer nachzuvollziehen ist. Wir Menschen sind halt auch in unserem geistlichen Fassungsvermögen begrenzt - und gerade dann, wenn es uns nicht gut geht, wenn wir Hilfe, Schutz, Trost brauchen. Wir sind in vielerlei Hinsicht bis heute abhängig von Symbolen und Bildern, die unserem Denken und Glauben entgegenkommen. Der Engel, er ist für mich so etwas wie der unbegreifliche Gott in menschlich begreifbarer Größe. Die Allgegenwart Gottes in mich ansprechender Nähe. Der Engel ist eine Antwort auf die Frage, die ich schon oft gehört habe: Wie sollte das gehen, dass sich Gott persönlich um mich kümmert, wenn er doch der Gott aller Menschen, ja aller Lebewesen ist? Der Engel ist eine Antwort auf die Frage des Psalmisten, wenn er schreibt: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. ... Diese Erkenntnis ist mir zu hoch, zu wunderbar, ich kann sie nicht begreifen." (Ps.139) Nicht von ungefähr wählen Eltern nicht sehr oft den 5.Vers von Ps.139 als Taufspruch für ihr Kind, sondern eher den Vers 11 aus Psalm 91 „Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen." Die Hand des Schutzengels erlaubt mehr Sinnlichkeit. So wie die Hand der Mutter oder des Vaters für das Kind Inbegriff von Halt und Schutz ist - fassbar, spürbar.
Die Frage nach den Engeln ist für mich keine Frage der hohen Theologie, sondern eine Frage nach der Möglichkeit, Gott zu erfahren und diese Erfahrung mit anderen zu teilen, anderen mitzuteilen. Gott hat einfach in seiner Liebe daran gedacht, sich selber erfahrbar zu machen und mit den Engeln, die er wie alles ins Sein gerufen hat, ist ihm da etwas Wunderbares eingefallen. Und abgesehen von manchen schrecklich kitschigen Darstellungen zeigen die Bilder von Engeln, dass die Menschen seine Botschaft, die durch die Engel zu uns kommt, sehr gut verstehen: Wir sind nicht alleingelassen auf unserem Lebensweg. Wir dürfen getrost sein und mutig, auch in schwierigen Situationen. Und auch im Angesicht des Todes, wenn wir schließlich und endlich all unserer vermeintlichen Größe und Großartigkeit entkleidet sind, wenn wir uns von all dem, was wir hier in diesem Leben erarbeitet und geschaffen haben, haben trennen müssen: in unserer Nacktheit und Armseligkeit sind wir nicht verloren und allein. Das Bild auf der Karte, liebe Gemeinde, das zeigt die Engel Raphael und Gabriel, die die Seele eines Verstorbenen in die Ewigkeit geleiten, ja ihn tragen und seine Blöße bedecken. In anderen Traditionen ist es der Erzengel Michael, der die Seelen durchs Jüngste Gericht geleitet, die Angriffe des Teufels abwehrt. Wie heißt es nicht im Hebräerbrief: „Engel sind allesamt dienstbare Geister, ausgesandt zum Dienst um derer willen, die das Heil ererben sollen."
Liebe Gemeinde, also ich brauche ihn, den Engel an meiner Seite, ich brauche den Gedanken eines Weggefährten und das Bild eines schützenden Flügel - nicht jeden Tag, aber immer wieder einmal. Oft reicht mir der direkte Draht zum „Chef", wie mein Mann das so schön formulierte. Aber manchmal tut es einfach gut, mit den Sprechstundenhilfen einen Plausch zu halten. Und die Vorstellung, dass unser Lobgesang hier auf Erden in den Weiten des Universums nicht verhallt, sondern verstärkt wird, die finde ich einfach schön.
Nein, wir sind nicht allein. Die Engel sind da - und in und mit ihnen Gott an unserer Seite.
Amen.
Michaelistag, 29.09.2013 Stadtkirche Matthäus 18,1-6+10 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Michaelis (18.n.Trin.) - 29.IX.2013
Matthäus 18, 1-6 + 10
Liebe Gemeinde!
Das heutige Fest des Erzengels Michael und aller Engel haben wir Evangelischen fast aus dem Kalender rutschen lassen und aus dem Gedächtnis verloren haben wir’s sowieso, obwohl es für Luther ein Feiertag und für Bach Anlass zu wunderbaren Kantatenkompositionen war und obwohl dieser Michaelistag, zur herbstlichen Tag- und Nachtgleiche bis in’s 20.Jahrhundert hinein ein wichtiges Datum des bäuerlichen Jahreszyklus geblieben ist.
Solche Vergesslichkeit allerdings rächt sich.
Denn was die Kirche nicht mehr feiert, gleitet im Allgemeinen hinüber in die Bereiche des populären Blödsinns und der nackten Kommerzialisierung.
Wenn erst einmal der unverbindliche religiöse Selbstbedienungsmarkt ein leicht verdauliches Produkt entdeckt hat, wenn es erst einmal ohne irgendeine umständliche Denk- und Lebensweise möglich wird, Versatzstücke der Wahrheit zwischendurch nur für sich zu panschen und zu vernaschen, dann wird aus Weihnachten der Wahnsinn, aus Ostern eine Hasenseuche und aus täglichem Gebet ein Verdummungsprogramm der Selbstbestätigung: „Sag Dir selbst, wie einzigartig Du doch bist, dann sprudelt Deine positive Energie!“ – Igitt! Pfui Teufel!
„Schützt die Schutzengel!“ ist daher der Ruf, unter dem wir heute Michaelis feiern.
- Schützt die Schutzengel davor, dass all jene, die sich Gott selbst vom Leib halten, statt Seiner ein himmlisches Haustier geschaffen haben, das ihnen anspruchslos Wohl- und Wertgefühl vermittelt – wie die inzwischen wieder in der Versenkung verschwundenen virtuellen Vogelküken aus Japan, genannt Tamagotchi.
- Schützt die Schutzengel davor, dass angesäuselte Rentnerinnen sich bei Astro-TV als Medium für Engelsbotschaften lächerlich machen, obwohl der gefaselte Irrsinn offensichtlich irgendwo als überirdische Lebenshilfe betrachtet wird.
- Schützt die Schutzengel vor dem Schindluder, den auch unsere Kirche mit ihnen treibt, sozusagen als erste Anfixdroge oder als letzter Versuch der Verramschung der frohen Botschaft: Jedenfalls kann man kein evangelisches Blättchen mehr zur Hand nehmen, ohne von den Werbeseiten voller geschmackloser, billig käuflicher Engelfiguren oder Engelpostkarten so sehr angewidert zu werden, dass man sich vor Scham wegducken möchte.
Rettet die Engel also vor ihren Anhängern!
Lasst sie los, denn in der Käfighaltung des trivialen Aberglaubens werden sie zu fürchterlich-en Karikaturen aus dem geistlichen Streichel- und Schmalspurzoo.
In Wirklichkeit nämlich sind die Engel völlig freie Geister.
Sie lassen sich nicht dressieren. Sie behalten und behaupten ihr Geheimnis. … Ihr für uns unerreichbares Geheimnis, das darin besteht: Die Engel sind heilig.
Also ganz und gar anders als wir. Völlig und ausschließlich durchdrungen und bewegt von Gott allein. Und eben das unterscheidet und entfernt sie vollkommen von uns. Das erhebt sie in eine Herrlichkeit, die weit über alle unsere Horizonte hinausgeht.
Darum werden Gottes Engel uns auch immer fremd bleiben, wenn wir sie nicht verdinglichen und verniedlichen.
… Aber sie deshalb zu vergessen, sie wegen ihrer eigenen Heiligkeit oder der menschlichen Verkitschung totzuschweigen, geht nicht an.
Denn Gott ist ohne die Engel ebensowenig zu begreifen, wie die Engel ohne Ihn.
Weil sie immer bei Ihm sind, und weil sie es sind, die Ihn überall bezeugen und Seinen Willen im Himmel und auf Erden ausüben, darum müssen wir staunend, dankbar und mit Scheu vor dem Unaussprechlichen bekennen und feiern: Gott ist der Herr der Engel und die Engel sind Seine Zeugen, Sein Mund, Seine Hände, Seine macht- und geheimnisvolle Gegenwart.
Das allein macht diese Boten und Diener des Heiligen würdig, dass wir sie nicht vergessen, sondern uns ihnen als lebendigen Beweisen der Gnade und Liebe Gottes in unseren Herzen und Liedern, in unseren Gedanken und Feiern ehrfürchtig nähern.
Doch Jesus – dem die Engel dienen (vgl.Matth411) – hat das wunderbare Geheimnis der heiligen Boten noch erstaunlicher angedeutet, als er mitten in eine der typisch menschlichen, typisch männlichen Kraftmeiereien seiner Jünger hinein kurz den Schleier, der uns von den Engeln trennt, lüftete.
Als die zwölf Jünger wieder einmal einen Hahnenkampf ausfechten wollten, wer denn nun von ihnen (oder auch ganz allgemein) der Größte im Himmelreich sei, da entzog Jesus dem peinlichen Konkurrenzgegockel – von dem die Biologen wissen, dass es die triebhafte Grundenergie des irdischen Lebens zeigt – den Boden völlig.
Das – so zeigt es Jesus – sind die Fragen der Erde: Welcher Hirsch das größte Geweih hat; wie lange der fetteste Walrossbulle am Strand den ganzen Harem besitzen kann; durch welche vorteilhaft aufdringliche Präsentation seines Pavianhinterns der Fürst der Lackaffen die Mitbewerber aussticht.
Machtfragen, Fortpflanzungsinstinkt und die Befriedigung der Eitelkeit also – der Stoff der Weltgeschichte, der Weltpolitik und der Weltwirtschaft – diese dumpfen Dinge interessieren nur eine einzige Menschengruppe wirklich nicht: Die Kinder.
Kinder messen sich zwar, aber ihr Rangstreit und Raufen kann dauerhaft keine Verhältnisse zementieren, sondern kanalisiert Wachstumskräfte, deren offener Prozess und Ziel ihnen unbewusst sind.
Kinder buhlen auch um Zuneigung, aber ihre Zärtlichkeit hat nichts mit Sex, umso mehr dafür – trotz Sigmund Freud – mit Schutzbedürftigkeit zu tun, was hoffentlich auch der letzte Grüne inzwischen begreift.
Kinder brauchen gewiss ihr täglich Lob, doch jeder aufkeimende Dünkel wird von so vielfältig neuen, unvorhersehbaren Forderungen ihres Lebens immer wieder aufgezehrt, dass sie nicht zu Fratzen der Selbstgerechtigkeit erstarren können, wie so viele Große, etwa im Formaldehyd des Erfolgs.
Kinder in ihrer Absichtslosigkeit, in ihrer Unschuld und ihrer Bereitschaft für die Gegenwart sind also tatsächlich dem Ur- und Ebenbild, das der von Gott geschaffenen Menschheit zugrunde liegt, noch ähnlicher. Kinder sind dem Paradies näher als der volljährige Erdenbürger. Allein das ruft schon nach der von Jesus seinen erwachsenen Jüngern so grundsätzlich entgegengehaltenen Theologie des Kindes.
Doch dann, nach der abgründigsten, ja sadistischsten Drohung, die wir von Jesus jemals hören – wie nämlich ein Mensch, der das wahre Menschenbild im Kinde schändet … sei es durch seelische, sei es durch körperliche Gewalt … schlicht zu ersäufen sei – dann, etwas später lüftet Jesus plötzlich den Schleier und wir ahnen nicht nur seine Theologie des Kindes, sondern die Offenbarung eines Mysteriums:
Kinder sind nicht nur Vorbilder für die Art und Weise, in der wir Menschen handeln und uns selbst und einander verstehen und begegnen sollen; Kinder sind also nicht nur exemplarisch für die soziale Freiheit eines Christenmenschen, sondern gerade weil sie sich als soziale Wesen in dieser Welt nicht durch Macht, sondern durch Ohnmacht auszeichnen, gerade darum sind sie auch als Einzelne in der anderen Welt, in Gottes Himmel der eigentliche Maßstab.
Denn – und das ist das Mysterium, das nur Jesus uns offenbart – denn die Engel sind nicht nur „Mächte und Gewalten“, „Throne und Herrschaften“ und wie sie sonst noch heißen.
Die heiligen Boten Gottes sind nicht nur jene Starken, als deren Anführer der Erzengel Michael bekannt ist (vgl.Daniel121/Offenb127ff), der den Kampf gegen alle unsichtbaren Feinde Gottes und der Menschen treibt und gewinnt.
Die Engel sind nicht alle nur streitbare, unbezwingliche Geister des Guten und Gerechten, ihre Hilfe und ihr Dienst sind nicht nur Wehr und Waffen in jenen Heeren – hebräisch „Zebaoth“ – deren Hülle und Fülle zu einem Beinamen Gottes geworden sind.
Nein – so lässt Jesus es uns in jenem einzigartigen Blick hinter den Vorhang erkennen – nicht nur in hellen Scharen und unzählbaren Massen sind die Engel um Gott versammelt, sondern gerade auch als Vertreter der Einzelnen, der Schwächsten und Kleinsten, die es gibt:
Als Vertreter der Kinder!
Dass jedes Kind auf Erden – obwohl es so leicht zu übersehen, so anfällig für Krankheiten, so ausgeliefert sogar an Vater und Mutter, erst recht aber an die Brutalität der Welt ist – …. dass jedes Kind auf Erden in seiner winzigen, wehrlosen, unentfalteten Individualität doch einen eigenen Vertreter unmittelbar bei Gott hat: Das ist ein Privileg, ein Schutzbrief der unverwechselbaren Menschenwürde, eine Warnung an die Großmächtigen, an die Verallgemeinerer und die Vertreter der erwachsenen Interessen und Sonderrechte, … das ist eine Sensation, die nicht einmal zu geringen Teilen in unserem Glauben und Denken bisher angekommen ist.
Denn es bedeutet – so blamabel und kränkend es für uns vermeintlich fertig ausgereifte Charaktere auch immer sein mag - … es bedeutet, dass wir nicht im Großen und im Ganzen, sondern im Kleinen und im Anfänglichen Zugang und Zugehörigkeit bei Gott haben!
Keiner von uns unterhält als Staats- oder Geschäftsmann, als Respektsperson oder als Leistungsträger diplomatische Verbindungen mit Gott: Unsere Visitenkarten gelten nichts, wenn dort die Tischordnung bestimmt wird, unsere Vita, unsere Meriten, unsere Konzepte, unsere Verdienste sind unbekannt und wiegen weniger als Nichts, wenn es um die Frage geht, wer wir vor und für Gott wohl sind.
Wenn Gott einen Menschen kennt und anerkennt, dann niemals als das, was jener Mensch glaubt, geworden zu sein, sondern nur als das, was er war: Ein Kind … ein Wunder aller Möglichkeiten, ein Opfer aller höheren Gewalten, ein zutiefst abhängiges Geschöpf, das dennoch ohne Kalkül von fremder Gnade, Schutz und Liebe lebt.
Dabei ist Gott aber nicht etwa der Vormund, sondern der Verbündete einer Menschheit, die er nicht in ihrer Großmannssucht und ihrem Geltungsdrang, sondern einzig in ihrer Angewiesenheit ernst- und wahrnimmt.
Wenn wir vor Gottes Augen nämlich als die Alleskönner und gewieften Selbstständigen, als die Führungspersönlichkeiten stünden, zu denen wir uns zu mausern meinen, dann müsste er uns die Welt so überlassen, wie wir es mit unserem Trotz, mit unserem Wahn und unserer Selbstherrlichkeit andauernd ja beanspruchen ……..
Was für ein Glück darum, dass Gott nicht von den geistlichen Verkörperungen der Erwachsenen umgeben ist, sondern von der Schar seiner Kinder!
Wie gut, dass Er uns nicht sieht als die, die alles ohne Ihn bewirken wollen, sondern als die, die weiterhin von Ihm Alles brauchen!
Wie gut also, dass in Gottes Gegenwart die Kinderengel und nicht die Gestalten großer Männer und befreiter Frauen zu finden sind.
Gerade die Schutzlosigkeit der Engel der Kleinen ist der beste Schutz dagegen, dass die Welt jemals allein in Menschenhände fiele. ———
Unsere Schutzengel sind also nicht allemal als gefiederte Athleten zu denken, die an der Brücke über dem tosenden Gebirgsbach auf den Schlafzimmeröldrucken Rettungsakrobatik vollführen, sondern die trivialen, vom Massengeschmack längst bis zur Sinnentleerung reproduzierten Putten sprechen eigentlich von etwas ganz Entgegengesetztem. Pausbäckig, ahnungslos, lausbübisch wie das Kindskopfpaar der Engelbengel Raphaels zu Füßen der Sixtinischen Madonna zeigen sie:
Die Engel bürgen für uns nicht wegen unserer Stärke, sondern wegen unserer Schwäche. Sie verkörpern eine Menschenwelt, die ohne den Vater im Himmel keinerlei Aussicht auf Leben hätte.
Und so sind Gottes heilige Engel darum nicht nur Helden, die Er aussendet, sondern ebenso auch Hilflose, die Ihn umdrängen und Sein Erbarmen rühren.
Sie vertreten jedes einzige Menschenkind, und gerade ihre Angewiesenheit auf Gott sichert unser Leben und unseren Platz bei Ihm mehr als alle Taten menschlicher Entschlossenheit und Durchsetzungskraft es je könnten.
Dafür können wir mit allen Engeln und Erzengeln und dem ganzen himmlischen Heer nur rühmen:
„Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst und des Menschen Kind, dass Du Dich seiner annimmst? (Ps85) – Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget, dass wir Gottes Kinder sollen heißen!“ (1.Joh31)
Amen!
Fürbitten
Herr, Du Gott der Kinder!
Wir preisen Dich für Deine Macht und Weisheit
und dafür, dass Du es gerade nicht mit den Starken und Schlauen hältst,
sondern mit den Kleinen und Hilflosen.
Ihre Stimmen hörst Du allezeit;
ihre Not und ihre Hoffnung sind die Beweggründe für alles, was Du im Himmel und auf Erden tust.
Weil Du sie so liebst, wirst Du selber ein Kind;
weil Du die Wehrlosen vor Augen hast, nimmst Du das Kreuz, das sie erdrückt, auf Dich;
weil Du die Gefährdeten in Deiner Nähe hast, darum bleibst Du ihnen bis in den Tod treu;
weil die Ohnmächtigen Deinen Himmel erben, darum hast Du dem Mächtigen und Starken - dem Tod - den Sieg genommen.
Und so bitten wir Dich mit den Chören der verachteten Engel:
Rette die Kinder Syriens;
hilf den versklavten Kindern Südostasiens zur Freiheit;
tu den Hungernden und zum Kanonenfutter bestimmten Kindern Afrikas die Tür auf, die ihnen Auswege bietet – die Schultür;
schütze die Kinder der kinderlosen reichen Welt vor der Vernachlässigung des Materialismus und der Überforderung einer allgegenwärtigen Verzweckung jeder Lebensäußerung.
Herr, lass das Geheimnis der Engel,
die uns alle vertreten,
die jedes einzige Menschenkind verewigen
und uns in der Zeit beistehen und schützen, …..
lass das Geheimnis der Engel uns froh machen!
Und so beten wir jetzt und allmorgendlich und wenn wir uns legen*:
Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde!
15.Sonntag n.Trin. 08.09.2013 Stadtkirche Lukas 17,(3+4)5+6 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 15.n.Trin. - 8.IX.2013
Lukas 17, (3f+)5f
Jesus sagte zu seinen Jüngern: „Wenn dein Bruder sündigt, so weise ihn zurecht; und wenn er umkehrt, so vergib ihm. Und wenn er siebenmal am Tag an dir schuldig wird und siebenmal zu dir kommt und sagt: Ich will umkehren, sollst du ihm vergeben.“
Und die Apostel sagten zu dem Herrn: „Gib uns mehr Glauben!“
Der Herr aber sprach: „Hättet ihr Glauben wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich samt den Wurzeln aus und verpflanze dich ins Meer! – und er würde euch gehorchen.“ [Zürcher Übersetzung]
Liebe Gemeinde!
Dieses Jahr bin ich mit dem falschen Text in die Ferien gefahren:
Beim - wie sich nun zeigt - allzu flüchtigen Blick in’s Evangelium, um zu sehen, was während des Urlaubs zu meditieren und danach auszulegen sein würde, habe ich die beiden Sätze von der großen Kraft des kleinen Glaubens offenbar achtlos überflogen und schon war’s geschehen: Nicht über das Versetzen von Maulbeerbäumen, sondern über die katastrophische Fähigkeit, Berge im Meer zu versenken habe ich seitdem nachgedacht.
Denn das haben die meisten von uns wohl im Ohr – Jesu Wort über die bergeversetzende Macht des Glaubens (Matth1720//2121), das der Apostel Paulus im Hohen Lied der Liebe aufgreift, wenn er feststellt: „Wenn ich allen Glauben hätte, so dass ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts!“(1.Kor132)
Was Jesus über die Glaubensmöglichkeit sagt, selbst Berge im Meer zu versenken, ist nun wahrlich kein leichtes, harmloses Wort. Es geht dabei nicht darum, dass wir uns als Hausberg eine nette Lage aus der Ortenau oder dem Markgräflerland mit dem entsprechenden Weinbau nach Kaiserswerth wünschen können oder an die Stelle des Emslandes das Riesengebirge versetzen, damit’s an der A31 nicht so langweilig bleibt.
Wenn Jesus nach den Aufzeichnungen des Matthäus nämlich gleich zweimal betont, dass Glaubende notfalls die geologische Gestalt der Erde völlig umwandeln können, dann handelt es sich in beiden Fällen nicht um rasche Wunscherfüllungsphantasien, sondern um Notlagen von großer Dringlichkeit, um Ausblicke auf letzte Dinge:
Als die Jünger ratlos an der Heilung eines schrecklich gequälten Menschenkindes – eines epileptischen Knaben – scheitern, lässt Jesus sie wissen, dass der Glaube tatsächlich die Macht hat, die Welt auf den Kopf zu stellen, die Gesetze der Natur außer Kraft zu setzen und Unerhörtes zu bewirken: In Krisen, in denen es um Heil und Leben geht, kann und muss der Glaube alle Hindernisse der Welt besiegen und überwinden (vgl.1Joh54)!
Nichts anderes bedeutet es ja, wenn er die Berge erschüttert, die nach biblischem Gespür doch das Älteste und Ehrwürdigste an der Schöpfung sind, …. so wie wir mit Mose im Beerdigungspsalm beten: „Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist Du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Ps902).
Derart abgründig kann und soll unser Glaube also in die Welt eingreifen, … bis dahin, dass er verrückt und umstößt, was älter und ursprünglicher als alles ist.
„Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge Gottes und Dein Recht wie die große Tiefe“, wird Gott im Psalm (367) gelobt.
Wenn der Glaube also die heilige Unerschütterlichkeit - die Berge Gottes -, die felsenfesten Fügungen des Allmächtigen verwirbeln und versenken kann: Was für eine gefährliche, was für eine verwegene, gewaltige Macht der Möglichkeit er doch ist! —
Aber nun predige ich tatsächlich über den falschen Text.
Denn heute hörten wir aus Jesu Mund von einer ganz anderen Freiheit des Glaubens.
– Nur ist es nicht umsonst, dass wir zunächst an die erschütternde Sprengkraft denken mussten, mit der der Glaube Gottes Setzungen und Ordnungen, die ehernen Fundamente der Schöpfung stürzen, lösen und umprägen kann.
Denn dieses letzte Mittel, diese Zerreißprobe, die Glaubende nicht alle Tage wagen dürfen, sondern nur im Extremfall unter Furcht und Zittern und der Bereitschaft, selbst in der Kernschmelze des Wunders zu verbrennen, … dieses letzte Mittel des Bergeversenkens ist eben nicht das einzige Wort Jesu, das wir in dieser Sache haben.
Die Wissenschaft behauptet zwar gern, was im Lukasevangelium über die Entwurzelung und Verpflanzung eines Maulbeerbaumes in Richtung offenes Meer zu finden ist, müsse eine verdorbene Überlieferung, eine Vermischung und Verwechslung der eigentlichen, doppelt belegten Aussage Jesu über das Bergeversetzen sein.
Lukas habe also bloß aus Ungeschick oder Unachtsamkeit dort, wo es „Berg“ heißen müsste, „Baum“ geschrieben; ansonsten aber sei im einen wie im anderen Bild genau das Gleiche gesagt und gemeint. Das aber bezweifele ich stark.
Lukas war kein Depp, der den hochexplosiven Grundsatz, dass der Glaube die tiefsten Ordnungen umstürzen kann, nicht richtig begriffen und unbeholfen verunklart hat.
Im Gegensatz vermutlich zu Matthäus kannte Lukas als Missionsreisender die See sogar aus eigenem Erleben und ahnte um so vieles anschaulicher, was ein Erdbeben, eine Sturmflut mit Erdverwerfungen und Überschwemmungen für ein Unheil bedeutet.
Das Jesuswort, das er von der Macht des Glaubens zu überliefern hatte, ist aber eben auch gar nicht in den verzweifelten Zusammenhängen vom Kampf um die Erlösung und Rettung gesagt worden.
Sondern mit diesem Wort illustriert Jesus seine seelsorgliche Richtschnur, dass man dem lästigen und trotzigen Bruder, der immer wieder erst wenn’s zu spät ist vernünftig und gerecht wird, siebenmal am Tag vergeben müsse.
Das Bild vom im Ozean ausgepflanzten Baum beschreibt also keine Extremsituation, sondern betrifft eine wieder und wieder sich ereignende, Nerven und Geduld strapazierende Erfahrung des menschlichen Zusammenlebens. Nicht das letzte Gefecht, sondern der tägliche Zirkus mit den anderen wird hier durch die grenzenlose Macht des Glaubens entschieden.
Das aber ist nun wahrlich nichts Geringes!
Denn wenn auch die Wenigsten von uns mutig genug sind, den Kampf mit den Mächten des Bösen aufzunehmen: den Kleinkrieg mit dem Blödmann nebenan, den Zermürbungsfeldzug gegen die ganz nahe Zicke machen wir alle – jeder gegen jeden und hoffentlich auch alle gegen sich selbst – andauernd durch.
Und in diesem siebzig-, wenn’s hochkommt achtzigjährigen Konflikt mit der ewigen Wiederkehr der Unbelehrbarkeit, mit den brennnesselartig verzweigten und verwurzelten Trieben der menschlichen Dummheit, der Selbstsucht und der Sünde, die man hier gerade noch jätet und dort schon wieder sprießen sieht, in diesem siebenmal am Tag zum Platzen aufregend und anstrengend werdenden Mitmensch-Sein, da wirkt ein Körnlein Glaube seine Wunder.
Wodurch?
Wie hilft der Glaube dagegen, dass die Zunge nicht ausrutscht – oder schlimmer noch: die Hand –, dass der Zorn nicht raucht, die Tür nicht knallt, die Galle nicht überläuft, der Kragen nicht platzt, die Sicherung nicht durchbrennt und Frustration, Enttäuschung und Verbitterung aus dem Alltag einen Scherbenhaufen machen?
Der Glaube hilft dagegen ja nicht allgemein: Als getaufte Christen haben wir keinen anderen Hormonspiegel als die bollerigsten Heiden; auch Christenmenschen sind Choleriker und Hysteriker, schäumen vor Ungeduld und stecken viel zu wenig ein und weg, ohne gekränkt und nachtragend zu sein.
Allgemein sind wir wirklich nicht anders und nicht besser.
Aber wir haben einen Anderen und Besseren vor Augen und im Herzen:
Der konnte – zum Glück! wie wir wissen – zwar auch die Beherrschung verlieren und Rot sehen und dann sausten die Enden eines Strickes schneidend durch die Luft und fegten die Verkaufsauslagen und die Geldhäufchen von den Tischen der Händler und Wechsler im Tempel (vgl.Joh215), … der konnte also jähzornig und aufbrausend sein, er konnte auch hemmungslos flennen vor Enttäuschung (vgl.Joh1133-35) und sich in höllischer Panik fast selbst verlieren (vgl.Lk2244), … er war also weit von der Geduld der Engel und der Gefasstheit des Marmors entfernt, denn er ist ja Mensch geworden für uns, Mensch wie Du und ich in unseren schlimmsten Augenblicken — ……. aber lieben konnte der, er konnte so sehr lieben, die Sünder so lieben, die Idioten so lieben, die Verweigerer und Verfolger so lieben, seine Feinde so lieben, meine Feinde so lieben, …. er konnte so lieben, dass er trotz seiner Menschlichkeit das Menschlichste von allem, das Menschlichste aller Zeiten tat:
Er konnte so lieben, dass er für uns Menschen alle sterben konnte.
Und als dessen Jünger – in unserem Namen, sozusagen inkognito für uns – ihn nun fragen, ob er nicht ein klein wenig mehr von seinem großen Zutrauen an sie vermachen kann, damit sie nicht verzweifeln aneinander und den Macken und Miseren der Menschen, da schenkt er ihnen etwas so Elementarpädagogisches wie ein verabredetes Zeichen oder Stichwort, mit dem Kinder auf einen bestimmten Gedanken, zu einem bestimmten Verhalten gebracht werden können.
Das Stichwort lautet: „Schwimmende Gärten“.
Ein echter, spontaner Erziehungseinfall, ein Losungswort, eingegeben auf der Landstraße im Augenblick:
- Wie können wir etwas mehr Glauben haben, längeren Atem, ausdauerndere Geduld, großzügigere Vergebungsliebe, fragt Ihr? — Passt auf, sagt Jesus. Seht Ihr den Baum dort? Wenn Ihr überhaupt eine - und sei’s noch so kleine - Verbindung mit mir habt, dann werdet Ihr den Baum dort nicht mehr vergessen. Sondern beim nächsten Mal, wenn Ihr wieder an Eure Grenzen stoßt, wenn Ihr keine Kraft und kein Vertrauen mehr spürt, dann denkt an das lange, stille Wunder, durch das der Baum trotz aller Wetter- und Schicksalsschläge einfach nur ein alter Stamm auf fester Wurzel, irgendwo am Wegrand wurde. Und dann sagt Euch: „Schwimmende Gärten!“
Denn Ihr seid als Gottes Menschen ja unterwegs mit dem und zu dem, der nicht nur Leben aus dem Staub hervorbringt, der nicht nur die Bäume sprießen und Jahrhunderte über ihre Kronen hingehen lässt, sondern Ihr seid die Gemeinde dessen, der dem alten Bestand des Lebens ungeahnte Horizonte öffnet.
Ihr seid die Gefolgschaft des großen Gärtners, der nicht bloß den fruchtbaren Acker bepflanzt, sondern auch in der Wüste ein Blütenmeer wecken wird, der in der Dunkelheit Leuchten entzündet und aus Chaos neue Wirklichkeit schafft.
Was Er einst am Ziel mit seiner Schöpfung machen will, das ist darum auch nicht etwa nur in Bildern vom Weltuntergang, vom Einsturz der Berge, vom Versinken der alten Ordnung zu ahnen, sondern in Zukunft denkt an den alten Maulbeerstamm und dass er einst draußen im ungebahnten Gelände, in der Wüstenei des offenen Ozeans Wurzeln schlagen und Land gewinnen wird.
Und dieser schwimmende Garten über der Tiefe, in der bisher nur Tod und Abgrund lauerten, dieser schwimmende Garten voller Alleebäume, die den sicheren Heimweg hinüber zur Versöhnung und Rettung säumen, dieser schwimmende Garten, der Halt überm Haltlosen, Orientierung in der Monotonie des Meeres und Lebenswurzeln im Salzwasser bezeichnet, … dieser schwimmende Garten wird das verabredete Hoffnungszeichen sein, von dem Ihr die Ruhe und Zuversicht nehmt, die Euch im bitterbösen Kleinklein des alltäglichen Miteinanders sonst fehlt.
Das kann der Glaube: Uns hinüber aus dem Ärger tragen, … hinüber dorthin, wo der Weg in das Reich der vollkommenen und herrlichen Versöhnung verläuft!
Das kann der Glaube: Uns weit über die engen, nahen Schauplätze unserer ausgelaugten Zickigkeit und seelischen Verbiesterung erheben und das jenseitige Ufer zeigen, wo der Friede wohnt und wo das Verstehen reift … und nicht nur das! Nein, er lässt lebendige Wegweiser dorthin aufwachsen, markante, sichtbare Wipfel, die aus dem Einerlei des grauen Meeres des Unfriedens ragen und die bei jedem unserer Ärgernisse, bei jedem Streit, bei jedem Einlenken und Neuanfangen vom Glauben dort in der weiten Fläche eingepflanzt werden.
Sieben Wegweiser täglich!
Fünfzig Bäume in der Woche, bis sie dicht an dicht Spalier stehen und wir die Auffahrt zum gemeinsamen Leben aus der Vergebung und Gnade unseres Gottes einfach nicht mehr verfehlen können.
Das kann der Glaube, weil er die wachsende Verbindung mit Jesus Christus ist, der so lieben kann, dass er alles überbrückt und uns alle hinüber holt: über die gähnenden Fluten der inneren Verzweiflung, des zwischenmenschlichen Unfriedens und des geistlichen Ermattens.
Darum also der Vorschlag, dass wir in den nächsten sieben Tagen so streiten und uns so versöhnen, so zweifeln und so hoffen, uns so ärgern und so uns aufrichten:
Stichwort „Schwimmende Gärten“!
Wegweiser zu Gottes Ziel!
Amen.
14.So.n.Trin "Miriamsonntag" Stadtkirche Markus 5,24-34 Vikarin Juliane Engert-Lavista
Liebe Gemeinde,
sie nimmt ihr Leben selbst in die Hand. Die Frau in unserem heutigen Predigttext nimmt buchstäblich ihre Füße in die Hand und geht zu Jesus. Mitten in dem Gedränge um Jesus herum bahnt sie, die Ausgegrenzte, sich den für sie so heilsamen Weg zu ihm. Die Frau, die wegen ihrer Krankheit schon so lange isoliert von der Gesellschaft lebt, will unbedingt Jesu Mantel berühren, denn sie glaubt an das Leben. Sie glaubt an ihr Leben und sie weiß, dass Jesus das Leben ist. Er selbst ist das Leben – so steht es im Johannesevangelium (Joh 14,6). Da sagt Jesus von sich: „Ich bin (…) das Leben.“ Und der Glaube an dieses Leben rettet die Frau aus unserem Predigttext. Jesus spricht der Frau das sogar persönlich zu. Er wendet sich ihr zu und baut eine Beziehung zu ihr auf. Und dass obwohl sie mit ihrer Krankheit als aussätzig gilt, obwohl sie deswegen vom kultischen Ritus ausgeschlossen wird. Und dann während Jesus ihr nahe ist, sagt er ihr, dass ihr eigener Glaube sie gerettet hat. Jesus macht die Frau darauf aufmerksam, dass sie durch ihren Glauben, ihr Vertrauen in das Leben überhaupt gerettet wurde. Er bestärkt sie darin, dass es richtig ist, das Leben in die Hand zu nehmen, für sich neue Wege zu suchen, das Leben zu leben.
Und so wie sich die Frau im Predigttext verhält, so haben sich auch schon manche Reformatoren, die Väter der protestantischen Kirchen verhalten.
Martin Luther ist so einer. Er nimmt sein Leben selbst in die Hand. Er will, dass das Volk die Bibel lesen und verstehen kann. Luther möchte, dass jeder Mensch die Heilige Schrift studieren und das Wort Gottes für sich entdecken kann. Deshalb übersetzt er die Bibel ins Deutsche. In mühsamer Kleinarbeit sucht er Ausdrücke und Worte für die griechische und hebräische Sprache der Schrift. Luther hat sich von der traditionellen Auslegung der Schrift durch die Kirche in Rom abgewandt. Er wird sogar vogelfrei und steht so in besonderer Beziehung zur Gesellschaft; in gewisser Weise ist er damit aus dem normalen Alltag ausgegrenzt. Dieser Reformator will, dass jeder Christ sich ein eigenes Bild machen kann. Martin Luther hat die Einsicht, dass jeder die Bibel lesen können soll. Und das geht dann, wenn die Heilige Schrift auch auf Deutsch gedruckt wird und das Volk Lesen und Schreiben lernt. Luther ist von seinem Glauben an das Leben und die Menschen so überzeugt, dass ihn das motiviert das Leben in die Hand zu nehmen. Jahrelang müht sich Martin Luther ab, die Bibel in verständliche Sprache zu übersetzen, weil er davon überzeugt ist, dass jeder mündige Christ ein Recht auf eigenes Bibelstudium und Bibellesen hat.
Und das kostet Luther Mut. Er investiert Zeit und Geld in dieses Übersetzungsvorhaben. Er riskiert damit Auseinandersetzungen und Streitigkeiten um die wahre Auslegung der Schrift. Er stellt sich dieser schwierigen Aufgabe und löst sie. Dank Gutenbergs Buchdruckerfindung hat er Erfolg. Luther prägt mit seiner Sprache der Bibel sogar die Alltagssprache und ist nebenbei auch ein Reformer des Bildungswesens.
Das alles konnte Martin Luther nicht vorhersehen. Er wusste nicht, was passiert, wenn die Bibel auf Deutsch nun zahlreich unters Volk kommt. Und dennoch wagt er es. Martin Luther glaubt an das Leben, das Christus selbst ist, und überwindet sogar die Sprachgrenzen zwischen der Bibel und dem Volk. Er nimmt sein Leben in die Hand, so wie die Frau im heutigen Predigttext.
Oder wie die alleinerziehende Nachbarin. Plötzlich steht die Hausfrau mit drei Kindern alleine da. Das Geld reicht nur bis zur Monatsmitte und manchmal weiß sie einfach nicht mehr weiter. In manchen Augen gilt sie schon als asozial. Irgendwie fühlt sie sich von der Gesellschaft ausgegrenzt. Und dennoch gibt sie den Mut nicht auf. Sie sammelt ihre Kräfte und will neu beginnen. Sie sucht sich Wege aus ihrer Misere. Sie möchte sich beruflich weiterentwickeln, um eine neue Perspektive zu haben und damit das Geld auch bis zum Ende des Monats reicht. Sie nimmt ihr Leben in die Hand und glaubt daran, dass das Leben wieder lebenswert werden kann. Das kostet sie Überwindung. Sie muss mutig jeden Schritt neu gehen, aber sie will es. Sie vertraut dem Leben. Auch sie weiß nicht, ob es gelingt. Wie Luther und die Frau aus unserem Predigttext, kann sie nicht erahnen, ob ihr Weg der richtige ist. Sie riskiert stressige Zeiten und verzichtet auf eigene Freizeit. Sie nimmt in Kauf, dass es Rückschläge wie unbeantwortete Bewerbungen, geben kann. Aber sie blickt auf das Leben und glaubt daran.
Ob es die Hand ist, die den Mantel Jesu berühren will, ob es Luthers Eifer für die Übersetzung der Bibel ins Deutsche ist oder ob es der Gang zur beruflichen Weiterbildungsmaßname ist, gemeinsam ist all diesen drei handelnden Personen der Glauben an das Leben.
Und Jesus ist dieses Leben. Der Glaube an dieses Leben rettet. Das Vertrauen in ihn befreit. Es macht frei, mutig durchs Leben zu gehen. Das Vertrauen in dieses Leben, dass Gott uns schenkt. Gott gibt uns dieses Leben. Er vertraut uns sogar das Leben schlechthin an, indem er seinen Sohn auf die Welt schickt.
Damit gibt Gott den Menschen aber auch Verantwortung für das Leben. Schon im Paradies überträgt der Schöpfer seinen Geschöpfen die Aufgabe, das Leben zu bewahren (Gen 1, 28ff.). Und schon da wird ersichtlich, dass es nicht nur um den eigenen, einzelnen Menschen geht. Gott spricht beide, Mann und Frau an. Er erteilt beiden gleichermaßen den Auftrag, sich um die Schöpfung zu kümmern. Dabei ist auch an das Zwischenmenschliche zu denken. Die Menschen sollen füreinander da sein. Menschen sollen für das Leben da sein. Hier ist nicht nur das eigene Leben gemeint, sondern auch das Leben von anderen. Gemeinschaftlich durchs Leben gehen und aufeinander acht geben – nur so lässt sich das Leben erhalten, das Gott uns geschenkt hat. Das heißt auch, die Augen aufzuhalten für Menschen wie die isolierte Frau aus unserem Predigttext oder die alleinerziehende Nachbarin, die Hilfe braucht.
Und was bedeutet das nun für uns, liebe Gemeinde? Hat das irgendwas mit uns hier und jetzt zu tun?
Nun, ich persönlich kann gar nicht anders. Weil Jesus das Leben selbst ist und alle Menschen geliebte Geschöpfe Gottes sind, deshalb muss ich die Augen aufhalten. Ich gebe mein bestes dafür, Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen gegen Menschen zu verringern. Aber leider gelingt es nicht immer. Und auch deshalb halte ich es als junge Frau für sehr wichtig, am heutigen Mirjamsonntag daran zu erinnern. Dieser besondere Sonntag, der immer am 14. Sonntag nach Trinitatis in der Evangelischen Kirche im Rheinland gefeiert wird, steht unter dem Thema „Kirchen in Solidarität mit den Frauen“. Dabei ist natürlich an die maßlosen Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen weltweit zu denken, wie beispielsweise öffentliche Vergewaltigungen in Indien wie sie vor geraumer Zeit durch die Presse gingen oder auch an die Frauen an so vielen Orten in der Welt, die die Aufgaben und Pflichten des Alltags und der Familie tragen, aber dafür wenig oder keine Anerkennung erhalten. Selbstverständlich geht es am Mirjamsonntag auch um Frauen im globalen Kontext, denen endlich Gehör geschenkt wird, und die unsere Solidarisierung mit ihnen bitter nötig haben, aber es geht eben auch um die Zusammenarbeit von Frauen und Männern in unserer Gesellschaft und den Gemeinden bei uns. Daneben geht es zudem um soziale Gerechtigkeit hier vor Ort.
Der Mirjamsonntag lenkt also unsere Aufmerksamkeit auch auf ein Thema, das scheinbar schon abgearbeitet ist. Viele Frauen können heute hier das erreichen, was sie sich wünschen: alle Schul- und Hochschulzugänge stehen ihnen offen und vermeintliche Männerfreizeitaktivitäten wie Fußball können heutzutage selbstverständlich auch von Frauen wahrgenommen werden. Auch das Bild der berufstätigen Mutter hat sich in der Gesellschaft geändert. Frauen nehmen ihr Leben heute meist gerne in die Hand und gehen ihre eigenen Wege.
Und trotzdem kommen wir Frauen manchmal doch an unsere Grenzen.
Wenn ihr Vorschlag in einer Gremiumssitzung nicht gehört wird, weil sie die einzige Frau ist und ihr nichts zugetraut wird. Oder wenn eingespielte Rollenmuster in der Familie auf sie projiziert werden und sie aus dieser Erwartung nicht mehr herauskommt.
Ja, ich spreche hier besonders von den Frauen, aber letztlich betrifft das auch Männer. Das Zusammenleben von Frauen und Männern in der Gesellschaft im Großen, aber auch im Kleinen, in der Familie und dem Alltag hat sich in den letzten 60 Jahren verändert. Da geht es nicht nur um die Frauenbelange und darum, dass es endlich eine Frauenquote gibt.
Hier geht es darum, dass sich Frauen und Männer auf Augenhöhe begegnen. Beispielsweise in der Kirche, wo es weiterhin gewünscht wird, dass Frauen und Männer zusammen an den Belangen der Kirche arbeiten. Denn in nicht allzu ferner Zukunft werden in unserer Kirche noch mehr Frauen Pfarrerinnen werden: Als Beispiel dafür kann mein Vikarskurs genannt werden: Wir sind 17 Vikarinnen und Vikare in unserem Durchgang. 4 Männer und 13 Frauen. Mehr als ¾ des Kurses sind junge Frauen, die die Ausbildung zur Pfarrerin machen. Das kann uns freuen! Aber wir müssen uns auch darauf einstellen, dass sich die Zusammenarbeit von Männern und Frauen in der Kirche verändern wird. Denn es werden noch mehr Frauen im Pfarramt werden als es heute schon sind!
Und nicht nur in der Kirche findet sich dieses Phänomen. In vielen anderen Berufsgruppen wird mittlerweile über die Zusammenarbeit von Frauen und Männern geredet, über ihre unterschiedlichen Führungsstile, ihre verschiedenen Herangehensweisen, um Lösungsstrategien zu entwickeln, und letztlich auch um das soziale Miteinander.
Das, was uns alle verbindet, ist, dass wir gemeinsam hier leben. Männer und Frauen, Kinder und alte Menschen finden sich in einem sozialen Miteinander wieder.
Denn Gott hat den Menschen nicht allein hier auf diese Welt gestellt. Er hat die Menschen als Mann und Frau erschaffen und somit geht es darum, dass aufeinander Acht gegeben wird, dass jeder Mensch als geliebtes Geschöpf Gottes wahrgenommen wird, egal ob es eine Frau oder ein Mann ist. Egal ob es ein Kind oder ein älterer Mensch ist. Wenn man die Sinne schärft und dann so durch die Welt geht, dann fallen einem immer wieder kleine Ungerechtigkeiten auf, die das Verhältnis zwischen Menschen belasten. So wird einem bewusst, wie das soziale Miteinander gefährdet wird. Dort, wo ein älterer Mensch gegen seinen Willen entmündigt wird, eigene Entscheidungen zu treffen. Dort, wo ein Kind und seine Meinung nicht gehört wird, weil es ja noch so klein ist. Oder dort, wo eine Frau immer besser als der Mann weiß wie die Haushaltsführung richtig geht.
Jeden so zu sehen wie er oder sie ist – das ist die große Herausforderung. Das Gegenüber als angenommenes Leben vor Gott zu sehen, das fällt manchmal schwer, aber es lohnt sich das auszuprobieren. Menschen sind fehlbar und scheitern an manchen Aufgaben. Dennoch hat jedes Geschöpf Gottes ein Recht darauf, auch als solches gesehen zu werden. Denn Gott liebt seine Geschöpfe und will bei ihnen sein.
Und auch Jesus wendet sich Menschen immer wieder zu. Egal ob Frau oder Mann, ob Glaubender oder Nicht-Glaubender, egal ob jung oder alt, ob krank oder gesund. Jesus ist fest davon überzeugt, dass Gott das Leben schenkt und es deshalb zu schützen ist. Er selbst sagt ja von sich im Johannesevangelium: „Ich bin (…) das Leben.“ Er offenbart sich als das Leben schlechthin.
Und Jesus sieht das Leben so wie es ist. Er wendet sich der aus der Gesellschaft ausgegrenzten Frau aus unserem Predigttext zu und bestärkt sie in ihrem Glauben an das Leben. Sein Geist beflügelt Luther, das Übersetzungsvorhaben nicht aufzugeben. Der alleinerziehenden Mutter spricht er zu: „Ich bin bei Dir und begleite dich auf deinem Weg, sodass du nicht alleine bist.“
Jesus will, dass Menschen ihr Leben in die Hand nehmen und achtsam damit umgehen. Gott selbst stellt den Menschen in die Verantwortung für das Leben und sagt ihm sogleich, dass dieses Leben gesegnet ist.
Amen.
10.n.Trin ("Israelsontag") 04.08.2013 Stadtkirche & Jonakirche Johannes 4,19-24 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 10.n.Trin. - 4.VIII.2013
Johannes 4,19-26
Liebe Gemeinde!
Man kann sich erstaunlicherweise immer noch kaum vorstellen, dass der südamerikanische Papst – bei allen Freiheiten, die er sich nimmt – intensive theologische Gespräche mit einer Frau führt. Er hat zwar den Namen eines Heiligen angenommen, der ohne seine Seelenverwandte, Clara wohl nicht der Erneuer des Christentums geworden wäre, der jener kleine Mensch aus Assisi zweifellos war. Aber trotz Clara und Scholastika, der Schwester des Heiligen Benedikt, hat die Samaritanerin vom Brunnen zu Sichem nie wirklich Schule in der Kirche gemacht:
Das längste theologische Zwiegespräch des an großen Reden reichen Johannesevangeliums geht also auf den weiblichen Wissensdurst der Wasserträgerin vom Jakobsbrunnen zurück, aber die Christenheit hat dennoch bis weit über die Tage jenes „Herrn Käthe“ hinaus, deren Zöpfe auf Luthers Kissen lagen, deren Sparsamkeit und Erfindungsreichtum die erste Pfarrfamilie nebst ihren hunderten Kostgängern ernährten, öffentlich wenig geistliche Anregungen aus den Fragen der Frauen schöpfen mögen.
Das änderte sich erst im Pietismus, der nicht zuletzt mit den Schwestern in der sogenannten Brüdergemeine wahre „Fürstinnen Gottes“ und „Säugammen der Gemeinde“ hervorbrachte, wie man auf dem Grab der Erdmuthe von Zinzendorf in Herrnhut bis heute lesen kann.
Daher fällt es inzwischen nicht mehr schwer, sich zu vergegenwärtigen, dass ein Fliedner bei allem Patriarchengeist dennoch auf seine Friederike hörte, die wohl devot war, aber im Zweifelsfall Gott mehr gehorchte als den Menschen, den Königen und Eheherren.
Und so können wir uns allemal denken, dass der Mann, der unsere Kirche heute in diesem Land vertritt, ganz gewiss mit seiner Frau beredet, was er anstellt. Leider aber wird– wenn er nicht aufpasst – eben dieses Gespräch unter Eheleuten demnächst sein Nachtteil werden: So spießig soll die evangelische Kirche ja nicht lang mehr bleiben. … Aber das führt zu weit.—
Jesus jedenfalls führte das lange Gespräch mit dem samaritischen Weib – obwohl’s, wie es heißt, seine Jünger wundernahm, dass er mit einem Weibe redete (V.27) –, und diesem Gespräch verdanken wir unendlich viel.
Denn so wenig die Männerkirche es auch sehen wollte – die ja immer meinte, sie folge in den Fußtapfen des Herrn Jesus und darum sei er allein ihr Vorbild –, in Wirklichkeit finden sich das Muster und die Urform eines Christen und einer Christin in jener etwas zwielichtigen Arbeiterin, die um die Mittagszeit am Brunnen schuftet.
Sie müsste gewiss nicht dort in der größten Hitze alleine die schweren, ungelenken Arme des Hebelwerkes bedienen und ohne den geringsten Schatten ihr Wasser zurück in die Stadt tragen, wenn sie nicht so verrufen gewesen wäre: Die Umstände ihres Lebens sind wüst; fünfmal verwitwet und nun offenbar in einem gänzlich unklaren Verhältnis stehend, ist sie nicht recht dazugehörig.
Am allerwenigsten aber gehört sie in die Gesellschaft Jesu: Denn nicht nur die Lebensweise, sondern auch die Glaubensweise trennt sie von dem, der im Volk Israel die Gerechtigkeit Gottes so heilig hält, dass er in seiner Bergpredigt lehrt, schon ein begehrlicher Blick sei Ehebruch (vgl.Matth528).
In der Nähe des Messias Israels, der das rettende Gesetz seines Vaters so auslegt, dass dadurch eine Gemeinde geschaffen werden soll, deren Gerechtigkeit noch besser ist als die der Pharisäer und Schriftgelehrten (vgl.Matth520), hat eine dubiose Schlampe aus dem Mischlingsvolk von Samaria, in dem die Freunde und die Feinde der biblischen Überlieferung sich nach der Vernichtung des israelitischen Nordreichs schamlos gepaart haben, nun wirklich nichts zu suchen. ….. Sollte man meinen.
Wenn Jesus doch das wahre Israel sammelt, wenn er die rechte Gerechtigkeit bringt: Wie kann dann eine solche verlorene Tochter der verlorenen Stämme vom Hause Jakob vor ihm bestehen? …
Wie kann er aus ihrem Becherlein trinken, von ihrem Brote essen? Wie nur? Wie? …—
Das ist die Frage der einzelgängerischen und grübelnden Frau.
Aber in Wirklichkeit ist es eine Weltfrage.
Die Kirchenfrage schlechthin:
Wie kann es eigentlich vor dem Gott Israels und im Namen des Messias Jesus eine Heidenkirche geben, in der doch von Hause aus Kraut und Rüben herrschen, wenn x-beliebige Völkerscharen hier bunt gewürfelt ihre zwielichtige Vergangenheit und ihre verworrenen kulturellen und sittlichen Verhaltensweisen verbinden?
Ist die Kirche, wie wir sie kennen, nicht ein Ding der Unmöglichkeit?
Kann die Volkskirche, die sich in dieser Welt nun wirklich an jeden Hals geschmissen hat, die politische Unzucht mit jedem Mächtigen trieb und hemmungslos allen Verbrechern und allen Narrenkönigen willfährig war, so lange sie dafür nur ein bisschen gefürchtet und gestreichelt und alimentiert wurde, … kann die Kirche dem Propheten aus Nazareth, dem Prediger der Herrschaft Gottes, dem Sohn des Höchsten etwa im Ernst das Wasser reichen wie die verlotterte, aber nach der Wahrheit suchende Samaritanerin?
— Das ist eine Frage, heute am Israelsonntag, die uns im Halse stecken bleiben muss!
Kann Gott die Kirche ertragen, oder muss er sie nicht hinab in den tiefen Brunnen stürzen, mit einem Mühlstein um den Hals und alle ihre Lügen, ihre Käuflichkeit, ihr Hass auf Israel, ihre schändliche Anpassung, ihr politisch korrektes Theater, ihr heidnisches Gebuhle um die Gunst der jeweiligen Gegenwart mit ihr? Wie um alles in der Welt kann Jesus sich also mit der christlichen Kirche einlassen, neben ihr sitzen, sie anhören und aus einem Kelche mit ihr trinken?
……. Die Antwort wird uns heute nicht als Persilschein gegeben!
Wir werden’s schlicht nicht hören, ob Jesus die verrückte Kirche in den Witwenkleidern ihrer vielen unglücklichen Verbindungen und in ihrem heutigen Geturtel mit dem Lebensgefühl des 21.Jahrhunderts annimmt, oder ob er sie – und nur damit wir uns verstehen: damit auch uns! – nicht doch als völlig Fremde sitzen lassen wird ……. ——
Umso gespannter, mit angehaltenem Atem müssen wir aber dem Gespräch auf Sichems Feldern zwischen der Samaritanerin und dem König der Juden lauschen.
Sie reden vom Glauben.
Von der Anbetung Gottes.
Und vom Unwissen.
Denn die Frömmigkeit, von der die trostbedürftige und dennoch so selbständig-selbstbewusste Außenseiterin geprägt wurde, ist ein eigentümliches Gebräu gewesen: Biblische Wurzeln und viel Volkstümliches haben bei den Samaritanern, den Nachkommen des nördlichen Israel, die sich mit den Siegern über Israel vermischten, ein Seligwerden nach ganz eigener Façon bewirkt.
Diesem auch uns so grundsympathischen Gedanken, dass eine gesunde Mischung von diesem und von jenem, von etwas Bibelstoff und mancherlei eigenen Zutaten eine gute Soße ergeben müsse – nach Geschmack zu variieren und den Landessitten anzupassen –, erteilt nun Jesus aber eine klare Absage:
Der zurechtgemacht Glaube ist Aberglaube. Ihr wisst nicht, was ihr anbetet!
Denn längst nicht alles, was mit Gott verbunden wird, ist echte Seelenspeise oder Wasser des Lebens. Dafür gab’s, gibt’s und kann es künftig nämlich nur ein Gütesiegel geben: „Made in Israel.“
Das Heil kommt von den Juden – und alle anderen Herkunftsbezeichnungen, alle anderen Religionsmixturen sind Nachahmungen, die in Unkenntnis des Richtigen das Falsche anbieten und zu Gift werden.
Da allerdings muss die Hoffnung, die in der brennend interessierten Frau aufstieg, als sie zu ahnen begann, dass es hier am Brunnen tatsächlich mit ihrer schöpferischen Rolle nicht so weit her sein mag, und dass wohl mehr von dem fließt, der keine Schöpfkelle hat (V.11), als sie mit all ihrem Gerät je zutage fördern wird, … da also muss die Hoffnung in ihr erlöschen: Wenn das Heil von den Juden kommt, wie sollte es sie dann erreichen?
Es ist – nach allem, was der Mann auf der Mauer gesagt hat – ja nicht auf dem Garizim zu finden, wo die Samaritaner (übrigens bis heute, bei Nablus in der Westbank!) Böcke und Lämmer schlachten und Gott damit dienen wollen.
Wenn aber die Wahrheit in Jerusalem ihre Stätte hat, wenn dort der Ursprung des Heils und sein irdisches Zentrum liegen – woran Jesus keinen Zweifel lässt – dann sollte sie alle Hoffnung fahren lassen, doppelt, dreifach ausgeschlossen wie sie ist:
Aus dem falschen Volk – da die Juden keine Gemeinschaft mit den Samaritanern haben (V.9) –; und vom falschen Geschlecht – da doch selbst eine Jüdin in Jerusalem nur von ferne aus dem Vorhof die schönen Gottesdienstes des HERRN schauen darf (vgl.Ps274) –; und dann auch noch das unsichtbare Brandzeichen der Unmoral auf ihrer Stirn, das dem aber doch nicht verborgen blieb, der da auf Jakobs Brunnenrand sitzt, als sei er der Erzvater selber, der einen Liebling hatte und seine anderen Kinder nicht in gleichem Maße lieben konnte oder wollte.
…. Wie weh das tut!
Da kommt einer und erzählt vom lebendigen Wasser, aber seine Predigt, die so durstig macht, so begierig, zu schmecken und sehen, wie freundlich der HERR ist, die quillt und sprudelt zwar, und am Ende sind es nur die Worte jenes Psalms von der festen Burg, in dem es heißt (Ps465f):
„Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heili-gen Wohnungen des Höchsten sind. Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie fest bleiben ……“
— Und ich, hier draußen – wo die Brunnen andres Wasser führen, wo’s nicht das Heil ist, das man mit Freuden aus ihnen schöpfen kann (vgl.Jes123) … – , wie soll ich fest bleiben und bei Trost? Werde ich denn nicht verdursten, je mehr ich davon höre?
— Es sind nur vierzig Kilometer hinab nach Jerusalem von den samarischen Bergen …. aber himmelweit für eine wie mich.
…… „O hätte ich Flügel wie Tauben, dass ich wegflöge und Ruhe fände!“ (Ps557) ———
Man muss diese Sehnsucht spüren, dieses Verlangen nach einem Ort, an den du nicht kannst, diesen Wunsch dazuzugehören, wo man nie heimisch werden wird, diese besondere Lage derjenigen, die niemanden hat und niemandem gehört und nie Teil des auserwählten Volkes werden kann, denn auch wenn ein Mann vielleicht noch das Zeichen des Bundes körperlich empfangen könnte, wird sie als Frau doch weder leiblich, noch gemeinschaftlich jemals ein-gegliedert werden können in das Heil der Juden. —
Man muss diese Verlassenheit spüren!
Diese ganz gezielte Hoffnung, die so hoffnungslos in’s Leere zu gehen droht.
Das muss man erkennen, um richtig zu verstehen, was Jesus der Samaritanerin schon gesagt hat und nun wiederholt, indem er von der Anbetung Gottes im Geist redet.
Das ist nicht das billige Ermächtigungsgesetz, das alle Heiden sich selbst ausstellen.
Der „Geist“ ist nicht jener Allgemeinplatz – im wahrsten Sinne des Wortes – den die Philosophen als den kosmischen Stoff verkaufen, in dem wir ja sämtlich irgendwie schweben und schwellen und schwurbeln und auf den wir uns also alle unsere religiösen oder atheistischen Reime machen können. „Geist“ ist nicht das, was jeden Menschen irgendwie zu etwas Gescheiterem und Frömmerem macht als das Viehzeug. „Geist“ ist nicht das, was man in der Kultur hie und da findet; „Geist“ ist nicht das, was man sich vorzugsweise sonntags früh im Waldesschatten vormacht, wenn es einen durchschaudert oder pumperlwohl beim Golfen auf dem Sommerrasen durchrieselt.
Das alles ist Psyche und Salat: teils ernsthafte, teils plumpe menschliche Selbsterfahrung.
Der Geist, der Gott ist, ist aber eben nicht die Begegnung mit mir selbst und dem Allgemeinmenschlichen oder der Allgemeinheit der Welt, die wir so gern als das Göttliche sehen.
Der Geist, in dem der Vater angebetet werden wird, ist vielmehr …. „Made in Israel“:
Es ist der Geist der Freiheit und der Heiligkeit, der das auserwählte Volk in Seiner Schule hat und der sie nicht zu Heiligen von geburtswegen, sondern zu Seinen Heiligen, zu Heiligen durch Ihn macht.
Das ist das Heilsgeheimnis der Juden: Nicht was sie von Hause aus sind, sondern wozu Gott sie macht: Zu Seinen Verbündeten und Boten, zu Seinen Gehorsamen und Genossen, zu Seinen Zeugen und zu Seinen Gefangenen, zu Seinen Sorgenkindern und Geliebten.
Wenn es aber das ist: Dass wir Gott nicht in unserem Geist anbeten sollen, sondern in Seinem, wenn es darum geht, dass Gott – weil Er Geist ist – die Freiheit besitzt und schenkt, dass alle Dinge neu und anders werden können, als sie schein- und sichtbar sind …. wenn es das ist, dass Sein Geist den Ort und den Weg zeigen, die Form und die Weise ausprägen kann, die aus Adamskindern Abrahamskinder machen, …… nun, dann muss die Frau am Brunnen nicht weinen, dass sie keine Jüdin ist und Jerusalem für sie unerreichbar bleibt.
Dann hat diese Samaritanerin tatsächlich an ihrem Brunnen den anderen Brunnen gefunden: das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung (vgl.Titus36), in dem sie eintauchen kann in den Geist und die Wahrheit des Gottes Israels, des Heilands aller Menschen.
Wie wunderbar doch Jerusalems Brünnlein strömen!
Wenn sie sogar bergauf fließen nach Samarien, wer wollte dann – weil die Samaritanerin es erlebt hat – nicht auch in der Kirche auf Gottes Wort hoffen:
„Ich will Wasser gießen auf das Durstige und Ströme auf das Dürre; ich will meinen Geist auf deine Kinder gießen“ (Jes443)?!
Amen.
9.Sonntag n.Trinitatis 28.07.2013 Matthäus 13,44-46 Stadtkirche Juliane Engert-Lavista
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen. (2. Thess 1,2)
Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Evangelium nach Matthäus, im 13. Kapitel, die Verse 44 bis 46.
Mt 13,44-46
Das Himmelreich gleicht einem Schatz, verborgen im Acker, den ein Mensch fand und verbarg; und in seiner Freude ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte den Acker.
Wiederum gleicht das Himmelreich einem Kaufmann, der gute Perlen suchte, und als er eine kostbare Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie.
Herr, heilige uns in der Wahrheit. Dein Wort ist die Wahrheit. Amen.
Liebe Gemeinde,
es ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Viele Menschen aus Italien und Deutschland ersehnen sich ein besseres Leben in dem unbekannten Land. Die Auswanderer wollen ihr Glück, die Erfüllung ihrer Träume finden. Für sie ist es das Ziel ihres Lebens. Das bisherige Leben wollen sie verändern. Sie suchen nach etwas anderem, danach Erfolg, Geld und bessere Lebensbedingungen zu haben.
Das alltägliche Leben ist hart. Für ihr Geld müssen sie lange arbeiten. Einige haben keine Arbeit und leben von der Hand in den Mund. Die Wohnverhältnisse sind häufig miserabel und die Wirtschaftslage schlecht. Zusammengepfercht in hohen Wohnblocks mitten in den Großstädten ist die Aussicht auf ein besseres Leben sehr düster. Und so hoffen am Ende des 19. Jahrhunderts viele Menschen auf die Erfüllung ihrer Träume in Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie geben alles auf. Die Menschen in Deutschland verkaufen ihr Haus, ihr Land und verlassen sogar den Großteil ihrer Familie, um nach Amerika überzusiedeln. Sie vertrauen darauf, dass das Schiff sie von Bremerhaven oder Hamburg sicher über das große Meer bringt. Im Gepäck haben sie dabei besonders die Hoffnung, in Amerika ein anderes Leben anzufangen.
Es sind viele. Zwischen 1850 und 1930 immigrieren 5 Millionen Deutsche in die Vereinigten Staaten von Amerika. Aus Italien kommen zwischen 1910 und 1920 über 2 Millionen Menschen, die ihre Heimat, ihr bisheriges Leben zurücklassen.
Und das ist nur ein beispielhafter Teil für so viele Menschen, die auf dem anderen Kontinent ein neues Leben führen wollen.
Sie alle nehmen die manchmal auch sehr abenteuerliche Reise in Kauf. Sie riskieren ihr Leben auf voll besetzten Schiffen. Die Überfahrt nach Amerika ist für die meisten die erste große Schiffsreise. Für einige auch die erste Reise überhaupt. Und dabei kostet sie ein Vermögen. Das erwirtschaftete und gesparte Geld fließt in den Traum vom Leben in Amerika. Sie wollen Goldgräber werden. Oder versuchen ihr Glück beim Teller waschen. Einige werden später Millionäre. Manche haben eine Geschäftsidee, die ihnen das Geld nur so zuspült.
Wieder andere können ihr Glück dort nicht finden. Amerika ist nicht für alle das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Bei den einen reicht das Geld nicht aus, um die Sehnsüchte zu stillen. Manche fühlen sich heimatlos und fremd.
Amerika war und ist nicht das Paradies auf Erden. Es gilt immer noch als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Noch immer werden Sehnsüchte und Träume im Blick auf Amerika geweckt und doch können sie dort nicht alle gestillt werden.
Denn es ist ein Land auf dieser Welt und nicht das Himmelreich. Hier und jetzt ist die unvollkommene Schöpfung. Da, wo wir leben, ist noch nicht alles gut. Bei uns werden manche Erwartungen enttäuscht. Auf dieser Erde gibt es Entbehrungen, Verluste und Leid. Und so hoffen wir auf das Gottesreich. Darauf, dass Jesus von dort wieder kommen wird, „zu richten die Lebenden und die Toten.“
Wir wollen Anteil an diesem Himmel haben. Wir streben nach dem Reich Gottes, das in Jesus Christus angebrochen ist und nach seiner Wiederkunft vollendet wird. Er selbst redet immer wieder davon, wie es dort, im kommenden Reich Gottes ist. Und dabei wissen wir gar nicht genau, wie es dort sein wird. Denn das Gottesreich ist erst einmal unscheinbar. Es blitzt wie der Schatz im Acker durch den lehmigen Boden und macht uns dann freudig. Das Himmelreich ist das Ende, die Vollendung unseres Suchens nach Erfüllung. Wie der Kaufmann, der die guten Perlen sucht, und zufällig die kostbare Perle findet.
Im Hier und Jetzt lebend mag das Reich Gottes fern und unnahbar erscheinen. Aber es geht uns alle an. Der Himmel kommt. Wie wir es im Vaterunser immer wieder beten: „Dein Reich komme“. Wir leben in der Erwartung, dass das alles um uns herum, noch nicht die perfekte Welt ist.
Wir finden uns an diesem Gott gewollten Ort wieder und blicken erwartungsvoll in die Zukunft.
Und das heißt auch, dass es hier noch nicht die vollendete Schöpfung ist. Auf die hoffen wir. Und in Jesus ist offenbar geworden, dass es sie geben wird, dass das Reich Gottes nach dem Wiederkommen Jesu vollendet wird.
Auch so wendet sich Gott uns immer wieder zu.
Dieses Himmelreich, diese vollendete Schöpfung hat Jesus uns schon vor Augen gemalt. Mit seinen Bildern, mit seinen Predigten, mit den Gleichnissen können wir erahnen wie es dort sein wird.
Wie eine kostbare Perle, die beim Tagesgeschäft gefunden wird, funkelt das Himmelreich.
Wie ein edler, wertvoller Schatz, der zwischen Geröll und Erde im Acker liegt, bis er von einem Mann gefunden wird, so ist das Reich Gottes.
Darauf hoffen wir mit vielen anderen Christen auf der Welt. Es ist das Kostbarste, was es gibt und zugleich das, was sich nicht einfach suchen lässt. Manchmal können wir es schon heute erahnen. Wenn Vergebung zwischen Menschen wirklich gelingt, dann ist das kostbar, dann lässt sich erahnen wie sehr das Himmelreich strahlt. Oder wenn ein Kinderlächeln die Herzen von verbissenen, mürrischen Menschen öffnet, dann ist das kostbar und wie eine zufällig gefundene Perle.
Und dann ist da noch die große Veränderung, die mit dem Reich Gottes in unser Leben eintritt. Der Blick auf das bisherige Leben wandelt sich. So haben es auch die beiden Männer erlebt, von denen Jesus heute in den beiden Gleichnissen über das Himmelreich erzählt.
Der eine Mann findet einen Schatz im Acker, versteckt diesen und gibt freudig alles auf, was er besitzt, um diesen Acker zu kaufen. Der Mann wendet sich von dem ab, was er vorher sein Eigen nannte. Niemand, wirklich keiner, kann verhindern, dass der Mann sein bisheriges Leben aufgibt.
Wie eine Perle, die in einer unscheinbaren Muschel versteckt ist, so ist der Schatz im Acker versteckt. Dem Mann wird der Schatz im Acker zu einer Perle. Der Schatz, seine persönliche Perle, überstrahlt die Unscheinbarkeit des lehmigen Bodens. Sein bisheriges Leben erscheint in einem anderen Licht. Die Erde, der Lehm, die Steine und das Geröll lenken den Finder dabei nicht von dem Eigentlichen, dem Einzigartigen dieses kleinen Erdteils ab. Dem Mann bedeutet der Besitz des Schatzes mehr als sein bisheriger Besitz. Alles Materielle, das sein Leben bereicherte, verkauft er, um diesen Acker zu haben. Und dann?
Dann endet das Gleichnis. Wir erfahren nicht, wie es weitergeht. Keiner weiß, ob der Landwirt glücklich oder unglücklich mit dem Besitz des Ackers ist. Und hier liegt für mich der Schatz vergraben: Mit dem Kauf des Ackers endet das Alltägliche. Dann bleibt das Unbeschreibliche. Das ist das Ende. Das ist die Vollendung des Himmelreiches.
Auch der Kaufmann, der gute Perlen sucht, gibt alles auf. Der Händler erwirbt jeden Tag diese kleinen Schätze, die in einer Muschel versteckt sind. Jede einzelne Perle wandert durch seine Hand. Der Mann kennt die Merkmale und sieht, wieviel eine Perle wert ist und ob sie Makel hat. Ihm ist daran gelegen, nur einwandfreie Perlen zu finden. Zufällig kommt ihm beim Perlenhandeln dann diese eine kostbare Perle zwischen die Finger. Wie bei den anderen Perlen begutachtet er diesen unscheinbaren Schatz. Der Kaufmann sieht, dass sie anders ist als die anderen.
Ja, er hat viele gute Perlen bis jetzt gesehen, aber diese ist besonders. Diese ist einzigartig. Die Perle ist kostbarer als alle anderen. Die Perle hat seinen Blick auf das Leben verändert. Der Händler verkauft alles, was er hat, um diese kostbare Perle, die ihm zum Schatz geworden ist, zu besitzen. Er legt alles daran, dieses letzte Geschäft zu tun. Es ist so, als ob er seine geschäftigen Tätigkeiten zu einem Ende gebracht hat.
Auch hier endet das Gleichnis einfach so. Wir erfahren wieder nicht, wie es mit dem Mann weitergeht. Der Höhepunkt ist zugleich der Zielpunkt des Gleichnisses.
Ich sehe hier die Makellosigkeit der Perle. Das ist das Ende. Es bleibt die Unbeschreiblichkeit dessen, was kommen wird. Das ist höher als unsere Vorstellungskraft. So ist das Himmelreich.
Kleine, unscheinbare Dinge werden hier zu Kostbarkeiten. So erzählt Jesus uns vom Reich Gottes. Jesus malt farbenfrohe Gemälde vor unseren Augen, damit wir das Reich Gottes erahnen können.
Hier wird das Reich Gottes verglichen mit dem verborgenen Schatz im Acker. Der Schatz, der im Acker versteckt wird, ist auf den ersten Blick nicht erkennbar. Erde und Steine bedecken die kostbare Truhe. Dieser wertvolle Schatz wird von dem Mann zufällig gefunden. Ohne Plan und besonderes Suchen stößt er am Wegesrand auf diese Kostbarkeit.
So auch der Kaufmann mit der kostbaren Perle. Er macht sich auf den Weg, um gute Perlen zu finden, aber er sucht nicht die eine ganz besondere Perle. Sie wird vom Perlenhändler im Alltag gefunden.
Da vergleicht Jesus das Himmelreich mit dem Kaufmann, der alles für diese kostbare Perle aufgibt.
Und solche Kostbarkeiten kennen auch wir. Die große Liebe kann man nicht suchen. Sie wird gefunden. Dann hat die vermeintliche Suche ein Ende. Es fühlt sich richtig und vollkommen an. Auf einmal erscheint alles in einem neuen Licht. Dafür wird manchmal einiges aufgegeben: Wohnort, Familie, Freunde. Der 1. Johannesbrief berichtet von solch einer Liebe. Diese Liebe ist Gott (1.Joh 4,8). Gott ist die Liebe.
Und diese Liebe findet uns.
Nicht wir suchen danach. Gott findet uns.
Er liebt uns zuerst und nimmt sogar in Jesus Christus Gestalt an. Und diese Erscheinung der Liebe Gottes wendet sich uns zu.
Jesus findet uns, so wie die kostbare Perle den Perlenhändler findet. Und so wie der Schatz im Acker den Mann findet.
Wir sind dann wie der Kaufmann und wie der Mann am Acker. Wir folgen Jesus und seiner Lehre. Wir werden Jüngerinnen und Jünger.
Dabei werden das Übel und das Leid der Welt hier nicht weggenommen. Jesus erlebt die übelste Weltlichkeit sogar an sich selbst. Er muss den Weg von Sterben und Tod gehen, nachdem und obwohl das Reich Gottes in ihm angebrochen ist.
Und trotzdem gibt Jesus uns einen Vorgeschmack darauf, wie es im Himmelreich sein wird. Er führt uns vor Augen, dass sich manchmal schon jetzt Himmel und Erde berühren. In ihm wird offenbar, dass das hier angebrochene Gottesreich nach seiner Wiederkunft dort vollendet wird.
So machen wir uns freudig auf den Weg in die Zukunft. Wie die Emmigranten, die die Hoffnung auf ein besseres Leben im Gepäck haben, und dann nach Amerika aufbrechen, so haben wir im Gepäck, dass Jesus einst wiederkommen wird und das Reich Gottes endgültig einbricht.
Trotz Hindernissen, Untiefen im Atlantik und unwegsamen Straßen zogen die Auswanderer in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und ihre Hoffnung auf ein besseres Leben blieb.
So vertrauen auch wir trotz mancherlei Hindernissen den neuen Wegen, die sich uns durch die Hoffnung auf das Himmelreich eröffnen.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. (Phil 4,7) Amen.
9.So. n. Trin. 28.07.2013 Jonakirche Matthäus 13,44-46 Jonas Marquardt
Predigt Jonakirche 9.n.Trin. - 28.VII.2013
Matthäus 13,44-46
Liebe Gemeinde!
Jesu Doppelgleichnis von den zwei Glückspilzen scheint zunächst fast ein wenig simpel – wie ein seichter Groschenroman. Alles an ihm ist ja unglaubhaft glücklich: Nicht nur die sagenhaften Funde, die dem Mann auf dem Acker und dem Juwelier zufallen, sondern dazu auch noch das tadellose Verhalten dieser beiden Mustermenschen. …….
Wo jeder andere, der auf dem Feld den berühmten goldenen Topf fände, wahrscheinlich doch besinnungslos vor Freude einfach losgestürmt wäre, mit dem Schrei: „Juhu! Was kost’ die Welt?“, da schließt dieser Ehrenmann zunächst umständlich die Krume, bringt dann das langwierige Geschäft des Ackerkaufs über die Bühne und hebt erst zu guter Letzt den verborgenen Schatz, als ihm alles formal korrekt gehört. So hat der Finder sein unerhörtes Glück in die geregelten Bahnen der Ordnung gebracht. …. Das ist doch sonderbar unglaubhaft!
Und dann der Schmuckhändler, der auf die rare Perle trifft! Wir hören nicht, dass er leise zwischen den Zähnen pfeift und dann möglichst kaltblütig feilscht wie jeder andere, der auf dem Basar die Ware, die er erstehen will, geringschätzig tadelt, um ihren Einkaufspreis zu drücken. Stattdessen bietet er offenkundig sein sämtliches Vermögen, Rücklagen und Sicherheiten auf, um den angemessenen, haushohen Wert des Solitärs überhaupt zusammenkratzen zu können. Wie mustergültig ….. und wie ungeschickt!
Die beiden Sonntagskinder, an deren Stelle jeder von uns zur Selbstbedienung und zur Schnäppchenjagd geneigt hätte, sind umso erstaunlicher, je weniger wir sie einfach als Günstlinge des Geschicks betrachten, und je mehr wir dafür ihr kreuzbraves, grundehrliches, ja geradezu pedantisches Wesen erkennen: Sie sind gar nicht irgendwelche Schlaraffen, die sich das Fallobst aus Fortunas Füllhorn einfach so in Maul und Taschen stopfen, sondern Menschen sind sie, die das Glück ihres Lebens willig bezahlen.
Das entzaubert die phantastische Atmosphäre des Feenmärchens dann doch einigermaßen.
Kein kleines Volk, das mit seinen unterirdischen Reichtümern erst die Großmannssucht in einem gierigen Menschen schürt und dann sein Verderben wirkt; kein Hort der Nibelungen, dessen düster lockendes Geheimnis Jahrtausende hindurch den Goldrausch weckt; kein Troja, dessen Schatz Schliemanns Ruhm wurde und auch nach seiner Entdeckung noch wechsel- und rätselhafte Abenteuer auslöste; kein blauer Wittelsbacher, dessen Besitz und dessen Schliff bis heute die Gemüter erhitzen.
Alle sagenumwobenen, mysteriösen Zutaten fehlen eben in dem Gleichnis von zwei Glücklichen, die ihr Glück erkannten und alles andere dafür hergaben.
Dafür stoßen diese irritierenden, zunächst so schlicht und nun so geradezu streng wirkenden Erzählungen eine doppelte Frage an: „Was wäre denn für Dich das Schönste? – und was würdest Du wohl dafür einsetzen?“
Denn das ist ja unverkennbar: Das Schatz- und Perlengleichnis Jesu fordert alle, die es hören dazu auf, sich ganz nüchtern dem besonderen Gefühl des unverhofften Reichtums zu nähern. Wie mag es also sein, wenn mitten auf dieser Welt, die sonst so voll des Alltäglichen ist, plötzlich das vor unseren Füßen liegt, das uns alle Sorgen nehmen kann, das, wovon wir nie zu träumen gewagt hätten?
Wie mag es sein, wenn wir plötzlich über etwas stolpern, das uns Aussichten eröffnet, die völlig jenseits und außerhalb unseres Horizontes lagen?
Wie mag es sein, wenn man erkennen muss, dass einem die Vollkommenheit in die Hand gerollt ist und wir eine Herrlichkeit greifen können, die alles übertrifft, das uns je begegnete?
Werden wir unbesonnen, trunken vom Anblick und versuchen wir, wie im Rausch die ungeahnte Freiheit, die grenzenlose Pracht an uns zu reißen und damit auf und davon zu rasen?
Greifen wir instinktiv zu und verschließen das Erbeutete wie ein Pfand in der Faust?
Schlagen Habgier und Misstrauen uns sofort in den Bann, so dass wir werden wie jene unvergessliche, blutleere, traurige kleine Missgeburt, die im großen Epos vom „Herrn der Ringe“ der Lockung des kostbar-zauberhaften Fingerreifs so verfallen ist, dass sie nur noch vom Fieber des Besitzzwangs lebt?
All das läge ja nahe genug.
– Oder können wir uns als die Hörerschaft Jesu in das Glücksgleichnis einfühlen, in dem die Zufallsfügung zwei Menschen eine neue Erkenntnis des Wertvollen und Wichtigen beschert?
Gleichnisse sind ja von Hause aus keine Schnurren oder Anekdoten, die bloß Staunen erregen sollen; Gleichnisse sind Lern- und Lehrstücke, die im Kopf und im Leben der Hörer etwas verschieben, umdrehen, anstoßen, auslösen wollen:
In diesem Falle also gewiss nicht etwa Neid – „Warum geschieht mir denn nie so eine Überraschung?“ – sondern den Eifer, die rätselhaft überlegte Handlungsweise der beiden Finder zu verstehen und nachzuvollziehen. —
Es kann also sein, dass Menschen das große Los ziehen und dass sie dadurch nicht etwa leichtsinnig, sondern geradezu erleuchtet werden.
Wer erfährt, wie ihm die Schönheit, wie ihm der Überfluss geschenkt wird, der gibt dafür offensichtlich gerne die groben und kargen Freuden her, die er bisher für das Höchste hielt.
Er gibt diese Dinge her, weil er erkennt, dass er sie nicht braucht und nicht gebrauchen kann, wenn er das echte Glück ergreifen will.
Ein Kehraus muss also stattfinden, eine Kontoauflösung, eine Kellerräumung, ein Abschied vom unnütz Überflüssigen, damit das Eine Raum hat, damit das Eine wirken und bleiben kann und nicht von den Nebenwirkungen und Ablenkungen des vielen anderen überlagert wird.
Darum geht die eigentlich so außergewöhnliche, so überwältigende Entdeckung des Schatzes auch nur in geordneten Bahnen vonstatten:
Das allesentscheidende Ereignis und Glück soll eben gerade nicht wie ein unsicherer Raub und krummes Ding, sondern auf rechten Wegen das Leben derer bestimmen, die es erfuhren. Niemand braucht dann nämlich jemals zu befürchten, was er als das Beste erkannt hat, werde ihm eines Tages abgesprochen und genommen, sondern es soll und wird ihm vor aller Welt und allen Menschen unanfechtbar überlassen sein. ———
Worauf das zielt, ist dabei sonnenklar.
Wenn wir Gottes Verheißung für diese Welt und also auch für uns entdecken, wenn uns ihre Bedeutung und ihr Wert für Zeit und Ewigkeit aufgehen, dann werden dafür andere, gewöhnliche Haupt- und Lieblingssachen unwichtig. Was sonst zentral war, wird entbehrlich; was sonst satt zu machen schien, wird schal und bitter; was sonst befriedigte, zeigt sich als Trug; was sonst beruhigte, berührt nicht einmal mehr. Es kann alles raus, man kann es loslassen, weil es plötzlich kalt lässt. …..
— Nur: Ist dem so? Sehen wir Christen bei uns und beieinander etwas davon? Sehen wir danach aus, dass wir den ganzen alten Kram nicht mehr nötig haben, weil das Reich Gottes unser ganzes Glück ist, weil seine überirdisch aufleuchtende Schönheit unsern Geschmack und unsere Lust am Schein der Welt und an den silbern geäderten Scheinen des Mammon weggenommen hat?
Wohl kaum.
Eher ähneln wir dem Helden des Perlenliedes, das die antiken Christen Syriens – deren Wurzeln tief sind und deren Tage auf so tragische Weise gezählt scheinen – einst erfanden[1]. Dieses sogenannte „Perlenlied“, das sich in einem apokryphen Bericht über den schillernden Apostel Thomas findet, ist eine faszinierende Umdichtung des klaren Gleichnisses Jesu, das zurück in die mythische Fabelwelt versetzt wird.
Es erzählt in orientalischer Farbigkeit und mit alles anderer als lupenrein biblischer Phantasie das Märchen von einem indischen Königssohn, der aus den dämonischen Gewässern Ägyptens eine Perle fischen soll. In Ägypten vergisst er seinen Auftrag, bis Vater und Mutter – die hier für Gott und den Heiligen Geist stehen – ihm einen Brief schreiben, der ihn aus seiner trägen Gewöhnung aufweckt und herausreißt, so dass er tatsächlich erfolgreich nach der versunkenen Perle taucht.
Die zusätzlich in das Lied hineinverwobenen Motive eines herrlichen Gewandes, das den verlorenen Sohn zuhause erwartet, und der innigen Verbindung mit seinem Zwilling – der niemand anderer als Jesus ist – sollten wir getrost beiseitelassen: Sie zeigen nur, dass das abenteuerliche und esoterische Perlenlied dem biblischen Evangelium viele spekulative und ungesunde Züge beigemischt hat.
In dieser üppigen Legende ist die klare Stimme Jesu, der uns zum Austausch des Überflüssigen gegen das ewige Glück bewegen will, nicht mehr zu hören!
Aber umso vertrauter wirkt auf uns – bei allem Abstand von beinahe zwei Jahrtausenden und bei aller Fremdheit des orientalischen Christentums für uns Europäer – doch die menschliche Schilderung träger Vergesslichkeit, die menschliche Erfahrung des beinah vollständig unbewussten Versinkens in dem, was uns umgibt: So wie unsern Brüdern und Schwestern vor Generationen im Vorderen Orient, so geht es uns bis heute.
Die Bedeutung und der Wert dessen, was uns das Evangelium vom kommenden Reich Gottes in die Hände legt, prägen unser Leben viel zu wenig, viel zu selten.
In Jesus Christus ist die ganze Schönheit und Wahrheit der Liebe Gottes ja hier auf der Weltkarte, auf den Kalenderblättern der Geschichte, im Tageslicht unserer Erde erschienen, jeder von uns wird schon darauf gestoßen sein, jeder von uns hat es bisweilen nicht mehr übersehen können, dass wir alle Sorgen los wären, wenn wir es nur endlich aufgreifen würden, was da liegt: Dass Gott uns erlöst und zum Leben bestimmt hat.
……. Doch wir bleiben wie angewurzelt stecken in den Vorstellungen und Zwängen eines Lebens ohne Gott: Angst vor der Zukunft, Verwicklung in die eigenen Ansprüche, Zweifel angesichts allzu naiver Fröhlichkeit, Ärger über fremdes Glück, Missgunst nach außen, Materialismus als Ersatzbefriedigung im Inneren. ……….
Wie schade!
Wie töricht!
Wie unnötig!
Denn das Himmelreich ist keines jener vierblättrigen Kleeblätter, die tatsächlich nur den Sonntagskindern sprießen. Und es bedarf weder eines Metalldetektors, noch des berühmten siebten Sinnes, noch einer britischen Passion für skurrile Hobbies, um auf die Schatzsuche nach dem Evangelium zu gehen.
Denn das Evangelium ist voller Großzügigkeit ausgestreut über die ganze Erde.
Wer nur ein wenig bohrt, wer die Erde, von der wir genommen sind und ihren Staub nur ein wenig betrachtet und befragt, der wird – sofern er für Jesu Stimme Ohren hat – auf das Wunder stoßen, auf den unerschöpflichen Reichtum an Hoffnung und Freude, dass Gott ausgerechnet in diese Erde sein Liebstes gelegt hat und dass er seinen Schatz im Grab doch nicht verschüttet ließ, sondern ihn hervorgebracht und ausgeteilt hat, dass er die Botschaft vom neuen Leben und vom Vergehen der alten Schuld und Schmerzen als die schönste und hellste aller Nachrichten mitten im Gemischtwarenladen der Welt auslegt und anbieten lässt.
Das kleine Doppelgleichnis erinnert uns ja genau daran. Es ist der wieder und wieder ausgesandte Brief, der uns drauf stößt, dass uns die wunderbarste Kostbarkeit längst anvertraut ist und wir sie nur ernst nehmen, ihr – anstatt sie unbeachtet vergraben und verstauben zu lassen – nur den richtigen Rahmen geben müssen, um wie die glücklichsten Menschen, die es nur geben kann, zu leben.
Mit den Worten eines der anregungsreichsten Dichter unserer Tage (wenn auch leider nicht unserer Kirche), Peter Gerloff:
„Eine Perle musst du wählen,
die nur dir gehört,
und sie wird von Glück erzählen,
von Verlust und Wert.
Eine Perle musst du halten,
die von innen glänzt,
und sie wird dich umgestalten,
dass du von ihr brennst.
Eine Perle ist für jeden
unterm Schutt versteckt,
und dein Herz beginnt zu reden,
wenn es sie entdeckt.
Eine Perle, die nur dein ist
und nur dir gefällt,
spricht in allem, was noch Schein ist,
von der neuen Welt“.
Amen!
[1] Ein literarisch eigenständiger Abschnitt aus den apokryphen Thomasakten (ActTh108-113), der ein eindrückliches Zeugnis der frühen syrischen Poesie und eigentümlichen (gnostischen?) Frömmigkeit des damals vielgestaltigen orientalischen Christentums ist; er lag der Gottesdienstgemeinde in Übersetzung vor.
6.Sonntag n.Trinitatis 07.07.2013 Jesaja 43, 1 - 7, Stadtkirche, Pfr.i.R. Dr. Ferdinand Schlingensiepen
7.Juli 2013 Jes. 43, 1 – 7 Stadtkirche
Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel,
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.
Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen. Denn ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Ich habe Ägypten als Lösegeld für dich gegeben, Kusch und Seba an deiner statt, weil du in meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb habe.
Ich gebe Menschen an deiner statt und Völker für dein Leben. So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten her deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln. Ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.
Liebe Gemeinde,
der heutige Predigttext hat mich an Erlebnisse bei unserer Gemeindefahrt nach Breslau und Krakau im vorigen Monat erinnert. Wir waren von Breslau aus in Kreisau, dem Gut der Familie Moltke, und auf dem Weg nach Krakau waren wir in Auschwitz. In Kreisau habe ich besonders an einen Brief des Grafen Helmuth von Moltke gedacht. Es ist der Brief, den er unmittelbar, nachdem ihn Hitlers Blutrichter Roland Freisler zum Tode verurteilt hatte, an seine Frau geschrieben hat. Das war zwar streng verboten; aber der Gefängnispfarrer Harald Poelchau hat die Briefe des Ehepaars , unter seinem Hemd versteckt, hin- und hergetragen.
In dem langen Brief, blickt Helmuth James von Moltke auf sein Leben zurück und sagt, es habe „unendliche Umwege und verschrobene Zickzackkurse“ in seinem Leben gegeben; aber alles sei schließlich verständlich geworden durch eine einzige Stunde. Freisler habe ihn zum Tode verurteilt, weil er ein Christ sei; aus keinem anderen Grund; denn alle anderen Gründe hatte Freisler fallen lassen müssen. Der 38jährige Moltke nennt dann die wichtigsten Menschen und Ereignisse, die sein Leben geprägt haben; und dann sagt er, damit habe ihn Gott vorbereitet: Für diese eine Stunde hat der Herr sich all diese Mühe gegeben.
Ich kenne kein stärkeres Zeugnis dafür, das man den heutigen Bibeltext unmittelbar auf das eigene Schicksal beziehen kann, als diesen Brief; denn da schreibt der zum Tode Verurteilte: Ich bin nur voll Dank, eigentlich ist für nichts anderes Platz. [Der Herr] hat mich die 2 Tage so fest und klar geführt: Der ganze Saal hätte brüllen können, wie der Herr Freisler,... sämtliche Wände hätten wackeln können, und es hätte mir garnichts gemacht; es war wahrlich so, wie es in Jesaja 43,2 heißt: „Und so du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht sollen ersäufen; und so du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen.“ Nämlich deine Seele.
Mir war, als ich zum Schlusswort aufgerufen wurde, so zu Mute, dass ich beinahe gesagt hätte: Ich habe nur eins zu meiner Verteidigung anzuführen: Nehmen sie den Leib, Gut Ehr Kind und Weib, las fahren dahin, sie haben´s kein Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben.
Aber das hätte doch die[Mitangeklagten] noch belastet. So sagte ich nur: ich habe nicht die Absicht, noch etwas zu sagen, Herr Präsident.
Jes. 43 ist seit Jahren für mich mit Kreisau und Helmuth James von Moltke verbunden. Und so hat mich dieser Text, als ich ihn mir für die Predigt vornahm, in Gedanken zurück nach Kreisau gebracht.
Und 2 Tage später waren wir in Auschwitz, wo einem ja nicht nur die Worte im Hals stecken bleiben, sondern wo die Gedanken stocken und kein Bibelwort einem hilft. Aus Hunderten von Bussen quollen immer neue Menschenströme. Während man eine Treppe raufgeführt wurde, kamen einem ganze Scharen von oben entgegen und von draußen wollten schon die nächsten Gruppen hinein.
Dem Volk, dem die meisten Menschen angehört haben, die dort ermordet worden sind, und nur ihm, gehörten einmal die Verheißungen des heutigen Predigttextes. Angeredet werden darin im 6. Jhdt v.Chr. jüdische Zwangsarbeiter im babylonischen Exil. Die meisten, die aus der Heimat nach Babylon verschleppt worden waren, sind längst tot. Aber sie haben dafür gesorgt, dass ihre Kinder und Kindeskinder auch im Exil am Gott der Väter festhalten konnten; und denen lässt Gott nun durch den Propheten sagen, dass sie heimkehren dürfen. Gott redet sie als sein auserwähltes Volk mit DU an: Fürchte dich nicht; denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. 40 Mal heißt es in diesen sieben Versen: Du und ich, mein und dein. Das gibt es sonst nur in Liebesliedern, wie dem mittelalterlichen Du bist min, ich bin din: Des solt du gewis sin. Du bist beslozzen In minem herzen: Verlorn ist das slüzzelin: Du muost immer drinne sin.
Und ist es nicht ein Liebeslied, das Gott seinem Volk hier singen lässt? Ihr werdet heimkehren, und weder Feuer noch Wasser werden euch umbringen; nicht einmal aufhalten können sie euch; denn ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Damit das geschehen kann, verspricht Gott, die Weltgeschichte durcheinander zu wirbeln. Der Perserkönig Kyros wird Babylon einnehmen und den dorthin verschleppten Juden erlauben, nach Jerusalem zurück zu kehren. Dann werden die Perser Ägypten besiegen und das große Land am Nil ihrer Herrschaft unterwerfen. In unserem Text wird das geweissagt: Ich habe Ägypten für dich als Lösegeld gegeben.
Und – so fährt der Prophet im Namen Gottes fort – Ihr werdet nicht die einzigen sein, die zurückkehren. Aus allen Himmelsrichtungen werde ich Deine Söhne und Töchter heimholen, alle, die mit meinem Namen genannt sind.
Kein Wunder, dass das heutige Israel von dieser Verheißung sagt: Die gilt bis in unsere Gegenwart uns.
Dass Helmuth James von Moltke den Text auf sich bezogen hat, das würden ihm die Juden vermutlich gönnen. Der hat sein Leben für die Verfolgten während der Hitlerzeit eingesetzt. Aber was sagen fromme Juden, wenn wir den Text auf uns beziehen? Vermutlich sagen sie: Das kennen wir doch von euch. Das habt ihr Christen schließlich fast 2000 Jahre lang gemacht; und nicht nur das; Ihr habt behauptet, dass Gott uns verstoßen hätte und dass ihr jetzt das Volk Gottes wärt.
Was sollen wir darauf erwidern? Wir können höchstens sagen, dass Jesus uns Christen auch sagt: Fürchtet euch nicht; und dass er es ist, der uns mit seinem himmlischen Vater, dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, für immer verbunden hat.
Der heutige Sonntag trägt den Namen Taufsonntag, weil das alte Evangelium für den heutigen 6. Sonntag nach Trinitatis, das Ende des Matthäusevangeliums ist, wo Jesus die Jünger um sich versammelt und sagt: Gehet hin und macht zu Jüngern alle Völker und tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.
Und weil der erste Vers des alten Liebesliedes, das Gott seinem Volk Israel singen ließ, sich so wunderbar als Taufspruch eignet, darum hat man für den heutigen Sonntag Jes. 43 als Predigttext ausgesucht. Fürchte dich nicht; denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.
Ich denke, wir sollten uns jetzt zuerst ganz nüchtern eingestehen, dass man den ersten Vers aus dem Zusammenhang reißt, wenn man ihn als Taufspruch nimmt; denn ich gebe Menschen an deiner statt und Völker für dein Leben, das sagt Gott nun wirklich keinem Säugling zu, den wir zur Taufe bringen. Und die Weltgeschichte wird zwar im Augenblick in Ägypten und anderswo wieder einmal wild durcheinander gewirbelt, aber doch nicht weil in der Stadtkirche von Kaiserswerth Kinder getauft werden. Ich weiß, ich mache mich hier einer groben Karikatur schuldig; aber ich tue es, weil wir nach Auschwitz mit dem Alten Testament nicht mehr so umgehen dürfen, wie es die Kirche Jahrhunderte lang gemacht hat. Da hieß es: Das Buch hat einst den Juden gehört; aber jetzt gehört es ihnen nicht mehr, jetzt gehört es uns. Die Juden waren einmal das Volk Gottes; aber jetzt sind sie es nicht mehr. Jetzt sind wir das Volk des Eigentums, und die Juden sind verworfen. Die Kirche hat mit dieser ganz unbiblischen Predigt schweres Unrecht auf sich geladen.
Wenn nun Jesus trotzdem seinen Jüngern das Fürchtet euch nicht zuruft, was bedeutet das für uns? Sind wir Jüngerinnen und Jünger Jesu? Am vorigen Sonntag hat Pfarrer Marquardt hier über das Jesuswort aus Lukas 14 gepredigt – oder soll ich sagen: er hat darüber predigen m ü s s e n ?, weil es der für den vorigen Sonntag vorgeschriebene Predigttext war ? Da hieß es: Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder Brüder Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein. In der hannoverschen Kirchenzeitung hat ein Pfarrer einen Brief an den Herrn Jesus abdrucken lassen, das ginge nun wirklich zu weit, das hätte er nicht sagen dürfen. Das klingt ein bisschen verrückt; aber wer von uns hätte mit diesem Wort keine Schwierigkeit?
Was uns damit gesagt wird, ist in der Predigt am vorigen Sonntag natürlich auch vorgekommen, nämlich dass man Christ nur ganz oder gar nicht sein kann. Denken wir noch einmal an Helmuth von Moltke, der in seinem Schlusswort nach dem Todesurteil sagen wollte: Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, lass fahren dahin, sie haben´s kein Gewinn; das Reich muss uns doch bleiben. Es geht um eine radikale Entscheidung, um ein Entweder/Oder. Und das soll sich jeder unbedingt klarmachen, ehe er oder sie sagt: Ich gehöre zu Jesus.
Der macht uns mit diesem Wort zu einzelnen, die das nur allein entscheiden können und sich dabei auch hinter den Nächsten und Liebsten nicht verstecken dürfen. Es tut weh, das so krass und unerbittlich gesagt zu bekommen, aber wer es akzeptiert, dem gilt das Fürchte dich nicht mit all den anderen Verheißungen Jesu, der ja auch sagen kann: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken, und der damals die Seinen hat wissen lassen: Was der himmlische Vater uns Juden verheißen hat, die wir sein Volk sind und immer bleiben werden, das gilt durch meinen Tod am Kreuz und meine Auferstehung allen Menschen in der Welt, die auf mich und die Apostel, die ich ausgesandt habe, hören. Denn so wird erfüllt, sagen Jesus und seine Apostel, die allesamt Juden waren, was Gott vor Zeiten unserem Vater Abraham verheißen hat: Ich will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen und verfluchen, die dich verfluchen, und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.
Wenn wir entschiedene Jünger Jesu sind, dann gilt für uns auch sein Gebot: Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch beleidigen und verfolgen. Längst ehe Christen diese schwierige Lektion gelernt haben, die zum Lernpensum der Jüngerinnen und Jünger Jesu gehört, bekommen sie die Liebe zu ihren Liebsten, zu Vater und Mutter, zum Ehepartner, zu Kindern, Schwestern und Brüdern in einer ganz neuen Qualität zurück geschenkt.
Ich komme zu dem politischen Teil unseres heutigen Predigttextes zurück, der ursprünglich keine Botschaft für uns war; aber wir dürfen heute mit Israel, dem auserwählten Volk Gottes, darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn Gott die Weltgeschichte durcheinander wirbelt. Was im Augenblick in Ägypten geschieht, kann einem schon Angst einjagen. Selbst hier in Deutschland, aber erst recht überall im Nahen Osten und dort nicht zuletzt in Israel. Gott sagt denen, die dort und hier auf ihn hören: Fürchtet euch nicht!
Das Lied, das wir gleich singen werden, stammt von Schalom Ben-Chorin. Er gehört zu den jüdischen Gelehrten, die nach dem zweiten Weltkrieg bereit waren, das Gespräch mit evangelischen Theologen in Deutschland aufzunehmen. Der daraus folgende christlich-jüdische Dialog gehörte lange Zeit zu den wichtigsten Ereignissen der ev.Kirchentage. Dieser Dialog hat unsere Theologie und unsere Kirchenordnungen verändert, und das war ein großes Geschenk. In Israel gehören unsere Gesprächpartner übrigens zu den schärfsten Kritikern der Politik, die Mauern errichtet und sich gegen die Lebensrechte der Palästinenser wendet. Das Lied vom blühenden Mandelbaum preist das uns von Gott geschenkte Leben, in dem Gott immer wieder Neuanfänge schenkt. Und auch aus den Worten dieses Liedes kann man den Zuspruch heraushören, der die Botschaft beider Testamente trägt: Fürchtet euch nicht. Amen.
Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?
Dass das Leben nicht verging, soviel Blut auch schreit,
achtet dieses nicht gering in der trüben Zeit.
Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht.
Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winde weht.
Freunde, dass der Mandelzweig sich in Blüten wiegt,
bleibe und ein Fingerzeig, dass das Leben siegt.
Schalom Ben-Chorin 1942
8.n.Trin. 21.07.2013 Johannes 9, 1- 9 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 8.n.Trin. - 21.VII.2013
Johannes 9, 1-9
Liebe Gemeinde!
Die Gemütsverfassung, in der die meisten Kinder seit vorgestern sind, ist vielleicht gar kein Ausnahmezustand, sondern eher die Grundstimmung des Menschen an sich. – Was den einen dabei die sechs langen Ferienwochen sind, ist den andern allgemein die Zukunft: Ein so unüberschaubar gedehnter Zeitrahmen, dass es sich nach Unendlichkeit anfühlt.
Und dabei sinkt die Sonne doch schon wieder!
Die Tage verkürzen sich. —
Diese Tatsache gleich so hart zu Beginn der unbeschwerten, träg über’s Heu und weit wie das Meer sich erstreckenden Sommerzeit in’s Gedächtnis zu rufen, will aber gar nicht Ausdruck einer spaßverderberischen „Gedenke-des-Endes“-Theologie sein, sondern eine Aufwachübung für Lebendige. Denn die Schläfrigkeit des abschaltenden Lebensgefühls, das auf uferloser Fläche schaukelt und vor sich hin dümpelt, ist nicht wirklich gesund.
Sonnenstich und -brand, auf der Strandliege schrumpelig gedörrte und entschlackte Seelen sind zur Erholung natürlich schön und gut und das dolce far niente sei uns allen mehr als gegönnt … aber trotzdem haben wir ja auch noch etwas vor.
… Die meisten von uns jedenfalls erwartet etwas Aufrüttelndes und sehr Bewegendes.
Nämlich der Tag, an dem von unseren offenkundigen Schwächen endlich laut und vor aller Ohren gesagt werden wird, was Jesus vom Gebrechen des Blinden sagt:
„So wurde er geboren, weil die Werke Gottes an ihm offenbar werden sollen!“
Mit diesem knappen Satz zerstört Jesus ja eine ganze gnadenlose Spekulationstheologie und eine ganze therapeutische und beratende Industrie.
Immer und immer wieder bewegen eher meditative Gemüter ja die Ursachen- und Sinnfrage:
„Wie kommt es eigentlich zu unseren menschlichen Problemen, zu den bitteren und beunruhigenden Erfahrungen der Unvollkommenheit, die uns so hilflos machen? Welche Rolle spielen innere und äußere Einflüsse, Genetik und Politik, Individualität und gesellschaftliche Verhältnisse? Sind die Nöte, die wir erleben, Produkte der Vergangenheit oder sollen wir schlicht die Eigenverantwortung der Betroffenen selbst behaupten? Sünden der Väter, eigene Schuld: Warum erleben so viele Menschen ein Dasein, das niemanden – die Leidenden nicht und auch die Betrachter nicht – ruhig schlafen lassen kann?“
So grübeln die Meditativen – gerade auch die Politischen unter ihnen – und weisen Schuld zu, schmieden Weltverbesserungspläne, schreiben Predigten und Programme.
Dagegen die Aktiven und Praktischen: Die rücken dem Übel zu Leibe, indem sie konsequente Autosuggestion betreiben.
Keine Illusion ist für uns ja so bezeichnend, wie die Allmachtsphantasie der Selbstheiler: Da werden Kinder schon zu Maschinen des selbstsüchtigen Durchsetzungsvermögens; eine ganze Generation kennt kaum ernstere Bewährungsproben mehr als die Steigerung des eigenen Selbstbewusstseins - koste es, was es wolle -, und der Maßstab für gelungenes Leben hat längst nur noch eine Skala: Wieviel hast Du selbst aus Dir gemacht?
Vorbei die Zeit, in der das wärmste Lob sich noch unbefangen aus dem Mund der Dankbar-keit hervorwagte: „Dieser Mensch war für andere da.“ Heute ist das eine Diagnose. ——
Doch egal, ob wir in der Ursachenforschung oder bei der Selbstverbesserung unsere Lebenszeit vertun:
Die Behebung aller unserer Störungen, die Beilegung aller echter Sorgen, die Heilung aller tiefen Schäden der Menschheit wird weder so, noch so gelingen.
Sollten wir darum also vielleicht rein passiv werden: Weil wir die Welt nicht wirklich ändern, weil wir keine Wunder wirken können, bleibt uns nur noch nichts zu tun?
Das sei ferne!
Auch wir können dem wahren Wundertäter unsere Möglichkeiten lassen:
Davor wollte sich im Jahr 1774 ein echtes Siegerländer Original im Reich Gottes – der in Straßburg zum Arzt gewordene, dichtende und geistersehende Freund Goethes, Herders und der Pempelforter Jacobis –, im Jahr 1774 also wollte Heinrich Jung-Stilling sich gern drücken. Er war aus Elberfeld zu einigen Patienten hinauf nach Wichlinghausen gefahren und strebte gegen Abend heim, als eine junge Frau ihn hartnäckig aufhielt:
„Wo ist der Herr Doctor?“
– Hier!, was will sie, gute Frau?
– „Ach, sehen sie mir doch einmal in die Augen, ich bin schon etliche Jahre blind, habe zwey Kinder, die ich noch nicht gesehen habe, mein Mann ist ein Tagelöhner, sonst half ich uns mit Spinnen ernähren, nun kann ich das nicht mehr, mein Mann ist recht fleißig, aber er kanns doch allein nicht zwingen, und da geht’s uns sehr übel, ach sehen Sie doch, ob Sie mir helfen können!“
Stilling erkennt im trüben Auge der Bittstellerin den grauen Star, dessen operative Behandlung damals ein umstrittenes Feld der Ophthalmologie ist – immerhin hatte man jüngst gelernt, die Kur nicht mehr durch Eindrücken der befallenen Linse, sondern durch deren Entfernung zu bezwecken.
Aber der Elberfelder Armenarzt scheut sich, seine theoretischen Kenntnisse praktisch anzuwenden. Da platzt es aus der bekümmerten Blinden heraus:
„Herr Doctor! Sie müssen mich operieren; es ist ihre Schuldigkeit: Gott hat sie dazu berufen, den armen Nothleidenden zu helfen, so bald Sie können, nun können Sie aber den Star operieren, ich will der erste seyn, wills wagen, und ich verklage Sie am Jüngsten Gericht, wenn Sie mir nicht helfen.“* ——
Die Operation gelang. Und aus der Begegnung mit der Blinden ging Jung-Stilling – auf den noch abenteuerlich viele geistliche und politische Aufgaben warteten – als einer der gefragtesten Augenärzte seiner Zeit hervor, der mehr als 2000 Menschen das Gesicht wieder gab. ——
Das ist eine tröstliche wahre Geschichte – nicht nur für Menschen wie mich, mit gelegentlichen Sorgen um ihre Sehfähigkeit –, und es ist eine Geschichte mit einer leicht verständlichen Moral: Wer irgend kann, der soll und muss helfen, weil andernfalls das so häufig vergessene Jüngste Gericht ihn der Unterlassung schuldig finden wird.
Aber hat denn dann Jung-Stilling mit seiner – im Übrigen fast immer kostenlosen – medizinischen Hilfe nicht das gleiche erreicht wie der, der dem Blindgeborenen zum ersten Mal die Augen öffnete?
Was soll denn über die Wohltat der erfahrenen Heilung hinaus dem kranken Menschen damals noch widerfahren sein?
Und wenn doch die ärztliche Versorgung seit Jung-Stillings Tagen solche Fortschritte gemacht hat, wenn das Bewusstsein für die Ursachen des weltweiten Elends seitdem beträchtlich gestiegen ist, wenn wir alle unseren Beitrag zu gerechteren, weniger einseitigen, weniger verschwenderischen Lebens- und Wirtschaftsformen immerhin theoretisch erkennen können: Was soll dann noch der Satz, dass die Werke Gottes an den Kranken und Armen ebenso wie an Sündern und Spöttern offenbar werden sollen?
Können nicht also doch mit vereinten Kräften Medizin und Politik, Sozialarbeit und Umweltschutz die Menschheitsfragen lösen?
Die Antwort lautet – ohne dass irgendjemand im Bemühen um Gerechtigkeit und Frieden nachlassen dürfte – klar: Nein!
Selbst wenn alle Lahmen auf die Beine gebracht würden, wenn jeder Hungrige gespeist und jedes Waisenkind versorgt würde, wenn alle Gebrochenen aufgerichtet wären und alle Beschämten zu Ehren kämen, wenn die Gefangenen frei und die Verzweifelten fröhlich sein sollten: Uns alle erwartet dennoch die Nacht, da niemand wirken kann!
Denn auch wenn wir es ehrlichen Herzens meinten und versuchten, was seit zwei Jahren ein schmächtiger entsprungener Theologiestudent im Radio singt: „Muss nur noch kurz die Welt retten ….“, selbst wenn wir also den Sozialismus an’s Blühen gebracht hätten oder die politisch korrekteste aller Welten schüfen, selbst wenn China die Energiewende und der evangelischen Kirche eine Erweckung gelänge …. eins bleibt, das wir nie können werden.
Keiner von uns kann spucken wie Jesus.
Denn so sehr wir uns auch bemühen, so viel wir uns auch zutrauen mögen, was immer wir uns auf unsere Selbstheilungskräfte und sonstigen Wunderkindergaben einbilden mögen:
In dem, was aus uns kommt und zu uns gehört, stecken immer nur wir.
Und wir sind nicht Jesus. Doch genau in diese Richtung ist für uns inzwischen ja der Sinn des vermeintlich unappetitlichen Speichelbreis entzifferbar geworden: In jenem Heilschlamm verbindet sich nun einmal das Allgemeinste – der Staub der Erde – mit dem Allerbesondersten: Dem genetischen Fingerabdruck Jesu, des fleischgewordenen Wortes, des Herrn der Welt.
Und diese Berührung durch Jesu Leibhaftigkeit, dieser allerpersönlichste Eingriff Jesu in das Dasein eines anderen: Die erreichen, was keiner von uns je erreichen wird.
Indem Jesus den Weltstoff, der auf der Straße liegt, verbindet mit dem, was einzig und allein aus seinem Munde kommt, Atemhauch und Körperflüssigkeit des wahren Menschen – des ersten, letzten, einmaligen, entscheidenden Menschenkindes Gottes – wird die Schöpfung vollendet.
Das ist das Wunder von Siloah: Nicht die endlich gewonnene Sehfähigkeit, nicht der medizinische Segen allein, sondern das, was am Ende so beiläufig und so alltäglich klingt, als die Schaulustigen sich ihre alles beobachtenden Augen reiben müssen und sich fragen, ob der Sehende tatsächlich der Blinde sein kann. Der antwortet nämlich: „Ich bin’s.“
Und dieser schlichte Satz ist der erregendste im heutigen Evangelium! „Ich bin’s.“
Wer auch nur ein wenig die Stimme der Bibel kennt, wer ihre Sprache nur ein wenig spricht, dem wird heiß und kalt, wenn er das so hört**!
Denn da vernehmen wir doch sofort die Stimme des Anfangs, das Wort, aus dem alles stammt:
„Es werde!“, ruft der Schöpfer (1.Mose13ff.) – und nun, nachdem Jesus die Dunkelheit, in der der Mensch geboren wurde, durchbrochen hat, … nun antwortet er: „Ich bin!“
Und noch ein anderes Wort der großen Gottesstimme glüht da auf, durch die Nacht des Blindgeborenen. Wer ist es nämlich, dessen Licht so mächtig ist, dass es aus sich selber stets neu hervorgeht, dass es kein Öl und keine Nahrung braucht, um Flamme zu sein, dass es den Dornbusch nicht verbrennt und doch auch in der sengenden Wüstensonne noch strahlender leuchtet als der flirrende Himmel und der glitzernde Sand? Wer ist das heilige Licht der Welt, das dem Mose entgegenschlug, der wagte, nach dem Namen dieses Wunders zu fragen?
„Ich bin, der Ich bin“, ruft Gott im Glast (2.Mose314). Und der Mensch mit den Augen voller Nacht antwortet unter Jesu Berührung mit einem atemberaubenden Echo ebenfalls: „Ich bin!“
Und Jesus selbst hat eben noch – so schildert Johannes es in seinem Evangelium – mit den Zweiflern heftig gestritten um diesen Satz:
„Wenn ihr nicht glaubet, dass ich’s bin, so werdet ihr sterben in euren Sünden“ (Joh824+58)
Es ist der Satz, der schließlich in Gethsemane sein Schicksal besiegeln wird:
Wen suchet ihr?, fragte Jesus dort seine Häscher und Schergen und antwortet auf ihre Erklärung: Ich bin’s! „Als nun Jesus zu ihnen sprach: Ich bin’s! wichen sie zurück und fielen zu Boden.“ (Joh186)
Diesen Satz also – der eine verdunkelte Schöpfung in’s rechte Licht rückt, weil er das Schöpferwort bekräftigt – spricht der als Blinder Geborene.
Diesen Satz, in dem Gottes Name steckt, kann der Mensch nachsprechen, weil Jesus ihn unmittelbar mit sich selbst berührt hat.
In der scheinbar bloß zwangsläufigen Aussage „Ich bin’s“ ist also in Wirklichkeit zweierlei gesagt: Ein Mensch mit seinem Mangel und seiner Schwäche kann Gottes Ruf ins Leben getrost befolgen und sich selber ganz in Gottes Gegenwart wiederfinden, wenn Jesus sich mit ihm verbindet.
Mit der Welt und mit Gott kommt also trotz aller Hindernisse und Hilfsbedürftigkeit derjenige völlig in’s Reine, der die Begegnung mit Jesus erfährt und durch ihn die Wirklichkeit neu erkennt, … ja, die Wahrheit endlich sieht!
– Das aber kann tatsächlich niemand unter allen Sterblichen je bewirken, außer Jesus allein.
Darum brauchen wir ihn und können einander – bei aller moralischen Pflicht zur gegenseitigen Unterstützung und bei aller Bereitschaft zur Nächstenliebe – diesen einen nicht ersetzen!
Im Gegenteil: Jetzt, im hellen Sommer, auf der ruhigen Höhe der Zeit, im strahlenden Gefühl des Lebensreichtums wollen wir einander und alle anderen umso mehr daran erinnern:
Niemand ist heil und niemand kann heil werden, der nicht seinem Schöpfer in Jesus begegnet, der nicht durch ihn mit Himmel und Erde verbunden und zur Erkenntnis der Wahrheit gebracht worden ist!
Dazu ist jetzt die Zeit.
Denn die Nacht kommt ja, in der das alles unmöglich ist. Jetzt aber scheint das Licht und Gottes Werke sollen offenbar werden!
— Und so möge er uns wecken!
—Jesus, gib gesunde Augen!
— Heile uns, Herr – wie nur Du das kannst! – so sind wir heil (Jer1714)!
— Lass es uns werden!
Amen!
* Johann Heinrich Jung-Stilling, Lebensgeschichte (Frankfurt/M 1983), S.297f.
** Zumal im Griechischen die objektlose Wendung egw eimi alle Merkmale einer theologischen Selbstvorstellungsformel hat.
5.n.Trin. 30.06.2013 Lukas 14,25-33 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 5.n.Trin. - 30.VII.2013 ב״ה
Lukas 14,25-33
Liebe Gemeinde!
Wer Jesus nicht auch ein wenig für verrückt hält, muss es selber sein. ——
In neun von zehn Fällen stünde ich zwar stets bereit, bemüht, die Weisheit und Wahrheit Jesu zu unterstreichen, …. aber heute ist Fall 10 eingetreten.
Denn so sehr ich ihn auch liebe und so sehr er die Hauptperson ist und bleiben wird: Was für ein Spinner! Was für ein meschuggener Mensch!
— Wie kann man nur alles, was die unmittelbare innere Stimme uns lehrt und nahelegt, so durcheinander bringen, wie es sein Grundsatz tut: „Ihr sollt Vater und Mutter, Weib und Kind, Bruder und Schwester und schließlich auch Euch selbst hassen“??!
Der fanatischste Antisemitismus wird solche widernatürlichen, furchterregenden Forderungen nirgends im Alten Testament finden. Wer immer also unter den Theologen das göttliche Gesetz vom Sinai zu einem Katalog unerfüllbarer Pflichten erklärte, an denen der Mensch nur scheitern könne, der kannte offensichtlich die Jesu Botschaft nicht einmal von ferne – oder wollte sie nicht kennen. Denn hier, bei ihm, bei meinem Jesus, unserm Herrn … erst hier beim ihm, … nur hier findet sich ein Anspruch, der alles zerreißt, was menschlich angeboren und heilig und gesund ist. Erst hier, bei Jesus wird das Unmögliche plötzlich zur Beding-ung und das Selbstverständliche zum Abscheu.
Erst bei ihm, diesem meschuggenen Junggesellen von Galiläa, der ohne die geringste zivilisa-torische und gesellschaftliche Rücksicht lebt und handelt, springt uns ein Imperativ an, vor dem der gutbürgerliche Christ sich wirklich bloß bekreuzigen und Reißaus nehmen kann:
„Lieber Dr.Freud: So tun Sie doch was dagegen!“ – „Woody Allen, übernehmen Sie!“ ——
Doch was immer die jüdische Welterfahrung und Menschenkenntnis an hochkomischen und hochnotpeinlichen Selbsterforschungen und an hochheilsamen Therapien zu Papier, auf die Leinwand und in unser Bewusstsein gebracht hat ……. eins ist auch dem Jahrhundert der Psychoanalyse und der New Yorker Neurotiker nicht gelungen: Sie haben Jesus nicht entschärfen können. Er tickt noch immer so schrill und schräg und schrullig, dass wir uns von ihm den Selbsthass und den Abschied von der ganzen Mischpoche predigen lassen müssen!!
Doch damit nicht genug! Nicht genug damit, dass er so völlig unerfüllbare Ansinnen vertritt, sondern hinzu kommt tatsächlich auch noch Ironie in Gestalt seines ätzenden Appells an unseren Geschäftssinn und unsern Stolz: „Rechnet’s bitte nochmal durch, ob Ihr’s Euch überhaupt leisten könnt, bei mir einzusteigen. Sonst macht Ihr Euch nur lächerlich. Seriöse und solvente Partner gesucht, keine armen Schlucker.“——
Das sind natürlich überspitzte Wiedergaben seines Rufs in die bedingungslose Nachfolge und seiner Warnung vor einem unbedachten, leichtgläubigen christlichen Abenteuer, das doch nur hässlich und frustrierend enden kann.
Aber die Tatsache ist trotz allem weder wegzureden, noch zu beschönigen, dass Jesus in regelrecht verstörender Weise dazu mahnt, die Kosten und den Nutzen des Christseins genau zu wägen und zu bilanzieren. Und wem es scheint, als würde er überfordert, als müsse er sich blank machen, um den Preis der Jüngerschaft zu entrichten, dem rät er, lieber kuschelig bei Muttern hinter der Heizung hocken zu bleiben. —
Einen Turm zu errichten, einen Krieg zu führen – also etwas zu vollbringen, das weit über alles Alltägliche herausragt und Geschichte schreibt –, diese enormen und zwiespältigen Leistungen, die Jesus als Bilder heranzieht, um uns einzuschüchtern und vor allzu bequemem Selbstvertrauen in unsere Christentauglichkeit zu warnen, sind giftige Stachel im Sitzfleisch des Selbstverständlichen. So weit, so streng, - so schmerzhaft, …. so gut. Allerdings eben auch anstößig und unheimlich für uns alle, die wir’s nicht gewöhnt sind und uns auch aus-drücklich verbitten, gemaßregelt, infrage- und bloßgestellt zu werden und als aussichtslos zu gelten. „Ärgernis und Torheit“ (1.Kor.118ff) des Gekreuzigten sind also wahrhaftig groß! ——
Ich weiß zwar auch, dass das Spiel „Mensch, ärgere dich nicht heißt“ – und ärgere mich doch!
Vielleicht weil meine Empfindlichkeit besonders gereizt ist in einer Woche, in der zunächst gar nicht das biblische Wort vom Kreuz, sondern das Kreuz mit der evangelischen Kirche mir die Galle überlaufen lässt.
Ausgerechnet heute nämlich hören wir die Hasspredigt, mit der Jesus uns so herausfordert, indem er unsere nächsten Beziehungen stört …; ausgerechnet gerade heute, wo die neueste sog. Orientierungshilfe – „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“ – so ärgerlich vor Augen stellt, wie lauter gutgemeinte Grundgedan-ken in unsrer Kirche zu lauter Falschheit führen. Denn der faktische Verrat an Ehe und Fami-lie, die in ihrer traditionellen Gestalt in dieser sog. „Denkschrift“ schlicht im Regen gelassen werden, um in andere Formen übergeleitet zu werden, verstimmt wohl nicht nur mich.
Dass Ehe und Familie nicht die einzige Lebensweise für Menschen auf dem Weg ins Reich Gottes sind, und dass sie an sich keinen Ausweis moralischer Tadellosigkeit darstellen, weiß jeder, der die Bibel kennt. Aber jenen besonderen Segen, den Braut und Bräutigam biblisch für einander verkörpern, jenen unvergleichlichen Segen, den Vater- und Mutterschaft bedeu-ten, jene weltliche Heiligkeit und jene geistliche Körpererfahrung, die Liebe, Empfängnis, Geburt, die männlichen und weiblichen und kindlichen Seiten des Menschseins im Rahmen einer Familie, in der die Verschiedenen sich begegnen und treu sind, bedeuten – alles dieses, zu dem die Bibel so grundsätzlich „Ja und Amen“ sagt (1.Mose218+23ff; Jes625; Hosea220ff; Sprüche31; Mark109; 1.Kor7; Eph532; 1.Tim32 u.v.a.) …. alles dieses einzuebnen in die platte Vorstellung bloßer Verlässlichkeit unter allen denkbaren Verhältnissen, ist geist- und geschichtslos, verrät weder Ehrfurcht vor der Schrift noch Nähe zum Menschen, sondern bloß die sterile Blindheit der politischen Correctness: Da hat jemand nicht in die Bibel und nicht in den gelebten Glauben, sondern stur in ein Programm geblickt, das in zwanzig Jahren nicht mal mehr das Papier, auf dem es leider gedruckt wurde, wert sein wird. …….
Und nun grinst mich auch noch der verrückte Jesus hier an, fällt mir in den Rücken und will, dass wir allen Ernstes überschlagen, ob wir den Schwerpunkt unseres Lebens so eindeutig auf die Verbindung mit ihm legen können, dass wir alles andere an Bindung und Pflicht dafür über Bord werfen? – Ich streike! ….. Weil ich einfach nicht mitkomme.
Weil ich diese Rechenkunst noch weniger beherrsche, als die anderen Grundrechenarten.
– Soll man etwa Strichliste führen: Wie lieb habe ich diesen oder jenen? Auf wen könnte ich zur Not verzichten? Wenn ich nur einen aus der Familie als Trostpreis behalten dürfte: Wen würde ich zuletzt – wenn Eltern und Geschwister längst aus dem Rennen sind – hergeben, ….. Weib, Tochter, Sohn?
—— Sie sehen: Meschugge! Hochgradig und gefährlich geisteskrank. ……… ——
Aber – so sagen die befremdeten und nachsichtigen Blicke, die die ganze unnötige Erregung nicht verstehen – aber so blöd bist Du doch nicht, dass Du den Sinn der Hass-Mahnung und der Kosten-, Nutzenspielerei buchstäblich nimmst?! Denn darüber besteht ausnahmsweise doch kein Zweifel: Diese Worte Jesu sind in der Christenheit niemals wörtlich verstanden worden; diese Zumutungen, die bis ins Herz dringen, hat niemand je anwenden, sondern immer nur übertragen verstehen wollen. Wozu dann also die dumme, künstliche Hysterie?!
—— Damit wir merken, dass es hier nun doch nicht ganz so glatt geht, wie wir’s uns gerne einbilden.
Damit wir etwas von dem unvermeidlichen Schrecken, von der echten und heillos überfordernden Erschütterung ahnen, vor die gestellt wird, wer in Jesus nicht nur einem Freund und Helfer, einem Therapeuten und Coach begegnet, sondern dem Herrn, der fordern und geben kann, was nirgends sonst zur Debatte steht.
Damit wir es uns nicht so schnell wieder bequem machen in unseren Selbstverständlichkeiten – auch nicht in denen von Ehe und Familie – da ja die Liebe selbst, die wahre, ewige Liebe uns - nach reiflicher Überlegung - hassen lehren will. ——
Also nochmal.
Was ist das für eine Verrücktheit, vor der man vielleicht doch nur die Waffen des Verstandes strecken kann: „Ich will nicht aufgeben, was wir als Sinn und Segen der christlichen Familie kennen! Ich kann die Kraft und also die Kosten nicht aufbringen, die erforderlich zu sein scheinen, wo Jesus das als Preis der Verbindung mit ihm bezeichnet! Und gleichzeitig will ich nicht einfach auf dem gemütlichen Sofa im Kreise der Lieben sitzen bleiben, wenn Jesus vorüberkommt und fragt, wer ihn begleiten, wer in seine Richtung gehen mag.“ …….
Was also tun? … Tief Luft holen. Und sich ein letztes Mal fragen: Was ist denn unter „Hassen“ zu verstehen?
– „Hass“: Ist das nicht jenes Gefühl, das sich auf etwas richtet, das wir schlicht „nicht haben“ wollen? Und ist Liebe nicht in allen ihren Formen – vom Begehren bis zum Verehren – die Reaktion auf das, was wir gerne „haben“?
Wenn dem aber so ist, wenn Hass „Nicht-Haben-Wollen“ bedeutet und Liebe eine Lust ist, zu vereinnahmen: Dann ruft Jesus uns also auf, auch die, die uns nahestehen, die zu uns gehören und an uns gebunden sind, mit jenem Gefühl zu betrachten, das sie nicht zu einem Teil unserer selbst macht!
Wer es demnach schafft, Eltern und Geschwister, Gemahl und Kinder zu „hassen“, der sieht sie nicht mehr mit der Ichbezogenheit der Liebe an und gliedert sie nicht einfach in das eigene Leben ein, sondern erkennt in ihnen etwas ganz Fremdes.
Wer aber so erkennt, dass auch unsere Nächsten nicht wir selber sind und niemals nur für uns da sein werden, weil sie eben nicht unmittelbar uns und unserer Freude, unserem Genuss, unserer Sicherheit dienen dürfen – nun, der wird dadurch zunächst gewiss gekränkt:
„Ich dachte, meine Eltern seien immer für mich da! Ich habe Dich geheiratet, damit wir beide eins seien. Ich sehe in den Kindern doch so ganz mich selbst – und nun geraten sie so anders, als ich bin und will“.
Doch diese Kränkung einer nur sich selbst sichernden und spiegelnden und bestätigenden Liebe, diese schmerzhafte Erkenntnis, dass niemand mir wirklich gehört, diese Abwehr, dass jeder andere nun doch nicht so sein kann und wird, wie ich wohl will ……. die ist schwer, aber nötig. Denn erst damit werden wir wirklich frei:
Nicht als die Enttäuschten, nicht als die Verbitterten, die fertig sind mit der Liebe, die das ganze Lumpenpack der Menschheit, die ganze Schlangenbrut des Egoismus und Undanks, die sich Familie nennt, hinter sich haben, sondern als die, die es erkennen, wie falsch wir lieben, wenn Liebe wirklich nur besagt: „Ich will Dich! Sei mein!“
Wie viel mehr versteht und erfährt dagegen jener, der zu den Menschen seines Herzens, den Menschen seines Lebens zu sagen lernt: „Ich will Dich nicht! Du kannst nicht mein sein, denn ich bin selber ja nicht mein eigen!“
…… Das ist immer noch meschugge, mein Ihr?
Sicher. Es ist eine Verrücktheit, die weit abweicht von den romantischen, aber auch den erotischen und erst recht den selbstverliebten Vorstellungen unserer Zeit.
Und dennoch lebt die biblische Ehe von Mann und Frau eben genau davon, dass sie einander eben auch nicht ähnlich sind, dass sie es auch nicht werden müssen und dass sie auch in ihren Kindern nicht bloß Spiegelbilder ihrer selbst finden, sondern freie Fremde.
Und nicht nur in der Familie, auch in der Gemeinde ist das der größte, der schwerste, der entscheidende Auftrag – nämlich zu sagen: „Wir sind nicht eins, aber wir gehören dem Einen. Und darum soll auch kein anderer wie ich sein oder werden, überhaupt soll keiner einem anderen gleichen, gehorchen oder gehören, … außer Jesus allein!“
Dem sollen die Alten und die Jungen, die Kinder und die Eltern, die Männer und die Frauen gehören: Weder einander, noch jeweils sich selbst, sondern Ihm! ——
Überschlagt mal, auf wie viel Eurer eigenen Ansprüche an andere und an Euch selbst Ihr verzichten könntet, um so viel zu gewinnen?
Könnt Ihr Euch vorstellen, so bescheiden zu sein?
Vater und Mutter, Gemahl und Kind, Bruder und Schwester loszugeben, sie nicht mehr als Teile Eurer selbst und Eures Lebens zu behaupten, sie nicht mehr für Euch zu wollen, sondern Jesus als Eigentum zu lassen?
Könnte es sein, dass man dann viel mehr von dem hat, was man nicht für sich will, sondern Ihm lässt? …….
Verrückt, nicht wahr?
Amen.
3.n.Trin. 16.06.2013 Lukas 19, 1-10 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.n.Trin. - 16.VI.2013
Lukas 19, 1- 10
Liebe Gemeinde!
Der kleine Mann im Maulbeerbaum ist nicht umsonst der Held des Kindergottesdienstes: Diese Zuordnung hält ihn den Erwachsenen nämlich angenehm fern.
Für’s kindliche Gemüt ist er in seiner egoistischen Zudringlichkeit und seinem dreisten Gekletter ja ein wunderbares Gegenstück gegen alle Erziehungswünsche nach Bescheidenheit, Geduld und umsichtiger Dreck- und Schrammenvermeidung.
Zachäus, der den Großen einfach auf dem Kopf herumtanzt und sich völlig blind und taub gegen alle Vorstellungen von angemessenem Verhalten und Wert und Würde stellt, ist ein Kindertraum. Zumal in ihm eben nicht die sonst immer benachteiligte, brave Unschuld endlich einmal aus dem Schatten tritt, sondern ein Außenseiter und Rüpel auch noch bei Jesus gewinnt.
Aber das alles würden die Erwachsenen durchaus verzeihen: Solche Hallodris, denen man ab und zu die Rolle des anarchistischen Kindes gewährt, damit Groß und Klein sich für die Normen des Lebens schadlos halten können, braucht man als Blitzableiter. Wenn sie der Phantasie mit ihren frechen Abenteuern ab und an eine unbeschwerte Gegenwelt geboten haben, dann kann der Ernst des Lebens umso klarer seine Forderungen stellen. ——
Doch gerade da unterläuft die Erinnerung an Zachäus die brauchbare Wirkung der Schelmen-erzählung. Denn sein kindliches Heischen nach Aufmerksamkeit, sein unverfrorener Drang nach dem besten Zuschauerplatz führen ihn schließlich nicht zurück in das unauffällige Lebens dessen, der außer beim Schützenfest nie aus dem Rahmen fällt.
Vielmehr fällt Zachäus am Ende so gewaltig aus dem Rahmen, dass die Erwachsenenwelt stillschweigend übereingekommen ist, seine Geschichte sei nichts für sie.
Weil er ein Klettermaxe ist? – Nein, das ist inzwischen Volkssport.
Weil er Jesus so abartig unbedingt sehen will, wie man heute allenfalls am roten Teppich auf irgendwelche Leinwandhelden lauert? – Nein, das ist zwar spinnert, aber wir gönnen ihm das Plaisir.
Weil es ihn glücklich macht, für den wildfremden Passanten ein Abendessen zu zaubern? – Nein, auch das ist dem Vernehmen nach inzwischen kein unbekannter Vorgang in einer Welt, die weniges so schätzt wie Anonymität und Fernsehköche.
Oder etwa weil in seiner Geschichte etliche selten und fremd gewordene Worte eine allzu große Rolle spielen: Worte wie „Sünder“ und „Heil“? – Nein. Selbst das ist es nicht, was den Zöllner von der Jerichoer Schranke aus den Kirchen in die Kindergottesdienste verbannt hat.
Zachäus wurde aus einem anderen Grund aus der Welt der Erwachsenen ausgewiesen.
Weil er Konsequenzen aus dem Heil zog, das mit Jesus in sein Leben einkehrte.
Schlimme Konsequenzen.
Spielverderberische Konsequenzen – obwohl doch jedermann weiß, dass Glaube nur spielerisch sinnvoll ist und nicht etwa für bare Münze genommen werden darf.
Wer den Glauben für bare Münze nimmt, der kommt nämlich zu kaufkraftzersetzenden Konsequenzen.
Und die sind nichts für die Großen!
Wenn da solch ein Kleiner, ein etwas Verrückter kommt und sich verhaltensauffällig gibt, … wenn er zwischen vollständiger Ausgrenzung und grenzenloser Neugierde aufgerieben wirkt, … wenn er sich einerseits im dichten Laub versteckt und andererseits allen rücksichtslos auf dem Kopf herumtrampelt, … wenn er wie eine Beute denjenigen in sein Haus führt, der doch für die Menge der Schaulustigen eine Attraktion war, … und wenn er dann auch noch anfängt,
mit völlig weltfremden, wahnsinnigen Wiedergutmachungen, dann ist die Diagnose klar: Zachäus hat sich in der für ihn schwindelerregenden Höhe des Baumwipfels einen Vogel eingefangen. … Bei ihm piept’s!
…… „Die Hälfte den Armen geben?! Einen Zins von sageundschreibe 300% auf das legen, was man nicht hätte kassieren dürfen?!“ …….
Angesichts solcher Zahlen sind alle abenteuerlichen Vorgänge zwischen den Börsen, den Finanzmärkten, den Volkswirtschaften, den nationalen und der europäischen Zentralbank, wie sie z.Zt. den gesunden Menschenverstand herausfordern, geradezu rationale Entwicklungen!
Was zu der spannenden Frage führt, wie man die Bekehrung des Zachäus, wie man die von ihm gezogenen Konsequenzen des Heils denn nun doch Erwachsenen nahe bringen könne?
Vielleicht mit einer unverbindlichen Preisempfehlung dessen, was als Zeichen des Wandels und Neuanfangs beweiskräftig wäre?
… „Kirchensteuer + x, samt einem Anteil von 47,5% auf alle geheimen Schweizer Konten und einer einmaligen Sondertilgung für’s etwaige schlechte Gewissen?“
Unsinn. Solche platten Folgerungen haben nichts mit einer neuen Ethik, dafür umso mehr mit dem alten Ablasshandel zu tun.
Was dem Zachäus geschah, als Jesus ihn aus dem Baum rief und sein Gast wurde, war ja kein Lehrgang in Zahlungsmoral, keine Umerziehung vom einen zum anderen ökonomischen Prinzip, sondern ein Rollentausch. Jesus hat Zachäus gezeigt, dass man nicht als Nehmer, sondern als Geber zum Frieden findet.
Er tat das auf die anschaulichste Weise: Indem er dem geizigen, misstrauischen kleinen Einsiedler, der den Leuten den Rahm von der Milch geschöpft hatte, um sich selbst ein dickes Polster zu schaffen, die Speisekammern leerte.
In dieser Rolle nämlich hatte Zachäus sich selbst gewiss noch nie befunden: Der Hamster tischt die gehorteten Schätze auf. Der ängstliche Bewacher eines rein privaten Vorrats versorgt plötzlich fremden Hunger mit echter Großzügigkeit. Denn so heißt es ja tatsächlich: „Zachäus nahm ihn auf mit Freuden“.
Was für ein fröhlicher Wechsel: Aus dem stummen Haus, in dem sich die verstaubenden Güter stapeln, „wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe nachgraben und stehlen“ (Matth619), hat Jesus durch seine gebieterische Selbsteinladung im Handumdrehen eine Wirtschaft gemacht, in der mehr als ein Dutzend Leute satt und gesprächig werden!
Und in der Wärme seines Bewirtungseifers, im Glück des Gastgebers, an dessen Tisch der Himmel selbst einkehrt, – da schmilzt mit dem Besitz auch die Besessenheit des Besitzers dahin.
Zachäus geht’s wie dem getreuen Heinrich, dem nacheinander jeweils immer noch ein Band zerspringt „von seinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen“, so dass am Ende das enge, eingeschnürte Innerste frei und weit geworden ist.
Und so erfährt Zachäus, dass er tatsächlich ein Erlöster ist, als ihm plötzlich der Gedanke an die andern kommt, die er immer nur benutzen, verwerten, für sich selbst ausschlachten konnte!
Wohlgemerkt so herum! Der gaunerhafte kleine Zöllner wird nicht deshalb erlöst, weil er sich schließlich doch noch besonnen und sozial gehandelt hat, sondern weil das Heil ihm zur Tür hereinspaziert ist und ihn von der Sorge befreit hat, darum kann er endlich tun, was ihm vorher unmöglich war: Von sich selbst absehen.
Diese Reihenfolge aber ist unumkehrbar wichtig!
Hieße es nämlich: „Wenn Du so und so viel Schadensersatz leistest, … oder weil Du endlich zu dieser oder jener Selbstverleugnung bereit bist, darum widerfährt Dir Heil“, dann hätte Zachäus mit dem halben abgetretenen Vermögen und der vierfachen Erstattung seines betrügerischen Profits immer noch das Geschäft seines Lebens gemacht: Viel Geld hätte er zwar dabei verloren, aber sein Gewinn wäre doch noch größer gewesen!
Doch ist es nun einmal umgekehrt:
Die große Freigebigkeit des Zachäus ist nicht die Voraussetzung, sondern die Folge seiner Rettung durch Jesu Einkehr in seinem Leben.
Wenn wir das begreifen, dann erkennen wir, dass das Evangelium nicht zur Gerechtigkeit zwingen will, sondern eine Freude bringt, deren Frucht völlige Freiheit ist.
Gönnen und Teilen, Ausgleichen und Aufgeben, Verzichten und Loslassen werden zwar immer wieder als freudlose, bitterevangelische Imperative missverstanden und madig gemacht:
Doch das können und sollen wir ändern, indem wir beim Helden unserer Kinder und unserer Kindheit die Freude lernen!
Der hat vom Maulbeerbaum des Glaubens – von dem er runter in das neue Leben rutschte – eine wunderbare Frucht gepflückt, die besser schmeckt und tut als aller Luxus, alle Sicherheit, aller Genuss dieser Welt: Zachäus hat das Reich Gottes geschmeckt, zu dem man nichts mitbringen und in dem man nichts brauchen wird, weil Gottes Gegenwart dort alles in allem ist.
Und aus diesem Vorgeschmack ist für ihn die Freiheit gekommen:
Er wird vom Besitz nicht mehr besessen, sondern je mehr die Freude ihn ergreift, desto mehr lassen die Dinge ihn und er die Dinge los.
Und das macht ihn zum Abrahamssohn, wie Jesus ihn alsbald nennt.
Denn die große Glaubensfreiheit, der Vertrauensreichtum, der alles verbissene Festhalten an der armseligen Sichtbarkeit löst, zeichnet Abraham aus.
Und die bitterste aller evangelischen Parolen gewinnt etwas von ihrer ursprünglichen Hoffnungsweite, wenn wir in dem berühmten „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, – lass fahren dahin!“ den ungebremsten Aufbruch Abrahams auf Gottes Verheißung hin hören: Der einfach aus der Heimat emigrierte, der die fetten Auen seinem Neffen Lot überließ, der mehrfach seine Ehe und Ehre riskierte, der wie unter Betäubung sogar den eignen Sohn nicht als Faustpfand der Zukunft reklamierte, der immer wieder und weiter nachgab, losließ, anderen das Haben und sich das Hoffen einräumte und den wir eben darum alle als Vater und Vorzeichen einer überschwänglichen Erfüllung ansehen dürfen – dem ist Zachäus ähnlich geworden.
Die Abtretung der Hälfte des geplünderten Plunders, die vierfache Sühne für seine ausbeuterische Selbstbereicherung, die waren also nicht das Opfer, sondern die ersten fröhlichen Freiheitsschritte des Mannes, der nun kein Einzelgänger mehr sein würde, seit Jesus ihn runter auf den Boden einer neuen Welt geholt hatte. Einer Welt, in der Haben weniger glücklich macht als Schenken, weil das Entscheidende darin nicht mehr mein Einzelnes ist, sondern das Gemeinsame – nämlich die Gemeinschaft des Reiches Gottes – und also nicht mehr wichtig ist, was ich habe, sondern wer mich hat.
Das ist vielleicht die wichtigste Umkehrung, zu der Zachäus gebracht wurde und die wir alle immer noch nur äußerst widerstrebend in den Kopf kriegen: Ausschlaggebend für uns als Menschen Gottes kann nicht sein, was uns gehört und wertvoll ist, sondern wem wir gehören und unendlich lieb sind! ——
Dann aber wird wohl auch deutlich, dass die Rettungserfahrung und die Konsequenzen der Jesusgemeinschaft, die Zachäus prägten, keinen Helden aus ihm machen.
Das nämlich ist das denkbar größte Erwachsenenmissverständnis bei dem, der von der Kindergottesdienstschar stets unbekümmert eingemeindet worden ist, mit dem Gefühl: „So forsch und frech und schließlich frei und fröhlich wie wir.“
Erwachsene dagegen neigen dazu, aus einem konsequenten Jünger, aus einem Sünder, der im Fundbüro des Himmels seinem eigentlichen Herrn zurückgegeben wird, gleich einen Helden zu machen.
Aber das ist falsch.
Wir müssen uns nicht bloß von heiligen Herzoginnen erzählen, die im schlesischen Mittelalter demütig und barfuß wie die geringste Magd den Weg der Nachfolge Jesu beschritten.
Wir müssen auch nicht ausschließlich von Reichsgrafen reden, die zusammen mit nichtsesshaften Handwerkern echte Kolonien des Reiches Gottes in der Lausitz, der nordamerikanischen Wildnis und unter den Sklaven der Karibik gründeten*.
Es gibt freilich viele und große Vorbilder und glänzend selbstlose Helden unseres Glaubens.
Aber eine Gemeinde, in deren Mitte auch ein Maulbeerbaum steht**, sind wir doch deshalb, weil es auch hier in unseren Reihen so viele einzelne, unbesungene und unbekannte Züge der Großzügigkeit, der Freiheit und der fröhlichen Liebe gibt!
……. Wenn ich erzählen dürfte, zu welcher stillen Solidarität, zu welchem Geist des Nicht-Sorgens, zu welchen kühnen Entschlüssen, das Materielle leicht und das Evangelium ernst zu nehmen, Jesus Menschen in unserer Mitte bewegt, dann würden wir lange nicht fertig.
— Manche würden es für Geschichten aus dem Kindergottesdienst halten. …….
Aber wer weiß?
Eines Tages werden auch die noch gefunden, die heute noch so verloren sind.
Auch wer bei drei nicht auf den Bäumen ist – irgendwann ruft einer auch Dich:
„Schnell, ich muss zu dir!
Ich hab Dich gesucht und gefunden.
Ich will dich selig machen!“
Amen.
Fürbitte
Herr, Du kannst alles umkehren.
Was wichtig ist und was nur leichtgewichtig, das kannst und wirst Du immer wieder umdrehen. Bis wir alle schließlich nicht mehr auf dem Holzweg sind, sondern auf dem Lebensweg in Dein Reich.
Und so treten wir in aller Freiheit vor Dich und bitten Dich um Erlösung:
Locke uns aus den Festungen, in denen wir uns vor dem Umkehrruf verschanzen.
Ruf’ die Eingeschüchterten aus ihren Verstecken.
Geh’ die Wege der Einsamen mit.
Suche die Verirrten und bring’ sie nachhause.
Walte Du selbst in allen unseren Besitztümern und Entscheidungen zum Wohl der Welt.
Weiche Du den verkrampften Griff auf, mit dem wir nach Sicherheiten greifen, die nur den Tod bringen.
Störe den mächtigen Magnetismus, der Menschen zum Reichtum zieht und am Geld kleben läßt.
Befreie Herzen und Köpfe von Angst.
Fülle Hände und Bäuche, die leer ausgehen, mit Gutem.
Stifte Versöhnung, wo der Geist der Gier Kampf um den Vorteil schürt.
Rüste Deine Gemeinde mit nicht versiegender Zuversicht.
Zeige den Söhnen und Töchtern Abrahams den Weg der Verheißung.
Gib Frieden in allen Völkern und Ländern.
Bau’ auf, was Flut und Krieg und Bosheit zerstörten.
Und rufe uns schließlich von den Bäumen, von den Hecken und Zäunen, aus den Häusern und Kirchen, aus den Gruben und Gräbern und mache alles selig, was verloren ist.
* Eine Bildungsreise hat zahlreiche Gemeindeglieder in den vergangenen 2 Wochen von „Herrnhut nach Auschwitz“ geführt, so dass Hedwig v.Schlesien und Zinzendorf momentan lebhaft vor Augen stehen.
** Der von Friederike Fliedner gepflanzte Maulbeerbaum in unmittelbarer Nähe zur Stadtkirche.
2.S.n.Tr., 09.06.2013, Jes.55 1-5, Stadtkirche, Holger Pyka
Liebe Gemeinde,
Durst. Kennen wir. Gerade jetzt, wenn die Tage wärmer und die Abende länger werden. Die trockene Kehle nach einem tatkräftigen Vormittag im Garten, die Vorfreude auf ein gepflegtes Bier nach der Radtour. Kennen wir. Das Deutsche hat übrigens kein Wort für das Gefühl, den Durst gestillt zu haben. Wir haben so ein Wort in unseren Breitengraden nie gebraucht, weil es nichts Außergewöhnliches oder Erwähnenswertes ist, wo überall Wasser zu bekommen ist: Wo in jedem Wald ein Bach fließt, früher auf jedem Dorfplatz ein Brunnen stand und heute ein Kiosk mit vollem Kühlschrank. Wo wir es uns leisten können, Wasserflaschen als Accessoires zu tragen und buchstäblich über den Durst zu trinken. Also nochmal: Durst. Kennen wir... wirklich?
Kennen wir den Durst, der in der Kehle brennt und hektisch macht, weil keine saubere Quelle in Sicht ist oder den Hunger, der zum Trieb wird, weil das, was wir haben, nicht ausreicht, nie genug sein kann?
Kennen wir den Durst, der uns lähmt und in die Knie zwingt? So, wie es der Überlebende eines Flugzeugabsturzes über der Wüste beschreibt:
Ich bin schon eins mit der Wüste. Ich bringe keinen Speichel mehr hervor und auch keine Bilder, nach denen ich mich sehnen könnte. Die Sonne hat den Quell der Tränen ausgetrocknet ... [Wir holen] den letzten Atem aus unserer Brust [...]. Aber unsere Stimmen tragen keine dreißig Meter mehr. Die Stimmbänder sind vertrocknet.
Ich glaube ja. Vielleicht nicht als den Hunger und Durst, der sich mit Essen und Trinken stillen lassen könnte. Vielleicht eher als Sehnsucht, mal rastlos, lechzend, mal erstickend und lähmend. Nach etwas, das immer gleich entfernt bleibt, wie schnell und weit wir auch rennen und rennen, wie der Anfang eines Regenbogens. Vielleicht als eine Leere, die sich nicht füllen lässt, wie viel wir auch hineinschaufeln in den tiefen Schlund in uns drin.
Die Düsseldorfer Punkband Die Toten Hosen haben das vor Jahren einmal besungen, mit Versen, die sicherlich ein bisschen plakativ sind, aber vielleicht doch erstaunlich gut auf Kaiserswerther Verhältnisse passen:
Was für 'ne blöde Frage, ob das wirklich nötig ist. / Ich habe halt zwei Autos, weil mir eins zu wenig ist. / Sie passen beide in meine Garage, für mich ist das Grund genug. / Was soll ich sonst in diese Garage neben meiner Riesen-Villa tun? / Die Geräte für den Swimmingpool liegen schon im Gartenhaus / und die Spielzeugeisenbahn ist im Keller aufgebaut.
Jeden Sonntag zähle ich mein Geld, und es tut mir wirklich gut,/ zu wissen wieviel ich wert bin, und ich bin grad hoch im Kurs. / Ich hatte mehr Glück als die meisten, habe immer fett gelebt. / Und wenn ich wirklich etwas wollte, hab' ich's auch gekriegt!
Warum werde ich nicht satt?
Wer auch immer meint, sich in diesen Zeilen wiederzuentdecken, wer das Gefühl kennt, den unstillbaren Durst und Hunger nach irgendetwas, oder vor wessen inneren Auge jetzt Bilder von Menschen auftauchen, die von dieser Sehnsucht getrieben durch ihr Leben wandern, der sollte jetzt hinhören, auf die Stimme, die aus alten Zeiten, sechshundert Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung, heute zu uns herüberweht:
Auf, geht zum Wasser, all ihr Dürstenden,
und die ihr kein Silber habt,
geht, kauft Getreide, und esst,
und geht, kauft Getreide, nicht für Silber,
und Wein und Milch, nicht für Geld
Warum bietet ihr Silber für etwas, das kein Brot ist,
und euren Verdienst für das, was nicht sättigt?
So hört mir zu, und esst Gutes,
damit ihr eure Freude habt am Fett.
Neigt euer Ohr, und kommt zu mir!
Hört, dann werdet ihr leben,
und ich will einen ewigen Bund mit euch schliessen:
die unverbrüchlichen Gnadenerweise für David.
Sieh, zum Zeugen für Völker habe ich ihn gemacht,
zum Fürsten und Gebieter von Völkern.
Sieh, du wirst eine Nation rufen, die du nicht kennst,
und eine Nation, die dich nicht kannte - sie werden zu dir eilen,
um des HERRN, deines Gottes,
um des Heiligen Israels willen,
denn er hat dich verherrlicht.
Liebe Gemeinde, die Worte stammen von einem Propheten aus der Schule Jesajas, und sie erheben den Anspruch, nicht Worte irgendeines Menschen zu sein, sondern dass es Gott selbst ist, der hier das Wort ergreift. Worte, erfrischend wie Wasser, gehaltvoll und berauschend wie Wein, samtig wie Milch - aber wer sie länger im Mund bewegt, schmeckt, wie die Süße abnimmt und die Herbheit, die Bitterstoffe, die auch darin stecken, sich bemerkbar machen.
Auf, geht zum Wasser, ihr Dürstenden! Wem die Zunge am Gaumen klebt, wer sich mit durch die Wüste schleppt, bringt vielleicht noch die Kraft zustande, den Kopf zu schütteln oder ihn zu heben und einen bösen Blick in die Richtung zu schicken, aus der die Stimme kommt, die so Banales, so Selbstverständliches von sich gibt, dass es fast ärgerlich ist. Die nichts Besseres zu tun hat, als platte Ratschläge auszuteilen und dabei womöglich so zynisch klingt wie die reiche Passantin, die an einem Bettler vorbeigeht. Dieser jammert, er habe seit drei Tagen nichts gegessen, woraufhin sie ihm den gut gemeinten Rat gibt: „Sie müssen sich halt zwingen!"
Mancher muss aber vielleicht genau das hören. Diejenigen, die sich mit dem Durst abgefunden haben, die die innere Leere als Teil von sich akzeptieren und kultivieren, sich so daran gewöhnt haben, dass es einfacher ist, liegen zu bleiben und langsam eins mit der Wüste zu werden. Leiden ist oft einfacher als Verändern, das Verharren in einer schwierigen, aber immerhin vertrauten Situation attraktiver als der erste Schritt hinaus ins Freie, aber Ungewisse. „Auf, geht zum Wasser, ihr Dürstenden!" ruft die Stimme, denn euer Durst wird nicht kleiner dadurch, dass euch damit abfindet.
Ihr, die Ihr kein Geld habt, kauft und esst! Noch so ein erdiger Ton in dem reinen Wein, der uns hier eingeschenkt wird, noch so ein Satz, der verärgert zusammen zucken oder die Stirn runzeln lässt. Zumindest diejenigen unter den Durstigen und Hungrigen, die ihre Sehnsucht nach mehr mit geballter Kaufkraft besiegen wollen, die darauf vertrauen, dass sich ein erfülltes Leben erkaufen, ertauschen oder verdienen lässt - so, wie so vieles im Leben mit Geld geregelt werden kann. Und die plötzlich im flirrenden Licht der Mittagshitze erkennen, dass ihre Hände genauso leer sind wie die der Anderen. Eigentlich wissen wir das ja. Dass das, was wirklich zählt, nicht für Geld zu haben ist. Die Erfahrung hat jede Konfirmandin schon gemacht, und auch wir Älteren lernen das immer wieder aufs Neue, und nicht selten auf die harte Tour - unsere Lebensentwürfe sind in Kaiserswerther Eigenheimen genauso zerbrechlich wie in den Sozialwohnungen von Garath, ein Mehrgängemenü im Schiffchen kann genauso hungrig und leer zurücklassen wie die hastig heruntergeschlungenen Pommes am Worringer Platz.
Warum bietet ihr Silber für etwas, das kein Brot ist, und euren Verdienst für das, was nicht sättigt? fragt die Stimme in der Wüste. Ja, warum? Vielleicht, weil unser antrainiertes Misstrauen gegenüber allem, was umsonst ist, tief sitzt. Weil wir gelernt haben, dass das, was nichts kostet, auch nichts ist. Weil es schwer zu ertragen ist, dass wir selbst den ganz tief sitzenden Hunger und Durst nach Anerkennung, nach Gesehen-Werden, nach Bedeutung und Sinn nicht stillen können.
Durst - ja, doch, kennen wir. Aber wohin damit? Wohin mit uns, wo finden wir es - das Wasser, aus dem wir schöpfen, in das wir eintauchen können, das kühlt und erfrischt und lebendig macht?
Die Toten Hosen geben in ihrem Lied keine Antwort darauf, sie enden mit der mehrfach wiederholten Frage: Warum werde ich nicht satt? Warum werden wir nicht satt?
Die Stimme in der Wüste indes gibt eine Antwort. Ganz in der Mitte des Textes heißt es: Neigt euer Ohr, und kommt zu mir! Hört, dann werdet ihr leben. Was unseren Hunger und unseren Durst jenseits von Nahrung und Materiellem stillt, sind Worte, die mir signalisieren, dass ich gesehen werde, dass mein Leben einen Sinn und die Zeit ein Ziel hat. Oder noch genauer: Es ist die Begegnung mit einem lebendigen Gegenüber, das mir diese Worte zuspricht. Das haben Sie alle schon einmal erlebt. Das ist übrigens das, was die Bibel meint, wenn sie vom Glauben spricht: Keine Weltanschauung, kein Katalog von moralischen Appellen, auch kein Zwölf-Punkte-Programm, das sich zwischen zwei Buchdeckel pressen und im Buchladen unter Lebenshilfe vermarkten lässt. Sondern eine Beziehung, ein Kontakt zu dem lebendigen Gott, dessen Wort sein Volk Israel durch die Zeiten hindurch bewahrt hat, und der als Davidssohn Jesus Christus alle Menschen einlädt, die Sinn, Perspektive und Gemeinschaft suchen.
Liebe Gemeinde, ein letztes Mal: Durst. Kennen Sie? Gut, dass Sie dann heute hier in diesem Gottesdienst sind, denn hier gibt es Worte zu hören, die das sagen, was kein Mensch sich selbst sagen kann. Hören Sie sie noch einmal, wenn Sie sie hören müssen, oder packen Sie sie ein und nehmen Sie mit für andere, die sie brauchen:
Ich bin der Herr, dein Gott, der Dich aus der Sklaverei in die Freiheit geführt hat.
Ich habe dein Wandern durch diese große Wüste auf mein Herz genommen.
Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid - ich will euch erquicken. Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.
Ich bin das Brot des Lebens, wer zu mir kommt, wird nicht hungern und wer an mich glaubt, wird nie mehr dürsten.
Auf, zum Wasser, ihr Dürstenden... Die ihr kein Silber habt, kauft und esst euch satt... Hört, dann werdet ihr leben... um des Heiligen Israels Willen, denn er hat dich verherrlicht.
Amen.
Mehr von Pfarrer Holger Pyka kann man in seinem Blog "Kirchengeschichten: Der Blick von der Kanzel - Gedanken, die sich ein Pfarrer so macht" nachlesen.
Trinitatis 26.05.2013 4.Mose 6,22-27 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Trinitatis – 26.Mai 2013
4. Mose 6, 22-27
Liebe Gemeinde!
Unser evangelisches Selbstbewusstsein, das so stark und stolz vom Leib der Ortsgemeinde und vom Kirchturm als dessen Herz aus denkt, wird jeden Sonntag mindestens einmal gebrochen. Einmal in jedem Gottesdienst erleben wir’s, dass der Horizont des Wir-Gefühls vor Ort aufgesprengt wird. Doch dann erscheinen dahinter nicht etwa der Kirchenkreis als die nächste Ebene oder die Landeskirche als der große Rahmen.
Die sind und bleiben immer noch provinziell und seltsam selbstverliebt, wie alle solche Duodezeinrichtungen à la „Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg“, „Sachsen-Hildburg-hausen“ oder „Wied-Isenburg-Runkel“.
Nein, zumindest einmal in jedem Gottesdienst geht das kleine Bühnenbild der evangelischen Kirchlichkeit auf und zeigt uns, dass wir mitten auf dem Welttheater stehen.
500 Jahre Reformation und alles, was wir als Zeitgenossen des 21.Jahrhunderts für den Inbegriff unserer kosmopolitischen Modernität halten, wird dann urplötzlich zu einem Krümelchen Puderzucker.
Denn neben uns stehen mit einem Mal
Nomaden der mittleren Bronzezeit
semitische Stammesfürsten
Würdenträger des judäischen Großreiches
Geiseln der babylonischen Gottkönige
hellenistische Diasporagelehrte aus dem Schmelztiegel Alexandriens
verbissene Freiheitskämpfer gegen die römische Weltmacht
Flüchtlinge und Handeltreibende aus Nordafrika und den persisch-iranischen Kulturzentren lang vor der islamischen Ära
kaiserliche Leibeigene im karolingischen Europa
Philosophen und Ärzte des maurischen Spanien
Geldleiher und Sündenböcke der Kreuzzüge
Verjagte, die in den Sümpfen Weißrusslands und der Kiewer Ruß, in Großpolen und Litauen Holzhütten und hölzerne Gebetsstuben immer wieder neu auf Asche und Blut bauen
hausierende Viehhändler aus Franken und Hessen
graue Massen, die den Sadismus des zaristischen Militärs widerstandslos erleide
eine Elite, die im viktorianischen England den Adel König Davids und der Geldbarone verbindet und in die höchsten Kreise aufsteigt
witzige, leidenschaftliche Prager Caféhausbohemiens
fromme Talmudstudenten des Ghettos
Geistesgrößen und osteuropäische Fiedler
schwarze Rabbis aus Äthiopien
das halbe Hollywood
die Soldaten Zions und Pioniere eines neuen Landes auf den ältesten Spuren Gottes. …..
Neben uns in Kaiserswerth, in Lohausen und Einbrungen steht Israel da.
Oder eher noch umgekehrt: Einmal in jedem Gottesdienst stehen wir neben und hinter dem auserwählten Volk des Eigentums! ———
Luther hat das so gewollt.
Er hat, als er zwischen 1523 und 1526 die Neuordnung des Gottesdienstes auf der Grundlage des Evangeliums betrieb, neben vielen anderen jene eine entscheidende Änderung vorgenommen, die uns immer wieder aus der Selbstgenügsamkeit der eigenen Umgebung in die spannungsreiche Gemeinschaft mit dem jüdischen Volk versetzt. In einem vollständigen Bruch mit aller kirchlichen Tradition hielt Luther es für angemessen, die Liturgie unserer Gottesdienste genauso zu schließen, wie es im Tempel und in den Synagogen Israels üblich war und ist: Kein apostolischer, kein bischöflicher Segen sollte die Gemeinde am Ende ihrer Feier stärken und zurüsten, sondern aus der tiefsten Vorzeit, aus den Tagen zwischen der Wüste und der Sesshaftigkeit sollte auch uns Christen der aaronitische Dienst zugutekommen.
Und so ist der Segen am Ende, was der Psalm am Anfang des Gottesdienstes ist: Ein ewiges Stück der biblischen Zeit in unserer Gegenwart.
So wie vor drei Jahrtausenden gebetet wurde, ebenso wird heute gebetet; was vor tausend Generationen ein Segen war, nichts anderes soll uns zum Segen werden.
Alle geschichtlichen Bewegungen, … der Hochmut und der Fall der Kirche, … die zeitbedingten Wandlungen des menschlichen Kult- und Kulturbetriebes, … der Puls der Zeit – sie lösen sich in Staub und Nichts auf, wenn heute wie in allen Menschenaltern zuvor wieder der Dreiklang angestimmt wird, den Aaron und seine Söhne zuerst psalmodierten:
„Segnen und Behüten, — Leuchten und gnädig Sein, — Nähe und Frieden!“
Dieser Dreiklang der Gottesgaben ist also der eigentliche cantus firmus der Welt.
Dieser Ton trägt die Erde, heilt ihre Brüche, bringt sie zur Ruhe.
Dieser Segen spannt sich von der Wiege der Offenbarung Gottes bis zum Grab Seines letzten Feindes: Was Gott tat, tut und tun wird, das sagen die drei Begriffspaaren nicht nur, sondern von Gott selbst wird es darin verheißen und in Vollmacht bestätigt.
Wer solches spricht, hört und singt, dem begegnen also die eigentlichen „Urworte orphisch“, der trifft im eigenen Mund und Gehör auf das, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Weil das aber nun keine Geheimwissenschaft, keine alchemistische Weltformel, sondern die Lebensmelodie der Leute Gottes ist, weil es in unser aller Dasein gehört, darum müssen wir es zunächst tatsächlich auch alle aufgreifen, ehe wir uns noch ein wenig näher des Unergründ-lichen darin besinnen. Gemeinsam wollen wir daher den Segen singen:
„Es segne uns der Herr / der Urquell aller Güter “
(Hieronymus Annoni, 1745)
Was aber ist nun Segnen?
– Zunächst müssen wir alles allzu Feierliche und Mystische dabei grundsätzlich vergessen. Segnen bedeutet nämlich vor allem andern schlicht Gemeinschaftskasse machen, also aufhören zwischen Mein und Dein säuberlich zu trennen und stattdessen den Nießbrauch einer Sache zu teilen.
Wo Segen ist, ist Gemeinnutz. Wenn Gott segnet, so räumt er den Genuss und die Früchte Seiner Schöpfung, Seiner Herrlichkeit und Allmacht den Gesegneten ein. Er tritt in Gütergemeinschaft mit denen, die Ihn fürchten und lieben.
Segen macht also reich - ….. wobei wir so tief im plutonischen Geldwesen verkommen sind, dass zu befürchten ist, dieser Satz könne inzwischen tatsächlich buchstäblich und in Zahlen aufgefasst werden, als diene Segen dem Geschäft oder Guthaben.
Nein, Segen macht reich, weil die Gesegneten alles empfangen, was der Herr der Welt, der allmächtige und ewige Gott sein Eigen nennt. Segen macht reicher als alle irdischen Dinge je machen könnten, weil er uns zu Erben und Teilhabern Dessen macht, Der Alles in Allem ist.
Wenn Er segnet, dann verliert unser Dasein seine Grenzen und gewinnt die Fülle des Lebens.
Darum ist im Segen auch die Bewahrung des Zugesagten inbegriffen.
Weil der Segen uns auf‘s engste mit Gott verknüpft, darum enthält er keine Klauseln. Gesegnete werden behütet und bewahrt in dem, was ihnen zugesagt ist: Gott bleibt ihnen verbunden in allen Lebenslagen, in Glück und Unglück, Kraft oder Krankheit, im Blühen und Sterben.
…. Nur eins könnte den unwiderruflichen Segen entkräften und vernichten: Wenn er nicht mehr gewollt, wenn er nicht mehr bejaht würde.
Denn – das ist ein unter uns lange Zeit völlig verlorengegangener Gedanke – denn Segen beruht zutiefst und zuletzt auf Gegenseitigkeit: Gott schenkt Sich denen, die Ihn wollen. Er teilt mit denen, die zum Empfangen bereit sind. Er bindet in Sein eigenes Leben alle ein, die diesen Bund bejahen.
Wer allerdings meint, darauf verzichten zu können, wer lieber „Glück“ als Segen hat, wer lieber alleiniger Schmied seines Erfolges und einsamer Verlierer ist, als ein Glied im Kreislauf des Gebens und Nehmens zu sein, der muss sich nicht dem Segen unterstellen. Der kann Nein sagen, indem er keinen Anteil an Gott bestätigt.
Ohne das „Amen“ des Menschen wird Gott ihn nicht gegen seinen freien Wunsch und Willen in Israel eingemeinden und in den Bund einsegnen.
Wer aber „Amen“ sagt, wer also zustimmt, ein Gottesfreund, ein Glied der Bundesgemeinde zu werden: Der wird nicht nur gesegnet, sondern selbst zum Segen.
Denn – das ist der andere verlorene Gedanke, den erst unsere Zeit in dem erschütternden Neubedenken dessen, was wir Israel schulden und verdanken, wiedergefunden hat – denn wer gesegnet ist, der kann segnen.
Wer beschenkt ist, wird weiterschenken; wem Gnade widerfährt, muss gnädig leben.
Und mit wem Gott Sein Gutes teilt, der soll ebenso in allen Dingen großzügig mit Gott sein.
So sollen die Träger des Segens also wiederum zu Segnern werden.
Auch für Gott!
Denn tatsächlich weisen uns die Sprachen der Bibel und der Liturgie alle drei darauf hin, dass die Gesegneten berufen sind, Gott ihrerseits zu segnen.
Überall nämlich, wo wir zu hören und zu denken gewohnt sind, dass der Mensch Gott „lobe“, steht im Hebräischen, im Griechischen und noch im Lateinischen in Wirklichkeit, dass Menschen Gott „segnen“.
Ungewohnt wie diese Gegenseitigkeit auch sein mag, ist sie doch entscheidend, um zu erfassen, dass im Segen nicht nur die Kraftquelle, sondern auch die Aufgabe der Gemeinde zu finden ist.
Wer unter dem Segen lebt, verbunden mit Gott, der kann und soll Gott seinerseits begleiten, bestärken und bestätigen. Der soll Gott glücklich machen, so wie Gott ihn beglückt.
Er soll ein Spiegel jenes leuchtenden Antlitzes werde, das Gott ihm zuwendet: Du wirst angestrahlt, … also strahle! Du bist voll der Gnade Gottes, … wie solltest Du da ausgerechnet Ihm Deine Zuwendung vorenthalten, der Dich und Dein Leben so hell macht?!
Schenke Gott Deine lachende Liebe zurück, wende Dein Herz und Deine Gedanken, Deine Kräfte und Dein Leben auf Ihn, Der Dir ja alles zuwendet, was in Seiner Macht steht.
Und in solchem Gotteslicht und dessen menschlicher Reflektion, in solchem Schein und Widerschein der gegenseitigen Verbundenheit, da gipfelt aller Segen.
Denn der letzte der drei doppelgliedrigen Segensverse, die seit Aarons Tagen das Volk Israel und Gott zu Versprochenen und Verschworenen, zu Bundesgenossen machen, … der letzte der drei Segensverse enthält ein Wortspiel, das uns ganz wirr und wunderbar um’s Herz werden lässt.
Wir hören es ja immer untertänigst, ehrfürchtig, was da heraufzieht, wo „der HERR Sein Angesicht auf uns erhebt“. … Schauder der Erhabenheit weckt diese Anrufung eines Blickes aus schwindelnder Höh`.
Aber so muss man nicht übersetzen.
Die hebräische Wendung bedeutet viel häufiger, zu jemanden auf-, als auf einen anderen herabzuschauen. Doch wie sollte die Gemeinde, die den Segen so hören und verstehen muss, sich dieses „Heraufschauen“ Gottes wohl denken?
Wann wäre Gott denn so weit unter dem Menschen, dass Er – immer bildlich gesprochen – den Kopf in den Nacken werfen und glücklich nach oben, hinauf zu uns blicken müsste?
Da muss man es tatsächlich – wie Luther in seiner Auslegung des aaronitischen Segens mehrfach betont – da muss man es tatsächlich „Hebräisch nachreden und [Hebräisch] bleiben lassen.“
In Israel nämlich gibt es Ausleger, die sich gar nicht wundern, wann Gott wohl hochschaue, um den Menschen zu betrachten.
– Ihnen ist es ganz sonnenklar: Jeder Vater, der sein Kind liebkost und sich an ihm weidet, nimmt das geliebte Geschöpf und hält es im Überschwang des stolzen Vatergefühls hoch empor. Es ist ihm das Kostbarste und ist ihm gleichzeitig so leicht, das kleine Wesen, das ihn so glücklich macht, da in der Höhe zu wiegen und strahlend zu seinem Kind hochzusehen.
So soll und will Gott es auch tun: Er will Sein Kind tragen und über alle Hindernisse heben, und Er muss dabei mit dem Blick der uneingeschränkten, der unverbrüchlichen Liebe immer auf’s Neue hinauf zu dem lächeln, der da schwebt und sicher in den starken Händen ruht. —
Das ist Segen: Gottes Fülle teilen. Gottes Lachen erwidern. Gottes Kind sein.
So wurde und so wird das Volk, das Gott erwählt hat, gesegnet und in den Bund gezogen und durch die Welt und durch die Zeit getragen.
Weil aber diesem Volk ein Kind geboren und ein Sohn gegeben wurde, der Seines Vaters ganze Ehre und Wonne und dabei doch auch ein Diener der Heiden und das Heil der Welt geworden ist, darum dürfen schließlich auch wir Christen am Ende jedes Gottesdienstes uns einfinden und Aarons Hände und Aarons Worte auch zu uns geneigt und gesagt erleben.
Dann aber finden wir um Christi willen beim Ausgang jedes Gottesdienstes an Israels Seite im Segen mehr mitzunehmen, als wir je ausschöpfen könnten:
Wir dürfen alles annehmen, was Gott gibt, – dürfen uns ganz mit Ihm verbinden, – sollen immer Seine Kinder sein.
Und auf das alles, auf jede dieser Zusagen, brauchen wir vereint mit Israel nur zu antworten, wie wir es immer tun:
Amen!
Amen!
Amen!
Pfingstsonntag 19.05.2013 4.Mose 11 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Pfingsten - 19.V.2013
4.Mose 11 i.A.
Liebe Gemeinde!
„Hauch“ ist ein schönes pfingstliches Wort, obwohl es an ganz Verschiedenes denken lässt.
Die einen stellen sich beim „Hauch“ etwas Seidiges, Ätherisches vor: Ein „Hauch von Nichts“, ein Air von Luxus.
Die so ticken, werden vermutlich Wert darauf legen, dass an Pfingsten etwas Reingeistiges zu bedenken sei, etwas allerhöchstens Feinstoffliches, am besten aber völlig Ideelles, Ideales. Eben der manchmal so wabernd übersetzte „Geisthauch“.
Andere sind gröber in Hören und Denken. Beim „Hauch“ fällt ihnen ein, dass man hin und wieder ja hauchen musste, wenn die Mutter den Halsschmerz und der Schutzmann den Pegel ein-schätzen wollten. Solcher durchaus in der lebendigen Materie strömende Duft und Dunst hat mit dem grundkörperlichen Elementarvorgang des Atmens zu tun, und tatsächlich ist der gute alte „Spiritus“ ja zunächst der Menschenatem oder der Luftaustausch der Natur, also der Wind – was für das Griechische „Pneuma“ und das Hebräische „Ruach“ ebenso gilt.
Ist aber der Hauch denn dann nun eher eine Erscheinung der Ideen oder des Biologischen?
Kommt er mehr in der Denk- oder in der Dingwelt vor?
Gehört der Geist also ursprünglich in’s Reich des Geistlichen oder des Weltlichen? ———
Nun, …..biblisch betrachtet gehört er zum Knoblauch.
Denn so wie wir es eben hörten fängt der Geist an zu wehen, als das Volk Israel sich zurückträumt zu den mediterranen Salatplatten seiner Gefangenschaft: Fisch und Zwiebeln, Melone, Kürbis, Porree und ganz viel Knoblauch … die Speisen, die der Nilschlamm hergibt.
Den Atemhauch, den solche Kost hervorruft, mag man sich nicht ohne Schaudern denken.
Den sauren Geruch des Hungers allerdings ebenso wenig.
Doch diese fatalen körperlichen Begleitumstände sind mehr als unappetitliche Einzelheiten: Sie sind tatsächlich der Auslöser einer Umverteilung und Gemeinschaftsaufgabe zwischen dem Fleisch des Menschen und dem göttlichen Lebenshauch, die uns den Heiligen Geist – und damit Gott selbst – immer wieder zu einer endlosen Überraschung machen. ——
Gerne würden wir vielleicht ja wirklich denken, Gott sende seinen Geist aus, um – wie die Wortspiele sich nun einmal eingebürgert haben – … um zu „begeistern“, um „Inspiration“ zu schaffen und „Esprit“, „Geistesblitze“ auszulösen.
Dann wäre der Geist etwas wahrhaft Poetisches, eine Form des frommen Musenkusses, etwas, das durch die Harfe Davids ebenso rauscht wie durch den Dichterhain und den akademischen Garten von Weimar, Königsberg oder Pacific Palisades, als Th.Mann und Lion Feuchtwanger dort dichteten und trachteten.
……. Es wäre ja so erhebend, wenn der Geist vor allem zur Verschönung der Welt ausgegossen würde, …zur Verklärung der Sterblichen, …zur Läuterung derer, die sich über die Materie erheben können.
Stattdessen erfahren wir von seinem ersten innerweltlichen Aufkommen als Reaktion auf Fressgelüste – nachdem er uranfänglich in Wüstheit und Leere und Finsternis über den Wassern brütete (vgl.1Mose12).
Das ist unphilosophisch und unkultiviert. …… Der Geist gebärt nicht den Kunstsinn, sondern klärt den Küchenzettel?!
Doch also unterscheiden sich unser lebendiger Gott und der ideale Gott Apoll, der Geist der Goethezeit und der Weltgeist von Hegel bis Marx – wobei letzterer noch am ehesten geahnt haben mag, dass Geist und Magen biblisch auf dem selben Blatt stehen. ——
Nun aber noch einmal der Reihe nach – falls das in dem Durcheinander der verwirrenden und rätselhaften Geschichte aus der Wüstenwanderung überhaupt möglich ist.
- Die befreiten Sklaven meutern während des Exodus, weil sie das ewige himmlische Konfekt und Naschwerk, als das das Manna beschrieben wird, satt haben und wieder Hausmannskost verlangen.
- Mose meutert auch, weil er dies kindische Gegreine, wer was auf dem Teller haben möchte, völlig unerträglich findet: „Ich bin schließlich nicht ihre Mama“, bollert er Gott an. Und Gott selbst verliert die Nerven, lässt seinen Zorn lodern und wird auch die schließlich eintreffenden Wachteln nicht ohne Grimm den Gierigen in’s Maul flattern lassen.
Aber als Mose nicht nur die Brocken hinschmeißen, sondern sogar sein Lebenslicht auspusten will, als die irrsinnigen Halluzinationen, was man angeblich alles an Rohkost und Omegafettsäuren in der ägyptischen Fron serviert bekam, immer massenhysterischer werden, als Bert Brechts Dreigroschenoper in der Wüste Sinai Premiere zu feiern scheint …..
„Ihr Herrn, die ihr uns lehrt, wie man brav leben / und Sünd und Missetat vermeiden kann.
Zuerst müsst ihr uns was zu fressen geben / dann könnt ihr reden: damit fängt es an.
Ihr, die ihr euren Wanst und unsre Bravheit liebt / das eine wisset ein für allemal:
Wie ihr es immer dreht und wie ihr’s immer schiebt: / Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ …..
……. als das alles gleichzeitig hochkocht, da schlägt die Stunde der Geistverteilung.
Nicht, weil der Geist ablenken soll, indem er Opiumnebel durch hungrige Innereien verströmt, sondern weil es kein anderes Hilfsmittel bei den wirklichen Menschen- und Menschheitsfragen gibt.
Dass der Mensch ein hungriges Bedürfniswesen, ein frierender und zitternder Ungeschützter, ein in Nacktheit wehrloser und in Angst besinnungsloser Wurm und Wüterich ist: das mag die Vernunft vor sich selbst und der Stolz vor anderen verbergen, das mag die Zivilisation über-tünchen und fast jede Religion wegdisziplinieren …. aber der eine wahre, lebendige Gott, der sieht’s.
Bei dem heißt’s dann nicht: „Habt euch nicht so! Augen zu und denk an England! Hoch die Seele und nieder mit den niederen Instinkten.“
Sondern als der Schöpfer, der sie tatsächlich alle getragen und geboren hat, der ihre Bockigkeit und ihren Hunger kennt, der weiß, dass sie sich alleine verrennen und am Ende sogar dem Tod unten im alten Ägypten entgegen fliehen würden … als ihr Schöpfer kann Gott seine heißhungrigen Kinder eben doch nicht fort in ihr Verderben schicken.
Also werden die Ärmel aufgekrempelt und das Küchenpersonal wird vermehrt.
Und das ist die Geistvermehrung, die von Mose zu den Siebzig führt.
Geistvermehrung zur Fleischvermehrung.
So viel in der Aufregung dieser Pfingstgeschichte der ersten Stunde nämlich auch unklar bleibt, weil das Fressen die Moral von der Geschicht’ tatsächlich geradezu in den Hintergrund drängt: Es kann kein Zweifel daran sein, dass die Berufung der siebzig Ältesten und ihre Beschlagnahme durch den von Gott verteilten Geist der Anfang der Diakonie sind.
Um das klarer zu erfassen als es die aufgewühlte Urerfahrung mit dem Geist in der Wüste zulässt, muss man nur in die andre Gemeinschaft schauen, die sich dem Gottesgeist verdankt.
Als in der Jerusalemer Urgemeinde, die zu Pfingsten spontan zusammenfand, sich genau die selbe Frage des Hungers und Verlangens erhob, die in neuen Gemeinschafts- und Lebens-formen immer akut wird, da wiederholte sich der Vorgang der Geistverteilung für den Dienst am Menschen.
Das Murren der griechischen Judenchristen über die Benachteiligung „ihrer“ Witwen gegenüber den hebräischsprechenden Gemeindegliedern führte kurz nach Pfingsten zum ersten Amt der Kirche:
„Darum, ihr lieben Brüder, sehet euch um nach sieben Männern, die einen guten Ruf haben und voll heiligen Geistes und Weisheit sind, welche wir bestellen mögen zu diesem Dienst der Almosenpfleger“ (Apg.63).
In genauer Entsprechung zum Siebzigergremium des Mose, das in der Versorgungskrise durch den Geist befähigt wurde, erwählte man in Jerusalem 7 Diakone (Apg65):
„Stephanus, einen Mann voll Glaubens und heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Judengenossen von Antiochien.“
Wir sehen also: Der Heilige Geist macht eben nicht schöngeistig, sondern praktisch tüchtig.
Der Heilige Geist teilt aus und sättigt.
Der Heilige Geist lehrt beten und schuften.
Er ist der Geist der Tat, des Dienens und der Hilfe.
Das Zielwort bei den Mosehelfern lautet ja: „Damit sie mit dir die Last des Volkes tragen und du nicht allein tragen mußt!“
Und so darf man in freier Abwandlung des Jesajawortes (585ff) wohl sagen:
Nicht Zungenrede oder fromme Erregung, nicht glühend-sprühende Kanzelrede oder tosender Chorgesang sind die Zeichen einer Gemeinde, in der es Pfingsten ist, sondern „das ist ein Pfingsten, an dem ich Gefallen habe – spricht der HERR – : Wenn Hungrige satt, Obdachlose behaust, Nackte gekleidet und Unterdrückte befreit werden“. ——
Es ist ein weiter Weg von dem pfingstlichen Wort, mit dem wir heute anfingen – dem zarten „Hauch“ –, bis hin zum handgreiflich-konkreten Anpacken der drängenden Gesellschaftsnot.
Aber dass Gottes Atem nicht säuselnd geht und nur mit sanftem „Pssscht“ beschwichtigt, sondern dass er wild wehen und Bäume entwurzeln und Flammen auf’s Dach des Weltgebäudes setzen kann und Menschen eben auch zu großer Kraftanspannung, zu schonungsloser Arbeit unter Mühe und Keuchen bewegen will, …. das ist uns doch nicht neu!
Neu ist vielmehr immer wieder die Richtung, aus der der frische Wind vom Himmel wehen und in die die lebendige Gotteskraft uns auf Erden führen will.
Das sind nicht immer die selben Schneisen, die der Geist durch alles schlägt, was in der Welt morsch und unfruchtbar ist. Es sind nicht immer die selben Kanäle, aus denen es strömt und stürmt.
Denn der rettende Geist Gottes ist so unzähmbar, wie er unvorhersehbar ist:
Er steckt auch einen Eldad und Medad an, obwohl die nicht am richtigen Ort zur richtigen Zeit waren.
Doch gerade seine Überraschungen, gerade sein Überfließen und Aufbrechen, wo niemand drauf gefasst war, macht die gläubige Hoffnung auf Gottes Geist zum spannendsten Teil unseres Lebens als Christen.
Wann immer wir von den Fragen der Gegenwart erdrückt und gelähmt werden – weil wir nicht absehen können, wie dem Horror in Syrien sinnvoll gewehrt werden könnte; weil wir weder eindeutig, noch einmütig erkennen, wie die Verselbständigung des Ökonomischen zurück in die von Gott geforderten Schranken der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gelenkt werden könnte; weil wir uns nicht ausmalen wollen, wohin unsere vergreisende Gesellschaft trudelt und wozu der Zynismus der heutigen auf Kosten zukünftiger Generationen wohl noch fähig ist … – wann immer diese schrecklichen Fragen uns zum Rückzug in die immerhin vertraute Welt von gestern, zurück zu den überschaubaren Lebensschauplätzen und nachträglich harmlos wirkenden Sorgen von einst drängen, da sollten wir als die Gemeinde des Heiligen Geistes erst recht gespannt sein.
Gott wird sich Seine Zukunftspläne mit der Welt nicht einfach vor die Füße kippen lassen, bloß weil wir uns an den Problemen verheben oder enttäuscht sind, dass wir nicht grenzenlos verwöhnt werden sollen.
Gott wird tief durch und dann kräftig ausatmen, je mehr wir schamlos lügen und erklären, es sei nichts zu ändern und wir seien die Verlierer bei Seinen umwälzenden Taten für alle.
Und wenn Gott dann ausatmet – voller Entschlossenheit und Energie, vielleicht auch betrübt und voll heiligen Zorns – dann wird der Wind der Neuerung durch die Wirklichkeit der Welt fegen!
Er ist auf keinem Barometer angezeigt und kündigt sich nicht immer mit guten Vor-zeichen, sondern bisweilen mit Schreck und Feuer an.
Gewiss heißt er weder „Teaparty“, noch „Occupy“, trägt wohl auch nicht den Namen Franziskus und nicht das Zeichen von Fenster, Tür und Apfel [- Windows, Gates + Apple -]. Gottes Geist wird auch nicht bei der Bundestagswahl kandidieren, und er wird auch heute nicht an den Universitäten ausgebrütet.
Und dennoch: „Ist etwa die Hand des HERRN zu kurz?“
– Er wird doch die Welt bewegen und ihre Schätze so verteilen, dass die Gierigen ausspeien müssen, was sie unmöglich verwerten können, und die wirklich Hungrigen wahrhaft satt werden.
Den eingebildeten Lüsten wird der Geist wie damals auch ein Ende mit Schrecken und ein Grab bereiten, aber das echte Verlangen der Menschen wird er stillen.
Und wenn es anfängt …. ja, weil es anfängt, können wir wie Mose tatsächlich wünschen: „Wollte Gott, dass alle im Volk des HERRN Propheten wären und der HERR seinen Geist über sie kommen ließe!“
Denn was von Gott und mit Gott kommt, das kann niemand empfangen ohne es weiter zu geben: So fließt es über und breitet sich aus.
Was von und mit Gott kommt, wird die Nahen und die Fernen erfüllen und wird übergenug sein, um allen Mangel an Leib und Seele zu stillen.
Denn es soll die ganze Welt mit Heil und Gutem versorgt werden, jeder Tisch gedeckt, jeder Kelch voll eingeschenkt, bis Männer, Frauen, Kinder überall frei atmen, nehmen, teilen und Gottes unerschöpfliche Gegenwart genießen.
„Gott der Herr hat’s verheißen, wer sollte nicht Prophet werden?“ (Amos38)
Komm, Heiliger Geist!
Amen.
Exaudi 12.05.2013 Johannes 14,15-19 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Exaudi - 12.V.2013
Johannes 14, 15-19
Liebe Gemeinde!
Man kann die christliche Hoffnung ganz knapp zusammenfassen.
Im Ergebnis gewinnt man dann aber überraschenderweise eine Formel, die nicht nur vorausschaut, sondern auch zurückblick auf alles, was an der Kirchengeschichte je gut war.
Dieser Ausblick, der zugleich Rückschau ist, lautet: „Auf Wiedersehen, Jesus!“ ——
„Auf Wiedersehn, Jesus!“
Zunächst ist das ein Abschiedsgruß.
Ein Himmelfahrtswort.
Ein letzter Ruf bei der Trennung, den wir uns im Mund der 11 Apostel denken könnten – wären sie damals auf dem Ölberg (vgl.Apg112) nicht so perplex gewesen, dass es ihnen schlicht die Sprache verschlug …..
Wie auch immer: Mit dem damaligen Abschied von Jesus fängt die Kirche an.
Vor 60 Generationen gingen der Bräutigam und die Braut auseinander, vor 60 Generationen hat der Lehrer die Klasse verlassen, ist der Meister ohne die Anhänger weitergezogen.
Seit 60 Generationen hallt der wörtlich zu nehmende Scheidegruß nach: „À Dieu!“ ……. —
Das ist eine Tatsache, der wir auch nachdenken sollten:
Dass wir in einer Gemeinschaft stehen, die vom Abschied geprägt ist.
Die Kirche und Europa haben also ihre gesamte Geschichte der letzten beiden Jahrtausende im Zeichen des Losreißens und Aufbruchs, im Zeichen eines Verschwundenen erlebt!
Wer sich noch fragt, woher das Papsttum, woher der in ihm verkörperte Drang nach greifbaren Formen und sichtbaren Abbildungen und festen Bezugspunkten stammt, sollte nie vergessen, dass sie alle – die kirchliche Hierarchie und die sakrale Kunst und die abendländische Suche nach Autoritäten – durch Jesu Himmelfahrt ausgelöst wurden:
Die Christenheit ist eben eine Gesellschaft, deren Mittelpunkt durch Abwesenheit glänzt.
Dieses Fehlen des entrückten Herz- und Kernstücks macht uns seit den Anfängen zu schaffen:
- Der Menschensohn, der gekommen ist, um Gottes Gegenwart in unserer Wirklichkeit zu offenbaren, hält Abstand zur Erde.
- Der eingefleischte Erlöser der Menschheit wurde nur vierzig Tage nach dem Sieg über den Tod zum Außenstehenden … jenseits von menschlichen Zeit- und Raummaßen.
Wenn schon das Verschwinden eines Barbarossa beim Bad im Saleph die panisch fixe Idee auslöste, er müsse doch irgendwo noch greifbar und reaktivierbar schlummern – und sei’s im Kyffhäuser –; wenn das verwirrende Ende anderer Lieblinge der Massen immer wieder Anlass gab, dass Menschen sich als deren Wiedergänger ausgaben und als falsche Anastasia durch Berlin und Amerika geisterten oder öffentlich verkündeten, sie seien der untergetauchte Rock-’n-Roller mit dem Hüftschwung aus Memphis, Tennessee, …. wenn solche Bedürfnisse nach einem Wiedersehen also vielfältige Abschiede begleiten, dann ahnen wir, wie die Frage nach einer Fortsetzung der Erfahrungen mit Jesus die Jünger plagen musste.
Und wir ahnen auch, wie groß die Unwahrscheinlichkeit dessen war und bleibt, was wir „die Kirche“ nennen.
Denn der Gemeinde ist die Führerfigur genommen; Herde ohne Leithammel, Trupp ohne Kommando – so steht der christliche Haufe seit Himmelfahrt dar.
Doch Jesus, der Entschwundene ist trotzdem zum einflussreichsten und wichtigsten Menschen der Geschichte geworden. Er ist bis heute trotzdem derjenige, der die meisten Querverbindungen unter den jeweiligen Zeitgenossen weltweit herstellt; in seinem Namen begegnen sich so viele Lebensläufe, sein Wort bewegt so viele Verschiedene, Verstreute und Entfernte mit solcher Wucht, sein Blut, sein Tod und Leben verändern so viele Schicksale, sein Wille und seine Verheißungen verwandeln den Lauf der Dinge so unsichtbar, wie unumkehrbar bis in unsere Tage, dass diese Welt – ob sie’s weiß, will oder fürchtet, oder ob’s ihr schlicht wurscht ist – dass diese Welt jedenfalls ohne Jesus nicht zu denken, nicht zu verstehen, nicht zu erkennen ist!
Aber wie kann das sein?
Wie kommt es trotz des Abstands zu einer solchen Verbindung?
— Die erste Antwort ist die elementarste.
„Wenn ihr mich liebt“, antwortet Jesus.
… Oder wissen wir das etwa wirklich nicht? Kennen wir tatsächlich nicht die Macht, an der Raum und Zeit scheitern, auch wenn sie alles tun, um Abstand herzustellen? Haben wir dafür keine Vorbilder, dass Liebende einander gegenwärtig sind, auch wenn „Länder und Meer, Eisen und Kerker und feindliches“ Heer sie trennen?
Heiliges Ännchen von Tharau, bitte für uns! möchte man seufzen.
Ein paar Lehrjahre des Herzens, … etwas Jesus-Liebe … und die Frage, wie man Christ sein könne, ohne Christus auf dem Schoß zu sitzen oder ihn an der Leine zu führen wie einen Hund, erübrigt sich von selbst! —
Aber die Antwort geht ja noch weiter:
„Wenn ihr mich liebt, so werdet ihr meine Gebote halten.“
Da verknüpft sich die Emotion – die das Schönste am Leben ist – mit der Ethik, die das Wichtigste am Leben ist.
Die Liebe, die Jesus als Erwiderung auf seine Hingabe in uns weckt, verschafft uns eben nicht nur ein Gefühl, sondern einen Maßstab. Nämlich den Maßstab, dass wir jener Liebe, die alles für uns tut, gibt und verspricht, nicht Verachtung, sondern Ehre einbringen.
So sollen wir leben und handeln, dass man den, der sich uns schenkt, um unseretwillen rühmen kann. Dieses Bewusstsein, dass wir Jesus keine Schande, sondern Freunde unter den Leuten machen sollen, ist eine untrügliche Leitlinie und ein unzerstörbares Band zwischen ihm und uns!
Die Frage, ob wir Jesus, der die Menschheit retten wollte, lächerlich machen, oder ob wir in seinem Sinn entscheiden und in seinen Fußtapfen fortschreiten, soll unsere Morgen- und Abendandacht sein:
Gehen wir so durch’s Leben, gehen wir so mit der Welt um, gehen wir so miteinander um, dass Jesus und seine Botschaft und Taten in’s Zwielicht geraten oder in’s Recht gesetzt werden?
Zerstören wir oder heilen wir? Übersehen wir die Menschen, oder dienen wir ihnen mit unseren Kräften? Drehen wir uns nur um die eigene Anspruchsachse oder beweisen wir aufmerksamen Gehorsam gegen Gottes Anspruch auf unser Leben? Sind wir gerecht oder selbstgerecht? Kann man erkennen, dass wir zum Segnen berufen sind oder sind wir Schmarotzer, ohne die die Welt reicher und angenehmer wäre?
Solche Fragen setzen uns Jesus vor Augen, binden ihn uns auf’s Herz, legen uns seine Kräfte in die Hände, lenken unsere Schritte, bremsen unsere Leidenschaften, schärfen unser Gewissen, befeuern unsere Hoffnung, durchdringen unser Tun und Lassen, bestimmen unser Denken, füllen Tage und Nächte, färben jede Regung und prägen unser Wesen.
Jesus ist also nicht weit weg, nicht unerreichbar, nicht fremd auf Erden, solange wir das verbinden: Sein Tun und unseres, … seine und unsere Liebe.
Wo immer wir sind: Nie werden wir ohne ihn sein, solange wir fragen: „Was gebietet mir hier und jetzt Deine Liebe?“ ———
Doch so wichtig und schön dieser innere Kompass der verbindlichen Anhänglichkeit auch ist – er könnte dennoch zum Komplex geraten.
Das zeigt sich in den Geschichten vieler Kinder, gerade früh verwaister Kinder, die ewig unselbständig bleiben, weil sie gelenkt werden von falscher Pietät. „Denk dran, wessen Namen Du fortführst“, beherrscht es sie dann. „Wahre Vaters Erbe! Zolle der Mutter den Tribut ewiger Folgsamkeit!“
Solche kindlichen Fixierungen sind falsch und furchtbar.
Das ganze deutsche Reich hat einst nach 1871 den Sedanstag als ein Fest des Ödipuskomplexes begangen, weil der Sieg über Frankreich tatsächlich als Revanche des alten Kaisers Wilhelm gesehen wurde, der damit die ein Menschenalter zurückliegende Schmach seiner madonnenhafte Mutter Luise getilgt habe.
Solche Kinderkomplexe taugen aber nicht dazu, eine lebendige Verbindung zwischen Vorbild und Nachfolger aufrechtzuerhalten, sondern sie konservieren bloß ein Standbild.
Deshalb hat Jesus auch ausdrücklich gesagt: „Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen“.
Statt also unselbständig nur auf eine vorherbestimmte Pietät festgelegt zu werden, um des Erbes würdig zu bleiben, werden seine Jünger durch Jesus zu unabhängigen, eigenständigen Menschen erzogen.
Das aber geschieht, indem er ihnen eben keinen Vormund setzt, der sie drillt, sondern ihnen den Geist der Wahrheit vom Vater zusagt – jener Wahrheit, von der er festhält: „Die Wahrheit wird euch frei machen!“ (Joh832)
Deshalb heißt der Heilige Geist ja auch „Paraklet“ – wörtlich: „Herbeigerufener“, lateinisch „Advocatus“.
Der Geist ist also der Verteidiger der christlichen Freiheit, die uns von Jesus gerade nicht entfernt, sondern zu ihm erhebt.
Der Advokat, der Anwalt der Wahrheit sorgt dafür, dass wir uns nicht verstricken oder einschüchtern lassen, sondern den Freimut behalten, zu sagen, zu entscheiden und zu handeln, wie es jeweils Recht und Wahrheit entspricht – ohne dabei sklavisch bloß ein Vorbild zu kopieren.
Der Geist der Wahrheit, der kein Vormund ist, sondern mündig macht, ist ja ein großer, freier Übersetzer, der das Original sinngemäß zu übertragen versteht. Auf diese Weise wird durch diesen Geist Jesus selbst in alle Zeiten und jede Gegenwart übersetzt, wenn wir Christen nur glauben und darauf vertrauen:
Wir stehen in voller, rechtskräftiger und gültiger Gemeinschaft mit dem Herrn!
Er selbst räumt seine Freiheit auch uns ein:
Die Freiheit, zu vergeben und zu versöhnen; die Freiheit, Feindschaft zu entkräften und Unmögliches im Glauben zu erreichen. Die Freiheit, sich selbst zu überwinden und die Angst und Sünde obendrein. Die Freiheit, zu tun, wovor alle anderen ausweichen, zu glauben, was niemand sonst vermag, und zu hoffen, was die Welt nicht zu hoffen wagt. —
Wo in solcher Freiheit und Vollmacht gelebt, geglaubt und geliebt wird, da ist ein herrlicher Trost. Und in solchem getrosten Leben, da ist das Wiedersehen schon heute vor der Tür, nein, da haben wir das Wiedersehen mit Jesus im Haus und in der Zeitung und im Herzen und im Spiegel.
Denn eben das hat er ja zugesagt: „Ihr sollt mich sehen!“
Dazu allerdings müssen gerade wir Christen uns endlich den grauen Star stechen lassen: Unsere alte Sehbehinderung, mit der wir alles Eigene immer nur verschwommen und verschliert als trüb und hässlich erblicken.
— Gewiss: Das Christentum und die Kirche haben Runzeln, Makel und Schandflecken genug. – Aber - verdammt noch mal - auch ihre lichten Sonntagsseiten!
Wer das nicht erkennen kann, bitte: Hier soll ihm die Brille geputzt werden.
Oder möchte etwa jemand wirklich in einer Welt leben, die vom Evangelium und vom Dienst der Gemeinde Jesu nicht geprägt und verändert worden wäre?
Möchte jemand ohne das leben, was wir Christen im Laufe der Jahrhunderte in der Freiheit des Parakleten, des Anwalts und Beistands gelernt und erreicht haben?
Möchte jemand weiter wehrlose Kinder aussetzen? Weiter die Alten verhungern, die Armen versklaven, die Kranken verrecken lassen?
Denn wer hat – trotz aller Gewalt und aller Verbrechen – wer also hat denn die Pflege der Bedürftigen und die Freiheit des Gewissens, wer hat die Gleichheit der Rassen und die Würde des eingeschränkten, des hilflosen und angewiesenen Lebens gelehrt, wenn nicht wir Christen?
Wer hat im Namen Jesu immer wieder gegen den Stachel gelöckt und das - nicht zuletzt dadurch - leidgeprüfte Europa zum Weltteil der schärfsten Selbstkritik, des tiefsten Ringens um Freiheit und Wahrheit gemacht?
Wer könnte vergessen, wie in Klöstern und Hinterzimmern, Lagern und Wüsten, auf Straßen und Schlachtfeldern Unzählige unbeobachtete Groß- und Wohltaten in Jesu Namen vollbrach-ten?!
Wahrlich, zahllose Namen sind im Himmel darum angeschrieben (vgl.Lk1020), dass sie auf Erden das eine taten: Jesus bedingungslos ihre Glieder, Jesus ihr Herzblut vollständig, Jesus ihre Menschenliebe bis zum Ende zu leihen und zur Verfügung zu stellen.
Überall in Taten und Zeichen der Gnade, die den Aggressionstrieb hemmt und das Schwache behütet, in Kindergärten und Hospizen, in Hungerhilfe und Friedensdienst kann man Jesus also in Wirklichkeit begegnen.
Überall können wir ihn wiedersehen und es feiern, was das alte Herrnhuter Lied singt: „Ach mein Herr Jesu, dein Nahesein bringt großen Frieden in Herz hinein!....“
Denn Jesus lebt in uns, unter uns und in der Zukunft vor uns.
Und auch wir sollen leben und ihn zeitlebens und ewig immer wieder sehen.
Amen!
Christi Himmelfahrt, 09.05.2013, 1.Kö.8,22-24.26-30, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
„Sollte Gott wirklich auf Erden wohnen?"
Drei Kinder unterhalten sich: „Wisst ihr, wo Gott wohnt?", fragt das eine. „Klar, Gott wohnt im Himmel", kommt prompt die Antwort des zweiten Kindes. „Nein. Gott wohnt doch in der Kirche!", ruft das Dritte.
Wo wohnt Gott, liebe Gemeinde? Dass eine eindeutige Antwort auf diese Frage gar nicht so leicht fällt, das zeigt auch unser heutiger Predigttext. Er steht im 1.Buch der Könige im 8.Kapitel und spielt im neu erbauten Tempel von Jerusalem am Tag der Einweihung.
Da trat Salomo vor den Augen der ganzen Gemeinde Israel vor den Altar des HERRN, breitete die Arme zum Himmel aus und betete:
»Ewiger, du Gott Israels! Weder im Himmel noch auf der Erde gibt es einen Gott wie dich. Du stehst zu deinem Bund und erweist deine Güte und Liebe allen, die dir mit ungeteiltem Herzen dienen.
So hast du an deinem Diener, meinem Vater David, gehandelt. Der heutige Tag ist Zeuge dafür, dass du dein Versprechen gehalten hast.
Gott Israels, lass doch in Erfüllung gehen, was du meinem Vater David, deinem Diener, versprochen hast!
Aber bist du nicht viel zu erhaben, um bei uns Menschen zu wohnen? Ist doch selbst der Himmel und alle Himmelswelten zu klein für dich, wie viel mehr dann dieses Haus, das ich gebaut habe.
Barmherziger, mein Gott! Achte dennoch auf mein demütiges Gebet und höre auf die Bitte, die ich heute vor dich bringe:
Richte deinen Blick Tag und Nacht auf dieses Haus, von dem du gesagt hast: 'Hier soll mein Name wohnen!' Höre mich, wenn ich von hier aus zu dir rufe,
und höre auch die Gebete deines Volkes Israel! Wenn wir an dieser Stätte zu dir rufen, dann höre uns in deiner himmlischen Wohnung! Erhöre uns und vergib uns alle Schuld!«
König Salomon hat für den Gott Israels einen Tempel errichten lassen, ein prächtiges Haus, ein Gebäude, in dem Gott wohnen soll. Bis dahin „wohnte" Gott in einem Zelt, in der Stiftshütte. Diese mobile Behausung hatte ihn mit seinem Volk 40 Jahre durch die Wüste ziehen lassen. Aber nachdem Israel im Gelobten Land sesshaft geworden war, man in steinernen Häusern wohnte, war der Wunsch aufgekommen, Gott ebenso ein Haus zu bauen. Ihn zu verorten - an einem bedeutungsschweren Ort: dort auf dem Berg Zion oder wie er auch heißt, auf dem Berg Morija, hatte Abraham - so die Überlieferung - vor Urzeiten einen Altar gebaut, um seinen Sohn Isaak zu opfern, was Gott allerdings zu verhindern wusste. Dort nun stand der Tempel Salomos, ein prächtiges Gebäude, das von den besten Handwerkern seiner Zeit in nur 7 Jahren errichtet worden war, wobei das ganze Volk dieses Projekt mitgetragen hatte. (Die Verantwortlichen der Großbauprojekte in Hamburg, Berlin und Stuttgart können davon nur träumen.) Nun, zur feierlichen Einweihung, wendet sich Salomo im Gebet an Gott. Und im Gebet stellt er die entwaffnend ehrliche Frage: „Bist du, Gott, nicht viel zu erhaben, zu groß, um bei uns Menschen auf Erden zu wohnen? Ist doch selbst der Himmel und alle Himmelswelten zu klein für dich - wie viel mehr dann dieses Haus, das ich gebaut habe."
Kann Gott überhaupt irgendwo „wohnen"? Er ist doch unfassbar. Können wir ihm da überhaupt irgendwo einen Platz, eine Wohnung zuweisen?
Vor ziemlich genau 110 Jahren standen viele, viele Menschen, vor allen Dingen damals noch viele Frauen in Tracht hier vor dem Haupteingang der Mutterhauskirche. Damals am 7.Mai 1903 wurde die Mutterhauskirche feierlich eingeweiht. Das geistliche Zentrum der Diakonissenanstalt, ein Ort der Gegenwart Gottes, an dem nicht nur sonn- und feiertags, sondern auch unter der Woche morgens und abends gesungen und gebetet wurde. „Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt." So weit ich weiß, erklang dieses Psalmwort in dem Eröffnungsgottesdienst.
Aber auch hier bleibt die Frage: kann Gott überhaupt an einem Ort, an einem Platz „wohnen"?
Die Antwort gibt der Predigttext eigentlich selbst: Nein, weder auf Erden in einem Tempel oder einer Kirche noch im Himmel lässt Gott sich verorten. Er ist unendlich viel größer, nicht nur größer als unsere Gebäude aus Stein, sondern auch größer als unsere Denkgebäude, unsere Vorstellungen von ihm.
So weit, so gut. Oder auch: so weit, so schlecht. Denn: diese Information hilft uns wenig, wenn wir Gottes Nähe brauchen, wenn wir nach seiner Gegenwart Ausschau halten. Das werden auch die Jüngerinnen und Jünger gedacht haben. Jesus ist bei Gott - aber wo ist das? Wo können wir jetzt noch seine Nähe spüren - auf dieser Erde, unter dem weiten Himmel? Wo können wir ihm begegnen? Wo zeigt er sich? Wo wohnt seine Ehre, seine Herrlichkeit, seine Kraft?
Die Antwort, die die Jüngerinnen und Jünger gefunden haben, hat der Apostel Paulus hervorragend auf den Punkt gebracht: der Tempel Gottes, der Ort, an dem seine Ehre wohnt, das sind wir selbst. Wisst ihr nicht, schreibt er an die Gemeinde in Korinth, dass ihr Gottes Tempel seid (1.Kor.3,16)?
Gott bindet sich nicht an Gebäude aus Stein, sondern an Menschen. An Menschen, die sich darum bemühen, seinem Willen gemäß zu leben. Die nach Gott fragen und dabei offen und barmherzig ihren Mitmenschen begegnen. Im Matthäusevangelium verspricht Jesus denen, die ihm nachfolgen: Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. (Mt.18,20). Jesus bindet seine Gegenwart an uns, an seine Gemeinde. Er ist bei uns, sei es in der Kirche, sei es unter dem offenen Himmel.
Und Jesus und Gott möchten unseren Horizont beständig weiter machen. Sie möchten, dass wir in unserer Gotteserkenntnis immer mehr wachsen. Sie möchten uns herausführen aus allen Vorstellungen, die uns davon abhalten, die ganze Menschheit als den einen mystischen Leib oder Tempel zu begreifen, in den wir alle miteinander eingegliedert sind bzw. als lebendige Steine eingefügt sind. Kein Tempel, keine Kirche, keine Moschee, ja auch keine Konfession, keine Religion ist in der Lage, Gottes Größe zu verorten, seine Wahrheit in Gänze zum Ausdruck zu bringen. Unter seinem Himmel ist allerdings Platz und Raum, dass wir Erfahrungen machen können mit seiner Gegenwart, vor allen Dingen in der Begegnung mit anderen Menschen. Wie es Martin Buber so trefflich sagte: Alles wirkliche Leben ist Begegnung.
Die Evangelische Kirche in Deutschland hat in der Dekade vor dem großen Reformationsjubiläum 2017 jedes Jahr unter ein besonderes Thema gestellt. Sie will damit ermutigen, Reformation nicht nur im Blick zurück zu feiern, sondern weiterzuleben. Weiter zu entwickeln. Denn die Welt ist nicht 1517 stehen geblieben. Das Thema für dieses Jahr heißt „Reformation und Toleranz". Sie haben an jedem Gottesdienstprogramm einen solchen Aufkleber gefunden mit dem Aufdruck „Gottesfarben für Toleranz und Vielfalt". Es sind die Regenbogenfarben, die daran erinnern, dass Gott in unserer biblischen Tradition seinen ersten Bund mit Noah geschlossen hat - und damit mit der ganzen Menschheit. Der Regenbogen, das Zeichen der Treue Gottes, der den ganzen Erdkreis überspannt. Der allen seinen Menschenkindern verbunden ist - mit welchem Namen sie ihn auch immer nennen, in welcher Weise sie auch immer zu ihm beten, welche Lieder auch immer sie ihm singen, welche Orte ihnen auch immer heilig sind, weil sie sich dort in seinem Namen versammeln. Der möchte, dass alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, nämlich erkennen, das wir alle Gottes Kinder sind, alle in gleicher Weise von ihm geliebt sind, alle von ihm berufen, seine Liebe in unserem Leben widerzuspiegeln.
Liebe Gemeinde, Gott muss da noch viel, viel Geduld mit uns haben. Wieviel Traurigkeit mag es ihm bereiten, wenn er sieht, wie viel Hass und Gewalt im Namen der Religion verbreitet werden, zwischen Religionen und zwischen Konfessionen. Und es gibt ja nicht wenige gerade in der christlichen Welt, die sind drauf und dran, die gesamte muslimische Gemeinschaft abzuschreiben als hoffnungslos rückständig und menschenfeindlich und gewaltverhaftet. Liefern doch die Medien seit Jahren entsprechende Nachrichten. Ja, in vielerlei Hinsicht ist es tatsächlich schwer, eine gemeinsame Ebene zum Gespräch, zum Austausch, zur Verständigung zu finden. Vieles kommt da zusammen: Bildungsdefizite, ein starkes kulturelles Gefälle - manchmal begegnen sich 18. und 21.Jahrhundert - , eine alles andere als unproblematische geschichtliche Vergangenheit (Stichwort Kolonialismus), Verunsicherung und Vorurteile. Sich unter dem einen Himmel Gottes für Toleranz und Vielfalt einzusetzen, wird einem nicht leicht gemacht in diesen Tagen. Und doch kann man auch Ermutigendes erfahren. Die Gegenwart Gottes in der Begegnung mit Menschen anderer Konfession und Religion, anderer kultureller und ethnischer Herkunft, geprägt von anderen Traditionen. Mit Menschen, die nach Gott fragen und dabei offen auf andere zugehen - geleitet von Barmherzigkeit, Neugier und Liebe. Für die Vielfalt nicht Bedrohung, sondern Bereicherung ist.
Anfang März traf sich die Internationale Konferenz zum Dialog von Juden, Christen und Muslimen in Europa zum 40.Mal in Bonn. Eine Woche lang tauschten sich 70 Frauen und Männer von 20 bis 80 Jahren zum Thema „Religion und Identität" aus - Schiiten, Sunniten, Katholiken, Anglikaner, Protestanten und Juden, Rabbinerinnen und Imame, Theologieprofessoren und Pfarrerinnen und Menschen aus anderen Berufen, Studentinnen und Studenten. Ich hatte das Glück, teilnehmen zu können. Wir haben nicht nur miteinander diskutiert, sondern miteinander gefeiert, teilgenommen am spirituellen Leben der anderen - am Freitagsgebet der Muslime, am Schabbat der Juden, am christlichen Gottesdienst am Sonntag. Wir haben uns immer wieder gegenseitig überrascht, wie viel Gemeinsamkeiten es gibt im Guten und Lebensförderndem. Eine Regenbogengemeinde, die das Miteinander als Stärkung erlebte für den weiteren Weg. „Wir sind Samenkörner", sagte eine Rabbinerin. Wir müssen weitertragen, was wir hier erfahren haben. Wir sind in unseren eigenen Gemeinschaften leider noch Minderheiten. Und gerade die muslimischen Frauen und Männer waren sich bewusst, wie schwierig es in ihren Gemeinschaften zur Zeit ist, für Offenheit und Toleranz einzutreten. Für eine zeitgemäße Auslegung des Korans zum Beispiel. Sie brauchen da unsere Unterstützung - im Gebet und in der öffentlichen Auseinandersetzung.
Der erste Schritt zu mehr Toleranz, um dann zur Freude an der Vielfalt zu kommen, ist der Schritt, den Salomo in seinem Gebet geht: die demütige Feststellung, dass wir Gott in seiner Größe nicht begreifen können, schon gar nicht in unsere Gebäude und Denkgebäude einsperren können. Ja, Gott ist größer. Aber er möchte in uns wohnen, uns ermutigen, ihn immer wieder neu zu erfahren unter dem offenen Himmel, gerade in der Begegnung mit anderen. Wir werden dann feststellen: sein Geist der Liebe und Barmherzigkeit erfüllt Menschen aller Konfessionen und Religionen.
Himmelfahrt - es kommt nicht darauf an, in den Himmel zu starren, sondern unter dem offenen Himmel Gottes auf die anderen Menschen zuzugehen. Wir sind alle seine Kinder.
Wo wohnt Gott? Wo können wir ihm begegnen?
Wo wir einander als Schwestern und Brüder des einen Vaters im Himmel begegnen - offen und furchtlos, geleitet von Barmherzigkeit und Liebe.
Machen wir uns daran, dass sich Gott bei uns und unter uns zuhause fühlen kann.
Amen.
Konfrimation 28.04.2013 (Psalm 98) Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Konfirmation Kantate - 28.IV.2013
Psalm 98
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Vielleicht ist es Euch erst bei der Wegbeschreibung für Eure heutigen Gäste aufgefallen - vielleicht aber noch nicht mal: Nämlich dass es unsere Kirche strenggenommen gar nicht gibt. Sie hat ja keine Hausnummer – und in einem so ordentlich verwalteten Land wie Deutschland ist das nun wirklich verdächtig.
Ihr glaubt mir nicht? – Dann geht raus und guckt selbst nach: Links die Nummer 12, rechts die Nummer 14 …. dazwischen ein Gebäude, das nicht amtlich durchgezählt ist.
…. Wo doch sogar der Kölner Dom ein stinknormales Hausnummernschild am Portal hat (Domkloster No.4).
Also: Unsere Stadtkirche gibt es offensichtlich nicht.
Und gleich der nächste Schock: Kaiserswerth ist auch nicht der Mittelpunkt der Welt.
Für Euch war es das vielleicht einmal, weil Eure Kindertage, Eure Geburtstagfeste und Eure Einschulungsfeier, das Schwimmenlernen im Freibad, das Rollerfahren auf den Straßen, die ersten Weihnachtserinnerungen und die schönsten Martinsumzüge, das Glück der Eisdiele, das frühe Leid sportlicher Niederlagen, die Gewohnheiten und die Aufregungen eines ganzen Lebens zum großen Teil mit Kaiserswerth verbunden sein mögen.
Hier wurden etliche von Euch getauft, hier werdet Ihr konfirmiert, hier wird womöglich noch die ganze Schulzeit Euch sehen – wie Ihr noch mehr wachst, wie Ihr in den Sommern noch länger am Ufer des Rheins die hellen Nächte feiert und frei und flügge werdet. Wer weiß: Vielleicht kommt Ihr eines Tages sogar noch einmal im Hochzeitskleid oder als Bräutigam hier in die nicht vorhandene Stadtkirche.
Kaiserswerth ist also zweifellos schön und wichtig.
Und sein Name ist z.B. auch unter arabischen Christen in Israel und Palästina seit hundert-fünfzig Jahren wohl bekannt und hat einen guten Klang, wegen der Diakonissen, die von hier aus als Erzieherinnen, Pflegerinnen und Krankenschwestern in die Welt zogen.
Aber trotzdem ist es nicht so bedeutend, wie wir uns das manchmal vorstellen: Die Bürger von Apenburg oder Butjadingen oder Chemnitz oder Dinkelsbühl oder Fehrbellin oder Gießen oder Hannover usw., usf. bis Xanten und Zons schätzen und lieben ihre Heimat schließlich auch.
Dass die Welt größer ist als unser Dorf und Kirchturm, ist ja wirklich auch ein Glück.
Und die Größe der Welt ist Euch allen inzwischen vertrauter als früheren Generationen, die noch Schlagbäume quer durch Europa zogen und in Angst voreinander lebten; damals, als in Wittlaer noch eine andere Uhrzeit war als in Kaiserswerth, weil jedes Dorf bloß nach dem Geläut der eigenen Glocken und also nach dem Temperament seines Küsters die Stunden zählte.
Aber die neue, große, offene Welt, in der unser Ort ein Atom ist und unsere Kirche überhaupt nicht vorkommt, weil sie keinen Zahlencode hat – diese riesig runde Welt, in der es Euch demnächst vielleicht nach Südostasien verschlägt, oder Ihr alle drei Jahre ein anderes Zugvögelquartier bezieht: Diese sog. „globalisierte“ Welt, die ist der eigentliche Rahmen Eurer Konfirmation.
Denn Ihr werdet nicht konfirmiert, damit wir etwaige Nachwuchssorgen lösen oder mit guten Zahlen glänzen, und Ihr tretet auch nicht darum in die evangelische Gemeinde ein, um unbedingt von der Tauf- bis zur Sterbeurkunde nur den Kaiserswerther Stempel in den Papieren zu haben.
Sondern Ihr werdet heute Gottes morgige Gemeinde, damit die Welt – die ganze Welt – weiterhin und immer mehr von Gott erfüllt werden möge!
Das ist also ein feierlicher Auftrag an Euch: Geht hin in alle Welt, … zieht um, zieht aus, zieht ein, erbt oder wechselt Eure Möbel, verändert Eure Adressen, erweitert Euern Horizont, macht dies und das und jenes …. – nur eins nehmt überall hin mit, eins vergesst nie, eins haltet in Ehren und im Gebrauch: das Lob Gottes.
Denn die ganze Welt ist überall der Schauplatz und das Meisterstück der Geschicklickeit und Liebe Gottes.
Egal wo: Immer ist Seine Hand am Werk.
Egal wann: Immer ist Sein Geist gegenwärtig.
Egal wer: Immer werdet Ihr auf Gottes Kinder stoßen. ——
Wenn Ihr das heute, im Augenblick Eurer Konfirmation begreifen und fassen könnt, dann wird Euch mit dem Segen Gottes etwas mitgegeben, das wie eine Landkarte und wie ein Wörterbuch, wie ein Stück Heimat und wie ein Fahrschein in’s Fernweh sein wird:
In Gottes Segen wird Euch Gottes Gegenwart mitgegeben, grenzenlos und überall und alle Zeit.
Und so macht der Segen bei der Konfirmation aus Kindern Eurer Eltern, aus Jugend-lichen unserer Gemeinde, aus Töchtern und Söhnen Kaiserswerths sozusagen Weltbürger: Weil Ihr Gott gehört, und damit Dem, Der überall der Herr und Hirt und Helfer ist. ——
Fest steht damit also: Auch wenn Eure Zukunft kein bisschen festgelegt ist, auch wenn wir Euch in einigen Jahren verstreut durch die ganze Weltgeschichte suchen können – Ihr zieht nicht einfach aus in’s Ungewisse, sondern überall erwartet Euch ein Vertrauter, …. Der, Der Euch durch und durch kennt seit Ihr im Mutterleib von Ihm geschaffen wurdet.
Insofern ist die „Globalisierung“ – die ja auch immer ein bisschen unheimlich nach Völkerwanderung und Heimatlosigkeit und Spinnweben über Europa und internationalen Ameisen-straßen und noch unfassbareren Maschinen klingt – insofern ist die „Globalisierung“ jedenfalls kein Grund, dass wir Christen trübsinnig werden müssten.
Im Gegenteil: Der Kupferstich aus einem alten Gesangbuch[1] zeigt, dass alle Welt- und Menschenmassen nicht unsere Feinde, sondern unsere Geschwister darstellen und dass wir durch den Globus nicht verwirrt, sondern vertraut miteinander werden.
Diese etwas schlichte Darstellung von den Milliarden, die nicht den Zuckerhut von Rio, sondern das Lamm Gottes als Mittelpunkt der Welt umgeben, ist eine Einladung in’s Leben. „Los“, ermuntert dieses Bild, das aus dem ältesten Jugendzentrum der evangelischen Kirche, aus dem Pädagogium und Waisenhaus in Halle stammt. „Legt los, gerade weil Ihr jung seid und die Welt Euch offen steht. Traut Euch auf unbekanntes Gelände, freundet Euch mit fremden Menschen an. – Denn aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes, wie es in unserem heutigen Psalm (98) heißt. Lasst Euch nicht weismachen, die Menschheit müsse sich ewig in Lagern und Parteien, in Klassen- und Kulturkämpfen zermürben. Nehmt die Vision der Verständigung mit; haltet an der Gemeinsamkeit aller Erdbewohner fest.“
Und – so muss heute, an Eurem Feiertag, den wir als den Singesonntag „Kantate!“ begehen, ergänzt werden – und denkt daran: Der beste Dolmetscher auf der ganzen Welt ist die Freude, ist die Fähigkeit, nicht nur griesgrämig und bitterernst ein Ich-Mensch zu sein, sondern offen und ansteckend das Gute in allem und allen zu entdecken.
Daran erinnert auf dem Halle’schen Holzschnitt der große Engel mit der Bee-Gees-Frisur.
Obwohl er aus seiner Höhe ja nun wirklich genug mitkriegt, um rote Karten zu verteilen und schlimme Bilder festzuhalten, ist die Überschrift, die er über die Welt setzt, trotzdem ein „Halleluja!“
Wenn Ihr das – so peinlich es vielleicht auch auf den ersten Blick wirken mag – wenn Ihr auch das also von Eurer Konfirmation mitnähmet … dass es allemal besser und segensreicher ist, zur Halleluja-Fraktion als zu den krakeelenden Nörglern oder den penetranten Schweigern zu gehören: Wie gut für Euch, wie gut für alle!
Denn jeder von uns lebt ja davon, dass Gottes entscheidendes Wort für uns kein Verbot, kein Vernichtungsurteil und auch keine Verweigerung ist, sondern dass Er zu jedem einzigen Menschen sagt: „Ja, ich will!“
Dieses „Ja, ich will“ Gottes ist aber keine bloße Erklärung, sondern eine Tat: Es ist die Tat, mit der Gott selbst in Jesus ein Kind der Erde, ein Bürger der Welt, ein Freund der Menschen wurde. Weil Jesus für uns geboren wurde, weil er für uns aber genauso auch schon den Tod aus dem Rennen geworfen und durch seine Auferweckung uns allen unser Ziel in Gottes Gegenwart gezeigt hat, …. darum gibt es wirklich nur Grund zum Feiern, zum Niederknien vor Gott und Mutmachen unter den Menschen, zum Singen, zum Loben und zur Freude!!!
Denn die Welt und das Leben können und werden Euch – trotz fehlender Hausnummern und weiter Wege – schließlich nirgends sonst hinführen, als zu Gott, der Euch geschaffen hat, Euch liebt und segnet und Der Euch für immer bei sich haben will.
Amen!
Kantate, 28.04.2013, Mk 5,21-43, Recke-Kirche, Ulrike Heimann
Dornröschen und die Tochter des Jairus - beide singen ein neues Lied"
Liebe Gemeinde,
Kantate heißt der heutige Sonntag, „Singet!" Kein Trauerlied in Moll, sondern ein neues Lied in Dur; so heißt es in dem Psalmvers, der uns durch die Woche begleiten wird, „Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder."
Dornröschen und die Tochter des Jairus, sie können wirklich solch ein neues Lied aus vollem Herzen singen, denn sie haben genau das erlebt: ein Wunder, ein Wunder der Liebe. Beide sind befreit, ja erlöst worden. Beiden ist das Leben neu geschenkt worden, durch eine liebevolle Berührung. Beide können das Lied von einem mutigen Menschen singen, der ihnen zum richtigen Zeitpunkt nahe war, der keine Angst hatte vor Dornenhecken, vor Verletzungen, vor dem, was andere für unmöglich hielten, keine Angst davor, ausgelacht zu werden. Beide können das neue Lied der Liebe und des Lebens singen und so andere befreien und ermutigen.
Schauen wir uns einmal beide Mädchen an und die Erfahrungen, die sie gemacht haben.
„Als Jesus im Boot wieder zur anderen Uferseite hinübergefahren war, versammelte sich viel Volk um ihn und er stand am See. Da kommt einer der Synagogenvorsteher mit Namen Jairus, und als er ihn sieht, fällt er ihm zu Füßen und bittet ihn inständig: Mein Töchterlein ist am Ende! Komm doch, leg ihr die Hände auf, damit sie gerettet wird und am Leben bleibt.
Da ist er mit ihm fortgegangen. Und es folgte ihm viel Volk und sie umdrängten ihn und baten ihm um Hilfe. Und Jesus redete mit ihnen.
Während er noch redet, kommen sie vom Synagogenvorsteher und sagen: Deine Tochter ist gestorben. Was behelligst du noch den Meister?
Jesus aber, der das Gespräch mit angehört hatte, das da geführt wurde, sagt dem Synagogenvorsteher: Fürchte dich nicht; hab nur Vertrauen!
Und er ließ niemanden als Begleiter mit sich kommen außer Petrus, Jakobus und Johannes, den Bruder des Jakobus. So kommen sie zum Haus des Synagogenvorstehers.
Da vernimmt er Lärm und wie sie weinen und heftig wehklagen, und er geht hinein und sagt ihnen: Was lärmt und weint ihr? Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur.
Da verlachten sie ihn.
Er aber warf sie alle hinaus, nimmt den Vater des Kindes und die Mutter und seine Begleiter und geht hinein, wo das Kind war. Und er fasste die Hände des Kindes und sagt ihr: Talitha kum, das heißt übersetzt : Mädchen, ich sage dir, steh auf! Und gleich stand das Mädchen auf und ging umher; es war aber 12 Jahre alt. Und die dabei waren, gerieten außer sich. Er aber gebot ihnen streng, niemand dürfe das erfahren und sagte, man solle dem Mädchen zu essen geben."
Da ist einmal die Tochter des Jairus. Ihr Name wird uns nicht mitgeteilt. Vielmehr wird sie uns vorgestellt als „Töchterlein" des Jairus. Töchterlein, nicht Tochter. Und das, obwohl sie mit 12 Jahren in der damaligen Zeit praktisch erwachsen ist! Was will uns der Evangelist Markus damit sagen?
Das Leben des Mädchens scheint ganz und gar von dem Vater bestimmt zu sein. Sie ist wohl Papas Liebling, sein Goldstück. Sein ganzer Stolz. Und das ist sie wahrscheinlich gar nicht ungern gewesen. Der Vater liebte sie, der Vater war stolz auf sie, also bloß nichts tun, worauf der Vater nicht stolz sein konnte - dann würde er sie womöglich nicht mehr lieben.
Im Leben eines Kindes kann das eine lange Zeit gut gehen, diese Orientierung an den Werten und Vorstellungen der Eltern. Aber dann, wenn das Kind den Schritt ins Erwachsenenleben tun muss (Stichwort Pubertät), den Schritt ins eigene Leben - da bricht der Konflikt oft mit Macht durch. Das Töchterlein hat nie gelernt, selbst Entscheidungen zu treffen und für sich gerade zu stehen. Es spürt wohl in sich den Drang, ein eigenes Leben zu entfalten - doch es traut sich nicht; es hat kein Zutrauen zu sich selbst.
Und der Vater Jairus merkt von allem nichts. Sein Töchterlein soll sein Töchterlein bleiben. Er meint es ja nur gut, er will das Beste für sein Kind. Die Welt da draußen, sie ist voller Gefahren - und vor denen will er sein Töchterlein beschützen. Das ist die Schattenseite aller „Verantwortung für" und aller „Sorge um". Dadurch wird eben nicht die Freiheit des anderen gefördert, sondern eingeengt. Eigenständigkeit und Selbstvertrauen werden gelähmt. Das Töchterlein kann nicht erwachsen werden - und will es dann wahrscheinlich auch gar nicht. Es ist bedrückend: sein Leben ist zu Ende, ehe es richtig angefangen hat.
Heutzutage kann man häufig von einer vergleichbaren Krise im Leben junger Menschen hören und lesen: von der Magersucht. Gerade bei jungen Mädchen in der Pubertät bedeutet diese Krankheit eine Weigerung, erwachsen zu werden. Sie lehnen den eigenen Körper ab und streben einem Schönheitsideal nach, das ihnen von außen, von anderen aufgedrückt wird. Und Eltern in ihrer großen Sorge verschärfen oft den Druck, können jedenfalls nicht wirklich helfen. Ihre überbehütende Hand drückt nieder. Das wird wohl auch bei Jairus und seiner Tochter so gewesen sein. Darum muss es wohl so geschehen, dass sein Töchterlein ihm erst sterben muss, damit es zu einem eigenen Leben kommt. Zu einem eigenen Leben, zu dem eigene Erfahrungen gehören, gute und schlechte, eigene Freude und eigener Schmerz, auch die Erfahrung eigener Fehler. Der Ablöseprozess vom Elternhaus ist schon mit einem Ersterben vergleichbar, ein wirkliches Loslassen.
Sehen wir uns an dieser Stelle einmal die „Schwester" von Jairus Tochter an, das Mädchen aus dem Märchen, Dornröschen.
Auch Dornröschen ist das Ein und Alles ihrer Eltern, das langersehnte Wunschkind. Sein Name ist wahrscheinlich Rose, aber die Eltern nennen sie zärtlich „Röschen". Alles erdenklich Gute wollen sie ihr zukommen lassen - doch genau da liegt eben der Hund begraben, wie es so schön heißt. Gerade da, wo sie alles Glück organisieren wollen - die 12 weisen Frauen mit ihren lebensfördernden Wünschen als Taufpatinnen - organisiert sich das Unglück in Gestalt der 13.Frau, die als „Taufgeschenk" den Tod auf das Röschen herabwünscht. Der Wunsch der 12.Patin mildert den Fluchwunsch zwar ab - 100 Jahre Todesschlaf - , aber der König glaubt weiter unverdrossen daran, dass er seine Tochter schon vor allem Übel beschützen kann, das Glück für seine Tochter selber in der Hand zu haben. Er lässt alle Spindeln im Land verbrennen. Röschen soll sich nicht stechen, sich nicht verletzen, soll heil bleiben. Ein rundum behütetes Kind.
Alles scheint gut zu gehen, bis Röschen an der Schwelle zum Erwachsenenleben steht (hier: an ihrem 15.Geburtstag). Bis sie anfängt, ihre Welt selber zu erkunden, voller Lebendigkeit und Neugier. Und dazu gehört: eigene Erfahrungen zu machen, auch sich in Gefahr zu begeben, denn das Leben besteht nicht nur aus Freude, sondern auch aus Schmerz, nicht nur aus guten, sondern auch aus schlechten Erfahrungen.
Und das Märchen lehrt uns: gerade da, wo es sehr lange sehr gut gegangen ist in einem Leben, gerade da haut die Erfahrung von Schlechtem umso härter rein.
Röschen sticht sich an einer Spindel, die bei der großen Vermeidungs- und Verbrennungsaktion ihres Vaters vor vielen Jahren übersehen wurde - und fällt in einen tiefen todesähnlichen Schlaf - und mit ihr ihre ganze Kinder-Welt; und um alles herum wächst die Dornenhecke.
Röschen und das Töchterlein des Jairus - ihre Eltern konnten sie nicht vor der Erfahrung von Leid beschützen; und was sie auch verbindet: Hilfe kann nur von außen kommen.
Im Märchen versuchen das viele junge Männer, aber sie bleiben alle in den Dornen hängen; sie kommen alle zur Unzeit. Schließlich traut sich keiner mehr an das verwunschene Schloss heran. Bis nach langer Zeit der eine kommt, der sich nicht bange machen lässt; da tut sich die Hecke von selber auf, verwandeln sich die Dornen in Rosen - und mit einer zärtlichen Berührung, mit einem Kuss, schenkt er dem Röschen ein neues Leben. Ein Leben, zu dem Glück und Leid gehören, wo man sich ausprobieren kann und beides erfahren kann: Gelingen und Scheitern. Eben ein Leben in Fülle, ein ganzes Leben: das zeigt nun der Name der Prinzessin an: „Dornröschen". Ohne Dornen gibt es keine Rosen. Ohne Tränen kein Lachen.
Dornröschen weiß das jetzt und sie kann das akzeptieren, weil da dieser eine da ist, der sie lieb hat, dem sie vertraut, mit dem sie ihr Leben gemeinsam gestalten kann.
Der eine, der in der Geschichte des Markus kommt, um dem Töchterlein des Jairus zu neuem Leben zu verhelfen, das ist Jesus. Er muss zwar nicht eine Dornenhecke überwinden, aber die starken Zweifel des Vaters, den er inständig bittet: Hab doch Vertrauen. Lass deine Angst und deine Sorgen einmal beiseite; die helfen nicht.
Und er bekommt es mit höhnischem Gelächter zu tun, als er davon spricht, dass das Kind nicht tot ist, dass es mit ihm nicht endgültig aus und vorbei ist, sondern dass es schläft. Aber Jesus lässt sich nicht beirren. Er geht in das Haus hinein; nur wenige begleiten ihn: drei Jünger und die Eltern des Kindes. Und dann steht Jesus am Bett des Töchterleins.
Worum hatte der Vater ihn gebeten? Lege ihr deine Hände auf, dann wird sie sicher gesund, lebendig.
Wie oft mag wohl der Vater seinem Kind die Hände auf den Kopf gelegt haben, das Töchterlein gestreichelt haben. Aber diese Art der Berührung hat ihr letztlich wohl nicht gut getan.
Die Hand auf dem Kopf, sie hat wohl mehr gedrückt, niedergedrückt, entmutigt als der Vater es sich klar gemacht hat.
Die Berührung, die dem Töchterlein hilft, die sieht doch ganz anders aus. Es ist weder ein Streicheln noch ein Kuss. Jesus ergreift vielmehr ihre Hände, zieht sie hoch vom Bett, spricht sie an: Talitha kum; Mädchen, ich sage dir, steh auf!
Stell dich hin und geh los!
Du kannst das.
Du bist ein eigener Mensch mit einem eigenen Willen,
du darfst dein Leben leben.
Talitha kum!
Eine ungeheure Portion Ermutigung stecken in der Berührung und in den Worten Jesu.
Mädchen, nicht mehr Töchterlein, steh auf den eigenen Beinen.
Und sie steht auf und geht umher. Talitha kum!
In einigen Kinderbibeln steht dann immer als Abschluss: Und Jesus gab sie ihren Eltern zurück. Aber genau das ist es nicht, was Markus uns mitteilen möchte. Es soll eben nicht sein wie früher, wie vor der Katastrophe; es soll anders, neu, besser weitergehen. Und dazu gehört, dass die Eltern ihre Tochter freigeben, in ein eigenes Leben freigeben. Jesus fordert dazu auf, ihr zu essen zu geben; sie soll zu Kräften kommen, ihr Körper soll auch erwachsen werden, sie soll eine eigenständige Frau werden.
Die Tochter des Jairus - eine Gestalt der Hoffnung für alle jungen Menschen, dass sie den Mut finden zum eigenen Leben, weil Gott es für sie will.
Der Vater Jairus - eine Gestalt, die uns erinnert, behutsam und zurückhaltend gerade mit den Menschen umzugehen, die uns besonders lieb sind, sie nicht aus lauter Liebe und Fürsorge zu erdrücken, sondern sie zu ermuntern, ihr eigenes Leben zu suchen und zu gestalten.
Und Jesus - der leibhaftig gewordene Ruf Gottes zu Selbstverantwortung, Freiheit und Leben, der alle Mauern und Dornenhecken menschlicher Angst durchdringt und zuletzt auch die Stille des Todes. Der uns zu einem neuen Lied befreit.
Talitha kum! Menschenkind, ich sage dir, steh auf!
Amen.
Konfirmation 21.04.2013 (Psalm66,9) Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Konfirmation Jubilate - 21.IV. 2013
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Gestern früh war ich – extra für Euch – klauen.
Das fiel mir bei schönsten Morgenlicht auf offener Straße natürlich schwer. Besonders schwer, weil ich klauen wollte von denen, die nicht meine Freunde sind. Bei seinen Gegnern - finde ich nämlich - sollte man wirklich nichts mitgehen lassen. Bei seinen Freunden kann man sich notfalls später ja über das Ausleihen verständigen.
Aber dann sah ich, dass meine Gegner gute Vorarbeit geleistet hatten. Vielleicht wollten sie sogar, dass man sich bei ihnen bedient, und sie würden womöglich jetzt johlen und feixen, wenn sie sähen, dass ich tatsächlich ein Plakat, das sie doppelt übereinander geklebt haben, nun ausgerechnet bei höchstfeierlichem Anlass auf der Kanzel ausrolle.
Hier ist es.
Es zeigt einen Affen, der mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht konfirmiert werden will.
Das finden diejenigen, die mit dem Affen hier in Kaiserswerth auf Hauswänden werben, einen Grund, diesem Schimpansen mehr Verstand zuzusprechen als Euch.
Ich dachte, das solltet Ihr wissen.
Wir alle sollten nämlich nicht die Augen davor verschliessen, dass es überhaupt nicht selbstverständlich und auch schon lange nicht mehr überall gern gesehen ist, was wir hier tun und feiern. Die atheistische Bewegung in Düsseldorf, die mit dem Plakat dazu auffordert, unter Regie eines namhaften Professors über Religion und Aufklärung aus evolutionärer Perspektive nachzudenken, ist nur ein Beispiel dafür:
Recht viele Menschen in diesem Land, viele auch in Eurem Alter, wahrscheinlich ja auch viele ganz unmittelbar um uns herum sind der Meinung, dass Ihr etwas völlig Überflüssiges tut, wenn Ihr Euch heute in der Kirche, die das Wort Gottes als lebendige Wahrheit bezeugt, persönlich zu diesem Gott und diesem Wort und dieser Kirche bekennt.
Mit denen, die das überflüssig finden, habe ich keinen Streit. Aber ich halte das Fernrohr anders herum: Was sie blöd, weil unnötig finden, sieht für mich – eben weil ja wirklich nichts Euch heute dazu zwingt – nach wunderbarer Freiheit aus.
Ich bin stolz und noch viel mehr bin ich dankbar, dass Ihr es nämlich tut, obwohl es nicht nötig ist: Es verschafft Euch ja keinen Vorteil (ich habe schließlich immer geschworen, dass ich Euren Eltern und Paten nach Kräften möglichst alles Geld und alle Geschenke auch dann aus den Rippen leiern würde, wenn Ihr beschließen solltet, Euch aus Überzeugung nicht konfirmieren zu lassen – so viel muß die Aufrichtigkeit schließlich wert sein…..).
Ich finde es also großartig, dass Ihr heute nun hier seid, freiwillig, ein bißchen eingeschüchtert vielleicht von Frisur und Anzug und Einzug, aber doch aufgrund eigener Entscheidung, um das zu tun, was zum Glück eben wirklich nicht selbstverständlich, sondern eine Tat der Freiheit ist.
Die Konfirmation bedeutet eben das Ende allen kindlichen Nachmachens und den Anfang der eigenen Verantwortung.
Und Ihr gehört zu den weniger, aber dadurch nur umso wichtiger werdenden Menschen, die Ihre Verantwortung nicht dazu nutzen, alle Verpflichtungen los zu werden, weil sie erkennen, dass es Verpflichtungen gibt, die uns erst wachsen und zum Menschen werden lassen.
Die oberste dieser Verpflichtungen, die man nicht eingehen muss, aber wählen kann, besteht in dem Satz: „Ich glaube an Gott!“
Das ist zwar ein kurzer Satz, aber alle Affen, die ich kenne, und manche Professoren können Euch bei diesem Satz nicht folgen.
Warum aber geht Ihr dann so weit, diesen Satz heute öffentlich und ernsthaft zu sagen?
Die Affen würden Euch ja versichern, dass das Gelbe und Gebogene auch ohne diesen Satz vom Gott, der Bananen wachsen ließ, enorm schmeckt, und mancher Philosoph wird Euch darauf hinweisen, dass Ihr da etwas sagt, was nicht zu überprüfen ist.
Beide haben Recht.
Das Essen würde Euch auch ohne Glauben schmecken. Und die Wahrheit des Glaubens ergibt sich aus keinem Beweis.
Aber genau deshalb ist heute Euer großer Tag: Weil Ihr eben nicht als Kleinkinder etwas nachplappert, sondern weil Ihr auf dem Gipfel der menschlichen Neugier und Meckerfreudigkeit steht und es begreift und trotzdem verantwortet, einen Glauben zu bejahen, der nicht wie eine Formel abgeleitet oder wie ein Prinzip demonstriert werden kann.
Ihr macht einen so großen und dabei auch wieder so demütigen Gebrauch von Eurer Freiheit zum Fragen, zum Zweifeln und zum Verstehen, wenn Ihr den Satz wagt, der außerhalb der Wissenschaft und Affenschaft steht!
Für mich seid Ihr darin Glücksfall und Vorbild: Dass Ihr den Mut habt in einer Welt, die sich Wissensgesellschaft nennt, zu sagen: „Ich glaube!“
Natürlich ist das nicht immer leicht.
Natürlich kann auch kein Mensch sich das leicht machen.
Aber was niemand versteht, der nicht das erlebt und entschieden hat, was Ihr heute tut, ist doch dies: Glaube hängt nicht von der Beweisbarkeit und dem Nutzen ab, sondern …… ja wovon eigentlich?
Lasst Euch das von den Kissen da vorne sagen: Diese Kissen, die bei zwei Gelegenheiten bei uns in der Kirche zum Einsatz kommen – einmal jetzt gleich und dann bei den Hochzeiten, wenn ein Paar zum Trausegen niederkniet. Doch was verbindet die Konfirmanden und die Ehepaare, die auf diesen schwarzen Kissen knien? – Sie verbindet, dass sie sich auf etwas verlassen, das nicht bewiesen werden kann und muss.
Liebe und Glaube sind Zweifeln und Unsicherheiten ausgesetzt: Aber wenn man an dem Punkt ist, wo nur noch ein Diamantring die Liebe retten oder eine Tollkühnheit sie beweisen kann, dann ist es vorbei. Dann wird aus Liebe Zwang. Und wenn der Glaube einen hieb- und stichfesten Beweis verlangt – wenn man nur dann noch auf Gott setzt, falls er die Prüfung gelingen oder das Ausgeschlossene eintreten lässt – dann ist aus der christlichen Freiheit zum Glauben ein Tauschgeschäft geworden.
Wenn der Glaube und die Liebe kein Vertrauen mehr wagen, dann ist es Zeit, in den Zoo zu gehen und im Affenhaus nach seinesgleichen zu suchen.
Aber zum Glück liebt und glaubt man ja nicht allein mit der eigenen Kraft, dem eigenen Mut: Im Gegenteil. Sich selbst vertraut man ja dem andern an.
Und auf Den lassen wir Glaubenden es ja nun wahrlich ankommen.
Wir lassen es auf Gott, den Allmächtigen, den Gnädigen, den Geduldigen und Ewigen ankommen. Und auch wenn Er sich nicht einfach in unserer Logik und unseren Begriffen einwickeln und unterbringen lässt: ER kommt uns dennoch entgegen.
Ihr habt gehört und bedacht, wie weit.
ER kommt uns in Jesus entgegen bis in den Mutterschoß und in die Kinderschuhe. ER kommt uns entgegen in seinen Erfahrungen als unser Mitmensch, in seinem Leiden als unser Stellvertreter. ER kommt uns entgegen auf allen Wegen, festlichen, alltäglichen, öden, lustigen; er kommt uns entgegen, wo wir ganz forsch und fordernd hinein in die Welt und in’s Leben rauschen und da, wo wir am Ende sind und man uns hinaus auf dem letzten Weg begleitet.
Jesus ist unser Vorgänger auf allen diesen Wegen geworden und auch unser Begleiter und auch der, der uns immer und überall begegnen wird, weil er von den Toten auferweckt wurde!
Das also ist unser Glaube: Dass wir solche Begegnungen erwarten, dass wir solchem Entgegenkommen Gottes entgegensehen.
Und das ist genau das, was ich Euch heute für alle Zeiten wünsche: Dass Ihr immer wieder neu nicht verunsichert, sondern froh werdet, wenn Ihr merkt, dass es nicht selbstverständlich ist, auf Gott zu trauen und zu bauen. Und dass Ihr oft genug in Eurem Leben denen, die den Glauben an Gott für überflüssig und unvernünftig halten, sagen könnt:
„Bewiesen muss er mir nicht werden. Ich bin ihm begegnet.“
Jesus verspricht Euch das alle Tage, bis an der Welt Ende. Bis wir mit ihm Gott selbst sehen!
Wenn Ihr das glaubt, dann traut Euch gleich: Kniet nieder, erhebt Euch danach und lasst Euch nie mehr irre machen.
Ihr seid auf dem guten Weg:
„Gott wird Eure Seele am Leben erhalten und Eure Füße nicht gleiten lassen!“(vgl. Psalm 66,9)
Amen
Konfirmation 20.04.2013 (Psalm 66,5) Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Konfirmation - Samstag vor Jubilate - 20.IV.2013
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!
Was ist groß?
Das ist – wie Ihr aus Eurer Anschauung wisst – eine Frage des Maßstabs.
Seit Ihr denken könnt, ist die Welt ja ziemlich geschrumpft:
Was vor zwölf Jahren noch riesenhaft weit über Eure Perspektive hinausragte, darauf spuckt Ihr inzwischen. Und die Erwachsenen, deren vertraute Knie damals auf Augenhöhe für Euch lagen, die tätschelt Ihr heute gönnerhaft auf die Schulter: „Papa, alter Junge. Netter Versuch!“
Das, was früher groß war, ist es also heute nicht mehr.
Auch die Entfernungen sind geschrumpft: Der weite Weg von gestern ist der Katzensprung von heute. Der Gewaltmarsch von damals ist jetzt Eure Aufwärmstrecke. Und das Märchenland in der Ferne ist nur noch ein uncooles, x-mal bereistes Urlaubsziel.
Denn die Welt ist ja bekanntlich genau in der Zeit, die Ihr brauchtet, um da anzukommen, wo Ihr jetzt seid, zusammengeschnurrt, wie ein Luftballon, aus dem ein unanständiges Geräusch entweicht. Heute ist die Welt so klein, dass Ihr mit Freunden auf der anderen Seite skyped, als säßen Sie zwei Häuser weiter; dass Ihr Blöd- und Tiefsinn durch den Luftraum und die Innereien der Erde vertexten könnt, der in Nullkommanix Eure Kontakte rund um den Globus amüsiert und informiert; Ihr seht zeitgleich Bilder, hört zeitgleich Nachrichten, die früher ein mühsames Jahr brauchten, um verstaubt und überholt auf der anderen Seite der großen Kugel vorbeizurollen.
Die Welt ist so ein Dorf geworden, dass alle auf Ihr wissen, dass es in der südkoreanischen Hauptstadt ein glitzeriges Viertel gibt, das Gangnam heißt, wo man offenbar keine Ponies mehr hält, aber mit viel Vergnügen und wenig Geschmack noch so ruckelt, als reite man eins. ………
Was ist in einer solchen Welt also noch groß?
Sind Eure Ziele groß?
– Das würde mich ehrlich gesagt brennend interessieren.
Ich wüsste oft – und nicht erst seit heute – liebend gern, was Ihr für Träume träumt, für Wünsche wünscht, für Hoffnungen hofft.
… Natürlich geht mich das nicht wirklich an, …… aber spannend ist und bleibt es ja doch, weil es erstens Menschen aus uns macht, dass wir nicht einfach nur rupfen und wiederkäuen, was vor unserer Nase wächst, sondern uns vorstellen, wie das Leben uns und wie jeder von uns die Welt verändern kann.
Zweitens sind die Ziele gerade Eures Herzens und Eures Nachdenkens besonders spannend, weil Ihr sie selber vielleicht noch nicht wirklich nennen und fassen könnt. Sie bilden sich und sie bilden Euch ja noch: diese Ziele, die Euer Leben finden, diese Richtung, die es nehmen könnte.
Ich wünschte Euch jedenfalls große Ziele an diesem Tag, an dem Ihr nach den frühen Vormittagsstunden der Kindheit einen Gong läuten hört, der sagt: Die Spielpause ist vorbei, jetzt geht’s weiter in Richtung Lernen, Können, Wollen, Machen, Scheitern und Schaffen und Enttäuschung und Freude, bis irgendwann eine Feierabendglocke kommt und das Ausruhen und der tiefe Schlaf. Und dann die große Posaune. ….. Na gut, das ist jetzt wirklich sehr groß.
…….. Darum zurück zu Euch: Wie soll’s denn sein und werden?
Denkt Ihr Euch, dass dieses Leben da im Licht vor Euch ganz gewaltige Geschichten und Abenteuer bringen wird? Oder lieber eher zahme Sachen, so ähnlich wie das, was man kennt und bisher angenehm fand?
Möchtet Ihr hoch und weit hinaus? Oder lasst Ihr’s auf Euch zukommen: Ob Euch die Zukunft an ferne Ufer spült, ob Ihr alles erreicht, was Euch vorschwebt, ob Ihr leise und langsam so werdet, wie man sich das nie gedacht hätte, und wie’s am Ende doch am Besten ist?
– Solche Blicke in die berühmte Kristallkugel, solche eher schrägen Wünsche, die Zeitmaschine anzuschmeißen und das Jahr 2060 zu besuchen, die ergeben sich an so knipsverrückten Tagen, wo nachher noch in alten Kinderphotoalben geblättert und in Erinnerungen und Videos von Euch mit Stofftier und Windeln geschwelgt werden mag.
Dabei ist es aber gar nicht einfach nur albern, heute große Fragen nach großen Zukunftsplänen zu stellen. Sondern genau der richtige Augenblick!
Denn sogar wenn Ihr irgendwann einmal etwas ganz Spektakuläres, etwas Unerhörtes oder Einzigartiges erleben, erreichen oder bezeugen würdet: Heute geht’s um etwas noch Größeres.
Heute geht’s um die Stimme, die rief: „Es werde Licht! – Und es ward Licht.“ (1.Mose 13)
Zu diesem Urwort, zu dieser ältesten Stimme im Kosmos, zu Dem, Der immer schon da war, sagt Ihr heute ganz persönlich „Ja“. Damit werden wir alle zurückversetzt in die erste Sekunde der Weltgeschichte, zurück zur Premiere Gottes.
Denn Ihr bestätigt Gott dem Vater ja heute, dass Er nicht umsonst gehandelt hat und handelt, sondern dass Ihr seiner Schöpfung zustimmt und mit ihr einverstanden seid und dass Sein Segen Euch Jungen heute auch nach so langer Zeit nicht etwa egal, sondern ein Herzenswunsch ist. Das ist groß!
Und noch mehr wirklich Großes passiert heute.
Indem Ihr durch Eure Bereitschaft zur Konfirmation Eure Taufe bestätigt, nehmt Ihr Teil am zentralsten Ereignis aller Zeiten:
Ihr werdet Hirten von Bethlehem, die ausbreiten, was sie von dem als Mensch geborenen Sohn Gottes gehört haben; Ihr werdet Apostel, die bekennen, dass Jesus nicht umsonst gestorben ist, sondern dass er am Kreuz für uns alles Katastrophale ausgehalten hat, um uns nicht an Schuld und Leid zerbrechen zu lassen; schließlich werdet Ihr junge Frauen und junge Männer, die von einem leeren Grab herkommen und bestätigen, dass Gott den Tod für immer besiegt hat und dass wir alle durch Jesus, den Auferweckten dem Leben entgegen-gehen.
Ihr hört auf, zu den „Damit-hab-ich-nichts-zu-tun“-Leuten zu gehören, und werdet selbst Botschafterinnen und Botschafter des Heilands der Welt.
Das ist riesengroß!
Deshalb ist heute so etwas wie Euer individuelles Pfingstfest: Die unauflösliche Verbindung zwischen Gott, dem Allerhöchsten und Eurer Person wird beidseitig bestärkt.
Der Heilige Geist Gottes und 21 Menschen besiegeln, dass sie Partner sein wollen, Verbündete für alle Zeit.
Natürlich werdet Ihr in Zukunft noch andere Freundschaften schließen, noch andere Beziehungen knüpfen, noch andere Treueverhältnisse eingehen. Aber eine größere, tiefere, grenzenlosere Gemeinsamkeit kann Euch nicht mehr erwarten.
Dies ist das Allergrößte, dass Ihr in eine Lebensgemeinschaft mit Gott einwilligt und aufgenommen werdet!
Aber bevor Euch das jetzt zu großspurig klingt oder gar größenwahnsinnig macht, kommen wir zurück auf den Teppich.
Denn so überzeugt ich davon bin, dass es nie etwas Besseres und kaum eine vergleichbare Entscheidung in Eurem Leben geben wird:
Das ganz Großartige an Gott ist es nun allerdings, dass Er sich nicht auf Überflieger, nicht auf Gewinner oder Angeber, nicht auf’s Große spezialisiert.
Auch und gerade wer mit Gott im Bund ist, erfährt und erlebt ja die allergrößten Dinge im ganz normalen Leben. Denn das, was wirklich zählt und trägt, was hilft und bleibt, ist meistens das, was ohne Knalleffekt und Schlagzeile und Rummel auskommt:
Einfach dass Ihr lebt, ist das große Urgeschenk Gottes an Euch; dass Ihr geliebt werdet, ist die große Grundlage, die Jesus Eurem Leben für immer gibt; dass Ihr heute und in alle Zukunft Lebensmut und Freude haben und behalten könnt, ist die große Einladung des Gottesgeistes an Euch.
Wahrscheinlich …. hoffentlich kommen noch andere Überraschungen und Entwicklungen und Erfahrungen und Denkzettel und Durchbrüche und Feuerwerke und Durstrecken und verpasste und ergriffene Gelegenheiten und Schläge und Erfolge massenweise dazu.
Aber die drei großen, unscheinbaren und doch allesentscheidenden Versprechen schwört Gott Euch heute: Ihr sollt bei und mit Ihm Leben, Gnade und Fröhlichkeit haben, bis an’s Ziel der Zeit und darüber hinaus!
Deshalb ist heute vor dem Jubelsonntag wirklich gut jubeln (Psalm 66,5):
„Kommt her und sehet an die Wunderwerke Gottes, der so groß ist in seinem Tun an den Menschenkindern!“
Das ist der Anfang und das Ziel und das große Glück des Christseins!
Dazu von Herzen alle Glückwünsche!
Amen.
Quasimodogeniti 07.04.2013 Markus 16,9-20 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Quasimodogeniti - 7.IV.2013
Markus 16, 9 - 20
Liebe Gemeinde!
Das Markusevangelium ist eine unvollendete Symphonie.
Es bricht im österlichen Schluss ab mit den Worten : „Und sie sagten niemand etwas, denn sie fürchteten sich“…. —
Das ist zwar ein eindrucksvoll dissonanter Akkord, ein Klang, so schräg und unaufgelöst, dass er vielleicht noch tiefer vibriert und rüttelt und nachhallt, als alle zu erwartenden harmonischen Grundtöne. Aber diese wortlose, lähmende Furcht der Frauen am leeren Grab hängt dennoch zitternd in der Luft wie ein Doppelpunkt, dem etwas folgen müsste, das irgendwie erstickt wurde und abgewürgt.
….. Das hinterlässt eine Spannung, die sich auf die Brust legt und in’s Mark dringt.
Wie weiter?, so dröhnt die Stille nach diesem unerwarteten Abbruch umso lauter.
In vielen uralten Handschriften des Neuen Testaments – geschrieben zu einer Zeit, als das Pergament kostbarer Luxus war, den man platzsparend ausnutzte – in vielen dieser alten Manuskripte haben die Abschreiber tatsächlich anderthalb Spalten des teuren Stoffs an dieser Stelle schlicht leer gelassen, als wollten sie mit einem derart verschwenderischen Verfahren darauf hinweisen, dass uns hier etwas unendlich Wichtiges fehlt, …. etwas, das aber irgendwo da draußen sein muss, …. etwas, für das man in der Gemeinde den Platz freihalten sollte. —
Einer aber, der offenkundig viel gereist ist durch die alte christliche Welt der ersten, verstreu-ten, unsichereren Gemeindegründungen, einer der viele Predigten gehört, viele Ohrenzeugen erlebt, viele Bekenntnisse zu Herzen genommen hat, einer, dem das offene Ende des Markusevangeliums zum Stachel im Fleisch geworden war, hat schließlich zusammengetragen, was man von Ort zu Ort in den verschiedenen apostolischen Erinnerungen und Schriften über das ratlose Auferstehungsstaunen hinaus überliefert hatte.
Und sein Fleiß und seine Treue haben dem unvollendeten Markusevangelium einen zweiten, runderen Abschluss verliehen.
Dabei hat der unbekannte Sammler nicht versucht, eigene Erfindungen einzuschleusen; er blieb also noch bescheidener als die meisten uns bekannten Vollender von unfertigen Werken …. denken wir an das Mozart’sche Requiem, bei dem Franz Xaver Süßmayr einen Ton nachempfand, den der selige Wolferl eigentlich mit ins Grab genommen hatte.
Der Predigthörer und -leser, der der sprachlosen Angst der ersten Osterzeuginnen nicht das letzte Wort lassen wollte, hat also keine neuen Ostergeschichten ersonnen oder ausgegraben, sondern er hat die Überlieferungen der drei anderen apostolischen Evangelien zu einer Synopse verbunden, zu dem, was spätere Zeiten bis zu den Reformatoren immer wieder aus den gegebenen Texten zusammenfügten unter dem Titel einer „Evangelienharmonie“.
Auf den Misston und die tief beunruhigende Pause des abbrechenden Markusevangeliums folgt nun also im wahrsten Sinne des Wortes doch noch die höhere Harmonie:
Wir hören das österliche Duett aus dem Johannesevangelium anklingen, das die erste Begegnung zwischen dem Auferstandenen und Maria Magdalena schildert (Joh2011ff); wir hören das Motiv des geheimnisvollen Terzetts auf der Landstraße und am abendlichen Tisch, da der Tag sich neigt, als Jesus sich in Emmaus „unter einer anderen Gestalt“ offenbarte - so wie Lukas es bezeugt (Lk2413ff); wir hören vom Chor der Jünger, die alle das Leitmotiv des Thomas variieren und Jesu Auferweckung nicht glauben können, weshalb er sie sämtlich schelten muss – nicht nur den einen, wie im Johannesevangelium (Joh2014ff); wir hören schließlich den großen, durch alle Zeiten tragenden Schlussakkord des Evangelisten Matthäus, der vor Jesu Himmelfahrt den Tauf- und den Missionsbefehl bis an der Welt Ende aufgezeichnet hat (Matth2816ff).
Da wird aus den einzelnen Kompositionen des Matthäus, Lukas und Johannes also tatsächlich ein Zusammenklang, griechisch: eine „Symphonie“. Die vollendete Ostersymphonie, in der das insgesamt eher spröde, minimalistisch-kammermusikalische Markusevangelium gipfelt.
Aber ist das in Ordnung? —— Kann man allem, was sperrig und fragmentarisch wirkt, ein Pflästerchen aufkleben, bis es rund und schön ist? Darf man den Ecken, den Bauruinen, den Brachen und den Trümmern der Erde nachträglich durch eine ursprünglich wirkende Fassade oder einen bemalten Bauzaun das Aussehen heiler Welt verleihen? Soll man in die losen, unverknüpften Enden des Lebens ein gefälliges Schleifchen zwirbeln, soll man den nie abgeschlossenen menschlichen Trauer- und Schuldgeschichten mit ein paar Floskeln und Schönfärbereien nachhelfen, bis ein geschlossenes, … „gelungenes“, … gefälschtes Gesamtbild anstelle der Bruchstücke entsteht?
Nein, man sollte das lieber bleiben lassen!
Denn der Etikettenschwindel einer makellosen Erscheinung ändert ja nichts an allen Narben und Brüchen und Schrecken, die das Leben darunter trotzdem hinterlässt. ——
Aber das Gespür eben dafür, die ganz lebensechte Erinnerung an die Schatten und die Schäden des Lebens in dieser Welt hat der unbekannte Vollender des Markusevangeliums in deutlichster Form in die von ihm zusammengebundenen Osterberichte einfließen lassen.
Warum er – der so viele österlich-lebensbejahende, von Auferweckungsgewissheit getragene Eindrücke und Erzählungen bündelte – dem Ganzen dennoch eine eigene, zwischen Dur und Moll schillernde Klangfarbe verlieh, bleibt offen.
Jedenfalls ist bei ihm aus den Osterkompositionen der anderen ja nicht etwa nur eine Symphonie „aus der neuen Welt“ geworden, sondern gerade die Erscheinung und die Verheißungen des Auferweckten geraten ihm zum „Lied von der Erde“:
Da kommen die sieben bösen Geister, die sich im Leben der Magdalena einst eingenistet hatten, ebenso vor wie die Dämonen, Schlangen, Giftmischungen und Krankheiten, die der irdischen Menschheit das Leben weiter schwer machen werden.
Und das Aussendungswort des erhöhten Herrn bindet es seinen Jüngern auf’s Gewissen: „Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium aller Kreatur“!
Ein solcher Schöpfungsbezug der christlichen Mission ist eine einmalige Blickverschiebung vom Innerlichen zur Umgebung, von der Menschenseele hin zur stofflichen Natur.
Die beiden eigenen Akzente, die der vertrauten Osterpredigt hier verliehen werden, lassen sich also in zwei durchaus ungewöhnliche Schlagworte fassen: Psychiatrie und Ökologie sind die Orte, an denen die Auferweckung des Gekreuzigten praktische Folgen haben soll.
Christen sollen die Innen- und die Umwelt durch Ostern zu entgiften helfen! ——
Das ist allerdings ein Doppelgebot, das sich in unsere gutbürgerliche Vernünftigkeit ungefähr so reibungslos einfügt wie das Osterei in den Fingerhut passt:
- Wir sollen Teufelsaustreibungen vornehmen und die klimaschützende Nachhaltigkeit als Glaubensziel begreifen?
- Wir sollen okkulte, voraufklärerische Vorstellungen und wirtschaftspolitischen Widerspruchsgeist auf unsere Fahnen heften? ……
Jetzt mal ehrlich? – Ja!
Wenn die gesammelten Osterzeugnisse mehr als nur Dr.Murkes gesammeltes Schweigen ergeben sollen, wenn ihr Sinn ein lebendiger sein soll, dann darf uns weder die Angst vor dem Obskuren noch die Angst vor dem Öffentlichen zu gleichgültiger Tatenlosigkeit verführen.
… Natürlich: Ich habe Theo-Logie studiert, nicht Satana-Logie.
… Natürlich: Sie gehören zu jenen Getauften, die einen Gottesdienst von einem Parteitag zu unterscheiden wissen und wünschen.
Aber ohne dem Bösen und seinen Knechten durch solche Beschäftigung zu viel der Ehre zu erweisen, kann ich dennoch nur sagen: Die Möglichkeiten des Dämonischen zu leugnen, nur um ja nicht den Altweiberfabeln der Paranormalität irgendwo zwischen Erich von Däniken, Uri Geller und Rasputin zuzuarbeiten, ist sträflich töricht.
Und ohne den Ideologien und Ressentiments der weltanschaulichen Lager zwischen entfesseltem Kapitalismus und Öko-Orthodoxie die Weihen dogmatischer Grundsätze zusprechen zu wollen, ist doch klar zu erkennen:
Wenn die Gewinner der Weltwirtschaft nicht rasch zu beispielhafter Erneuerung und praktischem Sinneswandel finden, werden das weiße und das feuerrote, das schwarze und das fahle Pferd (vgl.Offb.6!) mitsamt ihren Reitern nicht nur in den von uns längst aufgegebenen fernen, sondern in den allernächsten Winkeln der Erde eine grässliche Ernte für Krise, Krieg, Teuerung und Tod einfahren.
Es geht beim österlichen Doppelgebot, mitten in der Kreatur gegen die Dämonen und gegen die physischen Vernichtungsgefahren zu kämpfen nämlich im Grunde um etwas zutiefst Zusammengehöriges: um „Lebensraum“, wie man heute sagt.
Dass aber die Lebensräume der Geschöpfe Gottes beschnitten und zerstört werden in seelischer und in geographischer Hinsicht, dass innerlich und äußerlich die Entfaltung und Freiheit des Lebens beklemmend bedroht ist von sehr deutlich erkennbaren, ebenso wie von geradezu mythischen Mächten, ist aufrichtigem Denken wohl kaum zweifelhaft:
Dazu gehören Vergiftung und Verpestung, Vergeudung und Vernichtung der fundamentalsten Schöpfungsgüter – Wasser, Luft, Acker, Pflanze und Fleisch – ebenso wie die Zerstörung des menschlichen Ebenbilds des Schöpfers.
Doch je mehr uns zum schwindenden Lebensraum der Menschenseele nur Schlagworte wie „Materialismus“, „Konsum“ oder „Technisierung“ einfallen, desto misstrauischer sollte man werden.
In der Seelsorge selbst – so will mir scheinen – enthüllt sich ein anderes Bild der Vorgänge … und ob das nur der Rückfall in eine mythologische Sprache oder ob es ein Blick in die Tiefe ist, das will ich nicht vorschnell entscheiden.
Auf alle Fälle erscheinen mir bei den vielen Einflüssen und Einflüsterungen, unter denen Menschen leiden, zwei Erfahrungen verstärkt aufzutreten:
Gerade junge Menschen erleben unter dem Eindruck einer riesenhaft gesteigerten, unpersönlichen Aufmerksamkeitsmaschine, dass sie ganz persönlich, ganz individuell Dämonen begegnen und von ihnen besetzt werden … und je weniger ihre Vorstellungen christlich, je unklarer irrational sie geprägt sind, desto eher vermuten sie Satanisches am Werk.
Und die zweite Erfahrung: Das führt sie zum Pfarrer.
Die Verwicklung und Bedrängnis durch dunkle Kräfte erinnert undeutlich an Gott. …Wenn irgendwo, dann muss doch bei Gott eine lebendige Hilfe gegen die übermächtigen, geheimnisvollen Geister und Energien, die unsere Welt beherrschen, zu finden sein!
Ob Sie’s also glauben oder nicht: Es ist daher gar nicht ganz selten, dass hier in dieser Kirche oder nebenan in der Sakristei geredet und gerungen, gebetet und beschworen wird, um der Besessenheit durch unheimliche Zwänge ein Ende zu bereiten und die Freiheit der durch Gott Gelösten erfahren und bejahen zu können.
Menschen suchen bei Gott den Sieger über das, was ihr Leben verdirbt und zerstört!
……. Und wir sollten ihnen bei dieser Suche nicht zur Seite stehen – obwohl wir das Osterevangelium ebenso kennen wie der Vollender des Markus?
Wir sollten dem einen – aus Furcht vor politischer Parteinahme – sagen, dass der Regenwald, seine sinkende Insel, sein Hungerlohn, sein erstickendes Kind unsern auferweckten Herrn und uns nichts angehen?
Und wir sollten dem andern – aus Furcht vor seltsamen Blicken – erklären, dass seine seelische Anfechtung und sein Erlebnis, wie fremde Quälgeister ihn vergewaltigen, mit Dem, Der alle Schuld und Furcht und Todesangst ausgelöscht hat, nichts zu tun haben?
Nein!
Die gesamte Erde und jedes einzelne Menschenkind sollen und müssen wir ernst nehmen als Schauplätze des Ostersieges!
Alles Gift, das die Welt unbewohnbar und das Dasein bitter macht, kann und wird durch Jesus, den Vorkämpfer des Lebens nämlich unschädlich gemacht werden.
Wenn wir das nicht glauben: … Na, dann guten Feierabend!
Wenn wir das - diese Osterbotschaft - aber glauben, …. nun, dann haben wir zu tun! —
Vor wenigen Wochen habe ich auf unserem Friedhof eine junge Frau – ehemalige Konfirmandin – begraben.
An ihrem Grab sind viele Tränen geflossen.
In ihrem Leben wohl auch.
In ihr Grab sah ich vorgestern eine Karte gepflanzt, mit dem Text:
„Was mache ich hier eigentlich?“ ——
Das ist die Frage, die wir alle uns stellen sollten.
Wir, von denen es am Ende aller Ostergeschichten heißt:
„Und der Herr wirkte mit ihnen“.
Amen
Ostersonntag 31.03.2013 Johannes 20,11-18 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth - Ostersonntag 31.III.2013
Johannes 20, 11-18
Liebe Gemeinde!
Mit Ostern fängt die moderne Welt an: Eine Welt, die so modern ist, dass man vor ein paar Jahren für diese Osterwelt sogar den Namen „Post-Moderne“ erfunden hat.
Diese Postmoderne ist inzwischen allerdings wieder flöten gegangen und die gute alte, bisherige Moderne kam etwas mitgenommen zur Hintertür herein.
Was das genau bedeutet:
Nun, spätestens seit der Finanzkrise weiß man wieder, dass es auf das ankommt, was „da“ ist. In der Postmoderne allerdings wurde eine Zeitlang wichtig, was nicht „da ist“.
Für die Bibelleser – und überhaupt alle Lesenden – hieß das einige Jahre lang, dass man weniger erforschte, was im Text da steht, und sich stattdessen mindestens genauso sehr für die leeren Stellen, die schweigenden Lücken zwischen den Worten interessierte.
Warum nennt uns das Johannesevangelium z.B. nicht den Namen des Lieblingsjüngers, der in ihm doch so hervorgehoben wird?
Was hat es zu bedeuten, dass bei Paulus auf den schrillsten Schrei - „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“ (Rö724) - der herrlichste Jubel folgt: „Ich danke Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ (Rö725)?
Was für eine Bewandtnis hat es mit den vielen Rätseln, die für unsere Logik undurchdringlich erscheinen?
– Dass Jesus den Zeugen seiner Wunder so oft Schweigen gebietet, obwohl es doch heißt (Ps11610): „Ich glaube, darum rede ich“?
– Dass Jesus so häufig nicht „Ich“ sagt, sondern „der Menschensohn“?
– Dass wir in ein und dem selben Neuen Testament bei dem Apostel, der Jesus nicht persönlich kannte, hören: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne Werke des Gesetzes, allein durch den Glauben“ (Rö328), und wiederum bei Jesu nächstem Verwandten, seinem Bruder Jakobus - sogar sehr österlich - vernehmen: „So seht ihr nun, dass der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durch Glauben allein … Denn gleichwie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot“ (Jak224f)?
Man merkt: Da gibt es weiße Flecken, unausgefüllte Lücken und Spuren, die weit über den vorhandenen Wortlaut hinaus führen ……
Es steht nicht einfach alles da, als wäre dies der Qor’an, sondern wir müssen suchen!
Das Fehlende ist unentbehrlich, weil das Vorhandene nicht reicht, um die Wahrheit zu erkennen. Insofern ist die Eiersuche ein glücklich ersonnenes Brauchtum zu Ostern:
Es geht tatsächlich um das, was nicht da ist! ——
Aber weil’s bisher noch nicht so richtig Ostern werden wollte mit den Rätselspuren, reden wir vielleicht einmal von dem, was immer schon da ist, noch ehe wir überhaupt Verstand und Wahl dabei haben. Das sind unsere Namen.
Die sind uns in die Wiege gelegt und wir müssen uns in sie hineinfinden, so gut es eben geht.
Und dann wachsen wir auf und tragen sie ununterbrochen am Leib – unsere Namen, die eher da waren als unsere Persönlichkeit – und können manchmal nur staunen, wie das schließlich doch zusammenstimmt oder auch sich nie versöhnen lässt:
Die großen Namen, die unsere Eltern uns auf den kleinen Kopf zusagten; die Zeitgeistklänge aus unserer Kindheit, die bald so fürchterlich gestrig wirken; die geheimen oder plumpen Phantasien, die andere uns in die Papiere geschrieben haben.
Wie viele heutige Modenamen sind nicht ein Fluch in der Welt von morgen! Wie viele Heldennamen aus der Geschichte von Familie oder Volk werden nicht zum Verhängnis, wenn die Zukunft sich von der Vergangenheit lösen will.
Wie tragikomisch sind nicht die Botschaften und Träume, nach denen wir heißen: Wer müsste nicht lachen über die vielen „Enricos“ oder „Marios“, die in die triste Plattenbautenwelt des Sozialismus ein bisschen „Olé!“ bringen sollten, oder über ihre Schwestern „Mandy“ und „Cindy“, die das „Wow!“ nach Karl-Marx-Stadt und in den VEB-Fischkonserven, Rostock bringen sollten?!
Um aber ebenso vor der eigenen Tür zu kehren: Was für ein Anspruch verbirgt sich hinter der gegenwärtigen Vorherrschaft von Knabennamen aus der klassischen Antike, die einen erleichtert lässt, wenn die Sprösslinge immerhin nicht direkt „Cäsar Augustus“ heißen?
Oder die allgegenwärtige Dominanz des Anfangsbuchstaben „L“ bei den Kindernamen: Alles so weich und lallend und zahnlos. ….. Einen Geschmack haben die Leute!? (Meine eigenen Kinder haben auch alle Ruf- oder Kosenamen mit „L“!....)
War das schon immer so?
– Anscheinend schon.
Denn – und jetzt treten wir an die Stufen, hinunter zu jenem wunderbaren, herzerfreuenden Garten im Tal – denn wenn wir jetzt im bernsteinfarbenen Zwielicht des frühen Morgens durch den Tau (vgl.Ps1333), der herabfällt von den Bergen, die um Jerusalem her sind (vgl.Ps1252), leise hinter ihr herschleichen, dann steht sie vor uns: Die Trägerin eines Modenamens. Maria.
Marien umgeben Jesus: Mutter und Tante (Joh195), Freundesmutter (Matth2756), Weggefährtinnen aus Galiläa (Lk82) und Bethanien (Joh111) … eine Schar der Trägerinnen dieses einen Namens ist Jesus als erste und letzte Hilfe, als treueste Freundinnen zugetan.
Und sie alle heißen in ihrer Muttersprache nach der großartigen, feurigen, begeisternden Schwester des Mose und Aaron, Miriam. Als hätten alle Eltern zur Zeit des Augustus bei der Geburt von Töchtern gehofft, ihre Mädchen möchten einst wie Miriam die Künderin und Sängerin der Befreiung werden. In allen diesen kleinen Miriams, die fünfzig, vierzig, dreißig Jahre vor Ostern im römischen Palästina zur Welt kamen, verkörpert sich der Traum, dass es bald wieder ein Rettungswunder Gottes, einen Sieg über die Gewaltigen und Blutsauger geben werde und dass dann wieder – wie damals am Schilfmeer – eine Tochter Israels den Reigen anführen und als prophetische Zeugin jubeln werde: „Lasst uns dem HERRN singen, denn er hat eine herrliche Tat getan“ (2.Mose1521).
Die vielen Miriams, die in Nazareth und Magdala und Bethanien aufwuchsen, werden es nicht stets vor Augen gehabt haben, dass ihre Eltern sie in ein Wettrennen der Hoffnung, in einen Lebenslauf als Vorhut aussandten, gespannt, welche von ihnen nun die Erste sein werde, die eine gute Botschaft, die das Evangelium von Gottes Heilstaten in Israel verkünden durfte.
Aber alle diese Marien, alle Miriams trugen in ihrem Namen eben doch die Erwartung eines neuen befreienden Sieges Gottes über Seine Feinde.
Und in der erwachenden Dämmerung sehen wir die Siegerin vor uns!
Maria aus Magdala ist es, von der Jesajas (527) buchstäblich geflügeltes Wort gelten sollte: „Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenbotinnen, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!“
Sie ist die neue Miriam. Sie sollte tanzen, jauchzen und das Leuchtfeuer entzünden, das der Welt den größten, herrlichsten, endgültigsten Sieg über die Feinde Gottes und der Menschen anzeigt.
Doch was tut sie?
Sie steht, nein … sie kniet und weint und kriecht in ein Grab und fährt erschrocken herum und die Tränen machen sie blind und sie begegnet dem Sieger und sie hebt die Hände, …. aber sie fleht und weint und hat keine Pauke und weiß keine Worte und will nie mehr tanzen, sondern trauern und klagen und stellvertretend für ihre einst so hoffnungsfrohen Eltern und alle anderen Marien und die gesamten Menschheit will sie eine untröstliche Witwe sein, so wie Johanna, die Wahnsinnige, die den geliebten Leichnam Philipps des Schönen nicht hergeben konnte, sondern einen Winter lang mit ihm über die trostlos windgepeitschten, eisigen Hochebenen Altkastiliens zog.
„Gib mir die Leiche! Ich will den sterblichen Überrest. Wo ist mein Toter?“, so vergräbt sich Maria in den Schmerz, den das leere Grab ihr bereitet.
Und da stehen wir zwischen dem biblischen Siegeslied, das doch jetzt längst die noch schlafenden Vögel in Josephs Garten wecken müsste, das mit der aufgehenden Sonne an den Stadtmauern Jerusalems hinaufsteigen und den Himmel über der Heiligen Stadt erfüllen müsste … da stehen wir zwischen dem lange ersehnten Rettungsgesang und Loblied auf Miriams Lippen und der postmodernen Lücke im Text, dem Riss, der klaffenden Leerstelle im Geschehen dieses wunderbaren Friedhofsmorgens.
Niemand kann diese Lücke ausfüllen.
Das Grab ist leer.
Der Gesuchte ist nicht da, wo Maria und jeder Mensch ihn erwarten würde.
Denn wir Menschen haben ja nur eine Leichenlogik: Wo etwas war, muss wenigstens eine Leiche bleiben, … ein paar Knochen, …. ein Andenken, eine Locke, ein Stofffetzen, eine Handvoll Erde, irgendeine Reliquie. … Aber nicht dieses unerklärliche Garnichts! Nicht dieser Bruch mit allen unseren Erwartungen und Erklärungen! ------- Wo ist er? ------------ Was ist an der Leerstelle passiert?
Wie füllen wir die logische Lücke in unserem Weltbild, das nur Leben und Sterben als Ursache und Wirkung kennt?
Ja, liebe Magdalena, lieber Christenmensch gestern, heute und so weiter:
Die Lücke füllst Du nicht! Das wirst Du nie ausmalen oder befriedigend erklären können. Da führt kein Bohren und Beweisen weiter, ebenso wenig wie die blindgeweinten Versuche, wenigstens das Bekannte festzuhalten, den Vertrauten – und wenn er schimmelig und ganz verwest wäre – weiterhin zu besitzen und zu behüten.
Nein, Maria! Wenn Du nicht selbst in diese weiße, unheimlich unerklärliche Lücke Dich wagst, wenn Du den Widerspruch nicht aushältst, dass hier das Sterben die Ursache und deren Wirkung das Leben ist, dann bleibst Du gefangen in der alten Welt, am ägyptischen Ufer, diesseits der Freiheit, gefesselt an das bisherige Leben, Denken und Erkennen.
……. Aber nicht wahr, Miriam: Du kommst nicht hinüber?! Das Wasser ist viel zu tief, das Geheimnis viel zu unergründlich.
Maria! Wenn Du stehen bleibst, wenn Du den Gärtner nur nach Leichen fragst und den Kopf nur nach Logik, dann wirst Du hier, am Ufer im Morgenrot des Jüngsten, schönsten Tages niedergewalzt. Dann kommen die Truppen der alten Welt des Todes und strecken Dich für immer in den Staub.
….. Doch das leere Grab ist Dir ein unüberwindliches Hindernis.
Dir fehlt die Erklärung.
Du kannst nicht sehen, was da im Verborgenen geschah.
Du hast nichts Festes in der Hand. ----- Diese Leere! ------- Diese gähnende Leere! --------- Diese Flut an Unglaublichem, die Dich in Schmerz und Widerstand und Starrsinn und Tränen ersäufen will ….
Du kommst nicht dahinter.
Du kommst nicht da drüber. ——
Aber lass für einen Augenblick das Schluchzen. … Einen Augenblick bloß still sein!
Das Meer wird ja doch geteilt!
Nicht von Dir, natürlich. Von keinem von uns.
Aber hörst Du nicht, wie durch die Tiefe des Abgrunds ein Seil gespannt, wie eine Brücke über den leeren Raum, über die Grube, in der alles echolos versinkt, gelegt wird?!
Da!
Hörst Du’s?
— Das Vertrauteste, was es gibt. Das Älteste, das Du kennst, Miriam!
Dein Name!
Du wirst gerufen, Miriam.
Du selbst, und kein Fremder (vgl.Hiob1927).
Du wirst gerufen bei Deinem Namen.
Denn wenn Du Ihn nicht erkennst, Er kennt Dich doch.
Du bist in seine Hände gezeichnet (Jes4916), mit Nägeln und Blut und einer unauslöschlichen Schrift, denn seine Liebe ist stark wie der Tod,… so dass auch viele Wasser die Liebe nicht auslöschen und Ströme sie nicht ertränken können (Hoheslied86f).
Er kennt Dich: das ist noch mehr, als wenn Du ihn kennst. Er kennt alles. Sogar die unüberbrückbare Lücke, das Ende aller Dinge, das, was keiner von uns je ergründen und überstehen würde. Er ist dort gewesen und hindurch.
Und nun steht Er da und ruft nach Dir. ——
Was tust Du jetzt, Miriam, Du Glückliche, die als Erste mit an jenem neuen Ufer stand, auf das wir hoffen, nach dem wir uns sehnen mögen, das uns aber immer verwehrt wäre, wenn Gott nicht das Meer vor uns teilen und unsere Feinde vernichten und den Tod in den Pfuhl werfen würde (vgl.Offenb2010), aus dem es kein Auferstehen geben kann.
Was tust Du jetzt, wo die Stadt hinter Euch im Morgenlicht liegt, wo die Welt wieder in Gang kommt und doch der erste Tag einer ganz neuen Zeit, der erste Tag der Ewigkeit beginnt?
Du willst ihn festhalten, Maria Magdalena.
Ganz fest willst Du Deinen Rabbi halten, damit er Dich in all das Unfassbare, in Gottes neue Schöpfung, in die Freiheit nach dem großen Exodus geleiten kann, … Dir erzählen, Deinen vielen Fragen antworten und Dich aufklären. Du willst ihn so haben wie bisher: Er soll wieder da sein, wie in dem Dasein vor seiner Kreuzigung.
Aber das ist jetzt anders, Miriam. --------
Es ist kein Sein und Haben mehr wie vorher, wo man die Dinge besitzen, zählen, zeigen und als erledigt betrachten konnte, wenn man sie sich angeeignet hatte.
Das Haben geht jetzt anders.
Es ist vielleicht sonderbar nun gerade einen Schlager zu singen, aber manchmal kommt der Nonsens der Wahrheit am nächsten, wenn es um dasjenige geht, das in allen unseren sonstigen Systemen der Logik und des Selbstverständlichen keinen Ort hat.
Es gibt also einen Schlager aus der letzten Weltwirtschaftskrise, als so Viele so viel verloren, dass einem nur noch schwindelig werden konnte. Da heißt es:
„Ich hab’ kein Auto, ich hab’ kein Rittergut / das Einz’ge, was ich hab’:
Ich hab’ dich lieb.
Ich bin kein Rothschild, bin nicht von blauem Blut, / das Einz’ge was ich bin:
Ich bin dir gut.“ ———
Auf andere Weise kannst Du ihn jetzt nicht festhalten, den Rabbi, der das Leben lehrt und hat und schenkt.
Du kannst Gott ja auch nicht anders haben, Du kannst ja nicht wollen, dass Gott Dir gehört, denn umgekehrt ist es doch: Du gehörst Ihm.
Aber Ihn zu lieben – und die anderen, die da oben in der Stadt und ringsum auf der Erde auf gute Nachricht warten – , das ist das Leben! ——
Wie Du Dir dessen nun aber sicher sein und bleiben kannst, Maria – wenn Du Ihn doch nicht fest- und dabehalten kannst?
Du wirst es hören.
Hören, wenn es drauf ankommt.
Immer wieder. … Noch am letzten Ufer. … Nein, da ganz besonders!
„Fürchte dich nicht“, wirst Du hören.
„Ich habe Dich erlöst!
Ich habe Dich bei deinem Namen gerufen!
Du bist mein!“ (Jes431).
Amen.
Karfreitag, 29.03.2013, Jes.53,5b, Gr.-Recke-Kirche + Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
in Montenegro, dem Land der Schwarzen Berge, lebte in alter Zeit ein Junge namens Blascho Brajowitsch. Als einziges Kind in der Gegend konnte er lesen und schreiben, weil ein Pope es ihm auf seinen Wunsch hin beigebracht hatte.
Blascho Brajowitsch war anders als die anderen Jungen in seinem Alter. Während diese möglichst schnell lernen wollten, mit dem Gewehr umzugehen, wollte Blascho klug werden.. Blaschos Vater, Rade, war ein Hüne von zwei Zentnern. Er war geschickt im Umgang mit Pistole und Flinte. Seinen Sohn pflegte er „das Lamm" zu nennen. Und oft fragte er sich sorgenvoll: „Was wird aus ihm, wenn die Wölfe kommen?"
In jener Zeit gab es in Montenegro die Blutrache - eine Krankheit, die sich fortschleppte von Geschlecht zu Geschlecht, von Generation zu Generation. Man erschoss Männer von anderen Stämmen, weil diese zuvor Männer des eigenen Stammes erschossen hatten. Mord erzeugte Mord - es war eine verhängnisvolle Kette ohne Ende.
Die Blutrache war eine Sache der Männer. Es war schändlich, an Frauen oder Kindern Rache zu üben. Anfangs hatte Blascho wie die Frauen vor Angst gezittert. Mit zunehmendem Alter hatte er weniger Angst um den Vater, der sehr vorsichtig und geschickt war. Blascho machte sich aber viele Gedanken über das sinnlose Morden der Männer. Man sah ihn oft mit einer Bibel. In ihr hatte er Sätze gelesen, die er noch nie aus einem montenegrinischen Mund gehört hatte. Er hielt die Sätze für Geheimnisse, die man nicht aussprechen durfte. Da war die Rede davon, dass man seinen Feinden, vergeben solle, ja sie sogar lieben solle. Und davon, dass die Friedfertigen selig sind, und dass die in das Himmelreich kommen, die wie die Kinder werden.
Wie weit waren diese Gedanken weg von dem, was Blascho erlebte. Er dachte immer wieder an seinen Onkel Petar. Er selbst hatte ihn blutüberströmt sterben sehen. Einer von den Djuranowitschi hatte ihm die tödliche Wunde zugefügt. In seinem Zorn hatte auch Blascho damals Rache geschworen. Der Tote war inzwischen gerächt. Blaschos Vater hatte den Mörder erstochen. Inzwischen war in Blascho der Gedanke gereift, dass er bei diesem schrecklichen Morden nicht mitmachen würde.
Deshalb war er hoch erfreut, als eines Tages der Vater kam und sagte: „Wir werden mit den Djuranowitschi verhandeln. Es soll Friede sein. Am Freitag treffen wir uns. Und du wirst mein Pferd führen."
Der Tag der Verhandlung kam. Verhandelt wurde auf einer großen Wiese. Die Familien erschienen in der vorgeschriebenen Ordnung. Rade war der Wortführer seiner Familie. Als beide Seiten wieder anfingen, die vielen Toten gegeneinander aufzurechnen, hielt er eine bewegende Rede. Er sagte: „Wir sind hier nicht zusammengekommen, um die Toten zu zählen. Es soll Friede sein. Wer für den Frieden ist, der stehe auf." Viele waren Rade dankbar und sprangen sofort auf. Als er mit erhobenen Händen rief: „So sei denn Friede!", da schrie aus dem Lager der Djuranowitschi die alte Andja, deren Sohn vor kurzem erschlagen worden war: „Nein!" Und Andjas jüngster Sohn zog blitzschnell eine Pistole und drückte ab. Die Menge schrie vor Entsetzen auf. Ein Augenblick hätte genügt, den Frieden zu zerstören, wenn nicht Rade die Hände hochgeworfen und gebrüllt hatte: „Wer ist getroffen?"
Es wurde still. Niemand antwortete. Da rief Rade den Djuranowitschi zu: „Wäre einer der Unseren getroffen worden, so lebte auch dein jüngster Sohn nicht mehr, Andja. Willst du, dass es so weitergeht? Du hast deinem Sohn den Krieg befohlen, nun befiehl den Frieden. Steh auf!"
Als die alte Frau sich langsam erhob, sprach Rade noch einmal: „So sei denn Friede!" Und er schlug das Kreuz. Der Friede war geschlossen.
Die Familien brachen in de vorgesehenen Ordnung auf. Rade rief seinen Sohn. Er sollte das Pferd führen. Und Blascho sagte: „Vater, ich kann nicht. Du musst mich aufsitzen lassen." Da sah Rade, dass sein Sohn blass und gekrümmt im Gras saß. Das Gesicht war blutleer. „Was ist geschehen?", fragte Rade. Blascho schlug den Hirtenmantel zurück. Er war von dem Schuss getroffen worden. „Bring mich weg, Vater. Sag es keinem. Der Doktor von Podgritza macht mich sicher gesund."
Rade stand fassungslos vor seinem Sohn. Mit rauer und bewegter Stimme fragte er: „Warum sagst du mir erst jetzt, dass du getroffen bist?" - Und Blascho antwortete: „Sonst hätte es keinen Frieden gegeben."
Rade sah, dass es seinem Sohn sehr schlecht ging. Er führte das Pferd, auf dem sein Sohn saß. Alle, die noch da waren, sahen etwas Unerhörtes: Der Älteste eines Hauses führte für seinen Sohn das Pferd.
Ein Djuranowitsch rief: „Müssen jetzt im Frieden die Wölfe die Lämmer hüten?" Rade antwortete: „Dieses Lamm hat euren Frieden mit seinem Blut bezahlt. Andjas Sohn hat ihn getroffen. Er hat keinen Laut von sich gegeben ... damit du deinen Frieden hast." Als sie wussten, was geschehen war, schrien die Frauen auf. Die Männer betrachteten staunend und bewundernd den Knaben auf dem Pferd.
Die Erzählung nach einer Vorlage von James Krüss, liebe Gemeinde, spielt in einer fremden Welt - im Land der Schwarzen Berge, in Montenegro, vor über 100 Jahre. Es heißt am Anfang: „In einer alten Zeit" - so als wollte der Erzähler sagen: „Glücklicherweise ist es heute nicht mehr so."
Aber stimmt das? Gehört die Blutrache, das Auge um Auge, Zahn um Zahn, wirklich einer alten, längst vergangenen Zeit an?
Und geht es dann immer nur um Familienfehden? Oder gibt es dieses Prinzip auch auf anderer Ebene?
Ein Blick in die Geschichtsbücher und Tageszeitungen belehrt einen da eines anderen: es ist noch gar nicht so lange her, da bestimmte die „Erbfeindschaft" zwischen Deutschland und Frankreich die europäische Geschichte; drei Kriege zog sie nach sich. Erst der Elysee-Vertrag von 1963 eröffnete für beide Völker eine neue Perspektive des Miteinanders.
In einer neuen Art „Erbfeindschaft" scheinen sich die Israelis und die Palästinenser verrannt zu haben. Auge um Auge, Zahn um Zahn, beschießt du mich mit Raketen, schicke ich meine Kampfflugzeuge los. Und jedes Mal sterben Menschen, und jeder Tote schürt den Hass aufs Neue. Jedes Mal wird Rache und Vergeltung gefordert.
Um Rache und Vergeltung ging es auch nach dem 11.9.2001. Wieviel Hass und Misstrauen beherrschen seitdem das politische Handeln zwischen westlich-abendländischer und islamischer Welt.
Wie viele Anstrengungen sind bis heute nötig, Kosovaren und Serben daran zu hindern, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Und Ähnliches gilt von vielen Regionen in Afrika; Mali ist nur der letzte Brennpunkt. Und was wird aus Syrien?
Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Nicht nur Geld regiert die Welt, auch das Prinzip Vergeltung und Rache. Und das im 21.Jahrhundert.
Wie kann da Frieden werden?
Der Knabe Blascho war beeindruckt von den Worten des Jesus von Nazareth, der die Feindesliebe predigte. Ich bin ziemlich sicher: in seinem Heimatort waren alle Christen und wahrscheinlich ging man auch Sonntag für Sonntag in den Gottesdienst. Und doch: die entscheidenden Sätze hatte er nie aus einem montenegrinischen Mund gehört. Die hatte er selbst entdeckt - und wie ein großes Geheimnis in sich aufgenommen. „Selig sind die Friedfertigen." „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem." „Segnet, die euch fluchen." „Tut Gutes denen, die euch hassen." Blascho hatte gespürt, dass diese Worte das scheinbar unabänderliche Gesetz der Vergeltung durchbrechen. Er hatte gespürt: dieser Jesus hatte etwas ganz Neues in die menschliche Geschichte eingetragen. Und dieses Neue lohnte, Unrecht hinzunehmen - damit Frieden werde. Es lohnte den ganzen Einsatz, es lohnte sogar eigenes Leiden.
Die Jüngerinnen und Jünger Jesu haben auch gespürt, dass mit Jesus etwas Neues angebrochen war. Vielleicht waren es auch die Worte von der Feindesliebe, von denen sie besonders beeindruckt waren. Oder dass Jesus gesagt hatte, dass Gott seine Sonne über Gerechte und Ungerechte aufgehen lässt, dass seine Barmherzigkeit alle einschließt und genau das seine Größe ausmacht. Und dass wir Menschen ihm in dieser Haltung ähnlich werden sollen. Und es war sicher auch seine Haltung, die er im Alltag, in der Begegnung mit Menschen zeigte: er predigte nicht nur die Güte und Liebe Gottes, seine Barmherzigkeit, nein, er lebte sie auch. Und er war darin konsequent. Scheute keinen Konflikt, wenn er sich daran entzündete.
Und dann erlebten sie, wie er verhaftet, verurteilt und gekreuzigt wurde. Es dauerte lange, sicher eher drei Jahre als drei Tage, bis sie sich darüber klar wurden, was da auf Golgatha eigentlich geschehen war; warum er sich nicht durch Flucht dem drohenden Unheil entzogen hatte; warum er stillgehalten hatte, warum er nicht - wie andere, die von den Römern aus ähnlichem Anlass gekreuzigt wurden - seine Peiniger verflucht hatte.
Sie haben ihre religiösen Traditionen befragt, um zu verstehen. Und sie sind zu der Überzeugung gekommen: er hat es für uns getan. Jesus hat für uns stillgehalten - damit wir Frieden haben. Er hat uns zeigen wollen, dass sich ein Leben, wie er es gelebt hat, lohnt. Dass es das Leben ist, wie Gott es gedacht hat. Dass es ein Leben ist geborgen in Gott - egal was geschieht. Dass Leid und Tod eben nicht heißt: dieser Mensch ist von Gott verlassen. Er mag von allen Menschen verlassen sein - aber nicht von Gott, selbst dann nicht, wenn er Gottes Gegenwart nicht mehr spürt.
Jesus hat stillgehalten - damit wir Frieden haben mit Gott und den Weg des Friedens weitergehen können - konsequent wie er. Weil das ein Weg ist in der Gemeinschaft mit Gott und mit ihm.
Damit wir Frieden haben.
Und so schauen wir auf das Kreuz - an diesem Karfreitag. Wir schauen auf das Kreuz - inmitten einer Welt, in der Gewalt und Hass bis heute kein Ende gefunden haben.
Wir schauen auf das Kreuz - inmitten einer Welt, in der Menschen Tag für Tag aneinander schuldig werden. Und wir spüren: wir sind mitten drin in diesem verhängnisvollen Geschehen, drehen mit an der Spirale Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Wir schauen auf das Kreuz - und können von dort her den Mut und die Kraft dessen in uns aufnehmen, der gezeigt hat, dass es anders gehen kann zwischen den Menschen,
dass das Böse mit Gutem überwunden werden kann,
dass gesegnet, statt geflucht werden kann,
dass Liebe Feindschaft überwinden kann.
Dass es allemale besser und Gott gemäßer ist, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun.
Jesus wurde von Gott bestätigt in dieser Haltung durch die Auferstehung.
Das Kreuz Jesu ist das Zeichen menschlicher Gewalt und Schuld. Es ist Zeichen auch dafür, dass der Frieden nicht billig zu haben ist. Und es ist zugleich Zeichen dafür, dass das Verhängnis von Rache und Vergeltung von Gott her durchbrochen ist.
Frieden ist möglich in unserer Welt.
Jesus hat stillgehalten - damit wir Frieden haben.
Amen.
Karfreitag 29.03.2013 Matthäus 27,33-50 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag 29.III.2013
Matthäus 27, 33-50
Liebe Gemeinde!
Der häufigste Tag ist der Karfreitag. …. Nicht für uns vielleicht. Wir halten ihn nur einmal jährlich. Halten ihn nur ein einziges Mal im Jahr aus.
… Aber Millionen hier und Milliarden weltweit erleben tagtäglichen Karfreitag.
Allerdings nicht nur weil es so jämmerlich viele Menschenleben gibt, die aus lauter Blut-und-Wunden-Tagen bestehen; nicht nur weil es so überwältigend großes, gnadenloses Unrecht, so viel Gewalt, Elend, Folter und Mord in der globalen Gegenwart gibt.
Sondern auch da, wo niemand auf die Idee käme eine Leidensgeschichte zu vermuten, ist siebenmal die Woche Karfreitag. Das Geschehen auf Golgatha ist nämlich grauenvoll zeitgemäß in seiner lähmenden Mischung aus Betäubung, Brutalität und Zynismus.
Das fängt bei dem narkotisierenden Trank an, den Jesus ausschlägt, als ihm Wein mit Galle vermischt angeboten wird. Er weigert sich, seine letzten Erfahrungen vernebelt zu erleiden: …. Aber wie viele Menschen halten dem Alltag ohne diese oder jene Dämpfung oder Steigerung gar nicht stand: Helfer zum Munterwerden und zum Entspannen, etwas gegen Schmerzen und etwas gegen Lustlosigkeit und etwas für die Leistung und etwas für die Schönheit und diese oder jene medizinische, kosmetische, psychopharmakologische Unterstützung, damit man dem Leib und dem Leben nicht allzu nackt und trist begegnet. Und dann natürlich die Medien, die längst genau das nicht mehr sind – keine „Mittel“ –, sondern Zweck und Waffen, um mit der Wahrheit nie allein zu sein.
Es gibt viel Karfreitag auf der Welt, … viel Rausch und Galle. ———
Doch giftiger und trauriger als das, was Menschen sich von außen zuführen, ist die hämisch ätzende Gemeinheitsbrühe ihres Inneren, die nach außen schwappt und suppt.
Die Lästerungen und der Sadismus, die Jesus an den dornzerfetzten Kopf geworfen werden und sein Kreuz umschwirren, sind so beängstigend lebensecht unserm heutigen Maul abgeschaut und abgelauscht, dass man meint, das Mikrophon habe uns in unserer Stadt aufgezeichnet: Der kalte Grundton angesichts fremden Leids ist haargenau der selbe.
… Opfer, deren Hilflosigkeit nicht zu übersehen ist, kriegen auch bei uns den Triumph derer zu hören, die nicht in vergleichbarer Misere stecken: „Wenn ihr nicht so viel quatschen würdet, sondern machen, dann hättet ihr eure Chance. Der du den Tempel zerbrichst und baust ihn in drei Tagen: Warum lässt du dich so hängen? Schau uns an. Was wir sind, verdanken wir auch nicht dem lieben Gott oder den guten Menschen! Hilf dir selber!“
– Es ist die alte Satansliturgie, mit der die ohnehin schon Geschwächten als die Sündenböcke feierlich teilnahmslos aus der Gemeinschaft der Glücklichen ausgestoßen werden: Selbst schuld, wer Pech hat. Wir andern sind schließlich ja auch unseres Glückes Schmied.
Dieser geisteskranke Wahnsinnsgedanke, dass Unglück eine verdiente Strafe und umgekehrt Erfolg also der Lohn des tüchtig Frommen sei, … dieser kranke Wahn, den man früher den Juden und dann den Calvinisten unterstellte – ist der nicht der allgemeinste Aberglaube und Abwehrzauber der menschlichen Natur?!
Halt Abstand zu den Armen: Ihr Los ist ansteckend. Löse die Finger der Ertrinkenden vom Rand deines Floßes! Prügel den Hungrigen fort vom Fressnapf. Vergiß die Sterbenden möglichst schnell, so lange du selbst noch die Sonne siehst.
… Aber wie tief unter dem Gefrierpunkt liegen die Köpfe und Herzen derer eigentlich, die nicht merken, dass sie mit einer solchen Haltung Doppelmord begehen – indem sie Gottesfurcht und Menschenliebe auslöschen – und dazu noch einen aufgeschobenen Selbstmord?
Wer die Predigt: „Hilf dir selbst! Steig’ herab vom Kreuz!“ wirklich ernst meint, hat ja sein eigenes Todesurteil unterschrieben. … Denn der Tag kommt, an dem auch Du Dir selbst nicht mehr helfen kannst.
Aber bis dieser Tag kommt, leben viele unverdrossen ständig wie am Stammtisch Golgathas … voll Verachtung und aggressiver Rücksichtslosigkeit gegen das Leiden und die Leidenden.
Es gibt viel Karfreitag in dieser Welt. ———
Doch das Karfreitäglichste an der Welt ist noch ein drittes, neben dem Nebel und neben der Kälte, die die Wahrnehmung und das Mitgefühl so Vieler beherrschen.
Am tiefsten ist der Karfreitag in die Welt eingedrungen und hat sich eingenistet in den Gedanken und Gewohnheiten der Menschheit an der dritten Stelle, an der Jesus nicht mit dem Werkzeug der Nägel, Dornen, Becher oder Speere gequält wird, sondern unmittelbar durch Hand und Mund der Lebendigen.
Dieser dritte endlose Karfreitag entsteht durch die völlige Entfremdung von Gott, die sich bereits auf der Schädelstätte bei der Zuschauermenge zeigt.
In der albtraumhaften Manege, die das Spektakel dreier vermutlich sehr verschiedener gewaltsamer Sterbeprozesse einkreist, … in einer realen Situation also, die in der Kunst als „in tormentis“, „in angustiis“, „in extremis“ bezeichnet würde – weil der Horror von Folter, Angst und Krepieren sich so unmittelbar physisch aufdrängt – in dieser Situation zerreißt ein Schrei die Geräuschkulisse des Hinrichtungsjahrmarkts.
Es mag kein sehr lauter Schrei gewesen sein, den der sterbende Nazarener da seinen eingequetschten Lungen entrang, die durch das von den Handgelenken her lastende Körpergewicht zerdrückt und von Wasser vollgelaufen waren.
Aber er röchelte doch in so wilder, letzter Angst, dass alle es hörten …. und niemand ihn verstand!
… Er schrie! – Und was wird er wohl geschrien haben? – Doch das gleiche, was die Leute heute noch unwillkürlich in den höchsten Tönen und letzten Zügen schreien: „Mein Gott!“, schrie er. „Eli! Eli!“
– Das kann man gar nicht so galiläisch vernuscheln, das kann man nicht einmal mit der gesprungenen Stimme des unter den Zähnen der Wölfe zusammenbrechenden Lammes so verzerrt ausstoßen, dass die Hörerschaft es nicht einordnen könnte. ….
… Es sei denn, das Wort, das jeder der Hörenden im Notfall auch auf seinen Lippen gehabt hätte, wäre unter gewöhnlichen Umständen für sie alle ein Fremdwort, ein Wort der Vergessenheit, ein totes Wort, das im Leben nichts bedeutet. …..
„Eli! Eli!“:
Diese beiden Silben, dieses letzte Klagegeheul des unumkehrbar in die Nacht und Totenstille weichenden Odems, dieser kreatürliche Erzschrei der wehrlosen Sterblichkeit ….. wer kann den missverstehen?
Wem kann der Sinn dieses Seufzers, wem kann die aufgebäumte Ursehnsucht, am Ende nicht einfach so restlos verlassen zu werden ... wem kann das fremd sein?
….. Vielen!
Unvorstellbar vielen.
Denn zumindest unser Deutsch für „Eli! Eli!“ - das Wort … und die Sache „GOTT“ - ist so etwas wie ein verlorener kleiner Asylant in der Fremde unter uns. Manche sind noch sehr freundlich zu Gott, weil seine Rechte so unklar sind, dass man nicht wissen kann, ob er nun hier bleiben darf oder demnächst sehen muss, dass er fortkommt. Manche sind sogar geradezu betonte Fürsprecher des Gottes, dessen unsicherer Aufenthaltsstatus ihn der Sympathie der moralisch und politisch Empörten empfiehlt.
Aber die allermeisten kennen ihn nicht, können ihn nicht zuordnen. Würden ihn nicht bemerken, wenn er neben ihn ginge. Könnten ihn darum aber auch niemals vermissen, weil sie ihm nie begegnet sind. Ihre Hände sind rein vom Blute Gottes. Sein Schicksal betrifft sie nicht im entferntesten. Gott ist spurlos für sie. Ob da, ob fern: Was tut’s?
Es ist kein Gott in ihrer Welt. – Das sind jene, die einen unschuldig zu Tode Gequälten seinen Todesschrei ausstoßen hören … und ihn nicht verstehen! …. „Der rufet den Elia! Oder den Kuckuck. Oder die Polizei. Oder das Auswärtige Amt. Oder den Herrn der Ringe. Oder den Schlagersänger aus Prag. ……“
Es gibt so unendlich viel Karfreitag in einer Welt voller Menschenleben ohne Gott! —
Doch so sehr die beiden anderen Karfreitagstragödien zu beklagen und zu beheben sind – so sehr also die durch die Sünde gestörten und verdorbenen Züge im Verhältnis des Menschen zu sich selbst („Rausch und Nebel“) und im Verhältnis zu den Mitmenschen („Hohn und Kälte“) nicht unverändert hingenommen werden sollen –, so sehr ist das dritte Karfreitags-elend nicht aus der Welt zu schaffen. Im Gegenteil!
Die Fremdheit Gottes, seine Unerkanntheit, sein Verschwinden und Vergehen unter uns Menschen sind ja der wahre Inhalt des Karfreitag!
Denn so sehr es mich und andere graust, wenn wir uns ein Leben ohne Gott vorstellen, … wenn wir denen begegnen und uns in sie hineinversetzen, die tatsächlich nur unklar über sich und hart über andere urteilen können, weil sie den Anwalt des Menschen und den Fürsprecher der Schwachen – Gott also – nicht kennen: so wenig eignet sich doch dieser Tag dazu, eine Anklage gegen den Atheismus oder eine besserwisserische Schelte der Atheisten zu betreiben.
Umgekehrt.
Mit Golgatha vor Augen, können wir nur auf weichwerdenden Knien und mit beschleunigtem Puls bekennen, was es für eine Gnade ist, diesen Tag nur einmal im Jahr feiern zu müssen: Diesen Tag, der uns vor Augen stellt, wie nahe wir alle an der Katastrophe waren, die uns aus der traurigen Ahnungslosigkeit des Atheismus entgegenweht und unseren Verstand aussetzen, unser Herz erfrieren lässt. …….
Wie es wohl wäre, wenn Gott für immer ausgeschaltet und verschwunden wäre?! Wenn er ausgelöscht und begraben worden wäre?!
Wenn die Welt tatsächlich das wäre, als was sie so vielen Menschen erscheint: Das Grab Gottes, der Schauplatz einer versunkenen Epoche des Glaubens, deren Hauptfigur das Schicksal der Dinosaurier erlitt?
Kann man sich vorstellen, wie es wäre, wenn unsere Zeitrechnung vom Karfreitag herkäme? Wenn mit diesem Tag ein neuer Abschnitt der Universalgeschichte begonnen hätte: Nach der „Stunde Null“ kein Gott mehr, … nirgends, … nie wieder?!
Wenn der berühmte Traum Jean Pauls Wirklichkeit geworden wäre, …. jener Traum, in dem der tote Christus vom Weltgebäude herab hinausschreit:
„Es ist kein Gott! … Wir sind alle Waisen …“
……. Dieser Schreckenstraum, der auf Hegel und Nietzsche so tief gewirkt hat.
Was für eine fiebrige Vision – ausweglosester aller Albträume für meine Begriffe, Erstickung des Sinns im Wort „Mensch“, im Begriff „Geist“ … für andere dagegen die Selbstverständlichkeit schlechthin, in der sie leben: Es ist kein Gott!
Dabei wäre das eigentlich jedoch das unwiderrufliche Ergebnis des Karfreitag: Selbst wenn man es nicht wagen wollte, mit dem alten Dichter Johann Rist (1607-1667) tatsächlich die Zeile seines Karfreitagsliedes zu singen, in der es heißt:
„O große Noth! / Gott selbst ligt todt, / Am Creutz’ ist er gestorben.“
Diese Not bei Gottes Tod: Das ist der ungeheuerlichste Reim, den man sich je in der ganzen Christenheit auf den heutigen Tag gemacht hat.
Und dieser von all den vielen theologischen Paradoxien unaussprechlichste Gedanke hat seine Wurzeln tatsächlich hier, in dem Boden, auf dem wir stehen, weil Johann Rist ein Lied und eine Melodie abwandelte, die auf Friedrich v.Spee, den Sohn Kaiserswerths zurückgehen:
„Wer hett diß mögen dencken? /
Daß der Mensch sein Schöpffer solt / An das Creutz auffhencken?“
Sollte jemandem allerdings dieser undenkbare Gedanke vom menschlichen Mord an Gott nicht nachvollziehbar sein, so bietet das Karfreitagsevangelium doch keine annehmbarere Hoffnung. Wenn Gott den Menschen nicht als seinen Henkern erlag, dann kam er ihnen dennoch an diesem Tag abhanden: Der wahre Mensch erfährt sich als von Gott verlassen und alle anderen, ebenso Gottverlassenen empfinden nicht einmal eine Störung, einen Schmerz, eine unheilbare Wunde: „Gott? Ach was! Unterhaltung! Zirkus! Mal schau’n, ob noch was wirklich Aufregendes passiert …“ ———
Karfreitag: die Welt ohne Gott. Ohne Wahrheit. Ohne Mitleid.
Galle, Spott und Taubheit.
Nicht auszuhalten.
Für viele von uns nicht einmal auszudenken.
Und für Unzählige einfachste Tatsache. —
Was für ein schrecklicher, verstörender Tag.
Was für eine große Not, das Leiden Christi … und die menschliche Nutzlosigkeit … und Gottes Abwesenheit, Seine Verborgenheit so zu erleben.
Aber auf ein bloßes Erwachen aus diesem Albtraum zu hoffen – als wäre dann nichts von alledem geschehen und alles wieder gut –, nun, das wäre lächerlich.
Die Welt ohne Gott ist keine Einbildung. Wir spüren sie heute.
Aus dieser Not, Verdammnis, Verzweiflung retten wir uns selber nicht.
Auch keine Geduld. Nicht die Vernunft. Nicht ein neuer Morgen.
Hier kann nur Einer retten.
In dieser tiefsten Not, in der ER so unendlich fehlt und der Mensch so unendlich verloren ist, hilft nur:
Gott.
Amen.
Judika 17.03.2013 Johannes 11,47-53 Stadtkirche + Mutterhauskirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Mutterhauskirche 17.III.2013
Johannes 11, 47-54
Liebe Gemeinde!
Ist es gut, wenn einer für uns stirbt? ………………
– Natürlich nicht, möchten wir sofort antworten.
Es ist schrecklich, wenn jemand sterben muss, um anderen das Leben zu ermöglichen. ——
Zu diesem klaren Gedanken und Gefühl kommen wir alle wahrscheinlich in Windeseile.
Keiner von uns würde es ja jemals ohne Gewissensbisse und verzweifelte Not dulden können, wenn bei der Verlesung unseres Todesurteils ein Fremder aufspränge und riefe: „Lasst ihn nur! Ich geh’.“ Denn trotz aller Erleichterung stünde uns sofort die Schuldlast vor Augen, die uns mit dem um diesen Preis geretteten Leben erwartete.
Wie glücklich sind wir doch, wenn wir uns einbilden können, unschuldig zu leben. …..
Doch können wir’s?
Im März 1855 musste Pastor Johann Gottlieb Nourney in der reformierten Kirche zu Baerl am Niederrhein eine schreckliche Grabrede vor seiner erschütterten Gemeinde halten: Vor ihnen standen die Särge einer Mutter mit ihren fünf Kindern, daneben – versteinert – der leid- und schuldgeprüfte Witwer und Vater.
Er hatte für die Seinen stolz und selbstsicher ein neues Haus gebaut.
Als der Februar und März damals vor 158 Jahren die hiesige Landschaft mit ungewöhnlich grimmiger Kälte heimsuchten und dann der Rhein bei einsetzendem Tauwetter unter der dicken Eisdecke in unheilvolle Bewegung geriet, verließen die Bewohner der alten Ortskerne in Ufernähe ihre Höfe. Der verblendete Eigentümer des stattlichen Neubaus aber blieb trotz aller Warnungen in den vermeintlich sicheren, jüngst errichteten Mauern.
In der Nacht vom 1. auf den 2.März brach der Eispanzer, die Schollen schossen mit tod-bringender Wucht auf dem Flutwasser über die Ufer, von Homberg bis Xanten gellten die Glocken Sturm … und das Haus des unglücklichen Starrkopfes wird vom Eisgang wie mit der Sense abgemäht. Er selber hält sich an den Zweigen eines Baumes fest; Weib und Kinder aber reißt der Strom davon und treibt ihre Leichen meilenweit über’s Feld.
Auf dem großen Grab, in das sie gesammelt wurden, steht bis heute:
„In diesem Grabe ruht Elisabeth Schmitz mit ihren fünf Kindern Catharina, Christina, Adolf, Hermann und Anna. Sie wurden bei dem verheerenden Eisgang und dem dadurch entstandenen Dammbruche am 2.März 1855, morgens 3 Uhr, mit den letzten Trümmern ihres zerstörten Hauses von den Fluten fortgerissen. Drei der Kinder nahm die gewaltige Hand des Herrn im Schlafe weg. Wachet, denn ihr wisset nicht, welche Stunde der Herr kommen wird.“ —
Auf diesem Grab blüht das Leben meiner Kinder.
Denn der Witwer heiratete später erneut. Aus der zweiten Ehe stammte die Urgroßmutter meiner Frau.
Ohne die Tragödie der sinnlos ertrunkenen Kinder wäre mein Glück also nie möglich geworden!
Und so steht hinter jedem einzigen Leben immer auch Tod: Historisch haben uns Unzählige den Weg geebnet, indem sie selbst litten und untergingen und den Nachkommen der Glücklichen und Gewinner ihre Plätze einräumten.
Ökonomisch liegt es nicht anders: Gedeihen können die einen nur, weil die anderen ihnen mit dem eigenen Leben den Acker düngen.
Wir sollten also vorsichtig sein, wann immer wir hören oder meinen, es sei nicht nötig, dass jemand für uns stirbt.
Zwar betrachten wir’s nicht gerne. Aber in Wahrheit schlagen wir’s dennoch nicht aus, ja wir können gar nicht verhindern, dass andere für uns persönlich das Leben lassen! ——
Doch dieser unheimliche Hintergrund unseres Atmens und unserer Freude wird immer wieder in flammend helles Licht getaucht, wenn wir Jesus den Mann der Schmerzen, wenn wir Jesus das Opfer des Todes werden sehen. Denn über dessen Passion steht das Wort, dem wir ausweichen wollen und das uns doch durch die Jahrtausende verfolgt:
„Es ist euch besser, dass ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe.“
Ist es also gut, wenn Jesus für uns stirbt?
Hat Kaiphas diesen mehr als doppeldeutigen Satz tatsächlich als Prophet gesprochen, wie der Evangelist Johannes es uns zu verstehen gibt?
Politisch hatte Kaiphas allemal Recht: In seiner besonderen Verantwortung als geistliches Oberhaupt eines besetzten Landes, musste er die schwere Entscheidung treffen, wie mit der Hoffnung und Erregung umzugehen sei, die durch Jesus geweckt wurden.
Dabei eher ein Opfer zu riskieren, als einen Aufruhr sich entwickeln zu lassen, der die ganze Gemeinde Israels in eine Katastrophe stürzen konnte, war ein Gebot der politischen Vernunft.
Wie zutreffend seine Sorge vor römischer Rache an etwaigen Aufwieglern war, sollte Kaiphas nicht mehr erleben, aber die Ereignisse des Jüdischen Krieges dreiunddreißig Jahre später erfüllten seine schlimmsten Befürchtungen.
Und doch bleibt alle politische Vernunft zynisch, wenn sie die nützlichen und die nachteiligen Tode unterscheidet.
Der prophetische Sinn der Worte, dass es besser sei, wenn Jesus für das Volk sterbe, muss also ein anderer als ihr politischer Sinn sein.
Und tatsächlich weist Johannes ja in jene Richtung, in der sich die ganze Fülle des vor Kaiphas selbst verborgenen Sinnes seiner Entscheidung finden soll: Es wird Jesu Tod nämlich – so schreibt’s der Evangelist – nicht nur dem einen Volk, sondern der Einheit aller Völker dienen, „damit er die zerstreuten Kinder Gottes zusammenbrächte“.
Leid und Kreuz und Tod Jesu werden also eine Sammelbewegung, eine Familienzusammenführung auslösen, die den Kindern Gottes das Wiedersehen und Heimkehren ermöglichen.
Das Sterben Jesu wird die Vereinzelten vergemeinschaften, es wird die Entfernten annähern, wird die Getrennten kitten, die Isolierten einbeziehen und die Verschwundenen zurück in die Wahrnehmung der anderen bringen.
Jesu Sterben wird ein Signal werden, dass alle Kräfte, die zersprengten, der gegenseitigen Anziehung weichen müssen. Jesu Sterben wird den Durchbruch schaffen, der die nur sich selbst Überlassenen zu einer Gemeinschaft formt. Jesu Sterben wird aus Alleingängern Weggefährten machen.
Doch wie das? Zerbrach denn nicht etwa auch der engste Kreis, der sich um Jesus geschart hatte, als es mit ihm zu Ende ging?
Zerfiel nicht etwa, nachdem seine Familie sich längst aufgelöst hatte, in den letzten Stunden vor seinem Tod nahezu alles, was Jesus an zwischenmenschlichen Bindungen besaß?
Wurde auf Golgatha nicht alles zerstört, was an einen Bund erinnern könnte – obwohl Gott doch der Bundesgott ist, ein Gott, der nicht in sich alleine lebt, sondern in Verbindung und Zuwendung zum Menschen?
Wie kann das Kreuz zu jenem „Zeichen für die Völker“ werden (Jes1112), von dem schon Jesaja in der Weissagung von der Wurzel Jesse spricht: „Gott wird ein Zeichen aufrichten unter den Völkern, und zusammenbringen die Verjagten Israels und die Zerstreuten Judas sammeln von den vier Enden der Erde“?! ……
Wie wird das Kreuz zu diesem Zeichen?
In diesem Jahr 2013 feiern – eher sollte man sagen: „bestaunen“ – die Kirchen kopfschüttelnd eine eigenartige geschichtliche Caprice: Vor 1700 Jahren nämlich ereignete sich jene sog. „konstantinische Wende“, die den weströmischen Kaiser Constantin veranlasste, mit seinem oströmischen Gegenüber in Mailand eine Vereinbarung zur straflosen freien Religionsausübung ausdrücklich auch der Christen abzuschließen.
Dass da die leidenschaftliche Christusliebe oder Frömmigkeit des Kaisers gesiegt hätten, nimmt kein Mensch mehr an.
Eher war es der Aberglaube eines militärischen Haudegen, der seinen Sieg über einen Konkurrenten an der milvischen Brücke auf ein sonderbares Wetter-zeichen zurückführte.
Die heidnischen Geschichtsschreiber verbreiteten, im Sonnenglanz sei dem Konstantin der schöne Gott Apoll begegnet. Die kirchennahen Berichterstatter aber deuteten das solare Phänomen als Kreuz und prägten den Satz, der die Vision begleitet haben soll: „Εν τούτω νίκα / In hoc signo vinces“ ~ „In diesem Zeichen sollst du siegen.“
Fortan diente das Kreuz des Heilands als Standarte auf endlosen Schlachtfeldern der Erde. Aber fortan konnten, sollten unendlich viele Menschen auch dies erfahren: Auf jenem Kampf- und Sterbeplatz, den wir die „Welt“ nennen, hat am Kreuz die Liebe alles andere besiegt.
Doch dieser Sieg und Sinn im Kreuz: Der ergibt sich nie und nimmer daraus, dass man seit tausendsiebenhundert Jahren dem Zeichen überall begegnen, manchmal kaum entrinnen kann. Die konstantinische Wende – wenn sie denn wirklich etwas zum Feiern sein sollte – die steht uns noch bevor.
Es steht nämlich immer noch ganz unentschieden um die Frage, ob das Kreuz Jesu und sein Sterben ein gutes Zeichen und eine frohe Botschaft sind.
– Damit ist nicht gemeint, dass die Heilswirksamkeit, die Erlösungskraft in der Lebenshin-gabe des Herrn fraglich wäre: Ohne Christi stellvertretenden Tod wär’ die Welt vergangen – das ist gewiss, wenn wir die Schuld- und Schreckenslawinen betrachten, die jeder unserer Schritt unbedacht auslöst, wenn wir die dunklen Spuren bemerken, die sich zu und hinter jedem von uns noch absichtslos durch’s Leben ziehen.
Wenn wir nicht glauben dürften, dass alles das unterbrochen und abgewandt wird durch die Liebe, die sich selbst für uns in die Bresche wirft, dann bliebe nur Verzweiflung!
Aber ob die Erlösung durch den Tod Jesu das Kreuz auch wirklich zu einem verbindenden Zeichen macht, zu einem Sinnbild, anhand dessen Menschen sich erkennen und zu einander finden, … ob das Kreuz der Wegweiser wird, der die überall lebenden Kinder Gottes zusammen führt: … Das liegt an uns! Das ist die unerwartete Wendung, die konstantinische „Wende“, die wir dem Holz, an dem Jesus litt, verleihen können.
Wie?
– Indem wir die Erlösung durch dieses Kreuz eben als das gemeinsame Merkmal der Gottesfamilie betrachten. Wenn wir doch zu denen gehören, die am Kreuz die eigene Rettung durch die Liebe Gottes erkennen, dann muss das unseren Blick und unser Gespür für alle anderen Kinder Gottes ja grundlegend prägen.
Es darf dann niemanden mehr geben, den wir nicht von daher betrachten: „Der für mich gestorben ist, der ist ja auch für Dich gestorben!“
Wir müssten jeden Menschen – einerlei ob er uns unmittelbar oder ganz indirekt berührt – wir müssten jeden Menschen denken und sehen können als Träger dieses Zeichens.
Da, wo die Inder an der Stirn ihre Segensmuster über der Nasenwurzel tragen, da wo die Esoterik in platter Albernheit das „dritte Auge“ hingeheimnist, da müssen wir Gottes Hand die Familienähnlichkeit aller Menschen einzeichnen sehen: Denn diese Familienähnlichkeit der Menschenkinder erschöpft sich nicht im aufrechten Gang, in sprachlicher Gewandtheit, elementaren Bedürfnissen und allgemeinmenschlichen Regungen, sondern sie besteht in einem Zeichen, das schon Kain erhielt (vgl. 1Mose415). Der erste Mensch, der schuldig lebte, weil er einen anderen das Leben kostete, trug Gottes Hieroglyphe an der Stirn, das geheime Abzeichen der Gnade und Vergebung der Sünden. Das ist das Kreuz.
Und das letzte Buch der Bibel greift das Schutzzeichen ausführlich auf, wenn es von den 12 x 12 000 – also den unendlich Vielen aus den Stämmen Israels und den Scharen der Apostel – spricht, die damit versiegelt sind: 144 000 – das Tausendfache des Quadrats der rundesten heiligen Zahl – tragen das Zeichen, von dem es am Ende aller Offenbarung heißt, es werde den Siegern auf der Stirn stehen (vgl. Offenb.7; 14; 223f).
Das aber wäre ja heute schon der Sieg im Zeichen des Kreuzes, das wäre der Anfang und die Vollendung des konstantinischen Zeitalters der Kirche, wenn wir so grenzenlos und massenhaft das Gütesiegel Gottes, das Zeichen der Begnadigung auf den Gesichtern und in den Zügen der Menschen lesen würden. Wenn wir niemanden anschauen können, ohne zu erkennen: „Dich hat Gott freigesprochen! Dir ist vergeben! Du bist erlöst!“
Wenn wir einander das Kreuz Jesu ansehen und zu jedem sagen können: „Du bist so geliebt, dass der Höchste aus lauter Liebe zu Dir stellvertretend für Dich sterben ging!“ – wie wunderbar wirkt sein Tod sich dann schon hier und heute unter uns aus!
Dem letzten Sieg über den Tod gingen wir dann immer noch entgegen.
Die Auferweckung der ertrunkenen Kinder, die Tröstug der Untröstlichen: das alles haben wir ja noch vor uns.
Aber heute schon allen Menschen die Gotteskindschaft und die erlösende Liebe Jesu anzusehen: Was für ein Triumph der Gnade! Was für ein Segen seines Sterbens!
Was für eine Gemeinschaft, wenn wir bekennen: Jeder hier ist Gott Sein eigenes Leben wert!
Amen!
Invokavit 17.02.2013 Lukas 22,31-34 Stadtkirche & Jonakirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona Invokavit – 17.II.2013
Lukas 22, 31 – 34
Liebe Gemeinde!
Goethe und Schiller hatten wohl eine, Marx und Engels gewiß auch, Sherlock Holmes und Dr.Watson ebenso. Friedrich der Große suchte sie verzweifelt mit Voltaire; ein Leben lang verband sie Karl Barth und Eduard Thurneysen, die schweizerischen Dorfpfarrer, von denen einer zum Kirchenvater des 20.Jahrhunderts wurde. Herr Netzer und Herr Delling haben keine. …………. Es geht um das Geheimnis des einst als stark betrachteten Geschlechtes: Die Männerfreundschaft. Von deren Rätseln oder Plattitüden soll hier allerdings, im gemischten Kreise der Geschwister, gar nichts ausgebreitet werden.
Nur so viel: Petrus hätte gern ….., er wäre gern ….., er meinte es aufrichtig und glühend …. Es war die Männerfreundschaft seines Lebens, die ihn mit dem Meister verband, der einst seinen Alltag und seine Familie schlicht zerbrochen und etwas eigenartig Einzigartiges an dessen Stelle gesetzt hatte: Keine schwankenden Nachtschichten mehr auf dem Genezareth, sondern Abenteuer und Stürme einer ganz anderen Art schmiedeten Simon und den fremden Freund zusammen. Kein bescheidenes Wirtschaften mehr gemeinsam mit Weib und Schwiegermutter und dem Bruder Andreas, sondern ein Vagabundenleben unter den Ärmsten der Armen, selbst verwahrlost und dennoch begeistert unzertrennlich an der Seite des magnetischen Menschenfreundes. Petrus musste Ihn zwar teilen mit allen, die Ihm über den Weg liefen und in die Spur Seiner Nachfolge gerieten, aber dennoch blieb ihm das tröstliche Bewusstsein, dass er der erste war, den Jesus in diesen neuen Bund gerufen hatte.
Mochte ein Johannes dem Meister auch näherstehen: Unausgesprochen hatte er, Petrus doch die Rolle des getreuen Eckart.
Wenn’s drauf ankam, verließ der Meister sich auf Seinen Felsen (vgl.Matth1618!).
Dazu hatte Er ihn schließlich ernannt. ….. Petrus wollte dieser Auszeichnung würdig sein. Felsenfest. Blutsbruder! Waffenkamerad!! ….. Und das ganze Lied der oft so gefährlich gefühligen, aber seelisch nicht reifen, sondern meist bloß halbstarken Männerbündelei: Ehre, Treue, … Untergang ….. ———
Das ist jedenfalls in etwa die Atmosphäre, in die hinein das quälende Wort ergeht von Satans Interesse daran, die zwölf Mannen Jesu einmal auf ihre Tauglichkeit zu prüfen.
Diese Zwölf haben eben gerade das Abendmahl genommen: Das Brot, den Kelch, in denen das Leben ihres Freundes und seine Liebe ihnen durch dessen Sterben geschenkt werden.
Aber sie begreifen es nicht.
Unmittelbar nach dieser Feier der freiwilligen Hingabe erhebt sich unter ihnen ein Zank, wer von ihnen sollte für den Größten gehalten werden (vgl.Lk2224)!? Man fasst sich an den Kopf!
Buchstäblich bereits auf dem Weg des stellvertretenden Leidens messen sie ihre Kräfte wie die Schulbuben. Lukas erwähnt dabei nicht einmal gezielt, wie krawallgeneigt ausgerechnet Petrus sich in dieser Stunde zeigte, zunächst durch sein Maulheldentum – „Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen“ – , anschließend dann durch dumpfe Reflexe, als er tatsächlich sein Schwert zog und dem erstbesten Opfer in einem völlig ungeübten Streich das Ohr verletzte (vgl.Joh1810).
Offenbar wollte Lukas diese unrühmlichen Flecken auf dem Namen des ersten Jüngers nicht verstärken. Vielleicht war ihm eine so bedingungs- und manchmal auch besinnungslose Anhänglichkeit ja auch selber vertraut durch seine eigene enge Freundschaft mit Paulus. ——
Ohne Zweifel aber war die Stunde zwischen dem Abendmahl und dem einsamen Gebet vor der Gefangennahme in Gethsemane aus Sicht des Simon Petrus die entscheidende Bewährungsprobe jener Freundschaft zwischen Jesus und ihm, für die er alles riskieren zu können meinte.
Eine Sternstunde: Jene Frühlingsnacht, in der höchste Nervenanspannung, elektrisierende Tatbereitschaft in der Luft des Gartens lagen und vom fernen Gebrause und Dröhnen der Festmenge in der Stadt noch angeheizt wurden.
……. Eine Männerstunde! Echte Kerle reden nicht viel drum rum! Echte Kerle machen!
— Wie schrecklich da der nasse Lappen ist, den Jesus in diese brenzligen, adrenalingesättigten Augenblicke vor der letzten Kraft- und Freundschaftsprobe klatschen läßt.
Wie aus dem vollgepumpten Schlauch alles entweicht, wenn er einen noch so kleinen Stich empfängt, …. so lässt Jesus aus der grimmigen Entschlossenheit im Angesicht der Herausforderung allen Druck entweichen, indem er tut, … nein, indem er sagt, was in einer landläufigen Männerfreundschaft restlos tabu ist: „Ich hab für dich gebetet!“
……. Petrus, der zum Heldentod bereite Waffenbruder findet sich neben einer Betschwester wieder!? —
„Ich hab für dich gebetet“, das bedeutet doch: Alleine schaffst Du’s jetzt nicht mehr!
„Ich hab für dich gebetet“, heißt: Trotz aller deiner Kameradschaft, trotz aller unserer Ebenbürtigkeit …. ohne anderen Beistand helfen selbst Du und ich einander nicht mehr!
„Ich hab für dich gebetet“, das ist die Rücktrittserklärung als Kumpel, dessen Wesen es war, jederzeit und fraglos mit dem anderen durch dick und dünn zu gehen.
Ab jetzt sind diese beiden siamesischen Sportsfreunde anders dran: Einer von beiden scheint Seelsorge zu brauchen.
…. Und das ausgerechnet dem „Felsen“! Simon - the Rock! - der lieber alles selber macht, … nicht einmal aushalten kann, dass Jesus ihm die Füße waschen will (vgl.Joh136-8).
Petrus, der Pack-An. ….. ————
Es hat etwas fast Pathetisches, dass dieser Wort- und Stimmungswechsel, der dem armen Peter schlagartig seine ganze Ohnmacht vor Augen führt, auf unsern evangelischen Kanzeln ausgerechnet in dieser Woche aufgenommen werden soll! …..
Eine Petersstunde ganz eigener Art hat die Welt ja nun am vergangenen Montag erlebt:
Da wird mit mir noch mancher andere evangelische Christ durch die Zähne gepfiffen haben, als der Nachfolger Petri in der Gemeinde zu Rom erklärte, dass er nicht den Helden- und Märtyrertod vor laufender Kamera sterben wolle, sondern das Erlöschen seiner Kräfte begriffen habe.
Für das, was man in seiner Gemeinde bisher als das Stellvertreter-Amt begriff, ist diese nüchterne Demut wohl eine unabsehbare Veränderung: Künftig wird auch an diese Rolle der marktgängige, der weltliche Erfolgs- und Leistungsmaßstab angelegt werden. Schade drum!
Doch auf der anderen, der menschlichen Seite ist der Rückzug des Petrusnachfolgers zugleich eine echte Predigt. Und zwar eine Mahnrede, die ausgerechnet indem sie sich ihm beugt sich genau gegen den Leistungs- und Erfolgsirrtum dieser Welt kehrt.
Denn mit dem Rücktritt von einem scheinbar unbegrenzt angelegten und aufgefassten Amt wird auf unmissverständliche Weise klar, dass alles sich erschöpft.
Und gegen diese Bauernregel und Kinderweisheit kämpft ein Großteil unserer Zeitgenossen doch so verbittert an: Die Begrenztheit und Endlichkeit aller Dinge und aller Mittel leugnen wir immer noch und phantasieren weiter vom Fortschritt und einem endlos erneuernden Wachstum.
Da braucht es schon einen alten Mann, dem Volksglaube und absichtliche Verleumdung schiere Allmachtsansprüche andichten, um die einfache Wahrheit im Nu zu enthüllen:
Nichts ist, das nicht zur Neige geht.
Es gibt keine Energiequelle und keine Kräfte, deren Vorkommen auf Dauer sicher wären. Es gibt keinen Schwung, der ewig währt, und jede Fähigkeit verbraucht sich, jede Möglichkeit wird von der Wirklichkeit schlicht abgenutzt. ——
Das muss der junge Petrus so schockhaft erfahren haben, als sein Freund ihm den ungezügelten Tatendrang verdarb und ihn statt in eine Entscheidungsrunde in’s Gebet nahm, dass ihn alle seine eben noch aufgeputschten Energien verließen.
Für ihn wurde Gethsemane nicht zum Ort der Schlacht, sondern des Schlafes; eines schlechten Schlafes, aus dem er hasenherzig genug hervorging, um während der ganzen langen Nacht schändlich zu versagen und den Freund zu verleugnen und zu verlassen.
Der junge Petrus war am Ende, ehe seine großen Taten überhaupt begannen.
Der alte Petrusnachfolger aber, der nun auch am Ende ist, hilft uns mit einer weiteren Lektion.
Mit der Lektion, die uns Evangelischen nicht fremd sein dürfte, dass es nämlich durch und durch richtig ist, wenn alles Menschliche begrenzt und vorläufig bleibt.
Die endlichen Gaben und die endlichen Aufgaben des Menschen müssen einmal eben auch enden. Das gilt für alles, was wir können, sollen und sind.
Lust und Kräfte schwinden, Geschick und Geduld nehmen ab, der Leidensfähigkeit sind ebenso wie der Leistungsfähigkeit gnädige - uns dennoch aber ärgerliche - Grenzen gezogen.
Es kommt die Zeit, die Salomo beschreibt (Prediger123ff):
„Wenn die Hüter des Hauses zittern und die Starken sich krümmen und müßig stehen die Müllerinnen, weil es so wenige geworden sind, und wenn finster werden, die durch die Fenster sehen, und wenn die Türen an der Gasse sich schließen, daß die Stimme der Mühle leiser wird … und alle Töchter des Gesanges sich neigen; wenn man vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege …, denn der Mensch fährt dahin, wo er ewig bleibt, und die Klageleute gehen umher auf der Gasse; - ehe der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht und der Eimer zerschellt an der Quelle und das Rad zerbrochen in den Brunnen fällt. Denn der Staub muß wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.“
Das zu bejahen, will schon etwas heißen! Aber nur, wer das zu lernen bemüht bleibt, wird bestehen können, wenn das Aufgeben und Verzichten und Verlassen an ihn kommt.
Wir Jüngeren können’s uns vielleicht noch kaum vorstellen, aber immer wieder gibt es ja tatsächlich Begegnungen und Lebensbilder, die uns diese Erfahrung glaubhaft machen:
Es kann ertragen werden, dass die Beweglichkeit des Körpers und des Geistes nachlassen; es kann ertragen werden, dass sie abnehmen – Gesundheit und Gleichgewicht und Glück und Gefühle.
Nur eins ist nicht zu tragen. Eine Traurigkeit droht, die jedes Lebensalter völlig sinnlos macht und erst recht das Lebensende in Bitternis taucht. Weil alles sich erschöpft, so erschöpft sich auch – wie oft erfahren wir’s! – das eine, das nottut:
Auch der Glaube kann nämlich zur Neige gehen!
Und das ist schlimm. Ebenfalls schlimmer, als dass wir Jüngeren es uns vorstellen könnten.
Doch von dieser letzten Anfechtung, von diesem letzten Gefecht redet Jesus in den wirren Augenblicken vor Gethsemane, die für seinen Freund Petrus bloß mit der Kampfeslust vor einer vermeintlichen Entscheidungsschlacht erfüllt sind.
Jesus dagegen hat ehe er um seine eigene Verschonung und das Vorübergehen seines Kelches bat, für den Glauben des Jüngers gebetet: In seinen letzten Stunden lässt er den Freund also doch nicht allein, sondern tut das alles Entscheidende. Er springt dort ein, wo wir alle hilflos ausgeliefert sind.
— Denn, dass wir im Glauben stehen, dass uns etwas wie Glaube im Herzen brennt, dass wir einen Funken, einen Strohhalm Glauben als Licht und Stab auf dem Weg behalten dürfen: Dafür können wir nicht selber sorgen, ….. noch weniger vorsorgen.
Glaube ist wie Manna: Wer meint, er hätte Vorrat genug, der kennt die Würmer nicht.
Dass uns also der Glaube nicht zwischen den Fingern zerrinnt, dass er uns unterwegs, kurz vor dem Ziel nicht ausgeht, dass wir von ihm wie vom täglich Brot immer neu zehren können … das hat niemand von uns in der Hand. Es kann uns nur gegeben werden.
Aber Der, an Den wir uns im Glauben halten, Der, Den wir nicht vor seinem Leid bewahren können, weil Er es braucht, um dadurch uns aus unserem zu retten: Der nimmt unseren Glauben in seine betenden Hände!
Und dieses Gebet ist sein Freundschaftsdienst, von dem wir alle zehren, so wahr wir sämtlich Petri Nachfolger, Jünger seines Meisters, Freundinnen und Freunde des großen, treuen Menschenfreundes Jesus sind!
Ja, dieses Gebet ist Petri und unser aller Heil!
Und es ist unser Auftrag, es ist unser aller Petrusdienst in allen Passionen, allen Leidenszeiten der jungen und der alten, der zweifelnden und enttäuschten und verängstigten und suchenden Menschen, dass wir einander mit dieser Botschaft der Menschenfreundlichkeit bestärken: Gott will nicht, dass wir glauben. Er will, dass wir glauben können!
Amen.
Sexagesimae 03.02.2013 Jesaja 55, 8-11 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Sexagesimæ - 3.II.2013
Jesaja 55, 8-11
Liebe Gemeinde!
Zeig’ mir doch jemand den Schnee von vergangenem Sonntag!
Vierzehn Tage lang lag Zauber über den Feldern und Vergnügen über den Hängen am Deich, und wie viele sind mir am Rhein begegnet, die mit den längst geschlossenen Augen des Künstlers in die Winterlandschaft sahen und gleichlautend seufzten: „Ist ja der reinste Clarenbach!“
– Und jetzt der fieseste Matsch …. was immerhin auch sehr rheinisch klingt.
Doch um den Matsch geht’s.
Denn der hat’s in sich.
…… Nur dass wir’s nicht sehen können.
Denn da gilt jede Wette, dass hier kaum ein richtiger Kenner und Genießer sitzt, der träumerisch in die aufgeweichte Pampe in Garten oder Flur greifen und wie der Landwirt sagen kann, was für ein Boden das ist und welcher Art Verheißung in der Krume schlummert, die für uns andere schlicht Dreck ist.
Aber so täuscht man sich: Der Schnee, der das Auge mit Glitzern erfreut, ist Oberfläche.
Erst unter der Erde, die wir peinlich genau auf der Fußmatte abstreifen und zuhause von den Händen spülen … erst im Dreck wird aus dem schönen Schnee etwas anderes als bloß eiskalte Pracht.
Im Unansehnlichen und Unsichtbaren wird Leben aus dem Leichentuch des Winters.
Was zunächst vor allem die alte, uns lebenslang nicht recht behagende Weisheit bestätigt, dass die Augen anfällig für Irrtümer sind und wir blind für das wirklich Wichtige bleiben.
Doch so moralisch, wie das immer klingt, zumal wenn es von Verblühten oder Hässlichen gepredigt wird, um den Hübschen und Stolzen in die Suppe zu spucken, will Jesaja mit seiner Wettervorhersage vom regnenden und schneienden Wort Gottes gar nicht verstanden werden.
Denn die goldene preußische Regel, dass noch die polierteste Schale billig ist im Vergleich zu einem echten Kern, muss man erst einmal lernen, auf Gottes Wort und Wahrheit anzuwenden, so wie das bei Jesaja im Bild von den himmlischen Niederschlägen geschieht.
Wenn dieses meteorologische Bild stimmt, dass die Botschaft, an die wir glauben, wie Regen und Schnee wirkt, dann bedeutet das ja: Dort, wo man sehen und spüren kann, wie Gott sein Wort ergehen lässt, dort ausgerechnet passiert nichts Entscheidendes.
Regengüsse, Wolkenbrüche, Schneetreiben, Flockenrieseln sind zunächst ja vor allem gut für die sensationsfreudige Presse, die aus jedem herbst- und winterlichen Wetter gleich ein „Chaos“ macht oder für die Poesie, die alles unterhalb des Gefrierpunktes zu Puderzucker, Silberstaub und Sternen verarbeitet. Hilfreich und sinnvoll wird aber alles, das da von oben kommt, eigentlich erst wenn es unseren Blicken entzogen und in’s Erdreich eingesickert ist.
Da, wo wir es nicht mehr als Augenweide, sondern nur noch als Schlamm wahrnehmen, … da wird, was aus den Himmeln fließt, zum lebenspendenden Segen: Feuchtet den Acker, macht ihn fruchtbar und erweckt ihn zum Leben.
Wenn Gottes Gedanken also wahrhaftig ganz anders sind als unsere, dann jedenfalls nicht nur, weil sie höher reichen, sondern auch weil sie tiefer gehen: Bis in Bereiche, die uns abstoßen, die wir uns nicht vorstellen mögen, weil wir Ekel vor ihnen empfinden.
Gott aber ist nicht so etepetete, dass Sein Wort und Atem nur die appetitliche Außenseite des Daseins mit leisem Hauch streifen sollen, sondern Sein Geist und Schöpferruf greifen mitten in den keimenden und fäulnistreibenden Kompost der Welt – ohne Mundschutz, ohne Handschuh: Gott durchdringt die Natur bis in die Gärungszustände von Ursuppe und Verwesung.
Fast scheut man sich ja, dem zartbesaiteten Gemüt auch nur die Anfangs- und Endgründe des biblischen Menschenbildes und seiner Beziehung zu Gott erklären:
Doch der scheinbar harmlose Satz, dass wir aus dem Stoff der Erde bestehen, dass Gott in den Modder griff, um uns daraus zu bilden – weshalb der Mensch „Adam“ genannt wird, weil die Ackererde auf Hebräisch „Adamah“ heißt – …. dieser harmlose Satz verursacht zunehmend flaue Gefühle.
In der Paradiesgartenerzählung ist es gerade noch erträglich, Mensch und Erde zu verbinden, aber auf dem Friedhof greift die große Verdrängung immer mehr um sich: Da soll lieber das hygienische Feuer verzehren, als das ekle Gewürm, und zum letzten symbolischen Gruß werden Blütenblätter verstreut wie im kitschigen Schaumbad– „Von Rosen bist Du genommen, zu Rosen sollst du werden“? – , weil der dumpfe Schlag der Erdscholle auf dem Sargdeckel zu sehr nach Tatsachen klingt.
Doch auch wenn unser Forscherdrang, der noch den befruchteten Zellkern durchleuchten will, ob dieser nun im Mutterleib weiterwachsen soll oder nicht …. auch wenn unser oft so schrankenloser Wissensdurst also zwei Meter fünfzig unterm Rasen abrupt seine Grenze findet: Gott erkennt solche Grenzen nicht an.
Sein Schnee- und Regenwort, seine Belebungskräfte, seine fruchtbringende Botschaft ziehen in die untersten Schichten der Erde ebenso ein, wie sie den Weltraum erfüllen und erhalten.
Insofern können wir in den nasskalten Matschwochen sechzig Tage und weniger vor Ostern an den aufgeweichten Fluren nur immer neu studieren, dass der Dreh- und Angel-, der Ausgangs- und Zielpunkt der biblischen Offenbarung und ihre unverwechselbare Eigentümlichkeit schlicht dies ist:
Die Stimme unseres Gottes dringt durch alles auf der Erdoberfläche hindurch bis in die unterirdischen Orte und wirkt auch dort Wunder.
Er schafft Leben aus Lehm und alle, die wieder zur Erde zurückmüssen, wird er auferwecken. —
Wem diese Mitte des biblischen Zeugnisses allerdings ein zweifelhaftes Rätsel bleibt, eine ferne Botschaft, der gibt damit immerhin dem Ausruf recht, den wir heute aus Gottes Mund hören: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege!“
Doch nicht nur die Verkündigung von der Auferweckung der Toten ist ja eine seltene Wetterlaune im gegenwärtigen kirchlichen Klima geworden – bizarr wie die diesjährigen Bilder vom Schnee auf dem Jerusalemer Felsendom –, sondern Bibel, Gottesdienst und Predigt insgesamt fallen eindeutig unter die allmählich aussterbenden Arten und Schauspiele im Kosmos des 21.Jhdts.
Denn mit dem Schwinden des Christentums – jedenfalls in der westlichen Welt – ist es wie mit der Erderwärmung: Man kann überall widersprüchliche, gar gegenteilige Zeichen finden, aber an der langfristigen Entwicklung besteht wenig Anlass zu zweifeln.
Und trotz der Megakirchen, trotz der charismatischen Bewegung, trotz der eigenen volkskirchlichen Gegenwart können wir ja nicht behaupten, dass das Evangelium auf die Menschen unserer Tage in unsern Breiten nur so hereinstürze wie prasselnder Platzregen.
Gottes Wort macht wahrlich nicht jedem den Pelz nass, der davon lieber unbeleckt trocken bliebe:
In Luthers Land und in den Landschaften von August Hermann Francke und Friedrich Schleiermacher, in der Stadt eines Joachim Neander und einer Friederike Fliedner kann man in aller Gemütsruhe geboren und erzogen werden, kann leben, lernen, heiraten, Häuser bauen, glücklich oder verrückt werden, kann ein Wohltäter oder ein Lump sein, kann Kinder kriegen und Enkel oder nur einen Hund und ein Vermögen, kann siechen und schließlich verscharrt werden, ohne dass Gottes Wort einem lästig oder lieb werden musste.
Es läuft auch hier in den Landstrichen, die einmal sehr gewässert und getränkt waren von bibelfester Frömmigkeit Gottes Wort nicht mehr aus allen Regenrinnen; es strömt die gesunde Lehre der Schrift schon lange nicht mehr wie der Marktbrunnen mitten im Herzen des öffentlichen Lebens; und wenn irgendwo tatsächlich eine Predigt noch den Stopfen vor dem fließenden Quell des lebendigen Wassers wegreißt und es einmal zu rauschen anfängt, dann ist das Geräusch der Schlürfenden, die sich an der Quelle sammeln, jedenfalls sehr zivil geworden und beeinträchtigt die Konzentration der zeitgleich versammelten Fußball-, Tennis- oder Frühstücksgemeinde kaum.
Für alle, die wort- und wasserscheu sind, ist das also vielleicht die gute Nachricht: Die Monsunzeit der christlichen Botschaft ist vorbei. Was jetzt bei uns in der Kirche noch plätschert, das spült niemanden Hals über Kopf in einen Strudel hinein, wie es Reformation und Pietismus und Erweckung und Kirchenkampf einst taten.
Ja, … und nun?
Sollen wir etwa heulen? Lamentieren, dass die guten Zeiten, in denen viel Wasser über christliche Mühlen floss, sich erschöpft haben?
Nein!
Sondern was sagt Gott uns denn von Seinen Gedanken und Wegen, von Seinem himmlischen Wort, das tief in und unter die Erde sickern muss, um dort im Verborgenen zu tun, was Ihm gefällt?
Etwas ganz einfaches: „Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen“, sagt Er.
Und nichts anderes haben wir zu hören und nichts anderes können wir glauben.
Mit unserem Pessimismus, mit unserer Angst und heimlichen Lust an der Miesepetrigkeit bestätigen wir ja nur immer weiter, wie gänzlich anders Gottes Maßstäbe, Seine Weitsicht und Seine Macht im Vergleich zu allen unseren Möglichkeiten sind.
Wo wir eine Kirche sehen, die sich selbst demontiert, wo wir eine Gesellschaft spüren, die das Christentum allmählich schlicht vergisst, wo wir wie die Propheten Baals zur Zeit der großen Dürre alberne Krämpfe und Tänze aufführen, um irgendwo noch einmal ein Paar kirchliche Dunstwolken zu verbreiten, die – wenn sie auch nicht frisch sein mögen – wenigstens Staub aufwirbeln … da tut Gott das, was Er sagt: Lässt Sein Wort wirken, ohne dass man’s sehen könnte.
……. Wenn’s nicht so wäre: Gute Nacht!
Wenn’s tatsächlich nur im Sichtbaren stattfände, wenn die Zukunft sich nur da entschiede, wo wir genau zählen und nachvollziehen können, was sich wo und wie tut, dann hätte man zu Jesajas Zeiten schon den Laden dicht gemacht, nein, dann hätte auch Elia schon lieber mit den Massen der Baalspropheten deren räudige Wassermusik angestimmt (vgl.1.Könige 18).
Aber eben weil Gottes Wunderwege und Gnadenmittel nicht unseren Maßstäben entsprechen und unseren Vorstellungen folgen, deshalb ist unser Glaube für Pessimisten zum Verzweifeln:
Einen waschechten Zyniker muss es ja verrückt machen, wenn er hört, dass schlechte Aussichten die gute Nachricht für uns nicht etwa in Frage stellen, sondern sogar stützen.
Und dennoch ist es so!!!
Wenn Gottes Wunder sich nicht vor aller Augen ereignen, dann geschehen sie umso geheimnisvoller mächtig im Verborgenen.
Wenn Gottes Wort nicht unüberhörbar laut ist, gerade dann erfüllt und erneuert es die ahnungslose Welt im Stillen.
Wenn der Augenschein Gott widerlegt, dann triumphieren Seine Macht und Liebe erst recht, … nämlich auch über die engen Grenzen unserer Beweise und Beobachtungen.
Da also, wo am allerwenigsten für Gott zu sprechen scheint, da ist Er am tiefsten und heftigsten und überraschendsten und endgültigsten in Seinem Element.
Er wirkt und handelt eben nicht nur, wo man Ihn spürt, sondern auch, wo Er verhüllt und unbemerkt bleibt: Oben und unten, im Licht und in der tiefsten Nacht, inmitten Seiner Zeugen und inmitten Seiner Feinde, wo Er erkannt wird und wo Er als ausgeschlossen gilt, an denen, die Ihn rühmen und an denen, die nichts Gutes sehen, sagen, wollen können.
Je weniger Gott sich mit unseren Mitteln nachweisen lässt, je weniger unser Sinn und Verstand Ihn wahrnehmen oder wahrhaben können, je schlechter wir Menschen Ihm hinter-herkommen, desto sicherer ist Er da.
Weil Er eben nicht an unsere Ideen und Empfindungen, unser Fassungsvermögen, unsere Logik oder die sonstigen Rahmen gebunden ist, mit denen wir die Welt sortieren und in kleine Kästchen teilen.
Weil er frei und durchdringend ist, wie der Regen und Schnee, die am wirksamsten werden, wenn sie unserer oberflächlichen Wahrnehmung entzogen sind. ——
Einer der besten Sätze vom Vertrauen in diese unzweifelhaft allgegenwärtige Kraft und Wirkung des Wortes Gottes, das die Samen in der Erde …. und die Toten weckt und alles tut, was wir nicht glauben können, einer der besten Glaubenssätze berührt nun aber doch tatsächlich unsere Stadt.
Man kann ihn lesen auf dem Denkmal Joachim Neanders in der nach ihm benannten reformierten Kirche auf der Bolker Straße:
„Lieber will ich mich zu Tode hoffen, als durch Unglauben verloren zu gehen!“
Das war sein letztes Zeugnis als Sterbender.
Denn er wusste: Nichts kommt leer zu Gott zurück. Alles wird erfüllt!
Amen
27.01.2013, Philipper 4,4-7, Stadtkirche + Jonakirche, Daniel Kaufmann
Drei Dinge helfen, die Mühseligkeiten des Lebens zu tragen: Die Hoffnung, der Schlaf und das Lachen. Immanuel Kant.
„Wer viel lacht ist glücklich, und wer viel weint, ist unglücklich - eine sehr einfältige Bemerkung, die ich aber wegen ihrer einfachen Wahrheit nicht habe vergessen können. Deswegen also soll wir der Heiterkeit, wann immer sie sich einstellt, Tür und Tor öffnen: denn sie kommt nie zur unrechten Zeit. Statt dass wir oft Bedenken tragen, ihr Eingang zu gestatten, indem wir erst wissen wollen, ob wir denn auch wohl in jeder Hinsicht Ursache haben, zufrieden zu sein, oder auch, weil wir fürchten, in unseren ernsthaften Überlegungen und wichtigen Sorgen dadurch gestört zu werden: allein was wir durch diese bessern, ist sehr ungewiss. Hingegen ist Heiterkeit unmittelbarer Gewinn. Sie allein ist gleichsam die bare Münze des Glücks und nicht, wie alles andere, der bloße Bankzettel, weil nur sie unmittelbar in der Gegenwart beglückt; weshalb sie das höchste Gut ist für Wesen, deren Wirklichkeit die Form einer unteilbaren Gegenwart zwischen zwei unendlichen Zeiten hat. Demnach sollen wir die Erwerbung und Beförderung dieses Gutes jedem anderen Trachten vorsetzen."
Soviel einmal von Arthur Schopenhauer, sicher nicht gerade einer der fröhlichsten Philosophen. Aber in Bezug auf die Heiterkeit hat er Recht. Es ist nicht viel gewonnen, sie durch allerhand Überlegungen so lange in Frage zu stellen, dass einem das Lachen vollends vergeht. Darin haben wir ja bekanntlich gute Übung. „Spaß beiseite" ist ein Ausdruck, den es nur im Deutschen in dieser Präzision und mit diesen Untertönen geben soll. Offenbar, weil wir doch unserer Mühe haben mit den allerhand Schattenseiten des Lebens. Wie sehr sich das auf unser Gemüt niederlegt, zeigt eine Lachstatistik: Kinder lachen 450 Mal am Tag, macht im Schnitt so um die 90 Minuten. Das ist sehr gesund und auch sportlich. Bei kaum einer gymnastischen Übung werden so viele Muskeln in Bewegung gebracht wie beim Lachen. Über 80 Muskeln sollen es sein. 1 Minute lachen soll 60 Minuten Entspannungsübungen ersetzen. Erwachsene lachen im Schnitt 20-25 mal am Tag, Frauen übrigens doppelt so viel wie Männer, also da steht es 30 zu 15. Auch soll es einen Zusammenhang zu der Altererwartung geben, die ja bei den Frauen im Schnitt um 5 Jahre höher liegt. Ob das stimmt, sei dahingestellt, interessant ist es alle male. Gegenüber der Kinderzeit büßen wir jedenfalls eine Menge Fröhlichkeit ein. Das ist bei den Deutschen insgesamt so, aber auch bei den Christen. Auch dort versteht sich das Lachen nicht von selbst. Luther jedenfalls muss sich des Öfteren für seine Fröhlichkeit legitimieren:
„Wenn ich wüsste, dass der Herrgott keinen Spaß verstünde, wollte ich nicht in den Himmel kommen." Und an anderer Stelle etwas theologischer: „Gott hat keinen Gefallen an der Traurigkeit des Geistes, sondern will, dass wir in ihm fröhlich seien. Er hat ja auch seinen Sohn nicht gesandt, dass er uns betrübe, sondern fröhlich mache." Diesem Lachen, das Gott schenkt, dem befreiten Lachen der Kinder Gottes sind wir in den letzten Sonntagen ein wenig nachgegangen.
Als erstes haben wir die Geschichte von Abraham und Sara (Genesis 18) gehört, der Lachnummer der Frühgeschichte Israels. Eine Geschichte, die nicht ohne Komik und Humor ist, jedenfalls wenn man sie nicht nur prüde und durchgeistigt versteht. Ein Greisenehepaar, sie 89, er 99, wird ein Baby verheißen - alle male ein Grund zum Schmunzeln, ja zum Lachen. „Sollte ich noch der Liebe pflegen" fragt sich Sara „und der Abraham ist doch auch nicht mehr der Jüngste". Und Sara selbst ist schon weit jenseits der Wechseljahre. Die konkrete Vorstellung eines Babys für diese greise Paar sorgt für ein Lachen. Geht doch gar nicht. In dieser Situation hat das Lachen geradezu heilende Wirkungen: Es macht das Leid und den Kummer über den versagten Kindersegen halbwegs erträglich. Es hilft die Spannung zwischen Ansage einer Unmöglichkeit und der harten Fakten des Alters zu überbrücken. Es hat geradezu Ventilwirkung: Es nimmt der Unglaublichkeit den Zynismus. Der Rabbiner Abraham Hochwald hat das mal so zusammengefasst: „Der Witz zieht das Leid und die Spannung ins Lächerliche. - so werden sie erträglicher. Er macht die Peiniger zu lächerlichen Figuren und macht sich über das Elend lustig, womit er ihm die Schärfe nimmt." Heute am 27. Januar, dem Tag, an dem wir an die Befreiung des KZ Ausschwitz gedenken, kann uns folgender Witz aus dem Fundus der jüdischen Gemeinden diesen Zusammenhang eindrücklich erschließen: „In der Pogromnacht des 9. November wird Samuel Goldberg in das Konzentrationslager Dachau gebracht. Im ersten Brief, den er von seiner Frau erhält, beklagt sie sich, dass sie, obwohl sie eine Fülle von Saatkartoffeln hat, diese nicht in die Erde bringt, weil sie nicht die Kraft hat, den Gemüsegarten umzugraben. In seiner Antwort schreibt Samuel Goldberg: „Wage es nicht, den Garten umzugraben. Dort habe ich die Gewehre und die Bomben vergraben." Einige Tage später kommen zwei Lastwagen voller Gestapo-Leute bei Frau Goldberg an, mit Schaufeln bewaffnet. Sie stürmen in den Gemüsegarten, kehren jeden Zoll Boden um, und als sie keine Gewehre oder Bomben gefunden haben, verlassen sie wütend den Ort. Frau Goldberg berichtet ihrem Mann in ihrem nächsten Brief von dem Vorfall. Seine Antwort lautet: „Jetzt kannst du die Kartoffeln setzen.""
Das Lachen vermag das Leid erträglicher zu machen, die Spannung des Leides mildern. Es hat geradezu therapeutische Wirkungen. „Die Clowns hat uns der Himmel geschickt", sagt Michael Katz, leidender Arzt in einer New Yorker Kinderklinik. „Bis sie auftauchten, sind wir nie auf die Idee gekommen, dass Kinder, die schwer krank sind, Spaß brauchen. Die Clowns können noch da helfen, wo unsere Psychologen und Sozialarbeiter nicht weiter wissen." 9 Kliniken in New York bieten ihren kleinen Patienten dieses Clown-Vergnügen und tragen nicht wenig zur Heilung der kleinen Patienten bei. Das ist übrigens inzwischen auch in Deutschland Standard, auch bei uns im Florence-Nightingale-Krankenhaus in Kaiserswerth. Lachen hat therapeutische Wirkungen.
In unserer Geschichte von Abraham haben wir gesehen, dass das Lachen von Gott selbst ohne große Vorwürfe und Vorhaltungen zugelassen, dann allerdings auch überholt wird, ja dass Gott aus diesem Lachen etwas Wunderbares macht. Ein Jahr später nämlich wird Isaak geboren. Zu deutsch: „Gott lässt mich lachen", er lacht mit mir mit. Gott sorgt dafür, dass alle was zu lachen haben - jetzt allerdings wirklich befreit und vor Glück.
„Wer einen Menschen zum Lachen bringt, der schließt ihm das Himmelreich auf", sagt der Theologe Jürgen Moltmann. „Was waren Jesu Gastmähler mit den Außenseitern der Gesellschaft, seine Krankenheilungen anderes als Wunder, die einzelnen Menschen, denen das Lachen vergangen war, das Lachen zurückgegeben haben" (Kurt Marti) Das Lachen hat etwas Heilendes und Heilsames.
Das befreiende Lachen der Kinder Gottes ist ein Protest gegen die Vergötzung des Todes, gegen den Tod als letzte Wirklichkeit allen Lebens. Getreu dem Motto der Narren: „Man muss die Dinge der Welt verkehrt herum betrachten, damit man sie richtig sieht" wird die übliche Reihenfolge Leben - Tod durch die Reihenfolge Tod - Leben überholt. So letzten Sonntag. Der Spott und die hämischen Kommentaren der Menschen unter dem Kreuz wird durch einen schöpferischen Akt Gottes, die Auferweckung Jesu von den Toten überholt. Aus dem verletzenden und vernichtenden Lachen wird ein zunächst noch recht zaghaftes, aber dann doch sehr mutiges und furchtloses Lachen der Menschen vom Ostermorgen. Seit Ostern gibt es ein erfrischendes, ein herzerfrischendes und befreites Lachen, das Ostergelächter. Seit Ostern lachen Menschen über den Tod, lachen den Tod aus, freuen sich darüber, dass er seine Macht als letzte Instanz verloren hat. An Ostern wird der Tod totgelacht - und das Leben, das nicht vergeht, gefeiert. Ich bin in der letzten Woche noch auf eine biblische Geschichte gestoßen, die in geradezu heiterer Weise diese unterschiedlichen Momente zusammenbringt. Sie findet sich in der Apostelgeschichte 20: Der Apostel Paulus hat seine Predigtzeit (man darf ja bekanntlich über alles, nur nicht über 20 Minuten predigen) reichlich überzogen. Jedenfalls sind einige schon eingeschlafen. Einer, Eutychos mit Namen, hat sich auf den Fenstersims im dritten Stock gesetzt und ist runtergefallen. Absturz mit Todesfolge. Da geht Paulus mit der Gemeinde hinunter und sagt: „Macht kein Getümmel, er lebt." Dann legt sich auf ihn. Wenig später ist Eutychos wieder unter den Lebenden. Und die Gemeindeglieder bekommen eine Ahnung von den Möglichkeiten und der Kraft Gottes. Diese „Auferstehungskraft" hat Menschen über 2000 Jahre immer wieder zu außergewöhnlichen Haltungen gebracht hat. In dem Film über D. Bonhöffer: „Die letzte Stufe" gibt es eine sehr eindrucksvolle Schlussszene: „Das ist das Ende", sagt ihm der Vollstreckungsbeamte in Flossenbürg. Und Bonhöffer antwortet unbeirrt: „Nein, nicht das Ende, sondern der Anfang, deer Beginn des Lebens". Und hinterlässt dem ziemlich verdutzt dreinschauenden Vollstreckungsbeamten eine Menge Stoff zum Nachdenken. Ein Mensch, der von der Auferstehungsgewissheit lebt, kann sich im wahrsten Sinne des Wortes einen „Galgenhumor" haben, der im Tod das Leben feiert.
Heute, am dritten und letzten Sonntag unserer Predigtreihe, soll es nun um die Heiterkeit eines Christenmenschen gehen und wir hören dazu zunächst: „Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: freuet euch." (Phil. 4,4-7) Das klingt ein wenig nach „Cheese" oder „Keep smiling" um jeden Preis, Dauergrinsen und letztendlich eine sicher anstrengende Maskerade. Nun sollen ja Menschen, die freundlich sind oder doch zumindest freundlich wirken und Freude ausstrahlen, durchaus mehr Erfolg zu haben als andere, die miesgelaunt und miesgrämig vor sich hin sehen. Insofern ist es nicht ganz abwegig, dass man sich auch eine gewisse Gesichtshaltung antrainieren kann. Bei meinen Recherchen bin ich auf eine Lachtherapie mit Lachtraining in 11 Schritten gestoßen, wo es nicht um Witze reißen und „sich vor Lachen auf die Schenkel klopfen" geht, sondern um das richtige Lachen nach den Vorgaben des indischen Arztes Dr. Madan Kataria. Dazu gehört rhythmisches Klatschen, Hoo Ho und Ha- ha - ha Schlachtrufe, Atemübungen und Stretching, ein Meter Lachen (Ein Arm ruckartig in drei Zügen bis zu einem Meter ausstrecken und mit langen Aaaaa-Haaaaa-eeeeeh- Rufen begleiten). Spätestens beim Löwenlachen, dem elften und letzten Schritt soll es dann kein Halten mehr geben. Die Zunge wird weit rausgestreckt, der Mund so weit wie möglich aufgerissen, die Hände zu Löwenpranken geformt und aus dem Bauch ertönt ein gewaltiges, archaisches Lachen.
Nun liegt auf der Hand, dass man auf diese Weise zwar die Muskeln besser beherrschen und kontrollieren kann, die innere Einstellung jedoch nach wie vor ganz anders sein kann. Nicht wenige Geschichten über den Clown haben gerade diese Differenz zwischen dem, was nach außen sichtbar ist und was im innern des Menschen passiert zum Thema. Und ich bin zuweilen gar nicht sicher, ob sich von diesem Widerspruch zwischen innen und außen nicht auch oft etwas unter den Christen findet. Gerade aus einem gewissen Zwang heraus. Als Christ muss es einem doch besser gehen: So jedenfalls steht es in der Bibel, die Dogmatiker und Theologen sagen einem das auch noch - nur in mir sieht es doch ganz anders aus: Ich mach mir Sorgen um meine Kinder. Um den Arbeitsplatz, um die Familie. Ich bin noch überhaupt nicht fertig mit dem Tod eines geliebten Menschen. Ich denke über bestimmte Probleme der Weltgeschichte intensiver nach: Attentate und Morde, Krankheiten und Katastrophen passieren doch allenthalben - und da vergeht mir das Lachen.
Das Lachen um jeden Preis ist jedenfalls sehr anstrengend und ich glaube, von solchen Versuchen können wir uns getrost verabschieden. Nun haben wir bei unserer Durchsicht durch dieses Thema schön öfters festgehalten, dass das Lachen durchaus sehr tiefsinnige Momente hat, jedenfalls auch die Themen Leid, ja selbst den Tod nicht ausschließt. „Freuet euch in dem Herrn allewege"- dieser Satz kommt jedenfalls auch von solchen tiefsinnigen Überlegungen über die alles entscheidenden Dimensionen des Lebens her. Die Freude des Paulus basiert auf dem Wissen um die größeren Zusammenhänge des Lebens. Sie verdankt der Gewissheit, dass ich mit allem, was ich bin und mit mir geschieht, in Gottes Hand steh, dass Gott mich annimmt so wie ich bin, dass mein Leben Fundament hat, dass ich gerechtfertigt bin. H.D. Hüsch bringt das in den folgend Zeilen sehr treffend zusammen:
„Ich bin vergnügt, erlöst befreit.
Gott nahm in seine Hände meine Zeit.
Mein Fühlen, Denken , Hören, Sagen.
Mein Triumphieren und Verzagen
Das Elend und die Zärtlichkeit."
Die Freude der Christen hat ihren letzten Grund in der Gewissheit, dass unser ganzes Leben, mit allem, was es da gibt, bei Gott in den allerbesten Händen ist.
„Wer eines festen Glaubens sich erfreut wird zu allen Zeiten fröhlich sein, in allen Begebenheiten ruhig sein, in allen Gefahren sicher sein, in allen Drangsalen getröstet sein, zu allen Sachen wird er lachen." Auch über sich selbst wird er lachen, ja gerade das wird ihm nicht mehr so schwer fallen, weil es nicht um den bitteren Überlebenskampf, um Anerkennung und Selbstwertgefühl geht, der ist durch das Ja Gottes schon entschieden.
So möchte ich die heutige Predigt mit ein paar kleinen Kostproben beschließen, die das „sich nicht so wichtig nehmen", „sich leichter nehmen", über „sich selbst lachen" einüben helfen.
Das ist ein schweres Feld und zugegeben auch etwas, was man nicht so ohne weiteres auf andere übertragen kann. Aber vielleicht gelingt uns ja ansatzweise der eine oder andere Schritt in diese Richtung.
„Der Papst hat eine neue Sauna bekommen. Und ist begeistert. Die Kardinäle machen ihn darauf aufmerksam, dass immer im Wechsel gesaunt wird: Diese Woche nur für Männer, nächste Woche gemischt. Der Papst will trotzdem auch in der nächsten Woche saunen. Die Kardinäle: Aber Heiliger Vater, äh dann ist doch gemischt... Darauf der Papst: Das ist doch kein Problem, die paar Protestanten stören doch nicht."
„Eines Tages liegt vor dem Landeskirchenamt ein Baby. Helle Aufregung. Sollte etwa einer der geistlichen Herren etwas damit zu tun haben? Die ersten Sensationsreporter sind schon da und fordern eine Stellungnahme. Da kommt der Präses aus seinem Büro. Meine Damen und Herren, kein Grund zur Aufregung. Ich kann ihnen mindestens 3 Gründe nennen, warum keiner aus diesem Haus etwas mit dem Baby zu tun haben kann: 1. Hier hat noch nie einer etwas in 9 Monaten geschafft,2. was Hand und Fuß hat, und 3. obendrein noch Spaß gemacht hätte."
Nachdenklich und selbstkritisch ist auch jener Witz von dem jüdischen Rabbi, katholischen Priester und evangelischem Pfarrer, die eine Bootspartie auf dem See Genezareth machen, in einen Sturm geraten und zu kentern drohen. Da sieht sich der Rabbi kurz um, verabschiedet sich von dem Priester und Pfarrer, steigt aus dem Boot und geht schnurstracks über das Wasser an Land. Auch der katholische Priester beschließt etwas zu tun, sieht sich um, verabschiedet sich von dem evangelischen Kollegen, steigt aus dem Boot und geht über das Wasser an Land. Da kommt auch in den evangelischen Pfarrer Bewegung. Er sieht sich nicht mehr um, verabschiedet sich auch nicht mehr, steigt aber auch aus dem Boot, will schnurstracks über das Wasser an Land gehen, bricht aber schon nach 1 Meter ins Wasser ein und ertrinkt. Daraufhin sagt an Land der Priester zu dem Rabbi: „Menschenskinder, das war doch total unnötig, dass der absäuft, hat der denn nicht die Steine im Wasser gesehen, über die man an Land gehen konnte?" Daraufhin der Rabbi: „Welche Steine?"
Etwas heftiger und auch eine Spur kritischer ist folgende kurze provokative Frage, die ich bei meinen Vorbereitungen zu diesem Sonntag fand:
„Warum kann die Kirche nicht kaputtgehen? Ganz einfach: Weil sie von so vielen Nieten zusammengehalten wird."
Humor ist die Fähigkeit sich selbst leicht zu nehmen und befreit zu lachen, nicht zuletzt über sich selbst und seine kleinen und großen Fehler. Oder über die Komik des Lebens. Dazu noch eine letzte kleine Geschichte:
„In einem Hof spielten einmal zwei Kinder ein äußerst lustiges Spiel. Sie dachten sich eine besondere Sprache aus, in der sie miteinander reden konnten, ohne dass andere Leute eine Silbe davon verstanden. „Brif, Braf", sagte der eine. „Braf, brof", antwortete der zweite. Und dann lachten alle beiden ganz toll. Im oberen Stock des Hauses saß ein alter Herr auf dem Balkon und als seine Zeitung. Im Haus gegenüber lehnte eine alte Frau zum Fenster hinaus. „Was sind das für dumme Kinder", sagte die Frau. Der alte Herr war anderer Meinung. „Das finde ich nicht."
„Sagen sie mir nur nicht, dass sie verstanden hätten, was die Kinder eben gesagt haben", hakte die Frau nach. „Doch ich habe alles verstanden", entgegnete der Mann. „Das erste sagte: Was für ein herrlicher Tag heute. Und das zweite antwortete: Morgen wird's noch viel schöner." Die alte Frau schwieg, weil die Kinder unten im Hof wieder angefangen hatten, sich in ihrer Geheimsprache zu unterhalten. „ Maraschi, Barabaschi, piffirimoschi", sagte das erste. „Bruf" antwortete das zweite. Und wieder brach ihr tolles Gelächter los. „Wollen Sie das auch verstanden haben?" rief die alte Frau erbost ihrem Nachbarn zu. „Sicher", antwortete der alte Herr lächelnd. „Das erste hat gesagt: Wie sind wir doch froh, dass wir auf der Welt sind. Und das zweite hat ihm geantwortet: Die Welt ist ganz wunderbar!" „Aber ist sie wirklich wunderbar, die Welt?" bohrte die alte Frau nach. „Brif, bruf, braf", antwortete der alte Herr.
Humor ist die Fähigkeit sich selbst leicht zu nehmen und befreit zu lachen, nicht zuletzt über sich selbst.
Ich möchte schließen, noch einmal, mit einem Gedicht des rheinischen Kabarettisten Hans Dieter Hüsch, das er im Anschluss an Psalm 62 geschrieben hat und das sich übrigens auch in unserem Gesangbuch findet, unter der Nr. 779:
„Ich stehe unter Gottes Schutz,
er lässt mich nicht in die Leere laufen
und macht aus mir keinen Kriegsknecht.
Ich suche den Frieden und will mich ausruhen,
ihn mit allen zu finden, die noch unter Waffen stehen.
Ich steh unter Gottes Schutz,
ich bin sein Fleisch und Blut,
und meine Tage sind von ihm gezählt.
Er lehrt mich, den zu umarmen,
dessen Tage ebenfalls gezählt sind,
und alle in die Arme zu nehmen,
weil wir die Trauer und die Freude teilen wollen.
Ich stehe unter Gottes Schutz,
ich weiß das seit geraumer Zeit.
Er nahm den Gram und das Bittere aus meinem Wesen
Und machte mich fröhlich.
Und ich will hingehen
Alle anzustecken mit Freude und Freundlichkeit,
auf dass die Erde Heimat wird für alle Welt:
Durch seinen Frieden und unseren Glauben.
Schalom in Dorf und Stadt.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus unseren Herrn. Amen.
Gottesdienst zum Tag des Gedenkens an den Holocaust, 27.01.2013, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Gottesdienst am Sonntag Septuagesimä 27.1.2013 / MhK
Gedenktag an die Opfer des Holocaust.
Tag der Befreiung von Auschwitz
„Den Opfern eine Stimme geben"
Vorspiel Christian und Daniel Wolf , Klarinette und Orgel
Begrüßung mit Einführung in den Gottesdienst
Der Friede und die Liebe Gottes sei mit uns allen.
Es ist ein ganz besonderer Gottesdienst, den wir heute miteinander feiern und zu dem ich alle herzlich willkommen heiße, die den Weg in die Mutterhauskirche gefunden haben oder die das Übertragungsgerät in den Häusern der Kaiserswerther Diakonie nun eingeschaltet haben.
Das Besondere, das gibt der heutige Tag vor: der 27. Januar ist seit vielen Jahren der Internationale Gedenktag an die Opfer des Holocaust und gleichzeitig Tag der Befreiung von Auschwitz. Erinnern ist angesagt. Über 6 Millionen jüdische Kinder, Frauen und Männer sind in den Vernichtungslagern ermordet worden. Eine unvorstellbare Zahl. Die meisten sogar registriert und zu Nummern degradiert. Doch es sind immer einzelne Menschen gewesen, mit unverwechselbarer Persönlichkeit, mit eigenem Namen, bei dem Gott sie gerufen hat. Das dürfen wir nie vergessen. Und deshalb sollen in diesem Gottesdienst einzelne Menschen zu Wort kommen, uns helfen, den Graben des Vergessens zu überbrücken, um uns darin zu bestärken, alles daran zu setzen, dass solches Unrecht sich nie, nie wiederholen kann.
In dem Gottesdienstprogramm finden Sie die Namen mit einer kurzen Einführung. Es sind alles Frauen. Das war, als ich den Gottesdienst plante, nicht beabsichtigt gewesen, hat sich dann aber so ergeben. Und irgendwie passt es hier zur Mutterhauskirche. Alle Frauen waren in die Maschinerie der Vernichtung geraten, zweie konnten im letzten Augenblick entkommen - gezeichnet für ihr Leben. Die anderen wurden ermordet.
Die Überlebenden: die Dichterin Nelly Sachs und die Kaiserswerther Diakonisse Johanne Aufricht.
Die Ermordeten: Diakonisse Erna Aufricht, die polnische Jüdin Gusta Dawidson-Drenger, die holländische Jüdin Etty Hillesum und die deutsche Rabbinerin Regina Jonas.
Auch die musikalische Gestaltung dieses Gottesdienstes ist eine besondere. Christian Wolf, Klarinette und sein Bruder Daniel Wolf an der Orgel begleiten uns und ermöglichen uns immer wieder, innezuhalten. Ein ganz herzlicher Dank an die beiden Musiker.
Der Gottesdienst wird mit 90 Minuten etwas länger dauern als gewohnt.
Der Vers aus dem Buch Daniel (9,18), der uns durch die kommende Woche geleiten soll, ist ein guter Wegweiser auch in den Gottesdienst hinein:
„Wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit."
Im Folgenden finden Sie alle vorgetragenen Texte nochmals zum Mitlesen. Wir stellen Sie hier zur Verfügung mit der Hoffnung und in dem Bewusstsein, dass sie alle, die sie lesen, nicht unberührt lassen. Am Ende sind die Quellen aufgelistet, sodass Sie die Titel der Bücher kennen, um sie bei Interesse an mehr Texten der Autorinnen in Ihrer Buchhandlung kaufen zu können.
Nelly Sachs „Chor der unsichtbaren Dinge"
"Klagemauer Nacht!
Eingegraben in dir sind die Psalmen des Schweigens.
Die Fußspuren, die sich füllten mit Tod
Wie reifende Äpfel
Haben bei dir nach Hause gefunden.
Die Tränen, die dein schwarzes Moos feuchten
Werden schon eingesammelt.
Denn der Engel mit den Körben
Für die unsichtbaren Dinge ist gekommen.
O die Blicke der auseinandergerissenen Liebenden
Die Himmelschaffenden, die Weltengebärenden
Wie werden sie sanft für die Ewigkeit gepflückt
Und gedeckt mit dem Schlaf des gemordeten Kindes,
In dessen warmem Dunkel
Die Sehnsüchte neuer Herrlichkeiten keimen.
Im Geheimnis eines Seufzers
Kann das ungesungene Lied des Friedens keimen.
Klagemauer Nacht,
von dem Blitze eines Gebetes kannst du zertrümmert werden
Und alle, die Gott verschlafen haben,
Wachen hinter deinen stürzenden Mauern
Zu ihm auf."
Wir hören einen Abschnitt aus dem Tagebuch der Diakonisse Johanne Aufricht, in dem sie nach ihrer Rückkehr nach Kaiserswerth die Erinnerungen an die schrecklichen Ereignisse festgehalten hat, Erlebnisse, die nie nur Vergangenheit waren.
Aus dem Tagebuch der Diakonisse Johanne Aufricht
"November 1941 musste ich mein altes Arbeitsfeld, wo ich 26 Jahre gearbeitet habe, verlassen, um meinen Feierabend zu nehmen. Nicht, weil ich nicht mehr konnte, sondern weil wir wähnten, in Kaiserswerth vor der Gestapo sicherer zu sein. Im Mutterhaus wurde ich lieb empfangen. Herr Pastor von Lüttichau, Schwester Karin und Schwester Auguste begrüßten mich freundlich - doch war mir das Herz recht schwer. Dann kam meine Erna mit ihrer herzlich frisch fröhlichen Art und wir umarmten uns und waren froh, beieinander zu sein und den kommenden schweren Tagen gefasst und mit Gottvertrauen entgegen zu gehen. Vorerst ließ man uns in Ruh.
Da kam plötzlich ein Schreiben von der Gestapo, Erna und ich müssten uns in Düsseldorf bei der Gestapo vorstellen. Unsere Schwester Karin war so lieb und fuhr mit uns dahin. Die Herren waren nicht nur unfreundlich, sondern unhöflich und meinten, wir gehörten eigentlich ins Gefängnis. Zu unserem Trost war Schwester Karin zuerst mit im Zimmer. Als wir im Mutterhaus ankamen, besprach Erna alles mit Herrn Pastor von Lüttichau und Schwester Karin. Gleich darauf übersiedelten wir beide nach Feierabendhaus 2, bekamen im 2.Stock je ein Stübchen und richteten uns ein und waren auf alles gefasst. Herr Pastor von Lüttichau hat inzwischen sein Möglichstes getan, dass wir in Ruhe im Feierabendhaus bleiben könnten.
Dann kam eine bittere Zeit über uns - Wir durften das Haus nicht verlassen. - Erna war tapfer. Wir nahmen alles aus Gottes Hand. Eines Tages kam Herr Pastor von Lüttichau mit den bekannten 2 Gestapo Herren, um zu sehen, wo wir untergebracht wären. Sie schienen mit unserem Aufenthalt zufrieden zu sein und betonten, wir dürften in Kaiserswerth bleiben, aber nicht vor die Tür gehen. Damit waren wir zufrieden.
Da kam am 13.Juli 1942 ein Schreiben, dass wir in 8 Tagen zu einem Transport nach Theresienstadt bereit sein sollen. Vorüber - vorüber. Wortbruch."
Orgel und Klarinette
Wir hören nun einen Text von der polnischen Jüdin Gusta Dawidson-Drenger, die angesichts der Gräuel der Deutschen Besatzer sich mit ihrem Mann dem jüdischen Widerstand im Krakauer Ghetto anschloss. Sie wurden am 8.November 1943 verhaftet und erschossen.
Gusta Dawidson-Drenger
"Wie einfach war es, zu sagen: „Lauft weg vor den Deportationen!" Aber wie sollte man denn wegkommen durch den von Polizei bewachten Stacheldraht? Es reichte schon, wenn ein Polizist deine blauweiße Armbinde (die Juden in Osteuropa mussten eine blauweiße Armbinde tragen) sah, damit er dich sofort niederschoss. Man konnte natürlich die Armbinde entfernen, aber wenn dich Passanten dabei beobachteten, lieferten sie dich der Polizei aus. Selbst wenn du dich in den dunkelsten Torbogen verkrochen hättest, um diese fundamentale Verwandlung vorzunehmen, irgendwer hätte sicher gesehen, dass da jemand als Jude in die Toreinfahrt ging und als - ja als was eigentlich? - wieder herauskam. Und auch wenn man das Zeichen loswurde - man blieb doch immer man selbst. Man blieb einfach ein Jude ohne Armbinde. Man verriet sein Jüdischsein mit jeder ängstlichen Bewegung, mit jedem unsicheren Schritt, mit seinem gebeugten Rücken, der die ganze Last der Sklaverei zu tragen schien. Man verriet sich durch seine Augen, die die Augen eines gehetzten Tieres waren, durch die ganze Erscheinung, der das Ghetto seinen Stempel aufgedrückt hatte. ... So hatte ein Jude, bevor er den nächsten Bahnhof erreichte, schon eine ganze Reihe Schlachten hinter sich. ... Ein Jude brauchte alles sangfroid der Welt, um stolz erhobenen Hauptes durch den Bahnhof zu gehen, das Starren der Polizisten mit einem kalten Blick zu erwidern und schließlich in ein Zugabteil zu treten, als täte er das jeden Tag. (Für Juden war es verboten, die Eisenbahn zu benutzen.) Doch innerhalb des Abteils begann erst die Herrschaft des Mobs. Vor den aufdringlichen Blicken dieser Leute gab es kein Entkommen. ... Durch ununterbrochene Anspannung seiner ganzen Nerven konnte der Jude zwar seine Identität verbergen, aber er konnte nicht vermeiden, die Gespräche der Mitreisenden zu hören, die ihm das Blut in den Adern zum Kochen brachte. Worüber sprachen sie? Sie sprachen über die Juden. Sie sagten, die Juden hätten endlich bekommen, was sie verdienten. ... Und da saß er, in seiner Ecke des Abteils, ein Mensch, der noch nicht den Schmerz über den Verlust seiner Liebsten und Nächsten verwunden hatte, und nicht ein Muskel in seinem Gesicht durfte zucken."
Wir hören den ersten von 5 Abschnitten aus dem Tagebuch der Amsterdamer Jüdin Etty Hillesum, deren Eintragungen Zeugnis davon geben, dass der Mensch mehr ist als Essen und Trinken, mehr ist als sein Leib, sondern dass er Herz und Geist hat, die ihn in die Lage versetzen, auch noch im größten Elend sich als Kind Gottes zu zeigen. Noch wohnt Etty Hillesum in einer Wohnung bei Freunden in Amsterdam, aber jeden Tag kann der Aufruf kommen, sich im Lager Westerbork einzufinden - der Wartesaal für die Deportation nach Auschwitz.
Aus dem Tagebuch der Etty Hillesum
"18.Mai 1942 Die Bedrohung von außen wird ständig größer, der Terror wächst mit jedem Tag. Ich ziehe das Gebet wie eine dunkle, schützende Wand um mich hoch, ziehe mich in das Gebet zurück wie in eine Klosterzelle, und trete dann wieder hinaus, gesammelter, stärker und wieder gefasst....
26.Mai Es ist oft kaum zu fassen und geistig zu verarbeiten, Gott, was deine Ebenbilder auf der Erde in diesen entfesselten Zeiten sich gegenseitig antun. Aber ich schließe mich davor nicht in mein Zimmer ein, Gott, ich halte die Augen offen und will vor nichts davonlaufen, sondern versuchen, auch die schlimmsten Verbrechen irgendwie zu begreifen und zu ergründen, und ich versuche immer wieder, den nackten, kleinen Menschen aufzuspüren, der aber in den monströsen Ruinen seiner sinnlosen Taten oft nicht mehr zu finden ist. Ich sitze nicht in diesem stillen Zimmer, um mich an Blumen zu ergötzen oder um mit Dichtern und Denkern Gott zu preisen. ... Jeder Mensch hat zwar seine eigene Realität, das weiß ich, aber dennoch bin ich keine verträumte Phantastin, Gott. Ich stehe Auge in Auge mit deiner Welt, und flüchte mich vor der Realität nicht in schöne Träume - obwohl ich glaube, dass auch neben der grausamsten Realität noch Platz für schöne Träume ist - ich preise weiterhin deine Schöpfung, Gott - trotz allem!
1.Juli Mein Geist hat die Nachrichten der letzten Tage schon verarbeitet - die Gerüchte sind bis jetzt schrecklicher als die Tatsachen, zumindest die Tatsachen, die uns angehen, denn in Polen scheint das Morden in vollem Gang zu sein -, aber mein Körper offenbar noch nicht. Er ist wie in tausend Stücke zersplittert, und jedes Stückchen hat einen anderen Schmerz. Komisch, wie mein Körper die Dinge nachträglich verarbeiten muss. ... Jetzt kann ich kein Körperglied mehr rühren, keinen Gedanken mehr fassen, so angegriffen bin ich körperlich. Es ist jetzt fast ein Uhr. Nach dem Kaffee werde ich versuchen, ein wenig zu schlafen. ... Heute morgen um 7 Uhr brach eine ganze Hölle der Unruhe und Aufregung in mir los, und das ist gut, ich kann dadurch ein wenig die Angst der anderen nachempfinden, denn mir ist die Angst immer mehr fremd geworden. Um 8 Uhr war ich bereits wieder die Ruhe selbst."
Orgel und Klarinette
Wir hören die Erinnerungen der Diakonisse Johanne Aufricht an die Ankunft und den Aufenthalt im KZ Theresienstadt.
Aus dem Tagebuch der Diakonisse Johanne Aufricht
"Die Ankunft in der toten Stadt ist kaum zu beschreiben. Alle mussten sich registrieren lassen. Wir waren jetzt nur Nummern. Dann wurde man nochmals nach Geld und Wertsachen und Batterien untersucht - und alles wurde fortgenommen. Unsere Koffer haben wir überhaupt nie zu Gesicht bekommen. Nach stundenlanger Wartezeit bekam man einen Wohnungsschein - Theresienstadt war ausgestorben. Im Trauerschritt zogen wir in die Stadt hinein. Man begegnete eben niemandem - weil alle Einwohner die Stadt verlassen hatten und ließen uns nicht einmal einen Nagel. Bitter war der Anfang. Erna und ich kamen in ein kleines Haus mit 140 Personen. Sonst wohnten wohl 10 Personen drin. Wir bekamen ein Zimmer mit 10 Düsseldorfer Frauen, eine davon war sehr krank. Als Gepäck hatten wir nur, was wir mitnehmen konnten, unsere Decke, Mantel und Kissen. So lagen wir nun nachts auf der Erde und deckten uns mit dem Mantel zu. Von der ersten Nacht an haben wir unsere Kranken betreut, die anderen mussten sich gleich zur Arbeit melden. Unsere Düsseldorfer hatten schon in aller Früh Kartoffeln zu schälen. Der Anfang war hart. Zum Glück hatten wir in den Zimmern elektrisches Licht. Unser Hausältester - ein Professor aus Prag - war immer gütig zu uns - wir durften nicht klagen. Bald fingen verschiedene Männer an, sich kleine Bänkchen zu zimmern. Erna und ich kauften uns zuerst einen Nagel um eine Schnitte Brot. So konnten wir unsere Mäntel aufhängen. Später ein Bänkchen um Brot, Butter und Zahnpasta. Froh waren wir über dies erste Möbelstück.
Erna und ich hatten den Tag über vollauf zu tun. Gab es doch unter der großen Zahl mehrere Kranke. Nach und nach hatte die Stadtverwaltung Blockärzte eingesetzt, die die Patienten täglich besuchen mussten. Jedes Haus bekam auch eine Schwester zur Pflege für die Patienten. Die Not wurde groß, da vorerst keine Matratzen, keine Wäsche, kein heiß Wasser zu haben war. Mit der Zeit wurde es etwas besser. Die Stadt hatte eine schöne Kirche, aber verschlossen für uns. Unsere evangelischen Gottesdienste waren auf dem Söller eines Wohnhauses. Unser Prediger war der Oberlandesgerichtsrat Goldschmidt aus Hamburg. Eine große traurige Gemeinde, die nach Gottes Wort hungerte.
Am 6. Dezember 42 hatte ich einen Unfall. Im Schnee und Eis holten wir von der Pumpe Wasser. Eines Morgens hatte ich gerade die Waschschüssel für eine Kranke gefüllt, da kam ein Mann, stieß mich beiseite und ich landete auf der Eisplatte. Kniescheibe kaputt.. Gleich ins Krankenhaus. Nun wurde es meiner Schwester zu viel. Sie bekam keine Hilfe und wurde immer elender. Doch gab sie es nicht zu. Sie besuchte mich jeden Tag. Eines Tages kam Frau Mann alleine ohne meine Schwester. Sie könnte nicht kommen, weil sie Fieber hat. Mehrere Tage lag sie mit hohem Fieber, bis man sie ins Krankenhaus brachte. Thyphus! - und ich lag mit gebrochenem Bein und konnte in keiner Weise was tun - nur beten."
Wir hören einen weiteren Abschnitt aus dem Tagebuch der Etty Hillesum.
Aus dem Tagebuch der Etty Hillesum
"Ein schwerer Tag, ein sehr schwerer Tag. Man muss lernen, ein „Massenschicksal" mitzutragen und alle kindischen persönlichen Wünsche auszuschalten. Jeder möchte sich selbst retten, obwohl er wissen sollte, dass, wenn nicht er geht, ein anderer an seiner Stelle gehen muss. Es kommt auf dasselbe heraus, ob ich gehen muss oder ein anderer, ob dieser oder jener. Es ist nun zu einem „Massenschicksal" geworden, darüber muss man sich klar sein. Ein sehr schwerer Tag. Aber ich erhole mich immer wieder im Gebet. Und das werde ich wohl immer tun können, auch auf kleinstem Raum: beten. Und den Teil vom „Massenschicksal", den ich zu tragen vermag, schnalle ich als Bündel auf meinem Rücken fest, immer fester, bis es mit mir verwachsen ist. Ich laufe jetzt schon damit durch die Straßen.
Und mit dieser schlanken Füllfeder müsste ich ausholen, als wäre sie ein Hammer, und die Wörter müssten wie ebenso viele Hammerschläge von unserem Schicksal künden, von einem Stück Geschichte, wie es noch nie eines gegeben hat. Zumindest nicht in dieser totalitären, ganz Europa umspannenden Form der Massenorganisation. Es müssen doch ein paar Menschen überleben, die einst die Chronik dieser Zeit schreiben. Ich würde später gern Chronistin sein.
Sonntagmorgengebet (12.Juli 1942). Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute Nacht geschah es zum ersten mal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leides an mir vorbeizogen. Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst auch du nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben. Mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen. Es gibt Leute, es gibt sie tatsächlich, die im letzten Augenblick ihre Staubsauger und ihr silbernes Besteck in Sicherheit bringen, statt dich zu bewahren, mein Gott. Und es gibt Menschen, die nur ihren Körper retten wollen, der ja doch nichts anderes mehr ist als eine Behausung für tausend Ängste und Verbitterung. Und sie sagen: Mich sollen sie nicht in ihre Klauen bekommen. Und sie vergessen, dass man in niemandes Klauen ist, wenn man in deinen Armen ist. Ich werde allmählich wieder ruhiger, mein Gott, durch dieses Gespräch mit dir. Ich werde in der nächsten Zukunft noch sehr viele Gespräche mit dir führen und dich auf diese Weise hindern, mich zu verlassen. Du wirst wohl auch karge Zeiten in mir erleben, mein Gott, in denen mein Glaube dich nicht so kräftig nährt, aber glaube mir, ich werde weiter für dich wirken und dir treu bleiben und dich nicht aus meinem Inneren verjagen."
Orgel und Klarinette
Wir hören die Erinnerungen der Diakonisse Johanne Aufricht an den schwersten Tag in ihrem Leben.
Aus dem Tagebuch der Diakonisse Johanne Aufricht
"Am 17.Oktober (1944) kam das Verhängnis über uns. Erna kam ganz früh in unser Haus. Ich erstaunt: Was ist, Erna? „Ich muss fort." Ich sagte: „Dann gehe ich mit." Machte sofort eine Eingabe. Aber mein Bitten half nichts. Ein Schreiben erhalten. „Altersgrenze überschritten". Dennoch habe ich auch meine Sachen gepackt. Ich bin mit ihr in die Kaserne - wo sich wohl schon 1000 versammelt hatten. Wir fanden ein nettes Zimmer mit mehreren Personen und warteten. Auf alles gefasst. Erna sagte: „Ich fürchte mich nicht. Gott geht mit." Zusammen beteten wir noch „Jesu, geh voran". Am Abend kam ich noch einmal mit einer Grazer Diakonisse. Erna empfing mich mit den Worten „Ich bin jetzt ruhiger, weil du in 6 Wochen nachkommst." Wohin??
Am nächsten Morgen wollte ich mich schweren Herzens endgültig verabschieden. Der Zug war aber schon in der Nacht fortgefahren. Wer ermisst meinen Schmerz? Das war am 18.Oktober 1944. Nun bin ich allein unter 40.000 Menschen.
Ich gehe wie im Traum einher - Herr Gott, hilf tragen."
Wir hören einen Abschnitt aus dem Tagebuch der Etty Hillesum. Sie hat inzwischen erfahren, dass ihr Aufruf für Westerbork unmittelbar bevorsteht.
Aus dem Tagebuch der Etty Hillesum
"5.September 1942. Jetzt muss ich schlafen gehen und alles fahren lassen. Mir ist so schwindelig. Irgendwas in meinem Körper ist nicht in Ordnung. Ich möchte gern bald wieder gesund werden. Aber ich nehme alles aus deinen Händen hin, mein Gott, wie es kommt. Ich weiß, dass es immer gut ist. Ich habe erfahren, dass man alles Schwere in Gutes verwandeln kann, indem man es trägt.
Siehst du, ich leide immer noch an demselben Übel: ich kann mich nicht dazu entschließen, mit dem Schreiben aufzuhören. Ich möchte noch im letzten Augenblick die einmalige, erlösende Formel finden. Für alles, was in mir ist, für das übervolle und reiche Lebensgefühl ein einziges Wort finden, mit dem ich alles auszusagen vermag. Warum hast du aus mir keinen Dichter gemacht, mein Gott? Aber du hast mich ja zum Dichter gemacht, und ich werde geduldig warten, bis die Wörter in mir herausgewachsen sind, mit denen ich alles bezeugen kann, von dem ich glaube, ein Zeugnis ablegen zu müssen, mein Gott, dass es gut und schön ist, in deiner Welt zu leben, trotz allem, was wir Menschen einander antun:
Das denkende Herz der Baracke.
22. September 1942 Mit einem Hemd am Leibe und einem Hemd in meinem Rucksack - wie war doch noch Kormanns Märchen von dem Mann ohne Hemd? Der König, der im ganzen Reich nach dem Hemd seines glücklichsten Untertanen suchte, und als er den glücklichsten Menschen endlich gefunden hatte, stellte sich heraus, dass er gar kein Hemd besaß - ferner noch die winzige Bibel, und vielleicht passen noch meine russischen Wörterbücher und die Volkserzählungen von Tolstoi hinein, und vielleicht, ganz vielleicht ist auch Platz für einen Band von Rilkes Briefen. Und der Pullover aus reiner Schafwolle, eigenhändig gestrickt von einer Freundin - ich habe noch viele Besitztümer, mein Gott, und so jemand will eine Lilie auf dem Felde sein?
Also denn, mit einem Hemd im Rucksack gehe ich in eine „unbekannte Zukunft". So heißt es. Aber ist es denn nicht immer dieselbe Erde unter meinen umherirrenden Füßen und derselbe Himmel, einmal mit dem Mond, einmal mit der Sonne, um all die Sterne nicht zu vergessen, über meinen entzückten Augen? Warum dann von einer unbekannten Zukunft reden?"
Orgel und Klarinette
Wir hören einen Abschnitt aus dem Tagebuch der Etty Hillesum, in dem sie ein Gespräch mit einem langjährigen Freund reflektiert - alles unter dem Eindruck der unabweisbar bevorstehenden Abfahrt nach Westerbork.
Aus dem Tagebuch der Etty Hillesum - über ein Gespräch mit einem Freund
"23. September 1942 Und doch bringt uns der Hass nicht weiter, Klaas. ... Wir haben noch soviel mit uns selbst zu tun, dass wir uns dem Hass gegen unsere sogenannten Feinde noch gar nicht überlassen können. Wir sind noch einer des anderen Feind. Und ich selbst bin auch nicht frei davon, wenn ich sage, dass es unter unseren eigenen Leuten auch Henker und schlechte Menschen gibt. Ich glaube eigentlich nicht an die sogenannten „schlechten Menschen". Ich möchte den Mann bei seinen Ängsten packen, die Quelle seiner Angst in ihm aufspüren, ich möchte eine Treibjagd auf ihn veranstalten und ihn in seinen eigenen inneren Bereich treiben, denn das ist das einzige, Klaas, was wir in dieser Zeit tun können.
Und Klaas machte eine müde, mutlose Geste und sagte: „Aber was du willst, dauert zu lang, soviel Zeit haben wir doch nicht." Und ich antwortete: „Aber mit dem, was du willst, beschäftigt man sich nun schon seit zweitausend Jahren unserer christlichen Zeitrechnung, abgesehen von den vielen Jahrtausenden vorher, in der es ja auch schon eine Menschheit gab. Und was hältst du von dem Ergebnis, wenn ich fragen darf?"
Und ich wiederholte mit derselben Leidenschaftlichkeit wie immer, obwohl ich mir allmählich langweilig vorkam, weil bei mir immer alles auf dasselbe hinausläuft: „Es ist die einzige Möglichkeit, Klaas, ich sehe keinen anderen Weg, als dass jeder von uns Einkehr hält in sich selbst und all dasjenige in sich ausrottet und vernichtet, was ihn zu der Überzeugung führt, andere vernichten zu müssen. Wir müssen durchdrungen sein von dem Gedanken, dass jeder Funken Hass, den wir zu der Welt hinzufügen, sie noch unwirtlicher macht, als sie ohnehin ist." Und Klaas, der alte, verbissene Klassenkämpfer, sagte entrüstet und erstaunt zugleich: „Ja, aber das - aber das wäre ja wieder das Christentum!"
Und ich, über soviel plötzliche Verwirrung amüsiert, sagte ganz gelassen: „Ja, warum eigentlich auch nicht - Christentum?" "
Im Oktober 1942 kommt Etty Hillesum nach Westerbork, erhält aber einige Male die Erlaubnis, das Lager zu verlassen. Ende Juni 1943 geht das dann nicht mehr. Zuerst darf sie noch unzensierte Briefe schreiben, bis ihr auch das verboten wird. Wir hören nun einen Abschnitt aus einem dieser Briefe aus Westerbork an Freunde in Amsterdam.
Brief der Etty Hillesum vom 3.Juli 1943 aus Westerbork
"Der Himmel hängt tief und schwarz, im Lebensgefühl finden große Verschiebungen statt, und das Herz ist ganz grau und tausend Jahre alt. Aber es ist nicht immer so. Der Mensch ist etwas Seltsames. Das Elend, das hier herrscht, ist wirklich unbeschreiblich. Wir hausen in den großen Baracken wie Ratten in einem Abwasserkanal. Man sieht viele dahinsterbende Kinder. Aber man sieht auch viele gesunde Kinder. Vorige Woche kam in der Nacht ein Gefangenentransport bei uns durch. Wachsbleiche und durchsichtige Gesichter. Ich habe noch nie soviel Erschöpfung und Müdigkeit auf Menschengesichtern gesehen wie in jener Nacht. In dieser Nacht wurden sie bei uns „durchgeschleust": Registratur, nochmals Registratur, Durchsuchung durch halbwüchsige NSB-Burschen, Quarantäne, an sich schon ein kleiner Leidensweg von Stunden und Stunden. Am frühen Morgen werden die Menschen in leere Güterwaggons gepfercht. Dieser Zug wurde noch in Holland beschossen, deshalb der Aufenthalt. Und dann weitere drei Tage lang in Richtung Osten. Papiermatratzen auf dem Boden für die Kranken. Im übrigen kahle Waggons mit einer Tonne in der Mitte. Ungefähr 70 Menschen in einem geschlossenen Waggon. Man darf nur einen Brotbeutel mitnehmen. Ich frage mich, wie viele lebend ankommen. Und meine Eltern bereiten sich auf solch einen Transport vor, falls es nicht doch unerwartet mit Barneveld klappt. Neulich ging ich ein wenig mit Vater in der staubigen Sandwüste spazieren, er ist ganz herzlich und lieb und von einer schönen Gelassenheit. Er sagte sehr freundlich und ruhig wie beiläufig: „Eigentlich würde ich am liebsten schnell nach Polen kommen, dann hab ich es um so rascher überstanden, in drei Tagen bin ich tot, es hat ja doch keinen Sinn mehr, dieses menschenunwürdige Dasein fortzusetzen. Und warum sollte mir nicht auch geschehen, was tausend anderen geschieht?" Später lachten wir beide über die passende Landschaft, sie sieht oft wie eine Wüste aus trotz der lila Lupinen, Kuckucks-Lichtnelken und zierlichen Vögel, die Möwen ähneln. „Die Juden in der Wüste, diese Landschaft kennen wir noch von früher." ...
Das Elend ist wirklich groß, und dennoch laufe ich oft am späten Abend, wenn der Tag hinter mir in die Tiefe versunken ist, mit federnden Schritten am Stacheldraht entlang, und dann quillt es mir immer wieder aus dem Herz herauf - ich kann nichts dafür, es ist nun einmal so, es ist von elementarer Gewalt -: Das Leben ist etwas Herrliches und Großes, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen - und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen."
Als letzten Text hören wir eine Predigtnotiz der Rabbinerin Regina Jonas. Sie war nach Theresienstadt deportiert worden, war dort Leidensgenossin von Erna und Johanne Aufricht, wobei es angesichts der Zigtausend Menschen, die durch dieses KZ geschleußt wurden, reiner Zufall gewesen wäre, wenn sie sich getroffen hätten. Regina Jonas war neben der Zwangsarbeit, die sie wie alle arbeitsfähigen Häftlinge verrichten musste, als Seelsorgerin an den Deportieren tätig. Am 12.12.1944 wurde sie mit einem der letzten Züge nach Auschwitz gebracht und dort ermordet.
Aus Predigtnotizen von Rabbinerin Regina Jonas in Theresienstadt
"Unser jüdisches Volk ist von Gott in die Geschichte gesandt worden als ein „gesegnetes Volk". Von Gott „gesegnet sein" heißt, wohin man tritt, in jeder Lebenslage, Segen, Güte, Treue spenden - Demut vor Gott, selbstlose hingebungsvolle Liebe zu seinen Geschöpfen erhalten die Welt. Diese Grundpfeiler der Welt zu errichten war und ist Israels Aufgabe. - Mann und Frau, Frau und Mann haben diese Pflicht in gleicher jüdischer Treue übernommen. Diesem Ideal dient auch unsere ernste, prüfungsreiche, Theresienstädter Arbeit ...
Diener Gottes zu sein, als solche rücken wir aus irdischen in ewige Sphären."
Quellenangaben:
Text von Gusta Davidson-Drenger aus: Ingrid Strobl, „Sag nie, du gehst den letzten Weg". Frauen im bewaffneten Widerstand gegen Faschismus und deutsche Besatzung ; Fischer-TB Verlag 1989
Text von Nelly Sachs aus: „Höre Gott!".Psalmen des Jahrhunderts ; Hrg. Paul Konrad Kurz ; Benziger Verlag 1997
Text von Diakonisse Johanne Aufricht: aus dem Original Tagebuch; Fliedner-Kulturstiftung
Text von Etty Hillesum aus: „Das denkende Herz der Baracke".Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943 ; Hrg.J.G.Gaarlandt ; Verlag F.H.Kerle Freiburg 1983
Text von Regina Jonas aus: „Jüdische Frauen im 19. und 20.Jahrhundert" Hrg. Jutta Dick, Marina Sassenberg ; Rowohlt Taschenbuch Verlag 1993
letzt.S.n.Epiph., 20.01.2013, 1.Kor.1, 18-25, Stadtkirche + Jonakirche, Daniel Kaufmann
Liebe Gemeinde,
„Spaß beiseite" ist ein Ausdruck, den es nur im Deutschen mit diesem präzisen Unterton geben soll. „Unser Leben währet 70 Jahre und wenns hoch kommt sind es achtzig und wenn wir einmal lachten, dann wenn Sahnetorten flogen. Denn ansonsten nehmen wir Deutsche alles Ernst, sehr ernst, bitterernst, todernst..." schreibt der Jorunalist Martin Fonda, der sich mit dem Humor in unserem Land beschäftigt hat. Auslachen, Ablachen, sich über andere lustig machen - das schon, dafür gibt's ja auch reichlich Vorbilder. Aber befreit lachen, über sich selbst und seine großen und kleinen Fehler und Macken, das gehört nur bedingt zu unserer allgemeinen gut ausgebildeten Fähigkeiten. Am ehesten gelingt das noch bei dem einen oder anderen Glas Wein, in der 5. Jahreszeit mit dem „Höhepunkt" Rosenmontag, beim Schützenfest oder anderen ähnlich heiteren Treffen.
Nun haben wir schon letzten Sonntag festgehalten, dass diese Schwierigkeit mit dem Lachen auch bei den Christen recht weit verbreitet ist. Dazu folgender kleine Anekdote von den britischen Inseln:: „Lady Dobbie, die Frau eines berühmten Generals war einmal mit dem Zug unterwegs. Ein Mann saß uns gegenüber", erzählte sie, „wir dachten zuerst, er sei Christ, aber später fanden wir heraus, dass er nur eine Magenverstimmung hatte." Christen sind offenbar sehr ernsthafte Menschen, Protestanten und Reformierte entgleisen die Gesichtszüge so gut wie nie: Immer gleich intensive Verantwortlichkeit für einfach zu viele Probleme dieser Welt. Mit dem Lachen tun sich auch die Christen schwer. Weil es auch bei ihnen eine Menge anderer Themen gibt, die das Lachen verhindern. Selbst Martin Luther, gewichtiger Gewährsmann evangelischen Lebens, muss sich für so manchen Scherz legitimieren, wenn er in einer seiner Tischreden klarstellt:
„Wenn ich wüsste, dass der Herrgott keinen Spaß verstünde, wollte ich nicht in den Himmel kommen." Und an anderer Stelle etwas theologischer: „Gott hat keinen Gefallen an der Traurigkeit des Geistes, sondern will, dass wir in ihm fröhlich seien. Er hat ja auch seinen Sohn nicht gesandt, dass er uns betrübe, sondern fröhlich mache."
Dieser Fröhlichkeit, diesem Lachen, das Gott schenkt, dem befreiten Lachen der Kinder Gottes gehen wir in dieser Predigtreihe näher nach.
Letzten Sonntag haben wir uns dazu die einschlägigste Stelle des Alten Bundes angesehen, die Geschichte von der Ankündigung eines Sohnes bei den greisem Ehepaar Sara (89 Jahre) und Abraham (99 Jahre) und dazu festgehalten: Gott selbst lacht mit uns mit, er sorgt dafür, dass wir etwas zu lachen haben, er lässt uns lachen und sorgt dafür, dass eine eigentlich ziemlich peinliche Geschichte einen guten Ausgang nimmt. (Genesis 18-21) Nächsten Sonntag werden wir uns der Heiterkeit eines Christenmenschen widmen.
Heute geht es um die offenbar lächerlichste Stelle des Neuen Bundes, die wohl schwierigste theologische Figur unseres Glaubens, um Kreuz und Auferstehung und deren Resonanz bei den Menschen. Zunächst zum Kreuz. Davon haben wir ja gerade bei der Schriftlesung (1. Kor.1,18-25) gehört. Gott stirbt am Kreuz - das ist so mit das Lächerlichste, was in der Weltgeschichte verhandelt worden ist. Und es ist ein Dauerthema für Witze und Karikaturen der unterschiedlichsten Art gewesen. Die ältesten bildlichen Darstellungen zeigen einen gekreuzigten Eselskopf mit den Worten: „Alexamenos betet seinen Gott an." Dass Gott sich hinrichten lässt, ist schlechterdings nicht vorstellbar, geht nicht in die Köpfe, muss ein Witz sein, zeichnet ein Gottesbild, das quer zu allen sonstigen Vorstellungen von Gott steht. Denn es bedeutet, dass Gott anders ist als man sich das gemeinhin gedacht hat. Er ist z.B. nicht allmächtig, jedenfalls nicht so allmächtig, wie man sich das in der Verlängerung menschlicher Macht vorstellt. Seine Allmacht kann offenbar nicht ohne Ohnmacht gedacht werden. Gott ist am Kreuz schwach, dem Leiden unterworfen, leidensfähig wie ein Mensch und allen menschlichen Bedingungen und Einschränkungen ausgesetzt und damit wird er dann ja auch zum Spielball der Menschen. Die Soldaten unter dem Kreuz treiben ihre Späßchen mit ihm, verspotten ihn, machen auf seine Kosten Witze, foltern ihn und lachen ihn aus: „Gegrüsset seist du, der Juden König."
Auch die Menschen unterm Kreuz können sich nicht verkneifen, einmal mehr oder weniger hämisch nachzufragen: „Ha, Wenn du Gottes Sohn bist, hilf dir doch selber, steig doch runter vom Kreuz..." Am Kreuz wird die offensichtlich große Kluft von Anspruch (Gottes Sohn) und Wirklichkeit (Verbrecher am Kreuz) durch Spott, Zynismus und durch Auslachen überbrückt.
Oft wird dieser Spott, diese Lächerlichkeit als ein Gefühl der Überlegenheit und der Macht verstanden. Wer den anderen auslacht, steht oben, hat mehr Macht und Einfluss, heißt es. Der Ausgelachte ist dann der Dumme, das Opfer. Diese Sicht stimmt beim Kreuz Jesu nicht. Dieses Lachen am Kreuz ist vor allem ein Tribut an den Tod, den man zynisch als einzige Wahrheit des Lebens feiert. Im letzten äußert sich hier die Furcht vor dem Tod. Die ist der Motor für die Belustigungen. Wenn man es ein wenig überspitzt auf den Punkt bringt, so weist das Lachen am Kreuz sogar auf einen gewissen Todeskult hin, der als letzte Instanz des Lebens verehrt wird. Im Grunde genommen stellen die Menschen, wenn auch in spöttischer Form unter dem Kreuz jene zutiefst bitteren Fragen, vor denen sie selbst längst kapituliert haben: „Gibt's da noch was zu hoffen angesichts des Todes?" „Geht's da weiter mit mir?" „Und wenn ja, wie geht es weiter?" In dem Spott über den Gekreuzigten drückt sich die unbeantwortete Frage nach dem eigenen Tod aus. Und das Regiment und die Macht, die der Tod über unser Leben hat. Davon spürt man ja in unseren Tagen allerhand, die wir großenteils so leben, als wäre das Leben hier auf dieser Erde alles und der Tod entlässt uns dann in die gähnende Leere, ins Nichts. Viele leben heute nach dem Motto: Lass uns möglichst schnell und ausgiebig das Leben genießen, bevor der Tod uns alles wegnimmt. Wir müssen das Leben in vollen Zügen ausschlürfen, damit wir nichts verpassen, damit die Lebensbilanz nicht lautet: „Leeranzeige, nichts was eigentlich erwähnenswert gewesen wäre.
Insofern ist das Kreuz der Kulminationspunkt für die Frage nach dem, was unser Leben zusammenhält und Sinn gibt. Und es kommt nicht von ungefähr, dass Menschen angesichts dieser Frage betreten schweigen, peinlich berührt sind oder eben ins Lächerliche flüchten, sich lustig machen. „Das Kreuz ist eine Torheit" schreibt Paulus. Für den natürlichen Menschen, für den Menschen, der sich vor allem aus seinen eigenen Vorstellungen, von seiner Rationalität und Logik leiten lässt und diese für die letzte Wirklichkeit hält. Der damit auch Gott für sich zurechtstutzt und kreiert. Das Kreuz leuchtet dem „natürlichen" Menschen nicht nur nicht ein, es reizt ihn zum Witze erzählen und lächerlich machen. Damals war das so, aber auch heute ist das noch so. So kursieren zum Kreuz auch heute eine Reihe von Anekdoten und Witze. Aus der Radio-Werbung etwa: „Was haben ein Passat Kombi, der Heilige Franz von Assisi und Jesus Christus gemeinsam? Antwort: Alle drei sind Mehrtürer." Der erste mit eh und ü, die anderen beiden mit ä und y geschrieben. Oder noch etwas deftiger und auf der Witzliste inzwischen die Nr. 1:
„Eine Firma, die Nägel herstellt, beauftragt einen Experten für Werbung, ein auffallendes Werbeplakat für die Firma zu entwickeln. Bei der nächsten Besprechung präsentiert der Experte seinen Vorschlag: „Das Plakat, das ich entworfen haben ist genial", sagt er. Daraufhin zeigt er ein Bild, auf dem Jesus ans Kreuz genagelt ist. Darunter steht: „Unsere Nägel halten einfach alles."
Die Geschäftsleitung ist natürlich schockiert und teilt dem Werbefachmann mit, dass sie so ein Plakat unmöglich aufhängen könnten und bittet ihn, ein
Neues zu entwickeln. Eine Woche später kommt der mit einem neuen Vorschlag. „Diese Idee ist noch besser als die letzte", sagt er begeistert. Auf dem Plakat ist nun ein Kreuz zu sehen, vor dem Jesus liegt. Darunter steht: „Mit unseren Nägeln wäre das nicht passiert."
Das Kreuz Jesu reizt zum Lachen, zum lächerlich machen. Nun gehört auch diese Geschichte von Jesus, und darin ist sie der Geschichte von letztem Sonntag um Abraham und Sara ganz ähnlich, zu jenen Geschichten, in denen Gott das Lachen der Menschen zulässt und aushält. Es wird auch hier nicht übersprungen, an die Seite gedrückt oder verdrängt. Einmal mehr wie an vielen anderen Stellen der Bibel wird das Lachen der Menschen zugelassen - allerdings durch ein Lachen ganz anderer Art überholt. Ein bisschen nach dem Motto: „Wer zuletzt lacht, lacht am Besten" wird aus dem schadenfrohen, spöttischen Lachen unter und am Kreuz etwas gemacht, was allen Menschen bis auf den heutigen Tag zum Segen gereicht. Gott lässt es sich nämlich nicht nehmen, alles auf den Kopf zu stellen. Gemäß der Narrenweisheit: „Man muss die Dinge der Welt verkehrt herum betrachten, damit man sie richtig sieht" ersetzt er die Reihenfolge „Leben - Tod" durch die Reihenfolge „Tod - Leben". Die Todeswirklichkeit als letzte Instanz wird durch einen schöpferischen Akt Gottes mit der Auferstehungswirklichkeit überholt. Aus dem verletzenden und vernichtenden Lachen wird ein zunächst noch recht zaghaftes, aber dann doch sehr mutiges und furchtloses Lachen der Menschen vom Ostermorgen. Zwischen Karfreitag und Ostermorgen kommt es zu einer Art Quantensprung, einer Umkehrung des Lebens vom Tode her zum Leben hin.
Seit Ostern gibt es ein erfrischendes, ein herzerfrischendes und befreites Lachen, das Ostergelächter. Im Ostergelächter erwächst, um es mit dem Theologen Helmut Gollwitzer zu sagen: „...jener respektlose und fröhliche Zweifel gegenüber der Hoffnungslosigkeit unseres Lebens, der Zweifel an der Unabänderlichkeit des Weltlaufes, der Zweifel an der Unbekanntheit und Ferne unseres Gottes, der Zweifel an der Sinnlosigkeit des Leides, der Zweifel, der in Ostern seinen Grund hat und ungemein befreiend ist. Seit Ostern lachen Menschen über den Tod, lachen den Tod aus, freuen sich darüber, dass er seine Macht als letzte Instanz verloren hat. An Ostern wird der Tod totgelacht - und das Leben, das nicht vergeht, gefeiert."
Zu den befreienden Wirkungen dieses Osterlachens kann man ganze Bibliotheken schreiben. Im Grunde genommen ziehen sich die Wirkungen dieses Lachens durch die ganze Geschichte des christlichen Glaubens. Sie sind der Motor für die furchtlosen Auftritte von mehr oder weniger einfachen Leuten wie den Jüngern, die vor nichts und niemand Furcht haben. „Man muss Gott mehr gehorchen als dem Menschen", sagen sie. Und das bringt zunächst die Provinzstatthalter, dann die Könige und Caesaren mehr und mehr ins Grübeln, bis schließlich eine ganze Welt davon erfasst wird. „Ihr könnt unseren Leib umbringen, unser Leben kriegt ihr trotzdem nicht, das hält und erhält ein anderer", hört man immer wieder von den Zeugen und Märtyrern der ersten Jahrhunderte.
Diese erfrischende Einstellung zum Leben hat sich in der Geschichte des christlichen Glaubens nicht immer in gleicher Weise gehalten. Es hat da immer wieder auch Verdunklungs- und Verneblungsphasen gegeben. Und die wurden nicht nur von außen an die Christen herangetragen, sondern öfters auch von der Kirche selbst angezettelt. Das kritische Lachpotential schien den Menschen zu frei, zu unabhängig, mithin auch zu schlecht lenkbar für kirchliche Machthaber zu machen. Menschen, die vor nichts und niemand Angst haben, die sich selbst vor dem Tod nicht fürchten, lassen sich nur schwer deckeln. So führte man die Furcht durch ein Hintertürchen wieder ein. Durch die Furcht vor Hölle, Fegefeuer und jüngstem Gericht sollten die Menschen kontrollierbarer und gefügiger bleiben. Genau darum jedenfalls geht es dem etwas düsteren Jorge in Umberto Eccos „Der Name der Rose". Er will die Veröffentlichung der zweiten Poetik des Aristoteles verhindern, weil darin das Lachen als Überwindung, als Therapeutikum gegen die Angst, auch der Angst vor dem Tod, empfohlen wird. Und dann - und das ist seine größte Sorgen - wäre das menschliche Leben nicht mehr ein beschwerlicher Läuterungsprozess mit allerhand disziplinarischen Verrenkungen und seelischen Verkrümmungen, sondern wenigstens teilweise wie ein Schlaraffenland, oder in biblischem Vokabular ausgedrückt: man würde ein Stück Himmel auf Erden vorwegnehmen, erleben, spüren.
Um nichts weniger geht es aber beim Evangelium, der guten Nachricht, der frohen Botschaft von Jesus. Und dieser schon hier wenigsten rudimentär erlebbarer Himmel auf Erden ist auch der Grund für die große Gelassenheit, für die schmunzelnde Schlagfertigkeit und wenn auch nicht ausdrücklich, aber doch an vielen Stellen spürbaren Heiterkeit und einem gewissen Augenzwinkern bei den Auftritten Jesu. (Peter Bloch: „Der fröhliche Jesus", ist dem mal nachgegangen. In der Tat: Die Geschichten mit den Spitzensatz „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist" (Mt. 22,15-22) oder „Wer ohne Sünde ist der werfe den ersten Stein" (Joh. 8.1-11) sind nicht ohne Schmunzeln oder Augenzwinkern denkbar) Es gehört zu den gnädigen Führungen unseres Gottes, dass immer wieder Menschen im Namen dieses befreienden Evangeliums aufgetreten sind.
Menschen, von denen alle Welt noch heute spricht wie etwa einen Martin Luther.
Aber auch weniger bekannte Zeugen wie etwa jenen Erweckungsprediger von Iserlohn, Pfarrer Johann Abraham Strauß. Als im Jahr 1830 die Cholera wütete, rief er überm Zeitungslesen seiner Tochter zu: „Hör Karoline, die Cholera kommt nächstens auch hierher. Haben wir den auch genug Gräber für uns auf dem Friedhof? Wie viele sind es?" „Sechs, Papa", antwortete die Tochter. „Nun", so Strauß, „die Damen gehen vor: eins für dich, eins für Mama, eins für mich - nein ich werde wohl zwei nötig haben, weil ich so dick bin. Das sind also eins zwei, drei, vier. Herr Vikar, zwei bleiben noch übrig. Wissen Sie was? Lassen sie sich neben uns begraben, da wollen wir gute Nachbarschaft halten im Grab, noch bessere im Himmel."
Pfarrer Strauß nahm den Tod nicht zu ernst, weil er von der Auferstehung wusste und einen entsprechenden Auferstehungs-Humor hatte.
Diesen Mut haben übrigens nicht nur die Protestanten gepachtet. Graf von Galen Bischof in Münster, bekannt durch sein mutiges Eintreten für Behindertes Leben im Dritten Reich. Im alljährlichen Sylvestergottesdienst hielt er vor einer riesigen Gemeinde eine Art Rechenschaftsbericht ab, in dem er die kirchenfeindlichen Attacken und andere Sünden des Nazi-Regimes in drastischer Offenheit zu geißeln pflegte. Natürlich fand sich unter den Versammelten jeweils auch eine größere Zahl von Spitzeln und Parteifunktionären in Zivil, die der Bischof in keine geringe Wut zu setzten pflegte. Als er einmal davon sprach, wie die Partei den Eltern die Kinder wegnehme, sie aufhetze und ihre Ideologie in sie hineinpumpe, hielt es einer jener Funktionäre nicht mehr aus. Er brüllte durch das Kirchenschiff: „Wie kann jemand, der keine Familie hat, es überhaupt wagen, über Kindererziehung zu sprechen!" Der Bischof antwortete darauf prompt: „Ich verbitte mir abfällige Bemerkungen über den Führer!" (Hitler war bekanntlich Junggeselle)
Dies alles sind Beispiele für eine unverzagten, fröhlichen, durch nichts und niemand zu erschütternde Gewissheit, die in der Auferstehung Jesu wurzelt. Mir hat diese große Dynamik immer sehr imponiert. Sie war mir eine große Motivation im Studium und ist sie bis heute im alltäglichen Leben. Es ist jene Furchtlosigkeit, die sich auch in folgender kleinen Anekdote widerspiegelt: In der Grundschule wird die Geschichte von Jona und dem Wal erzählt. Der Lehrer: „Ja und dann kam dieser riesige Wal und verschlang Jona und spuckte ihn dann da, wo er hin sollte, wieder aus. So steht es in der Bibel - aber das müsst ihr nicht unbedingt glauben, manchmal erzählt die Bibel auch nur Märchen." Da meldet sich ein kleines Mädchen und sagt ganz fröhlich und sicher: „Herr Lehrer, ich glaub aber daran, dass das wirklich passiert ist!" „Naja," wendet der Lehrer ein, „du muss aber der Bibel nicht alles glauben, wirklich nicht". Aber das Mädchen ist sich immer noch sicher: „Na gut, dann wird ich den Jona halt fragen, wenn ich in den Himmel komme!" Da wird der Lehrer ungeduldig und auch ein bisschen fies: „Und wenn der Jona nicht im Himmel ist? Was dann, wenn er in der Hölle ist?" Daraufhin das Mädchen: „Dann können Sie ihn ja fragen!"
Liebe Schwestern und Brüder, richtig ist hier doch das Gespür des kleinen Mädchen, dass da einer vor der „Heiligen Schrift" nicht genug Respekt hat, sie irgendwie entwertet. Auch wenn der Versuch, die Bibel immer wörtlich zu verstehen, so seine Tücken und Schwierigkeiten hat und gerade auch bei der Jonageschichte auf der symbolischen Ebene ungleich tiefere Dimensionen entfaltet, ist hier doch bemerkenswert das Selbstbewusstsein und die Freiheit, mit der dieses Mädchen unterwegs ist. Das schien und scheint mir bis heute jedenfalls etwas sehr Attraktives und Erstrebenswertes zu sein. Nicht einknicken, nicht buckeln, sich nicht kleiner und unbedeutender machen als man ist, sondern selber zu etwas Stellung beziehen, den aufrechten Gang einüben und aus jener inneren Gelöstheit und Freiheit leben, die sich vor nichts und niemand fürchtet.
Nun ist uns diese Gewissheit nicht immer gleich zuhanden. Wir sind Menschen im Widerspruch: Eberhard Busch, Biograph von Karl Barth schreibt über den großen Theologen: „Das Altwerden hat Karl Barth sehr erlitten. Ihn verdross es, in einem Spiegel sein ergrautes, faltiges Haupt zu sehen. Lieber schaute er gar nicht hin. Beschwerden machten ihm mehr und mehr Mühe. Er sei nur noch eine Ruine seiner selbst, spöttelte er ironisch über seinen Zustand. Zuweilen befiel ihn auch Schwermut. Einmal sagte er: „Früher habe ich es schön sagen und zu erklären verstanden: Es ist doch unser Tun umsonst, selbst in dem besten Leben. Vor dir sich niemand rühmen kann, des muss dich fürchten jedermann und deiner Gnade leben. Aber es ist ein gewaltiger Unterschied, das nur zu wissen oder das dann jetzt an der eigenen Haut zu erfahren."
Die Stimmungen in unserem Leben sind beileibe nicht allezeit gleich egal. Es gibt da Schwankungen. Und auch Anfragen, vor denen wir selber nachdenklich werden und ins Grübeln kommen. Das Lachen der Kinder Gottes angesichts des Todes ist immer ein Geschenk, kann man nicht für immer pachten. Nichtsdestotrotz ist es auch da, wenn einem gar nicht unbedingt zum Lachen zu Mute ist. Von Norbert Grasse, unserem langjährigen Mitsänger bei den „Jonasingers", der im Sommer letzten Jahres mit 49 Jahren an Lungenkrebs gestorben ist, habe ich kurz vor seinem Tod eine in diesem Sinne furchtlose und humorvolle Mail bekommen: „İch glaube von mir sagen zu können, ich hab keine Angst vor dem Tod (klingt komisch, aber ich weiß nicht wie ich es anders ausdrücken soll). Ich hab immer gedacht: Ok, wenn es halt so sein soll, ist es halt so... İch bete nicht jeden Tag, also nicht bewusst. Glaube schon, dass ich auf meine Weise gläubig bin. İch denke, dass es danach weiter geht. Dass ich meinen Vater, Mutter, Sohn wieder sehen werde. Werde mich schon mal nach gescheiten Saenger/innen umsehen, damit, wenn Du so in 50/60/70 Jahren nach kommst, wir gleich los legen können mit Singen."
Das Lachen der Kinder Gottes ist sicher immer ein Geschenk. Es kann dafür sorgen, dass die Grundkoordinaten unseres Lebens richtig eingehängt sind, eine tiefe Zuversicht und Gelassenheit uns erfasst und wir getrost und fröhlich unsere Straße ziehen. Ich möchte schließen mit einem Gedicht des Niederrheiner Kabarettisten Hans-Dieter Hüsch, der diese Heiterkeit in einigen Versen eingefangen hat:
„Ich bin vergnügt, erlöst befreit.
Gott nahm in seine Hände meine Zeit.
Mein Fühlen, Denken , Hören, Sagen.
Mein Triumphieren und Verzagen
Das Elend und die Zärtlichkeit
Was macht das ich so fröhlich bin
In meinem kleinen Reich
Ich sing und tanze her und hin
Vom Kindbett bis zur Leich.
Was macht das ich so furchtlos bin
An vielen dunklen Tagen.
Es kommt ein Geist in meinen Sinn
Will mich durchs Leben tragen.
Was macht, dass ich so unbeschwert
Und mich kein Trübsinn hält
Weil mich mein Gott das Lachen lehrt
Wohl über alle Welt."
1.S.n.Epiph., 13.01.2013, 1.Mose 18,1-15, Stadtkirche + Jonakirche, Daniel Kaufmann
Teil 1: Spaß beiseite oder darf doch gelacht werden?
Die Ankündigung eines Nachkommens, Genesis 18,1-15
Haben Christen Grund zum Lachen? Fragt der Karikaturist Tiki Küstenmacher und gibt mit jeweils einem seiner Cartoons 4 Antwortmöglichkeiten:
A: Nein, höchstens am Rosenmontag
B: Nein, höchstens über die Witzseite im Gemeindebrief
C: Nein, das Leben ist viel zu ernst (vor allem für Protestanten)
D: Eigentlich schon, aber im Grunde dann doch nicht so richtig oder nur in einem irgendwie tieferen Sinne, also eher höchst selten.
„Es ist ein offenes Geheimnis", schreibt Jürgen Erdmann von den Lutherratten, einer kabarettistischen Gruppe im kirchlichen Bereich, „dass Lachen und Humor in der Amtskirche Mangelware ist." Selbst Luther, gewichtiger Gewährsmann evangelischen Lebens, muss sich für so manches Lachen offenbar legitimieren, wenn er in einer seiner Tischreden klarstellt: „Wenn ich wüsste, dass der Herrgott keinen Spaß verstünde, wollte ich nicht in den Himmel kommen."
Und an anderer Stelle etwas theologischer:
„Gott hat keinen Gefallen an der Traurigkeit des Geistes, sondern will, dass wir in ihm fröhlich seien. Er hat ja auch seinen Sohn nicht gesandt, dass er uns betrübe, sondern fröhlich mache."
Womit er den Kern des Problems anspricht:
Der christliche Glaube ist nicht in erster Linie ein Regelwerk zur Einschränkung und Verhinderung von Lebensfreude, obwohl gerade diese Sicht der Dinge noch weit verbreitet ist. In einem Cartoon von Hägar, dem Schrecklichen wird folgendes Gespräch überliefert:
Hägar fragt: „Ist Gefräßigkeit Sünde?"
Die Antwort ist eine Gegenfrage: „Macht es Spaß?" #
Hägar: „Ja."
Antwort: „Dann ist es Sünde."
Alles was Spaß macht, darf nicht sein. Diese Sicht der Dinge scheint weitgehend die Einstellung zum Leben der Christen zu bestimmen und insofern ist auch jenes berühmte Nietzschezitat noch lange nicht überholt, das da lautet:
„Die Christen müssten erlöster aussehen."
Befreiter, glücklicher, fröhlicher, denn eigentlich kommen sie doch von einer großen Befreiungstat her: Dem Sieg über Hölle, Sünd und Teufel. Der christliche Glaube bietet und ist doch ein Quell der Gewissheit, der Zuversicht und der Freude. Genau an dieser Gewissheit und Zuversicht scheint es zu mangeln. Nicht erst heute, schon zu Luthers Zeiten war das so. Einer seiner etwas deftigeren Aussprüche zu diesem Gedankengang lautet: „Einem verzagten Arsch entfleucht niemals ein fröhlicher Pfurz." Und etwas gemäßigter an anderer Stelle: „Wer eines festen Glaubens sich erfreut wird zu allen Zeiten fröhlich, in allen Begebenheiten ruhig, in allen Gefahren sicher, in allen Drangsalen getröstet sein, zu allen Sachen wird er lachen." Halten wir fürs erste fest:
Um so richtig lachen, befreit und lauthals lachen zu können, braucht es einer Grundgewissheit, der Vergewisserung der eigenen Lebenssituation, Hoffnung auf Zukunft. Und daran krankt unsere Kirche. (Das könnte auch der Grund für die derzeitige ziemlich freudlose und mit Sorgenfalten garnierten Spardiskussion um die Zukunft der Kirche 2030 sein)
Nun könnte man natürlich sagen, dass ganze ist ja gar nicht nur ein konfessionelles Problem, sondern im Grunde ein Mentalitätsproblem, vornehmlich der Deutschen. „Spaß beiseite" ist eine Formulierung, die es mit diesem „freudlosen" Unterton nur im Deutschen geben soll.
Und das ist sicher kein Zufall. Wir Deutsche haben offenbar eine sehr ernste Lebensauffassung, da bleibt nicht soviel Raum für triviale Späße und Nonsens. Dazu braucht es dann schon ein paar Promille, das Umfeld des Karnevals oder ein Schützenfest. Oder eine Bespaßungsindustrie wie sie uns in Sitcoms und der Comedyunterhaltung vornehmlich am Wochenende auf allen Fernsehkanälen geboten wird.
Und das ist -wie man aus Hintergrundsberichten inzwischen weiß auch kein spontanes munter heiteres Zuckerschlecken, sondern ein hartes Stück Arbeit und vor allem ein knallharter Kampf um die besten Quoten. Um den gelangweilten Zapper im Wohnzimmer zwischen den Werbeeinheiten interessieren zu können, muss man sich was einfallen lassen. „Wenn sie jemand kennen mit einer speziellen Angst oder Hemmung, dann schreiben sie uns," wird da geworben. Erotische Verklemmungen, fäkalorientierte Tabubrüche, soziale Demontage der spießigen Leuten von nebenan, faschistoide Hausmeister, mainstreamige Bürohengste, auf Männer fixierte Krankenschwester werden vorgeführt und der Lächerlichkeit preisgegeben. „Lass dich von mir auf die Schüppe nehmen, damit wir alle was zu lachen haben."
Ja, es gibt dann auch noch die etwas seriösere Abteilung, ein Dieter Nur, Jürgen Becker und Neues aus der Anstalt und meistens auch die „Heuteshow". Die wollen wir nicht vergessen, die sind nicht ganz so pröllig, schrill und verletzend. Zusammen mit den ewig grinsenden und gut gelaunten Showmastern und Unterhaltungstalkern runden sie das Bild einer Gesellschaft ab, die sich wie Neill Postman schreibt, „zu Tode amüsiert", die nichts dem Zufall, der Spontanität überlassen darf, eben auch nicht das Lachen.
Martin Funda, ein kritischer Beobachter und Journalist dieser Entwicklung fasst das in einem Essay so zusammen:
„Unser Leben währet 70 Jahre und, wenn es hoch kommt, sind es 80 Jahre. Und was sein Stolz war, ist Mühsal und Beschwerde. Und wenn wir einmal lachten, dann wenn Sahnetorten flogen. Wir überlassen es bezahlten Spaßmachern, uns das Lachen zu besorgen. Denn was wir selbst tun, tun wir mit Ernst, mit tiefem Ernst, mit bitteren Ernst, mit blutigem Ernst - bis zur Vergasung Wir schicken unsere Entertainer in die Hungergebiete der Welt und zu immer alten Katastrophen. Wir sehen uns übersatt an Bildern, die wir einzeln nicht ertragen können. Wir können nicht mehr leiden. Unfähig zu trauern, haben wir das Lachen verlernt, vor allem ein Lachen, das befreit - genauso wie das Weinen. Lass uns werden wie die Kinder. Lasst uns weinen über den gefällten Baum. Lasst uns lachen über die Mächtigen der Welt. Lass uns lachen über uns selbst."
In kirchlicher Tradition wird neben der eben genannten Kritik am Amusement - Verhalten natürlich eingewendet, dass der christliche Glaube am Kreuz vorbei nicht zu haben sei und das sei nun mal eben kein allzu fröhliches Thema. Auch wenn der Kultfilm: „Das Leben des Brian" in seiner Schlusssequenz einen fröhlich lachenden und singenden Gekreuzigten zeigt, hat sich im allgemeinen Bewusstsein doch irgendwie ein gewisses Pietätgefühl erhalten.
In dem berühmten Roman von Umberto Eco: „Der Name der Rose", ist die Frage, ob Jesus gelacht hat bzw. wie es mit dem Lachen steht, geradezu die Kardinalfrage, an der sich die ganze Handlung entzündet und schließlich im Flammenmeer versinkt.
Tatsächlich ist ja auch an keiner Stelle des Neuen Testamentes ausdrücklich davon die Rede, dass Jesus gelacht habe. Und auch im Alten Testament ist nur sehr selten vom Lachen die Rede. (In einer Konkordanz finden sich gerade mal 6 Hinweise zu „Zachak" + einige wenige weitere zu „Schachak", insgesamt nicht viel mehr als 10 Stellen) Eine andere Frage ist, ob man daraus ableiten soll, dass es in der Bibel eben grundsätzlich nichts zu lachen gibt. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass der christliche Glaube ja gerade bei denen, die nichts zu lachen hatten besonders angekommen und aufgenommen worden ist. Offenbar hat der christliche Glaube eine besondere Anziehungskraft bei den Verzagten und Gedemütigten, den Benachteiligten und Leidenden gehabt.
Da ist etwas richtiges dran, allein: Nicht umsonst kommt unser Glaube vom Ostermorgen her, nicht umsonst weiß man immerhin rudimentär noch etwas von dem Ostergelächter angesichts des Todes, ein Lachen, das mit derben Witzen gewürzt durch die Zeiten hindurch überliefert wurde.
Und auch all jene Geheilten Menschen um Jesus herum kann man sich nur schwer als griesgrämige und melancholisch-depressive Trauergestalten vorstellen. Da wird so manches Lächeln, mancher Freudensprung und auch ausgelassenes Lachen dabei gewesen sein.
Kurzum: Ich finde, es ist an der Zeit, dem Lachen einmal nachzugehen, dem befreienden Lachen der Kinder Gottes auf den Grund zu gehen. Ich möchte das an drei Sonntagen mit jeweils einer besonderen Fragestellung tun. Heute geht es um die größte Lachnummer des Alten Bundes, nächsten Sonntag um das Totlachen des Todes an Ostern, und schließlich um die Heiterkeit eines Christenmenschen im Alltag dieser Welt.
Als erstes und Heute geht es um die einschlägigste und bekannteste Stelle zum Lachen in der ganzen Bibel, den Treppenwitz der Erzvätergeschichte, der Lachnummer der Frühgeschichte Israels. (Genesis 18,1-15) Interessanterweise und darin hat diese Geschichte durchaus Anbindung an heutige Witzelemente kreist diese Lachnummer sprachlich stets weit oberhalb, sachlich aber doch irgendwo knapp unterhalb der Gürtellinie, jedenfalls wenn man sie nicht nur prüde und durchgeistigt interpretiert. Es geht um Familienzuwachs im hohen Alter, im Greisenalter, und das hat für jeden halbwegs aufgeklärten Menschen doch schon eine gehörige Portion Komik, ist auch in gewisser Hinsicht etwas delikat, berührt einen Tabubereich, den man normalerweise nicht ungestraft ignorieren kann.
Diese Geschichte haben wir gerade in der Schriftlesung schon gehört. Sie fängt in einer wunderbaren Idylle an der Terebinthe im Hain Mamre an. Drei Männer kommen bei Abraham vorbei und werden von dem gastfreundlichen Zeltbesitzer zum Verweilen und Bleiben eingeladen, mit ein wenig Wasser erfrischt und dann mit köstlichen Speisen verwöhnt. Eine wunderbare Szene, wie man sie allenthalben in Beschreibungen des Orientalischen Lebens findet, allein: man spürt hier doch recht bald, dass es um mehr geht als um eine nette Begegnung. Und so verwundert es auch nicht, dass diese drei Männer nach dem Essen ohne große Vorrede auf das wunde Thema Nr. 1 im Leben Abrahams zu sprechen kommen:
Die Frage nach den Nachkommen, den Kindern, den Sohn, der ihm von Gott verheißen worden war. Die Direktheit der Frage ist nach orientalischer Sitte alles andere als höflich, die drei Gäste sind aber offenbar nicht nur zum Small Talk da, sondern in höherer Mission unterwegs und nehmen es deshalb mit der Etikette nicht ganz so genau. Und so halten sie sich auch nicht in den Niederungen der Komplimente und der Konversation auf, sondern heben sogleich zu einem feierlichen Verheißungswort an: „Wahrlich, ich komme wieder zu dir übers Jahr um dieselbe Zeit, und dann hat Sara, deine Frau, einen Sohn."
Das ist bei aller Direktheit und Feierlichkeit nun doch ein bisschen des Guten zu viel, es gibt eine Einschub in unserer Geschichte, und in dieser Erzähl- Pause wird zur Information des Lesers eingefügt: Abraham ist hoch betagt und das ist schon ein bisschen schwach ausgedrückt, er ist 99 Jahre alt, auch für damalige Verhältnisse nicht gerade jung. Und seine Frau ist immerhin 89 Jahre, kein Alter zum Gebären jedenfalls, es geht ihr nicht mehr nach der Frauen Weise, sie ist weit jenseits der Wechseljahre.
Im Grunde genommen ein derber Witz, diese Verheißung, objektiv betrachtet auch nicht sehr nett: Hier wird nicht ganz unproblematisch in recht harscher Form mit den Gefühlen zweier alt gewordener Menschen umgegangen . Als wenn die sich nicht schon 1000 Mal ein Kind gewünscht hätten. Als ob sie nicht schon etliche Male vor Enttäuschung geweint hätten.
Anscheinend, und das muss man den Gästen zu gute halten, ist diese Verheißung nicht bösartig vorgetragen oder gemeint, denn Sara hat hinter ihrer Zeltwand mitgehört und lacht. Das ist bewundernswert. Sie kann noch lachen. Sie hat das Lachen nicht verlernt Sie lacht in sich hinein. „Sollte ich noch der Liebeslust pflegen, und der Abraham ist doch auch nicht mehr der Jüngste!", denkt sie, und diese konkrete Vorstellung ist es wohl auch, die ihr eine gewisse Komik und einen Lachreiz bietet. Es fällt nun auf, dass die meisten Ausleger dieser Komik so gut wie überhaupt nichts abgewinnen können: Sofort wird auf höchstem dogmatischen Niveau Unglauben bei Sara konstatiert, Bitterkeit, verhärmter Frust und mangelnde Einsicht in die Pläne Gottes. Auch wird ihr unterstellt, dass sie sich öffentlich bei ihren Verwandten über diese Gäste lustig gemacht hätte, obwohl davon überhaupt nichts im Text zu finden ist. Interessanterweise wird sie von vielen Auslegern auch noch im Gegensatz zu Abraham gesetzt, der als Mann anders als die Frau sofort an Gottes gute Absichten glaubte.
Das geht an der Realität, vor allem aber an der biblischen Überlieferung vollkommen vorbei. Wenige Verse vor unserer Geschichte (Genesis, 17,17) hören wir von ihm, dass auch er sich ein Lachen nicht verkneifen kann. Und genau dieselben Gedanken hat wie Sara: „Soll mir mit 100 Jahre ein Kind geboren werden, und soll Sara, 90 jährig, gebären?" fragt er. Und auch hier ist die konkrete Vorstellung einer Greisen Frau mit Baby wohl der Grund fürs Lachen.
Die natürliche Reaktion auf eine Ankündigung wie der von Familienzuwachs in hohem Alter ist das Lachen. Das Lachen nämlich ist, wie man inzwischen auch in therapeutischen Zusammenhängen weiß, ein angemessenes Mittel, um die unerträglichen Spannungen des Lebens zu bewältigen.
Abraham Hochwald, Landes- Rabbiner in NRW sagt dazu einmal sehr treffend: „Der Witz zieht das Leid und die Spannung ins Lächerliche. - so werden sie erträglicher. Er macht die Peiniger zu lächerlichen Figuren und macht sich über Hunger und Elend lustig, womit er ihnen die Schärfe nimmt."
Auf diesem Hintergrund sind die zahlreichen Witze verständlich, die es in der jüdischen Tradition gerade auch über den Holocaust gibt. Wie auch der Folgende:
„Der KZ Kommandant sagt zu dem zum Tod im Stehbunker verurteilten Juden mit der Häftlingsnummer 324:
Ich gebe dir noch eine Chance: Wenn du sie nutzt, kannst du zurück in die Baracke. Also: Ich habe ein Glasauge. Welches ist es, das rechte oder das linke?
Das rechte, sagt Häftlingsnummer 324 auf Anhieb und rettete damit sein Leben. In der Baracke wollen die Mithäftlinge von ihm wissen, wie er das so schnell herausbekommen haben. Meint Häftlingsnummer 324:
Nu, es blickte so gütig!"
Das Lachen macht die unerträglichen Spannungen des Lebens erträglicher. Lachen befreit, setzt neue Verhaltensmöglichkeiten frei. Und bringt auch in unserer Geschichte von Abraham und Sara die Handlung wieder in Gang und voran. Es sorgt in unserer Geschichte dafür, dass das Gesagte geerdet wird, nachvollziehbar wird. Und dass die Gäste sich noch einmal genauer erklären müssen.
„Was gibt es da zu lachen?" nehmen sie den Faden auf. „Sollte dem Herrn etwas unmöglich sein?"
Mag sein, dass darin auch eine kritische Note gegenüber einem mangelnden Vertrauen von Abraham und Sara liegt: Ich verstehe diese Frage nicht nur hier, sondern in der ganzen Bibel nie zuerst als Forderung oder Vorwurf, sondern vor allem als eine Einladung, als einen tröstlichen Hinweis darauf, dass es auf dieser Erde zu außergewöhnlichen Wendungen des Lebens kommen kann und insofern immer noch und immer neu Grund zur Hoffnung besteht. Die Frage ist eine Bekräftigung in die Möglichkeiten Gottes, eine Frage, die wir eigentlich viel öfter nötig haben:
Sollte es dem Herrn unmöglich sein, zu helfen,
wenn es um das täglich Brot geht, um die Arbeitsstelle,
um die Beziehungen, die an ein Ende kommen oder kamen, um die Erziehung unserer Kinder, um Krankheiten oder was auch immer unsere Sorge ist.
Es kommt nicht von ungefähr, dass Sara, nun doch ein wenig unsicher geworden, ermutigt wird, zu ihrem Lachen zu stehen: Du hast gelacht, und das musst du nicht unterdrücken! Gott hält das aus, ja, er stimmt in dieses Lachen selbst mit ein, lässt aus diesem Lachen Segen für dich und alle, die nach dir kommen, entstehen. Als der Sohn geboren wird, bekommt er den Namen Isaak, zu Deutsch: Gott lacht, lächelt mir zu, Sara selbst interpretiert diesen Namen mit „Gott hat mir ein Lachen zugerichtet", Gott macht, dass ich lachen kann." (Genesis 21,6)
Es gibt was zu lachen und Gott beteiligt sich daran: er sorgt dafür, dass alle, die dieser Geschichte hören, etwas zu lachen haben, er lacht selber mit, er stimmt in mein Lachen mit ein und befreit es von den Sorgen und Ängsten, von Furcht und kleinkarierter Miesmacherei.
In unseren Kleinkindgottesdiensten mit dem Kindergarten singen wir regelmäßig ein Lied, das lautet:
„Das wünsch ich sehr, dass immer einer bei mir wär,
der lacht und spricht: Fürchte dich nicht."
Wir brauchen jemand, der uns anlacht und mit seinem Lachen dazu einlädt, die Furcht vor was auch immer abzulegen. Wir brauchen solche Lachgeschichten wie die von Abraham und Sara, um am Leben und an der Ambivalenz des Daseins nicht zu verzweifeln. Um den Glauben an die Möglichkeiten unseres Schöpfers nicht zu verlieren. Um in der Freiheit eines Christenmenschen zu leben.
Einer, der von dieser befreienden Wirkung des Lachens überzeugt ist und es auch in unzähligen Auftritten an andere weitergegeben hat, ist Hanns-Dieter Hüsch. Mit einem seiner nachdenklicheren Gedichte möchte ich schließen.
Wir alle sind in Gottes Hand
Ein jeder Mensch in jedem Land
Wir kommen und wir gehen
Wir singen und wir grüßen
Wir weinen und wir lachen
Wir beten und wir büßen
Gott will uns fröhlich machen
Wir alle haben unsere Zeit
Gott hält die Sanduhr stets bereit.
Wir alle haben unser Los
Und sind getrost auf Gottes Floß
Die Welt entlang gefahren
Auf Meeren und auf Flüssen
Die Starken und die Schwachen
Zu beten und zu büßen
Gott will uns schöner machen
Wir alle bleiben Gottes Kind
Auch wenn wir schon erwachsen sind
Wir werden immer kleiner
Bis wir am Ende wissen
Vom Mund bis zu den Zehen
Wenn wir gen Himmel müssen
Gott will uns heiter sehen.
Gott will uns fröhlich machen,
Gott will uns schöner machen,
Gott will uns heiter sehen.
Möge uns das in der nächsten Woche begleiten.
Amen.
Epiphanias 2013 Jesaja 60, 1- 6 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth - Epiphanias 2013
Jesaja 60, 1- 6
Liebe Gemeinde!
Biblisches Denken geht anders als unseres.
Wir denken - weil wir spätestens durch die Aufklärung dazu befreit worden sind - individuell. Jeder für sich. Im eigenen Namen. Nach der jeweiligen Façon. Zur Bildung einer persönlichen Meinung. – So weit, so gut.
….. Aber einen großen gesellschaftlichen Schaden, der unheilbare Züge anzunehmen beginnt, haben wir damit doch davon getragen: Das Denken in Gemeinschaft und für die Gemeinschaft geht mitsamt der Verantwortung und dem Handeln für das Gemeinwohl über’n Deister.
Das ist ein wahres Grundübel: Dass wir so oft nur im Interesse des Einzelnen denken und keine gemeinsamen Bilder, Hoffnungen und Ziele für die Gemeinschaft der Gläubigen und die Welt der Menschen mehr verfolgen.
Und der zweite Schaden ist kaum erfreulicher: Wenn Denken ausdrücklich das Geschäft des Privatmannes sein soll, dann haben sehr viele meistens viel Besseres zu tun ……. —
Doch der Epiphanias-Prophet Jesaja kann uns zum Glück Nachhilfe im biblischen Denken geben, in einem Suchen, Hoffen, Trösten und Teilen, von dem alle etwas haben werden.
Solches Denken im größeren Zusammenhang fängt freilich ungewohnt für uns an, wenn wir die Ankündigung des herrlichen Gottesglanzes und die Erwartung einer Völkerwanderung zum wahren Licht so vernehmen, wie Jesaja und nach ihm alle späteren Menschen der Bibel sie auffassten: Für sie war das kommende Licht eine Ermutigung für ganz Israel.
Oder um es so zu sagen, wie sie damals dachten und fühlten – nämlich in verdichteten Gruppenbildern: Die Verheißung, dass Gottes helle Klarheit einmal einen Strom der Besucher und Freunde und Heimkehrer in ihr Haus führen würde, …. diese Verheißung war der Lebensgrund für die Mutter Israel, die Frau Zion, mit der jeder biblische Mensch sich tief verbunden und verwandt fühlte.
Mütterchen Israel, die alte, einsame Witwe Zion, die bespuckt und geprügelt, verstört und verhöhnt ein gespensterhaftes Nachleben am Rand der Zivilisation fristete, während die markigen und mächtigen Völker die Weltbühne beherrschten, ….. Mütterchen Israel würde also einmal wieder ein Haus voller Lebendigkeit haben.
Ihre matten Bewegungen, die unter den Tränen ihrer Einsamkeit eingerostet waren, würden wieder von freudigem Herzklopfen beschleunigt werden, und siehe da!, sie wird nochmal Kinder wiegen und herzen, wird Fremde bewirten und sorglos und stolz aus dem Vollen schöpfen, nachdem ihre Leidenszeit ihr so vieles genommen und vorenthalten hat.
Frohe Botschaft also für die alte Zion’sche, in deren verlassenen, von der Weltgeschichte zertrampelten Ruinen es alles doch noch einmal geben soll: Das Stimmengewirr von Söhnen und Töchtern, die Geräusche und Gerüche des vollen Lebens, Glanz, Luxus, Kamelmist und den duftströmenden Weihrauch Arabiens.
Mit dieser Verkörperung der allgemeinen Hoffnung vor Augen lebte das Volk Israel zu allen Zeiten: Das Bild des aufgehenden Gotteslichtes und der aufblühenden Mutter aller Mütter begleitete sie durch ungezählte Dunkelheiten und Verzweiflungen.
Wann immer daher das eine oder andere von den Hoffnungszeichen sich einstellte, konnte niemand das als seinen persönlichen Glücksmoment, als Sternstunde seines Privatschicksals betrachten, sondern jeder sah in der kleinsten Erfüllung der alten Verheißungen ein Geschehen, an dem alle, die ganze jüdische Familiengemeinschaft der Zionskinder beteiligt waren. Und so – über alles Einzelne hinaus in einen großen Zusammenhang gebettet – erleben fromme Juden bis heute Geburten, Beschneidungen und Hochzeiten, Krankheit, Genesung und Feste, Streit, Versöhnung, Alter, Hinfälligkeit und Sterben: Als Akte des großen Dramas der biblisch verheißenen Heilsgeschichte.
Keiner lebt sich selber, keiner stirbt sich selber (vgl. Rö.147).
Am allerwenigsten das Kind, an dessen ruinenhafter Geburtsstätte – dem Fleck im toten Winkel der römisch-augusteischen Glanzepoche – die morgenländischen Forscher sich einfanden, um mit ihren verschwenderischen Gaben einem Bettler zu huldigen.
Dieses Kind, als es da in dunkler Zeit, im Elend unter dem strahlend hellen Firmament, an dem ein neuer Stern erschien, geboren wurde …. dieses Kind muss mit diesem Stern und solchem Besuch aus der Ferne und solchen Willkommensgaben in allen Köpfen und Herzen seiner Umgebung geradezu ein Jesaja-Geflimmer ausgelöst haben.
Maria, seine Mutter mag sich vorgekommen sein wie die leibhaftige Tochter Zion selbst, an der sich für die Wartenden eines halben Jahrtausends die prophetischen Worte erfüllten:
Sie muss in jenen großzügigen Sendboten der Heidenwelt, die vor ihrem Säugling knieten und Wunder ausbreiteten, staunend die Spurensucher vermutet haben, die vor den Strömen aus Midian, aus Saba und Epha einherzogen. Und seit der Ankunft dieser malerischen Vorhut wird Maria unmittelbar den Beginn der Völkerwallfahrt zum Berg Zion und die Heimkehr der zehn verlorenen Stämme Israels erwartet haben. ……. ——
Tatsächlich waren die Sternkundigen aus dem Osten ja auch der Beginn einer Menschheitsbewegung, die sich über Israel hinaus bald auf den gesamten Kreis der Erde erstreckte. Allerdings erfüllten sich die Worte Jesajas nicht in der erwarteten Weise:
Denn nicht etwa die Heiden begriffen, dass sie Rettung nur beim Gott Israels finden könnten, sondern die zwölf Jünger des Messias erkannten, dass nur Israels Gott, der Vater Jesu Christi die Völker der Welt retten würde.
Und statt jener Bewegung, die das auserwählte Volk trösten und entschädigen und versammeln sollte, entstand eine Heidenkirche, die die geistlichen Schätze Israels plünderte und den Weihrauch seiner Psalmen und Gebete an völlig unvorstellbaren Orten entzündete und entweihte und Bitterkeit und Myrrhen über den Rest des heiligen Volkes brachte.
Mütterchen Israel, als die Maria sich fühlen und seligpreisen musste, wurde im Namen der zum Glanz Gottes wallfahrenden Völker schließlich in unvorstellbarer Weise geschunden, vertrieben und geschlachtet.
Sogar die Weisen aus dem Morgenland, die ihrerseits darauf bedacht waren, nicht zu Herodes zurück zu kehren und so ein Blutvergießen unter den neugeborenen Söhnen Bethlehems verhindern wollten, wurden zu unschuldigen Anlässen des Judenmordes.
Denn die große Wallfahrt nach Köln, wo Barbarossas Kanzler ihre geraubten vermeintlichen Gebeine bewahren hieß, wurde eine Geißel für die weltberühmten rheinischen Synagogengemeinden. Weil über mehr als vier Jahrhunderte ein unvorstellbarer Pilgerstrom durch ganz Europa vom Balkan, aus Ungarn, aus allen Teilen des Reiches sich ebenso stetig wie nach Santiago und Rom eben auch nach Köln, als dem dritten großen Heiligtum des Abendlandes ergoss, spülte er Hunderttausende, die aufgewühlt, losgelassen, entwurzelt oder verzückt waren an den alten Hochburgen der deutschen Judenheit vorbei.
Und unterwegs verübten die Dreikönigspilger Pogrome, ….. so lange bis Mütterchen Israel die letzten blutgetränkten Habseligkeiten und das nackte Leben einiger Söhne und Töchter beim Schopf packte und nach Polen auswich, nach Osten, den Blutbädern des dortigen Volksglaubens und der zaristischen Propaganda entgegen. ……. ———
Wie sollte dann aber die Epiphaniasweissagung des Jesaja erfüllt sein, seine Ankündigung einer weltweiten Bewegung, die Versöhnung und Frieden für und mit Israel bringt innerhalb der Vielvölkergemeinde, die den wahren Gott, Israels Gott anbetet???
Dieser gemeinschaftliche Sinn ist nicht erfüllt; es ist noch nicht Wirklichkeit geworden … dieses Gruppenbild mit Dame, auf dem wir die Nationen der Welt sehen und in ihrer Mitte die Zionsfamilie, die sich um die alte Mutter und ihre mancherlei beschnittenen und getauften Kinder mitsamt den Nachbarstämmen sammelt, die mit Gaben und Geschenken zum Feiern und Teilen gekommen sind. …….
Die Völker am Meer – also die Menschen des Gazastreifen – und die orientalischen Gesandten aus den jordanischen und arabischen Gebieten von Midian und Saba würden sich einen Deibel tun, ehe sie freiwillig auch nur ein Kind zurück zur Zionsmutter trügen.
Man kann und darf es auch nicht von ihnen erwarten.
Vielmehr wird man’s auch verstehen, wenn die Palästinenser seit sechs Wochen etwas feiern, das dieselben Vereinten Nationen taten, die eine geradezu biblische, aus der Jesajabotschaft stammende Vision darstellen und die 1947/48 so segensreich der blutenden und dennoch zum ersten Mal seit Christi Geburt zuversichtlichen jüdischen Menschheit zur Heimkehr verhalfen. Vor sechs Wochen haben die Vereinten Nationen den Palästinensern ebenfalls ein Dach über dem Kopf errichtet, auch wenn darunter noch keine Wände stehen. ———
Das alles – man spürt’s – ist nun wirklich ein Denken im ganz großen Maßstab, ein Denken in Zusammenhängen, die wir meistens nicht betrachten, geschweige denn, dass wir sie als den Rahmen unseres Glaubens sähen, in dem uns oft genug nur die eigenen Fragen und Zweifel beschäftigen und der Trost des trostbedürftigen Einzelnen uns bewegt.
Doch Epiphanias – das Vielvölker-Fest, die erste Stunde des weltweiten Christusbekenntnisses – zwingt uns, die rein individuellen Erfahrungen des Lichtes oder des Dunkels eben doch vor einem anderen Hintergrund zu bedenken: Wir haben zwar mehr oder weniger glücklich und geglückt Weihnachten gefeiert und uns an der Geburt des Heilandes gefreut. Aber in volle Erfüllung gegangen ist sein Heilswerk noch nicht!
Das Licht, das mit ihm erschienen ist, steht zwar über dem Horizont, aber noch ist es im Aufgehen, im Steigen begriffen.
Und wir tun Unrecht, wenn wir den heutigen Abschluss der zwölf Weihnachtstage, wenn wir das heutige Fest der Erscheinung Jesu vor den Augen der Welt tatsächlich als einen Endpunkt begehen.
Im Gegenteil: Gerade jetzt fängt es an!
Gerade dieses neue Jahr wird ja die gesamte Welt – die von der Bibel nichts weiß und nichts wissen will – wieder und weiter vor urbiblische Fragen stellen, vor die Fragen des Völker-friedens und des inzwischen in aller Welt wieder brenzligen Verhältnisses des Gottesvolkes zu den anderen, der Heiden zu den Juden, der Christen mitten darin, der Muslime zum Westen, der glaubenslosen Massen zu denen, die glauben.
Und alle diese brandgefährlichen und schicksalhaften Fragen, alle diese schnöden, machtpolitischen Entwicklungen, alle diese zum Teil blindwütig beschickten und zum anderen Teil umsichtig bedachten ethischen Kampfschauplätze, alle diese gärenden, gleichzeitigen, uns verfolgenden, uns überfordernden, uns abstumpfenden weltgeschichtlichen Vorgänge sind genau der Ort, von dem es heißt: Finsternis bedeckt das Erdreich, Dunkel die Völker …. und dennoch geht der HERR auf über Dir, Israel; Sein Glanz geht auf über denen, die Seinen Sohn verehren und sich dessen Namen unterstellen; Seine Herrlichkeit nimmt zu über allen, die Ihn suchen, … über allen, die Ihn verneinen, … über allen, die – weil sie Erden-bürger sind – auch Teilhaber der weltweiten Verheißung und Zeugen des göttlichen Heilsplanes sein müssen!
Wir können Epiphanias also – gerade weil es uns das Heraufziehen des ewigen Lichtes und den ersten Aufbruch der Menschheit hin zu diesem neuen Tag vor Augen stellt – nur unfertig feiern, wir können’s nur in der gegenwärtigen Schwebe lassen, wie jede Morgendämmerung, wie jedes Zeichen neuer Zeit.
Aber wir können und müssen erkennen, dass hier – wie bei jedem Tagesanbruch – nicht nur uns etwas sich ankündigt und bevorsteht, sondern allen.
Die Welt und Mütterchen Israel, die fernsten Völker und die tödlich schwelenden Krisenherde im syrisch-arabischen Raum brauchen den herannahenden Tag, brauchen den, der uns allen Versöhnung bringt, brauchen Hoffnung und Erfüllungszeichen.
Und auch wenn wir nicht die Könige unter den Heiden, und auch wenn wir nicht die Weisen und Magier unter den Zeitgenossen sind, und auch wenn wir weder das Ohr Netanjahus erreichen, noch den Saum der muslimischen Brandstifter, auch wenn wir die Entscheidungs- und Handlungsträger auf der Weltbühne nicht beeinflussen, nicht hindern noch antreiben können: Eins ist uns zu Epiphanias dennoch geboten und möglich …..
Wir können lernen und üben, biblisch zu denken und im Glauben zu leben: Also in jenem großen, weltweiten Maßstab, der den natürlichen Menschen so müde und nieder-geschlagen macht.
Doch wenn wir nur unsere Vorgänger betrachten, die aus Saba kamen und den neugeborenen König der Juden suchten und seine Brüder vor dem Schwert Herdoes’ bewahren wollten und in ihrer Heimat ein Glaubensband nach Bethlehem knüpften, … wenn wir nur dieses Beispiel zu Herzen nehmen, dann ändern wir jedenfalls die Enge eines Denkens, das bloß beim Nahe-liegenden bleibt und alle großen Hoffnungen, alle gemeinsamen Menschheitsziele leugnet und opfert.
Nein, wir können nur im Blick auf alle Menschen Jesus unseren Herrn und unsere Hoffnung nennen! Wir werden ihn nur vollständig begreifen und bestaunen können, wenn auch der Frieden Israels und der Frieden der muslimischen Welt gesichert ist. ——
Wir werden also noch Engel und Fürstentümer und Gewalten sich austoben sehen, werden Gegenwärtiges und Zukünftiges überstehen, werden Hohes und Tiefes durchleben müssen, ohne Jesus Christus und ohne die Welt aufzugeben!
Aber wenn wir dabei gewiss bleiben, dass am Ende niemand fehlen darf, weil ER das Licht der ganzen Welt ist, dann werden wir wissen, warum biblisch umfassende Weltgedanken so viel Widerstand und so viel Widersprüchliches, so viel Zweifel und so vieles zum Verzwei-feln aushalten müssen.
Nur nicht die Hoffnung verlieren! Nur nicht die Geduld!
Anhalten am Gebet!
Es geht um die gesamte Menschheit. Um den Weltfrieden. Um alles!
Und darum – wenn’s auch noch so dunkel wär’ – : Hebe Deine Augen auf und sieh!
Amen.
Altjahrsabend 2012 Hebräer 13,14 (Jahreslosung 2013) Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth - Altjahrsabend 2012
Hebräer 13,14 (Jahreslosung 2013)
Liebe Gemeinde!
Bei meiner Großmutter war es ein Ausruf der fröhlichen Überraschung über ein unverhofftes Glück oder ein unerwartetes Gelingen. Wirklich immer, wenn eine nicht absehbare Freude sich einstellte, rief sie nämlich: „Jetzt schlägt’s aber dreizehn!“
Dafür bin ich heute natürlich besonders dankbar, denn in anderen Ohren wird dieser Ausdruck womöglich eine andere Klangfarbe haben: Man kann mit den selben Worten durchaus auch Unbehaglicheres ausdrücken, … selbst aufgeschreckten Ärger über das Unvermutete.
Und eben diese Doppeldeutigkeit aller Dinge – dass man ihnen sowohl Gutes wie Schlechtes abgewinnen kann – wird uns heute wohl besonders beschäftigen, wenn Ende und Anfang sich gleich begegnen in jenem Geläut, das wir so oft schon nennen hörten und doch noch nie erlebt haben: Wenn’s uns um Mitternacht Dreizehn schlägt! ———
Alle Dinge sind doppelsinnig – gewiss!
Und es läge zweifellos nahe, in diesen letzten Stunden zwischen der schönen biblischen Zwölfzahl und der ungeraden Dreizehn, die so oft mit Unheil verbunden wird, nun ausgewogen und umsichtig, dialektisch und gleichmäßig Vergehendes und Kommendes von seinen jeweils zwei Seiten zu bedenken.
Das würde vielleicht sogar eine ganz gescheite Meditation, die alles schön in der Schwebe hielte: Dass wir glückliche und schwarze Tage sowohl hinter uns lassen, wie vor uns sehen. Dass wir die Mahnung der Vergänglichkeit ebenso wie den Zauber des Anfangs zu Herzen nehmen sollten. Dass wir das unvermeidliche Ineinander und Durcheinander demütig auf sich beruhen lassen müssen, zu dem Vergangenheit und Zukunft sich in der Scheidestunde verknäulen, die zugleich ihre Begegnung herbeiführt.
Aber eine solche Sowohl-als-auch-Predigt, eine solche diplomatische Würdigung der Gegensätze scheint mir in den Januar zu gehören und zur Doppelgesichtigkeit seines Namensgebers, des altrömischen Türhüters, der beim Gehen, wie beim Kommen grüßt.
Und darum will ich heute nicht schon januarisch, beidseitig, ausgewogen reden.
Ich will ganz einseitig, ganz eindeutig, ganz einfältig bleiben. Nicht abgeklärt das Halbvolle und das Halbleere für ununterscheidbar halten und drum mal so, mal so betrachten. …..
Das wird nachher von ganz alleine kommen, wenn die einen beim Sekt ganz aufgekratzt und die andern vom gleichen Elixir ganz sentimental werden und plötzlich doch alle versöhnlich und verschwommen, mit feuchtem Augenzwinkern dem alten winken und dem neuen zuprosten. …..
Jetzt aber wollen wir’s anders halten.
Nicht so, als sei alles nur Auslegungssache und werde sich schon in der Mitte irgendwie treffen.
Denn die Mitte ist kein so idealer Ort, wie wir es immer meinen, wenn wir besonnene Liberalität und Vermittlungsbereitschaft rühmen wollen und dabei nur die Biegsamkeit geschwätziger Geschäftemacher herauskommt.
Um es also einfach geraderaus zu sagen: Wir stehen nicht in der Mitte – auch nicht zwischen den Zeiten, bloß weil gleich der Kalender ausgetauscht wird.
Wir Christen gehören nicht in den Mittelpunkt, sind nicht verwandt mit dem Mittelstand, sind keine geborenen Mittelsmänner und sollten auch nicht das Mittelmaß pflegen.
Denn in Wirklichkeit haben wir unsern Ruhepol, unsern Haftpunkt, unser Gleichgewicht nicht irgendwo oder wo auch immer, sondern eindeutig außerhalb der drei Dimensionen und üblichen Koordinaten, die sonst alles bestimmen.
Wenn wir stehen, dann nicht, weil uns hier etwas hält.
Wenn wir fallen, dann nicht, weil die Schwerkraft unser Gesetz wäre.
Wenn wir uns bewegen, dann nicht bloß innerhalb des bekannten Weltbildes und des erforschten Weltraums.
Man mag’s also glauben oder nicht, man kann’s nun nehmen oder bleiben lassen, aber so viel ist sicher:
Unser Bezugspunkt, unser Schwerpunkt, unser Mittelpunk ist außerhalb der Welt und jenseits der Zeit.
Wir sind keine Weltleute!
Der Zeitgeist sagt uns nichts, ….. nichts Richtungweisendes!
Unser gegebener Standort und unsere wahrgenommene Präsenz am Markt oder in der Gesellschaft sind gleichgültige Momente.
Sie alle sagen nichts über uns und geben uns als Christen nichts.
In Wirklichkeit ist es nämlich so, wie das Lied es eben sagen wollte, das uns so fremd von der Zunge ging: Wir leben auf das zu, was nicht hier und nicht heute ist.
Das nennen manche „Weltflucht“.
Doch wer immer auch nur ein wenig von Malerei versteht, weiß, dass die Perspektive nur stimmt, wenn ein „Fluchtpunkt“ Linien und Blicke bündelt und allem Sichtbaren seinen Platz weist.
Wer keinen solchen Punkt hat, an dem alles Vordergründige sich trifft, dem zeigt sich nur Durcheinander, haltlos sich überschlagende und zerfließende Gleichzufälligkeit.
Wie gnädig, dass wir als Gottes Gemeinde da am Horizont einen Bezugspunkt jenseits des Vordergrundes haben!
Wie gnädig, dass wir nicht mitten in der Gegenwart aus- und festmachen müssen, was uns halten, was uns Maßstäbe geben, was uns Grund und Ziel sein kann!
Wie gnädig, dass für alles, was bestehen und alles, was sich scheiden und vergehen soll außerhalb jenes Bildes gesorgt ist, das wir kennen.
Und wie selig, dass wir dorthin gehören, wo Wichtig und Unwichtig, wo Gut und Böse, wo Vorder- und Hintergrund einst an den ihnen je angemessenen Ort in Ewigkeit … oder gar nicht fallen werden!
Denn um diese Zugehörigkeit geht es in unserem wunderbaren Wahlspruch, der für die Losung eines einzelnen Jahres viel zu schade ist: Dass wir hier keine Dauergäste sein werden, weil wir einen anderen Lebensmittelpunkt haben.
In der gammeligen Kneipe dieser Welt, mit ihren vielen Flaschen, mit ihren billigen Räuschen und ihren trostlosen Monologen der lallenden Großmannssucht, die ein Besäuselter hält, bis der Wirt ihn endlich aus der Tür schiebt, in dieser erbärmlichen Weltwirtschaft „Zum Goldesel“ müssten wir uns also nicht einrichten wie das Stammpublikum.
Und daran möge der beste Sylvesterchampagner uns heute sämtlich erinnern und der Kamillentee der frommen Denkungsart genauso:
Dass eine ganz andere Einladung uns erwartet! Eine Einladung, die nicht zum vorübergehenden Protzen und dem anschließenden Kotzen ruft oder zum zeitweiligen Mitspielen beim Roulette, solange Glück und Kräfte reichen, sondern zum Bleiben.
Eine Einladung nachhause, in Gottes unvergängliche und herrliche Zukunft. —
Das ist ganz einfältig und einseitig schon alles.
Auch wenn wir uns als Kinder des 21.Jahrhunderts dabei noch so komisch vorkommen, auch wenn es für uns ungewohnter als Lebensperspektiven auf dem Mars daherkommt, auch wenn es unserem zeitgenössischen, durch und durch irdischen Lebensgefühl völlig zuwiderläuft: Wir sind hier, wo wir uns so gut auskennen und - fast - alles beherrschen und so komfortabel eingerichtet sind, trotzdem nicht so eingeboren, wie wir meinen.
— Es gibt Ausreisepapiere, die auf unseren Namen lauten, wiewohl wir vielleicht gar kein Fernweh haben.
Nun ….. das mit dem Fernweh, mit dem Heimweh könnte ja noch kommen.
Es begegnet vielen, die sich für Einheimische hielten, irgendwann.
Es kann geistliches Feuer oder biographisches Leiden sein, das uns allmählich an eine endgültige Zugehörigkeit erinnert, wenn vorübergehende Sicherheiten schwinden.
Es kann Altersmüdigkeit sein, die uns hier löst und dort anbindet.
Auf eine für uns alle kummervolle Weise, die unheimlich berührt, ist die Volkskrankheit, die unsere Eltern zuhauf erwartet und auch uns Vitalen bevorsteht, … ist also die Demenz ein Signal für abbrechende Weltgewißheit und die mühsame, unbeholfene Suche nach Orientier-ung, wenn das bisher Vertraute wegdämmert. ——
Aber auch ohne allen Weltverdruss, ohne jede Lebensmüdigkeit oder Gleichgewichtsstörung beharre ich heute ganz eintönig darauf: Es ist für jedes Lebensalter, für jede Stufe unserer Reise durch die Zeit von größter und von schönster Wichtigkeit, Woher?, Wohin? zu wissen!
Und da ist unser Glaube nun ganz eindeutig, wenn er die Zusammenhänge umdreht:
Gewöhnlich ist uns ja so, als hinge unser Leben an der Haspel, an der Spule „Vergangenheit“, von der wir den Faden abwickeln, um ihn in die Zukunft zu ziehen.
Doch das Gegenteil ist wahr: Unser Lebensfaden ist befestigt in der Zukunft, die Gott in Händen hält. Und darum läuft unsere Lebenszeit nicht ab, wie ein Garn, das irgendwann zuende ist, wenn die warzige alte Parze Schnipp-schnapp macht.
Sondern mit der Zeit wickelt Gott uns auf, bis schließlich unser ganzes Leben bei ihm versammelt ist, bis wir ganz und gar und mit allen Fasern angekommen sind in seiner Ewigkeit und die Zeit, in die wir hineinverwoben waren, von uns abgefallen ist.
Das alte Gewebe ist dann aufgelöst, wenn die Fäden, die es horizontal durchliefen, wieder auf der Spule sind: Aber was Gott dann Bleibendes aus uns webt, wie er unser ganzes Leben in den Teppich seines Thronsaals, in das bunte Muster der Ewigkeit knüpft, das übertrifft alle unsere Vorstellungskraft.
Es wird wie das Beste unseres Daseins, wie die Blütenlese aller unserer Glücksmomente, wie die Summe aller Erfahrungen, wie die endgültige Gestalt aller missglückten Entwürfe, wie die Fülle unserer Wünsche und die reifste Gestalt unserer Gedanken sein; es wird wie das Licht nach dem Schatten, wie das Ankommen nach Staub und Durst der Wanderung, es wird wie das Erwachen nach dem Schlaf und das Finden nach der Suche sein; wir werden wiedererkennen, was uns rätselhaft blieb und in die Arme schließen, was wir schon als unwiederbringlich aufgegeben hatten. Es wird der Kern anstelle der Schale, es wird die Wahrheit anstelle der Einbildung sein. Wir werden uns zum ersten Mal als wir selbst – wirklich wir selbst! – erkennen und werden Jesus sehen, der uns das ermöglicht.
Ja, wir werden in und über alledem in der kommenden Welt, in die wir gehören, den Unsichtbaren sehen, von Angesicht zu Angesicht.
Dann wird es uns Mitternacht und Mittag, zwölf und dreizehn, Menschwerdung und Auferstehung und Geistausgießung und Himmelfahrt schlagen.
Dann werden wir es erkennen und wissen, werden es spüren und sehen, werden es in uns tragen und um uns erfahren:
Das Zeitliche, das Vergängliche, das Gleichnis ist vorüber; das Endgültige, das Feste, die selige Wahrheit umgibt uns für immer!
In dieser einen Richtung also geht unsere Reise.
Da gibt es kein ebenso wahres Gegenteil.
Nur dieses Ziel, das wir nicht hier, sondern in der bleibenden Stadt suchen….. oder gar nichts!
—— Ist das nun aber vielleicht doch ein Verlust?
Solche Eindeutigkeit, so klare Linienführung, diese feste Perspektive mit dem unverrückbaren Fluchtpunkt „Ewigkeit“ wirkt wenig elegant, wenig spielerisch auf uns.
Wir sind doch meistens geschmeidiger, wendiger.
Wir bewundern es oft auch mehr, wenn einer Pirouetten drehen und Haken schlagen kann, dass es nur so ironisch schillert und geistreich funkelt. Ein bisschen altmodische Frömmigkeit wird meistens ja erst genießbar, wenn sie mit einem brillanten, schlagfertigen kleinen Spritzer von Zweifel geschüttelt und gemixt wurde zu einem neuen Cocktail. …..
Doch heute stand nichts Januarisches auf der Karte.
Heute gibt’s tatsächlich nur den einen Longdrink, den schon die Väter und die Mütter getrunken haben zu allen Zeiten, ja von Anbeginn der Gemeinde, die durch die Zeit pilgert, um in Gottes Reich einst anzukommen.
Wer aber jetzt enttäuscht ist und sich nach dem Halbvoll-Halbleer, nach dem gewitzten „So-oder-ähnlich-oder-anders“ sehnt, der kann ja den ganzen Abend noch spielen, plaudern und in Halbheiten machen, bis ihm das neue Jahr um die Ohren fliegt und die vielen amüsanten Leute, die doch nur Miss Sophie und der alte James waren, zu Bett torkeln.
Doch meine ich, es werde niemandes Schaden sein, einmal den alten Wein gekostet zu haben, der in der Hoffnung und Verheißung besteht, dass wir nicht hier, sondern erst künftig das wahre, das volle, das ewige Leben finden und bei Gott haben werden. ——
Ein Wort, ein ganz eindeutiges, unzweifelhaftes Wort sei dem nur noch hinzugefügt:
Das Wort vom kommenden Leben in Gottes Reich ist etwas, auf dessen Geschmack wir vielleicht erst wieder kommen müssen.
Aber wenn, dann sollten wir von den Engländern lernen, die manches doch tatsächlich besser können, als wir: Nicht nur Thronjubiläen, Olympiaden und die unverbindlich geistreiche Sowohl-als-auch-Kultur der Debattierclubs an den Universitäten. Sondern sie können auch Psalm 23 besser.
Denn bei uns schlägt gegen Ende leider doch der deutsche Ordnungssinn durch, der dem schwäbische Geiz manchmal allzu ähnlich ist, wenn’s von der Einladung an Gottes Tisch in Gottes Reich bloß heißt: „Du schenkest mir voll ein!“
In England lautet dieser Vers seit vierhundert Jahren: „My cup runneth over“ – Mein Kelch läuft über.
Und solcher Überschwang, solche großzügig verschwenderische Lebenslust und freigiebige Güte: die ist’s, was uns erwartet.
Es ist also nicht wenig, wenn wir so einzig und einfach auf Gottes Zukunft hin leben.
Es ist unendlich viel mehr, als wir uns jemals träumen ließen.
Es ist ein reicher, unversieglicher Überfluss, der da über uns alle ausströmen wird.
Wenn es heute Nacht also wieder eine Station auf dem Weg dorthin schlägt, dann lasst uns anstoßen und feiern, dass alle Welt, mit allen menschlichen Lasten und Nöten und Schulden dorthin eingeladen ist, wo Gutes und Barmherzigkeit daheim sind, wo der Freudenkelch voll Gnaden überläuft und wo wir bleiben werden – im Hause des HERRN – immerdar!
Amen.
2.Christfest Jesaja 11, 1-9 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth - 2.Christtag 2012
Mit Christkindl-Messe von Ignaz Reimann (1820-1885) gesungen durch den Männerchor Vox plena
Jesaja 11, 1- 9
Liebe Gemeinde!
Ich frage mich zwar heute, wie mein Vater es in seinem Pfarramt schaffen konnte, aber sicher ist, dass zu meiner Kindheitsweihnacht am Morgen des 24.Dezember stets ein großer Spazier-gang gehörte. In England fuhren wir regelmäßig an den Strand, in der nicht grundlosen Hoffnung, einige Seehunde in der trüb-kalten irischen See zu beobachten.
Früher, in Hessen waren es wunderbar menschenleere Waldwege, die häufig auch zu einer fieberhaft erwarteten Begegnung führten:
Mein Vater muss vom alten Förster Wack nämlich erfahren haben, wo dieser nach frommer Waidmannssitte den Heiligen Abend nutzte, um die Rehe mit einer besonderen Schüttung, mit aufgebundenem Heu und Äpfeln im Namen des Christkinds zu füttern.
Das Christkind trafen wir auf den Lichtungen und in den bereiften Tälern zwar nie, aber die Rehe, die dessen Geburtsfest sichtlich genießerisch kosteten, entschädigten uns reichlich.
Und so war Weihnachten für uns als Kinder immer auch ein Fest der Fauna.
Das Rotwild im Forst, die Seehunde auf den Sandbänken zeigten wie selbstverständlich, dass nicht nur wir Menschenkinder, sondern die anderen Lebewesen mit uns spürten, wie sich das Beste ankündigte, das es überhaupt geben kann: Gott in der Welt!
Solche Ahnungen, dass es die gesamte Natur berührt und bewegt, wenn der Erlöser kommt, hat die sogenannte „Landbevölkerung“ immer gehabt – wobei man gleich fragen sollte, wo denn die Stadtbewohner leben, wenn nicht auch auf dem Land …. etwa zu Wasser oder in der Luft? — Gleichviel: Ein richtiger Bauer lässt es das Vieh bis heute wissen, dass diese Zeit des Jahres Gnadenzeit ist …. und wenn’s auch nur durch eine großzügige Weihnachtsration wäre, die in Raufe, Trog und Napf den Freudentag bezeugt; hier und da wird womöglich aber auch noch der uralte Brauch des Ansagens geübt, bei dem feierlich im Stall – wo’s schließlich ja auch damals geschah – den Tieren verkündet wird, dass Gottes Sohn auf unserer armen Erde erschienen ist.
…… Und wer weiß, ob es nicht immer noch durchaus unromantische, aber mit einem besonderen Sinn für ihr Viehzeug begabte Landwirte gibt, die in der Heiligen Nacht oder in den sämtlichen Zwölf Nächten daran erinnert werden, dass man den Tieren früher in diesen Stunden die Menschensprache zutraute? ——
Dass Christus, der Versöhner uns zu Weihnachten nicht als himmlische Erscheinung, sondern in irdischer Wirklichkeit begegnet, macht seine Geburt jedenfalls von Anfang an zu einem Ereignis, an dem die gesamte Natur Anteil nimmt.
Alles, was im Laufe der Zeiten als volkstümliche Hinzudichtung wie ein notwendiger Bestandteil des Weihnachtevangeliums erscheint, hat von daher sein unzweifelhaftes Recht. Ochs und Esel, Bock und Hirtenhund, Kamel und morgenländischer Elefant, Eichhörnchen und Käuzchen, wie sie in der Andreaskirche in der Altstadt die Krippe aus ihrem sicheren Versteck im tiefen Tann beobachten, die sämtlichen Fabelwesen und heimischen Vierbeiner, die die Phantasie und mehr noch die Umwelteindrücke der Christen zu Zeugen und Begleitern der Fleischwerdung Gottes werden ließen: Sie alle stehen stellvertretend dafür, dass die Schöpfung nicht nur mitfeiert, sondern mit erlöst wird, wenn der Schöpfer selber am biologischen Lebensprozess teilnimmt.
Die Holzschnitzer und Maler, die liebevollen und manchmal glücklich geschmacksverirrten Künstler, die das Kreatürliche in seiner ganzen Artenvielfalt in Bethlehem versammelten, haben seit jeher diese uns oft entgehende Wirkung des Jesuskindes, das auf dem Feld im Fresstrog lag, veranschaulicht:
Durch seine Verwickelung in die animalische und agrarische Dorfwelt am Rande Bethlehems wurde Gottes Kind von der Wiege an zum Patron von Feld und Wald und Wiese, er wurde zum Natur-Schützer, der Gottes vernachlässigten Auftrag an Adam übernahm:
„Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte“ (1.Mose215) .
Am ehesten ist die theologische Erinnerung an diesen Segen, der zu Weihnachten der Schöpfung widerfährt, noch im orthodoxen Glauben wach geblieben.
Die Ostkirchen würdigen es in ihrer kosmischen Mystik immerhin ausdrücklich, dass Johannes – ihr Lieblingsevangelist – in seinem Evangelium eben nicht nur die Menschwerdung des Wortes beschreibt, sondern sein Eingehen in’s Fleisch, in den organischen Stoff des Lebens.
Der Neuanfang, der durch den buchstäblich „eingefleischten“ Heiland kommt, erstreckt sich für sie darum auch auf alles, was webt und west, was wächst und welkt …. und das sind nicht nur jene Lebewesen, die sich in den Steuerlisten des Augustus finden oder eine Domain im WorldWideWeb besitzen.
Im Westen der Welt hat man dagegen dieses kosmische, dieses kreatürliche Erlösungswerk, dieses „Rettet die Schöpfung!“ als Weihnachtsbefehl weitgehend vergessen. …… ——
Doch der erste und ursprüngliche Prophet der Ökologie steht heute ja eindrücklich vor uns.
Er kommt nicht als Abgeordneter irgendeiner Partei, ist auch kein esoterischer Neuheide, der von den Indianern Totems und Tänze borgt und hat auch sonst keine unmittelbaren Gefolgsleute oder Nachahmer in unserer Gegenwart.
Wer sich also vor einem grünen Männchen in der evangelischen Kirche fürchtet oder allzu viele dieser für ihn sonderbaren Kauze hier schon gesichtet haben will, der sei zunächst beruhigt:
Es ist ja bloß Jesaja, der vor unvordenklichen Zeiten schon alles und noch viel mehr gesagt hat, was man als „ökologisches Evangelium“ bezeichnen könnte.
Dabei wäre allerdings zu klären, was „Ökologie“ überhaupt bedeutet, denn ein parteipolitisch-es Schlagwort ist das nicht – ebensowenig wie die „Ökonomie“, die den gleichen Wortstamm und eine gemeinsame Herkunft als wissenschaftliche Wortbildung hat.
Der Vater des „Ökologie“-Begriffs war der deutsche Zoologe und Freidenker Ernst Haeckel, der mit seiner Wortschöpfung, die ja eigentlich bloß „Haushaltslehre“ bedeutet, eine ein-fache Definition verband:
„Unter Oecologie verstehen wir die gesamte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt.“
Wenn sie aber eine Beziehungslehre ist – die „Ökologie“ – und darlegt, wie die Geschöpfe aufeinander angewiesen sind, um miteinander leben zu können, dann leuchtet’s ja schlagartig ein, dass der Haushalt der Natur und die Beziehungen, die er umfasst, sich selbstverständlich grundlegend verändern, wenn der Herr in’s Haus kommt.
Dann muss man die Ankunft des Erlöser ja als einen solchen ökologischen Wendepunkt er-warten und beschreiben, wie Jesaja es tut: Denn an keinem einzigen Geschöpf kann’s doch spurlos vorübergehen, wenn sein Schöpfer gleichzeitig sein Nachbar und Nächster wird.
Und eben das – die fulminante Verwandlung aller Beziehungen im Haushalt unserer Erde – kündigt Jesaja an für den Tag, an dem Gottes Weisheit und Verstand, Gottes Rat und Stärke und Erkenntnis und Pietät persönlich Einzug halten.
Was dann geschieht, das löst die alte Hausordnung völlig ab:
Der alte Hausmeister Darwin, der in der Schöpfung eiserne Besen kehren ließ, der unter den Mietern in den verschiedenen Stockwerken der natürlichen Hierarchie ein Gleichgewicht des Schreckens förderte, dieser misstrauisch genaue Concierge, unter dessen Aufsicht die Bewohner glaubten, am sichersten zu leben, wenn sie einander in Schach hielten …. der kann in den Ruhestand gehen: ……. „Grüß uns die Galapagos-Inseln!“
Denn unter Christi Herrschaft kommen diejenigen, die das Gefressen-Werden als ihren Teil des Gesellschaftsvertrages gepachtet hatten, zu einem neuen Recht:
Die großen und die kleinen Tiere, … die dicken Fische und ihre unbegehrten Vettern, die in Schwärmen auftreten, … die eierlegenden Wollmilchsäue und die vielgeschmähten „Ratten der Lüfte“, in deren Gefieder der Heilige Geist sich erniedrigt, … die Läuse im Pelz und die Wölfe darin, … die ersehnten Klapperstörche und die gefürchteten Aasgeier, … die edel dressierten Lipizzaner und die noch nie eingerittenen Palmsonntagsesel, … die Schädlinge und das liebe Vieh, … und jeder noch so affige Mensch und alle Menschenaffen, und alles Geziefer und alle Giraffen, die können was erleben! Gemeinsam!
Denn ein kleiner Knabe wird sie miteinander treiben, ein Säugling wird mit ihnen spielen, ein entwöhntes Kind streckt seine Hand nach ihnen aus!
Und sie werden diese gute Hand, die Schöpferhand, aus der sie alle stammen, zutraulich schnobern und lecken und greifen.
Und seinen Gurt aus Gerechtigkeit und Treue wird kein Tier mehr als Peitsche oder Ziemer verkennen, sondern wenn er sie an’s Halfter nimmt, dann ziehen sie und pflügen freiwillig, weil es Samen genug gibt, um Futter für alle und Brot für die Welt zu säen und zu ernten.
Und will er sie lenken, und will er sie leiten – der kleine Hütejunge, der die Herde aller Kreatur weidet – dann muss er keinem mehr Schmerzen zufügen, er kann dem Stier und dem Bären die eisernen Ringe aus der Nase nehmen, er kann die giftigen und reißenden Tiere ohne Stacheldraht und ohne Gitter mitten unter die wehrlosen lassen, denn sie gehorchen ihm auf’s Wort, und mit dem Stecken und Stab seines Mundes führt er sie so, dass auch im finsteren Tal die Lämmer nicht hinterrücks von den Wölfen gerissen werden. …………——
Das wird schön, wunderschön, wenn diese neuen Beziehungen, diese neue Ökologie die Verhältnisse in der Natur verwandelt und die erneuerte Schöpfung hervorgebracht haben, die ein einziges großes Zeugnis der weihnachtlichen Weltrettung sein wird! ——
„Dir hat wohl die schlesische Pastoralmesse aus dem «Herrgottswinkel» in der Grafschaft Glatz mit ihrer Terzenseligkeit, mit ihrem idyllischen Schmelz den Verstand benebelt….?!“:
So denken jetzt wohl einige von Euch, meine lieben Mitgeschöpfe und Mitgeschöpfinnen.
„Was Du vorhin aus den hessischen Wäldern der Kinderzeit und von den sprechenden Tieren der Heiligen Nacht gefaselt hast, das war ja schon aus einer völlig versunkenen Welt. Aber der Tierfrieden des Jesaja, die Harmonie der Schöpfung, …. das ist nicht versunken, das ist erstunken. Hör’ auf, zu träumen. Werd’ wenigstens Realo!“
— Ach, wisst Ihr: Ich kann nicht.
Ich will nicht.
Ich muss nicht!
Zwar schau’ ich mir den ganzen großen Tiergarten Gottes durchaus immer wieder mit gemischten Gefühlen an und sehe unglaublich Vieles, das mich mehr als ernüchtert, mehr als skeptisch und besorgt macht.
Und dennoch meine ich, unter allen krabbelnden und fliegenden, unter allen schuppigen und pelzigen, unter allen einfältigen und schlauen Biestern sei nur ein einziges auszumachen, an dem der Friede einer neuen Welt, an dem die Lebensordnung Gottes bisher wirklich scheitert. Das ist das Tier, das unsern Namen trägt:
Das ist das wölfische Geschöpf, das die Lämmer mit Messer und Gabel verputzt.
Das ist der Panther, der seine Grausamkeiten inzwischen mit Lichtgeschwindigkeit begehen kann.
Es ist der Löwe, der längst nicht mehr aus Hunger tötet, sondern zum Genuss.
Es ist der Bär, der keinen Winterschlaf mehr macht, sondern die Welt verheizt, um Tag und Nacht, jahraus, jahrein seine Speisekammer immerfort zu füllen für eine Ruhe, die doch nie kommt.
Es ist die Giftnatter, die mehr Geschaffenes vergiftet, mehr Lebendiges lähmt, mehr Schwaches würgt, als alle anderen Lebewesen zusammen.
Doch ausgerechnet dieses eine Tier sollten wir als hoffnungslos aufgeben?
Ausgerechnet an dem sollte Gottes Weihnachtsschöpfung scheitern?
Nein!
Was dem Ochsen und dem Esel gilt, dem scheuen Reh und der sorglos sich tummeln-den Robbe, das gilt erst recht und ohne Zweifel dem Geschöpf, in dessen Gestalt und Gebärden Gott sich sehen und finden läßt!
Und wenn die ganze Menschheit der neuen Kreatur und ihren von Gerechtigkeit und Gottesfurcht geprägten Beziehungen geschlossen im Wege stünde:
Gottes Hausrecht hier auf Erden wird dennoch siegen!
Wenn wir auch alle unnütz wären und unbrauchbar, totes Holz, dürres, dem Feuer bestimmtes Reisig, so weiß der Geist des HERRN die Welt dennoch zu retten:
Ein Reis aus dem morschen Stamm wird ausreichen; der eine Ast aus Jesses Wurzel wird Frucht für alle bringen.
Und über Stadt und Land, über Wald und Flur, über Berg und Meer wird Jesus, das Kind und der Herr die neue Zeit ausbreiten, wird Jesus, das Kind und der Herr das ewige Recht aufwachsen lassen und so wirr Jesus, das Kind und der Herr die ganze Schöpfung retten!
Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!
Amen.
1.Christfest Johannes 3,31-36 Stadtkirche Kaiserswerth Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth - 1.Christfest 2012
Johannes 3, 31- 36
Liebe Gemeinde!
Nach jüdischer Tradition bietet der Mutterleib das beste Theologiestudium.
Weil die frommen Gelehrten Israels sich einfach nicht vorstellen konnten, wozu bei einer Schwangerschaft neun ganze Monate gut sein sollen, wenn es dabei nur um die körperliche Entwicklung ginge, vermuteten sie, dass diese lange Zeit in Wahrheit etwas anderem diente, nämlich dem, worüber sie Tag und Nacht sannen und woran sie allein ihre Lust hatten.
Und so nahmen sie an, dass jedes ungeborene Kind in jenem dreiviertel Jahr, in dem Gott es reifen lässt, eine wunderbare geistliche Fülle erfahre:
Es hat dann einen Engel ganz für sich, der dem Embryo, dem Fœtus alle Geheimnisse im Gesetz des HERRN Schritt für Schritt erklärt und ihn zu einem Menschenkind macht, das die ganze Wahrheit kennt.
Es gibt sogar einen Vers in Psalm 40, der sich in dieser Richtung – sozusagen als Selbstankündigung eines solchen vorgeburtlichen Schriftgelehrten – deuten ließe:
„Siehe, ich komme - heißt es da -; im Buch ist von mir geschrieben. Deinen Willen, mein Gott tue ich gern, und dein Gesetz habe ich in meinem Herzen.“ (Ps408f)
Allerdings wussten die Weisen Israels auch, dass wir als Neugeborene und dann als Kinder und Heranwachsende alle alles neu lernen müssen. Warum? Weil bei der Geburt ein Engel jedes Kind erwartet, der ihm bei seinem ersten Atemzug einen Klaps auf den Mund gibt, wovon die Rinne – das sog.Philtrum – zeugt, die zwischen Nase und Mund verläuft*.
Durch den Klaps vergisst das Kind sein Offenbarungswissen und wird wieder ein Anfänger, der dem streitbaren Engel versprechen muss, nicht übermütig zu werden, sondern sich selbst auch dann noch für gottlos zu halten, wenn alle ihm später wegen seiner Frömmigkeit schmeicheln sollten.
Und das letzte Wort des Engels, der für’s Vergessen sorgt, lautet:
„Wisse, dass der Heilige, gepriesen sei ER, rein ist, seine Diener rein sind und die Seele, die ER in dich getan hat, rein ist.“
Damit, die reine Seele nicht zu verlieren, hat das einst allwissende und nun ganz gewöhnliche Kind dann seine siebzig, achtzig Jahre zu tun. ———
Zugegeben: Diese talmudische Geburtskunde ist etwas befremdlich für uns ….. zumal die meisten werdenden Eltern heute auf einen ausgebildeten Theologen im Mutterleib durchaus verzichten könnten, wenn nur ein einigermaßen sportliches Wesen mit genug Ehrgeiz für seine spätere Ausbildung heranwächst …….
Aber was wir soeben im Johannesevangelium hörten, das war nun doch die Stimme eines Menschen, der genau eine solche theologische Urerfahrung im Mutterleib machte:
Es waren die letzten Worte, die Johannes der Täufer über seinen fernen Verwandten aus Nazareth, Jesus öffentlich sprach.
Nun hatte aber genau die Geschichte dieser beiden Vettern ja schon begonnen als sie jeweils noch im Schoß ihrer Mütter heranwuchsen.
Damals, als Maria die künftige Mutter des Täufers besuchte, sprach diese – Elisabeth – : „Siehe, da ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfte vor Freuden das Kind in meinem Leib!“ (Lk144)
Johannes hat also das erste Weihnachtsfest, den ersten Jubel über Christi Menschwerdung vorgeburtlich gefeiert: Vor Christi Geburt, ….. aber eben auch vor der eigenen!
Vielleicht ist es also nur fremd, aber nicht völlig abwegig, wenn wir zu denken wagen, dass Ungeborene, die gerade erst aus Gottes Schöpfungswort hervorgehen, die gerade erst den Lebensfunken empfangen haben, ihrerseits in einer Weise für Gott empfänglich sind, die wir uns später, in einer völlig anderen Umgebung gar nicht mehr vorstellen können.
Es mag also zwar schlechte Theologie sein und ist doch gleichwohl echte Ehrfurcht, wenn uns der Blick aus den Augen eines Neugeborenen manchmal so geheimnisvoll, so wissend erscheint, dass man tatsächlich annehmen könnte, sie hätten vor Kurzem noch ganz klar und rein gesehen, was unsereins immer nur verschwommen ahnt.
Wenn wir uns also ein wenig mit diesem pränatalen Einvernehmen zwischen Gott und den Menschenkindern anfreunden, dann lässt sich plötzlich ganz anders verstehen, was Johannes der Täufer in seinem letzten Zeugnis über Jesus sagt:
„Der vom Himmel kommt, der ist über alle und bezeugt, was er gesehen und gehört hat“.
Johannes ist sich also sicher, dass Jesus uns etwas zeigt und lehrt und schenkt, das ihm bereits vor seiner Geburt vertraut war und zur Verfügung stand: Seine vollkommen Verbundenheit mit Gott, seine Verwurzelung in Ihm.
Diese Verschmelzung von Gottes Wirklichkeit und unserem menschlichen Wesen, diese Durchdringung von Fleisch und Blut mit dem heiligen Geist der Erkenntnis und Wahrheit geht uns anderen Menschenkindern sämtlich verloren.
Es gibt für diesen Verlust an innerer Harmonie verschiedene Gründe:
Als Geburtsschock könnte man ihn deuten, als erstes Krisenerlebnis; für den Glauben zeigt sich in der Fremdheit zwischen Gott und Mensch die Erbsünde, die uns alle anders geraten lässt, als wir gemäß der ursprünglichen Gottebenbildlichkeit sein müssten; auch die jüdische Anschauung, die wir eben kennen lernten, ist bemerkenswert, weil sie das menschliche Schicksal vom Vergessen her begreift: Vergessen ist das anfängliche Verhängnis, das uns im Abstand zu Gott hält und dem wir nur steuern können durch Vertiefen und Erinnern.
So oder so: Während wir alle bei unserer Geburt die Nähe zu Gott, die Einigkeit mit Ihm einbüßen, bringt das Kind Jesus sie mit zur Welt.
Ihm gehen die Himmelswurzeln nicht verloren in dem Augenblick, in dem er auf Erden eingepflanzt wird. Er wird hier ungemindert aus dem himmlischen Mutterkuchen und Nährboden mit Kräften gespeist, wird wachsen und werden und bleiben, was wir spätestens dann nicht mehr sind, wenn uns eine irdische Geburtsurkunde ausgestellt wurde: Ein Himmelskind, ein Bürger der Ewigkeit! ——
„Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der Erde.“
Das ist unsere Lebensgeschichte, die nach der Geburt anzufangen scheint, weil alles Frühere in Dunkel und Vergessenheit liegt, obwohl wir wissen, dass uns da immer ein zündend wichtiger Bestandteil der eigenen Biographie verborgen bleiben wird ….. nämlich jene entscheidende Vorgeschichte, von der Gott nur zu Jeremia einst eine Andeutung machte:
„Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete“ (Jer15).
Diese tröstliche Erfahrung, dass wir vor allem Andern und Späteren gewollte und bejahte, innig bedachte und eigens geformte Geschöpfe Gottes sind, ist für uns nur als Glaubenssatz zugänglich.
Für Jesus allerdings – bei dem zwischen dem Vorbewussten und dem bewusst Erlebten kein Bruch eintrat – ….. für Jesus ist diese lebensstiftende Übereinstimmung zwischen Schöpfungsplan und Schöpfungsergebnis die ganze Wirklichkeit:
Er kommt von Gott.
Er schöpft aus dieser Grundvoraussetzung.
Sein Leben fällt aus dieser Beziehung nie heraus.
Das schöne weltliche Wort dafür – in dem eine ganze Predigt schlummert – ist „Grundvertrauen“. —
Es ist diese fundamentale Rückbindung an Gott, den Ursprung, den Schöpfer, den Vater, die Jesus von Anfang seines Lebens auszeichnet, weil sie in ihm nicht nur im Geborgenheitsgeheimnis der neun prägenden Schwangerschaftsmonate, sondern vor aller Zeit schon angelegt war.
Von diesem allergrößten Mysterium kommt im Johannesevangelium nämlich immer alles her, und es ist der Kern dessen, was wir heute feiern: Nicht nur die Geburt jenes Kindes Jesus, das da im Grundvertrauen leben wird, sondern das Wunder, dass dieses Kindschaftsverhältnis zwischen Jesus und seinem Vater ein ewiges ist.
Darüber kann man viele gelehrte und mystische Betrachtungen schreiben.
Man hat Jahrhunderte des höchsten kirchlichen Scharfsinnes gebraucht, um das Wunder zu ergründen, dass Jesus Christus nicht neun Monate vor Weihnachten entstanden ist, sondern dass Gott ihn von Anfang an umfasst.
Man hat – leider – auch sehr viel gestritten und viel kühner als die Rabbiner über die sog. „Präexistenz“ Christi phantasiert.
Aber heute haben wir das schönste und kürzeste Zeugnis gehört, in dem alles, was wir über die ewige Dreieinigkeit Gottes glauben dürfen, auf’s beste verdichtet ist.
Dass es aber ausgerechnet Johannes der Täufer war, aus dessen Mund wir diese kürzeste Offenbarung der Trinität haben, das mag daran liegen, dass er selbst der Ohrenzeuge des alles entscheidenden Satzes war.
….. Man konnte und man kann nämlich auf alles, was wir Weihnachten nennen, schlankweg verzichten, wenn man diesen einen Satz kennt und annimmt, den Johannes vom Himmel her vernahm, als er Jesus im Jordan taufte (vgl. auch Joh132ff).
Da geschah eine Stimme: „Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen“.
So hören wir’s etwa im Markusevangelium (111), in dem es an sich tatsächlich gar keine Weihnachtsgeschichte gibt, in dem mit diesem einen Satz aber dennoch Weihnachten ist.
Ebenso kurz also heißt es heute aus dem Mund des Täufers:
„Gott gibt den Geist nicht nach dem Maß. Der Vater hat den Sohn lieb.“
Das ist die ewige und endgültige Besonderheit, die vorgeburtliche und vorzeitliche Einzigartigkeit des Menschenkindes Jesus. Der Geist und die Liebe seines Vaters umfangen ihn immer schon und ohne Ziel.
Was ist also das Wesen der Dreieinigkeit? – Diese Liebe.
Was verstehen wir unter der Präexistenz Christi? – Die ewige Liebe.
Was offenbart und erschließt sich uns dann aber durch die weihnachtliche Geburt? – Liebe!
So aber sind das nicht etwa sinnlos lebensferne Spekulationen, wenn sich die christlichen Theologen in das ewige Daseinsgeheimnis des zu Bethlehem Neugeborenen grübelnd versenken; genauso wenig wie die jüdische Theologie praktisch unbrauchbar wäre, wenn sie jedem Menschgeborenen seine ursprüngliche Einweihung in Gottes Weisheit als Anreiz und Maßstab für’s Leben vorhält.
Denn wer immer sich darauf einlässt, dass Sinn und Ziel unseres Daseins in dem liegen, was uns von Gottes Seite her vorausgeht, was vor allem Zeitlichen schon ewig sicher und gewiss war: ein solcher Mensch weiß, dass er nicht vergebens laufen und leben kann!
Solcher Glaube an das, was eher und länger als unser eigenes Leben gilt und unabhängig von dessen Verlauf feststeht, solcher Glaube also an den von Ewigkeit zu Ewigkeit aus Gottes Liebe kommenden, in Gottes Liebe bleibenden und zu Gottes Liebe führenden Sohn, der gibt Sicherheit.
Lebenssicherheit.
Wahrheitssicherheit.
Liebessicherheit.
Wer sich selbst also an Gottes von jeher und unendlich geliebten Sohn hängt – wer mit anderen Worten also auf ihn traut – der wird, wenn er das Weihnachtsgeheimnis der ewigen Kindschaft Jesu feiert, selbst noch einmal wie geboren werden.
„Denn der Vater hat den Sohn lieb und hat ihm alles in seine Hand gegeben.
Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben.“
In Jesus treffen wir nämlich auf das Gotteskind, das nie vergessen musste, wie die ursprüngliche Einheit mit Gott, wie das In-Gott-Sein ist.
…………….. Wir andern haben es vielleicht ja tatsächlich nötig, uns auch als selbständig werdende, als unabhängige, eigenverantwortliche Einzelwesen zu entdecken und zu erproben. Der Engel, der die Kinder unter die Nase klapst und ihnen die Selbstverständlichkeit der Beziehung zu Gott aus dem Gedächtnis löscht, macht sie buchstäblich auch mündig.
Doch je mündiger wir geworden sind, je mehr wir uns und unsre Grenzen, unsre Gottesferne kennengelernt haben, desto klarer müssen wir auch die Größe des Geschenks erkennen, das da für uns in der Krippe liegt: Ein Menschenleben voller Urvertrauen liegt da.
Da liegt die Kindschaft nicht nur wie ein „Es war einmal“, sondern da liegt der über alles und in Allen geliebte Sohn, der Gottes Kind bleibt.
Wenn wir den hören und wenn wir ihm gehören, dann werden wir mit ihm auch in Ewigkeit erleben, wie wir gewollt und gemeint und geborgen und gerettet sind, weil die ewige Liebe, wenn sie zu Jesus anredet, auch uns mit den Worten umfängt:
„Du bist mein Kind. An dir habe ich Wohlgefallen.“
Amen.
Heiligabend 2012 Christmette Stadtkirche 1.Mose 3,15 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christmette 2012
Das Protevangelium: 1.Mose 3,15
Liebe Gemeinde!
Weihnachten wackelt.
Allerdings ist das keine Verfallserscheinung der Gegenwart, sondern das gilt von jeher.
Denn dass unser Weihnachten auf tönernen Füßen steht, ist ja bekannt:
Sein Datum ist unhistorisch, aus symbolischen Gründen gewählt; die Grundurkunde des Festes – also der Geburtsbericht des Lukas – ist denkbar knapp bezeugt; und die Sitte, Christi Menschwerdung überhaupt eigens zu feiern, brauchte lange, ehe sie sich halbwegs allgemein durchsetzte.
Es ist also eine sehr schwache, sehr menschliche Angelegenheit: Diese Feier, die manchen das Höchste der Gefühle bringt und für andere darum nur mit Ironie und Abstand auszuhalten ist.
Aber allein darum müsste man Weihnachten eigentlich doch lieben: Dass es so unvollkommen ist; dass es nur so mickrige biblische Wurzeln besitzt und später doch so üppige Triebe entwickelt hat. Man müsste es lieben, dass hier ein Kindergeburtstag die Erwachsenenwelt lebenslang vor die Frage stellt, wie sie’s denn nun eigentlich hält mit der reinen Freude ohne wasserdichte Tatsachenbeweise?
Man müsste es lieben, dass alljährlich ein Großereignis sich hier um einen so bescheidenen Kristallisationspunkt legt: Nackedei und Nabelschnur und Niemandsland und Viehnomaden.
Wir alle ahnen jedenfalls, dass das Kind der bedauernswerten Kate nächstes Jahr nach einem viel stilvolleren Drehbuch und einer viel strafferen Planung schon mit seinem Geburtsdatum in die Geschichtsbücher eingehen wird.
Dagegen armer kleiner Prinz aus Davids Haus! Was für ein Chaos hat Deine Ankunft begleitet und verdunkelt und umsponnen, dass wir sie so nach eigenem Gutdünken feiern müssen und uns weder irdisches, noch himmlisches Hofprotokoll die Zeremonien vorschreibt!
Weil aber kein genaues biblisches Drehbuch, kein sakramentaler Einsetzungsbefehl dafür vorliegt und es also so ein wackeliges, zur Unterstützung herausforderndes Fest ist, darum sind der fromme Erfindungsreichtum und die schnelle Einsatztruppe, die theologische Kavallerie immer schon besonders eifrig zu Stelle gewesen, wenn’s galt, Weihnachten ein Fundament zu schaffen.
Und das Erste, was die theologischen Späher und Forscher schon im Altertum entdeckten, um es strategisch als Weihnachts-Verteidigung auszubauen, ist bis heute eine Meldung wert:
Bei einem Erkundungsritt durch die gesamte Bibel, mit dem Ziel, die Geburt des verheißenen Gottes- und Menschenkindes, des Welterlösers Jesus durch Belege zu stützen, machte nämlich einer der ältesten Kirchenväter – Irenäus von Lyon – einen sagenhaften Fund.
Kaum hatte er die Schrift zu durchforsten begonnen, stieß er in deren drittem Kapitel bereits auf eine Ankündigung, die ihm wie Weihnachtsglocken in den Ohren klang ….. zweihundert Jahre ehe man überhaupt ein Geburtsfest Christi kannte.
Denn da stand es doch schwarz auf weiß, beim großen Urknatsch und Sündentheater des Menschengeschlechts, da hört man mitten im Erdbeben des Sündenfalls Gottes erste Zukunftsansage diesseits von Eden.
Und diese ersten Worte, die in der plötzlich ganz wackeligen – weil von Sünde und Tod erschütterten – Welt im Futur fallen, sind seltsam:
Es ist der Fluch über die Schlange, die verstoßen wird und auf dem Bauch kriechend das fressen soll, wovon der Mensch genommen wurde und was er wieder werden muss: Erde.
Doch verwoben mit diesem Fluch – so stellte Irenäus es staunend und aufatmend fest – verwoben mit der Verfluchung des Bösen ist etwas, das nach Evangelium, nach guter Nachricht riecht, nach Leben, Heil und Himmel.
Nur ein Hauch, eine allererste Ahnung vom Evangelium ist das zwar, aber doch genug, um sehr heiter und sehr hellhörig weiter durch die Schrift nach Andeutungen zu suchen, die die Geburt eines Weltverbesserers, eines Seligmachers bezeichnen.
Denn mitten in Gottes Zornesausbruch gegen die Schlange findet sich ja auch die Ankündigung einer dauerhaften Feindschaft zwischen der Schlangenbrut und Evas Samen, bis dieser gewinnt.
Und mehr als dieser wenigen Töne bedarf es nicht, um die christliche Theologie unumkehrbar heiter und getrost zu stimmen.
Diese wenigen Worte – „Der Same des Weibes wird dir den Kopf zertreten, alte Schlange“ – diese wenigen Worte waren für Irenäus das erste Evangelium, das Urevangelium sozusagen.
Denn die Vorhersage des Schlangentretens bedeutete für die Alte Kirche:
Die Welt ist zwar unwiderleglich in’s Wackeln, nein geradezu in’s Trudeln geraten durch den menschlichen Entschluss, Gottes Wort in den Wind zu schlagen …. aber dennoch ist unsere Zukunft nicht da zu suchen, wo das Reptil und andere Kriecher am Boden sind, sondern im aufrechten, zielgerichteten Gang.
Mehr noch: Gott verspricht sogar, dass in dieser seit dem Sündenfall gefährlich abschüssigen Welt, die zum Sterben neigt, Einer einst so sicheren Tritt fassen soll, dass dann nicht mehr der Mensch, sondern das Böse sich unter dessen Füßen in den letzten Zuckungen wird winden müssen.
Und mit dieser Aussicht – dass der Mensch nicht hoffnungslos vom Natterngift der Gier und Gottlosigkeit bedroht ist, weil’s in der Menschheitsgeschichte selbst eine Rettung vom Urübel geben wird – ….. mit dieser Aussicht vor Augen fängt Weihnachten seit Irenäus noch im Paradies, neben dem angebissenen Verführungsapfel an! ——
Uns mag diese weihnachtliche Deutung des gereizten Wortes Gottes an Schlangen und Frauen abenteuerlich vorkommen. Für fast sechzig Generationen vor uns allerdings war es unstrittig, dass Gottes erste Äußerung nach der Katastrophe bei allem Zorn nichts anderes gewesen sein kann, als zumindest eine Andeutung, aus der Hoffnung zu schöpfen war.
Und heute nacht haben wir glücklicherweise Besseres zu tun, als zu streiten, ob es objektiv und wissenschaftlich gerechtfertigt sein könnte, eine echte Heilsbotschaft in diesem Wort über die Schlange und Evas Kinder zu sehen (in Klammern: Neuerdings sagt die Wissenschaft nicht mal mehr rundum Nein!....).
Wir jedenfalls haben heute nacht schlicht zu feiern, und zwar die Geburt eines Frauensohnes oder – wie es die Alten vom Urevangelium her sagten – des „Weibessamens“, der keinen Menschenvater hat und der gekommen ist, um alles, was uns wurmt und sticht, um alles, was uns die Luft abschnürt und die Seele vergiftet, wegzuschaffen.
Und weil wir uns das so selten sagen lassen, dass da ein Problemlöser kommt – denn wir meinen ja immer, effizient und maßgeschneidert individuell lösten uns nur irgendwelche Dienstleister irgendwelche technischen Probleme – , ….. weil wir uns das also so selten sagen lassen, dass da tatsächlich auch für die nichttechnischen, für die seelischen und menschlichen Sorgen und Qualen ein Problemlöser kommt, darum können wir uns das in dieser Nacht gar nicht laut und fröhlich und bestimmt und nachdrücklich genug klar machen!!!
Und nun ist es typisch für unseren christlichen Glauben – nur leider uns oft viel zu wenig bewusst – dass diese gute Nachricht radikal am Anfang steht.
Mit froher Botschaft fängt tatsächlich alles an, woran wir glauben!
Selbst die dunkelsten, schlimmsten Dinge, selbst Bosheit, Anklage und Strafe, selbst Verhängnis und Rätsel begegnen uns Christen wirklich niemals ohne eine Weihnachtsspur, nie ohne einen Hauch, einen Duft, eine Ahnung, ein leises Vorläuten des Evangeliums.
Denn das ist doch auf jeden Fall gewiss: Den Entschluss, dass es auf dieser Welt einmal Weihnachten werden solle, den hat Gott ja nicht irgendwann in einem Augenblick gefasst, weil Augustus ihm so auf die Nerven ging und Herodes einen Denkzettel verdiente, sondern der fiel tatsächlich damals, beim Fall.
Als feststand, dass der Mensch aus Gottes Garten würde auswandern müssen, stand ebenso fest, dass Gott in die Menschenwelt würde einwandern müssen.
Und so haben die Kirchenväter und die Christenmenschen der Vergangenheit durchaus Recht, wenn sie das Weihnachtsevangelium als den ursprünglichsten Inhalt der Bibel betrachten:
Vor allem, was in der Menschheitsgeschichte kommen sollte, ist und bleibt Gottes Kommen anzukündigen.
Und zwar – das ist der Witz an dem Wort über den Weibessamen – und zwar ein Kommen Gottes, das nicht anders sein wird, als unser aller Kommen: Nicht im Blitz, nicht im Donner, sondern wie alle Menschen … als Kind einer Mutter.
Und – das ist nun schon der dritte Punkt, den das Urevangelium umfasst – wenn Gott in die Menschheit und Menschlichkeit kommt, dann mit allem Nachdruck, dann so, dass es Folgen hat: Gute für uns, böse für’s Böse.
Dieser letzte Punkt ist uns mit Sicherheit am fremdesten und ist doch der Beste:
Denn das ist ja nun mal die entscheidende Nachricht, dass das Neugeborene dieser Nacht ein geborener Sieger ist.
Niemand möge sich vertun: Dieser Kleine in der Krippe, der ist nicht bloß niedlich friedlich, sondern kommt, um höllischen Ärger zu machen.
Er kommt, um richtig Staub aufzuwirbeln, um das Schiefe in uns zu begradigen, um das Wackelige unter uns fest zu machen, er kommt, um das Schreckliche, das auf uns Menschen zusteuert, zu vernichten und das Verdorbene, das in uns Menschen steckt, zu verändern.
Dieses kleine Bürschchen hat zwar Fäustchen und Fingerchen wie aus Marzipan, aber wo er einst den Fuß hinsetzt, da wächst kein Grabschmuck mehr.
Wenn er aufstampft, kippen die Foltergeister, die uns ständig in Schuld und Schaden verwickeln, reihenweise um.
Wenn er davor tritt, fliegt eines Tages sogar die Hölle, das Reich des Todes, aus dem Gott ausgeschlossen war, in Trümmern auseinander.
Schmerzen, Schuld und Sterben – dieses ganze Schlangengezücht, das durch unser Dasein wimmelt – wird Gottes Menschenkind zerknicken und zerquetschen.
Er macht sie platt, macht ihnen den Garaus!
Er wird eben der „Schlangentreter“ sein …. und dieser sonderbare Titel – „Schlangentreter“ – , den wir für etwas aus der Welt der Fakire oder der Damenschuhe halten, war für etliche Jahrhunderte der kräftigste, schönste, ermutigendeste Name, unter dem sich Verantwortung und Einsatz und Fürsorge Jesu für uns überhaupt fassen ließen: Luther und Paul Gerhardt, Bach und Klopstock und Bodelschwingh wärmte es das Herz, wenn sie dachten und dichteten, dass Gottes Sohn durch seine Geburt, sein Leben, sein Sterben dem bösen Feind, der alten Schlange das Genick bricht. ——
Das ist die Bilder- und Gedankenwelt eines Zeitalters, das plastische, handfeste Vorstellungen allem Abstrakten vorzog.
So derb und drastisch können wir kaum noch etwas ausdrücken, am wenigsten wohl unsere Hoffnungen und Wünsche, die wir ja kaum noch wagen.
Doch die alte Freude am Urevangelium, der gewaltige Optimismus, der in dem Augen-blick, in dem alles irdische Elend anfing, schon den endgültigen Überwinder unseres Elends vorweggenommen sieht: Das steckt doch an, das wärmt wie Weihnachten!
Denn es zeigt, wie heute etwas Grenzenloses unser Leben erreicht und erfüllt: Etwas, das immer schon – selbst in den hoffnungslosesten Zeiten – dieser Welt mitgegeben war.
Als die Dinge schief gingen, hat Gott schon Begradigung verheißen.
Als die Pforten des Paradieses sich schlossen, tat sich die weihnachtlich durchlässige Himmelstür schon über uns auf. —
Dass aber Weihnachten im Paradies begann und endet, das zeigen uns die Christbaumkugeln zur Genüge. Zusammen mit ihren Vorläufern - den echten Äpfeln, die man früher aufhing - haben sie einen einzigen Zweck – nämlich das Böse, die Sünde, die Schlange und den Tod buchstäblich zu „veräppeln“:
„Ihr könnt uns doch nicht schaden!
Wir haben nämlich ein Evangelium, wir haben einen Heldenmut und eine Zuversicht, wir haben einen Heiland, die machen Pappmaché aus euch!
Tod, Teufel, Sünd’ und Hölle: Ihr alle werdet aufgehängt … im Weihnachtsbaum!
Und Du, alte Schlange, Ursymbol des ganzen Elends: Zieh’ den Kopf ein! Der Retter kommt!
Darum läuten die Glocken und jauchzt der Himmel und freuen sich die Menschen!
Der Schlangentreter ist geboren!“
Weihnachten wackelt angeblich? …… Ach was!
Weihnachten sticht!
Amen.
Heiligabend 2012 Christvesper Stadtkirche Johannes 7,28f Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christvesper 2012
Johannes 7,28-29
Liebe Gemeinde!
In der weltberühmtesten Dorfkirche von Seiffen im verschneiten Erzgebirge versammeln sie sich zur Stunde genau wie im Hamburger Michel, in Dresden unter der herrlich wiederhergestellten Kuppel der Frauenkirche, in Lübeck in St.Marien, wo der eine oder andere fremde Gast im Gestühl hofft, ein Namensschild, auf dem „Buddenbrook“ eingraviert wäre, zu finden. In St.Nikolai, Greifswald, dessen bald wieder vollzähliges Geläut weit über den Bodden hinaus die heilige Nacht ankündigt, treten sie jetzt ein, und an der Rehwiese vorbei gehen die Nikolasseer nun in jene Kirche, in der Jochen Klepper zur Weihnachtszeit vor siebzig Jahren seine letzten Gottesdienste erlebte, ehe er mit Frau und Tochter nur noch den Tod wählen konnte.
Was für denkwürdige, was für wunderbare Räume das alles heute Abend sind: Die Wittenberger Stadtkirche, wo Luther Weihnachten feierte und wo es heut noch aussieht, als käme er gleich selber schnaufend aus der Sakristei; die Thomaskirche, auf deren Emporen ein dicker Perückenträger auch den himmlischen Heerscharen das Singen neu offenbarte; die nüchterne Gemarke in Barmen, wo Gottes Wort neu auf den Leuchter gehoben wurde, als der deutsche Wahn es über dem Abendland Nacht werden ließ.
Was für ehrwürdige und teure Orte: Elisabeth in Marburg, wo die Gotik plötzlich erwacht und den Himmel nachbaut; Sebald und Lorenz, die über die Nürnberger Giebel ragen, um zu zeigen, dass der Glaube sogar Kaiser, Kunst und Humanismus und alle Reichstage der Herrenmenschen übertrifft; die backsteinrote Heiliggeist von Heidelberg und die Peterskirche, wo bis heute die Professoren nicht nur treu, sondern gut predigen; die größte und höchste aller unsere evangelischen Kirchen überhaupt – das Ulmer Münster, von dessen Turm aus man den Stern dieser Nacht meint haschen zu können. ……. ——
Doch wozu dieser Dämmerungsspaziergang durch ein Land am Heiligen Abend? Die Stiftung Denkmalschutz hat ihre Adventspost doch schon geschrieben ……
Darum aber geht es gar nicht.
Sondern um das Wort, das Jesus einst beim Lichterfest Channukah im Tempel sprach und das heute, beim weihnachtlichen Lichterfest in allen unseren Kirchen, auch hier in der kleinen, klaren, vollen, lieben Stadtkirche zur Erfüllung kommt:
„Ihr kennet mich – spricht Jesus also – und wisset, woher ich bin!“
Und da kommen nun unsere Kirchen in’s Spiel.
Denn obwohl wir es einerseits alle biblisch-historisch genau wissen, dass Jesus aus dem Hause Davids, also der jüdischen Hoffnungslinie stammt und dass er in der Zeit der römisch-herodianischen Tyrannei als Nichtsesshaftenkind in einer Notunterkunft geboren wurde und dass dieser Säugling allein schon deshalb die fleischgewordene Sehnsucht Israels nach Freiheit und Heimat und Gottvertrauen verkörpert, …. obwohl wir das alles wissen, hat Jesus für jeden von uns doch so etwas wie eine doppelte Herkunft.
Neben die biblisch-historische tritt seine geistliche Geburt:
Denn in unser Leben kam Jesus nicht damals in jenem Stall, sondern in unseren Kirchen.
Und einerlei, was Großmutters Erzählgabe oder die Bilderbibel oder das Fräulein im Kinder-garten oder der famose Pastor, der uns durch die Halbstarkenzeit hindurch ein Vorbild und Freihafen war, auch bewirkt haben mögen: Ohne die großen und kleinen, die bedeutenden und die gemütsnahen Kirchen unseres Landes wäre Jesus bei keinem von uns eingekehrt!
Seit die alten Sachsen und Franken keine Missionare mehr langsam überm Feuer garen, werden dem herbergssuchenden Gott aus der Fremde, werden seinem kleinen obdachlosen Sohn ja unter unserm Himmel Häuser gebaut:
Die salischen Perlen von Speyer, Worms und Mainz, der Kranz der zwölf romanischen Kirchen im heiligen Köln, die Blüten des mittel-deutschen Mittelalters von Braunschweig, Goslar, Königslutter, Halberstadt, Quedlinburg, Gernrode, Magdeburg, Naumburg – um nur die berühmtesten unvollständig zu nennen.
Es wäre eine gar nicht so sinn- und wirkungslose Predigt, wollte man nur diese herrlichen Quartiere eines nach dem anderen aufzählen, die dem Kind aus der Krippe errichtet wurden, damit es nicht immer so heimatlos bleibe und damit jede Seele in deutschen Landen einen Ort haben, eine Turmspitze sehen könne, wo sie wusste: „Da ist mein Herr zu Hause. Da bin ich selbst zu seinem Hausgenossen getauft worden. Da findet die Seele die Heimat, die Ruh!“
„Ihr kennet mich und wisset, woher ich bin“, spricht Jesus. ——
Diese vertrauenschaffende Vorstellung hat aber noch mehr bewirkt als die Werke der Baumeister, die wetteiferten, Jesus einen Flecken auf der Landkarte und ein Dach über dem Kopf zu bieten.
Denn gerade Weihnachten zeigt uns, wie tief das Zutrauen zu dem jüdischen Migrantenkind und Wanderprediger wurde: Man nötigte ihn aus den Kirchen heraus zum Eintreten über die eigene Schwelle.
Weihnachten wurde zur Hoch-Zeit der Hausbesuche Jesu.
Selbst wo während des Jahres kein Kontakt, keine Verbindung zustande kam: Am Heiligen Abend wurde Jesus zum Ehrengast der guten Stuben, und sein Geburtsfest verlagerte das Gewicht aus den Domen und Gemeindekirchen in die Privatgemächer.
Und auch damit ging die Schrift in Erfüllung, als die brausenden Feiern der Christenheit in ihren Gotteshäusern immer magerer ausfielen und die Familienweihnacht immer zentraler wurde, … heißt es in Psalm 118(15) doch: „Man singt mit Freuden vom Sieg in den Hütten der Gerechten!“
Weihnachten in den Wohnungen der Gerechten: Lieder und triumphaler Jubel – manchmal über den Erlöser der Welt, manchmal auch bloß über einen kapitalen Karpfen oder eine sonstige gefeierte Delikatesse – …. Lieder also, Jubel, Kinderaugen, Kerzenschimmer, behagliche Frömmigkeit und ein Baum, um den uns die Welt beneidet: Unsere gute, alte deutsche Weihnacht. Wir alle kennen sie und wissen, woher sie ist …… ——
Doch so schön es auch wäre, jetzt einen zweiten Bummel im Dämmerlicht zu unternehmen, bei dem wir nicht nur unsere Kirchen bewundern, sondern auch die festliche Vielfalt des häuslichen Schmucks und der häuslichen Sitten an diesem besonderen Abend landauf, landab: Es spricht etwas dagegen, dass dieser zweite Spaziergang uns genauso beglücken würde wie die kirchliche tour d’horizon.
Denn jenes Christkind, dem wir so altvertraut in der Mitte unserer Weihnachtsbräuche begegnen, das so ganz ohne kirchliche Distanz unmittelbar zum Inventar unserer schönsten Kindheitserinnerungen gehört, das neben Tanten und Onkeln und Feiertagsgeschirr und wohl-temperierter Klaviermusik den Inbegriff unserer Weihnacht daheim ausmacht … jenes Christ-kind sagt in seiner vertrauenerweckenden Selbstvorstellung zu Channukah etwas sehr Unheimliches:
„Ich bin nicht von mir selbst gekommen, sondern von einem Wahrhaftigen, der mich gesandt hat, …. w e l c h e n i h r n i c h t k e n n e t ! “
Und dieser zweite Satz – dass da einer ist, den wir nicht kennen – der wurde sonderbar wirksam just in der Zeit, als der weihnachtliche Jesus aus den Kirchen sich scheinbar so in unsere Gewohnheiten und Wohnungen eingelebt hatte, dass man ihm zuhause näher als in den schlechtbeheizten Kirchen zu kommen meinte.
Denn genau damals – im 19.Jhdt, als das Christfest nicht mehr sakral, sondern zivil, bürger-lich begangen wurde – genau damals spürten die Dichter etwas, das den so hübsch in warmen Stuben Versammelten Gänsehaut erregte:
„Da draußen ist noch wer. Ein Namenloser schleicht um’s Haus und starrt mit fremden, unsichtbar sehenden Augen aus der dunklen Kälte in unsere Gemütlichkeit.“ ——
Da ist noch wer. Den kennt Ihr nicht. Aber er sieht Euch zu, heut’ abend ….
Das ist die unterschwellig bangemachende Ahnung der Dichter in der Heiligen Nacht.
Ganz harmlos fängt’s bei Eichendorff an:
„Markt und Straßen stehn verlassen,
still erleuchtet jedes Haus.
Sinnend‘ geh ich durch die Gassen,
alles sieht so festlich aus“
….. Noch könnte alles gut werden.
Noch ist da keine untröstliche Einsamkeit, kein Ganz-Verlassensein draußen vor der Tür.
Theodor Storm allerdings erlebt’s während einer erzwungenen Entfernung von den Seinen viel schlimmer am „Weihnachtsabend“:
„Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll,
der Kinder denkend, die ich ließ zu Haus,
Weihnachten war’s; durch alle Gassen scholl
der Kinderjubel und des Markts’ Gebraus.“
Ihn trifft die rücksichtslose Stimmung der fröhlichen Massen derart in seiner Verlorenheit, dass diese Verse eines am 24.Dezember Unbehausten düster enden.
Und dann wäre da noch Friedrich Rückert mit seinem unsäglich sentimentalen, berühmten Lied „Des fremden Kindes heil’ger Christ“, das es unmöglich macht, dem Gefühl der Beklemmung durch einen unerkannten, stummen Weihnachtsgast auszuweichen:
Es läuft ein fremdes Kind
am Abend vor Weihnachten
durch eine Stadt geschwind,
die Lichter zu betrachten,
die angezündet sind.
Es steht vor jedem Haus
und sieht die hellen Räume,
die drinnen schaun heraus,
die lampenvollen Bäume;
weh wird’s ihm überaus.
Das Kindlein weint und spricht:
„Ein jedes Kind hat heute
ein Bäumchen und ein Licht,
und hat dran seine Freude,
nur bloß ich armes nicht!“
Es klopft an Tür und Tor,
an Fenster und an Laden,
doch niemand tritt hervor,
das Kindlein einzuladen;
sie haben drin’ kein Ohr.
(….)
Viel mehr Dichter müssen wir kaum beschwören, müssen das Andersen’sche Mädchen mit den Schwefelhölzern nicht abermals unter den beschneiten und beschienenen Fenstersimsen jämmerlich erfrieren lassen, müssen den schauerlichen Geister- und Gespensterspuk, den Charles Dickens seinen Ebenezer Scrooge in der ganz und gar nicht geheuren Weihnacht erleben lässt, nicht herbeirufen.
Ein ganzer Chor von Dichtern vermittelt jedenfalls dieses Unbehagen in der säkularisierten Welt am schönsten aller Abende:
„Da draußen wartet ein Unbekannter. Wir sind zu Weihnachten nicht unter uns!“
Ob dieses Gefühl sich jedoch in der sozialen Frage des 19.Jahrhunderts und deren Antworten ganz erschöpft, … das ist heute unser Weihnachtsrätsel.
Natürlich müssen einer so reichen, so satten und so selbstbezogenen Welt wie der unsrigen immer wieder die in die Namen- und Mitleidlosigkeit Verdrängten vor Augen gestellt werden.
Natürlich muss uns das Heer derer beunruhigen, die vergleichsweise dicht dran an unserem Wohlstand und erst recht im noch verteidigten Abstand zu uns menschenunwürdig darben und leiden. Aber hier sitzt niemand, den das soziale Unbehagen nicht ab und an – und sei’s widerwillig und vorübergehend – beschliche, wenn sein Kamin raucht und der Sekt perlt. —
Der namenlose Gast aber, der uns heute Nacht so nahe kommt wie nie, der Unbekannte, der draußen vor Kirche und Haus in der frostigen Finsternis umgeht, der ist nicht nur unser armer Bruder und kranke Nachbar auch.
Denn Jesus, der heute geboren wurde, ist ja erschienen, um uns neben seinen hilfsbedürftigen menschlichen Geschwistern noch einen andern an’s Herz zu legen, der auf uns wartet.
Er mag uns fremd geworden sein, so dass wir Ihn nicht kennen, Ihn nicht erkennen.
Doch Er ist da. Er sieht uns zu, ….. bis in’s Herz. Er ist unsichtbar unter uns.
Genauso heimlich wird Er nachher auch zuhause unter unseren Fenstern stehen, vor unseren Türen auf uns warten und hoffen, dass wir ihn nicht völlig vergessen, wenn wir zum Fest gehen. Dabei wird Er aber Seine Hände nicht etwa bettelnd nach uns austrecken und wird auch sonst nicht aus Seiner Verborgenheit drängen.
Aber Er hat Seinen Sohn gesandt, um uns alle an Ihn zu erinnern.
Nichts anderes ist und will Christi Geburt ja sein, als die feierliche Bestätigung an uns selbstverliebte und darin so verlassene Menschen: Da draußen ist noch wer. ….. Und wenn man Ihn noch so totsagt, verschweigt oder leugnet.
Da draußen ist noch wer und wartet darauf, dass wir Ihn erkennen und Ihn aufnehmen, mit Ihm leben! ——
Und da fängt nun der dritte Spaziergang heute Nacht an:
Geht also gleich hinaus aus der Kirche, von der Ihr wusstet, dass Jesus in ihr zu finden sein würde.
Geht in Eure Häuser und trefft Jesus auch dort, bei der Feier in den Hütten der Gerechten.
Aber ehe Ihr esst und trinkt und Euch beschenkt und es nach Herzenslust Euch wohl sein lasst: Vergesst Den nicht, Der immer da ist und immer da war und immer da bleibt für uns. Denkt daran, Ihn einzuladen, Ihn einzulassen!
Dazu braucht es für heute aber gar nicht mehr, als dass Sein Name Euch über die Lippen kommt, wenn die Kerzen angezündet und das Weihnachtszimmer aufgetan wird.
Nehmt sein Wort in den Mund – trotz Kopfschüttelns der andern Gäste, trotz des Befremdens, das so alte Sitten Euch selbst erregen – nehmt den fremden Gast in Seinem fast verstummten Wort bei Euch auf:
Im 2.Kapitel des Lukasevangeliums, am Anfang des Johannesevangeliums steht’s ja da!
Lest und ladet Ihn ein!
Er will sich Euch schenken.
Gott will kommen.
Und so heißt Ihn willkommen, den fremden, wahren Gott!
Amen
Heiligabend 2012, Christvesper Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Weihnachtsgedanken Teil 1
Liebe Gemeinde,
„Gewalt vor Abstimmung in Ägypten", „US-Waffenlobby fordert: Bewaffnete vor jede Schule", „Letzte Schicht im Bergwerk West", „Im Ruhrgebiet und in Berlin wächst die Armut", „Ägypten erhält eine islamistische Verfassung" - das waren Artikelüberschriften regionaler Tageszeitungen der vergangenen 4 Tage, Nachrichten aus unserer Welt, die sich global weiterdreht und auch Weihnachten keine Pause einlegt. Nachrichten, die uns mit Tatsachen und Fakten konfrontieren - und meistens sind sie wenig ermutigend. Sie lassen Menschen um ihren Arbeitsplatz bangen, schüren Angst vor einem Zusammenbruch der Euro-Gemeinschaft, .... lassen uns sorgenvoll auf die Entwicklung in der arabischen Welt blicken. Die Tatsachen, die uns da verkündet werden, lassen sich nicht bestreiten - wer den gedruckten Texten nicht glaubt, der wird spätestens von den Fernsehbildern eines besseren belehrt. Die Wirklichkeit, verkündet von Nachrichtensprechern und Politikern, ist wenig ermutigend. Die äußeren Fakten, sie lähmen, machen Angst - weshalb ich in den letzten Jahren von immer mehr Menschen höre, sie würden gar keine Nachrichten mehr einschalten.
Vor 1940 Jahren waren die Nachrichten, die Botschaften, die den normalen Menschen in der römischen Provinz erreichten, nicht weniger deprimierend: Steuererhöhungen, permanente Übergriffe der Besatzungsmacht, Terror und Gegenterror - das war die Wirklichkeit für die Bewohnerinnen und Bewohner von Judäa und Galiläa. Nachrichten zum Fürchten machten die Runde. Und eine der letzten Nachrichten vermeldete: Jerusalem wurde von den Römern erobert und zerstört mitsamt dem Tempel. In dieser Zeit setzt sich der Arzt Lukas, ein Grieche übrigens, hin und schreibt an seinen Freund Theophilus einen Bericht von all dem, was Jesus von Anfang an tat und lehrte. Keine History a la Guido Knopp, sondern ein Euangelion, eine gute Botschaft. Eine Botschaft, die stark genug sein musste, die Menschen trotz aller äußeren Bedrängnis und aller Sorgen, mit denen sie es in der Realität zu tun hatten, froh und zuversichtlich zu machen.
Und da zeigt sich, dass Lukas von Jesus wirklich gelernt hatte. Wenn Jesus seinen Zuhörerinnen und Zuhörern vermitteln wollte, was es mit dem Reich Gottes, das er verkündigte und dessen Kommen die Menschen damals sehnsüchtig erwarteten, auf sich hat, welche Auswirkungen es hat auf den Einzelnen wie auf die Gemeinschaft, dann zählte er keine Fakten auf, sondern erzählte Geschichten, Geschichten, die die Herzen der Menschen berührten. Geschichten aus dem Alltag, Geschichten von Wachsen und Werden. Von Jesus inspiriert, erzählt Lukas darum auch eine Geschichte darüber, wie alles begann - mit Jesus. Eine Geschichte, die nicht historisch ist und doch wahr. Eine Geschichte mit der Kraft, die Wirklichkeit, die für die allermeisten doch so leidvoll und bedrückend ist, zu verändern. Es geht um nichts weniger als um das Heil, um die Rettung der Welt. Doch wer kann diese Welt retten? Ist sie überhaupt noch zu retten? Das ist die Frage - damals wie heute.
Die Botschaft, die Lukas weiterzugeben hat, ist wahrhaft umwälzend neu, eine Botschaft vom Himmel. „Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch gute, neue Mär; der guten Mär bring ich so viel, davon ich singen und sagen will." dichtete Martin Luther kongenial zur Geschichte des Lukas. Wahrhaft märchenhaft, was die Engel zu erzählen haben. Aber nicht eigentlich zum Träumen schön, sondern aufrüttelnd neu. Und darum heißt es „Fürchtet euch nicht!" - gemeint ist nicht einfach, dass die Hirten sich vor den plötzlich aufgetauchten Lichtgestalten nicht erschrecken sollen; sondern gemeint ist vielmehr: fürchtet euch nicht davor, wie Gott die Welt zu retten gedenkt, wie es sich mit dem Retter verhält. Da kommt eben kein Held oder starker Mann, der es richten wird, kein Experte, Wissenschaftler oder Spezialist, sondern da ist ein Kind geboren. „Euch ist heute der Heiland geboren." Und er ist einer von euch - bedürftig, arm, in Windeln gewickelt wie alle Neugeborenen auch. Ganz alltäglich, äußerlich nichts Besonderes - so malte auch Otto Pankok den Heiland der Welt (Titelseite Gottesdienstheft). Da muss sich der Retter noch entwickeln, muss noch werden und wachsen, das zeigt das Bild auf S.2 im Gottesdienstheft.
Das Heil für die Welt, es ist im Werden. Mit der Geburt Jesu feiern wir den Anfang des Heils, das sich entwickeln will. Das Kind in der Krippe - Bild für diesen Anfang.
Und wie Eltern das bei der Geburt erleben: ein solches Kind ist ein Geschenk, das beschützt und gepflegt werden muss, damit es entwickeln kann, was ihm von Gott her mitgegeben ist, dass es entdecken kann, was es im tiefsten ist: ein Kind, ein Sohn, eine Tochter Gottes, erfüllt von Liebe und verbunden mit allem, was lebt. Maria und Josef haben Jesus offensichtlich genau das ermöglicht. Und Jesus hat begriffen: ein Kind Gottes zu sein, ist Gabe und Aufgabe zugleich; ich bin geliebt und zur Liebe berufen. Die Verbundenheit mit Gott und allem, was lebt, bedeutet Verantwortung. Gott braucht mich, mein Mittun, mein Mitdenken und Mitfühlen, um sein Heil, sein Reich auf dieser Welt Wirklichkeit werden zu lassen für alle Menschen und Kreaturen.
Spiritualität und Realitätssinn - bei Jesus sind sie nicht zu trennen. Die Liebe zu Gott und die Liebe zur Welt - sie gehören zusammen. Wer wie Jesus in seinem Innern erfahren hat, angenommen zu sein, wird alles daran setzen, diese Erfahrung auch anderen zu ermöglichen.
Die Weihnachtsgeschichte des Lukas - eine gute, frohe Mär. In ihr steckt eine Wahrheit, die von keiner Nachrichtenredaktion akzeptiert werden würde, weil die Fakten doch eine ganz andere Sprache sprechen: was kann ein Kind, was kann ein Armer, was kann ein einzelner schwacher Mensch schon tun zur Rettung der Welt? Braucht es nicht Einfluss, Geld, Macht?
Nein, sagt der Engel der Weihnacht, es braucht den Mut, das Licht, das in einem steckt, leuchten zu lassen. Es braucht den Mut, einfach anzufangen und zu leben - als Kind Gottes. Es braucht das Vertrauen, dass Gott aus kleinen Anfängen etwas Großes wachsen lassen kann. Dass sein Heil nicht aus der Welt zu schaffen ist - trotz aller Widerstände und Krisen, trotz aller Erfahrungen von Gewalt und auch Vergeblichkeit.
„Lasst uns gehen und die Geschichte sehen" - die Hirten setzen sich jedenfalls in Bewegung - nicht nur räumlich, sondern auch innerlich, Protagonisten einer neuen Welt, in der die Letzten die Ersten sind, die Randgestalten in den Mittelpunkt des Heilsgeschehens und der Geschichte geraten.
Lied Chor „Menschenkind, im Stall geboren"
Weihnachtsgedanken Teil 2
Gott ist Mensch geworden - ein unglaublicher Satz. Gott ist Mensch geworden und versöhnte so - die Menschen mit sich selbst. In doppelter Weise.
Einmal kommt er so den Menschen nahe. Ihrer Sehnsucht danach, Gott gleich zu sein, die doch so viel Unheil gebracht hat - in der biblischen Tradition der Ursündenfall ist. Der Drang nach oben, nach Macht und Stärke - bis heute verantwortlich für unsagbares Leid weltweit. Und doch verständlich, dieses Streben, wenn wir mit Oben-Sein Gott und seine Macht gleichsetzen. Gott hat uns ja zu sich hin geschaffen. Weihnachten sagt uns: Gott ist unten, Gott teilt Schwäche und Hilflosigkeit, Gott wendet sich uns zu auf Augenhöhe und hofft auf uns - auf unsere Liebe, auf unsere Hilfe, auf unsere Fürsorge.
Gott versöhnt uns so - mit unserem Menschsein. Er versöhnt uns damit, dass menschliches Leben ohne die Erfahrung von Schwäche und Angewiesenheit, von Ohnmacht und Not nicht denkbar ist - nicht gedacht ist von Gott. Gott lenkt unsere Aufmerksamkeit und Sehnsucht - nach unten, auf die Erde. Dort ist er zu finden - in den Ställen und an den Krippen unserer Tage, in Situationen menschlicher Existenz, die auf den ersten und oft auch auf den zweiten Blick nur ausweglos aussehen. Und es nicht bleiben müssen, wenn wir nur - wie die Hirten - uns aufmachen würden mit unserer kleinen Kraft. Versöhnt mit dem Gedanken, die Welt nicht in ein Paradies verwandeln zu können, aber eingeladen zu sein an die Seite Gottes, uns inspirieren zu lassen von seiner Liebe zu den Menschen.
Gott ist Mensch geworden - immer wieder haben Mystiker und Dichter diesen Gedanken aufgegriffen, um ihn in der Sprache der Poesie den Menschen ans Herz zu legen. So auch Dietrich Mendt in seiner „Ansprache einer nicht ganz frommen Mutter an ihr kleines Kind"
„Du sollst Gott ähnlich sehen? Das kann ich mich nicht vorstellen. Aber so hat's mir jemand gesagt! Als ich - ich gebe es zu: ein wenig boshaft! - fragte: „Na, wie sieht denn euer Gott aus? Zeigen Sie ihn mir einmal!", da sagte er: „Schauen Sie sich doch mal Ihr Kind an!"
Dich soll ich anschauen! Wie Gott sollst du aussehen!
„Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt ..."
Das steht in der Bibel, ich habe es nachgeschlagen. Ich habe dich in Windeln gewickelt, eben erst, es war nötig! Gott braucht Windeln! Ein lustiger Gott! Man muss über ihn lachen. Müssen die Christen einen fröhlichen Glauben haben!
Zu tun hat man bei diesem Glauben. Windeln, baden, stillen ...Stillen? Ein Gott, den ich stille. Mit meiner Brust!
Hat's geschmeckt? Du bist satt, ich seh dir's an. Du schläfst ja schon; aber du musst noch ein bisschen wach bleiben, deine Mutter denkt nach, verstehst du?
Eine Mutter, die Gott stillt! Ohne sie muss er verhungern.
Vielleicht will er das, ohne uns verhungern?
Vielleicht will er, dass wir ihm was zu essen und zu trinken geben?
Vielleicht will er lieber sterben, als ohne uns leben?
Aber ob das mein Leben verändert?
Hast du mein Leben verändert?
Natürlich hast du mein Leben verändert, mein Schatz!
Habe ich gesagt „mein Schatz"?
Könnte ich zu Gott nicht sagen.
Komischer Gott wäre das, „mein Schatz".
Aber du bist ja mein Schatz!
Und du hast mein Leben wirklich verändert. Ich habe viel mehr zu tun wegen dir. Dauernd muss ich nach dir sehen, dich rumdrehen, schaukeln, herausnehmen, drücken, küssen ... Aber ich habe noch keine Arbeit so gern getan!
Du machst mir Freude. Du hast Freude in mein Leben gebracht.
Freude macht es, wenn Gott so ein Kind ist. Und ich habe noch nie so viel für einen Menschen getan wie für dich. Ich muss es tun, sonst würdest du verhungern, verdursten, verdrecken, an Bazillen sterben. Und das ist doch wohl so bei den Christen, dass man etwas füreinander tun soll. Freiwillig. Aus Liebe.
Stimmt alles. Ich tu's freiwillig, ich wollte dich ja haben. Und ich tu's, weil ich dich lieb habe, so lieb wie niemanden auf der Welt, höchstens noch deinen Vater, aber so wie du braucht er mich nicht.
Kein schlechter Gedanke: ein Gott, der mich braucht! Kein Gott, den ich brauche ... aber ich brauche dich doch! Sehr brauche ich dich, mein Junge, also auch ein Gott, den ich brauche. Bloß keiner, vor dem man sich fürchtet. Ich dachte immer, vor den Göttern muss man sich fürchten. Damit man brav ist! Wie vor dem Weihnachtsmann. Und deswegen konnte ich mir schon lange Zeit keinen Gott mehr vorstellen.
Aber wenn er dir ähnlich sieht?
Nein, vor dir fürchte ich mich nicht! Dein süßer kleiner Kopf! Deine Glatze! Da muss ich lachen: ein Gott mit Glatze! Nein, ein paar Härchen hat er schon, hier hinterm Ohr, ganz blonden leichten Flaum. Mein Gott wird schön, wer Augen hat zu sehen, der sieht es. Ich glaube, so was Ähnliches steht auch in der Bibel. Und die kleinen Finger, die mich festhalten, immer wenn ich meine Hände in der Nähe habe! Immer halten sie mich fest. Gott hält mich fest!
Ja, das wäre was, wenn er mich festhält, immer.
Du sollst Gott ähnlich sehen! Da ist was dran.
Wenn da was dran wäre ..."
Amen.
2.Advent 09.12.2012 Jesaja 35,3-10 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Advent 9.XII.2012
Jesaja 35, 3-10
Liebe Gemeinde!
Man kann Plätzchen backen, Nüsse knacken, Kerzen entzünden, Tannengrün und Kränze in die Häuser holen, man kann Lieder singen bis der Arzt kommt.
Es riecht dann nach Advent, es schmeckt dann nach Advent, es sieht verflucht adventlich aus und es kommt uns selbst von vorn bis hinten, von der Körperwaage bis zur seelischen Bilanz so vor, als platze einem der Advent nun wirklich aus allen Nähten.
….. Aber tatsächlich ist es Karneval.
Sie sind ja auch beide miteinander verwandt genug: eine seelische Radikalkur in Vorbereitung auf die großen Christfeste. Früher wurde zu beiden Gelegenheiten gefastet und gebüßt, heute wird beim einen auf die sentimentale Drüse gedrückt und beim andern auf die Pauke gehauen. Jedenfalls Ausnahmezustand und Festwochen. Doch vor allem im Ergebnis völlig gleich:
Dem Advent wie dem Karneval folgen noch ein Paar folkloristische Nachwehen – Christbaumzauber, Aschekreuz –, dann nervöse Erschöpfung und Kater und schließlich ….. das ist jetzt das Entscheidende …..: Nix!
Schön war’s oder auch ziemlich übertrieben, aber auf alle Fälle geht’s, wenn erstmal aufgeräumt wurde, schnurstracks geradeaus so weiter, als wäre nix geschehen.
Und diese völlige Folgenlosigkeit dessen, was wir Advent nennen, ist ein Zeichen dafür, dass wir Karneval im Dezember hatten …… und dabei nicht mal von ferne ahnen, was hier wirklich vor sich geht.
Denn dem Advent haben wir die Spitze vollständig abgebrochen, seit wir ihn ausschließlich als weihnachtlichen Abzählreim, als Count-down zum Heiligen Abend begehen.
In Wirklichkeit zielt diese vierwöchige Sammlungszeit, dieser Einkehr-Monat ganz woanders hin. In Wirklichkeit ist dieses letzte Zwölftel unseres Kalenderjahres herausgehoben und reserviert für die Meditation des Maya-Geheimnisses …. wenn man so will.
Natürlich geht’s nicht buchstäblich um die aztekische oder sonstige südamerikanische Zeit-rechnung. Sondern um das, was nur noch die hysterische Sensationsindustrie aus dem vermutlich bemerkenswert weitsichtigen Kalender der indianischen Hochkultur in unser Tagesgespräch zerren konnte: Die Erinnerung daran, dass alles, was wir messen und zählen und berechnen und einordnen können, endlich ist.
Der Advent steuert jedenfalls nicht bloß Weihnachten an, sondern die Grenzen von Raum und Zeit. Und das, was darüber hinaus kommt.
Man könnte es – um in einer Welt, in der vermeintliche Maya-Weissagungen Gesprächsthema werden können, überhaupt vernommen zu werden – auch so sagen: Die Medien und die Maya erwarten das Ende ….. und wir die Zukunft. ——
Wenn aber ein ganzer dem Zukunftsvertrauen gewidmeter Monat alljährlich spurlos an uns vorbeigeht, dann haben wir zu viele Plätzchen gegessen oder zu viel Glühwein getrunken, haben zu viele Gänse gemästet, Kerzen gegossen, Strohsterne gebügelt.
Irgendetwas jedenfalls muss uns völlig abgelenkt haben, wenn wir nach dem Advent einfach so fortfahren und weitermachen wie zuvor. ………
Denn er ruft uns doch von Tag zu Tag zu: „Aufgepasst! Gott kommt!“ ——
Gott ist der Kommende. Und jeder Augenblick unserer Lebens- und Weltzeit ist Vorbereitung.
Diese Ansage – wenn sie vom 1.bis zum 24. eines Monats tagtäglich wiederholt wird – kann sogar noch in die fahrigsten Hände Konzentration bringen, die sonst immer nur Bildschirme streicheln oder an einem Maschinchen nesteln, durch das unser Leben rauscht.
… Vielleicht wäre es eine zeitgemäße Erinnerung, wenn unsere durch die Kommunikationstechnik so unruhig gewordenen Hände und Augen bei jedem Blick und Griff nach den Geräten durch ein blinkendes Signal auf die Botschaft des Jesaja stießen: „Gott kommt!“
Würde diese beste und folgenreichste Kurznachricht unsere Pläne und unseren Alltag, unser wichtigtuerisches Geschwätz und unser Gesäusel unmittelbar dort, wo sie stattfinden, unterbrechen, dann würden wir auf die Dauer wohl alle anders denken, reden und handeln, als wir es derzeit tun.
Wir würden wacher.
Wir würden wohl auch Wichtiges und Unwichtiges anders erkennen.
Wir würden weniger müde und taub durch das ewige und eintönige Geklingel des Daseinsbetriebs.
Wir würden lauschen nach etwas, das bisher noch kein Ohr je gehört hat und das wir doch erkennen werden als den allesentscheidenden Anruf unseres Lebens: Wenn unser Gott kommt und nicht schweigt!(vgl.Ps.50,3)
Und wir wären wohl auch firmer, wenn uns das Navigationsgerät der Seele diese Ansage vor jedem Schritt und Tritt machen dürfte: „Es wird ein Weg dort sein, wo Gott kommt“.
Die Orientierung fiele uns nicht so schwer im Richtungswirrwarr dieser Zeit; wir wankten nicht so unschlüssig mal hier-, mal dorthin und wären bei der Standortbestimmung nicht so unsicher, wenn wir uns klar machten, dass zwar viele Wege in die Welt führen, aber nur einer zum Ziel: der heilige Weg, den der Mensch nicht bahnen kann.
Menschenbahnen dienen nämlich doch immer nur dem gleichen Zweck: Der Mensch will dorthin, wo er nicht ist.
Gottes Erlösungsweg führt umgekehrt: Er bringt den Menschen zu sich.
Dieser Umkehr-Weg aber – nicht hoch hinaus, sondern an den Ausgangspunkt –, dieser Weg, vor dem unsere Knie wanken und unser welteroberndes Denken sich scheut, kommt also wirklich nur von Gott her.
Wir bauen bloß lauter Hin-Wege …. Gott aber den Heimweg.
Wenn wir das allerdings läsen, hörten und als adventliche Richtungsweisung befolgten – Gott kommt, um mit uns zurückzugehen … wieviel konzentrierter, wieviel weniger zerstreut und getrieben würden wir leben!
Es kommt ja nicht darauf an, wo wir hinwollen, sondern wie Gott mit uns wieder heimkommt: Auf diesem Weg indes irren die Toren wahrlich nicht umher, … die Toren, die meinen ihre Zukunft müsse wie eine spektakuläre Fernreise werden, wie das unwirkliche Erlebnis einer Urlaubswelt, eine Flucht vorm echten Leben in’s Künstliche.
Doch die Zukunft, die wir erwarten dürfen, die Heimreise aus aller Gefangenschaft in der Täuschung in’s wahre Leben mit Gott ist das, was der Advent in Aussicht stellt. ——
Wir merken daher wohl, dass wir den Erwartungsbogen zu kurz spannen, wenn wir ihn für gerade nur einen Monat straffen.
Denn seit zweieinhalb Jahrtausenden ist Advent: Seit der Prophet Jesaja dem Volk, das durch seine geistliche und politische Kurzsichtigkeit in der Ausweglosigkeit landete, die Ankunft Gottes in ihrer Mitte und den gemeinsamen Rückweg in’s richtige Leben verhieß.
Gewiss, seit dieser ersten Adventsansage ist viel geschehen.
Gott hat die Verbannten Judas heim in ihr Land gebracht.
Er hat ein zweites Mal geistlich und räumlich Wohnung in ihrer Mitte genommen.
Und nicht nur zu Israel ist Er gekommen, als Er einkehrte in der kümmerlichen Behausung, die wir den Menschenleib nennen. Gott hat Sein Zelt ja tatsächlich in Fleisch und Blut aufgeschlagen und hat unsere müden Hände, unsere wankenden Knie, unsere verzagten Herzen von Innen heraus zu Seinem Ort gemacht.
Jede Hand, die zittert, jedes Knie, das schlottert, jedes Herz, das stolpert und vor Druck und Schmerz aussetzt, will uns seitdem daran erinnern, dass wir nicht mehr alleine greifen und doch nichts behalten, dass wir nicht mehr alleine stehen und doch immer wieder fallen, dass wir nicht mehr alleine leben und doch allesamt sterben müssen: Gott hat die geschickten Hände des Menschen, die so leicht zu lähmen sind, er hat seinen aufrechten Gang, der so leicht geknickt werden kann, er hat das lebende, liebende Herz, das irgendwann immer bricht, selbst übernommen.
Und dadurch – durch Weihnachten – hat Gott den Advent erst recht bestätigt und stark und dringlich und zur erschütternd großen Sehnsucht und Hoffnung unter uns gemacht!
Denn dass wir festhalten an der Verheißung, Gott werde kommen und die ganze Welt aus ihrem heutigen fremden Zustand zurück zu Heil und Heiligkeit bringen, …dass wir das festhalten und durchhalten, geschieht ja nicht trotz, sondern wegen Christi Geburt!
Seit Gottes Menschenfreundlichkeit in Menschengestalt erschien, ist es doch nur umso wichtiger, dass wir nach Seinem ersten nun auch auf den zweiten Advent hoffen dürfen: Und damit ist ganz bestimmt nicht der heutige Sonntag, sondern die Rückkehr Jesu zur Menschheit und zur Erde gemeint, sein zweites, letztes, endgültiges Kommen! ——
Wie wir uns diese Hoffnung aber vergeben und sie vergessen, das ist der traurige Trug, der unsere Adventszeit immer nur zu einem flüchtigen, bedeutungslosen Flirt mit Gott macht.
Der ganze scheinbar christlich geschminkte und geputzte Feier-Firlefanz ist ja nur so etwas wie eine völlig unverbindliche Anbahnung, der in Rausch und Trubel die eine Heilige Nacht folgt und dann ganz rasch und ganz geschäftsmäßig die Auflösung des Budenzaubers.
Die liebe Seele hat ja dann auch wieder ihre Ruh’ ….. und der junge Gott von Bethlehem kann sehen, wo er bleibt: „Adieu, mein kleiner Gardeoffizier, … Adieu!“ —
Aber Gott kommt nun einmal nicht für so ein kurzes Abenteuer.
Wo Gott kommt, kommt die Treue. Er kommt im Ernst. Er kommt in lautersterer Absicht, bereit, sich unlöslich mit uns und unserem Menschheitsschicksal zu verbinden.
Es mag ein hoffnungslos aus der Mode gekommener Gedanke sein, doch er ist unvermeidlich: Wer einmal wirklich, nicht nur an der Oberfläche, sondern mit Herz und Seele Weihnachten gefeiert hat und dabei erlebte, wie Gott sich uns schenkt, … der ist verlobt, der ist versprochen, der steht künftig also unumkehrbar im Advent, in der Erwartung, an Gottes Seite heimzukehren und mit ihm zu leben.———
Wenn’s nun aber diese Vorfreude und Verbundenheit der adventlich mit dem kommenden Gott Verlobten gar nicht gäbe, dann würden wir auch die Lebkuchen, die Kerzenfeiern und alles, was uns an Gewohnheit und Gemüt adventlich berührt, längst nicht mehr kennen.
Denn ohne die Erwartung, die aus der Adventsverheißung Jesajas kommt, wären die Kerzen längst aus, die Bibel für immer zugeklappt und die Kirchen allesamt geschlossen.
Die Gemeinde lebt nämlich in Wirklichkeit – wo sie lebt! – ausschließlich im und vom Advent.
Wäre unsre Botschaft eine andere, hätten wir keine Hoffnung, keine Zukunftsvision, müssten wir stattdessen überall erklären, die Welt habe von unserem Gott nichts mehr zu erwarten …..wie sicher könnten wir sein, dass das Christentum dann schon erloschen wäre.
Ein Christentum, das nur den Gekommenen, nicht aber den Kommenden verkündet, wäre ja schlicht unhaltbar: Denn jeder Blinde auf der Straße, jeder Leidende und alle, die tagein, tagaus gekränkt und gedemütigt werden, wären eine glatte, unwiderlegliche Widerlegung der Behauptung, dass die Welt erlöst und gut sei. Der wiederkommende Christus wird ja noch so dringlich erwartet, er wird noch so dringend gebraucht.
Dass es bis heute immer noch unsere Kirche gibt und unser Kirchenjahr, dass wir hier Versammelten die Kirche heute sind, das verdanken wir daher ausschließlich jenen, die aufgrund Seines ersten Kommens in solcher Erwartung der Wiederkunft Christi gelebt und gepredigt haben.
Bloßes Weihnachtschristentum, das immer nur bis zum 24.Dezember zählt, ist totes Christentum.
Eine lebendige Hoffnung, ein ansteckendes Evangelium tragen nur die weiter, für die der Advent nicht aufhört, sondern andauert solange auf Erden noch Wüste ist und Krankheit.
Denn dass alles Zerstörte und Verdorrte blühen wird, das alle Schwachen und Gequälten frei und erlöst werden sollen: diese Verheißung bleibt bestehen, bis wir uns an Christi Geburt nicht mehr erinnern müssen, weil er leibhaftig vor uns steht und mit uns geht und die Erlösten heimführt zu ewiger Freude und Wonne.
Dann wird der Advent vorüber sein.
Bis dahin aber ist er unser Element: Der Antrieb unserer Ausdauer, die Wärme unseres Glaubens, der Grund unserer Vorfreude, unser Zeugnis und unsere Botschaft.
Der Advent ist der Sinn der Kirche und der Schatz ihrer Seelsorge.
Er stärkt die müden Hände und macht die wankenden Knie fest und tröstet jedes Herz, an dem er nicht spurlos vorüberrauscht.
Der Advent, der uns verspricht: Gott kommt und nimmt uns alle mit auf Seinen Weg in die Zukunft.
Amen.
1.Advent 02.12.2012 Lukas 1,67-79 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent - 2.XII.2012
Lukas 1, 67-79
Liebe Gemeinde!
Ein vernarrter Vater, dem auf seine alten Tage noch ein Bündel strampelndes Leben in die schon rostgesprenkelten, nicht mehr ganz ruhigen Hände gelegt wird: Was soll der da wohl sagen?
Nun, Väter sind ja oft ein wortkarges Geschlecht. Sie brummen mindestens so viel, wie sie schäkern. Sie lassen sich – selbst heute noch – lieber beim grimmigen Schwitzen und Schuften bewundern, wenn Ehrgeiz und Herausforderung sie nötigen, als dass sie sich beim sinnlosen Lächeln und Lispeln erwischen ließen, bloß weil so ein Geschöpfchen gluckst oder strahlt oder sich anschmiegt. Und wenn das kleine Wesen seinen Vater doch am Wickel hat, dann träumt der Papa – so weiß ich’s ziemlich amtlich – gleich sonderbare Dinge, die sich auf … „Ähnlichkeit“ … und „Fortsetzung“ …. oder „Vorbild“ … und „Weitergeben“ reimen.
Das sind so hölzerne Vätergefühle: Man denkt plötzlich, man habe nicht nur Wurzeln geschlagen, sondern man ist gleich sein eigener Stammbaum geworden, von dem dieses Äpfelchen da bitte nicht weit entfernt zu fallen hat. Und so lange das kleine Äpfelchen im Schatten der väterlichen Baumkrone wie beim Wirte wundermild liegen bleibt und träumt und wächst, so lange kann es eines Tages gern der nächste Birnbaum werden, denn dann spendet den Segen ja noch immer die Hand des Alten.
Ach ja, wenn sie aus dem gleichen Holz geschnitzt sind, wie man selbst, so sind sie geraten!
Vielleicht fehlt den Vätern, die so holzschnittartige, so starre Instinkte gegenüber ihren Kindern hegen, ja der neunmonatige Vorsprung, den Mütter zeitlebens behalten.
Eine werdende Mutter fängt schon während der Schwangerschaft an zu spüren, dass da mitten in ihrem Zentrum ein Wesen mit seinem ganz eigenen Rhythmus und Willen sich bildet, ein Wesen, das man umgeben und tragen und lieben muss, das aber trotzdem lebhaft sein will, während man selbst gerade Ruhe braucht, das tritt, wo es gestreichelt wird und dessen eigener Kopf manchmal so dickschädelig und verquer ist, dass der Lebensanfang des einen die Lebensgefahr der anderen sein kann.
Vielleicht sind die Väter ja zuweilen auch nur deshalb so unbeholfen und eigensinnig mit ihren Kindern, weil sie nicht durch die neun langen Monate, in denen aus der Verschmelzung die Unabhängigkeit entsteht, auf die Begegnung mit dem fremden anderen Menschen vorbereitet wurden. Auf diesen Gedanken jedenfalls könnte man kommen, wenn man sieht und hört, wie anders es bei Zacharias und Johannes war.
Denn Zacharias ist der einzige Vater, von dem wir wissen, dass er ebenso lange etwas mit sich herumzutragen und auszubrüten hatte, wie seine Frau Elisabeth, als diese ihren Sohn erwartete.
Elisabeths unfruchtbarer Leib wurde durch die Empfängnis ja aufgeschlossen in dem Augenblick, in dem das Innenleben ihres Mannes versiegelt und plombiert wurde. Sie wurde schwanger und er stumm. In ihr reifte das Kind. In ihm stockte das Wort. Schließlich gebar sie. Und er brachte die neun Monate lang sich entfaltende Äußerung über die Lippen.
Kein Wunder, dass Zacharias bei dieser seiner sehnlichst und schmerzlichst erwarteten Niederkunft im Wort sich anders anhört als gewöhnliche Väter.
Er wurde – vor zweitausend Jahren – der „neue Mann“. Ein Vater nicht mehr nach dem ewiggleichen Muster, sondern ohne Vorbild. Ein Vater, der sich nicht einfach dem Sohn einpflanzt und ihn als die eigene Fortsetzung betrachtet: Weil für diesen Vater der Sohn ein ganz neues Leben bringt, weil diesem Vater der Sohn die Vergebung und einen restlos unbekannten Maßstab und eine ganz ungeahnte Zukunft bringt. ……..
Das alles kündigt sich ja schon an, noch ehe Zacharias wieder frei zu reden ist. Schon da gibt er sein Kind ja frei von aller Vereinnahmung und Erblast: Es soll nicht wie der Alte heißen, es soll nicht die Vergangenheit erneut verkörpern, so schreibt Zacharias es auf ein Wachstäfelchen. Es soll „Johannes“ werden: „Gott ist gnädig“!
Die Gnade, dass alles neu werden kann, die soll dieser Sohn von Anfang an zeigen und erleben. Und von dieser Gnade singt der glückliche alte Vater Zacharias in geradezu anrührender Weise.
Sein Lobgesang, sein Hymnus, der in der Kirche von alters her das Morgengebet eines jeden Tages sein soll, ist ein einziges demütig ergriffenes Lied des Generationswechsels:
An der Schwelle einer neuen Zeit verneigt der Vertreter des Bisherigen sich, tritt ehrfürchtig zurück vor dem, was da so ganz andersartig zu werden verspricht und hält die leeren Hände dem Boten des großen Umbruchs entgegen.
Es ist also von tiefster Bedeutung – aber auch eine sagenhafte Zumutung – dass die christliche Gebetsordnung diese Töne hartnäckig jedem Tagesanbruch zuweist und dass sie heute ein neues Jahr im vorläufigen Dasein der Kirche einläuten.
Bei jedem Aufstehen, bei jedem Anfang sollen wir uns offenbar wie Zacharias erkennen und dabei ganz zurücknehmen: Wir sollen die nächsten vierundzwanzig Stunden, die nächsten 52 Wochen jedes Mal antreten mit seinen Worten, die alles der Zukunft zutrauen und nichts schon für sich beanspruchen.
— Das ist im Verhältnis eines Vaters zu seinem Kind, das ist im Verhältnis der Alten zu den Jungen, das ist im Lebensgefühl derer, die die Welt schon lange genug kennen und mitmachen, wahrhaftig keine Selbstverständlichkeit!
Wie kommt eigentlich ein gestandener Priester wie Zacharias, der die heiligen Traditionen und die heilsame Lebensordnung der Gemeinde verkörpert, pflegt und überliefert dazu …. wie kommt ein lebenserfahrener Mann, dessen Wort Gewicht hat und gilt, dessen Entscheidungen die Gesellschaft gestalten dazu…. wie kommt ein offenkundig frommer, pietätvoller und nachdenklicher Kopf, der eigentlich die Summe seiner ganzen Biographie schon gezogen und sich zu eigen gemacht hat, dazu …. wie also kommt eine gefestigte Persönlichkeit mit respektablen Überzeugungen in öffentlichen Ämtern dazu, ein Baby zum Maßstab zu machen, ein Baby als Propheten zu begrüßen, von einem Baby die Epoche des Durchbruchs zu völlig neuer Orientierung zu erwarten???
Was veranlasst einen gewiss im besten Sinne konservativen Vertreter des Priesteradels vom Lande dazu, so ausschließlich das Lied der Zukunft anzustimmen, das Lied vom Kommen-den, das Lied von dem, was Gott anbrechen lässt?
— Falls nun jemand einwenden wollte, dass der Lobgesang des Zacharias doch so förm- und feierlich beginnt, wie viele andere rückblickende Psalmen, mit der Feststellung: „Gelobt sei der HERR, der Gott Israels! Denn er hat sein Volk besucht und erlöst“, dann müssten wir nur noch einmal dem weiteren Bandwurmsatz lauschen, der da folgt und der deshalb noch in unsren Übersetzungen zu den umständlichsten Sätzen der Bibel gehört, weil alles Aufgezählte zwar vom geschehenen Aufbruch Gottes abhängig ist, aber doch völlig in die Möglichkeiten des Zukünftigen übergeht: „…. Gott hat sein Volk besucht, dass der Er uns errettete, …. dass Er Barmherzigkeit erzeigete, …. dass Er uns gebe, dass wir Ihm ohne Furcht dieneten…“
Das ist Futurismus pur.
Bloß: Weshalb?
Ist Zacharias vielleicht doch nur ein sentimentaler Senior, den das Kindchenschema verwirrt? Träumt er nur den Traum so vieler Eltern, die künftige Berühmtheiten und Genies auf den Knien zu schaukeln wähnen?
Nein.
Denn der futuristische Lobgesang des Zacharias ist ganz bewusst zweigeteilt:
Erst der zweite Teil des „Benedictus“ wendet sich – erstaunlich genug – unmittelbar an das neugeborene Kind.
Im ersten Teil aber besingt dieser Psalm das Zukunftspotential Gottes.
Zacharias – dem es die alte Sprache verschlagen hatte, als er vom Engel Gabriel die Botschaft der Geburt eines neuen Elias empfing (vgl.Lk117) – Zacharias hat von Gottes Boten selbst die Versicherung gehört, dass Gott nicht der gestrige, sondern der morgige ist.
Gabriel beschreibt die Aufgabe des ungeborenen Johannes nämlich mit den selben Worten, die wir eben als letzte Worte des Alten Testaments, beim Propheten Maleachi hörten:
„Das Kind wird der Kinder Israel viele zu Gott, ihrem Herrn, bekehren. Und er wird vor ihm hergehen in Geist und Kraft des Elia, zu bekehren die Herzen der Väter zu ihren Kindern und die Ungehorsamen zu der Klugheit der Gerechten, zuzurichten dem Herrn ein bereitet Volk.“
Diese grundlegende Botschaft und Offenbarung also ist es, die dem Zacharias den Mund, der Kirche den Tag und uns das Jahr eröffnet: Für Gott kann nur bereit werden, wer nicht am Vertrauten und Vergangenen hängt, sondern dem Niedagewesenen traut.
Dem Gott, dessen Feld und dessen Reich die Zukunft ist, sind diejenigen demnach ungehorsam, die ihn nur nach alter Väter Sitte denken, hören und ehren. Klug dagegen sind die, deren Herz sich den ungewohnten Tönen, den Veränderungen und Erneuerungen der kommenden Generation nicht nur nicht verschließt, sondern anschließt: Männer und Frauen, Alte und Ehrwürdige, die sich bekehren lassen zum Unrechthaben, zum Umdenken und Neuanfangen.
Oha!, werden etliche hier in der Kirche jetzt zusammenzucken und scharf auf die Kanzel gucken. …… Ja. Oha!, denke ich oft genug selbst: „Was bist Du so konservativ, Alter? Die alten Lieder und die alte Sprache, die alten Meinungen und die alten Werte, die Du so starrsinnig unzeitgemäß am Leben erhalten willst. Ist das dann nicht das Gegenteil der Haltung, die bei Zacharias zu lernen wäre?“ ……………
Nun, mein Problem muss ich da selber lösen.
Eine Gemeinsamkeit aber haben wir wohl trotzdem alle: Solange wir in der alten Zeit leben, in der die Vollendung aller Verheißungen von Frieden, Heiligkeit und Gerechtigkeit, von Erkenntnis und Erlösung uns noch bevorsteht, solange wir also in der berühmten theologischen Spannung zwischen „schon“ und „noch nicht“ stehen, wäre ein Leben, das ausschließlich von der Begeisterung des Sich-Ankündigenden lebt, ein Leben, das ausschließlich im Futur stattfindet, gefährlich.
Wir müssen konservativ bleiben, um uns die alte Welt, die noch nicht erlöst ist, nicht schön zu lügen. Konservativ müssen wir bleiben, weil wir trotz der vielen windigen und törichten Erleichterungs- und Erledigungsversprechen nicht glauben sollten, dass sich diese Welt zwangsläufig von selbst zum Guten entwickele.
Wie vieles bewahren nur die Konservativen in dieser Welt, das sonst verloren ginge, ehe die Zukunft Gottes anbricht!
Doch natürlich müssen wir zugleich progressiv sein, um die neue Welt Gottes, die sich ankündigt, nicht aus Gewohnheit oder Stumpfsinn zu behindern.
Nur die Progressiven halten uns vor Augen, dass wir nicht rückwärts, sondern vorwärts in Gottes Reich gelangen werden. —
Darum ist es aber die wichtigste Aufgabe, die sich uns im Advent nun wieder auf’s Neue stellt, dass wir unsere Balance zwischen Vätern und Söhnen, zwischen den Traditionen, die wir ererbt haben und den Veränderungen, in denen unserer Zeit begriffen ist, immer wieder so beweglich und bewegt, so bereitwillig und auch so lernwillig suchen, wie Zacharias.
Wenn uns dabei vor allem die Dankbarkeit leitet und erfüllt, …. die Dankbarkeit dafür, dass wir - trotz allem! - in der Zukunft nicht dem Ende, sondern dem Anfang begegnen, dann werden wir wie der milde und doch so quicklebendige Vater des Täufers nicht zu Hindernissen, sondern zu hilfreichen Zeugen des Kommenden werden.
Dann werden wir auf dem Weg, den wir jetzt mit dem neuen Kirchenjahr beginnen und der uns zu einem Neugeborenen führen will, zu Leuten, die das alte Gestern getrost vergehen lassen, weil sie des neuen Morgens gewiss sein dürfen.
Dann lernen wir, wie tröstlich das Futurum ist: Futur I – „Es wird Weihnachten“ und Futur II „Einst wird Jesus wiedergekommen sein!“
Wenn wir aber in diese Richtung blicken und wenn wir uns durch die Zeit in die Zukunft hineinfreuen, dann mögen unsere Lieder und Gebete, unsere Predigt und unsere Hoffnung noch so altehrwürdige Überlieferungen sein: Wir werden trotzdem so leben, wie der Sohn, den sein Vater im zweiten Teil des Lobliedes auf’s Kommende unmittelbar anspricht:
„Du wirst vor dem Herrn hergehen, dass du seinen Weg bereitest.“
Dieses vorläufig „Vorläufer-Sein“ heißt aber buchstäblich zur „Avantgarde“ gehören.
Denn etwas Verheißungsvolleres, etwas, das mehr nach morgen schmeckt, etwas das mehr dem Geist der kommenden Zeit entspricht, etwas Moderneres oder Besseres, etwas Unausgeschöpfteres und Überraschungsreicheres als unser Christentum wird man nie finden.
Nie! Gestern nicht. Heute nicht. Künftig nicht.
Weil dieser Glaube uns zur Avantgarde macht, bis der letzten Schatten flieht und der Aufgang aus der Höhe ewig anbricht!
Ein gesegnetes neues Jahr!
Amen.
Ewigkeitssonntag 25.11.2012 Philipper 1, 21-26 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ewigkeitssonntag - 25.XI.2012
Philipper 1, 21-26
Liebe Gemeinde!
Wir ahnen wohl alle, wie der Besuch eines vor Gesundheit strotzenden Menschen am Bett des Siechtums wirkt, … wir ahnen, wie das Lachen fröhlicher Buben und Mädchen unterm Fenster der Kinderlosen klingt, … wir ahnen, was der Gelähmte empfindet, wenn sein einstiger begeisterter Bergsteigerkamerad ihm ein Alpenröschen von seinem Lieblingsgipfel mitbringt: Es tut weh.
So viel kerngesunde Lebendigkeit und reine Lebensfreude verbittern die, deren Lebensträume verkümmern. Besser wäre es daher, man ginge leise wieder fort, wenn man als Glücklicher dem Unglück so nahe kommt. Dann würde das gedämpfte Reden wieder im Krankenzimmer einziehen, dann würde das Schweigen zurückkehren in die graue Wirklichkeit, dann könnten die Gedanken wieder im engen Radius des Leidens kreisen und sich an den Käfigstäben wundreiben. ——
Darum ist Paulus auch ein schwieriger Gast, hier in unserer Totensonntagsgemeinde.
Denn selbst in seinen ernstesten Todesmeditationen berührt uns ein Zuviel: Da ist zu viel Zuversicht, da ist zu viel Bejahung und Hochgefühl. Da ist zu viel Glück, um hier, unter den Schmerzen und Zweifeln der Leidtragenden nicht anstrengend und anstößig zu wirken.
Vielleicht wäre es daher auch besser, Paulus wieder mit Fried und Freud dahinziehen zu lassen, auf seinen sonderbaren - uns unzugänglichen - Wegen, auf denen er immer nur zwischen zwei guten Zielen, zwei erstrebenswerten Aussichten zu wählen zu haben scheint.
Denn ob Leben, ob Sterben: Für Paulus ist die Wahl wohl nur deshalb hart, weil sie nicht zwischen einem Gut und einem Übel fallen muss, sondern zwischen zwei Gestalten des einen großen, beseligenden Glücks.
Lebt er im Fleisch, so ist er der Rahmen, dessen Inhalt Christus ist, — endet einmal das fleischliche Dasein, so wird die Wirklichkeit Christi der Rahmen werden, in den Paulus ganz einkehren darf. So oder so: Es ist einfach nur herrlich und kann nicht zerrissen werden.
Dem Herrn leben, dem Herrn sterben ….. immer ist da der Herr, immer ist da das Glück, da hat man’s immer nur gut. Leben ist Segen und Sterben Gewinn. ——
Wie fern das doch klingt! Gewiss: Das ist ein Bruchstück der großen Glaubensmelodie, die sich über der Erde erhob und bis hinauf zu den Sternen klang in allen Jahrhunderten, in denen unser Europa ein Schlachtfeld war, ein Ort des Massensterbens in Kriegs- und Friedenszeiten. Von der Freude auf das Bessere, das uns bevorsteht, wenn wir hier einmal ausgehaucht haben und die paar Jahrzehnte Elend, Schwäche, Trübsal und Hunger hinter uns liegen: Davon haben sie immer gesungen, gerade die evangelischen Trostdichter und Ewigkeitssänger.
„Freu’ dich sehr, o meine Seele“: Das waren bei uns keine Feiertagsklänge, sondern das war der Jubel, der den Tod willkommen hieß.
„Herzlich tut mich verlangen“: Das war kein Liebesschmachten, sondern der Heißhunger nach dem Himmelreich.
„Ich wollt, dass ich daheime wär“: so sangen nicht die Reisenden, sondern sämtliche Lebenden.
Wer diese Weisen, wer diese Worte im Ohr und Herzen hat, der wird niemals ganz dem Hier und Jetzt verfallen können, weil der Glaube und die Hoffnung der Alten seinen Horizont über das Hiesige hinaus erweitert haben.
Wer die Aufbruchsbereitschaft, wer die Seligkeitssehnsucht und Vorfreude der evangelischen Frömmigkeit kennt, der müsste ja geradezu freiwillig in Gefangenschaft zurückkehren, wie ein in der Wildbahn überfordertes Zirkustier, wenn er die Luft der Ewigkeit gewittert hätte und sie sich dann doch versagen wollte.
Man muss also schon ein erbärmlicher Stubenhocker, ein restlos begrenzter Spießer sein, wenn man hört, wie es da draußen weitergeht, nur um dann abzuwinken und sich um seiner Gewohnheit willen auf so ungewohnte Dinge gar nicht erst einzulassen.
So spießig sind allerdings die meisten von uns heute tatsächlich geworden:
Was sie nicht bequem auf Knopfdruck in ihrem Gesichtskreis finden, existiert für sie nicht.
Und trotzdem ist das, was Paulus über das Leben und Sterben sagt – und wie schön sie mit Jesus beide sind –, auch uns Evangelischen fremd.
Denn unsere Glaubenszuversicht, unsere Sterbesehnsucht und Ewigkeitslust, sind in einer anderen Tonart gehalten, als die Bereitschaft des Paulus, sein Leben nützlich zu leben und durch sein Sterben fröhlich zu gewinnen.
Bei uns ist das Vorzeichen in Moll.
„Bedenke, Mensch das Ende!“: so ist der Kehrvers.
„Ach, wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben!“: das ist das Grundmotive.
„Ein kleiner Schritt ist nur dahin, wo ich der Würmer Speise bin“, das ist der Generalbaß und die Fuge, die Variationen sind mannigfach:
„Bereite dich, stirb ab der Welt, / denk an die letzten Stunden. /
Wenn man den Tod verächtlich hält, / wird er sehr leicht gefunden./
Es ist die Reihe heut an mir; / wer weiß, vielleicht gilt’s morgen dir? /
Noch mancher stirbt heut abend.“
(Gottfried Sacer, 1635-1699)
Erkennt Ihr’s?
Das ist das Lied der Angst, die unter dem wetterleuchtenden Himmel sich über jeden Landstrich verbreitet hat, in allen Jahrhunderten, in denen unser Europa ein Schlachtfeld war, ein Ort des Massensterbens in Kriegs- und Friedenszeiten.
Denn die Not und die Furcht haben sie selbst bei Sonnenschein und guter Ernte, selbst in gesunden Jahren und heiteren Tagen niemals losgelassen: Unsere evangelischen Gewissens-mahner und Sterblichkeitsboten.
Wer ihre Worte und Weisen in Herz und Ohr hat, der wird diesem Leben nie restlos vertrau-en, weil die Leidensprüfungen und das Kreuz der Alten ihm etwas Unheimliches, einen haarfeinen Riss an der Decke gezeigt und ein stilles Grausen vor dem plötzlichen Einbruch im dünnen Eis des Daseins gelehrt haben.
Wer also die tatsächlich ständige Sterbebereitschaft, die resignierte und manchmal geradezu betäubte Weltfremdheit und irdische Heimatlosigkeit der evangelischen Frömmigkeit kennt, der müsste vergesslich oder aller sinnlichen Wahrnehmung unfähig wie eine Maschine sein, wenn er die allgegenwärtige Drohung des Todes ausblenden und davon unberührt leben könnte.
Aber genau so reibungslos maschinell, so auf ununterbrochenen Dauerbetrieb eingestellt leben die meisten von uns heute tatsächlich: Sterben tun die andern; uns geht das nichts an! —
Bloß eigentlich rätseln wir ja immer noch an Paulus und seinem uns so fernen, fremden Überschuss an Lebenssinn und Sterbensfreudigkeit, die er in einem Satz zusammenbringt, in diesem berühmten, kurzen und doch so berstend vollen:
„Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn!“
Die reine Weltverneinung, die ausschließliche Feier der Ewigkeit, wie sie durch unsere Glaubens- und Angstlieder weht, ist hier jedenfalls nicht zu finden:
Wenn das Leben, das Leben im Fleisch für Paulus nun einmal keine Gefangenschaft, keine Verbannung oder Entfremdung, keine bloße Last und Nebensache ist, sondern wenn es für ihn randvoll und ausgefüllt mit Christus-Erfahrungen, mit Christus-Nähe, Christus-Gemeinschaft, mit Christus-Aufgaben und Christus-Glück ist ….. dann besteht kein Anlass, nur im Vorgriff auf das, was nach dem Tod kommt, zu existieren.
Im Gegenteil: Paulus sieht, wie vielversprechend, wie fruchtbar dieses irdische Leben voller Christus-Möglichkeiten ist und bleibt. Und er weiß obendrein, dass es nicht nur ihm, sondern auch vielen Menschen um ihn herum eine Freude bleiben wird, wenn er weiter sein gutes Dasein als Christusbote fortsetzt, wenn in seinem Leben Christus weiterhin weltlich, zeitlich, gegenwärtig in der Menschheit wirkt.
Es ist also eine Aufgabe, es ist ein Segen, es ist eine Lust zu leben, wenn man – wie Paulus – nicht nur für sich, sondern mit Jesus Christus atmet, wandelt, handelt und wirkt.
Und so ist es zunächst ein alles in allem überraschend, ja ein überwältigend positives Verständnis des sterblichen Lebens, das Paulus hier entfaltet: Zwar ist darin nichts bleibend oder endgültig, aber in aller menschlichen Bedingtheit und Begrenzung ist es eben doch ein Christenleben, ein Christus-Leben, das uns hier in der Zeit offensteht.
Wohl dem, der’s nutzt und auch genießt, wie unsere Tage Frucht und Sinn in Christus finden! ——
Weil er aber nun so ganz und gar von der Gegenwart und Gemeinschaft Christi durchdrungen ist, würde Paulus unsere tiefe, alte evangelische Jenseitsfrömmigkeit eben nicht unbesehen teilen:
Denn zu hoffen, dass das Eigentlich und Wahre, dass gesegnetes und seliges Leben erst jenseits des Todes beginnen, das wäre für ihn zu wenig vom Glauben und zu sehr von der Angst eingegeben.
Allerdings - beim Wort sollte man ihn nehmen! - steht für Paulus dieses gleichwohl fest: Unser Leben ist wirklich wunderbar gut, wenn wir’s in und mit Dem führen, der alles Menschliche bis hinein in Schmerz und Sterben teilt ….. unser Leben ist wunderbar gut – aber einst endgültig und ewig bei Christus sein zu dürfen, das ist noch viel besser!
Anders also als wir bisweilen meinen verhalten sich zeitliches und ewiges Leben nach diesem Zeugnis der Bibel nicht wie das Problem und seine Lösung, nicht wie die Krankheit und deren Kur, nicht wie das einstweilen Unzulängliche, dem irgendwann endlich das Vollkommene entgegentritt, sondern unser Jetzt und unsere Zukunft sind verbunden als das Gute und das Noch-Bessere.
Wir stehen und wir gehen demnach nicht zwischen einem Zustand des Unheils und einer Verheißung künftiger Heilung, die Lebensreise führt nicht aus dem Übel hinüber zur Rettung, sondern wir wandern aus der Zeit der Christusgemeinschaft in deren Ewigkeit; wir werden durch den Reichtum der Liebe Jesu schon hier in deren all unser Fassungsvermögen sprengenden Überfluss dort geleitet.
Hier schon haben wir’s demnach gut – was wir aber in Ewigkeit gewinnen werden, das übertrifft jede Hoffnung, jede Ahnung, jeden Traum um ein Unendliches.
„Ach, denk ich, bist du hier so schön / und lässt du’s uns so lieblich gehn /
auf dieser armen Erden, /
was will doch wohl nach dieser Welt, / dort in dem reichen Himmelszelt /
und güldnen Schlosse werden!“
Paul Gerhardt – das sei zum unverblassten Ruhm unseres evangelischen Singeglaubens in’s Gedächtnis gerufen – Paul Gerhardt also trifft den echten Paulus-Ton des Jubels ohne allen Vorbehalt und ohne jede Beimischung ganz kristallklar! ———
Und doch wie fern das klingt: So sommerliche Fröhlichkeit heute, am letzten Sonntag eines Kirchenjahres! Wie fremd und ungehörig es sich anhört, im November, im Schatten der Trauer und des Abschieds aus vollem Herzen die Freude und die Fülle zu besingen.
……. Er ist und bleibt also ein ungeeigneter Gast in unserer Totensonntagsgemeinde: der Verfasser des Philipperbriefes, dessen Botschaft in einem Satz zusammengefasst ist:
„Freuet euch in dem Herrn allewege und abermals sage ich: Freuet euch!“ (Phil4,4)
Trotzdem aber täten wir ihm Unrecht, wenn wir den Apostel nun verwechseln würden mit jenen unsensibel dauergrinsenden vermeintlichen Musterchristen, die alles mit ihren fürchterlich gebleichten Zähnen weglächeln und uns weismachen wollen, wer nur glaube, der befinde sich in unanfechtbarem Seelenfrieden.
Oh nein! Gewiss gibt es Tränen und Trübsal, herzzerreißenden Jammer und tiefe, stumme Verzweiflung auch in unserer Gemeinde, auch in unserem Leben. Das weiß auch Paulus und hat’s am eigenen Leib erfahren.
Und wenn und wo es trifft, da hilft keine erzwungene Glaubensheiterkeit, keine Selbsttäuschung, als besitze man übermenschlichen Gleichmut.
Doch eines hält die Freudenpredigt des Apostels gerade denen ja vor Augen, die sich nicht mehr freuen können: Der Glaube wartet ja gar nicht darauf, aus dem Schmerz geboren zu werden, und seinen Trost weckt nicht erst die Bitterkeit des Todes auf.
Der „Totensonntag“ an sich will also nicht zum Ursprung einer aus Leid und Angst her-rührenden Hoffnung werden. Sondern die Güte und Barmherzigkeit Christi, die eher sind als alle unsere Schicksale, und sein Segen, der uns von jeher und auch weiter leben heißt.
Christus allein ist doch der unumstößliche Grund des Glaubens, und er gebraucht darum nicht nur die schweren Zeiten, um uns zu berühren und zu führen, sondern die hellen nicht minder.
Nicht jeder von uns weiß das.
Aber in allem, was jemals an uns und unseren Tagen gut war, war Christus.
Und was darum diesem Leben und seinem Ende folgt, das wird nicht weniger sein, sondern noch viel mehr.
Ja, noch viel besser wird es werden - eine Lust und helle Freude -, bei Christus ganz zu sein.
Darum, vergiß nicht, Mensch, was Gott dir Gutes getan hat, und lobe Ihn auch heute!
Denn aus dem Guten wird Er Vollkommenes machen.
Wenn Christus nun schon unser Leben ist: Was wird uns dann wohl erst in Seinem Leben erwarten?!
O Ewigkeit, Du Freudenwort, /das mich erquicket fort und fort, /
o Anfang sonder Ende!
O Ewigkeit, Freud ohne Leid/ ich weiß von keiner Traurigkeit, /
wenn ich mich zu dir wende.
Herr Jesu, gib mir solchen Sinn, /
beharrlich, bis ich komm dahin.
(Kaspar Heunisch, 1620-1690)
Amen.
Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr 18.11.2012 Offenbarung 2, 8-11 Stadtkirche und Jonakirche Jonas Marquardt
Diese Predigt verdankt sich der Überzeugung, dass die unbekannten Ausmaße der heutigen Christenverfolgung dadurch ermöglicht werden, dass wir hiesigen Christen so gerne ungerührt in Unkenntnis davon leben. Diese bequeme Unkenntnis wirft Fragen nach dem Sinn unseres Bekenntnisses auf!
Predigt Kaiserswerth & Jona Vorl.Sonntag – 18.XI.2012
Offenbarung 2, 8 – 11
Liebe Gemeinde!
Für die Kirche Jesu Christi ist der „Volkstrauertag“ gerade in seiner Verlogenheit wichtig. —
Das Unwahre dieses Tages, seine Falschheit ist dabei jedoch nicht in seinem Gegenstand zu suchen, sondern in seiner Bezeichnung.
Was den Gegenstand betrifft – die Erinnerung daran, wie mörderisch, wie tödlich der Mensch ist, und das Gedächtnis der unzähligen Toten, die als Opfer des Menschen starben –, springt’s wohl in’s Auge, dass solches Erinnern und Gedenken und Bekennen und Bereuen zeitlose Pflicht aller Christen ist und bleibt.
Die eingebürgerte Bezeichnung allerdings für diese Übung der alljährlichen Totenklage und der öffentlichen Buße wird immer verlogener, denn die beiden Begriffe, die diesem Ereignis seinen Namen geben, suchen wir immer vergeblicher zu füllen:
Was wäre denn „das Volk“? Und wo erlebten wir wohl dieses unauffindbare Volk in Trauer?
Anders gefragt: Gibt es in dem, was wir „ die Gesellschaft“ nennen, überhaupt noch nennenswerte Anzeichen von Gemeinschaft? Wenn aber nicht einmal das feststeht, wie sollte es dann denn gemeinschaftliche Gefühle geben?
Beides scheint gegenwärtig doch nur schwacher Nachklang aus ferner Zeit zu sein.
Denn wenn nicht gerade das Massenspektakel des Fußballs für einen flüchtigen Trug sorgt, in dem landauf, landab alles im Gleichklang von „Hurra!“ oder „Verflucht!“ bebt, verbindet uns in diesem Gemeinwesen herzlich wenig:
Der immer ungleicher verteilte Wohlstand entfernt die Schichten voneinander; die nach wie vor unähnlichen Erfahrungen scheiden einen östlichen und einen westlichen Teil der Bevölkerung; die wachsende Täuschung, man könne durch beliebig viel Technik mit der ganzen Welt vertraulich werden, schafft massenweise Einzelgänger; die starken Bande geteilter Geschichte und Kultur fallen der Unwissenheit zum Opfer; und das einst gemeinsame Firmament des Glaubens, das sich früher über allen vier Himmelsrichtungen und der Lebensweise ganzer Nationen wölbte, ist zu einem winzigen Amulett, zu einem Talisman geschrumpft, der buddhistisch, indianisch, aus Lourdes oder Mekka oder gänzlich individuell sein kann. …….
Dabei bleibt eines gewiss: Man kann diese Auflösung größerer Körperschaften in die Summe ihrer fast unverbundenen Teile nicht nur beklagen.
Der frühere Zusammenhalt war schlimmer als die heutige Zersplitterung, denn wenn es Blut oder Rasse waren, die man da als schicksals-stiftende Gemeinsamkeit beschwor, wenn es das Kollektiv war, das da als ideologisches Ideal den Einzelnen zerbrach, dann kann man nur dankbar dafür sein, dass heute Wert und Recht des jeweils Unvergleichlichen geachtet werden. ——
Und doch gilt in der Gemeinde Jesus Christi nach wie vor das weithin vergessene Prinzip der Zusammengehörigkeit. Es gilt unter uns nach wie vor, dass wir als Glieder des großen Ganzen und nicht als Solitäre angesehen werden. Es gilt noch immer, dass wir Geschwister und nicht Einzelkinder sind.
So fern der Öffentlichkeit also auch alle Erinnerung an das Gemeinsame in Glück und Leiden rücken mag, so unmissverständlich stoßen wir heute, am Tag, da das Volk als solches nicht einmal mehr auch nur in einem Gedanken wirklich verbunden ist, auf unser Übereinzelnes.
Denn wer die geheime Offenbarung des Johannes öffnet, schlägt das Buch der großen Schar auf.
Hier geht es schlicht nicht mehr um Einzelheiten oder kleine Lebensgeschichten, sondern um alles
Die Zeichen und die Zeiten des Endes betreffen ja nicht nur einige wenige Menschen, sondern alle. Was kommt und wird, das hat nicht nur für Dich und mich Bedeutung, sondern für jeden jemals Gewesenen. Es sind die Massen, es ist die Vielzahl, es ist Welt- und Heils- und also Menschheitsgeschichte, was uns hier gezeigt wird.
Doch mitten darin steht und fällt eine besondere Gruppe; mitten im ungeheuren Universal-panorama der Apokalypse wird diese eine Gruppe besonders erhalten und getröstet und ermahnt und gerufen.
Diese Gruppe aber …. das sind wir. Unsere kollektive Identität ist das. —
Dass die Offenbarung keine Lektüre für den jeweiligen Gläubigen in seinem Kämmerlein ist, das machen ihre sieben Einleitungsbotschaften, die sieben Sendschreiben an die Gemeinden Asiens deutlich (Offenb.2 +3).
Diese direkten Mitteilungen richten sich nämlich nicht etwa an eine einzelne Person, sondern an den Engel einer ganzen Gemeinde:
Diese Gemeindengel aber sind nichts anderes als die Verkörperungen des kollektiven Charakters der Schar der Gläubigen. Solange eine Gemeinde ihren Engel hat, solange sie eine Persönlichkeit, eine Seele, einen Geist hat, der ihre einzelnen Glieder zu einer einzigen Lebens-, Glaubens-, Leidens- und Hoffnungsgemeinschaft zusammenfügt, solange ist sie ihres Namens würdig: Solange ist sie Versammlung, solange hat sie kollektive Identität.
Denn das ist der eigentliche Sinn des neutestamentlichen Wortes für die Kirche: Ekklesia – „Zusammenrufung“. Auf Latein müsste man sogar wirklich „das Kollektiv“ - „Zusammenlesung“ sagen, wenn das nicht so fatal nach Bolschewismus klänge. Besser und aus der gleichen Wurzel mag man die Kirche also ein „Kollegium“ nennen.
Ist sie das – eine kollegiale Versammlung –, so ist sie die Kirche Jesu Christi, der keine Einzelkämpfer, sondern nur Mitmenschen ruft. Im Neuen Testament kommen Erwählte – (mit einer einzigen Ausnahme: Rufus - Rö1613) – nämlich überhaupt nur im Plural vor.
Den einzelnen Erwählten soll es uns unter Christen schlicht nicht geben. ——
Wenn wir uns diese grundsätzlich gemeinschaftliche Verfassung des Christentums vor Augen halten, dann werden wir schnell erkennen, was es mit dem berühmten Sendschreiben an den Engel der Gemeinde von Smyrna auf sich hat:
Dieser Brief trägt nicht unsere Adresse. Er meint jedenfalls nicht Dich, lieber Bruder, nicht Dich, liebe Schwester!
Der uns hier schreibt, kennt unsere Privatanschrift gar nicht … vielmehr, obwohl er sie kennt, nutzt er sie nicht. Er meint nicht, dass sein Brief etwa in unsere vier Wände gehöre. Denn er schreibt ihn eben nicht zu unseren eigenen Händen, sondern zu Händen des Gemeingeistes, des Gemeinschaftssinnes, des Engels seiner Versammlung.
Er schreibt an unser Kollegium. —
Das verstimmt uns zunächst, denn ein Satz steht in diesem Brief, den wir gerne auf uns selbst beziehen.
Und viele von uns haben diesen Satz ja auch mit ihrem eigenen Namen auf gutem Karton und in klarer, steiler, alter Handschrift hinterm Rahmen irgendwo zuhause hängen: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben!“, steht da. Und darunter das Datum unserer Konfirmation. —
Als ich ein Kind war und anfing mir über meinen Konfirmationsspruch Gedanken zu machen, schrieb ich diesen Satz zuerst in das Notizheft und wollte damit eine lange Familientradition fortsetzen. Er wurde dann doch nicht mein Spruch, aber ich weiß, wie viel Herzblut und Lebenskraft dieses Wort all jene kostet und ihnen zugleich schenkt, die es ganz persönlich auf sich gemünzt wissen. —
Und dennoch: Empfänger dieser Mahnung und dieser Verheißung können wir niemals als Einzelne sein. Denn der, der uns so anspricht, ist der Erste und Letzte, er war tot und ist lebendig geworden! Wie aber sollte einer von uns allein solche Post aus dem neuen Leben, aus der Ewigkeit, in der kein Tod mehr ist, erhalten?
Was immer es von dort an Nachrichten und Aufmunterung gibt, das geht doch alle an, das kann niemals privat, sondern nur zu allgemeinem Nutz und Frommen wirken!
Und darum müssen wir ohne Missgunst diesen Brief wieder hergeben, wenn wir ihn uns etwa nur für den eigenen Nachttisch verwahren, ihn nur ins eigene Gesangbuch legen oder an den eigenen Spiegel klemmen wollten.
Er ist Gemeingut der Christenheit. Was in ihm steht – wer Ohren hat, der höre es! –, das sagt der Geist den Gemeinden! …. Nicht immer und überall, nicht immer gleichzeitig oder gleich laut, aber gewiss so, dass es seine Adressaten nicht verfehlen kann.
Und wem es heute gilt – dieser Zuspruch dessen, der tot war und nun doch für immer lebt –, wem es heute gilt – diese Ermutigung in Armut und Trübsal –, wem es heute gilt – dieses furchtbar ernste und gleichzeitig so erleichternde Wort „Fürchte dich vor keinem, was du leiden wirst!“ …. nun, wem das heute gilt, das weiß Jesus, der Schreiber.
Und der Engel der Gemeinden weiß es ebenso, der gute Geist der Empfänger, der die weltweite Versammlung aller Glaubenden hütet und verbindet.
Dieser Engel der Gemeinde nimmt die Trost- und Kraftworte Jesu an im Namen von Mohammad Roghangir, im Namen von Eskandar Rezaie, von Bijan Haghighi, Mehdi Ameruni und Shahin Lahooti, die alle fünf im Oktober, in ihrer Heimat, der schönen persischen Rosen- und Gartenstadt Schiras beim Gottesdienst ihrer Hauskirche festgenommen wurden und seitdem Gefangenschaft und Folter erdulden.
Und weil er immer und überall das Wort, das die Leidenden trösten und treu machen kann, direkt von Jesus nimmt und direkt den Verfolgten bringt, darum trägt der Engel es nicht nur in die iranischen Gefängnisse, sondern auch in die verstörten Versammlungen der nigerianischen Christen, zu den Witwen und Waisen auf die Friedhöfe der Opfer des Religionshasses.
Er stärkt mit dieser unumstößlichen Gewissheit, dass Kranz und Krone des Lebens alle erwarten, die mit dem Gekreuzigten hier Schmach und Anfeindung teilen und das Sterben erleiden, auch unsere Geschwister in Nordkorea – dem Land ohne Namen, dessen Tote auf Erden vergessen werden, uns aber im Himmel einst als Kinder unseres Vaters, als Geschwister aus der Taufe, ja als Glieder der selben Gemeinde begegnen und nahe sein werden.
Der Engel, der durch Gefängnistüren und Lagerzäune dringt, der seinen Weg in Isolierzellen und in den tiefsten Folterkeller bahnt, der findet sie alle und hält ihr Herz sicher in der Treue zu Dem, dessen Treue zu uns tiefer reicht als der Kerker und der Tod und die Hölle. ——
Wenn wir diesen Engel so bei seinem Dienst an den leidenden Christen betrachten, wenn wir seine Seelsorge und Sterbebegleitung an den Gefolterten bedenken, deren Verbrechen es ist, dass sie zu Jesus gehören, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie er Tausende und Abertausende, wohl hunderttausend christliche Märtyrer in jedem Jahr bis zum letzten Atemzug und Zucken mit dem freudigen Blick auf die durch ihr Kreuz kommende Krone erfüllt und heimführt – … dann spüren schließlich auch wir, dass der Leib Christi ein einziger Organismus, eine Einheit ist, in der die Glieder so verbunden sind, dass sie alle gemeinsam fühlen, wie Schmerzen sich in diesem Körper ausbreiten. Aber auch Trost!
Und auch die Hoffnung, unsere Zuversicht, die über alles, was hier ist und kommen kann, hinausweist in das Friedensreich und die getröstete Welt Gottes! ——
Wenn also schon „das Volk“, die Gesellschaft – zu Recht! – bei bestimmten Gelegenheiten eine Trauer, einen Schmerz empfinden muss, der über das Einzelleben hinausgeht und in einem größeren Zusammenhang – in der Gemeinsamkeit des Menschlichen – wurzelt, um wie viel mehr muss die Gemeinde hier „kollektiv“, d.h. gesammelt und gesamt empfinden und mitfühlen.
Gewiss:
Wir hier sind nicht die leidende Kirche!
Über uns schwebt keine Verfolgung; uns wird die letzte Prüfung in der Treue nicht nach Weise der Märtyrer abverlangt.
Aber wenn wir vergessen, was unsere getauften Geschwister in der Nachfolge des Herrn erleben, wenn wir nicht seelisch, ja zuweilen sogar in aller Unbegreifbarkeit sogar ahnungsweise körperlich mit ihnen, den verfolgten Christen mitleiden – dann sind wir die satanische Versammlung, von der nur kurz zu reden bleibt.
Satanisch: Das ist die Abspaltung. Satanisch: Das ist die Fühllosigkeit. Satanisch: Das ist das ungerührte Preisgeben der Leidenden, der Geängstigten, der Gemartertern, der Hingerichteten, Ermordeten, … der Opfer – als gingen sie uns nicht an.
Doch sie sind unsere Gemeinde und wir die ihre. Ihr Engel ist unser Engel.
Weil wir miteinander die Kirche im Frieden und im Leid, die Kirche in der Ruhe und die Kirche unter dem Kreuz sind, die verfolgte, aber auch die getröstete Schar Dessen, der lebendig ist und alles Leben und Sterben für und mit Ihm in Seiner Gegenwart krönen wird!
Amen.
Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr 11.XI.2012 - Martini Predigt zum Gedächtnis des Martin von Tours Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Drittletzter So. - 11.XI.2012
Martin von Tours – [Matthäus 25,40]
Liebe Gemeinde!
Er trägt Mars, den wilden Kriegsgott nicht nur im Namen, sondern er ist ein wilder Heiliger: Dieser Martin, dessen Schwert nicht nur seinen spätrömischen Uniformmantel, sondern mit diesem symbolischen Requisit auch die antike Kultur entzweite.
Und obwohl dieser eine Schwertstreich in unserer Zeit eine übertriebene Rolle spielt, die ihm in Martins Biographie so gar nicht zukommt, ist es eigentlich herzerfrischend, was da als die bekannteste Urszene christlichen Glaubens in der europäischen Geschichte diesseits der Alpen gefeiert wird: Der erste große Christ, der nicht aus der zivilisierten Völkerwelt des Mittelmeerraumes stammt, lebt bis heute in unserem Gedächtnis durch seinen skandalösen Ungehorsam, durch seinen eigenmächtigen Ausbruch aus einer jahrhundertelang erfolgreichen, ehrwürdigen, staatstragenden Ordnung und Hierarchie.
Das christliche Abendland wird also geboren aus einem Akt der sozialen und militärischen Anarchie.
Diese Rebellion gegen den akzeptierten und festgefügten Lebensrahmen hat in Martins Persönlichkeit tiefe Wurzeln. Er stammte aus der Provinz Pannonien, dem heutigen Ungarn, aus einem Raum, über dessen Vorgeschichte und Bevölkerung wir wenig wissen.
Seinen heidnischen Eltern war allerdings offenbar an der Integration in die römische Weltkultur gelegen, denn wie sein Vater, der Veteran sollte auch der so bewusst martialisch Benannte eine Laufbahn im Heer einschlagen. Allerdings durchkreuzte ein sonderbar subversiver Zug schon früh den vom römischen Drill nicht recht formbaren Charakter des Burschen, der etwa die Notwendigkeit von Klassenschranken nicht begriff und dabei ertappt wurde, wie er den Standesunterschied zwischen seinem Sklaven und sich einfach umkehrte: „Das ging soweit – schreibt sein Biograph und Zeitgenosse Sulpicius Severus – dass Martin seinem Sklaven meist selbst die Schuhe auszog und sie auch selbst putzte und dass sie gemeinsam das Essen einnahmen, wobei indes häufiger Martin auftrug“.
Für römisches Empfinden war das pervers, ein unreifer Komplex, unmännliche Abartigkeit. Für Martin war es die einzige praktische Möglichkeit auch im Militärdienst seine kaum verborgene Neigung zum Christentum auszuüben.
Als er in der Winternacht von Amiens dann dem nackten und unbeachteten Bettler begegnete, von dem er spürte – wie Sulpicius es im Lateinischen formuliert – dass der für ihn „reserviert“ war, da war es mit seiner sonstigen Reserve vorbei.
Er ließ sich taufen und zog die ungeheuerliche Konsequenz der künftigen Wehrdienstverweigerung.
Schlimmer konnte er die Werte seiner Erziehung und seiner Zeit nicht angreifen, als indem er die Waffen niederlegte.
So wurde er zum Pazifisten: der große Heilige der unfriedlichen Zeit, die mit der Völker-wanderung und dem morschen Ende des römischen Weltreiches allmählich über Europa heraufzog.
Aber weich war er keinesfalls, sondern von wilder, kühner Tapferkeit.
Überall griff er zum Entsetzen der Zeugen das Bestehende an:
Er zerbrach eigenhändig heidnische Tempel - was in der Mehrzahl wohl römische Heiligtümer bedeutet, rodete Opferstätten der fränkischen Stämme, stellte sich in einem wahnwitzigen Kraft- und Glaubensakt freiwillig gefesselt in die Fallrichtung einer heiligen Kiefer, die auf sein Betreiben hin abgesägt werden sollte, und überlebte nur durch das Wunder, dass der stürzende Baum im letzten Augenblick um ein weniges verdreht niederging.
Seine eigentliche Berufung allerdings sah er in noch wilderer Entschlossenheit:
Nämlich auf alles auch nur minimal Zivilisatorische zu verzichten und als Einsiedler nach dem Vorbild der Mönche in der ägyptischen Natronwüste zu leben.
Aus seiner freiwilligen Entbehrung und Einsamkeit wurde der radikale Kritiker und Verweigerer dann von der Stimme des Volkes auf den Bischofsstuhl der Stadt Tours gezerrt.
Offensichtlich schien der kompromisslose, struppige Eigenbrötler dem Kirchenvolk die Alternative, die das Christentum zur gegebenen Welt darstellte, besser zu verkörpern als mancher glatte Kandidat.
Dabei blieb es für Martin aber nicht etwa nur bei fundamentalistischen Kämpfen gegen die nicht-christliche Gesellschaft, denn er verlegte sich innerhalb der kirchlich gewordenen Machtverhältnisse ebenfalls immer wieder auf Opposition.
Den – christlichen! – Kaiser wollte er in dessen Residenzstadt Trier nie aufsuchen, bis ihn die erste Ketzerverfolgung der Kirchengeschichte dazu zwang:
Damals sollten ganz besonders strenge Asketen aus Spanien gewaltsam zu mehr Mäßigung gebracht werden. Allein um das Todesurteil gegen seine radikalen Gesinnungsgenossen aufheben zu lassen, tat Martin den atemlos beobachteten Schritt in die Gegenwart des Kaisers und an dessen Tafel.
Aber alle diplomatischen Kräfte stöhnten laut auf, als der unverbesserliche Protestler den Pokal, den er ehrenhalber als erster an die Lippen führen durfte, nicht protokollgemäß dem Kaiser, der neben ihm saß, weiterreichte, sondern einem kleinen Priester, den er irgendwo im Hintergrund entdeckt hatte.
Martin glaubte nämlich – so wiederum Sulpicius –, dass er seine Unabhängigkeit verlieren würde, wenn er den Kaiser oder den Präfekten vorgezogen hätte.
Er war und blieb auch im Angesicht der stärksten Kräfte und Konventionen ein völlig autonomer Provokateur.
Gegen Ende seiner Tage kam noch einmal die Kleiderfrage als Anfechtung zu ihm zurück:
Christus – den er einst mit einem halben Soldatenloden gesehen hatte – erschien ihm in kaiserlichem Gewand, mit Kronreif und goldenem Schuhwerk und umgarnte den rauhen Bischof: „Erkenne, Martin, wen Du siehst. Ich bin Christus. Im Begriff auf die Erde herabzusteigen, wollte ich mich zuerst dir offenbaren.“
Martin fiel in schrecklichsten Zweifel.
Sollte also doch die typische Stil- und Machtordnung herrschen, wo er an die restlose Abkehr von solchen Fesseln und solchem Tand geglaubt hatte? …..
Schließlich aber ranzte er auch den elegant repräsentierenden Heiland an:
„Der Herr Jesus hat nicht angekündigt, dass er in Purpur und mit einem strahlenden Diadem kommen werde. Ich werde erst an die Ankunft Christi glauben, wenn er sich in der Erscheinung und Gestalt zeigt, in der er gelitten hat, wenn er die Wundmale der Kreuzigung aufweist.“
– Da war der schicke Spuk vorbei. In den Äußerlichkeiten steckte der Teufel. ——
Martin starb – auch hier im Bruch mit allen bisherigen Gewohnheiten, was anerkannte Heilige betrifft – keinen Märtyrertod.
Dennoch wuchs seine Verehrung in der gallisch-fränkischen Welt in kürzester Zeit so immens, dass Chlodwig ihn zum Schutzheiligen seiner Dynastie und seines Reiches erhob. Die merowingischen Herrscher führten seitdem in ihrem Reisekönigtum stets den vermeintlich bei Martin verbliebenen Mantelteil als das vorzüglichste Heiligtum unter ihren Reichskleinodien mit.
Diese Mantelreliquie wurde im Lateinischen als „cappa“ bezeichnet und stets gesondert aufbewahrt und ausgestellt. Die bald eigens errichteten Nebenräume der großen Kirche nannte man nach dem in ihnen gezeigten Martinsmantel daher auch „Cappellen“, die Kleriker, die dort dienten, „Cappelläne“ und die Sänger der dortigen Liturgie „Cappella“.
„Kapelle!“ – Die gesamte abendländische Kultur ist von der alten Baukunst bis in die heutige Musikszene hinein also immer noch mit kaum mehr entzifferten Hinweisen auf und vergessenen Erinnerungen an Martin, den Anti-Helden und anarchistischen Vertreter einer Gegenwelt durchdrungen.
Und auch wenn die Hugenotten seine Spuren und Überreste fast gänzlich vernichteten:
In jeder noch so unbedeutenden Kapelle – und sei’s unsere Friedhofskapelle auf dem Leuchtenberger Kirchweg – hallt schon im Namen jene Bewegung nach, mit der ein Mensch sich freiwillig von der Hälfte alles dessen, was ihn schützt, trennt, um einen anderen zu retten, und in jeder noch so rustikalen Blaskapelle weht der fremder Luftzug mit, der Europa angesichts der radikalen Selbstlosigkeit eines pazifistischen Soldaten für immer auf andere Gedanken brachte, als die Römer sie hegten und pflegten.
Martins bis heute allgegenwärtiger Mantel ist also kein Schutzmantel, vielmehr ist er ein Merkzeichen, ein Signal, dass die Moden und die Maßstäbe dieser Erde wahrlich nichts Bleibendes sind, sondern dass wir ganz andere Ideen und Normen, ganz andere Gewichte und Gewohnheiten ernstnehmen sollten, als wir bisher meinten – wenn wir denn Gottes Weg und Wahrheit suchen.
Jeder Kapellenbau ist die steingewordene Frage: „Glaubst Du, alles muss so sein? Oder kannst Du loslassen und auch ganz anders weitermachen als bisher?“
Und jede Musikkappelle weckt das Martinsecho: „Nach wessen Pfeife tanzt Du eigentlich? Könntest Du wohl hören, könntest Du gehorchen, wenn Gott nach Dir riefe?“ ——
Das sind keine zahmen Fragen!
Das ist die wilde Erbschaft, die das Abendland von seiner ersten und bis zuletzt einer seiner gegenwärtigsten christlichen Leitfiguren übernehmen müsste.
Wenn… ja, wenn nicht auch die Wildheit, das Unbedingte und Andersartige an diesem Patron Europas immer wieder völlig verniedlicht würde.
Gerade hier in Düsseldorf und am Niederrhein hat man sein Andenken länger und lebhafter gepflegt, als sonst weit und breit: Das belegt nicht zuletzt Fliedners Beobachtung zu der im Volksmund noch seinerzeit lebendigen „Samariter-That“.
Aber die unordentliche Bettelei der Kinder, die teilweise massive Störung der öffentlichen Ruhe durch die unkontrollierten Heischebräuche der Gossenjungen, schließlich auch der Abschluss des landwirtschaftlichen Jahres, der auf Martini fällt und dem die sprichwörtliche „Schlumpwoche“, die schlampige, faule Woche des Gesindewechsels und der Arbeitsniederlegung folgte, verunsicherten das 19.Jahrhundert so sehr, dass gerade zu Zeiten der Bismarck’schen Sozialgesetzgebung und gerade wieder hier in Düsseldorf Martini-Komitees, bürgerliche Martinsvereinigungen entstanden, die das anarchische Treiben in folkloristische Bahnen lenkten.
Aus dem wilden Brauchtum im Namen des um die Stabilität der Weltordnung wahrhaftig unbekümmerten Martin wurde der putzige, bunte Gänsemarsch der Kleinen.
Die zügelnde und disziplinierende Gewalt der gesellschaftlichen Aufsicht entschärfte die Umwertung aller Werte, die mit Martin ins Abendland einbrach, zum Bastelvergnügen tollpatschiger Kinderhändchen, zum gelenkten Laternenumzug und zur herablassenden Apfel- oder Schokoladenspende der Wohlhabenden in den Türrahmen ihrer warmen Behausung. ……… ———
Doch im Licht des wirklichen Martin werden andere Erkenntnisse und Erwartungen geweckt:
Sind wir bereit für die wilde Seite des christlichen Lebens?
Können wir jene Radikalität überhaupt noch denken, die nicht etwa deshalb einen halben Mantel verschenkt, weil der Schrank voll ist, sondern weil durch diese mathematische Teilung die Unterschiede ausgeglichen werden: Martin besaß nur einen, der Bettler gar keinen – durch die Halbierung kamen sie tatsächlich auf Augenhöhe!
Sind wir – wir lässig distanzierten Evangelischen zumal – in der Lage, ernst zu nehmen, dass aus einer spätantiken Biographie plötzlich ein Stück Bibel, Wort Gottes wird, wenn Christus im geteilten Mantel erscheint?
Ist diese wortwörtliche Erfüllung des Evangeliums stark genug, auch uns zu biblischem Handeln in der Wirklichkeit zu bewegen oder ist unsre Immunität gegen das Evangelium stärker?
Denn die nächste, die größte Frage lautet doch:
Können wir den erkennen, der da in der ausgemergelten, ungewaschenen Gestalt eines gallischen Obdachlosen am Tor nach Amiens erscheint, dessen Blöße unter der zerfransten Kluft eines römischen Legionärs notdürftig bedeckt wird?
… Und können wir ihn in dem verwundeten Syrer erkennen, der ins Flüchtlings-lager gekrochen kommt?
… Oder in dem apathischen Kind auf der Pritsche einer verschmutzten Station mitten im Seuchenelend von Haiti?
… Wissen wir, dass er Hartz-IV empfängt und sich in der letzten Woche jeden Monats Katzenfutter aufwärmt?
Wissen wir, dass er uns braucht, wie er Martin brauchte?
Und wissen wir, dass wer IHN hat, darum ganz anders – ganz anders ernsthaft und ganz anders unbekümmert – leben kann, als man für möglich hielte?
Und kennen wir die wilde Botschaft – die sich Evangelium nennt –, dass nichts in dieser Welt und diesem Leben zählt außer der Liebe? Seiner ewigen Liebe? ……
Amen!
22.n.Trin. 04.11.2012 Römer 7,14-25a Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 22.n.Trin. - 4.XI.2012
Römer 7, 14-25a
Liebe Gemeinde!
„Ich weiß nicht, was ich tue.
Ich tue nicht, was ich will.
Was ich hasse, tue ich!“ ——
Wenn Paulus nicht mit dem Evangelium, sondern mit einer Frau verheiratet gewesen wäre, und wenn Frau Paulus ihren Mann überlebt und zu seinem Andenken etwa seine Briefe gesammelt und für die Nachwelt herausgegeben hätte: Was hätte sie wohl mit dem berühmten siebten Kapitel des Römerbriefes gemacht, in dem diese Sätze stehen?
Wäre es ihr nicht sehr wahrscheinlich peinlich gewesen, die Erinnerung an einen, der den Glauben der Welt verwandelt hat, mit einem so hin- und herschwankenden Selbstzeugnis zu belasten?
Hätte sie diesen ohnmächtigen Ausbruch nicht spurlos tilgen und den Beweis einer solchen Orientierungslosigkeit nicht löschen müssen, um das Bild dessen, der alle Völker mit neuen Maßstäben für Wahrheit und Freiheit des Geistes vertraut machte, eindeutiger zu halten? —
Nun hat es sie nicht gegeben, die beschönigende Witwe, die den Apostel posthum verklärte.
Auch seine Schüler, auch seine in Jerusalem heimische Schwester und sein Neffe, von deren Bindung an Paulus wir in der Apostelgeschichte (23,16) immerhin hören, haben sein Bild, seine Nachwirkung nicht verfälscht, sondern sie alle ließen zugleich mit dem restlichen Römerbrief auch dessen unheimliches, wirres siebentes Kapitel im Umlauf.
…. Weshalb wir bis heute die Qualen eines Menschen lesen können, der sich in seinem eigenen Leben wie eine Geißel fühlt.
„Ich sehe in meinen Gliedern ein Gesetz, das dem Gesetz in meinem Gemüt wiederstreitet und mich gefangen hält“: So hört er sich an, der Gefangenschaftsbericht eines Häftlings, dessen Kerker mit ihm mitzieht, weil es seine Haut und Haare sind, sein Fleisch und Körper, in denen er sich fremden Bedingungen beugen und einer willkürlichen Entmündigung unterziehen muss. ….. Er wird gezwungen noch dort, wo er ganz allein ist. Er wird ausgeschaltet auch dann, wenn niemand ihm zu nahe kommt. Es klingt wie Schizophrenie.
Es klingt wie Verfolgungswahn, wenn er stöhnt, dass er nichts mehr entscheiden und nirgends entkommen kann, weil in seinem Dasein nicht mehr er der Handelnde ist, sondern die Sünde, „die in ihm wohnt“.
Das ist von der tief beklemmenden und lähmenden Wirkung eines Psychothrillers: Dieser Einblick in die gestörte, gehetzte, gelenkte Seele eines Zwangsleidenden.
Es hat die schwarze, bitter lebensechte Wirkung, mit der Alltagsprosa und Dämonentagebuch bei Kafka verschwimmen. —
Aber das beides wäre ja immer noch so einfach; aus beidem hätte auch die Witwe Paulus, hätten seine Schüler durchaus noch Kapital schlagen können, wenn sie ihn zum interessanten Patienten oder zum schonungslos den Wahnsinn erkundenden Literaten gemacht hätten.
Aber hier von einer noch so spektakulären klinischen Diagnose zu sprechen, hier eine noch so geniale Inspiration als Dichter der albträumenden Phantasie zu entdecken: Das ist beides billiger bullshit im Vergleich zu dem, was wir Christen hier lesen und erkennen.
Denn – so haben es die Ausleger mit den wirklich starken Nerven und der wirklich kompro-misslosen Offenheit erkannt –: Hier ist kein loses Tagebuchblatt des Paulus versehentlich an die Öffentlichkeit gelangt, hier hat er auch kein rein fiktives Leiden inszeniert.
Hier hat er Menschheitsrätsel aufgedeckt.
Hier hat er die conditio humana, das Menschliche ohne den Abstand des Arztes und ohne die Freiheit des Dichters zu Wort kommen lassen.
Hier, in diesen Widersprüchen sind wir anzutreffen.
Willkommen zuhause, lieber Leser! So grüßt Dich Deine Seele.
Mit seiner Stimme erzählt Paulus also nur das ansonsten von Dir Verschwiegene …..
Kein Wunder darum, dass die meisten, die auf diese Flaschenpost aus dem Inneren des Menschen stießen, sie schnellstmöglich wieder wegwarfen.
Dabei klebten sie vorsichthalber oft noch ein falsches Etikett auf den Geist in der Flasche: Viele schrieben, es sei Gift enthalten in Römer 7, das Nervengift eines schlicht neurotischen Kranken, eines labilen Schwächlings, eines zwischen zwei Persönlichkeitspolen Zerrissenen.
Andere fälschten wenigstens das Abfülldatum und behaupteten, Paulus habe uns alten Wein untergejubelt: Die Verzweiflung, die hier zu schmecken sei, stamme aus seiner jüdischen Lebensepoche, sei also der essigsaure Geschmack des Alten Testaments und gehe einen Christen nichts an. Was man in Römer 7 lese, das seien die bitteren Erfahrungen Israels, die man als im Süßwasser Getaufter so unmöglich machen könne.
….. Ein Christ habe keinen unerwünschten Mitbewohner mehr; ein Christ sei stets Herr im Haus und seiner Sinne und wisse nicht nur ohne zu zögern, was gut und was böse ist, sondern auch wie’s zu tun und wie’s zu lassen wäre. —
Aber einige, die lasen, wie Paulus den fast komischen Zwiespalt schildert: „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht“ – ein Wort, das bei Karl Valentin in der verulkten Variante „Mögen hob i scho, bloß dürfen homs mi net lossen“ begegnet –, einige also, die dem grausamen Widerspruch von ethischer Erkenntnis nebst gutem Willen bei gleichzeitigem kläglichstem Versagen begegneten, haben nicht mehr lachen können, sondern nur noch todtraurig und entsetzt bekannt: „So ist es! Ach was, ….. so bin ich!“
Diese Leser, die in dem widerspenstigen Fleisch des Paulus ihr eigenes erkannten, hießen z.B. Augustinus, Luther, Calvin oder auch Hermann Friedrich Kohlbrügge, der vor 150 Jahren in Elberfeld vielleicht als Letzter noch wirklich zu sagen wusste, was Sünde im geistlichen Sinn ist.
Aber so viel hören doch auch wir, die wir zumeist seit langer, langer Zeit von der Sünde nichts mehr begreifen, ja nicht einmal mehr raunen hören, ….. so viel vernehmen doch auch wir, wenn wir das Unglück dessen hören, der das Böse tut, obwohl er es gar nicht will:
Sünde ist wohl kein Vergnügen!
Dieser dumme, idiotisch bequeme Aberglaube, dass Sünde alles sei, was Spaß macht und dass man deshalb – bitteschön - bei diesem Thema nur abschalten und dann erst recht über die Stränge schlagen könne: der trifft das Wesen der Sünde wahrlich nicht.
Die Torheiten nämlich, die uns Spaß machen und die wir meistens mit dem Vieh gemeinsam haben, das auch gern säuft und frisst und faul ist und in der Brunft unbeherrscht und beim Beutemachen keine Freunde kennt, …. diese animalischen Eseleien sind bitter und auch bitterböse und sie rächen sich oder werden gerächt. …
Aber sie sind nicht die Sünde, sondern nur jenes oberflächliche Geplänkel, für das der Katholizismus völlig zu Recht und ausreichend den Beichtstuhl erfunden hat und das wir heute im Therapiegespräch uns abgewöhnen oder zügeln.
Die wahre Sünde dagegen, die wirkliche Sünde lässt sich nicht abgewöhnen.
Sie wird auch nicht durch die Kultivierung guter Vorsätze und guten Benehmens besser, sondern schlimmer.
Die wahre Sünde trifft man da, wo der Spaß aufhört, weil er in Leid umschlägt.
Denn das bloße Prassen, Huren, Angeben, Siegen, Genießen und Verschwenden ist nicht von ferne so schlimm und traurig wie jenes andere Elend:
— Wenn ich eigentlich längst das Maß kenne und dennoch nicht stark genug für die Vernunft bin.
Wenn ich eigentlich treu sein will und doch zerstörerisch mein Leben und meine Liebe auf’s Spiel setze.
Wenn ich eigentlich die Eiseskälte des Geldes erlebe und trotzdem für nichts so brenne.
Wenn ich bitter bis zur Genüge erfahren mußte, wie ich mich mit meinen scheinbar selbstverständlichen Ansprüchen an das Leben hoffnungslos schuldig mache und die Schuld dann doch in Kauf nehme und leugne.
Wenn ich mir vormache, alles sei gut so ….. und doch weiß, dass nichts an mir, nichts bei uns stimmt.
Das ist die Sünde: Du kennst, Du willst und spürst und behauptest und versuchst das Gute ….. und es wächst die Schuld, der Schmerz, der Schrecken.
Und nichts ist so gut, wie Du behauptest und glaubst.
Je lieber Du das hättest, desto ferner rückt es.
Du tust so, als sei alles in Ordnung.
Und weißt doch, alles ist falsch. ——
Das steht nicht auf jeder Tagebuchseite unseres Lebens.
Aber es steht über allen unseren Tagen.
So fühlt es sich nicht immer an.
Aber doch jederzeit wieder …..
Und so hat Paulus auch nicht nur das siebente Kapitel an die Römer geschrieben.
Aber ohne dieses Bekenntnis aus seiner Feder wollte ich nicht Mensch, nicht Christ sein!
Wäre es sonst auszuhalten, dass wir so vernünftige Geschöpfe sind, die in einer so guten Welt mit so trefflichen Anlagen leben ….. und es dabei doch so furchtbar sinnlos und erbärmlich um die Menschheit steht?
Wäre es nicht rein zum Verzweifeln, dass aller Reichtum der Welt den Hunger auf Erden nicht stillen kann?
Dass alles Glück der Massen die Bosheit in der menschlichen Brust nicht spürbar ändert?
Dass alle Weisheit und Schönheit und aller Geist in der Geschichte den leeren Kreislauf, der auf der Weltbühne von Wünschen, Neiden, Rauben, Leiden, Bluten, Zerstören immer wieder nur von vorn zu neuen Wünschen, neuem Neid, neuem Raub führt, nicht in bessere Bahnen lenken konnten?
Liefe es nicht auf einen Sturz in Nacht und Wahnsinn hinaus, wenn wir Menschen, die glauben wollen, die sogar Lust an Gott und seinem Gesetz haben, es immer wieder merken müssen, wie leer unser Glaubensleben tatsächlich ist, … wie unberührt wir selbst von unseren tiefsten, heiligsten Überzeugungen bleiben, … wie wir trotz Predigt, Prägung und Praxis immer, wenn’s auf uns ankommt, zwischen Versagen und Verweigerung hin und her torkeln?
Müssten wir nicht aufhören, Christen zu sein, wenn unser erster Lehrer und Ratgeber Paulus nicht von der Sünde berichtet, wenn er sein Leiden unter der Sünde nicht vor aller Welt gebeichtet hätte?! — …….
Jedoch: Seine wahrhaft verstörende Lebensbeichte, dies zunächst entmutigende Zeugnis von der Depression und Ohnmacht auf dem Grund seiner menschlichen Erfahrung mit sich selbst, würden wir völlig missverstehen, wenn wir darin nur den Wiedererkennungseffekt fänden: „Was, Du auch?!“ – Paulus will uns ja nicht etwa onkelhaft kameradschaftlich zeigen, dass er auch bloß ein Mensch ist, ein armes Schwein wie wir, wenn wir den Moralischen haben.
Solche Art Geständnisse dient nun einmal bloß der eigenen Entlastung und führt dazu, dass man miteinander noch mehr versumpft, weil’s ja halb so schlimm ist, wenn die anderen es auch von sich kennen.
Paulus aber beschäftigt sich und uns nicht mit der Sünde, um ihre Allgemeinheit dann zum mildernden Umstand zu machen.
Er sieht tiefer und tapferer hin – so tief und so tapfer, dass man eigentlich verzagen möchte: So ohne alle Schonung wird die Ausweglosigkeit aus dem Labyrinth des Wollens und Nicht-Könnens, des Gemeinten und des Getanen aufgedeckt.
Was aber hilft uns dann die Gemeinsamkeit, die wir mit dem zerrissenen und geschei-terten Paulus erkennen mögen?
– Noch einmal: Nichts!
Ginge es um Gemeinschaft mit Paulus, dann müssten wir wohl eher darauf warten, uns mit ihm bei günstiger Gelegenheit über die Reling zu stürzen oder die Zirkuslöwen Roms mit unserem hilf- und nutzlosen Selbst zu füttern. ———
Aber wenn wir hören, wie Paulus scheitert ohne sein Leben wegzuwerfen, geht trotzdem ein Weg vor uns auf:
Wir können uns mit Paulus selbst verlassen.
Wir können seinen Urschrei teilen:
„Wer kann uns erlösen uns aus diesem Elend, aus dieser Fremdheit in der eigenen Person, in deren Dasein wir uns nicht zurechtfinden, obwohl wir selbst drin stecken?
Wer wendet diesen guten Menschen, der wir innerlich gern wären und äußerlich doch nicht sind, so herum, dass es stimmt?
Wer gibt uns, dass wir andere werden: Solche, die sind, was sie wollen und sollen?“
Und wie endet auf diesen Schrei hin das Kapitel Menschheitsrätsel, das wir „Römer 7“ nennen?
Mit Jesus Christus!
Zu etwas anderem kann die Erkenntnis der Sünde uns nicht führen.
Jesus Christus!
Der ist der Mensch, in dem wir gut leben können – nicht mehr, als seien wir mitten in unserem Dasein in der Fremde, im Elend! Sondern glücklich am Ziel!
Amen
Reformationstag, 31.10.2012, Mutterhauskirche, „Zur Freiheit befreit - zur Liebe berufen", Ulrike Heimann
Text/Thema : „Zur Freiheit befreit - zur Liebe berufen"
Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will.
(Jean-Jacques Rousseau)
Man muss sich die Freiheit nehmen. Sie wird einem nicht gegeben.
(Meret Oppenheim)
Freiheit ist ein Kaugummibegriff geworden - an jedem Schlagbaum versteht man etwas anderes darunter.
(Oskar Kokoschka)
Die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden.
(Rosa Luxemburg)
Freiheit bedeutet Verantwortlichkeit; das ist der Grund, warum die meisten Menschen sich vor ihr fürchten.
(Bernard Shaw)
Wer seine Schranken kennt, der ist der Freie; wer sich frei wähnt, ist seines Wahnes Knecht.
(Franz Grillparzer)
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
(George Orwell)
Wer sagt: hier herrscht Freiheit, der lügt, denn Freiheit herrscht nicht.
(Erich Fried)
Es gibt keine Freiheit ohne gegenseitiges Verständnis.
(Albert Camus)
Die Freiheit besteht darin, dass man alles tun kann, was einem anderen nicht schadet.
(Matthias Claudius)
Freiheit bedeutet, Möglichkeiten ungenutzt zu lassen.
( ? )
Liebe Gemeinde,
Freiheit - ein großes Thema der Menschheit.
Die Sehnsucht nach Freiheit, der Hunger nach Freiheit - immer wieder verschafft er sich Gehör.
Spartakus wagte im alten Rom dafür den Aufstand.
„Von der Freiheit eines Christenmenschen" nannte Martin Luther eine seiner berühmtesten Schriften, in der er gegen die Versklavung des Gewissens durch die römische Kirche wetterte.
Davon angespornt, standen die Bauern auf gegen die Leibeigenschaft; Freiheit war für sie unteilbar, nicht nur spirituell. Doch ihre Freiheitsvorstellungen, die für uns heute selbstverständlich sind, waren für Martin Luther vom Teufel. Er forderte die Fürsten auf, für Ordnung zu sorgen, was diese gerne taten. Der Aufstand der Bauern für Freiheit wurde in einem Meer von Blut ertränkt.
Freiheit - Meinungsfreiheit - Redefreiheit - Religionsfreiheit; gerade in unseren Tagen ist darüber wieder eine heftige Debatte im Gange. Viele sehen diese Freiheiten, die uns so selbstverständlich geworden sind, in Gefahr: durch islamistische Fundamentalisten, aber auch durch das Wiedererstarken autoritärer Herrschaftssysteme z.B. in Russland, in der Ukraine, in Ungarn und Weißrussland. Wieviel Rücksichtnahme darf sein und wo gilt es fest zu stehen, einzustehen für all die Freiheiten, die uns das Grundgesetz garantiert?
Und überhaupt, was haben all diese Freiheiten mit unserem Glauben zu tun, mit dem Christentum? Sind sie nicht vielmehr die Früchte der Aufklärung, die oft genug gegen die Kirchen errungen werden mussten?
Wer eine Konkordanz zur Hand nimmt, ist überrascht, wie wenig Stellen sie aufführt unter dem Stichwort „Freiheit". In der hebräischen Sprache gibt es das Wort „Freiheit" gar nicht. „DeROR" heißt genau genommen „Freilassung". Freilassung aus der Knechtschaft, Befreiung aus der Sklaverei. Das ist ja das Kernbekenntnis Israels: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus der Knechtschaft befreit hat. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben." Frei ist hier der Mensch, der in der Beziehung zu Gott steht und nur von ihm her alles erwartet und nach seinem Willen lebt.
Das ist schon ein ganz anderer Freiheitsbegriff als derjenige, der in unseren Tagen immer wieder bemüht wird.
So ist der Gedanke der Religionsfreiheit wie überhaupt die moderne Menschenrechtsidee, die sich dem Individuum verpflichtet sieht, der Freiheit des Einzelnen, der biblischen Tradition fern. Zwar kann und muss das Volk Israel zweimal wählen - nämlich am Ende der Wüstenwanderung und am Ende der Landnahme - ob es nun den Bund mit Gott halten oder anderen Göttern nachfolgen will; aber so richtig eine freie Wahl ist das auch nicht, denn wenn das Volk den Bund brechen würde, wäre das sein Untergang, droht ihm die Vernichtung. Und auf Glaubensabfall steht für den Einzelnen die Todesstrafe, die Steinigung (5.Mose 17,2-5).
Auch in der griechischen Bibel taucht das Wort „Freiheit" kaum auf; in den Evangelien gar nicht, nur in den Briefen, vornehmlich bei Paulus. Doch auch bei Paulus geht es nicht um individuelle Freiheit im modernen Sinn, sondern um Freiheit, die aus der Bindung an Gott, an Jesus Christus erwächst. Auch hier ist vor allem die befreiende Tat Gottes im Blick. Weil er uns liebt und uns das Leben in Fülle schenkt, befreit er uns von aller Angst, nicht zu genügen, von aller Angst, zu kurz zu kommen und deshalb verzweifelt gegen den Tod, die Endlichkeit anzukämpfen. Die herrliche Freiheit der Kinder Gottes ist an Gott gebunden. Sie meint nicht, jeder, jede kann machen, was er, was sie will. „Tu was du willst - soll sein das ganze Gesetz." Dieser Satz ist das Glaubensbekenntnis Aleister Crowleys, des „Vaters" der modernen Satanisten.
Wer sich als Kind Gottes, als Sohn, als Tochter Gottes versteht, der ist gebunden an den Gott der Liebe. Der ist gebunden an den Gott, dem kein Weg zu weit war, um auch noch den letzten Verlorenen in seine Arme zu schließen. Der ist verbunden mit dem, der die Auseinandersetzung mit den führenden Kreisen in Tempel und Staat nicht scheute genauso wenig wie den Kontakt zu gesellschaftlichen Außenseitern und der wohl in seinen engsten Jüngerkreis auch einen Sikarier berufen hatte, einen religiösen Freiheitskämpfer, einen antiken Taliban. Er war so frei, allen die Botschaft vom Reich Gottes nahezubringen, alle einzuladen in dieses Reich einer anderen und größeren Gerechtigkeit, eines anderen und größeren Friedens. Diese Freiheit bezahlte er mit seinem Leben. Und blieb sich treu, als er Vergebung gewährte - demjenigen, der sein verkehrtes Tun bereute, aber auch all denen, die Böses taten ohne Reue, „die doch nicht wissen, was sie tun."
Im Geist Jesu ist Freiheit ohne Liebe nicht zu denken. Der Apostel Paulus hat das in seinen Briefen immer wieder angemahnt. Auch damals schon ging es um Freiheiten, die einzelne Gruppen in den Gemeinden bedroht sahen von Fundamentalisten. Für uns heute mögen sie läppisch klingen, aber damals waren sie kostbare Errungenschaften. Zum Beispiel, dass man sich von heidnischen Nachbarn zum Essen einladen lassen und ohne Gewissensbisse die angebotenen Speisen zu sich nehmen konnte, auch wenn die besten Stücke möglicherweise von Tieren stammten, die vorher im Tempel den Göttern geopfert worden waren. Für Paulus ist klar: Es gibt nur einen Gott, der alles geschaffen hat. Götzenopferfleisch ist einfach Fleisch von einem Tier, das Gott geschaffen hat. „Aber", so schreibt er an die Gemeinde in Korinth, „nicht jeder hat die Erkenntnis. Einige, weil sie bisher an die Götzen gewöhnt waren, essen's als Götzenopfer und dadurch wird ihr Gewissen, weil es schwach ist, beschwert. ... Seht zu, dass eure Freiheit für die Schwachen nicht zum Anstoß wird!" (1.Kor.8,4-9) „Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern was dem andern dient. Ob ihr nun esst oder trinkt oder was ihr auch tut, das tut alles zu Gottes Ehre." (1.Kor.10,23-24.31)
Die Freiheit der Kinder Gottes ruft diese zum verantwortungsvollen Umgang mit ihrer Freiheit. Da müssen wir immer wieder von Neuem abwägen, ob das, was wir sagen, was wir tun, aufbaut, dem Frieden dient, gar Gott die Ehre gibt.
Wie sagte Matthias Claudius: „Die Freiheit besteht darin, dass man alles tun kann, was einem anderen nicht schadet."
Und Albert Camus stellt fest: „Es gibt keine Freiheit ohne gegenseitiges Verständnis." Wir müssen immer den anderen mit im Blick haben, wenn wir unsere Freiheit leben, wenn wir uns unsere Freiheiten nehmen. Unser Verständnis von Freiheit ist nicht selbstverständlich das Verständnis des anderen. Das Ziel des Gebrauchs der Freiheit muss eine bessere Welt für alle sein. Wir sind aufgerufen, am Reich Gottes mitzubauen. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Freiheit der Kunst - alle diese Freiheiten stehen für uns als Christen unter dem Vorbehalt der Liebe, sollen dem Guten dienen, dem Frieden, der Gerechtigkeit. Sollen aufbauen und nicht sinnlos Hass sähen. Sollen das gegenseitige Verständnis fördern und nicht Vorurteile verfestigen.
Gewiss, auch das kann nötig sein: „Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen." Jesus selber hat das getan - den Einflussreichen und Mächtigen gegenüber ins Angesicht. Und Stephanus hat es getan. Und Martin Luther. Und Oskar Romero. Und viele andere auch. Sie haben Unrecht und Heuchelei beim Namen genannt, weil sie sich gebunden sahen an den Gott der Liebe, der Barmherzigkeit, der Gerechtigkeit.
Der Kirchenvater Augustinus hat unseren Freiheitswunsch und Gottes heilsamen Willen für alle seine Menschenkinder da sehr gut zusammengebracht: „Ama et fac quod vis."
„Liebe und dann tu, was du willst."
Ein guter Weg, die Welt im Kleinen wie im Großen mitzugestalten.
Amen.
18.n.Trin. 07.10.2012 Jakobus2,1-13 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 18.n.Trin. - 7.X.2012
Jakobus 2, 1- 13
Liebe Gemeinde!
Den guten Rat an alle Ängstlichen kennen wir: „Stell Dir die Herren von der Prüfungs-kommission einfach in Badehosen vor!“…..Schon werden aus den beängstigenden Respekts-personen blasse Quallen mit stoppeliger Gänsehaut in einer so lächerlichen Lage, dass ihre ganze Würde flöten geht. Hinten haben sie meistens noch Sonnenbrand auf Glatze.
Ebenso wer vor seiner schwanenschönen, grazilen Tanzpartnerin innerlich zittert, weil er sich selbst so unpassend findet an der Seite dieser anmutigen Erscheinung: Stell dir die Elfe ein-fach mit sperrangelweit fixiertem Mund auf dem Stuhl des Zahnarztes bei der Spangenanprobe vor, und schon verlierst du etwas von deiner ehrfurchtsvollen Scheu.
Wir sind also nicht gezwungen, uns von Menschen in ihrer äußeren Wirkung einschüchtern zu lassen: Es ist durchaus denkbar, dass wir jeden Kaiser entzaubern wie den, der im Märchen in blinder Eitelkeit nackt Parade lief. Es ist durchaus denkbar, aus jeder noch so vollkommenen Frau das zu machen, was meine Großmutter als kleines Mädchen immer tief fasziniert bei der Garderobe ihrer Großmutter beobachtete: Da wurde aus einem stolzen, hochbusigen wilhelminischen Schlachtross nach und nach – erst fielen die Röcke mit dem cul de Paris, der Hüften und Hintern polsterte, dann ging das panzerartige Korsett auf und die Form zerfloss, dann wickelte sie aus dem schütteren Zopf der alten Frau das riesige Haarteil, das die Frisur wie ein Festungswall umgab, und schließlich nahm sie auch noch das Gebiss aus dem Mund – da wurde also aus einer Walküre ein mümmelndes Mütterchen im schlotternden Unterrock.
Auch wenn solche Verwandlungen angesichts der geschminkten und getrimmten und gestählten und gestylten Figur, die wir heute gern bis in’s Alter abgeben, nicht mehr ganz so leicht fallen, wissen wir trotzdem alle: So wie Leute durch ihre Kleider und Anhängsel erscheinen, sind sie nicht wirklich. Das ist alles Blendwerk. ——
Natürlich machen wir viel zu sehr mit.
Natürlich sind wir viel zu sehr beeinflusst von dem ganzen Quatsch: Handtaschen; Autos; Feriendomizile; Düsseldorfer Bling-Bling; technischer Kleinkram für Großkotze; Starnberger See für die Abführwochen; Internatswahl nach Forbes-Liste; wenigstens Schuhe, Jacke, Hose nach dem letzten Schrei, obwohl sie so oder so nur Dreck und Wind abhalten und die Blöße von Gesäß und Nieren decken sollen. ………..
Aber irgendwo, in einem Zipfel seines Verstandes weiß zumindest jeder, der heute morgen hierhin, in die christliche Versammlung gekommen ist, dass die Symbole und Begehrlichkeiten und Standards des Materialismus eine einzige Verwechslung, ein betrügerischer Tausch sind: Sie machen nicht wirklich schön oder gut oder glücklich.
Und sie machen ihre Besitzer und Träger auch nur vordergründig anders.
Trotzdem befürchtet der Apostel Jakobus, der als Jesu jüngerer Bruder dessen alte Windeln und abgelegte Kittel auftrug, dass Eitelkeit und Käuflichkeit bei uns um sich greifen:
Wehe, auch Ihr fallt auf Äußerlichkeiten rein!, predigt er uns.
Wehe, Ihr schmeißt Euch bei den Schicken ran und sucht die komfortable Nähe des Geldes!
Ach, lieber Jakobus!, seufzen wir dann: Du kannst ja unseretwegen schön grundsätzlich reden, …. aber ohne anständige Kollekten, ohne die Gunst der Kirchensteuerzahler und ohne etwas gepflegtes Zugeständnis an Geschmack und Stilbewusstsein der Betuchten können wir doch gar nichts ausrichten. Das nennt sich Realpolitik.
Und ist einfachste Logik:
Die Diakonie muss am Markt der Anbieter bestehen.
Die Gemeinde hat Verpflichtungen, die sie ohne finanzielle Ressourcen nicht bedienen kann.
Pfarrer, Musiker und Mitarbeiter kommen auch nicht mehr aus den Bettelorden.
Und weltfremde Alternativen der Verweigerung oder der moralischen Sauberkeit erreichen rein gar nichts in dieser betriebs-mäßig eher dreckigen Welt.
Also ziere sich, wer kann! Uns musst Du unsere Höflichkeiten, unsere Kompromisse, unsere Korruption schon lassen. Du bist tot, Jakobus. Wir dagegen sind noch von dieser Welt. ——
Doch damit hat er uns, wo er uns will, dieser Quälgeist des Neuen Testaments.
Jakobus – weil er nicht der Heiland der Welt sein muss, sondern immer nur der kleine, anfangs vermutlich bitter eifersüchtige, später einfach furchtlos freche Bruder bleibt – Jakobus also ist kompromisslos bis weit jenseits der Schmerzgrenzen:
Was Jesus in den Weherufen und Seligpreisungen – „Selig sind die geistlich Armen, denn das Himmelreich ist ihr! Weh euch Reichen, ihr habt euern Trost gehabt!“ (Mtth53/Lk624) – was Jesus also in beinahe poetische Sprache kleidet, sagt Jakobus in Klartext und Prosa:
Gott hat die Armen erwählt zum Reich derer, die ihn lieb haben.
Die Reichen dagegen leben von Unrecht und Verbrechen. Klatsch!
Wer glaubt, Vorsicht und Rücksicht mit den Besitzenden üben zu müssen oder auch nur zu dürfen, glaubt gar nicht, sondern sündigt. Rumms!
Angesichts so holzschnittartiger Vereinfachungen bleibt uns allen – egal, was wir mit 43% Altersbezügen einst für Kohlsuppe löffeln und Brotkanten nagen werden – ja nur noch die Verteidigung: „Das ist grobe Propaganda! Das ist ideologischer Unfug! Das ist eine so auf’s Primitivste reduzierte Weltanschauung, dass man es gar nicht erst ernst nehmen sollte!“ ——
Und doch hat Jakobus uns genau da, wo er mit uns hinwill, wenn wir so in aufgeregte Selbstverteidigung verfallen.
Denn nun zeigt sich, was uns von den ältesten Geschwistern unseres Glaubens trennt:
Sie fürchteten sich vor dem Reichtum und den Reichen.
Wir dagegen fürchten mit den Reichen um den Reichtum – spätestens, wenn so in Bausch und Bogen billige Polemik zum Einsatz kommt, die den komplizierten Schattierungen und Verflechtungen nicht gerecht wird. Und damit haben wir Partei bezogen.
Das aber tut uns gut, und nichts anderes will der leidenschaftliche Provokateur Jakobus.
Mit dem aggressiven Geschick seiner späteren, zufälligen Namensvettern, der radikalen Jakobiner hat er uns eine Mütze aufgesetzt, auf der zu lesen steht:
„Diese Christen haben einen Bund mit dem Mammon geschlossen.
Aus ihrem Leben ist das Geld nicht wegzudenken. Ihr Friede heißt Kirche und Konto.“
— Das ist immer noch empörend schlicht.
Aber es bleibt nun einmal wahr.
Und es tut gut.
Wirklich?
Ja, wirklich.
Denn was Jakobus will, ist damit erreicht. Er hat den Punkt getroffen, an dem wir uns Unabhängigkeit, Unschuld und Freiheit überhaupt gar nicht erst einbilden sollten:
Wir sind nicht vorurteilslos.
Wir werden finanzielle Zusammenhänge nie neutral beurteilen.
Wir sollten uns auch selbst nicht in die Tasche lügen, als gingen uns die profitorientierten Rücksichtslosigkeiten der Welt und ihrer Wirtschaft nicht an, als hätten wir einen freien Kopf, saubere Hände und ein reines Herz. Von allem gerad das Gegenteil! ——
Doch erst, wenn wir das spüren, erst wenn uns dieses enfant terrible aus der Heiligen Familie so lange piesackt, bis wir aus der Deckung kommen und unsere materialistische Verwicklung begreifen, erst dann kann etwas vor sich gehen, das dem Gesetz der Freiheit entspricht:
Erst wenn wir uns im pompösen Aufzug des reichen Mannes erkennen, der mit seinem Luxus – Goldring und herrlichem Kleid – seine Ansprüche zeigt, erst wenn wir in dieser boshaften Karikatur unser äußeres Bild erkennen, kann das Absehen von den Äußerlichkeiten beginnen.
Das geht eigentlich ganz einfach.
Wir sollten uns nur den heutigen Einstieg vergegenwärtigen: Wie die Wichtigtuer, die Angesehenen und Ansehnlichen da vor dem kritischen Auge der Betrachter entkleidet und bloßgestellt wurden.
Das ist der notwendige Einstieg und Eingang bei jedem Weg, bei jedem Auftritt, bei jedem Beitrag in der christlichen Gemeinde:
Nach Art der viel begackerten Nacktscanner, nach Art der Vielen unheimlichen Durchleuchtung bis in’s Persönlichste ist der Empfang in der Gemeinschaft Gottes vorzustellen.
Wenn Du hier also eintrittst, wenn Du Dich unter die anderen begibst, die Jesu guten Namen tragen und Gottes gutes und gerechtes Wort hören, solltest Du bedenken, dass Du ohne den Schutz von Äußerlichkeiten erscheinst.
Hier wirst Du gesehen nicht, wie Du Dich zeigst, sondern wie Du bist!
Hier fallen alle Hüllen.
Hier zählt nichts als das nackte Darunter.
Die Oberfläche wird transparent, und das Innere scheint auf.
Jede Falte, jeder Makel, jede verborgene Einzelheit tritt offen zutage. ….
Aber nicht, weil hier Überwachung herrscht oder heimliche Voyeure sich genüsslich an Deinen Fehlern und Flecken, Deinem Fett oder Deinem Gerippe weiden.
Denn Du selbst gehst freiwillig durch den Röntgenapparat, der Dich zeigt, wie man Dich sonst nirgends sieht. Ja, Deine eigene Wahrnehmung soll hier so scharf und durchdringend werden, dass Du erkennst, was sonst unter den Accessoires und hinter den Symbolen des Äußerlichen versteckt ist! ——
Man muss zunächst tatsächlich tapfer sein, wenn man freiwillig durch eine solche Enthüllungs-pforte tritt. Man muss sich selbst ins Auge sehen wollen, man muss sein Herz und seine Nieren, seine klammheimlichen und seine schreiend offensichtlichen Wesensmerkmale zu betrachten lernen, ohne sie gleich wieder hinter Kleidung, Schminke und Gehabe zu cachieren.
Aber wenn man das tut, dann erfährt man in der Tiefe, am eigenen Leib, im eigenen Leben, wie barmherzig das ist, was Jakobus so provokant und so geschickt inszeniert:
Das Brimborium des bloßen Ansehens zu entzaubern. „Kein Ansehen der Person“ bedeutet ja: Schluss mit Blendung und Bestechung …. Du bist nicht schöner und Du musst nicht schöner sein; Schluss mit dem Weismachen und Bevorzugen …. Du bist nicht wichtiger und brauchst Dich auch nicht wichtiger zu machen; Schluss mit Günstlingswirtschaft und Buhlerei …. Du kannst nicht beeindrucken und hast es auch nicht nötig.
Der ganze falsche Anschein, mit dem sich jeder umgibt und spielt, der ganze falsche An-schein, den aufrechtzuerhalten und zu pflegen so viel Mühe macht; der ganze falsche An-schein, hinter dessen glitzernder Prunkfassade man oft so erbärmlich ungemütlich wie in einem Hotel haust …. der ganze falsche Anschein darf hinfällig werden und versinken.
Und dann kann man wirklich mit dem Erbaulichen anfangen, mit dem echten Leben, mit dem richtigen Sein.
Wer sich immer wieder des Scheins berauben lässt, wer sich immer wieder dem Licht der Wahrheit aussetzt ….., eitel wird der nicht mehr werden.
Denn er lernt das einzig Wahre kennen: Das Gesetz der Freiheit.
Das Gesetz, das einen freien Blick schafft.
Mit dem freien Blick aber wird immer wieder auch die Erkenntnis einhergehen: Dies ist nicht richtig an mir. Das stimmt bei mir nicht. Da ist noch vieles undeutlich; hier ist noch vieles in Unordnung ……
Ich stehle nicht, aber ich neide.
Ich bilde mir Gott nicht ein, aber dafür blende ich meinen Mitmenschen auch aus.
Ich bin mit den Eltern im Reinen; aber mit der Ehrlichkeit nicht.
Ich lerne dies, und versäume jenes; ich schaffe eins und scheitere am anderen.
Und doch gehört in diesem großen, königlichen Gesetz alles zusammen. In diesen zehn Geboten, die wir eben hörten, hängt eins am andern und verbindet sich zu einer Einheit.
Wenn wir diese zehn Dinge aber nicht zusammenkriegen, wenn uns diese grundlegenden Übungen nicht gelingen …. was also dann?
Wenn ich Sonntags, dort in jenem Eingang zum Gottesdienst, in jener Durchleuchtung, in jener gründlichen Erkenntnis meiner selbst die Fehler einsehe? Was dann?
Nun, dann sollen wir wissen, dass wir genau durch dieses Gesetz einst alle erforscht und durchdrungen werden: Wer vom Schein lebte, vom Trugspiel des äußeren Ansehens, der wird die nackte Wahrheit dann nicht ertragen.
Wer aber das Schauspiel aufgab und auch sich selbst nicht blenden ließ, der soll hören, was Jakobus zu sagen hat: Wenn Ihr diese Barmherzigkeit übt – nicht auf den schönen Schein, sondern auf die reine Wahrheit zu achten – dann sollt Ihr wissen, dass das Gesetz und Gericht selbst Barmherzigkeit fordern!
Wer erkannt hat, dass keiner nackter und keiner besser dasteht, als der andere, …. wer erkannt hat, dass sich das Innere nicht verhüllen lässt, …. wer folglich seinen unverhüllten Nächsten ebenso liebt wie sein oft erschreckend nacktes Selbst – der trifft im restlos aufgedeckten Menschen auf die ungeschminkte Wahrheit.
Kein Mensch ist vollkommen schön.
Keiner vollkommen gut.
Keiner tadellos, keiner fehlerfrei.
Keiner erfüllt das Gesetz ganz.
Aber gerade das gibt die Freiheit, barmherzig zu sein.
Nicht halbherzig, nicht taten- oder lieblos. Sondern rein barmherzig.
Wie Gott barmherzig ist, der die Person nicht ansieht!
Gott sei Dank!
Amen.
16.n.Trin. 23.09.2012 Stadtkirche Jesaja 38,9-20 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 16.n.Trin. 23.IX.2012
Jesaja 38,9-20
Liebe Gemeinde!
Wenn die Schatten länger und die Nächte kälter werden, dann kündigt sich nicht nur der Herbst an, sondern etwas Endgültigeres zieht wie Nebel und Raureif über’s Land:
Dass wir selbst einmal verblüht und welk sein werden, liegt dann mitunter in der Luft.
Von Tag zu Tag wirken die Kinder ja plötzlich blasser, und in den nächsten Wochen wird jeden von uns unweigerlich diese oder jene Malaise für kurze Zeit einholen. Mit etwas heißer Zitrone und ein paar andern Mittelchen wird man dann - hoffentlich - dem Schnupfen und der Heiserkeit, dem Kopfweh oder dem Ziehen in Knochen und Gliedern beikommen können.
So werden wir wohl nicht wie Hiskia, der fromme König von Juda auf den Tod erkranken.
Aber wenn, ….. wenn es einmal echte Krankheit ist, dann sollte man das Gebet Hiskias, des sterbenskranken Königs kennen.
Denn eigentlich ist er ja doch unser Mitpatient und wir die Seinen.
Die Diagnose, die der Prophet Jesaja ihm überbrachte, ist jedem von uns gestellt, lautet sie doch schlicht (Jes38,1):
„Bestelle dein Haus, denn Du wirst sterben und nicht am Leben bleiben!“
Du wirst sterben! —— Was sagt man nun? Wie hält man sich? Was hilft da noch?
Die meisten von uns überfällt bei einer solchen Einsicht, die wir scheuen und verschieben, rasende Panik: So vieles wolltest Du doch noch! So wenig hast Du bisher von allem gehabt! So früh! So ungerecht! So überraschend! So undenkbar! So erschütternd! …….
Und dann wirbeln die Angst und der Trotz und die Verweigerung und die Illusion, jetzt noch alle Gelegenheiten gleichzeitig beim Schopf packen zu können, uns in einem schrecklichen Veitstanz umher, aus dem manche kaum herausfinden bis die letzte Dämmerung sie überfällt.
– Wie Hiskia dagegen sich zur Wand dreht und wie er weint, einfach weint und winselt, das scheint uns ein viel schrecklicherer Gedanke, als jene Hoffnungen und Geschäftigkeit, die wir selbst in ähnlicher Lage uns vorgaukeln würden: Und das Lied, der Leidenspsalm, dieser Qualschrei des waidwunden Königs ist ja tatsächlich die hoffnungsloseste Poesie der Welt.
Wenn es eine Hymne des Nihilismus, ein hohes Lied der Bitterkeit gibt, dann hat es dieser rechtschaffene König auf dem Totenbett gesungen.
Ihn suchten in seinem Abschiedsschmerz Bilder heim, die alles buchstäblich in den Schatten stellen, was spätere morbide oder ernüchterte Schilderer des Todes noch zu sagen wußten:
Die Talfahrt, die ihn auf halber Strecke in das Nichts stürzt – das Erblinden, das ihm plötz-lich alle Aussicht nimmt und die weit aufgerissenen Augen nur noch gegen die Nacht stößt – das unangekündigt davongefegte Zelt – der Faden, der unversehens von der unsichtbar schwebenden Schere zerschnitten wurde – das Raubtier, das aus dem Verborgenen über den Menschen kommt – der jämmerliche Todeskampf der Taube, die nicht aus noch ein weiß und gegen die Stäbe flattert – die Mattigkeit, die bleierne Lebensmüdigkeit, die restlose Erschöpfung, das Auspulsen des letzten Tröpfchens Vitalität ………….
Wer ahnen will, wie schrecklich für die Sterblichen der Tod – der jähe Tod, der schleichende Tod, der unentrinnbare Tod, der gewaltsame und grausame und gierige und allgemeine Tod – ist, der muss nur das Lied des Hiskia meditieren:
„Nun muß ich fahren dahin …. Meine Hütte ist abgebrochen und über mir weggenommen …. Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber, er schneidet mich ab vom Faden ….“
Todtrauriger und wehmütiger, frierender und beklommener, verwaister und verlassener kann man sich nicht fühlen, als wenn man diesen Urschmerz, diese Tragödie des irdischen Lebens, diese Klagesymphonie der elenden Endlichkeit im Gehör, in Gedanken, im Herzen hat. ——
Aber so ist es! ……. Da sollten wir ganz nüchtern sein. — Diagnose: „Du wirst sterben!“
Und dann ist es vorbei mit Leben und Lob, mit Licht und Freude. ——
Wer meint, das sei in seiner nackten Negativität aber ein heidnischer Gedanke, der nicht in diese Mauern gehöre, der kennt die Bibel nicht!
In unserer großen Sammlung der Offenbarungen und Bezeugungen Gottes finden wir wieder und wieder einen so schonungslosen Blick in jenes Nichts, das wir Tod nennen, dass dagegen die Jenseitsreisen der alten Ägypter wie der Kitsch von Aida und Arosa wirken und die griechischen Märchen aus der stummen Schattenwelt, wo Orpheus nicht mehr klimpern darf, weil Euridike sonst kleben bleibt, wie tragikomischer Klamauk von Charly Chaplin.
Nur unsere Bibel kennt den wirklichen Tod, in dem sich gar nichts mehr regt und durch den kein Schimmer einer jenseitigen Abenteuerfahrt, kein Echo eines leisen, verschleierten Weiterlebens dringt.
Der Tod ist das Ende aller Hoffnungen. Das bittere Ende. Das vollständige Ende.
Neun von zehn biblischen Zeugen in dieser Sache weisen in eine Richtung, die man in der Theologie etwas bürokratisch den „Ganztod“ nennt.
Will sagen: Eine Unterscheidung in Sterblichkeit des Leibes und Unsterblichkeit der Seele machen weder Jakob noch Mose noch Hiob noch David noch Hiskia noch Hesekiel.
Und anders als später die vorreformatorische Kirche nach dem Muster der antiken Philosophen lehren auch Christus und die Apostel nicht, dass Seele oder Geist einen Vorsprung von einer halben Ewigkeit vor der endzeitlichen Auferweckung des Fleisches haben würden – ihnen waren allerdings das Ende und die Zukunft so nahe gerückt, dass sie hier keinerlei Gedankengebäude mehr schufen, das im Reich Gottes sowieso hinfällig werden sollte.
„Du bist von Erde genommen und musst wieder zu Erde werden!“: das ist der ursprüngliche, schonungslos deutliche Ruf der Bibel, der bis an unsere Gräber weht.
Und er wird an eiskalter Endgültigkeit nur noch übertroffen von Jesu hartem Wort (Mtth8,22): „Lass die Toten ihre Toten begraben!“
Der Tod ist in Wirklichkeit also radikal.
Nichts, gar nichts verschont er.
Alles bricht er ab.
Wer das leugnet oder sich schön redet, belügt sich und uns an Leib und Seele.
Der Aufschrei, mit dem Hiskia sich vor diesem letzten Feind entsetzt, weil er ihn in einen Abgrund der Verzweiflung stößt, ist daher völlig notwendig. —————
Und doch jubelt der in’s Bodenlose Stürzende im gleichen tränenerstickten Atemzug.
Aus letztem Röcheln wird ein neues Lied. Sein Todesseufzer wird zum Jauchzer!
- Ist das Sterben plötzlich also nun doch nicht so schlimm, der Tod doch nicht so endgültig?
O doch!
Je mehr der sterbende König diesseits der Todesgrenzen wieder Luft kriegt, desto schrecklicher zeigt sich ihm das namenlose Grauen, das völlig leere Nichts jenseits der Grenze:
„Die Toten loben dich nicht, und der Tod rühmt dich nicht, und die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Treue!“: so schildert nicht der Hinscheidende, sondern der Verschonte das entsetzliche, vollständige Vakuum, dem er so nahe gekommen war.
Er hat sie im Sterben also genau gespürt: Die farblose, reglose, tonlose, wortlose, gefühl- und gedankenlose, die leblose Welt, die ihn verschlingen wird.
Er hat gespürt, dass dort, wo keine Bewegung und kein Empfinden, kein Berühren, kein Verstehen, kein Lieben, kein Hoffen, kein Beten mehr sein kann, er hat es gespürt, dass dort im Tod das gottlose Reich sein wird.
Denn Gott ist ja Wort und Geist, Gott ist Atem und Leben, Gott ist Schöpfung und Licht und Ruf und Zwiesprache und Hingabe und Umkehr und Gemeinschaft und Bund.
Und darum ist der Tod die letzte Gottferne, ….. die reine Gottlosigkeit.
Darum ist aber auch die Sünde ein Teil des Todes.
Denn hier ist die von uns oft gesuchte und selten verstandene Verbindung von Sünde und Krankheit:
In jeder Krankheit ahnen wir ja nicht nur den Tod, sondern in jeder Krankheit könnten wir auch spüren, was wir sonst nie spüren: Was Sünde ist.
Wenn uns die Luft wegbleibt, dann merken wir, wie das ist: Leben zu müssen, wenn man vom Lebensatem eigentlich abgeschnitten ist.
Wenn wir zittern und schlottern, dann merken wir, wie das ist: Wenn in uns nichts mehr im gesunden Rhythmus, in heilsamer Ordnung geschieht, sondern alles durch- und gegeneinander sich wendet und aufheizt.
Wenn uns die Kontrolle über unsere Glieder entgleitet, wenn Fremdkörper sich in unser Blut stehlen und unsern Stoffwechsel beherrschen, dann merken wir, wie das ist: Nicht mehr in Übereinstimmung mit dem Guten, sondern unter der Macht des Schädlichen zu existieren.
Wenn wir uns an nichts mehr freuen können, auf nichts mehr Appetit haben, wenn uns nichts mehr erreicht, ohne weh zu tun, dann merken wir, wie das ist: Am Schönen vorbei zu leben, das Licht nicht mehr zu ertragen, Segen nicht mehr zu spüren, gar kein Mensch mehr zu sein.
Krankheit kommt also nicht automatisch wegen Sünde.
Sondern Krankheit kommt wie Sünde: So fühlt sich das an – so lähmend, so quälend, so ohnmächtig, so zum Grausen, so zum Erstarren! Schrecklich wie Krankheit ist die Sünde!
Und doch leben wir gerade als Gesunde so oft in diese Richtung:
Weg vom Guten.
Weg vom Heilsamen.
Angeweht von ansteckenden Schäden, die erst winzige Bläschen werfen, dann jucken und reizen sie uns, und wenn wir dem Reiz nicht widerstehen können und alles aufkratzen, dann streut es und jeder Wunsch und jede Handlung und Äußerung wird zur schmerzhaften und ekelhaften Eiterbeuel.
Plötzlich ist alles infiziert von Gier oder Lüge, von Verachtung oder Hochmut.
Das brennt in allen Gliedern. Pfeift in der Lunge und wurmt im Herzen und breitet sich aus. Der Körper kämpft zwar dagegen an und wäre gern wieder Herr im eigenen Haus, aber die Verlockung von noch mehr Macht, Gewinn, Bewunderung, Geilheit ist nicht abzuschütteln.
Darum leben wir als kranke Menschen in einer kranken Welt, die sich selbst in ein Fieber steigert, die sich tödliches Gift in Mengen zuführt, die verfaulen und zerfallen wird, wenn sie weiter so gegen alle Gebote der Vernunft, der Mäßigung und der Menschlichkeit handelt.
— Wer aber soll uns helfen, wer soll uns heilen?
Diese Krankheit ist ja kein Schicksal, sondern Sünde: Wir wollen ja immer mehr so gottlos leben – gegen alles, was uns guttut!
—— Diagnose: „Du wirst sterben!“ ———
Nun aber müssen wir wieder an das Lager Hiskias, des vom Tode genesenen Königs treten.
Wie kam denn der wieder auf die Beine?
– Durch eine unfassbare Radikalkur.
Und der sie bewirkte, war Gott.
Wegen der besonderen Heiligkeit des ihm wohlgefälligen Königs von Juda?
– Nein. Sondern weil Gott noch mehr unter unserer Krankheit und Sünde leidet als wir.
Wir mögen ja immerhin gegen Gott leben wollen, in Leib und Seele schädigender Weise.
Bis zum bitteren, aber unausweichlichen Ende.
Wir also können durchaus gottlos leben und sterben. Aber Gott nicht menschenlos!
Der Fluch der Krankheit und des Todes beraubt IHN in jedem von uns dessen, den ER liebt.
Mit unserer sündhaften Anfällig- und leiblichen Hinfälligkeit, mit unserer Krankheit zum Tode kann Gott sich daher – im Gegensatz zu uns – einfach nicht abfinden.
So zwangsläufig der Tod auch immer ist, so kalt er uns auch läßt: Gott sträubt sich viel stärker dagegen, als jeder noch so kranke Mensch und viel, viel stärker, als der gesunde Sünder.
Doch was Gott dabei tut …. nun, das sind eben keine Kinkerlitzchen, das ist kein schnurriges Spielchen, sondern es ist die ungeheuerliche Umkehr einer unumkehrbaren Ordnung:
Gott wirft die Sünde – also unseren Vernichtungskampf gegen IHN und gegen uns selbst – einfach hinter sich!
Das ist so unerhört und solch ein Widerspruch gegen den Lauf der Dinge, wie das Zeichen der rückwärtsgehenden Sonnenuhr!
Doch solches tut Gott!
Und das wiederum ist so unfassbar wunderbar – dass Gott die unumkehrbare, unwiderrufliche und doch nicht unnatürliche und auch nicht unverdiente Todsicherheit der Todes aufhebt –, das ist so wunderbar und begegnet uns doch in jeder Genesung, in jedem Tag der Gesundheit, in jeder Stunde der Freude, in jedem Wort des Trostes, in jedem Gottesdienst auf Erden, in jedem Sonnenstrahl, den wir sehen, in jedem Vogellied, das wir hören, in allen Menschen, die uns umgeben, in unserer Wanderschaft durch das ganze Erdental, dass wir wahrhaftig singen und spielen wollen, solange wir leben: Weil Gott dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesens ans Licht gebracht hat!
Amen.
14.S.n.Tr., 09.09.2012, 1.Thess.1; 2-10, Stadtkirche, Jonas Marquardt
ה ״ ב
Liebe Gemeinde!
Vielleicht wird eines Tages kein Schlagwort die Kirche so treffen und erledigen wie das Modewort „Spiritualität".
Es klingt zwar immer, als werde damit ein tiefes, unerfülltes Bedürfnis bezeichnet, ein Bedürfnis, das bei uns Christen nicht gestillt wird, weshalb die Menschheit in ihrer Verzweiflung und seelischen Unterernährung in den Fernen Osten wallfahren muss, um an den achtsam und zierlich gedeckten Tafeln des Meditationsbüffets Brosamen Buddhas zu lesen und am ewig fließenden Quell des Yoga die knochentrockene Pilgerflasche mit Labsal zu füllen.
- Und ohne Zweifel haben wir Heilsames vergessen und Erquickendes versanden lassen.
Ohne Zweifel haben wir die tiefen Brunnen der Vergangenheit verschüttet und wagen uns vor lauter Angst nicht mehr in die lebendigen Fluten, die unsere Erstarrung und Ermüdung davonspülen würden, wenn wir wirklich eintauchten in die stille Welt des Gebets, in die Schatzkammern der Gottesgegenwart voll mystischen Schweigens, in die Strömung des geistlichen Jubels, der zuletzt bis ans Ufer der Klarheit und des Friedens führt.
Ohne Zweifel kennen wir das weite Meer der göttlichen Liebe und die selige Versenkung darein oft nur noch vom Hörensagen.
Und dennoch: Die derzeit erregte Spiritualitätswelle, die aus der Esoterik und den selbst-gebrauten Religionen in die Kirche schwappt, ist eher ein Anzeichen des Zuviel, als des Zuwenig. Es ist die Suche nach einer Entspannungsübung, einer Atemtechnik, einer Stress-bewältigung, die sich nur leisten kann, wer vergleichsweise sorglos lebt.
Wer hingegen Angst um die nackte Haut haben muss, wer nicht wissen kann, ob seine Welt morgen noch bestehen oder ob nicht das Unheil alles zerstört haben wird, der fragt nicht nach Glück und Gleichgewicht, sondern nach dem Rettenden. --
Das ist nun gewiss ein feierlicher Satz, und niemand muss sich dafür entschuldigen, dass ihn so erhabene, ernste Regungen nicht häufig packen.
Wir müssten ja lügen, wenn wir einander weismachen wollten, dass wir ständig nach Rettung suchen. Dazu geht‘s uns viel, viel zu gut; dazu ist unser Dasein tatsächlich insgesamt viel zu behütet und gesichert, als dass die Not und der Tod uns ständig auf die großen, letzten Dinge stießen.
Und trotzdem ist es nötig, dass wir uns auch von den ernsten Fragen anfassen, auch in der Sicherheit verunsichern lassen. Denn ein Verein zur gelegentlichen Durchführung von Erholungsstunden sind wir als Gemeinde nun doch nicht, und unser Aushängeschild ist zu harmlos gewählt, wenn man meint, hier träfe sich der „Glaubens-, Liebes-, Hoffnungsclub".
Um aber dieses populäre und bequeme Missverständnis zu beseitigen, dass wir miteinander nur solche Eigenschaften pflegen und trainieren, die der positiven Persönlichkeitsentwicklung dienen, ist der 1.Thessalonicherbrief eine gute Lektion. Denn zunächst wirkt es ja, als führe dieses älteste Zeugnis im Neuen Testament uns in heiterste Verhältnisse der alten Kirche.
Es scheint dort in Thessaloniki alles gut zu sein: So überschäumend dankbar und anhänglich, wie Paulus von seiner zweiten europäischen Gemeindegründung spricht, möchte man fast nichts mehr aus diesem Brief hören und predigen, ..... denn vermutlich hat Tolstoi ja doch Recht, dass die glücklichen Familien zugleich auch die langweiligen sind, weil die spannenden und abwechslungsreichen Romane nur in unglücklichen Familien spielen.
Aus einer Gemeinde wie Thessaloniki ist demnach wohl nur Uninteressantes zu erwarten, weil es dort - anders als etwa in Korinth, in Galatien und Rom - keine uns bekannten Skandale oder Spannungen unter den Getauften gab.
Stattdessen eine entschlossene kleine Gemeinschaft von Jesus-Gläubigen, die zusammenfand und zusammenhielt; die sich mustergültig in gemeinsamer und gegenseitiger Verantwortung erbaute und selbstständig ihr gottesdienstliches Leben, ihre Gebetsfreude, ihr diakonisches Handeln und ihre geistliche Ernsthaftigkeit vertiefte. ---
Gleichwohl aber wäre es ein Irrtum, das Gemeindeleben am Knotenpunkt des mazedonischen Hochlands und des östlichen Mittelmeeres, in dieser zivilisierten und dennoch unspektakulären Stadt des bequemen Durchgangs seinerseits für ein gemütliches und gemütvolles Idyll unter Gleichgesinnten zu halten.
Denn dass dieses Gemeindeleben von Thessaloniki blühte und wegweisend war, dass es so ungetrübt erscheint und auch so blumig empfohlen wird, das täuscht uns - weil wir uns gerne täuschen lassen! - nur über das hinweg, was sich dort wirklich zutrug.
Hübsch unauffällig war das Gemeindeleben von Thessaloniki nämlich wahrlich nicht.
Von den Turbulenzen kurz nach der Gründung haben wir eben in der Schriftlesung gehört: Wie der Gastgeber des Apostels, Jason mitsamt seiner Hausgemeinde unter großem Krawall angeklagt wurden, den ganzen Weltkreis mit der Behauptung zu erregen, nicht etwa der römische Kaiser, sondern Jesus sei der wahre Herrscher (vgl.Apg17,6f).
Und solchen völlig unnötigen politischen Staub wirbelte eine kleine, blutjunge Gemeinde auf, obwohl zu ihr ein Kränzchen der angesehensten Frauen der Stadt (vgl.Apg17,4) gehörte!
Eine reine Selbstfindungsgruppe hätte andere Sorgen, und eine Bewegung, deren Wohlfühl-programm rein spirituelle Erfüllung versprach, hätte solche Anklagen wohl nicht auf sich gezogen.
Was aber hatte der Apostel denn den Thessalonichern gebracht und hinterlassen .... wenn es nicht um die Faszination einer exotischen Geheimlehre für lesehungrige Matronen und auch nicht um die Nabelschau anderweitig frustrierter Sinnsucher ging?
Welche Botschaft und Losung schweißte denn die Neubekehrten so zusammen, dass ihr Beispiel den Paulus so beglückte und ihre Gemeinschaft sich so bewährte? -
Nun, erstaunlicherweise sind die Hauptbegriffe, auf die das Lob des Paulus sich bezieht, eben keine so gemütlichen, so spirituellen Schlagworte wie „Balance", „Mitte" oder „Energie", ja es sind nicht einmal die altbekannten, auf tausend Wandbilder gestickten drei Kardinaltugenden „Glaube, Hoffnung und Liebe", ..... obwohl sie uns hier schon begegnen.
Doch im frühesten christlichen Zeugnis, das überhaupt auf uns gekommen ist - und nichts anderes finden wir im 1.Thessalonicherbrief - in der „Urfassung" also, sind Glaube, Hoff-nung, Liebe, diese drei keine Anleitung zum ehelichen Glücklichsein oder zum jüngferlichen Bravsein, sondern sie kommen verschwitzt, verstaubt und sehnig daher, wie die Parolen eines Arbeitervereins.
Denn - so schreibt Paulus es voller Anerkennung und kameradschaftlicher Solidarität - denn, fortwährend muss er betend und dankend an die „Glaubensmaloche", an die „Schufterei der Liebe" und an das „Ausdauertraining der Hoffnung" denken, das ihn mit den Thessalonichern verbindet.
Diese groben Wendungen sind zwar plakative Wiedergaben dessen, was sonst mit „Werk des Glaubens", Arbeit in der Liebe" und „Geduld in der Hoffnung" übersetzt wird, aber die Sog-wirkung unserer Hörgewohnheiten, die alles nur ins Schöngeistige einebnen, ist so groß, dass uns sonst der wirkliche Sinn entgeht:
Christsein ist kein Hobby. Christsein ist auch kein stilvolles Kulturgut. Christsein ist kein Konversationsgegenstand.
Wer es anfassen will, muss sich auch die Hände für seinen Glauben schmutzig machen.
Wer es ausüben will, sollte nicht meinen, er könne seine Zeit und seinen Aufwand für Gott nach Belieben einteilen und einschränken, wie in der Zierfischhaltung oder beim Golfen.
Wer jedenfalls zu der Gemeinschaft gehören will, die in Thessaloniki so stark, so stur, so standhaft war, der sollte allemal wissen, dass das Christentum in jeder Hinsicht das Gegenteil von Heinrich Heines boshafter Beobachtung der (Düsseldorfer?) Gesellschaft fordert:
„Sie saßen und tranken am Teetisch und sprachen von Liebe viel.
Die Herren, die waren ästhetisch, die Damen von zartem Gefühl."
Das Christentum der ersten christlichen Schrift hat mit feinsinnigen Betrachtungen und dem blasierten Gedankengut moralischer oder auch spiritueller Theorie nichts, gar nichts zu tun!
Viel näher kommt seiner Wahrheit dagegen die berühmte Churchill‘sche Trias von „Blut, Schweiß und Tränen".
Glaube ist Arbeit: An sich - für andere - in der Welt!
Und Liebe ist kein Unterhaltungsspiel, dem man neben Mode, Sport und Kunst auch noch nachgehen kann, sondern eine eisenharte Überwindung des Schweinehunds, ein tagtägliches Speditionsgeschäft, in dem man fremde Lasten schultert und eine muskelkaterfördernde Dehnübung für Herz und Hirn, um Platz für immer mehr fremde, ferne Gegenstände in unserem eigenen Leben und System zu schaffen.
Hoffnung schließlich.
.... Nun, wer die für eine leichte Übung hält, der hat noch nie gehofft, sondern immer nur gekauft. Hoffnung stemmt Zentnergewichte wie ein Atlas. Hoffnung schwimmt quer durch den Atlantik und gönnt sich kein Absaufen. Hoffnung steigt auf's Dach der Welt und taucht in den Rachen der Hölle ohne Sauerstoffflasche. Hoffnung ist breit in den Hüften und bocks-beinig wie ein junges Rindvieh, das nicht nachgeben will, sie wird gedroschen wie ein Esel und heult wie ein Schloßhund an der Kette, ohne je Rast und Ruhe zu geben.
Hoffnung breitet im Rollstuhl noch ihre Flügel aus und reißt ganze Enkelscharen empor aus dem Verderben, ohne dass die's auch nur spürten. Hoffnung kämpft in allen Disziplinen.
Sie stinkt und stöhnt und stolpert, aber sie lässt nicht locker. Man müsste ihre Nerven und Fasern schon einzeln durchtrennen, ehe die Hoffnung ihr Pfand aus der Faust gibt. --
Christentum ist also kein Hobby.
Sondern eine Aufgabe.
Oder, weil wir heute nun einmal auf der Baustelle der Umgangssprache das beste Gerät zur Verständigung finden: Wir haben einen Job zu machen.
Den Job, den die Geschwister in Thessaloniki so beispielhaft überzeugend erledigt haben, dass man durch sie massenhaft draufgestoßen wurde:
Man kann die Welt und das Leben philosophisch abstrakt oder religiös abstrakt oder atheistisch abstrakt oder sonstwie abstrakt als Schauplatz von Ideen betrachten.
Oder man kommt los von den Ideen, man bekehrt sich von diesen toten Götzen und kommt in den Dienst des lebendigen und wahren Gottes.
Das ist gewiss keine bequeme Wahl: Denn wer von uns Heutigen, die wir uns samt und sonders als Halbgötter fühlen, denen die ganze Welt Dienstleistungsopfer schuldet, ..... wer von uns Heutigen wählt schon selber, ohne Not das Dienen?
Aber es bleibt unser Job als Christen! Hinzugehen und Glaubensarbeit, Liebesmüh und Hoffnungshartnäckigkeit an die Welt zu setzen. Bis zum Feierabend, wenn Gottes Sohn, Jesus vom Himmel kommt und mit ihm der Zorn, der mit der faulen alten Welt reinen Tisch und Neuanfang machen wird!
Doch schließlich schlimmer noch: Wer von uns Heutigen, die wir samt und sonders uns abhängig gemacht haben von den Verheißungen eines blitzschnellen Erledigungsapparates, der unser Plappern und Begehren mit Lichtgeschwindigkeit in alle Himmelsrichtungen jagt, ..... wer von uns Heutigen wählt auch noch das Warten?
Das aber ist auch unser Job: Hinzustehen in einer Welt, die die lästigen Tatsachen meint überspringen zu können, weil sie alles in der Virtualität zu finden und zu lösen hofft - wobei Spiritualität und Virtualität zwei Namen des gleichen Phantoms sind - und dieser Welt dann zu zeigen:
„Wir sind keine Drückeberger und keine Waschlappen. Wir können denken, handeln und arbeiten. Und trotzdem wissen wir, was wir nicht können: Wir können nichts retten ..... uns nicht und Euch nicht. Das kann nur Jesus. Dazu kommt er. Darauf warten wir." --
Das ist unser Job - nicht spirituell, sondern ganz prosaisch und ganz fleißig:
Durch Tun und Lassen, durch echte Werke und echtes Warten anders zu sein als diese Welt und sie auf den zu weisen, der wirklich ihr König ist und der wirklich kommt.
Und der wirklich rettet. Amen!
11.n.Trin. 19.08.2012 Galater 2,16-21 Stadtkirche und Jonakirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 19.VIII.2012 - 11.n.Trin.
Galater 2, 16-21
Liebe Gemeinde!
Albrecht Dürer hat mich gekonnt getäuscht.
Wie viele andere evangelische Menschen eines bestimmten Schlages wuchs ich auf mit dem berühmten Vierapostelbild* im Kopf, das trotz aller Erkenntnisse und Einflüsse von Studium und Nachdenken mächtig war und blieb:
So straff, so stramm, so statuarisch steht Paulus da in seinem beherrschenden taubengrauen Gewand mit den gemeißelten Falten auf dem rechten Flügel, so unerschütterlich ist er auf sein Schwert gestützt, so scharf ist sein Adlerblick unter strengen Brauen einer starken Stirn, dass man fast meinen könnte, Dürer habe mit dieser Figur eigentlich eins der gravitätischen Nürnberger Kaiserbildnisse wiederholen wollen:
Paulus, die sturmtrotzende Eiche unter den Zeugen Jesu, Paulus der Eiserne Kanzler der evangelischen Kirche in der Welt.
— Dabei war der dreizehnte Zeuge alles, nur kein Konservativer.
Für traditionalistische Knochen wie mich wäre der leibhaftige Mann aus Tarsus, der so radikal umdenken, neu anfangen und Ernst machen konnte, ein Schrecknis und eine Zumutung gewesen.
Für die anderen, älteren Apostel war er’s auch.
Mit Paulus nämlich kam eine Unbedingtheit, eine Rasanz in die Gemeinschaft der Jesusleute, die wir uns kaum mehr vorstellen können.
Während die Jünger Jesu immerhin eine Zeitlang in seiner Gegenwart hatten wachsen können und als er sie dann auf dem Ölberg verließ vor allem zum Warten und Hoffen entschlossen blieben, in der Gewissheit, dass das Heft des Handelns weiter in des Meisters Hand liege ..... während also die judenchristliche Urgemeinde sich in der Kraft des Vertrauens und der messianischen Vorfreude übte, trieb Paulus gänzlich eigenständig selber die Heilsgeschichte voran.
Im glatten Gegensatz zu unseren Vorurteilen war der Prediger der Rechtfertigung aus Glauben demnach keineswegs etwa passiv, sondern ein draufgängerisch Handelnder, der mit seiner Mission unter den Heiden Tatsachen schuf, während die Gemeinde in Jerusalem und Galiläa viel frömmer und kontemplativer auf die großen Taten Gottes in Christus schaute.
Weit davon entfernt also, dass Paulus wie auf Dürers Bild ein Wächter und Garant der felsenfesten Beständigkeit gewesen wäre, entfesselte er so viel Neues, Kühnes, Wildes, dass seinen Glaubensgenossen wie auf einem ungebremsten Rennwagen angst und bange wurde:
Wohin lenkte dieser Rasende die christliche Gemeinde?
In welche Abgründe würde man geschleudert, gegen welche drohenden Wände geschmettert werden, wenn man so berserkerhaft einfach die Zukunft herbeibog und –brach, die doch reifen musste, bis Gott allein sie verwirklichen konnte:
Juden und Heiden: eins?
Kein biblischer Unterschied mehr, kein Stillehalten und Gott-wirken-Lassen? Völkerversöhnung, Menschheitsfrieden, Reich Gottes ...... jetzt?
Und das alles durch einen selbsternannten freien Prediger? Das alles, weil ein eben noch entschiedener Feind plötzlich – oder vermeintlich – die Seiten gewechselt hatte und nun mit Feuereifer unter Beweis stellen musste, dass er wirklich begriff, welche Stunde mit dem Mann von Golgatha geschlagen und welche Konsequenz man daraus zu ziehen hatte?!
Paulus, der plötzliche Apostel, der spontane Betreiber der sofortigen Weltmission war also die fleischgewordene Überstürzung, nein, der fleischgewordene Umsturz! ——
Um zu ahnen, wie er über Hürden preschte, vor denen die anderen scheuten, weil sie ihnen mit gutem Grund aus eigenen Kräften unüberwindlich schienen, muss man den zentralen Konflikt in Galatien – hinkend, wie alle Vergleiche – in unsere Verhältnisse übersetzen:
Die Galater waren in den Augen der judenchristlichen Urgemeinde, der nächsten Umgebung Jesu buchstäblich blonde Bestien. Nicht allein, dass sie Heiden waren, sondern exotischer, unvorstellbarer noch, ... handelte es sich bei ihnen doch nicht etwa bloß um Griechen oder Römer, sondern tatsächlich um einen Keltenstamm, der auf den anatolischen Höhen siedelte.
Fremder, bedrohlicher ging es nicht.
Doch mit diesen blauäugigen, rothaarigen Barbaren trank Paulus in Jesu Namen Bruderschaft. Er saß mit ihnen zu Tisch, er ließ sie ohne zivilisatorischen Anstrich, ohne Grundanforderungen an ihren Integrationswillen einfach als Kelten gelten.
So wie sie waren, fand er in ihnen Gottes Bild und Seinen guten Willen verwirklicht.
Nicht einmal das veredelnde Winzermesser der Beschneidung sollte diese sommersprossigen Wilden daran erinnern, dass ein Mensch Gottes nicht nur Natur, sondern Kultur und Selbstzucht weiterzugeben hat.
Ihr in Butter geselchter Wildschweinbraten, ihr in Kefir und Dickmilch geschwenktes Lamm sollte nun plötzlich verzehrt werden mit dem Gebet: „Komm Herr Jesus, Rabbi von Nazareth und sei unser Gast und segne uns und was Du uns bescheret hast!“.....???
Solche ungestümen, häretischen Zumutungen der Freiheit machten den ursprünglichen Aposteln Jesu den biblisch eingerichteten Magen grimmen:
Woher nahm dieser Emporkömmling die Gewissheit, sämtliche bisherige Anschauungen seien nunmehr überwunden und die für das Ende verheißene, weltweite Neuordnung müsse nunmehr ausgerufen werden?
Durfte man so unbekümmert drauflos versöhnen und so sorglos drauflos verbinden, was bisher wirklich nicht den geringsten gemeinsamen Nenner gehabt hatte? ——
Es kostete die ersten treuen Begleiter und Schüler Jesu nicht nur Überwindung, es war für etliche von ihnen schlicht unmöglich, sich so ungeschützt auf die unerhörte Behauptung einzulassen, was Gott einst unterbunden hatte, sei nun gefordert, was um Gottes Willen ausgeschlossen gewesen war, sei nun zu glauben und zu üben .......
Kann denn falsch richtig werden?
Kann Sünde zu etwas Geheiligtem erklärt werden?
Darf man so freie Vollmacht beanspruchen, das Unmögliche zum wahren Gottesdienst zu erklären?
.... Ich hatte einen holprigen Vergleich angekündigt, der uns die Gewissensqualen, die geistliche Not und die schlichte Unvereinbarkeit der Überzeugungen ein wenig näher bringt, die das Wirken des Paulus bei seinen zwölf apostolischen Stiefbrüdern im Amt auslösen musste:
Es ist eine Frage, die zur Zeit im freikirchlichen Lager besonders für Aufruhr sorgt, während sie in unserer Landeskirche kaum noch einen Hund hinterm Ofen hervorlockt.
Allerdings – so stelle ich fest – stehe ich offenkundig mehr auf der freikirchlichen, der seelisch nicht so wendigen, der konservativ gehemmten Seite.
Es geht nämlich um die gut gemeinte und sinnvoll zu stellende Frage:
Können und sollen Christen und Muslime miteinander beten oder muss nicht zwischen dem Vater Jesu Christi und dem, den sie „Allah“ nennen, unterschieden werden, und müssen nicht also geschieden bleiben, die Den Einen anrufen, von denen, die den andern meinen? —
Das ist genau die Frage, die durch die frisch von Paulus bekehrte und begründete Gemeinde der keltisch-barbarischen Christen in Galatien in der Urgemeinde zu Jerusalem aufkam.
Kann es möglich sein, dass so weit auseinanderliegende menschliche Sitten und Glaubensüberlieferungen in der Wahrheit überein kommen? Kann irgend ein Mensch ermächtigt sein, sich über die Unsicherheit dabei hinwegzusetzen, über den spürbaren Widerspruch hinwegzugehen, gegen die innere Stimme in beiden Lagern, trotz der Gefahr falschen Beifalls und verstohlenen Triumphs eine Gewissheit zu verkünden, die anderen fehlt? ...........
Ein baptistischer Gemeindeleiter am Niederrhein hat es jüngst getan, hat im Gottesdienst Koransuren verlesen und Christen wie Muslime gemeinsam das „Vaterunser“ beten lassen.
In mir sperrt es sich dagegen.
Ich halte es – trotz meiner wachsenden Überzeugung, dass gläubige Christen mehr Gemeinsames mit gläubigen Muslimen haben dürften, als mit der gleichgültigen Mehrheit unserer materialistischen Zeitgenossen – ich halte es für verkehrt, weil mir der Unterschied zwischen dem Gekreuzigten, der durch Leiden und Liebe mein Heil wurde, und der zackigen Botschaft Mohammeds zu unüberbrückbar erscheint.
Aber damit gehöre ich zweifellos zu den Unbeweglichen, den erschrockenen Verteidigern des Bekenntnisses und nicht zu denen, die darauf vertrauen, dass Gottes Verheißung immer auch Unbekanntes, das noch nicht Bekenntnis werden konnte, weckt und wagen lässt.
Mit diesem Zwiespalt – kann oder muss man aufrichtige Glaubensüberzeugungen wegfegen, um die universale Herrschaft Jesu Christi, um seine Überlegenheit über unsere Kleingeisterei und Ängstlichkeit zu bezeugen? – mit diesem Zwiespalt rühren wir an die berühmte vollmundige Absage des Paulus an das Gesetz und seinen Anspruch, nicht er selbst, sondern Christus, der in ihm lebt, habe diese erschütternde Absage vollzogen. ——
Was ist demnach aber „das Gesetz“?
Es ist Jenes an unseren Glaubenssätzen und Lebensformen, das uns das Liebste und Teuerste ist, es ist das Herzstück unserer Identifikation: Es ist „unser“ Christentum.
Das Gesetz ist alles das, was uns als unser typisch Christliches erscheint; es sind die Züge – meistens auch nur die Einbildungen – , in denen wir uns selbst finden im scharfen Gegensatz zu den anderen; es sind die Erkennungsmerkmale, die uns ein Gefühl des Vertrauten geben, die unter uns Gemeinschaft stiften und denen unsre besonders stolze Loyalität gilt:
Das mögen unsere Feiertage sein oder auch nur ihr volkstümliches, nostalgisches Brauchtum. Es mögen unsre Sonntagssprüche sein, mit denen wir die Moral der Truppe so gern beschwören hören, wohlwissend, dass den blumigen Worten ja doch keine Konsequenzen folgen.
Das Gesetz sind unsere vielzitierten, aber nirgends wirklich benannten christlichen „Werte“ – Werte, die alles, was wir sonst für sinn- und wertvoll halten richten und vernichten würden.
Das Gesetz ist unser heimlicher Dünkel, wonach das Christentum selbst noch in der von uns gepflegten Ermäßigungsform, selbst noch als Floskel eine moralische Überlegenheit über andere verleihe.
Das Gesetz ist also alles das, was wir gut finden, weil es sich und uns gut macht.
Als solches sagt das Gesetz stets laut und überdeutlich forciert: „Siehste wohl: So sind wir!“
Das Gesetz ist die kölsche Laschheit: „Et war doch schon immer so – un’ dat is’ jut!“
Das Gesetz ist die berlinische Dreistigkeit: „Uns kann keener!“
Das Gesetz ist mein Vorbehalt, dass wir die Wahrheit jedenfalls eher gepachtet haben als die anderen ... und wenn nicht so plump, dann wenigstens doch: Dass die Wahrheit eher uns als ihnen zu Lehen gegeben wurde.
Das Gesetz ist also die Frömmigkeit von Jerusalem, die Frömmigkeit derer, die gern besonders nahe bei Gott, Seinem Worte besonders treu, mit Ihm auf’s Tiefste verbunden sind.
Das ist zweifellos auch echte Frömmigkeit .... vielleicht sogar ja meine oder unsere.
Nur einen Makel hat diese Frömmigkeit: Sie weiß eben nämlich, dass sie’s ist.
Und weiß folglich auch, wer es nicht ist, wer’s nicht so ernst meint, wer nicht dazu gehört.
Doch eben das ist dem Paulus hinfällig geworden, als er erfahren musste, dass er selbst – der eingefleischte Feind der Jesusanhänger – in aller seiner Ahnungslosigkeit, nein aller seine Böswilligkeit doch nicht nicht dazugehören konnte!!!
Paulus ist der Zeuge dessen, dass wir selbst nie wissen, nie entscheiden können, wer nun gut und wer genehm und zugehörig ist.
Denn die Berufung des Saulus beweist: Gott entscheidet über uns. Er bestimmt unsern Wert.
Er macht uns – und nicht wir selbst – zu Seinem Volk und zu Schafen Seiner Weide (Ps100,3).
Daher darf man dem Paulus ruhig glauben, dass es ein Sterben war, als seine vermeintliche Gewissheit über die eigene Zugehörigkeit verging, ... und ihm dämmerte, dass man keine eigene und keine fremde Zugehörigkeit behaupten kann, weil es immer nur so zugeht, dass Gott kommt und sagt: „Du! Du gehörst auch dazu!“
— Wie uninteressant wird da alles, was wir über uns selbst denken und meinen mögen.
— Wie unwichtig wird da alles, was wir sonst das „Ich“ nennen: Liegt doch vielmehr einzig daran, dass Jesus zu uns „Du!“ sagt.
Diese Erfahrung des Abschieds vom Verwickelt- und Verpflichtet-Sein im „Ich“, ist die wunderbare Geschichte des Paulus.
Sie ist eine Bekehrung, eine Geschichte von Tod und Auferweckung.
Sie ist aber darüber hinaus – in dem was da geschah, als bei Paulus das „Ich“ ging und Jesus kam – eine Geschichte der Liebe. ——
Ein vergessener und ehrlichgesagt auch ziemlich verbotener Dichter - Rudolf G.Binding - hat die treffendsten Worte dafür gefunden – ohne zu ahnen, dass er damit nichts anderes beschrieb als die Begegnung zwischen Jesus und denen, die zu ihm gehören**:
......
„Ich muß mich fragen:
bin ich noch ich?
An dich muß ich denken,
als sei ich nicht mehr.
Du wirst mich versenken
in deiner Liebe Meer.“
Sollen wir – ergriffen von der radikalen Umkehr und Erneuerung, die Paulus durch die Begegnung mit Jesus widerfuhr – sollen wir also nun unsere popelige Kleinlichkeit angesichts einer so großen Liebe über Bord werfen und mit der schrankenlosen Bereitschaft zur Annahme, die Paulus an den blonden Türken von Galatien übte, mit ihnen allen gemeinsam beten?
......... Ich kann’s immer noch nicht.
Aber vielleicht werden wir’s einst ja können, wenn wir uns von unserem eigenen Fromm- und Sichersein verabschiedet haben.
Wenn auch wir es lernen und leben:
„So lebe nun nicht ich, sondern CHRISTUS lebt in mir!“
Amen.
10.S.n.Tr., 12.08.2012, "Beschneidung – Zeichen des Bundes“ , Stadtkirche + Jonakirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
ein Urteil des Kölner Landgerichtes hat Ende letzten Monats nicht nur kurzfristig Aufsehen erregt, sondern eine Diskussion angestoßen, die uns wahrscheinlich noch Jahre beschäftigen wird; und das ist auch nötig. Ich meine die Beurteilung der rituellen Beschneidung eines Jungen als Körperverletzung und Kindesmisshandlung. Die Reaktionen auf dieses Urteil fielen heftig aus. Die Vertreter der jüdischen und muslimischen Gemeinden sahen die Religionsfreiheit bedroht. Gerade Juden fragen sich besorgt, ob es jüdisches Leben in Deutschland geben kann - 67 Jahre nach dem Holocaust. Und auf der anderen Seite sehen sich Kinderschützer bestärkt, die das Recht auf körperliche Unversehrtheit höher stellen als jeden religiösen Ritus. Interessant: in einem Leserbrief wurde auch gefordert, die Kindertaufe zu untersagen, das wäre „Waterboarding" und ebenfalls eine Misshandlung. Es ist jedenfalls deutlich, dass hier ganz unterschiedliche Interessen zusammenprallen, die gegeneinander aufgewogen werden müssen. Und es ist auch deutlich, dass der Richter, der dieses Urteil sicher ganz nach dem Buchstaben des Gesetzes verkündet hat, keine Ahnung hatte, was er damit auslösen würde. Wahrscheinlich hat er auch keine Ahnung, was die Beschneidung für Juden (und Muslime) bedeutet, welche Rolle sie in diesen Religionen spielt. Und trotzdem - ich finde es gut, dass wir so einen Anstoß haben, um darüber nachzudenken und miteinander - religionsübergreifend - ins Gespräch zu kommen.
Ich möchte die Predigt heute morgen dazu nutzen, Ihnen den biblischen Hintergrund der Beschneidung in Erinnerung zu rufen. Ohne diese Kenntnis kann man nicht ernsthaft eine Meinung zu der Frage „Beschneidung - ja oder nein" entwickeln. Der Ursprungstext dazu ist Gen.17, 1-14.23-25.
„Als nun Abram neunundneunzig Jahre alt war, erschien ihm der Ewige und sprach zu ihm: Ich bin der Gewaltige Gott; wandle vor mir und sei ganz!
Und ich gebe meinen Bund zwischen mich und dich und will dich über alle Maßen mehren.
Da fiel Abram auf sein Angesicht. Und Gott redete weiter mit ihm und sprach:
Ich, siehe, mein Bund ist's mit dir, dass du werdest zum Vater einer Menge von Völkern.
Darum sollst du nicht mehr Abram heißen, sondern Abraham soll dein Name sein; denn zum Vater vieler Völker mache ich dich.
Und ich will aufrichten meinen Bund zwischen mir und dir und deinen Nachkommen von Geschlecht zu Geschlecht, dass es ein ewiger Bund sei, sodass ich dein und deiner Nachkommen Gott bin.
Und ich will dir und deinem Geschlecht nach dir das Land geben, darin du ein Fremdling bist, das ganze Land Kanaan, zu ewigem Besitz und will ihr Gott sein.
Und Gott sprach zu Abraham: So haltet nun meinen Bund, du und deine Nachkommen von Geschlecht zu Geschlecht.
Das aber ist mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Geschlecht nach dir: Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden;
eure Vorhaut sollt ihr beschneiden. Das soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch.
Mit acht Tagen soll alles Männliche unter euch beschnitten werden - eure Nachkommen und auch alles, was an Gesinde im Hause geboren oder was gekauft ist von irgendwelchen Fremden, die nicht aus eurem Geschlecht sind.
Und so soll mein Bund an eurem Fleisch zu einem ewigen Bund werden.
Wenn aber ein Männlicher nicht beschnitten wird an seiner Vorhaut, wird er ausgerottet werden aus seinem Volk, weil er meinen Bund gebrochen hat......
Da nahm Abraham seinen Sohn Ismael und alle Knechte, die im Hause geboren, und alle, die gekauft waren, und alles, was männlich war in seinem Hause, und beschnitt ihre Vorhaut an eben diesem Tage, wie ihm Gott gesagt hatte.
Und Abraham war neunundneunzig Jahre alt, als er seine Vorhaut beschnitt.
Ismael aber, sein Sohn, war dreizehn Jahre alt, als seine Vorhaut beschnitten wurde."
Der Ritus der männlichen Beschneidung, liebe Gemeinde, ist gewiss keine jüdische Erfindung. Es handelt sich vielmehr um einen sehr alten Brauch, der von sehr vielen Völkern oder Stämmen ausgeübt wurde. Entstanden ist er wohl in der Zeit, als die Menschen sesshaft zu werden begannen. Als sie nicht mehr als Sammler und Jäger unterwegs waren, die von dem lebten, was die Natur ihnen „schenkte", sondern als Vieh- und Ackerbauern das Land besiedelten und bearbeiteten. Alles hing für sie an der Fruchtbarkeit: sie lebten von dem, was sie der Erde und ihren Tieren abgewinnen konnten. Die Beschneidung war ursprünglich ein Fruchtbarkeitsritus, ein „Opfer", das der - wahrscheinlich erwachsene, zeugungsfähige - Mann bringt, damit auch die Sippe sich vermehre. In unserem Text ist von Vermehrung und Fruchtbarkeit ja auch noch die Rede. Aber eben nicht nur. Sondern im Judentum kommt etwas Neues hinzu: da wird aus der Beschneidung das begründende Zeichen eines Bundes zwischen Gott und Mensch. Und zwar stiftet Gott diesen Bund, er ist der Handelnde. Deshalb soll der kleine Junge beschnitten werden und nicht der erwachsenen Mann - als Zeichen eben, dass Gott an ihm handelt, nicht dass der Mensch von sich aus etwas tut. Auch der achte Tag hat eine symbolische Bedeutung: es ist der erste Tag der zweiten Woche. In der ersten Woche hat Gott die Welt ins Leben gerufen, nun ruft er die Menschen in seine Nähe: „Wandle vor mir und sei ganz!" Lebe dein Leben in der Beziehung zu mir, dem lebendigen Gott.
Der Bund mit seinem Gott ist für den Juden gleichbedeutend mit der Schöpfung. „Wandle vor mir und sei ganz" korrespondiert mit dem Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren.
Die Zusage des Segens Gottes ist verknüpft mit einer Aufforderung an die Menschen des Bundes, sich so zu verhalten, dass sie mit ihrem Verhalten Gott und seinem Willen entsprechen.
Das wird unterstrichen in dem Abschnitt aus dem 5.Buch Mose Kapitel 10,10-22:
Mose erzählt: Der Ewige sprach zu mir: Mach dich auf, geh hin und zieh vor dem Volk her, damit sie hineinkommen und das Land einnehmen, das ich ihnen geben will, wie ich ihren Vätern geschworen habe.
Nun, Israel, was fordert der Ewige, dein Gott, noch von dir, als dass du deinen Gott fürchtest, dass du in allen seinen Wegen wandelst und ihn liebst und deinem Gott dienst von ganzem Herzen und von ganzer Seele, dass du die Gebote des Ewigen hältst und seine Rechte, die ich dir heute gebiete, auf dass dir's wohlgehe?
Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel und die Erde und alles, was darinnen ist, das ist des Ewigen, deines Gottes.
Und doch hat er nur deine Väter angenommen, dass er sie liebte, und hat ihre Nachkommen, nämlich euch, erwählt aus allen Völkern, so wie es heute ist.
So beschneidet nun eure Herzen und seid hinfort nicht halsstarrig.
Denn der Ewige, euer Gott, ist der Gott aller Götter und der Herr über alle Herren, der große Gott, der Mächtige und der Schreckliche, der die Person nicht ansieht und kein Geschenk nimmt und schafft Recht den Waisen und Witwen und hat die Fremdlinge lieb, dass er ihnen Speise und Kleider gibt.
Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.
Den Ewigen, deinen Gott, sollst du fürchten, ihm sollst du dienen, ihm sollst du anhangen.
Er ist dein Ruhm und dein Gott."
„So beschneidet nun eure Herzen" - das Zeichen der Beschneidung hat hier eine neue, eine tiefere Dimension erreicht. Der Bund mit Gott soll Herzensangelegenheit sein und keine formale Sache. Am Leben des Einzelnen, an seinem Verhalten gerade gegenüber den Schwachen zeigt sich, ob er mit Gott im Bunde ist, nicht an seinem Leib. Ähnlich sah es auch der Prophet Jeremia, der angesichts aller sozialen Verwerfungen in Israel seine Landsleute auffordert: „So spricht der Ewige: Beschneidet euch für den Ewigen und tut weg die Vorhaut eures Herzens, ihr Männer von Juda und ihr Leute von Jerusalem, auf dass nicht um eurer Bosheit willen mein Grimm ausfahre wie Feuer und brenne, so dass niemand löschen kann." (Jer.4,4)
Daran knüpfte dann der Jude und Apostel Paulus an in den Auseinandersetzungen mit der judenchristlichen Jerusalemer Gemeinde hinsichtlich der Frage, ob nicht alle, die zur Gemeinde Jesu gehören wollten, vorher beschnitten werden müssten. Im Brief an die Korinther schreibt er: „Beschnitten sein ist nichts, und unbeschnitten sein ist nichts, sondern: Gottes Gebote halten." (1.Kor.7,19) Und im Brief an die Römer heißt es: „Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, auch ist nicht das die Beschneidung, die äußerlich am Fleisch geschieht; sondern der ist ein Jude, der es inwendig verborgen ist, und das ist die Beschneidung des Herzens, die im Geist und nicht im Buchstaben geschieht." (Rö.2,28f)
Ganz deutlich ist hier eine Entwicklung im Verständnis zu erkennen: die Beschneidung als geistiger Akt, als spirituelle Erfahrung. Für uns Christen ist das ohne Probleme so zu verstehen. Der Geist ist alle Male mehr wert als der Buchstabe, mehr wert als das Fleisch, als der Leib.
Für einen Juden ist das einfach anders. Und dazu muss man die Bedeutung der Beschneidung in der jüdischen Geschichte kennen. Ob sie wirklich uneingeschränkt praktiziert wurde, solange Israel in Kanaan ansässig war bis zur Eroberung Jerusalems durch die Babylonier, ist nicht eindeutig zu klären. Sie war möglicherweise ein Brauch, dem der Ernst abhandengekommen war - vielleicht so wie es heute für viele die Kindertaufe ist. Aber im babylonischen Exil, fern von der Heimat, ohne Möglichkeit, sich im Tempel zum Gottesdienst zu versammeln und zu opfern, wurde sie zu dem Zeichen jüdischer Existenz überhaupt. Jude war, wer beschnitten war. Sie hielt die Gemeinschaft zusammen - und die anderen draußen. Daran änderte sich auch nichts, als Israel aus dem Exil zurückkehrte und den Tempel wieder aufbaute. Eine dramatische Bedeutungssteigerung erfuhr sie dann im 2.Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, als Palästina von den Nachfolgern Alexanders des Großen beherrscht wurde. Der seleukidische König Antiochus IV. verbot nicht nur den jüdischen Gottesdienst und ließ heidnische Opfer im Jerusalemer Tempel bringen; er verbot auch bei Todesstrafe die Beschneidung. Sie war für ihn eine reine Verstümmelung. Damit löste er den erbitterten Widerstand der jüdischen Bevölkerung aus, der in den sog. Makkabäeraufstand mündete. Viele Eltern zahlten mit dem Leben dafür, dass sie ihre Söhne trotz Verbotes beschneiden ließen. Bis heute erinnern sich alle Juden an diese Märtyrer. Ähnlich ging es auch den Juden in Portugal und Spanien nach der Reconquista im 15.Jahrhundert, als die Juden wählen mussten zwischen Taufe oder Tod. Viele versuchten, im Verborgenen ihr Judentum zu leben; aber wehe denen, bei denen eine Beschneidung festgestellt wurde. Sie landeten alle auf dem Scheiterhaufen der Inquisition. So wurde das eigentlich „nur" äußerliche Zeichen zu dem Treuezeichen des jüdischen Glaubens. Nicht zuletzt „Dank" der christlichen Kirche.
Gerade wir Christen dürfen das alles nicht vergessen, wenn wir uns jetzt darüber auslassen, wie die Beschneidung zu bewerten und wie mit ihr umzugehen ist. Sie einfach als Kindesmisshandlung und Körperverletzung zu betrachten, steht uns nicht an. Es wäre fatal, wenn jüdische oder muslimische Eltern irgendwelche Beschneider aufsuchen und ihre Kinder einem hohen gesundheitlichen Risiko aussetzen würden, nur weil sie keinen Arzt und keine Klinik mehr finden, die diesen Eingriff vornehmen; drohen diesen doch strafrechtliche Konsequenzen. Und es wäre schrecklich, wenn unsere rechtstaatliche Ordnung unter dem Gesichtspunkt des Rechtes auf körperliche Unversehrtheit im Endeffekt das Ziel des nationalsozialistischen Rassenwahnes, die Auslöschung des Judentums aus unserer Gesellschaft, „vollenden" würde.
Aber weil ja in der Thora selbst schon der Schritt angelegt ist, die äußere Beschneidung in die Beschneidung des Herzens, also in einen inneren Vorgang weiterzuentwickeln, sollten wir Juden und Muslime einladen, über ihre Rituale neu nachzudenken. So werden gerade auch diejenigen unter ihnen ermutigt, die der realen Beschneidung längst kritisch gegenüberstehen und ihre Söhne nur deshalb beschneiden lassen, weil sie Angst haben, sonst von der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Ähnlich ist es ja vielen christlichen Eltern vor 40, 50 Jahren gegangen, die ihre Kinder eigentlich nicht taufen lassen wollten, weil für sie die Taufe ein eigenes Bekenntnis der Kinder zum christlichen Glauben voraussetzte, es aber dann getan haben, damit die Kinder keine Nachteile hatten. Dass auch unsere Praxis der Kindertaufe immer wieder hinterfragt werden muss, sollte uns dabei klar sein, auch wenn sie sicher nicht eine Art „Waterboarding" ist und damit keine Körperverletzung oder Kindesmisshandlung darstellt.
Ich hoffe jedenfalls sehr, dass unsere Gesellschaft in der Lage sein wird, Juden und Muslimen unter uns Raum für ihren Glauben zu geben und mit ihnen dafür zu sorgen, dass Humanität und Menschenfreundlichkeit sich weiterentwickeln.
Amen.
9.n.Trin. 05.08.2012 Ruth 4 Stadtkirche + Jonakirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 5.VIII.2012
Ruth 4
Liebe Gemeinde!
Wofür wurde Ruth gerettet? ——
Ein von unsern Kindern sehr gefeiertes israelisches Kinderbuch* beginnt mit der
mysteriösen Ablieferung eines Paktes auf offener Strasse. Der Postbote drückt es dem behäbigen Herrn Summ, der nichtsahnend auf dem Weg in sein verschlafenes Büro ist, mit allem Nachdruck in die Hand und versichert, es sei tatsächlich für den bequemen kleinen Verwaltungsonkel bestimmt, der sich nicht träumen ließe, wie er demnächst ein Pinguinei auszubrüten und am Südpol abzuliefern haben wird. „Warum ausgerechnet für mich?“, fragt der phlegmatische Herr Summ. - „Weil jeder noch für jemand anderen sorgen muss, nicht nur für sich selbst.“ —
Wofür wurde Ruth gerettet?
Wer sie in den vergangenen drei Wochen auf ihrem Weg durch so viel Leid und Ungewissheit begleitet und dabei vielleicht sogar liebgewonnen hat, würde Ruth eigentlich den Lohn ihrer Courage und ihres Gottvertrauens wünschen, ..... so wie wir uns solche Dinge denken.
Es dürfte halt ein zünftig glückliches Ende sein, ein echtes Idyll: Heirat, Hausstand, Soll-und-Habensseligkeit, siebenfache Großmutterfreuden, ... „der Uhu, der Uhu, der macht die Fensterläden zu. Fiderallala, Fiderallala ..... “ ——
Doch Gottes Idyllen sind nicht unsere Idyllen!
Wäre von Ruth nur zu berichten gewesen, wie sie am Ende ihre Seele gerettet und ihren Frieden gefunden hat, dann wäre sie eben doch nur die Heldin eines besseren Mädchenbuchs, das davon erzählt, wie das geht: Privatglück und persönlichen Segen zu erlangen.
Aber Privatgeschichten kommen in Gottes Wort nicht vor, sondern immer wieder nur die für alle Individualisten und Liberalen und Republikaner und Emanzipierten und Philosophen scheußliche Botschaft: „Keiner kann allein Segen sich bewahren.“ (vgl. EG 170,2)
Was immer einer von uns an groben Schnitzern oder heimlichen Wohltaten begeht, was immer jemand an selbstvergessener Mitmenschlichkeit oder an selbstgefälligem Zynismus aufbringt, das ist ein Steinchen in jener Dominoreihe, die die Bewegung der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes durch die Zeiten weiterleiten soll. Wer nicht von dieser Bewegung erfasst wird, wer sie nicht weitergibt, steht schließlich einsam da: Dem Anschein nach aufrecht auf seinem Fleck, in Wahrheit aber nur ein toter, unnützer Stein.
Darum also läuft im Büchlein Ruth die Geschichte nicht einfach in den Hafen der Ehe ein, weil Gott Ehen ebenso wenig wie irgendeine andere Ordnung nicht um ihrer selbst willen, sondern für den Zusammenhang stiftet.
Und dieses Lenken im Zusammenhang wird an Ruths Beispiel schon beinah mühsam vor Augen geführt:
Gerade als man meint, nach jener vertrauten Nacht auf der Tenne müssten Mann und Frau nun schnurstracks die Flitterwochen blühen, tritt das Privatrecht dazwischen.
Denn Ruth ist durch ihre vorige Ehe ja so etwas wie ein lebendiges Erbstück, auf das der rechtmäßige Erbe Anspruch hätte. Er ist der „Löser“, der das „auslösen“ könnte, was sein verstorbener Vetter Machlon hinterlassen hat.
Und den Acker könnte er ja wohl gebrauchen: Nur die menschliche Seite des gewinnbringenden Erbgeschäftes, die Verwicklung, dass hinter den Gegenständen menschliche Geschicke, unabgegoltene Hoffnungen, noch unerfüllte Erwartungen stehen – die ist dem Löser lästig.
Der also das tote Kapital genommen hätte, schlägt die lebendige Verantwortung für den anderen Menschen aus. Er traut sich die Fremde mit dem Herzen voller Gottesunruhe und den Händen voller Gottesrecht nicht zu: „Die würde mein Erbteil schädigen“.
Statt der Trauung folgt also die Abtretung: Weil der Mensch den Gewinn mindert!
Das ist eine Schande, die in Israel öffentlich gemacht wurde.
Wer seiner Pflicht an den Unglücklichen – in diesem Fall: der Verwitweten – nicht nachkommen wollte, dem sollte seine Schwägerin den Schuh ausziehen, ihm ins Gesicht spucken und sprechen:
„»So soll man tun einem jeden Mann, der seines Bruders Haus nicht bauen will«. Und sein Name soll in Israel heißen »des Barfüßers Haus«.“ (5.Mose25,9f) ——
Doch die Weigerung des einen, zusammen mit dem eigenen Reibach auch fremde Lasten auf sich nehmen, führt zur Tat des anderen: Boas baut des Bruders Haus .
Er übernimmt etwas für uns Undenkbares: Eine Heirat in fremdem Namen. Eine Vaterschaft, die rechtlich nicht seinen Stammhalter, sondern Nachkommen eines Toten hervorbringen soll. Mehr als durch diese ganz praktische Form der Stellvertretung kann der Mannesstolz eigentlich nicht düpiert werden.
„Wie Pfeile in der Hand eines Starken, so sind die Söhne der Jugendzeit. Wohl dem, der seinen Köcher mit ihnen gefüllt hat!“ heißt es im Psalm (127,4f).
Boas aber verzichtet durch seine auf Liebe und Stellvertretung begründete Ehe auf diese maskuline Form der Selbstbestätigung.
Er selbst wird seiner Ruth dadurch ähnlicher. ——
Denn – nun kommen wir zum eigentlich springenden Punkt des ganzen Buches – :Was wird denn aus Ruth, der Heimkehrerin zu Gott, die ihr Heil gefunden hat?
– Hören wir jetzt wie selig sie sich preisen kann, dass an ihr alles wahr geworden ist, dass sie die Bestätigung ihrer kühnen Träume und die schöne Frucht ihres Vertrauens erlebt?
– Singt sie wie die vielleicht doch ein wenig unreif übermütige Maria: „Siehe, von nun an werden mich selig preisen Kindeskinder“? (Lk1,48)
Nein: Nach ihren dem Menschheitsgedächtnis eingemeißelten Worten der Entschlossenheit „Wo du auch hingehst: .... dein Gott ist mein Gott!“, nach ihrer anrührenden Bereitschaft, den Lebensunterhalt für ihre Schwiegermutter und für sich selbst genügsam zusammenzulesen, nach dem eindrucksvollen Vertrauen, mit dem sie sich auf den Weg zum anderen Menschen machte – nach diesen Glaubens-, Hoffnungs- und Liebesstationen, werden wir nicht zu Zeugen eines großen Denkmals, das Ruth sich selber setzte oder eines feierlichen Vermächtnisses aus ihrem Mund:
Von Ruth wird gegen Ende immer weniger gesagt, von der Gemeinschaft dafür immer mehr.
Der Höhepunkt und das Ziel ihres Lebensabenteuers ist eben keine persönliche Erbauung gewesen, sondern – mit Worten, die in Kaiserswerth ihrerseits zum Grund- und zum Schlußstein geworden sind – Ruths Lebensabenteuer gipfelt darin, dass ein anderer wachsen kann (vgl.Joh3,30).
Die Heimat, die Ruth erreichte, ist also nicht die feste Burg, in der die Gänsemagd zuletzt zur Kronprinzessin wird, sondern wo sie endgültig nach Hause fand, ist eine Baustelle: Da wird die Zukunft errichtet; da baut Gott mit der Gemeinde sein Reich.
Und so wird Ruth von den Zeugen unter dem Tor – rechtskräftig in aller Form! – eingereiht und eingemeindet in die Gilde der Baumütter Israels:
Rahel und Lea, deren Liebe und Leid das Fundament des auserwählten Volkes bilden sollten, sind der Maßstab des Segens, der über und mit Ruth in die Gemeinde kommt:
Keine idealen Hausmütterchengestalten der heilen Welt, dafür aber mit allen glühenden Gefühlen, allen Enttäuschungen, Schmerzen und Zartheiten, mit allem Menschlichen zwei Leben, die beitrugen zu Gottes neuer Welt!
Und Thamar, deren Name als Architektin des Hauses Juda genannt wird:
Auch sie ist eine Gestalt, auf deren Schultern die Zukunft ruhte, die immer in Gefahr ist und schließlich trotz Pfusch und Fehlern doch nach Gottes geheimem Plan erbaut und fest wird.
Thamar hat mehr noch als Ruth nur verhüllt, nur unter einer Maske die Erfüllung der Verheißung Gottes erlebt: Mit einer entsetzlichen List, als Hure verkleidet musste sie dem eigenen Schwiegervater das kommende Leben abtrotzen, das durch den Tod ihrer beiden Ehemänner beinahe im Keim erstickt worden wäre (vgl.1.Mose38).
Gerade an Thamars und Judas verworrener Elternschaft über Perez sehen wir, dass die sprichwörtliche Sünde Onans - ihres zweiten Gatten -, die schließlich der Anlass zu Thamars fragwürdig sündiger und von Gott dennoch gerechtfertigter Verführung des Schwiegervaters war, ein trüber Schatten über dem ganzen Menschengeschlecht ist:
Dabei ist die „Onanie“ aber nicht, was die Sexualmoral des 19.Jhdts. aus ihr machte – eine fleischliche Lust – , sondern im Gegenteil: Sie ist eine geistliche Unlust.
Ihr wahrer Name ist: „Zukunftsangst“, Zweifel an einem Sinn jenseits des Augenblicks.
Oder auf deutsch gesagt: Der Fluch der Selbst-Befriedigung, die ein so ausgeprägtes Kennzeichen unserer Zeit ist, ist das ungläubige Misstrauen, dass es sich lohnen könne, etwas für einen anderen zu tun und dass man folglich nur an sich selbst und hier und jetzt zu denken habe.
Das ganze Buch Ruth ist eine heilige Gegenaussage:
Traue Dem, Der uns Zukunft schenkt und baue durch dein ganzes Leben, durch Glaube, Hoffnung und Liebe mit an Seiner Zukunft.
Ruth – die uns zunächst als Erntehelferin begegnet – hält uns zuletzt und in Wahrheit also die Botschaft vor Augen: Unser Weg auf Erden, unsere Bestimmung und unsere Zugehörigkeit zu Gott machen uns zu Saat auf Hoffnung! ——
Darum ist es richtig, dass wir am Ende keine Einzelstimme mehr in Ruths Geschichte vernehmen, sondern einen großen, ergreifenden Chor: Die Zeugen, die sie segnen als eine, die nicht sich selbst an Gott, sondern die andere für IHN erbaut.
Und dann ist da der weibliche Chor der Nachbarinnen, die nicht Ruth, sondern Gott preisen und die den Sohn, den sie gebiert, seiner Großmutter Noomi übergeben. —
So wie Boas für einen anderen geheiratet hat, ist Ruth also für eine andere – für ihre Schwiegermutter – schwanger geworden! ........... ——
Da sträubt sich nun allerdings alles in uns, so wie mir als fünfjährigem Kind die Haare zu Berge standen und Albträume die Nächte zerstörten, nachdem mein Vater aus Israel zurückkam und von dem galiläischen Kibbutz berichtete, den er besucht hatte, in dem damals noch die strenge Form des Kollektivismus geübt wurde, bei der die Kinder in den Kinderhäusern aufwuchsen und nicht etwa bei ihren Eltern.
So wenig privates Glück, so harte Forderungen des gemeinschaftlichen Lebens: Das erschien mir wie eine furchtbare Bedrohung der geborgenen Kindheit, die ich genoss.
Doch die Botschaft, die unter Ruths und Rahels und Leas und Thamars Namen durch die Zeiten dringt und in die Gemeinde hinausgeht, ist ja nicht: Du darfst nichts für dich haben.
Sondern sie lautet: Wenn du zu Gott gehörst, wirst du mit allem, was du für dich hast, zugleich für andere da sein!
Du kannst gar nicht Kind oder Tochter, du kannst gar nicht Schwägerin oder Witwe, du kannst gar nicht Nachbarin oder Mutter sein, du kannst gar nicht gläubig, du kannst gar nicht fröhlich, du kannst gar nicht selig werden, ohne dass es auch über dich und dein Leben hinaus etwas bedeutet.
Denn Du stehst vor Gott nie allein, sondern immer in einem Zusammenhang.
Das sagt der sprechende Name „Ruths“ den Kundigen sofort:
Bedeutet ihr Name doch schlicht „Freundin, Genossin, Gefährtin.“
So lieb wir sie gewonnen haben mögen in diesen vier Wochen: Ruth ist doch nicht an sich unsere Heldin, weil sie so herzbewegend sprechen, so eifrig schaffen, so treuherzig schauen kann, sondern weil Gott ihr die Gnade der Einbindung gewährte.
Er ließ sie ja nicht nach Israel ziehen und auf die nächtliche Tenne gehen und ins Wochenbett sich legen, damit sie am Ende dadurch für ihre guten Eigenschaften belohnt würde.
Denn das war doch – wie immer – die falsche Frage: Wofür ihr dies alles widerfahren sei?
Die Antwort verrät uns ja viel mehr, wenn sie uns sagt, wozu Ruth gerettet wurde.
Ruth wurde für andere gerettet.
Um fortzusetzen, um weiterzugeben, um in Freundschaftsdienst und Liebesleben, um mit Nabelschnur und Muttermilch die Heilsgeschichte Gottes in der Menschheit zu erweitern und zu vertiefen.
Ruth wurde also für uns gerettet:
Zunächst um uns an ihrem eigenen Beispiel zu zeigen, dass Glaube tatsächlich nicht dazu führt und darin mündet, dass wir uns selber oder unsere Verwirklichung oder unseren Seelenfrieden, unser inneres Gleichgewicht, unsere entspannte Ruhe finden.
Glaube führt nämlich zu Gott und vor Seinen Willen, in Seine Gemeinde, zu Seinem Reich – damit freilich auch oft genug weg von unseren Zielen, Vorhaben und Sorgen.
Demnach ist Glaube aber kein Ziel an sich, sondern er will in uns etwas erwecken, so wie in Ruth. Ruth schenkte ja einem Kind das Leben, das die verständigen Nachbarinnen sinnigerweise „Obed“ nannten: Das heißt „Knecht!“ —
Ja, Glaube führt in den Dienst, weil die für jemand anderen sorgen können, die wissen, dass für sie gesorgt ist!
Und das zeigt Ruths kleines Leben, aus dessen Folgen etwas unendlich Großes entstand, ja zur Genüge: Es lohnt sich immer zu leben, zu handeln und zu hoffen im Dienst der welt-weiten, allmächtigen und unaufhaltsamen Zukunft Gottes mit der Menschheit. ——
Was Johann Peter Hebel in unnachahmlich unaufgeregt-oberdeutscher Verkürzung als Zusammenfassung dieses ganzen Schicksals schreibt**, ist in Wirklichkeit die Zusammenfassung aller unserer Schicksale und das Wort, das alle Zukunftszweifel einer nur noch sich selbst dienenden Generation und Kultur besiegt:
„Daraus wird noch etwas!“
– Hörst Du das? Aus Deinem Leben wird noch etwas.
Aus dieser Welt und ihrer Trübsal wird noch etwas.
Aus dem kleinen Augenblick, den wir totschlagen, aus dem kleinen Dienst, den wir leisten können: Da wird noch etwas.
Aus allem, allem wird noch etwas.
Weil Ruths Leben, ihre Sehnsucht, ihr Hunger, ihre Liebe, ihr Dienst einem Nachkommen den Weg bereitet haben, der aus dem Geschlecht dieser fremden, freien, frommen Frau kam.
Der heißt Jesus Christus.
Mit dem wird aus allem etwas.
„Gelobt sei der HERR, der uns zu dieser Zeit einen Löser nicht versagt hat!“
Amen.
8.n.Trin. 29.VII.2012 Ruth 3 Stadtkirche + Jonakirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 29.VII.2012
Ruth 3
Liebe Gemeinde!
Biblische Bettgeschichten sind zweierlei nie: Weder romantisch noch pornographisch.
Damit bleibt nach gegenwärtigen Maßstäben nicht mehr allzu viel übrig auf dem Felde des Geschlechterverhältnisses und der geschlechtlichen Verhältnisse.
Doch allein das ist eine mehr als beachtenswerte Tatsache, dass die Bibel ohne jeden – sei’s sentimentalen, sei’s triebhaften – Kitzel über die seelische und leibliche Liebe spricht.
Liebe ist schlicht Macht und Notwendigkeit.
Sie geschieht und sie muss geschehen und bedarf weder der Verklärung noch der Verführung:
Geliebt muss werden! Das ist eine natürliche Tatsache und ein geistlich-moralischer Befehl.
Und doch wollen die allermeisten Menschen die Liebe und wie sie sein muss ebenso wenig kennenlernen wie die Sehnsucht und den Hunger, jene beiden anderen elementaren Bewegungen, die aus Ruths Geschichte sprechen.
Denn alle drei Regungen – Sehnsucht, Hunger, Liebe – sind von dem verzerrt worden, was nach dem Sündenfall eintrat: von der Scham (vgl.1.Mose37).
Wer immer ein Verlangen spürt – ob das Heimweh des Glaubens, die brennende Leere, die sich nach Gott verzehrt, oder das Bedürfnis, sein Ich an eine große Gegenseitigkeit hinzugeben – wer immer also unter die Suchenden, Hungrigen, Liebenden gehört, dem scheint das in unserer Welt peinlich sein zu müssen.
Darin allerdings ist Ruth von Anfang an ein Gegenbild unserer gewöhnlichen Schamgefühle:
Wer sich so auf das Abenteuer der Heimkehr zu einem fremden Gott, wer sich so auf das Risiko der Hilfsbedürftigkeit und das Unvorhersehbare des Leseeifers einlässt, der hat keinen falschen Stolz, der spielt das tragikomische Schauspiel der unangefochtenen Überlegenheit nicht mit.
Insofern ist es nur folgerichtig, dass Ruth, nachdem sie sich aus den Konventionen von Volk und Klasse – der nationalen und der sozialen Sicherheit – gelöst hat und in die Fremde und Armut gegangen ist, nun auch die Regeln des Anstands, des guten Rufes hinter sich lässt. —
Dabei ist die für unser geschlechtlich so nervös gewordenes Empfinden anstößige Fügsamkeit, mit der eine junge Frau sich putzen, schmücken und anbieten lässt, für die ursprünglichen Hörer noch der sozusagen gewöhnlichste Zug dieser Geschichte.
Für einen in der Bibel heimischen Menschen waren dagegen die Begebenheiten auf dem Acker des Boas viel stärkerer Tobak, denn die Ereignisse dort spielen so überdeutlich auf die ältesten und ehrwürdigsten in Israel überlieferten Liebesgeschichten an, dass man die Ähnlichkeit nicht verfehlen kann: Jemand wird in die Fremde verschlagen, trifft dort auf schöne Unbekannte, von denen er zu trinken empfängt und lernt durch diesen Dienst der Mägde oder Töchter deren Gebieter kennen, in dessen Haus bald drauf eine Hochzeit gefeiert wird*.
Genau so verlief die Brautwerbung bei Isaak und Jakob (vgl.1.Mose2410ff // 291ff).
Nicht anders nun in Bethlehem:
Nur dass es hier die spätere Braut ist, die zunächst die Knechte auf dem Felde anspricht und dann eingeladen wird, zu trinken von dem, was diese schöpfen.
So ist also bereits in dem idyllischen Sittengemälde der Ernte des Flüchtlingsmädchens auf dem Acker des reichen Mannes mit seiner Verlobungssymbolik alles auf den Kopf gestellt:
Sie findet ihn, nicht er sie. —
Man soll also stutzen: Ruth ist von der Suche nach dem gelobten Land bis zur Suche nach dem geliebten Menschen offensichtlich eine gültige weibliche Parallele zu den Erzvätern.
Darum ist es aber wohl auch erlaubt, sie ähnlich wie Abraham, den Vater aller Glaubenden (vgl.Rö411) als Mutter der Glaubenden zu sehen und ihren Weg geistlich zu deuten. ——
Doch was heißt das angesichts jener pikanten Nacht von Bethlehem, in der die Schwiegermutter wie eine Kupplerin, die junge Frau wie eine Dirne und der Mann als der Gegenstand einer erotischen Intrigen erscheint? Wie können wir diesen ersten biblischen Bericht aus einem Stall zu Bethlehem auf uns selbst anwenden? — Nur mutig und ohne Scheu!
Sagt er doch zunächst, dass Gottes Weg durch Hecken und Sumpf, manchmal hinterm Blau- und bisweilen auch im Rotlicht verläuft, durch Obskures und Klares führt und oft genug an Orte und in Lagen, wo wir uns von selbst nie finden wollen würden.
Aber eins ist gewiss: Was die Öffentlichkeit darüber zu sagen weiß, in welchem Zwielicht oder welchem Scheinwerferstrahl den Menschen erscheint, was wir mit Gott oder für Ihn tun, das ist schnuppe!
Denn wenn die Mädchen von der Heilsarmee in die Kneipe oder den Puff gehen, dann gehen sie in Wirklichkeit in die Kirche. Und sie wissen, dass gerade unter solchen zweideutigen und heiklen Umständen die Seligpreisung gilt: „Selig seid ihr, .... so euch die Menschen schelten und verwerfen euren Namen als einen bösen“ (Lk622).
Aber – so wäre durchaus einzuwenden – aber Ruth geht ja nicht als Blaustrumpf in’s Bordell, um das Treiben dort zu unterbrechen, sondern jedes Ohr, das hören, jedes Auge, das vieldeutig zwinkern kann, nimmt doch sofort wahr, dass es hier durchaus nicht jugendfrei zugehen könnte .......
Stimmt.
Die Zutaten für eine saftige Liebesnacht wären gegeben.
Aber sie ereignet sich nicht.
Sondern das ereignet sich:
Weil Ruth alle Verklemmtheit, alle Hemmungen vor fremden ebenso wie den eigenen Augen abgelegt hat, weil sie einfach ganz ungehemmt zu dem, den sie sucht, hingeht und sich weder durch falsche, noch durch echte Scham davon abhalten lässt, darum dämmert über dem Heustadel von Bethlehem ein Morgen, der nicht die triste Ernüchterung nach kurzem fleischlichem Hin-und-Her, sondern ein tiefes, unverbrüchliches Vertrauen bringt.
Und in dieser von nichts und niemandem gehemmten Direktheit, in dieser ungenierten Entschlossenheit, es nicht auf fremde Meinung, sondern nur auf den Gesuchten ankommen zu lassen, ist Ruth ein Vorbild:
Entweder wir werden bereit, Gott so zu lieben – von ganzem Herzen, ganzer Seele und mit aller unserer Kraft – oder wir werden so halbherzig und so verklemmt darüber, dass es uns schließlich nur noch geniert, ein Verhältnis zu Gott zu haben oder zuzugeben.
Diese Scham ist ja die große Prüderie unserer Zeit.
Während man mit der körperlichen Sinnlichkeit so aufreizend verantwortungslos umgehen kann, dass ich manchmal geradezu iranische Reflexe verspüre, wenn ich meinen Kindern bestimmte obszöne Anblicke gerne ersparen würde, ist es zum verschwiegensten, peinlichsten aller Tabus geworden, sich öffentlich als Liebhaber Gottes zu erkennen zu geben:
So etwas kann man ja machen, wenn man’s nötig hat – aber doch bitte nicht öffentlich!
Dabei zeigt uns Ruths nächtliches Stelldichein zu Füßen des Geliebten, dass wir tatsächlich nun nicht etwa exhibitionistisch mit Bekundungen unserer Liebe werden sollen:
Die promiske Zurschaustellung der Bindung an Gott ist um keinen Deut wünschenswerter, als die aufdringliche Darbietung anderer Neigungen und Leidenschaften.
Beides bekundet ja nur, dass man sich in Wahrheit gar nicht auf seine Liebe, sondern auf deren unfreiwilliges Publikum konzentriert.
Aber – und das ist vielleicht ein Wort, das in besonderer Weise den Männern gilt –, aber ... wir erinnern uns: Geliebt muss werden!
Auch wenn es die womöglich tatsächlich am tiefsten eingeklemmte, verschwiegene und verlernte Seite unseres Wesens, unseres Denkens und Glaubens trifft:
So gern wir Gott vielleicht als eine seltene Versteinerung betrachten würden, die irgendwo in die Sammlung gehört, die wir Hobby-Historiker und Wissenschafts-Dilettanten unter der Rubrik „Allgemeinbildung“ anlegen;
so gern wir Gott technisch als altbewährtes Werkzeug in irgendeiner Kiste aufheben, das man in wenigen Fällen braucht, um ein Problem zu lösen oder eine Tüftelei hinzukriegen;
so gern wir Gott unter die Schlipse hängen, die wir uns nur bei seltenen Anlässen, wenn Erziehung und Damenwelt es nahe legen, mit leicht unbeholfener Gebärde umbinden ........... ist solche Versachlichung, Verzweckung und Verlegenheit nicht ein hilfloses Ausweichen?
Denn wer ist eigentlich eher zu bedauern: Der, dem die elementare menschliche Forderung, Gott und den Nächsten zu lieben, so fremd wurde, dass sie ihm peinlich ist, oder der, der solche Gefühle kennt und zulässt?
Der französische Soziologe und Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour, dem die heutige kirchliche Wirklichkeit eine Qual des Peinlichen weckt, schildert seine Gemütslage als dennoch praktizierender Kirchgänger so**:
„Schämt sich, wenn er hingeht; schämt sich, wenn er nicht zu sagen wagt, dass er hingeht.“ Wie viel Scham tritt also zwischen Gott und uns.
Ruth dagegen schämt sich nicht.
Und es wäre wunderbar, wenn wir in der Nacht von Bethlehem, in der ein Mensch sich einfach zu einem anderen legt und still wartet und ohne irgendetwas Demonstratives getan oder zur Schau gestellt zu haben beschenkt heimgeht, ..... es wäre wunderbar, wenn wir in dieser Nacht die Gewissheit fänden, dass es nicht gênant ist, sich die Blöße der Liebe zu geben; und dass es uns nicht lächerlich, sondern weise macht, wenn wir erkennen, dass wir nicht alleine und nicht genug sind, sondern erst in Gemeinschaft mit Gott, dem Geliebten zu unserer Reife und Erfüllung finden; und dass es völlig gleichgültig ist, was die Leute dabei von uns halten, solange wir Dem folgen und Den finden, Der für uns die Bestimmung und das Ziel ist. ——
Das mag zwar schlicht klingen, aber bedenken wir, welchen Weg durch Hunger und Sterben, durch Abschied und Abenteuer, durch Demut und Vertrauen Ruth gehen musste, ehe sie auf die Tenne fand, wo sie ungehemmt den Mantel der Liebe über sich breiten ließ und sich bei dem wusste, der die sachlichen und seelischen Knoten lösen würde, die sie einschnürten. .......
Es ist so einfach nicht, wieder in den Stand zu gelangen, in dem das Einfachste – das Lieben – uns nicht mehr seltsam schwer fällt.
In unseren Losungen finden wir bis heute jedes Jahr am 13.August eine Erinnerung daran, dass im Jahr 1727 die junge Brüdergemeine des Grafen Zinzendorf und der mährischen Handwerker ihre gegenseitige Scheu und alles, was sie beklommen machte und trennte, in einer großen, Tag und Nacht währenden Feier des Liebesmahles überwand.
In den Herrnhuter Chroniken heißt es unter diesem Datum einfach:
„Wir lernten lieben!“ ——
Wem das aber immer noch überspannt oder rührselig, kindisch oder läppisch scheint – den Weg der Einkehr zu den Füßen des Geliebten zu suchen –, der sollte wenigstens bedenken, dass es nicht nur Schürzenjäger oder Schürzenträger, nicht nur Weichlinge und labile Charaktere sind, die Ruth auf diesem Wege folgen, sondern Menschen mit Kanten, mit Biographien und Köpfen voller Widerspruch und Weisheit, voller Lebenserfahrung und kluger Autorität.
Nehmen wir etwa den Lotterbuben aus uraltem französischem Adel, Charles de Foucauld, der ein passioniert dekadentes Leben als Offizier beendete, um eine noch 1883 lebensgefährliche Erkundungsreise durch das abgeriegelte Marokko zu unternehmen, die ihm wissenschaftliche Lorbeeren zuhauf eintrug. Ausgerechnet die Begegnung mit dem nordafrikanischen Islam, mit der Hingabe der Gläubigen, die ihn als Atheisten befremdete und faszinierte, brachte ihn schließlich zum Eintritt in den Trappistenorden in Syrien. Doch dort fühlte er sich noch immer nicht nahe genug bei Jesus, der sein einfaches, verborgenes Leben als Freund und Bruder der Arbeiter und Armen in deren Mitte in Nazareth gelebt hatte.
Und so wurde der Playboy aus Paris auf eigenen Wunsch endlich bloß Knecht verschiedener Klöster in Nazareth und Jerusalem, bis er schließlich ganz unter die Fremden zog, um einfach mit ihnen und in Hingabe an sie zu leben.
Er wurde Einsiedler im muslimischen Algerien, wo er niemanden zu bekehren, sondern nur ein Zeuge unendlicher Liebe zu sein trachtete.
Sein Leben endete 1916, als ein Beduinenjunge, der ihn während einer Plünderung bewachen sollte, die Nerven verlor und erschoss.
Die Liebe des Bruders Karl - wie er sich nannte - lebt aber weiter.
In Gestalt eines der großen, unendlich schlichten Gebete, wie die Liebenden – und nur sie – sie beten können:
„Ich gebe dir meine Seele, weil ich dich liebe....“ ——
Wenn wir uns – so wie Ruth leiblich und Charles de Foucauld seelisch – dem Vertrauen auf Den, Der die Liebe ist (vgl.1.Joh416), überlassen können, dann endet alle Scham und mit ihr die Wirkung der Sünde, die ja viel spröder und vorsichtiger auf Trennungen bedacht ist, als der Glaube, der Gottes Nähe so hemmungslos sucht.
Möge Gott uns also unverschämt machen, dass wir Ihn suchen und ohne Scheu zu sagen lernen:
„Breite doch den Zipfel Deines Gewandes auch über uns, denn Du bist der Löser!“
Amen.
GEBET DER HINGABE
(Meditation zum Vaterunser)
Mein Vater, ich überlasse mich dir;
mach mit mir, was dir gefällt.
Was du auch mit mir tun magst, ich danke dir.
Zu allem bin ich bereit, alles nehme ich an.
Wenn nur dein Wille sich an mir erfüllt
und an allen deinen Geschöpfen,
so ersehne ich weiter nichts, mein Gott.
In deine Hände lege ich meine Seele.
Ich gebe sie dir, mein Gott,
mit der ganzen Liebe meines Herzens,
weil ich dich liebe und weil diese Liebe mich treibt,
mich dir hinzugeben, mich in deine Hände zu legen,
ohne Maß, mit einem grenzenlosen Vertrauen.
Denn du bist mein Vater.
(Charles de Foucauld, 1858-1916)
7.n.Trin. 22.07.2012 Stadtkirche + Jonakirche Ruth 2 Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 22.VII.2012
Ruth 2
Liebe Gemeinde!
In der neuen Welt wartet ein alter Bekannter:
Das ist eine zeitlose Erfahrung, einerlei ob die Auswanderer die Kinder Israels auf dem Zug in’s Gelobte Land waren, die deutschen Siedler östlich von Elbe und Oder, die Pilgerväter auf der Meerfahrt, die Schwaben auf dem Weg an die Wolga, die Millionen Auswanderer von Bremerhaven, die Flüchtlinge über die Zonengrenze oder die verzweifelten Nordafrikaner, die zu Tausenden auf dem Mittelmeer zwischen Elend hinter sich, Verdursten um sich und Hoffnungslosigkeit vor sich dahintreiben.
In der neuen Welt wartet immer schon ein alter Bekannter: Der Hunger.
Und das ist – auch wenn’s zunächst zynisch klingen mag – eine gute Nachricht.
Denn der Hunger, der zur Begrüßung am jenseitigen Ufer steht, ist eine Gestalt der göttlichen Gnade! ——
Eine solche Sicht auf den Hunger ist unter den Reichen, die wir und hier sind, freilich fast un-möglich, weil es so unanständig wirkt, dem grimmigen Hunger eine freundliche Seite anzudichten. Und dennoch sollten wir es möglichst gründlich wieder entdecken und erkennen:
Dass die Bibel uns die Welt mit den Augen – und dem leeren Magen! – der Bedürftigen schildert, dass sie eine Urkunde des Glaubens und der Hoffnung der Armen aufsetzt, das tut sie nicht bloß aus klassenkämpferischem Vorurteil gegen die Kapitalisten.
Sondern sie tut es aus Mitleid und Sorge auch um die Übersatten, um die armen Seelen, die im Überfluss und seiner Schuld und seinem Fluch verkommen, .... damit auch sie zu hungern lernen.
Ohne dem Hunger zu begegnen, begegnet nämlich niemand Gott! ——
Dieses harte Urteil über uns alle, die wie wir den Hunger längst vergessen oder noch nie kennen gelernt haben, lässt sich an Ruths Ankunft im Hafen ihrer Sehnsucht ablesen.
Angesichts der unbeirrten Sicherheit, mit der diese Fremde sich entschloss, Heimat beim Volk Gottes zu suchen, sollte man ja erwarten, dass sie nun in Bethlehem, am Ziel das Paradies finden werde, den verheißenen Ort der Erquickung, wo Gott Brot auf den Bäumen und Milch in den Bächen und Honig vom Himmel wachsen, fließen und regnen lässt.
Stattdessen ist es aber nur das öde Quartier zweier elender Frauen, die staubige Speicher, leere Krüge und längst beschlagnahmten, besetzten Besitz antreffen.
Keine Kruste im Kasten, weder Mehl noch Öl im Gefäß.
Nur der Hunger breitet seine knochigen Arme zum Willkommen aus und die Ratten pfeifen ein Ständchen.
Da klagt - wie in Noomis Worten aus der vergangenen Woche (121) - die gespenstische Melodie der Winterreise durch die Ritzen: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.“
Doch in dem, was man in der Sprache ihres neuen Volkes ein „Schlamassel“ – ein „böses Glück“ – nennt, begegnet Ruth Gott. Und nicht anders:
Wäre sie in geordnete Verhältnisse heimgekehrt, empfangen vom Bratenduft des geschlachteten Mastkalbes, das für den verlorenen Sohn an den Spieß kam, und aufgenommen von den weichen Kissen, die das triefnasse und widerlich verwöhnte Fräulein vorfand, dem die Schwiegermutter probeweise eine Erbse unter die Daunen schob: Was hätte Ruth sonst noch suchen und finden sollen?
Wäre der Vorratskeller voll gewesen, dann wären ihr nur Magen und Darm, aber nie das Herz erfüllt worden; hätte sie Eigentum an Grund und Boden und Gütern vorgefunden, wäre die Güte ihr unbekannt geblieben! —
Das ist die eine Seite der Wahrheit vom Hunger, der allein uns Freude und Dankbarkeit erschließt, die von der Gewöhnung und dem Überdruss nur erstickt werden.
Das ist nicht einmal eine besonders geistliche, sondern einfach eine menschliche Erfahrung: Nicht Haben, sondern Bekommen macht glücklich. Nicht das längst Selbstverständliche, sondern das Unverhoffte lässt die Freude der Bescherten und Beschenkten uns durchrieseln.
Aber die Weisheit Gottes hat aus dieser Tatsache, dass der Wert einer Gabe nur für leere Hände und wartende Herzen wirklich erfahrbar wird, etwas Hochheiliges gemacht:
Das Recht der Armen!
Denn im Recht der Armen darauf, Glück zu empfangen, sehen wir uns alle im Spiegel vor Gott: Nehmen, nicht Haben ist unsere Berufung vor ihm!
Aus diesem Grund ist die Sozialgesetzgebung Israels so glasklar in dem von uns und unseren darwinistischen Instinkten immer wieder abgelehnten Fundamentalprinzip: Privateigentum steht nicht ausschließlich dem Besitzer zu, sondern jedem der Mangel leidet nach dessen Bedarf (vgl. 3.Mose199f und 5.Mose 2417-22!).
In diesem sozialen Grundgesetz lebt ärgerlich anschaulich die geistliche Wahrheit fort, dass jeder Mensch ein Habenichts vor dem Herrn ist und niemand so versorgt sein kann, dass er nicht gleichzeitig ein Schuldner vor der Großzügigkeit Gottes bliebe.
Damit aber die Reichen den Armen diese Wahrheit – die ja für die Begüterten noch viel dringender spürbar werden muss, als für die Mittellosen – nicht herablassend nur als milde Gabe zugestehen, verpflichtet das Gesetz sie dazu, ihr die Ehre zu geben und den Acker nicht leer zu ernten, sondern den Hungrigen ihren Anteil zu lassen. Der Reiche, der das nicht tut, verwirkt selbst seinen Teil an Gottes grundloser Barmherzigkeit.
So hängt es in Israel jedenfalls nicht vom Zufall oder von willkürlicher Laune ab, ob eine Bettlerin satt werden kann und eine Verlassene Schutz findet.
Aus diesen Seiten der Bibel hat das Bundesverfassungsgericht in dieser Woche tatsächlich ein Blatt genommen und es zugunsten der Asylanten unserm Gemeinwesen vor Augen gehalten. ———
Doch die biblische Wahrheit und Weisheit, wie mit dem Hunger umzugehen ist, der uns alle zu Gottes grenzenloser Güte weist, ist noch praktischer und menschlicher.
Denn sie bestimmt nicht nur, dass die hungrigen Mäuler irgendwie gestopft werden sollen, sondern sie ordnet es so, dass wer essen muss, dafür auch arbeiten kann und darf.
Das Armenrecht setzt zwischen den leeren Magen und das Lebensmittel nämlich keinen Vormund; es entmündigt die Bedürftigen nicht, so dass sie zu tatenlosem Empfangen verurteilt würden, sondern es legt das verbriefte Recht auf Güte in die Hand der Angewiesenen selbst: Aus denen, die uns vor Augen halten, dass wir alle bloß Empfangende sind und sein können, werden dennoch Handelnde ...... Menschen, die zeigen, dass wir unser Bedürfnis, unsern Hunger nicht verbergen, sondern ihm folgen sollen. ——
Und damit sind wir mit Ruth auf dem Acker des Boas.
Und wieder sehen wir in ihr die Erfüllung der Verheißung Jesu (Matth77): „Suchet, so werdet ihr finden!“ und die Bestätigung seiner Seligpreisung: „Selig seid ihr, die ihr hier hungert, denn ihr sollt satt werden!“ (Lk621).
Wem das Notwendige fehlt, dem ist das Glück des Finders verheißen, wenn er es sucht.
Und wen echtes Verlangen treibt, der soll nicht leer ausgehen, sondern die Fülle haben!
Nur soll und muss ich mir und den andern das eben auch eingestehen: Dass ich nicht habe, was mir wirklich nottut, sondern dass ich hinaus und es sehen lassen muss, was für ein Mängelwesen ich bin, dem das Wichtigste fehlt, um leben zu können.
Als solche, als Suchende also lässt Ruth sich sehen als sie auf das fremde Feld geht und die dortigen Fremden sogar mit der Bitte, sammeln zu dürfen, anspricht.
Die Frau, die die Sehnsucht nach Israel, in die Gemeinde Gottes getrieben hat, tut nun auch hier nicht so, als sei sie eine Satte und Angekommene, sondern sie bleibt die Hungrige und Hoffende, die sie am Anfang ihrer Reise war.
Allerdings kann und darf sie genau das jetzt und hier auch sein:
Ist sie doch an eine Tafel getreten, wo Menschen wie sie ein Recht zum Suchen haben, ja, wo sie Ehrengäste sind, die unter dem besonderen Schutz Dessen stehen, Der ruft (Amos54): „Suchet mich, so werdet ihr leben!“
Wohl kein zweites Volk der Welt hat eine derartige Hochschätzung und Ehrfurcht für die Suchenden, wie das Volk Israel.
Während sonst die Besitzenden als glückselig gelten, rühmt man in Israel die, die nichts in Händen halten, sondern nur forschen, nachspüren, dem Gehörten und Gehofften auf dem Boden der Schrift mit gesammelter Aufmerksamkeit nachgehen.
Eine Predigt heißt auf Hebräisch „Suche“; ein geachteter Lehrer gibt nicht etwa den festen Bestand seiner Erkenntnis weiter, sondern er „sucht“ vor den Augen und Ohren seiner Schüler und die kostbarsten Blüten und Früchte der frommen Gelehrsamkeit von Jahrtausenden werden in Israel nicht zu Dogmatiken, Erklärungen oder Enzykliken, sondern man nennt sie mit dem selben Zentralwort: „Suchbericht“ (Midrasch).
Und so ist es kein Zufall, dass schon die Rabbinen in der suchenden und sammelnden Frau auf dem Feld, wo sie Zuflucht unter den Fittichen Gottes und seiner Gerechtigkeit findet, eine Forscherin erkannt haben.
Und eine ebenso wenig zufällige, glückliche Fügung lässt es selbst uns alte Lateiner und Germanisten ja so und nicht anders verstehen, was Ruth da unter den Schnittern bei den Garben tut: Sie „liest“.
Diese elementare lexikalische Wurzel (λεγ-/legere), die bei Griechen, Römern und Deutschen beides bezeichnet – das Zusammensuchen der Buchstaben zum Gelesenen und Gesprochenen ebenso wie das Auflesen der Körner, Ähren und Garben, die unser tägliches Brot ergeben – diese fundamentale geistig-leibliche Tätigkeit hat ihre personifizierte Allegorie, ihre Schutz-heilige wahrhaftig in niemand anderer als Ruth, der gottsuchenden Ährenleserin.
Sie zeigt uns mit ihrem Herzblut, das zum Herrn nach Hause drängt, und ihrer Hornhaut, die barfuss schmerzlos über alle Stoppeln geht, weil sie im Suchen lebt, dass es kein wohlfeiles Wortspiel ist, wenn ein besonders sprühender Theologe unserer Tage – Klaas Huizing – festhält: „Der Mensch ist ein Lesewesen.“* ——
Aber gerade die wirklichen, die unverbesserlichen und dabei nicht mehr so ganz naiven Lesewesen unter Ihnen zucken ausgerechnet jetzt unmerklich mit den Schultern, wenn so das Lesen als Mittel und Bestimmung des Menschenlebens hier auf dem Erdenacker beworben wird. Und der alte Briest guckt Ihnen dabei müde-schalkhaft aus den Augen, und Sie sagen sich angesichts einer achtlosen Zeit, die gar nichts mehr zusammenbringt und aufhebt und sich keiner handverlesenen Mühe mehr widmet vor lauter Besessenheit von schnellen, fertigen und geistlosen Sachen .... nun, Sie sagen sich eben, dass das eine weites Feld ist, Luise.......
Aber das war es doch auch in Ruths Tagen!
Es war schon damals und bleibt bis heute keine einfache Selbstverständlichkeit, dass wer Hunger hat und etwas sucht, sich auch tatsächlich bückt, sich vor den Knechten und Mägden die Blöße gibt, Reihe für Reihe durchzustoppeln und nach jedem Halm zu greifen.
Es gab schon immer und wird bis an’s Ende der Zeit die geben, die ihren Hunger nicht merken, weil sie ihn mit Ersatzstoffen betäubt haben.
Es gab und gibt die, die trotz ihres Hungers zu stolz oder zu faul – oder beides – sind, um selbst auf die Suche nach Brot und Wahrheit zu gehen und die darum Vorverdautes, Verdorbenes und Nutzloses in sich stopfen, weil es keine Mühe macht, keine Schwielen an den Händen und keine Berührung mit den Fremden bringt.
Wenn das nicht damals schon eine kostbare Seltenheit gewesen wäre, wie Ruth auf den Acker ging, wie sie vor aller Augen Körnlein für Körnlein sammelte und auflas und wie sie gerade dadurch Gnade fand in Gottes und der Menschen Augen, dann hätte man ja nicht von ihr erzählt.
Denn es ist wahrlich ein weites Feld, auf das sich dieses bettelarme Glückskind gewagt hat.
Aber können wir anders, als sie zu preisen für ihre zuversichtliche Neugierde, für ihren gesegneten Hunger und ihre unermüdliche Suche nach dem wahren Sinn und Leben, die Gottes Kinder unterm Schatten Seiner Flügel finden?
Sollten wir nicht sogar hoffen, dass Ruths Hunger uns anstecken werde?
Ja, müssen wir nicht erkennen, dass wir in Wahrheit in Zeiten bitterer Hungersnöte leben:
Und zwar nicht allein jener unerträglichen leiblichen Hungersnöte, die durch Missernte und Dürre und Spekulation an den Mais- und Weizenmärkten noch viel schrecklicher zu werden drohen, sondern in einer Zeit, die ebenso lechzt und leidet unter katastrophal karger Mangelernährung des Geistes?
„Wir haben Hunger“:
Das wäre doch die wahre – wenn auch zunächst erstaunliche – Erkenntnis des Zustandes der allermeisten, wenn wir einmal ehrlich bedächten, was alles nicht satt und zufrieden, was alles nicht glücklich und gesund macht von dem, wovon und wofür wir leben.
Wir haben Hunger!
Gott sei Dank daher, dass Sein Feld so weit ist, auf dem wir Ruth bei den Garben antreffen.
Wer Hunger spürt, kann dort finden, was er nicht hat.
Wir alle können dort bekommen, was uns nicht gehört und doch für uns bestimmt ist!
Wir bräuchten nur wie Ruth unter den Flügeln des HERRN das einzig Lohnende zu suchen.
Die Ernte ist ja groß (vgl.Lk102), und nicht umsonst spricht Jesus:
„Hebet eure Augen auf und sehet in das Feld, denn es ist weiß zur Ernte!“ (Joh435)
Fangen wir also an zu lesen!
Amen.
* Klaas Huizing, Ästhetische Theologie, Bd.I: Der erlesene Mensch. Eine literarische Anthropologie, Stuttgart 2000, S.25.
6.n.Trin 15.07.2012 Ruth 1 (Beginn der Predigtreihe zu Ruth) Stadtkirche + Jonakirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 15.VII.2012
Ruth 1
Liebe Gemeinde!
Das Büchlein Ruth mit seiner Liebesgeschichte im Kornfeld gilt manchen als die Schnulze der Bibel oder als deren Sommermärchen; und je nachdem, ob man mehr die kindlich arglose Treue der namengebenden Hauptgestalt in den Mittelpunkt rückt, wirkt es wie eine Schmonzette in fideler Lilo-Pulver-Manier, denkt man dagegen an die forsch-erfinderische Seite der Heldin, dann entsteht ein etwas emanzipierteres Drama, denkbar vielleicht mit der skandalös unbekümmerten jungen Knef.
Jedenfalls ein heiteres, insgesamt harmloses Stückchen Bibel, in dem das Gute siegt, die Richtigen sich kriegen und die herzhaft rustikale Welt am Ende noch schwer in Ordnung ist.
— Allerdings ..... das Schwarzwaldmädel, die Piroschka, die Christel von der Post in diesem biblischen Herz-, Schmerz- und Heimatidyll*, ...... nun, sie kommt eben nicht mit Bollenhut, mit buntem Puzsta-Mieder oder sauber gestärkter Schürze vorm Dirndl daher, sondern wir sollten sie uns – der Anschaulichkeit halber – eher in der Pluderhose und dem quastenbesetzten Kopftuch einer Kurdin vorstellen: Sie passt also gar nicht in’s anheimelnde Bild, vielmehr sticht ihre Fremdheit, ihre Nichtzugehörigkeit scharf heraus: Ruth, die Moabiterin – ein Stück menschlichen Treibguts, das unter die Bauern Bethlehems geworfen wird, die es eigentlich gewöhnt sind, so fremde Spreu sofort von der Tenne zu fegen! —
Doch genau dieser Widerspruch zwischen der ländlichen Idylle von Bethlehem – dem ersten Rothenburg o. d. Tauber des Weihnachtskitsches – und der Gestalt der überlebenskämpferischen Asylantin aus Moab zeigt auf einen Blick, wie überlegen das Büchlein Ruth über alle Heimatfilme und Volkstumsliteratur der Welt ist.
Jene Woge des Heimatgefühls, die durch unsere fünfziger und sechziger Jahre die Romanzen aus dem Silberwald und vom Donaustrand spülte, hatte nämlich einen trüben, vergifteten Ursprung. Sollte doch die Schilderung der heilen Heimat den Nord-, West- und Süddeutschen ein Gefühl der Vertrautheit wiedergeben, das sich bedroht sah von denen, die im Kino einem unwiederbringlichen Verlust begegneten: den Flüchtlingen.
Obwohl es den Wenigsten – wegen ihres Opiumcharakters – bewusst gewesen sein dürfte, waren die seelischen Opfers des Heimatfilms zuallererst wohl die Heimatvertriebenen: „So herzzerreißend schön ist, was ihr nicht mehr habt und hier auch nicht finden werdet .....“
Das war die Moral der trivialen Idyllen vor ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund. ——
Wie anders das Büchlein Ruth, diese große Fernweh- und Flüchtlingserzählung!
Hier werden nicht die Sitten der Satten und Einheimischen besungen und verklärt, sondern das Schicksal der Hungrigen und Obdachlosen wird – wie überall in der Bibel – zum eigentlichen Motiv und Maßstab.
Die Hungersnot, die am Anfang in Bethlehem herrscht – ausgerechnet „Bethlehem“, was ja „Brot-Haus“ bedeutet – ist kein zufälliger Nebenumstand, sondern die Bedingung für alles, was folgt: Selbst in Gottes Speisekammer, wo das Brot des Lebens gebacken wird, muss Hunger herrschen, damit auch fremde Völker auf Den stoßen können, der wirklich satt macht!
Und so steht der lange Weg der Ruth und anderer Heiden von jeher unter dem Vorzeichen der Seligpreisungen:
„Selig sind die Hungrigen! Selig sind die Traurigen! Selig seid Ihr – Elimelech, Machlon und Kiljon – Ihr Kranken, Schwachen, scheinbar vergeblich Lebenden und sinnlos Sterbenden: Gott wirkt auch durch Euer Leidtragen Zukunft und Segen!
Und – das ist die größte Seligpreisung am Beispiel Ruths! – selig seid Ihr Fremden, Ihr unermüdlichen Wanderer auf den Straßen der Suche und der Sehnsucht, der leiblichen und der seelischen Obdachlosigkeit!
Selig seid Ihr, die alles, was man sonst Heimat nennt, verlasst und verliert!
Denn wer wirklich heimkommen will, darf nicht daheim bleiben, und nur wer das Verlangen nachhause hat, wird einst auch dorthin finden!“
Das ist es, was uns die Lebensreise der jungen Witwe aus Moab lehrt.
Selig sind die, die das Vertraute dem Vertrauen opfern!
Selig sind die, die ihre irdischen Wurzeln ausreißen, wenn es um das geht, was wir weder kennen, noch haben, sondern nur glauben können!
Das ist der alte, weltweite Abrahamssegen, des Vaters aller Wanderer und Glaubensnomaden: Aufbruch in’s Ungewisse; ein Weg, der sich dem Geleit des unbekannten Gottes überlässt und die festen Orte, das Eigentum in sicherer Umgebung, das Erbe der Väter, das Paradies der Kindheit und den sauren Lohn der Leistung aufgibt, weil Gottes Ruf schwerer wiegt als sie alle und weil Gottes verheißene Nähe und versprochener Friede uns tiefer berühren als alles bis heute Bekannte.
So ist das Wandern des Glaubens Lust und Last geworden, von dem alten Mann aus Chaldäa über seine hin- und hertreckenden Söhne und Nachfahren, die den Alten Orient im Zick-Zack durchliefen, bis sie aus dem ägyptischen Schlamm, in dem sie in selbstgebrannten Ziegeln eingemauert und begraben werden sollten, ausbrachen.
Und sie blieben Brüder und Schwestern der Landstraße: Als ihr irdisches Haus (vgl.2Kor51) in Jerusalem abgebrochen wurde, verschlug es sie auf die Todesmärsche, auf denen sie durch die Jahrhunderte getrieben wurden, mal hier, mal dort Rast haltend, aber vom Fern- und Heimweh so treu begleitet, wie jedermann vom eigenen Schatten.
Und der größte Sohn Abrahams – auch der größte Sohn Ruths! – war seinem Vorvater und seiner Ahnin eben auch darin treu, dass er obdachloser blieb als die Füchse mit ihren Gruben und die Vögel mit ihren Nestern (vgl.Lk958).
Er heißt wahrlich nicht umsonst: Der Weg (vgl.Joh146)!
Und seine Gemeinde ist trotz aller weltweiten Kirchenarchitektur doch kein Bauwerk , sondern eine Karawane geworden, deren Vorboten Land und Meer durchpflügten, um überall in’s Reich Gottes zu rufen..
Darum ist’s für mich auch heute noch kein altmodischer Geschmacksausdruck, sondern eine Richtigstellung, lieber zu sagen, dies sei die Stadtkirche „zu“ Kaiserswerth, als die Kirche „von“ Kaiserswerth: Denn wir sind alle bloß auf Abruf, im Vorübergehen hier stationiert und vor Anker – so gewiss die Gemeinde des wandernden Herrn nicht zu den dauerhaften Einrichtungen dieser Welt gehört, sondern Vortrupp der zukünftigen ist! ———
Doch machen wir uns nichts vor:
Das mit Gottes Leuten auf großer Fahrt mag nach zünftiger deutscher Wanderlust klingen ...., es wird aber – wenn die Romantik weicht und der Sommer sich neigt – auch ein Lebensweg der Unsicherheit und der orientierungslosen Einsamkeit sein .... dieses Wandeln im Glauben und nicht im Schauen (vgl.2.Kor57)!
So begegnet uns heute allein in den 22 Versen des ersten Ruth-Kapitels mindestens 24 mal ein Wort für Aufbrechen – ohne Wiederkehr –, für Ziehen und Halten, für Umkehren und Weiterwandern, für Rasten und Fortgehen.
Es ist also eine fast atemlose Geschichte, die sich ständig um Flucht und Heimkehr, um Bleiben oder Gehen, um neue Anläufe und weite Strecken dreht .... und alle diese die Beine und das Herz überfordernden Abschiede und Fußmärsche sollen von trauernden, traumatisierten Frauen bestanden werden, Frauen, deren brennende Fragen wir eben eindringlich gesungen haben:
„Wo ziehn wir hin? Wer weist den Weg? Wer führt hinaus aus großer Not?“ —
Leichten Herzens tritt man wohl nicht in die Fußtapfen solcher Vorgängerinnen; denn wenn man sich einfach nur nach der Stimme des Herzens, nach dem Blei in den Gliedern oder dem Rat der Vernunft richten sollte, wäre sonnenklar, was am entscheidenden Wendepunkt jeder von uns wählen würde .... dort, wo Ruth die berühmten: „Ich gehe mit Dir“-Worte spricht. —
Ihre Situation ist mir lebhaft als ein unmittelbarer Teil der Familiengeschichte aus Pommern gegenwärtig, denn meine Großmutter hatte eine kleine, schüchtern unselbständige Schwester, die früh verheiratet auf dem Hof ihrer Schwiegereltern lebte und der eine Stunde schlug, wie einst der Ruth:
Nach der Getreideernte im Sommer ’45, die sie als Zwangsarbeiter auf den eigenen Feldern hatten einbringen müssen, erging der Ausweisungsbefehl und alles, was noch lebte, sammelte sich auf dem Dorfplatz.
Nebeneinander standen die Leiterwagen von Mutter und Schwiegermutter, als der russische Kommandant plötzlich erklärte, man könne einstweilen auch bleiben.
Da fasste die Schwiegermutter blitzartig den Entschluss, die eigene Scholle nicht zu verlassen, sondern auf dem Besitz auszuharren, den sie ihrem – inzwischen längst gefallenen – Sohn erhalten zu können glaubte.
Und im Bruchteil eines Augenblicks sollte die junge Frau nun ihr Schicksal in die eine oder andere Waagschale legen: Der Schwiegermutter aus Treue zum Mann und zum Boden sich anschließen ... oder mit den eigenen Blutsverwandten, die auf der anderen Seite standen und nach Westen wollten, ziehen?
Es war nicht der Kopf, es war die schlichte, wortlose Angst der Kreatur, die hier entschied: Die junge Frau, die eigentlich schon eine junge Witwe war, riss das Bündel ihrer Habseligkeiten vom Wagen der Schwiegermutter, die sie nie wieder sehen sollte, und ging für immer zurück an die Seite von Mutter und Schwester, auf die Flucht. .............
.... Orpa, so bist Du Fleisch von meinem Fleisch!
Dass Du umkehrtest und bei Deinem Volk, am Wickel Deiner Mutter bliebest: Wer von uns könnte das nicht verstehen? ——
Dagegen: Wer von uns kann denn Ruth verstehen, die – so als sei es selbstverständlich – alle Bindungen löst und hingehen will, wo ein anderer hingeht, bleiben will, wo der andere bleibt, leben und sterben will in der fernen Fremde?
Verstehen wir das etwa?
Oder ist es nicht ein geradezu ungeheures Missverständnis, dass wir diese Entscheidung für eine Sache des Gefühls halten, .... und sei’s des noch so beispielhaften, noch so solidarischen, des sozialen Heldinnentum oder der weiblichen Verschwesterung .... vom romantischen Gefühl in Gestalt eines Ehegelöbnisses, als das diese Sätze immer wieder zweckentfremdet werden, ganz zu schweigen!
Nein, der Schlüssel liegt doch in dem bewussten Wort, das beide Schwiegertöchter sprechen und das Ruth tatsächlich leitet: „Wir wollen mit dir zurückkehren zu deinem Volk.“
„Zurückkehren“, sagt sie, obwohl sie nie dort war. Noch steht sie ja auf dem Boden ihrer Herkunft und bekennt doch schon, dass sie weit eher in die Fremde gehört.
Es zieht sie dorthin, wo sie nicht einheimisch, aber doch wie eine Heimgekehrte sein wird!
Was dabei aus ihr spricht, ist der Kompass, den der Kirchenvater Augustinus in seinen berühmten Bekenntnissen davon, wie er an’s Ziel geführt wurde, in die Worte fasst:
„Du hast uns geschaffen zu Dir hin, und ruhelos ist unser Herz, bis es zur Ruhe kommt in Dir.“
Ruths Reise ist der Weg zu Gott und ihr Mitgehen auf der Wanderschaft in die Fremde, ihr Bleiben, wo ein anderer bleibt, ihre Zugehörigkeit, wo sie zwar kein Geburts-, aber doch ein ewiges Heimatrecht auch über den Tod hinaus finden wird .... das alles hängt nicht an Noomi, sondern daran, dass sie zu Noomis Gott, zum Gott Israels sagt: „Mein Gott!“ ———
Wo aber gehen wir hin?
Und wo bleiben wir?
Mit und bei wem?
Das sind wohl Sommerfragen, Meditationen während der Reisezeit.
Denn womöglich hilft ja gerade die Zeit des Abstands und der Entfernung, dass wir uns die Fragen stellen lassen, auf die Ruth die Antwort fand:
Die Frage, ob wir zurecht und zufrieden meinen, dort hinzugehören, wo wir sind?
Die Frage, ob das alles, was uns hier wichtig scheint, wichtig ist .... und noch mehr jene andere: Ob wir so wichtig sind in dem, was wir hier tun und darstellen?
Ob wir wirklich hier am Platze sind und ob wir die Verhältnisse des Lebens und ihre Dauer richtig einschätzen, oder ob wir uns mit etwas ganz anderem vertraut machen sollten?
Ob wir an ein Ziel denken sollten, das uns fern zu liegen und fremd zu sein scheint? —
Doch wenn wir uns so fragen lassen, .... dann bitte nicht aus Befindlichkeitsgründen, nicht um ein wenig Ballast abzuwerfen und neue Energie für am Ende das gleiche alte Leben zu gewinnen.
Gefragt sind wir nur dann, wenn wir tatsächlich etwas hinter uns lassen, weil wir hören und glauben, was vor uns liegt.
Gefragt sind wir nur, wenn uns nicht das Bisherige, sondern das Kommende beansprucht. Dann aber – wenn uns dieses Heimweh nach dem Unbekannten packt, das doch viel mehr nach uns ruft und uns viel mehr verheißt, als alles Vertraute – dann werden es keine Übungen zur Erholung oder zur Ablenkung mehr sein, die uns bereit machen, Abschied zu nehmen.
Sondern dann wird es die Stunde der Ruth sein, die zurückkehrte nach Israel, in die Welt, die sie nie betreten hatte und in die sie doch gehörte.
Dann wird’s die Stunde sein, in der auch wir beginnen, in die Heimat zurückzukehren, die wir nie hatten, die aber auf uns wartet.
Denn ihr Gott ist unser Gott.
Amen.
Offene Schuld (vor der Predigt)
Herr, die Zeit der reisenden Menschen ist wieder angebrochen.
Die Zeit größter Beweglichkeit und buntester Eindrücke;
die Zeit, mit fernen Zielen zu prahlen und an entlegenen Orten vom Bleiben zu träumen.
Eine gute Zeit ist das, Herr;
eine gute Zeit für die Reisenden wie für die Bleibenden,
wenn wir nur mit Bedacht dem Kommen und Gehen uns widmen wollten
und den beiden großen Fragen, die dabei bleiben:
„Woher?“ und „Wohin?“
Das fragt uns der Sommer,
das fragt uns jede Fahrt und jedes Land.
„Woher?“ und „Wohin?“, das fragen uns die Kinder, die Kranken, die Grübler.
„Woher?“ und „Wohin?“ fragt uns die Sonne, die wir suchen,
und der Alltag, den wir fliehen.
„Woher? Wohin?“, das fragen alle Dinge
und fragt unser Herz.
Wir haben’s vielleicht vergessen.
Wollen’s nicht wahrhaben.
Können’s nicht finden.
Aber Du, Herr, weißt es; Dir ist es nicht verborgen.
Du kannst es uns sagen und zeigen.
Du kannst es uns sein, Herr: das Woher und Wohin.
Darum erbarm Dich über uns und führe uns!
Gebet nach der Predigt
Herr, wir wollen Nachfolgende werden.
Darum gib uns die Freiheit, die nicht fürchtet, sich selbst zu verlieren, wenn sie ihr Leben wagt!
Zeige uns, dass es mehr gibt als das, was wir für die Welt halten.
Führe unser Denken, unseren Glauben, unsre Liebe in’s Weite.
Dass wir der Kleingeistigkeit, der Engstirnigkeit und der Herzlosigkeit entkommen.
Dass wir aus den gottlosen Bindungen dieser Welt**,
aus der Torheit der Gewalt,
aus dem Aberglauben der Fortschrittspriester,
aus der Vergiftung durch das Materielle
davonkommen – auf den Weg zu Dir!
Und dass wir Menschen mitreißen;
dass wir sie lösen aus der Umklammerung,
die sie an ein einseitiges, kurzsichtiges, selbstsüchtiges Wesen bindet.
Schenke uns einen seelischen und damit auch einen sachlichen Aufbruch.
Dass wir aufhören, das Unbrauchbare zu brauchen;
dass wir aufhören, das Unhaltbare zu halten;
dass wir aufhören, das Unmögliche zu fordern.
Steh’ uns bei, dass wir fröhlich abkehren können vom Falschen
und uns zuwenden dem, was die Wahrheit ist.
Lehre Deine Gemeinde zu gehen, wohin Du gehst.
Lehre uns Christen zu bleiben, wo Du bleibst – auch wenn es uns Neuland ist.
Und gib uns, dass wir sterben und leben dürfen in Deiner Gegenwart, Gott,
unser Gott!
Amen.
* Das Buch Ruth zeigt uns die biblische Erfüllung jener Verheißung, die Ernst Bloch in säkularisierter Gestalt als das „Prinzip Hoffnung“ erkannte: Dass es nämlich etwas geben kann, „....das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“ (E.Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1959, S.1628).
** Vgl. Barmer Theologische Erklärung, 2.These (eg S.1378).
Pfingstsonntag 27.05.2012 1.Korinther 2,12-16 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Pfingsten - 27.V.2012
1.Korinther 2, 12-1 6
Liebe Gemeinde!
Pfingsten ist – trotz anderslautender Parolen – kein Geburtstag.
Das könnte jeder wissen, der im Advent ein wenig aufpasst oder auch nur während des Glaubensbekenntnisses bei der Rede von Gottes heiligem Geist Acht gibt.
Geburten und Geburtstage sind Menschensache. Der Geist dagegen ist und bleibt – auch wo er selbst an Pfingsten weht und niederkommt – die Voraussetzung menschlichen Gebärens.
Der Geist nämlich zeugt ..... und der Mensch empfängt.
Daher sollten wir es wieder üben, den Pfingsttag nicht verfrüht und platt als Geburtstagsfeier misszuverstehen, sondern als Fest der Empfängnis.
Sonst verlieren wir nämlich allzu schnell aus dem Blick, was uns heute tatsächlich bewegen sollte: Denn das ist nicht der gemütliche Rückblick, den unsere Jubiläen und Jahrestage bei Kaffee und Kuchen und einem Gläschen Sekt meistens bringen; es kann auch nicht jene satte und selbstbewusste Art sein, mit der sich manches Geburtstagskinder feiern lässt, das doch selbst gar nichts getan hat, um auf die Welt zu kommen und am Leben zu bleiben.
Heute geht es also bestimmt nicht darum, dass wir die Epochen der Kirche oder unsre eigenen christlichen Lebensjahre zählen und hochleben lassen.
Sondern es geht um das übergroße Wunder der Empfängnis, die ebenso von geheimer Sorge begleitet wird, wie sie ein Augenblick des nacktesten Zukunftsvertrauen ist.
Wie werdende Mütter müssen wir also nach vorne schauen, wenn wir vom Geist empfangen. Und die bangen, zärtlichen Fragen, die glücklichen Träume und Visionen jeder Schwangerschaft sollten in uns wachsen, sollten durch unser Denken und Beten ziehen:
Die Bitte, dass es lebensfähig und lebendig werde, was wir da empfangen, und die vollständige Bereitschaft, dem werdenden Wesen, das der Geist in uns zeugt und schenkt, unser Dasein einzuräumen, ihm in der Welt den Weg zu bahnen und seiner Entfaltung mit Liebe und Hingabe zu dienen. ——
„Wir haben empfangen“: das ist also zunächst das pfingstliche Grundwort des Paulus, das uns heute treffen soll.
Dass es aus diesem Tag etwas anderes macht als die banale Behauptung, wir hätten einen Geburtstag zu feiern, dürfte offenkundig sein.
Wir schauen nicht zurück, wir hoffen voraus, wenn wir Empfängnis feiern.
Wir stoßen nicht auf’s bisher Gelungene an, sondern wir erfahren die vom Propheten Joel (31) angekündigten Weissagungen, Gesichte und Träume: wie alle, die unter ihrem Herzen und mit dessen eigenem Blut die Zukunft hüten und nähren. ——
So weit, so mystisch.
Dieses innere Geheimnis der Empfangsbereitschaft hat unausgelotete Tiefen und Echokammern in den geistlichen Erfahrungen der Gottesminne und der christlich-weiblichen Ekstase.
Doch nicht nur der Instinkt und die Sehnsucht und die Einbildung mittelalterlicher Nonnen haben die seelische Empfängnis als Ersatz unerfüllter biologischer Hoffnung erlebt.
Der für uns lachhaft befremdliche, pfingstlich-schwangere Mann wird z.B. von Abt Guerric von Igny, einem Zisterzienser des 12.Jhdts. in Versammlung seiner Ordensbrüder so angesprochen:
„Sieh die unaussprechliche Herablassung Gottes ..... !
Der dich geschaffen hat, ist jetzt in dir geschaffen, und als ob es ihm zu wenig wäre, dass du ihn zum Vater hast, will er dich auch noch zur Mutter machen. .....
Ihr aber, selige Mütter eines so glorreichen Kindes, tragt Sorge um euch »bis Christus in euch Gestalt gewinne« (Gal.4,19). ..... Tragt Sorge, wenn nicht um euch, so doch um den Sohn Gottes in euch. Bewahrt euch, sage ich ... vor bösen Werken und bösen Worten, ..... bis die Frucht zur Reife gelangt ist und das Leben Christi, das jetzt verborgen ist in euren Herzen, sich in eurem sterblichen Leibe regt.
Ihr habt empfangen den Geist des Heils .....“ ——
Mit solchen Ratschlägen der mystischen Seelsorge und der weiblichen Körperkunde wird uns Pfingsten aber noch nicht ausreichend auf den Leib gerückt.
Denn heute sollen wir nicht nur mit Erstaunen die allgemeinmenschliche Bestimmung, Gottes Geist zu empfangen, auf uns selbst anzuwenden lernen, sondern noch tiefer Luft holen .....
Wir sollen nämlich die biblische Erfahrung mit der Empfängnis machen, die in geradezu bestürzend offener Weise einst von Sara, der verhinderten Erzmutter ausgesprochen wurde, von der es heißt:
„Sie waren beide, Abraham und Sara, alt und hochbetagt, so dass es Sara nicht mehr ging nach der Frauen Weise. Darum lachte sie bei sich selbst und sprach: Nun ich alt bin, soll ich noch der Liebe pflegen, und mein Herr ist auch alt!“ (1.Mose18,11f)
Das ist die Stimme jenes bitteren Humors, auf den der sogenannte „natürliche Mensch“ sich bestens versteht.
Dem natürlichen Menschen ist es nämlich eine Torheit, sich noch mit so lästig beunruhigenden Dingen wie der Liebe herumschlagen zu sollen.
Der natürliche Mensch ist ja vielmehr heilfroh, sie hinter sich zu haben: Jene unkontrollierbaren Triebe und Anwandlungen, die ihn in Umstände versetzen, denen er sich ungern ausgeliefert sähe.
Liebe macht Mühe. Sie lenkt ab vom Tagesgeschäft, macht unvernünftig und überdies führt sie auch noch zu Abhängigkeit, wo man vorher so ganz sich selbst genügte.
Darum aber ist die Liebe nicht nur der alten Frau Sara ein Schreckgespenst, sondern in unserem kontrollierten, selbstbeherrschten, berechnenden und zielorientierten Lebensentwurf ein einziger Störfall.
Gefühle dürfen nicht in jenes Spiel kommen, das wir den „Ernst“ des Lebens nennen.
Sie haben in Markt und Geschäft, in Politik und Strategie, im Denken und Streben unseres Daseins keinen Platz.
Weichheit und Angewiesensein, Vorsicht und Ehrfurcht, Treue und Selbstaufgabe muss man meiden, verjagen und sie unschädlich machen, wo immer sie begegnen.
In solcher herzmüden, unfruchtbaren Verstocktheit gegen das, was den Menschen menschlich macht, trifft sich die Erschöpfung der alten Sara mit der windschnittigen, maschinellen Lebenssteuerung vieler sogenannter „junger“ Leute und solcher in den „besten Jahren“.
Ihnen ist und bleibt völlig fremd, dass man der Liebe pflegen könnte; dass sich mehr als der eigene Vorteile spüren lässt; dass nicht das gute Ergebnis, sondern der gute Geist zählt; dass fremde Freude kostbarer sein kann als der blankeste Sieg; dass die greifbare Materie eine Täuschung und die ungreifbare Gegenseitigkeit unter Liebenden der einzig tragende Halt ist.
...... Der natürliche Mensch vernimmt nichts und erkennt nichts davon.
Er glaubt, sich selbst geboren zu haben; er wähnt, der Einzige zu sein, meint, nur für sich zu stehen, zu fallen, Verantwortung zu tragen und zu kämpfen; er ist so einsam, dass er hochmütig und so hochmütig, dass er darüber isoliert wird.
Und dabei wird er immer grauer, kälter und härter, bis es ihm tatsächlich weder nach der Frauen, noch nach der Männer Weise mehr geht.
Dann aber ist der natürliche Mensch endlich das, was seinem Namen am fernsten, aber seinem Sinnen und Trachten am nächsten liegt:
Ein leeres Stück Blech – bloß Panzer; ein nimmermüder Apparat – ohne Rast und Glück; ein Altmetall – das geschmiedet wird zu Schwertern, als Kübel oder Griff für lauter schmutzige Geschäfte, die er nicht lenkt und kennt und die er dennoch als sein Lebenswerk sieht, ..... die arme hohle Büchse, in der nichts wächst, nichts fließt, nichts lebt. —
Der natürliche Mensch in seiner geistlosen Unfruchtbarkeit: Er ist allerdings nicht der Anzugträger, auf den man jetzt zeigen wollte; er ist nicht bloß die Nadelstreifenmarionette von der Bank oder der skrupellose Dr.Faust-Frankenstein-Jekyll aus dem Labor; er ist nicht nur Funktionär oder Flittchen von Ökonomie und Unterhaltung.
Vielmehr heißt er Petrus, Johannes und Philippus; er heißt Matthias, Bartholomäus, Jakobus. Er heißt wie wir.
Er sitzt uns gerade gegenüber, .... nein, direkt neben uns, ... nein: auf unserm Platz.
Denn er ist nicht nur in Mesopotamien und Kappadozien, in Phrygien oder Pamphylien, in Ägypten und der Gegend von Libyen zuhause, sondern hat unsere Anschrift, meldet sich bei uns am Telephon und hält seinen traumlosen Winterschlaf in unserm Inneren!
Doch heute ist sein Pfingsttag: Heute wird jedem Krether und Plether, jedem Kaiserswerther und Zeitgenossen, jedem Weltreisenden und jedem verhockten Bewohner der virtuellen Welt der Weg Abrahams und Saras eröffnet: der Weg zur Gotteskindschaft und zu einer Geburt.
Diesen Weg findet aber nur, wer wie Sara aus der Verstockung und Vertrocknung des sich selbst genügenden, die Liebe hinter sich lassenden natürlichen Menschen auftaut.
Diesen Weg schlägt darum nur ein, wer sich die Liebe und den Geist nicht immer vom Leib hält, sondern lachend oder weinend, träumend und rühmend das Unmögliche geschehen lässt:
Zu empfangen und es zu tragen .....
Es ist nie zu spät! Nie ist man zu alt, nie ist man zu wichtig; man ist nie zu männlich, man ist nie zu erwachsen; man ist nie zu weit davon entfernt oder zu unberührbar.....
Jederzeit kann Jedermann ...und Dir das Unglaubliche widerfahren: Dass Gott sich in Deinem spröde gewordenen Leben einnistet und Du wieder jung wirst wie ein Adler.
Es kann zunächst wie eine peinliche Wiederkehr des längst Überwundenen sein, wenn Du Gottes Geist sich regen spürst; es kann wie ein zweites Aufblühen kommen, das auf der staubigen Strecke, auf der Du zu Staub und Asche zurückkehrst, wirklich nicht mehr zu erwarten war; es kann alle Pläne durchkreuzen und ganze Lebensgebäude umstürzen, wenn Du plötzlich etwas erwachen und wachsen fühlst, das von den vergessenen und verleugneten, von den nie erschlossenen oder offenbarten Wahrheiten der Frömmigkeit und des Kinderglaubens lebt; es kann Dich in einen Taumel versetzen, Dir neue, unvertraute Worte eingeben, Dich wenden und alles verwandeln, wenn Gott Dir Seinen Geist schenkt und Du Dich ganz und gar beteiligt und ergriffen siehst von Seiner Lebendigkeit.
Du magst sein, wer und was Du auch sein magst: Auch in Dir kann so dieser neue Mensch, der geistliche Mensch heranreifen und groß werden!
...... Gewiss kommen dann alle Zweifel und alle Schwankungen herbei, die dazugehören, wo ein neues Leben sich ankündigt:
Woher soll man die Zeit und Kraft für dieses neue Geschöpf nehmen?
Hat man nicht mit den Pflichten und Gewohnheiten des natürlichen Menschen schon alle Hände voll zu tun?
Wie soll man daneben nun auch noch ein zweites Wesen versorgen?
Wie kann man den geistlichen Menschen geistlich füttern, wie ihm die Freiheit und den Mut der Kinder Gottes erhalten, während der natürliche Mensch doch so misstrauisch festgelegt und eingebunden existiert? .....
Das sind Werde-Sorgen.
Sie gehen vorüber, je mehr der geistliche Mensch wird: Weil Gott für sein Werden sorgt. —
Wie aber der geistliche Mensch wird, … den tiefen Sinn Gottes, der die Erschaffung menschlichen Glaubens begleitet, … den göttlichen Vorsatz, durch den wir geistliches Leben empfangen: den allerdings kann niemand ergründen, der es nicht zulässt und erlebt.
Denn auch das ist eine Wahrheit am Fest der pfingstlichen Empfängnis:
Dass wir mit unseren vielfältigen Mitteln der Abwehr, der Verschlossenheit und des Zynismus Gottes Wirken verhüten können, ja dass wir Sein Wort, Seinen Geist, wenn sie uns auch erreichen und berühren doch wieder ab- und austreiben können aus unserem hinterher umso zukunftsloseren Leben.
......... Das alles kann sein. ——
Doch heute ist Pfingsten!
Der Tag der Freude, an dem Paulus Dir und uns allen die gute Nachricht sagt: Wir haben empfangen!
Und was das Glaubensbekenntnis ausspricht: „Empfangen durch den Heiligen Geist, geboren vom Menschen ...“ – das ist es, was bei uns allen werden kann und soll aus diesem durch den Gottesgeist geschenkten Anfang.
Auch in Dir, im Inneren Deines Lebens ist ein Christ, eine Christin angelegt, auch Du hast Christi Sinn!
Schaff’ also Raum und lass die Gotteskindschaft in Deinem inneren Leben wachsen und reifen.
Gott will durch jeden von uns zur Welt kommen.
Darum ist heute Pfingsten.
Amen!
Rogate, 13.05.2012, Gal.5. 1, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Predigt zur Konfirmation 13.5.2012 / MhK
Thema/Text: Freiheit, die ich meine - Gal.5,1
Eingespielt Reinhard Mey „Über den Wolken"
„Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein,
alle Ängste, alle Sorgen - sagt man -
wären darunter verborgen und dann
wird, was hier groß und wichtig erscheint,
plötzlich nichtig und klein."
Liebe Festgemeinde und vor allen Dingen, liebe Konfirmanden,
dieses Lied von der grenzenlosen Freiheit habe ich schon als Jugendliche im Freundeskreis gesungen und es ist bis heute auch auf Konfifreizeiten ein Hit. Lieder, die von der Sehnsucht nach Freiheit, nach der großen Weite des Lebens handeln, gibt es viele. Denn schon lange ist das eines der ganz großen Themen der Menschheit: Freiheit. In unseren Tagen ist dieses Thema ja auch wieder ganz aktuell - ganz anders aktuell als 1989, als der Eiserne Vorhang auf einmal überall Löcher bekam und die Berliner Mauer fiel, als die Bürgerinnen und Bürger der DDR sich ihre Freiheit erkämpften - gewaltlos, voller Angst und Mut zugleich. Viele sind von diesen Erfahrungen geprägt, in besonderer Weise auch unser Bundespräsident, der damals als Pfarrer sozusagen an vorderster Front stand. Für Euch, liebe Konfirmanden, ist das ja alles schon Stoff des Geschichtsunterrichtes; ihr habt es selbst nicht erlebt, diese wahnsinnig spannenden Wochen im Oktober und November 1989; aber eure Eltern können euch sicher noch genau sagen, was sie damals am 9.November abends gemacht haben, wo sie waren, als die unglaublichen Bilder von Trabbis, die über die Grenze nach Westberlin fuhren, auf allen Kanälen im Fernsehen zu sehen waren. Auch wenn ihr es selbst nicht erlebt habt, der Mauerfall ist trotzdem das Stichwort, das die meisten von Euch auf dem Blatt „Freiheit bedeutet für mich" notiert haben. Zur Information: zur Vorbereitung dieser Konfirmationspredigt habe ich die Konfirmanden ihre Gedanken zum Thema Freiheit aufschreiben lassen. „Dass ich mich überall hin bewegen kann und nicht irgendwo eingesperrt bin und dass ich öffentlich meine Meinung sagen kann" - das stand auch auf einem der Blätter. Und nicht nur eine hat festgestellt, dass Freiheit etwas ist, was nicht nur einem selbst zugute kommen kann, sondern dass wirkliche Freiheit auch die Freiheit der anderen bedeutet und Hand in Hand geht mit Frieden und Gerechtigkeit.
„Freiheit ist für mich die Gabe, frei zu sein und fast alles zu tun, was man will." - das konnte ich auch lesen; und dann - fast „piratenmäßig" - Freiheit bedeutet für mich „keine Grenzen und Richtlinien". Das klingt verdächtig nach „freie Fahrt für freie Bürger".
Grenzen und Freiheit - nicht wenige glauben, dass sich das widerspricht, ja, ausschließt. Wie auch viele Zeitgenossen glauben, dass sich der Glaube an Gott und Freiheit ausschließen. Wer an Gott glaubt, der lässt sich ja Vorschriften machen, der muss Gebote befolgen, der gibt seine Freiheit auf, so meinen sie. Und besonders das, was Spaß macht, das wird einem verboten. Freiheit oder Glaube an Gott, da muss man sich entscheiden.
Liebe Gemeinde, dass diese Meinung sich ausbilden konnte und sich bis heute so hartnäckig hält, dazu hat die Kirche leider nicht unerheblich beigetragen. Die Tugend des Gehorsams ist über fast 2 Jahrtausenden den Kindern als die wichtigste Lebenshaltung oftmals buchstäblich eingebleut worden; den Eltern, der Obrigkeit zu gehorchen, den Geboten und Verboten Folge zu leisten, das war sozusagen „Gottesdienst". Der Kampf um Freiheit, um Meinungs- und Redefreiheit, um politische Freiheit, um die Menschenrechte musste fast überall gegen die Kirche geführt werden. Wahrlich kein Ruhmesblatt für die Institutionen des christlichen Glaubens, für das leitende Bodenpersonal des lieben Gottes. Aber dieser Kampf brauchte nicht gegen Gott geführt zu werden, nicht gegen den Gott der biblischen Überlieferung. Denn, wer sich die Mühe macht, genau zu lesen, was in diesem dicken Buch da steht, der wird feststellen: Gott und Freiheit gehören zusammen.
„Ich bin der Ewige, dein Gott, ich habe dich aus der Sklaverei in Ägypten befreit", so stellt sich Gott seinem Volk Israel am Berg Sinai vor. „Ich will, dass du frei bist und frei leben kannst." Und die Weisungen, die dann folgen, dienen einzig dem Zweck, dass die Menschen diese Freiheit nicht verspielen. Gott ist ein Freund der Freiheit. Und er ist es nicht nur am Sinai, sondern er ist es auch 2000 Jahre später. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit", schreibt der Apostel Paulus an die Christen in Galatien.
Gott ist ein Freund der Freiheit. Bis heute. Überall, wo Menschen gegen Unterdrückung und für Freiheit aufstehen, da ist er an ihrer Seite. Ob in Tunesien, in Ägypten, in Myanmar, in Bahrein oder in Syrien. Es ist der Geist Gottes, der Menschen den Mut schenkt, gegen ihre Angst aufzustehen und ihre Stimme zu erheben - für Freiheit und Gerechtigkeit.
Liebe Konfirmanden, ihr und wir alle haben das unverdiente Glück, nicht wie die Menschen in den eben genannten Ländern unter einer Diktatur leben zu müssen. Das Grundgesetz garantiert uns Meinungs- und Redefreiheit, Religionsfreiheit und Versammlungsfreiheit. Und trotzdem ist auch für uns und für Euch das Thema Freiheit damit nicht erledigt. Denn die Freiheit hat man nicht ein für alle Male in der Tasche, sondern sie muss immer wieder neu errungen werden - im persönlichen wie im gesellschaftlichen Leben. Ja, die Freiheit kann verspielt werden.
So hat das auch der Apostel Paulus gesehen. Und deshalb hat er an den Satz „Zur Freiheit hat uns Christus befreit" einen zweiten angehängt: „Steht also fest und lasst euch nicht wieder zu Sklaven machen." Begebt euch nicht wieder in Abhängigkeiten.
Ihr habt darüber nachgedacht, wovon ihr frei sein möchtet. Was ich spannend fand: ihr habt dabei nicht nur an euch gedacht, sondern auch andere Menschen mit in den Blick genommen.
Irgendwie unvermeidlich war zu lesen:
„Ich möchte frei sein von Hausaufgaben und von der Schule." Freiheit verbindet sich für euch eben eher mit Freizeit als mit Lernen. Aber ich weiß auch, dass es oft die lieben Mitmenschen sind - Mitschüler oder Lehrkräfte - , die einem die Freude am Lernen nehmen können. Oder es ist der Leistungs- und Erfolgsdruck, den andere oder man selber sich macht.
„Ich möchte frei sein von Ängsten, weil sie mich belasten und runterdrücken." Frei von der Angst, zu versagen, in der Schule zu versagen. Liebe Konfis, ihr seid immer viel mehr als eure Noten auf dem Zeugnis sagen. In euch steckt mehr als der Satz des Pythagoras und französische Vokabeln. Gott möchte euch Mut und Kraft geben, das zu entfalten, was in euch steckt, was er euch mitgegeben hat.
Auch andere Ängste drücken euch, von denen ihr frei sein wollt, z.B. die Angst, dass durch Gentechnologie eine große Katastrophe für die Menschheit geschieht, dass wir die Welt zerstören.
Fortschritt: ja. Freiheit der Forschung: ja.
Aber: Freiheit ohne Grenzen?
Und dann zeigt ihr, dass es euch durchaus bewusst ist, dass unsere Freiheit und unser Glück in einem globalen Zusammenhang stehen:
„Ich möchte frei sein von der Tatsache, dass es so viel Krieg auf der Erde gibt, dass so viele Menschen dabei sterben müssen."
„Ich möchte, dass es aufhört damit, dass reiche Menschen reicher werden, während arme Leute immer ärmer werden."
Die Sehnsucht nach Freiheit ist untrennbar verbunden mit der Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden.
Und ein für euch ganz großes „Freiheits-Anliegen" soll hier nicht verschwiegen werden:
„Ich möchte frei sein von Acta, weil ich nicht im Internet eingeschränkt werden möchte."
„Ich möchte frei sein von GEMA, damit ich Youtube Videos aus Amerika und von anderswoher sehen kann."
Die grenzenlose Freiheit im Internet: auf alles jederzeit kostenlos zugreifen können. Reinhard Mey muss wohl für die Internet-Generation ein neues Lied schreiben.
Aber bei allem Enthusiasmus für die Freiheit im World Wide Web: dass hier auch die Gefahr der Abhängigkeit lauert, das ist zumindest einem von euch klar, weshalb er notiert hat:
„Ich möchte eine Zeit lang frei sein von Facebook."
Frei sein vom Zwang zur Selbstdarstellung.
Wie heißt es bei Paulus: „Steht also fest und lasst euch nicht wieder zu Sklaven machen."
Die Gefahr, die Freiheit zu verspielen, lauert nicht nur im Internet, sondern sie ist in unserer Gesellschaft leider allgegenwärtig. Es ist die moderne Sklaverei der sogenannten „Must haves" - was man alles angeblich haben muss, um glücklich zu sein, um anerkannt zu sein, um dazuzugehören, um zu zeigen: ich bin erfolgreich. Die neuesten Smartphones, I-Phones, die angesagten Marken-Klamotten.
Von dem griechischen Philosophen Sokrates, der einen ziemlich einfachen Lebensstil pflegte, wurde berichtet, dass er sich immer wieder vom Marktplatz angezogen fühlte und die dort angebotenen Waren betrachtete. Einer seiner Freunde fragte ihn, warum er das täte. Sokrates antwortete ihm: „Ich gehe gerne hin, um festzustellen, wie viele Dinge es gibt, ohne die ich phantastisch auskomme." Ein wahrhaft freier Mensch.
Aber es kommt natürlich nicht nur darauf an, von etwas frei zu werden bzw. sich nicht in neue Abhängigkeiten zu begeben, sondern das Geschenk der Freiheit selber zu nutzen, frei zu sein für etwas.
Frei zu sein hat da für euch viel zu tun mit „Zeit zu haben". „Ich möchte Zeit haben für meine Familie, weil sie mir wichtig ist."
„Ich möchte frei sein für Menschen, die Hilfe oder Unterstützung brauchen, aber auch, um mit Menschen zu lachen und Spaß zu haben."
„Ich möchte etwas in der Welt zum Guten verändern - egal ob im Großen oder Kleinen."
Freiheit ist eben nicht einfach Freiheit zum Nehmen, keine Freibeuterei.
Es geht nie nur um meine Freiheit.
Freiheit hat auch mit Geben zu tun, mit Engagement, mit Verantwortung, mit Respekt.
Freiheit in Gemeinschaft.
Recht verstandene Freiheit ist nie grenzenlos, sondern sie lässt sich begrenzen, um Raum freizuhalten für die anderen.
Freiheit braucht Spielregeln. Welche Spielregeln gelten sollen, das muss miteinander vereinbart werden. Und da ist es sicher auch immer wieder so, dass Spielregeln verändert werden müssen, weil wir uns alle im Laufe der Zeit verändern, unsere Lebensumstände. Aber manchmal sind alte Spielregeln doch gar nicht so schlecht. Zum Beispiel, dass man keine Lügen über einen anderen verbreiten soll - das altmodische Gebot „Du sollst nicht falsches Zeugnis reden gegen deinen Nächsten." Eine wichtige Spielregel für das Zusammenleben auch im Internet- und Facebook-Zeitalter.
Als freier Mensch zu leben, das ist eine große Aufgabe. Das ist eure Berufung. Gott möchte, dass ihr frei seid und in Freiheit euren Lebensweg geht. Dass dieser Weg, so verlockend er vor euch liegen mag, nicht der leichte und bequeme Weg ist, das wird in dem folgenden Statement aus eurer Mitte deutlich. Da konnte ich lesen: „Freiheit bedeutet für mich, dass ich individuelle Entscheidungen treffen darf, egal ob ich Fehler mache oder nicht, denn aus diesen Dingen werde ich in der Zukunft lernen."
Die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, schließt immer ein, dass wir damit auch ganz falsch liegen können. Dass wir uns total verrennen und in eine Sackgasse geraten. Aber es wäre grundfalsch, lieber erst gar nicht von seiner Freiheit Gebrauch zu machen und nur zu tun, was andere sagen.
Eine der eindrücklichsten Geschichten, die Jesus erzählt hat, handelt von einem jungen Mann, der frei sein wollte, der sein Leben so gestalten wollte, wie er es für richtig hielt. Vor allen Dingen wollte er Spaß haben. Er ist von zu Hause weggezogen und hat zunächst auch richtig einen drauf gemacht. Aber irgendwann war das Geld zu Ende, die vermeintlichen Freude machten sich aus dem Staub - war ja nix mehr los - und der junge Mann fand sich in der Gesellschaft von Schweinen wieder, hätte gerne mit ihnen das Futter geteilt, so hungrig war er. Da ist er in sich gegangen und hat wieder eine eigene Entscheidung getroffen: nämlich nach Hause zurückzugehen, zum Vater. Leicht ist ihm diese Entscheidung sicher nicht gefallen, sich und dem Vater einzugestehen, dass er falsch gelegen hatte damals, als er alles Alte radikal hinter sich gelassen hatte. Doch dann die große Überraschung: der Vater war ihm nicht böse, nicht ein Wort der Vorhaltung; er war einfach nur glücklich, dass sein Sohn wieder da war.
So steht Gott zu uns, wollte Jesus mit dieser Geschichte sagen. Er lässt uns laufen, er lässt uns eigene Entscheidungen treffen, auch wenn wie sich als falsch herausstellen. Er will unsere Freiheit. Und hofft darauf, dass wir aus Fehlern klug werden und umkehren. Er ist jedenfalls immer für uns da. Er hält uns nicht fest, sondern wartet, bis wir in aller Freiheit zu ihm kommen - egal ob wir ihm dann von unseren Erfolgen oder Misserfolgen zu erzählen haben.
Gott ist da, er begleitet euch, liebe Konfirmanden, mit seinem Segen hinaus ins Leben; und er ist der sichere Hafen, in dem ihr mit eurem Lebensschiff immer einen Ankerplatz finden könnt, wenn euch die Stürme draußen zu sehr mitnehmen.
Amen.
Konfirmationsgottesdienst 28.04.2012 Jesaja 43,1 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Konfirmation - 28.IV.2012
Kantorei:
„Wir tragen eines Menschen Namen, von dem wir glauben, ER ist Gottes Sohn,
der uns gezeigt hat, wieviel Liebe Gott in den Menschen säte, in Adam schon.“
(aus dem Pop-Oratorium: „ADAM – Die Suche nach dem Menschen“ von Gregor Linßen)
Ihr Lieben!
Jetzt könnte es einen Augenblick ganz still werden, jedenfalls in Euch und Eurem Gedächtnis.
Und dabei fällt uns auf: Wir waren eigentlich – wenn man mal so im andächtigen Schweigen zurücklauscht durch die letzten zwei Jahre – ein wirklich lautstarker Verein.
Da wurde gequatscht und gelacht, gequiekt und gekreischt, dass einem die Ohren wackelten. Und mittenrein – Ihr hört es noch genau – wurde immer wieder kräftig posaunt, wie auf dem Kasernenhof und jemand hat einzelne Namen mit sehr viel Nachdruck in die Runde gebölkt; das dürfte ich gewesen sein, und manche Eurer Namen – oder, weil das bei den Herren so meine Unart ist: mancher Eurer Nachnamen – sind uns allen noch besonders im Ohr. —
Heute muss ich mich entschuldigen .... bei denen, die ich zu wenig beim Namen gerufen habe.
Denn eines könnt Ihr mir glauben, nein: Zweierlei könnt Ihr mir glauben:
Das war alles erst ein Anfang: Eure Namensmelodie wird – so Gott will! – noch viele Strophen und Tonarten, viele Echos und Variationen erfahren.
Das ist das Erste: Dass Eure Namen nach Sinn und Verwendung noch lange nicht fertig sind.
Und das Zweite ist: Eines Tages wird mit Eurem Namen das Größte geschehen, was überhaupt möglich sein kann .... dann werdet Ihr ihn hören, wie er – nicht in der groben, nicht einmal in der lieben Art, wie Ihr sie bisher gewöhnt wart – nein, dann werdet Ihr Euren Namen hören, wie er in Wahrheit sich anhört und –fühlt, wenn Derjenige ihn spricht, der uns kennt, liebt und meint wie niemand sonst unter der Sonne.
Und dieses Zweite – diese Offenbarung Eures Namens – die wird nicht (wie man zunächst wohl meinen könnte) in der Liebe geschehen. ———
Bleiben wir aber zunächst beim Ersten:
Dass Eure Namen noch nicht fertig sind.
Das ist natürlich schon ein bisschen erstaunlich, denn auf dem Papier stehen sie seit etwa 1998 doch fest, und Ihr werdet sie heute in aller feierlichen, peinlichen oder wohltuenden Vollständigkeit hören: So wie Eure Eltern sie mit ihrem Geschmack, mit ihrem Familiensinn oder mit anderen höflichen Gesten gewählt haben. —
Aber Papier ist geduldig, auch mit den Namen, die es dokumentiert.
In Wahrheit habt Ihr ja ganz anders geheißen, als man dort lesen kann:
Könnt Ihr Euch noch ein wenig erinnern an die vielen sinnigen und unsinnigen Namen, an die Kosewörter und Abkürzungen, mit denen Ihr bisher genannt wurdet?
Ahnt Ihr, mit welcher Zärtlichkeit Eure Eltern Euch angeflüstert haben, als Ihr noch nach Milch und Seife rocht?
Wisst Ihr, wie die Geschwister Euch zum allgemeinen Entzücken und zum besonderen Verrücktwerden betitelten?
Die Spitznamen im Kindergarten?
Die verballhornten oder eingeschliffenen Rufnamen, mit denen Ihr seitdem von Euren Freundinnen und Freunden angesprochen werdet?
Das ist schon ein weiter Namensweg, vom süßen „Engelchen“ und „kleinen Mann“ zu den viel persönlicheren Bezeichnungen, die folgten.
Und es ist wirklich noch lange nicht ausgemacht, wie Ihr zukünftig heißen werdet.
Man erwirbt sich schließlich auch jenseits des schicksalhaften und stolzen Konfirmationsalters neue Namen: Sei es durch Freundschaft, sei es durch Liebe.
Man heiratet neue Namen, man legt sich Künstlernamen zu – und neuerdings auch Namen, die nur in der virtuellen Wirklichkeit gelten, die Ihr aber tunlichst nicht mit dem echten Nennen und Kennen verwechseln solltet.
Jemand macht einen „Dr.“, ein andrer wird weit hinaus bekannt unterm umgangs-sprachlich gebrauchten Vornamen, weil er so dolle Tore schießt oder Anzüge schneidert oder Lieder singt.
Und dann kommt schließlich wirklich die Liebe daher, und Ihr glaubt, Ihr hörtet zum aller-, allerersten Mal, dass Ihr „Hans“ heißt, wenn Gretchen das flüstert, oder dass Euer Name „Grete“ ist, wenn der Hans ihn sagt.
Und dann – Gott gebe es! – dann mögt Ihr erleben, wie es ist, wenn man „Vater!“ oder „Mutter!“ heißt ..... ganz fern in der Zukunft, hinter den sieben Bergen auch: „Großmama, Großpapa!“
Das Leben ist also voller noch ungeschriebener Namen vor Euch.
Und Ihr werdet und sollt Euch durchaus mit allen Euren Gaben künftig einen Namen machen – wenn Ihr es nicht so dumm und sträflich wie die Leute von Babel tut, denen das Fernsehen tagtäglich ein Denkmal setzt mit so vielen talentfreien Hüpfern und Nackedeis, die gern berühmt wären. ——
Aber ganz egal, ob Ihr eines Tages sagen könnt: „Mein Leben war gut, weil die, die mich lieben, von mir wissen“ oder ob Ihr feststellen werdet: „Mein Name sagt tatsächlich vielen Menschen etwas“...die andere, die zweite Namens- und Lebensgeschichte ist noch viel besser!!!
Die fängt damit an, dass Ihr je länger, je mehr erfahren werdet: Schon einfach nur „Mensch“ zu heißen, einfach nur ein Menschenkind zu sein, ist eine echte Auszeichnung und Aufgabe.
Denn die Nachkommen Adams und Evas verbindet mehr, als sie trennt.
Alles, was von den Ureltern kommt, sucht Freude auf dieser Erde, muss weinen, blutet und lacht auf einerlei Weise, wäre gern sicher und erleidet dennoch Schmerzen, braucht Brot, braucht Güte, braucht schließlich auch Güter: Und Ihr seid nun bald zuständig für diese riesige Verwandtschaft der Menschheitsfamilie.
Ihr könnt und sollt das Erbe der Kinder und Kindeskinder Adams und Evas aufnehmen:
Ihr müsst mit ihrer Neugierde leben und etwas Gutes - nicht etwas Böses - aus dem Wissensdurst machen; Ihr müsst mittragen daran, dass Menschen nicht unfehlbar sind, sondern in Schuld und Not geraten; Ihr versprecht heute vor Gott, dass Ihr auch nie vergessen wollt, dass wir Adams- und Evamenschen eine Verheißung haben: dass Gott uns trotz allem nicht verlassen, sondern durch die Welt und Zeit mit ihrem Alltag, ihrer Last und Plage begleiten und uns zu Trägern des Trostes und der Hilfe machen wird.
Und noch etwas versprecht Ihr heute:
Dass Ihr nicht nur den Eltern des Menschengeschlechts nachfolgen werdet, sondern einem aus dessen Mitte, der als Mensch doch ganz und gar Gottes Kind ist.
Und Seinen Namen nehmt Ihr heute bewusst an: Nicht durch Heirat, nicht durch Adoption, nicht durch einen Rechtsakt .... das alles ist in der Taufe schon vollzogen worden.
Doch heute stimmt Ihr dem zu.
Ihr bestätigt, dass Ihr Christi Leute sein wollt, dass Ihr als seine Geschwister und Jünger leben wollt; dass Ihr den Bund mit ihm, durch den Ihr seine Namensträger werdet, freiwillig und dauerhaft eingeht.
Dass Ihr in guten, wie in schlechten Tagen zustimmt, Seinen Namen zu teilen und zu tragen.
Wir wissen nicht, wie ernst das einmal sein kann; ob es jemals wieder Zeiten geben könnte, in denen die, die Christen sind, das tatsächlich auch in ihren Papieren stehen haben werden: als einen Vermerk, der sie verdächtig macht oder verächtlich.
Aber wir wissen das eine: Wer auf Jesus Christus, Gottes Sohn getauft ist, und wer diesen Namen annimmt und anerkennt und anruft und anbetet: Der kennt den Namen, der über alle Namen ist (vgl. Philipper2,9).
Damit muss man nicht groß tun vor den Leuten; aber man soll es auch nicht verschweigen.
Wem gehört Ihr? – Jesus Christus!
Wer gibt dem Leben Sinn und der Welt Hoffnung? – Kein anderer!
Wer bürgt mit seinem Namen dafür, dass Gott und die Menschen nicht zu trennen sind, sondern eine gemeinsame und ewige Zukunft haben? – Genau Der, nach dem Ihr ab heute selbständige, verantwortliche und hoffentlich fröhliche „Christen“ genannt und sein werdet!
— Und wie das sein wird, wenn Eure Namen in ihrer ganzen Wahrheit und ihrem tiefsten Sinn ausgesprochen werden?
Ja, wisst Ihr, das muss nicht heute geschehen.
Christen haben alle Ewigkeit vor sich, um das zu erfahren: Wie es ist, von Gott gerufen zu werden.
Heute macht Ihr Euch als seine Leute, als Namensträger Jesu Christi ansprechbar.
Und Gott wird Euch rufen:
Zu besonderen Aufgaben und Erfahrungen.
Er wird Euch rufen zum Glauben und zum Glück.
Er wird Euch im Leben rufen und im Sterben.
Und in getroster Erwartung aller seiner Rufe hören wir heute Seine Stimme (Jesaja 43,1):
„Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst;
ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“
Amen.
Jubilate, 29.04.2012, HK 54 (Jes 43,1; Joh 15,16), Stadtkirche, Holger Pyka
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden,
liebe Gemeinde.
Ihr seht heute so anders aus als sonst! Anders als sonst, wenn Ihr in diesen Reihen sitzt. Anders als bis letzte Woche, wenn Ihr dienstags nachmittags abgekämpft und aufgedreht von der Schule zum Konfirmandenunterricht gekommen seid. Ganz anders als vor einem halben Jahr auf der Nachtwanderung durch die Wälder in Wemlighausen. Ihr seht heute anders aus. Auch Eure Eltern nehmen das wahr, manche gucken Euch vielleicht heute anders an als sonst.
Eure festliche Kleidung, die manche von Euch vielleicht total schön, mancher noch etwas ungewohnt findet, ist ein Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass dieser Tag heute etwas mit Erwachsenwerden zu tun hat.
Früher war das bei der Konfirmation noch deutlicher, als die Meisten mit vierzehn auch die Schule beendeten und in die Lehre gingen. Das steht Euch noch bevor, aber Ihr und vor allem die Menschen um Euch herum werden merken, wie es ab jetzt ganz schnell und unaufhaltsam Richtung Erwachsenwerden geht. Ihr werdet noch mehr wachsen, Euer Körper verändert sich, Ihr nehmt Euch selbst und andere anders wahr, irgendwann, vielleicht bald, vielleicht nicht so bald, werdet Ihr zum ersten Mal abends richtig viel später als verabredet nach Hause kommen. Ihr werdet noch oft in den nächsten Jahren den Satz hören - und er wird euch nerven, aber doch großen Respekt vor dem Wunder des Lebens ausdrücken: „Mensch, was bist Du groß geworden!"
In vier Jahren, so Gott will, wird jeder und jede von Euch eine Riesenparty feiern, Ihr werdet volljährig und dürft endlich richtig Autofahren, Eure eigenen Entschuldigungen unterschreiben - und dann etwas tun, was für uns Ältere in zwei Wochen dran ist: Ihr dürft wählen gehen. Ich hoffe, Ihr werdet das wirklich tun, denn Ihr habt hoffentlich aus dem Konfirmandenunterricht auch mitgenommen, dass wir als Christinnen und Christen unsere Verantwortung für die Gesellschaft wahrnehmen müssen.
Dann werdet Ihr vor eine Liste mit Namen stehen und vor einem Namen ein Kreuz machen.
Eine Wahl, ein Kreuz, ein Name. Damit sind wir mittendrin in dem, was Konfirmation bedeutet. Ihr habt heute die Wahl, oder besser gesagt: Ihr nehmt eine Wahl an, Ihr bestätigt, dass jemand vor Euren Namen ein Kreuz gemacht hat.
Vor vierzehn, bei manchen vor dreizehn Jahren haben Eure Eltern beschlossen, dass Ihr einen bestimmten Namen tragen sollt. Und vor zwölf, dreizehn, vierzehn Jahren haben Eure Eltern stellvertretend für Euch beschlossen: Dieses Kind soll getauft werden. Vor diesem Namen soll ein Kreuz gemacht werden, der Mensch, der diesen Namen trägt, wird gewählt. Hineingewählt in die unermesslich große Menge derer, die Gottes Kinder heißen, die Schwestern und Brüder von Jesus Christus sind.
Heute nehmt Ihr diese Wahl an. Und jetzt wird's kompliziert, aber großartig: Ihr bestätigt heute zwar offiziell die Entscheidung Eurer Eltern damals, als sie euch taufen ließen. Aber eigentlich nehmt Ihr eine andere Wahl an. Denn noch bevor Eure Eltern überhaupt an Euch gedacht haben, hat jemand anderes Euch gewählt und SEIN Kreuz vor Euren Namen gesetzt. Bevor Ihr das Licht der Welt erblickt habt, hat Gott gesagt: Laurenz, Malte, Fabian, Oliver, Jan-Philipp, Hendrik, Arabella, Luca, Katharina, Frederik, Philipp, Tim, Johannes, Laurens, Lena, Alexander, Helena, Lukas - fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Nicht ihr habt mich gewählt, sondern ich habe euch erwählt, dass ihr viel Frucht bringt (Jes 43,1; Joh 15,16).
Wenn Ihr ein paar Jahrzehnte älter wärt, hätte Euer Konfiunterricht ein bisschen anders ausgesehen. Dann hättet Ihr Fragen und Antworten über den christlichen Glauben auswendig gelernt, dann hätten wir dienstags mit strenger Miene jemand aufgerufen und gesagt:
„Wir haben über das Glaubensbekenntnis gesprochen, da heißt es: ich glaube an die heilige, christliche Kirche - nun sag mal: Was glaubst du von der »heiligen [...] christlichen Kirche«?"
Und Ihr hättet geantwortet, so wie Ihr es auswendig gelernt hättet: Ich glaube,
dass der Sohn Gottes aus dem ganzen Menschengeschlecht sich eine auserwählte Gemeinde zum ewigen Leben durch seinen Geist und Wort in Einigkeit des wahren Glaubens von Anbeginn der Welt bis ans Ende versammelt, schützt und erhält und dass auch ich
ein lebendiges Glied dieser Gemeinde bin und ewig bleiben werde. (Heidelberger Katechismus, Frage 54).
So hat man es vor fast 450 Jahren formuliert. Ihr habt hoffentlich nach Eurem Konfirmandenunterricht nicht das Gefühl, dass wir Euch vorgefertigte Antworten aufgezwungen haben. Aber ich hoffe, dass Ihr vielleicht in eigenen, nicht ganz so altmodischen Worten, trotzdem diese Wahl annehmt. Vor Eurem Namen steht ein Kreuz, als Zeichen dafür, dass Gott Euch erwählt hat - deswegen sitzt Ihr hier. Vor Eurem Namen steht ein Kreuz, als Abkürzung für den Namen Jesus Christus, als Erinnerung daran, dass Ihr alle durch Eure Taufe untrennbar mit Christus zusammengehört. Wer Euren Namen nennt, nennt seinen Namen mit. Wer sich über Euren Namen lustig macht, macht sich über seinen Namen gleich mit lustig. Wer Euch etwas Böses will, vergreift sich an Christus selbst.
Das bedeutet für Euch auch eine Verantwortung - denn wenn ein Kreuz vor Eurem Namen steht, wenn neben Eurem Namen immer auch der Name Jesu steht, dann ist es gut, wenn Ihr überlegt, was Ihr in Eurem Leben so alles unterschreibt. Das kann das Kleine sein, sei es die Frage, ob Ihr bestimmten Videos und Fotos bei Facebook den Daumen hoch zeigt, wenn dort andere Menschen lächerlich gemacht werden. Und das wird im Laufe der Zeit immer mehr werden, wenn Ihr immer älter werdet und immer mehr Entscheidungen treffen müsst. Ihr merkt: Das Leben wird nicht einfacher, je älter man wird.
Aber Ihr seid nicht allein. Nichts, was Ihr tut oder lasst, nichts, was Andere mit Euch machen, ändert etwas daran, dass Gott „Ja" zu Euch gesagt hat. Und ich wünsche Euch, dass Ihr immer wieder von der Neugier gepackt wird, was das konkret für Euer Leben heißt. Niemand kann das Kreuz vor Eurem Namen wegradieren. Christus spricht: Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe Euch erwählt, dass Ihr hingeht und viel Frucht bringt.
Amen.
Mis.Domini, 22.04.2012, Lk.5 1-11, Stadtkirche, Holger Pyka
Liebe Gemeinde,
„Nicht ins Tiefe", schärfen wir unseren badenden Kindern ein, wenn sie noch nicht so gut schwimmen können, nicht zu weit weg vom Ufer, nicht dahin, wo die Füße nicht mehr den Boden berühren. Zur Urlaubszeit wird immer wieder vor dem Schwimmen in unbekannten Gewässern gewarnt, wo man die Strömungen unter der Oberfläche und mögliche Untiefen nicht einschätzen kann. Baggerseen scheinen da besonders gefährlich zu sein, glaubt man den Nachrichten.
Und die Baggerseen sind dabei noch gar nichts: rund 65% der Erdoberfläche gehören zur so genannten „Tiefsee", also die Abgründe im Meer, in denen es bis zu 10.000 Metern tief hinunter geht. Dort herrscht nahezu vollständige Dunkelheit, die Temperatur liegt um den Gefrierpunkt und dem Druck der Wassermassen kann kein Mensch standhalten. Rund 1% dieser Tiefsee ist erforscht, selbst über die Rückseite des Mondes wissen wir mehr. Wir wissen, dass es da unten Leben gibt. Bizarres, seltsames Leben, vielleicht kennen sie Bilder von Tiefseefischen, die mit riesigen Mäulern und Zähnen wie die Seeungeheuer aus alten Seefahrergeschichten aussehen.
Der Volksmund raunt: „Stille Wasser sind tief", und meint damit, dass sich unter der Oberfläche so mancher stiller Zeitgenossen Ungeahntes abspielt, schlafende Hunde, die man besser nicht weckt.
Also: Nicht ins Tiefe! Wirklich nicht? Jesus rät an einer Stelle etwas anderes. Hören sie selbst die bekannte Geschichte vom „Fischzug des Petrus" aus Lukas 5:
Es begab sich aber, als sich die Menge zu ihm drängte, um das Wort Gottes zu hören, da stand er am See Genezareth und sah zwei Boote am Ufer liegen; die Fischer aber waren ausgestiegen und wuschen ihre Netze. Da stieg er in eins der Boote, das Simon gehörte, und bat ihn, ein wenig vom Land wegzufahren. Und er setzte sich und lehrte die Menge vom Boot aus. Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus! Und Simon antwortete und sprach: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen. Und als sie das taten, fingen sie eine große Menge Fische, und ihre Netze begannen zu reißen. Und sie winkten ihren Gefährten, die im andern Boot waren, sie sollten kommen und mit ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide Boote voll, so daß sie fast sanken. Als das Simon Petrus sah, fiel er Jesus zu Füßen und sprach: Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch. Denn ein Schrecken hatte ihn erfaßt und alle, die bei ihm waren, über diesen Fang, den sie miteinander getan hatten, ebenso auch Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, Simons Gefährten. Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen (lebendig) fangen. Und sie brachten die Boote ans Land und verließen alles und folgten ihm nach.
Liebe Gemeinde, wir befinden uns noch am Rand des Sees, relativ am Anfang des Evangeliums - und doch hat Jesus aus Nazareth schon von sich reden gemacht. Eine Volksmenge drängt sich um ihn, Menschenmassen, die ihn hören wollen. So viele, dass er sich Platz schaffen muss; er geht zu den Fischern, die am Rand des Sees ihre Netze waschen und lässt sich von ihnen wie eine schwimmende Bühne bereitstellen: Er bat sie, ein wenig vom Ufer wegzufahren. Da steht er dann und redet, und die Menge hört staunend zu. Das kennen wir doch: Religiöse Massenveranstaltungen haben Hochkonjunktur, ob es Kirchentage oder Katholikentage oder Lutherdekaden oder Wallfahrten nach Trier sind.
Wir können das hier nicht vertiefen - auch, wenn das ja eigentlich die spannende Frage ist: Wie tief können solche religiösen Massenveranstaltungen überhaupt gehen?
Vielleicht kann das nur entscheiden, wer dabei gewesen ist. Unser Bibeltext schweigt sich darüber aus, die Volksmenge verschwindet irgendwann aus dem Bild an den Rand. Jesus hat fertig gelehrt. Nun kommt eine Einzelbegegnung inmitten des Trubels in den Blick, eine Begegnung zwischen Jesus und Petrus, in dessen Boot er sitzt:
Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!
Fahre hinaus, wo es tief ist. Fahre hinaus, weg vom Ufer und seinen seichten Gewässern. Fahr dorthin, wo Du den Boden unter den Füßen verlierst, wo Du keinen Grund siehst, wo Du nicht weißt, was sich unter der Oberfläche abspielt. Und werft eure Netze dort zum Fang aus.
Und mit der Antwort von Petrus sind wir schon in tieferen Gewässern unterwegs:
Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen
Hier schwankt der Schiffsboden schon ganz gewaltig, hier sind wir nahe am Abgrund: Wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. Was dem Freizeitangler die Urlaubsstimmung vermiest, vielleicht kennen Sie das ja aus der Familie, bedeutet im professionellen Fischfang eine mittlere Katastrophe - auch heute noch: Die ganze Nacht gearbeitet, Zeit, Geld und Arbeitskraft investiert - und der erhoffte Fang bleibt aus, das überlebensnotwendige Tagesgeschäft ist bedroht. Heute werden keine Fische verkauft, heute kommt kein Geld rein, heute werden die Familien unter Umständen hungrig ins Bett gehen.
Hier sind wir auf dem Weg in die Tiefe, denn das Eingeständnis ist kein leichtes: Es war alles umsonst. Alle Mühen, alle Arbeit - es hat nichts genützt.
Aber Petrus redet weiter. Und seine Reaktion ist doch eher unerwartet:
auf dein Wort will ich die Netze auswerfen
Wir wissen nicht, was sich auf diesem Boot zwischen Jesus und Petrus abgespielt hat, das Petrus, den erfahrenen Fischer, dazu veranlasst hat, sich von einer Landratte aus Nazareth Tipps geben zu lassen. Noch dazu eigentlich völlig unsinnige, denn mitten am Tag fährt in Galiläa kein Fischer, der was auf sich hält, raus. Vielleicht hatte dieser Jesus ein besonderes Charisma. Vielleicht hatte Petrus einfach nichts zu verlieren. Vielleicht liegt es auch daran, dass Jesus selbst mit im Boot sitzt. Dass er nicht einfach dabei steht und vom Ufer aus gute Ratschläge zuwirft, sondern selbst auf den Wellen auf und ab schaukelt und Petrus auf dem Weg ins Tiefe begleitet.
Liebe Gemeinde, lassen wir auf dem Weg ins Tiefe hier das Ruder mal einen Moment ruhen, setzen kurz den Anker und bleiben bei diesem Gedanken. Denn ich glaube, hier blitzt der Grundgedanke des biblischen Gottesbildes auf: Er sitzt mit im Boot. Davon weiß das jüdische Volk Geschichten zu erzählen: Gott ist mit ihnen, er zieht mit ihnen durch turmhohe Meeresfluten und brennend heißen Wüstensand. Vorhin haben wir uns Worte aus dem Jonapsalm geliehen, aus dem verzweifelten Hoffnungsgesang, den der in die Irre gegangene Prophet im Bauch des Fisches anstimmt, in dem er erkennt, dass er auch als Ertrinkender, dem die Luft ausgeht, dem sich das Schilf wie eine Schlinge um den Hals legt, nicht dauerhaft von Gott getrennt ist. In Jesus Christus hat Gott seine Sympathie für uns, sein (wörtlich übersetzt) Mit-Leiden auf die Spitze getrieben, auf die Spitze des Schädelberges namens Golgatha, um von dort aus in die tiefsten Tiefen von Tod und Gottverlassenheit hinabzustürzen.
Jesus sitzt mit im Boot. Das gibt Petrus den Mut, ins Tiefe zu gehen. Das ist doch auch das, was uns im Leben den Mut gibt, in die Tiefe zu gehen, uns unseren eigenen Abgründen und den heiklen Fragen zuzuwenden: Nicht der gut gemeinte Ratschlag, das aufmunternde Zurufen vom Ufer aus, sondern die Hand auf der Schulter von einem, der mit im Boot sitzt.
Für Petrus zahlt sich der Weg ins Tiefe aus, auch, wenn er alles andere als stress- und risikofrei ist.
Erstens: Wer in die Tiefe geht, kann einen großen Fang machen, größer als an der Oberfläche, wo sie alle, Sport- und Freizeitfischer und Gelegenheitsangler, ihre Ruten und Netzte ins Wasser halten. Weil sich manche Fische in die Tiefe zurückziehen. Und weil das Flachwasser und die Oberfläche abgefischt sind.
Und als sie das taten, fingen sie eine große Menge Fische, und ihre Netze begannen zu reißen,
so der Text. Wer in die Tiefe geht, der wird etwas hochholen. Das kann etwas so Gewaltiges sein, dass es die eigenen Kräfte fast übersteigt. Petrus erkennt dieses Risiko und ruft die anderen Fischer zu Hilfe. Das ist die zweite Einsicht dieses Weges ins Tiefe, dieses Fischens am Grund: Ich schaffe es nicht allein:
Und sie winkten ihren Gefährten, die im andern Boot waren, sie sollten kommen und mit ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide Boote voll, so daß sie fast sanken.
Petrus sieht, dass er Hilfe braucht - und spricht es aus. Auch das nicht ganz einfach, auch für uns nicht. Und er macht die wunderbare Erfahrung, dass er nicht allein ist. Mit Jesus im Boot stellen sich ihm andere an die Seite, um mit vereinten Kräften gemeinsam den Fang in der Tiefe an Land zu bringen, zu sichern und zu verarbeiten. Auch das ist nicht ohne Dramatik, der Fang ist so gewaltig, dass die Boote fast sinken - und wer andere dabei begleitet, wenn es ins Tiefe geht, der wird erleben, dass man da auch an die Grenzen der eigenen Kraft gehen kann. Das geht den ehrenamtlichen Mitarbeitenden im Hospiz nicht anders als dem Freund oder der Freundin, die bis in die Nacht mit am Küchentisch sitzt, Tränen trocknet und Schweigen erträgt.
Und drittens lernt Petrus etwas über sich selbst, denn der Weg in die Tiefe bleibt ambivalent. In dramatischer Sprache fährt der biblische Text fort:
Als das Simon Petrus sah, fiel er Jesus zu Füßen und sprach: Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch. Denn ein Schrecken hatte ihn erfaßt und alle, die bei ihm waren, über diesen Fang, den sie miteinander getan hatten.
Wer in tiefen Gewässern fischt, holt nicht nur die dicksten glänzenden Speisefische nach oben, sondern wirbelt vielleicht auch den Schlamm auf dem Grund des Sees auf - und stößt auf so manch versunkene Überreste, stinkende Fischkadaver oder rätselhafte, erschreckende Tiefseebewohner. Erkenntnisse über sich selbst, die nicht ohne Grund im Schlamm auf dem Grund des Sees verschüttet waren, Einsichten und Erinnerungen, die schwer zu tragen sind. Petrus zwingt es in die Knie, er sagt zu dem, der ihn in die Tiefe begleitet hat: Geh weg von mir. Ich bin ein sündiger Mensch. Da unten lauern Dinge, die so fundamental falsch gelaufen sind. Dinge, die ich getan habe oder die mir passiert sind, die andere mir getan haben, die so schäbig sind, dass ich mich vor mir selber ekele.
Wir wissen nicht, was Petrus gesehen hat, als er sich im tiefen Wasser gespiegelt hat. Wir wissen nicht, welche versunkenen Erfahrungen an die Oberfläche gekommen sind. Was sieht Petrus in der Tiefe? Was sehen wir, wenn wir uns selbst auf den Grund gehen? Welches stachelige, schleimige Tiefseeungeheuer bekommen wir zu fassen, wenn wir unter unsere spiegelglatte Oberfläche greifen?
Es ist bezeichnend, dass die Bibel die Intimität dieser Begegnung schützt. Lukas berichtet nur von der Reaktion Jesu - und vielleicht ist das das eigentlich Wundersame, das Unerwartete, das Heilvolle und das Rettende in dieser Geschichte, viel mehr als der wundersame Fischfang: Jesus wendet sich nicht ab. Er bleibt im Boot.
Fürchte dich nicht, sagt er. Ich weiß, was Du gesehen hast. Ich weiß, wer Du ist. Aber ich bleibe bei dir. Mehr noch: Von nun an sollst Du Menschen fangen, die Übersetzung ist hier etwas missverständlich, man kann auch lesen: Von nun an sollst Du Menschen das Leben schenken, für das Leben in den Bann ziehen, zu neuem Leben verhelfen. Jetzt kann Petrus das, weil er sich mit Jesus an der Hand ins Tiefe gewagt hat, sich selbst auf den Grund gegangen ist und die Erfahrung gemacht hat, dass dieser sich nicht abwendet.
Diese Begegnung verändert sein ganzes Leben. Und sie brachten die Boote an Land, verließen alles und folgten ihm nach.
Man kann nicht ewig in der Tiefe bleiben. Es geht wieder zurück an Land, zurück auf festen Boden - und doch ist nichts, wie es war.
Das ist das Verheißungsvolle an dieser Geschichte, an diesem Tiefgang.
Fahr hinaus, dorthin, wo es tief ist. Trau dich weg vom Ufer und seinen seichten Gewässern, weg von der Oberfläche, von den Menschenmassen mit ihren Erwartungen. Fahr hinaus, dorthin, wo es tief ist. Und kehre mit vertiefter Einsicht zu den Menschen zurück und lass die Erfahrungen, die Du mit Christus in der Tiefe machst, Deine Beziehungen und Dein Leben prägen. Und fürchte dich nicht, denn, so spricht Christus: Siehe, ich bin bei euch, alle Tage, bis ans Ende der Welt.
Amen.
Quasimodogeniti, 15.04.2012, "Wenn Jesu winkt, so geh'", Stadtkirche + Jonakirche, Hans Bartosch
Merk Seele dies, das große Wort :
Wenn Jesus winkt, so geh.
Wenn Jesus zieht, so eile fort.
Wenn Jesus hält, so steh.
Meine liebe Kaiserswerther und Lohauser Gemeinde,
kann ich, ja darf ich den Wechsel einer Pfarrstelle mit dem Ruf Jesu in solch unmittelbare Verbindung bringen?
Kann ich und will ich sagen : „Jesus rief mich. Und jetzt ziehe ich aus dem geliebten Kaiserswerth, aus der hochvertrauten Diakonie, aus der mir so innigen Krankenhausseelsorge weiter nach Magdeburg."
Kann ich dies so eindeutig sagen?
Mich hat es fraglos sehr berührt, dass Jonas Marquardt just bei meinem Anruf aus Magdeburg, dass ich in die neue Stelle gewählt sei, dass er just da aus seinem reichen Bücherschrank das kleine Zinzendorfsche Gesangbuch gezogen hat. Und dass er die Seite aufschlug, wohl eher : dass es die Seite aufschlug mit dem Lied:
Merk Seele dies, das große Wort : Wenn Jesus winkt, so geh.
Wenn Jesus zieht, so eile fort.
Wenn Jesus hält, so steh.
Stand und steht auf den dünn gedruckten Gesangbuchseiten mit alten gotischen Buchstaben für mich tatsächlich ein göttlicher Wink ?
Der aufgeklärte kritische Geist in mir wehrt natürlich sofort ab.
Alle von Ihnen, die je einen Ort, eine Arbeitsstelle und eine Schule gewechselt haben, wissen doch : Es gibt da, bei jedem Wechsel, immer ganz viele gute und manchmal auch schwere, vor allem aber : sehr irdische Gründe.
Und jede und jeder, der einmal zu wechseln hatte von hier nach dort, der und die wissen: Das Herz ist so eindeutig fast nie.
Es hat Lust an Wechsel und Aufbruch, das liebe Herz.
Es hängt zugleich aber , meist mit hoher Berechtigung am vertrauten Alten, ist bang und hat Schiß vor dem Neuen.
So jedenfalls ist es mir intensiv ergangen in den vergangenen Wochen.
Mit fliegenden Fahnen zu gehen, das ist mir nach 14 Kaiserswerther Seelsorge - und DiakonieJahren und vieltausend Begegnungen und Gesprächen nicht ansatzweise möglich - auch wenn Magdeburg allemal ein hochverlockendes Ziel darstellt.
Und jetzt soll doch auch noch Jesus hinter einem solchen Wechsel stehen ?
Da fällt mir sogleich die alte marxistische Religionskritik ein, die auch heute noch gilt :
Immer schon mit Gott und Jesus alles erklären, was so einfach erklärbar eben doch nicht ist, liebe Christenmenschen, damit macht ihr euch unglaubwürdig.
Das ist, so entgegne ich, wahr - wobei - andererseits ! - die rein marxistische Antwort genauso platt ist wie der Niederrhein bei Lank und genauso öde wie die Börde beim ansonsten schönen Magdeburg.
Mit diesen Einwänden zurück zu Jesus, aber nun noch(!) mal gefragt:
Diese reine Jesuanik des lieben Gesangbuchdichters Zinzendorf, ist sie nicht eigentlich plüschige Romantik ?
Merk Seele dies, das große Wort,
Wenn Jesus winkt, so geh.
Wenn Jesus zieht, so eile fort,
wenn Jesus hält, so steh.
Überhaupt, wer war Zinzendorf ?
Das war und ist und bleibt der mit den Herrnhuter Losungen, für jeden Tag für die ganze Welt ein verbindliches alttestamentliches Wort aus der großen Lostrommel gezogen und mit einem neutestamentlichen Wort verbunden.
Eine fraglos geniale Leistung.
Diese konnte nur gelingen, weil Zinzendorf im bewegten 18.Jahrhundert ein genialer Gemeinschaftsgründer - Herrnhut und andere - war, seiner Zeit weit voraus, ein Patriarch wohl nach heutigen Maßstäben, aber wenn man es übersetzt doch auch : Ein Basisdemokrat, ein Menschenrechtler, ein Weltentingler, den Konfessionen und Konventionen herzlich weniger interessierte als - verbindliche und lebendige und demokratische Gemeinden und - Jesus.
Der weltenbummelnde Sachse zog seine geistigen Wurzelkräfte aus einer der vitalsten Linien des mitteleuropäischen Christentums - aus den böhmischen Brüdern, wir würden heute sagen : den böhmischen Brüdern und Schwestern.
Das ist neben dem Bier und Vaclav Havel das Geschenk Tschechiens an Europa - diese böhmischen Brüder, verfolgt und eine Untergrundkirche, darin als erste der Welt gleichberechtigt Frauen und Männer sehend, Jungen und Mädchen bildend. Das bekamen vorher nur die Juden und die arabischen Muslime hin, im christlichen Abendland hatte sich dies alles noch nicht herumgesprochen.
Zinzendorf nun, er sog aus diesen auch familiären Wurzeln. Er schuf hieraus die geistliche und ökonomische Gemeinschaft Herrnhut sowie alle weltweiten Reisen für das Christentum und gegen die Sklaverei.
Und was gab ihm die Kraft ?
Jesus !
Merk Seele dies, das große Wort : Wenn Jesus winkt, so geh,
Wenn Jesus zieht, so eile fort.
Wenn Jesus hält, so steh.
Zinzendorf hat ein für die Geschichte der Kirche ungewöhnlich inniges Verhältnis zu seinem Jesus gepflegt. Er hat ihn innig geliebt. Er war ein fröhlicher Glaubender, Buße und Sünde interessierte ihn wenig, die Freude an Jesus das strahlte er, so seine Zeitzeugen, mit allen Fasern aus.
Da stellt sich mir allerdings die Frage - und Ihnen vielleicht auch :
Will ich diesem Zinzendorf- Jesus überhaupt folgen, diesem so persönlichen, intim freundschaftsnahen Jesus ?
Meine eigene Auseinandersetzung oder ja..Beziehung mit Jesus ist erst in den vergangenen Jahren neu geworden. Vorher sprach ich lieber distanzierter, auch ehrfürchtiger von Christus Jesus. Denn der irdische Jesus ist doch längst tot, so sagte ich mir.
Und daher, so war ich tief innen überzeugt, können wir nur vom geheimnisvollen Auferstandenen sprechen.
Ja, das bleibt wahr.
Doch seit ich vor fünf Jahren mit meiner Frau für drei Monate in Israel war, seit mir das lebendige Judentum näher gekommen ist, rückt mir Jesus wieder näher.
Denn uns Völkern kommt der ewige Gott, der Gott Israels in genau diesem Jesus entgegen.
Von diesem Judenjesus Völkermessias erzählen die Evangelien.
Vom Heiler Jesus erzählen sie, für einen Krankenhausseelsorger spielt der eine ganz entscheidende Rolle.
Vom Tempelreiniger Jesus berichten die Evangelien, für einen Diakoniker gibt dieser tempelreinigende Jesus Impulse, sehr kritisch mit diakonieeigenen Ideologien umzugehen.
Und natürlich der Bergprediger Jesus - für alle zu sagenden Worte als Pfarrer die unglaublichste Schule, alles so klar und so einfach wie möglich zu sagen - was, ich gestehe, selten nur wirklich gelingt. Aber davon abgesehen, Jesu Bergpredigt, sie gilt, ganz persönlich, und auch politisch.
Meine lieben Magdeburger und Leipziger hätten ohne Jesu Bergpredigt im Herbst 89 keine Kraft gehabt, den spätstalinistischen Staat zu knacken. Und meine lieben polnischen Werftarbeiter aus Danzig 10 Jahre davor auch nicht.
Also : Jesus.
Der ist zwar tot, konkret : grausam getötet worden. und der ist begraben.
Und zugleich lebt der , weil er im Geheimnis von Ostern von Gott auferweckt wurde.
Jesus ist damit an-sprechbar geworden, wobei wir - so die Wahrheit des christlichen Gebets - immer i m Heiligen Geist d u r c h Jesus Christus zum namenlosen ewigen und barmherzigen Gott beten, stammeln, jauchzen, aufheulen, rappeln, loben und schweigen.
Jesus kann und darf nie unser Kumpel werden, auch nicht unser Schmusegott, der lahme Allesversteher und Alleströster.
Jesus ist größer und tiefer und geheimnisvoller, weil Gott s o ist - auch diese Gottiefe im Übrigen eine der Grunderfahrungen des Grafen Zinzendorf- weil Gott s o ist, dürfen wir beten und singen:.
Merk Seele auf, dies große Wort :
Wenn Jesus winkt, so geh.
Wenn Jesus zieht, so eile fort.
Wenn Jesus hält, so steh.
Ob daher Jesus mich nach Magdeburg gerufen hat ? Vom lieben Kaiserswerth weg ?
Was wissen wir Menschen ?
Was ich in meinem Leben zu glauben gelernt habe, dies ist allerdings :
Gewiss machen und tun und entscheiden wir Menschen viel - und manchmal sogar klug.
Doch : Alles wirklich Entscheidende kommt woanders her.
Und für uns Christenmenschen ist dieses „Woandersher" mit dem Namen eines Menschen getauft und unauslöschlich verbunden : Mit dem Namen Jesus.
Diesem Namen vertraue ich nicht nur ganz persönlich - samt allem Zittern und Zagen - meinen eigenen beruflichen und persönlichen Wechsel an.
Diesem Namen vertraue ich Sie alle und alle meine lieben Diakoniekollegen und Krankenhauspatientinnen an.
Merk Seele auf, dies große Wort :
Wenn Jesus winkt, so geh.
Wenn Jesus zieht, so eile fort.
Wenn Jesus hält, so steh.
Ostersonntag 08.04.2012 1.Samuel 2, 1-8a Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ostersonntag - 9.IV.2012
1.Samuel 2, 1- 8
Liebe Kinder der Hanna!
Wer’s noch nicht ist, kann’s endlich werden:
Das zu Ostern geborene Kind einer vor Jahrtausenden unfruchtbaren Frau.
Wir sollen nämlich heute – durch ihren Lobgesang – eine Mutter ..... unsere Mutter kennen lernen, liebe Geschwister!
An solchen denkwürdigen Familienszenen hat Gott schließlich seinen größten Spaß:
Wunderbar verwirrende Geburten, unvorhergesehene Adoptionen, unbiologische, aber dafür seelisch unverbrüchliche Kindschaftsverhältnisse stiftet Er ja mit Vorliebe, und weit mehr noch als Mann und Frau fügt und fügt Er Eltern und Kinder zusammen, macht leise grau werdende Leute plötzlich zu Säugammen und Pflegevätern, schleust verwaiste Kinder in unbekannte Großfamilien ein und versippt und verschwägert die halbe Welt miteinander, bis endlich von Nord nach Süd, von Ost nach West alles einen gemeinsamen geistlichen Vater in Abraham bekennt. Und dann reibt Gott sich die Hände, wenn es so anders gekommen ist, als die Menschen es sich ausgemalt und vorgenommen haben.
Dann muss Er schmunzeln und manchmal wohl auch vergnügt klatschen, wenn immer wieder Geistesverwandte rund um den Globus und quer durch die Zeiten zueinanderfinden und Glaubensgeschwister sich erkennen wie einst Joseph und seine Brüder. ———
Heute nun also, im strahlenden Licht der Auferweckung steht sie da: Hanna.
Elfhundert Jahre trennen sie von der Zeit des Pontius Pilatus, einunddreißig Jahrhunderte von uns.
Doch dass sie ernst in aller Verklärung wirkt und wie erstarrt, das liegt nicht am Abstand der Zeiten, nein, das hat sie gemeinsam mit allen, die an diesem nie vergehenden Morgen an das Grab treten. Wir können anschauen wen wir wollen ..... die Magdalena, die Salome, die anderen in der Runde ..... es malt sich in allen ihren Zügen jene einzigartige Mischung ab, die zwischen der Lähmung abgrundtiefer Trauer und der Entgeisterung des Überglücks nicht die Mitte hält, sondern sie verschmilzt: Entsetzen und Jubel sind da verwachsen, Todes- und Geburtsschmerz bahnen sich in den selben Tränen ihren Weg.
Und darum fällt sie auch nicht weiter auf unter den Osterzeuginnen: Hanna, die doch aus grauer Vorzeit kommt und weder die Stadt Jerusalem, noch den König David kannte, noch gar die Verheißungen, die sich an beide knüpfen sollten, um dann lange später in den Tagen der Römerherrschaft bei einem Passafest in unvergleichlicher Weise gefeiert, zerstört und für immer bestätigt zu werden.
Hanna weiß nichts vom Messias, sie weiß nichts vom Reich Gottes, sie weiß nichts vom ewigen Leben. Sie kennt die Worte alle nicht, die seitdem dafür gefunden wurden und die heute inzwischen wieder ungebräuchlich und unverständlich geworden sind.
Aber in ihrem Dasein ist ein Schmerz gewesen, der so groß war, dass er im Reich des Todes nicht größer sein kann. Denn was um sie herum lebte und Leben schenkte, ging sie nichts an. Sie empfing nichts und teilte nichts von all der Lebendigkeit, von der Lebenslust und Lebensfreude, die sie narrten und marterten.
Hannas Leben war begraben, obwohl sie noch atmen musste.
Da hatte sie wahrhaftig keine Worte mehr.
Nur stumme, unsichtbare, geheime Tränen und eine Sehnsucht aus eisig einsamer Unerfülltheit.
Das stieg ihr ohne Laute aus dem Mund, hinauf ins Nichts wie dem Fisch die Blasen.
...... Aber Einer hat’s gehört: Das tonlose Schreien, die Klage der Frau mit dem gestorbenen Herzen!
Und es kam Leben in Hanna.
Ein neues Leben, das ihre ungesprochenen Worte, ihr ungebetetes Gebet, ihre nichtgehoffte Hoffnung, ihren ungläubigen Glauben weit, weit, weit übertraf.
Gott schuf Leben für Hanna, das aus der schmerzensreichen Frau und Mutter eine so freudenreiche machte, dass das Unmögliche ihr ganz leicht und ohne jeden Zweifel wurde:
Sie konnte das kostbare Leben, das sie empfing, das ihr geschenkt worden war, sogar wieder singend, jubelnd, frohlockend hergeben, weil sie gewiss war, es dennoch nicht zu verlieren!
Das ist ihr Ostertag gewesen.
So steht sie unter den anderen: Kennt alle Schmerzen und ist überwältigt von Seligkeit.
Unsere späteren Worte fehlen ihr immer noch: Dass sie vom heutigen Tage singt, dem Fest, das Gott an’s Ziel unserer Nacht und aller unserer Wege gesetzt hat; dass sie von einem Heiland singt, der selber unser Bitterstes ertrug, um mit uns seine Herrlichkeit zu teilen; dass sie das Evangelium verkündigt, das uns gepredigt wird und von dem wir nach hundert Generationen genau so leben dürfen wie einst sie ..... das alles weiß Hanna nicht.
Aber ist ihr Jubel über den, der alles Endgültige in ein wunderbares Gegenteil verkehren kann und über das Unabänderliche siegt, darum weniger herzlich wahr und mitreißend?
Der Gott, der das Unmögliche vollbringt, dessen Wunder uns am Ende der Erwartungslosigkeit erwarten, der Sicheres unsicher und Ausgeschlossenes zum Mittelpunkt macht, der drängt in Hannas Worte, Er spricht aus ihrem Lied und wird gelobt von allen, die sind und waren und werden. ——
Da muss ich - à propos - unterbrechen und tatsächlich aus einem Zeitungsartikel von vor vier Wochen vorlesen. Der Korrespondent eines großen Blattes berichtet darin aus Jerusalem:
»Eine Sicherheitskontrolle und ein kurzer Fußgängertunnel trennen die drei jungen amerikanischen Touristen noch vom Höhepunkt ihres Israel-Trips: der Klagemauer.
Das „Schalom“, mit dem sie die Soldaten an der Schleuse grüßen, klingt nach starkem Kaugummi-Akzent, dann kramen sie ihre Kippas aus dem Rucksäcken. Auf dem Weg durch den Tunnel unterhalten sie sich laut über den „spirit“ ihres Glaubens, den sie hier in Jerusalem von Anfang an fühlen konnten, ganz anders als in der Synagoge „back home“. Als sie das Ende des Tunnels erreichen, bricht das Gespräch ab.
Sichtlich berührt stehen die drei am Rande des weiten Platzes. Die Dämmerung setzt gerade ein, und die Klagemauer, die sie nun zum ersten Mal erblicken, leuchtet im Flutlicht.
Dann beendet einer mit einem Wort der Ergriffenheit das Schweigen: „Jesus!“« ——
Der Gott, der Jesus Christus von den Toten auferweckt hat, wird also gelobt von allen, die sind und waren und sein werden.
Und obwohl Hanna Christus nicht kennt, ist ihr Osterjubellied doch tatsächlich genau das: Ein Hymnus auf die Auferweckung, der etwa das verwandte Lied im Neuen Testament weit an österlicher Wahrheit übertrifft. Man kann es zwar immer wieder hören und lesen, dass der Lobgesang Mariens, das „Magnificat“ (Lk146-55) sich den Hymnus Hannas zum Vorbild nehme, doch zu sehr merkt man die Verschiedenheit im Leben der beiden Sängerinnen.
Das Mädchen Maria besingt Gottes Umkehrung aller alten Ordnungen gewiss mit dem demütigen Vergnügen eines von Aufmerksamkeit überraschten Kindes – doch in Wahrheit hat sie das alles ja noch vor sich: Die Erfahrung von Erhöhung und Erniedrigung, die Höllen- und die Himmelfahrt, das Weltgericht auf Golgatha und den Anbruch des dritten Tages.
Hanna dagegen hat es bereits erlebt: Zu sitzen im Schatten des Todes und ewig keine Hoffnung, und dann die Tatsache, für die die Menschensprache eigentlich keinen Ausdruck hat: Dass Gott aus dem Abgrund reißen und in Sein herrliches Reich versetzen kann.
Von diesem Gipfel der Wege Gottes schweigt Marias Lied..
Hanna aber spricht es – als erster Mensch der Welt – in unscheinbar glanzlosen Worten aus, deren Fassungsvermögen jedoch innerlich so beansprucht wird, dass sie vor Fülle fast bersten:
„Der HERR tötet und macht lebendig, / führt hinab zu den Toten und wieder herauf.“
Das ist das älteste Osterevangelium der Bibel.
Und weil sie die erste Zeugin dieses letzten und höchsten Wunders ist, darum ist Hanna unsterblich:
Nicht nur, dass sie – wie wir alle – einst aus dem Tode gerufen werden soll durch den, der Christus aus dem Grab führte, erhebt sie über den Staub, sondern unvergänglich ist auch ihr Name und Gedächtnis.
Kaum zufällig taucht sie daher ja tatsächlich in Gestalt der Namensvetterin Johanna am geöffneten und leeren Grab des Gekreuzigten wieder auf: Wir hörten es eben in der Lesung des Osterevangeliums (Lk2410).
Ebenso wenig zufällig hat die fromme mittelalterliche Legende Jesu Großmutter mit diesem Namen – lateinisch dann freilich: Anna – belegt.
Und noch weniger zufällig ist ihr Name unter uns Evangelischen – jedenfalls zeitweilig und in bestimmten kirchlichen Landschaften – so weitverbreitet worden, dass er tatsächlich nur mit einem einzigen weiblichen Taufnamen vergleichbar wurde:
Was den Altgläubigen Maria, die Mutter Gottes, wurde in der reformatorischen Frömmigkeit „Hanna“, die Sängerin des Osterwunders.
Schon Luther war von Hannas umgeben – Hannchen, geborene Bugenhagen, die Schwester des pommerschen Reformators und Ehefrau von Georg Rörer, dem wir die Mitschriften der luther’schen Tischreden verdanken; Anna Schurff, die Frau von Luthers Arzt und Schwägerin Melanchthons, die von den beiden Reformatoren theologisch und philologisch besserwisserisch nur „Hanna“ genannt wurde; Hanna Strauß, Luthers Großnichte, die bei ihm aufwuchs und deren Hochzeit die letzte war, die in seinem Hause gefeiert wurde –, und je biblischer die Prägung, desto häufiger kehrte der Name in den folgenden Jahrhunderten wieder.
Wenn allein meine Frau und ich in unseren unmittelbaren Familien zählen, kommen wir schon auf zehn Hannas ......
Doch was bedeutet diese von Generation zu Generation weitergereichte Erinnerung?
Was besagt diese Vorliebe für die österliche Evangelistin im Alten Testament? ——
Womöglich doch wohl dies:
Hannas Osterzeugnis für den wundertätigen Gott, der ihr das unverhoffte Leben ihres Kindes geschenkt hatte, stimmte sie ja an an jenem Tag, als sie ihren Sohn Samuel Gott zurückgab, um ihn im Heiligtum von Silo durch den Priester Eli erziehen zu lassen.
Der überwältigende Dank dieser Mutter floss also von ihrem Herzen, als sie wieder kinderlos wurde.
Sollte in ihrem Namen aber daher nicht jedes Mal auch wieder der Aufruf mitschwingen, sie – die betende Mutter – nicht für immer verwaisen zu lassen?
Sollte also wer „Hanna“ sagt, nicht vielleicht hören, dass ihr Danklied weiter Echo, dass sie weiter nach der Bestätigung ihres Gotteslobes aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge (vgl.Ps.8,3) sucht?
Hanna, die Beterin des österlichen Lebensdanks geht nach dem Abschied von Samuel also durch die Zeiten, um im Gedächtnis der Nachwelt Übereinstimmung zu wecken.
Sie sucht Geistesverwandte, die ihr Bekenntnis übernehmen, sie wirbt um weitere Kinder, die wie Samuels Name es besagt „auf Gott hören“.
Sie wirbt und sammelt sie um sich.
Auch heute.
Wenn wir ihren Lobgesang heute vernehmen, wenn wir ihn nachsprechen und auslegen, dann liegt darin demnach auch die Frage an uns:
Hörst Du? Glaubst Du?
Erhebst auch Du Deine Stimme, um dem zu danken, der lebendig macht und ewiges Leben gewährt? ——
Ich muss noch einmal die Zeitung zitieren.
Achtzig Jahre ist der Artikel alt, aber Hannas Name, Hannas Lied machen ihn zur Gegenwarts-, nein zur einzig ernsten Zukunftsfrage:
»Wie so oft fand in der Zeit nach der russischen Revolution in Moskau eine gewaltige Massenversammlung statt, die hauptsächlich von Arbeitern besucht war. Der Leiter machte gleich am Anfang bekannt, dass vollständig freie Diskussion herrsche, aber mit beschränkter Redezeit. Eine Reihe von Rednern meldete sich zu Wort, die alle die bekannten Argumente für die materialistische Weltanschauung ... eindrucksvoll vortrugen. Als alle gesprochen hatten, sagte der Leiter, ob nicht auch von der anderen Seite Argumente vorgetragen werden sollten. Wie gesagt, herrsche ja völlig freie Diskussion. Da bestieg ein kleiner, ganz abgemagerter Pope das Podium. Während er heraufstieg, rief ihm der Versammlungsleiter noch zu: „Aber bitte nur fünf Minuten!“ Er antwortete: „Zu dem, was ich zu sagen habe, werde ich keine fünf Minuten nötig haben.“ Dann begann er: „Ihr habt alles gehört, was zum Beweis der neuen Weltanschauung vorgebracht worden ist. Aber meine lieben Brüder, Christos woskrese (das heißt: „Christus ist auferstanden“).“ Man dachte, diese Worte würden ein höllisches Hohngelächter hervorrufen, in dem alles niedergeschrieen würde. Merkwürdigerweise war das Gegenteil der Fall. Aus tausend und abertausend Kehlen brach die Antwort hervor, die auf dem Höhepunkt der russischen Osternacht, wenn die Fastenzeit zuende ist und alle Menschen in einem seligen Taumel einander umarmen und küssen, unwillkürlich und unaufhaltsam wie ein Strom, der lang unter der Erde geflossen ist, dann auf einmal wie die Lava beim Ausbruch des Ätna mit elementarer Gewalt aus der Tiefe bricht. „Wo istino woskrese!“ („Er ist wahrhaftig auferstanden“).«
(Zitiert nach: Karl Heim, Weltschöpfung und Weltende, Hamburg 1958, S.167f)
Wer dazu ebenfalls nicht schweigen kann, wer dieses Echo heute weitersagt, der ist ein geistliches Kind der Hanna.
Und mit allen ihren Nachfahren wollen darum auch wir das Lied, das diese Mutter angestimmt hat, singen, jubeln und jauchzen:
Christus ist auferstanden!
Er ist wahrhaftig auferstanden!
Amen!
Karsamstag, 07.04.2012, Osternachtfeier, Stadtkirche, Holger Pyka
Liebe Gemeinde,
frohe Ostern! Seit einigen Tagen wird es einem in Geschäften hinterhergerufen, jetzt dürfen wir es offiziell sagen: „Frohe Ostern." Vom Klang her ein typisch deutscher Gruß: Frooston. Zurückhaltend, anständig, leise. Frooston. Natürlich gibt es da Varianten, je nachdem, was man so von diesem Fest hält, zu dem man sich da grüßt: Wer vor allem an die zusätzlichen freien Tage denkt, sagt: „Schöne Ostern", das kommt sprachgeschichtlich natürlich von „schöne Ferien." Wer etwas mehr auf die persönliche Frömmigkeit hält, sagt: „Gesegnete Ostern", gerne mit so einem Nachdruck auf dem ersten Wort: Geseeeegnete. Also die Vokale ganz hell, wie ein kleines Osterglockenläuten. Die richtige Antwort in jedem Fall ist ebenso typisch deutsch, kurz und bündig: Gleichfalls!
In Griechenland klingt das anders. Da ruft man sich zu Ostern zu: Χριστός ἀνέστη! (Christós anésti) Wie gesagt, das klingt anders. Das liegt zum Teil natürlich an der Sprache, im Griechischen klingt manches etwas leidenschaftlicher, forscher, härter. Wenn man bei uns sagt: „Hallo", sagt man auf Griechisch: γειά σoυ! (geiá sou) Oder χαίρετε! (chaírete)Wenn wir bescheiden-freundlich sagen: „Danköschön", ruft die Griechin: ευχαριστώ! (eucharistó)
Aber es besteht nicht nur ein sprachlicher Unterschied zwischen „Frooston" und „CHRISTOS ANESTI!": Der griechische Ostergruß ist eine kurze, aber theologisch korrekte Inhaltsangabe der Osterbotschaft, des Evangeliums überhaupt: Christus ist auferstanden! Und damit ja auch ein klares und eindeutiges Bekenntnis. In Griechenland, wo die orthodoxe Kirche eine wichtige, wenn auch nicht immer so ganz einwandfreie Rolle im öffentlichen Leben spielt, ist das nichts Außergewöhnliches - in Deutschland schon. Stellen Sie sich vor, beim Einkaufen ruft Ihnen die Kassiererin fröhlich hinterher: „Christus ist auferstanden!" Stellen Sie sich die Blicke der Leute drum herum vor. Vielleicht etwas peinlich berührt, Religion ist ja schön und gut, aber bitte zuhause, das ist Privatsache, doch nicht beim Einkaufen.
Und dabei glaube ich, es ist wichtig, dass wir das hören und uns das sagen. Weil das etwas ist, das wir uns nicht selbst ausdenken können. Wir können durch die Welt gehen und uns die Blümchen und Bäume angucken, wie im Frühling das Leben in die Natur zurückkehrt. Wir können uns ein Bergmassiv angucken und dabei ganz majestätische Gefühle bekommen und vielleicht die Ahnung haben, dass da irgendjemand, irgendwas hinter alldem steht. Wir können vielleicht ein irgendwie geartetes religiöses Gefühl haben, dass es irgendwie einen Gott gibt. Aber - wer dieser Gott ist, das können wir nur wissen, wenn er sich selbst vorstellt. So, wie er sich Israel als der vorgestellt hat, der sie aus der Gefangenschaft befreit hat. Und so wie er für Christen in den Worten und Taten, im Leben und Sterben Jesu Christi greifbar geworden ist, indem er, der all unsere menschlichen Kategorien sprengt, sich doch festnageln lässt: Auf das Kreuz auf dem Schädelberg.
Christus ist auferstanden, das können wir uns auch deshalb nur schwer selbst ausdenken, weil es gegen unsere geballte Lebenserfahrung spricht: Wenn Menschen in Diktaturen von Freiheit reden, wenn sie Gott groß und religiösen Fanatismus klein machen, wenn sie die gesellschaftlichen Normen auf den Kopf stellen - dann endet das oft tödlich. So wie das Leben immer tödlich endet, manchmal spät, manchmal viel zu früh. In dieser Welt, so wie sie ist, wie wir gleichzeitig machen und darunter leiden, spricht alles gegen das Leben und alles für den Tod. Aber: Christus ist auferstanden. Der Tod hat nicht das letzte Wort. Nicht der Tod, und nicht all die Mächte und Gewalten, derer er sich bedient: Sei es die Gier, sei es der Hass, sei es nur die biologische Uhr. Das können wir uns nicht selbst ausdenken, das muss uns gesagt werden.
Christus ist auferstanden. Wie reagiert man angemessen auf diesen Ostergruß, auf diese kernige Osterbotschaft? Stellen Sie sich vor, Sie gehen durch die Straßen und jemand brüllt Sie von der Seite an: „CHRISTOS ANESTI!!" - Wie reagieren Sie, so als abgeklärte Mitteleuropäer? Vielleicht spontan erst einmal so: „Huch!" oder „Uaaah..." Und ganz abwegig ist das ja nicht, wenn man so die Auferstehungsgeschichten aus dem Neuen Testament durchliest, dann reagieren die Menschen auf den Auferstandenen so, wie Menschen immer reagieren, wenn etwas unsere Maßstäbe sprengt: Sie kriegen einen Schreck.
Haben wir uns von dem Schreck erholt, bekommt der griechische Nachbar vielleicht ein freundliches: „Gleichfalls" zu hören. „Christus ist auferstanden!" - „Gleichfalls!"
Auch das ist gar nicht so abwegig - denn darauf läuft es hinaus. Seit Ostern. Jesus war der Erste, und seitdem haben nicht nur den Wunsch, sondern die begründete Hoffnung, dass das am Ende aller Dinge so sein wird, dass wir uns irgendwo in einer neuen Welt, in einer neuen Wirklichkeit begegnen und grüßen: „Christus ist auferstanden!" - „Gleichfalls!" - „Ich auch!" - „Friede sei mit dir."
Allerdings: Noch ist es nicht soweit. Noch müssen wir das Dunkel der Nacht mit Kerzen hell machen, um etwas zu sehen, um uns zu sehen. Noch können wir die Osterbotschaft nur glauben und hoffen und uns gegenseitig weitersagen und uns darin bestärken: Der Herr ist auferstanden - er ist wahrhaftig auferstanden. Auf Griechisch: Ἀληθῶς ἀνέστη! (alithôs anesti)
Das gibt es auch im Deutschen. Allerdings nicht an der Kasse im Supermarkt, selten im Alltag. Nur in der Kirche, als liturgische Formel: Der Liturg sagt: „Der Herr ist auferstanden", die Gemeinde antwortet: „Er ist wahrhaftig auferstanden."
Ich wünsche uns, dass wir lernen, diese Osterbotschaft neu und unverkrampft auf den Lippen zu führen, die so viel wahrer und echter ist als unser: „Frooston." - „Gleichfalls." Möge sie uns in Leben und Sterben begleiten, möge sie uns stark machen gegen alle die Mächte und Gewalten, gegen die politischen Systeme und wirtschaftlichen Ausbeutungen, gegen die Schüchternheit und die Resignation, die uns dem Tod zuspielen wollen. Sie alle werden dereinst ausgespielt haben. Und schon jetzt rufen wir ihnen mit unserem Ostergruß den Protest entgegen.
In diesem Sinne, liebe Gemeinde:
„Der Herr ist auferstanden!"
„Er ist wahrhaftig auferstanden!"
Amen.
Karfreitag 06.04.2012 Hebräer 9, 13+14 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag 6.IV.2012
Hebräer 9, 13+14
Liebe Gemeinde!
Jesus, der Mann am Kreuz blickt uns alle schon ein Leben lang an: Auf jenen Darstellungen, auf denen seine Augen noch nicht gebrochen sind. Und wir blicken ein Leben lang schon zurück auf Jesus: In sein so oft gezeigtes, erstarrtes Antlitz nach dem Todesstoß. —
Ob wir das Bild mögen, ob wir’s suchen oder meiden: Es ist da. —
Christsein heißt - noch vor allem, was uns daran bewusst, was uns fraglich, was uns wichtig werden mag – schlicht: Immer wieder auf den Sterbenden, den Toten am Kreuz in seinen letzten Zügen zu sehen.
Das ist ein Urbild, das unsern Seelen vorgehalten wird. —
Und doch steht solcherart Vertrautes uns oft viel undeutlicher vor Augen als das Fremde, das Ungewohnte. —
Darum ist es gut, dass uns Jesus, der Gekreuzigte heute nicht in dem christlichen Seelenbild begegnet, das die lateinischen Europäer seit einem Jahrtausend umgibt und begleitet, sondern in einer älteren, weniger abendländischen Gestalt:
Er wird uns heute dort gezeigt, wo er heimisch ist; er wird uns beschrieben in den Farben und in den Bildern seiner eigenen Welt, der es bekanntlich verboten war, den Menschen – das unnachahmliche Ebenbild des Schöpfers – nachzuformen.
Allenfalls das Reich der Tiere mit tiefen, alten Symbolen – Löwe, Adler, Stier – wurde in Israel künstlerisch genutzt, um zu versinnbildlichen, was man glaubt.
Und so wird uns Jesus heute also inmitten einer ganzen Schafherde geschildert und an der Seite einer roten Kuh. Doch das ist nicht der Einfall eines Franz Marc oder eines Marc Chagall, sondern das ist sein, ihm biblisch eigentümlicher Ort.
Auf seine Weise gehört Jesus, der Gekreuzigte wirklich unter die Lämmer, die Böcke und Rinder. —
Wenn sie ihn so umgeben, ist der erste Eindruck natürlich buchstäblich „pastoral“: ein Hirtenidyll. ..... Doch dieses ländliche Idyll des Hüters und der Herde deckt nur etwas Tiefes.
Das hören wir ganz leise schon in einem alten Lied aus des „Knaben Wunderhorn“, in dem zwei Hirten in der Christnacht alle erdenklichen Tiere zur Krippe führen:
„Ich will dem Kindlein schenken / Ein silberweißes Lamm, /
So viel ich mich bedenke, / Kein schöners ich bekam; /
Es hat zur linken Seite / Wie Blut so rot ein Fleck, /
Weiß nicht, was das bedeutet / Und was dahintersteckt.“
Selbst im weihnachtlichen Kinderlied also verbindet ein tiefes Geheimnis das schöne Schäflein mit dem neugeborenen König der Juden.
Diese geheimnisvolle Gemeinsamkeit zwischen Jesus und den Tieren, den Opfertieren des Gottesdienstes auf dem Zion ist aber an Karfreitag fundamental: Denn sie alle sind Gnadenbilder – die Tiere im Tempel genau so wie der Mensch auf Golgatha.
Dabei dienen sie jedoch nicht zur Besänftigung Gottes – dieses völlige Missverständnis, als giere Gott nach Blut, muss endlich einmal verschwinden –, sondern sie dienen zur Eindämmung der menschlichen Schuld und Verschuldung.
Denn dass es gottesdienstliche Opfer gibt, hat im biblischen Israel den grundlegenden Sinn der Schadensbegrenzung und der Wiederherstellung des sozialen und seelischen Friedens.
Wenn Gott nicht diese Möglichkeit einräumte, durch die stellvertretende Darbringung eines Tieres auf seinem Altar Sühne zu schaffen, dann fräße menschliche Schuld ja unersättlich weiter: Der menschliche Zwist würde weiter und weiter nach Blitzableitern suchen; wer erlittenes Unrecht vergelten oder begangene Fehltritte verbergen wollte, würde aus Gründen der Rache oder der Verdrängung weitere Gewalttaten üben. Blutfehde, Verdeckungsmorde, endlose Spiralen der verteidigenden oder triumphierenden Aggressivität zögen ihre grausige Spur durch die menschliche Gemeinschaft und ihre Geschichte.
Das alles unterbricht das Opfer.
Es gebietet den hin- und herbrandenden Schuld- und Rachehandlungen Einhalt. Mit der symbolischen Stellvertretung, die es zur Sühne und Reinigung vollzieht, schafft es Frieden.
Das ist sein Ursprung bei Verletzungen und Verbrechen, die die Unversehrtheit eines anderen Menschen antasten.
Das Blut der Böcke und Lämmer verschont also – für Israel – Menschenleben. ——
Nicht anders auf moralischem Gebiet, dort wo Gott durch den Sünder geschädigt wird.
Auch hier droht sonst eine Ausweitung, das Umsichgreifen und die Fortpflanzung von Schuld und Schaden.
Denn es genügt ja nicht, Gott einmal in seinem Gewissen erstickt zu haben oder Ihn vorüber-gehend auf die Seite zu schaffen, um freie Bahn für den Gedanken, für die Entscheidung oder Handlung zu haben, die Gott leugnen, widersprechen, widerlegen.
Ist Gott in Seinem Willen, Seinem Wort erst einmal angetastet, dann sind die Folgen unabsehbar. Denn wenn’s dem Menschen – zumindest in Israel – wirklich zu Bewusstsein kommt, dass seine Sünde einen Angriff auf Gott darstellt: Womit soll er dann die Verletzung des höchsten Vertrauens, den Einbruch in den heiligen Frieden, die Verweigerung des notwendigsten Gehorsams ausgleichen?
Soll er sein eigenes Leben oder das seines Kindes als Ersatzleistung anbieten?
Oder sich unablässig quälen mit Bußübungen der Selbstbestrafung, mit phantastischen Wiedergutmachungen, die sich doch immer greller, immer schriller steigern müssten, je weniger Gewissensruhe auf diesem Weg zu finden ist?
Diese orientierungslose Angst vor nicht zu bewältigender Schuld, in die der Mensch sich hineinbohren und immer höher schrauben kann, löst das Opfer auf.
Mit der symbolischen Stellvertretung, die es in Gottes Gegenwart eröffnet, beendet es jede Selbstkasteiung und unfruchtbare Suche nach Ventilen für die Gewissensnot und den unter-drückten Selbsthass des Sünders.
Das Blut der Böcke und Lämmer reinigt also – für Israel – die Menschenseele. ——
Neben der zwischenmenschlichen Schuld und der Sünde gegenüber Gott, gibt es aber noch eine dritte zerstörerische Not, die von den Tieren im Tempelgottesdienst übernommen wird:
Das ist der Eingriff des Todes in das Leben.
In Israel hat man es drastischer als hierzulande vor Augen, dass der Tod ansteckend ist.
Die Hitze beschleunigt die Verwesung und lässt es unübersehbar werden, dass der Keim der Fäulnis überall dort, wo der Tod wirkt, sich unerbittlich weiterfrisst: Was eben noch gesund war, verdirbt, wenn es den Tod berührt oder von ihm berührt wurde.
Darum meidet man zur körperlichen wie zur seelischen Gesunderhaltung die Nähe von Leichen: Ein Kult der Ahnen oder ihres Blutes, ein Trauerritual des Klammerns und Festhaltens an sterblichen Überresten, ist Israel verboten.
Was nicht mehr vom Atem Gottes bewegt ist, muss man hergeben.
Da muss man die Toten ihre Toten bestatten lassen.
Wer dennoch notgedrungen oder versehentlich einen Leichnam, ein Stück Tod berührt, der muss sich daher reinigen, und dazu dient das Reinigungswasser, in dem die Asche einer roten Kuh aufgelöst wurde, deren Blut zuvor zur Entsündigung siebenmal in Richtung der Stiftshütte mit der Bundeslade gesprengt wurde (vgl.4.Mose19!).
Dadurch ist das Wasser mit Asche von der roten Kuh aber mehr als bloße Seifenlauge:
Es ist die Erinnerung daran, dass Gott zwischen den Menschen und den Tod, der unaufhaltsam nach ihm greift, die Gnade der Verschonung gesetzt hat.
Damit nicht alles Fleisch verwesen muss, ist von Gottes Seite eine Reinigungsmöglichkeit gegeben, die frisches Leben freisetzt, um dem Tode verfallene Menschen zu retten.
Blut und Asche der roten Kuh bezeugen also – für Israel – Gottes Kampf gegen den Fluch des Todes. ——
Und so ist der Sinn aller Opfer, die in Jerusalem von den Tagen Salomos bis in die Zeit der christlichen Urgemeinde dargebracht wurden, anders als wir gewöhnlich meinen.
Sie füttern keinen gefräßigen Gott, der sich die Lippen nach Feuer, Fell und Fett leckt, sondern sie sind geistliche und seelische Zeichen dafür, wie Gott der maßlosen Gefräßigkeit von Schuld, Sünde und Tod Maß und Ende setzt.
Nie war der Sinn der biblischen Opfer anders als geistlich zu verstehen:
Denn dass die Eingeweide eines Widders buchstäblich menschliche Verbrechen und Frevel aufwiegen oder dass das Schlachten einer Kuh den Tod vertreibt, hat man in Israel weder gelehrt, noch geglaubt. Vielmehr hat man es immer gewusst, dass Vergebung und Verschonung einzig Gottes Werk sein können, und dass die dargebrachten Opfer ein anschauliches Mittel waren, durch das Gott Seine Gemeinde sehen lässt, wie Er die Grenzenlosigkeit menschlicher Rache und die Unermesslichkeit himmlischer Vergeltung abbricht und wie Er die ausnahmslose Unentrinnbarkeit des Todes abwendet.
Auf dem Altar des Tempels empfing also der Himmel nichts vom Menschen, sondern dem Menschen wurde im Symbol der Tiere ein sichtbares Zeichen dafür gewährt, dass Gott nicht den Tod des Sünders fordert, sondern ihm Leben und Freiheit, in einem Wort: Gnade schenkt.
Dieses Geheimnis der Stellvertretung, durch die nicht etwa Gott Genugtuung widerfährt, sondern durch die Gottes Vergebungswille seine Genügsamkeit besiegelt, hat der Apostel des Hebräerbriefes lebendig vor Augen und er kennt zugleich seinen geistlichen Sinn.
Umso mehr lenkt er darum zwar den Blick auf den Gekreuzigten unter den Opfertieren – nur will er uns dabei tief, ganz tief in das geistliche Geheimnis dieses Gnadenbildes führen.
Denn durch den ewigen Geist Gottes – so sagt’s der Hebräerapostel – hat sich der Gekreuzigte selber dargebracht.
Doch nicht etwa als Bezahlung gab er dabei sein Leben: So als würde an der Kasse Golgatha in der barbarischen Blutwährung abgerechnet, die sonst auf Erden so geläufig gültig ist.
Das ist in Wahrheit ein derart ungeistlicher Gedanke, dass man nur staunen kann, wie lange und wie quer er in den Köpfen sitzt.
Nicht als Ersatzleistung also, sondern zur Reinigung dient das durch den ewigen Geist Gottes freiwillig gegebene Leben Jesu.
Es ist nicht so, dass Gott ein Opfer bräuchte, sondern den Menschen heilt, befreit und erneuert es, das Zeichen zu sehen, das da gesetzt ist, und die Gabe zu empfangen, die da zu finden ist.
Denn der am Kreuz zeigt: Was seelisch sonst nicht zu bewältigen wäre, was sich an lauernder Wiederholungsgefahr in unseren zwischenmenschlichen Nöten ansammelt, was sich in unserer ganzen miserablen Schuld und unserer verdrängten Auflehnung gegen Gott anhäuft, ..... unser wachsender Sündendruck, den wir Heutigen gar nicht mehr ernst nehmen oder gerade noch als ein Problem behandeln, das effizient wegtherapiert werden muss, ..... die endlose Verkettung von Enttäuschungen, die wir bereiten und dann vergessen wollen, ..... die klamm-heimliche Verzweiflung darüber, dass wir Gott verabschiedet, aber dafür nichts als schrecklich starrende Leere gewonnen haben, ..... die Mord- und Selbstmordphantasien, die unsere Zivilisation und ihre lebensvernichtenden Wurzeln der Gier und Geilheit durchtränken, ..... die immer eiskalter hervortretende Alleinverantwortung der Menschheit für die Welt, ..... die seelische Hilflosigkeit, in die uns technisch Allmächtige die geringste und doch unvermeidliche Gefühlsanwandlung oder jede Erinnerung an unsere Sterblichkeit stürzt, ..... die ganze wachsende, sich steigernde, unbeherrschbare Unsumme der sozialen, religiösen und physischen Missstände auf Erden – sie wird nicht abgerechnet!
Weil es undenkbar, unerträglich, unmöglich wäre, für alles zu bezahlen, was wir einander und was wir Gott schuldig bleiben.
Weil wir ins Unendliche gerieten, wenn wir den Ausgleich schaffen, wenn wir jede Schuldigkeit aufwiegen und jedes Soll verzinsen sollten.
Von allen diesen erdrückend sich türmenden Lasten, von diesen rasend um sich fressenden Säureflecken, von diesem Verzweiflungs- und Todeskeim, der alles infiziert und zersetzt, wird unser Gewissen nämlich gereinigt durch das makellose Opfer, zu dem Jesus durch Gottes ganze Weisheit und Liebe sich selbst hergegeben hat.
Gott in Seiner Fülle also – der Vater, der Sohn und der Geist – hat es dort unternommen zu verkörpern, zu vollziehen und zu bestätigen, was zuvor die Tiere im Tempel zeigten:
Dass von oben beendet wird, was unten endlos bliebe.
Dass der Himmel nicht verlangt, was die Erde nicht bieten kann.
Dass die uferlos anschwellende Schuld- und Leidensflut der Menschheit an einen Damm stößt, der sie umfasst und begrenzt und von der Zerstörung allen Lebens in einer zweiten Sintflut fernhält.
Indem wir den Gekreuzigten als die göttliche Besiegelung dieses Verzichts auf rächendes Gericht erfassen, ..... indem wir den Gekreuzigten als die endgültige, von Gott selbst nicht hin-, sondern eingerichtete Stellvertretung erkennen, die uns unwiderruflich von unfruchtbaren, zu fruchtbaren Gedanken führt, die uns von verbissenen, zu befreiten und gerechtfertigten Sündern macht, die anstelle unserer Todesangst unserem Leben einen erneuten Anfang öffnet, ..... indem wir also erkennen wie Israel es an den Widdern und Lämmern und der roten Kuh erkannte, dass alle Knoten platzen, alle Urteile in Gnade umgewandelt sind und das Sterbenmüssen erlischt, weil Gott zu unseren Gunsten so viel Leben ausfließen lässt, ..... indem wir so biblisch zwischen Kreuz und Altar stehen, sehen wir das Gnadenbild neu.
Es ist zwar ein Bild des leidenden Leibes und muss uns daher bewegen und verstören – aber durch den Geist wird es geistlich auch zum großen Zeichen der Befreiung, des Schonens und Friedens.
Es zeigt uns gewiss einen Bruder, dessen Qual und Tod wir als Menschen mitleiden und mitfühlen – aber verhüllt in dessen menschliche Freiwilligkeit tritt doch der Versöhnungswille des lebendigen Gottes hier vor uns.
Und wir erkennen auf dem Grund des Karfreitags das Wunder der Barmherzigkeit, der Geduld und Treue, die nun nicht Gericht über uns hält, sondern uns reinigt.
Wir erkennen:
Der bedrohte Bund ist für immer bekräftigt, die verspielte Zukunft ist trotz aller Weltwirklichkeit gerettet, Hoffnung und Leben enden nicht, sondern beginnen mit der Tat dessen, der sich zu geben entschlossen hat, was wir nicht haben: Vollkommene Unschuld und Gerechtigkeit.
Und so ist es für uns das ewige Gnadenbild, wenn wir Jesus, den Mann am Kreuz erblicken.
Amen.
Palmsonntag 01.04.2012 Jesaja 50, 4-9 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Palmarum – 1.IV.2012 ה״ב
Jesaja 50, 4 – 9
Liebe Gemeinde!
Haben Sie ihn erkannt: Den Redner, dessen Zunge alle Dösenden aufrüttelt; dessen Ohr Sturmwinde vernimmt, wo andere es noch säuseln hören; dessen Hartnäckigkeit ihn wie einen Esel störrisch stehen lässt, selbst wenn man auf ihn einprügelt, selbst wenn er gezerrt, miss-handelt und aus dem Weg geräumt werden soll; den Menschen, der dem Aufgebot aller Macht die Stirn bietet? ....... Haben Sie ihn erkannt? —
Wir dachten, diese Woche würden wir wieder wie in Oberammergau einen edlen Dulder sehen, der sich mit den barocken Gesten des Jesuitentheaters allen Züchtigungen unterwirft: Stummer Augenaufschlag, hoheitsvoller Schritt sogar in Ketten, bis er wankend zu Boden geht ohne zu fluchen und ihm die rosenfarbene Schminke mitleidheischend über die präraffaelitischen Züge fließt in den nazarenischen Bart.
— Aber der Prophet lässt uns einen anderen schauen. Nicht den kitschigen Helden der harmlosen Volksfrömmigkeit, sondern ....... nun ja: Haben Sie ihn erkannt?
Die Zunge für die Müden – seine elektrisierende Beredsamkeit –, das alle Morgen geweckte Ohr – seine hellhörige Aufmerksamkeit für’s Tagesgeschehen –, der dargebotene Rücken – seine leidenswillige Sturheit –, das dem Anspeien stillhaltende Angesicht – seine unempfind-liche Konfrontationsbereitschaft –, und schließlich die Züge hart wie Kieselstein und das Wissen, nicht zuschanden zu werden – sein unbeirrbarer Dickschädel also: Wer ist das?
Das ist der Volksheld aller Zeiten! Der Inbegriff des Rebellen und Revolutionärs.
Das ist der Bürgerschreck, direkt von den Barrikaden, direkt von den Aufmärschen und Protestkundgebungen des Volkes, bei denen die christliche Gemeinde – mit der einen Ausnahme der evangelischen Kirchen in der DDR im Jahre 1989 – offiziell immer fehlte!
Und doch ist derjenige, den der Prophet beschreibt, nicht falsch identifiziert, wenn wir ihn als radikalen Demonstranten ausmachen.
Sein Bild – wie Jesaja es überliefert – ist zwar immer entschärft worden, so dass man vor allem die seelsorglichen Züge des großen Trösters in ihm fand, der hingebungsvoll auch dann noch zu den Verzagten spricht, wenn sein eigenes Leben bedroht und gefordert wird.
Doch dieses Bild des leidenden Gottesknechtes ist ein Kunstprodukt und kein Bildnis nach dem Leben. Denn es blendet aus, was heute los ist.
Heute, am Palmsonntag, sind die Zeichen nicht auf Parade mit Wimpeln, Gaudi und Hurra gestellt, sondern auf einen ungenehmigten Massenauflauf, bei dem die Leute sich die Hoff-nung aus dem Herzen brüllen bis sie heiser sind und die Behörden wutschnaubend erkennen, dass hier eine Bewegung anschwillt, die ohne Gewalt nicht mehr begrenzt werden kann.
Und der Rädelsführer steht vor uns: Gottes Knecht, der die Welt herausfordert!
Denn die Erinnerung ist wohl angebracht, dass Jesus nicht verhaftet, angeklagt und verurteilt wurde, weil er in Gethsemane mit seinen Anhängern friedlich meditierte, sondern weil er als Bringer einer neuen Welt der alten Welt zum tödlichen Ärgernis wurde und weil sein aufrührerischer Königseinzug in Jerusalem, sein buchstäblicher Umsturz, als er im Tempel gegen die Geschäftsleute handgreiflich wurde und seine Verkündigung der unterschiedslosen Gerechtigkeit Gottes Angst und Rache bei allen weckten, denen die Wahrung öffentlicher Ordnung oblag – seien es die militärischen, seien’s die religiösen Instanzen.
Seine Passion ist also das genaue Gegenteil dessen, was wir immer so verkehrt mithören:
Jesu Passion erschöpfte sich nicht in Passivität. Seine Passion erlitt er um seiner Aktionen willen. Er starb nicht nur als Opfer, sondern .... als „Täter“.
Als Täter im Sinne Bonhoeffers, dem nur zwei Dinge nach dem Untergang der christlich-abendländischen Kultur haltbar und zukunftsträchtig schienen: eben jene beiden Dinge, die Jesus vor der Entstehung des christlichen Abendlandes getan und aufgetragen hatte.
Denn – so schrieb Bonhoeffer es seinem Patenkind aus dem Gefängnis im Mai 1944 zur Taufe – „unser Christentum wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen.“
Doch eben dies – Reden mit Gott und Sich-richten-nach-Gott – reicht zur Revolution.
Wenn Menschen wirklich mit Gott sprechen und ihn dann in der Welt mitreden lassen, dann knallt’s nämlich.
Dann kommt’s zum Schwur: Ist Glaube eine einzige Sonntagsrede, die von montags bis samstags niemanden schert, weil dann andere Gesetze gelten? Oder stellt der Mensch sich mit seinem Leben unter den göttlichen Befehl: Bei Windstille wie bei Sturm, .... in harmlosen wie in Zeiten der Gefahr, .... wenn’s glatt und wenn’s schief geht, .... mit und ohne den Segen und Zuspruch seiner Zeitgenossen? ——
Das ist – ohne jede Dramatisierung! – die Frage, auf die es praktisch ankommt:
Ist wer glaubt bereit zum Widerstand?
Das wirklich Dramatische dagegen ist, wie bequem und verantwortungslos wir das Wider-ständige am Wort Gottes und an der Verantwortung vor Gott verschweigen und überhören.
Dabei ist die Geschichte der biblischen Menschen und derer, die Jesus Christus durch die Jahrtausende nachfolgten, zu allen Zeiten voller Mutproben im Widerstand, voller Weigerung und Protest gewesen.
Ø Die Propheten Gottes in Israel, die der Macht-vor-Geist-Politik Jerusalems bedingungslos bis zum Vaterlandsverrat entgegentraten;
Ø die Tröster im babylonischen Exil, die den geschichtlichen Tatsachen widersprachen bis man sie für Wahnsinnige hielt;
Ø der Mann aus Nazareth, der eine andere Welt verkündigt und aufgestoßen hat, die der bis heute bestehenden Welt den Kampf der Verwandlung ansagt;
Ø die frühen Christen, die alle Schranken von Familie, Religion und Besitz zerschlugen, die den väterlichen Sitten, dem kaiserlichen Heer, der Moral und der Kultur ihrer Zeit schlicht die Gefolgschaft kündigten und als Einzelne oder in Gemeinschaften das Neuland eines Lebens außerhalb der Welt betraten;
Ø die reichen Söhne Italiens, die just als das heute bestehende Finanz- und Kreditwesen seinen furiosen Anfang nahm die Herzen ihrer Eltern brachen, weil sie Bettler wurden, die das Geld bekämpften und deren Bettelorden zur Rettung einer verfetteten, verkauften Kirche bestimmt waren;
Ø die radikalen reformatorischen Schwärmer, die sich allen Bündnissen mit der Schwert-gewalt entzogen und die Freiheit ihres Glaubens mit dem nackten Leben verteidigten;
Ø und damit die vielen Bewegungen und Gruppen in der evangelischen Welt – von den Hugenotten bis zu den Hutterern – die sich radikal gegen jedwede Bevormundung weigerten und deren Widerstandsformen von der Zurückgezogenheit der Stillen im Lande bis zu den Abenteuern der Pilgerväter reichten, vom engen Duckmäusertum mancher Freikirchen bis zu den umwälzenden Märschen und Mahnwachen und Glaubensliedern der schwarzen Baptisten im rassistischen Nordamerika.
Unsere Geschichte, unser christliches Erbe ist also wahrlich nicht nur die Bilanz, wie wir das christliche Abendland bauten, sondern mindestens ebenso – und biblisch wohl noch besser begründet – auch die Erinnerung an das, was wir abgelehnt, unterlaufen, bekämpft und nicht mitgemacht haben.
Wir sind – in Gottes Namen – auch „Dagegen“-Leute!
Gegen die Götzen, gegen die Gewalt, gegen die Gier und gegen die Geistlosigkeit dieser Welt waren unsere Vorgänger ..... oder sie waren nicht wirklich unsere Vorgänger, sondern Verräter, die Israel an Baal, und die Kirche an den Kaiser verhökert haben, die Europa zum Pakt mit dem Materialismus und sich selbst zum Kompromiss mit dem Vorteil des geringsten Widerstands verleitet haben.
Aber der Knecht des HERRN, der am trägen Gewissen rüttelt und mit dem feinen Nerv Gottes in den Tag horcht, der sich einspannen lässt für die Sache der bessern Welt und an dem Gewalt und Hass sich austoben können, ohne dass es seine entschlossene Treue aufweicht: der bleibt auf dem Posten. Dessen Widerstand wankt nicht! ——
Falls nun jemand insgeheim vermuten sollte, gleich werde es „April, April!“ heißen, weil wir doch sonst hier in der gediegenen Stadtkirche nicht so politisch werden, weil hier doch keine Pfarrer mit strubbeligem Rauschebart und von Sitzblockaden aufgescheuerter Buxe oder sonst wie auffallend linker Haltung vorkommen, darum werde gleich entwarnt und der dumme Scherz mit dem evangelischen Protest und der protestantischen Pflicht zur Empörung werde schon noch in gemütlicherem Ton untergehen ..... der sei versichert, dass wir im Ernst und nicht zum Spaß heute vom großen Kampf und Widerstand reden!
Denn dass wir so zahm und lahm sind und den Dingen ihren Lauf lassen, das ist kein Maßstab, sondern eine Unterlassung.
Bei Ihm war jedes Wunder, jede Heilung eine Demonstration für eine andere Welt; jede Speisung vollzog Er als Protest gegen das alte Recht des satten Starken; jedes Seiner Worte an die Kinder, die Frauen, die Heiden, die Sünder war eine Unruhestiftung und ein vorwegge-nommener Umsturz; sein Leiden und sein Tod schließlich waren der Sieg über alle irdischen Mächte. —
Der, dessen Namen wir als Christen tragen, hat unsere Ruhe also nicht weg.
Ihn beunruhigt und ergreift es unwiderstehlich, was Menschen widerfährt.
Er hört mit der Hellhörigkeit des Vaters die Seufzer und Klagen der Menschenkinder.
Er weiß, was sie in Nord und Süd, in den wohlhabenden und den verdammten Ecken dieser Erde treiben; Er kennt den satten Überdruss ebenso wie die geplagte Erschöpfung; Er spricht zu allen Müden hier und dort und gibt nicht einen auf.
Er bleibt hart und widerborstig der Retter aller und lädt dafür die Abneigung, den giftigen Verdacht und die Verfolgung derer auf sich, die etwas zu verlieren haben, wenn es um Gerechtigkeit gehen soll. —
Doch das schreckt Ihn nicht, stört Ihn nicht.
Er ist von Gott geweckt, ..... Er kann und wird nicht ruhen, ehe nicht Sein Rechtsstreit entschieden und das Recht hergestellt ist:
Kommt her, wenn ihr das Menschheitsrecht anfechten wollt, für das Christus kämpft!
Kommt, wenn ihr meint, man könne tatsächlich begründen, weshalb die einen gedeihen und die anderen verderben.
Kommt her, wenn ihr den Knecht, der die Mühseligen und Beladenen erquicken will, belehren könnt, was Ihm möglich und was Ihm verboten ist.
Kommt her, wenn ihr die Stimme erheben und behaupten wollt, ein Heiland sei überflüssig und ein Helfer unerwünscht in unseren Tagen!
...... Der Menschenretter mit dem Holz- und Trotzkopf unter der Dornenkrone fordert Euch heraus! Beweist Ihm seinen Irrtum! Zeigt, dass Er umsonst gelitten hat und starb und dass das Reich, das Er ankündigt, nie kommen wird.
Kommt, ihr neuen Atheisten und ihr alten Pessimisten.
Kommt, ihr zynischen „Es-war-schon-immer-so“-Opportunisten.
Kommt und setzt auf die ewige Unerlöstheit der Welt. —
Am Freitag wollen wir uns wiedersehen.
Dann werden alle gewonnen haben, die daran glauben, dass die alten Mächte siegen und der Vorkämpfer einer neuen Kreatur verflucht und verloren ist.
Am Freitag kommt der Triumph der bestehenden Weltordnung: Da wird die Gerechtigkeit gefesselt vom Platz geführt; die Gnade wird blutüberströmt in die Knie gehen und Glaube, Hoffnung, Liebe werden mit drei Nägeln zerfetzt, gelähmt und umgebracht. ——
Wie sagt der unbelehrbare Gottesknecht?
„Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen?“ ..................
......Wartet’s ab! ———
Wie sagt er? „Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.“ ——
Freitag! .... Samstag. ............. Sonntag!
Erkennen wir Ihn?
Dort?
Amen.
Laetare, 18.03.2012, Phil 1 [12-14]15-21, Stadtkirche, Holger Pyka
Liebe Gemeinde,
Die Lateinkundigen haben vielleicht schon erraten, was nach der Überschrift dieses Sonntags heute dran ist: Laetare - sich freuen. „Klein-Ostern" hat man diesen Sonntag früher auch genannt, in der katholischen Kirche ist die liturgische Farbe heute rosa: In der Mitte der Passionszeit durchbricht ein einzelner Sonnenstrahl vom Licht des Ostermorgens das graue Einerlei und wärmt kurz die Gesichter derer, die im Staub den Kreuzweg gehen. In der Stille des fehlenden Halleluja und Gloria erklingen leise die ersten Akkorde österlicher Freudenlieder. Also: Freut euch?
Nun ja. Diese Aufforderung ist ungefähr so sinnvoll wie der Appell: „Sei doch mal spontan!" Noch mehr: Sie kann unverschämt und gefährlich sein, wenn sie dazu dienen soll, die Dinge zu verschleiern und das zu verdrängen, das keinen Grund zur Freude gibt.
Ich stelle mir vor, wie ich als Seelsorger zu einem Mann komme, der im Gefängnis sitzt. Er hat nichts verbrochen, er hat nur zu laut und zu öffentlich seine Meinung gesagt. Er ist unbequem geworden und deswegen von seinen Widersachern hinter Gittern gebracht worden. Da sitzt er nun, in einer winzigen, dreckigen Zelle. Durch ein vergittertes Fenster kann er nicht weiter schauen als bis zur nächsten Gefängnismauer, und genauso wenig kann er in seine Zukunft blicken. Von draußen erreichen ihn Briefe seiner Freunde. Draußen, wo das Leben weiterläuft, während er buchstäblich „sitzt". Draußen, wo er schon längst ersetzt scheint: Andere übernehmen seinen Job, ernten die Früchte, die er gepflanzt hat und den Dank für seine Arbeit.
Ich kann als Besucher die Zelle jeder Zeit wieder verlassen, mein Besucherausweis ist wie die berühmte Gefängniskarte beim Monopoly: Du kommst aus dem Gefängnis frei. Das, stelle ich mir vor, wäre für ihn ein Grund zur Freude. Aber der ist nicht in Sicht.
Kann ich als Unbeteiligter ihm einfach so sagen: Mensch, freu dich!? Was soll's? Wäre das nicht ein billiger Versuch, die Härte der Situation zu umgehen, wenn ich versuchen würde, seiner Haft irgendwelche positiven Seiten abzuringen? Immerhin hat er netten Kontakt zu den Wärtern, immerhin hat er jetzt endlich Zeit, Zeit, die er konstruktiv nutzen kann.
Zeit hat er in der Tat, das haben die Meisten, die im Gefängnis sitzen. Er weiß nicht, wie viel Zeit er noch hat, aber er nutzt sie gut, er denkt viel nach und bringt seine Gedanken zu Papier. Auf dem kleinen Beistelltisch liegt ein langer Brief an seine Freunde. Die besten Texte haben Christenmenschen immer aus der Not heraus geschrieben, also beuge ich mich neugierig darüber - und schäme mich ein bisschen, denn zwischen den Zeilen blitzt ein Wort hervor, das ich mich nicht getraut habe, ihm gegenüber zu benutzen: Sich freuen. Der Mensch in Gefangenschaft, der nicht weiß, was das Morgen ihm bringt, ruft es mir zu, der sich für so frei hält.
Liebe Gemeinde, ich gebe zu: Bei alldem war jetzt ein bisschen Fantasie dabei. Ich habe den Briefschreiber nicht persönlich getroffen, denn wir leben knapp zweitausend Jahre nachdem der Apostel Paulus im Gefängnis gesessen und auf seinen Prozess gewartet, als er die Zeilen an seine Lieblingsgemeinde in Philippi geschrieben hat, die heute als Predigttext vorgeschlagen sind:
[Ihr sollt aber wissen, liebe Brüder und Schwestern, dass alles, was mir widerfahren ist, nur der Förderung des Evangeliums dient. So hat sich im ganzen Prätorium und weit darüber hinaus die Kunde verbreitet, dass ich um Christi willen in Fesseln liege, und die Mehrzahl der Brüder und Schwestern ist durch meine Gefangenschaft in ihrem Vertrauen zum Herrn gestärkt worden und wagt nun immer entschiedener, das Wort ohne Furcht weiterzusagen.] Zwar verkündigen einige Christus bloss aus Neid und Streitlust, andere dagegen aus voller Überzeugung. Die einen tun es aus Liebe, weil sie wissen, dass es meine Bestimmung ist, das Evangelium zu verteidigen, die andern aber verkündigen Christus zum eigenen Vorteil, in unlauterer Gesinnung, in der Meinung, sie könnten mich, der ich in Fesseln liege, dadurch in Bedrängnis bringen. Doch was soll's! Es geht doch einzig darum, dass so oder so, aus echten oder unechten Motiven, Christus verkündigt wird, und darüber freue ich mich. Und ich werde mich auch in Zukunft freuen, denn ich weiss: Dies alles wird zu meiner Rettung führen, da ihr für mich bittet und der Geist Jesu Christi mir beisteht. Ich warte sehnsüchtig auf das, was kommen wird, und bin guter Hoffnung, dass ich in keiner Hinsicht blossgestellt werde, dass vielmehr Christus in aller Freiheit, wie bisher so auch jetzt, durch meinen Leib verherrlicht wird, sei es durch mein Weiterleben, sei es durch meinen Tod. Denn für mich gilt: Leben heisst Christus, und Sterben ist für mich Gewinn.
Liebe Gemeinde, wie so oft bei Paulusbriefen, so ist auch in diesem kurzen Absatz Stoff für eine ganze Bibliothek christlicher Dogmatik, und manche Sätze fallen mir schwer, nach zu buchstabieren. Deswegen beschränke ich mich vor allem auf zwei kleine Wörter, im Griechischen nur fünf Buchstaben: Was soll's? Das steht fast aufs Wort genau in der Mitte unseres Predigttextes. Was soll's?
Behalten wir die Situation im Auge: Paulus hat erfahren, dass in Philippi, seiner Lieblingsgemeinde, andere Prediger auftreten - anscheinend mit einem gewissen Erfolg. Und vielleicht nicht alle aus Freude an der Sache, sondern um ihn auszustechen und sich selbst in einem besseren Licht dastehen zu lassen. Wir wissen nicht, ob das die Fantasie dessen ist, der zum Zugucken verurteilt ist. Aber wir kennen vielleicht diese Gedanken: Man ist krankgeschrieben, die Kollegen melden sich von der Arbeit, die Situation ist unter Kontrolle - und da nagt der leise Zweifel, ob nicht der eine oder andere im Büro seine große Chance wittert. Ob man nicht vielleicht nach ein paar Tagen wiederkommt und feststellt, dass man ersetzbar und längst schon ausgetauscht ist.
Paulus sagt: Was soll's? Ob ich ihm diese Gelassenheit an der Stelle abnehme, weiß ich nicht - aber ich glaube, dass er seiner Gemeinde damit einen großen Dienst erweist: Ich stelle mir vor, wie das ist, in einer Gemeinde wie Philippi predigen zu müssen, wo vorher der große Paulus war und die ganze Gemeinde der guten alten Zeit hinterher trauert. Paulus macht Platz für seine Nachfolger und erinnert seine Gemeinde an das Wesentliche: Was soll's, es geht doch einzig darum, dass Christus verkündigt werde.
So eine Befreiung von Geltungssucht und Bestandssicherungsdenken, solche Gelassenheit, oder vielmehr: diese Konzentration auf das, worum es geht, würde ich mir manchmal für unsere Kirche wünschen: Wenn auf der Kreissynode der eine Tisch neidisch zu der Gemeinde hinüber schielt, die für ein innovatives Projekt das Geld bekommen hat, das man selbst gern gehabt hätte. Was soll's, es geht doch einzig darum, dass Christus verkündigt werde.
Laetare, sich freuen - mit Paulus geht das, zum Beispiel darüber, dass ihr nicht alleine kämpft: Sei es, weil andere eure losen Enden aufnehmen, sei es, weil irgendwo draußen unter den Stillen im Lande jemand in seinem Gebet Gott eure Namen nennt.
Also, was soll's?! - und jetzt wird es fast österlich. Denn das „Was soll's?!" hat einen Stachel, eine Spitze. Und die bringt all die aufgeblasenen Pläne, Paulus und seine Botschaft kleinzukriegen, zum Platzen: Vielleicht gab es wirklich konkurrierende Prediger, die sich jetzt ein größeres Publikum erhofften. Vielleicht waren da ganze Wirtschaftszweige, die ihre Einnahmen aus prachtvollen Götterstatuen und anderem religiösen Kitsch retten wollten. Vielleicht hofften einige Politiker, mit einem Bauernopfer endlich wieder Ruhe in den Staat zu bringen. Auf jeden Fall gab es genügend, die sich die Hände reiben konnten. Das war schon bei Jesus so - und auch bei dem sah es ja zuerst ganz so aus, als hätten sie es geschafft: Als er am Kreuz auf dem Schädelberg das Haupt neigte und starb und seine Jünger sich in alle Winde verstreuten. Drei Tage hatten seine Gegner Zeit, sich dafür gegenseitig auf die Schultern zu klopfen. Drei Tage, bis es Ostern wurde und der erste Tag der neuen Welt anbrach und Gott ein für allemal klar macht, dass er sich nicht aus dem Weg räumen lässt, dass der Tod und seine Handlanger nicht das letzte Wort haben und keine Nacht ewig dauert.
„Was soll's?!" - vielleicht ist das bei Paulus ein kleines Echo des großen „Christ ist erstanden", vielleicht hat sich ein einzelner Sonnenstrahl vom Licht des Ostermorgens durch die Gitterstäbe zu ihm verirrt und ihn auf ganz eigene Art aus der Zelle seiner Ängste befreit.
Wenn man danach sucht, findet man an einer weiteren Stelle in der Bibel noch so ein kleines, unspektakulär klingendes „Was soll's?!" - auch bei Paulus, diesmal im Römerbrief (3,3f.), da heißt es: „Was soll's, wenn einige untreu geworden sind? Wird ihre Untreue etwa die Treue Gottes aufheben? Gewiss nicht!"
Liebe Gemeinde, was soll's? Nun besteht der Philipperbrief und auch unser Predigttext aus mehr als nur diesen beiden Wörtern, und ich muss es noch einmal sagen: Manches von dem, was Paulus da geschrieben hat, fällt mir schwer nachzusprechen, zum Beispiel der letzte Satz: „Leben heißt Christus, und Sterben ist für mich Gewinn!"
Allerdings: Ich bin noch nie in einer Situation wie Paulus gewesen, mein Leben ist noch nie so finster gewesen, dass der Tod als die bessere Alternative dagestanden hätte. In allen Gefängnissen, in denen ich je gewesen bin, war der Besucherausweis griffbereit und der Weg nach draußen stand offen.
Aber ich kann verstehen, warum die Gemeinde in Philippi, wie Paulus schreibt, durch seine Gefangenschaft in ihrem Vertrauen zum Herrn gestärkt worden ist. Wahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem Briefe und Schriften aus Zeiten der Not und der Gefangenschaft in der Regel zu dem ergreifendsten gehören, was Christinnen und Christen hervorbringen:
Weil sie durch ihr Leben bezeugen, dass Gottes Kraft dann doch weiter reicht als unsere Fantasie. Die Tagebuchaufzeichnungen etwa von Helmut Gollwitzer aus seinen Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft tragen den Titel: „... und führen, wohin du nicht willst." Und sein Tagebuch erzählt Geschichten davon, wie auch genau dort, wo niemand von uns freiwillig hin will, unter Bedingungen, die die meisten von uns sich kaum vorstellen können, Gottes gegenwärtig ist und zwischen allen Dornen Weizenkörner auf fruchtbaren Boden fallen und sprießen und Ähren tragen. So wie der ganze Philipperbrief ein einziges Zeugnis dafür ist, dass der Geist Jesu Christi sich auch von noch so dicken Gefängnismauern nicht aufhalten lässt und Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will.
Solche Erfahrungen lassen sich nicht „machen", sie lassen sich vor allem nicht von Außenstehenden und Nicht-Betroffenen einfordern: „Mensch, jetzt freu dich doch!" Wer das tut, braucht Nachhilfe in theologischer Grammatik: Der Sonntag heißt nicht „Laetate - freut euch!", sondern „laetare - sich freuen." Er schreibt nicht vor, was zu tun ist, sondern beschreibt, was möglich ist, wenn uns aus einem Brief aus der Gefangenschaft heraus die Freiheit der Kinder Gottes um die Nase weht und ein einzelner Sonnenstrahl vom Licht des Ostermorgens unsere ganz eigenen Passionszeiten durchbricht und die Gesichter derer wärmt, die im Staub den Kreuzweg gehen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Okuli, 11.03.2012 1.Petrus 1, 18-21 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth - Okuli 11.III.2012
1.Petrus 1, 18-21
Liebe Gemeinde!
Es ist kein Geld geflossen!
Dieser geradezu peinliche Satz, in dem alles anklingt, was uns derzeit Sorgen und Schande bereitet, ist die Grundlage des Passionsevangeliums. Und vielleicht war diese Grundlage noch nie so wichtig und so neu wie heute in der Zeit größtmöglicher Käuflichkeit.
Es ist kein Geld geflossen.
Obwohl man doch so ungeheuerlich viel kaufen kann: Wir waren nicht für Geld zu haben!
— Oder wisst ihr nicht, dass vergängliches Silber und Gold keine Rolle spielten, als es darum ging, unser Leben zu retten?
Das sind gleich zwei Ohrfeigen in einem Satz, die Petrus da mit geübter Kante austeilt:
Erst erklärt er die beständigste aller Wertanlagen, deren Bedeutung heute uns so unmittelbar mit den Menschen des Altertums verbindet, zu einer hinfälligen Größe. Das allein ist schon eine Frechheit, die jeder Primitive, jeder lydische König, jeder Keltenfürst, jeder Wikinger, jeder Fugger, jeder Kolonialherr, jeder Börsianer und Bankier der Gegenwart persönlich nehmen könnte: Wenn es eine auch nur halbwegs sichere Vermögensform gibt, dann doch wohl jenes Metall, das die schöne Nofretete noch schöner, das den Schrein Sankti Suitberti noch heiliger, das die Reichsmark der Kaiserzeit und die Währung der Buren noch begehrenswerter machte.
„Gold und Silber lieb ich sehr, / kann’s auch wohl gebrauchen; /
hätt’ ich nur ein ganzes Meer, / mich hinein zu tauchen! /
’s braucht ja nicht geprägt zu sein......“ ——
„Vergänglich“ nennt Petrus dagegen das, was für uns über so lange Zeiträume hinweg seinen Glanz, seine Aura und seine Kraft behauptet und gesteigert hat.
Und dabei wird er sogar noch drastischer, denn eigentlich spricht er biologisch von den kostbaren Erzen: Er nennt sie „verrottende“, „verwesliche“ Stoffe. Das nach unseren Begriffen unveränderlich Beständige ist für ihn also ein Krepierer: Kompostmaterial.
Und die zweite Kühnheit des Petrus folgt auf dem Fuß:
— Dieses verfaulende Gold nützt nichts!, behauptet er einfach. Wie schrill das klingt in unseren Ohren, die wir uns bemühen ein aus der Not geborenes neues Bild weiterhin ernst zu nehmen, wann immer von „Rettungsschirmen“ aus Geld gesprochen wird.
Gold und dauerhafte Rettung: Das Hauptthema unserer Nachrichten wischt die gute Nachricht des Petrus einfach vom Tisch.
Um dann etwas zu sagen, das uns fast noch mehr geniert, als die unselige – und für manche von unseren Ohren wohl auch unsachliche – Provokation zum Zahlungs- als Rettunsgmittel.
Es ist kein Geld geflossen, sondern ... ja, ..... sondern es ist Blut geflossen zur Menschheitsrettung.
Dieser einfache Satz geht schwer von der Zunge in Zeiten, in denen wir die menschlichen Kosten aller Dinge verdrängen. Denn dass für alles und jedes auch Blut fließt, dass an sämtlichen Gebrauchsgegenständen und Gütern der Welt Blut klebt, das wird unserm Blick und damit auch unserem Gewissen oft genug erspart.
Wie selten sehen wir überhaupt noch, was für mich als Kind einmal eine tiefe Lektion war: Wie eine Hand, die wir lieb haben – bei mir war’s eine uralte, zittrige Hand –, sich beim Kartoffelschälen schneidet.
Oder - noch ganz undramatisch - wie der Hausbau, in dem wir es gemütlich haben, für die Arbeitenden nicht ohne böse schmerzende Blasen, nicht ohne Schrammen und Schürfwunden vonstatten ging.
Oder wie dünne Mädchenarme und -beine blutige Striemen bloß von den vielen Haselnussgerten kriegen, die sie beim Nusspflücken runterbiegen müssen, um unsere Schokoladenlust zu stillen.
Oder wie die eitrigen Hände und verätzten Füße der Bergarbeiter bluten, wie sie Blut spucken und von Gift zersetzt werden, weil sie die seltenen Erden fördern, die man braucht um all jene Geräte zu machen, durch die wir die Welt hören, sehen und verarbeiten.
Ob’s die emsigen kleinen Weber und Näher sind, ob’s die geduldigen Schrauber und Schweißer sind, die unsere ganze saubere Warenwelt auf der anderen Seite der Erdkugel ohne Schutz und ohne Rechte zusammenbasteln: Wir schwimmen in Wirklichkeit in fremdem Blut.
Aber das sehen wir nicht. Und also fließt’s für uns nicht.
Für uns fließt immer nur Geld.
Allein davon – von dieser Verdrängung und Blindheit – müssten wir einmal gerettet werden; von diesem Kuhhandel, dass wir mit Geld das Blut verdrängen, das unsere Art zu Leben, ja, das Leben grundsätzlich immer auch kostet. —
Doch beim Blut Jesu Christi geht es um noch mehr.
Das ist keine unliebsame Begleiterscheinung des Daseins und es ist auch nicht der Saft, der in der furchtbaren Kelter der Ausbeutung und Unterdrückung fließt.
Sondern es ist von Anfang an dazu bestimmt gewesen, Leben zu schaffen: Ehe irgendeine andere Form der menschlichen Existenz fertig und in diese Welt entlassen war, stand bei Gott schon fest, dass das Leben Jesu Vorrang haben sollte.
Menschliches Leben ist für Gott also vorweggenommen und bleibt bei Gott immer möglich in der einzigartigen, vollkommenen Gestalt, die es in Jesus hat.
Als solcher ist er zuvor ersehen, ehe der Welt Grund gelegt ward.
Das heißt, dass der Menschensohn aus Nazareth nicht eine Notmaßnahme Gottes, sondern der Schlüssel zur Schöpfung ist. Er dient nicht nachträglich zur Schadensbegrenzung, sondern vom Ursprung her als die Erfüllung der menschlichen Verheißung . —
Doch was ist das Schöpfungsgeheimnis Jesu?
Welchen Bauplan der Welt erkennen wir, wo er offenbart wird?
Es liegt ihm im Blut.
Wobei wir uns sofort klar machen müssen: „Blut“ bedeutet für die Bibel eben nicht nur – wie für unsere zartbesaiteten Verdrängerseelchen – das, was bei Verletzungen und Gewalttaten fließt, sondern Blut bezeichnet im eigentlichen Sinn den Kreislauf des Organismus, es ist die pulsierende, zirkulierende, vibrierende und sich erneuernde Vitalität schlechthin, es ist die Substanz der Lebendigkeit (vgl.3.Mose17,11f !!!).
Wenn wir also von Jesu Blut reden oder singen, wenn wir es meditieren und rühmen, dann geht es biblisch um seine Lebenskraft, um den Stoff seiner Wirklichkeit, um sein Innerstes und Unmittelbarstes.
Das teure Blut Christi ist nichts andres als die unendlich kostbare Tatsache seines Lebens.
Und jener Bauplan, jenes Schöpfungsgeheimnis, durch das Jesu Leben zum Muster, zum Grund und zur Vollendung der gottgewollten Menschheit wird, liegt darin, dass er eben niemandem das Leben nimmt, sondern es nur gibt ...... sein Leben gibt!
Jesus, das ist: Leben im Geben, nicht im Nehmen!
Aber eben darin hat er dann doch eine andere Blutgruppe als sie bei uns zwischen Kopf und Herz und sämtlichen Organen hin- und herpumpt.
Unser biologischer Instinkt heißt: Überleben, auch dann, wenn’s nur über Opfer geht.
Wir sind Blutgruppe Raubtier.
Er ist Lamm. Sein Wesen besteht darin, Leben zu ermöglichen, auch wenn das Opfer, das es kostet, von ihm verlangt wird. —
Jesus hat also das Retten im Blut und wir das Verderben: Wenn’s sein muss, lassen wir einen anderen eher zugrunde gehen als uns selbst. Das ist nicht nur im sprichwörtlichen Handgemenge vor den Rettungsbooten so – zu dem der mittlerweile berühmte Kapitän Schettino vor der Insel Giglio solches Anschauungsmaterial geliefert hat –, sondern eben auch auf festem Land im tiefen Frieden.
Dass unsere Nahrung, unsere Kleidung, unser Vergnügen Menschenleben kosten, .... das ist nun einmal so. Und ein bisschen schneller, ein bisschen stärker, ein bisschen besser als die anderen müssen wir auch bleiben, .... damit das auch so bleibt!
Es sei denn ...... nun, es sei denn, wir erhielten eine Bluttransfusion.
Wenn das Wolfsblut aus unseren Adern wiche und das Blut des Lammes uns zu Herzen ginge und durch unsere Glieder strömte ....
Wenn es ein solches Leben mit neuem Blut gäbe, dann würde das nach biblischem Verständnis etwas ganz Neues sein:
Denn nicht nur bedeutet neues Blut neue Lebenskraft – wie es jeder von uns erfährt, der eine Transfusion erhält –, sondern für die Alten, die nichts von Chromosomen und Genetik wussten, war das Blut ja auch der Träger der Vererbung.
Und obwohl Petrus gewiss nicht an eine Blutübertragung im medizinischen Sinne dachte, spricht er doch genau das aus, was bei einem solchen Wechsel geschieht: Er nennt die Rettung durch Christi teures Blut ja ausdrücklich eine Erlösung vom nichtigen Wandel nach der Väter Weise, oder noch wörtlicher: vom „blöden, durch die Väter vorgegebenen Lebensstil“.
Erlösung durch das Leben, das Jesus gibt, heißt also, dass die Kräfte, die bisher unser Erbgut stofflich und seelisch bestimmten, aus unserem Leben gespült werden.
Das Lamm Gottes, das uns sein Leben schenkt, schenkt uns nicht nur eine neue Zukunft, sondern auch eine neue Herkunft:
Nicht mehr aus dem bissigen Rudel und gierigen Pack, dessen Verhaltensmuster, dessen Vorlieben und Ängste bisher in unseren Blutbahnen brodelten, sondern aus dem Wesen des Lammes, aus seiner von Gott gewollten Natur dürfen wir unsere Art und Lebensweise als die Erlösten ableiten.
Nicht der angeborene Aggressionstrieb, nicht der Leitwolfterror, nicht das streunende Jagdfieber, das nach Schnäppchen für Tisch und Tasche sucht, nach Sättigung und Sieg beherrschen weiter diejenigen, die durch’s Lamm leben.
Sie haben an deren Stelle neue Triebkräfte des Daseins: Glauben und Hoffnung zu Gott.
Auf wunderbare Weise zähmt das Gejagte also die Jäger, wandelt Sammler zu Schenkenden und durchbricht das Naturgesetz „Fürchten und Gefürchtet-Werden“ durch Trauen und Glauben. —
Wie das Lamm diese Wandlung vollzieht?
Eben nicht durch äußere Mittel.
Von Angst und Schuld, von den Gewohnheiten der Jahrhunderte und den Eigenschaften einer ganzen Gattung kann man niemanden loskaufen, weil das, was die Menschheit in sich trägt, nicht abgeschätzt, aufgewogen und dann bezahlt werden kann. Dazu wäre Geld – wie jedes andere Ding – zu schwach, zu minderwertig und kraftlos.
Das Erbteil, durch das wir Menschen dem Menschen zu Wölfen werden, ist so alt und so verankert, dass wir nicht einfach zu bewegen sind, anders zu leben.
Anders leben können wir nur, wenn wir ein anderes Leben erhalten:
Wenn es uns geschenkt wird, aus neuen Quellen zu schöpfen, mit neuen Kräften versehen; wenn es uns geschenkt wird, nicht mehr nur die Muster der Urahnen und Affen fortzusetzen, nicht mehr nur die Prägungen und Erbmasse der menschlichen Vergangenheit weiterzugeben, sondern wirklich durch eine neue Nabelschnur mit neuem Leben durchblutet zu werden.
Und darum ist jener ganz besondere organische Lebenssaft, vor dem sich immer mehr Christenmenschen in der Passionszeit so fürchten und dem sich immer mehr Passionspredigten entziehen, so wichtig. —
Allerdings muss man auch hören, was die biblischen Blutzeugen uns sagen:
Petrus nämlich macht es ganz deutlich, wenn er vom teuren Blut Christi spricht, dass uns dessen Lebenskraft heute nicht bloß deshalb zugute kommt, weil es vergossen wurde, sondern weil „Gott ihn auferweckt hat von den Toten und ihm die Herrlichkeit gegeben“.
Ganz schlicht gesagt:
Das Blut Jesu schenkt uns neues Leben nicht weil er starb, sondern weil er lebt!
Und im Takt und Rhythmus seiner Lebendigkeit, getragen vom Schlagen seines Pulses, durchflossen von seiner Leidenschaft und Liebe, erfüllt von dem, was ihn erfüllt, leben mit dem Lamm auch die Seinen, mit denen es ein Herz, ein Kreislauf, eine Seele ist.
Amen.
Reminiszere, 04.03.2012, Jes.2, 1-5, Stadtkirche, Hans Bartosch
Liebe Gemeinde,
heute gibt es keine normale Predigt.
Seit Montag ist es offiziell, dass ich Kaiserswerth, die Diakonie und die dortige Krankenhausseelsorge verlassen werde, um mit meiner Frau nach Magdeburg zu gehen.
Darüber will ich Ihnen erzählen.
Und von drei Bergen. Dem Kreuzberg in Kaiserswerth, dem Domberg in Magdeburg ( was sich ja jetzt nahe legt...) als auch drittens dem Berg Zion in Jerusalem.
In zunächst unbewusster und dann umso bewussterer Abweichung vom vorgegebenen Predigtplan spreche ich nicht über Jesaja 5, den unfruchtbaren Weinberg, sondern über Jesaja 2, die Wallfahrt aller Völker zum Zion. Diese Abweichung gechieht allerdings nicht in Reaktion auf meinen anstehenden Stellenwechsel. Diese Abweichung begründe ich mit einer bewussten Abkehr von einem zumindest unbewussten Antijudaismus. Israel und der Zion sind eben nicht, wie es nahe liegen könnte, ein unfruchtbarer Weinberg, von dem Jesaja 5 erzählt. Israel und der Berg Zion sind und bleiben unser aller geistiger und geistlicher Bezugspunkt, wie wir eben in Jesaja 2 gehört haben.
Doch nun zunächst den anderen beiden Bergen, zum Kaiserswerther Kreuzberg und zum Magdeburger Domberg.
Beide sind eigentlich ein Witz und eine Beleidigung eines jeden Alpinisten, ja schon für eine zünftige Wandersfrau des Sauerländischen Gebirgsvereins ein Lacher.
Wir reden beim Kreuzberg wie beim Domberg schlicht von einer solchen Berg-höhe, die immer ausreichenden Schutz vor dem Hochwasser geboten hat, den Hochwassern von Rhein und Elbe. Es gab Zeiten - und die Älteren erinnern sich daran sicher noch - da waren diese wenigen Meter Höhenunterschied existentiell.
Nun, auf dem Kreuzberg steht ein Krankenhaus - so wie in München ein Hofbräuhaus steht.
In diesem Krankenhaus habe ich 14 Jahre als Seelsorger gearbeitet. Dieses Krankenhaus lebt verbunden mit den Gebäuden auf dem Johannisberg, der Psychiatrischen Abteilung, mit den Gebäuden auf dem Fronberg, dem Mutterhaus mit seiner Kirche und dem früheren Krankenhaus von 1903. Diese flachgebirgige Landschaft nennen wir gemeinhin Kaiserswerther Diakonie.
Im Krankenhaus auf dem Kreuzberg nun, dass viele von Ihnen als Patientinnen und Patienten sowie als Angehörige zu erleben und auch zu erleiden hatten, dort habe ich unglaublich gerne gearbeitet. Es werden etwa 40 000 Krankenbesuche gewesen sein. Aber was sagt die Zahl.
„Gott der Herr hat sie gezählet..." - das ist die einzig mögliche Antwort darauf .
So viele intensive oder auch urz-herzliche Begegnungen gab es, sicherlich auch Seelsorgefehler genauso wie es ärztliche und Pflegefehler gibt, weil wir alle eben Menschen sind.
Doch getragen gefühlt habe ich mich intensiv von einer Gemeinschaft von 1200 Mitarbeitenden unseres Krankenhauses. Eine tolle Truppe - und zugleich ein fachlich differenzietes und hochanspruchvolles medizinisch-pflegerisches Team sowie viele andere feine Menschen aus Technik, Verwaltung, Bildung und Ausbildung..
Am Montag habe ich allen diesen Kolleginnen und Kollegen , zugleich mit der Mitteilung meines Weggangs, meinen tiefen innigen Dank ausgesprochen. Und bewusste wiederhole ich dies heute morgen von der Kanzel aus.
Die Gemeinschaft der in Kaiserswerth Arbeitenden wird von einer Wurzel getragen. Diese Wurzel liegt in der Kaiserswerther Schwesternschaft. Am Dienstag in der Passionsandacht in der Mutterhauskirche war es mir eine Freude und Ehre, dies den Schwestern zu sagen. Und den verstorbenen Schwestern als Mitgliedern der oberen, uns vorangehenden Gemeinde, gilt dieser Zuruf gleichermaßen.
So wie Israel die Wurzel ist, die uns Christenmenschen aus den Völkern trägt, so ist es die Schwesternschaft, die die gesamte Kaiserswerther Diakonie trägt
Dies muss ohne Schnörkel und ohne Romantik gesagt werden, wohlwissend, wie viel Menschlich-Allzumenschliches sich auch in jeder geistlichen Gemeinschaft verbirgt.
Die andere Wurzel der Diakonie, liebe Stadtkirchengemeinde, bleibt aber auch die Gemeinde.
Kirche kann zur Not ohne Diakonie, indem man die ganzen Krankenhäuser an Helios verkauft - was ich nicht empfehlen würde, was aber theoretisch möglich ist. Die Diakonie kann allerdings nicht ohne Kirche, staatskirchenrechtlich nicht, aber auch ganz elementar und geistlich nicht.
Daher danke ich Ihnen allen persönlich und der gesamten Evangelischen Kirchengemeinde Kaiserswerth, dass Sie die Wurzel unseres christlichen Glaubens hüten und leben - einschließlich aller Verdrießlichkeiten, die dies auch manchmal mitbringt, wir dürfen doch ehrlich sein.
Aber Sie hüten eine Wurzel und geben Sie je und je weiter von Generation zu Generation.
Für einen Krankenhauspfarrer und Diakoniker bedeutet dies mehr, als Sie ahnen.
Und dass ich in dieser hellen und feinen Kirche hin und wieder predigen darf, dass ich hierhin das Gebet für die Kranken mitbringen darf und mich Ihrer Fürbitte und Unterstützung gewiss fühlen darf - wissen Sie, wie wichtig mir dies war und ist ?
Daher : Von Herzen auch allen Ihnen - Danke !
Meinem und Ihrem Kirchenkreis, der mich angestellt und bezahlt hat über 14 Jahre, werde ich an anderer Stelle auch noch ein herzliches Danke sagen.
Und Kirchenkreis und Diakonie gemeinsam im Abschiedsgottesdienst in der Osterzeit ohnehin in aller notwendigen Deutlichkeit.
Ja, aber warum geht der dann weg, der Bartosch ?
Weil es sich lohnt, mit 49 Jahren noch einmal einen neuen Schritt zu wagen.
Weil ich, vielleicht darf ich es sogar hier geistlich sagen, durchaus einen abrahamitischen Impuls empfunden habe : Geh hinfort aus Deiner Stelle, Deinem Rheinland in ein Land, das ich Dir zeigen werde.
Und ich vermute, dass viele von Ihnen, die schon einmal einen Wechsel vollzogen habe, dass Sie einen solchen abrahamitischen oder saraitischen Impuls in Ihren Herzen und Gliedern verspürt haben - einschließlich, so wie jedenfalls ich auch, einschließlich des Muffensausens und der Verzagtheit, die wohl auch dazu gehören.
Und ist nun Magdeburg das abrahamitische und saraitische Land, dass Gott, der EWIGE, für meine Frau und für mich ausersehen hat.
Gott selber gebe es, dass es so sei - samt aller zitternden Hände und wankenden Knie.
Was wartet denn in Magdeburg auf mich ?
Die Pfeifferschen Stiftungen, gleichsam die Kaiserswerther Diakonie von Sachsen-Anhalt. Diakonissen des Kaiserswerter Verbandes bilden dort genau so die Wurzel allen pflegenden, heilenden, helfenden und seelsorgenden Arbeitens, wie dies auch in Kaiserswerth ist.
Am 13. Februar hat mich der dortige Vorstand berufen zum Leiter der Stabstelle Diakonie und Seelsorge.
Ich werde zuständig sein für die Arbeit am diakonischen Profil, also sehr viel mit Fortbildungen für und mit meinen geschätzten diakonischen Mitarbeitenden.
Und ich werde zur anderen Hälfte Krankenhausseelsorge weiterbetreiben, über die Flure und Zimmer gehen, Menschen begrüßen und den Segen des Allerhöchsten im Namen Jesu, so unaufgeregt wie irgend möglich, hinterlassen.
Über der wunderschönen achteckigen Samariterkirche befindet sich ein Glasfenster. Auf diesem ist die Kaiserswerther Taube zu sehen. Könnte es einen schöneren und tröstenderen Wink geben für einen Neubeginn.
Nun liegen die Pfeifferschen Stiftungen selbst im schönen ostelbischen Stadteil Cracau und nicht auf dem Domberg.
Aber der Domberg ist nicht weit.
Auf diesem Domberg steht mein Dom. Die Katholiken haben Köln, wir Evangelischen haben Magdeburg, domtechnisch gesehen.
Köln ist zwar etwas größer, aber Magdeburg geschlossen gotisch, neben dem nahen Halberstädter Dom der veritable Höhepunkt spätmittelalterlicher Baukunst in Deutschland.
In diesem Dom wird seit 450 Jahren evangelisch gepredigt. Und dies an den Gräbern von Otto und Editha, sozusagen dem Gründerpaar Deutschlands, weil dort und nicht am Rhein dasjenige entstand, was bis heute „Deutschland" heißt.
Sie merken meinen anschwellenden sachsen-anhaltinischen Stolz. Leider muss ich sagen, dass ich als bekennder Duisburger davon ziemlich mächtig erfasst wurde.
Bis 1989 war ja hinter Helmstedt für viele meiner Generation gleichsam, wie Adenauer sagte : Asien. Umso verwunderter bis heute mein Blick, wie viel Reichtum dort kulturell zu sehen und zu spüren ist.
Magdeburg ist eine lebendige Landeshauptstadt mit einem phantastischen Elbpanorama über zwei Dutzend Flußkilometer, einem buntstrahlenden Hundertwasserhaus in der plattenbaubestimmten Innenstadt, die gleichzeitig mit dem Domplatz einen der schönsten und offensten Barockplätze Deutschlands birgt. Und in den Vorstädten reiht sich Gründerzeithaus an Gründerzeithaus.
Nein, ich bleibe Seelsorger - und bin nicht in die Fremdenverkehrsbranche gewechselt.
Zu offensichtlich, dass es dort auch Herausforderungen gibt, die nicht ohne sind.
Es gibt dort deutlich mehr Neonazis als hier im Westen.
Aber es gibt auch eine hochwirksame und wunderbar ökumenische Wachsamkeit der Kirche gegen diese Neonazis. Bischöfin Junkermann vom Magdeburger Dom ist stilistisch zurückhaltend und sachlich sehr mutig in dieser prekären Angelegenheit.
Auch die Konfessionslosigkeit im Osten ist nicht ohne. 15 % Christen gibt es noch in Magdeburg, immerhin gut die Hälfte der Pfeiffer-Mitarbeiter gehören noch einer Kirche an. Aber diese Kirche muss man gut erklären müssen.
- aber auch können. Denn manchmal bieten genau solche Umstände ja auch Chancen.
Und wahrlich ist nicht jeder konfessionslose Mensch ein schlechter Mensch, weder im Osten noch im Westen.
Vieles dort geht auch entspannter und unaufgeregter vor sich, was mir als Duisburger sehr, sehr entgegenkommt.
Wie auch immer, was auch immer, alle diese Kreuzberge und Domberge mit ihren jeweiligen Menschen, sie bleiben bezogen auf denjenigen Berg, auf den uns Jesaja im Namen des Allerhöchsten einweist, einschwört und auf den Weg bringt, auf den Weg zum Zion.
Der Zion, einer der Berge Jerusalems, so tut es uns Prophetenmund kund, der Zion wird uns alle alle zusammenführen. Es ist dies auch der Berg, in dessen Schatten Golgatha und in dessen Glanz das Wunder der österlichen Auferweckung Jesu von den Toten geschah.
Zum Berg Zion werden wir alle gerufen, Judenmenschen zuerst und nach und bei ihnen auch wir Christenmenschen.
Von dort aus wird Weisung ausgehen.
Und es wird eine Weisung des Lebens und des Friedens sein.
Ja, es wird dort die für das Bestehen der Welt überlebensnotwendige Weisung geschehen.
Die da lautet : Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Und es wird kein Volk gegen das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.
Schwerter zu Pflugscharen.
Seit dieses Bibelwort skulpturale Gestalt vor dem Gebäude der UNO am East River von New York gefunden hat, rückte es noch einmal mehr in die Tiefe unseres menschlichen Bild- und Wortgedächtnisses.
„Schwerter zu Pflugscharen" stand auf den Aufnähern, die mutige Jugendliche in den Achtzigern in der DDR auf ihre Parkas nähten. Damals zählte ich mich zur Friedensbewegung im Westen und war tief beeindruckt von den, man kann es ja wirklich sagen . Brüdern und Schwestern.
Mit „Schwerter zu Pflugscharen" begannen die Montagsdemos 1989 in Leipzig und später auch in Magdeburg. Gemeinsam mit den polnischen Werftarbeitern und dem polnischen Papst brachte dies die - auch von mir - für unüberwindbar gehaltene Mauer, den grausamen Eisernen Vorhang zum Einsturz.
So verbindet der Berg Zion wahrlich geistlich, persönlich und politisch den Kreuzberg und den Domberg, den Osten und den Westen.
Nach dorthin mögen wir schauen. Nach dorthin mögen wir ein Leben lang aufbrechen.
Von dort wird uns der allgütige und allgerechte Gott entgegenkommen , der Vater Jesu Christi voll mütterlichen Erbarmens, der Gott Israels und Richter aller Völker.
Er erfülle unsere Herzen und unsere Sinnen mit Seinem Heiligen Geist. Amen. Ja, komm Herr Jesu. Maranatha.
Sexagesimae 12,02.2012 2.Korinther12,1-10 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 12.II.2012 Sexagesimæ
2.Korinther 12, 1-10 – mit einem Bild „Apostel Paulus“ von Lovis Corinth
Liebe Gemeinde!
Wem erzählt man was, wenn viele viel erzählen?
Das ist kein so modernes Problem wie wir im Zeitalter der Stricklieseln am Sozialen Netz vielleicht meinen.
Natürlich ist die delikate Frage, ob man allen alles oder nur Unzähligen das Meiste auf die Nase binden soll, heute ein Volkssport, bei dem besorgte Eltern zur Verschwiegenheit und eifrige Plauderer und Zwitscherer im Blog und in den Freundschaftsmaschinen auf möglichst breite Masse drängen.
Aber Gerede bleibt Gerede, ob es nun virtuell oder im Flackerlicht des Kienspans und im Schweiß des Angesichts geschieht. Und auch wenn der Kreis inzwischen unüberschaubarer geworden ist, so ist das Geratsche und Geplapper in den Spinnstuben vergangener Generationen für den Lebensweg und für den Ruf des Einzelnen nicht minder entscheidend gewesen als heute die aufgedeckten Karten in den Schwatzbuden des Internet.
Aber um gleich ganz ehrlich zu sein: Einen Kreis gibt es, in dem immer schon so viel geredet und gemunkelt, geflüstert und geurteilt wurde, dass man es nur mit roten Ohren sagen kann.
Das ist die Gemeinde gewesen, die christliche Gemeinde, deren Sinn und deren Verhängnis das zwischenmenschlich-allzumenschliche Vertrautsein ist.
Da gab es immer Stoff: Ob einer mit Ernst oder nur als Heuchler Christ ist. Ob Frömmigkeit als Fassade oder unvorstellbarerweise von Herzen daherkommt. Ob dieser oder jener es genau genug oder zu genau mit seiner Moral nimmt, um unverdächtig zu sein. Ob eine Witwe anständig lang traurig oder ein Seelsorger unanständig oft lustig wirkt. .....
Der Erzählstoff der Gemeinde ist unendlich: Höchstens noch die erweitere Familie erreicht solche Nähe und diese Mischung aus aneinandergeketteter Boshaftigkeit und geschwisterlicher Treue durch Dick und Dünn. ——
....... Wenn’s bei uns etwa nicht so sein sollte, wären wir die Ausnahme.
In Korinth jedenfalls war’s so. Und sie schwätzten um die Wette, tratschten, zerrissen sich die Mäuler, lästerten, verdächtigten und rufmordeten, dass es die reinste Vorabendunterhaltung gewesen wäre, ihren Intrigen und Fiesigkeiten zuzusehen (vgl.2.Kor1220).
Wenn nicht in der Mitte einer gestanden hätte, der einem wahrlich leidtun konnte.
Das war der mit dem flackernden Blick, den Lovis Corinth (nomen est omen!) ihm verleiht: Dieser leicht irre wirkende Eckenprediger, dessen schwachbrüstige, ungelenke Erscheinung an russische Sektierer und osteuropäische Ghettojuden erinnert und dessen berühmten Sprachfehler (vgl.2.Kor1010) keine Tonkonserve aufbewahrt oder widerlegt, wie jüngst die Anderthalbminuten-Rolle, auf der man Bismarcks nicht ganz so fistelige Stimme ahnen konnte.
Gegen solch einen armen Deubel aus der Kellerluft der Judenschule eines Jerusalemer Hinterhofs auf seinem Himmelfahrtskommando, die Welt für seine Vision zu erobern, war leicht zu punkten.
Für viele Getaufte in Korinth war dieser durchreisende Evangelist schlicht eine Witzfigur: Der brave Soldat Schwejk - ein unbeholfen vorlauter Provinztrottel - für die einen; der gutmütige Stotterer, am dem die ganze Klasse sich schadlos hält, für die anderen.
Und sie machten ihn mies und madig in Korinth, wo’s nur ging:
Seine linkische Predigtweise wurde auf Kosten seiner beliebten Briefe genüsslich karikiert; sein nervöses Sendungsbewusstsein, das ihn immer auf Achse hielt, nannte man Feigheit; seine guten Beziehungen zu anderen Gemeinden nutzte man, um ihm Günstlingswirtschaft vorzuwerfen und finanzielle Abhängigkeit anzudeuten; außerdem wirkte er keine Wunder, berichtete nichts von Visionen und veranstaltete keine spektakulären Inszenierungen der Ergriffenheit, der Zungenrede oder der religiösen Trance.
Er war verflixt evangelisch: Etwas verkopft, etwas verklemmt, ohne Sinn für feierliche Auftritte, ohne das demagogische Charisma der Massenhysterie.
Mit allen diesen Vorwürfen hätte und hat er leben können: Den Ruf nach mehr Farbe und weniger Kreuz, die Klage über zu geringe Erbauung und zu komplizierte Gedanken haben sich nach ihm noch viele redlich verdient ..... ohne drum durchzudrehen.
Aber gegen Paulus richtete man noch eine andere Spitze, und die traf ihn persönlich und schmerzte.
Man griff in seine nie verheilende Wunde: Chronisch erkrankt und offensichtlich unheilbar sollte einer glaubhaft vom Heil predigen?
Was ist das für ein Arzt, gegen dessen eigenes Leid es keine Linderung geben soll?
Was für ein Bäcker ist das, der selbst kein Brot hat?
Was für ein Kaufmann ist das, dessen Handel keinen Gewinn für ihn abwirft?
Wem’s derart schlecht geht, der kann keine gute Nachricht bringen, deuteten die vielen Feinde des Paulus also an.
Werde gesund und komm wieder, bestellte man ihm aus Korinth.
Doch diese niederträchtige, närrische Logik, die den Inhalt des Evangelium gegen äußerlich erkennbare Merkmale eintauscht, gegen die Merkmale eines vermeintlich glücklich gelingenden Lebens, die sich jeder als Maske ins Gesicht schminken kann, gegen die Merkmale eines glänzenden Erfolgs, die man wie ein Kostüm zur Schau tragen kann – diese Narretei, als dürfe man die göttliche Kraft des Evangeliums mit dem Trugbild irdischer Erscheinungen verwechseln, brachte Paulus auf die Palme.
Und darum schlüpfte er in die Rolle, zu der man ihn herausforderte. Er kramte aus dem Fundus des religiösen Theaters ein Paar Stücke und trat zur Parodie an, ..... hielt allen Ernstes eine Büttenrede. So fasst er den Briefabschnitt, den wir heute betrachten, sogar selbst zusammen: „Ich bin ein Narr geworden! Dazu habt ihr mich gezwungen!“ (2.Kor1211) —
Doch in dieser Narrenrede, in der Paulus in dem ganzen schrillen religiösen Glitzerkram auftritt, der in Korinth so gut ankam, ist er sich selbst fremd.
Dabei muss er nicht einmal andrer Vögel Federn borgen; die schillernden Farben, in denen er plötzlich daherstolziert, sind keine grelle Travestie mit geliehenen Requisiten.
Im Gegenteil: Er hat einen ganzen Schatz an mystischen und visionären Erfahrungen; Ekstase und Entrückung sind ihm seit seinem Sturz vor Damaskus vertraut, als das Himmelslicht sich ihm zeigte und ihn blendete.
Paulus könnte also mitreden im Chor der großen Himmelskundigen, der geheimnisvoll Erleuchteten und seelischen Abenteuerreisenden. Er könnte Erlebnisberichte zum Besten geben: „Ich war im Jenseits“ und ein spirituelles Handbuch für Paradiessuchende schreiben.
Aber in allen diesen Rollen, die ihm zustünden, fühlt er sich wie verkleidet und verfremdet.
Und so deutet er es in seiner Büttenrede ironisch an, wie wenig er in diesen wunderbaren Erfahrungen des dritten Himmels und des Paradieses er selber war; nein, lieber spricht er davon wie von einem Dritten, der vielleicht psychosomatisch, vielleicht auch nur virtuell die andere Welt betreten hat.
Doch plötzlich kommt er zu sich! Da wo die hochfliegenden Erwartungen an den religiösen Unterhaltungskünstler durchbrochen werden, wo der Höhenrausch besonderer geistlicher Erfahrungen steil abwärts gelenkt wird, ja dort, wo es bis heute für uns ein Problem mit diesem Paulus gibt, ..... da kriegt er wieder Bodenhaftung.
An der schwierigen Stelle, dass der Mann, der uns das Glauben, Hoffen und Beten beibringt, selbst nur wirkungslos betet: Da kommt Paulus ganz zu sich.
Ja, ich habe gebetet!, sagt er. Davon kann ich Euch auch erzählen, während von den geheimen seelischen Erfahrungen zu reden sinnlos bleibt. Ich habe gebetet, wie Ihr alle an meiner Stelle würdet gebetet haben. Ich habe gebettelt, dass ich gesund würde.
Und das Ergebnis seht Ihr und kennt Ihr: Mein Gebet ist nicht erhört worden. Mein Wunsch nach Gesundheit, meine Glück-Wünsche für mich selbst sind nicht in Erfüllung gegangen.
Und darum sagt Ihr: Komm’ erst wieder, wenn’s genützt hat.
.... Ich aber sage Euch, was ich dabei gelernt habe: Das ist Gnade!
Wenn in unserem Leben nämlich Gnade – Gottes Gnade!– vorkommt, wenn wir also Christen sein dürfen, dann geht’s dabei nicht um den Genuss und Gewinn, den wir davon haben.
Christentum ist kein Trip, sondern eine Dienstreise.
Wenn’s anders wäre, müssten wir uns ja immer nur gegenseitig das Blaue vom Himmel erzählen davon, welche dröhnenden, bewusstseinserweiternden Erfahrungen uns unsere Spiritualität verschafft hat; was für eine Droge das Gebet ist, das uns auf Wolken schweben lässt; wie unbeschreiblich unsere jüngsten frommen Erfolgs- und Wundergeschichten wieder einmal waren. Und so ist der christliche Karneval ja seit den Korinther Tagen auch tatsächlich oft beschaffen, dass dort die Büttenredner immer ihre neuesten Heilungs- und Erhörungsanekdoten verbreiten und jedesmal einen Tusch ernten. ——
Doch der Witz des Christentums ist ein anderer:
Gottes wirkliche Gnade geschieht nicht, damit die Leute uns wiedererkennen und beklatschen und bewundern, sondern so, dass sie vielleicht sogar den Kopf über uns schütteln, uns für komische Vögel halten, Käuze, die den Trick des lohnenden Lebens irgendwie nicht ganz begriffen haben .... und doch kommt durch solche Gestalten Jesus in’s Spiel.
Denn wenn wir mit unseren Erfolgsgeschichten nicht im Wege stehen, wenn nicht unsere perfekte Fassade oder neiderweckende Lebensgeschichte den Blick versperrt, dann rückt der Richtige in den Mittelpunkt: Der Herr, dem wir gehören und folgen und danken .... auch wenn wir als Christen dadurch nicht sofort die Sorgenfreisten, Strahlendsten und Selbstsichersten werden.
Doch genau Ihn soll man ja schließlich auch erkennen können in dieser Welt.
Und Er ist etwas anderes, als das, was man den Zufriedenen und Ansehnlichen ansieht.
Er ist – man kann’s eben nicht besser sagen, als Er selbst – Er ist die Kraft, die in Schwachen mächtig ist.
Er ist die Hoffnung, die auch in Leidenden ansteckend wirkt.
Er ist die Liebe, die in den Übersehenen brennt und die Welt doch vor dem Dunkeln schützt.
Er ist die Weisheit, die aus den Kindern spricht.
Er ist die Zukunft, die aus den ältesten Quellen hervorbricht.
Er ist die Freiheit, die Gefangene oder Bettlägerige für ihre Feinde unüberwindlich macht.
Er ist die Macht, die Ohnmächtige zu Helden der Menschlichkeit beruft.
Er ist die Wahrheit, die uns durch Einfältige oft so überwältigend trifft.
Er ist der Trost, den gerade die Traurigen mit uns teilen.
Er ist die Rettung, die noch von Sterbenden bezeugt wird.
Er ist das Licht, das sich in der Nacht zeigt.
Er ist die Herrlichkeit, die im Tod am Kreuz siegt. ——
Das alles ist und bleibt Er aber, ohne dass es uns aus den Knopflöchern platzt oder an der Nasenspitze anzusehen wäre.
Und darum sind echte Zeugen und Botschafter Jesu oft genug nicht die, die im Mittelpunkt von Erfolgsgeschichten oder im Scheinwerferlicht der Beliebtheit stehen.
Weil nicht das, was von uns zu sagen und zu zeigen wäre, zählt und erzählenswert ist.
Nicht, was mein Glaube an Jesus mir bringt und mit mir macht, ist also wichtig.
Sondern was er anderen bringen kann.
Dafür ist aber Paulus ein beredtes Beispiel: Denn er, der Hänfling mit dem hypnotisch weit aufgerissenen Blick des Visionärs ist zum Apostel der Welt geworden – doch nicht wegen seiner inneren Erlebnisse oder seiner Persönlichkeit.
Niemand konnte je ernsthaft werden wollen wie Paulus. Aber das Licht, das aus dieser verbeulten Laterne in die Welt ausstrahlte, das hat gezündet.
Und wenn wir aufhören könnten, an unserm Bild und Glauben rumzupolieren, wenn wir unser Christentum nicht schmücken und frisieren wollten, sondern einfach von Jesu Macht und Gnade zehrten, dann würden wir sehen, wie sie genügen für uns und alle Welt.
Amen.
Letzer So.n.Epiphanias 29.01.2012 Lukas 2,29-32 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Letzter n.Epiphanias - 29.I.2012
Lukas 2, 29- 32
Zur Eröffnung des EKD-Jahres S!ngen
Liebe Gemeinde!
An den Anfang eines Singe-Jahres gleich ein Schlusslied zu setzen, mag zunächst erstaunen.
Eigentlich müsste man Morgenlieder, Kinderlieder, Zukunftslieder anstimmen, wenn man in zwölf Monate des Gemeindegesangs hinein singt.
Eigentlich müsste man – so wie es der Psalm verlangt, den wir in der „akustischen Epiphanie“ sangen (Ps.98/eg286) – „neue Lieder“ anstimmen, mit denen wir antworten auf das, was Gott uns jüngst und frisch hat hören lassen.
Denn Gottes Wort und unsere menschliche Antwort – also die beiden Epiphanien oder Erscheinungen, von und in denen unser Glaube lebt – bestehen ja nicht in Wiederholungen, sondern in ständigem lebendigem Austausch:
Immer wieder neu haucht Gott seinen Geist, um uns sein Wort vernehmen zu lassen; immer wieder neu inspiriert Gottes Wort uns; und immer wieder sonntags und alle Tage schöpfen wir Musikanten aus Athen und Rom und Wittenberg und Genf Atem und liegen uns neues Lob und neue Fragen und frischer Jubel auf der Zunge. —
Doch heute singt der alte Barde Simeon für uns; singt seinen Dankpsalm, der in die kirchliche Liturgie als Nachtgebet kurz vor dem Schweigen eingegangen ist.
„Nunc dimittis....“ – „Nun hast Du mich entlassen, nun geht Dein Knecht in den Ruhestand...“
Ein eigentümliches Thema für eine Ouvertüre: dieser Altherrengesang, dieses Schlaflied Simeons, auch wenn’s darin gar funkelt und ein Weltleuchten und ein Israelglanz darin aufgehen, die noch nie waren. ——
Und doch steht fest: Mit diesem Schwanengesang fängt das christliche Singen überhaupt an!
Wenn wirklich Christi Geburt ein Wendepunkt ist, an dem wir die Zeit in Vorher und Nachher scheiden, dann muss man ja unbedingt hellhörig werden bei der ersten Stimme, die nach diesem Ereignis laut wird.
Und siehe da! Das aufgekratzte Gemurmel der Hirten: „Lasset uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat“ ... das ist streng genommen ja noch die vorweihnachtliche Menschheit, das sind die allerletzten Takte des Advent.
Aber dann: Nachdem das Wort Fleisch wurde? .......
Da ist als erste wörtlich überlieferte Antwort aus Menschenmund auf Gottes menschgewordenes Wort Simeon zu hören, der so lange auf den Trost Israels geharrt hatte.
Und wo wir andern vielleicht „Hurra!“ geschrieen oder vor lauter Glückseligkeit keine Worte gefunden, sondern gestammelt und geschluchzt hätten, da wird Simeons lebenslange Wartezeit zum spontanen Gesang: „Endlich! Frieden! Licht!“
Dieser ganz einfache Dreiklang aus unvorstellbarer Erleichterung, aus völliger Beruhigung und aus wunderbaren Aussichten: das ist also der Akkord, mit dem das Menschheitslied nach Christi Geburt anhebt.
Es ist in dieser Reinheit, in der es zwar mit brüchiger Stimme aber vollem Herzen angestimmt wird, tatsächlich ein neues Lied, .... neu nicht wegen seines Inhalts, sondern wegen seiner Partitur.
Was Simeon in seinem Lob zu sagen hat, das geht zurück bis auf die Allerersten, denen Gottes Epiphanie widerfuhr.
Schon dem Abraham hat der HERR es nämlich verheißen (1.Mose1515): „Du sollst fahren zu deinen Vätern mit Frieden....“; und ähnlich wie der überglückliche Greis, der den Erstgeborenen der Maria auf seinen Armen trug, hat Jakob am Ende seiner Wanderschaft auf- und ausgeatmet, als er seinen totgeglaubten Sohn Joseph wieder in die Arme schloss: „Ich will nun gerne sterben, nachdem ich dein Angesicht gesehen habe, dass du noch lebst“ (1.Mose4630).
Solchen tiefen Frieden, solche Versöhnung haben also auch die Erzväter des Glaubens gekannt.
Aber ihr Gesang war ein Solo; ihr Abend- und Schlaflied war einstimmig.
Simeon dagegen ist der erste Sänger jener Menschenfischerchöre, deren Zahl unendlich ist.
Mit Simeon fängt der Chor der Kirche an: Die Vielstimmigkeit der Heiden, denen in Jesus Gottes Licht so aufgeht, dass sie am Abend des Tages, am Abend des Lebens, ja noch am Abend der Welt wie der fröhliche alte Tempelsänger Israels vom Licht, vom reinen Licht, von nichts als Licht singen sollten! ——
Es stimmt also schon: Unser tonangebender Vorsänger war demnach einer, dem der Heilige Geist angekündigt hatte, dass die Erscheinung des Heilands zugleich der Vorbote seines eigenen Todes werden würde (vgl.Lk226).
Aber man kann sich diesen Menschen an der Schwelle der kommenden Welt gar nicht vor Ohr und Auge rufen, ohne daran erinnert zu werden, dass er ein Kind in seinen Armen wiegt.
Man kann sein Abschiedslied von der Erde nur als ein „Morgenglanz der Ewigkeit“ hören; sie verschwimmen ineinander und ihre Töne verbinden sich: der alte Mann und der Säugling,
A und Ω.
Es ist also vielleicht doch kein Scherz, erst recht kein Zufall, dass ein Schlusslied unseren musikalischen Anfang darstellt.
Noch mehr: Es ist wohl auch kein Zufall, sondern die höchste Kraft und musikalische Notwendigkeit der frohen Botschaft, dass die Musik der Kirche und ihr Lied vor dem Tod nicht verstummen, sondern aufblühen.
Wir haben es in dieser Gemeinde in dieser Woche gleich zweimal erleben dürfen, wie dort, wo Kehlen zugeschnürt und die Augen voller Tränen sind, der gesungene Glaube, die Musik der Zukunft und des Trostes uns an Simeons Seite stellt: In den Frieden! Vor das Angesicht des Heilands. In ein Licht, das alle erleuchtet und dem Volk Israel um seines herrlichen Gottes willen Glanz verleiht.
Das Lied der Kirche verstummt nicht vor dem Tod.
Im Gegenteil: Als Heinrich Schütz im Simeons-Alter war, nahm er sich die größte Vertonung seines Lebens vor. Er wagte es, den 119.Psalm – den vor ihm noch niemand in Gänze komponiert hatte – mit allen seinen 176 Versen in 11 einzigartigen Motteten zu einer klingenden „Biblia in Biblia“ – als die dieser Psalm galt – zu erwecken.
Als es vollendet war, gab er seinem Haupt- und Schlusswerk den Namen „Schwanengesang“ und setzte unter das letzte „Amen“ zittrig, aber eigenhändig das Wort „Finis“: „Ende und Ziel“.
Schrieb nichts mehr, spielte nichts mehr, sondern wurde selig. —
Und als Bach das Augenlicht genommen war und er in seinem verdunkelten Sterbezimmer die Kunst der Fuge nicht mehr nach dem ursprünglichen Plan beenden konnte, da diktierte er seinem Schwiegersohn – während doch die Quadrupelfuge mit dem B-A-C-H-Thema nicht abgeschlossen war – einen Orgelchoral, den er schon zweimal bearbeitet hatte.
In dieser letzten Fassung und diesem letzten Werk seines Leben wählte er zu der Melodie aber die Verse des Abendliedes: „Vor deinen Thron tret ich hiermit.....“
Mit diesem Schluss, dass auf das eigene Lebensthema – B-A-C-H – der Schritt zu Gottes Gnadenthron demütig, aber getrost folgt, hat Bach nicht nur seine Kunst, sondern das christliche Leben und Glauben gekrönt. —
Die Beispiele ließen sich mühe- und grenzenlos mehren, wie im Singen der Kirche Schlusslieder mit der Freude auf das, was neuer ist als alles andere, sich verbinden; wie Lebensende und Lebensbejahung zusammenklingen; wie der Glaube einen Mut und eine Fröhlichkeit schenkt, die nicht zum Schweigen gebracht werden können. —
Wenn jetzt, am letzten Sonntag nach Epiphanias der große Festkreis endet, der sich in unserem Singen auf paradoxe Weise mit dem Ewigkeitssonntag ankündigt, dann können der König und die Königin unter den Chorälen natürlich nicht verschwiegen werden:
„Wachet auf, ruft uns die Stimme“ an der Schwelle, „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ am Schluss der Vor- und Nachweihnachtszeit.
Beide hat Philipp Nicolai geschrieben: vom Tod buchstäblich umfangen, als er in der Stadt Unna zur Pestzeit 1597 tagtäglich zwischen zwanzig und dreißig Menschen – unter ihnen seinen eigenen Schwestern – das Geleit zu den Massengräbern gab. ——
Es ist tatsächlich so, dass der Glaube an Jesus Christus nicht aufhören kann zu singen.
Darum fängt er mit einem letzten Lied an, das doch zugleich ein Wiegenlied ist, gesungen mit einem Säugling auf dem Arm.
Das ist das musikalische und Glaubensvermächtnis Simeons:
Dass ein Abendgesang vor lauter Licht strahlt; dass eine Schlussstrophe die Zukunft aufreißt und dass ein weiser, frommer Mensch seine eigene Erfüllung und alle Verheißungen Gottes in einem Kind, im Neuen also, nicht im Altvertrauten findet.
Und so wollen wir uns also durch dieses Jahr singen und hören:
Mit der Fröhlichkeit, die weiß, dass Anfang und Ende in Jesus eins sind; dass er unser Ziel und unsere Zukunft ist und dass die ganze Welt ihre Stimmen auf den cantus firmus Simeons stützen und in das neue Lied von Jesu Herrlichkeit in Gottes Herrschaft einstimmen wird!
Herr, nun lässest Du uns vor Freude singen,
weil wir – wie Du gesagt hast – Deinen Heiland hören,
mit dem Du uns und alle vollenden wirst:
Ein Licht zu erleuchten die Heiden,
ein Lied zum Leben und Sterben;
und zum Preis Deines Volkes Israel!
Amen.
08.01.2012, 1.S.n. Epiphanias, 1. Kor. 1,26-30, Stadtkirche + Jonakirche, Holger Pyka
Liebe Gemeinde,
Düsseldorf Hauptbahnhof am Nachmittag des Dreikönigstags. Von der Decke der Eingangshalle hängt ein einsamer Pappmachéstern, vergessene Weihnachtsdeko. Ein Pfarrer steigt um, in seinen Gedanken den Predigttext für den ersten Sonntag nach Epiphanias. Keine leichte Kost, viele große, schwere Wörter über Berufung und dergleichen. Er hat einen Stoß kleiner grüner Zettel in der Tasche, auf denen der Predigttext steht, um mit diversen Gemeindegruppen darüber ins Gespräch zu kommen. Sein Telefon klingelt. Als er in seiner Tasche kramt, fallen einige Zettel heraus. Ein Windhauch, kein Brausen, nur ein sanftes, stilles Sausen, trägt sie davon.
I.
Einige Meter weiter steht eine Romafrau mit einem Kopftuch. Vor sich hält sie ein Exemplar einer Obdachlosenzeitschrift, die restlichen liegen in einer Tüte zu ihren Füßen. Ihre kleinen Augen huschen durch die Bahnhofshalle, mit geübtem Blick behält sie das Sicherheitspersonal im Auge. Menschenschatten huschen an ihr vorbei. Ein großes Geschäft rechnet sie sich nicht aus, sie weiß mittlerweile, dass die Spendefreude der Deutschen spätestens mit den Weihnachtsbaumkugeln wieder in den Keller wandert.
Plötzlich entdeckt sie etwas. Ein, zwei Meter weiter liegt ein kleiner grüner Zettel auf dem Boden. Neugierig geht sie einen Schritt darauf zu, könnte ja was sein. Noch einen Schritt, dann beugt sie sich hinunter, kneift die Augen zusammen und versucht mit einiger Mühe, ein paar Buchstaben zu entziffern. Viel versteht sie nicht, aber ein Wort, einen Namen erkennt sie: Jesus. Isus in ihrer Muttersprache. Wissend nickt sie. Ist gut. Den kennt sie, hat ihn sogar schon gesehen. Wie ihn jede gesehen hat, die gebrochen durch die Welt geht, in einer Leidensgenossin oder im Spiegelbild auf einer Pfütze. Ist gut, nickt sie wieder entschlossen, und greift nach dem Zettel. Da - ein Windstoß, nur ein sanftes, stilles Sausen. Er trägt den Zettel ein paar Meter weiter. Sie grunzt missmütig, humpelt ein paar Schritte gebückt weiter, die Hand nach dem Zettel ausgestreckt. Wieder ein Windstoß, nur ein sanftes, stilles Sausen, wieder grunzt sie, wieder ein paar Schritte, die Hand ausgestreckt.
Am Buchladen gegenüber lehnt ein junger Mann im Anzug und betrachtet das Ganze grinsend. Er holt sein Handy raus, hält es zwischen sich und die Frau und filmt. Die Szene verspricht, lustig zu werden. Ein solches Video, im Internet hochgeladen, garantiert für mindestens eine Woche digitales Schulterklopfen.
Er wird nicht enttäuscht: Wieder ein Windstoß, nur ein sanftes, stilles Sausen, die Frau tapst dem Zettel entschlossen hinterher, kriegt ihn zu fassen, richtet sich wieder auf - und stößt mit einer Gestalt zusammen. „Oh", macht sie, doch die Gestalt scheint sie kaum wahrzunehmen. Die Frau mustert sie prüfend von oben bis unten, greift nimmt schon ihre Zeitung hoch, könnte ja was geben - da fallen ihr die schwarzen Kleider auf. Sie guckt sich die Gestalt näher an, eine feine ältere Dame, ganz in Schwarz. Im Gesicht erkennt sie eine bestimmte Art von Falten, wie sie nur auf Gesichtern entstehen, die von Muskel- und Willenskraft in Form gehalten und selten von Tränen befeuchtet werden. Sie weiß, was sie vor sich hat.
„Todt", quäkt sie und zeigt auf den schwarzen Mantel.
„Gehen alle todt, sterbe alle musse", erklärt sie nicht ohne Dramatik und weist mit einer ausladenden Handbewegung auf die Menschen um sie herum. Die Dame in Schwarz guckt der Bewegung unbeteiligt nach und senkt dann wieder den Kopf.
Die Frau im Kopftuch legt den Kopf schief. Sie will etwas Tröstendes sagen, aber ihr fehlen die Worte im Deutschen, dieser krachigen, komplizierten Sprache.
„Is scheise", stellt sie schließlich sachlich fest. Bei dem Wort zuckt die Dame in Schwarz zusammen. Dann hält sie inne. Das Wort, das ihr nie ins Haus, geschweige denn über die Lippen gekommen ist, klingt hart, ordinär, aber passend. Wie den Bissen eines unbekannten Gerichtes bewegt sie es in ihrem Mund, kaut darauf herum. Dann sagt sie leise: „Ja, sch-scheiße!" Die Frau im Kopftuch schlägt in gespieltem Entsetzen die Hand vor den Mund. „Nanana", macht sie, und droht spielerisch mit dem Zeigefinger. Da prusten die beiden Frauen plötzlich los, und lachen. Lachen - bis die Dame in Schwarz plötzlich ins Weinen übergeht. Die Frau im Kopftuch nickt. Gut. Sie blickt auf den Zettel in ihrer Hand. Isus din Nazareth. Der ist gut. Den kennt die feine Frau in dem schwarzen Mantel jetzt auch. „Nimm", sagt sie, und drückt der Dame in Schwarz den Zettel in die Hand. Diese sieht hinter den Tränen kaum etwas, spürt nur die die Wärme der kurzen Berührung. Leise weinend steht sie mit dem Zettel in der Hand da. Die Frau im Kopftuch geht leise zu ihrer Tüte mit den Zeitungen zurück.
Der junge Mann im Anzug nimmt sein Handy enttäuscht wieder herunter, blickt kurz auf die Uhr, zuckt zusammen und eilt nach draußen. Seine Aktentasche wie ein Schild vor sich gehalten, bahnt er sich einen Weg durch die Menschenmassen.
II.
Dort, draußen vor dem Bahnhof flattert ein grüner Zettel in eine Plastikschale, in der ein paar Münzen liegen. Er legt sich auf das abgerissene Stück Pappe, auf dem mit krakeliger Schrift steht: „Ich möchte essen." Dahinter erhebt sich ein unrasierter Mann ächzend von seinem ausgebreiteten Pappkarton. Er schwankt, versucht im Stehen seine Balance zu finden. Fröstelnd zieht er die Schultern zusammen, nimmt einen Schluck aus seiner Flasche, um für den langen Weg hin zur Plastikschale gerüstet zu sein. Tut einen vorsichtigen Schritt, beugt sich hinunter, der Rücken kracht und ächzt. Mit einer vor Kälte zur Klaue gekrümmten Hand fummelt er in der Schale herum, kriegt den grünen Zettel zu fassen und zieht sich wieder hoch. Er rülpst laut und wischt sich mit dem Ärmel seines speckigen Parkas über den Mund. In seinen Bartstoppeln bleiben kleine Dreckbrocken hängen.
Ein junger Mann im Anzug mit einer Aktentasche wirft einen angewiderten Blick auf ihn, beschleunigt seinen Schritt, als er in seine Duftwolke eintritt. Der Obdachlose lässt sich wieder auf seinen Pappkarton fallen. Er kann dem jungen und offensichtlich sehr erfolgreichen Mann den Blick nicht verdenken. Als er sich zum letzten Mal selbst im Spiegel gesehen hat, auf der Neujahrsfeier der Bahnhofsmission, hat er sich selbst genau diesen Blick zugeworfen. Seit nunmehr einer Woche vermeidet er deswegen erfolgreich die warmen, gekachelten Räume, in denen überall blitzblanke Spiegel hängen, Spiegel, auf denen sein eigenes Scheitern ihn aus roten Augen anstarrt. Er reibt sich die Augen, versucht, die Bilder herauszureiben, die über seine Netzhaut flimmern. Seine Ex-Frau, die leere Wohnung, nachdem der Gerichtsvollzieher mit seinen Möbelpackern alles, was nicht niet- und nagelfest war, herausgeholt hatte. Die erste Nacht im Freien. Susi, seine kleine dicke Freundin vom Worringer Platz, mit der er sich manchmal gewärmt hat. Letztes Jahr haben sie sie steif und kalt vor einer Haustür gefunden. Er nimmt noch einen Schluck, dabei fällt ihm der grüne Zettel aus der Hand. Mit zitternden Händen nimmt er ihn auf, faltet ihn auseinander - und schnalzt genervt mit der Zunge.
Irgendetwas Religiöses steht darauf, liebes Jesulein, „schwach", „gering in den Augen der Welt." Erinnert ihn an die alte Frau mit den Hundeaugen, die ihm kurz nach Silvester eine Postkarte in die Hand gedrückt hatte. „Meine Kraft ist in den Schwachen groß" oder so. Er lässt den Zettel wieder fallen. Wo soll diese Kraft sein, denkt er.
Er blinzelt, als er hochguckt und in das glatte Gesicht eines Jugendlichen sieht, der keinen Meter vor ihm steht. Hinter ihm stehen feixend drei seiner Kumpels. Er hält die Luft an, er ahnt, was kommt. Zu oft hat er es schon erlebt. Doch der Jugendliche blickt ihm in die Augen und hält ihm drei Bierflaschen hin.
„Hier, du brauchst das bestimmt nötiger", sagt er, und nickt ihm aufmunternd zu.
Der Mann zögert, dann streckt er die Hand aus.
Drei Flaschen Bier, das sind 24 Cent Pfand und ein Abend ohne Erinnerung.
Der Jugendliche lässt die Bierflaschen fallen, mit einem dumpfen Knacken zerschmettern sie auf dem Boden, das Bier schäumt und spritzt auf die Hose des Mannes.
„Ups", sagt der Jugendliche und grinst böse. Seine Kumpels johlen.
Wut brodelt in dem Mann auf, er greift nach dem erstbesten, bekommt den grünen Zettel zu fassen, knüllt ihn zusammen und wird ihn in Richtung des Jugendlichen.
Dieser schreckt vor der plötzlichen Bewegung zurück, macht eine reflexartige Handbewegung. Sein kunstvoll um den Hals gelegter Schal verrutscht dabei, vor seiner Brust prangt ein großes, protziges, goldenes Kreuz.
„Das haben wir gerne", krächzt der Obdachlose mit verrauchter Stimme und zeigt mit seinen krummen Fingern auf das Kreuz. „So'n Ding vor sich her tragen un dann arme Leute nich in Ruhe lassen!" Der Jugendliche erstarrt, wird knallrot im Gesicht, schnell versteckt er das Kreuz wieder unter dem Schal. Dann wendet er sich ab. „Lass mal gehen", zischt er seinen Kumpels zu und eilt auf die Straßenbahn zu. Seine Kumpels folgen ihm irritiert. Der Mann lehnt sich zurück und nimmt noch einen Schluck. „Wer ist hier schwach?!", murmelt er zufrieden vor sich hin.
III.
Ein paar hundert Meter weiter. Der junge Mann im Anzug betritt seine Firma. Seine Firma. Nach zwei Jahren fühlt es sich immer noch unglaublich gut an, den eigenen Namen auf dem Schild zu sehen. Einen Moment lang bleibt er stehen. Eigentlich könnte das Schild etwas mehr her machen, denkt er, die Geschäfte laufen gut, um nicht zu sagen bombig, da muss man was zeigen. Schnell tippt er eine entsprechende Erinnerung in sein Handy und löscht danach das Video von der Frau im Bahnhof. Dann geht er geradewegs in die Personalabteilung, wo noch eine Angestellte sitzt. Sie macht die letzten Briefe fertig.
Um einen geht es ihm ganz besonders. Der geht an einen Mitarbeiter, der dem Mann im Anzug schon lange ein Dorn im Auge ist. Urgestein der Firma, enger Mitarbeiter des alten Chefs, aber aus seiner Sicht einer, der dem Fortschritt und Wachstum im Wege steht. Zwanzig Jahre angestellt, unkündbar. Eigentlich. Aber, das hat der junge Mann bei einem entsprechenden Seminar erfahren, unkündbare Mitarbeiter gibt es nicht. „Irgendwelche Fehler macht jeder, Sie müssen sie ihm nur nachweisen", hatte der Referent gesagt und kumpelhaft-vertraulich hinzugefügt: „Abmahnungen schmeißen Sie am besten persönlich freitags oder samstags in den Briefkasten - wer das ganze Wochenende über einer Abmahnung gebrütet hat, ist am Montag schon kampfesmüde."
„Also, heute noch persönlich vorbeibringen", schärft der junge Mann im Anzug seiner Mitarbeiterin ein, grinst sie mit teuer gebleichten Zähnen an und verschwindet ins Wochenende.
Langsam packt die Mitarbeiterin ihre Sachen zusammen, den Brief steckt sie ein. Auf dem Weg zum Bahnhof scheint er ihre Handtasche schwer zu machen wie ein Stein.
In der S-Bahn entdeckt sie auf dem Sitz neben sich einen kleinen grünen Zettel. Zerstreut hebt sie ihn auf, eigentlich, um ihn pflichtbewusst in den Müll zu werfen. Dann wirft sie einen Blick darauf. Ein kompakter, dicht gedruckter Text, ziemlich abgehoben, stellt sie fest. Aber ein paar Wörter stechen ihr ins Auge. „Schwache". „Gerechtigkeit". „Jesus". Sie runzelt die Stirn. Als sie aussteigen muss, steckt sie den Zettel gedankenverloren in die Manteltasche.
Wenig später steht sie vor dem Eingang eines mehrstöckigen Wohnhauses. Ein paar ziemlich abgenutzte Klingelschilder, auf einem der Name ihres älteren Kollegen. Langsam hebt sie die Hand, der Zeigefinger nähert sich der Klingel. Legt sich auf den kalten, glatten Klingelknopf.
„Schwache", „Gerechtigkeit", „Jesus". Die Wortfetzen gehen ihr durch den Kopf und haben einen Satz aus ihrer Kindheit in Schlepptau: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder angetan habt, das hat ihr mir getan."
Langsam nimmt sie den Zeigefinger von der Klingel, streicht nachdenklich über das Namensschild. Denkt an ihren Kollegen, der noch gestern in der Kantine mit strahlendem Gesicht von seinen Wochenendplänen erzählt hatte. „Gerechtigkeit", schnauft sie leise. Was ist schon Gerechtigkeit. Dann wendet sie sich abrupt ab und geht. Der Brief bleibt in ihrer Tasche. Das Wochenende will sie dem Kollegen noch schenken. War eben keiner da. Mit kurzen, schnellen Schritten eilt sie nach Hause. Als sie die Hände in die Manteltasche steckt, finden ihre Finger den kleinen grünen Zettel. Unter einer Straßenlaterne bleibt sie stehen, sie holt ihn aus ihrer Tasche und liest ihn noch einmal. Auf dem Zettel steht:
Seht doch, liebe Brüder und Schwestern, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Angesehene sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist; und das Geringe vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was nichts ist, damit er zunichtemache, was etwas ist, damit sich kein Mensch vor Gott rühme. Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung. (1. Korinter 1, 26-30).
Amen.
Altjahrsabend 31.12.2011 2.Mose13,20-22 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Altjahrsabend 2011
2.Mose 13, 20–22
Liebe Gemeinde!
Am Ende zählt nicht die Vorhersage. Sondern das, was nachher zu sagen bleibt. ——
Würden wir diese Binsenweisheit wirklich verstehen, so hätten wir einen Wegweiser.
Freilich keinen, der uns wie die beliebten Hilfsgeräte heute schon immer den ganzen Weg ausrechnet, jede Kreuzung, jede Biegung und jedes Hindernis zum Vorhinein zeigt und uns mit flötender Stimme unfehlbare Anweisungen für eine schnelle, glatte und vorhersehbare Reise gibt.
Solche Vorhersagen, die wir allzu gern in Anspruch nehmen, um uns die eigene Orientierung zu sparen, um die Sorgen auszuschalten und uns scheinbar sicherer Lenkung ohne eigenes Planen und Suchen und Umkehren zu überlassen, .... solche Vorhersagen trügen.
Man kann ihnen nicht trauen. Man soll ihnen nicht folgen, zumal nicht blind: das lehrt schon die Erfahrung mit den vermeintlich nützlichen Pfadfindern der Technik.
Auf Gottes Wegen mit uns gibt es jedenfalls keine derart unumstößlich festgelegten und reibungslos zielgerichteten Ansagen.
Das gilt es zunächst in’s Auge zu fassen. Damit wir nicht den falschen Propheten und ihren gleißnerischen Verheißungen auf den Leim gehen.
Denn wann immer die sich hören lassen mit blühenden Versprechungen, mit der einschmeichelnden Ankündigung, es werde alles gut und alles glänzend gehen und mit der erlogenen Vision des ungetrübten Glücks, dann kann die wandernde Gemeinde Gottes in der Zeit ihnen nur den Rücken kehren und sie stehen lassen.
Denn wir haben keine Vorhersagen und werden keine erhalten. ——
Das hatten am Anfang der Wanderschaft auch die Kinder Israels nicht.
Sie hatten nur das Gebot, für eine Reise gerüstet, für ihre künftige Freiheit dankbar und zum Aufbruch ins Ungewisse jederzeit bereit zu sein.
Und der erste Schritt, den Gott sie führte – so heißt es im Bericht von ihrem Exodus – war „nicht der Weg, der am nächsten war, denn Gott dachte, es könnte das Volk gereuen, wenn sie Kämpfe vor sich sähen, und sie könnten wieder nach Ägypten umkehren. Darum ließ er das Volk einen Umweg machen und führte es durch die Wüste“ (2.Mose1317f).
Gott Lob nur, dass niemand ihnen das im Voraus angesagt hatte!
Auf die wahre Ankündigung des Kommenden hätte Gottes Volk in solchem Fall nichts gewagt!
Ähnlich verhält es sich nun aber mit dem, was wir heute in der letzten Dämmerung des alten Jahres hörten und was uns im Blick auf den aufziehenden Tag und das kommende Jahr zunächst wohl neidisch machen könnte: dem Bericht von der steten Vorhut und dem unermüdlichen Geleitschutz Gottes. Denn auch sie folgen keiner Ankündigung!
Die Wolken- und Feuersäule erscheint ja nicht etwa gemäß der Wettervorhersage.
Keine Erfahrung und keine Wahrscheinlichkeit konnten dazu führen, dass man mit diesen Zeichen Gottes hätte rechnen dürfen.
Und darum ist das, was wir vom wunderbar stetigen, ununterbrochenen Wechsel der beiden Gestalten der göttlichen Gegenwart auf dem Weg Israels lesen, eben auch nicht in Form eines fortlaufenden Tagebuches oder eines Ausblicks auch nur auf den morgigen Tag gefasst.
Niemals nämlich kann es selbstverständlich werden, dass Gott die Seinen auf diese Weise führt und schützt. Und niemand soll je sagen dürfen, man setze Gottes sichtbare Nähe und weitere Begleitung ganz einfach voraus.
Von jenem einzigartigen Wunder in der Geschichte der Menschheit – dass Gott Schritt für Schritt, Stunde für Stunde, Tag für Tag und Nacht für Nacht klar erkennbar mit Seiner Gemeinde einherzog –, von diesem einzigartigen Wunder wird in der Bibel konsequent eben nicht im Futur gesprochen: Gottes ausstrahlendes und einleuchtendes, unmissverständliches Dabeisein wird nicht vorhergesagt, ........ es wird nachher gesagt. Es wird bekannt.
Und darum sind die Wolken- und die Feuersäule Israels unsere Wegweiser insbesondere am Abend eines alten Jahres.
Das dreieinhalbtausend Jahre alte Licht in der Nacht, der dreieinhalbtausend Jahre durchwehende Sturm sind klare Aufforderungen an uns, was wir heute allein noch zu tun haben.
Und das besteht nicht im ängstlichen Blicken in die Zukunft:
Kaffeesatzleserei und Bleigießen, krachendes und dampfendes Beschwören und Bannen aller Angstdämonen, die uns an der Schwelle des Unbekannten überfallen, sind jetzt jedenfalls nicht unsere Aufgabe.
Sondern schlicht der staunende und dankerfüllte Blick zurück, wie ihn uns der biblische Rückblick auf die Wanderschaft Israels lehrt.
Damals hieß es nie: „Morgen wird der HERR uns wieder ein Wunder schicken.“
Doch im Nachhinein heißt es seitdem: „Tagtäglich und in jeder Nacht hat Gott Wunder getan!“ ——
Diese Reihenfolge also ist und bleibt entscheidend für uns: Dass wir uns nicht in Spekulation, in falschen Trost und phantasierte Verheißungen flüchten, sondern dass wir mit allem Bedacht bestätigen und bezeugen, was Gott tatsächlich getan hat.
Dabei ist das unter Umständen ein Werk, das schwerer fällt, als das leichtfertige Beschönigen und Schminken der jedermann unbekannten Aussichten.
Doch auch Israel hat mit der Wolken- und der Feuersäule seines Gottes ja nicht die Zukunft, die es sich und der Welt viel leichter hätte schön ausmalen können, bereichert, sondern es hat mit diesem Bekenntnis ausgerechnet die vierzig Jahre seiner Zeit in der Wüste verbunden.
Gerade der Umweg lässt uns Gottes Treue erkennen: das ist der Glaubenssatz aus der Rückschau.
Und dieser Satz soll uns den Weg weisen, ..... den Weg zurück, der uns Gott vor und hinter uns zeigen wird. —
Zuende geht ein „atemloses Jahr“, so hat es heute ein Journalist, also ein „Tagesschreiber“ genannt. Und jeder, der ab und zu mithilfe der Zeitung oder der anderen Nachrichten über die eigene Türmatte hinausgeblickt und in die Welt gehorcht hat, wird das Keuchen und Brausen dieses müdegehetzten Jahres noch sehr deutlich hören:
Das unterdrückte Stöhnen und dann das kräftige Anspannen, das durch ganze Völker – vom Atlas über den Nil bis in die Weihrauchwüste – ging, und dann das ächzende Geräusch des Sturzes und den Aufschrei der Befreiten im Frühling. Doch zum Atemholen sind sie bis jetzt noch nicht gekommen und werden es noch lange nicht.
Und dann sind das furchtbare Tiefengrollen und die stumme Sekunde vor dem Beben und der schreckliche Schmerz des uns immer in stiller Behutsamkeit begegnenden japanischen Volkes nicht aus den Ohren zu kriegen. Und das ungeheuerlich böse Rauschen und Gurgeln, das sich erhob, als die Elemente das Leben einfach hinunterschlungen. Und wie der lautlose Tod kam, den wir Menschen geweckt haben und der ausstrahlen wird, länger als wir denken mögen.
Und die Morde dieses Jahres: Einer im Schlafzimmer, über den die Welt sich zur Freude verpflichtet sah; einer nach einem Theaterleben und einem blutigernsten Todeskampf in Libyen; der Massenmord am hellen Abend auf der Sommerinsel; die Morde an nichtsahnenden Vätern, Söhnen, Ehemännern, für die unser Land sich erst heute schämt, nachdem es die Opfer lange als Mitschuldige hinstellen ließ und die wahren Mörder weder suchte noch anklagte, als sei der Staat augen-, kopf- und arm- und mundlos.
Und das viele Scheppern und Geklingel der hohlen Reden und des Kupfergeldes und der schrillen Alarmglocken, das in diesem Jahr fortwährend den finanziellen und politischen Schauplatz beherrschte, auf dem vieles im Argen liegt und vor allem Vernunft und Vertrauen Konkurs anmelden mussten.
Und die menschlichen Misstöne und Unanständigkeiten, die immer unflätiger und störender zu werden scheinen, so dass die unaufgeregte, gezügelte Stimme der Ehrlichkeit und Bescheidenheit von den Brüllaffen und Adabeis und Koofmichs ganz übertönt wird.
Und dann – das durchdringendste Geräusch von allen, so leise es auch sein mag – das Weinen der Hungernden, der Geschundenen, der Vergessenen und Todgeweihten.
Das schwillt auf Erden an, und wenn es jäh abbricht, weil wieder einer starb, dann steht’s für immer in der Partitur des atemlosen Jahres. ...................................
Nun haben wir hastig zurückgeschaut und sehen’s noch einmal da hinter uns liegen, dieses schwere und friedlose Jahr, das im Großen bewegter und sorgenvoller war als viele davor und dessen kleine, dessen private Chronik wir jeder für sich zu führen und zu betrachten haben.
..... Und wo war Gott darin?? - - - - - - -
Gewiss.
Wir könnten einzelne frohe Botschaften aufzählen, Geschichten vom Heil im Unheil; von Rettungen, an die niemand mehr glaubte; von Glück, das Tragödien trotzt; von Mut und Hilfsbereitschaft, die wachsen, wo immer mit der Gefahr das Rettende auch wächst; von guten Menschen und guten Mächten; von Lachen, Liebe und Engeln.
Aber nicht dazu taucht heute am Horizont der Bibel wieder jene Wolkensäule auf, die vom Staub der Wüste bis in den Himmel reicht, und jenes wandelnde Feuer, dessen ewig Licht die Finsternis erhellt und der Welt einen neuen Schein gibt (vgl.eg23,4).
Wir hören das rückblickende Bekenntnis Israels zu diesen außerhalb aller bekannten Ordnung stehenden Zeichen Gottes nicht, um uns zur Spurensuche zu bewegen.
Sondern um die Bekenntnisbewegung zu ermessen, die in diesem Volk lebendig war, dessen Alte im Niemandsland starben und dessen Junge heimatlos zur Welt kamen.
Ja, was für eine Bekenntnisbewegung ist das, wenn dieses Volk die stete Todesgefahr auf seinem Weg, der zu beiden Seiten vom Verschmachten und Verdursten gesäumt war, rück-blickend anschaut und bezeugt: „Vor uns zog Gott und Er beschloss unseren Zug“!
Das ist keine Spurensuche im durchquerten Wüstensand, das ist keine Aufzählung der wundersamen Zufälle und Bewahrungen, die jeder von uns 365 mal im Jahr erlebt.
Das ist größer und wunderbarer als die Zusammenstellung einzelner Glücksmomente und haarscharfer Verschonungen.
Zu sagen: Gott hat geführt, geschützt und geschirmt, Gott hat uns Tag und Nacht umgeben und vorangebracht ..... auch in der Wüstenzeit, gerade auch in den vierzig verlorenen Jahren, in denen wir uns im Kreis drehten und die Verheißung ausblieb ..... das zu bekennen, bedeutet mehr als von Einzelheiten zu berichten.
Es bedeutet mehr als zu sagen: Gott hat die heillose Wirklichkeit immer wieder durchbrochen. Nein! Zu sagen: Auch auf unserer endlosen Durststrecke hat uns Gottes Gegenwart ununterbrochen geborgen und bewegt, das heißt, die Wirklichkeit in Gott zu sehen und nicht umgekehrt!
Wer ist stärker?
Die Tage und Jahre und Zeiten, in denen wir Gutes und Schweres, Abenteuer und Nöte erleben und in denen wir dann nach einzelnen Fußtapfen des HERRN, nach versteinerten Abdrücken des Himmels und verstreut winkenden Zaunpfählen des Segens suchen?
Oder ist die Wirklichkeit trotz aller Irrtümer und Schrecken und Grausamkeit nicht etwa der Boden, auf dem die Wolkensäule fußt und den sie durchmisst; ist die Wirklichkeit unter allen Rätseln und bei aller Dunkelheit nicht der vom Feuer Gottes durchglühte Raum?
Erfüllt und durchzieht Er sie nicht doch ganz?
Wird sie uns nicht doch einst so gezeigt werden, .... dass auch wir werden bekennen können, Gott hinter und Gott vor allen Dingen und Gewalten und Enttäuschungen und Erfahrungen und Erfüllungen zu erblicken? ——
Es ist eine Bewegung, die wir nur demütig und mit Ehrfurcht aufgreifen können:
Diese Bekenntnisbewegung, mit der Israel die ganze Wirklichkeit und Schwere der Welt nicht forsch im Voraus, sondern im wissenden Rückblick für seinen Gott und seinen Glauben beansprucht.
Aber wer von uns sollte wohl fröhlich leben und getrost sterben können, wenn wir nicht bei dieser Bewegung auf diesem Weg bleiben dürften, dessen Ziel heißt:
Einst werden wir verstehen und bekennen können, dass Gott der Herr ist und dass alle unsere Tage und Wege münden in Seinem Reich und Leben!
Amen.
2.Christtag 26.12.2011 Offenbarung 7,9-12 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Christtag 2011
Offenbarung 7, 9-12
Liebe Gemeinde!
Wo wird Weihnachten „entschieden“?
Darüber ist in diesem Jahr vermutlich landauf, landab gepredigt worden, weil eine groteske Plakatkampagne der Geschäftswelt dazu geradezu herausforderte.
Aber es gibt nun einmal Steilvorlagen, die so billig sind, dass es eigentlich eine Frage des Sportsgeistes wäre, sie nicht aufzunehmen. Ich jedenfalls hatte mir fest vorgenommen, nun nicht auch noch nach diesem bemitleidenswert ungeschickt daher trudelnden Ball zu treten, wenn, .... ja wenn nicht Johannes heute hier mitmischte.
Denn Johannes trifft noch viel mehr in’s Schwarze als sein Mitspieler Lukas.
Mit Lukas war es leicht, den flachen Spruch, dass Weihnachten sich „unterm Baum“ entscheide, umzumünzen und wenigstens zur Krippe zu lenken.
Aber stimmen tut’s halt doch nicht, dass Weihnachten dort entschieden werde.
Sondern – wie so oft muss man Johannes bei einem Hochsprung und Weitwurf folgen, der alle anderen weit abgeschlagen lahm aussehen lässt – .... sondern Weihnachten wird im Himmel entschieden!
Das hat der vierte Evangelist in seinen berühmten ersten Worten (Joh11+14) – vom „Anfang, in dem Gott das Wort war“, das dann „Fleisch wurde“ – unüberhörbar deutlich gemacht, und deutlich bleibt das bei ihm bis zu seinen letzten Worten, mit denen in der Offenbarung der Himmel beschrieben wird, in dem das Fleisch und das Wort nun vereint sind und bleiben.
Weihnachten – so sagen diese Eckpfeiler der Botschaft des Johannes – Weihnachten ist kein Krippen- und auch kein Kinderspiel und es gehört insgesamt nicht etwa nur nach Bethlehem und ist auch nicht nur die kleine Dreiecksgeschichte eines Wickelkindes, das zwischen verlausten Viehknechten und durchlauchten Zukunftsforschern ein Bindeglied darstellt.
Die eigentliche Bühne des Weihnachtswunders ist bei uns immer zu eng gefasst, wenn wir bloß die Entfernungen von Nazareth bis Bethlehem und dann noch vom Euphrat bis Judäa den Rahmen dafür bilden lassen.
Weiter, höher, größer ist der Umkreis jenes fast mikroskopisch kleinen Mittelpunktes, an dem Gott nur noch knappe 50 Centimeter misst und irgendetwas um die fünf, sechs Pfund Lebendgewicht zusammenbringt.
Für dieses winzige Wesen und das millionenfache Allerwelts-Drama einer menschlichen Geburt steckt Johannes uns heute also den wirklichen Rahmen ab, wenn er gleich sämtliche Dimensionen sprengt: „Danach sah ich, und siehe, eine große Schar, welche niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen, vor dem Thron stehend und vor dem Lamm.“
Was hier geschildert wird, das sind schlicht die Ausmaße des wahren Weihnachtsbildes, von dem wir immer nur einen Ausschnitt von der Größe des Stalles und der Krippe sehen.
In Wirklichkeit nämlich verhält es sich mit Jesu Geburt wie in dem Volks- und Kinderlied, das den großen Baum und an dem Baum den Ast und an dem Ast den Zweig und auf dem Zweig das Nest und in dem Nest das Ei und in dem Ei den Dotter besingt.
Das bedeutet: Um die zentrale Zelle, in der das Leben versammelt ist und ruht, angemessen zu begreifen, muss man den gewaltigen Organismus, der es umgibt und ermöglicht, studieren.
Das aber ist das himmlische Leben, in das Jesus gehört und eingebettet ist.
— „Das himmlische Leben?“
Jawohl, das himmlische Leben.
Denn die immer wieder – egal ob der Theologie oder der Naturwissenschaft – gestellte Frage, ob „da draußen“ denn wohl Leben sei, ist aus unserem Mund ebenso klug wie die Grübelei des Bandwurms, ob andere Lebensformen außerhalb der vertrauten Eingeweide vorstellbar wären?
Dasselbe fragen sich die Laus im Pelz, die Made im Speck und die Katze im Sack ja auch.
Und doch ist keine dieser Arten allein lebendig, und wir Menschen sind es ebenso wenig.
Nur kennen wir kein anderes Leben, als jenes, das auf der einen Seite durch die Geburt und auf der anderen Seite durch den Tod abgebunden wird, dazwischen ist Fleisch und fertig ist die Wurst.
Doch nur weil wir über die beiden Enden dieser Wurst nicht hinausschauen und nicht aus ihrer Pelle können, sind damit die Grenzen der Lebendigkeit noch lange nicht beschrieben.
Fest steht lediglich, dass das, was wir nicht kennen –weil wir nur irdisches Leben im Fleisch fassen können – das andere sein muss, das himmlische Leben.
Und dass es riesig ist, unzählbar und unserm gliedernden Ordnungsdenken in seiner Üppigkeit und seinem Variantenreichtum gänzlich entzogen: das lässt Johannes – der’s geschaut hat – uns immerhin ahnen.
Mit Mengen- oder Maßangaben kann man das himmlische Leben nicht fassen, versichert er uns. Es ist so prallvoll und prächtig, in ihm sind so unterschiedliche und unvergleichliche Gestalten und Formen und Entwürfe und Eigenheiten des Menschenmöglichen versammelt, dass wir aus dem Staunen gar nicht herauskämen: wir, die immer meinen, nicht nur sei das Leben auf unsere siebzig Jahre beschränkt, sondern seine wahre, höchste Ausprägung verkörpere nun mal unsereiner, der westliche Mensch der Gegenwart.
Doch es gab, gibt und kommt viel mehr Menschheit als das, was wir uns auch nur träumen ließen. Und die meisten von ihnen, unseren Mitmenschen sind nicht unsere Zeitgenossen.
Sie hatten ihre Erdenzeit oder sie steht ihnen noch bevor.
Doch genauso wenig wie sie nun geschmolzenes Kerzenwachs oder zusammengefegte Krümel sind, nur weil zufällig gerade jetzt nicht ihre siebzig oder achtzig Jahre laufen, genauso wenig werden die künftigen sich aus dem Nichts ergeben.
Die jeweils meisten von uns teilen eben nicht das irdische, sondern das himmlische Leben.
Und sind dort dennoch nicht die Mehrheit.
Denn Johannes schildert noch mehr als die Menschen: „Und alle Engel standen um den Thron und die vierundzwanzig Ältesten und die vier Gestalten.“ Vierundzwanzig Verköperungen des Zwölfstämmevolkes und der Zwölfapostelkirche erkennt Johannes also und die vier Erscheinungen des Wortes Gottes, dessen Botschaft in Löwen- und Stier- und Menschen- und Adlergestalt ausgeht, und vor allem „die Menge der himmlischen Heerscharen“. ——
Das ist eine so wimmelnde und wogende, hintergründige und vielstimmige, unerschöpfliche Entfaltung des Geistes- und Seelenlebens, aller Lebensäußerungen, die wir hören und spüren, ahnen und erträumen, erkennen und glauben können, dass wir schlicht keine Möglichkeiten, kein Vermögen mehr haben, um uns in deren Gegenwart zu versetzen.
Doch diese Welt, die alles übersteigt und überstrahlt, was wir an Lebensfreude und Sinn des Lebens kennen, dieses himmlische Leben ist der Raum Gottes.
Hier ist Gott zuhause und diese wundervolle Dichte und Klarheit der menschlichen und sinnlichen und geistigen und seligen Lebensgestalten umkreist Ihn wie das Rad die Nabe.
Sie blicken auf Ihn und Er schaut sie an: Der Reichtum des Lebens spiegelt sich in seinem Ursprung, die zahllosen Strahlen fließen aus dem Licht selbst, die Bewegung, die sie alle treibt und erfüllt, ist die Anziehungskraft der Liebe, die ihr gemeinsamer, lebendiger Mittelpunkt ist.
Sie sind in seiner Umlaufbahn und Gott umfängt sie und durchdringt sie mit Seiner Vollkommenheit, Seiner Macht, Seinem Frieden.
Diese Welt ist einfach heil, und das Lied, das die Gestalten des Lebens dort singen, ist die lautere Wahrheit, in der sie existieren und schweben, wie der Fisch im Wasser:
„Das Heil ist bei dem, der auf dem Thron sitzt, unserm Gott und dem Lamm!“
Und so ist Jubel die einzig wahrheits- und wirklichkeitsgemäße Äußerung dort.
Verlangen gibt es nicht, Mangel, Hunger, Schwanken, Suchen, Leiden, Bitterkeit, Sorge, Schmerzen, Abschied kann man nicht einmal beschreiben oder benennen. Nein!
„Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit!“, so klingt es dort. Nichts anderes würde stimmen.
........ Und dann wird Weihnachten entschieden!!!?
ER geht einfach.
Entscheidet sich für die andere Seite, .... dort, wo der ganze Fliegendreck ist.
Wo Sand durch die Sanduhr rinnt, wo mit dem Blut auch die Liebe in den Herzen angezogen und abgestoßen wird und nichts, gar nichts bleibt.
Da geht ER hin.
Macht sich nicht etwa „aus dem Staub“: Nein, Er macht sich „aus dem Licht“ ....hinunter in den Staub und in die Nacht! ......
Was für ein Aufschrei muss da durch den Himmel gehen.
Wie muss das Lied, in dem sie Ihn rühmen und anbeten, zerrissen und verstummt sein.
„Lob, Ehre, Weisheit“ will Er tauschen gegen Spott und Unkenntlichkeit und Zweifel;
„Dank und Preis“ wechselt Er gegen Widerstand und Ablehnung;
„Kraft und Stärke“ gibt Er auf und riskiert Prügel und tödliche Verletzbarkeit .... —
Diese Weihnachtsentscheidung Gottes, dieses freiwillige Zusammenschrumpfen dessen, der nicht nur der ganze große Baum, sondern die ganze große Welt ist, auf die Größe eines Dotters – wie muss das den Himmel verwirrt und herausgefordert haben!
Wie müssten sie versucht haben – wenn sie so etwas denn könnten –, Ihn zu hindern an seiner Entscheidung.
Doch es gab kein Halten: Statt des himmlischen wählt Gott an Weihnachten das irdische Leben ..... oder sollte man nicht lieber gleich sagen: das irdische Sterben?! Denn wer Geburt als Anfang wählt, der weiß, worauf er sich einläßt. —
So jedenfalls begab sich, was wir gestern und vorgestern abend gefeiert haben.
Vielleicht ist es besser, dass wir es in seiner ganzen Fallhöhe nicht immer ermessen: den Abstieg, der in dieser einsamen Wahl Gottes lag.
Gewiss ist es für den Heiligen Abend gut, die Feier von Jesu Ankunft nicht durch die Erinnerung an seine Herkunft trüben zu lassen.
Gewiss ist es gut, nicht zu hören, was man auch hören könnte, wenn es über den Hirtenfeldern heißt: „Euch ist heute der Heiland geboren.“
Denn bei aller Ehre, die sie Gott in der Höhe geben und zu geben bereit sind, ist es für die himmlischen Heerscharen ja nicht nur frohe Kunde, sondern auch Verzicht und Verlust.
Es ist Abschied vom Vorrecht des Himmels an Gott, wenn die Engel den Heiland den Erdenbürgern überlassen müssen.
Sie verlieren Ihn zwar nicht, bleiben sie doch in Seinem Dienst, .... aber es ist das erste Mal in aller Ewigkeit, dass sie Ihn teilen müssen!
Und warum?
Was hat Ihn bewogen zu diesem Schritt, den nicht nachvollziehen kann, wer das Heil im Himmel und die Vollkommenheit des Lebens dort aus eigener Kenntnis bezeugen kann?
Die lächerlichen siebzig oder achtzig Jahre, die die Menschenkinder auch künftig ohne Ihn hätten durchstehen und herumkriegen müssen?
Sollte das alles gewesen sein, warum Gott sich für den Geburts- und Lebens- und Sterbensweg nach unserer Façon entschieden hat?
Konnte Er denn nicht warten, jenes „Eia, wär’n wir da“, das wir gleich singen werden (eg35,4), etwas später, mit der Verzögerung bloß von einer Lebenszeit für jeden von uns zu erfüllen?
Musste Er mir aus der Ewigkeit so zuvorkommen?
Musste Er auf alles, was Seine Gegenwart ausmacht, verzichten, nur um mir um meine paar Jahre und Jahrzehnte entgegenzukommen?
......... Er musste nicht!
Er wollte!!!
Gott hat im Himmel trotz des Himmels Weihnachten für die Welt und ihre Menschen entschieden.
Und jeder von uns hat siebzig, wenn es hoch kommt achtzig Jahre Zeit, Ihm dafür zu danken.
Im Himmel werden wir Ihm keine Weihnachtslieder mehr singen; dort werden wir Ihm einfach ohne Ende dafür danken, dass Er Gott ist und dass Ihm Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke von Ewigkeit zu Ewigkeit gebühren!
Aber jetzt und so lange wir auf Erden sind und Zeit haben, jetzt können wir Ihm danken, dass Weihnachten wurde ....... und Er Mensch!
Amen!
1. Christtag, 25.12.2011, Luk. 2, 8f, Stadtkirche, Holger Pyka
Kyriegebet
Gott, an diesem Weihnachtstag treten wir vor Dich und bekennen: Wir haben es auch in diesem Jahr wieder so haarscharf nicht geschafft.
Die Adventszeit war wieder ein Kaufrausch im Glühweintaumel,
an vielen Stellen haben wir mindestens geschwiegen, oft genug mitgemacht und damit unterstützt, dass das Fest Deiner Menschwerdung zum Fest des Einzelhandels wird,
haben nicht widersprochen, wo es nötig und möglich gewesen wäre,
wenn Menschen uns „erholsame Weihnachten und ein erfolgreiches neues Jahr" wünschen, das nur noch dazu dient, das immer schneller laufende Getriebe unseres Wirtschaftssystems zu schmieren.
Herr, wir können nur vor Dir bekennen, dass unsere Sünde mehr ist und schwerer wiegt und so anders und viel zerstörerischer ist als unsere Fressattacken an den Feiertagen,
weil wir keine andere Zuflucht haben als Dein unergründliches Erbarmen.
Darum rufen wir zu Dir: Herr, erbarme Dich.
Liebe Gemeinde,
es gibt Wörter, Phrasen, Ausdrücke, die höre ich, benutze ich - ohne sie eigentlich genau zu verstehen oder erklären zu können. Manchmal drängt sich so ein Wort dann plötzlich auf, erhebt sich wie ein großes Fragezeichen aus der Reihe der Floskeln und gibt mir zu denken. So ging es mir letzte Woche, Anlass war - wie so oft - eine Konfirmandenfrage:
„Was sind eigentlich die Hürden?"
„Was für Hürden?"
„Na, die in der Weihnachtsgeschichte."
„Du meinst die Hirten?!"
„Nein, die waren ja bei den Hürden. In der Nähe aber waren Hirte auf dem Feld bei den Hürden."
„Öhm..."
Den Fragenden kurz vertröstet, habe ich, wie das ein Theologe so macht, erst einmal in den griechischen Grundtext von Lukas 2,8 geguckt. Sie haben ihn ja gerade gehört, „Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde", so heißt er bei Luther. Aber: Fehlanzeige. Im Griechischen steht nichts von Hürden, da heißt es ganz wörtlich:
Und es waren Hirten, die in derselben Gegend unter freiem Himmel lebten und nachts über ihrer Herde wachten.
Die Hürden hat Luther dazugeschrieben, das Ganze bringt aber erst einmal nicht weiter, wenn man, wie ich und der Konfirmand, nicht weiß, was die Hürden eigentlich genau sind. Da niemand den Hürden einen eigenen Artikel in einem theologischen Lexikon gewidmet hat, muss das Internet mit Google und Wikipedia aushelfen, und kann das auch:
Hürden sind tragbare Zaunelemente, die zusammen einen Pferch bilden, in dem, so das Online-Lexikon, zum Beispiel für die Nacht Schafe oder Ziegen zusammengetrieben, daher eingepfercht werden.
Hürden, transportable Schutzzäune, die bei Bedarf und bei Gefahr aufgebaut werden können. Mit denen man die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen und beisammen halten kann. Leichte, aber effektive Mittel, um Gefährliches auf Distanz zu halten - und das Eigene am Weglaufen zu hindern.
Liebe Gemeinde, in der Weihnachtszeit erzählen wir Ihnen oft, dass die Hirten am Rande der Gesellschaft standen, dass man schief an ihnen herabsah, dass die Sesshaften, die Bauern und Dorfbewohner mit ihnen nichts zu tun haben wollten. Aber, und deswegen finde ich Luthers Hinzufügung der „Hürden" auch ganz aufschlussreich: Auch die Hirten mauern, auch die Hirten haben ihre Wege, sich und das Ihre zu schützen, wenn sie des nachts unter freiem Himmel unterwegs sind und alles das, was bedrohlich ist oder nur bedrohlich scheint, auf Abstand zu halten.
Liebe Gemeinde, ich kann mir nicht helfen, wenn ich diesen Satz wirken lasse und das Bild, das er vor meinem inneren Auge entstehen lässt, dann passiert etwas. Und es waren Hirten, die unter freiem Himmel lebten, in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden. Da verlieren die Krippenfiguren ihre pittoreske Harmlosigkeit und ihren zeitlosen Kitsch und bekommen Gesichter, die ich wiedererkenne. Da werden sie zu Menschen der Gegenwart, die ihre ganz eigenen tragbaren Zäune immer griffbereit haben, die sie blitzschnell und routiniert um sich und das Ihre herum aufbauen können. Hinter die sie sich zurückziehen, wenn Gefahr im Anzug ist oder nur scheint, wenn irgendetwas oder irgendjemand bedrohlich nahe kommt.
Da sind Menschen, die um ihren Partner und um ihre Beziehung herum einen Zaun bauen wollen, die ihre Liebe einpferchen und sichern wollen, damit nichts und niemand von außen kommen und sie stören kann - und damit auch sie selbst oder ihr Partner am Ausbrechen gehindert werden und alles schön beisammen bleibt hinter einem schnell aufzubauenden Zaun aus dornigen Rosen.
Da sind Menschen, deren ganze Mimik und Gestik, deren ganzes Auftreten ein hoher, stacheldrahtbedeckter Zaun ist, an dem ein dickes Schild prangt: Vorsicht, bissiger Zeitgenosse. Betreten verboten, komm mir nicht zu nah.
Da sind diejenigen, die sich hinter Hürden verschanzen, die so gar nicht wie Zäune aussehen, sondern eher wie bunte Plakatwände mit lustigen Plakaten, die alles und jeden, der ihnen zu nah kommt, mit einem witzigen Spruch auf eine hantierbare Größe zusammenschrumpfen lassen.
Die Hirten leben mit ihren Hürden draußen auf dem Feld vielleicht nicht gerade richtig „gut", aber sie funktionieren. Die tragbaren Zäune pferchen die Schafe zusammen und halten das Bedrohliche draußen. Zumindest in allen anderen Nächten - außer in jener Heiligen Nacht, in der Gott die eine große Hürde zwischen sich und den Menschen nimmt und selbst Mensch wird. Sie alle wissen, wie die Geschichte weitergeht:
Und siehe, des HERRN Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des HERRN leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr.
Und sie fürchteten sich sehr. Diese Reaktion ist selbstverständlich für den antik-jüdischen Hirten - und für den postmodernen Menschen:
Für die Einen, weil sie aus ihren Lehren und Geschichten wissen, dass die Klarheit des Herrn, das blendende Licht seiner Herrlichkeit von solcher Intensität ist, dass sie alles Leben um sie herum verbrennt. Nicht einmal Mose konnte und durfte das, als dieser einmal sagte: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen", antwortet Gott ihm: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch kann (über-)leben, der mich sieht" (Ex 33).
Für „den" modernen, in zivilem und verträglichem Maß religiösen oder religiös interessierten Menschen ist die (biblische) Klarheit Gottes gefährlich und Grund zur Angst, weil in ihrem schlagenden Licht keine dunklen Ecken der Zweideutigkeit bleiben, kein schattiges Plätzchen der Relativität, in das man sich zurückziehen und vor sich hin murmeln kann: „Das können wir ja eh nie so genau wissen", kein gnädiges Halbdunkel mehr, das alles überzieht und alles und jedem zwei Seiten und ein Versteck in der Grauzone zugesteht. Achten Sie mal auf den Wortlaut: Die Klarheit des Herrn leuchtete um sie, und wenn das Licht von allen Seiten kommt, gibt es keinen Schatten,
Weihnachten hat also etwas zutiefst Verstörendes - weil Gott unsere Hürden nimmt und uns nah kommt. Mir ist in diesem Zusammenhang ein Satz aus einem Gespräch mit Schülern der Jahrgangsstufe 12 vor einigen Wochen im Gedächtnis geblieben, die kamen aus dem Biounterricht und einer sagte: Eigentlich ist das ziemlich gewieft, dass Gott als Säugling kommt - denn dann ist ja schon biologisch und instinktiv bei uns angelegt, dass wir uns dem nicht entziehen können, wegen Kindchenschema und so. Die Erfahrung mit Weihnachten zeigt, dass wir das tatsächlich nicht können - auch, wenn das Kindchenschema bei uns so stark gewirkt hat, dass wir „den holden Knaben in lockigem Haar" schützen wollen und das ganze Geschehen in süddeutsche Stallromantik verlagern.
Gott kommt uns nah, Gott nimmt unsere Hürden auf eine verstörende, weil so konkrete Art und Weise: Gott kommt nicht irgendwo oder überall, sondern in Israel zur Welt, er stärkt an Weihnachten seine Beziehung zum jüdischen Volk. Und er verbindet sich (wieder einmal) mit einem Milieu, das mit auf obskurem Weg schwanger gewordenen jungen Mädchen, dreckigen Notunterkünften und zwielichtigem Publikum in unserer evangelischen Landeskirche kaum Herberge findet - und dabei doch von Engeln begleitet wird.
Gott nimmt unsere Hürden, Gott rüttelt an Weihnachten an unseren Zäunen und unseren Türen. Das kann im ersten Moment etwas Erschreckendes haben, wie es immer Angst macht, wenn jemand uns unerwartet nah kommt und wie die Klarheit des Herrn in jener Nacht mühelos jeden Winkel ausleuchtet.
Aber es ist kein gnadenloses Ausleuchten, kein sinnfreies Bloßstellen - die Engel antworten sofort auf die Reaktion der Hirten und sagen: Fürchtet euch nicht, siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird.
Fürchtet Euch nicht. Ja, Gott nimmt Eure Hürden, aber er lässt Euch nicht schutzlos unter freiem Himmel in dunkler Nacht, sondern umleuchtet Euch mit seiner Klarheit.
Die Geschichte geht weiter, Sie kennen sie, es sei trotzdem noch kurz erwähnt: Die Hirten sprachen untereinander: Laßt uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war.
Gott hat mit dieser plötzlichen Klarheit die Hürden der Hirten genommen, er hat ihre Verteidigung durchbrochen, ist ihnen auf die Pelle gerückt - und er holt sie von der Nacht auf dem einsamen Feld hinein in die Stadt, in den Stall, und damit in eine neue Gemeinschaft hinein, die sich um das Kind in der Krippe, um Seinen Sohn, um Ihn selbst versammeln.
Liebe Gemeinde, nach den Ferien wird ein Konfirmand eine Antwort bekommen, und sollten wir einmal einen Kaiserswerther Katechismus schreiben, plädiere ich für die Aufnahme seiner Frage und der Antwort:
Was sind die Hürden, von denen in der Weihnachtsgeschichte die Rede ist?
Die Hürden stehen nicht in der Bibel. Sie stehen in der Welt, weil wir sie dorthin stellen, weil ich, du, wir alle unsere Zäune zwischen uns, zwischen uns und die Welt, zwischen uns und Gott ziehen, um uns zu schützen und unsere Schäfchen im Trockenen zu halten. Sie stehen in der Welt, nicht aber in der Bibel, weil sie nie einen Bestand sichern und selbst nicht auf Dauer Bestand haben müssen und werden, weil Gott uns nah kommt und als Kind in der Krippe spielend die Hürde zwischen ihm und uns und untereinander nimmt. Darum: Fürchte dich nicht.
Und der Friede Gottes...
Christmette 24.12.2011 "O du fröhliche" Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth - Christmette 2011
„O du fröhliche, o du selige“
Liebe Gemeinde!
Wer in dieser Nacht singt, singt nicht allein.
Das ist gewiss, einerlei ob jemand womöglich doch in seinem einsamen Zimmer sitzt, oder ob er sich einfindet unter den Tausenden und Abertausenden, die heute in den Kathedralen, den Kirchen und Kapellen der westlichen Christenheit rund um den Erdball zusammenströmen.
Keiner singt allein! Auch keine Gemeinde singt für sich!
Denn heute singt’s nicht nur auf Erden, heute ist der Kosmos voller Jubel und die sichtbare, zeitliche Welt gibt nur ein schwaches Echo jener Chöre wider, die in Gottes ewiger Gegenwart ihr weihnachtliches Lob und ihre Verheißung von Frieden und Wohlgefallen hören lassen.
Doch darum ist auch das Hören heute – jedenfalls in der ewigen Welt – nicht allein auf eines gerichtet.
Denn vor Gott singen alle gleich:
Diejenigen, die jetzt auf Erden singen, sind in den Ohren des Himmels und seiner Heerscharen verbunden mit allen irdischen Liedern und allen menschlichen Stimmen der Geschichte – weil Gott nichts verliert, keinen einzigen Ton und weil die Gerechten mit Ihm in unendlicher Freude und vollkommenem Dank vereint bleiben.
Deshalb wollen wir heute Nacht auch unser Gehör an einer abgenutzten Stelle schärfen, um nachher nicht mit der fröhlich-gedankenlosen Macht der Gewohnheit, sondern mit erweitertem Gespür anzustimmen und einzufallen in den Gesang, der für uns der Weihnachtshymnus schlechthin ist.
Dass wir dabei im Jubiläumsjahr ganz dicht an die Stimmen und Stimmungen unserer Kirchbaugeneration rücken und obendrein eine Partitur unter diakonischem Vorzeichen singen werden, macht es für uns nur umso sinniger, dem alten Lied mit seinen geschichtlichen Begleitgeräuschen und den beteiligten Oberstimmen aus der Seligkeit zu lauschen.
Seine Worte stammen von einem Mann, der sich schon als Knabe „Johannes von der Ostsee“ nannte, seine Weise dagegen atmet den wiegenden Wellenschlag der Mittelmeerwelt.
Es ist also ein Mischwesen zwischen nord- und südlichem Gelände, ein gemeinsames Kind der protestantischen und der katholischen Kultur.
Das immerhin macht unser Lied zu einer geeigneten Erkennungsmelodie des Weihnachts-friedens. Doch allzu harmonisch ist es ansonsten nicht zugegangen, bis der Gesang sizilia-nischer Matrosen oder Fischer mit den Worten eines Menschenfreundes am Musenhof von Weimar verschmolz. ——
Am besten also der Reihe nach: Johannes von der Ostsee war ein Sohn der stolzen, alten, freien Stadt Danzig. Doch sehr frei war sein Leben zunächst nicht, denn den 1768 geborenen Sohn einfacher Leute aus dem Hafenviertel drückten Armut und Enge, eine Enge, die aus ängstlicher Frömmigkeit bestand. Darum strebte dieser Johannes Falk nach Öffnung und Weite und wurde schließlich im Bemühen um höhere Bildung vom Rat seiner Vaterstadt unterstützt. Als er glücklich ein Stipendium erhielt, sollen seine politischen Wohltäter ihm eine Mahnung mitgegeben haben, die so prophetisch klingt, dass sie eigentlich nur von ihrer späteren Erfüllung her zu verstehen ist.
Die Honoratioren sollen ihn nämlich mit den Worten verabschiedet haben:
„Lieber Johannes Falk, so ziehe denn von dannen und geh mit Gott. Aber vergiß nicht,
dass du unser Schuldner bleibst. ... Vergiß es nie, dass du ein armer Knabe warst. Und
wenn dereinst, über kurz oder lang, ein armes Kind an deine Türe klopft, dann wisse,
dass wir es sind, die alten und grauen Ratsherren und Bürgermeister von Danzig, die
da anklopfen. Weise sich nicht von deiner Tür!“
Zunächst also ging er, wurde in Halle ein verkrachter Theologe, der mit seiner spitzen Feder Theaterskandale hervorrief, und kam auf einer Reise, die er als Stoffsammlung für seine satirischen Beobachtungen antrat, einige Male nur knapp davon, wenn er wieder einmal so deutlich gegen die Zensur verstoßen hatte, dass ihm Gefängnis drohte.
Besonders in Preußen galt er als Unruhestifter, der die hygienischen und medizinischen Missstände in der Berliner Charité in giftig eingängiger Reimform öffentlich machte:
„Durch Reinlichkeit zog aller Fremden / Bewunderung die Wäsche an: /
Die beste Sackleinwand, die man / im Preußenlande finden kann! /
Auf zwanzig Kranke, fünfzehn Hemden!“
Ruhe fand Johannes Falk erst, als er sich am vorherbestimmten Ziel glaubte: Weimar.
Der Olymp und das Athen der deutschen Musen und des deutschen Geistes.
Falk war zwar nur ein Schandmaul aus der zweiten Garde, und Goethe blieb reichlich spröde, aber Wieland und Herder nahmen ihn herzlich auf. Man freute sich an seiner Spottlust, seiner aufklärerischen Schärfe. Später in napoleonischer Zeit rief er zunächst zwar beherzt zum Widerstand gegen die Franzosen auf, aber als diese nach der Schlacht von Jena und Auerstedt auch die Hauptstadt des Großherzogtums Sachsen-Weimar einnahmen, empfing Falk die Besatzer und schwor sie in elegantestem Französisch auf .... Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ein.
Zu diesem Zweck hatte er sich selbst ein blau-weiß-rote Kokarde gebastelt und trug diese – so berichtet er – „in der Nacht als kein Kommandant in Weimar war und ich den Kommandanten machte.“
Seine damaligen Verdienste um Weimar brachten ihm die Ernennung zum Legationsrat ein.
Er hätte sorgenfrei und geehrt, auch wenn Goethes Bruderkuss damals und künftig ausblieb, leben können. Doch es kam anders.
„Ich war ein Lump mit tausend andern Lumpen in der deutschen Litteratur, die dachten, wenn sie an ihrem Schreibtisch säßen, so sei der Welt geholfen. Es war noch eine große Gnade Gottes, dass er anstatt wie die andern mich zu Schrei-papier zu verarbeiten, mich als Watte benutzte und in die offene Wunde der Zeit legte. Da wird nun freilich den ganzen Tag an mir gezupft und gerupft, denn die Wunde ist groß und sie stopfen zu, so lange noch ein Fäserchen an mir ist“: so schildert Falk, was ihm geschah. ——
Ehe wir aber betrachten, wie der Satiriker zum Sänger wurde, folgen wir der Melodie seines späteren Liedes ein wenig.
Johann Gottfried Herder, der Weimarer Generalsuperintendent und fromme, aufklärerische Dichter hatte sie 1788 während seiner Italienreise auf Sizilien von den Schiffern gehört.
Wie nicht anders zu erwarten erklang sie dort zu Ehren des Sterns überm katholischen Weltmeer, zu Ehren Mariens:
„O sanctissmia, / o piissima / dulcis Virgo Maria! /
Mater amata, / intemerata./ Ora, ora pro nobis.”
Herder wurde diese liebliche und sehnsüchtige und feierliche Marienschnulze nicht mehr los, und veröffentlichte sie in seiner großen Sammlung: „Stimmen der Völker in Liedern“.
Da aber griff sie der Richtige auf.
Theodor Körner, dessen Lyriksammlung „Leier und Schwert“ in den Tornister jedes begeisterten Rekruten der Befreiungskriege gehörte, schrieb zu den eben noch jungfräulichen Noten Verse, die sie zu Pulver und Blei machten:
„Hör uns, Allmächtiger! / Hör uns, Allgütiger! / Himmlischer Führer der Schlachten! /
Vater, dich preisen wir! / Vater, wir danken dir, / dass wir zur Freiheit erwachten.
Wie auch die Hölle braust: / Gott, deine starke Faust / stürzt das Gebäude der Lüge. / Führ’ uns, Herr Zebaoth. / Führ’ uns, dreiein’ger Gott. / Führ’ uns zur Schlacht und zum Siege!
Führ’ uns! Fall unser Los / auch tief in Grabes Schoß: / Lob doch und Preis deinem Namen! /
Reich, Kraft und Herrlichkeit, / sind dein in Ewigkeit./ Führ’ uns, Allmächtiger! – Amen.“
Hat man diese beiden Gestalten des Liedes erst einmal im Ohr und bedenkt, dass sie im Himmel, wo nichts verklingt, auch heute noch hörbar sind, dann mag man wohl fragen, wie eine evangelische Gemeinde jemals wieder auf diese Melodie singen konnte, die von den zwei schlimmsten Regungen beschlagnahmt wurde, die uns immer drohen:
Von der Gefühligkeit, die sich an ihren selbstgemachten Göttern und Göttinnen berauscht, und vom politischen Furor, der sich nur einen „Führer“ erdichten muss, um sich an sich selbst zu berauschen. ——
Doch es wurde ein Lied für uns alle daraus, ein Lied, das zu singen sich die Engel im Himmel nicht schämen müssten, wenn sie jemals den Menschen nur ein Echo und keine Vorsänger mehr sein wollten. Es wurde ein Weihnachtslied für uns daraus, als Johannes Falk zu Watte für die Wunden der Welt gezupft wurde.
Die napoleonische Zeit hinterließ nach der Leipziger Völkerschlacht 1813 ungeahntes Elend.
Zu vielen Hunderten und mehr irrten Kriegswaise und entwurzelte Kinder durch’s Land, elternlose oder von ihren Eltern vergessene und ausgesetzte Opfer der Verwahrlosung.
Falk begegnete der himmelschreienden Misere dieser Kinderhorden, indem er die „Gesellschaft der Freunde in der Not“ gründete: einen Vorläufer aller Einrichtungen und Werke der Diakonie und der Inneren Mission, die zehn Jahre später entstanden.
Doch zu Watte wurde der Zyniker und Spötter in jenem Jahr 1813 als die Seuchen, die auf den Krieg folgten, ihm innerhalb eines Vierteljahres erst den anderthalbjährigen Sohn Roderich, dann dessen Schwestern Cäcilie und Eugenie und schließlich, als der Vater auch schon todkrank an Typhus litt, den dreijährigen Guido nahmen.
Noch blieben drei Kinder: aber der Vater genas verwandelt.
Er nahm fortan immer neue lebende Kinder in sein Haus auf; denn mit den grauen Ratsherren von Danzig hört er seine vier eigenen Kinder an der Tür klopfen .... und noch ein Kind.
Das Kind, das zu uns allen kommt.
Wie abenteuerlich es seitdem in Weimar bei Falks zuging, die täglich für eine unbekannte Anzahl von Bedürftigen sorgen mussten, kann man kaum ermessen. Nie gelöste Geldsorgen, tiefer Groll über die anhaltende Verschwendungssucht der höheren Gesellschaft und ein unvorstellbarer Glaubensmut begleiteten das Schicksal des ersten Sozialpädagogen.
Und persönliche Schläge, die aus der Ehefrau Caroline Falk, einer geborenen Rosenfeld, die machten, die ihr Mann Caroline, „geb.Kreuzträgerin“ nannte.
Der Nächste, den die Falks hergeben mussten, war der älteste Sohn, Eduard, der neunzehn-jährig als Student an Hirnhautentzündung starb. Noch während er im Elternhaus aufgebahrt war, klopfte es wieder am Trauerhaus. Vier obdachlos streunende Jungens standen vor der Tür. Sie wurden aufgenommen. Die beiden letzten verbliebenen Schwestern aber fühlten das, was auch das Fliedner’sche Privatleben überschattete: „Deine eigenen Kinder müssen noch alle fort, Vater, damit die fremden Kinder desto mehr Platz im Hause haben.“
Zwei Jahre drauf starb tatsächlich auch Angelika Falk mit fünfzehn Jahren: gerade als ihre Eltern unter tatkräftiger Unterstützung der Straßenkinder in Weimar ein baufälliges Gebäude bewohnbar machten, das sie „Lutherhof“ nannten: die erste Fürsorge- und Erziehungseinrichtung sozial-diakonischer Art, deren ganzes Programm in drei Dingen bestand: Evangelischem Glauben, der Chance für jedes Kind eine Ausbildung zu erlangen und einem Gemeinschaftsleben, das zusammengefasst wurde in den Begriffen „familienhaftes Individualisieren“.
In diesem Haus, so sagte man sich seitdem – wo eine schier unglaubliche pädagogische Aufgabe an dreihundert Kindern bewältigt wurde –, gab es drei Schlüssel:
Den für den Brotschrank, den zum Kleiderschrank und den Himmelsschlüssel.
Wo der letzte fehlt, erschließen auch die beiden anderen nichts.
Falk, der ehemalige Satiriker wurde in der Gemeinschaft der schwererziehbaren Kinder – über die er sich brieflich mit unserem Nachbarn Adalbert, Graf von der Recke austauschte – im Lutherhof zum diakonischen Dichter.
Das berühmteste seiner für den Horizont und Hausgebrauch der sonder- und intensivpädagogischen Hausgemeinde gedichteten Lieder ist sein Allerdreifeiertagslied, in dem er das unerreichte Kunststück vollbrachte, alles was seine Schutzbefohlenen an biblischem, liturgischem und praktischem Christenwissen brauchten, in drei (!) Strophen zu fassen.
Wir hören es jetzt in seiner 1816 gedichteten ursprünglichen Form.
O du fröhliche, o du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit!
Welt ging verloren, Christ ist geboren:
Freue, freue dich,
o Christenheit.
O du fröhliche, o du selige,
gnadenbringende Osterzeit!
Freue, freue dich,
o Christenheit.
O du fröhliche, o du selige
gnadenbringende Pfingstenzeit!
Christ, unser Meister, heiligt die Geister:
Freue, freue dich,
o Christenheit.
Was ist nun aber an diesem Lied, das jetzt gar nicht mehr kitschig wie seine Vorlage, erst recht aber nicht martialisch und bombastisch wie seine chauvinistische Kontrafaktur klingt?
Man kann es nur kurz sagen, weil gerade das diesen Jubel auszeichnet.
Falk ist in diesem Lied, das die Bibel und das Kirchenjahr enthält, wortkarg geworden.
Wortkarg, wie ihn die Schicksalsschläge machten, die vor nicht einmal zweihundert Jahren in ihrer Grausamkeit allerdings ganz alltäglich waren, während sie uns die Sprache vollkommen verschlagen.
Wortkarg haben ihn aber auch unter den traumatisierten, vernachlässigten und verstörten Jugendlichen seine Fürsorge, das Zusammenleben und ihre Nähe gemacht.
Er hat gelernt, aus ihrer Sicht und mit ihren Voraussetzungen das Wesentliche konzentriert auszudrücken: Hauptsätze mit einem Subjekt, einem Tätigkeitswort, einem klaren Objekt.
Strophe 1 reicht vom Sündenfall bis zur Menschwerdung Gottes.
Strophe 2 spricht die den Jugendlichen existentielle Erfahrung des Bösen und der Sünde aus: Sie ist Freiheitsberaubung und Unterdrückung. Befreiung bringt Ostern. Das ist das Evangelium.
Die 3.Strophe ist doppelt auf’s Praktische ausgerichtet: Christ, „der Meister“ – so einer wie die Ausbilder und handwerklichen Lehrherren, zu denen die Knaben durch Falk fanden – Christ, der Meister eröffnet auch Bildung, geistige und gedankliche Freiheit, von der die Söhne der Unterschicht systematisch ausgeschlossen waren. So werden sie statt zu Frondienst zur Reich-Gottes-Arbeit ermächtigt.
Und dieser ganze große Bogen von den Heilsereignissen über die erfahrbaren Feste der Kirche bis hin zur unmittelbaren persönlichen Anwendung wird jeweils mit weniger als zehn Worten gesagt, und der Rahmen dieses kürzesten Glaubensbekenntnisses der Christenheit ist in jeder Strophe konsequent nur die frohmachende Gnadenpredigt und die unmittelbar tröstende Einbeziehung in die Bewegung des Evangeliums.
So ist das oft als süß empfundene Lied in Wahrheit eigentlich streng; sachlich bis zum Äußersten konzentriert auf das, was Weihnachten ausmacht:
Dass Gottes Menschenrettung in Christus die größte Freude der Welt ist. —
Das bleibt auch so in der ganz weihnachtlichen Fassung, die Falks Mitarbeiter im Lutherhof, Heinrich Holzschuher dem Lied 1829 gab, vier Jahre nachdem Falk zu Gottes Kind und zu seinen Kindern heimgegangen war. —
Wenn wir dieses Lied heute aber zusammen anstimmen, dann singen wir in der Tat nicht allein: Denn wir erbauen nicht nur uns selbst mit diesen diakonischen Strophen, wenn wir sie singen und wiederholen im Bewusstsein, wie sie einst für die Seele und den Geist und das Leben benachteiligter Jugendlichen entworfen wurden und dass sie den Dienst der elementaren Verkündigung und Seelsorge auch heute noch leisten.
Wenn wir es also anstimmen, das Lied, das uns in die frühe diakonische Bewegung und in die Gemeinschaft der Kriegswaisen, der Straßen- und Heimkinder einbindet, dann umgeben sie uns jetzt alle: Alle, denen von Anfang bis zur Vollendung der Welt die Botschaft zuerst gilt, dass ihnen der Heiland geboren wurde, um sie aus der Not zur Gerechtigkeit, aus dem Leid zum Lachen, aus dem Tod in sein Leben zu führen.
Wir singen nicht allein, sondern an ihrer Seite und bereit zum Dienst an ihnen.
Und mit uns im höheren Chor singt jener Johannes von der Ostsee, der Jesus jetzt von Angesicht zu Angesicht sieht und uns zuruft wie alle Boten der Geburt des Menschenretters:
„Freue dich, o Christenheit!“
Christvesper 24.12.2011 Jesaja 9,1-6 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Christvesper 2011
Jesaja 9, 1-6
Liebe Gemeinde!
Biblischer Glaube ist Kinderglaube.
War’s; ist’s; wird’s sein. —
Doch Vorsicht! Schon hält unsere Sprache eine Falle bereit, in die alle tappen, die den biblischen „Kinderglauben“ für eine Sache des subjektiven Genetivs halten .... und sich selbst dann für so etwas für zu schade.
Dabei geht es gar nicht um den Glauben der Kinder, so bequem wir’s uns in deren Gegenwart gerade mit der Weihnachtsbotschaft auch machen: Christentum ist trotz Weihnachten kein Glaube, der kindisch oder vor allem kindgemäß wäre.
Sondern umgekehrt: Der Kinderglaube, der mit Jesaja anhebt, ist streng objektiv das Hoffen, Warten und Trauen solcher, die’s selbst nicht mehr sind, auf ein ... Kind!
Das jedenfalls ist der Ursprung jener Kindergemeinde, die Jesaja, der Prophet in Juda zu sammeln anfing, als im Osten die Assyrer ein Weltreich schmiedeten und man im Westen mit den homerischen Epen waffenstarrende, erztönende Weltliteratur schuf.
Zwischen derart altvertrauten, ewiggleichen Nachrichten und Liedern von Mächten und Gewalten also wurde der Kinderglaube geboren.
Und sein Kern war das schon zu den Urzeiten des Altertums spürbare Veralten der Welt.
Denn sonderbarerweise ist es keine Ermüdungserscheinung unserer späten Tage, sondern eine seit unvordenklichen Epochen gegenwärtige Empfindung, dass die Menschheit und ihre Geschichte zu keiner Neuigkeit, keiner Erneuerung mehr fähig sind.
Dagegen ist auch der Fortschrittsglaube kein Beweis, denn er meint in aller Regel ja nur die Steigerung und Besserung dessen, was menschliche Mittel bisher vermochten, meint Fortsetzung, nicht neuen Anfang.
Tatsächlich also gilt: Die Wiederkehr des Immergleichen, die mürbe mahlende Erfahrung, dass sich alte Fehler wiederholen und gestrige Sorgen uns morgen erwarten; die tiefgefurchte Spur, in der das Lebensrad das Unterste nach oben und wieder nach unten wälzt und nirgends ein wirklicher Wandel, nirgends ein tatsächlich unbeschrittener Weg sich auftut ... dies sind konstante Beobachtungen der Wirklichkeit seit Olims Tagen. ——
Doch noch lange nicht alle Welt kommt deshalb zur Kinderhoffnung.
Viele Völker und Geschlechter, die es merken mussten, wie sie sich in überholten Kreisen drehten, wie ihre Entwürfe Kopie, ihre Hoffnungen Gespenster und ihre Lösungen gestrig waren, haben umso eifriger alte Muster nachgezeichnet:
Der dröhnende Stiefel wurde neu besohlt, der Soldatenmantel blieb ungeteilt und es folgte dem Jetzigen Bisheriges, dem Gewesenen das Alte; dem ersten der zweite und dritte punische Krieg; dem dritten der vierte und fünfte Hussitenzug; der fünften die sechste und siebte Kreuzfahrt; dem siebten das zwölfte und dreißigste Jahr des europäischen Glaubenskriegs; dem dreißigsten das hundertste und tausendste Jahr der Mord-Brand-Blut-Raub-Geschichte, bei der der alte Mensch immer älter aussieht ......... ——
Der Kinderglaube aber hält diese Lawine auf.
„Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben“: das ist seit Jesajas Tagen seine Losung.
Eine Losung, die in echte Zukunft weist und nicht nur Vergangenes wiederbeatmet.
Aber darum eben auch ein Haltesignal, ein „Stillgestanden!“ an die Welt, an uns Menschen, die wir regelmäßig vorwärts in’s Rückwärts marschieren.
Wenn der Prophet, der die Geburtsstunde des Kinderglaubens einläutet, mit seinem Ruf nämlich alle Hoffnung und alle Aussichten und alle Freude derart auf ein Neugeborenes lenkt, dann wird zu allen Zeiten und in jeder Brust – und nicht etwa nur auf dem Königsthron des römischen Jerusalem – Herodes wach.
Denn die Botschaft von dem frischen, jungen Leben, das eben anbricht und dem dennoch schon alles Kommende gehört, diese Botschaft entthront und entmachtet uns alle.
Sie sagt der ganzen Welt, sie sagt den Männern und Frauen und Kindern jeglichen Alters: „Eure Zeit ist vorbei. Abgelaufen und dahin. Ihr rettet nichts mehr. Nun kommt das Kind!“
.... Und so schauen wir zu Weihnachten zunächst und zurecht erst einmal dumm aus der Wäsche auf die Windeln.
Denn das glauben wir nun doch nicht so recht: Sollten wir denn wirklich gar keine Pfeile mehr im Köcher haben? Reicht unser ganzer geballter Verstand, unsere Tatkraft und Leistung, reichen unsere Erfahrungen und Pläne buchstäblich nicht mehr bis morgen?
Muss die Zukunft und alles, was sie bringen und werden kann, so ausschließlich einem völligen Neuanfänger überlassen werden? Und wir Menschen verschiedener Generationen und Bewährungsgrade sollten so unterschiedslos samt und sonders altes Eisen sein?? ——
Wie kann man denn einem Kind überhaupt die Herrschaft zumuten? Was haben so hehre Güter wie Recht und Gerechtigkeit in den noch ungeschickt übenden Patschehändchen eines Wickelkindes zu suchen? Und wie käme denn eigentlich ein Säugling auf den Thron, auf den doch Alter, Rang und Weisheit viel eher Anspruch erheben sollten, eben damit auf Erden nicht alles wie im Kindergarten und Sandkasten endet? ..........
Runter von unserm Platz mit dem ungewaschenen Rotzlöffel!
Stellt die alte Ordnung wieder her.
Und lasst Euch von dem putzigen Dreikäsehoch im Schlepptau des Propheten bloß nicht blenden: Der ist der Angriff auf’s Bestehende!
– Kinderglaube??? Wie sagt der weise, greise, miesepetrige Salomo (Prediger 19+1016)?
„Es mag zwar nichts Neues unter der Sonne geben .... aber wehe vor allem dem Land, dessen König ein Kind ist!“ —
Ob wir es nun so zu hören und zu spüren gewohnt sind oder nicht:
Für jeden von uns, der älter ist als sieben Jahre, beginnt der biblische Weihnachtsglaube also mit einer Zurücksetzung.
Gegen das Kind und seine Zukunft sind wir von gestern, und verglichen mit dem, was dem Kleinsten und Jüngsten da zugetraut wird, scheinen wir nicht mehr ernst zu nehmen.
„Das hat also gefallen dir, / die Wahrheit anzuzeigen mir, /
wie aller Welt Macht, Ehr und Gut / vor dir nichts hilft, nichts gilt noch tut“,
singt Luther.
Auch das schon seit fünfhundert Jahren. Aber seltsam fühlt sich’s doch an, wenn wir es wirklich auf uns beziehen, dass wir heute nicht auf unseresgleichen – einen Erwachsenen, Zurechnungsfähigen, Mündigen –, sondern auf ein Kind warten, blicken und bauen! —
Andererseits .... andererseits ist dies die Nacht und sind’s die biblischen Propheten und bleiben wir die Gemeinde, die es immer wieder weitertragen: „So ihr nicht werdet wie die Kinder....“ (Mtth183) ......
Nur können wir das nicht.
Wir erinnern uns zu gut und sind zu nüchtern und erkennen zu vieles wieder:
Wir wissen genau, wie die Mächtigen in diesem Jahr alle drei Wochen um des lieben Geldes willen immer das Gleiche neu unternahmen; wie die jüngsten Katastrophen eben jene waren, vor denen längst schon gewarnt wurde; wie ein ganzer Erdteil von der Ostsee bis zum Stillen Ozean eine Rolle rückwärts macht; wie zwischen Jerusalem und den Städten der Philister und dem Reich der Perser heute noch und wieder neu biblische Konflikte schwelen.
Wenn gegen so viel müde Welt- und Lebenserfahrung aber wirklich ein Kind geboren wird ....
Wenn aller unserer überraschungslosen, abgestumpften Gewohnheit zum Trotz nun wirklich ein neues Leben erwacht, .... wenn keiner von uns, aber einer für uns und für alle würde wie ein Kind: Was für eine Freude, was für ein Licht im Dunkeln, was für ein Leuchten über der düsteren Welt!
Ein Kind, das keinerlei lähmende, tiefsitzende Erfahrung mitbringt.
Ein Kind, dem jedes Ding gänzlich neu und wunderbar ist.
Ein Kind, das alles – auch das Abgegriffenste und Wertloseste – in seine Hand nehmen und sich dran freuen muss wie am ersten Tag.
Ein Kind, das unbelastet und unvoreingenommen diese alte Welt jauchzend begrüßt und als ein Wunder und eine Verheißung empfängt!
Ein Kind, dessen sämtliche Leib- und Seelenkräfte sich der Wirklichkeit zuwenden, mit der es nicht etwa fertig ist, sondern gerade voller Lust und Lebenswillen beginnt!
Ein Kind, in dessen Augen nichts sich als leeres Stroh, sondern alles als keimende Saat spiegelt;
ein Kind, das in Kleinigkeiten nicht Enttäuschung, sondern Fülle entdeckt;
ein Kind, dessen Mund jeden Laut und jedes Wort auskostet, weil ihm noch gar nichts schal schmeckt, sondern alles nach Süßigkeit und Sinn;
ein Kind, dessen erste Schritte Neuland, dessen erste Handlungen Schöpfung bedeuten; ein Kind, dessen erste Tränen ohne Berechnung, sondern unmittelbar wie das Leid aller Kreatur wach werden;
ein Kind, dessen Dasein keine Langeweile und keine Selbstbeschränkung und keine Endlichkeit kennt und das es darum unbewusst in seiner ganzen Unschuld mit dem großen, letzten Begrenzer und Beender, dem Tod aufnimmt.
Ein solches Kind ist uns geboren! ——
Und wenn alles bisher Gesagte für den immer noch unerschüttert auf seine Volljährigkeit und Vernunft bestehenden Erwachsenen vielleicht auch klingen mag wie eine etwas naive Leut- und Kinderseligkeit à la Jean Jacques Rousseau plus Lore Hummel: der biblische Kinderglaube, der sich den Hoffnungen und Beispielen der sogenannten Großen verweigert, geht noch darüber hinaus.
Er wird einst nach Jesaja nämlich dies erklären: Das Kind, das in allen Dingen anders ist als Ihr, das Kind, dem man die Welt anvertrauen kann, weil es ihr frisches Leben einhaucht .... das Kind ist Gott!
Wenn wir aber deswegen hier sind und wenn wir das glauben, dann kehren sich die Dinge heute abend um.
Dann ist die christliche Gemeinde des Kindes nicht etwa hier versammelt, um das Kind zu grüßen, sondern gerade umgekehrt: Das Kind selber begrüßt uns und wird uns die Erde und die Zeit und Zukunft neu öffnen, so wie wir sie allesamt längst nicht mehr kannten.
Und nicht wir müssen Ihm, dem Kleinen einst das Leben zeigen, sondern Er wird es uns ganz unverhofft entdecken und begreifen lehren.
Denn der Blick aus den Kinderaugen, die sich noch nicht sattgesehen haben an allem: Das ist der Blickwinkel des Evangeliums.
Dass die Menschheit trotz allem aus Gottes Sicht unverbraucht genug ist, um in ihrer Mitte jung zu sein und Neues zu schaffen: Was für eine Gnade!
Dass die Welt trotz ihrer augenscheinlichen Verfallsneigung ein Ort ist, an dem Gott etwas werden kann: Welches Aufatmen!
Dass die menschlichen Zerstörungen, alles, was uns einzeln und gemeinsam zeichnet und abnutzt, Gott nicht daran hindern, sich in unseren Arm zu legen, sich in unsere Hände zu begeben, sich mit uns im Alltäglichen zu plagen, mit uns auf dem Weg zu leben und mit uns bis zuletzt zu leiden: Was für ein Vertrauensbeweis!
Dass wir mit unseren Altlasten im Gepäck, unserer ganzen Wirklichkeit des alten Menschen doch nicht zu erstarrt, doch nicht zu senil sind, sondern dass das Kind von Bethlehem uns heute wieder einen jungen Gott finden lässt, der in alle Zeiten hinein und auch noch hinüber in die Ewigkeit gemeinsam mit uns wachsen will: Was für eine Ernte, Beute, Freude, „welch ein Jubel, welch ein Leben“ .....!
Wir können es, wir sollten es nur einfach wagen, den fröhlichen Wechsel und Rollentausch zu vollziehen, durch den es Weihnachten wird:
Indem wir Gebildeten den Rat und die Unterstützung eines völlig unverbildeten Menschleins annehmen.
Indem wir Starken anerkennen, dass eins noch stärker ist als wir: Die triumphale Menschen- und Lebensfreundlichkeit jenes Neugeborenen, der ein Held wird nicht durch’s Schwert, sondern durch die Macht seiner Liebe.
Wagen wir den fröhlichen Wechsel, indem wir Besserwisser und Selbermacher ein Kind ..... „Vater“ nennen.
Indem wir alle Unruhe, alle Wiederholungen, alles was uns im Leben umtreibt, in einer Krippe zur Ruhe bringen und dort den schutzlosen Frieden eines Säuglings teilen.
Feiern wir also Weihnachten in festem Kinderglauben!
Denn es ist uns in Jesus ein Kind geboren und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter!
Amen.
22.12.2011, Schulgottesdienst St. Suitbertus Gymnasium, Stadtkirche, Holger Pyka
Liebe Gemeinde,
ich kann mich an drei richtig beschissene Weihnachten erinnern:
(1) Das erste war vor zwanzig Jahren. Ich war neun. Wir hatten in der Grundschule wochenlang ein Geschenk für unsere Mütter gebastelt. Ich hasse Basteln, aber da hatte mich doch der Ehrgeiz gepackt und ich bin am vorletzten Schultag mit dem guten Gefühl nach Hause gegangen, das allertollste Geschenk im Rucksack zu haben, das eine Mutter je bekommen hat. Da meine Mutter vor Weihnachten gerne ganz zufällig in alle möglichen Schränke guckt, habe ich es bei einer Nachbarin im Schuppen versteckt. Diese Nachbarin hatte eine Katze - und die hat sich sehr gefreut, dass ihr der Nachbarsjunge so ein schönes neues Spielzeug hingelegt hatte. Kurz und knapp: Mein Bastelwerk war zerbissen, in Stücke gerissen, zum Teil aufgefressen oder verschleppt. Seit dieser Zeit stehen Katzen für mich ungefähr auf einer Stufe mit Basteln. Jedenfalls: Ich hatte kein Geschenk für meine Mutter, mein Vater musste sich sein Geschenk mit ihr teilen - fanden wir alle drei ziemlich doof. Ziemlich beschissenes Weihnachten.
(2) Ein paar Jahre später hat die ganze Familie bei uns gefeiert- und das komplette Essen ist angebrannt. Und wenn zwanzig Leute mit Hunger und schlechter Laune versuchen, kurzfristig ein Pizzataxi, das am Heiligabend ausliefert, und das möglichst schnell - dann ist Weihnachten ganz schön mies.
(3) Vor ein paar Jahren war mein Vater über Weihnachten in einer Rehaklinik, es hatte am Nachmittag Blitzeis gegeben und wir konnten nicht zu ihm fahren und haben auch kein Taxi gefunden, das uns in die Reha-Klinik ins Bergische Land gebracht hätte. Das war vielleicht am Beschissensten.
Es gibt sowas: Beschissene Weihnachten. Vielleicht können auch einige von Euch solche Geschichten erzählen, vielleicht steht manchen von Euch dieses Jahr auch Weihnachten bevor, das verspricht, so richtig beschissen zu werden. Weil einer sich zum ersten Mal entscheiden muss, ob er Weihnachten mit Mama oder Papa feiert. Weil eine einen Vater hat, der von der Wirtschaftskrise getroffen ist und auf einmal kein Geld für Geschenke da sind. Oder warum auch immer, Gründe gibt es genug.
Und an Weihnachten kommt einem Streit, kommen einem Zwischenfälle so besonders tragisch vor, weil wir Weihnachten so hoch hängen. Vielleicht nicht unbedingt „Weihnachten" selbst, sondern unsere Erwartungen an dieses Fest, an unsere Feiern, unsere Geschenke, unsere Familien.
Ein bisschen so, wie die Engel in unserem Theaterstück. Die wollten Weihnachten auch ganz hoch hängen. Der Sohn Gottes wird geboren. Gott selbst kommt zur Welt. Das ist in der Tat ein Ereignis, vielleicht das einzig wirklich einmalige Ereignis der Weltgeschichte.
Die Engel planen. Alles soll perfekt sein an diesem Abend, perfektes Essen, eine perfekte Unterkunft, perfekter Ablauf, perfekte Gäste: Hochrangige Besucher aus dem Ausland und ausgewähltes Publikum, alles Teil einer perfekten Werbestrategie.
Und dann geht alles den Bach runter. So scheint es zumindest: Gottes Sohn wird fernab von aller Pracht und allem Kitsch in einem armseligen Stall geboren, wird in eine versiffte Futterkrippe gelegt. Ich weiß nicht, wer von Euch schon mal in einem Stall war. Oder wer schonmal auf Stroh gelegen hat. Das ist nicht besonders bequem, das sticht und stinkt und staubt. Als einzige Besucher- Hirten. Die Penner, die Punks, die unterste Schicht der damaligen Gesellschaft. Vor ein paar Jahren, als ich hier angefangen habe zu arbeiten und neu in Düsseldorf war, habe ich die damaligen Konfirmanden gefragt: Wo muss man in Düsseldorf mal hingehen - und wo sollte man besser wegbleiben, was sind die No-Go-Areas hier in der Gegend? Ein paar hatten damals gesagt: Da in Einbrungen, wo diese Schule ist und diese Wohnheime mit den jugendlichen Kriminellen, da geht man besser nicht hin. Hätte ich vor zweitausend Jahren in Galiläa gefragt, hätten sie wahrscheinlich gesagt:
Für die Engel ist das eine große Katastrophe, all ihre großartigen Pläne über den Haufen geworfen, sodass sie Weihnachten glatt absagen wollen. Und dann erfahren sie, dass das gar kein himmlischer Betriebsunfall war, sondern von höchster Stelle so geplant. Gott hält sich nicht an den Dienstweg. Gott kümmert sich nicht um das Protokoll und um den Aufwand, den die Engel betreiben - und den wir Menschen betreiben.
Und ich glaube, das ist der Kern von Weihnachten: Gott sagt sich: Meine Menschen, in meiner Welt - die sind so weit weg von mir. Das will ich nicht. Ich will Euch nah sein, ich will am eigenen Leib erleben, was es heißt, wirklich Mensch auf dieser Welt zu sein, damit uns nichts mehr voneinander trennt. Ich will bei Euch sein - gerade dann, wenn Eure Pläne schief laufen, wenn es anders kommt, als ihr gehofft und als ihr es Euch gewünscht habt. Ich komme zu Euch, egal, was Ihr mir anbieten könnt oder wie gemütlich oder ungemütlich es bei Euch ist. Ich komme zu Euch, auch wenn Ihr in einem stinkenden Stall Unterkunft findet. Auch, wenn unterm Weihnachtsbaum Eure Familie in Scherben liegt. Auch, wenn ihr auf einer Autobahn Richtung Skiurlaub im Stau feststeckt. Denn siehe, ich bin bei Euch, alle Tage bis an das Ende der Welt.
Amen.
Lied: „Adeste fideles"
Fürbitten/Vaterunser
Lied: „O du fröhliche"
Segen
Nachspiel
4.Advent 18.12.2011 2.Korinther 1,18-22 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 4.Advent - 18.XII.2011
2.Korinther 1, 18-22
Liebe Gemeinde!
Wie soll das Kind denn heißen? ——
Maria war glücklicherweise in diesen letzten Tagen vor ihrer Niederkunft zumindest dieser Sorge ledig. Wie das Kind – das nach Joseph nicht zu nennen war – einmal gerufen werden sollte, hatte ihr der Engel Gabriel schon verkündigt, als sie noch ein einfaches Mädchen und keine rätselhafte Mutter war: „Du sollst seinen Namen Jesus heißen“ (Lk131). ——
Doch damit war die Namensfrage keineswegs endgültig geklärt.
Man redete dieses Kind später so vielfältig an, man sprach in so verschiedener Weise von ihm, dass allein schon die vielen Spottnamen und Titel, die Marien Sohn erhielt, vollständige Bekenntnisse und Ketzereien ausdrücken.
Und auch er selbst hat immer wieder geforscht, unter welcher Bezeichnung man von ihm erzählte: „Wer sagen die Leute, dass des Menschen Sohn sei?“ (Matth1613)
Wenn sie ihm dann aufzählten, dass man ihn Johannes den Täufer, den wiederkehrenden Elia oder auch Jeremia nannte, dann fragte er zurück:
„Und ihr? Welchen Namen gebt ihr mir?“
Worauf Petrus mit seiner berühmten Vollmundigkeit antwortete: „Christus! Du bist Jesus, der Messias!“ Und dieses Petrusbekenntnis hat Schule gemacht, ja es hat sich durchgesetzt. —
Aber es gab ja auch noch weitere Antworten und gibt sie bis zum heutigen Tage.
Da waren diejenigen seiner Blutsverwandten, die den Sohn der Maria nach dem Dorf ihrer Herkunft schlicht „Nazarener“ nannten. Und in der Weihnachtsgeschichte des Evangelisten Matthäus hören wir, wie wichtig und feierlich auch dieser Name genommen wurde, wenn es heißt (Matth223): Die heilige Familie „wohnte in Nazareth, auf dass erfüllt würde, was da gesagt ist durch die Propheten: Er soll Nazarener heißen“.
Der Messias Jesus, der Nazarener nannte sich selbst dagegen wiederum anders, indem er zugleich verhüllte und offenbarte, wer er war und sein wird, unter dem alle Welt vertretenden Namen „Menschensohn“.
Andere indes ernannten ihn mit gläubigem Trotz zu dem, was der Kaiser zu sein vorgab, obwohl Jesus allein es war: zum Heiland, zum Retter und Erlöser – auf Griechisch: „Σωτήρ“.
Daneben gab es schließlich diejenigen, für die er gut biblisch „Immanuel“ hieß (Matth123), dazu vor allem solche, die ihn mit „Rabbi“ oder „Meister“ oder „Herr“ anredeten.
Und es gab Paulus.
Der hat die schönste Bezeichnung für ihn gefunden: Einen Namen, einen Titel, der das Herz im Leibe lachen macht.
Paulus tauft das Kind, das an Weihnachten geboren wurde, nämlich schlicht „Ja“.
Und dieser umwerfend einfache, dieser aufmunternde, helle, zustimmende Name enthält wie in einen Diamanten gepresst die Fülle dessen, was Gottes Sohn schenkt.
Er ist das „Ja!“. Kein „Wenn“, kein „Aber“.
Er kommt nicht wie wir aus einer Familie, die „Wir-wären-gern“ heißt.
Seine Vorfahren haben ihm nicht das große „Weiß-ich-doch-nicht“ vererbt, das uns prägt, seit unsere Ureltern das Achselzucken bei Gottes erster Frage an sie lernten.
Er hat nichts von dem ängstlichen Wesen unserer Großmutter „Vielleicht“ und unseres starr-sinnigen Großvaters „Egal“ an sich.
Er ist einfach und ehrlich und mit Leib und Seele das „Ja“. —
Dass es einen so ungeteilten, so ganzen Menschen überhaupt gibt, ist ja schon eine mehr als frohe Botschaft!
Dass es ein Kind, einen Mann, einen Bruder, einen Lehrer, einen Helfer, einen Erlöser gibt, der nicht „Mal sehen“ und nicht „Kann sein“ heißt, sondern wirklich „Ja“, das allein würde das Leben lebenswerter, das Suchen sinnvoller, die Hoffnung glücklicher und das Bitten leichter machen.
Aber nun heißt das Kind, das wir mit aller Welt erwarten, nicht nur mütterlicherseits „Ja“; in ihm steckt nicht nur ein Mensch voller Zustimmung, sondern er heißt „Ja“ auch nach dem Vater.
Er verkörpert und lebt die Bestätigung Gottes.
Und damit fängt für alle, die dieses Kind beim Wort und Namen nehmen, ein neues Leben an.
Aus dem zähen Nebel der Unklarheit und der Vermutungen, aus dem Dunst der Ahnungen und aus den Schatten des Aberglaubens tritt plötzlich eine Gestalt an uns heran und sagt: „Ja“.
Ihr habt Euch gefragt, ob Gott sei? – Ja!
Ihr habt gegrübelt, ob Er den Menschen etwas angeht? – Ja!
Ihr wollt wissen, ob Gott Sein Herz persönlich dem Einzelnen zuwendet? – Ja!
Ihr würdet gern begreifen, ob das nicht nur für die Kinder, sondern auch für ganz vernünftige, erwachsene Leute eine belangvolle Botschaft ist? – Ja! —
Alle diese Fragen des Nachdenkens und Zweifelns, des Zögerns und des Rätselns treffen in dem, den Paulus und Silvanus und Timotheus predigen, auf eine Antwort.
Und es ist keine theoretische, keine fachchinesische Antwort, für die man die Akademie von Athen und den Schreibsaal von St.Gallen und die Fünf-Uhr-Morgens-Vorlesungen des Dr. Luther und die Salons und die Dreifaltigkeitskirche von Schleiermacher besucht haben muss.
Es ist eine Antwort aus dem Stall.
Eine lebende Antwort, die nicht nur im improvisierten Kreißsaal von Bethlehem, sondern durch den Heiligen Geist genauso auch in Korinth und Kaiserswerth anzutreffen ist und auch in jenem Bethlehem am Delaware in Pennsylvania, das der Graf Zinzendorf und der Tischler David Nitschmann am Heiligen Abend vor 270 Jahren gründeten und auch in der Bethlehemskapelle in der Prager Altstadt, wo der christliche Glaube heute fast ausgelöscht ist, aber die Glut der vorreformatorischen Wahrheitssuche des Jan Hus unter aller Asche doch lebendig bleiben wird!
Das lebendige „Ja“ auf die Gottesfrage, wird tatsächlich als eine Wahrheit mit Haut und Haar, als eine Wahrheit, die unser Fleisch auf den Rippen hat, durch den Heiligen Geist befestigt: Man kann eben auch heute nicht anders von dem einen Gott der Bibel reden, als indem man von der Menschengeburt, dem Menschenleid und -tod, der Auferweckung Jesu erzählt.
Denn genau dieser Mensch bestätigt Gott nun einmal ganz anders als Physik und Metaphysik, als Spekulation und Beweise es können.
Jesus nämlich bestätigt Gott in menschlichen Dimensionen, nach menschlichem Maß und vor menschlichem Horizont.
Jesus ist in seinem Leib und unserer Geschichte die endgültige Antwort auf die Frage, ob der Mensch zu Gott gehört und Gott zum Menschen?
J a , J a , J a !
Jeder Knochen, jedes Organ, jede Muskel, jede Faser, jede Regung, jeder Atemzug unseres Körpers antworten durch ihre Blutsverwandtschaft mit dem Kind von Bethlehem:
Nichts an uns ist Gott fremd. Bei nichts sind wir allein.
Gott stimmt mit uns Menschen überein. In seinem Sohn, dem lebendig-leibhaftigen „Ja“. —
Das ist die biblische Urform jenes grundlegenden, allgegenwärtigen, überragenden Optimismus, der heute in verfälschter und entleerter Gestalt unter uns im Umlauf ist als „positives Denken“.
Dieses Denken ohne den Gottessohn, der „Ja“ heißt, ist nämlich ein einziges, einsames Selbstbescheißen geworden, bei dem der sich alleingelassen wähnende Mensch sein Inneres in hysterischer Meditation unter Dauerbeschuss nimmt: „Ja, ja, ja,“ feuert er sein zagendes Ich an. „Du schaffst es! Du kannst es! Du bist der Beste! Du kommst durch!“ ..........
Doch diese Übertragung von Publikumsmanieren beim Sport auf das eigene Seelenleben ist eigentlich schauderhaft grotesk.
Wie kann man von einem „Ja“-Wort leben, wenn es keinen gibt – außer mir –, der es sagt?
Kann man denn heiraten ohne Braut? Kann man Frieden schließen ohne Bündnispartner? Kann man eine Frage klären ohne Antwort?
Kann man also wirklich etwas Positives denken, wenn der große Bejaher und Bestätiger, der Einzige, von dessen Zustimmung und Beifall tatsächlich alles abhängt, nicht vorkommt, wenn Er nicht gehört wird?
Wenn man das Menschenkind, den Menschensohn, der „Ja“ heißt und ist, nicht kennt?
Nein.
Das ist das erste und bleibt das letzte Nein in der heutigen Predigt.
Und es besagt nur, dass alles, was positiv und aufbauend ist, alles was hilft und fest macht, alles was Brief und Siegel hat, alles was uns Menschen wirklich eine gute Antwort, einen Rückhalt bietet, alles was uns als Zustimmung aus unserer Ungewissheit, als Ermutigung aus unserem Trübsinn, als Bekräftigung aus unserm Zaudern reißt ..... alles das ist Jesus. Basta!
Darum sagt aber auch jeder, der „Ja!“ sagt, zugleich „Jesus!“.
Nur dass natürlich längst nicht alle, die dieses schöne, gute, positivste aller Worte nutzen, wissen, wen sie dabei nennen.
Die aber, die es wissen, denen sein Name und seine Person bekannt sind und die glauben, dass „auf alle Gottesverheißungen in ihm das Ja ist“, die wissen auch, dass sein Name wirklich ein sprechender ist.
Denn nicht nur erklingt im Namen Jesu die große Gottes-Bejahung für und über uns, sondern wir können und wir sollen im gleichen Namen auch antworten.
Er bringt uns nämlich nicht nur das „Ja“, das wir uns selbst nicht sagen können, sondern er trägt obendrein auch noch unsere Zustimmung zurück.
Sein zweiter Name nach dem göttlich-väterlichen „Ja“ ist das menschliche Gegenstück, das seine Mutter Maria ausdrückte, als er ihr verkündigt wurde.
„Mir geschehe, wie Du gesagt hast“ (Lk138), erwiderte sie.
In einem Wort: „Amen! So sei es!“
Wer also vernommen hat und einverstanden ist mit dem, was Jesus bedeutet, wer sich gesagt sein lässt, dass dieser Mensch die Gottesfrage löst, der wendet seinerseits das alles ins Positive, indem er den gleichen Menschen bezeichnet und zu ihm dabei „Amen!“ sagt.
»Für uns bist Du der „Amen“, Jesus.
Wann immer wir von Dir hören und nach Dir fragen und mit Dir sprechen und vor Dir singen und durch Dich beten, dann geht’s uns durch und durch, dass es so sein soll:
Wir wollen, dass Du für uns die eine und wahre Bestätigung Gottes bist.
Wir nehmen Dein Zeugnis für Gott an und gründen uns drauf.
Wir werden durch Dich befestigt in der Gemeinschaft mit Ihm.
Und das alles soll so sein: Wir erheben keinen Einspruch, wir entwickeln daraus keinen Minderwertigkeitskomplex, wir verzichten und pfeifen auf die selbstgemachten Gottesbilder.
Stattdessen nennen wir Dich „Amen“, weil wir alles unterstreichen können, was Du bist und sagst, weil wir Dir unsern Beifall zurufen und uns Deiner Vollmacht unterstellen.
Weil kein Name Dich für uns besser beschreibt, als dieser grundsätzliche, uneingeschränkte Vertrauensbeweis .
Du hast uns Gottes „Ja“ geschenkt: Jetzt sollst Du auch unser „Amen!“ besiegeln!
So wie Dein Lieblingsjünger Johannes von Dir redet, der am Anfang und am Schluss seiner geheimen Offenbarung mit „Ja.Amen“ nach Dir ruft (vgl.Offb17+2220), so wollen wir Dich künftig auch nennen und bekennen.
Du streichst alle Verneinung.
Du tilgst alles Negative.
Du bist der feste Grund und das gewisse Siegel.
Und wenn wir noch so sehr aus der Sippe der „Wer-weiß?“ stammen, wenn uns noch so viel vom Spottgeist unserer Verwandtschaft mit dem stolzen Namen „Als-ob“ prägt, wenn wir auch immer Nachkommen des fruchtbaren Stammes „Warum?“ und der gelehrten Familie „Wohl-Kaum“ sind und bleiben:
Durch Deine Geburt als Mensch werden schließlich auch wir zu Trägern eines neuen Namens.
Nicht mehr „Nicht-mein-Volk“, sondern „Kinder-des-lebendigen-Gottes“ (vgl.Hosea21).
Weil Du, Jesus „Ja“ heißt.
Und wir durch Dich sagen „Amen!“ – Gott zu Lobe!«
3.Advent 11.12.2011 Römer 15,4-13 Stadtkirche und Mutterhauskirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.Advent 11.XII.2011
Römer 15, 4-13
Liebe Gemeinde!
Der Handwerker Paulus war es gewöhnt, mit groben Stichen zusammen zu nähen, was sonst nie gehalten hätte. Dicke Löcher mit der Ahle in zähes Leder zu bohren, gehörte ebenso zu seinen Fertigkeiten als Zeltmacher wie das doppelte und dreifache Steppen einer Naht, wenn sich zwei frischgegerbte Häute besonders widerborstig weigerten eine Verbindung einzugehen.
Doch diese Arbeit, die nur schwielige Hände, ein krummer Rücken und eine unempfindliche Nase verrichten können, war ein Kinderspiel gegen das, was Paulus in seinem nichthandwerklichen Tun zusammenbringen wollte:
In der Werkstatt schlug der Apostel sich ja nur mit dem dicken Fell des Ochsen und des Bocks herum; nach Feierabend aber mit dem dicken Fell des Menschen!
Und wenn dem Rindvieh schon schlecht am Leder zu flicken ist, so ist es beim Mensch geradezu hoffnungslos, ihn mit Haut und Haaren verbinden zu wollen mit etwas, das er sich vom Leibe hält.
Soll niemand also meinen, Paulus habe beim Schustern und beim Schneidern mehr fluchen müssen als beim Missionieren. Zäher als die zäheste Schwarte ist die Menschenseele, wenn man ihr eine neue Form, einen neuen Inhalt geben will ..... wenn man ihr also ihre alten Vorurteile nimmt und eine andere Hoffnung als die bisherige schenkt.
Wer das versucht – wer einem Menschen sagt, dass sein Feind nicht mehr sein Feind ist, dass sein Ruhm nicht mehr rühmlich, seine Sicherheit nicht mehr sicher und seine Einbildung nicht mehr unangreifbar ist –, der wird es schnell zu spüren bekommen, wie alle Welt bei ihrem Leder und Leisten bleiben und in keine neue Haut sich finden will!
Doch Paulus näht und näht und näht: Es muss zusammen finden, und dann muss es auch zusammenhalten!
Die einzelnen Lappen und Lumpen der Menschheit müssen es sich gefallen lassen, dass ein kleiner jüdischer Handwerker sich in den Kopf gesetzt hat, die Zeit sei reif, Mensch und Mensch und Mensch und Volk und Volk und Volk und Heide und Grieche und Jude und Mann und Frau und Knecht und Kind und Frommen und Freigeist und alle und jeden so zu verbinden, dass das alles nicht mehr auseinanderreißt, sondern zu einem Gewebe wird, zum Stoff der großen Menschheit Gottes.
Und so näht und näht Paulus die Einzelteile zusammen, und bei dieser mühevollen Arbeit murmelt er vor sich hin: „Der Gott der Geduld – (denn die braucht er dabei selbst so sehr!) – gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid“.
Doch die einzelnen Elemente des großen Völkerteppichs wollen einfach nicht zusammen halten: „Der Gott der Geduld gebe euch, dass ihr einträchtig seid!“
Nein! Sie sind nicht einträchtig. Die Griechen wollen nicht allzu eng mit den Römern verknüpft werden: „Diese barbarischen Kommisköppe! Diese Säuglinge einer Wölfin! Plump, grob und kulturlos!“
Und die Römer ... wollen die etwa mit den Griechen zusammengeschustert werden? - „Pfui Deibel! Knabenschänder! Akademische Schwätzer und verweichlichte Freizeitsportler!“
Und untereinander? Halten wenigstens die Athener es aus, dass man sie mit den Korinthern und diese mit den Ephesern verbindet: „Bloß nicht! Wir Athener sind die einzig wahren Hellenen!“ – „Blödsinn! Was wäret Ihr ohne uns Korinther und unsere guten Beziehungen nach Italien?“ – „Emporkömmlinge! Wir Epheser mit der großen Mutter Diana, wir auf dem Boden des alten Asien sind die echten Hüter des Herdes!“ ————
Und Paulus näht und näht und näht ..........
Er schickt Grüße von hier nach dort; er führt zusammen und durchmischt die korinthischen mit den Christen von Ephesus; er zieht die Fäden fest, die sie alle mit Jerusalem verbinden; er stellt mit geübtem Griff menschliche Schnittmengen und Überlappungen her, macht die kleine Gemeinde von Thessaloniki in ganz Mazedonien und Achaja bekannt (vgl.1.Thess17), erzählt den Hauptstadtchristen von der Schwester Phoebe, der Diakonisse von der griechischen Reeperbahn (vgl.Röm161f) und knüpft weiter und weiter am einem Netzwerk, das Land und Meer durchzieht und die Jesusleute allüberall in unlöslichen Zusammenhang bringt.
Gott gebe, dass ihr einträchtig seid! ——
Aber die Eintracht fällt den Menschen nun einmal viel schwerer als die Zwietracht.
Und von dem einmütigen Lob mit einem Munde, das Paulus stiften will, von der Harmonie, die er gerne wecken würde, spürt er selbst nicht viel.
Denn einen nicht unerheblichen Anteil an den Verstimmungen unter den Glaubenden bringt gerade seine hartnäckige Knüpfarbeit, sein wild entschlossenes Aufeinanderbeziehen hervor.
.... Damit nähern wir uns aber einem heißen Eisen:
Der nähende Paulus nämlich, der nicht einfach nebeneinander liegen lassen will, was doch zusammengehört, packt etwas an, das wir uns gewöhnlich verbieten.
Seine Nähnadel des Glaubens, sein missionarischer Eifer für reißfeste Verbindungen gilt heute ja beinah schon als Kunstfehler: halten wir doch – buchstäblich – die Unverbindlichkeit in Glaubensdingen für das höchste Gut. Verbunden muss da gar nichts werden - meinen wir -, sondern alles kann ruhig auch einfach nebeneinanderher durch den Raum flattern.
Jeder soll seinen eigenen Stil pflegen, denn so ist das bekanntlich bei Geschmackssachen, zu denen wir längst nicht mehr nur die Kleidungs-, sondern auch die Wahrheitsfrage zählen.
Wie idiotisch, die einzelnen religiösen Wadenwickeln und feierlichen Sonntagsschleifen, die jeder irgendwo in seinem Kostümfundus hat, unbedingt zu etwas Großem und Ganzem zusammennähen zu wollen:
Spar dir doch die Mühe, Paulus! Das wird nichts! Kannst doch jedem sein eigenes Christentümchen lassen, seine eigene winter- oder sommertaugliche Frömmigkeit, seinen maßgefertigten Wahrheitszuschnitt. ——
Aber er näht doch. Er will verbinden!
Nicht – wie immer schon und immer noch den Boten der verbindlichen Wahrheit unterstellt wird – um Recht zu behalten und Herrschaftsgelüste durchzusetzen.
Sondern weil nur aus der gemeinsamen Wahrheit auch eine gemeinsame Verantwortung wird: Wenn Verantwortung nämlich „Antwort“ ist, dann kann sie nur gelingen, wo gemeinsames Hören gelang.
Wenn dagegen jede Stimme, jeder Anspruch, jede Einflüsterung gleichgut oder gleich gültig wäre, könnte niemals Gemeinsamkeit aus ihnen folgen.
Das wird zwar nicht zugegeben von denen, die meinen, je mehrstimmiger und unverbundener es bei den Wahrheitsfragen und Weltanschauungen zuginge, desto besser.
Tatsächlich aber ist es Unsinn sich selber weismachen zu wollen, man käme um die große Wahrheit herum: Wenn Dein Teil und mein Teil sich nämlich nicht zusammennähen lassen, dann bleiben uns allen nur unbrauchbare Lumpen, unter denen die Menschheit ihre Blöße nicht bedecken, geschweige denn Schutz finden kann. ——
Es kommt bei der Frage nach dem, was wir tun können und tun wollen, wie wir helfen und wo wir kämpfen müssen, eben doch darauf an, was auf den jeweiligen Fahnen steht:
Wenn bei Dir steht „Rettet das Geld!“, und bei einem anderen steht „Gerechtigkeit für alle!“, dann werdet Ihr tatsächlich nicht an einem Strang ziehen, sondern an verschiedenen Enden.
Und wenn der eine meint, man solle ruhig beim Sterben nachhelfen und der andere meint, man müsse die Schöpfung und die Geschöpfe auf jeden Fall künstlich verbessern und wieder einer glaubt, es gebe Menschen - beispielsweise die Frauen -, die wie Besitz behandelt werden dürfen, und noch ein anderer meint, Gesetze und Steuern und Moral seien unzumutbare Beschränkungen seiner Freiheit ..... nun, dann wird da nie etwas Gemeinsames werden.
Es bleibt dann bei dem lumpigen Flickwerk, das wir zwar Toleranz und Individualismus nennen, das aber doch nur bedeutet:
Die Scharia soll die Muslime regeln so wie der Markt die Finanzen und das Lustprinzip die Moral und die krawalligsten Fundamentalisten den Biologielehrplan.
Was aber richtig und wahr und notwendig ist, was Starke und Schwache und Fremde und Feinde verbinden und zusammenhalten könnte, wird dabei niemals gefunden werden. ——
Nur Paulus: der näht und näht. Der meint, er habe den Zwirn, der die Menschen zu einer starken, belast- und haltbaren Gemeinsamkeit verknüpfen kann, gefunden.
Für ihn ist das der kategorische Imperativ des Glaubens:
„Nehmet einander an gleichwie uns Christus hat angenommen zu Gottes Lob.“
Handelt also so, dass ihr jederzeit in anderen das seht, was Christus in euch sieht, und an anderen das tut, was Christus euch tut.
Dann kann euer Tun und Leben verbindlich werden und dann wird’s Verbindlichkeit stiften!
Und diese kühne, hartnäckige Überzeugung des Paulus, dass die Menschheit dieses Maß an Gemeinsamkeit haben muss – über dem die Unterschiede und Feindschaften, die bisher trennten und zerrissen, in Vergessenheit geraten –, dieses sture Zusammenschustern der Welt über einen Leisten und Zusammenflicken zu einem Ganzen ........ das ist zwar unmodern und vormodern und nicht pluralistisch und nicht politisch korrekt und nicht auf Kompromiss oder Dialog begründet, sondern - ganz ungeheuerlich - einfach auf unbeirrter Hoffnung: Aber es ist die einzige Hoffnung, die seit dreitausend Jahren nicht verloschen ist.
Der Wahn eines einheitlichen Weltreiches, der Wunsch nach einem allgemeinen Gesellschaftsvertrag, der Eifer für umfassende menschliche Gleichheit sind alle noch von den selben Lenkern und Denkern und Henkern, die an ihnen strickten, zerfetzt worden.
Nur die Hoffnung und Verheißung, die der Gott Israels aufrichtet, ist trotz Missbrauchs und Irrtums noch in allen Teilen der Welt bis heute lebendig, so dass, was zuvor geschrieben ist, uns zur Lehre geschrieben bleibt, auf dass wir durch Geduld und Trost der Schrift die Hoffnung festhalten.
Und geschrieben steht von Anfang an, dass der eine Abraham zum Segen aller Völker werden wird.
Dass die kleine Sklavensippe Jakobs Freiheit erlangt, weil ihr Gott der große Befreier aller Unterdrückten und Gedemütigten und Gefangenen und Gefesselten sein will.
Dass Mose dem Volk Israel ein Recht und Gesetz überbringt, das nicht nur einer einzelnen, sondern jeder Nation die zehn Grundlagen der Gerechtigkeit beschert.
Dass David eine Herrschaft antritt, die nicht nur geschichtlich vorläufig, sondern einst für immer der Königsherrschaft Gottes den Weg zu bereiten hilft.
Geschrieben steht von Anfang an also, dass in Israel eine Verheißung für die gesamte Menschheit angelegt ist und ausgetragen wird:
So dass in dem Volk, das am meisten gehasst wurde, die meiste Liebe für die Welt zu finden sein wird; so dass aus dem Leidensweg dieses Volkes der Weg zur Umkehr und Versöhnung aller Menschen hervorgehen muss; so dass in der Verachtung, die den erwählten Juden gilt, die Gnade Gottes einst den größten Triumph vorbereitet, wenn ihre Feinde den Messias lieben und in seinem Reich miteinander als die schuldigen und doch verschonten Schwestern und Brüder Israels leben dürfen. ——
Und das ist das Muster, an das Paulus unermüdlich anknüpft. Diese Verbindung stellt er her durch jene Fäden, die er zwischen den Menschen allerorten im Namen Christi festzieht.
Das ist mehr als nur die Überwindung des lächerlichen, kleingeistigen Gezänks der Menschheit zwischen Athen und Rom, zwischen Ephesus und Korinth, zwischen Wittenberg und Genf, zwischen Bayern und Preußen, zwischen Düsseldorf und Domstadt.
Denn es geht dabei wirklich um die einzige Grundlage der Zukunft der Welt.
Und die ist Christus, der Diener der menschlichen Einheit.
Dass in Ihm alle zusammenfinden und -halten, das werden wir nicht durch das Schwert von einst und nicht durch den Satelliten oder das virtuelle Netzwerk von heute erreichen, weder durch Zwang, noch durch den Wettbewerb freier Verkündigung.
Aber mit der Nadel des Paulus kann jeder von uns eine feste Naht, eine Verbindung zwischen Menschen schaffen:
Indem wir die ganze Welt als Adventskalender erkennen, hinter dessen jeglicher Tür jeder einzige Mensch ein Bote unserer Gemeinsamkeit ist.
Überall stehen sie und warten mit uns, dass wir uns gegenseitig annehmen, wie Christus uns angenommen hat zu Gottes Lob!
Amen!
1.Advent 27.11.2011 Offenbarung 5,1-5 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 1.Advent – 27. XI.2011
Offenbarung 5, 1- 5
Liebe Gemeinde!
Es gibt ein Sprichwort über das, was zuletzt stirbt.
Man könnte es natürlich auch erfreulicher fassen, denn was „zuletzt stirbt“, überlebt ja auch am längsten. Doch einerlei wie wir fragen: Die Antwort, die das Sprichwort gibt, ist so oder so unvollständig.
Denn die Hoffnung, von der gesagt wird, dass sie am längsten überlebt und zuletzt stirbt, hat einen Zwilling, der genauso zäh ist. Nur ist der Hoffnungs-Zwilling nicht so wohl erzogen, er ist nicht so sittsam, keusch und duldend wie seine tugendhafte Schwester.
Der Zwilling der Hoffnung ist nämlich ein Quälgeist, ein Kobold voller Unruhe, ein ungebändigter Naseweis, der es nicht einfach aushält zu warten, sondern stur und gespannt dahinter kommen will, was wohl noch passieren, was sich noch zeigen, wie es noch werden wird. ........ Dieser Doppelgänger, diese querköpfige Begleiterscheinung der Hoffnung ist die Neugierde.
„Was kommt? Wovon tuschelt man? Wie geht’s weiter? War es das?“
Das ist der Antrieb, mit dem die Neugierde sich immer wieder hochrappelt.
Sie ist nicht klein zu kriegen; man meint, nun komme kein Mucks mehr, weil alles gesagt war, weil alles dicht gemacht wurde, weil alles vorbei ist .... und da reckt die Neugierde mitten aus der apokalyptischen Finsternis, aus der endgültigen Zerstörung und dem sicheren Tod tatsächlich ihren plattgetretenen Kopf, spitzt die jämmerlich geknickten Ohren und flüstert:
„Und nun?“
Und mit diesem unbesiegbaren Stichwort ist sie wieder da. Die Lähmung aber und die Verzweiflung, die wie Geier über der sterbenden Seele gekreist sind und sie schon als fette Beute sahen, müssen davon.
Die Neugierde war noch nicht tot zu kriegen.
Wäre sie’s gewesen, so hätte die Menschheit allzu oft die dunkelsten, scheinbar letzten Kapitel ihrer Geschichte nicht überstanden.
Sie hätte weniger überlebt und noch weniger entdeckt. Sie wäre eher verloschen.
Doch die beiden Flämmchen – die Hoffnung und die Neugierde – haben auch dann noch geflackert, wenn die großen Lampen des Denkens und Glaubens, des Wissens und Verstehens schon lange kein Öl mehr hatten.
Dann hat die Hoffnung sie auch in der tiefsten Nacht der Menschheit immer wieder entzündet. Den nötigen Funken aber schlug meistens die Neugierde.
Und so überlebt die Neugierde unversehrt nicht nur die Katastrophen der Erde, sondern auch noch die Himmelfahrt. Sogar dort nämlich, am Ziel aller Träume, wo Erkenntnis und Weissagung und Zungenrede aufhören werden (vgl.1.Kor138), dort, wo eigentlich das Fragen endet (vgl.Joh1623) und sogar das Glauben abgelöst wird vom Schauen (vgl.2.Kor.57) – auch dort hat die Neugierde den Hals noch immer nicht voll. ——
Das ist zumindest beim Lieblingsjünger Johannes so der Fall, der durch eine Offenbarung in die Gegenwart Gottes entrückt wurde und dennoch – oder gar erst recht – dort noch mehr wissen wollte, der verstehen, begreifen und entschlüsseln wollte, was unklar und verborgen blieb, der Entdeckungen und Erklärungen verlangte, als er endlich an der Quelle war.
Nur schauen und staunen, nur anbeten und loben, nur selig sein und singen, war für Johannes auch am Ziel nicht möglich.
Denn er blieb in seiner Entrückung zum Ursprung und Endpunkt aller Weisheit und Wahrheit eben ein Abgesandter der irdischen Menschheit, ein Stellvertreter der Sterblichen, deren Überlebenskraft Neugierde heißt.
Und so wird dem Johannes auch im Himmel zum Heulen: Denn dort zu sein, wo der Bauplan liegt, wo das Tagebuch der Welt sich findet, wo die Aufzeichnungen lückenlos sind, wo kein noch so fremdes Herz, kein noch so fremder Gedanke nicht doch bekannt und vertraut wären, dort zu sein, wo das Geheime gut aufgehoben und das Rätselhafte ein Fragekatalog mit Antworten ist, das macht den wissbegierigen, erklärungssuchenden Johannes tief, tief unruhig:
Ist er doch wie wir ein Kind jenes Elternpaares, die angebissen haben.
Das Wasser, das Eva und Adam im Munde zusammenlief als sie hörten, man könne als Mensch tatsächlich zu wissen bekommen, was gut und böse ist, dieser endlose Appetit auf Wissen als Macht ist in den allermeisten Menschen rege geblieben.
Weil eben Wissen das Überleben sichert, weil Wissen Erleichterung und Erweiterung schafft.
Und doch bleibt die Frage am Ende genau dieselbe wie am Anfang:
Soll der Mensch wirklich in die Lage Gottes kommen? Soll er die Frucht vom Baum der Erkenntnis ratzeputz auffressen, soll er sich im himmlischen Archiv auf die geheimsten Dokumente stürzen und sich deren Inhalt einverleiben?
Ist er – bei aller überlebensnotwendigen Neugierde – dazu imstande?
Ist er stark und stabil genug, alles zu erfahren?
Würde er die Allwissenheit vertragen?
Wäre es menschenwürdig, damit leben zu müssen, dass man alles gesehen, gehört und mitgekriegt hat?
„Wer ist würdig, das Buch des Verborgenen zu öffnen?“
Diese Frage, die Johannes umtreibt, ist womöglich also gar nicht die Frage nach einem großen Vorzug, sondern nach dem Fluch, alles zur Kenntnis nehmen zu müssen.
Wenn nichts mehr verschwiegen, wenn nichts mehr versiegelt, wenn nichts mehr verdeckt bleiben sollte: Wer würde das ertragen? Wer müsste daran nicht zugrunde gehen?
In alle Gruben und Gräber zu schauen, jeden Abgrund auszuloten, Zeuge aller Schrecken und Sünden zu werden, Mitwisser sämtlicher Lügen und Verrate, Vertrauter und Bewahrer aller Geheimnisse: das wäre zwar die endgültige Stillung der Neugierde, aber es wäre auch ihr Tod!
Denn genau wie unter dem paradiesischen Baum bleibt’s auch am himmlischen Thron dabei: Der Mensch müsste sterben, wenn er alles wüsste.
Nicht umsonst wird also von der islamischen Tradition dem Propheten Mohammed der Satz zugeschrieben: „Wenn ihr wüsstet, was ich weiß, würdet ihr viel weinen und wenig lachen!“
Mohammed allerdings macht sich mit solchen Andeutungen überirdisch interessant.
Viel irdischer und wahrer sind die Tränen unseres Apostels Johannes, der es im Himmel vor dem siebenfach versiegelten Buch erkennen und einsehen muss, wie wenig er weiß und wie wenig wir überhaupt wissen können.
Die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit ist uns nicht nur heute verborgen, sondern sie wird es auch morgen und in Zukunft bleiben.
Weil sie uns erdrücken und zerschmettern würde, weil wir platzen oder schmelzen müssten, wenn wir sie insgesamt zu fassen bekämen.
Und weil darum ein anderer als wir, ein Einziger allein die volle Menschenwahrheit auf sein Herz und seine Schultern genommen hat und es ertragen lernte, dass ihm nichts Menschliches mehr fremd und nichts Schlimmes, nichts Schmerzliches verborgen blieb.
Der Eine, dem alles zugemutet wurde, der auf sich nahm, was je ein Menschenherz gefühlt, ein Menschenhirn erdacht, eine Menschenhand verbrochen hat, der begegnet dem Johannes nun aber wohlweislich nicht als Übermensch im Himmel: Er begegnet nicht als Übermensch damit wir gar nicht erst verlockt werden, zu meinen es sei vielleicht doch menschenmöglich, die Geheimnisse der ganzen Welt zu ergründen.
Statt als klügster Kopf oder größter Geist der Menschheit begegnet Jesus uns in der Schau des Johannes ja in verfremdeter Gestalt, im Gleichnis jener beiden Lebewesen, die sich von uns nicht zusammen bringen lassen: Als Löwe und als Lamm.
Doch in Jesus kommen sie zusammen und verleihen ihm, was es braucht, um die geheimen Seiten, die unerforschten und unausgeglichenen Widersprüche der Menschen zu durchschauen und zu lösen. Was braucht es?
Kraft und Geduld in löwenhaftem und lammfrommem Maß.
Der Löwe Judas ist stark genug, das Lamm Gottes ist sanft genug, um nicht zu verzweifeln unter der Herkulesaufgabe, alles zu wissen, jeden Fehler zu kennen, jede Dummheit zu ertragen, jeden Schrei gehört, jede Wunde gespürt, jede Todesart erlitten zu haben. ———
Doch nun, nachdem wir erst das Hohe Lied der menschlichen Neugierde gesungen haben und dann den Hymnus angestimmt auf den einzigen Allwissenden, der zur Großtat und zum Opfer des restlosen Eingeweihtwerdens bereit war: Was „lernt“ uns das?
Sollen wir unsere notwendige Neugier dämpfen, weil wir nicht Jesus sind?
Falsch! Wir sollen neugierig bleiben – so neugierig, wie Johannes es sogar im Himmel war – wir sollen neugierig bleiben, weil Jesus ist und kommt!
Dazu und zu nichts anderem ist schließlich der Advent da: Dass unsere Neugier und unsere Sehnsucht gelenkt werden auf den, der tatsächlich weiß und kennt und löst, was für uns undurchdringlich und unerklärlich bleiben muss und wird.
Der Advent will uns also nicht das Fragen verbieten, will uns nicht die Spannung nehmen, weil wir ohnehin nie alles begreifen würden, sondern er richtet unsere Aufmerksamkeit auf die Antwort in Person, die leibhaftige Erklärung, die lebendige Lösung aller brennenden Fragen.
Und so sagt uns jeder Tag der vor uns liegenden Zeit: Wieder bist Du der Lösung einen Schritt näher. Wieder kommt Dir die Klarheit über alles Unklare einen Schritt entgegen.
Nur dass es nicht so sein wird, dass Du eines Tages die ganze Welt erklären und alle Rätsel lösen kannst, sondern die Zukunft wird Dich dahin führen, wo Du erkennst und verstehst, dass Jesus das vermag.
Nicht wir werden die Antworten also eines Tages besitzen, sondern in Jesu Händen werden wir sie liegen sehen, und dort liegen sie gut.
Nicht wir werden eines Tages über das verfügen und gebieten, was uns zum Verstehen noch fehlte, sondern die Fülle aller Gründe und der Grund aller Dinge bleibt Jesu Eigentum und wir werden von aller Sorge darum befreit. —
Das ist nicht das Evangelium von der Verdummung und auch keine Botschaft der Denkverbote.
Es ist aber die adventliche Entlastung von der heillosen Überforderung des Menschen, der im Paradies werden wollte wie Gott, um die Welt zu verstehen, während in Wahrheit doch Gott wurde wie wir Menschen, um die Welt zu erlösen.
Auf diesen Löser und Erlöser, auf den, der alles Gute und Böse weiß und dennoch vergeben und lieben kann, macht uns der Advent Tag für Tag gespannter.
Und der Kalender, den wir nur in diesen Wochen kennen – der Kalender der heiligen Erwartung und Neugierde, an dem Kinderfinger schon im Morgengrauen ein neues Türchen aufpulen und einen neuen kleinen Ausschnitt des bisher Verschlossenen unter die Lupe nehmen – dieses Sinnbild der Entdeckerlust und aufgeregten Wissbegier, wird zu einer wunderbaren Predigt, wenn wir ihn nur umkehren.
Wir müssen den Adventskalender nämlich nur von Innen heraus verstehen:
Nicht, als kämen wir dem Kern der Sache näher, indem wir immer wieder ein neues Schloss knacken, einen weiteren Riegel aufschieben und das Törchen aufbiegen.
..... Nein, umgekehrt: Tag für Tag zeigt uns der Kalender, wie auf der unbekannten Seite, in der verborgenen Welt Gottes die Fülle aller Antworten und Wahrheit aufbricht, wie sie sich auf den Weg durch tausend kleine Öffnungen zu uns macht, und wie dann eines Tages das große, letzte Tor aufspringt und sich erfüllt, was wir eben mit den Worten unseres Kaiserswerther Freundes, Spee gesungen haben:
„Reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für.“
Dann aber, wenn das siebente Siegel gefallen ist werden wir nicht die schlausten, doch die frohsten Menschen sein!
Wir werden nicht plötzlich alles wissen und verstehen, aber wir werden einverstanden sein.
Wir werden nicht mit einem Mal alle Weisheit besitzen, doch der, in dem alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen liegen (Kol.23), wird sich uns zeigen und schenken. Und das wird mehr sein als Weihnachten und Ostern an einem Tag!
Es wird mit dem Ende der Neu-Gier der Anfang des Neu-Seins sein.
Amen.
Ewigkeitssonntag, 20.11.2011, Lk 12, 42-48, Stadtkirche, Holger Pyka
Liebe Gemeinde,
„nó", so begannen sie immer, Tante Trudes Geschichten „von drieben", aus der kalten Heimat Óberschläsing. „Nó, jeronje, und dann ham wir rieberjemacht." Und dann erzählte sie, die eigentlich gar keine „richtige" Tante war, von ihrer Ausreise aus Polen, 1956. Nachdem sie jahrelang mit den Behörden um die Ausreisegenehmigung gefeilscht hatten, musste es plötzlich ganz schnell gehen. Mit der ganzen Tschelotka, Groß und Klein, Sack und Pack, ging es in den Westen. Ihre Geschichte endete immer an der Grenze zur DDR. Genauer gesagt: Kurz dahinter. „Nó", sagte sie dann, „als ich zurückguckte und die Mauern, den Stacheldraht, das Grenzhäuschen sah und die Grenzsoldaten, die uns teilnahmslos hinterherblickten - da wusste ich: Über die Grenze hab ich zum letzten Mal rübergemacht, meine Heimat werde ich nie wiedersehen."
Liebe Gemeinde, für mich waren und sind solche Geschichten vom Gefühl her ungefähr so nah wie die aus Tausendundeiner Nacht, Geschichten aus einer dunklen, längst vergangenen Zeit und einer fremden Welt. Wir Jüngeren kennen keine geschlossenen Grenzen mehr. Grenzen sind die Autobahnstücke mit den kleinen Zollhäuschen, deren Schranken offen sind und über die man, wie man will, hin- und her fahren oder einfach drüberfliegen kann.
Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass in einer neueren Untersuchung über Dreiviertel der Jüngeren, der Unterfünfzigjährigen, angab, mit dem „Ewigkeitssonntag" als Feiertag nichts anfangen zu können.
Denn der Ewigkeitssonntag ist der Feiertag für Menschen an der Grenze. An jener äußersten Grenze, die jeder und jede von uns eines Tages überquert. Eine Grenze, die nur von der einen auf die andere Seite passierbar ist und die Familien zerreißt. Für viele von Ihnen, die heute hier sind, ist diese Grenze im vergangenen Jahr aus dem Nebel aufgetaucht, sie haben Menschen verloren, die über diese Grenze gegangen sind. Manche konnten sich noch verabschieden, eine gute Reise wünschen, Absprachen treffen, auf Gemeinsames zurückblicken. Andere hatten diese Möglichkeit nicht, können nur wie versteinert auf unserer Seite dieser Grenze stehen bleiben und winken, und langsam nach Hause zurückgehen und hoffen, dass es denen, die „drüben" sind, gut geht.
Das Land um die Grenze herum ist unsicheres Gebiet, kein Ort, an dem man seine Zelte aufschlagen will. Zu weit weg das sichere Landesinnere, zu nah das Andere, das Fremde. Das Land um die Grenze herum ist Niemandsland, im doppelten Sinne: In einer Gesellschaft, die den Tod aus ihrer Mitte verdrängt, die Sterbende in Institutionen versteckt und alles dafür tut, die Begrenztheit unseres Lebens zu vergessen, machen die Meisten einen großen Bogen um dieses Land vor der Grenze. Und wer keine andere Wahl hat, wer sich plötzlich kurz vor der Grenze wiederfindet, weil ein Angehöriger die letzte Reise angetreten ist, oder weil er oder sie selbst kurz vor dem Grenzübergang steht, steht oft allein.
Weil die Menschen um sie herum aus Angst, etwas falsch zu machen, oder aus Angst vor der eigenen Sterblichkeit zurückzucken und schweigen.
Wie sollen wir mit dieser Grenze umgehen, wie können wir uns im Grenzland verhalten?
Ich möchte den heutigen Predigttext als eine Orientierung in dieser Frage lesen. Es ist ein Wort Jesu aus dem Lukasevangelium, das wie ein Peitschenknall durch die Stille dieses Tages fährt und vielleicht beim ersten Hören zusammenzucken lässt. Mal sehen, wie es Ihnen geht mit Lk 12,42-48:
Der Herr aber sprach: Wer ist denn der treue und kluge Verwalter, den der Herr über seine Leute setzt, damit er ihnen zur rechten Zeit gibt, was ihnen zusteht? 43 Selig ist der Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, das tun sieht. 44 Wahrlich, ich sage euch: Er wird ihn über alle seine Güter setzen. 45 Wenn aber jener Knecht in seinem Herzen sagt: Mein Herr kommt noch lange nicht, und fängt an, die Knechte und Mägde zu schlagen, auch zu essen und zu trinken und sich vollzusaufen, 46 dann wird der Herr dieses Knechtes kommen an einem Tage, an dem er's nicht erwartet, und zu einer Stunde, die er nicht kennt, und wird ihn in Stücke hauen lassen und wird ihm sein Teil geben bei den Ungläubigen. 47 Der Knecht aber, der den Willen seines Herrn kennt, hat aber nichts vorbereitet noch nach seinem Willen getan, der wird viel Schläge erleiden müssen.
48 Wer ihn aber nicht kennt und getan hat, was Schläge verdient, wird wenig Schläge erleiden. Denn wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man um so mehr fordern.
Liebe Gemeinde, diese Worte sagen nichts, womit wir uns das Grenzland schön reden können. Keine salbungsvollen Worte, die den Übergang erleichtern, die die Grenze in einem helleren Licht erscheinen lassen - aber die doch Perspektiven eröffnen für das Leben im Grenzland.
Eine Figurenkonstellation bestimmt die Szene, Herr und Verwalter. Und vielleicht bleiben wir hier erst einmal stehen. Ein Verwalter ist jemand, der unter dem Herrn steht, aber in dessen Abwesenheit an seiner Stelle entscheidet, der also stellvertretend Verantwortung übernimmt. In der Bibel taucht dieser Gedanke ganz am Anfang auf, im ersten Schöpfungsbericht, da heißt es (Gen 1,26): Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.
Dem Menschen ist hier eine Herrschaft aufgetragen, die aber nicht absolut ist - die „Krone der Schöpfung" kann und soll nicht nach Gutdünken haushalten, sondern bleibt seinem Herrn, dem, den er vertritt, verantwortlich. Es lohnt sich, bei einer anderen Gelegenheit nochmal darüber nachzudenken, was das bedeutet für unseren Umgang mit der Welt, in der wir leben - aber das ist heute nicht dran. Halten wir nur fest: Wir haben eine Aufgabe in dieser Welt, in diesem Leben, eine Aufgabe, bei der wir gebunden sind an das, was wir von Gottes Willen für diese Welt erfahren.
Was heißt das für die einsamen Landstriche vor der Grenze unseres Lebens?
Jesus spricht von vier Verwaltern, einem, der seinen Auftrag vorbildlich ausführt und dreien, die in ihrer Pflicht versagen. Bleiben wir beim ersten, es geht ja um Perspektiven.
Wer ist denn der treue und kluge Verwalter, den der Herr über seine Leute setzt, damit er ihnen zur rechten Zeit gibt, was ihnen zusteht?
Selig ist der Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, das tun sieht.
Der kluge Verwalter, die treue Haushälterin erweisen sich zunächst daran, dass sie den Menschen, die ihnen anvertraut sind, zur rechten Zeit das geben, was ihnen zusteht. Im griechischen Text heißt es konkreter: zur rechten Zeit die ihnen zugeteilte Ration an Getreide geben, mit Matthäus gesagt, bei dem das Gleichnis auch steht: ... zur rechten Zeit zu essen geben.
Hier kommt mir wieder Tante Trudes Geschichte in den Sinn: Sie erzählt immer mit Wärme in der Stimme und Glitzern in den Augen vom Roten Kreuz, die im Grenzland auf die Aussiedler warteten und bei einer Pause auf der langen und beschwerlichen Fahrt mit einem überfüllten Zug Kaffee für die Erwachsenen, Trockenmilch für die Kinder und Butterbrote und Decken für alle bereit hielten.
Vielleicht können wir hier, wie so oft, etwas vom Judentum lernen, wo es ein Netz von Traditionen und Gebräuchen gibt, die die Trauernden schützend umgeben: Dort beginnt mit dem Todesfall in einer Familie die siebentägige Schiwa, in der die Trauernden das Haus nicht verlassen, sondern im Wohnzimmer beisammen sitzen, oft auf niedrigen Stühlen oder Matratzen, die symbolisieren, dass sie buchstäblich am Boden zerstört sind. Es gilt als eine mitzwah, eine gute Tat, Trauernde in dieser Woche nicht allein zu lassen, sondern sie zu besuchen, mit ihnen gemeinsam der Verstorbenen zu gedenken oder einfach zu schweigen - und ihnen Essen mitzubringen, damit sie nicht selbst kochen müssen. Manche Gemeinden haben sogar entsprechende ehrenamtliche Dienste. Die Trauernden werden so aus ihrer sozialen Isolation befreit und rundherum versorgt.
Beim Verlassen des Trauerhauses wünscht man den Angehörigen: Hamakom y'nachem etchem b'toch sh'ar aveylei tziyon viyrusholayim - Möge Gott dich trösten unter den Trauernden Zions und Jerusalems.
Ich glaube, dieses letzte Wort ist wichtig, weil auch die Besucher, Tröster und Helfer sich nicht übernehmen sollen und gut daran tun, zu erinnern, wer der eigentliche Tröster war, ist und sein wird.
Liebe Gemeinde, ein treues Verwalten der Schätze und der Hoffnung, die uns anvertraut ist, stelle ich mir im öden und trostlosen Grenzland von Tod und Trauer so ähnlich vor:
Dort zu sein und auszuharren, wo sonst kaum jemand hingeht und den Menschen, die dorthin gespült werden, zur rechten Zeit das zu geben, was sie brauchen - und was ihnen zusteht: Das kann die Unterstützung bei Alltäglichkeiten sein, die plötzlich unendlich schwer sind. Das kann eine Umarmung sein, oder einfach das schweigende Zuhören und das dringend notwendige Signal: Du bist nicht allein. Das kann auch, zur rechten Zeit und wenn wir gefragt werden, die leise Erinnerung daran sein, dass wir eine Hoffnung haben, die über dieses Leben hinausgeht, und dass der Grund dieser Hoffnung derjenige ist, der über der letzten Grenze wacht, der über uns allen steht und dereinst zurückkommt.
Apropos Hoffnung - noch einmal Tante Trude: Tante Trudes Ahnung hat sich nicht bewahrheitet. Angesichts der festungsartig gerüsteten, mit Stacheldraht, Warnschildern und grimmigen Soldaten besetzten Grenze, die so endgültig und undurchdringlich und unbarmherzig aussah, hat sie gedacht: Hier komme ich nie wieder rüber, ich werde meine Heimat nie wieder sehen. 2006 ist sie mit ihrer Tochter nach Polen gefahren, durch die nun offenen Grenzen, und hat die Orte ihrer Kindheit besucht. „Nó", sagt sie bei ihrer Rückkehr, „hätt ich nich gedacht." Und komisch sei es gewesen, weil alles so anders war als in ihrer Erinnerung, sie hätte die Städte fast nicht erkannt - „aber die Schneekoppe, die war immer noch da und ganz weiß. Da wusste ich: Hier bin ich richtig." 50 Jahre sind immerhin vergangen, ein ganzes politisches System musste in der Zwischenzeit untergehen, ein Land sich neu erfinden, ein eiserner Vorhang fallen, bevor die Grenze gegen alle Hoffnung und alle Vermutungen offen war.
Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.
Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein;
und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.
Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!
Und der Friede Gottes...
Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr 13.11.2011 Lukas 16, 1-8 "Politischer Gottesdienst" an der Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth „Politischer Gottesdienst“ am Vorl.S. - 13.XI.2011
Lukas 16, 1 – 8
Liebe Gemeinde!
Unsere Welt ist toll. .....Tollwütig, tollkühn, tollpatschig und tolldreist.
Der Henker, der Hegel, der Heilige und der Hanswurst sind ihre Rädelsführer. —
Und niemand soll meinen, das sei eine symbolische, dichterische Redeweise.
Es ist die blanke Wirklichkeit, wie sie durch die Tage dieser Woche und die Straßen unseres Städtchens gezogen ist.
Wie in einem mittelalterlichen Totentanz, wie im sprichwörtlichen Reigen der Großen und Kleinen, der Guten und Bösen, der Frommen und Verdammten hat es sich in den letzten Tagen durch Kaiserswerth gewunden, als eine Prozession der Lichter und des Grauens:
Am Dienstag zog der Hass durch Kaiserswerth, und ich wollte es nicht wahrhaben.
Roter Fackelschein und gespenstische Raketen erleuchteten einen Aufmarsch am Markt, dessen Gegröle durch die Gasse bis ins Pfarrhaus drang.
Es war wie die Wiederkehr des bösen Geistes unserer untoten Vergangenheit; doch wer mag das glauben?
Aus der gemütlichen Entfernung hinter verschlossenen Scheiben meinte ich tatsächlich, die Jugend der Feuerwehr oder der Schützenbruderschaft kehre übermütig von irgendeinem Martinszug zurück und lasse Böller knallen.
Es waren aber die übelsten, verabscheuungswürdigsten tätigen Brandstifter und geistigen Verbrecher unserer Zeit: Neonazis, die hinter weißen Masken und unter dem fürchterlichen Namen „Die Unsterblichen“ auf offener Straße eine Heimkehr aus der Hölle inszenieren, die das Blut gefrieren macht und einem Tränen in die Augen treibt.
..... Nie wieder – so war uns eigentlich doch klar gewesen – sollten wir uns behaglich und teilnahmslos auf den unschuldigen Übermut der Jugend herausreden und damit beruhigen.
Die Welt ist viel zu tollwütig: Der Biss sitzt in unser aller Fleisch, sein Gift stirbt nicht. —
Am Mittwoch war der Tag der deutschen Schande und des deutschen Staunens:
Im Schweigemarsch hätte man gesenkten Hauptes zu den Stolpersteinen auf dem Kaiserswerther Markt ziehen müssen, auf denen die Namen der jüdischen Kaiserswerther zu lesen sind, die von hier aus einst in dieser Nacht in die Vernichtung oder Verbannung getrieben wurden. Über genau diese Namenssteine sind einen Tag zuvor, ohne zu stolpern die verdammten Nazis getrampelt. ..........
Und mit stummem Dank, der nicht vergisst, wäre an die Nacht gleichen Datums zu erinnern gewesen, in der Beton und Todesstreifen den Kampf gegen die gewaltlose Freiheitsbewegung verloren. Wie tollkühn ist manchmal der Geist der Weltgeschichte, wenn er Schuld, die nicht vergeht und dennoch einen neuen Anfang auf der selben Kalenderseite festhält! —
Am Donnerstag dann schlängelten sich Hunderte von Kinderfüßen in bunter Unordnung zu schiefen Tönen und unsicherem Gesang durch die abendliche Dämmerung der Straßen, um einen Helden zu feiern, dessen unsterbliches Husarenstück darin bestand, die Waffen nieder zu legen nachdem sein letzter Schwertstreich die ungerechte Verteilung der irdischen Güter durchschlagen hatte.
Diesem Jünger Jesu, diesem Heiligen des Friedens und der Solidarität folgen die Kinder bei uns auf ihre tollpatschige und schokoladenselige Weise Jahr für Jahr im Schein ihrer Laternen. Wie gut wäre es allerdings, wenn auch die Erwachsenen wirklich in Martini Fußtapfen gingen, wenn sie der Gewalt absagten und seine Unempfindlichkeit einübten, die mit der Hälfte besser leben konnte als mit dem Ganzen! —
Am Freitag schließlich hat der Unsinn an unser Stadttor geklopft.
Versprengt und eher bemitleidenswert in ihrer torkelnden Suche nach Gemeinschaft und Unterstützung eierten die Prophetenjünger und Apostel des rheinischen Hausgottes Humor durch den Novembernachmittag. Die tolldreiste Zeit der Narren und des Frohsinns kündigten sie an, die Jahreszeit, die das Gewicht der vorhergehenden Tage erleichtern und ihnen ihren Ernst austreiben will. —
Was für ein Totentanz und Mummenschanz, die da in naht- und atemloser Folge durch unsere Stadt und Woche zogen: ...der Hass, ...die Schuld, ...die Liebe, ...der Quatsch!
Und alles nur auf dem alten Pflaster und im überschaubaren Quartier unserer unmittelbaren Umgebung!
Denn von den großen, öffentlichen Themen der Menschheit und ihrer Politik haben wir noch gar nicht gesprochen: Nicht vom Zündeln am Weltfrieden, das von Teheran und Jerusalem befeuert wird; nicht von der drohenden Verwesung Europas; nicht vom Kuckucksei der Weltwirtschaft, das der Gesellschaft ins Nest gelegt worden ist und dessen Brut alle anderen Kinder der Politik flugs und unbarmherzig aus dem Nest gedrängt hat, so dass nichts mehr gehegt und gehätschelt werden kann außer dem einen. ———
Herr Jesus, was sollen wir da tun?
Was sollen wir tollen Menschen in dieser tollen Welt nur tun?
„Klug sein!“, lautet Jesu Antwort.
Nicht kopflos, nicht unbedacht, und auch nicht weltfremd und naiv das Durcheinander in der Weltbilanz ordnen.
Doch dabei ist der wichtigste Maßstab der, mit dem der Haushalter sich rettet, als sein Chef ihm - frei nach dem Griechischen - die Gretchenfrage stellt: „Rück’ raus mit der Logik deiner Ökonomie!“ Denn ausgerechnet um diese Frage, die uns verfolgt und zum Hals raus hängt, geht es im heute vorgegebenen Evangelium.
Als sei das Gleichnis für unsere gegenwärtige politische Stunde gewählt, hören wir nämlich nach der Ordnung unseres derzeitigen Kirchenjahres mit welchem geradezu karnevalistischen Witz Jesus seiner Gemeinde ein sinnvolles Verhalten in der Welt beschreibt:
Er, dem Geld überflüssig und verdächtig war, der es weder brauchte noch hatte (vgl.Lk2024!), dessen Worte allein bare Münze und dessen Verheißungen der einzig sichere Schatz und Hort sind, Er rät uns, uns selbst zu erkennen in der lächerlichen Gestalt eines völlig überforderten „Ökonomen“ ... so nämlich heißt der Verwalter auf Griechisch.
In diesem verwirrten und in seinen eigenen Praktiken schließlich verhedderten Geldmenschen – egal ob er eine Heuschrecke, ein Finanzhai oder nur ein Pfennigfuchser war – sollen wir also uns und die Lösung unserer Weltprobleme entdecken.
Und wie lautet sie? Was ist der Maßstab des unregelmäßigen Fälschers und Betrügers, über den der Chef schließlich nur lachen und loben konnte?
Es ist der Abschied vom Maximum.
Die Abkehr von der ganzen Summe.
Das Aufgeben des Vollkommen.
Der Ökonom, der eigentlich doch auf’s Ganze gehen und Vabanque – „Alles oder Nichts“ - spielen musste, greift in seiner Bedrängnis zum jüngst wiederentdeckten Mittel des Schuldenschnitts. Das aber ist ein doppelseitiges Ding, denn es bedeutet Zweien etwas: Dem einen den Erlass der Schuld, dem andern den Verzicht auf’s Geschuldete.
Und obwohl der Eigentümer bei dieser sonderbaren Ökonomie des Teilens der eigentlich Geschädigte ist, billigt er seinem hilflosen Verwalter zu, die entscheidende Lektion gelernt zu haben:
Ihr müsst klug genug sein, die Vollständigkeit aufzugeben, heißt sie.
Ihr dürft weder Euch, noch andern abverlangen, was im Reich der Zahlen das Höchste wäre, aber im Bereich des Menschen nicht einzutreiben ist, nämlich: Alles.
Ohne Zurückschrauben, ohne Bescheidenheit, ohne Buße und Einbuße in Euren Ansprüchen könnt Ihr nicht leben, sagt die Geschichte von dem, der so tollkühn einfach die Forderungen herabsetzte.
Das müsst Ihr unbedingt von dem Ökonomen der Mindereinnahmen lernen: Wenn Ihr weiter glaubt, Ihr könntet tatsächlich alles gewinnen, werdet Ihr alles verlieren! —
Wirtschaftlich ist das freilich nicht nur ein schlechtes Geschäft, sondern es geht bei dem in die Enge getriebenen Ökonomen obendrein auch noch mit Bilanzfälschung und Korruption einher. Aber je haarsträubender die ökonomischen Verhältnisse sind, die Jesus uns allen als Spiegel vorhält, desto näher kommen sie ja der Wirklichkeit.
Und mit völlig unerschüttertem Sinn für die Komik und Tragik unserer Welt empfiehlt er uns, den Wahn aufzugeben, die menschliche Soll-und-Haben-Rechnung könne jemals etwas anderes ergeben als unvollständige Zahlen auf schiefen Zeilen in fehlerhaften Spalten. —
Das ist in seiner ganzen grandiosen Großzügigkeit und Nüchternheit zunächst ein tiefes Auf- und Durchatmen wert:
In der himmlischen Buchführung weiß man also, dass wir keine Gleichungen sind, die aufgehen, und dass wir niemals ohne Verluste sein werden.
Im Gegenteil: Vor allem was beansprucht, in seinem Maßstab total oder in seiner Richtigkeit absolut zu sein, warnt Jesus uns.
Klug dagegen nennt er es, sich auch mit Defiziten anzufreun-den und die eigenen Schäden und Zugeständnisse menschlich geschickt einzusetzen.
Ein vorgeblich ewiger und völliger Gewinner wird nämlich im Himmel wie auf Erden viel verlassener sein als der, der zeigt, dass er auch verlieren kann. ———
So weit, so wirklich.
So weit, so politisch, psychologisch und pädagogisch korrekt.
Mit diesem Maß des Menschlichen, mit dieser sinnvollen Ökonomie des Ausgleichs wird ein Weg gewiesen, auf dem niemand den Stein der Weisen, das endgültige Ergebnis oder den Vollbesitz der Wahrheit für sich vorweg mehr beanspruchen kann.
Mit dieser etwas tragikomischen Leitlinie der herabgesetzten Ansprüche wird man dafür aber auch ausgewogen und mit Augenmaß Politik und Alltag in der Christen-, wie in der Bürgergemeinde gestalten können und sollen.
Man wird aus der Leitlinie der herabgesetzten Ansprüche folgern dürfen, dass wir den grauen-erregenden Ungeist der Neonazis zwar nie vollständig bezwingen werden, aber doch nach Kräften unterbinden sollen; dass man aus der Geschichte für die Gegenwart niemals alles, aber möglichst viel zu lernen entschlossen bleiben muss; dass Christen in der Nachfolge und im Nachleben nie vollkommene, aber auf jeden Fall aufrichtige Heiligung erstreben können; und dass ein Mensch sich im Ernst wie in der Heiterkeit nie restlos verausgaben darf, sondern jeweils mit einem Kapital auch in der anderen Währung wuchern sollte. ———
Nun könnte „Amen“ folgen, und es wäre eine wahrhaft politische Predigt gewesen: Kompromissfähig und praktisch und relativ richtig; so wie wir im Raum der Bürgergemeinde zu suchen, abzuwägen und zu handeln haben.
Doch hier, in der christlichen Gemeinde kann es nicht bloß die zivile, vernünftige und diplomatische Notwendigkeit sein, die uns zu klugen Haushältern des einseitigen Zugeständnisses und Verzichtes macht.
Wir sind hier versammelt im Zeichen eines ganz anderen Schuldenschnitts.
Denn wir bekennen uns mitten in der wirren Abfolge der Menschheitsgeschichte, in der sich Geisterzüge und Mordkolonnen und Lichtermärsche und Karnevalspolonaisen ineinander knäueln, ... wir bekennen uns unter Kriegsgeschrei und Totenklagen, unter dem blanken Irrsinn der menschlichen Gier und auf dem Maskenball, auf dem die Finanzen alle anderen Puppen tanzen lassen, ... wir bekennen uns umgeben von Verstrickungen und Anklagen, verfilzt in Herz- und Verantwortungslosigkeit, ... wir bekennen uns mit angehaltenem Atem und ohne dass es noch im Geringsten komisch wäre zum größten Schuldenerlass der Welt:
Wir bekennen uns zu dem Gott, der mit uns Menschen unvorstellbare Verluste macht.
Der nicht zurückbekommt, was ihm gebührt.
Dessen Eigentum wir verschleudert, dessen guten Namen wir entwertet, dessen Herrlichkeit wir gegen Dreck vertauscht haben.
Wir bekennen uns zu Ihm als zu dem, der diese unermessliche Schuld nicht eingeklagt, sondern für uns übernommen und beglichen hat.
Wir bekennen uns zu dem, der den Schuldenschnitt am Kreuz seines Sohnes uns allen zugute hält.
Mit diesem Bekenntnis zu Jesus Christus aber erlöschen alle unseren eigenen Ansprüche und Forderungen. Was uns alleine bleibt, ist nur noch eine ewige Dankesschuld.
Eine Schuld, durch die wir fröhlich und frei werden.
Eine Schuld, die uns – so toll der Gedanke auch ist – unendlich reich macht.
Eine Schuld, aus der wir leben, von der wir geben, mit der wir teilen und durch die wir vollendet werden können.
Diese Schuld bekennen wir!
Amen.
18.n.Trin. 23.10.2011 Markus 10,17-27 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 23.X.2011 - 18.n.Trin.
Markus 10, 17-27
Liebe Gemeinde!
Wir Kaiserswerther werden demnach wohl nicht dabei sein.
Nach menschlichem Ermessen jedenfalls haben wir in Gottes Reich nichts verloren.
Weil wir unseren Gewinn scheinbar bereits machen.
Gewiss: Ein bisschen könnten wir jetzt noch darüber streiten, dass wir ja nun nicht alle gerade auf Rosen gebettet sind, dass es auch hier, wo man’s nicht ahnen und erst recht wo man’s nicht sehen will, manchem schwer fällt über die Runden zu kommen, .... und natürlich auch dass die Bonuszahlungen wackliger und die Zinsen mickriger geworden sind und wir inzwischen mit der Schmalzstulle nach der Wurst und nicht mehr mit der Wurst nach der Speckseite werfen.
Aber machen wir uns nichts vor: Noch die drückendsten unserer Sorgen berühren nicht von fern die Wirklichkeit jener Millionen, die sehen, wie ihnen ihre Kinder unter den Händen verhungern, wie kleine Krankheiten große Friedhöfe füllen oder wie die Wasserflut alles Bisherige vernichtet und der Wassermangel alles Zukünftige zerstört.
Wir Kaiserswerther sind einfach zu feine raus, um durch das Nadelöhr der Not in die unendliche Hoffnung zu dringen, die Gott vor den Armen ausbreitet. ——
Dass uns dieser Durchbruch verwehrt bleibt, liegt aber nicht etwa an unserer Figur oder unserer Fracht, deren Umfang ein Durchquetschen verhinderten; auch gibt’s weder Grenzkontrollen, an denen die Vermögenden zurückgewiesen würden, noch heimliche Schleich- und Trampelpfade, die nur den Armen bekannt wären.
Das Nadelöhr zu Gott ist eine Pforte so eng, dass beileibe nicht nur das beladene Kamel, sondern auch noch die ausgemergelte Kirchenmaus darin stecken bleiben müssten, wenn, ...... ja, wenn diese winzige Öffnung nicht ein Tor der Wunder wäre.
Denn so irrwitzig klein und leicht zu übersehen der schmale Spalt auch ist, der aus unserer festgefügten Welt hinaus in die Unendlichkeit Gottes führt: Wer immer an diesem lächerlichen Durchschlupf anklopfen wollte ...., ihm würde aufgetan!
Es könnte jeder Mensch hindurch: Egal wie kolossal sein Gepäck; egal wie sperrig seine Last; egal wie mühselig einer im Geschirr geht; egal was immer einer vor sich her schiebt oder hinter sich nach zieht .... jeder einzige könnte durch das wunderbare Nadelöhr hindurch, das ihm Platz machen und beim Durchschreiten all seinen Plunder und den ganzen überflüssigen Bettel von ihm abstreifen würde.
Das Tor zum Reich Gottes trägt ja – wie wir eben hörten – als Sesam-Öffne-Dich! die Inschrift: „Alle Dinge sind möglich bei Gott!“
Wer dort also keinen Einlass findet, dem wird er nicht verwehrt, sondern der hat ihn einfach nicht begehrt. Wer nicht hineinkommt, will nicht hinein. —
Und das ist der Grund, weshalb wir – nach menschlichem Ermessen – eben nicht zu denen gehören, die sich einfädeln und in die Zukunft des Reiches Gottes eingebunden sein werden.
Nicht, dass wir wohlhabend und wohllebend sind, ist also der Hinderungsgrund.
Sondern dass wir „arriviert“ sind, wie man bisweilen sagt, .... und arriviert heißt nichts anderes als „angekommen“.
Wir sind Angekommene in dieser Welt. „Angekommene“, das sind gemachte Leute, das sind im wahrsten Sinne „bürgerliche“ Menschen, die eben weil sie hier Bürger sind, sich nicht fremd fühlen und darum auch nirgendwo sonst hin wollen.
Aber wen’s nicht fortzieht aus seiner gewohnten Welt, der wird eine neue Welt nie sehen; und wer nicht auswandert, kann auch nicht einwandern.
Mit unserer angekommenen Verwurzelung in den alles in allem eben doch reichlich angenehmen und ersprießlichen Verhältnissen unseres Lebens sind wir daher die typischen Standesgenossen des reichen Jünglings, der sich dafür interessierte, das ewige Leben zu erben ...., wie er so bezeichnend sagt.
Dagegen hätten ja auch wir nichts einzuwenden, im Gegenteil, das wäre noch für den materialistischsten von uns eine spannende Anlage, ... wenn die Teilhabe an Gottes Reich eine Art Anspruch wäre, den wir neben unseren anderen Besitztümern und Beteiligungen hier und jetzt geltend machen könnten: Gottes Macht als Rücklage, Gottes Segen als Garantie, Gottes Geist als Möglichkeit der Erholung und des Ausgleichs.
Aber leider ... – selbst wenn man alle Angebote der Religion und der Reflektion, der Meditation und der Moral durchaus zu nützlichen Bestandteilen unseres hiesigen und heutigen Lebens machen kann – ...aber leider sind das Reich Gottes und damit die endgültige Wirklichkeit Gottes nicht so einfach in unser Tagesgeschäft einzubinden.
Gottes Reich ist nämlich kein Erbteil oder Gut, das einfach unser bestehendes Vermögen mehrt. Es ist ein Erbteil auf der anderen Seite der uns bekannten Welt.
Wer es antreten will, muss also bereit sein, vieles auf dem alten Kontinent zurückzulassen und ins Land der Zukunft zu reisen.
Doch an solcher Bereitschaft mangelt es bei uns, obwohl etliche hier allwöchentlich um den halben Globus fliegen und überall Verbindungen haben. Trotzdem aber schwindet die innere Beweglichkeit, sich auf den Weg in die unbekannte neue Welt Gottes zu machen, immer deutlicher aus unserem Leben.
Das liegt auch an dem Missverständnis, das Himmelreich sei die Anlaufstelle der Alten und Kranken und Hilflosen, kurzum all jener, die sonst keine Ziele mehr haben.
Seit Generationen haben wir Gottes Welt nämlich so sehr verjenseitigt, dass sie für Menschen, die noch diesseitige Freuden, Aufgaben und Genüsse kennen, überhaupt nicht mehr in den Blick kam.
Doch das ist ein sträflicher Irrtum:
Man muss nicht etwa erst mit dieser Welt abgeschlossen haben, um an die zukünftige einen Gedanken zu verschwenden!
Im Gegenteil: Wer wirklich spürt, was an und mit dieser Welt geschieht, wer ihren Reichtum und ihren Mangel kennt, wer sie als lohnend und als Prüfung wahrnimmt, wer das Glück und Leid der Erde nicht nur in Zahlen, sondern in wirklichen Erfahrungen gesammelt hat, der kann im Ernst doch nicht einfach vorlieb nehmen mit dem, worin er angekommen und vorangekommen ist.
In einem Menschen, der die Welt nicht nur als sein Stück vom großen Kuchen, sondern im Ganzen sieht, muss doch eine Horizonterweiterung vor sich gehen, die ihn vorbereitet auf Dinge, die viel umfassender sind als die einzelnen kleinen Brocken, die wir begreifen und festhalten können.
Es wären also wahrhaftig nicht nur die Gescheiterten und Zukurzgekommenen, denen der Ausblick in Gottes Reich neue Perspektiven schenkt, sondern gerade die Welterfahrenen, die Weltbürger müssten erkennen, welche Bereicherung es bedeutet, über die eigene hinaus in die unermessliche Welt Gottes hoffen und kommen zu dürfen.
Gottes Welt ist ja größer als unsere.
In ihr gibt es mehr Glück als in unserem Leben: In ihr werden nämlich alle glücklich.
Gottes Welt ist viel schöner als unsere.
In ihr gibt es mehr Gutes als in unserem Leben: In ihr werden nämlich alle getröstet.
Gottes Welt ist schließlich allemal menschenwürdiger als die heutige.
In ihr gibt es viel mehr Gerechtigkeit als in der uns Menschen überlassenen Welt: In ihr werden nämlich alle satt, frei und heil!
Für diese herrliche kommende Welt bringen indessen die reichen Jünglinge und die reichen Greise, die vielen angekommenen und eingelebten Leute der Gegenwart viel zu wenig Leidenschaft auf. Sie alle begnügen sich damit, vor ihrer eigenen Tür zu kehren.
Hinaus in die Welt aber und in die Zukunft ziehen sie keine zehn Pferde.
Dabei gibt es wahrhaftig genügend unter ihnen, die sogar wissen und üben, was Gott will – wie der junge Mann aus gutem Haus, der Jesus hinterherlief, aber nicht nachfolgte.
Was aber fehlte ihm denn, wenn er doch die Gebote Gottes kannte und hielt?
Ihm fehlte was den braven Buben oft fehlt, was sie zu Nesthockern und Spießbürgern macht:
Ihm fehlten Lebensmut und Fernweh, er hatte Angst vor der Weite der Welt und vorm Abenteuer des morgigen Tages.
Und in allen diesen Eigenschaften fehlte dem unsicheren Jüngling, der den Trost der Dinge, die er besaß, brauchte: der Glaube.
Denn das ist doch der Glaube: Eine Sorgenfreiheit, die über den eng abgesicherten Bereich, in dem wir selbst regieren, dem guten Willen und der unüberwindlichen Macht Gottes traut.
Glaube ist Zuversicht auch wo die Sicht zu ist.
Glaube ist Weitblick, der weiter blickt, als der Mensch je selber ahnen oder wünschen kann.
Glaube ist der Reichtum, dem Gottes Gnadenzusage reicht.
Glaube ist ein immer neues Nehmen, das man nicht haben kann.
Glaube ist Teilnahme an dem, was ungeteilt bleibt, weil’s allen gehört.
Glaube ist mehr als die Welt, voller als alle Erfüllung auf Erden und hat so viel Zeit, wie noch nie war.
Glaube ist wichtiger, tröstlicher, feuriger, treibender, endloser und seliger als alles andere unter der Sonne.
Darum traut er sich, allem Lebewohl zu sagen, nur weil er bei Gott willkommen ist.
Und so geht Glaube auf die Reise.
Nicht immer wie die Pilgerväter oder die Salzburger Protestanten oder die Herrnhuter Missionare, die nach Grönland und auf die Westindischen Inseln fuhren, um dort wie die Einheimischen und schwarzen Sklaven zu leben.
Aber auch wo einer nicht alle irdischen Sicherheiten auf einmal zurücklässt, führt der Glaube ihn doch auf einen Weg, auf dem er Schritt für Schritt leichter und nicht beladener wird. —
Und eigentlich wäre darum jetzt doch Glaubenszeit.
Denn egal ob die Sicherung des Systems der Wall Street oder die verunsicherte Suche derer, die die Wall Street zur Zeit besetzen, die nächsten Jahre beherrschen werden, eines ist gewiss: Wir alle gehen Zeiten des Weniger entgegen.
Und das ist keine schlechte, sondern eine gute Nachricht.
Denn in den Zeiten von weniger Auto und weniger Strom, von weniger Überfütterung und weniger Vergeudung, von weniger blindem Leichtsinn und billigem Luxus, in solchen Zeiten der langsamen Einschränkung und des fortschrittlichen Verzichts, da wächst der Blick in die Weite und die Freiheit für’s Kommende.
So dass die bange Frage der Jünger, wer denn überhaupt selig werden kann, weniger bedrängend werden wird; eine Frage im Übrigen, die die Jünger gewiss nicht als Vertreter der Reichen, aber umso mehr als Brüder aller ängstlichen Menschen ausweist.
Unsere Zeit sorgt dafür, dass wir Sicherheiten, bei denen die arrivierten Schichten der Welt längst wie selbstverständlich angekommen waren, wieder verabschieden müssen.
Das Gepäck wird leichter.
Und auch wer jetzt erst recht raffen, wer Besitz verteidigen, wer Vorräte bunkern will, der gibt ebenso durch alle seine vernünftigen Maßnahmen wie durch seine nurmehr unverantwortliche Selbstsucht Zeugnis dafür, dass das Kamel schrumpft und das Nadelöhr sich auftut.
Wir mögen schwarz sehen. Uns mag frösteln. Wir raunen uns Raub- und Schauermärchen zu.
Aber in alledem werden wir immer mehr zu Gliedern jener großen Gemeinschaft, der das Reich Gottes verheißen war, ist und bleibt. ——
Und darum nehmen wir heute hoffentlich etwas mit und lassen etwas hier.
Hier lassen wir die beschränkte Sorge, die wir Kaiserswerther um den Wohlstand und die Sicherheit hegen. Die sind lächerlich verglichen mit den Sorgen der Welt und noch lächerlicher im Vergleich zur Verheißung des Reiches Gottes.
Dafür aber nehmen wir das eine mit: Die Erlösung des Loslassens.
Denn wer sich nicht am Heutigen festklammert und hinter dem Eigenen verkriecht, der kann Gott und dem kommenden Reich seiner Gerechtigkeit immer befreiter entgegenziehen.
Und das Nadelöhr verliert seine Schrecken, wenn wir endlich erkennen, dass es nicht etwa in die Armut, sondern in die Zukunft führt.
Wohin sonst sollten wir aber lieber wollen?
Amen.
16. S.n.Tr., 17.10.2011, Mk 9, 14-29, Stadtkirche , Holger Pyka
Examensgottesdienst in der Stadtkirche
14 Und als sie zu den andern Jüngern zurückkamen, sahen sie viel Volk um sie herum versammelt und Schriftgelehrte, die mit ihnen diskutierten. 15 Und sogleich kam alles Volk, als es ihn sah, in grosser Erregung herbeigelaufen und begrüsste ihn. 16 Und er fragte sie: Was verhandelt ihr da? 17 Da antwortete ihm einer aus der Menge: Meister, ich habe meinen Sohn zu dir gebracht, er hat einen stummen Geist. 18 Und wenn er ihn packt, reisst er ihn zu Boden, und er schäumt, knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich habe deinen Jüngern gesagt, sie sollten ihn austreiben, aber sie vermochten es nicht. 19 Er aber antwortet ihnen: Du ungläubiges Geschlecht! Wie lange muss ich noch bei euch sein? Wie lange muss ich euch noch ertragen? Bringt ihn zu mir! 20 Und sie brachten ihn zu ihm.
Und als der Geist ihn sah, zerrte er ihn sogleich hin und her, und er fiel zu Boden, wälzte sich und schäumte. 21 Da fragte er seinen Vater: Wie lange hat er das schon? Der sagte: Von Kind auf. 22 Und oft hat er ihn ins Feuer geworfen und ins Wasser, um ihn zu vernichten. Jedoch - wenn du etwas vermagst, so hilf uns und hab Mitleid mit uns. 23 Jesus aber sagte zu ihm: Was soll das heissen: Wenn du etwas vermagst? Alles ist möglich dem, der glaubt. 24 Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube! Hilf meinem Unglauben! 25 Als Jesus nun sah, dass das Volk zusammenlief, schrie er den unreinen Geist an und sagte zu ihm: Stummer und tauber Geist! Ich befehle dir, fahr aus und fahr nie wieder in ihn hinein! 26 Der schrie und zerrte ihn heftig hin und her und fuhr aus. Da lag er da wie tot, so dass alle sagten: Er ist gestorben. 27 Jesus aber ergriff seine Hand und richtete ihn auf. Und er stand auf. 28 Dann ging er in ein Haus; und seine Jünger fragten ihn, als sie mit ihm allein waren: Warum konnten wir ihn nicht austreiben? 29 Und er sagte zu ihnen: Diese Art lässt sich nicht anders austreiben als durch Gebet.
(Zürcher Bibel 2007)
(I.)
Liebe Gemeinde,
vielleicht regt sich bei Manchem bei solchen Geschichten der Impuls, die Bibel schnell wieder zuzuschlagen. Zuviel Staub der Jahrhunderte, zuviel Nebel einer Vergangenheit, in der man Kranken den Stempel „Besessenheit" aufgedrückt - und damit ihr Leiden noch verschlimmert hat. Zuviel unaufgeklärter Stallgeruch, unangenehme Erinnerungen vielleicht an Zeitungsmeldungen von frommen Familien, die Sätze wie: „Solche Geister lassen sich nur durchs Gebet austreiben" falsch verstehen und ihren kranken Kindern wichtige medizinische Hilfe vorenthalten.
Der Sohn, der junge Mann in der Geschichte, in der Lutherbibel wird er „der besessene Knabe" genannt, zeigt Symptome, die unter anderem auf Epilepsie weisen, eine Krankheit, die wir heute zwar medikamentös ganz gut in den Griff bekommen, die aber immer noch schwer ist - und die Betroffenen oft genug isolieren, weil ihre Umgebung in ihrer Hilflosigkeit vor ihnen zurückschreckt.
Ich möchte an der Rede vom „sprachlosen Geist" festhalten - nicht als medizinische Diagnose, eher als ein Bild, eine Erinnerung, ein Schatten der Erfahrung, dass jede Krankheit mehr ist als eine Störung in der Maschinerie unseres Körpers.
(II.)
Wenn er sprechen könnte - wir könnten den jungen Mann fragen, der da am Rande dieser Volksmenge steht. Er kennt das Gefühl, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren, wie da etwas nach ihm greift, ihn ins Feuer oder ins Wasser wirft, das ihm den Boden unter den Füßen wegzieht, das ihm Arme und Hände verkrampft und die Zunge lähmt.
Er kennt die erschrockenen Blicke seiner Umgebung, sieht wie manche Leute zurückweichen. Er kennt die hohlen Phrasen, die hilflosen Ratschläge, „es wird alles gut", „da kann man doch bestimmt was machen."
Er hört die Experten - die eben nichts machen können, denen darüber die Worte fehlen und die darum nur um so lauter fachsimpeln und debattieren und streiten.
Er sieht seinen Vater, mit hängenden Schultern, das Gesicht in Falten geworfen - weil es wieder nichts gebracht hat.
Er versteht vielleicht besser als die anderen, dass der sprachlose und taube Geist, der nicht mit sich reden lässt und der die Menschen verstummen lässt, nicht nur ihn allein heimsucht. Hier und da legt er den Menschen seine kalte Hand auf den Mund und erstickt ihre Worte, schnürt ihnen die Kehle zu oder legt sich wie eine Schlange um ihre Brust und lässt nur noch heiße Luft raus.
Vielleicht kennen Sie ihn auch. Vielleicht wissen Sie, wie es ist: Getrieben zu sein, ohne es zu wollen, gerissen, mitgerissen zu werden trotz aller Versuche, dagegen anzugehen - und immer kürzer davor, sich zu verbrennen.
Vielleicht erwischt er Sie bei der Tagesschau, wenn Ihnen all die Berichte von Finanzkrisen, U-Bahn-Brutalität und Umweltkatastrophen die Sprache verschlagen.
Vielleicht schwebt er über irgendeinem Punkt in Ihrer Vergangenheit und drückt Ihnen fast die Luft ab, wenn nur ein Gedanke diesen Punkt aus Versehen streift.
Sprachlosigkeit. Ein stummer und tauber Geist greift um sich und grabscht nach denen, die er irgendwie kriegen kann.
(III.)
Und dann passiert etwas. Nicht etwas, das. Oder noch besser: Der. Jesus kommt. Das ist der erste Satz der Geschichte - und gleichzeitig ihr Wendepunkt. Gott lässt seine Schöpfung nicht los. Das Wort wird Fleisch - und verjagt dadurch die sprachlosen Geister.
Jesus kommt. Allerdings nicht mit Pauken und Trompeten und himmlischen Heerscharen. Nicht mit dem einen Zauberspruch, der die ganze Welt verwandelt und auf einen Schlag Wasser in der Wüste und Ströme im dürren Land hervorbrechen und die Steppe wie die Lilien blühen und die Lahmen wie die Hirsche springen und die Zunge der Stummen frohlocken lässt. Noch nicht. Und doch blitzt diese Welt dort auf, wo Jesus den Menschen nahe kommt und den sprachlosen Geist vertreibt und ihre Zungen löst und sie aufrichtet. Lassen Sie uns diese Begegnungen genauer in den Blick nehmen:
(IV.)
Da sind die Jünger. Ich sehe sie vor mir, wie sie da stehen, als Jesus zu ihnen stößt: Hochroten Kopfes und mit großen Gesten debattieren sie mit den Schriftgelehrten. Die Menschenmenge schaut diesem verbalen Schlagabtausch gebannt zu - und hat so keine Augen mehr für den Vater und seinen Sohn, an dem die Jünger kurz vorher so kläglich gescheitert sind. Ich stelle mir vor, wie ihre Köpfe noch röter werden, als Jesus ihr Spiel durchschaut: Sie versuchen, den sprachlosen Geist, der auch nach ihnen greift, in Schach zu halten, indem sie ganz viel reden. Wie sie ihre Köpfe einziehen und sich leise aus der Szene davonschleichen, als Jesus ihnen ihr Versagen um die Ohren schlägt - und damit ihre Flucht- und Ablenkungsmanöver auflaufen lässt. Erst danach, ganz am Ende, als es still geworden ist und sie mit Jesus allein sind, finden sie ihre Sprache wieder und gestehen sich ein: Wir konnten es nicht. Warum? Und Jesus antwortet: Weil sich der stumme und taube Geist, weil sich Sprachlosigkeit nicht wegdiskutieren und wegwünschen lässt. Weil nicht ihr alle Macht habt im Himmel und auf Erden, aber ich. Darum betet und ruft mich, wenn ihr ihn vertreiben wollt, wenn ihr nicht in Sprachlosigkeit versinken wollt.
(V.)
Da ist der Vater. Ich kann ihn mir gut vorstellen, wie er aus der Menge herausbricht und auf Jesus zustürmt, wütend, frustriert. Und Jesus hört ihm zu, wie er seinem Ärger Luft macht, über die Jünger, die durch die Lande ziehen und Dämonen austreiben und Kranke heilen und ihm doch nicht helfen können. Jesus lässt ihn die lange und dramatische Leidensgeschichte seiner Familie erzählen.
Schon hier lockert der sprachlose Geist seinen kalten Griff: Jesus hört ihm zu - und so findet eine Wut und eine Verzweiflung einen Weg nach außen, die vielleicht schon viele Jahre in ihm schwelt. Auch das ist heilsam, hier beginnt, was uns durch Jesaja für das Reich Gottes verheißen ist: Schmerz und Seufzen wird entfliehen. Jesus hält sein schnaubendes, enttäuschtes Klagen aus.
Und die Klage des Vaters bricht um in ein letztes Hilfegesuch, und wenn man es sich laut vorliest, kann man geradezu die Enttäuschung über die missglückten Heilungsversuche der Jünger heraushören: Wenn du irgendetwas kannst - dann hilf uns und hab Mitleid mit uns.
Jesus reagiert schroff: Was sagst du ‚wenn du etwas kannst?‘ Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt - und es ist diese Herausforderung, die für den Vater den Bann endgültig bricht. Er brüllt Jesus entgegen: „Ich glaube - hilf meinem Unglauben." Er ist dabei - therapeutisch gesprochen - zum ersten Mal ganz bei sich. Es geht nicht mehr um den Sohn, es geht um ihn selbst, um dieses emotionale Wechselbad zwischen dem so genannten wirklichen Leben und der verzweifelten Hoffnung, dass das nicht alles sein kann. Und dieses brüchige Glaubensbekenntnis, dieser gekrächzten Hilferuf reicht aus. Der sprachlose Geist zuckt zurück und die Bühne wird frei für das letzte Gefecht zwischen ihm und den beiden, auf die jetzt alle Augen gerichtet sind:
(VI.)
Da ist noch der Sohn. Er ist während der ganzen Geschichte weit über sein eigentliches Krankheitsbild hinaus ein Geschobener und Getriebener geblieben, man hat über ihn gesprochen, ihn hierhin und dorthin geschleift. Und jetzt spricht Jesus den Geist, der doch niemanden mit sich reden lässt, weil er stumm macht und taub ist, direkt an: Ich befehle dir, fahr aus und fahr nie wieder in ihn hinein. Und wenn es nicht so ernst wäre, könnte man fast darüber lachen: Der taube Geist hört ihn, der sprachlose Geist - schreit. Ein letztes Mal bäumt er sich auf, er packt den Jungen und fährt aus. Und der Sohn liegt da wie tot. Aber Jesus nimmt ihn bei der Hand und hilft ihm hoch. Und der junge Mann steht auf. Nicht mehr, könnte man sagen, aber eben auch nicht weniger. Er steht auf. Zum ersten Mal in der Geschichte kann er selber etwas tun.
Und hier bricht die Geschichte ab. Wir können ihm nicht dabei zusehen, wie er sein Leben gewinnt, wie er seine ersten holprigen Schritte macht und seine wankenden Knie fester werden, wir wissen nicht, wohin sein Weg ihn führen wird. Wir können nicht hören, was seine ersten Worte sein werden und ob und wie und wann seine Zunge frohlocken wird. Es ist eigentlich fast schade, dass Markus uns hier um das richtig schöne happy end bringt. Aber das macht die Geschichte realistisch - der junge Mann, sein Vater, die Jünger, die Menge - sie alle bleiben Jenseits von Eden.
(VII.)
So wie wir, liebe Gemeinde. Jenseits von Eden, inmitten von sprachlosen Geistern und unkontrollierbaren Gewalten, von brüchigen Lebensgeschichten und Wüsten, in denen eben noch kein Wasser hervorspringt, spielt sich unser Leben ab. Aber gerade hier ist das Wort Fleisch geworden und vertreibt die sprachlosen Geister, Jenseits von Eden spielen sich Geschichten ab wie die, die ich Ihnen zum Abschluss erzählen möchte:
Es ist schon einige Zeit her, in einer anderen Gemeinde, da kam eine Frau in die Seelsorge. Sie war so um die sechzig Jahre alt, elegant gekleidet, machte einen sehr souveränen Eindruck. „Ich weiß gar, ob ich hier richtig bin", fängt sie an, und dann: „Mein Mann geht fremd." Und sie erzählt, oder besser: berichtet, wie eine Außenstehende, ganz sachlich, distanziert, fast ein bisschen kühl: wie sie das herausgefunden hat, dass sie ihre ganze Ehe in Zweifel zieht, dass sie sich hintergangen und erniedrigt fühlt, dass sie sich für ihren Mann schämt und sich wünscht, es wäre nie passiert. Wir reden so eine ganze Zeit hin und her, aber irgendwie ist klar, dass wir hier nicht wirklich weiterkommen. Zum Abschluss beten wir zusammen Psalm 34 und kommen an die Stelle: „Der HERR ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben." Und da fängt sie an zu weinen. Und weint erst einmal eine ganze Weile. Irgendwann sagt sie: „Ja, mein Herz ist zerbrochen... Und vielleicht hilft er mir ja...," und guckt ganz schüchtern nach oben.
Vielleicht hilft er mir ja... Ich glaube, hilf meinem Unglauben...
Ich habe die Frau nie wieder gesehen. Ich weiß nicht, wie ihre Geschichte weitergegangen ist. Aber im Rückblick, im Blick auf diese Begegnung, kann ich sagen: Ja, hat er.
Und der Friede Gottes...
Familiengottesdienst zu Erntedank 02.10.2011 1.Korinther 3,6-9 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Familiengottesdienst zu Erntedank 2.X.2011
1.Korinther 3, 6 – 9
Liebe Gemeinde!
Eine Ernte gibt’s nicht ohne Vergangenheit.
Wer essen will, kann also nicht bei Null anfangen: Denn der Garten und der Acker brauchen Zeit, um Frucht zu bringen. Bäume müssen geblüht haben, Saat muss ausgestreut worden sein, muss gewurzelt haben und wachsen, ehe etwas daraus werden kann.
Ohne das, was früher einmal geschah – als das Land urbar gemacht wurde, als der Weinberg angelegt oder der Garten eingezäunt wurde, als man schließlich im letzten Frühling die Erde bestellte und sie im Sommer wässerte, – ohne alles dieses Frühere entsteht heute nichts.
So dass man eigentlich immer von dem zehrt, was schon vergangen ist, wenn man irgendetwas hat und genießt. ——
Darum müssen wir in diesem besonderen Jahr eben auch am Erntedanksonntag einen dankbaren Blick zurück werfen: Einen Blick auf die vielen fleißigen Hände, die hier gerodet und gegraben und geharkt haben, die hier Spaten, Schaufel, Schubkarre und wer weiß welches andere Gerät nutzten, um den Boden so zu bearbeiten, dass wir heute die Früchte ihrer Mühe ernten.
Denn es gibt kein wahreres Wort an diesem Tag, als das, mit dem wir oft alle Schuld von uns schieben: „Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen!“, sagen wir dann.
Und tatsächlich ist es doch so: Wir wachsen und gedeihen auf den Schichten voriger Zeiten, auf dem Kompost unserer Vorgänger, auf der fruchtbaren Grundlage der Vergangenheit.
Wenn wir heute also für alles danken, was bei uns gewachsen und geworden ist, dann sind ganz besonders alle früheren Mitglieder dieser Gemeinde, alle einstigen Mitarbeiter auf dem Ackerfeld Gottes und seinem Bau in Kaiserswerth in den Dank eingeschlossen.
Ohne ihre Arbeit könnten wir jetzt nicht feiern.
Sie haben den Boden für unser Leben bereitet und Samen gesät, der noch immer die Kraft zu neuem Wachstum und neuer Frucht hat.
Vor allem sind wir natürlich dankbar für die kleine Kirche, die sie für uns hier vor 200 Jahren gepflanzt haben.
Heute wissen wir, dass dieses zarte Pflänzchen der Stadtkirche eigentlich gar nicht hätte anwachsen können: Es war nicht tief genug im Boden. Es hätte jederzeit eigentlich welken und abknicken müssen. Aber es ist doch stehen geblieben und hat sich mit der Zeit entfaltet.
Es ist von vielen Generationen gehegt und gepflegt worden.
Die Stadtkirche ist also nicht auf unserem Mist gewachsen, sondern den Leuten von 1811 und denen von 1930 und denen von 1983 können und wollen wir dankbar dafür sein.
Und dann alles das, was in ihr geschieht: ihr Leben, die Gottesdienste und Feste der Stadtkirche, die Worte und die Musik, die wir hier teilen und genießen.
Dafür ist vor langer Zeit geackert und geschuftet worden: Dass die Bibel bei uns nicht wie ein Stiefmütterchen oder ein Gewächs im Schatten bloß vor sich hinkümmert.
Es ist vor allem der große Bauer Martin Luther gewesen, der so lange gewühlt und den Boden gelockert hat, bis unsere Sprache ein richtiges Bibelfeld wurde, auf dem bis heute die Klänge und Bilder der Bibel ganz natürlich stehen und blühen.
Das ist eine wunderbare reiche Ernte, dass Luther die Bibel bei uns eingepflanzt hat, denn ohne sie wären wir längst verhungert und verdurstet, aber seit sie hier auf’s Feld gekommen ist, werden Menschen immer wieder davon satt und fröhlich.
Und andere haben auch Unkraut gezupft und köstlichen Samen in die Beete des Kirchen-gartens gestreut:
Ob sie Paul Gerhardt oder Matthias Claudius oder Johann Sebastian Bach heißen.
Ihre Arbeit blüht und gedeiht bei uns jedenfalls bis heute.
Die Predigt, die Lieder und Gebete, die unseren Glauben am Leben erhalten, sind also nicht auf unserem Mist gewachsen.
Dafür sollen und können wir heute unseren evangelischen Vorgängern dankbar sein.
Und dann der allerwichtigste Anfang, von dem wir bis jetzt ernten und auch in Zukunft ernten werden. Das sind die Männer und Frauen, die ursprünglich dazu beigetragen haben, dass in die Wildnis und Wüste dieser Welt Samenkörner aus Gottes Garten gebracht wurden, aus denen das Brot des Lebens entsteht.
Das sind die Säeleute des Alten und Neuen Testaments:
Mose und König David, die großen Propheten und die kleinen, die Weisen und Heiligen Israels und später die zwölf Jünger Jesu, der Apostel Paulus und die vielen Zeuginnen des Osterwunders wie Maria Magdalena.
Jeder von denen hat etwas in die Wirklichkeit eingepflanzt, das den Menschen seit dreitausend Jahren zu beißen gibt und immer noch nach mehr schmeckt.
Diese Knechte und Mägde auf Gottes Ackerfeld sind unsere Helfer und Wohltäter seit Urzeiten, und auch dieses Jahr bleiben sie verantwortlich dafür, dass trotz Klimawandels und Grausamkeit und Unrecht und Hungersnot die Welt nicht nur Katastrophen, sondern auch etwas Gutes hervorbringt.
Denn der gute Wille Gottes, sein Evangelium und seine Verheißung wachsen wahrlich nicht auf unserem Mist. Den Menschen, die Gottes Botschaft gehört, weitergesagt und in den biblischen Büchern festgehalten haben, gilt jedes Jahr und jeden Tag unser Dank dafür!
Aber am meisten – so sagt es uns Paulus und so sagt es uns ja auch das eigene Gespür – am allermeisten haben wir heute nicht den Gemeindegliedern vor uns oder den Vorfahren und Vorbildern unseres Bekenntnisses oder den Zeugen der Bibel zu danken.
Die haben zwar gepflanzt und begossen und sich alle Mühe für uns gegeben – aber das Gedeihen kommt schließlich allein von Gott.
Der ist es, durch den wir bekommen, was uns körperlich und seelisch am Leben erhält.
Der lässt die Wunder und die Fülle und die Hoffnung und die Kraft seiner Liebe zu allen Zeiten sprießen und uns erquicken und zum Segen werden.
Ohne Gott würden wir an übervollen Tischen trotzdem verhungern.
Ohne Gott würde unser Herz austrocknen selbst wenn alle Brünnlein fließen.
Ohne Gott würden wir tot sein, auch wenn unser Körper frisch und gesund wäre.
Ohne Gott wäre es mit uns längst vorbei, sogar wenn wir noch alle Zeit der Welt hätten.
Gott ist zu allen Zeiten das Leben gewesen.
Er hat es geschaffen. Er erhält es. Er schenkt es für immer.
Ihm danken wir Menschen: Vom Anfang an, heute und in der Unendlichkeit!
Damit wir aber nicht nur hören müssen, dass alles, wovon wir leben, Wurzeln hat, die weiter zurückreichen als wir selbst, soll man das heute auch schmecken.
Die Erwachsenen werden gleich beim Abendmahl schmecken und sehen wie freundlich der HERR ist. Für die Kinder gibt es jetzt aber etwas zum Vorkosten.
Denn es hat hier in Kaiserswerth, nebenan im Pfarrhaus einmal eine große Gärtnerin gelebt.
Deren Garten war so riesig, dass er bis hinunter hinter den neuen Deich reichte. Da hat sie Gemüse und Kartoffeln angebaut, Obstwiesen und Beerensträucher für viele hungrige Mäuler abgeerntet und unvorstellbar viel und schwer gearbeitet.
Sie hieß Friederike Fliedner, musste für zahllose Menschen sorgen, die das selbst nicht konnten, und hat manchmal auch unter der vielen Mühe im Garten geseufzt.
Ihr späterer Stiefsohn, Georg Fliedner schrieb über sie:
„Während der 14 Jahre ihrer Ehe hat sie mit dem Gatten gepflanzt und begossen, was erst später zum kräftigen Baume herangewachsen ist.“
Und sie selbst hat auf den allerletzten Seiten ihres Tagebuchs über sich selbst und unser Leben, kurz vor ihrem Tod geschrieben:
„Es ist eine Pflanze, vom Herrn gepflanzt, ohne unser Zutun. Er bewahrt die Pflanze vor Frost und Hitze, gibt Regen zur rechten Zeit und wartet und pfleget ohne Ermüden. Dafür müssen wir Ihn lieben! Jetzt soll die Pflanze zum Baum werden, alles Schädliche soll weichen; damit er nicht krumm und höckericht wird, fängt der himmlische Gärtner an zu putzen und zu schneiden, das tut wehe, es muss viel, alles Eigene sterben, damit die Pflanze grünt und lebt.“
Diese große, weise Gärtnerin, Friederike Fliedner hat nun aber einen Baum gepflanzt, der bis heute grünt und lebt und trägt.
Es ist ein Maulbeerbaum, der jetzt alt und krumm und weniger geworden ist, aber doch immer noch – auch in unserem regnerischen Sommer 2011 – seine Früchte bringt.
Und von diesen Früchten, die Friederike Fliedner vor fast 200 Jahren gepflanzt hat, dürfen die Kinder jetzt kosten: als Marmelade auf dem guten Erntedankbrot.
Denn es gibt nichts, das wir ernten, das nicht andere vor uns und für uns bereitet hätten.
Denen danken wir aber am besten, indem wir Gott danken, denn „Seine Güte währet ewiglich!“
Amen.
14.n.Trin 25.09.2011 Markus 1, 40-45 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 14.n.Trin. - 25.IX.2011
Markus 1, 40-45
Liebe Gemeinde!
So brav wie wir Heutigen sind, war das Menschengeschlecht seit langem nicht mehr:
Wir tun genau, was Jesus sagt. Wir sind auf’s Wort gehorsam.
Er selbst hat es uns ja verboten und natürlich halten wir uns dran:
„Kein öffentliches Gerede über Jesus! Nichts erzählen! Pssst! Im Bundestag könnte die Gewaltenteilung wackeln, und aus Versehen könnte man über Parteigrenzen hinweg das rätselhafte »C« plötzlich mit Inhalten verbinden. Am Ende wäre wohl gar die Demokratie gefährdet, wenn man in die Mikrophone der Politik von Jesus reden wollte und vom Reich Gottes!“ ............
Das ist schon eine der humoristischen Wendungen der Geschichte, dass erst ein Zeitalter der Kommunikation und eine Gesellschaftsordnung der Meinungsfreiheit anbrechen mussten, um die Christenheit ganz und gar – und noch dazu größtenteils freiwillig – zum Verstummen zu bringen.
Denn das eine sollten wir uns schon bewusst machen: Je mehr von amtlicher Seite und von den strategischen Vorturnern in der Kirche das Stichwort „Mission“ beschworen wird, desto tiefer und verbreiteter muss das Gottesschweigen der Gemeinde sein.
Auf und unter den Kanzeln, in und bei den Christen scheint es so geworden zu sein, wie Jesus es dem kurierten Aussätzigen einschärfte: Man ist dem Helfer durchaus begegnet, man erwartet – und bekommt – sogar viel von ihm, ..... aber er wird totgeschwiegen. —
Nur: Weshalb hat Jesus denn tatsächlich dieses Schweigen geboten?
Und wieso schweigen wir?
Unser Schweigen ist eigentlich ja umso erstaunlicher, als viele von uns gar nicht zögerlich sind, wenn es um Empfehlungen von sonstigen Hilfs- und Heilungsmöglichkeiten geht.
Wer immer ein Problem hat, wird es erleben, wie offenherzig und wohlwollend man ihm auch ungefragt guten Rat erteilt: Wessen Kinder sich mit irgendetwas schwer tun, erhält unzählige Hinweise auf eine unbedingt erfolgreiche Hausaufgabenhilfe oder Berufsberatung; wessen Pferd lahmt, weckt ein geradezu gläubiges Flackern in den Augen derer, die von einem Wunderheiler für Vierbeiner berichten können; wer zu blaß ist, erfährt, welche Diät sein unbekanntes Gegenüber so überaus rosig macht; und wer – wie ich – ab und zu mit krummem Rücken daherkommt, könnte ein Handbuch unfehlbarer Operateure oder seltener Medizin und sonstiger Aufrichtungshilfen verfassen.
Das alles sei auch keineswegs abschätzig aufgezählt: Es kann uns ja nur dankbar machen, wenn Menschen einander Trost und Nutzen nicht vorenthalten.
Aber wann hat uns jemand zuletzt gesagt, dass das Evangelium ihm Versöhnung und Frieden geschenkt hat?
Wann hat einer von uns es so selbstverständlich wie eine bewährte Telefonnummer einem anderen zugesteckt, dass Schmerz und Traurigkeit durch Gott gelindert und behoben werden?
Wann hast Du es Deinem Mitmenschen tatsächlich erzählt – oder er Dir –, dass es einen Retter gibt, der unsere Schuld auslöscht, jeden Menschen aus seiner Verlorenheit erlöst und den Tod für uns ein für allemal bezwungen hat?
Wann ist – nach unserer Erfahrung und Erinnerung – der Name „Jesus“ auf diese Weise zuletzt hörbar und deutlich gefallen? Wo war öffentlich unter uns von seinem Heil die Rede??
------ Den Doktor für’s Psychische und für’s Somatische also nennen wir.
Den Heiland nicht.
Aus Sorge sie könnten uns für Fundamentalisten halten, wahrscheinlich.
Weil wir in Glaubensdingen niemanden bevormunden, sondern jedermann seinen eigenen Geheimnissen, Selbstdiagnosen, Kuren, Räuschen und Fehlschlägen überlassen.
Den besten Gastwirt der Stadt, den preiswertesten Haarschnitt, die sanfteste Krankengymnastik legen wir anderen dringlich an’s Herz und gönnen sie ihnen fürsorglich.
Aber ob sie Glaube, Liebe, Hoffung finden, geht uns nicht an.
Ob ein Mensch die Seligkeit erfährt, ist also nicht unser Bier. ——
Doch nicht darum hat Jesus das Ausplaudern seiner Rettungswunder verboten. Nicht aus Rücksicht auf unsere Rücksicht auf die vielfältigen Weisheiten und Torheiten der Menschen, die wir alle als allgemein und gleich gültig gelten lassen wollen.
Jesus hat das Reden also nicht untersagt, um den Pluralismus nicht zu stören ..... wobei ein Pluralismus, in dem nicht geredet, erzählt und bezeugt würde, ja sowieso keine Vielfalt, sondern blanke Einfalt wäre, in der niemand mehr lernen, diskutieren und sich verändern könnte.
Nein, Jesus hat an den Anfang – und das erste Kapitel des ältesten Evangeliums stellt wahrlich einen Anfang dar –, Jesus hat an den Anfang seines menschlichen Wirkens ebenso ein Verbot gestellt, wie Gott an den Anfang der menschlichen Welt (vgl.1.Mose217).
Beide Male wird den Menschen etwas zugemutet, das eigentlich einfach klingt:
„Nach einer einzigen Frucht soll Dein Mund nicht wässern!
Deine Lippen sollen eine einzige Nachricht versiegeln!“
Aber der Mensch hält sein Maul weder vor dem Gebot Gottes des Schöpfers, noch vor dem des Sohnes im Zaum: Das Geheimnis von Gut und Böse muss er reinstopfen, die Offenbarung der Erlösung muss er aussabbeln.
Der Mensch lässt sich den Mund einfach nicht verbieten.
Und in beiden Fällen – das ist nun das Verblüffende! – geschieht nicht, was wir erwarten würden. Diesem vorwitzigen Mensch mit dem losen Mundwerk wird kein Maulkorb verpasst, er wird nicht zum Verstummen gebracht.
Im Gegenteil: Nicht nur die Weltgeschichte, wie wir sie kennen, sondern auch die Heilsgeschichte hebt an durch den menschlichen Ungehorsam.
Das ist eine Tatsache, die in der klassischen Theologie nicht recht unterzubringen ist, auch wenn es hier und da so etwas wie den altkirchlichen Osterjubel des „Exsultet“ gibt, in dem die „felix culpa“, die „glückliche Schuld“ Adams und Evas besungen wird, auf die so viel Versöhnung und Erlösung durch Gott folgte.
Doch den an sich naheliegenden Gedanken, was für eine entscheidende Bewegung, was für ein fruchtbarer Anstoß aus der Querköpfigkeit des Menschen hervorgeht, wie wichtig es mithin werden sollte, dass die Paradiesbewohner unzähmbar neugierig waren und der Aussätzige, dessen Lepra Jesus heilte, so mitteilungsfreudig: diese verwirrende Würdigung des menschlichen Mangels an Disziplin und Gehorsam ist von den Gemeinden des Alten wie des Neuen Testaments immer den Schwärmern, den Außenseitern und Luftikussen überlassen worden.
Dennoch kommen wir nicht umhin, es heute festzustellen: Der Eigenwille des ersten Menschenpaars und ihrer Ursünde hat die Welt bewegt und Gott zu einem Heilsplan herausgefordert, den wir allsonntäglich feiern.
Und dass der überglückliche Mensch, dem Jesus die verfaulende Haut gerettet hat, kein Ohr mehr für die drohende Schweigemahnung seines Helfers hatte, sondern davon reden musste, das war der endgültige Durchbruch, dem wir das aller Welt zugängliche Evangelium verdanken, das unter uns geglaubt und gepredigt wird. —
Daraus abzuleiten, der Vater und der Sohn hätten ihre Ess- und Sprechverbote ausgesprochen, nur um zu deren Übertretung zu reizen, wäre ein Kurzschluss.
Doch der Sohn dieses Vaters kennt seine Menschen und weiß seit Paradiesestagen, wie wenig sie sich gebieten und verbieten lassen.
Das Einzige, was sein Verbot des Weitersagens daher wirklich sicherstellt, ist allerdings etwas Entscheidendes: Indem Jesus sich die werbende Verkündigung verbat, schloss er allen Zwang im Rühmen, Predigen und Bekennen aus.
Wer trotz Seines Verbots von Jesus spricht, wer Sein Lob singt und Seinen Namen unter den Leuten erhebt, der tut es aus eigenem Bewegen!
Wer das Geheimnis Jesu weitersagt und in der Welt verbreitet, der erledigt damit keinen Pflichtauftrag, der ist dazu nicht genötigt oder gedingt worden, sondern der handelt frei.
Nur aus freiem Willen, vollem Herzen und frohem Mut soll man also Mission treiben.
Deshalb ist es so falsch und sinnlos, wenn sich nun in aller Munde die Devise findet:
„Wir müssten missionarischer werden!“
Nein, Mission und Müssen schließen sich gerade aus!
Das hat Jesus am Anfang seiner Taten und Leiden für uns Menschen durch das Propagandaverbot, durch die Predigtbremse an den gewesenen Aussätzigen als unüberhörbares Vorzeichen gesetzt: „Nicht mein Befehl ist es, sondern Eure Freiheit und Entscheidung, wenn Ihr den Menschen von mir erzählen wollt.“ —
Da mag die Zahl der Gläubigen hundertmal schrumpfen, da mag die Kirche zehnmal an ihr Ende zu kommen scheinen: Solchen Entwicklungen begegnet der Herr der Gemeinde nicht mit dem einschüchternden Befehl, nun verbissen dagegen anzupredigen.
Der das absterbende Fleisch des Aussätzigen heilen und die Wahnsinnigen zu Trost und Vernunft bringen kann, Der die Sünder zu Angenommenen und die Verstoßenen zu Gefunden macht, Der die Leidenden fröhlich sein und die Toten leben heißt, Der kann Seine Gemeinde bauen und Sein Reich behaupten auch ohne die ganze menschliche Werbeindustrie, ohne verlogene Überredungskünste und erpresste oder erfundene Empfehlungen.
Und Er will eben nicht, dass jemand von Ihm reden muss.
Weil nur der von Ihm reden kann, der das selbst unbedingt will, wenn sein Herz so voll ist, dass ihm der Mund übergeht (vgl.Mtth1234). ———
Und darin besteht und bleibt ein wesentlicher Unterschied zwischen denen, die in dieser Woche im Augustinerkloster zu Erfurt zusammenfanden, um nun doch – jeder nach seiner Façon – öffentlich unsachlich und übertrieben angekündigt über den Glauben zu reden.
Der eine stand für’s Müssen, für ein Amt, das nicht schweigen darf, wenn es seinen Anspruch nicht verlieren will.
Und auf der anderen Seite – auf unserer Seite – , wo man so verlegen ist, wenn es um’s Amtliche geht und wo so viel Unfug geredet wird und so viel Wichtiges verschwiegen und verschwommen bleibt .... nun, auf unserer Seite leuchtete wieder einmal über dem ganzen menschlichen Elend der Kirche und ihrer Diener und ihrer Predigt ein Glanz der Freiheit.
Denn das ist gewiss: Was immer auch geschieht, es werden mit und gegen die Ordnungen und Ämter, die wir kennen, immer wieder Menschen aufstehen, die den Schnabel einfach nicht halten können, selbst wenn alle Heiligen, ja wenn der Heiland selbst sie zur Ruhe riefe.
Die werden mit den Aposteln sagen (Apg.420):
„Wir können’s ja nicht lassen, dass wir n i c h t reden sollten von dem,
was wir gesehen und gehört haben!“
Und aus denen wird es immer wieder neu und unaufhaltsam herausdrängen: Wie wunderbar unser Herr ist! Wie es einen Menschen umkrempelt, zu Jesus zu kommen, und wie man mit einer ganz neuen Haut, einem ganz neuen Herzen und einem unendlichen Lob auf den Lippen durch die Begegnung mit Ihm beschenkt wird.
Und solche Menschen werden einfach immer wieder Seinen Namen und ihren Glauben und ihre Hoffnung und ihre Liebe zu Ihm in alle vier Winde rufen.
Und man wird sie nicht zum Verstummen zwingen können, ebenso wenig wie man anderen eine solche Verkündigung zwangsweise auftragen könnte. —
Darum aber muss es unsere Hauptsorge wohl nicht sein, zu ergründen warum wir Christen so viel schweigen und wie wir uns zu mehr Reden überwinden könnten.
Dazu hat unser Mann dem Augustinerkloster, Luther den Volksmund ja zu einem ausreichend derben Sprüchlein angeregt: „Ein verzagter A---- lässt keinen fröhlichen F--z“. ——
Doch ganz ohne Kraftausdrücke ist und bleibt das die Hauptsache: Dass es immer Menschen geben wird, die durch Jesus Christus so froh und frei gemacht werden, dass sie das Evangelium einfach nicht für sich behalten können. Und bei denen wird die Kirche sein! —
Und wann immer es auch uns gegeben wird, uns so unbändig an Jesus und Seiner Liebe und Hilfe zu freuen, dann wollen wir nicht vergessen, was Er uns Gutes getan hat ... und Ihn laut loben (vgl.Ps1032)!
Amen!
12 S.n.Tr., 11.09.2011, Jes. 29, 17-24, Stadtkirche, Holger Pyka
Liebe Gemeinde,
lassen Sie sich auf eine Reise mitnehmen. Es geht in die Vergangenheit, ein paar tausend Jahre zurück nach Jerusalem. Auf dem Marktplatz herrscht emsige Betriebsamkeit. Der neue Tempel erstrahlt in nie zuvor gesehenem Glanz, die Stadt ist wieder aufgebaut, unter viel Schweiß und Tränen. Aber die Erinnerung an das Exil wenige Generationen zuvor sitzt tief. Mit den Persern hat man sich irgendwie arrangiert, aber aus der eigenen Geschichte weiß jedes Kind, dass jeder Zeit ein neues Reich aus den Trümmern auferstehen und das kleine Volk Israel mühelos wie die Katze die Maus fangen kann. Noch schreckt man bei jedem lauten Geräusch auf, aber die Arbeit macht sich schließlich nicht von allein. Und so gehen sie ihrer Arbeit nach, die Handwerker bringen ihre Waren zum Markt, ein paar Gelehrte sind in tiefsinnigen Diskussionen versunken und einige Kinder spielen im Sand. Am Rand stehen die Bettler, die Blinden und Lahmen.
Plötzlich betritt ein Mann die Szene. Ein paar Kinder fangen an zu kichern, ein paar Erwachsene blicken betreten zu Boden, ein paar Jugendliche feixen und sind gespannt, welche Show ihnen der Mann heute bieten wird. Er ist ein Prophet. In der Sprache der meisten Leute ist das ein nur wenig netteres Wort für „Störenfried" oder schlichtweg „Spinner". Den Propheten interessiert das wenig. Er stellt sich in die Mitte des Platzes - und beginnt zu malen. In großen Gesten schwingt er den Pinsel, und bald werden Einzelheiten erkennbar. An einer Stelle entsteht eine Landschaft: Ein zerklüftetes Hochbebirge, von gelbbraunen Steppen gesäumt, zwischen den schneebedeckten Gipfeln hindurch sieht man das Mittelmeer. „Das ist der Libanon", ruft einer aus der Menge, die Umstehenden nicken anerkennend. Das Nachbarland im Norden ist gut erkennbar, gerade zeichnet der Maler mit einem feinen Haarpinsel ein paar Risse in den staubtrockenen Boden. Er tritt einen Schritt zurück, betrachtet sein Werk, nickt, dann taucht er plötzlich den Pinsel in sattes Grün und macht sich noch einmal an der Landschaft zu schaffen. Ein paar schnelle Bewegungen, ein paar Tupfer hier, ein paar Striche da - ein Raunen geht durch die Menge, als der Maler den Blick auf sein Bild wieder freigibt. Der staubige Wüstenboden, die verschneiten Berggipfel - alles ist über und über mit leuchtend grünen Bäumen bedeckt. „Aber im Libanon wachsen doch gar keine Bäume", ruft ein Kind, die Menge raunt zustimmend. Einige schnauben verächtlich, machen eine wegwerfende Handbewegung und gehen wieder an die Arbeit.
Den Maler interessiert das alles nicht, er schwingt den Pinsel weiter. Immer bunter wird das Bild, immer wilder und detailreicher: Ein dunkelgrüner Wald, dessen Wipfel im Wind zu flüstern scheinen, wo heute noch große graue Steine im brennenden Sonnenlicht schweigen. „Was soll das, das ist doch gar nicht echt", ruft ein Mann. „Wir haben wichtigeres zu tun, als uns irgendwelche Fantasiebilder anzugucken", ruft ein zweiter. „Meine Kinder glauben jetzt, der Libanon wäre ein riesiger Baumgarten, was soll das, denen solche Flausen in den Kopf zu setzen?!" schimpft eine Mutter und zieht ihre quengelnden Kinder mit sich. Immer mehr Leute wenden sich ab, nehmen ihre Werkzeuge wieder in die Hand und machen sich kopfschüttelnd wieder an die Arbeit. Die macht sich schließlich nicht von selbst, und bevor man sich Sorgen um irgendwelche Bepflanzungen im Libanon macht, hat man vor der eigenen Haustür noch genug zu tun.
Die Übriggebliebenen rücken etwas näher, langsam werden Details sichtbar. Eine Szene am rechten Bildrand: Da sitzen Menschen mit um einen Mann herum, der aus einer Buchrolle vorliest. Wenn man ganz nah herangeht, kann man sogar die Schrift auf der Buchrolle entziffern: Ich bin der Herr, Dein Gott, der Dich aus der Knechtschaft in Ägyptenland befreit hat... Der Anfang der Geschichte ihres Volkes. Ein paar aus der Menge seufzen, als sie leise die alten Worte vor sich hin sprechen. Eine schöne, eine aufregende, eine feierliche Geschichte. Auf dem Bild scheinen die Figuren an den Lippen des Vorlesers zu hängen. Mit großen Augen und gespitzten Ohren sitzen sie nach vorn gebeugt... Plötzlich geht ein empörter Aufschrei durch die Menge der Bildbetrachter. Eine junge Frau zeigt aufgeregt auf das Bild. „Den kenne ich", ruft sie. „Es ist der alte Jizchak, der Blinde, der immer am Stadtrand sitzt!" Diejenigen, die nahe genug dran sind, kneifen die Augen zusammen - und in der Tat, Einer der Menschen auf dem Bild trägt unverkennbar die Gesichtszüge des stadtbekannten Blinden - nur seine Augen sind offen und klar. „Hier sind noch mehr", ruft die Frau anklagend, und tatsächlich, in der Gruppe der Lesenden und Hörenden erkennen sie noch andere Blinde und Taube aus ihrer Stadt. Immer wieder werden Namen gerufen, doch diese gehen im wütenden Gemurmel der Volksmenge unter. „Was für ein Unsinn", ereifert sich ein reicher Handwerker. „Den Blinden und Tauben in unserer Stadt geht es so gut wie nirgendwo sonst, die bekommen Unterstützung und ein Dach überm Kopf!" „Und überhaupt - anstandslos ist das", schimpft eine ältere Schneiderin, „diese armen Leute mit ihrem Leiden in die Öffentlichkeit zu stellen!" Die Umstehenden nicken. Einer der Gelehrten der Stadt, ein Schreiber, schüttelt sorgenvoll den Kopf. „Das stimmt auch sachlich nicht", bemerkt er, „Taube und Blinde und Lahme dürfen nach dem Gesetz gar nicht in den Tempel." Plötzlich fasst ihn einer am Arm. „Hey, guck mal, Du sitzt auch mit den Tauben und Blinden da im Kreis!" Ungläubig geht der Gelehrte näher an das Bild- und tatsächlich, er erkennt seine eigenen Gesichtszüge auf dem Bild. „Frechheit", faucht er, steckt die Hände in die Taschen und eilt davon.
„Liebe Leute", sagt ein anderer Gelehrter versöhnlich, „lasst den armen Maler doch in Ruhe. Es ist doch ein schönes Bild, und gerade die kleinen Leute, unsere armen und kranken Brüder und Schwestern, brauchen solche Bilder vom Himmel, in denen es ihnen besser geht." Er zeigt auf eine Stelle des Bildes, auf der die Armen der Stadt jubeln und ihre Hände zum Himmel erheben. Die Menge nickt zustimmend. Ein junger Mann legt die Stirn in Falten, schließlich fragt er: „Aber wenn das der Himmel sein soll - warum sind denn da keine Wolken auf dem Bild? Und keine Engel? Das sieht doch alles nach der Erde aus. Nur halt - anders als es jetzt ist." „Revolution", krächzt ein alter Bettler und schwingt seinen Stock. „Da haben wir's", ruft ein Großgrundbesitzer, „das bringt die Leute nur auf dumme Ideen. Wir haben gerade alles hier wieder aufgebaut, wir haben endlich wieder so etwas wie einen Alltag. Wir wollen Ruhe und Frieden!" Einige Leute klatschen. „Ich habe Besseres zu tun als mir solche Fantasien anzugucken", erklärt er und verlässt den Platz. Viele folgen ihm.
„Hey, Du bist auch drauf", ruft ihm ein kleiner Junge hinterher. Die Wenigen, die noch übrig geblieben sind, gucken neugierig auf die neue Szene, die der Prophet in der Zwischenzeit gemalt hat. Tatsächlich zeigt eine Figur den reichen Großgrundbesitzer, doch er sieht ganz anders aus als der selbstbewusste Patriarch, den sie gerade haben weggehen sehen. Auf dem Bild steht er abseits, neben dem Stadttor, dem Ort der Gerichtsbarkeit. Beschämt senkt er den Blick. Im Stadttor steht jubelnd Binjamin, einen armen Kleinbauern, dem der reiche Großbauer erst vor einigen Wochen mit Hilfe einer juristischen Grauzone die Hälfte seines Landes abgeluchst hat. Der echte Binjamin, der in der hintersten Reihe steht, macht eine Faust in der Tasche und denkt: „Wenigstens einer hat‘s begriffen!"
Ein phönizischer Händler hat das Ganze interessiert betrachtet. Religiöser Kitsch verkauft sich besonders gut, aber das, was er da sieht, dürfte den Geschmack seiner Kunden kaum treffen. Und der Maler sieht nicht so aus, als könnte man ihn überreden, diese unschönen Szenen wegzulassen. Nein, erkennt er, hier gibt es nichts zu holen, was man den Leuten verkaufen könnte, und eilt zurück zum Hafen.
Auch die übrig gebliebene Zuschauermenge zerstreut sich schnell. Einzig ein Töpfer, der sich selbst für ein wenig kunstverständiger als der Rest hält, bleibt noch zurück. Er tippt dem Propheten auf die Schulter, der gerade sein Werk betrachtet. „Was hat denn dein Bild für einen Titel?" fragt er. „Im Himmelreich?"
Der Prophet lässt den Pinsel sinken und denkt eine Weile angestrengt nach. Dann lächelt er und schreibt in die Mitte des Bildes: „Nur noch eine kleine Weile..." Der Töpfer schüttelt den Kopf und geht zurück in seine Werkstatt.
Liebe Gemeinde, machen wir einen Zeitsprung. Deutschland, 11. September 2011. Das Bild gibt es noch. Heute wird es landauf, landab in den Kirchen aus dem Keller geholt. Es hat die Zeit ganz gut überstanden - kein Wunder, denn es ist lange her, dass man das Bild zum letzten Mal hervorgeholt hat. Es hat Staub angesetzt, Spinnenweben verdecken fast die Hälfte des Rahmens. Es gehört nicht zu den Bildern, die oft hervorgeholt werden, die man in den Kirchen gerne zeigt, auf Postkarten druckt oder als E-Mails versendet. Gerade weil es so wenig greifbar ist, so unrealistisch, so unverkäuflich. Die Überschrift „Nur noch eine kleine Weile..." macht das Ganze etwas lächerlich, nach ein paar Tausend Jahren, deswegen hängt man das Bild mancherorts so auf, dass man den Titel gar nicht mehr sieht. Ein paar kunsthistorisch informierte Kommentare werden abgegeben, Mutmaßungen über den Maler und die von ihm benutzte Technik. Mit seinen groben Pinselstrichen und seiner simplen Farbgebung wirkt es fast wie primitive Höhlenmalerei oder wie eine naive Kinderzeichnung, vor allem neben den anderen Bildern, die daneben aufgehängt sind: Hochaufgelöste Digitalfotos von brennenden Twin Towers, bei den besonders Kritischen vielleicht von Guantánamo Bay, beides Bilder, die auf erschreckende Art daran erinnern, dass die Hölle auf Erden ausbricht, wenn Menschen im religiösen Wahn egal welcher Couleur versuchen, den, ihren Himmel selbst herbei zu holen.
Nach einiger Zeit wird das Bild wieder abgehängt.
Irgendwo in Deutschland steigt eine Küsterin auf die Leiter. Es ist schon Sonntagabend, sie ist nicht vorher dazu gekommen. Als sie das Bild von seiner Halterung lösen will, fällt ihr etwas ins Auge, es sieht aus wie ein Fleck. Irritiert kneift sie die Augen zusammen - und fällt vor Schreck fast von der Leiter! Irgendjemand hat auf dem Bild herumgeschmiert! Sie fasst sich an den Kopf, hätte sie das Bild doch vorher schon wieder sicher in den Keller gebracht. Sie geht noch ein bisschen näher ran. Unter der Titelzeile „nur noch eine kleine Weile" steht mit Filzstift geschrieben: „Bitte jetzt!!!", mit drei Ausrufezeichen. „Ja, das wär was", seufzt sie. Neugierig sucht sie das Bild nach anderen Kommentaren ab. Und tatsächlich. Über den begrünten Karmel hat jemand geschrieben: „Israel + Palästina = endlich Frieden." „Amen", denkt die Küsterin. Neben den jubelnden Armen steht: „Familie X. und alle Trauernden." In einer anderen Schrift, mit einem anderen Stift steht direkt daneben: „Danke!" Und ihr schießt ein Satz aus einem Bibeltext durch den Kopf: „Und die Fesseln seiner Zunge lösten sich... Die Sprachlosen macht er redend." Einen Moment lang überlegt sie, dann grinst sie, holt ihren Kugelschreiber hervor und setzt ihren Namen unter einen der Tauben, die Gottes Wort hören. Sie klettert von der Leiter herunter. Und das Bild kann ruhig noch eine Weile hängen bleiben.
Was sehen wir, wenn wir uns das Bild anschauen?
Nicht wahr? Nur noch eine kleine Weile,
dann verwandelt sich der Libanon in einen Baumgarten,
und der Karmel wird dem Wald gleich geachtet.
Und die taub sind, werden an jenem Tag die Worte des Buchs hören,
und befreit von Dunkel und Finsternis werden die Augen der Blinden sehen.
Und die Armen werden sich wieder freuen über den HERRN,
und die Ärmsten der Menschen werden jubeln über den Heiligen Israels.
Denn es ist aus mit dem Tyrannen,und der Schwätzer ist am Ende,
und ausgerottet werden alle, die auf Unheil aus sind,
die in einer Rechtssache Menschen zur Sünde verleiten
und dem, der sie im Tor zurechtweist, eine Falle stellen
und den Gerechten mit Nichtigem verdrängen.
Darum, so spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Haus Jakob: Nun wird Jakob nicht mehr zuschanden werden,
und sein Angesicht wird nun nicht mehr erbleichen.
Denn wenn er seine Kinder, das Werk meiner Hände, in seiner Mitte sieht,
wird man meinen Namen heilig halten,und man wird den Heiligen Jakobs heilig halten,
und vor dem Gott Israels wird man sich fürchten.
Und die irren Geistes sind, werden erkennen, was Erkenntnis ist,
und die Nörgler werden lernen, was Einsicht ist.
Und der Friede Gottes...
11. S.n.Tr., 04.09.2011, Gen. 37, 1-11, Stadtkirche + Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Predigttext: Genesis 37, 1-11, Thema: „Joseph oder das Lieblingskind"
Liebe Gemeinde,
die Bibel, besonders ihr erster Teil, das Alte oder besser Erste Testament, gilt vielen als eine alte Schrift, die etwas darüber erzählt, wie Menschen früher an Gott geglaubt und was sie mit Gott erlebt haben. Für den Glauben ist sie ein wichtiges Buch, für die Moral auch noch, aber zum Leben heute, zu den Problemen, die Menschen heute in ihrem Alltag haben, dazu kann sie, so denken eben viele, so gut wie nichts sagen.
Doch das ist ein Irrtum. Wenn man sich nur intensiv auf ihre Erzählungen einlässt, dann kann man nicht nur etwas für seinen Glauben erfahren, sondern entdeckt viel handfeste Lebensweisheiten. Gerade in den Erzählungen des Alten Testamentes sind sie zu finden. Denn soviel die Bibel mit Gott zu tun hat, soviel hat sie auch mit dem Menschen zu tun.
Wenn von Abraham und David, von Ruth und Hanna erzählt wird, dann geht es nur zum einen Teil um historische Personen, die eben früher gelebt haben. Mindestens ebenso geht es um Prototypen des Menschseins, werden uns Beispiele von grundlegenden menschlichen Erfahrungen vor Augen gehalten, die uns anregen wollen, uns selbst mit unseren Erlebnissen in ihnen wiederzufinden. In diesem Sinne möchte ich heute morgen mit ihnen über eine berühmte alttestamentliche Familie nachdenken, deren äußere Lebensverhältnisse sicher ganz anders waren als unsere heute sind, deren Probleme miteinander, wie wir sehen werden, uns aber sehr bekannt vorkommen werden.
Es geht um die Familie des Jakob. Ich lese uns aus 1.Mose 37,1-11:
„Jakob nahm seinen Wohnsitz im Lande Kanaan, dem Land, in dem schon sein Vater als Fremder gelebt hatte. Hier beginnt die Familiengeschichte Jakobs.
Jakobs Sohn Josef war noch ein junger Bursche von 17 Jahren und half seinen Brüdern, den Söhnen Bilhas und Silpas, beim Hüten der Schafe und Ziegen. Er hinterbrachte seinem Vater alles, was seine Brüder trieben. Jakob hatte ihn von allen seinen Söhnen am liebsten, weil er ihm erst im Alter geboren worden war. Deshalb ließ er ihm ein prächtiges Gewand machen. Als seine Brüder sahen, dass der Vater ihn mehr liebte als sie alle, wurden sie so neidisch, dass sie kein freundliches Wort mehr mit Josef redeten.
Einmal hatte Josef einen Traum. Als er ihn seinen Brüdern erzählte, wurden sie erst recht böse auf ihn. „Ich will euch sagen, was ich geträumt habe", fing Josef an, „Wir waren miteinander auf dem Feld, schnitten Getreide und banden die Ähren zu Garben zusammen. Plötzlich stellte sich meine Garbe auf und blieb stehen. Eure Garben stellten sich im Kreis um sie herum und verneigten sich tief vor meiner Garbe." Seine Brüder sagten zu ihm: „Du willst wohl noch König werden und über uns herrschen?" Weil er ihnen diesen Traum erzählt hatte, hassten sie ihn noch mehr.
Wieder hatte Josef einen Traum, und auch den erzählte er ihnen. „Ich habe noch einmal geträumt", sagte er. „Ich sah die Sonne, den Mond und 11 Sterne, und alle verneigten sich tief vor mir." Als er diesen Traum seinem Vater und seinen Brüdern erzählte, wurde sein Vater unwillig und sagte zu ihm: „Was für einen Unsinn träumst du da? Du glaubst wohl, dass dein Vater, deine Mutter und deine Brüder sich vor dir in den Staub werfen?" Die Brüder waren eifersüchtig auf Josef; sein Vater aber musste immer wieder über den Traum nachdenken."
Soweit unser Predigttext. Wahrscheinlich kennen die meisten den Fortgang dieser Familiengeschichte: wie Neid und Hass der Brüder auf den Liebling Josef so zunehmen, dass sie ihn nach Ägypten als Sklaven verkaufen und Jakob erzählen, er sei von einem wilden Tier getötet worden; wie Josef in Ägypten nach manchem Auf und Ab - nach einer harten Lebensschule sozusagen - zum höchsten Staatsbeamten aufsteigt und Dank einer umsichtigen Vorratspolitik die Menschen in Ägypten durch eine 7jährige Dürrezeit bringt und gleichzeitig auch die Familie seines Vaters Jakob samt seinen Brüdern vor dem Hungertod bewahrt, wobei es zu einigen Verwicklungen kommt, bis Josef sich seinen Brüdern als ihr verloren geglaubter Bruder und Retter zu erkennen gibt und wie er dafür sorgt, dass die ganze Sippe Jakob nach Ägypten übersiedelt.
Doch uns soll heute mehr die Familienkonstellation als solche interessieren.
Wie ist das mit dem Lieblingssohn, dem Vater und den zurückgesetzten Brüdern, welche Rolle spielt jeder in diesem Familiendrama? Von nichts kommt nichts und jedes Fehlverhalten hat seine Geschichte.
„Hier beginnt die Geschichte Jakobs" hieß es im ersten Vers. Doch das ist so nur die halbe Wahrheit. Das Problem des Lieblingssohnes ist nicht erst das Problem des Josef, sondern schon das Problem des Jakob. Auch Jakob war ein Lieblingssohn - allerdings nicht seines Vaters Isaak, sondern seiner Mutter Rebekka. Sie bevorzugte ihn nach Kräften, intrigierte gar mit ihm gegen ihren Mann, gegen Jakobs Vater Isaak. Auf diese Weise belastete sie sicher das Verhältnis des Sohnes zu seinem Vater. Umgekehrt erlebte Jakob, dass sein Bruder Esau der Liebling seines Vaters war. Beides machte es den Brüdern schwer, ja unmöglich, ein gutes Verhältnis zueinander zu bekommen. Sie wuchsen auf als Rivalen um die Gunst der Eltern. Und auch bei Jakob schon spielte ein Traum eine große Rolle, nämlich der Traum, die Rechte des Erstgeborenen, den väterlichen Segen zu erlangen. Der Traum, der erste, der größte zu sein. Damit zog auch er sich den Hass seines Bruders zu, zumal er sich nicht scheute, diesen Traum mit Betrug zu verwirklichen. Esau trachtete danach, heißt es, ihn sobald als möglich umzubringen, sich seiner zu entledigen.
Eine uralte Familiensaga und doch ganz modern. In wie vielen Familien mag es bis heute ähnlich zugehen: da werden Geschwister von Vater und Mutter vereinnahmt bis hin zum Partnerersatz und gegeneinander ausgespielt; da weiß jedes Kind genau, wo es die besten Karten hat im Konkurrenzkampf, da lernt es, geschickt bis intrigant sich selbst in den Vordergrund zu spielen auf Kosten des Bruders oder der Schwester. Da werden die Weichen gestellt für ein lebenslanges Rivalisieren, das gar nicht so selten noch über den Tod der Eltern hinaus geht. So manches Gespräch anlässlich einer Beerdigung hat mir das deutlich werden lassen.
Doch zurück zu Jakob. Er hätte es also aufgrund der eigenen Lebensgeschichte wissen müssen: Als Vater einen Liebling zu haben, ihn den anderen Kindern vorzuziehen, das bringt für dieses Lieblingskind keinen Segen. Das zerstört das Verhältnis zu den Geschwistern. Das zerstört auch ein gesundes Selbstwertgefühl. Aber Jakob hat nicht gelernt. Er wiederholt die Fehler seiner Eltern. So wie es viele Eltern durch alle Zeiten hindurch getan haben. Das, was man als Kind bei den eigenen Eltern kritisiert hat - das tut man als Vater oder Mutter auf einmal selbst gegenüber den eigenen Kindern. Ja, manchmal setzt man dem erlitten-erlernten Fehlverhalten sogar noch die Krone auf - wie in unserer Geschichte Jakob, als er Josef sogar ganz gezielt auf seine Brüder ansetzt, um sich über deren Treiben zu informieren. Und Josef, einfach nur stolz über die väterliche Bevorzugung, ist eifrig bedacht, das väterliche Vertrauen in ihn zu bestätigen. Und sein Vater „belohnt" ihn und zeichnet ihn mit einem prächtigen Gewand aus. In unsere heutigen Verhältnisse übersetzt müsste man vielleicht sagen: während die Brüder gebraucht gekaufte Ford-Fiestas fahren, stellt Jakob seinem Josef einen neuen Porsche vor die Tür, mindestens aber ein BMW-Cabrio.
Die Brüder, selbst nicht in der Lage, den Fehler im Verhalten beim Vater zu sehen und ihm anzulasten, reagieren mit Neid, der sich zum Hass steigert.
Und Josef verliert zusehends den Realitätsbezug. Er fängt an zu träumen. Zunächst bleibt er wenigstens noch auf dem Erdboden. Getreidegarben sieht er - und die seiner Brüder verneigen sich vor der seinen. Zu mindestens im Bild ist er noch nichts anderes als seine Brüder - alle sind durch die Garben dargestellt - , auch wenn diese deutlich merken: hier geht es um Herrschaft des einen über die anderen. Doch im nächsten Traum hebt er buchstäblich ab. An den Himmel versetzt sieht er sich und die Gestirne, die kosmischen Mächte erweisen ihm die Ehre. Mit diesem Traum erregt er nicht nur den Zorn seiner Brüder, sondern auch sein Vater reagiert ungehalten, hat auf einmal die Angst, von seinem Liebling kleingemacht zu werden. Würde die Geschichte in unseren Tagen spielen, würde man Josef anraten, einen Psychotherapeuten aufzusuchen und dessen Diagnose könnte gut und gerne „Manie" lauten. Vielleicht würde er medikamentös eingreifen, um Josef wieder „zu erden". Oder er würde eine Familientherapie vorschlagen, weil das ganze Familiengefüge aus den Fugen geraten ist, weil der Neid und der Hass der Brüder diesen genauso schadet wie der Größenwahn für Josef verhängnisvoll ist.
Im Fortlauf unserer Geschichte findet tatsächlich eine Therapie statt - allerdings nicht in einer ärztlichen Praxis, sondern durch den Gang der Ereignisse, durch das Leben.
Zunächst erfolgt für Josef der Absturz - vom Himmel in die Hölle, in den Brunnenschacht - psychologisch von der Manie in die Depression. Dann geht es für ihn durch die Wüste, willenlos folgt er den Sklavenhändlern in fremdes Land, ins „Elend", wie die Fremde im Mittelhochdeutschen genannt wurde. Dort muss er arbeiten, an sich arbeiten; und das tut er mit einigem Erfolg. Er arbeitet sich hoch. Findet bald wieder eine Rolle, wo er unentbehrlich ist, wo er Anerkennung erhält - als Liebling seines Herrn. Doch die Rolle des Liebling, der es allen, vor allen Dingen den Oberen nur recht macht, ist eben keine solide Lebensbasis; das kann nicht gut gehen. Und das wird ihm noch einmal schmerzlich bewusst gemacht durch die Frau seines Herrn, die ihn aus Angst und gekränkter Eitelkeit der sexuellen Belästigung bezichtigt und für seinen nächsten Absturz sorgt. Ihr Ehemann Potifar lässt Josef ins Gefängnis werfen. Doch - und das ist das eigentlich bemerkenswerte - Josef gibt nicht auf. Er lamentiert nicht über das ungerechte Schicksal, sondern er arbeitet an sich. Selbst im Gefängnis arbeitet er sich hoch. Und er bekommt ein Gespür für seine Mitmenschen, er kreist nicht mehr um sich selbst. Seine Träume im Gefängnis betreffen andere. Er lernt, die Wirklichkeit zu sehen wie sie ist : mit guten und schlechten Seiten. So sieht er für den einen Mitgefangenen die Befreiung, für den anderen die Hinrichtung. Und er hat den Mut, das auch zu sagen. Diesen Mut hat er auch, als er zum Pharao gerufen wird, um dessen Träume zu deuten. Gute Jahre und schlechte Jahre werden kommen, aber - und das hat er inzwischen gelernt - die schlechten sind zu bewältigen. Und so macht ihn der Pharao zu seinem höchsten Staatsbeamten, weil er durch seine Lebenserfahrung menschlich gereift ist, weil er nicht sich selbst daran berauscht, oben zu sein, sondern für die anderen, für die Menschen da ist - herrschen ist dienen.
Bei allem geht es aber nicht nur um Josef, sondern um die ganze Familie. Auch die Brüder und der Vater müssen ihren Weg gehen, um am Ende zusammenzufinden.
Die Brüder, die ja Josef durch den Verkauf endgültig loswerden wollten, werden darüber ihres Lebens nicht mehr froh. Das Gewissen plagt sie und sie versuchen an Benjamin, dem kleinen Bruder, gut zu machen, was sie an Josef verbrochen haben. Auch sie müssen die Erfahrung der Tiefe machen, Angst und Ohnmacht erleben, Erfahrungen, die keinem Menschen erspart bleiben. Und sie müssen erleben, dass sie diesen Bruder Josef brauchen, dass er zu ihrem Leben gehört, ja dass sie erst in der Verbindung mit ihm Zukunft haben. Ohne Josef, so erzählt es die Geschichte, wären sie Hungers gestorben.
Am Ende findet die ganze Familie Jakob wieder zusammen, findet Versöhnung statt. Kann man auf einer neuen, reiferen Ebene miteinander leben.
Bleibt nur noch am Schluss die Frage, was die ganze Geschichte mit Gott zu tun hat. In der klassischen theologischen Deutung heißt es ja, dass Gott Josef diesen schwierigen, leidvollen Weg geführt hat, um seine Sippe vor dem Hungertod zu bewahren und somit die Heilsgeschichte fortzuführen. „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen" so lautet die Schlussfolgerung in Josefs Mund. Ich denke, als Familiengeschichte betrachtet kann es ähnlich gesehen werden. Gott möchte, dass wir einander verstehen und er möchte uns als erwachsene, reife Menschen, die mit beiden Beinen auf der Erde stehen. Er will, dass wir unser Leben so, wie es sich für uns zeigt, anpacken und durcharbeiten - auch wenn es schmerzt. Und oft müssen wir uns in der Familie erst trennen, muss jeder seinen Weg gehen, damit wir uns am Ende wiederfinden. Die Erfahrungen, die wir dabei machen, die kommen - auch das macht die Geschichte ja deutlich - nicht nur uns selbst und unseren Nächsten zugute, sondern sie können vielen anderen helfen. Amen.
10.S.n.Trin. (Israelsonntag) 28.08.2011 2.Mose 19,1-6 Stadtkirche und Jonakirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 28.VIII.2011 10.n.Trinitatis ה״ב
2.Mose 19, 1-6
Liebe Gemeinde!
Eins unserer Gemeindeglieder mit einem breit aufgefächerten Stammbaum, dessen unmittelbarer Ahn schon den Leichenzug des Großen Kurfürsten anführte, sagte mir vor Jahren einmal im Blick auf sein Geschlecht etwas Verblüffendes:
„Gott sei Dank für die Untergeschobenen. Sind oft die Besten!“
Sieh an!, dachte ich: So offen- und so weitherzig, bei solch altem Namen.
Warf man denn den Junkern nicht immer Standesdünkel vor? Ist das nicht der Anstoß, den Adel bis heute erregt, dass man angeblich nur gelten lässt, wer im Gotha zu finden ist? —
Nun wollen wir jetzt gar nicht erörtern, ob sich die Dinge nicht schwindelerregend geändert haben, wenn Nachrichtensprecherinnen allerkatholischste Majestät werden und die Töchter besserer Gemischtwarenhändler das Erbe des einstigen Weltreichs antreten, wenn private Turnlehrer Prinzenrolle in einer ursprünglich bürgerlichen Dynastie übernehmen und stumme Schwimmerinnen es zur Piratenfürstin bringen ........
Das alles ist kalter Kaffeeklatsch. Heute geht es um einen ganz anderen Adel.
Um den größten, ältesten, ehrfurchtgebietendsten Adel, den wir kennen.
Heute geht es um Hebräerfürsten und Judenprinzessinnen.
Um die von Gott erwählten königlichen Menschen.
Denn eben hörten wir von jenem Tag, an dem ihnen der Adelsstand angeboten wurde.
Am Sinai wurden sie ja durch Mose feierlich gefragt, ob sie die Auszeichnung und Verpflichtung annehmen wollten, die darin besteht, nicht nur von Gott gerettet, sondern ihm auch auf ewig verbunden zu sein?
In dieser Reihenfolge wohlgemerkt, die das ureigenste Verhältnis von Ursache und Wirkung beim biblischen Gott darstellt: Zunächst geschieht seine erlösende Wohltat und dann erst folgt darauf die Frage, ob die Erlösten des HERRN auch seine Bundesgenossen zu werden bereit sind.
Den Vätern Israels galten die Verheißungen; ihre Kinder, an denen sie sich erfüllten, werden vor die Wahl gestellt, ob der Dank dafür sie verpflichtet oder kalt lässt. —
Wie die Kinder Israel sich entschieden haben, wissen wir. Sie nahmen an. Sie antworteten: „Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir tun!“ (2.Mose198)
Und so wurden sie das, was man in der frühmittelalterlichen Gesellschaft den „Dienstadel“ nannte: Ihnen wurde eine Verantwortung, eine Aufgabe anvertraut, die sie mit ihrem ganzen Leben füllen mussten. Sie standen für Gottes Recht und Gesetz in dieser Welt.
Diese Pflicht aber machte sie zugleich frei und über alle anderen Zwänge – zumindest innerlich – erhaben: Das ist ihre königliche Würde und ihre priesterliche Verantwortung bis heute. ——
Allerdings wurde ihnen der Titel alsbald streitig gemacht.
Die Kirche kam nämlich und erklärte kurzerhand einerseits alle Privilegien für abgeschafft, so dass Israel keine besondere Berufung mehr gelten sollte; und andererseits übertrug die christliche Gemeinde im Staatsstreich die alten Titel einfach auf sich selbst: Das jüdische Volk sollte enterbt und an seine Stelle als königliche Gemeinschaft und heiliges Volk durch ein neues Testament die Christenheit gesetzt worden sein .......
Erst nach den schlimmsten Verbrechen der Weltgeschichte hat in den Kirchen – ausgehend vom heillos schuldigen Deutschland – eine Umkehr begonnen: Die Berufung Israels als der ursprünglichen Erwählungsgemeinschaft kann kein Christenmensch mehr bestreiten, der heute frei von Vorurteil, von Verblendung und Sünde die Bibel liest.
Gottes Volk, das Volk seiner Königsherrschaft, die Menschen seines heiligen Wohlgefallens sind die Juden. Waren’s; sind’s; bleiben’s!
Ob uns dagegen neunzackige Kronen in’s Taufkissen gestickt sind, ob wir unsere Stamm-bäume auf Karl den Großen zurückführen oder als Spitzenahn einen namenlosen Lands-knecht, Söldner, Handwerksburschen auf der Walz hätten, das ändert alles nichts:
Aus Ägypten sind unsere Eltern nicht geführt worden und auf Adelers Fittichen nicht durch die Wüste getragen; am Sinai haben sie nicht gestanden.
Wir gehören also nicht dazu, wenn es um das Eigentum des Höchsten geht, um sein königliches Priestertum und heiliges Volk. —
So könnte und müsste bei uns heute eigentlich die Betrachtung der Berufung Israels enden. —
Wenn nicht, .... ja, wenn da nicht die erwählten Kinder Israels wären, die es nicht als einen Raub nahmen, Gott eigen zu sein (vgl.Phil26).
Im Laufe ihrer Geschichte machten sie vielmehr die selbe Erfahrung wie jener alte Herr, der unzweifelhaft Stolz darüber empfand, so preußischblaues Blut zu haben und dennoch nicht glaubte, dass seinesgleichen je nur unter sich waren.
Denn die Weisen in Israel haben weder der Arroganz, noch der Abschottung das Wort geredet, obwohl sie von Generation zu Generation erlebten, dass man ihr Volk entweder wegen seiner beharrlichen Geschlossenheit bedrohte oder aber es schwächte, indem man es zur Angleichung an allgemeine Maßstäbe verlocken und zwingen wollte.
Dennoch hat das Haus Jakobs niemals ausschließen wollen, dass Hinzugekommene an seinen Vorrechten und Pflichten teilnähmen.
Im Gegenteil: Gerade im Bericht vom Sinai, in dieser Berufungsurkunde des heiligen Volkes haben die Rabbinen Winke gefunden, die über die leiblichen Nachkommen Jakobs hinaus deuten.
Das beginnt mit der besonders ausführlichen Datumsangabe, dass die Kinder Israels am ersten Tag des dritten Monats auf ihrer Wanderung den Sinai erreichten.
Dieser Monat – Siwan –, der nach unserem Kalender von Mitte Mai bis Mitte Juni reicht, hat nämlich ein besonderes Sternzeichen: Es sind die Zwillinge!
Und in diesem Doppelgestirn, im Bild der Zwei, die nicht die selben sind, aber doch zusammengehören, sahen die Lehrer Israels eine Art himmlisches Vorzeichen, dass die Völker der Welt eines Tages nicht mehr würden sagen können, Gott habe ihnen seinen Willen und sein Recht vorenthalten*.
Nein! Von vornherein ist der Bund mit dem, der sagt: „Die ganze Erde ist mein!“, auf sie beide angelegt, auf die Nachkommen der feindlichen Zwillinge Jakob und Esau!
So weist der gestirnte Himmel über uns ebenso wie das Gesetz vom Sinai, das Gott in der Menschheit aufrichtet, voraus auf den Tag, an dem das königliche Volk nicht mehr nur die jüdischen, sondern auch die heidnischen Heiligen umfassen wird. ——
Doch noch freier und großmütiger sind die Kinder Israels mit ihrer Erhebung in den höchsten Stand, mit ihrem Adelsdiplom umgegangen.
Denn in jenem Wortlaut, der die von Gott gestiftete Beziehung zu Israel beschreibt, findet sich eines der wenigen Bilder, die in der Torah für Gott herangezogen werden:
„Ich habe euch auf Adlerflügeln getragen“, heißt es da.
Und dieses geflügelte Wort, dessen Klang auf unserer Zunge eigentlich gleich zum Lied wird – „der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet“ –, dieses Bild und diese Erfahrung der ausgebreiteten Schwingen hat Israel von Anfang an nicht für sich behalten können.
Wer das nämlich wirklich gesehen und erlebt hat – wie sie um ihr Leben liefen und vor ihnen doch nur Tod und Verderben lag, wie sich im Rücken die Feinde zusammenzogen und vor Augen die Wellen des Meeres türmten, .... wer erlebt hat, wie alles verloren, vergebens und vorbei ist .... und dann plötzlich verschlingt dich nicht die Flut und vernichtet dich nicht das Heer der Rosse, sondern aus der allergrößten Verlassenheit und Todesnähe reißt dich der Himmel selbst und trägt dich hinüber und ist so stark für dich und hebt dich so sicher und schützt dich, birgt dich, rettet dich – wer das erlebt und gesehen hat, der kann es nicht für sich behalten!
Weil es Dinge gibt, auf die kein Mensch ein Vorrecht behaupten oder besitzen könnte:
Auf Luft, Licht, Liebe, auf Wasser und Wahrheit nicht – und nicht auf die Flügel, in deren Schatten man frohlocken muss (vgl.Ps638) und mit deren Hilfe man neue Kraft kriegt und selber auffahren kann wie Adler (vgl.Jes4031).
Diese Erfahrung Israels, dass Gott so bergen und so retten kann, dass er aus aller Leidensnot erheben und gegen alle Tücke schirmen kann, diese Erfahrung haben die Kinder Israels zurecht als eine Menschheitserfahrung erkannt, die ihnen nicht allein vorbehalten werden konnte.
Darum hörten wir eben, dass Boas, der Mann aus Bethlehem zur ersten Fremden, die von außerhalb des erwählten Volkes zu Israel hinzustieß einen wegweisenden Satz sagte, als er sie begrüßte und segnete mit den Worten (Ruth212): „Du bist zum HERRN, dem Gott Israels gekommen, dass du unter seinen Flügeln Zuflucht hättest.“
Mit dieser Wendung, die wortgetreu an den Bundesschluß am Sinai anknüpft, wird die Moabiterin Ruth in die Gemeinschaft von Gottes Volk eingereiht.
Und mit diesem ersten Beispiel einer Hinzugekommenen, einer Untergeschobenen, die auch den starken Schutz des Gottes Israels fand, ist es zur festgeprägten, liturgischen Formel des Judentums geworden, wann immer Außenstehende zum Bund Gottes hinzutraten:
„Er ist unter Gottes Flügel gekommen. Sie hat Schutz gefunden unter den Fittichen der göttlichen Gegenwart.“ ——
So frei und großmütig ist das Volk des Eigentums also von vornherein, seit Sinai gewesen.
Was ihm widerfahren und gewährt war, das räumte es mit den ursprünglichen, heilig feierlichen Worten auch allen anderen ein: Wer wollte, konnte unter die Adlerflügel des Allmächtigen schlüpfen und dort die königliche Gnade und das königliche Recht des Höchsten annehmen!
Und tatsächlich sind sie gekommen und kommen sie noch: Die Menschen aus allen Völkern, Ländern und Zungen, die hören, dass nicht nur Israel, das von Gott erwählte Volk, sondern alle Welt gerufen wird: „Sammelt euch unter den Flügeln!“
Sie hören es, wie Israel es am Anfang hörte: Es ist die alle Grenzen und jedes Maß übersteigende Gnade Gottes, die da ruft. Bei der wird man nicht als Verdienstadel ausgezeichnet und man empfängt bei ihr auch kein Privileg, außer dem einen, das alle anderen überragt: Dass man unter Seinem Schutz und Schirm fortan niemandem mehr gehören und gehorchen wird als nur Ihm allein, dessen Name heilig ist, dessen gerechter Wille im Himmel geschieht wie auf Erden und dessen Reich kommt!
Unter dessen ewigen Armen haben alle Zuflucht, die Seinen Namen heiligen, Seinem Willen folgen und auf Seine Herrschaft hoffen wollen.
Wollt ihr also nicht auch kommen und Euch bergen?, fragt Israel die Welt seit drei Jahrtausenden. Wollt Ihr nicht frei und sicher und gut werden im Dienst und in der Gemeinschaft dieses Gottes? ——
Ach, wohin sollten wir denn sonst kommen?, müssen wir antworten.
Wo fänden wir denn sonst das, was wir uns niemals anmaßen oder mit Gewalt nehmen könnten, wenn es der Nachkomme der Moabiterin Ruth uns nicht schenkte?
Wo kämen wir sonst zur Ruhe, zur königlichen Sicherheit und auf den unumkehrbaren Weg zum Leben der priesterlichen Leute Gottes, wenn uns nicht vom Volk Israel selbst gestattet würde, in seiner Gründungsgeschichte schon die Verheißung auch unserer Zugehörigkeit zu Gott zu ergreifen?
Ja, die Arme sind geöffnet auch für uns! – Das ist keine Enterbung, keine Verdrängung des heiligen Volkes, sondern die Botschaft seiner Erwählung im Zeichen der Zwillinge.
Wir dürfen uns untergeschoben unter den starken Fittichen Gottes und also aufgehoben wissen. Auch wir Schuldigen und Späten, wir Fremdlinge und Kuckuckskinder dürfen mit Israel freie Könige und heilige Bundesgenossen Gottes sein, weil sich erfüllt, was unsere Mütter uns im Dunkeln sangen, so wie wir heute unsern Kindern:
„Breit aus die Flügel beide und nimm dein Küchlein ein!“ (eg 477,8)
Amen.
* Vgl. Midrasch Tanhuma B (hg.v.H.Bietenhard), Schemot, V.Abschnitt: „Jethro“ §13 (Judaica et Christiana 5, Bern 1980, S.370).
9.S.n.Tr. 21.08.2011 Matthäus 7,24-27 Stadtkirche + Jonakirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 21.VIII.2011 9.n.Trinitatis
Matthäus 7, 24-27
„Lieber Herr Jesus!
Viele Grüße von unserem Zweitwohnsitz auf dem Sand.
Hier genießen wir das Leben in vollen Zügen, v.a. das Nichtstun!
Du wirst es uns doch nicht verübeln?!
Immer auf dem grundsoliden Fundament, auf dem Du uns gern wüßtest, geht doch auch nicht. Man braucht wirklich den Sand, die Sonne und das Meer!
Vielleicht sehen wir uns ja auch mal wieder auf dem festen Boden der Tat und Sachen, die Dir so wichtig sind. Für heute aber gehab Dich wohl,
Deine sandburgenbauende Christenheit.“
Solche Lebenszeichen aus dem Urlaub schreibt natürlich kein Mensch.
Und dabei wären sie doch so wahr! So leben wir doch tatsächlich: mehr Sand- als Felsbewohner; zuhause in der seelischen Bequemlichkeit und nicht etwa in den steinigen Gefilden biblisch gerechter Lebensführung.
Religion ist für uns ja eine Gestalt des Urlaubs, nicht des Alltags: sie bedeutet Abwechslung und Lockerung, milde Neugier und weichen Kitzel unter den Fußsohlen.
Pilgern als ein Weg weit weg vom Gewöhnlichen und das Lauschen auf die innere Brandung gelten unter uns als echte spirituelle Erfahrungen.
Doch je deutlicher sie jenseits der gewohnten Lebenshorizonte stattfinden, umso mehr zeigt sich, was sie sind: Das anstrengungslose Freizeitverhalten derer, die auf den Sand bauen.
In den Felsen unserer Wirklichkeit hauen wir keine geistlichen Vertiefungen, in denen sich das Haus des Lebens verankern ließe, und den Steinbruch des täglichen Lebens bearbeiten wir nicht um Gottes willen.
Für solche Spielereien ist der Sandkasten da. ——
Das klingt so hart, wie es immer klingt, wenn man Jesus erlaubt, uns unmittelbar anzusprechen.
— Meistens umgehen wir ja genau das: Dann verstehen wir das Bild des von vornherein baufälligen Sandhauses und des fachmännisch fundamentierten Baus auf gutem Grund als Aufforderung, unser Verhältnis zu Jesus zu klären. Als würden hier diejenigen gegenübergestellt, denen Jesus nichts bedeutet und die, die ihn kennen und ernstnehmen.
Doch der eigentliche Unterschied, den Jesus noch ehe er Anhänger und Nachfolger fand schon hervorhebt, ist ein anderer:
Nämlich der Unterschied zwischen Jesus im Kopf und Herzen und Jesus in Herz und Händen seiner Gemeinschaft.
Anders gesagt: Jesus unterscheidet seit seiner ersten öffentlichen Verkündigung zwischen den geistig und den praktisch aufgeschlossenen unter seinen Schülern.
Und zu unserer nieendenwollenden Verblüffung und Bestürzung ernten die Kopfarbeiter seinen Tadel und seine Warnung, während er die Hand- und Herzarbeiter bestätigt und segnet.
Wer Jesu Worte nur hört, wer sie nur als Genuss für den Intellekt oder als seelischen Balsam oder als spinnerte, aber zitierfähige alternative Weltanschauung betrachtet, dessen Christentum ist ein einziger Pfusch.
Nur wer die Rede, die Mahnungen und Weisungen Jesu umsetzt, wer sie anwendet und seine Lebensführung dadurch formen lässt, hat ihn verstanden und wird Bestand haben!
Das ist die glasklare Botschaft der einstürzenden Neubauten. —
Für uns westliche Menschen, die der Welt immer noch mit dem philosophischen Vorurteil begegnen, dass das Geistige und Gedankliche nicht nur wertvoller, sondern zuletzt auch wirklicher als die bloß sichtbare, spürbare Gegenständlichkeit sei, für uns auf Theorie und Spekulation geeichte Kopffüßler ist diese eindeutige Bevorzugung des Handelns vor dem Grübeln und Verstehen ein Donnerschlag.
Ist das nicht das Ende der Wissenschaft und der Sturz zurück auf die primitive Stufe des Kleinkindes, das alles „mit Herzen, Mund und Händen“ begreift?
Kann man wirklich das Verhältnis zwischen dem Innerlichen und dem Äußeren so gegen unser Empfinden umkehren?
Kann man die Spannung zwischen Theorie und Praxis so einseitig auflösen?
Nun, wir können das wohl nicht so ohne weiteres: Dazu ist unsere Kultur zu sehr von der Hochachtung vor Geistesgröße bestimmt und zu wenig von der Anerkennung derer, die geschickt, geduldig und mühevoll gearbeitet haben.
Aber ausgerechnet in der Welt Jesu, in der jüdischen Geisteswelt, die der Gelehrsamkeit so unendlichen Respekt zollt, dass sie unzählige Generationen von klugen Köpfen ausschließlich dem Studium der Torah gewidmet hat, ausgerechnet hier wird eines nie vergessen:
Das Geistige ist nicht um seiner selbst willen groß.
Forschung, Bildung und Wissen dienen nicht dem menschlichen, sondern dem göttlichen Ruhm, und somit ganz praktischen Zielen: Denn Gott gab das Gehirn und die Gedanken nicht zu Glasperlenspielen, sondern um der Gerechtigkeit zu nützen!
Und so steht Jesus nicht etwa allein, sondern in einem wahrhaft biblischen Strom der Zeugen, die es alle einer verkopften Welt und einer spiritualistischen Frömmigkeit zurufen (Micha68): „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“
Und das sind keine Fragen der inneren Einstellung, keine Denkansätze oder seelischen Exerzitien, sondern das sind praktische Grundlagen und elementare Handlungsanweisungen.
Und so hat also nur das Christentum, das tut, was es hört, wirklichen Halt!
Ein Christentum, das in Gedanken bleibt, das den Weg in die Grundentscheidungen und Grundgewohnheiten des täglichen Lebens nicht findet, ein Christentum, das nicht übersetzt wird in Losungen und Imperative für den Hausgebrauch, ein Christentum, das Dich nicht auf der Straße und bei der Arbeit begleitet, weil es in der Leseecke verstaubt ... alle solche Christentümer des Gedankens, der Meinung und des Empfindens sind leere Kulissen wie in Babelsberg: Wenn der Wind darüber geht, so sind sie nimmer da (vgl.Ps10316). ———
Das ist für uns evangelische Christen eine besonders schlechte Nachricht, weil wir es gewohnt sind, die sogenannten äußerlichen Dinge, die Zeremonien, die Rituale, aber auch die frommen Werke als Nebensache zu betrachten.
Bei uns gelten die Überzeugung, die innere Haltung, eine nicht näher fassbare „Einstellung“ als die einzig sinnvollen und angemessenen Auswirkungen des Glaubens.
Alles andere betrachten wir als Bevormundung oder Werkgerechtigkeit.
Doch dadurch haben wir zu lange riskiert und mitverschuldet, dass alles bei uns auf Sand gebaut war. Unverbindlich. Brüchig.
Ohne die Festigkeit, die dem Leben eine tragfähige Basis schafft.
Doch was noch viel schlimmer ist:
Wir haben Jesus schlicht nicht auch zu uns sprechen lassen!
Im Hochgefühl der vermeintlichen Mündigkeit und der angeblichen Befreiung von lästigen Ordnungs- und Leistungsvorgaben durch Paulus, ist das evangelische Christentum eben nicht etwa innerlich oder intellektuell geworden, sondern schlicht so lebens- wie menschenfern und darin bedeutungslos für die tagein, tagaus stattfindende Suche nach Orientierung.
Wenn wir uns aber nicht damit begnügen wollen, so kurzfristig und hinfällig zu bauen, wie jemand, der den nötigen Aufwand scheut und lieber mit billigen Mitteln und schnellem Erfolg etwas hinhudelt, das vielleicht solide aussieht, aber tatsächlich bloß Attrappe war, wenn wir also wirklich ein Christentum suchen, das dem Leben Räume bietet, Schutz gewährt und eine Heimat, ein Haus darstellt, dann kommen wir um Mühen nicht herum:
Um die Mühe, in unser Verhalten und unsere Gewohnheiten, in unsere Lebensentscheidungen und unsere Umgangsformen die Worte Jesu einzugraben, bis sie so tief darin verankert sind, dass sie das Gebilde unseres Daseins wirklich tragen.
Wir müssen die Lehren, die Forderungen und das Vorbild Jesu also zu unserem Fundament machen: nicht in Absichtserklärungen oder moralischen Allgemeinplätzen, sondern in der Tat.
Unser Leben soll eine Baustelle Jesu werden.
Wie? Indem wir tatsächlich – wie er es uns in der Bergpredigt vorbuchstabiert – das ABC der Gerechtigkeit und das Einmaleins der Liebe zu unserem Leitfaden und zu unserer alltäglichsten Übungsfibel nehmen.
So dass wir tatsächlich klar sehen und klar sagen:
Dies oder das ist die Konsequenz und Forderung unseres Glaubens.
So oder so handeln wir, entscheiden, hoffen oder verweigern wir, weil wir Jesus nachfolgen und gehorchen.
Das bedeutet in einer Welt des freien Spiels aller Kräfte, den eigenen Ehrgeiz und die eigene Aggression tatsächlich zu überwinden und lieber Waschlappen als Eroberer zu sein, weil Versöhnung unser Auftrag ist. Es bedeutet, dass wir uns den Mund verbrennen, wenn wir in der vorgeblichen Freiheit der Liebe trotzdem Maßstäbe erklären, deren oberste die Treue und die Reinheit sind, weil das, was einen anderen Menschen zu meinem Spielball macht, in ihm das heilige Bild Gottes beschmutzt.
Und wie es in Hass und Liebe christliches Verhalten gibt und geben muss, so auch in Gesellschaft und Geschäft: Da dürfen wir nicht blenden, weil wir die Anhänger dessen sind, der die Wahrheit ist, und da müssen wir die Gier und den Geltungsdrang, die die Welt beherrschen, zum Teufel jagen.
Wie wir mit Geld umgehen – wann wir es nehmen, wie viel wir behalten, wohin wir es weitergeben und wofür wir es einsetzen – ist nicht unsere Gutdünken überlassen, sondern dafür gibt es klare Regeln Gottes: Wer gibt, um gesehen zu werden, ist ebenso verwerflich, wie wer behält, weil er nicht gesehen wird.
Wenn wir unsere Kräfte und Zeit dem Materiellen widmen, weil wir’s erjagen, vermehren, sichern wollen, dann machen wir klare Verluste, lehrt Jesus: Dann verlieren wir an Sicherheit, weil wir etwas Totes an die Stelle setzen, an der wir von Gottes Liebe leben sollen, .... etwas Totes, das all unser Herzblut nicht zum Leben erwecken wird.
Und wenn wir keine Barmherzigkeit, keine Verantwortung für unsere Mitmenschen aufbringen, wenn die Frage nach den Hilflosen und von uns Geschädigten nicht unsere oberste Frage ist, dann wird der, den wir nicht erkennen wollten, einst – wenn der Platzregen fällt und die Wasser kommen und der Wind weht – uns auch nicht kennen!
Aus kleinen, aber klaren Weichenstellungen und aus bewusster, beharrlicher Andersartigkeit gegenüber dem Eigennutz, der Eitelkeit und Einbildung derer, die sich selber Maß und Ziel sind, entsteht so ein Leben, das wirklich in der Tiefe Christus gehört und das darum Bestand haben wird.
Man könnte es an ungezählten Beispielen vor Augen führen: das praktische Christentum, das weiß, was es tut, und das deshalb felsenfest gegründet ist und unerschütterlich.
Ich will zum Schluß nur ein kleines, abseitiges Beispiel wählen, das zeigt, wie auf dem Felsen gelebt und gestorben wird:
Gegenüber von meinen Schwiegereltern, auf der anderen Seite des Tälchens liegt ein alter Hof, dessen Leute immer fromm waren. Seit Jahrzehnten bestellt ihn ein schlohweißer, aufrechter, wortkarger Hagestolz im Lodenmantel, der seine früh verwitwete Schwester und deren Söhne und Kindeskinder bei sich hat.
Die selbstverständlichste Ehrlichkeit und uralte Rechtschaffenheit sind dort die Hauspatrone. Man könnte sein Kind oder was sonst einem auf der Erde lieb ist dort, bei Onkel Hans und Tante Magdalene stets unbesorgt in treuste Verwahrung geben.
Allsontägliche Kirchgänger sind sie nicht.
Aber ihr Leben und ihr Gewissen sind auf den Fels gebaut.
Nun war es dem alten Mann in den letzten Wochen nicht ganz wohl.
Da träumte seiner Schwester in einer der vergangenen Nächte vom Konfirmationsspruch ihres Bruders.
Am Morgen trat sie also an sein Bett, brachte den Kaffee und sagte ihm ohne Einleitung seinen Konfirmationsspruch.
Und danach: „Hans, jetzt schlaf noch ein bisschen“.
Und er drehte sich um und schlief ein .... bis zum Jüngsten Tag.
Denn über ihm und über uns steht das Felsenwort (Michael Frank, eg 528,8):
„Wer Gott fürcht’, wird ewig stehen!“
Amen.
8.S.n.Tr. 14.08.2011 Jesaja 2, 1-5 Stadtkirche + Jonakirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 14.VIII.2011 8.n.Trinitatis
Jesaja 2, 1-5
Liebe Gemeinde!
„Sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen“ .... wenn aber doch, dann von Israel. Ich jedenfalls habe solches von meinen Lehrern – zwar nicht in Israel, sondern in England – gelernt.
Vorbereitung dazu gab es bei Madame Eardley, unserer Französischlehrerin, die ursprünglich ein deutsprachiges Mädchen aus dem Prager Bürgertum „israelitischen Glaubens“ war – wie man damals und dort wohl sagte. An Madame Eardleys Arm sah man im Sommer die KZ-Nummer, auch wenn wir auf die welke Haut mit der blauen Tätowierung wenig blickten. Madames stärkste Waffe bei meiner Kriegserziehung war ihre Vorliebe für mich, die in Wirklichkeit mehr der deutschen Sprache und Kultur galt und weniger dem ganz bestimmten Vertreter beider, dem sie französische Grammatik und Vokabeln beibringen sollte.
Als ich mit zwölf Jahren anfing zu begreifen, wer Madame war und welches ihr Schicksal, fragte ich mich zum ersten Mal, wie Deutschland hatte tun können, was es tat, und warum es nicht mit aller Gewalt gehindert worden war ... von innen wie von außen. —
Dann unsere Konrektorin! Temperamentvoll, burschikos und außerhalb aller englischen Lady-Konventionen stehend: Chaya Capek. Sie war in Polen geboren, aber als jugendliche Zionistin noch nach Palästina gekommen, und sie hatte den ansteckenden, tatkräftigen Geist der Pioniergeneration bewahrt, auch als sie als Lehrerin und Veteranin des von ihr mit erkämpften Staates Israel in England wirkte.
Mrs.Capek mit dem spitzbübischen Runzelgesicht, die den lächerlichen Drill der englischen Schulordnung mit ihrem lauten Lachen ständig unterwanderte, weil sie für bloße Manieren gar nichts übrig hatte, ließ uns einen Hauch von wirklichem Soldatentum ahnen: Sie war so großzügig und unerschütterlich, weil sie echte Härte und militärische Disziplin bewiesen und ertragen hatte, in wahren Entscheidungsschlachten.
Wer dem Untergang des ältesten Volkes der Welt eigenhändig getrotzt hat, der hat offenbar Verständnis für rebellische Rotzlöffel! —
Und dann schließlich das israelische Ehepaar, das bei uns Hebräisch unterrichtete:
Sie waren im Lande Israel geboren, kurz vor und kurz nach der weltgeschichtlichen Stunde, in der es wieder die selbstständige Heimat des jüdischen Volkes geworden war. Beide sprachen nur gebrochen Englisch, und vor ihrer athletischen, stets wachsamen, angespannten Erscheinung stand man innerlich strammer.
Sie hatten beide an den Kriegen um Israel teilgenommen und er, Ari Lavsky war erst blutjung im Sieben-Tage-Krieg und dann in höherem Rang im Jom-Kippur-Krieg mehrfach ausgezeichnet worden.
Als Pädagoge war er allenfalls Gefreiter, aber wir spürten und wussten alle: Hier stand ein Held vor uns mit dem ganzen Nimbus der Tapfer- und Kaltblütigkeit und dem Siegel historischer Tat- und Todesbereitschaft. —
Ohne jede weitere Indoktrination hat die tagtägliche Begegnung mit solchen Lehrerinnen und Lehrern mir die Überzeugung vermittelt, dass der Rest des von meinem Volk ermordeten Israel Selbstmord beginge, wenn es sich nicht mit Waffengewalt verteidigte.
Für den, der sich wie meine Klassenkameraden und ich mit solchen Vorbildern identifizierte, waren die Armee und auch die Kriege Israels ja nicht nur fraglos notwendig, sondern ein Stück unserer inneren Zusammengehörigkeit, etwas, das wir mit Hochgefühl und verletzbarem Stolz als Teil unserer werdenden Persönlichkeit begriffen.
Ich habe den Krieg also zu bejahen gelernt: zu einer Zeit, in der überall der Pazifismus groß und notwendig wurde.
Ich bejahte die Kriege, die Israel tatsächlich gerettet hatten und künftig weiter bewahren sollten, während meine eigene Familie nie aufhörte, ihrerseits unter der Schuld und den Folgen des Krieges zu leiden und sich deshalb gegen das Wettrüsten des Kalten Krieges stellte, einschließlich meines bei der Luftwaffe der Bundeswehr ranghohen Onkels.
Was aber galt, ..... und was gilt?
Muss ich um Israels willen die Möglichkeit des Krieges befürworten, ... oder muss ich dem Gott Israels vertrauen, „der den Kriegen steuert in aller Welt, der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt“ (Ps4610)?
Kann ich vergessen, wie unvorstellbar jener Albtraum des Zweiten Weltkriegs war, der sich so tief in die Erinnerung meiner Familie eingebrannt hat, oder wie jeder der fürchterlichen Waffengänge danach – in Korea, Vietnam, Angola, am Golf, in Ruanda, auf dem Balkan – nach dem Ende aller Politik durch Waffen schrie?
Doch müsste ich dann ja auch vergessen können, wie schutzlos Jerusalem da läge, wenn seine Feinde es von den Golanhöhen her angreifen könnten, oder in welchem Wimpernschlag ganz Israel vernichtet sein würde, wenn die Mullahs von Teheran die heute denkbaren Zerstörungskräfte erreichten....... ——
Auf die Frage nach dem Frieden gibt es offenkundig keine einfache Antwort, wenn man sie in ihrem biblischen Realismus stellt.
Denn dass die mit der Bibel geweckte Friedensfrage – bei aller Liebe – nicht dadurch entschieden wird, dass ich meine Kinder möglichst maßvoll züchtige, meine Konfirmanden von der Hirnverbranntheit des Ballereispielens zu überzeugen versuche und insgesamt sehr zivil und wenig militärisch in Ton und Umgangsformen bin ... das dürfte auf der Hand liegen.
Gewiss: Ich kann mich moralisch an der Bergpredigt schadlos halten und überall nach Gewaltfreiheit rufen.
Aber ist Madame Eardley durch Pazifisten aus dem KZ befreit worden?
Hat etwa ein Friedensmarsch das britische Mandat über Palästina und damit die Schutzlosig-keit der Juden beendet?
Hätten die Israelis mit Sprechchören und Umzügen zu Gitarren-begleitung ihre Grenzen gegen den Vernichtungswillen ihrer Feinde verteidigen sollen?
Und sollte die Welt heute weiterhin guten Gewissens zusehen dürfen, wie das syrische Volk von seinem Tyrannen massakriert wird und dagegen bloß feige Sonntagsreden und meditative Kerzen einsetzen? .............
Wir werden wohl – notgedrungen – zustimmen, dass die Stunde der Posaunen von Jericho nicht jederzeit schlägt und dass die Wunder vom Schilfmeer und vom Kerker in Philippi (vgl. Apg.16), durch die Gott gegen die Gewalttätigen ohne menschliche Gegengewalt eingriff,
nicht in unsere Verfügung gestellt sind.
Wer darum auf die Hilflosigkeit der Schwachen und den Kreislauf der Gewalt in der Welt blickt und dann Tatenlosigkeit wählt, weil er die biblische Friedensethik damit zu befolgen meint, der macht sich schuldig.
Eine Friedensethik, die alles Kriegerische ausschließt, kennt die Bibel nämlich gar nicht.
Im Gegenteil:
Auf dem Grund des biblischen Glaubens, an den Weichenstellungen des Alten und Neuen Testaments geschehen nicht nur gewaltige Dinge, sondern sie geschehen auch mit Gewalt!
Da, wo die Kette und Spirale der Unterdrückung, der Feindschaft, des Quälens und des Tötens in der Welt zerbrochen werden, da herrscht Kampf.
Und da kommt es allen Ernstes auch zum Sieg: Zum Sieg über die ägyptischen Sklaventreiber, die Gottes Menschen gefangen halten, missbrauchen und zerstören; zum Sieg über den Frondienst und Zwang der Sünde und die Zerstörungswut des Todes.
Da wird am Schilfmeer die alte Welt der Ausbeutung und Unfreiheit, da wird auf Golgatha die alte Herrschaft des Bösen, der Angst und des Sterbens vernichtet.
Demnach aber führt Gott Krieg; ja .... kaum kann man es noch aussprechen ....Gott führt einen „heiligen Krieg“.
Und auch wenn dieser nach niederträchtigem Terror und blindwütigem Fanatismus stinkende Begriff zum Glück nicht zu den biblischen Hauptworten gehört, so ist die Sache doch ganz und gar zentral.
So zentral, dass einer der gelehrtesten und feinsinnigsten und liebenswürdigsten deutschen Alttestamentler des 20.Jahrhunderts im Jahr 1949 im fernen Wales vor den englischsprachigen Vertretern seiner Zunft aus aller Welt eine Abhandlung vorstellte, die man bei den westlichen Alliierten eigentlich aus deutscher Feder und Zunge nicht dulden konnte.
Sie hieß: „Der heilige Krieg im alten Israel“ und ihr Verfasser war Gerhard von Rad.
Veröffentlicht wurde sie schließlich auch noch in der neutralen Schweiz.
Doch in ihr zeigt Gerhard von Rad, dessen Weg und Werk eng mit der Bekennenden Kirche verknüpft waren, dass die Urerfahrung, von der Juden und Christen zu allen Zeiten zehren werden, der Heilige Krieg gegen die Feinde und Zerstörer der von Gott zur Freiheit berufenen Menschen ist.
Dieser Krieg hat allerdings ein ganz eigenes Kriegsrecht.
Es lautet in der Stunde der ursprünglichen Erlösungserfahrung, als Israel am Schilfmeer gerettet wurde: „Der HERR wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein.“ (2.Mose1414)
Nimmt man diese beiden Kernaussagen – das „Für Euch“ der Taten Gottes und das „Stille-Sein“ des Menschen – zusammen, dann wird deutlich, wie gerade in der akuten Gewaltfrage sich die echte Vertrauensfrage stellt.
Die größte Kraft – so erfährt Israel es nämlich ganz am Anfang – liegt nicht in Waffen, nicht in Ross, Wagen, Fleisch oder Erz; nein, die stärkste Kraft liegt im Ruhighalten (vgl.Jes.3015)! —
Auch in der späteren Geschichte Israels ist der militärische Ernstfall zum Ernstfall des Vertrauens geworden.
In der (2.)Chronik (2017) etwa hören wir die Ansprache eines Propheten an das in Stellung gebrachte judäische Heer am Vorabend der Schlacht: „Nicht ihr werdet kämpfen; tretet nur hin und steht und seht die Hilfe des HERRN, der mit euch ist, Juda und Jerusalem.“ —
Indem er dieses einzigartige, aber wahre Verständnis des „Heiligen Krieges“ als der Zusage der großen Taten Gottes, die geschichtlich weit mächtiger sind als menschlich-militärische Gewalt es sein kann, durch das Alte Testament hindurch verfolgt, kommt Gerhard von Rad zu einem Schluß, der uns unmittelbar betrifft:
Die biblische Bedeutung von „Glauben“ als völligem Vertrauen wurzelt nirgends sonst, als in den Kriegserfahrungen Israels.
In Erfahrungen des kriegerisch passiven Israel, wohlgemerkt!
Und so ist unser Glaube – gerade weil er auf die wirklichen, wirksamen, gewaltigen, welt-politischen und menschheitsgeschichtlichen Taten Gottes baut – doch von der Wurzel her Friedensglaube: Ein Glaube, der die stärksten menschlichen Mittel in ihrer verschleierten Ohnmacht erkennt, so wie jedermann die erbärmliche Schwäche und verbrecherische Angst hinter dem Unterdrückungsmittel einer Mauer erkennen muss.
Ein Glaube also, dem etwas verheißen ist, das weiter führt als alle Waffen je führen werden.
Aber eben auch ein Glaube, der weiß, dass er an einem wirklichen Kampf teilnimmt: am Kampf um die Menschen und das Leben.
Der Glaube hört, dass Gott diesen Kampf führt; aber der Mensch sieht, wie das Leben und die Welt bedroht, von Gewalt und Hass beherrscht und von Mord und Krieg überzogen sind.
Und in dieser Not der Wirklichkeit ist der Glaube nicht immer reif genug, nicht immer groß genug für die Tat, die ihm im Heiligen Krieg aufgetragen wäre:
Zum Vertrauen fehlen ihm oft die übermenschliche Kraft und der heilige Mut.
Wenn er aber nur halbstark ist – der Glaube – ... so wie ich als Halbstarker die Notwendigkeit des Krieges erkannt zu haben meinte, dann bleiben ihm nur die ungenügenden Mittel, mit denen Menschen Verantwortung für das Leben übernehmen und sich gegen den Tod wehren.
Solange wir also aus Vernunftgründen, aus Realitätssinn oder moralischer Notwendigkeit noch Gewalt billigen oder anwenden müssen, so lange sind wir noch weit vom Berg Gottes und Seinem Haus entfernt.
Solange sind wir noch ganz im Vorübergehenden, im Vorletzten und Halbverkehrten.
Solange sind wir noch nicht einmal dort, wo wir die Friedensverheißung, die Jesaja empfing, auch nur anfangen könnten, zu deuten oder zu predigen.
Noch können wir sie nur hören.
Doch nicht etwa als politische Utopie, über die sich schon viele müdegelächelt haben: ..... obwohl sie die DDR besiegte!
Nein, das Licht des HERRN, das Schwerter zu Pflugscharen schmelzen kann, ist der Glaube.
Unserm Glauben also ist verheißen, was keine Politik und kein Krieg schaffen werden: Der Weltfrieden!
Ach, ...... dass wir doch auf unseren Glauben hofften und trauten!
Amen
6.n.Trin., 31.07.2011, 5.Mose 7,6-12, Stadtkirche & Jonakirche, Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 31.VII.2011 - 6.n.Trinitatis
5.Mose 7, 6-12
Liebe Gemeinde!
Am schlechtesten bin ich als Pfarrer, wenn ich taufe.
Denn trotz der vielen, vielen Übung schaffe ich es bis heute nicht, die richtigen Schwerpunkte zu setzen.
Jeder von uns hier, wohl eigentlich auch jeder Gast, der zu einem Taufgottesdienst kommt, weiß ja wer und was die Hauptsache bei der Taufe ist, ...natürlich derjenige, in dessen Auftrag wir taufen und dessen Name durch die Taufe zu unserer Bezeichnung wird: Christus ist der Mittelpunkt jener Handlung, aus der die Christen hervorgehen.
Aber selbst wenn ich mich bemühe, mir diese schlichte Wahrheit fest einzuprägen, geraten mir die Dinge beim Taufen selbst immer wieder durcheinander, und meistens entsteht wohl der Eindruck, hier werde als Hauptperson vor allem der Täufling gefeiert, bei dessen Begrüßung das Wort und der Name Gottes schmückendes Beiwerk darstellen.
Ich könnte mich angesichts dieses kapitalen Fehlers vielleicht darauf berufen, es sei meine Kinderliebe, die zumal bei Säuglingstaufen mit mir durchgeht, der ich schließlich aus Warten und Erfahrung weiß, wie wunderbar und welches Geschenk Kinder sind.
Aber dann wäre ich doch immer noch ein Bote, der die ihm aufgetragene Botschaft unterschlägt, weil er so nett und einvernehmlich mit deren Empfängern ins Plaudern kommt.
Oder ich müsste es – nach dem, was wir am heutigen Tauferinnerungssonntag hören – noch viel deutlicher bekennen: Ich bin in Wirklichkeit nicht zu abgelenkt oder zu leutselig, um beim Taufen auf den eigentlichen Punkt zu kommen, .... sondern ich bin schlicht zu feige.
Ich scheue davor zurück, zu sagen, was Mose im Namen des HERRN dem Volk Israel zu sagen hat:
„Liebes Volk des Bundes, liebe Gemeinde des Christus, lieber Täufling! Meint nicht, an Euch sei etwas Besonderes! Ihr seid miteinander eher unterm Durchschnitt.
Aber zum Glück geht es darum auch überhaupt nicht. Sondern es geht einzig und allein um Gottes Liebe, zu der er einfach und endgültig entschlossen ist, ... auch ohne Euch, ja, sogar trotz und gegen Euch. —
Also, liebe Kinder Israel! Hört auf, von Eurer Größe zu träumen, als wäret Ihr grundsätzlich überlegen im Vergleich zu den heidnischen Völkern. —
Und ihr lieben Christen! Untersteht Euch zu behaupten, Euer Christentum oder Euer Abendland seien an sich wertvoll. Ihr betrügt Euch nur selbst, wenn Ihr mit christlichen Werten spekuliert; wo hätten Eure Geschichte und Kultur denn wirklich etwas wertvolleres hervorgebracht als andere? Stehen nicht überall die Zeugen gegen Euch auf und erinnern an Gewalt, Blutvergießen und sträflichen Dünkel im Zeichen des Christentums? —
Und dann ihr Taufeltern! Es ist ein verzeihlicher, aber trotz allem eben doch ein Irrtum, wenn Ihr glaubt, Euer Kind sei ein ganz besonderes Glanz- und Meisterstück Gottes.
Er hat Euer Kind nicht sorgfältiger als jedes andere bereitet und geschaffen und Er liebt es weder mehr noch weniger als alle seine Geschöpfe. Die Welt hebt nicht an und sie erreicht auch keinen Höhepunkt mit Eurem kleinen Glück. Und so nimmt Gott Euer Kind auch nicht deshalb in der Taufe auf als Sein eigenes, weil Ihm so einzigartig viel dran läge, sondern weil Er uns alle so gleichmäßig grundlos liebt.“ ———
Das wäre eigentlich der notwendige Beginn jeder Taufe, um dem Missverständnis zu begegnen, als sei der sichtbare Mittelpunkt in Gestalt des Täuflings hier auch der ausschlaggebende Anlass für Gottes Zuwendung und Segen.
Die Gefahr aber ist groß, dass diese richtige Einleitung, in der die Maßstäbe fort von unserer menschlichen Selbstüberschätzung hin zur göttlichen Freiheit gelenkt werden, dennoch miss- und unverständlich bliebe.
Denn zunächst klingt das in unseren Ohren ja nur danach, als werde auf ein triviales Zuviel an Zuwendung zum einzelnen Menschen nun mit einem streng dogmatischen Zuwenig geantwortet.
Damit der Mensch sich nicht zu gebauchpinselt fühle, wird ihm in Gottes Namen erste einmal ein Dämpfer verpasst:
„Israel, in Wirklichkeit bist Du bedeutungslos winzig! Kirche, Du hast in Wahrheit kläglich versagt! Kind, Du bist nur ein ganz gewöhnliches Hosenscheißerle!“
Doch solch dummes, grobes Stutzen und Runterputzen aus der pädagogischen Hausapotheke der Vergangenheit ist nicht der Grund dafür, dass man die Anziehungs- und Ausstrahlungskraft des Menschen vor Gott nicht überhöhen darf.
Es geht auch im Negativen nicht darum, nun viel Gewese um unsereinen und seine Bedeutungslosigkeit zu machen. Sondern es geht negativ wie positiv darum, dass wir erfahren und erkennen, wie groß ... und frei ... und herrlich Gott ist!
Wenn wir uns nämlich zu nichtswürdig und erbärmlich vor Ihm machen, dann bliebe Ihm ja auch nicht anderes, als sich unsrer zu erbarmen.
Genauso aber schmälern wir die Freiheit Gottes, wenn wir uns den Menschen zu bedeutend vorstellen: So als habe das heilige Volk Israel Gott ins Auge springen müssen oder als sei die Gemeinschaft der Christen für Gott unersetzlich oder als werde Gott angesichts unserer uns entzückenden Säuglinge so schwach, dass Er das Taufwasser unmöglich halten könne ......
Nein, Gott ist vollständig unabhängig von dem, was uns fesselt und bindet.
Seine Liebe ist weder Antwort auf einen Reiz, noch wird sie ausgelöst durch ein Geschenk und sie verdankt sich auch nicht dem Überspringen eines Funkens.
Seine Liebe vergilt weder Schönheit noch Güte mit Bewunderung, sie wird durch Vertrautheit nicht vertieft, sie wankt nicht unter Versuchungen und wächst nicht durch lange Treue.
Gottes Liebe ist genauso ohne Anlass wie ohne Ende.
Sie ist völlig unbeeinflusst, unbestechlich und ungefragt.
Sie ist der erste und letzte und grenzenlos freie Ausdruck Seines Willens.
Gott liebt, weil Er will.
Seine Liebe ist Sein Wille. ——
Gewiss, das klingt in unseren Ohren widersprüchlich.
Wir verbinden das Lieben mit dem Gefühl; wir behaupten einen Widerspruch zwischen den unbedachten, ungestümen Äußerungen der Leidenschaft, als die wir uns die Liebe gerne ausmalen, und dem absichtsvollen, beherrschten Handeln aus Vernunft.
Absichtlich lieben zu wollen, scheint uns fast beängstigend; gewollte Liebe wirkt auf uns wie eine Form des Machtanspruchs, bewusstes Lieben beargwöhnen wir als ein Zwangsmittel.
Dabei verdrängen wir jedoch, wie zwanghaft uns die Phantasie von der großen Liebesfreiheit gemacht hat: Sie hat dazu geführt, dass Menschen sich dauerhaft und wie besessen um die Frage drehen müssen, ob ihre Anziehungs- und Verführungskraft denn wohl noch ausreiche, oder ob die von ihnen erregte Liebe nicht längst verflogen und entzogen sein könnte.
Welch ein Glück ist es angesichts solcher Unsicherheiten also, dass Gott keinen von uns liebt, weil wir ihn bezaubert, berauscht oder erobert hätten.
Welch eine Befreiung ist es, zu hören: „Gott liebt dich nicht deinetwegen.“
Die Wahrheit ist nämlich und bleibt: Gott liebt Seinetwegen.
Diese Botschaft aber, dass Gott nicht liebt, weil jemand „der Richtige“ für Ihn ist, sondern dass Er liebt, weil das Lieben für Ihn – Gott – das Richtige ist, ...diese Botschaft also vom unabhängigen Entschluss Gottes zu lieben hat eine weitere Folge:
Weil Gottes Liebe nicht irgendwelchen geliebten Menschen geschuldet ist, sondern bloß Ihm selber allein, darum ist sie von Grund und Wesen her – anders als menschliche Liebe – auch die Treue selbst. Gott hat Sich selbst in Seiner vollkommenen Freiheit nur zu diesem Einen verpflichtet: Er ist der Liebende.
Und weil es diese selbstverpflichtende Liebe ist, die zur Erwählung des kleinen Volkes Israel inmitten der prachtvollen und kraftstrotzenden und selbstgewissen Nationen der Erde geführt hat, darum bleibt sie unangetastet in Kraft.
Gott hat den grundlos berufenen und geliebten Vätern Israels einen Eid geschworen.
Und dieser Eid allein ist verbindlich.
Er ist so verbindlich, dass Israel schon unter Mose murren, unter den Richtern in Anarchie versinken und unter David schließlich größenwahnsinnig werden konnte; Israel konnte buhlen um die Gunst fremder Götter und alle Zeichen und Formen seiner Aussonderung leugnen; es konnte Propheten mundtot machen und sich in jeder Hinsicht assimilieren, bis es eine gewalt-tätige, großsprecherische und kleingläubige Politik trieb wie jedes Volk der Welt; es konnte in alledem sich selber schaden und verderben – aber die Liebe Gottes konnte es nicht zerstören!
Denn liebt Gott eben nicht das fromme Volk Israel, sonder das erwählte.
Und Gott liebt es nicht aufgrund von Israels Taten und Leben, sondern als der Grund Israels.
Weil aber nun Gott seinerseits eben nicht auf Entsprechungen und Erwiderungen Seiner Liebe angewiesen ist, bleibt Er auch frei, das widerspenstige, abweisende und verwirrte Volk Seiner Wahl zu lieben.
Jedoch – und das ist das andere, das ich (und nicht nur ich alleine) oft aus Feigheit nicht predige – obschon Gott bei Seiner Liebe zu Israel bleibt, auch wenn es schuldig an Ihm wird, so müssen wir trotzdem erkennen, dass die von Ihm Geliebten zwar grund-, aber nicht folgenlos geliebt werden. Sofern sie nämlich die ihnen geltende unwandelbare Liebe ausschlagen, bringen sie sich selbst um den Grund ihres Daseins.
Israel ist ja nur da, weil Gott es liebt, und es wird nicht etwa geliebt, weil es da ist.
Wenn es dieser Grundlage seines Daseins aber durch Vergessen oder Zuwiderhandeln widerspricht, dann hebt und löst es sich selbst auf, denn im Falle der so Geliebten ist Widerspruch gegen die erzeugende Liebe zugleich Widerspruch gegen das eigene Leben. —
Wie man also an Israel erfahren kann, kann Gottes endlose Liebe einerseits zu unserem Leben und andererseits zu unserem Tod führen:
Wer aus ihr hervorgeht, kann nur in ihr sein ..... oder gar nicht.
Doch darum ist der Satz in beiden Richtungen so wichtig, den wir eben bedacht haben:
Gottes Liebe ist Sein Wille.
Das bedeutet aber auch: Gottes Wille ist Seine Liebe.
Wer von Gottes Liebe weiß, der hat an Seinem Willen, an Seinen Geboten und Satzungen daher den sichersten Schutz und Wegweiser, um sich selbst als ein geliebtes Kind Gottes zu finden und nicht zu verfehlen
Denn wieder gilt ein Satz, den wir gewöhnlich umgekehrt auffassen: Gott lässt uns aus Liebe Seinen Willen wissen, und nicht: Er liebt uns, weil wir Seinen Willen wüssten.
Und das ist das Dritte, was ich aus Halbherzigkeit beim Taufen oft unterschlage. ——
Zusammen lauten die drei von mir zu wenig gepredigten Grundwahrheiten für das Volk Israel und in Erweiterung des Bundes auch für die Getauften also:
Du bist an sich nicht so wichtig.
Gott ist wichtig, weil Er Dich rein um Seinetwillen liebt.
Doch diese grundlose Liebe um Seinetwillen hat für Dich Folgen: Seinen Willen!
Womöglich aber bleibt dieser Dreiklang von der Freiheit Gottes, die zugleich unsere Erwählung und unsere Verpflichtung bedeutet, aber auch deshalb immer so schwach, weil es beim Bund mit Israel und beim Taufbund um etwas ganz Praktisches geht und nicht um schön anzuhörende Hinweise.
Dann aber sollten wir den heutigen Sonntag des Taufgedächtnisses nutzen, um schließlich ganz praktisch festzuhalten, was sonst allzu unklar bleibt, nämlich dass die gelebte Taufe zu drei Dingen führt:
Zur Bescheidenheit: „Ich bin nicht um meintewillen getauft.“
Zur Dankbarkeit: „So wie Gott Israel liebt, weil Er die Väter erwählte, so ist Er entschieden, auch mich grundlos zu lieben, weil Seine Wahl durch Jesus allen gilt.“
Und zum Gehorsam: „Wenn ich höre, wie ich aus grundloser Liebe geliebt werde, dann kann für mich die Folge nur grenzenloses Lieben sein.“ —
Oder mit den Worten, die Israel und die Christen vollständig verbinden (1.Joh419):
„Lasset uns lieben, denn ER hat uns zuerst geliebt!“
Amen!
5.n.Trin. 24.07.2011 Johannes 1,35-42 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona 24.VII.2011 5.n.Trinitatis
Johannes 1, 35-42
Liebe Gemeinde!
Der Himmel hat schwarze Löcher, die unsichtbar sind und unerklärlich; astrophysikalisch aber stellen sie des Pudels Kern dar.
In diesen schwarzen Löchern des Weltalls scheinen der Wissenschaft Zusammenbruch und Entstehung aller Materie greifbar zu werden, obwohl sie weder Licht noch messbare Masse erkennen lassen.
Raum und Zeit und alles, was sonst Aufschluss ergibt, sind in den schwarzen Löchern nämlich bis zum Verschwinden zusammengezogen, so dass man nicht mehr über sie zu wissen und zu sagen vermag, als dass in diesen geheimnisvollen Mittelpunkten von Galaxien allesentscheidende Kräfte wirken müssen.
Die schwarzen Löcher des Himmels sind also reale Mysterien oder phantastische Tatsachen.
Ein solches mysteriöses Zentrum, in dem der Ursprung und die Wahrheit aller Dinge verborgen vorhanden sind, umkreisen wir auch heute.
Es ist für uns unerforschlich wie ein schwarzes Loch.
Weder als Gegenstand noch als Erscheinung enthüllt es sich uns.
Aber es ist da, und in ihm ist alles vorhanden, obwohl wir nur die Ereignisse, die sich drumherum begeben, und nicht das Geheimnis selbst ergründen können. —
Von dieser unerforschten Mitte her hat nun aber Johannes ganz bewusst den Beginn der Gemeinde entworfen, wenn er die ersten Begegnungen und Erfahrungen der Jünger mit Jesus so schildert, dass sie sich wie ein Rahmen um eine leere Leinwand legen:
Auf der einen Seite sehen wir die zwei ursprünglich baptistischen Männer – also die Schüler des Täufers –, die von ihrem Meister auf Jesus hingewiesen werden: „Schaut, da geht das Lamm Gottes!“.
Und auf der anderen Seite werben dieselben, inzwischen nicht mehr baptistischen, sondern jetzt messianischen Jünger einen dritten, Simon, den Bruder des Andreas an, der von Jesus auch tatsächlich mit einem neuen Namen in die neue Gemeinschaft berufen wird.
Erste Neugierde und erste Berufung.
Erwachendes Interesse und werdende Institution.
So oder ähnlich wird jede Bewegung entstanden sein, so oder ähnlich wird jede Körperschaft, jeder x-beliebige Verein gegründet.
Doch das eigentliche Schlüsselerlebnis, das zwischen der Vorbereitung durch den Täufer und dem Eintritt in die persönliche Beziehung zu Jesus liegt, fehlt in diesem Bericht geradezu schmerzhaft. ............
Was ist wohl passiert zwischen dem Morgenspaziergang, bei dem Jesus der Täufergemeinde über den Weg lief und dem nächsten Tag, an dem Simons Dasein durch die Erfahrung seines Bruders Andreas für immer verändert wurde?
Was geschah an diesem Nachmittag und in dieser Nacht, dass aus spontanem Erkenntnisdrang Überzeugung wurde?
Wohin sind die beiden Johannesjünger gekommen, und was haben sie dort nur gesehen?
Denn dass sie „kamen und sahen“, betont der Evangelist überdeutlich.
Es ist fast schon eine Form der Folter für die Neugierigen und Anteilnehmenden, was Johannes da mit uns macht, wenn er die Urerfahrung der allerersten Jesusgemeinschaft einerseits so bewusst bezeichnet und andererseits so ganz und gar im Dunkeln lässt.
Denn wenn irgendetwas, dann geht uns doch genau diese Stunde Null an, in der der neue Himmelskörper Jesus seine ersten Trabanten anzog auf einer Bahn, auf der auch wir Heutigen im Schweif der vielen tausend Begleiter seiner Anziehungskraft folgen.
Es ist doch von entscheidendem Interesse für uns, ob der Zündfunke von damals auch jetzt noch verfängt, ob die Wucht, aus der die neue Konstellation – Jesus und seine Nachfolger – entstand, auch heute noch die selbe mitreißende und bindende Kraft besitzt.
Aber selbst das Teleskop des Evangelisten Johannes dringt nicht hinein in dieses Geheimnis.
Es bleibt ein schwarzes Loch.
Und wie in der Relativitätstheorie, aus der der Begriff stammt, haben wir um dieses Mysterium herum nur den „Ereignishorizont“, nur gewisse Punkte, die uns ahnen lassen, welche schöpferische Energie in der verborgenen Mitte dieser geschichtlichen Erfahrung wirksam ist.
Den unmittelbaren Rand des geheimen Glutkerns bildet die unglaublich direkte Antwort der beiden Täuferjünger auf Jesu Frage, was sie denn suchen.
Sie sagen es ihm nämlich so plump und geradeheraus wie möglich:
„Deine Bude wollen wir sehen. Zeig’ uns doch deine Bleibe.“
Was entfernt wie die burschikose Begrüßung unter Erstsemestern klingt, ist in Wirklichkeit ein schicksalhafter Wunsch, der tatsächlich buchstäblich so wie in der schnodderigen Sprache der Studenten lautet: „Zeig’ mal deine Bleibe.“
Das kommt daher, dass die Anhänger des Täufers von ihrem Meister darauf vorbereitet worden waren, der Messias werde bald kommen, jedoch nicht in der Gestalt der Macht, sondern ohnmächtig und ausgeliefert wie Schlachtvieh.
Als solches hatte Johannes den Kommenden angekündigt, als ein Lamm, das geopfert werden und dadurch die Schuldlast der Welt in seine Vernichtung mitnehmen sollte.
Diesem Lamm – so verstanden die Johannesjünger es – war es bestimmt, für menschliche Vergehen zu vergehen. Es sollte stellvertretend ausgelöscht werden, um mit seinem Verschwinden auch die Sünde verschwinden zu machen.
Doch nun stand dieses dem Untergang und der Vernichtung geweihte Instrument des Rechts und Reiches Gottes in lebendiger Menschengestalt vor ihnen.
Und Andreas und der andere Täuferjünger, die gewartet und gehofft hatten auf die Befreiung aus der Sündenherrschaft und das Ende der Trennung zwischen dem gerechten Gott und der menschlichen Ungerechtigkeit, .... Andreas und der andere also hörten und verstanden es plötzlich nicht mehr, was wir heute noch, was wir jetzt singen und von Jesus bekennen:
Dass er das Gotteslamm ist, das ertragen und endgültig fortnehmen soll, was sonst niemand übernehmen und aushalten könnte.
eg 190.4 „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.“
Als der, der Gottes Lamm sein sollte, plötzlich vor ihnen stand, erwachte also die Frage in den beiden Täuferjüngern, ob er tatsächlich nur einen Schlusspunkt darstelle, ob er nur für die letzten Dinge und das Ende der zerstörerischen Macht der Sünde eine Bedeutung haben solle?
Oder hat dieser, der die tödlichen Seiten des Menschseins beseitigen wird, eine Zukunft?
Schließt er nur das ab, was vergehen muss, oder öffnen sich mit ihm auch neue Horizonte?
Wird er einen dauerhaften Platz in der Geschichte der Welt behaupten?
Ist bei ihm und durch ihn also auch Bleibendes zu finden?? ——
Und Gottes Lamm, der lebendige Mensch Jesus lädt die zwei Neugierigen mit ihrer bis heute unvermindert berechtigten Frage ein, zu kommen und zu sehen, was und wie Bleibendes bei ihm zu finden ist.
Er zeigt ihnen sein Bleiben!
Und sie kamen und sahen’s!
Doch was sahen sie? Wo führte er sie hin? Welches Geheimnis ließ er sie entdecken?
— Da ist es wieder, das schwarze Loch!
Er muss sie ja an einen Ort und in ein Geschehen geholt haben, durch die sie verstanden und erfuhren, dass mit ihm nicht etwa ein Abschluß, sondern das Kommende, Dauernde, Ewige erschienen ist.
Sie müssen gesehen haben, dass Jesus, den sie im Vorübergehen trafen, nicht im Ungewissen und Vergänglichen, sondern im Unendlichen seinen Ort hat und Raum bietet.
Andreas und der namenlose Zweite müssen also im Herzen des Mysteriums, im Kern der Materie, im Mittelpunkt des Alls mit ihm gewesen sein, wo Zeit und Raum verschmelzen! —
Wie ist das aber?
Macht es uns nun weißglühend vor Ärger, dass wir ihnen dabei nicht über die Schulter schauen dürfen?
Oder wird das lebendige, kraftvolle Geheimnis der Person Jesu nicht gerade dadurch gewahrt, dass kein Mensch sich als dessen Gewährsmann aufspielen kann?
Niemand kann es ja so schildern, als sei er auf diesem Gebiet die Autorität, der andere zu folgen hätten, als sei seine Fachkenntnis genug, um darauf Meinungen aus zweiter Hand oder ein allgemeines Wissen zu gründen.
Die Begegnung mit Jesus und die Offenbarung, dass und wie er der Anfang und das Ziel und der Mittelpunkt aller Dinge bleibt, ... diese entscheidenden Erfahrungen, die Andreas und dem anderen ersten Jünger widerfuhren, ... können nicht Gegenstand eines Glaubenskurses werden und taugen nicht zum Inhalt eines Schnupperangebotes oder zum verbindlichen Stoff einer Zulassungsprüfung für Christen.
Sie sind grundsätzlich nicht wiederholbar und man kann sie nicht wiedergeben.
Das hat der so bewusst namenlose Jünger, der die Sternstunde in Jesu Bleibe mit Andreas teilte und hinter dem sich höchst wahrscheinlich doch niemand anderer als der Apostel und Evangelist Johannes selber verbirgt, auch gar nicht erst versucht.
Stattdessen hat er an späterer Stelle seines Evangeliums das Stichwort seiner Urfrage an Jesus wiederholt einfließen lassen: Die Antwort, wie und was und wo etwas „Bleibendes“ zu finden sei, durchzieht nämlich die Verkündigung Jesu bei Johannes.
Bis wir schließlich ahnen, was damals in der geheimnisvollen Entscheidungsnacht den allerersten Jüngern aufging: Nämlich, dass sie von Jesus wohl gar nicht an einen besonderen Ort geführt wurden, dass sie keine Asketenzelle und keine heilige Grotte besichtigten, sondern nur dass sie durch ihn schon damals erfuhren, dass seines Vaters Haus viele Bleiben hat.
Da kehrt es nämlich wieder (vgl.Joh142!) – jenes Wort (μονη), mit dem seine ersten Anhänger dem Geheimnis Jesu auf den Grund gehen wollten (που μενεις;):
„Wo gehörst Du hin? Welches ist Dein Platz? Wo bist Du zuhause und wohin führt Du uns?“
- Ich zeige Euch einen Ort mit so vielen „Bleiben“ wie es Menschen gibt, hat Jesus sie wissen lassen.
- Ich mache die Tür auf, durch die jeder heimfinden soll.
- Ja, Ich bin das Obdach der Menschheit selbst; wo Ich bin, sind Ursprung und Ziel; wer Mich findet, hat in Zeit und Ewigkeit seinen Platz gefunden.
- Wer mich kennt, der weiß, wo er bleiben kann und wird.
Bleibt in meinen Worten (vgl.831) lädt Jesus ja ein;
bleibt in meiner Liebe (vgl.159);
bleibt in mir (vgl.154)!
Das ist die Urkraft, die unsichtbar und dennoch unwiderleglich in Jesus selbst wirkt; das ist die unendliche Energie, die man nicht berechnen und nicht vorführen kann, die aber doch alles zusammenhält und um deren geheimnisvolle Mitte unser Leben kreist und zu kreisen nie aufhören wird:
Jesus ist selbst der Bleibende und das Bleiben!
Und in Ihm, durch Ihn und mit Ihm bleiben auch wir.
Weil das Lamm Gottes nicht nur das Sterbenmüssen der Sterblichen teilt, sondern weil es im Tod dem Tod den Tod bringt und damit der Endlichkeit das Ende, darum bringt es den Lebenden das Leben; und selbst wo es nur vorübergeht, ruft es ins Unvergänglich und hilft den Vergänglichen zu bleiben.
Dieses Lamm, das symbolisch das Vergehen der Sünde darstellt, bringt die Sünder also in Sicherheit, es schenkt ihnen unumstößliche Dauer.
Wer Ihm begegnet und seinem Kraftfeld, der wird also zum „Felsen“, wie der neue Name nicht nur des Simon, sondern aller derer heißt, die von Jesus angezogen werden und in deren Mitte Er lebt.
Denn niemand anderes kann uns das mit seinen Augen sehen lassen oder mit seiner Weisheit beweisen, ... darauf kann nur jeder von uns selber felsenfest gründen und ruhen:
Wer Jesus kennt und von ihm gekannt wird, bleibt!
Das Lamm macht uns fest!
Amen.
4.S.n.Tr. 17.Juli 2011 200 Jahre Stadtkirche Lukas 13,18f Stadtkirche Superintendentin Henrike Tetz
200 Jahre Stadtkirche Kaiserswerth
Predigt über Lukas 13, 18.f
Liebe Gemeinde,
die kürzeste Entfernung zwischen einem Menschen und der Wahrheit ist eine Geschichte (Anthony de Mello).
Die Geschichte ist kurz erzählt. 1777 erhält die Handelsgesellschaft Preyers und Petersen aus Krefeld die Erlaubnis in Kaiserswerth eine Seidenweberei zu betreiben. Diese Erlaubnis ist verbunden mit dem Privileg der freien Religionsausübung. Schnell organisieren sich die Familien, die sich mit der Weberei in Kaiserswerth ansiedeln, zu Gemeinden, genauer zu einer reformierten und zu einer lutherischen Gemeinde. Mit Spendenmitteln kann die reformierte Gemeinde ein Pfarrhaus und ein Schulhaus bauen. Zwischen den Bedrängnissen der napoleonischen Kriege, die auch Kaiserswerth nicht ungeschoren lassen, beschließen die nun vielleicht 15 reformierten und lutherischen Familien im Jahr 1805 gemeinsam eine Kirche zu bauen. Der Landesherr Max von Bayern erlaubt, Teile der Festung abzureißen und die Steine zum Bau der Kirche zu verwenden. Dach, Türen und Fenster sowie die Glocken werden aus einer säkularisierten Abtei nach Kaiserswerth gebracht. 1811 wird die Kirche, die zwischen Pfarrhaus und Schulhaus sitzt, fertig gestellt. Am 28. Juli findet dort der erste gemeinsame Gottesdienst der beiden Gemeinden statt.
Soweit in Kürze die Geschichte, die Historie. Aber dies ist nicht die ganze Wahrheit. Die Geschichte erhält ihre Tiefenschärfe nur durch Geschichten, die Menschen in ihrer Zeit bewegt haben. Geschichten, die auf eine Wahrheit verweisen, die tiefer ist als die Wahrheit an der Oberfläche. Eine solche Geschichte ist von Beginn an mit dem Bau der Stadtkirche und der Erbauung der Gemeinde verbunden worden. Es ist die Geschichte vom Senfkorn.
Der Evangelist Lukas (13, 18f.) überliefert diese Geschichte so:
Jesus sprach aber: Wem gleicht das Reich Gottes, und womit soll ich’s vergleichen? Es gleicht einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und in seinen Garten säte; und es wuchs und wurde ein Baum, und die Vögel des Himmels wohnten in seinen Zweigen.
Schön, passend und wahr, mögen Sie vielleicht denken, aus einem kleinen Anfang wächst etwas Großes – eine angemessene Geschichte für das heutige 200jährige Jubiläum der Stadtkirche Kaiserswerth. Eine Geschichte – oft gehört. Fast schon Teil einer Jubiläumsroutine. Macht sie uns noch wach?
Eins zumindest stimmt, liebe Gemeinde: diese Geschichte stimmt nicht.
Oder haben Sie schon einmal einen Menschen gesehen, der ein Senfkorn sät? Säen hat etwas mit „aus dem Vollen schöpfen“ zu tun, mit Großzügigkeit und Dynamik. Aber Jesus erzählt hier, wie jemand eine unverhältnismäßige Aktivität entwickelt um ein winziges Samenkorn zu nehmen und in seinen Garten zu werfen.
Was pflanzen Sie in ihren Garten? Vielleicht ein paar schöne Ziersträucher, Rosen, Rhododendron, Hibiskus. Einige Pflanzen, die die Beete zu unterschiedlichen Jahreszeiten mit Farbe beleben? Vielleicht ein paar Nutzpflanzen: Erdbeeren, Tomaten, Kürbis? Aber sicherlich nicht ein schnell wachsendes Unkraut, das sich tief verwurzelt und – hat es erst einmal Fuß gefasst - nicht mehr wegzubekommen ist. Ein Unkraut, das dazu auch noch bis zu 2 Meter hoch wird und anderen Pflanzen das Licht nimmt. Der Mensch in Jesu Geschichte tut aber genau das. Er bringt Unkraut in seinen Garten. Und dazu noch Unordnung. Denn nach rabbinischen Regeln der damaligen Zeit was das Pflanzen von Senf im Garten verboten, Senfpflanzen gehörten auf den Acker, das war ihr schöpfungsgemäß bestimmter Ort. Nicht der Garten. Doch da wächst es nun, das Unkraut und wird zu einem Baum, erzählt Jesus. Hier übertreibt er klar, es geht doch eher um eine Staude mit biegsamen Zweigen. Und nun stellen Sie sich eine Staude mit biegsamen Zweigen vor, auf denen die Vögel des Himmels sitzen. Wie das aussehen würde, können Sie sich ausmalen.
Liebe Gemeinde, die Geschichte vom Senfkorn stimmt nicht, ihr Anfang stimmt nicht, ihr Ende stimmt nicht und sie ist doch wahr. Ihre Wahrheit liegt nicht an der Oberfläche, ihre Wahrheit ist subversiv. Diese Geschichte ist eine durch und durch subversive Geschichte. Sie verweist auf ein Weltbild, das sie zur gleichen Zeit freudig demontiert. Jesu Eingangsfrage „Wem gleicht das Reich Gottes“ setzt uns auf die Spur. Seinen zeitgenössischen Hörerinnen und Hörern wird bei dieser Frage das Bild des Weltbaumes in den Sinn gekommen sein. Der Weltbaum mit den in seinen Zweigen nistenden Vögeln und in seinem Schatten wohnenden Tieren war im alten Orient Symbol für einen König und seine Herrschaft über viele Völker, letztlich für seinen Herrschaftsanspruch über die Welt. In bildlichen Darstellungen war dieser Weltbaum oft als imperiale Zeder abgebildet. Dieser imperialen Zeder setzt Jesus nun die Senfstaude als Symbol für die Herrschaft Gottes entgegen. Dies „überraschend“ zu nennen wäre euphemistisch. Hier wird ein Weltbild aus den Angeln gehoben. Und ein schrilles Gegenbild entworfen, wie die Herrschaft Gottes sich inmitten der vielen Herrschaftsansprüche und Weltbilder durchsetzt. Nicht erhaben, sondern wie Unkraut, aber durchsetzungsstark und zäh, tief verwurzelt und nicht auszureißen. Das Reich Gottes wird diese Welt nicht wieder los.
Die kürzeste Entfernung zwischen einem Menschen und der Wahrheit ist eine Geschichte. Die Geschichte vom Senfkorn will diese Entfernung besonders kurz halten, sie erzählt auf ganz kurzem Weg, durch Bilder und Assoziationen. Trotz der zeitlichen Entfernung von 2000 Jahren ist es ihr vielleicht auch bei Ihnen gelungen, zumindest an einem Punkt. Waren Sie schon einmal im Düsseldorfer Senfmuseum? Oder werden in Ihrer Familie leichte Krankheiten erst einmal mit bewährten Hausmitteln bekämpft? Dann kennen Sie vielleicht das berühmte Senfpflaster gegen Muskelschmerzen, Rheuma und Verrenkungen oder den Senfwickel gegen Erkältungen. Schon bei den Römern wurde Senf als Mittel gegen Läuse und Haarausfall eingesetzt. Und Pythagoras behauptete gar, Senf schärfe den Verstand. Dass Jesus als Gegensymbol zur Weltzeder die Senfstaude setzt, hat nicht nur mit der Kleinheit des Samenkorns und der Unscheinbarkeit der Staude zu tun, sondern auch damit, dass Senf schon damals als wichtige, stärkende Heilpflanze galt. Eine Heilpflanze wohlgemerkt, die nicht in einem ordnungsgemäß angelegten Garten gepflanzt werden durfte. Das Reich Gottes wirkt also wie eine verbotene Pflanze, wie ein verbotener Baum im Garten der Welt und bringt doch Heil. Das Reich Gottes beginnt in der Welt als ein Stück wiedergeschenkter, heilbringender Paradiesgarten, getarnt als Unkraut. Wenn das nicht subversiv ist.
Diese subversive Geschichte vom Senfkorn ist durch die Zeiten hindurch mit Ihrer Stadtkirche und mit dem Leben Ihrer Gemeinde verbunden worden. Und die Entstehungsgesichte Ihrer Kirche hat Teil an der subversiven Botschaft vom Reich Gottes. So besteht die Bausubstanz der alten Stadtkirche aus Steinen des früheren Pulverturms, also aus einem Teil der ehemaligen, auch für militärische Ziele benutzten Festungsanlage. Der Turm, weithin sichtbares Zeichen für eine weltliche Macht, die auf Geld und militärische Stärke vertraut, wird abgerissen und gibt das Grundmaterial dieser Kirche, dem Versammlungsort der evangelischen Christen in Kaiserswerth. Verhältnisse ändern sich und kehren sich um. Und alles sogar mit Erlaubnis des damaligen Landesherrn Maximilian von Bayern.
Während in der Düsseldorf Altstadt durch Protest der Einwohner die alte Franziskanerkirche gerettet wird und sie zum Dank, aber auch zum Schutz vor landesherrlicher Willkür, nach dem Namenspatron des Landesherrn umbenannt wird in Maxkirche, während also die Stadt Düsseldorf eine weitere prominente katholische Pfarrkirche erhält – währenddessen entsteht in Kaiserswerth diese kleine, schöne, stilvolle, schlichte, konzentrierte - „Reihenhauskirche“. Ortsunkundige können sie auch heute nicht sofort in der Häuserzeile als Kirche erkennen. Sie ist eine Kirche, die nicht durch einen prominenten Platz oder durch Größe herausragt, sondern Teil des Gesamtbildes bleibt und doch - ganz anders ist; sie ist ganz Kirche und doch ganz in der Welt. Sie behauptet beharrlich ihren Platz in der Welt.
Diese Stadtkirche ist eine Kirche, mit deren Erbauung eine kleine Zahl Familien es geschafft hat, die konfessionellen Unterschiede zwischen Reformierten und Lutheranern – nein, nicht zu überspringen - aber sie doch auch nicht die Gemeinschaft verhindern zu lassen. Damit waren sie ihrer Zeit beispielhaft voraus. Getrenntes wird wieder zusammengeführt, Zerbrochenes wieder geheilt. Lebensraum geteilt und Gemeinschaft gelebt.
Dies sind drei Beispiele an denen deutlich wird, wie die Geschichte Ihrer Kirche und Ihrer Gemeinde mit der Geschichte vom Senfkorn verwoben ist.
Die weitsichtigen Gründerfamilien haben sich nach ihren Kräften dafür stark gemacht, dass hier in Kaiserswerth , in einer wirren und unsicheren Zeit ein Fundament gelegt wurde für eine Gemeinde mit starkem evangelischen Profil. Dieses Fundament trägt bis heute. Unser Blick zurück lässt uns daher dankbar erkennen, wie unbeirrbar solidarisch und vom Leitbild der christlichen Gemeinschaft bestimmt die erste evangelische Gemeinde in Kaiserswerth ihren Glauben gelebt hat. Mit welch starkem seelsorglich- diakonischen Impuls sie in der Welt lebte und sie veränderte, letztlich sogar weit über die Grenzen Düsseldorfs hinaus.
Um so sympathischer und beeindruckender ist es, dass diese Gemeinde ihre Gründungsgeschichte mit der Geschichte vom Senfkorn verbunden hat.
Das ist auch im Hinblick auf die nachfolgenden Generationen zutiefst seelsorglich und solidarisch gehandelt. Denn die Geschichte vom Senfkorn ist ja auch eine Geschichte, die vom Glauben der Menschen erzählt. Die Mitglieder der ersten Gemeinde sahen sich nicht als groß im Glauben. Ihr Glaube, so sahen sie es, glich einem Senfkorn. In der Zeit der Bibel ist das Senfkorn Synonym für die kleinstmögliche Maßeinheit. Die Mitglieder sahen sich also als Menschen mit dem kleinstmöglichen Maß an Glauben. Und trotzdem reicht Gott dieser Glaube, um durch ihn etwas Großes und Wegweisendes entstehen zu lassen. Das ist der Geist, aus dem die 1811er, wie Sie sie in Ihrem Gemeindebrief nennen, gelebt haben. Es ist ein großes Geschenk dieser Generation, dass sie die Gemeinde durch die Zeiten hindurch immer wieder beharrlich auf die Geschichte vom Senfkorn verwiesen hat und noch verweist. Und damit auf das wahre Fundament dieser Gemeinde und Kirche hinweist.
Welche Ermutigung kann uns, den 2011, daraus erwachsen in einer Zeit, in der wir uns fragen, wie wir Solidarität mit den Menschen und Gemeinschaft der Gemeinden heute leben können. Lassen wir uns anstecken von der großzügigen und kraftvollen Dynamik des Menschen, der sein Senfkorn sät, im vollen Vertrauen, das es aufgeht und die Welt verändern wird? Sind wir bereit, unsere schönen Ordnungen durcheinander bringen zu lassen durch etwas, das wachsen will und erst einmal wie Unkraut aussieht? Fassen wir Vertrauen in das gnädige Wirken Gottes, der mit uns etwas Großes vorhat? Freuen wir uns auch unseres kleinen Glaubens, weil wir darauf vertrauen, dass Gott mehr nicht braucht, um mit uns gemeinsam sein Reich voranzubringen? Das sind die Fragen, die die 1811er an uns heute stellen, indem sie uns auf die Geschichte vom Senfkorn verweisen. Es sind wohl dieselben Fragen, denen sie sich auch stellen mussten. Sie haben ihre Antworten gefunden. Wir suchen noch. Aber der Gott, der uns dabei in unserer Geschichte und in unseren Geschichten leitet, ist der selbe, damals, heute und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
3.S.n.Tr. 10.07.2011 Lukas 15, 1-7 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 3.n.Trin. - 10.VII.2011
Lukas 15, 1– 7
Liebe Gemeinde!
Der Öldruck aus den Schlafzimmern oder den guten Stuben vor hundert Jahren ist schön.
Aber er zeigt immer nur die eine Seite, wenn uns dort das vorwitzige, gestrauchelte Lämmchen auf den breiten Schultern seines Retters begegnet.
Das weitaus größere Bild jedoch fehlt: Es fehlt, was die allermeisten Beteiligten erlebten.
Denn das Gleichnis vom Ausreißer aus der Herde ist schrecklich unausgewogen gebaut.
Es handelt von dem Verlorenen und den Verlassenen.
Und während der eine Einzelgänger fast alle Beachtung findet, gerät die riesige Herde ganz aus dem Blick. 1:99 ist das Verhältnis derer, die hier so ungleich behandelt werden.
Ein winziger Bruchteil also fesselt die hilfreichen Kräfte; für niemand anderen bleibt auch nur ein Quentchen Aufmerksamkeit. —
Und dieses sagenhafte Missverhältnis ist kein Versehen, keine Ungeschicklichkeit eines ungeübten Erzählers, der umständlich mit einem Wust von Figuren anfängt, obwohl er sich eigentlich nur auf eine Gestalt konzentrieren wollte.
Das Ungleichgewicht zwischen den Verlassenen und dem Verlaufenen ist vielmehr eine bewusste Reizung, ein absichtliches Ärgernis.
Viele sind am Anfang da, aber um einen allein geht es: das ist die Botschaft.
Und gesagt wird sie ...... der Gemeinde!
Das haben die Gemeindeleute zu allen Zeiten erstaunlich erfolgreich verdrängt, als man nicht erst über den Betten der wilhelminischen Zeit, sondern schon in den Grabnischen der Katakomben den guten Hirten als beruhigenden Wandschmuck wählte.
Dieser Hirte allerdings, der das ausgebüchste Schaf einfängt, ist der selbe, der die Herde notfalls Herde sein lässt.
Wer sich also ausgerechnet den über das Kopfkissen oder den Sarkophag setzen lässt, kann damit eigentlich nur zwischen zwei extremen Aussagen wählen:
Entweder das Bild des bedingungslosen Gesuchtwerdens bedeutet, wie einzigartig nötig man diese Form der Fürsorge hatte, oder aber man zählt zu denen, die keine Sondermühe machten und einfach unauffällig den Hintergrund für jene allerschwersten Fälle bildeten.
Warum aber ist der schafsuchende Hirte dann nur so beliebt bei uns gewesen?
Hatten unsere Urgroßeltern ein so ausgeprägtes Sündenbewusstsein oder waren sie sich im Gegenteil ihrer anspruchslosen Herdentauglichkeit derart gewiß? —
Was macht bloß den Anblick dessen so attraktiv, der viele vernachlässigt, um eines zu retten?
Eigentlich sollte bei diesem Bild doch zunächst Unbehagen über derartige Ungerechtigkeit und Verantwortungslosigkeit erwachen:
Schließlich dürfte kein Mensch sich in ähnlicher Lage ähnlich verhalten.
Kein Lehrer dürfte seine gesamte Klasse, kein Befehlshaber im Einsatz dürfte die Truppe im Stich lassen, bloß um einen einzigen Irrgänger zu bewahren. —
Bei verantwortlicher Abwägung seiner Entscheidung muss man also sagen, dass der treue Hirt nichts taugte: Er folgte einem Impuls, aber nicht der Vernunft, als er – wie Jesus ausdrücklich sagt – die neunundneunzig braven Tiere „in der Wüste“ allein ließ, an jenem Ort also, den das biblische Gedächtnis „groß und furchtbar“ nennt, „wo feurige Schlangen und Skorpione“ hausen (5.Mose815) oder wie Jesaja die Wüste schildert: „Das Land der Trübsal und Angst, wo Löwe und Löwin, wo Ottern und feurige fliegende Drachen sind“ (Jes306), „wo Wüstentiere und wilde Hunde einander treffen und ein Feldgeist dem andern begegnet, wo das Nachtgespenst herbergt....“ (Jes3414).
Dort verlassen zu werden – und sei’s nur vorübergehend – ist ein Albtraum!
Und Jesus erklärt just den, der eine solche Grausamkeit begeht, zum Vorbild und fragt auch noch seine Hörer: „Wer ist unter euch, der nicht genauso handeln würde?“
Keiner, muss die Antwort lauten. So tollkühn und rücksichtslos wäre keiner.
Wir würden den geringeren Schaden der allgemeinen Gefährdung vorziehen.
Wir blieben bei denen, die wir vergleichsweise sicher haben.
Eine so abenteuerliche Einseitigkeit, die für einen – koste es, was es wolle – alles wagt, ist nicht menschliche Art. So einseitig ist nur Gott!
Und wenn wir immer noch nicht spüren, wie grandios unbeirrbar Gott in seiner Sorge um die wirklich Entgleisten ganz andere Maßstäbe anlegt, als wir’s unter dem Gesichtspunkt der Ausgewogenheit für richtig hielten, der muss den Schafen Namen und Gesichter geben:
Stellen wir uns unter den vielen folgsamen doch unsere reformatorischen Mütter und Väter vor, die auf dem Weg und Steg blieben, den Christus ihnen wies .... und dann halten wir daneben Caspar Ulenberg, den Lutheraner der zweiten Generation, der zunächst in Wittenberg Theologie studierte und dann zu den Jesuiten überlief. Er kam 1576 als Priester und Prediger der Gegenreformation nach Kaiserswerth, wo er die evangelische Sache angriff und vehement mit ihren eigenen Mitteln – dem deutschsprachigen Gemeindegesang – bekämpfte.
Seinem Einsatz ist es geschuldet, dass das Erzbistum Köln nach weitreichenden protestantischen Reformen rekatholisiert wurde und ein Hort der römischen Kirche blieb.
Für seine evangelischen Zeitgenossen war dieser Caspar Ulenberg ein trotziges, irrendes und verlorenes Schaf wie aus dem Buch der Bücher.
Sie hätten ihm sein Verderben, in das er willkürlich und unaufhaltsam lief, gegönnt.
Wie unerträglich wäre für sie aber die Botschaft gewesen, dass es gerade solche abtrünnigen Einzelgänger sind, für die der Herr der Gemeinde sich und die Seinen in Gefahr stürzt, ja dass er eher dem Entlaufenen nachläuft, als bei den Bleibenden zu bleiben! ——
Oder man stelle sich vor, wie Fliedner zweihundertfünfzig Jahre später in Kaiserswerth vom ausgerissenen Schäflein hätte predigen können und müssen:
Vor ihm saßen die braven Töchter des Landes, die der Ruf in den aufopferungsvollen Dienst und in die harte Zucht des Diakonissenlebens versammelt hatte. Sie beugten ihre Köpfe, deren blondes, braunes, dunkles Haar unter den engansitzenden Hauben verschwand und sammelten sich in gehorsamer Andacht, um die Nähe ihres Heilands und Hirten zu empfinden.
Was wäre nun aber gewesen, wenn Fliedner über die Reihen der frommen Häubchen hinweg seine Erinnerungen an die ersten weiblichen Schicksale, die im Gartenhäuschen einst ein Asyl finden sollten, ausgebreitet hätte?
Wenn er den treuen Diakonissen von den liederlichen Frauenzimmern und gefallenen Mädchen - wie man damals sagte - gepredigt hätte; wenn er die halb vergessenen und doch gemunkelten Namen der entlassenen Sträflinge und Streunerinnen aufgezählt hätte, die für kurze oder längere Zeit einmal in Kaiserswerther Obhut lebten und dann doch auf und davon zogen, um im Dickicht der wachsenden Städte und Fabriken zwischen Krefeld, Mülheim und Essen als Vagabundinnen, Diebinnen und Dirnen unterzugehen?
Was wäre gewesen, wenn Fliedner dann gesagt hätte: „Dies oder jene trunksüchtige, schändliche, verbrecherische Weib - erinnert Ihr Euch noch an sie?! - , die ist das verlorene Lamm, für das der Herr seine einträchtige Herde verließ! Er ist nicht hier, er ist von uns fort in die Spelunke und das Hurenhaus gewandert, wo er seinen Liebling finden musste.“ ——
Aber wie wäre es denn auch heute und jetzt, wenn dieser wohlwollenden und zuverlässigen Gemeinde verkündigt würde: „Der Brennpunkt der göttlichen Zuwendung liegt nicht da, wo Ihr zusammen seid. Gottes leidenschaftliches Interesse gilt denen, die nicht hier, sondern denkbar weit von Euch entfernt sind!“
Und dann müssten wir den wirren und bockigen Schafen, den entwichenen oder nie gezähmten Einzelgängern, den wilden und eigensinnigen Abweichlern von den Pfaden der Herde ja auch Namen und Gesichter geben.
Wir könnten sie beschreiben als einen jener sog. „antifaschistischen“ Politiker der Linken, die kürzlich in unentschuldbarer Weise Israel zur Zielscheibe ihrer dumpfen Angriffe machten.
Oder wir müssten den Ausreißer als einen der neuen Wortführer des aggressiven Atheismus benennen, der bewusst die christliche Seelenlandschaft verlässt und in die unwirtlichen, unbewohnbaren Gefilde des unbehüteten, herrenlosen Menschensein drängt.
Oder wir denken an irgendeinen anderen Abweichler, einen anderen Vertreter dessen, was den meisten von uns fern liegt, halsbrecherisch, trügerisch, rettungslos erscheint:
An die Terrorfürsten der Gegenwart, an die Gewinnbesessenen der Weltwirtschaft, an die schamlosen Schurken der Massenmedien, an die völlig unbekümmerten Genusssklaven, die nur die grenzenlose Feier ihres trunkenen Ich kennen.
Und dann versuchen wir, die Wahrheit vom guten Hirten buchstäblich zu nehmen.
Denn dann – wenn wir uns vor Augen führen, dass Gott mit diesen viel mehr und viel leidenschaftlicher, als mit uns beschäftigt sein wird – dann stoßen wir auf eine so entscheidende Wurzel des biblisch-christlichen Denkens, Fühlens und Handelns, wie sie selten freigelegt wird.
An der Tatsache, dass Gott der Hirt der Falschen, der Verlorenen, der Trotzigen und Üblen und Schuldigen ist .... an dieser Tatsache, die innerhalb wie außerhalb der Gemeinde zunächst nur Unglaube und Entsetzen hervorrufen kann...an dieser Tatsache entsteht das Menschenbild, das Gott gemäß ist.
Dass Gott nicht die leichten, sondern die aussichtslosen Fälle aufgreift, dass er den Widerstand und nicht den Gehorsam sucht, dass er seine Feinde, nicht seine Freunde auf Händen trägt, dass er sich für die Bösen, nicht für die Lieben in Gefahr bringt und in Verruf: das ist das Evangelium schlechthin.
Aber es gilt eben nicht nur in der Gemeinde, die dadurch gerufen und erbaut wird, sondern weit, weltweit über sie hinaus.
Die Tatsache, dass Gott einen Menschen nicht aufgibt, auch wenn der sich verrennt, dass er niemanden seinem Schicksal überlässt, auch wenn jemand willkürlich den Untergang wählt, dass Gott nicht davon abzuhalten ist, die Verweigerer weiter und die Verlorenen von vorne zu suchen: diese Tatsache allein begründet in Wirklichkeit den uns so selbstverständlich und so allgemeingültig erscheinenden Satz, dass „die Würde des Menschen unantastbar“ sei.
Worauf sollte ein so steiles Wort sonst eigentlich gründen, wenn nicht auf dem Felsen jener Botschaft, dass Gott in jedem einzigen Menschen Grund und Anlass findet, alles zu riskieren?
Was könnte den in Wort und Tat schlechten, den absichtlich verwerflichen, den von aller Menschlichkeit entfernten Menschen sonst vor verdienter Verurteilung und verschuldetem Verderben retten, wenn nicht die Bedingungslosigkeit Gottes?
Ihm gehören sämtliche Menschen. Wie leicht wäre da das Gewichten nach Würde und Verdienst eines jeden. Wie einfach wäre da auch der Verlust des Unwerten und Unwilligen zu verschmerzen.
Doch dass eben das Gott ganz und gar unmöglich ist, zeigt das gewagte, einseitige und vor aller Vernunft und Logik liegende Beispiel des Hirten, der zwar verlassen, aber nicht verlieren kann.
Schon Paul Gerhardt hat diese unausgewogen radikale Botschaft im Gleichnis vom verlorenen Schaf vernommen und sie in ein Lied übertragen, das zu den gewagtesten Beschreibungen der göttlichen Sündenvergebung und der Gnade überhaupt gehört.
Obwohl er noch das Kind einer Zeit war, die Prinzipien schon unter logischem Gesichtspunkt absolut setzte und am Satz vom Widerspruch – dass Gegenteiliges nicht gleichzeitig wahr sein kann – nie rüttelte, enthält der Choral vom verzweifelt suchenden Hirten bei Paul Gerhardt die ungeheure Beschreibung eines Gottes, der bloß den Fuß rühren muß und damit schon die Welt erschüttert und dennoch so jämmerlich wirkt, wenn ein einziges Geschöpfchen ihn verlässt, dass man darüber weinen könnte.
Ja, singt Paul Gerhardt – obwohl es theologisch und moralisch unhaltbar ist: „Gott liebt nicht nur die Frommen“.
Es gibt kein größeres, umfassenderes, höheres Evangelium!
Und ob wir bieder oder rebellisch, Gemeindeleute oder Einzelgänger sind, ob wir unsere Sünden bereuen oder feiern:
Dass Gott den Bösen gut ist, das erst macht jeden von uns zu einem Menschen mit unendlichen Aussichten.
Nicht darauf, immer im Mittelpunkt zu stehen, sondern darauf, dass Gott nie-, niemals auch nur einen von uns verlieren wird!
Amen.
Choral zu Lucas 15 von Paul Gerhardt / Melodie: „Freu’ dich sehr, o meine Seele“ (eg524)
Weg, mein Herz, mit den Gedanken, Dennoch bleibt in Liebesflammen
als ob du verstoßen wärst; sein Verlangen allzeit groß,
Bleib in Gottes Wort und Schranken, ruft und locket uns zusammen
da du anders reden hörst. in den weiten Himmelsschoß;
Bist du bös und ungerecht, wer sich nun da stellet ein,
ei, so ist Gott fromm und schlecht; suchet frei und los zu sein
hast du Zorn und Tod verdienet, aus des Satans Reich und Rachen,
sinke nicht! Gott ist versühnet. der macht Gott und Engel lachen.
Er ist ja kein Bär noch Leue, Gott und alles Heer hoch droben,
der sich nur nach Blute sehnt, dem der Himmel schweigen muß,
sein Herz ist zu lauter Treue wann sie ihren Schöpfer loben,
und zur Sanftmut angewöhnt. jauchzen über unsre Buß.
Gott hat einen Vatersinn, Aber was gesündigt ist,
unser Jammer jammert ihn, das verdeckt er, und vergißt,
unser Unglück ist sein Schmerze, wie wir ihn beleidigt haben;
unser Sterben kränkt sein Herze. alles, alles ist vergraben.
„So wahrhaftig als ich lebe, Kein See kann sich so ergießen,
will ich keines Menschen Tod, kein Grund mag so grundlos sein,
sondern, daß er sich ergebe kein Strom so gewaltig fließen,
an mir aus dem Sündenkot.“ gegen Gott ist alles klein,
Gottes Freud ist, wann auf Erd gegen Gott und sein Huld,
ein Verirrter wiederkehrt; die er über unsre Schuld
will nicht, daß aus seiner Herde alle Tage lässet schweben
das Geringst entzogen werde. durch das ganze Sündenleben.
Kein Hirt kann so fleißig gehen Nun, so ruh und sei zufrieden,
nach dem Schaf, das sich verläuft; Seele, die du traurig bist,
Sollt’st du Gottes Herze sehen, was willst du dich viel ermüden,
wie sich da der Kummer häuft, da es nicht vonnöten ist.
wie es dürstet, jächt und brennt Deiner Sünden großes Meer,
nach dem, der sich abgewend’t wie dir’s scheinet, ist nicht mehr
von ihm und auch von den Seinen, (gegen Gottes Herz zu sagen)
würdest du vor Liebe weinen. als was wir mit Fingern tragen.
Gott, der liebt nicht nur die Frommen, Wären tausend Welt zu finden,
die in seinem Hause seind, von dem Höchsten zugericht´t,
sondern auch die ihm genommen, und du hättest alle Sünden,
durch den grimmen Seelenfeind, die darinnen sind, verricht´t,
der dort in der Hölle sitzt wär es viel; doch lange nicht
und der Menschen Herz erhitzt so viel, daß das volle Licht
wider den, der, wann sich reget seiner Gnaden hier auf Erden
sein Fuß, alle Welt beweget. dadurch könnt erlöschet werden.
Mein Gott, öffne mir dir die Pforten
solcher Gnad und Gütigkeit,
laß mich allzeit aller Orten
schmecken deine Süßigkeit;
liebe mich und treib mich an,
daß ich dich, so gut ich kann,
wiederum umfang und liebe
und ja nun nicht mehr betrübe!
Pfingsten 12.06.2011 Johannes 16, 5-13 Stadtkirche und St.Remigius Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Remigius Pfingsten - 12.VI.2011
Johannes 16, 5- 15
Liebe Gemeinde!
Im Namen des Heiligen Geistes sei der Gemeinde das Nicht-Wissen-Wollen untersagt!
Im Namen des Heiligen Geistes ist uns nämlich Neugier geboten!
Er kommt ja, um uns schlau zu machen, wo wir uns dumm stellen.
Er kommt, um Erkenntnis zu schenken, wo wir’s uns in der Unkenntnis gemütlich machen.
Er kommt, um uns die vermeintliche Unschuld des Unglaubens und Nichtwissens zu nehmen, um uns aufzuklären über die Nöte, die zwischen Gott und der Welt stehen, und wie sie gelöst werden sollen.
Diese Aufgabe, aus Blinden Sehende, aus Verdummten Verständige und aus Ziellosen Menschen mit Karte und Kompass zu machen, ist das uralte Werk des Geistes Gottes, das wir im feierlichen Bekenntnis unseres Glaubens eben genannt haben:
„Wir glauben an den Heiligen Geist, der gesprochen hat durch die Propheten.“
Doch muss dieser Satz zu Pfingsten aus der feierlichen Vergangenheitsform in die Gegenwart übertragen werden. Denn Gottes Geist hat nicht nur die alten Seher und Künder von Samuel bis Sacharja in seinen Dienst genommen, sondern der Geist der Prophetie ist – wie der Schachtelhalm unter den Pflanzen und das Schnabeltier unter den Säugern – ein Zeuge aus der Vorzeit, der quicklebendig bis in unsere Gegenwart ragt. ——
Womöglich aber wäre es uns viel angenehmer, wenn der Geist des Herrn nurmehr ein ausgestorbenes Vorzeitwesen oder ein einst besungenes Fabeltier wäre.
Denn Prophetie ist eine Kraft, von der man lieber in alten Büchern läse, als ihr leibhaftig und unmittelbar zu begegnen. —
Wie das? Was ist so unheimlich an der Prophetie?
Nun, es gibt eine leidvolle alte Erfahrung, dass die Propheten, die dem Publikum schnurrend und säuselnd um die Beine streichen, Hexenmeister sind.
Je lieber man einen Propheten hörte, desto blendender erwies sich zumeist seine Lügenmacht.
Denn die wahren Propheten sind entgegen landläufiger Vorstellung nicht jene, die das Blaue vom Himmel über dem Schlaraffenland herab versprechen, sondern die beglaubigten Sprach-rohre des göttlichen Geistes haben oft Schatten der Kritik auf etwas geworfen, das den meisten noch makellos glänzend zu sein schien.
Nicht der billige Anreiz schöner Zukunftsversprechen, sondern der ernüchternde Ruf der Warnung oder die erstickte Stimme einsamen Widerspruchs gegen die Masse sind also die ursprünglichen Merkmale der Prophetie.
Den allermeisten Zeitgenossen sind die Propheten Gottes darum wie Quälgeister und Nörgler und Heulsusen erschienen, die bei Sonnenschein Gewitter vorhersagten und das Nest krankhaft beschmutzen. ——
Als Prophet in diesem Sinne begegnet uns Jesus nun aber in seiner pfingstlich wirkenden Ankündigung des eigenen Weggangs und der Sendung des aufklärerischen Geistes.
Worte wie diese sind wohl so sperrig, dass sie sich schwerlich erfinden ließen:
Denn wer für eine Sache werben will, verspricht doch Gewinne und Lohn.
Wenn er ein Geheimnis aufzudecken hat, dann muss seine Enthüllung den Eingeweihten Vorteile oder Überlegenheit verschafft.
„Herrschaftswissen“ nennt man solche Erkenntnisse, die nicht aller Welt verfügbar sind und einen Schlüssel zu Macht und Möglichkeiten bieten.
Jesus dagegen kündigt im Namen des tröstenden Geistes eine Offenbarung an, die so demütigend ist, dass zunächst wohl niemand sie ernsthaft begehren wird. ...
Über Sünde, Gerechtigkeit und Gericht: Wer möchte dazu eigentlich Näheres erfahren?
Sind alles drei nicht unangenehme Gegenstände?
Sind alle drei nicht der Stoff, von dem wir immer wieder hören: „Damit muss jetzt Schluss sein! Genug ist genug!“
Sünde, Gerechtigkeit und Gericht als Inhalte der Bibel sind jedenfalls die vergessensten aller christlichen Ladenhüter.
Und als mahnende geschichtliche Erinnerungen etwa des deutschen Volkes an seine Verbrechen, an den Widerstand, an die Nürnberger Prozesse sind Sünde, Gerechtigkeit, Gericht verdrängte Größen, die man lieber unerwähnt lässt.
Selbst als Schlagzeilen taugen sie nur im unmittelbaren Augenblick der Sensation, wenn beim Bankenvolk oder dem Wettermann marktschreierisch Verfehlungen angeprangert und Rechenschaft und Strafe gefordert werden. Auf lange Sicht wird von ihnen auch dort nicht weiter geredet, weil sie allzu oft auf jene zurückfallen, die sie bei anderen aufdecken. ———
Dennoch aber feiern wir heute jenen Geist aus der Höhe, der über uns ausgegossen wird, um zu diesen drei Fragen, die wir unterdrücken und kleinhalten, Wahrheit und Licht zu bringen:
Er ist ein Aufklärer in Sachen Schuld, ein Anwalt der Gerechtigkeit und ein Beistand im Gericht. Das ist sein prophetisches Wirken.
Und auch wenn es auf den ersten Blick nicht zu den hin- und mitreißenden Zügen des Pfingstfestes zu gehören scheint – dieses Beleuchten des Schwierigen, Verleugneten –, ... auch wenn uns die überwältigende Versöhnungs- und Verständigungsfeier, die über die Menschenmenge in Jerusalem kam, spontan mehr begeistert, ist die kritische Prophetie des Geistes sozusagen die persönliche Innenseite der Glaubensgemeinschaft, die er äußerlich hervorruft.
Wer für den Glauben an Jesus Christus durch den Geist aufgeschlossen wird, der kann vor den unliebsamen Fragen, die der selbe Geist stellt, nicht mehr einfach ausweichen.
Denn Gott ist ein Kritiker ... um einmal in der griechischen Sprache des Neuen Testaments zu bleiben, in dem es wörtlich heißt, dass wir durch den Geist der Wahrheit alles uns bisher Verborgene über Sünde, Gerechtigkeit und „Krisis“ erfahren sollen.
Doch die Krise, in die wir geraten, wenn wir von Gott erfasst und erfüllt werden, ist eine durch und durch heilsame, zutiefst tröstende Krise.
Denn sie sorgt dafür, dass wir nicht mehr betrügen und betrogen werden durch falsche Menschenbilder, nach denen wir uns selbst und andere formen: Der Zwang, fehlerlos und zu allem fähig zu erscheinen, verschwindet wenn der göttliche Geist der Wahrheit in uns einkehrt.
Denn er will uns ja lehren, mit der Wahrheit über uns selbst zu leben, ... mit der Wahrheit, dass niemand von uns die Prüfung bestehen kann, ob er denn wirklich Gott entspricht.
Wir alle entsprechen in Wahrheit weder Gottes noch unserem eigenen Anspruch.
Doch wenn es trotzdem stimmt, dass Gott selbst an Pfingsten zu uns kommt, dass er uns nicht meidet, nicht fernhält, sondern unsere Nähe sucht und sich auf fehlbare, schuldige Menschen einlässt, dann eröffnet das dem Einzelnen ganz eigene Erkenntnis- und Sprachwunder.
Wer nämlich Gottes Kritik an sich erfährt in dem Augenblick, in dem Gott ihn nicht verlässt, sondern sucht, in dem Augenblick, in dem Gott ihn nicht verwirft, sondern ergreift, der kann lernen über das Unsägliche zu reden und vom Unausgesprochenen zu sprechen.
Der kann lernen zu erkennen und zu bekennen, was falsch ist.
Und so kann er die Erkenntnis und Erfahrung dessen gewinnen, was gerecht ist.
Damit aber fängt das Leben der Gemeinde in ihren Gliedern an: durch die Krise der Wahrheit hindurch. Dadurch, dass Gottes Geist uns unser Menschsein ohne oberflächliche Schönfärberei in seiner Tiefe zeigt.
Das ist eine Tiefe, in der wir nicht als die unangefochtenen, zu allem berechtigten Vertreter höchster Maßstäbe und Ansprüche, sondern als Wesen, die sich selbst so überschätzen, dass sie ihren Ort nicht finden, und die solche Angst haben, dass sie keinen Frieden kennen.
Wer von uns aber diese Grenzen und Mängel nicht wissen und nicht hören will, wer den falschen Propheten des makel- und tadellosen Menschseins traut, der fürchtet noch am allermeisten die Wahrheit, obwohl sie allein uns frei macht zum Glauben und zum Vertrauen. —
Das könnten wir eigentlich aus Erfahrung wissen:
Wie gefährlich es war, als ich vor dem Mädchen, das ich lieben wollte, noch den Ritter ohne Fehl und Tadel spielte, ängstlich darauf bedacht, das verkrampfte Gesicht zu wahren und meine lächerlichen Schwächen zu verbergen.
Oder wie furchtbar es wurde, mit einem schlechten Gewissen vor der täglichen Umgebung Unschuld zu markieren, damit die jugendliche Untat oder später das Versäumnis im Dienst nicht bekannt würden.
Oder wie mörderisch geleugnete Verbrechen zwischen Völkern und anderen Feinden fortwirken, wenn die Wahrheit bei denen, die sie nicht eingestehen, über Generationen Lüge gebiert und bei denen, die vergeblich auf sie warten, Hass. —
Ja, wir könnten wohl wissen, wie nötig, wie wohltuend es ist, sich ohne Verstellung zu zeigen und trotzdem geliebt zu werden; sich unumwunden auszusprechen und gerade drum Vergebung zu erfahren; sich durch Selbsterkenntnis als Schuldige für einen Neuanfang in Wahrhaftigkeit zu bereiten.
Weil wir es aber immer wieder nicht wissen, nicht wissen wollen oder können, weil dieses Einfache – uns selbst und die Wahrheit zu erkennen – uns schwerer fällt, als alle andere, darum ist es gut für uns, dass Christus hingegangen ist.
Wäre Christus unmittelbar gegenwärtig, würden wir uns wohl zu sehr scheuen, angesichts seiner Großmut unsere Berechnung sehen zu lassen, angesichts seiner Liebe zur Welt unsere Eigenliebe zu gestehen, angesichts seiner Aufrichtigkeit unsere Verbiegungen einzuräumen.
Da wir aber nicht unmittelbar vor dem Menschen stehen, in dem Wahrheit und Gerechtigkeit Ereignis wurden, da vielmehr Sein Geist uns berühren und wandeln will, darum ist Pfingsten Jahr für Jahr ein gnädiger Aufschub und eine geschenkte Gelegenheit, aus dem Durcheinander unseres Lebens ins Reine zu kommen.
Wir feiern also heute nicht nur die Wiederkehr eines einst denkwürdigen Tages, sondern den Anfang neuen Denkens heute:
Wir feiern, dass die Kirche immer wieder in ihr prophetisches Amt nach innen und nach außen gerufen wird.
Denn dass wir als einzelne Christen und als Gemeinde weder mit uns, noch mit der Welt im Reinen sein können, das ist wohl unstrittig.
Zugleich aber ist der Gottesgeist nicht schwächer oder seltener geworden als an jenem Tag des Anfangs. Er ist auch uns zugesagt und wird uns finden!
Und will wieder und wieder vor den Augen der Welt die Kirche zu dem Ort machen, an dem laut gesagt wird, was man sonst bemäntelt und aufgedeckt, was die Welt vertuscht.
Das war zu allen Zeiten die gefährliche, die ärgerliche und aufreizende Aufgabe der Gemeinde Jesu: Dass sie in alle Richtungen – in der Seelsorge den Menschen persönlich, in der öffentlichen Verkündigung die Welt auch politisch – dazu zu bringen hat, ehrlich auszusprechen, was sonst unterdrückt bleibt: Wir sind nicht, wie wir gerne wären und sein sollten.
Aber den Maßstab, der uns heil machen und auf den richtigen Weg bringen würde, den können und müssen wir nicht selbst erfinden, denn er ist in Jesus Christus, dem Gerechten, der für die Sünder sein Leben hingab und neues empfing, gesetzt.
Und eben das ist eine Befreiung: Kein anderer Maßstab gilt mehr!
Es gibt keine Größenwahnidee von dem, was der Mensch angeblich ist und kann, die wir befolgen müssten!
Der Fürst dieser Welt nämlich, der nichts anderes ist als der an seine eigene Allmacht glaubende Mensch, ist durch Christus für immer entthront und endgültig entzaubert.
Und der neue Mensch, der freie Mensch wird jener sein, der sich nicht mehr über sich selbst täuscht, sondern Gottes Hilfe und Gerechtigkeit dankbar anzunehmen lernt.
So lernt er die schwierige Wahrheit über seine Sünde auszusprechen und die selige Wahrheit über die Gerechtigkeit Christi zu feiern! ———
Und so wird noch in unserer Zeit genau wie am Anfang die Kirche durch den Geist gerufen und erschaffen.
Weil sie - wie Dietrich Bonhoeffer es sagt - jene Gemeinschaft von Menschen ist, die durch die Gnade Christi zur Erkenntnis der Schuld geführt wird und weil in solcher Schulderkenntnis der Prozeß der Gleichgestaltung des Menschen mit Christus seinen Anfang nimmt*.
So aber ist auch das Schwerste, das der Geist uns lehrt und aufdeckt, so ist auch seine prophetische Kritik an uns noch lauter Trost und Evangelium!
Amen.
Exaudi 05.06.2011 Johannes 7,37-39 Stadtkirche und Jonakirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth & Jona Exaudi – 5.VI.2011
Johannes 7, 37-39
„Die Heilige Schrift ist die alleinige Quelle unseres Glaubens“, sagt unser evangelisches
Bekenntnis.
„Blödsinn!“, sagt der Heilige Geist. „Stellt Euch nicht so engstirnig an. Es wird wohl noch ganz andere Orte geben, an denen etwas entspringt, das bei Euch die dürren Glaubenssätze wässert und weicht, bis sie wieder Saft und Leben entwickeln.“
„Oho!“ empört sich die Rechtgläubigkeit. „Sie wollen die Wahrheit verwässern. Sie wollen das Evangelium verdünnen und es mit fremden Zusätzen pantschen, bis es schmeckt. Aber die Lehre muss rein bleiben! Keine Quelle außer der einen darf sie speisen.“
„Was seid Ihr nur für Kleingeister?“, erwidert der große Geist Gottes. „Habt Ihr’s wirklich nötig, Eure Sinne zu verstopfen und die Verkündigung zähflüssig werden zu lassen, nur weil Ihr frische Einflüsse fürchtet?“
„Was heißt hier ,Einflüsse’?“ fragt die protestantische Besorgnis. „Es gibt Grenzen, jenseits derer die Beliebigkeit anfängt. Man kann doch nicht aus jeder Zeitströmung schöpfen. Wir halten uns an die gesamte Bibel Alten und Neuen Testaments: darüber hinaus erkennen wir nichts anderes als Wort Gottes an.“
„Wie gut, dass Ihr mich trotzdem habt,“ seufzt da die ewige Weisheit Gottes. „Oder meint Ihr, ich sei in die Bibel gefahren, um die Welt zu verlassen? Dabei bin ich doch zur Welt gekommen, damit sie biblisch werde! Ich will Euch heute einmal die Augen und die Ohren öffnen, dass Ihr einen Hauch von meiner Gegenwart in allen Dingen und Menschen wittert. Aber zieht Euch warm an, Kinder. Es ist frisch wenn man raus kommt.“
„Aber das ist nicht in Ordnung“, mault der reformatorische Rest in uns. „Das ist unordentlich, wenn nicht Christus allein allein aus der Schrift bezeugt wird. Da herrschen Willkür und Irrtum. Da löst sich die Wahrheit auf.“
„Oh jemine!“ wundert sich der Schöpfer Geist. „ Ihr ängstlichen Erbsenzähler. Die Wahrheit über Christus ist in der Unordnung des Lebens zu finden und nicht in den Schubladen der kirchlichen Buchhaltung.“
„Unerhört“, schmollt die verfasste Kirche.
„I wo“, zwinkert die Geistesgegenwart Gottes. „Pfingsten!“ ———————————
Liebe Gemeinde!
Wenn eine Predigt so freizügig und übermütig beginnt, muss man wohl fragen, ob hier der Prediger übergeschnappt ist oder ob es Gründe gibt, von allen festen Grundlagen des Glaubens abzuweichen.
Kann man ernsthaft von einer evangelischen Kanzel aus die Losung „Christus allein“ und „Allein die Schrift“ zur Debatte stellen? Kann man an den fundamentalen Leitsätzen der reformatorischen Erkenntnis mit spielerischem Spaß rütteln, ohne kopflos zu werden?
Nun, wenn wir hören und nachvollziehen, was Jesus heute von den Strömen des lebendigen Wassers sagt, die von den Gläubigen fließen sollen, dann werden wir tatsächlich auf ungeahnte Pfade gestoßen.
Wenn nämlich die Verheißung zutrifft, dass das Wasser des Lebens auch an den Christen zu entdecken sein wird, wenn also wirklich die Personen der Gläubigen selbst Ursprungs- und Quellort geistlicher Erfrischung werden sollen, dann muss es in vorpfingstlicher Erwartung und Begeisterung heißen: „Christus allein“ ist doch eine zu enge, zu karge Losung.
Die wirkliche Botschaft müsste vielmehr lauten: „Christus in allen!“ und „Überall Christus!“
Diese Erweiterung und Bereicherung unserer bloß auf Christus verengten Konzentration ist aber kein Ergebnis der Langeweile oder des Überdrusses, so als hätten wir nach langer Zeit die Beschäftigung mit ihm satt und gingen nun enttäuscht auf die Suche nach neuen Anregungen.
Nein, Jesus selbst hat in gehobener und gelöster Stimmung die Aufmerksamkeit, die Ihm als Spender des Lebens gilt, auch auf die Seinen gelenkt.
Er hat nicht sich alleine als den unversieglichen Brunnen neuen Lebens verkündet, sondern hat neben sich auf die Ströme des Segens gewiesen, die von anderen aus seiner Schar ausgehen werden.
Und so ist kein anderer als Jesus zum Schleusenwärter geworden, der nicht alles aufstaut in dem einen Becken, sondern die Kraft und Strömung, die aus Gott hervorgehen, auf viele Mühlen und zu vielen Ufern lenkt.
Diese Öffnung und überbordende Mitteilung der ausströmenden Gaben Gottes geschah aber in einer ganz unvergleichlich heiteren und passenden Stunde, über deren nähere Umstände wir uns ein lebhaftes Bild machen können.
Johannes berichtet nämlich ausführlich, wie Jesus auf Umwegen zum Laubhüttenfest in Jerusalem zog. Als er dort schließlich während der Festwoche im Tempel eintraf, muss er zur buntesten aller dortigen Gottesdienstzeremonien gestoßen sein, zum sogenannten „Wasserschöpfen“. Dazu drängte die festlich ausgelassene Menge der Pilger unter lautem, ekstatischem Flötenspiel in den Frühstunden durch das Wassertor hinab an den Teich Siloah, aus dem ein Priester in einem prächtigen, goldenen Krug Quellwasser schöpfte, um es am Altar darzubringen. Das symbolische Ausgießen des Wassers läutete die lebenswichtige Regenzeit ein, aber vor allem fand es seine innere Veranlassung im Wort des Propheten Jesaja (123): „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Heilsbrunnen!“
Und entsprechend überschäumend fröhlich wurde das Wasserschöpfen begangen:
Mit Illuminationen und nächtlichem Reigentanz, mit Gauklern und Artisten mitten im Gewühl der Tag und Nacht singenden und betenden Gemeinde.
So mitreißend und einzigartig war die Stimmung dieses Anlasses, dass das Wasserschöpfen zum sprichwörtlichen Inbegriff der unbändigen Freude wurde: „Wer den Jubel an der Stätte des Schöpfens nicht gesehen,“ sagte man unter den jüdischen Gemeinden später, „der hat in seinem Leben noch keinen Jubel gesehen.“
Und mitten in dieser ansteckenden, mitreißenden Hochstimmung, in diesem frommen Tumult, in dieser Kirchentagsatmosphäre eines einzigen, gemeinsamen Fühlens und Feierns bricht es aus Jesus heraus:
„Nicht von mir allein, sondern von allen, die zu mir gehören, wird das Heil in die Welt sickern und laufen. Auch die Meinen werden es verteilen, ausstrahlen und ausströmen; sie werden für ausgetrocknete Menschen zu Quellen werden; sie werden in ausgebrannten Köpfen und Gedanken wie Regengüsse neues Leben hervorlocken; sie werden Frische, Wohltat, Rettung bringen, wie sie vom Himmel herab und aus der Tiefe herauf im Wasser für die Welt entspringen!“ ——
Das ist eine für unsere Ohren und Gewohnheiten überraschend hervorsprudelnde Ankündigung.
Doch schon ein unvoreingenommener Blick ins Neue Testament würde uns überzeugen können, dass „Christus allein“ eine verkürzte Formel für seine Botschaft ist.
Denn neben den Evangelien, die unmittelbar Ihn bezeugen, finden sich darin auch die nach-pfingstlichen Zeugnisse von seinen Zeugen: Predigten und Lieder, Briefe und Prophezeiungen der Apostel und ihrer Schüler, etliche gewöhnliche, aber auch viele ganz unvergleichliche Ausschnitte aus dem Leben der Gläubigen.
„Christus und die Christen“ wäre also eine treffendere Zusammenfassung dessen, was uns als Urkunde und Quelle unseres Glaubens und Bekenntnisses im Neuen Testament begegnet. —
Allerdings geht das von einer evangelischen Zunge natürlich nur sehr mühsam.
Denn es hört sich nun doch verwirrend danach an, als würden hier menschliche Erfahrungen neben Gottes eigene Offenbarung gestellt und als werde das eine Wort Gottes, das Jesus Christus heißt und ist*, ergänzt durch die Meinungen und Einfälle der Kirche.
Doch das alles wäre ja ohne den Heiligen Geist gedacht:
Ein Entweder-Oder zwischen dem Wort Christi und der Lehre von Menschen entsteht nämlich immer dort, wo der lebendige Geist ausgeschlossen und vergessen wird.
Nehmen wir dagegen die Verheißung der lebendigen Ströme, die von vielen fließen werden, die an Christus glauben, so wie Johannes sie deutet – nämlich als Hinweis auf die Ausgießung des Heiligen Geistes –, dann wird es umgekehrt zur Gotteslästerung, wenn wir das reiche, bunte, freie Wirken des Geistes in den Menschen aller Zeiten und Zuschnitte leugnen wollten.
Denn wir, die wir heute und jetzt aus dem tiefen, langen Strom des christlichen Heils schöpfen, wir haben ja nicht zu trinken begonnen und zu baden unmittelbar an der Quelle der griechischen Schriften über Jesus von Nazareth.
Nein: Ganz andere Brunnen haben uns plätschernd von ihm erzählt, haben uns tiefe Züge aus der durst- und schmerzlöschenden Heilquelle des Evangeliums gewährt, haben uns bewusst oder verborgen über die Wurzeln versorgt mit allem, was uns menschlich und gemeinschaftlich gedeihen ließ.
Tausenderlei gewaltige Urstrombetten des christlichen Glaubens, ungezählte Nebenarme und verborgene Rinnsale sind durch die Jahrhunderte zusammengeflossen, ehe ein Tropfen davon in unsere Herzen fiel.
Doch es ist alles – dank des über die Christen ausgeschütteten Geistes – lebendiges Wasser, wirksam in der Taufe, lebenswichtig, um in brennenden Herzen den Durst nach Vergebung und Gerechtigkeit zu löschen, und so köstlich, dass man sich doch nicht satt trinken kann:
Es ist lebendiges Wasser, was wir als Kinder von Angehörigen hörten.
Es ist lebendiges Wasser, was den neugierigen und kritischen Erkenntnisdurst bei uns als Schülern oder Jugendlichen einst stillte.
Es ist lebendiges Wasser, wenn ein christliches Beispiel, ein geistliches Lied, eine überzeugende Gestalt oder Lehre der Kirchengeschichte uns durchrieseln.
Es ist lebendiges Wasser, wenn Seelsorge tröstet und stärkt, wenn unsere Hoffnung vom Strom der Nächstenliebe gespeist wird und der dürre Alltag, in dem der Lebensmut versiegt war, neu durchspült wird von Zuversicht und Begeisterung.
Und weil das alles oft genug durch den Einfluss bestimmter Vorbilder oder Vertrauter zu uns strömt, weil es mit ihren Namen und Stimmen verbunden bleibt, weil es unauslöschlich ihre Züge trägt, selbst wenn es eine längst vergangene oder beiläufige Gelegenheit war, als wir bei ihnen auf den lebendigen Strom stießen ... weil das alles also persönliche Kanäle waren, durch die der Geist selbst aus Gott zu uns floß, darum sollten auch wir Evangelischen uns nicht schämen oder weigern, die Namen zu nennen und die Geschichten zu erzählen, in denen Gott uns durch einen anderen Menschen gereinigt, erquickt und gestärkt hat. ———
Das aber kann wohl eigentlich nur jeder von uns für sich in Erinnerung rufen – durch wen Gott ihn erreichte –, so dass die Predigt enden müsste in der dankbaren Wiederbegegnung mit den menschlichen Quellen, die unseren Glauben ermöglichten oder vertieften.
Aber dem Heiligen Geist und dem kommenden Pfingstfest zu Ehren seien einige wenige Tröpfchen des so reichlich ausgegossenen Segens erwähnt.
In meinem Vikariat hatten wir Nachbarn – Hedwig und Werner Welling – denen man in der Gemeinde nachsagte, sie hätten „Blutgruppe: Diakonie“: Was praktisches Christentum ist, wäre auch auf dem Berg der Brotvermehrung nicht besser zu lernen gewesen als bei ihnen.
Was wiederum der (Heidelberger) Katechismus meint, wenn er das Gebet „das vornehmste Stück der Dankbarkeit“ nennt**, konnte jedermann bis vor drei Wochen am fröhlichen und ergreifenden Lebens- und Todesmut unseres schwäbischen Sonntagskindes Hanna Stöffler beobachten.
Wie das Evangelium aber alle Menschenweisheit zu Torheit macht, das habe ich noch in den letzten Tagen erfahren, als bei einem schwierigen medizinischen Gespräch über die Frage der Abtreibung die Leiterin der Kaiserswerther Behindertenhilfe es schlicht und unumstößlich bezeugte: „Jeder Mensch ist ein Kind Gottes, das zu seiner Herrlichkeit berufen ist!“ —
Ich höre auf, und habe doch eben erst begonnen, von den Strömen zu reden, die Gott um uns herum fließen lässt.
Wo ich ende, möge nun aber ein jeder von uns für sich fortfahren und Gott danken für den Segen, der uns aus lebendiger Quelle erreicht, und ihn bitten, dass wir selbst auch weiterleiten, was uns erfüllt und leben lässt.
Amen.
Kantate, 22.05.2011, Mt. 21, 14-17, Stadtkirche, Holger Pyka
Liebe Gemeinde,
cantate – singt!
Das ist der Name dieses Gottesdienstes in der Osterzeit. Cantate – singt! Das ist die Aufforderung an uns als Gemeinde, die sich heute zum Gottesdienst versammelt. Cantate - Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder (Psalm 98,1)! Das ist die Aufforderung an alle Menschen, die das erfahren, hören, erahnen, erhoffen, die ein Lied davon singen können, dass Gott Wunder tut, dass er, seine Kraft, sein Frieden in unserem Leben gegenwärtig ist. Und es ist eigentlich eine unnötige Aufforderung, denn wem das Herz voll ist, dem geht bekanntlich der Mund über (Lk 6,35).
Cantate, singt, das ist auch der Name einer musikalischen Formenfamilie, die besonders in der evangelischen Kirche große Bedeutung hat durch ihre Hauptväter Bach und Telemann. Vor allem mit ihren Werken werden Kantatengottesdienste gestaltet, die auch außerhalb der Osterzeit viele Sonntage zum Sonntag Cantate und die evangelische Kirche zu einer musikalischen Kirche machen.
Im Morgengrauen des 21. Jahrhunderts scheint die Kirchenmusik eine Möglichkeit für die Kirche, ihre Stimme laut und wohlklingend in der Gesellschaft zu erheben. Im EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ lesen wir:
Die Kirchenmusik wird auch im Jahre 2030 ein Erkennungszeichen evangelischer Frömmigkeit sein, in ihren künstlerisch-konzertanten Hochformen ebenso wie in ihrer populären Gestalt. An großer geistlicher Musik wird das Geheimnis einer anderen Sprache des Glaubens erfahrbar. […] Die Finanzierung von kirchenmusikalischen Angeboten durch deren Adressaten wird allerdings an Bedeutung zunehmen. Neben der Kinder- und Jugendarbeit hat die Kirchenmusik die größten Chancen, durch Qualität, Engagement und Kooperationsmöglichkeiten für eine solche Refinanzierung zu sorgen.
(www.ekd.de/download/kirche-der-freiheit.pdf, S. 61)
Klar: Will man gute Arbeit machen, kostet das was. Macht man gute Arbeit, finden sich leichter Sponsoren. Eine Hand wäscht die andere, klingt alles ganz logisch, klingt alles ganz gut – wenn nicht der heutige Predigttext das Arrangement stören und einige unschöne Misstöne in das Lob der Kirche und ihrer Musik einstreuen würde. Hören Sie selbst, ich lese Mt 21,14-17 (Zürcher Bibel):
14 Und es kamen Blinde und Lahme im Tempel zu ihm, und er heilte sie. 15 Als aber die Hohen Priester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien: Hosanna dem Sohn Davids!, wurden sie unwillig 16 und sagten zu ihm: Hörst du, was die da sagen? Jesus sagt zu ihnen: Ja! Habt ihr nie gelesen: Aus dem Munde von Unmündigen und Säuglingen hast du dir Lob bereitet? 17 Und er liess sie stehen, ging aus der Stadt hinaus nach Betanien und blieb dort über Nacht.
Liebe Gemeinde, eine kleine Episode, nur drei Verse – und doch so passiert so einiges. Direkt im ersten Satz – und es kamen Blinde und Lahme zu ihm im Tempel. Das ist ein Skandal, denn die dürfen das eigentlich gar nicht. Im Buch Levitikus, einer Sammlung von Bestimmungen über den Dienst der Priester am Heiligtum, heißt es (21,18): Denn keiner, an dem ein Fehler ist, soll herzutreten, er sei blind, lahm, mit einem entstellten Gesicht, mit irgendeiner Missbildung. Im zweiten Buch Samuel (5,8) ebenso deutlich – und nicht mehr nur auf die Priester beschränkt: Kein Blinder und Lahmer darf ins Haus kommen. Aus damaliger Sicht waren solche Verbote kultisch angemessen, weil im Tempel nichts Abweichendes, niemand so offenkundig Verletztes und Unvollkommenes die Reinheit des Kultes, die Schönheit des Ortes und die Vollkommenheit des gegenwärtigen Gottes stören durfte. Aus unserer heutigen Sicht sind sie diskriminierend und gemein. Und dabei doch nichts Unbekanntes.
Nun kommen sie aber doch in den Tempel, die Blinden und Lahmen. Und zwar ganz unvermittelt und plötzlich, vielleicht erinnern Sie sich noch an den Anfang unseres Predigttextes: „Und die Blinden und Lahmen kamen zu ihm in den Tempel.“
Das „und“, „und es kamen…“ setzt etwas voraus, das vorher passiert ist. Und vorher ist etwas passiert: Kurz bevor die Blinden und Lahmen in den Tempel kommen, musste dieser erst einmal geräumt werden, von den Händlern und Geldwechslern, die den Innenhof bevölkerten. Dazu muss man sagen: Das waren keine ungebetenen Gäste, im Gegenteil: Bei ihnen konnte man sein Geld gegen die gültige Tempelwährung eintauschen und direkt geeignete Opfertiere kaufen. Ein praktisches Arrangement also, von dem alle Beteiligten etwas haben und das den Betrieb am Laufen hält, den kultischen, gottesdienstlichen und den geschäftlichen Betrieb.
Da ist natürlich für Blinde und Lahme kein Platz. Die haben kein Geld, vergraulen die Kundschaft und stören den Ablauf.
Und so müssen die Händler und Geldwechsler erst einmal den Tempel verlassen. In englischen Bibeln ist diese Episode meistens überschrieben als „the temple incident“, „der Tempelzwischenfall“. Jesus selbst fällt zwischen die Zahnräder eines gut geschmierten, wie geölt laufenden und lukrativen Betriebs und unterbricht ihn. Erst dann wird überhaupt Raum frei für die Versehrten und Verletzten, die Imperfekten und Zerbrochenen. Erst dann bekommt der Tempel seinen Sinn und seine Daseinsberechtigung zurück, wenn die Blinden und Lahmen dort Schutz und in der heilenden Gegenwart Gottes Hilfe finden. Und sie kamen in den Tempel – und Jesus heilte sie. Eine kleine Randnotiz im Text, nicht mehr – und doch im Leben der Betroffenen ein neuer Anfang, vielleicht ein neuer Anfang für diese ganze Welt – denn was sich dort im Tempel abspielt, ist nichts weniger als ein Aufblitzen des Reiches Gottes, in dem Blinde sehen und Lahme gehen, Zerschlagene sich aufrichten und Verstummte ihre Sprache wiederfinden.
Ach, könnte es doch so bleiben. Aber natürlich bleibt es nicht so. Die Hohenpriester und Schriftgelehrte, die Funktionäre des Tempels, die für den geregelten Betrieb verantwortlich sind, sehen das Spektakel, sehen die Wunder und hören die Kinder durcheinander „Hosianna“ schreien. Auch das noch. Die große geistliche Musik, die wohlklingenden liturgischen Gesänge – aus jungen, unbekümmerten Kehlen krächzen sie schief und krumm durcheinander, ohne jeden musikalischen Anspruch, ohne jeden heiligen Ernst und bestimmt doch ohne jedes Verständnis für die tiefere Bedeutung. Es ist ja so: Musik wird als störend oft empfunden/ weil stets sie mit Geräusch verbunden (Wilhelm Busch).
(Nebenbei: In Schweden gibt es seit einigen Jahren Projekte mit „Spielkirchen“, kleinen nachgebauten Kirchen mit Bänken und Kanzeln in Kindergrößen, sogar mit liturgischer Kleidung in Kindergrößen, in denen die Kleinen dann Gottesdienst spielen dürfen. Bei den Kindern sind diese Spielkirchen sehr beliebt, aber fast jede Gemeinde berichtet auch von massiver Kritik und der Angst, etwas so Ernstes wie Gottesdienst dürfe würde doch entweiht, wenn man damit spielt! Aber zurück nach Jerusalem).
Als aber die Hohen Priester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien: Hosanna dem Sohn Davids!, wurden sie unwillig 16 und sagten zu ihm: Hörst du, was die da sagen? Jesus sagt zu ihnen: Ja! Habt ihr nie gelesen: Aus dem Munde von Unmündigen und Säuglingen hast du dir Lob bereitet?
Erst einmal, ganz schlicht und ergreifend: Ja. Ja zu den Blinden und Lahmen im Tempel und ja zu den Kindern, die rufen: Hosianna, wörtlich übersetzt: „Ach, Herr, hilf!“
Ja zu den Glaubensäußerungen und dem Gesang all derer, von denen man es nicht erwartet, die nicht in unsere Raster passen und die wir so oft überhören.
Ja zu dem, was erst passieren musste, damit dieser Vorgeschmack auf das Reich Gottes möglich werden konnte.
Vielleicht sollten wir uns mal fragen, liebe Gemeinde, wo wir uns heute solche Möglichkeiten verbauen, solche Räume zustellen und solche Zeiten zupacken.
Wenn im Alltags- und Berufsleben alles, aber auch alles minutiös durchgeplant und durchgetaktet ist- wo bleiben dann die Zeiten, in denen das passieren kann, womit ich nicht mehr rechne, weil ich es nicht machen kann?
Wenn überall um uns herum alle Lebensbereiche nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten durchorganisiert werden – wenn Schüler keine Schüler mehr, sondern „Bildungskunden“ sind? Wenn Bekanntschaften zu „Sozialkontakten“ degradiert werden? Wenn wir nicht mehr in Kneipen oder sonstwohin gehen müssen, um neue Leute, vielleicht den Partner fürs Leben kennen zu lernen, sondern uns im Internet von Bekanntschaftsbörsen computergestützt die Menschen ausrechnen lassen können, mit denen sich ein Kontakt lohnen könnte? Wo finden dann die Begegnungen statt, wo treffe ich auf die Menschen, die mich überraschen und tiefer berühren als gedacht?
Wenn wir unsere evangelische Kirchenmusik nur noch unter dem Gesichtspunkt der Professionalisierung und der Attraktivität nach außen betrachten – welche wichtigen Zwischentöne und Zwischenrufe überhören wir dann, und wem schnüren wir damit die Kehle zu, weil ihre eigenen Gesänge und Gebete zu schief und zu krächzend klingen, weil sie unseren Maßstäben nicht genügen?
Und wenn wir ständig nach möglichen Refinanzierungsmöglichkeiten schielen, um unseren Laden am Laufen zu halten – wo begeben wir uns damit in Abhängigkeiten, die das Gegenteil einer „Kirche der Freiheit“ schaffen? Es ist doch so: Wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing!
Vielleicht gibt es Arrangements im Leben, die gut laufen, aber von denen wir uns verabschieden müssen, so es im Predigttext von Jesus heißt: Und er ließ sie stehen und ging aus der Stadt hinaus. Vielleicht gibt es geschäftliche Partner im Leben, die auch wir stehen lassen müssen, weil sie uns in Verhaltensweisen und Formen festhalten, in denen kein Raum für Neues ist.
Vielleicht müssen wir gerade als Kirche wieder lernen, alles zu prüfen und das Beste zu behalten – und dann auch zu mancher Öffentlichkeit, die man uns anbietet und zu mancher Finanzierungsmöglichkeit Nein zu sagen.
Wenn wir das nicht schaffen, dann brauchen wir Hilfe. Dann tun wir gut daran, in das Krächzen der Kinder im Tempel einzustimmen: Hosianna, ach, Herr, hilf doch!
Denn dann ist es an der Zeit, dass jemand die Geldwechsler und Taubenverkäufer aus unseren Köpfen und unseren Herzen vertreibt und dort Raum schafft für neue Erfahrungen und Gehör für ungewohnte Klänge.
Dann wird wahrscheinlich so Manches nicht mehr so laufen wie bisher – aber wenn uns eins Mut zur Veränderung machen kann, dann ist es doch diese Szene im Tempel und das Wundersame, das sich dort abspielt.
Lassen Sie uns zum Schluss noch ein wenig im Tempelhof stehen bleiben und die Eindrücke von dort mitnehmen nach Düsseldorf:
Umgestürzte Marktstände und Tische, Münzen liegen auf dem Boden zerstreut. Das Marktgeschrei der Händler ist verstummt. Die Vogelkäfige sind umgestoßen und aufgebrochen, die Tauben flattern aufgeregt durcheinander und fliegen eine nach dem anderen in den Himmel. Und wo man hinguckt, Blinde, Lahme, Bucklige, sie ächzen und stöhnen. Und dann: Der milchige Blick eines blinden Alten in der Ecke wird plötzlich wieder klar, er blinzelt ein paar Mal und saugt dann mit großen Augen all die Farben, all das Licht um sich herum auf. Ein paar Meter weiter die alte Frau mit dem gekrümmten Rücken, den sie seit Jahren mit sich herumschleppt wie eine Ladung Steine – sie richtet sich auf! Direkt daneben ein Lahmer, der sich langsam erhebt und auf wackeligen Beinen seine ersten Schritte macht. Und plötzlich plärren die Kinder los, ohne Rücksicht auf Verluste und auf die Konventionen ihrer erwachsenen Umgebung, wild durcheinander singen und lispeln und lallen und rufen sie:
Hosianna dem Sohn Davids! Darum, liebe Gemeine: Cantate. Singt! Nehmt euch die Kinder zum Vorbild-
Singt, als ob niemand zuhört,
tanzt, als ob niemand zuschaut.
Liebt, als wäret Ihr nie verletzt worden
und lebt, als wäre es der Himmel auf Erden.
(Mark Twain).
Cantate. Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder.
Amen.
Quasimodogeniti, 01.05.2011, 1.Petr.1,3; Tit.3,5;Joh.3,3ff;1.Joh.4,7;5,1, Stadtkirche + Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
„Wiedergeburt - Selbstwerdung unter den Augen Gottes"
(1.Petr.1,3; Tit.3,5;Joh.3,3ff;1.Joh.4,7;5,1)
Liebe Gemeinde,
gerade haben wir Jasper/Lilli getauft. In der biblischen Tradition wird die Taufe auch „Bad der Wiedergeburt" genannt. So heißt es im Titusbrief: „Gott macht uns selig durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist." Und in der Lesung aus dem 1.Petrusbrief vorhin hieß es: „Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten." Ich möchte in der Predigt heute morgen dieses Stichwort von der „Wiedergeburt" einmal aufnehmen und näher betrachten.
Zunächst einmal löst das Wort „Wiedergeburt" bei jeder und jedem von uns bestimmte Vorstellungen aus. Da fallen einigen vielleicht Schlagzeilen ein wie „Ich lebte schon einmal". Wiedergeburt im Sinne von Reinkarnation. Diese Vorstellung ist uralt. Besonders wichtig ist sie für den Hinduismus und den Buddhismus. Für wenig Informierte hört sich das ja faszinierend an: man wird nicht nur einmal geboren, nein, man hat mehrere Chancen - wie mit einem Jahreslos der Fernsehlotterie. Wiedergeburt als Lebenslotterie, bei der ein Hauptgewinn winkt. Doch damit ist man weit entfernt von dem, was sie im Hinduismus oder im Buddhismus wirklich ist: nämlich eher eine Tretmühle, an die man gefesselt ist. Wo man sich von einem Leben zum anderen hin bewähren muss, wo es viel Rückschritt gibt und wenig Vorankommen. Wo man von der Sehnsucht her lebt, irgendwann nicht mehr leben zu müssen, sondern einzugehen ins Nirwana, in ein „Alles und Nichts", wo das persönliche Leben aufgehoben ist.
Vielen bekannt ist sicher auch die pietistisch - charismatische Anschauung über die Wiedergeburt. Georg W. Bush bezeichnete sich ja bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit als „wiedergeborenen Christen". Wer in bestimmte Gruppen und Gemeinden gerät, wird als erstes nach seinem Namen, als zweites aber bestimmt schon gefragt: Sind sie wiedergeboren? Es wird unterschieden zwischen normalen Christen und „wiedergeborenen" Christen, die den Augenblick, das Datum ihrer Bekehrung und Wiedergeburt meist ganz genau angeben können. Erst mit diesem Ereignis gehören sie wirklich zu Gott. Die Wiedergeborenen sehen sich nicht selten als christliche Elite an.
Bei all dem könnte man sich als „Normal-Christ" natürlich fragen, ob es nicht am besten wäre, die ganze Angelegenheit mit der Wiedergeburt auf sich beruhen zu lassen. Aber wer in den neutestamentlichen Texten liest, trifft immer wieder auf Stellen, die vom „Bad der Wiedergeburt" sprechen oder wo es heißt „Wiedergeboren zur lebendigen Hoffnung", „von Gott geboren werden" oder „von neuem geboren sein". Ich selbst habe lange Zeit einen Bogen um solche Texte gemacht. Aber inzwischen haben sich diese Redewendungen für mich mit einem Sinn gefüllt, der mir wichtig geworden ist. Als Symbol-Worte sagen sie nämlich etwas Wesentliches über unser Leben aus.
Ich lade sie darum nun ein, dem Symbol-Wort „Wiedergeburt" nachzugehen.
A. Wiedergeburt
Wir können daraus entnehmen, dass die Geburt im biologischen Sinne nicht alles ist, was Leben ausmacht. Sie ist und bleibt selbstverständlich die Voraussetzung für unser Leben. Aber eben Voraussetzung, die auf Fortführung und Entfaltung wartet. Dazu ein Beispiel: Einem Sklaven werden die Ketten abgenommen, ihm wird die Freiheit gegeben. Wenn er jetzt sitzen bleibt und weiter auf Befehle wartet: ist er dann wirklich frei? So heißt es ja auch von unserem Leben: Zur Freiheit hat uns Christus befreit - aber wir müssen sie ergreifen, sie für uns umsetzen und verwirklichen.
Und so ist es auch mit der Geburt, mit unserem Leben: das Leben ist uns von Gott geschenkt, aber wir müssen die Möglichkeiten, die Gott uns mitgegeben hat, ergreifen und entfalten. Und es ist jeweils eine höchstpersönliche Aufgabe, die Fähigkeiten, die Gottes Gaben an uns sind, zu entdecken, zu entwickeln und zu nutzen. Es geht um „Selbst-Werdung", darum, zu werden, was wir von Gott her sind.
B. Wiedergeburt
Für mich ergeben sich beim meditativen Nachdenken über dieses Wort folgende Assoziationen:
1) Eine Geburt ist eine anstrengende Angelegenheit, harte Arbeit für Mutter und Kind. In dem Sinne ist auch die Entwicklung der eigenen Person wirkliche Arbeit, Arbeit an sich selbst.
2) Bis es zur Geburt kommt , braucht es eine lange Reifezeit. Es ist also wichtig, sich für die eigene Entwicklung wirklich Zeit zu nehmen und Zeit zu lassen. Aber auch anderen für ihre Entwicklung Zeit zu geben.
3) Auch die Geburt selbst braucht Zeit. Wehen kommen und gehen. Zwischen ihnen gibt es Ruhepausen. Die sind lebensnotwendig für Mutter und Kind. Das heißt übertragen auf die Wiedergeburt, die Entwicklung des Selbst, der eigenen Person: es handelt sich nicht um ein Hauruck-Erlebnis, womöglich mit Orts- und Datumsangabe, sondern um einen Prozess mit höchst unterschiedlichen Erlebensphasen, der sehr unterschiedlich lang dauert, bei jeder und jedem anders ist in Verlauf und Zeitdauer. Es gibt sowohl Phasen des Fortschreitens wie des Atemholens und Verweilens.
4) Eine Geburt kennt Momente der Angst: schaffe ich es? Wird das Kind leben? Wird es gesund sein? Auch die Selbstwerdung ist kein unangefochtener Siegeszug, sondern immer wieder belastet von Zweifeln und Ängsten: bin ich auf dem richtigen Weg? Halte ich die Belastungen, die er mit sich bringt, durch?
5) Bei einer Geburt braucht es Geburtshelferinnen und -helfer. So auch bei der Wiedergeburt. Jeder Mensch braucht dabei Begleitung. Die kann sehr unterschiedlich aussehen, wie bei der Geburt ja auch: da gibt es die Fachleute, die Hebamme, die Krankenschwester und den Arzt. Aber wichtiger ist für viele Frauen, dass der Partner da ist, dass er die Hand hält und mit seiner Gegenwart einfach Geborgenheit und Sicherheit vermittelt. Dass ein liebender Mensch einfach da ist, zu einem steht, auch wenn man sich verändert, das ist für viele, die in einer kritischen, schwierigen Phase ihrer Entwicklung stehen, das Allerwichtigste - so sinnvoll gleichzeitig die Begleitung durch einen Seelsorger oder Therapeuten sein kann.
6) Für die Geburt braucht es einen sicheren Ort, einen geschützten Raum. Für mich ist es eine ganz wesentliche Aufgabe der Gemeinde Jesu, solch ein Raum der Geborgenheit zu sein. Wo kein Druck ausgeübt wird, wo jede und jeder sein kann, wie er ist und sich so geben kann, wie es ihm gerade zumute ist - ohne bewertet und beurteilt zu werden. Wo der betreffende Mensch durch sie, die Gemeinde, das Ja Gottes wirklich erlebt, das ihm in Verbindung mit der Taufe zugesprochen wird: Gott liebt dich, er bejaht dich so, wie du bist; er will dein Wachsen und Werden.
Der Mensch, der darum weiß - um diese Treue und Gegenwart Gottes - der hat eine ganz andere Basis für das Wagnis seiner Wiedergeburt, seiner Selbstwerdung als einer, der von Gott nichts weiß.
Zusammenfassend ist für mich deutlich: das, was die Bibel „Wiedergeburt" nennt und was ich übersetze mit „Selbstwerdung unter den Augen Gottes", ist ein anstrengender, unseren ganzen Einsatz fordernder Prozess. Doch es stimmt: die Freude ist groß, wenn das Kind endlich da ist, wenn es das Licht der Welt erblickt hat. Wer sich auf diesen Prozess einlässt, erlebt genau das. Das Licht der Wahrheit über das eigene Leben vertreibt die Finsternis des Versteckspiels und der Selbsttäuschung und die damit verbundene Angst. Ich kann wirklich das entfalten, was Gott in mich hineingelegt hat.
Wiedergeburt - Selbstwerdung - Selbstverwirklichung: das heißt Bewährung des geschenkten Lebens. Dazu reicht das Leben, das uns Gott mit der Geburt gegeben hat, als Zeit aus. Aber wir müssen diese Zeit auch wirklich nutzen.
(Vielleicht steht genau das hinter der Anziehungskraft der Vorstellung von einer wiederholten Geburt, von vielen Leben: dass man sich Zeit lassen will mit der Arbeit an sich, lieber in den Tag hineinleben will; dass die Verantwortung, die hinter jedem Tag, hinter jeder Stunde steht, schreckt und man deshalb lieber alles auf später verschiebt nach dem Motte „Im nächsten Leben wird alles anders, alles besser".)
Jesus hat sich in seiner Verkündigung jeder Spekulation auf ein späteres Leben enthalten. Für ihn war das Leben eine einmalige und kostbare Gabe, die Gelegenheit, Gott zu suchen und zu finden, Zeit, um Frucht zu bringen. Sein Ruf zum Glauben war gleichzeitig ein Ruf zum neuen Leben.
Solch neues, selbstergriffenes Leben - es bleibt immer Geschenk und Überraschung, die tief dankbar sein lässt. So ist es ja auch bei Eltern mit ihren Kindern: sie wissen zwar, dass und wie sie das Kind „gemacht" haben, aber wenn es dann da ist, ist es ein kostbares Geschenk, ein Wunder, für das sie nur dankbar sein können.
Und solche Dankbarkeit lässt uns davon weitererzählen, was wir an uns und mit uns erlebt haben - was nichts anderes bedeutet als von unserem Glauben zu erzählen, der notwendig immer auch mit unserem Leben, mit unserem Wachsen und Reifen zu tun hat.
Amen
Ostermontag, 25.04.2011, Taufgottesdienst im Freibad, Holger Pyka
Predigt im Taufgottesdienst im Kaiserswerther Freibad
Ostermontag 2011
Liebe Gemeinde,
eins ist sicher: Wenn wir hier heute fertig sind, haben wir was zu erzählen!
Ich kann mir das lebhaft vorstellen, so beim Kaffeetrinken:
„Und, schöne Ostern gehabt?"
„Ja, doch. Wir waren im Freibad."
„Och, schön. War ja auch das Wetter für."
„Ja, aber wir waren da in einem Gottesdienst."
„Eh... in einem Gottesdienst? Im Freibad?"
„Ja."„Wie, Gottesdienst... haben die da getauft? Hahaha..."
„Ja."
„Wie, im Wasser?! Iihh... Ja, darf man das denn?!"
Darf man das denn? Die Frage kommt ja nicht von ungefähr. Im Freibad gelten strenge Regeln, ich zitiere mal aus der Badeordnung unseres Kaiserswerther Schwimmbads:
Da heißt es: „Im Interesse aller Badegäste ist alles zu unterlassen, was der Aufrechterhaltung der Sicherheit, Ruhe, Ordnung und Reinlichkeit in den Badeanlagen widerspricht", und ich denke, wir wissen alle, was mit dem Letzten, von wegen Reinlichkeit, gemeint ist. Außerdem gilt: „Innerhalb des Bades ist der Aufenthalt nur in Straßenkleidung oder normaler Badebekleidung erlaubt." Danke an der Stelle an die Schwimmmeister, dass wir hier heute im Talar rumlaufen dürfen! Und natürlich: „Das Springen vom Beckenrand ist [...] nicht erlaubt! Das Benutzen von aufblasbaren Plastiktieren, Luftmatratzen o.ä. ist [...] nicht erlaubt. Das Mitbringen von Hunden oder sonstigen Tieren und von Rundfunkgeräten, CD-Playern o.ä. ist nicht gestattet."
Ob das Taufen im Schwimmbad erlaubt ist oder nicht, darüber verrät die Badeordnung nichts.
Wo doch sonst so vieles verboten ist, was Spaß macht!
Eine Menge von Regeln, die natürlich alle irgendwie gut begründet sind und irgendwie Sinn machen, aber die auch vieles verbieten, was Spaß macht - ich glaube, viele Menschen verbinden das auch mit der Kirche. Man muss ja sagen: Lange Zeit hat die Kirche sich so aufgeführt, als wäre das tatsächlich ihre wichtigste Aufgabe, den Leuten zu sagen, was alles verboten ist. Und was erlaubt, aber das war eher weniger. Und auch heute noch hat man ja das Gefühl, wenn man in den Gottesdienst kommt, dass es da eine ganze Menge offener und ungeschriebener Regeln gibt: Der Aufenthalt in Badekleidung kommt da sicherlich nicht so gut, und auch da gilt: „das Mitbringen von Hunden oder sonstigen Tieren und von Rundfunkgeräten, CD-Playern o.ä. ist nicht gestattet." Manchmal hat man das Gefühl, dass da Leute, die immer schon da waren, ihre alteingesessenen Stammplätze haben und wehe, man kommt ihnen da in die Quere - kennt man ja vielleicht auch vom Schwimmbad.
Also, ganz aus der Luft gegriffen ist die Frage ja nicht - darf man das?
Liebe Gemeinde, mit diesem Gottesdienst heute sagen wir: Ja. Die ersten Christen haben auch nicht über Taufschalen, Taufbecken, Taufsteinen in ihren Kirchen getauft - die ersten Christen hatten nämlich noch gar keine Kirchen. Und so hat man früher in dem Gewässer getauft, das gerade zur Hand war. Jesus ist im Jordan getauft worden, in einer Geschichte in der Bibel sagt einer, der gerade erst vom Glauben gehört hat und zufällig an einem Tümpel vorbei kommt (Apg 8,36): „Siehe da, da ist Wasser, was hindert's mich, dass ich mich taufen lasse?"
Als man noch in Flüssen, Seen und Teichen getauft hat, war das natürlich eine ziemlich nasse Angelegenheit. Der Täufling und der, der die Taufe vorgenommen hat, sind beide ins Wasser gestiegen, und der Täufling wurde dreimal richtig untergetaucht. Im Namen des Vaters -Luft anhalten und runter! Und des Sohnes - und nochmal! Und des Heiligen Geistes - und nochmal!
Hintergrund dieses Untertauchens war die Vorstellung, dass mit der Taufe ein ganz neuer Lebensabschnitt beginnt, wenn Christus sagt: Wir gehören jetzt zusammen! Und so wie das Wasser all das abwäscht und runterspült, was einem an Dreck in der Kleidung und an Staub auf der Haut hängt, fährt Gott selbst in der Taufe wie mit einem großen Waschlappen durch das Gesicht, wäscht allen Schlaf aus den Augen, alle Zornesfalten aus dem Gesicht und alles, was noch an uns klebt und was im Leben nicht so gut gelaufen ist. Und dann lässt er das dreckige Badewasser ablaufen und sagt: Das zählt jetzt alles nicht mehr. Du bist sauber.
Komm her zu mir!
Und dieses komplette Untertauchen erinnert uns auch daran, dass der Glaube etwas ist, das uns von Kopf bis Fuß betrifft, als komplette Menschen mit einem ganzen Leben und dass Gott uns ganz nah ist, wie das Wasser, das durch die Haare, vielleicht auch in die Ohren, bis in die Poren eindringt.
Mit der Zeit hat man in der Kirche damit aufgehört, als man dazu überging, kleine, ganz kleine Kinder zu taufen. Die kann man nicht so ohne weiteres kopfüber ins Wasser tauchen. Deswegen gießt man denen fast schon symbolisch nur noch dreimal ein kleines bisschen Wasser über den Kopf. Und vielleicht auch, weil die Pfarrer teurere und aufwändigere Kleidung bekamen, mit denen man nicht so ohne weiteres ins Wasser wollte. Und vielleicht auch, weil man mehr und mehr gesagt hat: Naja, der Glaube, der hat mit Äußerlichkeiten nichts zu tun, der hat mit dem Kopf und dem Herzen zu tun, mit dem, was ich ganz persönlich in mir drin fühle.
All das ist bestimmt nicht falsch, und Gottes Zusage: Hey, ich bin bei Dir! gilt auch denen, die als Kinder getauft worden sind und sich gar nicht mehr so richtig dran erinnern.
Aber wenn wir ältere Menschen taufen, so wie heute, dann finde ich es auch eine gute Sache, das etwas größer aufzuziehen. Denn wenn jemand sich selbst dazu entschieden hat, dann ist das vielleicht wirklich ein richtiger Einschnitt im Leben. Und da passt es doch ganz gut, das an Ostern zu machen, dem ganz großen Einschnitt, den Gott selbst gemacht hat, als er Jesus von den Toten auferweckt hat und damit deutlich gemacht hat, dass das, was Jesus Christus gesagt und getan hat, immer noch gilt und immer noch weiter geht. Gott lässt niemanden allein, auch im Tod nicht, weil wir zu ihm gehören.
Und da habt Ihr und haben Sie wirklich was zu erzählen. Dass wir heute im Schwimmbad getauft haben, ja, OK, das ist vielleicht wirklich etwas Außergewöhnliches. Aber das, was sich wirklich zu erzählen lohnt, ist, DASS wir taufen und getauft werden und WARUM.
Weil unser Trost im Leben und im Sterben darin liegt, dass wir nicht uns selbst, sondern unserem Heiland Jesus Christus gehören, der uns erlöst und zu Gott geführt hat. Das ist so sicher, wie unsere Täuflinge heute das Wasser an den Beinen und auf dem Kopf gespürt haben. Sicherer noch. Denn Eure Kleidung ist bald wieder trocken, die Haare geföhnt und wieder ordentlich frisiert, die Gemüter werden sich beruhigt haben, und wenige, die hier ihre Bahnen schwimmen, werden wissen, dass Ihr hier getauft seid. Aber die Zusage Gottes bleibt bestehen. Solange wir leben - und noch darüber hinaus.
DAS können wir wirklich weitererzählen:
Christus ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden - und wir mit ihm. Frohe Ostern!
Ostersonntag 24.IV.2011 Matthäus 28,1-10 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Ostersonntag 24.IV.2011
Matthäus 28, 1 – 10
Liebe Gemeinde!
Wie wär’s zu Anfang mit einer Lebenslüge, die jeder von uns in den Kindertagen von den Liebsten und Besten gehört hat?
Eine Lüge, die obendrein auch noch eine Fälschung ist, weil sie im Namen zweier Brüder verbreitet wird, die angeblich nichts besseres wussten, um ihre Geschichten zu beenden.
In Wirklichkeit haben ihre Geschichten ganz andere Schlüsse, doch für uns wurde jedes Grimm’sche Märchen immer mit der scheinbaren Alltäglichkeit gekrönt, die doch so unwahr ist: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute..........“
Nein, liebe Kinder, sie sind alle gestorben. Sie haben Wölfe und Verwünschungen, Fluchten und Hungersnöte überlebt, sind Hexen und wilden Riesen entkommen und aus den Wäldern und Mondgebirgen ihrer Abenteuer heimgekehrt – die Märchenfiguren –, um dann entweder zu heiraten oder ein Reich zu erben oder ein kleines Gärtchen zu hegen oder nichts zu tun, ... außer eines Tages sehr wohl zu sterben.
Da haben Euch die Erwachsenen im Namen der unschuldigen Brüder Grimm angelogen, wann immer sie Euch glauben machten, ein Dornröschen oder ein Hans im Glück oder ein König Drosselbart oder ein tapferes Schneiderlein mussten nicht mehr sterben. ——
Aber, so mag man fragen – aber steht denn nicht heute, am dritten Tage nach dem Kreuzestod Jesu das selbe Märchen in unserem Buch? Ist der Schluss, den bei Jacob und Wilhelm Grimm einzig das seltsame Märchen „Fundevogel“ hat, nicht eine Art volkstümlicher Osterpredigt, zumindest ein fernes Echo des Evangeliums vom ewigen Leben ohne den Tod?
Nein!
Es sind zweierlei ganz unterschiedliche Botschaften.
Denn die Wendung, mit der die Märchen abgerundet werden, hat im Vergleich zum Evangelium von der Auferweckung die entgegensetzte Wirkung:
Der Märchenschluss soll einschlafen helfen.
Die Osterkunde dagegen erweckt.
Die Kinderseele darf beruhigt meinen, alle Verwicklungen und Angst, die gerade geschürt wurden, decke das Sprüchlein von den Lebenden, die nicht sterben, wieder zu, denn dann geleitet es die Hörenden in eine sorglose Nacht.
Bei der Nachricht aus Jerusalem dagegen, dass das Grab Jesu von Nazareth vom Himmel her aufgebrochen wurde, wäre seelenruhiger Schlummer so ziemlich das tiefste Missverständnis.
Wenn Ostern nämlich schon eines jetzt am Tag und hier bei uns bewirken kann, dann gewiss nicht entspanntes Aufatmen, sondern einen beschleunigten Puls.
Denn anders als das Märchenmotiv ungestörten Fortlebens steht die Auferweckungspredigt nicht unter dem Zeichen „Ende gut, alles gut!“, sondern sie verkündet, dass das tatsächlich schreckliche Ende einer noch stärkeren Kraft, einer noch erschütternderen Tatsache hat weichen müssen und dass dieser Durchbruch unter gewaltigen Stößen und Bewegungen gerade beginnt, um sich zu greifen.
Die Auferweckung des Gekreuzigten verharmlost nämlich anders als der tröstliche Märchenschluss die Dinge weiß Gott nicht. Sie ist keine Fußnote oder Richtigstellung, mit der das Vorherige halb so schlimm gemacht wird.
Das liegt daran, dass sie eben kein Märchen und keine Dichtung, keine Fälschung und keine Interpretationssache ist.
Sie ist das, was man im altmodischen Latein der Gebildeten einst ein „brutum factum“ nannte: eine schwere Tatsache und keine leicht dahingesagte, beschönigende Lüge. ——
Tatsächlich ist die Auferweckung schwer.
Sie ist so tonnenschwer, dass sie nicht etwa mit dem Flügelschlag eines aufwärtsschwebenden Falters oder Vogels oder Engels beginnt – oder wie wir uns sonst gängige Symbole des aus der Larve gekrochenen, aus dem Ei geschlüpften, in den Lüften spielenden neuen Lebens denken – nein, Ostern ist so schwer, dass es donnert und dröhnt:
Ein Erdbeben zerreißt den frühmorgendlichen Frieden, ein Engel folgt der Schwerkraft hinunter, ein Felsbrocken poltert um.
Diese handfest irdischen, materiellen, seismologischen Begleitumstände, die uns daran erinnern, dass wir es hier mit einem Geschehenszusammenhang zu tun haben, der nicht aus allen sonstigen geschichtlichen und physikalischen Bedingungen herausgelöst ist, schildert kein Evangelist uns so bewusst wie Matthäus.
Er hält den Osterglauben der Gemeinde fest im Gefüge der raumzeitlichen Realität – in einem Gefüge allerdings, in dem ein umwälzendes, umstürzendes Ereignis stattgefunden hat, durch das die Welt insgesamt verrückt worden ist.
Denn die schwere Tatsache, dass keine Gewissheit den Auferstehungsmorgen unbeschadet überstehen kann, löst Druck- und Schockwellen aus, die bis heute nachzittern.
Wer hört, was hier zu hören ist, dessen Puls geht schneller, dessen Atmung wird unregelmäßiger:
Der Tod ist nicht final?!
Das Leben ist kein Energieverbrauch, der sich unweigerlich erschöpft?!
Der Stoff aus dem das Menschsein ist, hat kein unumkehrbares Gefälle hin zur Selbstvernichtung?!
Das sind die Umkehrungen aller bislang als bewiesen betrachteten Wahrheiten!
Das ist die Unterhöhlung der weltweit geltenden Biologie und Physik und auch Metaphysik – von der Moral und Pädagogik ganz zu schweigen, deren stärkste Argumente doch auch immer ihre Drohgebärden waren!
Kein Wunder, dass es die bewaffneten Hüter der Weltordnung so erschüttert, dass „sie wurden, als wären sie tot“!
Die Welt – gefügt aus dem sichtbaren Raum und der pfeilgerade verlaufenden Zeit – ist durch die Worte des schneeweißen Engels, dessen Erscheinen in unserer Wirklichkeit eine solche Reibung erzeugt, dass Blitze um ihn zucken, .... die Welt ist durch seine Osterworte in Schwingung geraten. Nein, was der Engel bezeugt, bedeutet noch mehr als das:
Die bekannte Welt ist aus den Fugen, wenn nach dem Tod Leben kommen und aus dem Zerfall wiedergewonnene Gestalt werden konnte. ——
Diese durch und durch beunruhigende, unerhörte, an den Grundfesten rüttelnde Botschaft unterscheidet sich wahrhaftig von allen märchenhaften Träumereien.
Wer, wie Maria Magdalena und die andere Maria, solche schwerwiegenden Neuigkeiten weitergeben soll, der mag wohl schwankend zwischen Furcht und Freude zunächst davon benommen sein, wie die Wirklichkeit das Denkbare übersteigt.
Und bis zum heutigen Tag bleibt das das Gewaltige am Evangelium des Osterfestes:
Es eröffnet keine phantastische Fabelwelt, kein Zwischenreich der Dichtung, sondern es beansprucht die nackte Realität, in die es dringen will, auch wenn wir noch so bereitwillig nach anderen Auswegen suchen, um die Auferstehung von den Toten als Symbol, als Bild voll übertragener Bedeutung, als Mythos in’s Ungefähre entweichen zu lassen.
Nein! Wie einfach auch solche Ventile erscheinen, um die Wirklichkeit so zu retten, wie wir sie kennen und besitzen: der biblische Bericht verwehrt uns diese bequeme Anpassung der Wahrheit an unser Weltbild.
Schritt für Schritt zwingt der Evangelist uns ja, unsere Auffassung von dem, was möglich ist, korrigieren zu lassen durch die Tatsachen, die in Jerusalem am dritten Tag nach Jesu Tod geschaffen wurden.
Schritt für Schritt drängt die Auferstehung Jesu Christi von den Toten in die vorhandene Welt.
Da ist der Bericht von den Erdstößen: ein Schritt;
folgt die Schilderung des wälzenden Engels, der sich auf den mühsam verschobenen Block setzt wie ein erschöpfter Arbeiter im Steinbruch: noch ein Schritt;
dann die Aufmunterung an die Zeuginnen, doch die leere Grabnische in der Höhle in Augenschein zu nehmen: wieder ein weiterer Schritt;
zuletzt die wiederholte Weisung in das säkulare, ordinäre, alltägliche Galiläa, in dem man die Zeuginnen und Zeugen, einschließlich dessen, den sie bezeugen als Leute wie Dich und mich kennt und ihre Nachricht mit einem entsprechend kritischen Vorbehalt aufnehmen wird, wie sonst nirgends: tiefer kann man die Verkündigung der Auferstehung nicht im widerstrebend harten Grund der Wirklichkeit verankern.
Und ob der staubtrockene, plattgetrampelte Boden der Tatsachen sich auch dagegen sperrt .... es ist ihm eingepflanzt und steht doch da: das Bekenntnis, dass Gott Jesus als den Erstling aus den Toten auferweckt hat.
Wenn es aber wirklich wirklich ist, wenn es nicht Mythos oder Märchen, sondern Wahrheit ist, die schwer zu fassen bleibt, so sollten wir’s uns doch um der Wahrhaftigkeit willen nicht leichter machen wollen mit diesem Bekenntnis.
Im Gegenteil. Wenn’s wahr ist, dann bleibt auch uns nur der Weg, den die Marien und die anderen Nachfolger Jesu gehen sollten: der Weg nach Galiläa, also dahin, wo es gar kein Ausweichen vor dem Zusammenprall von schnöder Realität und Bekenntnis gibt.
Wenn die Osterzeugen in Jerusalem geblieben oder z.B. nach Qumran ausgewichen wären, wenn die Gemeinde Jesu ihre Botschaft in abgeschiedenen spirituellen Zirkeln gepflegt hätte, dann wären sie in weltferner Stille verschrobene Esoteriker geblieben, eine Kommune von Sonderlingen, eines Tages vielleicht eine Art Mormonenstaat abseits der Normalität.
Doch ausgerechnet dorthin zu müssen, wo das liegengebliebene Geschäft, die verlassene Verwandtschaft, die alten Vorurteile sie erwarteten, wo man im nüchternen Tageslicht der Gewohnheit beäugt und mit den sturen und schmerzhaften Selbstverständlichkeiten des Denkens und Glaubens, in dem man selbst erzogen wurde, konfrontiert wird: das ist hart.
Wir könnten es kennen, wenn wir es nur einmal wagen, die Auferweckungs-Worte „Fürchtet euch nicht!“ in Verbindung zu bringen mit den Orten, wo die Wirklichkeit am krassesten, wo die Fakten am härtesten sind:
Denken wir heute, am Ostertag doch einmal österlich an die belagerte, eingeschlossene Stadt Misrata, die jetzt den Stämmen und ihren archaischen Mitteln überlassen werden soll.
Denken wir österlich an das für tausend Jahre der Einsamkeit anheimfallende Gebiet an der japanischen Küste und an die Trümmerwelt und die zerstörten Lebenslandschaften drumherum, wo die Obdachlosen und Umgesiedelten, die Verwitweten, Verwaisten, Verschreckten nun irgendwie hausen und weitermachen sollen.
Niemals käme es uns im Traum in den Sinn, dort oder in den endlos vielen Elendswinkeln dieser Welt, in den Hospitälern, den Flüchtlingslagern, den Waisenhäusern und Sterbestation-en Gehör zu beanspruchen für den Satz von denen, die noch leben, wenn sie nicht gestorben sind.
Wenn aber dies zu sagen ist: „Jesus, der Gekreuzigte – also euer Bruder und Nachbar, ihr Leute von Misrata, euer Leidensgenosse, ihr Männer, Frauen und Kinder einer verwüsteten Welt – dieser Jesus, der Gekreuzigte ist auferstanden von den Toten und geht vor Euch her!“ .... wenn dies zu sagen ist, dann doch wirklich mitten in diese Wirklichkeit hinein.
Denn es ist nicht zu verwechseln mit den Gutenachtgeschichten einer glücklichen Kindheit, sondern es gehört in die ernstesten Lebenslagen der Menschen, weil es die beste, die einzig wahre Aussicht für alle eröffnet:
Die Aussicht, dass die Welt mehr ist, als der Fall zu sein scheint.
Die Aussicht, dass nicht unsere schmalen Gewißheiten, sondern Gottes große Möglichkeiten den Lauf der Dinge vorzeichnen und lenken.
Die Aussicht – in einem Wort – , dass man in Furcht und großer Freude durch die Welt, durch Sünde und Tod eilen kann, weil uns nach dem Tod nicht das Totsein, sondern die Macht Gottes, die Toten zu erwecken, blüht.
Das hat er an Jesus Christus getan! Das ist die neue Wirklichkeit!!
Wie wahrheitsgemäß schließen indes etliche von Grimms Märchen? –
„Und der das zuletzt erzählt hat, dem ist der Mund noch warm.“
...... Und nicht der allein, das Herz nämlich noch viel mehr, denn Ostern erhöht den Puls!
............ Euch hoffentlich auch!
Amen.
Karfreitag 22.IV.2011 Lukas 23,33-49 Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth Karfreitag 22.IV.2011
Lukas 23, 33 – 49
Liebe Gemeinde!
Wenn ich einmal sterbe – und ich weiß ja nicht, ob’s rasend plötzlich kommt oder ich vorher innerlich und äußerlich alles verlasse und verliere – ... wenn ich also einmal sterbe, dann wünsche ich mir nur noch eines: Dass der Name „Jesus“ mir gegenwärtig bleibt.
Was Trost und Liebe, was Medizin und Speise mir dann nicht mehr geben können, das wird in seinem Namen zu finden sein.
Ich möchte seinen Namen hören: den Namen, in dem die Erwartung und Erfüllung der Advents- und Weihnachtszeit wie Blüten im Honig konzentriert sind; den Namen, in dem unsere alte evangelische Passionsmusik dem Leid und der Schuld aller Menschen eine ewige Liebesklage singt; den lebendigen Namen, der das Herz des Glaubens höher schlagen lässt, selbst wenn das Ende kommt, weil dieser Name die Totenstille durchbricht und ewiges Leben atmet.
Ich möchte im Sterben den Namen Jesu sehen, weil seine Buchstaben überall auf der Welt und in ihren verschlungensten Labyrinthen mir immer aufgeleuchtet sind wie ein Stück Heimat; wo dieser Name zu lesen war, da war ein Gruß von zuhause und ein Wegweiser dorthin; wer diesen Namen kannte, der war mein Bruder und meine Schwester.
Ich möchte diesen Namen zuletzt noch sagen können, weil ich nie mehr zu sagen hatte und weil ich nichts Schöneres, nichts Wahreres jemals gefunden habe.
Ich möchte von Jesu Namen nicht getrennt werden, weil er meine Liebe, mein Glaube, meine Hoffnung ist. —
Und ich möchte, dass sein Name dann hält, was er verspricht.
Denn er ist ein sprechender Name; es gibt keinen, der vielversprechender wäre. —
Doch auf Golgatha wird dieser Name, den niemand dort zu kennen scheint, ebenso geschändet wie der Körper des Herrn.
Die Mörder und ihre Handlanger wissen vermutlich wirklich nicht wer der ist, den sie unter dem Königstitel foltern und erhängen sollen.
Ihnen scheint der Spottname eines „Judenkönigs“ vermutlich lächerlich genug für den verlassenen jungen Handwerker, als dass sie noch genauer erforschen müssten, wie man ihr entwürdigtes und entstelltes Opfer rief, ehe es in ihre Hände fiel.
Doch ohne es zu ahnen, nennen sie seinen Namen, verballhornen und verdrehen ihn und schneiden damit jedem ins Herz, der weiß, wie der Nazarener wirklich heißt.
Vor den Kriegsknechten missbrauchen jedoch andere den Namen des verurteilten Galiläers, solche, die als Vertreter der Tempelaristokratie wohl bewusst mit dem Sinn seines Eigennamens spielen, um ihn aller Bedeutung zu entkleiden.
Und als Echo auf allen diesen Hohn und diese Kränkung stimmt schließlich auch noch der namenlose Galgenbruder mit ein und schlägt seinem Notnachbarn dessen ureigensten Namen in’s blutige Gesicht.
Keiner spricht ihn direkt aus, niemand redet ihn mehr so an, aber alle reizen und martern den gekreuzigten Jesus, indem sie das schmähen, was ihn bis dahin von anderen Menschen unterschied und ihn zu einer ansprechbaren Person machte:
„Jesus“, so nannten ihn seine Eltern und Geschwister einst, und es war selbstverständlich.
„Jesus“, so hieß er für seine Vertrauten, für seine Jünger, und es schwang Achtung und Nähe darin.
„Jesus!“, so schrieen die Leidenden und Gequälten, die ihm unterwegs hinterher liefen und all ihr Flehen, alle ihre Erlösungshoffnung in seinen verheißungsvollen Namen legten.
Und nun auf Golgatha wird er zwar nicht mehr genannt, aber der ganze Inhalt und Klang seines Namens wird verhunzt und gefleddert, wieder und wieder und wieder.
Denn „Jesus“ heißt ja nichts anderes als „Hilfe“.
Und dieser wörtliche Sinn, der seinen Namen und sein Leben erfüllte: auf Golgatha wird er in Stücke gerissen.
„Hilf dir doch selbst, wenn Du schon ,Hilfe‛ heißt!“
Ein Angriff, so primitiv und roh wie überhaupt nur denkbar, aber von einer Treffsicherheit, die keinen einzigen Pfeil verschwenden muss. Jede Spitze sitzt.
Die Obersten des Volkes, die sich gerade auf dem Richtplatz nicht nachsagen lassen dürfen, sie wüssten nicht, was sie tun, eröffnen den Schaukampf, der in unseren Ohren so klänge: „Andere hat er gejesusst! Jetzt soll er sich selber gefälligst jesussen, wenn er der Messias ist!“
Die dumpfen römischen Schergen mit dem Essigschwamm mischen dazu noch die ätzende Säure ihres Spottes: „Wenn Du Herrscher von Judäa bist, dann jesus’ Dich doch selbst!“
Und der Todeskandidat am Nebenbalken lallt und würgt im Ersticken die gleichen höhnisch hasserfüllten Herausforderungen: „Wolltest Du nicht Heiland sein? Dann jesus’ Dich und uns!“
Aber Jesus kann sich nicht „jesussen“.
Er kann den Himmel auftun und Gottes väterliche Vergebung jedem Menschen bringen.
Er kann retten, helfen und erlösen, wo immer er darum gebeten wird, ... noch am Kreuz, ... noch in der Todesstunde.
Er kann alles für jeden, weil er jedem ein „Jesus“ sein will.
Aber eben drum ist und kann er das alles nicht an sich, er kann und ist es nur für uns.
Wo ihm das aber genommen wird, wo aus dem Jesus, der er für andere sein will, ein Jesus gemacht wird, der nur auf sich selbst zurückgeworfen ist, da nimmt man ihm seine Ehre und Wahrheit, sein Ziel und den Grund seines Daseins.
Jesus für andere: das war sein Leben.
Jesus für sich aber: das wird sein Tod sein! ——
Und so verhöhnen und demütigen, so kränken und kreuzigen auch wir ihn immer weiter.
Weil wir seinen Namen mit Füßen treten und vor der Welt entleeren, indem wir ihm das eine nehmen, das ihn bezeichnet: Wir lassen ihn nicht mehr „für uns“ sein, was er ist.
Er mag sich selbst von uns aus „jesussen“, wir aber haben beschlossen, nicht anzunehmen, was sein Name für uns besagt. —
„Ich bin ja gar nicht hilflos“: Mit solchem Trotz eines dreijährigen Kindes lehnen wir das heilende Leben und Sterben Jesu ab.
„Wozu Erlösung?“, fragen wir mit einer Naivität, die macht, dass sich die Balken biegen: Als könne die durch uns selbst regierte und gerettete Welt, als könne das von uns allein geführte und geformte Leben ein vollkommener Zustand werden ... und nicht etwa ein Chaos voller Schuld und Schrecken.
Von Jahr zu Jahr aber wächst die Unfähigkeit auch innerhalb der christlichen Gemeinde, aus dem verblendeten Wahn von der totalen Unabhängigkeit des Menschen zu erwachen und die Hilfsbedürftigkeit als Merkmal des eigenen Geschlechtes und der eigenen Person anzuerkennen: Wir sind die Papageien und Affen einer Ideologie geworden, die einzig und allein „Das kann ich selbst“ kräht.
Dabei kann der Affe sich nicht einmal alleine lausen, er muss sich die Flöhe von seinesgleichen aus dem Pelz lesen lassen!
Und dennoch ist der schöne Jesusname, in dem das seligmachende Wort „Helfen“ steckt, sprachlich bei uns völlig verkommen und verdorben.
„Helfen“ ist unter uns nämlich unmerklich mutiert zu einem echten Reflexivverb, zu einem jener Tätigkeitswörter also, die - ähnlich wie „sich freuen, sich schämen, sich bedanken, sich verirren“ - keinen Bezug erlauben außer auf sich selbst, weil niemand sie mir abnehmen kann.
„Hilf Dir selbst!“ ist das Credo dieser Zeit. Und die sprachlich sinn- und regelwidrige, aber vorherrschende Verwendung lautet darum: „Jesus’ Dich doch selbst... und ich mich auch!“ —
Das sind die Töne, unter denen Jesus seinen Todeskampf erlitt.
Das sind unsere Abschiedsworte, die ihn treffen und ihm den Garaus machen.
Doch was setzen wir gegen diese Missachtung, gegen dieses Martyrium, das wir dem zumuten, dessen Name uns derart sinnlos geworden ist?
Eine neue, vertiefte Theologie von der Verlorenheit und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen? Ja, aber so wie sie uns am Kreuz Jesu auf Golgatha begegnet:
Denn da ist einer – ein einziger – , der ihn so nennt, wie er heißt.
Dieser eine, dem der Name „Jesus“ und alles, was er enthält, über die Lippen kommt, hat aber nicht etwa Dogmatik studiert.
Er entwickelt auch keine besondere Sündenlehre, die dem Menschen, solange er mit sich selbst zufrieden ist, gegen seine Widerstände ja gar nicht eingetrichtert werden kann.
Nein, der Einzige, für den Jesus am Ende noch „Jesus“ ist, spricht einfach das aus, was er sich selber nicht verschaffen kann.
Seine Theologie ist nicht Theorie, nicht Lernstoff und nicht Lehrsatz, nicht fromme Floskel und nicht alter Hut. Sie ist einfach nur Anrufung.
Er traut sich schlicht, ein Bittender zu werden, zu sagen, was ihm fehlt, ja, das Unmögliche zu wünschen.
Vielleicht wäre es ihm auf den krummen Wegen seines Verbrecherlebens niemals ähnlich leicht gefallen, die kühnen, selbstgeschmiedeten Pläne und eigenständig verfolgten Ziele ruhen zu lassen und auf einen anderen zu hoffen.
Aber er hat es doch noch gelernt, dass der Mensch in seinem Angewiesensein weder sich noch andere betrügen muss, um stark, stolz, standhaft zu scheinen:
Nein, der angewiesene Mensch darf um Hilfe schreien.
Der Hoffnungslose darf einen Fremden um Hoffnung bitten.
Der Verlorene darf den Retter anrufen: „Jesus, vergiß mein nicht: Gedenke an mich, wenn Dir die Macht zu helfen wieder gegeben ist.“
Und siehe da! Jesus ist der Helfer, sogar in den Augenblicken seiner letzten öffentlichen Anfechtung und menschlichen Schwäche.
Wer seinen Namen anruft, der wird’s erfahren: dass es kein leerer Name ist, sondern dass in ihm die vollkommene Fülle herrscht.
Eine Fülle, die kein Spott und Zweifel, kein Stolz, kein Vorurteil, kein Unglaube und keine Sünde ernsthaft verdunkeln und auslöschen könnten: selbst ihr gemeinsamer Schatten, der sich so schwarz und tödlich brütend über Golgatha legt, ist dazu doch zu klein.
Auch am Kreuz bleibt Jesus ja der Erlöser und Befreier und Helfer, als der er angekündigt und geboren wurde, als den ihn die Menschen erfuhren und liebten, als den seine Feinde ihn hassten und zu vernichten suchten.
Er ist es, durch den auch die Vergebung ihrer Gotteslästerung und Gottvergessenheit finden, die leugnen, dass sie überhaupt Hilfe nötig haben.
Er ist es, der die gänzlich Hilflosen und Verirrten, in dem Augenblick, in dem der letzte Halt sich verflüchtigt und das letzte Tor sich hinter ihnen schließt, aufnehmen will in’s Paradies, unsere verdrängte Heimat, in der noch keiner von uns je war und in die wir doch viel unzweifelhafter gehören als in die Festungen, die wir hier für uns errichten. ———
Von einem solchen Trost, von solcher Herrlichkeit erzählt der Bericht von der Ermordung Jesu.
Er erzählt aber davon nur, weil einer dabei war, der sich aus der Verhärtung und Verstockung löste, die auch uns fesselt und lähmt: die Verstockung, dass wir selbst uns der eigene Jesus sein wollen und den wahren nichts für uns tun lassen.
Einer war da, dessen Herz weich wurde, der sich die Blöße gab, „Jesus“ zu schreien. —
Warum aber sollte denn erst unsere Todesstunde darüber schlagen, bis wir uns wagen, diesen Namen auszusprechen und auf ihn zu hoffen?
Könnten wir diesen Namen nicht allezeit in uns bewegen und genießen, wie die östliche Christenheit, die vom Athos das immerwährende Herzensgebet gelernt hat, in dem nur der Name Jesu einen Menschen begleitet und bereitet? ......
Dann mag sie kommen, die Stunde, die uns seine Erfüllung bringt:
Wenn wir Jesu Namen als den größten und schönsten erkannt haben,
wenn wir vor ihm niederfielen, aber auch aufrecht mit ihm waren ,
wenn wir ihn getragen und geliebt haben,
wenn wir ihn durch Glück und Leid erprobten,
wenn er mit uns ging und blieb,
wenn er unser Jubel und unser Weinen war,
wenn er groß mit uns wurde und wir wieder schwach in ihm,
wenn wir in seinem Namen lachten und klagten,
wenn er uns Eifer und wenn er uns Frieden geschenkt hat,
wenn dieser Name uns unsere Grenzen und unser Ziel gewiesen hat,
wenn wir Gutes und Böses in diesem Namen getrost empfangen
und ebenso getrost auch wieder hergeben konnten,
wenn wir wussten, dass wir im Leben und im Sterben einen „Jesus“ haben,
einen treuen, unbezwinglichen Retter und Erlöser,
dann mag sie kommen die Todesstunde.
Dann sagen wir wie er und in seinem Namen und durch ihn: „Vater, in Deine Hände!“
Amen.
Gründonnerstag, 21.04.2011, Mark. 14,17-26, Stadtkirche, Holger Pyka
Hören wir den Predigttext aus Markus 14,17-26
7 Und am Abend kam er mit den Zwölfen. 18 Und als sie bei Tisch waren und aßen, sprach Jesus: Wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch, der mit mir ißt, wird mich verraten. 19 Und sie wurden traurig und fragten ihn, einer nach dem andern: Bin ich's? 20 Er aber sprach zu ihnen: Einer von den Zwölfen, der mit mir seinen Bissen in die Schüssel taucht. 21 Der Menschensohn geht zwar hin, wie von ihm geschrieben steht; weh aber dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre. 22 Und als sie aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach's und gab's ihnen und sprach: Nehmet; das ist mein Leib. 23 Und er nahm den Kelch, dankte und gab ihnen den; und sie tranken alle daraus. 24 Und er sprach zu ihnen: Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird. 25 Wahrlich, ich sage euch, daß ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs neue davon trinke im Reich Gottes. 26 Und als sie den Lobgesang gesungen hatten, gingen sie hinaus an den Ölberg.
Liebe Gemeinde,
etwas ist anders heute Abend. Das verrät ein Blick auf die Uhr. Wir versammeln uns abends, an einem Donnerstag, fast mitten in der Woche, zum Gottesdienst. Das geschieht sonst nicht so häufig, ein paar Mal im Jahr, am Buß- und Bettag etwa, vielleicht am Reformationstag, am Altjahresabend.
Etwas ist anders heute Abend, das verrät auch ein Blick auf den gedeckten Tisch hier vorne. Wir feiern heute das Abendmahl. Auch das geschieht in unserer Kirche gar nicht so häufig, und das Stichwort „Abendmahl" bringt uns zur tieferen Dimension dieser Frage.
Warum ist dieser Abend, ist diese Nacht so anders?
Unter dieser Frage steht auch dieses letzte Zusammensein Jesu mit seinen Jüngern, von dem im heutigen Predigttext die Rede ist: Zum letzten Mal versammeln sie sich zum gemeinsamen Essen und Trinken. Im schwindenden Licht des Tages dämmert es den Jüngern vielleicht zum ersten Mal, was Jesus mit seinen vorher eingestreuten Leidensankündigungen gemeint hat. Jetzt wird es konkret: Bald ist es soweit - und einer von Euch wird mich verraten. Fernes Donnergrollen, Hufescharren, Waffengeklapper - die Soldaten stehen irgendwo schon bereit, am Morgen wird alles anders sein. Aufbruch liegt in der Luft, Spannung, Unsicherheit. Ein letztes Dankgebet über dem Tisch, über der Schüssel mit Fruchtmus, über Wein und dem flachen, harten, in aller Eile gebackenem Brot. Ein letzter Bissen Brot, ein letzter Becher Wein, einer für alle: Dies ist mein Leib/ dies ist mein Blut. Danach das große Hallel, ein langer Lobgesang der Psalmen 113 bis 118, in den auch wir heute an verschiedener Stelle einstimmen.
Auch das ist anders an diesem Abend, in dieser Nacht: Dieser rituelle Ablauf unterscheidet das letzte Mahl Jesu mit den Jüngern von all den anderen Essensgelagen vorher: Sie feiern das Passamahl.
Auch heute noch feiern Jüdinnen und Juden dieses Fest, vorgestern war es wieder soweit: Der Tisch biegt sich unter den Gerichten, die einen hohen Symbolwert haben, die eine Geschichte erzählen. Die große Geschichte vom Exodus, von Gott, der sein Volk aus ihrer Knechtschaft in Ägypten befreit und durch Meer und Wüste bis an den äußersten Rand des Landes führt, das ihnen gehören soll.
Vorgestern, am Sederabend, hat an jedem gedeckten Tisch das jüngste Kind im Kreis der Familie die Frage gestellt: „Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte?", und der Hausvater erzählt eben diese Geschichte. Nicht unter der Überschrift: „Es war einmal", sondern, als wäre es gestern gewesen. Eine Geschichte, die sie in ihren Bann zieht, die alle Lebensgeschichten umfängt und so zu ihrer Geschichte wird: Wir waren Pharaos Sklaven in Ägypten, und der Herr, unser Gott, befreite uns und führte uns heraus mit einer starken Hand und einem ausgestreckten Arm...
Lassen auch wir heute einen jüdischen Hausvater auf seine eigene Weise erzählen, Moische Chazkelewitsch Schagalow aus Witebsk in Weißrussland, besser bekannt unter dem Namen Marc Chagall.
Es ist ein Spätwerk, das Bild mit dem schlichten, aber für die Betroffenen alles sagenden Titel: „Exodus". 1952 begonnen und 1968 vollendet. Es ist ein großes Bild, ein volles Bild, voll mit Symbolen und Andeutungen und Themen, von denen wir heute nur einige andeuten können.
[Anm.: Wenn Sie dem u.a. Link folgen, können Sie sich das Bild ansehen]
http://brettdavidpotter.files.wordpress.com/2011/02/exodus_marc_chagall.jpg
Chagall erzählt mit seinem Bild die gesamte Geschichte Israels und des Judentums inklusive seiner eigenen Lebensgeschichte als Exodus, als Auszug, als Flucht- und Befreiungsbewegung gleichermaßen. Wir sehen vor allem: Menschen. Eine Unzahl von Menschen, eine riesige Menge, eine graue Masse, die jedoch alles andere als anonym ist. Jeder und jede hat sein Gesicht, ihren eigenen Körper, ihre Geschichte. Am linken Bildrand eine Gruppe von Menschen, die zum Teil fassungslos, zum Teil klagend einem brennenden Shtetl gegenüber stehen. Pogrome, gewaltsame Ausschreitungen, Plünderungen, Verfolgungen von Juden sind wie ein trauriger Kehrvers Teil der jüdischen Geschichte. Zu Zeiten der Kreuzzüge in Deutschland, später in ganz Europa während der Pestepidemien, dann mit 1821 der erste „moderne" Pogrom in Odessa als Auftakt einer Vielzahl anderer Ausschreitungen im zaristischen Russland, der späteren Heimat Chagalls.
Man sieht es nur, wenn man ganz nah rangeht, aber das Gebäude mit dem Turm, das gefährlich nahe an die Flammen heranragt, ist eine Kirche, auf der Turmspitze steht ein Kreuz. Vielleicht ein Sinnbild dafür, dass das Christentum untrennbar mit dem Judentum verbunden ist, vielleicht ein gemalter Kommentar zu Gottes Versprechen an Abraham (Gen 12,3): „Ich werde segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen."
Andere Szenen, andere verfolgte Juden, wie man sie zu allen Zeiten angetroffen hat: Männer, die ihr Hab und Gut mit sich schleppen. Einer hat sein Gebetbuch dabei, Chagall schreibt einmal vom Gebetbuch seiner Mutter, dass es ganz gewellte Seiten hatte, „weil sie so oft hineinweinte." Wie diese Frau, die um ihr Kind weint. Ganz oben links Zelte, die vorläufigen Behausungen der Heimatlosen und wenn man ganz genau hinsieht: Zwei große Ozeandampfer. Auch die gehören in die Geschichte, wie das große Schiff Exodus, das 1947 mit viereinhalb tausend Überlebenden des Holocaust monatelang unterwegs war, weil man ihnen den Landgang in Palästina verweigerte. Oder das namenlose Schiff, das 1938 mit einer Zahl Flüchtlinge der letzten Minute in den USA wieder zurück nach Deutschland geschickt wurde.
In die Bildergeschichte vom Exodus hinein hat Chagall seine eigene Lebensgeschichte gemalt, überall findet man kleine Zeichen: Der Fisch an vielen Stellen, früheste Kindheitserinnerungen des Sohnes eines Heringsverkäufers. Die weißrussische Kleinstadt Witebsk. Am rechten Bildrand, wenn man das Bild „hebräisch", also von rechts nach links entlanggeht, die erste Gestalt, die ins Auge sticht: Eine schwebende, weiße Frau, seine Frau Bella, die bereits 1944 gestorben ist. Über ihr eine Chuppa, ein Baldachin, unter dem jüdische Hochzeitszeremonien stattfinden. Chagall schreibt in seiner Autobiografie, dass der Baldachin bei seiner Hochzeit rot war. Ganz links versteckt am Bildrand: Ein Geiger, Symbolfigur für das Leben im Shtetl und seinen Berufswunsch als Kind.
So wird Chagalls eigene Lebens-, Liebes- und Leidensgeschichte zu einem Teil der großen Geschichte Gottes mit seinem Volk.
Und dann: Inmitten aller Szenen von Verfolgung, Flucht, Aufbruch - Zeichen der Hoffnung, Zeichen dafür, dass das Leben weitergeht und dass vor allem Gott sein Volk auf dem Weg vom einem Exil ins nächste begleitet. Es gibt einen jüdischen Witz, der besagt: Eigentlich kann man jedes jüdische Fest so zusammenfassen - sie haben versucht, uns umzubringen, sie haben es nicht geschafft, gelobt sei der Herr, lasst uns essen!
Ein solches Zeichen der Hoffnung in der Bildmitte: Eine Frau in blauem Kleid, in der Farbe des Himmels und des Meeres, der Weite und Höhe, die alles menschliche Leben übersteigt. Auf ihrem Arm ein Kind. Ihre Brust ist deutlich sichtbar, die Nahrung für das Kind und damit das Überleben der nächsten Generation ist da, ist gesichert, das Leben geht weiter. Trotz allem. In vielen Bildern Chagalls ist die Frau mit dem Kind die Person, die aus dem Bild hinaus blickt und dem Betrachter direkt in die Augen sieht. In vielen anderen Bildern ist die Frau verzweifelt, hier ist es die Überlebende, die uns in die Geschichte hineinlässt. Daneben eine Frau in violett, sie lacht und klatscht in die Hände, vielleicht ist es Miriam, die nach dem Durchzug durchs rote Meer laut jubelt und ihr Lied (Ex 15,21) singt: Lasst uns dem Herrn ein Lied singen, denn er hat eine herrliche Tat getan, Ross und Reiter warf er ins Meer.
Daneben ein Mann, der sich mit einem Lächeln über seine Ziege beugt, Haustier, Begleiter, Nahrungsspender.
Und am Rand: Mose mit Strahlenkranz auf dem Haupt und den Gesetzestafeln im Arm, den in Stein gemeißelten Willen Gottes. Heinrich Heine hat einmal gesagt: Die Tora ist tragbares Vaterland - das einzige, oder vielmehr, DER einzige, der Heimat bietet, ist Gott, der sein Volk nicht allein lässt.
Mitten in diese Geschichte der Flucht, des Aufbruchs, der großen Reise, in der Verzweiflung und Vernichtung und Hoffnung und Neuanfang so nah beineinander liegen, malt Chagall den Gekreuzigten. Jesus aus Nazareth, den vielleicht prominentesten Juden, der im Laufe der Weltgeschichte ermordet wurde, von dem Chagall spricht als „unserem Bruder, den die Welt vergöttlicht hat."
Jesus gehört in diese Geschichte hinein, in die Geschichte seines Volkes, Gottes Volk. Und Er ist es, der uns erst den Zugang zu dieser Geschichte ermöglicht, indem sein letztes Abendmahl ein Passahmahl war und indem er sich zu dem Passahlamm erklärt, das uns in die Geschichte hineinholt. Sein Blut wird vergossen „für die Vielen", wie wir vorhin im Predigttext gehört haben, also für die Gojim, die Fremden, die nicht zum Gottesvolk gehören, die in den zahllosen Befreiungs-, Flucht- und Vertreibungsgeschichten, die das Judentum leider Gottes erzählen kann, die Rolle der Verfolger spielen.
So haben auch die ersten Christen mit der Ostergeschichte immer auch die Geschichte vom Exodus erzählt und sich dem „wandernden Gottesvolk" angeschlossen. Das klingt ungemütlich. Und ist es auch. Ein Exodus ist kein Auslandssemester, kein gut geplanter Abenteuerurlaub, kein schickes Horizonterweitern als Goldkante am Lebenslauf. Und das ist gut so. Denn der Exodus ist eben auch eine Befreiungsgeschichte, Gott führt sein Volk heraus aus der Knechtschaft in Ägypten, aus den Zwängen einer „Leitkultur", die auf Oben und Unten, auf Unterordnung und Anpassung aufbaut. So sind im 20. Jahrhundert eine ganze Reihe von Befreiungsbewegungen, von Befreiungstheologien auf dieser Welle geschwommen, so haben Menschen erfahren und erleben immer wieder, wie Gott sie aus Gefangenschaft, seien sie gesellschaftlicher oder psychischer Art, herausführt.
Liebe Gemeinde, am Ende des Passamahles verabschieden sich die Tischnachbarn voneinander mit dem Gruß: L'shanah haba'ah b'Yerushalayim, nächstes Jahr in Jerusalem! Dieser Wunsch ist hoffnungsvoll, freudig, schwermütig und schmerzhaft zugleich, denn Jeder weiß: Wenn man nur nach dem geht, was menschenmöglich ist, dann wird man sich kaum nächstes Jahr in Ruhe und Frieden in Jerusalem versammeln können. Das wird erst dann möglich sein, wenn Gott selbst wieder Wohnung auf dem Zion bezogen hat und sein Volk wieder um sich versammelt und alle anderen Völker dorthin pilgern und ihre Knie beugen und ihren Platz an Gottes reich gedecktem Tisch einnehmen.
Auch uns Jesus erinnert Jesus daran, dass noch etwas offen steht: Wahrlich, ich sage euch, daß ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs neue davon trinke im Reich Gottes.
Darum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte, das ist das Besondere an dem Happen Brot und an dem Schluck Wein, den wir teilen: Es ist Brot und Wein to go, Wegzehrung für das wandernde Gottesvolk, Stärkung für alle, die unterwegs sind, die aufgebrochen, abgehetzt und müde sind. Christus selbst hat sein letztes Passamahl inmitten von Menschen gefeiert, die aneinander, an sich selbst und an Ihm schuldig geworden sind und dennoch oder gerade deswegen an seiner Seite Platz nehmen durften. Er lädt uns an seinen Tisch, Er selber malt unsere Lebensgeschichten hinein in die große und bewegte Geschichte von Gott und seinem Volk,
Er spannt den Bogen vom Auszug aus Ägypten über all unser gegenwärtiges Aufbrechen und Umherirren hin zu dem Tag, an dem Gott alles in allem sein wird und alle Welt nach Hause kommt.
Er lädt uns ein und spricht: Kommt her zu mir, alle, die Ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.
Und der Friede Gottes...
Reminiszere, 20.03.2011, Mt. 12, 38-42, Stadtkirche, Holger Pyka
Liebe Gemeinde,
ein Vater und sein Sohn sitzen am Ufer eines Sees. Die untergehende Sonne spiegelt sich auf der Wasseroberfläche, über dem Wasser tanzen die Mücken. Der Sohn rutscht etwas ungemütlich auf seinen vier Buchstaben hin und her. Es ist der letzte Sommer vor Schulbeginn. ER würde es nie zugeben, aber er ist ziemlich aufgeregt. Der Vater weiß das und erläutert dem Sohn lang und breit die Vorzüge dieses neuen Lebensabschnittes, wie schön seine Schultasche sei, wie schnell er Freunde finden würde – und dass er endlich lesen lernen würde. Der Sohn kann sich Schöneres vorstellen, aber der Vater lässt nicht locker. „Weißt Du“, sagt er, und sein Blick bekommt etwas Träumerisches, „wenn Du lesen kannst, dann kannst Du mit Käpt’n Nemo in die Tiefsee abtauchen, Du kannst durch die Zeit reisen und mit wilden Pferden um die Wette rennen. Du kannst mit Löwen und Bären kämpfen und gewinnen – und Du musst dafür noch nicht einmal zur Tür raus, sondern kannst in Deinem Sessel sitzen oder in Deinem Bett liegen bleiben. Du brauchst nur ein gutes Buch, Deine Augen und Dich selbst.“ Verträumt blickt der Vater hinaus auf den See. Der Sohn schüttelt den Kopf und wirft ein paar Steine ins Wasser.
Liebe Gemeinde, es ist –zugegeben!– ein weiter Weg von unserem Predigttext für heute bis zu den Beiden am See. Aber es ist immer ein weiter Weg, den ein mehrere tausend Jahre alter Text aus der Bibel zurückgelegt hat und zurücklegen muss, wenn er bei uns sonntags in der Kirche wieder einmal erzählt wird.
Ich lese aus dem zwölften Kapitel des Matthäusevangeliums:
38 Da wandten sich einige von den Schriftgelehrten und Pharisäern an ihn: Meister, wir wollen von dir ein Zeichen sehen! 39 Er aber entgegnete ihnen: Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht fordert ein Zeichen, und ihm wird kein Zeichen gegeben werden ausser dem Zeichen des Propheten Jona. 40 Denn wie Jona im Bauch des Fisches war, drei Tage und drei Nächte, so wird der Menschensohn im Schoss der Erde sein, drei Tage und drei Nächte. 41 Die Männer Ninives werden im Gericht aufstehen gegen dieses Geschlecht und es verurteilen, denn sie sind auf die Predigt des Jona hin umgekehrt. Und hier: Hier ist mehr als Jona! 42 Die Königin des Südens wird im Gericht auftreten gegen dieses Geschlecht und es verurteilen, denn sie kam vom Ende der Erde, um Salomos Weisheit zu hören. Und hier: Hier ist mehr als Salomo!
Wir wollen von dir ein Zeichen sehen! Ich will auch ein Zeichen sehen, irgendetwas, das mir einen Sinn verspricht, wenn die Erde bebt und das Wasser steigt.
Ich will auch ein Zeichen sehen, wenn ich im Leben das Gefühl habe, mich nur zwischen Pest und Cholera entscheiden zu können.
Ich will auch ein Zeichen sehen. Damit endgültig klar ist: Die Zyniker haben nicht Recht, die sagen, über unseren Köpfen gibt es nichts als unendliche Weiten und Sterne, die gleichgültig ihre Bahnen ziehen. Die sagen, dass Gott nur eine Stoffwechselstörung im Kopf ist.
Meister, wir wollen von dir ein Zeichen sehen! Sagen die Schriftgelehrten und Pharisäer, komm, zeig uns doch, was Du kannst. Und Jesus erteilt ihnen eine klare und schroffe Abfuhr: Ein böses und abtrünniges Geschlecht fordert ein Zeichen, und es wird ihm keins gegeben werden. Im Markusevangelium, in dem die Geschichte wahrscheinlich in ihrer ältesten Fassung überliefert ist, endet die Geschichte hier. Nichts da, die Show ist zu Ende, es gibt kein Zeichen. „Und er ließ sie stehen, stieg wieder ins Boot und fuhr ans andere Ufer.“ (Mk 8,13).
Ich kann mir die empörten Stimmen gut vorstellen: Was ist denn das für eine Reaktion?! Der soll doch froh sein, dass überhaupt jemand was von dem will! Da zeigt man mal Interesse, da will man mal was sehen, und dann kommt nichts.
Aber – ist das wirklich Interesse? Man hört ja sowas manchmal: Zeig uns mal was, mach mal was! Das klingt heute mitunter so: „Wenn ich an Gott glauben soll, dann müsste man mir erst einmal das und das beweisen.“ Oder: „Wenn die Kirche mal das und das machen würde, dann…“ Machen wir uns nichts vor: Wer den Glaube von solchen Zeichen abhängig macht, wer sagt, dass eigentlich erst das Außergewöhnliche, das Übernatürliche passieren muss, um ihn zu überzeugen – der will eigentlich überhaupt nichts wissen.
Das „Interesse“ der Schriftgelehrten und Pharisäer ist hier ohnehin ein eigenes: Es geht darum, Jesus vorzuführen. Wer ein bisschen in der Bibel blättert, stößt auf eine bemerkenswerte Geschichte nur ein paar Zeilen vorher (Mt. 12,24). Da heilt Jesus einen Besessenen, eigentlich das klassische Zeichen. Und da sind es gerade die Pharisäer, die laut aufschreien: Das gehe alles nicht mit rechten Dingen zu, der Kerl sei mit bösen Mächten im Bund.
Von daher ist Jesu Reaktion wohl das einzig Richtige, kein Zeichen, basta, aus. Denn sich vorführen zu lassen, das braucht man nicht, das brauchte Jesus nicht, das müssen wir übrigens heute auch nicht. Zumal die Situation ja eine ziemlich brenzlige ist, nach dem Motto: Alles, was Sie jetzt tun, kann gegen sie verwendet werden. Die Schriftgelehrten und Pharisäer wollen hier ein Spiel spielen, das Jesus nur verlieren kann, das Spiel „Alle gegen einen“. Das ist übrigens, auch wenn die christliche Auslegung das bis ins letzte Jahrhundert hinein immer wieder mit diebischer Freude behauptet hat, nichts, was besonders typisch für Schriftgelehrte und Pharisäer oder „den Juden“ im Allgemeinen ist. Solche Szenen können Sie auf jedem Schulhof beobachten.
Also: Es ist ein böses und ehebrecherisches Geschlecht, und es wird ihm kein Zeichen gegeben.
Aber, liebe Gemeinde – schüttet man damit nicht das Kind mit dem Bade aus? Was ist mit all denen, die auf ein echtes Zeichen warten, ein Signal, dass der Glaube trägt und dass das alles einen Sinn hat? Kann man die alle vor den Kopf stoßen, nur weil ein paar Einzelne das missbrauchen könnten?
Der christlichen Gemeinde, in der sich unser Evangelist Matthäus bewegt hat, war das damals zu wenig. Dort erzählte man sich die Geschichte etwas anders, hier lenkt Jesus ein: „Es wird ihnen kein Zeichen gegeben werden – AUSSER das Zeichen des Jona!“
Aha, Jona. Kennt man ja. Die Geschichte mit dem Fisch und so. Für Kinder ist die ja ganz nett. Aber trotzdem. Da wollen Leute ein Zeichen sehen, was erleben, was sehen – und Jesus kommt ihnen mit der Bibel, mit irgendwelchen uralten Texten, mit Märchen aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt.
Liebe Gemeinde, um es gleich zu sagen: Ich glaube nicht, dass sich das ausschließt. Im Gegenteil: Dieser ganze Gottesdienst, ach was, unsere ganze Kirche baut überhaupt nur darauf auf, dass man mit Gottes Wort, wenn es lebendig wird, etwas erleben kann. Vielleicht sein blaues Wunder. So wie der Prophet Jona im gleichnamigen Buch des Alten Testaments. Und in diesem Buch geht es ja um weitaus mehr als nur um meeresbiologisch mäßig interessante Frage, ob es Fische geben kann, in deren Bauch ein Mensch drei Tage überleben könnte:
Es geht – zum Beispiel – um jemanden, der eigentlich ganz klar weiß, was er zu tun hat, was jetzt dran wäre. Und der davor flieht und damit seien ganze Umgebung mit in seine Flucht hineinzieht. Sie haben den Anfang ja gerade gehört.
Es geht – zum Beispiel – um jemanden, dem das Wasser bis zum Hals steht und sogar noch darüber schwappt, der keinen Ausweg mehr sieht und das Gefühl hat, zu ertrinken. Und der erlebt, dass er selbst in dieser Situation nicht allein ist. Wir haben seinen Psalm ja gerade gebetet.
Es geht – zum Beispiel – darum, dass jemand verschlungen wird, nach drei Tagen und drei Nächten, wenn kaum jemand mehr nach Vermissten sucht, aus aller Hoffnungslosigkeit wieder heraus- und ins Leben zurückgeholt wird. Für die Gemeinde des Matthäus war das die reinste Ostergeschichte, daher „das Zeichen des Jona“.
Und man könnte noch eine lange Reihe anderer Interpretationsmöglichkeiten aufzählen, jede mit dem vieles offen lassenden „zum Beispiel“, denn wie alle guten Geschichten ist auch die Geschichte von Jona für unterschiedliche Deutungen offen, die einander nicht ausschließen müssen. Weil sie immer wieder von unterschiedlichen Menschen gelesen wird, die ihre eigenen Lebensgeschichten mitbringen – und plötzlich sich selbst in den Texten der Bibel wiederfinden. Dann füllen sich plötzlich dieselben Texte, die über die Jahrtausende hinweg mündlich und schriftlich überliefert wurden, mit neuem Leben.
Zum Beispiel die Frau, die in ihrer Jugend Opfer von sexueller Gewalt geworden ist und deren Herz und Mund seitdem verschlossen geblieben sind. Und die dann in den harten, nichts beschönigenden Worten der Rache- und Klagepsalmen eine Möglichkeit findet, ihrer Wut, ihrer Scham und ihren Verletzungen Ausdruck zu verleihen, und ihre Stimme in einen seit Jahrtausenden klingenden Klagechor einflechtet.
Oder wenn, wie in Südamerika und anderen Teilen der sog. „Dritten Welt“ im 20. Jahrhundert, Menschen ihre Anliegen in biblischen Geschichten, in den Prophetenbüchern oder dem Lukasevangelium, wiederfinden und daraus Kraft und Orientierung für eine Befreiungsbewegung ziehen und mit den Propheten zusammen Stimme und Faust im Protest gegen Armut, Ausbeutung und Ungerechtigkeit erheben.
Oder wir als Otto-Normal-Christen, die nichts so richtig hinkriegen, die immer wieder beim Beten einschlafen oder das mit dem „Nächsten lieben“ gerade im Blick auf den Nachbarn von gegenüber gar nicht so richtig wollen. Die dann doch wieder die fünfhundert Meter mit dem Auto gefahren sind, Schöpfung hin oder her, und neben all dem noch unsere ganz persönlichen Leichen im Keller versteckt haben. Wenn wir uns plötzlich Seite an Seite mit den Jüngern am Tisch des Herrn wiederfinden, mit den Jüngern, die auch immer wieder versagt haben, feige und dumm gewesen sind, die ihn verraten und verleugnet haben. Und trotzdem – oder gerade deswegen! – feiert er mit ihnen das Abendmahl – und lädt auch uns ein.
Dann werden aus Geschichten und Figuren Zeichen, dann werden Erfahrungen ermöglicht, die über das, was wir vor Augen haben, hinausweisen.
Dann geschieht das, was Gott durch den Propheten Jesaja (55,10f.) angekündigt hat:
Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen, zu säen, und Brot, zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein. Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.
Und der Friede Gottes…
5.S.n.Epiphanias, 06.02.2011, Matth. 13, 24-30, Jonakirche, Ute und Daniel Kaufmann
1: Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen. Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder, Die Evangelische Kirchengemeinde Kaiserswerth ist ein offener Garten, in den Jesus Christus alle Menschen zur Muße und Mitarbeit einlädt. Was wir hier empfangen, geben wir in der Tradition der Fliedners tatkräftig, praktisch, hoffnungsfroh und geduldig weiter.
2: So lautet der Leitsatz aus unserer Gemeindekonzeption. Das Jubiläumsjahr 2011 und der heutige Evangeliumstext aus dem Matthäusevangelium scheinen diesen Leitsatz in besonderer Weise aufzunehmen: Denn auch dort geht es um die Natur als Bild für die Gemeinde und das Reich Gottes, um Mitarbeit, um praktisches Tun, um Tatkraft, Hoffnung, Geduld und - vielleicht in einem ganz besonders nachdenkenswertem Sinn, auch um Muße.
1: Ich lese uns aus dem Matthäusevangelium, Kapitel 13,24-30: Jesus legte ihnen aber auch (nach dem Gleichnis vom Sämann) ein anderes Gleichnis vor und sprach: Das Himmelreich ist gleich einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Da aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon. Da nun aber die Saat wuchs und Frucht brachte, da fand sich auch das Unkraut.
2: Da traten die Knechte zu dem Hausvater und sprachen: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn das Unkraut? Er sprach zu ihnen: Das hat ein Feind getan. Da sprachen die Knechte: Willst du denn, dass wir hingehen und es ausjäten? Er sprach: Nein! Auf dass ihr nicht zugleich den Weizen mit ausraufet, wenn ihr das Unkraut ausjätet. Lasset beides miteinander wachsen bis zur Ernte; und um der Ernte Zeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuvor das Unkraut und bindet es in Bündel, dass man es verbrenne; aber den Weizen sammelt mir in meine Scheune.
1: Heute Morgen geht es um Garten, genauer um Feldarbeit, und um ein Phänomen, das wir gut kennen: Das Unkraut. Und wir hören dazu: Das Unkraut darf wachsen, soll wachsen wie der Weizen. Wenigstens bis zur Ernte.
2: Liebe Gemeinde, als eher träger Beetepfleger und noch nicht so recht überzeugter Hobbygärtner kommt mir diese Strategie sehr entgegen. So war und ist unser Garten in den seltensten Fällen eine sehenswerte ästhetisch anzusehende Kulturlandschaft, als vielmehr ein wild durchwachsenes unschönes Biotop. Und das stimmt mich doch sehr versöhnlich...
1: Du willst deine fehlenden Pflanzenliebe und völlig abwesenden gärtnerischen Fähigkeiten doch wohl nicht als Tugend verkaufen, oder?
2: Na ja, also was Tugend angeht, so will ich das mal dahin gestellt sein lassen, aber es scheint doch heute morgen so, dass dieses wenig ansehnliche Feld, dieses wild gewachsene Getreidefeld ein sehr hilfreiches treffendes Bild für das Reich Gottes, für die Gemeinde Jesu.
1: Ja, schon, aber nicht, weil das der Idealzustand wäre, sondern weil das den menschlichen Trägheiten und Gegebenheiten am nächsten kommt.
2: Wegen mir auch. Aber es ist doch nachdenkenswert, dass hier dem Bedürfnis nach klaren Zuschnitten und frisch gejäteten Beeten nicht nachgegeben wird.
1: An welche Zuschnitte und Jätformate denkst du denn?
2: Na ja, die Zuschnitte, die wir bei zahlreichen Überlegungen zum Gemeindeaufbau und Wachstum immer wieder durchbuchstabieren...
1: Zum Beispiel?
2: Die kirchenmusikalisch ambitionierte Gemeinde, die liturgisch- traditionelle Gemeinde, die karnevalistisch, passioniert, österlich, pfingstlich und weihnachtlich gestimmte Gemeinde, die niveauvoll fromme, gebildete oder manchmal auch ein bisschen eingebildete Gemeinde, die Anstaltskirchengemeinde (n), die durch und durch diakonisch geprägte Gemeinde, die noch „durcher" und „durcher" presbyterial-synodale Gemeinde, die Worship-Gemeinde, die jugendlich offene Gemeinde, die Stiftungs- und Spendengemeinde, die austretende und immer wieder auch eintretende Gemeinde, die Leuchturm, Lagerfeuer und Funzelgemeinde...
1: Lass gut sein, ich glaube, wir haben da alle mehr oder weniger ein Schnitt und Jätmuster vor Augen. Also, was ist jetzt mit diesen Zuschnitten und Jätmustern.
2: Trotz aller Zuschnitte und Jätaktionen ist immer wieder Unkraut dabei, und das setzt sich nicht nur ein bisschen und an den Rändern fest, sondern durchzieht alles, geht offenbar querbeet und findet sich überall und immer wieder und unübersehbar.
1: Aber Unkraut bleibt Unkraut und Weizen bleibt Weizen. Da kannst du ambitionierter Gärtner sein oder zwei linke Hände haben oder von Zuschnitten und Jätmustern faseln so viel du willst...
2: Auch richtig. Trotzdem bleibt da doch das ärgerliche Moment, dass es offenbar nichts in Reinkultur gibt, und auch für allein seligmachende Strukturen und Prägungen kein Platz ist. Aus dem Alltag kennen wir ja den Satz: Es kann der beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Aber hier in diesem Gleichnis vom Reich Gottes gilt eher das Gegenteil: Es muss und soll und wird auch in Zukunft so sein, dass wir gerade auch dann, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt, im Frieden leben können und im Frieden leben sollen.
1. Moment mal, das kommt mir jetzt aber doch ziemlich verdreht daher. Was ist daran falsch, wenn eine Zentralverwaltung reibungslos funktioniert, man einen Haushaltsentwurf schon nach dem ersten Durchlesen versteht, ein Ausschuss zügig und effektiv Vorschläge zum Gemeindeaufbau und Wachstum macht, ein Presbyterium mutig und kompetent und geradeaus seine geistlichen Aufgaben wahrnimmt, wenn die Frömmigkeit eine benennbare Form und auch Inhalt hat, wenn Menschen Gottesdienste feiern, in denen es warm und licht wird und man den Himmel auf Erden erlebt, wenn es gemeindliche Gruppen gibt, bei denen die Liebe Christi ein überwätligendes Echo erfährt, wenn dort Persönlichkeiten sind, deren Charisma einen mitreißen....
2: Lass gut sein, das alles hat durchaus erstrebenswerte Momente und an vielem arbeiten wir ja auch. Aber das alles bekommen wir nicht als Monokultur und ohne Wehrmutstropfen, sondern eben immer nur mit Abstrichen, Einschränkungen und unter Vorbehalt
1: Und das soll so bleiben?
2: Na ja, das ist offenbar nicht nur eine Panne oder ein Schönheitsfehler, das ist das Reich Gottes, nicht mehr und nicht weniger, das ist die Einladung an uns als Gemeinde als „corpus permixtum", als ein mit mehreren Elementen durchmischter Körper zu wachsen, zu gedeihen..
1: Hm...Erinnert mich an ein berühmtes Lutherzitat.
2: Nämlich?
1: „Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Fromm werden, nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden,
nicht ein Sein, sondern ein Werden.
Nicht eine Ruhe, sondern eine Übung
Wir sind´s noch nicht, wir werden´s aber.
Es ist noch nicht getan oder geschehen,
es ist aber im Gang und im Schwang.
Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es glüht und glänzt noch nicht alles. Es reinigt sich aber alles."
2: Gefällt mir gut, der Luther. Vor allem die beiden Schlusssätze: Es glüht und glänzt noch nicht alles, es reinigt sich aber alles. Die Unzufriedenheit über alles Vorläufige und Unvollkommene löst sich auf, allerdings erst dann, wenn Gott zu seiner Zeit, zur Zeit der Ernte, seine und dann allerdings auch nötigen Schnitte tätigt und dafür sorgt, dass die Ernte eine Ernte wird und nicht nur zur Anreicherung eines Komposthaufens taugt.
1: In der Tat, das Gute an diesem Gleichnis liegt in der tröstlichen Gewissheit, dass der Hausvater zur Ernte selbst tätig wird und alles, was nötig ist, veranlasst. Da braucht vorher nicht mit E 605 gespritzt, gejätet, gezogen, ausgemerzt, vernichtet, ge- und verurteilt zu werden.
2: Ja, da ist es so wie es in der Lesung aus dem Jesaja (Jesaja 40,12-25) anklang, die uns der Chor in dieser eindrücklichen Version vorgetragen hat: Das letzte Wort über alles, über das Reich Gottes, über die Gemeinde Kaiserswerth, über den offenen, mal fruchtbaren, mal steinigen, mal dornigen Garten, über die Menschen, die hier jeder und jede auf seine und ihre Weise mit dem Weizen zu Gange sind, das letzte Wort liegt bei Gott, dem Heiligen, dem die Seraphen singen und von dessen Herrlichkeit, Ehre und Gewicht alle Landen voll sind.
1: Und das ist nicht nur gut so, das rettet alles, das schafft jenen barmherzigen und gnädigen Raum, in dem jeder und jede atmen kann, auch wenn es dem bösen Nachbarn und der bösen Nachbarin nicht gefallen sollte.
2: Ich weiß theologisch nichts, was uns mehr und dauerhafter gewiss machen kann, dass wir bei Gott ankommen werden - trotz allem, was wir sind und haben bzw. nicht sind oder nicht haben. Weil weder ich selbst noch ein anderer an dem Unkraut, aber eben auch nicht an dem Weizen herumzupft und ausreißt und kaputtmacht.
1: In diesem Sinne also und mit der Gewissheit, dass der Hausvater die Ernte nicht aus den Augen verliert, sondern einbringen wird, und mit dem Wissen um das Unkraut, das unseren Gemeindealltag mal mehr und mal weniger begleitet, lasst uns dieses Jahr 2011 in allen Stücken wachsen, nicht nur, aber immer wieder auch so, wie es der Kirchenvater Augustin beschrieben hat:
2: Miteinander reden und lachen,
sich gegenseitig Gefälligkeiten erweisen,
1: zusammen schöne Bücher lesen, sich necken, dabei aber auch einander sich Achtung erweisen,
2: mitunter auch streiten, aber ohne Hass,
wie man es schon mal mit sich selbst tut,
1: manchmal auch in den Meinungen auseinander gehen
und damit die Eintracht würzen,
2: einander belehren und voneinander lernen,
1: die Abwesenden schmerzlich vermissen,
die Ankommenden freundlich begrüßen.
2: lauter Zeichen der Liebe und Gegenliebe,
die aus dem Herzen kommen,
1: sich äußern in Miene, Wort
und tausend freundlichen Gesten
2: und wie Zündstoff den Geist in Gemeinsamkeit entflammen, so dass aus den vielen eine Einheit wird.
1: „Darum richte nicht vor der Zeit,
bis der Herr kommt, welcher wird ans Licht bringen, auch was im Finstern verborgen ist,
und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Alsdann wird einem jeglichen
von Gott sein Lob widerfahren
2: Und der Friede Gottes, der höher ist alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus unserem Herrn.
Amen.
Altjahresabend, 31.12.2010, Jes. 30, 15-17, Stadtkirche, Holger Pyka
Liebe Gemeinde,
am Ende des Jahres wird Kassensturz gemacht. Ausgaben und Einnahmen werden aufgerechnet, Soll und Haben verglichen und am Ende wird Bilanz gezogen. Das ist nicht nur in der Buchhaltung so. Auch in den Medien jagt dieser Tage ein Jahresrückblick den nächsten. „Schlagzeilen 2010", „Menschen 2010" und so weiter. Auch im Privaten nutzen viele Menschen die bleierne Zeit „zwischen den Jahren" zu einem persönlichen Blick zurück auf das vergangene Jahr, wägen Gutes und Schlechtes gegeneinander ab.
Was aber, wenn die Bilanz negativ ausfällt? Was, wenn am Ende des Jahres unterm Strich rote Zahlen stehen und die bange Frage: Wie geht es weiter? Und was, wenn die Bilanz nicht aufgrund der allgemeinen schlechten Wirtschaftslage schief ist oder irgendwelcher unvorhersehbarer kleiner und großer Katastrophen? Was, wenn die Misere zumindest zum Teil selbst verschuldet ist, weil ungute Entscheidungen getroffen, die verkehrten Wege beschritten und mit falschen Geschäftsfreunden Verträge geschlossen wurden? Was, wenn wir am Ende unserer persönlichen Bilanz mit dem Fazit in der Hand dastehen und auch feststellen, dass am letzten Tag des Jahres die Erinnerung an verpasste Chancen, falsche Entscheidungen und trügerische Alternativen überwiegt?
Diese Perspektive mutet uns der für den heutigen Altjahresabend vorgeschlagene Predigttext zu. Es ist ein kleiner Ausschnitt aus einer Reihe von Worten, die Gott durch den Propheten Jesaja an das Königreich Juda richtet. Es sind harte, realistische und gerade darum auch hoffnungsvolle Worte.
15 Denn so spricht Gott der HERR, der Heilige Israels: In Umkehr und Gelassenheit werdet ihr gerettet, in der Ruhe und im Vertrauen liegt eure Stärke. Ihr aber wolltet nicht und sagtet: Nein! Auf Pferden werden wir fliehen! Darum werdet ihr fliehen. Und auf Rennpferden werden wir reiten! Darum werden eure Verfolger rennen. Tausend werden fliehen vor dem Drohen eines Einzigen, vor dem Drohen von fünfen werdet ihr fliehen, bis ihr ein Rest seid, wie ein Heereszeichen auf dem Gipfel des Bergs und wie ein Feldzeichen auf dem Hügel.
(Jes 30,15-17, Neue Zürcher Übersetzung)
Liebe Gemeinde, der Prophet geht hart mit seinem Volk ins Gericht. Das Volk, das Gott selbst zu seinem Augapfel erwählt hat und für dessen Fortbestand er selbst einsteht, hat sich emanzipiert. Versprechen aus uralten Zeiten, rührige Geschichten von Bundesschlüssen und der Glaube an einen Gott, der es den Seinen im Schlaf gibt - das alles ist sicherlich nicht verkehrt, wem es hilft, der soll ruhig daran glauben. Aber realistisch muss man doch bleiben. Es gibt Sachzwänge in der Welt, denen man keine frommen Wünsche entgegen stellen kann, da muss man mit harten Bandagen kämpfen und konkrete Maßnahmen fahren. Für das kleine Königreich Juda ist das die sehr konkrete Bedrohung durch das immer größer, immer gieriger und brutaler werdende Reich der Assyrer, dessen König Sanherib seine Hand schon nach Jerusalem ausstreckt. Für Hiskija, den König Judas, ist das Grund genug, eine Reihe fragwürdiger Bündnisse mit der Großmacht Ägypten einzugehen, denn der Pharao mit seiner Streitmacht scheint doch um einiges näher und vor allem einflussreicher und wirkmächtiger als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Und hier setzt die Kritik Jesajas an: Ihr wollt aufrüsten und mit den Großen und Mächtigen um die Wette rennen, in der großen Politik mitspielen, weil Ihr euren eigenen Initiativen mehr vertraut als dem, der Euch aus den staubigen vergessenen Ecken der Weltgeschichte erst herausgehoben hat, der Euch aus Ägypten befreit und Euch Namen, Land und Identität gegeben hat. Im Rückblick können wir sagen, dass die Bemühungen Judas und die Schaukelpolitik Hiskijas nur auf kurze Sicht einigen Erfolg hatte, etwa hundertdreißig Jahre nach diesen Worten Jesajas wird Jerusalem von den Babyloniern erobert und das Königreich Juda geht unter. Dann flattert nicht einmal mehr die einsame Kriegsfahne auf dem Berg im Wind.
Dabei zeigt Jesaja einen Ausweg aus der Misere. Der Prophet erinnert sein Volk an die Treue Gottes, des Gottes, des einen und einzigen Gottes, der das kleine, unbedeutende Volk Israel auserwählt hat und zu ihm gesagt hat: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein."
Natürlich kann man sich fragen, ob die Geschichte damals anders gelaufen wäre. Ob Gott auf die eine oder andere Art dem König von Babylon mit seinem Heer in den Arm gefallen wäre.
Und wahrscheinlich ist es diese Skepsis, durch die wir uns heute von Jesaja mit angesprochen fühlen können. Dieses Misstrauen gegenüber Gottes Verheißungen angesichts der Abgründe unseres eigenen Lebens, in den Fängen der unerbittlichen Sachzwänge und Eigengesetzlichkeiten der modernen Welt, im tosenden Gebrüll der Mächte und Gewalten hier auf Erden.
Und doch ist es letzten Endes nicht die Skepsis und der wankelmütige Kleinglaube, der uns heute und alle Tage mit Israel verbindet. An die Seite des Gottesvolkes können wir uns nur stellen, die Prophetie aus seiner Mitte können wir nur deswegen auch an uns gerichtet verstehen, weil Gott seine Verheißung im Kommen seines Sohnes Jesus Christus bekräftigt und auf uns Heiden ausgeweitet hat. Im Leben, Sterben und Auferstehen, in der Verkündigung Jesu Christi ist auch uns Grund zur Ruhe und Gelassenheit gegeben.
Damit ist nicht die stoische Unerschütterlichkeit und leidenschaftslose Gemütsruhe gemeint, die die griechischen Philosophen erstrebten. Das ist auch nicht der erleuchtete, aber emotionslose Gleichmut, den der Buddhismus lehrt. Und das ist auch nicht die distanzierte und souveräne Gelassenheit, mit der wir heute in allerlei Psychoseminaren und Managerfortbildungen unsere Effektivität steigern wollen.
Die Ruhe und Gelassenheit, von der hier die Rede ist, können wir uns nicht selbst beibringen, sondern immer wieder neu lernen und einüben durch das Hören auf das Wort Gottes, das in Christus lebendig geworden ist. In dem Kind, das wir in der letzten Woche in seiner armseligen Futterkrippe liegend betrachtet haben, Seite an Seite mit allerlei schrägen Gestalten. In dem Sohn Gottes, der all unsere kläglichen und tragischen Versuche, unserem Leben einen Sinn und eine Berechtigung zu geben, durchkreuzt. In dem Menschensohn, der die tiefsten Täler des Menschseins durchschritten hat und ihnen ihre Einsamkeit und Gottesferne genommen hat und uns von der Tyrannei des gelingenden Lebens befreit. Im Gekreuzigten, der uns die ultimativen Konsequenzen unserer ach-so-menschlichen religiösen und politischen Panikmache und unserer Gleichgültigkeit vor Augen führt. Und im Auferstandenen, der all das auf sich nimmt und überwindet und uns sagt: „Siehe, ich bin bei euch, alle Tage, bis ans Ende der Welt."
Das ist der Kern des Evangeliums, dieser frohen und frei machenden Botschaft von der Liebe Gottes. Wagen wir doch einmal am Altjahresabend den Traum, wie eine Welt aussehen könnte, in der wir ganz von dieser Verheißung getragen werden. In der wir als freie und mündige Kinder Gottes aus dem Glauben heraus leben, dass wir eben nicht mehr sein müssen als gerade das: Gottes Kinder, die Früchte seiner Liebe, einer Liebe, einer grundlegenden Anerkennung, wenn Sie so wollen, die wir uns nicht verdienen müssen, geschweige denn können.
Wie könnte diese Welt aussehen?
Ich stelle mir da meine eigene Generation vor. Da versucht niemand mehr, tausend Sachen gleichzeitig zu erledigen, sich alle Möglichkeiten offen zu halten und immer und überall für jeden erreichbar zu sein, um ja nicht im Strudel der immer schneller verrinnenden Zeit unterzugehen. Da können Menschen neu aufeinander zugehen, weil sie nicht mehr höher, schneller und weiter kommen müssen als die anderen. Und weil sie sich nicht mehr gegenseitig zu hilfreichen oder unnützen „Sozialkontakten" degradieren.
Ich stelle mir die Älteren vor, denen man noch eingeredet hat: „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott." Ich stelle mir vor, wie sie endlich, nach einem Leben voll Aufopferung und Plackerei, die Hände in den Schoß legen und entspannt ausatmen, weil sie nicht mehr ihres eigenes Glückes Schmied sein müssen.
Ich stelle mir eine Kirche vor, die nicht mehr nach Aufmerksamkeit heischend am Rande des gesellschaftlichen Parketts herumsteht, in der Hoffnung, endlich mal wieder von den Reichen und Schönen zum Tanz aufgefordert zu werden. Die nicht mehr dem Irrglauben anhängt, ihr Auftrag sei es, ihre Mitgliederzahlen konstant zu halten und ihre Hilfe stünde im Namen von Werbefachleuten und Wirtschaftsanalytikern. Sondern die stattdessen eine Heimat ist, ein Ort echter Ruhe und Gelassenheit für alle Gehetzten, Mühseligen und Beladenen dieser Welt.
Es ist ein Traum, zugegebener Maßen auch genährt von der Sentimentalität des Altjahresabends, an dem all die verpassten Chancen des letzten Jahres noch einmal vorüber ziehen. Aber vielleicht kann uns der Duft von Freiheit, von Ruhe und Gelassenheit, der uns hier um die Nase weht, ein Anreiz zur Umkehr sein. Das war das erste Stichwort des Jesajawortes: In Umkehr und Gelassenheit werdet ihr gerettet, in der Ruhe und im Vertrauen liegt eure Stärke. Wörtlich steht hier im Bibeltext Umkehr, aber auch Rückzug. Damit ist nicht der Rückzug ins Private gemeint, sondern die Erkenntnis, dass ich nicht jedes brutal-wetteifernde Spiel der Erwachsenen dieser Welt mitspielen muss, bloß, damit ich jemand bin. Ich bin schon Jemand, jeder von uns ist schon Jemand, eine geliebte Schwester, ein geliebter Bruder Jesu Christi.
Diese Umkehr können wir wohl auch nicht planen, als einen von vielen guten Vorsätzen für das neue Jahr. Diese Umkehr, die Neubesinnung, die Ruhe und Gelassenheit wird uns geschenkt. Wenn wir gleich das Abendmahl feiern, bietet der Tisch des Herrn eine solche Gelegenheit. Dorthin können Sie alle kommen und sich stärken an Brot und Wein, ohne, dass Sie vorher oder nachher irgendeine religiöse Leistung erbringen müssen. Dort müssen Sie keine Tischnachbarn mit Ihrer Jahresbilanz beeindrucken, sondern können sich bewirten lassen.
Möge uns alle Christus selbst im Abendmahl stärken, unser Vertrauen vermehren, Ruhe schenken und unsere Hoffnung nähren. Hoffnung sicherlich auch darauf, dass dieses nächste Jahr, an dessen Schwelle wir stehen, gut wird - was immer das im Einzelfall bedeuten mag. Und vor allem eine Hoffnung darauf, dass am Ende der Zeit, wie wir sie mit Uhren und Kalendern messen, die große und letzte Bilanz trotz allem positiv ausfällt. Nicht weil wir so tolle Rechenkünstler sind, weil wir es wieder einmal geschafft haben, mit allerlei Tricks und Rechenschieberei die Zahlen zu schönen. Sondern weil die Gnade und die Treue dessen, der dann mit aller Welt abrechnet, so groß und weit ist, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
Amen.
2.Christtag 26.XII.2010 Johannes 8,12 u.a. Stadtkirche Jonas Marquardt
Predigt Kaiserswerth 2.Weihnachtstag 2010
(Johannes 8,12) - (Matthäus 2, 13–18) - (Apostelgeschichte 7, 54–59)
Liebe Gemeinde!
Der diesjährige 26.Dezember bringt seine ganz eigene Form der Bescherung:
Dreifach ist dieses Datum nämlich liturgisch belegt, und entsprechend finden sich für heute drei vorgesehene Predigttexte, und also habe ich – auch wenn es vielleicht nicht jedermanns sehnlichstes Verlangen war – drei Predigten im Angebot.
Die eine gilt dem Text des 2.Christtages, in dem wir hören, dass der erwachsene Jesus Christus, lange nach der Nacht, in der die Herrlichkeit des Herrn über Bethlehem leuchtete, sich selbst als Licht der Welt bezeichnet. Die Predigt zu dieser feierlichen Offenbarung wird von Metaphern des Glanzes durchdrungen und kann darum der Anschaulichkeit halber „die goldene Predigt“ genannt werden.
Daneben kommt eine „Weihrauch-Predigt“ zur Entfaltung, denn da heute zugleich schon der 1.Sonntag nach Weihnachten ist, wendet der dafür vorgesehene biblische Bericht unsere Aufmerksamkeit zum Pharaonenreich am Nil. Schwere Parfümschwaden der Exotik und der leicht widerliche Geruch ungewaschener Wanderer wehen dabei durch die Erzählung von der Flucht nach Ägypten.
Schließlich – man ahnt’s – ist die letzte der drei Predigten bitter, bitter wie Myrrhen.
Denn sie verdankt sich dem heutigen Stephanstag, der von der alten Kirche unmittelbar an das weihnachtliche Hochfest herangerückt wurde, um erst gar keinen Kitsch aufkommen zu lassen, als sei der Hofstaat des neugeborenen Königs immer nur ein Rokoko-Gewimmel von jubilierenden Putten und großzügigen Königen.
Nein, das Gefolge des armen Kindes von Bethlehem stellen diejenigen dar, die sein Kreuz auf sich nehmen und ihm folgen, und darum gebührt dem ersten Märtyrer der christlichen Gemeinde, Stephanus dem Armenpfleger von Jerusalem der Vorrang. Und also wird sein Sterben unmittelbar in Erinnerung gerufen, wann immer wir beginnen, von Jesu Leben zu erzählen.
In ihrer Abfolge sind die drei Ansprachen beweglich.
Man könnte beginnen, indem man von der biblischen Wahnsinns-Idee spricht, dass es den Messias, kaum dass er erschienen ist, ausgerechnet nach Ägypten verschlägt.
Kein Psalm und kein Prophet der Bibel, die nicht sinnbildlich drei Kreuze machten bei der Erwähnung des Sklavenhauses. Man schlage das Alte Testament auf, wo man auch wolle: Dass sie Ägypten hinter sich haben, ist das alles entscheidende Urmotiv für Dankbarkeit und Zuversicht bei den Zeugen Gottes. Nie wieder eine solche Tortur! Alles, um nicht noch einmal unter der Ausbeutung im Dienst des kolossalen Totenkultes der Pharaonen zu leiden. Eine Reise nach Ägypten – selbst wenn sie das Leben retten sollte – ist für biblische Menschen tabu, so wie eine Erholungsreise an den Ural oder nach Sibirien für unsere Kriegsgefangenen nicht in Frage gekommen wäre: Jeremia (Jer.42f) etwa wehrte sich mit Händen und Füssen, als er im Chaos bei der Zerstörung Jerusalems von etlichen Landsleuten kurzerhand hopsgenommen und bei deren Flucht nach Süden mitgeschleift wurde.
Aber obwohl – oder gerade weil? – am Nil von Israel aus gesehen die Hölle liegt, mit einem Volk, das für die Toten mehr tut, als für die Lebenden: dennoch führte der Weg des gerade frisch geborenen Christus hinunter in diese Unterwelt. In die ägyptische Finsternis.
Was das näher bedeutet, ..... dass da nämlich der Messias das ganze Geschick seines Volkes, seine Sklaverei, sein Elend und Heimweh, seine Fremdheit und Qualen am eigenen Leibe nachvollzieht: das alles wird die Predigt aus den dicken Weihrauchschwaden der schwarzen Mysterien, die Ägypten benebeln, natürlich nachzeichnen.
Und daran ließe sich die goldene, die Lichterpredigt anknüpfen:
Wie das Kind, das als dreckiger kleiner Slumbewohner in einem Flüchtlingslager zwischen Memphis und dem Delta aufwuchs, schließlich doch in seine Heimat gelangte, und wie dort seine Ausstrahlung wuchs ..... eben weil er die Verdunkelung der Wahrheit und die Schatten der Unfreiheit selbst verspürt hatte.
Aber wie er letztlich doch nicht zur Lichtgestalt wurde wegen seiner Lebenserfahrung und seines gereiften Charakters, sondern weil ihm etwas in die Krippe gelegt war, das ihn von Anfang an auszeichnete: Das unlösliche Band, das Gott zwischen diesem Menschensohn und sich selbst erzeugt hatte.
Diese Helligkeit und Herrlichkeit, also die Wirklichkeit Gottes selber ist das ewige Licht, in dem Jesus uns noch auf trübsten Wegen leuchtet. Allein durch diese Gegenwart des Himmels macht Jesus die Erdenerfahrungen hell, die er mit uns teilt und wir mit ihm.
Das ist bei den Lichtern der Weihnachtszeit nicht anders als im finsteren Tal der Passion.
Finsternis ist nicht finster bei Gott, und darum leuchtet schon die Nacht von Jesu Geburt wie der Tag (vgl.Ps.139,12).
Dieser Ausgangspunkt für die neue Belichtung der Welt, die wir oft so gar nicht mehr sehen können, dieser Anhaltspunkt für ein Heller-, nicht Dunklerwerden der Horizonte, wird in der Predigt mit dem strahlenden Grundton schließlich auf alle unsere Erlebnisse und Erwartungen ausgedehnt, so dass eine Leuchtspur auch durch unser Leben führt, auf der wir zu Nachfolgenden werden.
Am Ende der Drei-Predigten-Reihe heute könnte dann aber die Stephanus-Predigt stehen.
Sie führt uns zwar wieder zurück in dunkle Bereiche, ja in eine völlig verstörende Schwärze der menschlichen Verfassung, zu etwas, das wir erfolgreich ausgeblendet haben:
Dass es nämlich Märtyrer gibt, die das Weihnachtsfest – also die Freude daran, dass Gott in Jesus, dem Sohn der Maria leibhaftig anwesend ist – mit dem Leben bezahlen, wollten und mussten wir lange Zeit nicht wahrhaben.
Inzwischen wissen wir wieder, dass der Chor derjenigen, die nicht unter unseren bequemen Bedingungen, sondern unter letzten Gefahren ihre Verbundenheit mit Jesus Christus bekennen, eine wachsende Schar ist.
Aber ihr Anführer, der Erzmärtyrer, von dem das Neue Testament berichtet (vgl.Apg.6f) hat doch gerade in aussichtloser Lage etwas gesehen und bezeugt, das mit der Fahrt des neugeborenen Jesuskindes in die Finsternis und mit dem Aufklaren der tiefsten Todesnacht an seiner Seite wunderbar übereinstimmt.
Im Sterben noch, als die Brocken, die seine Grabsteinen werden sollten, auf ihn niederprasselten, sah Stephanus die Herrlichkeit Gottes und erkannte am offenen Himmel, wie Jesus, der Menschensohn zur Rechten Gottes steht (Apg.7,55)!
Auch hier also wieder das weihnachtliche Bild, dass Gottes Glanz und die Gestalt Jesu sich zu einer Licht- und Kraftquelle verbinden, die unser Menschsein auf Schritt und Tritt, im Kommen, Bleiben und Dahinfallen morgenrot bescheint, so dass wir vor uns keinen Untergang, sondern nur noch Lebendigkeit haben.
Die Martyriums- oder Myrrhen-Predigt hat demnach nicht nur ihren Teil an Helligkeit, sondern sie übertrifft die Kindheits- und die Erwachsenenpredigt darin sogar noch, denn sie zeigt, dass von unten bis in die unvorstellbarste Höhe, dass vom geringsten Anfang bis zum unendlichen Ziel alles durchdrungen werden kann von den Strahlen jenes weltweiten Lichtes, das Jesus heißt und ist. ——
Diese Predigt-Trilogie vom Licht im Himmel, vom Licht der Welt und vom Licht, das auch in die Unterwelt vorgedrungen ist, könnte natürlich in jeder anderen Reihenfolge auch gehalten werden: Man könnte auch sagen, dass wer einmal mit uns in der Weihnachtszeit gesungen hat
„Das ewig Licht geht da herein,
gibt der Welt ein’ neuen Schein;
es leucht’ wohl mitten in der Nacht
und uns des Lichtes Kinder macht“
(M.Luther)
.... dass wer so gesungen hat sich vor „Ägypten“, nämlich allen Abenteuerfahrten und Umwegen seines Lebens nun nicht mehr fürchten wird und endlich auch nicht vor dem Augenblick und Augenaufschlag des Stephanus, der, als sein Blick brach, am meisten sah.
Doch auch wenn wir mit Himmel und Hölle anfingen, wenn wir zunächst also von der Gewißheit redeten, dass uns jenseits der Welt und des Lebens, die wir kennen - egal wo - das Jesus-Licht scheinen wird, das alle Finsternis vertreibt, ... auch dann würden wir als Mittelstück den Satz vom Licht der Welt vorfinden, denn wenn uns Zuversicht im Unbekannten und Unerforschlichen zugesagt wird, um wie viel mehr ist dann die Welt, in der wir leben, ein Ort, an dem wir nicht ahnungslos, sondern geleitet leben dürfen!
Die drei Predigten für heute – obwohl sie variabel in der Anordnung sind – ergeben also ob so herum oder so herum miteinander Klarheit: Was Matthäus über die Flucht nach Ägypten und Johannes über das Licht der Welt und Lukas über den Tod des Stephanus berichten, stimmt in der Weise überein, dass sie alle ausgedrückt sind in der anderen Luther-Strophe
„Dein Krippen glänzt hell und klar,
die Nacht gibt ein neu Licht dar.
Dunkel muß nicht kommen drein,
der Glaub bleibt immer im Schein“!
Wir können also mit den drei lichterfüllten Feiertags- und Weihnachtssonntags- und Stephanus-Gedächtnis-Predigten beginnen! ———
Doch da fällt mir ein, dass Sie vielleicht gar nicht auf drei Predigten eingestellt sein könnten. Dass Sie heute womöglich doch schon wieder kochen oder einen Besuch machen wollen, oder dass es Sie einfach heim drängt oder an die frische Luft.
Vielleicht sind drei Predigten ja auch doch eine zu viel .... oder zwei?
Vielleicht wäre es Ihnen sogar lieb, wenn ich heute gar keine der drei Kanzelreden anfinge.
Denn vielleicht ist Ihnen ja zu Weihnachten schon reich gepredigt worden, entweder aus einem menschlichen Mund oder aber in einer Sprache und mit Zeichen, die wir anders vernehmen und verstehen, als das gedanklich Verarbeitete.
Vielleicht hat Ihnen ja ganz schlicht etwas gepredigt, das die Pfarrer und die Gelehrten seit Jahrhunderten verlachen und verpönen.
Vielleicht war es der vielgeschmähte, symbolisch tatsächlich auch auf wackligen Füßen stehende Weihnachtsbaum in seinem Glanz.
Überzeugende Gründe für ein Märchenwaldgewächs in der guten Stube aus Anlass der Geburt unseres Heilands in Israel gibt es zwar keine, aber eine überzeugende Botschaft haben die Lichter und Kerzen, das sanfte, warme Leuchten des Weihnachtszierrats doch.
Und vielleicht lassen wir vom Licht der Welt, das in die Abgründe genau so strahlt wie es das Himmelreich mit Herrlichkeit erfüllt, vielleicht lassen wir von diesem Licht einfach nur die Lichter sprechen, die uns durch diese Tage und Nächte und ganze Festzeit begleiten.
Am besten wird es sein, wenn ich die wenigen dafür nötigen Worte einem anderen überlasse, vielmehr bei einem anderen leihe.
Ein Gemeindeglied hat es mir erzählt, was heute die Lichterpredigt dolmetschen soll:
„Obwohl es fast siebzig Jahre her ist und ich damals noch ganz jung war, habe ich es nie vergessen. Zuhause waren wir nicht kirchlich, so dass ich weder Gottesdienste noch Glaubensüberlieferungen wirklich kannte.
Aber einmal bin ich am Heiligen Abend an der Hauptkirche in unserer Heimatstadt vorbeigegangen zur Zeit der Mette.
Das Portal stand offen, und drinnen funkelte es unbeschreiblich von den vielen aufgesteckten Lichtern in den Bänken und um den Altar.
Und wie der Lichtschein so zu mir heraus in den Schnee fiel, da wusste ich plötzlich:
Da musst Du hinein! Da möchtest Du dazugehören!
Und so bin ich zum Glauben an Jesus Christus und in seiner Gemeinde gekommen.
Durch den Lichterglanz von Weihnachten.“
Ja, und so ist Jesus Christus zu Dir gekommen, liebes Gemeindeglied!
So ist er zur Welt gekommen!
Sein Licht scheint in der Finsternis, und in seinem Licht sehen wir das Licht (vgl.Joh1,5/Ps36,10)!
Amen.
Christvesper 24.XII.2010 Johannes 3,16 Stadtkirche Jonas Marquardt
Christvesper 2010 Stadtkirche
Johannes 3,16
Liebe Gemeinde!
Es ist nur eine Winzigkeit, die unter den großen, schönen, erwünschten oder überraschenden Dingen, die heute in vielen Häusern von Hand zu Hand gehen, ganz verschwindet.
Es ist das kleinste Päckchen, .... nein, eigentlich ist es bloß ein Umschlag, .... ach was, es hat nicht einmal einen Umschlag, .... es ist nur eine Notiz, ein loses Blatt, ein einzelner Satz. ......
Und auch wenn man bei Geschenken gewöhnlich nicht nach dem Wert, dem Gehalt oder der Zusammensetzung fragt, darf jedermann es bis in die kleinsten Kleinigkeiten erfahren, wie gering, wie filigran und leicht die miniaturhafte Gabe ist, um die es sich handelt:
25 Worte sind’s auf Griechisch, 108 kleine Buchstaben.
Andernorts warten heute im Schuber die gesammelten Werke der ganz Großen darauf ausgepackt zu werden, oder die Neuübersetzung von „Krieg und Frieden“, dem Epos eine Epoche liegt unterm Tannenbaum, oder der Mammutwälzer von Arno Schmidt, „Zettel’s Traum“, der ursprünglich über 7 ½ Kilo Gewicht hatte, findet hier und da geduldige, eingeschneite Leser.
Was sind da zwei Dutzend Wörtchen aus uralten Tagen? Ein Fetzen extradünnen Bibelpapiers.
Und dennoch ist es eine erlesene Kostbarkeit, zusammengefügt aus so wenigen Elementen.
Für viele Menschen, die etwas davon verstehen, ist es gar das Nonplusultra, die Krönung aller nur denkbaren Mitteilungen, die reichste Ausbeute aus Jahrtausenden der Schriftkultur, die beste Nachricht, die in den fünfhundert Jahren der Buchdruckerkunst Verbreitung fand.
Oder anders gesagt:
Das bißchen Schwarz auf Weiß, das heute abend als Geschenk für uns bestimmt ist, wurde von einer generationenlangen Volksabstimmung unter 31 000 in Frage kommenden Sätzen zum Liebling gewählt. Keiner der 31 000 Verse unserer Bibel hat nämlich in Vergangenheit und Gegenwart so vielen Menschen so viel bedeutet wie das Wort aus Johannes 3,16.
Und obwohl es demnach weder neu, noch ein Unikat ist, finden wir es an diesem Heiligen Abend inmitten aller anderen aufregenden oder überflüssigen Bescherungen auf unseren Plätzen vor, wie mit einer Schleife und einer Widmung: „Weihnachten 2010 – Für Dich!“
Um aber nicht unhöflich zu sein und den Gastgeber, der sich zweifellos bei dieser Geste etwas gedacht haben wird, nicht zu kränken, werden wir das Geschenk wohl auswickeln, den kurzen Satz wohl entfalten müssen.
Er enthält jedenfalls tatsächlich sämtliche klassischen Stoffe aller Weltliteratur: ein Liebesdrama, eine Kriminalgeschichte, einen Bildungsroman und eine Moral.
Betrachtet man diese meisterhafte Verbindung in einem einzigen Satzgefüge, wächst die Anteilnahme an der kleinen Textnachricht insgesamt wohl doch, obwohl wir die einzelnen Bestandteile vielleicht gar nicht sonderlich originell finden.
Liebesgeschichten kennt die Welt ja eigentlich zur Genüge:
„Es ist eine alte Geschichte und doch bleibt sie immer neu,
und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei“
reimt unser Düsseldorfer Haus- und Hofdichter über die Verwicklungen und Verwirrungen der zarten Gefühle, und ähnlich zwischen Sarkasmus und Abgeklärtheit schwanken wir alle, wenn es um’s Lieben geht.
Dass irgendein Romeo seine Julia findet – und sei’s auf der Totenbahre –, dass irgendeine Leonore, alias Fidelio ihren Florestan endlich doch wiederhat und mit ihm alt und gemütlich werden darf, dass irgendein Prinz Wilhelm sein Käthchen nach sieben Jahren heim auf’s Schloß führt und die Menschheit dabei dem ältesten Spiel ihrer Gattung applaudiert, das alles mag uns irgendwie sentimental berühren, ist aber im Ernst wenig aufwühlend.
Das haben wir schon so oft gelesen, gehört, gesehen.
Aber der elementar kurze Liebesroman in drei Satzteilen, der uns heute gewidmet wird, fällt aus dem üblichen Rahmen der Romanzen vollkommen heraus.
Weil sein Subjekt und sein Objekt so unwahrscheinlich sind. Gott, der Liebende!
Das ist nicht „der liebe Gott“ – der begegnet uns nicht in den 31 000 Versen der Bibel, sondern in den verharmlosenden Bearbeitungen und Verdünnungen, die das beste Buch aller Zeiten von unserer Seite erfährt.
Die Liebesgeschichte, die uns unter den Weihnachtsbaum gelegt wird, erzählt also nicht vom freundlichen Wesen einer höheren Macht, sondern von der unwiderstehlichen Ergriffenheit des Allerhöchsten, der eine Bindung eingeht, die nichts zu lösen vermag: sogar seine Allmacht bleibt endlich machtlos gegen das Liebesrisiko, dem er sich überlassen hat.
G o t t l i e b t! Das ist ein Zweiwort, das alle Buchweisheit der Welt sprengt.
Denn eigentlich kann ein Gott doch gar nicht lieben! Er kann herrschen. Er kann walten.
Kann machen, was er will, .... schaffen, spielen, strafen, laufen lassen, verwandeln, zerstören, wiederholen. Aber sich binden und dann am Geliebten hängen, die Qualen, Freuden, Ängste, Seligkeiten, das Angewiesensein, das Einigwerden, das Ineinanderaufgehen und Füreinanderleben der Liebe: das ist eine Bedingung, der ein Gott nicht unterworfen sein kann.
Doch der kleine Satz von der unvergleichlich großen Liebe sagt noch mehr Unziemliches:
Gott liebt sehr wohl ..... und zwar nicht die, deren Wesen es ist, seine Liebe zu empfangen, zu spiegeln und zurück zu strahlen – nicht die Engel –, sondern Er liebt die Welt!
Und was ist die Welt für den so bedingungslos Liebenden? Ist sie dankbares Gefäß, das sich geschaffen weiß, um diese überfließende Auszeichnung einer unerklärlich ungeschuldeten Liebe als kostbarste Dreingabe des Daseins zu fassen und zu hüten?
Was ist die Welt, um die Gott liebend wirbt? Sie ist ihm taubes Ohr. Kalte Schulter. Verschlossene Tür. Sie gibt ihm Befehle. Lässt ihn warten. Sie verweist ihn aus dem Haus. Sie verachtet ihn. Sie erfindet ihn weg. Schließlich erkennt sie ihn nicht einmal mehr.
Und da wird aus der Beziehung die Tat.
Die Geschichte der Liebe wird zum Kriminalroman.
Doch auch wenn die großen Weltgeschichten dieser Art von „Schuld und Sühne“ handeln, wenn sie den „Richter und seinen Henker“ vorführen oder am Ende immerhin klären, wie es zum „Zerbrochenen Krug“ kam, dann mag das alles spannend sein und in manchem exemplarisch, aber es löst in jedem Fall nur einen Fall.
Nie alle Fälle.
Der Fall aber, der sich in der kleinen Textzeile entwickelt und vollendet, die zu unserem Weihnachtsgeschenk gehört, ist einzigartig, weil nach ihm kein Fall mehr ungelöst bleibt.
Und es ist tatsächlich ein Kriminalfall, der in dem einen Wort vom dahingegebenen Sohn verborgen liegt.
Das allerdings ist ein Gedanke, der uns am Heiligen Abend völlig überrollt.
Wir sind hier vielleicht auf Schäferspiele, aber nicht auf Verbrechensaufklärung gefasst! Weihnachten ist doch an Spannungslosigkeit gar nicht zu überbieten; das ist ja seit frühester Kindheit für uns sein Reiz, dass wir bis auf die Umsetzung der Wunschliste immer genau wissen, was kommt.
Doch selbst auf dem anheimelnden Holzschnitt, der heute unser Gottesdienstblatt schmückt, könnten wir es bei Lichte besehen bereits erkennen, wie da im Halbschattenhintergrund etwas die glückliche Mutter und ihr Kind überragt.
Es ist also eine Frage, wie fern wir eigentlich dem Wunder bleiben, das da in der Geburt geschieht, wenn wir den Wegweiser auf das Ziel des geliebten und gelobten Säuglings nicht in den Blick bekommen? Blenden wir unter den Tannenbäumen wirklich immer aus, dass aus dem Winzling im Stroh der Nackte am Holz wurde?
Dass er uns so ganz und gar, so vollständig gegeben und überlassen wurde, dass von all seiner rührenden Unschuld und zarten Hilflosigkeit nichts übrig blieb?
Er wurde uns als das höchste, das vollkommene Pfand der Liebe Gottes hingegeben:
Wer ihn hatte, hatte Gott.
Und was wurde daraus? Was machte die Welt mit dem Sohn, den Gott ihr schenkte?
Er wurde zur Geisel. Der Liebling, der uns mit Gott verknüpfte, wurde erhängt.
Sein Leben ist unter uns nicht heiliggehalten, sondern geschändet worden.
Der radikale Liebesbeweis Gottes, durch den er sich in Menschenhände begab, führte ihn aus den weihnachtlichen Mutter- in die Mörderhände.
Doch wie löst sich diese dramatische Liebes- und Tötungsverwicklung zwischen Gott und der Welt, deren Handlung so unentwirrbar mysteriös zu werden scheint, wie Kafkas „Proceß“?
Geht es so widersinnig weiter wie es begann mit der unerhörten Liebe Gottes zur spröden Welt und dem unbegreiflichen Leidenslos?
Oder hören wir jetzt in der kurzen Nachricht aus 25 Worten, dass Gott, der zu Weihnachten liebt, am Karfreitag zu lieben aufhört; hören wir jetzt, dass das absurde Theater vorbei ist?
Nein, nicht den Nihilismus lernen wir kennen, auch keine gereifte Verzichtshaltung, die solche Sperenzien wie die Liebe aufgibt:
Es folgt also kein Bildungs- und Entwicklungsroman nach literarischem Muster.
Wir erfahren nicht, dass man an der Liebe verzweifeln muss, wie der junge Werther, der sich in der Mitternacht vor Heiligabend die Kugel in den Kopf jagt; wir erfahren auch nicht – obwohl es zum Neugeborenen in der Krippe zu passen schiene –, dass angesichts der Kaltschnäuzigkeit der Welt nur ewige Kindheit hilft, wie beim Blechtrommler, der sich der verdorbenen Erwachsenenwelt durch trotzige Dauerdreijährigkeit entgegenstellt und entzieht.
Was uns die unerwartete Verbindung von Liebe und Haß, von Gottes Erweichung und menschlicher Verhärtung aber eröffnen will und kann, lässt sich in einem einzigen Wort sagen:
Treue. Denn die ist das Wesen der Liebe Gottes. Und die ist die Lösung des Mordfalls.
Gott bleibt treu. Trotz aller Feindseligkeit bleibt’s bei der Verbindung, die zwischen ihm und uns in Jesus besiegelt wurde. Und „Glauben“ heißt wörtlich, dieser Treue zu trauen.
Weder mehr noch weniger ist das Ergebnis, wenn der halbe Satz von der Liebe, die uns ihr Liebstes gibt, sich in unserem Leben von heute an entfalten kann.
Wir werden es jetzt vielleicht nicht, vielleicht nie verstehen, warum Gott die Welt so liebt, warum er seinen Sohn – und nicht die Welt – aussetzt.
Aber wenn die Botschaft, dass er trotz alledem dabei bleibt, dass er treu ist, sich in uns bildet und formt, dann ist das der verheißungsvollste Entwicklungsroman überhaupt.
Wer nämlich auf eine solche Treue vertrauen darf, wird in Enttäuschungen vor der Verbitterung bewahrt, dem wird im Miteinander Geduld und in Einsamkeit Zuversicht geschenkt: diese Treue eröffnet Ausdauer im Hoffen und Lust zu leben; diese Treue übersteht den Zweifel und macht Misstrauen schmelzen.
Und wenn der treue Gott uns wirklich zu Vertrauenden und schließlich zu Vertrauten erzieht, dann beginnt sich das letzte Satzteilchen des kleinen Wunderwerks der Kürze und der Wahrheit zu erfüllen, das uns heute hier gemeinsam zugeeignet wurde.
Wer trauen lernt auf Gottes Weltliebe, dessen beherrschende Sorge ist nicht mehr die Suche nach der verlorenen Zeit, dessen Dasein ist auch nicht mehr sein Kampf und er fürchtet sich wenn sein Lebensweg am Ufer verschwimmt auch nicht mehr vorm Schimmelreiter.
Denn die Treue, der wir trauen dürfen, seit uns in dem Kind von Bethlehem und dem Mann von Golgatha Gottes unbezwingliche Liebe gilt, diese Treue lässt nicht verloren gehen.
So endet der dichteste Vers, der sich denken lässt.
Er ist verdichteter als jeder Diamant .... und tatsächlich auch wertvoller.
Denn er enthält und übertrifft den Schatz aller Dichtung und Weisheit, er schöpft in 25 Worten die Bilder und Lehren und Bücher des menschlichen Gedächtnisses und Wünschens bis auf den Grund aus und verbindet den Inhalt alles je Geschriebenen mit dem Leben. ——
Doch nachdem er das alles – Liebe und Schuld, unbeirrte Treue und unumstößliche Zukunft – im Namen Gottes so unnachahmlich gerafft und zusammengefasst hat, können wir jetzt ja gleich ........ zu unseren Geschenken gehen.
Nur dass wir irgendwo mehr, dass wir etwas Besseres, etwas Nötigeres, etwas Größeres antreffen sollten als diesen kleinen Satz, das ist nicht anzunehmen und auch nicht zu wünschen.
Er reicht für alle für immer.
Er ist Weihnachten.
Amen.
Heiligabend, Christmette, 2 Sam 7,1-8.12-14, Stadtkirche, Holger Pyka
Liebe Gemeinde,
die Geschenke sind verteilt und ausgepackt, wir sind hoffentlich alle mindestens zufrieden. Das Weihnachtsessen hat sich im Magen niedergelassen. Und die Heilige Nacht auf unsere Stadt gesenkt. Auf den Straßen wenig Verkehr, das kennt man dieser Tage. Der Schnee schluckt die Geräusche. Und endlich kehrt ein bisschen Ruhe ein, in den Häusern, aber auch an den Flughäfen und Bahnhöfen und Hotels, überall dort, wo noch Unfreiwillige sitzen. Endlich Ruhe. Nach der Hetze der letzten Wochen kann ich die gut gebrauchen, denn ich muss gestehen: Ich habe es auch in diesem Jahr wieder nicht geschafft. Diese Adventszeit, das hatte ich mir fest vorgenommen, sollte endlich mal ruhiger werden, weniger Gehetze durch die Kaufhäuser auf der Jagd nach Geschenken und auf der Suche nach einem richtig schönen Baum. Weniger Katerstimmung in Kopf und Magen nach unzähligen Weihnachtsfeiern. Weniger verfrühter Weihnachtskitsch, dafür mehr Ruhe, nennen Sie es Besinnlichkeit, und eine ernsthaftere Auseinandersetzung mit der Frage: Wie kann ich eigentlich Weihnachten angemessen feiern? Wie kann ich mich richtig auf Weihnachten vorbereiten, auf dieses Fest, an dem Gott selbst zur Welt gekommen ist? Etwas zugespitzt mit den Titeln zweier Lieder aus diesem Gottesdienst gesagt: Alle Jahre wieder: wie soll ich dich empfangen und wie begegne ich dir?
Suchen wir eine Antwort in dem für heute vorgeschlagenen Predigttext. Er steht im zweiten Samuelbuch und gehört somit nicht zu den Texten, an die wir unbedingt als erstes denken, wenn wir „Weihnachten" hören. Ich warne Sie auch direkt vor: Die Situation kommt sehr unweihnachtlich daher. Die kurze Szene, die wir gleich beobachten, spielt zu einer Zeit, in der das antike Israel beginnt, ein Staat zu werden, und in der König David seine Macht ausbaut. So gar nicht feierlich und besinnlich, mindestens genauso unweihnachtlich die Geschichte von einem jungen Pärchen, das bei einer Volkszählung vergeblich nach einer Unterkunft sucht. Die Geschichte kennen Sie ja. Aber hören Sie selbst den Predigttext für diese Nacht aus dem zweiten Samuelbuch:
7 1 Und als der König in seinem Haus saß und der HERR ihm Ruhe verschafft hatte vor allen seinen Feinden ringsum, 2 da sagte der König zu Natan, dem Propheten: Sieh doch, ich wohne in einem Haus aus Zedernholz, die Lade Gottes aber wohnt unter einer Zeltbahn. 3 Und Natan sagte zum König: Geh, tu, was immer du in deinem Herzen hast, denn der HERR ist bei dir. 4 In jener Nacht aber erging das Wort des HERRN an Natan: 5 Geh, und sage zu meinem Diener, zu David: So spricht der HERR: Du willst mir ein Haus bauen, damit ich darin wohne? 6 Ich habe nicht in einem Haus gewohnt seit dem Tag, an dem ich die Israeliten aus Ägypten heraufgeführt habe, bis auf den heutigen Tag, ich bin umhergezogen in einem Zelt als Wohnung. 7 In all der Zeit, die ich mit allen Israeliten umhergezogen bin, habe ich da zu einem einzigen der Stämme Israels, dem ich geboten hatte, mein Volk, Israel, zu weiden, gesagt: Warum habt ihr mir nicht ein Haus aus Zedernholz gebaut? 8 Und nun sollst du so zu meinem Diener, zu David, sprechen: So spricht der HERR der Heerscharen: ich werde dir einen grossen Namen machen, dem Namen derer gleich, die gross sind auf der Erde. Und der HERR wird dir verkünden, dass der HERR dir ein Haus bauen wird. 12 Wenn sich deine Tage vollenden und du dich zu deinen Vorfahren legst, werde ich nach dir deinen Nachkommen, der von dir abstammt, auftreten lassen, und ich werde sein Königtum befestigen. 13 Er wird meinem Namen ein Haus bauen, und für alle Zeiten werde ich den Thron seines Königtums fest stehen lassen. 14 Ich werde ihm Vater sein, und er wird mir Sohn sein.
Liebe Gemeinde, wie soll ich dich empfangen? Und wie begegne ich Dir? In Israel ist Ruhe eingekehrt. Endlich Ruhe. Die politische Lage ist stabil, David hat seinen Platz auf dem Thron eingenommen. Gott ist ins Land zurück gekehrt. Und David schreitet durch seinen Thronsaal. Dicke Wände aus Zedernholz schützen ihn. Er sitzt nicht mehr im zugigen Nomadenzelt, er ist nicht mehr wie seine Vorfahren in der Wüste zwischen Hoffnung und Verzweiflung unterwegs. Und doch ist er unruhig. Zu deutlich ist die Diskrepanz, zu greifbar das Gefühl: Da stimmt etwas nicht. Er sitzt in einem Palast aus Zedernholz, und Gott lassen sie unter einer muffigen Zeltplane wohnen, an der der Staub langer Reisen und vergangener Zeiten klebt. Das geht doch so nicht. Gottes ist gegenwärtig, endlich. Und jetzt hat das provisorische Zelt ausgedient. Und in Davids Kopf formt sich ein Gedanke: Ein Haus Gottes muss her. Ein würdiger und feierlicher Rahmen. Ein Ort, an dem in Gottes spürbarer Nähe Alte und Junge nun von der Last des Lebens einmal ruhn können. Der zur Besinnlichkeit einlädt, zum Innehalten, zum Durchatmen, auf dass es in den Herzen warm werde, Kummer und Harm still schweigen und die Sorge des Lebens verhallt zwischen den festlich geschmückten Gewölben und den schönen alten Liedern. Das geht nicht überall. Das geht vor allem nicht in dem alten Nomadenzelt, durch das der Wind pfeift und in dem es ständig nach Aufbruch und Unsicherheit riecht.
Ein Haus Gottes muss her, ein Tempel, eine schöne Kirche.
Und Gott hört Davids Pläne, er spürt seinen Wunsch nach Feierlichkeit, nach Ruhe und Besinnlichkeit. Er weiß um das Bedürfnis des Menschen David, der möchte, dass dieser Moment, an dem der Ewige die Erde streift, dieser Ort, an dem Gott ganz nah kommt, etwas ganz besonderes sein soll.
Und Gott meldet sich selbst zu Wort. Drei Dinge sind es im Wesentlichen, drei Antworten auf Davids Wunsch nach einem schönen Tempel und auf unsere Frage: Wie soll ich dich empfangen?
I.
Gott sagt: Ich brauche kein Haus. Ich brauche keinen Prunk, keinen Palast, keinen Tempel. Ich hatte keinen Tempel, als ihr auch keine Häuser hattet. Als ihr durch die Wüste geirrt seid, bin ich zu Fuß mit euch gegangen, Tag und Nacht. Ich habe mit euch den heißen Wüstensand eingeatmet. Ich habe mit euch in den kalten Nächten gefroren. Ich habe mich schützend vor euch gestellt, damals, als man euch ans Leben wollte. Ich wohne in Lumpen und Zeltbahnen, weil ihr selber bis vor kurzem noch mit Zelten umhergezogen seid, damit ihr immer und überall sagen könnt: Immanu-El, Gott ist bei uns.
Die christliche Gemeinde hat diese Geschichte weiter erzählt und gesagt: Immanuel, Gott ist bei uns, das ist auch der Name und das ist die Bestimmung dieses Kindes, das in dieser Nacht das Licht der Welt erblickt, oder eher: Das Licht der Welt ist. Der neugeborene Jesus liegt in einer Futterkrippe, einer provisorischen Notunterkunft, in armen Verhältnissen inmitten von Menschen, die von den Formalitäten der Weltgeschichte durch die Lande gespült werden:
Ein junges Paar, ein paar Hirten, die Penner der damaligen Zeit. Von der Atmosphäre her eher RTL2 als Hochkultur, eher Bahnhof als Kapelle. Gott kommt zur Welt, fernab von allem Prunk, aller Heimeligkeit und allen großen historischen Schaltstellen.
Liebe Gemeinde, Gott, wie wir ihn in Christus kennen gelernt haben, hat damit einen Stallgeruch. Der ist unverwechselbar - und der sticht ordentlich in der Nase, wenn wir doch an Weihnachten eigentlich den Duft von Tannengrün, Zimt und Nelken erwarten. Und so muss man leider sagen, dass wir von der Bibel keine religiösen Dekotipps unter der Überschrift „Schöner Feiern" erwarten können, dass das Kind in der Krippe leider nie das perfekte Accessoire zu unseren Weihnachtskugeln sein wird. Leider? Nein! Gott sei Dank!
Denn die Botschaft vom Gottessohn, der frierend und hilflos in der Krippe liegt, ist ein Trost. Vielleicht der einzige Trost für all diejenigen unter uns, die gerade heute an der ganzen Weihnachtsfeierei und an all diesen immens hohen Erwartungen, die sich damit verbinden, scheitern: Fröhliche, herzliche Geselligkeit im trauten Familienkreis. Ein perfekter Abend. Himmlische Ruhe und kuschelige Wärme in Haus und Herz. Manch eine hat das heute gerade nicht. Manch einen graut es gleich vor dem Nachhauseweg. Bei dem es am Weihnachtstisch ungewohnt still ist, weil vielleicht eine Person zum ersten Mal nicht da ist. Weil niemand zuhause auf sie wartet. Oder weil um den Baum herum die Trümmer des ganzen letzten Jahres liegen.
Und gerade sie sollen sagen können: Immanu-El, Gott ist bei uns. In Wüstenzeiten, während kalter Nächte und einsamer Tage und in den Ruinen unseres Lebens. Immanu-El.
„Alle Jahre wieder: Herr Jesus, wie soll ich dich empfangen?"
„Gar nicht. Macht euch für mich keine Umstände, ich komme auch so - ich bin sogar schon da und gehe auf allen Wegen mit euch ein und aus."
II.
Gott spricht weiter zu David, und zu uns. „Du brauchst mir kein Haus zu bauen, aber weißt du was? Ich baue dir ein Haus." Im Predigttext steht an dieser Stelle ein kleines Wortspiel, eine Art hebräisches Teekesselchen, denn „Haus" meint in der Bibel ein Gebäude, aber auch die Familie. Und der Herr wird dir verkünden, dass der Herr dir ein Haus bauen wird. Einfach so, ohne, dass David etwas dafür tun muss. Gott schenkt David etwas, er schenkt ihm und seinem Volk eine Zukunft.
Oha, „Schenken" das sind doch ein Reizwort, das uns direkt wieder zum heutigen Abend zurückholt, denn Geschenke sind ja nun in der letzten Zeit wahrscheinlich bei allen von uns ein beherrschendes Thema gewesen. Eine Theorie über die Entstehung dieses Weihnachtsbrauchs besagt, dass unsere Weihnachtsgeschenke an das große Geschenk, das Gott uns an Weihnachten macht, erinnern sollen. Eine hübsche Idee - aber man muss sagen, dass die Menschen schon sehr früh diesen Gedanken vereinnahmt und missbraucht und verzweckt haben. Als man nämlich den Geschenkebringern die alles (scheinbar!) entscheidende Frage in den Mund gelegt hat: Sind's gute Kind? Sind's böse Kind?
Liebe Gemeinde, im Licht des Morgensterns, beim Anblick der Krippe, in der Gott selbst sich uns schenkt, ist deutlich: Dinge, die ich zu Weihnachten bekomme, weil ich irgendwelche Regeln befolgt und mich an Konventionen gehalten habe, sind keine Geschenke. Das sind bestenfalls noch Belohnungen, eher Erziehungsinstrumente. Von daher die Bitte an alle Eltern hier: Wenn Sie nächstes Jahr einen Nikolaus mieten - dann nehmen Sie ihm das „goldene Buch" ab. Sagen Sie ihm, er soll die Rute draußen lassen und seinen Sack weit auf machen und den Kindern mit warmer Hand geben. Wir müssen unseren Kindern etwas beibringen, das sie in der Welt, in die sie hineingeboren sind und in der immer mehr Lebensfragen auf Kosten-Nutzen-Rechnungen reduziert werden, schlicht und ergreifend nicht lernen werden: Dass sie auch ohne Leistung etwas wert sind.
„Alle Jahre wieder: Herr Jesus, wie soll ich dich empfangen?"
„Indem du deine Hand aufhältst und dich beschenken lässt, ohne dir einen Kopf zu machen, ob du das überhaupt annehmen kannst oder ob du es verdient hast. Nimm mein Geschenk an. Nimm mich an."
III.
Ein Drittes sagt Gott, und es scheint, als würde er hier einlenken: Ich brauche kein Haus. Aber ich weiß, dass ihr so gerne eins hättet. Und wenn ihr mir unbedingt eins baut, dann werde ich euch zuliebe auch dort einziehen. Aber nicht du, David, wirst mir dieses Haus bauen, sondern erst dein Sohn, wenn Du gestorben bist.
Und so wie Gott zuerst unseren Blick in die Vergangenheit gelenkt hat, auf seine Geschichte mit den Menschen, und dann in die Gegenwart, richtet sich sein Auge jetzt auf die Zukunft. Davids Vorhaben wird in die Tat umgesetzt, aber er wird es nicht mehr erleben. Das ist ernüchternd, zumal für uns, die wir es doch gewohnt sind und alles daran setzen, unsere Wünsche und Bedürfnisse so schnell wie möglich zu befriedigen, koste es, was es wolle. Und doch ist es das Rückgrat allen Engagements für die Gesellschaft, dass wir über unseren Tellerrand hinaus gucken und etwas sähen, was erst die Menschen nach uns ernten werden. Die großen Gebäude der Vergangenheit wären nie gebaut worden, wenn ihre vielen Baumeister den Anspruch gehabt hätten: Heute muss es werden. Und die großen gesellschaftlichen Befreiungsbewegungen hätte es nicht gegeben, wenn Menschen nicht bereit gewesen wären, für eine Freiheit zu kämpfen, die sie selbst vielleicht nie spüren würden.
Liebe Gemeinde, Jesus ist nicht einfach so aus heiterem Himmel gefallen, sondern in eine lange Geschichte hinein geboren worden, deswegen lesen wir in dieser Nacht die Verheißung an David. Eine Geschichte Gottes mit den Menschen, die irgendwann einmal angefangen hat, die heute, hier und jetzt weiter geht, und die auch in Zukunft nicht abbricht, sondern eines Tages darin ihren Höhepunkt findet, dass Gott diese gesamte Welt erlöst. Dann wird er alles in allem sein, dann endlich wird es auf alle Zeit in den Herzen warm, dann werden Kummer und Harm aller Welt für immer schweigen. Diese große Zukunft ist bei Gott in guten Händen. Bis es soweit ist, können wir uns vom Kind in der Krippe dazu anstecken lassen, in allem Vorläufigen, in allem Kleinen, in allem Zerbrechlichen und Angerissenen, das unser Leben ausmacht, Zeichen der Hoffnung und der Gemeinschaft zu suchen, zu finden, freizulegen und weiterzusagen.
„Alle Jahre wieder: Herr Jesus, wie soll ich dich empfangen?"
„Indem Du die Sorge um das Morgen und Übermorgen getrost in unsere Hände legst, und indem Du mit mir auf die Reise gehst und mir auf meinem Weg an Weihnachten nachfolgst: hinein in das Leben und hin zu den Menschen."
Frohe Weihnachten, liebe Gemeinde. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen
4.Advent, 19.XII.2010, Lukas 1,26-38, Stadtkirche, Jonas Marquardt
Lukas 1, 26-38
Liebe Gemeinde!
Wie Jesus wurde, was er ist, das ist keine biologische Angelegenheit.
Wer das verstanden hat, hat die Jungfrauengeburt verstanden.
Den Stern unserer Hoffnung und den Herrn unseres Lebens verdanken wir jedenfalls nicht den Vorgängen, die sich zwischen zwei Zellen ereignen, deren eine wir bildlich den „Samen“, deren andere wir bildlich das „Ei“ nennen. .......
Vielleicht wird es durch eine so ungewohnt nackte Sprechweise doch tatsächlich am klarsten, dass auch das, was wir für biologische Tatsachen halten, auf symbolischer Grundlage beruht, und in Wirklichkeit gar nichts erklärt.
Nicht umsonst sind sowohl das Samenkorn als auch das Ei ja Sinnbilder der Lebendigkeit und Fruchtbarkeit, die trotz unseres Wissens um die größeren Zusammenhänge jedes auch für sich stehen können: Der Same enthält nach landläufiger Vorstellung schon das ganze künftige Gewächs, und das Ei muss nach der berühmten Vexierfrage scheinbar am Anfang aller Dinge gestanden haben, denn woraus wäre sonst die Henne entstanden?
Wenn aber Same und Ei jedes für sich schon die unerklärliche Selbstentfaltung des Lebendigen veranschaulichen, dann deuten diese beiden biologisch eingebürgerten Fachbegriffe gemeinsam nur doppelt dringlich auf ein Geheimnis hin, das uns je näher es kommt, desto tiefer berühren kann:
Woher kommt eigentlich das Leben?
Und wie entsteht ein Mensch? ———
Vor sechs Jahren, als ich zuletzt über die Verkündigung durch den Engel Gabriel zu predigen hatte, hielt ich die Deutung der Jungfrauengeburt noch für eine Glaubensfrage, für eine dogmatische Aufgabe.
Heute scheint mir in der Lebenspflanzung, die nicht durch menschliches Zutun geschieht, eine Glaubenswahrheit zu liegen, eine Gottesspur, die mitten durch unsere eigenen leiblichen Erfahrungen führt.
Oder um es ganz kurios, nein grotesk zu sagen:
Seit meine Frau und ich selber Kinder haben, ist mir die Jungfrauengeburt, die der Maria angekündigt wurde, unfraglich geworden.
Weil das, was wir alle über die biologische Fortpflanzung wissen, schlicht nichts besagt.
Das bedeutet nicht die prüde Verdrängung der leiblichen Beziehung zwischen Menschen, die zu Nachkommenschaft führt. Aber in dem, was wir da kennen, ist ein anderes verborgen, das sich unsrer Neugierde, aber auch unserem Vorsatz und zuletzt auch unserem Erleben entzieht.
Und um dieses Geheimnis – dass alle Biologie und alles Natürliche und alles Sexuelle ohne Gott gar nicht zu verstehen sind – geht es bei jener Geburt, die der Heilige Geist wortwörtlich „überschattet“ (Lk1,35), oder vielmehr überstrahlt.
Wenn es jedoch um dieses Gottesgeheimnis geht, dann geht es also nicht um ein Menschenbild, auch nicht das Ideal- und Phantasiebild der „Jungfräulichkeit“.
Denn diese in der Kirchengeschichte so mächtig gewordene Phantasie von Enthaltsamkeit und Zölibat, diese krampfhafte Verleugnung der körperlichen Liebe ist ein heidnischer Zug, der in der Welt der Bibel schlicht Empörung hervorgerufen hätte:
Für die Bibel ist der Segen Gottes ja von Anfang an verbunden mit der physischen Verheißung von Nachkommenschaft.
Dass die scheinbar so natürliche Gabe neuen Lebens in kommenden Zeiten nämlich alles andere als selbstverständlich, alles andere als ein biologischer Selbstläufer ist, begleitet die Geschichte von Gottes Volk seit ihrem Ursprung: Zeugung und Geburt der erwählten Menschen geschehen nicht von selber, sondern sie sind immer, immer wieder ein Wunder!
Dass alte, welke Leute doch in die ferne Zukunft hoffen dürfen, weil Gott ihnen ein Lachen, einen Sohn beschert, erzählt die erste Verkündigungs- und Geburtsgeschichte unserer Bibel, die Geschichte von Isaaks sehnlich erwarteter, schier unglaublicher Geburt (1.Mose17-21).
Und genauso geht es weiter:
Alter, Not oder Unfruchtbarkeit unterbrechen und unterbinden die scheinbar zwangsläufige Generationenfolge in Israel von Geschlecht zu Geschlecht.
Die Natur erledigt da gar nichts, der Sexualtrieb sorgt nicht etwa von sich aus für Reproduktion, sondern selbst ein nebensächlicher, keinesfalls heilsnotwendiger Haudegen wie Simson – wir hörten es in der Schriftlesung (Richter13,2-9a) – wird nur empfangen und zur Welt gebracht, weil Gott eingreift und segnet.
Vor diesem Hintergrund hatte Israel zu allen Zeiten nichts, aber auch gar nichts übrig für Jungfrauen oder Asketen. Die heidnischen Völker und Religionen kannten zwar schon im alten Orient die Verehrung der Keuschheit, doch hinter den kultischen Unberührten stand vor allem das schmutzige Gedankenspiel, dass hier Menschen für die Triebe der Fruchtbarkeitsmächte zur Verfügung gehalten wurden.
Israel dagegen schätzte und heiligte die eheliche und das heißt auch leibliche Verbindung, weil hier der Ort ist, an dem Gott sein wahres Wunder der Erweckung neuer Menschen wieder und wieder vollbringt.
Eine Jungfrau ist für das Alte Testament darum nicht etwa die Verkörperung des Heiligen, sondern dauernde Jungfräulichkeit gilt umgekehrt als ein Unheil, das an ungelebtes Leben, unerfüllte Verheißungen mahnt, wie wir etwa an der Tochter Jephtas sehen, deren Todesschmerz, als sie durch das Gelübde ihres Vaters sterben musste, sich vor allem darin äußert, dass sie vor ihrem Ende noch auf den Bergen ihre Jungfrauschaft beweinen will (Ri.11,37ff).
Die Klage über das offen gebliebene Dasein dieses Mädchens haben spätere Generationen von Frauen in Israel nach dem Zeugnis der Bibel regelmäßig begangen und werden dabei die Worte wiederholt haben, mit denen die Tragödie bezeichnend endet: „.... und sie hatte nie einen Mann erkannt“. ———
So viel musste über das biblische Verhältnis zum Geschlechtlichen gesagt werden, damit die besondere Ursprungsgeschichte Jesu nicht in den falschen Rahmen der Verklemmtheit gerät, die hüstelnd über die Erwähnung des Natürlichen hinwegblättert, solange man öffentlich ist, aber heimlich ein Eselsohr in die delikaten Passagen knickt, um sie ungestört auszukosten.
Der Vollzug der Ehe ist nun einmal für die biblische Sicht keinesfalls anstößig, sondern im Gegenteil eine gute Gabe, die den Menschen ein Wohlgefallen bereitet und weil sie sich dem Schöpfer verdankt auch zu seiner Ehre dient: im Judentum ist der Genuß dieser Gabe darum auch bis heute ein Gebot der besonderen Sabbatfreude. ———
Doch wenn dem so ist: Warum fällt dann Jesu Ursprung aus dem biblischen Rahmen? ......
Tut er das aber wirklich?
Ist nicht gerade der Bericht von Gabriels Botschaft an Maria eine Rahmenhandlung voller biblischer Erinnerungen?
Denn in dieser äußerst verschwiegenen, intimen Szene, die die Künstler immer als ein Drama zwischen zwei Gestalten – dem Engel und dem Mädchen – dargestellt haben, wimmelt es in wenigen Versen von immerhin sechs verschiedenen Menschennamen und -geschichten:
Da fällt als erstes der Name Josephs, der - zweitens - als Nachfahre Davids vorgestellt wird.
Drittens wird dann das Mädchen bei seinem Namen - Maria - genannt, und gleich darauf wird der Name des verheißenen Sohnes offenbart: „Jesus“ – zu deutsch „Gott hilft“.
Fünftens erinnert die Verkündigung an das Haus Jakob, und zu guter Letzt begegnet auch noch Elisabeth, die in reifen Jahren schwangere Verwandte des angesprochenen Mädchens.
Was für ein Geflecht von biblischen Namen, die jeweils eine eigentümliche Zeugungs- oder Geburts- oder Erbfolgegeschichte wachrufen:
Joseph, der Patriarch war der Sohn einer verzweifelt unfruchtbaren Mutter (vgl.1Mose30).
David, der Stammvater der Könige ist ein Nachzügler gewesen, der von Rechts wegen nie ein natürlicher Erbe geworden wäre und dessen Nachfolger Salomo geboren wurde als Ersatz für einen als Säugling gestorbenen Bruder (vgl.2.Sam12).
Maria – hebräisch Miriam – trägt den Namen der Retterin des todgeweihten Kleinkindes Mose, das den ägyptischen Kindermord nur durch eine Ammenlist überlebte (vgl.2.Mose2).
Jakob wiederum wurde von der lange Zeit kinderlosen Rebekka nach einer lebensbedrohlichen Mehrlingschwangerschaft geboren (vgl.1.Mose25,21f).
Und Elisabeth schließlich, mit der dieser Reigen endet während ihr die Niederkunft noch bevorsteht, wird am Anfang des Lukasevangeliums mit den selben Worten vorgestellt, die einst von der Sterilität und dem vorgerückten Alter Saras galten (vgl.Lk1,7/1.Mose18,11).
Und was sagen alle diese Kinderwunsch- und Empfängnisgeschichten, diese Spuren von Verbitterung und guter Hoffnung, die sich durch die Verkündigung von Jesu Geburt wie ein roter Faden ziehen?
Sie sagen nichts anderes als der Name des verheißenen Kindes sagt: „Gott hilft“ – das ist das Geheimnis der menschlichen Herkunft und der gesamten menschlichen Heilsgeschichte.
Nicht einfach die Natur bringt uns also hervor, obwohl die Umstände, denen wir das Leben verdanken, oft so ganz und gar ein biologisches Kapitel zu sein oder rein im Physischen zu bestehen scheinen.
Doch unter diesen scheinbar gar nicht weiter erklärungsbedürftigen Vorgängen geschieht nun etwas, das sich jeder Erklärung entzieht: dass nämlich auf diesem Wege ein Mensch entsteht, ein Wesen, dessen Seele und Verstand, dessen Person und Wille keinen organischen Ursprung haben, ..... das ist ein Wunder!
Ein Wunder, das unsichtbar unser aller Menschwerdung entscheidet und prägt.
Wer nur die Oberfläche kennt oder nur dem Sichtbaren huldigt, der wird – um das doppeldeutige Ziel der „Aufklärung“ zu erreichen – von der „Sexualität“ sprechen; wer dagegen aufklären will, welchem Geheimnis jenseits des Sichtbaren wir unser Entstehen verdanken, der wird vom Segen sprechen müssen.
Und eben Segensgeschichten sind die Erwartungen und Hoffnungen, die Geburtswehen, die im biblischen Rahmen zur Geburt Jesu anklingen mit den Namen seiner Vorfahren und Verwandten.
Alle diese und viele andere Berichte davon, dass menschliches Leben nicht so einfach reproduziert wird wie aus den Samenkapseln der Blumen neue Pflänzchen hervorgehen oder aus dem Gelege der Henne Küken schlüpfen, dienen dem Ziel einer wirklichen Aufklärung.
Aber ganz verwirklicht ist die Aufklärung über alles Menschliche zuerst und zuletzt doch immer wieder nur in Jesus.
Denn bei seiner Menschwerdung tritt offen zutage, was bei unserm Menschwerden unter den bekannten Begleitumständen verborgen bleibt: wie Gott und niemand sonst dabei am Werk ist.
Kein Mensch ergibt sich auf automatische Weise aus den Bestandteilen und Vorgängen der Biologie, auch wenn die Medizin heute einem Anspruch dient, der Garantien auf Menschen erzwingen will.
Dennoch: Der Mensch ergibt sich nicht, er wird geschaffen.
Wer seinen Kindern anderes erzählt, der kann ebenso gut vom Klapperstorch anfangen.
Viel wahrhaftiger ist das, was man in Herrnhut – wo man grundsätzlich nichts verschwieg, am allerwenigsten aber Gott verschweigen wollte – zur Zeit des Grafen Zinzendorf den wissbegierigen Jugendlichen erklärte: „Der Heiland macht die Kinder!“ ——
Die ganze Wahrheit über uns – ohne alles weitere Verlangen und Bangen, das den Augenblick des Anfangs und die Zeit des Werdens sonst begleitet – hat aber allein Maria erfahren, als sie einfach die ganze Gnade empfing, die Gottes ist.
Und so ist aus dem Geheimnis der ganzen Menschheit – dass wir alle der Gnade, also nicht einer menschlichen, sondern der göttlichen Kraft entstammen, dass wir alle nicht der Biologie, sondern dem Heiligen Geist entspringen – .... so ist aus diesem Geheimnis der Menschheit bei Maria, als ihr Jesus geschenkt wurde offene Klarheit geworden.
Damit aber bleibt sie unter allen Frauen und Männern der Welt die am höchsten Begnadete ... nicht wegen der Keuschheit ihres Schoßes, sondern weil es ohne alles weitere in ihre Seele drang und sie erfüllte: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich!
Gott hilft! Jesus!“
Amen.
3. Advent, 12.12.2010, Luk. 3, 1-14, Jonakirche, Daniel Kaufmann
Liebe Gemeinde,
der Countdown läuft.
12 Tage noch bis Weihnachten, Halbzeit im 24 - tägigen Dezember-Konsumrauschwettlauf
zum Weihnachtsmann und gelegentlich auch zur Krippe. Letzte Vorbereitung auf einen Höhepunkt, der reichlich, wie man zur Zeit auch lesen kann, überreichlich, weil übertriebene Erwartungen weckt und insofern ständig von der Drohung begleitet wird, dass etliche Untiefen und Stressmomente die Festtagslaune auf ein Jahreshöchsttief bringen könnte.
12 Tage noch und der liturgische Kalender beschert uns zum Beginn dieser finalen Verdichtung der Festlichkeit einen im wahrsten Sinne des Wortes wüsten Blick unter Null zum Jordan, jenen legendären Fluss in der judäischen Wüste, an dem sich in der Geschichte Israels erwähnenswerte Dinge abspielten, weil man beim Überschreiten auf jeden Fall Neues entdeckt:
entweder das verheißene, gelobte Land, in dem Milch und Honig fließt, oder weniger reizvoll, weil mit Abschied, Schmerzen und Loslassen verbunden, der Gang zu den Toten.
Über den Jordan gehen und zum Jordan geht man jedenfalls nicht ohne von diesem einschneidenden und umwerfenden Horizont von Tod und Leben zu wissen.
Wer sich hier einfindet und Halt macht, weiß sich im Gefolge der Mütter und Väter
vor grundsätzlichen und elementaren Fragen des Lebens gestellt:
Wie organisiert man das Leben gegen den Tod, wie ringt man alles dem, was tot macht
und nicht zuletzt auch Gott noch ein paar Stündchen Leben ab, was muss man tun, um ins gelobte Land,
in das verheißende Land zu kommen, wo die Bäume in die Hände klatschen,
die Güte und Treue sich begegnen, sich Gerechtigkeit und Frieden küssen (Psalm 85,11)
kurzum: wo unsere Heilserwartungen, unsere Vorstellungen von heilem, ganzem Leben
zur Ruhe kommen?
Am Jordan also, dieser schwierig einzuschätzende Wasseransammlung, dieser mal plätschernden, mal reißenden Mischung aus Kittelbach und Wupper also sollen wir uns heute Morgen einfinden zu einem Stelldichein zwischen Leben und Tod, mehr oder weniger in wüstem Gelände.
Passend zu diesem Ambiente erwartet uns dazu ein wüster bzw. wüst aussehender Prediger einen jener Urgestalten der Antike, die auf dem Hintergrund der schön geduschten, gelifteten und gestylten Jetsetprominenten eine geradezu fremd anmutende Lebendigkeit entwickeln und entfalten.
Johannes heißt er, ein Prophet, ein Künder und Verkündiger des Gottes, der sich in kargen Landschaften als Quelle des Lebens und Manna des Alltags erweist.
Johannes heißt er, der sein täglich Brot mit wildem Honig und Heuschrecken bestreitet
und lediglich mit einem Kamelhaarmantel ausgestattet ist.
Dieser Wüstenprediger lädt zum weihnachtlichen Warming up ein, zur Festtagsvorbereitung sui generis. zu einer elementaren Grundbesinnung und Ausrichtung aller Lebenskoordinaten im Angesicht Gottes.
„Bereitet dem Herrn den Weg
und macht seine Steige richtig.
Alle Täler sollen erhöht werden,
und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden:
und was krumm ist, soll richtig werden,
und was uneben ist, soll ebener Weg werden.
Und alles Fleisch wird den Heiland Gottes sehen."
In Anknüpfung an die alten Prophezeiungen Jesajas ist Johannes unterwegs, kündet den Weg zu einem gelingenden Leben und wer ihm länger zuhört, der spürt:
Diese Wegbereitung ist und wird kein Spaziergang,ist nicht ganz nebenbei gratis abzustauben.
Sie bedarf der gründlichen und mühevollen Arbeit. Sie bedarf vor allem der weit geöffneten Ohren, die die Spreu vom Weizen unterscheiden können und die Verheißungen hinter den harschen Tönen zur erahnen vermögen. Von diesen harschen Tönen lässt der Wüstenprediger gleich mehrere anklingen. Er hält eine Standpauke denen, die in Scharen zu ihm kommen, aus dem Stand und ohne Souffleur und ohne ein Blatt vor dem Mund zu nehmen. Für jeden Pott hat er einen Deckel und nicht jeder Deckel hat einen Wohlklang.
Es scheppert ganz schön, und da sind die Depeschen und Botschaften aus Wikileaks
nur ein vergleichbar harmloses Wortgeplänkel gegen.
„Ihr Otterngezücht!", schleudert er etwa denen zu, die sich auf der Sonnenseite des von Gott reichlich beschienenen Lebens wähnen, „wer hat denn euch gewiesen, dass ihr dem zukünftigen Zorn entrinnen werdet? Sehet zu, tut rechtschaffen Früchte der Busse; Und nehmt euch nicht vor zu sagen: Wir haben Abraham zum Vater.
Denn ich sage euch: Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken.
Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt; Welcher Baum nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und in das Feuer geworfen."
Wie ein Unwetter prasseln diese Zornesnachrichten auf jene nieder,die sich ähnlich wie wir heute morgen vielleicht, auf ganz Anderes eingestellt hatten, die Kontemplation und Erquickung der Seelen und erbauliche Gedanken erwartet hatten. Und jetzt dies ganz andere zu hören bekommen:
„Welcher Baum nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und in das Feuer geworfen".
Ja, welcher Lebensbaum wird bei so einem Maßstab noch weiterblühen? Fragt man sich da unwillkürlich.
Die Hörer damals und die Menschen heute haben diese zornigen und unmissverständlichen Worte zutiefst aufgerüttelt, verunsichert und aus dem Ruder gebracht.
Und könnten auch gerade bei uns Protestanten heute für eine gewisse Nervosität sorgen:
Die Berufung auf Abraham und die Beschneidung reicht nicht? Für uns „übersetzt":
Die Zugehörigkeit durch die Taufe reicht nicht aus zum Christsein? Luther hatte nicht recht, als er sagte:
Wenn sonst alles ungewiss und zweifelhaft ist, dann gilt doch immer noch:
Ich bin von Gott angenommen, ohne jedes Verdienst, allein aus dem Glauben ,der mir geschenkt wird".
Sicher, auch Luther hat gemeint, ein guter Baum bringt gute Früchte.
Aber er macht nicht wie Johannes den Umkehrschluss. Er hat nicht von den schlechten Früchten auf die Gottesferne, ja auf den Ausschluss aus Gottes Gegenwart geschlossen.
Liebe Schwestern und Brüder,
Die Ausrichtung und die Grundbestimmung, die Johannes hier ausspricht, ist radikal,
setzen an der Wurzel an, an unserem Lebensnerv sozusagen. Ausflüchte und Entschuldigungen lässt er nicht gelten.
Und das haben die, die damals zu ihm an den Jordan kamen, dann auch gemerkt.
Sie lassen sich diese Botschaft gesagt sein, und beschließen, alle Fluchtversuche aufzugeben.
Sie beschließen, ihre Bereitschaft zum Umdenken in einem sehr sinnenfälligen Ritus öffentlich zu machen. Sie lassen sich taufen. Für alle, die das nicht nur mit den Ohren, sondern mit dem Herzen hören, soll die kalte eindrückliche Dusche, die Taufe, sinnenfällig unterstreichen, was bereits in Kopf und Herz begonnen hat: die Umkehr, die Einkehr, die Hinkehr zu Gott soll mit neuem Ernst, mit Konsequenz und vollem Einsatz beginnen, mit Haut und Haar sozusagen.
Allerdings und sehr sympathisch, wollen etliche von denen, die sich dort versammelt haben,
es - Taufe hin oder her - genauer wissen.
„Und das Volk fragte ihn und sprach: Was sollen wir denn tun?
Er antwortete und sprach zu ihnen: Wer zwei Röcke hat, der gebe dem, der keinen hat; Und wer Speise hat, tue auch also.
Es kamen auch die Zöllner, dass sie sich taufen ließen und sprachen zu ihm: Meister, was sollen denn wir tun?
Er sprach zu ihnen: Fordert nicht mehr, als euch verordnet ist! Da fragten ihn auch die Kriegsleute und sprachen:
Was sollen denn wir tun? Und er sprach zu ihnen: Tut niemand Gewalt noch Unrecht
und lasset euch genügen an eurem Solde!"
Liebe Schwestern und Brüder,
Das Warming up für Weihnachten zur Festtagsvorbereitung nimmt erstaunlich konkrete und überschaubare Züge an:
Gute Früchte sind nach Johannes:
- Rock und Essen teilen
- Maß halten bei der Gewinnmaximierung
- Gewalt und Unrecht sein lassen.#
Das ist alles. Das ist wenig und viel zugleich. Das ist der Abschied von jener zuweilen
alles lähmenden Anweisung: alles oder nichts. Entweder du machst alles richtig oder du kannst es gleich sein lassen.
Johannes ist da lebensnäher:
- Rock und Essen teilen
- Maß halten
- Gewalt und Unrecht meiden.
Das ist Einweisung ins Leben. Da weiß man, was dran ist, was angesagt und nötig ist.
Und da kann jeder seinen Beitrag zu leisten.
Nicht erst seit St. Martin wissen wir was es mit dem Teilen auf sich hat.
Und auch so manches Versprechen vor dem Traualtar zielt ja in diese Richtung mit seinem „Freud und Leid Teilen".
Nicht erst, seitdem die Waagen etwas unbarmherzig überschüssige Gewichte anzeigen,
wissen wir etwas von dem Maß, dass es einzuhalten gilt,von dem Maß für das Gleichgewicht
und die Balance von Genuss und Verzicht, von Überdruss und Darben, Wucher und Dumping, Abzocke und Großzügigkeit, Ausbeutung und Gewinnbeteiligung.
Und nicht erst seit den Skandalen in unseren eigenen frommen Reihen in diesem Jahr
wissen wir von jenen Gefahren, die mit Macht und Einfluss, mit oben und unten, mit Hierarchien und Autorität einhergehen.
Drei Betätigungs- und Bewährungsfelder nennt Johannes. Hier kann jeder und jede sein Schärflein bei tun und beisteuern, das ist überschaubar, machbar, lebbar.
Johannes heißt auf Deutsch: Gott ist gnädig. Und auch, wenn einem dieser Aspekt
angesichts der Drohgebärden zunächst sehr wenig ausgeprägt scheint, in diesen drei Konkretionen ist das doch sehr spürbar:
der Ruf zur Umkehr ist keine Überforderung. Es geht nicht nur um unseren Bankrott oder die Insolvenz angesichts eines letztlich nicht erfüllbaren Ideals. Gott ist gnädig und schenkt Gnadenzeit. Er schenkt uns Lebenszeit, um in kleiner Münze in unseren überschaubaren Aktivitäten des Alltags das jeweils Geforderte umzusetzen.
12 Tage noch bis Weihnachten.
Halbzeit im 24 - tägigen Dezember-Konsumrauschwettlauf zum Weihnachtsmann und gelegentlich auch zur Krippe.
Letzte Vorbereitung auf einen Höhepunkt, der reichlich Erwartungen weckt und insofern ständig von der Drohung begleitet wird, dass etliche Untiefen und Stressmomente
die Festtagslaune auf ein Jahreshöchsttief bringen könnte.
12 Tage noch und der liturgische Kalender beschert uns zum Beginn dieser finalen Verdichtung der Festlichkeit einen im wahrsten Sinne des Wortes wüsten Blick unter Null, um uns zu einem Leben in Fülle und vielen leckeren Früchten des gedeihlichen Miteinanders zu verhelfen.
Ich habe mit Jugendlichen einmal im Anschluss an Johannes einige Konkretionen für eine bessere Welt gesammelt.
Überschrift bzw. Frage war:
Was ich tun könnte, damit es auf der Welt besser wird?
Die Antworten:
- Mitdenken
global denken, lokal handeln
- teilen
z.B. das Taschengeld, mit 30 Euro einem Menschen das Augenlicht retten helfen
- Mitfühlen
für einen Moment vorm Bildschirm, für eine Stunde in der Schule
- Dasein für andere
außer den Miststücken und Ätztypen von nebenan
- Nein sagen
wenn Krieg die einzige Lösung sein soll
- Über seinen eigenen Schatten springen
Das schafft eigentlich nur Lucky Luke,aber versuchen sollte man es trotzdem
- Verantwortung übernehmen
für meine kleine Schwester, auch wenn die oft nervt Fußball spielen gegen Rassismus im Stadion
- Social Interacting, z.B. so:
„Guten Tag, ich bin der Hansi und habe ein Meerschweinchen. Und wer bist Du?"
- Musik machen:
Alle Menschen werden Schwestern
- Festivals besuchen
Sich in den Armen liegen
- Zusammen tanzen und feiern
der Beat ist echt cool
- Party machen
Schulterklopfen für den Frieden
- Wallfahrten machen
Hape Kerkeling lässt grüßen
- Jugendfreizeiten machen
Eine Woche Gemeinschaft pur
24 Stunden und auch nachts
- Survival Camps organisieren
an die eigenen Grenzen gehen
- Demo gegen rechts und Demo gegen links machen
einen Tag mutig sein
- Kinder gut erziehen
Die Zukunft von morgen
- Nicht die Umwelt verschmutzen
Verstand einschalten
- mit Gott durchs Leben gehen
aber ohne Scheuklappen
- den Anderen wertschätzen,
so wie er ist mit allen Ecken und Kanten ein von Gott geliebtes Wesen
- Du bist unendlich wertvoll.
Vergiss das nicht.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.
Amen.
2. Advent, 05.12.2010, Matth. 24, 1-14, Stadtkirche + Jonakirche, Holger Pyka
Zwischen Weihnachtsmarkt und Gethsemane
Endlich Ruhe. Die Freunde sind unter sich. Die letzten Fans und Schaulustigen sind nach Hause geschickt. Die Freunde suchen ihre Sachen zusammen, viel ist es nicht, was sie einzupacken haben. Er geht voraus, auch Er will weg. Er ist erschöpft, aber rastlos, das spüren sie ganz deutlich. Irgendwas lässt ihm keine Ruhe. Draußen vor der Halle wollen ein paar seiner Freunde ihn ablenken, zeigen ihm die Umgebung, den großen Platz, der von großartigen Gebäuden umbaut ist. Aber er blickt sie müde an. „Seht ihr das alles nicht?" Etwas ratlos sehen die Freunde sich um, blicken einander fragend an. Was sehen? Die Häuser? Klar sehen sie die. Dann spricht er weiter, seine Stimme klingt hohl. „Wahrlich, ich sage euch..." Die Freunde sind angespannt. Da ist er wieder, dieser schwere, bedeutsame Klang in seiner Stimme. „Wahrlich, ich sage euch: Es wird hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen wird." Wieder tauschen sie ratlose Blicke aus. Einige ziehen ihren Umhang enger zusammen, die Temperatur scheint um ein paar Grad zu fallen. Irgendetwas ist anders an diesem Abend. Seine Rede hatte heute irgendetwas von einer Abschiedsvorstellung gehabt. Ganz am Ende hatte er lange die Menge angesehen und leise gesagt: „Wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn." Als sie ihn fragen wollen, was er damit meint, merken sie, dass er schon losgegangen ist. Hektisch stolpern sie hinter ihm her, hinaus aus der Stadt, Richtung Ölberg. Aber er sagt nichts, keinen Ton. Bis sie auf dem Ölberg stehen. Zwischen den Olivenbäumen hindurch können sie auf die Stadt blicken. Unten, am Fuß des Berges, liegt der Garten Gethsemane. Da wollten sie unbedingt mal hin, aber es schien, als ob Er diesen Ort meiden wollte.
Gespannt stehen sie um ihn herum, aber er sagt nichts. Still und stumm steht er da, den Blick in weiter Ferne. Unschlüssig treten sie von einem Bein aufs andere, seine Worte von gerade hängen noch in der Luft, schwer wie ein nahendes Gewitter, wie Donnergrollen am Horizont. Endlich hält einer es nicht mehr aus. Leise fragt er: „Sage uns, wann wird das geschehen? Und was wird das Zeichen sein für dein Kommen und...", er schluckt, „für das Ende der Welt." Jesus blickt auf, es sieht aus, als sei er gerade sehr weit weg gewesen. Er sieht sie an, jeden Einzelnen. Dann fängt er an zu sprechen.
„Seht zu, dass euch niemand verführt. Denn es werden viele kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin der Christus - und sie werden viele verführen. Ihr werdet von Kriegen hören und Kriegsgeschrei, seht zu und erschreckt nicht. Denn das muss so geschehen, aber es ist noch nicht das Ende da. Denn es wird sich ein Volk gegen das andere erheben und ein Königreich gegen das andere, und es werden Hungersnöte sein und Erdbeben hier und dort. Das alles ist der Anfang der Wehen. Dann werden sie euch der Bedrängnis preisgeben und euch töten. Und ihr werdet gehasst werden um meines Namens willen von allen Völkern. Dann werden viele abfallen und werden sich untereinander verraten und werden sich untereinander hassen. Und es werden sich viele falsche Propheten erheben und werden viele verführen. Und weil die Ungerechtigkeit überhand nehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten. Wer aber beharrt bis ans Ende, der wird selig werden. Und es wird gepredigt werden dies Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker, und dann wird das Ende kommen."
Die Jünger sehen sich an und schweigen.
Szenenwechsel.
In einer deutschen Großstadt lässt eine ältere Frau ihre Bibel auf den Wohnzimmertisch sinken. Matthäus 24, die große Rede über die Endzeit, steht als Überschrift darüber. Kein schöner Text. Und das im Advent. Ihr Blick fällt aus dem Fenster auf den Weihnachtsmarkt auf dem Platz vor ihrer Haustür. Die kleinen Holzbuden, die wohl nach Berghütten aussehen sollen, stehen dicht an dicht in einem Kreis zusammen, mit der kahlen Rückseite nach außen. Als wollten sie die Welt aussperren.
Wenn sie sich anstrengt, hört sie noch durch das geschlossene Fenster ganz leise die Musik, die unablässig aus den Lautsprechern wabert. Jingle Bells, Jingle Bells, Rudolf, das Rentier hat zwar eine rote Nase, aber Heidschi-bumbeitschi-bum-bum. Streicherklänge wie Marmelade, etwas schrille, aber gut gemeinte Glöckchen. Die Musik quillt über die Dächer der Weihnachtsmarktbuden, sinkt dahinter wieder ab und vermischt sich mit dem schmutzigen Lärm der Autos. Auf dem Weihnachtsmarkt tummeln sich die Menschen. Dicht drängen sie sich um Stehtische, Daunenjacke an Filzmantel, und wärmen sich die Hände an Glühweintassen. Vor dem Stand mit der Volkskunst aus dem Erzgebirge steht eine Rentnergruppe. Vor einigen Tagen hatte sie sich die große Pyramide dort angeguckt. Die sah wirklich genauso aus wie die, die ihre Eltern damals hatten: Unten die heiligen drei Könige, die sich im Kreis drehten, je mehr Kerzen, desto schneller. Eine wohlige Wärme breitet sich in der Frau aus, als sie weiter denkt, wie sie früher das lange Warten auf Weihnachten mit Geschichten und Liedern, mit Plätzchenbacken und Apfelsinen überbrückt hatten.
Aber worauf wartet man eigentlich genau, wenn man auf Weihnachten wartet? Früher waren das mal die Geschenke, klar. Und das gute Essen. Heute ist das ja alles gar nichts Besonderes mehr. Auf was wartet man heute eigentlich noch?
Ihr Blick fällt wieder auf den Wohnzimmertisch, und das rührselige Gefühl irgendwo links in der Brust verschwindet schlagartig wie die Luft aus einem geplatzten Ballon. Neben der Bibel liegt der Jahresrückblick einer großen Illustrierten. Auf dem Titelblatt eine chaotische Collage großer, ausdrucksstarker Bilder.
Ein mit schwarzem Öl verschmierter Sandstrand. Zerstörte Häuser und dunkelhäutige Menschen, die durch kniehohes, braunschlammiges Wasser waten. Ach ja, Pakistan.
Ein Vulkan, aus dem dunkelgrauer Qualm aufsteigt, so dick und undurchdringlich wie sein unaussprechlicher Name.
Häusertrümmer auf Haiti. Und Satzfetzen aus dem Bibeltext schießen ihr durch den Kopf - es werden Hungersnöte sein und Erdbeben hier und dort. Es wird hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen wird.
Ein Bild mit Soldaten. Wahrscheinlich Afghanistan. Oder halt der Nahe Osten. Oder der Irak, sie kommt da gar nicht mehr so richtig mit, wer da wo gegen wen kämpft. Denn es wird sich ein Volk gegen das andere erheben und ein Königreich gegen das andere.
Noch ein Bild, das ihr besonders nahe geht. Weinende Jugendliche, eigentlich noch Kinder. Das muss diese schlimme Technoparty gewesen sein, in Duisburg. Die Liebesparade. Sie erinnert sich dunkel: Diese ehemalige Nachrichtensprecherin hatte irgendetwas gesagt, von wegen das wäre eine Strafe höherer Mächte gewesen. Und es werden sich viele falsche Propheten erheben und werden viele verführen. Und die Liebe wird in vielen erkalten.
Und sie denkt an ihr ganz persönliches Jahr 2010. Dieser schlimme Streit mit der Tochter, bei dem es wieder um das verdammte Geld ging. Die vielen Abende, die sie allein hier am Wohnzimmertisch gesessen hat, weil die anderen Kinder so beschäftigt waren. Weil es schwere Zeiten sind. Man es sich heutzutage einfach nicht leisten kann, früher zu gehen, bei der Situation auf dem Arbeitsmarkt. Sagen sie. Vielleicht ist das so. Warum wartet sie eigentlich auf Weihnachten?
Im Kaufhaus ist ihr letztens aufgefallen, dass die Weihnachtskarten heute anders aussehen als früher. „Ruhige Festtage und ein erfolgreiches neues Jahr", stand auf einer. Ja, die für jungen Leute ist das wahrscheinlich wichtig, darauf warten sie, einmal durchatmen können, einmal die Beine hochlegen, bevor es im nächsten Jahr wieder genauso von vorn losgeht. Ändern wird sich auch durch dieses Weihnachten nicht, diese Prognose wagt sie nach mittlerweile... ach, nach sehr vielen Weihnachten. Aber warum wartet sie eigentlich auf Weihnachten? In Gedanken sieht sie sich Heiligabend hier am Wohnzimmertisch sitzen, wenn der Sohn sie wieder nach Hause gefahren hat. Warum soll sie auf Weihnachten warten? Alle Jahre wieder ein paar Tage Gemütlichkeit, das kann doch nicht alles sein. Ihr Blick fällt auf die Krippe auf dem Sideboard. Ja, es ist eigentlich zu früh, aber sie stellt sie gerne auf. Eine bunt gemischte Gesellschaft ist da versammelt, im Laufe der Jahre sind immer wieder Figuren kaputt gegangen oder einfach verschwunden und wurden nach und nach ausgetauscht. Nur das Jesuskind ist noch dasselbe von früher. Immer wieder in neuer Gesellschaft, aber er ist derselbe geblieben. Gedankenverloren nimmt sie sich noch ein Plätzchen.
Szenenwechsel.
Auf dem Ölberg stehen die Jünger wie benommen um Jesus herum. Seine Worte klingen nach, wie Donnergrollen am Horizont. Er sieht an ihnen vorbei, den Berg hinunter, direkt auf den Garten Gethsemane. Plötzlich hebt Er den Blick. Er schaut in die Runde. Und Er lächelt. „Kopf hoch", sagt Er, und stupst einen von ihnen fast zärtlich mit der Schulter an. „Himmel und Erde werden vergehen, aber mein Wort wird nicht vergehen. Das letzte Wort über diese Welt ist noch nicht gesprochen, und das letzte Wort haben wir, der Vater und ich. Egal, was andere sagen oder was ihr manchmal denkt. Ihr kennt mich doch. Es wird anders sein, als ihr es euch vorstellt. So wie damals, als mich ausgerechnet die Hirten in einem miefigen Stall gefunden haben. Wann es soweit ist, das bleibt unser Geheimnis. Es wird anders sein, als ihr es euch vorstellt, und es wird vor allem besser! Glaubt mir das. Und bleibt in meiner Liebe, wärmt Euch gegenseitig damit, auch die, die jetzt nicht hier sind. Auch wenn es in der Welt um Euch kalt wird." Jetzt wird er fast feierlich, und sagt: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht."
Amen.
Ewigkeitssonntag, 21.11.2010, Jesaja 35,10, Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Predigt am Ewigkeitssonntag 21.11.2010, Text: Jes.35,10
„Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen."
Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen, Leid und Seufzen werden fliehen - liebe Gemeinde, solch ein Satz kann keinen, kann keine, die um einen lieben Menschen trauert oder trauerte, gleichgültig lassen. Ganz gleich, zu wem er ursprünglich gesagt war, wir beziehen ihn auf uns und unsere Lage. Gefühle steigen in uns hoch, vielleicht sehr unterschiedliche. Voller Hoffnung die einen, während andere eher verbittert feststellen: alles leeres Gerede. Tot ist tot und bleibt tot.
Mir ist vor einiger Zeit eine Geschichte in die Hände gefallen, die auf eine sehr schöne Weise dieses Wort des Propheten Jesaja aufnimmt. Geschrieben hat sie Johann Peter Hebel, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 250. Mal gejährt hat, und zwar nach einer wahren Begebenheit. „Unverhofftes Wiedersehen" heißt sie. Ich will sie erzählen und in manchen Stücken wird Frau Käppele sie wörtlich lesen. Die Geschichte spielt in Falun in Schweden. Ein junger Bergmann liebt ein junges, hübsches Mädchen. In acht Tagen soll die Hochzeit sein. Aber „als der Jüngling den andern Morgen in seiner schwarzen Bergmannskleidung an ihrem Haus vorbeiging, da klopfte er zwar noch einmal an ihr Fenster und sagte ihr einen guten Morgen, aber keinen guten Abend mehr. Er kam nimmer aus dem Bergwerk zurück, und sie säumte vergeblich selbigen Morgen ein schwarzes Halstuch mit rotem Rand für ihn zum Hochzeitstag, und als er nimmer kam, legte sie es weg und weinte um ihn und vergaß ihn nie."
Mancher wird sagen, so jung auseinandergerissen zu werden und dann noch so plötzlich, das ist besonders schlimm. Aber ich erlebe es immer wieder: ob nach vielen Ehejahren oder schon früh, ob nach längerer Krankheit oder von einem Augenblick auf den anderen: Tod ist immer schlimm, lässt die Welt um einen ins Dunkel sinken.
Wer selbst um einen Menschen trauert, den er lieb hatte, der weiß, wie viel Kummer, wie viel schlaflose Nächte in den fünf Worten verborgen liegen: „und sie weinte um ihn". Und wer von ihnen heute die Gräber schon lang Verstorbener aufsucht, der könnte uns sagen, dass das keine Phrase ist: „ und sie vergaß ihn nie". Und wer, wie ich einige kennengelernt habe, kein Grab hat, das er aufsuchen kann, sondern nur vergilbte Fotographien, der kann sich einfühlen, wie schrecklich das ist: Da hat eine junge Frau keinen Ort für ihre Trauer.
Doch so bedrückend das auch ist, auch diese Frau macht die Erfahrung: die Zeit bleibt nicht stehen, sie vergeht.
„Unterdessen wurde die Stadt Lissabon von einem Erdbeben zerstört, und der siebenjährige Krieg ging vorüber, Polen wurde geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, Amerika wurde frei und die Französische Revolution fing an. Napoleon eroberte Preußen, und die Ackersleute säten und schnitten, die Müller mahlten und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt."
Ob die junge Frau, die mit den Jahren älter wurde, liebe Gemeinde, etwas von dem wahrnahm, was da alles in der Welt geschah? Ich weiß aus vielen Gesprächen, dass die, die trauern, all die großen geschichtlichen Ereignisse oft nur wie durch einen Nebel mitbekommen. Wirklich Anteil an allem nehmen, was draußen in der Welt geschieht, das können sie in ihrer Trauer nicht. Ja, oft schmerzt es sie, dass das Leben einfach weitergeht, völlig unberührt von ihrem Verlust, dass weiter gesät wird und geerntet, dass die Zeit weiterläuft, anstatt stehenzubleiben.
Etwas mehr als 50 Jahre vergingen so. Da finden Bergleute, die einen neuen Stollen graben, den Leichnam eines Jünglings, ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, sonst aber unverwest und unverändert, so als wenn er erst vor einer Stunde gestorben sei. Man holt ihn heraus ans Licht. Niemand kennt ihn. Bis die ehemalige Verlobte kam. „Grau und zusammengeschrumpft kam sie an einer Krücke an den Platz und erkannte ihren Bräutigam." Sie wirft sich auf den Leichnam des Geliebten, und dann, nachdem sie sich wieder gefasst hat, sagt sie: „Es ist mein Verlobter, um den ich 50 Jahre lang getrauert hatte, und den Gott mich noch einmal sehen lässt vor meinem Ende. Da weinten alle Umstehenden, als sie die ehemalige Braut jetzt in der Gestalt des hingewelkten Alters sahen und den Bräutigam noch in seiner jugendlichen Schöne und wie in ihrer Brust die Flamme der jugendlichen Liebe noch einmal erwachte; aber er öffnete den Mund nimmer zu einem Lächeln oder die Augen zum Wiedererkennen."
Ich weiß, dass es oft ein sehnlicher Wunsch aller Trauernden ist, den geliebten Toten noch einmal zu sehen, wiederzusehen. Ich weiß auch, dass mancher von solch einem Wiedersehen träumt und aus diesem Traum gar nicht mehr erwachen möchte: da ist der geliebte Mann, die geliebte Frau, der Sohn oder die Tochter auf einmal wieder da, sitzt mit am Tisch, geht durch die Wohnung; den Tod hat es nie gegeben, die Jahre der Trauer sind wie weggewischt.
Die Frau in Johann Peter Hebels Geschichte erlebt, wie ein Wiedersehen mit dem Toten in Wirklichkeit aussieht: sie erfährt, wie er der Zeit entkommen war, in der sie leben und altern musste. Ihre Liebe kann nicht erwidert werden. Das Wiedersehen bleibt einseitig. Der Tote öffnet seine Augen nicht.
Nein, so wie in der Geschichte kann es mit dem Wiederkommen der Erlösten nicht sein, von dem Jesaja spricht - oder mit dem Wiedersehen, das Jesus seinen Jüngern zusagt; wie haben es vorhin in der Lesung gehört. So kann es nicht sein und so wird es auch nicht sein. Das bezeugt auch die Frau in der Geschichte gerade wegen dieses schmerzlichen Wiedersehens. Denn so lautet das Ende der Geschichte:
„Den anderen Tag, als das Grab gerüstet war auf dem Kirchhof und die Bergleute ihn holten, schloss sie ein Kästlein auf, legte ihm das schwarzseidene Halstuch mit den roten Streifen um und begleitete ihn in ihrem Sonntagsgewand, als wenn es ihr Hochzeitstag und nicht der Tag seiner Beerdigung wäre. Denn als man ihn auf dem Kirchhof ins Grab legte, sagte sie: „Schlafe nun wohl, noch einen Tag oder zehn im kühlen Hochzeitsbett, und lass dir die Zeit nicht lang werden. Ich habe nur noch wenig zu tun, und komme bald, und bald wird's wieder Tag. - Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird sie zum zweiten Mal auch nicht behalten."
Offensichtlich erwartet die Frau auch nach dem Begräbnis etwas für ihren Bräutigam - und damit auch für sich selbst. Mit gelassener Gewissheit stellt sie fest, dass das Begräbnis nicht der ganze und gar letzte Akt war, sondern dass der Verstorbene noch eine Zukunft hat: die Erde wird ihn auch ein zweites Mal freigeben, und dann - das können wir ergänzen - nicht mehr als Toten wie beim unverhofften Wiedersehen, sondern als Lebenden.
Woher nimmt sie diese Gelassenheit, diese Gewissheit am Grab, nachdem sie doch zuvor das schmerzliche Wiedersehen hatte, das ihr die bittere Realität des Todes vor Augen führte? Es ist ja nun ein normales Grab, wie unsere Gräber auch, und es könnte dann ja auch unsere Gelassenheit und Gewissheit sein.
Johann Peter Hebel sagt es nicht. Er will wohl, dass der Leser, die Hörerin sich das selbst beantwortet.
Ich glaube, dass diese Frau die Gewissheit aus derselben Quelle schöpfte wie Jesaja, der sagte: „Die Erlösten werden wiederkommen" und wie Johannes, der Jesus zu seinen Jüngern im Angesicht seines bevorstehenden Todes sagen lässt: „Ich will euch wiedersehen .. und euch zu mir holen, damit ihr seid, wo ich bin." Diese beiden Sätze sind nur dann sinnvoll, wenn man darauf vertraut, dass Gott selbst an den Toten handelt. Und so wie für die Frau das unverhoffte Wiedersehen ihres Bräutigams zum bestätigenden Zeichen ihrer Hoffnung wurde, so sind für uns die Erfahrungen, die die Jüngerinnen und Jünger Jesu nach Karfreitag mit Jesus machten, der ihnen als der Lebendige begegnete, Bestätigung dafür, dass für Gott die Toten nicht tot sind, sondern dass sie bei ihm und vor ihm leben, dass sie eine Zukunft haben. Denn - um den letzten Satz der Frau abzuwandeln - wenn der Tod den einen hat wiedergeben müssen, so wird er auch alle anderen nicht behalten können.
Die Worte dieser Frau wie die Worte des Propheten und des Evangelisten machen deutlich, dass dies Wiedergeben, das Wiederkommen und Wiedersehen allein von Gott bewirkt werden kann, genauer: von dem Gott, der kommt, der auf uns zukommt und mit seiner Gegenwart unsere Welt verwandeln wird.
Denn dies Wiederkommen und Wiedersehen ist nicht möglich in einer Welt, in der sonst alles beim Alten bleibt. Dann sähe es so aus wie das erste Wiederkommen des Bräutigams, dann gilt: tot ist tot und bleibt tot. Aber der kommende Gott will diese Welt verändern, und das Wiederkommen, die Auferweckung der Toten ist nur ein Teil dieser Veränderung. Als Christen bekennen wir, dass der Anfang der Veränderung mit der Auferweckung Jesu gemacht ist. Den Zeitpunkt, an dem dieser Anfang von Gott vollendet wird, hat man den „Jüngsten Tag" genannt. Und das Neue Testament bezeugt, dass die Dämmerung dieses Tages schon angebrochen ist, des Tages, der für Jesaja noch ganz im Dunkel der Zukunft lag.
Wir erfahren schmerzhaft, dass bis zu dieser großen Verwandlung Leid und Tod bei uns gegenwärtig sind. Aber die Hoffnung darauf, dass sie einmal fliehen werden, die kann uns die getroste Gelassenheit dieser Frau geben, genau wie der ermutigende Zuspruch Jesu im Johannesevangelium.
Wie sagte sie noch? „Bald wird es wieder Tag. Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird sie ein zweites Mal auch nicht behalten." Und Jesus: „Ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen und eure Freude soll niemand von euch nehmen."
Ja, so wird es sein - oder in der Sprache des biblischen Propheten gesagt: Amen.
Reformationstag, 31.10.2010, Röm.3, 21-28, Stadtkirche, Jonas Marquardt
Im Gedenkjahr Philipp Melanchthons (1497-1560) - Römer 3, 21 - 28, Rechtfertigung und Bildung
Liebe Gemeinde!
„Es ist hier kein Unterschied"
O doch! W i r s i n d a n d e r s .
Und auf den Unterschied kommt's an; denn heute feiern wir ja, dass unsere geistlichen Lehrer und Väter es anders wollten und anders machten als es überall Brauch und Vorschrift war.
Wir sind also die Unterschiedenen, die Andersartigen, die Selbstständigen.
Und das ist dann doch eine Auszeichnung, oder?
Das ist etwas für unser evangelisches Selbstbewußtsein: unser rühmliches Erbe als Nachfahren freier Geister?!
„Sie sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten."
Es scheint also wohl doch nicht ganz eindeutig, dass unsere protestantische Verschiedenheit zugleich eine Verbesserung darstellt; unser Bekenntnis ist jedenfalls nichts, dass uns auf die Seite der Überlegenheit, in's Lager der Guten bringt. ---
Was ist dann aber der Sinn des reformatorischen Neuanfangs?
Warum mussten Einheit, Frieden und Gleichheit, wie sie dem alten Begriff einer christlichen Weltgemeinschaft zugrunde lagen, unwiederbringlich zerstört und an ihre Stelle der Einzelne mit seinem Glauben, seiner Anfechtung, seinen Zweifeln und seiner Begnadigung gesetzt werden?
Warum opferten die Mönche und Gelehrten, die Fürsten und Frauen, die vor fünfhundert Jahren die bisherige Ordnung, den selbstverständlichen Kirchenweg zur Seligkeit verließen, alle Verbindungen zur Vergangenheit, warum opferten sie alle Sicherheiten des großen christlichen Ganzen und behielten nichts als ihre eigene Seele, für die nun Gott alleine sorgen sollte, nachdem sie aus dem Schutz der Masse und dem breiten Strom des „So-war's-schon-immer" nackt an fremdes Ufer gespült war?
„Gott allein!" ............... Und jeder von uns allein. ...............
Es erwacht eine große Einsamkeit mit dieser reformatorischen Wende fort von der Riesengestalt der ewigen römischen Kirche hin zum namenlosen Gefangenen auf der Wartburg, zum heimatlosen Stiftsfräulein, die einmal in ein Kloster, in einen Orden, in eine Hierarchie, in eine heilige Weltordnung gehörten und nun einfach „Jörg" oder „Käthe" oder wie auch sonst immer heißen und Entlaufene, dem Leben Ausgelieferte sind. --
Wir sollten uns endlich wirklich nicht mehr täuschen lassen von den Luthermythen, die den unbeirrten Helden schildern.
Dieses widerborstige Urvieh, das rüpelnd und polternd eigenhändig Kaiser, Papst und Teufel in die Schranken fordert, das beherzt steht und gar nicht anders kann, das fröhlich sündigt und zum Rülpsen und Furzen auffordert: diese vitale, kerndeutsche Erscheinung war der unflätige Liebling einer Nation, die sich mit dem Gruß des Götz von Berlichingen, dem eisernen Kanzler, dem Papa Hindenburg und Pfälzer Saumagen höchst eigenartige Denkmäler und Heiligtümer schuf. Existiert hat er in dieser grobschlächtigen Verzerrung als germanischer Herkules jedenfalls nie.
Und heute blicken wir sowieso in ein ganz anderes Gesicht der Wittenberger Reformation.
Es ist das feine, mehr leidensfähige als leidenschaftliche Gesicht Philipp Melanchthons.
Hoch die Stirn, hohl die Wangen: ein hagerer, vielleicht etwas linkischer Geistmensch mit konzentriertem, aber keineswegs selbstsicherem Blick.
Er war ein Genie mit schwachem Nervenkostüm, ein Universalgelehrter mit Sprachfehler; er war der scharfsinnige und beklommene Ordner für die erschütternden Verwirrungen und allmählichen Erkenntnisse eines weit stärkeren Freundes.
Luther wurde von der befreienden Wahrheit des Evangeliums gepackt wie vom Wind, der weht, wo er will (vgl.Joh38), und Melanchthon sollte dolmetschen, was die Botschaft des Wirbelsturms sei. Ihm fiel zu, den Geist durch Buchstaben zu bezeugen.
Doch von dieser Lebensaufgabe im Dienst der Verständigung möge niemand gering denken!
Es handelt sich bei Luther und Melanchthon nicht um das Original und die Kopie, nicht um den Künstler und den Gehilfen, nicht um Angriff und Abwehr, sondern um den Augenblick und die Dauer.
Luthers reformatorischer Durchbruch wäre wohl wie ein Strom bei offenen Schleusen, wie ein Feuer auf freiem Feld unaufhaltsam ausgebrochen und vergangen, wenn der Pädagoge und Diplomat Melanchthon den Fluss nicht in Kanäle gelenkt und am Brand Fackeln zum Weitertragen entzündet hätte.
Er war es, der die Wahrheit, dass Jesus Christus selber handelt und sich nicht verwalten lässt, in systematischer Weise auch anderen anbot, auch Zauderern und Feinden dieser Einsicht.
Und diese undankbare, aber entscheidende Mühe blieb ihm sein Leben lang auferlegt: Verständlichkeit und Klarheit zu suchen, Kompromisse und Missverständnisse hinzunehmen, Ermutigungen und Rücksichten abzuwägen.
Luther bewunderte den maß- und taktvollen, dabei so gründlichen und deutlichen Ton, den sein hochgeistiger Freund traf, den er nicht für ebenbürtig, sondern für überlegen hielt.
Aber er litt unter der Geduld, die der andere aufbrachte und die ihm abging.
Als Luther dann jedoch gestorben und die Reformation eine militärisch unterlegene, beinahe verlorene Sache weniger Fürsten geworden war, da lag die aussichtslose Sache allein auf den Schultern des schmalen und abwägenden Übriggebliebenen.
Seine Widersacher im eigenen Lager witterten dabei in jeder versöhnlichen Bewegung, die der immer noch auf Frieden und Verständigung hoffende Melanchthon vollzog, Hochverrat.
So folterte ihn einerseits die Enttäuschung, dass Kaiser und Papst nicht von ferne so dialogbereit waren wie er selber, und andererseits quälte ihn der Rufmord der strengen Lutheraner, die einen charakterlosen Weichling und Überläufer aus ihm machten. --
An seinem Weg und seinem Lebensabend lässt sich also - so scheint's - die Einsamkeit des Menschen studieren, der die leiernde Maschine der Großkirche abgeschaltet hat und nur vom Hören auf das lebendige Wort Gottes und auf die oft so verzagte, oft auch so anklagende Stimme des eigenen Gewissens lebt.
Beide Stimmen sagten dem brillanten Humanisten Melanchthon, dass sein Ruf und Leumund, aber auch seine moralische Integrität oder Schwäche sein Schicksal nicht entscheiden würden:
Hätte er eigenhändig die Einheit der Kirche zurück errungen, wäre doch auch ein solches Verdienst nicht maßgeblich vor Gott gewesen.
Hätte Melanchthon alle großen Geister seiner Zeit erleuchtet, hätte er sie alle gewonnen und vereinigt - eine schier unvorstellbare historische Wende -, hätte ihm das dennoch nicht zu Lebzeiten zu ungebrochenem Selbstbewusstsein und nach dem Tode zur Unsterblichkeit verholfen.
Und wäre ihm unter den Händen die Glut der Wittenberger Verkündigung zu Asche zerfallen, hätte er das Scheitern der Befreiung des Einzelnen mitansehen und mitverantworten müssen, so wäre das dennoch nicht sein Verdammungsurteil geworden. --
Gewiss: Das sind steile Spekulationen, und sie klingen wie alle konkreten Anwendungen der Rechtfertigungsbotschaft zunächst nach einer sorglosen, gleichgültigen, unethischen Weltferne.
Doch sie besagen nicht, dass des Menschen Erfolg oder Versagen einerlei sind, sondern sie besagen, dass kein Held und kein Geschlagener jemals wirklich mit sich und dem eigenen Tun alleine wäre.
Vor allen unseren Siegen und allem unserm Scheitern ist das Urteil Gottes, das uns betreffen, das uns bestrafen und bestätigen wird, schon gefallen und vollzogen.
Und nach diesem Urteil steht und fällt Philipp Melanchthon eben nicht mit seinem Beitrag zur Welt- oder Geistesgeschichte, ebenso wenig wie Du oder ich.
Denn Gottes Urteil bemisst nicht den Anteil an Schuld oder Ehre, der unserer Lebensleistung bruchstückhaft innewohnt, sondern sein vorweggenommenes Urteil macht aus den Teilen, die wir sind, das Ganze.
In diesem großen Ganzen aber, das allein Gottes Maßstäben entspricht, wiegen wir alle nicht einzeln und einsam, sondern jeweils als Menschen, für die Jesus Christus vollkommen einsteht. Wer indes in dieser Gemeinschaft mit Jesus Christus gesehen und gewürdigt wird, der ist Gott recht, ist ihm gemäß, ist heil und gut und ganz.
Das ist die Rechtfertigung, die aus Gnaden, ohne menschliches Verdienste geschieht: dass Gott uns nie ohne, sondern immer verbunden mit Jesus Christus, dem Gerechten ansieht. --
Doch kann diese Rechtfertigungsbotschaft nicht verstanden werden, wenn man sie wie andere Nachrichten aus der Antike als einen Bezug in die Vergangenheit auffasst.
An dieser Stelle brach Melanchthon mit der humanistischen Perspektive, die historisch war.
Statt der Erforschung und Wiederbelebung einer fernen Vergangenheit mit seinen Mitteln zu dienen, lehrte Melanchthon etwas ganz Schlichtes:
Es ist nicht das Hirn, das zu Jesus Christus und damit zur Gerechtigkeit Gottes finden kann: es ist das Herz.
Das Herz, in dem die Gedanken, Gefühle und Gewissheiten des Menschen lebendig sind, ist der Ort, an dem der Glaube geschieht und uns rettet.
Denn - und diese Formulierung hat Melanchthon zum Dreh- und Angelpunkt seiner Glaubenslehre gemacht - denn Glaube ist keine gedankliche Überzeugung, keine Tatsachenerkenntnis, kein Erfahrungswissen, sondern Glaube ist Vertrauen.
Es geht demnach nicht um die Annahme, dass irgendwie zutrifft und stimmt, was wir von den Aposteln hören, in der Kirche lernen oder in Büchern finden, sondern es geht darum, dass mein Herz und Leben und Hoffen und Wollen verankert sind in der Gnade Gottes, die mich hier und jetzt und ganz und gar mit Jesus Christus verbunden sein lässt. --
Dieses Vertrauen auf die gegenwärtige Wirklichkeit und Wahrheit der Zusagen Gottes, dieses Vertrauen auf die tägliche, stündliche, unendliche Gemeinschaft, die der Glaube zwischen Jesus Christus und mir herstellt, die ist das eigentliche Erbe, das der „Lehrer Deutschlands", der Præceptor Germaniæ - wie man ihn auch rühmte - uns Evangelischen hinterlassen hat.
Bildung wäre demnach aber nicht das arrogante Privatvergnügen, das der bildungsbürgerliche Protestantismus daraus gemacht hat, sondern eine Form und Gestalt des Dienstes am Menschen, weil der beschenkte und begnadigte Glaubende es weiß und weitergeben muss: Gott ist der Gott, der das Recht für alle in Christus stiftet.
Nichts anderes ist wahr.
Das aber ist keine theoretische Voraussetzung des Bildungswissens, sondern weil solche Bildung das Herz erfüllt und bewegt, darum wagt sie es, im Vertrauen auf Gottes unendlich überlegene Gerechtigkeit und Wahrheit, selber unvollkommene Schritte und Taten auf dem rechten Weg zum Guten zu unternehmen.
Dabei wird die Bildung des Herzens und Geistes, die auf der vorweggenommenen Rechtfertigung der Unvollkommenen beruht, sich allerdings niemals am Ziel aller Einsicht, Weisheit und Erkenntnis dünken, sie wird nie fertig, sie wird anderen darum auch nie überlegen sein.
Wie könnte man auch mit dem Denken jemals zuende kommen?
Wie könnte man „ausgeglaubt" haben?
Wie könnte man alles gewusst und bezeugt und getan haben?
Vertrauen nimmt ja vorweg, was sich erst zeigen wird.
Und die Wahrheit und Gerechtigkeit, die uns um Christi willen unverbrüchlich zugesagt sind, haben ja in Gott eine Wirklichkeit, gegen die alles, was wir hier fassen, fühlen und erfüllen könnten, abstrakt bleibt.
Die wahre evangelische Herzensbildung, der wirklich im Glauben gebildete Mensch bleibt also stets unterwegs, wie der Wanderer, der auf den Morgen harrt, in dessen Bild Melanchthon sich kurz vor dem Tode erkannte.
Es bleiben Anfechtungen, Schwächen und Scham genug, bis wir endlich schauen, wie groß und herrlich, wie wunderbar die alleinige Gerechtigkeit Gottes in seinem Sohn wirklich ist.
Aber dennoch sind wir auch unterwegs nie alleine; dennoch sind wir Menschen, die dem Evangelium vertrauen und sonst nichts wissen, haben, brauchen nicht einsam, solange der Gott ist, der für uns ist.
Denn wer dem allein gehört, steht glaubend schon in der Gemeinschaft des ewigen Lebens.
Amen!
Erntedank, 03.10.2010, Ein havelländischer Erntedank, Stadtkirche, Jonas Marquardt
Ein havelländischer Erntedank „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland
HERR VON RIBBECK AUF RIBBECK IM HAVELLAND
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
Ein Birnbaum in seinem Garten stand,
und kam die goldene Herbsteszeit
Und die Birnen leuchteten weit und breit,
Da stopfte, wenn's Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,
Und kam in Pantinen ein Junge daher,
So rief er: „Junge, wiste 'ne Beer?"
Und kam ein Mädel, so rief er: „Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick hebb 'ne Birn."
So ging es viel Jahre, bis lobesam
Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.
Er fühlte sein Ende. 's war Herbsteszeit,
Wieder lachten die Birnen weit und breit,
Da sagte von Ribbeck: „Ich scheide nun ab.
Legt mir eine Birne mit ins Grab."
Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus,
Trugen von Ribbeck sie hinaus,
Alle Bauern und Büdner, mit Feiergesicht,
Sangen „Jesus, meine Zuversicht",
Und die Kinder klagten, das Herze schwer,
„He is dod nu. Wer giwt uns nu 'ne Beer?"
So klagten die Kinder. Das war nicht recht,
Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht,
Der neue freilich, der knausert und spart,
Hält Park und Birnbaum streng verwahrt,
Aber der alte, vorahnend schon
Und voll Mißtraun gegen den eigenen Sohn,
Der wußte genau, was damals er tat,
Als um eine Birn ins Grab er bat,
Und im dritten Jahr, aus dem stillen Haus,
Ein Birnbaumsprößling sproßt heraus.
Und die Jahre gehen wohl auf und ab,
Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab.
Und in der goldenen Herbsteszeit
Leuchtet's wieder weit und breit.
Und kommt ein Jung übern Kirchhof her,
So flüstert's im Baume: „Wiste 'ne Beer?"
Und kommt ein Mädel, so flüstert's: „Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick gew di 'ne Birn."
So spendet Segen noch immer die Hand
Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.
(Theodor Fontane, 1889)
Liebe Gemeinde!
Am Tag des Erntedanks freuen wir Menschen uns an allem, was die Erde hergibt.
Doch solche Dankbarkeit für das, was lebendig aus der Erde kommt, hängt tief und heimlich damit zusammen, dass die Erde nicht nur hervorbringt, sondern auch wieder aufnimmt.
Unser Leben kommt nicht nur aus dem, was der Acker reifen lässt, sondern unser Leben reift auch wieder zur Erde zurück.
Das ist der uralte Kreislauf des Lebens und Sterbens. -
Aber wenn wir Christen Erntedank feiern, dann geht es niemals nur um die Natur und ihre Gesetze, sondern um etwas, das gegen alle Regeln und Kreisläufe verstößt:
Es geht bei uns ja immer wieder um eine Großzügigkeit, die mehr gibt, als sie nimmt, die mehr schenkt, als fordert, die mehr wachsen lässt, als jemals gesät wurde, die Leben weckt, auch wenn der Tod schon Ernte hielt.
Und weil wir diesen lebendigen Gott in seiner Freigebigkeit heute feiern wollen, ist uns der gemütvolle alte Herr von Ribbeck ein gutes Festgespräch - kein Predigttext, aber doch ein wunderbares Predigtbeispiel dafür, dass Gott die Menschen und die Bäume viel schöner wachsen lässt als jeder andere Gärtner. -
Das erste, was wir Wunderbares aus Ribbeck hören, übertrifft dabei fast noch die Erinnerung an Gottes eigenen Garten: Dort, in Eden stand in der Mitte ja ein verbotener Baum.
Im Havelland leuchtete dagegen weit und breit ein erlaubter Baum.
Das ist bei den Menschen schon selten und bei den Märkern fast unerhört.
Aber der Garten- und Kinderfreund von Ribbeck muss wohl ein Freigeist gewesen sein, der nicht viel von Verboten hielt und auch nicht vom Abstandhalten auf beiden Seiten eines Zaunes.
„Kumm man röwer", ruft er die Kinder in ihrer Sprache, und sie verstehen ihn:
„Kommt alle her, denen das Wasser im Munde zusammenläuft (vgl.Matth1128). Ich will nicht, dass ihr Euch den Hosenboden aufreißt, wenn Ihr zum Klauen über die Staketen klettert. Hier macht ihr Euch nicht schuldig, wenn's Euch schmeckt. Kommt und eßt (vgl.Jes551)!"
Das ist schon eine erste Erntedankpredigt:
Das Bild des winkenden Baumbesitzers lacht uns eigentlich ja aus allem entgegen, was in dieser Welt blüht und Frucht trägt.
Es sind alles Einladungen Gottes, dass wir annehmen, was er geschaffen und für uns bereitet hat, und dass wir uns nicht in Schuld und Schaden stürzen sollen, um uns eine Schöpfung anzueignen, die Ihm gehört.
Bei Gott wie bei dem Mann mit den köstlich vollen Taschen sind alle Menschen Gäste und dürfen genießen. Ein schlechtes Gewissen bräuchte nur der zu haben, der das Geschenkte lieber selbst erobern und dann für sich beanspruchen würde.
- Wie schade nur, dass die Menschheit sich so ungern einladen lassen will, und sich stattdessen einbildet, die süßen Birnen dieser Welt schmeckten besser, wenn man sie einander vorenthält und gegen sauren Verdienst eintauscht.
Dabei sind Birnen doch so leicht verderblich.
Was nicht gegönnt wird, das wird faul --
Doch der brave Ribbeck ist noch mehr als ein preußischer Nikolaus, der uns das Teilen lehrt.
Seine zweite Erntepredigt wächst über Kinderköpfe weit hinaus.
In der herbstlichen Stimmung der Ribbecklegende ist Theodor Fontane, dem gütigen und milden Zweifler nämlich eigentlich eine weitere theologische Miniatur geglückt.
Die goldenen Mittagsstunden über dem Gutsgarten sind ja nur die Vorboten eines ganz anderen Stundenschlages, der durch das Gedicht zieht:
Es ist die Sterbestunde, jene Stunde, in der wir alle werden reif sein müssen für den letzten Schnitt.
Und der Herr von Ribbeck ist ein reifer Lehrer: „Der wußte genau, was damals er tat".
Im Angesicht der Endlichkeit verwirft er nämlich nicht seine ganze nutzlose Menschenliebe, obwohl ihm vor Augen steht, dass selbst seine Allernächsten die Großzügigkeit nur noch als Marotte des Alten betrachten.
Ribbeck hält auch im Tode fest an der lebenslangen Übung der Menschlichkeit - nicht, als könne die das Ende aufhalten, aber doch weil er sich selber als Mensch ja fremd würde, wenn nach aller Offenheit seiner Hände seine Fäuste am Schluß geballt wären.
Nein, er stirbt, wie er lebte: Ribbecks letztes Hemd hat Taschen.
Ist das aber nur die Schrulle des greisen Vertreters der „guten alten Zeit", der sich 1759* im biblischen Alter von siebenzig Jahren zu seinen Vätern versammelte, während das knauserige Geschlecht der Nachfahren ganz unter dem Diktat der anbrechenden Vernunftära und ihres Zahlenfaibles steht?
Warum bleibt der Gutherzige über den Tod hinaus gut?
Fontane, der Dichter der Skepsis, lässt einen anderen Dichter, einen Dichter des Glaubens die Frage beantworten, indem er drei Worte aus dem Gesangbuch ins Herz der Ballade setzt; drei Worte, die wie Wurzeln und wie Knospen unter und über dem Sarg mit den Birnen stehen ....
„Ribbeck, was lässt dich Menschenfreund bleiben, obwohl der Mensch doch nur Erde ist und du es nun wirst?"
„Jesus, meine Zuversicht."
Das ist die zweite Erntedankpredigt aus Ribbeck.
Die Bauern und Büdner singen, was den getragen hat, den sie ihrerseits nun auf den Gottesacker tragen: Glaube ist die Grundlage, auf der seine Güte und Großzügigkeit gediehen.
Ein Baum, der an den Wasserbächen unseres Glaubens gepflanzt ist, der bringt tatsächlich solche Früchte zu seiner Zeit, und was er macht, das ist wohlgetan (vgl.Ps13). --
Und dann hören wir noch eine dritte Erntedankpredigt von jenem Friedhof um die Kirche, dreißig Kilometer westlich von Berlin, in der ziemlichen unfrommen Mark Brandenburg.
Was in der Bibel der dritte Tag ist, ist dort das dritte Jahr: da zeigt es sich, dass aller Same, der in Gottes Namen in die Erde gelegt wird, aufgeht und Segen bringt.
Das gilt nun wahrlich nicht nur für Birnbäume, obwohl ich als Kind das Geheimnis von Ribbeck falsch verallgemeinert habe, und glaubte, unter jedem Birnbaum läge ein besonders gütiger Mensch. Deshalb habe ich bei meiner Großmutter, in deren Garten links vom Weg ein herrlicher Birnbaum und rechts eine windschiefe Zwetschge standen, stets nur Pflaumen ernten mögen ......
Doch es geht gar nicht um den besonderen Dünger, auf dem der neue Kinderbaum von Ribbeck wuchs, sondern es geht um den Ertrag unseres Lebens, der einmal aufgehen und fruchtbar sein soll.
Und da ist das Beispiel des havelländischen Edelmannes uns allen auf die Seele zu binden.
Der hat sich ja bloß gefragt: Was willst Du, das nach Dir noch lebendig sein soll?
Und die Antwort war ihm nicht schwer:
Nach mir soll es kein Klagen, sondern Kinderlachen geben.
Es soll ebenso goldener Herbst werden und die Birnen sollen so verlockend aus dem Baum schimmern, wie zu meiner Zeit, und es sollen alle sich daran freuen und daran teilhaben, die nach mir kommen. -
Mehr als dieser schlichten Einsichten bedarf es aber gar nicht, um uns zur Umkehr zu bewegen in einer Zeit, die alles mit in ihr Grab zu nehmen droht, und doch keinen Keim für die Kommenden hinterlässt.
Was soll grünen und bestehen, wenn Du nicht mehr bist?
Welche Blüten und welche Früchte überlässt Du den Späteren?
Was soll einmal wachsen dort, wo Du warst und jetzt auf Gottes Zeit wartest?
Das sind keine trüben Gedanken, im Gegenteil: es sind heitere Erntedankausblicke, ..... so heiter und wahr wie die lebendige und dauerhafte Menschenfreundlichkeit, die aus dem Ribbecker Grab einst sproßte, bis der alte Birnbaum 1911seinerseits starb, aber nicht spurlos verschwand.
Er blieb im Gedächtnis landauf, landab, und nach allen Wirren der Zeiten steht heute wieder ein Birnbaum als Denkmal der Mitmenschlichkeit auf dem Kirchhof des Dorfes.
Also - wenn Gott Dich einst sammeln und zu neuem Leben aussäen wird:
Was findet er in Deinen Taschen?
Was wächst weiter an Deiner Stelle und wer soll es pflücken?
Gott gebe, dass wir heute schon Segen spenden und dass wir dabei bleiben im Vertrauen auf Jesu todüberwindende Großzügigkeit, der sein Leben mit uns teilt.
Und Gott gebe, dass wir einst, wenn die Ernte kommt von Dank erfüllt und getragen sein werden, weil was wir säten und was wir waren in Herrlichkeit aufersteht und bleibt (vgl.1.Kor1542).
Amen.
* Der mutmaßlich von der Überlieferung und Dichtung Bezeichnete war Hans-Georg von Ribbeck (1689-1759).
14.S.n.Tr., 05.09.2010, Röm. 8,14-17, Stadtkirche + Jonakirche, Holger Pyka
Liebe Gemeinde,
wir wissen nicht heute nicht mehr, ob es unter den Christinnen und Christen im antiken Rom schon Eltern gab, die ihre Kinder am Arm packten, den Zeigefinger hoch erhoben und leise drohend sagten: „Der liebe Gott sieht alles." Oder ob es da schon Prediger gab, die den Menschen in bunten bösen Bildern die Strafen Gottes ausmalten, um ihre Schäfchen beisammen zu halten. Wir wissen, dass es das heute gibt - Gott sei's geklagt. Wir wissen, dass es heute noch Menschen gibt, die von überforderten Eltern oder unredlichen Pastoren mit einer Angst vor Gott gefüttert werden, die sie krank und klein macht.
Wie gesagt, wir wissen nicht, was die konkreten Probleme der Gemeinde in Rom waren, an die der Apostel Paulus seinen Römerbrief richtet. Aber ich möchte einen Teil dieses Briefes heute als eine Antwort auf genau dieses Problem lesen. Paulus schreibt im 8. Kapitel:
14 Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.
15 Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müßtet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!
16 Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind.
17 Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.
Liebe Gemeinde - liebe Kinder Gottes,
welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Das ist erst mal ein großer Satz, wie fast alle Sätze im Römerbrief große Sätze sind. So durch und durch richtige, pompöse und wohlklingende Feststellungen haben manchmal den Nachteil, dass sie besonders für andere bestimmt wahr sind - aber für mich? Wie können die großen, wohlformulierten Worte dieses Apostels mich und mein Leben meinen, das oft so zerrissen ist, so dissonant und so klein...
Wie kann das aussehen, wenn der Geist Gottes einen treibt? Vielleicht hat man da so Phantasien: Wer vom Geist Gottes getrieben, der geht besonders sicher. Der weiß genau, was richtig und falsch ist. Die findet die richtigen Worte in schwierigen Situationen. Der ist stark und fest im Glauben und strahlt das auch nach außen, und sieht die Himmelsleiter vor sich und winkt den Engeln, die darauf herumklettern, wie alten Bekannten zu.
Wenn man in der Bibel und in der Kirchengeschichtenach Beispielen dafür sucht, wie Menschen vom Geist Gottes getrieben werden, dann ergibt sich ein sehr buntes, vielschichtiges, aber auch etwas chaotisches Bild.
Natürlich gibt es da die Geistesgaben, die Genialität, wichtige Glaubenserlebnisse in Worte und Lieder zu fassen. So wie in den Liedern die wir heute singen, in denen die Komponisten und Dichter uns an ihren Erfahrungen teilhaben lassen und uns einladen, mitzusingen. Da gibt es die kleinen und doch so großen Dienste der Diakonie. Und da gibt es Momente der Gemeinschaft, die so intensiv sind, dass sie ganz deutlich von oben geschenkt sind. Da gibt es die scharfe prophetische Kritik an gesellschaftlichen Missständen.
Es gibt da aber auch anderes: Erinnern Sie sich mal an die Geschichte, in der Jesus in die Wüste geht und dort von der personifizierten Versuchung heimgesucht wird. Die Geschichte beginnt mit dem Satz: Und der Geist führte Jesus hinaus in die Wüste. Für die Menschen damals war die Wüste ein sehr realer und sehr bedrohlicher Ort. Wer in die Wüste geht, der verlässt die enge, aber auch sichere Gemeinschaft. Der lässt die schützenden Dächer seines Dorfes, seine Mauern und festen Wege hinter sich und begibt sich ins Offene. Der ist der brennend heißen Sonne und den eiskalten Nächten ausgeliefert und muss mit potenziell gefährlichen Begegnungen rechnen, wenn er zwischen den Dünen hin und her wandert, auf der Suche nach lebenswichtigem Wasser und schattigen Plätzen.
Ich denke bei dieser Geschichte neuerdings an Lisa, die ich im Religionsunterricht kennen gelernt habe. Lisa hat es in ihrem Leben nicht einfach und kann eine ganze Stunde umschmeißen mit ihren manchmal brutal ehrlichen Fragen: Wo ist Gott, wenn ein Vater seine Kinder prügelt, den Gürtel in der einen, die Bibel in der anderen Hand. Und wie kann man Gott dann noch Vater nennen? Und man spürt in solchen Momenten, dass das keine theoretischen Fragen sind.
Ich bin sicher, dass auch Lisa in ihrer Suche nach Antworten von Gottes Geist getrieben ist, und dass auch sie Gottes Kind ist.
So wie ich glaube, dass auch diejenigen von Gottes Geist getrieben sind, die sich nicht zufrieden geben, wenn so manchem Christen, mir inklusive, so fromme Vertröstungen aus dem Mund fallen. Wenn Menschen in den eiskalten Nächten ihrer ganz eigenen Wüstenzeit wach liegen und wenn sich im Kopf leise das Wort formt: Warum?, dann wirkt da schon Gottes Geist.
Das ist nämlich der Anfang einer Befreiungsbewegung, wer die Frage nach dem Warum stellt, gibt sich nicht mehr zufrieden mit überkommenen Antworten und fängt an, an den religiösen Denkverboten zu kratzen, die wie steinerne Mauern in der Welt stehen und Menschen einengen und den Blick auf Gott versperren. Vielleicht kennen Sie solche Verbote, im Laufe der Zeit sind sie immer wieder in unterschiedlicher Art ausgesprochen, als Stickereien an die Wand gehängt oder als Lieder vertont worden: „Sowas darfst Du doch nicht denken!" - „Ein Liebes oder Leides - Gott gibt beides." Und so weiter. Worte, die Bibelstellen aus ihrem Zusammenhang reißen und die letzten Endes eines wollen: Die Menschen klein halten, sie stumm machen in ängstlicher Ehrfurcht vor einem strengen Gott, der unbedingten Gehorsam fordert, um damit gesellschaftliche und politische Hierarchien zu festigen.
Liebe Gemeinde, wir wissen nicht, ob das damals in Rom auch schon so wahr, aber der Gedanke liegt nahe, denn Paulus schärft seinen Lesern und damit uns ein: Ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass Ihr abermals fürchten müsstet, sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba!
Dieses Wort vom „kindlichen Geist" ist oft genug dazu missbraucht worden, den Menschen eine rührselig-naive Frömmigkeit ans Herz zu legen und eine devot-lispelnde Unmündigkeit zur einzig angemessenen Haltung eines Christenmenschen zu erklären. Das genau wäre aber nur eine andere Form von Knechtschaft, und das Gegenteil ist der Fall: Der kindliche Geist, den wir empfangen haben, ist, mit Bibel und Gesangbuch gesprochen, der Geist der Wahrheit. Denn Kinder wissen noch nichts von gesellschaftlichen Konventionen und ungeschriebenen Regeln, die einem vorschreiben, welche Fragen man nicht stellen darf. Ein Kind fragt ganz ungeniert nach dem „Warum?", und wir Erwachsenen stehen dann manchmal hilflos da und wissen gar nicht, was wir sagen sollen, weil die Kinder etwas hinterfragen, was für uns selbstverständlich ist.
Von Gottes Geist getrieben können wir also gerade dann sein, wenn die Antworten, mit denen wir uns bisher zufrieden gegeben haben, plötzlich nicht mehr ausreichen. Wenn der Glaube, in dem wir uns bisher wohl und aufgehoben gefühlt haben, nicht mehr trägt und unser Weltbild Risse bekommt. Dann kann das „Abba - Vater", das wir rufen, ein zögerliches Flüstern, ein unsicheres Fragen in die Dunkelheit hinein sein. „Gott, bist Du da?"
Von Gottes Geist getrieben können wir auch dann sein, wenn wir uns nichts mehr vormachen lassen wollen, wenn wir das Gefühl haben, in der Kirche oder in der Frömmigkeit, in der die Eine oder der Andere aufgewachsen ist, nicht für voll genommen zu werden und wenn die alten wohlbekannten Lieder auf einmal schief und bedrohlich klingen und so mancher Vers uns im Hals steckenbleibt. Dann wird das Rufen vielleicht etwas ungeduldiger.
Und schließlich, von Gottes Geist getrieben sind auch die, die sich von Gott und aller Welt verlassen fühlen, die das schreckliche Gefühl haben, dass Gott irgendwo da oben im Himmel thront und sich das alles gar nichts angehen lässt. Dann kann der Ruf „Abba - Vater!" verzweifelt, wütend und anklagend sein.
Und, liebe Gemeinde, genau darin erweisen wir uns als Gottes Kinder und darüber hinaus auch als Miterben Christi: Wir sprechen nämlich Gott direkt an. Das dürfen wir, weil wir seine Kinder sind, und das kann Gott gut aushalten. Und wir stehen dabei nicht allein, wenn man unseren Predigttext weiterliest, schreibt Paulus gegen Ende des Kapitels, dass der Heilige Geist selbst für uns eintritt und Gott mit unaussprechlichem Seufzen für uns in den Ohren liegt. Damit geben wir die Frage nach Gott an den ab, der sie beantworten kann: Nämlich an Gott selbst. Der hat dann die Chance und den Willen, sich als der zu erweisen, der er ist: Unser Vater, der seine Größe gerade darin zeigt, dass er uns als seine Töchter und Söhne von aller Knechtschaft befreit, auf dass wir mit kindlicher Neugier und Unverkrampftheit diese Welt entdecken.
Liebe Gemeinde, ich wünsche uns allen, dass wir in der Kirche sensibler für alle die werden, die von Gottes Geist getrieben sind, dass wir ihre Stimmen, seien sie laut oder leise, hören und vor ihren kritischen Anfragen keine Angst haben. Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder, und ich glaube: Je mehr wir auch hier in unserer Gemeinde dazu ermutigen, diese Rolle für sich zu beanspruchen, desto mehr bekommen die Chance, je und je anders, Gott als einen fürsorglichen Elternteil zu erleben.
Das wünsche ich auch Lisa, die die Schule mittlerweile verlassen hat. Ich wünsche ihr, dass sie auf Menschen stößt, die sie als Eine erkennen, die von Gottes Geist geführt ist, und dass sie lernt, sich selbst als Gottes Kind und Schwester Jesu Christi zu erkennen und vielleicht eines Tages mit in den großen Lobgesang einstimmen kann, aus dem unser Wochenspruch stammt:
Lobe den Herrn, meine Seele
und was in mir ist, seinen heiligen Namen.
Lobe den Herrn, meine Seele,
und vergiss nicht, was Er dir Gutes getan hat.
Der dir all deine Sünden vergibt und heilt alle deine Gebrechen.
Der dein Leben vom Verderben erlöst,
der dich krönet mit Barmherzigkeit.
Der deinen Mund fröhlich macht und du wieder jung wirst wie ein Adler.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
12.S.n.Tr., 22.08.2010., Apg.9 1-9, Stadtkirche + Jonakirche, Holger Pyka
Liebe Gemeinde,
vorhin haben wir ein anderes Glaubensbekenntnis (EG 813) gesprochen als sonst. „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will." Wenn wir gleich den heutigen Predigttext hören, werden wir Zeuginnen und Zeugen, wie genau das passiert: Da begegnet der Auferstandene einem Menschen, der sich in seinem Hass total verrannt hat und bei dem wohl niemand eine solche Begegnung erwartet hätte. Ich lese aus Apostelgeschichte 9 den dramatischen Anfang der Entwicklung des Christenhassers Saulus zum großen Apostel Paulus:
Saulus aber schnaubte immer noch Drohungen und Mord gegen die Jünger des Herrn. Er ging zum Hohen Priester und bat ihn um Briefe an die Synagogen in Damaskus, dass er, wenn Anhänger dieses neuen Weges fände - Männer und auch Frauen -, sie gefesselt nach Damaskus bringen solle. Als er unterwegs war, geschah es, dass er in die Nähe von Damaskus kam und plötzlich umstrahlte ihn ein Licht vom Himmel. Er stürzte zu Boden und hörte eine Stimme zu ihm sagen: „Saul, Saul, was verfolgst du mich?" Er aber sprach: „Wer bist du, Herr?" Und er antwortete: „Ich bin Jesus, den du verfolgst. Doch steh auf und geh in die Stadt und es wird dir gesagt werden, was du tun sollst." Die Männer aber, die mit ihm unterwegs waren, standen sprachlos da; sie hörten zwar die Stimme, sahen aber niemanden. Da erhob sich Saul vom Boden; doch als er die Augen öffnete, konnte er nicht mehr sehen. Sie mussten ihn bei der Hand nehmen und führten ihn nach Damaskus. Und drei Tage lang konnte er nichts sehen, und er aß und trank nichts.
Saulus hat sich verrannt. Wie ein wildgewordener Stier rast er umher, er schnaubt Drohungen und Mord gegen die noch kleine und verwundbare Schar von Christen. Dabei ist Saulus kein militanter Atheist, im Gegenteil: Er ist ein frommer Mann, unerbittlich in der Sache und stark und fest im Glauben, im richtigen Glauben natürlich, dem Glauben an den Gott seiner Väter und Großväter. Den Gott, dessen Ehre er durch den „neuen Weg" der Christinnen und Christen besudelt sieht. Und so ist aus dem braven Saulus aus Tarsus in der heutigen Türkei ein fanatischer Christenjäger geworden. Am Ende einiger falscher Abzweigungen ist das, was ursprünglich mal Liebe zu Gott gewesen ist, nun zu einem Hass auf Andersgläubige mutiert. Mit großem organisatorischen und zeitlichen Aufwand sucht er Mitstreiter, versucht, in seiner Jagd noch effektiver zu werden.
Saulus hat sich verrannt. Und wer sich so verrennt, wer in seinem eigenen Hamsterrad gefangen ist und nur noch rennt und rennt - der kommt da nur sehr schwer allein wieder raus. Ohne irgendwelche Hilfe von außen ist das kaum schaffbar.
Saulus bekommt solch einen Impuls von außen. Irgendetwas, irgendjemand zieht eine Notbremse. Das ist uns nichts Unbekanntes: Wer kennt sie nicht, die Geschichte von Herrn L., dem Manager, der gerade noch auf dem Weg von einem Meeting zum nächsten ist, dann, einen Herzschlag später im Rettungswagen um sein Leben kämpft und in den folgenden Monaten in der Reha langsam lernen muss, wie ein anderes Leben aussehen kann. Oder die Sozialarbeiterin Frau J., die für ihre Arbeit und ihre Klienten Feuer und Flamme ist - und sich zunehmend erschöpft und langsam aber sicher ausbrennt.
Auch im Falle Saulus wird eine Notbremse gezogen. Und zwar von allerhöchster Stelle. Auf dem Weg nach Damaskus umstrahlt ihn Licht, so hell, so überirdisch, dass es ihn blendet und zu Boden reißt. Da liegt er oder sitzt er plötzlich, im Staub der Straße, zurück auf dem Boden der Tatsachen. Und die Stille wird zerschnitten in einem Moment der schonungslosen Klarheit über die Tragweite seines bisherigen Tuns: „Saulus, ich bin der, den Du verfolgst. Warum verfolgst Du mich?" Und Saulus wird mit dem buchstäblichen Schlag klar, wie ernst es diesem Jesus war und ist, wie nah dieser -der!- Christus seinen Nachfolgern ist, dass er zu ihnen gehört und sie zu ihm wie die Reben zum Weinstock und die Schafe zum Hirten, auch und gerade, wenn sie verfolgt werden.
Das ist die Situation kurz vor Damaskus: Der Herr hat gesprochen, der Mächtige, der Böse liegt geschlagen am Boden im Staub, die Ohren klingen ihm von all seiner Schuld, er ist blind, erniedrigt, abhängig und ungefährlich. Und ist dieses Bild nicht irgendwie auch verlockend? Möchte man nicht manchmal sagen: Ja, amen, komm, Herr, und mach genau das. In manchen Texten der Bibel spürt man diese Sehnsucht nach solch einer Art ausgleichenden Gerechtigkeit, vielleicht haben Sie die Lesung aus dem Jesajabuch (Kap. 29) noch im Ohr: „Nur noch eine kleine Weile, dann wird es ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen."
Aus diesen Worten klingt ein uraltes Menschheitswissen darum, was Menschen anderen Menschen antun können. Daraus klingt auch die jahrtausendealte Sehnsucht des jüdischen Volkes nach einer Welt und einer Zeit, in der die Angst um das blanke Überleben ein für alle Mal vorbei sein wird. Und eine solche Zukunft ist ihnen und mit ihnen auch uns versprochen, irgendwann einmal wird „die Hütte Gottes bei den Menschen stehen und sie werden sein Volk sein und er wird ihr Gott sein, und Gott selbst wird abwischen alle Tränen, und der Tod wird nicht sein, noch Leid noch Schmerz und Geschrei wird noch sein."
Aber ich glaube nicht, dass das funktionieren wird, indem Gott einfach nur die unserer Meinung nach Schuldigen in den Staub schmeißt und damit vielleicht Ruhe schafft, aber eine faule, trügerische Ruhe auf Kosten Einzelner. Damit wäre doch nur alles wie zuvor, wenn auch in anderer personeller Besetzung.
Und wer garantiert uns, dass wir auf der Seite der Jubelnden stünden, dass wir nicht mit dem Gesicht nach unten im Schlamm unserer ganz persönlichen Abgründe liegen würden?
Liebe Gemeinde, die Berufung des Saulus führt uns vor Augen, dass Gott so nicht handelt: Sicherlich, die Begegnung mit dem auferstandenen Christus ist für Saulus im wahrsten Sinne des Wortes umwerfend, vielleicht im ersten Moment niederschmetternd. Ich glaube, dass das etwas sehr realistisches ist: Denn der erste Augenblick, in dem wir erkennen, dass wir uns in etwas verrannt haben, dass wir lange auf einem falschen Weg gewesen sind, stellt uns und unsere bisherigen Motive und Sicherheiten grundlegend in Frage. Vielleicht kennen Sie das Gefühl auch, diese plötzliche, schmerzhafte Klarheit: Mein Gott, was habe ich da eigentlich gemacht?
Das kann einen in die Knie zwingen.
Aber wenn die Konfrontation mit der Wahrheit des Auferstandenen einem auch den Boden unter den Füßen wegreißen kann, so ist doch eins unbedingt festzuhalten: Gott macht Menschen nicht einfach klein, er will nicht und hat es nicht nötig, sich auf unsere Kosten selbst groß zu machen, indem er uns in den Staub zwingt. Christus holt Manchen vielleicht wieder runter, aber er macht niemanden nieder. „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen", mit diesem Wochenspruch sind Sie heute in diesem Gottesdienst begrüßt worden, und ich finde, die ganze Fortsetzung der Berufung Saulus‘ vor Damaskus lässt sich wie eine erzählerische Entfaltung dieses Satzes über das innerste Wesen Gottes hören:
Saulus liegt im Staub, geknickt wie ein Schilfrohr nach einem Herbststurm, und das Feuer, mit dem er für seine Sache bisher gebrannt hat, ist fast verloschen und nur noch ein leises Glühen, wie ein glimmender Docht: Dünn, schwach, gefährdet.
Und Christus spricht weiter zu ihm: Ich bin der, den Du verfolgst. Aber steh auf. Und in diesem Aber steckt doch das ganze Evangelium: Egal, was Du in Deinem bisherigen Leben getan oder sein gelassen hast, egal, was Gott, Dir selbst, Deinen Mitmenschen schuldig geblieben ist - Gott lässt Dich nicht los, er rechnet weiter mit Dir. Steh auf, sagt Christus, geh in die Stadt, und es wird Dir gezeigt werden, was Du tun sollst. Saulus bekommt eine Perspektive für ein neues, ein anderes Leben. Und wie der Manager nach dem Herzinfarkt und die Sozialarbeiterin nach dem Burn-Out bedeutet dieses neue Leben für Saulus ein Umdenken, ein Abschied von alten Strukturen und Verhaltensweisen und ein tapsiges Gehen auf weichen Knien auf einem anderen Weg als zuvor. Dieses langsame Wieder-auf-die-Beine-Kommen, das Umlernen, um wieder lebensfähig zu werden, ist ein langer und schwieriger Prozess, dessen Verlauf am Anfang noch sehr offen scheint. Saulus bekommt nur gesagt, dass es ein Ziel und eine Perspektive gibt, aber wie genau sein neues Leben aussehen kann, bleibt ungesagt. Für jemanden, der sich bis vor kurzem noch so verrannt hatte, ist das eine ungeheure Herausforderung: Einfach die Zügel loslassen und darauf vertrauen, dass Christus ihm einen Weg zeigen und ihn leiten und stützen wird.
Nun hat Saulus zugegebener Maßen keine andere Wahl, als dieses Vertrauen zu lernen, denn die göttliche Begegnung auf der Straße nach Damaskus beschert ihm eine mehr oder weniger erzwungene Auszeit: Da erhob sich Saulus vom Boden, doch als er die Augen öffnete, konnte er nicht mehr sehen. Sie (seine Begleiter) mussten ihn bei der Hand nehmen und führten ihn nach Damaskus. Und drei Tage lang konnte er nicht sehen, und er aß nicht und trank nicht.
Saulus macht direkt im Anschluss an seine Begegnung mit Jesus die Erfahrung, dass er sich nicht nur auf Gott, sondern auch auf andere Menschen verlassen muss - und kann. Seine Begleiter, von denen bisher gar nicht groß die Rede war, die gar nicht alles mitbekommen haben, werden ihm nun zu einer Stütze und helfen ihm auf diesem neuen, ungewohnten Weg weiter. Und ich glaube, dass auch hier etwas von Gottes Wirken und Gottes Wesen aufblitzt: Wer sich von Gott etwas sagen lässt, der stößt auf Andere, auf die Gemeinschaft eines Volkes, das durch Raum und Zeit hindurch unterwegs ist zu einem Ziel und einer Zukunft, von der wir nicht genau wissen, wann und wo, nur, dass Gott sie für uns bereit hält.
Liebe Gemeinde, Saulus ist heute noch nicht endgültig zum Paulus geworden, seine Geschichte geht noch weiter, sein Weg wird noch steinig und kurvenreich sein und für uns irgendwo im Dunkel verschwinden, wie auch unsere Lebenswege selten ganz gerade sind und wir manchmal nicht wissen, was vor uns liegt.
Wir verlassen also die Straßen um Damaskus und den Weg des Saulus und kehren langsam wieder auf unsere eigenen Wege zurück, so unterschiedlich wir dort in der nächsten Zeit unterwegs sind. Mit uns nehmen wir die Hoffnung, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und wird. Das bedeutet, dass Gott uns immer wieder überraschen wird und dass uns der Auferstandene immer wieder an unvorhergesehenen Orten, zu ungeplanten Zeiten und inmitten unerwünschter Menschen begegnen wird, von denen wir das nie gedacht hätten.
Gott sei Dank. Denn auch dann, wenn wir selbst uns zu den Dämmerungszeiten des Lebens an unguten Orten verlaufen, wenn wir uns in unserer Wut verrennen und nur noch schnauben und toben können, aber auch, wenn wir ausgebrannt sind wie ein glimmender Docht oder geknickt wie ein zertretenes Schilfrohr - auch dann wird Gott Wege zu uns finden und uns aufrichten, bis wir am Ende der Zeit gemeinsam mit aufrechtem Gang und geradem Rücken in die neue Welt Gottes einziehen.
Und der Friede Gottes...
Amen.
9.S.n.Tr., 01.08.2010, Gal.3,26-28, Stadtkirche + Mutterhauskirche, Ulrike Heimann
Liebe Gemeinde,
ich lade Sie ein, auf eine Reise mitzukommen - in ein anderes Land, in eine andere Zeit. Die Verhältnisse und Lebensumstände der Menschen, mit denen ich sie bekannt machen möchte, sind ganz andere als die unseren heute. Aber sie werden, da bin ich mir sicher, immer wieder Dinge hören, die ihnen ganz vertraut vorkommen. Denn bei allem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt sind wir Menschen uns durch die Zeiten doch sehr ähnlich geblieben.
Die Sonne ist vor ein paar Minuten hinter dem Horizont verschwunden. Vom Mittelmeer weht ein kühler Wind herüber. Die Hitze des Tages weicht einer angenehmen Wärme. Aurelius Aquila begibt sich auf die Terrasse seines Hauses, auf der seine Frau schon die Gäste bewirtet, die sie für diesen Abend eingeladen haben. Ein letztes Mal werden sie in diesem Sommer beieinander sitzen und sich unterhalten, denn schon morgen wird Aurelius Aquila zu einer Geschäftsreise aufbrechen von Alexandria nach Griechenland, wo sein Unternehmen, ein Purpurgroßhandel, in mehreren Städten Niederlassungen betreibt. Das Geschäft floriert, Luxusgüter sind gefragt. Der Schnellsegler, der ihn nach Korinth bringen wird, liegt schon unten im Hafen bereit.
Die Öllampen tauchen die Terrasse in ein mildes Licht, in den Gläsern funkelt roter Wein. Plötzlich verstummt das Stimmgewirr der Gäste. Es scheint etwas in der Luft zu liegen. Ein Streitgespräch vielleicht? Markus, ein junger Geschäftsmann aus der Nachbarschaft, nutzt die Stille, um Aurelius Aquila herauszufordern:
„Aquila heißt du, also Adler, aber so schnell kannst du gar nicht sein, dass du dein Geschäft und dein Hobby unter einen Hut bringen kannst!"
„Hobby" hatte er gesagt, tatsächlich „Hobby"! Die anderen Gäste halten die Luft an. Wird Aurelius Aquila sich reizen lassen? Nein, er bleibt ganz ruhig und sagt: „Mein junger Freund, ich weiß schon, worauf du hinaus willst. Es stimmt, wenn ich unterwegs bin, dann gibt es da noch etwas neben den Geschäften. Bei meinen vielen Reisen interessieren mich die Menschen, denen ich begegne. Nicht nur, was sie essen und trinken, sondern vor allen Dingen, was sie glauben. Ihre Hoffnungen, ihre Werte, ihre Religionen. Ich habe ganz unterschiedliche Religionen kennengelernt. Ganz verschiedene Kulte. Die Verehrung der Götter in Rom, die ist euch ja wohl vertraut. Aber war einer von euch schon einmal in Jerusalem? Ich bin dagewesen und habe den herrlichen Tempel des Herodes gesehen - leider durfte ich nicht hinein, für Nicht-Juden ist das Betreten verboten. Ich habe mir von den eleusinischen Mysterien in Griechenland erzählen lassen, wo es um Tod und Leben geht und man in gemeinsamen Festmählern die Vereinigung mit der Gottheit bewirkt. Auch über den Mithraskult habe ich einiges in Erfahrung gebracht ..." „Aber der ist doch geheim", wirft einer den anderen Gäste ein. „Ein richtiger Männergeheimkult ist das", lässt sich Sabina, Aurelius Frau, vernehmen. „Stimmt, der Mithraskult ist nur Männern vorbehalten", erwidert Aurelius. „Die meisten von ihnen sind wohl Soldaten. Und ihre Riten unterliegen dem Schweigegebot. Aber es gibt immer wieder einzelne, die einem eine Menge erzählen, wenn sie merken, dass man ehrlich interessiert ist." „Hat dich dieser Kult nicht überzeugt? So weit ich weiß, geht es doch dabei um Kraft und Mut, den Mithras seinen Gläubigen verleiht. Und Kraft und Mut braucht man doch im Geschäftsleben heute auch." „Nein, Markus, mich hat der Mithraskult nicht überzeugt. Allein wenn ich an die Einweihungszeremonie denke. Da steht der in die Gemeinschaft Aufzunehmende in einer Grube und über ihm wird ein Stier geschlachtet, das Symboltier des Mithras, und das Blut des Stieres strömt über ihn. Eine Bluttaufe. Nein, das ist nichts, was mich anspricht."
„Wie müsste denn eine Religion sein, die dich anspricht, Aurelius? Du suchst ja nun schon eine lange Zeit und bist weit herumgekommen." „Eine Religion, die mich anspricht ...", Aurelius hält einen Moment inne; es ist gar nicht so einfach mit wenigen Worten zu sagen, was er schon so lange sucht. „Nun, sie müsste etwas mit meinem ganz alltäglichen Leben zu tun haben, nicht nur irgend ein Kult mit viel Tamtam und Brimborium oder mit einem Geheimwissen. Sie müsste das Leben verändern, es besser machen. Sie müsste die Menschen zusammenbringen. Auf meinen Geschäftsreisen erlebe ich es immer wieder, wie viel Mauern zwischen Menschen sind. Jeder hält sich für das Maß aller Dinge, seinen Glauben, seine Kultur und verachtet den anderen. Manchmal offen und mehr noch hinten herum, denn die Geschäfte müssen ja florieren. Barbaren, so nennen wir Römer alle, die unsere Kultur nicht teilen. Als Gojim, Heiden bezeichnen die Juden alle Nicht-Juden. Die Griechen halten alle Nicht-Griechen für Dummköpfe. Nein, eine Religion, ein Glaube, der mich anspricht, der müsste Brücken bauen und keine Mauern, der müsste verbinden und nicht ausgrenzen." „Erwartest du da nicht zuviel?", erwidert Sabina. „Ja, du hast recht, da erwarte ich schon sehr viel. Und bisher bin ich auch nicht fündig geworden." „Nun ja, du schiffst dich ja morgen nach Korinth ein", lässt sich einer der Gäste hören, „dort pulsiert das Leben. Wer weiß, was dir dort so begegnet. Apropos Begegnung, ich bin auf dem Weg hierher Eliphas begegnet, dem Schreiber unseres Präfekten. Der Arme war vollkommen grün und blau geschlagen." „Ja, ich habe gehört, er hat ein Tintenfass umgestoßen , worauf der Präfekt einen Tobsuchtsanfall bekam und ihn hat auspeitschen lassen. Für ein umgestoßenes Tintenfass!" „Mit seinem Sklaven kann jeder machen, was er will. Das ist nun einmal so." „Das ist nun mal so. Aber warum? Meine Schwester wird auch ständig von ihrem Mann geschlagen", fällt Sabina ein. Einer der Gäste, ein bekannter Anwalt, schaltet sich ein: „Im römischen Recht, ich darf daran erinnern, gilt die Frau nicht als Person, sondern als bewegliche Habe. Der Mann kann mit seiner Frau nun einmal machen, was er will. Das ist nun einmal so." „Aber das muss ja nicht so bleiben", stellt Aurelius nachdenklich fest. „Mein lieber Aurelius, denk an die drei Grundsätze, die das römische Reich schon so lange haben bestehen lassen, wenn es von irgend einer Seite den Wunsch nach Veränderung gab: Das war doch schon immer so. Da könnte ja jeder kommen. Das hatten wir noch nie." Aurelius muss schmunzeln. „Du hast recht Markus. Veränderungen stoßen auf Widerstand. Besonders solange viele die bestehenden Verhältnisse gut finden, weil sie für sie vorteilhaft sind. Und doch: vieles darf und muss nicht so bleiben wie es ist."
Zwei Wochen später. Der Schnellsegler läuft in den Hafen von Korinth ein. Aurelius Aquila steht vorn am Bug und betrachtet das Treiben auf den Kais. Schwere Lasten hängen an den Kränen, und Ochsenkarren sind pausenlos unterwegs. Keine Frage, gegenwärtig floriert die Wirtschaft. Frauen sind auch da; sie gehen unverschleiert, und ihr offenes Haar signalisiert: Gegen Bezahlung sind wir zu haben. Aurelius Aquila wird wieder einmal bewusst, warum die Hafenstadt Korinth einen so schlechten Ruf hat.
Auf dem Weg zu seiner Unterkunft begegnet Aurelius einem Geschäftsfreund. „Du bist wieder im Lande, Aurelius? Das trifft sich ja gut. Denn ich habe eine Neuigkeit für dich. Es gibt hier in der Stadt eine ganz neue religiöse Gruppe, etwas noch nicht Dagewesenes." „Nun übertreib mal nicht, Lucius. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, das hat doch einer der griechischen Philosophen gesagt." „Nun, da bin ich mir nicht mehr so sicher. Schau dir die Leute doch einmal an. Du bist doch interessiert an Religion und Glaube. Ich habe bei ihnen Zutritt und kann dich heute Abend zu ihrer Versammlung mitnehmen. Wenn's dir nicht gefällt, können wir ja nach einer halben Stunde wieder gehen." „Natürlich bin ich interessiert, Lucius. Hol' mich bei Sonnenuntergang an meiner Herberge ab."
Der Versammlungsraum liegt in einer stillen Seitenstraße. Die beiden Männer treten ein, und der Kaufmann aus Alexandrien bleibt verblüfft stehen. Ein Grieche, an seiner Kleidung leicht zu erkennen, sitzt neben einem Mann, der ganz sicher ein Jude ist. Beide reden wie Freunde miteinander. Drüben an der Wand sitzt ein Sklave - an dem Armreif als solcher leicht zu erkennen - und ein anderer Mann, das muss ein recht wohlhabender Kaufmann sein, das sieht Aurelius an seiner Kleidung, ein anderer Mann reicht dem Sklaven einen Becher mit Wein. Frauen sind auch da, die einen tragen Schleier, die anderen nicht, und sie unterhalten sich miteinander und mit den Männern, die sie ausgesprochen zuvorkommend behandeln.
Aurelius sieht seinen Freund fragend an: „Was ist denn hier los? Das gibt's doch gar nicht!" „Frage diese Leute selbst, Aurelius, sie werden dir alles erklären."
Aurelius hat zwischen einem Sklaven und einem Juden Platz genommen. Der Sklave sagt: „Mein Herr, es ist im Grunde sehr einfach. Wir alle haben einen Herrn; er heißt Jesus und ist vor 25 Jahren am Kreuz hingerichtet worden. Aber Gott hat ihn auferweckt und zu sich in den Himmel genommen. Damit hat er sich zu dem bekannt, was Jesus zu seinen Lebzeiten gesagt und getan hat. Und jetzt verändert Jesus vom Himmel aus die Welt, indem er die Herzen der Menschen verändert und in einer Stadt nach der anderen eine Gemeinde entstehen lässt, in der die Menschen versuchen so zu leben, wie Jesus es sich gedacht hätte. Auch wir sind eine solche Gemeinde."
„Und woher wisst ihr, dass ihr wirklich zu ihm gehört?" Dieses Mal antwortet der Jude: „Auch das ist im Grunde ganz einfach. Wir sind getauft worden, und in der Taufe hat sich Jesus mit uns verbündet. Wir sagen hier in der Gemeinde: wir haben Christus angezogen. Jeder denselben Christus; er ist unser unsichtbares Taufgewand. Es ist ganz logisch, dass dieses unsichtbare Taufgewand bei einem Sklaven nicht aus Sackleinwand besteht und bei einem Reichen nicht aus Brokat. Bei einem Juden ist darauf auch nicht der Satz zu lesen: Entstammt einer Familie, die sich seit langem im Glauben an Gott bewährt hat; und bei einem getauften Griechen, der Heide war, steht auch nicht drauf: Anfänger im Glauben. Nein, was einmal war oder was es jetzt noch an Unterschieden gibt, zum Beispiel zwischen freien Herren und Sklaven, das spielt bei uns keine Rolle mehr." „Wirklich gar keine Rolle mehr? Das kann ich mir nicht vorstellen", Aurelius ist bei aller Faszination doch auch skeptisch. „Nun ja", entgegnet ein anderer, der sich zu den Dreien gesellt hat, „da muss schon jeder von uns immer wieder die eigenen Vorurteile überwinden. Was früher war und in unserer Umwelt ja noch immer ist, das ist schon ganz schön mächtig. Veränderungen können ziemlich anstrengend sein und konfliktträchtig." „Das ist wohl wahr, davon kann ich ein Lied singen", bringt sich eine der Frauen ins Gespräch ein, „Theorie und Praxis fallen oft weit auseinander." Sie rollt einen Brief auseinander. „Dies ist ein Brief, den der Apostel Paulus geschrieben hat. Einen Moment, hier ist die Stelle, die so wichtig ist: Ihr alle seid Gottes Kinder durch den Glauben an Christus Jesus. Denn wer von euch auf Christus getauft worden ist, hat Christus angezogen. Nun heißt es nicht mehr: Hier der Jude, dort der Grieche, hier der Sklave, dort der freie Herr, hier der Mann, dort die Frau. Ihr alle seid in Christus miteinander verbunden. Dass ich als Frau in dieser Gemeinde die gleiche Würde habe wie ein Mann, das war für mich ein ganz starkes Argument für den Glauben an Jesus. Endlich ein Glaube für alle, der alle Menschen gleich hoch achtet. Aber wenn es zur Umsetzung kommt im Alltag, da gibt es immer wieder Widerstände. Da heißt es auf einmal selbst vom Apostel Paulus „Die Frau schweige in der Gemeinde." „Du musst verstehen, Theodora, wie steht unsere Gemeinde in der Öffentlichkeit da, wenn bei uns Frauen im Gottesdienst predigen dürfen. Man sieht uns doch schon scheel an, weil bei uns Frauen und Männer gemeinsam am Abendmahlstisch sitzen." „Ja, ja, ich weiß; aber da muss sich noch vieles verändern. Ich bete zu Gott, dass er mir einen langen Atem schenkt, um weiter dafür zu arbeiten, dass unser Bekenntnis Wirklichkeit wird."
Als Aurelius sich kurz vor Mitternacht in seiner Unterkunft ins Bett legt, kann er lange nicht einschlafen. Da hatte Lucius recht gehabt, diese Religion brachte etwas ganz Neues, nie Dagewesenes. Sie war kein bloßer frommer Kult, sondern sie veränderte das Leben, den Alltag. Sie baute Brücken über die Gräben von Volkszugehörigkeiten, von Klassenunterschieden, zwischen den Geschlechtern. Wirklich revolutionär: jeder ist unabhängig von seiner Herkunft und seinem Status ein Kind, ein Sohn, eine Tochter Gottes. Jeder hat die gleiche Würde. Daraus folgert ja: auch die gleichen Rechte. Aurelius wird es ganz schwindelig. Ein Sklave hat die gleichen Rechte wie ein Herr? Nun, so einfach geht das ja dann doch nicht. Das würde ja die Wirtschaft des römischen Reiches gefährden. Aber der Gedanke ließ sich nicht mehr ganz beiseite schieben. Diese Christen und ihr Jesus, von denen würde die Welt noch hören. Ihr Glaube war darauf aus, die Verhältnisse zu verändern. Ob das auch ein Glaube für ihn wäre? Bin ich bereit für diese ganzen neuen Gedanken? Bin ich bereit, mich verändern zu lassen, mich von vielen alten Überzeugungen zu verabschieden, bin ich bereit, dafür auch im Alltag einzustehen, in der Familie, im Freundeskreis, im Geschäftsleben? Die Gedanken werden ihn nicht mehr loslassen, das weiß Aurelius. Gut, dass er noch einige Wochen hier in Korinth sein wird. Da wird es noch viele Gesprächsmöglichkeiten mit den Christen geben. Ein ganz lebendiger Verein, diesen Eindruck hatten sie jedenfalls auf ihn gemacht. Ganz unterschiedliche Typen mit durchaus unterschiedlichen Meinungen. Keine Träumer, sondern Realisten mit einer unverschämten Hoffnung. Aurelius lächelt unwillkürlich. Er freut sich auf die kommenden Begegnungen. Und, ja, wer weiß, vielleicht zieht er diesen Christus Jesus ja auch an.
Amen.
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